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Michael Oppitz
Anthropos 83.1988
Sonne am Morgen um 12 hät, zwölf Ellen, nach
Osten und am Abend um zwölf Ellen nach
Westen. Aus diesem beobachteten ,Sprung 4 der
Sonne leiten die Magar von Taka (einem Dorf am
Oberlauf des Uttar Ganga im Dhaulagiri Gebiet)
die Herkunft des Wortes für Sonnenwende ab,
nam cui, ,Hackbrett des Himmels 4 : Wie von
einem Hackbrett die zerschlagenen Fleischstücke
nach beiden Seiten springen, so springt die Sonne
am Tage der Sonnenwende nach Osten und We
sten. Da Taka nahezu rundum von einem Panora
ma von Bergkämmen unterschiedlicher Höhe um
geben ist, erscheint und verschwindet die Sonne
im Verlaufe des Jahres tatsächlich nicht jeden
Tag in vollkommen gleichen Abständen an einer
anderen Stelle. Für drei Tage nach dem ,Sprung 4
der Sonne verharren nach Maßgabe der Dörfler
Sonnenaufgang und Sonnenuntergang an der glei
chen Stelle; danach, vom 15. des Monats Pus an,
werden die Tage länger und das aszendierende
Jahr beginnt. Genau an diesem Tage setzen die
männlichen Bewohner des Dorfes ein Bogenwett
schießen in Gang, das bis zum 1. des Monats
Magh, bis zum Sonnenwendfest mäghe sahkränti,
täglich in der gleichen Weise wiederholt wird. Es
heißt mui sesine, ,den Pfeil (des Gegners) splei
ßen 4 . Dieses Bogenschießen ist selbst nur ein
Vorspiel zu jenem Wettkampf mit Pfeil und
Bogen, der als eines der großen Themen des
winterlichen Sonnenwendfestes herausragt, mui
sesine, ,den Pfeil des Gegners spleißen 4 , besteht
darin, daß einer der am Wettkampf teilnehmen
den Schützen - meist junge Männer des Dorfes -
einen Bambuspfeil schräg in die Erde schießt,
den dann die übrigen Teilnehmer aus einer Di
stanz von etwa 20 Metern von der anderen Seite
her mit Pfeilschüssen zu treffen, zu durchbohren,
zu ,spleißen 4 trachten. Wer als erster den gegneri
schen Pfeil gesplissen und zerbrochen hat, gilt als
Sieger. Daraufhin stellt der Sieger einen seiner
Pfeile als Ziel zur Verfügung und das Spiel
beginnt von neuem. Mit dieser oftmals wiederhol
ten Übung schießt man sich ein für den eigentli
chen Wettkampf des Zielscheibenschießens am
ersten Tage des Sonnenwendfestes; zugleich hofft
man, durch möglichst viele Spleißungen gegneri
scher Pfeile die Effizienz der Konkurrenten zu
schwächen.
Das Fest mäghe sahkränti, das den Anfang
des Sonnenjahres markiert, beginnt früh am Mor
gen des 1. Magh mit einer rituellen Waschung
aller männlichen Dorfbewohner im Fluß. Mit
dieser Waschung entledigen sich die Männer aller
Unreinheiten, die sich im Laufe des voraufgegan
genen Jahres angesammelt haben mögen. Phy
sisch und symbolisch gereinigt, treten sie nun
einen neuen Jahreszyklus an. Am Ende der kur
zen rituellen Waschung sprechen sie in festste
henden Redewendungen zueinander: ,Wir sind
die Überlebenden aus dem Jahre zuvor. Wenn
wir im kommenden nicht sterben, so werden wir
uns hier in einem Jahre Wiedersehen. 4
Die Entsprechungen zwischen Übergängen im
menschlichen Leben und Übergängen der Jahres
zeiten, auf welche die obigen Redewendungen
anspielen, werden noch expliziter an einem ande
ren rituellen Ereignis des gleichen Tages. Nach
dem bereits am Vormittag die erwachsenen cili,
die ausheiratenden Töchter, im Zentrum einer
rituellen Handlung gestanden haben (s. u.), füh
ren am Nachmittag ihre kleineren Geschlechtsge
nossinnen einen Akt auf, den die Magar putali
mune, ,Verbrennen der Puppen 4 nennen. Dabei
ziehen, entsprechend ihren zukünftigen Heirats
klassen in Gruppen aufgeteilt, kleine cili-Mäd-
chen mit Puppen, die aus Stoff und Lumpen
zusammengebastelt sind, an verschiedene Stellen
vor das Dorf, wo sie, zusammen mit gleichaltri
gen Jungen der bhänja- oder Frauennehmer-
Klasse, für ihre Puppen Modellhäuser, zim, aus
Maisstroh errichten. Nachdem die Stoffpuppen
auf die Dächer der errichteten Strohhäuschen
gebettet worden sind, womit diese sich gleichsam
in symbolische Scheiterhaufen verwandeln, legen
die Jungen an das Ganze ein Feuer, sie verbren
nen die Puppen 4 .
Aus der Perspektive der kleinen Mädchen
repräsentieren die verbrannten Puppen die nänä,
die verstorbenen älteren Schwestern, die sie nun,
wie während eines richtigen Totenrituals, zere
moniell beweinen. Und wie bei einem echten
jutho khyene, einem wesentlichen Akt des in
Phasen aufgegliederten Totenzeremonials, am
Ende der Trauerzeit, die Frauen ein ausgelasse
nes Bankett veranstalten, so verteilen die kleinen
c;7i-Mädchen im gespielten Trauerspiel nach der
Verbrennung der Puppen mitgebrachte Speisen
untereinander und an ihre männlichen Spielka
meraden. Zugleich werden kleine Opfergaben an
die Ahnen und die übrigen Übernatürlichen dar
gebracht. Gegen Ende des Kinderspiels Ver
brennen der Puppen 4 adressieren die cili-Mäd
chen einander mit den gleichen Redewendungen
wie am Morgen die Männer: ,Wir sind die Über
lebenden aus dem Jahre zuvor. Wenn wir im
kommenden nicht sterben, so werden wir uns hier
in einem Jahre Wiedersehen. 4 Die lebenszykli
schen Themen der Passagen: Leben-Tod-Regene-
ration (bzw. Überleben oder Übergang in den