Zeitschrift für Ethnologie 115 (1990)
Damit verbunden ist die zweite Annahme, daß Kulturen nicht fest zu umreißende
und definierbare Größen sind, sondern daß sie jeweils nur in den Konturen wahrge-
nommen werden, mit denen sie sich in einer bestimmten Begegnungssituation von an-
deren abheben. Was eine Kultur ist, ist also relativ und definiert sich immer wieder neu
aus einer spezifischen interkulturellen Begegnungssituation heraus. Dies verweist er-
neut auf den Dialog und die interkulturelle Erfahrung als den Ort, von wo aus die Eth-
nologie der Begegnung ihren Anfang nimmt. Er ist dort, wo lebendige Menschen mit
unterschiedlichen Wertungen, Sichtweisen, Perspektiven, Erfahrungen, Interessen,
Interpretationsmustern usw., die sie jeweils mit anderen teilen, zusammentreffen. An-
hand der Konfrontationslinien, die in einem solchen Zusammentreffen entstehen,
d. h. anhand der Punkte, an denen Unterschiede zutage treten, lassen sich die unter-
schiedlichen kulturellen Wertesysteme, Handlungs- und Interpretationsmuster, die
eine Kultur bestimmen, beschreiben und deuten. Methodisch kann dies durch ein qua-
litatives Forschungsvorgehen, das sich der Methode der phänomenologischen ,Epo-
che“* und der Methode des ,hermeneutischen Zirkels*? bedient, gewáhrleistet wer-
den. In diesem Fall sind eigene Erfahrungen des Forschers der unerláfiliche Anknüp-
fungspunkt der Untersuchung. Das Vorverstindnis des Forschers dient als Basis zur
ersten Hypothesenbildung und als Ausgangspunkt der Untersuchung. Im Verlauf des
dialogischen Verstindigungsprozesses zwischen Forscher und Interviewpartnern
wird es jedoch zunehmend ergänzt, revidiert und erweitert, bis es auf einer höheren
Ebene, im Licht der durch den Forschungsprozeß gewonnenen Erkenntnisse, ın einen
neuen, übergeordneten Zusammenhang eingeordnet werden kann. Dabei stellen per-
sönliche Erfahrungen des Forschers und Untersuchung keine voneinander getrennten
Ebenen dar. Sie befinden sich in einem Wechselverhältnis zueinander, das dazu führt,
daß die subjektive Erfahrung sich in eine intersubjektive Erkenntnis wandelt.S
Der Gedanke der „Vermittlung“ führt auch zu der dritten Annahme, daß nämlich
zwischen kulturellen Werten, Kategorisierungen, Handlungsmustern und Normen
und deren Anwendung in der Praxis ein ständiger wechselseitiger Bezug entsteht, der
sowohl die Gestaltung der Wirklichkeit nach den ideellen Annahmen als auch die Ver-
änderung der ideellen Konzepte nach den Erfahrungen in der Wirklichkeit zur Folge
hat. Kulturen sind daher in ständiger Veränderung begriffen, ihr wesentliches Merk-
mal ist die Innovation (Rudolph 1983). Einen Impuls zu Reflexion und, als mögliche
Folge, Veränderung, gibt die interkulturelle Begegnung. Durch sie kann eine Kon-
frontation mit eigenen, unbewußten Einstellungen und Handlungsmaximen erfolgen,
die möglicherweise zu einem Durchbrechen des Kreislaufes der Selbstbestätigung von
kulturellen Annahmen, insbesondere Vor-Urteilen führt und dann Anstoß zu Verän-
derungen im Verhältnis einer Gesellschaft zu Mitmenschen, „Fremden“ und ihrer na-
türlichen Umwelt geben könnte. Indem sich die Ethnologie der Begegnung von die-
* Vergleiche zur Darstellung dieser Methode in der Ethnologie Mühlmann 1984: 157.
> Siehe dazu Gadamer 1986: 270-281.
$ Siehe hierzu die Ausführungen in meiner Arbeit, a.a.O., S. 152-158.