Franz von Benda-Beckmann: Rechtspluralismus 11
pluralismus, die nichts oder nur wenig mit dem wirklichen, empirischen Rechts-
pluralismus zu tun habe.
Ich meine, daß diese Charakterisierung weitgehend zutrifft, der Vorwurf jedoch
unberechtigt ist, und daß sie dazu neigt, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
Natürlich handelt es sich bei derartigen Darstellungen kolonialer Rechtssysteme
um normative Konstruktionen. Sie machen deutlich, wie der Rechtspluralismus aus
der Sicht der staatlichen Instanzen und der Rechtswissenschaft sein solle. Und wenn
sie vorgibt, ein umfassendes Bild der Rechtswirklichkeit zu geben, ist sie sicher auch
ideologisch. Aber die meisten Juristen waren sich der Beschränkheit ihrer eigenen
Arbeit sehr wohl bewußt. Hooker stellt das eindeutig klar. Seine Darstellung sei eine
Wiedergabe der Wirklichkeit, aber einer Wirklichkeit, die in ihrer Art und Form durch
die Eigenschaften der dominanten Systeme beschränkt sei (1975: 445).
Auch macht Ideologiekritik noch keine gute Wissenschaft. In dem Bemühen, der
Normativität und Ideologie des Rechtszentralismus die Wirklichkeit des Rechts-
pluralismus entgegenzusetzen, kreiert diese Kritik nämlich ihren eigenen blinden Fleck.
Dieser liegt darin, daß es nicht nur staatlich-rechtliche Ordnungen sind oder sein
müssen, die die Geltungssphäre normativer Teilordnungen festzulegen versuchen.
Ähnliche Demarkierungen können auch aus der Sicht der anderen Teilordnungen
vorgenommen werden, aus der Sicht gewohnheitsrechtlicher oder religiös-rechtlicher
Ordnungen. Ob und in welcher Weise dies geschieht, ob rein pragmatisch oder wis-
senschaftlich und weltanschaulich theoretisierend, ist eine empirische Frage. Meine
eigene Forschung in Indonesien ließ auf jeden Fall die Bedeutung hiervon sehen. Schon
lange vor der Kolonialisierung Westsumatras wogte dort der Konflikt zwischen tradi-
tionellem Adat und dem Islam. Beide normativen Systeme hatten ursprünglich einen
allgemeinen Geltungsanspruch. Mit dem Kommen des holländischen Kolonialrechts
wurde dies ein Dreiecksverhältnis. Die Minangkabausche Geschichte ist eine langer
Prozeß von friedlichen Unterhandlungen und konfliktiven Konfrontationen, bis hin
zum Bügerkrieg, über den jeweiligen Geltungsbereich der Teilordnungen. Proponenten
aller drei Systeme formulierten ihren eigenen ‘weak legal pluralism’. Die zum schwa-
chen Rechtspluralismus führende, ich zitiere Vanderlinden (1989: 153), „Einsicht des
staatlichen Systems in das eigene Unvermögen, seinen eigenen totalitären Geltungs-
anspruch zu realisieren, und zu verdecken, was eigentlich von Anfang an offensicht-
Dies ist übrigens auch die Position, auf die ich mich selbst zurückgezogen hatte, als ich 1970 meine
Dissertation über den Rechtspluralimus in Malawi schrieb. Ich ließ damals die Frage, ob die native laws
und customs der malawischen Stämme nun Recht gewesen waren oder nicht, offen, und zog mich mit
Geiger (1964) aus der Affäre: unabhängig davon waren sie durch Geigers so benannte legislatorische
Autorisation im kolonialen Nyasaland zu Recht geworden (Geiger 1964: 183; E. von Benda-Beckmann
1970: 22). Das lag einerseits an meiner damaligen Unfähigkeit, weitergehend über diese Frage nachzu-
denken, andererseits auch an meiner damaligen Faszination von der begrifflichen und gedanklichen Schärfe
von Geigers Arbeiten.