JAHRBUCH
DES LINDEN-MUSEUMS
Museum für Länder- und Völkerkunde
Württembergischer Verein für Handelsgeographie E.V.
STUTTGART
Im Auftrag des Vorsitzenden
Dr. h. c. THEODOR G. WANNER
Generalkonsul
herausgegeben und redaktionell bearbeitet
von
Dr. JULIUS F. GLÜCK
und
FRITZ JÄGER
Neue Folge: 1. Band
KURT VOWINCKEL VERLAG • HEIDELBERG
Vorwort
Nach einer langen Pause kann unser Institut erstmals wieder eine
eigene Publikation vorlegen, die sich nach Zielsetzung und Umfang
von den bisherigen „Jahresberichten“ wesentlich unterscheidet. Mit
dem „Jahrbuch“, dessen erster Band hiermit der Öffentlichkeit über-
geben wird, glauben wir ein neues Forum zur Erörterung ethnologi-
scher Probleme geschaffen zu haben.
Die Herausgabe war nur dadurch möglich, daß unsere Bitte um
Mitarbeit bei Kollegen des In- und Auslandes bereitwilliges Gehör
fand. Hierfür und für die bis zur Veröffentlichung bewiesene Geduld
möchten wir ihnen hiermit herzlich danken.
Für die finanzielle Sicherung haben wir zu danken dem Verteiler-
ausschuß des Werbefunks des Süddeutschen Rundfunks, sowie der
Stadtverwaltung Stuttgart. Die Papierfabrik Scheufeien, Oberlennin-
gen, hat durch großzügiges Entgegenkommen zum Gelingen des Wer-
kes beigetragen.
Einige Freunde des Museums haben sich dankenswerterweise
durch die Vermittlung einzelner Beiträge um das Jahrbuch verdient
gemacht, ebenso sind wir unserem Verleger, Herrn Kurt Vowinckel in
Heidelberg, für das große Verständnis, mit dem er auf den Gesamt-
plan wie auch auf unsere Ausstattungswünsche eingegangen ist, ver-
bunden.
Herr Generalkonsul Dr. Th. G. Warmer, auf dessen Initiative die
Herausgabe dieses Jahrbuches zurückgeht, hat unsere Arbeit mit ge-
wohnter Tatkraft unterstützt. Hierfür sagen wir ihm aufrichtigen Dank.
Stuttgart, den 1. August 1951
Dr. J. F. Glück
Fritz Jäger
INHALTSÜBERSICHT
I. ABHANDLUNGEN Seite
Podach, E. F.: Das Aktualitätsprinzip in der Völkerkunde............ 9
Sailer, K.: Vorgeschichte und Ethnologie in ihrer Bedeutung für die mo-
derne Anthropologie ....................................................20
Glück, J. F. : Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi. Ein kunstmorphologischer
Beitrag zur Frage des Kitsches bei den Naturvölkern...............27
Erpelt, W.: Proportion und Intervall — Sensorium commune und sinnbild-
liche Zahl............................................................. 72
Thalbitzer, W.: The Voyage of Powell Knutsson. A lost expédition to
Groenland — and further to Vinland?................................92
Eckert, G. : Das Regenmädchen. Eine mazedonisch-kaukasische Parallele . 98
Herrmann, F.; Zu einem verbreiteten Verwandlungsrequisit europäischer
Kultbünde ........................................................102
Gusinde, M.: Die Körperform der afrikanischen Pygmäen. Eigenart und
Entstehung .......................................................114
Spannaus, G.: Streiflichter aus dem Leben der Kinder und Jugendlichen
bei den Ndau Südost-Afrikas.......................................123
Trimborn, H.: Die Erotik in den Mythen von Huarochiri ..............131
Eckardt, A.: Die Sam-Ginseng-Pflanze als koreanisches Kulturgut . . . 135
Glasenapp, H. von: Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes“ . . . 148
Podach, E. F.: Gin-lien. Ein aktualistischer Beitrag zur Ethnologie des
Häßlichen ........................................................160
Rathjens, G.; Tâghût gegen scheri’a. Gewohnheitsrecht und islamisches
Recht bei den Gabilen des jemenitischen Hochlandes................172
Petri, H.: Zum Problem der australischen Dualsysteme..................188
II. FREMDE WELT — ERLEBT
Ankenbrand, L.: Das älteste Maifest...................................205
Tjadens, H.: Die japanische Teezeremonie..............................209
III. PERSON ALI A ET MUSE ALI A
Nachrufe:
Paul Lester (Raoul Hartweg) S. 217 — André R o p i t e a u (Patrick;
O’Reilly) S. 217 — Eberhard F 1 o e s s (J. F. Glück) S. 218.
Übersicht über den Nachkriegsstand (1950) der deutschen völkerkundlichen
Sammlungen: S. 219.
Wanderausstellung „Westafrika in seiner Kunst“ des Linden-Museums, Stutt-
gart (Glück) S. 222.
/V. BUCHBESPRECHUNGEN
Benedict, Ruth: Kulturen primitiver Völker (Glück) S. 227 — Baschma-
ko f f , Alexandre: La synthèse des périples pontiques (Glück) S. 227 — Kraft,
Georg: Der Urmensch als Schöpfer (Glück) S. 228 — Jens en, Ad, E.: Das
religiöse Weltbild einer frühen Kultur (Glück) S. 229 — Salier, Karl: Grund-
lagen der Anthropologie / Art- und Rassenlehre des Menschen (Glück) S. 230/31
— Kayser, Hans: Akroasis (Glück) S. 232 — G e b s e r , Jean: Ursprung und
Gegenwart (Glück) S. 233 — LecomteduNouy, Pierre: Die Bestimmung
des Menschen (Glück) S. 233 — Falkenburger, F.: Grundriß der Anthro-
pologie (H.—W.W.) S. 234 — Festgabe Schlaginhaufen (Salier)
S. 235 — S p i e t h , Rudolf: Der Mensch als Typus (Glück) S. 238 — U n -
gern-Sternberg, Roderich von, und Schubnell, Hermann: Grund-
riß der Bevölkerungswissenschaft / Wagemann, Emst: Menschenzahl und
Völkerschicksal (Glück) S. 239 — H i m p e 1, Kurt: Probleme der Entwicklung
im Universum / H u s s , W. und Pfeiffer, H. H. : Zellkern und Vererbung /
W e n z 1, Aloys: Materie und Leben (Glück) S. 240 — Lindblom, K. G.:
Spears and staffs with two or more points / Wire-drawing, especially in Africa /
African razors / Nose Ornaments in Africa / Tubulär smoking pipes, especially in
Africa / The one-leg resting position in Africa and elsewhere (Glück) S. 241 —
Lagercrantz, Sture: Contribution to the ethnography of Africa (Glück)
S. 244 — Junge, Werner: Bolahun (Glück) S. 246 — Gusinde, Martin:
Urmenschen im Feuerland (Kunhenn) S. 246 — O 111 e y , Roi: Die schwarze
Odyssee (Glück) S. 247 — Morton, Friedrich: Xelahuh (Jäger) S. 248 — Ge-
schichte Asiens von Waldschmidt, Alsdorf, Spuler, Stange und Kressler
(Rau) S. 249 — Stark, Freya: Die Südtore Arabiens (Jäger) S. 251 — Stark,
Freya: Das Tal der Mörder (Glück) S. 253 — Li, Mirok: Der Yalu fließt (Ek-
kardt) S. 253 — Abshagen, Karl Heinz: Im Lande Arimasen (Jäger) S. 254
— Jordan, Francis; In den Tagen des Tammuz (Glück) S. 254 — Behr-
mann, Walter: Die Versammlungshäuser (Kulthäuser) am Sepik in Neu-
Guinea (Jäger) S. 255 — Pantenburg, Vitalis: Zum Dach Europas / Wild-
Ren / Arktis, Erdteil der Zukunft (Glück) S. 256 — Mertens, Robert: Eduard
Rüppell (Glück) S. 256 — Zinsser, Hans: Ratten, Läuse und die Weltge-
schichte (Glück) S. 257 — White, Anne Terry: Versunkene Kulturen (Glück)
S. 258.
Autorenanschriften
259
E.F. Po dach, Paris
Das Aktualitätsprinzip in der Völkerkunde
Zwischen den Jahren 1830 und 1833 erschienen die „Prinzipien der Geo-
logie“ von Charles Lyell. Bereits ein Jahr später kam ein Neudruck heraus,
1867/68 die endgültige zweibändige Ausgabe, die bis 1875 — dem Todesjahr
von Lyell — allein in England zwölfmal aufgelegt wurde.
Die „Prinzipien der Geologie“ gehören nach Inhalt und Wirkung zu den
bedeutendsten wissenschaftlichen Werken des 19. Jahrh, Dieses Werk hat
entscheidend dazu beigetragen, daß die naturgeschichtlichen Fächer zu Natur-
wissenschaften geworden sind. Darüber hinaus bestimmte es den Geist jener
Wissenschaften, die in England und Frankreidi als Science auch Gebiete ein-
schließen, die nach unserem Sprachgebrauch zu den Geschichts- oder Geistes-
wissenschaften gehören. Auf die Vorgeschichte und menschliche Urgeschichte
hat Lyell selbst sein Prinzip angewandt. Bei seiner Stellungnahme für die An-
sicht von Boucher de Perthes hat Lyell mit Hilfe aus englischem Boden stam-
mender Steinartefakte die These des französischen Urgeschichtsforschers er-
härtet, daß der Diluvialmensch nicht nur existierte, sondern bereits Werkzeuge
besaß. Damit war jene Ausweitung der menschlichen Kulturvergangenheit
gegeben, deren eine umfassende Wissenschaft vom Menschen gebieterisch
bedarf.
Der Untertitel von Lyells „Prinzipien der Geologie“ lautet: „Der Versuch,
die früheren Veränderungen der Erdoberfläche durch Heranziehung von Ur-
sachen zu erklären, die gegenwärtig wirksam sind.“ Das Aktualitätsprinzip
räumte mit den bis dahin geltenden Vorstellungen von plötzlichen, ungeheu-
ren erdgeschichtlichen Ereignissen auf, mit der Lehre, daß Wasserkatastrophen
oder Feuerkatastrophen immer wieder das Antlitz der Erde umstürzend ver-
ändert, ja neu geschaffen hätten. Durch den Nachweis der aktuellen Wirksam-
keit endogener Gestaltungskräfte und der durch Wind, Wasser und Eis oder
das organische Leben exogen herbeigeführten Änderungen wurde gezeigt, daß
die Kenntnis der Gegenwartsgeschehnisse zur Erkenntnis des Herganges aller,
auch der größten erdgeschichtlichen Änderungen verhilft. Durch das Aktua-
litätsprinzip erlangte die bis dahin von phantastischen Spekulationen be-
herrschte Geologie den Charakter einer auf einwandfrei kontrollierbaren
Beobachtungen — z. T. auch Experimenten — beruhenden Wissenschaft.
Das Aktualitätsprinzip schloß wesentliche Unterprinzipien ein: das Konti-
nuitätsprinzip, das Summierungs- oder Akkumulationsprinzip und das Zeit-
prinzip. Erst seit Lyells Grundlegung der Geologie ist das wissenschaftliche
Denken mit den Realprinzipien vertraut geworden, daß die Natur keine
Sprünge mache, in ihr kleine und kleinste Ursachen gewaltigste Wirkungen
hervorzurufen vermögen und die Dauer (Zeit) uneingeschränkt in Rechnung
gesetzt werden kann, sofern es die Umstände fordern. Durch diese Prinzipien
10
E. F. Podach
ist eine Entwicklung eingeleitet worden, die der Geologie unter den Natur-
wissenschaften ein sehr hohes Ansehen, unter den einst naturgeschiditlidien
Fächern höchstes Ansehen sicherte.
Darwin hat dann das Aktualitätsprinzip zur Erklärung der Geschichte der
Formmannigfaltigkeit lebender Wesen angewandt. Wie kaum sonst in der
Wissenschaft sind historische Ideen- und Realzusammenhänge so einwand-
frei gesichert wie im Fall Darwin-Lyell. Darwins Tagebuchaufzeichnungen
während der Weltreise an Bord der Beagle bezeugen, wie tief er von Lyells
Buch beeindruckt war, und die erste selbständige wissenschaftliche Arbeit Dar-
wins galt der Anwendung des Aktualitätsprinzips auf das Problem der Entste-
hung der Korallenriffe bzw. Atolle. Erst recht bei dem Versuch, die Entste-
hung der Arten zu ergründen, fühlte er sich als Vollzieher der Grundsätze je-
ner, wie er selbst sagt, „Revolution der Naturwissenschaften", die mit dem
Werk Lyells eingeleitet worden ist. Tatsächlich sind bei Darwin alle ausschlag-
gebenden Gesichtspunkte und Begriffe, Methoden und Theorien an dem
Aktualitätsprinzip orientiert.
1
Darwins Werke wurden zu einem sekundären, in der Wirkung vielleicht
noch intensiveren Ausstrahlungspunkt für das Aktualitätsprinzip. Das bezeugt
der Einfluß auf die vorgeschichtlichen und geschichtlichen, Völker-, sprach-
und seelenkundlichen Disziplinen. Auf völkerkundliche Probleme hat Darwin
selbst das Aktualitätsprinzip angewandt. Es geschah dies vor allem im abschlie-
ßenden dritten Teil des Werkes über die Abstammung des Menschen. Darin
wird die geschlechtliche Zuchtwahl beim Menschen erörtert und der Versuch
unternommen, aus dem Entstehungsmechanismus sekundärer geschlechtlicher
Charaktere das Aufkommen und die Ausbildung von Rassenmerkmalen abzu-
leiten. Dies geschieht unter Heranziehung ethnographischer Materialien, ins-
besondere über das Schmuckbedürfnis des primitiven Menschen, unter stän-
diger Anwendung völkerpsychologischer und ethnologischer Überlegungen.
Dadurch gehören die einschlägigen Kapitel zentral zur Cultural Anthropology,
deren Entstehung Darwin entscheidend beeinflußt hat.
Gewiß, die von Darwin begründete Entwicklungslehre ist in fast allen ihren
Auswirkungen von den Kinderkrankheiten des Evolutionismus — falscher
Präsentation und Deutung von Tatsachen, willkürlichem Gebrauch von frag-
würdigen Hypothesen zugunsten eines vorweggenommenen Entwicklungsver-
laufs — nicht frei gewesen. Der Evolutionismus ist — wie so mancher „Is-
mus“ — als ein richtiger Gedanke auch dort angewandt worden, wohin er
nicht gehört. Gegen den „Evolutionismus“, gegen den Versuch, den Entwick-
lungsgedanken am falschen Ort zur Geltung zu bringen, ist völkerkundlich sehr
viel zu sagen. Gegen den Entwicklungsgedanken selbst, falls er nur richtig
angewendet wird, dagegen nichts. Entwicklung ist sowohl ein unerläßliches
Postulat als auch ein gesichertes Faktum. Auch die militantesten Gegner des
Evolutionismus können den Gesichtspunkt der Evolution nicht entbehren und
verfallen zuweilen höchsteigen in die von ihnen gegeißelten evolutionistischen
Fehler.
Das Aktualitätsprinzip in der Völkerkunde
11
Vor allem darf die ideologische Relevanz der Entwicklungslehre nicht außer-
acht gelassen werden. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß
bei der Kritik des Evolutionismus eigentlich nicht der — eine Vielfalt von
Auslegungen und Anwendungen, verschiedene naturphilosophische und welt-
anschauliche Deutungen zulassende — Entwicklungsgedanke der Dorn im
Auge ist, sondern das Aktualitätsprinzip. Denn die aktualistische Entwicklungs-
lehre ist es, die eine Durchbrechung der Kontinuität von Ursachen- oder Motiva-
tionsreihen, also Schöpfungsakte ausschließt und somit z. B. in der ethnologi-
schen Religionsforschung wohl für den als solchen realen und im Einzel- wie
Völkerleben vielfältig wirksamen Glauben an das Übersinnliche und Über-
natürliche, nicht aber für übersinnliche Mächte einen Raum läßt. Denn diese
werden teils (vom Erkennenden her) als der aktuellen Erfahrung unzugänglich
angesehen, teils (gegenständlich) als Potenzen gedacht, die nicht stets und
überall wirksam sind. Eine solche Einstellung führt gerade auch bei der Er-
forschung magischer und mystischer Erscheinungen auf Irrwege. Ist sie doch
an gewissen mysteriösen Erlebnissen eines sog. natur- und götternahen Men-
schentyps orientiert und steht im Banne von Haltungen und Vorgängen, denen
wir im exakt vorweisbaren und kontrollierbaren Erfahrungsbestand nicht oder
nur „ausnahmsweise“, d. h. bei unkritischer Hinnahme begegnen.
Gewiß, der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich vornehmlich auf zwei
Fronten: erstens dort, wo bis dahin als selbstverständlich Erschienenes zum
Problem gemacht wird, das andere Mal dort, wo es um die Erkennung (Ent-
deckung) und Abklärung besonderer Fakten geht. Gerade bei diesen bewährt
sich das aktualistische Vorgehen; bietet es doch durch die Verwertung der
Gesichtspunkte, die der Kenntnis des aktuellen Seelenlebens und seinen reli-
giösen wie abergläubischen Verflechtungen zu entnehmen sind, die Möglich-
keit, selbst an offenkundig irrationale Tatbestände heranzukommen. Wir ver-
mögen sie dadurch zu deuten, wie dies im Falle von Magie und Zauberei, der
Riten und Mythen der Naturvölker geschieht. Daher ist es gewiß kein Zufall,
daß gerade in der Theorie der Entstehung der Religion bzw. der Magie und
Zauberei, insbesondere bei der Einführung und Begründung des Präanimis-
mus durch Preuß, Vierkandt und Marett das Aktualitätsprinzip eine entschei-
dende Rolle spielt, selbst wenn es nicht ausdrücklich genannt ist.
Ja, einer der Urheber der Lehre vom Präanimismus hat sogar die Grund-
prinzipien aktualistischer Denkart in der Völkerkunde und Soziologie in einer
Weise herausgearbeitet, die einer Neuentdeckung des Aktualitätsprinzips
weitgehend gleichkommt. Gemeint ist Alfred Vierkandt. In seinem unter dem
Titel „Die Naturvölker und Kulturvölker“ 1896 erschienenen Werk hatVierkandt
bereits eine Neigung zu aktualistischen Überlegungen gezeigt, die dann in
dem zwölf Jahre später erschienenen Buch „Die Stetigkeit im Kulturwandel“
vollends zur Geltung kamen. Er zeigte, wie geringe Wirkungen durch ihre
Akkumulation die Gestaltung und den inneren wie kontaktbedingten Wandel
von Kultur und Völkerleben weit mehr beeinflussen als Einzelereignisse, seien
sie auch an noch so schöpferische Individuen gebunden. Dem Vierkandtschen
Stetigkeits- und Akkumulationsprinzip gesellte sich noch eine beachtliche ak-
E. F. Podach
tualistische These zu. Sie ist in der bisher mehr ignorierten als widerlegten
Auffassung gegeben, daß die Motive, die uns in den in ihren Wirkungen sich
summierenden Handlungen entgegentreten, vorwiegend, wenn nicht gar aus-
schließlich, trivialer Natur sind.
Das Trivialitätsprinzip ist ein wertvolles Regulativ idealistisch-ideologischer
Verschrobenheiten, die schon vor vielen Jahrzehnten bei der Erforschung alt-
germanischer Kulte und Mythologien den Unwillen von Haupt und Mann-
hardt erregt und den drastischen, doch berechtigten Ausspruch veranlaßt
haben: „Es wird bald kein roter Hahn und kein stinkender Bock mehr in der
Welt sein, der nicht Gefahr läuft, für einen germanischen Gott erklärt zu wer-
den.“ Seither reitet der sich irrationalistisch-einfühlend dünkende spirituali-
stische Rationalismus andere Steckenpferde und schießt andere Böcke. Der
profane Alltag des Primitiven wird tunlichst ignoriert, und wo das nicht mög-
lich ist, eingetaucht in eine Scheinwelt von Magie und Mythos, wo auch die
„gewöhnlichsten“ Bedürfnisse des Lebens nicht als solche, sondern höherer
kultischer Begehungen halber befriedigt werden, so Feldbau und Tierhaltung
und alles, was damit zusammenhängt, lediglich im Dienste magisch-religiöser
Vorstellungen erfunden wurden, wo die Menschen zumindest in ihren, frei-
lich sehr häufigen, „Festivitäten“ mit den kosmischen Urmächten sozusagen
auf Du und Du stehen.
Auch im Ausland sieht man sich zu entschiedenen Auseinandersetzungen
veranlaßt mit derlei Haltungen, die nicht nur die Voraussetzungen jeglicher
Forschung, sondern unsere ganze Wissenskultur bedrohen. Man hat dort da-
für bereits die Worte defeatism und escapisme geprägt. Bei uns in Deutsch-
land, dem Heimatboden der Romantik, und erst recht in der Völkerkunde,
wo die Lockung für viele sehr groß ist, sich mit „primitiven“ Phänomenen zu
identifizieren oder in sie hineinzukriechen, statt sie aufzuklären, dürfte es
auch nicht nutzlos sein, an die Worte zu erinnern:
Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen,
Stünd’ ich, Natur! vor dir ein Mann allein,
Da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.
Damit ist bereits eines der wichtigsten Ergebnisse berührt, die aktualistische
Überlegungen und Ermittlungen in der Völkerkunde ergeben haben, jeden-
falls ergeben haben sollten: Nämlich das Verscheuchen jener Phantasiegebilde,
die jetzt noch in weiten Kreisen als das Menschenbild der Völkerkunde ange-
sehen werden. Zur Entscheidung der Frage, mit welchem Menschenwesen
die Völkerkunde überhaupt zu rechnen habe, ist eine „Neuentdeckung“ des
Aktualitätsprinzips um so notwendiger, als dieses inzwischen in den Wellen
evolutionistischer Spekulationen untergegangen ist.
Infolge der Nötigung, bei ihren kühnen Annahmen mit dem Faktor Zeit
sehr großzügig umzugehen, haben die Evolutionisten die Anfänge so weit und
in einer Weise zurückverlegt, daß die Quantität sowohl der zeitlichen Feme als
Das Aktualitätsprinzip in der Völkerkunde
13
auch des vorausgesetzten seelisch-kulturellen Entwicklungsabstands in einen
tiefgreifenden Unterschied der Qualität umschlug. Da die Naturvölker als
Völker der Urzeit gedacht waren, mußten sie von den Kulturvölkern grund-
verschieden sein.
Keiner hat mit diesen Fehlmeinungen so überzeugend aufgeräumt wie
Preuß durch seine aktualistische Interpretation der Psyche der Naturvölker.
Er wurde einerseits durch seine Erfahrungen bei Naturvölkern zu der aktua-
listischen Fragestellung geführt, andererseits durch die Notwendigkeit, sich
mit Lehren auseinanderzusetzen, die eine besondere naturvölkische, von der
des Kulturmenschen wesensverschiedene Mentalität voraussetzen. Hat sich
doch gerade im Zentralgebiet seiner Interessen, in der ethnologischen Reli-
gionsforschung, die auch auf anderen Gebieten stark fühlbare, besonders durch
Lévy-Bruhl und seine unkritischen Nachfolger vertretene Einstellung am stärk-
sten ausgewirkt. Man hatte die alten Anschauungen über das Wesen der „Wil-
den“ durch den modernen psychologischen Relativismus, mit Hilfe einer myste-
riösen Kollektivseele, durch eine nebulare Metalogik und durch fragwürdige
Behauptungen über die Natur des Unbewußten systematisiert.
Schließlich fiel man ganz einfach einer psychologischen Verlockung zum
Opfer. Die Neigung, einen auffälligen Zug zur Wesenseigentümlichkeit zu
machen, gehört zu den elementarsten Menschlichkeiten. Was dabei heraus-
kommt, klingt stets überzeugend. Davon lebt ja die ganze Vulgärcharaktero-
logie, Ausdruckskunde und Rassenpsychologie. Die Ethnologie, die mit exo-
tischen Völkern, ihrem seltsamen Gebaren und oft abstrusen Einrichtungen zu
tun hat, ist solcher unzulässigen Verallgemeinerung oder besser Überbewer-
tung auffälliger Züge besonders ausgesetzt. Das zeigt die ganze Geschichte
der Völkerkunde. Die Streitigkeiten um das Problem des Mutterrechts waren
davon beeinflußt, daß der vaterrechtliche Europäer die befremdlichen matri-
iinearen, überhaupt klassifikatorischen Verwandtschaftsbeziehungen nicht ob-
jektiv zu werten vermochte. Aus einer auffälligen Teilerscheinung machte man
flugs eine Kemfunktion des gesellschaftlich-wirtschaftlich-kulturellen Gesamt-
zusammenhanges. Daß auch bei den modernen Untersuchungen über die Pat-
terns of Culture — bei dem letzten Endes gefühlsmäßigen („intuitiven“)
Erfassen des Kulturzuschnitts ■— die Gefahr der Überbewertung nur auffäl-
liger, doch objektiv nicht kulturbestimmender Züge besteht, braucht nicht
besonders betont zu werden. Die Eigenart seiner religiösen Praktiken und
Vorstellungen stellte den primitiven Menschen in ein besonderes grelles Licht.
Man ließ sich davon so stark blenden, daß die Relevanz des profanen und
individuellen Seelenlebens vernachlässigt wurde. Preuß war einer der ersten,
der mit gebotener Entschiedenheit diesen Fehler gerügt und die Ungereimt-
heit der Auffassung nachgewiesen hat, alles und jegliches Tun der Naturvölker
wäre von religiösen Rücksichten beeinflußt, von einem prälogischen Denken
bestimmt oder sei nur der Ausfluß von représentations collectives, von Grup-
penideen.
Zum Erweis, daß gerade bei dem Problem von Religion, Ritus und Mythos
der Rekurs auf angebliche entscheidende Besonderheiten der Denkart und
14
E. F. Podach
Fühlweise, der Leidenschaften und des Wollens des primitiven Menschen
sachlich unstatthaft, theoretisch aber auch völlig unnötig sei, suchte Preuß vor
allem Kontinuitäten zwischen den verschiedenen religiösen Erscheinungen zu
ermitteln. Ihm wie dem ähnlich verfahrenden englischen ethnologischen Reli-
gionsforscher Marett ist es denn auch gelungen, Entwicklungen von überzeu-
gender Stetigkeit aufzuzeigen, sowohl was die als religiös anzusehenden Fak-
ten als auch die sie beseelenden Gefühle und Motive, leitenden Gedanken und
Zwecke betrifft.
3
Das Ergebnis, daß die Primitiven von der gleichen Denkart, von dem-
selben Gefühls- und Willensleben sind wie die Angehörigen der Kulturvölker,
daß die Eigenart der Primitiven und der einzelnen Naturvölker nicht von
einer besonderen Mentalität oder einer Kollektivpsyche abhängig ist, sondern
bloß eine durch natürliche, soziale und historisch-kulturelle Momente be-
stimmte Differenzierung darstellt, wurde u. a. durch Allier, Bartlett, Rivers,
Thurnwald und Lowie polemisch gesichert. Früher war diese Auffassung frei-
lich Männern wie Bastian, Boas, Lusdian oder Schurtz eine die Völkerkunde
als Wissenschaft überhaupt erst ermöglichende Selbstverständlichkeit.
Der Mensch, den die Völkerkunde zu ihrem Gegenstand hat, ist der aktuelle
Mensch in seiner jeweiligen geschichtlichen Bestimmtheit und kulturellen
Besonderheit. Das heißt freilich nicht, daß der primitive Mensch nunmehr
einfach nach Analogie eines modernen Menschen, der nur in eine andere
natürliche und kulturelle Umwelt geraten sei, zu betrachten wäre. Lediglich
die Anwendung von psychologischen Begriffen und Kategorien, die bei dem
Menschen, wie er in unserem Alltag lebt, grundsätzlich nicht aktualisierbar,
also ihm wesensgemäß unangemessen sind, ist unstatthaft. Andererseits gelten
für ihn die gleichen nicht kulturspezifisch eingeengten Einsichten, die auch
auf die Menschen primitiver Völker und Kulturen angewendet werden kön-
nen und müssen. Das ist der Sinn des Aktualitätsprinzips in der Völkerkunde
ganz allgemein, nicht allein bei psychologischen Fragestellungen im engeren
Sinne, sondern bei der Betrachtung jeglicher Kulturgebilde und sozialer Funk-
tionen, aller Entstehungsgründe, Sinnzusammenhänge, Motive und Zwecke.
Der Einwand, daß es keine Kriterien für die richtige Anwendung des Aktua-
litätsprinzips gibt, ist freilich greifbar gegenwärtig. Doch es gibt kein Real-
prinzip, das von vornherein Gewähr böte, daß es sicher zu Ergebnissen führt
und diese auch richtig sind. Die Völkerkunde hat es nicht mit Axiomen zu
tun, die an und für sich wahr sind, und die eine analytische Deduktion wei-
terer Wahrheiten zulassen, wie es etwa in der Geometrie der Fall ist. Die
völkerkundlichen Prinzipien sind Instrumente, die sich durch ihre Brauchbar-
keit auszuweisen haben. Eine völkerkundliche Prinzipienlehre in der Art von
Kochrezepten gibt es nicht und wird es niemals geben.
Ernster scheint der Einwand, daß die Aktualität etwas Relatives sei und
von dem Stand der Erkenntnis abhänge. Gewiß ist es so, daß durch die er-
folgreiche Handhabung des Aktualitätsprinzips sich stets die Voraussetzun-
Das Aktualitätsprinzip in der Völkerkunde
15
gen zu seiner weiteren Anwendung ändern: Schon bei der ersten Heranziehung
der geologischen Gegenwartskräfte zur Erklärung historisch-geologischer Fra-
gen haben die dadurch eruierten Tatbestände der erdgeschichtlichen Vergan-
genheit ihrerseits zur Vermehrung der Kenntnis der erdgeschichtlichen Gegen-
wart und der in ihr wirkenden Faktoren geführt. Ebenso ist dies bei der An-
wendung des Aktualitätsprinzips in der Völkerkunde. Das aus dem Studium
der Psyche des Kulturmenschen gewonnene Wissen erlangt selbst eine Ver-
mehrung, nachdem es einmal auf die Erkenntnis der primitiven Seele ange-
wendet worden ist. Diese Dialektik der, wie man zu sagen pflegt, „gegensei-
tigen Erhellung“ ist von höchstem und eigenem Wert. Es ist ja der Mensch,
der hier und dort ist, wie er in der Vergangenheit war und in der Zukunft
sein wird, nach dem wir fragen.
4
Dialektisch ist das Aktualitätsprinzip noch in einer anderen, nicht minder
wichtigen Beziehung. In der Lyellschen Fassung trat dies nicht in Erscheinung,
da es bei dem Gegenstand der Geologie nur eine Randbedeutung besaß.
Die Demonstrations- und Beweismethoden der beschreibenden Naturwissen-
schaften sind einfacher als bei einer Wissenschaft, wie es die Völkerkunde ist.
Die Begriffs-, Hypothesen- und Theorienbildungen stehen in der Geologie,
Zoologie und Botanik wie gesamten Biologie in anderer Beziehung zur Em-
pirie als in der Völkerkunde. Der schlichte Augenschein spielt dort eine über-
zeugendere Rolle als hier, wo eine einwandfreie Anschauung und unvorein-
genommene deutende Erfassung der Dinge nicht nur subjektiv-psychologisch,
sondern auch erkenntniskritisch-methodologisch das Hauptproblem und das
Endziel unserer Wissenschaft sind.
Die Völkerkunde arbeitet mit einer Unzahl von Begriffen umstrittener und
sachlich fragwürdiger Geltung. Vermeintliche Wirklichkeiten erweisen sich
immer wieder als bloße Möglichkeiten und werden durch methodisch ver-
feinerte Beobachtung und schärfere Begriffsbildung hinfällig. Das Aktualitäts-
prinzip ist ein wertvolles Regulativ zur Unterscheidung von Wirklichkeit und
Möglichkeit.
Das Aktualitätsprinzip gebietet, von der aktuellen Erfahrungswelt auszu-
gehen, um durch die empirische Prüfung begründeter Möglichkeiten neue
Erkenntnisse zu gewinnen, kurz, den Bestand von Annahmen, Hypothesen
usw. zu aktualisieren, ihnen zu einer kontrollierbaren Erkenntniswirklichkeit
zu verhelfen. Diese dialektische Bedeutung des Aktualitätsbegriffes ist sogar
die ursprüngliche. Der Aktualitätsbegriff findet sich bereits in der Metaphy-
sik des Aristoteles, seine Geschichte läßt sich über die Scholastik, wo er ein
wichtiger Systembegriff war, bis zu Husserl verfolgen. Wobei seine Wesens-
bestimmtheit die gleiche blieb, wie sie im Anfang war. Aktualität bedeutete
für Aristoteles die Wirklichkeit, im Gegensatz zur bloßen Virtualität und
Potentialität. Wie es in der aristotelischen Erkenntnislehre heißt, wird aus
dem Potentiellen ein Aktuelles nur durch Aktuelles. Das besagt in unserem
Sprachgebrauch: Nicht aktualisierte, erst recht grundsätzlich unaktualisierbare
16
E. F. Podach
Hypothesen, Annahmen und Begriffe sind inhaltslos und wissenschaftlich ge-
genstandslos, Jeder Begriff muß einen aktualisierbaren Inhalt haben, um durch
die Erfahrung zum Bestand der Erfahrung zu werden. Je mehr die Wissen-
schaft auf die reale Aktualisierung oder aktualistische Durchdenkung ihrer
Begriffe verzichtet, um so eher läuft sie Gefahr, eine Sammlung leerer Wort-
hülsen zu werden.
Die jetzt modische Gefühlserkenntnis täuscht darüber häufig hinweg. Sie
sucht eine Aktualisierung vom Subjekt her zu vollziehen. Private Ergriffen-
heit, unkontrollierbare Ganzheitsschau und einfühlendes Innewerden sollen
die klare Begrifflichkeit ersetzen. Anstelle des Erkenntnisobjekts wird die Emo-
tionalität des Erkennenden oder richtiger des Schauenden mit mehr oder weni-
ger beschwingten Worten aktualisiert.
5
Das Aktualitätsprinzip verhilft zur Unterscheidung der Wirklichkeit von der
bloßen Möglichkeit gerade auch in der Völkerkunde. Ein klassisches Beispiel
dafür: Darwins bereits erwähnte Untersuchung über die Entstehung der Men-
schenrassen ist der erste und grundsätzlich noch heute nicht überbotene Ver-
such, die Rassengeschichte des Menschen unter Heranziehung ethnographi-
scher Materialien und ethnologischer Überlegungen aufzuhellen. Wenn Dar-
win dennoch scheiterte, so liegt das nicht an dem von ihm angewandten Prin-
zip, die aktuellen Motive im Verhalten der Menschen bei der sog. sexuellen
Auslese herauszuarbeiten, auch nicht an der Unzulänglichkeit seines Materials
im einzelnen, sondern eben daran, daß er an einem entscheidenden Punkt
vom Aktualitätsprinzip abwich und für eine Annahme optierte, eine bloße
Möglichkeit, die er ohne aktualisierendes Durchdenken oder aktualisierende
Nachprüfung dem Verhalten der Menschen bei der Gattenwahl unterstellte.
Zwar hat Darwin mit Recht in der Differenzierung oder Weiterdifferenzie-
rung der bereits zu Menschen gewordenen Hominiden in physisch-anthropo-
logisch faßbare Gruppen eine Kulturerscheinung im Auge gehabt. Aber auf
der Suche nach einem Zuchtprinzip für die offenkundig sozial-kulturell in Gang
gesetzte Siebung und Auslese übernahm er die Humboldtsche These, wonach
die Völker bzw. Rassen ihre volks- oder rasseneigenen Merkmale schätzen und
sie hervorzukehren, d. h. zu verstärken suchen. Dieses letzten Endes — was sich
angesichts eines Darwin und Humboldt ganz seltsam ausnimmt — rassen-
psychologische Argument führt sich dadurch ad absurdum, daß es zumindest
ein immanent vorschwebendes Rassenbild — in der vor kurzem üblich gewe-
senen rassenpsychologischen Phraseologie nannte man es „Rasseninbild“ —
der erst zur Rasse werdenden Gruppe an den Anfang, also ein subjektives
Rassenideal vor die objektive Wirklichkeit der Rasse setzt, ein offenkundiger
Nonsens.
Aktualistisch durchdacht erweist sich die Humboldtsche These als unhalt-
bar. Wer an ihr festhält, gerät zwangsläufig in jene Sackgasse, in der Darwins
Sexualauslese-Theorie vom Menschen endet. Bleibt man jedoch im Bereiche
des Aktualisierbaren, so lenkt der Versuch, die subjektiven (d. h. intentionel-
Das Aktualitätsprinzip in der Völkerkunde
17
len) und objektiven Bedingungen der Entstehung der leiblichen Ornamentik
zu erkennen, auf jene individuellen und völkerpsychologischen Motive des
leiblichen Schmuckverlangens, auf jene gesellschaftlich-ständischen Antriebe
hin, die heute, d. h. aktuell, die Beurteilung der Leibesschönheit und insofern
die Gattenwahl bestimmen. Solche hatten auch einstmals, zur Zeit der kultu-
rellen Ausdifferenzierung der Rassen, gewirkt und die Entstehung anthropo-
logisch faßbarer Gruppen (Typen) mitbedingt.
Darwin hat mit guten Gründen angenommen, daß die Entstehung der
Menschenrassen nicht oder nicht allein durch die natürliche Auslese erklärbar
ist. In der Tat, die Ausbildung der menschlichen Rassen war kein rein natur-
geschichtlicher — d. h. anthropologisch zu ermittelnder —, sondern auch ein
kulturhistorischer — d. h, ethnologisch zu erforschender — Vorgang. Es spricht
ja vieles dafür, daß die Ausbildung bestimmter Rassen sogar ausschließlich
durch sozial-kulturelle Faktoren herbeigeführt worden ist. Diesen im streng-
sten Sinne des Wortes kulturbedingten — nicht etwa im alten Sinne umwelt-
bedingten oder im neueren Hahn-Fischerschen Sinne domestikationsbeding-
ten — Rassen scheint von den sog. Systemrassen jedenfalls die weiße Rasse
anzugehören. Sicher war die Geschichte der zum Menschen gewordenen Ho-
miniden von Anfang an auch Kulturgeschichte, d. h. eine solche, in der kul-
turelle Kräfte und Motive wirksam waren, die auch heute am Werke, also
aktuell sind. Die Zuständigkeit der Ethnologie reicht weit in ein Gebiet hin-
ein, das bislang ausschließlich als Domäne der physischen Anthropologie an-
gesehen worden ist.
☆
An der historischen Gegebenheit, wohl auch an der modernen Bedeutsam-
keit des Aktualitätsprinzips dürfte kein Zweifel bestehen. Freilich, das Aktua-
litätsprinzip konstituiert nicht erst den (oder einen) Gegenstand der Völker-
kunde. Das Aktualitätsprinzip ist ein Regulativ der methodischen Verwer-
tung dessen, was bereits zum Erfahrungsbestand geworden ist. In diesem
Sinne gehört das Aktualitätsprinzip zu den alten, freilich mehr gelegentlich
und ohne Methodenbewußtsein angewandten Verfahrensweisen der Völker-
kunde. Durch absichtliche Anwendung und den konkreten Erweis seiner Nütz-
lichkeit wird sich das Aktualitätsprinzip gewiß auch in der bewußten Metho-
dik der Völkerkunde behaupten. Kritischen Anfechtungen wird es wohl schon
deshalb nicht ausgesetzt sein, weil es keinem der gesunden Prinzipien der
Völkerkunde widerspricht. Über die systematische Stellung des Prinzips braucht
man schon deshalb keine Worte zu verlieren, weil es ein geordnetes System
von Prinzipien und Grundbegriffen in der Völkerkunde — dies zeigen im deut-
schen Schrifttum die vorzüglichen Arbeiten von Milke — vorläufig jedenfalls
nicht gibt.
Freilich, zu einigen Prinzipien, vor allem gewissen Problemen hat das Ak-
tualitätsprinzip enge, zu manchen sogar sehr enge Beziehungen. Dazu gehö-
ren eben jene, mit denen es schon dem Namen nach eine Verwandtschaft
bekundet. Nämlich die aktuellen Fragen, bei denen eine besondere Beru-
2 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
18
E. F. Podach,
fung auf das Aktualitätsprinzip als ein Pleonasmus erschiene, würden sie nicht
allzu oft unter Gesichtspunkten und nach Grundsätzen behandelt, die dem
Aktualitätsprinzip geradezu Hohn sprechen. Gemeint sind alle Erscheinun-
gen im Kontakt der Völker, wie die vor unseren Augen ablaufenden Akkultu-
rationen, Kulturrezeptionen usw. Hier bietet sich ja überhaupt ein weites und
fruchtbares Feld gerade für deutsche völkerkundliche Arbeit. Wir brauchen
nicht mehr Amerika zu beneiden, wo im mainland oder in den Außengebie-
ten, wie auf Hawaii, sich wahre Völkerkontaktslaboratorien befinden, die so
hervorragende Arbeiten veranlaßten, wie die von Park, Bogardus, Embree,
Herskowitz, Lund, Reuter und Schrieke, um nur einige zu nennen.
Wir erleben jetzt in Deutschland selbst extensive und intensive Völker-
berührungen, die reichen Stoff für primäre aktualistische Fragen bieten. Ge-
meint sind nicht allein die ethnologisch sehr interessanten vereinzelten und
kompakten Berührungen mit Angehörigen der verschiedenen Besatzungs-
mächte in ihrer ethnischen Vielfältigkeit. In diesem Kreise muß man sich vor
allem darüber klar sein, daß wir eine vollkommene Wandlung des ethnischen
Gefüges des Landes miterleben, bedingt durch eine Binnenwanderung un-
vorstellbaren Ausmaßes, die den ethnischen Charakter ganzer weiter Gebiete
verändert.
Hinzu kommt noch der Riesenstrom von Flüchtlingen von außen und die
zwangsweise Versiedlung ethnisch fremder Gruppen, die ein politischer
Mißbrauch des an sich schon fragwürdigen ethnischen Prinzips mit dem 1945
katastrophalen Odium des „Volks- bzw, Auslandsdeutschtums“ belastet hat.
In Deutschland, nicht anders in Österreich, befinden sich, nach sehr vorsich-
tiger Schätzung viele, viele Hunderttausende, die ihrem ethnischen Charakter
nach Stockungarn, waschechte Rumänen, Südslawen usw. sind. Wir wissen,
wie zäh sich ethnisch-kulturelle Traditionen behaupten — von den Eß-Sitten
über die Spracheigenheiten bis zu den im Beruf oder im Glaubensleben sich
bekundenden Gewohnheiten. Früher oder später wird es zu schweren Kon-
flikten kommen, ja zu katastrophalen Entladungen der Gegensätze, die schon
jetzt unter den vorläufig alle Tiefengeschehnisse verdeckenden gemeinsamen
Alltagssorgen schwelen.
Wir werden wohl in schon absehbarer Zeit ethnische Auseinandersetzun-
gen von einem Ausmaß und einer Intensität in Deutschland erleben, die alle
sog. Minderheitsstreitigkeiten in den Schatten stellen dürften.
Dann wird die Ethnologie in Aktion treten müssen, um den durch die Träg-
heit des Denkens und durch populäre Vorurteile drohenden Unsinn und
Unfug zu verhüten. Ebenso selbstverständlich ist es, daß sie sich dafür zu
rüsten hat. Sie kann dies auch aus ihrer rein auf wissenschaftliche Erkenntnis
gerichteten Berufung heraus mit bestem Gewissen tun. Aktuelle Ereignisse
im Kontakt von Völkern und Menschengruppen, selbst wenn diese nicht kraß
verschieden sind oder durch exotische Unterschiede auch dem Blinden auf fal-
len, zeitigen die gleichen Phänomene, die in jeglichem Kontakt der Völker,
auch der färben- und kulturverschiedensten, im Spiele sind.
Das Aktualitätsprinzip in der Völkerkunde
19
Vortrag gehalten auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in Ham-
burg 1947, etwas gekürzt. Die Darlegungen erheischen keine Literaturnachweise im ein-
zelnen, kommt es doch auf die Gesamthaltung der angeführten Forscher an. Der Schlußpassus
im 1. Abschnitt mit den Faustworten wurde bei der Drucklegung hinzugefügt, angeregt
durch einen der größten Gelehrten der Gegenwart: der Wissenschaftshistoriker der Harvard
Universität, der insbesondere um die Erforschung der Diffusion von Ideen und Lehren
orientalischen Ursprungs einzigartig verdiente George Sarton hat kürzlich aus ähnlicher
Veranlassung auf den Spruch Goethes hingewiesen, Isis 41 (1950) p. 228. Die im Vortrag ver-
tretene Auffassung über die „aktualistische“ Natur der Primitiven hat in dem erst später
bekanntgewordenen Nachlaß von Lévy-Bruhl eine weitere, ganz unerwartete Stütze ge-
funden. Vgl. E. F. Podach, Zum Abschluß von L. Lévy-Bruhls Theorie über die Mentalität
der Primitiven. Zs. f. Ethnol. 76 (1951) S. 42—49.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Karl Salier, München
Vorgeschichte und Ethnologie in ihrer Bedeutung
für die moderne Anthropologie
Die Anthropologie als die Lehre vom Menschen gewinnt heute unter mo-
dernen Gesichtspunkten ein umfassenderes Gesicht, als sie es zu der Zeit gehabt
hat, die sie rein „naturwissenschaftlich“ im alten Sinne war. Auch von der
Medizin ist inzwischen die Seele des Menschen entdeckt oder besser wieder-
entdeckt worden; die Psychologie, speziell eine medizinische Psychologie, und
in Zusammenhang mit ihr auch die Psychiatrie, haben wesentliche, vielfach
geradezu entscheidende Beiträge zur Erfassung des modernen Menschenbildes
geliefert. Namen wie Freud, Jung und Adler brauchen nur kurz genannt zu
werden. Von medizinischer, philosophischer, pädagogischer, theologischer
Anthropologie wird heute fast als von Selbstverständlichkeiten gesprochen,
während noch vor Jahren oder Jahrzehnten derartige Anthropologien kaum
dem Namen nach bekannt, geschweige denn mit einem entsprechenden Inhalt
erfüllt waren. Die Anthropologie ist heute zu der Wissenschaft geworden, in
der, aus dem Menschen und um des Menschen willen, nunmehr die Synthese
versucht wird zwischen Naturwissenschaft und Geistes Wissenschaft alten
Sinnes, zwischen den verschiedenen Spezialfächern, die sich mit dem Menschen
und seinen Äußerungen befaßt haben und weiter befassen, und auch mit den
verschiedenen Strebungen der Medizin, aus ihnen schöpfend und ihnen doch
auch wieder die Grundlagen vermittelnd zu einem Gesamtbild des Menschen.
Selbst der alte Begriff der Naturwissenschaften bekommt in diesem Zusam-
menhang für die moderne Anthropologie einen neuen Inhalt, der freilich tat-
sächlich uralt ist und zu der Auffassung schon Goethes zurückkehrt, nämlich
im Sinn einer Einheit von Soma und Psyche, wie sie der Natur speziell des
Menschen zukommt und ihre Besonderheit ausmacht. Bei einer solchen Aus-
weitung der modernen Anthropologie, ihrer Fragestellungen und ihrer Ge-
sichtspunkte, erscheint es nicht müßig, von dem inzwischen gewonnenen Stand-
punkt aus auch wieder einmal zu den alten Schwesterwissenschaften Stellung
zu nehmen, die sich seinerzeit von der Anthropologie bei ihrer Entwicklung
zu einer Naturwissenschaft alten Stils abgespalten und ihren eigenen Weg vor-
wiegend geisteswissenschaftlichen Gepräges genommen haben, nämlich der
Vorgeschichte und der Ethnologie. Der Anthropologe wird bei einer solchen
Stellungnahme besonderes Gewicht auf die Frage legen, welche Bedeutung
diese beiden Fächer noch heute oder heute wieder für die moderne Anthro-
pologie haben. Dabei werden aber auch umgekehrt Vorgeschichtsforschung
und Ethnologie wohl einige Anregungen gewinnen können, eben im Sinn
dessen, was man neben den übrigen genannten Anthropologien eine vorge-
schichtliche und eine ethnologische Anthropologie nennen könnte.
Vorgeschichte und Ethnologie in ihrer Bedeutung für die moderne Anthropologie 21
Wenn die Anthropologie ihre Aufgabe erfüllt, „den Menschen zu lehren“,
dann tut sie es in der Form, daß sie die Naturgeschichte der Hominiden be-
trachtet (Martin) und aus dieser Naturgeschichte den Menschen in seinen Son-
derformen und in seinen Gemeinschaftsbildungen ableitet. Damit sind die
Zusammenhänge der Anthropologie zur Vorgeschichte und zur Ethnologie und
der Aufbau aus diesen beiden Fächern ohne weiteres gegeben. Die Natur-
geschichte der Hominiden leitet den Menschen zunächst ab aus dem Kreis der
übrigen Hominiden. Das ist die Artlehre des Menschen. Sie verfolgt dann
weiter, wie die Menschenart sich in ihrer Artwerdung aufspaltet in die ver-
schiedenen Rassen und wie diese Rassen in die Völker eingehen, die sich heute
uns darstellen. Die menschliche Rassenlehre kennt zweierlei Arten von Rassen,
die sich aus der Polarität des Menschen in Soma und Psyche und aus dem Zu-
sammenspiel dieser Polaritäten zugleich mit der Umwelt ergeben, nämlich
„ursprünglich natürliche“, von geographisch bestimmten Grenzen gekennzeich-
nete Rassen (Fortpflanzungsgemeinschaften), und zweitens die sogenannten
Kulturrassen, in denen sich Fortpflanzungsgemeinschaften zusammenschließen
in Grenzen, welche durch das menschliche, speziell sein soziales Denken und
durch die soziale Organisation größerer Menschengruppen veranlaßt werden.
Geographische und kulturelle Rassen schließen einander nicht aus, sondern
gehen ineinander ein und entwickeln sich auseinander; die verschiedenen Kul-
turrassen bekommen durch die ihnen zugrunde liegenden geographischen Ras-
sen ein unterschiedliches Gepräge. Es ist klar, daß in dieser Lehre der Anthro-
pologie von der stammesgeschichtlichen und rassischen Entwicklung der
Menschheit die Vorgeschichte für die Erkennung und Einordnung der frühe-
sten Kulturstufen des Menschen und die Ethnologie für die Darstellung der
heutigen Verhältnisse eine grundlegende Bedeutung haben. Der Psychoana-
lytiker hing sagt einmal, die Vermutung sei gerechtfertigt, „daß auch in der
Psychologie die Ontogenese der Phylogenese entspreche“. Damit werden
gerade die Vorgeschichte und die Ethnologie als Geisteswissenschaften wieder
in den umfassenderen Bereich einer modernen Anthropologie einbezogen. Sie
werden nunmehr sogar zu einer besonders wichtigen Grundlage anthropolo-
gischen Denkens.
Die Aufgabe der Vorgeschichte ist es, das Geschehen der Menschheitsent-
wicklung für die Zeit zu klären, für die bewußte Überlieferungen fehlen. Ab-
weichend von einer einfachen Naturgeschichte alten Stils, die die Aufgabe vor-
nehmlich der Zoologie war und ist, hat sie dabei im Sinn der spezielleren Men-
schennatur in erster Linie Geistesgeschichte zu sein und die Entwicklung eines
kulturellen Erbes beim Menschen zu klären. Es kann ihr auch nicht genügen,
einfach einen geistigen Entwicklungsgang beim Menschen im Gegensatz zum
Tier festzustellen, sondern sie hat ein umfassendes Bild zu entwickeln und
muß besonders da einsetzen, wo das menschliche Leben sich schichtet und in
dieser Schichtung und aus ihr besondere Gesetze entwickelt; daher der Name
»Geschichte“. So gehören die ersten Formen der menschlichen Artlehre, für die
es zweifelhaft ist, wie weit sie noch Tier und wie weit sie bereits Mensch sind,
zwar an den Anfang einer Vorgeschichte, nicht aber eigentlich in ihren Bereich.
22
Karl Salier
Die Ausgrabungen in Südafrika haben für den Kreis des Australopithecus
(Dart), einer fossilen Hominidenart, speziell für den Paranthropus (Broom)
die überraschende Tatsache ergeben, daß hier am Ursprung der Mensch-
werdung eine Hominidenart gelebt hat mit aufrechtem Gang wie der Mensch,
aber einer Schädelkapazität von nur rund 500 ccm wie die höheren Menschen-
affen, die Fleisch fraß und ihre Jagdbeute mit Knochenwerkzeugen erschlossen
hat. Die neueren Funde aus dem Pithecanthropus-Sinanthropus-Kreis von
Chou Kou Tien (Weidenreich) ergaben eine Kultur schon mit Werkzeug aus
Steinquarz und Kulturgegenständen (Trinkschale) aus Knochen. Die eigent-
liche Vorgeschichte beginnt erst da, wo eine stärkere kulturelle Differenziert-
heit, das Nebeneinander- und zuletzt das Zusammenleben verschiedener Kul-
turen und damit verschiedener Äußerungen menschlichen Denkens sich zeigt.
Das gilt schon für die Zeit des Paläolithikums, auch auf europäischem Boden,
wo die alten Funde das Nebeneinanderleben des Neandertalkreises mit Men-
schenformen gezeigt hat, die wir als Vorformen des rezenten Menschen an-
sprechen müssen, während der eigentliche Neandertaler als „Sackgasse der
Entwicklung“ aus der direkten Entwicklungslinie zum Homo recens ausschei-
det. Es gilt besonders aber für das Gebiet, das bisher die reichsten Funde früh-
menschlichen Kulturgutes erbracht hat und das offenbar die Wiege für die
höhere menschliche Kultur darstellt, das Gebiet, welches Kleinasien und die
Nilländer, Mesopotamien und Indien umfaßt. Albright hat darüber kürzlich
in einem großangelegten Werk für die Vorgänge „von der Steinzeit zum
Christentum“ bzw. Monotheismus eine zusammenfassende Übersicht gegeben.
Die ur- und vorgeschichtlichen Vorgänge, die sich in der übrigen Welt ab-
spielten, müssen von dem Gerüst ausgehen, das hier für ein zentrales Gebiet
gezeigt wurde, und sie lassen sich unschwer von den Vorgängen ableiten, die
hier gespielt haben. Ägypten ist dann auch das Land der ersten Geschichte,
d. h. einer schriftlichen Überlieferung bis auf unsere Tage. Die Grenzen zwi-
schen Ur- und Vorgeschichte und der Geschichte sind völlig fließend geworden
und vieles, was früher noch Ur- oder Vorgeschichte war, ist heute bereits Ge-
schichte.
Für das Menschenbild, wie es die Anthropologie der Gegenwart zeichnet,
sind die vorgeschichtlichen Funde vor allem im Rahmen der modernen
psychoanalytischen Erkenntnisse von besonderem Interesse. Von der allge-
meinen Knüpfung der menschlichen Psychogenese an die Tierpsyche war schon
oben die Rede. Die menschliche Seele hat bei ihrer Entwicklung aus der Tier-
seele diese Tierseele nicht überwunden. Das Tier ist mit all seinen Trieben
im Menschen geblieben. Aber die Menschenseele ist in ihrer Entwicklung bis
heute sehr viel reicher geworden und es ist ihr dabei vieles von dem bewußt
geworden, was im Tier und ebenso in sehr vielen Menschen als „Unbewußtes
oder „Unterbewußtes“ (Freud) schlummert. Es war wiederum Jung, der auf
die Fülle von Beständen in der menschlichen Seele aufmerksam gemacht hat,
die bei einer derartigen Betrachtungsweise sich darbietet. Er hat in diesem
Zusammenhang von „Archetypen“ der menschlichen Seele gesprochen. Darun-
ter werden bestimmte Urformen verstanden, die bei allen Psychoanalysen aus
Vorgeschichte und Ethnologie in ihrer Bedeutung für die moderne Anthropologie 23
dem Unbewußten der Menschen in gleicher Weise auftauchen und die in ihnen
offenbar aus Urzeiten ruhen. In den Mythen und Märchen, Sagen und Pro-
phetien kommen sie bei den verschiedenen Völkern immer wieder in ähnlicher
Weise und doch auch mit einer spezifischen Färbung zum Ausdruck. So kön-
nen auch die Vorstellungen Dacques von der Urgeschichte des Menschen einem
gewissen Verständnis zugänglich werden. Für die Urgeschichte im allgemeinen
wird hier ein besonderes Gebiet der Deutung frühester Kulturfunde erschlos-
sen. Nur auf die Venus von Willendorf als das mögliche Abbild der Urmutter
sei verwiesen. Es wird sich sicherlich lohnen, einmal die Urgeschichtsfunde in
ihrer Gesamtheit unter den Gesichtspunkten der modernen Psychoanalyse zu
betrachten und auf der anderen Seite wird auch das Menschenbild der moder-
nen Anthropologie von einer solcher Betrachtungsweise der Vorgeschichte her
erheblich gewinnen.
Rassen, Völker und Konstitutionen, mag es sich dabei um die Konstitution
der Einzelindividuen oder um Völkerkonstitutionen handeln, sind der Kunst-
griff der Natur speziell für den Menschen, sich in großem körperlichen und
seelischen Reichtum zu entfalten. So schließt die Ethnologie wie die Rassen-
lehre an Abstammungslehre und Vorgeschichte an und hilft das Menschenbild
der modernen Anthropologie in umfassender Weise auszugestalten und abzu-
runden. Die Völker bauen sich auf aus einzelnen und aus den Rassen, sie ver-
wirklichen sich aus Geschichte, Kultur und sozialer Schichtung und sie ver-
wirklichen all diese Wurzeln in einer Weise, die jedem Volk und jedem Volks-
kreis ebenso wie jedem einzelnen im Zusammenhang mit seiner besonderen
Umwelt und seinen speziellen Lebensbedingungen ein besonderes Gepräge
verleihen. In den Völkern werden für die Gegenwart die Probleme des Zu-
sammenlebens, der gegenseitigen Sonderung und Anregung, der Unterschied-
lichkeiten und doch auch der Gemeinsamkeiten in allen Menschen und Men-
schengruppen aktuell, die von der Vorgeschichte und Geschichte für die Zeiten
vor unserer Gegenwart aufgeklärt werden. Von Kulturkreisen wird gesprochen,
von sozialen Schichten, auch von Volksgemeinschaft und Völkergemeinschaften,
von verschiedenen Internationalen, so einer roten, einer schwarzen und einer
goldenen Internationale; aber auch die Gestaltung jeder Einzelpersönlichkeit
im Rahmen der Völker, ihr Kulturgut und ihre kulturelle Leistung, die Ge-
staltung ihres ganzen Daseins durch die Zusammenhänge, in denen sie steht,
sind wichtig. Eine Völkerpsychologie wird bearbeitet, und die Ethnologie hat
wichtige Beiträge zu ihr zu liefern. Der Begriff einer Rassenpsychologie ist
verschwommen, vor allem deshalb, weil die Rassen überall dort, wo sie heute
überhaupt Gegenstand einer Psychologie sein können, zugleich immer irgend-
wie Volk sind, d. h. Kulturrassen. Rassen- und Volksbegriff fließen ineinander
über und sind gerade für den Anthropologen, der im Menschen Körperliches
und Seelisches zugleich sieht, oft nicht mit Schärfe zu trennen. Aber auch in
der Individualpsychologie ist die Völkerkunde von größter Bedeutung. Die
psychoanalytischen Untersuchungen haben ergeben, daß in jedem einzelnen
das Unbewußte (mit seinen Archetypen) als zentrale Kraft steckt; ein kollek-
tives Unbewußtes ist als Gemeinschaft in allem Lebendigen, das in den Indi-
24
Karl Salier
viduen und Persönlichkeiten Wirklichkeit wird. Um diese zentrale Kraft baut
sich im Unbewußten und auch im Bewußten an erster Stelle das seelische Erbe
unserer menschlichen Ahnen, weiter aber auch ein völkisches Erbe; jeder
einzelne kann gar nicht anders, als in seiner individuellen Entwicklung auch in
die Tradition einer Gemeinschaft, in erster Linie einer Familie, aber auch des
Volkes zu wachsen und damit gestaltet zu werden bis zu einem gewissen Grad
auch in den Anlagen, die seine Individualität in ihrer persönlichsten Prägung
darstellen. So kann die Ethnologie auch für die Analyse eines jeden einzelnen,
d. h. auch für Arzt und Erzieher große Bedeutung gewinnen. Auch dazu sei ein
Zitat wiederum aus Jung gegeben, der die hier bestehenden großen Zusam-
menhänge wohl als erster in Einzelheiten gesehen hat. Jung knüpft an die
Untersuchungen an, die Boas über eine somatische Plastizität der Rassen auf
amerikanischem Boden und über die Angleichung des Yankee-Typus an den
indianischen Typus angestellt hat und schreibt dann zur Völkerpsychologie
folgendes: „Ich lernte dieses Geheimnis erst kennen, als ich sehr viele Ameri-
kaner analytisch zu behandeln hatte. Da ergaben sich nämlich bemerkenswerte
Unterschiede gegenüber den Europäern. Zunächst fiel mir der große Einfluß
des Negers auf, ein psychologischer Einfluß natürlich ohne Blutmischung. Die
emotionelle Äußerung des Amerikaners, in erster Linie beim Lachen . . . findet
sich in der Urform beim amerikanischen Neger. Der eigentümliche Gang mit
relativ losen Gelenken, oder die schwingende Hüfte, die man bei Ameri-
kanerinnen so häufig beobachtet, stammt vom Neger. Die amerikanische Musik
bezog ihre Hauptinspiration vom Neger, ebenso der Tanz. Die Äußerungen
des religiösen Gefühls, die revival meetings (die ,holy rollers1 und sonstige
Abnormitäten) sind stark unter dem Einfluß des Negers — und die berühmte
amerikanische Naivität in ihrer charmanten Form sowie in ihrer mehr unan-
genehmen Erscheinungsweise kann leicht mit der Kindlichkeit des Negers ver-
glichen werden. Das durchschnittlich überaus lebhafte Temperament, das sich
nicht nur bei Baseball games zeigt, sondern ganz besonders in einer unge-
wöhnlichen sprachlichen Ausdruckslust, wovon der unaufhörliche und uferlose
Strom von Geschwätz in den amerikanischen Zeitungen das sprechendste Bei-
spiel ist, ist kaum von den germanischen Vorfahren herzuleiten, sondern gleicht
vielmehr dem ,chattering* des Negerdorfes. Der fast absolute Mangel an Inti-
mität und die allesverschlingende massenhafte Gesellschaftlichkeit erinnert an
primitives Leben in offenen Hütten mit völliger Identität aller Stammesgenos-
sen. Alles scheint Straße zu sein. Es ist natürlich schwierig, in den Einzelheiten
zu entscheiden, was auf Symbiose mit dem Neger und was auf Rechnung des
Umstandes zu setzen ist, daß Amerika immer noch eine ,pioneering nation‘ auf
jungfräulichem Boden ist. Aber im ganzen und großen ist der bedeutsame Ein-
fluß des Negers auf den allgemeinen Volkscharakter unverkennbar... Das
Merkwürdige ist . . ., daß man vom Indianer wenig oder nichts merkt . . •
Reagiert nur der Körper auf Amerika, die Seele aber auf Afrika? Diese Frage
muß ich dahin beantworten, daß nur die Manieren vom Neger beeinflußt sind,
was aber die Seele tut, das wäre noch zu untersuchen. Es ist natürlich, daß der
Neger in den Träumen meiner amerikanischen Patienten als Ausdruck für die
8 ■
T W
Vorgeschichte und Ethnologie in ihrer Bedeutung für die moderne Anthropologie 25
minderwertige Seite ihrer Persönlichkeit keine geringe Rolle spielt . . . Erst
im Verlauf weitgehender und tief dringender Analysen stößt man auf Symbole,
die mit dem Indianer in Beziehung stehen. Die progressive Tendenz des Un-
bewußten, sein Heldenmotiv m. a. W. wählt sich den Indianer als Symbol.“
Es wäre zweifellos lohnend, auch andere ethnologische Tatbestände in ähn-
licher Weise zu analysieren, so die Probleme der Telepathie, der Prophetie,
der „Wunderheilungen“ u. dgh, vor allem bei den Primitiven. Die Befunde
aus Vor- und Frühgeschichte würden damit zugleich weitergeführt. Vor-
geschichte und Ethnologie zusammen aber könnten nicht nur einen wesent-
lichen Beitrag zur Erkenntnis des einzelnen und der Verschiedenheiten unter
den einzelnen liefern, sondern umgekehrt könnten auch aus einer Analyse der
einzelnen Vorgeschichte und Ethnologie weitere Anregungen für ihre For-
schungen und Deutungen gewinnen. Auch könnten sich auf diese Weise trag-
barere Unterlagen als bisher ergeben, um zu der Notwendigkeit einer ange-
wandten Anthropologie Stellung zu nehmen, in der heutigen Verflechtung
und fortschreitenden Vereinheitlichung des Kulturgutes der Völker, die For-
derung nach bestimmten Kulturreservaten und dergleichen zu vertreten.
Damit ist kurz eine grundsätzliche Stellung genommen zur Bedeutung der
Vorgeschichte und Ethnologie für die moderne Anthropologie. Natur- und
Geisteswissenschaft, Medizin, Gesellschaftswissenschaft und überhaupt all
unser Wissen vom Menschen kommen vom Menschen selbst. Die Anthropologie
aber als die Lehre vom Menschen und als eine Wissenschaft, welche die
„Natur“ des Menschen aufzuhellen bemüht ist, muß zugleich Naturwissen-
schaft und Geisteswissenschaft sein. So ist die moderne Anthropologie heute,
wenn sie mit den Erkenntnissen der Zeit gehen will, vor die Notwendigkeit
gestellt, eine Synthese aus Natur- und Geistes Wissenschaft alten Sinnes, aus
der Medizin und überhaupt aus allem Wissen zu vollziehen, das sich auf den
Menschen bezieht. Neben einer medizinischen, einer philosophischen, einer
pädagogischen, einer theologischen und anderen Anthropologien vermögen die
Vorgeschichte als die Lehre von den ersten seelischen Äußerungen in der
menschlichen Gesellschaft und die Ethnologie als die Lehre von denselben
Äußerungen unter den heutigen Völkern im Sinn einer vorgeschichtlichen und
einer ethnologischen Anthropologie gewiß sehr wesentliche Beiträge zur Er-
kenntnis des heutigen Menschenbildes, nicht nur in seiner Gesamtheit und
umfassenden Fülle, sondern auch in einem jeden einzelnen zu geben.
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26
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SCHMALTZ, G., 1950. Über die Beziehung der Tiefenpsychologie zu den Geisteswissen-
schaften. Studium generale Bd. 3, H. 7.
Jahrbuch des Lindenmuseuras, N.F., Band 1, 1951
Julius F. Glück, Stuttgart
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
Ein kunstmorphologischer Beitrag zur Frage des Kitsches bei den Naturvölkern
Inhaltsverzeichnis
I. Alis Werke
1. Bestände und Berichte
2. Der Künstler
3. Die Technik
a) Guß in der verlorenen Form
b) Verkupferung
4. Die Beschreibung der Güsse
5. Die exemplifikatorische Bedeutung
11. Der Kitsch
1. Herkunft und Begriff des Kitsches
2. Die Universalität des Kitsches
3. Die haptische Grunderfahrung des Menschen
a) Lebendige Stofflichkeit — der Corporismus
b) Die Identität des Stoffes — das Stoffporträt
4. Die Auflösung des Begriffes „primitiv“ — die Stilfestigkeit
5. Die phasenhafte Überwindung der Stofflichkeit
a) Expressionismus — Impressionismus
Plastik und Flächenkunst
b) Die Integrationsstufe
6. Die Kontaktmetamorphose
7. Das Wesen des Kitsdies
Substanzkitsch — Kontaktkitsch — Formkitsch
8. Kitsch als elementares Phänomen
28
Julius F. Glück
I.
1. In den Beständen des Linden-Museums in Stuttgart befinden sich neun fer-
tige Gelbgüsse aus Kete Kratschi in Togo sowie eine Anzahl Objekte, die den
technischen Werdegang dieser Güsse zeigen. Die formale Beschaffenheit dieser
Arbeiten ist geeignet, beispielhaft einiges Licht auf den Stilwechsel und Stil-
verfall der naturvölkischen bildenden Kunst zu werfen und damit einen Bei-
trag zur „objektiven Kunsttheorie“ zu liefern [1].
Die Sammlung wurde etwa um das Jahr 1906 von dem damaligen Stations-
leiter in Kete Kratschi, Professor Mischlich, angelegt. Dessen Name ist zu-
mindest den deutschsprachigen Afrikanisten nicht unbekannt, da er zur Erfor-
schung der Hausasprache Wesentliches beigetragen hat.
Nachdem Mischlich die Gegenstände nach Deutschland gebracht hat, unter-
richtete er P. Staudinger, dessen großes Interesse für alle Gelbgußfragen Afri-
kas bekannt war, über die Existenz seiner Sammlung, wobei er auch die Erwer-
bungsumstände und einige technische Daten mitteilte. Staudinger referierte
dann in einer Sitzung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie
und Urgeschichte im Jahre 1909 über diese Güsse. Dieses Referat wurde wie
üblich in den Sitzungsberichten abgedruckt [2] und blieb unseres Wissens bis
heute der einzige literarische Niederschlag über dieses Thema.
Ein Teil der Sammlung befand sich damals bereits im Besitz des Gründers
des Linden-Museums, des Grafen Linden, während nach Staudinger ein grö-
ßerer Teil in den Besitz des Leipziger Grassi-Museums übergegangen sein soll.
Die beiden in der Sitzung von Staudinger vorgelegten Originale scheinen sich
damals noch in den Händen des Sammlers befunden zu haben. Es waren dies
die Kopfmaske eines Hausa-Mannes und ein Kamelreiter. Die weiteren von
Staudinger erwähnten Güsse, eine Frauenkopfmaske und zwei große Tafeln,
konnten nur als Photographien, die von Graf Linden zur Verfügung gestellt
worden waren, gezeigt werden.
Die im Linden-Museum vorhandenen Güsse haben mit einer Ausnahme den
Krieg heil überstanden. Lediglich die „erotische“ Tafel fiel bis auf drei ver-
schmorte Einzelteile einem Luftangriff zum Opfer, da sie zu den wenigen nicht
aus gelagerten Gegenständen gehörte.
Trotz entsprechender Bemühungen gelang es mir jedoch nicht, den Verbleib
der nicht unserem Institut gehörigen Güsse zu klären [3]. So ist es also nicht
möglich, einen Überblick über den Gesamtumfang der Sammlung Mischlich
zu geben. Hiervon wird jedoch diese Untersuchung im wesentlichen nicht be-
rührt, da das hier noch vorhandene Material ganz offensichtlich die bedeu-
tendsten Arbeiten umfaßt und auch zahlenmäßig ausreicht, um ein Urteil über
Wesen und Bedeutung der Werke des Joruba-Künstlers Ali Amonikoyi aus
Kete Kratschi zu gestatten.
Die Ausführungen Staudingers beruhen in der Hauptsache auf den brief-
lichen Mitteilungen Mischlichs, die wiederum wörtlich mit den Unterlagen
unserer Erwerbungsakte [4] übereinstimmen. Mischlich hat vermutlich seine
Erläuterungen vervielfältigt und allen Interessenten damals zugestellt.
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
29
2. Diese Güsse sind uns schon deshalb besonders wichtig, weil uns Name
und Herkunft des Künstlers überliefert sind. Dadurch wird jene Kruste der
Anonymität durchbrochen, die nicht nur für den Historiker der naturvölkischen,
sondern auch der eigenen frühen Kunst so viele Fragen zwangsläufig offen
lassen muß. Der Wunsch, die künstlerischen Erzeugnisse bestimmten Persön-
lichkeiten zuordnen zu können, liegt in der Tatsache begründet, daß einmal
der individuell schöpferische Prozeß zugänglich wird, und zum andern, daß
die soziologischen Zusammenhänge, in die jede Kunstübung eingebettet ist,
erhellt werden können. Denn in der Person des Künstlers laufen alle Fäden
des Komplexes Kunst zusammen. Die Frage der Entstehung, der wirtschaft-
lichen und formalen Motive, der Wertschätzung — alles das erfährt im Künst-
ler eine gewisse Konzentration, die uns konkrete Schlüsse erlaubt. Wenn hier
Manches trotzdem nur indirekt wieder erschlossen werden kann, so deshalb,
weil die Angaben Mischlichs nicht voll ausreichen. Vor allem sind die biogra-
phischen Daten sehr unzulänglich.
Der Wert der an diesem Beispiel möglichen Feststellungen wird durch die
Eigenart des Materiales noch gesteigert. Die besondere Rolle des Gelbmetal-
les, wie wir infolge des willkürlichen Legierungscharakters die Gußspeise in
Afrika zu nennen gezwungen sind [5], ist bekannt. Überall auf der Erde, wo
der Gelbguß auftritt, ist er auf das engste mit einem höheren politischen Orga-
nisationsprinzip verbunden, das wir als „Feudalismus“ ansprechen müs-
sen [6], dem siedlungsgeschichtlich die Stadt entspricht. Dieser Vorgang tritt
in Kleinasien und in der Ägäis bereits im 3, Jahrtausend v. Ch. in Erschei-
nung [7]. Die afrikanistischen Begriffe der „neusudanischen“, der
„rhodesischen“ bzw. der „syrtischen“ und „erythräischen“
Kultur sind nur Specifica oft zeitlich verschiedener, aber im Wesen identischer
Entfaltungs- bzw. Integrationsvorgänge [8, 9]. Historisch gesehen ist der Gelb-
guß eine sehr späte Erfindung. Anders ausgedrückt besagt dies, daß diese Kunst
bevorzugt im profanen Bereich angewendet wurde [10].
Nicht nur in Westafrika, sondern überall, wo der Gelbguß auftritt, dient er
der Repräsentation, der Machtverfestigung herrschaftlicher Gebilde, der Ober-
schicht. Die Bronze bzw. die Gelblegierung ist ein hierarchisches
Metall! Demographisch umgemünzt bedeutet dies die Zusammenballung
größerer Menschenmassen in den Siedlungen und weist auf die große Bedeu-
tung des Handels als wirtschaftlicher Faktor hin.
Der Beruf des Gelbgießers erfordert so viele technische Kenntnisse, daß
ihm im allgemeinen die Beteiligung an der Urproduktion nicht mehr zuge-
mutet wird. Die feudale, städtisch-gewerbliche Gesellschaft, der er zweifellos
entstammt, macht dies auch nicht mehr erforderlich, denn sie setzt die Arbeits-
teilung voraus. Arbeitsteilung muß aber zugleich als Ungleichheit in der Kon-
sumtion gelten.
In der Person des aus Ilorin stammenden Ali Amonikoyi werden diese all-
gemeinen sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des Gelbgusses so-
wie seiner Verbreitung in Afrika transparent.
Als sich Ali in Kete Kratschi niederließ, war er bereits ein weitgereister Mann.
30
Julius F. Glück
Er war im ganzen südlichen Sudan herumgekommen und hatte sich zeitweise
mit gutem Erfolg ausschließlich als Viehhändler betätigt. Schon diese Tatsache
ist sehr aufschlußreich, da sie Ali als einen Mann von großer Wendigkeit zeigt,
mit einem ausgeprägten Adaptionsvermögen. Wenn wir auch keine genaueren
Daten besitzen, so können wir doch annehmen, daß er von Handelszentrum
zu Handelszentrum wanderte, um sich dann in den Pausen seiner händlerischen
Existenz auf den altererbten Beruf zu besinnen — allerdings nur dann, wenn
er sah, daß er einen gut zahlenden Abnehmerkreis fand. Es ist wenig wahr-
scheinlich, daß Ali vor 1900 nach Kete Kratschi kam. Denn erst um jene Zeit
begann diese Doppelstadt am Volta mächtig aufzublühen, weil sie das Erbe
der vordem weitberühmten Handelsstadt Salaga übernehmen konnte. Salaga
war nämlich im Jahre 1894 von den Dagomba fast völlig zerstört worden. Kete
Kratschi zählte um die Jahrhundertwende 3250 Hütten und rund 30 000
Bewohner, unter denen sich allerdings zahlreiche Besucher befanden [11]. Die
Hausa-Kolonie gab den Ton an, daneben gab es solche der Joruba und Nupe.
Von Salaga erfahren wir, daß einzelne sudanische Karawanen bis 2000 Men-
schen umfaßten — dies, um eine Größenvorstellung vom Umfang des Handels
zu geben.
Ali hatte also nicht von ungefähr in Kete Wohnung genommen. Er hatte
allerdings nicht die Absicht, fest zu bleiben, sondern wäre in elastischer An-
passung an die Konjunktur, nachdem er den Bedarf der kaufkräftigen Schichten
Ketes an seiner Kunst befriedigt hätte, weitergezogen — als Viehhändler —
zur nächsten Handelsstadt. Wenn er in Kete länger blieb als vorgesehen, so
ist dies auf Mischlich zurückzuführen, der ihm größere Aufträge gab, die
übrigens recht gut honoriert werden mußten. Außerdem ließ er sich nur gegen
einen namhaften Betrag bei seiner Arbeit von Mischlich Zusehen.
Ali war also ein wandernder Handwerker, ein Vertreter jener
„nomadischen Kunstindustrie“ [12], die bei der Entstehung der oben genann-
ten städtebauenden feudalen Zivilisation Pate stand. Seine Existenz außerhalb
der normalen sozialen Situation gab ihm jenes Maß an Freiheit und Vorurteils-
losigkeit, das auch unsere Künstler fordern. Diese „unbürgerliche“ Überlegenheit
über die Norm zeigte sich bei Ali schon darin, daß er sich zwar durchaus als
Mohammedaner bekannte, sich aber keineswegs vom islamischen Verbot der
Nachbildung der menschlichen Gestalt behindert oder beunruhigt fühlte.
Darüber hinaus war sich Ali bewußt, zu der Gilde der Gelbgießer zu gehören,
der immer eine soziale Sonderstellung eingeräumt worden war. Diese Privi-
legien wurden in ganz Westafrika zugestanden, in Benin so gut wie in Kumasi
und anderwärts [13, 14].
Das gesunde Gegengewicht für dieses unafrikanische Maß an Freiheit bildet
die ausgeprägte Verhaftetheit an die eigene Familientradition. So schreibt
Mischlich [4]: „Die Kunst des Gelbgusses wird geheim gehalten. Sie wird
ausgeübt in der Familie Amonikoyi aus Ilorin und von den Eingeborenen, die
in diese Familie einheiraten. Die Amonikoyi betreiben seit uralten Zeiten die-
ses Kunstgewerbe. Die Modelle verfertigen die Künstler geheim, hinter ver-
schlossenen Türen.“
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
31
Wir sehen, die Bindung an die Familie ist mit der Geheimhaltung eng ver-
knüpft. Ganz abgesehen von den egoistischen Motiven, wird dadurch auch das
Gefühl, etwas Besonderes zu sein, sehr gestärkt; dies wirkt wieder auf die
Familienbindung zurück.
Es ist ganz sicher, daß Ali bei seinem Tun keineswegs nur vom ästhetischen
Impuls bewegt war, vielmehr war es der Wunsch nach Geld und Gewinn, der
seinen Arbeitseifer anstachelte. Dieser handfeste Antrieb gilt eigentlich für
alle afrikanischen Künstler, auch für die Holzschnitzer. Himmelheber mußte
dieses Motiv immer wieder feststellen [15].
Fassen wir nunmehr die auffallendsten Züge von Alis Berufseigenschaften
zusammen, so finden wir
das wandernde Kunsthandwerk
eine innere Unabhängigkeit gegenüber religiösen Vorstellungen
eine betonte Profitlichkeit
die Geheimhaltung der Kenntnisse und
eine ausgesprochene Familienbindung.
Diese Fakten erlauben die geschichtliche Ausdeutung, daßAZi der Erbe eines
Wissens und eines Personenkreises ist, dessen Fäden sehr wohl nach dem Aus-
gangspunkt des altweltlichen Entstehungszentrums der Metalltechnik, nach
dem kaspischen Hochland laufen können. Denn hier im Lande der vorarischen
Kassiten entstanden möglicherweise schon im 5. Jahrtausend v. Ch. die ersten
Dorfkulturen, und knapp zwei Jahrtausende später lernte man hier infolge
des natürlichen Erzreichtumes das Metall kennen und schätzen. Später zogen
diese kassitischen Schmiede in die benachbarten Länder, im Besitz begehrter
Erzeugnisse und einer hochgeachteten Kunstfertigkeit. Gerne gestand man
ihnen eine Art übernationaler Immunität zu — man freute sich, wenn sie
kamen. So erklären sich die oft „überraschenden Ähnlichkeiten der alten Metall-
gegenstände in der ganzen prähistorischen Welt“ [16] und, wie wir hinzu-
fügen müssen, auch die technischen und formalen Übereinstimmungen des
westafrikanischen Gelbgusses mit denen der Antike. Auf diese Weise flössen
primitiveren Völkern und Stämmen mit den fremden Erzeugnissen auch fremde
Formelemente zu, denn der landfremde Künstler brachte seine Formen mit,
die mit den technischen Fertigkeiten für die aufnehmenden Gruppen zunächst
eine untrennbare Einheit bildeten. Viele dieser frühgeschichtlichen Künstler
zogen ohne Anhang über die alten Handelsstraßen. Da und dort blieb der eine
oder andere hängen, heiratete eine der Töchter des Landes und gründete eine
Familie, die sein Erbe fortführte. Auf diese Weise kam es zweifellos zur Grün-
dung zweit- und drittrangiger Gewerbezentren, von wo aus neue Gebiete er-
schlossen wurden. Dieser Lebensstil führte von selbst zum Handel als Neben-
beruf. Nicht immer, aber wohl meistens, begaben sich diese Pioniere des Kunst-
handwerks in die kulturelle Diaspora, in die geistige Isolation, dabei haben
sich die Erben allmählich auch somatisch verändert. Auf diesem langen Weg
gingen Sinn und Bedeutung manchen Motivs verloren, weil die Kraft zur Sinn-
32
Julius F. Glück
erhaltung bei nur mündlicher Weitergabe allmählich schwächer werden mußte,
wenn keine kongeniale neue Umwelt angetroffen wurde.
So wurden die Gelbgießer Afrikas Neger, nur gelegentlich taucht aus der
Überlieferung eine Gestalt auf wie Ahamangiwa, der sagenhafte hellhäutige
Begründer der Beninkunst [17].
Die Instabilität der sozialen und politischen Verhältnisse vieler frühgeschicht-
licher und der naturvölkischen Staatsbildung bildet die notwendige Ergänzung
des nomadischen Zuges dieser Kunst. Wo sich die Voraussetzungen für ihre
Kunst und damit für ihre Existenz verschlechterten — weil vielleicht die alte
Herrenschicht gerade untergegangen war —, da schnürten diese Jünger des
Hephästos ihr Bündel, um irgendwo in der Feme einen neuen Mäzen ihrer
Fertigkeit zu suchen.
Nur in wenigen Gebieten gab es so etwas wie eine kontinuierliche Entwick-
lung. Das bekannteste Beispiel Afrikas ist Benin. Hier konnten die Gelbgießer
für Jahrhunderte seßhaft bleiben, vor allem dann, wenn wir Joruba und Nupe
als Vorgänger mit einbeziehen.
Aus diesem Gebiet stammt ja auch AU. Es ist sehr wahrscheinlich, daß seine
Wanderlust im Zusammenhang steht mit der 1818 erfolgten Fulbe-Invasion,
die das alte vorislamische, bildfreudige Sozialgefüge stark erschütterte. Der
Gelbguß verlor dadurch seine Stellung als repräsentatives Mittel des Staates,
so daß sich mancher Gelbgießer nach neuen Zielen oder auch nach einem neuen
einträglicheren Beruf umsehen mußte — oder gleich beide Schritte auf einmal
tat wie Ali.
Nur für einen kurzen Augenblick fällt so das Licht der Geschichte auf den
wieder in das anonyme Dunkel zurückgleitenden Ali Amonihoyi. Aber dieser
Augenblick genügt, um uns manches von dem Geheimnis des westafrikanischen
Gelbgusses ahnen zu lassen — mehr auf jeden Fall, als wenn uns Alis Werke
nur namenlos erhalten geblieben wären.
3. Wenn auch die Technik des Gelbgusses schon oft beschrieben worden
ist, so ist es doch nicht überflüssig, das Verfahren Alis zu beschreiben, da wir
dank des umfassenden Interesses von Mischlich in der Lage sind, die einzelnen
Gußstadien und Gußgeräte in concreto vorzuführen. Darüber hinaus aber er-
fahren unsere Kenntnisse in manchen Einzelheiten eine nicht unerhebliche
Erweiterung und Bereicherung.
In welchem Ausmaß die Feldforschung durch intensive wissenschaftliche
Arbeit ergänzt werden kann, erweist sich im vorliegenden Falle an der Frage
der „Verkupferung“, ein Tatbestand, der m. E. hier zum ersten Male für
Afrika technologisch behandelt werden kann.
Die metallurgische Klärung dieses Problems verdanke ich Herrn Dr. E. Geb-
hardt vom Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart, der durch
seine umfassenden Untersuchungen die einwandfreie Klärung dieser außer-
ordentlichen Novität herbeiführte. Hierfür möchte ich ihm an dieser Stelle
meinen aufrichtigen Dank sagen.
£mm
» Ü WUSm
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
33
Im einzelnen sind hier aus der Gesamtsammlung folgende technologisch
bedeutsamen Objekte anzuführen:
Nr. 60302 1. Stufe Tonkem
Nr. 60303 2, Stufe Tonkern mit anmodellierter Wachsschicht
Nr. 60 304 3. Stufe Ganzes Modell mit Tonkem und Wachsschicht in Ton-
mantel
Nr. 60305 4, Stufe Gleiche Phase wie oben, jedoch gußfertig, da Wachs-
schicht durch Erhitzen ausgelaufen
Nr. 60306 5. Stufe Gußform mit eingegossener Gußspeise
Nr. 60307 6, Stufe Fertiger Guß — Hausafrau mit Kalebasse — aus
5. Stufe durch sorgfältiges Abklopfen des harten Ton-
mantels entstanden
Ein Stück Wachs
Vier Schmelztiegel aus Ton (Abb. Nr. 1)
Tonkem mit Wachsschicht — Hausaf rau mit Kind
Modellierstab
Nr. 60316
Nr. 60317-60320
Nr. 60325 a
Nr. 60325 b
a) Im Gegensatz zu den bekannten voll-gegossenen Goldgewichten, aber in
Übereinstimmung mit den meisten anderen afrikanischen Güssen, arbeitete
Ali nach dem Kerngußverfahren, In welchem Umfange ein solcher Tonkem
dem Endprodukt nahesteht, geht aus der Abbildung Nr. 3 gut erkennbar her-
vor. Wie man an dem vorliegenden Beispiel sieht — es handelt sich um den
Kern der Hausafrau mit der Kalebasse — wird durch den Kern die plastische
Grundstmktur mit den Proportionen durch den Künstler bereits fixiert. Das
118 mm hohe Gebilde besteht aus dem gleichen Material wie die Tiegel. Es
ist ein gelblich-brauner, mit Fasern untermischter Ton. Die Fasern dienen der
Verfestigung, einzelne stehen frei nach außen. Die kräftige Ausbildung der
helmartigen Frisur ist bemerkenswert, ebenso betont sind auch die Augen-
wülste sowie die Wangen- und Kinnpartie. Die Überlänge des Halses vom fer-
tigen Guß muß naturgemäß schon hier auftreten. Die Arme sind lediglich als
Stümpfe angedeutet, während die weibliche Brust gut vorgeformt ist. Bis zur
Gesäßhöhe verläuft der Körper als gleichmäßige Walze, um sich dann auf der
Rückseite zu verjüngen. Auf der Vorderseite wird dagegen die Linie gerade
weitergeführt bis zu den Knien — hier hört der Tonkern abrupt auf. Die Ober-
schenkel werden somit ungegliedert dargestellt. Dies läßt sich mit der Tracht
gut motivieren, da das rockartige Lendentuch die Beine erst unterhalb des
Knies freigibt. Als zentrale Stütze befindet sich in jedem Kem ein Nagel, ein
Holzstäbchen oder auch ein Federkiel, der vom Kopf bis zum Gesäß reicht. Der
Hauptzweck dieser Stütze besteht offenbar darin, die einzeln gefertigten Teile
des Kernes, Kopf, Hals und Leib, im noch knetfeuchten Zustand zu verbinden
— sie werden zusammengesteckt.
Es ist nicht zu übersehen, daß Ali bei der Bildung dieser Kerne für seine
ganzfigürlichen Kleinplastiken immer nach dem gleichen Schema vorging. Stets
reicht der Kern bis zum Knie und die Köpfe werden immer in der gleichen
Weise vorgeformt.
3 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
34
Julius F. Glück
Wir können annehmen, wenn auch im vorliegenden Fall keine bestätigenden
Nachrichten vorliegen, daß das tief dunkelbraune Wachs sudanischer Herkunft
ist. Die in der Sammlung vorhandene, etwa 10 cm lange, daumenstarke Wachs-
stange geht vermutlich in der Form auf Alis Zurüstung zurück. Offenbar war
der Künstler gewöhnt, mit stets ungefähr gleicher Dimension zu arbeiten, die
empirisch bewährt und rasch zu erwärmen war. Eine größere Abmessung wäre
nicht nur unhandlich, sondern auch nicht so rasch knetbar zu machen gewesen.
Zur Erweichung dient in erster Linie ein kleines Holzkohlenfeuer — also
nicht die Handwärme, Das Wachs wird für einige Augenblicke über die glü-
henden Holzkohlen gehalten, dann mit den Fingern geknetet und schließlich
mit Hilfe des hölzernen Modellierstäbchens verformt. Erhärtet hierbei das
Material, so wird es wieder kurze Zeit über das Feuer gehalten. Bei einer
menschlichen Figur beginnt der Künstler mit dem Wachsauftrag am Leib. Die
Partie wird frei vorgeformt und dann dem Tonkern angepreßt, wobei gewisse
Korrekturen noch angebracht werden können, da ja der Kern mit der Wachs-
schicht zusammen über die glühenden Holzkohlen gehalten werden kann.
Nach dem Leib und dem Hals bildet der Künstler mit einem neuen Stück-
chen Wachs den Kopf, ohne Nase, Ohren und Bart und drückt diesen Teil der
entsprechenden Stelle des Kernes an. Aber nicht nur die eben bezeichneten
Details des Gesichtes, sondern auch Kleidung, Geräte und Waffen und vor
allem die Extremitäten werden kernlos voll aus Wachs modelliert, werden also
Vollguß. Diese technische Besonderheit ergibt sich aus der Kleinheit dieser
Teile — aus Ton wären sie zu fragil und würden beim Anpressen der Wachs-
schicht zu leicht abbrechen, außerdem wird der Gußmasse dadurch der Weg
erleichtert. Aus der Abbildung des Tonkems kann ohne weiteres entnommen
werden, wo sich die Stellen des Vollgusses befinden. Nur da, wo es sich darum
handelt, ein durchbrochenes Muster zu erzielen, wie im Falle der Kalebasse,
wird trotz der Kleinheit des Objektes ein besonderer Tonkern — im angespro-
chenen Falle eine Kugel — angefertigt.
Zur Herstellung der runden Wachsstangen und der dünnen Wachsfäden
besaß Ali eine kleine Steinplatte, die über dem Feuer angewärmt wurde und
dadurch die Bearbeitung des Wachses erleichterte, während der Künstler das
Material mit der Hand auf ihr rollte.
Die Wachsschicht über dem Tonkern hat im Durchschnitt eine Stärke von
2 bis 3 mm.
Das fertige Modell tritt nun in eine weitere Phase, es wird jetzt ummantelt
und damit für den Guß vorbereitet. Nach Mischlichs Bericht rührte Ali zu die-
sem Zweck eine Masse an, die aus zwei Dritteln Ton und einem Drittel Pferde-
mist bestand. Diese Masse wurde dann vorsichtig auf das Modell aufgetragen.
Es ist anzunehmen, obwohl der Beobachter hierüber schweigt, daß ein Teil
dieser Mischung ziemlich flüssig angemacht worden war. Im gegenteiligen Fall
hätten die oft komplizierten Modelle mit ihren Feinheiten gar nicht richtig
abgedeckt werden können.
Die gleiche Mischungsart für den Tonmantel ist auch aus anderen Gebieten
Westafrikas [14] bekannt. Gelegentlich werden auch kurze vegetabilische Fa-
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
35
sein noch beigemischt, um die Festigkeit zu erhöhen. Solche scheint Ali nur
dem Tonkern beigefügt zu haben. An dem vorhandenen Kernbeispiel sind sie
jedenfalls gut zu sehen. Diese vegetabilischen Beimengungen, sie sind natur-
gemäß auch im Pferdemist vorhanden, hinterlassen auf den fertigen Güssen
ihre Spuren, die nicht zu übersehen sind. Besonders in Rillen und kleinen Ver-
tiefungen sind diese Reste als eine schwarze, nichtmetallische und wasser-
undurchlässige Substanz vorhanden, die offenbar der oft etwas flüchtigen Guß-
nachbearbeitung der Oberfläche entgangen sind. Es sind die unter Luft-
abschluß verkohlten pflanzlichen Bestandteile des Kerns und des Mantels. Dies
wird durch die Untersuchung Gebhardts bestätigt. Seine Analyse ergab fol-
genden Befund: Ascherückstand 96°/o
Kohle 4%.
Der Mantel wird etwa zwei bis drei Zentimeter stark auf getragen und läßt
nach seiner Fertigstellung ein abgerundetes Werkstück entstehen, das in einer
trichterartigen Öffnung ausmündet, die Einfüllort und Gußkanal darstellt (vgl.
Abb. Nr. 2).
Diese Form ließ Ali etwa drei Tage trocknen. Darnach wurde sie für kurze
Zeit über das Holzkohlenfeuer gelegt. Die Wachsschicht kam dadurch zum
Schmelzen und lief ohne weiteres aus, indem Ali die Form mit der Öffnung
nach unten hielt.
Während der gleichen Zeit schmolz Ali in einem Tiegel das Gußmetall ein.
Sobald es fiießbar wurde, lockerte der vor dem Feuer sitzende Künstler den
Erdboden und bildete eine Kuhle. In dieser wurde die ganze Form mit der
Öffnung nach oben fest eingebettet. Mit einer großen Zange wurde dann der
Rand des Tiegels gefaßt und die flüssige Speise in den Trichter eingegossen.
Schon nach einer halben Stunde war das Metall fest, so daß der Tonmantel mit
dem Hammer vorsichtig abgeschlagen werden konnte. Der Guß wurde nun
ringsum grob gereinigt, dabei wurden auch die Tonreste abgekratzt. Schließ-
lich wurde er einige Tage lang in einen mit Limonen-Wasser gefüllten Topf
gelegt, dann herausgenommen, getrocknet und mit Meißeln bzw. Schabern von
den möglicherweise anhaftenden Schlacken und Unebenheiten befreit, Feil-
spuren sind verhältnismäßig selten, da die Feile als europäischer Import nicht
allzu häufig ist.
Über die Art des Blasebalges finden wir bei Mischlich nichts. Wir müssen
daher annehmen, daß es das bei allen westafrikanischen Gelbgießem übliche
Schlauchgebläse ist [18].
b) Damit könnte die technologische Seite der Güsse Alis genügend um-
schrieben sein, wenn nicht die Frauenkopfmaske durch ihren kupfernen,
fast golden wirkenden rötlichen Ton so sehr von den normalen afrikanischen
Güssen, einschließlich derer von Ali, abstäche. Die Annahme eines Kupfer-
gusses war zunächst naheliegend, obwohl ein solcher immer selten war und
ist, da sich dieses zähflüssige Metall einer genauen Abformung durch eben
diese Eigenschaft widersetzt. Eine nähere Prüfung ergab die Tatsache, daß
die Maske aus normalem Messing besteht. Um so unerklärlicher blieb der
36
Julius F. Glück
Kupferüberzug. Wie bereits bemerkt, sprang hier Dr. Gebhardt liebenswür-
digerweise ein, um diesen eigenartigen Fall zu prüfen. Zunächst wurde der
Messingcharakter des Gusses durch eine Analyse eindeutig festgestellt. Sie
ergab folgende Daten:
Kupfer 67,8°/o
Zink rd. 31,2%
Eisen, Zinn und Blei Spuren.
Um so mehr blieb die Frage nach dem Verfahren der Verkupferung, Nach
dem Stand der modernen Metallurgie sind hierfür folgende Möglichkeiten
bekannt:
1. Elektrolytische Abscheidung von Kupfer,
2. Abscheidung von Kupfer aus Kupfersalzlösungen ohne Zuhilfenahme des
elektrischen Stromes,
3. Anreibeverfahren,
4. Kupferauftrag durch Sherardisierung,
5. Entzinkung der Oberfläche auf chemischem Wege,
6. Entzinkung der Oberfläche durch Wärmebehandlung.
Vom ethnologischen Gesichtspunkt scheidet der erste Fall von vomeherein
aus. Aber abgesehen hiervon sprechen auch konkrete metallurgische Gründe
dagegen, aus denen sich zugleich die Beschaffenheit des Kupferüberzugs er-
gibt. Die Stärke der Kupferschicht müßte größer und auch ungleichmäßiger
sein und damit mikroskopisch sichtbar gemacht werden können — dies trifft
aber nicht zu. Ferner müßte der Überzug vom Messinggrund mit Hilfe geeig-
neter Mittel abhebbar sein, und schließlich dürften die von der Restsubstanz
bedeckten Stellen nicht verkupfert sein — was aber hier der Fall ist.
Aber auch die Kupferabscheidung ohne Strom, der zweite Fall, sowie das
Anreibeverfahren kommen für die Verkupferung unseres Frauenkopfes nicht
in Betracht — in beiden Fällen würden, wie im ersten Falle, die Mantelrück-
stände die Verkupferung der davon bedeckten Stellen ausschließen, außerdem
wäre der Belag bei einer Anreibung nicht so gleichmäßig, wie er in Wirk-
lichkeit ist.
Ebensowenig kann die Sherardisierung auf Grund des Befundes in Frage
kommen. Unter diesem Terminus versteht man die Erzeugung eines Metall-
überzuges, indem man das Grundmetall (hier Messing) in einem Pulvergemisch
aus dem Überzugsmetall (hier Kupfer) längere Zeit bei Temperaturen unter-
halb des Schmelzpunktes unter Luftabschluß glüht. Aber auch hier gilt das
bereits geäußerte Argument, daß dann die von den Mantelrückständen be-
deckten Stellen nicht überzogen sein dürften, außerdem müßte eine auf-
gekupferte Randzone mikroskopisch faßbar sein, was der Befund nicht be-
stätigt. Für die Sherardisierung ist außerdem ein besonders feinkörniges Metall-
pulver notwendig, dessen Beschaffung Gebhardt unserem Künstler nicht ohne
weiteres Zutrauen zu können glaubt; demgegenüber möchte ich nicht so
skeptisch sein. Die bereits geschilderten Gegengründe sind jedoch durchaus
ausreichend.
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
37
Die Entzinkung der Oberfläche auf chemischem Wege, etwa durch Eintau-
chen in eine Lösung, die Kupfer aus Messing herauszulösen vermag, müßte
die Mantelrückstandsstellen unverkupfert lassen, ganz abgesehen davon, daß
auch bei bester Spülung immer Reste des Lösungsmittels haften bleiben und
zur Bildung nachträglicher farbiger Kupfersalze geführt hätten. Da verfärbte
Stellen nicht festgestellt werden konnten, scheidet dieses Verfahren also auch
aus.
Somit bleibt von den auf gezählten Verfahren nur noch die Oberflächen-
entzinkung durch Wärmebehandlung übrig. Ihr Wesen beruht in der Tatsache,
daß Zink im Gegensatz zu Kupfer einen niedrigeren Verdampfungspunkt
besitzt. Dies bedeutet, daß durch eine Erhitzung die äußerste Randzone des
Gußstückes an Zink verarmt, wobei eine oberflächliche Kupferanreicherung
auftreten kann. Zur Klärung dieses Sachverhaltes wurden von Gebhardt zahl-
reiche Versuche vorgenommen, die zunächst zeigten, daß die Maske im Gegen-
satz zu den Versuchsergebnissen eine gleichmäßigere Kupfertönung, keine
entzinkte Randzone und keine Auflösung der dentritischen Grundstruktur
aufwies. Da Gebhardt seinen experimentellen Serien Hitzebeanspruchungen
bis zu vierzehn Tagen zugrunde legte, gelangte er durch das negative Er-
gebnis zu der Auffassung, daß zwar die Methode richtig sei, aber das ent-
scheidende Faktum der Verkupferung Alis in einer relativ kurzzeitigen Wärme-
behandlung bei hohen Temperaturen unter Sauerstoffmangel liegen müsse.
Denn „bei einer derartigen kurzzeitigen Glühung ist keine Auflösung der
Gußstruktur und keine mikroskopisch sichtbare Entzinkung zu erwarten ...
weil diese Erscheinungen Folgen eines Diffusionsvorganges sind, der stark
zeitabhängig ist. Die rein oberflächliche Entzinkung ist hingegen möglich, wo-
bei kupferreiche Schichten von äußerst geringer Tiefe entstehen können“ [19].
Ein neuer Versuch erbrachte die eindeutige Bestätigung dieser Überlegung.
Eine Messingprobe wurde mitten in eine offene Gasflamme gehalten bei einer
Temperatur, die knapp unter dem Schmelzpunkt der Legierung lag. Schon
„nach wenigen Minuten war eine gleichmäßige Kupferfärbung der Probe zu
beobachten. Bei Entfernung der Probe aus dem reduzierenden Teil der
Flamme trat augenblicklich eine Schwarzfärbung durch Bildung von Kupfer-
oxyd ein. Wurde die Probe jedoch im reduzierenden Teil der Flamme langsam
abgekühlt, so blieb die gleichmäßige Kupferfärbung der Probe erhalten. Mikro-
skopisch und makroskopisch stimmten derart behandelte Proben mit den Ver-
hältnissen der Maske gut überein“ [20].
Damit dürfte die technologische Seite im Prinzipiellen hinreichend geklärt
sein. Offen ist jedoch die Frage, wie Ali Amonikoyi zu diesem Ergebnis kam.
Ausgangspunkt kann hier die Beobachtung sein, daß die Gußnachbearbeitung,
d. h. die Beseitigung der Gußgrate und Unebenheiten, nach der Verkupferung
stattgefunden haben muß. Denn die Kupferschicht wurde überall da, wo aus-
geputzt wurde, zerstört, so daß das Messing frei zutage trat. Dies zeigt sich
besonders deutlich an der Augen-, Nasen- und Mundpartie, so daß sogar der
Gesamteindruck dadurch beeinträchtigt wird. Diese Tatsache legt die Folge-
rung nahe — und Gebhardt hat sie mit Nachdruck ausgesprochen —, daß die
38 Julius F. Glück
Verkupferung gar nicht beabsichtigt war, denn sonst hätte Ali diesen Vorgang
nach dem Ausputzen eingeleitet. Sie ist also als zufällige Begleiterscheinung
eines anderen Arbeitsganges anzusprechen, nämlich der Guß-Nachbearbeitung.
Um diese Arbeit an dem harten Metall zu erleichtern, wurde die Maske kurz-
fristig noch einmal in das Feuer gelegt, wobei die gleichen Bedingungen wie
beim oben geschilderten Laborversuch gegeben waren —, insbesondere muß
die nachherige Abkühlung der Maske in der sauerstoffarmen Atmosphäre des
Feuers stattgefunden haben, da sonst an Stelle der hellglänzenden Kupferschicht
dunkles Kupferoxyd entstanden wäre. So ist also die thermische Entzinkung
an der Oberfläche durch die Notwendigkeit der Weichglühung in diesem kon-
kreten Fall entstanden zu denken.
Die Bestätigung für das Ungewollte finden wir auch in der Tatsache, daß
alle übrigen Güsse Alis in der Sammlung des Linden-Museums diese Verkup-
ferung nicht besitzen. Trotzdem ist dieses Zufallsprodukt für uns sehr inter-
essant, weil wir an ihm zu erkennen vermögen, wie manche Fortschritte in der
kulturellen Entfaltung entstanden sind, wenn diese Spontaneität von einem
kongenialen Kopf aufgefangen und bewußt verwertet wurde für die künftige
Arbeit.
Auch Mischlidi hat über diese Verkupferung nichts hinterlassen. Bedauer-
licherweise liegen über die äußere Beschaffenheit des Pendants unserer hier
untersuchten Maske, des Hausa-Männerkopfes, dessen Aufbewahrungsort un-
bekannt geblieben ist, keine näheren Angaben vor.
Es wäre aber immerhin vorstellbar, daß auch diese Maske die gleiche Ver-
kupferung zeigt wie die unsere, weil sich vermutlich ihre Gußnachbearbeitung
in der gleichen Weise vollzogen hat. Schließlich muß sich der Mangel an genü-
gend hartem Werkzeug für die kalte Überarbeitung in gleicher Weise aus-
wirken — entweder es wird nachgeglüht oder aber man verzichtet weitgehend
auf sie. Der Verzicht darauf ist genau das, was wir bei allen Güssen bis eben
auf die Frauenkopfmaske feststellen können. Nur im Falle der dem Künstler
möglichen größten Dimension war eine stärkere Nacharbeit notwendig.
Wollte Ali über die Dimension der Kopfmasken hinaus, wie etwa im Falle
des Szepters oder der beiden Tafeln, so war er gezwungen, Teilgüsse herzu-
stellen und diese mit Hilfe von Nieten oder durch einen Ösen-Zungen-Verband
zusammenzumontieren. Dieses relativ simple Verfahren ist uns ja auch aus den
übrigen Gebieten Westafrikas bekannt. Es beweist uns die technische Hilf-
losigkeit der westafrikanischen Gelbgießerkunst, die zur Folge hatte, daß der
Afrikaner nirgendwo eine technisch und formal befriedigende Lösung für die
Darstellung ganzer Gruppen gefunden hat. Insofern ist diese Grenze des tech-
nischen Vermögens zugleich auch die Grenze eines intellektuellen, kombinato-
rischen Könnens, das dem ästhetischen Empfinden und Wollen parallel läuft.
4. Ein erster zusammenfassender Überblick über alle vorhandenen oder
durch Abbildungen bekannten Güsse des Ali Amonikoyi verweist sie — trotz
einiger Ansätze nach gegenteiliger Richtung — in den Bereich der Kleinplastik,
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
39
den in Afrika eigentlich nur Benin, auch Joruba und Nupe zu überschreiten
versucht haben zu Gunsten des Monumentalen.
Die Kleinplastik entspricht der geringeren Materialbewältigung einer är-
meren Zivilisation, die entweder noch nicht oder nicht mehr über die geistige
und moralische Kraft verfügt, wirklich Großes zu wollen. Es ist ja bezeichnend,
daß es nur einem Stadtstaat wie Benin mit seiner großen Wohndichte und dem
lebhaften Handel möglich war, geeignete Köpfe und Hände zu finden, die dem
offiziellen Staatswillen als aktiv Ausführende wie passiv Aufnehmende dienst-
bar waren — um die gewünschte Monumentalität zu erreichen.
Bemerkenswert ist die Erstarrung der Gußplastiken, die mit der sich stei-
gernden Machtfülle der Benin-Herrscher sichtbar wurde. Aus dem Lebendigen
wurde ein Kanon, der sich ängstlich an das Vorgeschriebene, die eingefrorene
Form hielt. Anders können wir uns den Weg von der Figur des „Kretin“ in
Wien zu den üblichen Büsten mit ihren stereotypen Zügen nicht erklären. Was
so an äußerer Geschlossenheit und Würde gewonnen wurde, ging in dieser iso-
lierten Stadtkultur an innerer Beweglichkeit und Weite zwangsläufig verloren.
Obwohl Erbe dieser monumentaleren Joruba-Benin-Tradition, schließen sich
die Arbeiten Alis eng an die vorherrschenden Tendenzen der gesamten gleich-
zeitigen westafrikanischen Gelbgußkunst an. Wir meinen damit jene etwas
vage Motorik und Lebensnähe zum abgebildeten Gegenstand, die sich in Ba-
mum ebenso findet wie bei den Kran und die ihren bedeutendsten Höhepunkt
in den Goldgewichten der Akan-Völker gefunden hat. In dieser Gesamtstruktur
drückt sich die Entlassung der Gußkunst aus dem Dienst diktatorischer, das
Staatsprinzip darstellender Herrscher und die Auflösung des afrikanischen
Konservatismus aus. Es ist die wenig edle Spätlese einer im antiken Epigonen-
tum wurzelnden Kunst, in welcher der Gelbguß als solcher schon als genügen-
der Ausdruck für Macht und Reichtum betrachtet wurde. Vor dem Marschtritt
des europäischen Kolonialismus verflüchtigte sich die Substanz der alten ein-
geborenen hierarchischen Ordnung, ohne daß eine neue ihre Stelle hätte ein-
nehmen können.
Das 19. Jahrhundert war in Afrika, genau wie in Europa, voll umstürzender
Dramatik, jedoch ohne jene äußere Beruhigung, die Europa im letzten Jahr-
hundertviertel so viel Macht und Reichtum schenkte und das dafür einen guten
Teil seiner aggressiven Aktivität auf den schwarzen Erdteil richtete. Hier, in
Afrika, wurde gerade in dem letztgenannten Zeitabschnitt das Bewußtsein von
der göttlichen Herkunft der Macht aus den Angeln gehoben — sie kam nun
von den Weißen — und daß diese keine Götter waren, merkte schließlich der
dümmste Haussklave.
So verlor die Gelbgußkunst ihre eigentliche geistige Heimat, ihren Bezugs-
punkt, wenn auch in der durch die Europäer bewirkten künstlichen politischen
Stabilisierung der eine oder andere alte oder neue Herrscher aus traditionellen
Gründen zunächst diese höfische Kunstübung beibehielt, denken wir nur an
Njoya.
Wir dürfen uns daher nicht wundem, wenn diese Kunst nun über die alten,
fest eingefaßten Ufer trat. Diese Auflockerung und Lösung wurde im Gegen-
40
Julius F. Glück
Stande sichtbar, in doppelter Hinsicht — was und wie gebildet wurde. Welchen
Sinn hätte es zum Beispiel in Benin gehabt, ein „Manneken Pis“ en miniature
zu gestalten? [21]. Hätte es nicht die altafrikanische Sittlichkeit verletzt, das
sakrale Bild vom Sexuellen auf die Stufe des bloßen Amüsements herabzuwür-
digen? Denn dem Afrikaner war das Geschlechtliche ursprünglicher Teil eines
Lebensganzen, dessen Bejahung keiner billigen Effekte bedurfte.
Man sah jetzt in Afrika anders und arbeitete ohne höheren Auftrag. Der
weiche „Modellierstil“ des Metallgusses reagierte leichter auf den neuen Zeit-
geist als das Holz, das spanabhebend geformt werden muß. Der Guß gewann
nun in seinen figürlichen Plastiken einen neuen Ausdruck, in dem das schärfer
beobachtete Detail die durch den Kanon festgelegte Gesamtgestalt bald über-
wucherte. Gleichzeitig näherten sich die Proportionen dieser Plastiken in nicht
übersehbarer Weise unseren eigenen von der Antike her vertrauten natürlichen
Maßen. Andererseits können wir deutlich erkennen, besonders an den beiden
Tafeln Alis, wie nun das Detail unverbunden summiert nebeneinandergestellt
wird und die Vorstellung einer geistig gemeisterten Gestalt dahinter ver-
schwindet.
Alle diese Strömungen seiner Zeit erfahren in den Arbeiten Alis ihre beson-
ders auffällige Spiegelung.
Insgesamt liegen uns aus seiner Hand neun Güsse vor; zusammen mit der
allerdings ziemlich mangelhaften Reproduktion bei Staudinger [2] und einem
in Wachs bereits ausgeformten Modell einer ihr Kind stillenden Hausafrau
erhöht sich diese Zahl auf insgesamt sieben figürliche Arbeiten. Nach dem
Katalog des Linden-Museums sind dies:
Nr. 60307
Nr. 60313
Nr. 60311
Nr. 60310
Nr. 60312
Nr. 60309
Nr. 60308
Hausafrau mit Kalebasse
Hahn
F rauenkopf maske
Antilope mit Jäger
Prunkschwert
Prunktafel
Erotische Tafel
Es sind also Mensch und Tier die bevorzugten Objekte. Wo eine gewisse
Monumentalität angestrebt wird, wie im Falle der beiden Tafeln, da erliegt
der Künstler der Materialprotzerei und dem Trugschluß, daß die Akkumu-
lation des Kleinen eine qualitative Steigerung bedeute.
An Alis Arbeiten fällt auf, daß alle seine Menschengestalten im Kopf nur
noch leicht überdimensioniert sind, daß er den Extremitäten eine größere
Beachtung zollt und daß ihm schließlich jede Beziehung zum Torso, zur Dar-
stellung des Fragmentes fehlt.
Die beiden ersten Fakten beweisen Alis Abstand von der alten afrikani-
schen Tradition, während der Verzicht auf das Fragmentarische, die Büste,
die ja für Benin das Hauptcharakteristikum darstellt, eine gewisse rückläufige
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
41
Tendenz offenbart. Wir wissen aus der Frühzeit der Antike, daß die
„Erfindung“ der Büste, des Torso, als Ausdruck einer höheren Intellektuali-
sierung zu betrachten ist, wie dies Ernst Buschor nachgewiesen hat [22].
Demgegenüber kann sich Ali die menschliche Gestalt nicht geteilt vorstellen,
da sie dadurch für ihn funktionslos würde. Hieraus ist wiederum der Schluß
berechtigt, daß in Benin noch eine spätantike intellektuellere Überlieferung
am Leben war. Audi die Tatsache, daß Ali und die übrigen westafrikanischen
Gelbgießer im Bereich der Kleinplastik blieben, kann die Annahme einer
geringeren Intellektualität nur stützen.
Die Maskenköpfe dürfen nicht als Büsten angesehen werden, obwohl dies
unserem Empfinden zunächst naheliegt. Eine Maske ist aber kein geistig
Selbständiges, ein für sich bestehendes Gebilde, sondern ohne den sie tragen-
den Menschen sinnlos. Es ist sehr bezeichnend, daß beide Köpfe von Ali als
Masken nachdrücklich bestätigt worden sind [25] — im übrigen entsprechen
beide Köpfe auch formal dieser Auffassung.
Betrachten wir nun die einzelnen Stücke.
Blickpunkt der Hausafrau mit der Kalebasse, Abb. Nr. 4,
(Nr. 60307) ist der Kopf. Er erhält durch die hahnenkammartigen gerieften
Flächen der Frisur seine besondere Note, die durch die kräftige Formung der
geraden Nase, der wulstigen Lippen sowie der Augenbrauen und der vertieft
angebrachten Pupillen unterstützt wird. Die Eigenart der Pupillen verleiht
dem kleinen Figürchen etwas Starres. Die schwache Prognathie verstärkt den
veristischen Eindruck eines echt sudanischen Types. Der zur Kopfdimension
passende Hals wirkt durch die Unterproportionierung des Leibes entschieden
zu lang und zu kräftig. Die spitz abstehenden Brüste mit den das Obszöne
streifenden, übergroß markierten Warzen erzählen etwas vom Schönheits-
ideal des Afrikaners. Kurz unterhalb der Brust beginnt die Kleidung, ein bis
über die Knie reichendes Tuch, offenbar aus Baumwolle zu denken und aus
einzelnen Streifen horizontal zusammengenäht. Die Beine und Füße wirken
nebensächlich, hölzern und sind fest mit einer kleinen Standfläche verbunden,
die so schmucklos und zweckhaft gebildet ist, daß wir unschwer den Einbruch
europäischer Nützlichkeit erkennen können. Um so bemerkenswerter ist die
natürliche Führung der Arme — wohl hervorgerufen durch das Halten der
durchbrochen geformten Kalebasse. Die Hände selbst sind nur ungenau
angedeutet.
Beim Hahn, Abb. Nr. 5 (Nr. 60 313) ist die Struktur der Gesamterschei-
nung zwar gut erfaßt und auch leidlich maßhaltig. Die Bildung des Gefieders
einschließlich des Schwanzes in stilisierender Manier hat jedoch keine Beziehung
mehr zu den einzigartigen Hahn-Plastiken Benins. Schon rein technisch ist der
Gegensatz unüberbrückbar. Während in Benin die Gefiedermusterung nach
dem Guß exakt eingepunzt worden ist, wurde sie von Ali bereits auf der Wachs-
schicht mit Hilfe von dünnen Wadisfäden und dem Modellierstäbchen leicht
erhaben angebracht. Sie wirkt ziemlich roh und wird der metallischen Substanz
in keiner Weise gerecht. Durch die kräftige Anwendung der Feile wirkt der
Hals nackt und durch die noch einzeln sichtbaren Feilenstriche hat er das Aus-
42
Julius F. Glück
sehen eines grobbearbeiteten Werkstückes. Im Schnabel, in der Augen-, Kamm-
und Halslappen-Partie steckt wie in den Beinen mit den kräftigen Sporen viel
gute Beobachtungsgabe. Auch hier, wie im Falle der Hausafrau, stehen die
Beine des Tieres auf einer schmalen gegossenen Standleiste, die jedoch durch
aufgelegte Wachsfäden nicht ganz so nüchtern wirkt wie die der Frau.
Der Guß wurde in zwei Teilen ausgeführt. Der eine umfaßt den als Kern-
guß ausgeführten Körper, dem Beine und Schwanz als Vollguß angesetzt
wurden — der andere besteht aus dem Kopf als Kernguß, dem Kamm, Auge
und Halslappen angefügt wurden. Der Leib setzt sich nach dem Halse als
Hohldorn fort, auf den der Kopfteil mit der Halstülle aufgesteckt worden
ist. Dank dieser technischen Besonderheiten hat man bei diesem Stück, mehr
als bei den anderen Güssen, den unbehaglichen Eindruck des Halbfertigen und
Disharmonischen, den eines gewollt-kitschigen Effektes, vielleicht gerade
wegen der im ganzen gelungenen Verkörperung des stolzierenden Hahnes.
Dem äußeren Umfang nach ist die Frauenkopfmaske, Abb. Nr. 6
und Nr. 7, (Nr. 60 311) die bedeutendste Schöpfung Alis der hier beschrie-
benen Sammlung, die nur durch Abbildung belegte Männerkopfmaske ist ihr
gleichzustellen.
Ihre größte Höhe beträgt ab Auflagerand 229 mm, die größte lichte Weite
von Rand zu Rand 239 mm, die geringste 160 mm. Die Wandung des Gusses
ist im Durchschnitt 2—3 mm stark.
Außer den beiden Ohren und dem Frisuraufsatz wurde das ganze Gebilde
als Kern vorgeformt. Die Herstellung erforderte daher ein erhebliches for-
males und technisches Können. Wie alle Arbeiten Alis, besticht auch dieses
Werk durch seine Wirklichkeitsnähe. Manche bildnerischen Einzelheiten, die
wir bereits von der Figur der Hausafrau kennen, wiederholen sich in der Maske
wieder. Wir finden die stark betonten Augenbrauen, die aufgeworfenen Lip-
pen und die leichte Prognathie — neu dagegen ist die breite, kurze und ein-
gesattelte Nase. Der Haartracht wurde wie üblich besondere Aufmerksamkeit
gezollt. Sie besteht aus vier kammartigen Wülsten, die sich von der Stirn- und
Hinterkopfmitte und über den beiden Ohren ansetzend bis zum Scheitelpunkt
hinziehen. Durch einen vierflügeligen Aufsatz, über dem sich noch einmal zwei
Bandbogen wölbend kreuzen, wird die Maske abgeschlossen. Wie im voraus-
gegangenen technologischen Teil dargetan worden ist, wurden die Öffnungen
von Mund, Nase und Augen nachträglich, nachdem der Kopf weichgeglüht wor-
den war, mit primitivem Werkzeug eingebrochen. Diese brutale Methode ist
an den ausgezackten Rändern der Lippen noch gut erkennbar. Die unbeab-
sichtigte Verkupferung bedeutet unzweifelhaft eine positive Verschönerung.
Das völlige Fehlen des Halses, das so sehr den Eindruck der Verfettung her-
vormft, beweist die Absicht des Künstlers, wirklich eine Maske gewollt zu
haben. In einem gewissen Widerspruch hierzu steht die Tatsache, daß die
Maske sehr schwer und auch die Öffnung zu klein ist, um über den Kopf
gestülpt zu werden. Sie soll allerdings mit beiden Händen vor das Gesicht
gehalten worden sein. Staudinger spricht die Vermutung aus, daß die Maske
helmartig über einer polsternden Vermummung getragen wurde [23].
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
43
Technisch zeigt diese Maske infolge der größeren Dimensionierung deut-
licher als die kleineren Güsse handwerkliche Mängel. Vereinzelte Stellen sind
nicht voll ausgegossen, insbesondere am Auflagerand. Im Inneren des vor-
deren Haarkammes befinden sich auch Flickstellen, die aus kleinen Zinnbatzen
bestehen.
In einem auffallenden Gegensatz zu der von Ali gewünschten Naturnähe
steht die primitive, schematische Gestaltung des Ohres — nicht nur an dieser
Maske, sondern auch bei allen anderen Arbeiten. Es sind stets kleine wulstige
Ringsegmente, die lieblos an der entsprechenden Stelle des Kopfes ange-
drückt werden.
Im übrigen sei in diesem Zusammenhang auf das Ohr als besonderes Kri-
terium afrikanischer Gelbgüsse aufmerksam gemacht. Während bei den Terra-
kotten von Ife und dem Kopf des Obalufon aus der Schatzkammer des Oni von
Ife [24] das Ohr in anatomisch einwandfreier Weise dargestellt ist, haben
schon die späteren Bini, wenn wir von ihren frühesten Zeugnissen absehen,
dieses Organ in der Art unseres Künstlers vernachlässigt. Der Versickerungs-
vorgang einer fraglos von der späten Antike ausgegangenen Kunstübung wird
dadurch sehr deutlich verfolgbar, wie auch die Herkunft dieser Kunst nur
bestätigt wird. Man kann somit behaupten, daß ein Gelbguß um so älter ist,
je natürlicher dieses Organ gestaltet ist.
Die im folgenden beschriebenen Güsse heben sich durch die ihnen inne-
wohnende Bewegung von den eben angeführten ab.
Die damit verbundene Erzählerfreude zeigt sich sehr schön in der Jagd-
gruppe, Abb. Nr. 10 (Nr. 60310). Ein Jäger schießt kniend angelegt auf
eine quer zu ihm stehende Antilope, die, ahnungslos witternd, offenbar von
vorneherein dazu verurteilt ist, getroffen zu werden.
Der Guß des gesamten Werkes fand in drei getrennten Arbeitsgängen statt.
Es wurden jeweils für sich modelliert und gegossen: der Jäger, die Antilope
und die die beiden Figuren tragenden Sockel.
Der Kopf des Jägers zeigt die bereits bekannte leichte Übergröße. Auffal-
lend ist die Haartracht — die Haare sind bis auf den Wirbel ausrasiert und der
stehengebliebene Rest zu einem kurzen dicken Zopf verflochten worden. Die
Gesichtszüge sind in der schon bekannten Weise gebildet. An Stelle einer ver-
tieften Pupille sind die Augen durch die scharf betonte Lidspalte angedeutet.
Die Gewehrhaltung ist gut erfaßt — sozusagen vorschriftsmäßig, sogar der
Zeigefinger am Abzug ist gut erkennbar, ebenso wie die Finger der linken
Hand, die leichtgespreizt den Lauf umfassen. Der gespannte Hahn ist etwas
zu groß geraten, andererseits wäre ohne diesen Fehler der Mechanismus nicht
so klar wiederzugeben gewesen. Die Arme sind zu dünn ausgefallen. Der Ober-
körper ist von einer Art ärmellosem Kittel bedeckt, der vorne offen ist und
durch einen zweistrangigen Gürtel zusammengehalten wird. An diesem befin-
det sich über dem Gesäß das Pulverhorn. Der Kittel wie auch die Kniehose
des Jägers sind lediglich durch spärliche Ritzungen und durch das Fehlen der
Genitalien angedeutet. Diese Art des „Anziehens“ ist uns auch aus dem frü-
44
Julius F. Glück
hen Bereich der Antike bekannt. Tracht und Haut durchdringen sich gegen-
seitig, ihre Grenzen sind fließend [25]. Es handelt sich also um ein frühes Form-
element, das Ali jedoch nur vereinzelt angewandt hat. Die Beine und Füße
des Jägers sind wie üblich nebensächlich behandelt und mit einer schmucklosen,
brettchenförmigen Standfläche vergossen, die in die Halterung des Sockels ein-
gesteckt ist.
Den verbogenen Läufen der Antilope sieht man die kernlose Modellierung
aus Wachs an, da sie zu schwach waren, vor dem Guß das Gewicht des Körper-
kernes zu tragen — ein Fakt, der sich bei fast allen Tierdarstellungen wieder-
holt. Die Vorder- und Hinterbeine sind jeweils durch eine kleine Standfläche
verbunden. Der Kopf ist mit seinen Nüstern, Augenschlitzen, dem Maul, den
Ohren und dem verdrehten Gehörn sehr lebensecht dargeboten. Der Charak-
ter des Felles wird durch kleine und unregelmäßig angebrachte Einstiche in
die Wachsschicht zu fassen gesucht. Die erzielte Oberfläche ähnelt allerdings
dadurch eher der einer Holzraspel — ist also etwas mißglückt.
Der Hauptsockel besteht aus zwei zunächst allein geformten, 5 mm hohen
Hauptteilen, die aber durch einen brettchenartigen, schwächeren, angegos-
senen Steg miteinander fest verbunden sind. Die Tierfigur ist mittels der kur-
zen Standflächen vernietet, während der Jäger mit seiner schmalen Standfläche
einfach in die Öse seines Sockels eingeklemmt ist.
Dieser Montage-Charakter der Gruppenplastiken wird durch das prunk-
schwertartige Szepter (Nr. 60312), Abb. Nr. 8, erneut bestätigt, das
sich formal von den aus Oberguinea bekannten ähnlichen Gebilden wesen-
haft nicht abhebt. Komposition und Größe dieses Gusses (Länge 704 mm)
zwangen Ali zur Fertigung in vier Teilen. Diese sind der Knauf mit der Reiter-
figur, das einfache Mittelstück, das große ornamental aufgelöste Endstück und
schließlich die Schlange.
An der Knaufgruppe (Abb. Nr. 9) fällt das absolute Mißverhältnis zwischen
der Größe des Reiters und der des Pferdes auf. Das Tier wird von der mensch-
lichen Figur völlig erdrückt. Hier äußert sich die schon oben festgestellte
Unfähigkeit, die Objekte in ihrer richtigen maßlichen Bezogenheit zu bilden.
Im Falle Alis liegt dies aber nicht am Wollen, sondern am Nicht-Können. Bei
einem Werke aus einer älteren Epoche wäre es richtiger, anzunehmen, daß
diese Disproportion gewollt ist, weil sich hierin die herrscherliche Größe aus-
drücken soll. Was in der geistigen Ordnung „kleiner“ ist, muß auch in der
künstlerischen Wirklichkeit kleiner sein. Aber Ali will nicht den Wert, sondern
das So-Sein gestalten.
Die Ausbildung des Reiterkopfes unterscheidet sich nur durch die modifi-
zierte Haartracht von der des Jägers. Auch hier sind die Haare weitgehend aus-
rasiert bis auf zwei runde Stellen am Wirbel und am Vorderkopf. Der Rest
der Haare ist dann zu zwei senkrecht nach oben stehenden dicken Zöpfen
verflochten. In der Rechten trägt der Reiter einen Speer mit großer lorbeer-
ähnlicher Spitze, die linke, übergroße Hand ruht locker auf dem geflochtenen
Zügel, der gekreuzt um beide Schultern geschlungen ist. Die Bekleidung ist
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
45
nur sehr undeutlich angegeben wie im Falle des Jägers und scheint auch in der
Form völlig übereinzustimmen. Links am Sattel hängt ein Schwert, das so
lang ist wie der ganze Pferdeleib. Als Steigbügel dient eine geflochtene Doppel-
schlinge. Das Tier ist voll auf gezäumt und trägt einen Sattel unbestimmbarer
Art. Seine Beine sind viel zu dünn und haben sich noch als Wachsmodell unter
dem darauf ruhenden Gewicht verbogen.
Der Griffknopf, auf dem das Pferd steht, läuft in einer ovalen Tülle aus, in die
das Mittelstück eingedornt ist. Dorn und Tülle sind auf gleicher Höhe durch-
locht und durch eine Niete fest verbunden.
Das als Doppelsteg gegliederte Mittelstück ist durch Kreuzritzung einsei-
tig verziert. Es endigt in einem halbkreisförmigen durchlochten Bügel, in den
der Schlußteil des Szepters eingeklemmt und vernietet ist. Das Endstück ver-
breitert sich stark gegen das Ende zu und ist durch bereits am Wachsmodell vor-
genommene Materialausstiche ganz durchbrochen gegossen. Als einziges figür-
liches Muster befindet sich auf der rechten äußeren Seite ein Chamäleon mit
eingerolltem Schwanz.
Die im Vollguß hergestellte Schlange ist mit Hilfe eines Bügels, der über-
gesteckt und angehämmert worden ist, beweglich am Szepter befestigt, so
daß bloß die Knauffiguren als Kernguß hergestellt worden sind.
Höhepunkte in technischer wie formaler Hinsicht stellen zweifellos die
beiden Tafeln dar, die „Prunktafel“ und die „erotische Tafel“.
Beide zeigen unmittelbarer als die bisher erwähnten Güsse den Luxuscharak-
ter, die rein profane Natur dieser Werke. Luxus bedeutet zugleich esoterischer
Gebrauch. Schon allein die Aufhängevorrichtung zwingt zu der Annahme, daß
Ali Bilder oder Drucke in ihrer Tafelbildfunktion, vermutlich bei Europäern,
gesehen hat. Wenn man so will, kann man beide Tafeln als Malerei mit plasti-
schen Mitteln bezeichnen. Der wesenhafte Unterschied zwischen der Geistig-
keit beninischer Reliefe und dem Fluidum dieser Arbeiten springt in die Augen.
Die Benin-Platten künden von einer weit intensiveren geistigen Durchdringung,
die von ihnen als Erbe der Antike nicht zu trennen ist. Hierzu gehört auch, daß
sie im Dienst der Wandgestaltung Teil eines architektonischen Formwillens
sind und erst hieraus ihren Sinn beziehen. Demgegenüber sind diese Tafeln
auch rein formal bedeutungsärmer, sie sind die Imitation des europäischen
Tafelgemäldes und wirken daher wie diese fragmentarischer mid isolierter.
Für afrikanische Verhältnisse stehen sie außerhalb eines echten Funktions-
zusammenhangs.
Wir dürfen nur daran erinnern, daß diese Tafeln eine Raumgestaltung und
Nutzung voraussetzen, die mit der unsrigen weitgehend übereinstimmt. Dies
trifft aber nicht einmal für die sudanischen Paläste zu.
Insofern sind diese Tafeln Ergebnis eines gestörten Stilgefühles und Aus-
fluß bloßen Protzentums und einer vulgären Animiertendenz. Nichts könnte
uns deutlicher den Verfall des afrikanischen „Gottherrschertums“ vorführen.
Die Maße der Tafel Nr, 60309 sind: Gesamthöhe 432 mm, Breite 290 mm,
Gewicht 11,5 kg.
46
Julius F. Glück
Technisch ist diese Tafel (vgl. Abb. Nr. 11), wie die „erotische“, eine Mon-
tagearbeit einzelner Güsse, die zum voraus in ihrem Zusammenspiel vom
Künstler naturgemäß konzipiert gewesen sein müssen, eine Leistung, die durch-
aus anzuerkennen ist.
Insgesamt besteht sie aus 15 einzeln gefertigten Teilen:
1./4, vier Wasserträgerinnen
5. Moschee mit Gebetsausrufer
6. essender Mann mit Hund
7. Hornbläser
8. reitender König (Abb. Nr. 12)
9. Begleitsoldat des Königs
10. Malam (Abb. Nr. 13)
11. Buckliger mit Sklaven
12. Mann mit Leopard (Abb. Nr. 13)
13./14. 2 Montageplatten
15. Aufhängegriff.
Der große Arbeitsaufwand, der in dieser Tafel investiert worden ist, steht
in keinem Verhältnis zur Wirkung. Alle Figuren sind so gebildet, als ob sie
rundum, d. h. für sich stehend betrachtet werden sollten. Da sie jedoch an-
montiert sind und somit mindestens eine Seite nicht sichtbar ist, hätte es nahe-
gelegen, die dem Beschauer nicht zugängliche Seite etwas zu vernachlässigen.
Ali tat dies nicht. Die Anbringung an den Montageplatten geschah so, daß die
meisten Figuren im Profil zu sehen sind, lediglich der Gebetsausrufer, der
Malam und die 4 Wasserträgerinnen, die die Tafel oben abschließen, treten
dem Betrachter frontal gegenüber.
Die Wasserträgerinnen sind völlig nackt dargestellt. Das ist an sich nicht
besonders erwähnenswert, obwohl dies in bezug auf die übrigen Figuren doch
auffällig genannt werden muß. Seltsamer berührt die Tatsache, daß durch
kleine Einstiche mit dem Modellierholz im zeroplastischen Stadium die Genital-
haare markiert sind. Es ist bekannt, daß die Afrikanerin im allgemeinen die
Körperhaare nicht schätzt. Sie werden meist schon mit beginnender Reife ent-
fernt. Dieser Brauch ist bekanntlich auch im nahen Orient üblich. Es ist also zu
schließen, daß im Sudan Ausnahmen von dieser Regel bestehen. Wenn dem
aber so ist, so ergibt sich für Ali hieraus noch kein Grund, auf dieses Detail ein-
zugehen, vielmehr dürfen wir ihm Zutrauen, daß er damit auf die erotischen
Gefühle seiner Abnehmer spekulierte. Die weiter unten besprochene Tafel
wird diesen Verdacht ohne weiteres rechtfertigen.
Nackt sind auch der Sklave, der Bucklige sowie der essende Mann. Auch in
diesen Fällen hat der Künstler den allergrößten Wert darauf gelegt, die Ge-
nauigkeit seiner Kunst an den Geschlechtsmerkmalen zu erweisen. Diese sind
alle etwas leicht überdimensioniert dargestellt, so daß man die Veränderung
durch die hier übliche Beschneidung gut erkennen kann. Auch in diesem Falle
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
wird der oben geäußerte Verdacht erneut bestätigt. Zugleich äußert sich in dem
Verhältnis zur Kleidung auch das soziale Gefälle innerhalb der Gemeinschaft.
Der Leopardenführer und der Hornist tragen eine Schambinde, die als Drei-
eck in Nabelhöhe mit der Grundfläche beginnt und verjüngend zwischen den
Beinen durchgezogen wird — das Gesäß bleibt unbedeckt. Auch die Art der
Befestigung dieser Binde ist gut zu erkennen; sie geschieht mit Hilfe eines
Strickes, der vorne in Nabelhöhe verknotet ist. Als besonderes Kleidungsstück
trägt der Leopardenführer zusätzlich noch die gleiche Kopfbedeckung wie der
König. Vollkleidung tragen außer dem König der Gebetsausrufer, der Malam
und der den König begleitende Soldat. Während der König eine Art Kittel,
der vorne zu öffnen ist, sowie Hosen und einen Hut trägt, verfügt der Gebets-
ausrufer lediglich über einen vorne offenen, bis zu den Knien reichenden Rock,
an dem Ärmel angedeutet sind.
Der Malam und der Soldat tragen dagegen eine Art Toga, einen Überwurf,
der über den Kopf gesteckt wird. Vorder- und Rückseite sind im Schnitt völlig
gleich. Die Seiten sind offen.
Auch die Körpertracht ist sehr vielgestaltig. Der Gebetsausrufer und der
Malam tragen einen Kinnbart, der bei letzterem mehr als Fräse ausgebildet
ist. Beide und der Begleitsoldat des Königs tragen langes Kopfhaar, der Haar-
wirbel ist allerdings bei allen dreien ausrasiert. Völlig kahl sind der Sklave,
der Bucklige, der Hornist und der essende Mann.
Die abgebildeten Geräte — Hom, Speere und Schilde — sind ebenfalls sehr
genau wiedergegeben. Der Schild des Königs ist viereckig, der des Buckligen
rund — beide vermutlich aus Leder gedacht.
Das Pferd des Königs ist voll geschirrt mit Sattel, Steigbügel, Trense und
langen Zügeln, letztere hat der König um Brust und Schultern geschlungen.
Alle diese figürlichen Teile sind nun mit Hilfe der Montageplatte zu einem
Gebilde zusammengefügt, als dessen formalen und gefühlsmäßigen Mittel-
punkt der König mit dem Begleitsoldaten anzusprechen ist.
Die Montagevorrichtung besteht aus den beiden Tragplatten, dem Auf-
hängeteil sowie zwei Verbindungslaschen. Die zwei Platten sind annähernd
gleich groß. Sie stellen zwei Rechtecke dar von je 432 mm Länge und 145 mm
Breite, die an der einen Längskante miteinander verbunden sind, so daß eine
Gesamtbreite von 290 mm entsteht.
Jede der beiden Platten ist durch 9 Omamentbänder aufgelöst, deren Muste-
rung durch ein einfaches Zickzackband bestimmt wird, wodurch wechselseitig
einmal unten, einmal oben ein Dreieck ausgespart bleibt. Die oberste Muste-
rung ist auf beiden Platten mißlungen — das Ornament ist nicht ausgegossen.
Allerdings wird diese Ornamentierung durch die sie fast völlig bedeckenden
Figuren praktisch wirkungs- und damit sinnlos. Dieses Mißverhältnis zwischen
Wirkung und Arbeitsaufwand wurde bereits im Falle der Figuren festgestellt.
Beide Platten sind durch zwei kurze Laschen aus Gelbguß mit Hilfe von
Nieten verbunden. Die eine Lasche befindet sich in der Mitte, die andere am
unteren Ende. Der unterste Teil des großen Aufhängehakens dient zugleich als
obere Lasche für die Vernietung des Randes beider Platten, so daß die beiden
48
Julius F. Glück
Nieten nicht nur die beiden Platten verbinden, sondern auch noch das Gewicht
der ganzen Tafel zu tragen haben. Diese Aufhängevorrichtung ist 183 mm lang.
Ein nicht voll ausgegossenes fehlendes Randstück der linken Tragplatte
ist durch einen besonders gefertigten blechartigen Gelbgußstreifen von
100X37 mm Umfang ergänzt und begradigt. Die Anbringung erfolgte durch
Nieten. An einzelnen Stellen der Tragplatte ist das Metall in wilden Batzen
davongelaufen und hat die vor gebildete Wachsform völlig zerstört; möglicher-
weise lag dies an der ungenauen Dosierung der Gußmenge.
Die zweite — die „erotische“ Tafel (Nr. 60308), Abb. Nr. 14, ist als
Ganzes nur noch in einer mäßigen Photographie erhalten. Lediglich drei Figu-
ren bzw. Figurengruppen konnten in schwerbeschädigtem Zustand geborgen
werden. Es sind dies die Nm. 60308 a, b und c. Die Maße der Tafel waren:
Gesamthöhe mit den die Halterung überragenden Figuren 590 mm, Höhe
der Tragplatte 320 mm, Breite der Tragplatte 210 mm.
Diese Tafel ist in kompositorischer wie technischer Hinsicht mit der eben
beschriebenen Prunktafel weitgehend identisch. Thematisch aber führt sie zu
einer Steigerung, die in kleinen Einzelheiten bisher nur angeklungen ist — zur
vollendeten Pornographie. Damit enthüllt sich erst der Standort Alis innerhalb
der westafrikanischen Kunst.
Betrachten wir kurz die Figuren und Gruppen dieses „Meisterwerkes“.
Insgesamt sind es 12 Figuren oder zusammengehörige Gruppen:
1. Flöte blasender Lastträger
2./3. zwei bärtige mohammedanische Händler mit Stöcken
4. Lastträger
5./6. koitierendes Paar, Abb. Nr. 15 (6. erhalten)
7./9. drei sitzend koitierende Paare, Abb. Nr. 16 (7. erhalten)
10. zwei paarende Hunde
11. dgl.
12. paarende Pferdegruppe, Abb. Nr. 17
An den drei geretteten Rudimenten ist deutlich zu erkennen, daß Ali auf
die Genauigkeit der Details außergewöhnlichen Wert gelegt hat. Es muß ihm
bescheinigt werden, daß ihm seine pornographische Absicht voll und ganz ge-
lungen ist. Auch der gesamtkörperliche Gestus beim Orgasmus zeigt Ali als
einen in der ars amandi sehr beschlagenen Mann. Eine nähere Beschreibung
erübrigt sich, da die drei Reste hier abgebildet sind — sie sprechen für sich
allein.
Die Montageplatte besteht in diesem Fall aus einem einzigen Gußstück, das
musterlos in der Stärke eines kräftigen Blechs gegossen worden ist. Die Auf-
hängevorrichtung ist die gleiche wie bei der oben beschriebenen Prunktafel.
Naturgemäß sind nur die Lastträger und Händler bekleidet — neue Einzel-
heiten, die über das von der anderen Tafel bereits Bekannte hinausgehen,
ergeben sich jedoch nicht.
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
49
Obwohl der Sinn dieses Gebildes in seiner dem sogenannten Primitiven
normalerweise unbekannten hedonistischen Prägung eindeutig ist, soll hiermit
noch einmal mit Nachdruck darauf hingewiesen werden. Es ist ja eine alte
Erfahrung, daß zwischen der Bereitschaft einen derben Witz zu erzählen und
dessen konkreter Illustrierung eine ausgeprägte psychologische Schranke be-
steht, die bei den Naturvölkern fast nie überschritten wird [26]. Zu einer sol-
chen naturnahen Verdinglichung besteht normalerweise auch gar kein Anlaß,
da die im allgemeinen ziemlich frühe Erfüllung erotischer Wünsche bei den
Naturvölkern ein Ventil darstellt. Hierzu kommt, daß das Verhältnis zum
Geschlechtlichen auf dieser Bewußtseins-Stufe meist natürlicher ist als in den
Bereichen der Zivilisation. Dies läßt erkennen, daß wir in Alis Werken einen
Zustand antreffen, den wir als sehr spät, als am Ende einer Entfaltungsreihe
stehend bezeichnen dürfen.
5. Übersehen wir die hier geschilderten Güsse Ali Amonikoyis, so finden wir
als hervorstechendsten Zug das Bemühen, möglichst lebenswahr zu gestalten.
Wir nennen diese Neigung impressionistisch. Wenn dieser Gestaltungswunsch
für unser Auge nicht bruchlos durchgehalten wird, so liegt dies nicht am tech-
nischen Können, wenn auch die Perfektion, etwa im Vergleich zu Benin,
manches zu wünschen übrig läßt. Vielmehr sieht oder besser wertet der Künst-
ler eine ganze Reihe von Dingen nicht. Man spürt hier ein altes Stilgefühl
nachklingen — dem solche Details, wie z. B. das Ohr oder die unteren Extremi-
täten oder die Proportionierung, nicht so wichtig sind. Immerhin ist es bloß
ein Nachklingen, das mehr als wett gemacht wird durch die Unbefangenheit,
mit der neue Formen und Motive neben die überlieferten gestellt werden. Im
übrigen finden wir Menschen, Tiere, Masken, Szepter usw., aber auch rein
ornamentale Gebilde wie Arm- und Fingerringe, in der Fertigungsliste Alis
vertreten. Die hohe erzählerische Qualität, die in vielen Fällen der afrikani-
schen Gelbguß-Kunst belegt ist, wird auch bei Ali offenbar. In seinen künst-
lerischen Äußerungen ist die ihm eigentümliche Handschrift nicht zu über-
sehen. Sie zeigt sich schon in der Raffinesse, mit der sich bei ihm die ganze Gelb-
gießertradition mit der Hereinnahme neuer Gedanken verbindet. Allerdings
gehen ihm dadurch die Merkmale des Monumentalen und der Ruhe Benins
verloren, auch in den Fällen, wo ihm diese Eigenschaften selbst erstrebens-
wert erschienen sind, wie etwa in dem figürlichen Griff des Szepters und be-
sonders in den Tafeln. Lediglich in den beiden Masken ist eine gewisse monu-
mentale Wirkung zu verspüren. Am deutlichsten zeigt sich der persönliche Stil
Alis in den montierten Gebilden, der Jagdgruppe und den beiden Tafeln.
Die Überladenheit der beiden Tafeln beweist die unverkennbare Eigenart der
Schöpfungen Alis — ein parvenuhaftes Protzentum, das auch den letzten
Winkel auskehrt, um dessen Inhalt auszustellen.
Die Verantwortung hierfür hat Ali mit seinen Käufern zu teilen. Weder ihm
noch den reichen Häuptlingen ging es um die Qualität, um die Aussage eines
höheren Gefühles, sondern um die Repräsentation des Reichtums und um den
4 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
50
Julius F. Glück
Sinnenkitzel. Eine solche Funktion der Kunst ist bekanntlich nicht nur auf Ali
und das Togo von 1905 beschränkt. Insofern ist das pornographische Element
geradezu die konsequente Fortführung dieses „Stiles“. Er entspricht der
psychischen und sozialen Auffächerung einer Gesellschaft, deren Mitglieder
sich infolge der zersetzenden Wirkung der fremden europäischen Mentalität
nur noch locker verbunden fühlen können.
Gewisse parallele Erscheinungen aus dem übrigen Westafrika, wenn auch
nicht in so extremem Maße, sind nicht unbekannt. So berichtet Staudinger [27]
von einer Holztüre aus Bida mit stark erotischen Skulpturen, die Flegel seiner-
zeit mitgebracht hat, und Hermann Baumann hat in den dreißiger Jahren aus
Angola von den Tschokwe zwei Häuptlingsstühle mitgebracht [28], deren
Rücken und Beinleisten mit sehr naturgetreuen Motiven auch erotischer Art
beschnitzt sind. Es ist ganz offensichtlich, daß es sich hier um künstlerische
Äußerungen handelt, die aus verwandten sozialen Verhältnissen hervor-
gegangen sind. Diese Züge — möglichst natumahe Glätte und die Wiedergabe
sexueller Motive — erweisen sich als Ausdruck einer bestimmten Zeitgebunden-
heit und des Wandels des Stilgefühls, die nicht auf ein besonderes Volk oder
ein bestimmtes Material beschränkt sind.
Allerdings treten diese Phänomene bei Ali betonter hervor, zumal der Ein-
bruch fremder Formelemente und Wertsetzungen bei ihm besonders stark ist.
Es sei nur an die zweckhaften europäischen Standflächen seiner kleineren
Plastiken und an die unafrikanische „plastische Tafelmalerei“ mit der Auf-
hängevorrichtung erinnert.
Insofern erscheint es berechtigt, von der exemplifikatorischen Bedeutung der
Güsse Alis für die afrikanische Kunstgeschichte zu sprechen. Wir erfahren
durch ihn den Geschmackswandel einer Kunst, deren tragende Schicht unsicher
geworden ist unter dem Einbruch fremder Mächte und stoßen mitten hinein in
den Bruch, der das afrikanische Leben bis heute durchzieht — und der weit-
hin den afrikanischen Künstler seit etwa 50 Jahren Kitsch produzieren läßt.
II.
1. Mit vollem Bedacht wurde in der vorausgegangenen Beschreibung für die
Arbeiten Ali Amonikoyis das Attribut „kitschig“ mehrfach angewendet.
Mit dieser Begriffsverwendung befinde ich mich in einem starken Gegensatz
zum üblichen Gebrauch dieses Ausdruckes. Insbesondere war die ethnologische
Kunstforschung gegen die Hereinnahme eines solchen Begriffes durchaus
gefeit.
Man empfand herkömmlicherweise den Kitsch sprachlich wie vorstellungs-
mäßig als ein Kind unserer Zeit und Kultur und war daher erst gar nicht ver-
sucht, ihn rückwirkend auf alte Kulturen oder gar auf die künstlerischen Er-
zeugnisse der primitiven Völker auszudehnen. Der Kitsch erschien vielmehr
als eine Reaktion des Volkes auf unsere geglättete Zivilisation,
Wort und Vorstellung sind, so wird allgemein angenommen, um die letzte
Jahrhundertwende im Münchener Kunsthandel entstanden. Etymologisch wird
v'flk
>m
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
51
„Kitsch“ meist vom englischen sketch, d. h. Skizze hergeleitet. Darnach hat es
sich um leicht zu gestaltende Werke gehandelt, die man billig los wurde, so
daß am Ende der Entwicklung „Kitsch“ soviel wie Schund oder Geschmack-
losigkeit bedeutet hat.
Eine andere sprachliche Herleitung nennt als Ausgangspunkt den Ausdruck
„verkitschen“, der synonym ist mit „verramschen“, „verkümmeln“, d. h. billig
verkaufen, verschleudern. Wenn München der Entstehungsort wirklich war,
dann wird man dieser Deutung den Vorzug geben, da sie der süddeutschen
Mundart entspricht [29].
Der Begriff hat sich zweifellos an der bildenden Kunst entzündet, wurde je-
doch bald auf alle übrigen Kunstgebiete angewandt, auf die Musik wie auf
die schöne Literatur.
Entsprechend unserer geistigen und sozialen Situation wurde der Kitsch bald
ein recht aufwendiges Kapitel der Kunstgeschichte. Trotzdem blieb seine Defi-
nition, die Antwort auf die Frage, was er eigentlich ist, immer unbefriedigend.
Pazaurek, der Begründer des Stuttgarter Kitsch-Museums, nannte den Kitsch
kurz und bündig „eine Versündigung gegen den guten Geschmack“ [30]. Er
wurde damit zum Sprecher der „ästhetischen Kirche“ [31], des moralischen
Ästhetizismus, über den wir im Grunde bis heute nicht hinausgekommen sind.
Zweifellos hat seit seiner Findung der Steckbrief des Kitsches an Schärfe zu-
genommen. Kitschige Erzeugnisse wollen darnach durch „billige, auf den
Geschmack der breiten Masse berechnete Mittel künstlerische Wirkungen
erzielen“ [32] oder haben als scheinkünstlerische, innerlich unwahre Gebilde
zu gelten, die echtes Empfinden bloß Vortäuschen — oder aber es wird durch
den Kitsch „Bedeutendes zu trivialen Zwecken mißbraucht“ [33]. Der Hinweis,
daß Kitsch nicht gleichbedeutend ist mit „schlichtem Mangel an künstlerischer
Gestaltungskraft“ [34] zielt ganz offensichtlich auf die Naturvölker und auf
die Volkskunst, wo eben so viel „Urwüchsigkeit“ am Werke ist, daß dort über-
haupt kein Kitsch entstehen kann — etwa entsprechend dem bekannten Volks-
lied „Auf der Alm, da gibt’s koa Sünd!“
Versuchen wir die Kriterien des Kitsches einmal zusammenzustellen, so
finden wir folgende Merkmale immer wieder genannt:
1. Verstoß gegen den guten Geschmack, mangelnde Materialgerechtigkeit,
wunderliche Materialien, Naivitäten.
2. Betonung des Augenfälligen, der Buntheit, des Glanzes, des Rhythmus,
kräftige Sprache der Sinne, sentimental, sinnlich-triebhaft.
3. Mangel an Symbolhaftigkeit.
4. Anleihen aus höheren Wertbereichen, Verniedlichung, ehrfurchtslos,
schamlos, frech, sittlich minderwertig, Wegbereiter des Kollektivismus,
Massenbedarf.
5. Geistig mühelos, metaphysisch untief, spannungslos, fadharmonisch.
Diese Aufzählungen schließen wir am besten ab mit der Definition Richard
Egenters. Darnach ist ein Werk als kitschig zu bezeichnen, das:
52
Julius F. Glück
1. In der Weise des Schönen dem menschlichen Leben zugeordnet wird,
2. aber nicht aus dem gesamt-menschlichen Erleben des dargestellten Gegen-
standes, sondern aus der vorwiegend sinnenhaft-genußvollen oder sonst-
wie oberflächlichen Auffassung des Gegenstandes stammt;
3. eine so vereinfachte Darstellung findet, daß es im Betrachter und Hörer
nur ein sinnlich genußvolles oder sonstiges oberflächliches Erlebnis
wachruft [35].
Aus alledem ergibt sich ein klares Über wiegen moralischer Gesichtspunkte —
wenn man so will, der Ausschluß des Kitsches aus dem Bereidi der Kunst.
Hierin liegt das Eingeständnis, daß sich der Kitsch der ästhetischen Kategorie
zu entziehen und irgendwie auf einer anderen Ebene zu liegen scheint als die
hohe Kunst.
Wir dürfen aber nicht übersehen, daß die hier zum Ausdruck kommende
Auffassung den Kitsch ausschließlich auf unsere eigene Zeit und Kultur bezo-
gen sieht. Daraus erklärt sich auch die geradezu kämpferische Verachtung des
Kitsches, dessen Inferiorität durch die Fülle und Breite seines Auftretens dop-
pelt schwer ins Gewicht fällt. In dieser Betrachtungsart bietet sich der Kitsch
als Äußerung einer überzüchteten Kultur dar. Kitsch erscheint somit als ein
zivilisatorischer Effekt.
Es ist das Verdienst Egenters, wenngleich er sich mit seiner nachdrücklich
betonten ethischen Betrachtung dieser Erscheinung den Weg zur Klärung zu-
letzt selbst verbaut hat, doch in wesentlichen Punkten unsere Kenntnisse nach-
haltig gefördert zu haben.
So stellt er fest, daß die künstlerische Begabung gegenüber dem Kitsch
indifferent ist. Noch weiter greift er, wenn er schreibt: „Ein ganz primitives
Schnitzwerk eines Bauern, das formal große Mängel aufweist, kann ergrei-
fend innig oder ekelerregend kitschig sein; das gleiche gilt für ein Kunstwerk,
das mit allen Schikanen des Kontrapunktes und der Orchestrierung arbeitet.
Echte Kunst und Kitsch finden sich also in allen Schichten des künstlerischen
Ausdrucks, denn Kitsch wurzelt im Erleben des Künstlers“ [36]. Egenter hat
damit einen Tatbestand festgehalten, der anderen Autoren bisher entgangen
ist. Vor allem ergibt sich hieraus zweifellos, daß Kitsch zumindest universal
sein kann, d. h. mit anderen Worten, daß auch die Urtümlichkeit der Volks-
kunst wie der Kunst der Naturvölker kitsch-fähig ist.
2. Greifen wir auf die oben angeführten Merkmale des Kitsches zurück, so
können die meisten tatsächlich universal verkommen. Dies zeigt sich schon an
Pazaureks These vom Verstoß gegen den guten Geschmack.
Wenn der Verfasser so etwas wie eine verbindliche Gültigkeit dessen, was
guter Geschmack ist, aufstellen zu können glaubt — der praktisch identisch ist
mit dem Geschmack der gerade geistig bestimmenden Schicht innerhalb einer
Gesellschaft —, so wird er darüber hinaus doch gleich sehr nüchtern. Er gliedert
diese „Sünde“ im einzelnen auf in:
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
53
1. Verstöße gegen das Material,
2. Verstöße gegen die Zweckform,
3. Verstöße gegen die Kunstform [37].
Es ist bezeichnend, daß er die Verstöße gegen die Materialgerechtigkeit an
die erste Stelle rückt. Hinter der kräftigen Betonung dieses Momentes steckt
ein ganz modernes Empfinden für die Einheit des Materiales, eine der besten
und saubersten Errungenschaften unserer Kultur — Ausdruck eines Reinlich-
keitsgefühles, dem das Material mehr ist als nur Brücke zu irgendeinem Zweck,
sondern bereits ein Wert an sich. Das gegenteilige Verhältnis zum Material hat
Pazaurek unter dem Begriff der „wunderlichen Materialien“ erfaßt. Er meint
damit die Kombination verschiedenartiger Werkstoffe — also genau das, was
in so starkem Umfange in unseren Museen als Ausdruck primitiver Kunst ver-
treten ist — die Vereinigung von Haut, Knochen, Haaren, Asche und der-
gleichen mehr mit Bildwerken aus Holz und Ton, wie wir dies in unüberseh-
barer Fülle aus allen Erdteilen, aber auch aus allen Zeiten in den akroxylischen
und akrolithischen Gebilden bestätigt finden. Hierher gehören die hautüber-
zogenen Masken der Ekoi vom Kreuzfluß in Westafrika ebenso wie die Sepik-
schädel, wie die mit dem Haar des Verstorbenen versehenen Köpfe der Holz-
plastiken (Kitumghun) von britisch Kolumbien [38], oder die spanischen Hei-
ligenfiguren mit ihren Überzügen aus Menschenhaut und Menschenhaaren, die
noch heute bei den Prozessionen gezeigt werden [39]. Die frühen Kunstwerke
der Antike einschließlich Mesopotamiens haben diese Vereinigung fremder
Werkstoffe auf höherer Ebene mit wertvolleren Materialien wiederholt [40] —
um von den weiblichen Porträtbüsten des alten Rom zu schweigen, die je nach
der Mode des lebenden Vorbildes abnehmbare Perücken erhielten [41].
Wir sehen, die Kombination wunderlicher Materialien ist weltweit. Diese
Zusammenhänge liegen in der Gleichheit der menschlichen Natur begründet —
dürfen also nicht genetisch verstanden werden.
Es werden sich zunächst natürlich Bedenken erheben, eine solche primitive
Holzplastik mit der perückentragenden altrömischen Porträt-Büste auf die
gleiche Stufe zu stellen. Denn damit wird ein großer Teil der naturvölkischen
Kunst zum Kitsch erklärt. Machen wir uns jedoch einmal frei von der überliefer-
ten Kitschauffassung, die dieses Phänomen letztlich als stildissonantisch und
als unvollkommen empfindet. Sehen wir einmal den Kitsch nicht nur als Spät-
stilphänomen. Die Gegengründe gegen die hier vorgetragene Meinung liegen
auf der Hand. Man wird auf die im allgemeinen bestehende innere Einheitlich-
keit der primitiven Kultur hinweisen und man wird die vorwiegende religiöse
Bedeutung der urtümlichen Kunstübung betonen. Gerade das letztgenannte
Argument ist am leichtesten zu entkräften durch den Hinweis auf unsere Kir-
chen, wo die kitschigen Bildwerke mit ihrem süßlichen Gehabe der Frömmig-
keit keineswegs Abbruch getan haben. Ars sacra und Kitsch vertragen sich aus-
gezeichnet — nicht nur in unserer Zeit und Kultur. Dem Hinweis der fehlen-
den Stildissonanz im Falle der primitiven Kunst können wir dadurch begeg-
nen, indem wir vorläufig erklären, daß diese Eigenschaft nur einen Sonderfall
54
Julius F. Glück
der universalen Erscheinung Kitsch darstellt. Dies gilt um so mehr, als erst in
einer höheren Kultur die Dreieinheit der bildenden Kunst von:
Stoff (Material)
Gehalt (Motiv) und
Form (Darstellungsweise)
entstanden sein kann und nicht in einer einfacheren Kultur — wir sind ja auch
bewußter. Wenn wir jedoch schon Wertmaßstäbe aufstellen, dann müssen wir
auch die primitive Kunst diesen unterwerfen.
Unter den oben auf gezählten Kriterien der Eigenschaften des Kitsches gibt
es allerdings einige, die gegen eine Einbeziehung der naturvölkischen Kunst
in diesen Rahmen sprechen. So wird man sie z. B, nicht des Mangels an Symbol-
haftigkeit zeihen, man wird sie auch nicht ehrfurchtslos, metaphysisch untief
oder fad-harmonisch nennen dürfen. Hierzu dürfen wir bemerken, daß man
dies auch nicht von jedem Kitsch unserer eigenen Kultur sagen kann,
3. Somit bleibt das Problem „was ist Kitsch?“ als wahre Pilatusfrage zu-
nächst weiter offen. Den Weg zu ihrer Lösung finden wir nicht in der Kunst,
sondern in der vor-künstlerischen Erfahrung des Menschen, im Erlebnis seiner
Sinne. Ontogenetisch gehören die ersten Wahrnehmungen des Menschen dem
haptischen Bereich an. Tastend und greifend, auch schmeckend lernt das Klein-
kind seine Umwelt kennen. Die Nah-Sinne haben unbedingte Priorität vor den
Fern-Sinnen des Riechens, Hörens und Sehens. Wenn es auch töricht wäre,
phylogenetisch für den Menschen die Gleichzeitigkeit der Sinne zu bestreiten,
so herrscht doch wenig Zweifel, daß in den frühesten Epochen der Menschheits-
geschichte das haptische Erfahren eine weitaus bedeutendere Rolle gespielt
hat als etwa bei uns. Der erste Stein und der erste Ast, die in die Hand genom-
men wurden, wurden erst auf ihre Griffigkeit und ihre Handgerechtigkeit ge-
prüft, bevor sie verwendet wurden. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß die
ersten „künstlerischen“ Versuche plastisch, genauer, kleinplastisch waren [42],
wobei wir gerne zur Kenntnis nehmen, daß die Dreidimensionalität als solche
nicht schon künstlerisch bedeutungsvoll ist [43]. Dieser Vorrang des Tast-
sinnes gilt auch heute noch im Kunstgewerbe [44].
Erst bei dem sich seiner Umwelt sicherer fühlenden Großwildjäger des jün-
geren Paläolithikums traten die Fernsinne, das optische und akustische Erleb-
nis, in den Vordergrund [45]. Der Intensitätsgrad ihrer Beanspruchung wurde
größer. Dadurch erfuhr aber der Verstand eine stärkere Ausbildung, so daß
dann die zweidimensionale Reduktion des Gesehenen als Flächenbild erfol-
gen konnte. Wir wissen, daß der Augennerv in einem direkteren Zusammen-
hang mit dem Gehirn, dem Organ des Verstandes, verbunden ist als alle übri-
gen Nervenbahnen [46]. Diese vorherrschende Neigung für die Manifestation
der Fernsinne ist seit dem Jungpaläolithikum allen schweifenden Menschen
gemeinsam.
Unbeschadet dieser Differenzierung bewahrte sich aber der Mensch aller
Zeiten und Völker das haptische Erlebnis als eine Grunderfahrung, die jeder
HHnHmui
Die Gelbgüsse des AU Amonikoyi
55
stets wieder neu macht. Es ist so intensiv und fundamental, daß es bis heute
das Gefühl höchster Gewißheit behalten hat. Man denke hier nur an die spre-
chende Szene im Neuen Testament, da der ungläubige Thomas erst glauben
kann, als er seine Hand in Christi Wunde legen darf. Hier zeigt sich das
gemeinmenschliche Maß der Unmittelbarkeit und höchsten Gewißheit, die
vom spürbaren Stoff ausgeht. Hinter diese unmittelbare stoffgebundene Erfah-
rung greift und denkt kein Normalmensch, weil sie ihm eine massive und
undiskutable eindeutige Lebenserfahrung bedeutet. Das Stück Brot, das er sich
in den Mund steckt, aber auch das Gebein eines Vorfahren, das er in der Hand
hält, sind Fakten, die für den Menschen niemals anzuzweifeln sind. Diese Art
der Welterkenntnis ist ihm so eindringlich, konkret und wahr, daß jede gei-
stige Bemühung daneben zunächst sinnlos wird; sie fällt daher dem Menschen
ohne jede Anstrengung in den Schoß. Dadurch, daß die sexuelle Sphäre ihr
zugehört, wird dieser Erfahrenskomplex in hervorragendem Sinne universal-
menschlich und überzeitlich — zugleich aber auch Ausgangspunkt einer sub-
limeren Entwicklung, denn der Eros ist der Zugang des Tastsinnes zum Gött-
lichen [47].
Dieser überwältigende Anteil des Haptischen an der Wahrnehmung und
seine Aussagefestigkeit äußern sich noch heute in unserer Sprache, in Worten
wie Ge-fühl und Be-greifen. Dichter wie Rilke und Valéry bestätigten die vom
Tasterlebnis her bestimmte starke Abhängigkeit unseres Gefühlslebens.
a) Die Haptik führt zu einem unreflektierten direkten Erkennen des Stoff-
lichen, des festen Aggregatzustandes, insbesondere der lebendigen Stofflichkeit
— zur Erkenntnis des Du. Dies ergibt sich schon aus dem Eros. Das aber
bedeutet, daß es zur Verdeutlichung dieser fundamentalen Erfahrung keines
Symboles, geschweige denn einer Allegorie bedarf. Wir bewegen uns hier im
vor-symbolischen Raum. Eine indirekte Bestätigung hierfür erhalten wir aus
der Psychologie, die feststellt, daß ein Sich-Erinnern auch rein körperlich-
mechanisch sein kann, ohne Beteiligung des Bewußtseins — ein Vorgang, den
wir im Alltag immer wieder praktizieren [48]. Infolgedessen geht es in diesem
Bewußtseinsbereich auch noch nicht um ein geistiges Ordnen der Wirklichkeit,
viel eher um ein Registrieren dessen, was ist, um ein konkretes Erinnern.
Diese Art des Erinnerns veranlaßte den Neandertaler, die Schädel und Lang-
knochen der jungen Höhlenbären aufzubewahren [49], und sie führte schließ-
lich zur Bestattung der nächsten Angehörigen. In den Überresten der gejagten
Tiere, wie aber auch der verstorbenen Angehörigen, die er fest in seiner Hand
spüren konnte, sah der frühe Mensch kein Zeichen oder Symbol des Gewe-
senen, sondern er besaß den Stoff und damit die Gewähr der Dauer, des Fort-
lebens — solange er diesen Teil in seinen Händen hielt. Ob er den Schädel
oder eine andere Skelettpartikel, ob er die Haare, die Haut oder später bloß
die Asche dafür nahm — immer war es der Stoff des Ganzen — haptische Wirk-
lichkeit.
Hierin gründet der urtümliche Verismus, das äußerste Maß der Naturtreue
— die Natur selbst. In der aufbewahrten Locke des verstorbenen Kindes oder
56
Julius F. Glück
eines anderen Angehörigen führt dieses urmenschliche Verhalten bis heute
auch bei uns ein allerdings meist übersehenes Leben [50]. Solange diese Dinge
ausschließlich so unmittelbar „erkannt“ wurden — so lange bestand auch kein
Bedürfnis nach künstlerischer Äußerung und so lange gab es auch keinen Kitsch.
Wie stark dieses Streben nach der stofflichen Identität mit dem Nicht-
mehr-Lebendigen war, erfahren wir aus der Welt des Jungpaläolithikers und
der Naturvölker, die künstlerisch gestaltet haben. Die Figur aus Ton oder
Holz allein genügte nicht. In der Höhle von Montespan wurde dem meister-
haft gebildeten Bärenkörper ein Bärenschädel anmodelliert und, wie oben
bereits bemerkt, finden wir auch bei den heutigen Naturvölkern immer wieder
Skulpturen, deren Bedeutung für die Betreffenden in erster Linie darin liegt,
daß sie Reliquien enthalten. Der Lohn des Arbeitsaufwandes für diese primi-
tiven Gebilde ruht in ihrer größeren Sinnfälligkeit. Jedoch nur aus der An-
wesenheit stofflicher Reste — der Partizipation — rechtfertigte sich deren Iden-
tität und Bedeutung. Wir nennen daher dieses Urbildnis das Stoff-Porträt
und den gesamten Komplex der Erfahrung des lebendigen Stoffes, der körper-
lichen Dinghaftigkeit, bezeichnen wir als Corporismus.
Dieser neue Begriff stimmt weithin mit dem des Prä-Animismus überein,
doch ist diese alte Prägung sehr unglücklich und unzureichend [51]. In die-
sem Zusammenhang möchte ich meinem Kollegen Jäger für wesentliche An-
regungen auf diesem Gebiet herzlich danken.
b) Es mag befremdend sein, vom Stoff-Porträt, vom corporisti-
schen Porträt zu sprechen. Aber wir haben erfahren, daß der Mangel an
äußerer Ähnlichkeit mehr als ausgeglichen wird durch die Anbringung echter
Überreste. Vergessen wir nicht, daß das heute bei uns vorherrschende Mo-
dell-Porträt keineswegs mit dem „Porträt“- Begriff identisch ist. Ernst
Buschor weist mit Nachdruck darauf hin, daß die Künstler der Antike oft völlig
auf die Züge der Einzelpersönlichkeit verzichtet haben, obwohl in Alt-Ägyp-
ten wie in Hellas Naturabformungen spätestens seit dem zweiten Jahrtausend
v. Ch. bekannt sind (bei uns erst seit dem späten Mittelalter nachgewiesen)
[52]. Der Natur wird in den späten Porträts eine höhere Wirklichkeit ent-
gegengesetzt. Die Modell-Studie ist somit nur Rohstoff für „die Erfüllung mit
höherem geistigem Ichgehalt“ [53]. Das Stoff-Porträt geht zeitlich dem
Benamungs-Porträt Buschors voraus. Das Kennzeichen des letzteren
besteht darin, daß ein Abbild an einen bestimmten Ort gebracht wird und
dort auf Grund mündlicher bzw. schriftlicher Angabe für eine bestimmte Per-
sönlichkeit zu gelten hat.
Darüber hinaus unterscheidet es sich schon deswegen von unserem Stoflf-
porträt, weil es keine echten Reliquien enthält und nur durch den verlie-
henen Namen identifiziert ist [54].
Im Benamungsporträt kündigt sich bereits die wachsende Bewältigung der
Materie an, die mit der Einschränkung der Verwendung leiblicher Überreste
zusammenfällt. Die Tendenz verläuft unverkennbar von der Stoff-Iden-
tität zur Form-Identität. Erst in diesem Stadium können wir eigent-
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
57
lieh von „wunderlichen Materialien“ reden, das sind jene, die keine Reliquien
mehr sind, sondern diese lediglich vertreten. Sie sind tierischer und pflanz-
licher Herkunft mid sollen einen corporistischen Anschein erwecken. Aber im-
mer noch liegt der Schwerpunkt der Ähnlichkeit im Bereich des Stofflichen,
Am Endpunkt der Entfaltung steht dann schließlich die geistige Durchdrin-
gung der Materie — „die Form verzehrt den Stoff“ —, wie Scheffler dies so
treffend formuliert hat [55].
4. Obwohl hier die ketzerische Meinung vertreten wird, daß große Teile
der naturvölkischen Kunst unter die Kategorie „Kitsch“ zu rechnen sind, so
ist diese „Abwertung“ trotzdem nur scheinbar. Vielmehr erfährt der Begriff
„primitive Kunst“ dadurch eine Auflockerung, die über das Übliche hinausgeht
und die prinzipielle GleichWertigkeit der primitiven Kunst mit unserer eige-
nen nur zu bestätigen vermag. Es erscheint heute allerdings notwendig, auch
vor ihrer Überbewertung zu warnen. Meist wird sie als ein ungegliedertes
Ganzes gesehen, das aus einer einheitlichen Bewußtseins- und Erlebnisstufe
entsprungen gedacht wird.
Die Relativität des Schönen wurde schon durch Alois Riegl und später durch
Wilhelm Worringer [56] von seiten der europäischen Kunstgeschichte bestä-
tigt. Immer aber blieb die primitive Kunst ein Ganzes, dem die Kunst der
Hochkulturvölker in reicherer Gliederung gegenübergestellt wurde. Worringer
spricht so von primitiv, klassisch und orientalisch [57], entsprechend verfah-
ren auch Hausenstein [58] und Read [59]. Noch hilfloser steht Oswald Speng-
ler den primitiven Kulturäußerungen gegenüber, wenn er sie als „chaotisch“
bezeichnet [60]. Er übersieht dabei, daß diese für ihn ungefügte Welt bereits
die Grundidee des Porträts konzipiert hat, das er als Beweis historischer Hal-
tung verstanden wissen will [61]. Selbst Arnold J. Toynbee, dem man ein
großes Verständnis für die primitiven Kulturen nicht absprechen kann, ver-
weist sie aus seinem „intelligible field of the history“ [62].
Von der deutschen Kunst-Ethnologie wurden bemerkenswerte Versuche
unternommen zur weiteren Auflösung des Begriffes „primitiv“. In erster Linie
ist hier Ernst Votier zu nennen, der entscheidende und wohl für immer gültige
Vorarbeit geleistet hat. Seine Bemühungen haben Herbert Kühn und Eckart
von Sydow fortgesetzt. Durch diese Autoren wurde vor allem die räumliche
Gliederung der naturvölkischen Kunst als Stilindividualitäten vorangetrieben.
Jedoch alle Bemühungen zur weiteren Gliederung der Stile in sich hatten
unter der schweren Hypothek der relativ geringen zeitlichen Tiefe der primi-
tiven Kunstäußerungen zu leiden. So kam Vatter fast zwangsläufig infolge der
Überfülle entsprechender Belege zu der Feststellung, daß die primitive Kunst
vorwiegend religiöser Natur sei. Dadurch wurde aber dieser Komplex für den
Außenstehenden erst recht zu einem urtümlichen Ganzen gestempelt, dessen
Ausdeutung in der Hauptsache von der Religionswissenschaft, der Mythologie
und der Psychologie her erwartet worden ist. So konnte die Kluft zwischen der
Kunst der Primitiven und der der Hochkulturvölker nicht überbrückt werden.
58
Julius F. Glück
Ihre stärkste Begründung erfuhr diese Auffassung durch die immer wieder
gemachte Beobachtung, daß bei den Naturvölkern im Gegensatz zu unseren
eigenen Verhältnissen kein Stilwandel zu bemerken sei. Die Ansicht von der
sogenannten „Stilfestigkeit“, die auch Vatter noch so sehr betonte [63],
übersah, daß diese Eigenschaft der primitiven Kunst nur jene Unschuld ist, die
noch keine Gelegenheit zum Sündigen erhalten hat. In der Zwischenzeit ist
bekannt geworden, daß die primitive Gesellschaft sich in einem äußerst labilen
Gleichgewicht befindet und nur scheinbar eine kontinuierliche Entfaltung vor-
spiegelt. In Wirklichkeit haben primitive Kulturen meist nur eine kurze Lebens-
dauer, wie sich dies auch in ihrem geringen historischen Bewußtsein ausdrückt.
Die „analphabetische Kunst“ [64] blieb nur so lange fest, solange ihr inneres
soziales Gefüge unangetastet blieb. Sobald aber dieses erschüttert wurde, war
zwar nicht die Kunstfertigkeit als solche, aber der gruppenindividuelle Stil er-
ledigt. Dies schließt jedoch nicht aus, daß sich der neu zu bildende Stil mor-
phologisch gleich blieb. Wenn es aus diesen Gründen auch schwierig ist, den
Stilwandel in der primitiven Kunst zu belegen, so kann er heute nicht mehr
bestritten werden. Die primitive Kunst ist außerdem keineswegs allein der reli-
giösen Deutung zugänglich, sondern als Kunst ist sie eine Wissensart, ein Er-
kenntnismittel sui generis, das dem Denken völlig gleichwertig ist [65]. Das
bedeutet, daß auch die primitive Kunst nicht nur ars sacra, sondern ars profana
zugleich ist, also eine den gesamten Menschen umfassende Äußerung darstellt,
die nicht nur über die religiösen Vorstellungen allein eine Aussage zu machen
hat, sondern auch gültig ist für die jeweilige Weltkenntnis. Mit anderen Wor-
ten, die primitive Kunst hat in zahlreichen Fällen ihre Stadien, die vielfältige
Analogien zum hochkulturlichen Stilwandel aufweisen, so daß die „auf sämt-
liche Epochen anwendbaren übergeordneten Anschauungsbegriffe“, wie dies
Curtius formuliert hat [66], auch auf den Bereich der primitiven Kunst an-
gewendet werden müssen.
Diesen Vergleich des Formniveaus [67] der Kunst für alle Völker und Zeiten
und seine Fixierung nennen wir morphologisch arbeiten. Die hierbei verwen-
deten Begriffe entnehmen wir naturgemäß unserer eigenen Kultur, da nur diese
das begriffliche Werkzeug hierfür besitzt [68].
5. a) Für die Differenzierung der Stile innerhalb der Zeit hat sich ein Be-
griffspaar eingebürgert, das allerdings sprachlich mehrfach abgewandelt wor-
den ist, ohne daß dadurch das Gemeinte an Klarheit gewonnen hätte.
Auch dem mit dieser Materie weniger Vertrauten fallen in der bildenden
Kunst zwei Haupttendenzen auf, die ohne die zunächst sichtbare Notwendig-
keit eines inneren bzw. genetischen Zusammenhanges immer wieder augen-
fällig werden. Die eine bevorzugt eine der normalgesehenen Natur fernere,
entdinglichende, dissoziierte Darstellung, während die andere eine möglichst
große Übereinstimmung mit natürlichen Vorbildern sucht. Als bekannte sprach-
liche Fixierungen dieser Tendenzen seien hier genannt: naiv — sentimental,
dionysisch — apollinisch, idioplastisch — physioplastisch, geometrisch — natur-
Die Gelbgüsse des Ali Anwnikoyi
59
nachahmend, imaginativ — sensorisch, abstrakt — konkret und schließlich ex-
pressionistisch und impressionistisch.
Aus Gründen der sprachlichen Geläufigkeit geben wir im folgenden dem
Begriffspaar expressionistisch — impressionistisch den Vorzug.
Herbert Kühn gebührt das Verdienst, die Anwendung beider Begriffe auf
die primitive Kunst nachdrücklich durchgeführt zu haben. Allerdings fühlte er
sich unter dem Eindruck der jungpaläolithischen Flächenkunst mit ihrem un-
leugbar starken impressionistischen Zug gedrängt, das Begriffspaar imaginativ
— sensorisch (expressionistisch — impressionistisch) als ethnisch gebundene
(räumliche) Qualitäten, nicht als Ausdruck zeitlich bestimmter ubiquitärer
Phänomene aufzufassen. Die besondere Schwierigkeit lag in der verblüffenden
Tatsache, daß gerade diese frühmenschliche Kunst so überraschende naturtreue
Darstellungen zeigte. Zur Erklärung hat man zunächst das eidetische Sehen
herangezogen — man hat hier mit einem besonderen Maßstab messen zu müs-
sen geglaubt, weil das sonst übliche Entfaltungsschema auf dem Kopf zu ste-
hen schien: das Vollendete am Beginn einer Epoche und nicht am Ende! Aber
schon Luquets gründliche Untersuchung hat gezeigt, daß der „visuelle Realis-
mus“ (unser Impressionismus) stets begleitet war vom „intellektuellen Realis-
mus“ (unser Expressionismus), in welchem nicht nur dargestellt wird, was man
sieht, sondern was man weiß (z. B. die inneren Organe) [69]. Heute wird es
immer wahrscheinlicher, daß gerade die die Flächenkunst bevorzugenden Früh-
kulturen ihre expressionistischen Vorläufer besaßen [70], so daß also die Kunst
des Magdalénien nicht Anfang, sondern Ende einer Epoche war.
Im übrigen hat bereits Ernst Vatter den Wesensunterschied zwischen der
Flächen- und der plastischen Kunst eindeutig erkannt. Er stellte fest, daß sich
beide Übungen fast völlig ausschlössen. Von der Plastik ist bekannt, daß sie
vorwiegend an die seßhafte und pflanzerische Kultur gebunden ist [71], wo
bekanntlich der Ahnenkult seine sozialen und ökonomischen Voraussetzungen
am stärksten besitzt, Impuls dieser Kunst ist „die Nähe des Toten“ [72].
Dagegen entstammt die Flächenkunst dem schweifenden Menschen. Dies
hat Herbert Kühn deutlich hervorgehoben. Es war jedoch sein Irrtum, diese
Kunst nur mit dem Sensorismus (Impressionismus) zu verbinden [73].
Unbeschadet der Mängel dieser ersten Gliederungsversuche wurde doch
durch sie eine wesentliche Bresche geschlagen in die herkömmliche Auffassung
vom Schönen, denn noch um die Jahrhundertwende war „schön“ nur mit größt-
möglicher Naturtreue identisch. Man sah in der gegenteiligen Tendenz etwas
Primitives, eine Naivität, ein Nicht-mehr-Vermögen, und verkannte, daß da-
hinter ein anderes Wollen stand. So wurde eben „primitiv“ mit „expressio-
nistisch“ bzw. „abstrakt“ gleichgesetzt. Erst die damals gerade einsetzende
eigene moderne Kunstentwicklung mit ihrem nicht übersehbaren Zug zur Ent-
dinglichung und Vereinfachung machte auch uns reif für die Erkenntnis eines
anderen Wollens, Sehens und Erfahrens.
Aber auch die Vertreter der neuen Kunst, denen die primitive Kunst zahl-
reiche Anregungen gegeben hat, verkannten ihrerseits dieses Vorbild, wenn
60
Julius F. Glüdi
sie mit ihrer Hilfe zurückkehren wollten zur „Ursprünglichkeit des Da-
seins“ [74].
Wohl bestehen zahlreiche Übereinstimmungen zwischen dem Expressionis-
mus der einfacheren und dem unserer eigenen Kultur. Aber es gibt auch genü-
gend Trennendes.
Allem Expressionismus ist gemeinsam das Erlebnis einer gewissen Lebens-
unsicherheit, einer Lebensangst und der daraus resultierenden Erschütterung
[75]. Aus dieser folgt wieder der Wunsch, diesem Gefühl unmittelbaren Aus-
druck zu verleihen ohne Rücksicht auf ein natürliches Vorbild. Diese Unmittel-
barkeit geht vom Eindruck des „Allgemeinen“ aus, von dem die Gestaltpsy-
chologie sagt, daß das „je Allgemeinere als Bewußtes früher ist, im Vergleich
zum Besonderen als Gewußtes“ [76]. Das konkrete Ganze wird somit früher
erfaßt als seine Teile [77],
Was den modernen Expressionisten vom primitiven trennt, ist sein be-
wußter Verzicht auf das Besondere, d. h. er bedarf einer geistigen Anstren-
gung, um aus der ihm überreich zuströmenden Fülle von Einzelheiten eine
sinnentsprechende Vereinfachung vorzunehmen.
Der starke Anteil der Rationalität am modernen Bilden äußert sich auch dar-
in, daß unsere Künstler sowohl expressionistisch wie impressionistisch gestalten
können, wenn sie wollen. Dies ist dagegen den primitiven Expressionisten ver-
wehrt. Hierin äußert sich ihre geringere geistige Erfahrung, ihre intellektuelle
Armut. Als Ausgleich hierfür ist der primitive Expressionist sozial stärker ein-
gebettet, so daß er für seine Kunst keiner Interpretation bedarf, sondern unmit-
telbar versteht und verstanden wird. Dafür empfindet sich der Moderne wie-
der als isoliert und mißverstanden. Sein Wollen ist weitaus persönlicher als das
des Primitiven. Darum wirkt er auch radikaler. Der entscheidendste Unter-
schied zwischen dem primitiven und dem höheren Expressionismus liegt je-
doch in der Tatsache, daß der primitive stofflicher gebunden ist — d. h. noch
direkter auf der corporistischen Grundlage ruht. Es ist ja auch bezeichnend,
daß der primitive Expressionist nie jenes große Maß an Entdinglichung er-
reicht, das für den modernen bezeichnend ist.
Der Impressionismus aller Stufen ist gekennzeichnet durch die größere Frei-
heit gegenüber der materiellen und sozialen Umwelt, durch den größeren
Reichtum an materiellen Lebensgütem, durch das Gefühl der Sicherheit und
der Macht. Sozial gesehen ist er ein Triumph der stärkeren Arbeitsteilung und
inneren Differenzierung. Arbeitsteilung aber hat wachsende Naturerkenntnis
und Naturbeherrschung zur Folge — führt also letztlich zu einer höheren In-
tellektualität.
Hier wird das „Besondere“ nicht nur wahrgenommen, sondern auch ge-
schätzt, gewollt und gestaltet. Der Künstler wird individueller und seine Kunst
oft höfisch, die damit der sozialen Repräsentation der herrschenden Oberschicht
dient [78]. Damit wird das Dargestellte von selbst sinnlicher und lebensnäher,
was auch den Absichten dieser Epochen entspricht. Das Porträt erfährt seine
besondere Schätzung, es verliert an Stofflichkeit zu Gunsten der geistigen
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
61
Durchdringung. Es dient nicht mehr der unmittelbaren (stofflichen) Identität,
sondern der Selbstbestätigung. Die impressionistische Kunst aller Zeiten trägt
unverkennbar den Stempel der Lebensbereicherung und Lebenssteigerung,
In dieser Phase tritt auch das Klassische auf, das nur einen Sonderfall
des Impressionismus darstellt.
Was die verschiedenen Impressionismen trennt, ist letztlich das gleiche
wie im Falle der Expressionismen, Sie sind unterschieden durch den Grad
der Intellektualisierung, der Vergeistigung.
Es ist nur natürlich, daß die Unterschiede des Impressionismus stärker ins
Auge fallen als die des Expressionismus, weil der Spielraum durch das Ziel der
möglichst großen Naturtreue kleiner ist. Der Maßstab liegt, wenigstens teil-
weise, in diesem Falle außerhalb der Kunst.
An drei Erscheinungen wird dies besonders deutlich, an der Proportio-
nierung, dem Kontrapost und der Perspektive. Der primitive Im-
pressionist begnügt sich im allgemeinen mit der genauen Durcharbeitung des
Kopfes, während ihm die maßlichen Relationen der statuarischen Gesamtheit
nebensächlich bleiben, dies gilt in erster Linie von den Extremitäten. Die Her-
vorhebung des Kopfes durch eine mehr oder weniger ausgeprägte Überdimen-
sionierung gehört ebenfalls hierher. Der Kontrapost fehlt völlig auf den tiefe-
ren Integrationsstufen. Die gegenseitige Zuordnung der Volumen eines Bild-
werkes einschließlich seiner negativen oder Zwischenraum-Volumen blieb als
Entdeckung eigentlich erst der griechischen Antike Vorbehalten. Damit hängt
der starre Charakter, der unbeholfene Ausdruck dieser Gebilde im naturvöl-
kischen Bereich ursächlich zusammen. Wirksame Figurengruppierungen sind
dadurch völlig ausgeschlossen — sie können lediglich beziehungslos neben-
einander aufgereiht werden. Dies geht aus den Tafeln Alis ebenso deutlich her-
vor wie etwa aus den Benin-Gruppen, Das Prinzip der Frontalität, die
ausschließliche Betonung der Vorderansicht, weil sie instinktiv als wesentlicher
betrachtet wird, gehört ebenfalls in den Bereich des Kontrapostes.
Die Perspektive ist eine Erfindung der Renaissance und eher eine natur-
wissenschaftliche als eine ästhetische Größe, stellt also eine ausgesprochen in-
tellektuelle Leistung dar [79], Ihre geringe Wertschätzung im modernen Ex-
pressionismus ist nur eine Bestätigung dieser Auffassung.
Im übrigen tragen der Expressionismus wde der Impressionismus der höhe-
ren Kulturen gegenüber den gleichen Phasen primitiver und archaischer Prä-
gung radikalere Züge — die Entdinglichung bzw. Dinghaftigkeit ist stärker.
Dies ist ein Beweis der intensiveren Beteiligung des Verstandes an der bild-
lichen Gestaltung. Dadurch wird die künstlerische Aussage schärfer formuliert.
Wenn wir von der Auffassung ausgehen, daß jede Kunstentwicklung mit
dem Expressionismus beginnt, so folgert hieraus, daß überall da, wo wir Im-
pressionismus vorfinden, dieser später sein muß. Diese These erscheint uns
durch oben gegebene Darstellung des Corporismus hinreichend gefestigt.
Weiterhin ist hieraus zu schließen, daß wir auch in dem Bereich der primi-
tiven Kunst unter bestimmten Voraussetzungen mit einem phasenhaften Pen-
62
Julius F. Glück
dein der Stilentwicklung zwischen dem Expressionismus und dem Impressio-
nismus zu redmen haben. Diese beiden Ismen sind somit die äußersten Punkte
eines Ablaufes, der sich nicht nur in der Menschheitsgeschichte, sondern auch
bei der gleichen Gesellschaft mehrfach wiederholt hat. Es muß allerdings ein-
schränkend hinzugefügt werden, daß die Wiederholung der Phase nur dort
stattfinden konnte, wo die betreffende Gesellschaft auch die Gelegenheit er-
halten hat, eine gewisse Kontinuität zu erleben. Sehr oft konnten die ethni-
schen Einheiten nicht einmal eine Phase ganz ausschreiten. Die primitiven
Gesellschaften zeigen uns nämlich, daß eine kontinuierliche Entfaltung zu den
historischen Glücksfällen gehört. In diesem Sinne ist jede Hochkultur ein sol-
cher Glücksfall, der diese Phasen mehrfach hinter sich gebracht hat.
Die Wiederholung der gleichen Phasen ist als Ausdruck des relativ begrenz-
ten allgemein-menschlichen Reaktionsvermögens zu werten, ist also ein psy-
chischer Vorgang, dem Menschen aller Kulturen und Zeiten unterliegen [80].
Jede neue gleichnamige Phase aber unterscheidet sich von der vorausgegan-
genen durch die stattgefundene Bewußtseinsanreicherung, durch das höhere
Maß der Intellektualisierung.
Es ist ganz sicher, daß viele kleine Gesellschaften niemals über die primäre
expressionistische Phase des ersten Ablaufs hinausgekommen sind — jedoch
dürfte dies für den größeren Teil der heutigen Naturvölker nicht zutreffen, da
sie zuviel Geschichte erfahren haben.
b) Wir haben bei der Betrachtung des Wesens des Impressionismus fest-
gestellt, daß sein Hauptkriterium gegenüber dem expressionistischen Phäno-
men seine höhere Intellektualisierung ist innerhalb des jeweiligen gesamten
Ablaufes.
Das gleiche Kriterium gilt aber auch für die Unterscheidung des nachfol-
genden Gesamtablaufes, so daß also das gleiche Maß auf zwei verschiedene
Dinge angewendet werden muß, auf die einzelnen Phasen (Expressionismus
und Impressionismus) und auf das Ganze. Dieses bezeichnen wir als Inte-
grationsstufe — in diesem Begriff soll zugleich die kontinuierliche Be-
wußtseins- und positive Wissensanreicherung mit erfaßt sein. Damit erhalten
wir die Möglichkeit eines universalen Vergleichs. Andererseits können wir die
trotz Phasengleichheit erheblichen Unterschiede der einzelnen Kunststile durch
die höhere bzw. niedrigere Integrationsstufe erklären. Für die Beurteilung, zu
welcher Integrationsstufe eine Gesellschaft gehört, ist allein — dies gilt vor
allem für die höherdifferenzierten Gesellschaften — der Stand der Intellek-
tualität der Führungsschicht maßgebend [81].
Der Intellektuellere unterscheidet sich vom weniger Intellektuellen nicht nur
durch den größeren Umfang seines Einzelwissens, sondern auch durch dessen
Präsenz zu jedem Zeitpunkt; d. h, der Intellektuellere sieht nicht nur mehr
Dinge, sondern erfährt sie auch in einer viel umfassenderen Bezogenheit — er
ist komplexer.
Die Akkumulation geistiger Erfahrung, denn diese drückt sich in der Intel-
lektualität aus, setzt die fortdauernde Existenz einer Gesellschaft, die Erhal-
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
63
tung ihres wesentlichen Gefüges voraus. Dagegen zieht der Zerfall einer Ge-
sellschaft zwangsläufig die Unterbrechung des allgemeinen Anreicherungsvor-
ganges nach sich. Naturgemäß sind Gesellschaften mit weniger Mitgliedern
mehr gefährdet als solche mit vielen. Dies aber bedeutet, daß die Intellektuali-
sierung im Einzelfall prinzipiell reversibel — dagegen universalgeschichtlich
betrachtet bis heute faktisch irreversibel geblieben ist. Das auf eine Gesell-
schaft ein wirkende Diskontinuum — ein Vorgang, den wir Kontakt nennen —
kann sich schöpferisch, hemmend oder zerstörend auswirken. Ist es schöpferisch,
so wird nach einer Zeit der Dissoziierung die Entwicklung auf einer höheren
Integrationsstufe neu einsetzen, ist es aber ohne positive Folgen, so wird die
momentane Reversibilität irreparabel.
Damit ist die mit dem Intellekt verbundene Künstlichkeit hinreichend er-
klärt, eine Künstlichkeit, die vom Mensch-Sein nicht zu trennen ist. Hierin
drückt sich zugleich die hohe Selbstgefährdung des Menschen durch seine
eigene Entfaltung aus.
Dieser Tendenz zur Intellektualisierung haben wir die weiter oben dar-
gestellte corporistische Welterfahrung gegenüberzustellen mit ihrem immittel-
baren Erleben der konkreten Wirklichkeit und dem dadurch ersparten geisti-
gen Aufwand. Dagegen muß Intellektualisierung als Ausdruck der wachsen-
den geistigen Durchdringung und der Überwindung des Stofflichen gelten.
Dies ist wie ein Freischwimmen von der niederziehenden Last der festen
Materie. Der Corporismus und die Intellektualität sind die Gegenpole, zwi-
schen denen sich der Mensch bewegt.
So erscheint die universale corporistische Struktur des Menschen wie ein
Grundakkord, der immer, allerdings hier leiser, dort lauter erklingt — von
dem sich der Mensch von Phase zu Phase und von Integrationsstufe zu Inte-
grationsstufe zu lösen strebt.
Auf diesen Voraussetzungen erwächst unsere kontinuierlich - allgemein-
menschliche, die morphologische Stildefinition:
Stil ist die relative Identität eines Formwillens, der sich zu
verschiedenen Zeiten hei verschiedenen Völkern unabhängig
entwickelt und auf der Gleichheit bestimmter psychischer und
sozialer Eigenschaften des Menschen, insbesondere seiner Nei-
gung zur Intellektualisierung beruht.
Demgegenüber verstehen wir den diskontinuierlich-gruppenindividuellen
Stil —
als die vorherrschende und allgemein anerkannte Ausprägung
des Formwillens einer sich zusammengehörig fühlenden ethni-
schen Einheit zu einer bestimmten Zeit.
6. Wir haben oben kurz den Kontakt erwähnt als Folge des Eintrittes eines
diskontinuierlichen Ereignisses auf eine für sich lebende Gesellschaft. Zweifel-
los ist die Kunst endogen entstanden, nicht bei allen Menschengruppen, aber
da und dort. Aber es kann kein Zweifel bestehen, daß keine ethnische Einheit
über die erste Integrationsstufe jemals hinausgekommen wäre, wenn ihr nicht
laufend exogene Einwirkungen zugestoßen wären. Wir sprechen hier nicht
von den verschiedenen Arten des Kontaktes, sondern vom Kontakt an sich,
denn jeder Kontakt bedeutet einen Einbruch in die Gruppenintellektualität,
in die Tradition, und bedingt dadurch zunächst eine gewisse Desorientierung
der betreffenden Gruppe.
Ein solches Ereignis macht sich auch in der Kunstübung bemerkbar. Die
Unterbrechung der kontinuierlichen geistigen Anreicherung führt zwangsläu-
fig zu einem Stil-Verfall. Diesen Vorgang nennen wir Kontaktmetamor-
phose. Durch die Untersuchungen Buschors sind diese Kontaktmetamorpho-
sen, wenn auch unter einem anderen Gesichtspunkt, für Alt-Ägypten, Grie-
chenland und Europa ausgezeichnet erfaßt. Über den genannten Verfasser
hinausgehend stellen wir fest, daß diese Erscheinungen stets einen kitschigen
Charakter besitzen.
7. Nach der Klärung dieser Begriffe, die einen allerdings notwendigen Um-
weg bedeuteten, bereitet es nunmehr keine wesentlichen Schwierigkeiten, die
Frage nach dem, was Kitsch ist, zu beantworten.
1. Kitsch entsteht zwangsläufig auf der Basis des Corporismus, auf der tag-
täglich gemachten stofflichen Lebenserfahrung, die sich ohne Reflexion
unmittelbar dem Menschen aller Völker und Zeiten anbietet. Dies ist so-
zusagen seine positive Basis.
2. Kitsch beruht auf dem Mangel an geistiger Bemühung, an Intellektua-
lität. Dies ist seine negative Basis.
Wir können zwei verschiedene Arten von Kitsch unterscheiden:
1. primären Kitsch,
2, sekundären Kitsch.
Der primäre Kitsch steht am Anfang der Kunst, er beruht auf der Identität
des lebendigen Stoffes, auf dem universalen Corporismus der geistig noch un-
differenzierten Menschheit. Es ist der „Urkitsch“, dem die Materialgerech-
tigkeit noch nicht „im Blute liegen“ kann [82]. Es handelt sich vielmehr um de-
ren völlige Vernachlässigung, um ein Handeln dagegen. Das geistige Problem
der Form ist noch gar nicht erkannt, es geht hier noch nicht einmal um die
„naturalisierte Form“ [83], sondern um die Natur, die Substanz selbst. Wir
bezeichnen daher diesen primären Kitsch als Substanzkitsch. Diese Ein-
ordnung erfolgt nur von der Ästhetik einer höheren Integrationsstufe her. Der
religiöse Gehalt des Substanzkitsches wird, wie bereits mehrfach betont, hier-
von nicht berührt. Immer wird der einfachere Mensch den Wunsch besitzen,
identifizierend und partizipierend durch feste Substanzen das Band zum Gegen-
stand seiner jeweiligen Aufmerksamkeit und Verehrung in sinnfälliger Weise
neu zu knüpfen.
Der Substanzkitsch ist der Kitsch der noch nicht aufgefächerten pri-
mären Gesellschaft (vor dem Kontakt) mit endogenen Antrieben.
Julius F. Glück
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
65
Der sekundäre Kitsch unterscheidet sich prinzipiell in keiner Weise vom
Urkitsch. Jedoch wird bei ihm eine stärkere Beteiligung geistiger Bemühung
und damit eine gewisse Verdünnung der corporistisdien Grundstruktur er-
kennbar. Wir haben ihn noch einmal unterzugliedem in:
a) Kitsch infolge Desorientierung durch Kontakt — hier steht Gesellschaft
gegen Gesellschaft. Wir nennen ihn Kontaktkitsch,
b) Kitsch als Ergebnis innerer sozialer Differenzierung, wobei sich eine
Kluft zwischen dem Geschmack der Herrschenden und dem der breiten
Masse auftut. Wir nennen diese Erscheinung F ormkitsch.
Der Kontaktkitsch beruht auf der Auseinandersetzung zweier fremder
Welten und ist Ausdruck dieser Begegnung. Dabei ist es ganz gleichgül-
tig, ob sich beide Gruppen als gleichwertig erweisen oder nicht. Bevor sie
sich zu einer neuen Einheit verschmelzen, kommt es zu einer kürzeren
oder längeren Übergangsperiode, in der die Homogenisierung angebahnt
wird. Sind die Kontaktpartner sehr ungleich, so wird dieser Zeitabschnitt
länger dauern und größere Anforderungen an die Integrationskraft stellen. Oft
genug werden nicht nur neue Formen, sondern auch neue Materialien und Ver-
fahren dabei ausgetauscht. Je intensiver der Zusammenprall, desto stärker tritt
dieser Kitsch in Erscheinung. Er ist jedoch nur da möglich, wo die Gesellschaft
noch grundsätzlich befähigt ist, die Einheit der Künste, das heißt einen die
Gesamtheit umfassenden Stil neu zu bilden — weil sie noch nicht so aufgesplit-
tert ist wie im Falle des Formkitsches. Am Ende dieses Ereignisses steht die
Bildung eines neuen ethnischen Kontinuums auf einer niedrigeren, gleichen
oder höheren Integrationsstufe. Diese Kitschart ist auf das engste mit der
„Völkerwanderungszeit“ im Sinne Toynbees verschwistert. Der Kontakt-
kitsch tritt immer als expressionistische Phase auf, von wo aus die Entfaltung
zum Impressionismus der jeweiligen Stufe anhebt. Diese Tendenz läuft paral-
lel mit einer spürbaren sozialen Differenzierung.
Der Formkitsch ist dagegen nur auf höheren Integrationsstufen möglich,
nämlich da, wo die Verbindlichkeit des Geschmackes der Oberschicht aufhört
und wo mit der wachsenden Zahl der zu einem Stilbereich gehörenden Indivi-
duen zwangsläufig der persönliche Kontakt so schrumpft, daß die Einheitlich-
keit des Wertens, Fühlens und Erlebens gar nicht mehr möglich ist. Hierbei
muß auch berücksichtigt werden, daß die bildungsmäßigen und technischen
Voraussetzungen eines alle umfassenden Wertideals, wie z. B. der Besitz
der Schrift, nicht immer gegeben sind. Es ist infolgedessen bei großen sozialen
Gebilden gar nicht möglich, die Einheit des Geschmackes herzustellen. Es fehlt
die Austauschmöglichkeit innerhalb der Gesellschaft. So führt die Oberschicht
ein abgehobenes Leben, wobei es in immer kürzeren Zeitabständen zur Modifi-
kation des Geschmacks kommt, während die breite Unterschicht träger reagiert
und nachhinkt, selbst wenn sie das höfische bzw. städtische Schönheitsideal
immer noch anerkennt. Hans Naumann hat diesen Vorgang unter dem Ter-
minus „abgesunkenes Kulturgut“ gefaßt. Bei noch stärkerer Differenzierung
kann es sogar zur Ablehnung des Schönheitsideales der Oberschicht kommen,
•5 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
66
Julius F. Giudi
nämlich dann, wenn die Kunst sich zu weit in den intellektuellen Raum hinein-
begibt, so daß also die Einheit des Geschmacks nicht nur nicht gekonnt, son-
dern auch nicht gewollt wird.
Dies tritt nur in der späten, in der impressionistischen Phase ein — in der
die stoffliche von der formalen Identität abgelöst wird. Hier trägt der Kitsch
die deutlichen Spuren großer Handfertigkeit und äußerer Glätte. In ihm domi-
niert die Tendenz, sich mit äußerlichen Mitteln der Wirklichkeit des Dar-
gestellten so intensiv zu nähern wie nur möglich, ohne innere geistige Anstren-
gung. Diese Einstellung findet ihren Höhepunkt in der Pornographie, deren
Reiz bekanntlich gerade in der Naturtreue liegt. Diese „Kunst“ verlangt keine
Aussage innerer Bewegung, sondern kann sich damit begnügen, das Mühelos-
Triebhafte zu spiegeln. Wir sehen also, daß der Kitsch, je höher die Integra-
tionsstufe ist, der er zugehört, desto rationalere Elemente aufweist.
Psychologisch entspricht dem die schon im vorausgegangenen Kapitel kurz
umrissene Linie vom Allgemeinen zum Detail. Daraus erklärt sich auch der nicht
zu übersehende protzenhafte Einschlag, da er dem Bemühen entspricht, mög-
lichst viel zu zeigen, weil man keine übergeordnete formale Konzeption mehr
besitzt. Dabei ist die Wucherung des Details zugleich wieder Ausdruck extre-
mer Stoffgebundenheit. Beim Formkitsch fällt auch die Verwendung schlech-
terer Materialien für bessere auf, wobei man dem Billigeren den Anstrich des
Teueren gibt. Dieses Faktum finden wir sogar schon beim Kontaktkitsch. Es sei
nur an die Bevorzugung von Messing und Bronze vor Gold und Silber in West:
afrika gedacht. Der Formkitsch ist somit nichts anderes als ein Spätstilphäno-
men, die zivilisiertere Form des Substanzkitsches.
Nach dieser Darstellung ist es uns auch möglich, die Güsse Ali Amonikoyis
einzuordnen. Sie sind Kontaktkitsch, der Ausdruck einer geistig heimat-
los gewordenen, einer desintegrierten Kunst, die sich im Stadium der Erschüt-
terung durch den Einbruch europäischen Fühlens und Denkens befindet. Alis
Ausgangspunkt war der Impressionismus einer tieferen Integrationsstufe.
8. Im Zuge dieser Untersuchung sollte gezeigt werden, daß der Kitsch
prinzipiell kein ethisches Phänomen darstellt. Wenn er als solches auf-
gefaßt wird, so rührt dies vermutlich „aus dem Unterbewußtsein einer nicht
völligen Immunität“, wie Wilhelm Worringer dies in so reizender Weise kürz-
lich bekannt hat [84]. Und dies ist ja auch verständlich, denn gegen den Kitsch
kann es keine unbedingte Sicherung geben. Kein Mensch ist bloß „reiner
Geist“ und jeder, auch der Klügste, geht ontogenetisch von der corporistischen
Lebenserfahrung aus, ja muß sogar in wesentlichen Dingen auf ihr aufbauen.
Es kann daher auch keine Rede davon sein, daß der Kitsch „das Symptom eines
umfassenden Schwundes an menschlicher Substanz“ darstellt, wie Egenter
meint [85], noch Ausdruck „moderner Lebensangst“ [86] ist — sondern allen-
falls eine Bestätigung dafür, daß die bisher tragenden Ideen heute weithin
entwertet sind. Das dadurch entstandene Vakuum wird nun von der zurück-
gedämmten, aber immer vorhandenen dinglichen Welterfahrung automatisch
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
67
ausgefüllt. In der Hochkultur tritt uns diese in der Sentimentalität des un-
reflektiert und direkt ansprechenden Erlebens entgegen. Im Sentimentalen ist
die zivilisatorische Verdünnung der urtümlichen corporistischen Basis des Kit-
sches unverkennbar. Dafür gewinnt das negative Kitschmerkmal, die Flucht
vor der Denkens-Mühe, an Bedeutung. Hieraus wird verständlich, warum ge-
rade der Formkitsch niemals monumental sein kann, weil er einfach so viel
geistige Kraft für die Durchdringung eines Werkes nicht aufzubringen vermag.
Dafür finden wir die Umbiegung in das bloß Gefällige, Glatte, die Vorliebe
für das Bunte und Glänzende, für das Erotische und das Obszöne. Was dem
Formkitsch an Urtümlichkeit so fehlen muß, das ersetzt er durch die technische
Perfektion, die bloße Handfertigkeit, ohne deren gedankliches Korrelat, Letzt-
lich finden wir aber wieder hinter dieser problemlosen Oberflächlichkeit die
zivilisiertere Art der Identität der nackten Stofflichkeit. Hierin wurzelt der
besondere Wahrheitsgehalt des Kitsches. Mit diesen Eigenschaften ist die
„strotzende Existenzsicherheit“ [84] des Kitsches erklärt, die keinen Platz läßt
für das moderne Gefühl der Daseinsverfehlung. Im Gegenteil, der Formkitsch
ist ein hervorragendes Mittel der Selbstbestätigung der breiten Masse. Die fast
unglaubliche Fülle, in der er auf den Plan tritt, ist ein Beweis dieser Auf-
fassung.
Im Formkitsch steckt der Protest des modernen Durchschnittsmenschen ge-
gen die für ihn übergroße Last der geistigen Bewältigung seiner Zeit, die ihm
mehr aufbürdet als er tragen kann [87].
Gerade diese zum Teil sehr bewußte Ablehnung des Schönheitsideales der
tonangebenden Schicht ist im übrigen ein wesentliches Kriterium des Form-
kitsches gegenüber Substanz- und Kontaktkitsch. Auf den tieferen Integrations-
stufen ist die soziale Zerspaltung des Für-schön-Findens noch nicht eingetre-
ten, da die Differenzierung der Intellektualität hier noch nicht so groß ist wie
im Falle der modernen Hochkultur. Substanz- und Kontaktkitsch sind daher
eine Erlebnisform der Gesamtheit.
Alle drei Kitscharten beruhen aber unbeschadet ihrer besonderen historischen
Lage auf der gleichen Basis. Wir finden den Kitsch daher vorherrschend ebenso
an der Wiege eines neuen wie an der Bahre eines erlöschenden Mythos, am
Ende oder am Anfang einer neuen Integration [88]. Im Mythos aber kristalli-
siert sich die geistige Gesamtleistung einer Gesellschaft. Zwischen Aufgang
und Verfall des Mythos befinden sich die Stadien der jeweiligen Integrations-
stufen, in denen sich die Gesellschaft mit wachsender Intensität um die gei-
stige Lösung ihrer Aufgabe bemüht und sich dabei von der nur stofflichen
Welterfahrung entfernt.
Mit dieser Darstellung sind wir zweifellos bei einer neuen Phase der Bewer-
tung und Betrachtung der Kunstwerke sogenannter primitiver Provenienz an-
gelangt. Wir meinen allerdings, daß die nunmehr notwendig gewordene Eti-
kettierung vieler dieser Objekte als Kitsch in mehrfacher Hinsicht aufgewogen
wird. Einmal ist diese Kunst als ästhetische Manifestation einer tieferen Inte-
grationsstufe vergleichbar gemacht und damit näher an unsere eigene Kunst
68
Julius F. Glück
herangeführt worden. Zum anderen sind aus dem geschlossenen Begriff „primi-
tiv“ schärfer profilierte Zeugnisse menschlicher Geistigkeit geworden — die
entstanden sind gegen das Primitive, das geistig Mühelose — immer und
überall.
Schließlich hat der Begriff „Kitsch“ eine gewisse Aufwertung erfahren, in-
dem wir ihn als eine elementare und universale Weiterfahrensweise des Men-
schen fassen konnten, als die ewige Versuchung der bloßen Stofflichkeit.
[1] WILHELM WORRINGER: Formprobleme der Gotik, 1911.
[2] PAUL STAUDINGER: Über Bronzeguß in Togo, Z.f.E. 1909, p. 855—862.
[3] Im vergangenen Jahr habe idi hierüber mit Dir. Dr. Hummel, Grassi-Museum, Leipzig,
korrespondiert. Leider war dort eine Nachprüfung infolge der üblichen Nachkriegs-
kalamität nicht möglich.
[4] Listenmr. 917 a, Linden-Museum. Sammlung von Prof. Mischlich, Darmstadt 26.7.1909.
[5] Vgl. hierzu: HERMANN BAUMANN; Afrikanisches Kunstgewerbe, in: BOSSERT:
Geschichte des Kunstwerkes aller Zeiten u. Völker, 2. Bd., Berlin 1929, p. 141—148.
[6] Rüstow gebührt das Verdienst, auf diese weltweite soziologische Erscheinung mit
Nachdruck hingewiesen zu haben. Merkwürdigerweise scheint der Ethnologie der
Feudalismus in seiner generellen Bedeutung für gewisse Entfaltungsstadien ent-
gangen zu sein.
ALEXANDER RÜSTOW: Ortsbestimmung der Gegenwart. 1. Bd. Ursprung der Herr-
schaft, Erlenbadh, Zürich, 1950, p. 95 ff.
[7] RICHARD PITTIONI: Die urgeschichtlichen Grundlagen der europäischen Kultur,
Wien 1949, p. 119.
[8] Vgl. HERMANN BAUMANN in: Völkerkunde von Afrika, Essener VerlagsanstaJt, 1940.
[9] LEO FROBENIUS: Das unbekannte Afrika, München 1923.
[10] PITTIONI 1. c. p. 203.
[11] FRIEDRICH HAHN: Afrika, 2. Aufl., Leipzig 1903, p. 473 f.
[12] ERNST DIEZ; Iranische Kunst, Wien 1944, p. 7.
[13] FELIX VON LUSCHAN: Die Altertümer von Benin, Berlin 1919.
[14] JULIUS GLÜCK: Die Goldgewichte von Oberguinea, Heidelberg 1937.
[15] HANS HIMMELHEBER: Negerkünstler, Stuttgart 1935.
[16] DIEZ 1. c. p. 11.
[17] JOSEPH MARQUART: Die Benin-Sammlung des Reichsmuseums für Völkerkunde in
Leiden, Leiden 1913.
[18] BAUMANN; Völkerkunde von Afrika.
[19] E. GEBHARDT: Untersuchungsbericht vom 18.1.51.
[20] GEBHARDT 1. c. p. 8.
[21] Ich beziehe mich auf die Darstellung eines urinierenden Mannes in Gelbguß. Vgl. ETTA
DONNER; Kunst und Handwerk in NO-Liberia, Baessler-Archiv, 23. Bd. Berlin
1940, p. 45—110.
[22] Die Erfindung des ersten „Torso“, der Büste, erfolgte ziemlich spät in der Antike. Sie
setzt eine stärkere Intellektualisierung voraus, deren der naturvölkische Mensch
nicht fähig ist. Buschor bezeichnet die Porträtbüste als einen Verlust an mensch-
lichem Gehalt, als Ausdruck eines durch die Zivilisation gebrochenen Menschen-
tumes — und — Adriani nennt die Büste eine unvollständige Idee. Wir dürfen
also die Büste in Westafrika als antiken Import betrachten, ganz unabhängig von
der Herkunftsfrage des Gelbgusses.
Vgl. ERNST BUSCHOR; Bikinisstufen, München 1947, p. 152, 154, 278.
BRUNO ADRIANI: Probleme des Bildhauers, Ulm 1948, p. 29.
[23] STAUDINGER 1. c. p. 862.
[24] Abb. 16 in ECKART VON SYDOW: Im Reiche gottähnlicher Herrscher, Braunschweig
1943.
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
69
[25] BUSCHOR 1. c. p. 231.
[26] HERBERT READ: Art and Society, 2. ed., London 1945, p. 93.
[27] STAUDINGER 1. c. p. 861.
[28] HERMANN BAUMANN: Lunda, Berlin 1935, p. 223 ff. und Tafel 64 f.
[29] Vgl. Stichwort „Kitsch“ in: Schweizer Lexikon — Großer Brockhaus — Meyers Lexikon.
[30] G. E. PAZAUREK: Geschmacksverirrungen im Kunsigewerbe, Führer des Landes-
gewerbemuseums Stuttgart, 3. Aufl., Stuttgart 1919, p. 7.
[31] HANS SEDLMAYR: Verlust der Mitte, 2. Aufl., Salzburg 1948.
[32] „Kitsch“ in Meyers Lexikon.
[33] „Kitsch“ in: LÜTZELER: Bildwörterbuch der Kunst, Bonn 1950.
[34] „Kitsch“ in: Großer Herder.
[35] RICHARD EGENTER: Kitsch und Christenleben, Ettal 1950, p. 28.
[36] EGENTER 1. c. p. 19.
[37] PAZAUREK: Geschmacksverirrungen, p. 9 ff.
[38] E. O. JAMES: Cremation and the preservation of the dead in North America.
in: American Anthrop., Vol. 30. 1928, p. 224.
[39] MAX BRÜCK: Abglanz der Passion, in: Die Gegenwart, 1.1.50, p. 17.
[40] BUSCHOR 1. c. p. 169.
[41] G. E. PAZAUREK: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, Stuttgart 1912,
p. 229 ff.
[42] HUGO OBERMAIER: Der Mensch der Vorzeit, in: Der Mensch aller Zeiten, Berlin-
München 1912, p. 227.
[43] ADRIANI 1. c. p. 20.
[44] PAZAUREK: Guter und schlechter Geschmack .. . p. 166.
[45] ERNST VON ASTER: Die Psychoanalyse, Berlin 1930, p. 61.
[46] HANS KÄYSER: Akroasis, Stuttgart 1947, p. 52.
[47] KAYSER 1. c. p. 128.
[48] ASTER 1. c. p. 45.
[49] Hierbei wurde vor allem an die Funde aus dem Drachenloch über Vättis gedacht. Vgl.
GEORG KRAFT: Der Urmensch als Schöpfer, 2. Aufl., Tübingen 1948, pp. 16 f., 24.
[50] Im Zuge der Entfaltung wurden auch Sachgüter des Verstorbenen von den Erben als
wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit gewertet. Hierin drückt sich ein In-
tensitätsverlust des unmittelbaren Stoff-Erlebnisses aus.
[51] Schon aus der Prägung „Prä-Animismus“ ergibt sich der Eindruck einer sprachlichen
V erlegenheitslösung.
Im übrigen muß betont werden, daß hier der Corporismus infolge des zu lösenden
Problemes einseitig in den Vordergrund gestellt wird. Da jedoch der Mensch ab ovo
immer auch über das nur corporistische Erfahren hinausgegriffen hat — sonst wäre
er eben nicht Mensch gewesen —, liegt es nahe, ihm einen keimhaften Animismus
von Anbeginn an zuzubilligen, so daß also beide Phänomene letztlich gleichzeitig
sind. Auch deshalb ist der Ausdruck Präanimismus abzulehnen. Die Eigenart des
Corporismus besteht darin, daß er jenseits aller religiösen Spekulationen wurzelt.
Er kann allerdings durch den Ahnenkult außerordentlich gehoben und verfeinert
werden. Dann mündet er in den komplizierten Verfahren der Leichenkonservie-
rung, in der Vorstellung des „lebenden Leichnams“ aus. Eine typisch corporistische
Vorstellung ist z. B. auch der Glaube, daß der Tote nur eine räumliche Ortsver-
änderung vorgenommen hat, also effektiv noch lebt.
Die enge Verbindung, die insbesondere Preuss zwischen dem Corporismus und
der Magie vertreten hat, ist bis zu einem gewissen Umfang berechtigt, da es nahe
gelegen hat, aus dem Besitz persönlicher Überreste sich selbst einen entsprechen-
den Einfluß zuzuschreiben. Wenn sich später die Magie von diesen stofflichen Vor-
aussetzungen löste, wenigstens teilweise, und auch stoffschwächere Mittel heranzog,
so entspricht dieser Vorgang der gewachsenen Intellektualität.
70
Julius F. Glück
Die Magie ist im übrigen als gezieltes Wollen reine Rationalität einer tieferen
Integrationsstufe — sie ist das Ursache-Wirkung-Denken der geringeren Einsicht
und entspricht insofern der Bedeutung unserer heutigen Naturwissenschaft. Dieser
Zusammenhang zwischen Magie und Intellektualität geht auch aus der magischen
Praxis innerhalb unserer eigenen Kultur eindeutig hervor.
Im einzelnen verweise ich auf folgende einschlägige Lit:
K. TH. PREUSS: Ursprung der Religion und Kunst; in: Globus, Bd. 86/87, 1904/05.
Die geistige Kultur der Naturvölker, 2. Aufl. 1923.
Tod und Unsterblichkeit im Glauben der Naturvölker, Tübingen 1930.
A. VIERKANDT: Die Anfänge der Religion und Zauberei; in: Globus, Bd. 92, 1907.
I. H. KING: The supernatural in origin, nature and evolution, 2-Bde, London 1892.
R. R. MARETT: Preanknistic Religion; in: Folklore, Vol. 11, 1900.
FRITZ KRAUSE: Maske und Ahnenfigur; Das Motiv der Hülle und das Prinzip der
Form; in: Ethnolog. Studien, I. Bd. 1931.
HANS NAUMANN: Primitive Gemeinschaftskultur, Jena 1921.
HERMANN BAUMANN: Likundu, die Sektion der Zauberkraft; in: Z.LEthnol. 1928.
GEORG ECKERT: Totenkult und Lebensglaube, Braunschweig 1948.
[52] BUSCHOR 1. c. p. 18.
[53] BUSCHOR l. c. p. 31.
[54] BUSCHOR 1. c. p. 51.
[55] KARL SCHEFFLER: Kunst ohne Stoff, Überlingen 1950, p. 9.
[56] WORRINGER 1. c. p. 6.
[57] WORRINGER 1. c. p. 12.
[58] WILHELM HAUSENSTEIN; Barbaren und Klassiker, München 1922, p. 40.
[59] READ 1. c. p. 8, 22.
[60] OSWALD SPENGLER: Der Untergang des Abendlandes. München 1917.
[61] SPENGLER 1. c. p. 15.
[62] ARNOLD J. TOYNBEE: Studie zur Weltgeschichte, Hamburg 1949.
[63] ERNST VATTER: Religiöse Plastik der Naturvölker, Frankfurt 1926, p. 21.
[64] HAUSENSTEIN 1. c.
[65] KAYSER 1. c. p. 96, 105 f. und READ 1. c. p. 7.
[66] CURTIUS: zit. in: MANFRED SCHRÖTER: Metaphysik des Untergangs, München,
Leibniz-Verlag, p. 49.
[67] WILHELM MÜHLMANN: Methodik der Völkerkunde, Stuttgart 1938, p. 149 t.
[68] WORRINGER 1. c. p. 1.
[69] G. H. LUQUET: Le réalisme dans l’art paléolithique, in: LAnthropologie, Paris 1923,
Vol. 33, p. 21, 48.
[70] LOTHAR F. ZOTZ: Die älteste abstrakte Zeichnung, in: Neue Zeitung 31.1.51.
[71] VATTER 1. c. p. 20.
[72] VATTER 1. c. p. 60.
[73] HERBERT KÜHN: Die Kirnst der Primitiven, München 1923, p. 35.
[74] ECKART VON SYDOW; Ahnenkult und Ahnenbild der Naturvölker, Berlin 1924, p. 5.
[75] ASTER 1. c. p. 210.
[76] J. E. HEYDE: Priorität des Allgemeinen, in: Forschungen und Fortschritte, 26. ]g., Mai
1950, p. 119 ff.
[77] HANS NAUMANN: Grundzüge der deutschen Volkskunde, Leipzig 1922, p. 66.
[78] READ 1. c. p. 70 f.
[79] JEAN GEBSER: Ursprung und Gegenwart. 1. Bd. Die Fundamente der aperspektivi-
schen Welt, Stuttgart 1949.
Unter anderem gibt Gebser eine ausgezeichnete Darstellung der geistesgeschicht-
lichen Situation, in der die Perspektive entdeckt wurde.
[80] Im Gegensatz zu dieser Auffassung vertrat Emst Vatter die Meinung, daß sich die
Scheidung zwischen „naturwahrer“ (impressionistischer) und „stilisierter“ (expres-
sionistischer) Kunstübung nicht ohne weiteres auf die primitive Kunst übertragen
lasse. VATTER 1. c. p. 30.
Die Gelbgüsse des Ali Amonikoyi
[81] Da ich Gebsers Arbeit erst kennen lernte, als ich meinen Begriff der Integrationisstufe
bereits konzipiert hatte, freute ich mich über die unerwartete Bestätigung meiner
Auffassung. Der Verf. formuliert den Begriff als „Bewußtseins-Mutation“ und ver-
steht darunter „eine Wiederholung von Bekanntem auf höherer oder anderer Be-
wertungsbasis“ (GEBSER 1. c. p. 63). Unter Integration verstehe ich mit Gebser
die Wiedergewinnung eines die Gesamtheit umfassenden harmonisierten Zustan-
des unter der bereichernden Einbeziehung aller bisherigen Leistungen (GEBSER
I. c. p. 173). Der Ausdruck Mutation soll übrigens darauf hinweisen, daß der Inte-
grationsvorgang sprunghaft erfolgt — auch dies stimmt mit meiner Auffassung
überein (Wirkung des Diskontinuums!).
[82] HAUSENSTEIN 1. c.
[83] HAUSENSTEIN 1. c. p. 14.
[84] WILHELM WORRINGER: Zum Umgang mit Kitsch, Neue Zeitung, 10.2.51.
[85] EGENTER I. c. p. 60.
[86] BARTNING: Kitsch ist Lebensangst, Neue Zeitung, 11.7.50.
[87] SCHEFFLER I. c. p. 97.
[88] SCHEFFLER 1. c. p. 94.
Wolf gang Erpelt, Ottoheuren
Proportion und Intervall,
sensorium commune, und sinnbildliche Zahl
.Numero Deus imperare gaudet“ Vergil
.Man hat auch Augen, Um zu hören“ Nietzsche
Es war ein glücklicher Griff, den Gestaltwandel abendländischen Wissen-
sdiaftsstrebens des vergangenen halben Jahrhunderts mit dem Titel „Studium
generale“ einzufangen; finden sich doch heute die Einzeldisziplinen gerne zu-
sammen, um die „Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffs-
bildungen und Forschungsmethoden“ zu gewährleisten. So nimmt uns auch die
Renaissance der Vorsokratiker, die wir erleben, nicht Wunder, teilt sich doch
erst hier, was dem abendländischen Geiste gegensätzlich erscheint. Dem einen
ganzheitlichen Urstoff der Milesier gewinnt das erhabene Triumvirat des Par-
menides, Pythagoras und Heraklit je ein konstituierendes Prinzip ab: Das Sein,
die Zahl, das Werden. Plato, der erste Systematiker abendländischer Philoso-
phie, versucht — wie Aristoteles berichtet, Met. 987/b8 — eine Synthese dieser
drei Aspekte wie folgt: „Zwischen den Dingen der sinnlich wahrnehmbaren
Wirklichkeit und den Ideen hätte Platon die mathematischen Gegenstände
angesetzt, als eine dritte Art der Dinge, die sich von dem sinnlich Wahrnehm-
baren durch ihre Ewigkeit und Unbeweglichkeit, von den Ideen aber da-
durch unterscheiden, daß die mathematischen Dinge viele gleichartige sind,
daß Eidos aber jegliches nur eines, es selbst ist“ [1]. Dieses Satzes möge man
sich bei der Lektüre des vorliegenden Referates stets erinnern.
Bevor jedoch das Problem aufgerollt werden soll, möchte ich einer Dankes-
schuld genügen. Es war Dozent Dipl.-Ing. Silberkuhl, der mich in der Gefangen-
schaft in Ägypten mit dem Fragenkreis der Proportionen in der Architektur
bekannt machte und an mich das Ansinnen stellte, hierüber psychologische
Untersuchungen durchzuführen, was ich auch nach meiner Rückkehr im Psycho-
logischen Institut der Universität Bonn verwirklichte. Ihm, den beiden Direk-
toren des Institutes, Prof. Rothacker und Prof. Behn, sowie Dozent Dr. Thomae
— alle drei Herren hatten sich freundlicherweise als Versuchspersonen zur Ver-
fügung gestellt — ferner Prof. Wellek (Mainz) sei hier nochmals mein Dank
für Hinweise und stete Hilfe gesagt.
Zur Geschichte der Proportionsthematik in den bildenden Künsten
Die Frage nach der rechten Proportionierung scheint so alt wie die Bau-
kunst selbst zu sein. So sind bei den Indern „Opfer an die Götter nur gültig,
wenn die Altäre gewisse uralte Flächenvorschriften aufweisen; diese muß der
Baumeister, geleitet vom Priester, erfüllen. Sätze von der Flächenlehre glie-
dern sich zu einer Art Sakralgeometrie“ [2]. Jedoch „an geometrischen Kennt-
nissen übertreffen die alten Ägypter alle anderen Völker und waren ihre Lehr-
meister“. Sie „benützten zur Herstellung der lotrechten Lage ein Instrument,
dem ein Sonderfall des pythagoreischen Lehrsatzes zu Grunde liegt ... ein
Seilstück von der Länge 12, das durch 2 Knoten in Stücke von den Längen 3,
4, 5 geteilt ist. Man nimmt an, daß dieses zur Rektangulierung benützte Hilfs-
mittel babylonischen Ursprungs ist und dadurch entstand, daß man ein geschlos-
senes Seil mit 12 Knoten in gleichen Abständen zur Versinnbildlichung des
Tierkreises mit seinen zwölf Sternbildern herstellte. So wäre also das Rektangu-
lierungsseil und damit der pythagoreische Lehrsatz astronomischen Ursprungs“
[3], In dem großen Tempel von Karnak (XIX. Dyn. etwa 1280 v. Chr.) befin-
det sich eine Abbildung, worauf Ramses II. mit Sediat, der Göttin der Mathe-
matik, dieses Geschäft der Pfählung mit Seilen vomimmt. Eine dieser Katheten
in dem so konstruierten Dreieck hieß „Pir-em-mus“: „Das haben die Griechen
erlauscht, schlecht gehört und daraus das Wort Pyramis oder Pyramide ge-
macht“ [4]. So wundert es uns nicht, „daß in der Königskammer der Cheops-
pyramide das Osiris, Isis und Horus geweihte Dreieck mit den Verhältnis-
maßen 3:4:5... aufgefunden wurde“ [5], ein Tatbestand, den wir auch in
den Kathedralen des Mittelalters feststellen können. An ausgezeichneter Stelle,
meist ist es die Rosette, finden wir eine Art Schlüsselfigur für die Proportionie-
rung des Gesamtbaues. Der Ägyptologe Lepsius fand „im Grabe des Manöver
bei Sakkara Proben aus allen Stadien der Wandskulptur und Wandmalerei, eine
Reihe Figuren, zum Teil noch mit ursprünglichen Proportionslinien versehen“.
Die gefundenen Proportionswerte sind gebildet aus den Zahlen 1—6, und Lep-
sius meint: „Es ist von größtem Interesse, daß wir durch diese Darstellung in
einem Grabe der Pyramidenzeit mit Evidenz beweisen können, daß alle diese
Einteilungen, die von den Ägyptern auf die Griechen und Römer übergingen,
in jenen ältesten Zeiten (2700 v. Chr.) ägyptischer Zivilisation schon fertig aus-
gebildet waren“ [6].
Durch Pythagoras, von dem behauptet wird, daß er in Ägypten „in die
Geheimnisse der ägyptischen Priesterlehre eingeweiht“ worden sei, wurde
„festgestellt, daß die einfachsten Verhältnisse der Längen der beiden Seiten-
stücke, welche auf dem Monochord der Steg abgrenzt, den vom Ohre bevor-
zugten, als ,Konsonant* qualifizierten Intervallen entsprechen: 1: 1 Einklang,
1: 2 Oktave, 1: 4 Doppeloktave, 1: 3 Quinte der Oktave, 2: 3 Quinte, 3 : 4
Quarte. Erst eine viel spätere Zeit (die Araber im 14. Jahrhundert, Europa erst
Ende des 15. Jahrhunderts) ging über die von den Pythagoreern als Grenze
eingehaltene Vierzahl (1:2: 3:4) für die grundlegenden Verhältnisse hinaus
und bestimmte die große und kleine Terz ebenfalls als primäre Intervalle mit
den Verhältniszahlen 4:5 und 5:6, so daß nunmehr der »Numerus senarius*
als Inbegriff der mathematischen Tonbestimmungen auftritt mit den neuen Be-
stimmungen 1:5 = Terz der 2. Oktave, 2: 5 große Dezime, 3; 5 große Sexte,
4:5 große Terz, 5:6 kleine Terz“ [7]. „Nachdem so die Längenverhältnisse
der Saiten durch das Experiment gefunden waren und an den Strecken verhält-
74
Wolfgang Erpelt
nissen einer einfachen Linie demonstriert wurden, ging man weiter und kon-
struierte geometrische Figuren und eine Art von Koordinatensystem, d. h. ein
System von parallelen und sich schneidenden Linien, das Diagramma (wört-
lich Liniendurchschneidung), wo durch Strecken und einfache geometrische
Operationen die Zahlen und Tonverhältnisse dargestellt wurden“ [8]. Mit-
tels dieses Diagrammes, auch „pythagoreische Tafel“ oder auch nach Jam-
blischius „Lambdoma“ genannt, das Albert von Thymus rekonstruierte, wur-
den auch unsere Rechtecke geschnitten. Solche Beziehung einzelner Strecken
zueinander bezeichneten die Griechen mit „Logos“ und die antike ganze Zahl,
also das heutige Beziehungselement mit „Arythmos“. Diesem Logos gingen
sie in der Geometrie sowie in der Himmelskunde nach, und obwohl nicht sicher
bekannt ist, ob die Pythagoreer auch eine architektonische Proportionslehre
begründeten, ist dies aus später zu erwähnenden Gründen anzunehmen. Ähn-
liches ließe sich über das Problem des Kanons in Plastik und Malerei sagen.
„Es ist nur überliefert, daß der Bildhauer Polyklet die menschliche Gestalt
auf typische (musikalische) Proportionen zurückgeführt, daraus einen Kanon ge-
bildet und diesen in einer Schrift gleichen Titels beschrieben habe“ [9]. Unsere
mangelnde Kenntnis über die Ergebnisse der pythagoreischen Schule ist wei-
ter nicht verwunderlich; legten sie doch auf strengste Geheimhaltung „so gro-
ßen Wert, daß ein Ordensbruder die Todesstrafe erleiden mußte, weil er über
das neuentdeckte Dodekaeder geplaudert hatte“ [10]. Die Anschauung, die
Aristoteles überlieferte: „Die ganze Welt ist nur eine Harmonie und eine Zahl“
und Philolaos; „Nichts vom Trug nimmt die Natur der Zahl und die Harmonie
in sich auf, denn er ist ihnen nicht eigen“ sollte schon Pythagoras selbst erschüt-
tern bei der Berechnung der Diagonalen des Quadrates. „Hier stieß man also
auf ein Ding, das keine Zahl war, im direkten Widerspruch mit der pythago-
reischen Grundlehre, daß die Dinge Zahlen sind“ [11]. Man hätte, wie wir es
heute gewohnt sind, neben die „natürlichen“ Zahlen die Irrationalzahlen ein-
führen können. „Die Pythagoreer schreckten vor diesem kühnen Schritt zurück,
und auch später konnte sich kein griechischer Mathematiker dazu entschlie-
ßen“ [11]. Erst der im 3. Jahrhundert v. Chr. lebende Eudoxos, der Beziehun-
gen zu den Pythagoreem wie auch zu Plato gehabt haben soll, entdeckte rein
geometrisch den goldenen Schnitt. Arithmetisch ausgedrückt bildet er eine ir-
rationale Zahl 1:1,681 ,.. Kepler nannte sie Sectio divina. „Die Sectio aurea
ist eine Rückübersetzung in Latein aus unseren Tagen und auch die ,Proportio
divina1 des Luca Pacioli (des Lehrers Lionardos) vom Jahre 1509 handelt nicht
im besonderen nur von dem goldenen Schnitt, vielmehr von den göttlichen
Eigenschaften der Proportionalität überhaupt“ [12]. Plato ordnet in der Kosmo-
gonie des Timaios den vier Elementen vier regelmäßige Körper zu. „Für das
fünfte regelmäßige Polyeder, das Dodekaeder, war aber kein Element mehr
übrig. Es wird dem Weltall, dem Überirdischen, dem Dämonischen zugewie-
sen. Das Pentagramm, der Drudenfuß, ist sein Anverwandter, daher die alle
Zeit überdauernde Scheu wie vor etwas Übernatürlichem“ [13]. Ihm, dessen
Strecken sich alle im goldenen Schnitt teilen, begegnen wir oft über den Por-
Proportion und Intervall
75
talen gotischer Dome „als Zeichen magischer Abwehr“. Im Mittelalter ver-
hindert es auf der Schwelle von Fausts Studierstube Mephisto am Hinaus-
spazieren,
Die erste schriftliche Kunde über die Bauweise der Griechen gibt uns Vitruv
in seinen zehn Büchern „De architectura“. Die pythagoreischen Ursprünge schei-
nen ihm nicht mehr genau bekannt gewesen zu sein, so daß er, „wie er selbst
zugibt, diese architektonische Harmonielehre der Alten für ein ,dunkles' Ge-
biet hält und ihren eigentlichen technisch-harmonikalen Hintergrund nicht
mehr versteht“ [14]. „Ist doch zwischen Iktinos, dem Architekten des Parthe-
non, und Vitruv, dem Zeitgenossen des Augustus, der Zeitraum von mehr als
vier Jahrhunderten zwischen inne gelegen, derselbe Zeitraum, der uns von der
späten Gotik trennt“ [15].
Über die Weisen der Proportionierung in den Bauhütten des Mittelalters ist
wegen ihrer strengen Geheimhaltung kein klares Wissen erreichbar, Silberkuhl
meint, daß das Mittelalter nur Schlüsselfiguren kannte wie Triangulatur und
Quadratur. So „ist eines der großen Disputationsthemen auf dem Mailänder
Bauhüttenkongreß vom Jahre 1386 (Fischer nennt 1392), ob die Kirche nach
den Gesetzen des Quadrats oder des Triangels gestaltet werden müsse“ [16].
Wir lassen die Meinungen der verschiedenen Verfasser der folgenden Jahr-
hunderte auf sich beruhen und wenden uns den Versuchen zu, auf Grund von
Ausmessungen architektonischer Meisterwerke dem Geheimnis auf die Spur zu
kommen. Rückgreifend auf Triangulatur und Quadratur haben sich diesen
Untersuchungen neben Theodor Fischer vor allem Georg Dehio, der Mathe-
matiker Alhard v. Drach, der ehemalige Münsterbaumeister von Straßburg
Knauth, Karl Witzei in seiner Dissertation, der Theologe Pater Odilo Wolff,
Ernst Mössel (auf dessen hervorragendes Bildmaterial hingewiesen sei) und
Thiersch, Theodor Fischers Lehrer, gewidmet. Sie alle überzeichnen mit den von
ihnen vertretenen Schlüsselfiguren antike und mittelalterliche Bauwerke zur
Stützung ihrer Thesen. Fischer, selbst ein Baumeister von hohem Rang, faßt
die verschiedenen Systeme seiner Vorgänger vergleichend zusammen, um von
seinen Ergebnissen aus den Schritt in die musikalische Intervall-Lehre zu tun.
„Ich versuchte, die Vielzahl der Dreiecke, welche zur Grundlage der Triangu-
latur und Quadratur angenommen werden können, auf zwei Gruppen einzu-
schränken: die Sippe des gleichseitigen Dreiecks mit ihrer Gefolgschaft bis zum
Hexagramm und andererseits die Gruppe der rechtwinklig-gleichschenkli-
gen, der Quadratur und Achtort und die daraus entwickelten Figuren ange-
hören. Damit glaube ich, die alte ausschließliche Zweiteilung in Triangulatur
und Quadratur wieder herstellen zu können“ [17], Er stellt nun fest, daß „die
struktivsten Intervalle der Musiklehre VIII = Va, V = 2/s, IV = 3U in den
Figuren der Triangulatur und Quadratur gegeben“ [18] sind. Die beiden Sex-
ten aber 3:5 und 5: 8, die zu V2 der Oktave ergänzt die beiden Terzen 4: 5
und 5:6 ergeben, finden wir in der Lamesdien Reihe, deren Endresultat uns
den goldenen Schnitt liefert wie die Schlüsselfigur des Pentagramms. „Dem
Intervall in der Musik kann in der Architektur das Verhältnis von Höhe und
Breite als Ausdrucksmittel gegenübergestellt werden [19]. Aber wenn alles
76
Wolfgang Erpelt
Reden von Verhältnissen einen Sinn haben soll, so muß eine Brücke gefunden
werden zwischen diesem Ablesen der Strecken und dem bildhaften Eindruck
des Raumes oder Körpers (und dem Hören eines Intervalls, so möchten wir
hinzufügen). Und wenn ich nun diese Brücke in das Unterbewußtsein verlege,
so ist das gerade heute im Zeitalter C. G. Jungs nichts Ungewöhnliches. Ältere
Zeugen nicht geringerer Art stehen hierfür bereit: Leihniz sagt von der Musik:
,... Musica est exercitium arithmeticum occultum nescientis se numerare
animi4 [20], Die genannten Verhältniszahlen sind nun nicht etwa das Ergeb-
nis menschlicher Erfindungsgabe, sondern sie gehören zu den Urphänomenen,
,hinter die nur die Gottheit sieht und diejenigen unter den Menschen, die sie
besonders liebt4 44 [21], Soweit Theodor Fischer; wir haben in Sachen Archi-
tektur nichts mehr hinzuzufügen.
Es ist nur noch die Frage des „Moduls44, des Grundmaßes, zu erwähnen, auf
das dieses Proportionssystem zu beziehen sei. Vor der Einführung des Meter-
maßes, das wesentlich zum Verfall der Proportionslehren beitrug, maß man
mit den „Gliedmaßen44 Elle, Spann und Fuß, Dabei war eine natürliche Grund-
größe gegeben. „Die Gestalt des menschlichen Körpers, Mann und Weib, wird
von Vitruv ausdrücklich in Vergleich gesetzt mit der Säule. Die Gewandbehand-
lung mancher figuraler Bildwerke, besonders die strenge Reihung der Falten-
bahnen, bekräftigt diesen Vergleich44 [22]. So lassen uns die Karyatiden vom
Erechtheion den Ursprung dieser Grundgröße von der Menschengestalt er-
ahnen, ebenfalls die Einzeichnung des menschlichen Körpers in die Schlüssel-
figuren des Quadrats bei Lionardo, des Pentagramms in der Kabbala des Agrippa
von Nettesheim. Die Skizzen des Villard de Honnecourt und ganz von ferne
Thoma, „Kind im platonischen Körper44, verweisen auf diesen Zusammenhang.
Interessanter noch scheint uns im „Buch der göttlichen Werke44 der heiligen
Hildegard von Bingen aus dem 13. Jahrhundert die symbolische Darstellung
des Menschen ausgespannt zwischen Mikro- und Makrokosmos [23]. Hierzu
A. S. Eddington: „Der Größe nach liegt fast in der Mitte zwischen dem Atom
und dem Stern ein anderes, nicht weniger bewundernswürdiges Gebilde —
der menschliche Körper. Der Mensch steht dem Atom ein wenig näher als dem
Stern. Gegen 1027 Atome bilden seinen Körper, gegen 1028 menschliche Körper
liefern genug Stoff, um einen Stern aufzubauen44 [24]. So erhält das Wort des
Protagoras: Homo mensura einen neuen, feineren Klang, und ich bezog meine
Rechtecke auf die Grundgröße 170 cm, welche nach Weinert die Grenze zwi-
schen mittelgroß und übermittelgroß der männlichen Durchschnittsmaße dar-
stellt [25].
Die Frage der Proportionen und des goldenen Schnittes in der Psychologie
Adolf Zeising veröffentlichte 1854 ein Buch: Neue Lehre von den Propor-
tionen des menschlichen Körpers ... Auf dieses Buch nimmt Theodor Fechner
Bezug: „Zeising macht das goldene Schnittverhältnis nicht nur als ästhetisches
Normalverhältnis, sondern überhaupt als allgemeinstes Gestaltungsverhältnis
Proportion und Intervall
77
der Natur und Kunst geltend und sucht dasselbe insbesondere durch die Glie-
derung und Untergliederung des menschlichen Körpers wie der schönsten
Architekturwerke durchzuführen“ [26]. Fechner erläutert dann den Begriff des
goldenen Schnittes an Hand der uns bekannten Lameschen Reihe; er kann aber
nicht umhin, „den ästhetischen Wert des goldenen Schnittes von Zeising über-
schätzt zu finden“. Ferner weist er darauf hin, daß Wolff und Thiersch u. a.
das Quadrat 1:1 wie auch die einfachen rationalen Verhältnisse bevorzugen,
„zum Teil mit Rücksicht darauf, daß diese Verhältnisse als Schwingungsver-
hältnisse in der Musik konsonieren“. „Hätte nun der goldene Schnitt wirklich
den ihm von Zeising zugeschriebenen großen Vorzug, hätte überhaupt ein
Rechtecksverhältnis vor den anderen einen sehr entschiedenen Vorzug, so
müßte sich dies bei einem entsprechenden einfachen vergleichenden Experiment
damit heraussteilen.“ Mit der Bitte um Bezeichnung der wohlgefälligsten Figur
legte er seinen Versuchspersonen 10 Rechtecke vor „aus weißem Karton von
genau gleichem Flächeninhalt, aber verschiedenen Seitenverhältnissen, das
kürzeste davon mit dem Seitenverhältnis 1:1, das längste mit dem Verhält-
nis 2:5, dazwischen auch das goldene Schnitt-Rechteck mit 21:34“. Sein
Resultat ist: „Ungeachtet der Asymmetrie der Rechtecksreihe zu beiden Seiten
des goldenen Schnittes sind doch auffälligerweise die Nachbarzahlen des gol-
denen Schnittes zu beiden Seiten sowohl männlicher- als auch weiblicherseits
nahe gleich, was mir, wie ich gestehe, theoretisch nodi nicht klar ist, wie es hat
zustande kommen können“. So hat Fechner die sonst veröffentlichte Wohl-
gefälligkeitskurve, die der Wundtschüler Witmer herausgab, vorweggenom-
men. Carl Schneider kritisiert diese Versuchsanordnung sehr zu Recht. „Die
Einschränkung auf die Lust-Unlust-Popularität hat hier wie anderswo einer
schlichten Beobachtung der Fülle gefühlsartiger Ganzqualitäten im Wege ge-
standen.“ Als nächster Forscher arbeitet Karl Bühler im Bonner Psychologi-
schen Institut über Proportionen: „Die Eigenschaft der Rechtecke, die hier
beurteilt wird, hat ein objektives Maß in dem Längenverhältnis der kurzen
und der langen Rechtecksseite A: B. Der Wert dieses Bruches ist für das Qua-
drat = 1, für das unendlich lange Rechteck die einfache Linienstrecke = 0;
zwischen diesen Grenzen liegen die Werte für alle ,Schlankheitsgrade4 “ [27].
Durch exakte Schwellenuntersuchungen konnte Bühler nach weisen, „daß das
Augenmaß für Strecken gröber ist als die Empfindlichkeit für Gestaltverände-
rungen von Rechtecken, in die diese Strecken eingebaut sind“ [28]. Jedoch
wurde auch hier der Gefühlsreichtum, den unsere Versuchspersonen (im fol-
genden abgekürzt Vpn.) boten, bei Betrachtung der Rechtecke zugedeckt durch
die Urteilspole: schlank — plump. Diese Urteilspole zeigten jedoch in einem
anderen Experiment erstaunliche Ergebnisse. Siegfried Behn ließ auf eine
durchsichtige Kautschukfolie antike und klassische Bildwerke drucken, die
wahrscheinlich früher sogar ausgesprochene Kanonfiguren waren. Diese Folie
konnte durch einen Spannrahmen kontinuierlich in die Länge und Breite ge-
streckt werden, und diese bis an die Verzerrungsgrenze der Höhe und Breite
gestreckten Bilder wurden von hinten beleuchtet und dann photographiert.
78
Wolfgang Erpeti
Diese Photographien wurden dann den Vpn. im Projektionsapparat darge-
boten mit der Anweisung, die Figuren zu beurteilen nach Schlankheit und
Plumpheit. Dabei zeigte sich bei objektivem gleichmäßigem Weiters ehr eiten
von plump zu schlank subjektiv eine Stufung der Eindrücke, die auf jeder
Stufe einen bestimmten Typ intendierte. Behn erhielt 5 Stufen, dem 5 Stile
entsprachen:
plump gedrungen ebenmäßig schlank überschlank
flämisch (Rubens) barock antik gotisch Greco
Auf die an die Vpn. gerichtete Frage, wie sie denn ihre Urteile bildeten,
meinten diese, daß etwas aus ihnen urteile, nicht sie selbst. Es ist auch für
unseren Zusammenhang sehr bedeutsam, „wie sich neben den Gegenständen
des tatsächlichen Erlebens ideale Gegenstände ins Spiel mischen“. So kommt
Behn zu der Aussage: „Weil dem so ist, nenne ich diesen Versuch ein experi-
mentum platonicum; es zeigt die Wirksamkeit idealer Gegenstände“ [29].
Carl Schneider verfolgt die Bühlerschen Versuche weiter mit der Frage:
„Wie verhalten sich die Unterschiedsschwellen für Gestaltverändemngen von
Rechtecken ... bei einer planmäßigen Variation der Höhen-Breitengliede-
rung, der Rechtecksproportionen? Vorurteilsfreie Beobachtung zeigt, daß Recht-
ecke, deren Verhältnisse sich kontinuierlich ändern ... eine Reihe qualitativ
charakteristisch gefärbter Stufen durchlaufen, als Ganze gegeneinander abge-
hoben sind insbesondere durch gefühlsartige Tönungen.“ Er sieht als seine
Aufgabe an: „Für die Rechtecke einer möglichst vollständigen Proportionsreihe
sind durch Veränderung eines Proportionsgliedes Gestaltschwellen abzuleiten.“
Er führt seine Versuche an einem Rechtecksvariator durch, und seine Ergebnisse
sind u. a. m.: „1. Rechtecke von einfachen geometrischen Seitenverhältnissen:
1:3, 1:2, 1 :1, 2 :3 (keine Rangreihe) zeichnen sich durch besondere Starr-
heit“ und Gestaltfestigkeit aus, d. h. sie sind gegen Veränderungen relativ un-
empfindlich, 2. Sobald bei einer besonders unempfindlichen Figur die Gestalt
durch genügend große Reizveränderungen doch verändert wird, bekommt die
veränderte Figur, die nun die eigentümliche Starrheit verloren hat, eine beson-
ders hohe Empfindlichkeit. Sehr unempfindliche Figuren sind von einer Zone
sehr empfindlicher umgeben, 3. Rechtecke, deren Seiten annähernd im Ver-
hältnis des sogenannten goldenen Schnittes zueinander stehen, sind ganz be-
sonders empfindlich. 4. Die Rechtecke tragen spezifische emotionale Ganz-
qualitäten, die ihnen einen bestimmten Charakter verleihen. Je ausgeprägter
er ist, um so leichter und sicherer vollzieht sich der Versuch. Die Gefühle, die
sich im sprachlichen Ausdruck wahrscheinlich nur sehr unzulänglich wieder-
geben lassen, sind von einem erstaunlichen Reichtum. Auch erlangen sie oft
eine überraschende Intensität und Tiefe,“ Allgemein faßt er die Ergebnisse da-
hin zusammen: „Die Verschiedenheiten der Selbstbeobachtungen weisen deut-
lich darauf hin, daß nicht etwa jedes Rechteck mit Notwendigkeit die ,gleichen
Gefühle“ auslöst, sondern umgekehrt die Auffassung jedes Rechtecks mehr oder
weniger in das Gesamterleben eingebettet wird, wobei die Innigkeit der Ein-
Proportion und Intervall
79
bettung wechseln kann, wobei freilich auch gewisse typische Erscheinungen an
gewissen Rechtecken regelmäßig immer wiederkehren.“ Er läßt dabei ganz
außer acht, „welche Beziehungen von hier hinüberführen zu den sublimen
Formen der Wertpsychologie, ja bis hin zu den Ergebnissen der Psychologie
der Kunst, der Religion und überhaupt aller höheren Formen des Seelen-
lebens“ [30].
Als letzter Forscher sei Konrad Lorenz [31] erwähnt, der als Schüler v. Uex-
külls dessen Umweltforschungen über Merk- und Wirkwelt innerhalb der
tierischen Mitwelt mittels Attrappen differenziert zur Beziehung: angeborenes
Schema — Auslöseschema. Von seinen Erfahrungen an Tieren ausgehend, fin-
det er auch beim Menschen „angeborene Schemata“, wenngleich auch jener
arm an diesen sei. „Der Umstand, daß unser Schönheitsempfinden bei Tieren
so stark an die Proportionierungen bestrassiger Menschen gebunden ist, läßt
vermuten, daß vielleicht auch in der menschlichen Baukunst Beziehungssche-
mata eine wesentliche Rolle für die Bewertung der Ästhetik spielen, die ur-
sprünglich auf den Artgenossen gemünzt sind ... Ja, ich möchte sogar noch
weiter gehen und fragen, ob nicht vielleicht sogar die bis ins Arithmetische hin-
ein vereinfachten Zahlenbeziehungen, die etwa nach Art des goldenen Schnit-
tes (?) ästhetisch wirken, als Merkmale solcher Schemata aufgefaßt werden
können ... Ganz sicher beruht die unmittelbare Gemeinverständlichkeit der
Musik darauf, daß in den zahlenmäßig darstellbaren Beziehungen zwischen
den Tönen Beziehungsmerkmale gegeben sind, die für uns eine in Schematen
vorgeformte und durch diese spezifisch affektauslösende Bedeutung haben...
(die auch) bei aller Vereinfachung doch den vollen Affektgehalt einer Situation
auslösen ... Daß ein angeborenes Schema wegen seiner Erfahrungsunab-
hängigkeit mit der platonischen Idee gleichgesetzt wird, liegt wohl sehr nahe,
auch in der Archetypenlehre Jungs finden wir noch die grundsätzlich gleiche
Einstellung.“ So sieht auch Lorenz, ohne jedoch diese Frage weiter zu verfol-
gen, den hier verhandelten Sachverhalt. Er beschränkt sich auf die Proportions-
schemata, die sich nach ihm als auf unsere Mitmenschen bezogen erweisen.
„Der merkantile Modezeichner und der wohl sicher nicht auf Publikumsfang
abzielende griechische Vasenmaler übertreiben in völlig gleicher Weise die
breiten Schultern und schmalen Hüften, die eines der wichtigsten Beziehungs-
merkmale der männlichen Idealgestalt unserer Rasse sind.“ Indem wir dar-
auf hinweisen, daß sich die bevorzugten Proportionierungen nach Lorenz an
Menschheitsrassen wie nach Behn an die Stilperioden knüpfen, wollen wir un-
seren eigenen Versuch darstellen.
Versuchsanordnung und der Vergleich von Intervall und Proportion
In unserem Kapitel über die Frage der Proportionen in der Architektur war
es von Fischer herausgearbeitet worden, daß die Proportionsverhältnisse der
ersten einfachen natürlichen Zahlen von 1—6 durch die Methoden der Tri-
angulatur und Quadratur zu gewinnen wären, die auch in der Musik die struk-
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Wolfgang Erpelt
tivsten Intervalle darstellen. In der Bearbeitung der Proportionsfrage in der
Psychologie trat zutage, daß Rechtecke mit einfachen Seitenverhältnissen die
stärksten Gestalten sind und oft „Gefühle ... von einem erstaunlichen Reich-
tum ... Intensität und Tiefe“ hervorriefen. Wenn man nun mit Leihniz der
Meinung ist, daß Musik ein unbewußtes Zählen sei, so ist ein Vergleich von
Proportion und Intervall nur über die Anmutungsqualitäten gleicher Zahlen-
verhältnisse zu bewerkstelligen. Unter Anmutungserlebnissen versteht man
nach Lersch eine Rückmeldung über das am Horizont der Welt Bemerkte an
die Lebensmitte. Die Inhalte der Welt treten hier nicht in einer neutralen
Gegenständlichkeit auf, wie beim theoretischen Vergegenwärtigen, sondern in
ihrer Werthaftigkeit. Im Angemutetwerden besitzt der Mensch also ein Organ
für die Offenbarung der Wertqualität der Dinge, für ihr „Wertantlitz“.
Diese Gründe also veranlaßten mich, meine Rechtecke gleich in den Ver-
hältnissen der musikalischen Intervalle zu schneiden — was natürlich den Vpn.
unbekannt war — und zwar aus dünner weißer Pappe, bezogen auf die von
mir schon angegebene Grundgröße von 170 cm. Wenn wir die Größen von
170—85 als eingestrichene Oktave bezeichnen wollen, so liegen unsere Recht-
ecke in der fünfgestrichenen Oktave mit den Längen 10,62 cm bis 5,31 cm.
Es wurden zwei Reihen von Rechtecken geschnitten: Die A-Reihe von Vi auf
V2 herabsinkend (1 = 10,62 cm) und von Vi zu 2/i aufsteigend die B-Reihe
(1 = 5,31 cm). Diese Karten wurden auf einer grobgewebten grauen Tuch-
unterlage (ca. 60 X 60 cm), die an den Ecken ausgefranst war, so daß keine
scharfe Kontur entstand, dargeboten. Sie wurden einzeln in der Reihenfolge
der Bezifferung vorgelegt und das Vorhergehende weggenommen, so daß im-
mer nur eine Karte zu sehen war; die übrigen lagen verdeckt. Die Vp. saß
bequem an einem kleinen runden Tisch. Vor ihr die Tuchunterlage, die von
einer Reihe von Vpn. als sehr günstig bezeichnet wurde, zur Rechten eine
schwarze Bürolampe mit Reflektor, ihr gegenüber der Versuchsleiter (im fol-
genden abgekürzt VI.), der die Aussagen protokollierte; das übrige Zimmer
war verdunkelt. Der Versuch wurde mit 29 Vpn. gemacht. Eine feste Versuchs-
anweisung wurde nicht gegeben, sondern wurde auf die Vp. abgestimmt. Sie
lautete ungefähr folgendermaßen: „Nähern wir uns in der Dämmerung oder
bei schwachem Mondschein einem Gebäude, einer Tür oder in unserem Zim-
mer einem Schrank, so daß die Einzelteile mehr oder weniger verschwimmen,
so haben wir von dieser Fläche, die uns in Höhe und Breite gegeben ist, einen
irgendwie gearteten Eindruck. Ich lege Ihnen jetzt der Reihe nach verschie-
dene Rechtecke vor und bitte Sie, mir Ihre Eindrücke zu sagen.“ Es schien
dem VI. anfangs gewagt, seinen Vpn. nur diese kleinen „inhaltslosen“ Recht-
ecke vorzulegen; jedoch er tröstete sich damit, daß die abstrakte Malerei un-
serer Tage dem Betrachter auch nicht viel mehr als Farben und geometrische
Figuren vorlegt. Er sollte aber immer wieder erstaunt werden über die Fülle
der Bilder und die Tiefe der Gefühle, die diese Rechtecke hervorriefen; währte
doch kein Versuch weniger als eine Dreiviertelstunde, die meisten über eine
Stunde, einer sogar zweieinhalb Stunden, da den Vpn. die Karten so lange
belassen wurden, wie sie sie zu betrachten Lust verspürten. Die Art der Aus-
Proportion und Intervall
sage glich der in der Tiefenpsychologie gebräuchlichen Amplifikation. „Die
amplificatio ist stets da am Platze, wo es sich um ein dunkles Erlebnis handelt,
dessen spärliche Andeutungen durch psychologischen Kontext vermehrt und
erweitert werden müssen, um verständlich zu werden“ [32]. Nach Friedmann
ist das Symbol dreifach charakterisiert: 1. „Es geht aus einem sinnlichen
Akt gesteigerten Schauens hervor; dieses Sehen ist 2. begrifflich erfaßt, eher
eine Reihe von Wegnahmen als eine Reihe von Setzungen; 3. dieser Schauens-
akt bleibt andauernd auf seinen Gegenstand, das Symbol fixiert und verschiebt
nicht seinen Blickpunkt, um ihn vergleichend auf anderen Gegenständen ruhen
zu lassen“ [33]. Alle drei Bedingungen waren in unserem Fall erfüllt, und so
wundert uns das Auftreten starker symbolischer Bezüge in unseren Anmu-
tungsqualitäten nicht. Da es hier nicht möglich ist, die Protokolle ausführlicher
zu besprechen, stelle ich gleich den Anmutungsqualitäten der Intervalle die
der Proportionen der B-Reihe — bei ihr sind die Versuchspersonen schon
gelöster — zum Vergleich gegenüber.
Der Prim 1: 1 entspricht im Räumlichen das Quadrat. Es wird von unseren
Vpn. charakterisiert: Platonisches Element der ausgewogenen Regelmäßig-
keit — prinzipiell schön — Mittelpunkt einer Konzentrationsübung; ganz ab-
gelöst vom Gebrauch, diese Figur ist Sinnbild — Gesetzmäßigkeit, die man
vom Denken her aufstellen muß — stärkstes Zentriertheitserlebnis, abgesehen
vom Kreis — solide gute Figur im Sinne der Gestaltpsychologie. Liniensystem
dazugedacht, belebt es sich kristallinisch [33a].
Die große Secund 9: 8 besitzt in der Musik eine übermäßige Spannung und
drängt zur Auflösung, ist unselbständig und wirkt funktionell als Übergang.
Sandigs Vpn. beurteilen sie als: Entschieden dissonant — unangenehm, wil-
des Ringen — fest unten aufliegend, nicht auseinanderbrechend — Unruhe ist
in ein festes Ganzes gebettet [34]. Unsere Vpn. sagen aus: Übergang als
Schritt zu einem anderen, das größere Prägnanzstufe hat — nicht Fleisch, nicht
Fisch — unfertige Form — das Format stört mich ausgesprochen, Ecken sto-
ßen vor — krampfhaftes Streben nach oben, es fügt sich nicht, es fordert, stiftet
dauernde Disharmonie und Spannung — einfallender Paukenschlag, vorher
und nachher Pause (dieselbe Vp. singt eine Melodie in Secundschritten, wie
sie auf Befragen angibt).
Zur großen Terz: 5:4 äußern Sandigs Vpn.: Man hat gleich Kontakt da-
mit, sonniger, schwingender, strahlender — gut nachbarliches Verhältnis —
Fundierung in der Tiefe — positive Qualitäten, wärmer, lebensvoller, körper-
hafter. Unsere Protokolle sagen über sie aus: Hier war Ruhe, Harmonie, Aus-
geglichenheit — freudiges, freundliches Thema — gutmütig, strebsam, ohne
hinterhältig zu sein — nichts Raffiniertes, ganz sympathisch — geht nicht aus
sich heraus, ruht in sich selbst — gutes Mittelmaß. Landschaftsbild: Vertikale,
unterstrichen durch Baum, Berge in der Ferne, sehr viel Luft und Himmel —
(Bilder kommen wie:) Blüten — Pflanze, Rasenstück, Getreidefelder — Fen-
ster in alten Bauernhäusern — etwas Brahmshaftes, Strahlendes — Verbun-
denheit mit dem Boden, etwas Bäuerliches. Natürlich, gesund. Die dunklen
6 Jahrbuch 1951 Lindenmuseura.
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Wolfgang Erpelt
Kräfte, die hier wirken, sind nicht gefährlich, sind gute Dunkle — (dagegen)
Michelangelo auf diese Proportion gebracht: Sacrileg. — In der Terz jedoch
singt sich die Folklore aus.
Die Quart 4:3 wird von Sandigs Vpn. beschrieben als: Einheitlich in be-
stimmter Farbe, ein wenig alltäglich — sonor im Sinne von voll — strenger,
fester stehend — seiner Kraft bewußt — lebensvollere Renaissance — besitzt
normhaften Charakter. Unsere Vprt. bestimmen sie wie folgt: Das hat was zu
sagen, gewichtig, von einem ernsten Willen beseelt, läßt sich nicht übersehen,
seiner eigenen Bedeutung bewußt, aber noch gut erträglich — es fehlt die
Leichtigkeit, um sie als wohltuend zu empfinden — kategorischer Imperativ,
erhebt Anspruch, gut proportionierte Figur — angeborene Form, aber mit der
Gefahr des Negativen ... Ein klein wenig, nicht ganz, hat Hyperion davon. In
sich selbst zurückgenommene Bewegung, auf sich bezogen — Zug des Hoch-
mütigen — hat etwas Geistiges, Ätherisches, bißchen dünnblütig, ohne Erden-
schwere — vornehme Haltung — etwas nach unten und zur Mitte hin Aus-
geglichenes, vorwiegend Zielstrebiges — so wie dieses Format möchte ich
leben — Format, meine Wunsch-Imago darauf zu konstruieren. Nach Musiker-
aussagen [35] hat der Quart-Zweiklang noch die Anmutungsqualitäten: gegen-
wartsnah, willenskräftig, kompromißlos, aber auch etwas Hindeutendes, bild-
haft Anzeigendes. Man vergegenwärtige sich die Anfänge von Beethovens: Die
Himmel rühmen ... und Bruckners; Te Deum. Hier wird Gott als Person ver-
ehrt. Bei diesem Format wie kaum bei einem anderen machten die Vpn. Aus-
sagen, die unmittelbar ihre eigene Person betrafen, entweder darstellend oder
kontrastierend. Wir kommen auf diesen Zusammenhang zurück.
Die Quint 3:2 macht als Zweiklang Sandigs Vpn. den Eindruck: Klar als
Einheit dastehend — weiter weg, nicht derb räumlich zu verstehen — schräg
nach oben steigende Linie. Andere Musiker heben den Eindruck des Monu-
mentalen, Zeitlosen, Übermenschlichen hervor. Unsere Vpn. werden von die-
ser Proportion besonders stark beeindruckt: Weist auf etwas Unumstößliches
hin. Hier steht nicht mehr die Persönlichkeit im Mittelpunkt ... nicht mehr
kategorischer Imperativ, sondern dogmatisch (in Erinnerung an die Quart ge-
sagt) — vorige etwas gewöhnlich, diese hier sehr ungewöhnlich — liegt irgend-
wie Kraft drin, Größe, Geborgenheit, geht über das Alltägliche hinaus — zieht
einen vom eigenen Standpunkt hinweg — Archaisches, Verbindliches, was da
ist, was sich nicht übersehen läßt, erinnert an Ninive — Grabmal der Hegeso
— Greco, Himmelfahrt Christi, dunkel gedämpfte Farben mit plötzlich ein-
brechendem Licht — Schönheit, Tiefe und Unanschaulichkeit des Begriffs ...
man kann ihm nicht aus dem Wege gehen ... wenn man sich dagegen würfe,
erreichte man nichts — ganz riesig, Mensch wäre dagegen ganz klein — irgend-
wie geistig und religiös angefüllt, sonst wäre es nicht erträglich, zu mächtig.
Man vergegenwärtige sich die Anfänge von Bruckners 4. und 9. Symphonie,
Ende des Kyrie aus Mozarts Requiem, wie auch der Endakkorde von Palestri-
nas Chören, um die sich auf das Numinose richtenden Aussagen der leeren
Quint zu verstehen.
Proportion und Intervall
83
Die große Sext 5:3 wird von den romanischen Völkern im „Bel canto“ be-
vorzugt, Man beachte das „sehnsuchtsvoll Verhaltene“ in Beethovens: Ich liebe
Dich ... und das „versonnen Romantische“ in: Es waren zwei Königskinder.
Diese Proportion weckt folgende Gefühle und Bilder: Wirkt etwas spielerisch
— leichter, luftiger, nicht unsympathisch — die arrivierte ästhetische Nuance,
man verläßt damit das Normale — Bühnenbild zum Troubadour — Format
ernsthafter Ahnenbilder — Taube mit Brief im Schnabel — Maria und Josef,
Kind auf Stroh, darüber Engel — jungfräulich, sehr grazil, sensibel. Bild: Maria
mit dem Kind auf dem Arm, auf der Mondsichel der Iris stehend, über dem
Meere schwebend — Äther, reine scheue Anmut, unbedingte Klarheit, Sehn-
sucht. Gefühl, als ob man mit dem Winde tanzen wollte.
Die Septime 15:8 wirkt auf Sandigs Vpn.: ausgesprochen unstimmig, dis-
sonant, entschieden unangenehm — als ob jemand mit schriller Stimme schreit
— eindeutig zusammengeballt, spannungsmäßiger — wenig überschaubar,
durcheinander — man kann sich dabei nicht beruhigen. Unsere Vpn. empfin-
den dieses Verhältnis als: Etwas, das nach oben möchte ... antikes Ehepaar,
haben sich in der Wolle — mager, dürr, ergänzungsbedürftig — würde auf
Figur ein feuerrotes Dach setzen — (oder) Bedürfnis, oben abzuteilen —
Schwergewicht ganz nach oben verlagert, ins obere Drittel — Eindruck des
Übergangs, puberal, Streben nach Höherem, das ganz fertig geworden ist —
der Sollens-Anspruch, der uns entgegenkommt — erhält religiös-metaphysi-
schen Zug. Fließen der Gnade. Dr. Gress empfindet sie als Unruhe, nicht als
Unrast, als Symbol des Menschenlebens, als das Delta zum großen Sammel-
becken der Oktave und verwies mich auf den Anfang der ersten Symphonie
und den dritten Satz des vierten Klavierkonzertes von Beethoven.
Die Oktav 2:1 ist Ende und Anfang zugleich: Wohlklingend, aber langwei-
lig — klar, einfach, unkompliziert — etwas lang Ausschwingendes sind die
Anmutungen von Sandigs Vpn. Ihren „verlöschenden Abschluß“ kennzeichnet
der Mittelsatz von Beethovens 3. Klavierkonzert. Der Beginn der Fidelio-Ouver-
türe charakterisiert die „Erwartung“, das „Jagende, Verfolgende, Dämonische“
jedoch die Oktaven in Schuberts „Erlkönig“ und „Der Tod und das Mädchen“.
Als Proportion macht sie auf unsere Vpn. den Eindruck der guten Figur, aus-
gezeichneter Endzustand. Eine gewisse Seite des Daseins kommt zum Ausdruck
... des Erhabenen, Feierlichen. Die Mosaischen Gesetzestafeln mögen so aus-
gesehen haben — Säulen primitiver, auch ägyptischer Kultur — beruhigt, aber
es macht nicht glücklich — alexandrinisches Porträt, ganz rätselhaft, was da-
hinter kommt — reizt einen irgendwie heraus, was mit Konstanz weitertreibt
— Durchlaß — (es wird hier öfters perspektivisch gesehen und auch die Figur
in 2 Quadrate geteilt) — hierzu kann man nicht viel sagen. Man hat es oder
hat es nicht. Der ganze Idealwert des Wortes „absolut“ ist darin .., intellek-
tuelle Anschauung.
Prof. Rothacker meinte ganz spontan während des Versuches: „Die Stetig-
keit, mit der die Formate sich ändern, scheint eine Gesetzmäßigkeit zu sein“
[36]. Nun noch einige Auszüge aus den Selbstbeobachtungen der Vpn. am
84
Wolfgang Erpelt
Schlüsse des Versuchs: Zunächst befremdend, ich sehe nichts als Rechtecke,
hatte bald den ersten Eindruck, der ganz aus der Anschauung kam. Habe dann
sofort gedanklich formuliert. Von der ersten Formulierung habe ich dann wei-
ter gesucht. — Mit Distanz kann man bei diesem Versuch nichts anfangen.
Wenn ich mich distanziert hätte, dann hätte ich nur die Seiten gemessen und
Geometrie getrieben. Habe mich mit den Figuren identifiziert. Dann wird man
mit hineingerissen in die Richtungen, die sie intendieren. — Es fließen subjek-
tive Werturteile hinein. Kontakt mit den Figuren wechselt. — Tiefe Schichten
leicht angesprochen, das hängt von der Stimmung ab. — War für mich sehr
angenehm als Ganzes. — Ich wundere mich, daß ich so Gegensätzliches sagen
konnte. Komisch ist, ich sehe jetzt ein bestimmtes Bild vor mir, aus einem Buch
mit herrlichen Bildern und wundervollen Worten,
Es wurde dieser Versuch des öfteren als Meditationsübung empfunden und
als „sehr heilsam“ bezeichnet; dienen doch Quadrate und Dreiecke auf Yan-
tras und Mandalas dem östlichen Menschen zur Versenkung, zum Abstieg zu
den „kollektiven Bildern“.
Sensorium commune und sinnbildliche Zahl
In Wolfgang Metzgers „Psychologie“ steht der Satz; „Wir fordern vom An-
schaulichen her die Annahme des gemeinsamen zentralen Sinnesfeldes, des
sensorium commune, und wundern uns bei dieser engen Verflechtung nicht,
daß die Erregungen der verschiedenen Sinne einander in der mannigfaltigsten
Weise beeinflussen können“ [37]. Nun, wir glauben durch den Vergleich des
„Wertantlitzes“ von Proportion und Intervall mit gleichen Zahlenverhältnissen
die Existenz dieses geforderten sensorium commune erwiesen zu haben, wo-
bei uns begreiflicherweise die komplexen Aussagen mit ihren fließenden Kon-
turen eine begriffliche Abgrenzung erschwerten. „Worin diese Wesensüberein-
stimmung zwischen bestimmten Gestalten und bestimmten Sinnesqualitäten
und auch zwischen den Qualitäten verschiedener Sinne begründet ist, wissen
wir noch nicht. Jedenfalls aber muß man die Fälle solcher Wesensübereinstim-
mung aufs strengste unterscheiden von der großen Masse der mehr oder
weniger zufällig zustande gekommenen und darum von Mensch zu Mensch
wechselnden ,Synaesthesien‘, ,Photismen' und dergl. [38].“ Bevor wir uns
aber mit Metzger fragen, wie es zu denken sei, „daß die zentralen Wirkungen
des Gesichts und des Gehörs in einen und denselben Bereich einmünden“,
wollen wir noch einige Tatsachen aufführen zur „Verschwisterung“ der beiden
Femsinne Auge und Ohr, von der schon Platon spricht. Man insistiere hier
nicht, daß Proportion und Intervall sich in verschiedenen Medien abspielen,
sind doch Raum und Zeit nach Kant nur Anschauungsformen, die schon im
Traum ihre Relativität erweisen. Als Konsonanzrangreihe gilt allgemein
VIII = 1:2, V = 2:3, IV = 3:4, gr. III = 4:5 (Umkehrung kl. Sext 5:8),
kl. III = 5:6 (mit ihrer Umkehrung 3:5 der großen Sext). Wir sehen also, daß
„die Konsonanz um so vollkommener ist, je kleiner die Zahlen“ sind; was über
Proportion und Intervall
85
den „numerus senarius“ hinausgeht (wenn man die kl. Sext hierbei nicht
berücksichtigt), wird als dissonant empfunden. Carl Schneider begnügt sich
mit der Aussage „Rechtecke von einfachen geometrischen Seitenverhältnissen
zeichnen sich... durch besondere Starrheit und Gestaltfestigkeit aus“; seine
8 Vpn. würden wohl auch nicht genügt haben, um eine Rangreihe der Gestalt-
festigkeit zu ermitteln. Der goldene Schnitt, das sei hier nebenbei bemerkt,
ist wegen seiner Empfindlichkeit in der Praxis nicht verwertbar.
Kayser macht auf ein Wechselverhältnis von Auge und Ohr aufmerksam,
das in der Fachliteratur nicht zu finden ist, es sei darum angeführt: Was man
hört, die Oktavenfrequenzen 1:2:4:8:16... sind perspektivisch angeordnet,
diese aber hört man als gleichabständig. Was man dagegen perspektivisch sieht,
ist gleichabständig, z. B, Eisenbahnschienen oder Telegrafenmasten [39],
Also auch hier das parallele Auftreten von geometrischen und arithmetischen
Reihen wie im Weher-Fechnerschen Gesetz. Auf dieses Gesetz wie auf die bio-
logischen Grundlagen unserer beiden Femsinne und die Physik der optischen
und akustischen Reziehungen geht Hermann Friedmann in seinen beiden groß-
artigen Werken „Die Welt der Formen“ (Kap. Die Formenmetrik) und „Wis-
senschaft und Symbol“ (Kap. Die optisch-akustische Synergie) mit überlegenen
Kenntnissen ein. Sein Freund Hans Kayser suchte durch seine Studien zu er-
weisen, daß die Zahlenverhältnisse, wie sie die Intervalle bestimmen, Proto-
typen im Aufbau der außermenschlichen Welt seien — profan ausgedrückt sind
sie für ihn das Din-Format der Natur — und sieht im kosmischen und geolo-
gischen Bereich, in Kristallen, Pflanzen, in den menschlichen Sinnen und in
der Kunst diese musikalischen Grundzahlen und ordnet ihnen die Jung sehen
Archetypen korrelativ zu, ganz wie Lorenz dem „Auslöseschema“ das „an-
geborene Schema“. Auch Vetter beschreitet in seiner Anthropognomik diesen
Weg, wenn er in den Archetypen Jungs nicht nur die Bilder der Ahnen sieht,
sondern „Bildungsmöglichkeiten der lebendigen Schöpfung“ überhaupt [40].
Ein antiker Vorgänger Kaysers ist Nicomachos aus Gerasa (1. Jahrh. n. Chr.),
der die Praeexistenz der Zahlen vor der Weltbildung im Geiste des Schöpfers
lehrte, der dann diesen Urbildern gemäß alle Dinge geordnet habe; ebenso
Proklos, der die Mathematik rühmt als „die Wiedererinnerung an die unsicht-
baren Formen der Seele; und ihre Leistung, wie schon aus ihrem Namen her-
vorgeht, ist dies: Sie gibt ihren eigenen Erkenntnissen Leben ... sie bringt die
Ideen, welche wesenhaft in uns sind, ans Licht“ [41]. So führt auch Augustin
im 6. Buch seiner „Musica“ den Geist „zu den unveränderlichen Zahlen, die in
der unveränderlichen Wahrheit selbst ihren Ursprung haben“ [42]. Ein Jahr-
hundert später sagt Kepler von der Geometrie: „Sie ist Gott selbst und hat
ihm die Urbilder geliefert für die Erschaffung der Welt. In den Menschen aber,
Gottes Ebenbild, ist die Geometrie übergegangen, nicht erst durch die Augen
wird sie auf genommen ... die mathematischen Gegebenheiten und die Ver-
nunftschlüsse entstehen in der Seele selbst... Erkennen heißt, das sinnlich
Wahrnehmbare mit den inneren Urbildern vergleichen und es mit ihnen
übereinstimmend finden“ [43].
86
Wolfgang Erpeti
Der Künstler jedoch wird sich angesichts unseres heutigen „Zahlenapparates“
wehren, seine Kunst arithmetisch intellektualisieren zu lassen.
Woher aber kommt es, daß einem bestimmten Zahlenpaar, sei es nun das
eines Intervalles oder das einer Proportion, ein ganz bestimmtes „Wertantlitz“
zukommt? Ich weiß mir nun keinen anderen Rat, als Ausschau zu halten, wo ich
Zahlen finden könnte, die ganz bestimmte Vorstellungen und Gefühle inaugu-
rieren. Solche Zahlen finden wir jedoch zur Genüge in Mystik und Magie aller
Völker und Zeiten und in den Tiefen der Seele — wie uns deren therapeutische
Behandlung zeigt — die gesättigt von Gefühlsbedeutungen uns unverständlich
bleiben, falls wir die Zahl nur verstehen wollen aus dem Akt des Zählens, der
gleiche Akt, der uns nur „Dinge und Begriffe“ liefert, keineswegs jedoch Bilder
und Symbole, die wir erleben, die wir schauen. Uns ist die Seele die mittlere
Proportionale zwischen dem „alles fließt“ der physikalischen Welt und dem
ewig „feststellenden“ Verstand. Sie ist jene „Schaltstelle, die aus vielem buch-
stäblich eines macht“ (H. Volkelt) und dieses eine als Qualität vor das Bewußt-
sein führt. Es ist nicht von vornherein anzunehmen, daß die Seele für Auge
und Ohr ein besonderes „Verrechnungszentrum“ haben sollte, um diese „Ver-
ganzheitlichung“ in Gestalten vorzunehmen. Wie sieht nun die „Tastatur“ aus,
denn nur was in ihr geschrieben werden kann, „vermögen wir als Erfahrung
zu lesen“ (Kant). Eine Frage, die Lorenz wie auch Metzger aufgreifen; denn
es ist evident, „daß es ein Erleben ohne ererbtermaßen festgelegte, stammes-
geschichtlich gewordene Strukturen nicht gibt.“ Dies aber sind die schon öfters
erwähnten Archetypen, Urerfahrungen der Menschheit, „Möglichkeiten typi-
scher Grunderlebnisse“, die einmal reale Situationen unserer Vorfahren waren.
C. G.Jung versteht unter ihnen „Formen und Bilder kollektiver Natur, welche
ungefähr auf der ganzen Erde als Konstituenten der Mythen und gleichzeitig
als autochthone, individuelle Produkte unbewußten Ursprungs Vorkommen“,
weiterhin ist der Archetypus „eine strukturelle Eigenschaft oder Bedingung,
welche der mit dem Gehirn irgendwie verbundenen Psyche eigentümlich ist“,
und er schreibt der Drei, Vier und Fünf archetypische Bedeutung zu [44]. In
seiner Rede anläßlich der Gründung des C. G. Jung-Institutes macht er auf die
„proportio sesquitertia, das Verhältnis 3:4“ aufmerksam, das aber ist die
Quart in Proportion und Intervall, die jenen starken Bezug zur Person offen-
barte. Sie aber auch ist das Problem der Individuation, der vollen Persönlich-
keitswerdung, „die Beziehung von drei relativ differenzierten Funktionen zu
der einen inferioren und damit dem Unbewußten kontaminierten Funktion“,
und es konnte „die proportio sesquitertia als häufiges Phänomen der unbewußt
produzierten Symbolik festgestellt werden“ — zwar nicht als Rechteck mit
dem Verhältnis 3:4, wohl aber als Quadrat und Dreieck. Er empfiehlt der
Psychologie „eine gründlichere Durcharbeitung und Beschreibung der tetra-
dischen und triadischen Symbole, sowie deren historischer Entwicklung, zu
deren Kenntnis Frobenius ein gewisses Material zusammengetragen hat.“ Wir
werden uns bei ihm und Emst Cassirer Rat holen, müssen uns jedoch erst von
der Größenzahl entfernen, um zur Gestaltzahl zu gelangen, denn nur diese kann
Proportion und Intervall
87
in der von Spengler geforderten „eingeborenen virtuellen Zahlenwelt“
beheimatet sein [45]. Für Pythagoras noch war die Zahl ein optisches Symbol
und hatte individuelle Bedeutung und damit auch ein Wertantlitz, der
„Schematismus des Verstandes“ aber „uniformiert“ die Zahlgestalt zur
Größenzahl, reduziert ihren originalen Wert zum Stellenwert und befähigt sie
so zum „Abzählen“, d. h. sie wird zur schlechthin übertragbaren Zahl. Damit
aber auch entweicht der „Logos“, und es entsteht die taktmäßige „a-rhyth-
mische“ Zahl. So haben noch einige Völker „beim Abzählen zum Teil andere
Zahlwörter als beim Benennen von Anzahlen“, wie Paar, Trippei, Quadru-
pel, Quincunx [46]. Die Griechen kannten nur die „natürlichen“ Zahlen,
noch nicht die „rationalen“ Zahlen, die die Brüche wie auch die negativen
Zahlen umfassen. Wir hingegen brechen die Zahl, die wir nicht mehr als
„Einheit“ fassen, „entzwei“ und erhalten einen „Bruch“; dies ist die Methode
des Verstandes; wir können aber auch die Zahl als „Gestalt“ erfassen im Sinne
der Pythagoreer, dann fassen wir die vorzunehmende „Gliederung“ als Pro-
portion. Diese aber ist eine Besinnung auf den Wert, der hinzukommt, wenn
zwei Bilder oder Dinge in Beziehung zueinander treten.
Unsere Anschauung von der angeborenen Zahlgestalt wird interessanter-
weise gestützt durch die Ergebnisse der Aktualgenese von Gestalten — d. i.
„die Gegenstandsentwicklung in der alltäglichen Wahrnehmung.“ Gliedert sich
doch hier aus einer „Embryonalhülle“ sprunghaft wie ein „Einschnappen
gleichsam in ein bereitliegendes Schema“ die endgültige Gestalt heraus. „So
durchläuft der Gestaltprozeß eine Stufenreihe von Vorgestalten, in denen in
einer schematischen Vereinfachung und Verregelmäßigung die Gliederung der
Endgestalt tastend vorausgenommen wird“ [47]. Und es erscheinen als Bei-
spiele solcher Vorgestalten Dreiecke, Quadrate und Fünfecke.
„Wenn im wissenschaftlichen Denken die Zahl als das große Instrument der
Begründung erscheint, so erscheint sie im mythischen als ein Vehikel der
spezifisch-religiösen Sinngebung“ [48]. Letztere, die „konkrete Zahlgestalt als
eine anschauliche Qualität“ meinen wir, wenn wir fernerhin von der Zahl
sprechen. Für die Pythagoreer war die „Einheit“ der Urgrund des Seins, die
Zwei die Polarität der Erscheinungen, die Drei die dreifache Wirkung des
Geistes, die Vierzahl die „Wurzel und Quelle der wandelbaren Natur“ [49].
Ähnlich argumentiert Cassirer: „Das Problem der Einheit, die aus sich heraus-
tritt, die zu einem ,Anderen* und Zweiten wird, um schließlich in einer dritten
Natur wieder mit sich zusammenzuschließen — dieses Problem gehört zu dem
eigentlichen geistigen Gemeinbesitz der Menschheit... zeigt doch die allge-
meine Verbreitung der Idee des ,dreieinigen Gottes*, daß für diese Idee
irgendwelche letzte konkrete Gefühlsgrundlagen bestehen müssen, auf die sie
zurückweist und aus denen sie immer wieder aufs neue erwächst“ [50]. Dies
aber sind die archetypischen Grundlagen, vergleichbar „einem potentiellen
Achsensystem eines Kristalles, an das sich die einzelnen Erfahrungsdaten wie
die Molekeln der Mutterlauge ansetzen“ [51]. Jung hat denselben Sachverhalt
im Auge: „Das Eine beansprucht eine Ausnahmestellung, die sich in der mittel-
88
Wolfgang Erpelt
alterlichen Naturphilosophie wiederfindet. Das Eine ist für diese noch gar keine
Zahl, sondern erst die Zwei. Die Zwei ist die erste Zahl und zwar darum, weil
mit ihr eine Absonderung und Vermehrung eingetreten ist, auf Grund welcher
das Zählen überhaupt erst beginnt. Mit der Zwei tritt neben das Eine ein
anderes ... Das Eine und das Andere bilden einen Gegensatz... Jede Gegen-
satzspannung aber drängt zu einem Ablauf, aus welchem das Dritte entsteht.
Im Dritten löst sich die Spannung, indem das verlorene Eine wieder hervor-
tritt. Drei ist das erkennbar gewordene ,Eine', welches ohne Auflösung in die
Gegensätzlichkeit des ,Einen' und des ,Anderen' in einem jeglicher Bestimm-
barkeit baren Zustand verblieben wäre. Die Drei erscheint daher in der Tat
als ein passendes Synonym für einen Entwicklungsprozeß in der Zeit und
bildet somit eine Parallele zur Selbstoffenbarung Gottes als dem absoluten
Einen in der Entfaltung der Drei... Bei Pythagoras spielt die große Rolle
nicht die Dreiheit, sondern die Vierheit... Auch herrschte in der pythago-
reischen Schule die Auffassung, daß die Seele nicht ein Dreieck, sondern ein
Quadrat sei...“ [52]. In der schon angeführten Rede ist „das Quaternitäts-
symbol als ein Ausdruck der psychischen Totalität“ bezeichnet. „Fünf ist die
Zahl des natürlichen Menschen, insofern dieser aus einem Rumpf und fünf
Fortsätzen besteht. Demgegenüber bedeutet die Vier eine reflektierte Ganz-
heit. Letztere beschreibt den ideellen (.geistigen') Menschen und formuliert
ihn als eine Ganzheit im Gegensatz zur Fünfheit, welche den körperlichen
Menschen beschreibt“ [53]. Die Pythagoreer, die eine „Theologie in Gestalt
von mathematischen Figuren“ besaßen, „benützten als Erkennungszeichen
das Stemfünfeck, an dessen Ecken sie die Buchstaben... Hygieia schrieben“
[54]. Es scheint aber auch die Fünf einen besonderen Bezug zum Planeten
Venus — babylonisch Ischtar — gehabt zu haben, so in hellenistischer Zeit die
fünfeckigen Venustempel, und im frühen Mittelalter ist das Pentagramm ein
häufiges Symbol der Maria, „die als Siegerin über den Mondgott auf einer
Mondsichel stehend abgebildet wird“ [55]. Hier erinnern wir uns nun der
Lorenzsdxen Aussage, daß die „zahlenmäßig darstellbaren Beziehungen .,. bei
aller Vereinfachung doch den vollen Affektgehalt (wir wollen sagen Symbol-
gehalt) einer Situation auslösen.“ Es sind die Zahlarchetypen, die mit ihrem
ganzen Bedeutungsgehalt anklingen können auch bei inhaltslosen Rechtecken.
Ich überlasse es dem Leser, an Hand der aufgeführten symbolischen Bezüge
der Zahlen die Anmutungsqualitäten unserer Vpn. noch einmal durchzuge-
hen, ob er mit der hier angeführten Anschauung übereinstimmen kann. Die
Annahme dieser Anschauung wird ihm erleichtert werden, wenn er bedenkt,
daß die Proportionierungen der Bauwerke in frühen Zeiten sich aus kosmolo-
gischen Vorstellungen entwickelt haben, wie auch nach Heinitz, Lachmann
und Sachs Instrumentenbau und musikalische Maßnormen sich nach bestimm-
ten im Kulturkreis prävalierenden Zahlsymbolen richteten.
Daß die Seele jedoch — in anscheinend höheren Schichten — auch zählen
kann, dafür ein Beispiel eines auf einem Ohre erkrankten „sehr musikalischen
Menschen“, das Revesz selbst feststellte: „Hört das normale Ohr zum Beispiel
Proportion und Intervall
89
den Ton 440 als a, das abnormale Ohr denselben Ton als h, dem normaler-
weise der Ton 494 Schwingungen pro Sekunde entspricht, so wird binaural
ein Ton wahrgenommen, der normalerweise einem Ton mit 467 Schwingungen
entspricht“ [56].
Auch Frobenius findet eine „in der Zahl Ausdruck suchende Metaphysik“
und schreibt: „Die Zahlen wurden nicht vom Menschen erdacht. Die Zahlen
sind. Die Zahlen haben ein Eigenleben... Wenn (der ,arischen“) 3 die Bewe-
gung, das Zeitgefühl, das Schicksalhafte, der südländischen 2 und 4 aber Raum
und Richtung... innewohnen — wenn in der Bewegung dieser Zahlen die
nördliche Drei dem Männlichen im Gegensatz oder in Ergänzung der südlichen
2 und 4 als Weiblichem entspricht, so bin ich damit an der Grenze schon er-
schlossener Tiefen des ,Paideuma‘ angelangt.“ Und er stellt eine weitgehende
Konvergenz des Verbreitungsgebietes der „typischen“ Zahlen mit bestimmten
mythischen Vorstellungen fest [57]. So waren es die Romanen im Mailänder
Bauhüttenkongreß, die für das Quadrat, die deutschen Baumeister, die für
das Triangel plädierten. Aus dem Quadrat, das zentripetal anmutet, läßt sich
bei Einzeichnung der Diagonalen und Mittellinien die römische Kapitalschrift
entwickeln. Aus der Verdopplung des Triangels — das zentrifugal wirkt —
zum Sechseck und mittels Einzeichnung der Eckverbindungslinien läßt sich der
Futhork, die germanische Runenschrift ableiten. Die russischen Volksstämme
haben eine Siebenergruppe der Metrenglieder in der Musik, im Schamanismus
spielt die Sieben eine große Rolle, und der russische Religionsphilosoph Ber-
diajew nimmt eine Siebengliederung der Seele vor, wir im Westen haben vor-
wiegend eine Dreigliederung. Hegels Enzyklopädie vollzieht sich im Drei-
schritt. „Kant hat seine ,Kategorientafer, die ihm sehr am Herzen lag, mit
großer Sorgfalt ausgearbeitet“, doch, so meint Egon Friedeil, sei sie nicht
mehr „als eine geistreiche, scholastische Spielerei“ [58]. So scheint die Rasse
ein Prävalieren bestimmter Zahlarchetypen zu bewirken, deren Wirkung bis
in die subtilsten Geistesschöpfungen hinein spürbar ist.
Daß auch der Raum gewisse sonst unansprechbare Archetypen zu beleben
imstande ist, dazu möchte ich eine Selbstbeobachtung aus Ägypten anführen,
wo ich mich bei einer Wanderung durch die Wüste dabei ertappte, eine Melo-
die in den kleinsten mir möglichen Tonschritten zu singen — ganz wie die
arabische Musik Vierteltonschritte besitzt.
Wenn Hornbostel die Maßnorm der harmonischen Verhältnisse in der Musik
als ein kulturgeschichtliches Forschungsmittel bezeichnet, so könnten wohl
auch die Proportionierungen von Bau- und Bildwerken als ein Hilfsmittel gelten
für völkerkundliche und völkerpsychologische Fragen, die aber zusammen
gesehen werden müßten mit den zahlenarchetypischen Vorstellungen. Findet
doch Danzel „in den Menschendarstellungen der westafrikanischen Holzplastik
oftmals das Maßverhältnis 2:3 oder auch 4:5 in der Gliederung der Figuren.“
Schon daß der numerus senarius erst im 15. Jahrhundert in Europa ein-
geführt wurde, läßt vermuten, daß die höheren Zahlenverhältnisse sich erst
später durchsetzten. Auch die Frage des Stilwandels scheint hiermit verbunden.
90
Wolfgang Erpelt
So hatte die Gotik in Musik und Architektur eine größere Affinität zur Quint,
der Barock hingegen zur Quart, wie Silberkuhl anführte. Hier erhebt sich jedoch
die Frage, ob nicht das Bevorzugen der durch diese Zahlenverhältnisse eruier-
ten Anmutungsqualitäten den Ausschlag gab.
Theodor Fischers Hoffnung war es, daß „Mathematiker und Philologen,
Musiktheoretiker und Psychologen... sich der Angelegenheit“ der Propor-
tionen annähmen und „gemeinsam und nicht spezialistisch an die Arbeit“
gingen. Nach Klärung der psychologischen Vorfragen gebe ich das Problem
an den Völkerkundler weiter mit der Bitte, auch einmal Versuche hierüber an
außereuropäischen Völkern zu machen, denn nur so könnten die hier vorge-
tragenen Thesen von einem sensorium commune und den mit ihm gekoppelten
Zahlarchetypen universale Geltung beanspruchen.
Die Harmonie der Welt
Siehet das Auge? Höret das Ohr? Dein innerer Sinn sieht,
er nur höret und weiß, was er von außen vernahm.
Und du zweifelst, Freund, am hohen inneren Weltsinn?
Hörst du die Harfe nicht? Willst du auch sehen den Ton?
Herder
[1] J. STENZEL: Zahl rund Gestalt bei Platon und Aristoteles, Leipzig-Berlin 1924, S. 2 f.
[2] TROPFKE: Geschichte der Elementarmathematik, Bd. II, S. 66.
[3] G. KOWALEWSKI: Große Mathematiker, München 1938, S. 10 f.
[4] E. COLERUS: Von Pythagoras bis Hilbert, Wien 1942, S. 14.
[5] H. KAYSER: Der hörende Mensch, Berlin 1932, S. 266.
[6] H. KAYSER: Akroasis, Stuttgart 1947.
[7] H. RIEMANN: Grundriß der Musikwissenschaft, Leipzig 1928, S. 33 ff.
[8] KAYSER; Akroasis, S. 24.
[9] KAYSER: Der hörende Mensch, S. 269.
[10] KOWALEWSKI a.a. O. S. 19.
[11] KOWALEWSKI a.a.O. S. 17.
[12] THEODOR FISCHER: Zwei Vorträge über Proportionen, München-Berlin 1934, S. 70.
[13] ebd., S. 48.
[14] KAYSER: Akroasis, S. 58.
[15] FISCHER a. a. O. S. 49.
[16] HANS KARLINGER: Zahl und Maß, Wien 1944, S. 50.
[17] FISCHER a.a.O. S. 69.
[18] FISCHER a. a. O. S. 72.
[19] FISCHER a.a.O. S. 86.
[20] cit. FISCHER a. a. O. S. 80.
[21] FISCHER a.a.O. S. 84.
[22] ERNST MÖSSEL: Vom Geheimnis der Form und der Urform des Seins, Berlin-Stutt-
gart 1938, S. 111.
[23] MÖSSEL a. a. O. S. 329, 336, 373.
[24] A. S. EDDINGTON; Sterne und Atome, Berlin 1928.
[25] WEINERT: Die Rassen der Menschheit, Berlin 1941, S. 25.
[26] G. TH. FECHNER: Vorschule der Ästhetik, 2. Auf!., Leipzig 1897, S. 185, 193, 197.
[27] KARL BÜHLER; Die Gestaltwahrnehmung, Stuttgart 1913, S. 183.
[28] FRIEDRICH SANDER: Experimentelle Ergebnisse der Gestaltpsychologie, Kongreß-
bericht Bonn 1927.
[29] SIEGFRIED BEHN; Über kanonische Gestalten, Jahrbuch der Philosophie 1936,
S. 54 f., 61.
[30] GARL SCHNEIDER: Untersuchungen über die UnterscbiedsempEnidlichk&it verschie-
den gegliederter optischer Gestalten; Neue psychologische Studien, Bd. IV, Mün-
chen 1932, S. 90 f., 100 f., 119 f., 133.
[31] KONRAD LORENZ: Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung. Zs. f. Tier-
psychologie, Bd. V, Heft 2, 1942, S. 282 f., 286.
[32] C. G. JUNG: Die Erlösungsvorstellungen in der Aldiimie, Zürich 1937, S. 41.
[33] HERMANN FRIEDMANN: Wissenschaft und Symbol, München 1949, S. 29.
[33a] Die Aussagen zwischen den Gedankenstrichen stammen von je einer Versuchsperson.
[34] HANS SANDIG: Beobachtungen an zwei Klängen, in getrennt-ohriger und beidohriger
Darbietung. Neue psych. Studien, Bd. 14, S. 79 f., 89. — Obwohl Sandigs Arbeit
andere Zwecke verfolgt, ließen sich ihr ohne Schwierigkeiten die Anmutungs-
qualitäten der Intervalle entnehmen.
[35] Die sonst angeführten Aussagen über die Intervallausdrücke wie die musikalischen
Beispiele verdanke ich dem Musik-Wissenschafter Dr. Karl Gress, Ottobeuren,
der sie mir ohne Kenntnis unserer Versuchsprotokolle gab.
[36] Vgl. E. ROTHACKER: Rhythmus in Natur und Geist, Studium generale, 2. Jg.,
Heft III, 1949.
[37] WOLFGANG METZGER: Psychologie, Dresden-Leipzig 1941, S. 287.
[38] METZGER a. a. O. S. 65
[39] KAYSER: Akroasis, S. 54.
[40] AUGUST VETTER: Natur und Person, Stuttgart 1949, S. 278.
[41] ANDREAS SPEISER: Die mathematische Denkweise, Zürich 1932, S. 71.
[42] AUGUSTIN, übertragen von C. J. PERL, Straßburg-Leipzig-Zürich 1937.
[43] oit. nach MÖSSEL a. a. O.
[44] C. G. JUNG: Psychologie und Religion, Zürich-Leipzig 1948, S. 93, 187.
[45] OSWALD SPENGLER: Untergang des Abendlandes, Bd. I, Kap.: Vom Sinn der
Zahlen.
[46] MAX WERTHEIMER: Über das Denken der Naturvölker, Zahlen und Zahlengebilde.
Drei Abhandlungen zur Gestalttheorie, Erlangen 1925, S. 125.
[47] SANDER a. a. O.
[48] ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II, Berlin 1925, S. 178.
[49] F. C. ENDRES: Die Zahl in Mystik und Glauben der Kulturvölker, Zürich-Leipzig
1935, S. 71, 143.
[50] CASSIRER, II., S. 180.
[51] LORENZ a. a. O. S. 284.
[52] C. G. JUNG: Die Symbolik des Geistes, Zürich 1948, S. 335 ff., 399.
[53] C. G. JUNG; Gestaltungen des Unbewußten, Zürich 1950, iS. 217.
[54] KOWALEWSKI a. a. O.
[55] ENDRES a.a.O. S. 82.
[56] RßVESZ: Einführung in die Musikpsychologiie, Bern 1946, S. 151.
[57] LEO FROBENIUS: Vom Kulturredch des Festlandes, Berlin 1923, S. 115 f.
[58] EGON FRIEDELL: Kulturgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, München 1928, S. 356 f.
Jahrbuch des Lmdenmuseums, N.F., Band 1, 1951
William Thalbitzer, Copenhagen
The Voyage of Powell Knutsson
A Lost Expedition to Greenland — and further to Vinland? [1]
A but rarely mentioned Greenland expedition which had no scientific pur-
pose but was undertaken in honor of the Cross was once actual in Norway
and Sweden, namely, in the court circle of Magnus Eriksson (called ”Smek“),
the first king of the Union of Sweden and Norway (1319—1355). It was, more-
over, launched by a royal order—the expression of a regal idea. King Magnus’
’’Letter of Command“ regarding this expedition is dated in the year 1354. His
order is extant in writing, although now only in a late copy, in which the or-
der has been translated from Old Swedish to Old Danish. The copy of the
diploma is in the Royal Danish Library in Copenhagen, and has been repro-
duced in Part III of Grönlands historiske Mindesmaerker (pp. 121—122).
Following is a commented English translation:
King Magni Letter of Command (befalingsbrev) given Powell Knutsson
at Anarm (i.e. Onarheim) ordering him to sail to Greenland.
Magnus, by the Grace of God King of Norway, Sweden and Skone (now
Skäne Province of Sweden) sends to all men who see or hear this letter God’s
Health and Spirit.
We want you to know that you (Powell Knutsson) are to take with you
all such men as are willing to journey in the knarr (ship) [2] — whether they
are called (’’naevnte“) or not called—from among all my henchmen or
other men’s retainers, and other men whom you can persuade to go along;
for Powell Knutsson, who is to be commander of the knarr, has full authority
to appoint both as officers and subordinates (mestennaend oc svaenne) those
men he likes best; we request you to accept this order with right good will
for the cause, that we do this in God’s honor and for the sake of our souls and
for our forefathers, who brought Christendom to Greenland and maintained
it to this day, and it shall not fall away in our time [3]. Know that whoever
disobeys our order shall feel our true wrath and shall be held responsible
for breach of the letter (breffua brott, be fined for transgression).
Done in Bergen the Monday after Simoni and Judae day (28 October) in
the 36th year of our reign (= 1354). Here Ormer Ostinsson, our Keeper of
the Seal (drottsaetter, drost i.e. Lord Chamberlain) affixed the seal.
No. 2432, 4°, in the ’’Gamle Sämling“ of the Royal Library in Kobenhavn.
On closer observation this is a very remarkable document. Powell Knutsson
was one of the king’s high officials. In 1345 he had been delegate in Bergen
for the king’s mother, Duchess Ingeborg, and in 1347—48 he was lovsigemand
(law speaker) at Gulathing (Gula parliament, assizes). He was one of Nor-
way’s leading men—and now in very glorious and inviting terms King Magnus
mm
The Voyage of Powell Knutsson 93
delegates to him the position as commander of a great missionary expedition
to Greenland. It appears that the king desires Powell Knutsson to select choice
men from the retinue (”my henchmen“); he is even to address himself first
and foremost to the specially recommended or ’’called“ men, who cannot
easily ignore the royal wish; but otherwise he is to have free choice in the
selection of his companions. The purpose of the expedition is on the highest
plane, and can best be understood against the background of those crusade-
like expeditions which King Magnus had led into Russia in previous years
(1347—1348 and 1351) in order to force upon the Russians conversion to the
Roman Catholic faith. That was an enterprise which cost millions, but which
unfortunately only lead to Sweden’s defeat. At approximately the same time
the ’’black death“ plague raged across Norway, and further impoverished the
lands. In 1350 the king appealed to Pope Clement VI, who half a year later
sent an encouraging reply. The Pope decreed that a holy crusade was to be
sent out from both Germany and Poland and the Scandinavian countries
against Russia, and he offered Magnus a large loan out of all the tithes forth-
coming in the next four years from Sweden-Norway and adjacent depend-
encies. However, after the revenues poured into the king’s treasury in 1351,
the spread of the ’’black death“ to Russia prevented the last Russian crusade
from being carried through. The king, who had now acquired ample means,
then turns to the west instead of to the east; he decides on the missionary ex-
pedition to Greenland. Presumably, King Magnus had often thought of such an
expedition before.
’’Christendom shall not fall away in Greenland.“ Up there, Christendom
was also threatened, by the heathen Skrselingir (Eskimos) who in the pre-
ceding years had come down from the north to the Western Colony time and
again, perhaps only for the purpose of re-occupying the hunting grounds in
the South Greenland fjords which they had formerly visited and which were
better than those in the central part of the west coast. But thereby the Eskimos
involuntarily came into conflict with the Icelandic farmer inhabitants of the
settlements, and when they came down from the north the Western Colony
was the first to be affected.
In Historia Nonvegiae, which was written in 1250 or thereafter [4], we
find early references to skirmishes with Eskimos in the northern settlements
on the west coast. A century later the Eskimos have moved in on the colonists,
and already appear to have displaced the latter in the most northerly regions.
We are told about this by Ivav Bdrdsson, the Norwegian priest who was him-
self born in Greenland and who for about 27 years, beginning in 1341, func-
tioned as deputy for the bishop at the Gardar Cathedral during the lengthy
episcopal interregnum there. His words are recorded in translation in a short
work, a 14th century description of Greenland, which begins as follows:
Sa siger vise maend, som fodte ehre udi Grenland (Thus say wise men who
were bom in Greenland), etc. This work has been commented upon [5]. In
the present article we will confine ourselves to citing a passage from the lat-
ter part of the work (in English translation): ’’Furthermore, all this that has
94
William Thalbitzer
been said above was told to us by Iffver Bardsen ( = Ivar Bárdsson), Green-
lander (Grönländer—here used more or less as part of the man’s name), who
was head of the Bishop’s Seat in Gardum on Greenland for many years. He
said that he had witnessed all of it, and he was one of those appointed by the
Law Lord (Lagmand) to set forth to the Western Colony against the Skrael-
lings (Eskimos) in order to drive them out of the colony. And when they came
there they found no men, neither Christian nor heathen, but only some wild
cattle and sheep. And they fed on the wild cattle, and took with them as many
pieces of cattle as the ship could hold, and so they sailed back home to the
Eastern Colony. And the above-mentioned Iffver was with them.“
Accordingly, Ivar Bárdsson—arriving in Greenland in 1341—found the
Western Colony deserted; only some freely roaming cattle were to be seen.
That was presumably in the summer of 1342. The fact that Ivar did not meet
a single person—not even women or children—could indicate that the region
(as far as he explored it) had been voluntarily evacuated by the Icelandic
colonial farmers and their families—without violent pressure on the part of
the Eskimos.
Another Icelandic story, which refers to an occurrence in the Western Colony
the same year, would agree with the above, but the only extant copy is of a
much later date, 1637 (rendered from Latin in English, below): From Grön-
lands annaler:
”In 1342 the inhabitants of Greenland abandoned the true faith and the
Christian religion; and after they had discarded all good habits and true vir-
tues they turned toward America’s savage people. There are some who believe
that Greenland lies rather close to the western regions of the world. Thus it
followed that Christians began to keep away from the Greenland waters“ [6].
Here it is regretfully stated (in 1637) that the Icelandic members of the
Western Colony had left the Christian community about 300 years earlier
(1337), and had emigrated to the heathen folk, the Skraellings, on the other
side of the ocean, in Markland or Vinland. The copy is so much later than the
original that the modern name of America has been employed instead of Markland
and Vinland. They must have done this in the hope of encountering fellow-
countrymen or their descendants over there in America. Just as the earlier Ice-
landers had succumbed to the lure of Greenland in the days of Erik the Red,
these men were also tempted by beautiful names like ’’Vinland the Good“ and
“Markland“ (the latter means ’’woodland“). They counted, perhaps, on meet-
ing traders from the settlements, who through the years—possibly still—voyaged
to those coasts which were memorable since the days of Leif and Karls-
efnis [7]. I have pointed out that rare fur products reached Europe in the
Middle Ages, coming from America over Greenland. The Norsemen in Green-
land had their own vessels in which they were able to undertake long journeys
to remote parts of Greenland and to America. They were often in America,
hunting and trading [8].
Not much news sifted out of Greenland. Perhaps the Greenlanders found it
most prudent not to reveal the source of their valuables. But in 1347 a Green-
The Voyage of Powell Knutsson
95
landic ship that had been in Markland happened to be driven to Iceland by
storms, with a crew of 17 on board and a missing anchor. It ran into Strom-
fjord (on the south side of Snaefellsnass) — and surely it must have attracted
attention! Never in man’s memory had a ship come to Iceland direct from
Markland. For what reason had that ship been in Markland? Was there any
connection with uncertain conditions in Greenland? Were there, perhaps, re-
fugees from the Western Colony on board? Undoubtedly, the Greenlanders
brought sensational news. The leading Icelandic politician of the time, Jon
Guttormson, member of a rich and respected family, got in touch with them.
He was in bad grace with the Norwegian king at the time and needed politi-
cal support, which might possibly be obtained in this way. Consequently, in
the following year of 1348 he journeyed to Norway along with these Green-
landic traders, and visited the king’s court. King Magnus had just recently
donated a large sum of money to the cathedral in Greenland, and had in var-
ious ways evidenced his interest in Greenland. The knorr had returned from
the Greenland expedition the previous year with an exceptionally valuable
cargo in her hold [9]. The reports of these travelers from Markland on con-
ditions in the Western Colony surely gave the king food for thought, worried as
he was about the fate of the Christian church in the east and west.
But now a catastrophe struck — the blade death broke out all over the north-
ern countries. In those years it spread out from Asia across Europe, and
threatened to wipe out entire nations. Even in sparsely settled Norway and
Sweden it wrested away nearly a third of the population. Iceland and Green-
land alone seem to have escaped [10].
The arrival of the Markland ship in Norway in 1348, prior to the outbreak
of the plague, undoubtedly had certain results. The old traditions regarding
Greenland and Vinland had always been kept up both in Iceland and in Nor-
way. Now the relationship with Markland (i. e. America) at once became very
much alive again.
Unfortunately, our sources from the years immediately preceding and
immediately following 1347 flow very scantily. Neither annals nor other docu-
ments state what kind of goods or new information the crew of the Markland
ship brought in. It is probable that Greenland, the Eskimos’ attacks, etc., must
have made a deep impression.
The years passed — in the period following 1350 the King of Norway and
Sweden was so hard pressed by his obligations to the Pope (among other things
the mortgage on Skane) that is was logical — after the unsuccessful and costly
Russian crusades — for him to turn westward with an expedition to „the
rich Greenland“. His knorr usually returned home with valuable cargoes, and
tithes came in from the colonies there in the form of costly furs and ivory
(walrus teeth). To be sure, Christendom was not to „fall away“ in Greenland
there riches, power and honor were to be acquired!
King Magnus had arrived at the great crisis of his life. In 1350 (the annals
relate) King Magnus and Queen Blanche came to Bergen, and the king then
96
William Thalbitzer
gave Sweden to his son Erik, and Norway to Haakon, and with high ceremony
placed them on the throne, and decreed that they should have a retinue; but
for himself he retained Haalogoland, Iceland, the Faroe Islands and Hjaltland
(for his own disposal). There is no mention of Greenland, but it was usually
combined with Iceland. A great decision had been made, and the plan was
to be put into practice within five years. It meant the dissolution of the union.
But a plan for a crusade to Greenland provided a solution, a remedy. Out
there lay a road to salvation! Inside of five months the plan matures — and, as
we have seen, the orders were issued.
This expedition to Greenland was, of course, carried out in accordance with
the royal orders; there are no grounds for doubting that. It is impossible to
determine how many men, ’’called or not called“, responded to Powell Knuts -
son’s appeal for support; but, considering the times, it is probable that a con-
siderable group of young men in the king’s service—both from Norway and
from Sweden—were willing to set forth on the adventure. The upplandske
insend (men from Uppland, Sweden) were responsible for placing Magnus on
the throne of Norway (see Erikskroniken), and the king was on the best of
terms with the Göter [11] (i. e. inhabitants of East and West Götaland, Swe-
den). But the Norwegians had the best understanding of Greenland as the gate-
way to a greater world; consequently, major support would come from Nor-
way. The knorr was too small a vessel to accommodate all the members of the
expedition (exceeding 30? 50?); presumably one or more ships were made
available.
The outcome of the expedition is a matter of conjecture. In the Greenland
settlements the men of the Powell Knutsson expedition must have obtained
verification of the reports received in Norway from the Markland ship of 1347,
and they must also have acquired new information. There is nothing that can
lead us to believe that these men settled down in the Greenland colonies.
They learned over there what had happened to the families that had left the
Western Colony (Vestri bygd), and Powell Knutsson adhered to the spirit of
the king’s Letter of Command and with the help of his followers set out in
search of the emigrants along the old southwestern route. Guided, perhaps,
by a Norse man who knew the way, they may first have visited Markland and
Vinland. From there they may have gone forth to meet their fate in the great
unknown land in the west, never to return.
(Translated from the Danish by Karin Fennow)
[II This is an amended rendering in English translation of a Danish article printed in
„Det Gronlandske Selskabs Arsskrift", Kobenhavn, 1948.
[2] Old Icelandic „knorr“, a kind of ship, the royal trading vessel.
[3] Stressed here by the aiuthox.
[4] See GUSTAV STORM: Monumenta historica Norwegica, Christiania, 1888.
[5] Grönlands historiske Mindesmaerker, III, pp. 886—889, cf. 259; Kobenhavn, 1845.
FINNUR JONSSON: „Det gamle Grönlands Beskrivelse“ af Ivar Bardarson (Ivai
Bardsson), Kobenhavn, 1930.
[6] Grönlands historiske Mindesmaerker, III. p. 459, etc.
The Voyage of Powell Knutsson
97
[7] The Norwegian historian, P. A. Munch, supposed that these people from Greenland
could have been in personal contact with their emigrant fellow-countrymen in
Markland. „Det norske Folks Historie, Unionsperioden“, L p. 314, Christiania, 1862.
[8] W. THALBITZER: Nordboerne ved Upemavik, Det Gronlandske Selskabs, Ärsskrift,
1945, pp. 37—38, cf. Meddelelser om Grönland, Vol. 39, 1914, p. 693.
[9] Knorr (plural knerrir), in Dan. knarr, was the Old Icelandic name for a type of large
ship, different from and smaller than the langskip (long ship, used in warfare)
or skeid. According to the old Icelandic annals the knorr had returned with
„exceedingly much goods“.
[10] See report in the Icelandic Annals (year 1349), Grönlands historiske Mindesmærker,
III. 1845, pp. 15—19.
Ill] A. TARANGER: Norges Historie (1319—1442), III. Oslo, 1915, p. 10.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
? Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
Georg Ediert, Braunschweig
Das Regenmädchen
Eine mazedonisch - kaukasische Parallele
Im Brauchtum der mazedonischen Bauern, die ihr Werk Jahr für Jahr von
Dürre und Sonnenbrand bedroht sehen, spielen die Regenzeremonien eine
ganz besondere Rolle. Neben den kirchlichen Bittgottesdiensten sollen die
althergebrachten Umzüge der „Regenmädchen“ das ersehnte, rettende Naß
bringen.
Wenn der Ernte Gefahr droht, wird ein Mädchen, in frisches Grün gehüllt,
durch das Dorf geführt und unter Absingen schlichter Bittgebete mit Wasser
besprengt, ein klassisches Beispiel für den über die ganze Erde verbreiteten
Analogie- oder Formungszauber, die Vorstellung, „Gleiches schafft Glei-
ches“ [1]. Die griechische Form der Sitte vereint eine ganze Anzahl derarti-
ger zauberischer Akte, die den gewünschten Naturvorgang durch magische
Vorwegnahme herbeizwingen sollen. So wie der ersehnte Regen die dürsten-
den Felder benetzt, wird das Mädchen auf seinem Wege mit dem erquicken-
den Naß besprengt, im festen Glauben, daß nun auch der Himmel nachfolgen
muß. Noch realistischer erscheint dieser Zusammenhang, wenn die Bauern eini-
ger Dörfer auf das Hausdach steigen, um die Feuchte, gleich Regenwolken,
aus der Höhe herabzustäuben. Auf Grund derselben Ideenverbindung Was-
ser—Regen wird das Mädchen in einem Bach stehend verhüllt oder nach
dem Umzuge zu einem abschließenden Bad veranlaßt. Um einen andauern-
den, leichten Landregen zu erzielen, wird das Wasser schließlich durch ein
Sieb geschüttet, eine Vorsichtsmaßregel, die in einem Land mit verheerenden
Gewitterregen wohl am Platze ist. Die gleiche Sorge findet in der häufigen
Bitte um einen „feinen“, „langsamen“ oder „schwachen“ Regen beredten
Ausdruck.
Ebenso anschaulich wie die magische Regenpantomime ist die Symbolisie-
rung der grünenden, sprießenden Vegetation durch das Blätter- und Blüten-
kleid des Regenmädchens, das mit Vorliebe aus taureichen, saftigen Pflanzen
angefertigt wird. Die ewig-menschliche Verbindung der weiblichen Sphäre
mit der Fruchtbarkeit der Natur, dem Leben, Blühen und Vergehen der Pflan-
zenwelt, äußert sich in der Bevorzugung von Mädchen, die, von wenigen Aus-
nahmen abgesehen, Hauptvollzieherinnen der Zeremonien sind, ein Zusam-
menhang, der durch die teilweise und in früheren Zeiten wohl auch völlige
Entblößung der Kinder noch unterstrichen wird. Überwiegen somit die magi-
schen Züge, so fehlt es andererseits auch nicht an Motiven, die eine religiöse
Unterwerfung unter den Willen Gottes verraten. Das zeigt sich im Text des
Liedes, der, von formelhaften, an Zaubersprüche gemahnenden Stellen, wie
„Jede Ähre ein Kilo“, „Jeder Weinstock ein Krug voll“, „Einen Hügel, Hügel
Das Regetimädchen
99
Gerste“, „Seen, Seen voll Wasser“ abgesehen, den Charakter eines Bittgebetes
an die freischaltende, übermächtige Gottheit bewahrt. Um ihr Mitleid zu
gewinnen, läßt man die Zeremonie mit Vorliebe von unschuldigen, armen
Waisenkindern vollführen und gemahnt Gott im Lied eindringlich an die Not
der Armen und Bedrängten, die ihre Hoffnung auf den erwarteten Regen
gesetzt haben: „Die Waisenkinder wollen Brot“, „Damit der Weizen gedeiht
und die Zwiebeln der Greisin“, „Daß es den Greisinnen auf die Saubohnen
regnet und den Greisen auf die Hülsenfrüchte“. Mit der christlichen oder isla-
mischen Religion allerdings hat diese Zeremonie nur wenig zu tun. Der kirch-
liche Einfluß beschränkt sich daher auf wenige Äußerlichkeiten: ein „Amen“
am Ende des Liedes, die Mitwirkung des Mullah beim Umzug o. dgl. m.
Die geringe Umformung der Sitte durch die christliche Kirche, die sie ver-
geblich durch Bittgottesdienste und Flurumzüge zu verdrängen suchte, äußert
sich auch in der noch ganz „heidnischen“ Gestalt des Regenmädchens, das in
der Literatur als Personifizierung der Erde, Vegetationsdämon usw. gedeutet
worden ist. Es mag sein, daß wir es hier mit der Nachfolgerin einer alten,
weiblichen Regengottheit zu tun haben, die noch heute im Vorderen Orient
unter dem Namen „Regenmutter“, „Regenbraut“ usw. fortlebt.
Zu den archaischen Zügen des Zaubers gehört neben dieser Verwurzelung
in urtümlichen magisch-mythischen Vorstellungen auch die starke Beteiligung
der älteren Frauen, die die Zeremonie fast ausschließlich organisieren und
durchführen, während die Männer, die ja am Regen in zumindest gleicher
Weise interessiert sind, untätig zuschauen — vielleicht ein Nachklingen pflan-
zerisch-frühbäuerlicher Verhältnisse, in denen den Frauen, als Hauptträgerin-
nen des Pflanzenbaues, die Sorge um Garten und Flur oblag.
Steht somit das hohe Alter der Sitte und der gesamten ihr zu Grunde lie-
genden Vorstellungswelt außer Zweifel, so ist es doch höchst schwierig, sie
mit einer bestimmten historisch faßbaren Kulturschicht in Zusammenhang zu
bringen. Die meisten Volkskundler glaubten sie bisher als slawisches Kultur-
gut ansprechen zu dürfen, wobei die große Bedeutung der „Dodola“ im süd-
slawischen Brauchtum und das Fehlen dieser Sitte in Südgriechenland als
gewichtigste Beweise ins Feld geführt wurden. Zu dieser Ansicht bekennen
sich etwa Wace und Thompson, die in ihrer Aromunenmonographie „The
Nomads of the Balkans“ wörtlich schreiben: „The origin of the custom has
been claimed by all these races (Rumänen, Serben, Bulgaren und Griechen.
Verf.). The Roumanians and Vlachs point out that Paparuna and Pirpiruna are
words that occur in their language, and mean ,poppy' and ,butterfly', but
they fail to explain what poppies and butterflies have to do with rain-charms.
Those who claim a Hellenic origin overlook the point that it only occurs in
North Greece, where there is so much mixed blood, and not in Crete and the
south, and they provide a Greek derivation for Perperia and Porpatira and
say it means merely procession, but it is hard to see why any procession should
be a rain-charm. In Bulgarian too the word Peperuda means butterfly, and it
seems that the custom, if its name is any criterion, is really Slavonic. One of
the few old Slavonic pagan gods, whose names are known, was Perun the
100
Georg Edcert
Thunder-God, whose name at once suggests Pirpiruna, and it is perfectly
natural that he should have to do witli rain especially in the summer-time.“
Mit Thompson und Wace neigen auch andere Forscher, wie Abbott und Fischer,
zur Annahme eines slawischen Ursprungs, wogegen sich Bernhard Schmidt
eines eigenen, abschließenden Urteils enthält.
So bestechend diese Deutung auch auf den ersten Blick erscheinen mag, so
wird sie doch durch gewichtige Gegengründe, insbesondere durch die weit
über den Balkan hinausreichende Verbreitung der Sitte, entkräftet. Ein dem
Regenmädchen eng verwandter Brauch, die „Regenpuppe“ [2], bei dem das
Mädchen durch eine aus Holz und Stoff gefertigte Figur ersetzt wird, begeg-
net uns nämlich in weiten Gebieten des Vorderen Orients und Nordafrikas
(u. a. in den Berbergebieten), nicht zuletzt aber bei den in dieser Hinsicht noch
völlig unerforschten Griechen Kleinasiens, in Ländern also, die ohne Frage nie-
mals von Slawen beeinflußt worden sind. Aus dem gleichen Grunde erscheint
aber auch ein rein griechischer Ursprung der Zeremonie, wie ihn noch Politis
angenommen hat, unwahrscheinlich.
Inzwischen wurde ich auf eine kaukasische Parallele aufmerksam, die m. W.
in der ethnologischen Literatur unbeachtet geblieben ist, obwohl sie mit der
mazedonischen Regenzeremonie bis in die Einzelheiten übereinstimmt und
daher einen geschichtlichen Zusammenhang zumindest nahelegt. Der poetisch
beschwingte, aber offenbar zuverlässige Bericht Halil Bey Mussayassuls [3]
bezieht sich auf das daghestanische Dorf, in dem der Autor seine eigene Jugend
verbracht hat:
„Sollte noch Hilfe kommen und frohe Ernte im Herbst, so war es höchste
Zeit, die oberen Gewalten anzurufen, höchste Zeit zum Sad-Harise, zum Regen-
bittgang. Dieser nahm in der dunklen Moschee, wohin die letzte Kühle sich
geflüchtet hatte, seinen Anfang mit einem allgemeinen Gebete, und von dort
aus zog eine Prozession in den glänzenden, brennenden Morgen hinaus unter
den Himmel, der vor lauter Licht so hell und flimmernd war, daß er dem ge-
blendeten Auge weißlich erschien, obwohl er keine einzige Wolke trug. Der
fromme Zug wallte um das ganze Aul, ging mit eintönigem Gesänge an den
Gräbern vorüber, an den alten Gedenksteinen, deren Bedeutung zuweilen
schon vergessen war, und den heiligen, von Geistern heimgesuchten Stätten,
an die sich unsere Sagen knüpften; mit sich aber führten die Waller bei ihrem
Umgang einen jungen Knaben oder ein kleines Mädchen, und dieses Kind war
mit einem Kleide von Laub und Gras angetan, weil es ein Sinnbild der bedürf-
tigen Pflanzennatur sein sollte. Nachdem die Grenzen des Dorfes umschritten
waren, kam die Prozession zu den einzelnen Gehöften, sang dort laut das
Gebet ab, worauf der Älteste des Hauses einen Kumgan, einen kupfernen
Krug, herbeiholte und aus ihm eine Spende Wassers über die grüne Gestalt
ausgoß, derart die himmlischen Mächte aufmunternd, nun ihrerseits im großen
und vollen das gleiche zu tun. So hatten schon heidnische Zeiten den Segen
der feuchten Wolken auf das Land beschworen, und auf dieselbe Weise geschah
es auch heutzutage, nur daß die Mullahs und die Gläubigen noch ihre Gebete
Das Regenmädchen 101
hinzutaten, was die Wirksamkeit des alten Brauches gewißlich unfehlbar
machte.
Als jetzt die Waller an unser Haus gelangten, sah ich, daß das grünverklei-
dete Rätselwesen in ihrer Mitte niemand andres war als Bilan, eine kleine
Hirtin, die ich wohl kannte, aber heute, wo sie den Mittelpunkt einer solch
bedeutsamen Zeremonie abgab, zum erstenmal richtig betrachtete. Ihre Ge-
stalt war mit Blättern und Ranken so gänzlich bedeckt, daß sie fast verschwand,
kaum schauten unten die bloßen Füße hervor und an den Seiten die schmäch-
tigen Arme. Um den Kopf war ein Kranz von Blättern gewunden, der ihr tief
ins Gesicht hing, durch das Laub blickten ihre weitgeöffneten Augen schwarz
wie die Beeren von Trauben, groß und ernst hindurch; sie war still und gehor-
sam, während dem Absingen des Gebetes verzog sie keine Miene und sah,
ohne sich zu regen, feierlich geradeaus. Sie war schon ganz naß, als sie zu uns
kam, die Tropfen auf ihren Blättern blitzten in der Sonne, alles war grau und
gelb ringsum, nur sie das einzige Grüne — das Laub mußte vom Flußufer
stammen. Selbst als ich sie auf das Geheiß der Tante Muri mit dem Wasser des
Kumgans bespritzte, hielt sie sich mäuschenstill und lachte nicht, obwohl nun
von den Zweigen zahllose Bächlein über ihre Haut rieselten, aus den Blättern
hervor traf mich ihr unbewegter Blick fremd und furchtlos, wie der von Geister-
wesen, die in Bäumen wohnen; dann führte der Zug sie hinweg zum nächsten
Gehöfte.“ — Am selben Tag fiel der erhoffte Gewitterregen, „Da stellten die
Leute Gefäße und Bottiche auf, um möglichst viel von dem kostbaren Naß
einzufangen, und freuten sich dankbar des Segens, den Allah im Verein mit
den alten Göttern gegeben hatte.“
Ähnliche Bräuche, die allerdings mit andersartigen religiösen Vorstellun-
gen innig verquickt sind, sind auch in weiten Gebieten Indiens bekannt, wie
vor allem aus dem eingehenden Bericht von Enthoven „The Folklore of Bom-
bay“ [4] hervorgeht. Damit erscheint es so gut wie sicher, daß die Sitte der
Regenpuppe und des Regenmädchens, die heute nur noch in einigen Rest-
gebieten, wie dem Balkan, dem Kaukasus, Nordafrika und Indien, lebendig
ist, einem alten mediterranen, vorderasiatischen Kultursubstrat entstammt,
das noch näher zu bestimmen wäre.
[1] Die Klassifizierung der Regenzeremonien als „Zauberhandlung“ braucht dabei einen in
diesem Falle naheliegenden religiös-mythischen Ursprung im Sinne von Ad. E. JEN-
SEN nicht auszuschließen. (Siehe Ad. E. JENSEN, „Gibt es Zauberhandlungen?“
Z.f.E. 1950, S. 3 ff.)
[2] Siehe Georg ECKERT u. P. E. FORMOZIS: „Regenzauber in Mazedonien“. Volkskund-
liche Beobachtungen und Materialien aus Zentralmazedonien und der Chalkidike.
Heft 3. Thessaloniki 1943.
Ferner: Georg ECKERT u. P. E. FORMOZIS: „Lieder und Märchen aus Kozani und
Siatista“. Volkskundliche Miszellen aus Mazedonien. Heft 5. Thessaloniki 1944.
Georg ECKERT u. P. E. FORMOZIS; „Geister- und Dämonenglaube im Pontus“.
Volkskundliche Miszellen aus Mazedonien. Heft 3. Thessaloniki 1943.
[3] Halil Bey MUSSAYASSUL: „Das Land der letzten Ritter“, Eine Erzählung aus den
kaukasischen Bergen. Aufgezeichnet von Luise Laporte. München 1936. S. 144 ff.
14] Oxford 1924.
Jahibudi des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
I
Ferdinand Herrmann, Heidelberg
Zu einem verbreiteten Verwandlungsrequisit
europäischer Kultbünde
Von den Vermummungsmitteln ist der Teil, der das Gesicht oder den gan-
zen Kopf verdeckt, wohl am meisten und am eingehendsten behandelt wor-
den. Wenn wir von der Maske sprechen, denken wir auch zunächst und haupt-
sächlich an ihn. Die übrigen Verwandlungsmittel treten ihm gegenüber zurück,
d. h. man schenkte ihnen weniger Beachtung. Das ist durchaus verständlich,
wenngleich man dabei doch stets im Auge behalten sollte, daß die Kopf- (oder
Gesichts-) Maske im allgemeinen eben auch nur einen Teil der Gesamtmaske
darstellt und ihre Wirkung nicht unwesentlich von den übrigen Verwandlungs-
requisiten bestimmt und unterstützt wird, sie also im Grunde genommen ein
Torso ist.
Es gibt daneben aber auch eine partielle Verkleidung, bei der man sich
mit dem Anbringen bestimmter Teile begnügt; sie ist namentlich bei der
Theriomorphisierung verbreitet.
Im folgenden sei ein Requisit, das sowohl bei der partiellen Verkleidung
wie auch bei der Vermummung des ganzen Körpers häufig gebraucht wird,
etwas näher untersucht: es ist ein Requisit, das gerade zu der dem Gesicht ent-
gegengesetzten Körperpartie gehört, aber bei der Vermummung schließlich
mitunter auch hier erscheint. Man wird es schon erraten haben: es ist der
Tierschweif, das Schmuckstück so vieler Tiere.
2.
Die religionswissenschaftliche Beschäftigung mit den europäischen Völkern
wurde, wie man weiß, von der Ethnologie des öfteren recht entscheidend an-
geregt und befruchtet. Eine besonders nachhaltige Wirkung hatte hier das
bekannte Werk „Altersklassen und Männerbünde“ von Heinrich Schurtz
(1902). Sie wurde vor allem sichtbar in der Wiener Habilitationsschrift von
Lily Weiser „Altgermanische Jünglings weihen und Männerbünde“ (1927)
und in dem Buche „Kultische Geheimbünde der Germanen“ von Otto Höfler
(I, 1934). Was Schurtz, der seinem Werke den bezeichnenden Untertitel mit-
gab „Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft“, in der Breite frei-
zulegen vermochte, wurde hier bei einem europäischen Volke — den Ger-
manen — in seiner ganzen Tiefe verfolgt.
Für das Verstehen der kultischen Geheimbünde wurde die Entwicklung der
Begriffe „Ergriffenheit“ und „Ekstase“ in besonderem Maße entscheidend.
Hier kam man von den verschiedensten Seiten zu bedeutsamen Ergebnissen.
Vieles ist hier Leo Frobenius, Ludwig Klages und Walter F. Otto zu danken.
Verwandlungsrequisit europäischer Kultbünde
103
Audi Höfler hat bei dem Bilde, das er von den Geheimbünden der Germanen
entwirft, diesen Dingen sein besonderes Augenmerk geschenkt.
Aus dem Beziehungskomplex Maskenwesen und Geheimbünde, der auch
für die europäischen Verhältnisse als grundlegend angesehen werden darf, ist
der engere Bereich, in welchem wir uns bei dieser Untersuchung bewegen,
die Theriomorphisierung, und das Ziel der Arbeit ist, in großen Umrissen und
ohne Anspruch auf irgendwelche Vollständigkeit einen gewissen Zug dieser
Theriomorphisierung bei den europäischen Völkern zu zeichnen. Es bedarf
wohl kaum des Hinweises, daß die Kernfragen, die sich hierbei ergeben, nur
im Rahmen der größeren Zusammenhänge zu lösen sind. Andeutungen und
Ansätze hierzu mögen sich allerdings an verschiedenen Stellen unseres Ver-
suches ergeben. Ich habe mich zur Kennzeichnung der einzelnen Erscheinungen
im allgemeinen jeweils nur auf einige Beispiele beschränkt, auch dort, wo mir
reicheres Material zur Verfügung stand, wie etwa bei dem Brauchtum des
Südostens, wo ich durch meinen dreijährigen Aufenthalt vieles aus eigener
Anschauung kennenlernte. Es kam mir hauptsächlich darauf an, die weite Ver-
breitung darzutun, der sich der zum Gegenstand dieses Beitrages gewählte Zug
innerhalb Europas erfreut, um damit Beziehungen und Gemeinsamkeiten
sichtbar zu machen, die für eine umfassendere Darstellung der Dinge von
Nutzen sein dürften.
3.
In den Winter- und Frühlingsbräuchen der europäischen Völker, in welchen
sich am stärksten die urtümlichen Kulte der Geheimbünde unseres Kontinentes
erhalten haben, sind Tierverkleidungen äußerst häufig. Sie dürfen auch für die
Frühzeit angenommen werden. Den wertvollsten Beleg bietet uns hierfür eines
der Wandbilder der Drei-Brüder-Höhle in Südfrankreich (Abb. 24). Es ist
eine recht merkwürdige Verkleidung, die hier ein Mensch angelegt hat, und
es läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, aus welchen Bestandteilen sie zusam-
mengesetzt ist. Sicher dürfte sein, daß ein Hirsch mit ihr dargestellt werden
sollte, und mit einiger Sicherheit läßt sich auch sagen, daß der Tierschweif, der
hinten angebracht ist, nicht von einem Hirsch, sondern augenscheinlich von
einem Pferde genommen wurde. Daß wir es auch wirklich mit einer Maske zu
tun haben, beweisen die menschlichen Hinterbeine. Der Sinnzusammenhang
der Figur ist nicht schwer zu erraten. Aus den Tierbildem ihrer Umgebung (so
z. B. aus dem angeschossenen Bären, aus dessen Maul Blut fließt und dessen
Körper mit Pfeilen und Wunden übersät ist) ist zu entnehmen, daß sie zu Jagd-
handlungen gehören oder diese wiedergeben.
Neben diesem Beleg einer Tiermaske aus der älteren Steinzeit erscheint mir
besonders die Bronzeplatte von Torslunda (Öland, Schweden) beachtenswert,
die wohl aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. stammt. Sie zeigt einen Krieger und
in seinem Gefolge eine Gestalt, die bei genauerem Betrachten ebenfalls einen
als Tier verkleideten Menschen erkennen läßt. In diesem Fall ist die Vermum-
mung einheitlicher. Ihr Träger hat sich einfach einen Wolfskopf übergestülpt
104
Ferdinand Herrmann
und einen Fellkittel übergeworfen, an dem er hinten einen Tierschwanz be-
festigte. Abgesehen von der aufrechten Haltung, den menschlichen Armen und
Händen (in denen er Waffen trägt), sind es wiederum vor allem die Beine, die
uns die Sicherheit geben, daß wir es mit einem Menschen zu tun haben.
Außer diesen beiden Darstellungen von Menschen mit theriomorphen
Masken lassen sich natürlich noch zahlreiche andere nachweisen. Auf sie im
einzelnen einzugehen, muß ich mir hier versagen. Am bekanntesten von ihnen
sind wohl die Männer mit Wolfsköpfen, wie sie das längere Goldhom von
Gallehus zeigt.
Von ihnen haben nicht alle einen Tierschwanz; bei den Wolfsmenschen des
Goldhornes fehlt er z. B. ganz. Daß man sich seiner bei diesen Vermummun-
gen aber in frühester Zeit schon gerne bediente, zeigt besonders augenfällig
unsere Wandzeichnung in der uralten Höhle Des Trois Frères. Hier bildet er
einen Teil einer aus verschiedenen Teilen zusammengesetzten Totalmaske.
Auch bei der Darstellung auf der Bronzeplatte von Torslunda handelt es sich
um eine Totalmaske.
Dürfen wir für die Frühzeit auch partielle Theriomorphisierung annehmen,
bei welcher der Tierschwanz eine Hauptrolle spielt? Sehen wir uns daraufhin
einmal die skandinavischen Felszeichnungen an! Hier begegnen uns immer
wieder geschwänzte Gestalten, Allein man hat die Dinge, die wir hier für
Tierschweife halten, zunächst hauptsächlich als Schwertscheiden gedeutet. Von
dieser Auffassung aber kommen vor allem die schwedischen Forscher mehr
und mehr ab. Die Anschauung, die zuerst A. W. Persson aussprach [1], daß
nämlich diese vermeintlichen Schwertscheiden nichts anderes als Tierschwänze
sind, gewinnt hier [2] wie auch in der deutschen Forschung [3] immer mehr
an Boden. Daß es bei den Felsbildem tatsächlich hierum geht, ist bei vielen
Darstellungen m. E. schon allein daraus zu erkennen, daß diese „Schwert-
scheiden“ unverhältnismäßig kurz sind. Wer aber noch zweifelt, der mag sich
einmal die Riesenfigur von Baka, Brastad, ansehen (Abb. 25b). Man hat bei ihr
offenbar von der üblichen Schematisierung Abstand genommen und sich be-
müht, die Umrisse genauer zu zeichnen. Was aber wird dabei aus der
„Schwertscheide“? Ist das nicht ein bewegter Tierschwanz, vielleicht ein Roß-
schweif?
Persson stützt sich bei seiner Theorie vor allen Dingen darauf, daß alle
gehörnten Figuren solche Schwänze haben, was begreiflicherweise ein recht
entscheidendes Faktum ist. Bei diesen haben wir es offenbar mit einer mehr
oder weniger vollständigen Totalmaske zu tun, d. h. außer einem Tierschweif
weist zumindest noch die Kopfmaske auf das Theriomorphe hin. Am bekann-
testen von dieser Art Masken sind die drei Lurenbläser, von denen einen Ver-
treter unsere Abb. 25 a wiedergibt.
Bei dem Riesen mit dem Tierschweif (Abb. 25 b) fehlt eine solche Kopfmaske,
und auch zahlreiche andere Figuren der nordischen Felszeichnungen sind als
theriomorphe Masken nur mittels des angehängten Tierschweifes zu erkennen.
Andere Requisiten der Tiervermummung sind bei ihnen nicht zu finden.
Verwandlungsrequisit europäischer Kultbünde
105
Almgren, der sich um die religionswissenschaftliche Deutung der schwedi-
schen Felszeichnungen besondere Verdienste erworben hat, sieht in ihnen vor
allem die Wiedergabe von magischen Fruchtbarkeitsriten. Es mag sein, daß
in der Zeit ihrer Entstehung der „Ausdruck“ (im Sinne von Frobenius) schon
wesentlich in das Stadium der „Anwendung“ übergegangen ist.
Die Träger von Tiermasken treffen wir bei den verschiedensten Kulthand-
lungen. Ich möchte besonders auf die Darstellungen hinweisen, bei denen ein
als Tier verkleideter Mann pflügt (Abb. 26), auch auf die Szene, in der ein
Tiermensch den Geschlechtsakt ausübt (Abb. 27).
4.
Man hat zur Aufhellung der skandinavischen Felsritzungen gerne Berichte
und bildliche Darstellungen herangezogen, die in die Kulte der alten Hoch-
kulturvölker des Mittelmeerraumes einen Einblick geben. Diese bieten auch
für unsere Untersuchung neue Aspekte. Ich möchte hier namentlich auf die
Überlieferungen des griechischen Altertums den Blick lenken, wo uns vor allem
vom Dionysoskult her Tierverkleidung bekannt ist. Im Zusammenhang mit der
Frage nach dem Ursprung der Tragödie hat sich die religionswissenschaftliche
Forschung der letzten Jahrzehnte auch immer wieder mit der Entwicklung des
Dionysoskultes befaßt. Die Ergebnisse der hier angestellten Untersuchungen
zeigen wiederholt den allmählichen Übergang ursprünglicher Kultbegehungen
in mehr oder minder zweckbestimmte magische Handlungen und lassen die
Herkunft von Erscheinungen, denen man zunächst einen ausgesprochenen
Fruchtbarkeitscharakter zuschreiben möchte, aus dem Totenkulte sichtbar wer-
den. Es ergibt sich dabei der folgende Hergang: Am Anfang steht die Tötung
des Gottes. Dieser Vorgang setzt sein leibhaftiges Auftreten voraus. Dionysos
erschien, wie wir wissen, in einem schwarzen Ziegenfell. Sein Tod aber wurde
der Anlaß zur Totenklage, die dann für Form und Stoff der Tragödie entschei-
dend wurde. Es war eine orgiastisdhe Feier, in welcher der bocksgestaltige
Gott getötet wurde; „seine Verehrer, die sich das Fell des getöteten Tieres
umgeworfen hatten, stimmten eine Klage über den getöteten Gott an; das war
die xQaycpöia, da die Singenden in Bocksfell gekleidet, selbst rgdyoi waren.
Die Totenklage im Dionysoskult und diejenigen der Heroenkulte hatten sich
zu der uns unter dem Namen Tragödie bekannten Schöpfung verschmol-
zen, die das mimetische Element aus dem Dionysoskult, die Form und den
größten Teil des Stoffes aus dem Heroenkult übernommen hatte“ [4].
Im Satyrspiel, das man ebensogut auch Silenspiel nennen könnte und das
bekanntlich später entstanden ist als die Tragödie (die ersten Satyrspiele hat
nach den Angaben von Suidas der um 500 v. Chr. lebende Pratinas von Phleius
geschrieben), begegnen wir dann den pferdeschwänzigen Choreuten; sie waren
als Trabanten des Dionysos als „Silenoi“ oder „Satyroi“ schon vorher allge-
mein bekannt, und ihre Aufnahme in die Satyrspiele hat wohl wesentlich zur
Popularität dieser Spiele beigetragen.
106
Ferdinand Herrmann
In den Vasenmalereien der Zeit fließen die Überlieferungen des Dionysos-
kultus mit den Eindrücken, die die Satyrspiele bei den Künstlern hinterließen,
immer wieder ineinander, wie wir auch bei der Volkstümlichkeit der Spiele
annehmen dürfen, daß sie nicht nur vieles aus den Volksüberlieferungen ent-
nahmen, sondern auch diese wieder gelegentlich beeinflußten. Auf den Vasen-
bildem finden wir dementsprechend sowohl die Silene, wie sie in den Volks-
vorstellungen lebendig waren, wie auch jene, die nun in den Satyrspielen „dar-
gestellt“ wurden. Mit anderen Worten: viele von ihnen erscheinen auf den
Darstellungen einfach mit einem Pferdeschweif, der ihnen, genau wie bei den
Tieren selbst, hinten angewachsen ist, während bei anderen deutlich die Ver-
kleidungsmittel sichtbar sind. Wie sahen diese nun aus? Außer der bekannten
Kopfmaske waren offenbar nur schmale Fell- oder Stoffschürzen üblich, welche
die Spieler um die Lenden trugen. An ihnen war vom ihr Glied befestigt,
während der Pferdeschweif hinten am oberen Rande angebracht war. Es sei
hier besonders auf das reiche Bildmaterial hingewiesen, das neuerdings Frank
Frommer vorgelegt hat [5] und das auch die Vorlage für unsere Abb. 28 abgab.
Ich muß es mir hier versagen, auf die verschiedenen Ähnlichkeiten näher ein-
zugehen, die sich zwischen den antiken Überlieferungen und den Darstellungen
der nordeuropäischen Völker ergeben. Die ithyphallischen Gestalten mit Tier-
schwänzen, die ihre Sprünge machen, sich lustig gebärden und hier wie dort
die Bilder beherrschen, mögen am augenfälligsten das Gemeinsame demon-
strieren.
Gibt es von hier aus noch Beziehungen zum Totenkulte? Sie sind gewiß
nicht auszuschließen. Die fröhlichen Leichenspiele der Griechen und Etrusker
sind allgemein bekannt, und zahlreiche Belege lassen sich erbringen, in welchen
auch bei anderen Völkern von Gelagen und Schmausereien auf den Gräbern
berichtet wird. Die Russen veranstalteten noch in unseren Tagen im Frühjahr
ausgelassene Gelage auf dem Friedhof, ähnlich denen der alten Römer. Am
bezeichnendsten ist wohl die Beichtfrage Burchards von Worms (9, Jahrhun-
dert), die sich auf die Sitte bezieht, bei der auf gebahrten Leiche carmina
cantare, ioca et saltationes facere.
Es sei hier nur noch ein besonders verbreiteter Vorstellungskomplex heraus-
gehoben: es ist das kultische Pflügen, das wir immer wieder in den europä-
ischen Überlieferungen verfolgen können. Es bedarf hier nicht mehr des
Beweises, daß es mit dem Begattungsakt in Verbindung zu bringen ist, wo-
bei der Pflug als Phallos aufgefaßt werden darf [6]. Ich möchte hier nur der
schon erwähnten Darstellung des kultischen Pflügens, wie sie Almgren von
einer Felszeichnung bei Litsleby in Tanum wiedergibt (vgl. unsere Abb, 26),
ein Bild gegenüberstellen, das Dieterich bringt und das einer schwarzfiguri-
gen Schale des Archäologischen Museums in Florenz entnommen ist. Daß
es sich bei der schwedischen Darstellung auch wirklich um ein kultisches Pflü-
gen handelt, hat im Anschluß an A. M. Hansen bereits Almgren überzeugend
nachgewiesen. Unser Blick ist besonders auf den Pflüger gerichtet: er trägt
eine Tiermaske auf dem Kopf, hat hinten einen Tierschwanz und ist ithyphal-
lisch dargestellt. In der Hand hält er einen Zweig oder ein Bäumchen. Auf der
vmtm ffirawiaw
Verwandlungsrequisit europäischer Kultbünde
107
schwarzfigurigen Schale wird das kultische Pflügen in zwei Darstellungen be-
handelt. Auf beiden wird der Pflug von einer Schar z. T. ithyphallischer Män-
ner getragen. Über ihnen, anscheinend auf dem Pflug stehend, ist ein bärtiger
großer Mann zu sehen, in welchem wir auf dem einen Bilde einen behaarten
und geschwänzten Satyr erkennen. In beiden Darstellungen ist auch ein Zweig
eingeflochten, den der Satyr wohl ursprünglich in der Hand hielt, ähnlich wie
der Pflüger aus dem Norden sein Bäumchen (Abb. 29).
Das Kapitel der kultischen Pflügungen ist zu umfangreich, als daß es hier
auch nur annähernd Umrissen werden könnte. Auch hier lassen die bildlichen
Darstellungen und Berichte, die wir von der Frühzeit und dem Altertum
besitzen (neben Athen ist das alte Ägypten in diesem Zusammenhang noch
besonders zu erwähnen), sich durch die Begehungen der späteren Zeit und der
Gegenwart noch um Bedeutendes ergänzen.
Mit dem Verfall der alten Religionen und der allmählichen Ausbreitung des
Christentums in Europa verschwanden oder veränderten sich nicht nur mehr
und mehr Sinn und Form der alten Kulte, sondern auch die zeitlichen Anlässe,
die Daten. Hieraus wird verständlich, daß in den heutigen Volksfesten viel-
fach mehrere Bräuche zusammen nebeneinander herlaufen oder ineinander-
fließen, die im alten Festkalender zu verschiedenen Zeiten geübt wurden.
Auch hat sich häufig an einem Ort ein alter Brauch an dieses christliche Fest
angelehnt, wogegen er sich anderwärts an ein anderes angeschlossen haben
mag. So finden wir oft eine Begehung, die ursprünglich zu einem ganz be-
stimmten Zeitpunkte üblich war, heute mit den verschiedensten Festen und
Bräuchen verbunden. Aus diesem Grunde hat es sich bei der religionswissen-
schaftlichen Betrachtung eingebürgert, jeweils einen größeren Zeitraum ins
Auge zu fassen; vor allem hat man sich auf Grund der gemachten Erfahrun-
gen daran gewöhnt, die Winter- und Frühlingsbegehungen nicht allzu scharf
zu trennen.
Bei vielen neugriechischen Volksfesten treten die Grundzüge der alten Kulte
besonders stark hervor. Namentlich sind hier die Begehungen von Vizye in
Thrakien am Käsemontag [7] aufschlußreich, auf die bereits Nilsson hingewie-
sen hat und über die schon verschiedentlich geschrieben wurde [8]. Bei ihnen
begegnen uns folgende Gestalten: zwei „Mönche“, die in Felle gehüllt sind,
und von denen der eine einen hölzernen Phallos, der andere einen Bogen
trägt, zwei „Bräute“, dargestellt von bartlosen Jungen, die Baba, ein altes
Weib mit einer Puppe in einem Korb, und schließlich das Gefolge, bestehend
aus Zigeunern und Polizisten. Sie alle ziehen zunächst durch das Dorf und
sammeln dabei. Anschließend führen sie ein pantomimisches Spiel auf. Es
beginnt damit, daß die Zigeuner eine Pflugschar hämmern. Seinen Höhepunkt
bildet die Hochzeit des Mönches, der einen Phallos trägt, mit einer der Bräute,
wobei kirchliche Zeremonien parodiert und anschließend mit dem Phallos aller-
lei obszöne Bewegungen ausgeführt werden. Dann wird dieser Mönch von
108
Ferdinand Herrmann
dem anderen mit dem Bogen erschossen, was zur Totenklage und der Parodie
eines kirchlichen Begräbnisses Anlaß gibt. Am Ende erwacht der Tote wieder
zu neuem Leben. Es herrscht große Freude. Eine wirkliche Pflugschar wird
geschmiedet, wobei man das Werkzeug mit Segenswünschen schwingt und in
die Luft wirft. Zum Abschluß ziehen Mädchen einen Pflug zweimal um das
Dorf.
Als Grundzüge dieser Begehungen heben sich deutlich ab: die Vermählung
der Hauptperson, ihr Tod und ihre Auferstehung. Es wird jener Kern des
ewigen Stirb und Werde sichtbar, der jedem Religionswissenschafter vertraut
ist. Mit ihm verflochten ist das kultische Pflügen. Besonders entscheidend für
unsere Untersuchung ist aber, daß auch hier die Hauptperson — ganz wie beim
alten Dionysoskult der Gott — theriomorphe Züge aufweist. Das ist auch in
anderen Gegenden des Südostens so, wie etwa in Thessalien und Südmaze-
donien, wo die Hauptperson einfach als „Bräutigam“ erscheint: die Tierver-
kleidung — meistens besteht sie aus einem Ziegenfell — gehört durchweg zu
ihrer Maske. Sie fehlt auch dem Kuker nicht, der in der europäischen Türkei
und im östlichen Bulgarien bei den Kamevalspielen im Mittelpunkte steht.
Auch hier gehört der Tierschwanz häufig zu den Verwandlungsmitteln.
So besteht die Verkleidung des Kuker zumeist aus einem Schaffell (mit der
rauhen Seite nach außen), einer Fellmütze, einem Band mit Glocken und einem
Fuchsschweif. (Mitunter bedient man sich auch eines Ziegenschwanzes.) Wie
im Altertum, so ist auch hier zumeist das Schwärzen des Gesichtes üblich.
Zu beachten sind in diesem Zusammenhang zwei Dinge: erstens, daß
„Mohren“, die oft bei diesen Auftritten zum Gefolge gehören, meistens auch
Tierschwänze tragen, und zweitens, daß die Hauptperson gern als der „Narr“
schlechthin aufgefaßt wird. Was aber unsere größte Aufmerksamkeit verdient,
ist die Beobachtung, die wir hier häufig machen können, daß nämlich der Tier-
schweif (es ist im allgemeinen der Fuchsschwanz) auf dem Hute oder an der
Mütze erscheint. Es hat sich also eine Entwicklung vollzogen, in deren Ver-
lauf aus dem Maskenteil, der bei der Verwandlung des Menschen in ein tie-
risches (oder halbtierisches) Wesen dort angebracht wurde, wo ihn auch das
Tier hat, ein Zeichen, ein Abzeichen oder Emblem geworden ist, das nun oben
am Kopf, am Hut, an der Mütze (oder auch an der Gesichtsmaske) befestigt
wird. Es ist in diesem Bereich vor allem das Kennzeichen der Hauptperson,
des Anführers der Jungmannschaft, welche die Spiele und Umzüge veranstaltet.
6.
Nach Woldemar Liungman, der für die Auftritte auf dem Balkan auch Paral-
lelen in Nordafrika und in Vorderasien nachzuweisen vermochte, sind auch
hier verschiedentlich solche Gestalten mit Fuchsschwänzen am Kopfe zu beob-
achten. So trug nach seiner Schilderung der büjlüd, d. i. „der in Fell Geklei-
dete“, der in Marokko die Hauptperson der Spiele ist, „das Fell des Opfer-
tieres (gewöhnlich ein Ziegenfell mit Hörnern oder ohne diese) und einen
Strohhut mit Schwanz; Gesicht und Beine waren oft weiß bemalt. Stellen-
Verwandlungsrequisit europäischer Kultbünde
109
weise trug er auch einen Phallus am Unterleib“ [9]. Auch in den Berichten
aus Persien sind ähnliche Gestalten zu verfolgen.
Aber auch in Europa selbst erfreuen sich über den Balkan hinaus die Narren
mit Fuchsschwänzen am Kopfe größter Verbreitung. Auf dem Wege vom Süd-
osten nach dem Westen Europas sind die Huttier oder Zottler von Hall in
Tirol, die Überlinger, Villinger und Donaueschinger Hänsele sowie die Rott-
weiler Gschellnarren der alemannischen Fastnacht die bekanntesten Vertreter
(vgl. Abb. 30). Und im äußersten Nordwesten Europas, auf der britischen
Insel, werden wir bei den Spielen der Winter-Frühlingszeit, die zuweilen, wie
in Schweden und Österreich, mit Schwerttänzen verbunden sind, durch die
Gestalt des Narren, der in Fell gehüllt ist und einen Fuchsschwanz trägt, wie-
der ganz an den Kuker des Südostens erinnert. Wie dieser, lenkt auch er im
übrigen häufig den Pflug, wie auch die Spiele, die man hier aufführt, viele
Ähnlichkeiten mit den närrischen Auftritten des Südostens, wie überhaupt des
Südens, aufweisen. Nur ist es hier der Türke, der im Kampfe mit dem hl. Georg
getötet wird, wobei es dem Narren (oder dem Doktor) zufällt, ihn wieder zum
Leben zu erwecken [10].
Als Vorläufer dieser mit einem Fuchsschwanz versehenen Narren dürfen
auch die Fuchsschwanzträger der Nürnberger Fastnacht angesehen werden,
wie wir sie in den Schembartbüchem abgebildet finden.
Der berühmteste und merkwürdigste Vertreter in diesem Reigen ist aber
der französische Harlekin. Man hat ursprünglich den buntscheckigen Harlekin
als eine italienische Komödienfigur auf gef aßt und bei seinem Namen haupt-
sächlich an den Arlecchino gedacht, bis Otto Driesen in seiner verdienstvollen
kulturhistorischen Untersuchung „Der Ursprung des Harlekin“ (Berlin 1904)
seine französische Herkunft nachzuweisen vermochte. Beachtenswert ist da-
bei namentlich Driesens Feststellung, daß das Wort Harlekin in Frankreich
schon vor dem Jahre 1100 zu belegen ist, also mindestens 450 Jahre vor den
Anfängen der Commedia del’arte besteht [11]. Nach den Forschungen von
Höfler dürfen wir den Harlekin ebenfalls mit den alten Kultbünden der Män-
ner zusammenbringen und auch in ihm eine Gestalt des Totenkultes erblicken.
Wie bei den Hauptpersonen des Satyrspieles, so lebten auch die Harlekine
längst im Volksbrauch und in den Volks Vorstellungen, bevor sie auf die Bühne
gebracht wurden.
Wie sehr der Harlekin in den Vorstellungen der Franzosen bis in die Gegen-
wart hinein lebendig ist, geht aus der Schilderung hervor, die Driesen von den
Darstellungen auf dem Giebel eines Kasperletheaters im Jardin des Tuileries
von Paris macht. Zwei Gestalten sind da zu sehen: links der weiße Pierrot,
»rechts, unter dem weiten Schlapphut mit dem Fuchsenschwanz, der bunt-
scheckige Harlekin, dessen schwarzes Gesicht über den roten Lippen und den
weißen Zähnen uns freundlich angrinst“ [12]. Wie sich aber dieses Bild bereits
verwischt, zeigt die Harlekinmarionette, die Driesen hier zu sehen bekommt:
es ist einfach „ein Räuberhauptmann mit schwarzem Gesicht und Schnurr-
bart“. Noch aufschlußreicher aber ist „das Spiel unter dem Laubdach“ von
no
Ferdinand Herrmann
Adán de la Hale, das uns eine Vorstellung von seinem früheren Aussehen ver-
mittelt. Der Harlekin, der hier als „Narrenbeißer“ (Croquesots) erscheint, tritt
mit den Worten auf: Me sied-il bien li hurepiaus? (Steht sie mir gut, die Stru-
welfratze?) Und mit diesen Worten verschwindet er auch. Auf Grund der
Angaben in den einschlägigen Wörterbüchern stellt Driesen fest, daß das
Stammwort hure „auf die Kopfform dreier Arten von Wesen angewandt wird:
1. von Menschen, 2. von Bestien, 3. von Teufeln“, und daß man in allen
Fällen darunter „ein abstoßend-häßliches, verzerrtes Gesicht“ versteht, „das
von dichtem, aus borstigem Haupt- und Barthaar bestehendem Haargestrüpp
lückenlos überwuchert ist“ [13]. Dementsprechend zeichnet er das Porträt
dieses Harlekin folgendermaßen: „das Haupt borstig-verstruwelt, die wirren
Massen des Kopf- und Barthaars ineinander übergehend, Stirn, Wangen und
Kinn, die mit dem riesigen Mund und den hervorstehenden Zähnen das denk-
bar verzerrteste Gesicht bilden, ganz von Gestrüpp überwuchert, kurz — eine
Teufelsgrimasse“ [14].
Die sonstigen Belege, die Driesen wiedergibt, lassen erkennen, daß die
Maske des Bühnenharlekins noch in den letzten Jahrhunderten ausgeprägt
theriomorphe Züge hatte: „eine ganze Galerie verschiedenartiger Tiere, vom
phantastischen Höllendrachen und vom Löwen an bis zum Affen, der Katze
und der Grille“ läßt sich hier verfolgen [15]. Er muß früher eine Art Haut-
trikot getragen haben, das jedes einzelne Körperglied, jeden Wechsel der
Bewegung plastisch hervortreten Heß, ein dünnes graues Gewebe, auf das ein
paar bunte Lumpenflecken unregelmäßig verteilt waren. Es gehörte, wie man
weiß, zu seiner Rolle, daß er sprang, hüpfte, sich toll und ausgelassen gebär-
dete und nicht nur Schamlosigkeiten aussprach, sondern sich auch schamlos
benahm, sich „nach alter Harlekingepflogenheit halbnackt“ vor den Zuschau-
ern präsentierte [16]. Er paßt in seiner ausgelassenen Beweglichkeit ganz zu
den Gestalten, die uns die skandinavischen Felsritzungen wie auch die Über-
lieferungen der Antike vor Augen führen.
Zu seiner Maske gehörte auch, wie die verschiedensten Belege zeigen, ein
Fuchsschwanz, der am Kopfe baumelte. Zuweilen waren es auch Marder- oder
Wieselschwänze, die als tierische Abzeichen an seinem Kopfe zu sehen waren.
Später scheint ein unscheinbares Hasenschwänzchen den Fuchsschwanz ab-
gelöst zu haben [17]. Die Tierschwänze waren offenbar zumeist an seiner Kopf-
bedeckung befestigt. So lief bei dem Harlekin Tironi aus Bergamo um seinen
breiten, weißen, vorn auf geklappten Filzzweimaster ein langer Fuchsschwanz
[18].
Die Gepflogenheit, das Gesicht zu schwärzen, treffen wir auch bei ihm. Sie
ist noch am Ende des 17. Jahrhunderts zu verfolgen [19].
In dieser Maske nun verkörperte der Bühnenharlekin den Teufel, den „lusti-
gen Teufel“, als welcher er auch in dem „Spiel in der Laube“ auftrat. Die
Übernahme dieser theriomorphen Gestalten als Teufel hat häufig stattgefun-
den, besonders nach dem 12. Jahrhundert, wo man — zunächst in Frankreich —-
begann, den Teufel, ähnlich wie die antiken Bocksgötter, als Bock mit Hörnern,
Verwandlungsrequisit europäischer Kultbünde
111
Schwanz und Klauen zu sehen. Dadurch wurden diese Übergänge immer flie-
ßender.
Bei dieser Geschichte des Harlekin aber sind es weniger die Beziehungen
zu den Teuf eis Vorstellungen des Mittelalters, die uns hier fesseln, als vielmehr
die Tatsache, daß auch er aus einem tierischen (oder halbtierischen) Wesen ent-
standen ist. Zugleich ist seine Geschichte, wie mir scheint, insofern besonders
lehrreich, als sie zeigt, wie selbst wesentliche Züge allmählich verloren gehen
können, erinnert uns doch, nachdem auch der Fuchsschwanz verschwunden ist,
kaum mehr etwas am Harlekin an seine tierische Herkunft.
7.
Es wird hier die Ansicht vertreten, die sich in diesem Bereiche namentlich
durch die Arbeiten von Höfler mehr und mehr durchzusetzen beginnt [20],
daß allen diesen Erscheinungen Kulte zugrunde liegen und wir es hier somit
durchweg mit ursprünglichen Kultmasken zu tun haben. Die bronzezeitlichen
Felszeichnungen aus dem Norden wie die Überlieferungen der Antike im
Süden lassen ihre Frühformen erkennen. Sie setzen ein Lebensgefühl voraus,
in welchem der Mensch sich mit dem Tiere verwandt fühlt oder, allgemeiner
gesprochen, wo die Grenzen zwischen Mensch und Tier noch nicht so aus-
geprägt und scharf gezogen sind wie bei uns. Man fühlte sich mit gewissen
Tieren verbunden, bemerkte und empfand Gemeinsamkeiten und versuchte
auch ihre Gestalt anzunehmen, sich in sie zu „verwandeln“. Da ein Teil je-
weils für das Ganze treten kann (pars pro toto), genügten, wenn man sich nicht
eine Gesamtmaske anlegen wollte, auch besonders kennzeichnende Teile oder
solche, die man für besonders „kräftig“, besonders vom Wesen des betreffen-
den Tieres erfüllt hielt. Zu diesen darf der Schwanz einiger Tiere gezählt
werden.
Es ist vor allem der Totenkult, in welchem wir die Wurzeln unserer Bege-
hungen suchen möchten. Die Tiere, von denen in erster Linie die Schwänze
als Verwandlungsrequisiten gebraucht wurden, nämlich das Pferd und der
Fuchs, sind uns auch als Toten-, Geister- oder Dämonentiere bekannt. Beim
Pferd finden wir sogar schon in frühester Zeit eine unmittelbare Beziehung
zwischen seinem Schweif und dem Totenkult. Beachtenswert ist in dieser Hin-
sicht die Bezeichnung, die in Norwegen die Führerin des Totenheeres trägt,
sie heißt: Guro Risserova, d. i. „Roßschwanz“ [21].
Aber auch der Fuchs, von dessen Eigenschaften seine Schlauheit uns heute
als die hervorstechendste erscheint, ist als Geister- und Totentier in den Vor-
stellungen der verschiedensten Völker lebendig. Bei den Germanen hat man
ihn ursprünglich offenbar als weibliches Tier auf gef aßt, die alte Femininform
des Namens deutet darauf hin (ahd. foha, mhd. fohe). Er erschien wohl als
weibliches Tier neben dem männlichen Wolf, mit dem ja auch eine Ver-
mischung möglich sein soll. Wenn wir den Fuchsschwanz bei Gestalten finden,
die durch ihr wildes Aussehen Schrecken und Furcht erwecken, so sind wir
darüber deshalb nicht weiter erstaunt, weil uns der Fuchs aus vielen Märchen,
Sagen und anderen Überlieferungen als dämonisches Tier oder als Begleiter
112
Ferdinand Herrmann
von dämonischen Wesen vertraut ist. In vielen Gegenden Deutschlands (wie
aber auch bei anderen Völkern Europas) kennt man die Erscheinung von Hexen
und Waldgeistern in Fuchsgestalt. Auch erzählt man in Schweden und Süd-
tirol von Waldfrauen, bei denen hinten ein Fuchsschwanz zu sehen war. Man
schreibt dem Fuchs böse wie gute Eigenschaften zu. Man schätzt ihn wegen
seiner Hilfsbereitschaft, wie man ihn wegen seiner Heimtücke fürchtet. Solche
ambivalenten Gefühle bestimmen ja weithin das urtümliche Denken hinsicht-
lich der Verstorbenen. An den Fuchs als Geistertier knüpfen sich weit über den
Bereich der indogermanischen Völker hinaus die verschiedensten Vorstellun-
gen [22], am bekanntesten sind wohl die der Chinesen und Japaner.
Bei manchen Erscheinungen mag man auch an Initiationsgepflogenheiten er-
innert werden. Altersklassenbezeichnungen, wie wir sie etwa bei den nord-
amerikanischen Indianern finden, z. B. „Prärie-Füchse“, „Wölfe“ und „Hunde“,
begegnen wir auch hier. So bestand in der Normandie eine Brüderschaft des
„Laub-Wolfs“, die sich am Vorabend des Johannistages traf und deren Feiern
Züge auf weisen, wie sie uns von den Lykäen in Arkadien und den Wolfsriten
der „Hirpi Sorani“ im alten Rom bekannt sind [23]. Und von Heumähdern in
Polen, bei denen man ebenfalls auf Initiationsriten deutende Bräuche nachzu-
weisen vermochte, wird berichtet, daß die Neuhinzugekommenen „Wölfe“
genannt werden und man ihnen auch Wolfsschwänze anheftet [24]. Ich möchte
auch (mit Höfler) die Einrichtung des „Fuchsenstalles“ in den deutschen Stu-
dentenverbindungen mit dem ihm vorstehenden „Fuchsmajor“, der an seiner
Mütze einen Fuchsschwanz trägt, hiermit in Verbindung bringen. Die Bedeu-
tung „Fuchs“ für den jungen Studenten war (nach dem Deutschen Wörter-
buch) bereits im 17. Jahrhundert üblich, wo sie von den Schülern der Latein-
schulen auf die jungen Studenten übertragen wurde [25]. Wie in den Zünften,
so hat sich auch in den Studentenverbindungen besonders zäh eine Reihe von
Bräuchen der alten Bünde erhalten. Zu erwähnen ist hier auch die Nachricht
von der Gründung einer „Fuchs(schwanz)gesellschaft“ in Zürich im Jahre
1386 [26].
Es bestehen, wie auch viele andere Erscheinungen aus diesem Bereiche im-
mer wieder zeigen, zahlreiche Verknüpfungen zwischen den Totenkulten und
der Fruchtbarkeit der Felder wie auch den Erfolgen bei der Jagd und anderen
Unternehmungen, die auf den ersten Blick und bei einer äußerlichen Inter-
pretation häufig ausschließlich als Fruchtbarkeitsmagie, Jagdzauber oder ähn-
liches erscheinen. Solche Zweckgedanken haben sicher in späterer Zeit sie maß-
geblich bestimmt und zugleich die älteren Vorstellungen in den Hintergrund
gedrängt. Sucht man diese aber, wie z. B. beim Dionysoskult, zu erschließen,
so wird man m. E. stets auf Anschauungen stoßen, die mit den Verstorbenen
in Verbindung zu bringen sind. Ähnlich verhält es sich mit den prophylakti-
schen und apotropäischen Eigenschaften, die vielfach z. B. dem Fuchsschwanz
oder dem Roßschweif zugeschrieben werden (und die man gelegentlich gar
mit dem intensiven Geruch dieser Dinge erklärte). Auch hier geht dem Ge-
brauch bei solchen zauberischen Vorkehrungen wohl immer die ursprüngliche
Bedeutung als Kultmittel resp. Kultgegenstand voraus [27].
V erwandlungsrequisit europäischer Kultbünde
113
[1] A. W. PERSSON, Alcerbruksriter och hällristningar, Fornvännen, 25. Jg., 1930, S. 1—24.
[2] vgl. OSCAR ALMGREN, Nordische Felszeichnungen als religiöse Urkunden. Übers.
v. Sigrid Vrancken. Frankfurt a. M. 1934, S. 346.
[3] z. B. bei HÖFLER.
[4] M. P. NILSSON, Der Ursprung der Tragödie, Neue Jahrbücher für das klassische
Altertum, Bd. 27, 1911, S. 609 ff., 673 ff., bes. S. 687 f.
[5] FRANK BROMMER, Satyrspiele, Bilder griechischer Vasen, Berlin 1944.
[6] vgl. bes. ALBRECHT DIETERICH, Mutter Erde, 1. Aufl. 1905 wie auch die späteren
erweiterten Auflagen.
[7] Der Käsemontag ist der Montag nach Sexagesima, mit ihm beginnt die Käsewoche,
die russisch auch Butterwoche heißt.
[8] vgl. NILSSON a. a. O., 677, wo auch weitere Literaturnachweise zu finden sind.
[9] W. LIUNGMAN, Traditionswanderungen Euphrat — Rhein, FF Communications
Nr. 118/119, Helsinki 1937/38, Teü 2, Kap. 22.
[10] vgl. bes. E. K. CHAMBERS, The Mediaeval Stage, Oxford 1903.
[11] DRIESEN a. a. O. S. 22.
[12] ebda. S. 4.
[13] ebda. S. 57—58, Fußn.
[14] ebda. S. 59.
[15] ebda. S. 171.
[16] ebda. S. 186.
[17] ebda. S. 186 f.
[18] ebda. S. 264 f.
[19] ebda. S. 172.
[20] Man vergleiche hierzu auch: OTTO HÖFLER, Cangrande von Verona und das Hund-
symbol der Longobarden. In: Brauch und Sinnbild, Festgabe EUGEN FEHRLE,
hrsg. v. FERDINAND HERRMANN und WOLFGANG TREUTLEIN, 1940,
S. 101 ff.
[21] HÖFLER, Kult. Geheimbünde, S. 61 f.
[22] Wegen der einzelnen Belege und der entsprechenden Literatur sei besonders auf
PEUCKERT, Stichwort Fuchs im Hdwb. d. dt. Aberglaubens, wie auch auf
MACKENSENS Hdwb. des Märchens hingewiesen.
[23] A. HABERLANDT, Ehe volkstüml. Kultur Europas. In: G. BUSCHAN, Illustr. Völ-
kerkd. Bd. II, 2, 1926, S. 612.
[24] ebda. S. 614 f.
[25] Der Versuch, den Ausdruck Fuchs (Fux) von Fex (Narr) und Faxen (Albernheiten) abzu-
leiten, wie es etwa im Etymol. Wörterb. von KLUGE-GÖTZE geschieht, erscheint
doch recht gekünstelt.
[26] Schweiz. Idiotikon VII, S. 735.
[27] Ich möchte am Schlüsse dieser Arbeit vor allem Frau ELEONORE KOHLHAGEN
VON TESSIN herzlich danken, die nicht nur die Zeichnungen hierfür anfertigte,
sondern mir auch einige wertvolle Hinweise gab.
Quellen-Nachweis der Abbildungen
Abb. 24—27: Nach Almgren, Nord. Felszeichnungen als relig. Urkunden. Verlag Moritz
Diesterweg, Frankfurt a. M.
Abb, 28 : Nach Photos, die sich in dem Buche von Frank Brommer, Satyrspiele, be-
finden. Verlag W. de Gruyter & Co., Berlin.
Abb. 29 : Nach A. Dieterich, Mutter Erde.
Alle Zeichnungen wurden von Frau Kahlhagen von Tessin angefertigt.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
8 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
Martin Gusinde, Washington
Die Körperform der afrikanischen Pygmäen
Eigenart und Entstehung
Wie weit zurück in historisch faßbare Zeit schriftliche Quellen über die
echten Pygmäen auf afrikanischem Boden auch verlegt werden müssen, sie
schildern diese seltsamen Menschen als eine für sich bestehende Volksgruppe,
die ungewöhnliche körperliche Eigenheiten zur Schau trägt und die demzu-
folge von negerischen und hamitischen Eingeborenen in naher oder ferner
Nachbarschaft unübersehbar deutlich absticht. Am nachdrücklichsten bewer-
ten sie sich selbst als frei von jedweder Beziehung mit den eigentlichen Negern
in früherer Zeit, und diese ihrerseits leugnen sowohl kulturelle als auch körper-
bauliche Gleichheiten bzw. Ähnlichkeiten mit ersteren nicht minder bestimmt.
Alt-ägyptische Schriftstücke, Denkmäler und Abbildungen, aus denen einige
leicht erweisbar bis in das dritte Jahrtausend v. Chr, hinunterreichen, legen
allen Nachdruck auf die inhaltlich bedeutsame Unterscheidung im Urteil der
damaligen Zeitgenossen über zwerghafte Körperformen; und zwar in dem
Sinne, daß sie die echten Pygmäen südwärts vom Pharaonenreiche als Bil-
dungen durchaus selbständiger Bauart von den krüppelhaften, pathologischen
Wachstumshemmungen bei fehlerhaft gestalteten Einzelpersonen innerhalb
ihrer eigenen Volksgemeinschaft absondern. Echte Pygmäen, das wußten die
Alt-Ägypter genau, leben als ein kopfzahlmäßig großes Volk im sogenann-
ten Gebiet der Nilquellen; während die als Zwerge bezeichneten, verunstal-
teten Individuen allbekannte Mißbildungen darstellen.
In einem jahrhundertelangen Mühen anstrengendster Art ist der „dunkle
Erdteil“ aufgehellt und sogar der Zutritt in seine streng verschlossenen, schwer
erreichbaren Schlupfwinkel erzwungen worden. Im menschenfeindlichen Ur-
walde des tropischen Bereiches, wo vielgestaltige Todesgefahren den euro-
päischen Forscher bedrohen, gibt es tatsächlich solche merkwürdigen Menschen,
die bereits im sogenannten klassischen Altertum als die „Pygmäen“ beschrie-
ben und angestaunt worden sind. Dieser Urwald, den einer der ungewöhn-
lichsten aller menschlichen Rassetypen seit unberechenbar langer Zeit als seine
Heimat schätzt, ist ein düsterer, mit täglichen Regenschauern überschütteter
und von reichlicher Feuchtigkeit triefender, mit nassem Dunst und üblem
Moderduft erfüllter immergrüner Laubwald [1]. Nur wenige Vertreter
höherer Tierordnungen halten sich darin auf. In einiger Entfernung vom
Äquator, auf seiner südlichen wie auch nördlichen Seite, prägen sich deutliche
Jahreszeiten im Klimawechsel nicht aus. Rein gefühlsmäßig erwartet man in
einem derartig ungewöhnlichen Lebensraume auch eigenartige Lebewesen
— und als solche stellen sich die einheimischen zwerghaften Waldbewohner
leibhaftig vor.
Die Körperform der afrikanischen Pygmäen
115
Reizvollen Zügen begegnet man in der langen Geschichte, die vom Ent-
decken und fortschreitend genaueren Bekanntwerden der einzelnen pygmä-
ischen Gruppen auf afrikanischem Boden, Jahrhundert um Jahrhundert, meist
ausführlich berichtet. Manches Sagenhafte weiß sie zu erzählen und sie ver-
schweigt auch nicht, daß bis in unsere Neuzeit herein die Nachrichten über
echte Rassezwerge innerhalb der Tropenzone bei manchen europäischen Fach-
kreisen gar keinen oder bloß schwachen Glauben finden konnten. Erst mit
den zuverlässigen unmittelbaren Beobachtungen, die der deutsche Botaniker
Georg Schweinfurth zu Beginn der 70er Jahre aus dem südlichen Sudan nach
Hause gebracht hat [2], erstarkte überall endlich die Gewißheit, daß die seit
vielen Jahrhunderten widerspruchsvoll in Wort und Schrift erörterten Pyg-
mäen als lebenstüchtige Volksstämme eine erwiesene Wirklichkeit sind. Nur
zu verständlich ist die Erscheinung, daß sich seitdem ein erhöhter wissenschaft-
licher Eifer um deren genaues Beschreiben und vollständiges Erkennen ent-
faltet hat [3].
V
Zu einer richtigen Bewertung unserer kleinen Waldmenschen im tropischen
Afrika kann nur gelangen, wer sich ihres weiten Abstandes von jedweder Art
pathologischer Gestaltung solcher mißratener Individuen, denen man als
„Zwerge“, Liliputaner u. ä. m. vereinzelt bei den meisten europäischen wie
äußer-europäischen Völkerschaften begegnet, voll und ganz bewußt wird. Wohl
läßt sich zuweilen eine deutliche Grenze zwischen einer normalen und einer
gestörten bzw. krankhaften Formbildung gar nicht oder bloß andeutungsweise
ziehen. Aber unabhängig davon, wie die Mediziner pathologische Zwerg-
gestalten in der Menschheit genetisch bewerten und systematisch einord-
nen [4], ist hier nur der Nachweis entscheidend, daß die afrikanischen Pyg-
mäen in ihrer jetzigen und früheren Gestaltbildung keinesfalls als Ergebnis
einer pathologischen Entwicklung angesehen werden dürfen.
Zuweilen begegnet man noch heutigentags dieser alten, unrichtigen Ein-
schätzung und anderen Ungenauigkeiten im Urteil über unsere kleinen Wald-
bewohner. Gates beispielsweise vertritt die Ansicht, es seien „the Akka Pyg-
mies of Central Africa negroid dwarfs of normal proportions, not achondro-
plastic like the Ituri forest Pygmies ...“ [5]. Die besagte Trennung der bei-
den Gruppen ist allein schon deshalb nicht zulässig, weil die Aka-Leute gleich-
falls im Ituri-Walde und zwar in dessen nord-westlichem Abschnitt zu Hause
sind. Sie wohnen unmittelbar neben der Basüa-Gruppe, und diese wieder lebt
neben der Efe-Gruppe weiter im Osten; alle drei treten zur bekannten Bam-
buti-Gemeinschaft zusammen, deren aller Heimat eben der vom Ituri-Strom
entwässerte Waldbezirk im östlichen Belgisch-Kongo ist, und sie gleichen sich
in allen wesentlichen Körpermerkmalen. Gates wiederholt mehrmals in sei-
nem Buche, daß dieser Rassetypus nichts anderes als „achondroplastic dwarfs“
darstellt.
Für einen Kenner erbbiologischer Gesetzmäßigkeiten bedarf es keiner be-
sonderen Begründung, daß sich eine vieltausendköpfige Volksgemeinschaft,
116
Martin Gusinde
die als Ganzes aus bloß mißgestalteten Individuen zusammengesetzt sein soll,
unmöglich durch Jahrtausende leistungsfähig im Dasein behaupten könnte.
Die geschichtliche Beglaubigung dafür ist erbracht, daß sich die kennzeich-
nenden Wesenszüge im gesamten Erscheinungsbilde der Pygmäen zumindest
seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. nicht abgewandelt haben. Und den biologi-
schen Nachweis für die Eigenständigkeit der erbfesten Sondermerkmale der
pygmäischen Formenganzheit hat die Untersuchung der Bastarde erbracht;
konnte ich doch die Erkenntnis gewinnen, daß in den Nachkommen aus einem
pygmäischen und einem negerischen Elter die jedem von ihnen beiden typi-
schen Rassemerkmale in der ersten und zweiten Filialgeneration nach erb-
gesetzlicher Regelmäßigkeit im Phänotypus zutage treten bzw. verdeckt wer-
den [6]. Schließlich kann jeder Forschungsreisende sich selbst leicht von der
augenfälligen Tatsache überzeugen, daß die zwerghaften Waldbewohner, un-
geachtet ihres zierlichen und leichten Körperbaues, durchaus lebenstüchtige
und staunenswert leistungsfähige Menschen sind. Weit entfernt davon, trotz
ihres ungewöhnlichen Äußeren degenerierte Kreaturen oder verkrüppelte
Mißgebilde darzustellen, erweisen sie sich als triumphierend im Ringen mit
der allgewaltigen Umwelt zur ausreichenden Befriedigung ihrer menschlichen
Daseinsforderungen und geistigen Bedürfnisse.
Sind somit die echten Pygmäen Afrikas als normale, arbeitsfähige und fort-
pflanzungstüchtige Menschen bestätigt, die entwicklungsdynamisch mit kei-
ner Art pathologischer Zwergbildung etwas zu tun haben, so braucht jetzt nur
noch ihre rassengenetische Absonderung von den eigentlichen Negern be-
gründet zu werden. Da mancherorts noch immer die irreführende Wortbildung
„Negrilles“ bzw. „Negritos“ zur Bezeichnung der Pygmäen beliebt ist, braucht
die Ungenauigkeit nicht zu überraschen, daß diese Menschen für manchen Be-
urteiler weiter nichts als eine Art kleinerer Neger bedeuten. Die beiden hier
zu schildernden Rassengruppen, die pygmäische und die negerische, unter-
scheiden sich jedoch durch eine lange Reihe bedeutsamer Merkmale, die ihnen
beiden als ein uraltes Erbgut eigen sind und deren inhaltliche oder gradmäßige
Verschiedenheit bei einem genauen Vergleich klar genug zutage tritt [7].
Hervorstechend ist die niedrige Körperhöhe, die proportioneile Länge der
oberen und die proportioneile Kürze der unteren Gliedmaßen zum Rumpf,
die vergleichsweise übermäßige Dicke des Kopfes und schließlich gar manche
arteigene Formgebung in den meisten Gesichtsteilen der Bambuti, Da beide
Großgruppen jedoch einige wenige Merkmale gemeinsam besitzen, schließe
ich beide zum afro-negriden Rassestamm zusammen. Zu weit geringerer Man-
nigfaltigkeit als die negerische Gesamtheit auf afrikanischem Boden, zerfällt
auch die pygmäische in mehr oder weniger zahlreiche rassentypische Gruppen,
jede ihrerseits gekennzeichnet durch eigene Sondermerkmale minderer Bedeu-
tung. Unter gleichzeitiger Berücksichtigung der geographischen Lagerung
glaube ich drei pygmäische Großgruppen gegeneinander ab grenzen zu müssen:
die Twiden im Strombereich des Ituri = hauptsächlich: Bambuti,
die Twiden im Bereich der Großen Seen = hauptsächlich: Twa in Ruanda
und Urundi,
Die Körperform der afrikanischen Pygmäen
117
die Twiden im west-äquatorialen Waldgebiet = hauptsächlich: Bacwa,
Babinga, Bagielli.
Diese drei Großgruppen [8] setzen sich selbstverständlich wieder aus Unter-
abteilungen zusammen, von denen jede, wenn auch nicht regelmäßig, gewisse
körperliche Sonderbildungen aufweist, darüber hinaus zeigen sie im kulturel-
len Besitz diese oder jene Besonderheit als ihnen allein eigentümlich.
☆
Auf der Voraussetzung dieser sehr allgemein gehaltenen Erörterungen läßt
sich das rassetypische Gesamtbild der Pygmäen im zentralen Afrika leichter
aufbauen. Bekanntlich nehmen die Buschmänner und Hottentotten, älteste
Besiedler des südlichsten Abschnittes dieses Erdteils, eine auffallende Eigen-
stellung im rassischen Vielerlei des negriden Rassehauptstammes ein und ihre
mögliche genetische Verbindung mit den echten Pygmäen in der Tropenzone
ist wiederholt ernstlich erörtert worden; ein befriedigendes Ergebnis wurde
indes noch nicht erreicht und ich möchte meine eigene Meinungsäußerung
zurückstellen bis zur Beendigung meiner für Mitte 1950 bis Herbst 1951
geplanten Forschungsreise durch Südwest-Afrika. Mithin bleiben die dort
unten beheimateten Eingeborenen in der vorliegenden Abhandlung ohne Be-
rücksichtigung. Und noch eine Einschränkung drängt sich auf. Da ich nämlich
bloß die Bambuti im Ituri-Bereich und die Twa in Ruanda aus engstem Zu-
sammenleben mit ihnen kennengelernt habe, wird sich die folgende Beschrei-
bung vorwiegend ihnen widmen; jedoch sollen einzelne Beobachtungen aus
der unmittelbaren Erfahrung anderer Forscher bei den übrigen afrikanischen
Pygmäengruppen gelegentlich einbezogen werden.
Im ganzen wie im einzelnen gesehen erkennt man das Formengebilde des
pygmäischen Körperbaues als eine ungewöhnliche Erscheinung in der mensch-
lichen Rassenvielfalt. Am auffälligsten wirken die afrikanischen Waldmenschen
durch ihre niedrige Körperhöhe, und eben dieser sogenannte Zwerg-
wuchs hat ihnen bereits im klassischen Altertum die Bezeichnung als „Pyg-
mäen“, d. h. „Fäustlinge“ eingetragen. Als Durchschnittsziffer für dieses Maß
habe ich 143 cm bei Männern und 137 cm bei Frauen berechnet; mithin wei-
sen sie innerhalb der vorgeschichtlichen und jetztzeitlichen Menschheit die
geringste Körperhöhe überhaupt auf. Doch wäre es gründlich verfehlt, zu glau-
ben, es liege allein in diesem Merkmal ihre rassische Eigenart verankert und
ihre weit abgerückte Sonderstellung begründet. Nachdrücklich sei wiederum
betont, daß ihr zusammengefaßtes Äußeres und alle aufeinander abgestimm-
ten Merkmale als Formenganzheit den wirklichen und echten Pygmäentypus
ausmachen. Der Versuch, sie einer beliebigen Volksgruppe allein wegen der
niedrigen Körperhöhe ihrer Mitglieder zuzuerkennen, wäre ein Mißbrauch
der Bezeichnung „Pygmäen“. Aus dem gleichen Grunde möchte ich den Vor-
sdilag als verunglückt bezeichnen, nur solche Volksstämme als „Pygmäen“ zu
bewerten, deren mittlere Körperhöhe die willkürlich gewählte 150-cm-Grenze
nach oben nicht überschreitet. Zum vollwertigen Bilde echter Rassepygmäen
118
Martin Gusinde
muß sich eben eine gewisse Anzahl, sozusagen ein ganzer Komplex bedeut-
samer, funktionell aufeinander abgestimmter Merkmale vereinigen.
Hierher gehören u. a. die arteigenen Proportionsverhältnisse, d. h. mit der
niedrigen Körperhöhe erscheint ein übermäßig dicker Kopf gekoppelt und für
den relativ langen, rechteckigen Rumpf muten die an sich zarten Arme als zu
lang und die meistens zierlichen Beine als zu kurz an. Der niedrigen Gesamt-
gestalt und dem sehr leichten Bau des Knochengefüges entspricht das sehr
geringe Körpergewicht; es beträgt im Durchschnitt für Männer 39,8 kg und
für Frauen 35,5 kg. Nahezu verwirrend beeindruckt den europäischen For-
scher die helle Färbung der Körperhaut bei den Bambuti und bei manchen
Twa-Leuten in Ruanda. Die west-afrikanischen Pygmäengruppen indes zei-
gen sich in dunkelbrauner bzw. bläulich-grauer Färbung, mit welcher sie sich
den ihnen benachbarten Negern nahe angleichen.
Zu einzigartiger Sonderprägung haben sich nahezu alle Teile des Gesichtes
ausgestaltet. Die breite, hohe Stirn zieht gerade aufsteigend hinauf und be-
sitzt oftmals eine stark konvexe Ausbeulung ihres gesamten Mittelbereiches.
Über den unteren Stimrand hinweg ziehen dicke Hautfalten imregelmäßig zur
Nasenwurzel. Diese ihrerseits liegt gänzlich abgeflacht da. Beiderseitig neben
ihr öffnen sich ungewöhnlich weit die Lider und lassen jeden Augapfel gleich-
sam herausquellend vortreten. Als ein Gebilde von einmaliger Modelung sitzt
im Mittelgesicht die unförmige, durchweg beträchtlich in die Breite gezogene
Nase. In ihrem Aufbau prägen sich zwei grundlegende Formen aus, die man
zur Veranschaulichung wohl am besten als Knopfnase und als Trichter-
nase umschreibt; rund um sie beide treten noch vielerlei ähnliche Gestal-
tungen dieses Organs auf. An und für sich erscheint das Mittelgesicht, gegen-
über dem hohen Ober- und Untergesicht, als sehr niedrig; wegen der mäch-
tigen, breiten Nase spricht es besonders niedrig an. Mit einer mäßigen Pro-
gnathie des Untergesichtes koppelt sich das erheblich konvexe Vorwölben der
Integumental-Oberlippe; sich angleichend an die hellfarbige Körperhaut zeich-
net sich bei den Bambuti in die durchweg schmalen oder mitteldicken Schleim-
hautlippen ein frisches Rosa ein. Der Gesichtsumriß verläuft vorwiegend
rundlich bis rund-oval. Abschließend sei noch erwähnt, daß sich für die Bam-
buti eine ganz ungewöhnliche Blutgruppenformel bestimmen ließ.
In ihrer Zusammenfassung gesehen, haben sich die einzelnen formgeben-
den Körpermerkmale zu einer eigenartigen gestaltlichen Einheit verbunden,
die den afrikanischen Pygmäengruppen ihr arteigenes Gepräge verleiht.
Überraschenderweise haben sich manche Eigenheiten zu einem solch gestei-
gerten Grade spezialisiert, wie er sich in keiner anderen Rasse wiederholt,
noch weniger übertroffen wird. Alle Wesensmerkmale sind erbfest im Gen-
Gefüge verankert und ihre artbestimmende Gestaltung hat sich seit Jahrtau-
senden nicht nennenswert ab gewandelt: sie alle zusammen begründen die
Selbständigkeit und erbbiologische Unabhängigkeit der pygmäischen Rasse-
formen in Afrika.
Die Körperform der afrikanischen Pygmäen
119
Es erhebt sich nun die Frage nach Herkunft und Entstehung dieser einzig-
artigen, außerordentlich seltsamen Modelung der pygmäischen Körperform.
In deren Beantwortung hat sich fast jeder versucht, der mehr oder weniger
eingehend mit zwerghaften Gestalten innerhalb der Menschheit zu tun gehabt
hat. Zu gut bekannt ist das ernsthafte Ringen tüchtiger Fachleute um eine
Klärung dieser Frage seit Beginn unseres jetzigen Jahrhunderts, es sei hier
bloß an die Namen wie J. Kolhnann, G. Schwalbe, Rudolf Pöch, Eugen
Fischer [9],P. Wilhelm Schmidt und Otto Schlaginhaufen erinnert. Was
jedoch diese Männer mit allem Rüstzeug aus dem damaligen Stande der
wissenschaftlichen Forschung als Deutung und Begründung ausgeklügelt
haben, hält im wesentlichen nicht mehr stand gegenüber den Er-
kenntnissen, die über Rassenbildung samt allen damit zusammenhängenden
Erscheinungen eine neuzeitlich hochentwickelte Erbbiologie zutage gefördert
hat. Für viele Einzelheiten im Erbgeschehen des Menschen sind wir leider
nicht in der Lage, eigentliche Experimente zu befragen; im großen und gan-
zen stehen uns nur Analogieschlüsse aus Beobachtungen an Haustieren zur
Verfügung. Diese sind, einwandfrei durchgeführt, methodisch zulässig, weil
sich eben auch der Mensch, nach seinem körperlichen Sein ein Wesen der
höchsten systematischen Ordnung, in biologischer Schau als im Zustande der
Domestikation befindlich zu erkennen gibt.
Hier erübrigt es sich, den umständlichen Weg nachzuzeichnen, den ich
bis jetzt gegangen bin, um ein vorläufiges Ergebnis einzubringen. Bloß darauf
sei hingewiesen, daß mir die von Lundholm an Zwergformen des Pferdes ge-
wonnenen Erkenntnisse schätzenswert und wohl zuverlässig bei meinen Ver-
gleichen behilflich gewesen sind. Dieser schwedische Zoologe hat den Nach-
weis erbracht, daß sogenannte Isolate, d. h. je eine zur Fortpflanzung auf sich
allein angewiesene Gruppe von mehreren Pärchen, unter plötzlich veränder-
ten Umweltbedingungen nach Abfolge weniger Generationen zur Zwergform
neigen und diese ziemlich rasch ausgestalten [10].
Der Pygmäentypus, als die Gesamtheit der Sondermerkmale im Erschei-
nungsbilde unserer zentral-afrikanischen Waldmenschen, gibt sich mir als eine
staunenswert günstige Anpassung an die ihr wirtschaftliches und physiologi-
sches Wohlsein schwer behindernde Umwelt zu erkennen, die ich sogar als
aggressiv menschenfeindlich zu veranschlagen wage. Die darin schließlich
heimisch gewordenen kleinwüchsigen Eingeborenen waren ursprünglich hier
nicht zu Hause; sie sind von starken Kräften, deren Wesen und Wirkweise
niemand zu ergründen vermag, vor unberechenbar vielen Jahrhunderten in
diesen unwirtlichen Wohnraum abgedrängt worden.
Zwar kommen sich die im tropischen Afrika eingebürgerten Pygmäengrup-
pen wegen einiger Wesensmerkmale sehr nahe; sie weisen aber gleichzeitig
bedeutsame Unterschiede auf, deren Zahl und Hochgradigkeit mich dazu ver-
anlaßt haben, die oben vorgelegte Dreiteilung durchzuführen. Diese Gliede-
rung ist ein erster Versuch; es braucht nicht zu überraschen, falls sich später
vielleicht vier oder fünf Abteilungen als selbständig kennzeichnen ließen.
120
Martin Gusinde
Die gegenwärtig bestehenden Verschiedenheiten verraten nun ein solches Aus-
maß und eine derartig tiefgreifende Biodynamik, daß die uns bekannten Erb-
gesetze kaum gestatten, eine einzige urtümliche Pygmäenschicht als einst vor-
handen anzunehmen, aus der heraus sich sämtliche heute im tropischen
Afrika lebenden pygmäischen Sondergruppen entwickelt hätten. Die folgende
Erklärung ihres Entstehens bietet vielleicht eine größere Wahrscheinlichkeit.
Annehmen möchte ich nämlich: in weit zurückliegender Zeit, als die Gene
noch einer regeren Labilität unterworfen waren und sich die Spezialisierun-
gen zu Rassen und Unterrassen im negriden Stamme noch nicht heraus gebil-
det hatten, habe sich aus dieser undifferenzierten Menschenschicht, die man
vielleicht als „Proto-Negride“ bezeichnen könnte, die eine und andere Gruppe
von wenigen Familien abgezweigt und als sogenanntes Isolat von fremder
Blutmischung ferngehalten. Als dieses und jenes Isolat in die grundverschie-
dene Umwelt, wie sie der tropische Urwald abgibt, hineingedrängt wurde,
erzwang letzterer mutative Auslösungen in reicher Zahl; unter Mitwirkung
einer scharfen Selektion und bei sich ansteigend verbessernder Anpassung
kam ziemlich rasch eben die Körpermodelung zustande, die sich allein als
lebensfähig erwies und als solche zu erhalten vermochte.
Auf diesem hier gezeichneten Werdegang gibt sich mir das Zustandekommen
der pygmäischen Körperbauform zu erkennen. Eigenlinige Entwicklung je
eines gesonderten Isolates ist es demnach, die in den drei großen Pygmäen-
abteilungen deren individuelle Eigenheiten zur Ausgestaltung gelangen ließ;
unter großenteils gleichen umweltlichen Bedingungen im tropischen Afrika ist
eine nahe oder sehr nahe Ähnlichkeit in den Wesenszügen des somatologischen
Gesamttypus herangezüchtet worden, alles Unterschiedliche erklärt sich aus
einer gewissen Selbständigkeit in der Reaktionswirkung der Gene bzw. aus
einer zwangfreien Richtung der Mutationen.
Das endgültige Wirkergebnis jener selbständigen Isolate ist die über-
raschend vorteilhafte Anpassung der pygmäischen Merkmalsganzheit an ihre
besondere Umwelt. Wie bereits erwähnt, ist jeder europäische Betrachter
durch die innerhalb der gesamten Menschheit absolut niedrigste Körperhöhe
und durch das mit ihr harmonisch gleichgestellte geringe Körpergewicht un-
serer seltsamen Waldmenschen außerordentlich beeindruckt. Bei früheren Ge-
legenheiten habe ich diese beiden Merkmale als Minus-Mutationen ausgege-
ben, was offenkundig und leicht ersichtlich in dem Sinne zu deuten ist, daß
beide im Vergleich zu anderen Rassen und zu einem allgemein-menschlichen
Mittel bloß für das Auge die unterste Grenze darstellen. Inhaltlich gesehen
geben diese beiden Eigentümlichkeiten selbstverständlich ein höchst positi-
ves Plus ab, sie haben eine hochgradige funktionelle Wertigkeit zum Inhalt
und erheben, wegen der von ihnen herbeigeführten vollkommen zweckdien-
lichen Anpassung an die Umwelt, unsere Pygmäen über die sonstigen mensch-
lichen Rasseformen [11].
Den Isolatwirkungen im weitesten Wortsinne und den ortsgebundenen
Selektionsvorgängen schreibe ich die individuellen Eigenheiten der pygmä-
Die Körperform der afrikanischen Pygmäen
121
ischen Großgruppen im tropischen Afrika zu. Diese Aufstellung verfolgt zwar
als hauptsächliches Ziel, eine bedeutsame Erkenntnis zu vermitteln. Darüber
hinaus beabsichtigt sie, die kürzlich ausgegebene Behauptung zurückzuwei-
sen, es seien die Bambuti im Osten des Belgischen Kongo eine „Pygmäen-
standardrasse, deren anthropologische und kulturelle Eigenheiten als Maß-
stab für etwaige andere vorhandene Zwergrassen in Anwendung gebracht
werden, um festzustellen, ob und inwieweit Ähnlichkeiten zwischen ihnen
bestehen ... Die Bambuti-Rasse ist die Pygmäenrasse schlechthin.“ Nun, für
einen in diesem Sinne hier angewandten Begriff einer „Standardrasse“ fehlt
der Platz im erbbiologischen Gedankengut. Auch täte man den Bambuti doch
zu viel Ehre an, wollte man sie als die einzigen Pygmäen auf der ganzen
Welt bewundern. Schließlich will die oben eingeschobene Aufstellung den
leichtfertigen Behauptungen entgegentreten, die zum Inhalt haben, die nahe
Ähnlichkeit einzelner Merkmale im Erscheinungsbilde der Pygmäen und Neger
müsse als Folge aus einer Bastardierung ersterer durch letztere gedeutet
werden. Niemand hat es abgestritten, daß einiges Negerblut da und dort in
manchen Pygmäenstamm hineingeleitet wurde, als beide Volksschichten vor
mehreren Jahrzehnten zur ersten durchwegs feindseligen Berührung sich nahe-
gekommen sind, oder daß seit zwei bis drei Generationen in einigen Distrik-
ten des östlichen Urwaldes öffentlich Zwischenheiraten abgeschlossen wur-
den bzw. heutigentags noch eifriger in einigen Negerdörfern, wegen besorg-
niserregender Unfruchtbarkeit mancher Frauen, angestrebt werden. Leicht
läßt sich indes aber auch die sehr strenge Abweisung jeder Blutmischung der
Pygmäen mit Negern in den meisten und sehr ausgedehnten Wohnräumen der
ersteren darlegen; außer P. Schumacher für die Twa in Ruanda, P. Boelaert für
die Bacwa und Dr. Ouzilleau für die Babinga samt den Sanga-Leuten [12],
habe ich selbst diesen unumstößlichen Nachweis für die überwiegende Mehr-
heit der Bambuti-Bezirke erbracht,
'fr
Die Pygmäen Afrikas sind Insassen des tropischen Urwaldbereiches und
eigentliche Waldmenschen. Sie weisen eine selbständige Rassenbildung mit
homozygoter Erbanlage ihrer Wesensmerkmale auf. Einige dieser letzteren
stellen einmalige Spezialisationen innerhalb der gesamten Menschheit dar und
die Modelung des vollständigen Äußeren erweist sich als eine überaus vorteil-
hafte funktionelle Anpassung an den Aufenthalt im menschenfeindlichen
Urwalde.
Wahrscheinlich hat sich die typische Gestaltung dieser Pygmäen, gesehen als
eine geschlossene Zusammenfassung mehrerer entscheidender Merkmale, bio-
dynamisch herausgebildet aus einer sehr weit zurückliegenden, damals noch
nicht differenzierten negriden Form, mid zwar beginnend als sogenanntes
Isolat. Mehrere dieser Isolate haben ihre individuelle Entwicklung genommen,
wobei eine mutationsauslösende Umwelt und eine scharfe Selektion richtung-
gebend beteiligt waren. Als unausbleibliche Folge zeigen sich zwischen eini-
122
Martin Gusinde
gen pygmäischen Hauptgruppen deutliche Unterschiede, während manche be-
deutsame Wesenszüge sich nahezu gleichen.
Die afrikanischen Pygmäengruppen, unter der Allgemeinbezeichnung:
„afrikanische Twiden“ zusammengefaßt, bilden zugleich mit den Negern den
afro-negriden Rassenzweig. Erstere stehen nicht in einer nahen genetischen
Verbindung mit den Kleinwuchsformen außerhalb Afrikas.
[1] GUSINDE, M. u. LAUSCHER, F.: Meteorologische Beobachtungen im Kongo-Urwald.
Sitzungsber. d. Akademie d. Wiss. in Wien; Mathem.-naturwiss. Kl., Abtlg. II a,
Bd. 150, S. 281—347. Wien 1941.
[2] SCHWEINFURTH, Georg: Im Heraen von Afrika. Leipzig 1922.
[3] GUSINDE, Martin: Die Kongo-Pygmäen in Geschichte und Gegenwart. Nova Acta
Leopoldina; Bd. 11, Nr. 76, S. 147—415. Halle (Saale) 1942.
[4] GREBE-WOLF-WEISSWANGE: Die Chondrodysplasien und verwandte System-
erkrankungen im Röntgenbild. Fortschr, a. d. Gebiet d. Röntgenstrahlen. Bd. 67,
1943.
[5] GATES, R. Ruggles: Human ancestry from a genetical point of view, p. 204. Cam-
bridge, Mass. 1948.
[6] GUSINDE, M.: Pygmäen-Neger-Bastarde im östlichen Kongo-Gebiet. Zs. f. Morpho-
logie und Anthropologie; Bd. 40, S. 92—148, Stuttgart 1942.
[7] Man findet diese Merkmale zu einer zusammengesdikxssenen Gegenüberstellung ver-
einigt in M. GUSINDE: Urwaldmenschen am Ituri. Anthropo-biologische For-
schungsergebnisse bei Pygmäen und Negern im östlichen Belgisch-Kongo a. d.
J. 1934/35. Verlag Julius Springer, Wien 1948.
[8] Diese neue Bezeichnung „Twiden“ wird begründet von M. GUSINDE: Benennung der
afrikanischen Pygmäengruppen. Mitt. d. Geograph. Ges. in Wien; Bd. 88, S. 47
bis 53. Wien 1945; und von P. SCHUMACHER: Les Twides. Zaïre; tome I,
p. 1049—1053. Bruxelles 1949.
[9] Vgl. die aus seiner Feder in nächster Zukunft zu erwartende Abhandlung, betitelt:
Über die Entstehung der Pygmäen. Zs. f. Morph, und Anthropologie; Jg, 42,
Heft 1, 1950.
[10] LUNDHOLM, Bengt: Abstammung und Domestikation des Hauspferdes. Zoologiska
Bidrag fran Uppsala; Bd. 27, S. 1—287. Uppsala 1947.
[11] Ausführlich wird dieser Werdegang geschildert in M. GUSINDE; Die menschlichen
Zwergformen. Experientia; Basel, Jg. 1950.
[12] P. SCHUMACHER: Die Kivu-Pygmäen und ihre soziale Umwelt im Albert-
Nationalpark. Institut des Parcs Nationaux du Congo Belge. Bruxelles 1943.
E. BOELAERT: Quelques Notes sur les Batswa de l’Equateur. Aequatoria; Nr. 2,
p. 58—63. Coquilhatville 1946. Dr. OUZILLEAU: Notes sur la Langue des
Pygmées de la Sanga. Revue d’Ethnologie et de Sociologie; Paris 1911, p. 75—92.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Günther Spannaus, Göttingen
Streiflichter aus dem Leben der Kinder und Jugendlichen
bei den Ndau Südost-Afrikas
(mit Bemerkungen über die Hlengwe)
Zwischen dem Oberlauf des Save (Sabi) im Westen und dem Indischen
Ozean im Osten mit dem Unterlauf des Save als Süd- und etwa dem Pungwe
als Nordgrenze liegt das Wohngebiet der den Shona sprachlich sehr nahe (man
könnte sagen dialektisch) verwandten Ndau-Stammesgruppe. Sie zerfällt in
die Untergruppen der Tombodji im Westen, der Danda im Mittelstreifen und
der Shanga in den küstennahen Gebieten des Ostens. Von den rund 150 000
Ndau leben etwa ein Drittel auf südrhodesischem Gebiet, zwei Drittel in
Portugiesisch-Ostafrika. Die Hlengwe schließen sich als nördlichster Stamm
der großen Tongagruppe südlich des Save an.
Das hier erstmals veröffentlichte Material stammt aus der Mosambikexpe-
dition des Leipziger Forschungsinstitutes für Völkerkunde 1931/32, die vom
Verfasser zusammen mit dem Dresdener Ethnologen Dr. Kurt Stülpner durch-
geführt wurde.
Das im folgenden über Kindheit und Jugend bei den Ndau Gesagte gilt mit
geringen Abweichungen für das Gesamtgebiet der Stammesgruppe.
Die Kindheit ist die Zeit der Spiele, die dann gegen Ende der Jugend mehr
und mehr durch die Teilnahme an den Verrichtungen des täglichen Lebens der
Erwachsenen in den Hintergrund gedrängt werden.
Die Knaben (seltener auch die Mädchen) formen aus Lehm kleine Figuren
wie z. B. Menschen, Tiere, Hütten, Töpfe usw., die sie nach dem Spielen acht-
los beiseite werfen. In Mambone konnte ein kleines Holzboot, bei den Danda
eine Kinderklimper für die Sammlung des Leipziger Instituts erworben wer-
den. Letztere stellte eine kunstvolle Nachahmung des gerade im Vandaugebiet
hochentwickelten Negermusikinstrumentes dar und zeigte die Abstimmung
des Erwachsenengerätes. Beide Spielzeuge waren von Jungen gefertigt.
Aus Kalebassenschale oder Lehm stellen die Knaben runde Schwirrscheiben
her. Durch zwei Löcher, die man in die Mitte der Scheiben gebohrt hat, wird
ein Strick gezogen, dessen Ende man darnach zusammenknüpft. Dadurch, daß
man den Faden nun zunächst um sich selbst dreht und dann im schnellen
Wechsel bald strafft und bald lockert, wird die Scheibe zum Schwirren gebracht
und dabei ein lauter, auf- und abschwingender Ton erzeugt.
Typische Jungenspielzeuge sind verschiedene Arten von Kreiseln. Da gibt
es einmal kurze Rohrzylinder, auf die man kleine, mehr oder weniger runde
Scheiben aus Kürbisschale oder auch die Früchte des „munchim“ (Tamarinden-)
Baumes aufgesteckt hat. Die erstere Art wird meist mit Hilfe eines Gabel-
124
Günther Spanrums
Stockes und eines Strickes aufgezogen oder mit den Fingern in Umdrehungen
versetzt, die letztere Art dagegen mit den Handflächen gedrillt. Man kennt
auch kegelförmige Kreisel (so z. B. auf der Insel Chiloane), die von den Knaben
mit Peitschen getrieben werden.
Mit den Rohrzylinderkreiseln, den Samen der Erderbse oder den nieren-
förmigen Früchten des Cajoubaumes spielen die Jungen eine Art Roulette. Zwei
Spieler drehen mit den Fingern zu gleicher Zeit je einen Kreisel, einen Samen
oder eine Frucht auf einem flachen Stein, gewöhnlich dem, auf dem das Kom
zermahlen wird; derjenige, dessen Kreisel den des Gegners von dem Steine
herabstößt, hat gewonnen.
In Fadenspielen sind sowohl die Knaben als auch die Mädchen sehr bewan-
dert. Die einzelnen Figuren haben besondere Bedeutung und Namen (häufig
Tiere). Als Schaukel dient beiden Geschlechtern ein dicker Holzknüppel, um
dessen Mitte man einen derben Strick aus „dzudzu“-Fasern geknüpft hat, der
mit seinem anderen Ende an dem Aste eines Baumes befestigt ist.
Man kennt eine ganze Anzahl von Bewegungsspielen. Verstecken, Haschen
(„Kriegen“), Wettrennen und Wetthüpfen auf einem und demselben Bein
sind bei beiden Geschlechtern beliebt. Beim Haschen gibt es bestimmte Stel-
len, wie z. B. Bäume, Steine oder auch ein auf den Erdboden gezogener Kreis,
an denen man sich ausruhen kann und nicht gefaßt werden darf. (In Südhan-
nover nannten wir diesen Platz beim „Kriegenspielen“ „verlaubt“.)
Das „Zicklein in der Hürde“ („chimbudzi mu danga“) ist ein Mädchenspiel,
das möglicherweise auf den Einfluß der Mission zurückgeht. Man hält sich
dabei an den Händen und bildet einen Kreis („danga“ = Hürde), den ein in
dessen Mitte das „Zicklein“ spielendes Mädchen zu durchbrechen sucht.
Stelzenlauf, Purzelbaumschießen, Springen über Pfähle und Klötze, Ring- und
Faustkämpfe und schließlich Scheingefechte (Kriegsspiele) sind, wie im ganzen
auch die verschiedenen Ballspiele, Angelegenheiten der Knaben. Die Stelzen,
kräftige Holzstangen mit ausgespartem Tritt für die Füße, bindet man mit
Baststreifen an den Unterschenkeln fest. Die Scheingefechte werden oft mit
Ruten oder Stöcken ausgetragen. Man kennt auch regelrechte Zweikämpfe, bei
denen man mit einem belaubten Zweig auf den Gegner eindringt, während
man mit einem anderen dessen Schläge abzuwehren sucht.
Zum „dema“-Spiel verwendet man armlange, etwa fingerdicke Stöcke, die
vorne zugespitzt sind, und die abgerundete Wurzelknolle einer Art von wilder
Lupine, zuweilen aber auch einen aus Gras und Ranken geflochtenen Ring oder
einen Reifen. Letzteren stellt man her, indem man einen Zweig entblättert
und zu einem Kreis zusammenbiegt. Die Enden werden durch eine Umwicke-
lung mit Grasstreifen fest miteinander verbunden. Zwei gleich starke Parteien
stehen sich frontal gegenüber, wobei die einzelnen Spieler jeder Partei in
Reihe hintereinander auf gestellt sind. Eine Partei rollt der anderen das „dema
zu, und diese sucht es nun mit ihren Stöcken zu treffen. Gelingt ihr dies, so
werden die Plätze gewechselt.
Streiflichter aus dem Leben der Kinder bei den Ndau
125
„homa“ ist eine Art Hockey. Es wird mit Stöcken, die an ihrem unteren
Ende gekrümmt sind, und einem kugeligen oder zylindrischen Holz- oder
Wurzelstück oder dem harten, runden Fruchtkern der Borassuspalme von zwei
Parteien zu ungefähr je vier Mann gespielt. Die Tore, durch die der Ball ge-
trieben werden muß, markiert man mit Strichen auf dem Erdboden. Bei einem
anderen, weit verbreiteten Ballspiele benutzt man einen aus Gras oder Laub
angefertigten, mit Baststricken umflochtenen Ball, den sich die Spieler gegen-
seitig zuwerfen, oder den einer der Beteiligten nach einem anderen wirft.
Trifft er jemanden, so wird dieser zum Werfer.
„Njeka“ ist ein Geschicklichkeitsspiel, in dem sich besonders die Mädchen
üben. Die Teilnehmerinnen sitzen um ein im Erdboden ausgehöhltes Loch,
in das man etwa 20—30 kleine Steine, Topfscherbenstücke oder Fruchtkerne
gelegt hat. Es gilt nun mit ein und derselben — gewöhnlich der rechten —
Hand einen etwa faustgroßen Stein hochzuwerfen, einen der kleinen Steine
schnell aus dem Loche zu nehmen und gleich darauf den wieder herabkom-
menden Fauststein aufzufangen. Glückt dieses, so hat die Spielerin den klei-
nen Stein für sich gewonnen und darf den großen nochmals werfen; läßt sie
diesen aber fallen, so kommt die Gefährtin, die ihr zur Rechten sitzt, als nächste
an die Reihe. Hat ein Mädchen den letzten Stein aus dem Loche genommen,
so werden, damit es weiter spielen kann, die Steine, die seine Nachbarin zur
Rechten erlangt hat, in die Aushöhlung zurückgetan. Diejenige, die schließ-
lich alle Steine gewinnt, ist Siegerin. Abwandlungen dieses Spiels beschreiben
z. B. Bivar und Junod [1].
Dem „njeka“-Spiel der Mädchen ähnelt das „Magindhlana“ der Jungen,
dessen Name auf Herkunft von Süden deuten könnte. Bei ihm sucht man mit
einem Holzstäbchen, das man zwischen den Zeige- und Mittelfinger der rech-
ten Hand nimmt, mit dem Zeigefinger der linken Hand nach rückwärts spannt
und dann losschnellen läßt, kleine, von den Zweigen eines bestimmten
Busches losgelöste Rindenstücke zu speeren, die in einer im Erdboden aus-
gegrabenen Vertiefung liegen; trifft man eins von ihnen, so nimmt man es her-
aus. Dies wird, wie beim „njeka“, so lange fortgesetzt, bis jemand alle Rinden-
stücke für sich gewonnen hat.
Altere Knaben versudien sich auch in dem „tsoro“ genannten Spiele, das
sich unter den erwachsenen Männern besonderer Beliebtheit erfreut. Es wird
von zwei Partnern mit Steinen oder Fruchtkernen in vier parallelen Reihen
von Erdlöchem nach bestimmten Regeln gespielt [2].
Ein großer Teil der Kinderspiele besteht darin, die Tätigkeiten der Erwach-
senen nachzuahmen.
Die Knaben stellen mit zugespitzten Stöcken, selbstgefertigten kleinen
Bögen und Pfeilen aus hartem Gras oder Holz, Schlingen und Fallen den
Vögeln und allerhand Kleintieren wie Ratten, Mäusen, Fröschen usw. nach.
Sie gehen auch mit Angelschnüren und Angelstöcken auf Fischfang aus.
Die Mädchen spielen mit Puppen, die ihnen von ihren Müttern angefertigt
werden. Sie bestehen aus mehreren, durch ein netzartiges Geflecht aus Rin-
denbastfasem zusammengehaltenen, entkernten Maiskolben, und sind über
126
Günther Spannaus
und über mit einem Gemisch aus roter Erde und öl beschmiert. Die Mädchen
geben ihnen Namen, meist Mädchennamen, und schleppen sie zuweilen, wie
die Frauen ihre Säuglinge, in kleinen Tragledem auf dem Rücken mit sich
herum.
Wie die Puppe, so gilt auch der Rasselball und die Brettrassel eines Mäd-
chens sowie das kleine viereckige, zusammengefaltete Stück Tuch, in dem es
seine Perlen, Armspangen, Ringe und meist auch ein wenig Schnupftabak
aufbewahrt, als „sein Kind“ („chinyamwana“); berührt man eines dieser
„chinyamwana“ oder erhält man etwas Schnupftabak aus jenem Tuchtäschchen
angeboten, so muß man dafür seiner Besitzerin ein kleines Gegengeschenk
geben.
Die Puppe des Hlengwe-Mädchens ist von der des Ndau-Kindes verschie-
den. Sie hat die Form einer Hantel und besteht aus zwei kugelförmigen Früch-
ten („damba“), die durch ein zylindrisches, meist mit Zeugfetzen umhülltes,
hölzernes Mittelstück miteinander verbunden sind, und von denen die eine
den Unterleib, die andere den Kopf darstellen soll. Als Augen werden jetzt
meist zwei weiße europäische Hemdenknöpfe eingesetzt, während die Haar-
tracht durch eingebrannte Linien wiedergegeben wird.
Nach der Ernte errichten die Kinder in den abgeernteten Feldern aus Zwei-
gen und Gras kleine Hütten, in denen sie sich tagsüber aufhalten und
„Familie“ spielen. Die Knaben gehen eifrig auf die Jagd und den Fischfang;
die Mädchen lesen übriggebliebene Feldfrüchte zusammen, kochen und be-
reiten zuweilen sogar Bier.
Sobald die Kinder alt genug sind, werden sie von ihren Eltern zur Unter-
stützung bei den verschiedenen täglichen Arbeiten herangezogen. Den Kna-
ben liegt es im besonderen ob, die Ziegen zu hüten und während des Heran-
reifens der Feldfrüchte Affen und Vögel von den Pflanzungen fernzuhalten.
Solange ihre Schwestern noch klein sind, oder falls sie überhaupt keine haben,
helfen die kleineren Jungen aber auch ihrer Mutter bei Arbeiten, die sonst
jenen zufallen würden, wie z. B. bei der Beaufsichtigung der kleineren Ge-
schwister, beim Stampfen des Kornes, ja sogar beim Herbeiholen des Was-
sers und beim Aufwaschen des Eßgeschirrs, Die Mädchen gehen ihrer Mutter
beim Warten der jüngeren Brüder und Schwestern, im Haushalte und beim
Einsammeln von Kleingetier und wildwachsenden Gemüsen, von Früchten
und Wurzeln zur Hand; sind sie größer, so lernen sie auch kochen und töpfern.
Etwa vom sechsten oder siebenten, in manchen Gegenden auch erst vom
zehnten oder elften Lebensjahre an schlafen die Knaben einer Familie bis zu
ihrer Verheiratung in einer gemeinsamen, innerhalb des Gehöftes gelegenen
Hütte. Die Mahlzeiten nehmen sie nunmehr in der Gesellschaft der Männer
ein. Sie spielen von jetzt ab nicht mehr zusammen mit den Mädchen; tun sie
es einmal ausnahmsweise dennoch, so werden sie und ebenso jene von ihren
Altersgenossen bzw. -genossinnen ausgelacht und mit Spottnamen belegt. Die
heranwachsenden Mädchen bleiben gewöhnlich noch weiterhin in der Hütte
ihrer Mutter.
Streiflichter aus dem Leben der Kinder bei den Ndau
127
Für die verschiedenen Altersstufen von Jungen und Mädchen etwa zwischen
6 und 18 Jahren gibt es besondere Bezeichnungen, die im einzelnen hier zu
nennen, zu weit führen würde.
Trotz dieser entwickelten Nomenklatur gibt es jedoch keine eigentliche
Altersklassenorganisation.
Die Knaben werden in geschlechtlichen Dingen von ihrem Vater oder
Großvater, die Mädchen von ihrer Mutter oder Großmutter unterrichtet. Die
Pubertät tritt — nach den Angaben der Eingeborenen — bei den Jungen
etwa zwischen dem vierzehnten und sechzehnten, bei den Mädchen zwischen
dem zwölften und vierzehnten Jahre ein. Irgendwelche größeren Festlichkeiten
anläßlich der Reife konnten (bei den Ndau) weder für das männliche noch
für das weibliche Geschlecht festgestellt werden. Das Mädchen teilt den Ein-
tritt der ersten Menstruation einer der im Gehöfte wohnenden Frauen mit, die
daraufhin seinen Vater von dem Ereignis in Kenntnis setzt. Einen Zug aus
dem spärlich entwickelten Brauchtum um die erste Menstruation eines Ndau-
mädchens berichtet Bivar [3] aus der Gegend von Sofala. Hier bindet sich
das Mädchen, wenn sich die Regel zum ersten Male einstellt, eine Schnur aus
Pflanzenfasern um den Leib, die es nach Beendigung der Periode seiner Mut-
ter übergibt. Diese verschafft sich ihrerseits einen Baumwollstreifen, macht
in dessen Mitte eine Schlinge und legt ihn unter die Schlafmatte, auf der sie
sich dann mit ihrem Gatten geschlechtlich vereinigt. Nach vollzogenem Bei-
schlaf ergreifen die beiden Eltern je ein Ende des Streifens und ziehen die
Schlinge zu einem Knoten zu. Die Mutter bindet sich darauf den Streifen um
den Leib. Die ganze Zeremonie soll den Zweck haben, die mannbar ge-
wordene Tochter vor späteren Fehlgeburten zu bewahren.
Bei den Hlengwe wird das erste Auftreten der Menstruation durch ein be-
sonderes Fest gefeiert. Das Mädchen begibt sich, sobald sich die Regel bei ihm
zum ersten Male zeigt, zu einer seiner Großmütter oder älteren Schwestern,
vertraut sich ihr an und bleibt nun etwa sechs Tage lang in ihrer Hütte. Jene
teilt das Vorgefallene den nächsten Verwandten und Bekannten mit und be-
reitet zusammen mit den übrigen Frauen ihres Gehöftes Bier. Am Morgen
des sechsten Tages versammeln sich die weiblichen Angehörigen der Ver wandt -
und Bekanntschaft vor der Hütte, in der sich die Menstruierende befindet, und
singen und tanzen. Die verheirateten Frauen nehmen dann das Mädchen, das,
«damit es sich nicht schämt“, von zwei seiner Freundinnen begleitet wird, in
ihre Mitte, führen es zu einem in der Nähe befindlichen Gewässer, waschen es
dort und bringen es wieder nach der Hütte zurück, in der es nun mit einem
Gemisch aus roter Erde und öl eingerieben und darauf angeputzt wird. Den
am Nachmittag desselben Tages stattfindenden Feierlichkeiten wohnen auch
die Männer bei. Von der Tür jener Hütte aus werden nach der Mitte
des Gehöftplatzes zahlreiche Matten zu einem T-förmigen Läufer aneinander-
plegt, an dessen Seiten sich die an dem Fest teilnehmenden Frauen aufstel-
en- Inmitten einer Schar von Weibern kommt nun das Mädchen, das mit einem
großen Tuche verhüllt ist, samt seinen zwei Begleiterinnen, die ebenfalls unter
Decken verborgen sind, in tiefgebückter Haltung aus der Hütte heraus. Die
128
Günther Spanrums
spalierbildenden Frauen empfangen es mit Gesang und Händeklappen und
schließen sich dem Zuge an, sobald er sich ihnen nähert. Die drei Mädchen
schreiten langsam auf den Matten vorwärts, lassen sich einige Male auf ihnen
niederfallen und setzen sich schließlich auf die zuletzt liegenden nieder. Die
verheirateten Frauen treten nun nacheinander an das mannbar gewordene
Mädchen heran, schlagen es leicht mit einer Gerte, sprechen es dabei mit dem
Namen, den es von nun an tragen soll, an und überreichen ihm Geschenke.
Eine ältere Frau stellt ihm darauf einen Topf voll Bier auf den Kopf, rührt
dieses dort um, nimmt das Gefäß dann wieder herab und gibt dem Mädchen
davon zu trinken. Darnach setzt man ihm etwas Mehlbrei vor, von dem es
ebenfalls kosten muß. Das Tuch, mit dem das Mädchen bislang verhüllt war,
wird mm hinweggezogen; die reife Jungfrau erhebt sich und begibt sich ge-
senkten Hauptes zusammen mit ihren zwei Begleiterinnen in die Hütte, aus
der sie gekommen ist, zurück, worauf sich die Festteilnehmer zu gemeinsa-
mem Schmause und Trünke niederlassen.
In Marindire am Save, wo wir den zweiten Teil der eben geschilderten
Zeremonien beobachten konnten, trug das mannbar gewordene Mädchen als
besonderen Schmuck ein rotes europäisches Schnupftuch, in das eine mit Glas-
perlen besetzte schwarze Straußenfeder gesteckt war, um den Kopf. Es wird
nach dem Feste sorgfältig aufbewahrt und bei der Eheschließung dem Gatten
vorgezeigt. Es kostete lange Bemühungen und eine verhältnismäßig sehr hohe
Gegenleistung, ehe das erwähnte Stück eingetauscht werden konnte.
Man muß die merkwürdige Atmosphäre eines solchen Festes selbst erlebt
haben, um zu verstehen, was Feiern dem Primitiven bedeuten können: Scham
und Scheu und doch auch wieder Stolz in dem Benehmen der Initiandin, Wis-
sen und Güte, aber auch Autorität in den Worten und Handlungen der Frauen,
Interesse, Festesfreude (bei einigen auch pikante Bemerkungen) in dem Auf-
treten der Männer, die als Gäste der Veranstaltung im weiten Kreis den Ort
der Handlung umlagerten.
Beim Eintritt in die Reife ersetzt man bei den Jugendlichen beider Ge-
schlechter den Kindernamen, den sie bei der Geburt erhielten, durch einen
neuen (d. h. natürlich nur den Beinamen, wenn man das so nennen will, nicht
den vererbten Namen der Sippe). Leute, die bei Weißen beschäftigt sind,
legen sich häufig entweder selbst für die Zeit ihres Dienstes einen Namen aus
der Sprache des betreffenden Weißen zu oder bekommen ihn von diesem ver-
liehen. Jedoch gilt dieser Name nur im Verkehr mit Weißen, nicht mit Volks-
genossen.
Während die verheirateten Frauen, zumal wenn sie Säuglinge haben, den
Oberkörper unverhüllt lassen, knüpfen die mannbar gewordenen ledigen Mäd-
chen ihre Gewänder über den Brüsten fest zusammen. Bis zu ihrer Verhei-
ratung wird von ihnen Keuschheit verlangt, in Wirklichkeit aber wohl oft schon
vor und zumal während ihrer Verlobungszeit wenig eingehalten. Schwängert
jemand ein Mädchen, so muß er entweder die uneheliche Mutter heiraten
oder ihrem Vater eine hohe Entschädigung zahlen.
Streiflichter aus dein Leben der Kinder bei den Ndau
129
Zwischen dem 15. und wohl spätestens dem 20. Lebensjahre treten beide
Geschlechter (die Mädchen häufig auch noch früher) in die Ehe ein. Damit ist
ihre Kindheit und Jugendzeit endgültig beendet.
Welche charakteristischen Züge ergeben sich nun aus der vorangegangenen
Darstellung in dem Leben und Treiben der Kinder und Jugendlichen bei den
Ndau (und Hlengwe)? Es wurde absichtlich nur von „charakteristischen
Zügen“ und nicht von einem „Gesamtbild“ gesprochen, denn zu letzterem
würde eine vollständige Darstellung der Erziehung und der Einspannung der
Jugendlichen in die geschlossene Welt von Sitte und Brauchtum gehören, die
die Verhaltungsweisen gegenüber den Eltern, den übrigen Verwandten ver-
schiedenen Grades und Geschlechtes, der älteren Generation im allgemeinen
und den sozial höher Gestellten (Häuptling, Zauberer etc.) regeln, was in
diesem Zusammenhang zu weit führen würde.
Immerhin wird soviel deutlich: Es ist das Bild einer patriarchalen (Hack-)
Bauemkultur, das uns hier auf einem kleinen Teilgebiet gezeigt wird. Das
Schwergewicht des sozialen Lebens ruht im Schoße der Einzelfamilie, was
durch die geographisch bedingte Siedlungsform, die Einfamiliensiedlung, noch
besonders unterstrichen wird. Gewiß, was Sitte und Brauch ist, wird nicht von
dort her, sondern von der größeren, über zahlreiche Familien reichenden Sip-
penorganisation und schließlich von der Stammesgemeinschaft bestimmt. Aber
es gibt keine, auch nur zeitweilige Zusammenfassung größerer Gruppen von
Jugendlichen in Altersklassenorganisationen, Buschschulen zur Vorbereitung
der Aufnahme in Männer- (oder Frauen-)Bünde usw., die Erziehung und
Spiel der jungen Menschen entscheidend und einheitlich formen könnten, wie
das in manchen anderen Teilen Afrikas, besonders im Westen des Kontinentes,
der Fall ist. Das war nicht immer so. Der von dem Zulufürsten Chaka im zwei-
ten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ausgehende Eroberungssturm jenes krie-
gerisehen Bauern- und Hirtenstammes hat auch das Ndau- und Hlengwegebiet
überflutet und unterworfen. Bis gegen Ende des Jahrhunderts hat dann (1896)
die militärische Altersklassenorganisation und kriegerische Erziehung durch
die Eroberer das Bild der männlichen Jugend geformt.
Wenn auch die Erinnerung an die kriegerische Zeit der Zulueroberung (von
den Ndau Vatua genannt) bei den Erwachsenen noch durchaus lebendig ist
neben älteren Überlieferungen an eine ebenfalls von außen herangetragene
Zeit politischer Hochentwicklung (Mambotradition und Monomotapa?), so ist
doch der Kern einer alten, friedlichen Bauernkultur als tragender Untergrund
erhalten geblieben, und dieser alte Kern ist es, der im Leben der Jugend sicht-
bar wird.
Von den zahlreichen Spielen sind diejenigen, die echten Spielcharakter tra-
gen, d. h. um ihrer selbst willen betrieben werden und nicht einfach Nach-
ahmung der Tätigkeit Erwachsener sind, fast ausnahmslos Jungenspiele, die
freilich z. T. von den kleinen Mädchen mitgespielt bzw. nachgeahmt werden.
Auffällig ist das Anklingen verschiedener Spielmotive an europäische Kinder-
spiele, ohne daß, wie im Falle des „Zicklein-in-der-Hürde“-Spieles, der Ein-
fluß der Weißen nachgewiesen oder als wahrscheinlich anzusehen ist.
ahrbudi 1951 Lindenmuseum
130
Günther Spanrums
Mit der räumlichen Trennung der Geschlechter etwa vom 9. bis 10. Jahre
(oder auch etwas früher) an ändert sich das Bild. Die Jungen treten zu den
Männern, essen mit ihnen zusammen (vor den Frauen und Mädchen!), und
beide Geschlechter wachsen nun auch im Spiel immer mehr in die Welt der
Erwachsenen hinein.
Die Vorbereitung der Jugendlichen auf das sexuelle Leben trägt wiederum
patriarchalisch-familienhafte Züge. Es ist erstaunlich und ein Zeichen der
Beharrungskraft alter Bauemkultur, wie schnell und gründlich der ausgespro-
chen kriegerische Charakter der Zuluerziehung mit ihrer Zerstörung der Familie
(durch Zuteilung heiratsfähiger Mädchen an im Kriege verdiente Jünglinge
durch den fremden Herrscher) wieder abgelegt wurde.
[1] Beide zitiert in: G. SPANNAUS, Portugies. Ostafrika (Bematzik, Handbuch d. ange-
wandten Völkerkunde, Innsbruck 1947).
[2] Gute Beschreibung dieses meist als Brettspiel über große Teile des Kontinentes ver-
breiteten Spieles bei P. GERMANN: Die Völkerstämme im Norden von Liberia.
Leipzig 1933. Dort auch sonst manche ähnlichen Spiele.
[3] S. Anmerkung zu 1.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Hermann Trimborn, Bonn
Die Erotik in den Mythen von Huarochiri
Die dem Doktor Francisco de Avila von Eingeborenen in die Feder diktier-
ten Khetsdma-Texte haben als ausführliche frühe Eigenaussagen über Volks-
brauch und Volksreligion einen um so unschätzbareren Quellenwert, als sie
einem abgelegenen Teile Perus entstammen (dem Oberlaufe des Malaflusses
am Abfall der mittelperuanischen Westkordillere), der wenig inkaischen und
noch weniger spanischen Einfluß erfahren hatte. Fernab von höfischer Färbung
oder gelehrter Trockenheit gewähren sie uns einen Einblick auch in private
Sphären — beispielsweise mit Fragmenten von Konversation —, ja: in den
höchst persönlichen Lebensbereich des Erotischen. Das ist um so begrüßens-
werter, als eine Lektüre der ethnographischen und ethnologischen Literatur
nicht selten den Eindruck erweckt, als ob das Denken der Menschen hauptsäch-
lich um Webetechniken, Ornamente und Sintflutmotive kreise! Auch aus dem
Gemeinschaftsleben des Indianers war die Erotik „verdrängt“; selbst eheliche
Erotik konnte (z. B. nach einer Zwillingsgeburt [1]) im Zuge ritueller Enthal-
tungen „Sünde“ sein. Sie kommt dafür aber in Motiven des Mythus zum Wort:
hier wird das ausgesprochen, was in intimen Schichten des Einzelbewußtseins
als Wunsch erlebt wird, wovon man aber nicht spricht; es findet also eine ge-
wisse Verdrängung auf die höhere Ebene des Mythisch-Religiösen statt. Wir
haben dazu ein Gegenbeispiel in bekannten Darstellungen der nordperuani-
schen Vasenmalerei, von denen Kutscher [2] mit Recht bemerkt: „Ihre Symbole
und Gestalten entspringen häufig genug jenen dunklen Tiefenschichten, die
einen allgemein menschlichen Charakter tragen.“
So hat die in der peruanischen Gesellschaft gültige strenge Bindung an
einen Ehepartner, bei welcher der Ehebruch mit dem Tode gesühnt und eine
Scheidung der Ehe unmöglich war, den Wunschtraum der geschlechtlichen
Freiheit in den Mythus verlagert, wenn die Fruchtbarkeitsgöttin Chaupinamca
nach Belieben mit allen Gottheiten „sündigen“ kann [3]. Als einzige Lockerung
solcher strengen Bindung finden wir bei Völkern mit entsprechender Kultur-
lagerung nicht selten als „orgiastisch“ bezeichnete kultische Anlässe, wie sie
z. B. auch bei einem Erntefeste der Muisca üblich waren [4]; in Peru begegnen
sie bei jenen kultischen Wettläufen, wie Kutscher [5] sie in Deutung der
Vasengemälde und in Beziehung zur Fruchtbarkeit der Bohnen geschildert
hat und die Avila gelegentlich des Pariacaca-Festes Auquisna und des Chau-
pinamca-Festes Chaicasna und in Beziehung zur Fruchtbarkeit der Lamas be-
schreibt [6]. Entsprechende Darstellungen der Chimü beweisen dabei, daß
es sich hier um eine Wiederholung mythischen Urzeitgeschehens handelt, und
daß diese Wettläufe mit der Vereinigung irgend eines Mannes mit irgend einer
dabei von ihm eingeholten Frau verbunden waren, wird zwar nicht in Avilas
Mythen von Huarochiri erzählt, geht aber aus einer von Karsten [7] über-
132
Hermann Trirnborn
nommenen Schilderung des Pedro Villagömez [8] hervor. Im übrigen aber
wurde nicht nur die strenge Bindung an den erotischen Rahmen der Ehe, son-
dern auch die Jungfräulichkeit der unverheirateten Mädchen gewahrt; sie
unterstanden der Aufsicht der Mutter, so daß auch im Mythus die ältere Tochter
der „Taubengebärerin“ von Coniraya nur deshalb verführt werden kann,
„weil die Mutter abwesend war“ [9]!
Zum Geschlechtsurteil des Mannes hören wir etwas farblos, daß Anchicara,
ein Quellgott, sich angesichts der „Schönheit“ der zarten Huaillama sofort
verliebte; nach ihrer Vereinigung beschlossen sie vor lauter Gefallen anein-
ander, für immer zusammen zu sein, und erstarrten an Ort und Stelle zu Stein
[10]. Den Gott Collquiri bezauberte Capyama durch ihren schönen Tanz, als
er von einem Berge herab Ausschau nach der Gesuchten hielt [11]. Tutaiquiri
aber wird von einer Schwester der Göttin Chokesuso dadurch verführt, daß sie
scheinbar von ungefähr an seinem Wege sitzt und dabei — was im Leben der
Indianer natürlich verpönt war — Scham und Brüste sehen ließ, ein Anblick,
dessen aktiv erogene Wirkung den indianischen Mythenerzählem also bewußt
war [12]. Anders wieder die psychologische Motivation, die zur Befruchtung
Cahuillacas durch Coniraya führt: hier ärgert der Gott sich darüber, daß die
Schöne es in ihrer Sprödigkeit fertig gebracht hat, Jungfrau zu bleiben und
alle Männer, die sich um ihre Reize bewerben, abzuweisen; so hüpft er als
Vogel auf einen Baum, von dem er eine mit seinem Samen gefüllte Frucht
herabfallen läßt, die das darunter sitzende Mädchen verspeist [13].
Umgekehrt ist Capyama sogleich in Collquiri verliebt, als dieser in der Ge-
stalt eines schönen Jünglings vor sie tritt und sie mit schmeichelnder Rede
umwirbt, so daß sie nicht zögern kann, sich ihm hinzugeben [14]. In derberer
Weise äußert sich das Geschlechtsurteil der Frau, wenn Chaupinamca, die es
ja mit allen versuchte, nach dem Verkehr mit Rucanakoto befindet: „Nur
dieser Mann taugt etwas“, weil „Rucanakoto“ (später zum phallischen
„Fingerberge“ versteinert) der einzige war, der sie mit seinem großen Gliede
befriedigte [15]. Zu diesem Rucanakoto beteten deshalb auch Männer mit
kleinem Glied, daß es wachse [16]. Zu gleichem Zwecke vollführte man den
Huantaycocha genannten Tanz, ursprünglich wohl mit Puma-, später mit
Lamamaske. „Jetzt wächst er“, rief man dabei den tanzenden Männern zu;
und gleichfalls beim Chaupinamca-Feste Chaicasna, um Fronleichnam, wurde
der exhibitionistische Tanz Casayaco aufgeführt, bei dem wohl das gleiche
Geschlechtsurteil unterstellt wurde, wenn die Männer erst mit Baumwollhose
bekleidet, dann aber völlig nackt auftraten und mit dem Ruf schlossen: „Nun,
da sie unsere Scham sieht, ist Chaupinamca froh“ [17].
Daß den peruanischen Hirtenvölkern der Zusammenhang zwischen Ge-
schlechtsorganen und Zeugung bekannt war, geht aus einem von Tello [18]
angeführten Mythus um Pariacacas Rivalen Huallallo hervor. Auch Huallallo
verliebt sich in Göttinnen und bietet ihnen kennzeichnende Geschenke (meist
Wasser oder Pflanzen) an; bei einem solchen Verführungsversuche entreißt eine
Göttin ihm einen Hoden, was in der Mythe als „explanatorisches“ Motiv für
Die Erotik in den Mythen von Huarochiri 133
die Trockenheit dient, die künftig der Wasserleitungen für die Pflanzungen
bedarf.
Wir würden aber der Weite des menschlichen Bewußtseins, seiner Viel-
schichtigkeit und der Spielbreite seiner Äußerungen nicht Rechnung tragen,
wenn wir nur den Trieb nach körperlicher Besitzergreifung und sinnlicher
Vereinigung sähen. Auch bei den Indianern Perus wird das begehrte Mädchen
zum vergötterten Idol, und die in „jenen dunklen Tiefenschichten“ wachen
Wünsche befruchten die gedankliche Phantasie, lösen die Zunge und äußern
sich in sublimen (und gesellschaftsfähigen) lyrischen Ansprachen der Gelieb-
ten. Hören wir eine Probe auch davon in einem von Jesús Lara [19] veröffent-
lichten Gedicht in vierfüßigen Trochäen, das ich nach Middendorfs phonetischer
Umschrift transkribiere und ohne poetischen Anspruch in einer sinngetreuen
deutschen Fassung wiedergebe:
Kanmi canqui sumaj t’ica
ñokatajmi t’urpu-quisca
Kanmi canqui cusi-causay
ñokatajmi llaqui-miray
Kanmi canqui llumpaj urpi
ñokatajmi ‘kelli ch’uspi
Kanmi canqui rit’i-quilla
ñokatajmi tuta-llaquiy
Kanmi canqui ruruj mallqui
ñokatajmi mulPpa k’aspi
Kanmi canqui ñokaj inti
ñokatajmi tuta-llaquiy
Causayniypa causayninmi
Kan munaskay capuhuanqui
Kanpin chusi-sarunayqui
Chaquiyquipi ullpuicuni
Raqui-raqui mast’ariska
K’omermanta ur'kulliska
Yurajmanta p’achalliska
Capuhuanqui sumaj ch’aska
Llica-llica yuraj ‘puyu
Misk’i unu ch’uya pujyu
Capuhuanqui llamp’u llulmiy
ñokatajmi yana llan‘tu.
Du bist eine schöne Blume,
und ich ein stechender Dorn;
von Dir geht Lebensfreude,
von mir aber Trübsal aus.
Du bist eine reine Taube,
und ich eine schmutzige Fliege;
Du bist der schneeige Mond,
ich aber nächtliche Traurigkeit.
Du bist ein früchtetragender Baum,
ich aber ein modernder Stamm;
Du bist meine Sonne,
und ich die Trübsal der Nacht.
Meines Lebens Leben
wirst Du, meine Geliebte, für mich;
ich breite mich als Dein Teppich
zu Deinen Füßen aus.
Während Du, grün gewandet,
Dich wie ein Farn entfaltest,
wirst Du mir, weißgekleidet,
zum schönen Morgenstern.
Durchscheinende weiße Wolke,
süßen Wassers klarer Quell,
wirst Du für mich zur milden Täuschung,
der ich Dein schwarzer Schatten bin.
134
Hermann Trimborn
[1] TRIMBORN, Hermann: Dämonen und Zauber im Inkareich. Nachträge zum Khetschua-
werk des Francisco de Avila. In Zeitschrift für Ethnologie, Jg. 73, 1941, S. 159.
[2] KUTSCHER, Gerdt: Chimu, Eine altindiamsche Hochkultur. Berlin 1950, S. 27.
[3] TRIMBORN, Hermann: Francisco de Avila. Dämonen und Zauber im Inkaredch. Leip-
zig 1939, S. 98.
[4] TRIMBORN, Hermann: Das Recht der Chibcha in Columbien. In Etimológica, 1930,
S. 33/4 (nach Pedro Simón, 2.4.10).
[5] KUTSCHER, loe. cit., S. 84, sowie die Legenden der Abb. 36, 38, 50, 54 und 67.
[6] TRIMBORN, Hermann: Francisco de Avila, S. 95, 98.
[7] KARSTEN, Rafael: The Civilization of the South American Indians. London-New York
1926, S. 431.
[8] VILLAGOMES, Pedro de: Exortaciones e instrucción acerca de las idolatrías de los
indios del arzobispado de Lima. Colección de libros y documentos referentes a la
Historia del Perú, t. XII, Lima 1919, S. 173.
[9] TRIMBORN: Francisco de Avila, S. 80.
[10] ebd.: S. 130.
[11] ebd.: S. 133.
[12] TRIMBORN: Dämonen und Zauber im Inkareich, S. 157.
[13] TRIMBORN: Francisco de Avila, S. 78.
[14] ebd.: S. 134.
[15] ebd.: S. 98.
[16] ebd.: S. 98.
[17] ebd.: S. 99.
[18] TELLO, Julio C. y Próspero Miranda: Wallallo. Ceremonias Gentílicas realizadas en
la Región Cisandina del Perú Central (Distrito Arqueológico de Casta). In „Inca“,
vol. I, Lima 1923, S. 513, 515, 516.
[19] LARA, Jesús: La poesía quedma. México-Buenos Aires 1947, S. 171/2.
Jahrbudi des Lindenmuseums, N.F., Baad 1, 1951
Andre Eckardt, Starnberg
Die Sam-Ginseng-Pflanze als koreanisches Kulturgut
Schrifttum und Interesse für die merkwürdige Ginsengpflanze bzw. Ginseng-
wurzel haben, zum Teil angeregt und gefördert durch meine verschiedenen
Aufsätze [1], in den letzten Jahrzehnten so sehr zugenommen, daß es angezeigt
erscheint, die bisherigen Forschungsergebnisse über diese Pflanze als Heil-
kraut wie als Kultpflanze zusammenzufassen und ihre weittragende Bedeutung
für die vergleichende Völkerkunde erneut und in exakter Form darzulegen.
Während meines fast 20jährigen Aufenthaltes im Femen Osten hatte ich
Gelegenheit, besonders auf den Bahnhöfen in Korea wie in Japan (weniger
in China), den Namen Insam (koreanisch), Jintan (japanisch) und Jenschen
(chinesisch) in Form von Pillen oder Tabletten als Reisemedizin angepriesen zu
hören. Vor allem in Korea wird Insam als Lebenselixir in Drogerien und Apo-
theken, aber auch von Straßenverkäufern, Hausierern und Händlern ange-
boten, und in schreiender Reklame leuchtet der Name in chinesischer Wort-,
in japanischer Silben- oder in koreanischer Buchstabenschrift von Dächern und
Kaufläden. Als Pulver und Pillen, als milchiger Brei und Marmelade, als Salbe,
Tee, Wein, Likör und Schnaps sowie in Verbindung mit vielen anderen Medi-
kamenten wurden und werden Präparate aus der Ginsengwurzel verwendet.
Trotzdem war es für den Durchreisenden, der die Schriften nicht lesen
konnte und die Ausrufe nicht verstand, unmöglich, sich ein Bild von der Ver-
breitung der Pflanze als Droge wie als Genußmittel und von ihrer Popularität
zu machen. Auch mir erging es in den ersten Jahren meines Aufenthaltes in
Korea ähnlich: der Name In-sam (Menschen-Sam) war mir geläufig geworden,
ich hatte auf meinen oft ausgedehnten Fahrten mit Eisenbahn, Auto, Rikscha
und Ochsenkarren sowie auf endlosen Streifzügen durch das Land zu Pferd
oder zu Fuß, ich möchte sagen gewohnheitsmäßig, Insam- oder Jintan-Perlen
bei mir, wie man in Europa etwa Wybert-Tabletten, Gaba- oder Rheila-Perlen
als Vorbeugungsmittel gegen Erkältungserscheinungen, Heiserkeit, Husten,
Grippe und ähnliches zu sich nimmt. Erst als ich in der Umgebung von Songdo,
der alten Hauptstadt von Koryo (936—1392), die ausgedehnten, überaus merk-
würdig angelegten Felder für die Sam-Ginseng-Kultur zu sehen bekam, er-
wachte mein Interesse für diese höchst bedeutsame Kultpflanze.
I.
Ginseng als Pflanze und deren Kultur
Panax Ginseng C. A. Meyer wird in Korea in Lauben kultiviert. Diese
Lauben, etwa IV2 Meter hoch, mit schrägem, gegen Süden abfallendem Dach,
sind sorgfältig gegen Sonnenstrahlen ab gedeckt und gegen Norden zum
136
Andre Eckardt
Schutze gegen Kälte durch Bambusvorhänge verschlossen (Abb. 18). In jeder
Abteilung werden etwa 30 Pflanzen gezogen. Panax Ginseng, zur Familie der
Araliaceen gehörig, ist eine Pflanze mit gelblich-weißer, mehr oder weniger
ästiger, rübenartiger Wurzel, wobei eigenartigerweise zwei Seitenarme vor-
wiegen, während die Hauptwurzel sich in zwei beinartige Wurzeln teilt, die
insgesamt vom Kopf bis zum dick auslaufenden Ende — je nach Alter — 8 bis
18 cm groß wird. Der aufrechte, 40—65 cm hohe, kahle und stielrunde Stengel
läuft in eine fünfblättrige Krone aus, daher auch der botanische Name für die
kultivierte Pflanze: Panax quinquefolia. Die langgestielten, länglich-lanzettlich
bis verkehrt eiförmigen Blätter sind fünfzählig gefiedert, 8—16 cm lang und
3—5 cm breit. In einem, meist einfachen Blütenstiel, der die Verlängerung des
Stengels bildet, sitzen die zwittrigen, weißgrünlichen Blüten in 15—SOblütigen
Dolden. Blütezeit Juni und Juli. Die glatte, kugelige oder nierenförmige Beere
ist scharlachrot und glänzend. Die Pflanze wird stets im Dunkeln gezogen und
ehestens im sechsten oder siebten Jahre ihres Wachstums in den Monaten No-
vember bis Januar geerntet. Sie bildete bis um 1940 einen der wertvollsten
Exportartikel Koreas.
a b
Fig. 1. a: Ginseng-Sam-Wurzel, ca. 12 cm hoch; b: Pflanze, fünfblätterig, ca. 45 cm hoch.
Die Gestalt der Wurzel als Zwerglein mit Kopf, Armen und Beinen (Fig. 1)
und ihr ungemein langsames Wachstum waren es wohl, die der Pflanze ihr
hohes Ansehen verliehen haben.
Die Sam-Ginseng-Pflanze als koreanisches Kulturgut
137
Nicht immer hat man die Wurzel künstlich gezogen. Weit mehr geschätzt
ist die wildwachsende koreanische Sam-Pflanze, die in tiefen Gebirgstälern
wächst, mit Hunderten von Goldmark bezahlt und nach geschichtlichen Quel-
len von chinesischen Kaisern als höchste Auszeichnung an verdiente Minister
und Beamte verliehen wurde. Es ist hierbei ausdrücklich von der koreanischen
Ginseng-Wurzel (Gauli jenschen) die Rede. Unter den wertvollsten Geschenken
koreanischer Könige der Silla-Zeit (57 vor bis 936 nach Chr.) an japanische
Kaiser wird im Schatzhaus zu Kyoto die koreanische Samwurzel aufbewahrt.
Nach koreanischer Sage hat selbst der chinesische Kaiser der Ts'in-Dynastie
Schi Huang-ti (221—210 vor Chr.) in Korea nach der Wunderwurzel Ginseng
suchen lassen — sie aber nicht gefunden. Ich selbst habe sie nur ein einziges-
mal in den Schluchten des Myöngwolsan entdeckt und ausgegraben. Leider ist
sie mir, wie so manches andere wertvolle Material, auf dem Seetransport ver-
loren gegangen; kultivierten Ginseng besitze ich auch heute noch, er wurde mir
nachgesandt.
Der botanische Name Panax stammt aus dem Griechischen, mag (pas) =
alles und ctxog (akos) = Heilmittel. Der koreanische Name ist Sam. Es gibt
einen In-sam (Menschen-Sam), Fäk-sam (weißer Sam), Tongdscha-sam (Kna-
ben-Sam), Hong-sam (roter Sam) und endlich den bereits erwähnten San-sam,
den wildwachsenden, phosphoreszierenden Berg-Sam (Fig. 2). Die Haupt-
kulturorte des Ginseng sind Songdo, nördlich von Seoul, und Yongsam in der
Provinz Kyüngsang-Nordost. Dementsprechend gibt es noch einen Song-sam
und einen Yong-sam.
y *#■
0 ^
$
b c d
2. Schriftzeidien für verschiedene Arten der Sam-Ginseng-Wurze!.
In-sam; b; Päk-sam; c: Tongdscha-sam; d: Hong-sam; e: San-sam.
Ginseng, eine Verstümmelung des chinesischen Wortes jen-schen (jen =
Mensch, sehen = Name der Pflanze), russisch und polnisch Zen-Szen, tschechisch
Vsehoj pravy, kam als Droge durch Holländer um 1610 nach Europa, wurde
zuerst unter dem Namen Pentao bekannt und drang bis an den Hof Lud-
wigs XIV. von Frankreich. Noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts war die Wur-
zel in Europa 18mal so teuer wie Gold, wie Timkowski berichtet [2]. Nach
C. A. Meyer ist Ginseng ein Allheilkraut, eine Kraft-oder Lebensverlängerungs-
wurzel.
Die Verbreitung der Pflanze ist beschränkt. Nach Madaus verläuft die
Grenze von der Insel Sachalin und den benachbarten Küsten des Ochotskischen
und Japanischen Meeres mit Einschluß Koreas im Osten in flachem Bogen von
Ochotsk zum Amur, über das Südostufer des Baikalsees bis ins Quellgebiet des
Indus nach Nepal, um von dort als Südgrenze ziemlich gerade am 35. nörd-
lichen Breitengrad nach der Mitte zwischen Kiautschou und Schanghai an die
138
Andre Eckardt
Küste des Gelben Meeres zurückzukehren. Auch in Japan und Nordamerika
wird die Pflanze kultiviert, erreicht jedoch nicht die Qualität der koreani-
schen Pflanzen.
Auf die Zubereitung der koreanischen Ginsengwurzel [3] wird besonderes
Augenmerk gelegt:
Bei der Einsammlung der leicht süßlich duftenden Wurzel dürfen keine
eisernen Geräte oder Gefäße benützt werden. Die sechs- bis siebenjährigen
Wurzeln werden gewaschen und, ohne gebrüht zu werden, einfach in der
Sonne getrocknet. Auf diese Weise erhält man den mehligen, weißgelben
Päk-sam. Hierzu werden die kleinen, weniger wertvollen Wurzeln verwendet,
die überdies nicht dem Staatsmonopol unterliegen. Die größeren Wurzeln wer-
den in kleine Weidenkörbe gesammelt und in irdene Töpfe mit mehrfach
durchlöchertem Boden gehoben. Diese Töpfe nun stellt man wohl verschlossen
auf Dampf erzeugende Kessel und brüht die Wurzeln zwei bis vier Stunden lang.
Nach dem Trocknen sind die Wurzeln hornartig durchsichtig und rötlich, daher
der Name Hong-sam = roter Sam. Kultur und Handel dieses neugewonnenen
Produktes bilden seit jeher koreanisches Regierungsmonopol, Der Ginseng-
Bauer muß eine Lizenz einholen. Von der Aussaat bis zur Ernte werden die
Ginseng-Pflanzungen sorgsam überwacht. Die jährliche Produktion war auf
150 000 Katti (= 90 000 kg) festgesetzt und der volle Ertrag mußte an die Re-
gierung abgeliefert werden. In den Staatsdepots wurden die Wurzeln neuer-
dings unter Aufsicht sortiert, gezählt, gewogen, gereinigt, getrocknet, und,
wenn hart geworden, nochmals zuerst dem Dampf, dann dem Kohlenfeuer
ausgesetzt, gequetscht und verarbeitet (Abb. 19). Aus der Zahl der Ringe und
Knoten am Stengelansatz kann das Alter der Wurzel, das von 6—40 Jahren
zählen kann (wilder San-saml), abgelesen werden.
Die Teilung des Wurzelstammes in meist zwei seitliche und zwei untere Aus-
läufer, die Verdickung am Oberteil der Wurzel und schließlich die ringartig ge-
wundene Einschnürung darüber geben der Wurzel, wie bereits oben erwähnt,
das Aussehen eines Zwergmännleins. Die Koreaner nennen daher die Gesamt-
wurzel In-sam (Mensdien-Sam), sprechen von p’al (Arme) und pal (Beine),
von mori (Kopf) und ima (Stirne), womit der Haarschopf gemeint ist. Diese
Identifizierung von Pflanze und Mensch greift tief in die Gedankenwelt der
Völker ein und ist nicht nur koreanisches Erbgut — wenngleich hier ausgepräg-
ter als bei anderen Völkern —, sondern findet sich auch anderwärts.
II.
Anwendung der Samwurzel
Das seltene Vorkommen des wildwachsenden Bergsams (san-sam) und des-
sen geheimnisvolles Wachstum vorzüglich in dunkler Nacht und bei Mond-
schein sowie die merkwürdige Form der Wurzel mögen — neben gewissen
Die Sam-Ginseng-Pflanze als koreanisches Kulturgut
139
erprobten Heilwirkungen — dazu beigetragen haben, der Sam-Wurzel un-
begrenzte Heilwirkung zuzuschreiben. Eine alte, in Chinesisch verfaßte Schrift
des Koreaners Tschang Wonkun (ca. 1270) sagt diesbezüglich: „Dreifach ist
die Anwendung des Sam: bei Tag, in der Dämmerung und in der Nacht; bei
jeder Krankheit, ob am Körper unten, in der Mitte oder oben; ob rechts, im
Herzen oder links. Dreifach sind die Kräfte vor der Geburt, im Leben und im
Leiden (Alter); dreifach ist der Gebrauch: als fester, als flüssiger und wind-
förmiger Körper (gemeint sind die Schnäpse). Dreifach ist der Sieg: in der
Niederung, auf den Bergen und in den Sternen.“ — Man beachte hier die
starke Betonung der Zahl drei, auf die ich noch zu sprechen komme. In der
chinesischen und mongolischen Medizin spielt die Sam-Wurzel unter den
Arzneimitteln gleichfalls die größte Rolle [4].
Tatsache ist, daß Sam für den Ostasiaten geradezu unentbehrlich ist, ja
gewissermaßen zum täglichen Leben gehört. Wir Europäer haben hierfür kein
Analogon. Jeder sportlich eingestellte Asiate trägt sein Döschen in der Tasche
und nimmt Pillen, um sidi zu stärken, wenn er ins Kino oder Theater, zu Vor-
trägen, Beratungen, oder Unterhaltungen geht, Männer und Frauen genießen
die Insam-Tabletten vor und nach dem ehelichen Akte. Die hoffende Mutter
nimmt mit Vorliebe Ginseng-Milch, Marmelade und Gingsengwein, um das
werdende Kind gesund und stark zur Welt zu bringen. Die wohlhabenderen
Koreaner und Chinesen geben den Kindern, noch ehe sie der Muttermilch ent-
wöhnt sind und andere Speisen genießen können, den Ginsengbrei zur Förde-
rung im Wachstum. Bei Tisch wird oft eine Messerspitze Ginseng in die Suppe
getan; und fragt man einen Sportler bis hinauf zum Schwergewichtler vor oder
nach einer Sportleistung, was ihm am zuträglichsten ist, so antwortet er ohne
Bedenken; „Insam“.
Aber ebenso unentbehrlich ist die Sam-Wurzel bei Krankheiten. Die An-
wendung der verschiedenen Präparate erstreckt sich auf alle Gebiete: pro-
phylaktisch wird die Wurzel in Zeiten des Witterungswechsels angewandt,
ebenso bei ansteckenden Krankheiten und von Frauen bei der Menstruation.
Es würde zu weit führen, alle einzelnen Krankheitsfälle, in denen Ginseng-
Präparate genommen werden, anzuführen. Zusammenfassend kann man sagen,
daß in allen Fällen, in denen irgendein Schwächegefühl auftritt, Ginseng in
irgendeiner Form als Arznei benützt wird. Die Chinesen gebrauchen es über-
dies als Antidot gegen Vergiftung durch Opium und dessen Derivate.
Was sagen nun unsere Ärzte zu unserem Problem Ginseng? Prof. Dr, med.
habil. Heinrich Hofmann, Jena [5] kommt zu dem Schlüsse, „daß das Resultat
der experimentellen Untersuchungen ein recht mageres ist. Besonders auffällig
ist, daß die Droge nicht einmal Inhaltsstoffe enthält, die eine stärkere analep-
tische (erregende) Wirkung besitzen. Bekanntlich kennen wir Pharmakologen
zahlreiche Pflanzen, die Inhaltsstoffe mit derartigen Wirkungen enthalten. Es
sei nur an Catha edulis erinnert, deren Knospen und Zweigspitzen gekaut
werden und die durch ihren Gehalt an Catin eine außerordentlich stark er-
]40
Andre Eckardt
regende Wirkung entfaltet. Es sei weiter an die Wirkung der Kaffeebohnen
(Coffein) und an die der Cocablätter (Cocain) erinnert, als Beispiel dafür, daß
die diesen Pflanzen zukommende zentrale Erregung selbst primitiven Völkern
bekannt ist.“
„Wenn wir von dem geringen Gehalt von Vitamin Bi und B2 und den Östro-
genen Wirkstoffen absehen wollen, so müssen wir feststellen, daß Ginseng
keinerlei pharmakologisch exakt faßbare Wirkungen zu entfalten vermag.
Es handelt sich also bei dieser berühmten asiatischen ,Wunderdroge' zweifel-
los um ein Mittel, dessen Heilwirkung psychogen zu erklären ist“ [6].
Anderseits teilt mir im Hinblick auf meinen Aufsatz in F. u. F. 1948, S. 180
bis 183 Dr. med. Jaeger aus der wissenschaftlichen Abteilung der Pharmazeu-
tischen Betriebe Carl Rudolf Gassmus, Meißen/Elbe am 17. 9. 48 mit, daß die
Pflanze auch in der Homöopathie eine Rolle spielt. „Panax Ginseng, auch Kraft-
wurzel genannt, kommt in Japan, China und Ostindien vor. Die getrocknete
Wurzel wird im Verhältnis 1:50 mit absolutem Alkohol zur Tinktur extrahiert.
Der Arzneigehalt derselben ist 1/100, entspricht also der 2. Dezimale... Die
weiteren Potenzen sind mit 90% Weingeist herzustellen. Die Arznei Wirkung
ist belebend und allgemein kräftigend; in China wird das Mittel geschätzt als
Aphrodisiacum und bei senilem Marasmus... Da ich mehrfach Gelegenheit
hatte, die gute Wirkung des Mittels bei den genannten Zuständen zu erproben,
kann ich sie aus eigener Erfahrung bestätigen und möchte nicht verfehlen, Sie
darauf aufmerksam zu machen“ [7].
III.
Sam-Ginseng als Kulturpflanze
Bei den Ahnenopfern ist mir die Verwendung der Sampflanze nicht begeg-
net, wohl aber bei der Verehrung des Berggeistes San-sön (Berggeist), Sam-sin
(Geist des Ginseng und der Dreizahl), auch Song-sön (Geist der Stadtmauer)
und Tok-in (Einsiedler) genannt (Abb. 21), Das chinesische Schriftzeichen für
„sön“ ist charakteristisch, besteht aus „Mensch + Berg“ (Fig. 3, besonders a
und c) und bedeutet einen alten „Geist der Unsterblichkeit“.
a b cd
Fig. 3. Schriftzeichen für verschiedene Namen des koreanischen Berggeistes,
a: San-son, Berggeist; b: Sam-sin, Samgeist, Geist der Dreizahl,■ c: Song-son, Geist der Stadtmauer;
d: Tok-in, Einsiedler.
Dem Berggeist ist 1. Die Sampflanze heilig; sie steht unter seinem Schutz,
wird in Mondnächten gesucht und gefunden und verleiht langes Leben, ja
Unsterblichkeit. —
Die Sam-Ginseng-Pflanze als koreanisches Kulturgut
141
2. Der Geist verwandelt sich in die Wurzel, die Leben annimmt und in Ge-
stalt eines Knäbleins den Kranken und Notleidenden hilft. —
3. Dem Berggeist ist an der Stadtmauer, an Bergübergängen, auf Berges-
höhen oder an Wegkreuzungen eine alte, verkrüppelte, oft sogar abgestorbene
Kiefer oder Eiche heilig. Im Flachland genügt hierfür ein Strauch als Ersatz.
Zu dieser „Geisterkiefer“ wallfahren Ginseng-Sucher, um guten Erfolg zu er-
flehen, Frauen, die lange ohne Kinder bleiben, schwangere Frauen, um gute
Geburt eines Knäbleins zu erbitten — Mädchen zählen ja nicht — und Sorgen-
beladene in ihren verschiedenen Nöten. Oft schreiben die Bittsuchenden ihre
Wünsche auf Seidenreste oder Büttenpapier und hängen die zum Teil bunten
Bänder zusammen mit einigen Reiskörnern an den Ästen auf.
4. Rund um den Geisterbaum sind zahllose Steine aufgehäuft (Abb. 20). Jeder
Vorübergehende wirft einen neuen Stein zu den vorhandenen als Opfergabe.
Unwillkürlich denke ich hierbei an die wiederholte Feststellung im Satapatha-
Brahmana (3, 4, 3, 15; 3, 9, 4, 2 u. a.), wo „das Zerschlagen der Somastengel
mit Steinen erörtert und Soma mit Vrtra und dann mit den Keltersteinen gleich-
gesetzt wird. Letzteres mit der Begründung, daß die Keltersteine aus Fels be-
stehen und daß Soma, der Gott, im Himmel ist. Das beruht darauf, daß das
Wort für ,Fels‘ auch ,Himmel' bedeutet; die Berge, die Felsen, sind sein
(Soma’s) Leib“ [8].
5. Als Zeichen der Opfergabe und Opfergesinnung bzw. Hingabe seines
Lebens spucken die Vorübergehenden aus. Speichel und Schleim gelten, wie
bei vielen Naturvölkern, so auch bei den Koreanern als Ausfluß menschlicher
Lebenskraft.
6. Wiederholt habe ich auf diesen „heiligen“ Steinhaufen Strohpuppen mit
gespreizten Armen und Beinen, die weiblichen Genitalien stark hervorgehoben,
gefunden (Abb. 22). Die Puppe enthielt eine gewöhnliche Rübe an Stelle von
Ginseng. Es war die Opfergabe der Frauen um lebenspendende, gesegnete
Schwangerschaft.
7. In nächster Nähe der Geisterkiefer oder einer Stadtmauer — aber auch
hier mit dem Steinhaufen verbunden — steht häufig ein einfaches Tempelchen.
Ein schlichter Altar mit Leuchtern und Papierblumen bildet die innere Aus-
stattung. An der Rückwand hängt, mit bunten Wasserfarben gemalt, das Bild
des Berggeistes, eines ehrwürdigen Greises, meist charakterisiert durch einen
Tiger zu seinen Füßen und umgeben von den zehn Sinnbildern langen Lebens
(Abb. 21 u. 23).
Merkwürdig ist, daß gerade beim koreanischen Volk, das durch seine lange
Abgeschlossenheit (1640—1886) die Traditionen ursprünglicher bewahrt hat,
die verschiedenen Berichte zusammenlaufen und durch den Sam-Kult ein ein-
heitliches Entwicklungsbild geben. Wie im Rigveda Haoma „Baumherr“ ge-
nannt und zum Gott der Pflanzen und Bäume wird, dem geopfert werden muß,
als der „Erste der Bäume“ gedacht, den Ahura-Mazda an die Lebensquelle
pflanzte, so gilt auch der koreanische Berggeist als „der Baumherr“. Nach
koreanischer Anschauung erwuchsen die ersten Menschen aus der Baum- oder
Wurzelgestalt.
142
Andre Eckardt
IV.
Sam-Ginseng in Schrift und Deutung
Eine große Anzahl von Sagen handelt von der Wunderwurzel Sam. Ich habe
mehr als drei Dutzend solcher Sagen mir erzählen lassen, gesammelt und über
setzt [9]. In ihnen werden folgende Punkte hervorgehoben:
1. Die weißgelbe Farbe der Wurzel und die Gestalt eines kleinen verhut-
zelten Männleins mit Rumpf, Kopf und Gliedmaßen, gibt Anlaß zur Per-
sonifizierung der Pflanze als Zwergmännlein mit fahler Hautfarbe.
2. Die durch Dampf erzeugte rote Färbung der Wurzel (Hongsam) über-
trägt die Sage auf das zum Leben erwachte Männlein mit rotem Blut.
3. Der Glaube an die Wunderkraft der Droge betrachtet diese als Geschenk
des Berggeistes, der in Gestalt der Wurzel oder personifiziert als Zwerg-
männlein hilfsbedürftigen, tugendhaften Menschenkindern beisteht.
4. Die Wurzel ist gleichzeitig Opfer und Opferspeise bzw. Opfertrank, dar-
gereicht als Unterpfand langen Lebens bzw. der Unsterblichkeit.
5. Der Genuß der Sam-Wurzel als Speise oder Trank wirkt leicht berau-
schend und versetzt den Genießenden in einen analeptischen Zustand.
6. Der Berggeist wird bald mit dem Mond (Auffindung der wilden Sam-
Wurzel in Vollmondnächten), vor allem aber mit den Sternen und unter
diesen mit dem Sternbild des Orion in Verbindung gebracht.
7. Sam-Wurzel wie Berggeist und Orion haben Beziehung zur Zahl „Drei“.
Um diese Ideenverbindung verstehen zu können, müssen wir uns mit dem
Namen und der Schreibweise Sam und deren Bedeutung vertraut machen.
Alles deutet darauf hin, daß Korea und die Mandschurei als Heimat der
Pflanze anzusehen sind. Die chinesischen Quellen sind sehr spärlich, die mongo-
lischen gehen auf koreanische bzw. mandschurische zurück, die tibetischen
Quellen treten erst in verhältnismäßig später Zeit auf. Das koreanische Volk
hatte zur Zeit seiner Wanderung aus Zentralasien, sowie in den ersten beiden
Jahrtausenden seiner Geschichte keine eigene Schrift, war daher auf die chine-
sische Bilderschrift angewiesen; China seinerseits hatte größtes Interesse
daran, seine kosmologische Weltanschauung im Bilde festzuhalten. Zu den
ältesten Zeichen gehört nun der Schriftcharakter für „Sternbild“, der stets
durch drei Sterne gekennzeichnet wurde (Fig. 4a, b, c). In dem letzteren
Zeichen (4c) ist bereits der Begriff der Pflanze und des Hervorkommens
(4d u. e) einbezogen, noch deutlicher in dem späteren (heutigen) Zeichen für
Stern (4f), wobei an Stelle von drei Sonnen die eine Sonne getreten ist. Nach
Prof. Dr. Carl Hentze, dem ich in diesen Ausführungen folge, läßt sich das
ursprüngliche Sternzeichen zurückführen auf die Idee des Himmels- und Welt-
baumes, aber auch auf die Idee der Wiederkehr und Erneuerung, Nach den
Ausführungen von Takada Chushu im Ku chou p’ien (XXV, 37) ist eine Form
der Knochenschrift für Stern Fig. 4h, also ein Baum, von Sternen umgeben.
Auch hier kommt (unterhalb) die Dreizahl zur Geltung. Kein Sternbild hat
aber drei Sterne so ausgeprägt wie das (winterliche) Sternbild des Orion. Wie
Die Sam-Ginseng-Pfianze als koreanisches Kulturgut
143
dieses in ältester Zeit geschrieben wurde, entzieht sich unserer Kenntnis, da
unsere Schriftzeichen nicht weiter zurückgehen als bis zur mittleren Tschou-
Dynastie (1122—220 vor Chr.). Jedenfalls spielten die drei Gürtelsterne des
Orion eine Rolle. In späterer Zeit wurde Orion oben mit dem Zeichen für
Stern (Fig. 4g), im unteren Teil mit dem Bilde eines Menschen (im Profil)
nla
rzaa
f g h i k
Fig. 4. Entwicklung des Schriftcharakteis für Sam-Ginseng,
o und b: drei Sonnen; c: Pflanzenmotiv mit drei Sonnen; d; entstehen, wachsen; e: hervorgehen; f: Stern;
g: altes Zeichen für Orion; h: Knochenschrift für Pflanze; i; Mensch mit buschigem Haar; k: heutiges
Zeichen für „drei“, Ginseng, Orion, sinnen, grübeln.
geschrieben (Fig. 4i) und entspricht dem heutigen Zeichen 4k, Mensch mit
buschigem Haar (in der Dreizahl). Tatsächlich gibt die Wurzel den Eindruck
eines Männchens mit buschigem Haar. Hier nun wird die Sache interessant,
denn das gleiche Zeichen 4k bedeutet auch Ginseng, chinesische Aussprache
sehen1, koreanische Aussprache sam [10] und zugleich die Zahl „Drei“, chine-
sische Aussprache san, koreanische Aussprache sam, wie oben. Für China liegen
demnach zwei Entwicklungsphasen vor (sehen und san), für Korea nur eine:
„sam“.
Samwurzel—Orion—Dreizahl
sind hier in Bild und Aussprache untrennbar miteinander verbunden. In Korea
ist der Berggeist Einsiedler, Heros und, unter die Sterne versetzt, „Orion“.
Hierzu kommt als neues Moment die Doppeleigenschaft des Sam-Gottes als
Opferers und als Opferspeise, Wie die Wurzel zur Zubereitung teils über Feuer
erhitzt, teils zerquetscht und zu Brei verarbeitet wird, so gibt sich auch der
Berggeist als Opfer hin, läßt sich töten, um zu neuem Leben aufzuerstehen
und den Menschen, die zu ihm ihre Zuflucht nehmen und seine Opferspeise,
die Sam-Wurzel, genießen, gleichfalls Lebenskraft, ja unsterbliches Leben in
den Sternen zu gewährleisten.
Deutlich kommt dies in der Sage „Das Opfer des Knaben“ zum Ausdrude.
Hier ist ein Junge bereit, sein Leben für seine kranke Mutter zu opfern, der
Berggeist in Gestalt eines Zwergknaben aber tritt dafür ein und belohnt die
Bereitwilligkeit des Knaben [11].
Dem koreanischen Berggeist ist der Mond heilig. Unwillkürlich denke ich
hierbei an den chinesischen Erdgeist (K’i). Prof. Hentze glaubt auf Grund
zahlreicher Belege an altchinesischen Bronzekultgeräten eine enge Zuordnung
144
Andre Eckardt
von Erdgeist und Mond vornehmen zu können und verweist dabei besonders
auf die (von ihm so genannten) „pilzförmigen Hörner“, die als Symbol für
Erd- und Mond-Dämon stehen.
Auch der Erdgeist hat eine gewisse Beziehung zur magischen Zahl „Drei“.
In dem chinesischen Werk „Huei nan se“ wird von einem „gestorbenen und
wiedergeborenen Mond“ gesprochen. Es heißt darin (mir mitgeteilt von H. H.
Holz, Brief vom 17. November 1947): „Es gibt im Himmel eine Kröte mit
drei Beinen, die den Mond frißt. Ein listiger Hase bereitet aber in einem
Mörser auf dem Monde das Kraut der Unsterblichkeit.“ — In jeder Beziehung
gilt der Mond als erster Gestorbener und erster Wiedergeborener und wird
(nach Prof. Hentze) in dieser Hinsicht besonders eng mit K’i, der zugleich den
Sippengeist repräsentiert, verbunden.
Offenkundig tritt in dieser Sage von „Kröte und Hase“ und „Tod und Auf-
erstehung des Mondes“ der Wechsel der Mondphasen in den Vordergrund,
während in den koreanischen Sagen die Zahl „Drei“ mit Orion, und Tod und
Auferstehung ausdrücklich mit Genuß der Sam-Wurzel bzw. mit dem Opfer
seiner selbst und dem Geschenk neuen Lebens verbunden wird. Die korea-
nische Auffassung ist somit doch von der chinesischen verschieden. Erd- und
Berggeist sind nicht identisch.
Der wahre (wilde) Berg-Sam wird nur in tiefen Gebirgstälern und unter
Mithilfe des Berggeistes in Mondnächten gefunden. Der Berggeist selbst,
bald Sansön, bald Samsin genannt — ersteres bedeutet wörtlich „Berggeist“,
letzteres „Dreigeist, Geist der Dreizahl“ —, gilt als Einsiedler, der sich fernab
vom Getriebe der Welt auf einsame Berge zurückzieht; er gilt als Sonderling,
als Grübler. Dem entspricht auch die weitere Bedeutung des chinesischen
Schriftzeichens sam = „sinnen, grübeln, sich zurückziehen“. Ein Tiger sitzt
ihm zu seiner Bedienung zu Füßen. Hier wieder Beziehung zu dem chine-
sischen Erdgeist, dem gleichfalls — wie chinesische Kultbronzen zeigen — der
Tiger (oder ein anderes Untier) als Charakteristikum beigeordnet ist. In beiden
Fällen ist es die Furcht vor den wilden Tieren, zu deren Abwehr die Hilfe der
Geister angerufen wird.
Im Koreanischen ist der Berggeist immer mit der Sam-Wurzel verbunden,
im Chinesischen hat der Erdgeist keinerlei Beziehung zu Ginseng, wie ja auch
der Name K’i sich wesentlich vom koreanischen Sam unterscheidet. Hier ist
Sam gleich Berggeist (Orion), dort handelt es sich um zwei verschiedene
Begriffe.
V.
Sam, Soma und Haoma
Die wesentlichen Wechselbeziehungen — Opferspeise und Opfertrank,
Mond- und Sternengott —, die mit der Sam-Wurzel verbunden sind, finden
sich nun auch in der indisch-iranischen Überlieferung in Verbindung mit Soma
und Haoma.
Die Sam-Ginseng-Pftanze als koreanisches Kulturgut
145
Wie Ad. E. Jensen in seinem Buch „Das religiöse Weltbild einer frühen
Kultur“ (S. 90 ff) in Bezug auf Mond, Opfer und Wachstum weitgehende Zu-
sammenhänge feststellt, so ist es auch mit dem lunaren Lebenskraut Soma-
Haoma. Der Name des Krautes wechselt, die innere Beziehung bleibt die
gleiche.
Nach brieflicher liebenswürdiger Mitteilung von Prof. Dr. H. Lommel, Frank-
furt/M., vom 11. November 1948 haben die Inder in der Zeit, über die wir
einige Auskunft haben, bereits im Altertum verschiedene Ersatzpflanzen für
Soma, der in Indien nicht heimisch war, gebraucht. Für die allerälteste Zeit, die
Periode des Rigveda und die vorhistorische, urarische Periode weiß man nicht,
welche Pflanze es war. Es kann von jeher Ephedra gewesen sein, wie auch die
heutigen Zoroastrier, die Parsi in Indien, als Haoma eine Ephedra-Art, die sie
aus dem Iran kommen lassen, sorgfältig rituell trocknen und bei Bereitung
des Haoma-Tranks in Wasser quellen lassen. „Ephedrin wird, wie mir gesagt
wurde, pharmazeutisch verwendet, man kennt davon aber keine Wirkung, die
dem lebenssteigernden ,Rausch“-Zustand beim Soma-Genuß gleicht... Nach
den Texten muß man annehmen, daß der Trank eine Erhöhung des Lebens-
und Kraftgefühls bewirkte, auch geistig anregend, vielleicht auch als Aphro-
disiacum wirkte, übermäßig genossen Erbrechen und Durchfall verursachte.
Dieser ,Rausch“ wird als segensreich von anderen Räuschen unterschieden. Die
Religionshistoriker sprechen gern von Ekstase, mir zweifelhaft, ob mit Recht. “
Aus diesen Darlegungen ist zu ersehen:
1. Die Parsi in Indien hatten keine Pflanze, die zur Bereitung des Haoma-
Tranks genommen werden konnte, sie mußten sich eine Ersatzpflanze
verschaffen, die sie aus Iran kommen ließen. — Die koreanische Sam-
Pflanze hat alle dem Haoma zugeschriebenen Eigenschaften. —
2. Der eigentlichen Haoma-Pflanze wird berauschende Wirkung nachgesagt.
Ephedrin erzielt keine Rauschwirkung — wohl aber der Extrakt der
koreanischen Sam-Wurzel. Eine Ephedra-Art war demnach auch nicht
die ursprüngliche Haoma-Pflanze.
3. Ephedrin besitzt keine Wirkung als Aphrodisiacum. — Die koreanische
Sam-Wurzel und ihre Derivate werden seit Jahrtausenden als Aphro-
disiaca gebraucht und bewirken Erhöhung des Lebens- und Kraftgefühls.
Aus diesen Gründen — ganz abgesehen von der Ähnlichkeit der Namen
Soma-Sam — dürfen wir in der Sam-Pflanze einen vollwertigen Ersatz, wenn
nicht Identität für die urarische Soma-Haoma-Pflanze sehen. An Stelle des
Stengels tritt in der koreanischen Überlieferung die Wurzel, doch wird auch
diese wie beim Soma ausgepreßt, gekeltert, „erschlagen““ (vgl. Jensen 1. c.
S. 89), um den Unsterblichkeitstrank bereiten zu können.
Es dürfte daher kaum einem Zweifel unterliegen, daß die Koreaner als
urarisches Volk auf ihrer Wanderung von Zentralasien nach dem Osten die
Haoma-Soma-Überlieferung auf die Sam-Wurzel übertragen haben, zumal sie
in dieser Wurzel alle die Eigenschaften wiederfanden, die der Haoma-Soma-
Pflanze eignen.
!0 Jahrbuch 1951 Lindenmuseutn
146
Andre Eckardt
In meinen früheren Aufsätzen glaubte ich auch einen lautlichen Zusammen-
hang zwischen Sam und Soma zu sehen. Wie mir Prof. Lommel mitteilt, gibt
es jedoch keine alt- (oder mittel-)indische Nebenform sam von soma. Ander-
seits überliefert Zoroaster, das „Glanzgestirn“, der Organisator der iranischen
Religion (ca. 1300 v. Chr.), eine alte Sage von einem unsterblichen Helden
Sam-Kere9aspa, kurzweg Sam genannt. Dieser hatte nicht den rechten Glauben
und wurde zur Strafe in einen tiefen Schlaf versenkt, aus dem er erst am Ende
der Zeiten wieder erwacht. Es könnte mithin eine Ideenverbindung zwischen
Sam-Kere9aspa und dem koreanischen Berggeist Sam bestehen, der ja auch
nur zur Nachtzeit wirkt [12].
Prof. Lommel weist darauf hin, daß „es nicht auf die materielle Gleichheit
der Pflanze, auch nicht auf die Einheit des Namens ankomme, sondern darauf,
daß aus ,einer frühen Kultur' (Jensen) der Glaube an einen Lebenstrank und
eine Lebensspeise stammt, die himmlischen Ursprungs ist, zunächst in lunarer,
nicht astraler Religion — der Glaube also an eine Pflanze, die als ,Allsamen-
Baum' gewissermaßen die Urpflanze, der Inbegriff des Pflanzenwuchses über-
haupt ist. Diese mythische Pflanze wird, je nach dem Land, in einer gewissen
wirklichen Pflanze wiedererkannt, und dieser Glaube wird ganz besonders bei
den Ariern (schon in vorgeschichtlicher Zeit) zu einer umfassenden, tief durch-
geistigten Lebens- und Wiedergeburtsreligion ausgestaltet, die in Indien in
vedischer Epoche reich entwickelt und bezeugt ist, später zurücktritt, während
sie in Iran von Zarathustra zunächst abgeschafft wurde, später sich aber
zwar nur unvollkommen, unter zoroastrischem Firnis wieder geltend machte.“
— Von der Verbindung Mensch-Baum war oben schon die Rede.
Soma hat keine besondere Beziehung zur Dreizahl und ist ebensowohl Mond
wie Pflanze, nicht aber — nach H. Lommel — Orion, von dem man imRigveda
keine Erwähnung kennt. Nach dem Avesta jedoch wandert Haoma (Hom)
beim Mondensdiein einsam in den Bergen. Unter die Sternengötter auf genom-
men, schmückt ihn Ahura Mazda mit seinem, mit Sternen gezierten Gürtel
(Oriongürtel), den er auf dem Berge anlegt.
So tritt die koreanische Sam-Wurzel in ihrer Wechselwirkung zum Berg-
geist, zu Orion, zur Zahl Drei und in ihrer Bedeutung als Opfer und Unsterb-
lichkeitstrank in unmittelbare Beziehung zum urarischen Haoma-Soma-Kult,
Fassen wir alles zusammen, so glaube ich durch vorstehende Ausführungen
dargelegt zu haben, daß die koreanische Sonderentwicklung als Kultpflanze
und Speise der Unsterblichkeit, sowie der noch heute bestehende Glaube an
eine Kräftigung des Lebens und an die Hilfe des Berggeistes mit anderen
Sonderformen dieses Glaubens in innigsten Zusammenhang gestellt werden
kann.
[1] In: „P. Wilhelm Schmidt-Festschrift“, Wien 1928; ferner in „Heil- und Gewürzpflanzen“,
München, 1935, Bd. 16, S. 94 -104; in der Zeitschrift „Universitas“, 1947, S. 933
bis 942; in „Forschungen und Fortschritte“, dem Organ der deutschen Akademien,
Berlin 1948, Nr. 15-16, S. 181-183; in der Zeitschrift „Orion“, Mumau, 1948,
und neuerdings in dem Aufsatz „Die koreanische Wunderwurzel Ginseng — ein
Elixier der Unsterblichkeit“ in „Die Neue Zeitung“, 13. Sept. 1950.
Die Sam-Ginseng-Pfianze als koreanisches Kulturgut
147
[2] Vgl. Dr. GERHARD MADAUS, Lehrbuch der biologischen Heilmittel, Abt. I, Heil-
pflanzen, Bd. 2, S. 1457—1462. Leipzig 1938.
[3] Ausführlich beschrieben bei TSCHIRCH, Handbuch der Pharmakognosie II, 2,
S. 1517—1520.
[4] Vgl. HÜBOTTER, Beiträge zur Kenntnis der chinesischen sowie tibetischen und mon-
golischen Pharmakologie, Berlin 1913, S. 108 ff.
[5] In: Forschungen und Fortschritte, Mai 1950, S. 128 ff.
[6] Ebda, S. 130.
[7] Vgl. überdies Dr. med. MADAUS, 1. c., S. 1461—62.
[8] Vgl. AD. E. JENSEN, Das religiöse Weltbild einer frühen Kultur. Stuttgart, 1948. S. 91.
[9] Vgl. A. ECKARDT, Unter dem Odongbaum. Eisenach 1951.
[10] Das Wurzelzeichen für „Pflanze“ wurde erst später hinzu gefügt.
[11] Im Wortlaut mitgeteilt in „Universitas“, 1947, S. 939—940.
[12] Inwieweit Hom, der noahitische Prophet mit Haoma und Soma in Verbindung steht,
muß weiterer Forschung Vorbehalten bleiben.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Helmuth von Glasenapp, Tübingen
Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes46
In allen Ländern des Fernen Ostens, in China, Korea und Japan wie in
Viet-nam, in Tibet und der Mongolei sowie in den buddhistischen Himälaya-
Staaten, ist das „Saddharma-pundarika-Sütra“, der Lehrtext (Sütra) vom
Lotus (pundarika) des guten (sad) Gesetzes (dharma), eine der beliebtesten
heiligen Schriften. Aus seiner indischen Originalfassung wurde das „Lotus-
buch“ ganz oder teilweise in zahlreiche asiatische Sprachen übersetzt, und die
in ihm geschilderten Szenen oder erzählten Legenden sind unendlich oft von
Künstlern in Bildern festgehalten worden. In Japan ist die Verehrung, die man
dem Werk entgegenbringt, so groß, daß die Anhänger der 1253 n. Chr. vom
Priester Nichi-ren gegründeten Sekte glauben, der Text des Sütra sei schon
eine Manifestation des Buddha selbst und das Aussprechen seines Titels rufe
unmittelbar heiligende magische Wirkungen hervor. So wie das Einnehmen
einer Medizin auch demjenigen hilft, der über die in ihr enthaltenen Stoffe
nichts weiß, so erfahre auch derjenige, der den Inhalt des Textes nicht kennt,
durch das verehrungsvolle Wiederholen seines heiligen Namens unbeschreib-
liche Segenswirkungen. Wie in anderen Ländern auch, wird diese äußerliche
Auffassung in den Tempeln kommerziell ausgebeutet. Als ich auf meiner
Japanreise das Städtchen Ikegami (bei Tokyo) besuchte, wo Nichiren 1282
starb, und das ihm geweihte Hommonji-Heiligtum betrat, erbot sich ein Prie-
ster sogleich, gegen Barzahlung von 1 Yen (damals 2 Mark) den Text für mein
Seelenheil wirksam werden zu lassen. Er zog sich ein prächtiges Meßgewand
an und schob den Vorhang vom Bilde des Sektenstifters in die Höhe. Dann
rezitierte er immer wieder die heilige Formel „Namu Myöho-renge-kyö“ (Ver-
ehrung dem Sütra des Lotus des Guten Gesetzes), während ein junger Mönch
dazu den Takt schlug.
Der „Lotus des Guten Gesetzes“ verdankt sein großes Ansehen dem Um-
stand, daß in ihm die Anschauungen des „Großen Fahrzeugs“ einen eindring-
lichen und formvollendeten Ausdruck gefunden haben. Als „Großes Fahr-
zeug“ (im Sanskrit: Mahäyäna) bezeichnet man bekanntlich diejenige Gestalt
des Buddhismus, die sich in Indien um die Zeitwende herausbildete und dann
durch glaubenseifrige Missionare nach Ostasien gebracht wurde. Von dem ein-
fachen älteren Buddhismus des sogenannten „Kleinen Fahrzeugs“ (Hinayäna),
der heute noch in Ceylon und Hinterindien blüht, unterscheidet sich das
Mahäyäna darin, daß es die alten Lehren mit einem neuen Überbau und einem
reichen Rankenwerk von Legenden und Kultbräuchen versehen hat. Während
in den alten, zumeist in der Päli-Sprache abgefaßten kanonischen Texten der
Buddha als ein zur höchsten sittlichen Vollkommenheit gelangter Mensch
dargestellt wird, als ein Weiser, der vierzig Jahre lang den irrenden Lebewesen
den Weg zeigt, den sie gehen müssen, um zur Heiligkeit vorzudringen und der
Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes
149
schließlich für immer in die Ruhe des Nirväna einging, erscheint der Buddha
in den Mahäyäna-Texten als ein überirdisches Wesen, das schon vor unendlich
langer Zeit die Erleuchtung erlangt hat und nur in einer vergänglichen Schein-
Gestalt auf Erden wandelte. In Wahrheit ist er das ewige personifizierte Prin-
zip der Erlösung. Der Berg des Geierkulms, auf dem er Tausenden von Bodhi-
sattvas (Anwärtern der Buddhaschaft), Göttern und Menschen die Lehre pre-
digt, liegt nur scheinbar bei Räjagriha, in Wahrheit ist er nur das Symbol
für einen überweltlichen Ort, von dem aus er seine Gnadenworte aussendet,
um alle im Wirrsal beständigen Werdens und Vergehens verstrickten irrenden
Wesen zur Wahrheit zu führen.
Das Werk besteht aus 27 Kapiteln, von denen wahrscheinlich die letzten
sieben eine spätere Erweiterung darstellen. Es ist teils in Sanskrit-Prosa, teils
in Versen geschrieben, die in einem dem Sanskrit angenäherten mittelindischen
Dialekt (Präkrit) abgefaßt sind. Daß es eine Zusammenfassung aus verschie-
denen Elementen darstellt, ergibt sich daraus, daß vielfach das, was zuerst in
ungebundener Rede erzählt wird, nachher noch einmal in Präkrit-Versen wie-
derholt wird. Über die Entstehungszeit des uns vorliegenden Textes sind wir
nicht unterrichtet. Da er bereits in den Jahren 265—316 n. Chr. ins Chinesische
übersetzt wurde, muß er spätestens im zweiten Jahrhundert nach Chr. entstan-
den sein. Der „Lotus“ wurde zuerst 1852 von E. Burnouf ins Französische,
1884 von H. Kern ins Englische übersetzt, eine deutsche Übersetzung steht
noch aus. Über den Inhalt orientiert man sich am besten aus dem schönen
Buch von Günther Schulemann „Die Botschaft des Buddha vom Lotus des
Guten Gesetzes“ (Freiburg 1937); eine dort angekündigte vollständige deutsche
Übersetzung der tibetischen Version konnte leider infolge der Ungunst der
Zeit bisher nicht erscheinen. Im folgenden versuche ich erstmalig, einige Stro-
phen des indischen Originals in deutschen gereimten Versen wiederzugeben
und hoffe, dadurch dem deutschen Leser einen Einblick in die eigentümliche
geistige Welt des Mahäyäna vermitteln zu können.
Der „Lotus des Guten Gesetzes“ beginnt damit, daß er schildert, wie der
Buddha auf dem Geierberge in einer Versammlung von Tausenden von Bodhi-
sattvas, Heiligen, Mönchen, Nonnen, Göttern, Geistern und Dämonen aus dem
Haarwirbel zwischen seinen Augenbrauen einen Lichtstrahl hervorgehen läßt,
der alle Welten erleuchtet. Der Bodhisattva Maitreya schildert dies in den fol-
genden Strophen, die in knappester Form eine Beschreibung des unendlichen
Weltalls geben, in welchem die unendlich vielen Wesen auf verschiedenen
Stufen der Vollendung dem Heil entgegenstreben. Maitreya sagt:
1,5. Bis zu der Hölle und des Raumes Grenze
Seh ich das unermeßlich große All
Und zwischen den sechs Daseinsformen wechselnd
Den Weg der Wesen von Geburt zum Fall.
7. Die Buddhas sehe ich, die Königslöwen,
Wie sie das heilige Gesetz enthüllen
150
Helmuth von Glasenapp
Und zu dem Heil von vielen Millionen
Die Welt mit ihrer Stimme Schall erfüllen.
13. Unendlich wie die Sandkörner im Ganges
Seh’ Bodhisattvas ich durch Geistesmacht
Die lange Straße zur Erleuchtung wandern,
Bis sie zum höchsten Daseinsziel erwacht.
19. Sie opfern ihren Kopf und ihre Augen
Und scheuen selbst auch vor dem Tode nicht;
Gelassen spenden rings sie ihre Gaben
Und ringen froh nach der Erkenntnis Licht.
32. Mit einem Kranz von leuchtenden Juwelen
Der Tugend mancher die Erleuchtung sucht;
Für solche, die den reinen Wandel üben.
Erfüllt sich die Erlösung durch die Zucht.
33. Bescheiden dulden andre Buddha-Söhne,
Wenn ihren Wandel stolze Mönche schmähn,
Nicht achtend der Verleumdung und Bedrohung,
Sie unbeirrt hin zur Vollendung gehn,
' 42. Durch Weisheit suchen andre Bodhisattvas
Den Eingang in des Buddhawissens Reich,
Erhaben über alle Gegensätze,
Durchziehen sie die Welt, den Vögeln gleich.
44. Ich sehe Tausende von Stupas leuchten,
An denen frommer Glaube sich entzückt,
Und deren Zahl dem Gangessand vergleichbar,
Geweihten Boden aller Lande schmückt.
48. Ich sehe hier die vielen Lebewesen,
Die Erde und den Himmel, überall
Bedeckt mit Blüten und ringsum erleuchtet
Durch diesen einen hellen Buddhastrahl.
Der Lichtstrahl kündigt an, daß der Buddha „das Rad der Lehre in Bewe-
gung setzen“, d. h. eine Predigt halten will. In einem schönen Gleichnis wird
die Lehrverkündigung des Erhabenen mit dem Regen einer Wolke verglichen,
der alle Lebewesen gleicherweise erquickt. Der Buddha sagt:
5,5. Gleichwie eine große Wolke
Mächtig sich am Himmel streckt
Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes“
151
Und, das Firmament erfüllend.
Diese Erde rings bedeckt,
6. Gleichwie sie im Kranz der Blitze
Jeden, der sie schaut, entzückt,
Während ihres Donners Stimme
Aller Wesen Herz beglückt,
7, Gleichwie sie, die Sonnengluten
Kühlend, sich hemiedersenkt
(8). Und, fast mit der Hand zu greifen,
Schnell das ganze Erdreich tränkt,
14. So daß alle Kräuter sprießen
Und an Bäumen, groß und klein,
Ihre Rinden, Äste, Früchte
Ringsum wachsen und gedeihn,
15. Gleichwie sie mit ihrem Wasser,
Ist es auch derselbe Saft,
Allen Pflanzen Wachstum spendet
Je nach Standort und nach Kraft:
20. So laß regnen auf Millionen
Ich mein Wort von nah und fern,
Das, verschieden auf genommen.
Ewig bleibt sich gleich im Kem.
24. Sel’ge Ruhe und Befreiung
Und Erleuchtung es verheißt;
Allen Hohen, allen Niedern
Es dasselbe Endziel weist.
25. Unermüdlich wie der Regen
Es zur Erde niederfließt:
Auf die Toren, auf die Klugen
Sich das höchste Gut ergießt.
Die Predigt des Buddha ist von so großer Wirkung, weil seine Unterwei-
sungen den Bedürfnissen der einzelnen Wesen gemäß abgestimmt sind. Er
sagt deshalb:
5,1. Ein Fürst des Gesetzes bin ich in der Welt,
Als Vernichter des Werdens erstanden;
152
Helmuth von Glasenapp
Ich künde den Wesen, die dazu geneigt,
Die Erlösung von karmischen Banden.
5,4. Entsprechend der Fassungskraft, die er besitzt,
Zeig ich jedem die heilige Lehre,
Ich biege ihm seine Erkenntnis zurecht,
Und seinen Glauben ich mehre.
Die Anpassung an die individuellen Bedürfnisse der Frommen tritt nun
vor allem darin in Erscheinung, daß im Buddhismus drei verschiedene Heils-
wege angenommen werden, die sog. „Fahrzeuge“ der Hörer (Shrävakas), der
Privatbuddhas (Pratyeka-buddhas) und der Universalbuddhas.
1. Das „Fahrzeug der Hörer“ ist die Lehre des Hinayäna, welche den From-
men instand setzt, schließlich ein selbsterlöster Heiliger (Arhat) zu werden.
2. Das „Fahrzeug der Privatbuddhas“ ist die Lehre, die den einzelnen da-
zu befähigt, für sich selbst die volle Erleuchtung zu finden, ihm aber nicht die
Fähigkeit gibt, das, was er erkannt hat, auch anderen überzeugend zu verkün-
den. Ein Privatbuddha wird deshalb mit dem Nashorn verglichen, das als Ein-
zelgänger des indischen Waldes einsam seiner Wege zieht.
3. Das Fahrzeug der Universal-Buddhas ist das Mahäyäna, die große Heils-
lehre, welche den Gläubigen dazu bringt, selber ein Buddha zu werden, ein
Erwachter, der alle Lebewesen zu der von ihm erkannten Wahrheit bekehrt.
Das große Anliegen des Lotus-Buches ist, zu zeigen, daß die drei Fahr-
zeuge in Wirklichkeit nur zu einem und demselben Ziele, zur Gewin-
nung der Buddhaschaft führen. Das Nirväna, das der Shrävaka oder der Pra-
tyekabuddha erreicht, ist kein definitives Ende seines Daseins, sondern nur
eine vorläufige Pause in seiner geistigen Entwicklung. Die, die es erlangt
haben, müssen vielmehr unablässig weiter streben, bis sie die Allwissenheit
erlangen, welche die universelle Buddhaschaft verbürgt. Die höchste Erkennt-
nis aber besteht in dem Wissen, daß alle Daseinsfaktoren (dharma), welche,
kausal bedingt, während ihres ephemeren Daseins durch ihr Zusammenwirken
die Vielfalt der Erscheinungen hervorbringen, keine wahre Realität besitzen.
Wirklich im höchsten Sinne ist nur das ewige All-eine, der „Dharmakäya“,
das Absolute, die Leerheit, der große Abgrund, über dem sich das trügerische
Werden und Entwerden abspielt.
Die Geschicklichkeit (upäya-kaushalya) des Buddha besteht nun darin,
daß er jedem einzelnen nur die Lehre verkündet, für die er geistig reif ist.
Er lehrt deshalb viele nur die einfache Lehre des kleinen Fahrzeugs, damit
sie zunächst nach dem scheinbar nahen Ziel des Erlöschens der Individualität,
nach dem Nirväna, das dem Ausgehen einer Lampe gleicht, streben und nicht
durch die Perspektive, nach Äonen selbst zu Buddhas zu werden, im Glauben
an die Aussichtslosigkeit dieses Beginnens von ihrem Aufstieg abgebracht wer-
den. Die im folgenden übersetzten Verse legen diese Lehren dar:
Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes'
5,47. Wie der Töpfer aus demselben
Ton verschiedene Gestalten
Schafft, damit dann die Gefäße
Wasser oder Milch enthalten:
49. So die Buddhas auch verschied’ne
Wege für den Menschen lehren,
Die, entsprechend seinen Kräften,
Mannigfaches Heil gewähren.
52. Von den Fahrzeugen für Hörer,
Einzelgänger, Voll-Erwachte
Man allein das Buddha-Fahrzeug
Als das einzige betrachte.
63. Denn der Hörer, dem der Dreiwelt
Zu entfliehen ist gelungen:
Glaube nicht, daß er das höchste
Ziel des Daseins schon errungen!
64. Nein! Der Buddha zeigt ihm vielmehr:
Dies ist nicht das wahre Ende,
73. Nur ein Rasten auf dem Wege;
Immer weiter dich vollende!
75. Nur Allwissenheit gibt Ruhe,
Höchstes Heil wird der erreichen.
Der erkannt, daß alle Dharmas
Hohlen Pisangstauden gleichen.“
78, 79. Unselbständig wie das Echo,
Ähneln sie den eitlen Träumen,
Nicht gebunden, nicht erloschen
Ist die Welt in den drei Räumen.
80. Wer als leer und nicht verschieden
Alle Dharmas recht verstanden,
Nirgends mehr erblickt er Dharmas,
Denn sie sind nicht mehr vorhanden.
81. Er erfaßt den Dharma-käya
Dann in seiner vollen Klarheit,
„Keine Dreiheit — nur ein Fahrzeug“,
Weiß er dann, „besteht in Wahrheit“.
154
Helmuth von Glasenapp
Diese Wahrheit wird durch verschiedene Gleichnisse verdeutlicht: Ein Vater
rettet seine Kinder aus einem brennenden Hause, indem er ihnen Reh-, Ziegen-
oder Ochsenwagen verspricht, ihnen nachher aber allen Ochsenwagen schenkt
(Kap. 3). Ein reicher Mann erzieht seinen verkommenen Sohn allmählich zu
einem würdigen Erben seiner Schätze (Kap. 4; Parallele zu Lukas 15,12—24),
Schön ist auch die Parabel von der Juweleninsel. Der Buddha sagt:
„Ihr Mönche! Denkt euch einen dichten Wald von fünfhundert Meilen Aus-
dehnung. Diesen hat eine Reisegesellschaft erreicht, die nach der Juwelen-
insel unterwegs ist. Der Führer, ein kluger Mann, will die Karawane aus dem
Walde herausführen. Die Menschen aber sind ermattet und sagen zu dem
Führer: „Wir sind müde und fürchten uns. Wir wollen umkehren, dieser Wald
ist zu weit.“ Da denkt der Führer: „Es wäre schade, wenn diese gequälten
Leute die Juweleninsel nicht erreichen würden,“ Deshalb bedient er sich aus
Mitleid eines Kunstgriffs. Mitten im Wald läßt er durch Zauberkraft eine
dreitausend Meilen große Stadt entstehen. Dann sagt er zu den Leuten:
„Fürchtet euch nicht! Kehret nicht um! Da ist eine große Stadt, dort könnt ihr
euch ausruhen. Dann kann jeder, der es will, zur Juweleninsel gehen.“ Da
wunderten sich die Leute und dachten: „Wir sind schon aus dem Walde her-
aus, wir haben einen Platz zum Ausruhen (Nirväna) erreicht, wir wollen hier
bleiben.“ Wenn dann der Führer sieht, daß sie sich ausgeruht haben, läßt
er die Zauberstadt verschwinden und sagt zu ihnen: „Kommt, die Juweleninsel
ist nicht fern. Diese Stadt aber habe ich nur zu eurer Erholung durch Zauber
hervorgebracht,“ So auch sieht der Tathägata (Buddha), euer Führer: „Groß
ist dieser Wald von Leidenschaften, man muß aus ihm herauskommen. Es
wäre schade, wenn die Wesen, nachdem sie vom Buddhawissen gehört, um-
kehren würden in dem Gedanken: „Das Buddhawissen ist zu mühselig, um
es zu vollenden.“ Um den Wesen Erholung zu gewähren, lehrt der Vollendete
zwei Stufen des Nirväna: für die Shrävakas und für die Pratyekabuddhas.
Und wenn die Wesen dort haltgemacht haben, dann verkündet der Vollendete:
„Mönche, ihr habt noch nicht getan, was zu tun war. Aber das Buddhawissen
ist nicht fern. Was ihr für das Nirväna haltet, ist nicht das Nirväna. Es ist also
nur ein Kunstgriff der Buddhas, daß sie drei Fahrzeuge verkünden“ (Kap. 7).
Wer diese Botschaft, daß alle zur Buddhaschaft berufen sind, hört und
beherzigt, gelangt schließlich zum Heil, so wie einer, der Wasser sucht, dieses
schließlich beim Graben trockener Erde findet, wenn er durch Anzeichen er-
kannt hat, daß dort Wasser vorhanden ist.
Im 15. Kapitel des Lotus-Buches offenbart der Buddha schließlich sein
höchstes Geheimnis: er hat schon vor unermeßlichen Zeiträumen die Buddha-
schaft gewonnen und seitdem in immer neuen Gestalten die Lebewesen zum
Heil geführt. Und er wird auch noch unermeßliche Zeiträume hindurch weiter-
leben, ununterbrochen auf dem Geierkulmberge die Lehre verbreitend.
Wenn er am Ende seines achtzigjährigen Erdenlebens selbst in das Nir-
väna eingegangen ist, so war dies nur ein Kunstgriff, um die „vorläufige“
Lehre des Hinayäna zu bekräftigen. Das Nirväna war nur ein Truggebilde,
das er, um den Menschen zu helfen, hervorgebracht hat. Er handelte damit wie
Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes‘
155
ein Arzt, der sich tot stellte, damit seine Kinder endlich die Heilmittel ein-
nehmen, die er ihnen verordnet hat. In Wahrheit ist Shäkyamuni nicht gestor-
ben, sondern lebt auch heute noch in überirdischen Sphären, die Gläubigen
fördernd und erbauend.
15,1. Unausdenkbare Millionen
Von unendlichen Äonen
Sind bis heute schon vergangen,
Seit ich einmal angefangen,
Meine Lehre zu verbreiten,
Als ich im Verlauf der Zeiten
Der Erleuchtung Heil gefunden.
In mir Buddhaschaft entbunden.
3. Des Nirväna hehre Stätte
Spiegle vor ich, denn ich rette
Durch dies Hilfsmittel die Wesen,
Daß sie von dem Leid genesen.
Doch in Wahrheit kam ich nimmer
Zum Erlöschen, sondern immer
Künde ich die hohe Lehre,
Und die Wesen ich bekehre.
5. Wähnend, ich sei tot, die Besten
Zollen meinen Körperresten
Stets Verehrung, im Verlangen,
Mir, wenn ich auch fortgegangen,
Nah zu sein in Geist und Werken;
So sie ihren Glauben stärken,
Ihre Frömmigkeit entfachen,
Krummes Denken grade machen.
9. Doch kann ich den Wesenscharen
Nie mich völlig offenbaren;
Zwar kann niemand besser wissen,
Was sie ständig leiden müssen,
Doch erst, wenn den Geist sie wenden,
Kann ich ihre Qualen enden,
Wenn sie ganz zu mir sich neigen,
Kann ich meine Lehre zeigen.
10. Solches war seit je mein Wille,
Darum blieb ich in der Stille
Seit Myriaden von Äonen
Auf dem Geierberge wohnen.
156
Helmuth von Glasenapp
Nie verließ ich diese Stätte;
Predigend die Welt ich rette
Durch der Lehre Herrlichkeit
Seit unendlich langer Zeit.
20. Wie ein Arzt, als er erfahren,
Daß die Söhne töricht waren
Und die Heilmittel nicht tranken,
Die verordnet er den Kranken,
Tot sich stellte, daß den Willen
Seine Kinder ihm erfüllen. —
Kein Verständger wird ihn rügen
Wegen dieser frommen Lügen. —
21. So tu ich, der Herr der Wesen,
Der sie läßt vom Leid genesen,
Ich, ihr Vater, selbstentstanden,
Der befreit von Leidensbanden,
Als ob ich gestorben wäre,
Denn sie folgen meiner Lehre
Sonst nicht, weil ihr Geist verblendet
Und vom Wahren abgewendet.
In einigen Strophen des 10. Kapitels führt der Buddha aus, in welcher
Weise er seinen Anhängern seine Gnade erweist.
10, 26. Dies mein Selbst hier hat bestanden
In unzähligen Regionen,
Denn ich predige die Wahrheit
Unermüdlich seit Äonen.
27. Dem, der dieses Sütra darlegt,
Wenn ich selbst längst abgeschieden,
Schaff’ durch meine Zauberkünste
Viele Helfer ich hienieden.
28. Wird beschimpft er und geschlagen,
Wird bedroht er und gesteinigt,
Schützen ihn die Truggestalten,
Die ich rings um ihn vereinigt.
30. Wenn er einsam in dem Walde,
Ganz der Wahrheit hingegeben,
Ihren Sinn sucht zu ergründen,
Doch in ehrlichem Bestreben
Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes'
157
31. Über einen Satz der Schriften
Dennoch sich nicht ist im klaren,
Tret’ in Lichtgestalt ich zu ihm,
Um ihm dies zu offenbaren,
32. Ist allein er in der Wildnis,
Um das Studium zu beenden,
Will ich Geister ihm und Götter,
Die ihn unterhalten, senden.
33. Also zeig’ ich stets mich denen.
Die in Treue mich verehren,
Sei’s in stiller Bergesklause,
Sei’s, wenn andre sie belehren.
Der Buddha Shäkyamuni ist, wie aus allen angeführten Stellen deutlich
hervorgeht, nach dem Lotus-Sütra ein überirdisches Wesen von unermeßlich
langer Lebensdauer, das unaufhörlich zum Wohl der Welt tätig ist und den
Frommen als Nothelfer beisteht. Der Eindruck, daß es sich um einen Gott,
nicht um einen menschlichen Heiligen handelt, wird noch verstärkt, wenn man
in dem Sütra von den zahllosen Wundern liest, in welchen der Buddha seine
Macht offenbart und, wenn man die raum-zeitlichen Verhältnisse in Betracht
zieht, unter denen das große Drama des „Dharma-paryäya“, der Lehrver-
kündigung, vor sich geht. Seinen Hintergrund bilden die Tausende von Wel-
ten, die den unendlichen Raum erfüllen, seine Dauer erstreckt sich über un-
berechenbar viele Weltalter. Wenn auch schon die alten Texte des Kleinen
Fahrzeugs ihre Schilderungen der großen Ereignisse im Leben des historischen
Shäkya-Weisen mit einer reichen Staffage von adorierenden Gottheiten, wun-
derbaren Naturerscheinungen (Erdbeben, Blumenregen usw.) und merkwür-
digen Mirakeln umgeben — was ist das alles gegenüber den Erzählungen des
Lotus-Buches mit ihrer gehäuften Fülle von Maßlosigkeiten und ihren selt-
samen Phantasmagorien! Der tiefgreifende Unterschied zwischen der Buddho-
logie des Päli-Buddhismus und derjenigen des Mahäyäna-Sütra tritt aber vor
allem im folgenden zutage. Nach der alten Lehre, wie sie noch heute in Cey-
lon und Hinterindien vertreten wird, ist der Buddha mit seinem Tode voll-
ständig erloschen, er vermag deshalb nach seinem Nirväna keinerlei Einwir-
kung auf das Geschehen in der Welt oder auf das Schicksal seiner Gläubigen
mehr auszuüben. Die ihm dargebrachte Verehrung hat deshalb nach der stren-
gen Auffassung der Dogmatiker für den Frommen nur eine rein subjektive
Bedeutung; dadurch, daß der Verehrer seine Gedanken auf den Buddha
richtet, wenn er ihm Blumenspenden darbringt, ihn in Hymnen preist oder
sich zu ihm in stiller Versenkung erhebt, verbessert er den Schatz seiner guten
Werke und schreitet dadurch fort auf dem Wege der Vollendung, Der abge-
schiedene Buddha ist über alles Irdische erhaben, er kann sich deshalb
158
Helmuth von Glasenapp
weder an den Gaben der Frommen erfreuen, noch auch die Gläubigen für
diese belohnen. Der Shäkyamuni des Lotus-Budhes aber ist auch nach seinem
irdischen Nirväna noch äonenlang zum Besten derer, die zu ihm ihre Zuflucht
nehmen, aktiv tätig. Er ist für sie nicht nur ein Vorbild und ein Wegweiser,
sondern auch ein noch heute lebendiger Lehrer und Heilbringer, zu dem man
in ein persönliches Verhältnis treten kann.
Der Text ist sich dessen auch durchaus bewußt, daß seine Lehren über die
Person des Buddha gegenüber denen des „Kleinen Fahrzeugs“ etwas Neues
darstellen. Er erklärt diesen Wandel der Anschauungen damit, daß er behaup-
tet, zur Zeit der ersten Drehung des Rades des Gesetzes sei die Menschheit
noch nicht fähig gewesen, die Transzendenz des unermeßlich langlebigen
Buddha zu verstehen, es hätte deshalb einer zweiten „Drehung des Rades des
Gesetzes“ bedurft, um diese vertieften neuen Anschauungen zu verbreiten.
Der Buddha sagt deshalb selbst von dem Lotus-Buch:
13, 54. Dies ist das Sütra, das aus meinem Munde
Abschließend gibt von höchster Wahrheit Kunde.
Ich scheute mich bisher, es zu verbreiten.
Jetzt lehre ich es, nutzt es drum beizeiten 1
Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die Konzeption des „Lotus-
buches“ von dem Buddha als einem liebenden Vater aller Kreaturen, dem
man in frommer Ergebenheit sich anvertraut, manche Berührungspunkte mit
den Vorstellungen aufweist, welche Hindu-Schriften wie die Bhagavadgitä
mit der gnadenvollen Wirksamkeit des Weltenherrn verbinden. Man hat so-
gar geglaubt, daß hier innerhalb der buddhistischen Literatur eine Art von
Theismus zur Durchbruch komme. Eine nähere Untersuchung zeigt jedoch,
daß dies nicht der Fall ist. Der Buddha des Lotusbuches ist nicht der eine und
einzige, ewige „parameshvara“ (höchste persönliche Gott), der die Welt ge-
schaffen hat und regiert und der die Guten belohnt und die Bösen bestraft,
sondern er ist einer von vielen Heilfindem und Heilbringern, die im Laufe
ihrer Reinkarnationen zur höchsten Erkenntnis und sittlichen Vollendung
gediehen sind und die wohl durch die Kraft ihres Erbarmens Gutes zu tun ver-
mögen, die aber an der Erschaffung und Regierung der Welt wie an der Ver-
geltung guter und böser Taten keinen Anteil haben. Wenn auch der Text sagt,
daß Shäkyamuni seit unermeßlichen Zeiten seine Lehrtätigkeit ausübt, so ver-
gißt er dabei doch nicht, darauf hinzuweisen, daß er einmal erst die Erleuch-
tung gewonnen hat und daß er das, was er heute ist, den guten Werken ver-
dankt, die er in seinen früheren Inkarnationen vollbracht hat (15, 18).
Und ebenso ist damit, daß das Leben des Buddha als unermeßlich lang
bezeichnet wird, nicht gesagt, daß es überhaupt nie ein Ende nehmen wird.
Im 15, Kapitel sagt der Buddha vielmehr selbst: „Noch zweimal so viele hun-
derttausend Myriaden von Kotis (zehn Millionen) von Weltaltem werden ver-
gehen bis zur Vollendung meiner Lebensdauer.“ Es ist deshalb anzunehmen,
daß auch der Buddha des Lotusbuches in einer allerdings sehr fernen Zukunft
Der Buddha des „Lotus des Guten Gesetzes‘
159
schließlich verlöschen wird. Der Text hat also das Leben des Buddha gegen-
über den früheren Anschauungen in einen weiteren Rahmen gestellt, die grund-
legende buddhistische Theorie von der Endlichkeit alles individuellen Daseins
aber nicht verändert (wie dies in späteren Zeiten in gewissem Umfang gesche-
hen ist).
Ungeachtet der Einfügung mancher Züge, die an die theistischen Gnaden-
religionen Indiens und des Westen gemahnen, ist die „atheistische“ Grund-
idee der buddhistischen Dogmatik durchaus erhalten geblieben: die Welt wird
nicht von einem Gott regiert, sondern vom ehernen Gesetz des Karma; die
Buddhas sind Menschen, die aus eigener Kraft sich zu der Stellung von welt-
überlegenen Weisen und erbarmenden Heilbringern emporentwickelt haben.
Audi die Erlösung eines jeden einzelnen Menschen geht nicht durch em
von außen durch einen Buddha gewirktes Wunder vor sich, sondern nur
durch eigene Arbeit am eigenen Innern. Nur wenn ein Wesen sich der Pre-
digt des Buddha öffnet, setzt in ihm der Erkenntnisprozeß ein, der schließlich
mit der Erreichung des höchsten Gutes endet. Freilich nimmt der Dichter
(2,99) an, daß die Gewalt der Lehrverkündigung eines Buddha so groß ist,
daß sie alle Herzen in ihren Bann zieht und so jeden, der diesem fördernden
Einfluß ausgesetzt ist, dazu veranlaßt, es dem Buddha nachzutun und selbst
ein solcher zu werden. Denn es heißt:
2,99. Kein Wesen gibt es, das vernahm die Lehre
Und nicht ein Buddha selbst geworden wäre.
Denn diese Macht ist allen Buddhas eigen:
Der Weg, den selbst sie gehn, den anderen zu zeigen.
Jahrbudi des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
E. F. Podach, Paris
Gin-Iien
Ein aktualistischer Beitrag zur Ethnologie des Häßlichen
Die anthropologisch-ethnologische Ästhetik wird von der gleichen Über-
zeugung beherrscht, die „instinktiv“ ganz allgemein ist. Man nimmt an, daß
eine Gruppe die ihr eigentümlichen Züge als solche für schön hält und bevor-
zugt. Es läßt sich nicht leugnen, daß der Augenschein dafür spricht. Das Maß
für schön und häßlich ist am Eigenen orientiert, jedenfalls am Gegensatz zum
Anderen, Insofern formuliert der von Darwin übernommene Humboldtsche
Satz, den schon Cuvier ausgesprochen hatte, ein Faktum. Doch die Motive,
warum diese Bevorzugung des Eigenen geschieht, sind noch völlig ungeprüft.
Der Rekurs auf das Rassische gibt keine Erklärung, ganz besonders dann nicht,
wenn man die Wertungstendenzen innerhalb einer ethnischen — oder sonst-
wie körperlich typengleichen — Gruppe zu erfassen sucht. „Rassisches“ ver-
mag doch nur bei verschiedenen Typen eine Rolle zu spielen, wenn Anders-
artigkeiten ästhetisch abgeschätzt werden können. Aber auch in einer anthro-
pologisch homogenen Gruppe gibt es Schöne und Häßliche, d. h. gewissen
körperlichen Eigenheiten wird ein ästhetischer Vorzug gegeben, der — das
war eine klassische Feststellung Darwins — bei der Siebung und Auslese eine
typenmodifizierende Bedeutung erlangen kann.
Hier soll gezeigt werden, daß die ästhetische Bevorzugung der einen und
Minderbewertung der anderen körperlichen Bildung nicht von rassisch natura-
listischen, sondern sozial-kulturellen Momenten bestimmt sind. Es scheint so-
gar, daß „schön“ und „häßlich“ innerhalb einer ethnischen Gemeinschaft, die
ja stets ein gesellschaftlich gegliedertes Gebilde ist, ständischen Normen folgt.
Wenn es den Akzent des sozial Höheren hat, wird selbst das Häßliche schön
empfunden. Diese Tatsache bietet einen großen Vorteil für eine ethnologische,
d. h. kulturanthropologische Ästhetik, die in enger Fühlung mit der physischen
Anthropologie bleiben muß. Denn vom anthropologischen Gesichtspunkt aus
ist das Häßliche leichter zu fassen als das Schöne.
Anthropologisch denken heißt, die biologischen Zusammenhänge nicht aus
dem Auge verlieren. Das besagt bereits, das Schöne einer körperlichen Bildung
müßte biologischen Pluswert besitzen oder zumindest indifferent sein. In sei-
nem Werke über die Abstammung des Menschen hat Darwin die sexual-ästhe-
tischen Normen zur Erklärung jener Auslese-Vorgänge eingeführt, die offen-
kundig keine vital-biologische (arterhaltende) Bedeutung hatten und unab-
hängig von der natürlichen Selektion wirksam waren. Wem aber gewisse Sitten
der Völker und die in diesen zum Ausdruck kommenden ästhetischen Haltun-
gen gegenwärtig sind, der wird auch der seltsamen und biologisch nicht er-
klärbaren Tatsache gewahr, daß Phänomene schön empfunden werden, die eine
biologische Minusabweichung sind, bzw. darauf beruhen, eine solche mit Eifer
Gin-lien
161
herbeizuführen. Gemeint ist das ebenso alte wie weitverbreitete Schönfinden
von Deformations-Varianten, die, falls sie sich selektiv-progressiv behaupten
würden, eine schwere vitale Beeinträchtigung der Art zur Folge hätten.
Künstliche Körperdeformationen sind Produkte kosmetischer Praktiken, die
häufig nicht nur morphologische, sondern auch funktionelle pathologische Ab-
weichungen herbeiführen. Hinzu kommt, daß fast bei allen, jedenfalls bei sehr
vielen, die Sitte darauf aus ist, Veränderungen zu bewirken, die das Indivi-
duum überdauern und zur festen Typeneigenheit werden sollen. So manche
künstlich erzeugte Deformitäten halten ihre Liebhaber für angeboren (erb-
lich) und messen den sie hervorrufenden Manipulationen mehr einen sym-
bolisch-rituellen Wert zu. Wobei nicht nur das naive Denken „lamarckistisch“
ist. Auch der Schöpfer der wissenschaftlichen Medizin und Vorläufer der Völ-
kerkunde, Hippokrates der Große, war überzeugt, die „Makrozephalie“ sei
eine erblich gewordene erworbene Eigenschaft. Würde sich die Natur nach den
ästhetischen Wünschen der Völker richten, dann hätte sich die Menschheit
schon längst in eine Unzahl bizarrer Formen, ähnlich chinesischen Zierfischen,
aufgelöst oder sie wäre infolge verkrüppelter Füße, plattgedrückter Schädel
und ähnlichem längst zugrunde gegangen.
Bäume wachsen indessen nicht in den Himmel. Der Mensch ist noch heute
so, wie er immer war. Er geht auf seinen Füßen und besitzt einen Schädel, in
dem es Raum gäbe für ein funktionstüchtiges Gehirn. Die Natur ist gegen
ästhetische Exzesse gesichert. Sie gestattet es nicht, daß kosmetisch erzielte
Veränderungen zu erblichen Eigenschaften werden, vor allem läßt sie die kos-
metischen Moden wie alle Moden wechseln, selbst wenn sie sich als noch so
altehrwürdige Sitten gebärden. Die oft ganz rätselhaft erscheinenden und noch
häufiger mißdeuteten Bemühungen der Völker um das körperlich Schöne unter-
liegen den Regeln der Kosmetik, die sich ihrerseits nach jenen aktuellen Trieb-
federn und Zwecken der Mode richten, die heute und überall wirksam sind.
1
Die Fußverkrüppelung der Chinesinnen ist wohl eine der absurdesten Erfin-
dungen der Kosmetik. Wie bei jeder echten Nationalsitte, die sie noch vor kur-
zem zu sein schien, verliert sich ihr Ursprung im Nebel legendärer Überlie-
ferungen. Es gibt Sagen, die bis zum Jahre 1100 v. Chr. die Einführung ver-
stümmelter Frauenfüße zurückverlegen. Wogegen die verbreitetste „histo-
rische“ Version die Entstehung der Sitte um rund 1800 Jahre näherrückt
und erzählt: Yao Niang, die Lieblingskonkubine des Kaisers Li-yi (gest. 975
n. Chr.) soll von Geburt an Klumpfüße gehabt haben, die schön wie der „Neu-
mond“ gewesen seien. Diese Fußbildung hätte den Neid der Haremsweiber
und Hofdamen erweckt, sie begannen, die Fußverkrüppelung künstlich her-
beizuführen mit dem Ergebnis, daß die Verbildung der Füße immer mehr
Nachahmung fand.
Die Sitte scheint aber weder so überaus alt noch verhältnismäßig so jung zu
sein. Denn es ist der Ausspruch eines Staatsmannes aus der Zeit der Ts’in-
Dynastie (255—206) überliefert, der darauf schließen läßt, das Abbinden der
U Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
162
E. F. Todach
Füße sei schon damals nicht unbekannt gewesen. Als nämlich Kaiser Ts’in
Shi-huang seinen Minister Li Sze wissen ließ, er wolle alle von jenseits der
Grenze seines Machtbereiches stammenden Einwohner verbannen, bemerkte
sein Berater: „Dann werden alle Männer die Füße wickeln“, d. h. dafür sor-
gen, daß sie sich nicht auf die Beine machen könnten.
Mit den Füßen der vorhin erwähnten Lieblings-Nebenfrau des letzten
Herrschers der südlichen Tang-Dynastie dürfte lediglich der Ausdruck „Gin-
lien“, d. h. „Goldene Lotosblume“ zu verknüpfen sein. Diese poetische Be-
zeichnung der Füße, später auch in der Form „Goldene Wasserlilie“ oder
„Goldene Lilie“, war eine Übertragung von dem mit goldgewirkten Lotus-
blumen geschmückten Teppich, auf dem die Schöne, wie man erzählt, zu
tanzen pflegte. Nach einer von A. Tafel mitgeteilten Überlieferung soll aller-
dings der Ausdruck „dreizölliges Goldlotusfüßdhen“ von Pan, einer berühmt
schönen Konkubine des Kaisers Hsiao pao kwan (499—501), herstammen.
Pan hätte als erste sich die Füße gebunden. Als sie einst vor dem Kaiser auf
einem mit goldenen Lotusblättern eingelegten Boden tanzte, wäre er davon
so entzückt gewesen, daß er immer wieder ausrief: „Seht, jedes ihrer Füß-
chen kann nur eines der drei Zoll langen Lotusblätter decken!“
Während der T’ang-Dynastie (618—906) war das bis dahin nur vereinzelt
geübte Binden der Füße in hohen Kreisen bereits allgemein. Zu dieser Zeit
hat sogar schon die von den gebundenen Füßen bewirkte, die Männer gerade-
zu begeisternde „watschelnde Gangart“ (A. Basler, 1933) einen Dichter in-
spiriert. Es war Po Chü-i, der die wegen ihrer Verschwendungssucht bei dem
Volke verhaßte, aber als Schönheit bewunderte Kaiserin Jan Kuei-huei also
besang:
Ihre Haare, weich wie Wolken, spielen im Winde,
Hold ist das Gesicht, das einer Blume gleicht.
Kleine Schrittchen wie von einem Kinde.
Ihr Gang ist zierlich, wackelnd, leicht.
Jedenfalls gab es schon vor der Tang-Ära chinesische Damen mit gebun-
denen Füßen. Wir finden sie verherrlicht in der aus einer früheren Zeit stam-
menden Sammlung Lu-tschau-la-fu, in einem Gedicht, dessen Urheber beim
Anblick der unnormalen Fußform an eine Knospe erinnert wurde. Wie denn
überhaupt chinesische Dichter sich neben „Goldene Lilie“ und dergl. gern
des Ausdrucks „Knospe“, besonders „Bambusknospe“ bedienen. Der Wortlaut
des Gedichts ist recht aufschlußreich. Denn auch ohne viel Lilienfuß-Philologie
läßt sich daraus entnehmen, daß zur Zeit der Entstehung dieser Zeilen die
Bewunderung für die „zarte Knospe“ der Krüppelfüße noch nicht ganz all-
gemein war.
Ihr Fuß, für den die engsten Seidenbinden passen,
Gleicht einer zarten Knospe in der Frühlingspracht.
Die Welt kann ihre Reize nicht erfassen,
Denn ich allein nur fühle ihrer Schönheit Macht.
Umstritten wie der Zeitpunkt der Einführung ist auch das Motiv dieser
Sitte. Neben dem Wohlgefallen an der Kleinheit der Füße wird auch die höf-
Gin-lien 163
lich-höfische Rücksicht gegen eine mit verkrüppelten Füßen geborene Fürstin
als Grund der Fußeinschnürung angeführt. Weiterhin mußten, wie bei imver-
ständlichen kosmetischen Praktiken so oft, die bösen Männer herhalten. Sie
wären es, die, um die Frauen abhängig zu machen und an das Haus zu fesseln,
aus Eifersucht und Herrschsucht die Verunstaltung der Füße erzwungen hät-
ten. Im großen ganzen blieb es daher bei der Ansicht, die der Franzose Jean
Baptiste du Halde in seiner klassischen Sammlung der Beschreibungen Chinas
und der chinesischen Sitten 1735 ausgesprochen hatte: „Man kann nicht sagen,
wie diese seltsame Mode entstanden ist, die Chinesen wissen selbst nichts
Sicheres anzugeben.“
Feststeht, darin sind sich all die uneinigen Berichte einig, daß die Fußver-
kleinerung durch Wickeln und Bandagieren von den tonangebenden höfischen
Kreisen ausgegangen ist. Und das weitere ist klar: die Fußeinschnürung fand
im modischen Wettbewerb immer mehr Nachahmer und wurde immer inten-
siver geübt. Bis es schließlich zum guten Ton gehörte, ein gesundes Wachstum
der Füße von Mädchen, die den ständischen Anspruch hatten, nachmals als
schöne Damen zu gelten, zu verhindern, ja sie mit dieser barbarischen Me-
thode zu verkrüppeln.
Versuche, den Eltern die Einschnürung der Füße ihrer Töchter zu unter-
sagen, hatten selbst bei Androhung der Todesstrafe keinen Erfolg. Audi der
weise Mandschukaiser K’ang-hsi war gegenüber der zur Sitte gewordenen
Mode machtlos. Das von ihm im Jahre 1664 durch das Ministerium der Zere-
monien — Li-pu — erlassene Verbot der Fußeinschnümng mußte vier Jahre
später wieder aufgehoben werden. Chinesische Mütter unterzogen ihre weib-
lichen Kinder ohne Gnade der sdimerzhaften Prozedur, um ihnen zu dem zu
verhelfen, was man in China für schön hielt. Sie taten es, obgleich sie sich ihrer
eigenen Qualen erinnerten. Aber ein altes chinesisches Sprichwort besagt:
„Ein Paar gebundener Lilien ist eine Urne voller Tränen wert.“
2
Wie von keinem weiblichen Schönheitszeichen sonst ließen sich von der
Goldenen Lilie die chinesischen Männer über viele, viele Jahrhunderte betö-
ren. Sowohl die gebundenen Füße selbst als auch der Einfluß, den die Fuß-
verkrüppelung auf die Gesamterscheinung der Mädchen und Frauen ausübte,
vor allem der schwingende und stelzende Goldene Gang, waren eine vielbesun-
gene, unaussdiöpfliche Quelle ästhetischer und erotischer Wirkungen. Dane-
ben munkelte man über intime Beziehungen zwischen dem künstlich kleinen
Fuß der Chinesin und dem chinesischen Liebesieben. Die abendländische Lite-
ratur war indiskret genug, einiges an das Licht der Sexualpsychologie und
Sexualphysiologie zu ziehen. Zu den Sexualmärchen, die in China Glauben
finden, gehört es, daß die Verkümmerung der Füße (Atrophie) einen ver-
mehrten Blutzufluß zu den Geschlechtsorganen bedinge, dadurch die Liebes-
bereitschaft und Leidenschaft der Frauen erhöhe. Der französische Gesandt-
schaftsarzt G. Morache (1864) hat in einer Studie über die Deformation der
chinesischen Frauenfüße eine chinesische Meinung wie der gegeben, wonach
164
E. F. Podach
die Fuß Verkrüppelung auf die ureigenste Anatomie der Frauen in einer Weise
plastisch rüdewirke, die ihnen unsagbare Liebesreize verleihe.
Verbürgt ist nur, daß die verkrüppelten Füße schon durch ihren bloßen
Anblick die Männer erotisierten. Damit hängt auch die Verlagerung der Scham-
haftigkeit zusammen, von der M. v. Brandt (1895) berichtet: „Jedenfalls sind
heute mit den verkrüppelten chinesischen Füßen die Begriffe verbunden, die
wir mit der Entblößung der Frau über das Maß hinaus in Verbindung zu
bringen pflegen. Der nackte Fuß wird sorgfältig, auch vor dem eigenen Manne,
verborgen, den beschuhten zu zeigen ist ein Zeichen von Sittenlosigkeit. Wo
auf einem chinesischen Bilde der Fuß einer Frau sichtbar ist, handelt es sich
um das Bildnis oder die sonstige Darstellung einer Kurtisane. Nach den Füßen
der Frauen sehen, heißt unsittliche Gedanken hegen, und der katholische
Geistliche fragt sein Beichtkind, ob es diese Sünde begangen habe.“
Der Verlagerung der Schamhaftigkeit entsprach eine geradezu libidinose
Bindung der chinesischen Männer an den erogen gewordenen verkrüppelten
Fuß der Chinesin, wobei es müßig und für unsere Zwecke auch belanglos
wäre, zu fragen, ob das Ei älter sei als das Huhn. Gegeben war die erotische
Faszination jedenfalls in höchstem Maße. W. Joest hat im Jahre 1880 in Tai-
wan-fu auf Formosa als Chinese verkleidet das dem Europäer sonst verschlos-
sene Nachtleben studiert. In einer Opiumhöhle bedienten jugendliche chine-
sische Sklavinnen mit verkrüppelten Füßen: „Diese bedauernswerten kleinen
Wesen humpelten unermüdlich auf ihren verkrüppelten Füßen umher, hier
eine Opiumpfeife frisch füllend, dort einem im Rausch Entschlafenen ein höl-
zernes Kopfkissen unterschiebend. Wenn nun einer dieser alten Sünder an
einem Mägdlein Gefallen fand, so ließ er es neben sich niederhocken. Er nahm
einen ihrer verstümmelten Füße, die »goldene Lilie', zwischen seine Hände,
tätschelte und liebkoste ihn so lange, bis er stieren Blicks in Schlaf fiel.“
Kein Wunder, daß der vielseitige und kritisch abwägende Zürcher Geo-
graph und Ethnologe Otto Stoll, als er in seinem materialreichen Werk „Das
Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie“ (1908) die Berichte über die künst-
liche Verkrüppelung des chinesischen Frauenfußes zusammenfaßte, von einer
„sexuellen Volksästhetik“ sprach und die Ansicht äußerte, daß die „Beziehung
dieser seltsamen Sitte zur Sexualsphäre das einzige psychologische Motiv zu
bilden scheint“. Und der jüngste Beurteiler der Sitte, der Anthropologe
E. v. Eickstedt (1942) erblickt, wohl angeregt durch eigene Beobachtungen, in
dem Goldenen Gang den wahren Grund des „hemmungslosen Goldlilien-
Fetischismus“: „Die Ursache für all dies dürfte in der ästhetischen, ja erotischen
Wirkung des durch die Lilienfüße verursachten Ganges liegen. Denn das ele-
gante Schwingen der Hüften — es ist wirklich kein ,Wackeln', wie gesagt
wurde —, das fast bauchtanzartige schwingende Wiegen der zarten Hüften
unter fließender Seide hatte gewiß keine geringere erotische Wirkung als der
»wogende Busen' des Empire der Europäer. Und der natürliche Charme der
grazilen Chinesinnen ließ die mechanisch unvermeidliche stocksteife Haltung
der Beine nicht nur gänzlich übersehen, sondern die kindlich rührende Un-
beholfenheit, die sie vortäuschten, paßte durchaus zu dem Ideal der kindlich
Gin-lien
165
bescheidenen Sittsamkeit, die sich die Männer (und wieder nicht nur in China)
bei jungen Frauen wünschten. Sehr nett sagte der alte Li Li-weng: ,Und was
sind die guten Seiten der kleinen Füße? Sie sind so schlank, daß man sie bei-
nahe nicht sieht, und je mehr man sie ansieht, desto mehr Rührung überkommt
einen: das ist ihr Nutzen bei Tage. Sie sind so zart, als hätten sie keine Kno-
chen, und je mehr man sie liebkost, desto lieber streichelt man sie: das ist ihr
Nutzen bei Nacht'.“
3
Wer sich vom Augenschein nicht trügen und von den Dichtern nicht rühren
läßt, wird die sexualästhetische Erklärung der Sitte unbefriedigend finden.
Vor allem hat E. v. Eickstedts Deutung außer ihrer psychologischen Anfecht-
barkeit noch einen logischen Schönheitsfehler. Zur Zeit der Einführung des
Bindens der Füße und über Jahrhunderte hinaus gehörten nämlich die Lilien-
füße allein Damen, die sich nur in Sänften tragen ließen, jedenfalls nicht auf
der Straße promenierten. Zu sehen bekam man Frauen mit der Goldenen Lilie
und dem Goldenen Gang erst, nachdem die gebundenen Füße ein gesunkenes
ständisches Gut geworden waren. Im alten China lebten die Damen höherer
Kreise in strengster Abgeschlossenheit und in praktisch völliger Unsichtbar-
keit. Gewiß, Hofpoeten ward Gelegenheit gegeben, den Schönen und ihren
Lilienfüßen zu huldigen. Aber niemals konnte die Goldene Lilie deshalb auf-
kommen und zur Verbreitung gelangen, weil die chinesische Männerwelt
Gefallen fand an dem von den verkrüppelten Füßen bewirkten „bauchtanz-
artig schwingenden Wiegen der zarten Hüften unter fließender Seide“.
In den Luxuskreisen, von denen die Fußverkrüppelung ausging, war über-
dies gerade der Gang der Frau das, worauf es nicht ankam. Das findet man
auch in dem von E. v. Eidcstedt zitierten Werk „Die vollkommene Frau“ des
Li Li-weng gesagt, wo zu lesen ist: „Mir erzählte einmal jemand voller Stolz;
Minister Dschou aus J-hsing hat einmal für tausend Goldstücke eine Schönheit,
das Fräulein ,Stütze' gekauft, nur weil ihre Füße so klein waren, daß sie kaum
einen Zoll weit laufen konnte und immer gestützt werden mußte, wenn sie
ging.“ Bis zuletzt ist es bei den Vornehmen so geblieben. Damen mit eng-
gebundenen Füßen erschienen bei Empfängen rechts und links von Dienerin-
nen gestützt. Teils weil sie sonst wirklich bewegungsunfähig waren, teils um
zu bekunden, welch aristokratische Füße sie haben.
Ebensowenig besteht eine Beziehung zwischen gebundenen Füßen und
Grazilität. Weder sind die Lilienfüße dort am stärksten verbreitet, wo der
schmächtige chinesische Frauentypus überwiegt, noch ist die Lilienfuß-Mode
mit der Schlankheitsmode gekoppelt. Im Gegenteil, kleine Füße und große
Korpulenz waren in China wohl über ein Jahrtausend untrennbar. Ein Ge-
lehrter von hohem Rang, der hervorragende deutsche Anthropogeograph Fried-
rich Ratzel (1895), nahm sogar an, der Zweck der Verkrüppelung der Füße
bestünde darin, die Frauen an das Haus zu fesseln und dadurch zur Mehrung
ihrer sexualästhetisch erstrebten Körperfülle beizutragen. In Wirklichkeit ist
die Beziehung des verkrüppelten chinesischen Frauenfußes zur Erotik ganz
166
E. F. Podadi
und gar sekundär. Erst recht verdanken die Lilienfüße ihre Entstehung kei-
nem ästhetischen Wunschbild der Chinesen.
Wäre bei der Einführung der Lilienfüße die ästhetische Wertung kleiner
Füße, zumal seitens der Männer, die entscheidende Instanz gewesen, dann
hätten die pathologisch deformierten Füße niemals Verbreitung gefunden.
Gewiß, bei verschiedensten Völkern sind die Frauen bemüht, kleine Füße zur
Schau zu tragen. Sie nehmen dabei manche Qualen in Kauf, allem voran zu
kurze und enge Schuhe. In China scheinen Damen der eleganten Welt den
kleinen Füßen eine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet zu haben.
Gefallsucht, Spieltrieb, Nachahmungsverlangen, angestachelt durch die Schön-
heitskonkurrenz in Hofkreisen und bei Luxusfrauen ließen die Übung auf-
kommen, die Füße durch Abbinden klein zu halten. Bei ihrer gesellschaft-
lichen Vorzugsstellung und Lebensweise war diese weibliche crème de la
crème auf ihre Gehwerkzeuge kaum angewiesen. Im edlen Drange, die Neben-
buhlerinnen auszustechen, brauchte sie nicht davor zurüdkzuschrecken, die
Praxis auf Kosten der Gesundheit ihrer Füße zu intensivieren. So kam bei der
chinesischen Frauenelite eine sich immer mehr überbietende künstliche Fuß-
verkleinerung in Mode. Allein beim Fuß der Erwachsenen hatte diese Tor-
heit, selbst bei extremer Kultivierung, ihre ehernen Grenzen. Hätten nur die
Hofdamen und vornehmen Kurtisanen der Fußbindung gefrönt, wäre es bei
der mangelnden Plastizität des Fußes nach Abschluß des Wachstums niemals
zu jener Zusammenpressung, Verbiegung, Verspitzung und Verhufung ge-
kommen, deren jeweilige Kombination die diversen Formen der Goldenen
Lilie ergab, und von denen man schließlich fünf Arten mit achtzehn Unter-
typen glaubte zählen zu können. Aber das goldene Mutterherz half der Mode
nach. Um Zukunft und Glück ihrer Töchter zu sichern, sie für den modischen
Lebenskampf bestmöglich auszurüsten, verfielen vorsorgliche Mütter auf den
Gedanken, die Schnürungen in zarter Jugend vorzunehmen.
Kinderfüße ließen sich formen wie Ton in des Töpfers Hand. Man konnte
die Prozedur beliebig früh und lange vornehmen. Erst als dies geschah, waren
die verkrüppelten Füße der Chinesinnen entstanden. Sie waren häßlich, wie
eine künstlich bewirkte abscheuliche pathologische Verbildung überhaupt nur
sein kann. Ungetrübten Sinnes hätte keiner solche Füße inmitten gesunder
Füße schön gefunden, erst recht kein Chinese, wenn man ihm mit gutem Grund
eine besondere ästhetische Kennerschaft für Füße nachsagt. Aber die Män-
ner wurden gar nicht befragt. Das starke Geschlecht ließ sich wieder einmal
vor vollendete Tatsachen stellen. Es blieb den Männern nichts anderes übrig,
als zur Kenntnis zu nehmen, daß vornehme Damen solche Füße tragen, und
durch den Ring der modisch maßgebenden Frauen dazu angehalten, gab es
bald keinen Gatten oder Liebhaber, der nicht Krüppelfüße, je mehr verkrüp-
pelt, um so schöner fand.
Überhaupt ist es eine noch total ungeprüfte und der näheren Prüfung ge-
wiß nicht standhaltende Annahme, daß bei Kulturvölkern die Frauen sich für
die Männer schminken und kleiden und daher der (jeweilige) Geschmack der
Männer die (gegebene) Mode bestimmt. In Wirklichkeit haben die Männer
Bewundert wurden verkrüppelte Füße in dem ständisch geschlossenen
Kreis der Spitzen altchinesischer Gesellschaft, wo sie immer allgemeiner wur-
den, nicht kraft der ihnen innewohnenden Schönheit. Weder ihre ästhetische
noch ihre erotische Wirkung war urtümlich. Verbürgt wurde ihre sexualästhe-
tische Bedeutung anfänglich durch die Seltenheit, dann durch die der Pflege
der Füße gewidmete Aufmerksamkeit und den Stolz der Frauen auf das bitter
erkaufte Ergebnis jahrelanger Marter. Den Töchtern, aber auch den Söhnen
wurden überdies Wissen und Gefühl für den Liebes wert der Goldenen Lilie
von Kindesbeinen an beigebracht. Dadurch haben sich mit den verkrüppelten
Füßen auch der Glaube an ihre Schönheit und die erotische Bindung an die
gebundenen Füße innerhalb des Luxusstandes ausgebreitet.
Vor allem aber sind die Lilienfüße zu einem prominenten Luxuszeichen ge-
worden dadurch, daß die Fußverkleinerung in der exzessiven Form der Ver-
krüppelung nur innerhalb höchster Kreise möglich war. Denn nur Frauen, die
in Sänften getragen wurden, wenn sie — was selten genug geschah — die
Frauengemächer verließen, und die auf ihre Füße so gut wie gar nicht an-
gewiesen waren, konnten sich die Verkrüppelung leisten. Diese Tatsache
wirkte sich in doppelter Hinsicht aus:
Innerhalb der haute volée hat die Exklusivität der Lilienfüße ihrer ohne-
dies sozial bedingten Schätzung den stärksten sozialen Akzent aufgesetzt.
Gleidizeitig ist die monopolisierte Monstrosität der Fußverkrüppelung für
ständisch niedrigere Schichten zur begehrenswerten Schönheit geworden. Wenn
man die Lilienfüße auch kaum zu Gesicht bekam, ließen sich Dichter und
Höflinge voll des Lobes der Goldenen Lilien weithin hörbar vernehmen.
Eigene ästhetische Einschätzung durch Inaugenscheinnahme wäre, selbst wenn
möglich, überflüssig gewesen. Das Wohlgefallen an dem, was sozial Höheren
gehört, ist apriorisch. Der Schönheitssinn wird regiert von dem Verlangen da-
nach, was die Gehobenen dank ihrer gesellschaftlich-wirtschaftlichen Vorzugs-
stellung allein besitzen können. Auszeichnungsverlangen, Stieben nach oben
und der Wunsch, am Vornehmen teilzuhaben, sind der soziale Vorspann des
Geschmacks. Die Schönheit feiner, verwöhnter Damen versteht sich außerdem
für die Geringeren beiderlei Geschlechts von selbst. Und wenn in hohen
Kreisen der Krüppelfuß als schön galt, mußte er auch in den anderen Schich-
ten für Frauen und an Frauen fraglos begehrenswert erscheinen.
in die Mode recht wenig dreinzureden und die Ansicht, die Frauen kleideten
sich ihretwegen, ist eitel Einbildung. Was zur Mode wird, darüber entschei-
den die Frauen, d. h. die Konkurrenz der Frauen. Den Männern gegenüber
setzt sich die Mode in der Regel diktatorisch durch. Denn meist findet sie bei den
Männern keinen Gefallen, sie lassen sie sich nur unter heftigen Protesten oder
„um des lieben Friedens willen“, letzten Endes unter dem gesellschaftlichen
Zwang, keine unmodische Frau zu haben, gefallen. Und man muß auch die
Körperschönheit, besonders wo sie der kosmetischen Beeinflussung unterliegt,
unter der Optik der Mode sehen.
Gin-lien
y."
168
E. F. Podach
Der Zeitpunkt der überständischen Ausbreitung der künstlich verkrüp-
pelten Füße ist nicht bekannt. Bestimmt hat aber diese Diffusion von oben
nach unten, von hoch zu niedrig infolge der ständischen Schichtung im alten
China und der Zähigkeit, mit der es an Sitten und Gewohnheiten festgehalten
hat, große Zeiträume beansprucht. Auch erfolgte die Übernahme in mehreren
Etappen. Zuerst optierten die Lilienfüße jene zwar nicht den Hofkreisen an-
gehörenden, aber sich in Würden und Reichtum sonnenden Schichten, deren
Frauen so gut wie ausschließlich in ihren vier Wänden lebten. Hausgebunden-
heit der Chinesinnen solcher Stände und verkrüppelte Füße stehen gewiß in
wechselseitiger Beziehung.
Noch zur Zeit des Marco Polo im 13. und zu der von Ihn Batuta im 14. Jahr-
hundert war es ein Gebot guter Sitte, daß chinesische Frauen besserer Stände
sich nicht sehen ließen. Daher wußten diese fremden Reisenden, obgleich sie
Tracht und Aussehen der Chinesen recht ausführlich beschreiben, nichts von
dem Chinesenfuß, Und der Franziskaner Odorico di Pordenone, der aus den
ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts als erster von den „eingewickelten“
künstlich kleinen Füßen berichtet, hat davon in Südchina, wie mit Bestimmt-
heit angenommen wird, nur vom Hörensagen erfahren. Auch noch später lie-
ßen sich die Damen nur in verdeckten Sänften tragen. Der christliche Chinese
Dionysius Kao erzählt vom Ende des 17. Jahrhunderts: „Die chinesischen
Frauen sind nirgends in ganz China auf den Straßen zu sehen, mit einziger
Ausnahme der Hauptstadt Peking, wo sie sich nur in verdeckten Sänften dort-
hin tragen lassen, wohin sie sich begeben wollen.“
Der auch als Kulturhistoriker hochverdiente Wiener Anatom Joseph Hy Hl
hat sich vor hundert Jahren als einer der ersten für die Verunstaltung der
Frauenfüße in China wissenschaftlich interessiert. Beim Wiener Aufenthalt der
Madame Chung Atai aus Kanton, einer hochgebildeten Chinesin, erhielt er
eine Sohle von zwei Zoll Länge (54 mm) und wertvolle Informationen, die
er in sein Handbuch der Topographischen Anatomie (1847) aufgenommen hat.
Dort lesen wir u. a.: „Die Rehfüße der vornehmen Chinesinnen machen das
Gehen auf ebenem Boden zur Qual, das Laufen unmöglich und das Stiegen-
Auf- und Absteigen so beschwerlich, daß chinesische Hausfrauen gewöhnlich
nur Erdgeschosse bewohnen, wenn sie den Luxus eines Hausträgers nicht
bestreiten können.“
Auch haben die Schuhe an den verkrüppelten Füßen sichtbar zum Ausdruck
gebracht, daß sie einer Dame gehörten, die es zu ihren Ehren rechnet, von den
Füßen keinen Gebrauch zu machen. Die kleinen Schuhe waren nämlich an der
Sohle am reichsten bestickt. Indem die Damen alten Stils wie Kinder mit nach
vorn ausgestreckten Beinen auf einen Stuhl gesetzt oder in Sänften getragen
wurden, konnten die Stickereien der Sohlen am besten bewundert werden und
das Nichtstun — die jahrtausendealte meistbegehrte soziale Ehre — vorzüg-
lich demonstrieren.
Später sanken die Lilienfüße von dem Luxusstand über sehr wohlhabende
Kreise in die bürgerlichen Schichten hinab. Auch die Frauen hatten dann
Gin-lien
169
gebundene Füße, die zwar im Notfall gehen, doch nicht körperlich arbeiten
mußten. Nunmehr schien es jedem Mann, der etwas auf seine gesellschaftliche
Stellung hielt, schlechthin unmöglich, ein Mädchen mit normalen Füßen zu
heiraten. Zu allerletzt wurde, so in Mittelchina, die Abbindung der Füße in
allen Gesellschaftsschichten bei hoch und niedrig ganz allgemein. Obgleich
von der Einbindung der Füße verschiedene schwerwiegende anatomische und
funktionelle Veränderungen des Fußes, der Beinmuskulatur, des Sprung- und
Kniegelenks, ebenso der Hüftpartie bewirkt werden, haben sich schließlich
auch Frauen der arbeitenden Klassen diesen Luxus geleistet und dabei ihre
Arbeit verrichtet. Diese letzte Phase der Entwicklung scheint indessen recht
jung zu sein. Denn noch in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts er-
schienen den Europäern die mit verkrüppelten Füßen arbeitenden Frauen als
sehr bedauernswerte Geschöpfe. So schreibt der Maler Ed. Hildebrandt im
Bericht über seine Weltumseglung (1862/63): „Es ist unbegreiflich, weshalb
man selbst in den unteren Ständen, die doch ihr Leben lang auf ausdauernde
Arbeit angewiesen sind, die Töchter auf diese Weise verstümmelt, die ihnen
Bewegung und Beschäftigung über alle Maße erschwert. Wie oft habe ich die
Frauen der Gärtner an ihren Stöcken umherhumpeln oder schneckenartig auf
den Knien zwischen den Beeten hinkriechen und Unkraut ausjäten sehen.“
Inzwischen sind die arbeitenden Frauen mit Lilienfüßen leistungsfähiger ge-
worden. Die Mütter verfuhren beim Einbinden der Füße vernünftiger, wie
denn überhaupt der Grad der Verkrüppelung sich nach der Höhe des Stan-
des gerichtet hat. Was freilich der Europäer nicht ohne weiteres bemerkt hat.
Ferdinand v. Richthofen, der bahnbrechende Geograph Chinas, hatte bei
seiner Fahrt durch die Provinz Hunan (1870) einen Bootsmann, der aus der
westlichen Gebirgsgegend stammte. Für die Chinesen vom Flachlande
sind deren Bewohner unzivilisierte halbwilde Menschen. Der Mann hatte
Frau und Tochter mit, auf deren Füße v. Richthofen durch den Kapitän
eines chinesischen Kanonenbootes mit Geringschätzung aufmerksam gemacht
wurde, sie seien ein unzweifelhaftes Zeichen von Unkultur. „Ich war über die
Bemerkung um so mehr erstaunt“, schrieb der Gelehrte in seinem Tagebuch,
„als in meinen Augen die Füße ebenso zusammengepreßt waren wie bei den
vornehmsten Chinesinnen, und ich konnte mich erst nach einiger Demon-
stration überzeugen, daß in der Tat die Verstümmelung nicht ganz so weit
gediehen war.“
Aber selbst starkes Einbinden führt nicht zur Arbeitsunfähigkeit. „Durch
die zweckmäßige Anpassung an die Verkrüppelung ihrer Gehwerkzeuge kön-
nen manche Frauen auffallend gut gehen. In Mittelchina, wo die Füße im
Gegensatz zur Provinz Kuangtung in allen Kreisen verkleinert werden, muß
man sich über die Geschicklichkeit dieser Frauen oft geradezu wundern“ (A. Bas-
ler, 1933). Wir, die durch die Erfahrung von zwei Weltkriegen belehrt sind,
in wie hohem Maße Körperbehinderte ihre Arbeitsfähigkeit wieder zu erlan-
gen vermögen, wundern uns darüber nicht. Jedenfalls haben die verkrüppelten
Füße am Ende weiteste Verbreitung gefunden. War es zu Beginn eine Sache
der Standesehre, daß die Frauen und Nebenfrauen der Vornehmsten unbedingt
170
E. F. Podach
Lilienfüße haben mußten, so wurde es schließlich als unchinesisch, als ein Ver-
stoß gegen geheiligte nationale Sitten empfunden, normalfüßige Weiber —
Barbarinnen „mit großen Füßen“ — zu heiraten. Wobei man stets überzeugt
war, keinem ständischen Zwang, sondern lediglich der Schönheit zu huldigen.
Im Norden der Provinz Kuangtung sang man ein Volkslied:
Die zarten Schuhe hinterlassen ihre Spur beim Gehen,
Im Frühling. Selbst die Schwalben picken gierig nach dem Abdrude.
Ich sehne mich nach ihrem kleinen Fuß nicht minder.
Lotosblumen blühen, wo sie geht.
☆
Bis zur chinesischen Revolution konnte man sich einen Chinesen ohne Zopf
nicht vorstellen und Krüppelfüße schienen zuletzt zum physischen National-
charakter der Chinesinnen zu gehören. Sie wurden von der „sexuellen Volks-
ästhetik“ (O. Stoll) gebieterisch gefordert. Noch vor wenigen Jahrzehnten, so-
lange die alte Gesellschaftsordnung in China einen Bestand versprach, hielten
selbst aufgeklärteste Chinesen, aber auch die im Reich der Mitte lebenden Euro-
päer es für unmöglich, die Unsitte der Fußverkrüppelung abzuschaffen. Der
Amerikaner Herbert Allen dies (1902) erzählt von seiner nurse, einer christ-
lichen Chinesin mit ungebundenen Füßen, daß sie die Füße ihrer eigenen
Tochter wieder band, weil es ihr sehr schwer schien, ein Mädchen ohne „kleine
Füße“ zu verheiraten. Vergeblich bekämpften Missionare die Fußverkrüp-
pelung. Die Forderung, Chinesinnen müßten mit der Taufe auf die Einschnü-
rung ihrer Füße verzichten, ließ sich nicht allgemein durchführen. Im Jahre
1906 sagte Bischof Brugniöre in Chengtingfu über die Füße der christlichen
chinesischen Mädchen zu Frau Frieda Fischer, die mit ihrem Mann, dem Stif-
ter des Kölner Museums für Ostasiatische Kunst, in China reiste, resigniert:
„Sie finden sonst keinen Mann. Schönheitsideal, was nicht auszurotten ist.“
Seither ist es anders geworden. Schon 1933 konnte A. Basler, der über den
verkrüppelten Fuß der chinesischen Dame in Kanton interessante historische
und experimentelle Studien gemacht hat, die Voraussage wagen: „Augenblick-
lich dürfte es nur noch sehr wenige weibliche Personen mit deformierten Füßen
geben, die unter 25 Jahre alt sind, und so kann man mit mathematischer Sicher-
heit Voraussagen, daß der ,kleine Fuß“ in wenigen Jahrzehnten verschwunden
sein wird.“
Heute ist es bereits ein gesellschaftlicher Vorzug, „große Füße“ zu
haben. Viele Chinesinnen sind unglücklich über ihre altmodisch gebundenen
Füße. Moderne Chinesen fühlen sich durch den Anblick der Unnatur der Gol-
denen Lilien nicht nur ästhetisch-erotisch abgestoßen, sondern in ihrer natio-
nalen Würde, in ihrem dem Westen gegenüber so überaus empfindlichen all-
chinesischen Standesbewußtsein durch die barbarische Rückständigkeit be-
leidigt.
Literaturhinweise
Der Humboldts die Satz lautet, übersetzt nach der ursprünglichen Fassung in Voyage de
Humboldt et Bonpland. Prem. Partie. Relation Hist. (Voyage aux Reg. Equinox. du Nouv.
Gin-lien
Continent 1799—1804) vol. 2 (P. 1819) 1. VIL oh. XIX p. 262: „Wenn die Amerikaner der
roten Farbe den Vorzug geben, so scheint es mir wahrscheinlich, daß dies ganz allgemein
in der Neigung der Völker begründet ist, den Begriff der Schönheit all dem zuzusprechen,
was ihre Nationalphysiognomie kennzeichnet. Menschen, deren Haut natürlicherweise ein
ins Braune spielendes Rot ist, lieben die rote Farbe. Wenn sie mit einer mäßig gewölbten
Stirn, mit einem abgeplatteten Kopf geboren werden, dann suchen sie die Stirne ihrer
Kinder niederzudrücken. Wenn sie sich von den anderen Nationen durch einen sehr schüt-
teren Bart unterscheiden, versuchen sie die wenigen Haare auszurupfen, die ihnen die
Natur gab. Sie halten sich in dieser Weise für umso schöner, je ausgesprochener sie die
kennzeichnenden Züge ihres Stammes (races) oder ihrer Nationalbildung hervortreten
lassen.“ — Schon die Abh. von F. Junker, A. f. Anthrop. 4 (1873), führt den Titel; Kien-lien,
die goldene Lilie. Sie stellte das chinesische Schriftzeichen dafür voran. Zur a. o. großen Lit.:
O. Stoll. Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie (Lpz. 1908) u. H. Virchow, Der
Fuß d. Chinesin (Bonn 1913). Hier nur einige Ergänzungen. Die mir bekannte älteste Spe-
zialstudie: B. B. Cooper, Philos. Transact. Roy. Soc. London 1829, I. Er konnte sich
nicht entscheiden, ob der Grund der Sitte orientalische Eifersucht oder ein widernatürlicher
Schönheitssinn sei. Die Länge des von ihm anatomisch untersuchten Fußes einer als Was-
serleiche in Kanton aufgefundenen Frau betrug 13 cm. — Wichtigste neuere Veröff.:
A. Basler, Zs. Ethnol. 65 (1933), ihr sind die meisten poetischen Zitate entnommen. E. v.
Eickstedt hat das Verdienst, in beiden Ausg. seiner Rassenkunde u. Rassengesch. die Defor-
mations-Kosmetik gebührend berücksichtigt zu haben. Zu den einzelnen Abschnitten:
1. Über die Geschichte der Goldenen Lilie (GL) sagte schon M. v, Brandt, Sittenbilder
aus China (Stuttg. 1895), es seien „die verschiedenartigsten Fabeln im Umlauf, von denen
die eine nicht mehr Glauben wie die andere zu verdienen scheint.“ A. Tafel, Meine Tibet-
reise. 2 Bde. (Bin. 1907). — 2. G. Morache, Pékin et ses habitants (P. 1869). Zu diesem
treffllichen Beobachter chinesischer Sitten vgl. E. F. Podach, Schweiz, med. Wschr. 70, 1
(1951). W. Joest, Weltfahrten. Beitr. z. Länder- u. Völkerk. 3 Bde. (Bin. 1895 f.) Bd. 2. —
3. Frl. „Stütze“: L. Li-weng, Die vollk. Frau. Übers. W. Eberhard, Ostasiat. Zs. N. F. 15.16
(1939/40). Li Li-weng fand eine Schönheit, die ihre Füße zum erotisierenden Gang ge-
brauchen konnte, begehrenswerter. Aber a) er war ein Spätling (17. Jahrh.); b) die sich teure
Kurtisanen leisten konnten, dachten anders; c) ihnen genügte, bei Tage und bei Nacht, daß
sie kostspielig waren. Sie brauchten nicht, wie Liebesdichter und andere arme Schlucker —
um S. Freud abzuwandeln — ihr unbefriedigtes soziales Libido auf das Ersatzgebiet des
ästhetisch sublimierten Sexuellen zu verlagern. — 4. Hausgebundenheit und GL: C. T.
Downing, The Fan-Qui in China in 1836—37. 3 vol. (London 1838), Bd. 2, spricht von Haus-
gefangenschaft und der Schande für eine Frau, von einem fremden Mann gesehen zu wer-
den. Noch in der jüngsten Vergangenheit hat Ellsworth Huntington, The Character of
Races (N. Y. 1924) in Tschinan (Schantung), wo die GL praktisch allgemein waren, kaum
Frauen auf den Straßen gesehen. Im Süden (Kanton) lief die Weiblichkeit bereits ungebun-
denen Fußes herum. — Über die Geographie der GL sind die Angaben sehr widerspre-
chend. Sicher ist, daß zur klassischen Zeit nicht schlank-zierlich, sondern „schön fett“ und
GL zueinander gehörten. — F. v. Ridithofen, Tageb. aus China. 2 Bde. (Bin. 1912). — Über
die Immobilisierung durch GL glänzende Beobachtungen bei Pearl S. Buck. — Die GL-feind-
liche Mandschu-Dynastie konnte die ständische Konkurrenz durch Krüppelfüße ebensowenig
abstellen wie frühere, zeitweise angeblich ganz grausame Maßnahmen (durch Prinz Li-Yu
zu Pyramiden getürmte abgeschnittene GL) oder Anti-GL-Vereinigungen europäischer
Edehnenschen um die Jahrhundertwende. — F. Fisdier, Chin. Tagebuch (Münch. 1942). —
Die chinesischen Männer sind über die Motive der GL noch immer von der gleichen
Ahnungslosigkeit wie sie zu Zeiten von du Halde es waren: Lin Yutang, My Country and
My People (London 1936), ch. „Footbinding“. — Zur Mode: Schon für Kant war sie nidit
vom Geschmack bestimmt, sondern von der Eitelkeit, vornehm zu tim, und vom Wetteifer,
sich gegenseitig zu übertreffen. H. Spencer und G. Simmel haben dann dies näher aus-
geführt. Die hier vertretene Auffassung fühlt sich am stärksten verpflichtet: Th. Vehlen,
The Theory of the Leisure dass (London 1899).
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Wie in den seit dem Beginn und Verlauf des Mittelalters christlich gewor-
denen Ländern Europas gibt es auch in allen Teilen des islamisierten Orients
Volksüberlieferungen aus der Zeit vor der Bekehrung oder Unterwerfung unter
den nunmehr zur Staatsreligion gewordenen Islam, die sich bis auf den heuti-
gen Tag in Sitten und Gewohnheiten und darüber hinaus in der Rechtsauf-
fassung des breiten Volkes äußern. Aus diesen Überlieferungen lassen sich bis
zu einem gewissen Grade die vor der Bekehrung zum neuen Glauben herr-
schenden Gebräuche und Rechtsverhältnisse rekonstruieren. Im Christentum,
das zwar Staatsreligion war, aber das doch nur neben der weltlichen Macht
existierte, haben dagegen die rechtlichen Forderungen des neuen Glaubens
an die Gesellschaft keineswegs dieselbe Rolle gespielt wie im Islam, der die
weltliche und geistliche Macht vereinigte und in dem sowohl das Staatsrecht
wie das Straf- und Privatrecht in der religiösen Gesetzgebung verankert sind.
Diese beruht bei allen Sekten des Islams und den von ihnen gebildeten Staaten
auf den im Koran und in der Überlieferung von mündlichen Aussprüchen des
Propheten Muhammed festgelegten und als Glaubensthesen betrachteten sitt-
lichen Auffassungen, die im sogenannten Scheriatsrecht, der scheri’a oder dem
schar’ ed-din, dem Glaubensrecht, verankert sind. Dieses Scheriatsrecht war
bei allen islamischen Sekten und in allen islamischen Staaten bis auf geringe
Abweichungen gleichlautend, wenn es auch in den letzten beiden Jahrhunder-
ten in den unter europäischem Einfluß oder politischer Herrschaft stehenden
Teilen des Orients mehr oder minder den in Europa herrschenden Rechtsauf-
fassungen angepaßt worden ist. Am reinsten hat sich das Scheriatsrecht bis
heute auch als Staatsrecht in den von europäischen Machteinflüssen am wenig-
sten berührten unabhängigen Staaten der Arabischen Halbinsel erhalten, in
Sa’üdije und Jemen, sowie in den britischen Protektoratsgebieten des südlichen
Teils der Halbinsel, wo die Besatzungsmacht sich jedes Eingriffs in die internen
Rechtsverhältnisse nach Möglichkeit enthalten hat.
Da in diesen selben Gegenden der Arabischen Halbinsel, besonders in ihrem
mittleren Teile, die islamische Religion und ihre Rechtsauffassungen ihre Ge-
burtsstätte gehabt haben und naturgemäß sich daher auch die Grundlagen des
Scheriatsrechtes ausgebildet haben müssen, so sind die hier noch erhaltenen
Sitten und Gebräuche, vor allem die im Volke lebendigen Rechtsauffassungen,
soweit sie mit den späteren islamischen rechtlichen Auffassungen im Wider-
spruch stehen, besonders interessant, weil sie Rückschlüsse auf die Verhältnisse
Carl Rathjens, Hamburg
Täghüt gegen scheri’a
Gewohnheitsrecht und islamisches Recht bei den Gabilen des jemenitischen
Hochlandes
Täghüt gegen sehen a 173
zulassen, wie sie vor dem Siege des Islams und der islamischen Rechtsordnung
bestanden haben.
Wir besitzen bereits eine große Anzahl von Schilderungen der Gewohnheits-
gesetze der Bewohner der verschiedensten Teile der Arabischen Halbinsel, die
in ihrer Gesamtheit, um nur die großen Gruppen zu nennen, aus vollnomadi-
schen Kamelhirten, halbnomadischen Kleinviehhirten und seßhaften Acker-
bauern bestehen, zwischen denen aber die verschiedensten Übergänge von
einer Gruppe zur anderen zu verzeichnen sind. Diese Zusammenfassungen
sind meist aus den Berichten vieler Arabienreisenden zusammengestellt [1].
Gewisse Grundlagen dieses Gewohnheitsrechtes lauten bei allen Vertretern
dieser verschiedensten Wirtschaftsformen gleich, während andere teilweise er-
heblich voneinander abweichen, mitunter in ziemlich benachbarten Gegenden
sogar mehr als in weit voneinander entfernt liegenden Landschaften.
Was die seßhaften und halbnomadischen Einwohner Südarabiens anbelangt,
so hat A. Grohmann mit erstaunlichem Fleiß alle Nachrichten über sie aus einer
ungeheuren Reiseliteratur gesammelt [2]. Leider sind aber in dieser sonst sehr
übersichtlichen Abhandlung die in den einzelnen Gegenden und Orten Süd-
arabiens herrschenden Zustände und mannigfachsten Unterschiede nicht genü-
gend auseinandergehalten. Dies gilt besonders für die sich mit ihren schnell
wechselnden klimatischen und anderen Geländeunterschieden entsprechend
rasch ändernden Bevölkerungsverhältnisse, die sich im somatischen wie kultu-
rellen Bild in oft geringer Entfernung äußern. Dieser Tatbestand trifft vor
allem auf die Hochländer von Südwestarabien, auf Jemen zu.
Der Verfasser hat es daher für notwendig gehalten, während seines mehr-
jährigen Aufenthaltes in San‘ä, der Hauptstadt von Jemen, auf vier Reisen, vor
allem an Hand der sehr ausführlichen Schilderungen von Grohmann, festzu-
stellen, welche Gewohnheitsgesetze nur unter den Gabilen der Hochebenen
von Jemen (zwischen 2000 und 3000 m Meereshöhe) herrschen. Diese sind
dort seßhafte Regenfeldbauern im Gegensatz zu den Bevölkerungsschichten,
die an den westlichen und östlichen Gebirgshängen und auf den sich daran
anschließenden Ebenen wohnen. Bei den letztgenannten finden wir nicht nur
teilweise ganz andere somatische Eigenschaften, sondern auch ganz andere
Wirtschaftsformen und dementsprechend auch andere Gewohnheiten und Ge-
bräuche. Als dem Verfasser in den Jahren 1931 und 1934 vom Imam für ver-
schiedene Zwecke fünf, den gebildetsten Schichten der Stadt San'ä angehörende
Schüler zur Verfügung gestellt wurden, benutzte er diese Gelegenheit, um in
wochenlangen Diskussionen mit ihnen über das schar‘ el-man‘ und über das
schar' et-täghüt Aufschluß zu erhalten. Unter schar' el-man' verstanden diese
Schüler das über das Scheriatsgesetz, die scheri'a hinausgehende, aber noch
mit ihm in Einklang zu bringende Gewohnheitsgesetz der Gabilen und unter
dem schar' et-täghüt begriffen sie die als heidnisch zu betrachtenden und da-
her vom Imam, als dem staatlichen und religiösen Haupt der zaiditischen Sekte
in Jemen, der auch die hier wohnenden Gabilenstämme angehören, scharf ver-
folgten und streng bestraften Sitten- und Rechts vor Stellungen. Ferner erwarb
174
Carl Rathjem
im Jahre 1931 der Verfasser die Handschrift einer Reisebeschreibung von dem
jemenitischen Juden Hayyim Habschüsch, welcher den französischen Reisen-
den Joseph Halevy, der im Jahre 1870 große Teile von Jemen bis Nedjrän hin
bereiste, begleitet hatte. Diese Handschrift, die in arabischer Sprache mit hebrä-
ischer Schrift abgefaßt ist, und viele Sitten und Gebräuche der Gabilen des
Hochlandes von Jemen beschreibt, ist inzwischen mit noch zwei anderen seit-
dem auf gefundenen, teilweise abweichenden Abschriften von E. Goitein [3]
veröffentlicht worden.
Im Jahre 1937 hielt sich der italienische Orientalist Ettore Rossi zu gleicher
Zeit mit dem Verfasser in San'ä auf und beschäftigte sich ebenfalls intensiv
mit dem Gewohnheitsrecht der Gabilen. Es gelang ihm, mehrere Handschrif-
ten, die wahrscheinlich etwa 200 Jahre alt sind, aufzufinden und zu kopieren,
in denen jemenitische Rechtsausleger sich mit dem schar' el-man' und mit dem
täghüt auseinandersetzen. Allerdings beziehen sich die darin beschriebenen
Gewohnheitsgesetze aller Wahrscheinlichkeit nach auf die in den östlichen
Randgebieten des Hochlandes und an seinem Fuß in der Umgebung von Märib
und dem Djöf im sogenannten Meschriq herrschenden Verhältnisse. Nach den
Auskünften meiner Gewährsmänner bestehen hier noch viele Sitten und Ge-
bräuche, die anders sind als die der Hochlandsgabilen und die von ihnen nicht
nur als dem täghüt, sondern darüber hinaus als der djahaliye, dem absoluten
Heidentum zugehörig, betrachtet wurden. Derartige Gebräuche, sagten sie
mir, wären auf dem Hochlande nur bei den Hamdän- und ‘Arhab-Stämmen
nordwestlich bis nordöstlich von San’ä in Gebrauch. Sie werden aber von die-
sen Gabilen nur noch heimlich unter Ausschluß aller Städter oder Fremden
ausgeübt.
Sie gaben auch zu, daß sidi bei den Stämmen noch Niederschriften des
schar' el-man' mitsamt dem schar' et-täghüt befinden, die aber streng verbor-
gen gehalten werden, da der Imam ihre Besitzer und Befürworter als Abtrün-
nige vom islamischen Glauben, el-murtadd ‘an ed-din, betrachtet und mit dem
Tode bestraft. Ettore Rossi hat die von ihm kopierten Handschriften, die aller-
dings keine Niederschriften der Gesetze der Gabilen sind, sondern nur eine
kritische Betrachtung dieser Gesetze von rechtgläubigen Rechtswahrern dar-
stellen, kürzlich im Auszug veröffentlicht [4].
Im folgenden soll nun versucht werden, auf Grund aller dieser Quellen eine
Darstellung des Gewohnheitsrechtes der Gabilen des Hochlandes in der wei-
teren Umgebung von San'ä zu entwerfen. Dabei wird bewußt eine Beschrän-
kung auf diese Stämme vorgenommen. Die Schilderung der noch über diese
schon weitgehend vom Scheriatsrecht abweichenden Verhältnisse hinausge-
henden Sitten und Gebräuche der Stämme in den Grenzgebieten von Jemen
gegen das Hochland von ‘Asir im Norden und in der Umgegend von Nedjrän,
mit ihren sonderbaren Beschneidungssitten und Überresten einer matriarcha-
lischen Gesellschaftsform, sowie der wiederum von diesen abweichenden Sit-
ten und Gebräuchen bei vielen Küstenstämmen des Roten Meeres soll einer
späteren Veröffentlichung Vorbehalten werden, ebenso wie auch die verschie-
denen Nachrichten von nomadisierenden Judenstämmen und von, noch im ge-
Tághút gegen schert a
175
heimen dem Christentum anhängenden Stämmen an den östlichen Grenzge-
bieten zur großen Wüste des Rub' el-Chál!, des „leeren Viertels“.
Man muß unter der Bevölkerung in Jemen unterscheiden zwischen den Be-
wohnern der größeren Städte, die keinem Stammesverbande angehören und
unter dem reinen Scheriatsgesetz stehen, den sogenannten ‘arab, und zwi-
schen des Gabilen, den qabá'il, sing, qabili [5], die in streng voneinander ge-
trennten Stammesverbänden zusammengeschlossen und in kleineren Städten,
Dörfern oder Weilern als Ackerbauer und Viehzüchter in Steinhäusern ansäs-
sig sind. Bei den letzteren ist das schar' el-man' [6] in Geltung, das Gabilen-
gesetz, von dem einige Vorschriften, die gröblichst gegen das Scheriatsgesetz
verstoßen, als schar' et-tághút [7] zusammengefaßt werden. Die Gabilen zer-
fallen in eine Anzahl großer und kleiner Stämme, qabä'il, sing, qabilah, deren
größte man auch 'aschä'ir, sing, ‘aschirah, nennt, und die teilweise in Drittel,
thulth [8], oder auchNeuntel, tus' [9],geteilt sind, wobei die Dreizahl eine uralte
magische Bedeutung besitzt. Der Stamm zerfällt wieder in Unterabteilungen,
hibäl, sing, habl, diese wieder in kleinere Gruppen, fachidha, sing, fachdh und
zuletzt in lahäm sing, lahm, die bereits als Sippen mit enger Blutsverwandt-
schaft zu bezeichnen sind. Die kleinste Unterabteilung ist die Hausgemein-
schaft, die fasilah, plur. fasä'il oder batn, plur. butun.
An der Spitze des Stammes steht der schéch, bei wenigen größeren auch ein
schéch el-maschayich. Andere Bezeichnungen von Stammeshäuptern sind in der
Reihenfolge ihrer Bedeutung der naqib eines Unterstammes und der ‘aqil,
auch qail genannt, einer Dorfgemeinschaft, In seltenen Fällen trägt das Stam-
meshaupt auch den Titel sultán, ra'is oder za'im. Das einzelne männliche
Stammesmitglied ist der maqdami. Die Gesamtheit der waffentragenden
Stammesangehörigen nennt man el-maqdam oder auch el-qaum. Ihr Befehls-
haber ist der muqaddam oder der ‘aqid [10]. Der Richter des Stammes ist
der qádi oder der hákim. Seit das jetzige Königreich Jemen 1919 von der tür-
kischen Besatzungsmacht geräumt und selbständig wurde, ernennt der Imam
für die einzelnen Bezirke einen ‘ámil, Gouverneur, und einen Richter, qádi,
denen die Berufungsbefugnis nach dem Scheriatsrecht gegen die Urteile des
schar' el-man’ zusteht.
Im Verbände des Stammes leben eine Anzahl teils bevorrechteter, teil min-
der berechtigter Klassen. Einen bevorrechtigten Stand, den man in gewisser Hin-
sicht als Adel bezeichnen kann, bilden die sáde, sing, saiyid, und aschráf, sing,
scherif, die direkten Abkömmlinge des Prophetengeschlechtes [11]. Sie werden
als muta'arriba, als Abkömmlinge des nordarabischen Stammvaters Ismá'il,
den südarabischen Abkömmlingen des Stammvaters Qahtän, den ‘ariba, ge-
genübergestellt. Sie stehen außerhalb der qabilah und werden von den qabá'il
geehrt und in Krankheitsfällen, bei Gelübden oder bei Danksagungen mit
Stiftungen beschenkt, wie in vorislamischer Zeit solche überall an die Tempel
gegeben wurden. Sie sind die Ausleger des islamischen Rechtes und der Ri-
tualgesetze, der 'ibádát. In allen Stammesstreitigkeiten werden sie als Schieds-
riditer oder als Friedensstifter angerufen. Meistens wohnen sie getrennt von
176
Carl Rathjens
den Dörfern der Gabilen und solche Orte sind dann ebenso wie eine Anzahl
von größeren Städten auf dem Hochlande z. B. San‘ä (mit Ausschluß seiner
Gartenstadt Bir el-‘Azeb), Damär, Yerim, Tbb und Ta'izz, sowie verschiedene
Heiligengräber, privilegierte, im Kriege unverletzbare Zufluchtstätten oder
Asyle, die man hidjrah nennt. Unverletzlich und unter unbedingtem Burgfrie-
den stehend sind auch die Märkte, die als gesonderte Orte mit Steinhütten
zwischen den Stammesgebieten liegen und nur an einem Tage in der Woche,
dem Markttag, bevölkert sind.
Ebenfalls außerhalb des Stammesverbandes steht die Gruppe der qarär
oder qirwän, sing, qaräwi, unter denen man alle vorübergehend im Stammes-
gebiet ansässigen Lohnarbeiter , z. B. Saisonarbeiter, Wanderhandwerker und
Hausierer zusammenfaßt. Wenn der qaräwi keinen freien Beruf ausübt, nennt
man ihn auch adjir. Diese qarär werden zwar von den qabä'il als Fremde be-
trachtet, sie stehen aber während ihres Aufenthaltes im Stammesgebiet zu
ihrem Lohngeber, dem musta'djir, und zu dem ganzen Stamm in einem Schutz-
verhältnis und sind ähnlich gestellt wie der Schutzgenosse, der djär, und der
Gastfreund, der daif, die wir später besprechen werden. Nur wenn die Dienst-
verpflichtung des qaräwi auf Kriegsdienst abgeschlossen worden ist, sind der
musta'djir und der Stamm bei seinem Tode nicht zur Blutrache oder zur
Durchsetzung der Bezahlung des Blutpreises verpflichtet. In der Literatur
herrscht über den Begriff des qaräwi weitgehende Meinungsverschiedenheit.
Seine soziale Stellung wird aber wohl bei den verschiedenen sozialwirtschaft-
lichen Gruppen in Arabien, den Vollnomaden, den Halbnomaden und den
Seßhaften überall unterschiedlich sein. Bei den Gabilen in Jemen wird er aber
auf jeden Fall als vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft betrachtet, wenn
er auch innerhalb des Stammesverbandes, in dem er wohnt, aber zu dem er
nicht gehört, nicht mitzusprechen hat. Hier ist auch der Begriff der ra'iyye,
sing. ra'wi, der anderswo mit dem des qaräwi identisch zu sein scheint, kein
Klassenbegriff. Nach den mir gegebenen Auskünften bezeichnet man als ra‘-
iyye alle diejenigen Personen, die weder Angestellte der Verwaltung, der zen-
tralen wie der örtlichen, sind, noch zu den Gabilen gehören.
Es gibt ferner eine Anzahl von Gruppen in Jemen, die gesellschaftlich als
durchaus minderberechtigt zu bezeichnen sind, und zwar sowohl in den
Städten wie bei den Gabilen. Schon der Städter, der ‘arab, schaut mit einer ge-
wissen Verachtung auf die Gabilen, die ungebildeten bedu, sing, bedäwi,
herab, aber gesellschaftlich, vor allem als Ehepartner, wird er als gleichberech-
tigt anerkannt. Mit den minderberechtigten Gruppen, die man unter dem
Namen näqis zusammenfaßt, wird aber eine Heiratsverbindung ausgeschlos-
sen, bei einigen sogar jede Tischgemeinschaft. Sie lassen sich wieder in drei
verschiedene Kategorien einteilen. Es sind einmal die Angehörigen verschie-
dener Gewerbe, die als Pariaberufe zu betrachten sind, zweitens die Bekenner
des jüdischen Glaubens und drittens die eigentlichen Paria, die in größeren
Verbänden aber nur westlich und östlich des Hochlandes, in der Küstenebene
und in der ungesunden Gebirgs-Tihäma, sowie in den Oasen am Ostfuß des
Hochlandes, im Mesdhriq, an der Grenze zur Wüste, Vorkommen.
Täghüt gegen sehen a
177
Die Angehörigen der verachteten Berufe auf dem Hochlande nennt man die
chadame, sing, chädim. Zu ihnen gehört der Schlachter, el-djezzär, der Brunnen-
arbeiter, el-manäkil, der Badewärter, el-hammämi, der Gemüseverkäufer, be-
sonders von Zwiebeln und Knoblauch, el-qaschschäm, der Kaffeewirt, el-
muqahwi, der Schröpfer, el-hadjd|äm, der Barbier, el-muzaiyin, der Henker,
el-ghuläm, der Spielmann, ed-dauschän und der Bänkelsänger, el-nedjdjäd.
Alle diese Berufe sind in den Familien erblich und können nicht gewechselt
werden. Eine Familienbindung ist weder mit den ‘arab noch den gabä’il mög-
lich, aber im alltäglichen Leben werden sie nicht mißachtet, und in der Zentral-
regierung können einzelne, ebenso wie die Sklaven, zu angesehenen Stellungen
aufrücken. Bei den Gabilen sind sie, wenn sie zu irgendwelchen Zwecken in
Lohn genommen werden, ähnlich wie die qirwän gestellt, doch gelten die
Blutgesetze für ihren Lohnherrn und den Stamm bei ihrer Tötung nur für sie,
wenn sie in den Zustand des djär, des Schützlings, auf genommen worden sind,
was selten geschehen soll.
Von den chadame streng unterschieden werden in Jemen die achdäm, sing,
ebenfalls chädim, oder ähl el-chums, die Leute des Fünftels, die sich auch
somatisch sehr von den anderen Gesellschaftsschichten durch einen stark
negroiden Typus unterscheiden. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie die
Nachkommen von Kriegsgefangenen, die nach der letzten abessinischen Be-
setzung des Landes im 6. Jahrhundert n. Chr, zurückgeblieben und in einen
Pariazustand gefallen sind. Es wurde schon gesagt, daß sie in größeren Ver-
bänden nur im Westen und im Osten des Hochlandes Vorkommen, und auf
dem Hochlande selbst nur in vereinzelten Fällen anzutreffen sind. Sie haben
im Westen, in der Tihäma an der Rote-Meerküste eine eigene Verwaltung
unter einem ‘äqil. Unter ihnen herrschen noch gewisse matriarchalische Ge-
bräuche. So gibt es neben dem ‘äqil auch eine Frau in herrschender Position, die
man mir als ‘äqilat el-achdäm oder ‘umm (Mutter) el-‘äqil bezeichnete. Die
achdäm sind Muhammedaner trotz vieler anderer matriarchalischer Überreste,
und besuchen auch ungehindert die Moscheen. Aber trotzdem setzt sich kein
‘arab oder Gabile mit ihnen gemeinsam zum Essen an den Tisch,
Nach dem Scheriatsgesetz sind natürlich sowohl die chadame wie die achdäm
allen übrigen Muhammedanern gleichberechtigt, aber nach dem schar‘ el-man‘
sind sie weder Mitglieder der Stammesversamlungen, noch fähig, irgendwelche
öffentlichen Funktionen zu erfüllen. Sie werden nicht einmal als Zeugen in den
Gerichtsverfahren zugelassen. Nur der muzaiyin, der Barbier, der meistens zu-
gleich der Musiker und Sänger des Stammes ist und bei Festen die Gasiden,
sing, qasidah, die Heldengesänge zu Ehren des Stammes vorträgt, und den
sich fast jeder schech, naqib oder ‘äqil als qaräwi in Lohn hält, spielt oft in
der Stammesgesellschaft eine bedeutendere Rolle, wenn auch nur hinter den
Kulissen durch seinen Einfluß. Im übrigen können aber sowohl die chadame
wie die achdäm, ebenso wie die Juden, in den Genuß der Schutzgenossenschaft
gelangen, also djär, Schutzgenosse einzelner und damit des Stammes werden.
überall unter den Stämmen des Hochlandes, an den östlichen Abhängen, im
Meschriq, jedoch nicht in der westlichen Tihäma, leben in größeren Gemein-
12 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
178
Carl Rathjenx
den und auch in den Städten des Hochlandes die Juden, el-yahüd, sing, ei-
yahüdf. Sie sind meist fest ansässig und wohnen in gesonderten Vierteln, in
abgetrennten Siedlungen oder auch separierten Häusern der Gabilendörfer.
Dann betätigen sie sich als Wanderhandwerker, besonders als Schuster, Leder-
arbeiter, Schneider, Metallarbeiter, oder als hausierende Kaufleute, die die
Erzeugnisse der Städte auf das Land bringen. In ganz Jemen liegen oder lagen,
wie man jetzt nach ihrer Austreibung im letzten Jahr wohl nur sagen kann,
die wichtigsten Handwerke, wie Gerberei, Kürschnerei, Töpferei, das gesamte
Kunsthandwerk, vor allem die Gold- und Silberverarbeitung, in ihrer Hand.
Sie lebten in Jemen unter einer autonomen, allerdings religiösen Verwaltung,
deren Haupt in San‘ä der chacham bäschi, der Oberrabbiner, war, dem auch
eine schismatische Sekte unter ihnen, die ein eigenes Oberhaupt anerkannte,
unterstellt war. Sie waren in Jemen nach dem zaiditischen Scheriatsgesetz, des-
sen Repräsentant der Imam ist, in ihrer Gesamtheit unter der dauernden Schutz-
verpflichtung, der dhimmah mutlaqah, lebend anerkannt, die wir später be-
sprechen werden. In den letzten Jahrzehnten sind sie in großer Zahl (1937 be-
reits 30000 Köpfe) nach Palästina ausgewandert und nach dem israelitisch-
arabischen Kriege 1947/48 ist der Rest von 50000 Köpfen nachgefolgt, so daß
es heute anscheinend keine größeren Judengemeinden mehr in Jemen gibt.
Sie waren innerhalb der jemenitischen Gesellschaft nicht vollberechtigt, aber
nur aus religiösen Gründen, waren also keine Paria. Sie durften keine Waffen
tragen und nicht auf Pferden reiten. Ihre Häuser durften nicht höher als zwei
Stockwerke gebaut werden. Aber sie waren bei allen Zwistigkeiten der Araber
und Gabilen von beiden Seiten geschützt, wie die Frauen und Kinder auch.
Wegen der unterschiedlichen, von Juden wie Muhammedanern streng durch-
geführten Speise- und Schlachtgesetze gab es zwischen beiden keine Eß-
gemeinschaft. Bei den Gabilen sind sie weder zu den Versammlungen noch den
Gerichtsverfahren zugelassen und sind keine gültigen Zeugen. Sie können
aber von ihnen in das Schutzverhältnis aufgenommen und djär, Schutzgenosse,
werden. Im übrigen waren sie im Handel und Gewerbe unbeschränkt, und ein
Großteil des Gewerbes, sowohl des Binnen- wie des Außenhandels lag in ihrer
Hand. Sie durften sogar Schnaps und Wein hersteilen und trinken, aber nicht
an die Muhammedaner verkaufen.
Der letzte Stand in Jemen ist der der Sklaven, el-‘abid, sing. el-‘abd. Trotz-
dem sie das persönliche Eigentum ihrer Herren und zu jeder Dienstleistung
ohne Entgelt verpflichtet sind, werden sie von den angesehenen Mitgliedern
der Gesellschaft sowohl in den Städten wie unter den Gabilen, im allgemeinen
als Zugehörige der Familie betrachtet. Sie dürfen Waffen tragen und sind
sogar meistens die persönlichen Schutzwächter ihrer Herren, die sie zuweilen
zu ihrer Vertretung in die angesehensten Verwaltungspositionen bringen. Mir
sind Fälle bekannt, daß jemenitische Sklaven von ihren Herren ins Ausland ge-
schickt wurden, wo sie sofort ihres Sklaventums ledig gewesen wären, aber
trotzdem treu ihre Aufträge erfüllten und zurückkehrten. Was im übrigen ihre
gesellschaftliche Stellung anbelangt, so richtet sie sich im allgemeinen auch bei
den Gabilen nach den Vorschriften des Scheriatsgesetzes. Eine von diesem
Täghüt gegen scherta
179
empfohlene Freilassung kommt aber bei den Gabilen selten vor, wird auch von
den Sklaven, die meist negroid sind, kaum ersehnt, da der Freigelassene, el-
muwalled, unter den Gabilen trotzdem nicht als vollberechtigt aufgenommen
wird. Häufig haben sie hier die Henkerfunktion. Die Verpflichtung zur Blut-
rache im Falle ihrer Tötung besteht bei den Gabilen nicht, ebenso wie eine
solche ja auch bei den zu Söldnerdiensten verpflichteten qirwän nicht zur An-
wendung kommt.
Die Versammlung der männlichen, waffentragenden Mitglieder des Stam-
mes oder einer seiner Untergruppen, in der alle öffentlichen Angelegenheiten
besprochen werden, heißt el-wa£d oder el-ma£äd, gelegentlich auch el-chabar.
Den Vorsitz führt der sdhech, der naqib (erblich) oder ‘äqil (gewählt). Das Amt
des schech, als Haupt des Stammes, ist im allgemeinen erblich, doch kann er
abgesetzt werden und wird generell nur als primus inter pares angesehen. Vor
jeder Versammlung haben alle Teilnehmer die Waffen abzulegen und an ihn
abzugeben, damit die Auseinandersetzung, ed-da‘wä, nicht zu blutigen Tät-
lichkeiten ausarten kann. Die Versammlung setzt auch den Richter in allen
Zwistigkeiten innerhalb des Stammes ein, den qädi oder häkim, von dem ge-
fordert wird, daß er sowohl das schar'ed-din, das islamische Scheriatsrecht, wie
das schar£el-man£, das Gabilengesetz, beherrscht. Bei Streitigkeiten zwischen
verschiedenen Stämmen tritt der Friedensrichter, el-hudjr, in Funktion, der
meistens ein saiyid oder scherif ist.
Das Gerichtsverfahren, das man ebenfalls ed-da'wä nennt, ist öffentlich. Es
arbeitet ähnlich wie beim Scheriatsrecht mit dem Beweis, el-£inwah, durch
Zeugnis, esch-schahädah, und mit der Überführung, el-baiyinah, durch Eid,
el-yamm. Bei der heutigen Zentralisierung der Verwaltung ist die Berufung
beider gegnerischer Parteien, el-chasim, an die vom Imam eingesetzten Pro-
vinzgerichte möglich. Letzte Instanz ist der Imam selbst, der jeden Morgen im
Hofe seines Palastes für alle Recht heischenden zur Verfügung steht. Die Gabi-
len unterwerfen sich aber meist ihren Stammesgerichten und den ihnen auf-
erlegten Strafen, ed-diyät, sing, ed-diyah, die meist aus einzelnen Teilauflagen,
el-‘arsch, plur. ‘arüsch, auch ta‘zir oder hukümah genannt, besteht und in der
Abgabe von Geld, ed-dinär, Schafen, esch-schät, el-kabsdb, el-ghanam, Rindern,
eth-thaur, oder Kleidern, eth-thaub, einzeln aufgeführt werden. Mit der Ablö-
sung der Strafe erfolgt die Reinigung, en-naqä£, durch die der Verurteilte wieder
rein, naqi, gesprochen und wieder vollberechtigtes Stammesmitglied wird, ohne
daß ihm ein Makel, mu£täb, anhaftet. Es gibt aber einige Vergehen, die in
den Augen der Gabilen absolut unehrenhaft sind und durch keine diyah wie-
der gut gemacht werden können. Der Schuldige, el-muchti, verfällt dann der
völligen Verfemung, dem £aib el-aswad, und wird ein adgham, der für alle
Gabilen vogelfrei ist. Seine eigene Familie ist verflichtet, ihn zu töten, und
jedermann kann ihn töten, ohne daß für ihn daraus irgendwelche Folgerungen
entstehen. Früher sind solche Gabilen lebendig begraben worden. Wenn man
einen adgham, einen absolut Verfemten, beherbergt hat, muß man die Ge-
fäße, aus denen er aß, zerbrechen, den Schlafsack, in dem er übernachtete,
verbrennen.
180
Carl Kathiens
Alle Vorschriften und Gesetze des schar‘el-man‘, des Gabilengesetzes, zeugen
von einem außerordentlich großen Gefühl der Gemeinschaftsverpflichtung der
Gabilen untereinander und von einem hochentwickelten Ehrbegriff für das
anständige Verhalten der Menschen zueinander. Die harten Daseinsbedingun-
gen auf der ganzen Arabischen Halbinsel, vor allem in den ariden und semiari-
den Gebieten, wo das Ausbleiben der spärlichen Niederschläge in der Regen-
zeit eine äußerste Notlage erzeugen kann, haben es auch auf den noch am
meisten begünstigten Hochländern von Jemen erforderlich gemacht, daß die
große Masse der Gabilen, aber noch mehr der Halbnomaden und Vollnomaden
der östlichen Randgebiete von Jemen, des Meschriq, auf einem für uns fast
unvorstellbar niedrigen Lebensstandard stehen. Die Folge der periodisch aus-
brechenden Mangellage ist es, daß seit undenkbaren Zeiten unter allen Stämmen
der Halbinsel eine Neigung dazu besteht, daß sich ein Stamm das Eigentum
des anderen aneignet, eine Versuchung, die natürlich in Zeiten der Dürre be-
sonders groß ist. Die Gewohnheit, in gewissen Fällen, wenn die Lebens-
bedingungen im eigenen Stammesgebiet unter das Bedarfsminimum sanken,
Kriegs-, Raub- oder Plünderzüge in das Gebiet eines anderen Stammes zu
unternehmen, die sogenannten maghäzi, sing, ghazu, herrschte auf der ganzen
Halbinsel unter Vollnomaden, Halbnomaden und seßhaften Bauern und
wurde auch von den Gabilen des jemenitischen Hochlandes geübt. Sie selbst
wurden jedoch öfter durch die Halbnomaden aus den noch ungünstigeren
Zonen des Ostens das Opfer solcher maghäzi, als daß sie selbst die Angreifer
waren. Ein solcher immerwährender Zustand der Bedrohung und der Über-
fallsbereitschaft würde aber auf der ganzen Arabischen Halbinsel zu anarchi-
schen Verhältnissen geführt haben, wenn er nicht zugleich durch einen strengen
Ehrenkodex in genau festgelegte Bahnen gelenkt worden wäre. Auch die
Raubzüge, die maghäzi, standen, ebenso wie andere Kriegshandlungen, unter
ganz bestimmten Sittengesetzen. Sie betrafen nur das Leben und den mobilen
Besitz der waffentragenden Mitglieder des Stammes, während alle sonstigen
Personen und Gesellschaftsschichten, die das Stammesgebiet bewohnten, vor
allem alle Frauen und Kinder, nicht in den Zwist eingeschlossen wurden. Nicht
beteiligt an diesen Stammesauseinandersetzungen waren auch alle minder-
bevorrechteten Klassen, die man unter dem Namen näqis zusammenfaßt.
Die Festlegung der Regeln beim Austragen dieser Stammeszwistigkeiten
war ein wichtiger Abschnitt des schar' el-man‘, des Gabilengesetzes. Wenn es
dem Friedensstifter, dem hudjr, gelungen war, die im Kampfe stehenden
Stämme zum Einstellen der Kampfhandlungen zu bewegen, traf er sich mit
den Abgesandten der streitenden Parteien. Die Friedensverhandlungen wur-
den mit einem Opfer von Schafen oder Rindern, el-‘aqä‘ir, deren Fleisch zum
anschließenden Friedensmahl bestimmt war, eingeleitet. Die Toten beider
Stämme wurden gegeneinander auf gerechnet. Wenn der Friedenswille auf
beiden Seiten vorhanden war, wurde bei den überschüssigen Toten der einen
Partei pro Kopf und pro Jahr eine bestimmte Entschädigung festgelegt, die
sich vom zweiten Jahre ab progressiv verminderte, und die an die Familien
der Gefallenen ausgezahlt wurde, die aber bei weitem nicht der Höhe des
Täghüt gegen sehen a
181
Blutpreises entsprach, der für einen Mord in Friedenszeiten als diyah üblich
war. Solche Friedensschlüsse unter den Stämmen waren daher in den Zeiten,
als keine Zentralmacht für den allgemeinen Landfrieden sorgte, nur Ruhe-
zeiten in einem latenten Kriegszustand.
Die Tötung in Friedenszeiten, el-qatl, zog, sowohl wenn es sich um einen
Gabilen innerhalb wie außerhalb des Stammes handelte, die Verpflichtung
der Familie und des Stammes des Getöteten nach sich, den Mörder selbst
bzw. ein Mitglied seiner Familie oder auch seines Stammes zu töten. Dieses
uralte Blutrachegesetz würde eine unendliche Reihe gegenseitiger Mord-
aktionen nach sich gezogen haben, wenn es nicht möglich gewesen wäre, die
Blutschuld des Mörders durch einen Blutpreis, ed-diyah, abzulösen, der an die
Familie des Getöteten gezahlt wurde. Damit wurde jede weitere Blutrache-
aktion abgeschlossen. Die diyah ist nicht nur bei den einzelnen Stämmen, son-
dern auch nach der Bedeutung der ermordeten Person verschieden hoch. Nach
den Aussagen meiner Gewährsmänner schwankt sie zwischen dem Wert von
100 bis 2000 Talern und ist in Geld, Vieh oder Sachgütern zu entrichten. Es
scheinen bestimmte Zahlen wie 333 oder 777 bei der Festsetzung dieses Blut-
preises eine gewisse magische Rolle zu spielen.
Die diyah als Blutpreis oder der nasaf, die Buße für andere Verfehlungen,
einschließlich der Eigentumsvergehen, stellen die Ehre des schuldigen Gabilen
absolut wieder her. Nach ihrer Bezahlung ist er wieder rein, naqi. Selbst der
Mord, el-qatl, auch wenn es sich um einen reinen Raubmord handelt, ist nach
der Auffassung der Gabilen nicht unehrenhaft, wenn der Blutpreis als Sühne
dafür entrichtet ist. Die diyah ist aber nicht anwendbar und wird nicht als
Sühne in Betracht gezogen, wenn durch den Mord gewisse unbedingte Ehren-
gesetze der Gabilen und zwar gegenüber dem djär, dem Schutzgenossen, dem
rafiq, dem Reisegenossen, dem damim, dem Schützling, dem daif, dem Gast-
freund, dem mu’ächi, dem Verbrüderten, dem sami, dem Namensvetter, dem
halif, dem befreundeten Genossen im anderen Stamme, dem sihr, dem Ver-
schwägerten sowie außerdem gegenüber Frauen oder Kindern verletzt worden
sind. In diesem Falle ist der Mörder für ewig unehrenhaft, adgham, geworden.
Er hat sich mit einer schwarzen Unehre, ‘aib el-aswad, bedeckt. Er hat sich
gegenüber denen vergangen, denen er nach dem Ehrenkodex der Gabilen
seinen Schutz zu verleihen unbedingt verpflichtet ist. Wir müssen im folgenden
also diese verschiedenen Schutzverhältnisse erörtern, die für die Beurteilung
der Beziehungen der Gabilen zu den einzelnen Gesellschaftsschichten in
Jemen sehr wichtig sind.
Wenn man als Fremder, sei es Stammfremder oder Landfremder, durch das
Gebiet eines Gabilenstammes reisen will, muß man sich mit einem Angehö-
rigen dieses Stammes in Verbindung setzen, der einen gegen ein zu verein-
barendes Entgelt als Schutzführer, als rafiq, durch das Stammesgebiet geleitet.
Man ist dann dieses Gabilen Schützling, muraffiq, und ist als solcher gegenüber
jedermann auf der vereinbarten Wegstrecke geschützt. Wenn der muraffiq auf
diesem Wege getötet wird, ist der rafiq verpflichtet, gegen den Mörder Blut-
rache, el-yathür oder eth-thiyär, auszuüben. Unterläßt er dies, so ist er selbst zur
182
Carl Rathjem
Bezahlung des Blutpreises, ed-diyah, verpflichtet. Wenn seinem muraffiq in
seiner Begleitung etwas Böses angetan wird, eilt er in das nächste Dorf seines
Stammes, zerreißt sein Hemd und stößt dreimal den Ruf ,,‘aib, ‘aib, ‘aib“
aus, befindet sich also im Zustande der Unehre. Wenn der rafiq seinen muraffiq
oder umgekehrt dieser ihn tötet, gelangt der Mörder in den Zustand des ‘aib el-
aswad, der völligen Verfemung, die durch keine diyah, Blutgeld, ihn wieder in
den Zustand der Verzeihung, der naqä, zurückführen kann. Dabei mußte es
sich allerdings nachgewiesenermaßen um eine beabsichtigte Handlung, el-
‘amd, und nicht um eine fahrlässige, el-chatä, gehandelt haben.
Während der Schutzvertrag mit dem rafiq ein zeitlich und örtlich begrenzter
ist, ist ein anderer Vertrag, der sehr ähnliche Bedingungen zwischen den bei-
den Vertragsparteien enthält, und den man vielleicht am besten als Allianz-
vertrag bezeichnet, el-hilf, von längerer Dauer und muß gekündigt werden,
wenn er von einer Seite keine Gültigkeit mehr haben soll. Der außerhalb des
Stammgebietes lebende Verbündete ist der halif. Wenn ein solcher Vertrag
mit einem schech oder sultän abgeschlossen wird, nennt man ihn auch ed-
diwän.
Er tritt aber nur selten auf gegenüber einem anderen Schutzverhältnis, das
sowohl von vornherein zeitlich begrenzt sein, als auch bis zur Kündigung fort-
laufen kann, und das zwischen einem Schutzsuchenden, el-djär, und dem
Schutzgewährenden, el-mud|äwwir, abgeschlossen wird. Der djär kann eia
Verfolgter, ein Verschuldeter, ein Rechtssuchender oder auch ganz allgemein
ein Schutzsuchender sein. Das Schutzgesuch richtet sich immer an eine Einzel-
person und wird durch ein Tieropfer, el-‘aqä’ir, am Dorfeingang oder auf dem
Markte eingeleitet. Es wird mit der Formel „djär allah we djärikum, ‘aqirat
allah we ‘aqiratukum“ gestellt und im Annahmefall ist die Antwort des mud-
jäwwir „iliti“ oder „amanti“. Der Angerufene kann den Schutz, el-djiwär,
gewähren oder er kann ihn ablehnen. Wenn er ihn annimmt, ist er verpflichtet,
den djär gegen seine Verfolger zu schützen und alle seine Rechte zu vertreten.
Der djär muß sich aber den Anordnungen des mudjäwwir, was seinen Aufent-
halt anbelangt, unbedingt fügen, und nur in diesem Falle ist letzterer für
alles, was ihm dann geschieht, verantwortlich. Wenn der djär getötet wird, ist
er zur Blutrache, eth-thiyär, verpflichtet, resp. er muß das Blutgeld, ed-diyah, für
die Familie des Ermordeten beanspruchen. Ein Mord des djär an dem mudjäw-
wir oder umgekehrt setzt den Täter der absoluten Verfemung aus. Viele Juden
hatten in Jemen einen angesehenen Gabilen als mudjäwwir, der sie gegen alles
Unrecht, das ihnen geschah, schützte, und ein reicher jüdischer Kaufmann in
San‘ä sagte mir, daß er gegen jährliche Abgaben an sie unter dem Schutz fast
aller wichtigen Stämme in Jemen stände, so daß er seine Waren ohne Gefahr
überall hin transportieren konnte.
Die Gastfreundschaftsverpflichtung gegen jedermann ist unter den Gabilen
sehr groß. Jeder Gabile ist gegenüber den Reisenden verpflichtet, sie aufzu-
nehmen und zu beherbergen. Diese Pflicht obliegt gegenüber angesehenen
Reisenden meist dem Oberhaupt des Stammes oder der Siedlung, sonst ganz
bestimmten, meist besser situierten Personen oder Ständen. Gegen den Frem-
*mmä
füg—HM
Täghüt gegen schert a
183
den, Unbekannten besteht auch eine Grußverpflichtung, der sogenannte radd
es-saläm. Hat man den Gruß des Fremden mit dem Gottesgruß erwidert, so
ist er unverletzlich, selbst wenn es sich herausstellt, daß er ein Blutsfeind ist,
und man muß ihn seines Weges ziehen lassen. Selbst wenn er der thiyär ver-
fallen ist, muß er als Gastfreund, el-mudif, so lange er sich unter dem Dache
als Gast, ed-daif, aufhält, geschützt werden. Selbst der absolut Verfemte, der
adgham, ist, solange er sich unter dem Dache aufhält, geschützt, aber alles,
was er benutzt hat, muß hinterher vernichtet werden. Auch die Tötung des
Gastes oder des Gastfreundes versetzt den Täter in den Zustand der absoluten
Verfemung.
Eine wiederum andere Form des Schutzverhältnisses in Jemen bei den Ga-
bilen ist die dhimmah, die entweder traditionell bedingt sein kann, wie z. B. das
Schutzverhältnis der gesamten Juden innerhalb der zaiditischen Sekte des
Islams, und dann eine dhimmah mutlaqah, eine absolute, unbegrenzte ist, oder
durch einen Vertrag, el-‘aqd, plur. ‘uqüd, zeitlich begrenzt werden kann. In
einem Briefe des Imam wurde ein gewisser Jude von ihm als sein dhimm! be-
zeichnet. Jeder in Jemen reisende ausländische Nichtmuhammedaner steht
unter der dhimmah des Imam, was dann als dhimmah mahdürah, zeitlich be-
grenztes Schutzverhältnis, zu betrachten ist. Der Geschützte ist ein dhamim, In
Jemen selbst wird die begrenzte dhimmah durch einen Vertrag, ePaqd oder
el-mithäq, abgeschlossen und beruht auf der Gegenseitigkeit von Leistungen
oder Gaben, el-mukäsi oder el-mudjäzi. Auch der ausländische Reisende pflegt
dem Imam und den einflußreichen Personen des Hofes Geschenke zu über-
reichen, die entweder erwidert oder durch Leistungen ersetzt werden. Die
dhimmah verpflichtet bei den Gabilen im Falle der Tötung des dhamim nicht
zur thijär, zur Blutrache, wenn nicht zugleich ein djiwär, ein djär-Schutzver-
hältnis, ein mudif-, ein Gastverhältnis oder ein musta‘djir, ein Lohnverhältnis,
vorliegt. Er ist aber verpflichtet, für die Wiedergutmachung eines an seinem
dhamim begangenen Unrechtes Sorge zu tragen.
Es gibt unter den Gabilen noch einige andere Formen der Verbindung und
Verpflichtung, sowohl zwischen Stammesangehörigen wie zwischen Mitglie-
dern verschiedener Stämme, ja selbst mit Nichtgabilen, die aber dieselben
absoluten Konsequenzen nach sich ziehen, wie die oben besprochenen. Zwi-
schen Freunden kann eine Art Verbrüderung abgeschlossen werden. Der eine
ist dann der mu’ächi, der Verbrüderte, des anderen. Ich konnte nicht feststellen,
ob diese Verbrüderung noch durch eine tatsächliche Blutmischung, wie wir sie
aus anderen Teilen der Arabischen Halbinsel kennen, erfolgt, anscheinend aber
auf keinen Fall mehr öffentlich, da eine solche Handlung als heidnisch, als
täghüt, angesehen wird. Eine andere Form engerer Freundschaft wird dadurch
bezeugt, daß der eine seinem Sohne den Namen des Freundes gibt. Diese
Namensübertragung wird der Verbrüderung als gleichwertig erachtet. Die
beiden sind dann samiyyun, sing. sami. Beide Formen der Verbrüderung ver-
pflichten zur thiyär und die Tötung seines mu‘ächi oder sami hat für den
Mörder die absolute Verfemung zur Folge.
184
Carl Rathjem
Die Frauen, el mahärin, und die noch nicht waffenfähigen Kinder, es-sabi,
stehen bei den Gabilen unter besonderem Schutze. Ein Vergehen an ihnen
wird als Vergehen gegen die Gemeinschaft, das bait el-mäl, betrachtet und als
‘aib el-a‘bar bezeichnet. Mord an ihnen wird dem ‘aib el-aswad gleichgestellt,
das eine absolute Verfemung zur Folge hat. Das gleiche erfolgt, wenn jemand
einen Mord in der engeren Familie begeht, oder einen Verschwägerten, es-sihr,
tötet. Man bezeichnet die Unverletzbarkeit der nicht waffenfähigen Stammes-
mitglieder nach Aussage meiner Gewährsleute als hurmat el-watan. Das Haus
el-husn, wenn es sich um ein Hochhaus handelt, und die Wohnung, el-ma-
‘äqil, sind besonders geschützt. Jede Verletzung, schon das unerbetene Betre-
ten, wird unter Strafe gestellt.
Eine besonders bevorrechtete Stellung in der Gabilenfamilie nehmen der
Onkel mütterlicherseits, el-chäl, und der Neffe schwesterlicherseits, ibn el-ucht,
ein, anscheinend ein Relikt matriarchalischer Gesellschaftordnung, auf deren
weitere Zeugnisse hier aber nicht näher eingegangen werden soll. Bei einigen
Stämmen besteht sogar noch die Verpflichtung, daß im Falle ihrer Verwitwung
der Neffe schwesterlicherseits seine Kusine heiraten muß.
Vergehen gegen die Sexualsitte überhaupt werden bei den Gabilen streng
geahndet. Die Frau der Gabilen, el-hurmah, el-mar‘ah, el-schaufah oder el-
maklaf, hat zwar eine viel größere Bewegungsfreiheit als die städtische Frau.
Aber jeder Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe ist streng verpönt. Nur bei
einzelnen Stämmen an der nördlichen Grenze von Jemen, wie in ‘Asir, sowie
im Meschriq ist die Gastfreundschaftsprostitution noch üblich, ebenso wie in
einzelnen Städten des Hochlandes und in einzelnen Dörfern am westlichen
Abhang des Hochlandes in den Herbergen mit Kaffeeausschank, qahwa oder
qahwiye genannt, die von Frauen geleitet werden, eine Herbergsprostitution
vorkommt.
Im übrigen wird aber die Verführung einer Frau nahezu einem Morde
gleichgeachtet. Wenn sie noch Jungfrau, el-bikr, war, und aus der Beziehung
ein Kind entspringt, so wird die Frau getötet. Der Verführer, ez-zäni, hat den
Blutpreis zu bezahlen, wie bei dem thiyär, der Blutrache. Wenn die Frau ver-
heiratet war, eth-thayyib, wird nur die Hälfte verlangt; wenn sie alt war, nur ein
Viertel der diyah, wenn die nachträgliche Heirat erfolgt. Bei einigen Stämmen
ist die Frau im allgemeinen vom Erbrecht ausgeschlossen, was als Verstoß
gegen das Scheriatsrecht angesehen und als täghüt betrachtet wird.
Im schar' el-man‘ sind im übrigen Frauen und Kinder innerhalb des herr-
schenden Ehrenkodex im allgemeinen weniger verantwortlich als die Männer,
was sich auch auf die von ihnen verlangten Sühnen auswirkt. Unverantwortlich
in weitestem Maße ist dagegen der Verrückte, el-madjnün, der häufig mit dem
Besessenen, el-muwaswas, identifiziert wird. Vom Zeugnis und vom Eide aus-
geschlossen bleiben im Gerichtsverfahren diejenigen Personen, gegen die eine
Anklage als Lügner, als Verleumder, als Dieb oder als Feigling, der seinen
Blutracheverpflichtungen nicht nachgekommen ist, läuft, ferner der Gebrech-
liche, der Diener gegen seinen Herrn, der Jude, der Christ, der Heide, der
Paria und der Sklave.
Die Leistung des Eides, el-yamin, ist mit verschiedenen magischen Gebräu-
chen verbunden. Der Zeuge schwört nach bestem Wissen, 'ala’l-'ilm, der Be-
schuldigte dagegen mit unbedingter Gültigkeit, ‘ala’l-qat‘. Der zum Eide
Aufgeforderte tritt in einen Kreis, den der qädi mit einem Dolch um ihn zieht.
Im Falle von Mord, el-qatl, muß der Beschuldigte noch 20—50 Zeugen be-
nennen, die bereit sind, für ihn ein Leumundszeugnis abzugeben. Wenn dann
immer noch Zweifel bestehen, kann der qädi einen mit magischen Kräften
begabten Rechtsfinder, el-mubaschi, hinzuziehen, auch el-murabbi‘ genannt,
der dann ein Gottesgericht, el-bisch’ah oder et-tarb!‘ herbeiführt. Der Beschul-
digte muß dann dreimal mit der Zunge über ein glühendes Eisen fahren. In
den Städten sind ähnliche Gebräuche, z. B. bei der Diebesfindung im Ge-
brauch, die aber hier nicht behandelt werden sollen, trotzdem sie wahrschein-
lich ehemals bei den Gabilen geübt wurden.
Damit haben wir die wichtigsten Gewohnheitsgesetze des schar'el man',
soweit sie von dem schar' ed-din, dem islamischen Scheriatsgesetz, abweichen,
behandelt. Es gibt darüber hinaus bei den Gabilen noch Gebräuche, die aber
nur heimlich ausgeübt werden, z. B. bei gewissen Festen des ganzen Stammes
oder innerhalb der Familie, die Überbleibsel aus der heidnischen, vorislami-
schen Zeit sind, die sich kontinuierlich bis heute fortgepflanzt haben, und die
mit Tänzen verbunden sind, die als Bacchanalien zu bezeichnen sind, da sie
teilweise nackt ausgeführt und naturgemäß von den Muhammedanern ver-
abscheut werden.
Meine Gewährsmänner waren sich untereinander nicht einig, was von dem
schar'el-man' als ’adah, d, h, örtliche Gewohnheiten, die im Koran als zulässig
vorgesehen sind, zu betrachten sei und was als täghüt, als heidnische Gewohn-
heiten, als Götzendienst, betrachtet werden müsse. Es werden vom Vollstrek-
ker des Sdheriatsrechts in Jemen, dem Imam, jetzt alle Stammesraubzüge, die
maghäzi, als Aufruhr betrachtet und dementsprechend bestraft. Sie kommen
heute also nur noch jenseits der Grenzen des Machtbereichs des Imam nach
der Wüste zu vor. Ferner waren sich alle darin einig, daß die Verpflichtung
zur Blutrache, eth-thiyär, und ihre Ausführung als täghüt zu betrachten sei.
Auch die Verpflichtung der Heirat zwischen Vetter und Kusine sowie der Aus-
schluß der Frau vom Erbrecht galt ihnen allen als unzulässiger Verstoß gegen
das Scheriatsrecht. Dagegen diskutierten sie heftig über die Zulässigkeit der
Prozeßordnung bei den Gabilen und die von diesen festgesetzten üblichen Stra-
fen, wobei die beiden Säde, die sich unter ihnen befanden, den wesentlich
strengeren Standpunkt vertraten.
In den Handschriften, die Ettore Rossi veröffentlicht hat (s. o.), wird von den
Verfassern, die Befürworter des Scheriatsrechtes sind, ebenfalls erwogen, was
vom Standpunkt dieses als zulässig oder als verdammenswert zu betrachten ist.
Es wird die Frage aufgeworfen (vor etwa 200 Jahren), ob die Gabilengebiete,
wo das schar' el man' herrscht, als dar el-harb, als Kriegsgebiet oder als dar el-
fisq, als Gebiet der Entartung, oder die Gabilen als Abtrünnige, el-murtadd,
und Rebellen, el-munäfiq, oder gar als Ungläubige, el-käfir, zu betrachten sind
Täghüt gegen schert a
185
186
Carl Rathjens
obwohl sie die grundsätzlichen Verpflichtungen des islamischen Glaubens an-
erkennen.
Nach meinen vielen Beobachtungen im Lande, besonders auf den Reisen
in den Gabilengebieten, verfolgte der Imäm, seitdem er seit 1919 die Zentral-
gewalt im ganzen Lande ausübt, eine sehr vorsichtige Politik in der Unter-
drückung der alten Gabilengesetze, zumal die Türken in dieser Beziehung in
den rund hundert Jahren der Besetzung eines Teils von Jemen vor ihm eine
sehr weitgehend liberale Politik betrieben hatten. Meines Erachtens be-
schränkt sich der Imäm vorläufig auf die unbedingte Aufrechterhaltung des
Landfriedens. Jede Neigung zum ghazu, dem Raubzug eines Stammes gegen
den anderen, sowie jegliche individuelle Ausübung der Blutrache, des thiyär,
werden von ihm und seinen Gouverneuren rücksichtslos unterdrückt. Aber im
übrigen überläßt er den Gabilen weitgehend die Gerichtsbarkeit erster In-
stanz, gegen die aber eine Berufung an die Regierungsgerichte jederzeit
möglich ist. Alle schriftlichen Festlegungen des schar' el-man' und seiner, den
islamischen Rechtsauffassungen widersprechenden Einzelbestimmungen wer-
den von ihm aber als schar' et-tâghût strikt verboten und schwer bestraft. Man
hofft dadurch anscheinend in langsamer Entwicklung das schar' el-man' un-
merklich in das schar' ed-dîn, in das Scheriatsgesetz, hineinwachsen zu lassen.
[1] E. GLASER: Gabilengesetze und Gebräuche. Pet. Mitt. 1884, S. 174—178. E. GLASER:
Die Kastengliederung in Jemen. Ausland, 1885, S. 201—205. G. JACOB: Alt-
arabisches Beduinenleben. Berlin 1897. J. WELLHAUSEN: Reste arabischen
Heidentums. 2. Aufl. Berlin 1897. A. J AUSSEN: Coutumes arabes au pays de
Moab. Paris 1908. D. H. v. MÜLLER und N. RHODOKANAKIS: E. Glaser’s
Reise nach Marib. Über den Beduinenstamm als solchen. Wien 1913, S. 133—136.
E. BRÄUNLICH: Beiträge zur Gesellschaftsordnung der arabischen Beduinen-
stämme. Islamica V, 1933, S. 87 ff. W. ROBERTSON-SMITH: Kinship and
marriage in early Arabia. London 1907. J. J. HESS: Von den Beduinen des inneren
Arabiens. Zürich 1938. L. HAEFELI; Die Beduinen von Bersheba. Luzem 1938.
J. HENNINGER: Pariastämme in Arabien. Festschr. z. Sljähr. Bestandsjubiläum
d. Missionshauses St. Gabriel. Wien 1939, S. 501—539. J, HENNINGER: Die
Familie bei den heutigen Beduinen Arabiens und seiner Randgebiete. Int. Ardi,
f. Ethnographie, 42, 1943.
[2] Südarabien als Wirtsdiafts gebiet, 1. Teil 1930, 2. Teil 1933 Brünn — Prag — Leipzig —
Wien.
[3] JOSEPH HALÉVY’S joumey in Yemen as related by his yemenite companion Hayyim
Habshush, Tel Aviv 1939 (hebräisdi). Travels in Yemen. An account of Halévy’s
joumey to Nejran, Jerusalem 1941.
[4] Il diritto consuetudinario delle tribù arabe del Yemen, Riv. degl, studi orientali. Voi.
XXIII., 1948, S. 1—36.
[5] Das q wird in Jemen wie g ausgesprochen.
[6] man' oder man'ah kann mit Unverletzlichkeit bzw. Schutz oder Hindernis, auch Ver-
bot, übersetzt werden. Sdiar el-mari bedeutet also etwa Schutzgesetz. In Jemen
faßt man mit diesem Begriff die Gesamtheit des schar el-qabà’il, des Gabilen-
rechts zusammen.
[7] Im Koran wird täghüt in der Bedeutung von Götzen, im Hinblick auf die vorislamischen
Götter gegenüber dem alleinigen Gott Allah, gebraudit. In frühislamischer Zeit
wurden aber schon als ahi et-tàghùt schismatisdie Sekten innerhalb des Islam
Täghüt gegen sehen a
187
bezeichnet, so z. B. nach ETTORE ROSSI von den SchTiten die Sunniten. In
Jemen werden auch die Lsma'iliten als so 1 die bezeichnet.
[8] z. B. die Beni Hisän des ‘Arhab-Stammes.
[9] z. B. die Beni Soraim.
[10] 1000 und mehr Krieger nennt man die djamä'a, 200—50 eine chubra, 10 oder weniger
eine suhba.
[11] Nadi unseren Erkundigungen stimmt die Angabe E. GLASER’S, daß die ersteren
Abkömmlinge des Sohnes Hasan, die letzteren des Sohnes Husein der Propheten-
tochter Fätimah und des vierten Chalifen ‘Äli seien, nicht, sondern die ver-
schiedene Bezeichnung beruht nur auf landschaftlich verschiedenen Gebräuchen.
Anmerkung; Das Manuskript wurde mit der gebräuchlichen Umsdrreibung der Buch-
staben in den arabischen Namen abgefaßt, aber ohne die diakritischen Zeichen abgesetzt.
Aus Spargründen wurden nur die absolut notwendigen Korrekturen vor genommen, wie
jeder Kenner der arabischen Sprache sehen wird.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Helmut Petri, Frankfurt
Zum Problem der australischen Dualsysteme
Dualsysteme oder Dualorganisationen werden im allgemeinen als soziolo-
gische Dichotomien verstanden. Eine gesellschaftliche Einheit teilt sich in zwei,
ihrem Wesen nach gegensätzliche Hälften. In der deutschen ethnologischen
Literatur hat sich für diese bei vielen Völkern Amerikas, des pazifischen Rau-
mes und Afrikas angetroffene soziale Ordnung die Bezeichnung „Zweiklassen-
kultur“ weitgehend eingebürgert, eine Benennung, die aber nur unvollkommen
wiedergibt, was die Dualorganisation im Gefüge einer Kultur bedeuten kann.
Stammeshälften (englisch moieties) oder auch Phratrien stellen oft mehr dar,
beinhalten mehr, als der relativ enge Begriff „Klasse“ auszudrücken vermag.
Mit der Definition „Zweiklassen-System“ kommen wir aus, wenn wir gewis-
sen in der Ethnologie sehr eingespielten Methoden folgen und beobachtete
Stammeshälften-Gliederungen nur als eine Art Mechanismus zur Eheregelung
und eines sozialen Verhaltens der Individuen untereinander betrachten. Es soll
nicht bestritten werden, daß diese Funktionen einer Dual-Verfassung sich zu-
nächst auf drängen und am unmittelbarsten greifbar sind. Die Feststellung, daß
sich innerhalb einer sozialen Einheit zwei exogame Gruppen gegenüberstehen
und somit dem Gesellschaftsleben seine eigene und besondere Struktur ver-
leihen, wird wohl in der Mehrzahl der Fälle die primäre sein. Haben aber
solche Funktionen mehr oder weniger rein sozialen Charakters etwas mit dem
eigentlichen Wesen der Dual-Organisation zu tun ? Geben sie uns Aufschlüsse
über ihren Ursprung und ihre weltanschaulichen Hintergründe? In den fol-
genden Ausführungen soll zu diesen Fragen Stellung genommen werden,
Dichotome Stammesgliederungen haben dem gesellschaftlichen Leben der
meisten australischen Eingeborenen-Nationen das Gesicht gegeben. Vielleicht
ist die Behauptung zulässig, daß Dualsysteme nirgends in so geschlossener Ver-
breitung auftreten wie in Australien. Abgesehen von besonders altertümlichen
Randstämmen wie den Kumai, Yuin und Murring im Südosten Victorias, den
Yathaikeno-Gruppen an der Nordspitze der Cape York-Halbinsel, den Chepara
im südöstlichen Winkel Queenslands, den südostaustralischen Narrinyeri, eini-
gen Inland-Stämmen im nordwestlichen Süd-Australien, den Melville Island-
Gruppen, den Bad im nördlichen Dampierland und einigen Stämmen an der
Nordküste des Northern Territory, ist mir bisher noch kein australisches Volk
bekannt geworden, das ohne eine Teilung der Stammesgemeinschaft in zwei
Phratrien wäre.
In den letzten 60 Jahren waren die Dual-Organisationen als soziale und
zeremonielle Gruppierungen Gegenstand einer umfangreichen Literatur. Die
Mehrzahl der Beobachter im Felde, aber auch viele Theoretiker beschränkten
sich, wie schon angedeutet, auf eine soziologische oder kulturhistorische Wer-
tung des Phänomens. Die psychologischen, geistigen und weltanschaulichen
Zum Problem der australischen Dualsysteme
189
Grundlagen der Dual-Organisationen wurden entweder gänzlich übergangen
oder nur andeutungsweise behandelt. Daß eine Teilung des Stammes in zwei
Phratrien und darüber hinaus die Spaltung jeder Phratrie in Sektionen und
Untersektionen mehr sein könnte als ein formales Hilfsmittel zur Regulierung
des Gesellschaftslebens, wurde erst von dem französischen Soziologen E. Durk-
heim ernsthafter erwogen. Ihm folgten L, Lévy-Bruhl, E. Votier und in
neuerer Zeit A. P. Elkin. Doch ließen es diese Forscher bei Vermutungen
und Feststellungen genereller Art bewenden. Einzeluntersuchungen an Hand
des ethnologischen Tatsachenmaterials liegen bisher noch nicht vor.
Die uns von allen australischen Dualsystemen bekannt gewordenen Ele-
mente lassen sich folgendermaßen summieren: Patrilineale oder, was häufiger
zu beobachten ist, matrilineale Deszendenz bestimmen die Zugehörigkeit des
Individuums zu seiner Stammeshälfte. Dieses Prinzip hat auch dort seine Gül-
tigkeit, wo die Stammeshälften sich in vier, acht oder, was ganz selten vor-
kommt, in sechs Sektionen bzw. Untersektionen aufteilen. Menschen gleicher
Stammeshälfte stellen eine sozialverwandtschaftliche Gruppierung dar, d. h.
sie sind von dem Bewußtsein einer wechselseitigen, nach unseren Begriffen
fiktiven verwandtschaftlichen Bindung erfüllt. Nicht allein Vaterfolge oder
Mutterfolge, auch ein gemeinsames Totem, eben das Stammeshälften- oder
Klassen-Totem geben, sehr allgemein gesprochen, dieser Bindung ihren sicht-
barsten Ausdruck. Somit haftet der Stammeshälfte etwas von der Natur eines
Glanes an, ohne daß wir sie aber dem territorialen oder sozialen Clan auf
totemistischer Grundlage, der eigentlichen Zelle des australischen Gesellschafts -
lebens, gleichsetzen könnten. Vielmehr ist es so, daß die Stammeshälften-Glie-
derung zu einer der Clan-Verfassung übergeordneten Organisation wird, die
stets eine größere oder kleiner Anzahl sozialer und territorialer Clane (totemi-
stischer Natur) umspannt. Aus dem klaren Gefühl der Stammeshälften-
Angehörigen, untereinander verwandt zu sein, sind zum Teil auch die Exo-
gamie-Bestimmungen zu verstehen. Die eheliche Verbindung unter Menschen
gleicher Stammeshälften-Zugehörigkeit wird gemeinhin als Inzestvergehen
empfunden und gewertet. Allerdings muß davor gewarnt werden, die Exo-
gamiegebote als eine Art Wesens- und Strukturelement der Dual-Organisation
anzusehen. Wir kennen eine Reihe australischer Gesellschaften, bei welchen
Heiraten innerhalb der eigenen Stammeshälfte durchaus zulässig, wenn nicht
sogar die legale Form sind. Beispielsweise ist bei den zur südaustralischen
Loritja-Nation gehörenden Kukata die nach dem gültigen Verwandtschafts-
system gesetzmäßige Ehefrau, Mutters-Mutters-Bruders-Sohnes-Tochter, also
eine zweite Cousine, die der gleichen Hälfte wie ihr Ehemann zugehört [1].
Selbst dort, wo das Dualsystem eine Eheschließung innerhalb der eigenen
Stammeshälfte im Prinzip ausschließt, wie bei den Ungarinyin und anderen
Stämmen Nordwest-Australiens, geschieht es zuweilen, daß man es in der
Praxis nicht so genau nimmt. Die einflußreichen „Alten“ haben immer die Mög-
lichkeit, in individuellen Fällen Abwandlungen zu schaffen, genauer gesagt,
Ehen zwischen Angehörigen gleicher Stammeshälfte unter manchmal sehr so-
phistisch anmutenden Begründungen zu sanktionieren. Eine strenge und kaum
190
Helmut Petri
Ausnahmen zulassende Berücksichtigung erfahren in Australien eigentlich nur
die mit den sozialen Clanen zusammenhängenden Exogamie-Bestimmungen.
Zwei Individuen, die einem meist matrilinealen sozialen Clan zugehören, gelten
in der Denkweise der Eingeborenen als Menschen gleichen „Fleisches“ und
eine Verbindung zwischen ihnen wäre verabscheuungswürdiger Inzest.
Die Dual-Verfassung führt zwangsläufig zu einer — wenn wir es so nennen
wollen — bestimmten Verwandtschaftsgruppierung, die natürlich nach dem
Prinzip der Deszendenz variiert. Wo Vaterfolge den Ausschlag gibt, gehören
des Individuums Vater und Kinder der eigenen, seine Mutter und seiner
Schwester Kinder der entgegengesetzten Stammeshälfte zu. Ist Mutterfolge die
gültige Form der Deszendenz, so gehört das Individuum in die Hälfte seiner
Mutter, während der Vater aus der anderen Hälfte stammt [2].
Es wurde bereits zum Ausdruck gebracht, daß die Dual-Organisation nicht
allein für Eheregelung und Verwandtschaftsgruppierung von Wichtigkeit ist,
sondern auch im zeremoniellen Leben der Stammesgemeinschaft eine gewisse
funktionelle Bedeutung erlangt. So wurde bei mehreren Stämmen festgestellt,
daß die Angehörigen der einen Hälfte abseits von jenen der anderen Hälfte
lagern. Entweder bildet ein Creek die Trennungslinie zwischen den beiden
Campplätzen oder es ist so geregelt, daß die eine Hälfte auf einem Hügel und
die andere im Tal ihre Feuer entzündet [3].
Bei festlichen Anlässen, z. B. der Aufführung eines mythisch-historischen
Corroborees, der Veranstaltung eines zwischenstammlichen Treffens, einer Be-
stattung oder einer Initiation pflegen die aktiven Teilnehmer ihre Stammes-
hälften-Zugehörigkeit durch eine eigene und traditionelle Körperbemalung
nach außen hin kenntlich zu machen. Bei den von mir selbst besuchten Unga-
rinyin in den zentralen Kimberleys (Nordwest-Australien) war es üblich, daß
die Angehörigen der yara-(graues Känguruh)-Hälfte gelben Ocker und jene
der wälambo-(rotes Känguruh)-Hälfte einen zinnoberroten Ocker als Grund-
farben für ihre Körperbemalung wählten. Gelegentlich beobachtete Abwei-
chungen von dieser Regel mögen durch hier nicht näher zu erläuternde Vor-
gänge, die damals auf das kulturelle Gefüge der Ungarinyin umgestaltend
wirkten, verursacht gewesen sein.
Von einigen Stämmen Victorias wird uns berichtet, daß zwei Phratrien in
Ballspielen miteinander wetteiferten. Bei den Mukjarawaint, Wurunjeri und
Ya-itmathang waren es aller Wahrscheinlichkeit nach die beiden Phratrien,
die sich gegenübertraten. Jede Partei hatte ihren Führer und es kam darauf
an, den Ball einander zuzuspielen und so lange als möglich von der gegneri-
schen Seite fernzuhalten. Solche Spiele konnten viele Stunden dauern. Bei den
Kurnai des Gippslandes, die kein Dualsystem besaßen, kämpfte Lokalgruppe
gegen Lokalgruppe oder Clan gegen Clan [4]. Die im Ballspiel sich ausdrük-
kende Gegensätzlichkeit beruht also hier ausschließlich auf dem Prinzip der
Lokalität und nicht, wie bei den anderen hier genannten Victoria-Stämmen,
auf einer überterritorialen Dichotomie.
Die Zugehörigkeit zur Stammeshälfte kann sich zeremoniell auch bei der
Bestattung des Toten auswirken. Von den zahlreichen australischen Stämmen,
bei denen dergleichen festgestellt wurde, sollen hier nur die Wotjobaluk im
nördlichen Victoria Erwähnung finden. Der Verstorbene wird mit seinem Kopf
in einer bestimmten Richtung, die durch seine Phratrie und Totemzugehörig-
keit festgelegt ist, beigesetzt. Hotvitt zeichnete ein Diagramm in Gestalt einer
Windrose, das die bei der Bestattung eingehaltene Himmelsrichtung nicht nur
für die beiden Stammeshälften krokitch (weißer Kakadu) und gamutch (schwar-
zer Kakadu), sondern auch für die den Stammeshälften untergeordneten Totem-
gruppen schematisch darstellt [5].
Fernerhin kann die Stammeshälften-Organisation für die Durchführung des
oft höchst differenzierten und sich über lange Perioden hinziehenden Initia-
tionsrituals von Wichtigkeit sein. Unter den Stämmen des nordöstlichen Süd-
australien haben z. B. die Mitglieder der einen Hälfte das Privileg, einen jun-
gen Mann der anderen Hälfte symbolisch zu töten, d. h. zu initiieren, wenn es
darum geht, irgend welche Unstimmigkeiten zu bereinigen [6]. In den Zentral-
Kimberleys (Ungarinyin) ist der Mentor des Initianden sein „Waingi“ (Bru-
der der Ehefrau und Schwager), also stets ein Angehöriger der entgegengesetz-
ten Stammeshälfte. Einen interessanten und bemerkenswerten Fall berichtet
Howitt von den Stämmen an der Küste von Neu-Süd-Wales. Diese Stämme
haben nicht das übliche australische Dual-System, sondern eine Zweigliede-
rung auf territorialer Basis. Die lokalen totemistischen Gruppen scheiden sich
in katungal, die Küstenleute und baiangal, die Wald- oder Binnenlandleute.
Wenn beispielsweise im Bereich der einen geographischen Hälfte eine Initia-
tion fällig ist, wird der zuständige leitende Chef die Einladung zur Teilnahme
an die andere Hälfte durch Boten übermitteln [7]. Es erweist sich, daß hier das
Prinzip der Lokalität für die Organisation, aber auch für die Durchführung
der Jugendweihen bestimmend ist. Es gibt gute Gründe — leider können wir
sie hier nicht näher erörtern —, die zu der Behauptung berechtigen, daß die
australischen Initiationsriten primär von den totemistischen Lokalgruppen und
erst in zweiter Linie von den Stammeshälften getragen werden.
Schließlich scheinen die sogenannten totemistischen Tabus in weitgehendem
Maße mit der Dual-Verfassung zusammenzuhängen. Ziemlich oft in Australien,
besonders unter den Gruppen und Stämmen des Nordens, von den Kimberleys
bis zur Cape-York-Halbinsel Queenslands läßt sich die Beobachtung machen,
daß die Totems der Stammeshälften, aber auch der matrilinealen Clane stren-
gen Meidungsgeboten unterliegen, während die Totems der patrilinealen terri-
torialen Clane, die weniger in das soziale, sondern mehr in das kultische Leben
hineingehören, teils weniger streng, teils überhaupt nicht tabuiert sind. Bei
den Ungarinyin der zentralen Kimberleys war z. B. die Regel, daß das „ungur“
(lokales Kult-Totem) keinerlei Beschränkungen unterlag. Jeder Mensch konnte
sein eigenes ungur bedenkenlos töten und essen, sofern es sich um eine tie-
rische oder pflanzliche Spezies handelte. Die führenden Totems der Stammes-
hälften dagegen, wodoi und d’üngun, zwei Nachtvogelarten und gleichzeitig
mythische Begründer der Dual-Ordnung, galten als außerordentlich geheiligt.
Niemand hätte es gewagt, diesen Tieren ein Leid anzutun [8].
192
Helmut Petri
Analoge Fälle ließen sich in größerer Zahl anführen, und so spricht vieles
dafür, daß eine Tabuierung des Totems und die damit verknüpften rituel-
len Verhaltungsweisen ganz wesentlich zu den zeremoniellen Funktionen der
australischen Stammeshälften-Gliederung gehören.
Wir haben uns bisher in großen Zügen mit den soziologischen Auswirkun-
gen der Dichotomie, mit ihren dem gesellschaftlichen Leben unmittelbar Aus-
druck verleihenden Faktoren beschäftigt. In diesem Zusammenhang ließ sich
die Feststellung machen, daß die Stammeshälften auf dem Prinzip der Gegen-
sätzlichkeit beruhen. Ihnen liegt die Idee einer letzthin nach Vereinigung stre-
benden Polarität zugrunde. Diese Auffassung kam vor allem in der Stammes-
hälften-Exogamie, also in den traditionellen Ehegesetzen vieler australischer
Stämme zur Geltung. Eindrucksvoller und plastischer wird sie aber, wie sich
an Hand einiger Beispiele belegen ließ, im zeremoniellen Leben, bei Initia-
tions- und Bestattungsfeiern, bei den Ballspielen südostaustralischer Gruppen
u. a. m. sichtbar.
Wenn es uns auf ein besseres Verständnis des Wesens der australischen
Dualsysteme in ihrer Vielfalt der äußeren Erscheinungsformen ankommen soll,
können wir nicht bei einer Analyse ihrer funktionellen Aufgaben im gesell-
schaftlichen und kultischen Leben der Eingeborenen-Nationen stehen bleiben.
Die Frage nach der Rolle der Dichotomie in der Weltbetrachtung sowie
mythisch-historischen Überlieferung der Australier alter und neuer Zeit erhält
somit ein besonderes Gewicht und verdient eine weit detailliertere Unter-
suchung, als der Umfang dieses Aufsatzes erlaubt. Die zuvor kurz skizzierte
Gegensätzlichkeit kommt bei vielen Stämmen in allen Teilen des Kontinents,
besonders dort, wo eine Unterteilung der Stammeshälften in Sektionen und
Untersektionen fehlt, ganz primär in den Phratrien- oder Klassenbenennungen
zum Ausdruck.
J. Mathew berichtet von den Kulingruppen aus der Gegend des heutigen
Melbourne, daß Bunyil, das höchste Wesen, zu Beginn der Zeiten zwei Män-
ner aus Ton formte und die fasrige Rinde eines Baumes benutzte, um ihr Haupt-
haar zu machen. Dem einen Mann gab er schlichtes Haar, dem anderen aber
krauses Haar [9]. Die Bezeichnungen für die beiden Stammeshälften, die hier
übrigens lokal getrennt leben, sind zwar waang (Krähe) und bunyil (Adler-
falke) [10], doch ist anzunehmen, daß in Anknüpfung an den Mythos von der
Erschaffung der beiden Menschen die eine als schlichthaarig und die andere
als kraushaarig betrachtet wird. Leider ist die Kulin-Nation im Süden Victorias
heute ausgestorben und die verfügbaren Quellen berichten uns nichts näheres
über diese Zusammenhänge. Bei den Stämmen des nordwestlichen Victoria
und des angrenzenden N.S.-Wales sind die Klassenbenennungen gleichfalls
Adlerfalke (mukwara) und Krähe (kilpara), doch nimmt Mathew an, daß sie
nicht immer diese Bedeutung gehabt haben, sondern früher straffes, bzw. krau-
ses Haar ausdrückten [11], also das Prinzip der Gegensätzlichkeit sinnfälliger
in Erscheinung treten ließen.
Bei den Yualayi im nördlichen N.S.-Wales stehen sich die Phratrien gwai-
gulleeah (hellblütig) und gwaimudthen (dunkelblütig) gegenüber. Wie Lang-
Zum Problem der australischen Dualsysteme
193
loh-Parker mitteilt, geht nach Ansicht der Eingeborenen diese Dualordnung
auf zwei mythische Ahnengruppen des Stammes zurück. Eine rote Rasse sei
einst von Westen und eine dunkle Rasse von Osten gekommen [12].
Auf einer eigenartigen, doch nicht einzigartig dastehenden Auffassung be-
ruht die Stammeshälften-Verfassung der Dieri im zentralaustralischen Lake-
Eyre-Gebiet. Die beiden Phratrien (murdu) heißen kararu und matteri resp.
tiniwa und kulperi. Nach Angaben des Dieri-Missionars /. G, Reuther hat
matteri den Sinn von hitzig, feurig und schnell, kararu dagegen kennzeichnet
Ruhe, Gemütlichkeit und Überlegung. Wie Reuther hinzufügt, könne man die-
sen Unterschied der Temperamente heute noch fast merken [13].
Mit verwandten Vorstellungen scheint das System der sogenannten „Blut-
und Schattenverwandtschaft“ zusammenzuhängen. Von Mathew wurde es bei
einigen Stämmen in N.S.-Wales festgestellt und ist offenbar von Phratrie, Stam-
meshälfte und Sektion unabhängig. Die zur Karamundi-Nation gehörenden
Naualko- und Milpulko-Stämme am mittleren Darling haben neben den bei-
den „offiziellen“ Stammeshälften mukwara und kilpara eine Art zweiter Dual-
ordnung, und zwar eine scharfe Trennung nach muggulu = langsames Blut
und ngipuru = schnelles Blut. Das Entscheidende ist nun, daß sich diese bei-
den Gruppen nicht mit den eigentlichen Stammeshälften decken. Der locke-
ren Exogamie der beiden Phratrien steht, soweit sich aus den Angaben Ma-
thews ersehen läßt, eine strengere Exogamie der beiden Gruppen unterschied-
lichen Blutes gegenüber. Ein Mann langsamen Blutes soll nur eine Frau schnel-
len Blutes heiraten und umgekehrt. Parallel zu dieser „Blutteilung“ geht eine
„Schattenteilung“. Soziologisch und zeremoniell wirkt sich das in den Camp-
Gesetzen aus. Individuen langsamen Blutes müssen im Schatten des unteren
Teiles eines Baumes Platz nehmen, Individuen leichten Blutes dagegen lassen
sich in dem von höheren Ästen geworfenen Schatten nieder [14].
Die Sitte, den Stammeshälften oder sonstigen Dualgruppen Benennungen
zu geben, die physische Gegensätzlichkeiten oder auch polare Temperamente
charakterisieren, fand wahrscheinlich den Schwerpunkt ihrer Verbreitung im
australischen Osten. Etwas Genaueres läßt sich aber kaum sagen, denn bei vie-
len Nationen Queenslands, Zentral-, Nordwest- und West-Australiens (beson-
ders bei den Völkern mit sogenannten Vier- oder Achtklassensystemen) gin-
gen die Phratrien-Namen gänzlich verloren oder, was seltener ist, sie blieben
bestehen, doch ihre Bedeutung wurde vergessen. So könnte es sein, daß in
historisch älteren Perioden die Gegensatzpaare kraushaarig-schlichthaarig, hell-
blütig-dunkelblütig, sdmellblütig-langsamblütig usw. auf einer breiteren terri-
torialen Grundlage Ausdruck der Dualordnung waren, als zu Zeiten der Ent-
deckung Australiens durch die Weißen und später.
Bei den Ungarinyin der nordwestaustralischen Kimberleys nennen sich die
beiden Stammeshälften wälambo (rotes Känguruh) und yara (graues Kängu-
ruh), aber auch „brömor“ = „zu Knochen gehörig“ und „brämalar“ =
„zu Haut gehörig“. Streng genommen sind es auch hier physische Merkmale,
die die Gegensätzlichkeit der beiden Phratrien betonen und doch wird
man einen Vergleich mit den ostaustralischen Anschauungsweisen unzulässig
13 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
194
Helmut Petri
finden. Eine Scheidung der Menschen nach Haut und Knochen hat zweifels-
ohne andersgeartete mythisch-historische Wurzeln als eine Klassifizierung der
Stammesgemeinschaft nach besonders hervorstechenden körperlichen und
charakterlichen Eigenschaften. Diese Frage wollen wir hier nicht weiter ver-
folgen, zumal die Überlieferungen der Ungarinyin den ursprünglichen und
eigentlichen Sinn des merkwürdigen Gegensatzes Haut und Knochen nur vage
ahnen lassen.
Phratrien mit Tiernamen finden wir in Australien am allerhäufigsten. Fast
immer handelt es sich um Tiere, die durch ihre Farbe oder sonstigen Eigen-
schaften ein Gegensatzpaar darstellen und gleichzeitig als führende Totems
und mythische Ahnherrn der Stammeshälften-Verfassung eine gewichtige Rolle
spielen. Rotes Känguruh und graues Känguruh bei den Nordwest-Stämmen,
Adlerfalke und Krähe im nordwestlichen Victoria und in N.S.-Wales lernten
wir bereits als Stammeshälften-Benennungen kennen. Die Nationen im süd-
westlichen Victoria teilen sich in die Phratrien schwarzer Kakadu (gamutch)
und weißer Kakadu (krokitch) [Wotjobaluk, Buandik, Cournditch-mara, Tyed-
dyuwurru] und in den südwestlichen Teilen des Kontinents wird nach Krähe
(wordungmat) und weißem Kakadu (manytchmat) unterschieden. Noch andere
Tierpare sind als Phratrien-Bezeichnungen belegt, doch wollen wir darauf nicht
eingehen.
In offensichtlich nur seltenen Fällen werden Himmelsrichtungen oder Natur-
phänomene zu Totems und Namen der Stammeshälften. R. W. Mathews be-
richtet von den Murrawarri im Grenzgebiet von Queensland und N.S.-Wales,
daß sich hier die in je zwei Sektionen gespaltenen Phratrien als girrana =
„Nord- und Westwind“ und merugulli = „Süd- und Ostwind“ gegenüber-
stehen [15].
Eine zusammenfassende Betrachtung des bisher vorgelegten Tatsachenmate-
rials wird trotz seiner Lückenhaftigkeit kaum noch Zweifel zulassen, daß die
australischen Dual-Ordnungen im höchsten Grade Ausdruck eines polaren Den-
kens sind. Die nach Verbindung und Ausgleich strebenden Gegensatzpaare,
kraushaarig-schlichthaarig, hellblütig-dunkelblütig, weißer Kakadu-schwarzer
Kakadu oder wie immer sie auch bekannt sein mögen, geben den Formen des
kultischen und sozialen Lebens ihr Gesicht. Nun erhebt sich von selbst die Frage,
ob die Dichotomie in den oft äußerlich und traditionell erstarrt wirkenden
Gesetzen und Handlungsweisen, wie sie Exogamie, Sitzordnungen, Ballspiele,
Verhalten bei Initiation, Bestattung und anderen zeremoniellen Anlässen dar-
stellen, ihren einzig erkennbaren Sinn findet. Leider sind aber bei den meisten
australischen Stämmen nur diese äußeren, rein funktionellen Merkmale der
Dualsysteme festgestellt worden. Ganz wenige Forscher und Beobachter ver-
merkten die Tatsache, daß sich hinter dem Rahmen der Dual-Verfassung die
Idee einer polaren Beschaffenheit des gesamten Universums verbarg, daß alle
Erscheinungen des Daseins dem Prinzip der Zweiteilung untergeordnet wurden.
Von den Stämmen zwischen Glenelg River und Geelong im südwestlichen
Victoria heißt es, die ganze Welt sei zwischen den Phratrien gurogity und kap-
paty (weißer und schwarzer Kakadu) auf geteilt [16]. Ähnliche Anschauungen
Zum Problem der australischen Dualsysteme
195
sind von den gleichfalls im südwestlichen Victoria beheimateten Tyeddyuwurru
belegt. Die Phratrien teilen nicht allein die Menschen und ihr soziales Verhal-
ten in zwei Hälften, sondern auch die belebte und unbelebte Natur. Die Ver-
richtungen des Alltages sind dem Zwange der Dichotomie unterworfen. Bei-
spielsweise darf ein Tier, das zur gamaty-(schwarzer Kakadu-)Hälfte gehört,
nur mit einer Waffe erlegt werden, deren Material zur gurogity-(weißer Ka-
kadu-) Hälfte gehört und umgekehrt. Selbst das Totemreich (mi-yur) ist zwei-
geteilt und außerdem noch nach Totemgruppen gegliedert. (Ähnlich wie bei
den Wotjobaluk, s. o.[17].)
Weitere, allerdings nur ziemlich allgemein gehaltene Nachrichten über eine
Aufteilung der ganzen Schöpfung auf die beiden Stammeshälften haben wir
von den Gruppen am Murray und Murrumbidgee in N.S.-Wales. (Wathi-wathi,
Ta-tathi, Keramin und Milpulko [18].)
Auch von verschiedenen Queenslandstämmen kennen wir universalistische
Dual-Ordnungen. Die Port-Makay-Eingeborenen haben nach Brough-Smyth
die Vorstellung, ihre beiden Klassen (Yoongaroo und wootaroo) stellten ein
universales Naturgesetz dar, nach dem sie die ganze Welt einteilten. „Alliga-
toren sind yoongaroo, und Känguruhs wootaroo. Die Sonne ist yoongaroo und
der Mond wootaroo. In gleicher Weise verhält es sich mit den Gestirns-Kon-
stellationen, den Bäumen und Pflanzen“ [19]. J. Mathews Mitteilungen über
den Kabi-Stamm im südöstlichen Queensland lassen mit Einschränkung auf
eine verwandte Daseinsbetrachtung schließen. Er versteigt sich nicht zu der
Behauptung, daß die Natur in ihrer Gesamtheit einer dichotomen Gliederung
unterworfen sei, doch habe man eine sehr große Anzahl von Objekten im Him-
mel und auf Erden zwischen den beiden Phratrien Dilbai und Kopaithin, die
ihrerseits in je zwei Sektionen zerfallen, auf geteilt. Allerdings müsse die Wahr-
scheinlichkeit in Betracht gezogen werden, daß die Kabi einstmals das ganze
Universum dem Zweiheits-Prinzip unterordneten [20].
Eine interessante Beobachtung wurde in den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts bei dem Yerunthully-Stamm in Zentral-Queensland gemacht. Die
Erscheinungen der Natur und des Kosmos unterschied man nach „Klassen-
namen“ und nach männlich und weiblich [21], Dieser uns aus anderen Ge-
bieten der Erde geläufige Dualismus ist in Australien im Zusammenhang mit
der Phratrien-Ordnung ungewöhnlich. Daß die typisch australische Form des
Sexual-Totemismus auf dem Gegensatz männlich-weiblich beruht, ist ein an-
deres Problem, doch davon später.
Auf die anderen Queensland-Nationen, bei denen sich universalistische
Dual-Systeme nachweisen lassen, soll hier aus Raummangel nicht eingegangen
werden. Jedenfalls sieht es nach allem so aus, als finde in den östlichen Rand-
gebieten Australiens die Auffassung von der polaren Beschaffenheit der Welt
ihre intensivste Verbreitung. Dualordnungen und dualistisches Denken mani-
festieren sich auch in den sozialen Systemen und mythischen Traditionen der
zentralaustralischen Völker, hingegen die umfassende Idee einer Zweiteilung
des gesamten Universums hat sich hier, soweit man beurteilen kann, nicht
durchgesetzt.
196
Helmut Petri
In Westaustralien kann wieder, zumindest sporadisch, eine polare Welt-
betrachtung nachgewiesen werden, die sich jener der Völker Victorias, N.S.-
Wales und Queenslands zur Seite stellen läßt. Von den alten Nationen des
Südwestens berichtet D. Bates, daß alle Naturobjekte zwischen den beiden
Stammeshälften (Krähe = wordungmat und weißer Kakadu = manytchmat)
auf geteilt gewesen seien. Jeder Baum, jede Wurzel, jede Frucht und jedes
lebende Ding habe entweder der einen oder der anderen der beiden „primary
classes“ zugehört [22].
Die Idee einer polaren Ordnung des ganzen Universums wird nun bei den
Kimberley-Stämmen Nordwest-Australiens besonders deutlich greifbar. Die
Phratrien der Ungarinyin-, Worora-, Unambal- und Drysdale-River-Gruppen
sind, wie schon erwähnt wurde, wälambo (rotes Känguruh) und yara (graues
Känguruh) oder brömor (zu Knochen gehörig) und brämalar bzw. kuränguli
(Native Companion) und bänar (wilder Truthahn). Zwischen diesen beiden
Hälften (ohne Sektionen; Deszendenz patrilineal) oder „skins“, wie sie von
den Eingeborenen oft genannt werden, sind nicht nur Menschen, Tiere, Pflan-
zen, Bäume und Himmelserscheinungen, kurz gesagt, Natur und Kosmos in
ihrer Gesamtheit aufgeteilt, sondern auch sämtliche Dinge des materiellen Kul-
turbesitzes und die Jagdgründe der totemistischen Clane mit ihren kultischen
Zentren. In dieses sehr konsequente dualistische Denken werden außerdem
fremde Kulturelemente eingegliedert. Perlschalen, Bumerangs, Kultgeräte,
magische Riten, Gesänge usw., die man durch Zwischenhandel von näher oder
entfernter lebenden Stämmen erwirbt, werden auf den ersten Blick nach ihrer
Zugehörigkeit zu wälambo oder yara geschieden. Nach welchen Gesichtspunk-
ten die Eingeborenen derartige Identifizierungen vornehmen, bleibt für uns
schwer verständlich. Eine befriedigende Erklärung haben sie nicht zur Hand.
Noch schwerer begreiflich ist es, wenn der Schwarze die Weißen und ihre ihm
einigermaßen vertraut gewordenen zivilisatorischen Errungenschaften mit einer
instinktiven Sicherheit in sein Dualsystem hineinstellt. Es mutet eigenartig an,
wenn wir z. B. hören, daß Flugzeuge als wälambo (rotes Käguruh) und Last-
autos als yara (graues Känguruh) klassifiziert werden.
Schließlich verdient noch ein Phänomen einige Aufmerksamkeit, das uns
bereits von den Dieri des Lake-Eyre-Gebietes und einigen Stämmen des Süd-
ostens bekannt ist. Auch die Kimberley-Völker betonen ganz scharf gewisse
körperliche, geistige und seelische Gegensätze zwischen den Angehörigen ihrer
beiden Phratrien. Den wälambo-Leuten wird eine große und schlanke Gestalt
nachgesagt. Sie sollen von lebhaftem Geiste sein, sie würden viel sprechen,
immer richtig denken und die besseren steinernen Speerspitzen machen. Die
yara-Leute hingegen hätten eine kürzere und gedrungenere Gestalt, sie seien
schweigsam und ein wenig schwerfällig in ihrem Denken und Handeln. An-
dererseits mache sie eine gewisse Gerissenheit den wälambo-Angehörigen über-
legen. Polare körperliche Merkmale, Charaktereigenschaften und Veranlagun-
gen werden also mit den beiden „skins“ in Verbindung gebracht, man ordnet
sie der Tradition ein. Daß sich diese Anschauungen nicht immer mit der
Wirklichkeit in Einklang bringen lassen, daß z. B. wälambo-Leute klein und
Zum Problem der australischen Dualsysteme
197
von gesetztem Naturell, yara-Leute aber groß, lebhaft und geistig sehr regsam
sein können, stört den Eingeborenen nur wenig [23].
Die Lückenhaftigkeit des bisher gebrachten Materials soll nicht bestritten
werden, es mag aber ausreichen, um zu erkennen, daß die Dualordnung im
Leben und in der Vorstellungswelt vieler australischer Eingeborenen-Nationen
wirklich mehr bedeutet als eine rein soziologische Funktion. Sie kann zu einer
ganz wesentlichen Grundlage der Weltbetrachtung werden, wenn alle Erschei-
nungen des Daseins nach dem Prinzip des Gegensatzes und Ausgleiches klas-
sifiziert werden.
Wo liegen nun die Ursprünge und Wurzeln der australischen Dual-Systeme
und ihrer weltanschaulichen Hintergründe? Die mythisch-geschichtlichen Über-
lieferungen der Stämme, soweit wir von ihnen Kenntnis haben, scheiden sich,
ganz großzügig gesprochen, in zwei Versionen über die urzeitliche Entstehung
der Phratrien-Ordnungen: Entweder war es ein Himmelsheros mit dem Cha-
rakter einer Schöpfergottheit, der diese Institutionen ins Dasein rief oder ein
mythisches Paar totemistischer Heroen war ihr Begründer. Die erste Version
hat möglicherweise ihre weiteste Verbreitung in Südost-Australien gefunden.
So gelten bei den Kulin-Stämmen und den Kamilaroi-Wiradjuri-Nationen die
großen Himmelsgestalten Bunyil bzw. Baiame als die letzten Ursachen der
Zweiteilung. Die Traditionen, nach welchen ein mythisches Heroenpaar —
meist handelt es sich um zwei Brüder oder zwei Männer, die in einem bestimm-
ten Sozialverwandtschaftsverhältnis zueinander stehen — die Phratrien entste-
hen läßt, gewissermaßen zu ihren Stammvätern wird, sind offenbar in Zentral-,
West- und Nordwest-Australien die vorherrschenden. Dem Mythos nach waren
die Heroenpaare tier-menschliche, seltener rein anthropomorphe Wesen, die
in der legendären Urzeit weite Räume durchwanderten, welche die für die
Eingeborenen ewig gültigen Gesetze erließen und die wichtigsten Dinge des
Lebens und der Welt erschufen. Als Gestalten gegensätzlichen Temperaments
und gegensätzlicher Daseinsbetrachtung werden sie stets dargestellt und sie
ergänzen sich in ihrem Handeln und Denken. Sie symbolisieren also jene Pola-
rität menschlicher Eigenschaften und Veranlagungen, wie sie uns in den Dual-
Systemen der zentralaustralischen Dieri und der Kimberley-Völker am ein-
drucksvollsten ent gegen tritt. Solche Heroenpaare sind u. a. Wödoi und D’ün-
gun, zwei Nachtvogelarten und totemistische Stammväter der beiden Phra-
trien wälambo und yara bei den Ungarinyin der Kimberleys oder Yälgi und
Windinbigi, zwei Eidechsenarten und Urheber der geheiligten Überlieferung
der Nyigina am Fitzroy River Nordwest-Australiens. In diesen Rahmen gehö-
ren auch die rein anthropomorph vorgestellten Wati kutjara, d. h. „zwei Män-
ner“, das große Heroenpaar der Stämme im Gebiet der zentralaustralischen
Warburton Ranges sowie die Bagadjimbiri, zwei urzeitliche Brüder, die alle
wesentlichsten kultischen und gesellschaftlichen Einrichtungen der Karadjeri
Nordwest-Australiens konstituierten [24].
Die Dual-Verfassung, gleichgültig ob wir sie nur in ihren soziologisch-
funktionellen Auswirkungen oder als eine geschlossene polare Weltbetrachtung
greifen können, hat also für den australischen Eingeborenen ihren Ursprung
198
Helmut Petri
in der Zeit des Anfangs und der Schöpfung. Auf übernatürliche Wesen geht
diese Ordnung der Dinge zurück und damit gewinnt sie den Charakter einer
göttlichen Institution, die für den Fortgang des Lebens unerläßlich ist und
eine zeitlose Gültigkeit besitzt.
Der Mythos von einem urzeitlichen Kultur- und Heilbringerpaar und die
Dualordnungen wurden vielfach in einen inneren Zusammenhang gebracht.
Das war durchaus berechtigt, denn immer wieder können wir in Australien
die Feststellung machen, daß Gesellschaften mit einfacher Phratrien- und
komplizierterer Sektions Verfassung diesem Mythos in ihren geheiligten Tradi-
tionen eine teils größere, teils geringere Bedeutung beimessen.
Läßt sich nun ohne weiteres daraus folgern, daß Stammeshälften-Gliede-
rung und Heroenpaar-Mythos, aber auch Stammeshälften-Gliederung und eine
Auffassung von der polaren Beschaffenheit der Welt in Australien ursprüng-
lich zusammengehören, eine untrennbare Einheit bilden? Im kulturellen Auf-
bau der australischen Stämme sehen wir uns verschiedenen Tatsachen gegen-
übergestellt, die uns bedenklich stimmen müßten. Das mythische Heil- und
Kulturbringerpaar findet sich auch in den Überlieferungen einiger jener Rand-
völker ohne Dual-Verfassung, die eingangs aufgezählt wurden. So spielen z. B.
in den Traditionen der südaustralischen Narrinyeri und Encounter Bay-
Stämme die Brüder Waiungare und Nepelle eine große Rolle [25]. Die Bad
des nördlichen Dampierlandes besitzen den Mythos vom urzeitlichen Heroen-
paar Kälalong und Mino, zwei Gestalten, auf die wesentliche soziale Einrich-
tungen zurückgeführt werden [26]. Trotzdem kam es weder bei den Bad noch
bei den südaustralischen Stämmen jemals zu einer Phratrien-Verfassung.
Einige dieser Randvölker ohne Stammeshälften-Ordnung zeigen aber noch
in anderer Hinsicht Ansätze zu dualistischen Betrachtungsweisen. Ich erinnere
daran, daß bei den Kurnai des Gippslandes sich zwei Parteien im Ballspiel
gegenüberstanden. Die Küstenstämme von N.S.-Wales hatten, wie gleich-
falls schon bemerkt wurde, eine Zweigliederung auf territorialer Basis. Die
katungal, d. h. die Küstenleute standen hier den baiangal, den Leuten des
Waldes oder Binnenlandes gegenüber. Eine verwandte Gruppierung beobach-
tete man bei den Yerkla-Mining an der großen australischen Bucht. Es wurden
hier die lokalisierten Totemgruppen der Küste von jenen des Binnenlandes
deutlich abgeschieden [27].
Eine weitere Erscheinung, die uns an einer primären Zusammengehörigkeit
von Phratrien-Verfassung und dualistischer Weltbetrachtung zweifeln läßt, ist
die von einigen N.S.-Wales-Stämmen bekannt gewordene und höchst eigen-
artige „Blut- und Schattenverwandtschaft“. Die beiden gegensätzlichen Grup-
pen des „langsamen Blutes“ und „schnellen Blutes“ bzw. des unteren Schat-
tens und des oberen Schattens bestehen unabhängig von den beiden Phra-
trien Adlerfalke und Krähe. In gewissem Sinne überschneiden sich hier zwei
Dual-Systeme, vermutlich verschiedenen Ursprunges.
Es sind somit einige Indizien vorhanden, die darauf hindeuten, daß eine
polare Denkweise und damit Tendenzen, die Dinge dieser Welt polar zu ord-
Zum Problem der australischen Dualsysteme
199
nen, nicht unbedingt in den „klassischen“ Dual-Systemen Australiens ihren
Ursprung haben. Vielmehr spricht manches dafür, daß bereits die Randvölker
ohne Dichotomie, die wir aus stichhaltigen, doch hier nicht näher zu erörtern-
den Gründen als die historisch ältesten Völker des 5. Kontinents ansehen, zu-
mindest in Ansätzen eine in der Überlieferung fest begründete dualistische
Ordnung kannten.
Schließlich möchte ich noch kurz auf ein dualistisches Phänomen hinweisen,
das in Australien eine weitere Verbreitung fand, dessen eigentliches Kem-
gebiet aber im Südosten, bei den Stämmen ohne Dichotomie (Kurnai, Yuin und
Murring) gesucht werden muß. Es ist der sogenannte Sexual-Totemismus, der
die Stammesgemeinschaft in zwei gegensätzliche Gruppen teilt, u. z. in die
natürlichsten Gruppen, die wir kennen, die männliche und die weibliche, deren
jede sich mit einem eigenen Totem durch Mythos und Tradition verbunden
fühlt.
Das historische Alter des australischen Sexual-Totemismus ist ein umstrit-
tenes Problem und wird es vermutlich immer bleiben, denn sein Vorkommen
und sein kulturelles Gewicht sind quellenmäßig zu schwach belegt. Wenn der
Schwerpunkt seiner Verbreitung überhaupt irgend welche Rückschlüsse erlaubt,
können wir mit einigem Vorbehalt sagen, daß er in die altertümliche Kultur-
schicht der Randvölker hineingehört, mit anderen Worten in eine Schicht ohne
Phratrien-Ordnung mit einer kulttotemistischen Clan-Verfassung auf terri-
torialer Basis, mit Lokal-Exogamie und, wie wir aus den wenigen hier gebrach-
ten Beispielen schließen können, mit Ansätzen zu einer polaren Weltbetrach-
tung,
An der alten Theorie, nach der die Dual-Systeme, d. h. die typisch austra-
lischen Dichotomien auf überterritorialer Grundlage in geschichtlich jüngerer
Zeit von Norden her, wahrscheinlich aus Melanesien importiert wurden und
sich langsam in die südlichen, westlichen und östlichen Gebiete vorschoben,
wollen wir festhalten. Sie konnte bisher noch nicht widerlegt werden. Das
schließt aber nicht die Möglichkeit aus, daß es eine starke Neigung zur Klassi-
fizierung der Erscheinungen und ein gewisses polares Denken schon vorher
gab, also in den ältesten australischen Kulturen bereits angetroffen werden
kann.
Erst eine Verbindung der jüngeren, von auswärts kommenden Kultur mit
der älteren autochthonen Kultur mag dann zu jenem das ganze Universum um-
spannenden Dualismus geführt haben, den wir nur bei einigen Stämmen
beobachten konnten, wahrscheinlich aber die Weltanschauungen australischer
Nationen in einem weit ausgedehnteren Maße formte und gestaltete, als wir
es ahnen.
Anthropologische, prähistorische und linguistische Fakten liefern ziemlich
eindeutige Beweise, daß eine Bevölkerung frühneolithischen Kulturgepräges
zu einem nicht näher zu bestimmenden Zeitpunkt von Norden her in Australien
eindrang und sich langsam nach Süden ausbreitete. Vielleicht haben diese Ein-
wanderer die eigentliche Dichotomie, d. h. die Stammeshälften-Verfassung ge-
VuSm
200
Helmut Petri
bracht und es kam zu dem zweifelsohne langwierigen Prozeß einer Verschmel-
zung der älteren, autochtonen und jüngeren, importierten Anschauungsweisen
von den polaren Spannungen im Menschenleben, in der Natur und im Kosmos.
J. Mathew erörtert in seinem Buche „Eaglehawk and Crow“ [9] das Problem
einer Entstehung der Dual-Systeme aus dem Zusammentreffen zweier ihrem
Wesen nach verschiedenen „Rassen“. Adlerfalke und Krähe bei den Stämmen
des Südostens repräsentierten diese beiden ursprünglichen Rassen, die einst-
mals in Australien um die Herrschaft rangen, schließlich aber zu einem Aus-
gleich gelangten [28], der in einer Dual-Verfassung gewissermaßen seine
Verewigung fand. Diese Theorie ist oft und scharf angegriffen worden [29].
Doch scheint das nicht ganz berechtigt zu sein. Nach unserer gegenwärtigen
Kenntnis der australischen Kulturgeschichte müssen wir annehmen, daß in
diesem Erdteil irgend wann einmal zwei verschiedengeartete ethnische Ele-
mente zusammentrafen und es ist eigentlich nicht einzusehen, warum ein der-
artiges historisches Ereignis nicht auch dem Entstehen der Dual-Systeme und
der dualistischen Weltanschauung seine Impulse gegeben haben sollte.
Wir müssen also, wenn wir die Entwicklung der australischen Dual-Ord-
nungen und ihre Stellung im geistigen, sozialen und kultischen Leben ver-
stehen wollen, eine ganze Reihe teils psychologischer, teils geschichtlicher Fak-
toren in Betracht ziehen. — Für den Eingeborenen selbst sind das alles keine
Probleme. Er fragt nicht danach, ob eine soziologische Dichotomie oder eine
anders geartete Dual-Verfassung das Primäre sind. Gegensätzlichkeit und ihr
Ausgleich, ganz gleichgültig in welcher Form und in welches System gebracht,
werden für ihn zu einer in der Urzeit geschaffenen, geheiligten Ordnung.
[11 A. P. ELKIN, The Australian Aborigines, Sydney 1938, S. 83.
[2] ELKIN, 1. c. S. 83.
[3] ELKIN, 1. c. S. 82 f.
[4] A. W. HOWITT, The Native Tribes of South East Australia, London 1904, S. 770.
[5] HOWITT, 1. c. S. 453 f.
[61 ELKIN, 1. c. S. 85; Oceania II, 1931—32, S. 54.
[7] HOWITT, 1. c. S. 513.
[8] E. VATTER, Der Australische Totemismus, Hamburg 1925, S. 118; L. SHARP,
Northeast Australian Totemism, Peabody Mus. Papers, XX, 1943, S. 70. Eigene
unveröffentlichte Notizen.
[9] R. BROUGH SMYTH, The Aborigines of Victoria, London 1878, vol. I, S. 424;
J. MATHEW, Eaglehawk and Crow, London/Melboume 1899, S. 15.
[10] HOWITT, 1. c. S. 18.
[11] J. MATHEW, Origin of the Australian Races, Joum. Anthrop. Inst, of Great Britain
and Ireland, 1910, S. 167; cit. VATTER, 1. c. S. 110.
[12] K. LANGLOH-PARKER, The Euahlayi Tribe, London 1905, S. 12.
[13] O. SIEBERT, Sagen und Mythen des Dierí-Stammes, Globus 97, 1910, S. 49.
[14] R. H. MATHEWS, Bemerkungen über die Eingeborenen Australiens, Mitt. Anthrop.
Ges. Wien, 36, 106, S. 168; oit. VATTER, 1. c. S. 128.
[15] R. H. MATHEWS, Notes on the Aboriginal Tribes of Queensland, R. Geogr. Soc. of
Australasia, Queensland, XX, 1904/05, S. 52; oit. VATTER, 1. c. S. 35.
[16] Nach R. H. MATHEWS bei VATTER, 1. c. S. 32.
[17] VATTER, 1. c. S. 31.
Zum Problem der australischen Dualsysteme
201
[18] A. L. P. CAMERON, Notes on some Tribes of N.S.-Wales Joum. Anthrop. Inst, of
Great Britain and Ireland, XIV, 1885, S. 346 u. 350. R. H. MATHEWS, Mitt.
Anthrop. Ges. Wien, 36, 1906, S. 168.
[19] BROUGH-SMYTH, 1. c. I, S. 91.
[20] J. MATHEW, Two Representative Tribes of Queensland, London/Ledpzig 1910, S. 144.
[21] E. PALMER, Notes on some Australian Tribes, Joum. Anthrop. Inst, of G. B. and
J. XIII, 1884, S. 299 f.
[22] cit. J. FRAZER, Totemism and Exogamy, 1910, vol I, S. 567.
[23] Eigene unveröffentlichte Notizen.
[24] N. B. TINDALE, The Legend of the Wati Kutjara, Oceania VII/H, 1936, S. 171—182;
R. PIDDINGTON, Karadjeri Initiation, Oceania III/I, S. 47 f.
[25] A. TAPLIN, The Folklore, Manners Customs and Languages of the South Australian
Aborigines, Adelaide 1879, S. 56 f.
[26] H. PETRI, Mythische Heroen und Urzeitlegende im nördlichen Dampierland, N.W.-
Australien, Paideuma 1939.
[27] HOWITT, 1. c. S. 129.
[28] J. MATHEW, 1. c. S. 15, 18.
[29] u. a. A. LANG, Man XI, Nr. 54; VATTER 1. c. 111.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Ludwig Ankenbrand, Stuttgart
Das älteste Maifest
Maienritt und Tanz um den Maibaum, Muttertag und Kirchgang zur Ver-
ehrung Marias, der Mutter Jesu, Feier des ersten Mai als Weltfeiertag des
arbeitenden Volkes — mögen all diese Maifeiern auf 60, auf 100 Jahre zu-
rückgehen und auch jahrhundertealtes Brauchtum in unsere Zeit herübergeret-
tet haben, so alt sind sie alle nicht, wie die Maifeiern zu Ehren des Buddha
Gotamo in Süd- und Ostasien, Seit über zwei Jahrtausenden wird dort Jahr
für Jahr ohne Unterbrechung der erste Vollmondtag im Mai, dem Monat der
Visakha, festlich begangen. An ihm gedenkt man der Geburt des Bodhisattwa
im Jahre 560 vor Beginn unserer Zeitrechnung durch Maya, die heb liehe
Königin.
An ihm feiert man die Erleuchtung des Buddha und begeht die Erinnerung
an seinen Todestag, an dem er das „Nibbanam“ erreichte. So sind im Wesak
oder Maifest Ceylons unsere Feiertage Weihnachten, Ostern und Pfingsten
vereint.
Unter raunenden Kokospalmen liegt das Dorf, hingeschmiegt zwischen La-
gune und Meer, im Schatten alter Feigenbäume, jedes Haus, jede palmblatt-
gedeckte Hütte umgeben von früchteschweren Bananen und Papajas. Aus dem
grünen Meer des dörflichen Pflanzenkleides ragt eine felsige Anhöhe hervor,
die von einem alten Tempel gekrönt wird. Von hier schweift der Blick bis hin
zu den Bergen im Herzen der Paradiesinsel Ceylon. Im Tempelhof erhebt sich
in alabasterhaftem Weiß eine Dagoba. Eine Pappelfeige spendet dem Kloster-
hof Schatten in der brütenden Mittagssonne.
Während aber sonst die gelbgewandeten Mönche längst ins Dorf gewan-
dert sind, um Almosenspeise zu holen, ist heute noch keiner aufgebrochen,
denn reichlich ist der Tisch gedeckt. Schon früh am Morgen sind die ersten
Klosterbesucher gekommen und haben in der kleinen Klosterküche das Früh-
stück für Mönche und Schüler zurechtgemacht und dann reißt das Heer der
Besucher nicht mehr ab — in reinem Weiß strahlen ihre Kleider, um die Schul-
ter schmiegt sich eine Schärpe, die anzeigt, daß sie heute nicht nur die üblichen
fünf, sondern die acht Gelübde halten wollen. Froher Sang erklingt und der
Heilruf: Sadhu, sadhu, saah .... So kommen sie zur Klosterpforte herein,
falten die Hände zum Gruß und verbeugen sich vor den Mönchen; sie legen
Kerzen vor sie hin, ein Gewand und Nahrungsmittel und dann bitten sie,
meist dorfschaftenweise, einen der Mönche, ihnen die Formel der Zuflucht und
die acht Gelübde vorzusprechen. Singend, nach Art der Responsorien bei der
katholischen Messe, sprechen sie diese nach — nicht zu töten, nicht zu stehlen,
rein zu leben, nicht zu lügen, sich berauschender Getränke zu enthalten ....
und als Besonderheit zu Ehren des Tages, gleich den Mönchen, von Mittag ab
nichts mehr zu genießen bis zum nächsten Morgen. Die Klosterhalle ist erfüllt
206
Ludwig Ankenbrand
vom Rhythmus des würdevollen Niederbeugens, Aufstehens und Händefal-
tens und von dem gleichmäßigen Singsang des Silanehmens, das nur vom
Rauschen des Meeres, seiner schweren Brandung am Felsgestade, übertönt
wird.
Am Nachmittag ist fröhliches Jahrmarkttreiben im Dorf, Festzug um Fest-
zug, Musik. Alle Häuser, alle Gartenzäune sind mit buntem Papier geschmückt
und Wimpel in den buddhistischen Farben wehen im sanften Windhauch zwi-
schen den Stämmen der Palmen. Am Abend, wenn der leuchtende Maienmond
dann in silbernem Glanz über den Wipfeln steht und die Palmenschatten zit-
ternd über die Wege fallen, wenn die Sterne auf gegangen sind und die Scha-
ren fliegender Hunde in den Wipfeln der Bäume endlich zur Ruhe gekommen
sind, wenn das Meer leuchtet wie eine strahlende Silberfläche, von der sich
die Rosseschar der Wellen mit schäumenden Mähnen loslöst und dem Felsen-
ufer zustürmt, werden tausend Fackeln entzündet, alles erstrahlt im Scheine
bunter Lichter und der schönste Teil des Festes beginnt.
Der Hauptlehrer zieht mit einer Schar von Jungen durchs Dorf. Sie sind in
Gewänder gehüllt, wie sie die Prinzen zur Zeit des Buddha, vor zweieinhalb
Jahrtausenden in Indien trugen, wie sie uns heute noch die alten Gandhara-
reliefs zeigen. Ihr Gesicht ist gepudert und der hohe Turban auf dem Haupt
ist mit Schmuck überladen. Fast vor jedem Haus hält die frohe Schar, und zur
Melodie, die der Lehrer mit einer Geige leitet, singen sie die uralte Legende
von Maya, der jungfräulichen Königin, vom Prinzen Siddhatta; vom Weg, den
dieser ging, und vom erhabenen achtfachen Pfad, den er gezeigt hat. Reich
beschenkt ziehen sie weiter zum nächsten Haus durchs ganze frohbewegte
Dorf.
Die Legende von des Erleuchteten Geburt aus dem Munde der Mönche und
Gelehrten klingt einfach und schlicht — zu schlicht. Volk und Jugend wollen
andere Kost. Für sie wird im Buch der Jataka — im breiten epischen Wurf —
von über 500 Wiedergeburten erzählt und über die letzte Wiedergeburt, die im
Jahre 560 vor unserer Zeitrechnung erfolgte, finden wir in der Nidanakatha eine
Geschichte, wie sie nur indische Phantasie zustande bringt:
„In dem Augenblick, da der Bodhisattwa im Schoße seiner Mutter seine
Wiedergeburt nahm, da wankten, erzitterten und erbebten wie mit einem
Schlag alle zehntausend Welten. Es zeigten sich die zweiunddreißig Vorzeichen,
wie sie der Geburt eines Erleuchteten vorangehen ....
Als nun die große Königin Maya die Zeit der Geburt nahen fühlte, wollte sie
sich zu ihren Eltern begeben und sprach zu Suddhodano, dem König:,Fürst, ich
möchte wohl nach Dewadaha gehen, in die Stadt der Meinen', da ließ der König
die Straße von Kapalawathu nach Dewadaha ebnen, sorgte für reichlichen
Wasservorrat und ordnete an, daß der ganze Weg mit Bananenblättern, Fah-
nen und bunten Wimpeln verziert würde. Dann ließ er die Fürstin in eine gol-
dene Sänfte setzen, tausend Diener hoben sie hoch und ein großes Gefolge
begleitete sie auf die Reise.“
Zwischen beiden Städten befindet sich einSalawald, derLumbinihain,der uns
nun in den herrlichsten Farben geschildert wird. Sie erreichte nicht mehr die
Das älteste Maifest
207
Stadt ihrer Eltern, Hier in diesem Wald schenkte sie unter vielen Wundern
ihrem Sohn, dem künftigen Buddha, das Leben, wobei sie von vier Erzengeln
unterstützt wurde. Aber auch der junge Bodhisattwa begann, kaum geboren,
Wunder zu wirken. Im Himmel, bei den 33 Göttern, wie auf Erden, wurde
die Geburt des neuen Buddha gefeiert und mit ihm kamen gleichzeitig sein
künftiges Weib, verschiedene hohe Persönlichkeiten, mit denen ihn das Leben
zusammenführen sollte, sein Pferd Kanthaka und der Bodhibaum, unter dem
ihm später die große Erleuchtung werden sollte, zur Welt.
Nichts hört Ceylons und Birmas Jugend Heber als all diese Legenden. —
Doch kehren wir in unser Dorf am Strande zurück. Es ist Abend geworden.
Inmitten des Ortes ist die offene Halle als Predigtsaal hergerichtet: Ein erhöhter
Sitz für den Thero, den Mönch, der die Festrede hält, ist bereitet. Matten, auf
die sich die Zuhörer niederlassen, sind auf dem Boden ausgelegt und Kerzen
erhellen freundlich den weißgetünchten Raum. Als Prediger hält der alte
Mahathero seinen feierlichen Einzug. Er naht unter einem Baldachin, dessen
vier Stangen von Knaben getragen werden. Diese Szene wird gespenstisch
erhellt von den züngelnden Flammen der brennenden Pechkuchen, welche die
Knaben entsprechend isoliert auf ihrem Kopfe tragen. Alles verbeugt sich und
begrüßt ehrerbietig den alten Mönch, der vor seiner feierhchen Ansprache den
goldgelben Mantel ablegt.
Still und gebannt lauscht ihm die Menge — nur selten unterbricht sie seine
Ausführungen durch ein zustimmendes „gut“ oder „sehr gut“ —. Er aber er-
zählt von der Bedeutung des Vollmondtages im Mai und würzt seine Ausfüh-
rungen mit Beispielen aus der Geschichte, aus dem Leben des Kaisers Ashoka
und der alten Könige, aus der Sagen- und Märchenfülle der Jataka, Er berichtet
von dem suchenden, heimatlosen Bodhisattwa und dem großen Wunder der
Erleuchtung unter den tausend silberglänzenden Blätterherzen der Pappel-
feige, des Bodhibaumes im Walde von Uruwela, da der Meister saß, als der
Maimond sein Licht über den Wald ergoß. Er erzählt von dessen erster Pre-
digt und von den Fünfen, die seine ersten Jünger wurden, als er sich auf den
Weg nach Benares begeben hatte.
In beredten Worten schildert er den Blütenregen, mit dem die Salabäume
das letzte Lager des achtzigjährigen Lehrers bedeckten, Scharen von Anhän-
gern seiner Lehre waren herbeigeeilt, Menschen und Tiere umstanden kla-
gend die Stätte. Der Herr Ananda kann sich nur mühsam beherrschen und im-
mer wieder laufen dem Lieblingsjünger Tränen über die Wangen. Wie aus-
führlich werden diese letzten Tage und Stunden des scheidenden Lehrers In-
diens und Asiens im Mahaparinibbanasutta dargestellt! Immer wieder ist die-
ses Bild des scheidenden Buddha in Stein und Farbe festgehalten worden, von
den Tagen an, da in Gandhara Künstler wirkten, die in die Schule von Hellas
gegangen waren, bis herauf in unsere Zeit, da Japans Meister der Farbe dieser
Vorwurf immer noch begeistert.
So zeigt der Mahathero die dreifache Bedeutung des Tages als Geburtstag,
als Tag der Erleuchtung — Mahabodhi — und als Tag des Eingehens ins
große Nibbanam (Nirwana). So vergehen Stunden. Andächtig lauscht die weiß-
208 Ludwig Ankenbrand
gekleidete Schar der Zuhörer und die Spannung steht auf den braunen Gesich-
tem geschrieben.
Erst gegen Mitternacht ziehen alle ihren Hütten zu, die Palmen, die Pappel-
feigen rauschen ihr uraltes Lied.
Und so wie hier auf Ceylon, wird auch in Birma, in Siam, in Indochina
dieses Fest gefeiert, nicht nur von den Buddhisten allein, sondern auch von
den Baudhias, jener Hindusekte, die den Buddha als Wiederverkörperung des
Vishnu verehrt und nicht zuletzt von den Parsen, den Jainas und den Moham-
medanern, die in ihm den bedeutendsten Lehrer Indiens sehen. Auch Mahatma
Gandhi ließ es sich im Lauf der letzten Jahre seines Lebens nie nehmen,
Wesakreden zum buddhistischen Maifest in Kalkutta oder in Colombo zu
halten.
In den Ländern der Palmen und Dagoben ist dieser Maientag ein Friedens-
fest. Immer noch sehe ich die weißgekleideten Frauen mit den duftenden
Arekablüten in der Hand und die Mönche in ihrer goldfarbenen Toga. Ich höre
das Rauschen der Blätter des Bodhibaumes und sehe silbern den Mond über
den Bergen Ceylons emporsteigen. Mit dem Flackern der Tempelkerzen ver-
bindet sich in meiner Erinnerung der Duft des Weihrauchs und der Atem von
tausend tropischen Blüten, die sich vor dem Standbild des Buddha in jedem
Tempel finden, zu Ehren des höchsten Feiertages Asiens, des Wesak, des älte-
sten Maifestes der Erde.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
Herbert Tjadens, Baden-Baden
Die japanische Teezeremonie
I
Der ehrenwerte Tee
Als Bodhidharma bei seinen nächtlichen Meditationen einst wider Willen
einschlief, machte er beim Erwachen seine Lider dafür verantwortlich. In
frommem Eifer schnitt er sie ab und warf sie von sich. Sie wurzelten vor sei-
nen Augen im Erdreich. Sie wuchsen auf zu einem nie gesehenen Pflanzen-
gebilde. Der Teestrauch war geboren.
Entsprechend solcher ungewöhnlichen Zeugung blieb der Aufsud aus den
lidförmigen Blättchen des Wunderkrautes lange ein geheiligtes Getränk, ent-
hoben dem Erdenalltag und fern den Genußbezirken. Er hielt die Mönche
bei ihren nächtlichen Übungen wach und beschenkte sie dabei mit Empfin-
dungsreinheit und Gedankenklarheit.
Um zwölfhundert wurde der Tee durch Samen aus China auch in Japan
heimisch. Er gedieh nahe der Kaiserstadt Kyoto in Uji, das noch heute das
japanische Zentrum des Teeanbaus ist. Als magisches Himmelsgeschenk hoch
in Verehrung, eroberte er die Aristokratie — und für Jahrhunderte vorerst nur
diese. Spät, mit seinem Vordringen in die europäischen Länder, wurde er zum
Tagesgetränk des japanischen Volkes. Doch ehrenwert, so wie der Reis, blieb
er bei arm und reich. Um beide — den Tee und den Reis — zu ehren, um beide
innig einander zu vermählen und wohl auch um den Göttern für beides zu dan-
ken, gießt man noch heute nach jeder Mahlzeit einen Guß Tee über den Reis-
rest in der Eßschale, zum Abschluß beides in einem genießend, den reinsten
Trank mit der reinsten Speise.
II
Die Geschichte des Teetrinkens
Es war um zwölfhundert, als der Abt Eisai den Shogun Minamoto no Sare-
tomo durch den Tee vom Alkohol abzubringen suchte. Er begründete ein ein-
faches Zeremoniell, bei dem sich buddhistische Versenkung und shintoistische
Ahnenverehrung besinnlich verbanden.
Etwa zwei Jahrhunderte später sah sich das Himmelsgeschenk aus Bodhi-
dharmas Augenlidern snobistisch entwürdigt. Prunkvolle Teegesellschaften,
bei denen kostbare Preise für unfehlbare Teeschmecker ausgesetzt waren,
arteten in orgiastische Festivitäten aus, bei denen der Reiswein den Tee über-
blendete und Kurtisanen und Tänzerinnen alles eher spendeten als Sammlung
14 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
210
Herbert Tjadens
und Besinnlichkeit. Doch inzwischen hatte sich das vollendet, was immer
wieder bewundernswert ist: Auf dem von China übernommenen Kulturfunda-
ment hatte das Inselvolk einen vollkommen arteigenen Bau errichtet, dessen
überaus feine und mannigfaltige Konstruktionen von allergrößtem Reiz sind.
Das chinesische Festlandserbe, an sich großmächtig, geruhsam, bäuerlich,
solide, einfach, naiv, erlebte durch das bis zum äußersten sensibilisierte
Yamato-Volk eine Verfeinerung, die nur von einer nahezu absoluten Ästhetik
erreicht werden konnte. Mit dieser verband sich eine Könner- und Kenner-
schaft den Wundern der Natur, den Werken der Kunst, der menschlichen
Haltung und ihrer abgewogenen Gebärdung gegenüber, die im höchst origi-
nalen, im typisch japanischen Sinn esoterisch ist.
Von solcher Art muß der Shogun Ashikaga Yoshimasa gewesen sein, der zum
Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in seiner Palastanlage zu Kyoto das erste
Teehaus errichtete, den Silber-Pavillon (Ginkakuji), der noch heute als ein
Wunder an Schönheit und raffinierter Einfachheit bestaunt wird. Hier wurde
die Größe des Teeraums von viereinhalb Tatamis (etwa dreimal drei Meter),
so wie sie heute noch üblich ist, zum ersten Male kanonisch festgelegt.
Gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts berief der heldenhafte Einiger
des Landes, Hidejoshi, alle Teeschulen zu einem neuntägigen Meeting in die
Hauptstadt. Eine der bedeutendsten von ihnen, die des Senno-Rikyu, vollzog
die Reform des Teekultes und legte die kompliziert und mannigfach verwebten
Gesetze der Zeremonie fest, die heute noch gelten mit den Unterscheidungs-
merkmalen der verschiedenen Schulen.
III
Die Wahrheits-Schau
Bodhidharma, der eingangs erwähnte, beschenkte China um 520 mit dem
Dhyana-Buddhismus; (Dhyana, jap. Dsen = Kontemplation) und eben jener
ebenfalls schon genannte Abt Eisai war es, der diese Lehre um zwölfhundert
nach Japan brachte, um sie hier in der von ihm gegründeten kontemplativen
Zen-Sekte einzubauen. Von den zwölf japanischen Sekten ist sie nicht nur die
bedeutendste an Anhängern und Einfluß, sondern auch die dem Gotama
Buddha am meisten verwandte. Sie lehrt: Jeder Mensch hat Buddha-Wesen-
heit. Doch die ist zugeschüttet vom Erdenalltag. Frei wird sie durch Samm-
lung. In der Kontemplation leert sich das Wesen vom Diesseitswahn, vom
Anspruch des Ichs und aller Begierde, von Lust und Leid und vom Trug des
Werdens, des Wandels und des Vergehens. Außeralltägliche Wahrheitsschau
dringt ein, nicht vernünftig durch das Denken, sondern im Herzen durch Schau.
Der Lehrer und Meister leitet die erhabene Übung. Er ist Künder der immer
wieder neu erlebten und nicht kanonisierten Lehre. Er ist Mittler der außer-
alltäglichen, hochhellen Schau (Satori), die wie ein Blitz vom Himmel urplötz-
lich in das Wesen fällt.
Die japanische Teezeremonie
211
IV
Die japanische Seele
Von Urbeginn an obwalten die Götter. Dämonen und Genien leben im All,
in den Erdbereichen, in der Luft und im Wasser, sowie in dem, was der Mensch
sich erschafft. Unsterblich nehmen die Ahnen Anteil. Sie wirken her aus dem
Geisterreich. Sie verlangen Tugend, Haltung und Ehre. Sie fordern vor allem
empfindlichsten Stolz. Von geheimer Magie ist alles durchdrungen. Geheime
Beziehung bindet und eint — mit dem Reistopf, den ein Meister da formte,
mit den Blättern des Ahorn, den Wolken, dem Wind, mit dem Schrittstein
vorm Tor, den das Alter gehöhlt hat, mit vergilbten Papieren und altem Gerät.
Je älter sich solche Dinge bieten, um so mehr sind sie tief mit Magie erfüllt.
Man muß schauen, tasten, lauschen, begreifen. Man erkennt, man bewundert,
man verneigt sich und — schweigt.
Mit solchen Gehalten des alt-japanischen Shintoglaubens verträgt sich die
buddhistische Lehre aus China konfliktlos.
Der Weihrauch verglimmt in der Stille des Raums. Ein Gong ertönt — ganz
harmonische Schwingung. Man sitzt gelassen, doch schön und mit Haltung.
Der Alltag verblaßt. Die Bekümmerung schwindet. Das wirklich Wahre tritt
in Erscheinung. Das wahrhaft Wirkliche hebt sich vom Grund.
V
Die Teezeremonie
Der ehrenwerte Tee, Namensträger der Zeremonie (cha-no-yu), ist das ge-
heiligte Medium dieses Kultes, das Himmelsgeschenk von zartestem Duft, das
Reinigung, Klarheit und Sammlung beschert und das so mit Recht den heraus-
hebenden Ehren-Artikel führt, mit dem die japanische Sprache nur wenige
Dinge adelt.
Die Geschichte vom Teetrinken durchgeistert den Kult bewußt und betont
als die alt-ehrwürdige Tradition von vielen hundert Jahren.
Die Wahrheitsschau bedeutet in ihm ein feines, geheim ihn durchwehendes
Aroma aus zen-buddhistischer Religiosität, das — wenn auch nicht mehr
gerade in Erscheinung tretend — doch deutlich spürbar ist.
Die Seele Japans endlich tritt in ihm auf als der aktionsreiche Protagonist
der ganz gewiß artistischen, esoterischen Ästhetik, die allen Beteiligten eine
kompliziert zusammengesetzte, eine im höchsten Anspruch reizvolle und in
allen Belangen außeralltägliche Gemüts- und Bewußtseinslage vermittelt.
Im Empfinden mischen sich vertraut die magisch-naturhaften, pantheistisch-
poetischen Shinto-Vorstellungen mit der Wunderwelt des Mahayana-Buddhis-
mus. Die Seele, die in Zucht und Beherrschung genommen ist, fühlt sich in
aristokratisch erlesener Haltung, teils im Sinne des shintoistischen bushido
(Weg des Ritters), teils im Sinne der strengen Zen-Meditation. Im Bewußtsein
212
Herbert Tjadens
aber regt sich die durch Bildung und Sensibilisierung erreichte höchste Kenner-
schaft dem Schönen gegenüber, das durch Einfachheit und Sparsamkeit ge-
wähltester Mittel bis an die Grenze des Möglichen verabsolutet wurde — so
der Ort, so der Raum, aller Schmuck, das Gerät, die Gewandung, die Gebärde
bis hin zur außeralltäglichen und schön gesetzten Sprache, die die Zeremonie
verlangt.
Dies alles läßt erkennen, daß der Teekult an Bildung und Wohlhabenheit
gebunden ist und eine Angelegenheit der höheren Stände bleibt. Ein reicher
Mann errichtet seine Teehütte (sukiya) aus kaum bearbeiteten, imgestrichenen
edlen Hölzern abseits vom Wohnhaus, im Park versteckt. Im einfachen alt-
japanischen Stil erscheint sie hier wie naturgewachsen. Nahebei eine kleine
Säulenhalle (yoritsuki), in der die festlich nach Landessitte gekleideten Gäste
auf den Beginn der Zeremonie warten. Es sind immer nur fünf. Ein schmaler
Gartenpfad mit Schrittsteinen (roji) verbindet die Halle mit der sukiya.
Vor dem Betreten des Teehauses schöpft man mit dem Bambusschöpfer
klares Wasser aus einem ausgehöhlten Stein, spült den Mund in symbolischer
Reinigung, betritt die Schwelle, schiebt sich gebückt durch den niederen Ein-
gang (hier in gezwungener, symbolischer Neigung) und läßt sich im Inneren
des kleinen Raumes nach Rang und Würde in Reihe nebeneinander ohne Sitz-
kissen auf den blanken Tatamis nieder, die Schmucknische zur Rechten.
Der Gastgeber — meist die Frau oder die Tochter des Hauses, die die Zere-
monie in einer bestimmten Teeschule nach deren Ritus studiert hat so wie ein
nicht ganz leicht zu erlernendes Fach — bringt nun mit sparsamsten rituellen
Bewegungen das kostbare Gerät aus dem kleinen Vorraum (mizuya), kniet
nieder, vor sich die Tokonoma, zur Rechten die fünf ihr zugewandten Gäste.
Zeremoniell beginnt sie das Gerät aufzubauen. An ihm und der entsprechenden
Anordnung ist bereits zu erkennen, welche Schule hier zelebriert wird.
Wenn schon dem unkundigen Protestanten das Messe-Ritual der katholi-
schen Kirche befremdlich-komisch erscheint, dann kann der Europäer ohne
Kenntnis und Feingefühl angesichts der überspitzten Esoterik der Japaner —
zumal beim Teekult — nur ratlos den Kopf schütteln. Doch hier wie dort
müßte man schon ein Banause sein, um den Stimmungszauber und den Wesens-
ernst nicht zu empfinden, der — abgesehen von der Bedeutungsfülle — über
dem einen wie über dem anderen schwebt.
Eine Teezeremonie dauert in der Regel vier Stunden. Da läßt es sich denn
wohl begreifen, daß sie — allein in ihrem äußeren Verlauf — durch eine sach-
liche Schilderung nicht eigentlich übermittelt werden kann, zumal es nicht so
sehr ankommt auf das, was hier geschieht, sondern vielmehr auf das, wie es zu
geschehen hat.
In ihrem äußeren Verlauf unterscheidet sich die Zeremonie von einem euro-
päischen Fünf-Uhr-Tee vor allem darin, daß es sich nicht um ein gemeinsames
Teetrinken handelt; auch wird nicht der alltäglich gebrauchte grüne Blättertee
verwendet, sondern ein eigens für den Kult präpariertes grünes Teepulver von
reizvoll bitterem Geschmack. So wird denn, ganz im Sinne eines Weihegefäßes
— etwa dem Kelch vergleichbar — nur eine Trinkschale kredenzt. Henkellos,
Die japanische Teezeremonie
213
aus gebranntem Ton, meist nur zum Teil gedeckt mit einer im Fluß erstarrten
Glasur, doch immer in den zurückhaltendsten Tönungen, wie die Natur sie
aufweist — man erlebt die unterschiedlichsten Bildungen —, ist sie größer als
unsere Teetassen und ohne Untersatz.
In ihr misdit der Gastgeber das Teepulver mit heißem Wasser in genau
abgemessenen Mengen. Mit einem kleinen Bambusquirl schlägt er die Masse
zu einem schaumigen Brei. Dies alles geschieht schweigend und jeweils nach
dem Piitus der gezeigten Schule. Schweigend und rituell wird die Schale als-
dann vor den ersten Gast hingeschoben. Schweigend und mit rituellen Ver-
neigungen nimmt der sie mit beiden Händen auf von der Tatami und führt
sie so zum Munde. Er trinkt in Sammlung die „dreieinhalb Schluck“, die in
dieser Menge auch verabreicht werden. Danach bewundert er die immer
sehr kostbare, meist uralte Schale, die sich der doppelten Patina des Alters und
der an sie gebundenen Historien erfreuen mag. Schweigend und rituell reicht
er sie zurück, worauf sie rituell gewaschen und in ihr der Trunk für den
nächsten Gast bereitet wird.
Die Unterhaltung ist gehoben. Alles Profane bleibt ausgeschlossen. Die
geringste Aufdringlichkeit der eigenen kleinen Person wäre ein grober Verstoß.
Zur äußersten Bescheidenheit mahnte bereits die niedere Pforte, die den
Rücken und damit das stolze Ich in die Neigung zwang. Wo ein Wort ohne
Anmaßung aus der Fülle des Herzens dringt, wird es Anklang finden. Im
übrigen — Reden kann Silber sein. Schweigen ist Gold.
Vom summenden Wasserkessel, der im Feuerbecken über den Holzkohlen
steht — von der Klarheit und Schönheit des Raumes — von der feinsinnig
für den Tag und für die Stunde geschmückten Tokonoma — vom Duft des
Weihrauchs — von den gemessenen und anmutigen Bewegungen des Gast-
gebers und der Gäste — kurz, vom Besonderen und Außeralltäglichen, das in
allem waltet, dringt es strahlend bis in kosmische Weite, weht es strahlender
noch von dort zurück. Kultisch trächtig, bezwingend mächtig gewährt sich da
ein Tempelerlebnis fern vom Tageslärm, das seine Spenden austeilt einem
jeden nach dem Maß, über das er selber verfügt als ein von Wundern mehr
oder weniger erfülltes Menschenwesen.
Jahrbuch des Lindenmuseums, N.F., Band 1, 1951
mwmiMi
Personalia et Musealia
217
Nachruf für Paul Lester
Der Anthropologe Paul Lester ist am
I. Oktober 1948 nach langer Krankheit in Pa-
ris gestorben. Ausgerüstet mit einer ausge-
dehnten Bildung auf allen Gebieten der Bio-
logie und der Naturwissenschaften, war Paul
Lester seit dem Jahre 1929 Abteilungsdirek-
tor des anthropologischen Laboratoriums des
Muséum National d’Histoire
Naturelle (Paris) und hatte sich daselbst
für das Studium der physischen Anthropolo-
gie spezialisiert.
Als Schüler von Quinton begann er zu-
nächst die Phänomene des Wachstums und
die funktionellen Zusammenhänge der ver-
schiedenen Teile des Skelettes im Verlauf
des Wachstums zu studieren. Später brei-
tete er diese Forschungen vergleichender-
weise auf die menschlichen Rassen aus. Er
beschränkte seine Tätigkeit aber nicht nur
auf diese Spezialität, sondern interessierte
sich ebenfalls für alle Gebiete der Ethno-
logie und besonders der Ethnologie Afrikas.
Er war ein Anhänger der engen Zusammen-
arbeit zwischen den verschiedenen ethno-
logischen Gebieten und entwickelte in sei-
ner Lehrtätigkeit wie auch in seinen Veröf-
fentlichungen die Idee der Notwendigkeit
einer gemeinsamen Zusammenarbeit zwi-
schen Anthropologen, Ethnographen, Vor-
geschichtlern und Sprachforschern, um hier-
durch klar die Bedeutung des Begriffes
Rasse von der des Volkes oder der Nation
abzugrenzen.
Diese weitreichende Tätigkeit zeigte sich
auch in den zahlreichen Ämtern, die er aus-
zufüllen wußte: General-Sekretär des In-
stitut d’Ethnologie der Pariser Uni-
versität, beauftragt mit den Vorlesungen
über physische Anthropologie am gleichen
Institut, General-Sekretär der Société
des Africanistes und des Insti-
tut Français d ’ A n t h r o p o 1 o g i e ,
Vorstandsmitglied der Société d’An-
thropologie de Paris und der
Société des Américanistes sowie
verschiedener anderer wissenschaftlicher
Institutionen.
Seine hauptsächlichen Forschungen be-
treffen Afrika im Allgemeinen und im Spe-
ziellen Nord- und Ost-Afrika (Marokko, Ca-
narische Inseln, Somali-Land, Äthiopien, die
Turkana und Kikuyu), Er veröffentlichte im
Jahre 1930 und in neuer Auflage 1939 das
Buch "Les Races Humaines“, ein
Werk, das auch in die deutsche und die
holländische Sprache übersetzt worden ist.
Überzeugt davon, daß jeder Forscher ein
auf den neuesten Stand gebrachtes und so
vollständig wie möglich durchgearbeitetes
wissenschaftliches Rüstzeug besitzen müßte,
verwandte er eine beträchtliche Zeit auf die
Vorbereitung und Redaktion afrikanischer
und amerikanischer Bibliographien.
Im Jahre 1937 richtete er in Zusammen-
arbeit mit Professor Rivet das ’’Musée
de l’Homme“ (Paris) ein, wo zum er-
sten Male in Frankreich ein ungewöhnlich
reichhaltiges Material anthropologischer,
ethnographischer und archäologischer Do-
kumente, die die heutigen und die ver-
schwundenen Bevölkerungen der ganzen
Erde betreffen, vereinigt und in didakti-
scher Form ausgestellt worden ist.
Der vorzeitige Tod Paul Lesters (er wurde
nur 57 Jahre alt) ist nicht bloß von seinen
Mitarbeitern als sehr schmerzlich empfun-
den worden, sondern auch von der großen
Zahl all derer, die von seiner reichen Lehrtä-
tigkeit Nutzen gezogen und die die wertvol-
len Eigenschaften dieses großen und ebenso
bescheidenen wie liebenswürdigen Gelehr-
ten schätzen gelernt hatten.
Raoul Hartweg
Paris, Musée de l’Homme,
Laboratoire d’Anthropologie
André Ropiteau
1904—1940
Le Bourguignon André Ropiteau avait
„découvert“ l’Océanie en 1928, lors d’un
voyage autour du monde qui le conduisit
des Indes Néerlandaises à Panama par la
Nouvelle-Calédonie, les Nouvelles-Hébri-
des, les Iles de la Société et les Iles Mar-
quises.
De ce premier voyage, il rapporta un at-
trait extraordinaire pour la Polynésie fran-
çaise et, dès lors, tout le temps laissé libre
par sa profession sera consacré à la Poly-
nésie française où il eut l’occasion de sé-
journer six fois différentes, entre sa pre-
mière visite et sa mort le 20 juin 1940, sous
l’uniforme d’un sergent, dans un régiment
d’infanterie.
André Ropiteau a d’abord recueilli une
très importante bibliothèque concernant la
Polynésie française. Notamment, en ce qui
concerne les livres imprimés en langue in-
218
Personalia et Musealia
digène, soit par les missionnaires, soit par
l’Administration, sa collection est une des
plus complètes du monde et il y a là des
documents uniques comme par exemple le
premier Code Tahitien paru en 1819 et dont
André Ropiteau a retrouvé le seul exem-
plaire connu imprimé. Près de 2.000 piè-
ces — livres, brochures, gravures ou car-
tes — ont été ainsi rassemblées par lui avec
méthode. Il entrevoyait, comme but de ses
efforts, la publication d’une bibliographie
tahitienne que sa mort l’a empêché de
mettre sur pied.
Lors de ses séjours en Océanie, il vivait,
à l’indigène, dans une petite île assez soli-
taire: Maupiti (Iles Sous le Vent) où il
était le seul blanc.
A Maupiti, André Ropiteau a noté, au
jour le jour, d’une plume très perspicace,
la vie quotidienne des Polynésiens à la-
quelle il était mêlé, leurs réactions et leur
comportement. Ses cahiers, s’ils étaient un
jour présentés au public, seraient un docu-
ment d’une grande portée ethnologique et,
plus encore, un témoignage humain extrê-
mement précieux.
II a très peu publié, seulement quelques
«légendes» de Maupiti que l’on trouvera
dans les tomes 3 et 4 du Bulletin de
la Société des Etudes Océanien-
ne s de Papeete, ainsi que des «notes sur
ITle Maupiti», dans la même Revue (t. 5).
Le Journal de la Société des Océ-
anistes a fait paraître, en 1947, une étude
de lui sur «la pêche au thon à Maupiti» et
l’on trouve également une note de lui sur
«les collections polynésiennes conservées
au Musée Missionnaire de Braine-le-Comte
(Belgique)» par les Pères du Sacré-Coeur
de Picpus, au Tome 5 du Bulletin de la So-
ciété des Etudes Océaniennes.
On lui doit d’avoir fait ériger à Papeete
un buste en l’honneur de Pierre Loti. Il
fut aussi parmi les premières personnes qui
s’intéressèrent, vers 1935, au Centre
d’Etudes Océaniennes du Musée
de l’Homme qui devait, en 1945, devenir la
Société des Océanistes.
L’auteur de ces lignes lui a consacré une
notice biographique intitulée: «Portrait
d’André Ropiteau» (Dijon, 1940).
Patrick O’Reilly
Secrétaire général de la Société
des Océanistes (Paris).
Eberhard Floess
1915—1942
Von dem in einem Lazarett in Warschau
am 14.10.1942 seinen schweren Verletzun-
gen erlegenen Dr. phil. Eberhard Floess gilt
das Wort von der Tragik des unerfüllten
Lebens in besonderem Maße. Wir hatten
noch Bedeutendes von ihm zu erhoffen.
Seine Briefe vom östlichen Kriegsschau-
platz waren Meisterstücke einer transparen-
ten Prosa, die das Erlebnis des gegen die
eigene Überzeugung zu erleidenden Krieges
seelisch bewältigt und geistig gefiltert zu
schildern wußte. Seine Darstellungen erin-
nerten oft an jene unbeteiligte Anwesenheit
kafkascher Figuren, die gerade dadurch zu
hervorragenden Beobachtern werden.
Floess wurde am 13.3.1915 in Berlin ge-
boren und studierte in Göttingen und Ham-
burg. Sein Staatsexamen für das höhere
Lehramt bestand er in den Fächern Geogra-
phie, Geschichte und Ethnologie in Ham-
burg mit dem Prädikat „ausgezeichnet“.
Kurz darauf unterzog er sich am gleichen Ort
der mündlichen Promotion.
Seine Dissertation (bei Prof. Termer)
handelte über die Kultur und Umwelt der
nordamerikanischen Indianer. Der genaue
Titel lag noch nicht fest. Vom Januar bis
zum April des Jahres 1940 stand er als wis-
senschaftlicher Hilfsarbeiter im Dienste der
Amerika-Abteilung des Staatlichen Museums
für Völkerkunde zu Berlin. Hier hat er sich
vor allem um die Neuordnung der Biblio-
thek der südamerikanischen Abteilung ver-
dient gemacht.
Seine Einziehung hinderte ihn, die Pro-
motionsarbeit fertigzustellen. Der Unter-
zeichnete übernahm die ganzen Unterlagen,
um sie gelegentlich zusammenzustellen, in-
folge der eigenen Einberufung war dies lei-
der nicht möglich. Dafür sprang Herr Prof.
W. Mühlmann ein, dem jedoch das noch un-
bearbeitete Material durch einen Luftangriff
im Hause des Verlages Vieweg in Braun-
schweig verloren ging. Wir sind daher ohne
ein literarisches Zeugnis aus der Feder von
Eberhard Floess. Aber alle, die ihn näher
kannten, werden seinen menschlichen An-
stand und seine hohe Intelligenz niemals
vergessen.
(Herrn Prof. Mühlmann danke ich für die
mir hierfür gemachten Angaben.) Glück
Personalia et Musealia
219
Übersicht
über den N achkriegsstand (1950) der
deutschen völkerkundlichen Sammlungen
Um einen Überblick über den derzeitigen
Stand der völkerkundlichen Sammlungen in
Deutschland zu gewinnen, haben wir im
Frühjahr 1950 eine Umfrage unter den ein-
schlägigen Instituten veranstaltet. Eine
nähere Begründung für diesen Schritt ist an-
gesichts der Ereignisse der letzten zehn
Jahre wohl überflüssig. In die Erhebungen
wurde auch die sowjetische Zone miteinbe-
zogen. Vollständigkeit wurde dabei nicht er-
reicht und war auch nicht angestrebt, da
in einigen Fällen mehrfache Anfragen not-
wendig gewesen wären. Im übrigen haben
einige Institute, vor allem kleinere Samm-
lungen nicht geantwortet bzw. waren nicht
erreichbar.
Die hier gebotene Übersicht möge als
eine Ergänzung der anderweitig unternom-
menen gleichen Bemühungen betrachtet
werden. Angesichts des seit der Erhebung
verstrichenen Zeitraumes muß mit der Kor-
rekturbedürftigkeit mancher Angaben ge-
rechnet werden.
Für die uns bereitwillig zur Verfügung
gestellten Unterlagen sagen wir allen In-
stituten unseren herzlichen Dank.
Den gemachten Angaben
liegen folgende Fragen zugrunde:
1. Name des Instituts
2. Bestandsumfang
a) vor dem Kriege
b) nach dem Kriege
c) von Verlusten besonders betroffene Abtei-
lungen
3. Bibliothek
a) Bandzahl vor dem Kriege
b) Bandzahl nach dem Kriege
c) von Verlusten besonders betroffene Abtei-
lungen
4. Gebäude
a) Ausmaß der Schäden
b) seitheriger Wiederaufbau
c) zweckentfremdete Benutzung
5. Ausstellung
a) Wiederaufstellung
b) geplante Neuaufstellung
c) Studiensammlung zugänglich?
d) falls verlagert, Slg. gefährdet?
6. Publikationen seit 1945
7. Personalstand
BERLIN
1. Museum f. Völkerkunde d. ehern. Staatl.
Museen
2. a) rd. 400000
b) nicht abschätzbar, da größtenteils noch
verlagert
c) Nordamerika und Afrika
3. a) 26000
b) 17000
c) Afrika, Amerika, Indien, Ostasien
4. a) Berliner Gebäude größtenteils zer-
stört, Dahlem erhalten
b) Dahlemer Gebäude im Ausbau, 12
Säle wiederhergestellt und der Öffent-
fentlichkeit zugänglich
c) Keine
5. a) Ausstellung in 12 Sälen
b) mindestens 2—4 weitere Säle im Jahre
1950
c) Nein
6. 3 Kataloge
7. Direktor u. Leiter d. Abt. Amerika: Prof.
Dr. W. Krickeberg
Stellv. Direktor u. Abt.-Leiter f. Südsee-
Südasien: Dr. H. Nevermann
Abt.-Leiter f. Afrika u. Bibliothek: Dr.
K. Krieger
Abt.-Leiterin f. Ost- u. Nordasien: Brun-
hilde Körner
BREMEN
1. Museum f. Natur-, Völker- u. Handels-
kunde
2. a) Nicht genau anzugeben
b) etwa 70% gerettet
3. a) ca. 15600
b) ca. 14 000, mit Neuzugängen bis 1949:
16600
4. a) Starke Schäden
b) Seit 1947 schrittweiser Aufbau, bis
Frühjahr 1950 etwa Hälfte d. Gebäu-
des wiederhergestellt (inzwischen Bau-
arbeiten offenbar abgeschlossen)
5. a) Teil der Schausammlung mit Bestän-
den aus Ostasien u. Südsee 1949 wie-
dereröffnet
b) Weiterer Ausbau der Schausammlung
6. „Veröffentlichungen aus dem Museum f.
Natur-, Völker- und Handelskunde“, seit
1949 2 Hefte
7. Abteilungsvorsteher f. Ethnographie u.
Handelskunde: Dr. Herbert Abel; wissen-
schaftl. Hilfsarbeiter f. Ethnographie: Dr.
H. H. Petri
DETMOLD
1. Landesmuseum — Ethnographische Ab-
teilung
2. a) etwa 1500
b) etwa 1200
c) Südsee
220
Personalia et Musealia
4. c) Ja. Hälfte durch Musikakademie be-
legt
5. a) Teilweise, Peru und Afrika
c) Studiensammlung zugänglich (nur pe-
ruanische Gewebe)
d) Nein
6. Katalog über Peru-Gewebe
7. Direktor: Suffert
Nebenberuflich: Frau Schumann
DONAUESCHINGEN
1. Fürstl. Fürstenbergische Sammlungen
2. a) ungef. 500, nicht inventarisiert
b) keine Schäden
3. Nicht vorhanden
4. Keine Schäden
5. a) Wegen Neuordnung gesperrt
b) Nein
c) Als Studiensammlung zugänglich
6. Keine
7. Leiter d. Sammlungen: Christian Salm
DRESDEN
1. Museum für Völkerkunde
5. a) Sonderausstellung „Negerplastik“
7. Leiterin: Dr. Rose Hempel
FRANKFURT AM MAIN
1. Städt. Museum für Völkerkunde
2. a) ca. 45000
b) ca. 37000
c) Asien, Australien, Indonesien
3. a) ca. 30000
b) ca. 22000
c) Teilweise Zeitschriften, Biographien,
Atlanten, Kolonialwissenschaft, An-
thropologie, Linguistik und sonstige
Hilfswissenschaften
4. a) Völlig zerstört
b) Kein Wiederaufbau
5. a) Sonderausstellungen
b) Nein
c) Ja
6. Veröffentlichungen des Frobenius-Insti-
tuts
7. Direktor: Prof. Dr. Ad. E. Jensen
Kustoden: Dr. Hermann Niggemeyer
Dr. Karin Hissink
GÖTTINGEN
1. Institut für Völkerkunde an der Univer-
sität
2. a) ca. 11000
b) ca. 11000
c) Keine
3. a) ca. 3500
b) ca. 5300
c) 2700 Bände
4. a) Keine
5. a) Ja
c) Ja
6. Keine
7. Direktor: Prof. Dr. H. Plischke
Wissenschaftl. Assistenten: Dr. W. Nippolt
Dr. H. Blome
HAMBURG
1. Hamburgisches Museum f. Völkerkunde
und Vorgeschichte
4. a) Leichte Schäden
b) Schäden beseitigt
5. a) Nordasien, Nordafrika, Indonesien,
Ostasien, Amerika, Vorgeschichte und
Sonderausstellungen (Arabien, Island-
Schweden, Schattenspiele der Völker,
Musikinstrumente der Völker)
b) Weitere Ausstellungen geplant, insbe-
sondere Neuaufstellung der Samm-
lungen Eurasien und Südsee
c) Ja
d) Zum Teil verlagert
6. Vicedom-Tischner: Die Mbowamb, Bd.
1—3; Schattenspiele der Völker (Führer);
Bierhenke: Einführung in die Volks-
kunde von Sdiweden; Kuhn: Abriß der
isländischen Volkskunde; Dittmer: Mu-
sikinstrumente der Völker; Hermann:
Der Totenkult bei den alten Ägyptern
7. Direktor: Prof. Dr. Fr. Termer
Abteilungsleiter:
Prof. Dr. H. J. Eggers (Vorgeschichte)
Dr. W. Bierhenke (Eurasien)
Dr. R. Schröter (Ostasien)
Dr. K. Dittmer (Afrika)
Dr. H. Tischner (Südsee)
z. Z. 33 Beamte, Angestellte u. Arbeiter
HEIDELBERG
1. Völkerkundliche Sammlung der von-Port-
heim-Stiftung
2. a) ca. 12000
b) ca. 9—10000
c) Deutsche Volkskunde
3. a) ca. 3—4000
b) ca. 4000—4500
c) Keine
4. Keine
5. a) Seit Sommer 1949 Teile d. Sammlun-
gen in Sonderausstellungen gezeigt
Personalia et Musealia
221
b) Gesamtaufstellung noch nicht möglich
c) Ja
6. Keine
7. Leiter: Dr. F. Herrmann
JENA
1. Institut für Anthropologie und Völker-
kunde der Universität
2. a) 2020
b) am 8.5.45: 2084
am 31.3.50: 2357
c) Unwesentlich
3. a) 2261
c) Keine Verluste
4. a) Teilschäden
b) Kleine Schäden beseitigt, Dach in Wie-
derherstellung
c) Keine, sogar Aussicht auf kleinere Er-
weiterung
5. a) Sonderausstellungen: „Der Weiße u.
seine Welt in der Kunst farbiger Ras-
sen“; „Die Malaien Sumatras“
c) Schau- bzw. Studiensammlung zu-
gänglich
d) Ausgelagertes Gut unversehrt zurück
7. Direktor: Prof. Dr. B. Struck
1 techn. Assistentin und 1 Wissenschaft!.
Hilfskraft
KASSEL
1. Ethnographische Abteilung des Städt.
N aturkundemuseums
2. a) Verhältnismäßig umfangreich
b) u. c) Teilweise aus Kriegswirren ge-
rettet, jedoch noch völlig ungesichtet
und ungeordnet magaziniert
4. a) Erheblich zerstört
5. Nicht zugänglich
KIEL
1. Museum für Völkerkunde
2. a) ca. 4000
b) Unverändert
3. 1945 an das Geographische Institut der
Universität übergegangen, sehr langsa-
mer Neuaufbau einer Bibliothek
4. Beschädigt, daher Umzug in Zoologisches
Museum
5. a) Neuaufstellung seit 1947
c) Ja
7. Dr. Kathesa Schlosser
KÖLN
1. Rautenstrauch-Joest-Museum für Völker-
kunde
2. a) Unbestimmt
b) Bestände im wesentlichen erhalten
3. a) ca. 20000
b) geringe Verluste
4. a) Ein Drittel zerstört bzw. beschädigt
b) Im Aufbau
c) Teilweise ja
5. a) Sonderausstellungen
c) Ja
d) Nichts mehr verlagert
6. „Ethnologica“
7. Direktor: Prof. Dr. M. Heydrich
Kustoden: Dr. W. Fröhlich
Dr. Funke
LÜBECK
1. Museum für Völkerkunde
2. a) ca. 10000
b) ca. 4 000
c) Afrika, Pangwe-Sammlung von Teß-
mann völlig zerstört
3. a) ca. 2000
b) ca. 700, zum Teil halb verbrannt od.
durch Wassereinwirkung schwer be-
schädigt
c) Alle Abteilungen betroffen
4. a) Schwer beschädigt
b) Kein Wiederaufbau
c) Flügel des erhaltenen Untergeschos-
ses vom Bauamt beschlagnahmt
5. a) Bisher 2 Wechselausstellungen von
Jahresdauer in 3 Räumen des Holsten-
tores (Amerika, West-Turkestan)
b) Im Sommer 1950 China- und Japan-
Ausstellung
6. Schurig: Kleiner Führer zur West-Turke-
stan-Ausstellung
7. Direktor: Dr. Gräbke (Leiter der Lübek-
ker Museen)
Ehrenamtl. Leiter seit 1947: Studienasses-
sor W. Schurig
Seit 1.12.47 hauptberufl. wissenschaft-
liche Hilfskraft: Rosemarie Schütt
MANNHEIM
1. Völkerkundliche Sammlungen der Städt.
Museen
2. a) ca. 68000, davon 17 500 inventarisiert
b) ca. 5—10°/o Verluste
3. a) ca. 6000
222
Personalia et Musealia
b) Keine wesentlichen Verluste
4. a) Von 5 Stockwerken 3 ausgebrannt, ein
Flügel stark beschädigt
b) I Stockwerk wiederaufgebaut, Maga-
zine vorhanden
5. a) Keine Dauerausstellung
b) Sonderausstellungen
d) Nichts mehr ausgelagert
7. Hauptamtlicher Leiter: Dr. Robert Pfaff-
Giesberg
MÜNCHEN
1. Staatl. Museum für Völkerkunde
2. a) Zahlenangaben nicht möglich, um-
fangreiche Sammlungen aus Ostasien,
Amerika (besonders peruanische Aus-
grabungen)
3. Genaue Zahlenangaben nicht möglich,
Bibliothek jedoch vollständig erhalten
4. a) Gebäude zu 40°/o beschädigt
b) Notdach
5. a) Nein
b) Nur Sonderausstellungen: Chinesi-
sche Kunst (1947), Alt-Peruanische
Kunst (1948), Kunsthandwerk des Ori-
ents (1949), Alt-Amerikanische Kunst
(1950)
c) Studiensammlung nicht zugänglich
d) Lagerungsverhältnisse unbedenklich
6. Wissenschaftliche Reihe geplant. Bebil-
derte Kataloge herausgegeben
7. Direktor: Prof. Dr. H. Ubbelohde-DOe-
ring, zugleich Abt.-Leiter für Nord- und
Südamerika
1. Konservator: Dr. M. Loehr (Ostasien)
2. Konservator: Dr. A. Lommel (Ozea-
nien, zugleich mit Afrika betraut)
ROSTOCK
1. Museum für Völkerkunde
2. Bis auf unbedeutende Reste infolge Aus-
lagerung fast völlig verloren
STUTTGART
1. Museum für Länder- und Völkerkunde,
Linden-Museum des Württ. Vereins für
Handelsgeographie E.V.
2. a) ca. 120000
b) ca. 10—15% Verluste
c) Südsee und Afrika
3. a) ca. 10000
b) Unverändert
4. a) Fast völlig zerstört
b) Äußerer Wiederaufbau bis auf kleinen
Restabschnitt beendet
c) Bis auf 3 Ausstellungsräume zweck-
entfremdet vermietet
5. a) Keine Dauerausstellung. Seit Mai 1950
Wander-Sonderausstellung: „West-
afrika in seiner Kunst“
b) Dauerausstellung Afrika, Amerika und
Südsee in Vorbereitung
c) Nein
d) Nichts mehr ausgelagert
6. Katalog „Westafrika in seiner Kunst“
(1950). Jahrbuch (1951)
7. Vorsitzender des Württ. Vereins f. Han-
delsgeographie: Generalkonsul Dr. Th.
G. Wannet
Kustoden: Dr. J. F. GZücfc
F.Jäger
Wander-Ausstellung „Westafrika in seiner
Kunst“ des Linden-Museums, Stuttgart
Um wenigstens einen kleinen Teil unse-
rer Bestände sichtbar zu machen, da wir in-
folge der Raumkalamität bisher nichts zei-
gen konnten, griffen wir zu dem Mittel
einer Wander-Ausstellung. Als erstes Ge-
biet wurde Westafrika ausgewählt. Die ein-
zelnen Objekte stellten wir unter dem Ge-
sichtspunkt zusammen, zur Diskussion der
modernen Kunst einen Beitrag zu leisten.
Ein solches Unternehmen stellt seine eige-
nen technischen Anforderungen. Ganz ab-
gesehen davon, daß unsere Bestände noch
in den Kisten lagern und somit keinerlei
Übersicht über das vorhandene Material mög-
lich ist, mußten auch leicht transportable Vi-
trinen entwickelt werden. Die quantitative
Bemessung mit 350 Objekten aller Größen
erwies sich als völlig ausreichend. Dank den
wenigen, aber ausgezeichnet eingespielten
technischen Mitarbeitern konnten Verpak-
kung wie Transport einwandfrei bewältigt
werden. Der Verlauf der Ausstellung war
weitgehend von der Verfügbarkeit der we-
nigen im Lande befindlichen und geeigne-
ten Räume bestimmt.
In Mr. W. A. Lovegrove, dem Leiter der
Abteilung Guttural Institutions im
Office of the US-Landcommis-
sioner for Württemberg/Baden
fanden wir den großherzigen Förderer un-
seres Anliegens. Durch sein Amt wurden
Personalia et Musealia
223
uns die erforderlichen Beträge sowie die re-
gelmäßig notwendig werdenden Transport-
mittel zur Verfügung gestellt. Nur auf diese
Weise war es möglich, die nicht geringen
finanziellen Anforderungen zu befriedigen
und den äußerlich so gut aus gestatteten Ka-
talog herauszubringen.
Wir möchten die Gelegenheit wahmeh-
men und Mr. W. A. Lovegrove für seine
nachhaltige Förderung und sein großes Ver-
ständnis herzlich zu danken.
Die Ausstellung lief am 20. Mai 1950 in
Pforzheim an und berührte seither noch
folgende Städte: Stuttgart, Karls-
ruhe, Ulm, Schwäbisch Gmünd,
Heidenheim, Künzelsau, Tü-
bingen und Mergentheim. Die Be-
sucherzahl betrug insgesamt 17 000. Glück
BUCHBESPRECHUNGEN
15 Jahrbudi 1951 Liadenmuseum
Buchbesprechungen
227
BENEDICT, RUTH:
Kulturen primitiver Völker. 250 Seiten u.
Register. August Schröder Verlag, Stutt-
gart, 1949. Übersetzt von Richard Salzner.
Die Übersetzung dieses schon im Jahre
1934 unter dem Titel „Pattems of Culture“
erschienenen Buches der erst vor wenigen
Jahren verstorbenen Autorin ist selbst
schon ein ethnologisches Faktum. Denn es
zeigt, wie lange es dauert, bis der „Kul-
turkontakt“ auf breiter Linie aufgenommen
werden kann. Interessanterweise ist die Wir-
kung dieses Werkes in den angelsächsischen
Ländern noch keineswegs abgeschlossen.
Durch die Aufnahme in eine billige Taschen-
Ausgabe ist es noch nach diesem Krieg in
den Rang des geistigen „Marschgepäcks“
aufgerückt.
Über dem Buch liegt für den Fachmann
eine leichte Patina. Die Grundthese der
Verf., daß Kultur kein auf biologischen (d. h.
rassischen) Bedingungen ruhender Komplex
sei, und die daraus folgernde Fordemng auf
Toleranz im weitesten Sinne dürfte heute
allgemeines Gut der Wissenschaft sein. B.
geht es aber offenbar darum, dem breiten
Publikum die Berechtigung dieser These
einsichtig zu machen, indem sie ihm an
Hand der Monographien der Zuni, der Do-
bu-Insulaner und der Kwakiutl den enor-
men Spielraum des homo sapiens demon-
striert.
Jenseits dieser wohlgeglückten populären
Absicht müssen wir jedoch einige Vorbehalte
machen. B. spricht von der Integration eth-
nischer Einheiten und vergißt dabei ganz,
daß die Dynamik des Gesamtmenschlichen
einer weiteren Integration fähig sein kann.
Die naturvölkische Menschheit erschöpft sich
für sie in einer Unzahl spezialisierter Ethne,
für die sie es ablehnt, einen einheitlichen
Nenner finden zu wollen. Wir sind jedoch
der Auffassung, daß sich aus ihrer Haupt-
these, wonach die Kultur keiner rassischen
Voraussetzungen bedarf, ergibt, daß es mög-
lich sein muß, gewisse allgemeinmenschliche
Integrationsregeln aufzustellen. Dies ist ein-
fach eine Folgerung der prinzipiellen Gleich-
artigkeit und Gleichwertigkeit. Jeder Ver-
such menschlichen Verstehens ruht auf dieser
Grundlage.
Die Forderung von B., die Konfiguration,
d. h. die Gestalt der vielen Kulturen richtig
zu erfassen, kann nicht darüber hinwegtäu-
schen, daß es sich hier im besten Falle um
hochqualifizierte Handwerksarbeit, aber
nicht um eine heuristische wissenschaftliche
Leistung handeln kann. Eine Wissenschaft,
die sich nur um die Bestandsaufnahme küm-
mert, verleugnet ihre oberste Pflicht — näm-
lich die des Ordnens. Jeder wissenschaft-
liche Arbeiter ist „simplificateur“, Verein-
facher, der den Wunsch hat, die Fülle der
Erscheinungen durchschaubar zu machen.
Die Ablehnung der Fachrichtung des Dif-
fusionismus wird daher von der Verf. zu Un-
recht abgelehnt.
Um so erstaunlicher ist die Verwendung
des Nietzsche-Spengler’schen Begriffspaares
dionysisch und apollinisch, das ist keine
„simplification“, sondern „terrible simpli-
fication“.
So mangelhaft die theoretischen Voraus-
setzungen dieses Buches erscheinen — so
sehr bleibt es im Hinblick auf die Öffent-
lichkeit zu begrüßen, weil das Ethos der
Toleranz und der Unsinn des Rassismus nie
genug gepredigt werden können.
Die Übersetzung ist sehr flüssig. Wegen
der kurzen monographischen Zusammenfas-
sungen wird das Buch immer seinen Wert
behalten. Glück
BASCHMAKOFF, ALEXANDRE:
La synthèse des périples pontiques.
Méthode de précision en paléo-ethnologie.
Librairie Orientaliste Paul Geuthner, Pa-
ris 1948.
Diese von der Académie des Inscriptions
et Belles-Lettres 1949 preisgekrönte (Prix
Saintour), posthume Arbeit gilt der Rekon-
struktion der alten ethnischen Verhältnisse
am Schwarzen Meer.
Der 1943 verstorbene Verf. war als ge-
bürtiger und erzogener Russe mit seinen
polyglotten Kenntnissen wie kein anderer
berufen, die einschlägigen literarischen
Quellen auszuschöpfen.
Als solche benutzte er den Periplus des
Skylax von Karyand, der auf das 5. Jh.
v. Chr. zurückgeht, den Periplus des Arrian,
der aus dem Jahr 131 n. Chr. stammt, den
pseudo-arrianischen oder kleinen anonymen
Periplus (um 500 n. Chr.) sowie noch
einige kleinere Quellen — die alle im An-
hang im griechischen Urtext mit der fran-
zösischen Übersetzung beigefügt sind.
228
Buchb esprechungen
Baschmakoff ging sehr gewissenhaft vor,
indem er alle Daten kartographisch ver-
arbeitete, nachdem er das gesamte Gebiet
in mehrere genau fixierte Regionen zuvor
unterteilt hatte. Diese Bemühungen haben
ihren Niederschlag in den angefügten Kar-
tenskizzen gefunden.
Die jedem Ethnologen auffallenden
synonymen Namen, die vom Kaukasus bis
nach Spanien auftauchen — wie Iberer,
Basken und Albaner — besonders plastisch
am hier mitgeteilten Beispiel des pontischen
Stadtnamens Ophiusa, der identisch ist mit
den zeitweiligen Benennungen von Rhodos,
Cypem und einer kleinen Balearen-Insel,
zeigen zugleich die vorwiegende toponymi-
sdie Arbeitsmethode des Verf. Es ist immer
wieder verblüffend, wenn man z. B. erfährt,
daß ein Volk namens „Sind“ am Mün-
dungsgebiet des Kuban nachgewiesen wird,
das wir Modernen als Hindu aus Indien
kennen. Die Identifizierung der Hyksos als
solche Hindu macht der Verf. wahrscheinlich.
Auf alle Fälle erfährt durch Baschmakoff
die nidit unbestrittene japhetitische Auffas-
sung von Nikolaus Man, der ja auch topo-
nymisch und philologisch vorging, eine er-
hebliche Untermauerung.
Immerhin gelingt es B. bis in das Neo-
lithikum, in die alte pflanzerische Schicht
vorzustoßen und jene zeitliche Tiefe zu er-
reichen, die vor der Indo-Europäischen
Epoche liegt.
Wie sehr dieses uralte Substrat wesent-
liches Anliegen des Autors ist, wird an sei-
nem methodologischen Begriff „Epana-
s t a s e“ deutlich. Er versteht darunter das
Wieder-Durchbredien alter versunkener
Völker und spricht geradezu vom „Däm-
merungscharakter“ und vom „choc en re-
tour“ dieses unterdrückten Substrates, das
durch sein erneutes Wirksam-Werden die
„Antwort der Unterdrückten“ an die Über-
lagerer darstellt.
Den Mechanismus der Epanastase schil-
dert B. als ein Wechselspiel, bei dem einmal
der Unterdrücker und dann der Unterdrückte
im kulturellen Gesamtbild in den Vorder-
grund kommt. Die Erstarkung der Auto-
chthonen gegenüber den Überlagerern ist so-
mit nur ein Kontaktvorgang, bei dem das
Verhalten der Überschichteten im Vorder-
grund der Beobachtung steht. Die heran-
gezogenen Beispiele beschränken sich auf
den Nachweis von Ortsnamen, die bis heute
immer wieder fremdvölkischen Einbrüchen
standgehalten haben.
Das Werk stellt für die Paläo-Ethnologie
einen wesentlichen Beitrag dar, der jenseits
der speziellen Interessen der Kaukasusfor-
schung auch für einen weiteren Kreis auf-
schlußreich ist. Glück
GEORG KRAFT:
Der Urmensch als Schöpfer. Die geistige
Welt des Eiszeitmenschen. Dr. M. Mat-
thiessen u. Co. Verlag, 2. Aufl., Tübingen
1948.
Die engen fördernden Beziehungen zwi-
schen der Frühgeschichte und der Ethno-
logie erhalten durch dieses bereits in der
zweiten Auflage erschienene Buch des 1944
durch Kriegswirkung um das Leben gekom-
menen Verfassers eine ausgezeichnete Be-
stätigung.
In den Kapiteln „Urmensch und Wild-
beuter“, „Anfänge der Kultur“, „Der Ein-
tritt des homo sapiens in die Geschichte“
und „Vom Wesen des Anfanges“ geht es
Kraft um die Deutung des gesamten paläo-
lithischen Komplexes, der in der einschlä-
gigen Lit. neuerdings immer differenzierter
dargestellt wird.
Die vom Verf. gemachte Prämisse, daß
die Feuemutzung und Kenntnis von ein-
fachsten Geräten sowie die Arbeitsteilung
nach dem Geschlecht von Anfang an dem
Menschen zu eigen waren, ist hervorzu-
heben. Diese Vorverlegung der keimhaften
Schritte der Entfaltung in das Stadium
der Prae-Hominiden erscheint uns sehr
wesentlich, da hierdurch Mensch und Kultur
ganzheitlich in ihrer gegenseitigen Bedingt-
heit erfaßt werden.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt
wird vom Verf. klar herausgestellt — die
ausgesprochene Plastizität des Urmenschen.
Hierunter versteht er das höhere schöpfe-
rische Potential, das den frühen wesentlich
vom naturvölkischen Menschen unter-
scheidet.
Einige Deutungen des Verf. sind — das
läßt sich bei einer so groß angelegten Unter-
suchung kaum vermeiden — umstritten
bzw. von der neueren Forschung überholt.
So ist heute wohl die Auffassung der Linien
und Kratzungen auf dem Mammutzahn von
Wyhlen als „Uromament“ überholt, da diese
HK
KW ifPlUlWIil
Buchbesprechungen
229
als Naturbildungen betrachtet werden. Auch
die Deutung der Bären-Knochen und Schä-
delfunde vom Drachenloch als gewollte
Setzungen ist erneut offen, worauf Pittioni
besonders hingewiesen hat. Die Fundstätte
von Köln-Lindenthal konnte inzwischen von
Paret in einem neuen Licht gezeigt werden.
Die als „Scheunen“ angesehenen Reste
waren in Wirklichkeit die Wohnhäuser und
die bisher als Erdwohnungen betrachteten
Mulden sind in ihrer Bedeutung als Abfall-
und Rohmaterial-Gruben nun ziemlich hin-
reichend gesichert.
Diese wenigen Korrekturen fallen jedoch
angesichts der Größe dieses Wurfes nicht
sehr in das Gewicht. Die Lebendigkeit der
Darstellung und die allem aufgeschlossene
Art, in der das umfangreiche Material ge-
ordnet und verarbeitet ist, wird als eine
vorbildliche Leistung weiterdauem und ins-
besondere für die Ethnologie fruchtbar sein.
Glück
AD. E. JENSEN:
Das religiöse Weltbild einer frühen Kul-
tur. August Schröder Verlag, Stuttgart.
2. Aufl. 1949.
Ausgehend von seinen Erfahrungen auf
Ceram bei den Alune und Wemale, greift
der Verf. über die benachbarten melanesi-
schen Marind-anim und Kiwai weit hinaus,
indem er die eleusinischen Mysterien eben-
so in den Kreis seiner Betrachtungen ein-
bezieht wie die Pangwe, das alte Südrho-
desien, die indischen Khond, die Altmexi-
kaner, die Altperuaner und die südameri-
kanischen Uitoto.
Um dieses Kern-Material gruppiert len-
sen seine theoretischen Darlegungen, in de-
nen er sich als der legitime Nachfolger von
Leo Frohenius (man ist immer versucht, zu
sagen; Leo Africanus secundus) erweist. Die
starke Bindung an das kulturmorphologische
Schema äußert sich vor allem in der beson-
deren Wertschätzung des irrationalen Moti-
ves als agens der kulturellen Entfaltung.
Neu ist der kühne Griff, mit dem der
Verf. über Frobenius hinausgehend eine
Schicht freilegt, deren Universalität Fro-
benius in diesem Umfang verborgen geblie-
ben ist. Diese Schicht ist das Pflanzertum in
seiner weltweiten Verbreitung. Damit hat
der Verf. einer Erkenntnis zum Durchbruch
geholfen, die schon lange in der Luft lag.
Gerade weil dieser „Wirtschaftshorizont“
zugrunde liegt, möchten wir die eigenen Be-
denken des Verf. gegen die Einbeziehung
der Missions-Indianer nur verstärken, da
diese als Sammler die übereinstimmenden
Züge mit der pflanzerischen Welt nicht ori-
ginär entwickelt haben können.
lensen faßt diesen ganzen Komplex aller-
dings weniger von der wirtschaftlich-nüch-
ternen Seite, sondern von der Folklore, vor
allem von den Mythen her. Im einzelnen
nennt er folgende Elemente; Tod, Zeugung,
Nutzpflanze, Mond, Kopfjagd, Kannibalis-
mus, Geheimbund, die Labyrinth-Vorstel-
lung, die Reifezeremonien und die sekun-
däre Bestattung. Dem möchten wir noch die
Mumifizierung hinzufügen.
Die Notwendigkeit, die ganze Schicht in
eine ältere und eine jüngere unterzuglie-
dem, besteht zu recht. Das unterscheidende
Kriterium zwischen beiden liegt in der höhe-
ren Organisationsform, die der Verf. als
„Staat“ verstanden wissen will.
Die monogenetische Auffassung aller als
kulturelle Integrationen gesehenen Zustände,
zu der sich der Verf. nachdrücklich bekennt,
zeigt die gemeinsame Wurzel, die die Frank-
furter Kulturmorphologie mit der Kultur-
kreis-Schule verbindet. Die methodologische
Differenzierung äußert sich in der Ableh-
nung der Matrilinearität als Hauptkriterium
— dies sowie die Annahme des kausalen
Denkens schon auf einer frühen Stufe der
Entfaltung wird heute wohl weithin aner-
kannt werden.
Dagegen erscheint die vom Verf. vertre-
tene Schöpfung materieller Kulturgüter aus
religiösen Motiven nicht überzeugend, trotz
des Hinweises auf Hahn und Frobenius,
denen noch Meinhof zuzugesellen ist. Die
Bedeutung der trivialen Antriebe kann
schwer überschätzt werden, wie dies neuer-
dings E. Podach wieder überzeugend dar-
getan hat. Im übrigen spricht es für die Wie-
ner Schule, daß sie diesen realen Boden im
Prinzip niemals aufgegeben hat.
Der Evolutionismus selbst ist noch keines-
wegs tot — er ist allerdings auch nicht mehr
so naiv, wie der Autor zu unterstellen scheint,
sondern hat seinerseits den gleichen Verfei-
nerungsprozeß erfahren, den der Verf. selbst
gegenüber Frobenius verkörpert. Darüber
hinaus hat dieser Neo-Evolutionismus im
„Telefinalismus“ von Lecomte Du Nouy mit
seinem ausgeprägten teleologischen Moment
230
Buchbesprechungen
eine weitaus stärkere Annäherung an tradi-
tionelle Wertvorstellungen vollzogen, als
dies der paideumatischen Kulturmorpholo-
gie je möglich sein wird.
Die Beziehung zwischen den materiellen
Kulturgütern und dem jeweiligen mythi-
schen Weltbild scheint u. E. keine Priorität
zu gestatten — sondern ist wohl eher mit
dem Begriff der „reziproken Konditionali-
tät“ zu fassen, wie ich dies an anderer Stelle
dargetan habe.
Wenn wir unsere eigenen Erfahrungen
aus den letzten turbulenten Jahren zu-
grunde legen und das Aktualitätsprinzip
an wenden, das auch der Verf. anerkennt,
dann besteht wenig Wahrscheinlichkeit, daß
die „Urzeit in erster Linie von der Göttlich-
keit der Welt bewegt“ ist.
Ob allerdings der vom Verf. herausgear-
beiteten Kulturschicht das Attribut „Urzeit“
zuzubilligen ist, wenn wir die Mensch-
heitsgeschichte von den Anfängen an einbe-
ziehen, erscheint fraglich. Immerhin ist sie
der Ausgangspunkt unserer eigenen moder-
nen Kultur. Erst auf der späten pflanzeri-
schen Basis war eine so große und nachhal-
tige Anreicherung materieller Güter möglich,
daß jene luxurierenden Institutionen ent-
wickelt werden konnten, die der Autor für
diese Schicht charakteristisch hält. Wenn
ausgeführt wird, daß wir mit viel weniger
menschheitsgeschichtlichen Epochen zu rech-
nen haben als bisher, so möchte ich dem voll
und ganz zustimmen. Wie ich an anderer
Stelle ausgeführt habe („Zur Soziologie des
archaischen und des primitiven Menschen“
in dem Sammelwerk „Soziologie und Le-
ben“, hrsg. von Carl Brinkmann, Rainer Wun-
derlich Verl., Tübingen, erscheint im Herbst
1951), kommen wir mit vier Integrationsstu-
fen aus, der protomorphen, der p a -
läomorphen, der ethnomorphen
und der megamorphen. Das Bedürfnis
nach einer Untergliederung dieser Stufen
bleibt natürlich bestehen.
Die monogenetische Auffassung dieser
Pflanzerschicht, die mit meinem Begriff
„ethnomorph“ weitgehend übereinstimmt,
scheint mir nicht unbedingt zwingend. Das
Pflanzertum hat sich vermutlich mehrfach
und unabhängig entwickeln können. Man
denke nur an die Unterscheidung von Kör-
nerfrucht und Knollenfrucht, die jeweils
einem ganz anderen Erfahrungsbereich zu-
zuordnen sind.
Die morphologische Betrachtungsweise
kann einen sehr wesentlichen Beitrag zur
Gliederung der Universalgeschichte leisten.
Hierbei fällt der Auswertung der Mythen
eine bedeutende Rolle zu. Jedoch muß die
Stellungnahme des Autors gegen die Über-
schätzung der Unilateralität, auch gegen
die Überbewertung des Irrationalen geltend
gemacht werden. Das Schöpfertum des Men-
schen ist kein privilegium religiosum, son-
dern wirkt sich auf beiden Bereichen aus,
im profanen wie im sakralen. Das angeführte
Beispiel des Beiles ist eben doch ein Ergeb-
nis von Zweckhaftigkeit und schöpferischem
Einfall und funktional (anwendungsmäßig)
und nicht intentional (ausdrucksmäßig) ent-
standen. Das Beil bedarf primär keiner kul-
tischen Begründung.
Die Schwierigkeiten der räumlich gebun-
denen Monogenese, denen sich, wie schon
bemerkt, sowohl die Frankfurter wie die
Wiener Schule gegenübersehen, beruhen zu
einem guten Teil in der eindimensionalen
Betrachtung, die den universalen Eigen-
schaften des Mensch-Seins nicht gerecht wer-
den kann, weil eine solche Sicht den Men-
schen im ganzen unterschätzt. Neben die
räumliche Genese hat gleichberechtigt
die zeitliche zu treten, die sich in dem
biblischen Ausdruck von der „Fülle der Zeit“
ebenso spiegelt wie in der „Achsenzeit“ von
Jaspers und in der Terminologie Toynbees.
Auf diese Weise wird aus der Kulturmor-
phologie keine deutsche „Weltanschauung“,
sondern eine heuristische Forschungsme-
thode.
Im Ganzen stellt dieses Buch, dies dürfte
aus der Besprechung wohl hervorgegangen
sein, einen wichtigen und repräsentativen
Beitrag zur Kulturtheorie überhaupt dar.
Für die neue Belebung einer alten Diskus-
sion sind wir Jemen dankbar. Vor allem
sind wir auf den weiteren Ausbau seiner
Schichten (Integrationsstufen) und deren
Untergliederung sehr gespannt. Inwieweit
es ihm dann noch möglich sein wird, den
Paideuma-Begriff faktisch beizubehalten,
ist allerdings eine offene Frage. Glück
KARL SALLER:
Grundlagen der Anthropologie. CES-Bü-
cherei Band 17. Curt E. Schwab Verlag,
Stuttgart 1949.
Buchhesprechunge n
231
KARL SALLER:
Art- und Rassenlehre des Menschen. Ces-
Bücherei Bd. 33. Curt E. Schwab Verlag,
Stuttgart 1949.
Die durch das verflossene politische Sy-
stem einigermaßen in Mißkredit geratene
Anthropologie hätte keinen berufeneren
Sprecher als Karl Salier finden können für
diese allgemein-verständliche Darstellung.
Von der allgemeinen Begriffsbestimmung
aus führt der Verf. den Leser über die ge-
netischen zu den statistischen Grundlagen,
der Typenlehre, um dann den ersten Band
in der Darstellung der wichtigsten Merk-
male wie Integument, Körperbau usw. ein-
schließlich der krankhaften Erscheinungen
an Leib und Leben ausmünden zu lassen.
Die termini technici werden sehr gewis-
senhaft umschrieben, so daß der Stoff-
fremde eine gute Einführung erhält.
Die Dynamik des Mensch-Seins, die in
einem gewissen Widerspruch zur landläufi-
gen statischen Auffassung des Rassebegrif-
fes steht, findet in den biologischen Begrif-
fen der „Prämutation“, der „Mutation“ und
der „Mixovariation“ ihre — wenn man so
will — heraklitische Erklärung. Gleichzei-
tig wird damit und mit Hilfe des Begrif-
fes der „Dauermodifikation“ das uralte Pro-
blem der Vererbung erworbener Eigenschaf-
ten geschickt umgangen.
Zum einzelnen wäre zu bemerken, daß
sich die geschlechtsgebundene Anfälligkeit
der Maskulinen nicht nur in der größeren
Zahl der Aborte zeigt, sondern m. W. bis in
die Zeit der Geschlechtsreife wirksam bleibt
— ein Faktum, das luxurierende Züge trägt.
Die Stellung des Menschen zwischen
Zwang und Freiheit, die durch den Keim-
bestand einerseits und durch die Breite der
möglichen Reaktionen andererseits bestimmt
ist, wird scharf herausgearbeitet.
Was wir für die Kulturabläufe feststellen,
gilt auch für die Rassenbildung entspre-
chend: „ohne Vermischung gibt es über-
haupt kein Leben“. Damit wird dem Ras-
senfetischismus jede Handhabe genommen.
In dem zweiten Band werden Art, Rasse,
Konstitution und Individuum abgehandelt.
Die Art versteht sich als universale Fort-
pflanzungsgemeinschaft, während die Rasse
nicht als „Zustand, sondern als Entwick-
lungsvorgang“ zu begreifen ist.
Die biologischen Regeln, wie das „Ge-
setz des Unspezialisierten“ von
Cope, die „F oetalisationstheo-
r i e “ von Hilzheimer und Bolk, dann das
„Irreversibilitätsgesetz“ von
Dollos und schließlich das Gesetz der
„progressiven Reduktion der
Variabilität“ von Rosa sind Erkennt-
nisse, die auch im soziologischen Bereich ihre
Analogien haben.
Der Verf. bekennt sich nachdrücklich zur
Monogenese, obwohl die weite geographi-
sche Streuung der frühen anthropologisch-
bedeutsamen Funde die Vermutung nahe-
legt, daß die einheitliche Herkunft des Men-
schen auf ein Stadium vor seiner Heraus-
bildung zu verlegen ist, so daß die Mono-
genese eher in der Gleichzeitigkeit
als in der räumlichen Identität zu liegen
scheint. Diese Meinung würde sich mit der
orthogenetischen These Eimers gut
vertragen.
Die grundsätzliche Beschränkung auf vier
Hauptrassenkreise, die Pygmoiden, die Ne-
groiden, die Mongoliden und die Europi-
den — ist wohltuend.
Sowie der Verf. jedoch in die spezielle
Rassengliederung eintritt, erlebt er das
Schicksal aller modernen Anthropologie, die
sich dann gezwungen sieht, so starke Anlei-
hen aus den benachbarten Disziplinen der
Ethnologie und der Prähistorie zu machen,
daß man sich fragt, wo hier das eigentliche
anthropologische Ergebnis liegen soll. So
bleibt das Problem der Entstehung der Ne-
groiden praktisch völlig ungeklärt. Es wird
wenige Fachgenossen geben, die damit ein-
verstanden sind, wenn die Pygmäen vom
Verf. als Ausgangspunkt der Neger betrach-
tet werden. Vielmehr scheint es nach den
Ausführungen Schebestas wahrscheinlicher,
die von Eickstedt als Palänegride auf-
gefaßte Gruppe als Mischungsprodukt von
echten Negriden und den Pygmäen anzu-
sehen. Auch die Hamitenfrage ist immer
noch nicht so abgeklärt, daß es möglidi ist,
die Basken mit den Guanchen in einen Topf
zu werfen.
Grundsätzlich möchten wir aber opponie-
ren, wenn Kultur und Religion in einen en-
geren Zusammenhang mit der Rasse, d. h.
praktisch in ein gewisses Abhängigkeitsver-
hältnis voneinander gebracht werden, wäh-
232
Buchbesprechungen
rend dies doch immer nur ein Sekundär-
effekt sein kann. Die Versuchung einer tota-
len Anthropologie ist im Prinzip zu gefähr-
lich, als daß sie hier anerkannt werden
dürfte — im übrigen gehen die hierfür not-
wendigen Voraussetzungen über das Schaf-
fensmaß eines normalen Menschen heute
hinaus. Wenn dies, wie im vorliegenden
Buch, dazu führt, daß im wesentlichen ein-
fach P. W. Schmidt zitiert wird, so kann von
einer wechselseitigen Erhellung der beiden
sich nahestehenden Fächer der Ethnologie
wie der Anthropologie keine Rede mehr
sein. Diese Daten liest man dann gleich bes-
ser in der zitierten Lit. nach.
An den Auslassungen über die anthropo-
logische Seite des Judentums werden diese
Mängel besonders offenbar. Gerade die al-
lerjüngsten Entwicklungen im nahen Ori-
ent beweisen uns, daß das Judentum kein
rassisches, sondern ein sozialgeschichtliches
Problem darstellt. Wer Gelegenheit hat, etwa
die deutschsprachige Zeitung „Jedioth Cha-
daschoth“ aus Tel Aviv zu lesen, oder wer
z. B. einen begeisterten Jisraeli hört, der
„seine“ Soldaten noch über die „Preußen“
stellt, wird plötzlich Eigenschaften finden,
die gewisse Leute als spezifisch deutsches
Reservat betrachtet haben. Wenn nicht das
vor 1945 übliche sacrificium intellectus dem
heute noch im Wege stünde, würde sich
zweifellos mancher „alte Kämpfer“ im neuen
Israel sicher sehr wohl fühlen, unbeschadet
des von beiden Seiten jetzt erfolgenden Pro-
testes. Dieses immer noch sehr aktuelle Bei-
spiel wurde nur ausgewählt, um die Hoff-
nungslosigkeit der speziellen rassischen Er-
örterungen darzutun.
Im übrigen hat der Verf. selbst mehrfach
auf rezente Veränderungen des somatischen
Bildes hingewiesen, vor allem auf die mo-
derne „Verrundung“ des Kopfes usw. Inso-
fern erscheinen die Untersuchungen MOr-
gans an der drosophila weit „anthropologi-
scher“ als diese speziellen Gliederungsver-
suche.
So zeigt sich in diesen beiden Bändchen
die ganze Problematik einer Wissenschaft,
die mitten im Leib-Seele-Komplex steht. Die
kompendiöse Fülle auf schmalem Raum
macht diese Arbeit zu einem idealen Nach-
schlagewerk. Glück
HANS KAYSER:
Akroasis. Die Lehre von der Harmonik
der Welt. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart,
1947.
Diese Zusammenfassung langjähriger
Vorarbeiten gilt der Überwindung des
heute besonders stark empfundenen Gegen-
satzes zwischen der quantitativen und der
qualitativen Betrachtungsweise — auf einer
höheren Ebene. Ausgangspunkt des Verf.
ist die nicht-anschauliche Musik, in der sich
für ihn die menschliche und außermensch-
liche Welt harmonisch begegnen. Kayser
kann sich auf eine alte Tradition berufen,
da schon in der Antike, im besonderen seit
Pythagoras die wechselseitigen Beziehungen
zwischen der Musik und der heute oft als
antipodisch empfundenen Mathematik be-
kannt und gepflegt worden waren. Klas-
sisches Experimentiermittel war der Mono-
chord oder Kanon, an ihm war es möglich,
durch Messung der veränderten Saitenlän-
gen die Zuordnung rational erlangter Men-
gengrößen zu bestimmten Ton werten vor-
zunehmen. Diese „audition visuelle“ ist
somit mehr als eine psychologisierende
Synästhetik, sie steht dem Autor für die
Realität des harmonikalen Ausgleichs.
Letzten Endes laufen diese Bestrebungen
auf die Fixierung immanenter Gestaltquali-
täten hinaus, die akustisch-sinnlich und
optisdi-rational zugleich begriffen werden
sollen. Der engere Bezug auf unser Fach er-
wächst aus dem Begriff des Stiles, der uns
auch unausgesprochen immer gegenwärtig
ist. Die spärlich gesäten Musikethnologen
werden sich mit der „Allgemeingültigkeit
der Tonempfindung der Hauptintervalle“
auseinanderzusetzen haben.
Wenn im Sinne des Autors eine den gan-
zen Kosmos umgreifende Struktur existiert,
dann hat jeder bildende und künstlerisch
tätige Mensch ein unbewußtes Vermögen,
das sich in der Proportionierung der ge-
stalteten Phänomomene ausdrüdken muß.
Inwieweit sich hier die oft phantastischen
und disproportionierten (im landläufigen
Sinn) Schöpfungen der naturvölkischen
Kunst einordnen lassen, ist dem Rez. noch
nicht klar. Sicherlich kann aber Wesen und
Entstehung des Ornamentes von dieser Basis
aus eine Erhellung erfahren.
Buchbesprechungen
233
Angesichts der Tatsache, daß unser Raum-
und Zeitgefühl in unserem Ohr wurzeln,
erscheint es nicht unberechtigt, wenn der
Verf. an Stelle von Weltanschauung (Aisthe-
sis) von Weltanhörung (Akroasis) spricht.
Im ganzen ein außerordentlich anregendes
Buch, an dem niemand vorübergehen sollte,
wer sich an den allgemeinen Grundfragen
unseres Faches beteiligt. Glück
JEAN GEBSER:
Ursprung und Gegenwart. Erster Band:
Die Fundamente der aperspektivischen
Welt. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart
1949. 541 Seiten.
Die zwielichteme Lage des Menschen in
unserer Zeit bildet immer wieder den Hin-
tergrund von Bemühungen um das rechte
Bild vom Menschen und um seine Einord-
nung in ein überschaubares Gefüge. Es ist
nicht zuletzt unserer Wissenschaft zu ver-
danken, daß der so gemeinte Mensch der
„ganze“ Mensch ist — also auch den soge-
nannten Primitiven mitumschließt.
Eine solche umfassende Betrachtung kann
sich nicht mit dem kausal-mechanischen,
ahistorischen und kontinuierlichen Ablauf
des Lebens begnügen — sie erfordert auch
eine Erklärung der spontanen Ereignisse.
Hierin liegt der Unterschied Jean Gebsers
gegenüber Bemühungen Oswald Spenglers.
Letztlich steht er jedoch der Kulturmorpho-
logie ebenso nahe wie A. J. Toynbee, von
diesem wieder geschieden durch die starke
Heranziehung linguistischen und psycholo-
gischen Materiales. Dies nähert ihn dafür
Bachofen, C. G. Jung und vor allem Hans
Kayser mit seiner harmonikalen Forschung.
Geschichte wird vom Verf. als ein Akt
der Bewußtwerdung aufgefaßt, der am Bei-
spiel der Neu-Entdeckung der Perspektive
eindringlich dargestellt wird. Wie in einem
Mutationsvorgang tritt hier ein völlig Neues
in das Bewußtsein des Menschen — für
Gebser ein Beweis, daß es in der mensch-
lichen Entfaltung Sprünge gibt, doch möch-
ten wir selbst dies eher dem plötzlichen
Überlaufen einer langdauemden, allmähli-
chen Erfahrensspeicherung vergleichen. Die-
ses Bild enthält zugleich auch unsere Kritik
an der Auffassung Gebsers, da es zeigen
kann, daß das, was dem Verf. als Mutation
erscheint, bloß durch die uns eigene Optik
bedingt ist, der manches unbemerkt bleiben
muß, obwohl es in und mit uns existiert.
So ist auch die Entdeckung der Perspektive
unvorstellbar ohne die Unzahl vorausgehen-
der Ereignisse und Impulse, die die Men-
schen jener Zeit reif machten für den ent-
scheidenden Schritt. Alles dies wird in der
Sprache der Bibel so treffend mit der „Fülle
der Zeit“ ausgedrückt.
Gebser stellt insgesamt fünf solcher „Mu-
tationen“ auf, die archaische, die magische,
die mythische, die mentale und die integrale
Bewußtseinsebene. Die ethnologischen Be-
züge treten naturgemäß im Bereich des Ma-
gischen und Mythischen auf — nicht im
Archaischen, das ungeschieden das Künftige
noch in sich birgt. In diesem Zusammen-
hang findet man gute Bemerkungen über
Gebet und Opfer, über Partizipation, über
Mana und das Numinose.
Es ist einleuchtend, daß sich diese Be-
wußtseinslagen vor allem im Verhältnis zu
Raum und Zeit spiegeln müssen, das sich
mit der zunehmenden Bewußtseinsweitung
verändern muß. Die Tendenz unserer eige-
nen Zeit faßt der Verf. mit der Prägung
des „Aperspektivischen“, worunter er die
Überwindung des Räumlichen und die Kon-
kretisierung der Zeit versteht. In der Wis-
senschaft entspricht diesem die Relativitäts-
theorie, noch besser aber in der Kunst die
Darstellungen Picassos.
Zwischen den einzelnen Bewußtseinsebe-
nen besteht eine echte Beziehung, da jede
eine Wiederholung von Bekanntem auf hö-
herer Basis darstellt.
Gebsers Arbeit ist zweifellos für die All-
gemeine Ethnologie sehr anregend, wenn er
sich auch im wesentlichen auf klassischen
Stoff beruft und dadurch von vomeherein
zum Naturvölkischen kein rechtes Verhält-
nis hat.
Begrifflich scheint der Ausdruck „inte-
grale Ebene“ überspitzt, da er etwas End-
gültiges formuliert. Solange aber Menschen
leben, ziehen wir es vor, die letzte Möglich-
keit nicht vorwegzunehmen. Glück
PIERRE LECOMTE DU NOUY:
Die Bestimmung des Menschen. 296 S.
Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stutt-
gart 1948. Übers, von Dr. Helmut Linde-
mann.
Der durch seine medizinischen und bio-
logischen Entdeckungen bekannt gewor-
dene, 1947 verstorbene französische Autor
bemüht sich in diesem Werk um die Verbin-
234
Buchbesprechungen
düng zwischen der wissenschaftlichen Ratio-
nalität und dem Irrationalen. Er betritt da-
mit von der Biologie her eine Bahn, auf der
ihm die Physik vorausgegangen ist, die durch
die verblüffenden Ergebnisse der Kemhül-
lenforschung zur Überschreitung der Gren-
zen der klassischen Mechanik gezwungen
wurde. Die hierbei auftretenden Kategorien
der Diskontinuität und der Wahrscheinlich-
keit führten einzelne Physiker zur philoso-
phischen Ausdeutung — zur Metaphysik.
Nouy, dem als Biologe das Entfaltungs-
prinzip unverlierbarer Bestandteil seines
Denkens ist, kann die Entwicklung nur als
globale Erscheinung betrachten, d. h. es ist
für ihn nicht notwendig, daß alle Lebewe-
sen gleichzeitig die höchstmögliche Stufe er-
reichen, es genügt ihm, daß sich dieses Ent-
wicklungsoptimum bereits in einigen weni-
gen Individuen manifestiert.
Anpassung und Auslese können nach dem
Verf. nicht mit der Entfaltung identifiziert
werden, beide Begriffe sind lediglich be-
schränkt wirkende Werkzeuge der Entfal-
tung. Dies wird dadurch bestätigt, daß die
beiden Mechanismen nicht nur die Arterhal-
tung fördern, sondern auch durch zu große
Spezialisierung diese hindern können. Hier
ist zweifellos der Begriff des „Isolats“, der
neuerdings von der Ethnologie so erfolg-
reich auf die Pygmäenfrage angewendet
wird (Gusinde), einzureihen.
Nach Nouy ist das Kriterium der Entfal-
tung die Freiheit, die Entwicklung selbst
vollzieht sich durch Auswahl unter den mu-
tierenden Individuen.
Im Gegensatz zu den übrigen Lebewesen,
befindet sich der Mensch nicht im biologi-
schen Gleichgewicht, sondern in „schöpferi-
scher Instabilität“, eine Auffassung, die auch
den Ethnologen durch die Dynamik des Kul-
turwandels geläufig ist.
Die Tradition wird als ein ganz wesent-
liches Entfaltungselement betrachtet, da
durch sie dem menschlichen Entwicklungs-
prozeß ein beschleunigender Impuls verlie-
hen wird — m. a. W. die Selbstdomestika-
tion kürzt den Weg ab. Dies stimmt mit
den Beobachtungen der Frühgeschichte und
unseres eigenen Fadies überein, je näher die
führenden Kulturen an unsere eigene Zeit
herankommen, desto kurzwelliger ist ihr Ab-
lauf. Dieser Bedeutung der Tradition würde
im biologischen Sektor die Vererbung er-
worbener Eigenschaften entsprechen, die je-
doch u. W. immer noch strittig ist — wäh-
rend sie N. unter Berufung auf Kolchizin-
Experimente als Tatsache annehmen zu kön-
nen glaubt.
Die Unterbrechung der Kontinuität zwi-
schen der anorganischen und organischen
Natur erscheint Nouy ohne die Annahme
einer planenden Absicht unerklärlich, er for-
dert daher einen Telefinalismus, einen nicht
mehr im Irdischen wurzelnden Willen, der
für ihn in keinem Widerspruch zur persön-
lichen Entscheidungsfreiheit steht. Diese
scheint N. schon durch die Reversibilität der
Kultur bewiesen.
Wenn dieses Buch auch keinen unmittel-
baren Bezug auf unser Fach hat, so ist es
doch als ein wesentlicher Beitrag zur Dis-
kussion unserer philosophischen Grundlage
zu werten und insofern außerordentlich an-
regend.
Die Übersetzung durch Lindemann ist
ausgezeichnet. Glück
F. FALKENBURGER:
Grundriß der Anthropologie, deutsche
Ausgabe des Buches: Les Races Humai-
nes von P. Lester und J. Millot. 2. Aufl.
Verl.: Moritz Schauenburg in Lahr, 1949.
Das Buch ist in eine morphologische und
in eine physiologische Anthropologie ge-
trennt und behandelt, wie der französische
Titel besser sagt, die menschlichen Rassen
in ihren äußeren und inneren Unterschieden.
Nach einer Beschreibung äußerlicher Zei-
chen wie Haare, Gesicht, primäre und se-
kundäre Geschlechtsmerkmale und Haut, bei
der besonders auf die ständig wachsende
ethnographische Bedeutung des angebore-
nen Pigmentflecks (Mongolenflecks) hinge-
wiesen wird, werden die Maße an Kopf,
Skelett und Weichteilen verglichen. Die Ver-
fasser besprechen dann den Einfluß von Um-
welt und von Kreuzungen, wobei Charak-
tere, die nicht an die Umwelt anpassungs-
fähig sind und wandelbare, zu denen auch
die Schädelmaße gehören, getrennt werden.
Eine Beschreibung der wichtigsten Rasse-
kreuzungen der Erde in ihren Unterschie-
den zu den Ausgangsrassen zeigt jeweils das
Entstehen neuer Typen, die noch nicht fi-
xiert sind und eine Mittelstellung zwischen
den Rassen einnehmen, die sie geformt ha-
ben. Nach einer klaren Abhandlung der
ß u chbesprech ungen
235
augenblicklichen Kenntnisse von der Ent-
wicklung des Menschen in der Vorzeit an
Hand der Schädel- und Skelettfunde wer-
den die wichtigsten Rassen der Erde, die
Pygmäen, die schwarze, die gelbe und die
weiße Gruppe sehr eingehend morpholo-
gisch beschrieben und ihre Unterschiede zu-
einander genau dargelegt. Bei den Pygmäen
sind Buschmänner, afrikanische Pygmäen
und Negrito oder asiatische Pygmäen zu un-
terscheiden. Die schwarze Gruppe umfaßt
die Tasmanier, die Melanesier, die auch bei
der Bevölkerung des amerikanischen Konti-
nents eine große Rolle gespielt haben sol-
len, die eigentlichen afrikanischen Neger in
ihren verschiedenen Variationen, die Schwar-
zen Asiens, die vor allem in Südindien le-
ben, die Australier und die Äthiopier als
weit zurückliegende Kreuzung mit weißen
Elementen. Die gelbe Gruppe besteht aus
der indianischen Rasse, den Eskimo, den
Paläosibiriem, der mongolischen Rasse und
der turanischen Rasse als Kreuzung von
Mongolen und Alpinen bei Kirgisen, Tar-
taren und Türken. Schließlich werden bei
der weißen Rasse die Lappen, die Ainu in
Nordjapan, die nordische, die alpine und die
Mittelmeerrasse, die Indonesier und die
Polynesier im Stillen Ozean unterschieden.
Von jeder Rasse werden die Hauptkennzei-
chen auf geführt. Der zweite Teil, die phy-
siologische Anthropologie, behandelt zuerst
die rassischen und klimatischen Einflüsse auf
Wachstum und Größe bei Männern und
Frauen und auf Pubertät und Menopause.
Eingehend werden die Agglutininreaktio-
nen des Blutes und die Blutgruppen in ih-
rer Verteilung auf der Erde besprochen.
Rassenunterschiede in der chemischen Blut-
zusammensetzung, im Grundumsatz, in der
Haut- und Wärmeregulierung, der Vital-
kapazität, der Muskeldynamik und im Zu-
sammenspiel der endokrinen Drüsen wer-
den, auch für den Laien leicht verständlich,
dargestellt, und schließlich wird auf die Um-
weltveränderungen und auf Rassekreuzun-
gen eingegangen. Den Arzt interessiert vor
allem die vergleichende Pathologie mit Be-
sprechung der verschiedenen Krankheits-
häufigkeit, -schwere und -verlaufsform bei
den Menschenrassen. Die Untersuchungen
in Amerika, wo verschiedene Rassen unter
ähnlichen Bedingungen nebeneinander le-
ben, sind dabei besonders aufschlußreich.
Sie zeigen, daß beim Neger durch bessere
Wärmeregulierung die im schwarzen Orga-
nismus erhöht erzeugte Wärme schneller eli-
miniert wird als beim Weißen, daß die
Fruchtbarkeit der Neger und auch bei Misch-
lingen aller Rassen größer ist, daß pigmen-
tiertem Menschen der Rachitis besonders
ausgesetzt sind, daß die Empfänglichkeit ge-
genüber dem Tuberkelbazillus dem Pro-
zentsatz an Negerblut direkt proportional
ist und daß die Krebshäufigkeit und -Ver-
teilung bei den verschiedenen Rassen sehr
unterschiedlich ist. Nach einer Erörterung
der Theorien über die Besiedlung Ameri-
kas, wobei neben einer mongolischen Ein-
wanderung über die Beringstraße die Gründe
einer frühzeitigen Bevölkerung von Océa-
nien her auf dem Wege über den Pazifik dar-
gestellt werden, wird auf die erbbiologi-
schen, innersekretorischen, emährungsmäßi-
gen und kulturellen Einflüsse kritisch ein-
gegangen. Alle Untersuchungen laufen dar-
auf hinaus, zu zeigen, daß die Rassen in ih-
rer fortwährenden Umbildung Kinder der
Vererbung und der Umwelt sind. „Eine
Rasse ist ohne feste Grenzen, sie ist unbe-
grenzbar und eine jede geht durch kaum
merkbare Übergänge in ihre Nachbargruppe
über“. Die Geschichte lehrt dabei, daß die
sogenannten reinen Rassen, sofern überhaupt
davon gesprochen werden kann, nichts Bedeu-
tungsvolles hinterlassen, im Gegenteil, alle
großen menschlichen Schöpfungen Völkern
gemischter Rassen zu verdanken sind. Ein
Mischling ist nie schlechter als seine beiden
Eltern, er steht zwischen ihnen, und oft ist so-
gar die Kreuzung verschiedener Rassen gün-
stig, wobei die Mischlinge von größerer Stärke
und Lebenskraft als die Eltern sind. Der kleine
Grundriß gibt zusammenfassend einen gu-
ten Überblick über die hauptsächlichsten
Rassenunterschiede der Bevölkerung unse-
rer Erde. Er ist auch für den Laien ver-
ständlich geschrieben, wird sicher vom Stu-
dierenden gern zur Hand genommen wer-
den, kann aber auch dem Emgeweihten noch
manches Interessante bieten. H.-W. W.
Festgabe zum 70. Geburtstag von Prof. Dr.
Otto Schlaginhaufen, 1949, Archiv der Ju-
lius-Klaus-Stiftung Zürich, Bd. 24, 616 S.,
Verlag Orell Füssli, A.-G., Zürih.
Der Ordinarius für Anthropologie an der
Universität Zürich, zugleich der wissenschaft-
liche Direktor der Julius-Klaus-Stiftung
für V ererbungsforschung, Sozialanthropologie
236
Buchbesprechungen
und Rassenhygiene in Zürich, Prof. Dr. Otto
Schlaginhaufen hat seinen 70. Geburtstag
gefeiert. Freunde und Schüler haben ihm zu
diesem Tag im Archiv der Julius-Klaus-Stif-
tung einen 616 Seiten starken Band wissen-
schaftlicher Arbeiten gewidmet, die nicht
nur Zeugnis für die umfassende Anregung
geben, die Schlaginhaufens Wirken in weite
Kreise der Biologie hinein geübt hat, son-
dern die zugleich auch einen imponierenden
Überblick vermitteln über die Grundlagen,
auf denen eine moderne anthropologische
Forschung und Kenntnis heute aufbaut.
Die Festschrift beginnt mit einem Ver-
zeichnis der Publikationen von Schlaginhau-
fen selbst (129 Nummern) und gibt dann
ein Verzeichnis der Dissertationen, die un-
ter Leitung von Schlaginhaufen gemacht
worden sind (29 Nummern) und weiter ein
Verzeichnis anderer Arbeiten, die ebenfalls
unter der Leitung von Schlaginhaufen
durchgeführt wurden (30 Titel). Dann fol-
gen die Originalarbeiten der Festschrift, un-
terteilt in sechs größere Kapitel, nämlich
1. Phyto- und Zoogenetik und Cytologie,
2. Embryologie, Histologie und vergleichen-
de Anatomie, 3. Somatische Anthropologie,
4. Humangenetik, 5. Sozialanthropologie
und Eugenik und 6. Prähistorie und Ethno-
graphie. Es ist unmöglich, das Gebotene in
seiner ganzen Fülle hier zu referieren. Nur
einige Arbeiten können herausgegriffen wer-
den.
Der Abschnitt über Phyto- und Zoogene-
tik und Cytologie befaßt sich mit Unter-
suchungen auf Nachbargebieten der Zoolo-
gie und Botanik. Besonders interessant ist
ein Aufsatz, den Hadorn über „Begriffe
und Termini zur Systematik der
Letalfaktoren“ in diesem Abschnitt
gibt. Dabei werden Letalfaktoren definiert
als „mendelnde Einheiten, die den Tod
eines Individuums vor Erreichen des fort-
pflanzungsfähigen Stadiums bewirken“.
Diese Faktoren zeigen eine verschiedene Pe-
netranz. Als Semiletalfaktoren werden jene
Mendelfaktoren bezeichnet, bei denen min-
destens 50°/o der belasteten Genotypen ab-
sterben. Für Mendelfaktoren mit einer noch
niedrigeren Penetranz der Letalwirkung
wird der Begriff „Subvitalfaktor“ vorge-
schlagen. Je nach der Wirkungsphase, in der
sie sich auswirken, sind embryonale, post-
embryonale und juvenile Letalfaktoren, des
weiteren zygotische und gametische Letal-
faktoren einander gegenüberzustellen. Es
gibt primäre Zell-Letalfaktoren und eine
sekundäre Zell-Letalität. In der Auseinan-
dersetzung mit dem inneren und äußeren
Milieu ist von unbedingten und bedingten,
unter letzteren von geschlechtsbegrenzten
und geschlechtsgekoppelten Letalfaktoren zu
sprechen. Nach der chromosomalen Lokali-
sation sind geschlechtsgekoppelte und auto-
somale Letalfaktoren voneinander zu unter-
scheiden. Es gibt dominante Mendelfakto-
ren mit rezessivem Letaleffekt und rezes-
sive Letalfaktoren ohne Dominanzeffekt.
Im Abschnitt über Embryologie, Histo-
logie und vergleichende Anatomie befaßt
sich Kälin auf Grund von Originalabgüssen
eingehend mit dem Paranthropus
robustus Broom. Die Untersuchung
der vorhandenen Kieferstücke und des Ge-
bisses ergibt fünf für den Homo sapiens
typophäne Merkmale (Typophän für eine
bestimmte systematische Kategorie sind sol-
che Merkmale, welche in ihrem morpholo-
gischen Typus Vorkommen, sie brauchen al-
so keineswegs im Vulgärsinn „typisch“ zu
sein, oder, wie diagnostische Merkmale, bei
den Vertretern der Kategorie allgemein auf-
zutreten), sieben typophäne Merkmale der
Anthropoiden und sechs sonderheitliche Spe-
zialisationsmerkmale. Abgesehen vom Auf-
bau in den Größenverhältnissen des Gehim-
und Gesichtsschädels treten die im morpho-
logischen Typus der Anthropoiden wieder-
kehrenden Merkmale bei Paranthropus ge-
genüber den typophänen Zügen der Homi-
niden in den Hintergrund, darüber hinaus
ist Paranthropus durch Spezialisationen aus-
gezeichnet, welche eine Einordnung in die
direkte Stammlinie der Hominiden auszu-
schließen scheinen. Die morphologische Ana-
lyse von Paranthropus robustus ist ein neues
Argument für die Annahme, daß die mate-
riale Wurzelgruppe der Hominiden vieler
Züge entbehrt, die den morphologischen Ty-
pus der Anthropoiden kennzeichnen. A. H.
Schultz befaßt sich in einem kurzen, aber
gehaltvollen Aufsatz mit den ontogene-
tischen Spezialisationen des
Menschen; der Aufsatz faßt eine Reihe
früherer Untersuchungen von Schultz an
menschlichen und Primaten-Feten zusam-
men. Die menschliche Entwicklung folgt in
großen Zügen der Primatenentwicklung,
geht aber in einigen Punkten ihre eigenen
Wege. Dabei können viele Spezialisationen
Buchbesprechungen
237
des Menschen im Vergleich mit anderen
Primaten als erhalten gebliebene fetale oder
kindliche Charaktere bezeichnet werden.
Doch gibt es auch zahlreiche menschliche
Spezialitäten, die als Extreme in der onto-
genetischen Entwicklung aufgefaßt werden
müssen im Gegensatz zu Retardierungen
oder Bedeutungslosigkeiten bei den nicht-
menschlichen Primaten.
Zur systematischen Anthropologie stellt
Büchi durch die Untersuchung einer Bevöl-
kerungsgruppe nach der Individualmethode
fest, daß alle Handmaße während
des post juvenilen Lebens deut-
lich weilerwachsen bis zur Seneszenzstufe,
wo eine leichte Verminderung eintritt. Die
Männerhand verlängert sich stärker, ver-
breitert sich aber absolut wie relativ zur
Länge weniger als die Frauenhand. In den
letzten Dezennien hat sich die Handlänge,
vermutlich als korrelative Folge zur säkula-
ren Körperhöhensteigerung, beachtlich ver-
größert. Czekanowski hebt die Bedeutung
der Zürcher Schule für die moderne pol-
nische Anthropologie hervor.
Dankmeijer findet in einer Untersuchung
„über die Bedeutung der Haut-
leistenmuster beim Menschen“
durch einen Vergleich von Hand und Fuß
bei Mensch und Tier und niederen Prima-
ten, daß wirbelartige Muster bei vielen Tie-
ren angetroffen werden, und zwar bei Beu-
teltieren und niederen Primaten, aber nur
auf der Palma und der Planta. Die mensch-
liche Hand ist ausgezeichnet durch das Auf-
treten komplizierter Muster auf den Finger-
beeren und eine Vereinfachung des Lei-
stensystems auf der Palma. Für den mensch-
lichen Fuß ist das häufige Vorkommen einer
Wirbelfigur im medialen metatarso-phalan-
gealen Gebiet merkwürdig, die als Über-
rest eines primitiven Greiffußes zu betrach-
ten ist. Graf hebt nach „anthropolo-
gischen Beobachtungen an zwei
Akromegalen“ für die Hand eine
Trias von Merkmalen hervor, nämlich 1. den
kurzen, breiten Handrücken, 2. den Mangel
an distaler Verjüngung und 3. die Tendenz
zur Isodaktylie. Die Kombination dieser
Merkmale könnte möglicherweise einer kon-
stitutionellen Unterwertigkeit entsprechen.
Zu dem Rechts-Links-Problem
hebt Hautmann hervor, daß die Speziali-
sierung der Händigkeit, resp. die Manifestie-
rung der Rechtshändigkeit seit den frühen
Abschnitten des Paläolithikums zugenom-
men hat und daß sie bei Naturvölkern nicht
so weit vorgeschritten ist wie bei Kultur-
völkern. Die zunehmende Rechtshändig-
keit des Menschen kann mit der progressi-
ven Entwicklung der Sprachzentren in der
linken Stimhimrinde in engsten Zusammen-
hang gebracht werden. Lasinski befaßt sich
mit einigen Fällen seltener Hautlei-
stensysteme auf der Planta der
Polen. Morant macht kurze Angaben zu
anthropometrischen Forschungen, Pittard
solche über sekundäre Geschlechtsmerkmale,
Schreiner beschreibt ein neues Instrument
zur Messung der Ohrhöhe des Kopfes bei
Lebenden und Tildesley setzt sich mit den
verschiedenen Techniken zur Messung der
Länge und Breite des Ohres auseinander.
Zur Humangenetik bezeichnet Bleuler die
Erscheinung, wonach sich eine konstitutio-
nelle Eigenart in den Familien der Proban-
den bald als Ganzes wiederfindet, bald in
Einzelmerkmale aufsplittert, als bedingte
Einheitlichkeit im Erbgang.
Der Begriff soll bestimmte Schwierigkeiten
in der Konstitutionsforschung am Menschen
überwinden. Für seine Grundlage ist an
Genkoppelungen und an die Möglichkeit
der Polyphaenie zu denken. Franceschetti,
Klein und Hekimian berichten über die Ver-
erbung bestimmter A n g i o m e. Hanhart
beschreibt zwei große Sippentafeln mit un-
komplizierter, regelmäßig-dominanter Mi-
kro t i e , dazu eine hochgradige Form mit
Verschluß oder Defekt von Hörgangs- und
Gaumenspalte bei unregelmäßig-dominan-
tem Erbgang, wobei Mikroformen (Ohrläpp-
chendefekt, Fistulae auris, Auricularanhänge)
als Äquivalente der Anlagen verkommen.
Es handelt sich um ein Gen mit sehr gerin-
ger Penetranz. Ein gleicher Erbmodus ist
wohl auch für die Dysostosis mandibulo-
facialis (Franceschetti) anzunehmen, bei
welcher zu dieser schweren, mit Atresia auris
komplizierten Mikrobe noch typische Miß-
bildungen an den Augenlidern und am Un-
terkiefer hinzu treten. Löffler und H anhart
weisen in einem Aufsatz „über die ver-
schiedenartige Bedeutung der
Familiarität bei inneren Krank-
heiten“ besonders darauf hin, wie es
nicht nur dringend notwendig sei, den Kli-
niker mit den erbbiologischen Begriffen be-
kannt zu machen, sondern auch den Gene-
tiker und Statistiker mit der bunten Phäno-
238
Buchbesprechungen
menologie und pathogenetischen Problema-
tik der klinischen Krankheitseinheiten. Da-
zu wurden einige neue Stammbäume mit
Diabetes mellitus, ferner mit essentieller
Hypertonie, Tuberkulose sowie mit Krebs
gezeigt. Luchsinger und Hanhart finden in
Untersuchungen über die rezessive
Taubheit bei drei eineiigen
Zwillingspaaren erhebliche Manife-
stationsschwankungen. Während der eine
Partner annäherd völlig taub gefunden
wurde, war der andere nur so weit schwer-
hörig, daß er Konversationssprache auf IV2
bis sogar 5 m hörte.
Im Abschnitt über Sozialanthropologie
und Eugenik berichtet Bichel über die Tot-
geburten in der Schweiz, Hegler
über den Gebißzustand der Tavet-
scher, Sauter und Kaufmann über sero-
anthropologische Korrelatio-
nen bei der weiblichen Bevölkerung von
Genf. Für die Beziehungen zwischen
Schwangerschaft und Krebs sa-
gen Schinz und Botsztejn, daß bei einem
Brustkarzinom nach den bisherigen Erfah-
rungen in jedem Fall eine Schwangerschafts-
unterbrechung ausgeführt werden soll, bei
anderen Tumorlokalisationen dann, wenn
kein besonderes Verlangen nach dem Kinde
vorhanden ist. Die Patientinnen sollten auf
das Risiko einer Schwangerschaft aufmerk-
sam gemacht werden. Endlich berichtet in
diesem Abschnitt Vallois über Blutgrup-
pe n v e r b r e i t u n g in Westfrank-
reich.
Im letzten Abschnitt über Prähistorie und
Ethnographie ermittelt Bay die Körper-
größe der Neolithiker aus dem
Steinkistengrab von Äsch im Kanton Basel-
land auf 150—160 cm und von Eickstedt
versucht den „derzeitigen Stand
der Urmenschenforschung“ di-
daktisch zu ordnen. Inhelder macht Angaben
bevölkerungsbiologischer Art für das s ü d -
chinesische Volk der Hakka, für
die besonders der späte Eintritt der Me-
narche auffällt (17.25 Jahre bei Frauen ge-
boren bis 1900, 17.04 bei Frauen geboren
nach 1900). Die Menopause tritt mit durch-
schnittlich 48.14 Jahren auf, Sterilität ist in-
folge von Gonorrhoe weit verbreitet, Kna-
bengeburten überwiegen leicht. Keller-Tar-
nuzzer sagt über „das beigabenlose
Grab“, daß es mit der peinlichsten Zu-
rückhaltung anthropologisch und archäolo-
gisch zu beurteilen sei. In Ausführungen
über die Anthropologie des Neo-
Eneolithikums in Portugal kommt
Mendes-Correa zum Schluß, daß die neo-
eneolithische Bevölkerung den Ursprung
für die heutigen Portugiesen darstelle. Aus
der Formbildung eines jungpaläoli-
thischen baskischen Schädels
aus dem Magdalénien aus der Gemeinde
Iziar, Kreis Deva, an der Ostgrenze von Gui-
púzcoa, kommt Hoyos Sainz zu dem Schluß
einer Kontinuität des baskischen Typus von
der Prähistorie bis in die heutige Zeit. Sergi
befaßt sich mit Einzelheiten in der Stel-
lung des Jochbeins bei den Funden
von Saccopastore, Monte Circeo, La Cha-
pelle und Rhodesia. Steinmann hebt die
tief verblüffende Meisterschaft hervor, mit
welcher Eingeborene vielfach den eigenen,
aber auch fremde Rassentypen nachzubilden
verstehen und mit welch treffender Sicher-
heit sie die charakteristischen Merkmale ih-
res eigenen Volkes instinktiv zu erfassen ver-
mögen. Schließlich kommt Tschumi in einem
Überblick über Ganz- und Teilbe-
stattungen in der U rzeit zum
Schluß, daß Kopfbestattungen meist der
Mittelsteinzeit angehören. Einige Kopfbe-
stattungen gehen vermutlich in ihrer Wur-
zel auf die Kopfjagd zurück, die auf die my-
stische Wertung des Kopfes als Sitz beson-
derer Kraft bei den niederen Ackerbau-
stämmen zurückzuführen ist. In Gräbern des
Oberwallis und des Berner Oberlandes fin-
den sich Totenbeigaben von durchbohrten
Schnecken der Mittelmeergattung Colum-
bella rustica zu Hunderten. Das ist offenbar
der Weg, den diese Totenbeigabe seit der
Mittelsteinzeit vom Mittelmeer bis in die
Alpenvorländer genommen hat. Ist die ge-
streckte, sitzende und liegende Hockerlage
Ausdruck der Ganzbestattung und tritt diese
erstmals in der Altsteinzeit auf, so scheint
die Teilbestattung in Mittel- und Südeuropa
in der Mittelsteinzeit vermehrt aufzukom-
men. Karl Salier
SPIETH, RUDOLF:
Der Mensch als Typus. CES-Bücherei,
Band 24, Curt E. Schwah-Verlag, Stutt-
gart 1949.
Das vorliegende Buch gibt eine bemer-
kenswert umfassende und sachliche Darstel-
Buchbesprechungen
239
lung der Typen-Psychologie. Ausgehend von
der „Gestaltqualität“, die das Ganze vor den
Teilen agnostiziert, will diese Psychologie
die menschlichen Grundfunktionen erken-
nen, das heißt, nicht weiter reduzierbare
seelische Begebenheiten suchen. Die Bemü-
hungen um dieses Ziel haben verständlicher-
weise zu fast ebensovielen Typologien ge-
führt wie es Psychologen gibt. Es seien hier
nur die Namen genannt von Krueger, G. E.
Müller, Wertheimer, Jaensch, Spranger,
Kretschmer u. C. G. Jung.
Bei den zahlreichen Beziehungen, die zwi-
schen unserem Fach und der Psychologie,
insbesondere der Typenpsychologie, bestehen,
können wir dem Autor für seinen eng ge-
faßten, informatorischen Überblick nur
dankbar sein. Glück
UNGERN-STERNBERG, RODERICH von
und
SCHUBNELL, HERMANN:
Grundriß der Bevölkerungswissenschaft
(Demographie). Stuttgart 1950. Piscator-
Verlag.
WAGEMANN, ERNST:
Menschenzahl und Völkerschicksal. Eine
Lehre von den optimalen Dimensionen
gesellschaftlicher Gebilde. Hamburg 1948.
W o lfgang-Krüger-V erlag.
Die Ethnologie beschäftigt sich in erster
Linie mit den qualitativen Begleitumstän-
den des Mensch-Seins, seiner Prägung und
Prägekraft. Hierbei läuft man Gefahr, sich
mit der bloßen Katalogisierung, mit dem So-
Sein zu begnügen.
Soweit nach den Ursachen der Verände-
rungen und Verschiedenheiten gefragt wur-
de, war man weithin bestrebt, sich auf die
Prüfung sekundärer Kulturzusammenhänge
zu beschränken. Diesem Verfahren ist es
nicht zuletzt zu verdanken, wenn aus der
Kultur ein Wert an sich gemacht worden ist,
hinter dem der Mensch in seiner allgemeinen
Bedingtheit gerne übersehen wurde.
Unter diesen Auspizien lag es nahe, etwas
so „Äußerliches“ wie die Quantität des Men-
schen als nebensächlich zu betrachten, da im
demographischen Bereich gedanklich jeder
Mensch durch einen anderen ersetzt werden
kann und keinerlei kulturelle schöpferische
Eigenschaften besitzt. Der folgenschwere
Irrtum dieser Auffassung lag u. E. darin,
daß man nur an die isolierten „Nummern“
dachte, was nur gruppiert, dimensioniert,
Wirklichkeit ist, der Mensch als kulturfähi-
ges Wesen im Rahmen eines Verbandes.
Neuerdings mehren sich die Anzeichen,
daß der Zahl des Menschen wachsendes In-
teresse entgegengebracht wird. Insbesondere
haben Gusinde und Schebesta als erfahrene
Feldforscher in ihren neueren Arbeiten im-
mer wieder versucht, solche Daten zu erlan-
gen. Von soziologischer Seite hat insbeson-
dere Alexander Rüstow (Heidelberg) auf die
hintergründige Bedeutung dieser scheinbar
bloß mechanischen Fakten hingewiesen.
Es wäre verkehrt, in diesen Anzeichen ein
Wiederaufleben des alten Positivismus von
Auguste Comte zu sehen — es ist anderes
und mehr — es geht hier um die Qualität
der einander zugeordneten Quantitäten, um
deren Morphologie.
Es ist ganz offensichtlich, daß Emst Wa-
gemann mit seinem Buch in Neuland vorge-
stoßen und ein großer Wurf gelungen ist.
Der Leser hat sich mit Begriffen wie der so-
ziometrischen Zahl, der perspektivistischen
Demodynamik, dem demodynamischen Al-
terationsgesetz, der Siedlungsspannung usw.
auseinanderzusetzen.
Auf diese Weise mußte W. in der zykli-
schen Betrachtung dieses Phänomens aus-
münden. Hierbei lag es nahe, auch die Er-
fahrungen der volkswirtschaftlichen Kon-
junkturforschung kritisch mit einzubeziehen.
Als geistige Vorläufer W.s erweisen sich so-
mit Pythagoras, Malthus und Spengler.
Unsere Kritik setzt an der Beschränkung
auf das nur hochkulturliche Material an.
Dieser Mangel ist auch der Grund, warum
dem Verf. die quantitative Fassung der Uni-
lateralität mißlungen ist. Gerade die demo-
dynamischen Schwankungen können bei re-
lativ kleineren Gruppen besonders spürbare
kulturelle Auswirkungen haben. Bei einer
Besiedelungsdichte von etwa 0,01 pro qkm
müssen sich Veränderungen des Sexualpro-
porzes katastrophal auswirken. Ein treffen-
des Beispiel für das gestörte Geschlechter-
verhältnis ist aus der neueren Entdeckungs-
geschichte die Insel Pitcaim. Auf dieser ha-
ben sich nach der berühmten Meuterei auf
der „Bounty“ Flüchtlinge mit polynesischen
Frauen niedergelassen, wobei es infolge des
gestörten Gleichgewichtes solange zu bluti-
gen Zwischenfällen kam, bis es mit Gewalt
wiederhergestellt war.
240
Buchbesprechungen
Darüber hinaus hat W. den allgemeinen
Dichtebegriff, der nur eine fiktive Größe ist,
durch den Begriff der physiologischen Dichte
überwunden und vor allen Dingen gegen-
über dem sonstigen Gebrauch dieses Be-
griffes in seiner Wirksamkeit wesentlich er-
höht.
Die Vorstellung von Über- bzw. Unterbe-
völkerung wird in ihrer relativen Bedingt-
heit klar erfaßt und gegenüber der normalen
Demographie durch die Emordnung in einen
Zyklus von etwa 300 Jahren Dauer hypothe-
tisch zugänglicher gemacht. Diese Phasen-
Dauer wird jedoch noch einer genaueren
Überprüfung bedürfen.
Naturgemäß mußten viele Fragen offen
bleiben, weil W. seine Deduktionen zu sehr
von den modernen vielzahligen Verhältnis-
sen abgeleitet hat, bei denen der Unbe-
stimmtheitsfaktor größer ist als bei kleineren
Einheiten.
Es ist zum Vergleich sehr interessant, auf
die offenbar unabhängig von Wagemann er-
zielten Ergebnisse von S. Chandrasekhar von
der Universität Annamalai in Indien hinzu-
weisen, der einen fünfphasigen Zyklus de-
mographischer Entwicklung unterscheidet.
Für solche Untersuchungen bietet der de-
mographische Grundriß der beiden Autoren
von Ungern-Sternberg und Schuhneil die
reale Ausgangsbasis, die sich aller Spekula-
tionen enthält und lediglich auf die meß-
baren Vorgänge bei den sozialen Massen-
erscheinungen, der „Bevölkerung“ be-
schränkt. Hier gilt notwendigerweise die Be-
völkerung als die farblose x-beliebige
Summe von Einwohnern eines abgegrenzten
Gebietes einer Flächeneinheit. Demgegen-
über wird „Volk“ als natürlich gewordenes
Gebilde mit Sprach-, Kultur- und Abstim-
mungsgemeinschaft verstanden.
Die Auffassung der Bevölkerung als
Summe ist eine notwendige Abstraktion, die
eben Wagemann zu überwinden versucht,
während der herkömmliche Volksbegriff sich
lediglich auf das „Gewordene“, das Statische
bezieht und völlig vergißt, daß „Volk“ sich
täglich neu bilden kann und neu bildet. Die
kulturelle, natürliche und die räumliche
Bevölkerungsbewegung sowie die Kapitel
vom „Einfluß des Krieges auf die Bevölke-
rung“ und „Bevölkerungslehre“ schließen
das umfangreiche Werk ab.
Für die Zukunft dürfte es gut sein, wenn
insbesondere bei der Feldforschung demo-
graphische Fakten in stärkerem Maße be-
rücksichtigt würden. Es kann gar kein Zwei-
fel darüber bestehen, daß diese Daten in
Kombination mit dem bisher bevorzugten
Beobachtungsmaterial uns neue Einsichten
über Wachstum und Wandel der Kultur ge-
statten werden. * Glück
HIMPEL, KURT:
Probleme der Entwicklung im Universum,
Stuttgart 1948. Curt E. Schwab-Verlag,
Ces-Bücherei, Band 2.
HUSS, W. und PFEIFFER, H. H.:
Zellkern und Vererbung, Stuttgart 1948.
Curt E. Schwab-V erlag, CES-Bücherei,
Band 6.
WENZL, ALOYS:
Materie und Leben, Stuttgart 1949. Curt
E.Schwab-Verlag, CES-Bücherei, Band 20.
Die drei Bändchen aus der CES-Bücherei
— einem sehr rühmenswerten Unternehmen,
dem es mit viel Kenntnis und Takt gelungen
ist, die verschiedensten Autoren unter einen
Hut zu bringen — stehen in einem faszinie-
renden Zusammenhang.
Alle drei demonstrieren das gemeinsame
Erlebnis der Zeitgenossenschaft, die Exi-
stenz einer Plattform, auf der sich alle wis-
senschaftlichen Fächer im Gespräch begeg-
nen — und sogar verständigen können.
Man hat oft behauptet, daß die Natur-
wissenschaft heute die Geisteswissenschaft
an die Wand drücke — in Wirklichkeit han-
delt es sich aber um ein Scheinproblem im
Sinne Plancks. Ich möchte damit sagen, daß
die moderne Naturwissenschaft immer stär-
ker in geisteswissenschaftliche Fragestellun-
gen hineingerät, so daß die Bereiche in-
einander übergehen.
Die ausgezeichnete Zusammenfassung aus
der Feder des bekannten Münchener Philo-
sophen Aloys Wenzl über „Materie und Le-
ben“ macht diese moderne Entwicklung der
Wissenschaften sehr deutlich. Der Verfasser
vermag zu zeigen, wie letztlich die große
These der Makrophysik, die Relativitäts-
theorie ebenso wie die der Mikrophysik mit
dem Quantenbegriff — der Doppelnatur des
Lichts als Welle und Korpuskel — und
schließlich die heutige Genetik nur genauere
Methoden des Ordnungswillens des Men-
Buchbesprechungen
241
sehen und seiner letztlich irrationalen Be-
dürfnisse darstellen.
Insofern sind die spezielleren Darlegun-
gen von Huss und Pfeiffer über „Zellkern
und Vererbung“ und von Himpel über „Pro-
bleme der Entwicklung im Universum“ als
speziellere Ergänzung einzubeziehen.
Seitdem die Entdeckung Mendels von
Correns, Tschermak und de Vries wieder
neu gefunden wurde und seit durch den
Amerikaner Morgan mit seinen glänzenden
Experimenten an der drosophila melanoga-
ster neue Erkenntnisse über die mikrobiolo-
gischen Vorgänge gewonnen worden sind,
ist das Geheimnis des Lebens zwar nicht auf-
gedeckt, aber doch bis zu der „merkwürdi-
gen Übereinstimmung“ der Gene mit dem
Virus geführt worden. Der Mutationsbegriff,
zu dem es ja auch auf dem kulturellen Gebiet
eine ganze Anzahl von Parallelen gibt, wird
von den beiden Autoren Huss und Pfeiffer
in seiner schillernden Vielfalt eingehend
dargestellt.
Die wissenschaftliche Kosmogonie Him-
pels gibt ein sehr verfeinertes Bild von dem
Werden des ganzen Kosmos unter besonde-
rer Berücksichtigung der Erde.
Die Tatsache, daß die geologischen Pro-
zesse heute rascher verlaufen als früher, bil-
det eine verblüffende Analogie zum Kul-
turablauf, von dem wir heute gleichfalls
wissen, daß auch hier die Beschleunigung
immer größer wird, je mehr wir uns unserer
eigenen Zeit und Kultur nähern. Zur kos-
mischen Ausdehnungstendenz finden wir
wieder in der ununterbrochenen Zunahme
der Menschheit eine merkwürdige Parallele.
Die Erklärung der Eiszeiten der Erde durch
wechselnde Strahlungsintensität infolge der
Dunkelwolkenabsorption erscheint einleuch-
tend.
Die enge Verzahnung aller dieser Pro-
bleme mit den Begriffen wie „Raum“, „Zeit“,
„Substanz“ und „Qualität“ erhärten die ein-
gangs gemachte Feststellung von dem in-
neren Zusammenhang aller Wissenschaften
und somit auch unseres eigenen Faches.
Umfang und Darstellungsart machen diese
drei Bändchen zu einem idealen Orientie-
rungsmittel für den Nicht-Naturwissenschaf -
ter — sie können daher nur empfohlen wer-
den. Glück
LINDBLOM, K. G.:
Spears and staffs with two or more points,
in Africa. Stockholm 1937, Statens Etno-
grafiska Museum. Smärre Meddelanden,
Nr. 14.
LINDBLOM, K. G.:
Wire-Drawing, especially in Africa.
Stockholm 1939, Statens Etnografiska
Museum. Smärre Meddelanden, Nr. 15.
LINDBLOM, K. G.:
African Razors. Stockholm 1943, Statens
Etnografiska Museum. Smärre Meddelan-
den, Nr. 19.
LINDBLOM, K. G.:
Nose Ornaments in Africa. Stockholm
1945, Statens Etnografiska Museum.
Smärre Meddelanden, Nr. 20.
LINDBLOM, K. G.:
Tubular smoking pipes, especially in
Africa. Stockholm 1947, Statens Etno-
grafiska Museum. Smärre Meddelanden,
Nr. 21.
LINDBLOM, K. G.:
The One-leg resting position (Nilotenstel-
lung) in Africa and elsewhere. Stockholm
1949, Statens Etnografiska Museum.
Smärre Meddelanden, Nr. 22.
Jahr für Jahr greift K. G. Lindblom in
den Smärre Meddelanden, für die er auch
als Herausgeber zeichnet, ein bedeutungs-
gesättigtes Kulturelement des afrikanischen
Menschen heraus, um es monographisch
abzuhandeln. Das Hauptgewicht liegt dabei
auf einer möglichst lückenlosen Verbrei-
tungsdarstellung, die dann ihren entspre-
chenden kartographischen Niederschlag fin-
det.
Hauptanliegen dieser Darstellungen, die
dank der Unermüdlichkeit des Autors ei-
nen ganz spezifischen, den schwedischen
Stil gewonnen haben, ist die Unterbauung
der historischen Zusammenhänge.
Die außerordentlich gewissenhafte und
alle Quellen erschöpfende Prüfung macht
die Publikationen der schwedischen Schule,
auch für den, der mit der unaufdringlich
vertretenen historischen Tendenz nicht ein-
16 Jahrbuch 1951 Lindenmuseum
242
Buchhespredmngen
verstanden sein sollte, selbst wieder zu
einem Quellenwerk ersten Ranges.
Die erstgenannte Abhandlung über die
Speere und Stäbe mit zwei oder mehr Spit-
zen in Afrika greift ein durch seine Ver-
breitung sehr auffälliges Element heraus.
Auf den ersten Blick scheint es sehr eng mit
der höfischen Kultur im Sudan und in Abes-
sinien wie im östlichen Seengebiet ver-
knüpft zu sein.
Der Zweck dieser gegabelten und mehr-
zackigen Geräte ist zweifellos nicht trivia-
ler Natur, nur vereinzelt, in Abessinien, bei
den Ibo, den Bagirmi und im südlichen Bari
finden wir diese Speere als echte Waffen
verwendet.
Prinzipiell haben alle diese Geräte so-
ziale Bedeutung als Hoheitszeichen, als
Signa des Reichtums, darüber hinaus tra-
gen sie vor allem im westlichen Verbrei-
tungsgebiet den Charakter von meteorolo-
gischen Symbolen wie des Regens, des Blit-
zes, teilweise sind sie auch Embleme von
Gottheiten. Die Beziehungen zu Fruchtbar-
keitsbäumen und nicht zuletzt zu den Tier-
hömem (als Abwehrmittel) liegen auf der
Hand.
Der Verfasser rundet seine Untersuchung
ab, indem er auf das Kerukeion, den ge-
zackten Stab des Hermes verweist, auf alte
Vorkommen in Cypem, im früheren Süd-
arabien, bei den Hethitern, Assyrem und in
Korea, Indien und Sibirien.
Es erscheint uns zweifelhaft, ob es vom
Verfasser richtig war, die gegabelten Bogen-
ständer heranzuziehen, die er vom Kassai-
gebiet anführt. Schließlich ist die Verwen-
dung von Astgabeln als Aufhängevorrich-
tung ein uraltes Element, das uns als Liege-
stuhl bereits bei den Pygmäen begegnet.
Der einfache Stab als Ausgangsgerät des
Vielzacks ist zweifellos ein echtes Hirten-
bzw. Hütegerät. Insofern scheint die von L.
angenommene Verbindung zum Hamiten-
tum gegeben. Andererseits zeichnen sich ge-
rade in der mehrspitzigen Ausgestaltung
dieses Gerätes luxurierende Züge ab, die
ohne ein altes agrarisches Substrat nicht
denkbar sind. In der Verdoppelung steckt
ein psychisch leicht verständliches Element,
ein „Mehr“, womit die Beziehung zur Sym-
bolik der Macht im weitesten Sinn religiös
wie sozial gegeben ist. In dieser Hinsicht
verweise ich auf die Abhandlung von Lange
über die Doppelgeräte.
Wir möchten damit sagen, daß der Viel-
zack ein Kontaktergebnis darstellt, das über-
all da entstehen konnte, wo Hirtentum und
alte seßhafte Bevölkerung zusammenge-
kommen sind. Insofern ist ein außerafrika-
nisches Entstehungszentrum nicht von der
Hand zu weisen.
Darüber hinaus steht diese Form in eng-
ster Beziehung zur Verbreitung des Eisens,
auch dies ist ein Argument gegen die Ein-
beziehung des Bogenständers in diese Be-
trachtung. An deren Stelle wäre es sinn-
voll gewesen, die reich geschnitzten „Sultan-
Stäbe“ der Rua usw. heranzuziehen, die im
übrigen oft von einer figürlichen Doppel-
gruppe abgeschlossen werden.
Die Monographie über das Drahtziehen
ergibt bei der Siebung des ganzen Mate-
rials für den Autor, daß dieses Element für
Afrika nicht autochthon ist. Dem können
wir voll und ganz zustimmen. Darüber hin-
ausgehend wäre zu sagen, daß diese Tech-
nik wohl eines der jüngsten Elemente der
afrikanischen Kultur darstellt; nodi ge-
nauer gefaßt: es kann vermutet werden,
daß es kaum vor der Umsegelung Afrikas
durch die Europäer in diesem Kontinent
bekannt geworden ist. Dies würde bedeuten,
daß das Drahtziehen nicht mit den Hamiten,
wie der Verfasser meint, sondern zu den Ha-
miten gekommen ist, vor allem im Gebiet
seiner intensiven Anwendung bei den feuda-
len Staaten des Zwischen-Seengebietes.
Vereinzelt mag diese Fertigkeit wie etwa
in Ägypten und im Bereich des Sambesi
(Simbabwe) schon früher bekannt gewesen
sein, jedoch ohne besondere Breitenwirkung,
weil das hierfür benötigte Gelbgußmaterial
noch zu unbekannt und selten war.
Das Vorkommen in Abessinien ist ver-
mutlich ein isolierter Sonderfall, auch in
zeitlicher Hinsicht, weil es schon immer in
einem besonderen Kontakt zur Hochkultur
gestanden hat. Dies wird auch an der aus
Holz bestehenden Ziehplatte, die üblicher-
weise aus Eisen ist, gut erkenntlich.
Erst als durch die Portugiesen Messing-
und Bronzegeräte geliefert wurden, haben
vermutlich diese und die auf ihren Schiffen
nach Afrika kommenden Inder die Kunst
des Drahtziehens eingeführt.
Buchbesprechungen
243
Unter diesen Voraussetzungen erscheint
die Fertigung von Eisendraht als eine se-
kundäre Erscheinung.
Über Indien, das unseres Wissens das Ent-
stehungsland des Messings ist, mögen die
Wege in das fernere Asien wie zur Antike
geführt haben.
Die wenigen Vorkommen an der afrikani-
schen Westküste sind vermutlich auf die
Europäer zurückzuführen, deren Schmuck-
bedürfnis eine laufende Abnahme der be-
rühmten „Hutbänder“ aus Golddraht ge-
währleistete.
Wer mit afrikanischen Objekten museal
zu tun hat, ist immer wieder überrascht über
den großen Formenreichtum der Rasiermes-
ser auf eng benachbartem Raum. Lindbloms
Monographie vermag diesen Eindruck nur
zu erhärten.
Das Bedürfnis, die Haare einer besonde-
ren Bearbeitung zu unterziehen, ist, weil es
mit dem Körperschmuckkomplex zusammen-
hängt, uralt. Bekanntlich geht es hier nicht
nur um die Bearbeitung der Kopfhaare, son-
dern auch um die Augenbrauen, die Bart-
und die Körperhaare.
Im allgemeinen bestehen die afrikani-
schen Rasiermesser alle aus Eisen, und nur
ganz vereinzelt aus Kupfer und Gelbguß.
Dies würde ihre jetzige Verbreitung mit der
des Eisens eng verbinden. Das Eisen selbst
dürfte aber kaum vor dem 5. Jahrhundert
p.C.n. im eigentlichen Afrika bekannt ge-
worden sein (so auch von Birket-Smith da-
tiert).
Das zweiteilige Rasiermesser ist einer
Hochkultur zuzuordnen, in der es vermutlich
Berufsbarbiere gegeben hat.
Was vor der Kenntnis des Eisens lag, ist
nicht mehr festzustellen, aber wie L. aus-
führt, gibt die Verwendung von Obsidian
und Muscheln genügend Hinweise.
Die Bartzangen sind zweifellos mit der
Kenntnis des Bronzegusses eng verknüpft
und somit vor dem Eisen in Afrika — wie
der Verfasser vermutet, vom Norden her —
eingesickert, als Vorbild einer höheren Kul-
tur.
Mit der Behandlung des Nasenschmuckes
hat der Verfasser ein besonderes Thema auf-
gegriffen, denn der Schmuck ist sichtlich
mehr als jedes andere Element der endoge-
nen Wandlung, das heißt der modischen
Veränderung unterworfen, so daß nicht un-
bedingt die Annahme fremder Beeinflus-
sung notwendig ist.
Andererseits sind wir für die Naturvölker
in der unglücklichen Lage, diesen Wandel
nur wenig oder gar nicht belegt zu finden.
Der Autor geht den verschiedenen Zügen
des Nasenschmuckes sehr gewissenhaft nach
— ob Mann oder Frau oder beide ihn tra-
gen, welche Form er hat, ob Pflock- oder
Ringform, ob er an einem oder an beiden
Nasenflügeln, oder ob er am Septum getra-
gen wird. Auch das Material wird entspre-
chend einbezogen.
Wir möchten dem Verfasser zustimmen,
wenn er da, wo auch die Männer den Sep-
tum-Schmuck tragen, ihn einer autochthonen
Bevölkerung, der sogenannten nigritischen
Kultur zuspricht, die wir als die älteste seß-
hafte Pflanzerschicht betrachten. Hiermit
stimmt überein, daß die Jägervölker ur-
sprünglich diesen Schmuck nicht kannten.
Unabhängig von dieser endogenen Her-
kunft geht der größte Teil des Nasenschmuk-
kes, vor allem in Ost- und Zentralafrika, wie
der Verfasser unterstreicht, auf indo-arabi-
schen Einfluß zurück. Hierfür spricht schon
die vorwaltende Metallverwendung und die
damit sichtbar werdende höhere handwerk-
liche Fertigkeit.
Die Verbreitungsstudie über die Röhren-
Pfeifen, also die ungewinkelten Formen,
zeigt auf der Karte eine überraschende Häu-
fung im Tanganyika-Territorium sowie im
südafrikanischen Bereich, so daß der Ge-
danke naheliegt, eine Beziehung zu Indien
anzunehmen, zumal dort ebenfalls das gleiche
Gerät nicht selten ist. Wie schon das verwen-
dete Material: Stengelrohr, Holz, Ton und
tierische Knochen beweist, handelt es sich
hier um die Ergologie einfacher Völker ohne
Metallverarbeitung.
Andererseits kann der Tabakgenuß in
Afrika nicht vor der Entdeckung Amerikas
bekannt geworden sein. Trotzdem hält es L.
mit Stuhlmann für wahrscheinlich, daß das
Rau dien von Hanf vor der Ankunft der Eu-
ropäer besonders in Ost- und Südostafrika
von Indien her bekannt war.
Die Tatsache, daß es vor allem Völker mit
besonders altertümlicher Kultur sind (Busch-
männer, Hottentotten, Herero, Bergdama,
Kinga, Sango und Kindiga), die diese Röh-
renpfeifen besitzen, madit jedoch u. E. die
244
Buchbesprechungen
Annahme eines präkolumbischen (Hanf-)
Rauchens nicht notwendig.
Wenn durch indische und südarabische
Kolonisatoren vereinzelt an der Küste Hanf
bekannt und eingeführt worden ist, so ist
dem kaum große Bedeutung zuzumessen, da
die Intensität dieser voreuropäischen Koloni-
sation nicht überschätzt werden darf.
Mit der Einführung des Tabaks wurde ja
notwendigerweise auch seine Nutzung be-
kannt, so daß sich jedes Volk je nach seinem
technischen Stand entsprechende Geräte
schuf.
Die Abhandlung über die sogenannte Ni-
lotenstellung berührt ein noch plastischeres
Element, als wir es beim Nasenschmuck
schon angetroffen haben.
Das Vorkommen dieser eigenartigen Ruhe-
Sitte, die in erster Linie im oberen Nil-Ge-
biet Afrikas beobachtet wurde, darüber hin-
aus in Südamerika, Indien, Indonesien, Au-
stralien und auch vereinzelt in Europa fest-
gestellt worden ist, ergibt jedenfalls eine
Perspektive, die der historischen Betrachtung
nicht sehr entgegenkommt. Erschwerend fällt
ins Gewicht, daß der jeweilige Wirtschafts-
horizont ebenfalls völlig irrelevant ist für
diese Sitte. Neben Hirtenvölkern finden wir
sie bei Pflanzern, Jägern und Sammlern —
immer aber wird die Stellung nur von Män-
nern eingenommen.
Konsequenterweise neigt daher L. zur An-
nahme der selbständigen Entstehung. Dies
dürfte auch zutreffen, da dieser Brauch in
einen Verhaltensbereich fällt, dem auch die
wandelbaren Gesten zuzurechnen sind.
Solche Phänomene sind besonders leicht
veränderlich, ohne Spuren zu hinterlassen.
Es besteht sicherlich eine allgemeine mensch-
liche Bereitschaft, diese oder jene Ausdrucks-
form zu wählen.
Zur Illustrierung denken wir liier an die
uns von den amerikanischen G.I.s vorexer-
zierte Ruhestellung, in der sich diese Män-
ner an irgendeiner Straße in der Hockestel-
lung niederlassen und es zu unserer Verwun-
derung offenbar ziemlich lange darin aushal-
ten. Schon diese kleine Beobachtung am
Rande des Alltags zeigt uns, was es bedeu-
tet, wenn sich ein neues Volk bildet aus Ele-
menten unleugbar europäischer Herkunft.
Im Falle der Korekore und der Angoni
scheint allerdings ein gewisser historischer
Zusammenhang mit dem nilotischen Kern-
gebiet des Einbeinstehens vorzuliegen, hier-
auf verweist schon die kultische Anwendung
dieses Brauches. Glück
LAGERCRANTZ, STURE:
Contribution to the Ethnography of Afri-
ca. Studia Ethnographien Upsaliensia I,
Lund, 1950.
In diesem sehr umfangreichen und glän-
zend aus gestatteten Band greift Sture La-
gercrantz als bekannter jüngerer Vertreter
der schwedischen Schule mit großem Nach-
druck in die Diskussion der afrikanischen
Kulturgeschichte ein.
Seine Ausgangsbasis sind die einschlägi-
gen Vorarbeiten von Frobenius, Ankermann,
Graebner, P, W. Schmidt, Johnston, Selig-
mann und vor allem von Hermann Bau-
mann.
In seiner Darstellung setzt sich der Ver-
fasser daher in erster Linie mit B. auseinan-
der.
Unter den großen Stichworten Ernäh-
rung, Schmuck, Waffen, Handel, Kunst, Me-
dizin, Gottkönigtum und Religion handelt
der Verf. über rund 70 einzelne Kulturele-
mente, deren Aufzählung hier aus räum-
lichen Gründen nicht möglich ist.
Zahlenmäßig stehen die rein ergologi-
schen Kulturgüter im Vordergrund, aber das
äußerst komplexe Problem des priesterlichen
bzw. göttlichen Königtums wird ebenso um-
fassend umkreist wie die Frage des Lebens-
baumes, der Kopfdeformation und der Don-
nerkeile.
Das Hauptgewicht liegt, wie es der schwe-
dischen Schule entspricht, im Studium der
Verbreitung einzelner Elemente, wie G. Lind-
blom und der Verf. selbst dies in schon tradi-
tioneller Weise methodisch durchführen.
Der eigenartigen historischen Stellung des
dunklen Kontinents ist es gemäß, auch die
benachbarten Erdteile Europa und Asien mit
dem Subkontinent Indien heranzuziehen,
gelegentlich greift der Verf. nach Amerika
und der Südsee.
Angesichts der ausgebreiteten Fülle wird
die alte afrikanistische Erfahrung bestätigt,
daß Afrika seit Jahrtausenden kulturell mehr
genommen als gegeben hat. Und je mehr
wir uns unserer eigenen Zeit und Kultur nä-
hern, desto mehr finden wir diesen Tatbe-
stand bestätigt. Daher sind im universalge-
Bu chbesprechungen
245
Schichthöhen Sinne die meisten dieser Kul-
turelemente als spät zu bezeichnen.
Dies gilt auch für die Baumannsdie Glie-
derung mit ihren Begriffen
der altsudanischen Kultur,
der westafrikanischen Kultur,
der Hamiten-Kultur,
der jungsudanischen Kultur und
der rhodesischen Kultur,
die L. im Ganzen übernimmt. Es kommt
ihm lediglich darauf an, diese Begriffe in
sich selbst stärker zu festigen bzw. zu rek-
tifizieren.
Die grundsätzlichen Einwände, die hier
einem von selbst zufließen, liegen darin, daß
dieses Kulturschema zwar einen wesentli-
chen Ansatzpunkt für den Überblick über
die jüngere afrikanische Kultur gibt, aber
doch das eigentliche historische Phänomen,
die Genese und Verbreitung der Negroiden,
nach wie vor im Dunkeln beläßt.
Dies wird besonders an der hier ältesten
Kultur, der altsudanischen, offensichtlich. Im
frühgeschichtlichen Sinne ist diese zweifellos
als neolithisch, genauer noch als spätneoli-
thisch (und zugleich negroid) aufzufassen.
Andererseits müssen aus universalgeschicht-
lichen Gründen dieser Kultur noch wenig-
stens zwei weitere vorausgehen — eine sol-
che des höheren (jungpaläolithischen) Jä-
gertums und vor dieser die der niederen
Sammler und Jäger.
Nun ist die eurafrikanische Steppenjäger-
kultur Baumanns, die der Verf. mit Recht
übernimmt, zweifellos mit dem Jägertum
des oberen Paläolithikums identisch (Pro-
benius hat es s. Z. mit dem Begriff der Ma-
halbikultur zum ersten Male für Afrika fi-
xiert!). Auf diese Kultur geht der Verf. nicht
näher ein — nur beiläufig nennt er zwei
Elemente, die er ihr zuschreibt — die Stein-
kugel (-Keule) und die Wurfschlinge. In wie-
weit die Buschmänner und Pygmäen hier
einzuordnen sind, ist noch offen. Hierbei
sollte nicht vergessen werden, daß die afri-
kanische Spielart des höheren Jägertums
einem entschiedenen Verarmungsprozeß un-
terlegen ist. Manches, was den Niloten zu-
geschrieben wird, so z. B. die Speere mit
den Antilopenhömem, könnte auch die-
sem frühen Jägertum zu geschrieben werden.
Die urtümlichen niederen Sammler und
Jäger als letzte Schicht sind dagegen wohl
nur noch durch Ausgrabungen zu greifen.
Diese Fragen sind für die Afrikanistik des-
wegen so wichtig, weil unbeschadet des ko-
lonialen Charakters Afrikas seit Menschen-
gedenken — schließlich doch eine ethnische
Basis vorhanden gewesen sein muß, auf der
sich die Impulse von außen überhaupt aus-
wirken konnten.
Der Verf. deutet an, daß das Eisen für die
altsudanesische Kultur von entscheidender
Bedeutung war. Wir möchten dies bezwei-
feln und die Verbreitung dieses Metalles
südlich der Sahara kaum vor das 5. nach-
christliche Jahrhundert setzen. Gerade die
hohe Wertschätzung des Gelbmetalles bis in
unsere Zeit hinein darf als indirekter Beweis
hierfür angesehen werden. Nach den Über-
lieferungen der Aschanti scheint überdies das
Eisen diesen nicht vor dem Jahre 1000 unse-
rer Zeitrechnung bekannt geworden zu sein.
Hieraus würden sich wieder interessante
Schlüsse auf die Wertschätzung der Donner-
keile ergeben, die ja letztlich nichts anderes
sind als spätneolithische Geräte.
Unter diesen Vorausetzungen gelangen
wir mit der altsudanischen Kultur — um ein-
mal eine Zahl zu wagen — mit Mühe in das
2. vorchristliche Jahrtausend.
Der Bantu-Begriff, und das liegt wohl
auch im Sinne Baumanns, ist ausschließlich
sprachterminologisch zu verstehen und wahr-
scheinlich kulturell ziemlich bedeutungslos.
Insofern ist es vielleicht unglücklich, von
„bantuisiert“ zu sprechen.
Für sehr bedeutsam halten wir die durch
den Verf. erneut bestätigte Feststellung, daß
Ägypten gegenüber dem restlichen Afrika als
Kulturvermittler nur wenig geleistet hat,
d. h. also tatsächlich in hohem Maße isoliert
war. Vielleicht war seine Rolle kurz vor dem
Einbruch des Islam in dieser Hinsicht am
bedeutendsten, als sich längs des Nils wie
Perlen die christlichen Staaten bis nach Abes-
sinien ohne Unterbrechung erstreckten.
Das dem Westhamiten tum und überhaupt
den westlich-nordafrikanischen Schichten zu-
erkannte höhere Alter entspricht nur dem
alten ostwestlichen Kulturgefälle des nord-
saharischen Afrika.
Das gesamte Werk stellt in gewisser Weise
eine Krönung aller bisherigen Arbeiten von
L. dar. Das ausgebreitete Material ist ge-
radezu stupend und verlangt unsere Aner-
kennung und Bewunderung. Zahlreiche Ver-
breitungskarten zu jedem einzelnen Element
246
Buchbesprechungen
erlauben eine rasche Orientierung. Dem
Verf. können wir für diese außergewöhn-
liche Leistung nur unseren Dank ausspre-
chen. Durch die Beschränkung auf das Sach-
liche und die gewohnte Intensität und Ge-
nauigkeit werden diese „contributions“, wie
der Verf. seine Arbeit in großer Bescheiden-
heit nennt, ein unentbehrliches Quellenwerk,
von dem zahlreiche Anregungen ausgehen
werden. Glück
WERNER JUNGE:
Bolahun. Als deutscher Arzt unter schwar-
zen Medizinmännern. Engelhornv erlag
Adolf Spemann, Stuttgart, 1950, 236 S.
Das vorliegende Buch ist eine Art Erin-
nerungs- und Rechenschaftsbericht, den ein
deutscher Missionsarzt von seiner zehnjähri-
gen Tätigkeit (1930—1940) in Nordwestlibe-
ria gibt. Bolahun ist der Name der Station,
die im Grenzgebiet zwischen den Gbandi,
Kissi und Bussi (Lorma) liegt. Da der Verf.
später auch an der Küste, in Cape Mount,
wirkte, kennt er den ganzen an Sierra Leone
grenzenden Streifen Liberias mit den Gola
und Vei.
Daß ein Arzt in zehn Jahren zu einem
ganz anderen und auch engeren Kontakt
mit seinen Patienten kommt als der durch-
schnittliche Feldforscher unseres Faches, ist
naheliegend. Daher finden sich in diesem
Buch eine ganze Anzahl sehr guter Beobach-
tungen über die Psychologie des dortigen
Negers, die der Fachmann gerne heranzie-
hen wird. Was er über die Geheimbünde und
das klassifikatorische Verwandtschaftssystem
berichtet, ist allerdings nicht neuartig. Zu-
mal gerade über Liberia eine ganze Anzahl
von guten Arbeiten vorliegt, angefangen von
Büttikofer über Westermann und Germann
bis Donner. Der menschliche Höhepunkt der
Darstellung liegt zweifellos in der Begeg-
nung des Verf. mit dem alten Gbandi-Häupt-
ling Fafulekolli, dessen liebster Sohn im
Hospital des Verf. an den Pocken gestorben
war. Sein Wort „Deine Kraft ist groß, Dok-
tor, aber die Kraft des Himmels ist größer“,
mit dem er die begrenzten Möglichkeiten
auch des europäischen Arztes ohne Bitterkeit
anerkannte, verdient hervorgehoben zu wer-
den.
Das Erlebnis mit der „Mutter aller Kro-
kodile“ in Szowi, die Opfer empfängt und
für Ordalien herangezogen wird, ist schon
deshalb interessant, weil uns durch Mans-
feld aus dem Kameruner Waldland eine
ähnliche Erscheinung bekannt ist. Auf das
Ruten-Ordal sei ebenfalls hingewiesen.
Eine wertvolle Illustrierung des Kultur-
kontaktes stellt der Bericht über den Leo-
pardenbund dar, der hier durch einen ein-
geborenen christlichen Priester eingeführt
worden war und gräßliche Opfer erforderte.
Wir erfahren dadurch, daß der Kontakt bis
zur Persönlichkeitsspaltung führen kann.
Im ganzen überschätzt der Verf. wohl den
Wert seiner ethnologischen Erkenntnisse,
dies macht sich vor allem da bemerkbar, wo
er vorübergehend in das Allgemeine geht,
da ihm hierfür die fachlichen Voraussetzun-
gen fehlen.
Das Buch ist außerordentlich flüssig, ja
spannend geschrieben und beweist die alte
Tatsache, daß der Europäer durch das Hei-
len-Können das vornehmste und wirksamste
Mittel in der Hand hat, den schwarzen Men-
schen auf eine höhere Stufe der Einsicht zu
heben, denn der Afrikaner ist ein Realist
und damit unserem kausalen Denken durch-
aus zugänglich.
Die Ausstattung des Buches durch den
Verlag ist ausgezeichnet. Als „leichtere Kost“
sei es auch dem Fachgenossen empfohlen.
Glück
MARTIN GUSINDE:
Urmenschen im Feuerland. Paul Zsolnay-
Verlag, Berlin-Wien-Leipzig, 1946.
Charles Darwin schrieb 1832 über die
Feuerländer: „Erblickt man solche Men-
schen, so kann man sich kaum zu dem
Glauben bestimmen, daß sie unsere Mit-
geschöpfe und Bewohner einer und der-
selben Welt sind.“
Darwin hatte auf seiner berühmten Expe-
dition mit dem Schiff „Beagle“ einige Ein-
geborene in der Magalhaesstraße flüchtig
kennengelemt und daraus dieses ungün-
stige, flüchtige Urteil gefällt. In europä-
ischen und amerikanischen Kreisen herrschte
seitdem keine günstige Meinung über die
Feuerländer. Es waren eben „Wilde“ und
ihre Kultur waren Aberglaube und Kurio-
sität. Dazu wurden seit den achtziger Jah-
ren des vorigen Jahrhunderts von gewissen-
losen Schaf-Farmern und abenteuerlichen
Goldsuchern bewußt schreckliche Gerüchte
über diese südlichsten Bewohner der Erde
Buchbesprechungen
247
verbreitet, mit denen sie ihr eigenes wüstes
Treiben und zielbewußtes Morden vor der
Öffentlichkeit als Selbstschutz gegen die
„gefährlichen Wilden“ zu rechtfertigen
suchten.
Die heutige Völkerkunde aber denkt
anders über diese armen verfolgten India-
ner, die zu der Wirtschafts gruppe der ein-
fachen Sammler und Jäger gehören. Es ge-
lang Professor Martin Gusinde, nicht nur
den beschmutzten Schild der Feuerländer
rein zu waschen, sondern auch die Völker-
kunde allgemein mit ungeahnten Erkennt-
nissen zu bereichern. Eine Unruhe hatte den
Forscher in Santiago de Chile in seinem
Landesmuseum erfaßt, weil er genau wußte,
daß unten in der Nähe des sturmumtobten
Kap Hoorn eine für alle menschliche Kultur-
geschichte hochbedeutende Eingeborenen-
gruppe vor seinen Augen zu Grunde ging.
Er ahnte es auch, daß sich dort noch in
unserem Jahrhundert das technische Können
des Holzzeitalters widerspiegelte, der aller-
ältesten untersten Kulturschicht des Men-
schengeschlechts.
Im Aufträge und mit Hilfe seiner Re-
gierungsstelle in Santiago de Chile unter-
nahm Gusinde von 1918 bis 1924 vier Rei-
sen ins Feuerland. In letzter Stunde gelang
es ihm doch noch, durch stille, aufopferungs-
volle Forscherarbeit unerwartet reiche wis-
senschaftliche Ergebnisse zu heben und das
wertvolle Geistesgut dieser aussterbenden
Indianer, der Uramerikaner, der Urmen-
schen, in seinen Aufzeichnungen festzu-
halten.
Zweieinhalb Jahre brachte Gusinde im
engsten Zusammenleben mit den drei
feuerländischen Stämmen, den Wasser-
nomaden der Yämana und Halakwülup und
den schweifenden Jägern auf der Großen
Insel, den Selknam, zu. Er gewann das Ver-
trauen und die Liebe der gehetzten und ver-
schüchterten Indianer, wurde ein Mitglied
ihrer Stammesgemeinschaft und durfte an
ihren heiligen Volksgütern teilnehmen. Er
sagt selbst von sich: „Die vielen, in ihrer
Gemeinschaft verlebten Monate — es mag
sonderbar klingen — haben mich reich ge-
macht und mich ein unverfälschtes Men-
schentum erkennen lassen.“
Die Forschungen Gusindes im Feuerland
sind eine Großtat der modernen Völker-
kunde und Anthropologie. Das vorliegende
Buch gibt einen zusammengedrängten
Überblick über seine ausgedehnten Arbeiten
und Forschungen, die er vorher in drei
umfangreichen Bänden beim Anthropos-
Verlag in Wien-Mödling veröffentlichte. In
einer wunderbar klaren Sprache und mit
eindringlichen, packenden Schilderungen
reißt er den Menschen den Schleier von den
Augen, die auch heute noch in den einfachen
Sammlern und Jägern unserer Erde nur so
etwas wie höher organisierte Tiere sehen.
Die Yämana z. B. geben ihrer heranwach-
senden Jugend in den monatelang dauern-
den Weihen Grund- und Lehrsätze, mora-
lische und ethische Verpflichtungen, denen
auch die höchsten Kulturvölker nichts Wür-
digeres entgegenstellen können.
Paul Kunhenn
ROI OTTLEY:
Die schwarze Odyssee. Die Geschichte der
Neger in Amerika. Europäische Verlags-
anstalt G. m. b. H. Hamburg 1949. Aus
dem Amerikanischen übertragen von Klara
Deppe. 308 Seiten.
Während sich der gebildete Afrikaner
stets auf heimischem Boden befindet, im
gewöhnten geographischen und sozialen
Milieu, und darin eine Bestätigung seines
Selbstgefühles findet — gilt dies für den
US-amerikanischen Neger nicht. Er gehört
zur Minderheit, die allerdings mit rund
14 Millionen recht bedeutend ist. Der Man-
gel an erfahrener Kontinuität hat dem
amerikanischen Neger gar keine andere
Wahl gelassen, als die Wertvorstellungen
des weißen Mannes auch für sich als ver-
bindlich anzuerkennen, zumindest mehr als
der in Afrika lebende Neger. Dies wird
schon an der Erscheinung und dem Stil des
Verf., der ein bekannter Negerjoumalist ist,
offenbar.
Ottley schreibt mit einer geradezu be-
wundernswerten Sachlichkeit die Trägödie
der amerikanischen Neger. Es gehört wohl
zu den Merkwürdigkeiten, die sich die Ge-
schichte gelegentlich leistet, daß der erste
Sklavenhalter in der Staaten selbst ein
Neger war, der als freier Mann 1619 in
Jamestown landete. Die Sklaverei, die be-
kanntlich durchaus humane Züge tragen
kann, unterschied sich anfänglich in den
Staaten nicht wesentlich von der in Afrika
üblichen Haussklaverei. Erst der kommer-
248
Buchbesprechungen
ziell betriebene Plantagenbau mit Reis,
Indigo, Tabak, Baumwolle und Zuckerrohr
— etwa ab 1750 — führte mit seiner Inten-
sivierung zu jenen brutalen Formen, die
in „Uncle Toms Cabin“ von Beecher-Stowe
so scharf gegeißelt worden waren. Das da-
malige Bestehen von Sklavenzuchtanstalten
mit „Negerhengsten“ und „weißen Stuten“
zeigt, daß die Entwürdigung des Menschen
immer und überall eine Versuchung dar-
stellt.
Sehr im Gegensatz zu den mittel- und
südamerikanischen Negern hat der schwarze
Mitbürger der UA-Amerikaner noch nicht
in allen Gebieten die praktische Gleich-
berechtigung erreicht. Der Verf. verweist
mit Nachdrude auf diese Diskrepanz zwi-
schen der demokratischen Theorie und ihrer
Praxis. Andererseits läßt sich deutlich er-
kennen, daß sich die Dinge doch wesentlich
gebessert haben. Und es kann gar kein Zwei-
fel darüber bestehen, daß im Laufe der
Zeit der amerikanische Neger in geistiger
Hinsicht zum Voll-Amerikaner werden
wird und daß er sich schon jetzt zu Amerika
als Heimat bekennt, wie die Weißen, die
ebenfalls hier fremd waren.
Von der Übersetzerin wurde dem Buch
eine kurze geschichtliche Einführung über
das gebietliche Wachstum der USA voran-
gestellt mit Karten. Die Übersetzung selbst
ist ausgezeichnet wie auch die Buchaus-
stattung. Glück
MORTON, FRIEDRICH:
Xeldhuh. Abenteuer im Urwald von Gua-
temala. — Salzburg: Otto Müller (1950).
338 Seiten. Gzln. DM 9.80.
Der als Pflanzenbiologe und besonders
durch seine Höhlenforschungen bekannte
Verf. hat in diesem Buch seinem Erlebnis
der Tropen literarische Gestalt zu geben ver-
sucht. In mosaikartig zusammengesetzten
Bildern zieht die lockende und gefahrvolle
Tropenwelt Guatemalas mit ihren Natur-
wundern und Geheimnissen an dem Leser
vorüber. Der Zauber der sonnigen Tierra
caliente umfängt ihn, die Luft ist von Düf-
ten schwer, und unter heißem Himmel liegt
die Landschaft mit den weißen Blütenster-
nen der Kaifeesträucher, den Bananenhai-
nen und Zuckerrohrplantagen. Die Gestalten
braunhäutiger Indios schreiten mit anmutig-
federndem Gang in ihren leuchtend-bunten
Tüchern dahin. Hinter sumpfigem Flußufer
steht in feindseliger Abwehr der Monte, der
schreckerfüllte Urwald.
Vorwiegend vor dieser Kulisse, zu geringe-
rem Teil im guatemaltekischen Hochland,
rollt der Film der Erlebnisse und Begeben-
heiten des Buches ab. Indianer und Weiße,
Giftschlangen, Krokodile und Skorpione sind
die Akteure. Wir erleben rauschende Fiestas,
auf denen der Zuckerrohrschnaps die Gemü-
ter erhitzt und die aufgepeitschten Leiden-
schaften in Sekundenschnelle Schicksale be-
siegeln. Spieler verlieren Hab und Gut, und
der Tod lauert sogar in Tortenschnitten.
Abenteuerliche Begebenheiten mit Indios,
Kaffeepflanzem und gestrandeten Europä-
ern wechseln ab mit Schilderungen des Tier-
und Pflanzenlebens, in denen sich der Verf.
als geschulter Beobachter und kenntnisrei-
cher Fachmann erweist (Erlebnisse mit
Schlangen nehmen dabei einen endlos brei-
ten Raum ein). Die Atmosphäre ständiger
Bedrohung des Daseins durch Erdbeben und
Vulkanausbrüche, Fieber und andere Gefah-
ren der Wildnis wird eindringlich spürbar.
Der Nutzen dieses Buches für den Ethno-
logen ist naturgemäß nicht sehr groß. Was
sich an Bemerkungen über die alte Maya-
kultur und ihre Überreste findet, geht über
allgemein Bekanntes nicht hinaus. Von son-
stigen, hier und da eingestreuten völkerkund-
lichen Beobachtungen hat sich der Rez. no-
tiert: Chuculi„brot“ aus Mohn sowie aus co-
cain- und coffeinhaltigen Bestandteilen, als
Stimulans gekaut und von erstaunlicher
Wirkung selbst bei stärkster Erschöpfung
(S, 241 ff., bes. S. 245); Meersalzgewinnung
der Indianer an der pazifischen Küste (Seite
222 f.); Xihiute, ein lähmendes Pflanzengift
(S. 230 ff.). — Anlaß zum Nachdenken gibt
dem Ethnologen die Schilderung vom Schick-
sal einer kleinen, aus elf Ranchos bestehen-
den Indianersiedlung inmitten der Urwald-
wildnis (wo?): Von überhandnehmenden
Vampiren heimgesucht, gegen die sie sich
nicht zur Wehr setzten konnte, verlor die
Bevölkerung dieser Rancheria (48 Menschen)
mit dem Eingehen ihres Viehs und Geflü-
gels zunächst ihre wichtigsten Emährungs-
quellen; Hunger und Not griffen um sich.
Schließlich wurden die Menschen selber das
Opfer der Vampire, Unterernährung und
Blutverluste hatten zunehmende körperliche
Buchbesprechungen 249
Schwächung zur Folge. Die Menschen wa-
ren der schweren Pflanzungsarbeit, dem
ständig gebotenen Kampf gegen das wu-
chernde Unkraut nicht mehr gewachsen.
Der Urwald drang vor, die Mais-
ernte ging zurück. Abgeschlossen von
der Welt und ohne Blutauffrischung den
Folgen der Inzucht ausgeliefert, ihrer Maul-
tiere, Kühe und Hühner beraubt, von ver-
wahrlosten Feldern umgeben, unterernährt
und dazu noch von Tuberkulose befallen,
siechten die Bewohner des kleinen Dorfes
langsam dahin. Die ausgemergelten Körper
versagten immer mehr, zuletzt trübte sich
das Augenlicht und allgemeine Erblindung
als Dorfseuche trat ein (S. 167 ff.). Ein ein-
drucksvolles Beispiel dafür, was biologisches
Versagen einer Population kulturell bedeu-
tet und welch geringfügige Faktoren als aus-
lösende Kräfte bei solchem Vorgang in Rech-
nung gestellt werden müssen.
Das Buch Mortons ist mit gewandter Fe-
der in einem bisweilen recht amüsanten, ge-
legentlich aber auch etwas saloppen und ge-
gen sprachliche Entgleisungen (S. 268, 270)
nicht immer gefeiten Plauderton geschrie-
ben. Das Beste an dem Buch sind unzwei-
felhaft die Naturschilderungen. Die Zeich-
nungen Fritz Bergers erfassen das Atmo-
sphärische der Situation schärfer als die Ku-
lisse der guatemaltekischen Tropenwelt. Der
Verlag hat dem Buch ein ansprechendes Ge-
wand gegeben. Jäger
GESCHICHTE ASIENS
Von Ernst Waldschmidt, Ludwig Alsdorf,
Bertold Spuler, Hans O. Stange und Oskar
Kressler. München: F. Bruckmann, 1950.
767 S., 12 Karten.
In der von Bruckmann herausgegebenen
Reihe „Weltgeschichte in Einzeldarstellun-
gen" ist nun auch eine Darstellung der Kul-
turen Indiens, Mittelasiens, Chinas und Ja-
pans erschienen und unter dem — da West-
asien fehlt — nicht ganz zutreffenden Titel
„Gesdiichte Asiens“ in einem Band vereinigt
worden. Die Verf. sahen sich vor die Auf-
gabe gestellt, einem „weiten Kreis histo-
risch interessierter Leser“, wie es in der Ver-
lagsankündigung heißt, die so außerordent-
lich vielfältige Geschichte der süd-, mittel-
und ostasiatischen Völker mit ihrer Über-
fülle an Erklärungsbedürftigem auf sehr ge-
drängtem Raume nahezubringen. Ein sol-
ches Unternehmen geht den Ethnologen,
Prähistoriker und Archäologen genau so an
wie den Sprachwissenschaftler, Literatur-
und Kunstgeschichtler, da nur aus den For-
schungsergebnissen all dieser Disziplinen
sich ein Gesamtbild herauskristallisieren
kann. Damit ist zugleich das Maß an Anfor-
derungen angedeutet, denen die Bearbeiter
dieser zusammenfassenden Darstellungen
gerecht werden müssen.
Ernst Waldschmidt gibt eine klare und
übersichtliche Darstellung der verwickelten
und problemreichen Geschichte des in-
dischen Altertums.
Mit Recht gilt der indische Subkontinent
als lebendes Museum für Völkerkunde. In
seiner geographischen Abgeschlossenheit hat
sich eine uralte Geschichte konservieren kön-
nen, und so bedeutet die Erforschung der
Rückzugsgebiete in Mittel- und Südindien
und ihrer auf frühen und frühesten Stufen
der Entwicklung verbliebenen Völker die
Entdeckung einer Vergangenheit, die vor
den ersten archäologischen Spuren anzuset-
zen ist. Es war die Bedeutung der anthropo-
logischen Untersuchungen von Eickstedts für
den Geschichtsforscher, daß sie diese Viel-
schichtigkeit der ältesten, chronologisch nicht
faßbaren indischen Vergangenheit deutlich
machten.
Auf dieser Grundlage kann die Frühge-
schichte Indiens aufbauen. Sie hat durch die
überraschende Entdeckung und weitere Er-
forschung der Induskulturen seit 1922 eine
ungeahnte Aufhellung und nicht minder
einen beträchtlichen Zuwachs an neuen Pro-
blemen erfahren. Die fortgesetzten Ausgra-
bungen bringen laufend neue Ergebnisse, so
erst nach dem Kriege die Aufdeckung der
Zitadelle von Harappa, durch die sich die
bisherige Auffassung, daß es sich um unbe-
festigte Städte gehandelt habe, als irrig er-
wies. Weitere Funde sind zu erwarten und
dringend zu wünschen, da es bisher noch
nicht gelungen ist, die indoarische Erobe-
rung, die doch wohl auch über diese Städte
zerstörend hereinbrach, archäologisch zu fas-
sen. Die anthropologische Auswertung der
Knochenfunde steht noch aus, und die Ent-
zifferung der Schriftzeichen auf den Siegeln
ist noch nicht gelungen. So läßt sich bisher
von den Induskulturen des 3. Jahrtausends,
die uns die Grabungen erschlossen haben, zu
der indoarischen Einwanderung, die Mitte
des 2. Jahrtausends anzusetzen ist und uns
250
Buchbesprechungen
aus den Veden deutlich wird, keine Brücke
schlagen. Daher ist auch die Identifizierung
von in den Veden genannten Völkemamen
mit den Kulturschichten der Indusstädte
noch nicht möglich. W. gibt bei aller Be-
schränkung auf das Wesentliche ein reiches
Bild beider so gegensätzlichen Kulturen,
ohne jemals die noch offenen Fragen zu ver-
wischen.
Die Geschichte der arischen Landnahme in
Nordindien, die sich auf die an sich reichen
Überlieferungen der Veden und der großen
Epen stützen kann, muß sich andererseits
mit der Tatsache abfinden, daß dem Inder
eine großartige spekulative Anschauungs-
kraft und unerschöpfliche dichterische und
denkerische Phantasie zu eigen ist, daß ihm
aber realistischer Beobachtungssinn und be-
sonders das Interesse an zeitlicher Ordnung
oder gar chronologischer Fixierung schlecht-
hin mangelt. So muß auch das Jahrtausend
nach der Einwanderung in allgemeinen Um-
rissen bleiben, zumal für diesen Zeitraum
noch jede archäologische Stützung fehlt. Erst
im 6. Jh. v. Chr. mit der Wirksamkeit Bud-
dhas betritt man gesicherten historischen Bo-
den.
Diese wie die weitere Darstellung zeich-
net sich durch klare Übersichtlichkeit und die
Verarbeitung einer Fülle kulturgeschichtli-
chen Materiales aus. Es folgen Abschnitte
über die Maurya-Zeit, die Griechenreiche im
Nordwesten (ein kurzes Kapitel über den
Handelsverkehr mit dem europäischen We-
sten), die Gupta-Zeit mit einer reichen Schil-
derung ihres klassischen Kulturlebens und
schließlich ein Abschnitt über die mittelalter-
lichen Reiche ganz Indiens bis zum Eindrin-
gen des Islam. Ein besonderes Kapitel über
die Kolonisation in Hinterindien und Indo-
nesien schließt die hervorragend abgerun-
dete Darstellung W.s ab.
Ludwig Alsdorf hat hier, wie früher schon
andernorts, die Behandlung der Neuzeit
übernommen: Indien von der mo-
hammedanischen Eroberung bis
zurGegenwart.
Sein Beitrag ist eine fesselnde Darstellung
des Mogulreiches und der Geschichte der
europäischen Handelskompanien. Die engli-
sche Herrschaft ist eingehend in allen ihren
Phasen geschildert. Besonders dankbar ist
man für die Darstellung der jüngsten Ent-
wicklungen bis zur Unabhängigkeit.
Bertold Spuler hatte sich in dem Abschnitt
über die Geschichte Mittelasiens
auf nur 50 Seiten (1) eine besonders schwie-
rige Aufgabe zu stellen.
Eine Geschichte Mittelasiens in dem Sinne,
daß sich dort auf einer bestimmten völki-
schen Grundlage eine Kultur aufbaut, deren
Entwicklung man verfolgen könnte, gibt es
nicht. Mittelasien ist das Objekt von Völker-
wanderungen in Permanenz. Kaleidoskop-
artig verschiebt sich von Jahrhundert zu
Jahrhundert das Bild. Immer neue Völker
tauchen auf, verdrängen die alten und wer-
den bald wiederum selbst verdrängt. Ver-
ständlich, daß die Geschichte eines solchen
Gebietes von allen Himmelsrichtungen her
fremden Einflüssen unterliegt. Wenn der
Geschichtsschreiber an den geographischen
Bezirk gebunden ist, muß er dauernd ab-
brechen und auf die chinesische, indische
oder westasiatische Geschichte verweisen.
Dazu kommt die ungleiche Quellenlage.
Über alles, was in der Nähe der chinesischen
Grenze vor sich geht, unterrichten uns schrift-
liche Berichte, aus dem westlicheren Raum
wissen wir dagegen verschwindend wenig.
Und doch ist die Geschichte dieses Völker-
mischkessels und seiner Nomaden äußerst
fesselnd, wenn auch nicht leicht zu durch-
dringen. Sp. sieht diese etwa 2 Jahrtausende
andauernden Bewegungen der türkischen
und mongolischen Völkergruppen als Ge-
genstoß der mittel- und nordasiatischen Völ-
ker gegen die vorangegangene Ausbreitung
der Indogermanen an. Es gehören sehr um-
fassende und vielfältige eigene Forschungen
und Kenntnisse dazu, diese komplizierten,
oft noch ungeklärten Verhältnisse so über-
sichtlich darzustellen, wie es hier nach Mög-
lichkeit geschieht. Für eine breitere Schilde-
rung der kulturellen Grundlagen fehlte frei-
lich der Raum.
Hans O. H. Stange verfolgt in seiner Ge-
schichte Chinas vomUrbeginn
bis auf die Gegenwart das Werden
und den Wandel der Lebensformen und
Kulturleistungen Chinas unter bewußtem
Verzicht auf alle spezialistische Dynastien-
geschichte. Er versucht, rein nach den kultur-
geschichtlichen Phänomenen zu gliedern und
erreicht, wobei sich der Zwang zur Kürze
segensreich auswirkt, eine eindrucksvolle
Geschlossenheit des Gesamtbildes.
Buchbesprechungen
251
Ähnliches ist von Oskar Kressler zu sagen:
Japan und Korea von der Urzeit
bis zur umwälzenden Kata-
strophe im zweiten Weltkrieg.
Für diese beiden letzten Beiträge, denen der
gleiche Raum zur Verfügung steht wie der
Geschichte Indiens, fühlt sich der Ref. nicht
zuständig.
Eine vergleichende Zeittafel am Schluß
des Bandes erleichtert die Übersicht und
das gründliche Register die Orientierung
über besondere Einzelprobleme. Bedauer-
lich bleibt, daß der Verlag nur einige Kar-
ten als Anschauungsmaterial beigeben
konnte. Der ausgesprochen kulturgeschicht-
liche Charakter der Darstellung fordert die
Ergänzung durch Abbildungen.
Diese Geschichte Asiens füllt eine wesent-
liche Lücke des Schrifttums sehr glücklich
aus und ist für den Nichtfachmann in glei-
cher Weise brauchbar wie für den Wissen-
schaftler verschiedenster Spezialgebiete, der
sich in Kürze einen gründlichen Überblick
verschaffen will. H. Rau
STARK, FREYA:
Die Südtore Arabiens. Eine Reise in Ha-
dhramaut. Deutsch von Hans Reisiger. —
Hamburg-Stuttgart: Rowohlt (1948). 303 S.
Seit Doughty und Lawrence stellen wir an
Arabienbücher besonders hohe Ansprüche.
Das Buch der Engländerin Freya Stark
„The Southern Gates of Arabia“, das der
Rowohlt-Verlag in deutscher Übersetzung
vorlegt, wird ihnen in vollem Maße gerecht.
Das Buch, das die Verf. bescheiden den
„Bericht eines Mißerfolgs“ nennt (weil es ihr
infolge Erkrankung versagt blieb, ihr letztes
Ziel, die alte Stadt Shabwa, zu erreichen),
schildert ihre Reise durch Hadhramaut auf
den Pfaden der alten Weihrauchstraße. Von
Makalla aus an der südarabischen Küste zog
sie unerschrocken als erste alleinreisende
Europäerin, nur von wenigen Eingeborenen
begleitet, über das Gebirge und durch die
felsige Einöde des Dschol-Plateaus, wie
Doughty ganz nach Art der Araber le-
bend, ohne sich dabei als Abendländerin
selbst zu verleugnen. Auf Eselsrücken und
später im Auto ging die Reise nach Über-
windung der Hochfläche des Dschol, in des-
sen Schluchten heute noch wie einst die
Weihrauchbäume wachsen, durch die fels-
umrandeten Täler und Engpässe Hadhra-
mauts, die „Wadis“ mit ihren Festungs-
städten, in denen sich bis zur Gegenwart die
Welt eines mittelalterlichen Feudalismus er-
halten hat. In Shibäm, nahe dem ersehnten
Ziele Shabwa, fand die Reise durch den ge-
sundheitlichen Zusammenbruch der Verf. ihr
Ende.
Auch der Ethnologe wird dieses Buch mit
großem Nutzen heranziehen. Es ist eine
Fundgrube wertvoller Beobachtungen, die
einer systematischen Ausschöpfung harrt.
Mit offenem Blick sah die Verf. das Land
und seine Menschen (als Frau hatte sie auch
Zugang zu der weiblichen Lebenssphäre,
was sie mit Umsicht und Takt nutzte). Wich-
tiges Beobachtungsmaterial bietet die Be-
schreibung der Hochhäuser, ihrer Bauweise,
Inneneinrichtung und sanitären Anlagen,
wobei auch nicht Dinge übergangen werden
(S. 119), die für manche Ethnologen bei
ihren Feldforschungen oft nicht zu existieren
scheinen. Die bis zu 7 Stock hohen Hadhra-
mauthäuser sind auf Steinfundamenten er-
richtet, während die Mauern aus Lehm- und
Strohplatten bestehen und leicht nach innen
geneigt sind wie bei den alten sabäischen
Gebäuden (S. 61, 118), was, wie vieles an-
dere mehr, die große Beständigkeit kultu-
reller Erscheinungen in Südarabien bezeugt.
Interessante Angaben finden sich an vielen
Stellen über den Feldbau und die Form der
dazu verwendeten Geräte (z. B. S. 148, 223),
über Bewässerungs- und Brunnenanlagen,
über Bienenhaltung im Wadi Do'an (S. 133)
u. a. m.
Zauberverfahren aus vorislamischer, heid-
nischer Zeit, die schon der Koran mißbilligte,
wie das Knüpfen und Lösen von Knoten in
einem Schal bei Beschwörungen, sind noch
heute in Hadhramaut bei den Beduinen wie
bei den in Städten Seßhaftgewordenen ge-
bräuchlich (S. 139). Zu jeder Arbeit gibt es
besondere Gesänge, zum Komdreschen, Zie-
gelherstellen, Haustünchen, ja selbst für den
Umgang mit Kamelen (S. 270). Familienfeh-
den und Kleinkriege zwischen benachbarten
Städten waren einst an der Tagesordnung,
sind aber auch in jüngster Zeit aus oft ge-
ringfügigen Anlässen immer wieder ausge-
brochen. Die Unsicherheit der Täler führte
zur Anlage der alten Siedlungen an den
Berghängen, unter Felswänden nistend, oder
an den Flanken der Wadis. Das Schutz- und
Verteidigungsbedürfnis drückt sich überdies
252
Buchbesprechungen
noch in den heute allmählich verfallenden
Mauern der Städte und den Schießscharten
ihrer Häuser aus.
Das Leben in einer solchen Festungsstadt
erschien der Verf. wie in einer mittelalter-
lichen Burg, und in der ständigen Gemein-
schaft, die keine Zurückgezogenheit, kein
Alleinsein kennt, sieht sie eine „Schule from-
mer Duldsamkeit“.
Die Wesensart der Araber, wie sie sich im
täglichen Umgang mit Begleitern und Gast-
freunden offenbarte, ist nach der Verf. ge-
kennzeichnet durch Einfachheit und Natür-
lichkeit, Sinn für den Reiz der Unabhängig-
keit, der in der Anspruchslosigkeit und Ar-
mut liegt, durch eine aristokratische Sicher-
heit des Auftretens und ausgeprägtes Ge-
fühl für echte Autorität, ferner durch Zuver-
lässigkeit, Gastlichkeit und Hilfsbereitschaft.
Dies stimmt in vielen Zügen mit dem Bild
überein, das andere Reisende, auch Doughty
und Lawrence, von den Bewohnern der nörd-
lichen arabischen Länder gezeichnet haben.
Offensichtlich ist aber die Verf. der Gefahr,
individuelle Züge zu verallgemeinern und
andererseits über individuelle Varianten hin-
wegzusehen, die dieser Charakterisierung
widersprechen, nicht ganz entgangen. Auch
insoweit das von der Verf. gegebene Cha-
rakterbild für die Araber Hadhramauts
wirklich allgemein kennzeichnend ist, muß
man sich davor hüten, in seinen Zügen so-
gleich seelisch-geistige „Rasseeigenschaften“
erkennen zu wollen; es handelt sich ganz
zweifellos bei den meisten dieser Wesens-
züge um kulturell bestimmte habitualisierte
Verhaltens- und Empfindungsweisen.
Im Gegensatz zu van der Meulen hat die
Verf. unter den Hadhrami nirgends ein be-
sonders starkes Verlangen nach zivilisatori-
schen Neuerungen angetroffen (S. 172).
Zwar sind die Angehörigen der Oberschicht,
die Feudalherren der Wadistädte, die „Say-
yids“, dem Westen und seinen Neuerungen
durchaus sachlich aufgeschlossen, aber sie
sind sich der Werte des Alten ebenso voll
bewußt. Diese Sayyids, deren Autorität auch
von den Beduinen der angrenzenden Ge-
biete meist respektiert wird, entstammen
alten Familien, die auf den ersten Islambe-
kehrer in Hadhramaut zurückgehen. Viele
von ihnen pflegen in jungen Jahren nach
Indien und besonders nach Indonesien aus-
zuwandem, wo sie als Kaufleute und Hotel-
besitzer riesige Vermögen erwerben. Später
kehren sie in die heimatlichen Täler Hadhra-
mauts zurück und umgeben sich hier in
ihrem häuslichen Umkreis mit dem Kom-
fort moderner Zivilisation, den sie in tradi-
tioneller Gastlichkeit auch den durchreisen-
den Fremden zur Verfügung stellen. Dar-
über hinaus gibt es nur hier und da einen
unbeirrten gläubigen Apostel im Dienste der
modernen Kultur (S. 191/192). Das altara-
bische Leben der Beduinen, der schweifen-
den und seßhaft gewordenen, ebenso wie
das der Bauern wird hiervon jedoch kaum
berührt. Indische, vereinzelt auch javanische
Einflüsse, zum Teil durch wandernde Händ-
ler vermittelt (S. 138), machen sich in man-
chen Tälern und vor allem natürlich an der
Küste in Kleidung und Schmuck bemerkbar.
Immer wieder stößt die Verf., deren Reise-
route vielfach den Spuren v. Wissmanns,
van der Meulens u. a. folgt, auf Reste aus
der Zeit der alten südarabischen Reiche, auf
Ruinen und verfallene Städte unter Fels-
wänden, auf Inschriften u. a. m. Sie bezwei-
felt mit Recht, daß das Land früher an sich
fruchtbarer war als heute, und weist zur Er-
klärung der heutigen Trockenheit des Wadi
Hadhramaut darauf hin, daß Bewässerungs-
anlagen in wasserarmen Gebieten der stän-
digen Pflege bedürfen, die allgemeine Si-
cherheit voraussetzt. Für diese zu sorgen
schien lohnend und wichtig, solange ein re-
ger Handelsverkehr die alte Weihrauch-
straße durch Hadhramaut belebte. Mit dem
immer mehr zurückgehenden Handel (in-
folge Ablenkung auf andere Wege) ließ
auch die Sorge für die Bewässerung, die In-
standhaltung der Dämme und Reservoire
nach, und das Land verödete (S. 202/203).
In einem Anhang („Über die Weihrauch-
straßen Südarabiens“) gibt die Verf. einen
sehr kenntnisreichen und durch seine Quel-
lennachweise äußerst wertvollen Beitrag zur
historischen Geographie Südarabiens.
Die gepflegte Sprache und die auf jeder
Seite spürbare menschliche Beziehung der
Verf. zu ihrem Stoff machen die Lektüre
des Buches zu einem hohen Genuß. Das
Arabien-Schrifttum ist durch diesen „Bericht
eines Mißerfolges“ um ein Buch von ebenso
großem dokumentarischen wie literarischen
Wert bereichert worden.
Mit Bedauern vermißt man in dem Buch,
dessen Übersetzung Hans Reisiger meister-
Buchbesprechungen
253
haft besorgte, eine Übersichtskarte, auf der
man die Reiseroute verfolgen könnte, sowie
ein Inhaltsverzeichnis. Störend empfindet man
auch die manchmal uneinheitliche Schreib-
weise arabischer Wörter (z. B. Scheich, S. 45,
neben Sheikh, S. 60, u. ä.). Jäger
FREYA STARK:
Das Tal der Mörder. Persische Reisen. Ro-
wohlt-Verlag, H amburg- Stuttgart-Baden-
Baden, 1949. Deutsch von Fortunat Wei-
gel.
Die bekannte englische Verfasserin be-
richtet in anspruchsloser Weise von ihren
„Vergnügungsreisen“ in Persien. Im wesent-
lichen berührte sie hierbei Luristan im
Südwesten des Landes mit dem Puscht-i-
Kuh und Masanderan, die Landschaft zwi-
schen dem Takht-i-Suleiman und dem
Kaspischen Meer.
Über die Luri und die Kurden gibt die
Verf. eine ganze Anzahl ethnologisch inter-
essanter Beobachtungen. Vor allem wird die
Erscheinung der Transhumance gut heraus-
gestellt. Genau wie Ägypten, so ist auch
der Iran ein großer Friedhof vergangener
Völker und deren Kultur. Der hohe Wert
der bekannten Luristan-Bronzen scheint
schon seit über zwanzig Jahren bis in die
abgelegensten Zelte und Winterquartiere
der Luri gedrungen zu sein.
Wertvoll sind auch die Angaben über die
Art der Modernisierung, deren größte Lei-
stung zweifellos in der Herstellung des Lan-
desfriedens liegt — übrigens ein Faktum,
das besonders von den kleinen Leuten an-
erkannt wird.
Nach der Lektüre muß man mit Bedauern
die große Lücke besonders der deutsch-
sprachigen Ethnologie für das Gebiet des
vorderen Orients feststellen, sehr im Gegen-
satz zur Archäologie und Philologie.
Das „Vergnügen“ der Autorin waren
offenbar kartographische Aufnahmen, deren
Notwendigkeit nicht bestritten werden kann.
Es ist bedauerlich, daß es nicht möglich
war, das Buch auch mit Bildern auszustat-
ten. Die Kartenbeilagen sind allerdings
dafür um so besser.
Die Übersetzung Ist gut, jedoch haben
sich eine ganze Anzahl Flüchtigkeitsfehler
eingeschlichen, Kuh Garn anstatt Garn
(S. 18), die Luris anstatt Luri (S. 28), oder
der gleiche Ausdruck kommt in verschie-
dener Schreibweise vor wie z. B. Ittiwand
und Ittivend oder Tcharasch und Tscharasch
(S. 52 f). Solche Dinge lassen sich ver-
meiden.
Im ganzen ein Buch, dessen deutsche Aus-
gabe nur begrüßt werden kann. Glück
MIROK LI:
Der Yalu fließt. Eine Jugend in Korea.
15.—17. Tsd. — München: Piper (1950).
219 S. DM 6.80.
Es gibt wenig Bücher, die so viel inne-
res Empfinden atmen wie das eben wie-
der neu aufgelegte entzückende Buch „Der
Yalu fließt“ von Mirok Li, der im Jahre
1919 während der Verfolgung sein Heimat-
land verließ und bis zu seinem Tod am
20. März 1950 in Deutschland lebte.
Das Buch ist in deutscher Sprache ge-
schrieben, mit ungewöhnlicher Einfachheit
und Geistestiefe, den charakteristischen
Merkmalen des Volkes von Korea, das „Das
Land der großen Schönheit“ genannt wird.
Mirok Li beschreibt in diesem Buch den
Umgang mit seinen Spielkameraden, sein
koreanisches Heimatland mit seinen Ber-
gen und Tälern, Feldern und Wäldern, die
Pavillone auf den Gipfeln der sanft ge-
schwungenen Hügel, den nie ermüdenden
Blick auf die fruchtbaren Ebenen, auf die
Flüsse und das große Meer mit seinen zahl-
losen Inseln. Überraschend ist Lis zärtliche
Liebe zu seiner Mutter und Schwester, die
beide, mehr ahnend als wissend, seinen Blick
auf die westliche Weisheit und Wissenschaft
lenkten, wodurch sie die Grundlage schufen
für seine spätere Arbeit und seinen Beruf. Es
war auch seine Mutter, die ihn in allen Le-
benslagen mit Ratschlägen unterstützte und
ihm nach dem Tod seines Vaters während
des Aufstandes des koreanischen Volkes
gegen die japanische Fremdherrschaft zur
Flucht über den Yalu verhalf. In nahezu je-
dem Kapitel kommt Lis große Liebe und
Verehrung für seine Mutter zum Ausdruck.
Aber er hatte auch große Achtung und Zu-
neigung für seinen Vater. Obwohl dieser
nur ein einfacher koreanischer Bauer und
Landbesitzer war, war er doch ein Mann
mit gründlichen und weitreichenden litera-
rischen Kenntnissen, der seinen Sohn früh
die chinesische Schrift, die alten Klassiker
und selbst die Dichtkunst lehrte. Köstlich
beschrieben ist die Ergebenheit im Umgang
mit seinem Vater, wie er Schach mit ihm
254
B uchhespreckungen
spielt oder mit ihm spazieren geht, wie die-
ser Musik treibt oder singt, bis der Tod ihn
von seiner Familie reißt.
Der Konflikt zwischen der alten und
neuen Richtung kommt in diesem ausge-
zeichneten Buch sehr gut zur Geltung. Mi-
rok Li erlebt beide, was ihn besser als sonst
jemanden befähigt, den Geist der beiden
Sphären der Wissenschaft in sich aufzuneh-
men, und neben seiner feinen inneren Qua-
lität ist es diese Tatsache, die dem Buch in
unseren Augen seinen Wert verleiht.
Auf jeder Seite wird die Liebe des Ver-
fassers zu seinem unglücklichen Lande offen-
bar. Es ist nicht nur das „wunderbare Land“,
das ihn bezauberte, auch mit seinem Volke
fühlt er sich in tiefer Zuneigung verbunden.
Sein immerwährendes Bemühen ging dahin,
ihm zu helfen, aber sein Wunsch, ein Heim
in Korea zu schaffen zur Pflege der großen
Kulturgüter des Westens und Ostens, ging
nicht mehr in Erfüllung. Andre E(Wt
ABSHAGEN, KARL HEINZ:
Im Lande Arimasen. — Stuttgart: Union
Deutsche Verlags-Gesellschaft (1948). 375
Seiten. Hin. DM 6.80.
Der Verf. hat von 1941 bis 1946 als Jour-
nalist im Femen Osten, vor allem in Japan,
gelebt, somit für das Schicksal der östlichen
Welt sehr entscheidende und infolge der
Verhältnisse recht bewegte Jahre dort zu-
gebracht. Seine Eindrücke und Erlebnisse in
dieser ereignisreichen Zeit hat er in dem vor-
liegenden Buche niedergelegt. Es gibt ein
anschauliches Bild besonders des japani-
schen Lebens während der Jahre, als der
Kriegssturm über die Insel hinwegzog, und
weist seinen Verfasser als einen klugen und
scharfen Beobachter aus, der bemüht war,
in den Begebenheiten und Erlebnissen des
Alltags (der ein Kriegsalltag war) jenseits des
Zufälligen das Wesentliche zu erkennen. Mit
vorsichtig wägendem Urteil sucht er das Ge-
sehene und Erlebte zu deuten. Kenner des
Femen Ostens werden ihm dabei allerdings
nicht immer zustimmen können. Zu dem in
Japan Beobachteten treten noch Eindrücke
aus China, Korea und der Mandschurei. Der
Ethnologe findet interessante Angaben vor
allem auch in dem Kapitel über die „Japa-
ner als Kolonisatoren“.
Das dem Verf. im Japan der Kriegsjahre
immer wieder begegnete Wort „arimasen“
(auf deutsch so viel wie „das haben wir
nicht“, „das gibt es nicht“), womit man eine
uns aus eigenen Mangeljahren nur zu wohl
vertraute Erscheinung, nämlich das Nicht-
vorhandensein, das Fehlen so vieler ange-
nehmer und nützlicher Dinge ausdrückte,
wurde ihm zum Inbegriff für die Situation
des Unzulänglichen, der Inkongmenz der ja-
panischen Welt überhaupt, die er „zwischen
den gewaltigen Wirkungen und den Mensch-
lein, von denen sie ausgelöst wurden“, zu
sehen glaubte und die er „tragikomisch und
zugleich menschlich rührend“ empfand. Ja-
pan erschien ihm so als das Land Arimasen,
das Land des Unzulänglichen, schlechthin.
Der Verf. selber kennzeichnet seine Auf-
zeichnungen als feuilletonistisch. Man wird
ihm gerne zu gestehen, daß es Feuilletonis-
mus im besten Sinne ist. Die klare und flüs-
sige Darstellungsweise bereitet dem Leser
ebenso großen Genuß wie der Reiz der zeit-
lichen Nähe der in dem Buche niedergeleg-
ten Eindrücke. Auch wer Informierung über
die Entwicklung der politischen Gescheh-
nisse im Femen Osten zwischen 1941 und
dem Zusammenbruch Japans sucht, wird auf
seine Kosten kommen.
Jäger
JORDAN, FRANCIS:
In den Tagen des Tammuz, Alt-Babylo-
nische Mythen. München 1950. R. Piper
6- Co.-Verlag.
Dieser Versuch, die Mythen aus den Ta-
gen des Alt-Babylonischen Frühlingsgottes,
allen voran das Gilgamesch-Epos in einer
modernen handlichen Ausgabe wiederzuge-
ben, ist sehr geglückt. Im Gegensatz zu son-
stigen, für ein breiteres Publikum bestimm-
ten Werken wissenschaftlichen Inhaltes hat
die Verfasserin durch den kurzen geschicht-
lichen Abriß des Zwei-Strom-Landes, sowie
die Grabungs- und Entdeckungsgeschichte
selbst dem unbefangenen Leser ein gutes
orientierendes Gerüst in die Hand gegeben.
Ein Verzeichnis der Götter- und Eigenna-
men sowie Quellenhinweise runden das
Ganze ab.
Für die Deutungsversuche fühlt sich der
Rez. nicht zuständig — aber die mehrfache
Berufung auf Bachofen macht es klar, daß
der betonte Kampf der Geschlechter, zwi-
schen älterem Mutter- und jüngerem Vater-
recht, das Entstehen dieser Mythen auf das
Buchbesprechungen
255
früh-pflanzerische Erlebnis zurückführt, wie
auch das Erlebnis des Todes, das in dieser
Form Seßhaftigkeit voraussetzt.
Dem gut ausgestatteten Buche wünschen
wir viele und dankbare Leser. Glück
BEHRMANN, WALTER:
Die Versammlungshäuser (Kulthäuser) am
Sepik in Neu-Guinea. Mit 22 Zeidin. und
8 Abh. ln: Die Erde, 1950/51, H. 3—4,
S. 305—327.
Diese kleine verdienstvolle Arbeit des an-
gesehenen Geographen stellt eine Nachlese
der völkerkundlichen Resultate der deut-
schen Sepik-Expedition 1912/13 dar. Die
ethnologischen Ergebnisse dieser Expedition
sind bekanntlich infolge des frühzeitigen To-
des von Roesicke, der sidi mit Thumwald
in die völkerkundlichen Aufgaben der Un-
ternehmung geteilt hatte, nie in einer zu-
sammenfassenden Bearbeitung dargestellt
worden. Es ist daher dankbar zu begrüßen,
daß Behrmann, der als Geograph an der Se-
pik-Expedition teilnahm, mit der vorliegen-
den Veröffentlichung, die den Zeremonial-
und Kulthäusem gewidmet ist, den bisher
bekanntgewordenen Teilergebnissen weite-
res Material hinzufügt.
Als Nichtethnologe beschränkt sich der
Verf. darauf, sein Material unter Beigabe
von Skizzen und Fotos nach der formalen
Seite hin zu beschreiben, wobei die schon
von Reche und Neuhauß veröffentlichten
Beispiele zum Vergleich herangezogen wer-
den. So ist eine Art Katalog aller bis 1913
erkundeten Männerhäuser am Sepik entstan-
den, der einen vortrefflichen Überblick über
den Formbestand gibt.
Zeremonial- oder Männerhäuser finden
sich am Sepik vom Mündungsgebiet an
stromauf bis zum Aprilfluß, sowie auch im
Bereich der dazwischen mündenden Neben-
flüsse. Je weiter stromauf, desto stattlicher
werden die Häuser. Die Zone ihrer großar-
tigsten Entwicklung liegt oberhalb der Ein-
mündung des Südflusses. Weiter stromauf
werden die Männerhäuser wieder kleiner
und ändern dabei auch ihr kon mktives Ge-
sicht. Für die Häuser des ganzen Unter- und
Mittellaufs ist die Pfahlbaukonstruktion cha-
rakteristisch, bei der sich über der ebenerdi-
gen Halle ein oberes Stockwerk, eine Platt-
form, auf gesonderten Pfählen erhebt. Die
letzten Häuser stromauf sind dagegen nur
ebenerdige Räume, über die sich das Dach
hoch emporschwingt. Von den Formelemen-
ten des Männerhauses ist am auffallendsten
das lange, tief eingesattelte Dach, das an
einer oder beiden Giebelseiten entweder mit
einem Hom schräg nach oben ausgreift oder
aber (weiter stromauf) zu einer regelrechten
Turmspitze hochgezogen ist. Während die
Giebelfront bei den Männerhäusem am un-
teren Stromlauf entweder offen oder nur durch
ein unter dem Giebelhorn vorspringendes
pultartiges Regendach abgeschlossen ist, sind
an den stattlichen Häusern weiter stromauf
die Giebelwände gewöhnlich mit übereinan-
dergelegten sogenannten Attapziegeln aus
Kokospalmblättem geschlossen. Wichtig ist
aber an den Häusern des Mittellaufs vor
allem die weitere Ausgestaltung des Gie-
bels. Unter der zur Spitze ausgezogenen
Turmhaube befindet sich eine große Gesichts-
maske mit Nasenschmuck und vorgestülpter
Oberlippe, unter der ein Maul weit auf-
klafft. Von der Unterlippe hängen meist
drei hart- oder zungenähnliche Spitzen nach
unten. Bisweilen treten auch zwei oder drei
solche Gesichtsmasken im Giebel auf. Die
eine oder andere Einzelheit kann manchmal
fehlen, immer aber ist das drohende, weit
auf gerissene Maul vorhanden. Es handelt
sich hierbei natürlich um nichts anderes als
die Darstellung des Ungeheuers, von dessen
Rachen die Knaben bei der geheimen Ju-
gendweihe verschlungen werden. Solche
Darstellungen sind ja auch anderwärts an
den Männerhäusem, dem Schauplatz der
Jünglings weihen, üblich, wie z. B. im Purari-
Gebiet Britisch-Neuguineas, wo das ganze
Haus die Gestalt des Ungeheuers wiederge-
ben soll und die Giebelseite mit der vorgrei-
fenden Dachspitze den geöffneten Rachen
darstellt. Unter den von Behrmann auf ge-
führten Zeremonialhäusem am Sepik be-
findet sich ein kleines ebenerdiges, in dessen
hochgezogene Vorderseite man „wie in einen
Riesenrachen“ hineinblickt (S. 324). Die
Turmspitze der großen Männerhäuser ist
häufig von einem Seelenvogel mit einer
menschlichen Figur in den Fängen gekrönt.
Die Männerhäuser des Sepikgebietes ste-
hen immer auf einem freien, sauber gehalte-
nen Platz und unmittelbar vor den Häusern
liegt ein „Kulthügel“, um den herum zu-
weilen große Steine aufgestellt und Betel-
palmen gepflanzt werden. Auf diesen Hügel
256
Buchbesprechungen
werden u. a. die Schädel der Kopfjagdopfer
niedergelegt.
Wenn der Verf. meint, das Gebiet der
Versammlungshäuser decke sich nicht mit
anderen ethnologischen Grenzen am Sepik,
so ist demgegenüber darauf hinzuweisen,
daß gerade die Zone der großen und bau-
künstlerisch eindrucksvollsten Männerhäu-
ser ziemlich genau zusammenfällt mit dem
Kemgebiet der durch ihre hohe Kunstentfal-
tung gekennzeichneten Kultur des Sepikmit-
tellaufs. So fügt sich der Befund am Mate-
rial der Männerhäuser gut in das allgemeine
Kulturbild ein.
Die Ethnologen werden trotz den Einwän-
den des Verf., der die Bezeichnung „Ver-
sammlungshaus“ für besonders treffend hält,
den in ihrem Fach eingebürgerten Bezeich-
nungen „Männerhaus“, „Kulthaus“, „Zere-
monial- oder Geisterhaus“ angesichts der ja
auch von Behrmann mehrfach betonten, völ-
lig eindeutigen kultischen Funktion dieser
Häuser den Vorzug geben.
Der Verf. schickt seiner Materialübersicht
einleitende Bemerkungen über das enge
Verhältnis von Kunst und Religion, über den
inzwischen weit vorgeschrittenen Verfall der
Eingeborenen-Kultur, über die Landschaft
des Sepikgebietes und den Wanderungs-
und Besiedelungsverlauf voraus. Er enthält
sich im übrigen, wie schon erwähnt, jeder
Deutung des vorgelegten Materials und
überläßt es den Ethnologen, die Zusammen-
hänge zu klären. Vor allem die Ozeanisten
werden dem Verfasser für die Bereitstellung
dieses Materials dankbar sein. Jäger
PANTENBURG, VITALIS:
Zum Dach Europas. Aus den nordischen
Tagebüchern des Verfassers. Union Deut-
sche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1948.
PANTENBURG, VITALIS:
Wild-Ren. Jagdfahrten auf nordischer
Hochsteppe. Union Deutsche Verlagsge-
sellschaft, Stuttgart 1949.
PANTENBURG, VITALIS:
Arktis. Erdteil der Zukunft. August Ba-
gel Verlag, Düsseldorf 1949.
In kurzer Folge ließ der bekannte Arktis-
reisende die drei Bücher erscheinen — alle
drei eine Liebeserklärung an den hohen
Norden unseres Kontinents und an die Ark-
tis übe: haupt.
Das Tagebuch gilt vor allem der norwe-
gischen und altfinnischen Nordmark. In sehr
aufschlußreicher Weise werden hier persön-
liche Erlebnisse mit zahlreichen wirtschaft-
lichen, politischen und historischen Tatsachen
dem Leser dargeboten.
Das zweite Buch schildert die Jagdfahrten
des Verf. auf die südlichsten Wild-Ren-Be-
stände in der Vidda, auf den steinigen Hal-
den ir, i Hochland unweit des Hardanger
Fjords. Auch hier wieder versteht er es aus-
gezeichnet, Landschaft und Tierwelt spre-
chend nahezubringen und den Leser zum
Begleiter seiner Jagden mit Kamera und
Büchse zu machen.
Es ist der moderne Stadtmensch, auf den
die unbewohnte Öde und Weite dieser nörd-
lichen Länder wirkt und die er wohl auch
romantisch überschätzt, denn sonst wären
diese nördlichen Gebiete reicher besiedelt.
Bei aller erstaunlichen Kenntnis Panten-
burgs, die sich insbesondere in seinem drit-
ten Buch „Arktis“ äußert, sind wir nicht ganz
überzeugt, daß sich hier für uns ein neuer
Erdteil aufgetan hat. Im ebengenannten
Buch findet der Leser alles Wissenswerte
von den gesamten arktischen Gebieten, von
Europa, vom russischen Kola über Spitzber-
gen bis nach Nordkanada und Alaska zu-
sammengetragen. Ein umfangreicher An-
hang gibt statistische und historische Über-
sichten, die eine rasche Orientierung erlau-
ben. Mit den beigegebenen Literaturanga-
ben sowie dem Personen- und Sachregister
hat de r Verf. ein Handbuch der Arktiskunde
geliefert.
Wenn auch für unser engeres Fachgebiet
alle drei Werke nur ein peripheres In-
teresse besitzen, so haben wir doch die
kenntnisreiche Darstellung anzuerkennen. In
sprachlicher Hinsicht hätten wir uns ge-
wünscht, daß manche Formulierungen uns
etwas weniger an den Jargon des Dritten
Reiches erinnern würden. Die Ausstattung
mit den eigenen Aufnahmen des Verf. —
zum Teil farbig — ist hervorzuheben. Glück
ROBERT MERTENS:
Eduard Rüppel. Leben und Werk eines
Forschungsreisenden. Verlag Waldemar
Kramer, Frankfurt a. M. 1949.
S
Buchbesprechungen
stellt damit zugleich einen wertvollen Bei-
trag zur Geschichte der Wissenschaft dar.
Glück
Der Leiter des berühmten Senckenberg-
Museums in Frankfurt legt in dem statt-
lichen und reich bebilderten Buch eine aus-
gewogene Biographie einer der bedeutend-
sten Forscherpersönlichkeiten des vergange-
nen Jahrhunderts vor — von Eduard
Rüppel.
Bei den Ethnologen, insbesondere den
Afrikanisten, hat der Name dieses ebenso
eigenwilligen wie universalen Mannes, der
für die Wissenschaft und für seine Vater-
stadt Frankfurt so viel getan hat, einen guten
Klang. Seine beiden Bücher „Reisen in
Nubien, Kordofan und in den peträischen
Arabien ...“ (1829) und vor allem seine
„Reise in Abyssinien“ (1838) sind eine auch
heute noch frische Fundgrube wertvoller
Informationen.
Eduard Rüppel, der aus einer wohl-
habenden Kaufmannsfamilie hugenottischer
Abkunft entstammte, wurde am 20. 11. 1794
in Frankfurt geboren, wo er auch hoch-
betagt am 10. 12. 1884 starb. Seine größten
Leistungen lagen auf naturwissenschaftli-
chem Gebiet, vor allem auf dem der Zoolo-
gie, daneben aber trat er auch als Minera-
loge, Petrograph und Kartograph hervor.
Seine meteorologischen Beobachtungen sind
heute noch wertvoll. Die geisteswissenschaft-
lichen Fächer förderte er durch seine Bei-
träge zur Ethnologie, Archäologie und Nu-
mismatik.
Schon im Jahre 1816 kam er zum ersten
Male nach Ägypten, das ihn dann mit seinen
Nachbarländern nicht mehr los ließ. Er be-
reiste Sinai, Fajum, Nubien, Kordofan,
Abessinien und die Küsten des roten
Meeres. In Abessinien weilte er allein vier
Jahre, von 1830—34. Hinter diesen aus-
gedehnten Reisen zu jener Zeit steht ein
außerordentlicher Aufwand an Mut und
seelischer Widerstandskraft.
Die für die damalige Zeit neuartigen und
überdies umfangreichen Sammlungen kamen
so gut wie ganz dem Senckenbergischen
Museum zugute.
Dem eigentlichen biographischen Teil hat
der Verf. die autobiographischen Bruch-
stücke, Briefe und wenig bekannte Aufsätze
sowie ein Schriftenverzeichnis beigefügt.
Dank der spürbaren inneren Anteil-
nahme des Verf. ist das Buch über das Per-
sönliche hinaus ein kulturgeschichtliches
Dokument von großem Reiz geworden und
HANS ZINSSER:
Ratten, Läuse und die Weltgeschichte.
Verlag Gerd Hatje, Stuttgart und Calw,
1949. 318 Seiten. Aus dem Amerikanischen
übersetzt von Gertrud Arntz-Winter.
Der Mensch als Wirt parasitärer Klein-
Lebewesen ist ein Thema, das der Ethnologe
in den Kreis seiner Beobachtungen einbe-
ziehen sollte. Denn mehr noch als wir selbst
sind die Naturvölker in ihrem Bestand vom
Wirken epidemisch auf tretender Krankhei-
ten abhängig. Zinsser geht es in erster Linie
um eine Biographie des Flecktyphus. Die
medizingeschichtlichen Prolegomena, die er
jedoch dem eigentlichen Thema voranstellt,
beanspruchen fast die Hälfte des gesam-
ten Buches. Dies braucht man keineswegs
zu bedauern, da hierbei eine Unzahl von
klugen Bemerkungen und Feststellungen
abfällt, in denen der Verf. auf die engen
Zusammenhänge zwischen dem Verfall
einer Gesellschaft und den Wanderungs-
bewegungen einerseits sowie dem Auftre-
ten von Seuchen andererseits hin weist. Ab-
gesehen vom zahlenmäßigen Verfall haben
die eine solche Epidemie begleitenden Ge-
fühle der Angst und des Schreckens auch
eine weitgehende moralische Auflösung zur
Folge. Zweifellos bestehen auch sehr enge
Beziehungen zwischen der Bevölkerungs-
dichte, dem hygienischen Niveau und damit
der geistigen Bewältigung der für jede soziale
Gruppe vorhandenen Probleme der Lebens-
fürsorge. Die geringe Dichte der Naturvöl-
ker hing niemals von der Geburtenrate ab,
sondern von der hygienischen Gefährdung,
die sich automatisch verstärkte, wenn das
dem sozialen und wirtschaftlichen Zustand
entsprechende demographische Optimum
überschritten wurde.
Wir glauben es dem bekannten ameri-
kanischen Bakteriologen nicht ganz, wenn
er die Fakten so mühelos aus dem Ärmel
zu schütteln scheint, er hat seinem histori-
schen „hobby“ viel Mühe und Arbeit ge-
widmet. Er bestätigt die Ansicht, daß es
die Angelsachsen besonders gut verstehen,
wissenschaftliche Themen allgemeinver-
ständlich darzustellen.
258
Buchbesprechungen
Die Übersetzung ist gut und flüssig, die
Ausstattung in der von Gerd Hatje bereits
gewöhnten ausgezeichneten Weise vorge-
nommen. Glück
WHITE, ANNE TERRY:
Versunkene Kulturen. Das romantische
Abenteuer der Archäologie. Übersetzt von
Gertrud Arntz-Winter, Stuttgart 1949,
Verlag Gerd Hatje.
Diese Übersetzung aus dem Amerikani-
schen liefert eine Monographie des archäo-
logischen Abenteuers, wobei die Fundum-
stände sowie die Energie der Männer, die
bei der Aufdeckung der frühgeschichtlichen
Kulturen Pioniertaten vollbracht haben, in
lebendiger Weise dargestellt wird.
Die Verfasserin beginnt mit dem Werk
Heinrich Schliemanns, dessen Traum vom
alten Troja Wirklichkeit geworden ist.
Die bedeutenden Funde des einen großen
Friedhof darstellenden Ägyptens werden in
ihrer oft romantischen Entdeckungsge-
schichte ebensowenig vergessen wie die ge-
heimnisvollen Hügel von Babylon und Ni-
nive.
Die Fundsuche hat sich bekanntlich auch
in der Neuen Welt in immer stärkerem Maße
entwickelt und ist von den Namen Stephens
und Thompsons nicht zu trennen. Diese Tat-
sachen sind meist noch unbekannter als die
der Alten Welt.
Gegenüber der umfassenderen Darstel-
lung Cerams fällt die Darstellung der Ver-
fasserin rein inhaltlich etwas ab, jedoch ihre
gewandte Feder und die Fähigkeit, kompli-
zierte Dinge einfach zu sagen, machen dieses
Buch zu einer empfehlenswerten Bereiche-
rung und geben einen ausgezeichneten und
lesbaren Begriff von der Geschichte der Ge-
schichte.
Buchausstattung und Bebilderung sind
ausgezeichnet. Glück
259
AUTORENANSCHRIFTEN
m 11
Ludwig Ankenbrand, Stuttgart N, Relenbergstraße 24
Prof. Dr. Andre E c k a r d t, Starnberg (See), Possenhofener Straße 33
Prof. Dr. Georg Eckert, Braunschweig, Wilhelmitorwall 4
Wolfgang E r p e 11, cand. phil., Ottobeuren, Ottostraße 213
Dr. Julius F. Glück, Linden-Museum, Stuttgart N, Hegelplatz 1
Prof, Dr. Helmuth vonGlasenapp, Tübingen, Hausserstraße 1
Prof, Dr, Martin G u s i n d e , Catholic University of America,
Washington 17, D.C., U.S.A.
Dr. Ferdinand Herrmann, von-Portheim-Stiftung, Heidelberg, Hauptstraße 235
Dr. Helmut Petri, Frobenius-Institut, Frankfurt a. M., Myliusstraße 29
Dr. Erich F, P o d a c h , 51, rue Monge, Paris Ve
Prof. Dr. Carl R a t h j e n s , Hamburg 39, Eppendorferstieg 11
Prof, Dr. Karl Salier, Anthropologisches Institut der Universität, München 2,
Richard-Wagner-Straße 10
Dr. Günther Spannaus, Northeim (Hann.), Breite Straße 7
Prof. Dr. William Thalbitzer, Kebenhavn, Solgaarden 10
Herbert T j a d e n s , Ebersteinburg bei Baden-Baden
Prof. Dr. Hermann Trimborn, Bonn, Schumannstraße 80
Manuskripteinsendungen an die Herausgeber: Dr. Julius F. Glück
und Fritz Jäger, Linden-Museum, Stuttgart N, Hegelplatz 1,
Gedruckt mit Unterstützung des Werbefunks des Süddeutschen Rundfunks, Stutt-
gart, und der Stadtverwaltung Stuttgart bei der Zentral Druckerei, Stuttgart, Sene-
felders traße 75.
Ahi)
Abb. 3. Hausafrau mit Kalebasse. —
1. Phase: Tonkern (Kat. Nr, 60302).
— 2. Phase: Zeroplastik über Ton-
kern (Kat. Nr. 60303), 136 mm hoch,
Wachsschicht, ca. 3 mm stark.
Abb. 4. Hausafrau mit Kalebasse,
fertiger Guß (Kat. Nr. 60307).
Abb. 5. Hahn (Kat. Nr. 60313).
phot, Kirchenberger
Abb. 4
phot. Kirchenberger
Abb. 6. Gesichtsmaske einer Hausa-
frau (Kat,
Nr. 60311)
phot. Kirchenberger
Abb. 7. Sei
von Abb. 6.
phot. Kirchenberger
Abb. 14. Erotische Tafel (Kat. Nr. 60308). Reproduktion einer alten Aufnahme,
phot. Linden-Museum
Abb. 19. Das Aus-
sortieren der Gin-
sengwurzel in
Korea.
phot. Eckardt
Abb. 20. Geister-
kiefer mit Tempel-
chen und Stein-
haufen.
phot. Kuqelqen
Abb. 18. Die besondere Form
der Lauben, in denen die
Sam-Wurzel kultiviert wird.
phot. Eckardt
Abb. 21. Berggeist Samsin als Einsiedler und Spender unsterblichen
Lebens, Koreanisches Gemälde. phot. Eckardt
Abb. 22. Strohpuppe als Opfergabe für den
Berggeist Samsin, phot. Eckardt
Abb. 23. Der koreanische Berggeist mit Tiger und Be-
gleitfiguren. phot. Eckardt
Abb. 28. Schurze der Silene. Nach Bruchstücken von Bonn (links),
Amsterdam (Mitte), Boston (rechts).
Abb. 29. Kultisches Pflügen. Darstellung auf einer schwarzfigurigen
Schale des Archäolog. Museums Florenz.
Abb. 32, Schuhlänge; 155 mm,
Höhe; 63 mm.
„Chinesen“-Schuh im Verfall
19. und 20. Jahrhundert
(Bilder: Bally-Schuhmuseum, Schönenwerd [Aaraul,
Nrn. 388, 385, 400, 415. Von Herrn Konservator Ed.
Engensperger freundlichst zur Verfügung gestellt.)
Abb. 31. „Vornehmer" Schuh, Soh-
lenlänge: 88 mm, Höhe: 93 mm.
Abb. 33. Schuhlänge:
150 mm, Höhe: 60 mm.
Im Absatz ein Glöck-
chen eingebaut.
Abb. 34. „Volksschuh", a: Die Sohle (155 mm) zeigt das rudimentäre
überleben der beim Sitzen sichtbaren Verzierung,- b: Seitenansicht.
Europäische Analogien zum „Chinesen -Schuh
(Bilder: Bally-Schuhmuseum, Schönenwerd (Aaraul)
Abb. 35. Frauenschuh, 17. Jahrh., Frankreich. Die
Unterlagensohle zeigt, daß solche Schuhe als Geh-
werkzeuge benutzt wurden. Das war nicht möglich
ohne Unterlagensohle, wie sie auch von Männern mit
z. T. unglaublich hohen Absätzen (z. B. Philipp I. von
Orléans, Gemahl der Elisabeth Charlotte von der
Pfalz) getragen wurden.
Abb. 36. Damenschuh, 18. Jahrh.,
Frankreich,
Abb. 37. Empire-Damenschuh, Anfang 19. Jh., Frankreich. Schuhe ohne Absatz, als Gehwerk-
zeuge unbrauchbar, erfüllen die gleiche soziale Funktion (Vornehrnheitszeichen) wie Schuhe
mit exzessiv hohem Absatz.
JAHRBUCH
DES LINDEN-MUSEUMS
Museum für Länder- und Völkerkunde
Württembergischer Verein für Handelsgeographie E.V.
STUTTGART
Im Auftrag des Vorsitzenden
Dr. h. c. THEODOR G. WANNER
Generalkonsul
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