Anthropos 92.1997: 59-67 Patenschaft, Residenz, regionaler Zusammenhalt Zusammenhänge im Nordfinistere, Frankreich Reinhard Jonas Abstract. - In western Brittany, France, the most important persons in families are, because of the traditional transmission of immobile goods, the mothers’ mothers. Theoretically grand parents are godparents; practically, parents’siblings take that place, but children usually bear grandparents’names. So we find a vertical and a diagonal family coherence. This mechanic is projected into the region, and Anna, Christ’s grandmother, is a symbol for regional identity. [France, Brittany, social structure, kinship, regional identity] Reinhard Jonas, M.A., Anthropologe; Feldforschung in Frank- reich. - Publikationen: Hand in Hand. Kirchliche Form und soziale Funktion. Mainz 1991. 1 Einleitung Es geht in diesem Aufsatz darum, daß kirchliche Kulturelemente für die Identifikationen von Men schen mit ihrer räumlichen und sozialen Umge bung eine erhebliche Rolle spielen können. Weite re Diskussionen mögen zeigen, ob man für “kirch lich” auch “staatlich” setzen kann (oder “obrigkeit lich” in irgendeinem anderen Sinn). Mir scheint es auch möglich, die hier vorgebrachten Items auf andere Gebiete oder mir noch nebulöse Strukturen anzuwenden. Im hier betrachteten Gebiet gelten, nach An sicht der Einheimischen, die vorgestellten Phäno mene zumindest “auch”. Es liegt eine Anthropo logie des Übersetzens von einem intellektuellen Dialekt in einen anderen vor; von einer Praxis in eine Theorie, oder besser von Handeln in verbale Zusammenfassungen. Was anderes kann Wissen schaft, als einen Überblick in Worten zu geben? Das Untersuchungsgebiet umfaßt das zentrale Gebiet der Landschaft Léon im Nordfinistère, Bre tagne, Frankreich, ein Streifen zwischen der Ree de von Brest und der Kanalküste. “Léon” ist der Name einer vorrevolutionären Diözese; wie man sieht, halten sich Zurechnungen einer Bevölkerung und damit auch die Bezeichnungen manchmal län ger als Verwaltungseinteilungen. Religion kann auf zahlreiche andere Lebens bereiche einwirken. In einem katholischen Ge biet wie dem Léon ist Religion vor allem durch die Kirche präsent; sie ist eine übergreifende Insti tution, die weit über den Rahmen der praktizierten Religion hinaus auf das Zusammenleben der Men schen einzuwirken scheint. Tatsächlich muß man jedoch den Eindruck gewinnen, daß auf niedriger Ebene dieser Vorgang auch umgekehrt funktio niert: Die kirchlichen Vorgaben richten sich auch nach den Wünschen der Bevölkerung. 1 Wir werden sehen, wie ein kirchliches Kultur element, die Patenschaft, Verwandtschaftsstruktu ren soweit beeinflussen kann, daß Verwandtschaft in Bezug auf Allianz und Residenz eine Stufe weiter identifiziert werden kann, als es ohne Paten schaft der Fall wäre bzw. einen wichtigen Beitrag zur regionalen Identität leistet. Das leonardische Verwandtschaftssystem nutzt das kirchliche Angebot so gut aus wie möglich. Um die Genese der Erscheinung soll es dabei nicht gehen. Es ist klar, daß es eine Reihe von Varian ten gibt, so daß der vorgestellte Gedankenstrang “grundsätzlich” (im juristischen Sinn) gilt. Der Hintergrund ist, daß der Bretagne die eige ne Staatlichkeit im Januar 1790 genommen wurde und in der Folge die Kirche die einzige große Institution war, die die Bretagne als Nation aner kannte. Durch staatlicherseits geförderte Urbani sierung und Mobilität der modernen Gesellschaft und das damit verbundene soziale Netz sind die geschilderten Erscheinungen nicht mehr so wichtig wie früher, und sie werden sich bald wandeln, wie sie sich stets gewandelt haben. Das Beschriebene kann man als ein cultural lag des 19. Jahrhunderts ansehen: in mancher Beziehung ging das 19. Jahr hundert in diesem Gebiet erst Anfang der 1950er 1 Deutlich zu sehen ist dies, wenn Priester Neuerungen in der Kirchengemeinde einführen wollen: Schaffen sie es nicht, die “maßgeblichen Kreise” davon zu überzeugen, gibt es kaum eine Chance. Diese “maßgeblichen Kreise” sind im Untersuchungsgebiet zumeist die lose organisierten älteren Frauen. Manchmal geht man den Weg des Referendums.