Jakob Mehringer/Jürgen Dieckert: Körper- und Wesensauffassung der Canela 253
Hat sich allerdings der Schatten des aus dem Schlaf Gerissenen allzusehr er-
schreckt, geht Acaro weit weg und wird unweigerlich vom Mecaro erfaßt und damit
selbst zum Mecaro: der Mensch stirbt.
Die Mecaro-Gesellschaft bewohnt weder ein entferntes Paradies noch eine ent-
fernte Hölle — sie besteht vielmehr, wenngleich unsichtbar, neben den Menschen auf
der Erde. Die Mecaro stellen sich für die Canela-Indianer nicht entrückt dar, sondern
sind wirklich, der konkreten Erfahrung zugänglich. Ein Jäger beteuerte uns, daß er bei
einem Jagdausflug durch einen Mecaro vom Baum gerissen worden sei und beinahe ge-
storben wäre: „Ich fühlte, wie man mich am Bein zerrte — ich konnte aber niemanden
entdecken.“ Als ein anderes Mal ein kleiner Junge vom Baum gefallen war, sich dabei
schwer verletzt hatte, erzählte man sich, daß ihn sein verstorbener Großvater von dem
Fruchtbaum gestoßen hätte. Jener hätte es schon zu Lebzeiten nicht gerne gesehen,
wenn sich jemand an seinen Fruchtbäumen zu schaffen machte.
Die Siedlung der Mecaro-Gesellschaft liegt nach Angaben des Obermedizinman-
nes in der Nähe der Canela-Siedlung. Diese unsichtbare Dorfanlage — sie sei in ihrer
Struktur mit der realen Canela-Dorfanlage identisch — kann aber nur vom eingeweih-
ten Medizinmann betreten werden. Die übrigen Gesellschaftsmitglieder vermeiden es,
sich in die Nähe der Mecaro-Siedlung zu begeben. Das Leben der Mecaro denkt man
sich in gleicher Weise organisiert wie das der menschlichen Gesellschaft.
Nicht nur beim Schlaf entsteht die Gefahr der Aufspaltung der Einheit des
menschlichen Wesens, sondern noch in manch anderen Situationen. So zerbricht sıe
im Zustand des Wachseins, z. B., wenn den einzelnen „Scham“, Apahäm, bzw. „Wut“
und „Zorn“, Incryc, befällt oder er unter gewissen Umständen „leidet“ (Ztycri = ich
leide, wörtlich: „ich sterbe ein wenig“).
Die Gründe für ein tiefes Beschämtsein sind vielfältig: Mangelnder Jagderfolg, das
Gefühl, ein schlechter Läufer oder Sänger zu sein, von der Schwiegermutter, der
Schwester oder dem Onkel (Mutterbruder) als Vielfraß betitelt zu werden, der Hin-
weis des Vaters, man würde seine Schwester nicht respektieren, der Vorwurf, man
wáre ein schlechter ,Gevatter*, Hopin."
Im Falle von Wut und Zorn ist das Entweichen des ,Schattens* nur zu befürchten,
wenn sich das Gefühl gegen eine verwandte Person richtet. Die Gründe für das Aut-
kommen von Wut und Zorn wurden im einzelnen nicht benannt.
In jedem Fall wird der Mensch nach dem Aufbrechen seiner Einheit, dem Entwei-
chen des Abbildes als ,Schatten*, traurig. Gelingt die Wiederherstellung der Einheit
nicht, erkrankt er schließlich und stirbt. Die Rückkehr des „Schattens“, die Wiederve-
A eign
! Die Canela reden alle nicht verwandten Personen, d. h. auch Mitglieder anderer Ethnien, mit dem Termi-
nus Hopin an und bringen dadurch ihre Respekthaltung zum Ausdruck. Im eigenen Dorf betrifft die Anrede
hauptsächlich verschiedene, nicht verwandte Personen, mit denen man eine tiefe Solidaritätsbeziehung un-
terhält. Verletzt sich z. B. ein Canela-Indianer, eilt sofort sein Hopin (weiblich: Pintswey) herbei und ver-
Sucht, sich die gleiche Verletzung zuzufügen. Meist wird er aber davon abgehalten. Gevattern meiden an-
Sonsten, aus tiefem Respekt voreinander, den Umgang. Trifft man sich doch einmal, senkt man den Blick.