Anthropos 92.1997: 139-163
Zum Begriff der Deszendenz
Ein selektiver Überblick
Wolfgang Kraus
Abstract. - Descent has been a basic concept in anthropology
at least since Morgan’s times. Theorizing descent has preoccu
pied British and American anthropologists to a much greater
extent than their German-speaking collegues, and their efforts
have produced various and contradictory positions. Concen
trating on the works of Rivers, Radcliffe-Brown, Fortes, and
Scheffler, a number of different theoretical constructions of
descent are compared and examined as to their consistency and
theoretical utility. Scheffler’s argument that there are serious
formal reasons for defining the concept in such a way as to
exclude “bilateral” or “cognatic descent” is accepted. Contrary
to Scheffler, however, it is concluded that some ideological
aspects should be retained in the definition of descent. [Descent,
kinship, history of anthropology, structural-functional anthro
pology]
Wolfgang Kraus, Studium der Völkerkunde und Musikwissen
schaft in Wien, Dr. phil. (Wien 1989), Lektor an der Universität
Wien, derzeit APART-Stipendium der Österreichischen Akade
mie der Wissenschaften; - Feldforschungen in Marokko (1983,
1985, 1995); - Publikationen u. a.: Die Ayt Hdiddu: Wirtschaft
und Gesellschaft im zentralen Hohen Atlas (Wien 1991); Seg
mentierte Gesellschaft und segmentäre Theorie: Strukturelle
und kulturelle Grundlagen tribaler Identität im Vorderen Orient
(Sociologus 1995).
Die Entdeckung der gesellschaftlichen Dimensio
nen von Verwandtschaft und Abstammung in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann als einer
der entscheidenden Anstöße zu der Entwicklung
einer kulturvergleichenden Wissenschaft von der
Gesellschaft angesehen werden. Die kulturellen
Auffassungen von den Abstammungszusammen
hängen gehören ohne Zweifel zu den zentra
len Inhalten der Ethnologie, auch wenn sie in
letzter Zeit vorübergehend aus dem Vordergrund
der theoretischen Diskussionen verdrängt worden
sind, und die Begriffe, die auf sie Bezug neh
men, wie etwa Matri- oder Patrilinearität, zäh
len nach wie vor zum Handwerkszeug der Diszi
plin. Es erscheint klar, was wir meinen, wenn wir
von Abstammung, oder präziser, von Deszendenz
sprechen. Der vorliegende Aufsatz unternimmt
es, diesen Anschein von Klarheit zu überprüfen.
Dazu soll die Geschichte des Deszendenzbegriffs
anhand einiger einflußreicher Beiträge durch die
vergangenen sieben Jahrzehnte verfolgt werden.
Eine sorgfältige Lesung dieser oft klassischen
Texte wird es ermöglichen, sie im Hinblick auf
die ihnen zugrundeliegenden Auffassungen von
Deszendenz zu interpretieren und auf ihre in
nere Schlüssigkeit, ihre Übereinstimmungen und
Gegensätze hin zu untersuchen. Die Vielfalt der
Standpunkte, die dabei zutage treten wird, mag für
viele Leser ähnlich unerwartet sein wie für den
Autor dieser Zeilen.
Was ist Deszendenz?
In seiner allgemeinsten ethnologisch relevanten
Bedeutung bezeichnet Deszendenz - das hier mit
dem englischen descent gleichgesetzt wird - den
kulturell anerkannten genealogischen Zusammen
hang zwischen einer Person und irgendeinem sei
ner Vorfahren, gleich welchen Geschlechts. Wenn
hier eine Begriffsbestimmung unter Berufung auf
den englischen Terminus vorgenommen wird, so
ist dies in der Tatsache begründet, daß die unter
schiedlichen kulturellen Konstruktionen verwandt
schaftlicher und genealogischer Beziehungen vor
allem in der englischsprachigen Ethnologie oder
Anthropologie zu theoretischen Reflexionen und
zu Bemühungen um einen analytisch präzisen
Abstammungsbegriff geführt haben. Entsprechend
werden sich unsere Betrachtungen auch auf die
Beiträge einiger britischer und amerikanischer
Autoren beschränken.
Die Notwendigkeit, sich in einer präzisen Ter
minologie auf den englischen Begriff und die
an ihm angestellten theoretischen Überlegungen
zu berufen, wird auch im französischsprachigen
Raum verspürt. Gewöhnlich steht an seiner Stelle
das französische filiation, doch wird durch die
sen Gebrauch die Unterscheidung zwischen zwei
grundlegenden Dimensionen der Abstammung, die
im Englischen seit den Arbeiten von Meyer Fortes
mit den Begriffen descent und filiation getroffen
wird, unmöglich gemacht (näheres dazu unten). Es