i
2£7. ,
Das Sexualleben
unserer Zeit
in seinen Beziehungen zur modernen Kultur.
Von
Dr. med. Iwan Bloch,
Spezialarzt für Haut- und Sexuaileiden in ßerün-Charlottenburg
Verfasser von „Ursprung der Syphilis“ etc. etc.
41,-60. Tausend.
Siebente bis neunte, um einen Anhang
vermehrt© Stereotyp-Auflage.
Berlin SW, 81,
Louis Marcus Verlagsbuchhandlung,
iaaTl.
1909.
4 TA 5"9 3P
■-
Atta Rechte, insbesondere das
der Uebersetzung !n fremde
Sprachen, Vorbehalten, ,*»
VH 3^öo
Vorrede.
Seit mehr als zehn Jahren hat Verfasser des vorliegenden
Werkes sich theoretisch und praktisch mit den Problemen des
Sexuallebens beschäftigt und dieselben in seinen verschiedenen
früheren Schriften nicht bloß vom Standpunkte des Arztes, sondern
auch von dem des Anthropologen und Kulturhistorikers be-
trachtet, in der Ueberzeugung, daß eine rein medizinische Auf-
fassung des Geschlechtslebens, obgleich sie immer den Kern der
Sexualwissenschaft bilden wird, nicht ausreiche, um den viel-
seitigen Beziehungen des Sexuellen zu allen Gebieten des mensch-
lichen Lebens gerecht zu werden. Um die ganze Bedeutung der
Liebe für das individuelle und soziale Leben und für die kulturelle
Entwicklung der Menschheit zu würdigen, muß sie eingereiht
werden in die Wissenschaft vom Menschen überhaupt,
in der und zu der sich alle anderen Wissenschaften vereinen, die
allgemeine Biologie, die Anthropologie und Völkerkunde, die
Philosophie und Psychologie, die Medizin, die Geschichte der
Literatur und diejenige der Kultur in ihrem ganzen Umfange.
Soweit das einem einzelnen möglich ist, hat sich der Verfasser
bemüht, diese so verschiedenen Gesichtspunkte in der Erforschung
des Sexuallebens überall zu berücksichtigen, um eine allseitigfe,
objektive Betrachtung der einschlägigen Probleme zu ermög-
lichen. Besondere Aufmerksamkeit hat er auch den in den letzten
Jahren hervorgetretenen Bestrebungen sozialer, wirtschaft-
licher und rassenhygienischer Natur auf dem Gebiete
des Sexuallebens zugewendet, wie sie namentlich in der Frage
der so wichtigen Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, des
Mutterschutzes und der freien Liebe aktuell geworden sind. Ver-
IV
fasser hat kein Hehl daraus gemacht, wie er das auch in seinen
im Aufträge der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten in zahlreichen deutschen Städten gehal-
tenen Vorträgen ausgeführt hat, daß die Bekämpfung und Aus-
rottung der Geschlechtskrankheiten das Zentral problem der
ganzen sexuellen Frage ist, ohne dessen Lösung eine Reform,
Veredelung und Vervollkommnung des Liebeslebens unserer Zeit
unmöglich ist. Da glücklicherweise über diesen Punkt zwischen
den Anhängern des Alten und den Verfechtern des Neuen, zu
denen der Verfasser sich zählt, eine erfreuliche Uebereinstimmung
herrscht, so ist dieser erste und wichtigste Gegenstand der Sexual-
reform, der die Herbeiführung der physischen Reinheit in den
Beziehungen der Geschlechter und die Gesundung unseres ganzen
Liebeslebens betrifft, bereits tatkräftig und mit Erfolg in An
griff genommen worden. Auch zu den heute aktuellen Fragen der
konventionellen Ehe und der freien Liebe, des außerehelichen
Geschlechtsverkehrs, der Prostitution, der geschlechtlichen Ent-
haltsamkeit, der sexuellen Erziehung, der Verhütung der Emp-
fängnis, der sexuellen Rassenhygiene, der pornographischen Lite-
ratur hat der Verfasser eine bestimmte und klare Stellung
genommen und auf Grund seiner Forschungen hier überall die
Entartungstheorie bekämpft und ist zu demselben Ergebnis
gelangt, wie neuerdings Elias Metschnikoff und Georg
Hirth, daß auch auf sexuellem Gebiete ein stetiger Fortschritt,
eine beständige Vervollkommnung unverkennbar ist und die
etwaige Degeneration und erbliche Belastung stets durch eine
Regeneration und erbliche Entlastung (Hirth) paralysiert wird.
In der Darstellung ist die genetische Methode möglichst
befolgt worden, so daß der Leser nicht nach einzeln und willkür-
lich herausgegriffenen Kapiteln das Werk richtig beurteilen kann,
sondern nur nach zusammenhängender Lektüre des Ganzen.
Erst dann wird er z. B. verstehen können, weshalb ich so außer-
ordentlich scharf den „außerehelichen“ Geschlechtsverkehr be-
kämpfe und doch für die „freie“ Liebe im Sinne Ellen Keys
eintrete.
Ich darf wohl behaupten, daß das vorliegende Buch eine
Lücke auf dem Gebiete der Sexualliteratur ausfüllt. Es gibt
bisher kein einziges umfassendes Gesamtwerk über das
Sexualleben, in dem alle die zahlreichen und wertvollen For-
schungen und Arbeiten in allen Teilen der Sexualwissenschaft
V
kritisch verarbeitet worden sind. Es ist allerhöchste Zeit,
daß einmal der Versuch unternommen wird, das geradezu ungeheure
bisher vorliegende Material einigermaßen zu sichten und nach
einheitlichen Gesichtspunkten darzustellen. Bei dem regen Inter-
esse und Forschungseifer auf diesem Gebiete dürfte es schon in
wenigen Jahren einem einzelnen unmöglich werden, eine solche
Gesamtdarstellung zu unternehmen. Was in den letzten 30 Jahren,
also seit Beginn der eigentlichen wissenschaftlichen Sexual-
forschung, Wertvolles geleistet worden ist — die in dieser Zeit
geschaffenen Grundlagen für das Studium des Sexuallebens —
das wird, so hoffe ich, der Leser im vorliegenden Werke finden,
das als eine Enzyklopädie der gesamten Sexual-
wissenschaft gedacht ist auf Grund meiner eigenen Er-
fahrungen und Beobachtungen und durchaus prinzipiellen Stellung-
nahme zu allen einschlägigen Problemen. Es stand mir von vorn-
herein fest, daß nur eine selbständige, originelle Durch-
arbeitung des ganzen umfangreichen Gebietes von Wert sei. Diesen
Versuch habe ich gemacht und hoffe so auch dem Kenner und
Spezialforscher, besonders dem Mediziner und Anthropologen, viel
Neues zu bieten, in klinischer, wissenschaftlich-theoretischer und
kulturhistorisch-literarischer Beziehung.
Besonders möchte ich aufmerksam machen auf den Nach-
weis (S. 44), daß Weiningers „M+W-Theorie“ sich bereits
in Heinses „Ardinghello“ findet, auf die erstmalige Mit-
teilung eines bisher unveröffentlichten Schopen-
hauerschen Manuskriptes über Tetragamie (S. 273
bis 275), das also hier im Erstdruck vorliegt, auf die Er-
klärung einer Stelle aus Goethes „Wahlverwandtschaften“ aus
einer japanischen Quelle (S. 268—269), auf den sowohl in
politischer wie in psychologisch-medizinischer Beziehung inter-
essanten Beitrag zur Psychologie der russischen
Revolution in Form der authentischen Entwick-
lungsgeschichte eines sexuell perversen russi-
schen Revolutionärs (S. 646—668).
Ich schrieb das Buch für alle ernsten Männer und
Frauen, die sich über die sexuellen Probleme orientieren und
sich über die Ergebnisse der so verschiedenartigen Forschungen
auf diesem Gebiete unterrichten wollen. Welche eminente Be-
deutung das echte kritische Wissen über die Verhältnisse des
Geschlechtslebens für das Individuum, den Staat und die Gesell-
VI
Schaft hat, habe ich im Text wiederholt erörtert und muß darauf
verweisen.
Da der festgesetzte Umfang des Werkes um ein Beträcht-
liches überschritten wurde, so mußte auf die Beigabe eines Namen-
und Sachregisters verzichtet werden. Jedoch bieten die im Texte
den einzelnen Kapiteln beigefügten genauen Inhaltsübersichten
einigen Ersatz dafür.
Zum Schlüsse meinen herzlichen Dank den alten und neuen
Freunden, von denen ich im persönlichen Verkehr oder durch
briefliche Mitteilung so manche Anregung und wertvolle
Mitteilung empfing, vor allem den Herren Dr. Alfred
Blaschko, Dr. ErichEbstein, Geheimrat Prof. Dr. Albert
Eulenburg, Dr. Magnus Hirschfeld, Dr. Georg
H i r t h, Dr. Friedrich S. Krauß, Dr. Heinrich
Stümcke, sowie Frau Rosa Mayreder und Dr. Helene
Stöcker.
Charlottenburg, den 18. November 1906.
Dr. Iwan Bloch.
Vorrede zur zweiten und dritten Auflage.
Genau drei Monate nach, der Niederschrift der Vorrede zur
ersten Auflage ist diejenige zur zweiten und dritten notwendig
geworden. Die günstige Aufnahme des Werkes sowie die bisher
erschienenen Besprechungen aus der Feder wirklich sach-
verständiger Kritiker und zahlreiche schriftliche und mündliche
Aeußerungen gebildeter Leser aus den verschiedensten Ständen
haben mich zu meiner Freude in der bereits im Vorwort zur
ersten Auflage ausgesprochenen Ueberzeugung bestärkt, daß ein
wirkliches Bedürfnis nach einem kritisch zusammenfassenden, da-
bei von einheitlichem Geiste getragenen Werke über das Gesamt-
gebiet der Sexualwissenschaft vorlag.
Wesentliche Aenderungen an Plan und Inhalt des Buches
vorzunehmen, fand ich keine Veranlassung. Jedoch habe ich mich
bemüht, durch zahlreiche Verbesserungen, Ergänzungen, Zusätze
und Literaturnachweise das Werk auf der Höhe der Forschung
zu erhalten, soweit dies in dem kurzen Zeiträume möglich war.
Hierbei erfreute ich mich der wertvollen Unterstützung des Herrn
Medizinal-Rates Dr. Paul Näcke in Hubertusburg, eines der
wenigen Kenner auf dem Gebiete der Sexualwissenschaft. Für
die mir von ihm zuteil gewordenen Nachweisungen spreche ich
auch an dieser Stelle meinen aufrichtigen Dank aus.
Charlotten bürg, den 18. F ebruar 1907.
Dr. Iwan Bloch
Vorrede zur vierten, fünften und sechsten Auflage.
Nur wenige Worte seien der nach so kurzer Zeit — es sind
etwas mehr als 9 Monate seit Erscheinen des Werkes im Buch-
handel verflossen — notwendig gewordenen neuen Auflage, der
4.-6., vorausgesehickt.
Vor allem muß ich an dieser Stelle für die zahlreichen
Beweise des Interesses an meinem Buche danken, die mir durch
fast täglich eintreffende Briefe zuteil geworden sind, da es mir
unmöglich ist, jede Zuschrift einzeln zu beantworten. Es spricht
sich in diesen Aeußerungen zahlreicher Männer und Frauen ein
so hoher sittlicher Ernst, ein solches Verständnis für die Notwendig-
keit einer Reform unseres ganzen Sexuallebens im Sinne einer
vernünftigen Lebensauffassung aus, daß ich darin die schönste
Bestätigung für den von mir vertretenen Optimismus zu finden
glaube und daraus die innige Hoffnung schöpfe, daß der Kampf
gegen die in meinem Buche geschilderten Schäden und Dis-
harmonien auf sexuellem Gebiete mit Ernst und Energie auf-
genommen wird. Nur Gutes kann daraus hervorgehen!
Unter den zahlreichen weiteren Kritiken und Meinungs-
äußerungen über das vorliegende Werk hat mir die nachfolgende
spontane Zuschrift die größte Freude bereitet:
„Batavia, 8. 5. 1907.
Verehrter Herr Kollege! Mitten aus der Lektüre
Ihres letzten Buches heraus drängt es mich, Ihnen
zu sagen, wie sehr ich von dem Werke, das Sie
geschaffen, erfreut bin und wrie sehr ich es be-
wundere. Stimme ich auch in manchen Fragen nicht
mit Ihnen überein, die Haupttendenz entspricht
vollkommen meinen Anschauungen, wie ich Ihnen
schwarz auf weiß beweisen könnte. Also: gratulor!
Ihr ergebener
A. Neißer
Diese "Worte aus dem Munde eines Mannes, der nicht bloß
als wissenschaftlicher Forscher auf dem Gebiete der venerischen
Krankheiten an der Spitze steht, sondern auch einer der Ersten war,
die zum Kampfe gegen Prostitution und Venerie aufgerufen und
ihn tatkräftig organisiert haben, der endlich mit weitem Blicke das
ganze hiermit in Zusammenhang stehende Gebiet des Sexuallebens
überschaut, diese Worte des augenblicklich auf Java zur Fortsetzung
seiner epochemachenden Syphilisforschungen weilenden Herrn
Geheimrat Prof. Dr. Albert Neißer bedeuten für mich die größte
Anerkennung, die mir für meine bisherige wissenschaftliche Tätig-
keit zuteil geworden ist. Sie sind mir ein Ansporn, unbeirrt und
konsequent auf dem bisher betretenen Wege fortzugehen, der für
jeden ehrlichen wissenschaftlichen Forscher der gleiche ist und stets
durch den Irrtum zur Wahrheit führt. Der Weg zur Wahr-
heit ist mit Irrtümern gepflastert. Das Ziel der Wissenschaft ist
die Wahrheit, nicht eine Theorie, der zuliebe man an Irrtümern,
die man als solche erkannt hat, mit Hartnäckigkeit festhält.
Eine wesentliche Bereicherung erfuhr die neue Auflage
durch Hinzufügung eines Namen- und Sachregisters, wodurch die
wissenschaftliche Benutzung des Werkes erleichtert wird. Die
diesmaligen Zusätze und Ergänzungen sind in einem besonderen
Anhänge am Schlüsse des Werkes vereinigt worden.
Herrn Medizinalrat Dr. Paul Näcke in Hubertusburg bin
ich für seine Beihilfe wiederum zu besonderem Danke verpflichtet.
Ebenso danke ich Herrn Primararzt Dr, Emil Bock in Laibach
für seine interessanten Beiträge.
Eine englische Uebersetzung des Buches gelangt demnächst
ln London zur Ausgabe.
Oharlottenburg, den 16. September 1907.
Dr. Iwan Bloch.
Vorrede zur siebenten, achten und neunten Auflage.
15 Monate nach Erscheinen der drei letzten, 22 000 Exemplare
umfassenden Auflagen des Buches, ist ein Neudruck erforderlich
geworden, der in. der gleichen Auflagenzahl erscheint und um
einen neuen Anhang vermehrt worden ist, in dem ich die wich-
tigsten neuen Literaturangaben und tatsächlichen Fortschritte
der Sexualwissenschaft verzeichnet habe.
Ich mache besonders aufmerksam auf die überraschende
Tripperstatistik von Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Wilhelm
Erb zu Seite 441, wonach die frühere Angabe auf dieser
Seite zu berichtigen ist, ferner auf die bedeutsame psycho-
analytische Methode von Prof. Sigmund Freud, durch die
der Sexualwissenschaft ganz neue Perspektiven eröffnet werden,
endlich auf die ebenso zukunftsreiche Serodiagnostik der Syphilis.
Auch heute muß ich an dieser Stelle den vielen, vielen
Korrespondenten meinen Dank für das ernste und ehrliche
Interesse an meinem Buche und den darin vertretenen Anschau-
ungen aussprechen, das sie in ihren Briefen bekundeten, deren
große Zahl es mir unmöglich machte, alle einzeln zu beantworten.
Am meisten erfreute mich die Anerkennung, die das Buch
neuerdings auch in theologischen Kreisen verschiedenster Richtung
gefunden hat. Ich verweise ,u. a. nur auf die Analyse desselben
von Konsistorialrat v. Rohden in der „Zeitschrift für Sozial-
wissenschaft“ (1908, Heft 2 und 8) und auf die Schrift „Sexuelle
Ethik“ von Pastor B a a r s (Berlin 1908).
Inzwischen ist eine ungarische Uebersetzung des Werkes
erschienen, eine italienische von Prof. Carrara in Turin (mit
Vorwort von Prof. Cesare Lombroso) ist in Vorbereitung
und erscheint Mitte 1909.
Charlottenburg, den 15. Januar 1909.
Dr. Iwan Bloch.
Inhalts-Verzeichnis
Seit»
Einleitung........................................................... 1
Erstes Kapitel. Das Elementarphänomen der menschlichen Liehe 8
Zweites Kapitel. Die sekundären Erscheinungen der menschlichen
Liebe (Gehirn und Sinne).......................................22
Drittes Kapitel. Die sekundären Erscheinungen der menschlichen
Liebe (Geschlechtsorgane, Geschlechtstrieb, Geschlechtsakt) . 41
Viertes Kapitel. Die körperlichen Geschlechtsunterschiede . . . 57
Fünftes Kapitel. Die psychischen Sexualdifferenzen und die Frauen-
frage (mit einem Anhänge über die geschlechtliche Sensibilität
des Weibes) ...................................................71
Sechstes Kapitel. Der Weg des Geistes in der Liebe.— Religion und
Sexualität .....................................................W
Siebentes Kapitel. Der Weg des Geistes in der Liebe. — Das
erotische Schamgefühl (Nacktheit und Kleidung)................135
Achtes Kapitel. Der Weg des Geistes in der Liebe. — Die Indi-
vidualisierung der Liebe......................................177
Neuntes Kapitel. Das künstlerische Element in der modernen Liebe 198
Zehntes Kapitel. Die sozialen Formen der sexuellen Beziehungen.
Die Ehe.......................................................207
Elftes Kapitel. Die freie Liebe................................... 260
Zwölftes Kapitel. Verführung, Genussleben und wilde Liebe . . . 311
Dreizehntes Kapitel. Die Prostitution (mit Anhang: Die Halbwelt) 339
Vierzehntes Kapitel. Die Geschlechtskrankheiten (mit Anhang: Die
Geschlechtskrankheiten der Homosexuellen).....................392
Fünfzehntes Kapitel. Die Verhütung, Behandlung und Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten ..................................,416
Sechzehntes Kapitel. Sexuelle Reiz- und Schwächezustände (Auto-
Erotismus, Onanie, sexuelle Hyperästhesie und Anästhesie,
Samenrerluste, Impotenz und sexuelle Neurasthenie) .... 454
Siebzehntes Kapitel. Die anthropologische Betrachtung der Psyeho-
pathia sexualis (mit Anhang: Sexuelle Perversionen durch
Krankheiten)..................................................503
Achtzehntes Kapitel. Der Abfall vom Weibe...........................530
Neunzehntes Kapitel. Das Rätsel der Homosexualität (mit Anhang:
Theorie der Homosexualität) ............. 539
«¡eit«
XII
Zwanzigstes Kapitel. Die Pseudo-Homosexualität (griechische und
orientalische Päderastie, Hermaphroditismus, bisexuelle Varie-
täten) .......................................................593
Einundzw'anzigstes Kapitel. Die Algolagnie (Sadismus und Masochis-
mus). Mit Anhang: Bin Beitrag zur Psychologie der russi-
schen Revolution (Entwicklungsgeschichte eines algolagnistichen
Revolutionärs)................................................612
Ztveiuiidz«ranzigstes Kapitel. Der sexuelle Fetischismus...........669
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Unzucht mit Kindern, Blutschande,
Unzucht mit Leichen und Tieren, Exhibitionismus und andere
geschlechtliche Perversitäten (nebst Anhang: Die Behandlung
der sexuellen Perversionen)...................................692
Vierundzwanzigstes Kapitel. Die Sittlichkeitsvergehen in forensischer
Beziehung.....................................................721
Fünfundzwanzigstes Kapitel. Die Enthaltsamkeitsfrage................734
Sechsundzwanzigstes Kapitel. Die sexuelle Erziehung.................744
Siebenundzwanzigstes Kapitel. Neomalthusianismus, sexueller Präven-
tivverkehr, künstliche Sterilität und künstlicher Abort . . . 755
Achtundzwanzigstes Kapitel. Die sexuelle Hygiene...................772
Neunundzwanzigstes Kapitel. Das Sexualleben in der Oeffentlich-
keit, Annoncen, Skandale, sexuelle Kurpfuscherei.............782
Dreissigstes Kapitel. Das Pornographische in Schrift- und Bildtum 792
Einunddreissigstes Kapitel. Die Liebe in der belletristischen Literatur 804
Zweiunddreissigstes Kapitel. Die wissenschaftliche Literatur über
das Sexualleben...............................................815
breiunddreissigstes Kapitel. Ausblick in die Zukunft................825
Anhang 1......................................................... 831
Anhang II...........................................................84 t
Namenregister..................................................... I
Sachregister......................................................Xi
I
Einleitung.
„Es scheint zwar, als wenn die Natur dem Menschen den
Zeugungsfcrieb nur zur Erhaltung der Gattung verliehen und dabei
keine Rücksicht auf das Individuum genommen habe; allein es ist
unleugbar, daß bei jener hohen Bestimmung dieses Triebes das
Individuum nicht vergessen ward.“
lieber die Kunst, ein hohes Alter zu erreichen.
Berlin 181*3, Bd. I S. 2.
Bio oh, Sexualleoen. 7.—3. Auflage.
(4t.—60. Taugend.)
Inhalt der Einleitung.
Die beiden Komponenten der modernen Liebe. — Gattungszweck
und Individualzweck. — Unzulänglichkeit des ersteren für das Ver-
ständnis der Liebe. — Die Individualisierung der Liebe durch die
Kultur. — Organischer Zusammenhang zwischen den körperlichen und
geistigen Erscheinungen der Liebe. — Ihre künftigen Entwicklungs-
möglichkeiten. — Sieg der Liebe des Kulturmenschen über den Dämon
des Geschlechtstriebes. — Unsere Zeit ein Wendepunkt in der Ge-
schichte der Lieba.
s
Die Sexualität des modernen Kul türmen scheu, d. !i. die Summe
der aus dem Geschlechtstriebe hervorgehenden und mit ihm ver-
knüpften Erscheinungen der geschlechtlichen Liebe, ist das Er-
gebnis einer Entwicklung von Jahrtausenden. In ihr spiegeln
sich alle Phasen der physischen und geistigen Geschichte des
Menschengeschlechts getreu wider. Wer die moderne Liebe und
ihren komplizierten Charakter begreifen will, muß zuvor die
schwierige Aufgabe zu lösen versuchen, nicht nur über ihre
schon der grauen Vorzeit angehörenden primitiven Grundlagen,
sondern auch über die Veränderungen und Bereicherungen der
Liebesempfindung im Laufe der Kulturentwicklung sich klar zu
werden. Aus diesen beiden Komponenten setzt sich die moderne
Liebe zusammen.
Das Wort „Liebe“ ist nur auf den menschlichen Geschlechts-
trieb anwendbar. Es besagt, daß die rein tierischen Empfindungen
bei ihm eine Bedeutung, ein Ziel gewonnen haben, das über
die Zwecke der bloßen Fortpflanzung, der Erhaltung der Art
weit hinausgeht. Das Wesen der menschlichen Liebe kann nur
begriffen und erklärt werden aus dieser innigen untrennbaren
Verknüpfung ihres Gattungszweckes und ihrer selbständigen Be-
deutung im Leben des liebenden Individuums selbst. Das ist der
springende Punkt der ganzen sogenannten „sexuellen Frage“, wie
schon hier im Anfänge dieses Werkes hervorgehoben werden soll.
Die ältere Zeit wies der menschlichen Liebe vorwiegend Gattungs-
zwecke zu. Der moderne Kulturmensch, der die Geschichte auf-
faßt als den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, hat auch
die ganz gewaltige individuelle Bedeutung der Liebe für
sein eigenes inneres Wachstum, für die eigene Entwicklung seines
freien Menschentums erkannt. Die echte, erlebte Liebe des Kultur-
4
menschen der Gegenwart ist einer der „Wege zur* Freiheit“, um
einen Ausdruck des geistreichen Georg Hirth zu gebrauchen.
In ihr offenbart und durch sie entwickelt sich sein innerstes,
individuelles Wesen. Wir können daher die diesen individuellen
Faktor ganz vernachlässigende „Metaphysik der Geschlechts-
liebe“ Schopenhauers nur als eine einseitige, wenn auch
geniale Erklärung des Wesens der Liebe bezeichnen. Und wenn
ein von Schopenhauer stark beeinflußter neuerer Schrift-
steller, Arnold Lindwurm, in der Einleitung seines Werkes
„Ueber die Geschleehtsliebe in sozial-ethischer Beziehung“ erklärt:
„Das sittliche Kriterium, welches dem Verfasser auf dem ge-
schlechtlichen Forschungsgebiete sich ergeben hat, sind die
Früchte der Liebe, die Kinder, resp. der von diesen, der
Erziehung halber, als Mittel nicht zu trennende Hausstand,
die Ehe. Hier liegt das sozial-sittliche Ziel aller Geschlechts-
liebe, daher dieser auch nur in der Kindererzeugung und Er-
ziehung der Maßstab zu ziehen ist,“ so lehnen wir von vorn-
herein diesen Standpunkt als einen dem Wesen der modernen
Liebe bei weitem nicht gerecht werdenden ab. Lehrt uns doch
die Geschichte des menschlichen Geschlechtstiiebes in unwider-
legbarer Weise, daß derselbe im Laufe der Menschheitsentwick-
lung immer mehr durch Verknüpfung mit geistig-gemütlichen
Elementen, deren Ganzes als „Liebe“ bezeichnet wird, eine fort-
schreitende Individualisierung und bestimmte Bedeutung für den
einzelnen Menschen empfing. Die Geschlechtsliebe macht heute
einen Teil des Wesens des Kulturmenschen aus, sein Sexualleben
spiegelt seine individuelle Natur deutlich wider und die Liebe
beeinflußt seine Entwicklung in nachhaltigster Weise.
Sie verknüpft auf eine ganz besondere Art die Lebens-
erscheinungen miteinander, indem sie beide Elemente derselben,
die des niederen vegetativen Lebens und die des höheren animali-
schen in sich enthält und die Einheit des Lebens zum höchsten
und intensivsten Ausdruck bringt (Schopenhauers „Brenn-
punkt des Willens“; Weismanns „Kontinuität des Keim-
plasma“).
Wer die im Laufe der Menschheitsgeschichte zutage ge-
tretenen Entwicklungstendenzen der Liebe, ihre eigentümliche
Entfaltung, Bereicherung und Veredlung durch die Kultur ver-
stehen will, der muß sich von Anfang an klar sein über dieses
5
scheu)bar dualistische, in Wirklichkeit aber durchaus einheitliche
Wesen der Liebe.
Es läßt sich das auch so ausdrücken, daß derjenige, der die
Liebe wissenschaftlich erforscht, philosophisch ergründet und
wirklich erlebt hat, wenigstens in bezug auf das Leben, auf die
organische Welt ein überzeugter Monist werden und alle duali-
stische Trennung nach einer körperlichen und geistigen Seite
hin für etwas Künstliches ansehen muß. In der Liebe offenbart
sich dieses Geheimnis des Lebendigen am meisten, wie es ahnungs-
voll seit Jahrtausenden die Dichter, die Künstler, die Meta-
physikei aussprachen, wie es wissenschaftlich-bewußt die großen
Naturforscher des 18. und 19. Jahrhunderts, vor allem Charles
Darwin und Ernst Haeckel, dargetan haben. Und es gibt
kein glücklicher gewähltes Bild, keines, das das im letzten
Grunde einheitliche Wesen der Liebe besser erleuchtete, als ein
Wort des alten Aesthetikers J. G. Sulz er, daß die Liebe ein
Baum sei, der seine Wurzeln im Körperlichen habe, seine
Aeste aber hoch über der körperlichen Welt, in der Sphäre
des Geistigen immer mehr ausbreite, immer reicher verzweige.1)
Gewiß kann es keine treffendere Vergleichung geben. Durch sie
wird uns ohne weiteres der innere organische Zusammen-
hang zwischen den körperlichen und geistigen Erscheinungen in
der Liebe klar. Sie Wurzelt immerdar in der Mutter Erde, aber
sie strebt empor in den lichten Aether. Wie der Baumkrone
eine viel reichere, mannigfaltigere, ausgebreitetere Entwicklung
zuteil wird als der Baumwurzel, so kann auch die Liebe erst
im geistigen Sein sich in die Höhe und nach allen Richtungen
hin ausbreiten, die körperliche Entwicklungsfähigkeit ist dem-
gegenüber minimal und beschränkt. Aber wie der Baum-
krone aus der Wurzel, so wird andererseits der
höheren Liebe aus der Sinnlichkeit immer wieder *)
*) „Aber es ist nicht die Natur, die die Blüten hervorbringt,
die kommen von oben, und der Geist ist’s, der sich den natür-
lichen Vorgang zum Werkzeug auserwählt, um seinen ganzen Blüten-
himmel, all seinen jauchzenden Segen über seine Lieblinge auszu-
schütten.“ (Splitter. Notrufe mit einem Aufruf von Konrad
Seher. Zürich 1891, S. 27.) — Auch der Naturforscher Kiel-
meyer, der Lehrer C u v i e r s , verglich die Genitalien mit der
Wurzel, das Gehirn mit der Krone des Baums. V gl. Arthur
Schopenhauer, Neue Paralipomena ed. G r i s e b a c h S. 217.
6
neue Nahrung zugeführt. Eben damit sie geistig reicher
werde, bedarf sie der physischen Grundlage.2) Um es kurz zu
sagen: die künftigen Entwicklungsmöglichkeiten der
menschlichen Liebe Kegen rein auf geistigem Gebiete, sind aber
untrennbar geknüpft an die weit weniger veränderlichen körper-
lichen Erscheinungen der Sexualität.
Einzig- und allein die Entwicklung und Gestaltung und
Differenzierung geistiger Elemente im Geschlechtstriebe begründen
seine innigen Beziehungen zur Kultur. Diese spiegelt sich wider
in den mannigfaltigen Phasen der Evolution des Liebesgefühles.
Denn der menschliche Geist ist im Laufe der Entwicklung
nicht nur der Herr der Erde, der elementaren Naturkräfte, er
ist auch Herr, Gebieter, Deuter und Wegweiser des Geschlechts-
triebes geworden, der ihm sein neues, eigentümliches, entwick-
lungsfähiges Leben verdankt, wie es in der Liebe sich
offenbart. Die Geschichte der Liebe ist die Geschichte der
Menschheit, der Kultur. Auch sie weist einen ständigen Fort-
schritt auf, den nur diejenigen leugnen können, welchen die
ganze tiefe Bedeutung der menschlichen Liebe für das gesamte
Kulturleben aller Zeiten noch nicht aufgegangen ist, und die
nur aus dem Fortbestehen des uralten, ewig regen Geschlechts-
triebes und seiner dämonischen Natur Grund zu der hoffnungs-
losen Verzweiflung an der Möglichkeit aller Liebe schöpfen und
damit dem Pessimismus recht geben, mit dem ein Schopen-
hauer über die Bedeutung des menschlichen Geschlechtslebens
geurteilt hat. Gewiß, jener dämonische Trieb besteht noch immer,
und allein ihm folgen, bedeutet den Tod, trostlose Oede, das
Nichts, wie Tolstoi, Strindberg, Weininger, diese
furchtbaren Ankläger der modernen „Liebe“, es in erschütternder
Darstellung vor Augen geführt haben. Aber kannten sie die
wirkliche Liebe? War ihnen die gewaltige Notwendigkeit
zum Bewußtsein gekommen, mit welcher die Kultur im Laufe
der Zeiten und der Generationen auf so mannigfaltige Weise,
auf so wunderbaren Wegen den menschlichen Geschlechtstrieb in
Liebe verwandelt, zur Liebe umgestaltet hat? Hatten sie eine
2) Sehr fein bemerkt Eduard von Hartmann, daß eins
„angebliche Liebe ohne Sinnlichkeit nur das fleisch- und blutlose
Phantasiegespenst der gesuchten Seele“ sei. (Philosophie des Unbe-
wußten. 6. Auflage, Berlin 1874, S. 196.)
?9
i
Idee von der Entwicklung der Liebe, von ihrer Stellung und
Bedeutung in der Geschickte?
Sie mögen es glauben, jene zweifelnden und verzweifeln-
den Gemüter: nichts ist verloren gegangen von allen den
geistigen Beziehungen, von allen den wunderbaren Gestaitungs-
möglichkeiten, die im Verlaufe der langen, wechselvollen Ent-
wickelungsgeschichte der Liebe sich offenbarten. Biese Entwick-
lung schildern, heißt alle jene Kulturelemente aufweisen, die
noch heute in der Liebe wirksam sind, heißt aber auch
zugleich die Richtung ihrer zukünftigen Entwicklung andeuten.
Wieder einmal stehen wir an einem großen Wendepunkte in
der Geschichte der Liebe. Altes scheidet sich von Neuem, das
Bessere wird auch hier der Feind des Guten sein. Aber das
W e s e n der Liebe als des mit höchstem geistigen Inhalt erfüllten
Geschlechtstriebes wird bestehen bleiben als unverlierbares Kultur-
gut, ja es wird immer reiner, beglückender hervortreten, wie ein
Spiegel von wunderbarer Klarheit, in dem die Kultur jeder Zeit
ihr eigentümliches Bild am getreuesten wiederfindet.
8
ERSTES KAPITEL.
Das Elementarpliänomen der menschlichen Liebe.
„Der kritische Naturforscher faßt diesen Vorgang, diese ,,Krone
der Liebe“, sehr nüchtern als den Verwachsungsprozeß zweier Zellen
und die Verschmelzung ihrer Kernmassen auf.“
Ernst Haeckel.
Inhalt des ersten Kapitels.
Die Urquelle der Liebe. — Die Verschmelzung der Keimzellen
als einfachster Ausdruck der Natur der Geschlechter. — Das aktive
männliche und passive weibliche Prinzip der Sexualität. — Darstellung
im antiken Mythus. — Bedeutung der geschlechtlichen Zeugung. —
Das wichtigste Prinzip fortschreitender Entwicklung. — Bedeutung
der Geschlechtstrennung. — Entwicklung der Heterosexualität. —
Ueberreste eines ursprünglich hermaphroditischen Zustandes bei Mann
und Weib. — Neuerwerbungen. — Das Jungfernhäutchen. — Metsch-
n i k o f f s Hypothese über die ursprüngliche Bedeutung des Hymen.
— Da3 „dritte Geschlecht“. — Die Vervollkommnung durch fort-
schreitende Differenzierung der Geschlechter. — Die Intensitäts-
steigerung der geschlechtlichen Anziehungskraft im Laufe der Ent-
wicklungsgeschichte der Menschheit. — Ursache. — Erklärung von
Paul Bée. — Theorie von Havelock Ellis. — Das psychische
Elementarphänomen der Liebe. — Eine geruchsähnliche Empfindung.
— Theorien von Steffens, Haeckel, Kröner. —■ Die spezi-
fischen Sexualgerüche der Kaprylgrupppe. — Parfümdrüsen bei Tieren
und beim Menschen. — Ein Beispiel aus dem südslavischen Folklore.
— Die Genitalstellen der Nase. — Die sexuelle Rolle der künst-
lichen Duftstoffe. — Ursprung der letzteren. — Reduktion des Riech-
organes beim Menschen. — Das primäre und sekundäre Element in
der menschlichen Sexualität. — Bölsches „Mischliebe“ und
„Distanzliebe“. — Ihre verschiedene Bedeutung.
10
Das Mysterium der geschlechtlichen Liehe, dieses „Lehens-
wunder“, aus dem der religiöse Glaube in gleichem Maße wie
die künstlerische Inspiration den besten Teil ihrer Kraft ge-
schöpft haben und noch fortdauernd schöpfen, läßt sich im
letzten Grunde auf eine einzige Fundamentalerscheinung in der
Sexualität der der großen Gruppe der Metazoen angehörenden
Tierwelt und des Menschen zurückführen. Dieser, Begattung und
Zeugung zu gleicher Zeit umfassende Vorgang ist die Ver-
schmelzung einer weiblichen Eizelle mit einer männlichen Sperma-
zelle, die „Urquelle der Liebe“ nach Haeckels Ausdruck,
neben welcher alle anderen, auch die kompliziertesten körper-
lichen und geistigen Erscheinungen nur untergeordneter, sekun-
därer Natur sind. Aus diesem ursprünglichen organischen Vor-
gänge der Anziehung und Verschmelzung der beiden „Keim-
zellen“ geht die ganze Fülle und Mannigfaltigkeit aller übrigen
körperlichen und seelischen Liebeserscheinungen hervor. Er stellt
ihr Bild im kleinen dar, wir haben in ihm gewissermaßen die
sehr vereinfachte sinnliche, unmittelbare Anschauung der Natur
der Beziehungen zwischen Mann und Weib vor uns. Auch sind
die höchsten und feinsten geistigen Eindrücke und Erlebnisse
unter dem Einflüsse der Liebe zuletzt nur die Folgen dieses
„erotischen Chemotropismus“ der Samen- und Eizelle.
Die männliche Samen- und die weibliche Eizelle bringen auf
die einfachste und überzeugendste, weil anschaulichste Weise
die tiefgehende, bereits durch die Natur vorgesehene und später
durch die Kultur nur weiter fortgebildete, gesteigerte und
verfeinerte Differenzierung der Geschlechter, die spezi-
fischen Geschlechtsunterschiede zum sichtbaren
Ausdruck.
Die Zeugung kommt durch die Wanderung der Samenzelle
zur weiblichen Keimzelle, durch ihr Eindringen in letztere zu-
11
«fände. Jene repräsentiert das aktive, diese mehr das passive
Prinzip in der Sexualität. Schon in diesem wesentlichsten
Akt der Zeugung also spricht sich das natürliche Verhältnis
zwischen Mann und Weib sehr klar und deutlich aus. Diese
Auffassung findet sich bereits im Mythus und der Gräbersymbolik
des Altertums. Hier wird stets der Mann als aktives Prinzip
dem Weibe als passives Prinzip gegenübergestellt.
„Stille und Ruhe herrscht in dem Ei; aber wenn, durch
Werdelust getrieben, der männliche Gott die Schale durchbricht
und als Enorchis sein Werk beginnt, so wird alles Bewegung,
alles ruhelose Eile, alles Triebkraft, alles ein nie endender Kreis-
lauf. Das männlich zeugende Prinzip erscheint also selbst als
der Vertreter und Träger der Bewegung in der sichtbaren Erd-
schöpfung. Wie es durch die erste Tat dazu den Anstoß gibt,
so erneuert es sie ohne Unterlaß durch stete Wiederholung der-
selben. Das tatkräftige Naturprinzip erscheint zugleich als das
bewegende . . . Geflügelt ist der Phallus, ruhend das Weib;
Prinzip der Bewegung ist der Mann, Prinzip der Ruhe das Weib;
des ewigen Wechsels Ursache die Kraft, ewiger Ruhe Bild das
Weib, weshalb die Erdmütter meist sitzend dargestellt werden.“
{Bachofen.)
Das Auftreten der geschlechtlichen Zeugung in der
Entwicklungsgeschichte der lebendigen Welt ist ein besonders
lehrreiches Beispiel für die große Bedeutung der Differenzierung
und Variation als des wirksamsten Prinzips aller Entwicklung
überhaupt. Die niedrigsten Lebewesen vermehrten sich auf höchst
einfache Weise durch ungeschlechtliche Zellenteilung, die nicht
mit Unrecht als eine besondere Art des Wachstums aufgefaßt
worden ist und sich auch noch bei höheren, sich durch geschlecht-
liche Zeugung fortpflanzenden Organismen als eben solches
Wachstum erhalten hat. Entweder löst sich bei der einfachen
Zellteilung die zweite Zelle, die „Tochterzelle“, von der alten
Zelle, der „Mutterzelle“, los und bildet ein neues, vollständiges
Individuum, oder diese Zellteilung geschieht in Form der Sprossen-
bildung, wobei die Toehterzelle mit der Mutterzelle vereinigt
bleibt und ein neues Organ bildet.
Diese Fortpflanzung durch Zellteilung findet sich noch bei
vielen Pflanzen und niederen Tieren neben der geschlechtlichen
Zeugung. Diese letztere tritt erst bei höheren Tieren und beim
Menschen ein, deren Fähigkeit der Erzeugung neuer Individuen
12
durch Zellteilung oder neuer bezw. verlorener Organe durch.
Wachstum verloren gegangen ist. Dem Fortschritt und Gewinn,
der durch die geschlechtliche Zeugung gegeben ist, und dessen
Charakter wir gleich näher betrachten wollen, steht also eine
Rückbildung, ein Verlust auf der anderen Seite gegenüber. Wir
werden dieser Tatsache noch öfter in der Entwicklungsgeschichte
des Geschlechtstriebes, speziell beim Menschen, und der mensch-
lichen Liebe begegnen.
Durch die geschlechtliche Zeugung wird aber ein sehr großer
Fortschritt insofern angebahnt, als dadurch der Differenzierung
und Variabilität der Formen ein unvergleichlich größerer Spiel-
raum eröffnet wird, als dies bei der ungeschlechtlichen Zeugung
möglich ist. (Kerner v. Marilaun, R. Martin.) Durch
die geschlechtliche Vereinigung zweier verschiedener selb-
ständiger Individuen, von denen jedes wieder von zwei ebenso
verschiedenen Individuen abstammt, wird eine fortschreitende
Differenzierung der Individuen dieser Art herbeigeführt. Keins
gleicht völlig dem anderen. Jedes weist neue Eigentümlichkeiten,
neue Fälligkeiten auf, die im Kampfe ums Dasein eine Rolle
spielen. So vollzieht sich allmählich ein Fortschritt zu höheren,
besseren, vervollkommneteren Formen. Die durch die Vererbung
gewährleistete Beharrlichkeit der Gattung empfängt durch die
Tatsache der geschlechtlichen Zeugung mittelst Vermischung
zweier verschiedener und von verschiedenen Individuen stammenden
Keimzellen die Tendenz zu fortschreitender Veränderung und
Vervollkommnung. So wird also die Erhaltung der Gattung
durch diese Art der Zeugung ebenso gesichert wie durch andere
und gleichzeitig die Möglichkeit der Differenzierung, des Variieren»
bedeutend verstärkt. Daß in der auffälligen Verschiedenheit
der männlichen und weiblichen Keimzellen der letzte Grund für
die tiefgehende Wesensverschiedenheit der Geschlechter zu suchen
sei, hoben wir bereits hervor. Alle Verfechter einer Theorie von
der absoluten Gleichheit von Mann und Weib müssen immer
wieder hieran erinnert werden. Gewiß ist die größere Beweg-
lichkeit der männlichen Keimzellen gegenüber dem mehr passiven
Verhalten der weiblichen auch der Ausdruck tief begründeter
seelischer Differenzen, die um so sicherer anzunehmen sind, als
wir ja durch die Erfahrung wissen, bis zu welchem hohen Grade
die feinsten psychischen Eigentümlichkeiten von Vater und Mutter
auf das Kind vererbt [werden können.
13
Alle Versuche der Natur oder der Kultur, den
Unterschied zwischen dem spezifisch Männlichen
und dem spezifisch Weiblichen zu verwischen,
müssen daher als aussichtslos und den Fortschritt
der Entwicklung hemmend angesehen werden.
Das sogenannte „dritte Geschlecht“ ist ein eminenter Rückschritt.
Denn die Geschlechtstrennung ist eine höhere Stufe als die
ursprünglich and emseiben Individuum (Hermaphroditis-
mus, Zwitterbildung) stattfindende Differenzierung der
beiden Keimzellen. Diese einseitige geschlechtliche Zeugung in
der Vorfahrenreihe des Menschen ist im Laufe der Stammes-
geschichte durch die zweiseitige ersetzt worden, wobei zwei von-
einander getrennten Individuen die Keimzellenbildung und
zwar den männlichen die Spermazellen-, den weiblichen die Ei-
zellenproduktion zugeteilt wurde. So entstand der Gegensatz der
Geschlechtsindividuen, die Dif ferenzierung der beiden Geschlechter,
die sich phylogenetisch immer bestimmter, reicher und eigen-
artiger entfaltete, vermittels des Prinzips der geschlecht-
lichen Zuchtwahl, in der Vererbung und Anpassung all-
mählich die physischen und psychischen Aeußerungen der Sexua-
lität, alte und neu hinzugekommene, bestimmt und fixiert haben.
Durch Vererbung wurde in der höheren Tierwelt und beim
Menschen diese Heterosexualität immer schärfer zum Aus-
druck gebracht, ohne daß die Spuren der früheren Zustände
gänzlich verloren gegangen wären. Der Mensch liebt zu zweien.
Das ist der normale Zustand und der einzige, der die Tendenz
des Fortschrittes, der Vervollkommnung in sich trägt. Aber
Anklänge an den Hermaphroditismus, an die Bisexualität in
demselben Individuum, an das „dritte Geschlecht“ finden sich in
jedem Menschen, wie schon die durch die Embryologie und ver-
gleichende Anatomie festgestellten Ueberreste, die Rudimente der
weiblichen Geschlechtsanlage beim Manne und der männlichen
beim Weibe dartun. Das ist ein sicherer Beweis für die ur-
sprünglich hermaphroditische Natur der menschlichen Vorfahren.
Aber diese weiblichen Sexualorgane im männlichen Körper sind
verkümmert, sind eben nur noch Rudimente, und umgekehrt
die männlichen im Körper des Weibes, während im Laufe der
Entwicklung die männlichen Sexualorgane bei jenem, und die
weiblichen bei der Frau sich immer stärker entwickelt imd
schärfer voneinander differenziert haben und zum Ausdruck der
14
spezifischen Unterschiede von Mann und Weib geworden sind.
Sie allein repräsentieren den vollkommeneren Zustand. Uebrigens
sind jene Ueberbleibsel eines früheren hermaphroditischen Zu-
standes beim Menschen weit geringer als bei den Säugetieren
und sic treten noch mehr zurück, wenn man die Tatsache ins
Auge faßt, daß gewisse Teile des Genitalsystems nur dem
Menschen eigentümlich sind, richtige Neuerwerbungen dar-
steilen, vor allem das Jungfernhäutchen, sogen. „IJymeni£, das
noch den dem Menschen am nächsten stehenden Affen fehlt.
Der ursprüngliche Zweck des Jungfernhäutchens, das offenbar
einst entwicklungsgeschichtlich einen Fortschritt darstellte, ist
noch unaufgeklärt. Eine interessante Hypothese darüber hat
Metschnikoff aufgestellt. Nach ihm ist es sehr wahrschein-
lich, daß die Menschen während der ersten Periode ihrer Existenz
die geschlechtlichen Beziehungen in einem sehr jugendlichen
Alter beginnen mußten, zu einer Zeit, wo das äußere Geschlechts-
organ des Knaben noch nicht ganz entwickelt war. Das Jungfern-
häutchen war also hier nicht nur kein Hindernis der Begattung,
sondern ermöglichte eigentlich erst durch Verengerung der weib-
lichen Geschlechtsöffnung und Anpassung derselben an das relativ
zu kleine männliche Glied den Geschlechtsgenuß. Es wurde also
damals nicht brutal zerrissen, sondern allmählich erweitert. Sein
Zerreißen stellt nur eine späte und sekundäre Erscheinung dar.
In der Tat sprechen die noch heute bei vielen primitiven
Völkern üblichen Heiraten im Kindesalter, sowie die Tatsache,
daß in vielen Fällen auch bei den Kulturvölkern das Hymen
nicht immer durch den Beischlaf zerrissen wird, sondern in etwa
15 Prozent der Fälle (nach Budin) erhalten bleibt, für diese
Annahme.
Unterliegt es keinem Zweifel, daß die Entwicklung und der
Fortschritt der Kultur eine möglichst scharfe Differenzierung der
beiden Geschlechter zur Folge gehabt haben, so könnte die Bildung
eines sogenannten „dritten Geschlechts“, bei dem diese sexuellen
Unterschiede verwischt sind, nur einen gewaltigen Rückschritt
bedeuten. Was Ernst v. Wolzogen unter diesem Namen in
einem bekannten Roman geschildert hat, eine Art von unfrucht-
baren, verkümmerten Weibern, die es aber in bezug auf die
Arbeit den Männern gleich tun, das ist unseres Erachtens nur
ein U ebergangsstadium in dem großen Kampfe der Frau
15
um selbständige, freie Entwicklung ihres eigensten Wesens.
Diese Typen sind gewiß nicht das Endziel der Frauenbewegung.
Es sind Karikaturen, Produkte einer falschen und extremen Auf-
fassung der weiblichen Entwicklung. Dieses „dritte Geschlecht“,
das S c h u r t z nicht mit Unrecht mit den verkümmerten, un-
fruchtbaren Arbeiterinnen der Ameisen und Bienen vergleicht,
ist nicht existenzfähig und wird einer neuen Frauengeneration
Platz machen, die unter völliger Bewahrung ihrer spezifisch
weiblichen Eigentümlichkeiten sich mit gleichen Rechten und
Pflichten wie die Männer an der großen Kulturarbeit beteiligt,
wodurch letztere gewiß durch zahlreiche neue und fruchtbare
Elemente bereichert wird.
Es ist ja möglich, daß auch das dritte Geschlecht, daß die
Hermaphroditen, Homosexuellen, die sexuellen „Zwischenstufen“
eine bestimmte Rolle in dem großen Kulturprozesse spielen. Aber
jedenfalls ist die Bedeutung derselben schon deshalb sehr gering
und beschränkt, weil die Möglichkeit einer Vererbung wertvoller
Eigentümlichkeiten bei diesen unfruchtbaren Individuen, und dar-
mit eine in der Zukunft liegende Vervollkommnung, ein wirk-
licher „Fortschritt“ ausgeschlossen ist. Es gibt nur zwei Ge-
schlechter, auf denen jeder wahre Kulturfortschritt beruht: den
echten Mann und das echte Weib. Alles übrige sind schließlich
doch nur Phantasien, Monstrositäten, Ueberbleibsel primitiver
vorzeitlicher Sexualität.
Sehr gut hat Mantegazza den tiefinnersten Zusammen-
hang dieser Träume vom dritten Geschlecht mit den phantastischen
Verirrungen des Geschlechtstriebes geschildert: „Während die
Pathologie der Liebe in vielen geschlechtlichen Verirrungen die
dunkeln Spuren eines allgemeinen Hermaphroditismus erblickt,
läßt uns die Phantasie, welche noch schneller eilt als die Wissen-
schaft, die Möglichkeit erscheinen, daß in noch komplizierteren
Geschöpfen die Geschlechtsverschiedenheit eine mehr als zwei-
fache sein kann, so daß die Zeugung derselben eine noch größere
^Arbeitsteilung darstellt. So erscheinen auch in den zynischen
oder skeptischen Unterscheidungen zwischen platonischer, ge-
schlechtlicher und ausschweifender Liebe die ersten Spuren neuer
und monströser Zeugungsmöglichkeiten, die einen an Erhaben-
heit mit dem Uebersinnlichen wetteifernd, die anderen brutaler
als die schrecklichsten geschlechtlichen Verirrungen.“
16
In Wirklichkeit hat nur die gewöhnliche heterosexuelle Liebe
zwischen einem normalen Manne und einer normalen Frau eine
Daseinsberechtigung. Nur diese immer mehr differenzierte und
individualisierte Liebe zwischen den beiden Geschlechtern |wird
in dem künftigen Entwicklungsgänge eine Holle spielen.
Die durch die Anziehung und Vereinigung der von getrennten
Geschlechtsindividuen stammenden Keimzellen zum Ausdruck
gebrachte Heterosexualität bildet auch die Grundlage, das Wesent-
liche der geschlechtlichen Beziehungen in der höheren Tierwelt
und beim Menschen und wurde durch Vererbung immer schärfer
zum Ausdruck gebracht. Da dieses Grundphänomen des Ge-
schlechtstriebes schon von den ältesten und einfachsten Formen
der organischen Welt übernommen und nur in der Richtung der
Heterosexualität modifiziert wurde, so hat, wie Ewald Hering
am Schlüsse seiner berühmten Rede über das „Gedächtnis als
eine allgemeine Funktion der organisierten Materie“ darlegt, die
organische Substanz für den Generationstrieb in seiner ältesten,
primitivsten Form das stärkste Gedächtnis, so daß er als inten-
siver körperlicher Drang noch heute den Menschen mit der Macht
einer Elementargewalt beherrscht, die trotz der allmählichen
höheien Entwicklung des Gehirns ziemlich unverändert im Laufe
der Jahrtausende sich wirksam erhalten hat, ja durch die
kumulierenden Einflüsse einer durch Tausende von Generationen
sich erstreckenden Vererbung eine bedeutende Intensitätssteige-
rung erfahren hat. Man muß annehmen, daß seit unzähligen
Generationen immer diejenigen Tiere und Menschen die meisten
Nachkommen hatten, deren Trieb am heftigsten war. Die Nach-
kommen vererbten ihrerseits wieder diese Stärke des Triebes auf
ihre Deszendenz.
Diese zuerst von dem Moralphilosophen Paul Rèe gegebene
Erklärung der unzweifelhaften allmählichen Intensitätssteigerung
des Geschlechtstriebes leuchtet mehr ein als die von Havelock
Ellis aufgestellte Theorie von der Verstärkung des letzteren
durch die Kultur, was schon vor ihm Lucretius behauptet
hatte (De natura rerum. V, 1016). Die hierfür angeführte relativ
schwache Entwicklung der Genitalien bei Naturvölkern ist in
einer solchen allgemeinen Verbreitung keineswegs sicher bezeugt.
Die Kultur hat nur durch Vermehrung der physischen und
psychischen Reizmittel alle Seiten des Geschlechtslebens zur
17
vollen Entwicklung gekracht; ob sie aber selbst als ein unmittel-
bares ursächliches Moment für die Steigerung der Intensität des
Sexualtriebes anzusehen ist, erscheint sehr fraglich.
"Wenn wir als das aus der stammesgeschichtlichen Vorzeit
überkommene Elementarphänomen der menschlichen Liebe die
Verschmelzung der beiden Geschlechtszellen kennen gelernt haben,
so entsteht die Frage nach der Natur der psychischen Vor-
gänge, nach der Art der Empfindungen bei dieser Ver-
einigung der Samen- mit der Eizelle. Welches ist das ursprüng-
lichste seelische Elementarphänomen der Liebe?
Es ist wahrscheinlich diejenige Empfindung, bei welcher eine
wirkliche Berührung der Psyche mit dem Materiellen, eine
unmittelbare Empfindung des Wesens der Materie stattfindet:
die Geruchsempfindung. Man hat nicht mit Unrecht die
metaphysische Bedeutung des Geruches dahin bezeichnet, daß er
das „sublimierte Ding an sich“ sei, daß er uns wie keine andere
Empfindung unmittelbar in das Wesen der Materie eindringen
lasse, daß er der Sinn der Persönlichkeit sei. „Der Geruch“,
sagt Henrich Steffens, „ist der Hauptsinn der höheren
Tiere, er schließt die innere eigene Welt für sie auf, von welcher
befangen, sich ihr Dasein enthüllt. Auf den Geruch, in welchem
die Sympathie und Antipathie sich darstellt, gründet sich die
ganze Sicherheit des höheren tierischen Instinkts; denn die
eigentümliche Begierde findet und ergreift sich
in diesem Sinne . . . Ja, in der Begattung verschmilzt sich
das innere Gefühl, welches durch den Geruch sich entwickelt,
mit dem äußeren ganz, und aus der Einheit beider entspringt
die tiefe Lust, in welcher die Unergründlichkeit der zeugenden
Kraft und die ganze Gewalt des Geschlechts sieh verliert.“
Ernst Ilaeckel schreibt den beiden Geschlechtszellen
eine Art niederer Seelentätigkeit zu, sie empfinden beide gegen-
seitig ihre Nähe, und zwar ist es wahrscheinlich eine dem Ge-
rüche verwandte Sinnestätigkeit, die sie zueinander zieht. Die
sinnliche Empfindung der beiden Geschlechtszellen, die Haeekel
speziell in die Zellkerne verlegt, nennt er den „erotischen Chemo-
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
2
18
tropismus“. Er beruht auf einer Anziehung durch den Geruch
ünd stellt die seelische Quintessenz, das ursprünglichste Wesen
der Liebe dar.
Auch ein späterer Forscher, Eugen Kröner, vertritt
dieselbe Anschauung. Er erblickt in der Konjugation zweier
Vortizellen eine Wirkung der durch den chemischen Sinn aus-
gelösten Geruchsempfindungen. Der Geruch ist ihm das Wesent-
liche im Geschlechtstriebe der Tiere.
Diese Theorie wird erheblich gestützt und zum Range einer
naturwissenschaftlichen Tatsache erhoben durch den Umstand, daß
bei den höheren Tieren der Geruchssinn im Laufe der Stammes-
gescbichte eine immer größere Bedeutung für die Sexualität ge-
wonnen hat, und daß nach der Entdeckung Zwaardemakers
eine ganz bestimmte Gruppe von geschlechtlichen Gerüchen
in der Natur verbreitet ist, die sogenannten „K aprylgerüch e“,
deren nahe Verwandtschaft ein Beweis dafür ist, daß sie eine
natürliche biologische Beziehung zur Vita sexualis haben. Diese
Ivaprylgerüche, die bereits bei den Pflanzen eine sexuelle Rolle
spielen, sind bei den Tieren und beim Menschen direkt an oder
in der Nähe der Geschlechtsteile lokalisiert (Parfümdrüsen von
Biber und Moschustier usw., Sekret der männlichen Vorhaut und
der weiblichen Scheide) oder auch in allgemeinen Absonderungen
(Schweiß) wirksam. Neuerdings ist sogar von Gustav Klein
der Nachweis erbracht worden, daß eine bestimmte Drüsengruppe
der weiblichen Genitalien, die Glandulae vestibuläres majores, als
ein Ueberbleibsel aus der Brunstzeit aufzufassen sind. Damals
war beim Menschen wie bei den Tieren der Geschlechtstrieb noch
ein periodischer, und das Sekret dieser Parfümdrüsen des mensch-
lichen Weibes diente damals noch als Anlockungsmittel für das
männliche Geschlecht. Heute haben dieselben als spezifisches
Reizmittel sehr an Bedeutung verloren. Meist wirkt die Aus-
dünstung des ganzen weiblichen Körpers erotisch erregend. Solche
Fälle, in denen ausschließlich nur von den weiblichen Geschlechts-
teilen solche Reizungen ausgehen, deutet Klein als ein phylogene-
tisches Ueberbleibsel aus den ursprünglichen Beziehungen zwischen
brünstigem Riechstoff des Weibes und Witterung des Mannes.
Friedrich S. Krauß teilt in der von ihm herausgegebenen
„Anthropophyteia“ (1904, Bd. I, S. 224) eine südslawische Er-
zählung mit, in der ein Mann geschildert wird, der nur durch
den natürlichen Geruch des weiblichen Genitale sexuell be-
19
friedigt wird. Erinnert sei auch! an die merkwürdige Einteilung
der indischen Weiber nach dem verschiedenen Gerüche ihrer
Geschlechtsteile.
Daß dieses Urphänomen der Liebe auch heute noch eine ge-
wisse Bedeutung hat, wenn es auch durch das stärkere Hervor-
treten des Gehirns und rein geistiger Elemente beim Menschen
stark abgeschwächt worden ist, dafür zeugt der von Fließ nach-
gewiesene interessante physiologische Zusammenhang zwischen
Nase und Genitalien. Es finden sich an der unteren Nasen-
muschel solche „Genitalstellen“, die bei sexuellen Reizungen und
Erregungen, wie im Koitus, während der Menstruation usw., an-
achwellen. Man kann von ihnen aus direkt gewisse Zustände
an den Genitalien beeinflussen.
Sehr bemerkenswert ist es, daß die Kultur die natürlichen
Sexualgerüche vielfach durch künstliche ersetzt hat, die soge-
nannten Parfüme, deren Ursprung sich zum Teil an die Nach-
ahmung oder Verstärkung der natürlichen Ausdünstung
knüpft, zum Teil aber auch, besonders in späterer Zeit, auf ein
Bestreben, die letztere zu verdecken, zurückzuführen ist,
wenn nämlich diese Ausdünstung einen unangenehmen Charakter
annahm. Daher finden wir neben so scharfen Parfümen wie
Zibeth, Ambra, Moschus, auch sehr milde, wie viele pflanzliche
Riechstoffe. Die starke, sexuell erregende Wirkung dieser künst-
lichen Duftstoffe wird besonders von Frauen, speziell käuflichen
Weibern, benutzt, um die Männer anzulocken.1) Oft genügen auch
schon einfache Blumendüfte für diesen Zweck. Krauß berichtet,
daß beim Kolo-Tanze der Südslaven die Mädchen stark duftende
Blumen und Sträucher am Busen befestigen und dadurch in den
Burschen einen wilden Geschlechtstrieb erregen. Im Orient spielen
die sexuellen Reizungen durch den Geruchssinn überhaupt eine
weit größere Rolle als in Europa.
Der Geruch als spezifisches Elementarphänomen der ge-
schlechtlichen Zeugung ist aber beim Menschen durch die stärkere *
0 Nach Laurent (Die krankhafte Liebe, Leipzig 1895, S. 133
bis 134) benutzen die gemeinen Dirnen mit Vorliebe Moschus, die
jungen Arbeiterinnen Veilchen- oder Rosenduft, die Damen der
Bourgeoisie die durchdringenden Gerüche, wie weißen Heliotrop,
Jasmin, Ylan-Ylan, die Halbweltlerinnen feinere Parfüme oder solche,
.„die kompliziert sind wie ihre Laster,“ z. B. Corylopsis, Maiglöckchen-
•oder Resedaduft.
2*
20
Entwicklung anderer Sinne, namentlich des Gesichts, längst in
den Hintergrund gedrängt worden, was auch durch die unzweifel-
hafte Reduktion des Riechorgans zum Ausdruck kommt. An
die Stelle des Riechlappens ist beim Menschen der Stirnlappen,
der Sitz der höchsten Geistesverrichtungen und der Sprache ge-
treten. Außerdem wurde durch die Bekleidung der natürliche
Geruch des Mannes und Weibes, der früher so große sexuell©
Bedeutung hatte, der Wahrnehmung so gut wie ganz entzogen,
und erst jetzt konnten sich die vom Tastsinn und vom Gesichts-
sinn ausgehenden sexuell erregenden Eindrücke entwickeln, wo-
durch z. B. die Hände, die Lippen und die weiblichen Brüst©
in erotische Organe verwandelt wurden. Trotz dieser tatsäch-
lichen Abschwächung der sexuellen Bedeutung des Geruches wird
jene ursprünglichste, wohl schon an die Keimzellen geknüpfte
Empfindung niemals gänzlich schwinden. Immer noch „umhüllt
uns ein bald leise, bald merklicher wogendes Duftmeer, dessen
Wellenschlag in uns ohne Unterlaß Sympathie- oder Antipathie-
gefühle frei macht und dessen feinste Berührungen wir nicht
unbeachtet lassen.“ (Havelock Ellis.)
Indem wir als einzigen Urgrund, als das Wesentliche, das
Elementarphänomen der menschlichen Liebe die wahrscheinlich
unter einer geruchsähnlichen Empfindung erfolgende Verschmel-
zung der männlichen Sperma- mit der weiblichen Eizelle bezeichnen,
haben wir von dieser primären Erscheinung der Sexualität
alle übrigen als sekundäre, als entferntere Erscheinungen zu
trennen. Wilhelm Bölsche hat das auch sehr gut so aus-
gedrückt, daß er die Vereinigung der beiden Keimzellen als die
eigentliche „Mi sch liebe“ bezeichnet, während er all das, was
später im Laufe der vieltausendjährigen Entwicklung hinzukam
und diesen Vorgang durch so zahlreiche neue Einflüsse, Reize
und Vorstellungen zur Liebe des modernen Kulturmenschen ge-
staltete, mit dem zutreffenden Namen der „D i s t a n z 1 i e b etL
belegt.
Nach ihm fällt „der äußerste Liebesakt plötzlich auch beim
höchsten Kulturmenschen heraus aus der ganzen Welt der
zwischengelegten Werkzeuge, der Buchstaben, Posten, Telephone,
Kabel ... In diesem Moment siegt das Prinzip des Aneinander-
wachsens noch einmal wie in einer äußersten posthumen Vision,
einem Aufleben eines Stückes Urnatur, Urwelt, Kinderzeit vor
einer Sekunde tiefsten Sichversenkens in das größte Mysterium
21
des dunkeln Natururgrundes, der keine Zeit, kein Alt und Neu
kennt, sondern ewig wieder in uns mit seiner Dämonenkraft auf-
ersteht : der Zeugung. In diesem Moment muß auch das Liebes-
individuum heim, ans Herz der Urmutter, da hilft kein Sträuben.
Es muß schöpfen aus dem innerlichsten Jugendbrunnen — muß
gleichsam hinabsteigen zu den Nornen wie Odhin, zu den Müttern
wie Paust —, und da versinkt alle Kultur, da muß
Zell-Leib zum Zell-Leibe, um in heißer Umarmung
seinen Abstand auf das Mindestmaß zu reduzieren, das über-
haupt so großen Körpern gegeben ist. Ja, der Akt geht in Wirk-
lichkeit, jenseits dieser Mindestnähe, noch tiefer. Gehen doch die
losgelassene Samenzelle und die entgegenwandernde Eizelle im
Schoße des einen Liebespartners eine letztliche wahre
Mischung Leibes und der Seele ein, gegen die gehalten, selbst
die engste Aneinanderfügung der großen Hälften des Liebes-
individuums das Ineinanderschieben zweier Attrappen bleibt. Erst
der Inhalt vollzieht das Endgültige, indem Samenzelle und Ei-
zelle verschmilzt.“
Um es kürzer auszudrücken: die Mischliebe erfüllt den
Gattungszweck, die Distanzliebe dient mehr den Zwecken des
Individuums. So liefert uns schon der im nächsten Kapitel weiter
zu verfolgende natürliche Gang der Entwicklung den Beweis für
unsere in *der Einleitung aufgestellte These von der doppelten,
Natur der menschlichen Liebe.
22
ZWEITES KAPITEL’.
Die sekundären Erscheinungen der menschlichen Liebe*
(Gehirn und Sinne).
Aus diesen Betrachtungen geht hervor, daß der Mensch in seines-
Yorfahrenreihe einer großen Zahl von Vorteilen im Laufe langer geo-
logischer Zeiträume verlustig gegangen ist, und es wird sich nun
die Frage erheben, ob er nicht auch gewisse Vorteile dafür eingetauscht
hat. Dies ist nun allerdings der Fall und mußte der Fall sein, sollte
die Species Homo auch fernerhin existenzfähig bleiben. Es handelte
sich also sozusagen um einen Tauschvertrag, und dieser basierte
auf der unbegrenzten Bildungsfähigkeit seines Ge-
hirns. Dieses eine Tauschobjekt kompensierte vollkommen den Ver-
lust jener großen und langen Reihe vorteilhafter Einrichtungen.
R. W iedersheim.
2a
Inhalt des zweiten Kapitels.
Die sekundären Erscheinungen der Sexualität. — Ihr Zusammen-
hang mit Nervensystem und Sinnesorganen. — Das Gehirn als Krite-
rium der menschlichen Sexualität. — Seine Fortbildung proportional
der Rückbildung anderer Teile. — Beispiel des Geruchsorganes und
der Brustdrüsen. — Relative Rückbildung des weiblichen Kitzlers. —
Variation der weiblichen Genitalien. — Reduktion des Haarkleides.
— Theorien über den Ursprung der relativen Kahlheit des Menschen.
— Angeblicher Zusammenhang mit Klima. — Mit Zahnbildung. —
Einfluß der künstlichen Bekleidung. — Die hygienische und ästhe-
tische Bedeutung der Enthaarung. — Ursache der Erhaltung der
Achsel- und Schamhaare. — Sexuelle Wirkungen derselben und des
weiblichen Kopfhaares. — Allmählicher Rückgang des Männerbartes.
— Die Veränderung des Körpertypus unter dem Einflüsse des Ge-
hirns. — Der Weg des Geistes in der Liebe. — Das rein Instinktive
in der Sexualität des Urmenschen. — Fehlen des Begriffes „Liebe“.
— Analogien dieses Zustandes in den niederen Volksklassen. — Perio-
dizität des Geschlechtstriebes in der Urzeit. — Erhaltung derselben
bei heutigen Naturvölkern. — Die Forschungen von Fließ und
Swoboda. — Die 23tägige „männliche“ und die 28tägige „weib-
liche“ Periode. — Die Menstruation. — Eine Eigentümlichkeit des
menschlichen Weibes. — Der Ursprung der Dauerliebe des Menschen.
— Die Verlängerung der Liebe durch den Geist. — Kants Aeußerung
darüber. — Hypothesen von W. Rheinhard und Virey. — Die
Komplikation des Geschlechtstriebes durch Sinnesreize. — Buddhas
Rede an die Mönche. — Die Prävalenz der höheren Sinne. — Der
Tastsinn. — Die Haut als Wollustorgan. — Die „erogenen“ Haut-
stellen. — Der Kuß. — Seine erotische Bedeutung. — Ein arabischer
Dichter (Scheik Nefzawi) darüber. — Burdachs Definition des
Kusses. — Der Kuß als Grenze zwischen Erotik und Geschlechtsgenuß. —-
Der Ursprung des Kusses. — Die primitiven Elemente des Berührens,
Leckens und Beißens. — Zusammenhang mit dem Nahrungstriebe. —
Europäischer Ursprung des Berührungskusses. — Der Riechkuß der
Mongolen. — Kuß und Sexualität. — Voltaires Genito-Labial-Nery.
— Geschmackssinn und Sexualität. — Die überwiegende Bedeutung
der höheren Sinne für die Liebe des Kulturmenschen. — Schöne Er-
klärung Herders. — Die Befreiung vom Stoffe in den höheren
Sinnen. — Der Gesichtssinn als eigentlich ästhetischer Sinn. — Die
Schönheit als Produkt der Liebe. — Ihre Wahrnehmung durch den
Gesichtssinn. — Rolle des Gehörsinnes im Liebesieben. — Darwins
Untersuchungen. — Die Stimme als geschlechtliches Lockmittel. —t
Die rhythmische Wiederholung der Lockrufe. — Ursprung des Ge-
sanges und der Musik. — Größere Empfänglichkeit des Weibes für
die Eindrücke des Gehörsinnes. — Der Zauber der weiblichen Stimme.
— Ein Erlebnis des Naturforschers M oreau.
24
Hat sich, wie die Darlegungen im ersten Kapitel lehrten,
das Urphänomen der geschlechtlichen Anziehung und Fort-
pflanzung, die Verschmelzung der männlichen mit der weiblichen
Keimzelle, auch beim Menschen unverändert erhalten als wesent-
lichster Akt der Zeugung, so verknüpft sich doch dieser von
einzelligen Organismen ererbte Vorgang der „Mischliebe“ mit
zahlreichen neuen, sekundären körperlichen und seelischen Er-
scheinungen der Sexualität, wie sie die Natur des menschlichen
Organismus als eines Zellenstaates, seine Entwicklung als ein
„Säugetier“ und endlich seine Erhebung über die tierischen
Mammalia als ein „Gehirnwesen“ mit sich bringt. Der Gesamt-
komplex jener durch die Entwicklung bedingten sekundären
körperlichen und seelischen Erscheinungen der Liebe, den, wie
erwähnt, W. Bö Ische mit dem Namen „Distanzliebe“ treffend
bezeichnet und von dem primären elementaren Phänomen der
„Mischliebe“ trennt, spielt in der menschlichen Kultur eine sehr
bedeutsame Bolle, ja, gibt ihr gegenüber dem mit Tieren und
Pflanzen gemeinsamen Urphänomen das eigentümliche Gepräge.
Diese sekundäre Sexualität des Menschen ist, entsprechend
der Differenzierung der verschiedenen Organe seines Körpers,
eine sehr komplizierte, und keineswegs allein abhängig von der
Bildung der besonderen Geschlechts- bezw. Begattungs-
organe, sondern auch im innigen Zusammenhänge mit anderen
Körperteilen, vor allen den Sinnesorganen und dem Nervensystem.
Dabei paßt sie sich allen Wandlungen und Veränderungen an.
die der menschliche Körper im Laufe seiner langen Entwicklungs-
geschichte durchgemacht hat. Man kann sagen rdasKriterium,
das Unterscheidungsmerkmal des menschlichen
Körpers vom tierischen, ist auch das Unter-
scheidungsmerkmal der menschlichen Sexualität
von der tierischen. Und dieses Kriterium ist das Gehirn.
25
Die gegenwärtige körperliche und geistige Beschaffenheit des
Menschen ist Ergebnis einer Entwicklung, deren am meisten
charakteristisches Merkmal das immer stärker hervortretende
Uebergewicht des Gehirns ist. Phylogenie und Ontogenie zeigen
deutlich die Entwicklung des menschlichen Körpers von niederen
Zuständen zu höheren, eine allmähliche, aber sichere Vervoll-
kommnung in der Richtung einer immer stärkeren Ausbildung
und Entfaltung des Gehirns, die durchaus noch nicht abgeschlossen
ist, sondern auch für eine ferne, ferne Zukunft eine weitere
Differenzierung erwarten läßt, der parallel eine ebensolche Ver-
vollkommnung der bewußten Psyche geht.
Diese immer mehr in den Vordergrund tretende Entwicklung
des Gehirns hatte eine Rückbildung und Verkümmerung anderer
Teile und Organe zur Folge, darunter auch solcher, mehr oder
weniger nahe mit der Sexualität verknüpfter, denen ursprünglich
größere Bedeutung zukam. Gegenbaur in seiner Anatomie
und Wiedersheim in seinem interessanten Buche über den
„Bau des Menschen als Zeugnis für seine Vergangenheit“ er-
kennen in der „unbegrenzten Bildungsfähigkeit“ des menschlichen
Gehirnes die einzige Ursache der Verkümmerung und regressiven
Metamorphose so vieler in der übrigen Tierwelt persistenter
Organe und Organfunktionen.
;Auch im Geschlechtsleben trat entsprechend dieser Präpon-
deranz des Gehirnes das rein Seelische immer mehr hervor, es
verkümmerten früher mit der Sexualität in innigster Beziehung
stehende Teile und ihre Funktionen So hat, wie schon erwähnt,
das menschliche Geruchsorgan sicher in früheren Zeiten größere
Bedeutung für die Vita sexualis gehabt als heute, da es nach
Wiedersheim früher einen bedeutend höheren Grad der Aus-
bildung hatte und heute zu den in Verkümmerung begriffenen
Organen gezählt werden muß. Die vielleicht ursprünglich der
Erzeugung von Riechstoffen, später der Milchabsonderung
dienenden Brustdrüsen waren früher in einer größeren Zahl vor-
handen als heute, wie die Verhältnisse beim menschlichen Embryo
beweisen, bei dem eine normale „Hyperthelie“, eine Ueberzahl von
Brüsten, besteht, von denen aber nur ein Teil sich weiter ent-
wickelt. Ebenso waren die heute verkümmerten Brustdrüsen des
Mannes ursprünglich stärker entwickelt und dienten gleich den
weiblichen Mammarorganen der Milchabsonderung*. Diese Tat-
sachen erklären sich ungezwungen durch die Annahme einer
26
ursprünglich größeren Zahl gleichzeitig erzeugter Nachkommen,
wodurch die Erhaltung der Art stärker gefördert wurde.
(W iedershei m.)
Sehr interessant ist, daß auch das weibliche „Wollustorgan“,
der sogenannte Kitzler oder die Klitoris, gegenüber der relativ
und absolut größeren AJfenklitoris eine unverkennbare Rück-
bildung aufweist und keineswegs mehr jenes, der wollüstigen
Reizung und Erregung so leicht zugängliche Organ darstellt, wie
es von den älteren Aerzten und Physiologen angenommen wurde,
so daß z. B. noch der berühmte Leibarzt der Kaiserin Maria
Theresia, van Swieten, die „titillatio clitoridis“ als
sicherstes Heilmittel der sexuellen Unempfindlichkeit seiner
hohen Gebieterin empfahl.
Ueberhaupt läßt sich die außerordentliche Variation in der
äußeren Konfiguration der weiblichen Genitalien, wie sie besonders
Rudolf Bergh in seinen, nach sehr exakten und minutiösen
Beobachtungen mitgeteilten „Symbolae ad cognitionem genitalium
externorum femineorum“ nachgewiesen hat, vielfach aus solchen
Verkümmerungsvorgängen erklären, die übrigens auch beim Manne
nicht fehlen.
Eine sehr bedeutungsvolle Erscheinung im Laufe der Mensch-
heitsentwicklung ist die Reduktion des Haarkleides.
Gegenüber den anderen Säugetieren, speziell den ihm am nächsten
stehenden anthropoiden Affen, ist der Mensch relativ kahl. Diese
Kahlheit ist eine allmählich erworbene und wahrschein-
lich in Zukunft noch mehr fortschreitende. Ueber den Zweck
und die eigentlichen Ursachen dieser fortschreitenden Verkümme-
rung einer ursprünglich die ganze Körperoberfläche betreffenden
dichten Behaarung sind viele Hypothesen aufgestellt worden.
Tropenklima ist kein ausreichender Grund, da auch hier die Be-
haarung als Schutz gegen die Sonnenstrahlen nützlich ist, wie
die dichte Behaarung der Tropenaffen beweist. Näher liegt der
Gedanke der geschlechtlichen Zuchtwahl, den Darwin für die
Erklärung des Haarverlustes heranzieht. Danach wären die
relativ kahleren Weiber von den Männern gegenüber den be-
haarteren Erauen bevorzugt worden. H e 1 b i g macht den Ein-
wand, daß der Urmensch bei der Begattung wohl zunächst nur
die Geschlechtsteile und deren nächste Umgebung beachtet habe.
Dort aber habe das geschlechtsreife Weib einen Rest des Felles
behalten. Man müsse also, um die Idee der geschlechtlichen Zucht-
2?
wähl in bezug auf di© größere Kahlheit zu retten, annehinen,
daß der Urmensch mehr ästhetisch, nicht besonders sinnlich ge-
wesen sei und deshalb mehr den ganzen Körper der Frau auf
sich habe wirken lassen. Das ist natürlich sehr fraglich. Das
gleiche gilt von einem hypothetischen Zusammenhang zwischen
sehr entwickelter Zahnbildung und Kahlheit der Haut (H e 1 b i g).
Einleuchtender ist W. Bölsches Ansicht, daß die Verkümmerung
des menschlichen Haarkleides in Beziehung steht zum Auftreten
der künstlichen Bekleidung. Seitdem wurde der eigene
dichte Haarpelz als lästig empfunden, da er die Hautausdünstung
unter der Kleidung hindert und auch das Einnisten von Unge-
ziefer (Flöhe, Läuse) begünstigt, das ja noch heute in der ganzen
behaarten Säugetierwelt eine so große Bolle spielt. Unter diesen
Umständen erschien dem Urmenschen die Nacktheit als ein Ideal.
Durch das Abscheuem der Haare unter dem Kleide, durch Kurz-
schneiden und Ausrupfen derselben wurde eine künstliche Ent-
haarung herbeigeführt, die dann als Schönheitsideal erschien. So
kam es, daß bei der Liebeswahl die von Natur schwächer be-
haarten Individuen bevorzugt wurden, und so wurde allmäh-
lich durch diese geschlechtliche Zuchtwahl eine immer haarlosere
Basse erzeugt, bis schließlich die heutige relativ© Kahlheit des
menschlichen Körpers erreicht war
Wenn sich an einzelnen Körperstellen, wie besonders in der
Achselhöhle und an den Geschlechtsteilen, eine stärkere Behaarung
erhalten hat, so hängt die3 vielleicht damit zusammen, daß von
den Achsel- und Schamhaaren gewisse erotische Wirkungen,
nämlich bestimmte Geruchseindrücke, ausgingen, bezw. daß dia
Haare an diesen Stellen, wo besonders stark riechende Sekrete
abgesondert werden, die Bolle von Duftzerstreuem nach Art der
„Duftpinsel“ der Schmetterlinge spielen.
In ähnlicher Weise kann man die Erhaltung und besonders
reiche Entwicklung des Kopfhaares der Frauen erklären, da auch
vom weiblichen Haupthaar unzweifelhaft erotische Duftwirkungen
ausgehen. Dieser Umstand hat die geschlechtliche Zuchtwahl im
Sinne einer Erhaltung und Bevorzugung möglichst langer und
dichter weiblicher Kopfhaare beeinflußt, während im übrigen
gerade der weibliche Körper durch eben jene sexuelle Selektion
stärker enthaart worden ist als derjenige des Mannes.
Es scheint aber, daß auch beim letzteren dieser Enthaarungs-
prozeß noch nicht beendet ist. Schon spielt der Männerbart nicht
28
mehr die Holle als sexuelles Anziehungsmittel, die ihm früher
zukam. Und Schopenhauers Behauptung, daß der Bart mit
fortschreitender Kultur verschwinden werde, hat etwas nichtiges
für sich. Die Rasur ist ihm das Abzeichen der höheren Zivili-
sation. Sie ist gewissermaßen ein logisches Postulat der natür-
lichen Entwicklung.1)
Wenn Havelock Ellis in „Mann und Weib“ zu dem
Ergebnis kommt, daß die körperliche Entwicklung unserer Rasse
ein Fortschritt in der Richtung zum Typus des Jugendlichen sei,
so ist das nur ein anderer Ausdruck für das Zurückbleiben vieler
Organe und Organsysteme, besonders der Behaarung, und eine
Anerkennung ihrer regressiven Metamorphose als einer Kom-
pensation für die allbeherrschende gewaltige Entwicklung des
Cehirns.
Dieser Entwicklung des Gehirns parallel geht die Entwick-
lung der Sexualität vom niedrigsten tierischen Instinkt zur
höchsten menschlichen „Liebe“. Es ist der Weg des Geistes in
der Liebe, der durch die kulturelle Entwicklung der Menschheit
vorgezeichnet wird. Es liegt ein tiefer Sinn in dem Ausspruche
Schopenhauers, daß die Verwandlung des Geschlechts-
triebes in leidenschaftliche Liebe den Sieg der Erkenntnis über
den Willen bedeutet. Und wenn ein anderer geistreicher Schrift-
steller die Geschichte der Kultur als die Geschichte des Fort-
schreitens der Menschheit von nahen zu entfernteren, höheren,
vergeistigteren Lustreizen bezeichnet hat, so gilt dies vor allem
von der menschlichen Liebe.
In niederen Zustünden fehlten jene geistigen Elemente voll-
kommen. Die ersten Menschen haben sich hinsichtlich der Aeusse-
rungen ihrer Sexualität von den ihnen nächststehenden Tieren
nicht unterschieden. Ihre Liebe war noch reiner tierischer Instinkt.
Jene asiatische Mythologie, welche die ältesten Zeiträume der
menschlichen Geschichte so einteilte, daß die Menschen des
Paradieses sich Jahrtausende zuerst durch Blicke, nachher durch
einen Kuß, durch eine bloße Berührung geliebt hätten, bis sie
endlich im „Sündenfall“ zu den niedrigen Arten des gewöhn- *
U Würde man heute eine Umfrage bei den Frauen der euro-
päischen und anglo-amerikanischen Kulturwelt veranstalten, ob bärtige
oder bartlose Männer ihrem Schönheitsideal mehr entsprechen, so
würde sicher eine große Zahl, wenn nicht die Mehrzahl derselben
sich gegen den männlichen Vollbart aussprechen.
29
liehen tierischen Gesch lechtsgenusses hinabgesunken wären —
diese kindliche Mythologie wäre richtig, wenn man die umge-
kehrte Reihenfolge der Entwicklungsstadien der Liehe annähme.
Das liegt um so näher, als es nach neueren urgeschicht-
lichen Forschungen sehr wahrscheinlich ist, daß dem paläolithi-
schen Menschen der älteren Diluvialzeit der Begriff des Seelischen
noch vollkommen unbekannt war, daß er vielmehr noch ganz
als einheitliches Triebwesen handelte, wie dies auch Darwin
schon in der „Abstammung des Menschen“ behauptet hat. Des-
halb war ihm vor allem im Geschlechtsinstinkt jede dualistische
Trennung von Körperlichem und Geistigem noch fremd. Je
primitiver die Kultur, um so weniger ist der Begriff „Liebe“
bekannt, wie dies von Lubbock zuerst festgestellt wurde.
Ja, noch heute läßt sich in bezug auf diesen Punkt ein deut-
licher Unterschied zwischen den höheren Ständen und den niederen
Volksklassen bei den europäischen Kulturvölkern feststellen. Sagt-
doch auch z. B. Elard Hugo Meyer in seiner vortrefflichen
„Deutschen Volkskunde“ (Straßburg 1898, S. 152), daß von Ost-
friesland bis zu den Alpen das Volk das uns so unentbehrliche
holde Wort „lieben“ nicht kennt und an seiner Stelle mehr
die sinnliche Seite des Triebes ausdrückende Worte gebraucht.
Rousseau läßt den männlichen Urmenschen das Weih
oder besser ein Weib nur in den flüchtigen Momenten des
instinktiven Triebes umarmen, und es ist in der Tat sehr wahr-
scheinlich, daß den ältesten Menschen noch die alte periodische
Brunst mit den Tieren gemeinsam war und sich erst im Laufe
der höheren Entwicklung abschwächte, ohne daß sich ihre Spuren
gänzlich verloren hätten. Diese Periodizität des Geschlechts-
triebes hing vielleicht mit wechselnden Nahrungs Verhältnissen zu-
sammen und war so, wie Darwin annimmt, eine Art von natür-
lichem Hindernis allzurascher Vermehrung. Infolge späterer
größerer Sicherheit des Individuums und andauernd besserer Er-
nährung ging dann jene periodische Brunst verloren, um nur
noch in Form der Menstruation (Ovulation) des Weibes erhalten
zu bleiben, bei welchem um die Zeit dieses Vorganges eine deut-
liche Erhöhung der Sexualität eintritt. Bei Naturvölkern
ist diese Periodizität des Geschlechtstriebes,
seine Steigerung zu bestimmten Jahreszeiten
auch beim Manne noch deutlich ausgeprägt.
Heape und Havelock Ellis haben diese primitive Er-
30
sehemung eingehend studiert und zahlreiche Belege dafür bei-
gebracht.2)
Nur das menschliche Weib hat eine eigentliche „Menstruation“,
d. h. einen die Reifung des Eies begleitenden monatlichen Blut-
fluß aus den Geschlechtsteilen. Die sogenannte Menstruation der
Affenweibchen beschränkt sich auf eine periodische Anschwellung
der äußeren Genitalien und auf einen mehr schleimigen Ausfluß
aus denselben. Nach Metschnikoff bildet die Menstruation
der Affen eine Art Zwischenstadium zwischen der „Brunst“ der
niederen Säugetiere und der „Menstruation“ des menschlichen
Weibes. Diese ist eine Neuerwerbung, vielleicht zur Einschränkung
der Fruchtbarkeit und Verhinderung allzufrüher Heirat der
Mädchen.
Mit der zunehmenden Entwicklung des Gehirns wurde die
alte, in ihren Rudimenten noch fortbestehende periodische Brunst
immer mehr dem bewußten Willen unterworfen, immer mehr
dauernde Liebe. Charles Letourneau sagt: „Wenn man
den Dingen auf den Grund gehen will, wird man finden, daß
die menschliche Liebe im wesentlichen nur die Brunstzeit bei
einem vernünftigen Wesen ist; sie erhöht alle Lebenskräfte des
2) Neuerdings bat man ausgehend von der sexuellen Periodizität
überhaupt eine Periodizität der Lebenserscheinungen, besonders der
mit der Sexualität in Zusammenhang stehenden psychischen Phäno-
mene, beim Manne und Weibe festgestellt. In einem Aufsehen erregen-
den Werke „Der Ablauf des Lebens. Grundlegung zur exakten Biologie“
‘(Wien 1905) hat Wilhelm Fließ das Vorkommen einer 23 tägigen
„männlichen“ und 28 tägigen „weiblichen“ Periode beim Menschen
nachgewiesen. Nicht nur somatische Phänomene, sondern auch Vor-
stellungen, Gefühle, Willensimpulse sollen ganz spontan nach 23 oder
28 Tagen wiederkehren. Hermann Swoboda, ein geistvoller An-
hänger der Fließ sehen Theorie, hat dieselbe ebenfalls in zwei
Werken „Die Perioden des menschlichen Organismus in ihrer psycho-
logischen und biologischen Bedeutung“ (Leipzig und Wien 1904) und
„Studien zur Grundlegung der Psychologie“ (Leipzig und Wien 1905)
behandelt und sogar 23 ständige und 18 ständige Lebenswellen beim
Menschen nachgewiesen, sowie die Bedeutung dieser Periodenlehre für
die Psychologie beleuchtet. Diese Untersuchungen von Fließ und
Swoboda bedürfen noch der Bestätigung durch andere Forscher,
bevor sie als neue wissenschaftliche Errungenschaften angesehen wer-
den können. Vgl. übrigens auch noch die ältere Arbeit von Carl
Reinl „Die Wellenbewegung der Lebensprozesse des Weibes“
(Leipzig 1884). Ferner Van de Velde, Ovarialfunktion, Wellen-
bewegung und Menstrualblutung, Jena 1905.
31
Menschen, wie die Brunst die des Tieres steigert. Wenn sie
scheinbar außerordentlich davon abweieht, so kommt dies nur
daher, daß der Fortpflanzungstrieb, der ursprünglichste aller
Triebe, während er sich in entwickelte Nervenzentren verbreitet,
bei dem Menschen ein ganzes Gebiet des Seelenlebens erweckt
und auf regt, das dem Tiere unbekannt ist.“
Wenn Naturforscher und Philosophen den Unterschied
zwischen der menschlichen und tierischen Liebe dahin bestimmt
haben, daß der Mensch immer, zu jeder Zeit lieben könne, das
Tier aber nur periodisch, so gilt dieser Unterschied nicht für
die Anfänge der menschlichen Entwicklung, sondern ent-
steht ganz ohne Zweifel erst beim Auftreten des
Geistigen in der Liebe. Nur dieses allein macht den
Menschen zu dauernder Liebe fähig, befreit ihn aus der Ab-
hängigkeit von den periodischen Brunstzuständen. Diese zeitliche
Verlängerung der Liebe durch das Geistige hat schon Kant
festgestellt, dessen Schriften (namentlich die kleineren) ja reich
sind an genialen Naturbeobachtungen ähnlicher Art. In seiner
1786 erschienenen Abhandlung über den „mutmaßlichen Anfang
der Menschengeschichte“ sagt er über den Geschlechtsinstinkt:
„Die einmal rege gewordene Vernunft säumte nun nicht, ihren
Einfluß auch an diesem zu beweisen. Der Mensch fand bald,
daß der Beiz des Geschlechts, der bei den Tieren bloß auf einem
vorübergehenden, größtenteils periodischen Antriebe beruht, für
ihn der Verlängerung und sogar Vermehrung durch
die Einbildungskraft fähig sei, welche ihr Geschäft
zwar mit mehr Mäßigung, aber zugleich dauerhafter und
gleichförmiger treibt, je mehr der Gegenstand den Sinnen
entzogen wird, und daß dadurch der Ueberdruß verhütet werde,
den die Sättigung einer bloß tierischen Begierde mit sich führt.“
Diese wichtige Frage nach dem Ursprünge der eigentlichen
„Liebe“ der Menschen im Gegensätze zu den periodischen In-
stinkten der Tiere und Urmenschen ist seltsamerweise noch fast
gar nicht untersucht worden, obgleich sie eins der bedeutsamsten
Entwicklungsprobleme in der Geschichte der menschlichen Kultur
und gewissermaßen das einzige in der Urgeschichte der Liebe
selbst darstellt.
Die wesentliche Ursache der perennierenden Natur der
menschlichen Liebe gegenüber der mehr periodischen des Ge-
schlechtstriebes der Tiere muß mit K a n t in dem. Auftreten dieser
geistigen Beziehungen zwischen den Geschlechtern gesucht werden.
Hypothesen, wie diejenige von Dr. TV. Itheinhard in seinem
Buche „Der Mensch als Tierrasse und seine Triebe“, nach welcher
(übrigens bezeichnenderweise ebenfalls in der Eiszeit) die durch
die erschwerte Nahrungsbeschaffung häufiger gewordene längere
Trennung der Geschlechter eine unvollständigere Befriedigung
des Fortpflanzungstriebes zur Brunstzeit und damit eine
beständige Regung desselben zur Folge gehabt habe, sind
nicht ernst zu nehmen. Derselbe Autor macht übrigens auch das
übermäßige Fleischessen in der Eiszeit (aus Mangel an
Pflanzennahrung) für die stärkere Erregung des Geschlechts-
triebes und Verlängerung seiner Dauer über die Brunstzeit hin-
aus verantwortlich.
Ganz gewiß ist Kants Erklärung die einzig richtige, die
wohl auch Schiller im Auge hatte, wenn er in seiner Ab-
handlung über den Zusammenhang der tierischen Natur des
Menschen mit seiner geistigen von dem Glück der Tiere als einem
solchen spricht, das „nur die Perioden des Organismus nach-
macht, das dem Zufall, dem blinden Ungefähr preisgegeben ist,
weil es nur allein in der Empfindung beruht.“ So rein instink-
tiv triebmäßig war auch das Geschlechtsleben des Urmenschen.
Für ihn waren Anfang, Verlauf und Ende jedes Liebes-
prozesses „eine durchaus kontrollierbare Linie, ohne ein Hin-
überschwanken und -schwenken in das nebelhafte Gebiet des
Transzendenten.“ Das Bedürfnis nach Liebe und die Stillung
desselben beschränkten sich bei dem primitiven Menschen ledig-
lich auf den physischen Prozeß der sexuellen Aktivität.
(L. Jacobowski, Die Anfänge der Poesie, S. 84.)
Erst die Durchdringung der ganzen Sexualität mit geistigen
Elementen unterbrach diese eine Linie der Empfindung,
machte gewissermaßen zwei daraus, war Ursache des oft so
unseligen Dualismus zwischen Körper und Geist im Liebesieben
und doch zugleich Ursache der Erhöhung der menschlichen Liebe
zu rein individuellen Gefühlen, die weit über die Zwecke
der Fortpflanzung hinausgehend der Förderung der liebenden
Menschen selbst dienen.3)
8) V i r e y erklärt die perennierende Natur der menschlichen Liebe
ebenfalls au3 der „überflüssigen, kräftigen“ Nahrung, während die
ärmlichen Wilden des Nordens und Amerikas, die oft fasten müssen,
wirklich nur „Augenblicke“ eines geschlechtlichen Glücks haben,
33
Die Naturwissenschaft, speziell die Deszendenzlehre, hat in
der höheren Tierwelt, wozu nach obigem auch der Urmensch ge-
rechnet werden muß, eine Komplikation des Geschlechts-
triebes gegenüber den niederen Formen nachgewiesen und diese
Komplikation wesentlich in der innigeren Verbindung der
Sinnesreize mit dem Sexualtrieb erblickt. In einer im Pali-
Kanon überlieferten Rede an die Mönche hat schon Buddha
sehr gut diese sexuelle Rolle der verschiedenen Sinne geschildert:
„Nicht kenne ich, ihr Jünger, auch nur eine andere Gestalt,
welche das Herz des Mannes so fesselt, wie die Gestalt des Weibes.
Die Gestalt des Weibes, ihr Jünger, fesselt das Herz des
Mannes.
Nicht kenne ich, ihr Jünger, auch nur eine andere Stimm je,
welche das Herz des Mannes so fesselt, wie die Stimme des Weibes.
Die Stimme des Weibes, ihr Jünger, fesselt das Herz dea
Mannes.
Nicht kenne ich, ihr Jünger, auch nur einen anderen Geruch,
welcher das Herz des Mannes so fesselt, wie der Geruch des Weibes.
Der Geruch des Weibes, ihr Jünger, fesselt das Herz des
Mannes.
Nicht kenne (ich, ihr Jünger, auch nur einen anderen Ge-
schmack, welcher das Herz des Mannes so fesselt, wie der Ge-
schmack des Weibes.
Der Geschmack des Weibes, ihr Jünger, fesselt das Herz des
Mannes.
Nicht kenne ich, ihr Jünger, auch nur eine andere Be-
rührung, welche das Herz des Mannes so fesselt, wie die Be-
rührung des Weibes.
Die Berührung des Weibes, ihr Jünger, fesselt das Herz dea
Mannes.“
Daun folgt in derselben Reihenfolge die Aufzählung der
durch Auge, Ohr, Geruch, Geschmack und Tastsinn hervor-
gerufenen Erregungen des Weibes.
Mit der Fortbildung dieses durch die Sinnesreize be-
gleich den wilden Tieren, die nur zu bestimmten Zeiten in Brunst
geraten. Aus derselben Ursache aber begatten sich unsere Haustiere,
die überflüssige Nahrung haben, weit öfter. Auch ist die immerwäh-
rende Annäherung beider Geschlechter durch das gesellige Leben
für uns eine stete Quelle neu erwachender Liebesbegehrnisse, selbst
ohne unseren Willen. Auch die aufrechte Stellung des Menschen,
die ja in so innigem Zusammenhänge mit der Präpond eranz des Ge-
hirns steht, ist nach Virey eine „fortwährende Ursache zur ge-
schlechtlichen Erregung“, \Vgl. J. J. Virey, Das Weib. Leipzig
1827, S. 301.
Blooh, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60, Tausend.)
3
34
reicherten Geschlechtstriehes zür „Liebe“ ging ein Ueber-
wiegen, eine Prävalenz, gewisser Sinnesreize einlier. Hier liegen
jedenfalls die Anfänge einer Vergeistigung rein tierischer In-
stinkte und Triebe.
Die größte Polle im Liebesieben des Menschen spielen heute
nocü der Tastsinn und die beiden höheren Sinne: Gesicht und
Gehör, diese so viele geistigen Elemente in sich enthaltenden
Sinne.
Der Tastsinn ist der räumlich am weitesten verbreitete,
daher quantitativ am meisten erregbare Sinn. Die Reizung der
sensiblen Hautnerven, deren außerordentlich große Zahl den
Reichtum an Empfindungen durch die Haut zur Genüge erklärt,
als Berührung, Kitzel, leichter Schmerz empfunden, vermittelt
dem Wollustgefühl sehr ähnliche Empfindungen. Hierfür spricht
auch, daß die Endigungen der sensiblen Hautnerven, die soge-
nannten Vater sehen oder P a c i n i sehen Körperchen den
Krause sehen Körperchen an der Glans penis und clitoridis, am
Präputium der Klitoris, den großen Schamlippen und in den
Papillen des roten Lippenrandes sehr ähnlich sind. Unter diesem
Gesichtspunkt kann man die Haut als ein einziges großes Wollusb-
organ betrachten, dessen Erregungen an der Haut der Geschlechts-
teile am stärksten sind.
Mantegazza nennt deshalb die geschlechtliche Liebe eine
höhere Form des Gefühlssinns. Bei menschlichen Naturen von
niedrigem Charakter sei die Liebe nichts anderes als Berührung
und Betastung. Von der keuschen Berührung des Haares bis zum
gewaltigen Sturm der Wollust ist nur ein quantitativer, aber
kein qualitativer Unterschied. Der Tastsinn ist ein tiefgeschlecht-
licher Sinn, der heute etwa die Rolle spielt, die in der Urzeit
dem Gerüche zukam. „Die Haut,“ sagt Wilhelm Bölsche,
„wurde der große Kuppler, der allherrschende Liebesvermittler
und Liebesträger für die vielzelligen Tiere, die nicht mehr auf
echte Ganzvermischung hinlieben durften, sondern nur mehr
Distanzliebe, Berührungsliebe pflegten. Und so ist denn die Haut
auch die ursprüngliche Wolluststätte geworden, der Schauplatz
für den höchsten körperlichen Lusttriumph dieser Distanzliebe.“
Man hat nicht mit Unrecht gesagt, daß die erste absichtliche
Berührung einer Hautstelle des geliebten Menschen schon eine
halbe geschlechtliche Vereinigung sei, wofür auch die Tatsache
spricht, daß solche intimen körperlichen Berührungen auch an
35
von den Geschlechtsteilen örtlich weit entfernten Stellen sehr
bald in letzteren starke Erregungszustände auslösen. Sehr richtig
nennt deshalb Magnus Hirschfeld die durch den Hautsinn
hervorgerufenen Lustempfindungen die Uebergangsstelle, an der
die Beherrschungskraft und 'Widerstandsfähigkeit der sich aus
den Gefühlswahrnehmungen in Bewegungen und Handlungen um-
setzenden Triebe am häufigsten nachläßt. Wer jene ersten Be-
rührungen meidet, schützt sich am besten gegen die Gefahr, von
seinem Geschlechtstriebe überwältigt zu werden und ihm blind-
lings zu unterliegen, z. B. im Zusammensein mit einer Geschlechts-
krankheit verdächtigen Individuen.
Besonders sexuell reizbare, sogenannte „e r o g e n e“ Haut-
stellen sind die Körperstellen, wo Haut und Schleimhaut
ineinander übergehen, so vor allem die Lippen, aber auch die
Gegend des Afters und der weiblichen Geschlechtsöffnung, der
weiblichen Brustwarzen.
Die Berührung der Lippen im Kusse ist, wie schon ein
alter arabischer Schriftsteller des 16. Jahrhunderts, der Scheik
Nefzawi, in seinem „duftenden Garten“, einer arabischen
Ars amandi sagt, eines der stärksten Reizmittel der Liebe.4) Er
zitiert den Vers eines arabischen Dichters:
Wenn ein Herz in Liebe glüht,
Findet, ach, es nirgends Heilung:
Keiner Hexe Zauberkünste
Geben ihm, wonach es dürstet;
Keines Amulets Mirakel
Wirkt die Wunder, die es braucht;
Auch die innigste Umarmung
Läßt es kalt und unbefriedigt,
Wenn des Kusses Wonne fehlt!
Der Physiologe B u r d a c h definierte unter dem Einflüsse
der damals herrschenden Naturphilosophie Schellings den
Kuß als das „Symbol der Vereinigung der Seelen“, analog der
D Neuerdings hat Gualino (,,I1 riflesso sessuale nell’ ecci-
tamento alle labbra“. In: Arcbivio di psichiatria 1904, S. 341 ff.)
durch mechanische Reizung des Lippenrots erotische Ideen und Rei-
zung mit Kongestionen zu den Genitalien hervorgerufen und dadurch
die Lippen als eine erogene Zone erwiesen. Vgl. auch die sehr inter-
essanten Bemerkungen von Prof. Petermann und Dr. N ä c k e
über die Genese des Lippenkusses im „Archiv f. Kriminalanthropologie“
1904, Bd. XVI S. 356—357.
3*
36
„galvanischen Berührung- eines positiv und eines negativ elek-
trisierten Körpers erhöht er die geschlechtliche Polarität, durch-
bebt den ganzen Körper und trägt, wo er unrein ist, die Sünde
von dem einen Individuum auf das andere über.“ Sehr an-
schaulich hat auch Goethe die geschlechtliche Vereinigung im
Kusse geschildert:
Gierig saugt sie seines Mundes Flammen
Eins ist nur im andern sich bewußt,
und ebenso Byron:
A long, long kiss, a kiss of youth and love,
And beauty, all concentrating like rays
Into one focus kindled from above;
Such kisses as belong to early days,
Where heart, and soul and sense in concert inore,
And the blood’s lava, and the pulse a blaze,
Each kiss a heart-quack — for a kisses strengtli,
I think it must be reckon’d by its length.
Deshalb ist es ein walires Wort, daß eine Frau, die dem
Manne den Kuß gewährt, ihm auch das Uebrige geben wird.5)
Und von den meisten feiner empfindenden Frauen wird auch der
Kuß demgemäß ebenso hoch bewertet wie die letzte Gunst.6)
Die Frage nach dem Ursprung des Kusses, die Scheffel
im „Trompeter von Säkkingen“ in scherzhaften Versen behandelt
hat, ist neuerdings auch der naturwissenschaftlichen Erörterung
unterworfen worden. Nur der Mensch kennt den Lippenkuß, und
auch bei ihm ist der Trieb dazu nicht angeboren, sondern hat
sich allmählich entwickelt und hat erst allmälilich Beziehungen
5) Der Kuß ist die Grenze zwischen Erotik und Geschlechts -
genuß. Bö Ische nennt ihn die eigentliche Uebergangsform zwischen
Mischliebo und Distanzliebe. Im Moment des Kusses sei die Distanz
zwischen den beiden Liebenden zweifellos an der Minimalgrenze, die
Distanzliebe stehe also auf dem Punkte, Mischliebe zu werden. Andrer-
seits aber sei der Kuß noch reine Tast-Berührung, und zwar eine solche
vom Kopfe aus, der am meisten auf Distanzliebe eingestellten Gegend
des Gesamtmenschen. Der Kuß ist der Grenzwert des Kampfes und
der Sehnsucht um die völlige Mischliebe und zugleich Symbol der
rein geistigen Distanzliebe.
6) Besonders in Frankreich ist das der Fall. Madame Adam
schildert sehr anschaulich dieses Gefühl der verlorenen Unschuld
nach einem Kusse. Vgl. Havelock Ellis, Die Gatten wähl, Würz-
burg 1906, S. 30.
3T
zur Geschlechtssphäre gewonnen. Havelock Ellis hat neuer-
dings interessante Untersuchungen über den Ursprung” des Kusses
angestellt und nachgewiesen, daß der Liebeskuß sich aus dem
primitiven Mutterkuß und dem Saugen des Kindes an der Mutter-
brust entwickelt hat,7) der auch dort üblich ist, wo der Sexual-
kuß unbekannt ist. Sowohl der Tast- als auch der Geruchssinn
spielen bei diesem primitiven Kusse eine Rolle, und zu der bloßen
Berührung kam beim Urmenschen noch das Lecken und Beißen.
Dieser primitive physiologische Sadismus des ,,Bißkusses“, nach
dem Wort von Kleists „Penthesilea“: „Küsse reimen sich auf
Bisse“, ist vielleicht schon von den Tieren ererbt, die bei der
Begattung sich ineinander verbeißen. Aeltere Autoren, wie z. B.
Mohnike in seiner vortrefflichen Dissertation über den Sexual-
instinkt, haben aus dieser heftigen Begleiterscheinung des Kusses
einen tiefen Zusammenhang desselben mit dem Nahrungstrieb
abgeleitet. Der Kuß, der ja auch am Munde, dem Anfänge des
Nahrungskanales, sich betätige, sei der Ausdruck dafür, die
Geliebte ganz in sich aufzunehmen, vor „Liebe zu essen“. Des-
halb kann nach Mohnike die Raserei der wilden Küsse, der
leidenschaftlichen Liebe bis zur Anthropophagie führen, wie in
einem von Metzger mitgeteilten Falle, wo ein Jüngling das
geliebte Mädchen in der Hochzeitsnacht tatsächlich „anbiß“ und
zu verspeisen anfing! Wenn es sich auch in diesem Falle ohne
Zweifel um einen Geisteskranken handelte, so wird jene Be-
tätigung sadistischer Gefühle in leichteren Formen beim Kusse
so oft beobachtet, daß man sie als physiologisch bezeichnen kann.8)
Der Kuß durch Berührung der Lippen oder benachbarter
Hautstellen ist europäischen Ursprungs und auch hier noch ver-
hältnismäßig spät üblich geworden, da ihn die Alten nur selten
erwähnen. Seine erotische Bedeutung wurde früh von indischen,
orientalischen und römischen Dichtern gewürdigt. Bei den
mongolischen Völkern ist weit mehr der sogenannte „Riechkuß“
verbreitet (olfaktorischer Kuß), bei dem die Nase an die Wange
T) Vgl. auch J. Librowicz, Der Kuß und das Küssen, Ham-
burg 1877, S. 22.
8) Es ist interessant, daß die Chinesen den europäischen Kuß
als ein Zeichen von Kannibalismus betrachten. d’E n j o y, Le Baiser
en Europe et en Chine. (Bulletin de la société d’anthropologie. Paris
1897, Heft 2.)
38
der geliebten. Person gelegt und nun die Luft und damit der
von der Wange ausgehende Duft eingesogen wird.
Mit der Ausbreitung der europäischen Kultur hat auch der
europäische Berührungskuß, der faktische Lippenkuß, sich ver-
breitet. Es läßt sich nicht mehr entscheiden, ob der eigentüm-
liche Zusammenhang der Lippen mit den Geschlechtsteilen, wie
er z. B. durch das Hervorbrechen der Haare an der Oberlippe
beim männlichen Geschlechte, auch durch die bekannten, dicken,
aufgeworfenen, die „sinnlichen“ Lippen der mit heftigem Ge-
schlechtstriebe ausgestatteten Individuen bezeugt wird, ein ur-
sprünglicher, primärer ist oder erst sekundär durch die sexuelle
Betätigung der Lippen sich entwickelt hat.9)
An die Betrachtung des Kusses knüpfen sich ungezwungen
einige Bemerkungen über die Bolle des Geschmackssinnes
in der menschlichen Liebe an. Da der Geschmack fast stets in
inniger Verbindung mit dem Geruch steht, so läßt sich auch
für die Vita sexualis selten nach weisen, ob mehr ein Geschmacks-
reiz oder ein Geruchsreiz in einem konkreten Palle vorliegt.
Beim Kusse scheint auch ein unbewußtes „Schmecken“ der ge-
liebten Person vorzuschweben, wie denn dieses bei dem Küssen
anderer Körperstellen, vor allem der Genitalien, auf dem Höhe-
punkt der sexuellen Erregung, recht häufig vorkommt. In
norwegischen Märchen und einem von Friedrich S. Krauß
mitgeteilten südungarischen Liede wird denn auch dieser Ge-
schmack des Weibes sehr realistisch geschildert. Vielfach hat
man auch die Neigung für Süßigkeiten mit der Sexualität in
Verbindung gebracht Kinder, die das Süße lieben und einen
leckeren Gaumen haben, sind auch sinnlich angelegt geschlecht-
lich leicht affizierbar und mehr zur Onanie geneigt, als andere
Kinder. Man hat daher den sinnlichen Trieb in Sättigung»- und
Geschlechtstrieb eingeteilt. Etwas Wahres liegt in dieser Beob-
achtung.
Von viel größerem Einflüsse als diese niederen Sinne sind
aber auf den modernen Kulturmenschen die höheren, eigentlich
intellektuellen Sinne, Gesicht und Gehör. Sie ge-
wannen mit der Entwicklung des aufrechten Ganges das Ueber-
gewicht über jene, namentlich den Geruchs- und Geschmackssinn.
9) Hier sei nur beiläufig auf Voltaires berühmten „Genito-t
Labial-Nerven“ hingewiesen.
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In den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“
sagt Herder: „Nahe dem Boden hatten alle Sinne des Menschen
nur einen kleinen Umfang und die niedrigen drängten!
sich den edlern vor, wie das Beispiel der verwilderten
Menschen zeiget, Geruch und Geschmack waren, wie beim Tier,
ihre ziehenden Führer. — Ueber die Erde und Kräuter erhoben,
herrscht der Geruch nicht mehr, sondern das Auge: es hat ein.
weiteres Reich um sich und übet sich von Kindheit auf in der!
feinsten Geometrie der Linien und Farben. Das Ohr, unter den
hervortretenden Schädel tief hinuntergesetzt, gelangt näher zur
inneren Kammer der Ideensammlung, da es bei dem Tier lauschend
hinaufsteht und bei vielen auch seiner äußeren Gestalt nach
zugespitzt horchet.“ Geruch, Geschmack und selbst Gefühl be-
sitzen wenig ästhetischen Wert gegenüber den beiden höheren
Sinnen, weil in ihnen das Stoffliche zu sehr überwiegt und sie
tiefer mit den rein tierischen Trieben Zusammenhängen als Gesicht
und Gehör. Johannes Volkelt hat in seiner vortrefflichen
„Aesthetik“ eine interessante Untersuchung über diesen Punkt
angestellt und kommt zu dem Ergebnis, daß bei Gesicht und!
Gehör das Empfinden ohne Spuren der Stofflichkeit vor sich'
gehe, bei Getast und Geschmack dagegen zugleich Stofflichkeits-
gefühl sei, während der Geruch in der Mitte stehe. Schon
Schiller sagte: Dem Auge und Ohr ist die#andringende Materie
hinweggewälzt von den Sinnen. Daher geben sie den freiesten,
begierdelosesten ästhetischen Genuß.
Der Gesichtssinn ist der eigentliche ästhetische Sinn in
bezug auf die Vita sexualis, er ist der erste Bote der Liebe,
durch ihn werden Farbe und Form zu geschlechtlichen Reizen,
der Gesamteindruck der geliebten Persönlichkeit zuerst durch
ihn empfangen, die Sympathie und sexuelle Anziehung fast immer
zuerst durch ihn vermittelt. Er ist der hauptsächlich für die
Liebeswahl in Betracht kommende Sinn.
Nach den Untersuchungen der modernen Entwicklungslehre
können wir nicht mehr daran zweifeln, daß die Schönheit der
lebendigen Welt in innigster Beziehung zum geschlechtlichen
Leben steht, ja durch dieses erst hervorgerufen worden ist. Alle
Schönheit ist, nach den Worten von Darwin und P. J. Möbius,
wahrnehmbar gewordene Liebe, und, fügen wir hinzu, durch den
Gesichtssinn wahrnehmbar gewordene Liebe. Die Gestalt, Haltung,
der Gang, die Kleidung, der Schmuck, die Betrachtung der
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Schönheiten der einzelnen Körperteile der geliebten Person, alle
diese durch den Gesichtssinn vermittelten Eindrücke haben die
stärkste erotische Wirkung.
Auch Havelock Ellis kommt zu dem Resultat, daß für
den Menschen das Ideal eines passenden Gatten (bezw. Liebes-
Partners) mehr auf Erwartungen des Gesichtssinnes
als auf solche des Gefühls, Geruchs und Gehörs gegründet ist.
Immerhin spielt neben dem Gesichtssinne der Gehörssinn eine
nicht unbedeutende Rolle im Liebesieben des Menschen. Hier-
für spricht schon der Stimmwechsel des Mannes in der Pubertäts-
zeit. Aus Darwins klassischen Untersuchungen geht diese innige
Beziehung der Stimme zum Geschlechtsleben unwiderleglich her-
vor. Besonders die männliche Stimme übt eine sexuell erregende
Wirkung auf das Weib aus, aber auch die umgekehrte Wirkung
einer Frauenstimme auf einen Mann wird beobachtet. Bei den
Säugetieren wird hauptsächlich in der Brunstzeit die Stimme als
geschlechtliches Lockmittel benutzt. Die Wiederholung dieser
Lockrufe in abgemessenen Zeiträumen führte zum Rhythmus,
zürn Gesang. Die rhythmische Wiederkehr derselben Töne besitzt
etwas in hohem Grade Suggestives, Faszinierendes und dient so
der sexuellen Anlockung, Verführung und Bezauberung in aus-
gezeichneter Weise. Hier ist der Ursprung der tiefen erotischen
Wirkung von Gesang und Musik. Darwin nimmt an, daß die
Urerzeuger des Menschen, ehe sie das Vermögen, ihre gegenseitige
Liebe in artikulierter Sprache auszudrücken, erlangt hatten, sich
einander in musikalischen Tönen und Rhythmen zu bezaubern
suchten. Die Frau ist für den sexuellen Einfluß des Gesanges
oder der Musik bei weitem empfänglicher als der Mann, aber
auch dieser unterliegt nicht selten dem Zauber einer schönen
Frauenstimme. Der weiche Tonfall einer weiblichen Stimme ist
für manche Männer die erste, beglückende Offenbarung weib-
lichen Wesens. Der französische Arzt und Naturforscher Moreau
erzählt, daß er einst auf das Vergnügen, eine schöne Schau-
spielerin spielen zu sehen, verzichten mußte, um die Ausbrüche
einer heftigen Leidenschaft zu dämpfen, die durch den bloßen
Reiz ihrer Stimme in ihm erregt worden war.
DRITTES KAPITEL.
Die sekundären Erscheinungen der menschlichen Liebe.
(Geschlechtsorgane, Geschlechtstrieb, Geschlechtsakt).
Im Leben ist die Geschlechtsleidenschaft eine Sache der all-
gemeinsten Erfahrung; und im allgemeinen kann man es auch als
durchaus wünschenswert bezeichnen, daß jeder Erwachsene ein ge-
wisses Maß wirklicher Erfahrung darüber habe.
Edward Carpenter.
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Inhalt dos dritten Kapitels.
Ursprung und Zweck der Geschlechtsorgane. — Fortschreitende
Differenzierung derselben. — Ursprüngliche Gleichartigkeit ihrer
Anlage bei beiden Geschlechtern. — Weiningers Theorie
von der Mischung der Geschlechtselemente. — Schon von Heinse
ausgesprochen. — Die Bisexualität. — Geringe tatsächliche Bedeutung
derselben. — Phylogenetische Erklärung der Begattungsorgane. —
Kölsches drei Fragen. — Die „Loch- oder Türfrage“. — Zusammen-
hang zwischen Geschlechtspforte und Harnkanal. — Zwischen Ge-
schlechtsöffnung und After. — Bedeutung für gewisse sexuelle Aber-
rationen. — Die „Gliedfrage“. — Frühere Formen der Verankerung
im Liebesakt. — Das Saugen und Beißen. — Die Aktion der Glied-
maßen (Umarmung). — Das Geschlechtsglied. — Formen desselben.
— Der Penisknochen. — Die freie Natur des Mannesgliedes. — Der
Descensus testiculorum. — Das weibliche Rudiment des Geschlechts-
gliedes. — Ersatz durch weitere Ausbildung der Geschlechtspforte.
— Umbildung zur Klitoris und den Labia minora. — Die „Lustfrage“.
— Die Wollust ein Phänomen der Distanzliebe. — Fragliche Spezi-
fität derselben. — Theorie des „Geschlechtssinnes“ und der „Sexual-
zellen“. — Beziehungen der Wollust zur Kitzel- und Schmerzempfin-
dung. — Ein Spezialfall der Berührungsreize. — Lokalisation an den
Geschlechtsteilen. — Der Geschlechtstrieb. — Relative Unabhängig-
keit desselben von den Keimdrüsen. — Genesis der sexuellen Erregung.
— Stadium der Vorlust (Sexualspannung). — Der Endlust (Sexual-
entladung). — Symptome und frühes Auftreten der Vorlust. — Ur-
sache der Sexualspannung. — Chemische Theorie derselben nach
Freud. — Der Geschlechtsakt. — Roubauds Schilderung des Bei-
schlafs. — Verhalten des Weibes in coitu. — Magendie darüber.
— Dr. Theopolds Beobachtungen — Physiologische Begleit-
erscheinungen des Beischlafs. — Sadistische und masochistische An-
kläng® darin. — Die Normalstellung beim Beischlaf. — Die Figurae
Veneris. — Kulturelle Bedeutung der Normalstellung.
Mit der fortschreitenden Entwicklung der mehrzelligen Or»
ganismen und der steigenden Differenzierung der einzelnen
Körperteile trat die Notwendigkeit ein, den bei den einzelligen,
Organismen sehr einfachen Prozeß der Fortpflanzung (durch
Zellteilung oder Konjugation) durch neue Einrichtungen im mehr-
zelligen Organismus der Metazoen zu sichern und zu erleichtern.
Dies ist um so nötiger, als durch die Differenzierung der übrigen:
Organe die ursprünglich so selbständigen Zeug'ongselemente immer
mehr vom Organismus abhängig und zur Ernährung durch eigene
Nahrungsassimilation unfähig werden. Es muß daher die Zeit,
welche die Sexualzellen abgelöst vom Organismus bis zu ihrer
Vereinigung zu einem neuen Individuum zuzubringen haben, mög-
lichst abgekürzt werden. Diesem Zwecke dienen Einrichtungen,
welche eine sichere und schnelle Verschmelzung der beiden
Geschlechtsprodukte ermöglichen, in Gestalt von besonderen Aus-
fulirkanälen mit kontraktilen Wandungen, durch welche die
beiden Sexualelemente zusammengeführt werden. Es sind die „B e -
gattungsorgane“, durch welche die Distanz zwischen den
beiden liebenden Individuen verringert wird. Nach den eingehenden
Untersuchungen von Ferdinand Simon nimmt die Voll-
kommenheit und die Differenzierung dieser Leitungsbahnen in
dem Maße zu, wie der Organismus höher ausgebildet wird.
Gleichzeitig damit vollzieht sich die Differenzierung der
eigentlichen inneren Zeugungsorgane, deren Anlage ursprünglich,
bei beiden Geschlechtern die gleiche ist. Ein Teil dieser ur-
sprünglich gleichartigen Gebilde findet beim Manne, ein anderer
beim Weibe seine Weiterentwicklung, während in beiden Geschlech-
tern Rudimente des früheren Zustandes erhalten bleiben, die von
dem gemeinsamen Zustande Zeugnis ablegen, in welchem beide
Keimdrüsen in demselben Individuum vorhanden waren (Herma-
phroditismus). In diesem Sinne trifft Weiningers Theorie zu,
daß es kein absolut männliches und kein absolut weibliches In-
dividuum gebe, daß in jedem Manne etwas vom Weibe und in
jedem Weibe etwas vom Manne sei und zwischen beiden Ueber-
gangsformen sexuelle „Zwischenstufen“ existieren. Jedes Indi-
viduum hat darnach so und so viele Bruchteile „Mann“ und so
und so viele Bruchteile „Weib“ in sich, und muß je nach dem
Plus dem einen oder anderen Gesehlechte zugezählt werden. Diese
Theorie, die Weininger als seine Entdeckung verkündigt, ist
durchaus nicht neu, und findet sich z. B. schon in Heinses
„Ardinghello“, wo es heißt: „So finde ich es eher notwendig,
männliche und weibliche Elemente in der Natur anzunehmen. Der
Mann ist der vollkommenste, der ganz aus männ-
lichen Elementen zusammengesetzt ist, und das
Weib vielleicht das vollkommenste, welches nur
gerade so viel weibliche Elemente hat, um Weib
bleiben zu können; so wie der Mann der schlech-
teste ist, der gerade nur so viel männliche Ele-
mente hat, um Mann zu heißen.“
Magnus Hirschfeld, dem übrigens diese denkwürdige
Stelle aus H e i n s e nicht bekannt zu sein scheint, hat neuerdings
in seinen verdienstvollen Monographien „Geschlechtsübergänge“
(Leipzig 1905) und „Vom Wesen der Liebe“ (Leipzig 1906) diese
Verhältnisse eingehend untersucht und zitiert u. a. Aussprüche
von Darwin und Weismann, wonach die latente Anwesen-
heit der entgegengesetzten Geschlechtscharaktere in jedem ge-
schlechtlich differenzierten Bion als eine allgemeine Einrichtung
auf gef aßt werden muß. Mit dieser Tatsache hängt sicherlich die
weit verbreitete Erscheinung der „psychischen Hermaphrodisie“,
der seelischen „Bisexualität“ zusammen, die uns den Schlüssel
für da3 Verständnis der Homosexualität liefert. Beide Zustände
aber weisen eben nur auf primitive Zustände in der Sexualität
zurück. Sie können durchaus keine ernsthafte Bolle spielen in
dem zukünftigen Entwicklungsgänge der Menschheit, für den ge-
rade die fortschreitende Differenzierung der Geschlechter charak-
teristisch ist. Demgegenüber kommt jenen Rudimenten keinerlei
Bedeutung zu. Freilich kann die Suggestion, der Einfluß augen-
blicklicher Zeitrichtungen und Geisteszustände eine solche Be-
deutung Vortäuschen. Und wenn z. B. Hirschfeld behauptet,
daß im nervösen Zentralorgan der Frauen die mehr männlichen
Ver st andesq ualitä ten, in dem der Männer die weiblichen Gefühls-
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quali täten in Steigerung begriffen seien, so trifft das erstens in
dieser Allgemeinheit nicht zu und ist zweitens eine ganz vor-
übergehende Erscheinung, die bereits zu einer sehr starken Reak-
tion im entgegengesetzten Sinne geführt hat.1) Die
Exuvien eines überwundenen Zustandes können nicht wieder
lebendig gemacht werden.
Der ursprüngliche Zweck der Begattungsorgane ist also die
oben erwähnte Sicherung und Erleichterung des Zusammentreffens
der beiden Keimzellen unter den komplizierter gewordenen Ver-
hältnissen eines vielzelligen Organismus; sie sind nicht etwa,
wie Eduard von Hartmann annimmt, ein bloßer Wollust-
köder zur* Vollziehung der Instinkthandlung des durch die Ent-
wicklung höheren Bewußtseins gefährdeten Geschlechtstriebes.
Denn auch Tiere ohne Begattungsorgane empfinden Wollust im
Momente des geschlechtlichen Orgasmus und der Zeugung.
Nur die Entwicklungsgeschichte löst das Rätsel vom Ur-
sprung der Begattungsorgane und klärt uns über ihren Zweck
auf. In geistreicher Weise hat W. Boise he in dieser Geschichte
der Genitalien drei Fragen unterschieden: die „Loch- oder
Türfrage“, die „Gliedfrage“ und die „Lustfrage“.
Die erste Frage betrifft die Art und Lage der beiden Leibes-
öffnungen, aus denen die Geschlechtsprodukte, die Keimzellen her-
vortreten, die zweite die genaue Aneinanderpassung der männlichen
und weiblichen Geschlechtsöffnung, die dritte den Antrieb zu
jener innigen Vereinigung der Geschlechtspforten durch einen
heftigen Nervenreiz.
Die auffälligste Tatsache, die uns bei der Betrachtung
der ersten Frage, der „Lochfrage“ entgegentritt, ist die innige
Verknüpfung der Geschlechtsöffnung mit dem Ausführungskanale
der Harn Werkzeuge beim Weibe und beim Manne, bei letzterem
aber noch ausgesprochener. Es ist eine Art von Sparsamkeit der
Natur, die diese beiden Abflußrohren des Urins und der Geschlechts- *
0 Abgesehen von Strindberg und Weininger, die
schärfste, einseitigste Ausprägung des männlichen Wesens als Heil
der Zukunft, als Entwicklungsideal predigen, weise ich nur auf den
„physiologischen Schwachsinn des Weibes“ von Möbius, aber auch
auf Schriften wie B. Friedländers „Renaissance des Eros Uranios“
(Berlin 1904) und Eduard von Mayers „Die Lebensgesetze
der Kultur“ (Halle 1904) als bezeichnende Symptome einer solchen.
Reaktion hin.
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Stoffe so nahe vereinigt hat. Phylogenetisch gelangten “ursprüng-
lich die Geschlechtsprodukte sogar mit dem Urin zugleich ins
Freie, wo sie sich dann vereinigten. Noch bei heute lebenden
Würmern findet sich diese „Urinliebe“. Später schied sich dann
der Geschlechtskanal vom Harnkanal, um nur noch in den Aus-
führungsgängen zum Teil vereinigt zu bleiben und beinahe an
der gleichen Stelle des Leibes auszumünden. Beim Manne dient
noch immer die Harnröhre zugleich der Herausbeförderung des
Urins und des Samens, bei der Frau sind zwar beide Ausführungs-
gänge getrennt, münden aber in unmittelbarer Nähe in derselben
Oeffnung- zwischen den Schenkeln aus.
Dieses Verhältnis eines innigen Konnexes z'wischen Ham- und
Geschlechtsorganen ist nicht ohne Bedeutung für das Verständnis
gewisser Abirrungen der Libido sexualis. Das gleiche gilt von
den Beziehungen zu der ebenfalls benachbarten Mündung des
Darmes, der Afteröffnung. Die „After“- oder besser „Kloaken-
liebe“ spielt ja bei vielen Fischen, Amphibien und Reptilien eine
Rolle, hier geht der Zeugungsakt und die Ausscheidung von Urin
Und Exkrementen gleichzeitig durch den After. Bei den Säuge-
tieren ist phylogenetisch frühzeitig eine Trennung der Geschlechts-
anlage und der Geschlechtsausführungsgänge vom Darme erfolgt,
und nur in der örtlichen Nähe der Mündungen bekundet sich
noch der ursprüngliche Zusammenhang. Der päderastische Akt
erinnert noch an denselben. Er ist aber nur ein „spaßhaftes
Schattenbild des äußerlichen Versuches“ (BöIsche).
Die Loehfrage führt im Laufe der fortschreitenden Entwick-
lung ganz von selbst zur „Gliedfrage“, d. h. zur Frage der
besseren Vereinigung der beiden Geschlechtsöffnungen vermittels
einer Schraube, eines Scharniers. Das Geschlechtsglied ist gleich-
sam der Nagel, der mechanische Halt bei der Begattung, eine
Abkürzung der Distanzliebe in den Körper hinein. Es wird durch
dasselbe das Verankern und Verklammern der Sichgattenden
erreicht, was in früheren Zuständen durch Saugen und Beißen
bewirkt wurde, wie z. B. bei den Vögeln, wo das eigentliche
Geschlechtsglied meist fehlt, dafür aber z. B. der Hahn die Henne
bei der Begattung mit dem Schnabel am Halse packt und festhält,
Und das Liebessaugen und Liebesverbeißen ist ja auch beim
Menschen als Reminiszenz dieser Verhältnisse übrig geblieben»
Dazu traten beim Wirbeltiere noch andere Klammermöglichkeiten
in Gestalt der Gliedmaßen, der Flossen, Arme und Beine, welche
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die „Umarmüng“ ermöglichten, bis endlich ein eigenes Glied für
den Geschlechtszweck die lange Kette dieser Vereinigungsarten
schloß. Dieses ursprünglich einen Zapfen oder einen Stachel, eine
Warze in der Geschlechtsrinne bildende Verlötungsorgan wird erst
beim Menschen zu dem freien Gliede. Noch Hunde, Nage-und Raub-
tiere, Fledermäuse und Affen haben einen starken Knochen in
demselben, den sogenannten „Penisknochen“. Beim Menschen fehlt
derselbe. Das Glied ist ganz frei geworden. „Dem ganzen schweren,
massigen Rumpf-Schenkelstück,“ sagt W. Bö Ische, „verleiht
das söharf individualisierte, selbständig bewegliche Glied zugleich
eine Art vergeistigten Mittelpunktes, es bildet gleichsam einen
Finger, eine kleine dritte Hand an ihm, die mit den Händen
rechts und links in eine rhythmische Beziehung für das Auge
tritt.“
Mit der Entwicklung des Gliedes geht phylogenetisch parallel
(vom Beuteltier an aufwärts) der „Descensus testiculorum“, das
Hinabrutschen der männlichen Keimdrüsen, der Hoden, und ihre
schließliche Lagerung im Hodensacke unter dem Mannesgliede.
Auch hier lä,ßt sich das Prinzip der „Gliederlösung“, der ver-
geistigten Beweglichkeit erkennen.
Auch das Weib besitzt im Kitzler das Rudiment eines ur-
sprünglichen Geschlechtsgliedes. Durch Aneinanderfügung beider
Glieder sollte eine vollkommnere und schnellere Vereinigung der
beiderseitigen Sexualprodukte herbeigeführt werden. Aber die
Ausbildung der weiten Geschlechtspforte des Weibes hemmte die
Weiterentwicklung dieses primitiven Gliedes, machte es gewisser-
maßen überflüssig, da ja jetzt durch die Anpassung des Mannes-
gliedes an die weibliche Geschlechtsöffnung eine genügend innige
Verankerung im Begattungsakte ermöglicht war. So diente das
weibliche Glied anderen Zwecken, ein Teil desselben bildete die
Schamlippen, die kleinen Schamlippen, ein Teil, der obere, die
Klitoris oder den Kitzler, dessen Namen schon die Beziehung aus-
drückt, die er, gleich dem Mannesgliede, zum Wollustgefühl hat.
Dieses bildet den Gegenstand der dritten und letzten Frage,
der „Lustfrage“. Beim Menschen ist die Wollustempfindung fast
ganz von dem Vorgänge der „Mischliebe“, der Vereinigung von
Samen- und Eizelle abgelöst worden und wesentlich eine Er-
scheinung der Distanzliebe geworden. Ob es eine Spezifität des
Wollustgefühles, einen besonderen „Geschlechtssinn“ gibt, erscheint
sehr fraglich. Magnus Hirschfeld nimmt besondere „Sexual-
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zellen“, mit einer Siunessubstanz von besonderer, spezifischer
Empfindlichkeit ausgestattete Empfangsstationen für sexuelle
lieize an. Er faßt die Liebe und den Geschlechtstrieb als eine
„durch das Nervensystem strömende Molekularbewegung oder Kraft
von ganz spezifischer Beschaffenheit“ auf, die von einem ganz
bestimmten Gefühls- oder Lustton begleitet ist, wie er durch die
Erregung der Sexualzellen zustande kommt. Wie aber schon oben
erwähnt wurde, stellt das Wollustgefühl wohl nur einen Spezial-
fall des allgemeinen Hautgefühls dar, es ist mit dem Hautkitzel
sehr nahe verwandt, eigentlich nur ein exzessiv starker
Kitzel. Auch zur Schmerzempfindung hat es innige Beziehun-
gen.2) Bau und Lagerung der das Wollustgefühl vermittelnden
Nervenendapparate der Genitalien weisen große Aehnlichkeit mit
den Tast- und Gefühlskörperchen der übrigen Haut auf. In der
Wollust ist die allgemeine Hautempfindung zur höchsten Inten-
sität gesteigert, so stark geworden, daß für einen Augenblick
das Bewußtsein davon verloren geht. Das Zusammentreffen
momentaner Bewußtlosigkeit mit der Акте der Empfindung macht
den Gipfel der Wollust aus. Es ist ein Aufgeben, eine Auflösung
der eigenen Persönlichkeit.
Die Wollust spielt sich beim Menschen ganz innerhalb der
Distanzliebe ab. Sehr schön hat В ö 1 s c h e ihre Bedeutung für
diese geschildert:
„Alles umfaßte bis zu dem gewissen Punkt ja das Liebes-
ieben auch der großen Zellgenossenschaften, wie du eine bist,
wie ich eine bin, wie deine Liebste eine ist. Diese höheren, ge-
steigerten Individuen sahen sich, konnten sich aufeinander zu be-
wegen, hörten sich, fühlten sich durch hundertfache äußere Medien
hindurch, sie schmolzen geistig einander zu, setzten sich in wunder-
bare Harmonie, — sie berührten sich endlich unmittelbar mit
den Hauptwänden ihrer Leiber — sie drückten sich die Hand,
2) In seiner tiefgründigen, viele neue Gesichtspunkte dar-
bietenden Abhandlung ,,Ueber die Affekte“ (Monatsschrift für Psy-
chiatrie und Neurologie 1906 Bd. XIX Heft 3 u. 4) hat Dr. Edmund
Förster diese ursprünglichen Beziehungen zwischen Wollust und
Schmerz einleuchtend dargelegt. Ihm ist die in der Pubertätszeit ein-
setzende Sexualspannung ein vermehrter Reiz auf die Schmerznerven
der Genitalien, der positive Gefühlston der Wollust bei der Ejakulation
das erleichternde, daher lustvoll betonte Gefühl der Befreiung von
den schmerzlichen, beunruhigenden Sensationen der Sexualspannung,
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Umarmten sich, küßten sich, — sie preßten sich immer fester an-
einander, durch drangen sich ein kurzes Stück Körper in Körper.
In alledem trug ihre Liebe die ganze Sache, trug sie tausend-
mal besser als die sich suchenden Einzelzellen es jemals vermocht,
trug sie für die im Leibesinneren verborgenen Geschlechtszellen
mit. Alle Lust- und Leidgefühle der Liebe wallten und wogten,
so lange durch den Gesamtorganismus in voller Wucht, wühlten
das ganze obere, höhere, umfassendere Personenindividuum auf,
bis in jede Tiefe hinein, verlangten, klagten, jauchzten, ver-
strömten in ihm.
Aber an ganz bestimmter Stelle dann machte das alles oben
Halt. Die Samenzellen spritzten aus, die Eizelle fand sich zu
ihnen, ein geheimes Innenleben kleiner separater Maulwürfe be-
gann innerhalb des einen Ueber-Individuums. Eine letzte Distanz
wurde dort genommen und eine echte Zellmischung fand statt.
Aber als das kam, war jede unmittelbare Verbindung mit dem
Liebesieben der großen Individuen Mann und Weib bereits völlig
abgerissen. Der körperliche Liebesakt war dort längst zu Ende.
Seine eigene höchste Steigerung und Erfüllung mußte längst
vorüber sein.
Der höchste Wollustmoment, bei den einzelligen Wesen in
die völlige Verschmelzung naturgemäß gelegt, mußte sich für
die Vielzeller ebenso naturgemäß gleichsam in eine andere Stufe
der großen Liebesbahm verlegen.
In eine frühere.
In die dem wahren Mischakt nächste der Distanzliebe.
Also in den äußersten Punkt dieser Distanzliebe, der von den
großen Attrappen der echten mischfähigen Geschlechts-Einzeller,
von den vielzelligen Ueber-Individuen selber noch erreicht
wurde.“
Dieser äußerste Punkt ist ein Berührungsak t.3) Die Haut
als Projektion des Nervensystems und ihre Bedeutung für die
Sexualität als solche haben wir bereits kennen gelernt. Auch die
aus der Haut hervorgegangenen übrigen Sinne müssen hier ein-
geordnet werden. An den Geschlechtsteilen nimmt dieser Be-
rührungsreiz einen ganz besonderen Charakter an, er löst hier
das eigentliche Wollustgefühl aus, das in Beziehung zu der Ab-
3) Carpenter erblickt in diesem „Gefühl des Kontaktes“ das
Wesen aller Geschlechtsliebe.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 4
(41.—60. Tausend.)
50
sondemng der Geschlechtsprodukte gesetzt wird. Beim Manne
tritt dies letztere Moment am deutlichsten hervor. Der Augen-
blick höchster "Wollust fällt zusammen mit der Ejakulation, der
Herausschleuderung des Samens. Der Charakter des Wollust-
gefühls läßt sich kaum definieren, es ist einesteils ein intensiver
Kitzel, hat auf der anderen Seite aber eine unverkennbare Be-
ziehung zum Schmerze. Später kommen wir in anderem Zusammen-
hänge auf diesen interessanten Punkt noch eingehender zurück.
Nicht übel hat man den Geschlechtsakt auch mit dem Niesen
verglichen, dessen Kitzel mit nachfolgender Auslösung des Niesens
in der Tat eine große Aehnlichkeit mit den Vorgängen beim
Geschlechtsakte hat.
Dieser letztere kommt durch Heize zustande, die mit der
vollen Ausbildung der äußeren und inneren Genitalien und der
Keimdrüsen in Zusammenhang stehen, wie diese sich in der Zeit
der Pubertät bei Mann und Frau vollzieht. Die Summe dieser
Heize bezeichnet man als „Geschlechtstrieb“. Während der
Geschlechtstrieb bei den Tieren noch wesentlich an die Tätigkeit
der Keimdrüsen geknüpft ist, hat er beim Menschen mit der über-
wiegenden Bedeutung des Gehirns eine relative Unabhängigkeit
von den Keimdrüsen erlangt, während die Psyche ihn sehr stark
beeinflußt. Im allgemeinen kommt die sexuelle Erregung auf drei
Wegen zustande; erstens durch die Tätigkeit der Keimdrüsen,
zweitens durch die peripherische Erregung von den sogenannten
„erogenen“ Stellen aus, und drittens durch zentrale psychische
Einflüsse. S. Freud hat neuerdings das Verhältnis dieser drei
Ursachen der geschlechtlichen Erregung, des Geschlechtstriebes
studiert und sehr zweckmäßig ein Stadium der „Vorlust“ und
der eigentlichen sexuellen „Lust“ unterschieden.
Das Stadium der Vorlust trägt deutlich den Charakter der
Spannung, das der Lust den der Entlastung. Das Spannungsgefühl
der Vorlust kommt sowohl psychisch als auch körperlich durch
eine Reihe von Veränderungen an den Genitalien zum Ausdruck.
Dazu kommt noch die Steigerung der Spannung durch die Hei-
zung der übrigen erogenen Zonen. Ist diese Vorlust auf einem
gewissen Höhepunkte angekommen, dann setzt sich die sie
charakterisierende potentielle Energie der Sexualspannung in die
erlösende und entlastende kinetische Energie der Endlust um, die
durch die Entleerung der Sexualstoffe hervorgerufen wird.
Die Vorlust, die sich besonders durch eine vom Rückenmark
51
ausgehende reflektorische Blutüberfüllung, Erweiterung und Erek-
tion der Schwellkörper der männlichen und weiblichen Geschlechts-
teile charakterisiert, kann schon lange Zeit vor der eigentlichen,
Pubertät auftreten, und ist noch viel unabhängiger von Vorgängen
•in den Keimdrüsen als die End- oder Befriedigungslust, die beim
Manne durch die Ejakulation des Samens erreicht wird und an die
mit der Pubertät eintretenden Verhältnisse geknüpft ist.
Der eigentliche Ursprung der zur schließlichen Entladung
führenden Sexualspannung ist noch dunkel. Es liegt nahe, sie
beim Manne mit der Samenanhäufung in Zusammenhang zu
bringen, deren Druck auf die "Wandung ihrer Behälter vielleicht
.als Reiz auf die Zentren des Rückenmarks und weiter des Gehirns
wirke. Aber diese Theorie berücksichtigt nicht die Verhältnisse
beim Kinde, beim Weibe und männlichen Kastraten, wo trotz
Pehlens einer ähnlichen Anhäufung von Geschlechtsprodukten
dennoch eine deutliche Sexualspannung beobachtet wird. Es ist
ja eine alte Erfahrung, daß Kastraten einen sehr heftigen Ge-
ßchlechtstrieb haben können. Dieser ist also in sehr hohem Grade
unabhängig von den Keimdrüsen.
Das Wesen der Geschlechtlichkeit, der Sexualspannung ist
noch gänzlich unbekannt. Freud nimmt unter Hinweisung auf
.die neuerdings erkannte Bedeutung der Schilddrüse für die Sexua-
lität an, daß vielleicht ein im Organismus allgemein verbreiteter
Stoff durch die Reizung der erogenen Zonen ersetzt werde, dessen
Zersetzungsprodukte einen spezifischen Reiz für die Reproduk-
tionsorgane oder das mit ihnen verknüpfte Zentrum im Rücken-
mark abgeben, wie ja solche Umsetzung eines toxischen, chemi-
schen Reizes in einen besonderen Organreiz von anderen dem
Körper als fremd eingeführten Giftstoffen bekannt ist. Für die
Wahrscheinlichkeit dieser chemischen Theorie der Sexual-
serregung spricht nach Freud die Tatsache, daß die Neurosen,
welche sich auf Störungen des Sexuallebens zurückführen lassen,
die größte klinische Aehnlichkeit mit den Phänomenen der In-
toxikation und Abstinenz zeigen, die durch die habituelle Ein-
führung lusterzeugender Giftstoffe (Alkaloide) erzeugt werden.
Die Auslösung, Entladung der Sexualspannung geschieht in
•natürlichster Weise im Geschlechtsakte, der zwischen
Mann und Weib vollzogenen Begattung. Trotz zahlreicher Beob-
achtungen hervorragender Naturforscher und Aerzte über den Be-
jjattungsakt, unter denen ich nur die Forschungen von Magendie,
4*
52
Johannes Müller, Marshall Hall, Kobelt, Busch,
Deslandes, Rouband, Landois, Theopold, Bur-
dach und vielen anderen nenne, besitzen wir aus begreiflichen
Gründen noch keinerlei exakte Untersuchungen über die verschie-
denen Phänomene beim Geschlechtsakt. Insbesondere ist das Ver-
halten des "Weibes in demselben noch in großes Dunkel gehüllt.
Der französische Arzt Roübaud hat die anschaulichste
Schilderung des Beischlafes geliefert. Er beschreibt ihn (nach
der Uebersetzung von Gyurkovechky) folgendermaßen:
,,Sobald das Membrum virile in. das Yestibulum eindringt, reibt
sich' die Glans penis vorerst an der Glandula clitoridis, welche sich
an dem Eingänge des Geschlechtskanales befindet und vermittels ihrer
Lage und des Winkels, den sie bildet, nachgeben und sich biegen,
kann. Nach dieser ersten Reizung der beiden Empfindungszentren
gleitet die Glans penis über die Ränder der beiden Bulbi; das Collum
und das Corpus penis werden durch die vorspringenden Teile der
Bulbi umfaßt, die Glans hingegen, welche weiter vorgedrungen, ist
mit der feinen und zarten Oberfläche der Vaginalschleimhaut in Be-
rührung, welche selbst vermöge des zwischen den einzelnen Mem-
branen befindlichen erektilen Gewebes elastisch ist. Diese Elastizität,
welche es der Vagina ermöglicht, sich dem Volumen des Penis anzu-
schmiegen, vermehrt noch die Turgeszenz, somit die Empfindlichkeit
der Klitoris, indem sie das Blut, welches aus den Gefäßen der Vaginal-
wände ausgetrieben wurde, den Bulbis und der Klitoris zuführt.
Andererseits ist die Turgeszenz und Empfindlichkeit der Glans penis
durch die kompressive Aktion des immer turgeszenter werdenden
Vaginalgewebes und der beiden Bulbi im Vestibulum vermehrt. Zudem
wird die Klitoris durch die vordere Portion des Musculus compressor
nach unten gedrückt und begegnet der Dorsalfläche der Glans und
des Corpus penis, reibt sich an derselben und reibt dieselbe, so daß
jede Bewegung der Kopulation beide Geschlechter beeinflußt, und
schließlich die wollüstigen Empfindungen summierend zu jenem hohen
Grade von Orgasmus führt, welcher einerseits die Ejakulation und
andererseits das Empfangen der Samenflüssigkeit in die klaffende
Oeffnung des Gebärmutter hals es veranlaßt.
Wenn man bedenkt, welchen Einfluß Temperament, Konstitution
und eine Menge anderer sowohl spezieller als auch allgemeiner Um-
stände auf den Geschlechtssinn haben, wird man überzeugt sein, daß
die Frage über die Unterschiede in der Wollustempfindung zwischen
den beiden Geschlechtern noch bei weitem nicht gelöst ist, ja, man
wird sich überzeugen, daß die Frage, umgeben von allen den ver-
schiedenen Bedingungen, unlöslich sei; und dies ist so wahr, daß
es sogar Schwierigkeit bereitet, wenn man ein treues und vollständiges
Bild von den allgemeinen Erscheinungen beim Koitus zeichnen will,
während sich bei. einem das Wollustgefühl nur durch ein kaum fühl--
53
bares Erzittern kundgibt, erreicht es bei einem anderen Individuum
den Höhepunkt der sowohl moralischen als auch physischen Exal-
tation. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es unzählige Ueber-
gänge: Beschleunigung tder Blutzirkulation, heftiges Pochen der
Arterien; das venöse Blut, welches durch Muskelkontraktionen in den
Gefäßen zurückgehalten wird, vermehrt die allgemeine Körperwärme,
und diese Stagnation des venösen Blutes, welche im Gehirne durch
die Kontraktion der Halsmuskeln und die nach rückwärts gebeugte
Haltung des Kopfes noch ausgesprochener in Aktion tritt, verursacht
eine momentane Gehirnkongestion, während welcher der Verstand und
alle geistigen Eigenschaften verloren gehen. Die Augen, durch In-
jektion der Konjunktiva gerötet, werden stier und machen den Blick
unstät, oder wie es in der Mehrzahl der Eälle zu sein pflegt, schließen
sich krampfhaft, ,um der Berührung mit Licht zu entgehen.
Die Respiration, welche bei dem einen keuchend und aussetzend
ist, wird bei anderen durch die krampfhafte Zusammenziehung des
Larynx unterbrochen und die Luft, durch einige Zeit komprimiert,
macht sich endlich einen Weg nach außen, vermengt mit zusammen-
hanglosen und unverständlichen Worten.
Die, wie gesagt, kongestionierten Nervenzentren geben nur kon-
fuse Impulse. Die Bewegung und Empfindung zeigen eine unbe-
schreibliche Unordnung; die Glieder werden von Konvulsionen,
manchmal auch von Krämpfen ergriffen, bewegen sich in allen Rich-
tungen, oder strecken sich und erstarren wie Eisenstangen; die
aneinander gepreßten Kiefer machen die Zähne knirschen und einzelne
Personen gehen in ihrem erotischen Delirium so weit, daß sie, ganz
vergessend auf den anderen Teilnehmer in diesem Wollustkampfe,
eine ihnen unvorsichtigerweise überlassene Schulter bis zum Blute
beißen.
Dieser frenetische Zustand, diese Epilepsie und dieses Delirium;
dauern gewöhnlich nur kurze Zeit, aber genügend lange, um die
Kräfte des Organismus ganz zu erschöpfen, besonders beim Manne,
wo diese Hyperexzitation durch einen mehr oder minder abundanten
Spermaverlust beendet wird. Es erfolgt dann ein Erschöpfungszustand,
welcher um so bedeutender ist, je heftiger die vorhergehende Auf-
regung war. Diese plötzliche Mattigkeit, diese allgemeine Schwäche
und diese Neigung zum Schlafe, welche sich des Mannes nach dem
Koitus bemächtigen, sind teilweise der Spermaabgabe zuzuschreiben,
weil das Weib, wie energisch es auch beim Akte mitgewirkt haben
mag, nur eine vorübergehende Müdigkeit empfindet, welche weit ge-
ringer ist als die Mattigkeit des Mannes, und welche ihr bedeutend
früher eine Wiederholung des Koitus erlaubt. „Triste est omne animal
post coitum, praeter mulierem gallumque“, hat Galen gesagt, und
dieses Axiom ist im wesentlichen, was das menschliche Geschlecht
anbelangt, richtig.“
Aehnlich ist die Schilderung der Begattung von K o b e 11 in
seinem berühmten "Werke über die Wollustorgane des Menschen
54
(Freiburg 1844, S. 59 ff). Das Verhalten des Weibes wird in des
meisten Beschreibungen des Koitus verhältnismäßig wenig berück-
sichtigt. Schon M a g e n d i e hob hervor, daß hier noch vieles
dunkel sei und betonte die in Vergleichung mit dem Verhalten des
Mannes so überaus großen Unterschiede bei Frauen in bezug auf
die Lebhaftigkeit der Aktion bei der Begattung und die Intensität
der Wollustempfindung. „Sehr viele Frauen“, sagt dieser be-
rühmte Physiologe, „haben in diesem Momente sehr lebhaft©
Wollustempfindungen; andere dagegen scheinen dabei ganz ohne
Empfindung, und einige wieder haben nur ein unangenehmes und
schmerzhaftes Gefühl. Manche Frauen ergießen in diesem Mo-
mente der höchsten Wollust eine große Menge Schleim, während
die meisten keine ähnliche Erscheinung zeigen. In Beziehung auf
alle diese Erscheinungen gibt es vielleicht keine zwei
Frauen, die sich einander vollkommen gleichen.“
Das Verhalten des Weibes in coitu ist besonders von Frauen-
ärzten, wie Busch, Theopold und neuerdings Otto Adler
studiert worden. Wenig bekannt sind die 1873 erschienenen, auf
eigenen Beobachtungen beruhenden Mitteilungen des Dr. Theo-
pold. Er widerspricht energisch der Ansicht, daß das Weib beim
Koitus stets passiv sei oder daß die weiblichen Begattungsorgane
bei demselben inaktiv seien. Bei erotischer Erregung des Weibes
schlägt das Herz rascher, die Arterien der Schamlippen klopfen
kräftiger, die Genitalien turgeszieren und zeigen erhöhte Wärme,
iiaht die höchste Libido, so erigiert sich der Uterus, sein Grund
berührt die vordere Bauchwand, die Muttertrompeten sind als
harte gebogene Stränge durch dünne Bauchdecken deutlich zu
fühlen. Die Vagina, besonders ihr oberer Teil, wechselt zwischen
Kontraktion und Expansion, und volle Befriedigung endet den Akt,
Willkürlich kann das Weib, so lange der Scheidenmuskel
(Constrictor cunni) unverletzt ist, durch feste Umschnürung der
Wurzel des männlichen Gliedes die Ejaculatio seminis be-
schleunigen oder die Beizung bis dahin steigern.
Diese kräftigen, mit Erweiterung abwechselnden, die Glans
fest umgreifenden Kontraktionen der Scheide im Orgasmus be-
dingen eine Koaptation des Orificium penis mit dem äußeren
Muttermunde, dessen erweiterte Oeffnung dem Samen leichteren
Eingang verstattet.
Nach 0. Adler beginnt die sexuelle Erregung des Weibes
während des Aktes mit stärkerer Durchblutung des ganzen Ge-
55
schlechtsäpparates bis hinauf zu den Fimbrien der Muttertrom-
peten, wodurch eine Erektion dieser Teile, besonders aber des
Kitzlers, der kleinen Schamlippen und der Vaginalwände hervor-
gerufen wird. Zugleich fangen die Drüsen der Scheidenschleim-
haut und des Scheideneinganges an zu sezemieren, was sich durch
„Naßwerden“ der äußeren Geschlechtsteile bekundet. Sodann be-
ginnen leichte, rhythmische Zusammenziehungen der Muskulatur
der Scheide Und des Beckens, die sich im Orgasmus zu krampf-
haften Kontraktionen steigern, wodurch ein vermehrtes Sekret,
besonders durch Auspressung von Uterinschleim, abgesondert wird.
Sehr wichtig ist die Betrachtung der verschiedenen physio-
logischen Begleiterscheinungen des Beischlafs, da sie das Ver-
ständnis für das Zustandekommen und für die biologische Wurzel
mancher sexuellen Perversionen eröffnen. Es lassen sich in der
Tat bereits im normalen Geschlechtsakt sadistische und maso-
chistische Elemente nachweisen. Das von ßoubaud erwähnte
Beißen und Schreien in der Wollustekstase kommt sehr häufig
vor. Rudolf Bergh, der berühmte dänische Dermatologe und
Arzt am Hospital für venerische Frauen in Kopenhagen, erwähnt
in seinen Jahresberichten regelmäßig auch die Folgen „erotischer
Bisse“. Bei den Südslaven ist die Sitte des sich beim Koitus
„ineinander Verbeißens“ weit verbreitet (Krauß). Auch die inten-
sive dunkelrote Färbung des Gesichts und der Geschlechtsteile
und ihrer Umgebung ist eine physiologische Begleiterscheinung
der geschlechtlichen Aufregung, die meist durch die damit ver-
knüpfte Turgeszenz der männlichen und weiblichen Genitalien
um so auffallender hervortritt und zu Gefühlsassoziationen führt,
in welchen das Blut eine hervorragende Rolle spielt. Hieraus
leitet sich die biologische und ethnologische Bedeutung der roten
Farbe für die Sexualität ab. Das Bedürfnis des Sadisten, beim
Geschlechtsverkehre „rot zu sehen“, ruht also auf einer tiefen
physiologischen Grundlage, die nur eine Steigerung erfahren hat.4)
Auch das Schreien und Fluchen, in dem manche Individuen eine
sexuelle Befriedigung finden, hat in den beim normalen Beischlaf
ausgestoßenen unartikulierten Lauten und Schreien ein physio-
logisches Vorbild. Es ist bezeichnend, daß ein indischer Erotiker,.
4) Deshalb erscheinen manche raffinierte Prostituierten im roten
Hemde. Vgl. P. N ä c k e, Un cas de fétichisme de souliers etc. In ;
Bulletin de la société de médecine mentale de Belgique 1891.
56
Vätsyäyana, diesen Wortsadismus aus den verschiedenen
Lauten ableitet, die auch im normalen Beischlafe ausgestoßen
werden. In ähnlicher Weise kann man auch für beide Teile
masochistische Elemente im Koitus nachweisen, Erduldung von
wollüstig betonten Schmerzen.5)
Was die Stellung beim Beischlafe betrifft, so kommt für
den Kulturmenschen, der sich in dieser Beziehung vom Tiere weit
entfernt hat, als Normalstellung der Beischlaf Leib an Leib in
Betracht, wobei die Frau auf dem Kücken liegt, mit gespreizten,
in Knie und Hüfte gebeugten Beinen, der Mann über ihr zwischen
ihren Schenkeln liegt und Hand und Ellenbogen während der
Begattung aufstützt, oder auch wohl beider Lippen gleichzeitig
im Kusse sich vereinigen.
Von allen übrigen zahllosen Stellungen oder „Figurae
Veneris“, die nach Scheik Nefzawi zum Teil nur „in Worten
Und Gedanken“ möglich sind, kommen aus Gründen der Hygiene
die Seitenlage der Frau, Rückenlage des Mannes und der Coitus
a posteriori (z. B. bei Fettsucht beider Teile) in Betracht. Das
gehört aber schon zum Kapitel der sexuellen Hygiene.
Ploß-Bartels hat naehgewiesen, daß die oben erwähnte
Normalstellung schon in alten Zeiten und bei den verschiedensten
Völkern die herrschende war. Sie hat sich ohne Zweifel mit der
Entwicklung des aufrechten Ganges des Menschen ausgebildet.
Es ist die natürliche, instinktive Stellung des Kulturmenschen,
der auch hierin einen Fortschritt über das Tier hinaus bekundet.
6) Sadismus und Masochismus sind also nicht sowohl „atavismi
genitali“ im Sinne Mantegazzas und Lombrosos, als vielmehr
graduelle Steigerungen noch heute bestehender physiologischer Er-
scheinungen.
VIERTES KAPITEL’.
Die körperlichen Geschlechtsunterschiede.
Es ist hier eine ursprüngliche Ungleichheit, deren Ursprüng-
lichkeit aut den Gegensatz von Inhalt und Form zurückgeht. Aus
dieser Urverschiedenheit entspringen die anderen, sekundären Unter-
schiede alle.
Alfons Bilharz.
58
Inhalt des vierten Kapitels.
Der Geschlechtsunterschied als Urtatsache des menschlichen
Sexuallebens. — Bedeutung der sexuellen Differenzierung nach Wal-
d e y e r. — Das biologische Gesetz Herbert Spencers. — Anta-
gonismus zwischen Fortpflanzung und Entwicklungstendenz. —- Bei
spiel der Menstruation zur Illustration dieses Gegensatzes. — Die
Ursprünglichkeit und größere Naturnahe des Weibes. — Unzulässig-
keit des Begriffes der „Inferiorität“ des Weibes. — Ansichten über die
Natur seiner körperlichen Entwicklung. — Stärkere Differenzierung der
Geschlechter durch die Kultur. — Vergleichung der Frauenbildnisse
des Mittelalters und der Gegenwart. — Verdunkelung des Geschlechts-
gegensatzes in primitiven Zuständen. — Beispiele dafür. — Verände-
rung der Stimme durch die Kultur. — Anklänge an primitive Ver-
hältnisse in gewissen Erscheinungen der Frauenemanzipation (Männer-
traoht, Cigarrenrauchen). — Sexuelle Indifferenz in der Urgeschichte
der Menschheit. — Zusammenhang einer früheren Gynäkokratie damit
(nach Ratzel). —- Die sekundären Geschlechtsmerkmale. — Haupt-
unterschied des männlichen und weiblichen Körpers. — Neuere For-
schungen über die Sexualdifferenzen. — Unterschiede des Skeletts. —•
Die spezifische Sexualdifferenz des menschlichen Beckens. — Abhängig
von Kultur und Gehirnentwicklung. — Unterschied von Körpergröße
und Körpergewicht. — Von Muskulatur und Fettansatz. — Die Blut-
beschaffenheit. — Sexuelle Differenzen von Kehlkopf und Stimme. —
Männer- und Frauenschädel. — Hirngewicht. — Kein Grund für die
Inferiorität des Weibes. — Differenzen im Bau des Gehirns. — For-
schungen von Rüdinger, Waldeyer, Broca, G. Retzius u. a.
darüber. — Kennzeichnung des weiblichen Typus als eines mehr kind-
lichen. — Bedingt durch die Anpassung an die Zwecke der Fort-
pflanzung. — Männliche und weibliche Schönheit. — Verschieden,
aber keine der anderen überlegen.
59
Der Unterschied der Geschlechter ist eine Urtatsache des
menschlichen Sexuallebens, die ursprüngliche Voraussetzung aller
menschlichen Kultur. Er läßt sich sowohl in physischer als auch
psychischer Beziehung bereits in dem Elementarphänomen der
menschlichen Liebe nach weisen, wo er, weil hier die Verhält-
nisse noch einfach und unkompliziert sind, auch am anschau-
lichsten hervortritt.
W aldeyer hat in seinem bedeutsamen Vortrage über die
somatischen Unterschiede der Geschlechter auf der Anthropologen-
versammlung in Kassel 1895 darauf hingewiesen, daß die höhere
Entwicklung einer bestimmten Art wesentlich mit durch die
größere Differenzierung der Geschlechter charakterisiert ist. Je
weiter wir in der Tier- und Pflanzenwelt von den niederen zu
den höheren Formen aufsteigen, um so mehr unterscheiden sich
die männlichen und weiblichen Geschlechtspersonen voneinander.
Auch beim Menschen sind im Verlaufe der phylogenetischen Ent-
wicklung diese Geschlechtsunterschiede in steigendem Maße zu-
tage getreten.
Bei der Ausbildung dieser Sexualdifferenzen spielt der zuerst
von Herbert Spencer festgestellte Antagonismus zwischen
Fortpflanzung und höherer Entwicklungstendenz eine wichtige
Rolle. Unter den höheren Tiergattungen bekunden die männlichen
Wesen eine stärkere Entwicklungstendenz als die weiblichen,
weil ihr Anteil am Fortpflanzungsgeschäft ein bedeutend ge-
ringerer ist. Der größere organische Verbrauch, den die Fort-
pflanzungsfunktionen erfordern, schränkt die weibliche Entwick-
lung bedeutend mehr ein als die männliche. Beim Menschen wird
dieses Zurückbleiben des Wachstums beim Weibe noch besonders
gesteigert durch die Menstruation, die ein treffendes Beispiel für
die Richtigkeit des Spencer sehen Gesetzes darstellt. Ich führe
60
hierfür auch, die Aeußerungen des Würzburger Anatomen Oskar
Schultz© in seinem soeben erschienenen wertvollen Vortrage
über „Das Weib in anthropologischer Betrachtung“ (Würzburg
1906, S. 55—56) an:
„Die wellenartig verlaufende Periodizität der Hauptfunk-
tionen des weiblichen Organismus, welche in der Ovulation und
Menstruation ihren Grund hat und, solange es Menschen gibt, in
dem weiblichen Körper stattfindet, fehlt bei allen übrigen Säuge-
tieren (außer den Affen). Bei ihnen sind, soviel wir beobachten,
die sekundären Geschlechtsunterschiede, soweit es sich um Unter-
schiede der Muskulatur und Kraft handelt, nicht oder bisweilen
nicht so ausgesprochen, wie bei dem Menschen. Hierbei müssen
wir von Unterschieden, wie sie bei Haustieren als Folgen der
Domestikation bestehen können, absehen (z. B. bei Kuh und Stier).
Bei dem Weibe hat die bereits auf den jugendlichen, noch nicht
ausgewachsenen Körper wirkende Periodizität seit Jahrtausenden
die sekundären Geschlechtsunterschiede gesteigert. Die Periodizität
ist so, meiner Auffassung nach, eine wesentliche Ursache für
die Tatsache, daß das Weib vor allem an Ausbildung der Mus-
kulatur und an Eiraft dem Manne nicht gleichkommt, und daß
seine Organe zum großen Teile dem kindlichen Typus näherbleiben.
Der geschlechtsreife weibliche Körper hat den in der Men-
struation erlittenen Verlust in der intermenstruellen Zeit stets
wieder einzubringen. Kaum ist dies geschehen und der Höhe-
punkt der Lebensenergie wieder gewonnen, so platzt ein neuer
Follikel im Eierstock, und die neue menstruelle Blutung setzt
ein. So geht die monatliche Lebenswelle und Lebensenergie fort-
während auf und ab. Die für die Hauptfunktion des
Weibes periodisch verbrauchte Kraft ist seit
Jahrtausenden für den inneren Eigenausbau
gleichsam verloren gegangen. Der Einzelverlust ist so
gering, daß er von zahlreichen Weibern in keiner Weise unan-
genehm empfunden wird. Der Effekt liegt in der Summation.
Der Gewinn wird sofort wieder verausgabt, jedoch nicht
im eigenen Haushalt, sondern im Dienste der
Fortpflanzung für andere, welche erst kommen und die
Art erhalten sollen. Eigenes Kapital aufzuspeichern,
ist dem Weibe schwerer gemacht als dem Malanef
Das oben erwähnte biologische Gesetz von Spencer, für
welches die Menstruation eine so interessante Illustration liefert,
61
erklärt die auch von Milne Edwards, Darwin, Brooks,
Lombroso, Alfons Bilharz und anderen Naturforschern
hervorgehobene größere Einfachheit und Ursprünglichkeit des
Weibes gegenüber der komplizierteren, variableren, weil innerhalb
weiterer Grenzen vor sich gehenden Natur des Mannes. Schon
Paracelsus sprach das tiefe Wort: „Die Frau ist der
Welt näher denn der Mann.“
Es wäre grundfalsch, hieraus eine Inferiorität und
Minderwertigkeit des Weibes abzuleiten. Vielmehr ist die Art
seines Körperbaues, dem Zwecke entsprechend, eine vollkommene,
und diese Vollkommenheit hat im Laufe der Kulturentwicklung
sich noch gesteigert. Wir sahen ja schon, daß unter dem Ein-
flüsse der immer stärker hervortretenden Prävalenz des Gehirns
auch beim Manne gewisse Bückbildungsprozesse sich geltend
machten, wie z. B. die zunehmende Enthaarung, die beim Weibe
in größerem Maße vor sich gegangen sind, weil hier die pro-
gressive Entwicklung von Natur eine geringere ist. Daher
sind sogar neuere Forscher, wie z. B. Havelock Ellis, zu dem
Schlüsse gekommen, daß der Idealtypus, dem die körperliche
Entwicklung des Menschen zustrebt, derjenige des Weibes, d. h.
ein jugendlicher Typus sei.1) *
U Noch weiter geht ein. anderer Schriftsteller H. Quensel in
seinem zum Teil sehr phantastischen Buche „Geht ës aufwärts? Eine
idealphilosophische Hypothese zur Entwicklung der menschlichen
Psyche auf naturwissenschaftlicher Grundlage“ (Köln 1904, S. 152 bis
153). Er sagt wörtlich: „Was die Kulturstellung von Mann und Frau
im Verhältnis zueinander betrifft, so nimmt zwar der Mann unzweifel-
haft die höhere Stellung ein hinsichtlich derjenigen psychischen Triebe,
welche den höheren und höchsten Kulturstufen als Unterlage dienen,
das sind namentlich die Triebe des Bauens, Konstruierens, des
Sammelns und Verarbeitens wissenschaftlicher Tatsachen, hinsicht-
lich der Staatskunst und der formellen sozialen Tätigkeiten, der
Kausalitäts- und der Kunsttriebe. Wenn man aber meine Feststellungen
über die Einzelheiten des körperlichen Abstieges, des psychischen Auf-
stieges auf die vorliegende Frage anwendet, so zeigt sich, daß die
Frau in manchen Beziehungen zweifellos höher steht als der Mann.
Denn die Frau ist in ihrer Entwicklung, nicht allein in körperlicher
Beziehung hinsichtlich des Skelett- und Muskelsystem-Abstieges und
der dadurch bedingten zarten Konstitution, hinsichtlich der Haut-
bedeckung, der Sprache und der Stimme auf dem kulturnotwendigen
Körperrückschrittswege viel weiter gekommen wie der Mann. Sie ist
auch positiv, gerade was die Entwicklung der höchststehenden psychi-
schen Triebe der allgemeinen feinen Nervenempfindlichkeit, des ver-
Es ist aber sclir zweifelhaft, ob diese Entwicklung* jemals
so weit geben wird, daß die ursprüngliche und im Wesen
des Geschlechtlichen begründete Differenz zwischen Mann und
Weib aufgehoben und ausgeglichen werde. Im Gegenteil läßt
sich trotz jener mit der überwiegenden Entwicklung des Gehirns
in Zusammenhang stehenden regressiven Veränderungen doch
eine immer stärkere Differenzierung der Geschlechter
durch die Kultur nachweisen. Auf diese Tatsache, die gerade
für die Diskussion der Frauenfrage und der Homosexualität eine
große Bedeutung besitzt, hat zuerst der Kulturhistoriker
W. H. Riehl in seinem 1855 erschienenen Werke über die
Familie hingewiesen. Er widmet das zweite Kapitel desselben
dieser Scheidung der Geschlechter im Prozesse des Kulturlebens.
Ihn überraschte die Tatsache, daß auf fast allen Bildnissen be-
rühmter weiblicher Schönheiten aus vergangenen Jahrhunderten
die Köpfe zu männlich erscheinen gegenüber dem Urbild
weiblicher Schönheit, das uns Modernen vorschwebt.
„Sowie die mittelaltrigen Maler den allgemeinen Typus der
Engel- und Heiligenköpfe aufgeben, sowie van Eyck und Hemm-
ling Madonnen und weibliche Heilige mit persönlichen, individuell
durch gebildeten Köpfen malen, schleichen sich in diese so tief
empfundenen Bildnisse zartester Jungfräulichkeit gewisse harte
Züge ein, welche uns die Köpfe auffallend männlich oder ein
klein wenig zu alt erscheinen lassen, van Eycksche Madonnen
mit dem Christuskind auf dem Schoße sehen uns häufig wie
Dreißigerinnen aus. Dennoch folgte der Maler der Natur; aber
die Natur ist seitdem eine andere geworden.
Auch die zarte Jungfrau hatte vor drei Jahr-
hunderten noch männlichere Züge als jetzt, und
wer in dem Porträt der Maria Stuart ein Gesicht wie aus dem
Modejournal geschnitten sucht, der wird sich enttäuscht finden,
feinerten Gefühls für sittliche Werte und des Idealismus, der all-
gemeinen Nächstenliebe und Aufopferungsfähigkeit mit zurücktretendem
Egoismus, der transzendentalen Frömmigkeit und des Gottessuchens
wie auch des Hellsehens, endlich der höchste psychische Differenzierung
verratenden Anpassungsfähigkeit, wohl im Zusammenhänge mit man-
gelnder Beständigkeit, anlangt, auf dem Kulturfortschrittswege dem
Manne schon stark vorgekommen, kulturlich also den Mann sicher
überragend.“
G3
durch die bestimmten, für das Auge des neunzehnten Jahrhunderts
fast männlich bestimmten Umrisse dieser gepriesenen Schönheit.“
Der Geschlechtsgegensatz tritt mit steigender Gesittung
immer schärfer und individueller hervor, während er in. primi-
tiven Zuständen, ja selbst noch beim Landvolke und Proletariat
minder scharf und zum Teil sogar verwischt und ausgeglichen ist.
Man vergegenwärtige sich nur moderne Frauenbildnisse aus den
Arbeiterkreisen, die uns fast wie verkappte Männer anmuten.
Auch die Körpergröße der Geschlechter zeigt bei Naturvölkern
und in den unteren Volksklassen weit geringere Unterschiede als
bei den verfeinerten Großstädtern Sehr charakteristisch für den
differenzierenden Einfluß der Kultur sind auch die Verhältnisse
der Stimme. Riehl bemerkt darüber: „Selbst die Klangfarbe
der Stimme der beiden Geschlechter ist bei einfacheren Zuständen
der Gesittung im allgemeinen gleichmäßiger. Der hohe Tenor,
als die weibliche Mannsstimme, und der tiefe Alt, als die männ-
liche Frauenstimme, sind bei den Kulturmenschen viel seltener
als bei den Naturmenschen, wo männliche und weibliche Art noch
unterschiedloser ineinander übergreift. Unsere Kapellmeister
reisen nach Ungarn und Galizien, um helle, hohe Tenöre zu suchen,
und für den tiefen Alt wird fast gar nicht mehr komponiert,
weil die mann-weiblichen Contra-Altistinnen bei den zivilisierten
Völkern aussterben. Herrschend wird dagegen der
bestimmteste Gegensatz der geschlechtlichen
Klangfarbe: Sopran und Baß. Diese Tatsache ist bereits
bestimmend geworden für unsere Gesangschule, bestimmend für
unsere vokale Tondichtung — auf welche versteckte Seitenwege
führt doch hier die "Wahrnehmung des stets sich erweiternden
Gegensatzes zwischen Mann und Weib!“
Gewisse Erscheinungen und Ausartungen der Frauen-
emanzipation, wie die Männertracht, das Zigarrenrauchen, sind
nichts anderes als Rückfälle in primitive Zustände, die sich
beim gewöhnlichen Volke noch bis heute erhalten haben. Es sei
nur an den Männerhut, den kurzen Rock und die hohen Schnür-
stiefel der Tirolerinnen, an das Tabakrauchen der Weiber bei
mittel- und niederdeutschen Bauernhochzeiten erinnert. Einer
solchen falschen „Emanzipation“ des Weibes begegnet man bei
Bauern, Vagabunden, Zigeunern sehr häufig, worauf schon die
geschlechtslose Bezeichnung der Weiber jener Klassen als „das
Mensch“, als „Weibskerle“ u. dergl. hinweist, woduroh di© dem
64
„Weib aus dem Volke eigene selbstbewußte, aktiv vorscKreitende
Mann esuatur“ treffend charakterisiert wird.
Daß die relative Verwischung der Geschlechtsgegensätze bei
den niederen Stünden der modernen Gesellschaft Ueberrest primi-
tiver Zustände ist, zeigt auch die Urgeschichte der Völker. Der
schon im biblischen Schöpfungsmythus, dann von Plato und
später von Jakob Böhme ausgesprochene Gedanke, daß der
erste Mensch ursprünglich Mann und Weib zugleich gewesen
sei, und daß das Weib dann aus diesem Urmenschen Adam
gebildet worden sei, dieser sinnvolle Gedanke ist nur der Ausdruck
der Tatsache von der Indifferenz der Geschlechter bei den Natur-
völkern und in der Urgeschichte der Menschheit. Der Hermar
phrodit der antiken Kunst ist ebenso wie das Mannweib der
modernen Frauenbewegung ein Atavismus, ein Rückfall in jene
längst überwundenen Zustände, an die nur noch die erwähnten
Ueberreste erinnern.2)
Friedrich Ratzel würdigt in der Einleitung seiner
„Völkerkunde“ ebenfalls diese primitive Verdunklung der Ge-
schlechtsgegensätze auf unteren Kulturstufen und zieht daraus
interessante Schlußfolgerungen für das Bestehen einer einstigen
Gynäkokratie, einer Weiberherrschaft. Ich habe ebenfalls sehr
ausführlich über diese Frage im zweiten Bande meiner „Beiträge
zur Aetiologie der Psychopathia sexualis“ gehandelt, und komme
auf sie noch bei Erörterung des Masochismus zurück.
W. H. Riehl und nach ihm Heinrich Schurtz haben
ausdrücklich auf die Gefahren einer Verwischung des Geschlechts-
unterschiedes für die Kultur hingewiesen. Dieser steht und
fällt mit der Kultur. Er ist ihre Voraussetzung. In be-
seitigen, hieße die ganze Entwicklung rückgängig machen.
Die Sexualdifferenzen betreffen wesentlich die verschiedene
Ausbildung der sogenannten „sekundären Geschlechtsmerkmale“,
d. h. derjenigen Unterschiedsmerkmale, welche, abgesehen von der
eigentlichen Geschlechtsaufgabe, noch zwischen Mann und Weib
bestehen, wie z. B. Größe, Skelett, Muskeln, Haut, Stimme usw.
2) Auch W. Havelburg macht in seiner Abhandlung „Klima
Rasse und Nationalität in ihrer Bedeutung für die Ehe“ (in: Krank-
heiten und Ehe von Senator und Kam in er, München 190f Bd. I
S. 129) auf die Bedeutung der fortschreitenden sexuellen Differen-
zierung für die Kultur und die Steigerung der weiblichen Schönheit
aufmerksam.
Der männliche Körper hat sich mehr zu einer Kraftmaschine
entwickelt als der weibliche, weil bei ihm Knochen und Muskeln
eine bedeutendere Ausbildung' erlangt haben, während dem Weibe
eine größere Fettentwicklung eigentümlich ist, wodurch die
Plastizität des Körpers vollkommener, die Mechanik und Kraft-
entfaltung aber benachteiligt wurden.
N ach der neuesten wissenschaftlichen Darstellung der Sexual-
differenzen, wie sie in der Monographie von Oskar Schultze
vorliegt, der eigene Untersuchungen, sowie die älteren Arbeiten
von Vierordt, Quetelet, Topinard, Pfitzner, W a 1 -
deyer, C. H. Stratz, J. Ranke, E. v. Lange, Havelock
Ellis, Merkel, Bischoff, Rebentisch, Welcker,
Schwalbe, Marchand u. a. als Grundlage gedient haben,
sind die wichtigsten körperlichen Unterschiede zwischen Mann
und Weib die folgenden:
Die Grundlage des Körpers, das Knochengerüst, weist bei
Mann und Weib wesentliche Verschiedenheiten auf. Die Knochen
des Weibes sind im ganzen kleiner und schwächer. Besonders
große Geschlechtsdifferenzen treten aber am Becken hervor.
Wiedersheim bezeichnet diese sexuelle Differenz des mensch-
lichen Beckens geradezu als ein spezifisches Merkmal des Menschen-
geschlechts. Bei allen anthropoiden Affen ist sie weit weniger
ausgesprochen als beim Menschen. Auch sie zeigt den Charakter
einer progressiven Entwicklung im Sinne einer sich anbahnenden
Vervollkommnung, die wesentlich von der höheren Kultur ab-
hängig ist. Deshalb sind, wie G. Fritsch, Alsberg u. a.
hervorheben, auch bei den meisten wilden Völkerstänünen die
Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Becken viel
geringfügiger als beim Kulturmenschen. Die charakteristischen
Eigentümlichkeiten des europäischen Weiberbeckens, die dasselbe
auf den ersten Blick vom Becken des Mannes unterscheiden lassen,
nämlich die größere Geräumigkeit im Br eiten durchmesser, die
größere Niedrigkeit und die weitere Oeffnung des vorderen
Knochenbogens sind bei den Weibern der südafrikanischen Stämmp
und der Südseeinsulaner weit weniger ausgeprägt.
Die Erweiterung des weiblichen Beckens ist abhängig von dem
wichtigsten Kulturfaktor, dem Gehirne, dessen Vergrößerung
schon beim menschlichen Fötus eine ungleich bedeutendere Volums-
entfaltung des Schädels bedingt, als dies bei den meisten Säuge-
tieren der Fall ist. Dias beeinflußt den Eingang des kleinen
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. f>
(41.--60. Tausend.)
66
Beckens inklusive Kreuzbein, aber auch das große Becken, da
durch die aufrechte Stellung des Menschen der Druck des
schwangeren Uterus mehr seitwärts geht und so die Darmbein-
schaufeln zu größerer Entfaltung bringt. Gerade bei niederen
Rassen ist diese tellerartige Verbreiterung der Darmbeinschaufeln
viel weniger ausgesprochen als bei zivilisierten Völkern.
Ein weiterer körperlicher Unterschied zwischen den Ge-
schlechtern betrifft Körpergröße und Körpergewicht-
Die Durchschnittsgröße des Weibes ist etwas geringer als
die des Mannes. Sie beträgt beim Europäer 1,60 Meter gegenüber
1,72 Meter für den Mann. Nach Vierordt ist schon der neu-
geborene Knabe etwa 0,5 bis 1 Zentimeter länger als das neu-
geborene Mädchen. Johannes Ranke charakterisiert die
einzelnen diesen Unterschied bedingenden Faktoren folgender-
maßen: „Der typisch vollendeten männlichen Körperentwicklung
entspricht ein zur Körperhöhe relativ kürzerer Rumpf, aber
relativ zur Rumpflänge längere Arme, längere Beine, längere
Ober- und Unterschenkel, längere Hand und längerer Fuß und
im Verhältnis zum langen Oberarm resp. zum langen Ober-
schenkel längerer Vorderarm und längerer Unterschenkel und ein
relativ zur ganzen vorderen Extremität längeres „freies“ Bein
bis zur Standfläche.
Größere Rumpflänge, zu letzterer kürzere Arme, Beine, Ober-
und Unterarme, Ober- und Unterschenkel, kürzere Hände und
Füße, relativ zum kurzen Oberarm noch kürzere Unterarme und
relativ zum kurzen Oberschenkel noch kürzere Unterschenkel,
schließlich relativ zur ganzen vorderen Extremität kürzere Beine
bedeuten dagegen eine Annäherung an den jugendlichen unent-
wickelten Zustand und charakterisieren die dem Jugendzustande
näherbleibenden weiblichen Proportionen gegenüber den voll ent-
wickelten männlichen.“
Der Unterschied der Körpergröße findet sich auch bei primi-
tiven Völkern. Bei den noch in der Steinzeit lebenden Natur-
völkern Brasiliens fand Karl von den Steinen bei einer
Durchschnittsgröße der Männer von 162 cm eine Differenz von
10,5 cm zu Ungunsten des Weibes. Diese Differenz stimmt genau
mit der überein, welche man nach den von Topinard ermittelten
Verhältniszahlen für die Durchschnittsgröße von 162 cm er-
warten sollte.
Im Verhältnis zur größeren Körperlänge weisen auch die
67
sonstigen Proportionen des männlichen Körpers größere Zahlen
auf. Besonders die Breite der Schultern ist gegenüber derjenigen
des Weibes eine größere.
Das Körpergewicht des Mannes ist ebenfalls beträchtlich
größer als das des Weibes. Nach Vierordt beträgt das Durch-
schnittsgewicht eines neugeborenen Knaben in Mitteleuropa
3333 g, dasjenige eines neugeborenen Mädchens 3200 g. Der
Unterschied beträgt also 133 g, beim Erwachsenen aber gar
10 kg, da als Durchschnittsgewicht des Mannes 65 kg, des
Weibes 58 kg ermittelt ist.
Entsprechend der geringeren Entwicklung des Skeletts ist
auch die Muskulatur beim Weibe schwächer ausgebildet und
besitzt einen größeren Wassergehalt als die des Mannes, worin
ebenfalls ein Anklang an kindliche Zustände zu finden ist.
Dagegen ist der Fettansatz bedeutend stärker als beim
Manne. Bischoff hat das Verhältnis von Muskeln und Fett
bei Mann und Weib untersucht und fand auf die Körpermasse
bezogen beim Manne 41,8% Muskulatur und 18,2% Fett-, beim
Weibe 35,8% Muskeln und 28,2% Fett. Beim Weibe sind zwei
Körpergegenden durch besonders reichliche Fettablagerung aus-
gezeichnet: die Brüste und das Gesäß, wodurch beide Stellen
zu besonders hervorstechenden sekundären Geschlechtsmerkmalen
gestempelt werden. Auf der größeren Fettanhäufung beruhen
die weicheren, mehr gerundeten Formen des weiblichen Körpers,
während die Muskulatur zurücktritt. Beim Manne dagegen tritt
letztere namentlich am Kopf, Hals, Brust und oberen Extremi-
täten kräftig hervor. Der verschiedene Schönheitstypus von Mann
und Weib erklärt sich wesentlich aus diesem Unterschiede.
Die Haut des Weibes ist zarter und heller als die des
Mannes.
Wichtiger ist die Tatsache, daß der Mann eine sehr be-
trächtliche Menge von roten Blutkörperchen mehr besitzt
als das Weib. Das Blut des Weibes ist wasserreicher. Welcker
fand in einem Kubikmillimeter Blut des Mannes 5 Millionen,
in der gleichen Menge Blut des Weibes 472 Millionen Blutzellen.
Dementsprechend ist der Hämoglobingehalt und das spezifische
Gewicht des weiblichen Blutes geringer als die des männlichen.
Da die roten Blutkörperchen als Sauerstoffträger eine sehr
wichtige Rolle im Körperhaushalt spielen, so ist dieser Unter-
S*
schied seiir wesentlicn und. beeinflußt die körperliche Organisation
beider Geschlechter in hohem Grade.
Kehlkopf und Stimme bleiben beim Weibe kindlich,
der Kehlkopf des Weibes ist bedeutend kleiner als der des Mannes.
Die Stimme ist nach der Pubertät durchschnittlich in den tiefen
Tönen eine Oktave, in den hohen zwei Oktaven höher als die
des Mannes.
Nach den Messungen von Pfitzner sind die Maße des
Kopfes (Länge, Breite, Höhe, Umfang) beim Weibe kleiner als
beim Manne. Der Schädel des Weibes bleibt in bezug auf viele
Einzelheiten seines Baues dem kindlichen Schädel auffallend
ähnlich. Diese infantile Eigenschaft des Weiberschädels läßt
wiederum keinen Schluß auf die Inferiorität des Weibes zu.
Mit Recht erinnert Schultze gerade bei Darlegung dieser
Schädeldifferenzen an die bekannte Tatsache, daß auch der
geniale Mensch häufig durch infantile Eigenschaften auffällt.
Der Schädel des Weibes ist absolut kleiner als der des
Mannes, demgemäß ist auch das Gehirn des Weibes absolut kleiner
als das des Mannes. Waldeyer stellte in bezug auf das durch-
schnittliche Hirngewicht 1372 g für den Mann und 1231 g für das
Weib fest, Schwalbe 1375 bezw. 1245.
Hierzu bemerkt O. Schultze: „Es erhebt sich sofort die
Frage, ob man etwa berechtigt ist, auf Grund des geringeren Hirn-
gewichts von einer geistigen „Inferiorität“ bei dem Weibe zu
sprechen.
Von vornherein scheint es selbstverständlich, daß der größere
Körper des Mannes ein größeres Hirn gleichsam erfordert. Und
es ist nicht auffallend, daß die bedeutendere Größe, welche viele
Organe bei dem Manne zeigen, auch bei dem Gehirn gefunden
wird. Es liegt sehr nahe, die zweifellos größeren Leistungen,
welche das männliche Gehirn seit Jahrtausenden zu verzeichnen
hat, durch die bedeutendere Masse desselben erklären zu wollen,
etwa wie ein größerer Muskel im allgemeinen mehr Arbeit leistet
als ern kleinerer.
In der Tat haben unter den zahlreichen Forschem, welche
sich mit dieser Frage beschäftigt haben, viele die Auffassung
vertreten, daß die Verschiedenheiten der psychischen Kraft des
menschlichen Gehirns von dessen Gesamtmasse abhängen. Aber
es liegt hier tatsächlich nur eine Auffassung vor. Mit
Bisehoff, der vor vierzig Jakren bereits umfassende Unter-
R9
Suchungen in der Frage der Beziehung von Hirngewicht zur
Geisteskraft anstellte, müssen wir auch heute noch sagen, daß
ein Beweis dafür, daß eine solche Beziehung besteht, noch nicht
geliefert ist.“
Oh das Studium des feineren Baues des Gehirns bei Mann
und Weib bessere Aufschlüsse hinsichtlich der Feststellung einer
verschiedenen geistigen Wertigkeit liefern wird, muß vorläufig
dahingestellt bleiben. Nach Rüdinger und Passet bestehen
bei neugeborenen Knaben und Mädchen sehr auffällige Unterschiede
in der Formausbildung und Entwicklung des Gehirns. Bei den
männlichen Fötusgehirnen sind die Stirnlappen mächtiger, breiter
und höher, die Windungen, besonders des Scheitellappens, besser
ausgebildet als bei den weiblichen Fötusgehirnen. W aldeyer
konnte diese Tatsache bestätigen und hält sie für sehr wichtig,
besonders wegen des hohen Anteils, den der Stirnlappen an den
rein intellektuellen Funktionen hat. Broca jedoch konnte die
geringere Entwicklung des Stirnlappens beim Weibe nicht fest-
stellen, Eberstaller und Cunningham glaubten sogar
eine stärkere Ausbildung dieses Hirnteils beim Weibe festgestellt
zü haben I Endlich hat der große schwedische Gehimanatom
G. Retzius genaue Untersuchungen über die Gesohlechtsunter-
schiede des männlichen und weiblichen Gehirns im ausgebildeten
Zustande angestellt. Seine Resultate können nach 0. Schultze
als maßgebend angesehen werden. Danach wurden bisher
keine spezifischen, immer wiederkehrenden Ei-
gentümlichkeiten aufgefunden, durch welche das
weibliche Gehirn von dem männlichen immer
sicher zu unterscheiden wäre. Jedoch neigt nach
Retzius das Gehirn des Weibes zu größerer Ein-
fachheit des Baues, es zeigt weniger Abweichun-
gen vom Haupttypus.
Das stimmt mit der von uns schon hervorgehobenen Tatsache
überein, daß das Weib gegenüber dem Manne überhaupt eine
geringere Variabilität besitzt, das einfachere, ursprünglichere
Wesen ist. Ebenso lehrt die Erfahrung der Rassenforscher, daß
die Männer einer Rasse viel mehr voneinander verschieden sind als
die Frauen.3)
8) Es soll nicht verschwiegen werden, daß andere bedeutende
Anthropologen wie Manouvrier, Pearson, Frassetto und
besonders Giuffrida-Ruggieri die geringere Variabilität und
7Ü
Wenn mali mit einem Worte das Wesen der körperlichen
Sexualdifferenz bezeichnen will, so muß man sagen: das Weib
bleibt dem Kinde ähnlicher als der Mann.
Dies begründet aber in keiner Weise irgend eine Inferiorität,
wie Havelock Ellis und Oskar SehultzG überzeugend
darlegen. Es ist nur der Ausdruck einer ursprünglichen Wesens-
verschiedenheit, hervorgebracht durch die Anpassung des
weiblichen Körpers an die Zwecke der Fortpflanzung. Und diese
ist eben die Ursache des mehr kindlichen Habitus des Weibes
(nach dem oben dargelegten biologischen GTesetze von Spencer).
Die Betrachtung der körperlichen Verschiedenheit von Mann
und Weib belehrt uns auch über die Nichtigkeit der alten Streit-
frage, ob der Körper des Mannes oder der des Weibes von größerer
Schönheit sei.* 4) Die verschiedenen Aufgaben des männlichen und
weiblichen Körpers bedingen eine verschiedene Entwicklung der
einzelnen Teile. Ist diese in ihrer Art vollkommen, so ist der
Körper schön. Mit Hecht hat Stratz in der Einleitung seines
Werkes über die Schönheit des weiblichen Köi'pers die voll-
endete Schönheit mit der vollkommenen Gesund-
heit identifiziert. Schön wird also sowohl der männliche
als auch der weibliche Körper sein, wenn alle sekundären Ge-
schlechtsmerkmale in harmonischem, nicht übertriebenem Maße
ausgeprägt sind, wenn sowohl die Idee der „Männlichkeit“ beim
Manne wie die der „Weiblichkeit“ beim Weibe voll zum Ausdruck
kommt und nicht zu sehr durch einzelne individuelle Züge und
Abweichungen beeinträchtigt wird. Männliche und weibliche
Schönheit sind etwas Verschiedenes. Von einer Ueberlegen-
heit der einen über die andere kann nicht die Rede sein.
den infantilen Charakter des Weibes neuerdings bestreiten. Vgl.
Giuffrida-Ruggieri, Considerazioni antropologiche sull’ infan-
tilismo e conclusioni relative all’ origine delle varietà umane. In:
Monitore Zoologico Italiano, 1903 Bd. XIV No. 4—5. (Vgl. dazu die
interessanten Bemerkungen N ä с к e s im Archiv für Kriminalanthro-
pologie 1903 Bd. XIII S. 292—293.)
4) Sehr gut hat Konrad Lange (Das Wesen der Kunst, Berlin
1901 Bd. II S. 361—364) die subjektiven Gründe dieses alten Streites
auseinandergesetzt und ihre Haltlosigkeit nachgewiesen.
71
FÜENFTES KAPITEL.
Die psychischen Sexualdifferenzen und die Frauenfrage (mit
einem Anhänge über die geschlechtliche Sensibilität des
LWeibes).
Unter allen höheren Regungen und Bewegungen unserer Zeit er-
scheint mir, rein menschlich betrachtet, als die schönste und inter-
essanteste der Kampf unserer Schwestern um Gleichstellung mit dem
starken, dem herrschenden und unterdrückenden Geschlecht; ja ich
halte es für möglich, daß nicht etwa die sozialen und wirtschaftlichen
Dissidien der Männerwelt dem kommenden Jahrhundert seinen eigen-
tümlichen Stempel auf drücken werden, sondern daß dieses Jahrhundert
seine Weltsignatur recht eigentlich von der Lösung der „Frauenfrage“
erhalten wird.
Georg Hjrth.
7t
Inhalt des fünften Kapitels.
Die Tatsache der psychischen Sexualdifferenzen. — Versuche, sie
su leugnen. — Rosa Mayreders „Kritik der Weiblichkeit“. ■—
Die sexuellen Nuancen der Psyche. — Unaustilgbarkeit derselben. —
Urteil über die psychisch© Bisexualität. — Ausdruck psychischer
Differenz im Verhalten von Samen- und Eizelle. — Urbilder der ver-
schiedenen Natur von Mann und Weib. — Neuere Forschungen über
die psychischen Sexualdifferenzen. — Sinnesempfindungen. — In-
tellektuelle Unterschiede. — Versuche von Jastrow, Minot u. a.
— Enqueten von Delaunay und Havelock Ellis. — Leichtere
Suggestibilität des Weibes. — Ansätze zu selbständigem Schaffen bei
Frauen. — Höhere geistige Tätigkeiten bei Mann und Frau. — Be-
gabung der letzteren für Politik. — Emotivität des Weibes. — Leich-
tere Ermüdbarkeit. — Abnahme der Emotivität beim modernen Weibe.
— Künstlerische Begabung von Mann und Weib. — Größere Varia-
bilität des Mannes. — Einfluß der Menstruation auf die weibliche
Psyche. — Psychologische Experimente von H. B. Thompson. —
Weib und Mann heterogene Naturen. — Die Gleichung von Alfons
Bilharz. — Das Rätselhafte im Weibe. — Dichter und Denker
darüber. — Eine Aeußerung von Theodor Mundt. — Die Antipathie
der Geschlechter. — Die Liebe als Enträtselung. — Bedeutung der
psychischen Sexualdifferenzen für die Franenfrage. — Anteil der
Frauen an der Kultur. — Rückblick auf die Urgeschichte. — Die Frauen
als Erfinderinnen von Handwerk und Kunst. — Als Lehrerinnen der
Männer. — Thomas Huxley über die Frauenfrage. — Der Wert
der Arbeit für die Frau. — Die Vervollkommnung der häuslichen
Arbeit nach Schmoller. — Die Frau der Zukunft.
Anhang über die geschlechtliche Sensibilität
des Weibes. — Eine alte Streitfrage. — Geschlechtliche Sensibilität
des Mannes. — Weibliche erotische Typen. — Theorie von Lombroso
und Ferrer o. — Adlers Monographie. — Widerlegung der Theorie
von der geringeren sexuellen Sensibilität des Weibes. — Diffuser
Charakter der weiblichen Sexualsphäre. — Untersuchungen von Have-
lock Ellis über den Geschlechtstrieb des Weibes. — Erfahrungen
von Irrenärzten über die Sexualität der Frau. — Ein Fall von tempo-
rärer sexueller Anästhesie. — Ursachen der sexuellen Frigidität.
Den unzweifelhaft vorhandenen körperlichen Unterschieden
zwischen den Geschlechtern entsprechen ebenso unzweifelhaft be-
stehende geistige Sexualdifferenzen. Auch psychisch sind Mann
und Weib völlig verschiedene Wesen. Man muß nur das
Wort „psychisch“ nicht, wie es immer geschieht, in dem ganzen
Sinne von „Intelligenz“ nehmen, sondern darunter den ganzen
Inbegriff und Inhalt der Psyche, das ganze geistige Wesen, den
geistigen Habitus, Gemütsart, Gefühls- und Willensleben ver-
stehen, um sofort überzeugt zu werden, daß männliches und weib-
liches Wesen etwas durchaus Verschiedenes sind, heterogene, un-
vergleichbare Naturen.
Unter dem Einflüsse des Buches von Weininger — der
übrigens nicht etwa nur auf eine Verwischung und Ausgleichung
der Geschlechtsunberschiede ausging, sondern alles weibliche Wesen
für Personifikation des Nichts, des Bösen, erklärte, daher ver-
nichten wollte, um nur ein einziges Geschlecht, das männliche,
diese Verkörperung des Objektiven und Guten, bestehen zu lassen
—- hat man in neuester Zeit versucht, die Geschlechtsunter-
schiede auch auf psychischem Gebiete zu leugnen, speziell
ihren Ursprung aus dem verschiedenen Wesen der männ-
lichen und weiblichen Natur zu bestreitem Mit größtem
Interesse las ich kürzlich das geistvolle, an neuen Gedanken
reiche Buch von Rosa Mayreder „Zur Kritik der Weib-
lichkeit“ (Jena 1905), in dem das, was die Verfasserin die
„primitive teleologische Geschlechtsnatur“ nennt, d. h. die
Tatsache der verschiedenen geschlechtlichen Punktionen von
Mann und Weib als ziemlich unerheblich für die Bestimmung
ihrer geistigen Natur hingestellt und die Unabhängigkeit der
individuellen psychischen Differenzierung von der Sexualität und
der verschiedenen Geschlechtsnatur behauptet wird. Nach ihr er-
streckt sich die geschlechtliche Polarität nicht auf die „höhere
74
Natur“ des Menschen, auf das geistige Gebiet. Sie führt hierfür
u.. a. auch die Tatsache als Beweis an, daß durch gekreuzte Ver-
erbung geistige Eigenschaften des Vaters sich auf die Tochter
vererben. Ganz gewiß. Auch wird kein objektiver Naturforscher
bestreiten, daß eine Frau denselben Grad individueller psychischer
Differenzierung erreichen kann wie ein Mann, daß sie ihre „höhere
Natur“ nicht zu ebenso großer Entwicklung bringen könne. Aber
ebenso unbestreitbar ist die von Rosa Mayreder allzusehr in
den Hintergrund geschobene Tatsache, daßalles Psychische,
das ganze Gefühls- und Willensleben durch die
besondere Geschlechtsnatur einen eigentüm-
lichen Charakter, eine bestimmte Färbung und
spezifische Nuance empfängt, die eben das Heterogene
und Nichtvergleichbare der männlichen und weiblichen Natur aus-
machen.
Die Versuche, die Geschlechtsunterschiede in der Theorie auf-
zuheben, sind sehr alt,1), sie sind aber immer wieder in der Praxis
gescheitert an — den Geschlechtsunterschieden. Naturam expellas
furca tamen usque recurret. Und diese Rückkehr der Natur ist
eben ein Fortschritt über primitive hermaphroditische Zu-
stände hinaus. Die Sexualdifferenzen sind unaustilgbar, im Gegen-
teil zeigt die Kultur eine unverkennbare Tendenz, sie zu steigern.
Es gibt auch eine individuelle Differenzierung der Geschlechts-
charaktere. Sie geht proportional der Differenzierung der psychi-
schen Merkmale von Mann und Weib. Und das Problem ist dieses:
wie kann namentlich beim Weibe eine Entwicklung und Vervoll- *
U Die hermaphroditische Idee des Altertums hat immer wieder
die Geister fasziniert. Gewiß lag — das ist nicht zu leugnen —
etwas Großes und Edles in dem Gedanken einer Ueberwindung des
Geschlechts. Schon beinahe 80 Jahre vor Weininger und den
modernen Aposteln der Bisexualität prophezeit Johann Michael
Leupoldt, Professor der Medizin an der Universität Erlangen:
„Die Versöhnung ^des Gesch1 echtsgegens atzes in
jedem menschlichen Individuum wird aber einst so
zunehmen, daß, dynamisch verstanden, mit allgemeinem
Ueberhandnehmen einer Art von Hermaphroditismus,
die Menschheit, wenn sie ihr Ziel auf der Erde erreicht hat, völlig
versiegen wird.“ („Eubiotik oder Grundzüge der Kunst, als Mensch
richtig, tüchtig, wohl und lang zu leben,“ Berlin und Leipzig 1828,
S. 232 u. 233.) Also eine Art natürlicher Verwirklichung des E. von
Hartmann sehen Ideals bewußter Selbstvemichtung am Ende der
Zeiten l ' ’
75
kommnung ihrer höheren Natur erreicht werden, ohne daß ihr
bestimmter Charakter als Geschlechtswesen zn sehr beeinträchtigt
und verdunkelt wird?
Wenn selbst Rosa Mayreder am Schlüsse ihres Buches
(S. 278) zu dem Resultate gelangt: „In dem Bereiche der Physis,
darüber kann es keinen Zweifel geben, bedeutet die Entwicklung
zur „homologen Monosexualität“, zur unbedingten Ge-
schlecht strennung der Individuen, das wünshens-
werteste Ziel. Jede Abweichung von der physiologischen
Norm macht das Individuum zu einem unvollk©mmenen Wesen;
die körperlicheZwitterhaftigkeit ist widerwärtig,
weil sie eine Unzulänglichkeit, eine unterbrochene und mißglückte
Bildung darstellt. Dem Körper nach ein ganzer Mann oder ein
ganzes Weib zu sein, gehört ebenso zu den Eigenschaften des
schönen und gesunden Menschen, wie eine intakte Korporisation
nach jeder anderen Richtung“, dann hat sie zugleich das Urteil
über den Wert der psychischen Bisexualität gesprochen, die
immer nur ein Rudiment bei jenem „ganzen Manne“ oder
„ganzen Weibe“ sein, nie aber jene überragende Bedeutung er-
langen, jenen Fortschritt zum Höheren bezeichnen kann, den in
seltsamer Verkennung der wirklichen Verhältnisse die Verfasserin
ihr zuschreiben möchte. Man kann zugeben, daß der bisexuelle
Einschlag mehr oder weniger stark bei den einzelnen männlichen
und weiblichen Individuen entwickelt ist, ohne doch dadurch die
grundsätzliche Wesensdifferenz zwischen Mann und Weib aufzu-
heben, die nicht bloß physisch, sondern auch psychisch sich
ausprägt.
Ich glaube daher nicht an Rosa Mayreders „synthe-
tischen Menschen“, der sowohl den „Bedingungen des Männlichen
und des Weiblichen“ unterworfen ist, wohl aber glaube ich, wie
ich das schon in früheren Schriften ausgesprochen habe, an eine
Individualisierung der Liebe, an eine Veredlung und Vertiefung
der Beziehung zwischen den Geschlechtern, wie sie nur freie Per-
sönlichkeiten schaffen können. Das verträgt sich sehr wohl mit
der Beibehaltung aller körperlichen und geistigen Eigentümlich-
keiten, wie sie durch die geschlechtliche Differenzierung bei Mann
und Weib sich ausgebildet haben.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß auch psychisch
das Weib ein anderes Wesen ist als der Mann. Und mit Recht nennt
Mantegazza die Behauptung Mirabeaus, daß die Seele
7S
Icein Geschlecht Habe, sondern nur 3er Körper, eine große
Dummheit.
Wir kehren wieder zurück zu dem so anschaulichen Elementar-
phänomen der Liebe, dem Vorgänge der Verschmelzung der Samen-
zellen mit dem Ei, und wir sind im Hinblick auf andere Natur-
vorgänge zu dem Analogieschluß berechtigt, daß die dabei
beobachtete Verschiedenheit der Kinetik auch der Ausdruck diffe-
renter psychischer Vorgänge ist. Auf diese energetischen
Verschiedenheiten von Spermatozoon und Eizellen macht
nachdrücklich Georg Hirth aufmerksam.2) Er folgert auch
aus der größeren Variabilität der Spermatozoon bei den verschie-
denen Arten gegenüber der meist kugelrunden Gestalt der weib-
lichen Eier, daß jenen die wichtigere kinetische Aufgabe bei der
Keimbildung zukomme, worauf ja schon ihre aggressive Beweg-
lichkeit deutet, während das Ei mehr die gebundene Energie
repräsentiere.
„Wirklich ist kaum anzunehmen, daß es irgendwo in der
organischen Welt bei gleich geringer Masse etwas Schneidigeres,
Unternehmenderes gebe als diese sogenannten Samentierchen, die
ja gar keine Tierchen sind und uns dennoch mehr Freude und
mehr Kummer bereiten als irgend ein Tierchen Da ist alles
Ergal; mit welcher Turbulenz sie sich fortschlängeln, bis sie
das heißersehnte Ziel erreichen, und sich dann kopfüber in den
Eierstrudel stürzen — das ist schon allein ein Schauspiel für
Götter. Hier noch an der Energetik zweifeln wollen, wäre
wahrlich mehr als Baumfrevel!“
Samen- und Eizelle sind auch die Urbilder des geistigen
Wesens von Mann und Frau. Unbeschadet aller weiteren Diffe-
renzierung und Individualisierung stimmen die Grundzüge der
männlichen und weiblichen Natur mit dem Verhalten der Keim-
zellen überein und lassen erkennen, daß es sich bei beiden um
verschiedene, aber durchaus gleichwertige Aufgaben
handelt. Sehr richtig bemerkt Rosa Mayreder, daß das männ-
liche Geschlecht als das zeugende und schaffende biologisch nicht
höher stehe als das weibliche, dem an der Erziehung und Fort-
pflanzung des Lebens mindestens der gleiche Anteil zukomme.
Andererseits aber gilt das Wort des in bezug auf die Frauen-
2) G. Hirth, Entropie der Keimsysteme und erbliche Entlastung,
München 1900, S< 89—90.
Tl
frage durchaus objektiven Havelock Ellis („Mann und Weib“
S. 21) : „Solange die Frauen sich durch primäre sexuelle Charaktere
und dadurch, daß sie empfangen und gebären, vom Manne unter-
scheiden, solange werden sie ihm auch in den höchsten psychischen
Prozessen niemals gleich sein.“
Die Natur des Mannes ist aggressiv, progressiv, variabel —
die der Frau rezeptiv, reizempfänglicher, einförmiger.
Die exakten naturwissenschaftlichen, ethnologischen und psy-
chologischen Untersuchungen über die Geschlechter, unter denen
als besonders hervorragend diejenigen von Darwin, Allan,
Münsterberg, C. Vogt, Ploß-Bartels, Jastrow, Lom-
broso und Ferrero, Shaw, Havelock Ellis und Helen
Bradford Thompson zu nennen sind, haben diese Wesens-
verschiedenheit der Geschlechter durchaus bestätigt. Viele
Einzelheiten sind noch dunkel, aber jene eben gekennzeichnete
Sexualdifferenz ist überall erkennbar und selbst durch eine
höhere psychische Differenzierung nie ganz auszutilgen. Selbst
die Verfasserin der „Kritik der Weiblichkeit“, die der Frei-
heit der Individualität eine unbegrenzte Perspektive eröffnen
möchte, sieht sich doch zu dem Eingeständnis genötigt, daß
die Mehrzahl der Frauen weder in den Eigenschaften des
Charakters, noch in denen des Intellektes dem Manne gleich ist.
Havelock Ellis hat in einem klassischen Werke („Mann
und Weib“, Leipzig 1894) eine Uebersicht über die psychischen
Differenzen zwischen den Geschlechtern nach den neueren anthro-
pologischen und psychologischen Untersuchungen gegeben. Dieses
Werk bildet die Grundlage für alle weiteren Forschungen.
Von den einzelnen psychischen Erscheinungen bei Mann und
Frau kommen zunächst die Sinnesempfindungen in Be-
tracht. Hier läßt sich keine absolute und allgemeine Ueberlegenheit
eines der beiden Geschlechter feststellen. Die Annahme, daß die
Frauen feiner empfindende Sinne haben, trifft nicht zu, eher
ist das Gegenteil der Fall. Frauen besitzen wohl eine größere Er-
regbarkeit durch Sinnesreize, aber keine gesteigerte Unterschieds-
empfindlichkeit.
Was die allgemeine intellektuelle Veranlagung der
Geschlechter betrifft, so zeigten die interessanten experimentell-
psychologischen Untersuchungen von J a s t r o w beim Weibe ein
entschiedenes Interesse für seine unmittelbare Umgebung, für das
fertige Produkt, für das Dekorative, Individuelle und Konkrete,
78
beim Manne aber eine Vorliebe für das1 Entferntere, für das im
Werden Begriffene, das Nützliche, Allgemeine und Abstrakte.
Hiermit stimmt ein Bericht im „Berliner Städtischen Jahr-
buch“ (1870, S. 59—77) über die Kenntnisse von mehreren Tausend
Knaben und Mädchen bei ihrem Eintritt in die Schule überein.
Es heißt darin : „Je gewöhnlicher, naheliegender und leichter
ein Begriff ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß die
Mädchen die Knaben übertreffen werden und umgekehrt. Bei
Knaben kommt es häufiger vor als bei Mädchen, daß sie ganz
gewöhnliche Dinge aus ihrer nächsten Umgebung nicht kennen.“
Prof. M i n o t ließ Karten von Personen beider Geschlechter
mit 10 beliebigen Zeichnungen ausfüllen, es stellte sich dabei
heraus, daß die Zeichnungen der Männer eine größere Mannig-
faltigkeit zeigten als die der Frauen.
In bezug auf Schnelligkeit der Auffassung und geistige Be-
weglichkeit ist die Frau entschieden dem Manne überlegen. Frauen
lesen z. B. schneller als Männer und können besser über das Ge-
lesene berichten. Daraus ist aber kein Schluß auf ihre höhere
intellektuelle Begabung zu ziehen, da viele geniale Männer sehr
langsame Leser waren.
Del aunays Enquete bei einer Reihe von Kaufleuten über
die industriellen Leistungen der beiden Geschlechter ergab, daß
Frauen fleißiger wären als Männer, aber weniger intelligent, so
daß man ihnen nur Routine-Arbeit anvertrauen könne.
Im allgemeinen stimmen die Erfahrungen der Postverwaltung
hiermit überein. Havelock Ellis bezeichnet die Resultate
einer Umfrage bei mehreren großen englischen Postämtern als
„typisch und zuverlässig“. — Das Urteil des Chefs eines der Haupt-
postämter lautete, daß Frauen Besseres als Männer leisten in der
Buchführung, in der gleichzeitigen Erledigung von Postanwei-
sungs- und Sparkassengeschäften, im Befördern und Aufnehmen
von Depeschen und im Schalterverkehr mit ungebildeten Personen.
Telegraphistinnen arbeiten ebenso intelligent und genau wie ihre
männlichen Kollegen, nur interessieren sie sich nicht wie die
Männer für das technische Verständnis der Telegraphie, auch
können sie bei schwereren Aufgaben wegen des Mangels an nach-
haltiger Arbeitskraft mit den Männern nicht konkurrieren. Auch
erschwert die geringere Eiraft des Handgelenks Telegraphistinnen
das erforderliche schnelle Schreiben und die Herstellung der nötigen
Zahl von Kopien.
791
Alle Berichte stimmten darin uberein, daß „Frauen leichter
zu belehren und zu leiten sind, daß sie leichte Arbeit ebenso
gut machen und in mancher Beziehung ausdauernder sind; anderer-
seits versäumen sie häufiger den Dienst wegen geringfügiger In-
disposition, versagen schneller unter starker Inanspruchnahme und
zeigen weniger Intelligenz für außerhalb der laufenden Arbeit
liegende Aufgaben, wobei sie besonders weniger Lust und Fähig-
keit zeigen, sich aus- und fortzubilden“.
Zweifellos ist die wohl organisch bedingte leichtere
Suggestibilität des Weibes, die es so schnell dem Einflüsse
von Personen und Meinungen unterwirft, wenn dieselben eine
genügend starke Wirkung auf sein Gemütsleben ausüben. Das
Selbständige, Schöpferische liegt der Frau ferner, ist ihrem
Wesen fremder, als dem des Mannes. Daß es ihr aber ganz un-
möglich ist, möchte ich bezweifeln. Und wenn sogar Havelock
Ellis es z. B. für undenkbar hält, daß eine Frau das Coperni-
kanische Weltsystem entdeckt haben sollte, so erinnere ich nur
an die bekannten physikalischen Entdeckungen der Madame
Curie, deren durchaus selbständige Arbeit sie zur Nachfolgerin
ihres Gatten auf dem Lehrstuhl der Sorbonne qualifizierte. Man
wird danach die Möglichkeit, daß auf dem Gebiete der Natur-
wissenschaften künftige bedeutende Entdeckungen und Erfin-
dungen uns durch die selbständige Arbeit von Frauen zuteil
werden, nicht ausschließen können.
Sehr interessant sind die Bemerkungen von Paul Lafitte
über die Unterschiede der höheren geistigen Eigenschaften bei
Mann und Weib. Nach Charakterisierung der stärkeren Rezepti-
vität des Weibes sagt er u. a.: „Wenn Kinder beider Geschlechter
zusammen erzogen werden, so sind die Mädchen während der ersten
Jahre an der Spitze; es handelt sich um diese Zeit wesentlich um
die Aufnahme und Bewahrung von Eindrücken, und wir sehen
alltäglich, daß Frauen durch die Lebhaftigkeit ihrer Eindrücke
und ihr Gedächtnis ihre männliche Umgebung in den Schatten
stellen. Zu diesen Anlagen kommt der angeborene Sinn der
Frauen für Symmetrie, und daraus erklärt sich, daß sie geometri-
schen Unterricht gewöhnlich mit Erfolg genießen. Dementsprechend
glänzen Studentinnen der Medizin beim Examen in der Physiologie
und allgemeinen Pathologie und zeigen darin eine Klarheit der Auf-
fassung von Tatsachenreihen, die geradezu frappiert; dagegen
sind sie entschieden inferior in klinischen Untersuchungen, bei
80
denen andere geistige Eigenschaften in Frage kommen. Im allge-
meinen sind Frauen mehr für Tatsachen als für Gesetze empfäng-
lich, mehr für konkrete als für allgemeine Gedanken. Wenn man
irgendwo ein Urteil über einen Bekannten abgeben hört, so wird
das des Mannes wahrscheinlich richtiger in den allgemeinen Um-
rissen sein, Nuancen des Charakters werden aber Frauen besser
auf fassen.“
So sind auch bei den Frauen die konkreten Philosophen be-
liebter als die abstrakten Metaphysiker. Nach den Erfahrungen
eines Londoner Buchhändlers bevorzugten die Damen des Londoner
Westend Schopenhauer, Plato, Marc Aurel, Epiktet
und Ben an, also die konkretesten, persönlichsten, poetischsten
und religiösesten Denker. Diese letztere Eigenschaft fasziniert
das weibliche Gemüt am meisten. Zugleich bekundet sich in dieser
Stellung der Frauen zu den religiösen Erscheinungen des
geistigen Lebens in auffallender Weise das Mißverhältnis zwischen
ihrer starken Suggestibilität und der geringen selbständigen Pro-
duktion. Havelock Ellis weist nach, daß von all den großen
religiösen Bewegungen der Welt 99 unter 100 ihren ersten Impuls
von Männern erhalten haben. Dagegen waren es die Frauen, die
immer bereit waren, sich den Beligionsstiftem anzuschließen.
Im Gegensätze dazu scheinen die Frauen auf dem Gebiete
der Politik mehr selbständige Bedeutung zu besitzen, wie die
große Zahl hervorragender Herrscherinnen beweist. Die diplo-
matische Gewandtheit, List, Selbstbeherrschung, wie sie die poli-
tische Tätigkeit erfordert, sind ja spezifisch weibliche Eigen-
schaften.
Die oben erwähnte große Suggestibilität des Weibes hängt
zusammen mit seiner größeren „Emotivität“, d. h. es reagiert
auf physische und psychische Beize rascher als der Mann. Die
von Mosso und C. Lange aufgestellte „vasomotorische Theorie“
der Affekte gilt in höherem Grade von der Frau als vom Manne.
Ihr Nerven-Muskelsystem ist erregbarer, wie sich besonders an
der Pupille und der Harnblase zeigt. Letztere nennen Mosso und
Pellacani den feinsten Psychometer des ganzen Körpers. Die
Kontraktion der Harnblase ist bei vielen Gemütszuständen, wie der
Furcht, der Erwartung und Spannung, der Schüchternheit eine
bekannte Erscheinung. Sie kommt bei Frauen und Kindern viel
häufiger als beim Manne vor. Aerzten und sonstigen Beobachtern
ist ja die Tatsache, wie leicht bei Frauen unter dem Einflüsse
81
starker Erregungen ein Drang sftun Urinieren sich einstellt, sehr
wohl bekannt.
Zur Erklärung der größeren neuromuskulären Erregbarkeit
des Weibes kann man auch die relativ bedeutendere Größe seiner
Unterleibsorgane heranziehen.
Dieser größeren Erregbarkeit der Frauen entspricht eine
leichtere Ermüdbarkeit. Diese tritt bei jeder länger
dauernden Arbeit hervor, ist aber ein Schutz gegen zu große Ueber-
anstrengung, die so häufig beim Manne zu völliger Erschöpfung
führt, weil er zu lange arbeitet. Jene Erschöpfbarkeit des Weibes
hängt wohl auch zusammen mit seiner im vorigen Kapitel er-
wähnten physiologischen Anämie, dem größeren Wassergehalt
seines Blutes und der geringeren Zahl der roten Blutkörperchen.
Havelock Ellis konstatiert eine Abnahme der Emotivität
beim modernen Weibe unter dem Einflüsse der Sitte und Erziehung,
besonders der größeren Verbreitung körperlichen Sportes unter den
Mädchen. Aber er glaubt ebenfalls nicht an einen dereinstigen
völligen Ausgleich der emotiven Unterschiede zwischen den Ge-
schlechtern, da diese auf festgelegten körperlichen Differenzen
beruhen, wie der größeren Ausdehnung der Sexualsphäre und
der viszeralen Funktionen beim Weibe, der physiologischen Anämie
desselben und der größeren Periodizität in 'seinen Lebens Vorgängen.
„So viele Faktoren wirken zusammen, dem Spiel der Affekte
eine Basis zu geben, deren größere Breite keine Aenderung des
Milieus und der Sitten beseitigen kann. Die Emotivität des Weibes
kann auf feinere und zartere Nuancen reduziert, aber sie kann
nicht auf das Niveau des männlichen Geschlechts gebracht werden.“
In bezug auf die künstlerische Begabung ist das
männliche t Geschlecht ohne Zweifel dem weiblichen überlegen.
Der langen Reihe genialer männlicher Dichter, Musiker, Maler,
Bildhauer läßt sich keine nennenswerte Zahl hervorragender weib-
licher Künstlerinnen auf diesen Gebieten gegenüberstellen. Selbst
die Kochkunst wurde durch Männer ausgebildet und weiter ge-
bracht. Ohne Zweifel spielt hierbei die verschiedene Sexualität
eine hervorragende ursächliche Rolle. Der impetuose, aggressive
Charakter des männlichen Geschlechtstriebes begünstigt auch die
schöpferischen Antriebe, die Umsetzung der sexuellen Energie in,
höhere plastische Tätigkeit, wie sie sich in den Momenten höchster
künstlerischer Konzeption vollzieht- Auch die größere Variabilität
B1 o o h , Sexualleben. 7.—9. Auflage. 6
(41.—GO. Tausend.)
des Mannes macht die größere Häufigkeit männlicher Künstler
ersten Ranges erklärlich.
John Hunter, Bnrdach, Darwin, Havelock
Ellis u. a. haben die größere Neigung des Mannes,
vom Typus abzuweichen, festgestellt. In der Entwicklung
stellt der Mann die variablere und progressivere, das Weib die
monotonere und konservativere Hälfte der Menschheit dar, was
auch psychisch deutlich zum Ausdrucke kommt. Trotz zunehmen-
der individueller Differenzierung — freilich nur bei einer Minorität
ünd Elite von Frauen, wie Rosa Mayreder sehr richtig dar-
legt — wird jener große Unterschied in der Variabilität der
Geschlechter immer bestehen bleiben. Diese biologische Tatsache
hat gewiß für die Kultur und das Verhältnis der Geschlechter
eine große Bedeutung.
Bei einer Vergleichung von Mann und Frau ist auch niemals
die wichtige Tatsache der Menstruation zu vergessen. Sie
ist nur der Ausdruck, nur eine Phase einer beständigen Wellen-
bewegung im ganzen weiblichen Organismus. Der Geistes- und
Gemütszustand des Weibes ist ohne Zweifel ein verschiedener
in den verschiedenen Phasen des monatlichen Zyklus. I c a r d
ünd neuerdings Francillon (Essai sur la puberté chez la femme,
Paris 1906, S. 189—198) haben darüber Genaueres mitgeteilt. „Bei
allen Proben von Kraft und Geschicklichkeit,“ sagt Havelock
Ellis, „hängt die Verfügung des Weibes über ihren Besitz an
Kraft und Genauigkeit von dem gerade vorhandenen Niveau ihrer
Monatskurve ab. Ebenso sollte bei jedem strafrechtlichen Ver-
fahren gegen eine Frau regelmäßig das Verhalten der Tat zu
ihrem Monatszyklus ermittelt werden.“
Die Resultate, zu denen Helen Bradford Thompson
durch experimentelle Untersuchungen in ihrer „vergleichenden
Psychologie der Geschlechter“ (Würzburg 1905) gelangt ist,
stimmen in ihren Grundzügen mit den eben dargelegten Ergeb-
nissen früherer Untersuchungen überein. Auch bei ihren Ver-
suchen erwies sich „der Mann in bezug auf motorische Fähig-
keiten und Urteilsfähigkeit als besser entwickelt. Die Frau hatte
wirklich schärfere Sinne und ein besseres. Gedächtnis, die Be-
hauptung aber, daß die gemütliche Erregbarkeit im Lieben der
Frau eine größere Rolle spiele, bestätigte sich ihr nicht. Da-
gegen weist ihr größerer Hang zur Religiosität und zum Aber-
83
glaübeü iatif ihre konservative Natur bin, auf ihre Funktion, fest-
stehende Glaubenslehren und Einrichtungen zu bewahren.“
Die Tatsache kann also nicht aus der Welt geschafft werden,
daß Mann und Weib körperlich und geistig eminent verschie-
dene Wesen sind. Ob sie, wie Alfons Bilharz ausführt,
wirklich durchaus gleichwertige Gegensätze sind, was er durch
die Gleichung (-j-1) = (— 1), d. h. ihre Summe ist gleich Null,
ausdrückt, das bleibe dahingestellt. Daß aber unvertilgbare Diffe-
renzen bestehen, ist gewiß. Dabei kann von einer Inferiorität
des Weibes gegenüber dem Manne nicht die Rede sein. Was ihr
auf der einen Seite abgeht, hat sie auf der anderen mehr. Sie
ist ein durchaus anders geartetes Wesen, der Natur näher
als der Mann, daher auch rätselhaft wie diese, die „große
Siegelbewahrerin des Naturgeheimnisses“ (Bärenbach).
Wer erklärt die wundervolle
Magische Gewalt im Weibe?
sagt P1 a t e n, damit eine Seite urgermanischer Empfindung be-
rührend, die bereits im „sanctum aut providum“ des T a c i t u s
hervorgehoben wird. Auch Ovid, Byron, Börne, Rous-
seau haben den wunderbaren, geheimnisvollen Einfluß der der
männlichen so durchaus heterogenen Natur des Weibes geschildert,
am schönsten aber Theodor Mündt in der folgenden herr-
lichen Stelle seines Buches über Charlotte Stieglitz:
„Das Geheimnisvolle in der weiblichen Natur weist mit der
zauberhaften Mystik ihrer Organisation auf besondere und tief-
liegende Ideen der Schöpfung zurück, und in diesen holden Rätseln
der Liebe hat sich das Sympathetische in allem Weltzusammen-
hange ausgedrückt. Das Sympathetische, welches die Kräfte lockt
und bindet, die stille Musik im Innersten der Weltseele, die Sterne,
Sonnen, Körper, Geister in diesem ewig wandelnden Rhythmus
und in dieser unverlierbaren Gegenseitigkeit sich bewegen macht,
ist das Weibliche des Universums. Dies ist das ewig Weibliche,
von dem Goethe sagt, daß es himmelan ziehe. Daher nichts
Tieferes, Leiseres, Unerforschlicheres, als eines Weibes Herz. All-
beweglich greift es in jede wunderbare Feme des Daseins hin-
über und hört mit feinen Nerven das Verborgenste, was es gibt,
in sich heraus. Von jedem Klang berührt und erschüttert, wie
eine Geisterharfe gebaut, zittern auf ihm die geheimsten Saiten
der Natur und des Lebens oft in prophetischen Schwingungen nach.
e*
Das Weibliche ist etwas Allgemeines an allem Leben, die leiseste
Psyche des Daseins, und daher der feine Zusammenhang der weib-
lichen Natur mit den allgemeinen Organisationen, Einwirkungen
und Weltkräften, daher die geheimnisreiche Anziehungskraft, die
es, als der eigentliche Pol des Geschlechts, so magisch ausübt, als
könne jedes nur erst in und mit ihm, dem echt Weiblichen, seinen
Frieden finden, und ein Allgemeines, das es mit jenem gemein-
sam hat und doch auch wieder nicht, als ihr Dauerndes befestigen.
So deuten die Alten diese Idee eines allgemein Weiblichen in der
menschlichen Natur merkwürdig an, indem sie durch ihre Be-
nennung der Augäpfel ausdrücken, daß jedem ein junges Mäd-
chen im Auge sitze 1 Junge Mädchen (pupillae, -/opal) nannten
die Alten die Augäpfel, worauf einmal Winkelmann aufmerk-
sam gemacht, und das menschliche Auge, dieses strahlende Hell-
dunkel des geheimsten Seelengrundes, kann man es treffender
und bezeichnender nennen, als indem man ihm die Weiblichkeit
beilegt, die Weiblichkeit, die am eigensten aus jenem geheimen,
leisen Seelengrund alles Lebens, wie eine Anadyomene aus der
Tiefe, heraussteigt, die, wie sie das aufgeschlagene Auge der
irdischen Schönheit, so auch die Schönheit im menschlichen
Auge ist ?“
Auch Nietzsche spricht von dem „Schleier“ von schönen
Möglichkeiten, der über dem Weibe liege und den Zauber des
Lebens ausmache. Diese undefinierbare geistige Emanation, dieses
Dunkle, Irrationale im Weibe veranlaßt von Hippel zu dem
geistreichen Wort, daß das Weib ein Komma sei, der Mann ein
Punkt. „Hier weißt du, woran du bist; dort lies weiter.“ Es
gehen von dieser tiefinnerlichen Natur des Weibes ungeheuere
Wirkungen aus, weibliches Wesen ist ein Kulturfaktor ersten
Banges. Fehlte er, so gäbe es keine Kultur. Am schönsten hat der
große Buckle die Unentbehrlichkeit der Frau auch für den
geistigen Fortschritt der Menschheit ins Licht gestellt. „Wir,“
sagt er, „die Sklaven der Erfahrungen und Tatsachen, verdanken’s
nur ihnen, daß unsere Knechtschaft nicht weit vollständiger und
schmählicher geworden ist. Ihre Art und Weise des Denkens, ihre
geistigen Gepflogenheiten, ihre Unterhaltung, ihr Einfluß breiteten
sich unmerkbar über die ganze Gesellschaft aus und drangen viel-
fach auch in den inneren Bau derselben ein. Dadurch sind wir, die
Männer, mehr als durch alles andere einer vollkommener gedachten
Welt zugeführt worden.“
85
Dieses dunkle, wunderbare Wesen des Weibes hat aber auch
seine Kehrseite. Auf ihm beruht jene ursprüngliche, tief wurzelnde
Antipathie der Geschlechter, die aus ihrer tiefen
Heterogenität, aus der Unmöglichkeit, einander wirklich zu ver-
stehen, hervorgeht. Hier liegen die Wurzeln der brutalen Knech-
tung des Weibes durch den Mann im Laufe der Geschichte, des
Hexenglaubens, der Weiberverachtung und der stetigen Er-
neuerung der Misogynie in der Theorie. Oft täuscht die Ge-
schlechtsliebe über diese Gegensätze nur hinweg. Wie wenig das
Weib das innerste Wesen des Mannes versteht, haben Leopardi
und Théophile Gautier (in „Mademoiselle de Maupin“),
wie wenig der Mann die Frau begreift, hat Annette von
Droste-Hülshoff poetisch geschildert.
Deshalb ist wahre Liebe Verständnis des gegenseitigen
Wesens, Enträtselung. Etre aimé, c’est être compris, sagt Del-
phine de Girardin.
Was bedeutet die Feststellung der psychischen Sexual-
differenzen für die sogenannte Frauenfrage ? Die Antwort
lautet : Die Natur des Weibes, voll entwickelt
in allen ihren Eigentümlichkeiten, bereiçhert
durch alle ihrem Wesen adäquaten geistigen Ele-
mente unserer Zeit, sichert ihm einen gleichen
Anteil an der Kultur und dem Fortschritte der
Menschheit.
Eine völlige Gleichheit zwischen Mann und Frau ist un-
möglich. Aber sind denn schon alle Seiten des weiblichen Wesens
herausgearbeitet, entwickelt? Muß nicht das Kulturweib der
Zukunft noch erst geschaffen werden ? Den berechtigten
Kern der Frauenbewegung erblicke ich in der Emanzipation des
Weibes von der Herrschaft der bloßen Sinnlichkeit und von der
nicht minder verderblichen des männlichen Geisteshochmutes.
Haben wir Männer denn wirklich einen Grund, uns auf unser
Wissen und unsere Intelligenz so sehr viel einzubilden? Hätten
wir es ohne die Frau so herrlich weit gebracht?
Ein Blick auf die Anfänge der menschlichen Kultur lehrt
uns ein wenig Bescheidenheit. Da sehen wir nämlich, daß das
Weib in bezug auf die produktive, schöpferische Tätigkeit dem
Manne gleich, wenn nicht sogar überlegen war. Erst allmählich
im Laufe des Kulturfortschritts verdrängte der Mann die Frau
und übernahm nach und nach alle Teile der Produktion, während
die Frau immer mehr auf die häuslichen Angelegenheiten be-
schränkt wurde. Nach Karl Bücher fiel ursprünglich der
Frau alle Arbeit zu, die mit der Gewinnung und Verarbeitung
der Pflanzenstoffe zusammenhängt, auch die Herstellung der
dabei nötigen Vorrichtungen und Gefäße, dem Manne Jagd, Fisch-
fang, Viehzucht, die Herstellung der Waffen und Werkzeuge.
Somit hatte die Frau das Stampfen und Mahlen des Getreides,
das Backen des Brotes, die Zubereitung von Speisen und Ge-
tränken, die Töpferei, die Verarbeitung der Spinnstoffe zu be-
sorgen. Da diese Arbeiten vielfach in rhythmischer Art vor sich
gingen und die Frauen auch gesellig in den Feldern oder bei
den Hütten arbeiteten, während der Mann einsam im Walde das
Wild beschlich, so waren die Frauen auch die ersten Schöpferinnen
von Poesie und Musik.
„Nicht auf den steilen Höhen der Gesellschaft“, sagt
Bücher, „ist der Dichtung Quell entsprungen, sondern aus den
Tiefen der reinen und starken Volksseele ist er hervorgequollen.
Frauen haben über ihm gewaltet, und wie die
Kulturmenschheit ihrer Arbeit viel des Besten
verdankt, was sie besitzt, so ist auch ihr Denken
und Dichten eingewoben in den geistigen Schatz,
der von Geschlecht zu Geschlecht überliefert ist.
Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Spuren der Frauendichtung
weiter zu verfolgen in dem geistigen Leben der Völker. Sind
sie auch vielfach verschüttet durch die nachfolgende Periode der
Männerpoesie, die in dem Maße die Herrschaft zu erlangen scheint,
als auch die materielle Produktion an die Männer übergeht, so
lassen sie sich doch bei einer Reihe von Völkern bis tief in die
literarische Zeit hinein verfolgen.“
Von den Frauen erlernten vielfach ¡erst die
Männer die verschiedenen Handwerke. So hat, wie
M a s o n sagt, die Frau der Urzeit ihr „Ulu“ dem Sattler Über-
macht und hat ihn die Bearbeitung des Leders gelehrt. Die
Frauen sind die ersten Erfinderinnen zahlreicher Industrien und
Handwerke. Die weitere Entwicklung und Fortbildung fiel aber
später den Männern zu. Sie allein verstanden es, die Arbeit zu
differenzieren, während die Mutterschaft die Arbeit der Frauen
von vornherein stark beeinträchtigen mußte.
Noch im Mittelalter gab es in Europa, besonders in Deutsch-
land und Frankreich, ausschließlich weibliche Handw;erk;er, wie
87
die Seidenspinnerinnen, die Seidenweberinnen, Schneiderinnen,
Gürtlerinnen usw. Es gab Meisterinnen, Mägde und Lehr-
jungfrauen in diesen Berufen. Erst seit dem 16. Jahrhundert
wurde die Handwerksarbeit ein Monopol des männlichen Ger
sch lech ts. Im 18. Jahrhundert wurden die Frauen sogar gesetz-
lich von den Handwerken ausgeschlossen, bis sich dann in der
Neuzeit wieder ein Wandel zu ihren Gunsten vollzog.
Man darf also die Fähigkeit der Frauen für die praktische
Tätigkeit außerhalb des Hauses nicht nach den heutigen Ver-
hältnissen beurteilen. Ich stimme durchaus Gerl and bei, wenn
er einen gewissen schädigenden Einfluß der Jahrtausende währen-
den Bedrückung des weiblichen Geschlechts annimmt, und ebenso
Havelock Elfis, wenn er von der Kultur der Zukunft die
Entwicklung einer gleichen Freiheit für Mann und Frau erhofft
und eine auf unbeschränktem Experimentieren beruhende Er-
fahrung über die Qualifikation des weiblichen Geschlechts für
alle Arbeitsgebiete fordert. Goldene Worte über die Notwendig-
keit einer umfassenden Frauenemanzipation hat schon 1877 der
berühmte Anthropologe Thomas Huxley in seinem Aufsatze
über „schwarze und weiße Emanzipation“ gesprochen und das
gegenwärtige System der Mädchenerziehung scharf verurteilt.
„Warum“, fragt dieser große Naturforscher, „sollen wir nicht
liebliche Mädchen als Doktorinnen haben? Sie werden bei ein
wenig Weisheit nicht weniger lieblich sein; und das „goldene
Haar“ wird sich nicht weniger anmutig deshalb auf dem Kopfe
locken, weil Gehirn darinnen ist. Ja, wenn offenbare praktische
Schwierigkeiten überwunden werden können, so lasse man die
Frauen, welche Neigung dazu fühlen, in die Gladiatorenarena
des Lebens hinabsteigen, nicht bloß in der Verhüllung der
„retiariae“ wie vormals, sondern als kühne „sicariae“, mit
mutiger Stirn im offenen Gefecht. Man lasse sie, wenn es
ihnen gefällt, Kaufleute, Anwälte, Politiker werden. Sie mögen
freies Feld haben, aber sie mögen auch das verstehen, was not-
wendig dazu gehört, daß keine weitere Bevorzugung ihrer wartet,
allein die Natur möge hoch über den Schranken zu Gericht
sitzen und den Streit entscheiden.“ Und daß die Männer ihre
alte Stellung behaupten werden, daran dürfte nicht zu zweifeln
sein. Nur wird die Teilnahme der Frauen an der Kulturarbeit3)
8) Vgl. dazu Alice Salomon, Die Berufswahl der Mädchen;
Josephine Levy-ßathenau, Uebersicht über die einzelnen
88
ein neues, frisches Element in dieselbe hineinbringen, und indem
jede Frau zur systematischen Lebensarbeit herangezogen wird,
wird dem physisch und psychisch so verderblichen Müßiggang
des unbeschäftigten jungen Mädchens, der „alten Jungfer“ und
der „unverstandenen Frau“ ein Ende gemacht und damit diese
wenig schönen Typen für immer beseitigt. Die Arbeit der Mutter
und Hausfrau muß dementsprechend ebenfalls höher bewertet
werden, als das bis jetzt der Fall war. Auch die Technik und
Theorie der Hauswirtschaft kann heute vervollkommnet und zu
einer befriedigenden Tätigkeit umgestaltet werden.* 4)
Die Frau ist ein integrierender Bestandteil des Kultur-
prozesses, der ohne sie nicht denkbar ist. Eben jetzt ist ein
Wendepunkt in der Geschichte der weiblichen Welt. Die Frau
der Vergangenheit schickt sich an, der Frau der Zukunft Platz
zu machen, an die Stelle der gebundenen tritt die freie
Persönlichkeit.
Frauenberufe, ihre Erfordernisse und Aussichten; Elisabeth Alt-
mann-Gotth einer, Frauenstudium. Sämtlich in: Das Buch vom
Kinde, berausg. von Adele Schreiber, Leipzig und Berlin 1907
Bd. II, Abt. 2 S. 182—188; 189—209; 210—216 (mit Angabe der
wichtigsten Literatur). ,
4) Darüber äußert sich einer unserer bedeutendsten National-
ökonomen folgendermaßen: „Man beobachte, was heute eine tüch-
tige Hausfrau des Mittelstandes durch vollendete haus wirtschaftliche
und hygienische Tätigkeit, durch Kindererziehung, durch Kenntnis und
Benutzung der hauswirtschaftlichen Maschinen leisten kann; man über-
sehe nicht, wie einseitig die großen naturwissenschaftlichen und tech-
nischen Fortschritte sich bisher in den Dienst der Großindustrie ge-
stellt haben, welche segenspendende Vervollkommnung noch möglich
ist, wenn sie nun auch in den Dienst des Hauses treten. Nur die
rohe, barbarische Hauswirtin der unteren Klassen kann sagen, sie
habe heute nichts mehr im Hause zu tun; vollends bei gesunder Wohn-
weise, wenn zu jeder Wohnung ein Gärtchen gehört, ist die Hausfrau
auch heute voll beschäftigt und wird es künftig noch mehr sein,
trotz aller sie unterstützenden Schulen, Kaufläden und Gewerbe, trotz-
dem daß sie in steigendem Maße fertige Produkte, ja fertiges Essen
einkauft. Und neben ihrer Hauswirtschaft soll sie Zeit für Lektüre,
Bildung, Musik, gemeinnützige und Vereinstätigkeit haben, gerade
auch bis in die untersten Klassen hinein. Ohne das gibt es keine
soziale Bettung und Heil.“ G. Schmoller, Grundriß der allgemeinen
Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1901, Bd. I, S. 253.
89
Anhang über die geschlechtliche Sensibilität
des "Weibes.
Eine alte, bis heute noch nicht gelöste Streitfrage betrifft
die Stärke und Natur der geschlechtlichen Sensibilität des Weibes.
Während die Aeußerungen der männlichen Geschlechtsbegierde
und Geschlechtslust ziemlich eindeutig sind, und bei ihm, wie
auch A. Eulenburg feststellt, der Begattungstrieb jedenfalls
bedeutend mehr hervor tritt als der Fortpflanzungstrieb, ist das
sexuelle Empfinden des Weibes noch in großes Dunkel ge-
hüllt. Sagte doch schon Magendie, daß nicht zwei Frauen
in bezug auf ihr geschlechtliches Fühlen und Empfinden
übereinstimmen. Es gibt ohne Zweifel noch viel mehr ver-
schiedene erotische Typen bei Frauen als bei Männern. Rosa
Mayreder unterscheidet z. B. einen erotisch - exzentrischen,
einen altruistisch - sentimentalen und einen egoistisch - frigiden
Typus. Man hat den Versuch gemacht, den letzteren als den
am meisten verbreiteten, ja als den am meisten für das
Weib charakteristischen Typus hinzustellen. Zuerst haben
Lombroso und Ferrerò diese geringere geschlechtliche
Sensibilität der Frau behauptet, ebenso Campbell, und
‘neuerdings hat ein Berliner Arzt, Dr. 0. Adler, sogar ein
eigenes Buch über die „mangelhafte Geschlechtsempfindung
des Weibes“ veröffentlicht, dessen Ergebnis ist, daß „der Ge-
schlechtstrieb (Verlangen, Drang, Libido) des Weibes sowohl in
seinem ersten spontanen Entstehen wie in seinen späteren Aeuße-
rungen wesentlich geringer ist als derjenige des Mannes, daß die
Libido vielfach erst in geeigneter Weise geweckt werden muß
und oftmals überhaupt nicht entsteht.“
Zuerst ist Albert Eulenburg in einem Artikel in der
„Zukunft“ (vom 2. Dezember 1893), später in seiner „Sexualen
Neuropathie“ (Leipzig 1895, S. 88—89) dieser Lehre von der
physiologischen sexuellen Anästhesie des Weibes entgegengetreten
und beruft sich dabei auf den erfahrenen Frauenarzt Kisch,
von dem er folgende Aeußerung zitiert: „Der Geschlechtstrieb
ist eine so machtvolle, in gewissen Lebensperioden den ganzen
Organismus des Weibes so überwältigend beherrschende elementare
Gewalt, daß ihre Entfesselung der Reflexion über Fortpflanzung
keinen Raum läßt, und daß im Gegenteile die Begattung begehrt
90
wird, auch wenn vor der Fortpflanzung Furcht herrscht oder
von Fortpflanzung keine Bede mehr sein kann.“
Ich selbst habe eine ganze Anzahl gebildeter Frauen über
diesen Punkt befragt. Ohne Ausnahme erklärten sie die
Theorie von der geringeren geschlechtlichen Sensibilität des
Weibes für unrichtig, viele meinten sogar, sie sei größer und
nachhaltiger als beim Manne.5)
Wenn man in der Tat die physischen Grundlagen der weib-
lichen Sexualität betrachtet, so wird man zugeben müssen, daß
seine Geschlechtssphäre eine viel ausgebreitetere ist als
beim Manne. Der Verfasser der „Splitter“ hat das sehr gut
•charakterisiert, wenn er sagt: „Die Weiber sind überhaupt lauter
Geschlecht von den Knien bis zum Hals. Wir haben unser Zeug
an einen Ort konzentriert und extrahiert, d. h. vom übrigen
Körper abgelöst, weil pret ä partir. Sie sind eine große Ge-
schlechts fläche oder -scheibe, wir haben nur einen Geschlechts-
p f e i 1. Das Zeugen ist ihr eigentliches Element, und wenn
sie es tun, bleiben sie zu Hause und in ihrem Eigenen, wir
müssen dazu in die Fremde und aus uns selbst heraus. Auch
zeitlich ist unser Zeugen konzentriert. Wir brauchen unter Um-
ständen kaum zehn Minuten dazu, sie ebensoviel Monate. Sie
zeugen eigentlich immerwährend und stehen ununterbrochen am
Hexenkessel, kochend und brauend, während wir nur im Vorbei-
gehen und fast zufällig einige Brocken hinein werfen.“
Vielleicht bedingt aber die größere Ausdehnung der weib-
lichen Sexualsphäre eine, wenn man so sagen darf, größere Zer-
5) Bemerkenswert ist die folgende Aeußerung von geistlicher Seite
über die Sinnlichkeit der Landmädchen: „Mädchen stehen in fleisch-
licher Lüsternheit hinter den jungen Leuten nicht zurück, sie lassen
sieh..nur zu gern verführen und gebrauchen, so gern, daß selbst
ältere Mädchen oft mit halbwüchsigen Burschen fürlieb nehmen, und
daß Mädchen häufig nacheinander sich mehreren
Männern preisgeben. Auch sind es nicht immer die jungen
Burschen, von denen die Verführung ausgeht, sondern vielfach sind
es die Mädchen, welche die Burschen zum Geschlecht s-
genuß an sich locken, wie sie denn auch nicht warten, bis
die Knechte sie in ihrer Kammer besuchen, sondern sie gehen zu den
Knechten in deren Schlafraum und erwarten diese oft schon in deren
Bett.“ G. Wagner, Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse der
evangelischen Landbewohner im deutschen Reiche, Leipzig 1897 Bd. I
2. Abt. S. 213. . .
91
Streuung der geschlechtlichen Empfindungen, die nicht so sehr
auf einen Punkt zusammengedrängt sind wie beim Manne, wo-
durch auch die spontane Auslösung der Libido erschwert wird.
Neuerdings hat Havelock Ellis eingehende Unter-
suchungen über den Geschlechtstrieb beim Weibe angestellt. Er
fand folgende Unterschiede vom Geschlechtstrieb des Mannes.
1. Der Geschlechtstrieb des Weibes zeigt größere äußerliche
Passivität.
2. Er ist komplizierter, tritt weniger leicht spontan hervor,
häufiger der äußeren Anregung bedürftig, während sich der
Orgasmus langsamer einstellt, als beim Manne.
3. Er entwickelt sich erst nach dem Beginne des regelmäßigen
Geschlechtsgenusses in seiner vollen Stärke.
4. Die Gienze, jenseits deren der Exzeß beginnt, wird
weniger leicht erreicht als beim Manne.
5. Die Geschlechtssphäre hat eine größere Ausdehnung und
ist diffuser verteilt als beim Manne.
6. Die spontanen Regungen des geschlechtlichen Begehrens
haben eine ausgesprochenere Neigung zur Periodizität.6)
7. Der Geschlechtstrieb zeigt beim Weibe eine größere
Variabilität, eine weitere Variationsbreite als beim Manne, so-
wohl wenn man die einzelnen weiblichen Individuen, wie wenn
man die verschiedenen Phasen des Lebens bei demselben Weibe
miteinander vergleicht.
Diese große Ausbreitung der weiblichen Sexualsphäre wird
z. B. durch den von Moraglia mitgeteilten Fall einer Frau
illustriert, die sich durch Masturbation von 14 verschiedenen
Stellen ihres Körpers in geschlechtliche Erregung versetzen konnte.
Wie viel mehr das Weib Sexualität ist als der Mann, kann
man in Irrenanstalten beobachten, wo die konventionellen Hem-
mungen wegfallen. Hier sind nach Shaws Beobachtungen die
6) E. Heinrich Kisch (Das Geschlechtsleben des Weibes,
Berlin u. Wien 1904 S. 183) nennt die Ovarien einen „Regulator
des Geschlechtstriebes.“ Im Ovarium und dessen periodischen Ver-
änderungen liege die Grundursache und die Regulation des Ge*
s chlechtstriebes, in der Klitoris sei der Sitz des Wollust-
gefühles.
Frauen an Geläufigkeit, Bosheit und Schmutzigkeit den
Männern entschieden überlegen, und in dieser Beziehung gibt es
keinen Unterschied zwischen einem schamlosen Mannweibe aus
den Quartieren des Londoner Gesindels und einer eleganten Dame
aus vornehmen Stadtteilen. Lärm, Unreinlichkeit und geschlecht-
liche Depravation in Sprache und Betragen ist in den Frauen-
abteilungen der Irrenanstalten viel gewöhnlicher als in den
Männerabteilungen. In allen Formen akuter Geistesstörung tritt
nach Shaw das sexuelle Element beim Weibe deutlicher hervor
als beim Manne.
Ein anderer erfahrener Irrenarzt, Dr. E. Bleuler, bestätigt
dieses Durchtränktsein des Weibes mit Sexualität. Er macht in
einer neuerdings erschienenen Schrift darüber die zutreffende
Bemerkung: „Die ganze „Karriere“ hängt ja bei der Durch-
schnittsfrau an der Sexualität; für sie bedeutet die Heirat oder
ein Aequivalent derselben das, was dem Manne Emporkommen
im Geschäft, sein Ehrgeiz in allen Beziehungen, der glücklich
geführte Kampf ums einfache Dasein, sowie um Lebensgenuß
und Lebensinhalt ist, und dann erst noch die Sexualität mit
Kinderfreude dazu. Nicht heiraten, sowie außerehelicher Ge-
schlechtsgenuß haben für die Frau unabsehbare Folgen mit den
stärksten Affektbetonungen; dem Durchschnittsmanne erscheint
beides relativ oder absolut gleichgültig. Und dann noch die ein-
fältigen Schranken unserer Kultur, welche sogar das innere Aus-
leben auf diesem Gebiet, das Ausdenken dem wohlerzogenen
Weibe unmöglich machen, und innere Unterdrückung der sexuellen
Affekte selbst, nicht nur der Aeußerungen derselben verlangen.
Was Wunder, daß man unter diesen Umständen bei kranken
Frauen auf Schritt und Tritt konvertierten, unterdrückten, ver-
schobenen sexuellen Gefühlen begegnet, den sexuellen Gefühlen,
welche überhaupt mindestens die Hälfte unserer natürlichen
Existenz ausmachen; ich sage mindestens die Hälfte, denn
der analoge Trieb, der Nahrungstrieb, scheint vor dem Sexual-
trieb zurückzutreten, und zwar nicht nur beim kultivierten
Menschen.“
In den meisten Fällen ist tatsächlich die sexuelle Kälte des
Weibes nur eine scheinbare, entweder wo hinter dem durch die
konventionelle Moral vorgeschriebenen Schleier der äußeren Zu-
rückhaltung sich eine glühende Sexualität verbirgt oder wo es
dem Manne nicht gelingt, die so komplizierten und schwer aus-
lösbaren erotischen Empfindungen richtig zu wecken.7) Sobald ihm
das gelingt, schwindet auch in den meisten Fällen die sexuelle
Unempfindlichkeit. Ein eklatantes Beispiel hierfür liefert der
folgende Fall.
Fall von temporärer sexueller Anästhesie. —
20 jähriges Mädchen. Frühzeitige Regung des Geschlechtstriebes.
Schon als Kind von 5 Jahren trieb sie Onanie, führte sich öfter
zum Zwecke der sexuellen Reizung Haarnadeln in die Scheide
ein, bis eines Tages eine stecken blieb und auf operativem Wege
entfernt werden mußte. Trotzdem setzte sie bald die Masturbation
fort, wobei sie mit dem Finger, mit Kerzen usw. an den Geni-
talien manipulierte. Zuletzt geschah das täglich, bis zum 18. Jahre.
Damals erster geschlechtlicher Verkehr mit einem Manne, der
sie aber völlig kalt ließ, wie auch die folgenden Versuche mit
diesem und anderen Männern. Endlich gelang es einem ihr sym-
pathischen Manne, sie geschlechtlich zu befriedigen, durch Ver-
tauschung der Rollen und dementsprechende Aenderung der Stel-
lung. Späterer Verkehr in normaler Stellung brachte ihr eben-
falls volle Befriedigung. Seitdem hat Onanie völlig aufgehört,
Und es tritt in coitu sofort Orgasmus schon nach 1—2 Minuten ein.
Wo dauernde sexuelle Frigidität beim Weibe besteht, da
handelt es sich entweder um Einflüsse der Vererbung, um eine
sexuelle Entwicklungshemmung, den „psycho-sexualen Infantilis-
mus“ Eulenburgs, oder um Krankheiten (besonders Hysterie
Und andere Nervenleiden) und um die Folgen habitueller Onanie.
Im großen und ganzen ist die geschlechtliche Sensibilität
des Weibes zwar, wie wir sahen, von ganz anderer Natur als
diejenige des Mannes, aber in ihrer Wirkung mindestens ebenso
groß wie diese.
7) Treffend bemerkt Georg Hirth (Wege zur Liebe, München
1906, S. 670): „Da ist es denn die Aufgabe de3 Mannes, seine ganze
Selbstbeherrschung und Kunst zusammenzunehmen und vor allem da-
für zu sorgen, daß die Frau, wie man zu sagen pflegt, „fertig“ wird.
Der Mann, der nur auf die eigene Befriedigung bedacht ist und seine
Partnerin auf halbem Wege im Stiche läßt, ist ein brutaler Mensch,
oder aber er ahnt nicht, welchen Schaden er ihr zufügt . . . Im
allgemeinen hat der Mann das Tempo der Befriedigung viel besser und
sicherer in der Hand, als die Frau, bei manchen Frauen tritt der
Orgasmus überhaupt sehr schwer ein. Da heißt es mit Kunst und
Zärtlichkeiten nachhelfen.“
/
64
SECHSTES KAPITEL.
Der Weg des Geistes in der Liebe.
Religion und Sexualität.
Je klarer wir uns darüber werden, wie die unbestimmte geschlecht-
liche Anziehungskraft der niedrigsten Organismen sich durch den
stetigen Zuwachs psychischer Elemente langsam bis zur Liebe der
höheren Tiergattungen und des Menschen entwickelt hat, desto eher
sind wir geneigt, diesem Gefühl jene Bedeutung zuzuerkennen, welche
ihm gebührt. Dann können wir dasselbe nicht mehr für eine individuelle
Einbildung halten, die keinen Zusammenhang mit der Wirklichkeit
und keine Wurzel in der Tiefe des Lebens hat. Sie wird uns zum
Maßstabe für die Stufe der Entwicklung, welche wir erreicht haben.
0 h a r 1 e s Alberi.
95
Inhalt des sechsten Kapitels.
Einfluß der Gehirnentwicklung auf den Sexualtrieb. — Beziehungen
zwischen Sprache und Liebe. — Die psychisch - emotionelle Wurzel
der Liebe. — Die Liebe als Kulturprodukt. — Zusammenhang zwischen
körperlichem und geistigem Bildungstrieb. — Der „Funktionstrieb“
des Dr. S a n 11 u s. — Die psychischen sexuellen Aequivalente. —
Schopenhauer, Hirth, Mantegazza darüber. — Rolle der
Sexualität im Lebensgefühle. — Die organische Bedingtheit der
Liebe. — Sexualphilosophie. — Der Marquis de Sade. — Otto
Weininger. — Max Zeiß. — Beziehungen der Liebe zum indi-
viduellen Persönlichkeitsgefühl. — Fortpflanzungs- und Vereinigungs-
trieb. — Liebe und Liebes Umarmung als Selbstzweck.
Das psychogenetische Grundgesetz der Liebe. — Der Weg des
Geistes in der Liebe. — Richtung vom Allgemeinen zum Individuellen.
— Vom Jenseits zum Diesseits. — Die Liebe als transzendentales und
als persönliches Verhältnis.
Die Verknüpfung religiös-metaphysischer Vorstellungen mit dem
Sexualleben. — Eine allgemein anthropologische Erscheinung. — Anthro-
pomorphistisch-animistische Erklärung des Zusammenhanges zwischen
Religion und Geschlechtsleben. — Billroths naturwissenschaftliche
Analyse der religiösen Empfindung. — L. Feuerbach, M’Len-
nan, Tylor darüber. — Meine Schilderung des psychologischen
Prozesses bei der Verbindung von Religiösem und Sexuellem. — Die
Vergöttlichung der Liebe nach E. v. Mayer. — Am stärksten beim
Weibe. — Vikariieren religiöser und sexueller Empfindungen. — Ge-
schichte der religiös-sexuellen Phänomene. — Die religiöse Prostitution,
— Die einmalige und die dauernde religiöse Prostitution, — Hinga.be
an die Gottheit oder deren Stellvertreter. — Die Defloration durch
göttliche Symbole. — Deflorationsgottheiten der Inder, Juden und
Römer. — Religiöse Defloration durch Stellvertreter der Gottheit. —
Der babylonische Mylittakult. — Verbreitung und Erklärung desselben.
— Die religiöse Prostitution in Indien. — Bei primitiven Völkern. —
Bachofens geniale Deutung der religiösen Prostitution als Wider-
stand gegen die Individualisierung der Liebe. — Verachtung der Jung-
frauschaft bei primitiven Völkern. — Die dauernde religiöse Prostitution.
— Der Beischlaf als heiliger Akt. — Die Tempelmädchen der Griechen,
Phönizier und Inder. — Die indischen „Nautsches“. — Das Ewigkeits-
gefühl im religiösen und geschlechtlichen Drange. — Die sexuelle
96
Mystik. — Religiös-erotische Feste. -— Weite Verbreitung'. — Beispiele
aus dem Altertum, aus Indien, Zentral- und Südamerika. — Sexual-
mystik im Christentum. — Religiös-sexuelle Sekten. — Die „Unio
mystica“. — Die Primiz oder mystische Hochzeit. — Der Marien-
kultus. — Ein religiöses Lied.
Die Askese. — Ursprung derselben. — Metschnikoffs Er-
klärung des Ursprungs der Askese. — Die Disharmonien des Sexuallebens.
— Psychologie des Asketen. — Seine Hypersexualität. — Hohes Alter
und Ubiquität der Askese. — Die Askese der Inder, Mohammedaner
und Christen. — Die Beschäftigung der christlichen Asketen mit
Sexuellem. — Geschlechtliche Visionen. — Ausschweifende Sekten. —
Das Mönchs- und Klosterwesen. — Die moderne Askese. — Ihr Unter-
schied von der älteren. — Zusammenhang mit den Lebenserfahrungen.
— Beispiel Schopenhauers. — Ein bisher unveröffentlichtes
Zeugnis für die Beziehung seiner asketischen Anschauung zu seinem
Leben. — Tolstoi über die Leiden der Wollust. — Seine relative
Askese. — Weiningers Erneuerung der altchristlichen Asketik.
— Motivierung derselben. — Charakteristik des Weiningersehen
Buches.
Der Hexenglauben. — Die Hauptquelle aller Misogynie und
Weiberverachtung. — Keine christliche Erfindung. — Die uralte Ver-
bindung zwischen Geschlechtlichem und Magischem. — Der sexuelle
Ursprung des Hexenglaubens. — Die Teufelsbuhlschaft.—Voraussetzun-
gen des mittelalterlichen Hexenglaubens. — Fortdauer bis zur Gegenwart.
—■ Rolle der Sexualität in der Pastoralmedizin. — Aeußere und innere
Veranlassung der theologischen Behandlung sexueller Fragen. — Die
sexualkasuistische Literatur. — Der religiöse Faktor im Sexualleben
der Gegenwart. — Sexuelle Ausschweifungen moderner Sekten. — Die
Erneuerung der Romantik. — Erfahrungen eines älteren Arztes über
Religion und Sexualität. — Liebesentbehrung und Liebesübersättigung
als Quellen religiöser Bedürfnisse. — Bedeutung des religiösen Faktors
in der Geschichte der Liebe. — Untergeordnete Rolle desselben in der
Individualisierung des Liebesgefühles.
97
Wenn man mit Friedrich Ratzel die Kultur als die
Summe aller geistigen Errungenschaften einer Zeit bezeichnet, so
ist auch die menschliche Liebe, dieses spezifische Kulturprodukt,
nur ein Spiegelbild der geistigen Regungen der jeweiligen Kultur-
epoche. Wir können diesen Weg des Geistes in der Liebe
verfolgen von der Urzeit bis zur Gegenwart und die im Laufe
der Jahrtausende der Menschheitsgeschichte erfolgte successive
Verknüpfung der jeder Kulturepoche eigentümlichen geistigen
Zustände mit der Sexualität noch heute in den einzelnen psychi-
schen Elementen nach weisen, die die Liebe des modernen Kultur-
menschen charakterisieren.
Die mit der Kultur zunehmende Vergeistigung und Ideali-
sierung der Sinnlichkeit trotz Bestehenbleibens der elementaren
Intensität des Geschlechtstriebes hängt mit der schon früher er-
wähnten, das Genus Homo charakterisierenden Präponderanz des
Gehirns zusammen, die ganz gewiß eine allmählich ge-
wordene ist und wohl aus einer Kumulation ursprünglicher
Variationen hervorgegangen ist, die ihren Trägem im Kampfe
ums Dasein eine gewisse Ueberlegenheit verschafften.
So erweiterte sich ganz allmählich das primäre instinktive,
noch rein tierische Ich zum sekundären Ich i(im Sinne M e y n e r t s),
zur geistigen Persönlichkeit, der durch die Sprache
die feste Grundlage gegeben wurde. Mit einigem Recht hat man
gerade das Auftreten der Sprache als sehr bedeutsam für die
Entwicklung der Liebesgefühle erklärt und wesentlich durch sie
die Erhebung über die primitiven tierischen Instinkte sich ver-
mitteln lassen. A. Cabral meint in seinem interessanten Werke
„La Vénus Genitriz“ (Paris 1882, S. 155), daß Sprache und Ge-
sang nur wegen der sexuellen Beziehungen sich entwickelt hätten,
und er verweist dafür auch auf die wohlbekannten, so ver-
schiedenartigen Laute der Tiere im Zustande der geschlecht-
Bloch, Sexualleben. 7.-9. Auflage. 7
(41.—60. Tausend.)
98
liehen Erregung. Es ist in dieser Hinsicht sehr bedeutungsvoll,
daß die anthropologische Wissenschaft die frühere Entwicklung
der Poesie vor der Prosa als wichtige völkerpsychologische Tat-
sache nachgewiesen hat-1) Das Ursprüngliche war der rhythmische
Laut, das Lied, der Gesang. Und daß dieser wesentlich suggestiven
Zwecken, vor allem der geschlechtlichen Anlockung diente, sahen
wir oben. So hat der ursprüngliche, natürliche Zusammenhang
der Sprache mit der Sexualität einige Wahrscheinlichkeit für
sich. An diese ersten erotischen Laute und Locktöne knüpfte
dann das erste geistige Verständnis, der Gedanke sich an.
Dieser „Abfall des Menschen vom bloßen Instinkte“, den
Schiller in seinem Aufsatze über die erste Menschengesellschaft
als die „glücklichste und größte Begebenheit in ,der Menschen-
geschichte“ bezeichnet, von der aus das Streben zur Freiheit zu
datieren ist, ließ allmählich die höheren „Gefiihlstöne“ der
Empfindungen mehr hervortreten. Die elementaren Triebe ver-
knüpften sich mit Lust- und Unlustempfindungen als seelischen
Reaktionen. Die „Organempfindungen“ traten in das Licht des
Bewußtseins ein und lieferten so in Verbindung und Weclisel-
wirkung mit den höheren Sinnenreizen die psychisch-emotionelle
Wurzel der Triebe. So wird in der geschlechtlichen Sphäre aus
der bloßen Wollust, dem rein instinktiven Begattungstriebe die
Liebe, deren Wesen eine innige Verknüpfung körperlicher
Empfindungen mit Gefühlen und Gedanken, mit dem ganzen
geistig-gemütlichen Sein des Menschen ist.* 2)
„Die Liebe,“ sagt Charles Albert, „ist das Resultat
aller Fortschritte der menschlichen Tätigkeit auf allen Gebieten
und nach jeder Richtung in ihrer Wirkung auf das Geschlechts-
leben. Sic ist ein Fortschritt, der mit allen anderen Hand in
Hand geht. Ist doch der Mensch ein untrennbares Ganzes, das
nur in der Theorie in einzelne Gebiete zerteilt werden kann!
0 Vgl. F. v. Andrian, lieber einige Resultate der modernen
Ethnologie in: Correspondenzblatt der deutschen Gesellschaft für
Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1894, No. 8, S. 71.
2) Die „Liebe“ im obigen Sinne ist nur dem Menschen eigentümlich
und deshalb muß man sie, wie auch Ploß-Bartels hervorhebt,
schon dem Menschen auf niederster Kulturstufe zusprechen. Dort ist sie
freilich nur ein „schwach glimmender, leicht verlöschender Funke“,
während sie bei den zivilisierten Völkern zur „hellen, weitstrahlenden
Flamme“ geworden ist.
99
In Wirklichkeit aber sind alle Gebiete menschlicher Entwicklung
so innig miteinander verbunden, daß der Fortschritt auf jedem
einzelnen allen anderen zugute kommen muß.
Zunehmende psychische Verfeinerung und Differenzierung des
menschlichen Typus, Vorherrschaft der Intelligenz und des Ge-
fühls über die rohe Kraft, Umwandlung des sozialen Verhält-
nisses zwischen Mann und Weib infolge ökonomischer Be-
dingungen oder religiöser und moralischer Ideen, Achtung vor
der Persönlichkeit, Sicherung der dringenden Lebensbedürfnisse
und daraus entspringende Hebung und Komplikation des sexuellen
Lebens, der Einfluß des Verlangens nach idealer Schönheit im
psychischen und moralischen Sinne, das alles und noch vieles
andere hat dazu beigetragen, die geschlechtliche Liebe in dem
Sinne, wie wir sie heute verstehen und empfinden, herauszubilden.
Die Sprache des Liebenden unserer Zeit ist der Ausdruck und
die Zusammenfassung alles menschlichen Fortschritts. Der Unter-
schied zwischen der tierischen Brunst und dem Hochgefühl der
Liebe entspricht genau dem Abgrund, welcher den Urmenschen,
der sich aus Kieseln einige unbehilfliche Werkzeuge zuschleift,
von dem Kulturmenschen trennt, welcher durch zahllose Maschinen
die Naturkräfte seinen Zwecken dienstbar gemacht hat.“
Wir müssen auf die ersten Anfänge der Entwicklung der
menschlichen Psyche in ihrer Verbindung mit der Sexualität zurück-
gehen, um den tiefen, ursprünglichen Zusammenhang
zwischen körperlichem und geistigem Bildungstrieb zu verstehen,
welcher Zusammenhang auch so ausgedrückt worden ist, daß man
den Geschlechtstrieb den Vater des im Menschen allein lebenden
genialen Triebes genannt hat, der ihn zum Denker und Erfinder
gemacht hat. Im Zeitalter der Sc he 11 in g sehen Natur-
philosophie sprach man von den „Plodenhemisphären“ als einer
Analogie zu den Hirnhemisphären. Und spricht sich' nicht auch
etymologisch dieser Zusammenhang aus in der Zusammensetzung
der Worte „Zeugung“ und „Ueberzeugung“ (= höhere, geistige
Zeugung) und in der Zusammenfassung von „zeugen“ und
„erkennen“ in einem Begriffe in der hebräischen Sprache?
Schon Plato ahnte diesen Zusammenhang, als er das Denken
sublimierten Geschlechtstrieb nannte, ebenso B u f f o n , wenn er
die Liebe „le premier essor de la sensibilité, qui se porte ensuite
à d’autres objets“ nennt. In neuerer Zeit faßte der Arzt Dr.
Santlus in seiner wertvollen Abhandlung „Zur Psychologie der
7*
100
menschlichen Triebe“ (Archiv für Psychiatrie 1864, Bd. VI, S. 244
und 262) diese Kombination der Geschlechtssphäre mit den
höchsten geistigen Interessen des Menschen unter dem Namen
des „Funktionstriebes“ zusammen.
Aus diesen innigen Beziehungen zwischen sexueller und
geistiger Produktivität erklärt sich die merkwürdige Tatsache,
daß gewisse geistige Schöpfungen an die Stelle des rein körper-
lichen Sexualtriebes treten können, daß es psychische sexuelle
Aequivalente gibt, in die sich die potentielle Energie des
Geschlechtstriebes umsetzen kann. Hierher gehören viele Affekte,
wie Grausamkeit, Zorn, Schmerz und die produktiven Geistes-
tätigkeiten, die in Poesie, Kunst und Religion ihren Niederschlag
finden, kurz, das ganze Phantasieleben des Menschen im
weitesten Sinne vermag bei Verhinderung der natürlichen Be-
tätigung des Geschlechtstriebes solche sexuellen Aequivalente zu
liefern, deren Bedeutung in der Entwicklungsgeschichte der mensch-
lichen Liebe wir noch näher zu betrachten haben.
Interessante Bemerkungen über diesen innigen Zusammenhang
zwischen dem geistigen und physischen Zeugungstriebe finden
sich bei einem Denker, der kein Ilehl aus seiner heftigen Sinn-
lichkeit gemacht hat und in dessen Leben und Denken die Sexua-
lität eine eigentümliche Rolle gespielt hat: bei Schopenhauer.
In den „Neuen Paralipomena“ betont er die Aehnlichkeit des
genialen Schaffens mit den dem Menschengeschlechte eigenen
Modifikationen des Geschlechtstriebes. An einer anderen Stelle,
wo er, wie auch Frauenstädt hervorhebt, aus eigener innerer
Erfahrung spricht, heißt es: „An den Tagen und Stunden, wo
der Trieb zur Wollust am stärksten ist, nicht ein mattes
Sehnen, das aus Leerheit und Dumpfheit des Bewußtseins ent-
springt, sondern eine brennende Gier, eine heftige Brunst: gerade
dann sind auch die höchsten Kräfte des Geistes,
ja das beste Bewußtsein zur größten Tätigkeit
bereit, obzwar in dem Augenblicke, wo das Bewußtsein sich
der Begierde hingegeben hat, latent: aber es bedarf nur einer
gewaltigen Anstrengung zur Umkehrung der Richtung, und statt
jener quälenden, bedürftigen, verzweifelnden Begierde (dem Reich
der Nacht) füllt die Tätigkeit der höchsten Geisteskräfte das
Bewußtsein (das Reich des Lichtes).“
Georg Hirth, der in dem „Splitternackte Gedanken“
betitelten Abschnitt seiner „Wege zur Liebe“ eine interessante
101
Psychologie der Liehe in Aphorismen gibt, konstatiert das
„beglückende Phänomen eines besonders lebhaften Anfflackerns
unseres Denk- und Schaffenstriebes“ nach erotischer Sättigung,
nach einer glücklichen Liebesnacht Sehr anschaulich hat auch
Mantegazza die geistigen Anregungen durch eine glückliche
und siegreiche Liebe geschildert.8) '
Viele große Denker haben diese angebliche Trübung der
reinen Geistigkeit durch das Geschlechtsleben beklagt und die
Askese empfohlen, um zu wahrer innerer Erleuchtung zu kommen.
Das hieße aber die Wurzel des geistigen Schaffens ausrotten,
die Grundlage eines reichen Gefühls- und Innenlebens, aller
wahren Poesie und Kunst zerstören. Uebrig bliebe nur die Oede
einer kalten Abstraktion. Man denke an Abälards Briefe vor
und nach seiner Entmannung ! Erst die Sexualität haucht unserem
geistigen Sein das warme blühende Leben ein.
„Die Welt,“ sagt Philipp Frey, „würde in schärfer um-
grenzten Denkgebilden von uns erfaßt werden, wenn wir sie nicht
in den Wechsellichtern unserer Sexualität erblicken würden: vom
leise träumerischen verlangenden Grün über das Gelb hinaus-
gedrängter Emotionen und das Blutrot geschwellter Begierden
bis zum kühlen Blau der Befriedigung erstrahlen alle Dinge, in
dem Schein unserer Geschlechtlichkeit. Das Leben wäre besser
geordnet, wenn wir rein intelligible Ernährungs-, Arbeits- und
Fortpflanzungsmaschinen wären. Aber ohne den Dualismus von
Begierde und Sättigung würde die Welt in einem großen grauen
Gähnen erstarren.“
Diese innige Verbindung des psychisch-emotionellen Seins
mit dem Sexualtriebe führt zu einer Vertiefung, Konzentration
und Intensitätssteigerung des Liebesgefühles, die dasselbe als die
heftigste Erschütterung des Menschen in körperlich-seelischer Be-
ziehung erscheinen lassen. Treffend sagt Voltaire in den
„Pensées philosophiques“ : „L’amour est de toutes les passions
la plus forte, parce qu’elle attaque à la fois la tête, le coeur
et le corps.“ Daß in der Liebe die unmittelbare Einmischung
8) Vgl. über den Zusammenhang zwischen Sexualität und Geistes-
tätigkeit auch Y i r e y , Recherches médico-philosophiques sur la nature
et les facultés de l’homme, Paris 1817, S. 39.
organischer Prozesse sieh am deutlichsten offenbart, betonen auch
Aristoteles und Griesin ge r.4)
So enthüllt sich die Liebe, worauf schon der Schopen-
h au er sehe „Brennpunkt des Willens“ und Weismanns „Kon-
tinuität des Keimplasma“ hindeuten, als der Kern, die Achse
des individuellen und damit auch des sozialen Lebens. Und man
versteht es, daß es literarische Vertreter einer konsequenten
„Sexualphilosophie“ gibt, die einzig und allein auf der
Grundlage des Geschlechtlichen eine Weltanschauung aufbauen.
Das sexuelle Problem wird ihnen zum Weltproblem, die Erotik
erweitert sich zur Metaphysik. Von der Liebe gehen diese Sexual-
philosophen aus, um die Mysterien des Lebens zu entschleiern.
Der berüchtigste Vertreter einer solchen Sexualphilosophie war
der Marquis de Sade, wie ich ihn zuletzt in meinem pseudo-
nymen Werke „Neue Forschungen über den Marquis de Sade“
(Berlin 1904) dargestellt habe. Nach de Sade kann die Welt
nur durch das Sexuelle erfaßt und begriffen werden.
In gewissem Sinne der Antipode des Marquis de Sade ist
ein merkwürdiger Sexualphilosoph unserer Zeit, der Verfasser
von „Geschlecht und Charakter“, Dr. Otto Weininger. Auch
sein Gedankenkreis bewegt sich ganz um das Geschlechtliche. Es
bildet die Grundlage, den springenden Punkt seiner Ausführungen.
Freilich in negativem Sinne. Denn Weininger ist der Apostel
der Asexualität. Ihm ist der höchste Typus des Menschen der
ungeschlechtliche, der alle Sexualität verneint. Und das Weib
als Verkörperung der Geschlechtlichkeit ist ihm das „Nichts“,
das „radikal Böse“, das vernichtet werden muß.
Wiederum eine positive Sexualphilosoj>hie edlerer Art als
jene beiden seltsamen Geister vertritt Max Zeiß in „Ragnarök.
Eine philosophisch-soziale Studie“ (Straßburg 1904). Er betrachtet
die Arbeit, das Streben, das Schaffen, das Ringen nach materiellem
Besitz, nach Ehre und Ruhm, nur als Begleitzwecke zur Erlangung
des einen, der Liebe.
Die immer innigere Verknüpfung der Liebe mit dem Geistes-
leben, ihre Vertiefung, die Einbeziehung aller Gefühle und Ge-
danken in dieselbe hatte notwendig ein starkes Hervortreten des
individuellen Persönlichkeitsgefühls zur Folge,
4) Vgl. W. Griesinger, Psychische Krankheiten. 3. Aufl.
Braunschweig 1871, S. 7.
103
das gegenüber dem früheren instinktiven Triebe immer mehr das
Liebesieben beherrschte. Jetzt gewann die Liebe mindestens die
gleiche Bedeutung für das Individuum, die sie in den früheren
Zuständen für die Gattung besessen hatte, und damit wurde
subjektiv ganz gewiß die Fortpflanzungsidee gegenüber der Idee
des persönlichen Erlebens, der persönlichen Bereicherung und
Fortentwicklung durch die Liebe in den Hintergrund gedrängt.
Treffend bemerkt Hegel (Aesthetik, Berlin 1837, Bd. II, S. 186):
„Die Leiden der Liebe, diese zerscheiternden Hoffnungen, dies
Verliebtsein überhaupt, diese unendlichen Schmerzen, die ein
Liebender empfindet, diese unendliche Glückseligkeit und Seligkeit,
die er sich vorstellt, sind kein an sich selbst allgemeines Interesse,
sondern etwas, was nur ihn selber an geht.“ Und auch'
Schleiermacher betont in seinen Briefen über die „Lucinde“
die große Bedeutung der Liebe für die geistige Entwicklung des
Individuums.
Die Individualisierung der Liebe hat jedenfalls die Fort-
pflanzungsidee, das subjektive Gattungsgefühl sehr zurücktreten
lassen, ohne daß es seine eminente objektive Bedeutung jemals
verlieren könnte. Nietzsche erklärt deshalb einen „Fort-
pflanzungstrieb“ für reine „Mythologie“,5) und ebenso sagt
Carpenter in seinem Buche „Wenn die Menschen reif zur
Liebe werden“ (S. 72), daß die menschliche Liebe vornehmlich
und wesentlich ein Verlangen nach völliger Vereinigung und
nur in weit geringerem Grade den Wunsch nach Fortpflanzung
der Rasse habe. Sehr gut hat er die eminente kultur-
fördernde Bedeutung der individuellen Liebe erfaßt, wenn
er sagt:
„Wenn wir die Vereinigung als das Wesentliche festhalten,
D Rudolf Topp spricht von einer „Entartung“ des ,,gesunden,
natürlichen Fortpflanzungstriebes“ zum „Geschlechtstrieb“. In der Ur^
zeit der Menschheitsgeschichte habe der Mensch nur einen Fort-
pflanzungstrieb gekannt und befriedigt und der Geschlechtstrieb habe
sich allmählich und in einem späteren Stadium der Entwicklungs-
geschichte des Menschen aus dem Fortpflanzungstriebe, und zwar als
Entartung (!) dieses letzteren entwickelt. In dieser Zeit seien auch
die ersten Anfänge der funktionellen Impotenz zu suchen wegen der
zu häufigen Ausführung der Geschlechtsfunktion. Vgl. R. Topp,
Ueber die therapeutische Anwendung des Yohimbin „Riedel“ als Aphro-
disiacum, mit besonderer Berücksichtigung der funktionellen Impotentia
virilis, in: Allgemeine medizinische Central-Zeitung 1906, No. 10.
104
/
so können wir die ideale Geschlechtsliebe als ein Gefühl des
Kontaktes ansehen, das Leib und Seele völlig durchdringt —
während die Geschlechtsorgane nur eine Spezialisation dieser
Vereinigungsmöglichkeit in der äußersten Sphäre sind: und wenn
die Vereinigung in der körperlichen Sphäre zur körperlichen
Zeugung führt — so führt die Liebe als Vereinigung auf
geistigem und psychischem Gebiet zu Zeugungen anderer Natur.“
Die Feststellung, daß die Liebe auch in rein individueller
Beziehung eine sehr große Bedeutung für die menschliche Kultur,
für die Höherentwicklung des Menschentums hat, neben ihrer
Bedeutung für die Gattung, diese Feststellung ist sehr wichtig
im Hinblick auf gewisse Probleme der Bevölkerungslehre und
daraus abgeleitete praktische Bestrebungen, wie z. B. den Neo-
malthusianisinus. Liebe und Liebesumarmung sind
nicht nur Gattungszweck, sie sind auch Selbst-
zweck, sind nötig für Leben, Entwicklung und
inneres 'Wachstum des Individuums selbst.
Und man verkenne nicht, wie sehr diese Förderung des
Individuums durch die Liebe zuletzt doch wieder der Gattung
zugute kommt. Auch für diese liegt der wahre Fortschritt in der
Individualisierung des Geschlechtstriebes.
Wenn wir nun im einzelnen die allmähliche Durchdringung
der Sexualität mit geistigen Elementen, die allmähliche Entwick-
lung und Vervollkommnung der Liebe durch die Kultur ver-
folgen, so ergibt sich für die Liebe des modernen Kulturmenschen
auch eine Art von biogenetischem oder besser psychogenetischem
Grundgesetz. In der modernen Liebe begegnen uns alle geistigen
Elemente, die in der Liebe vergangener Zeiten mächtig und
wirksam waren, die Liebe des Kulturmenschen der Gegenwart
ist ein Auszug, eine abgekürzte, gedrängte Wiederholung des
ganzen Entwicklungsganges der Liebe von den ältesten Zeiten
bis auf die Gegenwart. Und die allgemeine Eichtung dieser Ent-
wicklung kehrt auch in der Liebe des Individuums wieder.
Diese Eichtung geht, kurz ausgedrückt, vom Allgemeinen
Zum Individuellen, vom Jenseits zum Diesseits. Man kann daher
die Geschichte der menschlichen Liebe in. zwei große Epochen ein-
teilen. In der ersten war sie wesentlich, überwiegend ein t r a n s -
105
zendentales Verhältnis religiös-metaphysischer IST atur.
Die transzendentalen Beziehungen spielten eine bedeutendere Bolle
als die rein menschlichen, persönlichen. Ueberall spielt ein
jenseitiges Element mit hinein. In der zweiten Epoche ent-
wickelte sieh die Liehe mehr zu einem persönlichen Ver-
hältnis, wobei der Mensch selbst gegenüber allem Transzendentalen
in den Vordergrund tritt. Die Geschichte der Liebe ist gleichsam
eine Illustration der Comteschen Ablösung der theologisch-
metaphysischen Epoche geistiger Entwicklung durch die anthro-
pologische. In der individuellen Liebe sind jedoch noch viele
Momente der transzendentalen wirksam und nachweisbar. Jene
ältesten geistigen Elemente in der Liebe bilden noch immer einen
Teil des Inhalts der modernen Liebe und spielen eine melrr oder
weniger hervorragende Bolle in ihrer Genesis.
Zu diesen uralten psychischen Phänomenen gehört vor allem
die innige Verknüpfung der religiösen Vorstellungen und
Gefühle mit dem Geschlechtsleben. In einem gewissen Sinne kann
man die Geschichte der Beligionen als Gescliichte einer besonderen
Erscheinungsform des menschlichen Geschlechtstriebes, besonders
in seiner Wirkung auf die Phantasie und ihre Gebilde, bezeichnen.
Es ist eine große Ungerechtigkeit, wie sie von einigen
modernen, kulturgeschichtlich wenig gebildeten und laienhaften
Schriftstellern beliebt wird, besonders die katholische Kirche für
das Hervortreten dieses sexuellen Elementes im Kultus und
Dogma verantwortlich zu machen Eine wissenschaftliche
Untersuchung dieser Verhältnisse lehrt vielmehr, daß alle
Beligionen mehr oder weniger diese sexuelle Beimischung auf-
weisen, und wenn dies in der katholischen Kirche scheinbar mehr
hervorgetreten ist, so liegt dies erstens daran, daß sie uns zeit-
lich näher steht als viele Beligionen des Altertums, und wird
zweitens durch den Umstand erklärt, daß die katholische Kirche
über diesen Punkt stets mehr Offenheit und weniger Heuchelei
gezeigt hat, als z. B. die protestantischen Pietisten, die, wie die
Königsberger Skandale, die Affäre der Eva v. Buttler u. a.
zeigen, nicht geringere geschlechtliche Ausschreitungen sich zu-
schulden kommen ließen.
Eine wirklich objektive Grundlage für die Beurteilung
der Beziehungen zwischen Beligion und Sexualleben gewinnen wir
nur, wenn wir dieselben nicht als eine Sache des Dogmas und
der Konfession auffassen, sondern sie auf diejenige Basis stellen,
auf die sie gehören: die anthropologische. Denn diese
Beziehungen sind dem Genus Homo als solchem eigentümlich.
Das sexuelle Element macht sich ebenso in der Religion primitiver
Völker geltend wie in den modernen Kulturreligionen.
Die anthropologische Wissenschaft hat sich bisher mehr mit
der Tatsache als mit der Erklärung der merkwürdigen Beziehungen
zwischen Religion und Sexualität beschäftigt. Es kann aber
keinem Zweifel unterliegen, daß diese Beziehungen aus der
menschlichen Natur hervorgehoben. Es stimmen daher die ver-
schiedenen Anthropologen und Aerzte, die sich mit diesem Problem
befaßt haben, darin überein, daß der Zusammenhang zwischen
Religion und Geschlechtsleben nur anthr opomor phistisch-
animistisch erklärt werden könne, also durch jene Art von
Vorstellungen, die Tylor als die Grundlage des primitiven
Geisteslebens nachgewiesen hat.
So bezweifelt der große Arzt und Menschenkenner T h e o d o r
Billroth überhaupt die Existenz einer reinen, von allen sinn-
lichen Zusätzen freien, religiösen Empfindung. Er sagt in einem
Briefe an Hanslick (vom 21. Februar 1891): „Es ist nach
meiner Empfindung auch ein Unsinn, von speziell religiöser
Empfindung zu sprechen. Was man so nennt, ist entweder eine
phantastisch-schwärmerische Stimmung, die sich bis zur Hallu-
zination steigern kann und zum Inhalt irgend ein Phantasiebild
hat, welches den Gläubigen oder Liebenden sehnsüchtig erregt,
— oder es ist bei Fanatikern eine geradezu erotische Erregung,
wie die Betbewegungen bei den Mohammedanern, das Tanzen der
Derwische, das Herumspringen der Flagellanten. Die Kirche
als Bräutigam für die Nonnen, als Braut für die Mönche deutet
auch darauf hin. Es ist in gewissem Sinne die Fortsetzung des
Isisdienstes und der Aphroditen- und Bacchusfeste. Der Mensch
hat sich seine Götter oder seinen Gott stets nach' seinem Eben-
bilde geformt und betet und singt ihn, d. h. eigentlich sich, mit
den Kunstformen der Zeit an. Weil das sogenannte Göttliche
immer nur eine Abstraktion oder Personifikation einer oder
mehrerer menschlicher Eigenschaften in der höchst denkbaren
Potenz ist, kann menschlich und göttlich, weltlich und religiös
auch nicht verschieden sein. Der Mensch kann überhaupt nichts
Uebernatürliches denken und nichts Unnatürliches tun, weil er
immer nur mit menschlichen Eigenschaften denken und handeln
kann.“
107
Diese Erklärung deckt sich mit der Auffassung Ludwig
Feuerbachs, der speziell in seiner Abhandlung „Ueber den
Marienkultus“ das anthropomorphistische Element in den religiös-
sexuellen Phänomenen betont hat
M’Lennan und Tylor haben dann besonders die ani-
mistische Seite auch in den religiös-sexuellen Vorstellungen auf-
gedeckt. Analog den anderen Naturphänomenen nahm der primitive
Mensch auch die Tätigkeit treibender Geister im Geschlechtstrieb
und was damit zusammenhängt an, und zollte diesen als der
sicht- und fühlbaren Erscheinung jener Geister göttliche Verehrung.
Etwas anders habe ich früher diesen psychologischen Prozeß
näher geschildert (Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis I, 76—77) und wiederhole hier diese Darstellung der
ursprünglichen Vergöttlichung des Sexuellen:
Als etwas Dämonisches, Unheimliches, Uebernatürliches tritt
in der Pubertätszeit der Geschlechtstrieb in das Leben des
Menschen ein, durch seine übermächtige Gewalt, durch die
Intensität, Spontaneität und Mannigfaltigkeit der Empfindungen
jene Gefühle weckend, welche die Phantasie in ungeahnter Weise
befruchten, beleben und entflammen. Mit heiliger Scheu erfüllt
den Menschen dieses mit elementarer Kraft über ihn herein-
brechende Phänomen. Er schreibt es übernatürlicher Einwirkung
zu, und so verknüpft sich in seinem Empfindungs-
kreise diese übernatürliche Einwirkung mit jenen
anderen, die er schon früher erführen hat, und die
ihm das Gefühl der Abhängigkeit von einer ein- oder
mehrheitlichen höheren Kraft eingeben, vor der er in
Anbetung niedersinkt. Wie das Metaphysische überall in
das Geschlechtsleben des Menschen hineinragt, hineinspielt, hat
Schopenhauer in seiner „Metaphysik der Geschlechtsliebe“
deutlich gemacht. Religion und Sexualität berühren sich auf das
innigste in jener Ahnung des Metaphysischen und jenem Ab-
hängigkeitsgefühle; daraus entspringen jene merkwürdigen Be-
ziehungen zwischen beiden, jene leichten Uebergänge religiöser
in sexuelle Gefühle, die in allen Lebensverhältnissen sich be-
merkbar machen. In beiden Fällen wird die Hingabe, die Ent-
äußerung der eigenen Persönlichkeit als ein Lustgefühl empfunden.
Schopenhauer hat in klassischer Weise den ins Unendliche,
Göttliche strebenden metaphysischen Drang der Liebe geschildert,
dessen Analogien mit dem religiösen Drange unverkennbar sind.
108
In seinem geistvollen Buche „Die Lebensgesetze der Kultur“
(Halle 1904, S. 52) hat auch Eduard von M ayer das religiös-
sexuelle Problem berührt. Er geht von dem Gedanken aus, daß
der Mensch das über sich emporhob, wessen er nicht mächtig war,
so vor allem Hunger und Liebe.
„Die Qual der Unbefriedigung des Hungers oder des Liebes-
verlangens zieht die tiefen Furchen, in die dann die Saat der
Lust fällt, der Sättigung oder des Liebesgenusses. Und dem
Menschen, dem die ganze Umwelt lebendigen Wesens voll ist,
werden auch Hunger und Liebe zu göttlichen Mächten,
die ihn antreiben und peinigen, bis ihr Wille erfüllt ist.“
Die Verknüpfung des Sexuellen mit dem Religiösen betrifft
beide Geschlechter gleichmäßig, wenn auch, entsprechend ihrem
tieferen Gemütsleben, diese Erseheinung bei der Frau intensiver
und nachhaltiger sich äußert. Die Gebrüder Goncourt nennen
in ihrem Tagebuch die Religion geradezu einen Teil des weib-
lichen Geschlechtslebens. Die weibliche Geschlechtsbetätigung er-
scheint dann als etwas Religiöses, Frommes, Heiliges. Und jene
Priester, die die von ihnen verführten Frauen durch ihre Liebes-
erweisungen zu „heiligen“ Vorgaben, empfanden physiologisch
jedenfalls richtiger, als die die Fleischeslust als Sünde und Teufels-
werk verdammende Kirche. Im Alittelalter war besonders in
Frankreich die Meinung, daß der von Frauen mit Priestern
gepflegte Geschlechtsverkehr eine Heiligung der letzteren sei,
verbreitet. Alan nannte die Afaitressen der Priester die
„Geweihten“.
Die Identität der religiösen und sexuellen Empfindungen
erklärt ihr häufiges Inein anderübergehen, ihre beständige
assoziative Verknüpfung und ihr leichtes Vikariieren. So kann
Jdas Sexuelle ein Teil des Religiösen werden, ja ganz an dessen
Stelle treten.
Die ungemein interessante Geschichte der so komplizierten
und merkwürdigen religiös-sexuellen Erscheinungen klärt uns über
die individual- und völkerpsychologischen Vorgänge dabei auf
und gibt uns so das Verständnis für die mächtigen Nach-
wirkungen jener Erscheinungen in Brauch, Sitte und Konvention
unserer Zeit und für die Rolle, die der religiös-sexuelle Faktor
auch heute noch im Leben vieler Menschen spielt.
Eines der ältesten, wenn nicht das älteste religiös-sexuelle
Phänomen stellt die religiöse Prostitution dar, das
109
„Wollustopfer“, wie Eduard v. Mayer sie mit einem
glücklichen Ausdrucke nennt, weil darin der Akt des Geschlechts-
genusses als ein der Gottheit dargebrachtes Opfer aufgefaßt wird,
eines Geschlechtsgenusses, der in der Form der Prostitution, der
schrankenlosen geschlechtlichen Hingebung an jeden Beliebigen
ohne Liebe, nur als Akt roher Sinnlichkeit und für
Entgelt vor sich geht, also alle Merkmale dessen an sich
trägt, was wir heute „Prostitution“ nennen.
Nach meinen schon früher veröffentlichten Untersuchungen
über die religiöse Prostitution zerfällt dieselbe in zwei große
Gruppen *
1. Die einmalige Prostitution zu Ehren der
Gottheit,
2. die dauernde religiöse Prostitution.
Die einmalige religiöse Prostitution betrifft meistens die
Darbringung der Jungfernschaft oder auch die einmalige, in der
Folge nicht wiederholte Hingabe eines bereits deflorierten Weibes.
Entweder bringt sich bei der einmaligen religiösen Prostitution
das Weib direkt der Gottheit dar, indem die physische
Entblumung durch ein göttliches, körperliches Symbol erfolgt,
z. B. durch ein männliches Glied aus Stein, Elfenbein, Holz oder
durch direkten Verkehr mit dem Geschlechtsteil der Gottes-
statue, oder das Weib gibt sich einem menschlichen Stell-
vertreter der Gottheit hin, z. B. dem König, dem Priester,
einem Blutsverwandten (nicht selten dem eigenen Vater, also eine
Art von religiösem Inzest) und sogar einem nicht ortsansässigen
Fremden.6)
Was zunächst die Belege für den ersten Modus, die Ent-
jungferung durch ein göttliches Symbol betrifft, so haben wir
darüber besonders ausführliche Nachrichten aus Ostindien, wo
zuerst (im 16. Jahrhundert) der Portugiese Duarte Barbosa
der religiösen Defloration von Mädchen durch den „Lingam“, den
göttlichen Phallus, im südlichen Dekhan beiwohnte. Erst zehn-
jährige Mädchen wurden bereits auf diese brutale Weise der
Gottheit geopfert. Aus etwas späterer Zeit stammen die Berichte
des Jan Huygen van Linschoten und des Gasparo
6) Hieraus kann man wohl den Schluß ziehen, daß die sogenannte
„Gastfreundschaftsprostitution“ nur eine Abart der
religiösen Prostitution ist
110
Bai bi über die Sitte der Einwohner von Goa, der Braut im
Tempel ein männliches Glied von Eisen oder Elfenbein in die
Scheide zu stoßen, so daß der Hymen zerstört wurde, oder auch
die Genitalien der Mädchen mit dem steinernen Glied eines
18 Meilen von Goa entfernten Götzenbildes in Berührung zu
bringen, worüber W. Schultze in seiner „Osb-Indischen Bcyse“
(Amsterdam 1676, fol. 161a) erzählt:
„Durch diesen Pryapum wird den Jungfern mit Hilfe der
gegenwärtigen Freunde und Verwandten auf eine schmerzliche
Weise und mit Gewalt ihre Jungfernschaft genommen, worüber
sich alsdann der Bräutigam erfreuet, daß der schändliche und
verfluchte Abgott ihm diese Ehre bewiesen, in der Hoffnung,
er werde nun hinfort einen besseren Ehesegen erhalten.“
Diese Hingabe der indischen Jungfrauen an die Lingamidole
wird durch die Berichte von John Fryer, Roe, Jean
Mocquet, Abbe Guyon, Derneunier u. a. bestätigt.
Audi die bei den Moabitern und Juden verehrte Gottheit
Baal Peor scheint eine solche Deflorationsgottheit gewesen zu
sein. Es wird nämlich ihr Name von „peor“ — öffnen, d. h. das
Jungfernhäutchen, abgeleitet.7)
Noch deutlicher ist diese Beziehung bei den folgenden Gott-
heitsnamen der alten Börner, der Dea Perfica, Dea Per-
tunda, dem Mutunus Tutunus, über deren ohne Zweifel
auf die Aufgabe der Defloration hindeutende Etymologie idi in
meiner Abhandlung über „Altrömische Medizin“ (in Pusch-
manns Handbuch der Geschichte der Medizin, Jena 1902, Bd. I,
S. 407) Näheres mitteile.
Zu Ehren dieser sexuellen Gottheiten mußte sich, wie
Augustinus, Lactantius und Arnobius berichten, die
Braut auf ein „Fascinum = Membrum virile der Priapus-
Statuen setzen und auf diese Weise entweder physisch oder
wenigstens symbolisch ihre Virginität der Gottheit opfern. Der
Sage nach soll sogar die — Konzeption der 0 c r i s i a auf diese
Weise erfolgt sein.8)
Bei dem zweiten Modus der einmaligen religiösen Prostitution
7) J. A. Dulaure, Des divinités génératrices etc. Paris 1885,
S. 67.
8) W. Schwartz, Prähistorisch-anthropologische Studien, Ber-
lin 1884, S. 278.
111
übt ein Stellvertreter der Gottheit das dieser zustehende
Recht der Entjungferung aus. Es ist eine Art religiöses jus
primae noctis, was hier dem König', dem Priester, dem Vater
und oft einem gänzlich fremden und unbekannten Manne zuteil
wird, bevor das Mädchen einem Gatten oder Besitzer dauernd
gehört. In den Fällen, wo ein rechtmäßiger Gatte die Defloration
vollzogen hat, begnügt sich die Gottheit auch mit der späteren
einmaligen Hingebung an ihren Stellvertreter.
Am bekanntesten hierfür ist die religiöse Prostitution im
INIylitta-Kult der Babylonier, jener Göttin, die nach Bach-
ofen das sich selbst überlassene Naturleben in seiner vollen,
durch keine menschliche Satzung beeinträchtigten Schöpfungs-
tätigkeit darstellt und deren Wesen die beengende Fessel der Ehe
zuwider ist. Daher verlangt die Göttin als Vertreterin des zügel-
losen Naturprinzips von jedem Mädchen freie Hingabe an den
sie zur Begattung auffordemden Mann. Und diese Aufforderung
geschieht im Namen Mylittas und in dem ihr geweihten Tempel.
Das für den Geschlechtsgenuß von dem Manne gezahlte Geld
gehört der Göttin und wird dem Tempelschatze einverleibt.9)
Herodot und Strabo geben uns nähere Nachrichten über
diesen seltsamen Mylittadienst. Vornehme Frauen und solche
niedrigen Standes mußten sich in gleicher Weise einmal von einem
Fremden beschlafen lassen und durften nicht eher nach Hause
zurückkehren, als bis sie den Tribut für die Göttin erlangt hatten.
Auch durften sie keinen Fremden ab weisen, während dieser um-
gekehrt freie Wahl hatte. Also alle charakteristischen Merk-
male der „Prostitution“ nach unserem heutigen Begriffe waren
in diesem Falle gegeben.
Diese Sitte wurde erst durch den Kaiser Constantin
abgeschafft, wie Eusebius in seiner Lebensgeschichte dieses
Kaisers berichtet, ihr Bestehen von der Zeit des Herodot bis
zu der des Constantin wird durch Strabo und Quin tus
Curtius bezeugt. Auch in Cypem, Phönizien, Karthago,
Judaea, Armenien, Lokris war sie verbreitet.10)
9) Vgl. J. J. Bachofen, Die Sage von TanaquiL Eine
Untersuchung über den Orientalismus in Rom und Italien, Heidelberg
1870, S. 43.
10) Vgl. die Einzelheiten und genaueren Nachweisungen in meinen
„Beiträgen zur Aetiologie der Psychopathia sexualis“ Bd. I, S. 84—85.
112
/
Der eigentliche Ursprung derselben war ein religiöser, es
war eine Weihe an die Gottheit, ein Tribut au die Göttin der
Lust. Erst sekundär mögen andere Momente hin zu gekommen sein,
wie die später weit verbreitete Annahme von der Unreinheit
und giftigen Beschaffenheit des bei der Entjungferung aus-
fließenden Blutes. Zugleich mag sich die religiöse Vorstellung
eines „Opfers“ mit der geschlechtlichen der „Hingabe“ an einen
wildfremden, ungeliebten Mann kombiniert haben, so daß viel-
leicht eine Art von Masochismus vonseiten der sich preisgebenden
Weiber dieser eigentümlichen Sitte zugrunde liegt, während ein
sadistischer Grundzug in dem Verhalten der ihre Frauen fremden
Männern überlassenden Verlobten und Gatten unverkennbar ist,
beides, Sadismus und Masochismus, in religiöser Betonung.
In Ostasien und bei vielen Naturvölkern spielen die
Priester die Rolle der Stellvertreter der Gottheit, denen die
Defloration der Jungfrauen und Neuvermählten zukommt, z. B.
in der von Vallabha gestifteten indischen Sekte der
„Mahäräjas“, in der „Immoralität zu einem gött-
lichen Gesetze erhoben wird.“11)
Diese „Großkönige“ gerieren sich als Gottheiten, die das
unbeschränkte Verfügungsrecht über die Weiber der Gläubigen
haben, vor allem aber das Recht der Entjungferung. Sie pro-
klamieren als höchste Gottes Verehrung die in getreuer Nachahmung
der „Hirtinnen“ (gopis), der Lustobjekte des Gottes Krishna,
vollzogene Hingabe der Weiber an das geistliche Haupt der Sekte
zur sinnlichen Lust, was beim Hirtenspiel „räsmandali“ im Herbst
vor sich ging.12) Außerdem empfing der Priester für seine
Tätigkeit als Deflorant auch noch ein Geschenk im Namen der
Gottheit. Abel Rémusat berichtet in seinen „Nouveaux
Mélanges Asiatiques“ (Paris 1824, Bd. I, S. 16 ff.) nach den
Mitteilungen eines chinesischen Schriftstellers des 13. Jahr-
hunderts über die eigentümliche Praxis, die in bezug auf die
religiöse Defloration in Kambodja herrschte. Hier wurden die
Buddhapriester oder die Priester der Tao-Religion in Sänften zu
den ihrer harrenden Mädchen getragen. Jedes Mädchen hatte * **)
n) Kiarsandas Mulji, History of the Sect of Maharajas,
or, Yallabhächärjas in Western India, London 18G5, S. 181.
**) Ygl. E. Hardy, Indische Religionsgeschichte, Leipzig 1898,
S. 124—126
113
eine Kerze mit einem Zeichen. Das „tshin-than“ (= Zurichtung
des Lagers = Beischlaf) mußte innerhalb der Zeit des Abbrennens
der Kerze bis zu diesem Zeichen geschehen!
Auch die Zauberpriester und Medizinmänner der zentral- und
südamerikanischen Karaiben, die „Piaches“ oder „Pajes“, hatten
die Defloration der jungen Frauen zu vollziehen,13) während bei
anderen primitiven Völkern dieses liecht den, Häuptlingen zukam.14)
Sehr fein hat der geniale und tiefblickende Bachofen,
einer der größten Kulturforscher und Kulturpsychologen, in
seinen klassischen Werken über das „Mutterrecht“ und die „Sage
von Tanaquil“ die religiöse Defloration und die religiöse Prosti-
tution überhaupt als den aus primitiven Instinkten hervorgehenden
Widerstand gegen eine Individualisierung der Liebe gedeutet.
In der Tat legt die religiöse Auffassung des Geschlechtlichen
mehr Wert auf den Akt als auf die Person, das Individuum.
Daher die im Gegensätze zur modernen Anschauung so auf-
fällige Geringschätzung der physischen und moralischen Jungfrau-
schaft des Weibes, die uns — ob mit Hecht, sei hier nicht unter-
sucht — als Symbol der weiblichen Individualität gilt. Ueber
diese uns so seltsam anmutende Verachtung des jungfräulichen
Weibes in primitiveren Zuständen haben Waitz, Bachofen,
Kulischer, Post, Ploß-Bartels, ßottmann und
andere Ethnologen nähere Angaben gemacht, und die Tragikomik
unserer „alten Jungfer“ steht im engsten Zusammenhänge mit
dieser uralten Anschauung.15)
Die eben erörterten Tatsachen der einmaligen religiösen
Prostitution erleichtern uns das Verständnis für die dauernde
Tempelprostitution als geschichtliches Phänomen.
Die geschlechtliche Hingebung als rein sinnlicher Akt ist mit
einem religiösen Gefühle verknüpft. So konnte entweder eine
Kombination glühender Sinnlichkeit mit intensivem religiösen
Empfinden das Weib veranlassen, sich ganz dem Dienste des
13) K. Fr. Pb. v. Martius, Beiträge zur Ethnographie und
Sprachenkunde Amerikas, Leipzig 1867, Bd. I, S. 113.
14) Starke, Die primitive Familie, Leipzig 1888, S. 135.
15) Vgl. L. Tobler, Die alten Jungfern im Glauben und Brauch
des deutschen Volkes in: Zeitschrift für Völkerpsychologie (von Laza-
rus u. Steinthal) Berlin 1882, Bd XIV, S. 61—90.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
8
114
Gottes zu weihen und seinen Leib im Namen desselben dauernd
hinzugeben oder es konnte auch die Idee eines göttlichen Harems
— der Glaube der Inder legt jedem Gott seinen Harem bei —
ihre irdische Verwirklichung in der Tempelprostitution finden,
bei der die Gottheit viele Weiber durch Vermittlung der Männer
genießt, oder endlich konnte diese Sitte aus dem ursprünglichen
Gebrauche stammen, überhaupt den als einen religiösen Akt
betrachteten Beischlaf im Tempel oder an heiligen Stellen des
Hauses auszuüben. Hierfür spricht eine bezeichnende Aeußerung
des in ethnologischen Dingen so scharf blickenden Herodot
im 64. Kapitel des 2. Buches seiner Geschichte. Er berichtet,
daß bei den Aegyptern der Beischlaf im Tempel streng verboten
ist, und sagt dann: „Denn alle anderen Völker, außer den
Aegyptern und den Hellenen, begatten sich in den Heiligtümern
und gehen vom Beischlaf ungewaschen in das Heiligtum lind
meinen, die Menschen wären gleich wie die Tiere, denn man sähe
doch das Vieh und die Vögel sich begatten in den Tempeln der
Götter und in den heiligen Hainen; wenn nun dieses dem
Gotte nicht angenehm wäre, so würden es ja die Tiere
auch nicht tun. Also tun sie und diesen Grund geben sie
davon an.“
Dieser Brauch entsprang ohne Zweifel dem Bedürfnis einer
religiösen Empfindung und dem Wunsche, sich durch den Aufent-
halt im Tempel während des Aktes mit der Gottheit direkt in
Verbindung zu setzen. Als nun später die Gottheit ihre eigenen
Hierodulen in Gestalt der Tempelmädchen bekam, da war
es nicht mehr nötig, die eigene Gattin oder eine andere Frau
mit in den Tempel zu nehmen, da man ja nun vermittels der
Hierodulen mit der Gottheit verkehren konnte. Bei weiblichen
Gottheiten kommt als viertes ursächliches Moment der Tempel-
prostitution noch in Betracht, daß jene Buhlerinnen oft wegen
ihrer großen Schönheit und hervorragenden Geistesgaben als
Abbilder der Göttin betrachtet wurden. Daraus erklärt sich
bei den Griechen die Sitte, daß schöne Hetären, z. B. die Phryne,
dem Praxiteles und dem Ape 11 es Modell standen, um
nach ihnen Venusstatuen für die Tempel zu bilden.
Die heiligen Venuspriesterinnen, die „Kadeschen“ der
Phönizier und „Hierodulen“ der Griechen, waren Dienerinnen
der Aphrodite, wohnten im Tempelbezirke. Ihre Zahl war oft
gehr groß. So prostituierten sich in Korinth mehr als tausend
115
weibliche Hierodulen beim Tempel der Aphrodite Porne oder
sogar im Tempel selbst.16)
Indien, wo man überhaupt die Urerscheinungen des
Liebeslebens am besten studieren kann, ist auch das gelobte Land
der Tempelprostitution, da die religiöse Auffassung des Sexuellen
nirgends so sehr hervortritt, wie im indischen Glauben.17) Die
indischen Tempeldirnen heißen „Naut eh-women“ oder „NautscheSf“.
Warneck berichtet über sie:
„Jeder Hindu-Tempel von einiger Bedeutung besitzt ein
Arsenal Nautsches, d. h. Tanzmädchen, die nächst den
Opferern das höchste Ansehen im Tempelpersonal genießen. Es
ist noch nicht lange her, daß diese Tempelmädchen (ganz wie
die griechischen Hetären!) fast die einzigen einigermaßen ge-
bildeten Frauen in Indien waren. Diese von ihrer Kindheit her
den Götzen vermählten Priesterinnen müssen von
Berufswegen sich für jedermann aus jeder Kaste prostituieren,
und diese Preisgebung ist so weit entfernt, als Schande zu gelten,
daß selbst angesehene Familien es vielmehr für eine Ehre
achten, ihre Töchter dem Tempeldienst zu weihen. Allein in der
Präsidentschaft Madras gibt es gegen 12 000 dieser Tempel-
prostituierten.“18) Shortt gibt weitere interessante Nachrichten
über diese Tempelprostituierten, die auch „Thassee“ genannt
werden.
Die Beligion teilt mit dem geschlechtlichen Drang die Unend-
lichkeit der Sehnsucht, das Ewigkeitsgefühl, die mystische Ver-
senkung in die Tiefen des Lebens, den Durst nach Verschmelzung
der Individualitäten in einer ewig-seligen Vereinigung, frei von
den irdischen Fesseln. Daher die Todessehnsucht der Liebenden
und mystisch verzückten Frommen, die Leopardi so wunderbar
geschildert hat. „Die Todessehnsucht Liebender ist eins mit der
Sehnsucht nach geschlechtlicher Vereinigung,“ bemerkt H. Swo-
boda sehr richtig und nennt treffend manchen Selbstmord aus
„unglücklicher Liebe“ viel eher einen aus glücklichster Liebe.
Gelegenheit zu Aeußerungen dieser religiös-sexuellen Mystik
16) W. H. Roscher, Nektar und Ambrosia, Leipzig 1883,
S. 86—89.
17) Vgl. darüber Edward Sellon, Annotations on the Sacred
Writings of the Hindus, London 1865, S. 3.
18) Ploß-Bartels, ,Das Weib in der Natur- und Völker-
kunde, 8. Aufl. Leipzig 1905, Bd. I, S. 580.
8*
116
gaben bei den primitiven Völkern und im Altertume zuerst die
religiös-erotischen Feste. Hier tritt der Uebergang
religiöser Ekstase in sexuelle Empfindungen ganz besonders deut-
lich hervor und kommt in den häufig als Finale inbrünstiger
religiöser Andacht auftretenden sexuellen Orgien zum grellsten
Ausdruck. Die geschlechtliche Brunst erscheint dann gleichsam
als eine Fortsetzung und Steigerung der religiösen
Brunst, im tiefsten Grunde, in der Wurzel mit ihr überein-
stimmend, als natürliche irdische Lösung einer ekstatischen aufs
Jenseits und Metaphysische gerichteten Spannung.
Die Tatsache, daß wir solche geschlechtlichen Aus-
schweifungen bei religiösen Veranstaltungen auf der ganzen
Erde verbreitet sehen, daß sie seit uralter Zeit bei den ver-
schiedensten Religionen Vorkommen, weist wiederum auf
einen mit dem Wesen der Religion als solchen zusammenhängenden
Ursprung dieser Dinge hin, die mit der einzelnen historischen
Konfession nichts zu tun haben. Es ist also völlig unkritisch
Und ungerecht, wenn man in neuerer Zeit den Katholizismus
dafür verantwortlich macht, der als solcher ebensowenig damit
zu tun hat, wie alle anderen Bekenntnisse. Die religiös-sexuellen
Phänomene gehören zu den überall wiederkehrenden Elementar-
gedanken des Menschengeschlechts (im Sinne Bastians),
denen nur die objektive anthropologischethnologische Betrach-
tungsweise wissenschaftlich gerecht werden kann.
So tritt uns die sexuell-religiöse Mystik überall als dieselbe
entgegen, bei den religiösen Festen des Altertums, den mit wilden
geschlechtlichen Orgien einhergehenden Isisfeiern Aegyptens und
des kaiserlichen Roms, den Festen des Baal Peor bei den Juden,
den Venus- und Adonisfesten der Phönizier, in Cypern und Byblos,
den Aphrodisien, Dionysien und Eleusinien der Hellenen, dem
Feste der Flora in Rom, bei dem nackte Freudenmädchen umher-
liefen, den römischen Bacchanalien und dem Feste der Bona Dea,
dessen wilde Unzucht Juvenals berühmte Schilderung uns allzu
deutlich vor Augen führt.
In Indien feiert die im 16. Jahrhundert begründete Sekte
des C a i t anya die tollsten religiös-geschlechtlichen Orgien, ihr
Gottesdienst besteht vornehmlich in langen Litaneien und Hymnen,
die von zügelloser Erotik strotzen, dazu kommen wilde Tänze,
alles zielt darauf ab, die „Gottesliebe“ (bhakti) möglichst fühlbar
117
zu machen.19) Noch schlimmer waren die S a k t a - Sekten (von
£akti = Kraft, d. h. sinnliche Offenbarung des Glottes Siva),
sie gaben sich mit glühender Sinnlichkeit dem Dienste der weib-
lichen Emanationen Sivas hin, wobei Aufhebung aller Kasten-
unterschiede und wilde geschlechtliche Promiskuität die Kegel
war. Stets geht der geschlechtlichen Vermischung ein Gottes-
dienst vorher.
Bei den Kaüchiluas, einer dieser Sakta-Sekte, werfen
die am Gottesdienste teilnehmenden Weiber einen kleinen Schmuck-
gegenstand in einen vom Priester verwahrten Kasten. Nach
Beendigung der religiösen Feier nimmt jeder der männlichen
Beter eins dieser Stücke heraus, worauf die Besitzerin sich bei
den nun folgenden zügellosen geschlechtlichen Ausschweifungen
sich ihm hingeben muß, selbst wenn sie seine eigene Schwester
wäre.20)
Auch das alte Zentral- und Südamerika kannte solche wilden
Aüsbrüche sexuell-religiöser Natur. In Guatemala fanden an den
Tagen der großen Opfer sexuelle Ausschweifungen schlimmster
Art mit Müttern, Schwestern, Töchtern, Kindern und Kebs-
weibern statt, und beim „Akhataymitafeste“ der alten Peruaner
endigte die religiöse Feier mit einem Wettlauf zwischen voll-
ständig nackten Männern und Weibern, wobei jeder ein Weib
einholende Mann sofort den Beischlaf mit ihr ausübte.21)
Auch ins Christentum fand die sexuelle Mystik Eingang.
Wenn der berühmte Philologe Usener in seiner Arbeit über
„Mythologie“ mit Bezug auf diese Dinge sagt: „Das ganze
Heidentum zog in das Christentum ein“, so war es nicht nach
Unserer Auffassung das „Heidentum“, sondern Urerschei-
nungen der primitiven Menschennatur, der uralte
Zusammenhang zwischen Religion und Sexualität, der sich auch
im Christentum, mit Naturnotwendigkeit zeigen mußte.
So treffen wir denn bis auf den heutigen Tag die-
selben eigentümlichen Offenbarungen der Sexualmystik auch bei
den verschiedenen christlichen Konfessionen, nicht bloß im
Katholizismus, an.
Schon die juden-christliche Sekte der Sarabaiten im vierten
19) E. Hardy a. a, O., S. 125.
20) Sei Ion, Annotations etc. S. 30.
21) Ploß-Bartels, a. a. 0. I, S. 608,:
118
Jahrhundert beschloß ihre religiösen Feste mit wilden sexuellen
Ausschweifungen, die Gassi anus in drastischer Weise schildert.
Sie bestand bis zum neunten Jahrhundert. Auch die spätere
christliche Sektengeschichte ist erfüllt von diesem religiös-sexuellen
Element. Religiöse und geschlechtliche Inbrunst decken sich,
gehen ineinander über, steigern sich gegenseitig. Ich erwähne
nur die in der Kulturgeschichte so bekannten und von vielen
neueren Forschern untersuchten und beschriebenen religiös-ero tisch-
orgiastischen Feiern der Nikolaiten, der Adamiben, der Valesianer,
der Karpokratianer, der Epiphanier, Kainiten und Manichäer.
Dixon hat in seinen „Seelenbräuten“ besonders die sexuellen
Ausschweifungen neuerer protestantischer Sekten, wie der Mucker
von Königsberg, der „Erweckten“, der Fox sehen Spiritualisten
von Hydesville usw. beschrieben. Allbekannt ist ja auch die
eigentümliche Verquickung des Sexuellen mit dem Religiösen im
Mormonismus, wo Vielweiberei ein religiöses Gebot ist.
Nicht bloß Katholizismus und Protestantismus weisen solche
Erscheinungen auf, auch in der griechischen Kirche treibt die
sexuelle Mystik die seltsamsten Blüten. Leroy-Beaulieu
berichtet über die russische Sekte der „Skakuny“ oder Springer,
die bei ihren nächtlichen Zusammenkünften sich durch Hüpfen
und Springen, wie die tanzenden Derwische des Islam, in
eine erotisch-religiöse Ekstase versetzen. Ist die Raserei am
größten, dann greift in allgemeiner Vermengung der Geschlechter
eine schamlose Unzucht Platz, wobei auch Blutschande getrieben
wird.22)
Wie sehr spukt noch, ganz abgesehen von diesem Sekten-
wesen, der religiös-sexuelle Empfindungskomplex in der Vor-
stellung der heutigen wirklich frommen Christen. Die Idee einer
„Unio mystica“ zwischen dem Menschen und der Gottheit macht
sich überall geltend.23) Albrecht Dieterich hat in seinem
gelehrten Werke „Eine Mithrasliturgie“ reiches kulturgeschicht-
liches Material über diese mystische Hochzeit beigebracht. Schon
die ältesten heidnischen Kulte kennen die Liebesvereinigung als
das Bild der Einigung der Menschen mit Gott und eine ganz
22) Vgl. H. Beck, Des Grafen Leo Tolstoi Kreutzersonate usw.
Leipzig 1898, S. 5.
23) Vgl. „Mystische Hochzeiten“ in: Vossische Zeitung 370 vom
9. August 1904.
119
hervorragende Rolle spielt das Bild vom Bräutigam und dem
Hochzeitsmahl im Neuen Testament. Christus ist der „Bräutigam“
der Kirche, diese seine „Braut“. Fromme Mädchen und Nonnen
wiederum nennen sich gern Bräute Christi. Dieser ekstatischen
Vereinigung liegt stets die geschlechtliche als Vorbild zugrunde.
Augustinus sagt: „Wie ein Bräutigam tritt Christus aus
seinem Thalainos, in der Hochzeitsstimmung beschneitet er das
Feld der Welt.“
Das Mittelalter bietet in der Ausschmückung der mystischen
Hochzeit in Literatur, Theologie, Visionen und bildender Kunst
unendlich viel. Besonders die heilige Katharina von Siena
und die heilige Therese waren für letztere dankbare Objekte.
Der Barockkünstler Bernini hat aus der heiligen Therese in
der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom eine wahre
moderne Alkovenszene gemacht, so daß ein geistvoller französischer
Spötter, der Präsident de Brosses, davon sagte: „Ah, wenn,
das die göttliche Liebe ist, dann kenne ich sie!“
Als am 8. Oktober 1900 Crescentia Höß aus Kaufbeuren
in der Peterskirche selig gesprochen wurde, war ein Gemälde
zur Stelle, das die mystische Hochzeit der neuen Seligen mit
dem Heiland darstellte. Darüber stand lateinisch: „Unser Herr
Jesus Christus überreicht der Jungfrau Crescentia unter Beistand
der heiligsten Gottesmutter und in Gegenwart ihres Schutzengels
als Brautführers den Ring und verlobt sie sich.“ Auch die Nonne
tritt als Braut vor den Altar, um sich für ewig mit Christus
zu vermählen, und im Volksleben findet sich eine noch realistischere
Veranschaulichung der mystischen Hochzeit. Da das ehelose
Priestertum dem Bauer trotz aller Achtung, die er vor dem geist-
lichen Stande hat, etwas Fremdes, Unverständliches bleibt, so
stellte man die Primiz, die Feier des ersten Meßopfers, als eine
Hochzeit dar, die der hochwürdige Primiziant mit der Kirche
feiert, zu welchem Zwecke sich diese durch ein mehr oder minder
junges Mädchen vertreten läßt. Das ist heute noch Volksgebrauch
in Baden, Bayern und Tirol. Bei dieser, der Poesie nicht ent-
behrenden Zeremonie, die F. P. Piger in der „Zeitschrift des
Vereins für Volkskunde 1899“ anschaulich schildert, machen die
anwesenden Bauernburschen die derbsten und anzüglichsten Witze
und ziehen nach derselben mit der „geistlichen“ Braut in ein
Wirtshaus, wo „man sich vor den geistlichen Herren nicht zu
genieren braucht“.
120
Wie nahe in diesen mystischen Vereinigungen und Ver-
mählungen Sexualität und Religion sich berühren, hat Ludwig
Feuerbach in seiner Abhandlung „Ueber den Marienkultus“
(Sämtliche Werke, Leipzig 1846, Bd. I, S. 181—199) nachgewiesen.
Einen sehr interessanten Beleg dafür liefert auch das folgende
religiöse Lied in einem unter der weiblichen Bevölkerung Frank-
reichs einst weit verbreiteten poetischen Erbauungsbuche („Les
Perles de saint François de Sales, ou les plus helles pensées
du bienheureux sur l’amour de Dieu“, Paris 1871):
Vive Jésus, vive sa force,
Vive son agréable amorce!
Vive Jésus, quand sa bonté
Me réduit dans la nudité;
Vive Jésus, quand il m’appelle:
Ma soeur, ma colombe, ma belle!
Vive Jésus çn tous mes pas,
.Vivent ses amoureux appas!
Vive Jésus, lorsque sa bouche
D’un baiser amoureux me touche !
Vive Jésus quand ses blandices
Me comblent de chastes délices I
Vive Jésus lorsque à mon aise
Il me permet que je le baise !
Neben der religiösen Prostitution und der Sexualmystik
weisen noch zwei andere religiöse Erscheinungen innige Be-
ziehungen zum Geschlechtsleben auf, ja sind zum Teil sexuellen
Ursprungs: die Askese und der Hexenglauben.
Beide sind nicht, wie ebenfalls von oberflächlichen Autoren
immer noch behauptet wird, dem christlichen Glauben eigentüm-
lich, nicht das Christentum allein hat den Eros vergiftet, wie
Nietzsche sagt, sondern es sind allgemeine kultur-
geschichtlich - anthropologische Konzeptionen,
die aus einer primitiven glühenden religiösen Empfindung ent-
springen.
In welcher Weise hängt die Wertschätzung der „Askese“,
d. h. die Vorstellung, daß das irdische und ewige Heil in der
vollständigen geschlechtlichen Enthaltsamkeit
liege, mit dem religiösen Gefühl zusammen ? Religion ist die
Sehnsucht nach dem Ideal, der Glaube an Vervollkommnung.
121
Solchem Glauben muß der Geschlechtstrieb und alles, was damit
zusammenhängt, als größtes Hindernis der Verwirklichung des
Ideals erscheinen, weil nirgends die Disharmonie des Daseins
so sehr fühlbar wird, wie im sexuellen Leben.
Im fünften Kapitel seiner „Studien über die Natur des
Menschen“ hat Metschnikoff alle die zahlreichen Dis-
harmonien in der Organisation und Funktion des Fortpflanzungs1-
apparats zusammenstellt, unter denen ja auch der wissend
gewordene moderne Mensch so sehr leidet. Zu diesen disharmo-
nischen Phänomenen im Sexualleben rechnet Metschnikoff
U. a. die so peinliche, schmerzhafte und imästhetische menstruelle
Blutung des menschlichen Weibes, die schon von allen primitiven
Völkern als etwas Unreines, Böses betrachtet wurde, ferner die
Leiden der Niederkunft, den Mißklang zwischen der Pubertät
und der allgemeinen Seife des Organismus, die später eintritt
als jene, die zeitlich ungleichmäßige Entwicklung der ver-
schiedenen Teile der Geschlechtsfunktionen, die z. B. Onanie nocli
vor der Bildung von Spermatozoen zur Folge hat, den großen
zeitlichen Abstand zwischen dem Eintreten der Geschlechtsreife
und der Eheschließung, die zahlreichen disharmonischen Er-
scheinungen bei der Abnahme der Zeugungsfähigkeit im höheren
Alter, wo starke spezifische Erregbarkeit und sexuelles Empfinden
so oft die Begattungsfähigkeit überdauern, endlich die Dis-
harmonien im sexuellen Verkehr zwischen Mann und Frau.
Nach Metschnikoff ist diese Disharmonie des Sexual-
lebens vom zartesten bis zum vorgerücktesten Alter die Quelle
so vieler Uebel, daß fast alle Religionen die Geschlechtsfunktionen
streng beurteilt und verurteilt und die Enthaltung vom Koitus
als bestes Mittel zur harmonischen und idealen Gestaltung des
Lebens empfohlen haben.
Hinzu kommt der schon vom primitiven Menschen tief-
empfundene Gegensatz zwischen Geist und Materie; das Sexuelle,
als das Höchstsinnliche und als intensivster Ausdruck des mate-
riellen Daseins wurde als das unreine Element dem Geistigen ent-
gegengesetzt, das zugunsten des letzteren bekämpft, überwunden
Und womöglich ausgerottet werden müsse. Schon die erste be-
friedigte Wollust reichte hin, den Menschen für immer aus dem
„Paradiese“, d. h. dem höchsten geistigen Sein, zu vertreiben.
Neben dem Gelübde der Armut ist daher die geschlechtliche
Abstinenz, der Kampf gegen das „Fleisch“ („caro“ der alten
122
Kirchenväter bezeichnet stets die Genitalien) der vornehmste
psychologische Charakterzug der Askese.
Was ist aber die notwendige Folge dieses beständigen
Kampfes gegen den Geschlechtstrieb ? Wenn Weininger
behauptet (Geschlecht und Charakter, 2. Aufl. Wien 1904, S. 469):
„Die Verneinung der Sexualität tötet bloß den körperlichen
Menschen, und ihn nur, um dem- geistigen erst das volle Dasein
zu geben,“ so ist das ganz falsch und zeugt von einer höchst
mangelhaften Kenntnis der menschlichen Natur. Denn die „Ver-
neinung der Sexualität“' ist wahrlich der am wenigsten geeignete
Weg, um dem geistigen Menschen das volle Dasein zu geben.
Ebensowenig vermag sie den körperlichen zu vernichten. Im
Gegenteil. Denn um den übermächtigen, in jedem Menschen zeit-
weilig intensiv gesteigerten Sexualtrieb niederzukämpfen und
auszurotten, mußte der Asket immer vor ihm auf der
Hut sein, d. h. immer an ihn denken. So kam er dahin,
sich mehr mit dem Geschlechtstrieb zu beschäftigen, als der
normale Mensch für gewöhnlich zu tun pflegt. Dies wurde noch
begünstigt durch die freiwillige Weltflucht des Asketen,
durch das beständige Leben in der Einsamkeit, was der Ent-
stehung von Halluzinationen und Visionen sehr förderlich ist
und nur durch ein als natürliche Reaktion anzusehendes üppigeres
Phantasie- und Sinnesleben einigermaßen erträglich wird. Denn
Nous naissons, nous vivons pour la société:
A nous-mêmes livrés dans une solitude
Notre bonheur bientôt fait notre inquiétude.
(Boileau, Satire X.)
Diese „inquiétude“, diese intensive Steigerung des Nerven-
lebens in jeder Beziehung machte sich nun ganz besonders auf
geschlechtlichem Gebiete bemerkbar. Visionen sexueller Natur,
erotische Versuchungen, Kasteiungen des Fleisches in Form der
Selbstgeißelung, Selbstentmannung und Verstümmelung der Ge-
schlechtsteile sind charakteristische asketische Erscheinungen.
Auf der anderen Seite führte die übertriebene Schätzung und
Erhöhung des rein Geistigen nicht nur zu einer Sündhaft-
erklärung und Erniedrigung der Materie, sondern auch
direkt zu geschlechtlichen Ausschweifungen, da
viele Asketen-Sekten erklärten, was mit dem an sich schon sünd-
haften Körper geschehe, sei gleichgültig, jede Befleckung desselben
123
sei erlaubt. Hieraus erklärt sich die merkwürdige Tatsache des
Vorkommens von natürlicher und widernatürlicher
Unzucht bei zahlreichen asketischen Sekten!
Geschlechtliche Kasteiung und geschlechtliche Ausschweifung:
das sind die beiden Pole, zwischen denen sich das Leben des
Asketen bewegt, das also in jedem Falle eine starke sexuelle
Beimischung aufweist. Die Askese ist dann oft nur das Mittel,
sich den sexuellen Genuß in einer anderen Form und in intensiverer
Weise zu verschaffen.
Die Askese ist so alt wie die menschliche
Religion und auf der ganzen Erde verbreitet. Wir
finden einzelne Asketen bei vielen wilden Völkern, asketische
Sekten besonders unter den alten und neuen Kulturvölkern, in
Babylon, Syrien, Phrygien, Judäa, selbst im präkolumbischen
Mexiko und am meisten entwickelt in Indien, im Islam und im
Christentum.
Die die potenzierte Selbstzucht, „yoga“, fordernde indische
Sämkhya-Lehre, die auf dem Gegensätze von Geist und Materie
beruht, führte zur Aufnahme der Askese in den Buddhismus und
die Jaina-Religion, auch zur Gründung asketischer Sekten, wie
der „Acelakas“, der „Ajivakas“, der „Suthres“ oder „Reinen“,
die nach Hardy „durch ihr Leben ein Hohn auf ihren Namen
sind“. In höchster Steigerung findet sich das Yogintum bei den
sivaitischen Sekten des 9. bis 16. Jahrhunderts, die neben wilder
Befriedigung der rohesten sinnlichen Triebe auch die Askese bis
zur Selbstpeinigung ausgestalteten.
Im Islam zeigt die Sekte der Sufis besonders die Verbindung
von Sexualismus und Askese, aber erst das Christentum hat die
Asketik zu einem förmlichen System ausgebildet und die extremsten
Konsequenzen daraus gezogen. Nur der Nahrungstrieb war dem
ältesten Christentum etwas Natürliches, der Geschlechtstrieb ver-
schlechterte Natur, die physische und seelische Entmannung ein
schon in Schriften des neuen Testamentes empfohlenes Ideal.
Schon im zweiten nachchristlichen Jahrhundert entmannten sich
viele Christen freiwillig und im 4. Jahrhundert mußte sich das
Konzil zu Nicäa mit dem Ueberhandnehmen dieser asketischen
Unsitte und den antiken Vorgängern der heutigen Skopzen be-
schäftigen.24)
24) Vgl. Adolf Harnack, Medizinisches aus der ältesten
Kirchengeschichte, Leipzig 1892, S. 27—28, S. 52.
Zahlreiche Asketen und Heiligen zogen sich in die Einsam-
keit zurück, um durch Kasteiung des Leibes das Heil zu er-
reichen. Aber es ist sehr bezeichnend, daß sie alle fast nur
im Geschlechtlichen lebten und webten und auf die
oben erklärte Weise dazu kamen, sich mit allen das Sexualleben
betreffenden Fragen unaufhörlich zu beschäftigen.
Die Schriften der Heiligen sind voll von solchen Beziehungen
auf die Vita sexualis und daher eine ergiebige Quelle für die
Sittengeschichte des Altertums. Nichts interessiert diese Asketen
so sehr, als das Leben der Prostituierten, als die sexuellen Aus-
schweifungen der Unfrommen. Viele Legenden erzählen von den
Bemühungen der Heiligen, Freudenmädchen ihrem Berufe zu
entreißen und einem heiligen Leben zuzuführen, und das Werk
von Charles de Bussy „Les Gourtisanes saintes“ zeugt von
dem Erfolg dieser Bemühungen. Der hl. Vitalius besuchte
jede Nacht die Bordelle, gab den Dirnen Geld, damit sie nicht
sündigten und betete für ihre Bekehrung.
So diente dem, beständig das Sexuelle in Gedanken um-
kreisenden Asketen die Kasteiung, Selbstgeißelung und Selbst-
entmannung nur dazu, um die eigne Vita sexualis immer mehr
auf krankhafte, perverse Bahnen zu führen. Die monströsen
geschlechtlichen Visionen der Heiligen spiegeln in
typischer Weise die Unglaubliche Heftigkeit der sexuellen
Empfindungen der Asketen wieder. Wie fern war, um mit
Augustinus zu sprechen, diesen Unglücklichen die „heitere
Klarheit der Liebe“, wie nahe das „Düster der Sinnenlust“ I Diese
Visionen, diese „falschen Bilder“ verlockten den „Schlafenden“
zu etwas, wozu ihn wirkliche beim Wachen nicht verführen
konnten (Augustinus, confessiones, X, 30). Gestalten von
schönen nackten Weibern, mit denen übrigens die Asketen sich
oft, um sich zu prüfen, auch in Wirklichkeit umgaben, er-
schienen ihnen im. Traume, fetischistische und symbolistische
Visionen erotischer Natur plagten sie und führten zu den
heftigsten sinnlichen Anfechtungen, die sich in den Sekten der
Valesianer, Marcioniten und Gnostiker zu sexuellen Aus-
schweifungen steigerten. Marcion, der Stifter der nach ihm
benannten Sekte, predigte Enthaltsamkeit, behauptete aber, daß
geschlechtliche Ausschweifungen für die Erlösung kein Hindernis
abgeben könnten, da ja die Seelen allein nach dem Tode auf-
erständen I Die Gnostiker schwankten zwischen Unbedingter
125
Ehelosigkeit und unters chiedsloser Ges ch lechts gerne in s ch af t hin
und her. Noch im 19. Jahrhundert führte eine asketische Mystik
die protestantische Sekte der Königsberger Pietisten zu den
gröbsten sinnlichen Exzessen.
Aus der Askese ging das Mönchstum und Kloster-
wesen hervor, auf das sich die obigen Betrachtungen in jeder
Weise anwenden lassen. Die nicht wegzuleugnende Unzucht in
den mittelalterlichen Klöstern, die in der Benennung der Bordelle
als „Abteien“ und vor allem im Volkslied und der Volkserzählung
ihren bezeichnendsten Ausdruck fand, läßt ebenfalls die Be-
ziehungen zwischen religiöser Askese und Vita sexualis deutlich
erkennen.
Die Idee der Askese hat bis zur Gegenwart ihre Anziehungs-
kraft auch für gewisse Geister außerhalb der Kirche nicht ver-
loren. Aber der Charakter und Ursprung dieser modernen
Asketik ist ein anderer. Wir verstehen ihn, wenn wir uns an
den Ausspruch Otto Weiningera, dieses typischen Vertreters
der „modernen“ Asketik, erinnern, daß nicht der Mann die
schlechteste Meinung von den Frauen bekäme, der am wenigsten,
sondern vielmehr jener, der am meisten Glück bei ihnen gehabt
hat (Geschlecht und Charakter, S. 315).
Die Asketen des ältesten Christentums verneinten zuerst die
Sexualität, z. B. durch Selbstentmannung, durch Flucht in die
Einsamkeit, um sie dann um so stärker zu bejahen. Unsere
modernen fin de siècle-Asketen, vor allem die drei erfolgreichsten
literarischen Apostel der Askese, Schopenhauer, Tolstoi
und Weininger, bejahten zuerst in recht intensiver Weise
ihre Sexualität, um sie dann erst um so gründlicher zu verneinen.
Sie lernten die Wollust nicht bloß in der Idee, sondern auch in
Wirklichkeit kennen. Deshalb haben sie uns auch wertvollere
Aufschlüsse über ihre Natur und ihre Bedeutung im Leben des
einzelnen Menschen gegeben, als wir sie aus den Visionen alt-
christlicher Asketen empfangen können. Vor allem gilt das von
Schopenhauer und Tolstoi.
Schopenhauer hat erst die ganze Tragik der Wollust,
den Dämon des Geschlechtstriebes, die „Feindschaft“ der Liebe
(eigene Aeußerung zu Challemel-Lacour) am eignen Leibe
empfinden müssen, ehe ihm die volle Bedeutung der asketischen
Idee aufging. Seine Asketik hängt mit seiner Sinnlichkeit und
126
den Folgen ihrer Betätigung aufs engste zusammen- Ich glaube
neuerdings einen stringenten Beweis dafür durch Veröffentlichung
einer bisher imbekannten eigenhändigen Niederschrift des Philo-
sophen geliefert zu haben,25 26) aus der seine syphilitische Er-
krankung mit Sicherheit hervorgeht. Hieraus wieder erklärt
sich die enge Beziehung, die Schopenhauer zwischen der
„wunderbaren venerischen Krankheit“ und der Asketik statuiert.
Aus seinen verschiedenen Aeußerungen über die Syphilis und vor
allem der Tatsache der eignen syphilitischen Erkrankung ergibt
sich die Bedeutung, die die Syphilis für die Konzeption seiner
asketischen Anschauung hatte, die unter dem unmittelbaren
Einflüsse seiner Erlebnisse, Leiden und Leidenschaften sich ent-
wickelte, während im Alter, wo der Dämon des Geschlechtstriebes
und die unseligen Folgen des letzteren ihn nicht mehr quälten,
eine deutliche eudämonistische Färbung in seinem Denken
sich zeigt.
Auch Tolstoi bekennt unverhohlen, wie sehr er durch die
Wollust gelitten. „Ich weiß,“ sagt er, „wie sie alles verdeckt,
alles für eine Zeit vernichtet, wovon das Herz und die Vernunft
lebten.“ Die Unenthaltsamkeit der Männer ist nach ihm die
Ursache der Sinnlosigkeit des Lebens. Tolstois Auffassung
der Asketik deckt sich aber keineswegs mit der altchristliohen,
buddhistischen und Schopenhauerischen Askese. In dem schönen
Ausspruch: Nur mit der Frau kann man die Keuschheit verlieren,
nur mit ihr kann man sie wahren, liegt das Zugeständnis, daß
absolute Keuschheit ein unerreichbares Ideal ist, und daß der
Mensch nur eine relative Askese erreichen kann. Man sollte
sich an diese Aussprüche in den keineswegs systematisch durch-
gebildeten Lehren Tolstois halten und nicht an seine ver-
rückte Lehre von der Unkeuschheit der Ehe. Später werden wir
bei Erörterung der sogenannten „Enthaltsamkeitsfrage“ auf diese
Idee einer relativen Enthaltsamkeit und das Gute, das in ihr
liegt, zurückkommen.
Ganz zum Begriffe der altchristlichen Askese kehrt der ohne
Zweifel stark pathologische Weininger zurück. Nach ihm
25) Iwan Bloch, Schopenhauers Krankheit im Jahre 1823
(Ein Beitrag zur Pathographie auf Grund eines unveröffentlichten
Dokumentes), Vortrag in der Berliner Gesellschaft für Geschichte der
Naturwissenschaften und Medizin am- 15. Juni 1906. Abgedruckt in:
Medizinische Klinik 1906, No. 25 und 26.
127
„widerspricht der Koitus in jedem Falle der Idee der Mensch-
heit“ ! Die Sexualität erniedrigt den Menschen. Die Fortpflanzung
und Fruchtbarkeit ist „ekelhaft“.26) Der Mensch ist nur deshalb
unfrei, weil er auf unsittliche Weise entstanden ist! Der Mann
negiert in der Frau immer wieder die Idee der Menschheit.
Verneinung, Ueberwindung der Weiblichkeit ist das, worauf es
ankommt. Da alle Weiblichkeit Unsittlichkeit ist,
so muß das Weib auf hören, Weib zu sein, und
Mann werden !27)
Georg Hirth hat das Weinin ge r sehe Buch als ein
„unerhörtes Verbrechen an der Menschheit“ bezeichnet.28) Da es
sich aber, wie Probst in seiner psychiatrischen Studie über
Weininger mit Evidenz nachgewiesen hat, um das Werk
eines Geisteskranken handelt, so kann dem Verfasser dieses Ver-
brechen jedenfalls nicht zugerechnet werden. Bedauerlich ist nur,
daß so viele Leser durch geistreiche Einzelheiten in dem Buche
sich dazu verführen ließen, Weininger als „Denker“ ernst
zu nehmen oder gar mit dem bizarren August Strindberg
zu glauben, daß hier „das schwerste von allen Problemen“
gelöst sei!
Sehr bedeutsam und bis zur Gegenwart nachwirkend sind
die Beziehungen zwischen religiösem und geschlechtlichem Fühlen
imHexenglaube n,29) dieser merkwürdigen Symbolisierung und
Verzerrung der Weiblichkeit, dieser in die fernste Urzeit zurück-
reichenden Hauptquelle aller Misogynie und Weiberverachtung,
an die man unsere modernen Weiberhasser nicht oft genug er-
innern kann, um ihnen die ganze Sinnlosigkeit, das Primitive
und Atavistische ihrer Anschauungsweise klar zu machen.
26) Bezeichnenderweise spricht in Uebereinstimmung mit dem
asexuellen Weininger der hypersexuelle Marquis de Sade be-
ständig diesen gleichen Gedanken aus.
27) Vgl. das Kapitel „Das Weib und die Menschheit“ in: ^Ge-
schlecht und Charakter“, S. 453—472.
28) G. Hirth, Wege zur Liebe, S. 219. — Vgl. auch die treffenden
Ausführungen von Grete Meisel-Hess, Weiberhaß und Weibei'-
verachtung, Wien 1904.
29) Vgl. auch die gründliche Untersuchung über Hexenwahn und
Hexenwesen bei Graf von Hoensbroech, Das Papstthum in
seiner sozial-kulturellen Wirksamkeit, 3. Aufl., Leipzig 1901, Bd. I,
S. 380-599.
128
Auch hier muß zunächst dem Irrtum entgegengetreten werden,
als ob der Hexenglaube ein spezifisch christliches Erzeugnis sei.
Zur Verbreitung dieser falschen Anschauung hat vor allem das
berühmte Werk von J. Michelet „La sorcière“ beigetragen, in
dem die Hexe als eine christlich-mittelalterliche Erfindung hin-
gestellt wird.
Aber die christliche Religion ist als solche an dieser
Schöpfung genau so unschuldig wie alle übrigen Konfessionen.
Der Hex englauben mit seiner religiös-sexuellen
Grundlage ist eine primitive, allgemein anthro-
pologische Erscheinung, ein Inventar, der menschlichen
Urgeschichte, entsprungen aus uralten Beziehungen zwischen
religiöser Magie und Geschlechtsleben.
„Ein tiefer gehender Blick in das Gebiet der Seelenlehre,“
sagt G. H. von Schubert, „läßt uns eine geheime Verbindung
zwischen den Regungen des tierisch fleischlichen Geschlechtstriebes
und der Empfänglichkeit für die magischen Zustände der Menschen-
n,atur nicht nur vermuten, sondern mit großer Sicherheit erkennen.
Wir stehen hier an einer Tiefe des Abgrundes, in welcher
sich die Lust des Fleisches zu einer Lust der Hölle entzündete
und in welcher das Fleisch mit allen ihm innewohnenden Kräften
der Sünde und des Todes seine höchsten Triumphe feierte über
den von Gott ihm zum Herrscher bestimmten Geist.“30)
Der Animismus des Urmenschen und des heutigen Natur-
menschen erblickt in allen furchtbaren, sein innerstes Dasein auf-
rüttelnden und erschütternden Naturerscheinungen die Aeußerung
und die Tat von Dämonen und Zauberern. Einwirkung eines
Dämons ist auch die Brunst, die den Urmenschen zum Weibe
zieht, und bald nahm das Weib selbst für ihn etwas
Unhe imliches, Zauberisches an. Seinen Ursprung leitet
der Hexenglaube aus dem Geschlechtstrieb ab, und stets
blieb die Zauberei mit dem Geschlechts trieb in
irgend einer Form verknüpft.
Diesen sexuellen Ursprung des Hexenglaubens und Magier-
tums hat der berühmte Ethnograph K. Fr. Ph. v. MartiuS;
nach seinen Beobachtungen bei den Eingeborenen Zentralbrasiliens
genau geschildert. „Alle Zauberei kommt aus der
so) Gotthilf Heinrich von Schubert, Die Zauberei-
sünden in ihrer alten und neuen Form, Erlangen 1854, S. 25..
129
Brunst,“ sagte ihm ein alter Indianer. Die Magie pflanzt
sich durch Geschlechtslust fort, und wird nach Martius bei
primitiven Völkern so lange herrschen, als diese nicht
keusch werden.81) Geheime Kunst, Wollust und unnatürliche
Laster sind voneinander unzertrennlich. Das beweist die ganze
Kultur- und Sittengeschichte der Menschheit. Bei den brasilia-
nischen Eingeborenen spielt der „Pajé“ oder „Piache“, der Zauberer
dieselbe Rolle wie die christliche Hexe des Mittelalters.
Zauberer und Hexen sind vor allem auf sexuellem Gebiete
erfahren, der Volksglaube denkt immer zuerst hieran. Die Hexen
des ältesten Roms gleichen denen des Mittelalters in bezug auf
ihren bösen Ruf in geschlechtlicher Beziehung. Nach J. Frank
kommt das Wort Hexe von „hagat“ = Lotterweib. Die wesent-
lich von Männern formulierte asketische Anschauung des Mittel-
alters sah im Weibe die Verführerin zur sinnlichen, sündhaften
Lust, die Personifikation des Bösen, die „janua diaboli“ und
schließlich die Teufelin und Hexe selbst, deren Wesen das
Obszöne und Geschlechtliche ist. Die Lehren von der Erbsünde
und der unbefleckten Empfängnis hatten gewiß einen großen
Anteil an dieser Auffassung des Weibes.
Der Begriff des Weibes als Hexe drehte sich fast nur um
das Geschlechtliche, das meist als „TeufeIsbuhlsehaft“
(vgl. über diese W. G. Soldán, Geschichte der Hexenprozesse,
Stuttgart 1843, S. 147—159) vorgestellt wurde, wobei das sexuell
Perverse die Hauptrolle spielte, da statt des einfachen Verkehrs
die scheußlichste widernatürliche Unzucht angenommen wurde.
Holzinger hat ¿n seinem gediegenen Vortrag über die
Naturgeschichte der Hexen den Geistes- und Sittenzustand der
Zeit, die solche Ideen hervorbrachte, mit wenigen, aber treffenden
Worten charakterisiert:
„Während im 15. und im Anfänge des 16. Jahrhunderts, was
Kenner der damaligen Sittenzustände zu bestätigen wissen, in
sexueller Beziehung eine nahezu schrankenlose Freiheit herrschte,
wollten damals Staat und Kirche auf einmal, vereint durch äußere
Macht und religiösen Zwang, im Volke durchgehend eine bessere
Zucht erzwingen. Eine solche forcierte Umwälzung in einem so
vitalen Punkte mußte notwendig eine Reaktion der schlimmsten 31
31) K. Fr. v. Martius, Das Naturell, die Krankheiten, das Arzt-
tum und die Heilmittel der Urbewohner Brasiliens, München 1843,
S. 111—113.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—GO. Tausend.)
9
130
Sorte erzeugen, und den zu unterdrücken versuchten Trieb auf
geheime Auswege drängen. Und das geschah mit elementarer
Macht. Eine allgemeine, vor nichts zurückschreckende, oft toll-
kühne geschlechtliche Vergewaltigung und Verführung, bei der
überall der Teufel helfen mußte, der nun einmal der ganzen
Welt im Kopfe steckte, die wilde Lust von Wüstlingen an ge-
heimen bacchanalischen Versammlungen und Orgien, bei deren
vielen sie mit oder ohne Vermummung ebenfalls die Kölle des
Satans spielen mochten, die Schandtaten aufgeregter Weiber
und zu jeder verbrecherischen Nichtswürdigkeit bereiter Kupple-
rinnen und Buhldirnen, dazu das weitverzweigte Gespinst einer
vollkommen entwickelten Hexentheorie und die systemgemäße
Bestärkung des allgemein grassierenden Teufelsglaubens durch den
Klerus... Dieses alles in einem labyrinthisch ineinander f ühren-
den Zusammenhänge, machte es möglich, daß Tausende, und
Tausende von der Justiz gemordet, dem Wahne zum Opfer fielen.“
Das Studium der Hexenprozesse des Mittelalters und der
Neuzeit, da bekanntlich bis in die siebziger Jahre des 19. Jahr-
hunderts (!!) solche stattfanden,32) würde ohne Zweifel wertvolle
kulturgeschichtliche Beiträge zur Lehre von der Psychopathia
sexualis liefern und zugleich auf die Entstehung geschlechtlicher
VerirruDgen ein bedeutsames Licht fallen lassen.
Wie viel geschlechtlich Abnormes geht auch heute noch
aus demselben allgemein menschlichen, abergläubischem, dunklem,
aus religiöser Mystik und sexueller Brunst gemischtem Drange
hervor, der den mittelalterlichen Hexenglauben zu einer so großen
Blüte entwickelte !
Es war, wie Michel et in seinem klassischen Werke zur
Evidenz nachgewiesen hat, die auf sexuelle Abwege ge-
ratene religiöse Phantasie, die sich zu einem großen
Teile im Hexenglauben Luft machte und hier zu den scheuß-
lichsten Verirrungen gelangte, hauptsächlich solchen sadistischer
Natur.
32) Nach Holzinger wurden, am 20. August 1877 zu
St. Jacobo in Mexiko fünf Hexen lebendig verbrannt! Da „setzten
sich entrüstet Hunderte von Federn in Bewegung, um den furcht-
baren Anachronismus zu brandmarken“. Noch 1875 veröffentlichte
Friedrich Nippold in den von Holtzendorff und O n c k e n
herausgegebenen „Deutschen Zeit- und Streitfragen“ eine Abhandlung
über die gegenwärtige Wiederbelebung des Hexenglaubens.
131
"Wie der Aberglauben, so steckt aucli der sexuell-religiöse
Draeg des Mittelalters noch, heute in vielen Menschen und
ruft sexuelle Anomalien hervor.
Außer der Askese und dem Hexenglauben liefert auch die
theologische Literatur zahlreiche Belege für die Beziehungen
zwischen Religion und Sexualität.
In einer vor sechs Jahren veröffentlichten Abhandlung33)
habe ich auf die große Rolle hingewiesen, die geschlechtliche
Fragen in der sogenannten Pastoralmedizin spielen, d. h.
in jenen theologischen Schriften, in denen die einzelnen Tat-
sachen und Fragen der Medizin vom kirchlichen Standpunkt aus
untersucht und ihr Verhältnis zum Dogma festgestellt wird.
Wir finden hier die theologische Kasuistik in bezug auf
alle möglichen Fragen der Vita sexualis auf die Spitze getrieben,
die Erfahrungen des Beichtstuhles in einer merkwürdigen Weise
verwertet, die religiöse Phantasie in einer eigenartigen Ver-
bindung von Scholastik und Sinnlichkeit auf dunklen Gebieten
menschlicher Verirrungen umherschweifend.
Die äußerliche Veranlassung zur theologischen Behand-
lung sexueller Fragen boten teils Geständnisse perverser
Individuen im Beichtstühle, teils öffentliche Skandale. In beiden
Fällen suchte die Kasuistik gewisse Normen für die Beurteilung
der verschiedenen, das Geschlechtsleben berührenden Dinge vom
religiösen Standpunkt aus festzustellen. Das wäre aber nicht
möglich gewesen und in diesem Umfange nicht geschehen, wenn
nicht zugleich eine innere Veranlassung in den nahen Be-
ziehungen zwischen Sexualislnus und Religion Vorgelegen hätte.
So nur ist die Entwicklung einer riesenhaften sexuell-
kasuistischen Literatur in der Theologie, speziell der
Pastoralmedizin, zu erklären. Das Verständnis für diese Tat-
sachen ermöglicht nicht die erbitterten, von konfessionellem
Vorurteil eingegebenen Tiraden der Kulturhistoriker, sondern
nur die Darlegungen des Arztes und Anthropologen, der
diese Dinge in dem oben skizzierten großen Zusammenhänge be-
trachtet und die Beziehungen zwischen Religion und Geschlechts-
leben als allgemein menschliche erkannt hat, nicht als künst-
liche Produkte irgend einer bestimmten Geistesrichtung. Gerade 83
83) Ivraa Bloch, lieber den Begriff einer Kulturgeschichte
der Medizi*, in: Die medizinische Woche 1900, No. 36.
9*
132
die häufigen Bemühungen, der katholischen Kirche, die ärgsten
Auswüchse auf diesem Gebiete zu beseitigen, ohne daß es je
gelungen ist, sie ganz zu vernichten, lehren, daß diese Dinge
mit dem Wesen der Religion Zusammenhängen.
Es gibt keine sexuelle Frage, die nicht von den theologischen
Kasuisten34) in subtilster Weise erörtert worden ist, so daß ihre
Schriften uns zugleich ein lehrreiches Bild der Phantasie-
tätigkeit auf geschlechtlichem Gebiete geben.
Die höchst detaillierte, bis ans Zynische streifende Er-
örterung darüber, bis zu welchem Grade sexuelle Berührungen
erlaubt seien, rief den Namen „théologiens mammillaires“ hervor,
weil einige, wie Benzi und Rousselot, die ,,tatti mam-
millari“ gebilligt hatten. Diese Lehre verdammte Papst
Benedikt XIV., ein Beweis, daß die katholische Kirche als
solche durchaus nicht diese Dinge gebilligt hat.
In Antonio Maria Clarets, des Erzbischofs von Kuba,
„Goldenem Schlüssel“ („Llave de Oro“), in Debreynes „Moe-
chialogie“, in Liguoris, Dens* und J. C. S a e 111 e r s
Schriften über Moraltheologie, in den in Frankreich weit ver-
breiteten „Diaconales“ und vielen ähnlichen Schriften werden
alle möglichen sexuellen Fragen, wie sie im Beichtstühle Vor-
kommen und Vorkommen können, selbst die unwahrscheinlichsten
und immöglichsten, eingehend behandelt. Coitus interruptus,
Irrigatio vaginae post coitum, Pollutionen, Bestialität, Nekrophilie,
Figurae Veneris, Kuppelei, die verschiedenen Arten der Lieb-
kosungen, Onanie der Ehegatten, Abortus, Arten der Mastur-
bation, Päderastie, Statuenschändung (!), Gedankenonanie, Pädi-
kation usw. werden einer subtilen kritisch-theologischen Analyse
unterworfen. In gewisser Weise sind diese Schriften wirklich
reiche Fundgruben für die Psychopathia sexualis. Später werden
wir die religiöse Aetiologie der einzelnen sexuellen Verirrungen
noch öfter berühren. 4 * * * * * * * *
S4) Die bekanntesten sind Augustinus, Benzi, Bouvier,
Cangiamila, Capellmann, Claret, Debreyne, Dens,
Filliucius, Gury, Liguori, Moja, Molina, Moullet,
Perei ra, Rodriguez, Rousselot, Sa, Thomas Sanchez,
Samuel Schroeer, Skiers, Soto, Suarez, Tamburini,
Thomas v. Aquino, Vivaldi, Wigandt, Zenardi. — Um-
fangreiche Auszüge aus ihren Schriften gibt Graf v. Hoensbroech
im zweiten Band seines Werkes „Das Papsttum in seiner sozial-kultu-
rellen Wirksamkeit“ (Leipzig 1907).
133
Schon aus den bisherigen Darlegungen ergibt sich klar und
deutlich, daß die Beziehungen der Religion zur Vita sexualis
als allgemein anthropologische Erscheinungen aufzufassen sind,
nicht als zufällige durch Ort, Zeit und Volk bedingte Besonder-
heiten. Der moderne Arzt, Jurist und Kriminalanthropologe muß
daher dem religiösen Faktor im normalen und abnormen Ge-
schlechtsleben des Menschen die größte Aufmerksamkeit zuwenden,
wenn er zu einer unbefangenen und ungetrübten Erkenntnis der
sexuellen Anomalien kommen will. Auch Havelock Ellis hat
die prinzipielle Bedeutung religiös-sexueller Empfindungen hervor-
gehoben und den Nachweis erbracht, daß kleine Schwingungen
erotischer Gefühle alle religiösen Empfindungen begleiten und
unter Umständen die letzteren übertönen können.35) Noch immer
erleben wir sexuelle Auschweifungen unter dem Mantel der
Religion, wie kürzlich (1905) in Holland und 1901 in England,
wo in den religiösen Versammlungen der von dem amerikanischen
Ehepaare Horos gegründeten „Theocratic Unity“ junge Mädchen
in die scheußlichste Unzucht eingeweiht wurden.*6)
Wenn Friedrich Schlegel, wie Rudolf von Gott-
schall bemerkt, in seiner „Lucinde“ ein neues Evangelium der
Zukunft verkündet, in welchem die Wollust, wie zu den Zeiten
der Astarte, einen Teil des religiösen Kultus bildet, so scheint
die in unseren Tagen wieder erwachte Neigung zur romantischen
Empfindungsweise auch die Gefahr einer Erneuerung und Ver-
stärkung religiös-sexueller Vorstellungen nahe zu rücken.
Denn so lange die Gefühle der Liebe den unaussprech-
lichen, übermächtigen Drang in sich tragen, wie die religiösen
Empfindungen, wird jene enge Verknüpfung ztvischen Religion
und Sexualität in gutem und bösemj Sinne bestehen bleiben.
Ein älterer Arzt, der in einem interessanten Werke die Er-
fahrungen aus vierzigjähriger Praxis niederlegte,85 86 87) hat auch
85) H. Ellis, Geschlechtstrieb und Schamgefühl, Leipzig 1900,
S. 329—346.
86) Auf die noch heute in Paria, aber auch in anderen großen
Städten gefeierten religiös-sexuellen „Messen“ kommen wir später
zurück.
37) Selbstbekenntnisse oder vierzig Jahre aus dem Leben
eines oft genannten Arztes, Leipzig 1854, 3 Bände. Dazu: Nachlese
in und außer mir. Aus den Papieren des Verfassers der Selbst-
bekenntnisse usw., Leipzig 1856, 4 Bände.
134
über diesen religiösen Sexualismus sehr zutreffende Bemerkungen
gemacht. Nach ihm ist überschwängliche Frömmigkeit „oft nichts
weiter als Sexualsymptom“, hervorgehend aus Liebes-
entbehrung und Liebesübcrsättigung, letzteres nach
dem Sprichwort: „junge Hure, alte Betschwester“'. Uebrigens
gilt das von Männern und Frauen. Die Frömmigkeit durch Liebes-
entbehrung kann man oft durch „Castoreum, kalte Duschen oder
eine wohlberechnete Hochzeit mit einem handfesten, energischen
Manne“ heilen, der den „Himmelsbräutigum“ durchaus ver-
drängt.38)
Die religiöse Empfindung ist eine durchaus allgemeine
Sehnsucht, und so auch die mit ihr verknüpften sexuellen Gefühle.
Der grenzenlose, ewige Zug darin läßt eine Individualisierung
nicht zu. Daher können die religiös-sexuellen Empfindungen in
der individuellen Liebe der Zukunft nur eine untergeordnete Rolle
spielen, sie bilden nur die erste Etappe in der Geschichte der
Idealisierung des Geschlechtstriebes, seiner Vergeistigung zur
Liebe.
In dem Roman „Scipio Cicala“ von Rehfues ruft die
neapolitanische Aebtissin aus: „Ich liebe die Liebe,“ nach-
dem sie alle Phasen der Liebeswut zu Gott durchgemacht hat.
Der moderne Mann aber sagt zum Weibe und das Weib
zu ihm: „Ich liebe dich,“ die allgemeine, religiöse Liebe hat
vor der individuellen kapituliert. Das ist auch ganz deutlich
die Richtung des Weges des Geistes in der Liebe, den wir nun
weiter verfolgen wollen.
88) Nachlese in und außer mir. Bd. II, S. 37—45. — Ueber die
Beziehungen zwischen Religion und Sexualität finden sich auch manche
interessante Mitteilungen in der Schrift von Georg Reben, Die
halben Christen und der ganze Teufel. Höllenfahrten des Aberglaubens.
Groß-Lichterfelde 1905 (besonders in dem Kapitel „Der Buhlzwinger“
S. 93—110).
135
SIEBENTES KAPITEL.
Der IWeg des Geistes in der Liebe. — Das erotische
Schamgefühl (Nacktheit und Kleidung).
Die Scham hat am Menschen körperlich nichts mehr verändert
im Umrißbilde. Aber sie hat die stärkste Rolle gespielt in das ganze
Werkzeuggebiet der Kleidung hinein. Und sie hat seelisch eine solche
Gewalt an sich gerissen, daß das gesamte Liebesieben des höheren
Menschen davon beherrscht wird. Erst vor dieser Scham trennt sich
das Liebesieben endgültig und individuell von dem der übrigen Tiere.
Wilhelm B ö 1 s c h e.
136
Inhalt des siebenten Kapitels.
Das individualisierende Moment im Schamgefühl. — Neuere
anthropologische Forschungen über Ursprung und Natur des erotischen
Schamgefühls. — Der animalische und soziale Faktor der Scham. —•
Scham als biologisches Abwehrgefühl. — Die Koketterie. — Soziales
Grundelement des Schamgefühls. — Lombrosos Theorie der Scham.
— Furcht, Widerwillen zu erregen. — Zusammenhang des Scham-
gefühls mit der Kleidung. — Verhältnisse bei den Eingeborenen Zen-
tralbrasiliens. — Das Nacktsein als natürlicher Zustand. — Genital-
hüllen primitiver Völker sind Schutzmittel, keine Kleidungsstücke. —
Ursprung der Kleidung. — Erster Zweck der Verzierung und Vei*-
sehönerung. — Beziehungen der Kleidung zum Liebesgefühle. — Das
Tätowieren eine Vorstufe der Kleidung. — Prähistorische Körper-
bemalung. — Die Tätowierung als sexuelles Lockmittel. — Tätowieren
der Genitalien. — Sexuelle Wirkung der Farben, — Vorkommen der
Tätowierung bei modernen Kulturvölkern. — Neuere anthropologische
Forschungen darüber. — Erotische Tätowierungen, — Fälle von Täto-
wierung der Frauen der höheren Stände. — Das koloristische Element
in der Kleidung. — Ursprung der Kleidung aus dem Hüftschmuck.
— Zusammenhang mit der geschlechtlichen Magie. — Mit der Eifer-
sucht. — Mit der sexuellen Anlockung. — Sinnliche Wirkung der
Verhüllung. — Der Reiz des Unbekannten. — Die beiden Grund-
elemente der Mode. — Akzentuierung und Entblößung von Körper-
teilen. — Wirkung der halben Verhüllung, des „Retroussé“. — Die
beiden Grundformen der Kleidung. — Die akzentuierende und ver-
größernde Wirkung der Kleidung. — H. Lotzes Theorie des Wesens
der Kleidung. — Wechselwirkung zwischen Kleidung und Persönlich-
keit. — „Physiognomie“ der Kleidung. — Die Kleidung als Ausdruck
der Psyche. — Die Entblößung als sexuelles Stimulans. — Die Mode.
— Fehlen derselben im Altertum. — Unterschied zwischen antiker
und moderner Kleidung. — Durchsichtige Gewänder der antiken
Halbwelt. — Zerlegung der Kleidung. — Ober- und Unterkleidung. —
Die Taille. — Weitere Differenzierung in eigentliche Kleidung und
intime Kleidungsstücke. — Ankleiden und Entkleiden. — Trennung
der Körpersphären durch die Taille. — Anfänge der Mode im Mittel-
alter. — Das Korsett als Erzeugnis der christlichen Lehre. — Kampf
der mittelalterlichen Mode gegen die Asketik. —Sieg.—Akzentuierung
des Busens. — Das „Décolleté“, — Ansichten der Aesthetiker darüber.
— Schädlichkeit des Korsetts. — Eine Sünde wider die Aesthetik und
Hygiene. — Schädliche Wirkung auf Brust- und Unterleibs organe. —
Korsett und Bleichsucht. — Verkümmerung der Brustdrüsen. —
Andere schädliche Folgen. — Wirkung auf die weiblichen Geschlechts-
organe. — Korsett und „weißer Fluß“. — Korsett und Sterilität. — Die
präraphaelitische Busenlosigkeit. — Akzentuierung der Hüftgegend. —
137
Die Touinüre (Cul de Paria). — Die Andeutung des weiblichen Schoßes
und der Gravidität. — Der Reifrock und die Krinoline. — Ursache
des Unterschiedes zwischen Männer- und Frauenkleidung nach
Waldeyer. — Größere Einfachheit der Männertracht. — Zusammen-
hang mit der größeren geistigen Differenzierung des Mannes. — Frühere
Ausartungen der Männertracht. — Die Hosenlätze. — Feminine Männer-
trachten. — Heutige Vorherrschaft der englischen Männertracht. —
Wirkung der Kleidung auf die Haut. — Venus im Pelz. — Sacher-
Masochs Erklärung der sexuellen Wirkung von Pelzstoffen. — Ge-
sicht und Kleidung. — Geschlechtliche Differenzierung der Gesichts-
teile. — Die Beziehung der Kleidung zur Umgebung. — Erweiterung
des Begriffes „Mode“. — Theorie der Mode. — Die beiden Funktionen
der Mode. — Soziale Egalisierung und individuelle Differenzierung. —
Demimonde und Mode. — Die Mode als Schutz der Persönlichkeit. —
Oekonomische Theorie der Mode. — Ihr Zusammenhang mit dem Ka-
pitalismus. — Die Reform der Frauentracht. — Das „Reformkleid“. —
Schilderung einer Soiree in einem Pariser Salon.
Die Beziehung zwischen Schamgefühl und Nacktheit als modernes
Kulturproblem. — Die Prüderie. — Natürliche und lüsterne Nacktheit.
— Die Prüderie ist versteckte Begierde. — Schleiermachers
geniale Charakteristik des sexuellen Elements in der Prüderie. —
Psychiatrische Beobachtungen. — Unnatürliche Vergrößerung des
Schamgefühls. — Bedeutung des echten, natürlichen Schamgefühls
für die Kultur. — Die falsche Feigenblattmoral. — Natürliche Auf-
fassung des Nackten und Sexuellen die Parole der Zukunft.
135
Den ersten Schritt auf dem Wege der Individualisierung der
Liebe bezeichnet die den ersten Anfängen der grauen Vorzeit an-
gehörige Entstehung des geschlechtlichen Schamgefühles.
Erst die Forschungen der Neuzeit haben den Nachweis gebracht,
daß das Schamgefühl nichts dem Menschen Angeborenes darstellt,
sondern ein spezifisches Kulturprodukt ist, d. h. ein im
Laufe der fortschreitenden Entwicklung auftretendes geistiges
Phänomen, das als solches schon dem nackten, vor allem aber
dem bekleideten Menschen eigentümlich ist. Schamgefühl und
Kleidung haben sich mit- und durcheinander in proportionalem
Maße entwickelt und dienten ursprünglich beide dem gleichen
Zwecke, die individuelle, persönliche, besondere Natur des ein-
zelnen Menschen stärker hervorzuheben und zum Ausdruck zu
bringen. Sie spiegeln die ersten individuellen Kegungen im
Liebesieben des Urmenschen wieder.
Sehr gut hat Georg Simmel dieses individualisierende
Moment im Schamgefühl erkannt, wenn er sagt: „Alles Scham-
gefühl beruht auf dem Sichabheben des einzelnen.“1)
Durch die neueren kritischen Forschungen hervorragender
Anthropologen und Ethnologen haben wir über Ursprung und Natur
des erotischen Schamgefühles die bedeutsamsten Aufschlüsse be-
kommen. Vor allem sind da die scharfsinnigen Untersuchungen
von Havelock Ellis zu nennen, die durch die Forschungen
von C. H. Stratz, Karl von den Steinen u. a. ergänzt
werden.
Havelock Ellis unterscheidet einen animalischen
und einen sozialen Faktor der Scham. Der erstere ist spezi-
fisch sexueller Natur, und das einfachste und ursprünglichste Ele-
ment des Schamgefühls. Er ist ohne Zweifel beim Weibe stärker *)
*) G. Simmel, Philosophie der Mode, Berlin 1906, S. 27.
139
ausgeprägt als "beim Manne, ja ursprünglich wohl nur dem weib-
lichen Geschlecht© eigentümlich und der Ausdruck für das Be-
streben, die Geschlechtsteile gegen die unerwünschte Annäherung
des Mannes zu schützen. In dieser Form beobachtet man das
Schamgefühl schon bei Tieren.
„Das sexuelle Schamgefühl des weiblichen Tieres,“ sagt Ha-
velock Ellis, „wurzelt in der Sexualperiodizität des weib-
lichen Geschlechts überhaupt, und ist ein unwillkürlicher Ausdruck
der organischen Tatsache, daß jetzt nicht die Zeit zum Lieben
sei. Da diese Tatsache nun während des größten Teiles des Lebens
aller dem Menschen untergeordneten weiblichen Tiere zutrifft, so
wird der Ausdruck dieses Abwehrgefühls so zur Gewohnheit, daß
es sich auch in solchen Momenten äußert, wo es aufgehört hat, am
Platze zu sein. Wir sehen dies auch wieder bei der Hündin,
die zur Brunstzeit selbst dem Hunde nachläuft, dann sich wieder
umwendet und zu entfliehen sucht, und schließlich nur nach großen
Verführungskünsten seinerseits die Begattung duldet. Auf
diese Weise wird das Schamgefühl mehr als nur
eine einfache Abweisung der männlichen Annähe-
rung, es wird zur Aufforderung für das männ-
liche Wesen und reiht sich seinen Ideen über das
an, was ihm beim weiblichen Wesen geschlecht-
lich wünschenswert erscheint. So würde sich auch das
Schamgefühl als ein psychischer sekundärer Ge-
schlechtscharakter erklären lassen. . . . Das sexuelle
Schamgefühl des weiblichen Wesens ist daher ein unvermeidliches
Nebenprodukt der natürlichen aggressiven Haltung des männlichen
Wesens in geschlechtlicher Beziehung und der natürlichen ab-
wehrenden Haltung des weiblichen, die wiederum darauf begründet
ist, daß — beim Menschen und allen ihm verwandten Arten —
die geschlechtliche Funktion des weiblichen Wesens periodisch ist
und stets vor dem anderen Geschlecht behütet werden muß,
während sie bei letzterem selten oder nie behütet zu werden
braucht.“
Mit dieser abwehrenden Natur des Schamgefühls hängt, wie
Groos sehr richtig ausführt, die hohe biologische und psycholo-
gische Bedeutung der Koketterie zusammen, die aus dem
Gegensätze zwischen geschlechtlichem Instinkt und angeborenem
Schamgefühl entspringt. Sie ist gewissermaßen eine Ausbeutung
des Schamgefühls zu sinnlichen Zwecken, eine selten fehlschlagende
140
Spekulation auf den Geschlechtstrieb des Mannes, und in diesem
Sinne ein Ausfluß eckt gynäkokratischer Instinkte, als welcher
sie uns hei der Betrachtung des Masochismus noch einmal
begegnen wird.
Wird man also nach den Ergebnissen der neuesten Forschungen
an einer ursprünglichen organischen, animalischen Grundlage des
sexuellen Schamgefühls nicht mehr zweifeln können, so ist
ebenso zweifellos, daß die eigentliche psychische, individuelle Be-
deutung des Schamgefühls aus dem zweiten Grundelement des
Schamgefühls, dem sozialen Faktor stammt, der zugleich auch
die Erklärung für das Auftreten des Schamgefühls beim Manne
liefert. Diese Erscheinungsform des Schamgefühls ist zugleich eine
spezifisch menschliche.
Dieses zweite soziale Gründelement des Schamgefühls ist die
Furcht, Widerwillen zu erregen.
Es ist hier der interessanten drastisch-naturalistischen Theorie
Lombrosos über den Ursprung des Schamgefühls zn gedenken.
Lombroso geht nämlich von der Beobachtung a.us, daß bei
vielen Prostituierten eine Art von merkwürdigem Aeqnivalent
des Schamgefühls bestehe, nämlich die Abneigung, ihre Genitalien
inspizieren zu lassen, wenn dieselben nicht sauber oder in der Men-
struation begriffen sind. Nun leitet sieh die romanische Bezeich-
nung für Scham von „putere“ ab, was auf den Ursprung des Scham-
gefühls aus dem Widerwillen gegen den Geruch zersetzter
Sekrete hindeutet. Bringt man hiermit die Tatsache, daß der
Kuß ursprünglich ein Beriechen war, in Zusammenhang, so stellt
nach Lombroso jene Pseudo-Schamhaftigkeit der Prostituierten
das ursprüngliche primitive Schamgefühl des weiblichen Ur-
menschen dar, d. h. die Furcht, dem Manne widerlich zu sein.2)
Auch Sergi hat diese Hypothese Lombrosos akzeptiert.
Nach Bichets Studien über die Ursachen des Ekels bildet
die genito-anale Region mit ihren Sekreten und Exkrementen
bei den meisten primitiven Völkern einen Gegenstand des Ekels,
den man sorgfältig verbirgt, sowohl dem gleichen als ganz be-
sonders dem anderen Geschlecht© gegenüber. Später spielt ganz
allgemein die Furcht, Abscheu oder Ekel zu erregen, eine promi-
2) Vgl. 0. Lombroso und G. Ferrerò, Das Weib als Ver-
brecherin und Prostituierte. Deutsch von Dr. H. Kurelia, Hamburg
1891, S. 549.
141
nente Rolle im Schamgefühl überhaupt. Sie betrifft nicht nur
die eigentlichen Geschlechtsorgane, sondern auch die Posteriora.
Letztere werden sogar bei manchen primitiven Völkern ganz allein
verhüllt.
Auch die Idee der zeremoniellen Unreinheit, besonders
durch den Vorgang der Menstruation hervorgerufen und mit
rituellen Gebräuchen verknüpft, hat einen Anteil an der Genesis
des Schamgefühls.
Unstreitig die innigsten Beziehungen aber hat letzteres zur
Bekleidung, die wohl nur zum Teil auf jene erwähnten
primären Faktoren des Schamgefühls zurückzuführen ist, anderer-
seits aber im späteren Verlaufe der Kulturentwicklung eine eigen-
tümliche selbständige Rolle bei der weiteren Ausbildung eines
verfeinerten sexuellen Schamgefühls gespielt hat.
Karl von den Steinen kommt auf Grund seiner Beobach-
tungen bei den Bakairi Zentralbrasiliens zu dem bemerkenswerten
Schlüsse: „Ich vermag nicht zu glauben, daß ein Schamgefühl,
das den unbekleideten Indianern entschieden fehlt, bei andern
Menschen ein primäres Gefühl sein könne, sondern nehme an, daß
es sich erst entwickelte, als man die Teile schon verhüllte, und
daß man die Blöße der Frauen den Blicken erst entzog, als unter
vielleicht nur sehr wenig komplizierten wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnissen mit regerem Verkehrsleben der Wert des
in. die Ehe ausgelieferten Mädchens höher gestiegen war, als er
noch bei den großen Familien am Schingu galt. Auch bin ich
der Meinung, daß wir uns die Erklärung schwerer machen als
sie ist, indem wir uns theoretisch ein größeres Schamgefühl zu-
legen, als wir praktisch haben.“3)
Daher ist bei den fast völlignackt gehenden Bakairi unser
(sexuelles) Schamgefühl fast gar nicht entwickelt, besonders ein
auf die Entblößung bezogenes Schamgefühl existiert nicht, wäh-
rend jenes animalische, physiologische Schamgefühl auch bei ihnen
sich deutlich offenbart.4)
Wo die Nacktheit Sitte ist, ist das erotische Schamgefühl
nur in sehr geringem Maße entwickelt. Auch der zivilisierte
8) Karl von den Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-
Brasiliens, Berlin 1894, S. 199.
4) ebendaselbst S. 66.
142
Mensch gewöhnt sich unglaublich schnell an das Nacktsein, als
an einen ganz natürlichen Zustand.
„Die böse Nacktheit sieht man nach einer Viertelstunde gar
nicht mehr, und wenn man sich ihrer dann absichtlich erinnert
und sich fragt, ob die nackten Menschen: Vater, Mutter und Kinder,
die dort arglos umherstehen oder gehen, wegen ihrer Schamlosig-
keit verdammt oder bemitleidet werden sollten, so muß man ent-
weder darüber lachen, wie über etwas unsäglich Albernes oder
dagegen Einspruch erheben, wie gegen etwas Erbärmliches. . . .
Mit welcher Schnelligkeit man sich bis in die Regionen des Un-
bewußten hinein an die nackte Umgebung gewöhnen kann, geht
am besten daraus hervor, daß ich vom 15. auf den 16. September
und ebenso in der folgenden Nacht von der deutschen Heimat
träumte, und dort alle Bekannten ebenso nackt sah, wie die Ba-
kalri; ich selbst war im Traum erstaunt darüber, aber meine
Tischnachbarin bei einem Diner, an dem ich teilnahm, eine hoch-
achtbare Dame, beruhigte mich sofort, indem sie sagte: „Jetzt
gehen ja alle so.“5)
Die völlig nackt gehenden Bakairi haben keine „geheimen“
Körperteile. Sie scherzen über sie in Wort und Bild mit voller
Unbefangenheit. Es wäre töricht, sie deshalb „unanständig“ zu
nennen. Der Eintritt der Mannbarkeit für beide Geschlechter wird
mit lauten Volksfesten gefeiert, wobei sich die allgemeine Auf-
merksamkeit und Ausgelassenheit mit den „private parts“ demon-
strativ beschäftigt. Ein Mann, der dem Eremden sich als Vater
eines andern, eine Frau, die sich als Mutter eines Kindes vor-
«tellen will, sie fassen mit ernsthafter, unbefangenster Miene die
Geschlechtsteile an, wodurch sie sich als die Erzeuger bekennen.
Die Penisstulpen und die dreieckigen Uluris der Frauen sind keine
Hüllen, sondern dienen lediglich dem Schutze der Schleimhaut,
als Verband und Pelotte bei Frauen, als Vorrichtung zur gym-
nastischen Behandlung der Phimose bei Männern.
„Kleidungsstücke“, deren Hauptzweck es wäre, dem Scham-
gefühl zu dienen, kann man doch nur im Scherze in jenen Vor-
richtungen erblicken. Sexuelle Erregung wurde durch sie nicht
verhüllt, und wurde auch nicht geheimgehalten. Das rote Fädchen
der Trumai, die zierlichen Uluris, die bunte Fahne der Bororö
fordern wie ein Schmuck die Aufmerksamkeit heraus, statt sie
5) ebendaselbst S. 64
143
abzulenken. Die völlig nackten Suyäfrauen wuschen sich die Ge-
schlechtsteile am Fluß in Gegenwart der Europäer.6)
Es läßt sich also bei diesen noch in der Steinzeit lebenden
Karaiben Zentralbrasiliens die Wirkung völliger Nacktheit noch
ganz rein beobachten und feststellen, daß dieselbe die Entstehung
eines erotischen Schamgefühls in unserem Sinne so gut wie ganz
hindert. Die physiologischen Faktoren des Schamgefühls reichen
für sich allein nicht ans, um dieses in seiner ganzen Stärke als
besonderes psychisches Phänomen hervortreten zu lassen. Erst in
Verbindung mit der Kleidung gewinnen auch sie eine größere Be-
deutung für das Zustandekommen des Schamgefühls.
C. H. S t r a t z hat in einer kulturgeschichtlich-anthropologi-
schen Studie über die Frauenkleidung (Stuttgart 1900) die Ergeb-
nisse der neueren ethnologischen Untersuchungen mit den aus der
Kultur- und Kunstgeschichte bekannten Tatsachen verglichen und
eine überraschende Uebereinstimmung beider festgestellt. Nach
ihm ist „der erste ursprüngliche Zweck der Kleidung nicht die
Bedeckung, sondern allein und ausschließlich die Verzierung,
der Schmuck des nackten Körpers“.7) Der nackte Mensch schämt
sich nur wenig oder gar nicht; erst der Bekleidete empfindet
Scham, und zwar dann, wenn ihm der übliche Zjier-
rat fehlt. Das gilt sowohl für primitive als auch für zivilisierte
Menschen. Denn mit Hecht weist S t r a t z darauf hin, daß eine
von der Mode, d. h. von dem jeweils bestehenden Kodex des
Verschönerns vorgeschriebene Entblößung niemals als solche ge-
fühlt wird. Im Gegenteil würde sich eine Dame in geschlossenen
Kleidern unter den dekolletierten Frauen eines Ballsaales „tief
schämen über die fehlende Entblößung“.
Die Geschichte der Kleidung und der mit ihr so eng ver-
6) ebendaselbst S. 190—191; S. 195. — Vgl. auch die sehr inter-
essanten Bemerkungen über die Nacktheit der südamerikanischen Ein-
geborenen bei Alex. v. Humboldt, Reise in die Aequinoktial-
Gegenden des neuen Kontinents, Stuttgart o. J., Bd. II, S. 15—16.
7) a. a. 0., S. 8. — Etwas abweichend ist K. v. d. S t e i n e n
(a. a. 0., S. 174, 178, 186) der Ansicht, daß der Mensch die Dinge,
die er braucht, um sich zu schmücken, zuerst durch ihren Nutzen
kennen gelernt habe. Er führt hierfür vor allem die Tätowierung
in Form des Beschmierens mit farbigen Erden, mit Lehmarten an,
die zugleich auch als Kühl- und Schutzmittel gegen Insektensticke
dienten. Vgl. auch Y r j ö Hirn, Der Ursprung der Kunst, Leipzig
1904, S. 222.
144
knüpften Mode liefert uns die wichtigsten Grundlagen für das
Verständnis des Schamgefühls des modernen Menschen und für
die Beurteilung der Bedeutung und der natürlichen Grenzen des-
selben. Zugleich hat die Kleidung auch sonst die innigsten Be-
ziehungen zur Liebe als psychischem Phänomen. „Welchen Ein-
fluß,“ sagt Emanuel Herrmann, „nimmt die Liebe in allen
Stadien auf die Kleidung, und wie spricht aus dem Kleide wieder
die Liebe heraus!“8) Die Kleidung befriedigt ganz besonders das
von II o c h e und mir nachgewiesene allgemein menschliche Be-
dürfnis nach Variation in den geschlechtlichen Beziehungen, das
immer neue Lock- und Reizmittel erfordert.
Die erste Vorstufe der Kleidung, eine Art von symbolischer
Kleidung des Urmenschen, ist das Färben, Bemalen und
Tätowieren der Haut, über die die neueren ethnologischen
Forschungen, namentlich die von Westermarck,9) Joe st10 *)
und Marquardt11) bemerkenswerte Aufschlüsse gebracht haben.
Es ist von größtem Interesse, daß der Hang zum Bemalen
und Schmücken des Körpers bereits in prähistorischen Zeiten vor-
handen war, eine beredte Hlustration zu der Behauptung Herbert
Spencers, daß die Eitelkeit des unzivilisierten Menschen weit
größer sei als die des Kulturmenschen. Man fand in der
Tat schon in paläolithischen 'Wohnstätten, z. B. an der Schussen-
quelle in Oberschwaben farbige Erden, mit Remitier fett einge-
fettete Farbpasten aus Eisenrot, die ohne Zweifel zum Bemalen
und Färben des menschlichen Körpers verwendet wurden. Man
kann also, wie Ludwig Stein bemerkt, die Geschichte der
Schminke, die einst Baco von Verulamin seinen „Oosmetica“
bis zum biblischen Altertum zurückdatierte, getrost bis zum Eis-
zeitmenschen zurück verfolgen, auf dessen intellektuelle und mora-
lische Qualitäten diese Tatsache ein bezeichnendes Licht fallen
läßt. Nach Klaatsch begnügte sich der paläolithische Mensch
8) E. Herrmann, Naturgeschichte der Kleidung, Wien 1878,
S. 239.
9) Eduard Westermarck, Geschichte der menschlichen Ehe,
deutsch von L. Kätscher und K,. Grazer, Jena 1893, S. 162—183.
10) Wilhelm Joest, Tätowieren, Narbenzeichnen und Körper-
bemalen. Nebst Originalmitteilungen von 0. F i n s c h und J. K u b a r y ,
Berlin 1887.
xl) Carl Marquardt, Die Tätowierung beider Geschlechter
in Samoa-, Berlin 1899.
145
nicht mit dem bloßen Bemalen, sondern tätowierte sich aneh' mittels
feiner Feuersteinmesserchen.12)
Das Bemalen und Tätowieren des Körpers kann, wie erwähnt,
als eine primitive Vorstufe der Kleidung aufgefaßt werden. P 1 o ß-
Bartels bemerkt: „Es kann für mich keinem Zweifel unter-
liegen, daß der ursprüngliche Sinn der Tätowierungen darin ge-
sucht werden muß, daß man bestrebt war, die Nacktheit zu
verdecke n.“ Und J o e s t, der gründlichste Kenner der Täto-
wierung meint ähnlich: „Je weniger sich ein Mensch bekleidet,
desto mehr tätowiert er sich, und je mehr er sich bekleidet, desto
weniger tut er letzteres.“13 *)
Auch die farbige Hülle der Tätowierung dürfte als ein An-
ziehungsmittel aufzufassen sein, die Tätowierung wurde haupt-
sächlich zum Zwecke der sexuellen Anlockung und Anreizung
vorgenommen. Der tätowierte Mensch ist der Schönere und Be-
gehrenswertere. Selbst wenn ursprünglich eine andere Ursache,
z. B. irgend ein medizinischer Zweck, das Bemalen und Tätowieren
herbeigeführt hat, oder dieses vielleicht als ein soziales oder poli-
tisches Unterscheidungszeichen galt, so haben doch diese Zeichen
und sichtbaren Veränderungen der Körperhaut sofort einen mäch-
tigen Einfluß auf das andere Geschlecht ausgeübt und wurden
durch geschlechtliche Zuchtwahl zu sexuellen Lockmitteln.1'1)
Für diesen sexuellen Charakter der Tätowierung spricht auch
der Umstand, daß bei zahlreichen Naturvölkern der Südsee, auf
den Karolinen, auf Neu-Guinea, den Pelau- und Nukuoro-Inseln
die Mädchen sich zwecks Anlockung der Männer ausschließ-
lich die Genitalregion, besonders den Mons Veneris, täto-
wieren, d. h. diese Gegend durch die Tätowierung grell hervor-
heben. Es ist charakteristisch, daß Mi kluc ho- Maclay beim
ersten Anblick den Eindruck hatte, als ob die Mädchen an dem
12) Vgl. Ludwig Stein, Die Anfänge der menschlichen Kultur,
Leipzig 1906, S. 74—75; Edward B. Tylor, Einleitung in das
Studium der Anthropologie und Zivilisation, Braunschweig 1883, S. 281.
13) Nach K. v. d. Steinen a. a. O., S. 186, ist die Oelfarbe
der Körperbemalung „tatsächlich die Kleidung des In-
dianers, wie er sie bedar f“. Ihr ältester Zweck war
Schutz gegen die Wärme, die Sprödigkeit und äußere Insulte.
u) Vgl. Y. Hirn, Der Ursprung der Kunst, Leipzig 1904, S. 223
bis 224.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
10
146
Mons Veneris ein dreieckiges Stück von blauem Zeug trügen.
So sehr kann die Tätowierung der Kleidung gleichen.
Auch die Verknüpfung der Tätowierung mit phallischen
Festen beweist ihre geschlechtliche Natur. In Tahiti gibt es eine
sehr charakteristische Sage über den sexuellen Ursprung der
Tätowierung.15) Bei vielen primitiven Völkern gibt der Beginn
der Menstruation Anlaß zur Tätowierung und zu priapischen
Feiern.
Eine wichtige sexuelle Beziehung bekundet sich auch durch
das farbige Element der Tätowierung. Es scheint, daß das
Gefühl der Liebe beim primitiven Menschen eng mit der An-
schauung bestimmter Farben zusammenhängt. Nach Konrad
Lange erhält der sinnliche Lustwert dieser Farben durch das
mit ihrer Anschauung verbundene Gefühl der Liebe seinen be-
sonderen Charakter, und es läßt sich überhaupt eine gewisse Ver-
bindung der Farbenlust mit dem sexuellen
Triebe nachweisen. Lange teilt aus seiner eigenen Jugend mit,
daß die Gefühle, die er mit etwa vierzehn Jahren beim Anblick
eines bunten Schlipses von bestimmter Farbe hatte, von sexuellen
nicht sehr verschieden waren. Mit liecht macht er darauf auf-
merksam, daß diese Ideenassoziation beim primitiven Menschen
eine besonders lebhafte ist, weil, wie oben erwähnt, die Be-
malungen des Körpers meist in der Zeit der beginnenden Ge-
schlechtsreife ausgeführt werden.16)
Bezeichnenderweise findet sich die Tätowierung unter den
modernen Kulturvölkern nur noch bei bestimmten niederen Volks-
klassen, wie Matrosen, Verbrechern und Prostituierten, bei denen
die primitiven Triebe noch häufig in ganz besonderer Stärke wirk-
sam sind, wie Lombroso besonders in seinen „Palimsesti di
carcere“ und in seinen "Werken über den Verbrecher und über
das prostituierte Weib gezeigt hat. Sehr häufig trifft man bei
diesen Personen obszöne Tätowierungen.17) Auch M a r r o , L a -
cassagne, Batut und Rudolf Bergh haben die Täto-
wierungen der Prostituierten und Verbrecher untersucht und die-
15) Ygl. meine „Beiträge zur Aetiologie der Psvchopathia sexualis“,
Ed. II, S. 338.
1G) Vgl. K. Lange, Das Wesen der Kunst, Berlin 1901, Bd. II,
S. 185—186.
17) Auf die Bedeutung dieser Tätowierungen für die Diagnostik
sexueller Perversitäten werden wir später genauer eingehen.
147
selben Objekte und Ornamente bei beiden Kategorien beobachtet.
Zu gleichen Resultaten gelangten Salillas in Spanien, Drago
in Argentinien, E11 i s und G r e a v e s in England, Tronow in
Rußland. Kurelia fand bei 12,5 o/o der Insassen der Straf-
anstalt in Krieg Tätowierungen. Nach ihm sind „Zynismus, Rach-
sucht, Grausamkeit, Reuelosigkeit, düsterer oder gleichgültiger
Fatalismus, tierische Geilheit mit dominierender Neigung zu
widernatürlicher Unzucht jeder Art“ die im Inhalt der Täto-
wierungen vorherrschenden seelischen Erscheinungen.
„Päderastische Symbole bei den Männern, tribadische bei den
prostituierten Weibern haben einen überraschenden Reichtum an
Ausdrucksmitteln, wozu u. a. die den Zuhälter andeutende, über
der Vulva eingeätzte Makrele gehört; noch widerlichere sexuelle
Darstellungen haben selbst französische Autoren, wie Batut, nicht
zu schildern gewagt; man bekommt Dinge zu sehen, die einen
Sittenpolizisten außer Fassung bringen können. Schon bei ganz
jungen Strolchen, häufig Söhnen von Prostituierten, treten der-
artige Dinge hervor.“18)
Aber nicht bloß bei Verbrechern und Prostituierten, sondern
auch bei nichtkriminellen Angehörigen der untersten Volks-
schichten findet man oft erotische Tätowierungen von obszönsten
Charakter, die ohne Zweifel als Lock- und Reizmittel dienen.
J. Robinsohn und Friedrich S. Krauß machten darüber
neuerdings eine interessante Mitteilung.19)
Fälle von Tätowierung bei Frauen der höheren
Stände. — Es scheint, als ob auch die primitive Neigung zur
Tätowierung als sexuellem Reiz- und Lockmittel in gewissen
Kreisen der raffinierten Genußwelt wieder Anklang findet. René
Schwaeblé berichtet in seinem auf eigenen Beobachtungen und
18) Vgl. H. Kurelia, Naturgeschichte des Verbrechers, Stutt-
gart 1893, S. 105—112.
19) „Erotische Tätowierungen“ in: Anthropophyteia. Jahrbücher
für folldoristische Erhebungen und Forschungen zur Entwicklungs-
geschichte der geschlechtlichen Moral, herausgegeben von Dr. Fried-
rich S. Krauß, Leipzig 1904, Bd. I, S. 507—513. — Nach einer
Mitteilung des „Temps“ fand man bei einem fahnenflüchtigen fran-
zösischen Soldaten die überraschendsten Tätowierungen, z. B. auf
der Brust zwei reizende Frauen, die einem strammen Musketier Küsse
zuwerfen, ferner Porträts von Kabarettsängern und -Sängerinnen, z. B.
Yvette G u i 1 b e r t. Der ganze Rücken war mit Amoretten ge-
schmückt. Vgl. „B. Z. am Mittag“ vom 21. August 1906.
10*
148
Sittenstudien beruhenden Buche „Les Détraquées de Paris“ (Paris
1904) über die zunehmende Verbreitung der Tätowierung unter
Männern und Frauen der höheren Pariser Gesellschaft, für die
sogar ein Spezialarzt ein eigenes Atelier in der Rue Blanche
in Montmartre eingerichtet hat. Sehwae blé widmet den
,,Tatouées“ ein eigenes Kapitel (S. 47—57) und schildert eine
Zusammenkunft solcher tätowierter vornehmer Libertinen in einem
Hause der Rue de la Pompe in Passy. Bei einer von ihnen ahmte die
Tätowierung in täuschender Weise Strümpfe nach, ein charakte-
ristischer Beleg für den oben erwähnten Zusammenhang zwischen
Tätowierung und Kleidung. Eine andere hatte sich Inschriften
auf Oberschenkel und Hüften eintätowieren lassen, bei zweien
waren die Beine mit Girlanden aus Weinlaub geschmückt, Vögel
schnäbelten sich auf der Bauchgegend, und auf dem Rücken waren
vielfarbige Blumenbuketts eingegraben, mit der Unterschrift: „X.
pinxit, d’après Watteau.“ Eine Marquise hatte sich zwischen den
Schulterblättern ihr Adelswappen an bringen lassen, eine andere
vornehme Dame bot die tollsten obszönen Tätowierungen von
satanistischem Charaktar dar ! Zwei offenbar homosexuelle Frauen
hatten eine gemeinsame Tätowierung, d. h. die eine ergänzte die
andere, erst zusammen ergab die Zeichnung einen Sinn. Die aller-
seltsamste Tätowierung aber bot die Hauswirtin dar, nämlich die
Darstellung einer ganzen Jagd, die in den einzelnen Szenen
rund um den Körper eingezeichnet war, in den lebhaftesten Farben,
Wagen, Meute, Jäger, nichts fehlte. Das Ziel der Jagd war
ein in der Gegend des Genitale eintätowierter Fuchs !
Die Tätowierung leitet über zur bunten und farbigen
Kleidung, die besonders primitiven Zuständen eigentümlich ist.
Meist dient sie dazu, gewisse Körperteile hervorzuheben, um die
geschlechtliche Begierde des anderen Geschlechtes anzureizen. Nach
Mose le y beginnt der Wilde damit, sich der Zierde halber zu
bemalen und zu tätowieren. Dann nimmt er ein bewegliches An-
hängsel an, welches er um den Körper wirft, und an dem er den
Zierrat anbringt, den er früher mehr oder minder un-
vertilgbar auf seine Haut zeichnete. Hierdurch wird
eine größere Abwechselung möglich, als dies beim Tätowieren
und Bemalen der Fall war. So wird durch bunte und grellfarbige
Bänder, Fransen, Gurte und Schurze, die meist in der Nähe der
Genitalien befestigt werden, die Aufmerksamkeit auf diese Gegend
gelenkt* wobei der Farbenkontrast sehr wirksam ist. Dia
149
Admiralitätsindianer haben als einziges Kleidungsstück eine blen-
dend weiße Muschelschale, die einen überraschenden Gegensatz
zur dunklen Hautfarbe bildet. Die Areois auf Tahiti, eine Klasse
von privilegierten Wüstlingen und geschlechtslustigen Individuen,
kündigten in der Oeffentlichkeit diesen Charakter durch einen
Gürtel aus gelben „ti“-Blättem an.20)
Der erste und ursprüngliche Teil der Kleidung war also dieser
Ilüftschmuck, der ursprünglich wohl nur Zierrat, nicht Ver-
hüllung war. Die letztere Bedeutung gewann er in dem Maße,
als die Genitalien Gegenstand einer abergläubischen Ehrfurcht,
Sitz einer gefährlichen Magie wurden.21) Hier machte sich der
oben erwähnte Zusammenhang zwischen Geschlechtlichem und
Magischem geltend. Da mußte diese wunderbare, dämonische
Region verhüllt werden, um den Zuschauer vor ihrem bösen Ein-
flüsse zu schützen oder auch umgekehrt sie selbst vor dem „bösen
Blick“ des ersteren zu behüten. Beide Ideen sind ethnologisch
nachweisbar. Nach Dürkheim wurden die Geschlechtsorgane,
besonders die weiblichen, schon in frühester Zeit verhüllt, um
etwaige unangenehme Ausdünstungen derselben der Wahrnehmung
zu entziehen. Endlich haben Waitz, Schurtz und Le-
tourneau die Theorie aufgestellt, daß die Eifersucht der Ehe-
männer der primäre Grund der Bekleidung und indirekt auch des
Schamgefühls gewesen sei. Hierfür spricht die interessante ethno-
logische Tatsache, daß bei manchen Stämmen nur die verheirateten
Frauen bekleidet sind, die erwachsenen jungen Mädchen aber völlig
nackt gehen. Die Ehefrau ist hier eben ein Besitz; des Ehemannes.
Diesem erscheint die Kleidung als ein Schutz gegen einen Angriff
auf seinen Besitz ; Entblößung der Frau ist eine Entehrung, eine
Schande. Wo nun der Begriff des Besitzes auch im Verhältnis
des Vaters zu seinen unverheirateten Töchtern sich geltend macht,
da tritt auch bei diesen Bekleidung ein ; damit wird der Begriff
der Keuschheit und des Schamgefühls entwickelt.22)
Es lassen sich aber auch sehr viele Belege für die Annahme
beibringen, daß die erste Verhüllung der Genitalien im Zusammen-
hang mit dem Ilüftschmuck nicht aus Schamgefühl vorgenommen
20) William Ellis, Polynesian Researches, London 1859, Bd. I?
S. 235.
21) Vgl. Hirn, Ursprung der Kunst, Seite 214—215.
22) Vgl. Havelock Ellis a. a. 0., S. 56—62.
150
wurde, sondern im Gegenteil der geschlechtlichen Anlockung diente.
Man lenkte durch allerlei auffallenden Schmuck wie vorn oder
hinten23) befestigte Katzenschwänze oder Muscheln oder Tierfelle
die Aufmerksamkeit auf jene Gregend. Die Verhüllung stellte
sich als ein stärkerer sinnlicher Beiz heraus als die Nackt-
heit. Das ist eine alte anthropologische Erfahrung, die auch für
unser modernes Kulturleben noch größte Bedeutung besitzt.
Schon V i r e y meint, daß die Menschen größere und mannig-
faltigere sexuelle Genüsse als die Tiere haben, weil diese ihre
Weibchen zu jeder Zeit ohne fremden Schmuck sehen, während
die halbgeöffneten Schleier, mit welchen das; menschliche Weib
seine Beize verhüllt oder doch erraten läßt, die schon grenzenlosen
Begierden des Menschen noch hundertfach erhöhen. Denn ,,je
weniger man sieht, desto mehr ahnet die Phantasie.“24) Das Baffi-
nierte und sinnlich Beizende ist die halbe, stückweise Nackt-
heit, nicht die ganze. Westermarck bemerkt: „Wir haben
mehrere Beispiele von Völkern, die im allgemeinen vollständig
nackt einhergehen, zuweilen aber doch eine Hülle benutzen. Letz-
teres tun sie immer unter Umständen welche klar beweisen, daß
die Hülle einfach als Lockmittel getragen wird. So erzählt Loh-
ma n n, daß sich bei den Saliras nur Buhlerinnen bekleiden, und
sie tun dies, um durch das Unbekannte zu reizen. Bei
vielen heidnischen Stämmen im Innern Afrikas gehen nach Bart h
die verheirateten Frauen ganz nackt, während die heiratsfähigen
Mädchen sich bedecken (da sie noch begehrenswert erscheinen
müssen). Die verheirateten Frauen der Tipperah tragen nichts
anderes als ein kurzes Böckchen, während die unverheirateten
Mädchen die Brüste mit buntgefärbten, an den Enden gefransten
Tüchern bedecken. Bei den Toungta bleiben die Busen der Frauen
nach der Geburt des ersten Kindes unbedeckt, aber die unver-
heirateten Frauen tragen ein schmales Brusttuch.“25)
Diese auch von K. v. d. Steinen und Stratz bei primi-
tiven Völkern festgestellte Bedeutung der Kleidung und Halb-
kleidung als geschlechtliches Beizmittel läßt sich auch in der
23) Daß das Gesäß bei vielen, besonders afrikanischen Volks-
stämmen, einen Gegenstand erotischer Anziehung bildet, ist eine be-
kannte Tatsache.
24) J. J. V i r e y, Das Weib, Leipzig 1827, S. 300
25) Westermarck, Geschichte der menschlichen Ehe, 8.
193, 197.
151
„Mode“ der Kulturvölker nachweisen, die vermittels der beiden
Grundelemente der Akzentuierung und Entblößung ge-
wisser Teile der Phantasie ganz neue sexuelle Eeize zuführt und
der Menschheit „geheime Lüste“ erzählt. Bereits Moses hat diese
psycho-sexuelle Wirkung der Kleidung verwertet. Er wollte die
Seelenzahl seines kleinen Volkes vergrößern und befahl daher
die Verhüllung der weiblichen Reize, um „die Sinne seiner
männlichen Gemeinde zu kitzeln und so die Frucht-
barkeit des Volkes zu erhöhen.“20) Die von ihm als unzweck-
mäßig verworfene Nacktheit galt dann der christlichen Lehre
schlechthin als „unsittlich“, für welche verkehrte An-
schauungsweise ja noch heute tagtäglich Beispiele in unserem
öffentlichen Leben Vorkommen.
Den größten sinnlichen Reiz übt die halbe Verhüllung
oder teilweise Entblößung des Körpers, das sogenannte
„Retrousse“ aus, d. h. die Kunst, die Reize der Kleidung mit
der, Reizen des Körpers in eine raffinierte Wechselwirkung zu
bringen.27) Es spielt besonders bei der Entstehung des sogenannten
„Kleidungsfetischismus“ eine bedeutsame Rolle, auf die wir bei
der Besprechung dieser sexuellen Anomalie näher eingehen werden.
Die Kleidung, als deren beide Grundformen die tropische
(Rock und Gürtel) und die arktische Kleidung (Hose und J acke)
anzusehen sind, hat stets neben ihrer Funktion als Schutz vor
der schädlichen Einwirkung der Sonnenstrahlen in den Tropen
und der Kälte in nordischen Klimaten der Verschönerung und
geschlechtlichen Anlockung bei beiden Geschlechtern gedient. Die
wechselnden Erscheinungen und Phasen der „Kleidermode“ liefern
hierfür die sichersten Beweise, sie können als wertvolle sexual-
psychologische Dokumente der jeweiligen Kulturepoche betrachtet
werden. Als solche hat sie besonders der berühmte Aesthetiker
Friedrich Theodor Vischer in seiner originellen, durch
die kernige Sprache ausgezeichneten Schrift „Mode und Zynis-
mus. Beiträge zur Kenntnis unsrer Kulturformen und Sitten-
2G) C. H. Stratz, Die Frauenkleidung, Stuttgart 1900, S. 42.
27) In den „Confessions“ erzählt Rousseau vom Halskragen
der schönen Buhlerin Giulietta: „Ihre Manschetten und ihr Ilals-
kragen waren mit Seidenfaden durchzogen und mit Rosafiguren gestickt.
Es stand zu einer schönen Haut ganz vortrefflich.“
152
begriffe“ (Stuttgart 1888) geschildert.28) Er nennt die „Wut des
lieber biete ns im Mannfang“ den „stärksten unter den Holzbränden,
die den Wahnsinn der Mode, ihres hirnlosen Wechsels,
ihrer furiosen Neigungen, ihres wütenden Verzerrens zur Siede-
hitze schüren.“ In gewissem Sinne kann man auch bei gewissen
Männermoden von einem „Weibfange“ sprechen. Doch im ganzen
tritt das viel weniger hervor als bei der Erauenkleidung.
Auf zweierlei Weise wirkt die Kleidung sexuell erregend.
Entweder werden gewisse Teile durch die Form, den Wurf der
Kleidung, durch Anbringung von Zierraten und Ornamenten be-
sonders hervorgehoben und vergrößert, oder es werden
einzelne Teile des Körpers direkt entblößt. Beides hat eine
sexuelle Wirkung.
Die Hervorhebung und Vergrößerung gewisser Körperteile
durch die Kleidung entspringt aus dem Glauben des Menschen,
sich in solchen Erweiterungen seiner Persönlichkeit wirklich und
wesenhaft fortgesetzt zu sehen, als seien sie ein Stück
von ihm. Diese geniale Theorie der Kleidung, nach welcher
diese eine Verstärkung des Körpers darstellt, gewisser-
maßen den nach außen projizierten Wesensausfluß des Menschen,
eine direkte Fortsetzung des Körpers, wurde von dem berühmten
Philosophen Hermann Lotze aufgestellt. Er sagt: „Ueberall,
wo wir mit der Oberfläche unseres Leibes, denn nicht die Hand
allein entwickelt diese Eigentümlichkeiten, einen fremden Körper
in Verbindung setzen, verlängert sich gewissermaßen
das Bewußtsein unserer persönlichen Existenz
bis in die Enden und Oberflächen dieses fremden
Körpers hinein, und es entstehen Gefühle, teils einer Ver-
größerung unseres eigenen Ich, teils einer uns jetzt möglich ge-
wordenen Form und Größe der Bewegung, die unsern natürlichen
Organen fremd ist, teils eine ungewöhnliche Spannung, Festigkeit
oder Sicherheit unserer Haltung.“29)
Natürlich bleibt die Wechselwirkung von einer Person auf
die andere nicht aus und der Betrachter glaubt in der Kleidung
28) Sehr beherzigenswerte Ausführungen über des derben Schwaben
„Sittenpolizei“ auf literarischem und modischem Gebiete bietet die Ab-
handlung „Ungoethesche Moralien“ in Georg Hirths „Weoe zur
Liebe“, S. 383—397. l
29) H. Lotze, Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Ge-
schichte der Menschheit. 3. Auflage. Leipzig 1878, Bd. II, S. 210.
153
den Körper selbst zu finden. Teile, die sonst nicht aufgefallen
wären, erscheinen als wesentliche, dem Betreffenden eigentümliche
Objekte, z. B. verleiht der Zylinderhut als Fortsetzung des Kopfes
demselben eine gewisse Höhe und Würde. Fein schildert Gustave
Flaubert in „Madame Bovary“ den merklichen Uebergang, die
Identifizierung von Kleidung und Körper:
„Unterhalb ihrer aufwärts frisierten Haare zeigte die Haut
ihres Nackens einen bräunlichen Farben ton, der allmählich
schwächer wurde und sich im Schatten ihres Kleides verlor. Ihr
Kleid quoll zu beiden Seiten über ihren Sessel hinaus, es war
vielfach gefaltet und breitete sich auf dem Fußboden aus. Wenn
er es zufällig mit der Sohle berührte, zog er den Fuß sofort
zurück, als hätte er auf etwas Lebendiges getreten.“
Dieselbe Ideenassoziation veranlaßt Hermann Bahr zu
der Forderung, daß das Kleid „wie eine vollkommene Haut des
Menschen sein,“ gleichsam eine „ideale Nacktheit“ darstellen
müsse.30) Die Kleidung repräsentiert die Person, birgt ihr Wesen,
ihre Seele. Daher kann sie auch zum Ausdrucksmittel mensch-
licher Eigentümlichkeiten, individueller Charakterzüge werden.
Es gibt eine „Physiognomik“ der Kleidung. Sie ist ein Spiegel
des körperlichen und geistigen Wesens.31) Mit Hecht heißt es in
einem pseudonymen Aufsatze über die „Erotik der Kleidung“,
daß die Kleidung im Laufe der vieltausendjährigen Kulturentwick-
lung soviel vom Geiste des Menschen in sich aufgenommen habe,
daß wir alle Probleme menschlicher Kultur begreifen würden,
wenn wir den Geist der Kleidung völlig und unmittelbar ver-
stünden. Die Form des Kleides ist zugleich auch der subtilste
und korrekteste Meßapparat für das Besondere und Eigene eines
Menschen, für das Individuum in ihm.32)
Wenn die Hervorhebung gewisser Teile das erste, so ist die
Entblößung das zweite sexuelle Stimulans der Kleidung. Der ein-
mal eingeführte Gebrauch' der Verhüllung verleiht nun der Ent-
blößung einen sexuell erregenden Charakter, den sie früher nicht
so) H. Bahr, Zur Reform der Tracht, in: Dokumente der Frauen,
1902, Bd. VI, No. 23, S. 665.
31) Vgl. die ausführlichen Darlegungen in meinen „Beiträgen
nur Aetiologie der Psychopathia sexualis“, Bd. II, S. 334—336.
32) Vgl. Lucianus, Erotik der Kleidung, in: Die Fackel, her-
ausgegeben von Karl Kraus, Wien, No. 198 vom 12. März 1906,
S. 12—13.
m
154
gehabt haben würde, und in primitiven Zuständen auch heute
noch nicht hat. In dem Worte eines geistreichen Schriftstellers,
daß ein sehr großer Unterschied in erotischer Beziehung zwischen
dem Anblick der nackten Beine eines drallen Bauernmädchens
oder der nackten Beine einer jungen Weltdame bestehe, kommt
diese verschiedene Auffassung des Nackten sehr gut zum Aus-
druck. Es gibt eben eine natürliche, sexuell indifferente, und eine
künstliche, erotisch anreizende Nacktheit. Nur die letztere spielt
in der Geschichte der Kleidung und Mode eine Bolle und ist
in Verbindung mit der erotischen Akzentuierung gewisser Teile
besonders von der Prostitution und Demimonde von jeher kulti-
viert worden, um die Männer anzulocken.
Das trat zuerst im klassischen Altertum hervor, dem sonst
eine eigentliche „Mode“ fremd war, weil die Kleidung nicht mit
dem Leibe verschmolzen war wie in der Neuzeit und daher nicht
so als Fortsetzung und Darstellung des Körperlichen erschien.
Im ganzen fehlten die Baffiniertheiten der modernen Mode in
bezug auf die Akzentuierung bestimmter Körperteile durch die
Kleidung. Treffend hat Schopenhauer im zweiten Bande der
„Parerga und Paralipomena“ den durchgreifenden Unterschied
zwischen antiker und moderner Kleidung in dieser Beziehung
charakterisiert. Die Kleidung war noch ein Ganzes, das vom
Körper gesondert blieb und die menschliche Gestalt in allen Teilen
möglichst deutlich erkennen ließ. Sexuelle Beizung war nur durch
die Verwendung durchsichtiger Gewänder möglich, die in
den Kreisen der Demimonde und effeminierten Männerwelt beliebt
waren. Varro, Juvenal, Sen e ca geißeln mit scharfen
Worten diese Unsitte der „Coaeae vestes“ oder des aus Aegypten
übernommenen Trikot. Als besonderer Typus erschien damals zu-
erst die Frau in Männerkleidung, ein Beweis für die große Ver-
breitung der Knabenliebe, auf deren Neigungen jene als Männer
verkleideten Prostituierten spekulierten, um konkurrenzfähig zu
bleiben.
Die Zerlegung der Kleidung in eine Ober- und
Unterkleidung bedeutete eine für die erotische Wirkung sehr
wirksame Differenzierung der Kleidung. Erst jetzt konnten sich
die einzelnen Teile des Körpers im Verhältnis zum Ganzen
geltend machen, ihr Formausdruck deutlicher hervortreten. Die
Taille in Uebereinstimmung mit der an der menschlichen Ge-
155
stalt sichtbaren Hauptform des Goldenen Schnittes gab den Grund-
ton für das Kleidsame der Tracht.33)
Die Zerlegung der Kleidung äußerte sich weiter in der Tren-
nung der eigentlichen Kleidung von der darunter liegenden in-
timeren Bedeckung des Körpers, der Leibwäsche, den Hemden,
Jupons und Dessous. Besonders diese Differenzierung hat eine
große erotische Bedeutung. Erst die Vergrößerung der Zahl der
Kleidungsstücke hatte die erotisch betonte Vorstellung der all-
mählichen „Ankleidung“ und „Entkleidung“ zur Folge, die Idee
der intimen „Toilette“. Die Möglichkeiten der Entblößung, Halb-
verhüllung und halben Nuditäten wurden bedeutend vermehrt, der
erotischen Phantasie ein weiterer Spielraum eröffnet.
In Verbindung damit deutete die Taille, namentlich beim
Frauenkörper, eine Trennung der Körpersphären in eine obere mehr
dem Intellektuellen, und eine untere mehr dem' rein Sexuellen zu-
gewandte Sphäre.
„Die Taille, die eigentlich schon durch Hüftkette oder Gürtel
gegeben ist, aber durch die fortschreitende Zerlegung der weib-
lichen Kleidung gewissermaßen prinzipiell wird, teilt den Frauen-
leib in Ober- und Unterleib. Die bekleidete Frau wird zum Insekt,
zur Wespe, mit scharf abgegrenzter Gemüts -und Geschlechts-
sphäre, mit einer himmlischen und einer irdischen Partie.“34)
Mit dieser Zerlegung und Differenzierung der Kleidung war
nun ein reiches Feld für die Betätigung der „Mode“ gegeben, die
daher als solche eigentlich erst im Mittelalter beginnt, nach S o in -
hart35) zuerst in den italienischen Städten des 15. Jahrhunderts
ihre volle Wirksamkeit gewinnt. Die Mode ist ein Produkt des
christlichen Mittelalters, das spezifische Element, das diese Zeit
in die weibliche Kleidung eingeführt hat, das Korsett, ist ein
Erzeugnis der christlichen Lehre.
Stratz bemerkt darüber: „So überraschend es klingen mag,
so ist es doch merkwürdigerweise wahr und läßt sich beweisen:
Das Korsett hat seinen Ursprung zu danken dem
christlichen Gottesdienst. Bei der, wenigstens im öffent-
lichen Leben, streng kirchlichen Richtung des Mittelalters, ver-
33) Vgl. darüber Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie
der Technik. Braunschweig 1877, S. 267.
34) Lucianus, Erotik der Kleidung a. a. O. S. 16.
85) -\y. Sombart, Wirtschaft und Mode, Wiesbaden 1902, S. 12.
156
langte die herrschende asketische Auffassung die größtmögliche
Bedeckung des weiblichen Körpers, und das Abtöten des
Fleisches erheischte, daß namentlich diejenigen Körperteile
dem Anblick der sündhaften Menschheit entzogen wurden, die als
besondere Kennzeichen des weiblichen Geschlechtes bekannt sind.
Durch das Weib war ja die Sünde in die Welt gekommen, und
darum mußte vor allen das Weib darauf bedacht sein, die sünd-
haften Merkmale ihres niederen Geschlechtes soviel wie möglich
zu verbergen. Während die Männer durch möglichste Verbreite-
rung von Schultern und Brust ein kräftigeres, kriegerisches
Aeußere vorzutäuschen suchten, finden wir bei den Frauen im
12. bis 16. Jahrhundert das Bestreben vorherrschen, die Brust
möglichst platt und kindlich, engelhaft schmal zu gestalten, und
zu diesem Zwecke, zum Zusammenpressen, zum Ver-
schwindenlassen der Brüste diente der Schnür-
te ib, die älteste Form des Korsetts.“36)
Es ist nun charakteristisch, wie die Mode später das Korsett
gerade im entgegengesetzten Sinne verwendete, nämlich
um die Brüste „unter dem tiefer und tiefer sinkenden oberen Rand
des Gewandes desto deutlicher hervortreten zu lassen.“ So ent-
stand ein Kampf der mittelalterlichen Mode gegen die asketische
Richtung der Zeit. Sie siegte auf der ganzen Linie, was man
in der interessanten Abhandlung von Ritter über die Nuditäten
des Mittelalters im einzelnen verfolgen kann.37)
Seit dem Mittelalter wurden besonders zwei Körperteile durch
die Kleidung beim weiblichen Geschlecht akzentuiert: Busen
und Hüft- und Gesäßgegend.
Der Hervorhebung des Busens diente, wie erwähnt, das
Korsett, das zugleich eine erregende Kontrastwirkung zwischen
seiner Form und der durch den Schnürleib verstärkten Schlank-
heit der Taille schuf. Zugleich wurde frühzeitig eine Entblößung
dieser Region damit verbunden, durch Einführung der Kleider
„ä la grand’ gorge“, während das aus Stangen von Fischbein, Stahl
und Eisendraht hergestellte Korsett, eine „bonne conché“ ver-
lieh. Die Akzentuierung des Busens beherrscht die weibliche Mode
S6) Stratz, Frauenkleidung, S. 123—124.
37) B. Ritter, Nuditäten im Mittelalter. Sittengeschichtliche
Skizze in: Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst, herausgegeben
von O. Wigand, Leipzig 1855, Bd. III, S. 229.
157
bis zum heutigen Tage. Außer dem Korsett wurden für diesen
Zweck nodi künstliche Busen aus Wachs, ferner Verzierungen in
Form von „Brustringen“ usw. zu Hilfe genommen.
Die teilweise Entblößung des Busens stellt das eigentliche
Décolleté unserer Bälle und Festlichkeiten dar, eine Sitte, gegen
die selbst ein in diesen Dingen sonst so toleranter Mann wie
H. Bahr aus ästhetischen Gründen Einspruch erhebt.38)
„Die Kunst, schöne Mäddien und Frauen in Gedanken
zu entkleiden und genießen,“ sagt Georg Hirth, „lernt man
namentlich auf Hof- und anderen Bällen, wo für die weiblichen
Teilnehmer die Entblößung der oberen Fleischpartien vorschrifts-
mäßig ist. Es ist erstaunlich, wie rasch, wie anstands-ausnahmslos
die Jungfrauen der besten Kreise sich mit dieser für uns Männer
so aufregenden Exhibition befreunden. Dennoch würden sie die
Nase rümpfen, wenn auch auf Unteroffiziers- und Dienstboten-
bällen die Damen so tiefe Einblicke in ihren „Herzipopo“ ge-
statteten. So nämlich hörte ich einmal eine Dreijährige die
Dekolletage ihrer Mama nennen, die sich vor dem Balle von
ihren Kinderchen bewundern ließ. AVie würde man das arme
Dienstmädchen auszanken, wenn es den Kindern ihren „Herzipopo“
zeigen wollte!“39)
Auch Fr. Th. V i scher geißelt diese Ausstellung weiblicher
Nuditäten coram publioo. Gewiß ist auch gerade der an solchen
Abenden von dei Männerwelt reichlich genossene Alkohol nicht
geeignet, eine rein ästhetische Betrachtung der zur Schau ge-
stellten Reize aufkommen zu lassen.
Was speziell das Korsett betrifft, so ist es sowohl un-
ästhetisch als auch unhygienisch.
Das Korsett beeinträchtigt den schönen Umriß des weiblichen
Körpers aufs empfindlichste, die dadurch hervorgerufene Wespen-
taille ist eine unschöne Uebertreibung des natürlichen Verhält-
nisses. Bei der von der Herausgeberin der „Dokumente der Frauen“
unter Künstlern veranstalteten Umfrage über das Mieder äußerte
sich u. a. einer derselben, der Ardiitekt Leopold Bauer, fol-
gendermaßen :
„Die Natur hat dem weiblichen Körper einen herrlichen Um-
riß gegeben. Es ist geradezu unerfindlich, wie es das Schönheits-
38) H. Bahr, Zur Reform der Tracht a. a. 0., S. 666.
89) G. Hirth, Wege zur Liebe, S. 619
153
ideal einer langen Zeit sein konnte, diese wundervolle Einheit
zu zerstören. Das Mieder knickt die Wirbelsäule, macht unförm-
liche Hüften, täuscht eine unnatürliche, oft abstoßende Brust-
entwicklung vor, welche unser Gefühl für die heilige Schönheit
des menschlichen Körpers in die niedersten sexuellen und perversen
Triebe umsetzt. Daß das Mieder nicht schlank macht, daran
zweifelt wohl niemand mehr. Auch alle sonst ins Treffen geführten
Vorteile des Mieders sind Vorurteile. . . . Erst losgelöst von dem
Zwange der häßlichen Miederung wird die Kleidung der Frauen
sich frei und künstlerisch entwickeln können.“40)
Ueber die unhygienische Natur des Korsetts herrscht unier
den Aerzten nur eine Stimme. Der schädliche Einfluß des
„Schnürens“ auf die Form und Tätigkeit der Brust- und Unter-
leibsorgane ist von vielen Autoren eingehend erörtert worden.
Ich nenne u. a. nur die Aeußerungen von Hugo Klein,41), von
Menge ,42) von 0. Rosenbac h43) über die Gefahren des Korsetts.
Das Korsett hindert die für eine genügende Tätigkeit der Atmungs-
und Kreislaufsorgane so notwendige Einatmung, wird damit eine
Hauptursache der Bleichsucht (0. Rosenbach), es übt einen
äußerst schädlichen Druck auf die Unterleibsorgane, l>esonders
Magen und Leber aus und verdrängt sie aus ihrer natürlichen
Lage, so daß es zu einer Senkung der Nieren, der Leber, der
Genitalien kommt. Der so unschöne „Hängebauch“ hängt ebenfalls
mit dem Korsettragen zusammen. Der Druck des Korsetts hat auch
oft eine Verkümmerung der Brustdrüsen und eine abnorme Ver-
änderung der Brustwarzen zur Folge. Das beeinträchtigt wieder
das Vermögen des Stillens aufs schwerste oder hebt es ganz auf.
Deshalb ruft auch Georg Hirth in seiner vortrefflichen Ab-
handlung über die Unersetzlichkeit der Mutterbrust: Fort mit
dem Korsett, ein breiter Bund unter der Brust tut es auch !44)
Audi Bücken- und Bauchmuskeln verkümmern durch die Gewohn-
heit des Korsettragens, das ihre Tätigkeit ziemlich ausschaltet.
40) Leopold Bauer, in: Dokumente der Frauen, März 1902,
S. 675—676.
41) ebendort, S. 671—672.
42) Menge, Ueber die Einwirkung einengender Kleidung auf die
Unterleibsorgane, besonders dio Fortpflanzungs organe des Weibes,
Leipzig 1904.
43) O. Itosenbach, Korsett und Bleichsucht, Stuttgart 1895.
44) G. Hirth, Wege zur Liebe, S. 49.
159
Bleichsucht, Magen- und Leberleiden, Interoostalneuralgien hängen
mit dieser „schädlichsten Unsitte der Frauenkleidung“, wie
v. Krafft -Ebing das Korsett nennt, zusammen. Eingehend
hat Menge die schädlichen Wirkungen des Korsetts auf die
weiblichen Fortpflanzungsorgane studiert, Er erwähnt als solche
u. a. entzündliche Zustände und Schwellungen der Eierstöcke, Er-
schlaffung der Gebärmuttermuskulatur, Itückbildungs- und Wuche-
rungszustände in der Gebärmutterschleimhaut, das Auftreten des
unangenehmen „weißen Flusses“, vorzeitige Unterbrechung der
Schwangerschaft, Lageveränderungen der Gebärmutter (Rück-
wärtsknickung, Vorwärtsbeugung, Senkung), abnorme Dehnung
des ganzen Beckenbodens, Harnverhaltung, Obstipation, nervöse
Beschwerden der verschiedensten Natur. Sehr oft steht auch die
Unfruchtbarkeit des Weibes in einem ursächlichen Zusammenhang
mit der einengenden und Druckwirkung des Korsetts.
Mit Recht spielt daher die Beseitigung des Korsetts die Haupt-
rolle in der Frage der sogenannten „Reformtracht“ der Frau, auf
die wir weiter unten noch zu sprechen kommen.
Neben der Akzentuierung des Busens durch Korsett und andere
Vorrichtungen45) wurde von der weiblichen Mode ein zweites Be-
streben in den verschiedensten Formen hartnäckig festgehalten,
nämlich das, die verschiedenen Partien der Hüftgegend
deutlicher hervorzuheben und alles, was sich auf die direkt ge-
schlechtlichen Funktionen des Weibes bezieht, schärfer zu akzen-
tuieren oder die den Mann stimulierenden sekundären Geschiechts-
charaktere des Weibes in jener Gegend recht drastisch anzudeuten.
„Die wahrhaft modernen Damen,“ sagt Heinrich Puder,
„kokettieren heute weniger mit ihrer Brust als mit ihrem Hinter-
gelände, schon deshalb, weil sie meist männlichen Typus haben ( ?).
Mit dem Cul de Paris hat es angefangen. Heut werden die Kleider
45) Die gegenwärtige Schwärmerei für schlanke, ätherische „prä-
raphaelitische“ weibliche Gestalten hat auch gewissermaßen zu einer
negativen Akzentuierung der Brüste geführt. Und Heinrich Pudor
erklärt es nicht mit Unrecht heute für vielleicht die stärkste geschlecht-
liche Wirkung des Weibes, daß es „jede Brust ableugnet und männ-
liches Geschlecht zur Schau trägt“. (Vgl. seinen Artikel „Kleid und
Geschlecht“ in: Die Gemeinschaft der Eigenen, Augustheft 1906, S. 22.)
Doch scheint die sexuelle Pieizwirkung dieser Busenlosigkeit sich vor-
läufig nur auf gewisse Kreise von Hyperästheten und Homosexuellen
zu erstrecken.
160
so geschnitten, daß die Rückenansicht, vor allem die regio glutaea,
recht prall und recht scharf hervortreten. So etwa sieht heute
eine deutsche Offiziersfrau aus. „Tailor made“ nannte man es
schon früher in England. Der Schneider hat es gemacht, also
nicht die Putzmamsell. Nein, der Schneider, der vielleicht auch
nebenbei Bademeister und Masseur ist. . . Es gibt gewisse Pavian-
rassen, die sich durch einen besonders farbenprächtigen und stark
geformten Hinteren auszeichnen — kein Zweifel, daß sich diese
unsere modernen Damen das high life zum Vorbild genommen
haben. Oder wollen sie den homosexuellen Neigungen ihrer Männer
entgegenkommen ? Gewiß. Hier liegt der tiefere Grund zu der
heute das Hintergelände so sehr bevorzugenden Kleiderkultur
unserer Tage. Das Abscheuliche ist aber hierbei nicht die Homo-
sexualität, sondern der Mißbrauch, der mit dem Kleid getrieben
wird. Freilich, das für feinere Sinne abstoßendste Treiben ist wohl
dies, daß die Frauen das Kleid um die Hüften herum so eng
als möglich tragen, damit das, was das Weib als Geschlechtswesen
charakterisiert, das breite Becken, möglichst stark isoliert in Er-
scheinung tritt.“46)
Aehnlich hat Fr. Th. Vis cher diese Unsitte der krassen
Akzentuierung kallipygischer Reize gegeißelt,47) welche im 18.
Jahrhundert durch Erfindung der sogenannten Tournüre (Cul
de Paris) inauguriert wurde, gegen die schon Mary Weil-
stonecraft die ernstesten Bedenken erhob. Durch die Spannung
des Kleides wurden nicht bloß das Gesäß, sondern auch Hüften und
Schenkel in gröbster Weise hervorgehoben. Dazu kam noch in
gewissen Epochen die Andeutung des weiblichen Schoßes durch
die Form und Art der Kleidung, wie im Mittelalter bis zum 16.
Jahrhundert die Mode Frauen und Mädchen mit dem Kennzeichen
der Schwangerschaft ausstattete, was man z. B. noch auf den
Gemälden des Jan van Eyck (Das Lamm, Eva), des Hans
Memling (Eva) und Tizians (Schöne von Urbino) sehen kann.
Die Mode der „dicken Bäuche“ im 17. und 18. Jahrhundert war
nur eine andere Variation desselben Themas.
In naher Beziehung zu den eben erwähnten Ausartungen der
Mode steht der Reifrock (Montgolfière) oder die Krinoline. II.
II. Pudor, Nackt-Kultur. Zweites Bändchen: Kleid und
Gesohlecht; Bein und Becken. Berlin-Steglitz 1906, S. 7—8.
4T) Vgl. die Stelle in meinen „Beiträgen usw.“ I, 152—153.
161
Sie wurde zuerst im 16. Jahrhundert von Kurtisanen und Prosti-
tuierten erfunden, die mit runden und herausfordernden Formen
prahlen und die Männer durch diese „vertugales“, die nach dem
Bonmot eines Franziskaners die „vertu“ vertrieben, um nur die
„gale“ (Syphilis) übrig zu lassen, anlocken wollten. Das Treffendste
über die widerwärtig-schmutzige Mode des Reifrockes hat
Schopenhauer gesagt.48) Es scheint, als ob die Krinoline,
die unter dem zweiten französischen Kaiserreiche bekanntlich ihre
größten Triumphe feierte — wer kennt nicht die charakteristischen
Daguerrotypen aus jener Zeit? —, auch neuerdings wieder ihre
Auferstehung erleben soll, da schon im letzten Winter die ersten
Versuche zur Rehabilitierung dieser Kleidungsmonstrosität ge-
macht wurden.
Der körperliche Unterschied zwischen Mann und Frau ist
auch wohl die Hauptursache des Unterschiedes zwischen männ-
licher Kleidung und Frauentracht. Nach Waldeyer (Verhand-
lungen des 26. Anthropologenkongresses in Kassel 1895 im Kor-
respondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie 1895
No. 9 S. 76) sind besonders die Differenzen in Länge und Stel-
lung der Oberschenkel maßgebend für die Differenzierung von
männlicher und weiblicher Tracht gewesen. Beim Weibe sind die
Oberschenkel wegen der größeren Beckenbreite an ihren oberen
Enden weiter voneinander entfernt, als beim Manne, und da sie
sich im Knie bis zum Anschluß wieder nähiem, so sind sie mehr
schräg gestellt. Dies im Verein mit der geringeren Länge des
weiblichen Oberschenkels übt einen offenbaren Einfluß auf den
Gang aus, besonders beim Laufschritt, in dem der Mann dem
Weibe überlegen ist. In diesem rein anatomischen Verhalten
liegt der Grund, warum die die unteren Extremitäten deutlich
hervortreten lassende Männertracht für das Weib unvorteilhaft
erscheint, namentlich bei aufrechter Stellung. Es ist mit eine
wesentliche Ursache für die Differenzierung von Männer- und
Frauentracht.
Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen der Klei-
dung von Mann und Weib ist die im ganzen größere Einfachheit
und Monotonie der Männertracht. Man hat sie nicht mit Unrecht
mit der größeren geistigen Differenzierung des Mannes in
48) Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Reklamausg.
Ed. Y, S. 176.
B1 o o h , Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—RO. Tausend.-)
11
162
Zusammenhang' gebracht, die keiner besonderen Akzentuierung der
individuellen Persönlichkeit durch die Kleidung bedürfe. Das
Weib, das eben früher nur Geschlechtswesen war, benutzte die
Kleidung in der mannigfaltigsten Weise als geschlechtliches An-
lock ungsmittel, als Hauptersatz für das ihr durch Natur und
Sitte versagte aktive Vorgehen, das wiederum den Mann im
großen und ganzen der Anwendung sexueller Stimulantien durch
die Kleidung enthob.
Noch einen anderen Gesichtspunkt macht Georg Simmel
geltend. Er meint, daß die Frau, mit dem Manne verglichen, im
ganzen das treuere Wesen sei, daß aber eben diese Treue, die
die Gleichmäßigkeit und Einheitlichkeit des Wesens nach der Seite
des Gemütes hin ausdrücke, um der Balancierung der Lebens-
tendenzen willen irgend eine lebhaftere Abwechslung auf mehr
abseits gelegenen Gebieten verlange, während umgekehrt der seiner
Natur nach untreuere Mann, der die Bindung an das einmal
eingegangene Gemüts Verhältnis nicht mit derselben Unbedingtheit
und Konzentrierung aller Lebensinteressen auf dieses eine zu be-
wahren pflegt, infolgedessen weniger jener äußeren Abwechslung
bedürfe. Der Mann ist gegen seine äußere Erscheinung im glanzen
gleichgültiger als das Weib, weil er im Grunde das vielfältigere
Wesen ist und deshalb jener äußeren Abwechslungen eher ent-
raten kann.49) I
Trotzdem fehlte es bis zum Beginne des 19. Jahr-
hunderts auch in der Männermode nicht an Bestrebungen,
gewisse Teile der Kleidung als sexuelle Stimulantien wirken
zu lassen. Ich verweise in dieser Beziehung auf meine
früheren Mitteilungen50) und erwähne nur als besonders
charakteristische Ausartungen der Männertracht die starke äußere
Hervorhebung der männlichen Genitalien durch die Hosenlätze
(braguettes), die die Form eines männlichen Gliedes nachahmenden
Schuhe „ä la poulaine“, die sehr oft seit der römischen Kaiserzeit51 *)
wiederkehrende feminine Tracht der Männer, die mit der jeweiligen
größeren Verbreitung homosexueller Neigungen zusammenhängt
iä) G. Simmel, Philosophie der Mode, Berlin 1906, S. 24.
50) Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis, Bd. I,
S. 158—162.
51) Schon O v i d ermahnt in seiner Ars amandi die Männer, welche
den Frauen gefallen wollen, weibischen Putz zu vermeiden, diesen
den Homosexuellen zu überlassen.
163
und bisweilen an Buntheit, Farbenpracht, häufigem "Wechsel und
zeitweiligen Nuditäten es mit der Frauenkleidung auf nehmen
konnte. Hier gibt die Kleidung nicht bloß Aufschluß über den
inneren Menschen, sondern auch über den Charakter der Zeitepoche.
Es gibt ja auch ein modernes Dandytum, das manche Auswüchse
früherer Zeiten wiederholt, aber im ganzen tendiert die Männer-
mode zur Einfachheit und sexuellen Indifferenz. Diese Bewegung
ist von England ausgegangen und die englische Herrentracht ist
für die ganze Welt vorbildlich geworden, wälirend die Frauen-
kleidung nach wie vor aus Paris ihre modischen Anregungen
empfängt.
Es gibt außer den geschilderten indirekten Beziehungen der
Kleidung zur Vita sexualis noch eine direkte, das ist die
Wirkung gewisser Kleidungsstoffe auf die Haut,
woraus gewisse Ideenassoziationen und abnorme Neigungen ab-
geleitet werden können. So wirkt z. B. die Berührung von wollenen
und Pelzstoffen sexuell erregend. Schon Byan verglich ihre Wir-
kung mit der der Flagellation.52) Auch in diesem Sinne gehören
Pelz und Peitsche zusammen, diese beiden Symbole des „Masochis-
mus“. Auch Samt wirkt ähnlich. Der berühmte Verherrlicher
der „Venus im Pelz“, Leopold von Sacher-Masoch, hat
sich in dem bekannten gleichnamigen Roman eingehend über die
sexuelle Bedeutung der Pelzstoffe ausgesprochen. Sie üben nach
ihm einen seltsam prickelnden physischen Reiz aus, vielleicht durch
Ladung mit Elektrizität und durch die warme Atmosphäre. Eine
Frau im Pelz ist wie eine „große Katze,53) eine verstärkte
elektrische Batterie“. Auch Geruchseindrücke scheinen dabei mit-
zuwirken. Denn in einem Briefe an seine Frau schreibt Sacher-
Masoch einmal, welche Wollust es ihm sein würde, sein Gesicht
in dem warmen Duft ihrer Pelze zu baden.54) Mit der Vorstellung
der Erregung durch Berührung und Geruch des Pelzes verband
er aber außerdem noch diejenige, daß der Pelz dem Weibe etwas
Machtgebietendes, Herrisches, Dämonisches verleihe. Seine Venus
im Pelz ist ihm zugleich die „Herrin“. Tizian fand für den
62) J. Ryan, Prostitution in London, London 1839, S. 382.
In Alfred de Mussets erotischer Erzählung „Gamiani“
wird geschildert, wie sich eine Frau auf einem Teppich von Katzen-
haaren wälzt, was ihr sehr wollüstige Empfindungen verschafft.
54) Meine Lebensbeichte. Memoiren von Wanda von Sacher-
Masoch, Berlin und Leipzig 1906, S. 38.
11*
164
rosigen Leib seiner Geliebten keinen köstlicheren Rahmen als
dunklen Pelz. Es ist wohl die starke Kontrastwirkung zwischen
den zarten Reizen und dem zottigen Gewände, das jene seltsame
symbolische Beziehung zu Machtgelüsten und grausamer Despotie
hervorruft. In einem geistreichen Essay „Venus im Pelz“ (Berliner
Tageblatt No. 487 vom 25. September 1903) wird dieser Gedanke
ausgeführt und erklärt, daß die Vorliebe der Frau für Pelzwerk
aus ihrer innersten Natur resultiere. Es ist die geheime Ahnung
einer Steigerung ihrer Machtwirkung durch den Kontrast.55)
Männer- und Frauenkleidung betrifft im allgemeinen den
ganzen Körper mit Ausnahme des freibleibenden Gesichtes, von
der Kopfbedeckung und Haartracht abgesehen. Neuerdings bringt
nun H. Pudor auch das Gesicht in eine eigentümliche
sexuelle Beziehung zur Kleidung. Seine Aeußerungen
darüber, denen manche zutreffende Beobachtung zugrunde liegt,
wenn sie auch als Ganzes übertrieben sind, lauten:
„Es ist kein Zweifel, daß das Gesicht Träger des Geschlechts-
sinnes zweiten oder dritten Grades ist. Nicht etwa nur der Mund
oder der Kehlkopf. Die Nase besonders vermöge der den Duft auf-
nehmenden Schleimhäute. Das Auge vermöge der magnetischen
Strömungen, der Lichtspaltung und der chemischen "Wirksamkeit
der Netzhaut. Aber selbst die Wangen und Ohren: man lasse sich
von einer Person, die man gern hat, etwas ins Ohr flüstern —
und man wird aus dem Kitzel, den man fühlt, merken, wie von
hier Leitungen nach den Geschlechtszellen führen. (!) Vor allem
aber natürlich der Mund. Wir sprechen von den Schamlippen des
weiblichen Geschlechtsteiles und deuten schon damit die Beziehung
zu den Lippen des Mundes an. Man kann in der Tat eine Kon-
gruenz, nicht nur einen Parallelismus im Bau des Mundes und
der Geschlechtsteile beim Manne ebenso wie bei der Frau nach-
weisen. Ja, man kann noch weiter gehen, man kann die regio
sacralis der Stirn, die regio analis der Nase, die regio pudendalis
dem Munde und die regio glutaea den Wangen oder Backen gleich-
stellen. (!)
Wenn aber nun die geschlechtliche Differenzierung der Ge-
Erwähnt sei an dieser Stelle eine Aeußerung in dem Tagebuch
der Goncourts, daß nichts dem zarten Wollüstigen Heize des alten
Kaschmir bei Frauen zu vergleichen sei. E. u. J. de G o n c o u r t,
Tagebuchblätter 1851—1895. Deutsch von H. Stümcke, Berlin und
Leipzig 1905, S. 65.
165
sichtsteile feststeht, so gewinnen wir von diesem Standpunkt
aus einen interessanten Ausblick auf die tiefer liegenden Ursachen
des Kleidertragens. Die Geschlechtsteile ersten Grades verhüllen
die Kulturmenschen, die Geschlechtsteile dritten Grades, also die
Gesichtsteile tragen sie nackt, ja sie sind vermöge der vielfachen
Bekleidung der das Gesicht umgebenden Körperteile bestrebt, die
Nacktheit des Gesichtes als Geschlechtsteiles dritten Grades recht
stark hervorzuheben — nun erkennt man auch die Rolle, die der
Hut spielt — und durch das, was man Koketterie nennt, die eigent-
lichen Geschlechtsteile in den Gesichtsteilen gleichsam nachzu-
spiegeln oder vermöge der Gesichtsteile auf die Geschlechtsteile
aufmerksam zu machen und gewisse Eigenschaften der letzteren
in den ersteren wachzurufen. In diesem Zusammenhang sei an ge-
wisse Gesichtstrachten erinnert, die dazu dienen, die Nackt-Sphäre
des Gesichtes noch mehr einzudämmen und einen noch größeren
Bereich des Gesichtes zu bekleiden, wie die die Ohren bekleidenden
Haarflechten, die die Tänzerin Cleo de Merode eingeführt hat,
oder die sogenannten Ponnylocken, oder die bis über die Mitte
des Kinnes gezogene Kinnbinde. Vielleicht spielt sogar der Ge-
sichtsschmuck (Halsband, Ohrringe, Stirnreif bis zu Klemmer und
Lorgnette [!]) auch nach dieser Richtung eine gewisse Rolle. Vor
allem denke man aber dabei an die Stehkragen und an die hohen
Taillen- und Busenkragen, die die Bekleidung bis zum Kinn führen.
Jener Teil des Gesichtes aber, welcher nackt bleibt, soll nun auch
so sehr als möglich nackt sein, deshalb sind Haare, sofern sie
nicht zum Bart als Geschlechtsteil zweiten Grades gehören, ver-
pönt, und die Gesellschaft sieht ängstlich darauf, daß die Ge-
sichter „clean shaved“ sind.“5ß)
Das Verhalten des Gesichts zur Kleidung macht uns schon
den Begriff des „Kostüms“ als einer Erweiterung der Kleidung
über die eigentliche Körperbedeckung hinaus klar. Alles, was den
Menschen umgibt, was zu seiner Erscheinung eine Beziehung hat,
ist Kostüm im weiteren Sinne des Wortes, so Wohnraum, Werk-
stätte, Studier- und Toilettenzimmer, Park, Bibliothek usw. „Auf
das, was wir zunächst um uns und an uns haben, auf unsern
Anzug, achten wir, denn darin sind wir zu Hause, darin leiden
und freuen wir uns. Wo wir uns heimisch fühlen, werden wir
uns so einzurichten trachten, daß bis zu den fernsten Aeußerungen 56
56) H. P u d o r, Nackt-Kultnr, Bd. II, S. 4—6.
166
unseres Daseins uns behaglich, wird, so daß Zimmer, Kammer,
Haus und Garten eine Fortsetzung, eine Erweiterung
unserer Kleidung bilden.“ (A. v. Eye).57)
So kommt es, daß die „Mode“ nicht bloß die menschliche
Kleidung betrifft, sondern sich auf eine Fülle von Gebrauchs-
gegenständen erstreckt. Zimmereinrichtung und Ausstattung,
Kunstgegenstände, Körperpflege, gesellschaftlicher Verkehr, Sport
usw. werden der Mode unterworfen. Auf diesen erweiterten Begriff
der Mode trifft die Definition Fr. Th. Vischers zu: „Mode ist
ein Allgemeinbegriff für einen Komplex zeitweise gültiger Kultur-
formen.“
Die Theorie der Mode ist besonders von Sombart58) und
S i m m e l59) bearbeitet worden. Auch bei W. F r e d60) finden sich
einzelne geistreiche Bemerkungen.
Nach Simmel erfüllt die Mode eine doppelte Aufgabe. Sie
ist einerseits Nachahmung eines gegebenen Musters und genügt
damit dem Bedürfnis nach sozialer Anlehnung. Sie führt den
einzelnen auf die Bahn, die alle gehen. Aber auf der andern
Seite befriedigt sie das Unterschiedsbedürfnis, die Tendenz auf
Differenzierung, Abwechslung, Sich-Ablieben. Das bewirkt sie
durch häufigen Wechsel des Inhalts und durch die Tatsache, daß
sie zuerst immer eine Klassenmode ist. Die Moden der höheren
Stände unterscheiden sich von der der niedrigen und werden in
dem Augenblicke verlassen, wo sie auf diese übergehen. So ist nach
der Definition Simmels die Mode nichts anderes als
eine besondere unter den vielen Lebensformen,
durch die man die Tendenz nach sozialer Egali-
sierung mit der nach individueller Unter-
schieden heit und Abwechslung in einem einheit-
lichen Tun zusammenführt.
Im Modezentrum Paris ist das Zusammengehen dieser beiden
Tendenzen am besten und reinsten zu studieren. Man kann dort
beobachten, wie zunächst immer nur ein Teil der Gesellschaft,
der Gesellschaftsgruppe die Mode übt, die Gesamtheit aber sich
57) Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik,
Braunschweig 1877, S. 269—270.
58) W. Sombart, Wirtschaft und Mode, Wiesbaden 1902.
69) G. Simmel, Zur Psychologie der Mode in: Die Zeit vom
12. Oktober 1895; Philosophie der Mode, Berlin 1906.
6°) w. Fred, Psychologie der Mode, Berlin 1905.
167
erst auf dem Wege zu ihr befindet. Ist sie völlig durchgedrungen,
wird sie ausnahmslos geübt, dann ist sie auch schon zu Ende,
ist keine „Mode“ mehr, weil nun jede Unterschiedlichkeit auf-
gehoben ist. Sie „hat durch dieses Spiel zwischen der Tendenz
auf allgemeine Verbreitung und der Vernichtung ihres Sinnes,
die diese Verbreitung gerade herbeiführt, den eigentümlichen Reiz
der Grenze, den Reiz gleichzeitigen Anfanges und Endes, den,
Reiz der Neuheit und gleichzeitig der Vergänglichkeit“ (S i mmel).
Hiermit hängt es zusammen, daß gerade die Demimonde
von jeher den Antrieb zu neuen Moden gegeben hat. Bei der ihr
eigentümlichen unsicheren gesellschaftlichen Position ist ihr eiles
Kon\entionelle, Althergebrachte verhaßt, nur das Neue, die Ver-
änderung ist ihr gemäß. „In dem fortwährenden Streben nach
neuen, bisher unerhörten Moden, in der Rücksichtslosigkeit, mit
der gerade die der bisherigen entgegengesetzteste leidenschaftlich
ergriffen wird, liegt eine ästhetische Form des Zerstörungstriebes,
die allen Pariaexistenzen, soweit sie nicht innerlich völlig ver-
sklavt sind, eigen zu sein scheint.“ (Simmel.)
Andererseits dient die Egalisierungstendenz der Mode fein-
fühligen Naturen als eine Art Schutz ihrer Persönlichkeit, wie
Simmel das in geistvoller Weise ausführt. Diesen dient die
Mode als eine Art Maske. „So ist es gerade eine feine Scham und
Scheu, durch die Besonderheit des äußeren Auftretens vielleicht
eine Besonderheit des innerlichsten Wesens zu verraten, was manche
Naturen in das verhüllende Nivellement der Mode flüchten läßt...
Sie gibt einen Schleier und Schutz für alles Innere und nun um
so Befreitere ab.“
Daß die moderne Mode wesentlich ein Kind des 19. Jahr-
hunderts ist, und mit dem Wesen des Kapitalismus aufs innigste
zusammenhängt, hat W. Sombart schlagend nachgewiesen. Als
entscheidende Tatsache im Modebildungsprozesse bezeichnet er die
Wahrnehmung, daß die Mitwirkung des Konsumenten dabei auf
ein Minimum beschränkt bleibt, daß vielmehr durchaus die
treibende Kraft bei der Schaffung der modernen Mode der kapi-
talistische Unternehmer ist. Wenn z. B. eine Pariser Kokotte
eine neue Kleidermode erfindet oder der englische König die Mode
der weißen Hüte und weißen Schuhe für Herren einführt, worüber
neuerdings die Zeitungen berichteten, so tragen diese Leistungen,
nach Sombart nur den Charakter der vermittelnden Beihilfe. Das
eigentliche treibende Agens für die schnelle allgemeine Ver-
168
breitung der Mode und für den häufigen Mode Wechsel bleibt
der kapitalistische Unternehmer, der Produzent oder Händler. Dies
weist Sombart an einzelnen Beispielen überzeugend nach. Diese
ökonomische Seite der Mode muß neben der psychologischen
beachtet werden.
Ist schon, wie oben erwähnt wurde, die Männertracht bei
weitem nicht in dem Maße der Herrschaft der Mode unterworfen
wie die Frauentracht, so machen sich auch in letzter Zeit Be-
strebungen geltend, diese ebenfalls zu vereinfachen, von den Launen
der Mode unabhängig zu machen, und vor allem nach hygienischen
Grundsätzen zu gestalten. Es ist bezeichnend, daß diese Be-
strebungen besonders von den Führerinnen der modernen Frauen-
bewegung ausgehen, ein interessanter Beweis für den oben dar-
gelegten Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Kleidung.
Je differenzierter und innerlich reicher jene, desto einfacher, mono-
toner diese. Insofern ist das Verlangen nach einer Vereinfachung
der weiblichen Kleidung ein durchaus logisches Postulat der
Frauenemanzipation. Aber auch in hygienischer Beziehung kommt
dieser Forderung eine Berechtigung zu. Das hat besonders Paul
Schultze-Naumburg in seinem Buche über „die Kultur des
weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung“ (Leipzig
1901) ausgeführt. Er fordert vor allem radikale Beseiti-
gung des Korsetts und der „engen Taille“ und eine Rück-
kehr der Frauentracht zu den freien, leichten Gewändern der
Antike. Auch dem unhygienischen Schuhwerke der Männer und
Frauen widmet er beherzigenswerte Betrachtungen.
Die Idee, daß sich das Frauengewand zwangslos an die Form
des Körpers anschließen müsse, ist durch das sogenannte „Re-
formkleid“ in seinen verschiedenen Abarten sehr ansprechend
verwirklicht worden. Nicht ohne Einfluß auf diese anerkennens-
werten Bestrebungen war die Bekanntschaft mit der vornehmen
Einfachheit und hygienischen Zweckmäßigkeit der japanischen
Frauentracht.
Einstweilen aber ist die alte Mode noch obenauf und feiert
alljährlich ihre Triumphe in bezug auf neue Erfindungen und
Raffinements der mit den Mitteln der Akzentuierung und Ent-
blößung, der koloristischen und ornamentalen Reize ausgestatteten
mondänen Frauentracht. Als ein kulturhistorisches Dokument für
diese noch immer allmächtige Herrschaft der Kleidermode, für
169
die innigen Beziehungen, die sie zu allen Erscheinungen des ge-
sellschaftlichen Lebens hat, für das sie recht eigentlich den farben-
prächtigen Rahmen abgibt, lasse ich die Schilderung einer Soirée in
den Salons des Pariser Pinanzministers am Beginn des 20. Jahr-
hunderts. Winter 1900, folgen, die ich dem „Kleinen Journale“
(No. 312 vom 12. November 1900) entnehme. Die Mode erscheint
hier nur als ein Teil des raffiniertesten Genußlebens:
Blättern Sie alle Modejournale dieser Erde durch — lassen Sie
sich in den berühmtesten Schneiderateliers die neuesten elegantesten
Modelle vorlegen — studieren Sie im „Palais des Costumes“ die reichen
kostbaren Gewänder der verschiedenen Epochen — bewundern Sie
in der Abteilung: „Tissus, Vêtements“ usw. der Pariser Weltausstellung
all die üppigen Phantasieblüten, die ein ausschweifendes Schneiderhirn
getrieben — und es wird nur ein schwacher dürftiger Abglanz deo-
lebendig gewordenen Träume sein, die uns, einem süßen Rausche
gleich, gefangen nahmen.
Beim Ministre des Finances war’s, bei Mr. und Mdme. Caillaux.
Das weite Tor der mächtigen Fassade des Palais du Louvre er-
strahlte tausendflammig. Die endlose Wagenreihe bewegte sich lang-
sam durch die Eingangshallen in die Cour d’honneur, wo eine Schar
gallonierter Bedienter die Wagenschläge öffnete, wo eine Legion der
vielbesungenen Pariser Füßchen auf weichen samtnen Läufern eiligst
dem Ziel ihrer Erfolge zuschwebten. Unten im Parterre die Garderoben.
Nun stieg man die breite, schwere, hohe Marmortreppe hinan, auf
der bewaffnete Dragoner in strammer militärischer Haltung, steif und
mäuschenstill wie Wachsfiguren aus einem Panoptikum, Spalier bildeten.
Schon dieses Treppenhaus, mit seinem kompakten goldnen Geländer,
seinen Marmorgruppen unter dem Schatten dichter hoher Lorbeer-
büsche, erinnert an einen kühnen Traum, an das Märchen von „ver-
wunschenen Prinzen und Prinzessinnen“, das man nun in die Wirk-
lichkeit übertragen sieht und in dem man zu seiner eigenen höchsten
Verwunderung selbst mitspielt.
Mr. und Mdme. Caillaux stehen an der ersten Tür, empfangen in
liebenswürdig leutseliger Weise ihre Gäste mit Händedruck, dann
und wann auch mit einer freundlichen Ansprache. Der Huissier waltet
gewissenhaft seines Amtes und ruft den Namen eines jeden Ankömm-
lings mit Stentorstimme in den Saal.
In den Saall Wohl reicher, wuchtiger noch ist die Pracht der
Ausstattung des Saales, des Pavillon Rohan, als der Elysée-Sâle. Mäch-
tige Karyatiden tragen den Plafond, von dem fünf kolossale Kron-
leuchter herabhängen. Gold und Kristall glitzern und funkeln und
unser Blick würde wohl noch stundenlang dort eben haften bleiben,
würden wir nicht von allen Richtungen her den unwiderstehlichen
Magnet empfinden, der uns gewaltsam zur berückenden Weiblichkeit
170
zieht. Und unser Auge taucht unter und wird mit fortgerissen von
der Flut der Schönheit, die uns umbraust I Wie schwer ist es da,
zu sezieren, zu kritisieren, zu detaillieren, wo der Totaleindruck mehr
das Seelenregister, als die Gedanken in Tätigkeit setzt! Und doch —
ich will Sie teilnehmen lassen an den Orgien, die ihre Majestät
Königin Mode gefeiert, und meiner armseligen kleinen Feder will
ich das schwere Amt aufbürden, Ihnen die delikatesten Speisen des
leckeren Mahles vorzusetzen. Außer der Reihe treten aus dem Kaleido-
skop meiner Erinnerungen hervor:
Eine kleine, graziöse, üppige Erscheinung mit graugrünen Augen,
blauschwarzem Haar im griechischen Arrangement, um den Locken-
knoten leicht gewunden ein schmales Bandeau von Silbergaze: eine
fest anschmiegende blauseidene Prinzeßrobe, dekolletiert, sehr de-
kolletiert und nicht erfolglos dekolletiert, darüber ein Spitzen—hemd!
Hier steh ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir — Amen ! Also
wirklich: wundervoller Duchessespitzenstoff in der Form dieses aller-
diskretesten Wäschekleidungsstücks gearbeitet. Nur unten herum weitet
sich dies verführerische Gewand ; an große Zacken, in denen das
Muster endet, schließen sich lange weißseidene Fransen, die aber,
damit sie abstehen, auf einen bauschigen Crêpevolant, das wiederum
mit vielleicht zwölf kleinen Seidenrüschen besetzt ist, fallen; ruhig
fließendes Wasser auf tänzelndem Wellengekräusel. Der Ausschnitt,
der tiefe, ist von einem Perlenblättergewinde begrenzt, das, über die
Schulter gehend, den fehlenden Aermel ersetzen soll, aber so einsichts-
und verständnisvoll ist, ihn nicht zu ersetzen, sondern beglückende
Reize so unverhüllt wie möglich läßt. Spitzen, Schmelz und Tüll und
Samt stehen an der Tagesordnung. Von sylphidenhafter Grazie sind
die plissierten Tüllroben, d. h. die ein Zentimeter breiten Falten werden
nach der Figur des Körpers genäht, gehen also an der Taille spitz
zu und weiten sich nach unten. Auf den Nähten dieser Falten sind
Perlenflitter, einer fest an den anderen gefügt, und auf der Robe ver-
teilt sind große stilisierte Arabeskenmuster aus Schmelz. Zu einer •
schwarzen Tüllrobe fast stets ein weißseidenes Unterkleid. Nur eine
schlanke ätherische Erscheinung sah ich in Fischschuppenkostüm.
Dicke, dichte, schwarze Schmelzschuppen, die schönen Körperformen
fest umgrenzend, einem schillernden, sich windenden Fische gleich,
bewegte sich die Sirene in der staunenden Menge. Und wie gefällt
Einen ein weißes Crêpe de Chine-Prinzeßkleid, das eine junonische
Gestalt zur Schau trug, das prall und doch leger in letzter Minute
auf den Körper gespannt zu sein scheint? Nicht eine Spur von Be-
satz, nur seidene Fransen, die aus dem Stoff herausgeknüpft sind,
fallen so imvorbereitet wie möglich an verschiedenen Raffungen her-
unter. Keine Perlen, keine Brillanten verdecken die Schönheit ihres
wunderherrlichen Halses ! Goldig rote Haare, in der Mitte gescheitelt,
in Wellen zu beiden Seiten nach einem englischen Knoten im Nacken
führend. Als Haarschmuck vorn, hochstehend, drei einzelne Brillant-
steine, die wie kleine Ableger aus dem großen leuchtenden Stern, dem
Weibe, gleichsam heraus zu wachsen scheinen. Die englische Frisur,
17Ï
die, wie man mm Schrecken der Meisten verbreitet, wieder Mode
werden soll, war hier nur sehr spärlich vertreten. Außer dieser
Heroinenerscheinung trug sie nur noch ein blutjunges, mit allem Zauber
der italienischen Rasse gesegnetes Mädchen, von vielleicht 18 oder
19 Jahren. Die elegante Pariserin wird auf die Vervollständigung
ihrer verführerischen Gesamterscheinung, auf die hohe Frisur, nicht
ganz Verzicht leisten. Im besten Fall werden nur leise Konzessionen
gemacht. Wie reizend sich das hochgekämmte Haar garnieren und
verzieren läßt, dafür sprach der gestrige Abend. Der kleine grüne
Blätterkranz um den griechischen Knoten gewunden, aus dem als
einzige Blume eine Rose auf einer Seite fast bis auf die Stirn fällt,,
kleidet ganz entzückend zu Gesicht. Originell und nicht minder schön
machten sich zwei Riesen-Chrysanthemen rechts und links über dem
Ohr, den Kopf verbreiternd, aber ihm gleichzeitig ein apartes Relief
gebend. Noch jener ganz mattgelben Spitzenrobe muß ich gedenken,
die auf einen durchweg plissierten Rock aus weißem Crêpe chiffon
fällt, auf der ebenfalls ganz plissierten Taille ein dekolletierter Spitzen-
bolero, als Gürtel ein schmiegsames goldenes Band. Ein halblanger
Aermel aus Entredeux-Plisses, am Ellenbogen fällt ein reicher plissierter
Volant, mit kleiner Rüsche besetzt, weit auseinander. Die Taille vorn
phantastisch, zügellos verlängert. Hier muß ich eine Parenthese machen.
Wir sind doch unter uns, meine Damen, denn so weit wird meinem
Bericht wohl kein Herr gefolgt sein. Also das Korsett hat eine große
Reform hervorgerufen, der Einschnitt an der Taille vom existiert
nicht mehr, die Stangen gehen gerade herunter, so daß, ich muß
medizinisch werden, der Magen und die angrenzenden Organe weniger
eingeengt sind und einen weiteren Spielraum haben. Frauen mit kurzer
Taille, die in Deutschland fast zur Epidemie geworden, gereicht diese
Korsettform zu einem unschätzbaren Vorteil, denn sie dürfen ad libitum
ihrer Taille den Abschluß geben. Auch hier findet man aus dieser
Reform oft zu eifrig Kapital geschlagen, denn die endliche Erfüllung
einer so lange unbefriedigten Sehnsucht artet, wie auch bei allen
anderen Dingen im Leben, in Uebertreibung aus. Und nun wieder
zurück aus unserer diskreten Ecke, ins Gewühl. Da stoßen wir sofort
wieder a.uf eine eigenartige Erscheinung. Auf silbergrauem Atlas-
Prinzeßkleid eine schwarze Perlenrobe, sackartig hängend, ohne Nähte,
nur am Rücken eine Watteaufalte. Links von der Schulter, bis zum
Kleidersaum herabhängend, eine Girlande bunter großer Chrysan-
themen, einer modernen Pariser Ophelia gleich. Eine buntgeblümte
Pompadourtoilette echtesten Stils lenkt uns ab. Nooh eine andere
fesselnde Erscheinung in einer rosa Tüllrobe mit rosa Sammetbändem
nach der Form des Glockenrockes, besetzt, darüber Chamoix-Spitzen-
Tunique, huscht an uns vorüber, um den Oberarm eine Krawatte von
duftigem rosa Malinetüll mit luftiger Schleife . . . und so wird man
immer wieder und wieder abgelenkt von der eigentlichen Unterhaltung
des Abends, die die Gastgeber in Hülle und Fülle boten. Die ersten
Kräfte des Odéon, der Comédie Française liehen ihre Mitwirkung bei
vier Einaktern, in denen sich auch die Granier hervortat. In den Pausen
172
lockte ein Büfett in die Nebensäle, wo es wieder Neues zu bewundern,
gab. Die lange Tafel von Orchideen, in zaubrisch hauchzarten Farben-
tönen geschmückt, bot auch von lukullischen Genüssen das exquisiteste.
Nachdem wir Kleidung und Mode in ihren Beziehungen zum
Sexualleben betrachtet und sie als sexuelle Reizmittel von eigen-
tümlicher Natur kennen gelernt haben, sind wir imstande, die
Beziehungen zwischen Schamgefühl und Nackt-
heit, wie sie sich uns als modernes Kulturproblem dar-
stellen, zu würdigen.
Während, wie auch Simmel hervorhebt und wir oben ein-
gehend dargelegt haben, die Kleidung vermittels der Mode als
Massenaktion Schamlosigkeiten begeht oder wie man heute zu
sagen pflegt, das Schamgefühl gröblich verletzt in einer Art,
die als individuelle Zumutung vom einzelnen Individuum mit Ent-
rüstung- zurückgewiesen werden würde,61) hat sie gerade auf der
anderen Seite ebenfalls das natürliche, biologische Schamgefühl
irregeleitet, da sie die alleinige Ursache des „übertriebenen Scham-
gefühls“, der Prüderie, wurde. Die Prüderie kennt nur einen
bekleideten Menschen, den nackten Menschen will sie nicht
gelten lassen, die rein sittlich-ästhetische Wirkung der natürlichen
Nacktheit nicht anerkennen, diese ist ihr etwas Unsittliches und
Widerwärtiges!
Diese Prüderie allein trägt die Schuld, daß wir modernen
Kulturmenschen, sowohl den Sinn für die natürliche Nacktheit
als auch für das natürliche Schamgefühl verloren haben und so
wenig Verständnis für die edlen, kulturfördernden Momente in
beiden zeigen.
Die natürliche Nacktheit, der Zustand, in dem der Mensch
geboren wird, nicht die raffinierte, durch Kleidung, Stellung, Ge-
bärde lüstern wirkende Nacktheit, ist durchaus Gegenstand reiner
Anschauung für den normal empfindenden Menschen, der im un-
bekleideten menschlichen Körper eben dasselbe individuelle Natur-
gebilde sieht wie in den Körpern anderer belebter Wesen. Selbst
sonst sehr prüde Leute geben das zu, wenn ihnen einmal die
61) Mit Recht bemerkt Simmel, daß viele Frauen sich genieren
würden, in ihrem Wohnzimmer oder vor einem einzelnen fremden
Manne so dekolletiert zu erscheinen, wie sie es in der Gesellschaft
und der Mode entsprechend vor dreißigen oder hundert tun.
173
heute allerdings seltene Gelegenheit geboten wird, völlig nackte
Menschen in natürlichen Verhältnissen, z. B. beim Baden, zu
sehen.
Erst wenn wir absichtlich ein sexuelles oder überhaupt
nur ein künstliches Moment hineinlegen, wirkt die Nacktheit als
ein lüsterner Beiz. Prüderie ist aber weiter nichts als
solch ein Anschauen des Nackten mit versteckter
Begierde. Das hat schon der geniale Schleiermacher er-
kannt. Er hat die Prüderie als Mangel an Schamgefühl entlarvt
und das Geschlechtlich-Lüsterne in ihr deutlich hervorgehoben.
Die schöne Stelle findet sich in seinen „Vertrauten Briefen über
die Lucinde“ (Ausgabe von K. Gutzkow, Hamburg 1835, S. 63
bis 65) und lautet:
„Was soll man also von denen halten, die in dem Zustande
des ruhigen Denkens und Handelns zu seyn vorgeben, und doch
so unendlich reizbar sind, daß auf den kleinsten entfernten Anstoß
von außen Begungen der Leidenschaft in ihnen entstehen, und um
desto schamhafter zu seyn glauben, je leichter sie überall etwas
Verdächtiges finden? Nichts, als daß sie sich in jedem Zustande
eigentlich nicht befinden, daß ihre eigne rohe Begierde
überall auf der Lauer liegt und hervorspringt, sobald
sich von fern etwas zeigt, was sie sich aneignen kann, und daß
sie davon die Schuld gern auf dasjenige schieben möchten, was
die höchst unschuldige Veranlassung dazu war. Gewöhn-
lich muß ihnen die liebe Unschuld zum Vorwände dienen. Jüng-
linge und Mädchen werden vorgestellt als noch nichts von Liebe
wissend, aber doch von Sehnsucht, die jeden Augenblick auszu-
brechen droht, und den kleinsten Anlaß ergreift, um mit ver-
botenen Ahndungen zu spielen. Das ist aber nichts. Wahre Jüng-
linge und Mädchen sind freilich das Ideal dieser Art von Scham-
haftigkeit, aber in ihnen gewinnt sie eine andere Ge-
stalt. Nur was keinen andern Sinn haben ikann, als Verlangen
und Leidenschaft zu erwecken, muß sie verletzen; aber warum
sollten sie nicht die Liebe kennen dürfen, und die
Natur, da sie beide überall sehen? Warum sollten sie
nicht desto unbefangener verstehen und genießen können, was
darauf gedacht und davon gesagt wird, je weniger eben die
Leidenschaft in ihnen aufgeregt wird? Jene ängstliche
und beschränkte Schamhaftigkeit, die jetzt der
174
Charakter der Gesellschaft ist, hat ihren Grund
nur in dem Bewußtsein einer großen und allge-
meinen Verkehrtheit und eines tiefen Verderbens.
Was soll aber am Ende daraus werden? Es muß dieses, wenn
man die Sache sich selbst überläßt, immer weiter um sich greifen;
wenn man ganz so eigentlich Jagd macht auf das nichtschamhafte,
so wird man sich am Ende einbilden, in jedem Ideenkreise der-
gleichen zu finden, und es müßte am Ende alles Sprechen und
alle Gesellschaft aufhören, man müßte die Geschlechter sondern,
damit sie einander nicht erblicken, und das Mönchtum, wo nicht
noch etwas Aergeres einführen. Das ist nun nicht zu ertragen,
und es wird daher der Gesellschaft ergehen wie unseren Frauen,
die, wenn die Sittsamkeit sie immer enger bedrängt, und es am
Ende unschicklich ist, eine Fingerspitze zu weisen, wie aus Ver-
zweiflung auf einmal rasch umkehren, und wieder Nacken, Schul-
tern und Busen den rauhen Lüften und den forschenden Augen
preisgeben; oder wie den Baupen, die den alben Balg durch eine
entschlossene Bewegung abwerfen. So wird es seyn: wenn die
Verderbtheit den höchsten Gipfel erreicht hat, und die rohen Triebe
so herrschend geworden sind, und so reizbar und scharfsichtig,
daß es nicht möglich ist, sie durch irgend etwas
anzuregen, so platzt jener falsche Schein von selbst, und es
wird sich darunter zeigen die junge Schamlosigkeit mit dem Körper
der Gesellschaft schon längst innig zusammengewachsen, als ihre
wahre Haut, in der sie sich natürlich und leicht bewegt. Die
völlige Verderbtheit und die vollendete Bildung, durch
welche man zur Unschuld zurückkehrt, machen beide
der Schamhaftigkeit ein Ende; durch jene stirbt mit der falschen
auch die wahre ihrem Wesen nach, durch diese hört sie nur auf,
etwas zu seyn, worauf eine besondere Aufmerksamkeit gewendet
und ein eigner Wert gesetzt wird, sie verliert sich in die allge-
meine Gesinnung, unter der sie begriffen ist.“
Herrliche Worte eines Theologen! Diese durchaus richtige
Kennzeichnung des Wesens der Prüderie und ihrer Gefahren
möge unseren heutigen theologischen Muckern und Sittlichkeits-
fanatikem recht eindringlich zu Gemüte geführt werden. Wie
wahr hier von Schleiermacher das Wesen der Prüderie ge-
schildert worden ist, beweist auch die Beobachtung des Psychiaters
J. L. A. Koch, daß gerade früher prüde und „sittsame“ Frauen
in Geisteskrankheiten, z. B. in der Manie, viel schamloser sind
175
als die im gewöhnlichen Leben eine natürlichere Auffassung des
Geschlechtlichen bekundenden Frauen.
Das ewige Verstecken der natürlichsten Dinge macht
sie erst unnatürlich, weckt erst ein Verlangen, wo sonst ein harm-
loses, ruhiges Daran vor beigehen erfolgt wäre. Man hat heute
das natürliche, berechtigte Schamgefühl ins Unnatürliche ver-
größert, und so verfälscht, daß diese Uebertreibung des Scham-
gefühles, diese beständige äußerliche Unterdrückung natürlich-
unschuldiger Regungen und Gefühle in Wirklichkeit die innere
Begierde ins ungemessene steigert, die Fleischeslust recht eigent-
lich nährt.62)
Das echte, natürliche, biologische Schamgefühl ist eine
Schranke der Lust. Wir verdanken ihm die Veredlung und Ver-
geistigung des rohen Sexualtriebes, es ist die Voraussetzung einer
Individualisierung desselben. Es steht in innigster Beziehung zur
freiwilligen temporären und relativen Enthaltsamkeit, die so
große Bedeutung für die eigentliche Liebe besitzt. Das Scham-
gefühl hat den Geschlechtstrieb zivilisiert, ohne seine Grundlage
zu leugnen und zu verneinen.
Die vollendete Bildung kehrt zur vollendeten Unschuld zu-
rück. Diese kennt keine Feigenblätter, sie schlägt nicht, wie jüngst
jener von der Psychose der Hyperprüderie ergriffene Geistliche
im Dresdener Museum, den nackten Statuen die Genitalien ab und
kastriert auch nicht im Geiste den Menschen, wie die meisten
philologischen Biographen es noch heute mit den großen Männern
machen, deren Lebenslauf sie schildern. Sie erkennt das Sexuelle
als etwas Edles und Natürliches an.
Schamgefühl ist eine unverlierbare Kulturerrungenschaft, es
ist Selbstachtung. Aber, wie Havelock Ellis mit Recht be-
merkt, bei voll entwickelten menschlichen Wesen hält die
Selbstachtung ein übertriebenes Schamgefühl im Zaum. Das
Wissen, die Bildung, macht aller falschen Prüderie den Garaus.
Der gebildete Mensch blickt dem Natürlichen fest ins Auge, er-
kennt seinen Wert, seine Notwendigkeit. Ihm ist das Geschlecht-
er) Welche eminenten Gefahren für die Gesundheit die Prüderie
herbeiführen kann, hat neuerdings Karl Ries in einer lesens-
werten Abhandlung „Die Prüderie als Ursache körperlicher Schädi-
gungen“ (in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten 1906, Bd. IV, S. 113—121) sehr anschau-
lich geschildert.
176
liehe Bedingung und Voraussetzung des Lebens, daher im Grunde
etwas Harmloses, Selbstverständliches, das nicht
unterschätzt, aber erst recht nicht überschätzt werden
darf, wie es unsere Tugendheuchler und Fanatiker der Prüderie tun.
Die wahre Liga gegen die Unsittlichkeit ist die Liga gegen
die Prüderie. Die Apostel des Nackten dienen der wahren Sitt-
lichkeit mehr als die „Lex-Heinze-Männer“, die Sittlichkeits-
konferenzler und „christlich-germanischen“ Tugendbolde. Natür-
liche Auffassung des Nackten: das ist die Parole der Zukunft.
Darauf weisen alle hygienischen, ästhetischen und ethischen Be-
strebungen unserer Zeit.
m
ACHTES KAPITEL.
Der JVeg des Geistes in der Liebe. — Die
Individualisierung der Liebe.
Vor allen Dingen müssen wir mit dem weitverbreiteten Irrtum
aufräumen, daß die Liebe ein einfaches und einzelnes Gefühl sei.
Gerade das Gegenteil — sie besteht aus einer ganzen Gruppe, und
zwar einer äußerst zusammengesetzten und ewig wechselnden Gruppe
von Gefühlen.
1L T. Finck.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.!
12
178
Inhalt des achten Kapitels.
Die Individualisierung der Liebe ein Produkt der neueren Zeit. —
Fincks „romantische“ Liebe ein zu enger Begriff. — Rolle der
Idealisierung der Sinne. — Erste Anfänge der individuellen Liebe. —
Der Platonismus der Griechen und der Renaissance. — Unterschied
des Plastischen und Romantischen. — Die Liebe der Minnesänger. —
Verknüpfung von Natur- und Liebesgefühl. — Das Geheimnis in der
Liebe. — Minne und Galanterie. — Die Sklaverei der Liebe. — Das
phantastische Element in der Minne. — Hervortreten der Gemütswelt
in der Ritterzeit. — Ausbildung des Konventionellen in den Liebes-
beziehungen. — Die echte und falsche Galanterie. — Die Liebe bei
Shakespeare. — Das konventionelle Genußleben unter Lud-
wig XV. und XVI. — Der Glaube an das Weib („Manon Lescaut“),
— Rousseaus „Julie“ und Goethes „Werther“. — Naturgefühl
und Sentimentalität in der Liebe. — Unterschied zwischen der „Neuen
Heloise“ und dem „Werther“. — Erste Anfänge des Weltschmerzes.
— Sein physiologischer Zusammenhang mit dem Lebensgefühl der
Pubertät. — Die Lebensenergie im G o e t he - He i n e3chen Welt-
schmerz. — Der moderne Weltschmerz. — Nietzsches Stellung
zu demselben. — Die Liebe der Romantik. —• Ein Spiegel der
Vergangenheit. — Träume und Emotionen. — Mondscheinschwärmerei.
— Kampf gegen die konventionelle Philistermoral. — Friedrich
Schlegels „Lucinde“. — Die Apotheose der Individualliebe. —
Die „Genialität“ der Liebe darin. — Rolle des Emotionellen in der
romantischen Liebe. — Liebesmystik. — Die moderne Renaissance der
Romantik. — Das dionysische Element in der modernen romantischen
Liebe. — Unterschied der „romantischen“ und „klassischen“ Liebe.
Theodor Mundt darüber. — Goethes „Tasso“. — Gretchen
und Helena im „Faust“. — Heinses „Ardinghello“ eine Vereinigung
der romantischen und klassischen Liebe. — Das Vorbild des „jungen
Deutschlands“. — Diskussion aller modernen Liebesprohleme in der
jungdeutschen Literatur. — Gutzkows überragende Bedeutung. —
Der beste Frauenkenner des 19. Jahrhunderts. — Seine Mädchen- und
Frauengestalten. — Bringt zuerst die Liebesprohleme auf die Bühne. —
Das Problem der Persönlichkeit bei Gutzkow. — Die jungdeutsche
Poesie des Fleisches. — Die Selbstanalyse und Reflexion in der Liebe,
— Französische Vorläufer. — Ersatz der mittelalterlichen „Sünde“
durch die feelbstbespiegelung. — Gutzkows „Wally“ und „Se-
raphine“. — Die Liebe der emanzipierten Frau. — Kierkegaards
und Grillparzers Tagebücher. — Die „freie Liebe“ und „freie
Ehe“ in der modernen Literatur. — Einfluß des zweiten Kaiserreichs,
— Das satanische und das artistische Element in der Liebe. — Der
Pessimismus. — Grisebachs „Neuer Tanhäuser“. — Die Lebensbejahung
darin. — Ausblick auf die Gegenwart.
179
Die Individualisierung der Liebe ist wesentlich ein Produkt
der neueren Zeit. Ein geistvoller Schriftsteller, H. T. F i n c k,
hat dieser Tatsache ein umfangreiches Werk in zwei Bänden
gewidmet.1) Er nennt diese individuelle, die geistigen Elemente
aller Kulturepochen enthaltende Liebe die „romantische“ Liebe,
während wir für gewöhnlich unter dieser letzteren eine besondere
Abart der umfassenderen individuellen Liebe verstehen.
Jeder der sich für die zahlreichen „Obertöne“ der indivi-
duellen Liebe interessiert, findet in dem1 Buche Pincks ein
reiches, obgleich wenig übersichtlich angeordnetes Material.
Unabhängig von Finck will ich im folgenden den Versuch
machen, ganz kurz die nach meiner Ansicht wesentlichen
Elemente und Entwicklungsphasen des modernen Liebesgefühles
nachzuweisen.
Vorher aber sei noch der „Idealisierung der Sinne“
gedacht, mit welchem Ausdruck Georg Hirth die Befähigung
der Sinne zur Selbstverwaltung, zu selbständigen Lust- und
Unlustgefühlen bezeichnet, zur Entwicklung eigener Phantasien,
Ideen und Talente und zur beliebigen Indienststellung anderer
Sinnesgebiete und Triebherde, ja des ganzen Individuums zu
Zwecken eben jener rein sinnlichen Selbstherrlichkeit. Die niederen
Sinne, zu denen Hirth auch den Geschlechtstrieb rechnet,
können nur infolge zentripetaler Inanspruchnahme der höheren
Sinne „idealisiert“ werden.* 2)
Diese künstlerische Idealisierung der Sinne und Triebe spielt
auch in dem Prozesse der Individualisierung und Durchgeistigung
der Liebe eine wichtige Rolle. Auch der Geschlechtstrieb wird
zu einer „Quelle reicher Freuden und phantastischer Tragik“
vermittelst des „Phantasieschleiers“, der „Gemütshaube“ und des
*) II. T. Finck, Romantische Liebe und persönliche Schönheit.
Deutsch von Udo Brachvogel. Breslau 1894, 2 Bände.
2) Vgl. G Hirth, Wege zur Freiheit, München 1903, S. 468—472.
12*
180
„Yerimnfthelmes“ (Hirth). An der Idealisierung aller mensch-
lichen Sinne und Triebe nimmt auch die Libido sexualis teil.
Das ist die unentbehrliche Voraussetzung und Grundlage der
Umwandlung des Geschlechtstriebes in Liebe.
Die erste bedeutsame Bereicherung der sexuellen Neigungen
durch ein höheres geistiges individuelles Element, das auch
heute noch einen Bestandteil der modernen Liebe ausmacht, er-
blicke ich im Platonismus des griechischen Altertums und
der italienischen Ilona iss an ce. Es ist eine Metaphysik der Liebe,
beruhend auf individueller ästhetischer Betrachtung der geliebten
Persönlichkeit.3) Denn das ist der wahre Sinn der „platonischen
Liebe“. Sie veredelt die physische Liebe zum himmlischen Eros,
der nichts anderes ist als der Beguiff der Schönheit im
höchsten Sinne des Wortes. Kuno Fischer hat dieser plato-
nischen Liebe in seiner Erstlingsschrift „Diotima“ (Pforzheim
1849) ein herrliches Denkmal gesetzt. Und hat nicht der unsterb-
liche Darwin den Gedanken Platos wiederholt, wenn er die
Schönheit ein Erzeugnis der Liebe nennt ? Im Platonismus lag
jedenfalls die erste Ahnung einer höheren individuellen Be-
deutung der Liebe. In Dantes Beatrice, in Petrarcas plato-
nischer Lyrik leuchtet diese Idee nach der langen Nacht des
Mittelalters wieder auf, um im neuen Platonismus und Schönheits-
kult der Kenaissance noch deutlicher hervorzutreten und eine
viel stärkere individuelle Färbung zu bekommen als sie bei den
Griechen hatte.
Dem plastischen Geiste der Griechen entsprach auch in der
Liebe die ruhige ästhetische Betrachtung, das romantisch Indivi-
duelle war ihm fremd. Es ist ein modernes Gefühl. Jean Paul
hat in seiner „Vorschule der Aesthetik“ (Hamburg 1804, Bd. I,
S. 139) diesen Unterschied zwischen antikem und modernem
Empfinden treffend mit den Worten charakterisiert : „Die
plastische Sonne (der Alten) leuchtet einförmig wie das Wachen;
der romantische Mond (der Neueren) schimmert veränderlich wie
das Träumen.“
3) Auch G-. Saint-Yves (La littérature amoureuse, Paris, 1887,
S. XXY) erblickt in der ästhetischen Betrachtung der geliebten Person
die Urwurzel der individuellen Liebe. Sie habe sich aus der all-
gemeinen ästhetischen Naturbetrachtung allmählich entwickelt. Ein
interessanter Beweis für diesen Zusammenhang ist das Hohelied, in
dem die ästhetischen Reize der Geliebten mit allen möglichen un-
belebten und belebten Naturgegenständen verglichen werden.
181
Diese ersten Spuren der romantisch- individuellen
Liebe lassen sich schon im christlichen Mittelalter nachweisen,
bei den Troubadours und Minnesängern. Das tiefinnige Lied
„Du bist mein, ich bin dein“ bringt die individuelle, rein
persönliche Natur der Liebesbeziehungen zwischen Mann und Weib
bereits zum schärfsten Ausdruck und verrät auch „romantisches“
Empfinden: „Du bist verschlossen in meinem Herzen, verloren
ist das Schlüsselein, nun mußt du immer drinnen sein,“ und jene
der Romantik eigentümliche innige Verknüpfung von Naturgefühl
und Liebesgefühl. Erst der Geliebte macht die Sommerwonne voll,
seine Liebe ist der Rose gleich. Der Subjektivität der Empfindung
wird damit ein ungeheurer Spielraum eröffnet. Die Romantik
des Geheimnisses in der Liebe wird in diesen Zeiten zuerst
empfunden und in Worten offenbart.
Kein Eener, keine Kohle kann brennen so heiß,
Als heimliche Liebe, von der niemand was weiß.4)
Die Zeit des Rittertums kommt heran, die Epoche der Minne
und Galanterie. Welche neue eigentümliche Veränderung in
der geistigen Physiognomie der Liebe! Auch sie hat tiefe Spuren
in der Liebe des heutigen Kulturmenschen zurückgelassen, auch
diese Zeit bildet eine wichtige Etappe in der Entwicklungs-
geschichte individueller Erotik.
Die Ritterehre und die Frauenliebe des Mittelalters, die
„schönsten Strahlen aus dem Leben dieser wunderbaren Zeit“,
wie W ienbarg sie nennt, gehören zusammen. Seitdem blieb
Mannesehre auf eigentümliche Weise mit der Erauenliebe ver-
flochten.
Kühn aber treffend hat der tiefblickende Herder die
ritterliche Minne als einen Reflex der Gothik bezeichnet. Dieselbe
Unermeßlichkeit der Phantasie, dasselbe unnennbare Gefühl schuf
die ungeheuren Dome und die unendlich schwärmende, Wert und
Schönheit der Geliebten bis ins Ungemessene steigernde Minne
nebst ihrem äußeren Ausdruck, der Galanterie.
In vergötternder Anbetung erhob der ritterliche Geist das
schöne Geschlecht in den Himmel, über sich empor, ordnete
4) Vgl. über die zahlreichen Wendungen und Variationen dieses
alten Verses die interessanten Nachweisungen bei Arthur Kopp,
Alter Kernsprüchlein und Volksreime für liebende Herzen ein Dutzend,
in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde in Berlin 1902, Heft 1 S. 8—A
182
sich ihm unter, opferte sich auf für die Gebieterin des Herzens,
unterwarf sich ihrem Urteil vor den „Cours d’amour“, den Liebes-
höfen, Minnegerichten und Turnieren. Der Ritter wurde ein
„Sklave“ der Liebe und der geliebten Frau, er trug ihre
Fesseln, er gehorchte ihren leisesten Winken, er legte sich
Kasteiungen und Schmerzen um ihretwillen auf.
War dieses alles aber Wirklichkeit? War’s nicht vielmehr
wesentlich Phantasie ? Es gab einen Wurm in dieser Romantik,
wie Johannes Scherr sagt. Der Verhimmelung des Weibes
entsprach keineswegs dessen soziale Stellung und die Minne wurde
oft zu geschlechtlicher Zügellosigkeit gegenüber Frauen aus
niederen Ständen.
Das Vorherrschen des phantastischen Elementes charakterisiert
die Ausartungen der sich zu Ehren der Geliebten erniedrigenden
Minne. Das in jeder Liebe steckende masochistische Element wurde
hier zum ersten Male in ein System gebracht. Wir werden beim
Kapitel „Masochismus“ darauf zurückkommen.
Und doch wurde auf der anderen Seite durch den Geist des
Rittertums auch eine edlere Auffassung weiblichen Wesens an-
gebahnt.
„Ursache und Geheimnis dieser Herrschaft (der Frauen) ist
eben das, daß die Frau mit der vollen, edlen Weiblichkeit ganz
Und voll in das Leben eintrat, daß sie sich des Reiches be-
mächtigte, welches ihr rechtmäßiges Eigen war, der Gemütswelt,
aber ganz und gar, und einzig nur dieser. Als Herrin über die
Gemüter, als Pflegerin des Gemütes brachte sie die Poesie in
das Leben und in die Kunst jenen hohen Schwung, jene oben
angedeutete, schwärmerisch - ideale oder weibliche Richtung, die
beim Beschauenden und Empfindenden wieder auf die Stimmung
des Gemüts zurückwirkt.“5)
In diese Zeit fällt auch die Ausbildung des Konventio-
nellen in den Liebesbeziehungen zwischen den Geschlechtern,
die nach bestimmten Vorschriften geregelt wurden. Seitdem galt
z. B. das längere Alleinsein einer unverheirateten Frau mit einem
Manne als unanständig und anstößig, welche Anschauung sich ja
bis heute erhalten hat. Der gesellige Verkehr der Geschlechter
beruhte auf der „Galanterie“ oder „Courtoisie“, dem feinen
durch die Gesetze der Schönheit, des Anstandes und gesellschaft- 6
6) Jacob Falke, Die ritterliche Gesellschaft im Zeitalter
des Frauenkultus, Berlin o. J., S. 49.
183
lichen Taktes geregelten Benehmen gegenüber den „Damen“. In
der Folge entwickelte sich daraus jene übertriebene, wenig zart-
fühlende, weil deutlich einen verächtlichen Beigeschmack ver-
ratende moderne Galanterie, die die Frau allzu deutlich fühlen
läßt, daß sie Vertreterin eines „schwächeren“, inferioren Ge-
schlechts ist und keinerlei eigenen, individuellen, persönlichen
Wert hat. Gegen diese moderne Galanterie haben denn a.uch
geistig hochstehende Frauen stets Einspruch erhoben. Mante-
gazza, hat in seiner „Physiologie des Weibes“ (Jena 1893, S. 442)
die Heuchelei, die in dieser schlechten Art von Galanterie liegt,
treffend charakterisiert.
Die erste Ahnung der modernen individuellen Liebe finden
wir bei Shakespeare, dem zwar die Liebe im allgemeinen
noch eine „übermenschliche“ Leidenschaft, etwas jenseits von Gut
und Böse Liegendes ist, das den Menschen wider Willen ergreift,
der aber bereits die romantisch-ideale Liebe seiner Zeit in höchst
individuell erfaßten Frauengestalten, einer Ophelia, Miranda,
Julia, Desdemona, Virginia, Imogen, Cordelia verkörpert hat und
in Kleopatra die dämonisch-bacchantischen Züge der Frauenliebe
schildert. In Julia, die „nichts als Unschuld sieht in inn’ger
Liebe Tun“, ist die leidenschaftliche Regung des ursprünglichen
Naturtriebes und das erste Erwachen des Weibes als Persönlich-
keit vollendet dargestellt.
Die falsche Galanterie in Verbindung mit dem konventio-
nellen Anstande, beides in höchstem Maße an den Höfen Lud-
wig XIV. und Ludwigs XV. ausgebildet, brachte die Liebe
in Regeln und vertrug sich sehr gut mit leichtfertigstem epiku-
räischem Genußleben, freilich auf Kosten der tiefinnerlichen,
natürlichen Empfindung, an deren Stelle die bloße Liebelei und
Koketterie traten. Auch hier schimmert die Verachtung des Weibes
deutlich durch. Besonders im Hinblick auf diese Zeit hat man
behauptet, daß die modernen Franzosen das Göttliche in weib-
lichen Naturen nie geahnt, begriffen und anerkannt haben. Doch
widerspricht das Liebesieben der berühmten Heldinnen des Salons,
einer Du Deffand, Lespinasse, Du Chatelet, Qui-
nau 11 und vor allem der berühmten Ninon de l’Enclos6)
6) In ihren Briefen (Briefe der Ninon de Lenclos. Mit
10 Radierungen von Karl Walser, Berlin 1906) haben sowohl
die tieferen seelischen Beziehungen der Liebe wie die mondäne Liebe
des 17. und 18. Jahrhunderts eine klassische Darstellung gefunden.
einer Verallgemeinerung dieser Auffassung, und der Abbé
Prévost hat mit seiner unsterblichen „Manon Lescaut“ den
Beweis geliefert, daß auch damals der durch nichts zu er-
schütternde Glaube an das Weib, wie ihn der unglückliche
Chevalier Desgrieux in der Ehre und Lebensglück opfernden Liebe
zu einer Gefallenen bekundet, wenigstens als Ideal vorhanden war.
Gerade in Frankreich sollte die höhere individuelle Liebe
eine neue geistige Bereicherung erfahren. Rousse aus „Julie“
erscheint am Horizont des Liebeshimmels. Und ganz im Hinter-
gründe zeigt sich schon der von ihr so stark beeinflußte deutsche
„Werther“. Das Naturgefühl auf der einen, die Sentimen-
talität auf der anderen Seite sind die neuen Elemente in der
Liebe der Heloisen- und Wertherzeit.
In der „Nouvelle Héloïse“ Rousseaus wurde leidenschaft-
liche Liebe und vollkommene Hingebung gezeichnet ohne das
Raffinement und ohne die Buhlerei und Leichtfertigkeit, von
welcher die Literatur der Zeit erfüllt war. Es war die Liebe
in größerem Stile, als man sie zu sehen gewöhnt war. Da-
durch bezeichnet das Buch einen Wendepunkt in der Literatur.
Daß die Liebe ein ernstes Ding ist, daß sie la grande affaire
de notre vie werden kann, ist vielleicht niemals tiefer und ein-
gehender als in dem Charakter Juliens gezeigt worden. In der
Behauptung der Reinheit des Liebesverhältnisses, wenn die
Stimme der Natur sich wirklich in ihm hören läßt, spricht
Rousseau über ein Hauptthema seines eigenen Lebens.
„Ist nicht die wahre Liebe“ — fragt Julie — „das keuscheste
aller Bande ?... Ist nicht die Liebe in sich selbst der reinste
sowohl als der herrlichste Trieb unserer Natur? — Verschmäht
sie nicht die niedrigen und kriechenden Seelen, um nur die
großen und starken Seelen zu begeistern? Und veredelt sie nicht
alle Gefühle, verdoppelt sie nicht unser Wesen und erhebt uns
über uns selbst?“ — Im Gegensätze zu den sozialen Ungleich-
heiten deutet das Liebesverhältnis auf ein höheres Gesetz hin,
das alle gleich macht.“7)
Die Liebe des Rousseau ist eben nichts Soziales, kein
Produkt der Kultur, sondern ein Gebilde der Natur, eins mit
7) Vgl. Harald Höffding, Rousseau und seine Philosophie,
Stuttgart 1897, S. 86, 89.
185
ihr. Naturgefühl und Liebesgefühl sind aufs innigste
miteinander verknüpft.
Und er betrachtet beide, Natur und Liebe, empfindsam.
Die „sensibilité de l’ame“ findet in der Natur und in der Liebe
Gegenstände herrlichster Verzückungen, süßester Schmerzen,
heißester Tränen.
„Aus den mit schmerzlicher Wonne gehegten Empfindungen,
die der Anblick der Natur, der Schönheit oder dessen, was man
damals eine schöne Handlung nannte, ihm erregte, wob er den
Schleier der Empfindsamkeit, mit welchem er die Gebilde seiner
Phantasie verklärend umgab. Unaufhörlich auf sich zurück-
kehrend, in dem von gekränkter Freundschaft, nicht erhörter Liebe
wunden Herzen wühlend, seine Wünsche und Enttäuschungen,
Fähigkeiten und Unzulänglichkeiten selbstquälerisch zergliedernd,
ward er einer der ersten Verkünder des Weltschmerzes, des
Schmerzes der Werther und René, dem Byron und Heine dann
noch die Selbstverspottung hinzufügten.“8)
Die Sentimentalität des 18. Jahrhunderts ist, wie ich ausführ-
lich in meinem pseudonymen Werke über „Das Geschlechtsleben
in England“ (Berlin 1903, Bd. II, S. 95—107) dargelegt habe,
zuerst in England aufgekommen, wo sie durch die Romane von
Richardson und Sterne und durch die Gartenbaukunst ihren
bezeichnendsten Ausdruck fand, um aber erst durch Rousseau
und Goethe recht eigentlich in die Wirklichkeit des Lebens
überführt zu werden.
Denn die Geschichte Juliens, die Geschichte WertFers, das
wurde die Geschichte aller glücklich oder unglücklich liebenden
Mädchen und Jünglinge der Zeit. Jede hatte ihren Saint-Preux,
jeder seine Lotte.
Die tiefe Wirkung Rousse aus, besonders auf die Frauen,
hat H. Buffenoir in einer formvollendeten Studie9) ge-
schildert, die Bedeutung, die der „Werther“ für das Gemütsleben
der Zeit hatte, hat Erich Schmidt in einer berühmten
Monographie10) mit feinstem Verständnis dargelegt.
8) Emil Du Bois- Reymond, Friedrich II. und Jean-
Jacques Rousseau in: Reden. Erste Folge. Leipzig 1886, S. 366—367.
9) H. Buffenoir, Jean-Jacques Rousseau et les femmes.
Paris 1891.
10) Erich Schmidt, Richardson, Rousseau und Goethe.
Jena 1875.
186
Er weist nach, daß Naturgefühl und Sentimentalität in
Goethes „Werther“ weit tiefer empfunden sind als in Eous-
seaus „Neuer Heloise“. Goethe selbst sagt in „Wahrheit und
Dichtung“ über dieses poetische, verständnisvoll innige und liebe-
volle Versenken in die Natur: „Ich suchte mich innerlich von
allem Fremden zu entbinden, das Aeußere liebevoll zu betrachten
und alle Wesen, vom menschlichen an, so tief hinab als sie nur
faßlich sein könnten, jedes in seiner Art auf mich wirken zu
lassen. Dadurch entstand eine wundersame Verwandtschaft mit
den einzelnen Gegenständen der Natur, und ein inniges An-
klingen, ein Mitstimmen ins Ganze, so daß ein jeder Wechsel,
es sei der Ortschaften und Gegenden, oder der Tages- und Jahres-
zeiten, oder was sonst sich ereignen konnte, mich aufs innigste
berührte. Der malerische Blick gesellte sich zu dem dichterischen,
die schöne ländliche, durch den freundlichen Fluß belebte Land-
schaft vermehrte meine Neigung zur Einsamkeit und begünstigte
meine stillen, nach allen Seiten hin sich ausbreitenden Betrach-
tungen.“
Werthers Naturgefühl steht in innigster Beziehung zu seiner
Liebesleidenschaft. Beide harmonieren miteinander, beeinflussen
sich gegenseitig. Die Natur ist ihm eine zweite Geliebte. Ihre
Jugend, ihr Frühling auch Jugend und Frühling seiner Liebe.
In der eigentümlichen Verknüpfung von Liebe, Naturgefühl
und Sentimentalität, wie sie die Julie-Wertherzeit charakterisiert,
liegen die ersten Anfänge des „Weltschmerzes“ mit seiner
erotisch bedeutsamen „Wonne des Leids“. Die folgenden Worte
in Goethes „Stella“ scheinen mir schon Weltschmerz und Erotik
in deutliche Beziehung zueinander zu bringen. Stella sagt von
den Männern:
„Sie machen uns glücklich und elend! Mit Ahnungen von
Seligkeit erfüllen sie unser Herz! Welche neue, unbekannte
Gefühle und Hoffnungen schwellen unsere Seele, wenn ihre
stürmende Leidenschaft sich jeder unsrer Nerven mitteilt! Wie
oft hat alles an mir gezittert und geklungen, wenn er in
unbändigen Tränen die Leiden einer Welt an
meinen Busen hinströmte! Ich bat ihn um Gottes willen,
sich zu schonen! — mich! — Vergebens! — Bis ins innerste
Mark fachte er mir die Flammen, die ihn durch-
wühlten. Und so ward das Mädchen vom Kopf bis zu den
Sohlen ganz Herz, ganz Gefühl.“
187
Hier wird bereits deutlich das erotische Element im Seelen-
schmerze geschildert und die merkwürdige Steigerung der
Leidenschaft durch Leid, Tränen und tiefes Empfinden des Welt-
übels hervorgehoben. Dieser Weltschmerz facht die erotische
Glut an, steigert die Liebe und löst schließlich doch ein eigen-
tümliches Kraftgefühl aus, ja er ist am häufigsten in der ersten
Blüte des Lebens, den Jahren der Pubertät, wodurch sich eben-
falls sein Zusammenhang mit der Sexualität aufs deutlichste
bekundet. Der berühmte Psychiater Mendel hat diesen beinahe
physiologischen Weltschmerz der Pubertätszeit als „Hypo-
melancholie“ beschrieben. Eine unbestimmte leidenschaftliche
Sehnsucht, die Trost in Tränen sucht, eine nicht unbedenkliche
Neigung zum Selbstmord — für den Werther das klassische Vor-
bild ist — charakterisieren diesen Zustand, der mit der gesamten
Revolutionierung des Seelen- und Gemütslebens durch das Ge-
schlechtliche zusammenhängt. Der Weltschmerz der Jugend ist
latentes sexuelles Kraftgefühl.
Wie Naturgefühl und Liebe sich zu weltschmerzlichen Emp-
findungen verbinden, haben Byron und Heine am schönsten
in ihren Poesien zum Ausdruck gebracht. Ganz besonders deut-
lich schildert Heine es auch in einem Briefe an Friedrich
Mer ekel (aus Norderney vom 4. August 1826), wo er eine
nächtliche Szene mit einer schönen Frau am Meeresstrande be-
schreibt :
„Das Meer erscheint nicht mehr so romantisch, wie sonst. —
Und dennoch hab’ ich an seinem Strande des süßeste, mystisch
lieblichste Ereignis erlebt, das jemals einen Poeten begeistern
konnte. Der Mond schien mir zeigen zu wollen, daß in dieser
Welt noch Herrlichkeit für mich vorhanden. — Wir sprachen
kein Wort — es war nur ein langer, tiefer Blick, der Mond
machte die Musik dazu — im Vorbeigehen faßte ich ihre Hand,
und ich fühlte den geheimen Druck derselben — meine Seele
zitterte und glühte. — Ich hab’ nachher geweint.“
Wie verschieden diese Tränen von der ungeheuren Tränenflut
in Millers „Siegwart“ und anderen ähnlichen Produkten der
Wertherepoche, die mit ihrer schwächlichen Sentimentalität, der
rührseligen „Empfindsamkeit“ nichts mit dem viel natürlicheren,
weil im Grunde physiologisch bedingten Goethe-Heine sehen
Weltschmerze zu tun haben.
Auch in der modernen Liebe lebt der Weltschmerz weiter.
188
Nur hat er durch die pessimistische Philosophie gewissermaßen
eine reale Grundlage empfangen. Und doch hat uns ein
Nietzsche die verborgene Kraft gezeigt, die in dieser Wonne
des Leids liegt. Gerade aus den Schmerzen der Welt heraus
bejaht er freudig das Leben und die Liebe. Wer einst die psycho-
logisch so interessante Geschichte des Weltschmerzes schreiben
wird, darf an Nietzsche als einem bedeutsamen Wendepunkte
derselben nicht Vorbeigehen.
Die kraftgenialische Leidenschaft, der Ueberschuß an Lebens-
energie in der „Sturm- und Drang“- Epoche der deutschen Literatur
vertrug sich sehr wohl mit jenem echten, ursprünglichen Welt-
schmerze. Rousseaus mehr unbestimmte Empfindsamkeit hatte
dagegen einen größeren Einfluß auf die Gefühlsweise der
Romantik, die mit ihm mehr Verwandtschaft zeigt als mit
Goethe.
Die romantische Liebe faßt gleichsam die Gefühls-
elemente der vorangegangenen Epochen in einem gesteigerten
Subjektivismus zusammen. Nicht bloß die Natur, auch die
Geschichte, die Märchen, Sagen und Poesien und wunderbaren
Geheimnisse der Vorzeit spiegeln sich wieder in der romantischen
Liebe und erwecken seltsame Träume und Emotionen. Die
„mondbeglänzte Zaubern acht“ ist weit mehr als bloßes Natur-
empfinden, es ist die Ahnung eines Zusammenhanges mit der
Vergangenheit und ihrem heimlich süßen Märchengrauen. Fou-
q u é s „Undine“ ist das klassische Paradigma hierfür. Die
romantische Liebe schwelgt in diesen Wunderstimmungen des
Herzens, die Wirklichkeit wird ihr zum Traum. Das Dunkle,
Rätselhafte zieht den Romantiker an. Deshalb liebt er auch
Nacht und Nachtstimmung der Natur mehr als das helle Tages-
licht, die Mondscheinschwärmerei ist ein charakteristi-
scher Zug romantischer Liebe. Alles verfließt im Unbestimmten,
Nebelhaften, Grenzenlosen. Diese Liebe kennt keine Beschränkung
und Einengung, keine Fesseln, sie ist die geschworene Feindin
der konventionellen, engherzigen Philistermoral und aller Be-
schränkung der Persönlichkeit. In Friedrich Schlegels
„Lucinde“, diesem berühmtesten Denkmal romantischer Liebe,
wird dieser Kampf gegen das Philistertum als größten Feind
eines freien, edlen Liebeslebens mit Energie geführt. Es ist ganz
falsch, wenn man die „Lucinde“ als einen Roman der tendenziösen
Nacktheit, als Poesie des Fleisches bezeichnet. Gewiß predigt
189
sie die freie, natürliche Auffassung und Empfindung des Nackten
■and Geschlechtlichen und ist ein herrlicher Protest gegen die
künstlich-heuchlerische Trennung von Leib und Seele in der Liehe.
Aber auf der anderen Seite schließt sie auch den ganzen Reich-
tum des Gefühls- und Seelenlebens in der Liebe auf und seine
Bedeutung für den einzelnen Menschen als freie Persön-
lichkeit.
Mehr als Eousseaus „Julie“ und Goethes „Werther“
ist Friedrich Schlegels „Lucinde“ die Apotheose der
Individualliebe. Die romantische Liebe ist der Spiegel der Persön-
lichkeit, ist veränderlich, von höchstem geistigen Gehalte erfüllt
und vor allem entwicklungsfähig wie diese. Meisterhaft
hat Schlegel den tiefen Zusammenhang der echten Liebe mit
aller Lebensenergie dargestellt. Die „Genialität“ der Liebe ist
niemals wieder so geschildert worden.
„Hier ist,“ sagt Karl Gutzkow, „von keiner Raffinerie
die Rede, sondern von der Sehnsucht eines Jünglings, der liebt,
aber das Eine, ewig und einzig Geliebte in vielen Gestalten sehen
will, in den Metamorphosen seines eignen Ichs, der sich sehnt,
Egoismus und Liebe zu versöhnen.“
Schleiermacher, in seinen „Vertrauten Briefen über die
Lucinde“, Gutzkow in der Vorrede zur Neuausgabe dieser
Schrift Und neuerdings H. Meyer-Benfey11) haben uns über
die wahre Bedeutung der „Lucinde“ Aufschlüsse gegeben, die
sich ungefähr mit unserer Aufassung decken.
Noch ein Neues in der romantischen Liebe muß hier erwähnt
werden, das seitdem in der Geschichte der modernen Erotik eine
große Rolle gespielt hat. Es ist das ,,1’art pour l’art“ der Liebe,
das Schwelgen in bloßen Stimmungen und Emotionen als Mittel
des Genusses. Das Emotionelle überwuchert nicht selten das
natürliche Liebesgefühl. Jean Paul z. B. „stellt in Reinkultur
die Erotik dar, die niemals Menschen liebt, sondern nur aus ihnen
Funken schlägt, das eigene Innere zu illuminieren und in Glanz
Und Rausch den eigenen Gefühlen strahlende Feste zu geben,
bei denen auch ein Menschenopfer nicht verschmäht werden würde.
Er gibt das Muster jener Künstlerliebe, die vampyrisch die Seelen *
n) H. Meyer-Benfey, Lucinde in: Mutterschutz, Zeit-
schrift zur Beform der sexuellen Ethik. Herausgegeben von Dr. He-
lene Stoecker. 1906, Heft 6, S. 173—192.
derer, die sich ihr geben, trinkt, die nur den Stoff zu Gebilden
in den ihr dargebotenen Herzen sieht und in ihrem warmen Blut
nur berauschenden stimulierenden Trank.“12)
.Dieses bloße Suchen eigener Gefühlserregungen durch die
Liebe ohne Rücksicht auf den Partner wird besonders in Jean
Pauls „Titan“ dargestellt.
Vor den Gefahren dieser rein artistisch-emotionellen Liebe
hat schon Wackenroder in den „Phantasien über die Kunst“
gewarnt. KarlJoël hat neuerdings sehr anschaulich geschildert,
wie zuletzt die Romantiker alle Lebensverhältnisse in die
Emotionen der Liebe auflösten.13) Dies Bestreben mußte schließ-
lich auf eine Mystik hinauslaufen, deren typischer Repräsentant
Novalis ist.
Es ist sehr interessant, daß alle die verschiedenen Elemente
der romantischen Liebe sich auch in der heutigen Renaissance
der Romantik nachweisen lassen. In seinem schönen Buche über
Nietzsche und die Romantik hat Karl Joël diese romantischen
Elemente der modernen Liebe nachgewiesen, und vor allem den
tiefen Zusammenhang betont, den die Philosophie Nietzsches
mit der Kampfesfreude und Lebensenergie der Romantiker hat.
Beide sind die Apostel des Dionysischen, nicht des Apollinischen.14)
Das ist auch der Unterschied, der die „romantische“ Liebe
von der „klassischen“ scheidet, welchen Unterschied und
welche Bezeichnung ich zuerst in Theodor Mündts Novelle
„Madeion oder die Romantiker in Paris“ (Leipzig 1832) hervor-
gehoben finde.
Die interessante Stelle (S. 9—12) lautet:
„Ich behaupte demnach, daß, wenn es eine romantische und
klassische Poesie geben kann, es auch eine romantische und
klassische Liebe gibt, und gestehe, nur durch dies zwiefache
Wesen der Liebe jenen Gegensatz in der Poesie ahnen und fassen
zu können . . .
Diese wilde und doch so süße Unruhe des Herzens, in der
die Liebe zu ihr bestand, dies Entzücken und Schwärmen der
12) Felix Poppenberg, Jean Paul Friedrich Richters
Liebe und Ehestand in: Bibelots, Leipzig 1904, S. 214.
13) Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena und Leipzig
1905, S. 13—16.
14) Vgl. dazu Helene Stöcker, Nietzsche und die Romantik
in: Kölnische Zeitung No. 1127 vom 29. Okt. 1905.
191
erregten Phantasie, die, vom Reiz der Geliebten hingerissen, in
allen sinnlichen Träumen eines wonnevollen Erdenglücks sich
berauschte, und gleich der Blumenknospe, in der ein brennender
Sonnenstrahl den Trieb zum Blühen auf einmal erweckt hat,
in Lust und Sehnsucht des sinnlichen Dranges aufging; alle diese
Tränen und Seufzer der verliebten Schmerzen und Freuden, dies
Liebesglück und Liebeselend zu gleicher Zeit, diese sternen-
flammenden Nachtstücke der Leidenschaft, auf die nach umher-
irrender, trunkener Schwärmerei ein taukalter, nüchterner Morgen
folgte, alles dies, mein Freund, war eine romantische Liebe...
Und soll ich dir nun auch die klassische Liebe be-
schreiben? . . . Glaube mir, daß es Gesichter gibt, die uns schon
beim ersten Anblick so vertraut und verwandtschaftlich anziehen,
als wenn wir jahrelang Liebe bittend und Liebe empfangend mit
ihnen in Sympathie gestanden hätten. Aus diesem Mädchengesichte
wehte mich so plötzlich ein Friede an, den ich noch nie in meinem
Leben empfunden habe, und diese sanften Gefühle, die mich zu
ihr ziehen, möchte ich die wahre Liebe nennen und das wahre
Glück. In ihren lieben Augen glüht kein verführerisches Feuer,
kein abstoßender Stolz unserer romantischen Madeion, bei der
einfach schönen Deutschen ist alles klar und wahr, aus ihren
milden Zügen spricht ihre milde Seele, und alles, wonach ich
mich in leidenschaftlich verirrten Stunden meines Lebens gesehnt
habe, ein stillbegrenztes, gediegenes Glück des Daseins schien
mir aus ihren blauen treuen Augen, als ich nur das erste Mal
hineinblickte, entgegenzuwinken. Mein Freund, ist das nicht
die Klassizität der Liebe ?“
Es ist das apollinisch-platonische Element der modernen Liebe,
welches Theodor Mundt hier als „klassische“ Liebe bezeichnet
und gewiß mit Unrecht über die romantische Liebe, diesen Aus-
druck des modernen Subjektivismus und Individualismus, stellt.
Jene klassische Liebe fand in Goethes „Tasso“ ihre vollendetste
Darstellung. Hier wird die Liebe aufgefaßt als „Besitz, der
ruhig machen soll“, das geliebte Wesen wirkt wie ein „schön
verklärtes“ Bild. Der platonische Eros ist, wie Kuno Fischer
sagt, in der Welt des Goetheschen Tasso Mode. Liebe ist hier
ruhige, reine Anschauung des Schönen in und mit der Geliebten.
Gretchen und Helena im „Faust“ verkörpern recht anschau-
lich die Gegensätze der romantischen und klassischen Liebe.
Vereinigt sind diese Gegensätze in Wilhelm Heinses
192
berühmtem „Ardinghello“, diesem uns heute so modern anmutenden
Roman. Hier wird der dionysisch-faustische Drang des liebenden
Individuums wie die apollinisch-künstlerische Betrachtung der
Geliebten mit gleicher Meisterschaft geschildert.
H e i n s e war in bezug auf die Liebe das Vorbild des
„Jungen Deutschlands“. Und das junge Deutschland
sind wir.
Denn alle Probleme des Liebeslebens, die heute die Geister
beschäftigen, sind schon von den Schriftstellern des jungen
Deutschlands zur öffentlichen Diskussion gestellt worden. In der
jungdeutschen Liebesphilosophie kommen sowohl die „Ritter vom
Geiste“ als auch die „Ritter vom Fleische“ zu ihrem vollen
Rechte. Nur Ignoranten können die sogenannte „Emanzipation
des Fleisches“, die Apotheose lüsterner Sinnlichkeit als das einzige
charakteristische Merkmal der Bestrebungen und Kämpfe dieser
Zeit hinstellen. Nein, gerade wer die moderne Liebe in allen
ihren seelischen Aeußerungen und Beziehungen kennen lernen
will, der lese die Schriften des jungen Deutschlands, besonders
die Werke von Laube, Gutzkow, Mundt und Heine,
der zum jungen Deutschland innigere Beziehungen hat als zur
Romantik.
Besonders Gutzkow, für mich der größte und umfassendste
Geist der jungdeutschen Literatur, ja der neueren deutschen
Literatur überhaupt,15) ist an keinem Rätsel und Problem moderner
Erotik vorbeigegangen, er ist der beste Frauenkenner des
19. Jahrhunderts. Wie reizvoll und bei aller Mannigfaltigkeit
wie wahr sind seine Mädchengestalten! Die auf weißem Zelter
stolz dahinsprengende Wally, äußerlich ein Bild der Schönheit,
innerlich aber vom Dämon des Zweifels gequält, wie so manche
15) Vorläufig teilen dieses auf genaue Lektüre sämtlicher Werke
Gutzkows sich gründende Urteil erst wenige lebende Zeit-
genossen. Ich berufe mich aber mit Genugtuung auf die Pro-
phezeiung des verstorbenen Dramatikers Feodor Wehl. Er sagt
von Gutzkow: „Seine literarische Erscheinung wird wachsen mit
der Zeit. Nach langen, langen Jahren werden aus der Literatur
unserer Tage zwei Charakterköpfe emporragen, ein lachender und ein
ernst und trübe blickender: der Kopf Heinrich Heines und der von
Karl Gutzkow: Poesie und Prosa von 1830 bis 1860.“ E. Wehl,
Zeit und Menschen. Tagebuch-Aufzeichnungen aus den Jahren von
1863 bis 1884. Altona 1889, Bd. I, S. 279.
193
moderne emanzipierte Frau, die wunderbare träumerische, über
sich selbst und ihre Liebe unklare Seraphine, von der der Dichter
später selbst zugestand, daß sie nach der Wirklichkeit gebildet
worden sei,16) die hoheitsvolle ideale „Wellenbraut“ Idaline, eine
typische Figur des konventionellen Highlife, die aber dennoch
in plötzlicher Auflehnung gegen diesen Konventionalismus ihr
ganzes Wesen einer Liebe des Zufalls, des Augenblicks hingibt,17)
die sie ihrem Bräutigam und späteren Gatten entfremdet und
in den Tod treibt, dann alle die glänzenden Frauengestalten in
dem großen Zeitromane „Die Ritter vom Geiste“, die Melanie,
Helene, Selma, Pauline, Olga — sie alle sind Gestalten der Wirk-
lichkeit, in ihrem Seelen- und Herzensleben so verschieden und
doch lebenswahr, besonders aber in ihren so mannigfaltigen,
differenzierten Beziehungen zu Männern echt moderne Frauen.
Gutzkow war auch der erste, der das moderne Weib
und die Probleme der modernen Liebe, lange vor den Franzosen
und vor Ibsen, auf die Bühne brachte.
Er machte, wie Karl Frenzei schon 1864 bemerkte, die
Bühne zum Kampfplatz der modernen Gedanken. Die inneren
Gegensätze des Lebens, das psychologische Problem des Herzens
wagte er zuerst dramatisch zu gestalten.
„Wir alle empfanden die Wunden, welche „die Welt“ Werner
schlug, wir alle irrten einmal von dem stillen Veilchen Agathe
zu der glänzenden Rose Sidonie hinüber, wie Ottfried, auch in
uns kämpfte die Liebe des Herzens mit der des Geistes. Wer
wollte sich für so bettelarm erklären, daß er nie in diesen
Gefühlen geschwelgt, gelebt und gelitten ? Welche Frau hätte,
wenigstens in der Phantasie, nicht einen Augenblick wie Ella
Rose zwischen dem Geliebten und dem Gatten geschwankt ? Solche
Gestalten tragen den Kern der Wahrheit in sich und verlieren
ihren hohen Wert nicht, weil vielleicht ihre Gewänder sie nicht
harmonisch genug drapieren. Sie rühren uns, denn wir erkennen
in ihnen unser Fleisch und Blut, auch sie erfüllen, so weit die
Form des gesellschaftlichen Dramas es gestattet, Shakespeares
16) Karl Gutzkow, Rückblicke auf mein Leben, Berlin 1875,
S. 18.
17) „0, die Zeit der Liebe ist das Alter nicht, nicht die Jugend:
die Zeit der Liebe ist der Augenblick“, lallt Gutzkow auch
Beate am Schlüsse des Schauspiels „Ein weißes Blatt“ sagen.
Blooh, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
13
194
Wort von der dramatischen Kunst; sie halten der Natur den
Spiegel vor. ln seinen Schauspielen: „Werner“, „Ottfried“, „Ella
Kose“ zeichnet Gutzkow in meisterhafter Ausführung das innere
Leben der Zeit, in ihnen waltet der Elügelschlag der Seelen,
die in Schmerzen, wie diese Tage es wollen, nach der Schönheit
und der Freiheit trachten.“18)
Von allen jungdeutschen Schriftstellern hat Gutzkow am
besten das große Problem der Probleme in der Liebe begriffen:
das Problem der Persönlichkeit. In der schmerzlichen Frage
an Helene d’Azimont in den „Rittern vom Geiste“:
Ist es denn dein innerstes Bedürfen,
Andern alles, nichts dir selbst zu sein?
Nichts der Frauen höchstem Liebesruhme,
Nichts, Helene, dem Entsagungsschmerz ?
wird dieses unveräußerliche Recht auf Bewahrung und Entwick-
lung der eigenen Persönlichkeit trotz aller Hingebung und Opfer-
fähigkeit leidenschaftlicher Liebe mit Nachdruck hervorgehoben.
Es ist ja der eigentliche Kernpunkt aller höheren, individuellen
Liebe zwischen Mann und Weib.
Man hat Gutzkow, wobei man ausschließlich die rein
symbolische Nuditätsszene in der „Wally“ im Auge hatte, aber
auch den anderen jungdeutschen Schriftstellern, wie Laube (im
„Jungen Europa“), Theodor Mundt (in der „Madonna“),
W i e n b a r g (in den „Aesthetischen Feldzügen“), Heine (in den
„Neuen Gedichten“) den Vorwurf gemacht, sie predigten die
„Emanzipation des Fleisches“. Mit Unrecht. Es ist nur die
Poesie des Fleisches, der sie zu ihrem Rechte verhelfen wollten.
Trotz seines enthusiastischen Lobeshymnus auf Casanova er-
klärt Theodor Mundt in der „Madonna“ die Trennung von
Fleisch und Geist für den „unsühnbaren Selbstmord des mensch-
lichen Bewußtseins“.
Weit bedeutsamer und als das eigentliche charakteristische
Merkmal für alle Schriftsteller des Jungen Deutschlands erscheint
mir die Rolle, die hier zum ersten Male die Selbstanalyse
und Reflexion in der Liebe spielt, sichtlich unter dem Ein-
flüsse der Ausläufer der französischen Romantik, wo wir dieser
ibj K. Frenz el, Karl Gutzkow in: Büsten und Bilder, Han-
nover 1864, S. 177—178.
195
Erscheinung ebenfalls begegnen, in George Sands „Lelia“,
in Alfred de Mussets „Confession d’un enfant du siede“,
in Balzacs „Frau von dreißig Jahren“, in welch letzterem
Roman sich der Ausdruck findet:
„Die Liebe nimmt die Farbe jedes Jahrhunderts an. Jetzt,
im Jahre 1822, ist sie doktrinär. Anstatt sie wie ehedem durch
Taten zu beweisen, erörtert man sie, bespricht man sie, bringt
man sie auf der Tribüne zur Sprache.“
Wie im Mittelalter die Idee der „Sünde“ das
zerstörende Prinzip für die L i e b e war, so ist es
für den modernen Kulturmenschen seit den Tag e n
des jungen Deutschlands diese kalte Selbst-
bespiegelung, diese kritische Analyse der eigenen
leidenschaftlichen Empfindungen und Gefühle.
Es ist der Wurm, der ständig an unserer Liebe frißt und die
schönsten Blüten derselben vernichtet. Gutzkows „Wally, die
Zweiflerin“ und „Seraphine“ sind die klassischen literarischen
Dokumente für diese verderbliche Herrschaft des bloßen Gedankens
in der Liebe. Bezeichnenderweise sind es in beiden Romanen
Frauen, die Leben und Liebe durch die Reflexion zerstören,
während der Mann von jeher dieser Gefahr unterlag. Es ist das
Schicksal moderner Frauen, individueller Persönlichkeiten, was
hier geschildert wird und mit dem Momente eintritt, wo die
Frau teilnimmt am Geistesleben des Mannes. Die kalte Dialektik
Seraphniens, die, wie Gutzkow den einen ihrer Geliebten sagen
läßt, die natürliche Ordnung des Mannes und Weibes umkehrt,
ist eine notwendige Begleiterscheinung’ der Liebe des zur freien
Persönlichkeit reifenden Weibes, aber glücklicherweise eine vor-
übergehende Erscheinung. Die vollentwickelte Persönlichkeit
wird auch zur Ursprünglichkeit der Gefühle zurückkehren und
keinen Zwiespalt, nichts „Zerrissenes“ in sich dulden. Die ent-
sprechenden Erscheinungen beim Manne haben Kierkegaard
und Grillparzer in ihren Tagebüchern, klassischen Dokumenten
der „Reflexionsliebe“, geschildert.
Die Liebe der Gegenwart enthält und nährt sich von allen
den geschilderten geistigen Elementen der Vergangenheit. Nament-
lich ist die Frage der sogenannten „freienLieb e“ oder „freien
E h e“ ohne die gesetzlich bindenden Formen der Zivil- und
Kirchenehe heute der Ausdruck für alle Herzensbedürfnisse des
höheren Kulturmenschen, die durch den Materialismus und mehr
13*
196
noch durch den in über le bien Formen sich bewegenden Konven-
tionalismus der Zeit niedergehalten, unterdrückt und beschränkt
werden. Das Problem der freien Liebe war in der „Lucinde“
zuerst formuliert worden, fand dann in der jungdeutschen
Literatur, besonders den Schriften Laubes, Mündts und
Dingelstedts seine theoretische Begründung und in der
Bohemeliebe des zweiten Kaiserreichs seine praktische Verwirk-
lichung, deren rein idyllischer Charakter und Beschränkung
auf die Kreise des dein dolce far niente obliegenden Studenten-
und Künstlertums freilich nur sehr wenig dem Charakter der
allerpersönlichsten, im vollen Lebenskämpfe sich be-
tätigenden freien Liebe entsprach, wie sie dem modernen
Menschen als Ideal vorschwebt.
Das zweite französische Kaiserreich, dessen Bedeutung für
die geistigen Strömungen unserer Zeit eine sehr große gewesen
ist, ließ auch zwei andere schon früher charakterisierte Elemente
der Liebe wieder besonders stark hervortreten, die ebenfalls
noch in der Gegenwart nachwirken : das satanisch-diabo-
lische Element der Erotik, das in den Schöpfungen der
von den Schriften de S ade s stark beeinflußten Barbey
d’Aurevilly, Baudelaire und besonders des großen
Félicien Kops den hervorstechendsten Ausdruck fand, und
das rein artistische Element, wie es ebenfalls in den
Schriften der beiden eben genannten Schriftsteller, am meisten
aber bei Théophile Gautier sich findet. Dieses „junge
Frankreich“ (nach einem gleichnamigen Iiomane Gautiers)
hat Liebesieben und Liebestheorie der Gegenwart beinahe ebenso
stark beeinflußt wie das junge Deutschland.
Um dieselbe Zeit, in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts,
brach sich in Deutschland die Schopenhauerische Philosophie
Bahn- und seine Metaphysik der Liebe, die dem Individuum
nichts, der Gattung alles ließ, diese pessimistische Auf-
fassung jeder Liebe fand ihren dichterischen Ausdruck in
Eduard Grisebachs 1869 erschienenem „Neuen Tanhäuser“.
Auch hier ist es ein großer Kr turn, diese erotischen Zeitgedichte
wegen ihrer glühenden Sinnlichkeit als bloße Verherrlichungen
der Fleischeslust zu kennzeichnen oder gar zu brandmarken.
Der neue Tanhäuser war der Dichter selbst. Er wollte, wie er
mir oft gesagt hat, neben den lebensbejahenden auch die lebens-
vemeinenden Mächte in diesen Gedichten zu Worte kommen
mm
197
lassen. Er sang Lust und Leid, Ahnung und Enttäuschung der
modernen Liebe. Ihm ist diese ganz und gar die Rose mit den
Dornen. Daher ist das Motto der Dichtung ein Ausspruch des
Meister Eckart: „Die Wollust der Kreaturen ist gemenget
mit Bitterkeit“, und das Thema der in verschiedenen Variationen
vom Dichter ausgesprochene Gedanke: „Es gibt kein Glück
ohne Reue“.
Aber deshalb — und darin nähert er sich Nietzsche —
wollte er trotzdem dieses schmerzerfüllte, in allem Tun die Reue
mit sich führende Leben freudig bejahen. In diesem Sinne ist
er kein reiner ausschließlicher Pessimist, sondern ein Apostel
der Tat wie die Männer des jungen Deutschlands, in deren
Spuren, besonders denen Heines, er wandelt. Das schöne Wort
Laubes in den „Liebesbriefen“ (Leipzig 1835, S. 29): „Wer
von keinem tiefen Leide erschüttert wird, kennt auch keine tiefe
Freude, kennt keinen Vers jener Schwärmerei, welche um den
versagten Himmel buhlt, empfindet keine Art von Religion, ist
keines Opfers, keine Größe fähig“, paßt auch auf den „Neuen
Tanhäuser“, der die deutsche Jugend in den 70er und 80er Jahren
des vorigen Jahrhunderts so mächtig bewegte.
Wie nun in unserer durch die Problemdichtungen Ibsens,
durch Zolas Naturalismus und den von ihm abhängigen
französischen Symbolismus19) stark beeinflußten Gegenwart die
verschiedenen Liebesprobleme in der Literatur sich spiegeln, das
soll in einem besonderen Kapitel über die Liebe in der heutigen
Literatur später geschildert werden.
Wir wollen in dem folgenden Kapitel nur noch ein Moment
behandeln, das in der Liebe und Erotik der Gegenwart ganz
besonders hervortritt und eine große Bedeutung für die Indivi-
dualisierung der Liebe besitzt. Es ist das künstlerische
Element in der modernen Liebe.
19) Auf diesen Zusammenhang von Naturalismus und Symbo-
lismus weist z. B. Heinrich Stümckein einem geistreichen Essay
hin (Zwischen den Garben, Leipzig 1899, S. 156).
NEUNTES KAPITEL.
Das künstlerische Element in der modernen Liebe.
Ich meine, die Liebe trage mehr als ein. anderes sittliches Ver-
hältnis den Sinn für das Schöne in sich, xind wenn irgend einmal
ein schwerfälliges Herz anfängt seine Eittige zu regen und dem Ideale
zustrebt, so ist es in der Zeit, wo es liebt. Ohne Zweifel, eine
ästhetische Empfindung begleitet das Auge des Liebenden immer
und in einem höheren Grade, als das nüchterne Auge.
lvuno Fischer.
ÜNÜ
Inhalt des neunten Kapitels.
Veredelung und Reform des Liebeslebens als Zeitforderung. —
Kampf gegen den Dämon des Triebes und der Askese. — Das künst-
lerische Element in der modernen Liebe. — Erotischer Rhythmotropis-
mus. — Sexualität und Aesthetik. — Erwachen ästhetischer Empfin-
dungen in der Pubertätszeit. — Bedeutung der Sinnlichkeit für Leben
und Schaffenstrieb. — Beispiel der Annette von Droste-Hüls-
h off. — Sinnlichkeit großer Dichter und Künstler. — Ansichten
neuerer Aesthetiker über die Beziehungen zwischen Geschlechtsliebe
und künstlerischem Empfinden. — Rolle des erotischen Illusionsbe-
dürfnisses im geselligen Leben. — Emerson, Konrad Lange
und Wilhelm Scherer über die ästhetische Erotik der Gesellig-
keit. — Das befreiende und belebende Element darin. — Bedeutung
der modernen individuellen Schönheit. — Die weiße und die rote
Rose. — Darstellung der „nervösen“, charakteristischen Frauenschön-
heit bei Lionardo, Heine und in Gri sobachs „Tanhäuser in
Rom“. — Das präraphaelitische Schönheitsideal. — Die Mannesschön-
heit. — Weshalb die Frauen häßliche Männer lieben. — Caroline
Schlegel, Goethe, Eduard v. Hartmann, Swedenborg
darüber. — Die Anziehungskraft des Schöpferischen und Geistigen
im Manne.
200
Wir befinden uns gegenwärtig, trotz aller gegenteiligen
Behauptungen und Jeremiaden verblendeter Sittlichkeitsapostel,
nicht in einer Periode des Niederganges und der Dekadenz in
bezug auf das Liebesieben, sondern wir stehen bereits unmittelbar
von einer Neuordnung und Reform desselben, im Sinne einer
Veredelung. Alle Tendenzen der Zeit gehen auf eine solche
radikale Vervollkommnung der Liebe, auf ihre freie, individuelle
Gestaltung, nicht durch Entfesselung, sondern durch Idealisierung
der Sinnlichkeit, welch letztere durch eine natürliche Auffassung
alle Schrecken verlieren wird. Wir kämpfen zugleich wider den
Dämon des wilden Triebes und den Dämon lebensverneinender
Asketik. In diesem Kampfe spielt das künstlerische Element in
der modernen Liebe eine bedeutsame Rolle. Damit meinen wir
nicht das süßliche Aesthetentum, auch nicht den ganz imsinn-
lichen platonischen Eros, sondern jenen Körperliches und Geistiges
innig miteinander verknüpfenden ästhetischen Zug in der mensch-
lichen Liebe, den W. Bö Ische als „Rhythmotropismus“
bezeichnet. Es ist das „triebhaft zwangsweise Reagieren des
höheren Tiergehims auf rhythmische Schönheit“, dem auch die
Kunst ihren Ursprung verdankt. Dieser ästhetische Naturtrieb
hat größte Bedeutung für die Liebe, wie schon Darwin er-
kannt hat. Er sprach den großen Gedanken aus, daß Schönheit
wahrnehmbar gewordene Liebe sei.
Das Geschlechtliche ist der ästhetischen Be-
trachtung durchaus nicht feindlich, wie das ganz
irrtümlich der unglückliche Weininger in dem konfusen
Kapitel „Erotik und Aesthetik“ seines Werkes behauptet. Er
spricht daher kurzweg der Sexualität jeden ästhetischen Wert
ab. Und doch hat schon P, 1 a t o aus dem physischen Eros die
höchste ästhetische Betrachtung geistiger Natur abgeleitet. Er
entdeckte den Widerschein des Göttlichen in der Sinnen weit.
Schon die bekannte Tatsache, daß mit dem Erwachen des
201
Geschlechtslebens auch der geistige Schaffenstrieb erwacht, ein
künstlerischer Drang sich regt, daß in der Zeit der Pubertät
jeder Jüngling ein Dichter ist, spricht für diesen innigen Zu-
sammenhang von Sexualität und ästhetischem Empfinden.
„Es scheint mir nicht zweifelhaft zu sein,“ sagt J. Volkelt
in seiner „Aesthetik“ (München 1905, Bd. I, S. 523), daß durch
das Erwachen der Geschlechtlichkeit im Jüngling oder Mädchen
eine Belebung und Erwärmung des künstlerischen Empfindens
herbeigeführt wird. Hand in Hand mit der ersten Jugendliebe,
etwa im sechzehnten oder siebzehnten Jahr, pflegt auch der Sinn
für Anmut und Schönheit der Landschaft, für den Zauber der
Dichtung, Malerei, Musik eine derartige Verfeinerung und Ver-
stärkung zu erfahren, daß hiergegen alles frühere Erleben und
Genießen gänzlich verschwindet.“
Erst die Sinnlichkeit gibt dem Leben Farbe, erzeugt die
Nüancen und feinen Abtönungen der Gefühle, ohne sie würde
das Leben grau in grau erscheinen, eine öde Monotonie sein,
Daseinslust und Schaffenskraft vernichtet oder wenigstens auf
ein Minimum reduziert werden. Selbst die idealste Liebe muß
von der Sinnlichkeit genährt werden, wenn sie schöpferisch und
lebendig bleiben soll. Hierfür ist Annette von Droste-
Hülshof f ein interessantes Beispiel, eine Frau und Dichterin,
bei der sonst gewiß das geschlechtliche Moment nur eine sehr
bescheidene Bolle spielte. Aber sie verlor doch mit dem Augen-
blick jede dichterische Fähigkeit, jedes künstlerische Gestaltungs-
vermögen, als ihr geliebter Lewin Schücking sich mit
Louise von Gail verlobte. Der bloße Gedanke der Mög-
lichkeit eines physischen Besitzes war ihr ein Ansporn zum
Dichten gewesen, ohne daß für sie eine Umsetzung in die Wirk-
lichkeit nötig gewesen wäre. Als diese Möglichkeit ihr für immer
genommen war, verstummte auch ihre Muse.
Ein absolut zwingender Beweis für den innigen Zusammen-
hang zwischen Sexualität und Aesthetik ist die Tatsache, daß
die großen Künstler und Dichter in der großen Mehrzahl durch-
aus sinnliche Naturen sind. Die früher erwähnten Beziehungen
zwischen Sexualtrieb und Schaffenstrieb, zusammengefaßt in dem
„Funktionstriebe“ von S a n 11 u s , treten besonders deutlich beim
Künstler hervor. In diesen künstlerischen Naäuren ist das
ästhetische Empfinden mit einer glühenden Sinnlichkeit gepaart,
die von dem Schönen schlechthin ihre mächtigsten Impulse er-
202
fährt. Wir stimmen v. Krafft-Ebing bei, wenn er die Mög-
lichkeit einer echten Kunst und Poesie ohne sexuelle Grundlage
leugnet. Wir glauben nicht an eine sogenannte „rein“ ästhetische
Betrachtung und Empfindung ohne jede sinnliche Beimischung.
Selbst V o 1 k e 11, der geneigt ist, Kunst und Geschlechtstrieb
voneinander zu sondern, kann den genetischen Zusammenhang
zwischen beiden nicht leugnen. Oskar Bie macht die inter-
essante Bemerkung, daß „mit dem ästhetischen Verhalten der
Strang des Willens nicht dünner wird bis zum Beißen, sondern
stärker bis zur blinden Leidenschaft“ (Neue Deutsche Bund-
schau 1894, S. 479). Ebenso haben Nietzsche und Guyauj
gegen die S ch o p en h au e r sehe Theorie von der Willenlosigkeit
beim ästhetischen Empfinden Einspruch erhoben, Nietzsche
spricht sogar von einer „Aesthetik des Geschlechtstriebes“,
Guy au gründet seine Aesthetik auf die Lebenslust und die
Geschlechtsliebe (Les problèmes de l’esthétique contemporaine,
Paris 1897). Magnus Hirschfeld erwähnt in seinem „Wesen
der Liebe“ (S. 48) ein Werk „The sense of beauty“ von G. San-
tayana, in dem sogar die Theorie aufgestellt wird, daß „für
den Menschen die ganze Natur ein Gegenstand geschlechtlichen
Fühlens ist, und daß sich zumeist hieraus die Schönheit der
Natur erklärt.“ Endlich weist Gustav Naumann („Geschlecht
und Kunst. Prolegomena zu einer physiologischen Aesthetik,“
Leipzig 1899) überzeugend nach, daß das Sexuelle die Wurzel
alles Künstlerischen, der ganzen Aesthetik ist.
Wie man aber auch über das Verhältnis zwischen Sexualität
und Kunst denken möge, so ist es eine ganz unbestreitbare Tat-
sache, daß unser heutiges modernes Leben durch ein „erotisches
Illusionsbedürfnis“ (nach dem Ausdruck von Konrad Lange)
charakterisiert wird, daß die leichte Erotik, wie sie im geselligen
Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern zum Ausdruck kommt,
wesentlich künstlerischer Natur ist. Ich spreche hier nicht bloß
vom Tanz als der künstlerischen Verklärung der erotischen
Bewerbungserscheinungen oder von Kleidung und Mode und dem
ganzen Milieu als ästhetischen Ausdrucksmitteln der Persönlich-
keit, wie sie bereits früher geschildert wurden, sondern vor allem
von der Geselligkeit schlechthin, die heute das freie, leichte
ästhetische Element darstellt, in dem die moderne Liebe die
mannigfaltigsten Anregungen empfängt.
Emerson hat in seinem Essay über die Liebe die Be-
203
deutung dieser unwägbaren leisen Einflüsse erotisch-ästhetischer
Natur für unser Kulturleben sehr schön geschildert und Konrad
Lange führt in seinem „Wesen der Kunst“ (Berlin 1901, Bd. II,
S. 23) die Freude an der Geselligkeit überhaupt letzten Endes auf
den Geschlechtstrieb zurück, wenn auch dabei die Sinnlichkeit
durch die Illusion gemildert, in eine reinere Sphäre emporgehoben
wird. Der erotische Genuß wird zum „Liebesspiel“ verflüchtigt, die
Sinnlichkeit wird verfeinert, vergeistigt, entmaterialisiert. Gerade
diese ästhetische Erotik gewinnt heutzutage eine immer größere
Bedeutung für das Gemüts- und Gefühlsleben der im harten
Kampfe ums Dasein ringenden Kulturmenschheit, der Zeit und
Ruhe für die „große“ Liebesleidenschaft fehlt. Für sie machen
diese leichten Anregungen den eigentlichen Reiz des Lebens aus,
sie bringen Licht und Farbe in die dunkle Monotonie desselben.
In seinen feinsinnigen „Bemerkungen über Goethes Stella“
hat AVilhelm Scherer diese erotische Aesthetik und ästhetische
Erotik der Geselligkeit und des gesellschaftlichen Verkehrs ge-
würdigt. Er spricht von einem Reize persönlicher Gegenwart,
der alles Beste in zwei Menschen emporlockt, von einer enthusia-
stischen, gänzlichen Hingebung des Geistes und Gemütes, in
welcher die Seelen sich unauflöslich zu verschlingen scheinen,
aber auch nur scheinen. Denn in Wahrheit ist es eine Hingebung
auf Wochen, auf Tage, auf Minuten, auf Augenblicke und an
verschiedene Personen. Diese häufigen individuellen rein seelischen
Berührungen der beiden Geschlechter haben ganz den Charakter
der ästhetischen Freude, einer Empfindung der Freiheit, der
Befreiung auch von der Macht der Sinne. Wer kennt nicht das
glückliche, befreiende Gefühl, das der Anblick einer schönen
Mädchengestalt, das Lächeln eines sympathischen Menschen-
antlitzes hervorruft ?
Diese ästhetische Anregung durch die Erotik hat ferner etwas
Belebendes, den Willen Anspornendes, weil auch ihre Ur-
sache solch ein Element der Tat und Lebensenergie enthält. Die
modernen Liebesideale der Geschlechter haben einen besonderen
Zug. Die klassische Schönheit schlechthin gilt nichts ohne das
Individuelle, Persönliche, Charakteristische. Auch die Frau ist
nicht mehr das stille Gretchen von ehedem. Sie soll Temperament,
Gehalt, Leidenschaft haben, sie soll eine Persönlichkeit sein.
Schon vor hundert Jahren sang der Dichter der „bezauberten
Rose“:
204
Wohl mancher mag die weiße Ros erheben,
Die still im Schoß den keuschen Frieden trägt,
Ich werde stets den Preis der roten geben,
Aus welcher bell des Gottes Flamme schlägt.
So feuchten Glanz, solch glübend Liebesieben,
So lauen Duft, der Sehnsucht weckt und hegt,
Solch kämpfend Weh, verhüllt in tiefe Röte,
Ich acht’ es süß, ob’s auch verzehr und töte.
Auch wir lieben die rote Rose, nicht die weiße. Die herr-
lich e Gioconda (Mona Lisa) des Lionardo, der Typus des
echt modernen, individuellen Weibes, ist unser Ideal. Uns lockt
mehr als das Schöne noch das Charakteristische, Gehaltvolle,
Leidenschaftliche, Innerliche in der Frau, das, was man, einen
falschen Nebenbegriff hineinlegend, „nervöse“ Schönheit nennt.
Die blasse Josepha aus Heines Knaben zeit ist ein Beispiel dafür,
am besten aber hat Eduard Grisebach in seinem „Tan-
häuser in Rom“ diesen modernen Frauentypus geschildert:
Sie war nicht schön wie die Venus von Knidos,
Wie Aphrodite von Kos und Abydos,
Die göttlich schuf an Asiens Strand
Praxiteles’ geweihte Hand,
Unalternd, trotzend Tod und Zeit,
In marmorner Unsterblichkeit;
Sie war keine Göttin aus Hellas Gefild,
Sie war ein lebendiges Menschenbild,
Mit der Vergänglichkeit Reiz geschmückt,
Nicht in griechischen Ton gedrückt.
Die Göttin und ihre Steinbildsäule,
In wandelloser Langeweile,
Sonnen in ewigem Jugendglanz sich:
Sie aber zählte siebenundzwanzig
Nicht ohne Sturm verlebte Jahre.
Hatte vielleicht schon ein paar graue Haare . . .
. . . Was sind Diamanten und Himmelstau
Gegen ihr Auge, groß und blau,
Unter lange, schattende Wimpern geflüchtet,
Sie hatt’ es noch niemals auf ihn gerichtet.
Die Nase war keineswegs im Profile
Mit der Stirn eine Linie nach griechischem Stile,
Sie war zum Glück durchaus nicht klein,
Doch gerade, edelgeschwungen und fein . . .
Verräterisch, glühender Leidenschaft Spiegel,
Zitterten ihre Nasenflügel,
Leicht aufgebläht, und herab von ihnen
Furchen bis tief zum Kinn erschienen,
205
Die Wege, welche hier seit langem
Verzehrende Passion gegangen.
Ein üppiger Mund, so fest und fein
Und nicht zu groß und nicht zu klein,
Blutrote Lippen, voll und heiß,
Und sieh ! wie Elfenbein so wreiß
Lacht aus dem halbgeöffneten Tor
Der Zähne glänzende Reihe hervor . . .
Sehr stark und mächtig war das Kinn . . .
Ein holdes Grübchen lacht darin.
Die Hand war klein und schmal, doch kleiner
Als ihr himmlischer Fuß erschien ihm noch keiner . ,
Die Gestalt nicht voll, doch auch nicht zu schlank,
Zur stürmisch war vielleicht ihr Gang.
In ihrem „Buch der Frauen“ (Paris und Leipzig 1895) hat
Laura Marholm in den Gestalten der Marie Basch-
k i r t z e w , der Anna Charlotte Leffler, Eleonore
Düse, George Eg er ton, Amalie Skram und Sonja
Kowalewska solche ausgeprägten charakteristischen Typen
der modernen Frau als Persönlichkeit geschildert.
Diesem Zug zum Charakteristischen, Persönlichen in der Er-
scheinung der Frau widerspricht einigermaßen die unter dem
Einflüsse der englischen „Präraphaeliten“, eines Burne Jones
und Itossetti, aufgekommene Vorliebe für die gerade Linie,
für schlanke, ätherische, allzu sehr vergeistigte, übersinnliche
Formen, die nicht mehr die freie Persönlichkeit des reifen Voll-
weibes zum Ausdruck bringen, sondern mehr dem kindlichen,
asexuellen Habitus sicli nähern. Hier handelt es sich aber nur
um eine vorübergehende Zeitmode, die jenen oben charakterisierten
allgemeinen Zug zum Persönlichen nicht beeinträchtigen kann.
Dieses Persönliche, Individuelle hat beim Manne noch größere
Bedeutung als die eigentliche Schönheit. Es ist bezeichnend, daß
in der ganzen Kulturgeschichte die Männer immer mehr Ver-
ständnis für die „Mannesschönheit“ gehabt haben als die Frauen.
Diese haben Kraft, Intelligenz, Willenseuergie und ausgesprochene
Individualität immer bevorzugt. Caroline Schlegel schreibt
einmal in einem Briefe an Luise Götter über Mirabeau:
„Häßlich mag er gewesen sein, das sagt er selbst oft in den
Briefen — doch hat ihn Sophie geliebt, denn Weiber lieben
gewiß nicht vom Manne die Schönheit“ (Carolines
Briefe, herausgegeben von G. Waitz, Leipzig 1871, Bd. I, S. 93).
206
Diese Auffassung erklärt sowohl die Worte im zweiten Teil
des Goethe sehen „Faust“:
Frauen, gewöhnt an Männerliebe,
Wählerinnen sind sie nicht,
Aber Kennerinnen;
Und wie goldlockigen Hirten,
Vielleicht schwarzborstigen Faunen,
Wie es bringt die Gelegenheit,
Ueber die schwellenden Glieder
Voll erteilen sie gleiches Recht,
als auch die Behauptung Eduard von Hartmanns (Philo-
sophie des Unbewußten, Berlin 1874, S. 205), daß die stärksten
Leidenschaften nicht durch die schönsten, sondern im Gegenteil
gerade durch häßliche Individuen erweckt werden. Die Wirkung
ausgesprochener Individualität ist eben bedeutend stärker als die
der körperlichen Schönheit. Auch der Mystiker Swedenborg
hat schon erklärt, daß das Weib beim Manne die Wahrheit, die
geistige Bedeutung, nicht die Schönheit sucht.1)
Hierin offenbart sich die Ahnung, daß die wahre Schönheit
zuletzt doch nur die geistige ist, der Ausdruck der Willenskraft,
der schöpferischen Tätigkeit und der freien Persönlichkeit. 3
3) „Es ist nichts Seltenes,“ sagt Lermontoff in „Ein Held
unsrer Zeit“ (Reklamausgabe S. 102), „daß Frauen sich in solche
Männer bis zum Wahnsinn verlieben, und daß sie die Häßlichkeit der-
selben nicht mit der Schönheit eines Endymion vertauschen möchten.“
ZEHNTES KAPITEL.
Die sozialen Formen der sexuellen Beziehungen.
Die Ehe.
Der Zug nach Individualität, wie er unserem Kultursystem als
entscheidendes und auszeichnendes Kennzeichen eigentümlich ist, ist
in der monogamischen Eheform am glücklichsten ausgeprägt; denn
hier vollzieht sich leise und unmerklich die Herausarbeitung der
Individualität auch auf der Seite der Frau.
Ludwig Stein.
Inhalt des zehnten Kapitels.
Die Streitfrage der geschlechtlichen Promiskuität. — Tatsache
ihrer Existenz. — Westermarcks verfehlte Kritik der Promis-
kuitätslehre. — Fortdauer der Promiskuität bis zur Gegenwart. —
Völkerkundliche Beweise dafür. — Die Forschungen von Friedrich
S. Krauß. — Die Ehe ein künstliches Gebilde. — Die Gruppen-
ehe. — Eine Form beschränkter Promiskuität. — Verbreitung der
Gruppenehe. — Zusammenhang der Polyandrie mit der Gruppenehe. —
Vielweiberei und Gruppenehe. — Weiberverleihen und Weibertausch. —
Mutterrecht und Vaterrecht. — Fortschreiten von niederen zu höheren
sozialen Formen der Geschlechtsbeziehungen. — Uebergang vom Mutter-
zum Vaterrecht. — Bildung der vaterrechtlichen Familie. — Raub-
und Kauf ehe. — Die Lichtseiten des Vaterrechts. — Vaterrechtliche
Eheformen. — Polygamie und patriarchalische Familie. — Die Levirats-
ehe. — Die monogamische Ehe. — Existenz einer fakultativen Poly-
gamie neben der Monogamie. — Die konventionelle Ehelüge. —
Hegels Definition der Ehe. — Kritik derselben. — Vereinigung
der mutterrechtlichen und vaterrechtlichen Formen der Geschlechts-
beziehungen. — Neuerliches Erwachen des Mutterrechtsgedankens. —
Umgestaltung der alten vaterrechtlichen Ehe zu freieren Formen. —-
Einführung der Zivilehe und der Ehescheidung. — Wichtigste Grund-
lage für die Reform der Ehe. — Die doppelte Geschlechtsmoral. —
Ursprung derselben. — Kritik derselben. — Verhältnis der Prosti-
tution zur konventionellen Zwangsehe. — Notwendigkeit und Be-
rechtigung freierer Eheformen. — L e c k y s Aeußerungen darüber. —
Das römische Konkubinat und die morganatische Ehe. — Bedeutung
des sakramentalen Charakters der Ehe. — Staatliche Sanktion einer
freieren Eheform (Zivilehe, Mischehe Ehescheidung). — Liebes-
psychologio und Eheproblem. — Veränderlichkeit der menschlichen
Liebe. — Die Ewigkeitslüge. — Vergänglichkeit der Jugendliebe. —
Gutzkow, Kierkegaard, Rétif de la Bretonne darüber.
— Die Poesie der ersten Anfänge in jeder Liebe. — Das sexuelle
Variationsbedürfnis als anthropologisch-biologisches Phänomen. — Ein
bloßes Erklärungsprinzip, kein Ideal. — Seltenheit der „einzigen“
Liebe. — Der Psychologe Stiedenroth darüber. — Möglichkeit
gleichzeitiger Liebe zu mehreren Personen. — Erklärung dieser Tat-
sache. ■— Beispiele dafür. — Schwierigkeit vollkommener Harmonie
zwischen Mann und Frau. — Das Ideal der „Einliebe“. — Schleier-
macher über die Notwendigkeit der Versuche in der Liebe. —
Beispiel der Wilhelmine Schröder-Devrient und der
209
Karolilie Schelling. — Unzerstörbarkeit des Liebesbedürfnisses
durch Enttäuschungen. — Gefahren der Gewohnheit. — Doppelte
Rolle der Gewohnheit in der Ehe. — Gefahr des intimen Zusammen-
lebens. — Das gemeinsame Schlafzimmer. — Ungünstige Altersver-
hältnisse der Ehegatten. — Zunahme der vorzeitigen Heiraten. —
Zusammenhang mit dem vorzeitigen Erwachen der Sexualität. —
Allzu großer Altersunterschied der Ehegatten. — Dadurch bedingte
physiologische Disharmonien. — Hinausrücken des Heiratsalters durch
die Kultur. — Abnahme der Ehen in den verschiedenen europäischen
Ländern. — Die ökonomischen Haktoren. — Die Geldehe ein Ueber-
bleibsel früherer Zeiten. — Verflüchtigung des ökonomischen Hinter-
grundes der Ehe durch die Kultur. — Ehe und Kornpreise. — Rolle
der Geldehen in gewissen Ständen. — Bedeutung der ökonomischen
Faktoren für die Ehe. — Zusammenfassung der Ursachen für die
Abnahme des „Heiratstriebes“. — Die „eheliche Pflicht.“ — Berech-
tigung und Mißbrauch derselben. — Die Banalität in der Ehe. —
Krankheiten und Ehe. — Urteil eines Psychiaters über die Kalami-
täten der Ehe. — Aeußerungen einer Frau. — Schiller und Byron
über Liebe und Ehe. — Ein Wort des Sokrates. — Die Ab-
neigung gegen den Ehezwang. — Große Zunahme der Ehescheidungen
in den letzten Jahren. — Der § 1568 des Bürgerlichen Gesetzbuches.
— Gesetzliche Möglichkeit mehrerer Ehescheidungen bei derselben
Person. — Eine Art staatlicher Sanktion der freien Liebe. — Ab-
hängigkeit des Pflichtbewußtseins von der Freiheit. — Gründe der
Ehescheidung. — Die Reform der französischen Ehe. — Zusammen-
setzung und Programm des französischen Komitees der Ehereform. —
Der Begriff der geschlechtlichen Verantwortlichkeit.
Anhang. — Mitteilung von hundert Ehetypen und zwölf charak-
teristischen Ehestandsgemälden nach Groß -Hoffinger.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—-60. Tausend.)
1 4
210
Mir ist es, seitdem ich mich näher mit dem Gegenstand
beschäftigt habe, stets unbegreiflich gewesen, wie sich unter den
Anthropologen, Ethnologen und Kulturhistorikern überhaupt ein
Streit über die Frage erheben konnte, ob unter den Urformen
der sexuellen Beziehungen die Ehe die zeitlich frühere gewesen
sei, oder ob ihr ein Zustand der „geschlechtlichen Promiskuität“
vorausgegangen sei.
Wer die Natur des Geschlechtstriebes kennt, wer sich über
den Gang der Entwicklung des Menschengeschlechts klar geworden
ist und wer endlich die noch heute herrschenden Zustände auf
geschlechtlichem Gebiete bei primitiven Völkern und modernen
Kulturvölkern studiert, dem kann gar kein Zweifel darüber auf-
kommen, daß in den Anfängen der Menschheits-
entwicklung tatsächlich ein Zustand der ge-
schlechtlichen Promiskuität geherrscht hat.1)
„Die idealen Ziele,“ sagt Heinrich Schurtz, „denen die
Kulturmenschheit zweifellos mit mehr oder weniger Bewußtsein
zustrebt, werden unwillkürlich auch als Maßstab genommen, nach
dem man die Vergangenheit beurteilt, und Gefühle und Stim-
mungen treten an die Stelle des schlichten Strebens nach Wahrheit.“
So hat man auch das Ideal der Dauerehe zwischen einem Manne
und einer Frau, das in der Tat, wie hier gleich hervorgehoben
sei, als ein unverlierbares Kulturideal bestehen bleiben
wird, als solchen Maßstab für die Beurteilung der Zustände in der *
U So erklärt auch P. N ä c k e, einer der gründlichsten Kenner
der Sexualanthropologie: „Daß in alter Zeit vor der Monogamie
Polygamie oder gar ein der* Promiskuität ähnlicher Zustand existiert
hat, ist sehr wahrscheinlich, trotz Westermarck, und
sogar a priori anzunehmen.“ (“Einiges zur Frauenfrage und
zur sexuellen Abstinenz“, in: Archiv f. Kriminalanthropologie, heraus-
gegeben von Hans Groß 1903 Bd. XIV S. 52.) Vgl. auch Loh-
sin g s Zustimmung zur Annahme einer ursprünglichen Promiskuität,
ibid. 1901 Bd. XVI S. 332.
211
Vergangenheit benützt-. Das hat besonders Westermarck in
seiner durch die Sammlung zahlreicher ethnologischer Einzelheiten
wertvollen „Geschichte der menschlichen Ehe“ (Jena 1893) getan,
und deshalb ist seine von dieser falschen Voraussetzung ausgehende
Kritik der Promiskuitätslehre „zuletzt doch unfruchtbar ge-
blieben“, wie Heinrich Schurtz feststellt.2) Zum Beispiel
hat sich Westermarck über die Tatsache der unzweifelhaft
bestehenden Promiskuität innerhalb der Gruppenehe der Ge-
schlechtsverbände, der Totems, einfach hinweggesetzt.
Läßt sich, wie wir sehen werden, bei den in sozialen Ver-
bänden lebenden Stämmen und Völkern die geschlechtliche Pro-
miskuität neben und meist vor der Ehe nachweisen, so ist es
über jeden Zweifel erhaben, daß die Urmenschen, bei denen über-
haupt alle individuellen Beziehungen noch fehlten, die als reine
Triebwesen handelten, auch den Begriff der „Ehe“ im modernen
Sinne nicht gekannt haben. Sonst wäre ja auch das „Mutterrecht“
nicht nötig gewesen, dieser typische Ausdruck für die durch die
geschlechtliche Promiskuität hervorgerufene Unsicherheit der
Vaterschaft.
Die in primitiven Zuständen herrschende größere Un-
gebundenheit im Geschlechtsverkehr wird von den einzelnen
Forschern verschieden bezeichnet, bald als „Promiskuität“, bald
als „freie Liebe“, als „Gruppenehe“, „Polyandrie“, „Polygynie“,
„religiöse und geschlechtliche Prostitution“ usw. Die klassischen
Arbeiten von Bachofen, Bastian, Giraud-Teulon,
von Plellwald, Köhler, Friedrich S. Krauß, Lub-
bock, MacLennan, Morgan, Friedrich Müller,
Post, H. Schurtz, W i 1 c k e n u. a. haben diesen Hetäris-
mus der Urzeit als Tatsache erwiesen.
Wenn moderne Kritiker sich auch schließlich dazu bequemen,
die Beweiskraft des ungeheuren Tatsachenmaterials auf diesem
Gebiete anzuerkennen, so nehmen sie doch immer noch Anstoß an
dem Begriff und Wort der geschlechtlichen „Promiskuität“, womit
ein schranken- und wahlloser sexueller Verkehr der Geschlechter
untereinander ausgedrückt wird. Sie geben die Möglichkeit der
Gruppenehe — obgleich das nur eine sozial begrenzte Form der
Promiskuität ist —, der Polyandrie und Polygynie, ja der wahl-
2) H. Schurtz, Altersklassen und Männerbünde. Eine Dar-
stellung der Grundformen der Gesellschaft. Berlin 1902, S. 176.
M*
212
losen religiösen Prostitution zu, aber an die Existenz der echten
Promiskuität wollen sie nicht glauben.
Und doch könnten sie diese, wenn sie die Augen nur gehörig
aufmachten, noch heute unter den modernen Kulturvölkern
beobachten. In gewissen Bevölkerungsschichten und Klassen läßt
sich ein solcher wähl- und regelloser Geschlechtsverkehr ohne
Anknüpfung dauernder Beziehungen noch heute beobachten. Man
frage einen jungen Mann selbst der besseren Stände, mit wie vielen
weiblichen Wesen er im Laufe eines einzigen Jahres verkehrt
hat — es brauchen durchaus keine Prostituierte zu sein — und
man wird, wenn er die Wahrheit sagt, erschrecken über die Zahl
der „Lustobjekte“! Dieser letztere Ausdruck paßt durchaus, weil
meist jede individuelle Beziehung zwischen den nur flüchtig sich
Begegnenden fehlt. Und auch von gewissen Mädchen, z. B. Dienst-
mädchen, Konfektioneusen, wird man dasselbe in Beziehung auf
die Zahl ihrer jährlichen Liebhaber hören. Aehnlich begründet
Philipp Frey (Der Kampf der Geschlechter, Wien 1904, S. 51)
die Annahme einer ursprünglichen geschlechtlichen Promiskuität.
Er weist besonders auf die Zustände in den Hafenstädten hin:
„Hafenorte, in denen überseeische Schiffe anlcgen, kennen den
jeder Verfeinerung und Hülle entbehrenden Trieb in seiner ganzen
Tierheit. Sehen wir uns hier in die Tiefen einer notvollen Primi-
tivität und einer Wildheit versetzt, die auf Hemmimgen der Zivili-
sation zurückgeht, so rückt uns zugleich die tierische Undifferen-
ziertheit des in Herden lebenden Urmenschen näher. Vermischung
von Mann und Weib nach der Begierde des Moments, einzige
Bindung durch die gegenseitige Erregung der Lust, zu geringe
Unterschiede zwischen den verschiedenen Männchen und Weib-
chen einer Menschenherde, um dauernde Vonechte zweier ein-
zelner aufeinander erstrebenswert zu machen, Fehlen des Grund-
besitzes im Umherschweifen durch den Urwald, gemeinsames Eigen-
tum der Herde oder Horde an Kindern — diese Voraussetzung
ursprünglichster affenartiger Zustände, die unter denen anderer
Säugetiere stehen, ist durch die in aller Kultur’ immer wieder
hervorbrechenden polygamischen und polyandrischen Triebe von
homo sapiens gerechtfertigt.“
Glücklicherweise liefert auch die Völkerkunde uns unum-
stößliche Beweise für das Bestehen der echten Promiskuität.
Von den Nasomonen in Afrika berichtet H e r o d o t (IV, 172):
„Wenn ein nasomonischer Mann sich die erste Frau nimmt, so
Ai
213
ist der Brauch, daß die Braut in der ersten Nacht von allen
Gästen sich muß beschlafen lassen, die Beihe durch, und so wie
einer sie beschlafen, gibt er ihr ein Geschenk, das er von Hause
mitgebracht.“
Das gleiche erzählt D i o d o r (V, 18) von den Bewohnern der
Balearen. Ist das nicht ein Nachklang uralter Sitte geschlecht-
licher Promiskuität vor der Ehe?
Sehr interessant sind die neueren Mitteilungen von Mel-
n i k o w über die freien Geschlechtsverhältnisse bei den sibirischen
Burjaten. Dort herrscht vor der Ehe ein regelloser Geschlechts-
verkehr zwischen Männern und Mädchen. Besonders bei den bur-
jatischen Festlichkeiten läßt sich das beobachten. Sie finden
meistens am späten Abend statt und können mit Hecht „Nächte
der Liebe“ genannt werden. Nahe den Dörfern brennen Scheiter-
haufen, um welche Männer und Frauen ihren eintönigen Tanz
„Nädan“ tanzen. Von Zeit zu Zeit gehen Paare von den Tanzenden
fort und verschwinden in der Dunkelheit der Nacht. Kurz darauf
kehren sie zurück und nehmen wieder an den Tänzen teil, um
nach einiger Zeit aufs neue im Nachtdunkel zu verschwinden,
aber es sind nicht immer dieselben Paare, die aufs neue ver-
schwinden, da die Personen miteinander Wechseln.3)
Ist das nicht echte Promiskuität ? In gemilderter Form kann
man sie auch bei uns beobachten, wie mir kürzlich ein Fall bekannt
geworden, wo zwei gute Freunde ihre übrigens erst seit kurzer
Zeit datierenden „Verhältnisse“ miteinander austauschten. Frei-
lich geschah das am hellen Tage, während bei den Bur jäten die
Dunkelheit eine wirklich echte wahllose Promiskuität verbürgt.
Marco Polo berichtet als einen merkwürdigen Brauch der
Einwohner von Tibet, daß dort ein Mann unter keinen Umständen
ein Mädchen heiraten würde, das Jungfrau wäre. Denn, sagten
sie, ein Weib sei nichts wert, wenn es nicht Umgang mit Männern
gepflogen habe. Man bot die Mädchen den Reisenden an und
erwartete, daß der Fremde die Gefälligkeit mit einem Ring oder
irgend einer anderen Kleinigkeit belohnte, die das Mädchen, wenn
cs heiraten sollte, als „Liebeszeichen“ vorzeigen mußte. J e
®) N. Melnikow, Die Burjaten des Irkutskischen Gouverne-
ments in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthro-
pologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1899, S. 440.
214
mehr es dergleichen besaß, desto gesuchter war es als
Gattin.4)
Auch aus Neuholland wird ähnliches berichtet.
Besonders wichtig und beweisend für die Existenz einer
geschlechtlichen Promiskuität sind die Untersuchungen des Folk-
loristen Friedrich S. Krauß über das Geschlechtsleben der
Südslaven. Krauß hat sich überhaupt um die wissenschaftliche
Erforschung und anthropologische Grundlegung des menschlichen
Sexuallebens die größten Verdienste erworben, ihm gebührt neben
Bastian, Post, Köhler, Mantegazza und Ploß-
Bartels ein Ehrenplatz unter den Begründern der „Anthro-
pologin sexualis“.
Dr. Krauß hat seine bahnbrechenden Untersuchungen zu-
erst in den „Kryptadia“ Bd. VI und VII (Paris 1899 und 1901) ver-
öffentlicht, später aber für die Zwecke der folkloristisch-ethnologi-
schen Erforschung des Sexuallebens ein eigenes Jahrbuch unter dem
Titel „Anthropophyteia, Jahrbuch für folkloristische Erhebungen
und Forschungen zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen
Moral“ begründet, das unter Mitwirkung von Anthropologen,
Ethnologen, Folkloristen und Medizinern, wie Thomas
Achelis, Iwan Bloch, Franz Boas, Albert Eulen-
burg, Anton Herrmann, Bernhard Obst, Giuseppe
Pitre, Isak Robinsohn und Karl von den Steinen
seit 1904 erscheint (bisher 3 Bände, 1904-—1906) und eine höchst
wichtige Bereicherung der bisher sehr spärlichen periodischen
Publikationsorgane für das wissenschaftliche Studium der sexuellen
Probleme darstellt. Ich werde auf dieses bedeutsame Unternehmen
später noch einmal zu sprechen kommen. Hier erwähne ich nur,
daß in diesen Publikationen von Krauß, der, wie er selbst sagt,
für die Verlockungen des Romantizismus in der Volkskunde
unempfänglich, sich einen offenen Sinn für die Wirklichkeiten
und Möglichkeiten des Volkstums gewahrt hat, die Existenz einer
geschlechtlichen Promiskuität unter den Südslaven mit Sicherheit
dargetan ist. Wie er selbst erklärt, stand eine solche Fülle von
einem Berufs-Folkloristen erhobener zuverlässiger Belege über eine
Form der geschlechtlichen Promiskuität innerhalb eines sehr engen
Gebiets einer einzigen geographischen Provinz der Forschung bis-
her nicht zur Verfügung.
4) Marco Polo, translated by Yule, 2. edition, London 1875,
Bd. II, S. 35, 39.
215
Es ist auch sonnenklar, (laß das geschlechtliche Variations-
bedürfnis des Menschen, welches eine anthropologische Erscheinung
darstellt,0) in der Urzeit sich um so stärker und ungezügelter
äußern mußte, als noch das ganze Leben sich nicht über das
Niveau rein physischer Bedürfnisse erhob. Wenn nun heute, im
Zustande der fortgeschrittensten Zivilisation, nach Ausbildung
einer das ganze gesellschaftliche Leben durchdringenden und beein-
flussenden geschlechtlichen Moral, dieses natürliche Variations-
bedürfnis sich beinahe noch in unverminderter Stärke äußert,
so bedarf es eigentlich keines Beweises mehr, daß in primitiven
Zuständen geschlechtliche Promiskuität das Ursprüngliche, ja
eigentlich das Natürlichere ist als die Ehe.
Denn vom rein anthropologischen Standpunkte — nur
von diesem, nicht vom sittlichen, sozialen und kulturellen ist
hier die Bede — erscheint die Dauerehe als ein durchaus künst-
liches Gebilde, welches auch heute noch dem sexuellen Variations-
bedürfnis des Menschen nicht Genüge tut, da vor allem zahl-
reiche Männer wohl de jure monogam, de facto aber polygam
leben, worauf schon Schopenhauer hin wies. Immer aber
bezieht sich das auf die rein physischen, sinnlichen Beziehungen
und berührt nicht die Ehe als Kulturideal, als welches sie vor-
züglich einen geistig-sittlichen Inhalt hat.
Auch die anderen, selbst von den Kritikern der Promiskuität
als erwiesene Tatsachen anerkannten sozialen Formen des Ge-
schlechtsverkehrs sind durch einen häufigen Wechsel in den
sexuellen Beziehungen ausgezeichnet. Das gilt ganz besonders von
der ältesten Eheform, der sogenannten „Gruppenehe“.5 6 * 8)
Die Gruppenehe ist nicht eine Verbindung einzelner Indi-
viduen, sondern von aus Individuen, männlichen und weiblichen,
zusammengesetzten Stammesgruppen, den sogenannten
„Totems“.
5) Vgl. darüber meine „Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis“, Bd. I, S. 165—169.
6) Vgl. über die Gruppenehe besonders die Arbeiten des be-
rühmten Juristen, Ethnologen und genialen Kulturpsychologen Josef
Köhler, speziell seine Abhandlungen „Zur Urgeschichte der Ehe“,
Stuttgart 1897; „Rechtsphilosophie und Naturrecht“ in: Holtzen-
dorff-Kohler, Encyklopädie der Rechtswissenschaft, Leipzig 1902,
S. 27—36; „Die Gruppenehe“ in: Aus Kultur und Leben, Berlin 1904,
S. 22—29; dann das Kapitel über die Gruppenehe bei Schurtz.,
Altersklassen und Märnerbünde, S. 173—189.
Der soziale Instinkt, der Genossenschaftstrieb, auf dem noch
heute Staat und Familie beruhen, verband einst die Menschen
zu Stämmen eigener Art, die sich als ein einheitliches Individuum
fühlten und von einem Tiergeiste beseelt glaubten, ihrem Schutz-
geiste. Diese Verbände hießen Totems.
Die Gruppenehe ist nun die Verheiratung eines
Totems mit einem anderen, d. h. die Männer der einen
Totemgruppe heiraten die Frauen der anderen und umgekehrt. Aber
kein einzelner hatte eine besondere Frau, sondern,
wenn z. B. 20 Männer des ersten Totems 20 Frauen des anderen,
heirateten, so hatte jeder der 20 Männer seinen gleichberechtigten
Anteil an jeder der 20 Frauen und umgekehrt. Das war zwar
ein Fortschritt über die an keine soziale Form sich bindende
schrankenlose geschlechtliche Promiskuität hinaus, bot aber keine
Möglichkeit zu einer Individualisierung der Liebe, es blieb Promis-
kuität in engeren Grenzen.
Die Gruppenehe existiert heute noch in Australien in aus-
geprägter Form bei einigen Stämmen, während sie als gelegent-
lich geübter Brauch, als Weibertausch unter Freunden, Gästen,
Verwandten fast überall in Australien vertreten zu sein scheint.
S c h u r t z betrachtet die australische Gruppenehe als eine Art
von „Austoben“ des wilden Geschlechtstriebes.
Sehr bekannt ist die Schilderung der Gruppenehe im alten
Britannien bei Cäsar: „Die Gatten besitzen ihre Frauen zu
zehn oder zwölf gemeinsam, und zwar vorzugsweise Brüder zu-
sammen mit Brüdern oder Eltern mit Kindern.“ Das ist also
eine besondere Abart der Gruppenehe.
Als Rest einer ursprünglichen Gruppenehe ist nach Bern-
höft auch die „Polyandrie“, die Vielmännerei, aufzu-
fassen, bei der ein Weib mehrere Männer besitzt und die durch
Frauenmangel in dem einen Totem zustande kommt. Marshall
hat in der Tat bei den polyandrischen Toda in Südindien wirk-
liche Gruppenehe neben der Polyandrie beobachtet.
Bei einzelnen Indianerstämmen finden sich noch heute An-
klänge an die Gruppenehe, z. B. besteht ein Anrecht des Mannes
auf die Schwestern seiner Gattin oder selbst auf deren Cousinen
und Tanten, die er nach und nach ebenfalls heiraten kann. Hier
hat sich also die „Polygynie“ oder Vielweiberei aus der
Gruppenehe entwickelt.
Auch die vielfach verbreitete Sitte des Weibe rverleihens
217
und Weibertausches Längt mit den Verhältnissen der
Gruppenehe zusammen; in Hawai, Australien, bei den Massai und
Herero in Afrika treffen wir diesen Brauch, besonders aber in
Angola und an der Kongomündung, auch in Nordostasien, bei
manchen nordamerikanischen Indianerstämmen.
Mit Recht macht S c h u r t z auf die durch die schlechten
Wohnungsverhältnisse bedingten ähnlichen Zustände bei euro-
päischen Proletariern aufmerksam.
Unter diesen Verhältnissen einer wenn auch schon be-
schränkten Promiskuität war die einzig natürliche Familien-
verbindung diejenige zwischen Mutter und Kind. Das Kind ge-
hörte ausschließlich der Mutter und dadurch in weiterem Sinne
dem Totem der Mutter an. Wie namentlich Bachofen in seinem
berühmten Werke7) nachgewiesen hat, hat die Urzeit, und bis in
die Gegenwart noch viele primitive Stämme, ganz unter der Herr-
schaft des auf rein sinnliche, nichtindividuelle Beziehungen sich
gründenden ,,Mutterre chts“ (Matriarchat) gestanden, das erst
mit dem Eintreten mehr freier, geistiger, individueller Be-
ziehungen zwischen den Geschlechtern, die noch keineswegs zur
Einehe im modernen Sinne zu führen brauchten, durch das
„V a t e r r e c h t“ (Patriarchat) ersetzt wurde.
So haben die neueren ethnologischen Forschungen die Un-
haltbarkeit der Westermarcksehen Kritik der Promiskuitäts-
lehre dargetan. An der Tatsache ursprünglicher Geschlechts-
genossenschaften mit einer mehr oder weniger beschränkten Pro-
miskuität des sexuellen Verkehrs ist nicht mehr zu zweifeln.
Das hebt auch Ludwig Stein mit Nachdruck hervor.8) Die
geschlechtlichen Verhältnisse der urzeitlichen Horden waren ent-
weder gar nicht oder nur notdürftig geregelt.
Es liegt in dieser Vorstellung durchaus nichts das Menschen-
geschlecht Plerabwürdigendes, im Gegenteil bekundet sich in der
Entwicklung individueller DauerbeZiehungen zwischen Mann und
Weib aus dem Zustande einer ursprünglichen Promiskuität her-
aus ein ständiges Fortschreiten von niederen zu höheren sozialen
Formen der Geschlechtsbeziehungen, eine sukzessive Vervollkomm-
nung und Veredelung derselben bis zur monogamen Ehe, die auch
heute noch ein bloßes Ideal ist, da die Wirklichkeit ihr nicht
7) J. J. Bachofen, Das Mutterrecht, Stuttgart 1861.
8) Ludwig Stein, Die Anfänge der Kultur, S. 106—107.
w
218
entspricht oder die ursprüngliche reine Idee verfälscht und ver-
dunkelt hat.
Der Uebergang von dem auf rein natürlich-sinnlicher Grund-
lage ruhenden Mutterrecht, unter dem die Frauen eine hervor-
ragende soziale und oft auch politische Stellung einnahmen, zu
dem die geistig-individuellen Beziehungen in den Vordergrund
rückenden Vaterrecht bedeutete einen weiteren Schritt vor-
wärts in der Entwicklungsgeschichte der Ehe. Bachofen hat
zuerst die eminente kulturgeschichtliche Bedeutung des Ueber-
ganges vom Mutterrecht zum Vaterrecht für das Geistes- und
Gesellschaftsleben der Menschheit erkannt und eingehend ge-
würdigt. S c h u r t z hat dafür die Formel gefunden:
Die Frau ist der gegebene Mittelpunkt der natürlichen, aus
dem Geschlechtsverkehr und der Fortpflanzung entstehenden
Gruppen, der Mann dagegen der Schöpfer der freien, auf Sym-
pathie des Gleichartigen beruhenden Gesellschaftsformen.
Mit dem Vaterrecht hängt die Entwicklung der individuellen,
persönlichen Ehe aufs innigste zusammen. In diesem, aber nur
in diesem Sinne hat Eduard von Mayer recht, wenn er den
Mann als den eigentlichen Schöpfer der Familie bezeichnet.
Denn unter der Herrschaft des Mutterrechts war eben die
„Familie“ nicht vollständig, sie bestand nur aus Mutter und Kind.
Nun erst wurde sie ein vollkommenes Ganzes. Diese vaterrecht-
liche Familie, die auch unsere moderne Familie ist, ist also
die „männliche Form der menschlichen Zusammengehörigkeit“9)
Das Vaterrecht bedingte ein Recht des Vaters über die Frau
und ihre Kinder, es war ein erst in hartem Kampfe erworbenes
Herrschaftsrecht. Der Frauen raub und die Eaubehe ge-
hören den Anfängen des Vaterrechts an, später, als die Frau,
völlig unterdrückt, zu einem bloßen Wertobjekt herabgesunken
war, kam noch die „Kaufehe“ hinzu. Die niedere Stellung der
Frau unter der Herrschaft des ursprünglichen Vaterreehts läßt
sich am besten bei den Griechen studieren, wo nur die Hetäre
und die Knabenliebe freiere Verhältnisse darbieten. Ja, die
Knabenliebe war den Hellenen genau das, was dem modernen
Kulturmenschen die heterosexuelle Liebe in ihrer allerpersön-
lichsten, individuellsten, ganz auf geistigem Kontakt und Ver-
ständnis beruhenden Gestaltung ist
9) Eduard v. Mayer, Die Lebensgesetze der Kultur, S. 210.
i
219
Schön hat Köhler die Lichtseiten des vollen und alleinigen
Vaterrechts gewürdigt :
„Jetzt erst gründet der Mann sein Heim, er ist der Herr
des häuslichen Herdes, er ist der Opferpriester am Hausaltar,
seine Ahnen sind geistig anwesend, er verehrt sie, das Haus
ist von ihnen durchdrungen. In seinem Hause soll nichts Un-
reines walten: die Kinder lehrt er Zucht und Anhänglichkeit an
die Familie, und die Frau gibt im Augenblick, wo sie im Hoch-
zeitszug die Schwelle des Mannes überschreitet, oder über sie
getragen wird, ihre Heiligtümer auf: sein Heim ist nun ihr
Heim. Jetzt am häuslichen Herde entwickeln sich die Tugenden,
welche die Voraussetzungen staatlicher Größen werden : der
Mann gewinnt im Schoße der Familie die Kraft, die ihn zu den
höchsten Leistungen, sei es im Leben des Staates, sei es im
Leben der Wissenschaft, befähigt; und ein auf Grund dieser Zu-
stände geschlossener Bürger- und Bauemkreis bildet den not-
wendigen Untergrund, um das Gebäude des ethischen, wissen-
schaftlichen und politischen Lebens zu tragen. Die Frau tritt
zurück, aber im Hause entfaltet sie neue Tugenden: Aufopferung
für die Familie, häuslicher Sinn, Freude am Heim, Anmut im
engeren Kreise sind die Lichtseiten ihres Wirkens, denn das
Weib weiß überall herrliche Züge zu entwickeln, solange es
nicht in volle Hoheit oder Entartung gefallen ist.“
Die älteste Eheform unter dem Vaterrecht war die Poly-
gamie, wie wir sie z. B. im alten Testament finden, wo sie für
die patriarchalische Familien Ordnung charakteristisch ist. Der
Herr des Hauses und der Familie besitzt eine Hauptfrau für
die legitime Erbfolge, daneben aber zahlreiche Kebsweiber. Bei
den Juden führte die starke Betonung des Vaterrechts zur so-
genannten „Leviratsehe“, d. h. eine verwitwete Frau mußte
den Bruder ihres verstorbenen Gatten heiraten, damit das Ge-
schlecht des Toten fortgepflanzt würde.
Aus der vaterrechtlichen Polygamie ging dann allmählich
die monogamische Ehe hervor, die bis heute — das sei hier
von vornherein betont — ein nie erreichtes und verwirklichtes
Ideal geblieben ist, sowohl bei Griechen und Römern als auch
in der modernen Kulturwelt.
Wenn die moderne Kulturehe wesentlich ein Erzeugnis des
Vaterrechts ist und unter der Herrschaft der „Männermoral“
steht, diese aber neben der staatlich festgelegten und für bindend
220
erklärten monogamischen Ehe eine „fakultative Polygamie“ ge-
sellschaftlich duldet, so ist hier ein Element der Lüge
und Heuchelei verborgen, welches mit Recht die
moderne vaterrechtliche Ehe als konventionelle
Form hei jenen in Mißkredit gebracht hat, die
in der dauernden Lebensgemeinschaft zweier
freier, gleichberechtigter Persönlichkeiten das
wirkliche Ideal der Zukunftsehe erblicken.
Hegel ist in seiner berühmten Definition der Ehe,10 *) die
er als Verkörperung der Wirklichkeit der Gattung und als
geistige Einheit der natürlichen Geschlechter durcfi selbst-
bewußte Liebe, als rechtlich - sittliche Liebe auffaßt, dieser
Wahrung und Herausbildung der Individualität beider Teile
nicht gerecht geworden. Die „Einheit“, das „ein Leib und eine
Seele“ entspricht wohl der vaterrechtlichen Auffassung, bei der
die Frau ganz im Manne aufgeht, nicht aber dem modernen Be-
griffe einer Individualehe, die beide, Mann und Frau, als freie
Persönlichkeiten vereinigt. Das ist, wie wir später sehen werden,
der Sinn der Bestrebungen für „freie Liebe“, die man nicht,
wie z. B. Ludwig Stein (Anfänge der Kultur, S. 110) es
tut, mit der freien Liebe, dem Hetärismus der Urzeit oder dem
bloßen außerehelichen Verkehr der Gegenwart verwechseln darf.
Weder Mutterrecht allein noch Vaterrecht
allein können die Ideale des modernen Kultur-
menschen bezüglich der Gestaltung der sozialen
Formen des Liebeslebens befriedigen. Das ist nur
möglich, wenn beide rechtliche Formen in einer neuen vereinigt
werden, die beiden Geschlechtern das gleiche Recht zuteil
werden läßt.11)
Daher macht sich mit den Bestrebungen für freiere, indivi-
duelle Entwicklung weiblichen Wesens auch die Tendenz geltend,
die alte mutterrechtliche Auffassung im öffentlichen Leben wieder
zur Geltung und zu Ehren zu bringen.
„Langsam und allmählich,“ sagt. Köhler, „hat der wieder-
10) G. F. W. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder
Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, herausgegeben von
Eduard Gans, Berlin 1840, 2. Aufl., S. 218.
u) Also nicht alleinige Geltung des Mutterrechts, wie z. B.
Ruth Br 6 es fordert. („Ötaatskinder oder Mutterrecht?“, Leipzig
1904.)
221
erwachende Mütterrechtsgedanke daran mit scharfem Zahn genagt,
bald in der einen, bald in der andern Weise wieder die strengen
Klammem dieses Systems gelockert ... Daß die Frau in
dieser Weise eine würdigere Stellung erringt, ist
sicher. Dagegen hat der einheitliche Familiensinn lange nicht
mehr den Sporn wie bei den rein agnatischen (vaterrechtlichen)
Völkern . . . Unsere Verhältnisse ermöglichen es, daß die Kultur-
interessen gedeihen, auch wenn das Familienband kein so straffes
und exklusives ist.“
Der moderne Kulturmensch kann sich ruhig mit dem Gedanken
vertraut machen, daß die alte, unter der Herrschaft des Vater-
rechts stehende patriarchalische Familie allmählich verschwinden
wird, daß mithin auch die scheinbar so festgefügte, vaterrechtliche
konventionelle Ehe der alten Zeit andere, freiere Formen an-
nehmen wird. Die Idee der Ehe und ihr Wert als Lebensgemein-
schaft bleibt deshalb unangetastet. Man kann ein Kritiker der
alten überlebten Eheform sein, ohne deshalb sich dem Verdacht
auszusetzen, als wolle man die Idee einer „Ehe“ überhaupt da-
durch aufheben. Die einseitig juristische, staatliche und sakra-
mentale, kirchliche Auffassung der Vergangenheit wird weder
der sozialen noch der individuellen Bedeutung der Ehe gerecht.
Wer gleich Westermarck die monogamische Ehe überhaupt
als das ursprünglich Gegebene, gewissermaßen als eine biologische
Tatsache annimmt und jede Entwicklung derselben aus
niederen Formen leugnet, der leugnet damit auch die Möglichkeit
einer tiefgreifenden Umgestaltung der heutigen Eheformen. Man
begeht meist den Fehler, daß man auf der einen Seite die Mono-
gamie in ihrer idealsten Form, der lebenslänglichen Ehe, der
sogenannten „freien Liebe“ auf der anderen Seite gegemüberstellt,
wobei man unter freier Liebe einen völlig ungeregelten außerehe-
lichen Geschlechtsverkehr versteht. Kein Wunder, daß in bezug
auf beide extreme Formen der sexuellen Beziehungen eine pessi-
mistische Auffassung leichtes Spiel hat. Je nach dem Stand-
punkt hebt der eine die Unverträglichkeit einer lebenslänglichen
Pflichtehe für die individuelle Freiheit und Entwicklung der
Persönlichkeit, der andere aber die ebenso großen, wenn nicht noch
größeren Gefahren der schrankenlosen Ausübung des außerehe-
lichen Geschlechtsverkehrs hervor.
Glücklicherweise ist durch die gesetzliche Einführung der
„Zivilehe“ und der „Ehescheidung“ bereits vom Staate die
222
Notwendigkeit anerkannt worden, für viele einen Mittelweg frei-
zrugeben, der zwischen der lebenslänglichen Ehe, deren sakra-
mentaler Charakter damit auf gegeben wird, und dem freien außer-
ehelichen Geschlechtsverkehr liegt und doch die Richtung
auf das Ideal der monogamischen Ehe beibehält.
Das Prinzip der Ehescheidung bildet die wichtigste Grund-
lage sowohl für eine künftige Reform der Ehe als auch für eine
vernünftige, den sozialen und individuellen Interessen in gleichem
Maße gerecht werdende Auffassung der Beziehungen zwischen
Mann und Weib. Hiermit hat der Staat selbst den rein persön-
lichen Charakter dieser Beziehungen anerkannt und ausgesprochen,
daß es Umstände gibt, die diesen Charakter auf heben und unter
denen die Ehe keine Ehe mehr ist und sein darf. Er hat da-
mit ein Recht der einzelnen Persönlichkeit in der
Ehe proklamiert.
In der Ehefrage spielt auch die sogenannte „doppelte
Geschlechts moral“ eine bedeutsame Rolle, d. h. die Auf-
fassung. daß der Mann von Natur zur Polygamie, das Weib
aber zur Monogamie neige. Dabei war wohl hauptsächlich der
durchaus richtige Gedanke maßgebend, daß der geschlechtliche
Verkehr eines Weibes mit melireren Männern — nota bene während
der gleichen Zeitperiode! — die Deszendenz schädigt. Hieraus
kann man aber höchstens den Schluß ziehen, daß für die Zwecke
der Kindererzeugung und der Rassenhygiene die „Monogamie“
des Weibes ausschließlich in Betracht kommt, d. h. der Verkehr
eines Weibes mit einem Manne während dieser Zeit und für diesen
Zweck. Man kann nun aber nicht daraus die Forderung der
„Monandrie“ für das Weib ableiten.
Ich will das etwas genauer erläutern und knüpfe dabei an die
interessante Abhandlung von Rudolph Eberstadt über die
sozialpolitische Bedeutung der sanitären Verhältnisse in der Ehe
an (in: Krankheiten und Ehe von Senator und K a m i n e r,
München 1904, S. 807 ff), weil diese recht deutlich diese Ver-
wechslung zwischen Monogamie und Monandrie erkennen läßt.
Nach Eberstadt sind es vor allem zwei Momente, die die
moderne Kulturehe charakterisieren, zunächst die Ueberordnung
des Mannes im Eherecht, dann die gesteigerte Forderung an die
voreheliche Keuschheit und an die eheliche Treue des Weibes.
Außer der rechtlichen Vorherrschaft in der Ehe verlangte er vom
Weibe noch die geschlechtliche Enthaltsamkeit vor der Ehe und
223
die Unbedingte Treue während derselben. Er selbst aber erkannte
die gleichen Verpflichtungen für sich nicht an.
Diese verschiedene Beurteilung des außerehelichen Geschlechts-
verkehrs beruht ganz und gar auf der durchaus richtigen Er-
fahrung, daß der gleichzeitige Verkehr der Frau mit
mehreren Männern die Vaterschaft und damit die Grundlage der
Familie verdunkelt, ganz abgesehen von einer nicht seltenen
physischen Schädigung des Kindes. Diese natürliche Ver-
schiedenheit von Mann und Weib bezüglich des Geschlechtsverkehrs
und seiner Folgen wird immer bestehen bleiben. Ein Mann kann
mit zwei Frauen zugleich verkehren und sogar eine „Ehe“ ein-
gehen, ohne daß die Bildung einer Familie dadurch beeinträchtigt
wird, nicht aber kann umgekehrt ein Weib mit zwei Männern
gleichzeitig verkehren.
„Nicht die Brutalität des Mannes,“ sagt Eberstadt, „hat
demnach dem Weibe eine höhere Verantwortung auferlegt, sondern
die Natur selber hat es getan. Die Natur hat Mann und Weib mit
Bezug auf die Folgen des Geschlechtsverkehrs verschieden gestaltet.
Dem Weib allein ist die Frucht an vertraut. Wer aber eine
besondere Verantwortung hat, der hat auch besondere Pflichten.
Gewisse Verfehlungen gegen den ehelichen Verkehr werden
strenger beurteilt, wenn sie dem Mann zur Last fallen; andere
wiederum, insbesondere solche, die die Sorge um die Fortpflanzung
anbetreffen, werden dem Weibe härter angerechnet. Die Stellung
im Geschlechtsverkehr ist aus physischen und unabänderlichen
Ursachen verschieden bei Mann und Weib; Verführung, Mißbrauch,
Verlassen des Weibes, Ehebruch wird beim Manne durch Recht und
Sitte bestraft. Das Weib dagegen verliert seine Ehre an sich
schon bei gemischtem und ungeregeltem Verkehr, weil die Natur
selber diesen Verkehr verbietet, wenn das materielle und seelische
Band von Mutter, Vater und Kind bestehen soll.“
Dementsprechend hält Eberstadt an der Forderung der
Einmännerei, der „Monandrie“, für das Weib fest, ver-
wirft grundsätzlich die geschlechtliche Gleichstellung
zwischen Mann und Frau und verlegt die Fortentwicklung der
Ehe ausschließlich in das geistige und sittliche Gebiet.
So sehr auch das Richtige und durch die natürlichen Verhält-
nisse ein für allemal Gegebene in dieser Anschauung anerkannt ist,
so ist sie doch zu eng und einseitig und übersieht ganz und gar,
daß jene Forderung der monandrischen Liebe des Weibes auch
224
bei einer freieren Gestaltung weiblichen Liebeslebens zu erfüllen
ist. Man. braucht nur an die oft glücklichen Ehen einer Frau
mit mehreren Männern — nota bene in zeitlicher Aufeinander-
folge — zu denken, aus welchen Ehen durchaus gesunde Kinder
verschiedener Väter hervorgehen können, um sofort einzusehen,
daß auch für die Frau der Zukunft die Möglichkeit einer freieren
Gestaltung des Liebeslebens — freilich in beschränkterem
Maße als beim Manne — gegeben ist. Wie die rechtliche Vor-
herrschaft des Mannes in der Ehe einer rechtlichen Gleich-
stellung von Mann und Frau als zwei freien Persönlichkeiten
Platz machen wird, so wird auch die „doppelte Moral“ einer
Revision in dem obigen Sinne unterzogen werden müssen.
Beiläufig bemerkt, sollten alle diejenigen, die jeden außer-
ehelichen Geschlechtsverkehr des Weibes ächten und am liebsten
jede solche Frau zur „Gefallenen“ stempeln möchten, sich nur
einen Augenblick an die ungeheuerliche Tatsache der staatlich
geduldeten, ja legalisierten Prostitution erinnern, welche
wie ein unheimlicher Schatten die sogenannte konventionelle Ehe
begleitet, ein Schatten, der um so größer wird, je strenger,
exklusiver und engherziger der Begriff dieser „Ehe“ gefaßt wird!
Das Kulturideal ist die lebenslängliche Dauer der Ehe
zwischen zwei freien, selbständigen, reifen Persönlichkeiten, die
Liebe und Leben vollkommen miteinander teilen und durch ge-
meinsame Lebensarbeit sich selbst und das Wohl ihrer Kinder
fördern. Aber dieses nur selten erreichte Kultur-
ideal schließt keineswegs andere Formen der
Ehe aus, die mehr vergänglichen und temporären Charakter
haben, ohne daß dadurch eine Schädigung der Individuen und
der Gesellschaft herbeigeführt würde.
In vortrefflicher Weise äußerte sich schon vor vierzig Jahren
über diesen Punkt der englische Kulturhistoriker L e c k y, ein
Forscher, den nach der Tendenz seiner Schriften gewiß niemand
beschuldigen kann, daß er eine laxe Auffassung der geschlecht-
lichen Moral vertrete oder gar die Ausschweifung predige. L e c k y
sagt in seiner „Sittengeschichte Europas“ (Leipzig und Heidel-
berg 1871, Bd. II, S. 289 ff.):
„Wir haben genügende Gründe für die Behauptung, daß die
lebenslängliche Verbindung Eines Mannes und Einer Frau der
normale und herrschende Typus des Geschlechtsverkehrs sein sollte.
Wir können "beweisen, daß sie im ganzen der Glückseligkeit und
225
der sittlichen Erhebung beider Teile am förderlichsten ist. Aber
über diesen Punkt hinauszugehen, würde, meine ich, immöglich
sein, ausgenommen mit Hilfe einer besonderen Offenbarung!
Daraus, daß dieses der herrschende Typus sein
soll, folgt keineswegs, er müsse der einzige sein,
oder es liege im Interesse der Gesellschaft, daß alle
Verbindungen in dieselbe Form hinein getrieben
werden müßten. Verbindungen, die eingestandenermaßen nur
für einige wenige Jahre eingegangen wurden, haben immer neben
dauernden Ehen bestanden; und in Zeiten, wenn die öffentliche
Meinung, weil sie nichts Anstößiges darin findet, weder über den
einen Teil noch über beide ein Verdammungsurteil fällt, wenn diese
beiden Teile nicht das entsittlichende und erniedrigende Leben
führen, welches mit dem Bewußtsein der Schuld Hand in Hand
geht, und wenn für die Versorgung der zu erwartenden Kinder
die nötige Vorkehrung getroffen ist, so würde es, glaube ich, unmög-
lich sein, im Lichte der einfachen und reinen Vernunft zu beweisen,
daß solche Verbindungen beständig verdammt werden müßten.
Für die Glückseligkeit wie für die sittliche Wohlfahrt der
Menschen ist es überaus wichtig, daß lebenslängliche Verbindungen
nicht bloß unter dem starken Antriebe einer blinden Begierde
geschlossen werden. Es gibt immer sehr viele, die in der Lebens-
periode, wo die Leidenschaften am stärksten hervortreten, unfähig
sind, ihre Kinder standesgemäß zu versorgen, und die mithin durch
eine frühe Verheiratung die Gesellschaft schädigen; aber diese
Menschen sind nichtsdestoweniger vollkommen imstande, ihren
unehelichen Kindern eine anständige Lebensbahn in dem niedrigen
Kreise der Gesellschaft, dem sie selbstverständlich (!) angehören,
zu sichern. Unter den erwähnten Bedingungen sind diese Verbin-
dungen dem schwächeren Teile nicht schädlich, sondern wohl-
tätig; sie mildern die Standesunterschiede, fördern die Gesellig-
keit und haben weder auf den Charakter die erniedrigende
Wirkung eines unbeständigen, wandelbaren Geschlechtsverkehrs,
noch für die Gesellschaft die nachteiligen Folgen unüberlegter
Ehen, von denen jener oder diese in ihrer Abwesenheit sich ver-
mehren. In der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Umstände und
Charaktere werden immer Fälle Vorkommen, in denen sie aus
Zweckmäßigkeitsgründen ratsam scheinen dürften.“
Im alten Born wurden diese loseren Verbindungen durchaus
als eine Eheform gesetzlich anerkannt. Und diese gesetzliche An-
is
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
22G
erkenn ung schlitzte sie trotz des unbeschränkten Scheidungs-
rechtes vor gesellschaftlicher Aechtung und Brandmarkung. Das
,,Konkubinat“ war eine solche Ehe zweiter Art, die durchaus an-
erkannt und ehrenhaft war. Die ,,amiea oonvictrix“ oder ,,uxor
gratuita“ war weder eine legitime Ehefrau noch eine bloße
Maitresse, sie nahm etwa die Stellung unserer durch „morga-
natische“ Ehe, durch „Heirat zur linken Hand“ angetrauten
Frauen ein, nur daß diese Verbindung ohne weiteres lösbar war.
Erst das christliche Dogma vom sakramentalen und lebens-
länglichen Charakter der Ehe infamierte alle anderen Arten des
Geschlechtsverkehrs. Die religiöse Ehe war ihrer Natur nach
unlöslich, ja man hob durch das Verbot der Mischehen geradezu
jede individuelle Bewegungsfreiheit auf.
Demgegenüber hat der Staat durch Einführung der Zivilehe,
der Mischehe und der Ehescheidung den modernen Ideen immer
größere Konzessionen machen müssen und bereits im Prin-
zip anerkannt, daß sich auch die zeitlich begrenzte Ehe
sehr wohl mit den Forderungen der Kultur in Einklang bringen
läßt, daß überhaupt, wie auch L e c k y schon hervorhebt, die
neueren Umwälzungen auf wirtschaftlichem Gebiete einen viel
größeren Einfluß auf die Ehe und Eheformen haben als die kirch-
lich-mystische Auffassung.
Wer sich überhaupt eine Einsicht in das so überaus schwierige
moderne Eheproblem verschaffen will, muß sich zunächst über
einige Besonderheiten der individuellen menschlichen Liebe klar
werden, auf deren innigen Zusammenhang mit der gesamten
geistigen Kultur wir schon früher hinge wiesen haben.
Max Nordau hat ein berühmtes Kapitel über die ,,Ehe-
lüge“ geschrieben,12) die im Lichte der Wirklichkeit in der Tat
oft eine solche ist, besonders im Hinblick auf die Tatsache, daß
mindestens 75o/o der modernen Ehen sogenannte ,,konventionelle
Ehen“ und keine eigentlichen Liebesehen sind.13) Aber bekanntlich
sind diese Vernunftehen oft dauerhafter als die aus Liebe ge-
schlossenen Ehen. Das hängt mit der Natur der menschlichen Liebe
zusammen, die keineswegs etwas Unveränderliches ist, sondern * 1
12) M. Nordau, Die konventionellen Lügen der Kulturmensch-
heit. 7. Aufl. Leipzig 1884. S. 263—317.
1S) Georg Hirth schätzt den Prozentsatz der konventionellen
Ehen noch höher, nämlich bis zu 90%. Vgl. seine „Wege zur Liebe“,
S. 607.
227
a u c K mit den verschiedenen E n t w i c k 1 u n g’ s p h a s e n
des Individuums sich ändert, neuer Anregungen
bedarf und neuer individueller Beziehungen.
In der No. 14 919 der Wiener „Neuen freien Presse“ vom
6. März 1906 stand unter den Annoncen eine bezeichnende Frage,
die wahrscheinlich ein betrogener oder enttäuschter Liebhaber an
seine Geliebte gerichtet hatte:
,,Ewige Liebe — ewige Lüge?“
Auch die Liebe, die persönliche Liebe ist vergänglich wie
der Mensch selbst, wie das einzelne Individuum. Auch sie ist
verschieden in den verschiedenen Lebensaltern, verschieden auch
in bezug auf ihre jeweiligen Objekte. Eduard von II artmann
nennt die Liebe ein Gewitter, das sich nicht in einem Blitze, aber
nach und nach in mehreren der elektrischen Materie entlädt, und
wenn sie sich entladen hat, dann „kommt der kühle Wind und der
Himmel des Bewußtseins wird wieder klar und blickt staunend
dem befruchtenden Regen am Boden und den abziehenden Wolken
am fernen Horizonte nach.“
Ueber die Vergänglichkeit der Jugendliebe sind sich alle
Menschenkenner, alle Dichter und Psychologen einig. Sie wider-
raten deshalb auch die Ehe, die in der Leidenschaft der ersten
Jugend geschlossen wird. Diese Poesie des ersten Anblicks und
sofortigen Verliebens ist nach Gutzkow das ewige Hasard-
spiel unserer jungen Leute, wobei Gesundheit, Leben und Zukunft
zugrunde gehen.
Aehnlich sagt ein anderer scharfer Beobachter, Kierke-
gaard, in seinem „Tagebuch des Verführers“: ,,Die Liebe hat
viele Mysterien, Und dies erste Verliebtsein ist auch ein Mysterium,
wenn auch nicht das größte — die meisten Menschen sind in ihrer
Leidenschaft wie wahnsinnig, sie verloben sich oder machen andere
dumme Streiche, und in einem Augenblick ist alles zu Ende,
und sie wissen weder, was sie erobert, noch was sie verloren
haben.“
Und endlich ein dritter großer Erotiker, Rétif de la Bre-
tonne: „Es ist eine Torheit sondergleichen, auf die Beständig-
keit eines jungen Menschen von zwanzig Jahren zu vertrauen.
In diesem Alter liebt man weniger eine Frau als die Frauen, man
berauscht sich mehr an der sinnlichen Erscheinung als an dem
Individuum, so liebenswert es auch sei.“
Die Jugendliebe ist fast immer nur eine schöne Erinnerung,
15*
223
ein entschwindendes Paradies. Ihr haftet etwas Unvergängliches
an, das aber keine bindende Kraft haben sollte.
Und wie die Jugendliebe sich jedem Menschen ideal verklärt,
eben weil sie nicht in der rauhen Wirklichkeit untergeht, so
sind in jeder folgenden Liebe fast stets nur die ersten Anfänge
das eigentlich Schöne und tief Empfundene. ,,Ein Jahrtausend
von Tränen und Schmerzen,“ läßt Goethe seine Stella sagen,
,,vermöchte die Seligkeit nicht aufzuwiegen der ersten Blicke, des
Zitterns, Stammelns, des Nahens, Weichens — des Vergessens
sein selbst — den ersten flüchtigen, feurigen Kuß und die erste
ruhig atmende Umarmung.“
Der ewigen Dauer solcher Gefühle widerspricht ein anthro-
pologisch-biologisches Phänomen der menschlichen Sexualität, das
ich als das „sexuelle V ar i a ti onsbe d ür f nis“ bezeichnet
habe.14) Die menschliche Liebe als Ganzes und in ihren einzelnen
Aeußerungen wird von diesem Bedürfnis nach Abwechslung, nach
Veränderung beherrscht und beeinflußt. Auf dieses Ur- und Grund-
phänomen der menschlichen Liebe hat schon Schopenhauer
hingewiesen, es aber mit Unrecht nur auf den Mann beschränkt.15)
Ich nehme, wie ich schon früher betont habe, dieses allgemein
menschliche Bedürfnis nach Variation in den sexuellen Beziehungen
mehr als ein allgemeines Erklärungs prinzip vorhan-
dener Tatsachen, nicht aber als ein etwa zu verwirklichendes
Ideal. Im Gegenteil stellen meines Erachtens Treue, Festigkeit
und Beständigkeit in der Liebe, Bändigung' und Abschwächung des
sexuellen Variationsbedürfnisses durch die Erkenntnis eminente
Kulturfortschritte dar, durch die das menschliche Liebes-
ieben in einem höheren Sinne fortgebildet und vervollkommnet
wird. Aber die wirklich alltäglich geschehenden Tatsachen sind
durch keinerlei Heuchelei und Prüderie aus der Welt zu schaffen.
Man muß mit ihnen rechnen.
So ist es auch eine unbestrittene Tatsache, daß die sogenannte
,,einzige“ Liebe eine der größten Seltenheiten ist, daß vielmehr
im Leben der meisten Männer und Frauen eine öftere Wieder-
holung und Erneuerung der Liebesgefühle und Liebesverhältnisse
vorkommt. Meist liegen diese letzteren zeitlich auseinander.
W Vgl. meine „Beiträge zur Vetiologie der Psycliopathia sexu-
alis“, Bd. I, S. 165—174. Bd. II, S. 130—191; 208—209; 363—361.
15) Schopenhauers sämtliche Werke, herausgegeben von E. Grise-
bach, Leipzig 19U5 (Inselverlag), Bd. II, S. 1337.
229
Sticdenroth macht in seiner vortrefflichen „Psychologie“ über
diese Aufeinanderfolge und die Vergänglichkeit der Liebes-
neigungen folgende Bemerkungen:
„Da zwei Menschen sich nicht vollkommen gleich sind, so
wird man auf einmal nur einen leidenschaftlich lieben; nach-
einander kann man mehrere lieben, und die Meinung, man könne
im Leben nur einmal lieben, entspringt aus seltsamen Träumen
über das Ideal, von dem man sich eine ganz falsche Vor-
stellung macht. Es kann selbst ein Gegenstand erscheinen, der
über das bisherige Ideal hinausgeht. Die Leidenschaft bedarf
aber gar nicht eines durchgebildeten Ideals, sondern für das
erste Fundament nur dessen, was in der Theorie der Gefühle
als Bedingung der Liebe gefunden ist. Daß aber jede Liebe sich
gern unsterblich denkt, liegt in der Natur der Sache; denn bei
der Ueberschwänglichkeit des Gegenstandes sieht sie nicht ab.
wie sie enden sollte. Erfahrung belehrt darüber eines anderen,
und die Einsicht erkennt leicht das Warum“.16)
Leber das häufige Vorkommen mehrerer zeitlich aufeinander
folgender Liebesleidenschaften derselben Person dürfte keine
Meinungsverschiedenheit herrschen. Aber ist es möglich, daß
jemand zu gleicher Zeit mehrere Individuen liebt ? Ich ant-
worte auf diese Frage mit einem unbedingten J a, und ich stimme
Max Nord au vollkommen bei, wenn er erklärt, daß man gleich-
zeitig mehrere Individuen mit annähernd gleicher Zärtlichkeit
lieben kann und nicht zu lügen braucht, wenn man jedes seiner
Leidenschaft versichert.17)
Gerade die ungeheuere mannigfaltige geistige Differenzierung
der modernen Kulturmenschheit schafft die Möglichkeit einer
solchen gleichzeitigen Doppelliebe. Unser geistiges Wesen schillert
in den verschiedensten Farben. Es ist schwer, jedesmal die ent-
sprechenden Komplemente in einem einzigen Individuum zu finden.
Ich frage die Kenner der modernen Gesellschaft, ob ihnen nicht
Männer, aber auch Frauen begegneten, die soweit vorgeschritten
sind in der Anpassung ihrer Liebesforderungen an die anatomische
Analyse ihres Seelenlebens, daß sie für den romantischen, realisti-
schen, ästhetischen Zug ihres Wesens, für die lyrische oder drama-
tische Stimmung ihres Herzens, auch diesen entsprechende v e r -
10) Ernst Stiedenroth, Psychologie zur Erklärung der
Seelenerscheinungen. Zweiter Teil. Berlin 1825. S. 224—225.
17) M. Nordau, Konventionelle Lügen, S. 305.
230
schiedene Geliebten verlangen, und wenn diese dann einmal
sich ins Gehege kommen und aneinander geraten, in naivem Staunen
ausrufen, wie die Heldin in Gutzkows „Seraphine“: „0 liebt
euch, liebt euch! Ihr seid ja eins, eins — in mir!“
In dem Roman „Leoni de“ des Emerentius Scävola ist
die Heldin zugleich die Gattin zweier Männer. Auch die Wirk-
lichkeit kennt solche Hoppelliebe, z. R in dem Verhältnis der
Fürstin Melanie Metternich zu ihrem Gatten, dem be-
rühmten Staatsmann, und ihrem früheren Bräutigam, dem Baron
II ü g e l.18) Besonders häufig ist die Befriedigung höherer, idealer
Bedürfnisse und des bloßen Naturtriebes durch zwei verschiedene
Personen. Es kann ein Mann zu gleicher Zeit ein geniales Weib
und einfaches Naturkind lieben. In der Novelle „Doppelliebe“
(1901) schildert Elisar von Kupffer die gleichzeitige Liebe
eines Gelehrten zu seiner hochinlelligenten Frau und zu einem
drallen Dienstmädchen. Ein bekanntes Beispiel ist auch Wie-
lands Doppelliebe, die ideale zu Sophie Laroche, die derb-
sinnliche zu Christine Hagel. Aber nicht nur die Unter-
schiede der Bildung, des Standes, des Charakters spielen in solcher
mehrfachen Liebe eine Rolle, auch die bloße Differenz der körper-
lichen Erscheinung vermag solche gleichzeitige Anziehung aus-
zuüben, z. B. jemand liebt zugleich eine Brünette und eine Blon-
dine, eine zierliche kleine Figur und eine große vornehme Er-
scheinung. Dies ist aber im ganzen seltener als die Anziehung
verschiedener geistiger Wesensarten.
Solche Tatsachen sprechen nicht so sehr für eine Mehrheit
der Liebesverhältnisse, als sie vielmehr die ungeheueren Schwierig-
keiten der vollkommenen Harmonie zweier Menschen, eines Mannes
und einer Frau, beleuchten. Es bleibt immer ein Rest von Sehn-
sucht, die der andere nicht erfüllen, immer ein Rest von Streben,
das der andere nicht verstehen kann. Dies kann aber das Ideal der
Einliebe nicht im geringsten berühren, stellt es im Gegenteil
nur um so leuchtender vor unser geistiges Auge. Es ist selten,
nur wenigen erreichbar, wie jedes Ideal. Diese Seltenheit einer
ganzen, vollen Liebe zwischen einem Mann und einer Frau
betont auch Heinrich Laube in der Novelle „Die Maske“,
is) Ygi, darüber die Feuilletonnotiz in: Vossische Zeitung No. 286
vom 17. Juni 1904. Auch Jean Faul schwärmte in Theorie und
Praxis für solche Doppelliebe. Er nannte sie „S i m u 11 a n 1 i e b e“.
231
wo er die Liebe in all ihrer Mannigfaltigkeit und modernen
Zerrissenheit schildert.
Sehr schön hat Schleiermacher die Notwendigkeit, das
Gute, das doch auch in dieser "Wiederholung und Mannigfaltigkeit
der Liebesempfindun gen liegt, hervorgehoben.
„'Warum,“ sagt er, „soll es mit der Liebe anders sein, als mit
allem übrigen? Soll etwa sie, die das Höchste im Menschen ist,
gleich beim ersten Versuch von den leisesten Regungen bis zur
bestimmtesten Vollendung in einer einzigen Tat gedeihen können ?
Sollte sie leichter sein als die einfache Kunst zu essen und zu
trinken, die das Kind lange erst mit ungeschickten Objekten und
rohen Versuchen ausübt, die ganz ohne sein Verdienst nicht übel
ablaufen ? Auch in der Liebe muß es vorläufige Versuche
geben, aus denen nichts Bleibendes entsteht, von denen aber jeder
etwas beiträgt, um das Gefühl bestimmter und die
Aussicht auf die Liebe größer und herrlicher zu
mache n.“19)
Auch Georg Hirth erklärt, daß die wahre Meisterschaft
der Liebe sich erst in der 'Wiederholung zeige. Es gibt ideale
männliche und weibliche Don Juan-Naturen, die immer auf der
Suche nach der echten, ewigen, einzigen Liebe sind, wie z. B. die
von Mann zu Mann irrende und sich verirrende Willi elmine
Schröder-Devrient oder eine ähnliche Figur, die Titelheldin
des Romans '„Faustine“ der Gräfin Ida Hahn-Hahn. Viele,
ja die meisten lernen die wahre Liebe niemals kennen, weil sie nicht
den geeigneten Gegenstand derselben finden, und sie sterben, wie
Rousseau in den „Bekenntnissen“ so ergreifend sagt, ohne
jemals gelebt zu haben, ewig verzehrt von dem Bedürfnisse, zu
lieben, ohne dasselbe jemals vollkommen haben befriedigen zu
können. Glücklich jene Karoline, die nach so vielen Männern
endlich in ihrem Schelling den Mann fand, dessen mächtige
Persönlichkeit ganz und gar ihrem Liebesideale entsprach.
Das Bedürfnis nach jener großen und echten Liebe bleibt
bestehen, trotz aller Enttäuschungen, Bitternisse und Leiden ver-
fehlter Neigungen. Die Liebe ist eben der Mensch selbst, sie hat
eine Entwicklung wie dieser, ein Drang zum Höheren, Besseren ist
auch in ihr. Keine schmerzliche Erfahrung kann Liebe und Liebes-
bedürfnis ganz vernichten. In einem hübschen Verse hat ein fran-
19) Friedrich Schleiermachers philosophische und ver-
mischte Schriften. Berl n 1846, Bd. I, S. 473.
232
zösischer Dichter des 18. Jahrhunderts, der Chevalier de Bon-
nard, dieses Beharrende im Wesen der Liebe geschildert :
Hélas ! pourquoi le souvenir
De ees erreurs de mon aurore
Me fait-il pousser un soupir !
Je dois peut-être aimer encore.
Ali! si j'aime encore, je sens bien
Que je serai toujours le même ;
Le temps au cœur ne change rien:
Eh ! n’est-ice pas ainsi qu’on aime ?
Wahre Liebe ist das Produkt reifster Entwicklung. Deshalb
ist sie selten und kommt spät. Deshalb kommt, wie Nietzsche
bemerkt, die Zeit zur Ehe viel früher als die Zeit zur Liebe. Erst
durch die geistigen Beziehungen gewinnt die Liebe Dauer. Ihre
zeitliche Verlängerung wird fast nur durch eine Erweiterung und
Vaviation der seelischen Beziehungen bewirkt. Die körperlichen
allein verlieren bald durch Gewohnheit den Beiz der Neuheit,
woraus sich die Tatsache erklärt, daß so viele Ehemänner trotz
der körperlichen Schönheit ihrer Erauen ihnen untreu werden, oft
zugunsten viel häßlicherer Erauen, ja Mädchen aus niedrigem
Stande oder gar Prostituierten. Die Gon courts machen in
ihrem Tagebuch die Bemerkung, daß die Schönheit, die ein Mann
bei einer Kokotte mit 100 000 Erancs bezahle, ihm nicht
10 000 Francs bei der Frau wert sei, die er heirate und die sie
ihm außer der Mitgift noch obendrein zubringe. Deshalb gab ein
Priester einer Frau, die sich beklagte, daß ihr Mann anfinge,
kühl zu werden, den nicht schlechten Bat: „Mein liebes Kind,
auch die ehrenhafteste Frau muß einen kleinen Hauch von einer
Halbweltdame an sich haben.“
Die größte Gefahr für die Liebe, die daher gerade in der Ehe
am meisten hervortritt, ist die G e w o h n h e i t. Sie wirkt auf
doppelte Weise. Einmal kann sie schon an und für sich durch
die Monotonie der ewigen Wiederholung die Liebe abstumpfen.
,,Es ist einer eigenen Betrachtung wert,“ sagt G o e t h e , „daß
die Gewohnheit sich vollkommen an die Stelle der Liebesleiden-
schaft setzen kann ; sie fordert nicht sowohl eine anmutige als
bequeme Gegenwart, alsdann aber ist sie unüberwindlich.“ Zweitens
aber widerspricht die Gewohnheit dem früher erwähnten Bedürfnis
nach Variation, das ewige Einerlei des täglichen Beisammenseins
schläfert die Liebe ein, dämpft ihre Glut, ja erzeugt einen latenten
oder offenen Haß zwischen den Ehegatten. Dieser Haß wird
gerade in Liebesehen am häufigsten beobachtet,20) eben weil hier
das Ideal durch die rauhe Wirklichkeit um so grausamer zerstört
wird, um so mehr, wenn das intime Zusammenleben Menschliches
— Allzumenschliches enthüllt und den letzten idealen Schleier
fortnimmt, Mit Hecht hat man z. B. das gemeinsame Schlaf-
zimmer der Ehegatten den „Mord der Liebe“ genannt.
Eine weitere Ursache unglücklicher Ehen sind die ungünstigen
Altersverhältnisse der Ehegatten. Am bedenklichsten ist das
allzu frühe Eingehen der Ehe.
Vor Eingehen des Bürgerlichen Gesetzbuches erlangte im
Deutschen Reiche das männliche Geschlecht mit dem vollendeten
20., das weibliche mit dem vollendeten 16. Lebensjahre die Ehe-
mündigkeit. Die Genehmigung zu Heiraten vor Erreichung dieses
Alters konnte in Preußen der Justizminister bewilligen. Nach
dem Bürgerlichen Gesetzbuch dürfen Männer nicht vor Eintritt
der Volljährigkeit, Frauen, wie bisher, nicht vor Vollendung des
16. Lebensjahres eine Ehe eingehen. Die Frauen können von dieser
Vorschrift befreit werden, die Männer nicht. Dagegen kann dem
Manne die Heirat vor dem 21. Lebensjahre dadurch ermöglicht
werden, daß er durch das Vormundschaftsgericht für volljährig
erklärt wird, was nach Vollendung seines 18. Lebensjahres ge-
schehen kann.
Während nun vor dem Jahre 1900 durchschnittlich jährlich
noch nicht 300 männliche Personen unter 20 Jahren mit Geneh-
migung des Justizministers die Ehe schlossen, hat — eine bedenk-
liche Erscheinung! -— seit dem Inkrafttreten der neuen, das Ehe-
mündigkeitsalter der Männer um ein Jahr erhöhenden gesetz-
lichen Bestimmung die Anzahl der vorzeitig heiraten-
den m ä n n1ich e n Personen eine sehr beträchtliche
Steigerung erfahren; denn im Jahre 1900 wurden 1546, im
Jahre 1901 sogar 1848 männliche Neuvermählte unter 21 Jahren
gezählt. Diese frühzeitig Heiratenden verteilten sich auf alle
Berufe und fast alle sozialen Stellungen.
Diese Zunahme der vorzeitigen Heiraten ist überhaupt ein
bezeichnendes Symptom des vorzeitigen Erwachens der Sexualität * il
20) Vgl. Eduard v. Hart mann, Philosophie des Unbe-
wußten, S. 205. In einer französischen Sammlung: „L’amour par
les grands ecrivains“ par Julien Lern er, Paris 1861, S. 14 findet
sich der Ausspruch: „Ordinairement, lorsqu’on se marie par amour,
il vient ensuite de la haine; c’est que j’ai vu de mes veux.“
234
in unserer Zeit, eine Erscheinung, auf die wir später noch aus-
führlicher zurückkommen. Vorkommnisse, wie die gemeinsame
Flucht eines 14 jährigen Mädchens mit einem 15 jährigen Knaben,
die bereits ein Liebesverhältnis miteinander unterhielten und
behaupteten, nicht mehr ohne einander leben zu können,21) sind
durchaus keine Seltenheiten. Es bedarf aber wohl keiner näheren
Begründung, daß Personen, denen jede geistige und sittliche Reife
fehlt, für die Ehe sich nicht eignen, die nur als ein Bund zweier
vollentwickelter Persönlichkeiten einige Bürgschaften hinsichtlich
der Dauer und des Lebensglückes bietet. In dieser Beziehung
scheinen mir die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches
noch nicht einschränkend genug zu sein.
Ein zweiter bedeutsamer Faktor in der Aetiologie unglück-
licher Ehen ist der allzu große Altersunterschied der Ehe-
leute, wobei es eine alte Erfahrung ist, daß das sehr viel höhere
Alter des Mannes weniger ungünstig wirkt als das der Frau. Dafür
spricht schon die Tatsache, daß Männer bis in das höchste Alter
— man hat sogar bei einem Hundertjährigen noch reife Samen-
fäden gefunden22) — ihre Geschlechtskraft bewahren, die Be-
gattung ausüben und Kinder zeugen können, während bei Frauen
im Alter von 45 bis 50 Jahren mit dem Aufhören des Monats-
flusses die Fortpflanzungsfähigkeit, freilich nicht die Begattungs-
fähigkeit und AVollustempfindung, erlischt. Natürlich muß hier
ganz von abnormen Fällen, wie vorzeitiger Impotenz des Mannes
und krankhaften Zuständen bei Mann und Frau, abgesehen werden.
Es handelt sich hier nur um eine Betrachtung der physiologischen
Altersunterschiede. Metschnikoff legt auf diese physio-
logische Disharmonie der Eheleute großes Gewicht. Er nimmt
freilich an, daß beim Manne die geschlechtliche Erregbarkeit im
allgemeinen weit früher auftritt als bei der Frau und daß zu
einer Zeit, wo die Frau auf dem Höhepunkt ihrer geschlechtlichen
Begierden steht, die geschlechtliche Tätigkeit beim Manne bereits
zu sinken beginnt. Das ist aber nicht nur dann der Fall, wenn
der Mann bei Schließung der Ehe beträchtlich älter als die Frau
war. Ein Unterschied von 5 bis 10 Jahren macht da wenig aus,
dagegen kann ein solcher von 10 bis 20 Jahren schon bedeutend
ins Gewicht fallen. Im allgemeinen sollte man Ehen, für die eine
21) B. Z. am Mittag, No. 210 vom 7. September 1906.
22) Annaies d’hygiene publique 1900, S. 340.
235
lebenslängliche Dauer ins Auge gefaßt wird, nur bei einem Alters-
unterschied bis höchstens 10 Jahren eingehen.
Mit fortschreitender Kultur wird das Heiratsalter immer
weiter hinausgerückt (in "Westeuropa 28 bis 31 Jahre für Männer,
23 bis 28 für Frauen im Durchschnitt), die Zahl der Erwachsenen,
die erst sehr spät oder auch nie zur Ehe schreiten, nimmt be-
ständig zu. Das ist teils eine Folge der geistigen Differenzierung
und. der immer größer werdenden Schwierigkeit, die oder den
passenden Lebensgefährten zu finden, teils eine solche der wachsen-
den ökonomischen Schwierigkeiten in bezug auf die Begründung
eines Hausstandes.
Schmoller hat berechnet, daß unter normalen Verhält-
nissen etwa 50 %, also die Hälfte der Bevölkerung eines Landes,
verheiratet bezw. verwitwet sein müsse. In Europa sind es aber
viel weniger. So sind von den über 50 jährigen Leuten in Ungarn
3, in Deutschland 9, in England 10, in Oesterreich 13, in der
Schweiz 17 o/o unverheiratet.
Die Zahl der Verheirateten und Verwitweten unter den über
15 Jahre alten Individuen schwankt in den verschiedenen Staaten
zwischen 56 (Belgien) und 76 o/0 (Ungarn). In England waren es
(1886—1890) 60, in Deutschland 61, in den Vereinigten Staaten
62, in Frankreich 64 o/o. Zählt man bloß die Verheirateten ohne
die Verwitweten, so sind es 8 bis 10 % weniger. Vergleicht man
nun die Verheirateten allein mit der ganzen Bevölkerung, so sind
es nur noch 37 bis 39 o/o statt der oben genannten 50 °/o. Und
dieser Prozentsatz wird voraussichtlich noch weiter abnehmen.
Man muß jedenfalls in Zukunft mit dieser Tatsache rechnen, wenn
auch Schwankungen im einzelnen die Heiratsfrequenz vorüber-
gehend erhöhen können. Hier spielen besonders ökonomisch-
wirtschaftliche Faktoren eine große Bolle.
Es ist aber ganz falsch, wenn man unsere Zeit als die Zeit
der „G eldehen“ charakterisiert, in der die Verbindung zwischen
Mann und Frau zu einem bloßen Handelsartikel geworden sei.
Und es fehlt nicht an Weltverbesserern, die dem Mammonismus
alle Schuld an dem verworrenen und unglückseligen Liebesieben
der Gegenwart in die Schuhe schieben und Amors Tanz um das
goldene Kalb sehr anschaulich und dramatisch darstellen.
Die Tatsachen der Kulturgeschichte und der Völkerkunde
widersprechen aber durchaus der Auffassung, als ob dieser mammo-
nistische Charakter der Ehe ein Produkt unserer modernen Kultur
23G
sei. Es ist im Gegenteil ein Ueberbleibsel früherer primi-
tiver Kulturen, wo wirtschaftliche Faktoren stets' eine weit größere
Bedeutung für die Ehe besaßen als geistige Sympathien. So weist
Heinrich Schur tz darauf hin, daß bei den meisten Natur-
völkern die Ehe mehr eine Sache des Geschäftes als der Neigung
sei. Und wo kommen Geldheiraten häufiger vor als gerade bei
den urkräftigen deutschen Bauern, wo überhaupt alles Kon-
ventionelle den breitesten Raum einnimmt ?23 *)
Erst die höhere, verfeinerte, geistige Kultur bringt auch eine
höhere Auffassung der Ehe als Verwirklichung des Ideals der
individuellen Einliebe. „Eie Ehe,“ sagt Ludwig Stein mit
Recht, „ist nicht etwa in Unserem Zeitalter erst zu einem national-
ökonomischen Begriff entartet, sondern umgekehrt: der ökono-
mische Hintergrund der Ehe, wie er bei den Naturvölkern durch-
weg in die Erscheinung tritt, beginnt sicherst im Rahmen
unseres Kultursystems zu verflüchtigen und v o n
seinen metallenen Schlacken allgemach zu be -
f r e i e n.“21)
Damit soll durchaus nicht geleugnet werden, daß auch noch
heute der ökonomische Faktor bei der Eheschließung eine bedeut-
same Rolle spielt, freilich gewiß nicht in dem Maße, daß z. B.
die Heiraten in einem festen und bestimmten Verhältnis zu den
Kornpreisen stehen, wie Buckle behauptet.25) Ohne Zweifel
haben wirtschaftliche Zustände einen großen Einfluß auf die
Heiratsfrequenz. Viele Ehen sind auch heute noch bloße Geld-
heiraten. Aber doch spielen heute die Eigenschaften des Geistes
und Gemütes, ganz abgesehen von der körperlichen Erscheinung,
eine mindestens ebenso große Rolle bei den Eheschließungen. Nur
in den Ständen, die zu einer bestimmten äußeren Lebenshaltung
sich verpflichtet fühlen, im höheren Bürgertum, der Finanz- und
Geburtsaristokratie, dem Offiziersstande, ist das ökonomische
Moment maßgebend für die Heirat. Bekannt ist ja auch das
Vorherrschen der Geldehen unter den Juden.
Man kann ein Feind des Mammonismus sein und doch die
23) Vgl. E 1 a r d H. Meyer, Deutsche Volkskunde, Straßburg
1898, S. 166.
2i) Ludwig Stein, Der Sinn des Daseins. Tübingen und
Leipzig 1904. S. 235.
25) H. Th. Buckle, Geschichte der Zivilisation in England.
Deutsch von A. Rüge, Leipzig und Heidelberg 1864. Bd. I, S. 28—29.
237
Notwendigkeit einer ökonomischen Regelung des ehelichen Verhält-
nisses im Hinblick auf die zu erwartende Nachkommenschaft, auf
die veränderten Lebensbedingungen, die Vergrößerung des Haus-
halts und die Sicherung der eigenen persönlichen Unabhängig-
keit und freien Entwicklung anerkennen. Dies e ökonomische
Regelung verträgt sich durchaus mit der Forderung persönlicher
Sympathien und innigster körperlich - geistiger Harmonie der
Ehegatten.
Schmoller erblickt mit Recht den wesentlichsten Fort-
schritt der modernen Familie darin, daß sie aus einem Produktions-
und Geschäftsinstitut mehr und mehr zu einem Institut der sitt-
lichen Lebensgemeinschaft wurde, daß sie durch die Beschrän-
kung ihrer wirtschaftlichen die edleren, idealen Zwecke mehr ver-
folgen, ein inhaltsreicheres Gefäß für die Erzeugung sympathischer
Gefühle werden konnte.26)
Für die Tatsache der wachsenden Abneigung gegen die Ehe,
für die Abnahme der Intensität des „Heiratstriebes“, um einen
Ausdruck des Moralstatistikers Drobisch zu gebrauchen, die
sich besonders in den höheren Klassen der modernen europäischen
und amerikanischen Gesellschaft geltend macht, kommt viel
weniger die allerdings auch oft brennende Geldfrage als ursäch-
licher Faktor in Betracht als vielmehr die immer größer werdenden
Schwierigkeiten individueller seelischer Uebereinstimmung, bedingt
durch Unterschiede des Alters, der Charaktere, der Erziehung,
Lebensanschauung und individuellen Entwicklung während der
Ehe. Genährt wird diese Abneigung gegen die Ehe durch gewisse
später noch zu schildernde Zeitrichtungen und Umwertungen des
Verhältnisses der Geschlechter.
Vielen erscheint auch der Gedanke der „ehelichen
Pflicht“, wie er durch das Gesetz festgelegt worden ist, als
ein furchtbarer Zwang, als eine Zumutung körperlicher und
seelischer Prostitution. Mit dem modernen Bewußtsein der freien
Persönlichkeit verträgt sich in der Tat nicht mehr jene stoische
Auffassung der Pflicht in der Ehe, wie sie z. B. Chateau-
briand in seinen Memoiren (deutsche Ausgabe, Stuttgart 1849,
Bd. II, S. 168—169) verkündet, wenn auch freilich jemand, der
eine Ehe eingeht, wissen sollte, daß er dadurch dem anderen
26) G. Schmoller, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschafts-
lehre, Leipzig 1901. Bd. I, S. 250.
238
gewisse Hechte zugesteht, deren Nichterfüllung eben den Charakter
und die Idee der Ehe aufhebt. So ist das Vierhalten einer Berliner
Lehrerin, die sich beharrlich der physischen Hingebung an ihren
Gatten mit der Begründung entzog, sie habe nur eine „ideale“
Ehe eingehen wollen (nach Art der mystischen „Reformehe“ der
Amerikanerin Alice Stockham), entschieden zu verurteilen.
Aber doch gibt es einen furchtbaren Mißbrauch der „ehe-
lichen Pflichten“ durch rücksichtslose Männer, die von ihren
Frauen schrankenlose, exzessiv häufige Befriedigung ihrer Ge-
schlechtslust ohne Rücksicht auf den jeweiligen körperlichen und
geistigen Zustand derselben verlangen. Daß hier der Begriff der
ehelichen Pflichten entschieden einer Revision bedarf, hat neuer-
dings Dorothee Goebelerin einem Aufsatze „Von ehelichen
Pflichten“ in der „Welt am Montag“ (vom 6. August 190G) über-
zeugend dargelegt.
Zu häufig auch kommt es vor, daß der Mann einfach die
Gewohnheiten seines außerehelichen Geschlechtsverkehrs auf die
Ehe überträgt und seine aus dem Verkehr mit Prostituierten oder
auch nur mit Priesterinnen der Augenblicksliebe gewonnenen Er-
fahrungen in der Ehe verwertet, die Gattin als Objekt der Sinnen-
lust behandelt, ohne auf ihre Individualität und ihre feineren
erotischen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen.
Diese physische Dissonanz ist noch nicht einmal das
schlimmste. Zu oft ist es die bloße Banalität, die in der Ehe
die Liebe tötet. Man wartet wie Nora auf das Wunderbare, das
nicht kommt. Indessen gehen die Jahre dahin, die sinnliche Leiden-
schaft, die ja so sehr vom geistigen Milieu beeinflußt wird,
schwindet auch allmählich und damit auch die letzte Möglichkeit
eines seelischen Kontaktes. So ist der Charakter der meisten
Ehen Einsamkeit. Sie stellen die Tragödie der Verlassenheit,
des ewigen Fürsichseins der Ehegatten dar.
Welche verhängnisvolle Rolle endlich Krankheiten in der
Ehe spielen, welche tragischen Konflikte hier auftreten können,
kann man aus dem großen Werke „Krankheiten und Ehe“ ersehen,
einer von H. Senator und S. Kamin er herausgegebenen
enzyklopädischen Darstellung der Beziehungen zwischen Gesund-
heitsstörungen und Ehegemeinschaft (München 1904).
Die Kalamitäten der modernen Ehe werden in der folgenden
psychologisch interessanten Schilderung des Irrenarztes Hein-
rieh Laelir (Ueber Irrsein und Irrenanstalten, Halle 1852,
S. 44 ff.) grell beleuchtet:
„Wie werden aber auch in der Wirklichkeit Ehen geschlossen ?
Im Himmel sicherlich die wenigsten, wenn man darunter den Bund
versteht, der mit Bewußtsein der Opfer und der durch die innere
Notwendigkeit hervorgerufenen und durch Selbstachtung und
Achtung gegründeten gegenseitigen tiefen Neigung gewunden wird;
in geselligen Zirkeln, zumal bei Kaffeegesellschaften, die meisten.
Dabei kommen nun freilich meist nur die Fragen der gegenseitigen
Benutzung, zu denen so viele Ehen später herabsinken, in Be-
tracht, während die inneren Empfindungen und gegenseitigen
Neigungen als Nebensache betrachtet werden und nur als Tünche
über das Ganze dienen. Dies würde nun noch sich entschuldigen
lassen; aber daß man die Liebe sich ohne Selbständigkeit ent-
wickeln läßt und daß nicht selten Frauen, die in den jüngeren
Jahren noch so unkundig über den Ernst solcher Schritte erhalten
werden, in denen aber eine Welt von Gefühlen schlummert, die
sich mitzuteilen drängen, dadurch zu dem ehelichen Bunde hin-
gedrängt werden und nun wirklich auch zu lieben glauben und
sich zärtlich anschmiegen, weil ihnen die Freiheit dazu gestattet
ist, das ist’s, was man bedauern muß. Der Mann ist in einem
solchen Verhältnisse an Jahren voran, hat sich durch Erringung
eines Wirkungskreises gestählt; die Frau ist voller dunkler Emp-
findungen, unklar über das, was sie empfangen und geben soll und
der Erde oft dornenvolle Bahn verlangt. Sie ist so geneigt bei
dem Gefühl der inneren Schwäche, sich an den Kräftigeren anzu-
schließen, daß sie noch viel weniger in dem Kausche der sinn-
lichen Erregung und in dem Zustande, worin beide, um zu gefallen,
die beste Seite nach außen zeigen, die Bedeutung eines solchen
Schrittes zu erwägen vermag. Dann freilich, wenn in der betretenen
Bahn der Ehe der Strom der Liebe langsamer verläuft, öffnen
sich unbeflort die Augen, tritt die nackte Wirklichkeit anstatt
der Phantasiegebilde, die die Selbsttäuschung gebar, hervor und
verjagt das, was als Liebe erschien, es aber nicht war. Was
ist nicht alles mit diesem Namen belegt worden! Er mußte den
Deckmantel für eine Menge egoistischer Triebe hergeben, mögen
sie Eitelkeit, Wohlleben, Ehrgeiz, Trägheit heißen; und wie viele
Ehen werden nicht gerade deshalb von seiten des weiblichen Teiles
geschlossen, um den aus ähnlichen Ursachen hervorgegangenen und
©ntaetslich drückenden gegenwärtigen Verhältnissen zu entfliehen,
240
weil die Zukunft im Gegensatz zur Gegenwart lachender erscheint,
das Bedürfnis nach gegenseitiger Hingebung vorwaltet und der
unselbständige Wille vorherrscht, sich den Idealen des Lebens
ohne Vermittlung der sittlichen und logischen Gesetze nähern
zu wollen; ein Zustand, der, wenn die Täuschung schwindet, in
dem besseren Gemüte nur zu leicht zu einer inneren Zerrissen-
heit oder zu einem schwankenden Hin- und Herringen führt . . .
Es kommen soviel Zeiten der Verstimmung, Abspannung,
Traurigkeit, Sorge im Verlaufe der Ehe, und die Menschen ver-
gessen so sehr der goldenen Regel, daß sie diese Perioden mit sich
abzumachen haben und daß beide Teile sich gegenseitig möglichst
zur Erhebung und nicht zum Darniederbeugen gereichen sollen,
daß nur zu leicht die Heiterkeit und der Frohsinn, der aus ihr
hervor wachsen und jene besiegen soll, verschwindet. Ein heftiges
Weh, das nur selten auf unser Gemüt einstürmt, ergreift bei weitem
nicht so unseren Organismus, als andauernd und wiederholt sich
äußernde Gemütsbewegungen, besonders die aus den Jämmerlich-
keiten des Lehens entstehenden, die wir nicht nur in uns zu
bemeistern vermögen, sondern von denen wir auch aus Egoismus
verlangen, daß andere sie mit uns auskämpfen sollen oder deren
Wirkungen wir anderen fühlbar machen. Sie rufen in uns eine
Reizbarkeit des Nervensystems hervor, die nicht, nur diese Empfäng-
lichkeit steigert, sondern auch unsere Verdüsterung vermehrt und
in beide Teile eine Verstimmung legt, die die Ehe mehr zur Last
als zur Lust macht.
Der Egoismus der Liebe, der in dem „Käthchen von Heil-
bronn“ seinen exzessiven Höhepunkt gefunden hat, der die Liebe
herabzieht, weil er den höheren Standpunkt der Selbständigkeit
zerstört, ist mit Mißtrauen und der Lüge in solchem Bunde das
Grab der Liebe und des ehelichen Glückes und damit der frucht-
bare Boden von einer Menge von zerstörenden Einflüssen, die
auf das Gemütsleben einwirken.“
Daß nicht bloß Männer, sondern auch Frauen die großen
Gefahren der Ehe für die Liebe zu würdigen wissen, beweist z. B.
die Aeußerung von Frieda von Bülow (in „Einsame Frauen“,
1897, S. 93, 94):
„In dieser Zeit habe ich oft über das Zusammenleben zu
zweien nachgedacht. Ob nicht ein beständiges engstes Aufeinander-
angewiesensein immer gegenseitigen Abscheu heranzüchten muß ?
Man lernt einander nach und nach auswendig. Die verschleiernden
241
Lügen, die im gesellschaftlichen Verkehr eine eö wichtige Rolle
spielen, werden unmöglich. Die Charaktere zeigen sich nackt in
ihrer Schwachheit, ihrer Liebesunkraft, ihrer Eitelkeit, ihrer Ich-
sucht. Dann wirken die verhüllenden Phrasen nur unwahr und
stoßen ah, statt Illusionen hervorzurufen. Wie bei erwachender
Liebe alle Seelenkräfte auf Entdeckung von Vorzügen des anderen
gerichtet sind, so ist hier die Seele auf beständigen Entdeckungs-
reisen nach Fehlem. In beiden Fällen findet man. von dem, was
man sucht, die Fülle.“
Auch die Dichter lassen uns tiefe Blicke in den ewigen Zwie-
spalt zwischen Liebe und Ehe tun. Wer kennt nicht des Idealisten
und Optimisten Schiller: „Mit dem Gürtel, mit dem Schleier
reißt der schöne Wahn entzwei“? Und die erschreckend deut-
liche Charakteristik des Pessimisten Byron (im „Don Ju,an“,
Canto III, Strophe 5 ff.):
Es ist betrübt, man könnte drüber weinen,
Ein Merkmal unsrer Schwäch’ und. Sündlichkeit,
Daß Lieb’ und Ehe selten sich vereinen,
Da ein Gestirn doch beiden Dasein leiht.
Wie saurer Essig wird aus süßen Weinen,
So Eh’ aus Liebe, und es schärft die Zeit
Den duft’gen Trank voll himmlischer Gerüche
Zu einem niedrigen Gewürz der Küche.
Antipathie herrscht zwischen beiden Phasen,
Ein Stil der Schmeichelei, der sehr beredt,
Doch kaum sehr ehrlich ist, voll süßer Phrasen,
Ist Mode, bis die Wahrheit kommt — zu spät.
Und doch, was soll man machen? — schweigend rasen!
Der Sinn der Worte selbst wird ganz verdreht,
Zum Beispiel, Leidenschaft heißt „Hochgefühl“
Beim Liebenden, beim Gatten „ridikül“.
Es ist, als ob ein häuslich ehrbar Los
Und echte Lieb einander fliehen müßten.
Der Dichter malt die Werbung lebensgroß,
Und von der Ehe gibt es meist nur Büsten.
Wer kümmert sich um eh’liches Gekos?
Es war ein Unrecht, wenn sich Gatten küßten.
Ob wohl Petrark als Lauras Mann Sonette
Sein ganzes Leben lang geschrieben hätte?
Uebersetzung von O. Gildemeister.
Es ist bezeichnend, daß die größten Lobredner der Ehe die
— Junggesellen sind, die die Ehe nicht aus Erfahrung kennen,
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 1 ß
(41,—60. Tausend.)
242
aber auch im Zölibat nicht das wahre Glück gefunden haben,
nach dem "Worte des Sokrates, daß es gleich sei, ob man
heirate oder nicht, man werde es in jedem Falle bereuen.
Unsere Zeit steht jedenfalls unter dem Zeichen der Ehe-
feindschaft. Es ist die Form der heutigen Ehe, die die meisten
schreckt, der durch das neue Bürgerliche Gesetzbuch von 1900
gegen früher noch verschärfte Zwang. Der moderne Individualis-
mus lehnt sich gegen die unleugbare Unfreiheit auf, die die
gesetzliche Ehe mit sich bringt. Der Schatten, den nach einem
"Worte E. Dührings die Zwangsehe auf Liebe und edleres
Geschlechtsleben geworfen hat, ist heute größer als je.
Daher die wachsende Unlust zum Heiraten, die bezeichnender-
weise bereits auch beim weiblichen Geschlecht in verstärktem
Maße sich geltend macht, daher vor allem die außerordent-
liche Zunahme der Ehescheidungen.
Laut einer Notiz der „Vossischen Zeitung“ (No. 137 vom
22. März 1906) hat in Deutschland die Zahl der Ehescheidungen
im Jahre 1904 eine abermalige erhebliche Zunahme erfahren.
Sie belief sich auf 10 882 gegen 9932 im Jahre 1903 und 9074
im Jahre 1902, so daß im Jahre 1904 eine Erhöhung um 950
oder 9,6 % stattgefunden hat.
Schon in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts hatte eine
starke Zunahme der Ehescheidungen stattgefunden, dergestalt, daß
die Zahlen von 1894 bis 1899 von 7502 auf 9433 stieg. Man nahm
damals an, daß die Steigerung damit zusammenhinge, daß das
Bürgerliche Gesetzbuch die Ehescheidungen in den meisten Staaten
erschwerte, so daß man noch vor dessen Einführung vielfach zu
Klagen auf Ehescheidung schritt. In der Tat sank dann die Ehe-
scheidungsziffer nach Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches
im Jahre 1900 auf 7922 und 1901 auf 7892. Seitdem fand
dann aber wieder eine starke Zunahme statt, so
daß die Ziffer des Jahres 1904 um 2990 oder 38% über
der des Jahres 1901 lag. Diese Steigerung ist hauptsäch-
lich darauf zurückzuführen, daß die sogenannten relativen
Scheidungsgründe des § 1568 BGB.27) eine große Anzahl
27) Der § 1668 lautet: „Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen,
wenn der andere Ehegatte durch schwere Verletzung der
durch die Ehe begründeten Pflichten oder durch ehr-
loses oder unsittliches "f erhalten eine so tiefe Zerrüttung des ehe-
lichen Verhältnisses verschuldet hat, daß dem Ehegatten die Fort-
243
von Ehescheidungsklagen gerechtfertigt erscheinen lassen. Die
weite Dehnbarkeit der Bestimmungen dieses Paragraphen läßt
dem Richter einen großen Spielraum für ihre Anwendung.
Wie die Steigerung der Ehescheidungen die bestehenden Ehen
beeinflußt, zeigt sich, wenn man die Zahl der Scheidungen mit
der der Ehen vergleicht. Setzt man die Ehescheidungen ins Ver-
hältnis zu den bestehenden Ehen, deren Zahl nach der Volks-
zählung von 1900 (unter Zugrundelegung der verheirateten Männer
und Frauen) 9 796 440 beträgt, so treffen auf 10 000 Ehen im
Jahre 1900 und 1901 je 8,1, 1902 9,3, 1903 10,1 und 1904 11,1
Ehescheidungen. Es sind also im Jahre 1904 von 10 000 Ehen
3 mehr geschieden als im Jahre 1901.
Ich habe bereits die ungeheuere Bedeutung der Ehescheidung
für die Anerkennung des temporären Charakters jeder Ehe von
seiten des Staates hervorgehoben, wodurch im Grunde die Berech-
tigung der freien Liebe, welche ja nichts weiter ist als eine
temporäre Ehe, zugestanden und diese dadurch legitimiert wird.
Deutlicher tritt das noch hervor, wenn man an die gesetzliche
Möglichkeit mehrerer Ehescheidungen für ein und dieselbe
Person denkt. Dafür lassen sich ja zahlreiche Beispiele aus der
Wirklichkeit anführen. So wurde ein bekannter Schriftsteller
nicht weniger als viermal geschieden, und von seinen vier
Frauen waren einige ihrerseits von anderen Männern geschieden
worden. Zwei Ehescheidungen auf beiden Seiten sind nichts
Seltenes. Vergegenwärtigt man sich einmal diese Tatsache recht
offen und ehrlich, so muß man gestehen: das ist ja nichts anderes
als die verrufene „freie Liebe“, dieses Schreckgespenst aller braven
Philister, eine freie Liebe, die bereits offenkundig
die staatliche Sanktion bekommen hat.
Wenn vier und fünf Ehescheidungen bei derselben Person
ohne weiteres durch gerichtliches Urteil ausgesprochen werden,
also die staatliche Sanktion erhalten, so kann man diese Zahl
theoretisch beliebig vergrößern.
Wer die menschliche Natur kennt, wer da weiß, daß das Be-
wußtsein der Freiheit bei reifen Menschen — und nur diese
Setzung der Ehe nicht zugemutet werden kann. Als schwere Ver-
letzung der Pflichten gilt auch grobe Mißhandlung.“ — Es ist klar,
daß der gesperrt gedruckte Passus einer sehr vielfältigen Deutung
fähig ist und daher den Fortfall des früheren Scheidungsgrundes
der gegenseitigen Abneigung einigermaßen kompensiert.
IG*
244
sollten eine Ehe eingehen — auch das Pflichtbewußtsein
stärkt und festigt, der braucht die Einführung der freien Ehe nicht
zu fürchten. Im Gegenteil clarf man annehmen, daß Scheidungen
lange nicht so häufig Vorkommen würden wie unter der Zwangsehe.
Nach dem BGB. kann die Ehescheidung wegen Ehebruchs,
Gefährdung des Lebens, böswilligen Verlassens, Mißhandlung,
Geisteskrankheit, strafbaren Handlungen, ehrlosen und unsitt-
lichen Verhaltens, schwerer Verletzung der ehelichen Pflichten
erfolgen. Wie wir sahen, gewährt die letztere Bestimmung dem
Richter die Möglichkeit, auch in schwierigen Fällen durch
humane und verständige Auslegung des Begriffes „Pflicht-
verletzung“ die Ehescheidung auszusprechen. Es ist klar, daß
bei allen Ehescheidungen das Interesse etwa vorhandener Kinder
besonders gewahrt werden muß.
Die französische Ehe, für die bisher die denjenigen des BGB.
ähnlichen Bestimmungen des Code Napoléon galten, soll neuer-
dings moralisch und zivilrechtlich reformiert werden. Es hat sich
in Paris ein aus angesehenen Schriftstellern, Juristen und Frauen
bestehendes „Komitee der Ehe-Reform“ gebildet, dem u. a. Pierre
Louys, Marcel Prévost, der Richter Magnaud, Octave
Mir beau, Maeterlinck, Henri Bataille, Henri
Coulon, Poincaré angehören.
In dem vom Präsidenten des Komitees, Henri Coulon,
der französischen Deputiertenkammer und dem Senat überreichten
Motivierung eines neuen Gesetzentwurfes heißt es u. a. :28)
Es wäre kindisch, verhehlen zu wollen, daß die Einrichtung
der Ehe in eine kritische Phase getreten ist. Philosophen und
Romanciers verkünden um die Wette den Zusammenbruch dieser
Institution. Vielleicht gehen sie darin etwas zu weit. Aber es
ist nichtsdestoweniger wahr: Es liegt ein wesentliches und ernst-
haftes Interesse zutage, die Eheeinrichtungen zu reformieren.
Läßt man diesen Ausgangspunkt gelten — welchen Weg
müßte man einschlagen ?
Der Eintritt in die Ehe muß so leicht und unbeschwerlich
wie möglich gestaltet werden ; auf diese Weise wird die Zahl
der Ehen, die sich auf Liebe gründen, rasch anwachsen. Dann
muß man den Gatten gleiche Rechte, gleiche Pflichten,
gleiche Verantwortlichkeit bewilligen ; man wird die
28) Nach Zeitung „Der Tag“ No. 337 vom 6. Juli 1906.
245
Ehe hierdurch praktischer und weniger unmoralisch gestalten,
als wie es jetzt ist. Endlich muß man — und das; ist wesent-
lich — die Scheidung erleichtern. Diese wird hierdurch
die einzige würdige Trennung zweier denkenden 'Wesen, werden
und wird nicht mehr die abscheuliche Komödie sein wie heute.
Seihst die unlösliche Ehe ist kein Band für die, die es zer-
reißen wollen, deren Sitten liederlich geworden sind. Die ab-
solute Freiheit ist kein Hindernis für die Treue und die Be-
ständigkeit — im Gegenteil: Die Freiheit ist die Ur-
sache der Beständigkeit.
Die Scheidung ist kein Glück, sondern ein Hilfsmittel; aber
das Zusammenleben zweier Menschen, die sich hassen, ist ein
größeres Uebel als die Scheidung. Gewiß wäre es am schönsten,
wenn sich die Gatten ihr Leben lang so lieben würden, wie sie
am ersten Tage ihrer Ehe getan; daß sie ihre Kinder lieben
und von diesen verehrt werden. Aber da die Menschheit nicht
ohne Fehler und Laster ist, geht es so nicht weiter. Die Scheidung,
wie wir sie wollen, macht die Ehe würdiger und tiefer. Sie
schmiegt sich besser den neuen sozialen Bewegungen und dem
modernen Geist an.
Die bürgerliche Gleichheit der beiden Ge-
schlechter müßte ein Grundgesetz des modernen
Rechts bilden. Das französische bürgerliche Gesetzbuch
erkennt ja beiden Geschlechtern schon jetzt gewisse gleiche Rechte
zu; aber die Frau verliert doch einen Teil ihrer Rechte in dem
Augenblick, da sie sich verheiratet. Sie ist in Wirklichkeit
geschäftsunfähig. Der Kontrast zwischen der Geschäftsunfähigkeit
der verheirateten Frau und der Geschäftsfähigkeit der unver-
heirateten ist einer der charakteristischsten Züge unserer Gesetz-
gebung.
Die Scheidung hebt schon jetzt die von der Kirche geforderte
Untrennbarkeit des ehelichen Bandes auf. Der Ehebruch darf
nur als Scheidungsgrund angesehen werden und deshalb auch
keine Entschuldigung für den Mörder sein, der seine ehebrechende
Frau oder deren Komplizen tötet.
Wir fordern die Abschaffung der Strafen für Ehebruch, weil
die Verfolgungen in dieser Hinsicht entweder der Rache oder
dem Prozeßverfahren entspringen.“
Daß mit der Erleichterung der Scheidung, wie sie in vorbild-
licher Weise durch diese französisch© Reform der Ehe in Aussicht
246
genommen ist, erweitert© Bürgschaften für Versorgung der
unselbständigen Frau und der Kinder auch nach der Trennung
verbunden werden müssen, ist eine Forderung der Gerechtigkeit.
In dieser Beziehung ist die eheliche Verantwortlichkeit
nur ein Teil der geschlechtlichen Verantwortlich-
keit überhaupt. Wenn zwei selbständige, freie Individuen in oder
außerhalb der Ehe geschlechtliche Beziehungen miteinander
unterhalten, so übernehmen sie damit beide hinsichtlich ihrer
eigenen Person und der etwaigen Nachkommenschaft
eine Verpflichtung und Verantwortung, die der Ausfluß eines
natürlichen instinktiven Gefühles sind, eben des „geschlechtlichen
Verantwortlichkeitsgefühles“. Dieses muß als ein kategorischer
Imperativ das gesamte Sexualleben jedes Menschen beherrschen.
Es ist das notwendige ethische Gegengewicht gegen die Betäti-
gung eines schrankenlosen Geschlechtsegoismus.
Für die Liebe der Zukunft und ihre soziale Gestaltung er-
scheinen mir die folgenden drei Gesichtspunkte maßgebend, wie
sie auch das französische Reformprogramm auf stellt:
1. Gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche
Verantwortlichkeit der Gatten.
2. Erleichterung der Scheidung.
3. Bevorzugung der individuellen Freiheit vor
dem Zwange. Denn Freiheit verbürgt am ehesten
auch die Beständigkeit in der Liebe.
Die strikte Durchführung dieser Prinzipien in der Praxis
des Lebens würde ohne Zweifel, ja mit absoluter Sicherheit, die
Zahl der Ehescheidungen nicht vermehren, sondern vermindern
Und uns der Verwirklichung des Ideals der echten Ehe als
Lebensbund zweier sich ihrer Pflichten und Rechte voll be-
wußter, freier Persönlichkeiten näher bringen.
Die hohe ethische und soziale Bedeutung des Familienlebens
wird immer bestehen bleiben, selbst unter der freiesten Liebe,
worunter ich, wie ich immer wieder betonen muß, nicht den
wahllosen und abwechslungsreichen außerehelichen Geschlechts-
verkehr verstehe, gegen den die ernstesten Bedenken erhoben
werden müssen. Was „freie Liebe“ ist, geht schon aus den bis-
herigen Darlegungen hervor, soll aber noch im nächsten Kapitel
eingehender erörtert werden.
247
Anhang.
Hundert Ehetypen und einige charakteristische
Ehestandsgemälde nach Groß-Hoffinger.
In einem längst vergessenen, aber sehr interessanten Buche
des Er. Anton J. Groß-Hoffinger, betitelt: „Die Schick-
sale der Frauen und die Prostitution im Zusammenhänge mit dem
Prinzip der Unauflösbarkeit der katholischen Ehe und besonders
der österreichischen Gesetzgebung und der Philosophie des Zeit-
alters“ (Leipzig 1847), findet sich eine den Psychologen und
Charaktere logen wie den Arzt, Jurist und Soziologen in gleichem
Maße interessierende Zusammenstellung von hundert Ehetypen,
sowie die ausführlichere Schilderung des Verlaufs einiger Ehen,
die es verdienen, der Vergessenheit entrissen zu werden, weil sie
auch heute noch als Paradigmata für die Ehen unserer Zeit
gelten können.
Nachdem der Verfasser die großen Schwierigkeiten der Ehe
erörtert hat, legt er sich die Frage vor, ob denn die wenigen
relativ Glücklichen, welchen es gelingt, sich in ein legales und
zugleich naturgemäßes Familienleben zu begeben, ihren Zweck
bei den damaligen Ehegesetzen, Religionsbegriffen und Gewohn-
heiten erreichen, ob sie glücklich und fruchtbar, ehrbar und ge-
segnet sind. Starke Zweifel daran bewogen den Verfasser, zum
ersten Male „der katholischen Welt ein auf zahlreiche Erfahrungen
und Beobachtungen gegründetes Bild des wirklichen Zu-
standes ihrer Ehen vor Augen zu stellen“. Er untersuchte
hundert Ehen aus den verschiedensten Ständen, ohne Aus-
wahl, wie sie der Zufall ihm darbot, dann wieder hundert
andere, und abermals hundert dritte. Stets waren die Ergebnisse
gleich traurig, immer das Verhältnis der glücklichen Ehen zu
den unglücklichen dasselbe. Das Fazit seiner Untersuchungen war:
„Obwohl er gewissenhaft und mit Eifer nach der Zahl der
Glücklichen geforscht, so ist doch seine Forschung stets so weit
vergeblich gewesen, daß er es nie dahin bringen konnte, die
glücklichen Ehen als etwas anderes als höchst ver-
einzelte Ausnahmen von der Regel zu erkennen.“
Das ist nach seiner Erklärung nicht das traurige Resultat
des Irrtums oder leichtsinniger Kombinationen, sondern der ge-
nauen Beobachtung in einer Reihe von Jahren und unter Ver-
248
hältnissen, welche ihn mit allen Ständen in zahlreiche und intime
Berührungen brachten.
So fand er nach einer langen, schwierigen und gewissen-
haften Untersuchung in hundert Ehen aller Stände folgende
kurz bezeichnete Verhältnisse.
Hohe Stände.
1. Der Gatte nicht unglücklich, Gattin krank an syphilis-
verdächtigem Leiden. Eheliche Treue des Gatten ehedem zweifel-
haft. Sieche Kinder.
2. Beide Teile glücklich in vorgerücktem Alter nach
freiem Leben des Gatten.
3. Beide Teile glücklich in vorgerücktem Alter —
kinderlos.
4. Der Gatte impotent, die Gattin unglücklich.
5. Der Gatte ein Greis, die Gattin treulos.
6. Gatte und Gattin scheinbar glücklich — skrophulöse
Kinder.
7. Der Gatte durch Verhältnisse entfernt, die Gattin treulos.
8. Beide Teile unglücklich — der Gatte ein Wüstling.
9. Beide Teile scheinbar zufrieden in vorgerücktem Alter.
10. Der Gatte ein ausschweifender alter Wüstling, die
Gattin unglücklich, aber resigniert — die Ehe kinderlos.
11. Ein ganz gleiches Verhältnis.
12. Glückliche Mesalliance.
13. Der Gatte phlegmatisch - glücklich, die Gattin aus-
schweifend. Kranke Kinder. Die Mutter siech.
14. Der Gatte ausschweifend, die Gattin resigniert — beide
Teile verstehen sich.
15. Der Gatte ein Wüstling, die Gattin eine Messalina,
beide Teile syphilitisch — die Kinder siech.
16. Beide Teile ungesund und elend — der Gatte aus-
schweifend, roh — die Gattin leidend, hinsterbend.
17. Der Gatte ein roher Wüstling — die Gattin von ihm
getrennt und unglücklich.
Sogenannte Honoratioren (höherer Bürger stand).
18. Beide Teile unglücklich. Der Gatte impotent, die ältere
Gattin eine Messalina. Die Ehe kinderlos und immer stürmisch.
19. Beide Teile leidlich glücklich durch Milde und Güte
249
des Herzens. Der Gatte sinnlich treulos. Die Gattin treu, doch
gekränkt.
20. Beide Teile unglücklich. Ununterbrochener häuslicher
Krieg.
21. Phlegmatischer reicher Gatte, arme leidende Gattin —
die Ehe kinderlos — scheinbar glücklich.
22. Beide Teile in sehr vorgerücktem Alter scheinbar
glücklich. Vergangenheit zweifelhaft. Skrophulöse Kinder.
23. Kinderlose Ehe zwischen einer ehemaligen vornehmen
Maitresse und einem ausschweifenden Mann.
24. Scheinbar glückliche Ehe zwischen einem noch jungen
Gatten und einer älteren Gattin. Ersterer entschädigt sich
heimlich.
25. Unglückliche Ehe. Beide Teile unzufrieden. Der Gatte
ausschweifend, die Gattin resigniert.
26. Glückliche Ehe.
27. Zweifelhaft glückliche Ehe.
28. Höchst unglückliche Ehe. Der Gatte ausschweifend, ge-
wissenlos, die Gattin halb wahnsinnig, die Kinder syphilitisch.
29. Unglückliche Ehe, der Gatte ehedem etwas leichtfertig,
die Gattin unversöhnlich.
30. Glückliche Ehe!?l Beide Teile sittenlos, aus-
schweifend, die Gattin eine heimliche Prostituierte mit Wissen
des Gatten, welcher seinerseits mehrere Maitressen hat. Man
lebt philosophisch! ?
31. Der Gatte ein Libertin und Courmacher von Profession,
die Gattin von ihm getrennt.
32. Glückliche Ehe. Der Gatte der Galanterie ergeben, ohne
ausschweifend zu sein, die Gattin liebevoll, duldsam, ihm er-
geben und treu.
33. Der Gatte krank infolge von Ausschweifung, die Gattin
leichtfertig. Gleichgültige Ehe.
34. Der Gatte glücklich durch das Geld seiner Frau, welche
er vernachlässigt, diese sehr gekränkt, abzehrend. Kinderlose Ehe.
35. Gatte impotent, Gattin mit Wissen ihres Gemahls durch
einen Hausfreund getröstet. In ihrer Art eine glückliche Ehe.
36. Ausschweifender Gatte, ausschweifende Gattin, beide
Teile schamlos und freidenkend — in gegenseitiger Gering-
schätzung ziemlich glücklich scheinend.
250
37. Gatte alt und gebrechlich, ein abgelebter Wüstling,
Gattin durch Hausfreunde getröstet — glückliche Ehe!
38. Unglückliche Ehe. Der Gatte phlegmatisch, die Gattin
sehr leidenschaftlich und begehrlich.
39. Unglückliche Ehe. Nichtswürdiger Spekulant, der die
Witwe eines reichen Mannes verführt und sie dann verlassen
hat. Kinderlos.
40. Abgelebter Gatte, sittenlose Gattin, glückliche Ehe!
41. Abgelebter Gatte, duldsame Gattin, glückliche Ehe!
42. Ein gleiches Verhältnis.
43. Glückliche Ehe. Beide Teile noch sehr jung, ungeprüft.
44. Glückliche Ehe. Der Gatte phlegmatisch — die
Gattin treu.
45. Abgelebter Gatte, reiche Gattin, zurzeit glückliche Ehe.
Gewerbestand.
46. Glückliche Ehe. Der Gatte phlegmatisch und selten
treulos — die Gattin duldsam, brav und treu.
47. Glückliche Ehe. Beide Teile reich und jung. Der Gatte
ohne Wissen seiner Gattin liebt die Freuden der Venus.
48. Unglückliche Ehe. Erzwungene Vernunftheirat. Der
Gatte lebt mit einer Konkubine, die Gattin von ihm getrennt.
49. Unglückliche Ehe. Armut, Eifersucht und Kinderlosigkeit.
50. Glückliche Ehe durch Duldsamkeit und Nachsicht der
Gattin gegen den leicht entzündlichen Gatten.
51. Unglückliche Ehe — der Gatte lebt mit einer Konkubine
glücklich, die Gattin mit einem falschen Freund unglücklich.
52. Unglückliche Ehe. Phlegmatischer Gatte, sittenlose
Gattin — ewiger Krieg.
53. Unglückliche Ehe — der Gatte ein Pantoffelheld, im-
potent, die Gattin herrisch, zänkisch und boshaft.
54. Geschiedene Ehe.
55. Glückliche Ehe. Die Gattin eine gutmütige Betrogene,
der Gatte ein sinnlicher Wüstling. Sieche Kinder, die Gattin
unheilbar krank.
56. Glückliche Ehe. Der Gatte ein abgelebter Wüstling, die
Gattin abgelebte Prostituierte. — Beide unheilbar krank aus
gleichen Ursachen.
57. Glückliche Ehe durch Not und Phlegma.
58. Glückliche Ehe. Der Gatte, ein Betrüger, tut alles für
251
die Seinigen, die Gattin, eine ehemalige Prostituierte, ist glück-
lich durch seine Sorgfalt.
59. Glückliche Künstlerehe durch beiderseitige Liederlich-
keit und Gewährenlassen.
60. Ein gleiches Verhältnis.
61. Glückliche Ehe. Der Gatte verbirgt seine Seitenwege
mit gutem Erfolg — die Gattin treu und überaus zärtlich.
62. Unglückliche Ehe. Beiderseitiger Leichtsinn und dessen
Folgen.
63. Glückliche Ehe. Eheliche Treue des Gatten nicht über
allen Zweifel.
64. Ein gleiches Verhältnis.
65. Ein gleiches Verhältnis.
66. Unglückliche Ehe. — Vernunftheirat — der Mann
etabliert sich mit dem Gelde seiner Frau, vergeudet es mit
Freudenmädchen, die Gattin rächt sich furchtbar durch grenzen-
lose Bosheit.
67. Unglückliche Ehe — Vernunftheirat — der junge Gatte
etabliert sich mit dem Geld seiner alten Gattin, wird von dieser
gepeinigt und trinkt sich zu Tode.
68. Glückliche Ehe durch beiderseitigen Geiz.
69. Gezwungen glückliche Ehe durch beiderseitige Armut.
70. Glückliche Ehe — der Gatte ein Säufer — die Gattin
dem Geiz lebend — kinderlos.
71. Geschiedene Ehe. Der Gatte hat seine Gattin der Armut
und Prostitution preisgegeben.
72. Unglückliche Ehe. Impotenter Gatte, begehrliche Gattin
— ewiger Unfriede.
73. Junge Eheleute — die Gattin Maitresse eines reichen
Juden, der die Familie aushält.
74. Unglückliche Ehe. Der Gatte ausschweifend, seiner
Gattin abgeneigt, diese unheilbar krank, die Kinder syphilitisch.
75. Unglückliche Ehe, beide Teile siech und arm.
76. Spekulationsehe — der Gatte verkauft seine Gattin
dreimal an verschiedene reiche Männer und sammelt hierdurch
ein Vermögen.
77. Unsittliche Ehe. Der Gatte einer betrügerischen Industrie
lebend, die Gattin von der Pension eines ihrer Aushalter lebend
— die Kinder zur Prostitution erzogen.
78. Verträgliche Ehe. Gatte ein ehemaliger Domestike, nun-
252
mehr Gewerbsmunn, Gattin ein altes Freudenmädchen, welche
Ersparnisse gemacht hat. Kinderlos.
79. Glückliche Ehe zwischen einem Dummkopf und einer
gescheiten Frau.
80. Unglückliche Ehe. Der Gatte seiner Frau abgeneigt,
von ihr, welche das Vermögen ins Haus gebracht, zu Tode gequält.
81. Liederlicher Mann, liederliche Frau — voneinander ge-
schieden. Die Kinder auf geopfert.
82. Impotenter Mann, ausschweifendes Weib, kranke Kinder,
Zank und stürmische Szenen.
83. Zur Ruhe gebrachter Wüstling, junge Gattin, beide Teile
nicht unglücklich bei Ueberfluß und Sorglosigkeit.
84. Künstlerehe. Die Gattin Maitresse eines Großen. Die
Wirtschaft geht gut zusammen.
Niedrige Klasse.
85. Liederlicher Gatte, ehemals vermögend durch die Mitgift
seiner Gattin, nun mit ihr bis zum Bettelstab verarmt, auf kleine
Kommissionen angewiesen — sieche Gattin — die Kinder gestorben.
86. Glückliche Ehe durch große Armut.
87. Kupplerfamilie.
88. Glückliche Ehe. Der Mann ein Dieb, die Frau eine
Prostituierte.
89. Unglückliche Ehe durch Armut.
90. Unglückliche Ehe. Der Gatte ein Säufer, die Gattin in
Kummer und Elend arbeitend.
91. Unglückliche Ehe — Armut, Unverstand, Eifersucht,
Krankheiten.
92. Domestikenfamilie — Gattin und Tochter zur Verfügung
des Herrn.
93. Unglückliche Ehe — Raufszenen — gegenseitiges Miß-
gönnen, Haß und Verachtung.
94. Unglückliche Ehe. Der redliche Gatte von seiner Gattin
betrogen und bei großer Armut unfähig, sie zu beherrschen.
95. Unglückliche Ehe — der Gatte davongelaufen.
96. Unsittliche Ehe — Mann, Frau, Kinder von den Ge-
werben der Unzucht lebend.
Elende Ehen, welche im Armenhause endigen und schon
getrennt waren, sowie die Armut sie prüfte.
253
100. Ein glückliches Paar, welches alle schweren Prüflingen
des Lebens aushält, sich alles verzieh, sich immer liebte und
sich niemals verließ — eine tugendhafte Ehe im edleren Sinne.
Es befanden sich also unter diesen hundert Ehen:
Unglückliche zirka 48
Gleichgültige 36
Unzweifelhaft glückliche 15
Tugendhafte 1
Tugendhaft und Orthodoxe —
Es gab ferner unter diesen hundert Ehen:
Absichtlich unmoralische 14
Liederliche und leichtsinnige 51
Völlig unverdächtige ?
Ferner:
Frauen, die durch Schuld ihres Gatten elend waren ca. 30
j, j5 ohne ,, ,, ,, ,, jj >
„ „ durch eigene Schuld unglücklich waren 12
Unter diesen hundert Ehen war nur eine durch gegenseitige
Treue glücklich, alle übrigen wenigen glücklichen Ehen, wenn
man sie so nennen kann, waren es nur dadurch, daß man sich
über die Frage der Treue des Gatten weiblicherseits hinwegsetzte.
Groß-Hoffinger zieht aus dieser Statistik u. a. die
folgenden Schlüsse:
1. Ungefähr die Hälfte aller bestehenden Ehen ist ab-
solut unglücklich.
2. Weit über die Hälfte derselben ist ganz offenbar
demoralisiert.
3. Die Moralität der übrigen kleineren Hälfte besteht durch-
aus nicht in Beobachtung der ehelichen Treue.
4. 15 % aller Ehen betreiben das Gewerbe der Unzucht und
Kuppelei.
5. Die Zahl der völlig über allen und jeden Verdacht der
Untreue (bei vorhandener Fähigkeit) erhabenen orthodoxen Ehen
ist in den Augen jedes Vernünftigen, der die Gebote der Natur
kennt und das Ungestüme ihrer Forderungen, gleich Null.
Daher wird der kirchliche Zweck der Ehe allgemein,
gründlich, vollkommen verfehlt.
„Kein Zwang“, so schließt der Verfasser seine Aus-
führungen, „ist unnatürlicher als der von der katholischen
254
(protestantischen, jüdischen, griechisch-orthodoxen) Religion vor-
geschriebene Ehezwang mit seinem abenteuerlichen Kodex von
lächerlichen ehelichen Pflichten und Rechten.
Erstens bewirkt dieser Zwang — dieses Sakrament der Ehe
— welche nichts ist, nichts sein kann, nichts sein soll von
N a t u r, als eine freie Verbindung und ein bürgerlicher
Vertrag — daß man die Ehe meidet.
Zweitens: daß man in der Ehe deren Zweck nicht vollkommen
erfüllt, noch erfüllen kann.
Drittens: daß die Ehe daher aus der natürlichen Ehe, welche
sie sein soll, nur ein Geschäft, eine Spekulation, eine Versorgungs-
anstalt, ein Spital für Sieche geworden ist.
Zur Illustration dieser Thesen teilt Groß-Hoffinger
endlich noch 24 nach dem Leben gezeichnete Ehestandsgemälde
mit, von denen noch einige besonders interessante mitgeteilt
werden mögen.
1.
Die Gräfin B. konnte, beherrscht von unerbittlichen Standes-
verhältnissen, nicht zu einer angemessenen Verbindung gelangen,
sie erreichte ein Alter von 30 Jahren, ohne sich zu verheiraten.
Die Folge davon war, daß sie sich an ihren Domestiken weg-
warf, infolgedessen angesteckt wurde und an der Syphilis starb,
einige Monate, nachdem sie endlich geheiratet hatte. Ihr Witwer
trug ein trauriges Andenken an diese kurze Ehe davon.
2.
Der Graf C. — ein Mann von hohem Range, verlor durch
den Tod seine geliebte Gattin. Die Verhältnisse erlaubten ihm
nicht, sich wieder zu verheiraten. Furcht vor ansteckenden Krank-
heiten, Ausartung des Geschlechtstriebs durch Mangel an Be-
friedigung führten ihn in die Arme der griechischen Liebe.
3.
Fürst D. — jung, impotent — schließt eine Konvenienzheirat
mit einer schönen, sehr leidenschaftlichen Dame, welche sich
schadlos hält und mit Domestiken, Hausoffizieren und Kavalieren
mehrere Kinder erzeugt, welche den Titel des Gemahls erben.
Die Ehe ist unter solchen Umständen sehr unglücklich, aber die
Notwendigkeit zwingt den Gatten, sein Schicksal in Geduld zu
tragen.
255
4.
Graf E. — ein sonst trefflicher Charakter, schließt eine
Konvenienzheirat mit einer Dame ans hoher Familie, welche aber
nicht imstande ist, ihn zn beglücken. Ans natürlichem Edelmut
will er die Unglückliche nicht kränken durch Eingehen eines
öffentlichen Konkubinatsverhältnisses, er sucht daher bei Freuden-
mädchen Ersatz, erkrankt, teilt seiner Gattin das Uebel mit,
welche infolge desselben hinsiecht und kranke Ehnder zur Welt
bringt. Obwohl die arme Geopferte nicht den Ursprung ihrer
Leiden kennt und sie mit Ergebung trägt, obgleich ihr Gemahl
sie mit Aufmerksamkeiten überhäuft und für ihre Heilung sehr
besorgt ist, so ist die Ehe begreiflicherweise durch die Gewissens-
vorwürfe des einen und die Leiden, den stillen Gram des andern
Teiles, welcher fühlt, daß er unglücklich gemacht hat, indem er
unglücklich geworden ist, eine höchst bemitleidenswerte.
5.
Baron F. — ein Mann von großem Einfluß — in seiner
Jugend Libertin — leichtsinnig und von einem für tiefere Ge-
fühle unempfänglichen Gemüte, schließt nacheinander vier Kon-
venienzheiraten, welche alle mit dem Tode der Gattin endigen.
Man hat Ursache anzunehmen, daß die fortgesetzten Aus-
schweifungen und die Gewissenlosigkeit des Gatten das Leben
der Frauen verkürzt hat — um so mehr, da alle Kinder des
Barons siech und skrophulös sind.
6.
Graf G., Wüstling, Libertin, richtet durch Verschwendung
sein Vermögen zugrunde und zwingt seine Gattin, getrennt von
ihm zu leben, indessen er mit Choristinnen und Tänzerinnen,
gemeinen Freudenmädchen ungeheure Summen verpraßt. Da er
finanziell ebenso ruiniert ist wie körperlich, so wird er von
Vornehmen und Geringen verachtet, von Gläubigern verfolgt,
von seiner Gattin aufs äußerste verabscheut. Obwohl seine Ver-
gnügungen nur in Reminiszenzen bestehen, so opfert er diesen
doch enorme Summen, welche meist durch Schulden aufgebracht
werden.
7.
Graf H. ist seit einer langen Reihe von Jahren verheiratet,
lebt mit seiner Gattin aber auf dem unerquicklichsten Hofton,
256
indes er mit Freudenmädchen seine Mußestunden hinbringt. Der
Auswurf der Gassendirnen ist seine liebste Gesellschaft, aber
auch in die Familien dringt seine wollüstige Frechheit und keine
bürgerliche Ehefrau, kein noch so unbescholtenes Mädchen ist vor
seinen Nachstellungen sicher, welche um so unbegreiflicher sind,
da er bereits in hohem Alter steht und völlig impotent ist. Er
bietet alles auf, um sich seine Auserwählte willfährig zu machen,
Geschenke, Versprechungen, Drohungen.
8.
Er. S. — Gemahl eines sittenlosen "Weibes, Staatsbeamter,
Libertin, Philosoph — ein kleines rechtliches Einkommen ge-
nießend, lebt mit seiner Gattin auf einem Fuße, welcher beiden
Teilen die zügelloseste Freiheit gestattet. Das würdige Ehepaar
trachtet nur danach, durch Industrie Geld zu erwerben, was zum
Teil durch heimliche Prostitution der Frau, zum Teil durch
falsches Spiel Und indirekte Kuppelei, durch Veranstaltung
pikanter Soireen für die jünge Aristokratie bewerkstelligt wird.
Die Familie hat einen ausgezeichneten Ruf, hohe Personen stehen
mit ihr im vertraulichsten Umgang, junge Mädchen der besseren
Stände besuchen ihre Soireen mit Vergnügen, da sie dort die
Elite der jungen Aristokratie, reiche Juden und Offiziere finden.
Dieses interessante Ehepaar macht einen Aufwand, der allen
unbegreiflich ist; es besitzt eine prächtige Equipage, ein Land-
haus, eine kostbare Gemäldesammlung usw. Nur bei ihren
Domestiken stehen beide Teile in geringem Ansehen, da der männ-
liche Teil den Lüsten der Frau, der weibliche jenen des Gemahls
Genüge leisten, und ins Vertrauen der Industrie gezogen werden
muß.
9.
Dr. U., bis vor kurzem alter Hagestolz, der niemals
Lust hatte, sein Vermögen mit einer Gattin und Kindern zu
teilen, und es viel wohlfeiler und angenehmer fand, Dienstmädchen
und andere verlassene Geschöpfe zu schwängern, dann sie mit
einer geringen Schadloshaltung abzufinden, oder auf der Straße
sein Vergnügen zu suchen, hat endlich, da er mit 62 Jahren
gebrechlich geworden und einer Wartung bedarf für ein zu-
weilen angeschwollenes gichtisches Bein, gefunden, daß es nicht
gut sei, wenn der Mensch allein bleibe. Da er Rang und Ver-
mögen besitzt, so wäre es ihm leicht geworden, junge hübsche
257
Mädchen zru finden, welche unter dem Titel einer Gattin die
Rolle einer Krankenwärterin übernommen haben würden; allein
der alte Praktikus kannte den Wert dessen, was er zu bieten
hatte, zu gut, um sich an ein armes Mädchen wegzuwerfen. Er
berechnete, daß es vernünftig sei, eine solche Wahl zu treffen,
daß er sein Einkommen nicht teilen dürfe und eine Pflegerin
für sein Alter finde, welche ihm gar nichts koste und dasjenige
einbringe, was sie braucht. Er sah daher weniger auf Jugend
als auf Vermögen, weniger auf Schönheit als auf Sparsamkeit,
und fand endlich eine alte Jungfer, welche einiges Vermögen
besaß und wegen eines wenig einladenden Aeußeren keinen Mann
gefunden hatte. Man sieht nun den klugen Ehegatten, der seiner
Prau so treu ist, wie die Gicht ihm, zuweilen auf den Promenaden
am Arme seiner ziemlich unzufrieden aussehenden Lebensgefährtin
einherhinken. Sie trägt noch dieselben Kleider, welche sie als
Jungfrau getragen und welche dürftig genug aussehen, aber sie
erträgt ihr Los mit Geduld, denn man nennt sie „Gnädige Frau“
und küßt ihr die Hand, was sonst nicht geschah.
10.
Graf J., ein Mann von unbescholtenem Charakter, lebte eine
Zeitlang in glücklicher Ehe, allein zunehmendes Alter der Gattin,
bei ungemein kräftiger und jugendlich ausdauernder Konstitution
des Grafen, führten bald Szenen der Eifersucht herbei, welche
dem Paare das Leben verbittert. Schwerlich ist diese Eifersucht
grundlos, aber immer ist es zu beklagen, daß zwei Menschen
von entschieden edlem Charakter durch die Ehe zeitlebens elend
geworden sind.
11.
Herr v. K. — ein junger Geschäftsmann, Großhändler, ist
mit der Tochter eines vornehmen Mannes vermählt, welche durch'
eine reiche Mitgift den Reichtum ihres Mannes begründen half.
Dafür genießt sie vor anderen Ehefrauen die Auszeichnung, daß
ihr Gemahl ihr große Zärtlichkeit heuchelt und seine Seiten-
sprünge mit großer Vorsicht verbirgt. Sie ist ihm daher mit
steter Liebe ergeben, sie hält ihn für das Muster aller Ehemänner,
für ein wahres Phänomen inmitten einer ganz depravierten, sitten-
losen Männerwelt. Und in der Tat, wenn man diesen Mann sieht,
wie er nur seinem Geschäft lebt, mit welcher züchtigen Ver-
schämtheit er jedes Gespräch über regellosen Frauen meidet,
B i • o h , Sexualleben. 7.—9. Auflage. 17
(41.—60. Tausend.)
258
wenn man ihn predigen und eifern hört gegen jene Ehemänner,
welche ihre Frauen hintergehen, wie unbegreiflich es ihm sei,
daß ein Mann bei einem sittenlosen Frauenzimmer Vergnügen
finden könne, so möchte man schwören, daß er das sei, wofür
ihn seine Frau mit Begeisterung ausgibt. Allein einige Schalks-
knechte unter seinen Freunden entdeckten durch unermüdliche
Sorgfalt nicht weniger als sieben Geliebte des braven Ehe-
mannes, wovon zwei der prostituierten Klasse, zwei jener der
Grisetten, die übrigen aber anständigen Bürgerhäusern ange-
hörten. Den letzteren präsentierte er sich mit den verschiedensten
Namen unter den verschiedensten Gestalten, bald als Attaché
einer Gesandtschaft, bald als Offizier, bald als Handwerksgeselle.
Indem er allen diesen letzteren Geliebten die Ehe versprach und
sie unter Geschenken, Schwüren und Lügen hinhielt, erreichte
er bei allen seinen Zweck und verließ sie nun unbekümmert
um die Folgen seiner Abenteuer, um in anderen Stadtvierteln
neue Opfer für seine Begierden zu suchen. Da er sich niemals
mit bekannten Freudenmädchen und Kupplerinnen einließ, sondern
in eigner Person alle Geschäfte seiner Vergnügungssucht besorgte,
so gelang es ihm, den sowohl für den Kaufmann als für den
Ehemann wichtigen Ruf eines Mannes zu wahren, der keine
Leidenschaft hat und daher alles Vertrauen verdient.
12.
Major W., ein braver Offizier, ein Ehrenmann in jeder Hin-
sicht, hat in seiner Jugend ein Kammermädchen geheiratet, natür-
lich, wie man sich denken kann, aus purer Zuneigung. Allein
die Ehe blieb unfruchtbar, da die Gattin an organischen Leiden
kränkelte. Bald waren ihr^ Reize völlig verwelkt; während der
Gemahl noch in voller Kraft der Mannheit stand, war die Gattin
bereits eine alte Frau, mit Krämpfen und anderen Zuständen
behaftet, immer von Arzneiflaschen und Arzneigerüchen um-
geben, immer übellaunisch und zänkisch, eine wahre Plage für
den gutmütigen und liebevollen Ehegatten. Zwar erträgt derselbe
mit christlicher Geduld und unerschöpflicher Liebe die böse
Laune seiner Gemahlin, allein die Natur ist nicht so lenksam,
wie sein treffliches Herz, die eheliche Zärtlichkeit nimmt ab
und sein lebhaftes Temperament sucht andere Auswege zur Be-
friedigung in der Natur begründeter Wünsche. Die kranke Gattin
bemerkt dieses Erkalten und rächt sich dafür mit einer raffinierten
259
Grausamkeit. Sie weiß, daß eine finstere Miene ihn kränkt und
betrübt, sie peinigt ihn also mit Lieblosigkeit, sie macht ihm
durch Eifersucht und Bosheit das Leben zur Hölle. Es kommt
zu fürchterlichen Szenen des häuslichen Haders, welche den
Gatten schon mehr als einmal in Versuchung führten, durch
Selbstmord seinen Qualen ein Ende zu machen. Er leidet dreifach
durch den Stachel seiner gesunden Naturtriebe, durch die Krän-
kungen, welche er erleidet, und durch die Leiden seiner so innig
geliebten Gattin. Er legt sich ein freiwilliges Zölibat auf, um
sie nicht zu kränken; da aber dieses Opfer nicht genügt, so
wird seine Gemahlin dadurch um nichts sanfter gegen ihn. Sie
fordert von ihm stillschweigend alle Glut des Bräutigams. Keine
Rettung aus dieser Hölle! Der Gatte ergibt sich einer stillen
Verzweiflung. Er ist in seinem Berufe treu, er lebt nur der ihn
quälenden Gattin, um von ihr immer gequält zu werden. Die
Nachbarn sehen ein wenig erbauliches Beispiel einer höchst
unglücklichen für beide Teile martervollen Ehe, welche aus
reinster uneigennützigster Liebe geschlossen wurde.
Anmerkung. Daß die in diesen Ehestandsgemälden geschilderten
Wiener Verhältnisse noch dieselben sind und Eheuot und Ehelüge dort
besonders schmerzlich empfunden werden, beweist die Gründung eines
„E h e r e c h t s r e f o r m ve r e i n s“ in Wien, der an den Anfang Sep-i
tember 1906 in Kiel tagenden Deutschen Juristentag die telegraphische
Bitte richtete, das österreichische Eherecht einer Revision zu unter-
ziehen, da es bisher für die unglückliche Ehe in Oesterreich keine
Heilung und keine Lösung gäbe und sogar bereits gerichtlich Ge-
schiedene nach dem kanonischen Recht einander wegen Ehebruchs
belangen könnten. (Vgl. Neue Ereie Presse, No. 15 108 vom 13. Sep-
tember 1906.) — Kaum glaublich, aber laut Bericht in der Berliner
Aerzte-Correspondenz 1907 No. 8 wahr ist es, daß das äxtliche
Ehrengericht für den Stadtkreis Berlin und die Provinz Branden-
burg noch im Jahre des Herrn 1906 Aerzte „wegen Ehebruchs“ ehren-
gerichtlich bestraft hat! I
37*
260
Dio freie Liebe.
ELFTES KAPITEL.
Dio Umgestaltung der Zwangsehe in die freie und gleiche Eh©
von natürlich und sittlich höherer Vollkommenheit ist nur in Ver-
einigung mit der vollen wirtschaftlichen Selbständigkeit und materiellen
Existenzsicherung des Weibes durchführbar. Ohne die Erfüllung dieser
■unumgänglichen Voraussetzung würde gerade das höchste Ideal der
freien Sittlichkeit zur ärgsten Karikatur verzerrt werden müssen.
E. D ü h r i n g.
Inhalt des elften Kapitels.
Die freie Liebe eine brennende Zeitfrage. — Definition. — Freia
Liebe nicht gleichbedeutend mit außerehelichem Geschlechtsverkehr. —
Die Infamierung der freien Liebe und Billigung des außerehelichen Ver-
kehrs durch die Zwangsehenmoral. — Die unsittliche Doppelmoral für
Mann und Weib. — Ihr verhängnisvoller Einfluß auf die geschlechtliche
Korruption der Gegenwart. — Freie Liebe als einzige Rettung. —
Verwirklichung derselben im Proletariat. — Stärkung des Verantwort-
lichkeitsgefühls durch die freie Liebe.
Geschichte der freien Liebe im 19. Jahrhundert. — William
Godwins Kampf gegen die Zwangsehe. — Seine freie Ehe mit Mary
Wolist onecraft. — Shelleys Polemik gegen die konventionelle
Geschlechtsmoral. — John Ruskin über die freie Liebe. — Goethes
Gewissensehe. — Seine „Wahlverwandtschaften“. — Merkwürdiger Vor-
schlag einer Zeitehe in diesem Roman. — Vielleicht durch japanische
Sitten angeregt. — Die malayische Zeitehe. — Der Einfluß von
Schlegels „Lucinde“. — Karolines Eheirrungen. — Die freie
Liebe in Jena und Berlin. — Kommunistisch-sozialistische Ideen über
freie Liebe. — Rétif de la Bretonne, Saint-Simon, En-
fantin und Fourier. — George Sands „Jacques“. — Die „Es
geht an - Idee“ des Schweden Almquist. — Schopenhauers
Kampf gegen die Zwangsehe. — Sein einseitiger Standpunkt. — Seine
Schilderung der verheerenden Wirkungen der monogamischen Zwangs-
ehe. — Apologie des Konkubinats. — Kritik seiner Auffassung von
der Rolle der Frauen bei der Ehereform. — Seine Theorie der Tetra-
gamie. — Erstmalige Mitteilung einer bisher unver-
öffentlichten S c h o p e n h a u e r s c h e n Niedersc hr if i
über Tetragamie. — Kritik dieser Theorie.
Freie Liebe auf Grundlage der Einliebe die Parole der Zukunft.
— Die Boheme-Liebe. — Entspricht nicht dem Ideal tatkräftiger freier
Liebe. — Bedeutung des sozialen und ökonomischen Faktors für die
sexuellen Beziehungen der Gegenwart. — Die Bestrebungen für Sexual-
reform. — Die Literatur der freien Liebe. — Charles Alberts
kommunistische Grundlegung derselben. — Befreiung der Liebe von
der Herrschaft des Staats und des Kapitals. — Ladislaus Gum-
plowicz. — Bebels „Die Frau und der Sozialismus“. — Die psycho-
logisch-individuelle Grundlegung der freien Liebe. — Eugen Düh-
262
ring. — Edward Carpenters „Wenn die Menschen reif zur Liebe
werden“. — Seine Ideen über Selbstbeherrschung und geistige Zeugung.
— Ellen Keys Werk „Ueber Liebe und Ehe“. — Ausführliche Analyse
dieser Schrift. — Ihre Kritik der angeblichen „Monogamie“. — Ihr
Begriff der „seelenvollen Sinnlichkeit“. — Der „erotische Monismus“.
— Die Einheit der Ehe und Liebe. — Die geschlechtliche Zersplitte-
rung durch Zwangsehe und Prostitution. — Allgemeine Verbreitung des
erotischen Skeptizismus. — Anerkennung der Liebe als geistige Lebens-
macht. — Bedeutung der relativen Askese. — Die Liebeswahl. — Aerzt-
liche Gesundheitsscheine. — Unsittliche Liebe. — Das Recht auf Mutter-
schaft. — Vorbedingungen desselben. — Notwendigkeit der freien
Scheidung. — Die Unglücksschicksale der Ehe.—Bedeutung der Schei-
dung für die Kinder. — Neues Programm der Kindesrechte. — Ellen
Keys neues Ehegesetz. — Mutterschaftsunterstützung. — Kinder-
scliutzbehörden. — Gütertrennung der Ehegatten. — Aufhebung des
Zwanges zum Zusammenwohnen. — Geheimhaltung der Ehe. — Be-
dingungen der Eheschließung. — Scheidung. — Scheidungsrat. — Kinder-
pflegejury. — Die sexuelle Verantwortlichkeit. — Die „Gewissensehe“.
— Beispiele aus Schweden. — Oeffentliche Ankündigung „freier“ Ver-
mählungen. — Gesetzliche Anerkennung freier Ehen in Schweden. — Zu-
nahme der „Eheprotestanten“. — Bedeutung freier Liebe für die Lebens-
steigerung der Menschheit. — Allgemeine Charakteristik des Buches
der Ellen Key. — Seine Bedeutung für die Sexualreform in Deutsch-
land. — Gründung des „Bundes für Mutterschutz“. — Vorstand und
Ausschußmitglieder desselben. — Aufruf und Programm des Bundes.
— Die Zeitschrift „Mutterschutz“. — Gründung von Ortsgruppen, —
Die nordamerikanische „Umwertungsgesellschaft“. — Ihre Charakteristik
der modernen Ehe. — Die Berliner „Vereinigung für Sexualreform“. —
Hel ene Stöckers Buch „Die Liebe und die Frauen“. -- Auffassung
des Sexualproblems im Geiste Nietzsches. — Kein Umsturz, sondern
Evolution und Reform. — Die Vertiefung der Frauenseele durch die
alte Liebe. — Die Lebensbejahung der neuen Liebe. — Die wirtschaft-
lich-sozialen Gründe für die Notwendigkeit der Sexualreform. —
Friedrich Naumann, Lily Braun u. a. darüber. — Zunahme
der erzwungenen Ehelosigkeit. — Die „Alimentationsklage“ ein Schand-
mal unserer Zeit. — Ein charakteristischer Brief. — Das radikal Böse
der konventionellen Moral. — Mutterschaftsversicherung. — Schwan-
geren- und Säuglingsheime. — Das Recht des „unehelichen“ Kindes. —
Eine Zukunftsstatistik freier Liebe und unehelicher Nachkommenschaft
in den höheren Ständen. — Beispiele berühmter Persönlichkeiten.
m
2G3
Das Problem der ,,freien Liebe“ ist die brennende Drage
unserer Zeit. Von seiner richtigen Lösung hängt die Zukunft
der Kultur und die endgültige Erlösung und Befreiung aus den
durch die Zwangsehe geschaffenen schmachvollen Zuständen des
Liebeslebens der Gegenwart ab. Das ist unsere feste Ueberzeugung,
unser inniger Glaube, den wir mit vielen und nicht den
schlechtesten Geistern teilen.
Die freie Liebe ist weder, wie böswillige Gegner uns
imputieren, die Aufhebung der Ehe noch die Organisation des
außerehelichen Geschlechtsverkehrs. Freie Liebe und außerehe-
licher Geschlechtsverkehr haben nichts miteinander zu tun. Ja,
ich behaupte sogar, daß die wahre freie Liebe, wie sie kommen muß
und wird, den wähl- und regellosen außerehelichen Geschlechts-
verkehr bedeutend mehr einschränken wird als die Zwangsehe.
Vor allem wird sie ihn veredeln.
Denn je länger man unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen
Verhältnissen an der veralteten und längs reformbedürftigen
,,Zwangsehe“ festhält, je geringer die Zahl der Ehelustigen wird,
je weiter das Heiratsalter hinausgerückt wird, um so größer
wird die allgemeine geschlechtliche Misere werden, um so tiefer
werden wir in den mephitischen Sumpf der Prostitution geraten,
in den die wachsende Promiskuität des außerehelichen Geschlechts-
verkehrs mit Notwendigkeit hineinführt.
Denn das ist die seltsame, heuchlerische und absurde Argu-
mentation der Verteidiger der konventionellen Ehe: sie ächten
und infamieren jedes auf freie Liebe zweier erwachsener, selb-
ständiger Personen gegründete Verhältnis und billigen ganz offen
jeden flüchtigen, aller persönlichen Beziehungen baren außer-
ehelichen Geschlechtsverkehr, nicht bloß mit Prostituierten, son-
dern auch mit anständigen Frauen!
,,Junggesellentum,“ sagt Max Nordau, ,,ist weit entfernt,,
mit Enthaltung gleichbedeutend zu sein. Der Hagestolz hat von
m
I
264
der Gesellschaft die stillschweigende Erlaubnis, sich die Annehm-
lichkeiten des Verkehrs mit dem Weibe zu verschaffen, wie und
wo er kann, sie nennt seine selbstsüchtigen Vergnügungen Erfolge
und umgibt sie mit einer Art poetischer Glorie und das liebens-
würdige Laster Don Juans erweckt in ihr ein Gefühl, das aus
Neid, Sympathie und geheimer Bewunderung gemischt ist.“1)
Dagegen verlangt dieselbe konventionelle Zwangsehen-
moral von dem Mädchen vollständige geschlechtliche Enthaltsam-
keit und Unberührtheit bis zur Ehe!
Da muß doch jeder vernünftige und gerechte Mensch die
Frage aufwerfen: Ja, wo sollen denn die unverheirateten Männer
ihren Geschlechtstrieb .befriedigen, wenn man zu gleicher Zeit
die unverheirateten Mädchen zu völliger Keuschheit verdammt?
Diese beiden Tatsachen braucht man nur nebeneinander
zu stellen, um die ganze Verlogenheit und Schändlichkeit der
Zwangsehenmoral ins rechte Licht zu stellen und den eigentlichen
Krebsschaden unseres .Geschlechtslebens, die einzige Ursache der
zunehmenden Ausbreitung von Prostitution, wilder ge-
schlechtlicher Promiskuität und der Geschlechts-
krankheiten aufzudecken.
Wenn dereinst vor dem Bichterstuhl der Geschichte das furcht-
bare „J’accuse“ gegen die geschlechtliche Korruption unserer Zeit
ausgesprochen wird, dann wird man zur Verteidigung auch auf
diejenigen hinweisen, die unter der Devise: Fort mit der Prosti-
tution! Fort mit den Bordellen! Fort mit aller „wilden“ Liebe!
Fort mit den Geschlechtskrankheiten! zuerst auf die freie
Liebe als die einzige und sichere. Bettung aus diesen Nöten
hingewiesen haben.
Man sagt immer: die Menschen sind noch nicht reif für freie,
selbständige Bestimmung ihres Liebeslebens, sie sind nicht reif
für die daraus sich ergebende Verantwortlichkeit. Man weist
besonders auf die Gefahren solcher Anschauungen und Beformen
für die unteren Klassen hin.
Aber die Menschen sind besser als uns die Vertreter der
überlebten konventionellen .Moral glauben machen wollen und
x) M. Nordau, Die konventionellen Lügen der Kulturmensch-
beit. S. 283. Auch P. N ä c k e, „Einiges zur Erauenfrage und zur
sexuellen Abstinenz“ (a. a. O. S. 52) geißelt diese doppelte Moral
und verlangt für die Frau im Prinzip dieselbe Gesehlechtsfreiheit
wie für den Mann.
265
gerade die Angehörigen der niederen Stände darf man ruhig dem
Zuge ihres Herzens folgen lassen. Gehen sie uns doch das Beispiel,
daß Freiheit nicht gleichbedeutend ist mit Unsittlichkeit und
Genußsucht, daß sie im Gegenteil das Pflichtbewußtsein und
Verantwortlichkeitsgefühl weckt und rege erhält.
Mit Recht weist Alfred Blaschko darauf hin, daß im
Proletariat schon längst das Ideal der freien Liebe verwirklicht
worden ist. Zum weitaus größten Teil verkehren Mann und Frau
dort geschlechtlich miteinander, besonders in den Jahren zwischen
3S und 25, ohne sich zu verheiraten.
„Die freie Liebe hat im Proletariat aller Zeiten nie als
eine Sünde gegolten. Wo kein Besitz vorhanden ist, der einem
legitimen Erben hinterlassen werden könnte, wo der Zug des
Herzens die Menschen aneinanderführt, hat man sich von jeher
nicht viel um des Priesters Segen bekümmert; und wäre heute
nicht die bürgerliche Form der Eheschließung so einfach, und
würden andererseits den unehelichen Müttern und Kindern nicht
so viel Schwierigkeiten in den Weg gelegt, werweiß, ob
das moderne Proletariat für sich nicht längst die
Ehe abgeschafft hätte.“2)
Blaschko erbringt nun den Nachweis, daß überall dort,
wo freie Liebe nicht möglich ist, die Prostitution als
Ersatz an ihre Stelle tritt.
Diese Tatsache beweist schlagend die Notwendigkeit der
freien Liebe. Denn die Antwort auf die Frage, was besser sei:
Prostitution oder .freie Liebe, kann nicht zweifelhaft sein.
Wenn ich als Arzt und eifriger Anhänger der Bestrebungen
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten angesichts der Tat-
sache einer ungeheuerlichen Zunahme der gewerbsmäßigen offenen
und heimlichen Prostitution und der außerodentlichen Ver-
breitung der Geschlechtskrankheiten die neuerdings von M a x
Mar cuse und anderen Aerzten aufgeworfene Frage, ob der
Arzt zum außerehelichen Geschlechtsverkehr raten dürfe, im all-
gemeinen verneine, so erblicke ich doch gerade in der Ein-
führung der freien Liebe und einer neuen damit verbundenen
Geschlechtsmoral, welche Mann und Weib als zwei freie, gleich-
berechtigte, aber auch gleichverantwortliche Persönlichkeiten auf-
2) A. Blaschko, Die Prostitution im 19. Jahrhundert. Berlin
1902, S. 12.
26G
faßt, die einzige Bettung ans der Misere der Prostitution und
Venerie.
Stellt das freie Weib dem freien Manne gegenüber, erfüllt
beide mit einem tiefen Gefühl der Verantwortlichkeit,
welche aus der Betätigung der Liebe zweier freier Persönlichkeiten
erwächst, und Ihr werdet sehen, daß solche Liebe ihnen selbst
und den Kindern zu wahrem Glücke gereicht.
Bevor ich näher auf das Problem der freien Liebe eingehe,
will ich kurz die Geschichte desselben im 19. Jahrhundert be-
rühren. Wir werden sehen, daß eine ganze Anzahl hervorragender
Geister, sittlich hochstehender Naturen, sich damit beschäftigt
haben, weil auch sie von der Unhaltbarkeit der bisherigen Zustände
auf geschlechtlichem Gebiete tief durchdrungen und überzeugt
waren, daß nur eine Lösung im Sinne einer freieren Auffassung
der sexuellen Beziehungen liier Rettung bringen könne.
Neben den Romantikern (vergl. oben S. 189 und 196) hatte
am Anfang des 19. J ahrhunderts in England WilliamGodwin,
der Geliebte und Gemahl der berühmten Frauenrechtlerin Mary
Wollstonecraft in seiner „Untersuchung über politische Ge-
rechtigkeit“ die konventionelle Zwangsehe für eine veraltete, die
Freiheit des Individuums schwer beeinträchtigende Institution er-
klärt. Die Ehe sei eine Frage des Eigentums, und eine Person
dürfe nicht einer anderen angehören. G o d w i n behauptete, daß
die Abschaffung der Ehe keine TJebel zur Folge haben werde. —
Die freie Liebe und spätere Ehe Godwins und der Woll-
stonecraft verdient eine kurze Schilderung. G o d w i n war
der Meinung, daß die Mitglieder einer Familie sich nicht zu
viel sehen sollten. Er glaubte auch, daß es am Arbeiten hindere,
wenn sie in demselben Hause wohnten. Deshalb mietete er wenige
Häuser von ihrer Wohnung einige Zimmer und erschien oft erst
zum späten Mittagessen bei ihr; die dazwischen liegenden Stunden
brachten beide mit literarischen Arbeiten zu. Briefe wurden
während des Tages gewechselt.3)
Wohl unter dem Einflüsse der Anschauungen Godwins
hat Shelley in den Anmerkungen zu „Queen Mab“ sehr heftige
Angriffe gegen die Zwangsehe gerichtet. Er sagt dort u. a.:
„Die Liebe welkt unter dem Zwange; ihr eigentümliches
3) Vgl. Helen Zimmern, Mary Wollstonecraft in: Deutsche
Rundschau 1889, Bd. XV, Heft 11, S. 259—263.
267
Wesen ist Freiheit; sie verträgt sieh weder mit Gehorsam, noch
mit Eifersucht oder Furcht; sie ist dort am reinsten, voll-
kommensten und schrankenlosesten, wo ihre Verehrer in Ver-
trauen, Gleichheit und offenherziger Hingebung leben. Mann und
Frau sollten so lange vereint bleiben, als sie einander lieben;
jedes Gesetz, das sie zum Zusammenleben auch nur einen Augen-
blick nach dem Erlöschen ihrer Neigung verpflichtete, wäre eine
unerträgliche Tyrannei“.
Sodann bekämpft er die mit der Zwangsehe in so innigem
Zusammenhänge stehende konventionelle Moral und schließt mit
den Worten:
„Die bigotte Keuschheitsidee der heutigen Gesellschaft ist ein
mönchischer Aberglaube, ja selbst ein größerer Feind der natür-
lichen Mäßigung als die geistlose Sinnlichkeit; sie nagt an der
Wurzel alles häuslichen Glückes und verdammt mehr als die
Hälfte des Menschengeschlechts zum Elend, damit einige Wenige
sich eines gesetzlichen Monopols erfreuen können. Es hätte sich
nicht wohl ein System ersinnen lassen, das dem menschlichen
Glücke mit raffinierterer Feindseligkeit entgegenträte als die
Ehe. Ich glaube mit Bestimmtheit, daß aus der Abschaffung der
Ehe das richtige und naturgemäße Verhältnis des geschlechtlichen
Verkehrs hervorgehen würde. Ich sage keineswegs, daß
dieser Verkehr ein häufig wechselnder sein würde.
Es scheint sich im Gegenteil aus dem Verhältnis der Eltern zu
den Kindern zu ergeben, daß eine solche Verbindung in der Bengel
von langer Dauer sein und sich vor allen anderen durch Großmut
und Hingebung auszeichnen würde.“
Also auch hier die feste Ueberzeugung, daß in der Freiheit
der Liebe die sichere Garantie für ihre Dauer liege!
Später haben auch die Präraphaeliten, besonders John
B. u s k i n , die freie Liebe verteidigt und verkündet, daß die
Heiligkeit der Naturbande in ihrem Wesen selbst liege. Erst
die Liebe macht die Ehe legal, nicht umgekehrt die Ehe die
Liebe. (Vgl. Charlotte Broicher, John Buskin und sein
Werk, Leipzig 1902, Bd. I, S. 104—106.)
In Deutschland brachte der Anfang des 19. Jahrhunderts
eine sehr lebhafte Diskussion des Liebes- und Eheproblems im
Anschlüsse an Friedrich Schlegels „Lucinde“ und Goethes
„Wahlverwandtschaften“ (1809).
268
Goethe hat ja in seinem reichen Liebesieben, besonders in
seinem Verhältnis zu Charlotte von Stein und zu
Christiane Vulpius, mit der er 18 Jahre lang in freier
„Gewissensehe“ lebte4) und deren aus dieser Ehe entsprossenen
Sohn August er schon lange vor Legitimierung der Ehe adop-
tierte, das Ideal der freien Liebe mehr als einmal verwirklicht.
Wenn er in den „Wahlverwandtschaften“ zuletzt die sittliche
Idee der monogamen Ehe siegen läßt, und sie als leuchtendes
Kulturideal hinstellt, welcher „Standpunkt des Ideals“ auch von
uns, wie wir im vorigen Kapitel ausführten, völlig geteilt wird,
so hat er doch durch die in diesem Romane dargestellten Ehe-
konflikte gezeigt, wie tief er von der Bedeutung einer freieren
Gestaltung des Liebeslebens durchdrungen war. Besonders durch
den Grafen läßt er solche Ideen aussprechen. Dieser erzählt von
dem Vorschlag eines seiner Freunde, daß eine jede Ehe nur auf
fünf Jahre geschlossen werden solle. „Es sey, sagte er, dieß eine
schöne ungerade heilige Zahl, und ein solcher Zeitraum eben
hinreichend, um sich kennen zu lernen, einige Kinder heran-
zubringen, sich zu entzweien, und, was das Schönste sey, sich
wieder zu versöhnen. Gewöhnlich rief er aus: Wie glücklich
würde die erste Zeit verstreichen! Zwei, drei Jahre wenigstens
gingen vergnüglich hin. Dann würde doch wohl dem einen Teil
daran gelegen seyn, das Verhältniß länger dauern zu sehen, die
Gefälligkeit würde wachsen, je mehr man sich dem Termin der
Aufkündigung näherte. Der gleichgültige, ja selbst der unzu-
friedene Teil würde durch ein solches Betragen begütigt und
eingenommen. Man vergäße, wie man in guter Gesellschaft die
Stunden vergißt, daß die Zeit verfließe, und fände sich aufs
angenehmste überrascht, wenn man nach verlaufenem Termin erst
bemerkte, daß er schon stillschweigend verlängert
sey.“ Gerade diese freiwillige stillschweigende Verlängerung
eines von beiden Seiten ohne bindenden Zwang aus freien Stücken
eingegangenen Verhältnisses ist es wohl, die Goethe diesem
Vorschlag eine „tiefe moralische Deutung“ geben läßt.
Goethe- Forscher mache ich darauf aufmerksam, daß dieser
seltsame Vorschlag einer fünf jährigen Zeitehe mit stiliseliweigen-
4) Vgl. die vortreffliche kritische Untersuchung von Georg
Hirth „Goethes Christiane“ in: Wege zur Liebe, S. 323—366, wo
zahlreiche neue und wichtige Gesichtspunkte zur Beurteilung dieses
Verhältnisses beigebracht werden
269
der Verlängerung eine uralte — japanische Sitte ist, oder wenig-
stens noch vor 30 Jahren war!
Wern ich, der mehrere Jahre Professor der Medizin in
Tokio war, berichtet darüber: „Die Ehen werden auf Zeit ge-
schlossen : von anständigen Personen beiderlei Geschlechts auf
fünf Jahre, in den niederen Ständen auch auf kürzere Zeit.
Dabei findet aber höchst selten, nur bei wirklich offen-
kundigem Unglück, und bei Vorhandensein wuhlgebildeter lebender
Kinder fast nie, ein Auseinandergehen der Eheleute statt, —
im Gegenteil sind die meisten dieser Zeitehen ebenso glücklich*
wie die ja auch durch ein höchst einfaches und dem Japanischen
sehr ähnliches Zeremoniell trennbaren jüdischen Ehen.“5)
Bei der merkwürdigen Uebereinstimmung des in den „Wahl-.
Verwandtschaften“ gemachten Vorschlages mit diesem japanischen
Brauche ist die Annahme wahrscheinlich, daß Goethe Kenntnis,
von letzterem gehabt hat.
Die „Lucinde“ gab weit über den romantischen Kreis hinaus
den Gefühlen und Herzensstimmungen der Zeit in bezug auf
Liebe und Ehe Ausdruck. Zu keiner Zeit sind die Ideale der
freien Liebe so tief empfunden, so enthusiastisch vorgestellt,
worden wie damals, vor allem von der herrlichen Karoline*
die nach langen „Eheirrungen“, besonders mit A. W. Schlegel*
endlich in der freien Liebe zu Schelling, die ganz von selbst,
zur wahren Ehe wurde, das Glück ihres Lebens fand.
„In ihren Briefen,“ sagt Kuno Fischer, „erhebt sie immer-
und immer wieder den Mann ihrer Wahl und ihres Herzens,
in dessen Liebe sie wirklich das Ziel erreicht hat, das sie lange
labyrinthisch gesucht ... So lange sie lebte, suchte sie das Glück
echt weiblicher Lebensbefriedigung mit einem Seelenbedürfnis*,
einer Geistesempfänglichkeit, einer Erregung und einem Auf-
schwünge aller Gemütskräfte, daß sie Täuschungen erfahren
mußte und durch Irrungen hindurchging. Zuletzt ist ihr das,
5)A. Wernich, Geographisch-medizinische Studien nach den Er-,
lebnissen einer Reise um die Erde, Berlin 1878, S. 137. Auch bei den
Malayen von Holländisch-Indien ist die Ehescheidung sehr leicht; sie.
kostet nur ein paar Gulden und wird oft geübt, sehr „zum Vorteil der
beiden Gatten, die nicht durch Liebe zusammengehalten werden. Auch
kommt es nicht selten vor, daß geschiedene Eheleut et
nach einiger Zeit sich wieder vereinige n.“ E r n s tt
Haeckel, Aus Insulinde. Malayische Reisebriefe, Bonn 1901, S. 242L,
270
Meisterstück da gelungen, wo sie es allein erstrebt hat, wo es
am schwersten und seltensten ist : im Leben selbst, sie hat
im Kampfe mit dem Schicksal, der nie ohne Schuld ausgeht, den
Sieg und nach dem Worte des Dichters die echteste aller Frauen-
kronen davongetragen : „Das Allerhöchste, was das Leben
schmückt, wenn sich ein Herz entzückend und entzückt, dem
Herzen schenkt im süßen Selbstvergessen!“ Und daß Schelling
der Mann war, der das Herz dieser Frau ganz bewältigen und
sich zu eigen machen konnte, gibt auch seinen Zügen einen Aus-
druck, der sie verschönert.“6)
Auch Kahel, Dorothea Schlegel, Henriette Herz
priesen unter dem Einflüsse der „Lucinde“ das Glück der freien
Liebe. Für diese Zeit der Genialitätsepoche in Jena und Berlin,
wie Iiudolf von Gottschall sie nennt, war typisch das
freie Liebesverhältnis des Prinzen Louis Ferdinand von
Preußen zu Frau Pauline Wiesel, das uns aus dem 1865
von Alexander Büchner veröffentlichten Briefwechsel näher
bekannt geworden ist, in dem oft nach einem Ausdruck Ludmilla
A s s i n g s der „leidenschaftliche Ausdruck alles in der Literatur
Sagbare übersteigt.“
In Frankreich knüpfte die Debatte über die freie Liebe
wesentlich an die kommunistisch-sozialistischen Ideen einest Saint-
Simon, Enfantin und Fourier an. Schon vorher hatte
Bétif de la Bretonne in seiner „Découverte australe“, die
Charles Fourier stark beeinflußt hat,7) eine zunächst zwei-
jährige Dauer der Ehen verlangt, die dann von selbst gelöst
seien. Saint-Simon und Barrault proklamierten das „freie
Weib“, Père Enfantin das „freie Bündnis“ und Fourier die
freie Liebe im Phalanstère.
Ein Niederschlag dieser Ideen sind George Sands Bomane,
namentlich „Lelia“ und „Jacques“, diese Tragödie der Ehe, w<:
es u. a. heißt:
„Ich glaube noch immer, daß die Ehe eine der gehässigsten
Einrichtungen ist; ich zweifle auch nicht, daß sie, wird einmal
das menschliche Geschlecht an Vernunft und Gerechtigkeitsliebe
weiter vorgeschritten sein, aufgehoben werden muß. Ein
c) Kuno Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, Heidel-
berg 1898, Bd. VII, S. 135.
7) Vgl. darüber mein (pseudonymes) Werk „Rétif de la Bretonne.
Ber Mensch, der Schriftsteller, der Reformator.“ Berlin 1906, S. 500.
271
menschliches lind nicht minder heiliges Band wird
alsdann an die Stelle derselben treten, und die Existenz der Kinder
wird nicht minder geborgen und gesichert sein, ohne deshalb
der Freiheit der Eltern ewige Fesseln anzulegen.“ („Jacques“ von
George Sand, Deutsch von J. L. K., Leipzig 1837, S. 63.)
Um dieselbe Zeit trat in Schweden der bedeutende Dichter
C. J. L. Almquist als ein mächtiger Vorkämpfer für freie
Liebe auf. Ueber ihn hat Ellen Key im Juli- und Augustheft
1900 der Monatsschrift „Die Insel“ einen geistvollen Essay ver-
öffentlicht, in dem sie eine Analyse seiner Anschauungen über
dieses Thema gibt.
In der Novelle „Es geht an“ verficht Almquist die These,
daß die echte Liebe keiner Heiligung durch die Trauung bedürfe.
Im Gegenteil habe diese das "Wesen der Ehe verfälscht, da sie
unechte Bündnisse einweihte und zusammenhielt und jedes aus
den niedrigsten Beweggründen geschlossene Verhältnis, wenn ihm
nur eine Trauung vorangehe, rein werde, während eine Ver-
einigung echter Liebe ohne Trauung als unkeusch geächtet werde.
Im Sinne freier Liebe ordnet Lara Widbeck in „Es geht an“
ihr und ihres Gatten Albert zukünftiges Leben. Jeder soll Herr
seiner Person und seines Eigentums sein, für sich leben, seine
Arbeit unabhängig vom anderen versehen und so eine lebens-
längliche Liebe bewahren können, statt sehen zu müssen, wie
sie in Gleichgültigkeit oder Haß umschlägt.
Man nennt noch heute in Schweden nach diesem Roman von
Almquist die Idee der freien Liebe die „Es-geht-an-Idee“ oder
auch die „Heckenrosen-Moral“. Es war dann vor allem Ellen
Key, die die Ideen Almquists wieder aufnahm und zu einem
umfassenden Reformprogramm der freien Liebe und Ehe erweiterte,
das wir weiter unten betrachten.
In seinen letzten Schriften hat sich Schopenhauer ein-
gehend mit den Liebes- und Eheproblemen beschäftigt; freilich
ganz vom Standpunkte des Misogynen und der doppelten Ge-
schlechtsmoral. Aber doch hat er die großen Gefahren und
Schäden der überlieferten Zwangsehe für die Gesellschaft er-
kannt und erblickte mit Recht in ihr die Hauptquelle der ge-
schlechtlichen Korruption.
So erklärt er in seiner Abhandlung „Ueber die Weiber“
(Parerga und Paralipomena ed. Grisebach, Bd. II, S. 657
bis 659):
272
„Während bei den polygamischen Völkern jedes Weib Ver-
sorgung findet, ist bei den monogamischen die Zahl der verehe-
lichten Frauen beschränkt und bleibt eine Unzahl stützeloser
Weiber übrig, die in den höhern Ulassen als unnütze, alte Jungfern
vegetieren, in den untern aber unangemessen schwerer Arbeit
obliegen, oder auch Freudenmädchen werden, die ein so freuden-
wie ehrloses Leben führen, unter solchen Umständen aber zur
Befriedigung des männlichen Geschlechtes notwendig werden, da-
her als ein öffentlich anerkannter Stand auftreten, mit dem
speziellen Zweck, jene vom Schicksal begünstigten Weiber, welche
Männer gefunden haben, oder solche hoffen dürfen, vor Verführung
zu bewahren. In London allein gibt es deren 80 000. Was sind
denn diese anderes, als bei der monogamischen
Einrichtung auf das fürchterlichste zu kurz ge-
kommene Weiber, wirkliche Menschenopfer auf
dem Altäre der Monogamie? Alle hier erwähnten, in so
schlechte Lage gesetzten Weiber sind die unausbleibliche Gegen-
rechnung zur Europäischen Dame, mit ihrer Prätension und
Arroganz. Für das weibliche Geschlecht als ein Ganzes be-
trachtet, ist demnach die Polygamie eine wirkliche Wohltat.
Andererseits ist vernünftigerweise nicht abzusehen, warum ein
Mann, dessen Frau an einer chronischen Krankheit leidet, oder
unfruchtbar bleibt, oder allmählich zu alt für ihn geworden ist,
nicht eine zweite dazu nehmen sollte. Was den Mormonen so
viele Konvertiten wirbt, scheint eben die Beseitigung der wider-
natürlichen Monogamie zu sein. Zudem aber hat die Erteilung
unnatürlicher Hechte dem Weibe unnatürliche Pflichten aufgelegt,
deren Verletzung sie jedoch unglücklich macht. Manchem Manne
nämlich machen Standes- oder Vermögensrücksichten die Ehe, wenn
nicht etwa glänzende Bedingungen sich daran knüpfen, unrätlich.
Er wird alsdann wünschen, sich ein Weib, nach seiner Wahl unter
andern, ihr und der Kinder Los sicher stellenden Bedingungen
zu erwerben. Seien nun diese auch noch so billig, vernünftig
und der Sache angemessen, und sie gibt nach, indem sie nicht
auf den unverhältnismäßigen Ke eilten, welche allein die Ehe ge-
währt, besteht; so wird sie, weil die Ehe die Basis der bürger-
lichen Gesellschaft ist, dadurch in gewissem Grade ehrlos und hat
ein trauriges Leben zu führen; weil einmal die menschliche Natur
es mit sich bringt, daß wir auf die Meinung anderer einen ihr
völlig unangemessenen Wert legen. Gibt sie hingegen nicht nach,
273
so läuft sie Gefahr, entweder einem ihr widerwärtigen Manne
ehelich angehören zu müssen, oder als alte Jungfer zu vertrocknen;
denn die Frist ihrer TJnterbringbarkeit ist sehr kurz. In Hinsicht
auf diese Seite unserer monogamischen Einrichtung ist des
Thomasius grundgelehrte Abhandlung de concubinatu höchst
lesenswert, indem man daraus ersieht, daß, unter allen
gebildeten Völkern und zu allen Zeiten, bis auf
die Lutherische Reformation herab, das Konku-
binat eine erlaubte, ja, in gewissem Grade sogar
gesetzlich anerkannte und von keiner Uaehre
begleitete Einrichtung gewesen ist, welche von
dieser Stufe bloß durch die Lutherische Reformation herab-
gestoßen wurde, als welche hierin ein Mittel mehr zur Recht-
fertigung der Ehe der Geistlichen erkannte; worauf denn die
katholische Seite auch darin nicht hat Zurückbleiben dürfen.
lieber Polygamie ist gar nicht zu streiten, sondern sie
ist als eine überall vorhandene Tatsache zu nehmen, deren bloße
Regulierung die Aufgabe ist. Wo gibt es denn wirkliche
Monogamisten ? Wir alle leben, wenigstens eine Zeitlang,
meistens aber immer, in Polygamie. Da folglich jeder Mann viele
Weiber braucht, ist nichts gerechter, als daß ihm frei stehe,
ja obliege, für viele Weiber zu sorgen.“
So richtig diese Anschauung Schopenhauers über die
Notwendigkeit einer freieren Auffassung und Gestaltung der ge-
schlechtlichen Beziehungen, über die Schändlichkeit der In-
famierung unehelicher Mütter und Kinder ist, so gefährlich ist
seine Auffassung von der Rolle der Frauen bei dieser Reform
der Ehe. Das Weib soll als inferiores, unfreies Wesen wieder
rechtlos werden, statt als freie Persönlichkeit mit gleichen
Rechten und Pflichten dem Manne gegenüberzutreten. Nur eine
neue und schlimmere Geschlechtssklaverei würde die Folge der auf
dieser Basis vorgenommenen Neuordnung des Liebeslebens sein.
Wie Julius Frauenstädt berichtet, hat Schopen-
hauer noch in einem besonderen hinterlassenen
Manuskript die Uebelstände der Monogamie beleuchtet, als
deren Abhilfe er die „Tetragamie“ vorschlug. Es ist aber
diese besondere, ohne Zweifel sehr interessante Abhandlung nicht
an die Berliner Königliche Bibliothek gelangt. Ueber den Ver-
bleib des Manuskripts sind wir im Ungewissen, vielleicht hat
Frauenstädt es vernichtet.
Blooh, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
18
274
Jedoch findet sich ein knapper, bisher unveröffent-
lichter Auszug daraus in Schopenhauers 1823 nieder
geschriebenem Manuskriptbuch „Die Brieftasche“, das auf dei
Königlichen Bibliothek in Berlin aufbewahrt wird.8)
Ich teile hier zum ersten Male den dort auf S. 70—77 nieder
geschriebenen Wortlaut jenes Vorschlages mit:
Skizze der Schopenhauerschen „Tetragamie“
(bisher unveröffentlicht):
„Indem die Natur die Zahl der Weiber der der Männer nui
knapp gleich machte und dennoch den Weibern eine nur hall
so lange Zeit hindurch die Fähigkeit zur Zeugung und Taug
lichkeit für den Genuß des Mannes verlieh, hat sie das mensch
liehe Geschlechtsverhältnis schon in der Anlage derangiert. Durch
die gleiche Zahl scheint sie auf Monogamie zu deuten: hingegen
hat ein Mann an einem Weibe nur für die halbe Zeit, seiner
Zeugungsfähigkeit Befriedigung; er mußte also eine zweite
nehmen, wenn die erste verblüht ist; aber es ist für jeden
nur eine gerechnet worden. Was dem Weibe an Dauer der Ge
schlechtstauglichkeit abgeht, hat es wieder an Maß derselben
voraus: es ist fähig, zwei bis drei tüchtige Männer zu gleicher
Zeit zu befriedigen, ohne zu leiden. In der Monogamie benutz 1
es nur die Hälfte seiner Fähigkeit und befriedigt nur die Hälfte
seiner Wünsche.
Sollte nun dies Verhältnis, nach bloßer, physischer Rücksich 1
(und es gilt ein physisches höchst dringendes — Zweck der Ehe
bei Juden und Christen — Bedürfnis) geordnet und bestmöglichst
ausgeglichen werden: so müssen zwei Männer stets ein Weib zu
sammen haben: die sie beide jung nehmen: nachdem diese ver
blüht ist, nehmen sie eine zweite ebenso junge dazu, welche danr
ausreicht bis beide Männer alt sind. Beide Weiber sind versorgt
und jeder Mann hat nur die Sorge für eine.
In der Monogamie hat der Mann auf einmal zu viel und auj
die Dauer zu wenig; und das Weib umgekehrt.
Bei der vorgeschlagenen Einrichtung hat der Mann in dei
8) Eine kurze Andeutung der Tetragamie gibt Schopenhauei
auch in den Fragmenten seiner Vorlesung über Philosophie (Schopen-
hauers Nachlaß ed. E. Grisebach, Bd. IV, S. 405—406), ferner in der
Manuskr-iptbüchern „Pandektä“ und „Spicilegia“ (ebendaselbst S. 41£
bis 419).
275
Jugend, wo sein Besitz am geringsten zu sein pflegt, nur für
ein halbes Weib, wenige und kleine Kinder zu sorgen: später,
wo er reicher ist, für ein oder zwei Weiber und viele Kinder.
Weil die Einrichtung nicht besteht, sind die Männer die
Hälfte ihres Lebens Hurer und die andere Hälfte Hahnreie; und
die Weiber zerfallen demgemäß in Betrogene und Betrügerinnen.
Wer jung heiratet, schleppt sich nachher mit einer alten Frau:
wer spät heiratet, bekommt erst venerische Krankheiten, dann
Hörner. Das Weib muß entweder die Blüte ihrer Jugend einem
schon verblühten Manne opfern, oder nachher empfinden, daß sie
einem noch rüstigen Manne kein tauglicher Gegenstand mehr
ist. — Allen diesen Leiden hilft die vorgeschlagene Einsicht ab;
das Menschengeschlecht würde seines Lebens froher. Was dagegen
zu sagen, ist:
1. daß man seine Kinder nicht kennen würde. Antw(ort):
das wäre durch die Aehnlichkeit und andere Umstände meistens
doch noch zu entscheiden: auch jetzt ist’s nicht immer gewiß.
2. Ein solches Verhältnis von dreien gibt zu Streit und Eifer-
sucht Anlaß. — Antw(ort): die finden sich überall: man muß
sich schicken lernen.
3. Wie ist es mit dem Vermögen? — Antw(ort): das wird
ganz anders eingerichtet, unmittelbarre Communio bonorum
findet nicht statt. Wie gesagt: die Natur hat das Verhältnis
schlecht angelegt; man wird es daher nie ohne üble Umstände
einrichten.
So wie es jetzt ist, streiten Pflichten und Natur unablässig.
Dem Mann ist es unmöglich, den Geschlechtstrieb von seinem
Entstehen bis zu seinem Ende auf eine legale Art zu befriedigen.
Es sei denn, daß er jung Witwer würde. Dem Weibe ist die
Beschränktheit auf einen Mann, die kürzere Zeit ihrer Blüte
und Tauglichkeit hindurch, ein unnatürlicher Zustand. Sie soll
für einen bewahren, was er nicht brauchen kann, und was viele
andere von ihr begehren, und sie soll selbst bei diesem Versagen
entbehren. Man ermesse es!
Besonders da noch hinzukommt, daß zu jeder Zeit die Zahl
der zum Beischlaf tüchtigen Männer die doppelte ist der dazu
tauglichen Weiber, weshalb jedes Weib beständige Anfechtungen
findet, sie schon von selbst diesen entgegensieht, sobald ein Mann
ihr nahe kommt.“
Wenn wir dieses Tetragamieprojekt Schopenhauers von
18*
unserem Standpunkt aus beurteilen, so finden wir daran richtig
die Kritik der aus der monogamen Zwangselie sich ergebenden
Uebelstände und die scharfsinnige Hervorhebung der aus der Ver-
schiedenheit von Mann und Frau entspringenden physiologischen
Disharmonien des Geschlechtslebens, auf die neuerdings auch
Metsehnikoff so großes Gewicht legt. Im übrigen ist
Schopenhauers Vorschlag für uns nicht diskutabel, da er,
wie schon erwähnt, erstens das Weib einfach als Sache be-
handelt, ihr jede Individualität und Seele abspricht, und zweitens
das damit in engstem Zusammenhang stehende Prinzip der Ein-
liebe aufhebt. Denn die Parole der Zukunft muß lauten:
Freie Liebe auf Grundlage der Einliebe! Und zwar der im
vollen Lebenskampf beiderseits sich betätigenden Einliebe.
Deshalb ist auch die für die zweite Hälfte des 19. Jahr-
hunderts, ganz besonders für die Zeit zwischen 1830 und 1860,
charakteristische freie Liebe des Pariser Zigeunertums, der
Bohême, mehr ein freilich poetisches Liebesidyll, als jene ernste,
große, ganz der Arbeit und der inneren geistigen Ent-
wicklung geweihte Liebe, wie sie dem modernen Menschen
als Ideal vorschwebt, Liebe als gemeinsame Bewältigung des
Daseins. Die Grisettenliebe, die schon der alte Sebastian
Mercier sehr anschaulich geschildert hat, die dann in Henry
Murg er s „Vie de Bohême“ ihre klassische Darstellung fand,,
steht zwar durch das dauernde Zusammenleben der meist den
Künstler- oder Studentenkreisen angehörenden Liebespaare himmel-
hoch über unserem einen ganz flüchtigen Charakter tragenden
modernen „Verhältnis“, entspricht aber sonst in keiner Weise dem
Begriff und Ideal freier Liebe als Seelen- und Lebensgemeinschaft.
Erst die moderne Kulturentwicklung, die im Zusammenhänge
mit dem Erwachen des Individualismus und der wirtschaftlichen
Umwälzung ganz neue Grundlagen für die sexuellen Beziehungen
schuf und die Schäden und verderblichen Wirkungen einer längst
veralteten Geschlechtsmoral immer mehr zum Vorschein brachte,
hat uns die Erkenntnis gebracht, daß in der sogenannten sozialen
Frage neben dem ökonomischen Problem das sexuelle eine gleiche,
wenn nicht noch größere Bedeutung beansprucht, hat uns die
Notwendigkeit einer neuen Zukunftsliebe gezeigt, da das Fest-
halten an den alten, überlebten Formen gleichbedeutend wäre mit
einer ständigen Zunahme geschlechtlicher Korruption im weitesten
Sinne des Wortes, mit einer allgemeinen Verseuchung der Kultur-
277
Völker, wie sie das bedrohliche Umsichgreifen der Prostitution,
besonders der heimlichen, und der Geschlechtskrankheiten ad
oculos demonstriert.
Fast zu gleicher Zeit setzten in den letzten Jahren bei den
verschiedenen europäischen Kulturvölkern die Bestrebungen für
eine radikale Umwertung der konventionellen Geschlechtsmoral
und für eine den modernen Verhältnissen angepaßte Beform der
Ehe und des gesamten Liebeslebens ein. In Frankreich, England,
Schweden und Deutschland traten Schriftsteller mit zum Teil
bedeutenden, gehaltvollen und umfangreichen Werken hervor, die
ganz diesem Gegenstände gewidmet waren. Gesellschaften für
Ehe- und Sexualreform bildeten sich in Nordamerika, in Frankreich,
Oesterreich und Deutschland, parlamentarische Untersuchungs-
kommissionen über diese Frage wurden eingesetzt, eigene Zeit-
schriften für Beform der sexuellen Ethik begründet, kurz, das
allgemeine Interesse hat sich dieser Kernfrage des Lebens zuge-
wendet und betätigt sich theoretisch und [praktisch bei ihrer Lösung.
Auf einmal, wie auf Verabredung legt sich die Kulturmensch-
heit die ernste und furchtbare Frage vor: Wie war es möglich,
daß man Hunderttausenden einfach das Becht auf Liebe aberkannte
und sie zu einem freudlosen Dasein verdammte, in dem alle schönen
Blüten des Lebens verwelkten, daß man andere Hunderttausende
dem entsetzlichen Elend der Prostitution, daß man schließlich
die G e s a m t h e i t in immer höherem Grade der Verheerung durch
die Geschlechtskrankheiten und ihre Folgen auslieferte ?
Wie ist es möglich, fragt Karl Federn in der Vorrede
von Carpenters „Wenn die Menschen reif zur Liebe werden“,
wie ist es möglich, daß wir Liebeslieder singen und doch ein
Liebesieben haben, wie das, welches heute geführt wird, und eine
Sittenlehre haben, gleich der, die heute herrscht?
Ehre und Buhm den Männern und Frauen, die es gewagt
haben, eine Antwort auf diese Fragen zu geben, die der kon-
ventionellen Lüge die Wahrheit des Lebens entgegensetzten und
den neuen Weg wiesen, den die Menschheit gehen wird, weil sie
ihn gehen muß.
Es Ist unmöglich, an dieser Stelle alle Schriften über die
Beform der sexuellen Beziehungen namhaft zu machen, die in
den letzten Jahren erschienen sind. Ihre Zahl ist Legion. Wir
begnügen uns mit einem Hinweis auf diejenigen Bücher, die am
meisten Epoche gemacht, das Interesse der Allgemeinheit geweckt
278
und die Diskussion der Frage eigentlich erst angeregt und in
Fluß gebracht haben.
In Frankreich hat Charles Albert das Problem der freien
Liebe vom kommunistischen Standpunkt aus behandelt.9) In den
beiden ersten Kapiteln seines Buches schildert er die Entwicklung
des primitiven Geschlechtstriebes zur höchsten Individualliebe
und gibt dann eine interessante Darstellung des „Kampfes“ der
bürgerlichen Gesellschaft gegen die Liebe, die heute durch
Staat und Kapital in gleichem Maße gefährdet werde.
„Die kapitalistische Gesellschaft stellt eine Tatsache dar, die
Liebe eine andere. Es genügt, die beiden gegenüberzustellen, um
zwischen ihnen einen scharfen Gegensatz zu bemerken, einen
ewigen Kriegszustand.“
Nur das Geld beherrscht Denken und Fühlen der modernen
Menschheit, für die Liebe und ihren Idealismus bleibt kein Raum
mehr, die soziale Oekonomie kennt nur eine Geschlechtsbeziehung,
aber kein höheres Liebesgefühl. Das Kapital unterwirft das
ganze Geschlechtsleben seinen Gesetzen. In der Prostitution wird
dieses große soziale Verbrechen vollendet. Auch die meisten
Heiraten sind weiter nichts als „sexuelle Märkte“.
Freie Liebe ist einfach die von der Herrschaft des Staats und
des Kapitals befreite Liebe. Sie ist daher nur realisierbar durch
eine ökonomische Umwälzung, die dem wirtschaftlichen Kampf
ums Dasein ein Ende bereitet. Freie Liebe, das ist die Unab-
hängigkeit des sexuellen von dem materiellen Leben. Die ökono-
mische Reform ist der einzige Weg zur höheren Liebe. Das
ist die Ueberzeugung des Verfassers. Aber er gibt sich keinen
trügerischen Illusionen darüber hin, daß dann alles schön und gut
sein werde, daß dann alle Fragen gelöst, alle Unvollkommen-
heiten beseitigt sein würden.
„Wir betrachten nicht,“ sagt er, „das Gebiet des sexuellen
Lebens in der künftigen Gesellschaft als ein Eden, in welchem
sich die am besten zueinander passenden Individuen mit mathe-
mathischer Sicherheit zu wolkenlosem Dasein zusammenfinden
9) Charles Albert, Die freie Liebe. Aus dem Französischeu
übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Therese Schle-
singer-Eckstein, Leipzig 1900. — Erwähnt sei noch das mehr
allgemein philosophisch gehaltene Werk von Armand Charpen-
tier, L’Evangile du Bonheur. Mariage. Union libre. Amour libre,
Paris 1898.
279
werden. So gut wie heute wird es dann unerwidertes Lieben,
unsicheres Suchen und Versuchen. Irrtümer und Enttäuschungen,
Mißverständnisse, Ueberdruß, Verirrungen und Leiden geben. Wie
hoch auch der materielle Aufschwung sein möge, dessen sich die
künftige Menschheit erfreuen wird, aus dem Gefühlsleben wird ihr
immer unentrinnbare Betrübnis erwachsen, und die Liebe wird
nicht am seltensten den Anlaß dazu geben, aber ein großer Teil
der heutigen Ursachen des Schmerzes kann und muß verschwinden.“
Die Vorbedingung freier Liebe ist die völlige Gleichstellung
von Mann und Frau. Diese aber läßt sich nur durch den Kom-
munismus erreichen, d. h. jene Ordnung, in welcher Eigentum und
Arbeitslohn ausgeschlossen sind, wo nicht nur die Produktions-
mittel, sondern auch alle Konsumartikel dem gemeinsamen Ge-
brauche anheimfallen werden und die Frau keinen „Handelswert“
mehr besitzen wird wie heute.
Aehnlich wie Albert glaubt auch Ladislaus Gum-
p 1 o w i c z ,10 11 12) daß die freie Liebe nur in einer kollektivistischen
Gesellschaft verwirklicht werden könnte.
So wichtig die Betonung des ökonomischen Gesichtspunktes
ist, was übrigens vor Albert und Gumplowicz schon
Bebel in dem berühmten Buche „Die Frau und der Sozialis-
mus“ (34. Aufl., Stuttgart 1903) getan hat, so erscheint mir doch
die kommunistische Lösung nicht als die einzig mögliche und
freie Liebe sehr wohl mit der Aufrechterhaltung des Privat-
eigentums vereinbar.
Wenn auch die fortschreitende Veränderung der ökonomischen
Struktur der Gesellschaft die sexuellen Beziehungen mächtig be-
einflußt und für ihre jeweilige Form maßgebend ist, so spielen
doch auch psychologisch-individuelle Faktoren eine
große Rolle dabei. Das zuerst hervorgehoben zu haben, ist das
Verdienst des Engländers Carpenter und der schwedischen
Schriftstellerin Ellen Key.11)
lü) L. Gumplowicz, Ehe und freie Liebe, Berlin 1902, 2. Aufl.
11) Jedoch muß erwähnt werden, daß bereits der berühmte Philo-
soph Eugen Dühring in seiner bedeutenden Schrift „Der Wert
des Lebens“, Leipzig 1881, 3. Auflage, S. 155—158} unter heftigen An-
griffen auf das Zwangsehensystem für eine freiere Gestaltung des
Liebeslebens, für persönliche Liebe, aus ethischen Gründen ein-
getreten ist.
12) e. Carpenter, Wenn die Menschen reif zur Liebe werden.
Deutsch von Karl Federn, Leipzig 1902.
280
Eduard Carpenter ,12) ein ehemaliger Priester der
anglikanischen Kirche, berücksichtigt in der Frage der freien
Liebe neben dem ökonomischen Faktor vor allem den seelischen,
die innige geistige Beziehung zwischen Mann und Frau. Er er-
blickt das Wesen der Liebe darin, daß sie „im Bestreben, ihr
Ziel zu verwirklichen, immer mehr und mehr nach einem dauern-
den und individualisierten Verhältnis drängt und nicht ruhen
kann, bis der gleichgesinnte Gefährte gefunden ist. In dem
Maße, als die Menschen fortschreiten, müssen ihre Beziehungen
zueinander immer bestimmter und differenzierter werden, nicht
aber unbestimmter — und es ist nicht die geringste Wahrschein-
lichkeit vorhanden, daß die Gesellschaft in ihrem Fortschritt
einen Rückfall zur Formlosigkeit erleiden könnte.“
Vor allem hat Carpenter ein Moment in die Diskussion
der freien Liebe eingeführt, das mir auch vom ärztlichen Stand-
punkte sehr bedeutungsvoll erscheint: das Moment der relativen
Askese, der Selbstbeherrschung. Er erblickt mit Recht
die Aufgabe der Zukunftsliebe nicht bloß in der gemeinsamen
körperlichen, sondern auch in der geistigen Zeugung.
Aus dem innigen seelischen Kontakte zweier differenzierter
Persönlichkeiten gehen die höchsten geistigen Werte hervor. Nur
Selbstbeherrschung führt zu dieser höchsten Liebe.
„Die tägliche Erfahrung zeigt uns, daß die schrankenlose
Befriedigung der Begierden den Menschen bis zur seelischen Dürre
erschöpft und ihn seiner höheren LLebeskräfte beraubt — jeder, der
einmal erkannt hat, wie herrlich die Liebe in ihrem Wesen ist,
wird kaum irgend etwas, das zu ihr führt, ein Opfer nennen.“
Als Vorbedingungen einer Reform der Liebe und Ehe sieht
Carpenter folgende Punkte an: 1. die Forderung der Freiheit
und Unabhängigkeit der Frauen überhaupt, 2. die Schaffung eines
vernünftigen Unterrichts über die Liebe für Kopf und Herz der
Jugend beider Geschlechter, 3. die Anerkennung eines freieren
kameradschaftlicheren, weniger ängstlich und kleinlich exklusiven
Verhältnisses in der Ehe selbst und 4. die Abschaffung oder Ab-
änderung der gegenwärtig geltenden abscheulichen Gesetze, die
zwei Menschen in der gewissenlosesten Weise das ganze Leben
aneinander fesseln, auch wenn ihre Verbindung eine ganz und gar
Unnatürliche und unselige ist. i • i \ ‘ ■ ■ 1 i , *
Carpenter schließt sich der Ansicht Letourneaus an,
daß in einer mehr oder weniger entfernten Zukunft die Institution
281
der Ehe sich zu monogamischen Verbindungen umgestalten wird,
die frei eingegangen und, wenn es sein muß, frei gelöst werden
durch bloße gegenseitige Uebereinkunft, wie es heute schon in
verschiedenen europäischen Ländern, z. B. im Kanton Genf, in
Belgien, in Rumänien für die Scheidung, in Italien für die
Trennung gilt. Staat und Gesellschaft mischen sich nur soweit
ein, als es die Sicherung der Kinder gilt, betreffs derer von
den Eltern weitgehende Verpflichtungen eingegangen
werden müssen. Auch Carp enter führt aus, was übrigens
schon vor 70 Jahren Gutzkow hervorgehoben hatte, daß es
für die Entwicklung der Kinder viel vorteilhafter ist, wenn un-
glückliche Ehen der Eltern getrennt werden, als wenn sie in-
mitten der Misere einer solchen Ehe aufwachsen.
„Liebe,“ so schließt Carpenter seine Ausführungen über
die Zukunftsehe, „ist zweifellos der letzte und schwierigste
Gegenstand, den die Menschheit zu lernen hat; sie ist in ge-
wissem Sinne das Fundament aller anderen. Vielleicht ist für
die modernen Nationen die Zeit gekommen, wo sie aufhören,
Kinder zu sein und einen Versuch machen, sie zu erlernen.“
Größeres Aufsehen noch als das Buch Carpenters erregten
die Essays der Schwedin Ellen Key „Ueber Liebe und Ehe“,
die 1904 in deutscher Ausgabe13) erschienen und einen ungewöhn-
lichen Erfolg auf dem Büchermarkt hatten. Es ist ohne Frage
das interessanteste und gehaltreichste Buch, das bisher über das
sexuelle Problem erschienen ist. Mit dem Herzen geschrieben
und ganz von einem hohen freien Geiste der Betrachtung erfüllt
geht es keiner der zahllosen Schwierigkeiten und Einwände auf
diesem Gebiete aus dem Wege, und der Vorwurf der Weitschweifig-
keit, den man der Verfasserin gemacht hat, muß entschieden
zurückgev/iesen werden. Gerade Ellen Key ist die ausge-
sprochenste Realistin von allen Schriftstellern über die freie
Liebe, sie entnimmt dem wirklichen Leben ihre Argumente und
sie knüpft bei ihren Reformideen überall an das Wirkliche an,
sie verfährt streng evolutionistisch. So sucht sie auch in ihrem
Buche zunächst die „Entwicklungslinie der geschlechtlichen Sitt-
lichkeit“ und die „Evolution der Liebe“ festzustellen.
Auch Ellen Key geht von der Tatsache aus, daß nirgends
der Beweis dafür erbracht sei, daß die Monogamie die für die
13) Ellen Key, Ueber Liebe und Ehe. Uebersetzung von
Francis Maro, Berlin 1901.
282
Lebenskraft und die Kultur der Völker unentbehrlichste Form
des Geschlechtslebens ist. Sie sei überhaupt selbst bei den christ-
lichen Völkern noch niemals Wirklichkeit gewesen, und ihre
Legalisierung als einzig zulässige Form der geschlechtlichen Sitt-
lichkeit habe der echten Sittlichkeit mehr geschadet als genützt.
Die Verfasserin entwickelt dann den ebenso schönen wie
wahren Gedanken, daß erst ein längeres Zusammenleben die
Echtheit der Liebe erweisen könne und damit auch die Sittlichkeit
des Zusammenlebens und seine Fähigkeit, das Dasein der beiden
Liebenden und das der Generation zu steigern. Folglich könne
keinem ehelichen Verhältnis von vornherein die Weihe er-
teilt oder abgesprochen werden. Jedes neue Paar, welche Form
es auch für sein Zusammenleben gewählt habe, müsse erst
selbst dessen sittliche Berechtigung erweisen.
Dann geht Ellen Key auf einen Gesichtspunkt ein, den
auch ich als einen integrierenden Bestandteil des Programms der
Zukunftsliebe betrachte und in früheren Schriften schon hervor-
gehoben habe: daß die Liebe nicht nur, wie Schopenhauer
meinte, eine Sache der Gattung sei, sondern mindestens in
gleichem Maße eine Angelegenheit der liebenden Individuen.
Das ist das Ergebnis und der deutliche Fingerzeig der Kultur-
entwicklung, die uns, wie ich in früheren Kapiteln nachgewiesen
habe, eine fortschreitende Individualisierung und zu-
nehmende geistige Bereicherung der Liebe („seelenvolle Sinnlich-
keit“ Ellen Keys) zeigt ünd so dieser eine durchaus selbständige
Bedeutung für jedes Individuum gibt.
„So wie die Kultur jetzt die persönliche Liebe entwickelt
hat, ist diese so zusammengesetzt, so umfassend und eingreifend
geworden, daß sie nicht nur an und für sich — unab-
hängig von der Arterhaltung — einen großen Lebens wert
bildet, sondern auch alle anderen Werte hebt oder
herabmindert. Sie hat neben ihrer ursprünglichen eine neue
Bedeutung bekommen: die Flamme des Lebens von Geschlecht
zu Geschlecht zu tragen. Niemand nennt jemanden unsittlich,
der — in seiner Liebe getäuscht — davon absteht, in einer
Ehe die Gattung fortzupflanzen; auch jene Gatten wird man
nicht unsittlich nennen, die in ihrer durch die Liebe glücklichen
Ehe verbleiben, obgleich dieselbe sich als kinderlos erwiesen hat.
Aber in beiden Fällen folgen diese Menschen ihrem
subjektiven Gefühl auf Kosten des künftigen
283
Geschlechts und behandeln ihre Liebe als Selbst-
z w e c k. Das in diesen einzelnen Fällen den einzelnen auf Kosten
der Gattung schon zuerkannte Recht wird sich immer mehr er-
weitern, in dem Maße, in dem die Bedeutung der Liebe zunimmt.
Hingegen wird die neue Sittlichkeit von der Liebe eine immer
größere freiwillige Rechtseinschränkung in den
Zeiten, wo ein neues Leben es erheischt, verlangen,
sowie einen freiwilligen oder notgedrungenen
Rechtsverzicht, neue Leben unter Bedingungen
zu zeugen, die dieselben minderwertig machen
würde n.“
Ellen Key nennt diese neue, moderne Liebe „erotischen
Monismus“, weil sie die ganz" einheitliche Persönlich-
keit umfaßt, auch das geistige Wesen, nicht allein den Körper.
George Sand gab die erste Definition dieser Liebe als einer
solchen, wo „weder die Seele die Sinne, noch die Sinne die Seele
betrogen haben.“
Dieser erotische Monismus proklamiert als unerschütterlichen
Grundsatz die Einheit der Ehe und der Liebe.
Dieser Einheitsgedanke gibt dem Menschen das Recht auf
Gestaltung seines Geschlechtslebens nach seinen persönlichen
Wünschen aber unter der Voraussetzung, daß er nicht bewußt
die Einheit und dadurch mittelbar oder unmittelbar das Recht
etwaiger Nachkommen verletzt.
So wird nach Ellen Key die Liebe „immer mehr eine
Privatsache der Menschen, die Kinder dagegen
immer mehr eine Lebensfrage der Gesellschaft.“
Daraus folgt, daß die beiden „niedrigsten und gesellschaftlich
sanktionierten Aeußerungen der geschlechtlichen Zersplitterung
(des Dualismus), die Zwangsehe und die Prostitution
allmählich unmöglich werden, weil sie nach dem Siege des
Einheitsgedankens den Bedürfnissen der Menschen nicht mehr
entsprechen werden.“
Mit Recht konstatiert Ellen Key bereits heute einen
wachsenden Abscheu der jungen Männer vor der gesellschafts-
geschützten Unsittlichkeit (in der Zwangsehe und der Prostitution)
und ihre einheitliche Liebessehnsucht. Auch die noch in einem
besonderen Kapitel später zu schildernde allgemeine Verbreitung
asketischer Stimmungen, der Misogynie der Männer und der
Misandrie der Frauen, hängt zum Teil mit dem Gefühle zusammen,
284
daß die heutigen sozialen Formen der geschlechtlichen Beziehungen
Würde und Freiheit des Menschen in gleichem Maße beein-
trächtigen.
Heute begegnen sich die „Reinheitstollen und die Genuß-
wütigen“ in gemeinsamem Mißtrauen gegen die Entwicklungs-
möglichkeiten der Liebe, weil sie nicht an eine Veredelung des
blinden Naturtriebes glauben. Demgegenüber erinnert Ellen
Key an die Tatsache der „geheimnisreichen Vollkommen-
heitssehnsucht, die im Laufe der Entwicklung den Trieb
zu Leidenschaft, die Leidenschaft zu Liebe gesteigert hat, und
die nun danach strebt, die Liebe zu einer immer
größeren Liebe zu steigern.“
Man muß die Liebe als geistige Lebensmacht aner-
kennen. Auch sie hat wie der Künstler, wie der Gelehrte ein
Recht auf eigene, originelle Betätigung ihrer Schaffenskraft, auf
Produktion neuer geistiger Werte. Das vollkommenere Geschlecht
muß im wählen Sinne des Wortes „h e r v o r g e 1 i e b t“ werden.
Hierfür aber ist unerläßliche Vorbedingung die innere
Freiheit der Liebe, die freie Liebes Vereinigung ist die Parole
der Zukunft. Auch Ellen Key stellt fest, daß sie in den
unteren Klassen schon lange Sitte gewesen ist und dort die so
gefährliche Benutzung der Prostitution weit mehr eingeschränkt
hat als in den höheren Klassen, womit auch B lasch kos stati-
stische Feststellungen über die weit bedeutendere Verbreitung der
Geschlechtskrankheiten in den höheren Gesellschaftsklassen über-
einstimmen.
Unerläßlich für die freie Liebe ist aber auch die volle, reife
Entwicklung des liebenden Individuums. Deshalb verlangt auch
Ellen Key Selbstbeherrschung und geschlechtliche Enthaltsam-
keit, wenigstens bis zum 20. Lebensjahre. Sie erklärt den wahl-
losen geschlechtlichen Verkehr, wie er heute unter jungen Leuten
gang und gäbe ist, für den Tod aller Liebe. Aber auch zu
frühe Ehen sind nicht minder gefährlich. Sie verlangt für
die Frau mindestens ein Alter von 20, für den Mann ein solches
von 25 Jahren, und möglichst geschlechtliche Ent-
haltsamkeit für beide Geschlechter bis zu diesem
Alte r.
Diese Selbstbeherrschung ist gut für die körperliche Ent-
wicklung und gibt dem „Willen die Stählung, der Persönlichkeit
285
die Machtfreude, die später auch auf allen anderen Gebieten
bedeutungsvoll werden.“
Mit wundervollen Worten schildert Ellen Key das Glück
des Wartenkönnens in der Liebe und zitiert dabei die schönen.
Verse des schwedischen Dichters Karlfeldt:
Nichts gleicht auf Erden den Wartezeiten,
Den Erühlingsfluttagen, den Enospenzeiten,
Es kann der Mai kein Licht verbreiten
Wie der sich klärende April.
Andererseits aber ist es eine Forderung der wahren Sittlich-
keit, daß gesunden Menschen zwischen 20 und 30 Jahren die
Möglichkeit der Heirat, auch in freier Ehe, gegeben werde. Diese
Forderung kann aber nur durch ökonomische Reformen erfüllt
werden.
Die Verfasserin bespricht dann den wichtigsten Punkt der
Liebeswahl und verlangt vor allem die obligatorische Bei-
bringung* eines ärztlichen GesundheitsScheines vor
Eingehen der Ehe.
„Es steht außer aller Frage, daß teils die gesunde Selbst-
zucht, die das eigene Ich bewahren will, teils die zunehmende
Wertschätzung einer guten Nachkommenschaft dann so manche
ungeeignete Eheschließung verhindern wird. In anderen Fällen
dürfte die Liebe über diese Rücksichten, soweit sie (Re Gatten
selbst betreffen, siegen, aber diese werden dann auf die Eltern-
schaft verzichten. In den Fällen hingegen, in denen das Gesetz
die Heirat bestimmt untersagen würde, kann man die Kranken
natürlich nicht hindern, sich außerhalb der Ehe fortzupflanzen.
Aber das gleiche gilt ja von allen Gesetzen: die Besten brauchen
sie nicht, die Schlechtesten befolgen sie nicht, aber die Rechts-
begriffe der Mehrzahl werden durch sie erzogen.“
Als unsittlich bezeichnet Ellen Kej^:
Jede Elternschaft ohne Liebe.
Jede unverantwortliche Elternschaft.
Jede Elternschaft unreifer oder entarteter Menschen.
Alle freiwillige Unfruchtbarkeit von Ehepaaren, welche für
die geschlechtliche Aufgabe geeignet sind.
Alle Aeußerungen des Geschlechtslebens, die Gewalt oder
Verführung oder die Abneigung oder das Unvermögen, die ge-
schlechtliche Aufgabe gut zu erfüllen, zeigen.
Es ist interessant, daß Ellen Key als Resultat diesesr fort-
28G
schreitenden Artveredelung’ durch Liebesauslese einen Zustand
prophezeit, in dem jeder Mann und jede Frau geeignet ist,
die Gattung fortzupflanzen. Erst dann würde die ideale Mono-
gamie, ein Mann für ein Weib, ein Weib für einen Mann, ver-
wirklicht werden.
Sehr schön und mit kluger Einsicht in die wirklichen Ver-
hältnisse erörtert Ellen Key die Frage des „Rechtes auf
Mutterschaft“, wobei sie Gelegenheit findet, die neuen und so
verschiedenen Frauentypen zu schildern, welche die Entwicklung
des modernen Lebens hervorgebracht hat. Sie erkennt nur unter
Vorbehalt ein allgemeines Recht auf Mutterschaft an, aber sie
betrachtet es nicht als vorbildlich, wenn eine Frau ohne Liebe
in der Ehe oder außerhalb derselben Mutter wird. Man soll
nicht, wie es heute von seiten der Männerfedndinnen geschieht,
die Mehrzahl der unverheirateten Frauen auffordem, sich ohne
Liebe ein Kind zu schaffen. Das sollte nicht einmal geschehen,
wenn zwar Liebe da wäre, aber die Unmöglichkeit eines dauernden
Zusammenlebens mit dem Vater des Kindes.
Die unverheiratete Frau, die sich zur Mutterschaft entschließt,
sollte völlig gereift sein, schon den „zweiten Frühling“ ihres
Lebens hinter sich haben, sie muß „nicht nur rein wie Schnee
sein, nein, rein wie Feuer, in ihrer Gewißheit, mit dem Kinde
ihrer Liebe ihrem eigenen Leben eine strahlende Steigerung und
der Menschheit einen neuen Reichtum zu geben.“
Eine solche unverheiratete Frau schenkt wirklich der
Menschheit ihr Kind und ist gänzlich verschieden von der unver-
heirateten Frau, die „ein Kind kriegt“.
Freilich, das Ideal für die Mehrzahl bleibt immer der
alte indische Weisheitsspruch, daß der Mann ein halber Mensch
ist, die Frau ein halber und nur Vater und Mutter mit ihrem
Kinde ein ganzer werden!
Hinsichtlich der Scheidung spricht die Verfasserin die Forde-
rung aus, daß sie vollständig frei sei und nur von dem eine
gewisse Zeitlang festgehaltenen Willen eines oder beider Teile
abhänge. Die Lösung der Ehe müsse ebenso leicht vor sich gehen
können wie die Lösung der Verlobung.
..Welche Mißbräuche,“ sagt sie, „die freie Scheidung auch
bringen kann, schwerere als die, die die Ehe mit sich gebracht
hat und noch immer mit sich bringt, dürfte sie wohl kaum
herbeiführen können. Die Ehe, die zu den rohesten Geschlechts-
gewohnheiten, dem schamlosesten Handel, den qualvollsten Seelen-
morden, den grausamsten Mißhandlungen und den gröbsten Frei-
heitsverletzungen herabgewürdigt wird, die irgend, ein Gebiet des
modernen Lebens aufzuweisen hat! Man braucht nicht zur Kultur-
geschichte zurückzugehen, sondern nur zum Arzt und zum Rechts-
anwalt, um zu erfahren, wozu „der heilige Ehestand“ benützt
wird — und zwar nicht selten von denselben Männern und Frauen,
die seinen sittlichen Wert preisen!“
Ebensowenig wie Freunde, Eltern und Kinder oder Ge-
schwister bindende Gelöbnisse ewiger Gefühle ablegen, kann man
dies von zwei Liebenden verlangen. Die von John Stuart
M i 11 und BjörnstjerneBjörnson mit so furchtbarer Wahr-
heit geschilderte „Ehefessel“ wird heute als unerträglich emp-
funden. Die Liebe des modernen Menschen gedeiht nur in der
Freiheit.
„Das feinste erotische Gefühl der Gegenwart bebt davor,
eine Fessel zu werden; es scheut vor der Möglichkeit zurück,
ein Hindernis zu werden.“
Die freie Scheidung bei unglücklicher Ehe ist auch da not-
wendig, wo Kinder vorhanden sind. Die Verpflichtungen
der Eltern gegenüber den Kindern bleiben dann in vollem Um-
fange bestehen, ohne daß deshalb ein fortgesetztes Zusammenleben
der Eltern immer nötig wäre. Denn die Leiden eines solchen
und die Schädigungen der Kinder dadurch sind schlimmer als
eine Trennung.
Die menschliche Liebe hat ihre Entwicklungsphasen, sie bleibt
nicht ewig dieselbe, sondern ändert sich mit der Entwicklung
des Individuums. Es gibt nur ein Ideal, aber keine Pflicht der
lebenslänglichen Liebe. Solch Verlangen hieße die Persönlichkeit
ebenso zerstören wie die Forderung des unbedingten Festhaltens
an einer Lehre oder einem Berufe.
Sehr interessant ist Ellen Keys Schilderung der zahl-
reichen Enttäuschungen in der Liebe, die durch die Zwangsehe
noch fühlbarer werden. Es gibt eine große Reihe „typischer
Unglücksschicksale“ in der Ehe, oft ohne Verschuldung beider
Teile, nur durch bloße Disharmonie der Charaktere oder auch
durch Fehlen jeder Individualität auf der einen Seite.
Häufig „lebt ein seelenvoller Mann oder eine seelenvolle
Frau neben einer Frau oder einem Manne von so fehlerloser
Vortrefflichkeit, daß sie das Heim mit Eisnadeln erfüllt. Eines
288
Tages stürzt der Mann oder die Frau fort, weil die Luft so
dünn geworden ist, daß man darin nicht atmen konnte. Die
allgemeine Meinung bedauert — den vortrefflichen Mann oder
die vortreffliche Frau!“
Die freie Scheidung wird die Zahl der Ehetrennungen nicht
vermehren. Für ernste, gereifte Menschen sind im Gegenteil die
durch das freie Verhältnis auferlegten Verpflichtungen größer
als diejenigen der gesetzlichen Zwangsehe. Auch ist die Furcht,
daß bei freier Scheidung nun jeder zahlreiche freie Ehen nach-
einander eingehen und wieder lösen würde, grundlos. Gerade die
in freier Liebe Vereinten empfinden eine solche Trennung, wenn
sie einmal notwendig geworden ist, so tief und schmerzlich, daß
das Leben selbst eine öftere Wiederholung verbietet.
Sehr schön sind die von einer hohen ethischen Auffassung
getragenen Ausführungen der Verfasserin über die Notwendigkeit
einer Scheidung gerade mit Rücksicht auf die Kinder. U. a. sagt sie:
„Die Menschen früherer Zeiten flickten bis ins Unendliche.
Die psychologisch entwickelte Generation von heute ist mehr ge-
neigt, das Zerbrochene zerbrochen sein zu lassen. Denn außer in
den Fällen, wo äußere Mißverhältnisse oder verspätete Entwick-
lung die Ursache eines Bruches waren, erweisen sich zusammen-
geflickte Ehen — wie zusammengeflickte Verlobungen — selten
als haltbar. Es waren oft tiefe Instinkte, die den Bruch verur-
sachten ; die Versöhnung vergewaltigte diese Instinkte, und früher
oder später rächt sich eine solche Vergewaltigung.
So kommt es vor, daß selbst die Ausnahmenatur sich an
ihrer Bürde überhebt. Und die Kinder werden dann nicht Zeugen
des Zusammenlebens ihrer Eltern, sondern nur ihres Zusammen-
sterbens.
Weder die Religion noch das Gesetz, weder die Gesellschaft
noch die Familie kann entscheiden, was eine Ehe in einem Menschen
tötet oder was er in derselben retten kann. Nur er selbst
weiß das eine und ahnt das andere. Nur er selbst kann die
Grenze ziehen, ob er mit seinem eigenen Dasein so ganz fertig
ist, daß er voll im Leben der Kinder aufgehen kann; ob er
das Leiden einer fortgeführten Ehe so zu tragen vermag, daß
es kraftsteigernd für ihn selbst und die Kinder wird.“
Beide, die Ueberzeugung vom Rechte der Liebe und das
Bewußtsein vom Rechte der Kinder, sind heute unverkennbar im
Steigen begriffen. Es besteht keine Gefahr, daß das letztere
289
Recht, das Recht der Kinder unter dem Rechte der Liebe leiden
wird. Es ist im Gegenteil charakteristisch, daß aus demselben
Gefühl heraus, aus dem die freiere Gestaltung des Liebeslebens
gefordert wird, auch ein neues Programm der Kindes-
rechte auf gestellt worden ist. Dieselbe Ellen Key, die die
unveräußerlichen Rechte der freien Liebe proklamiert, spricht
auch von einem „Jahrhundert des Kindes“ und widmet
diesem Gegenstände ein herrliches Buch.
Die wichtigste Frage bei einer freien Scheidung ist hin-
sichtlich der Kinder die, daß Vater und Mutter nicht in Haß von-
einander gehen, sondern in Freundschaft, und daß sie im Interesse
der Kinder auch als Freunde sich ab und zu sehen. Ellen Key
verurteilt hier mit Recht das Verhalten der guten Freunde und
Verwandten, die einfach dekretieren, daß die getrennten Gatten
sich hassen und in jeder Beziehung quälen und chikanieren müssen.
Gerade die „Feindschaft“ der Eltern nach der Scheidung ist so
verhängnisvoll für die Kinder.
Auch der Gesichtspunkt ist in Betracht zu ziehen, daß bis-
weilen der neue Gatte oder die neue Gattin einen besseren Ein-
fluß auf die Kinder ausübt als die eigenen Eltern, und daß
eo die Scheidung den Kindern größeres Glück brachte, für sie
ein wahrer Segen war.
Das Schlußkapitel ihres Werkes widmet Ellen Key der
Formulierung praktischer Vorschläge für ein neues Ehegesetz.
Sie bezeichnet als Ergebnis ihrer Darlegungen, daß die ideale
Form der Ehe die ganz freie Vereinigung zwischen einem Manne
und einer Frau sei. Aber dieses Ideal kann einstweilen nur in
und durch Uebergangsformen erreicht werden. In diesen
soll die Meinung der Gesellschaft über die Sittlichkeit des Ge-
schlechtsverhältnisses zum Ausdruck kommen und so eine Stütze
für die Unentwickelten erhalten bleiben, gleichzeitig aber sollen
diese Uebergangsformen frei genug sein, eine fortgesetzte Ent-
wicklung des höheren erotischen Bewußtseins der Gegenwart zu
fördern.
Mit ihnen ist also immer noch die Notwendigkeit freiheit-
beschränkender Gesetze verbunden, vorausgesetzt, daß diese eine
Vervollkommnung bezüglich der freieren Befriedigung der indi-
viduellen Bedürfnisse mit sich bringen. Das Solidaritäts-
gefühl fordertein neues, den modernen erotischen
Bedürfnissen angepaßtes Gesetz für die Ehe, da
B1 o o h , Sexualleben. 7.—9. Auflage. 19
(41.—60. Tausend.")
290
die Mehrzahl noch nicht für vollkommene Freiheit reif ist. Nur
die Bedürfnisse des modernen Kulturmenschen, nicht aber abstrakte
Theorien über die „Idee der Familie“ oder die „historische Ent-
stehung“ der Ehe dürfen dafür maßgebend sein.
In der Zukunftsehe muß vor allem die ökonomische wie reehtr
lieh untergeordnete Stellung der Frau beseitigt werden. Die Frau
muß über ihr Eigentum und ihren Verdienst selbst verfügen und
in dem Maße für sich selbst sorgen, als dies mit ihren Mutter-
pflichten verträglich ist. Sie muß aber auch einen Anspruch
darauf haben, daß sie während der ersten Lebensjahre
jedes Kindes von der Gesellschaft versorgt wird,
und zwar unter folgenden Bedingungen:
Sie muß volljährig sein.
Sie muß ihre weibliche „Wehrpflicht“ durch eine einjähirge
Ausbildung in Kinderpflege, allgemeiner Gesundheitspflege und,
wenn möglich, Krankenpflege durchgemacht haben.
Sie muß selbst ihr Kind pflegen oder für eine andere voll-
wertige Pflege Sorge tragen.
Sie muß den Nachweis erbringen, daß sie nicht das genügende
persönliche Vermögen oder Arbeitseinkommen besitzt, um ihren
eigenen Unterhalt und die Hälfte des Unterhalts für das Kind
zu bestreiten, oder daß sie sich um der Kinderpflege willen von
der Berufsarbeit fern hält.
Nur in Ausnahmefällen soll diese Mutterschaftsunterstützung
länger als während der drei ersten und wichtigsten
Lebensjahre des Kindes aus bezahlt werden.
Die Beiträge zu dieser wichtigsten aller Versicherungen
müßten in Form einer progressiven Steuer erhoben werden, und
so die Seichen am meisten treffen, die Unverheirateten
in demselben Maße wie die Verheirateten.
In jeder Gemeinde fungieren als Zentrale dieser Versicherung
„Kinderseh utzbehörden“, zu zwei Dritteln aus Frauen,
zu einem Drittel aus Männern bestehend, die die Unterstützungs-
gelder verteilen und über die Pflege der Säuglinge und älteren
Kinder die Aufsicht führen, auch bei Verfehlungen der Mutter
gegen ihr Kind sowohl Unterstützung versagen als auch das Kind
ihr abnehmen können.
Die Mutter erhält jährlich die gleiche Summe, außerdem aber
für jedes Kind die Hälfte seines Unterhalts, falls nicht
die Konderzahl erreicht ist, die die Gesellschaft als die wünschens-
291
werte ansieht. Die darüber hinaus geborenen Künder sind Privat-
sache der Eltern. Jeder Vater muß von der Geburt jedes Kindes
an bis zum achtzehnten Lebensjahre die Hälfte zu seinem
Unterhalt beisteuern.
Die heutige unsittliche Unterscheidung zwischen legitimen
und illegitimen Kindern befreit unverheiratete Väter so gut wie
ganz von ihrer natürlichen Verantwortung und treibt ledige
Mütter in den Tod, in die Prostitution oder zu Kindermord.
All das würde durch ein Gesetz beseitigt werden, das der
Mutter in den ersten, schwersten Jahren eine staatliche Unter-
stützung zusichert, dem Kinde das Hecht auf den Unterhalt
seitens beider Eltern, auf den Namen beider und auf die Be-
erbung beider gibt. i i
Im Gesetze muß auch zum Ausdruck gebracht werden, daß
jeder Ehegatte sein Eigentum besitzt, während diejenigen, die
eine andere Ordnung einführen wollen, den Grad ihrer Gemeinsam-
keit erst kontraktlich bestimmen müssen. Auch muß bezüglich
der Erwerbsverhältnisse die Hausarbeit der Frau (Führung
des Haushalts, Beaufsichtigung der Kinder) ökonomisch bewertet
werden, was bisher nicht geschah. Nicht nur in bezug auf ihr
Eigentum, sondern auch in allen bürgerlichen Rechten und der
Selbstbestimmung über ihre Person muß die verheiratete Frau
der unverheirateten gleichgestellt werden.
Interessant ist, was Ellen Key über die Aufhebung des
Zwanges zum Zusammenwohnen der Ehegatten sagt:
,,Es gibt Naturen, die einander das ganze Leben hindurch
geliebt hätten, wenn sie nicht — Tag für Tag, Jahr für Jahr —
gezwungen gewesen wären, ihre Gewohnheiten, Willen und
Neigungen nach einander zu richten. Ja, so manches Unglück
beruht auf lauter Unwesentlichkeiten, die für ein paar Menschen
mit Mut und Klarblick leicht zu meistern wären, wenn nicht
der Instinkt zum Glück von den Rücksichten auf die gewohnten
Meinungen beschwichtigt würde. Je mehr persönliche Freiheit
die Frau (oder der Mann!) vor der Ehe gehabt hat, desto mehr
leidet sie (oder er) darunter, im Heim oft nicht eine Stunde oder
einen Winkel ungestört für sich zu haben. Und je mehr der
moderne Mensch seine individuelle Bewegungsfreiheit, sein Ein-
samkeitsbedürfnis in anderer Beziehung steigert, desto mehr
werden Mann und Frau sie auch in der Ehe steigern ....
Aber jetzt werden die Gatten von der Sitte (und dem Gesetz)
19*
292
in ein Zusammenleben gezwängt, welches oft damit endet, daß
sie sieb für immer trennen, nur weil konventionelle Rücksichten
sie davon abhielten, getrennt zu wohnen!
Auch für Andersgeartete können die enge Abhängigkeit, die
gezwungene Zusammengehörigkeit, die tägliche Anpassung, die
beständigen Rücksichten drückend werden. Immer mehr Menschen
fangen darum in aller Stille an, die ehelichen Sitten umzugestalten,
so daß sie dem erwähnten Bedürfnis der Erneuerung mehr ent-
sprechen. Jeder reist z. B. für sich allein, wenn er das Gefühl
hat, daß er Einsamkeit braucht; der eine besucht auf eigene
Hand das Vergnügen, das der andere nicht schätzt, aber zu dem
er sich früher entweder zwang, oder von dem er den anderen
abhielt. Immer mehr Eheleute haben schon jedes sein Schlaf-
zimmer. Und nach noch einer Generation dürfte eine getrennte
Wohnung durchaus nichts Aufsehenerregendes sein.“
Zum Gebiet der persönlichen Freiheit in der Ehe rechnet
Ellen Key auch die Möglichkeit einer eventuellen Geheim-
haltung derselben aus zwingenden Gründen, ferner die Ein-
führung neuer Formen der Scheidung, die heute zu so abscheu-
lichen Praktiken vor Gericht Veranlassung gibt, z. B. bei der
Aussage der Beweise für Ehebruch, oder den Mitteilungen über
die Verweigerung oder den Mißbrauch der „ehelichen Rechte“,
über das vorgebliche „bösartige Verlassen“ des einen Teils.
Demgegenüber macht Verfasserin Vorschläge für ein neues
Ehegesetz und eine neue Scheidungsordnung.
Als Bedingungen für die Eheschließung soll dieses neue
Gesetz feststellen:
daß Frau und Mann volljährig sind;
daß keiner mehr als fünfundzwanzig Jahre älter ist als der
andere;
daß keiner in auf- oder absteigender Linie mit dem anderen
in Bluts- oder anderer Verwandtschaft steht, die das Gesetz schon
jetzt verbietet. Wenn die Wissenschaft in Zukunft eine Ver-
schärfung oder Milderung dieses Verbotes verlangt, so muß sich
das Gesetz danach richten.
Endlich dürfen die beiden Teile nicht in einer anderen Ehe
leben. Sie haben außerdem die Pflicht, ein ärztliches Zeugnis
über ihren Gesundheitszustand beizubringen; und die Ehe ist ver-
boten, wo bei einem der Teile eine vererbbare und für die Kinder
verderbliche (nicht auch für den anderen Gatten?) ansteckende
293
Krankheit festgestellt wird. In anderen Krankheitsfällen wird
die Ehe dem freien Ermessen anheimgestellt.
Die Ehe wird vor dem „Heiratsvorsteher“ der Kommune in
Gegenwart von. vier anderen Zeugen ohne Zeremonie geschlossen,
dnrch Eintragung in das Ehehuch und Bestätigung durch die
Unterschriften sämtlicher Anwesenden, die, wo die Ehe geheim-
gehalten werden soll, zum Schweigen verpflichtet sind.
Diese bürgerliche Trauung ist die gesetzliche; die religiöse
ist freiwillig und hat keine rechtliche Wirkung.
Die Gatten behalten in der Ehe alle persönlichen Hechte,
die sie vor der Ehe über ihren Körper, ihren Namen, ihr Eigentum,
ihre Arbeit, ihren Arbeitsverdienst gehabt haben, auch das Recht,
ihren Aufenthalt zu wählen, sowie alle übrigen bürgerlichen
Rechte. Für gemeinsame Ausgaben und Schulden haften sie
gemeinsam, sonst jeder für seine persönlichen Ausgaben und
Schulden. Bei einer Scheidung behält jeder sein Vermögen. Bei
einem Todesfall erbt der Witwer oder die Witwe die eine Hälfte,
die Kinder die andere des Gesamtvermögens.
Für die Scheidung schlägt Ellen Key einen aus vier
Personen, Männern oder Frauen, bestehenden „S c h e i d u n g s r a t“
vor. Dieser sucht zunächst, etwa wie ein Ehrenrat vor einem
Duell, die Parteien zu versöhnen, vorhandene Konflikte beizulegen.
Gelingt das nicht, so muß die Scheidungsanmeldung bei dem
Heiratsvorsteher der Kommune eingereicht werden und zwar ist
das erst ein halbes Jahr nach Inanspruchnahme des
Scheidungsrates möglich. Dieser muß bezeugen, daß der eine
Teil damals von dem Wunsche des andern, die Ehe
aufzulösen und seinen Gründen in Kenntnis ge-
setzt war. Die Scheidung wird, falls keine Kinder da sind,
Gütertrennung vorhanden ist, die Gatten auch während eines
Jahres vollkommen getrennt gelebt haben, ein Jahr nach
der Anmeldung ausgesprochen. Beim Vorhandensein von Kindern
entscheidet eine besondere „Kinderpflege j ury“ über das
Verbleiben der Kinder. Der Teil, den die Jury und der Richter
auf Grund seiner Sitten oder seines Charakters unwürdig
oder unfähig finden, die Kinder zu erziehen, verliert das
Recht auf sie. Ist dies der Vater, so wird ein Vormund, ist es
die Mutter, eine Vormünderin bestellt, die sich gemeinsam mit
der Mutter oder dem Vater um die Erziehung der Kinder kümmern
müssen. Sind beide unwürdig, so wird nur von einer Vormund-
294
schaft die Erziehung geleitet. Wenn beide Eltern gleich würdig
Und geeignet für die Erziehung der Kinder sind, bleiben die Kinder
bis zum fünfzehnten Jahre bei der Mutter und haben dann selbst
das Recht, zwischen den Eltern zu wählen.
Ellen Key befürwortet sehr scharfe Gesetze gegen Ver-
führung und Verlassen unmündiger Mädchen seitens gewissen-
loser Männer, sie will die wissentliche Uebertragung einer an-
steckenden Krankheit durch den Geschleehtsverkehr mit mindestens
sechs Monaten Gefängnis bestraft sehen. Stets soll überhaupt
das Gesetz auf seiten der Schwächeren stehen, vor allem der
Kinder und in den meisten Fällen der Mütter.
Wenn auch das neue Ehegesetz den volljährigen Staats-
bürgern volle Freiheit gibt, ihre erotischen Verbindungen unter
eigener Verantwortung und Gefahr mit oder ohne Ehe zu
ordnen, so sollen doch Doppelehe, Geschlechtsverhältnisse in ver-
botenem Verwandtschaftsgrad oder bei Krankheiten, die das Ge-
setz als Ehehindernisse erklärt hat, oder mit Personen unter
achtzehn Jahren als strafbare Vergehen betrachtet werden. Ebenso
Notzucht, homosexuelle und andere perverse Erscheinungen. Das
Urteil wird in solchen Fällen vom Richter gemeinsam mit einer
aus Aerzten und Kriminalpsychologen bestehenden
Jury gefällt.
Die Verfasserin glaubt nicht, daß die Ehe auf dem Wege
der Gesetzesreform in der von ihr angegebenen Richtung umge-
staltet werden wird, sondern nur durch die Tat, nämlich durch
„Männer und Frauen, die sich den unwürdigen Eheformen, die
das Gesetz noch feststellt, nicht unterwerfen wollen, sondern freie,
sogenannte „Gewissensehen“ eingehen,“ wie sie z. B. der
belgische Soziologe M e s n i 1 in seiner Schrift „Le libre mariage“
empfohlen hat.
Gerade in Schweden, dem Vaterlande Ellen Keys, scheinen
diese freien Gewissensehen zuerst Anklang gefunden zu haben.
Sie erwähnt das freie Bündnis des Professors der Nationalökonomie
in Lund Knut Wickse 11. Weitere Mitteilungen über die freien
Ehen in Schweden macht der schwedische Arzt Anton
N y s t r ö m.14) Er nennt unter den Personen, die ohne gesetzliche
und kirchliche Trauung durch bloße öffentliche Erklärung eine
14) A. N y s t r ö m , Das Geschlechtsleben und seine Gesetze, Berlin
1904, S. 244—247.
295
„freie eheliche Vereinigung“ eingingen, außer dem erwähnten
Universitätsprofessor noch den Redakteur einer hervorragenden
Zeitung, einen Mediziner und Doktor der Philosophie, einen
Kandidaten der Philosophie. Letzterer studierte mit seiner Frau
an der Hochschule zu Göteborg. Sie erklärten im Februar 1904
öffentlich in der Zeitung, daß sie eine „Gewissensehe“ einge-
gangen wären, da ihr Gewissen die kirchliche Trauung nicht
zuließe. Das Rektorkollegium richtete an das junge Paar ein
Schreiben, in dem es hieß, daß, obwohl diese Vereinigung nicht
als aus unsittlichen Motiven hervorgegangen und deshalb nicht
als verwerfliche und strafbare Handlung zu betrachten sei, doch
eine solche freie und vom Staate nicht anerkannte Vereinigung
von Mann und Weib sich nicht mit einer guten gesellschaftlichen
Ordnung vertrage, die allgemeine ethische Auffassung von der
Heiligkeit der Ehe verletze und auch ein gefährliches Beispiel
sei, das andere zur Nachfolge verleiten könne. Das Kollegium
ermahnte deshalb das Paar in ernster Weise, „baldigst durch
legitime Trauung den Ehevertrag bestätigen zu lassen“. Dieser
Aufforderung wurde jedoch keine Folge geleistet.
Uebrigens war die Universität Upsala freidenkender als
Göteborg. Denn der oben genannte Universitätsprofessor und seine
Frau waren lange Zeit, nachdem sie sich in freier Liebe ver-
einigt hatten, immatrikulierte Studenten an der Universität
Upsala, ohne daß die Universitätsbehörde irgend welche Mahnung
an sie gerichtet hätte.
In den letzten Jahren hat die öffentliche Erklärung der
„freien Ehe“ auch in anderen europäischen Ländern Anklang
gefunden. So kündigte vor einiger Zeit der unter dem Pseudonym
Eodaßoda schreibende Schriftsteller öffentlich in den Zeitungen
seine freie Vermählung mit der Freifrau von Zeppelin an,
und in der „Vossischen Zeitung“ No. 410 vom 2. September 1906
stand folgende Anzeige:
Dr. Alfred Rahmer
Wilhelmine Ruth Rahmer
geb. Prinz-Flohr
Frei-Vermählte.
Gleiche öffentliche Anzeigen werden aus Holland berichtet.
Uebrigens war es, wie N y s t r ö m mitteilt, in Schweden
296
schon seit 1734 gesetzliche Bestimmung, daß für einen bestimmten
Fall Verlobung gleichbedeutend mit Ehe ist, nämlich
wenn Schwangerschaft der Braut eintritt. „Wenn ein Mann seine
Verlobte schwängert, dann ist das eine Ehe... Ent-
zieht der Mann sieh der Trauung und beharrt er auf
seiner Weigerung, dann sei sie als seine Ehefrau erklärt
und genieße volles eheliche liecht in seinem Hause,“ heißt es
in diesem Gesetze.
Man kann mit Bestimmtheit Voraussagen, daß die Anhänger-
schaft der freien Ehe, die Zahl der „Eheprotestanten“, wie
Ellen Key sie mit einem glücklichen Ausdrucke nennt, immer
mehr wachsen wird. Zu ihnen werden alle die gehören, die von
gleichem Widerwillen gegen die Zwangsehe, den entwürdigenden
Verkehr mit Prostituierten oder die flüchtige Zufallsliebe, wie sie
in dem gewöhnlichen außerehelichen Geschlechtsverkehr, der
eigentlichen „wilden“ Liebe vorliegt, erfüllt sind.
„Es ist nur eine Zeitfrage,“ damit schließt Ellen Key
ihre Ausführungen über die Ehereform, „wann die Achtung der
Gesellschaft für eine Geschlechts Verbindung nicht von der Form
des Zusammenlebens abhängen wird, das zwei Menschen zu Eltern
macht, sondern nur von dem Werte der Kinder, die sie zu neuen
Gliedern in der Kette der Geschlechter schaffen. Männer Und
Frauen werden dann ihrer geistigen und körperlichen Vervoll-
kommnung für die Geschleohtsaufgabe denselben religiösen Ernst
widmen, den die Christen der Seligkeit ihrer Seele weihen. An-
statt göttlicher Gesetze über die Sittlichkeit des Geschlechts-
verhältnisses wird der Wille zur Hebung des Menschengeschlechtes
und die Verantwortung dafür die Stütze der Sitten sein. Aber
die Ueberzeugung der Eltern, daß der Sinn des Lebens
auch ihr eigenes Leben ist, daß sie also nicht nur
um der Kinder willen da sind, dürfte sie von anderen
Gewissenspflichten befreien, die sie jetzt in bezug auf die Kinder
binden, vor allem von der Pflicht, eine Verbindung aufrecht zu
erhalten, in der sie selbst untergehen. Das Heim wird vielleicht
mehr als jetzt eins mit der Mutter werden, was — weit davon
entfernt, den Vater auszuschließen — den Keim eines neuen und
höheren „Familienrechts“ in sich trägt . . .
Ein großer und gesunder Lebenswille in bezug auf die
erotischen Gefühle und Forderungen — dies ist es, was unsere
Zeit braucht! Hier drohen von weiblicher Seite wirkliche Ge-
297
fahren. Und unter anderem auch, um diese Gefahren abzuwenden,
müssen neue Formen der Ehe geschaffen werden.
Immer mehr wertvolles und entwicklungsfähiges Menschen-
material, dies ist es, was wir in erster Linie schaffen müssen.
Die Möglichkeit, es zu erhalten, kann unter festen Formen des
Geschlechtslebens im Niedergang begriffen sein, unter freien aber
im Aufsteigen, und umgekehrt. Nicht nur weil die Gegenwart
mehr Freiheit verlangt, sind ihre Forderungen verheißungsvoll,
sondern weil die Forderungen sich immer mehr dem Mittelpunkt
der Frage nähern — der Ueberzeugung, daß die Liebe die vor-
nehmste Bedingung für die Lebenssteigerung der Menschheit und
der einzelnen ist.“
Ich habe mit Absicht eine so ausführliche Analyse des Buches
der Ellen Key gegeben, weil erstens in keinem anderen Werke
alle für die Beurteilung der freien Liebe in Betracht kommenden
Gesichtspunkte so klar herausgearbeitet worden sind, auf Grund
der reichsten Lebenserfahrung und einer geradezu bewunderungs-
würdigen psychologischen Menschenkenntnis, gepaart mit feinstem
Verständnis für die subtileren Gefühlsregungen der liebenden
Seele, und weil zweitens in der Tat dieses Buch wenigstens in
Deutschland den eigentlichen Ausgangspunkt gebildet hat für alle
Bestrebungen zur Reform der sexuellen Moral. Ellen Keys
„Ueber Liebe und Ehe“ ist die Erklärung der Menschenrechte
in Sachen der Liebe, ist das Evangelium für alle diejenigen, welche
entschlossen sind, die Liebe mit allen Veränderungen und Fort-
schritten der kulturellen Entwicklung in Einklang zu bringen
und sie nicht langer mit Gewalt in Zuständen zurückzuhalten,
die vielleicht vor hundert oder zweihundert Jahren noch erträg-
lich waren, heute aber unbedingt kulturfeindlich sind.
In Deutschland haben diese Bestrebungen einen Mittelpunkt
gefunden in dem Anfang 1905 begründeten „Bunde für
Mutterschutz“, dessen Zweck es ist, ledige Mütter und deren
Kinder vor wirtschaftlicher und sittlicher Gefährdung zu bewahren
und die herrschenden Vorurteile gegen sie zu beseitigen, dadurch
auch indirekt eine Reform der bisherigen Anschauungen über
sexuelle Moral herbeizuführen. Es waren hochgesinnte Frauen,
die diese verheißungsvolle Bewegung ins Leben riefen. Ich nenne
u. a. nur die Namen von Ruth Bre, Helene Stöcker,
Maria Lisch ne ws ka, Adele Schreiber, Gabriele
Reuter, Henriette Fürth.
298
Von einem vorbereitenden Komitee, welchem Maria Lisch-
newska, Dr. Borgius, Dr. Max Marcuse, Ruth Bre
und Dr. Helene Stöcker angehörten, wurde am 5. Januar
1905 eine Ausschußsitzung einberufen und der „Bund für Mutter-
schutz“, dessen Aufruf die Unterschriften einer Reihe führender
Persönlichkeiten aus allen Teilen des Deutschen Reiches gefunden
hatte, gegründet.
Außer dem Vorstande, in den die oben genannten Mitglieder
des vorbereitenden Komitees nebst Lily Braun, G-eorgHirth
und Werner Sombart gewählt wurden, wurde ein weiterer
Ausschuß gebildet, dem angehören: Alfred Blaschko, Iwan
Bloch, Hugo Böttger, Lily Braun, Gräfin Gertrud
Bülow von Dennewitz, M. G. Conrad, A. Damaschke,
Hedwig Dohm, Frieda Duensing, Chr. v. Ehren-
fels, A. Erkelenz, W. Erb, A. Eulenburg, Max
Flesch, Flechsig, A. Forel, E. Francke, Henriette
Fürth, Agnes Hacker, Hegar, Willy Hellpach,
Clara Hirschberg, Georg Hirth, Graf Paul von
Hoensbroech, Bianca Israel, Josef Köhler, Land-
mann, Hans Leuß, Maria Lischnewska, R. v. Liszt,
Lucas, Max Marcuse, Mensinga, Bruno Meyer,
H. Meyer, Metta Meinken, Klara Muche, Moesta,
A. Moll, Müller, Friedrich Naumann, A. Neißer,
Franz Oppenheimer, Pelman, Alfred Ploetz, Hein-
rich Potthoff, Lydia Ra b i n o w i t s ch, Gabriele
Reuter, Karl Ries, Adele Schreiber, Heinrich
S o h n r e y, W. Sombart, Helene Stöcker, Marie
Stritt, Irma von Troll-Borostyani, Max Weber,
Bruno Wille, L. Wilser, L. Woltmann.
In dem Aufruf, den der neubegründete Bund für Mutter-
schutz alsbald veröffentlichte, heißt es:
180 000 uneheliche Kinder werden alljährlich in Deutsch-
land geboren, nahezu ein Zehntel aller Geburten überhaupt. Diese
gewaltige Quelle unserer Volkskraft, bei der Geburt meist von hoher
Lebensstärke, da ihre Eltern in der Blüte der Jugend und Gesund-
heit stehen, lassen wir verkommen, weil eine rigorose Moralanschau-
ung die ledige Mutter brandmarkt, ihre wirtschaftliche Existenz unter-
gräbt und sie damit zwingt, ihr Kind gegen Bezahlung fremden
Händen anzuvertrauen.
Die verhängnisvollen Konsequenzen dieses Zustandes zeigen sich
u. a. darin, daß der Durchschnitt der Totgeburten bei den unehelichen
299
Kindern 5o/o beträgt gegen 3o/0 insgesamt, der im ersten Lebensjahr
sterbenden 28,5 0/0 gegen 16,7 0/0 insgesamt. Und während nur ein ver-
schwindender Prozentsatz militärtauglich wird, rekrutiert sich die Welt
der Verbrecher, Dirnen und Landstreicher zu einem erschreckenden
Teil aus unehelich Geborenen. So züchten wir durch ein unbe-
gründetes moralisches Vorurteil künstlich ein Heer von Feinden der
menschlichen Gesellschaft. Dabei ist die Geburtenziffer an sich in
Deutschland in relativem Rückgang begriffen: auf 1000 Lebende ent-
fielen 1876 noch 41 Geburten, 1900 nur noch 351/2!
Diesem Raubbau an unserer Volkskraft Einhalt zu tun, er-
strebt der
Bund für Mutterschutz.
Man hat bereits versucht, mit Kinderkrippen, Findelhäusern und
dergl. hier einzugreifen. Aber Kinder schütz ohne Mutter-
schutz ist und bleibt Stückwerk; denn die Mutter ist
die kräftigste Lebensquelle des Kindes und zu seinem Gedeihen unent-
behrlich. Wer ihr Ruhe und Pflege in ihrer schwersten Zeit gewährt,
ihr eine wirtschaftliche Existenz für die Zukunft sichert, sie vor der
kränkenden und das Leben verbitternden Verachtung ihrer Mitmenschen
bewahrt, der schafft auch damit die Basis für leibliches und geisitiges
Gedeihen des Kindes und zugleich einen starken sittlichen Halt für
die Mutter selbst. Darum will der Bund für Mutterschutz vor allem
die Mütter sicherstellen, indem er ihnen zur Erringung
wirtschaftlicher Selbständigkeit
behilflich ist, — insbesondere solchen, die ihre Kinder selbst aufzu-
ziehen bereit sind, durch Schaffung von ländlichen und städtischen
Mütterheimen,
in welchen überdies für zweckmäßige Pflege und Erziehung der
Kinder, Gfewährung von Rechtsschutz und ärztliche Hilfeleistung
Sorge getragen wird. Die Erfahrung hat gezeigt, daß ein derartiges
Vorgehen auch den Wünschen vieler Väter entspricht und dazu bei-
trägt, deren Beihilfe und Interesse für Mütter und Kind zu erhalten.
Der Bund will aber vor allem auch die Quellen verstopfen, aus
denen die gegenwärtige Notlage der ledigen Mutter entsteht, und
diese sind insbesondere die moralischen Vorurteile, welche sie heute
gesellschaftlich verfehmen, und die Rechtsbestimmungen, die ihr
nahezu allein die wirtschaftliche Sorge und Verantwortung für das
Kind aufbürden und den Vater gar nicht oder in ganz unzureichender
Weise zur Mittragung der Lasten heranziehen.
Die sittliche Verfehmung
der ledigen Mutter wäre vielleicht verständlich, wenn wir unter wirt-
schaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen lebten, die es jedem
ermöglichen, bald nach erlangter Geschlechtsreife in die Ehe zu
treten, so daß unfreiwillige Ehelosigkeit erwachsener Personen ein
anormaler Zustand wäre. In einer Zeit, wie der unsrigen aber, in der
300
nicht weniger als 45 o/o aller gebärfähigen Frauen unverheiratet sind,
und die sich wirklich verehelichenden großenteils erst in verhältnis-
mäßig spätem Alter in die Ehe treten können, muß eine Auffassung
als unhaltbar bezeichnet werden, welche die unverehelichte Frau, die
einem Kind das Leben gibt, als Verworfene gleich dem niedrigsten
Verbrecher aus der Gesellschaft ausstößt und der Verzweiflung
preisgibt.
Ebenso unhaltbar erscheint darum auch
die heutige Rechtsauffassung,
welche bei Mangel der vom Staat für die Eheschließung geforderten
Formen den leiblichen Vater nicht als Vater im Rechtssinne anerkennt,
ihm keine Verwandtschaft mit dem von ihm gezeugten Kinde zugesteht,
ihm keine Verantwortung für das Kind und dessen Mutter auferlegt,
obwohl in den meisten Fällen diese die wirtschaftlich schwache, er
selbst der wirtschaftlich stärkere Teil ist. Es muß daher eine Reform
der Gesetzgebung im Sinne möglichster Gleichstellung des unehe-
lichen mit dem ehelichen Kinde dem Vater gegenüber erstrebt werden.
Endlich ist aber die — eheliche wie uneheliche — Mutterschaft
überhaupt ein für die Gesellschaft so außerordentlich wichtiger Faktor,
daß es dringend erwünscht erscheint, sic nicht mit allen Konsequenzen
ausschließlich der Privatfürsorge zu überlassen. Im Interesse des
Allgemeinwohls muß vielmehr eine
allgemeine Mutterschaftsversicherung
erstrebt werden, deren Kosten durch Beiträge beider Geschlechter,
sowie durch Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln aufzubringen sind.
Diese Versicherung muß nicht nur jeder Frau für den Fall ihrer
Schwangerschaft Bereitstellung zureichender ärztlicher Beihilfe und
sachkundiger Pflege während der Zeit der Niederkunft gewährleisten,
sondern auch weiter die Erziehung des Kindes bis zu dessen Erwerbs-
fähigkeit sicherstellen.
Um diese Anschauungen und Bestrebungen planmäßig und auf
breitester Basis propagieren zu können, ist die tätige Hilfe und Be-
teiligung weiter Volkskreise unerläßlich. Deshalb richten wir an alle
Gesinnungsgenossen die dringende Aufforderung, durch
Anschluß an den Bund für Mutterschutz
die Erreichung jener Ziele sichern und beschleunigen zu helfen.
Als Publikationsorgan wählte der Bund die von Dr. phil.
Helene Stöcker herausgegebene Monatsschrift ,,Mutterschutz,
Zeitschrift zur Beform der sexuellen Ethik“ (bisher erschienen
Jahrgang 1905/06 in 12 Heften, Jahrgang 1906 12 Hefte und
vom Jahrgang 1907 3 Hefte).
Im Anschluß an die Gründung des Bundes fand am 26. Februar
1905 unter riesiger Anteilnahme von seiten der Berliner Be-
völkerung die erste öffentliche Versammlung des Bundes im
301
Arcliitektenhause unter Vorsitz von Helene Stöcker statt.
Die Ziele und Bestrebungen der neuen Vereiningung wurden in
längeren und kürzeren Beden von Buth Bre, Justizrat Sello,
Helene Stöcker, Ellen Key, Max Marcuse, Maria
Lischnewska, Lily Braun, Adele Schreiber, Iwan
Bloch und Bruno Meyer dargelegt und vom Standpunkte
der Frauenrechtlerin, des Juristen, des Arztes, des Soziologen
und Ethikers in gleichem Maße eine radikale Umänderung und
Beseitigung der gegenwärtigen unhaltbaren Zustände gefordert.15)
Bald darauf schritt man zur Bildung von Ortsgruppen. Die
erste entstand in München, wo am 28. März 1905 die erste Ver-
sammlung stattfand. Frau Schönfließ, Margarethe
Joachim sen-Böhm, Alfred Scheel und Friedrich
Bauer gehören hier dem Vorstande an. 'Weitere Ortsgruppen
wurden in Berlin (26. Mai 1905; Vorstandsmitglieder außer dem
Vorstande des Gesamtbundes: Finkeistein, Galli, Agnes
Hacker, Albert Kohn, Bruno Meyer, Adele
Schreiber) und in Hamburg (Vorsitzende Begina Buben)
gegründet.16) ■ <
Die erste Generalversammlung (vgl. Helene Stöcker,
Unsere erste Generalversammlung, in: „Mutterschutz“ 1907, Heft2)
fand am 12.—14. Januar in Berlin statt. An die Vorträge der
Beferenten über praktischen Mutterschutz (Maria Lisch-
newska), die heutige Form der Ehe (Helene Stöcker), Prosti-
tution und Unehelichkeit (Max Flesch), Heiratsbeschränkungen
durch ökonomische (Adele Schreiber) und hygienische (Max
Marcuse) Faktoren, die Lage der unehelichen Kinder (Böhmert
und Ottmar Spann), die Mutterschaftsversicherung (M a y e t)
schlossen sich sehr lebhafte Diskussionen an, und es wurden
mehrere wichtige Besolutionen angenommen, betreffend Gleich-
stellung von Mann und Flau in der Ehe, gesetzliche Anerkennung
15) Die bei dieser Gelegenheit gehaltenen Reden sind gesammelt
herausgegeben von Helene Stöcker in ihrer Broschüre „Bund für
Mutterschutz“ (Heft 4 der „Modernen Zeitfragen“, herausgegeben von
Dr. Hans Landsberg), Berlin 1905.
16) Leider ist Ruth Bre, die in der Geschichte der Mutterschutz-
und Sexualreformbewegung eine hervorragende Rolle gespielt hat,
späterhin ihre eigenen Wege gegangen und hat einen eigenen Bund
für Mutterschutz begründet, der hoffentlich recht bald wieder in
dem großen allgemeinen Bunde aufgeht. Gerade auf diesem, Angriffen
aller Art ausgesetzten Gebiete ist Einigkeit alles.
I
302
der freien Ehen und der aus ihnen hervorgeh enden Kinder, Ein-
führung von Gesundheitsattesten vor Eingehung der Ehe, Aus-
gestaltung der Fürsorge für die unehelichen Kinder, Mutterschafts-
versicherung. Besonders bemerkenswert war der Vortrag des her-
vorragenden Medizinalstatistikers Prof. M a y e t über die Ein-
führung und Gestaltung einer Mutterschaftsversicherung. Seine
Anregung führte zur Annahme von Thesen über die Angliederung
arbeiter in die Kranken- bezw. Mutterschafts Versicherung, die
Notwendigkeit eines Staatszuschusses, die Einbeziehung der land-
und forstwirtschaftlichen Arbeiter, der Dienstboten und Heim-
arbeiter in die Kranken bezw. Mutterschaftsversicherung, die
Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung aller Frauen, die
Leistungen der Mutterschaf tsversicherung (freie Gewährung der
Hebammendienste und der ärztlichen Behandlung, freie Haus-
pflege im Bedarfsfälle, Gewährung von Stillprämien, Einrich-
tung von Beratungsstellen für Mütter, von Schwangeren-, Wöchne-
rinnen-, Mütter- und Säuglingsheimen), Ausbau der Arbeiterschutz-
gesetzgebung mit Rücksicht auf die stillenden Frauen. — Die
Wahl des Vorstandes ergab für 1907: Helene Stöcker, Maria
Lischnewska, Adele Schreiber, Wilhelm Brandt,
Iwan Bloch, Max Marcuse, Heinrich Finkeistein.
Ende Januar 1907 wurde auch ein „0österreichischer
Bund für Mutterschutz“ in Wien gegründet unter Vorsitz
von Dr. Hugo Klein. Dem Ausschuß desselben gehören u. a. an:
Siegmund Freud, Rosa Mayreder, Marie Eugenie
delle Grazie, Prüf. Schauta und etwa 40 andere bekannte
Persönlichkeiten, Aerzte, Juristen, Pädagogen und viele Frauen.
In der Gründungsversammlung sprachen Abg. Dr. Ofner über
„Das Recht der unehelichen Mütter und Kinder“ und Dr. Fried-
jung über „Säuglingsschutz“.
Auch in Amerika hat sich eine Gesellschaft für Sexualreform
gebildet, die sogenannte „Umwertungsgesellschaft“, deren haupt-
sächlichster Zweck ist, eine gänzliche „Umwertung aller Werte“
im Liebesieben und eine idealere Auffassung der Liebe herbei-
zuführen. Vorsitzender dieser amerikanischen Gesellschaft ist
Emil F. Ruedebusch, -Schriftführerin Frau Lina J anssen,
Sitz der Gesellschaft ist in Mayville im Staate Wisconsin.
Es finden regelmäßige Diskussionsabende statt, in denen
Fragen von besonderem Interesse erörtert werden.
Laut Mitteilung in der Zeitschrift „Mutterschutz“ (1905.
303
Heft 9, S. 375—376) war das Thema der Diskussion am 8. Ok-
tober 1905:
Vas ist es, das das Wesen der Ehe ausmacht?
Die Antwort lautete:
Ist es die Familienbeziehung ? — Nein, denn ein Paar braucht
niemals Künder zu haben oder den Wunsch danach und kann
dennoch rechtskräftig verheiratet sein.
Ist es das gemeinsame Heim, der Haushalt? — Nein, denn
man kann sein Leben lang in einem Hotel wohnen und dennoch
rechtskräftig verheiratet sein.
Ist es die lebenslängliche Gemeinschaft der materiellen Inter-
essen? — Nein, denn Mann und Frau können Gütertrennung
haben, wenn sie es wünschen.
Ist es gegenseitige Hilfe und Beistand in einer Kameradschaft
fürs Leben? — Nein; wenn eine eheliche Vereinigung das genaue
Gegenteil davon ist, so sprechen wir von einem schlechten Eher
mann und einer schlechten Ehefrau; aber sie sind trotzdem Mann
und Frau.
Bedeutet es einen Kontrakt für lebenslange ausschließliche
Liebe ? — Gewiß nicht; sollte die Ehe das bedeuten, so würden
sich alle Christen dieser Einrichtung widersetzen.
Und dennoch, das sind die Dinge, von denen man behauptet*
daß sie das Wesen der Ehe ausmachen, wenn immer jene Frage
bei uns zu Lande in jener Weise diskutiert wird, die man mit
,,passend“ und „dezent“ bezeichnet. — Wahrhaftig, in dieser
Mystifikation ist nichts Passendes und Dezentes.
Was ist es nun, das das Wesen der Ehe ausmacht?
Es ist der Besitz eines menschlichen Wesens für lebenslange
ausschließlich geschlechtliche Dienstbarkeit.
Es hat verschiedene Anschuungen gegeben über die Frage,
wie viele menschliche Wesen einer für seinen ausschließlichen
Gebrauch legitimerweise haben könnte, und unter den verschiedenen
Nationen und zu verschiedenen Zeiten sind höchst verschiedene
und auseinandergehende Pegeln und Vorschriften über die Art
und Weise der Besitzergreifung vorhanden gewesen, wie auch
andererseits in betreff der Pflichten dem geschlechtlichen Eigen-
tum gegenüber — aber wo immer eine Ehe vorhanden war, da
bedeutete sie Eigentumsrecht in bezug auf geschlechtliche Dienst-
barkeit.
Wenn wir uns der Ehe widersetzen, so meinen wir da-
304
mit das, was tatsächlich vor der Moral und dem
geschriebenen Gesetz die Ehe ausmacht, und was
selbst den enthusiastischsten Vertretern dieser
Einrichtung so niedrig zu sein scheint, daß sie
sich schämen, es öffentlich zu nennen.
Aber, mit Ausnahme der die geschlechtliche Dienstbarkeit
betreffenden Züge, halten wir fest und verteidigen wir
alles, was öffentlich als Ehe gepriesen wird, und wir
erwarten, daß wir darin „treu“, ,,be ständig“ und „zuver-
lässig“ sein werden unter allen Umständen. Denn bei uns sind
diese bedeutungsvollen Imponderabilien und diese intimen Ver-
bindungen der Interessen zwischen Mann und Frau nicht das
unvermeidliche Resultat der Sehnsucht nach physischem gemein-
samen Genuß, sondern das erwünschte Resultat einer wohl über-
legten Sehnsucht für irgend eine oder alle in Frage kommenden
Beziehungen. Bei uns aber würde die Dauer dieser Verbindung
und die Beständigkeit und Treue während derselben nicht von
den Regungen geschlechtlicher "Wünsche abhängig sein.“
Eine besondere ^Vereinigung für Sexualreform“
wurde 1906 in Berlin gebildet, unter Leitung des Herausgebers
der Zeitschrift ,,Die Schönheit“, Karl Vanselow. Es ist eine
Vereinigung gebildeter Männer und Frauen, die auch die Gründung
von Ortsgruppen ins Auge gefaßt hat, sowie die Veranstaltung
künstlerischer und wissenschaftlicher Vorträge im Sinne der
Reformbestrebungen.
In der oben erwähnten, von Helene Stöcker redigierten
Monatsschrift ,,Mutterschutz“ werden alle modernen Probleme der
Liebe, der Ehe, der Freundschaft, der Elternschaft, der Prosti-
tution, sowie alle damit zusammenhängenden Fragen der Moral
und des gesamten sexuellen Lebens nach der philosophischen,
historischen, juristischen, medizinischen, sozialen und ethischen
Seite erörtert.
Die Herausgeberin selbst, eine begeisterte Nietzscheanerin,
hat sich seit dem Jahre 1893 besonders mit der psychologisch-
ethischen Seite des Problems der höheren Liebe beschäftigt und
kürzlich in einem besonderen Buche ihre gesammelten Abhand-
lungen über ¡dieses Thema veröffentlicht.17) Es ist eine interessante
literarische Physiognomie, die sich uns in diesem Buche darbietet,
eine hohe, freie und geläuterte Auffassung der Zukunftsliebe tritt
l7) Helene Stöcker, Die Liebe und die Dräuen, Minden 1906.
SOß
uns hier entgegen. Wir sehen auch diese tapfere und unerschrockene
Vorkämpferin der ewigen, unveräußerlichen liechte der Liehe nach
den ersten geistigen Irrungen und Wirrungen, wie sie keinem
das Ideal suchenden Gemüte erspart bleiben, zuletzt ebenfalls
in Erkenntnis der hohen Mission der Liebe — nach dem von
ihr mit Vorliebe zitierten Worte Nietzsches: Nicht fort sollt
Ihr Euch pflanzen, sondern hinauf! — die Pflicht und die
Verantwortlichkeit der individuellen Liebe ganz besonders
betonen. Niemand kann es ernster mit der Liebe nehmen, als
es hier geschieht. Helene Stöcker ist durchaus keine radikale
Umstürzlerin, sondern Evolutionistin und Reformerin. Sie ist sich
klar darüber, daß es heute noch kein Allheilmittel, keine unfehl-
bare Lösung des sexuellen Problems gibt. Wenn sie auch die alte
Geschlechtsmoral energisch bekämpft und ihre Umwertung zu
einer neuen freieren Auffassung der sexuellen Beziehungen ver-
langt, so erkennt auch sie trotzdem durchaus die Bedeutung und
den Wert der Selbstbeherrschung, der relativen Askese, an, deren
wunderbaren Einfluß auf die Vertiefung des Gemütslebcns sie
sehr richtig erkannt hat. Besonders die Frauenseele, meint sie,
habe durch die von der konventionellen Moral ihr auf erlegte
Askese in hohem Grade Tiefe, Fülle und Umfänglichkeit gewonnen.
Diese Verinnerlichung komme ihr bei der neuen Wertung der
Liebe zustatten. Diese sei weder durch düstere Lebensentsagung
und Verneinung, noch durch rohe, genußsüchtige Willkür, sondern
durch freudige Bejahung des Lebens und all seiner gesunden
Kräfte und Antriebe gekennzeichnet.
Während Helene Stöcker besonders die psychologisch-
ethischen Beziehungen der freien Liebe gewürdigt hat, ist ihre
nicht minder wichtige Motivierung aus wirtschaftlich-
sozialen Gesichtspunkten u. a. von Friedrich Nauman n,18)
W. Borgius,19) Li 1 y Braun,20) Maria Lischnewska,21)
Henriette Fürth22) versucht worden.
18) 1'r. Naumann, Die Frauen im neuen Wirtschaftsleben in:
Mutterschutz 1906, Heft 4, S. 133—149.
19) W. Borgius, Mutterschafts-Rentenversicherung, ebend. S. 149—154.
20) Lily Braun, Die Mutterschaftsversicherung, ebendaselbst
1906, lieft 1—3, S. 18—24, 69—76, 110—124.
21) M. L i s c h n e w s k a , Die wirtschaftliche Reform der Ehe,
ebendaselbst, Heft 6, S. 215—236.
22) H. Fürth, Mutterschaft und Ehe, ebendaselbst 1905, Heft 7,
10—12, S. 165—169, 389—395, 427—435, 483—489.
E ! o c h , Sexualleben 7.—9. Auflage.
f41.—fiO. Tausend,!
20
306
Mit Brecht weist Naumann darauf hin, daß das bloß geld-
wirtschaftliche System der Unfruchtbarkeit günstig sei, da unter
ihm Mutterschaft gleichbedeutend sei mit Geldverlust, weil die
Frau in dem Maße aufhöre zu verdienen, als sie Mutter sei.
Die Last der Kindererziehung muß eine Sache der Gemeinschaft
werden. Heute dagegen belastet man gerade die Hersteller der
Menschen von allen Seiten. Wer Kinder hat, zahlt auch mehr
Miete und Schulausgaben. Deshalb verlangt Naumann Auf-
hebung des Schulgeldes als allerersten Schritt zur Anerkennung,
daß es eine öffentliche Leistung ist, Kinder zu erziehen. Vor
allem aber muß der Frau erleichtert werden, Mutter zu sein.
Arbeit und Mutterschaft müssen vereinigt werden.
Die Frau als Persönlichkeit verlangt ihr Hecht auf Arbeit
und ihr Recht auf Mutterschaft. Die Tatsache der erzwungenen
Ehelosigkeit einer immer mehr wachsenden Zahl zur Mutterschaft
fähiger Frauen ist das hier zu lösende Problem. Nach der Volks-
zählung von 1900 waren in Deutschland nicht weniger als
4 210 955 Frauen zwischen 18 und 40 Jahren (von im ganzen
9 568 659) also 44 °/o unverheiratet. Darunter waren 2 820 538
(von im ganzen 3 593 644), also nicht weniger als 78 o/o, im
blühendsten Alter von 18—25 Jahren. Nach Lily Braun
bleiben ungefähr 2 bis 21/2 Millionen deutscher Frauen dauernd
unverheiratet, und es wird eine weitere Zunahme der weiblichen
Zölibatäre zu erwarten sein. Die ökonomischen Zustände, die
geschilderten ungesunden Verhältnisse der Zwangsehe, die Eman-
zipationsbestrebungen der Frau wirken in gleichem Maße ehe-
feindlich. Auf der anderen Seite haben sich Gesetzgebung und
konventionelle Moral verbündet, um der unehelichen Mutter und
den unehelichen Kindern das Leben zu einem Martyrium zu
machen.23 24) Das Weib, das in freier Liebe Mutter wird, wird heute
verfehmt, geächtet, rechtlos. Die „Alimentationski age“
ist das Schandmal unserer Zeit! Ein Beweis für die Gewissen-
23) Die erwähnten Tatsachen werfen ein eigentümliches Licht
auf den immer wieder von gewissen nicht sehen wollenden Gelehrten
unternommenen Kampf gegen die Emanzipation der Frau und für
die Mutterschaft! Ein typisches Beispiel hierfür ist die Schrift des
Gynäkologen Max Runge, Das Weib in seiner Geschlechtsindivi-
dualität, Berlin 1896, dessen Objektivität in Vergleichung mit anderen
gegnerischen Schriften aber ausdrücklich anerkannt sei.
24) Aus der Sprechstunde des Anwalts. Von Severserenus,
Hannover 1902, S. 70 ff.
307
losigkeit des größeren Teils der Männer. Ein erfahrener Jurist
hat sehr anschaulich die hier herrschenden unhaltbaren Zustände
geschildert.24) Er teilt u. a. den folgenden charakteristischen
Brief eines jungen Schlächtermeisters mit, der beweist, auf welch
gemeine Weise auch einfache Männer sich der Alimentations-
pflicht zu entziehen suchen. Der Brief lautet:
Liebe Dora!
Wollte heute abend runter kommen, und wollte es Dir
mündlich sagen aber das kann Ich doch nicht darum muß Ich
es dir schreiben, daß wir uns wohl doch nicht heirathen können,
denn Sie mal Ich habe doch jetzt noch weniger als loh geselle
war, meine paar hundert mark die ich hatte, habe ich jetzt
drinsitzen, und wenn ich jetzt nichts zuheiraten kann, denn
kann Ich gar nicht ekzistiren, und machen uns denn die Bude
wieder zu, was machen wir denn, dann mache ich mir in II.
nicht mehr sehen lassen, von arbeiten blos kommt unser Ge-
schäft auch nicht hoch. Also liebe Dora nun schreib mir, ob
wir uns wollen in Guten abfinden, wenn du mir natürlich
den Hals gleich zu ziehst, daß du zu viel verlangst, na denn
ist mir kein Weg zu lang und weit, und mußt dann sehen,
wie du allein damit fertig wirst, Will ja gerne, was recht ist
dazu geben, weil Ich ebenso schuld bin wie Du auch. Wenn’s
mir späterhin erst mal so gut geht als meine Brüder, denn
gebe ich noch mehr dazu her. Aber vorläufig kann ich
Ich noch nicht zu viel hersteuern. Hoffentlich be-
kommst Du wohl denn doch noch einen Mann, wo Du dann
auch wohl glücklicher mit leben wirst als mit mir. Liebe Dora,
nun habe dich da nicht mehr so um: Denn es laufen doch
noch mehr so in der Welt rum, bist du doch nicht die einzige.
Nun schreib mir sofort wider was du machen willst laß es
uns in Güte abfinden, denn es ist doch für dich besser. Und
Deine Mutter wird dir wohl nicht verlassen und kommt dir
später dann von selbst wider.
Besten Gruß
Eritz H.
Schreib gleich wieder.
Man versetze sich in die Seele der jungen Mutter beim
Empfange dieses raffiniert-herzlosen Briefes! Und doch ist diese
Herzlosigkeit nicht größer als diejenige der heutigen europäischen
20*
308
Gesellschaft, die sich gleichzeitig über die „alte Jungfer“
lustig macht und die uneheliche Mutter infamiert. Diese doppel-
züngige, verrottete „Moral“ ist tief unsittlich, ist das
radikal Böse. Sie mit aller Energie bekämpfen, für das Recht
der freien Liebe, der „unehelichen“ Mutterschaft eintreten, ist
sittlich und gut. Räumen wir endlich auf mit dem mittelalter-
lichen Popanz der Zwangsehenmoral, die geradezu ein Hohn ist
auf unsere kulturellen und wirtschaftlichen Zustände. Zwei
Millionen Frauen in erzwungener Ehelosigkeit und —
Zwangsehenmoral! Man braucht nur diese beiden Tatsachen sich
zu vergegenwärtigen, um den völligen ethischen Bankerott unserer
Zeit auf dem Gebiete der sexuellen Moral vor Augen zu haben.
Neben dieser Notwendigkeit einer radikalen Aenderung der
Geschlechtsmoral kommt die Forderung einer allgemeinen
Mutter Schafts - Versicherung, der Gründung von
Schwangeren-, Wöchnerinnen- und Säuglings-
heimen erst in zweiter Linie in Betracht. Aber auch ihre Er-
füllung wird uns ein gut Teil vorwärts bringen in der Ge-
sundung unseres Sexuallebens und der Vorbereitung einer schöneren
Zukunft.25)
25) Die soziologisch so bedeutsame Frage der unehelichen
Mutterschaft hat neuerdings Max Marcus e in einer aus-
gezeichneten Monographie „Uneheliche Mütter“ (Berlin 1907, Bd. 27
der von Hans Ostwald herausgegebenen Großstadt-Dokumente)
behandelt. Hier finden sich genauere Angaben über Zahl, Konfession,
Stand, Beruf und Typen der unehelichen Mütter, soziale und psycho-
logische Ursachen der unehelichen Mutterschaft und der gegenwärtigen
und künftigen Fürsorge für dieselben. — Derselbe Autor bespricht
die wichtige Frage der Adoption unehelicher Kinder in der Zeit-
schrift „Soziale Medizin und Hygiene“ 1906, Bd. I, S. 657—667. —
Als wertvolle Monographien über uneheliche Kinder sind die-
jenigen von Hugo Neumann, Die unehelichen Kinder Berlins,
Jena 1900. Ottomar Spann, Untersuchungen über die unehe-
liche Bevölkerung in Frankfurt a. M., Dresden 1906, Frieda Duen-
sing, Rechtsstellung des unehelichen Kind.es und Taube, Unehe-
liche Kinder, in: Das Buch vom Kinde, herausgegeben von A cl e 1 e
Schreiber, Leipzig 1907, Bd. II, Abt. 2, S. 57—61; S. 62—69 zu
nennen.—Was bisher von seiten des Bundes für Mutterschutz prak-
tisch geleistet worden ist — und das ist schon recht viel, aber immer
noch zu wenig — hat Maria Lisclinewska in ihrer gut orien-
tierenden Broschüre „Unser praktischer Mutterschutz“, Berlin 1907.
zusammengestellt.
309
Wenn es wahr ist, was W. B. Stevenson26) berichtet, daß
König Karl IV. alle Findelkinder in dem spanischen Amerika
für adelig erklärte, damit ihnen der Zugang zu keinem Amte
verschlossen sei, dann wäre diese Handlungs- und Denkweise
eines Herrschers im Lande der Inquisition ein leuchtendes Vor-
bild für unsere Zeit.
„Die Gesellschaft“, sagt Eduard Eeich, „so gut wie die
Kirche, sündigt so lange wider die Gesetze der Sitt-
lichkeit, als sie dem Fortkommen unehelicher Kinder hindernd
in den Weg tritt, sei es durch Aufrechterhaltung elender Vor-
urteile wider diese Armen, sei es durch positive Bestimmungen.
Niemals, und mögen auch paradiesische Zustände obwalten, wird
man imstande sein, die außereheliche Zeugung unmöglich zu
machen: immer wird es Künder der Liebe geben. Da nun diese es
nicht verschulden, von ihren Eltern in die Welt gesetzt worden
zu sein; und ferner, auch wenn alle Menschen verehelicht wären,
man es dem einen nicht als moralisches Vergehen anrechnen
könnte, wenn er, in der Fülle seiner Zeugungskraft, es vorzöge,
anstatt bei seiner z. B. am Krebse oder sonstigem Uebel leidenden
Frau, bei einem schönen Mädchen zu schlafen — und die andere,
die eben in der vollsten Blüte der Jugend steht, nicht der Un-
treue beschuldigen dürfte, wenn sie, die mehrere Jahre lang z. B.
wegen Impotenz ihres altersschwachen Mannes den Koitus nicht
pflegen konnte, nunmehr von einem frischen und gesunden jungen
Kerl sich beschlafen ließe; — deshalb ziehe man über alle gut-
artigen menschlichen Schwä-chen den Schleier des Vergessens, und
frage nicht mehr danach, ob der Weltbürger aus dem Bette der
Ehe oder dem Borne der Liebe entsprungen ist: den Ver-
nünftigen gilt nur der Mensch, und nur Halbköpfe, Schöpse und
Esel werden nach seinem Ursprünge fragen.“27)
Und noch eine Frage richte ich zum Schlüsse an die mit
ihrer Sittlichkeit prunkenden Verfechter der Zwangsehenmoral.
Wie viele freie Liebesverhältnisse, wieviel uneheliche Kinder
hat es nicht zu allen Zeiten unter den gebildeten Ständen, ja
26) W. B. Stevenson, Reisen in Arauco, Chile, Peru und
Columbia in den Jahren 1804—1823, Weimar 1826, Bd. I, S. 174.
27) Eduard Reich, Unsittlichkeit und Unmäßigkeit aus dem
Gesichtspunkte der medizinischen, hygienischen und politisch-mora-
lischen Wissenschaften, jNeuwied u. Leipzig 1866, S. 127,
310
bei den Stützen von Thron und Altar gegeben, gerade bei
solchen, die durch ihre höhere Geistesbildung auch ein
stärkeres ethisches Empfinden (nota bene vom Standpunkte der
Zwangsehenmoral) besitzen sollten. Es wäre eine interessante
Aufgabe, einmal eine Statistik solcher freien Ehen
und „unehelicher“ Nachkommenschaft bedeutender
Männer und Frauen zusammenzustellen! Die Ehefanatiker
würden erschrecken! Ganz abgesehen von den unzähligen
heimlichen Liebesverhältnissen dieser Art und deren Folgen,
würde allein schon eine kurze Betrachtung und Aufzählung der
illegitimen Lieb- und Elternschaften geistig und sittlich gleich
hochstehender Männer und Frauen genügen, um die wirklichen
Verhältnisse zu beleuchten und daraus eigentümliche Schlüsse
auf die Zwangsehe zu ziehen. Ich habe die Absicht, demnächst
einmal in einer kleinen Schrift die Holle der freien Liebe in
der Kulturgeschichte darzustellen und den Beweis zu erbringen,
daß diese sehr wohl mit sittlichem Leben verträglich ist. Wer
könnte auch einen Bürger, Jean Paul, Gutzkow, eine
Karoline Schlegel, eine George Sand oder gar einen
Goethe28) der „Unsittlichkeit“ beschuldigen ?
Es ist eine einfache Entwicklungsnotwendigkeit, daß die freie
Liebe im Zusammenhänge mit der fortschreitenden Differenzierung
und der Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse ihre sitt-
liche Rechtfertigung auch bei jenen finden wird, die immer noch
unter dem Gesichtspunkte längst vergangener sozialer Zustände
sie be- und verurteilen.
28) Abgesehen, von dem Studium der zahlreichen freien Liebes-
verhältnisse des Dichters wäre es interessant, einmal Nachforschungen
über seine unehelichen Kinder anzustellen. Erst vor wenigen Jahren
starb einer der letzten (illegitimen) Enkel Goethes in Stützerbach,
ein Holzhauer, hohen Wuchses und stolzen Ganges, in Blick und Haltung
dem Liebling aller Frauen gleich. Vgl. A. Trinius, Aus Goethes
Bergwelt in: Berliner Lokal-Anzeiger, No. 453 vom 6. September 1906.
ZWOELFTES KAPITEL.
Verführung, Genußleben und wilde Liebe.
Im Genußleben spielen auch die Imponderabilien eine hervor-
ragende Polle, und mancher Besserungsversuch, manche Reform ist
daran gescheitert, daß eben diese feineren Fäden übersehen wurden,
die des Menschen Seele mit den Einrichtungen und Sitten der Umwelt
verknüpfen.
Willy Hellpach
Inhalt des zwölften Kapitels.
312
Unterschied der freien nnd wilden Liebe. — Die Gefahr der wilden
Liebe. — Bildet die Brücke zur Prostitution. — Ihr Zusammenhang mit
dem Genußleben und der Verführung. — Die Eigentümlichkeiten des
modernen Epikuräismus. — Unruhiger Charakter des Genußlebens. —
Das „Sichamüsieren“. — Der erotische Zweck desselben. — Die ge-
schlechtlichen Exzesse der Gegenwart. — Sorglosigkeit der wilden Liebe.
— Einfluß der Großstadt auf das Genußleben. — Das Nachtleben. —
Charakter der großstädtischen Vergnügungen. — Erhöhung der Ge-
schlechtsspannung. — Die Genußsucht im Volke. — Zunahme jugend-
licher Defraudanten. — Die öffentliche Verführung. — Das Verführer-
tum. — Zur Geschichte der Liebeskunst. — Allmähliche Vergeistigung
derselben. — Verführertypen. — Don Juan und Casanova, — Der
britische Don Juanismus. — Der herrische Erotiker und das erotische
Genie. — Kierkegaards „Tagebuch des Verführers“. — Der Pseudo-
Donjuanismus. — Die gedruckten Führer durch das moderne Genuß-
leben. — Einfluß der Lebensweise auf da3 Geschlechtsleben. — Der
Alkohol als böser Dämon desselben. — Analyse seiner Wirkung auf
die Vita sexualis. — Eigenartige Doppelwirkung. — Ausnutzung dieser
durch die Prostituierten und Verführer. — Alkoholismus und Ge-
schlechtskrankheiten. — Der Absinth in Frankreich. — Anteil des
Alkohols an den Sittlichkeitsverbrechen. — Begünstigung der wilden
Liebe durch denselben. — Zusammenhang der unehelichen Geburten
mit alkoholischen Exzessen. — Zunahme der wilden Liebe in der Gegen-
wart. — Das „Verhältnis“. — Seine allmähliche Entartung. — Ent-
stehungsgeschichte des Verhältnisses und psychologische Erklärungen
desselben. — Wachsende Aehnlichkeit des Verhältniswesens mit den
Zuständen in der Prostitution. — Ursachen. — Der näufige Wechsel
des Verhältnisses. — Die Verbreitung der venerischen Krankheiten
durch die wilde Liebe. — Ethische Gefahren derselben. — Rolle von
Lüge, Zweifel und Haß darin. — Erzeugt den Unglauben an die Liebe.
—- Wilde Liebe und Zwangsehe. — Ursachen der geschlechtlichen Kor-
ruption. — Notwendigkeit des Kampfes gegen wilde Liebe und Gc-
schlechtsfreiheit. — Hellmanns Buch über Geschlechtsfreiheit. —
Stellung des Arztes zum „außerehelichen“ Geschlechtsverkehr. —
Wachsende Abneigung gegen die wilde Liebe. — Zunahme freier idealer
Liebesverbindungen. — Wilde Liebe als Uebergang zur Prostitution.
313
Im vorigen Kapitel wurde wiederholt darauf hingewiesen,
daß freie Liebe nicht identisch sei mit der geschlechtlichen
Promiskuität, wie sie heute im irregulären und fast nur vom
Zufall abhängenden außerehelichen Geschlechtsverkehr in so er-
schreckendem Maße und in so verhängnisvoller Weise zutage tritt.
So sehr ich für die „freie Liebe“ eintrete, d. h. für die auf
innige Liebe, persönliche Harmonie, geistige Wahlverwandtschaft
gegründete, aus beiderseitiger freier Entschließung, nach Ueber-
nahme aller aus einem solchen freien Bündnis sich ergebenden
Verpflichtungen und Vergewisserung der Gesundheit beider Teile,
eingegangene Geschlechtsverbindung, ebensosehr muß ich, aller-
dings hauptsächlich vom Standpunkt des Arztes und der öffent-
lichen Hygiene, aber auch aus ethischen Gründen, den heute so
weit verbreiteten „außerehelichen“ Geschlechtsverkehr verurteilen,
für den ich, um ihn von der ganz verschiedenen außerehelichen
„freien“ Liebe zu unterscheiden, die Bezeichnung „wilde
Lieb e“ vorschlage.
Diese wilde Liebe ist der wahre Krebsschaden unserer Ge-
sellschaft. Denn ihr Hauptcharakteristikum ist es, daß sie die
ständige Verbindung und Vermittlung zwischen dem
hygienisch und ethisch einwandfreien Geschlechtsverkehr und der
Prostitution darstellt und so di,e ständige Gefahr in sich birgt,
alle Schäden der letzteren auf den ersteren zu übertragen.
Man kann in diesem Sinne die wilde Liebe wirklich als eine
Art von Irradiation des ganzen Prostitutionswesens in die
Gesamtheit der sexuellen Beziehungen überhaupt auffassen. So
wird sie zu einem starken Hindernis aller Veredelung und
Sanierung des Liebeslebens, zu einer unversiegbaren Quelle
moralischer und physischer Entartung und Durchseuchung des
Volkes.
Diese wilde Liebe hängt nun eng mit dem raffinierten
314
Genußleben unserer Zeit und mit den mannigfachen Arten
der Verführung durch dasselbe zusammen. Wilde Liebe,
Genußleben und Verführung bilden gewissermaßen eine Trias,
von der jedes Glied die Vorbedingung des andern ist.
Wer einst die europäische Kultur der Gegenwart mit einem
kurzen Worte charakterisieren will, der muß sagen, daß sie ein
durch die Arbeit und dem Lebenskampf gemilderter E p i -
kuräismus gewesen sei. Nur ist dieser Epikuräismus ein ganz
eigentümlicher. Es ist nicht mehr das aus dem Vollen schöpfende
Genußleben des 18. Jahrhunderts, wo überhaupt die Sinnenlust
Und das epikuräische Raffinement zu einer Lebensaufgabe wurde,
es ist auch nicht das behagliche Genießen der Biedermeierzeit,
sondern es ist ein ganz eigenartig konzentriertes Genießen
des Augenblicks inmitten der harten Lebensarbeit.
Das horazische: Carpe diem heißt heute: Carpe horam!
Der Frondienst, den der heftige Kampf ums Dasein der
großen Mehrzahl der Menschen auferlegt, läßt keine Zeit mehr
zu einem reinen ungetrübten Genießen des Daseins, zu einem
innigen tiefen Erleben der Wirklichkeit und einer stillen
Freude daran. Nein, unser heutiges Genußleben trägt den Stachel
des Schmerzes in sich, weil der Lebenswille, der nach
Schopenhauer ja beständig auf „Lebenssteigerung“
ausgeht, heute zu einer krampfhaften Sucht nach möglichst
heftigen Sensationen entartet ist, zu einer wilden Jagd
nach möglichst starken und häufigen Genüssen, weil die Zeit zu
einem ruhigen, harmonischen „Sichausleben“ fehlt. Jeder fragt
sich angstvoll, ob er nicht auch diese oder jene Möglichkeit
äußeren Genusses „versäumt“ habe und vergißt darüber, daß das
Glück des Lebens in ihm selbst liegt und die größte Summe
äußerer Genüsse ihm dieses Glück nicht verschaffen kann.
Die Signatur unserer Zeit ist das „Sichamüsieren“,
welches Wort der Inbegriff aller heutigen oberflächlichen Ver-
gnügungen und sinnlichen und geistigen Sensationen ist, die in
rascher Folge einander ablösen müssen, um den modernen Kultur-
menschen fühlen zu lassen, daß er „lebt“.
Für die Mehrzahl der in Großstädten lebenden Menschen
ist das Amüsement gleichbedeutend mit einer Aufeinander-
folge oberflächlichster sinnlicher Genüsse als
präparatorischer Reizungen für einen ebenso
flüchtigen, unedlen Geschlechtsakt.
315
Die viel gehörten und beliebten Phrasen „durchgehen“, „sich
ausleben“, „sich austoben“ usw. haben alle die gleiche Bedeutung
im Sinne einer Vorbereitung zum Geschlechtsgenuß durch
Reizungen solcher Axt.
Von den Bier- und Weinrestaurants, von den Wirtschaften
mit „Damenbedienung“, den Kabaretts und Variétés, den Tingel-
Tangels und Tanzsalons, aber auch den vornehmen Bällen, Soiréen
und opulenten Gastmählern führt der Weg zur Dirne oder doch
in die Arme eines durch die gleichen sinnlichen Reizungen zu
gleicher flüchtiger Geschlechtslust angeregten Mädchens.
Ein großer Arzt hat gesagt: Wir essen dreimal zu viel.
Ich möchte ergänzend hinzufügen: wir1 essen nicht bloß dreimal
zu viel, wir suchen auch alle anderen sinnlichen Genüsse im
Uebermaße und deshalb lieben wir auch dreimal zu
viel oder besser, wir suchen zu oft den Geschlechtsverkehr.
Einer unserer geistreichsten Kulturpsychologen, Willy
Hellpach, hat diese Verhältnisse sehr anschaulich geschildert:
„Der überwältigenden Mehrzahl unserer Junggesellen ist das
sexuelle Vergnügen eine Selbstverständlichkeit, wie ihr Skat, ihre
Vereinsabende, ihr Glas Bier; und von den wenigen, die anders
leben, entfällt ein Teil ins Register der Schüchternheit oder
Armut (sie möchten schon, aber kommen nicht dazu), ein anderer
Teil ist ehrlich enthaltsam, wagt aber von dieser Grundsatz-
festigkeit kein Aufhebens zu machen, ja, man tut wohl selber
so, als unterscheide man sich in nichts von der Majorität —
und die paar jungen Männer, die sich bewußt der Sitte entgegen-
steuern, sind an den Fingern zu zählen. Es ist aber klar, daß
damit der außereheliche Geschlechtsakt den Nimbus des Un-
gewöhnlichen verliert, daß er sorgloser, leichtfertiger, unbe-
kümmerter geübt wird — daß schließlich der Gedanke an seine
Gefahren vielfach verblaßt, die Präventive mit einem leichten
„mir ist noch nie etwas passiert“ außer acht gelassen werden.
Ja, mancher geht selbst dem Verhängnis einer Ansteckung offenen
Auges mit dem leichtherzigen Trost entgegen: es sei ja bis zur
Ehe noch reichlich Zeit, um das Uebel gründlich zu kurieren.
Diese Faktoren haben um so leichteres Spiel, je mehr zu-
gleich die ganze Gestaltung des Genußlebens auf die Reizung
erotischer Regungen sich zuspitzt. Und dieses Faktum knüpft
sich unvermeidlich an die Entwicklung der modernen Großstadt,
316
die wiederum eine Nachahmung großstädtischen Genußlebens in
Mittelstädten, selbst in kleinen Nestern provoziert.1)
Denn das städtische Leben trägt in sich die Mittel zu einer
viel ausgiebigeren Reizung der Sinne, als es die ländliche Daseins-
form vermag, und der sinnenkitzelnde, sinnenbetäubende Charakter
der Stadt hat in der Großstadt unserer Tage einen unerhört hohen
Grad erreicht. Die Stadt ist die typische Trägerin jenes Sinnen-
und Nervenzustandes der Reizsamkeit, der unsere Generation
historisch charakterisiert, der Städter der typische Repräsentant
der Nervosität in ihrer modernen Gestalt. Sinn aber weist schon
als Wort auf Sinnlichkeit hin; und es liegt eine feine Nuance
sprachlichen Umfassungsvermögens darin, daß das Sinnliche ein-
mal das mit den Sinnen Zusammenhängende — und dann schlecht-
hin das Erotische bezeichnet. Dieses und jenes verknüpfen eben
ausgiebige Beziehungen. AVo die Sinne stärker in Anspruch ge-
nommen werden, dort wächst die erotische Begierde, verliert sie
ihren periodischen Verlauf zugunsten eines beständigen Wachseins
oder doch eines durch leisen Anstoß zu weckenden Schein-
schlummers. Und der Großstädter wird nicht bloß darum leichter
zum Geschlechtsakt getrieben, weil sich ihm die Objekte dafür,
die Prostituierten, Verhältnisse und dergl. leichter darbieten,
sondern weil auch sein überreiztes Nervensystem ihn viel stärker
auf die Suche nach diesen Objekten drängt, ihm die Abwehr
ihrer Verlockungen schwerer werden läßt.
Und Stadtleben ist Nachtleben! Desto mehr, je städtischer
es wird, und am allereinseitigsten in der Großstadt — zum
Extrem getrieben in der Weltstadt. Die Folgen bleiben für die
Gestaltung des Genießens nicht aus. Erst das Nachtleben bringt
eine Summe von Reizen zustande, einen unaufhörlichen AVechsel
des Nervenkitzels, der zu wachsender Sinnlichkeit führt ; und
ist das Genußleben erst gewohnheitsmäßig nokturn geworden, so
wirkt nun dies wieder in der Richtung rückwärts, daß es alles
Genießen unvermeidlich an die Stadt fesselt. Die Erholung in
der Natur sinkt zur Nebensache herab, an die Stelle der Aus-
spannung tritt die Scheinerholung durch Abwechslung. Alles,
alles zugunsten einer Verschärfung der sinnlichen Regungen, zur
D So trifft man tatsächlich heute schon in kleinen Landstädten
ständige Variétés und Tingeltangels, und mit diesen ziehen gewöhnlich
auch — Prostituierte ein, und die früher gefahrlose wilde Liebe wird
nun ein Herd venerischer Ansteckung.
317
Einstellung der Wünsche auf erotisches Genießen. Und die Stadt
ist unermüdlich, unerschöpflich in ihren Erfindungen, diese
Instinkte zu befriedigen. Variété, Kabarett, Tingeltangel und all
diese Genres des Amüsements sind ohne die sinnliche Note ja
überhaupt nicht zu denken, und selbst da, wo sie Unbefangenheit
behaupten, wird jene Note von den Konsumenten unbewußt ge-
sucht, leicht gefunden und würde mit Entrüstung vermißt werden.
Doch das gleiche gilt mehr oder minder auch von den Unter-
haltungsfaktoren höheren ästhetischen Ranges. Mit ganz wenigen
Ausnahmen müssen unsere Bühnen den Instinkten des Publikums
Rechnung tragen, und des Großstadtpublikums Instinkte gehen
eben vorzugsweise aufs Erotische. Oder selbst da, wo sexuelle
Fragen in die Sphäre höchster Kunst gehoben und vom Künstler
dem Gemeinen entrückt sind, hören die Genießer infolge ihrer
Artung doch wieder nur das erotisch Kitzelnde heraus, und daß
Oper und Operetten von vielen nur um dieser Nebenwirkungen
willen kultiviert werden, ist zu bekannt, als daß es eines
Beweises bedürfte ; vom Ausstattungsstück und vom Ballett
ganz zu schweigen.
Vielleicht kommt aber das Aergste noch. Nämlich: in seinen
offiziellen Belustigungen, seinen Abendessen, Jours, Kränzchen,
Bällen usw. findet nun der Mann der oberen Stände, der mittleren
auch, nicht etwa das ersprießliche Gegengewicht gegen jenes
spezifisch junggesellenhafte Genießen, sondern dessen Fortsetzung
in etwas verhüllter, raffinierter Form. Von vornherein wird das
Verhältnis der Geschlechter zueinander in jenen Schleier der
Befangenheit, der Absichtlichkeit gehüllt, die einen leise prickeln-
den Reiz aufs Begehren übt und den Mann in einen Zustand
unerquicklicher Spannung versetzt, Spannung, für die er oft nur
eine Entladung findet : den Geschlechtsgenuß, — den er sich
kaufen oder erlisten muß — und so tritt er gerade aus den Ein-
drücken des offiziellen Genußlebens heraus als Kunde der Prosti-
tuierten, als Partner des Verhältnisses, als Verführer ins groß-
städtische Nachtleben. Und entweder lauern dort seiner die
venerischen Gefahren oder er selber verkörpert sie; denn der
geschlechtskranke Mann ist nicht bloß ein Opfer, sondern er ist
meistens auch ein Herd, der neue Opfer in Gestalt bis dahin
gesunder Mädchen schafft.
Diesem Unheil reicht ein merkwürdiger Zug im Genußleben
des einfacheren Weibes zum Ueberfluß noch die Hand. Ich meine
318
jenen Servilismus, jene erotische Bedientenhaftigkeit, die schon
im Klatsch, in der Lieblingslektüre der unteren Schichten ihren
Ausdruck findet, und die sich gewissermaßen geschmeichelt fühlt,
vom vornehmeren Manne des Anbändelns gewürdigt zu werden.
Daß die Prostituierte ihre Liebhaber in der Erzählung gern zu
Baronen macht, ist bekannt; aber eine ähnliche Neigung geht
leider durch die weibliche Hälfte der unteren Massen überhaupt,
leider besonders im deutschen Volke: unsere Commis voyageur-
Natur, der wir nach Sombart ein Stück unserer Ueberlegenheit
auf dem Weltmärkte verdanken, findet ihre betrüblichste und
verhängnisvollste Kehrseite in der Bereitwilligkeit, mit der die
Massen ihren Stolz und ihr Ich vergessen, wenn es einen Genuß
zu erhaschen gilt. Das ist in den letzten Lustren leider nicht
besser, eher vielfach noch schlimmer geworden: das um jeden
Preis „fair“ Seinwollen, mit dem das einfache Mädchen sich so
häufig lächerlich macht, umspannt eben auch den Ehrgeiz, mit
einem vornehmen Verehrer „zu gehen“.“2)
Aber nicht nur das einfache Mädchen aus dem Volke opfert
dieser Genußsucht Leben und Gesundheit, auch die jungen Männer
wollen nicht Zurückbleiben in der für „gentlemanlike“ geltenden
Jagd nach Vergnügungen und nach dem Weibe. Geradezu auf-
fällig ist in letzter Zeit die Zunahme der jugendlichen Defrau-
danten, der Lehrlinge und kaufmännischen Angestellten, die nur
zum Zwecke der Befriedigung ihrer Animierkneipengelüste sich
Unterschlagungen zuschulden kommen lassen. Unter ihnen trifft
man schon Burschen im Alter von 14 bis 18 Jahren, ein Symptom
der heutigen sexuellen Frühreife. Wenn sie, wie gewöhnlich,
nach einigen Tagen festgenommen werden, stellt es sich heraus,
daß die veruntreute Summe in Gesellschaft von Dirnen verjubelt
worden ist, daß aber jener Hang zu liederlichen Ausschweifungen
bei dem Defraudanten schon lange vorher bestanden hat. Wenn
die Prinzipale sich über die Lebensweise ihrer Angestellten besser
unterrichten würden, würde ihnen manche Enttäuschung, mancher
Verlust erspart bleiben.
Die sexuelle Verführung geht heute viel weniger von ein-
zelnen Personen aus, als vom Milieu. Das Genußleben als
2) Willy Hellpach, Unser Genußleben und die Geschlechts-
krankheiten, in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämp-
fung der Geschlechtskrankheiten 1905, Bd. III, No. 5/6, S. 103—105.
319
solches, die ganze sinnlich reizende Atmosphäre desselben spielt
heute die Rolle, die früher bei noch unentwickeltem Verkehrs-
und Vergnügungswesen dem „Verführer“, galant homme und
Don Juan der alten Zeit zufiel. Unsere jungen Leute unterliegen
viel mehr dem allgemeinen Einflüsse der alle Kreise faszinierenden
Sucht nach Amüsement als den Verlockungen gewohnheitsmäßiger
Verführer. Heute sind die Opfer der öffentlichen
Verführung durch das für unsere Zeit charakte-
ristische Genußleben weit zahlreicher als die Ver-
führung durch einzelne Personen, die es ja zu allen Zeiten ge-
geben hat und geben wird.
Bevor ich noch auf einzelne, die wilde Liebe besonders be-
günstigende Momente des heutigen Genußlebens, der heutigen
allgemeinen Verführung eingehe, will ich noch die interessante
Frage des „Verführertums“ berühren, des Don Juanismus
und der Praktiker der Ars amandi.
Es ist merkwürdig, wie sehr die Geschichte der Verführungs-
kunst die allgemeine Tendenz der Entwicklung der Liebe vom
rein physischen Triebe zur geistigen Liebe widerspiegelt. Das
lehrt schon eine einfache Betrachtung der so zahlreichen Lehr-
bücher der Liebeskunst, der sogenannten „Ars amandi“.
Während in den älteren Lehrbüchern derselben, von Ovids
altberühmter „Ars amandi“3) bis zu der „Practica Artis amandi“,4)
der „Morale galante ou l’art de bien aimer“5) im 17. und Gentil
Bernards „L’art d’aimer“6) im 18. Jahrhundert, hauptsächlich
Wert auf alle möglichen sinnlichen Beizungen und eine mit ihnen
im Zusammenhänge stehende oberflächliche Galanterie gelegt wird,
finden wir in den modernen Lehrbüchern, schon in dem noch dem
18. Jahrhundert angehörenden von Man so,7) besonders aber in
den neueren von Stendhal,8) Paul Bourget,9) A. Si 1 -
3) Von ihr erschien kürzlich eine vortreffliche, in geistreicher Weise
modernisierte Uebersetzung in Blankversen von Karl Ettlinger,
„Ovids Liebeskunst. Eine moderne Nachdichtung.“ Berlin-Groß-Lichter-
felde-Ost 1906.
4) Hilarii Drudonis, Practica Artis amandi, Amsterdam 1652.
5) Paris 1659.
c) Paris 1775.
7) J. C. F. Manso, Die Kunst zu lieben, Berlin 1794
8) Henry Beyle (Stendhal), Ueber die Liebe, Deutsch von
A. Schurig, Leipzig 1903.
320
v e s t r e9 10 *) Catulle Mendes ,u) Robert Hesse n12) und
H j a 1 m a r Iv j ö 1 e n s o n13) Adel mehr alle geistigen Momente
der Liebeskunst betont. Man kann die ganze Bereicherung des
Geistes- und Gefühlslebens in ihnen verfolgen.14)
Derselbe Entwicklungsprozeß läßt sich auch in der Gestalt
des Don Juan erkennen. Sein Typus hat sich sukzessive verändert.
Er ist immer intellektueller genvorden. Der rein sinnliche
Don Juan, wie ihn z. B. Lord Chesterfield charakterisiert
und verkörpert, ist heute ganz im Genußmenschen gewöhnlichster
Art auf gegangen, während Kierkegaards ,,Tagebuch des
Verführers“ zwar ein Extrem, den bloßen Reflexionswüstling
schildert, aber mit diesem Extrem die allgemeine Entwicklungs-
tendenz richtig gekennzeichnet hat.
Neuerdings hat Oscar A. H. Schmitz eine sehr originelle
und geistreiche Studie über „Don Juan, Casanova und andere
erotische Charaktere“ veröffentlicht (Stuttgart 1906), in der er den
Verführertypus eines Casanova streng von dem Verführertypus
eines Don Juan unterscheidet. Don Juan ist betrügerischer,
listiger Verführer, dem die damit verbundene Besitz-
ergreifung, die Gefahr, die Betätigung seiner Macht-
und Herrschaftsgelüste Hauptsache ist, der aber an sich
unerotisch ist, während Casanova der Erotiker par ex-
cellence ist, auch verschlagen und betrügerisch, aber nicht um sein
Macht-, sondern um sein sinnliches Liebesbedürfnis angenehm zu
befriedigen. Don Juan kennt nur „die Weiber“, für CasanoAU ist
jede „das Weib“. Don Juan ist dämonisch, teuflisch, er geht auf
das Verderben der von ihm verführten Frauen aus, er stößt sie
absichtlich ins Unglück, Casanova ist menschlich, sorgt immer
für das Glück seiner Geliebten und widmet ihnen ein zärtliches
Andenken. Don Juan verachtet die Weiber, er ist der
Typus des Misogynen, des satanischen Frauenhassers, Casanova
9) Paul Bourget, Physiologie der modernen Liebe, Deutsch
von 0. Dittrich, Budapest 1891.
10) Armand S i 1 v e s t r e , Le petit art d’aimer, Paris 1897.
u) Catulle Mendes, L’art d’aimer, Paris o. J.
12) Robert Hessen, Das Glück in der Liebe. Eine technische
Studie. Stuttgart 1899.
13) HjalmarKjölenson, Die Erschließung des Liebesglückes,
Leipzig 1905.
14) Eine ausführliche Studie über die Geschichte und Literatur
der Ars amandi wird von mir vorbereitet und demnächst erscheinen.
S21
ist typischer Feminist, besitzt ein tiefes Verständnis für die
Frauenseele, wird durch die Liebe nicht enttäuscht und braucht
die ständige Berührung mit weiblichem Wesen für sein Lebens-
glück. Don Juan verführt durch sein dämonisches Wesen, durch
die Anziehungskraft der brutal-wilden Gewalt, Casanova durch
die von ihm ausgehende sinnliche Atmosphäre.
Mit feinem psychologischen Scharfblick sagt Schmitz: „Es
scheint, daß die Liebe einer oder womöglich mehrerer Frauen
zugleich den Mann mit einem Lebensfluidum zu umfechten,
seinen Blicken ein Leuchten zu geben vermag, das ihn zuzeiten
unwiderstehlich macht. Männer des Vergnügens wollen beobachtet
haben, daß sie gerade nach den begünstigtesten Nächten, als sie
ermattet den Schlaf suchen wollten, auf dem Heimweg besonders
neugierige und versprechende Frauenblicke auf sich ruhen fühlten.“
Die Unterscheidung zweier Verführertypen, wie sie S c h m i t z
in seinem durchaus originellen und an feinen Bemerkungen zur
Psychologie der Liebe reichen Buche durchführt, ist allerdings
nicht neu. Schon Stendhal hat in dem Kapitel „Werther und
Don Juan“ seines Buches „Ueber die Liebe“ (Deutsche Ausgabe,
Leipzig 1903, S. 241 bis 251) die gleichen Typen gezeichnet.
„Die echten Don Juans,“ sagt er, „sehen schließlich in den Frauen
ihre Feinde und finden an deren vielfältigem Unglück Genuß“,
während Werther — Casanova alle Frauen als entzückende Wesen
achtet, gegen die wir allzu ungerecht sind. Die Liebe des Don
Juan ist ein „ähnliches Gefühl wie die Vorliebe für die Jagd“,
Werthers Liebe ist sanft, idealisiert die Wirklichkeit, ist voll
von zarten und romantischen Eindrücken. Don Juan ist Eroberer,
Werther Erotiker.
Auch ich habe schon vor Schmitz in meinem Werk über
das „Geschlechtsleben in England“ (Berlin 1903, Bd. II, S. 159)
sehr deutlich diese beiden Verführertypen voneinander unter-
schieden, an einer Stelle, wo ich den britischen Don Juan im
Gegensätze zum französischen und italienischen schildere.
Dort heißt es: „Ein Hauptcharakterzug der britischen Don
Juans, der sie durchweg von den Wüstlingen der romanischen
und der anderen germanischen Länder unterscheidet, ist die
kalte, eherne Ruhe, mit der sie dem Lebensgenüsse frönen,
der ihnen viel weniger eine Sache der Leidenschaft
als des Stolzes und der Befriedigung ihres Macht-
bewußtseins ist. Den französischen, den italienischen Don
B1 o o h , Sexualleben. 7.—9. Auflage. 21
(41.—60. Tausend.)
322
Juan treibt eine glühende Sinnlichkeit von Eroberung zu Er-
oberung. Das ist das Hauptmotiv ihrer Handlungen und ihrer
Lebensweise. Der englische Don Juan verführt aus Prinzip, des
Experimentes halber, er treibt die Liebe als Sport. Die Sinnlich-
keit spielt erst in zweiter Linie eine Polle und mitten im Genüsse
blickt die Herzenskälte auf eine schreckliche Weise durch.
Das ist der „Pake, der Typus des Lovelace, den
Pichardson mit unvergleichlicher Meisterschaft in seiner
„Clarissa Harlowe“ gezeichnet hat“.
Auch Ta ine hat diesen britischen Don Juanismus, der mehr
haßt als liebt, in seiner Geschichte der englischen Literatur ge-
schildert.
Endlich finden wir diese Typen auch in Posa Mayreders
Buch „Zur Kritik der Weiblichkeit“ (Leipzig 1905), besonders
in dem Kapitel „Einiges über die starke Faust“ (S. 210 bis 243).
Ihr Typus des „herrischen Erotikers“ kommt dem Don
Juan-Typus von Schmitz und meinem britischen Verführer-
typus am nächsten.
„Die erotische Erregung,“ sagt Rosa Mayreder, „löst
bei diesen Männern Herrschaftsgelüste aus; ihnen bedeutet das
Verhältnis zum Weibe ein Besitzergreifen, einen Machtgenuß,
und anders als unterworfen und abhängig können sie sich das
Weib nicht denken. Nur soweit das Weib sich als Mittel eignet,
kennen sie es; als Persönlichkeit mit eigenen Zwecken existiert
es für sie nicht.“
Die herrische Erotik findet sich bei ganz niedrigen wie bei
sehr hochstehenden Männern.15) Ihr diametral entgegengesetzt ist
das Liebesempfinden zartfühlender, erotisch höher differenzierter
Männer, deren höchsten Typus das „erotische Genie“ dar-
stellt. Posa Mayreder charakterisiert dasselbe folgender-
maßen :
„Die gesteigerte Differenzierung des erotischen Empfindens
bringt eine neue Fähigkeit mit sich, die das Bewußtsein der Ueber-
legenheit auslöscht und das Bedürfnis nach dem Abstand in das
Bedürfnis der Gemeinsamkeit, der Gegenseitigkeit verwandelt —
die Fähigkeit der Hingebung. Damit begibt sich das Merkwürdige
in der männlichen Psyche, das große Wunder, das eine völlige
15) Vgl. über die herrischen Erotiker auch die Aeußerung von
Georg Hirth in: Weg zur Liebe, S. 583.
823
Umkehrung des primitiven Empfindens bewirkt, eine Wandlung (?)
der teleologischen Geschlechtsnatur.
Das erotische Genie umfaßt die Wesen des anderen Geschlechts
mit intuitivem Verständnis und vermag sich ihnen ganz zu
assimilieren. Sie sind ihm das Urverwandte und Urvertraute; die
Vorstellungen der Ergänzung, der Erfüllung, der Befreiung des
eigenen Wesens oder selbst die einer mystischen Verschwisterung
begleiten seine Liebesbeziehungen. Ihm bedeutet die Geschlecht-
lichkeit nicht eine Aufhebung oder Beschränkung der Persönlich-
keit, sondern eine Steigerung und Bereicherung durch die Indivi-
duen, mit denen es auf diese Weise verknüpft wird.“
Als ein erotisches Genie solcher Art bezeichnet B-osa M a y -
reder Richard Wagner, wie er sich in seinen Briefen an
Mathilde Wesendonk offenbart.
Die Bewußtheit und Verfeinerung der modernen Frau, ihr
Auftreten als Persönlichkeit muß den Typus des herrischen
Erotikers immer mehr zurückdrängen, allerdings wohl nie ganz.
Ich glaube nicht an eine gänzliche Wandlung der teleologischen
Geschlechtsnatur des Mannes, die ihm stets die aktive, aggressive
Rolle zugeteilt hat. Aber es ist richtig, daß die Daseinsmöglichkeit
für den herrischen Erotiker, den Don Juan-Typus, verringert wird.
Er muß, wie Schmitz mit Recht hervorhebt, sich intellektua-
lisieren, wenn er weiter existieren will. Dieser psychologische
Satanismus des modernen Don Juan ist wundervoll von
S. Kierkegaard geschildert worden in seinem „Tagebuch des
Verführers“.16) Der Held desselben lenat am besten von den
Mädchen selbst, wie sie betrogen werden können, er entwickelt
in ihnen die „geistige Erotik“, um sie dann plötzlich zu verlassen,
aber sie selbst müssen die Verlobung lösen. Er ergötzt sich
bei all dem. an dem „verführerischen Saltomortale ihrer Liebe“.
Das Weib und die Liebe ist ihm nicht die Hauptsache, sondern,
wie er am Schlüsse sagt, „daß er sich mit vielen erotischen
Wahrnehmungen bereichern könne“. Der moderne Don Juan ist
also weiter nichts als ein kalter psychologischer Ex-
perimentator. So hat ihn vorahnend Choderlos de
Laclos in dem Helden seiner „Liaisons dangereuses“, dem
Vicomte de Valmont geschildert.
16) S. Kierkegaard, Entweder — Oder. Ein Lebensfragment.
Deutsch von O. Gleiß. Dresden und Leipzig 1904, S. 221—311.
2i*
324
Noch eines anderen interessanten Don Juan-Typus unserer
Zeit wäre zu gedenken, der allerdings kein echter Don Juan,
sondern ein Pseudo- Don Juan oder besser Pseudo-Casanova ist,
und auch im weiblichen Geschlecht vertreten ist.
Das ist der wie Rétif de la Bretonne ewig das Ideal,
ewig die wahre Liebe suchende Mann oder Frau, ein Typus, der
nur durch immer wiederholte Enttäuschungen und Irrtümer don-
juanesken Charakter annimmt. Diesem Typus begegnen wir heute
sehr oft. Er ist nur der Ausdruck für die bei der fortschreitenden
Differenzierung erwachsenden Schwierigkeiten der richtigen
Liebeswahl, und er wird nicht durch die Begierde nach Sinnen-
lust, sondern durch die ewig enttäuschte Sehnsucht nach echter
individueller Liebe erzeugt.
Doch kehren wir nach diesem Exkurse zurück zu der Be-
trachtung jener allgemeinsten öffentlichen Verführung durch das
Genußleben unserer Zeit. Es ist bezeichnend, daß auch dieses
seine literarischen Wegweiser und Anleitungen besitzt in Ge-
st alt der zahlreichen gedruckten Führer für die Lebewelt,
der „Guides du viveur“, „Guides de plaisir“, „Führer durch das
nächtliche Berlin,“ „New London Guide to the Night Houses,“
„Die Geheimnisse der Berliner Passage,“ „Paris by Night,“ „The
Swell’s Night Guide through the Metropolis,“ „Bruxelles la nuit,
Physiologie des établissements nocturnes de Bruxelles“ (für eng-
lische Lebemänner als „Brussels by Gaslight“ zurechtgemacht !),
„Paris and Brussels after dark,“ „The Gentleman’s Night Guide,“
„Hamburgs galante HäüSer bei Nacht und Nebel,“ „Das galante
Berlin,“ „Naturgeschichte der galanten Frauen in Berlin,“ „Paris
intime et mystérieux,“ „Guide des plaisirs mondains et des
plaisirs secrets à Paris,“ alle in den letzten dreißig Jahren zum
Teil in zahlreichen Auflagen erschienen. Auch für Wien, Buda-
pest, Petersburg, Rom, Mailand, Barcelona, Madrid, Marseille,
Rotterdam, New York gibt es solche ausführlichen Uebersichten
aller öffentlichen und geheimen sinnlichen Genüsse.
Um einen Begriff von dem Inhalt einer solchen Anweisung
zum Lebensgenüsse zu geben, teile ich nur die Kapitel eines
1905 erschienenen und, wie der Pariser Verleger mitteilte, als-
bald konfiszierten, dennoch aber in den Buchläden der Boule-
vards und der Rue de Rivoli überall öffentlich ausgestellten und
verkauften Buches mit, das den schönen Titel führt: „Pour
325
s'amuser, Guide du viveur à Paris par Victor Leca“ (Paris
1905). Der Verfasser sagt in einer versifizierten Widmung:
Nous connaissons la Capitale
Et nous l’aimons avec ferveur
Ma science expérimentale,
A fait ce „Guide du Viveur“
und führt in der Vorrede aus, daß alle die verschiedenen Genüsse
des Auges, des Ohres und des Geschmacksinnes in Paris zuletzt
zum — Weibe führen, ganz in Uebereinstimmung mit der
Definition, die ich oben vom Genußleben unserer Zeit gab. Alle
diese Vergnügungen laufen eben zuletzt auf den Geschlechtsgenuß
hinaus, das ist das Ende und der Gipfel jedes „Amüsements“,
das eigentliche punctum saliens des Vergnügungslebens unserer
großen Städte. So hat denn auch Leca in seiner recht über-
sichtlich und raffiniert zusammengestellten Anweisung für Lebe-
männer das Hauptgewicht auf die Notizen über die Erotik und
die Gelegenheit zu erotischen ilbenteuern an den einzelnen Ver-
gnügungsorten gelegt. Er führt als solche der Reihe nach an :
die Theater, besonders die „Théâtres très légers“, die „Cafés-
Concerts“, die Balllokale, die Hippodrome und Zirkusse, die Kaba-
retts von Montmartre, das Quartier Latin, die Weibercafés, die
Boulevards, die Zentralmarkthallen, die Bordelle (mit genauer
Angabe der Straßen und H ausnummern ! !), die Absteigequartiere
(maisons de rendez-vous), das Verzeichnis einiger „galanter Damen“,
die Straßenprostitution, die Passagen, Parks und öffentlichen
Gärten, die Volksfeste, Rennen, Droschkenfahrten, Badeanstalten,
Friedhöfe, Museen und Ausstellungen, alles immer in Beziehung
auf das weibliche Element.
Diese Lehrbücher der Genußkunst sind kulturgeschichtlich,
interessante Belege für die Tatsache, daß der Geschlechts-
trieb durch die Kultur der Gegenwart auf alle
möglichen Weisen beeinflußt, gesteigert, raffi-
niert und kompliziert wird. Besonders das Großstadt-
leben, wo das Wesen der modernen Kultur am konzentriertesten
zutage tritt, ist sexuelles Stimulans im höchsten Grade, mit
seinem Hasten und Jagen, seinem „Nachtleben“17) und den mannig-
17) Die Sonne ist der Wollust feindlich', sagt Grille
parzer in feinem Tagebuche. Aber die künstliche Sonne unserer
nächtlichen Großstadtbeleuchtung übt die entgegengesetzte Wirkung au3.
326
faltigsten Genüssen für alle Sinne, den gastronomischen und
alkoholischen Exzessen, kürz mit seiner neuen Devise, daß nach
der Arbeit das Vergnügen komme und nicht die Ruhe.
In meinem „Geschlechtsleben in England“ (Bd. II, S. 261 ff.)
habe ich den verhängnisvollen Einfluß der Lebensweise auf die
Sexualität geschildert und nachgewiesen, wie gerade im alten und
neuen England der übermäßige Konsum von Fleisch und alkoho-
lischen Getränken den Geschlechtstrieb unnatürlich erregt und
auf Abwege geführt hat.
Aber auch von Deutschland kann man sagen: wir essen —
abgesehen von den Zeiten der „Fleischnot“ — zu viel Fleisch
Und trinken zu viel Alkohol, ersteres mehr in den höheren
Klassen, letzteres in allen Klassen der Gesellschaft.
Die sexuell erregende Wirkung üppiger Mahlzeiten, die z. B.
auch Gabriele d’Annunzio im Anfänge seines Bomanes
„Lust“ schildert, die Tolstoi in der „Kreutzersonate“ als Haupt-
ursache der Aufreizung zur Lüsternheit bezeichnet, ist ja eine
allbekannte Erfahrungstatsache. Und je später am Tage die
großen Mahlzeiten genommen werden, um so gefährlicher sind sie
hinsichtlich ihrer Wirkung auf den Geschlechtstrieb. Ich bin ganz
entschieden der Ansicht, daß die gute alte deutsche Sitte, die
Hauptmahlzeit um Mittag einzunehmen, der sogenannten „eng-
lischen Tischzeit“, wo sie bis zur vierten bis sechsten Nachmittags-
stunde hinausgeschoben wird, bei weitem vorzuziehen ist.
Ueppige Soupers oder gar nächtliche Mahlzeiten, wie sie heute
gang und gäbe sind, müssen geradezu als Aphrodisiaka bezeichnet
werden.
Eine weit verhängnisvollere Bolle spielt der Alkohol im
modernen Genußleben. Man braucht kein absoluter Abstinenzler
zu sein und ist doch genötigt, diese Tatsache mit allem Nachdruck
hervorzuheben. Ja, vom Standpunkte der ärztlichen Erfahrung
und Beobachtung möchte ich den Alkohol den bösen Dämon
des modernen Geschlechtslebens nennen, weil er tückisch und
hinterrücks sein Opfer der geschlechtlichen Verführung und
Korruption, der venerischen Ansteckung und allen Folgen eines
ungewollten Geschlechtsverkehrs ausliefert.18)
Es ist hier nicht der Ort, eine ausführliche Darstellung
18) Schon ein altes Sprichwort sagt: „Aus den zwei V: Vinum
(Wein) und Venus (Weib) entsteht ein großes W (Weh).“
327
der Alkoholfrage zu bringen und meine Ansicht, daß die absolute
Abstinenz eine Utopie und der mäßige, vorsichtige, der ein-
zelnen Individualität angepaßte Alkoholgenuß zur rechten
Zeit keinen nennenswerten Schaden stiftet, im einzelnen zu be-
gründen. Das hindert mich aber nicht, die tieftraurige Rolle
voll zu würdigen, die der gewohnheitsmäßige Alkoholgenuß oder
ebenderselbe, als „Trinksitte“ in der geschlechtlichen Korruption
unserer Zeit spielt. Nur auf diesen Zusammenhang zwischen
Alkohol und Sexualleben19) will ich etwas näher eingehen.
Die Wirkung des Alkohols auf den Geschlechtstrieb und die
Psyche ist eine sehr eigentümliche. Bier oder Wein, sehr mäßig
genossen, rufen ganz ohne Zweifel neben der allgemeinen psychi-
schen Reizung auch eine mehr oder minder starke sexuelle Er-
regung hervor. Diese sexuelle Erregung nun bleibt bei weiterem
Alkoholgenuß länger bestehen als die psychische Erregung, die
sehr bald einer psychischen Lähmung, einem Fortfall der vom
Gehirn ausgehenden Hemmungserscheinungen Platz macht. In
diesem ungleichen Verhalten der rein sinnlich sexuellen und
der psychischen Vorgänge scheint mir die eigentliche Gefahr des
alkoholistischen Exzesses zu liegen. Die sexuelle Reizung durch
den ersten Trunk wirkt noch nach, während der Mensch
bereits alle Herrschaft über Vernunft und Willen verloren hat
und so eine leichte Beute sexueller Verführung wird.
Nur so kann man sich die verhängnisvolle Wirkung des
Alkohols erklären, denn wir wissen, daß er durchaus nicht etwa
ein die Geschlechts kraft steigerndes Mittel ist. Im Gegenteil,
er steigert zwar die Wollust und die sexuelle Begierde, behindert
aber fast immer die Erektion und verlangsamt den geschlecht-
lichen Orgasmus.
19) Vgl. darüber außer den großen Werken über den Alkohol die
speziellen Abhandlungen von B. L a q u e r , Autoreferat und Leitsätze
der Vorlesung über Alkohol und Sexualhygiene in: Mitteilungen der
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
1904, Bd. II, No. 3/4, S. 56—63; W. Hellpach a. a. 0. S. 100—102;
Magnus Hirschfeld, Der Einfluß des Alkohols auf das Ge-
schlechtsleben, Berlin 1905; derselbe, Alkohol und Familienleben,
Berlin-Charlottenburg 1906; Otto Lang, Alkohol und Verbrechen,
Basel o. J.; Oscar Rosenthal, Alkohol und Prostitution,
Berlin 1906;G. Rosenfeld, Alkohol und Geschlechtsleben, in: Zeit-
schrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1905, S. 321—336.
328
So braucht der unter dem Einflüsse des Alko-
hols stehende Mensch viel mehr Zeit zur Voll-
endung des B e g a t tu n gsa k t es als der Nüchterne;
dadurch aber wird die Gefahr einer etwaigen venerischen In-
fektion bedeutend vergrößert, da der Kontakt mit der infizierenden
Person ein bedeutend längerer ist. Ich habe viele Patienten, die
sich nach einem alkoholistischen Exzesse bei Dirnen angesteckt
hatten, über diesen Umstand befragt, und es stellte sich fast
immer heraus, daß der eigentliche Akt sich infolge der bekannten
relativen Impotenz durch Alkohol außerordentlich in die Länge
zog und so natürlich weit mehr Gelegenheit zu ausgiebigster
Berührung, mechanischen Verletzungen durch vermehrte Reibung
usw. und dadurch zur Infektion gab.
In der medizinischen Literatur werden zahlreiche Fälle be-
richtet, in denen zwei Männer kurz nacheinander den Beischlaf
mit einer kranken Prostituierten vollzogen und merkwürdiger-
weise nur der eine sich ansteckte, während der andere gesund
blieb. Genauere Nachforschung würde ohne Zweifel in vielen
solchen Fällen ergeben, daß der nicht Infizierte nüchterner war
als der unter dem Einfluß des Alkohols stehende Infizierte.
Beim Weibe, bei dem von einer eigentlichen Wirkung auf
die „Potenz“ keine Rede sein kann, macht sich um so mehr die
die Libido erregende Wirkung des Alkohols in Verbindung mit
der Beseitigung aller seelischen Hemmungen geltend. So wird
dem Weibe, das überhaupt gegen Alkohol bedeutend intoleranter
ist als der Mann, schon mäßiger Alkoholgenuß gefährlich.20)
Dem Verführer, der Kupplerin, der Prostituierten ist die
geschilderte eigentümliche Wirkung des Alkohols auf die Libido
sexualis und Psyche wohlbekannt, und gerade diese verschieden-
artige Doppel Wirkung wird von ihnen ausgenutzt. Nicht bloß
in den sogenannten „Animierkneipen“, den Kneipen mit Damen-
î0) Nach den Feststellungen von Bonhoeffer, Hoppe, A.
H. Hübner u. a. bildet der chronische Alkoholismus ein wesent-
liches ursächliches Moment für die Prostitution bei den sogen. „Spät-
prostituierte n“, d. h. jenen Mädchen, die sich nicht schon in
der Pubertät, sondern meist erst nach dem 25. Lebensjahre gewerbs-
mäßig preisgeben. Vgl. Artur Hermann Hübner, Ueber Prosti-
tuierte und ihre strafrechtliche Behandlung, in: Monatsschr. für
Krimina.lpsychologie und Strafrechtsreform. Herausgegeben von Cr.
Aschaffenburg, 1907, S. 6,
329
bedientmg, und in den Bordellen dient der Alkohol diesem Zwecke,
sondern auch die Straßendirnen erwarten ihre Opfer mit Vorliebe
am Ausgange der großen Restaurants oder nach Festmählern
“und sehen es hauptsächlich auf betrunkene Männer ab, weil sie
bei diesen, denen jede Herrschaft über sich selbst verloren ge-
gangen ist, in jeder Beziehung leichtes Spiel haben.21) Der
alkoholisierte Mann ist lenksam und willfährig wie ein Kind,
er ist nicht wählerisch, ja sieht überhaupt nicht, ob die ihn
ansprechende Prostituierte jung oder alt, schön oder häßlich,
sauber oder unreinlich ist. Er folgt ihr blindlings und meist
zu seinem gesundheitlichen und pekuniären Schaden.
Der folgende Fall illustriert dieses willenlose Verhalten des
Mannes nach Alkoholgenuß in sehr anschaulicher Weise.
Ein höherer, verheirateter, sonst sehr solider Offizier ver-
läßt nach einem Liebesmahl in vorgerückter Nachtstunde stark
angeheitert das Offizierskasino, um sich nach Hause zu begeben.
Plötzlich fühlt er, wie ein Arm sich unter den seinen schiebt;
es ist eine Prostituierte, die seinen Zustand bemerkt hat und
sich zunutze machen will. Er läßt sich gedanken- und willenlos
in ihre Wohnung führen, vollzieht dort ebenso apathisch ohne
jede Vorsichtsmaßregel den Beischlaf. Erst nachher sieht er, etwas
ernüchtert, daß er es mit einer alten Prostituierten niederster
Klasse zu tun hatte. Seine Befürchtung der venerischen An-
steckung schien sich wenige Tage darauf durch das Auftreten
eines Ausflusses aus der Harnröhre zu bestätigen. Voller Schrecken
kam er zu mir. Doch ergab die mikroskopische Untersuchung
des Harnröhrensekrets und die baldige Heilung nach wenigen
Tagen, daß es sich um einen durch irgend welche Irritamento
hervorgerufenen einfachen Harnröhrenkatarrh, nicht um Gonorrhöe
handelte.
Nicht immer verlaufen diese Fälle so glücklich. Es ist
notorisch und durch die Untersuchungen hervorragender Aerzte
und Medizinalstatistiker festgestellt worden, daß die Mehrzahl
21) Beim Feste, das die Stadt Berlin 1890 dem internationalen
Aerztekongreß im Rathanse gab und bei dem 4000 Personen zusammen
15 382 Flaschen Wein, 22 Hektoliter Bier und 300 Kognaks vertilgten,
spielten sich in und vor dem Rathause ekelerregende Szenen von
Trunkenheit ab. „Wie sich die Schmeißfliegen nach dem Aase ziehen,
so hatte sich auf der Straße vor dem Rathause ein Schwarm feiler
Dirnen zusammengezogen, die unter den trunken herabwankenden Gästen
reiche Beute machten.“ Vgh Rosenfeld a. a. 0. S. 325.
330
der venerischen Infektion unter der Einwirkung des Alkohols
zustande kommt.
Deshalb bedeutet das wachsende Steigen des Al-
koholkonsums eine weitere Ausbreitung der Ge-
schlechtskrankheiten. Während unsere Altvordern nur
an Sonn- und Feiertagen alkoholische Getränke im Uebermaß
genossen, nimmt man heute auch an Wochentagen, oder vielmehr
Wochenabenden, geistige Getränke zu sich. Branntwein und Bier
sind Massengetränke geworden, besonders das Bier, dessen Konsum
von Jahr zu Jahr steigt und im Jahre 1898 bereits ,die unglaub-
liche Summe von zwei Milliarden Mark erreichte! Strümpell
stellte fest, daß Arbeiter mit einem Tagesverdienst von 3 Mark
80 Pfennige, d. h. mehr als ein Drittel ihres Einkommens für
Bier ausgeben, und zwar sind das keineswegs notorische Säufer,
sondern solide Leute, die nur der allgemeinen „Sitte“ folgen.
Die Bolle des Bieres spielt in Frankreich der Absinth, der
Wermutsbranntwein ; der berüchtigte „Apéritif“, zu dem die
Pariser Prostituierten so oft die männlichen Kunden einladen,
ist hauptsächlich der Genuß von Absinth. Der Wein kommt,
wie der erfahrene Fiaux sagt, nur als „Idealgetränk“ in den
Träumen der gewöhnlichen Pariser Prostituierten vor.
Auf die verhängnisvolle Bolle des Alkohols bei Sittlichkeits-
verbrechen, wo er nach Bär in 77 % der Fälle als ursächliches
Moment mit in Betracht kommt, gehen wir später ein, wie wir
überhaupt dem Alkohol in seinen Beziehungen zum Sexualleben
und dessen abnormen Erscheinungen noch öfter begegnen werden.
Hier sei nur nochmals hervorgehoben, in welch hohem Grade
der übermäßige Alkoholgenuß die wilde Liebe begünstigt,
d. h. dem wähl- und regellosen Geschlechtsverkehr, der momen-
tanen Verführung Vorschub leistet. Das läßt sich ganz besonders
deutlich bei Volksfesten und anderen zu alkoholischen Exzessen
Veranlassung gebenden öffentlichen Veranstaltungen beobachten
und später auch durch die hiermit im Zusammenhänge stehenden
unehelichen Geburten feststellen.
Magnus Hirschfeld erzählt, daß er als Student einmal
um die Weihnachtszeit eine Gesellschaft bei einem Professor der
Medizin in Breslau mitmachte, auf der erst ein und bald darauf
ein zweiter Assistent einer Frauenklinik zu einer Geburt abge-
rufen wurden. Ein anwesender älterer Arzt machte dabei die
Bemerkung: „Ja, ja, die Kaisergeburtstagskinder“. Hirsch-
331
f e 1 d, der um eine Erklärung dieser ihm unverständlichen
Aeußerung bat, erfuhr, daß damals um Weihnachten die Ent-
bindungsanstalten und Wöchnerinnenheime überfüllt waren, weil
in jener Zeit die unehelichen Kinder geboren wurden, zu welchen
neun Monate früher, am 22. März, dem Geburtstage des alten
Kaisers, einem allgemeinen Volksfeste, die Keime gelegt waren.
Die Zunahme der wilden Liebe, eines vom Augenblick und
Zufall abhängigen, rasch wechselnden Geschlechtsverkehrs, die
in dem geschilderten Zusammenhänge mit dem Genußleben steht,
ist ein charakteristisches Merkmal unserer Zeit.
Neben der Prostitution, die wir in einem besonderen Kapitel
besprechen, bildet das sogenannte „Verhältnis“ den eigent-
lichen Kern der wilden Liebe. Wenn die Verteidiger der Zwangs-
ehe von freier Liebe sprechen, dann meinen sie nicht die freie
Liebe, die höhere individuelle Liebe, wie sie im vorigen Kapitel
geschildert worden ist, sondern stets das heutige „Verhältnis“,
das in der Tat die ernstesten Gefahren in physischer und ethischer
Beziehung in sich birgt. Denn auf der einen Seite bildet das
Verhältnis den hauptsächlichsten Vermittler der weiteren Aus-
breitung der venerischen Krankheiten, auf der anderen Seite hat
wesentlich diese neue Form geschlechtlicher Beziehungen das
Element der Heuchelei, Lüge und des Mißtrauens großgezogen,
das heute die Liebe vergiftet, die Geschlechter immer mehr von-
einander entfernt, und jenen traurigen Geschlechtshaß, die
Männerfeindschaft der Frauen und den Weiberhaß der Männer,
erzeugt, der auch zur Signatur der Gegenwart gehört.
Die allmähliche Entartung des ursprünglich idealen Verhält-
nisses zur wilden Liebe der Gegenwart hat Hellpach in seiner
kleinen Schrift über „Liebe und Liebesieben im 19. Jahrhundert“
eingehend geschildert und psychologisch erklärt.
In dieser ausgezeichneten Charakteristik des Verhältnisses
wird zunächst ausgeführt, daß es erstens ein durchaus groß-
städtisches Produkt sei, und zweitens mit der kapitalistischen
Entwicklung eng Zusammenhänge, die Tausende von jungen
Mädchen zum selbständigen Broterwerb drängt, so daß sich aus
ihnen namentlich die für die Großstadt typische Menschenklasse
der Verkäuferinnen mit all ihren verwandten Spielarten
rekrutierte. Das ist der Boden, auf dem das Verhältnis wesen
sich entwickelte.
„Am Tage sind diese Mädchen beschäftigt. Kommt der Abend
Jfll
332
mit dem ersehnten Ladenschluß, so winkt ihnen die Aussicht,
heimzugehen in ärmliche Verhältnisse, oft genug trüben Familien-
szenen beizuwohnen, sich schlafen zu legen und am nächsten
Morgen wieder ins Geschäft zu wandern. Tagaus, tagein. Das
ist kein sehr ergötzlicher Wo che n k al e n der, zumal wenn der Weg
vom Geschäft in die Wohnung an strahlend erleuchteten Bier-
palästen und Cafés, an Theatern und Konzertsälen vorüberführt.
Und das alles in den Jahren der geschlechtlichen Entfaltung,
wo die heiße, sinnliche Begierde zum ersten Male in allen Nerven
prickelt! War es da zu verwundern, wenn das Verlangen brennend
wurde, nach aller Tagesarbeit abends auch einmal ein klein
bißchen von den sich aufdringlich zur Schau stellenden Hem
lichkeiten der Großstadt zu genießen? Nach der Gebundenheit des
Ladens nicht geraden Wegs in die Gebundenheit der Familie
heimzukehren, sondern ein wenig die Freiheit des Vergnügens
kennen zu lernen? Und das unter der entzückenden Form einer
kleinen Liebelei ?
Und die sozialen Verhältnisse sorgten auch für die Mög-
lichkeit der Erfüllung solchen Sehnens. Gab es doch Tausende
von jungen Ka-ufleuten, Hunderte von Studenten, Bureaubeamten,
Unteroffizieren, die lieber ein Mädel am Arm ihre Abende ver-
brachten, als allein. Die Prostituierten eigneten sich zu solchen
Zwecken wenig. Schließlich war man ja nicht immer dazu ge-
launt, „aufs ganze zu gehen“, dem Abend eine Liebesnacht folgen
zu lassen; man fühlte sich aber in Stimmung, mit einem Mädel
zu plaudern, zu schäkern, sie vielleicht ein bißchen zu drücken
und zu küssen.
Und so nahm das seinen Weg. Man redete eine Verkäuferin
an, man begleitete sie ein Stück, man traf eine Verabredung für
den nächsten Abend; dann ging man vielleicht schon irgendwohin,
man sah, wie die Kleine sich verliebte, das Du und der Kuß
folgten: noch ein paar Mal so, und man fühlte, daß die Glück-
liche selber nur noch mit brennender Begierde die letzte Bitte
erwartete: „mitzukommen“. Und wenn das geschehen war, dann
hatte man eben sein „Verhältnis“. Und es erwies sich in allen
Stücken als ein Vorzug gegenüber der Prostituierten. Es war
billig, anspruchslos, betulich, verliebt und — gesund. Man hatte
es selber gern, das Liebesieben mit ihm war nicht mehr bloß
notwendiges Uebei, sondern ein reizendes Vergnügen. Und nur
zwei dunkle Punkte trübten das lichte Bild: die Furcht vor
333
einem Kinde und der Gedanke an die Trennung. Diese Trübung
empfand übrigens nur der Mann. Die Mädchen haben damals so
wenig wie heute an solche entfeinten Dinge gedacht . . .
In einer Entwicklung von drei Jahrzehnten hat manches
einzelne wohl, das Gesamtbild sich wenig verändert. Die blut-
junge Verkäuferin von heute braucht nur nicht lange zu hoffen
und zu harren, sie tritt fast immer schon mit der Gewißheit
in ihren Beruf, daß sie in kurzem „mit jemandem gehen“ wird.
Sie wird anfangs immer einen Menschen vorziehen, von dem sie
doch noch annehmen darf, daß er sie möglicherweise heiraten
könnte. Die jungen Kaufleute, die Unteroffiziere sind daher die
Begehrteren. Erst später, wenn die Resignation kommt, und nur
noch der Wunsch geblieben ist, sich zu amüsieren, pflegen
Akademiker den Vortritt zu haben; denn sie sind flotter, unter-
haltender, man ist eitel auf ihren Stand. Das ist alles so ge-
blieben, wie es war. Nur mag es vor dreißig Jahren wohl noch
eine ganze Anzahl von Verkäuferinnen gegeben haben, die trotz
aller Sehnsucht unberührt sich hielten. Es haftete für die im
bürgerlichen Geiste erzogenen Mädchen doch ein gewisser übler
Geruch am freien Geschlechtsverkehr. Das ist heute ganz
vorbei. Die Mädchen dieser Schicht, die mit Bewußtsein allen
Lockungen widerstehen, sind zu zählen. Bis tief ins mittlere
Bürgertum hinein reichen heute die „Verhältnisse“.
Für den männlichen Teil ist freilich eines gründlich anders
geworden. Die Illusion, daß der geschlechtliche Umgang mit einem
Verhältnis die Garantie der Gefahrlosigkeit für die Gesundheit
biete, ist heute längst zerstoben. Wir stehen heute der Tatsache
gegenüber, daß weit mehr22) als die eigentliche Prostitution das
Verhältniswesen der Herd geschlechtlicher Verseuchung ist. Um
das zu verstehen, müssen wir auf die Lösung des Verhältnisses
einen Blick werfen.
Es wurde schon erwähnt, daß von einem völligen Einleben
nach Art des Grisettentums beim deutschen Verhältnis nie die
Rede gewesen sei; und innerhalb absehbarer Zeit wird diese Tat-
sache unverändert bleiben. Es gibt selbst in Berlin eine erheb-
liche Anzahl von Wohnungen, deren Vermieter den Besuch zweifel-
22) So schlimm ist es noch nicht. Aber die Zahl der geschlecht-
lichen Ansteckungen durch die wilde Liebe und den freien Geschlechts-
verkehr im Verhältnis wesen nimmt beständig zu.
hafter Damen unter keinen Umständen gestatten. Aber auch die
Vermieter der ungenierten, oder, wie der Student es nennt, der
„sturmfreien“ Zimmer würden eine tagelange Beherbergung einer
Frauensperson durch ihren Mieter nie dulden und nie dulden
können, wenn sie nicht bei der Polizei in den Kuppeleiverdacht
geraten wollen. Was also die beiden Parteien des Verhältnisses
zu Hause vereinigt, ist fast immer nur der Geschlechtsgenuß
selber. Das Charakteristische des Grisettentums: die Alltäglich-
keit, die Prosa des Zusammenlebens — wird im Verhältnis gar
nicht durchgekostet. Infolgedessen stellt sich auf
seiten des Mannes leicht der Ueberdruß ein. Neue
Eindrücke fesseln und reizen ihn. Er löst das Verhältnis. Zart
geht es dabei meistens nicht her Der Möglichkeiten sind viele,
aber die einzig anständige: die offene, mündliche Mitteilung ist
wohl die allerseltenste. Nach erfolgter Lösung ist für ihn die
Sache beendet. Er ist um eine nette Erinnerung reicher und
beginnt sich nach Ersatz, umzuschauen.
Das Mädchen auch. Nur daß für sie diese Lösung gar oft
den ersten Schritt auf eine sehr abschüssige Bahn bedeutet. Zu-
nächst folgt vielleicht eine kurze Zeit der Erbitterung. Aber
der Geschlechtstrieb spottet aller anderen Regungen: ein neues
Verhältnis beginnt. Und nun steigt schon langsam eine Ahnung
auf, daß der Wechsel in der Liebe doch gar nicht so übel sei.
Die zweite Lösung wird mit Gleichmut ertragen, und gar nicht
selten ist es in kurzem so weit, daß das Mädchen
die Liebschaften auf wenige Tage einschränkt,
daß sie endlich tagtäglich bei einem andern Be-
friedigung sucht. Gewerbsmäßige Prostitution ist es noch
nicht; auch psychologisch bestellt immer noch ein Unterschied.
Es steckt doch noch sinnliches Empfinden dahinter, und nur
dessen Stärke, die durch das Uebermaß an Geschlechtsverkehr
sich steigert, läßt die Person der Befriediger als beinahe gleich-
gültig erscheinen. Aber nun braucht nur ein wirtschaftliches
Sternchen ins Rollen zu kommen: Kündigung der Stellung, Ver-
stoßung aus dem Elternhause, eines wie das andere durch das
ausschweifende Leben mit seinen Nachlässigkeiten und seiner
Arbeitsunlust veranlaßt — und die Lawine donnert hinab. Der
Hunger treibt dazu, für das, was bisher nur die Begierde stillen
sollte, klingenden Lohn zu nehmen. Die Prostitution hat ein
Opfer mehr.
335
Die ganze Zeit aber zwischen dem Beginn der zweiten Lieb-
schaft und der polizeilichen Einreihung in die Prostitution bietet
allen Liebhabern die höchste Gefahr geschlechtlicher Erkrankung.
Denn die Mehrzahl der Verhältnisse stecken sich
gleich bei ihrer ersten Liebelei geschlechtlich an.
Die Erklärung muß auf jene Zeit zurückgehen, wo das Verhältnis
erst anfing, Mode zu werden und die Kontrolle der Prostituierten
in gesundheitlicher Hinsicht noch mangelhafter, der Schutz gegen
die Ansteckungsgefahr noch weniger bekannt war, als heute. Die
jungen Leute der großen Städte gingen damals aus ihren ersten
Liebesnächten zum größten Teile krank hervor. Denn ihre ge-
schlechtliche Befriedigung suchten sie anfangs immer bei der
Prostituierten, wie es auch heute noch zu sein pflegt, weil für
den unberührten Jüngling dieser "Weg bequemer ist, weniger An-
forderungen an seine Gewandtheit, gar keine an seine Verführungs-
kunst stellt, was bei der Knüpfung eines Verhältnisses doch
immerhin in die Wagschale fällt. Später, wenn dann der Ueber-
druß an der Prostitution ein trat, suchte man sich ein Verhältnis,
und da zu jener Zeit namentlich die Behandlung des Trippers
sehr im Argen lag, so steckte man das Verhältnis sofort an.
Auf diese Weise sind die Verhältnismädchen,
seitdem sie in Mode kamen, systematisch ver-
seucht worden.“
Neben der Prostitution ist heute das Verhältnis-
wesen ein großer Herd der geschlechtlichen Ansteckung, und
die wilde Liebe stellt auch in psychologisch-ethischer Beziehung
dieselbe Gefahr dar, wie die Prostitution. Der häufige Wechsel,
die Vielgestaltigkeit des Geschlechtsverkehrs beim Verhältnis-
wesen läßt keine tieferen seelischen Beziehungen aufkommen, er-
niedrigt die Mädchen zu bloßen Objekten physischer Sinnenlust,
läßt sie immer mehr sich an die finanziell stärkeren Männer
halten und macht sie so zu ganzen oder halben Prostituierten.
Ihnen ist jetzt das Genußleben, die Vergnügungssucht, die Haupt-
sache, nicht die Liebe. Die venerische Infektion kommt noch
hinzu, um sie vollends zu depravieren. Noch schlimmer ist die
Korruption der Männerwelt, die die im Umgänge mit Prostituierten
angenommenen Allüren auf den Verkehr mit dem Verhältnis
überträgt, vor allem aber schließlich nur noch den rohen Ge-
schlechtsakt als solchen sucht und begehrt, ohne das Bedürfnis
einer tieferen geistigen Anknüpfung zu fühlen. Die Folge ist
336
flüchtiger Charakter der sexuellen Beziehungen, häufiger Wechsel
beiderseits und das Ende: die Lüge, das Mißtrauen, der
Haß.
Glaube an und ’Hoffnung auf wahre Liebe schwinden für
immer, übrig bleibt nur die kalte, öde, unsäglich verbitternde
Enttäuschung, die Verzweiflung am anderen Geschlecht, die
so charakteristisch für unsere Zeit ist. Nie gab es so viele
prinzipielle Weiberhasser und Männerfeindinnen. Im Verkehr der
Geschlechter glaubt keiner mehr dem anderen und von beiden
Seiten knüpft man das „Verhältnis“ ohne besondere Illusionen
an, nur in der Absicht, die beiderseitige Genußsucht und Sinnen-
lust möglich intensiv zu befriedigen.
So ist das moderne Verhältnis viel mehr noch als die
Prostitution, die keine Illusionen zerstören kann, da sie sich so-
gleich in ihrem wahren Charakter manifestiert, das Grab der
Liebe geworden und hat eine neue Korruption des Sexuallebens
zur Folge gehabt, die beinahe gefährlicher erscheint, als die alte
durch die Prostitution verursachte. Es ist auch ein zweiter ebenso
gefährlicher Herd der venerischen Ansteckung geworden, deren
Ausbreitung es außerordentlich begünstigt.
Wer also den Kampf gegen die moralische Entartung des
Liebeslebens und gegen die Geschlechtskrankheiten führen will,
muß dieheutige Ges taltung des Verhältniswesens
ebenso energisch bekämpfen und beseitigen wie
die Prostitution.
Die wildeLiebe des heutigen „außerehelichen“ Geschlechts-
verkehrs, die, ich wiederhole es immer wieder, nicht das ge-
ringste mit der „freien Liebe“ zu tun ha,t, und die Zwangs-
ehe sind die eigentlichen Ursachen der geschlechtlichen Kor-
ruption. Beide hängen eng miteinander zusammen. Die soziale,
wirtschaftliche und geistige Kultur der Gegenwart fordert freie
Liebe, weder die Zwangsehe noch die wilde Liebe sind mit ihr
vereinbar. ,
Es gibt weder für die Prostitution noch für den wilden außer-
ehelichen Geschlechtsverkehr unserer Zeit eine Rechtfertigung
vom ärztlichen, rassenhygienischen und soziologischen Stand-
punkt. In ihrem Wesen laufen beide auf dasselbe hinaus: Ab-
tötung und Vernichtung aller individuellen Liebe, aller die
Menschennatur geistig so sehr bereichernden feineren Liebes-
337
regungen und eine weiter© Zunahme und schnelle Ausbreitung
der Geschlechtskrankheiten.
Das Heil unseres Volkes liegt nicht in einer „Empfehlung“
des außerehelichen Geschlechtsverkehrs für alle diejenigen, welche
nicht in der Lage sind, zu heiraten — und ihre Zuhl wächst
von Tag zu Tag — sondern in einer Reform der Ehe, einer
freieren Gestaltung des Liebeslebens, wobei man sich getrost
an Ibsens Wort in der „Frau vom Meere“ halten kann:
„"Wir können nie darüber hinweakommen, daß ein freiwilliges
Gelübde beinahe noch fester bindet als eine Trauung.“
Eine „Geschlechtsfreiheit“23) soll und darf es nicht
geben, wohl aber eine „Liebesfreiheit“.
Wenn jemand mich fragt, ob ich ihm zum „außerehelichen“
Geschlechtsverkehr raten könne, so muß ich als Arzt und gewissen-
hafter Mensch mit einem glatten „N e i n“ antworten, weil ich
die Verantwortung für die Folgen eines solchen Rates nicht über-
nehmen kann.
Glücklicherweise macht sich sowohl in unserer Frauen- als
auch in unserer Männerwelt eine wachsende Abneigung gegen
die wilde Liebe, wie sie im modernen Verhältniswesen zutage
tritt, bemerkbar. Schon gibt es zahlreiche Verhältnisse, die sich
stark der freien Liebe nähern und alle Voraussetzungen derselben
hinsichtlich der Dauer, der tieferen seelischen Beziehungen, des
sexuellen Verantwortlichkeitsgefühls in physischer und moralischer
Beziehung und der freudigen Bejahung der Konsequenzen in
bezug auf die Nachkommenschaft erfüllen.
23) Geschlechtsfreiheit, d. h. eine förmliche Organisation der ge-
schlechtlichen Promiskuität, forderte ein gewisser Dr. Roderich
Hellmann in einem jetzt sehr selten gewordenen, weil sofort kon-
fiszierten Buche: „Ueber Geschlechtsfreiheit. Ein philosophischer Ver-
such zur Erhöhung des menschlichen Glückes.“ Berlin 1878, worin er
u. a. verlangt, daß bereits bei Eintritt der Geschlechtsreife „die Ge-
schlechtsteile in eine angemessene Tätigkeit gesetzt werden“, und den
Personen beiderlei Geschlechts nunmehr gestattet wird, „sich jedweden
Geschlechtsgenuß zu gestatten“, allerdings unter Vermeidung von Ge-
sundheitsschädigung und Schwängerung. Dieser sonderbare Heilige tritt
ferner auch dafür ein, daß — Bedürfnisanstalten abgeschafft werden,
weil die Geschlechter ungeniert auf der Straße voreinander ihre Be-
dürfnisse befriedigen, auch ebenso ungeniert ihre Geschlechtsteile zur
sexuellen Anlockung zeigen sollen!!
Bloch, Sexuallehen. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
22
338
Die wilde Liebe aber muß auch als ständige Verbindung
mit der Prostitution bekämpft werden, zu der sie die Brücke,
den Uebergang, bildet. Darin liegt ihre größte Gefahr. Das werden
wir sehen, wenn wir die Verhältnisse der Prostitution ge-
nauer untersuchen, zu deren Betrachtung wir uns nunmehr wenden.
339
DBEIZEHNTES KAPITEL.
Die Prostitution.
Auf diese eine tiefgesunkene und entwürdigte Menschengestalt
konzentrieren sich die Leidenschaften, welche die Welt mit Schande
füllen könnten. Während Bekenntnisse und Zivilisationen entstehen
und vergehen, bleibt sie die Priesterin der Menschheit, welche für die
Sünden des Volkes zum Opfer fällt.
W. H. Lecky.
22*
340
Inhalt des dreizehnten Kapitels.
Prostitution und Geschlechtskrankheiten das Zentralproblem der
sexuellen Präge. — Mein Glaube an die Möglichkeit der Ausrottung
beider. — Anfang der wissenschaftlichen Bekämpfung beider erst in
den letzten Jahren. — Die „plaie sociale“. — Innere und äußere
Behandlung derselben. — Die wissenschaftliche Literatur über Prosti-
tution. — Rosenbaums Werk über die Prostitution im Altertum.
— Aretino, Delgado, Veniero über die Prostitution der Re-
naissance. — Franckenaus Abhandlung über die „Hurenhäuser“.
— Erste Anregungen zum wissenschaftlichen Studium der Prosti-
tution und Venerie im 18. Jahrhundert. — Rétif de la Bretonne
und sein „Pornographe“. — Die „Sittenkontrolle“. — Pare nt -
Duchatelets grundlegendes Werk. — Analyse desselben. — Zeit-
genössische Werke über die Prostitution in Paris, London, Edinburgh,
Glasgow, Lissabon, Lyon, Algier.-------Erster Gebrauch des Wortes
„männliche Prostitution“. — Schriften über die Prostitution in Berlin.
— Eine eigene Spezies von Zuhältern. — Die Prostitution in Hamburg.
— Dr. Lippe rts Buch. — Die „Memoiren einer Prostituierten“,
Vorläufer des „Tagebuchs einer Verlorenen“. — Groß-Hoffingers
Werk über die Prostitution in Oesterreich. — Nachweis des Zusammen-
hangs der Prostitution mit der Zwangsehe. — Berühmtes Kapitel über
die Dienstmädchenprostitution. — Schrank über die Prostitution
in Wien. — Die Prostitution in Leipzig. — In New York. — Allge-
meine Werke über Prostitution. — Jeannel, Acton, Hügel. —
Schriften über heimliche Prostitution, Prostitution der Minderjährigen,
über Reglementierung und Bordelle, über die soziale Bedeutung der
Prostitution. — Blaschkos neue kritische Forschungen über Prosti-
tution. — Ergebnisse derselben. — Lombrosos anthropologische
Theorie. — Die Arbeiten Tarnowskys und St r öhmbergs, von
F i a u x und v. Düring.
Begriff und Definition der Prostitution. — Echte und Pseudo-
Prostituierte. — Prostitution bei Naturvölkern. — Religiöse Prosti-
tution als Keimform der modernen Prostitution. — Diese ein Produkt
der Städtebildung. — Zustände im Mittelalter. — Abnahme der Bor-
delle seit jener Zeit. — Die Nachfrage nach Prostituierten. — Das
Zahlenverhältnis zwischen Prostituierten und männlicher Bevölkerung. —
Angebot größer als Nachfrage. — Ursache des männlichen Bedürfnisses
nach Prostitution. — Die Prostitution ein Kulturprodukt. — Zurückdrän-
gung primitiver Geschlechtsinstinkte durch die Kultur. — Das sexuelle
Ober- und Unterbewußtsein. — Zeitweilige elementare Regungen des
341
letzteren. — Mitteilungen von J. P. Jakobsen und anderen Schrift-
stellern darüber. — Befriedigung dieser Instinkte durch die Prosti-
tution. — Diese zum Teil ein Produkt des physiologischen Masochis-
mus der Männer.
Zahlreiche Ursachen der Prostitution. — Die anthropologische
Theorie und Lehre von der geborenen Prostituierten. — Kritik der-
selben. — Nachweis des Erworbenseins vieler körperlicher und geistiger
Veränderungen der Prostituierten. — Die Verwischung der sekun-
dären und tertiären Geschlechtsmerkmale bei Lustmädchen. — Kern
der Lombroso sehen Theorie. — Die ökonomischen Eaktoren der
Prostitution. — Wirkliche und relative Not als Ursache. — Bedingt
die Prostitution als Massenerscheinung’. — Die Weiber- und Kinder-
arbeit. — Prostitution als Nebenerwerb. — Unzureichende Löhne. —
Die Enqueten von 1887 und 1903 darüber. — Beispiele. — Der hohe
Anteil der Dienstmädchen an der Prostitution. — Erklärung dafür. —
Die relative Not der Dienstmädchen. — Psychologische Eaktoren der
Dienstmädchenprostitution. — Das Wohnungselend. — Schlafburschen-
wesen. — Alkoholismus. — Der Mädchenhandel. — Quellen desselben.
— Nationale und internationale Maßregeln dagegen. — Die Arbeit
des jüdischen Komitees gegen den Mädchenhandel in Galizien. —
Maßnahmen in Buenos Aires. — Die Berliner ZentraTpolizeistelle zur
Bekämpfung des Mädchenhandels.
Die Stätten der Prostitution. — Oeffentliche Prostitution. —
Straßenprostitution. — Charakter und Gefahren derselben. — Größere
Gefahr der Bordelle. — Bordelle als Zentren der geschlechtlichen
Korruption und Perversität und Herde der Ansteckung. — Die hohe
Schule der Psychopathia sexualis. — Der Bordell jargon. —- Die Animier-
kneipen. — Die Balllokale und Tanzsalons. — Die Variétés, Tingel-
Tangel, Kabaretts, und „Bummel“. — Die „Pensionen“, Maisons de
passe und Absteigequartiere. — Die Massageinstitute. — Die Weiber-
cafés.
Anhang. Die Halbwelt. — Ursprung des Namens. — Die
„Demi-Monde“ des jüngeren Alexander Dumas. — Heutige Ver-
änderung des Begriffes. — Analogie mit den griechischen Hetären. —
Zusammenhang der Halbwelt mit dem High Life. — Herkunft. — Der
gesellschaftliche Einfluß der „grandes cocottes“. —- Der deutsche Halb-
weltbegriff. — Die internationale Dirne.
342
Die Prostitution und die mit ihr im innigsten Zu
s'ammenhange stehenden Geschlechtskrankheiten bilden
recht eigentlich den Kern, das Zentralproblem der sexuellen
Frage. Seine Lösung ist beinahe identisch mit der Lösung dieser
letzteren selbst. Man ermesse die Größe und den Inhalt der
Vorstellung: keine Prostitution, keine Geschlechtskrankheiten
mehr!
In der Tat gibt es keine beglückendere Idee, kein leuchtenderes
Ideal als dasjenige der moralischen und physischen Ke in heit
in den Beziehungen zwischen den Geschlechtern. In einer Zeit,
wo besonders auf sozialem Gebiete eine solche Fülle von An-
regungen und weitschauenden Reformgedanken zutage tritt, sollte
diese Idee einer Bekämpfung und Ausrottung der Prostitution
und Venerie an der Spitze aller Kulturforderungen stehen, damit
endlich das tragische Moment, der giftige Stachel aus dem so
verworrenen, unglückseligen Liebesieben der Gegenwart entfern!
und damit ganz gewiß die eigentliche Grundlage für eine
schönere Zukunft desselben geschaffen wird. Dieser Gedanke ist
einzig, er ist der größten einer, die die zum Bewußtsein ihrer
selbst gekommene Menschheit je gefaßt hat, und ihm gehört die
Zukunft!
Die Franzosen nennen Prostitution und venerische Krank-
heiten „une plaie sociale“, ein fressendes Geschwür am Körper
der Gesellschaft. Ich nehme diese treffende Vergleichung auf
und führe sie etwas weiter aus, um in einem anschaulichen Bilde
den Weg zu zeigen, den wir gehen müssen, um Prostitution und
Venerie auszurotten. Denn in dieser Beziehung bin ich ein unver-
besserlicher Optimist. Ich glaube an die Möglichkeit der Aus-
tilgung der Geschlechtskrankheiten und der Beseitigung der
Prostitution innerhalb der Kulturwelt durch nationale und inter-
nationale Maßnahmen. Ich stimme nicht in den Chorus derer
3-13
ein, die da sagen: weil es immer eine Prostitution gegeben hat,
muß es auch in Zukunft eine solche geben, weil die venerischen
Krankheiten immer1) existiert haben, sind sie eine unvermeid-
liche Begleiterscheinung der Kultur.
Wie lange ist es denn her, daß man überhaupt einen
Versuch machte, gegen die Prostitution und die Venerie vorzu-
gehen? Was die letztere betrifft, so haben wir erst in den
letzten Jahren angefangen, systematisch die Ergebnisse der
wissenschaftlichen Forschung im Kampfe gegen sie zu verwerten,
und das Studium der Prostitution und die darauf gegründeten
ersten Abwehr- und Eindämmungs maßregeln gegen dieselbe
reichen nicht weiter zurück als bis in die zweite Hälfte des
18. Jahrhunderts, ja datieren eigentlich erst seit dem Erscheinen
des für alle Zeiten klassischen Werkes von Parent-
Duehatelet (1836).
Wir stehen überhaupt erst im Beginne des Kampfes
gegen Prostitution und Geschlechtskrankheiten. Alles, was früher
geschah, waren unzulängliche, vereinzelte Versuche, ungeeignete
und halbe Maßregeln, ja eine einzige Aufeinanderfolge von Miß-
griffen, die die Zustande nur verschlimmerten. Heute haben
sich Medizin, Sozialwissenschaft, Pädagogik, Rechtswissenschaft
und Ethik zu gemeinsamem Kampfe verbündet; und dieser
ist nicht nur ein nationaler, sondern vereinigt alle Kulturvölker
zu gemeinsamem Handeln.
Da ist wahrhaftig Aussicht und Hoffnung auf eine radikale
Heilung und Beseitigung der „plaie sociale“. Solch ein Geschwür
kann aber nur dann gründlich geheilt werden, wenn man sich
nicht bloß auf die äußere Behandlung der zutage liegenden
Wunde beschränkt und mit deren Beseitigung sich zufrieden
gibt, nein, man muß gleichzeitig auch den inneren Ursachen
dieses chronischen Leidens zu Leibe gehen, und in unserem Falle
sind die inneren Ursachen noch wichtiger als die äußeren, d. h.
Ethik, Pädagogik und Sozialwissenschaft sind im
Kampfe gegen die Prostitution noch bedeutungsvoller und unent-
behrlicher als Medizin und Hygiene. Wenn man die Prosti-
tution nebst ihren Folgen, den Geschlechtskrankheiten, nur rein i)
i) Daß diese Behauptung falsch ist, habe ich für die Syphilis in
meinem Buche „Der Ursprung der Syphilis“ (Jena 1901) sicher er-
wiesen. Für die europäische und asiatische Kulturwelt ist die Syphilis
eine spezifisch moderne Krankheit, nicht mehr als 400 Jahre alt.
344
ärztlich-hygienisch betrachtet lind bekämpft, wird man nie zum
Ziele kommen. Einseitigkeit ist hier gleichbedeutend mit Miß-
erfolg. Das Problem der Prostitution muß von vielen Seiten an-
gefaßt werden, weil die hier in Betracht kommenden Ursachen
vielfältige sind, sowohl anthropologischer als ökonomischer,
sozialer und psychologischer Natur. Es gibt zahlreiche Ab-
arten der Prostitution, ebenso zahlreiche und verschiedene
T y p e n von Prostituierten. Eür den Kenner des wirklichen
Lebens ist es daher unmöglich, sich einseitig auf eine einzige
Theorie festzulegen. Da kommen oft in ein und demselben
Falle die verschiedensten Gesichtspunkte in Betracht.
Die Geschichte der Prostitution ist ein ungeheuer inter-
essantes Kapitel der allgemeinen Kulturgeschichte, das bisher in
einer wissenschaftlichen und kritischen Ansprüchen genügenden
Form noch nicht geschrieben wurde, die Literatur über
Prostitution ist von einem geradezu beängstigenden Umfange.
Auch hier fehlt noch völlig jede kritische Sichtung und Dar-
stellung. Es ist unmöglich, an dieser Stelle, wo nur von den
Verhältnissen der Gegenwart die Rede ist, ausführlicher auf die
historisch-literarische Seite der Prostitutionsfrage einzugehen. Das
muß einem späteren ausführlichen Werke Vorbehalten bleiben,
zu dem ich seit Jahren das Material sammle. Hier will ich
nur kurz für den sich dafür interessierenden Leser die wichtigsten
Schriften über die Prostitution anführen, die auf wissenschaft-
liche und historische Bedeutung Anspruch erheben können.
Die Prostitution des Altertums behandelt in mustergültiger
Weise Julius Rosen bäum in seiner berühmten „Geschichte
der Lustseuche im Altertume“ (Halle a. S. 1839), es ist bis heute
noch die Hauptquelle für die Kenntnis der betreffenden Zustände
im Altertum. Freilich geht es von der falschen Voraussetzung
aus, daß die Syphilis im Altertume bereits existiert habe, welche
Ansicht ich in dem in Vorbereitung befindlichen zweiten Bande
meines „Ursprungs der Syphilis“ widerlege, wo ich auch der
Prostitution bei den Alten auf Grund der neueren wissenschaft-
lichen Forschungen seit 1839, dem Erscheinungsjahr des Rosen-
b a u m sehen Buches, eine ausführliche Untersuchung widme.
Die ersten nicht wissenschaftlichen, sondern mehr belletristi-
schen, aber auch bezüglich der Treue der Beobachtung und der
psychologischen Ergründung des Wesens der Prostitution wahrhaft
klassischen Schilderungen des neuzeitlichen Prostitutionswesens
345
stammen ans dem 16. nnd 17. Jahrhundert. Ich nenne vor allem
die berühmten „Ragionamenti“ des Pietro Abetino,2)
ferner die nicht minder bedeutende, schon früher, 1528, erschienene
„Lozana Andaluza“ des Francisco Delgado (Fran-
cesco Delicado).3) Beide Schriften schildern ebenso wie die
berüchtigte „Zafetta“ des Lorenzo Veniero (ca. 1535) und
wie „La Tariffa delle Puttane di Venegia“ (eines Anonymus,
ca. 1530) die Prostitutionsverhältnisse der italienischen. Renaissance,
die eine geradezu überraschende Aehnlichkeit mit den Verhält-
nissen der Gegenwart aufweisen und daher noch heute lehr-
reich sind.4)
Aus dem 17. Jahrhundert kommen als wichtige Kultur-
dokumente in Betracht die Schilderung der Prostitution in Holland
in der interessanten Schrift „Le putanisme d’Amsterdam“ (Brüssel
1883, holländische Originalausgabe : Amsterdam 1681) und die
aus demselben Jahre 1681 stammende „Disputatio medica qua
lupanaria s. v. Huren-Häuser ex principiis quoque medicis impro-
bantur“ von Georg Franck von Franckenau,5) die erste
medizinische Polemik gegen die Bordelle.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts gingen dann die An-
regungen zum Studium der Prostitution von Frankreich aus.6)
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde nach dem
Ausspruch der Goncourts die „Pornognomonie“ ein wissen-
schaftliches Problem. Verschiedene Reformvorschläge tauchten
auf, bereits 1763 wurde die „Sittenkontrolle“ empfohlen
und 1769 erschien der berühmte „Pornographe“ des Rétif
2) Venedig 1534, Deutsch von Heinrich Conradt: „Die Ge-
spräche des göttlichen Pietro Aretino“, Leipzig 1903, 2 Bände (ver-
griffen und selten).
3) „La Lozana Andaluza“ (La Gentille Andalouse) par Francisco
Delicado. Traduit pour la première fois, texte Espagnol en regard par
Alcide Bonneau, Paris 1888, 2 Bände. — Vgl. über dieses Werk
mein Buch „Ursprung der Syphilis“, Bd. I, S. 36—43.
*) Vgl. darüber auch das interessante Werk von Salvatore
di Giacomo, Die Prostitution in Neapel im 15., 16. und 17. Jahr-
hundert. Nach unveröffentlichten Dokumenten. Nach der deutschen
Uebersetzung bearbeitet und mit einer Einleitung versehen von Dr.
Iwan Bloch, Dresden 1904.
5) Wieder abgedruckt in dessen „Satyrae medicae XX“, Leipzig
1722, S. 528—549.
6) Vgl. darüber mein Werk über Bétif de la Bretonne,
Berlin 1906, S. 504 ff.
346
de la Breton ne,7) die erste ausführliche Schrift über
staatliche Reglementierung der Prostitution, deren
großer historischer Bedeutung der bekannte Marseiller Syphili-
dologe Mireur durch eine Neuausgabe (Brüssel 1879) gerecht
geworden ist.
Aber erst mit dem unsterblichen und bewunderungswürdigen
"Werke von Parent -Duchatelet8) über die Prostitution in
Paris aus dem Jahre 1836 begann die eigentliche moderne
wissenschaftliche Literatur über die Prostitution. Es ist
die erste Schrift, welche die Prostitution in allen ihren Be-
ziehungen würdigt und auf genauen ärztlichen Beobachtungen,
psychologischen und sozialen Studien beruht; noch heute einzig
in ihrer Art und ein Muster kritischer Forschung und franzö-
sischen Gelehrtenfleißes.
Eine ganz kurze Inhaltsangabe des epochemachenden Buches
von Parent-Duchatelet lehrt am besten seine Bedeutung
kennen und verschafft uns einen Einblick in alle bei der Prosti-
tution in Betracht kommenden und von ihm behandelten Fragen.
Nachdem er in der Einleitung die Beweggründe, aus denen er
die Arbeit unternommen hat, und die literarischen Quellen für sie
mitgeteilt hat, bespricht Parent-Duchatelet im ersten
Kapitel zunächst einige allgemeine Fragen, gibt eine Definition
der Prostituierten, macht Mitteilungen über ihre Zahl in Paris,
ihre Herkunft nach Land, Stand, Bildung' Beruf, ihr Alter
und die erste Veranlassung zur Prostitution. Das zweite
Kapitel handelt von den Sitten und Gewohnheiten der
Lustmädchen, der Meinung, die sie von sich selbst haben, den
religiösen Gefühlen, der Schamhaftigkeit, geistigen Beschaffen-
heit, dem Tätowieren, Beschäftigung, der Unreinlichkeit, Sprache,
Fehlern und guten Eigenschaften, den verschiedenen Klassen der
Prostituierten und endlich den Zuhältern. Das dritte Kapitel
enthält physiologische Betrachtungen über die Lust-
dirnen, nämlich über ihre Korpulenz, die Veränderungen der
Stimme, Eigentümlichkeiten der Haar- und Augenfarbe, den "Wuchs,
Beschaffenheit der Geschlechtsteile und Fruchtbarkeit. Im vierten
Kapitel wird der Einfluß des Prostitutionsgewerbes
7) Inhaltsangabe in meinem erwähnten Buche S. 505—512.
8) A. J. B. Parent-Duchatelet, ,,De la Prostitution dans
la ville de Paris“, Paris 1836, 3. Auflage 1857. Deutsche Uebersetzung
von G. W. Becker, Leipzig 1837, 2 Bände.
347
auf die Gesundheit der Mädchen untersucht und die
verschiedenen daraus resultierenden krankhaften Zustände be-
schrieben. Das fünfte Kapitel behandelt die öffentlichen
Häuser, ihre Vor- und Nachteile, die Frage der Bordellstraßen
und der Lokalisierung und Kasernierung der Prostitution. Im
sechsten Kapitel wird das Einschreiben der Dirnen in
den Polizeilisten erörtert, im siebenten das Kupple-
rinnen- und Bordellwirtinnenwesen. Die Kapitel 8,
9 und 10 beschäftigen sich mit der geheimen Prostitution
in Absteigequartieren, Kneipen, Kaffeehäusern, Tabakläden usw.,
Kapitel 11 mit der Straßen Prostitution, Kapitel 12 mit
der Verbreitung der Prostitution in den einzelnen
Stadtteilen von Paris, Kapitel 13 mit den Beziehungen der
Prostitution zum Militär, Kapitel 14 mit der Prosti-
tution in der Umgebung von Paris. Im fünfzehnten
Kapitel wird das spätere Schicksal der Dirnen geschildert,
im sechzehnten die ärztliche Behandlung, die den Prosti-
tuierten zuteil wird, eingehend besprochen, vor allem die Methode
der Untersuchung des Gesundheitszustandes geschildert. Kapitel 17
und 18 handeln von den Spitälern und Gefängnissen
für Prostituierte, Kapitel 19 von der ehemaligen Prostitutions-
steuer, Kapitel 20 von die Verwaltung und Gesund-
heitspolizei betreffenden Fragen, z. B. auch von dem
neuerdings wieder auf getauchten Plane, die männliche Klientel
der Dirnen einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, ferner
von anstößigen Bildern und Büchern, von Diebstählen in den
Bordellen. Im 21. Kapitel wird die ja heute noch aktuelle Frage
der eigentümlichen Stellung der Hausbesitzer zu
den bei ihnen wohnenden Prostituierten und die
Gesetzmäßigkeit der gegen jene verfügten Strafen, im 22. Kapitel
überhaupt die ganze Gesetzgebung über die Prostitution be-
handelt. Dann wirft zum Schlüsse in Kapitel 23 und 24 der
Verfasser die Fragen auf, ob Freudenmädchen notwendig
sind, was er (nota bene vom Standpunkt der Zwangsehenmoral)
bejaht, und ob die Polizei die Anwendung von Ver-
hütungsmitteln gegen venerische Ansteckung
gestatten dürfe, was er nur bedingt bejaht, da er jede
offen tliche Ankündigung von Schutzmitteln polizeilich ver-
boten sehen will. Endlich bespricht er im Schlußkapitel, im
fünfundzwanzigsten, die Anstalten zur Bettung ge-
348
fallener Mädchen und schließt sein umfassendes, alle Seiten
der behandelten Frage in Betracht ziehendes Werk mit den Worten:
„Meine Arbeit ist zu Ende; als ich sie begann, bemerkte ich,
welchen Beweggrund ich hatte, sie zu unternehmen, welchen Zweck
ich dadurch erreichen wollte. Hätte ich nicht die feste Ueber-
zeugung gehabt, daß die von mir begonnenen Nachforschungen
über das Wesen der Lustdirnen die Gesundheit und die Sittlich-
keit fördern könnten, so würde ich sie nicht veröffentlicht haben.
Ich habe große Gebrechen der Menschheit enthüllt; besonnene
Männer, für die ich schrieb, werden mir dafür Dank zollen. Wer
seine Nebenmenschen liebt, wird mir ohne Bedenken in dem von
mir beschriebenen Kreise des Wissens auch folgen und seinen
Blick von den von mir entworfenen Gemälden nicht wegwenden.
Will man das noch zu bewirkende Gute kennen
und mit Erfolg den Weg-, Besseres zu schaffen,
betreten lernen, so muß man erst wissen, was
vorhanden ist; man muß die Wahrheit kennen.
Das Treiben der Lustdirnen ist ein Ucbel in allen Zeiten,
allen Ländern und scheint den Menschen im gesellschaftlichen
Bande angeboren zu sein. Es wird sich vielleicht nie ausrotten
lassen; allein desto mehr muß man streben, seinen Umfang und
seine Gefahren zu beschränken. Es verhält sich damit, wie mit
den Lastern und Verbrechen, wie mit den Krankheiten; der Sitten-
lehrer sucht die Laster zu verhüten, der Gesetzgeber den Ver-
brechen vorzubeugen, der Arzt die Krankheiten zu heilen. Die
einen und die andern wissen, daß sie niemals vollkommen zum
Ziele gelangen; aber sie gehen dennoch ans Werk in der Ueber-
zeugung, daß wer auch nur ein wenig Gutes bewirkt, den
schwachen Menschen viele Dienste leistet. Ich folge ihrem Bei-
spiele. Ein Freund, den ich stets bedauern werde, lenkte meine
Aufmerksamkeit auf das Schicksal der öffentlichen Mädchen, ich
erforschte sie, ich wollte die Ursache ihrer Herabwürdigung kennen
lernen und womöglich die Mittel entdecken sie zu beschränken.
Was mir die Erfahrung darüber gesagt hat, habe ich offen aus-
einander gesetzt, und bin überzeugt, daß der Gesetzgeber, der
Mann, den der Staat beauftragt hat, die öffentliche Gesundheit
und Sittlichkeit zu bewachen, hier nützliche Lehren schöpfen wird.“
Noch heute bildet das nach Anlage und Durchführung geniale
Werk Parent-Duchatelets die Grundlage für das wissen-
349
schaftliche Studium der Prostitution. Es ist das Vorbild für alle
gleichzeitigen und späteren Arbeiten gewesen.
Der mächtige Einfluß dieses Buches zeigte sich vor allem
darin, daß in rascher Folge "Werke über die Prostitution in den
verschiedenen Hauptstädten der Kulturwelt erschienen, die alle
mehr oder minder auf dasselbe basiert waren und so noch heute
höchst wertvolle wissenschaftliche Monographien über die Prosti-
tutionsverhältnisse einer bestimmten Stadt darstellen, wie wir sie
seitdem nicht wieder bekommen haben. Hier ist noch ein reiches,
zum Teil bisher gar nicht verwertetes Material verborgen.
Als eine Ergänzung und weitere Ausführung der Schrift
Parent-Duchatelets erschien drei Jahre später, im Jahre
1839, das zweibändige Werk des Polizeikommissars Béraud9)
über die Freudenmädchen von Paris und über die Pariser Sitten-
polizei, das besonders durch eine ausführliche Geschichte der
Prostitution und durch seinen Reichtum an feinen psychologischen
Beobachtungen, sowie durch seine genaueren Mitteilungen über
die heimliche Prostitution ausgezeichnet ist.
Im gleichen Jahre wie Béraud veröffentlichte ein hoch-
angesehener Londoner Arzt, Dr. Michael Ryan ,10 *) sein be-
deutendes Buch über die Prostitution in London11) mit
einer Vergleichung der Zustände in Paris und New York. Ryan
hat zuerst die allgemeinen sozialen und ökonomischen
Ursachen der Prostitution kritisch gewürdigt, wie es ja von einem
Engländer nicht anders zu erwarten ist. Auch finden sich in
seinem Buche interessante Mitteilungen über die damalige unge-
heure Verbreitung pornographischer Bücher und Bilder in Eng-
land,12) deren Fabrikation und Vertrieb durch Hausierer und die
dagegen unternommenen Maßregeln. Wertvoll sind auch die in
dem Buche auf S. 212—252 gegebenen eingehenden Nachrichten
9) E. E. A. Béraud, „Les filies publiques de Paris“, Brüssel
1839, 2 Bände.
10) Dr. Michael Ryan (f ca. 1810 oder 1841) war ein Bekannter
Arthur Schopenhauers, der ihm im Juni 1829 ein Exemplar
seiner „Theoria colorum“ sandte. Vgl. Eduard Grisebach,
„Schopenhauer. Geschichte seines Lebens.“ Berlin 1897, S. 168.
11) M. Ryan, „Prostitution in London with a comparative view
of that of Paris and New York.“ London 1839.
12) vgl. darüber auch Mitteilungen aus anderen Quellen in meinem
„Geschlechtsleben in England“, Berlin 1903, Bd. III, S. 315—319,
S. 440—447.
350
über die Prostitution in den Vereinigten Staaten, speziell in
New York.
Dem Beispiele Eyans folgten seine Landsleute Dr. Wil-
liam Tait und der Reverend Ralph Wardlaw. Der erstere
behandelte in einem umfangreichen Buche13 14) die Prostitution
in Edinburgh, der zweite in einer kürzeren Schrift11) die-
jenige in Glasgow.
Sehr interessant ist das wohl nur in wenigen Exemplaren
nach Deutschland gelangte (eins davon ist in meinem Besitze),
auch in Portugal sehr seltene Werk des Dr. Francisco
Ignacio dos Santos Cruz über die Prostitution in
Lissabon,15) in dem das ganze portugiesische Prostitutionswesen
mit besonderer Berücksichtigung der Hauptstadt eine muster-
gültige Darstellung gefunden hat. Santos Cruz berücksichtigt
besonders die legislative Seite der Frage. Er ist der erste, der
die neuerdings von Lesser wohl ohne Kenntnis dieses Vor-
läufers ausgesprochene Idee der Einrichtung von Poli-
kliniken zur unentgeltlichen Behandlung der
Prostituierten in Erwägung zieht.16)
Ueber die Prostitution in der von jeher durch ihre Sitten-
losigkeit berüchtigten Stadt Lyon schrieb Dr. P o 11 o n ein
berühmtes, von der medizinischen Gesellschaft zu Lyon im Jahre
1841 preisgekröntes Buch17) nach amtlichen Quellen und mit
besonderer Berücksichtigung der Beziehungen der Prostitution zu
den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Be-
völkerung.
Ein vorzügliches Buch ist auch die Schrift über die Prosti-
tution in Algier von E. A. Duchesne.18) Hier ist aus-
13) W. Tait. Magdalenism. An inquiry into the extent, causes
and conséquences of prostitution in Edinburgh. Second Edition. Edin-
burgh 1842.
14) R. Wardlaw, „Lectures on female prostitution: its nature^
extents, effects, guilt, causes, and remedy.“ Third Edition. Glasgow 1843.
15) F. J. dos Santos Cruz, ,,Da prostituiçao na cidade de
Lisboa“, Lissabon 1841.
16) S. 203—206 („Estabelecimentos de beneficencia para as con-
sultas gratuitas“.).
17) A. P o 11 o n, De la prostitution et de ses conséquences dans
les grandes villes, dans la ville de Lyon en particulier, Paria
und Lyon 1842.
18) E. A. D u c h e s n e , De la prostitution dans la ville d’Alger
depuis la conquête, Paris 1853.
351
führlich auch von der „männlichen Prostitution“ die
Rede, d. h. der Prostitution von Männern für Männer, welche
Begriffserweiterung meines Wissens hier zum ersten Male sich
findet. Natürlich werden auch in älteren Schriften häufig die
käuflichen Päderasten erwähnt, aber der Begriff „Prostitution“
wurde streng auf die Klasse der käuflichen Weiber eingeschränkt.
Das ersehen wir z. B. aus dem sieben Jahre vor 'dem
Duchesnesehen Buche erschienenen anonymen Werke über
„Die Prostitution in Berlin und ihre Opfer“,19)
dessen Verfasser im Vorworte bekennt, daß „das treffliche Buch
des ehrwürdigen Parent-Duchatelet de la Prostitution dans
la ville de Paris und der gloneiche Erfolg desselben die Haupt-
veranlassung zu unserer Arbeit geliefert hat.“ Diese ist übrigens
völlig selbständig und behandelt die individuellen Verhältnisse
der Prostitution in Berlin auf Grund amtli eher Quellen und
Erfahrungen in historischer, moralischer, medizinischer und polizei-
licher Beziehung. Auch hier findet sich ein Anhang über
„prostituierte Männer“ (S. 207), aber das sind keine Ver-
treter der homosexuellen Prostitution, sondern nach der Definition
des Verfassers „Männer, welche daraus ein Gewerbe machen,
wollüstigen Weibern für Geld zur Befriedigung ihrer
unnatürlichen Leidenschaften zu dienen“. Diese Spezies kommt
auch heute noch vor, ein besonderer Name für sie existiert nicht,
wir müssen sie schon in die große Rubrik des Zuhältertums ein-
reihen, obgleich dieser Begriff nicht ganz auf sie paßt. Später
kommen wir noch einmal auf diese eigentümliche Gattung imd
Abart der männlichen Prostitution zurück.
Als Ergänzung des eben erwähnten Werkes kann die im
gleichen Jahre, 1846, erschienene Schrift des Kriminalkommissars
Dr. Carl Röhrmann über die Prostitution in Berlin20)
betrachtet werden. Sie ist vor allem merkwürdig durch die „voll-
ständigen und freimütigen Biographien der bekanntesten prosti-
tuierten Frauenzimmer in Berlin“, eine Idee, auf die man ja jetzt
wieder zurückgekommen ist, z. B. in W. Hammers Mitteilung
von „Zehn Lebensläufen Berliner Kontrollmädchen“ (Berlin und
Leipzig 1905).
19) Die Prostitution in Berlin und ihre Opfer, Berlin 1846.
20) C. Röhrmann, Der sittliche Zustand von Berlin nach Auf-
hebung der geduldeten Prostitution des weiblichen Geschlechts.
Leipzig 1846.
352
Sehr wertvolles amtliches Material bietet endlich die dritte
Schrift über die Prostitution in Berlin aus der Feder des be-
kannten Syphilidologen F. J. Behrend.21) Sie beginnt mit einer
sorgfältigen Geschichte der polizeilichen Beaufsichtigung der
Prostitution in Berlin, erörtert dann die Folgen der 1845 erfolgten
Aufhebung der Berliner Bordelle und bespricht dann die neu zu
ergreifenden Maßregeln und Vorschläge zur Beaufsichtigung der
Prostitution und Bekämpfung der Syphilis in Berlin. Das Buch
besitzt als Materialsammlung hohen Wert.
Wenig bekannt, aber durchaus originell ist das Buch des
Hamburger Arztes Dr. Lippert über die Prostitution in Ham-
burg.22) Selbst B lasch ko erwähnt es nicht in der Literatur-
übersicht am Ende seines später zu besprechenden Werkes.
Lippert bringt zahlreiche und interessante neue Beiträge zur
Kenntnis der „vielköpfigen Hydra, des farbenspielenden Chamä-
leons“ der Prostitution. Nach einer einleitenden Skizze über die
historische Entwicklung der Hamburger Prostitution gibt er eine
„Charakteristik der gegenwärtigen sittlichen Zustände von Ham-
burg“, in der er über die Zahl der Bordellmädchen und Straßen-
dirnen, über die topographische Verteilung der Prostitution und
der Bordelle, über die geheimen Absteigequartiere, über die auf-
fällige Abnahme der Ehen, das Verhältnis der ehelichen zu den
unehelichen Geburten, die Zahl der Kneipen und Tanzlokale wich-
tige Angaben macht, um dann diese einzelnen Faktoren der Prosti-
tution, besonders die Gelegenheiten zur Prostitution genauer zu
schildern. Das dritte Kapitel enthält eine hochinteressante „physio-
logisch-pathologische Beschreibung der Hamburger Lustdirnen“.
Nach Lippert sind die Hauptmotive der Prostitution „Faul-
heit, Leichtsinn und vor allem Putzsuch t“. Besonders
dieses letztere Moment wird mit Recht von ihm in den Vorder-
grund gerückt, es wird leider von der neueren wissenschaftlichen
Forschung über die Ursachen der Prostitution allzu sehr ver-
nachlässigt. Dann folgen Angaben über Alter, Nationalität, Stand
21) Er. J. Behrend, Die Prostitution in Berlin und die gegen
sie und die Syphilis zu nehmenden Maßregeln. Eine Denkschrift, im
Aufträge, auf Grund amtlicher Quellen abgefaßt und Se. Exzellenz dem
Herrn Minister von Ladenberg überreicht. Erlangen 1850.
22) H. Lippert, Die Prostitution in Hamburg in ihren eigen-
tümlichen Verhältnissen, Hamburg 1848.
353
und Beruf. Bereite zu Lipperts Zeit lieferten den Hauptanteil
an der öffentlichen Prostitution die Dienstmädchen (S. 79),
nicht die Mädchen des Arbeiterstandes. Es ist das also nicht
ausschließlich eine Folge der zunehmenden geistigen Bildung des
Proletariats in der Gegenwart, wie neuere Forscher behaupten,
sondern hängt höchstwahrscheinlich mehr noch mit der freieren
Gestaltung des Liebeslebens in der Arbeiterklasse zusammen, wo
die edlere Form der „freien Liebe“ längst geherrscht hat und
ganz naturgemäß zu einer Eindämmung der Prostitution führen
mußte. — Das Kapitel schließt mit einer ausführlichen Schilde-
rung der körperlichen und seelischen Eigentümlichkeiten der
hamburgischen Freudenmädchen und der bei ihnen beobachteten
Krankheiten. Im vierten Kapitel werden die verschiedenen Klassen
der Prostituierten näher betrachtet, die Bordellmädchen (mit ge-
nauer Schilderung der berüchtigten Hamburger Bordellstraßen),
die allein wohnenden Dirnen, die Straßendimen, die femmes entre-
tenues, die große Gruppe der heimlichen Prostituierten. Dann
folgen in einem Anhang© interessante Mitteilungen über die
öffentlichen Lokale, die mit der Prostitution in Beziehung stehen,
über die Prostitution auf dem Hamburger Berge, der Vorstadt
St. Pauli und über das Hamburger Magdalenenstift.
Eine sehr gute Schilderung der Hamburger Prostitution
findet sich auch in den gleichzeitig mit dem L i pp er t sehen
Buche erschienenen „Memoiren einer Prostituierten
oder die Prostitution in Hamburg“ (St. Pauli 1847).
Dieses heute außerordentlich selten gewordene Buch ist ähnlich
wie das im vorigen Jahre zu so großer Berühmtheit gelangte
„Tagebuch einer Verlorenen“ der Margarete Böhme, von
einem Dr. J. Zeisig angeblich nach dem „Original-Manu-
skript“ bearbeitet. Man sieht: es ist alles schon dagewesen!
Im Vorworte seines Buches bemerkt L i p p e r t, daß, nachdem
die Prostitution in Berlin und Hamburg nunmehr ihre Dar-
stellung gefunden habe, noch eine analoge Schrift über Wien
ausstehe, um „die erforderliche Statistik der drei Hauptstädte
und Hauptfaktoren deutscher Prostitution“ beisammen zu haben.
Das eigentliche Werk über die Prostitution in Wien erschien
aber erst 40 Jahre später, im Jahre 1886. Jedoch war bereite
1847 das ausschließlich die österreichischen, natürlich hauptsäch-
lich die Wiener Verhältnisse behandelnde Buch des Dr. Anton
Sleck, Sexualleben. 7.—9. Auflag:«. 23
(41.—60. Tanaend.)
354
J. Groß-Hoffinger erschienen,23) das nach meiner Ansicht
eine epochemachende Bedeutung besitzt, weil darin zum ersten
Male und mit allem Nachdrucke die Einrichtung der Zwangsehe
als die letzte Ursache der Prostitution bezeichnet wird, auf die
sich alle übrigen zurückführen lassen. In keinem Buche sind die
grauenhaften Zustände, wie sie durch die künstliche Konservierung
der auf ganz anderen, längst der Vergangenheit angehörigen wirt-
schaftlichen Zuständen beruhenden staatlich-kirchlichen Zwangsehe
geschaffen worden sind, so anschaulich, mit so erschreckender Deut-
lichkeit geschildert worden. Gleich die beiden ersten Abschnitte
„Das Weib die Sklavin der Zivilisation“ und „Das Weib in seiner
Herabwürdigung“ sind die furchtbarsten Anklagen gegen die
konventionelle Ehe. Verfasser formuliert S. 190—191 fünfzehn
Paragraphen eines Ehereformgesetzes, das sehr große Aehnlich-
keit mit den oben erwähnten Ideen Ellen Keys hat. Geradezu
klassisch ist das Kapitel über die Dienstmädchen, das in
solcher Ausführlichkeit (S. 226—284) einzig ist und eine aus-
gezeichnete Beschreibung der rechtlichen, sittlichen und ökono-
mischen Verhältnisse des Dienstbotenwesens darstellt.
„Die vacierenden Dienstboten,“ sagt er, „sind
die allzeit fertige Reservearmee der Prosti-
tution. Täglich werden aus ihr neue Rekruten
für den regelmäßigen Dienst ausgehoben und
täglich komplettiert sich diese Reserve von
selbst.“
Auch Groß-Hoffinger kam schon 1847 zu dem Resultat,
daß die „freie Liebe“ oder „freie Ehe“ die einzige Rettung aus
der Misere der Prostitution sei.
Das umfangreiche Werk von Schrank über die Wiener
Prostitution24) zeichnet sich durch eine Fülle der merkwürdigsten
und interessantesten Einzelbeobachtungen aus, die besonders im
ersten geschichtlichen Teile enthalten sind. Der zweite beschäftigt
sich mit der Administration und Hygiene der Prostitution in
23) A. J. Groß-Hoffinger,Die Schicksale derErauen
und die Prostitution im Zusammenhänge mit dem Prinzip der
Unauflösbarkeit der katholischen Ehe und besonders der österreichi-
schen Gesetzgebung und der Philosophie des Zeitalters. Leipzig 1847.
24) Josef Schrank, Die Prostitution in Wien in historischer,
administrativer und hygienischer Beziehung, Wien 1886, 2 Bände,
355
Wien. Das Werk bietet das Material über die Wiener Prostitution
bis 1885 in erschöpfender Weise.
Die Prostitution in Leipzig ist in drei Kapiteln eines
1854 erschienenen allgemeinen Werkes über Prostitution25) be-
sonders behandelt. Sie haben die Ueberschriften: „Die • Sitten-
verderbnis in Leipzig“ ; „Geduldete Mädchen und geduldete Häuser
in Leipzig. Ihr Wesen“; „Geduldete Mädchen in Leipzig, ihre
Sitten, ihre Gebräuche, ihr Gesundheitszustand, ihr Ende“. Inter-
essant ist die Angabe des Verfassers, daß von den 3000 Dienst-
mädchen Leipzigs der dritte Teil der geheimen Prostitution
huldige.
Auch die Prostitution in der größten Stadt der neuen Welt,
in New York, fand noch in den fünfziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts eine musterhafte Darstellung in dem großen Geschichts-
werke des New Yorker Arztes William M. Sänger,26) von
dessen 685 Seiten in Großoktav die Seiten 450—676 der Schilde-
rung der New Yorker Prostitutionsverhältnisse gewidmet sind.
Auch der geschichtliche Teil des Buches ist sehr wertvoll, weil
durchweg nach den Quellen bearbeitet.
Mit dem Jahre 1860 ungefähr schloß diese erste Periode
der wissenschaftlichen Prostitutionsliteratur ab, die durch die
Monographien über einzelne Städte nach dem Vorgänge von
Parent-Duchatelet charakterisiert wird. Wie letzterer diese
Art der Darstellung inauguriert hatte, so übernahmen die
Franzosen von jetzt an auch wieder die Führung in den weiteren
Forschungen über die Prostitution. Zunächst faßte Dr. J. Jean-
nel die Resultate der genannten Schriften in einem allgemeinen
Werke über die Prostitution zusammen,27) das eine vergleichende
Uebersicht der Verhältnisse in den verschiedenen Ländern und
Städten bietet. Auch der Engländer W. A c t o n schrieb ein ähn-
25) Die Sittenverderbnis unserer Zeit und ihre Opfer in ihren Be-
ziehungen zum Staate, zur Familie und zur Moral. Mit Berücksichti-
gung der Prostitutions Verhältnisse in Leipzig. Leip-
zig 1854.
26) W. M. Sänger, The History of Prostitution, New York 1859.
27) J. J e a n n e 1, Die Prostitution in den großen Städten im neun-
zehnten Jahrhundert und die Vernichtung der venerischen Krankheiten.
Deutsch von F. W. Müller, Erlangen 1869.
03*
356
liclies allgemeines Werk über die Prostitution,28) ebenso der
Deutsche Hügel.29)
Die so wichtige
besonders durch die Schriften von Martineau30 *) und Com-
mon ge81) geklärt worden, die nicht minder wichtige der Prosti-
tution der Minderjährigen behandelte Augagneur,32)
die Reglementierung und Bordellfrage hat in um-
fassender und auf die sorgfältigsten Statistiken sich gründender
Weise Fiaux untersucht und ihrer Lösung entgegengeführt,33)
von höheren philosophisch-sozialen Gesichtspunkten behandelte der
ehemalige Minister Yves Guyot das Problem der Prostitution,34)
kurz, die französischen Aerzte haben von allen Seiten dieses dunkle
Gebiet beleuchtet und die Grundlagen für das wissen-
schaftlich-kritische Studium der Prostitution
geschaffen, das mit dem Anfang der neunziger Jahre de3 vorigen
Jahrhunderts einsetzt.
Es gebührt ohne Zweifel Alfred Blaschko das Verdienst,
die Prostitutionsfrage durch die von ihm 1892 in der Berliner
Medizinischen Gesellschaft angeregte Debatte und durch mehrere
durch eine scharfsinnige Kritik ausgezeichnete Schriften35) in ein
ganz neues Fahrwasser geleitet zu haben. Die von ihm auf Grund
eingehender wissenschaftlicher Studien, sorgfältigster praktischer
Erwägungen angegebene Devise lautet:
28) W. Acton, Prostitution in its various Aspects, London 1874,
2. Auflage.
29) Hügel, Zur Geschichte, Statistik und Regelung der Prostitu-
tion, Wien 1865.
80) L. Martineau, La prostitution clandestine, Paris 1885.
81) O.Commenge, La prostitution clandestine à Paris, Paris 1897.
52) Y. Augagneur, La prostitution des filles mineures, Paris 1888.
83) L. F i a u x , La police des moeurs en France et dans les prin-
eipales villes de PEurope, Paris 1888; Les maisons de tolérance, leur
fermeture, 3me édition. Paris 1892; La prostitution „cloitrée“, Brüssel
1902.
84) Yves Guyot, La prostitution. Etude de physiologie sociale,
Paris 1882.
85) A. Blaschko, Zur Prostitutionsfrage, Berliner klin. Wochen-
schrift 1892, S. 430—435 ; Syphilis und Prostitution vom Standpunkte
der öffentlichen Gesundheitspflege, Berlin 1893; Hygiene der Prostitu-
tion und der venerischen Krankheiten, Jena 1900; Die Prostitution im
19. Jahrhundert, Berlin 1902; Die gesundheitlichen Schäden der Prosti-
tution und deren Bekämpfung, Berlin 1904.
Frage der heimlichen Prostitution ist
857
Fort mit der Reglementierung!
Fort mit den Bordellen!
Zugleich ist Blasehko überzeugter Verfechter der ökono-
mischen Theorie der Prostitution.
Fast zu gleicher Zeit hatte Cesare Lombroso, der be-
rühmte Turiner Psychiater und Kriminalanthropologe, seine
anthropologische Theorie der Prostitution aufgestellt und
die Aufsehen erregende Lehre von der „Donna delinquent© e pro-
stituta“, von der „geborenen Prostituierten“ verkündet,56)
worin er bei dem Petersburger Syphilidologen Tarnowsky
einen unbedingten Anhänger fand, während dieser zugleich den
sogenannten „Abolitionismus“, d. h. die Bestrebungen einer
zum Zwecke der Abschaffung der Reglementierung der Prosti-
tution 1875 von Mrs. Josephine Butler begründeten inter-
nationalen Föderation scharf bekämpfte.* 37) Den gleichen Stand-
punkt wie Lombroso und Tarnowsky vertritt Ströhm-
b e r g in einem interessanten Werke über Prostitution.38)
Es ist aber bemerkenswert, daß in neuester Zeit auch die
französischen Forscher, vor allem der erfahrene Fiaux, sich den
Ansichten Blaschkos nähern, von deren Richtigkeit auch ich
mich jetzt überzeugt habe, nachdem ich in meinem Werke über
die Prostitution in England,39) das vor sechs Jahren erschien
(Vorrede von Oktober 1900), noch den Standpunkt der Reglemen-
tierung vertreten hatte. Auch E. von Düring, der als lang-
jähriger Professor der Medizin in Konstantinopel die Verhält-
nisse der dortigen Prostitution gründlich studiert hat, schließt
sich in einer lesenswerten Abhandlung40) vollkommen der An-
sicht Blaschkos von der Nutzlosigkeit der Reglementierung
und der Bordelle an.
86) 0. Lombroso und G. Eerrero, Das Weib als Verbrecherin
und Prostituierte, Hamburg 1894.
37) B. Tarnowsky, Prostitution und Abolitionismus, Ham-
burg 1890.
88) C. S t r ö lim b ©r g, Die Prostitution. Eine sozial-medizinische
Studie, Stuttgart 1899.
s9) E. Dühren (Iwan Bloch), Das Geschlechtsleben in Eng-
land, Charlottenburg 1901, Bd. I, S. 201—445.
40) E. von Düring, Prostitution und Geschlechtskrankheiten,
Leipzig 1905.
358
Nach dieser Uebersicht über die wichtigsten Schriften und
wissenschaftlichen Anschauungen über Prostitution gehen wir nun
zu einer kurzen Schilderung der Verhältnisse in der Gegenwart
über.
Der Begriff „Prostitution“ ist keineswegs ein klarer
und scharf umgrenzter. Parent-Duchatelet nahm Prosti-
tution nur dann an, „wenn mehrere einzelne Pälle von Preis-
gebung beglaubigt sind und sich wiederholen, wenn das Mädchen
öffentlich dafür bekannt ist, wenn Gefangennahme stattfand und
das Verbrechen auf der Stelle entdeckt, sowie durch andere Zeugen
oder Polizeiagenten erwiesen wurde“ (Bd. T, S. 11).
Damit schloß er die ganze sogenannte „heimliche“ Prostitution,
also die bei weitem zahlreichste Kategorie von der Prostitution aus.
Sobald man diese ins Auge faßt, muß man auch zu einem
weiteren Begriffe des Wortes Prostitution kommen. Dies tat der
französische Arzt Key in seiner kleinen Schrift über die
„öffentliche und heimliche Prostitution“ (Deutsch, Grimma
und Leipzig 1851, S. 1). Er bezeichnet als Prostitution den Akt,
„bei welchem eine Frau jedem Manne, ohne Unterschied
sich überläßt und für eine zu leistende Zahlung den Ge-
brauch ihres Körpers gestattet“.
In dieser ausgezeichneten Definition sind die beiden wich-
tigsten Merkmale der Prostitution: die völlige Gleichgültig-
keit gegen die Person des die Hingabe begehren-
den Mannes und die Hingebung gegen Entgelt deutlich
hervorgehoben. Es fehlt nur noch die von Parent-Ducha-
telet hervorgehobene Bedingung der häufigen Wieder-
holung des Prostitutionsaktes mit verschiedenen Männern.
Mit Schrank kann man alle diese Merkmale der Prosti-
tution in einem einzigen Worte zusammen fassen und sie charak-
terisieren als „Unzuchtgewerbe betrieben mit dem
menschlichen Körper“, womit man erstens auch die in
obigen Definitionen nicht enthaltene männliche und weibliche
homosexuelle Prostitution einbegreift, und zweitens die Tat-
sache hervorhebt, daß bei der echten Prostituierten das Geld,
der Erwerb weit mehr Zweck des Prostitutionsaktes ist als
irgend ein Genuß. Wo dieser letztere neben dem Gelderwerb
allzu sehr hervortritt, da handelt es sich eigentlich nicht mehr um
echte Prostitution. Ja, selbst eine Dirne, die sonst den Charakter
einer typischen Prostituierten hat ist es in dem Moment nicht
359
mehr, wo das „Gewerbe“ ihr Nebensache wird, und der Mann,
dem sie sich hingibt, Hauptsache. Deshalb darf man, streng
genommen, einen großen Teil der heimlichen Prostituierten und
der Halbwelt wenigstens zeitweise, dann nämlich, wenn der
sie unterhaltende oder entlohnende Mann auch zugleich ihr
„Geliebter“ ist,41) nicht zur eigentlichen Prostitution zählen, sie
gehören dann ins Gebiet der freilich ebenso gefährlichen „wilden
Liebe“. Aber in der Praxis läßt sich diese Sonderling nicht
streng durchführen, da dasselbe Weib sehr häufig auch
echte Prostitutionsakte begeht.
Nur der „Verkauf des süßen Namens der Liebe“, wie der
berühmte Politiker Louis Blanc sich ausdrückt, ist es, der
die Prostitution ausmacht, das völlige Fehlen aller seelischen
und persönlichen Beziehungen auf der einen Seite und das
schmähliche Hervortreten des merkantilen Charakters der
Geschleehtsvcrbindung auf der anderen Seite. Deshalb kann es
auch eine Prostitution in der Ehe geben, obgleich diese immer
noch weit von der käuflichen Preisgabe an zahlreiche und
häufig wechselnde Individuen entfernt ist.
Die „Prostitution“ der Urzeit mit ihrer ganz anderen Ge-
staltung der sozialen Verhältnisse näherte sich ohne Zweifel mehr
der heutigen wilden Liebe als unserer Prostitution. Es war ge-
schlechtliche Promiskuität, kein Unzuchtsgewerbe. Nach Hein-
rich Schurtz freilich ist die Prostitution kein ausschließliches
Erzeugnis höherer Kultur, sondern kommt auch bei Naturvölkern
vor, und tritt überall dort auf, wo der ungebundene Geschlechts-
verkehr der Jugend, die wilde Liebe, unterdrückt wird, ohne
daß frühe Ehe an seine Stelle tritt. Was er aber als Prostitution
schildert, z. B. das Wohnen mehrerer unverheirateter Mädchen
im Männerhause, ist doch nur eine besondere Form der wilden
Liebe. Jedoch soll es nach Berichten vieler Reisenden auch bei
primitiven Völkern käufliche Weiber geben, was man dann
ebenso aus dem Zusammenwirken individueller, sozialer und
ökonomischer Verhältnisse erklären müßte, wie bei uns.
Daß die sogenannte „religiöse“ Prostitution mindestens
als eine Keimform und Vorläufer unserer heutigen Prosti-
tution anzusehen ist, unterliegt für mich keinem Zweifel. Auch
41) Schön hat Goethe in dem Gedicht „Der Gott und die Baja-
dere“ die Veredlung der feilen Liebe durch die ideale Liebe dargesellt.
m
hierbei handelte es sich tun ein Unznchts ge werbe, nur daß
das Geld nicht dem ganz wie unsere heutige Dirne sich wahl-
los jedem beliebigen Manne preisgebenden Tempelmädchen
zufloß, sondern der Gottheit bezw. den schlauen Priestern, die
damals wohl nicht selten die Bolle unserer heutigen Bordell-
wirtinnen spielten. Daß freilich bei dieser religiösen Prostitution
auch ein idealeres Moment obwaltete, ist ebenso unzweifelhaft.
Davon war bereits oben (S. 109—120) ausführlich die Bede.
Die Prostitution ist überall ein Produkt der Städte-
bildung, sie entwickelt sich in ihrem eigentümlichen Wesen
nur in größeren Städten, dem Lande blieb sie immer fremd
bis auf jene schönen Zeiten des Mittelalters, wo mau die Prosti-
tution für ein Bedürfnis hielt wie Essen und Trinken, sie
in Zünften organisierte und überall „Frauenhäuser“ zur öffent-
lichen, ungenierten Benutzung für alle Stände, für Volk und
Fürst einrichtete. Damals hatten auch ganz kleine Städte ihre
Frauenbäuser. Das Auftreten der Syphilis und das Erwachen
des modernen Individualismus machte diesen Zuständen ein Ende,
überall verschwanden die Frauenhäuser und diese Tendenz einer
ständigen Abnahme kasernierter Prostitution, einer fort-
dauernden Verminderung der Bordelle hat sich immer mehr ver-
stärkt. Im großen und ganzen kennt heute das Land keine
Prostitution, es kennt nur die freie und wilde Liebe. Die Existenz
der Prostitution ist an die Großstädte gebunden, weil hier alle
Voraussetzungen dafür erfüllt sind, vor allem die Möglichkeiten
der Befriedigung des Geschlechtstriebes durch die Ehe oder freie
Liebe für die Männer weit geringer sind als auf dem Lande.
In der Stadt gibt es eben eine Nachfrage nach Prostituierten,
auf dem Lande nicht. Freilich erklärt die Nachfrage von seiten
der Männer nicht den Umfang, den die heutige Prostitution in
den großen Städten angenommen hat, sie erklärt gewissermaßen
nur einen Teil der Prostitution. F. Schiller weist in seiner
schönen Arbeit über „Fürsorgeerziehung und Prostitutions-
bekämpfung“ (Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrank-
heiten, 1904, Bd. II, S. 311—313) nach, daß die Prostitution
keineswegs mit dem Wachsen der männlichen Bevölkerung gleichen
Schritt hält, daß sie in 'Wirklichkeit in den letzten
Jahrzehnten in ungleich stärkerem Verhältnisse
gewachsen ist, als die Bevölkerung und daß diese
U»d di© einzelnen Städte in ihren Verhältnis-
361
zahlen von Prostituierten und männlicher Be-
völkerung das bunteste Bild bieten.
So hat sich z. B. in Berlin die Prostitution in einem fast
doppelt so starken Verhältnis vermehrt wie die männ-
liche Bevölkerung. Dasselbe Verhältnis ist in anderen Städten
zu beobachten. Ueberall übersteigt das Angebot der Prosti-
tuierten die Nachfrage und durch dieses große Angebot wird
ganz gewiß das Bedürfnis zum Teil eist geweckt. Straßendirnen
und Bordell verlocken viele Männer zum Geschlechtsverkehr,
die sonst kein Bedürfnis dazu gefühlt hätten.
Andererseits aber bleibt auch die Tatsache einer frei-
willigen Nachfrage von seiten der Männer bestehen.
In diesem Sinne hat man die Prostitution in der Hauptsache
eine „Männerfrage“ genannt.
Hier erhebt sich nun eine inhaltsschwere Frage, die, so weit
ich' sehe, vor mir noch niemals jemand aufgeworfen hat, viel-
leicht weil niemand es gewagt hat, die aber für die Erkenntnis
der Prostitution von größter Bedeutung ist.
Was ist denn eigentlich das „Bedürfnis des Mannes nach
Prostitution“, von dem Blaschko spricht? Ist es der bloße
Geschlechtstrieb ? Oder noch ein anderes Moment ?
Gewiß spielt auch der Geschlechtstrieb, spielt bloße Sinn-
lichkeit eine große Bolle bei dieser männlichen Nachfrage nach
Prostituierten. Aber das erklärt nicht die Tatsache, weshalb so
viele Ehemänner oder die Möglichkeit anderen Geschlechtsverkehrs
habenden Männer die Prostitution frequentieren, das erklärt nicht
die eigentümliche, mich immer wieder von neuem in Erstaunen
setzende Anziehungskraft, welche Prostituierte auf hochgebildete,
ästhetische und ethisch fein empfindende Männer ausüben. Liegt
hier nicht eine tiefere, physiologische Beziehung zugrunde?
Ich bejahe unbedingt diese Frage und gebe darauf folgende
Antwort:
Es ist kein Zufall, daß die Prostitution wesentlich ein Pro-
dukt der Kultur ist, hier ihre eigentlichen Lebensbedingungen
findet, während sie in primitiven Zuständen nicht recht ge-
deihen kann.
In primitiven Zeiten konnten eben, ungehemmt durch die
(berechtigten) Forderungen einer höheren Kultur und der mit ihr
eng verknüpften gesellschaftlichen Moral, die Menschen ihre wilden
Triebe auch auf geschlechtlichem Gebiete ohne Scheu befriedigen,
362
den eigentümlichen biologischen Instinkten sexueller Natur, die
in jedem verborgen liegen, freien Lauf lassen. Ihr sexuelles
„Ober- und Unterbewußtsein“, wie Cbr. von Ehrenfels mit
einem glücklichen Ausdruck den Dualismus in der modernen Sexua-
lität bezeichnet hat, war noch einheitlich. Heute aber sind
die ursprünglichen Instinkte zurückgedrängt durch die Not-
wendigkeit des Kulturlebens und den Zwang der konventionellen
Sitte, sie schlummern aber in jedem. Auch wir haben ein jeder
unser sexuelles Unterbewußtsein. Bisweilen erwacht es, verlangt
nach Betätigung, frei von jeder Fessel, jedem Zwang, jeder Kon-
vention. Es ist, als ob in solchen Augenblicken der Mensch ein
ganz anderes Wesen sei. Hier werden die „zwei Seelen“ in unserer
Brust Wahrheit. Ist das noch der berühmte Gelehrte, der fein-
sinnige Idealist, der zartfühlende Aesthetiker, der Künstler, der
uns mit den herrlichsten, reinsten Werken der Poesie und Plastik
beschenkt ? Wir erkennen ihn nicht wieder, weil in solchen
Momenten etwas ganz anderes in ihm auf ge taucht ist, eine andere
Natur in ihm sich regt und ihn mit der Kraft einer elementaren
Gewalt zu Dingen hinreißt, vor denen sein „Oberbewußtsein“,
der Kulturmensch in ihm zurückschaudern würde.
Gerade ein so feinfühliges, den zartesten seelischen Regungen
zugängliches Gemüt wie das des dänischen Dichters J. P. Jakob-
sen mußte diesen Kontrast besonders schmerzlich empfinden,
gerade solche Naturen, in denen sich die geschilderten Extreme
am schärfsten und deutlichsten ausprägen, liefern uns den Beweis
für die Existenz einer Doppelseele. Jener Urinstinkt bricht da
hervor wie eine Monomanie, an welche alte psychiatrische Lehre
man unwillkürlich erinnert wird, wenn man sieht, wie selbst
hochbedeutende, sonst nur in den höchsten geistigen Regionen
lebende Menschen solchen Anwandlungen eines rein instinktiven
Sexualismus unterliegen und ein „geheimes“ Innenleben führen,
von dessen Existenz die AVelt keine Ahnung hat.
In „Niels Lyhne“ hat J. P. Jakobsen dieses Doppelleben
sehr gut charakterisiert. „Aber wenn er dann,“ heißt es dort,
„dem Gotte treu elf Tage lang gedient hatte, so geschah es oft,
daß andere Mächte in ihm die Oberhand bekamen, er wurde
von einem rasenden Drang nach der groben Lust grober Genüsse
ergriffen und gab ihm nach, gepackt von der menschlichen Be-
gierde nach Selbstvernichtung, die, während das Blut brennt, wie
Blut nur brennen kann, nach Herabwürdigung, Verkehrtheit,
363
Schmutz und Kot verlangt mit ganz demselben Maße von Kraft,
das jenem anderen, ebenso menschlichen Streben eigen, das Streben,
sich selbst zu erhalten, größer als man selbst ist und reiner.“
Diesen Instinkten der Männer nun kommt nur die Prosti-
tution entgegen. Bei den käuflichen Dirnen können sie dieses
von Jakobsen anschaulich und treffend geschilderte Verlangen
voll befriedigen, auf dessen Ursprung wir noch in anderem Zu-
sammenhänge zurückkommen. Das Gemeine, Hohe, Brutal-Tierische
im Prostitutionswesen übt eine förmliche magische Anziehungs-
kraft auf zahlreiche Männer aus.
Ludwig Pietsch erzählt in seinen „Erinnerungen aus
den sechziger Jahren“ (Berlin 1894, Bd. II, S. 337) von der be-
rüchtigsten Kokotte des zweiten Kaiserreiches Cora Pearl, die
er in Baden-Baden sah. „Ich habe nie verstehen können,“ be-
richtet er, „wie sie einen so starken Beiz auszuüben vermochte.
In ihrer Erscheinung, ihrem wulstig geformten, bemalten „Mops-
gesicht“, lag er jedenfalls nicht. Vielleicht wirkte sie auf so
viele Männer hauptsächlich durch dieselbe Eigenschaft, welche
der königliche Freund der dänischen Gräfin Danner (der Bas-
mussen) dieser nachrühmte und als den Grund ihrer, andern
ebenso unverständlichen, Macht über sein Herz angeführt haben
soll: „Sie ist ja so herrlich gemein“.
Dieses Wort spricht Bände und erleuchtet die eigentümliche
Wirkung des Dirnentums und Dirnenwesens auf den Mann in
drastischer, aber durchaus zutreffender Weise.42) Sehr gut hat
auch Stefan Grimmen in einer Novellette „Die Landpartie“
(in: „Die Welt am Montag“, Nr. 22 vom 28. Mai 1906) diese
Wirkung geschildert, die hier von zwei im Grase liegenden
Demimondänen auf die männlichen Personen einer Landpartie
ausgeübt wird, die darüber ihre anständige weibliche Begleitung
ganz vergessen. Auch den Goncourts war diese spezifische
Anziehung der Dirne bekannt, da sie einmal in ihrem Tagebuche
einer Frau empfehlen, sie solle Dirnengewohnheiten annehmen,
um ihren Mann recht lange zu fesseln.
42) Auch Henry Murger erwähnt in seinem „Zigeunerleben“
(Reklamausgabe S. 274), die „unbegreifliche“ Tatsache, daß „Leute von
Stand, die zuweilen Geist, einen Namen und einen Rock nach der
Mode haben, sich aus Liebe zum Alltäglichen soweit hinreißen lassen,
daß sie ein Geschöpf, welches ihr Bedienter nicht zur Geliebte:?,
nehmen würde, zur Würde eines Modegegenstandes erheben.“
364
Es läßt sich hierin ein gewisser masochistischer Zug im
Empfinden der Männer nicht verkennen, der besonders grell
hervortritt, wenn man den Gegensatz zwischen dem Wesen der
oben erwähnten geistig hochstehenden Naturen und einer Prosti-
tuierten sich vorstellt. So käme man zu der Ansicht, daß die
Prostitution zum Teil ein Produkt des physio-
logischen männlichen Masochismus sei, cL h. des
Dranges, von Zeit zu Zeit in die Tiefen der rohen, brutalen
Geschlechtslust und der Selbstentäußerimg und Selbstdemütigung
durch die Hingabe an ein minderwertiges Geschöpf hinabzutauchen.
Dieser Zug zum Dimenhaften ist eine der merkwürdigsten Er-
scheinungen in der Psyche des modernen Kulturmenschen, es ist
der Fluch der Kulturent wicklung. „Auch der idealste Mensch
wird seinen Körper nicht los,“ sagt Heinrich Schurtz, „die
Verfeinerung führt zuletzt zu prüder Unnatur, die notwendig
einmal von einem Hauch frischer Unfeinheit und
roher Natürlichkeit durchweht werden muß, wenn
sie nicht an ihrem inneren Widerspruch zugrunde gehen soll.“
Ohne Zweifel ist dieses Bedürfnis weit mehr dem Manne
eigentümlich als dem Weibe. Doch möchte ich sein Vorhandensein
bei letzterem nicht gänzlich bestreiten. Ich komme auf diese
ganze wichtige Frage in anderem Zusammenhänge noch einmal
zurück.
Natürlich liegt hier nur ein begünstigendes Moment
für die Erzeugung der Prostitution als Massenerscheinung
vor, keine eigentliche Ursache für die Züchtung der einzelnen
Prostituierten.
Ich halte überhaupt den Streit über die Ursachen der Prosti-
tution für überflüssig. Es wirken eine Menge Ursachen dabei
zusammen, und in jedem einzelnen Falle ist es immer eine un-
selige Verkettung von Verhältnissen, inneren und äußeren
Einflüssen, die das Mädchen zur Prostitution trieb. Die ver-
schiedenen Theorien über die Ursachen der Prostitution
haben daher nur einen relativen Wert, keine erklärt sie ganz,
jede muß die andere zuhilfe nehmen.
Das gilt vor allem von der berühmten Theorie Lombrosos
von der „geborenen Prostituierten“, die klipp und klar
besagt, daß das Mädchen bereits mit allen Charakteranlagen
einer Prostituierten geboren wird, und daß diese Charakter-
365
anlagen auch eine körperliche Grundlage haben in Gestalt
nachweisbarer Entartungszeichen.
Lombrosos „geborene Dirne“ zeichnet sich vor allem
durch einen völligen Mangel des sittlichen Gefühls aus, durch
typische „moral insanity“, die die eigentliche „W u r z e 1“ des
Dirnenlebens ist, das mit dem Geschlechtlichen nur sehr wenig
zusammenhängt. Die Prostitution ist daher nach Lombroso
„nur ein besonderer Fall der frühzeitigen Neigung zu allem Bösen,
der von Kindheit auf bestehenden Lust, Verbotenes zu tun, die
den moralisch idiotischen Menschen charakterisiert.“43) Die indi-
viduelle Ursache der Prostitution liegt daher nicht auf sexuellem,
sondern auf sittlichem Gebiete. Mit dem ethischen Defekte sind
Naschhaftigkeit, Putzsucht, Trunksucht, Eitelkeit, Arbeitsscheu,
Verlogenheit und Neigung zur Kriminalität verbunden. Dieser
moralischen Entartung entsprechen körperliche Degenerations-
merkmale, wie Zahnanomalien, gespaltener Gaumen, Abnormitäten
der Behaarung, Henkelohren, Gesichtsasymmetrien usw.
Der geschilderte Typus des degenerierten Weibes existiert
in der Tat. Aber er macht erstens nur einen verhältnismäßig
geringen Bruchteil der Prostituierten aus und findet sich ohne
Zweifel auch unter nicht prostituierten Weibern. Inso-
fern ist der Ausdruck „geborene Prostituierte“ falsch, und müßte
lauten: „geborene Degenerierte“. Denn nicht alle geborenen
Degenerierten werden Prostituierte.
Zweitens sind nicht alle degenerierten Prosti-
tuierten geborene Degenerierte. Bei vielen ist die
Degeneration erst durch das Unzuchtsgewerbe erworben.
„Niemand,“ sagt Friedrich Hammer, „der es nicht
selbst mit ansehen muß, macht sich einen Begriff, wie rasch
und gründlich sich der Umwandlungs prozeß von
einem ehrbaren Mädchen in eine Dirne abspielt, und
was das eigentlich heißt, eine Straßendirne. Kam sie vor wenig
Wochen noch ziemlieh sauber angezogen und gekämmt, wohl mit
dem Zuge des Leichtsinns im Gesicht, aber doch noch einiger-
maßen fähig, die Situation zu beurteilen, in der sie sich befindet,
so erscheint sie nun nach jeder Richtung verwahrlost, starrend
vor Schmutz, voller Ungeziefer, und auf ihr Gesicht legt sich * S.
43) C. Lombroso, Das Weib als Verbrechern! und Prostituierte.
S. 550.
366
ein unendlich trostloser Ausdruck, nicht wie Sie vielleicht glauben,
von Sinnlichkeit und Zügellosigkeit, nein, der Verblödung,
der absoluten Hilfs- und Willenlosigkeit, des Abgestumpftseins
gegen Strafen wie gegen Wohltaten.“44)
Es haben denn auch schon die älteren Prostitutionsforscher
nach dem Vorgänge Parent-Duchatelets die geistigen und
körperlichen Abnormitäten der Dirne als Veränderungen
durch die Lebensweise nachgewiesen. Man kann bei vielen Prosti-
tuierten eine typische Verwischung der sekundären
und tertiären Geschlechtsmerkmale nach längerer
Ausübung ihres Gewerbes beobachten. Schon V i r e y bemerkt
sehr richtig, daß „öffentliche Mädchen wegen der häufigen Um-
armungen der Männer, ein mehr oder weniger männliches Wesen
annehmen“, daß ihr Hals stärker, ihre Stimme rauher und fast
männlich wird (J. J. Virey, Das Weib. Leipzig 1827, S. 157
bis 158).
Die meisten Prostituierten haben den Funktionen des weib-
lichen Körpers mehr oder weniger Gewalt angetan, ihr Geschlechts-
leben vollkommen zerrüttet und sind unfruchtbar. Es ist kein
Wunder, daß sich dies bisweilen auch in ihrer äußeren Erscheinung
ausprägt, z. B. in der schwachen Entwicklung der Brüste, die
Läufig genug eine bloße Atrophie ist. Die „unverkennbare Aus-
bildung“ tertiärer Charaktere des Mannes bei einzelnen Prosti-
tuierten, die Kureila zur Aufstellung der interessanten Hypo-
these veranlaßt hat, daß die Prostituierten eine Abart der Homo-
sexuellen darstellen,45) beruht meist auf einer Annahme männ-
licher Lebensführung und männlicher Gewohnheiten, die auf die
Dauer nicht ohne Einfluß auf die Körperbildung bleiben können,
wie z. B. das Bauchen und der übermäßige Genuß von Alkohol,
das Kneipenleben, Völlerei und andere männliche Gewohnheiten.
Die „tiefe männliche“ Stimme mancher Prostituierten ist wohl
lediglich eine Folgeerscheinung des reichlichen Nikotin- und
Alkoholgenusses. Dieser auffälligen, allmählichen Verände-
rung der Stimme hat bereits P a r e n t - D u c h a t. e 1 e t eine ein-
Friedrich Hammer, Die Reglementierung der Prostitu-
tion, in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,
Leipzig 1905, Bd. III, Heft 10, S. 380.
45) H. K u r e 11 a, Zum biologischen Verständnis der somatischen
und psychischen Bisexualität, in: Zentralblatt für Nervenheilkunde
1896, Bd. 19, S. 239.
gehende Besprechung gewidmet (I, 86—88 der deutschen Ausgabe),
ebenso war sie Lippert auf gef allen. Parent-Duchâtelet
führt das häufige Auftreten der Männerstimme auf den über-
mäßigen Genuß alkoholischer Getränke, auf die Einwirkungen
des häufigen Witterungswechsels (Erkältung usw.) zurück. Auch
das Rauchen hat gewiß einen Anteil daran.
Auf andere Veränderungen macht Lippert aufmerksam
(Die Prostitution in Hamburg, S. 80 und 90): „Die Augen ge-
winnen durch die jahrelange tägliche Uebung im Gewerbe etwas
Stechendes, Rollendes, sie sind stärker gewölbt infolge der steten
krampfhaften Spannung der Augenmuskeln, da ja die Augen
zum Erspähen und Anlocken von Kundschaft hauptsächlich be-
nutzt werden. Die Kau- oder, um den naturhistorischen Ausdruck
anzuwenden, die Freßwerkzeuge sind bei vielen stark entwickelt,
der Mund, durch Küssen und Kauen in steter Tätigkeit, prävaliert,
die Stirn ist oft flach und unbedeutend, der Hinterkopf häufig
stark vorragend. Die Haare wachsen vielen nur spärlich, ja es
finden sich selbst zahlreiche Glatzen. Hierfür fehlt es nicht an
Gründen: vor allem die unruhige Lebensweise, das viele Herum-
treiben bei jeder Witterung auf offener Straße, teilweise selbst
im bloßen Kopf, der oft andauernde weiße Fluß, an dem sie
leiden,46) das beständige Zerren, Manipulieren, Frisieren und
Einsalben der Haare, bei den niederen Klassen der Prostituierten
der Branntweingenuß usw.
Die rauhe Stimme ist das physiologische Merkmal eines
Weibes, die ihren eigentlichen Funktionen, denen der Mutter
entfremdet worden.“
Uebrigens besteht das Gros der jugendlichen Prosti-
tuierten aus durchaus weiblichen Erscheinungen. Erst im
späteren Alter pflegt der eben gezeichnete Typus hervorzutreten
und sich dadurch als eine Folge äußerer Einflüsse zu kenn-
zeichnen. Fünf bis zehn Jahne bringen da einen gewaltigen Unter-
schied hervor. Im Jahre 1898 behandelte ich ein Dienstmädchen
an Syphilis. Damals war sie eine zierliche, echt weibliche Er-
scheinung. Nach sieben Jahren, im Jahre 1905, stellte sie sich
wieder bei mir vor. Welche Veränderung! Das Gesicht aufge-
dunsen, in die Breite gezogen, die einst hellen, klaren Augen
trübe, ausdruckslos, die Stimme rauh, alle spezifisch weiblichen
Formen und Merkmale verwischt durch eine auffallende Korpulenz.
4ö) Die Syphilis nicht zu vergessen I
368
Es war kein Weib mehr, es war eine „Dirne“, ein besonderer
Menschenschlag, aber ein allmählich gewordener, und
nach nur sechs Jahren der Ausübung des Prostitutionsgewerbes.
Diese Tatsachen schließen allerdings durchaus nicht die
Existenz echter Degenerierter, in größerem Prozentsätze
als bei Nichtprostituierten,47) auch nicht diejenige echter Homo-
sexueller unter den Prostituierten aus. Insofern birgt LoLi-
bro so s Theorie einen wahren Kern. Aber es ist das doch immer
nur ein Bruchteil des gesamten Dirnentums. Lombroso ist
selbst wiederholt genötigt, die Häufigkeit normaler weiblicher
Erscheinungen, ja von Schönheiten unter den Prostituierten an-
zuerkennen.48)
Endlich widerlegt auch der Umstand, daß dieselben Degene-
rationstypen, wie sie uns Lombroso bei den Prostituierten
schildert, sich auch bei nichtprostituierten Weibern finden,49)
die Lehre von der „geborenen Prostituierten“. Freilich ist
Lombroso diesem Einwande durch Aufstellung eines „Aequi-
valents der Prostituierten in den höheren Klassen“ begegnet, hat
aber damit nur bewiesen, daß dieselbe moralische Entartung
ebenso wie bei einem Teil der Prostituierten auch bei Vertreterinnen
anderer und höherer weiblichen Klassen vorkommt. Es gibt in
der Tat Dimennaturen auch in der Klasse der oberen Zehntausend.
Die beste Einschränkung der allgemeineren Geltung der Lehre
von der „Donna prostituta“ ist das Schlußkapitel des Lom-
broso sehen Buches über die „Gelegenheitsprostituierte“. Es be-
ginnt mit den durchaus zutreffenden Worten:
„Nicht alle Prostituierten sind ethisch blödsinnig, d. h. nicht
alle sind geborene Dirnen; auch auf diesem Gebiete
wirkt die Gelegenheit.“
Das wird in diesem Kapitel weiter aüsgeführt, und damit
i7) Diesen gemäßigten Lorabrosismus vertritt z. B. A. H. Hübner
in seiner interessanten Arbeit „Ueber Prostituierte und ihre strafrecht-
liche Behandlung“ (Monatsschrift für Kriminalpsychologie 1907, S. 1
bis 11). Er fand, daß unter 64 in der Irrenanstalt Herzberge bei Berlin
beobachteten geisteskranken Prostituierten nicht weniger als 59,45 o/o
bereits zur Zeit der Stellung unter Sittenkontrolle geistig defekt waren.
48) Ygl. c. Lombroso, Neue Fortschritte in den Verbrecher-
studien, Deutsch von H. Merian, Gera 1899, S. 329.
49) Auch Schrank bemerkt (Prostitution in Wien II, 216), daß
man auffallende körperliche Gebrechen bei Prostituierten weder häufiger
noch seltener finde als in dem Gros der Bevölkerung.
369
hat Lombroso selbst die Geltung seiner Theorie bedeutend
eingeschränkt und anerkannt, daß auch noch andere Ursachen
bei der Prostitution in Betracht kommen als die natürliche Ver-
anlagung.
Vor allem haben die ökonomischen Faktoren eine große
Bedeutung für die Züchtung und das Wachstum der Prostitution,
wenn auch nicht eine ausschließliche.
Ich unterscheide hier zwischen wirklicher, echter Not
(Nahrungs- und Wohnungssorgen usw.) und bloß relativer
Not. Man hat bisher bei der Beurteilung der wirtschaftlichen
Ursachen der Prostitution diese Dinge viel zu wenig auseinander
gehalten.
Darüber, daß wirkliche absolute Not und
Lebenssorgen viele Mädchen zur Prostitution
treiben, kann nach den neueren statistischen Er-
hebungen gar kein Zweifel bestehen. Das genauere
Material findet man in den oben erwähnten Schriften von
Blaschko, einem Hauptvertreter der ökonomischen Theorie der
Prostitution, von Georg Iveben,60) von Oda Olberg,50 51)
Anna Papprit z,52 *) P f e i f f e r,63) Paul Kampffmeye r,54)
E. v. D ü r i n g55) und vielen anderen. Hier ist ein erschreckend
reiches Material, eine Menge zum Teil erschütternder und tief-
trauriger Einzelheiten und Belege für die These Gutzkows
gesammelt, daß sich die materiellen Uebel der Gesellschaft
immer und überall in Unsittlichkeit verwandeln. Hier muß
ganz gewiß zunächst der Hebel zur Beseitigung dieser ökono-
mischen Vorbedingungen der Prostitution angesetzt werden. Ilic
Bhodus, hic salta! Davon bin ich fest überzeugt, obgleich ich
50) G. Keben, Die Prostitution in ihren Beziehungen zur modernen
realistischen Literatur, Zürich 1892.
51) Oda Olberg, Das Elend in der Hausindustrie der Kon-
fektion, Leipzig 1896.
52) Anna Pappritz, Die wirtschaftlichen Ursachen der Prosti-
tution, Berlin 1903.
63) Pfeiffer, Das Wohnungselend der großen Städte und seine
Beziehungen zur Prostitution und den Geschlechtskrankheiten, in: Z.
für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1903, Bd. I, S. 135—144
54) P. Kampffmeyer, Das Wohnungselend der Großstädte usw.
ebendaselbst, S. 145—160; derselbe, Die Wohnungsmißstände im
Prostitutions- und Schlafgängerwesen und' ihre gesetzliche Reform,
ebendaselbst 1905, Bd". III, S. 165—229.
55) E. v. Düring, Prostitution und Geschlechtskrankheiten, S. 11.
Bloch, Sexualleben 7.—9. Auflage. 24
(41.—60. Tausend.)
370
nicht ausschließlich in den wirtschaftlichen Verhält-
nissen die Ursache der Prostitution sehe, wie z. B. in extremster
Form Anna Pappritz dies ausführt. Richtig ist aber, daß
unser ganzes Sexualleben heute so innig mit der sozialen
Frage zusammenhängt, daß seine Reform eine Reform der wirt-
schaftlichen Verhältnisse zur unbedingten Voraussetzung hat.
Die Prostitution als Massenerscheinung, wie sie sich heute
zeigt und ihr ständiger Zuwachs in ganz unverhältnis-
mäßig stärkerer Weise als in früheren Zeiten, läßt sich nur
durch die rapide Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse
erklären, wie sie durch die Konzentration der Bevölkerung in
den Großstädten, durch die Industrialisierung und den kapita-
listischen Großbetrieb, den dadurch außerordentlich erschwerten
Lebenskampf, das späte Heiratsalter und die immer größer
werdende Zahl der wirtschaftlich und beruflich unselbständigen
Individuen gegeben sind. Auch die Zunahme der Kinderarbeit,
natürlich besonders der Kinder weiblichen Geschlechts, kommt
hier als merkwürdige Erscheinung des modernen Industriebetriebes
in Betracht, vor allem aber die Tatsache, daß die weibliche
Arbeit durchschnittlich äußerst gering bewertet und demgemäß
bezahlt wird.
Diese unzureichenden Löhne weisen von vornherein zahlreiche
Frauen und Mädchen auf einen Nebenerwerb in Form der
Prostitution. Ja, es ist bekannt, daß von vornherein die Arbeit-
geber mit dieser Tatsache rechnen und nicht selten den brutalen
Zynismus besitzen, ihre weiblichen Angestellten auf diese für
sie, die Arbeitgeber, allerdings bequeme Methode der Lohn-
verbesserung hinzuweisen!
Das „Reichsarbeitsblatt“, Jahrgang 1903 No. 2, bringt eine
sehr bemerkenswerte Zusammenstellung über die Arbeits- und
Lebensverhältnisse der unverheirateten Fabrikarbeite-
rinnen in Berlin. Sie ist das Ergebnis von Erhebungen seitens
der Gewerbeinspektion für Berlin, die durch ihre Assistentinnen
das erforderliche Material sammeln ließ, um in die Lebenshaltung
der Arbeiterinnen einen Einblick zu gewinnen. Die Erhebungen
erstreckten sich auf 9 3 9 unverheiratete Fabrikarbeiterinnen,
wobei alle die Betriebsarten berücksichtigt wurden, in denen in
Berlin Arbeiterinnen in erheblicherer Zahl beschäftigt werden.
Das Durchschnittsalter der befragten Arbeiterinnen betrug
221/3 Jahre; die älteste war 54 Jahre, über 21 Jahre waren
371
53,5 % der Gesamtzahl, zwischen 16 und 21 Jahren 42,0 °/o, unter
16 Jahren 4,5 °/o. Die durchschnittliche Arbeitsdauer betrug für
den Tag 9'72 Stunden; 3,2 o/0 aller Arbeiterinnen arbeiteten 7x/2
bis 8 Stunden, 37,2 o/0 8 bis 9 Stunden, 47,7 % 9 bis 10 Stunden
und 11,9 o/o 10 bis 11 Stunden. Der Wochen lohn betrug im
Durchschnitt 11,36 Mark; im einzelnen stellte er sich sehr ver-
schieden, 4,3 o/o der Arbeiterinnen erhielt weniger als 6 Mark,
1,1% über 20 bis 30 Mark. Ueberwiegend lagen die ge-
zahlt en Löhne zwischen 8 und 15 Mark. Zuschüsse
an barem Gelde, Kleidung und Lebensmitteln erhielten nach ihrer
Angabe von den befragten Arbeiterinnen 88, darunter 41 von
den Eltern, 4 von Verwandten, 3 von Kassen. 542 von den Be-
fragten wohnten bei den Eltern, 57 bei anderen Verwandten,
zusammen also 64,2o/0 der Gesamtzahl, in Schlafstelle wohnten
21,5%, in eigenem Zimmer 14o/0. Die schlechter gelohnten Ar-
beiterinnen wohnen überwiegend bei den Eltern, sobald der Lohn
zu eigener Lebenshaltung ausreicht, ziehen viele von den Eltern
fort. Der Schlafraum war unter 845 Angaben 758 mal ein Zimmer,
82 mal eine Küche, 2 mal eine Bodenkammer, 3mal ein anderer
Baum. In einzelnen Fällen wurden ganz ungeeignete Gelasse
zum Schlafen benutzt; überhaupt sind die Zustände
schlimmer, als die obigen Zahlen vermuten lassen. Von
832 Arbeiterinnen benutzten nur 169 einen Baum allein, 193 ge-
meinsam mit einer anderen Person und 4 70 (d. i. 56,6o/0) mit
mehreren Personen. Ueber die Preise, die für Wohnung
gezahlt werden, lagen 464 Angaben vor, der Durchschnittssatz
betrug 1,79 Mark für die Woche. Der Preis für die gesamte
Kost (Haupt- und Nebenmahlzeiten) stellte sich im Durchschnitt
wöchentlich für 568 Arbeiterinnen auf 6,77 Mark, darunter zahlten
205 bis zu 6 Mark, 109 mehr als 8 Mark für die Woche. Die
Gesamtkosten für Wohnung und Essen betragen bei 867 Arbeite-
rinnen im Durchschnitt 7,62 Mark. Ihre Hauptmahlzeiten halten
44,7o/o mittags, 55,3o/0 abends, 79,4o/0 tun dies zu Hause, 9,4<y0
in der Fabrik, ll,2o/0 in einer Volksküche, Kochschule oder im
Gasthaus. Ueber die Ausgaben für Kleidung usw. sind nur
sehr spärliche Angaben gemacht worden, die wir übergehen
können. Unterstützungen und Unterhaltungskosten für Verwandte
oder Kinder zahlten von den befragten 939 Arbeiterinnen 197
oder 21%, Steuern etwa 10o/o mit einem durchschnittlichen Be-
trage von 8 Pf. in der Woche. Für Vergnügungen machten
24*
372
233 Arbeiterinnen Ausgaben in der durchschnittlichen Höhe von
1 Mark. Einer größeren Zahl der Befragten (22 o/o) ist es ge-
lungen, etwas zurückzulegen, meist sind es 50 Pf. bis zu 1 Mark
in der Woche; das Ersparte geht aber vielfach alljährlich während
der Zeit geringeren Verdienstes, hei Krankheit usw. wieder
verloren. Die vorstehenden Zahlen, die in vielen Beziehungen
weiterer Prüfung, Ergänzung und Klärung bedürfen, lassen soviel
erkennen, daß zur Hebung der Verhältnisse in der Lebenshaltung
der Fabrikarbeiterinnen noch recht viel zu tun bleibt.
Daß diese Löhne gänzlich unzureichend sind, ergibt sich aus
folgender Zusammenstellung der Ausgaben einer Wäschenäherin
für Wohnung und Ernährung (nach den Mitteilungen des Ge-
werberats von Stülpnage 1)
Mk. Pf.
Schlafstelle und Kaffee — 20
Zweites Frühstück (Butterbrot) — 15
Mittagessen — 30
Vesperbrot — 15
Abendessen — 20
Für 2 Flaschen Bier —> 20
Zusammen 1 20
Das macht wöchentlich 8 Mark 40 Pfennige nur für Nahrung
und Wohnung. Von dem übrigen sind Kleidung, Wäsche und
etwaige Vergnügungen ,zu bestreiten, was nur bei den höchsten
Löhnen zwischen 12 und 15 Mark möglich und oft genug der
Fall ist, wie auch Anna Papp ritz zugibt. In vielen Fällen
beträgt der Wochenlohn nur 5 bis 8 Mark. In der Mehrzahl
der Konfektionsbetriebe ruht überhaupt die Produktion 4 bis
6 Monate. Da fällt also jede Entlohnung aus.
Nach dem statistischen Jahrbuch der Stadt Berlin von 1897
betrug der J ahresverdienst:
für Schneiderinnen 457 Mark
„ Wäschenäherinnen 488 „
t Knopflochhandarbeiterinnen 354 „
„ Knopflochmaschinenarbeiterinnen 700 ,,
„ Hand-, Putz- und Hosenträgerarbeiterinnen 354 „
Ja, für das gesamte Deutsche Reich ergab die Erhebung des
statistischen Amts nur ein Durchschnittsjahreseinkommen von
322 Mark!!
373
Da ist es kein Wunder, daß z. B. die Gewerkeräte von Frank-
furt a, M. und Wiesbaden in ihrem in den „Ergebnissen der
von den Bundesregierungen angestellten Ermittlungen über die
Lohn Verhältnisse der Arbeiterinnen in den Wäschefabriken und
der Konfektionsbranche im Jahre 1887“ veröffentlichten Berichte
sagen:
„In Frankfurt waren zu Ende des vorigen Monats unter
226 daselbst unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehenden Per-
sonen (also die heimlichen Prostituierten nicht mitgerechnet!)
98 Arbeiterinnen, die teils in Wäsche-, teils in Konfektions-
geschäften tätig waren. Da für einen notbedürftigen Unterhalt täg-
lich mindestens 1,25 Mark gerechnet werden muß, so reicht der
bei Anfertigung gewöhnlicher Artikel zu erzielende Verdienst
von 1,50 bis 1,80 Mark in der Tat kaum aus, um alle Bedürf-
nisse zu bestreiten; es wird daher der geringe Lohn nicht ganz
ohne Einfluß in der vorliegenden Frage sein.“
Aehnlich lauten die Berichte der Gewerberäte von Düssel-
dorf, Posen, Stettin, Neuß, Barmen, Elberfeld, M.-Gladbach,
Erfurt usw.
Wichtig ist dabei der den Zusammenhang zwischen materieller
Not und Prostitution unwiderleglich beweisende Umstand, daß
in den meisten Fällen diese Prostitution der Arbeiterinnen nur
eine gelegentliche, keine gewerbsmäßige Prostitution ist,
d. h. nur dann geübt wird, wenn Lebenssorgen dazu zwingen.
Zur eigentlichen gewerbsmäßigen Prostitution liefert
bemerkenswerterweise der Stand der in relativer Freiheit
lebenden, selbständigen Arbeiterinnen ein geringeres Kontingent
als der Stand der immer abhängig gewesenen, im Lebens-
kämpfe viel unerfahreneren und doch in besseren Lebensverhält-
nissen befindlichen Dienstmädchen. Auf Grund einer Zu-
sammenstellung von Zahlen aus den Jahren 1855, 1873 und 1898,
die für 1855 und 1898 viel zu geringe Ziffern aufweisen, nimmt
Blaschko an, daß früher die Beteiligung der Arbeiterinnen
an der Prostitution eine größere gewesen sei als heute, daß
dagegen der Anteil der Dienstmädchen enorm gewachsen sei.
Das trifft nicht ganz zu. Schon Groß-Hoffinger hat
in seinem früher erwähnten Buche die Dienstmädchenklasse
als den eigentlichen Kern der Prostitution bezeichnet und dieser
Tatsache ein sehr langes erklärendes Kapitel seines Buches ge-
widmet. Und um dieselbe Zeit (1848) erklärt L i p p e r t eben-
374
falls (a. a. 0. S. 79): „Den Hauptfonds der öffentlichen Mädchen
liefern die Dienstmädchen (auch bei ihm gesperrt gedruckt!),
dann Näherinnen und Stickmamsells, Putz- und Blumenarbeite-
rinnen, Schneiderinnen, Friseurinnen, Ladenmädchen, Schenk-
mamsellen.“
Diese, wie man sieht, schon sehr alte Tatsache, die viel-
leicht heute in größerem Umfange sich zeigt, läßt sich
nun keineswegs durch bloße Not erklären, die auf bestimmte
Fälle wie Verführung und uneheliche Mutterschaft beschränkt
ist. Hier kann man nur* von einer relativen Not sprechen,
die mehr innerer, als äußerer Natur ist.
Mit Recht bemerkt Schiller in seiner ausgezeichneten Ab-
handlung über „Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämpfung“,
daß bei den ehemaligen Dienstmädchen in den meisten Fällen
(abgesehen von den schlecht bezahlten Dienstboten in Kneipen,
den Abwaschmädchen usw.) von schlechter Entlohnung und wirk-
licher Not nicht die Rede sein könne, da sie in ihren Dienst-
stellungen außer dem Lohn freie Kost und freie Wohnung haben
und dadurch viel besser gestellt sind, als der größte Teil der
Fabrik- und Heimarbeiterinnen. Trotzdem stellen sie das Haupt-
kontingent der Prostituierten.
Das Gros der Dienstmädchen stammt vom Lande, wo in ge-
schlechtlicher Beziehung laxe Anschauungen herrschen, zudem
kommen die Mädchen in einem sehr jugendlichen Alter in die
Stadt. Der Mangel an Erziehung und Lebenserfahrung tritt bei
ihnen ganz auffallend hervor, und wird durch die dauernd ab-
hängige Stellung noch verstärkt, im Gegensätze zu den früh
selbständigen, mit allen Tücken und Schlichen der Großstadt
vertrauten städtischen Arbeiterinnen. Hinzu kommt noch ein
wenig gewürdigtes Moment: die Putzsucht. Sie ist gerade bei
Dienstmädchen besonders groß, die in dieser Beziehung beständig
dem von den Toiletten ihrer Herrinnen ausgehenden suggestiven
Einflüsse unterliegen. Diese Putzsucht in. Verbindung mit einer
viel größeren geschlechtlichen Skrupellosigkeit, als wir sie bei den
Arbeiterinnen finden, treibt viele Dienstmädchen auch ohne
wirkliche Lebensnot zur Prostitution. Kommen noch Stellen-
losigkeit, Arbeitsscheu, uneheliche Geburt, venerische Ansteckung
hinzu, so gelangen sie leicht zur* gewerbsmäßigen Prostitution.
Dieser innere psychologische Faktor spielt eine bei-
nahe ebenso große Rolle als der ökonomische. Selbst B lasch ko
375
weist darauf hin, daß im Verhältnis zu den Hunderttaus enden
von Frauen, die sich in harter, schlecht bezahlter Arbeit ihr
Brot erwerben müssen, die Zahl derer, die schließlich der Prosti-
tution anheimfallen, doch nur eine verschwindend kleine ist, und
daß daher ein Mangel an Willenskraft, Fleiß, Ausdauer und
sittlichem Halt und schließlich auch — hier kommt Lombroso
zu seinem Recht — angeborene Minderwertigkeit als Ur-
sachen der Prostitution angeschuldigt werden müssen. Hell-
p a c h hat recht, wenn er, der diese „sozialpsychologische“ Er-
klärung der Prostitution in seiner lesenswerten Abhandlung über
^Prostitution und Prostituierte“ (Berlin 1905) hauptsächlich her-
anzieht, das rein Oekonomische als die „allerletzte Wendung“
in dem Schicksalsgange bezeichnet, der zur Prostitution führt.
Es ist daran festzuhalten, daß die verschiedensten und
heterogensten Lebensschicksale zuletzt in die Prostitution
hineinführen können. Da spielt auch der Mangel an Er-
ziehung, die frühzeitige Gewöhnung an geschlecht-
liche Ausartung durch Anblick und V erführung, wie sie
das von Pfeiffer und Kampffmeyer neuerdings dramatisch
geschilderte Wohnungselend in großen Städten mit sich
bringt, eine große Rolle.
,,Von hoher Warte herab,“ sagt Pfeiffer, ,,ist es leichter
gegen UnSittlichkeit und Unmoralität zu donnern, als in dumpfen
engen Wohnungen, in Not und Entbehrungen allen Verlockungen
zu widerstehen . . . Der Einlogierer bändelt mit der Frau an,
das kirchlich getraute oder wilde Ehepaar wartet mit seinen
Liebkosungen nicht bis die Kinder die Wohnung verlassen haben.
Die Kinder sind Zeugen mancher Szenen, welche wenig für das
sittliche Erwachen taugen; sie sehen Dinge, welche sie später
als selbstverständlich betrachten und üben, denn sie haben es
ja nicht anders kennen gelernt, und denken, es ist überall so . . .
Das Dienstmädchen bekommt ein Kind, der Vater ist über
alle Berge, stellenlos erinnert sie sich, daß sie eine verheiratete
Schwester hat, welche sie auch nach langem Suchen in einer
feuchten Kellerwohnung findet. Die Wohnung der Schwester
besteht aus einem Zimmer und einer dunklen Küche, drei frierende,
schmutzige Kinder spielen am Ofen. Der Mann ist arbeitslos,
doch der Raum wird vielleicht auch noch genügen für die
Schwägerin und das uneheliche Kind. Es kommen auch etwas
bessere Tage, bis auf einmal innerhalb von acht Tagen beide
376
Schwestern von demselben Manne niederkommen. Wenn sich das
alles in dem einen verfügbaren Raum abgespielt hat, werden
die Kinder so manches Unverständliche gesehen haben.“
Die Berliner Wohnungsstatistik von 1900 lieferte geradezu
erschreckende Aufschlüsse über diese und noch viel schlimmere
Zustände, wie sie durch das „Schlafbursche n“- und
,,Schlafmädche n££-Unwesen zur Genüge erklärlich sind.
Einzimmrige Wohnungen mit 4 bis 7 Bewohnern sind häufig,
mit 8 bis 10 nicht selten!
Daß der Alkoholismus überall, unter den verschiedensten
Verhältnissen, den Boden für die Prostitution vorbereitet, braucht
nach dem früher Gesagten nicht weiter ausgeführt zu werden.
Kräpelin und 0. Bosenthal haben diesen innigen Zusammen-
hang zwischen Prostitution und Alkoholismus eingehend dargelegt.
Eine wichtige Quelle der Prostitution liefern auch Kuppelei
und Mädchenhandel, diese schweren sozialen Schäden unserer
Zeit. Wie oft nicht werden schon Kinder von den eigenen Eltern
oder von anderen jedes moralischen Gefühles baren Individuen
zum Zwecke der pekuniären Ausbeutung in die Praktiken der
Prostitution eingeweiht und angelernt, als bloße 'Werkzeuge des
Erwerbs durch Wollust zu dienen! Paris liefert hierfür immer
noch mehr Beispiele als jede andere europäische Hauptstadt, aber
London steht nicht weit zurück, wie die „Pall Mall Gazette'£-
Skandale von 1883 bewiesen, auf die wir in anderem Zusammen-
hänge noch zurückkommen. Selbst in Berlin mehrte sich in den
letzten Jahren in erschreckendem Maße die Zahl halbwüchsiger,
ja kindlicher Prostituierten. Zwölf- bis vierzehnjäkrige Prosti-
tuierte sind nichts Seltenes mehr.
Eine noch traurigere Erscheinung ist der moderne Mädchen-
handel, recht eigentlich ein Produkt des „Zeitalters des Ver-
kehrs“, obgleich ältere Zeiten ihn auch kannten, besonders das
Frankreich des 18. Jahrhunderts50) (vgl. besonders die Lieferungen
für den berüchtigten „Hirschpark“). 56
56) Vgl. die Schilderung der erstaunlichen Entwickelung des da-
maligen französischen Kuppelei wesens in meinen „Neuen Forschungen
über den Marquis de Sade“, Berlin 1904, S. 88—98. Der Marquis de
Sade hat in seinem Roman „Die 120 Tage von Sodom“ den Mädchen-
handel seiner Zeit sehr anschaulich geschildert. Unglaubliche Ent-
hüllungen über das Treiben und die fast absolute Macht der Kupple-
rinnen und ihre Beziehungen zur Polizei brachte der im Oktober 190G
in Wien verhandelte Prozeß gegen die Kupplerin Regine Riehl, die
377
Der moderne Mädchenhandel67) hängt aufs innigste mit dem'
Bordellwesen zusammen. Man kann den Satz auf stellen:
ohne Bordelle kein Mädchenhandel. Und dieser letztere beweist
eben die wachsende Unbeliebtheit der Bordelle bei den
sich prostituierenden Frauen, die das freie Leben vorziehen. So
wird es für die Bordellbesitzer immer schwieriger, Insassinnen
zu bekommen, und der internationale Mädchenhandel soll die
immer größer werdenden Lücken in der Zahl der Bordellmädchen
ausfüllen.
Der Mädchenhandel wird heute fast ausschließlich vom
Osten aus betrieben. Was seine Quellgebiete betrifft, so ist Polen
(Galizien) mit 40°/o, Rußland mit 15, Italien mit 11, Oesterreich-
Ungarn mit 10, Deutschland mit 8% an der „traite blanche“,
der Ausfuhr weißer Sklavinnen beteiligt. Die meisten Mädchen
werden nach Argentinien transportiert, wo man sie in den
Bordellen wieder antrifft.58)
Die Mädchenhändler oder ,,Kaftén“, wie man in Brasilien
die Mädchenhändler oder Sklavenhalter nennt, sind meist galizische
Juden. Rosenack weist in seinem Referat über die Bekämpfung
des Mädchenhandels, die gerade von den westeuropäischen jüdischen
Vereinigungen, besonders der „Jewish Association for the Pro * 4
unter der Maske eines „Kleidersalons“ jahrelang- ein Bordell betrieb,
in dem die Mädchen aller Freiheit beraubt, körperlich gezüchtigt und
niemals für ihre „Arbeit“ entlohnt wurden. Vgl. A. Blaschko, in:
Zeitschr. f. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1906, Bd. V, S. 427
bis 433; ferner Karl Kraus, Der Prozeß Kiehl, Wien 1906.
Die Literatur darüber ist sehr groß. Ich erwähne nur Alfred
S. Dy er, Der Handel mit englischen Mädchen, Berlin 1881; ferner die
berühmte Schrift von Alexis Splingard, Clarissa, Aus dunkeln
Häusern Belgiens. Mit einer Einleitung von Otto Henne am Rhyn,
4. Auflage, Leipzig o. J. (ca. 1897); 0. Henne am Rhyn, Prosti-
tution und Mädchenhandel, Leipzig o. J. (ca. 1903) ;J ulius Kemény,
„Húngara“, ungarische Mädchen auf dem Markte. Enthüllungen über
den internationalen Mädchenhandel, Budapest 1903, — Vgl. auch das
ausführliche Referat in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten 1904, Bd. II, S. 207—212. (Bericht über die jüdische
Studienkommission zur Bekämpfung des Mädchenhandels.) — Ueber
den Mädchenhandel in Holland vgl. J. R u t g e r s , Skizzen aus Holland,
ibid. 1906, Bd. V, S. 351—355.
58) Vgl. über die Zustände in Südamerika den Bericht des Majors
a. D. Wagner, Schriftführer des deutschen Nationalkomitees zur
Bekämpfung des Mädchenhandels in: Z. f. Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten 1906. Bd. V., S. 378—382,
378
tection of Girls and Women“ tatkräftig in die Hand genommen
worden ist, nach, daß 5/ö der galizischen Juden als sogenannte
,,Luftmenschen“, d. h. ohne bestimmte und sichere Erwerbs-
verhältnisse leben, und daß nur eine Besserung der sozialen Ver-
hältnisse dem dortigen Mädchenhandel den Boden abgraben kann.
Er hält die von den nationalen und internationalen
Konferenzen zur Bekämpfungdes Mädchenhandels
(1903 Berlin, 1906 Frankfurt a. Main) beschlossenen Maßnahmen
für nicht geeignet, demselben wesentlichen Abbruch zu tun. Am
meisten hat entschieden das jüdische Zweigkomitee in Deutsch-
land für die Bekämpfung des galizischen Mädchenhandels getan.
Dr. Bosenack, Berta Pappenheim und Dr. Sera B a b i-
n o w i t s ch haben im Aufträge des Komitees die Verhältnisse
an Ort und Stelle studiert, die Bevölkerung ist durch Wort und
Schrift aufgeklärt worden und man bemüht sich jetzt eifrig,
die wirtschaftliche Lage der Arbeiterinnen in Galizien aufzu-
bessern. Zu diesem Zwecke sind geschulte Helferinnen aus Deutsch-
land nach Galizien geschickt worden. Es ist gelungen, in Galizien
das allgemeine Interesse für die Bekämpfung des Mädchenhandels
zu erwecken. In einer Konferenz zu Lemberg haben sich die
galizischen Vereine und jüdischen Gemeinden mit Vertretern
deutscher und anderer Vereinigungen zusammengetan, um den
Plan und die Maßnahmen zur Verbesserung der Verhältnisse in
Galizien zu vereinbaren.
Auch in Buenos Aires, dem Haupteinfuhrort für
galizische Mädchen, hat sich ein Komitee gegen den Mädchen-
handel gebildet, dem Angehörige aller Konfessionen und Nationa-
litäten angehören. Das hat die gute Wirkung gehabt, daß die
Mädchenhändler Furcht bekommen haben. Sie betreiben nicht
mehr ihr Gewerbe so offen wie früher. Auch die argentinische
Polizei beteiligt sich jetzt am Kampfe gegen den Mädchenhandel.
Nur zwei — Bichter in Buenos Aires machten mit den Mädchen-
händlern gemeinsame Sache und ließen dieselben gegen größere
Summen frei. Es liegt aber ein Gesetzentwurf vor, der sechs-
jährige Zuchthausstrafe und Vermögenseinziehung auf den
Mädchenhandel setzt.
Die Mädchenhändler bilden einen internationalen Bing. Sitz
desselben ist Buenos Aires.
In Berlin besteht seit 1904 eine Zentralpolizeistelle
zur Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels, deren Wirk-
379
samkeit sich auf das ganze Reich ausdehnt. Alle in Deutsch-
land zur Kenntnis der Behörden gelangenden Fälle von Mädchen-
handel werden der Zentralpolizeistelle mitgeteilt. Diese führt
eine Liste der ihr bekannt gewordenen Mädchenhändler, hat ein
Album mit Photographien von bestraften Händlern angelegt und
tauscht ihre Erfahrungen mit den anderen Polizeibehörden aus.
So ist zu hoffen, daß die im Verhältnis zu anderen Ländern
geringe Zahl von Verschleppungen deutscher Mädchen nach aus-
ländischen schlechten Häusern immer geringer werden wird, wie
auch die lokalen Maßnahmen in Galizien und Argentinien den
Mädchenhandel überhaupt voraussichtlich bald gänzlich beseitigen
werden.
Daß allerdings auch nach und von anderen Ländern, z. B.
von England nach Belgien und Deutschland (Hamburg), von
Galizien nach der Türkei, von Italien nach Nordamerika usw.,
einzelne Mädchen verschleppt werden, weist O. Henne am
Rhyn nach. Nach Felix Bau mann soll die Zahl der Mädchen-
liändler in New York gegen 20000 betragen. Sie haben enge
Beziehungen zur Polizei und bedienen sich junger hübscher Männer,
der sogenannten „Kadetten“, zur Anlockung der Mädchen. Die
Beseitigung der Bordelle würde auch hier das beste Mittel zur
Beseitigung des Mädchenhandels sein.
Nachdem wir so die Quellen der Prostitution kennen gelernt
haben, wollen wir in aller Kürze eine Uebersicht über ihre
Stätten geben. Hier ist die öffentliche Prostitution von
der geheimen zu unterscheiden.
Für die öffentliche Prostitution kommen wesentlich nur
zwei Arten in Betracht: die Straßenprostitution, die auf der
Straße ihre Opfer sucht, um dann in eigenen "Wohnungen oder
in „Absteigequartieren“ dem Unzuehtsgewerbe nachzu-
gehen, und die Bordellprostitution.
Die öffentliche Straßenprostitution ist heute in den meisten
Ländern, besonders aber in Deutschland, wo nur noch in wenigen
Städten Bordelle bestehen, die weitaus zahlreichere, und hat in
der Tat z. B. in der Berliner Friedrichstraße, aber auch auf
den Pariser Boulevards, bedenkliche Zustände hervorgerufen, die
an die schlimmsten Zeiten des kaiserlichen Rom erinnern. Die
Berührung von öffentlichem Leben und Prostitutionswesen
ist ohne Zweifel ein großes Uebel, das Treiben der Dirnen auf
offener Straße, die schamlose und lüsterne Zurschaustellung ihrer
380
Geschlechtsreize, die freclie Anlockung ooram publico, die her-
ausfordernde Art des ganzen Unzuchtsbetriebes, das alles ver-
giftet unser öffentliches Leben, verwischt die Grenze zwischen
Sauberkeit und Befleckung und stellt das Bild der geschlecht-
lichen Korruption tagtäglich vor aller Augen hin — vor die des
reinen, unschuldigen Mädchens sowohl wie der ehrbaren Frau
und des unreifen Knaben. Treffend hat man diese Straßen-
prostitution die Kloake des sozialen Lebens genannt, die auf
offener Straße entleert wrird, während wenigstens die Bordell-
prostitution nur eine geheim bleibende Kloake darstellt, deren
üblen Geruch nicht alle Welt zu spüren bekommt, wie bei der
Straßenprostitution. Hinzu kommen die ernsten Gefahren bei der
Ausübung des Unzuchtsgewerbes in Privatwohnungen und Ab-
steigequartieren für die in solchen Häusern wohnenden anständigen
Familien. Was bekommen die Kinder da nicht alles zu sehen
und zu hören ! Nicht selten werden Prostituierte zu vertraulichem
Familienverkehr zugelassen und verführen die Töchter armer
Leute ebenfalls zur Prostitution und die Söhne zur Unzucht oder
zum Zuhältertum. Daß diese Gefahr der Infektion der unteren
Bevölkerungsschichten durch die Prostitution in großem Umfange
besteht, dafür ließen sich zahlreiche Beispiele aus dem Leben
anführen. Alles, was die Anhänger der Bordelle in dieser Be-
ziehung sagen, unterschreibe ich.
Und doch sind Bordelle ein noch größeres Uebel! Sie
sind ein unvergleichlich gefährlicheres Zentrum der ge-
schlechtlichen Korruption, die schlimmste Züch-
tungsstätte für geschlechtliche Verirrungen aller
Art und last not least der größte Herd der geschlecht-
lichen Ansteckung. Was den letzteren Punkt betrifft, so
wird davon ausführlicher in dem Kapitel über die Beglemen-
tierungsfrage in ihrem Zusammenhänge mit der Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten die Bede sein.
Das Bordell ist die hohe Schule raffinierter Geschlechts-
lust und Perversität. Ich muß es den Schilderungen der beiden
erfahrensten Bordellkenner, Léo Taxil59) und Louis Fiaux,60)
überlassen, dies im einzelnen zu begründen. Es ist eine allbe-
kannte Tatsache, daß viele junge Männer erst im Bordell erfahren,
69) LéoTaxil, La corruption fin-de-siècle, Paris 1891, S. 169 ff.
60) Louis Fi aux, Les maisons de tolérance. Leur fermeture.
Troisième édition, Paris 1892, S. 169 ff. ; S. 248, 250—251.
381
auf wie mannigfaltige und raffinierte Weisen der natürliche Ge-
schlechtsverkehr umgangen und durch eine perverse sexuelle
Betätigung ersetzt werden kann. Hier wird die Psycho-
pathia sexualis systematisch gelehrt. Und was der
alte Wüstling von den Dirnen verlangt und mit Geld bezahlt,
das wird dann dem jungen Neuling von selbst ange-
boten, weil Konkurrenz der Dirnen untereinander und Hoffnung
auf größeren Gewinn dazu nötigen. Man darf der Behauptung
französischer Sittenforscher durchaus Glauben schenken, daß es
junge Männer gibt, die auf diese Weise das Perverse früher
als das Natürliche kennen lernten und nicht selten diesen Mysterien
der Venus auch für die Dauer mehr Geschmack abgewannen als
dem natürlichen, normalen Geschlechtsverkehr*.
Der „B o r d e 11 j a r g o n“ enthält denn auch fast ausschließ-
lich Worte, die gerade den widernatürlichen, abnormen Geschlechts-
verkehr in mehr oder weniger zynischer Weise andeuten, z. B.
„faire feuille de rose“ = anilingus; „sfogliar la rosa“ (die Rose
entblättern!) = pädicare; „faire tête-bêche“ = Gegenseitiger
Cunnilingus zweier Tribaden; „punta di penna“ — masturbatio
labialis ; „pulci lavoratrici“ (dressierte Flöhe !) = Tribaden usw.
Ein gewissenhafter Forscher wie Fiaux kommt auf Grund
seiner langjährigen Beobachtungen zu dem Ergebnis, daß die
Bordelle nicht nur die gefährlichste Form der öffent-
lichen, sondern jeder Prostitution überhaupt darstellen und mög-
lichst bald in allen Ländern gänzlich zu beseitigen sind.
Neben den genannten beiden Arten und Stätten der „öffent-
lichen“, d. h. der unter polizeilicher Aufsicht stehenden Prosti-
tution gibt es nun eine weit größere heimliche Prostitution,
wobei das „heimlich“ allerdings cum grano salis zu nehmen ist,
da auch sie sich mehr oder weniger in der Oeffentlichkeit ab-
spielt. Diese geheime Prostitution ist nämlich an zahlreichen und
voneinander sehr verschiedenen Orten zugänglich. Auch sie hat
bereits ihre Typen, Besonderheiten, kurz ihr bestimmtes Lokal-
kolorit je nach dem Orte, wo sie ausgeübt wird. Geben wir
einen kurzen Ueberblick über diese verschiedenen Stätten der
geheimen Prostitution.
1. Wirtschaften mit „Damenbedienung“, soge-
nannte „Animierkneipen“. — Die Kellnerin ist der
Haupttypus der geheimen Prostitution und auch durch die ständige
Verbindung mit dem Alkoholismus die allergefährlichste Gattung
382
derselben.61) Denn sie soll mehr noch zum exzessiven Alkohol-
als zum Geschlechtsgemiß den Gast verlocken. Zu diesem Zwecke
erhält sie Anteil am Gewinn aus den verkauften Quantitäten
Bier oder Wein, außer freier Kost ihr einziger Verdienst.
Die Animierkneipen und Restaurants mit Damenbedienung
kennzeichnen sich schon von weitem durch ihre verhängten
Fenster und durch geheimnisvolle rote, grüne oder blaue
Glaslaternen über den Eingangstüren. Diese bunten Laternen
sind so charakteristisch für diese Stätten der Wollust und Völlerei,
daß man auf der vorjährigen Kreissynode des Berliner Stadt-
teils Friedrichswerder11 (vgl. „Voss. Zeitung“ No. 248 vom 30. Mai
1906) den Antrag einbrachte, bei den maßgebenden Behörden
dahin vorstellig zu werden, daß für den ganzen Stadtbezirk
Berlin die bunten Laternen zur Ankündigung von Lokalen mit
weiblicher Bedienung verboten würden. Dieser Antrag gelangte
zur Annahme, obgleich nicht mit Unrecht der Einwand erhoben
wurde, daß dann jedes Kennzeichen für solche Lokale fehlen
würde, jedes Warnungssignal für unschuldige Seelen.
Viele „Animier“kneipen — die Franzosen nennen ähnlich die
Mädchen in solchen Lokalen, „les inviteuses“ — muten durch
ihr geheimnisvolles Interieur, durch die ein mystisches Halbdunkel
erzeugenden schweren Vorhänge, durch kleine sehr diskret durch
bunte Ampeln erleuchtete chambres séparées mit erotischen
Bildern, spanischen Wänden und schwellenden Sofas, wie kleine
Lupanare an. Hier werden die zahlungsfähigeren Kunden
und Neulinge untergebracht, während die gewöhnlichen „Stamm-
gäste“ meist in dem eigentlichen größeren Restaurationszimmer
sitzen, wo auch Musik, allerdings sehr schlechte Musik, in Ge-
ptalt eines Klavier- oder Zitherspielers nicht fehlt.
Das ganze schamlose Treiben in den Animierkneipen, bei
dem der Alkohol und die Zote die Hauptrolle spielen, hat neuer-
dings Hermann Seyffert sehr anschaulich und lebenswahr
geschildert.62) Die Klientel dieser Mädchenkneipen besteht meist
aus unreifen Burschen, die hier das Geld ihrer Eltern oder Chefs
61) Die Kellnerinnen sind nach neueren statistischen Erhebungen
bis zu 80 und 90°/o mit Geschlechtskrankheiten behaftet, so daß sie
vielleicht die gefährlichste Klasse der Prostituierten darstellen.
62) H. Seyffert, Die Animier-Kneipen und ihre Geheimnisse
in: Freie Meinung 1906, No. 26 und 27. Vgl. ferner „Das Unwesen der
Kellnerinnenwirtschaften in Preußen unter besonderer Berücksichti-
gung der Verhältnisse in Köln“, Hagen i. W„ o. J. (1891).
3S3
durch bringen, aber auch ans alten Stammgästen, meist schon
bej ehrten Ehemännern, denen diese Atmosphäre eine willkommene
Abwechslung im Vergleich mit dem häuslichen Einerlei ist. Die
Mengen Alkohol, die hier vertilgt werden, und zwar sowohl von
den Gästen als auch den Kellnerinnen, sind enorm. Letztere
müssen immer auf Kosten des Gastes mittrinken, damit der Ver-
dienst des Wirtes desto größer ist. 0. Kosenthal berichtet63)
von Kellnerinnen, die pro Tag, abgesehen vom Kognak Und allen
Likören, 20 bis 30 Glas Bier und darüber tranken!
Die Verhältnisse in den Animierkneipen werden, besonders
was die betrügerischen Machinationen dort betrifft, grell be-
leuchtet durch den folgenden Bericht über eine Gerichtsverhand-
lung (nach „Vossische Zeitung“, No. 446 vom 23. September 1906):
Eine Nachtszene ans dem „Paradies“ hat zu einer An-
klage wegen Betrugs bezw. Beihilfe dazu geführt, die gestern vor
dem Schöffengericht verhandelt wurde. Angeklagt waren die Schank-
wirtin Eva G. und die Kellnerinnen Olga W., genannt die „schöne
Olga“, und Margarete P., genannt die „dicke Grete“. Im schönen
Wonnemonat Mai strebte ein besser gekleideter Herr, der anscheinend
voll des süßen Weines war, im Zickzackkurse durch die Straßen vor-
wärts. Er konnte dem verführerischen Leuchten einer roten Laterne
nicht widerstehen und bald befand er sich mitten im „Paradiese“.
Das war jedoch nur ein Lokal mit Bedienung von „zarter Hand“,
als dessen glückliche Besitzerin die Angeklagte G. fungierte. Der
neue Gast gab sofort eine Lage Porter. Infolge seines stark benebelten
Zustande merkte er jedoch nicht, daß ihm schon nach einigen Runden
nur noch gewöhnliches dunkles Bier vorgesetzt wurde, das er aber
mit einer Mark das Glas bezahlen sollte. Auch er unterlag im „Para-
diese“ den Lockungen der holden Weiblichkeit und bestellte Rotwein,
die Eiasche zum Preise von 8 Mk. (Einkaufspreis 90 Pfg.). Einer
Flasche nach der anderen wurde der Hals gebrochen, und auch hier be-
merkte es der noble Gast nicht, daß wiederholt halbvolle Flaschen
vom Tische verschwanden, die, in der Küche zusammengegossen, wieder
als ganze Flaschen später auf dem Tisch erschienen. Auf Anraten
der „dicken Grete“ probierte der Gast auch einmal eine Mischung
von Rotwein und Sekt. Da er hieran Gefallen fand, ließ er mehrere
Flaschen Sekt anfahren. Der Preis stellte sich die Flasche auf 10 Mk.
(Einkaufspreis 1,70 Mk.). Schließlich ging es an das Bezahlen. Die
drei Dämchen sahen sich in ihren Erwartungen nicht getäuscht, denn
der noble Kavalier entnahm seiner Brieftasche einen „blauen Lappen“.
Den Rest des Geldes erhielt der Gast nicht wieder, wohl aber seine
63) O. Rosenthal, Alkoholismus und Prostitution, Berlin 1905,
Seite 46.
384
Uhr, deren man sich schon vorher versichert hatte. Schließlich wurde
er mit sanfter Gewalt an die frische Luft befördert. Diese Nacht-
szene wäre vielleicht niemals Gegenstand eines Strafprozesses ge-
worden, da der noble 'Gast sich vor einer Anzeige hütete. Erst als
eines Tages die Wirtin des Paradieses der „dicken Grete“ anläßlich
eines Streites das teure Gebiß demolierte, erstattete diese Anzeige
von jenem Vorfall. Sie hatte jedoch damit nicht gerechnet, daß sie
sich dadurch selbst der Beihilfe zum Betrüge beschuldigte. In der
gestrigen Verhandlung mußte die Angeklagte mangels ausreichenden
Beweises freigesprochen werden. Die Angeschuldigte G. wurde wegen
Betruges zu einer Woche Gefängnis, die P. zu 15 Mk. Geldstrafe wegen
Beihilfe verurteilt.
2. Balllokale und Tanzsalons.6i) — Eigentlich nur
eine Abart der unter 1 aufgeführten Lokale, Animierkneipen im
großen mit der Zugabe von (besserer) Musik und Tanz. Aber
die schönen Zeiten des Bai Mabille, der Closerie des Lilas oder
der Cremorne Gardens, Portland Booms und Argyll Booms und
des Orpheums sind längst vorüber. Die Mehrzahl der Berliner
und Pariser Balllokale — in London sind sie längst verschwunden
— sind auf ein tieferes Niveau herabgestiegen, die Prostitution
herrscht jetzt vor, das „Verhältnis“, das sich in den früheren
mehr idyllischen Balllokalen so heimisch fühlte, ist nicht mehr
dort zu finden. Man braucht nur die heute berühmten Balllokale
Berlins, das Ballhaus in der Joachimstraße, die „Blumensäle“ usw.
zu besuchen — von den Stätten niederer Prostitution, wie z. B.
Lestmanns Tanzsalon, ganz zu schweigen -—, um diese Tatsache
festzustellen. Auch hier ist die Hauptsache das Trinken imd
immer neue Trinken! Selbst in Paris, in den Montmartre-Ball-
lokalen, kann man die „inviteuses“ in vollster Tätigkeit sehen
wenn auch der Bai Tabarin, Bullier und andere Tanzsäle immer
noch in ästhetischer Hinsicht mehr befriedigen als die Berliner
Stätten der Terpsichore. Ein Tanzlokal, das noch nicht aus-
schließlich von der Prostitution mit Beschlag belegt war, war
Embergs Tanzsaal in der Schumannstraße, der im vorigen Jahre
(1906) für immer geschlossen wurde. Jetzt existieren ähnliche
größere Balllokale eigentlich nur noch in den Vorstädten, in
Halensee, Grünau, Nieder-Schönhausen usw. Aber auch hier ist
6i) Vgl. die ausführlichen Schilderungen bei Hans Ostwald,
Berliner Tanzlokale, Berlin und Leipzig o. J. (1901); über die früheren
Londoner Balllokale mein „Geschlechtsleben in England“, Bd. I}
S. 324-334. ' .
385
der Tanz nicht die Hauptsache, Kuppelei und Prostitution machen
sich auch hier breit, wie dies schon vor fünfzig Jahren Th. Bade
in seiner, diese Zusammenhänge nachweisenden Abhandlung
„Ueber Gelegenheitsmacherei und öffentliches Tanzvergnügen“
(Berlin 1858) geschildert hat.
3. Variétés, Tinge 1-Tangel und Kabaretts. —
Der Hauptzweck dieser für unsere Zeit charakteristischen Lokale
ist das „Totschlägen der Zeit“ auf recht „amüsante“ Weise, wie
es der hohle und geistig leere „Genußmensch“ von heute verlangt.
Befriedigung des größten Sensationsbedürfnisses durch Auftreten
mehr oder weniger dekolletierter Sängerinnen, Tänzerinnen, Akro-
baten und Akrobatinnen, durch Darstellung von Tableaux vivants
in Gestalt schöner Weiber oder des Kinematographen oder von
Pantomimen, durch recht scharf gewürzte Couplets, durch Vor-
führung aufregender Jongleurkunststücke, Bingkämpfe zwischen
Männern und Weibern, Taschenspielereien, Kriegs- und Wasser-
schauspiele usw. usw. Kurz, die verschiedensten „Varietäten“
— daher der Name — des Amüsements werden hier geboten, und
es ist bezeichnend, daß diese Vergnügungsstätten zuerst in den
großen Hafenstädten entstanden, in Liverpool, London, Hamburg,
Marseille, wo die Matrosen nach der öden Monotonie langer See-
fahrten im bunten Allerlei der hier sich darbietenden Genüsse
Befriedigung fanden. Jetzt treibt die Monotonie, die Inhaltsleere
ihres Lebens auch ungezählte Scharen von Städtern in die Variétés,
die, wenn sie auch ebensowenig wie die Kabaretts als eigentliche
„Stätten“ der Prostitution bezeichnet werden können, doch das
Stelldichein für die Klientel derselben bilden und so stets all-
abendlich einer großen Zahl von Prostituierten als Schauplatz
ihrer Tätigkeit dienen.
Die niedrigste Art des „Variété“, das „Tingel-Tangel“, auch
wohl euphemistisch „Academy of Music“ genannt, ist allerdings
weiter nichts als ein Bordell, nur daß der eigentliche Geschlechts-
akt nicht in dem Lokale selbst vorgenommen wird, wie so oft in
den ähnlichen Animierkneipen. Die hier auftretenden Chanteusen
sind alle niedere Prostituierte. Meist bieten sie, während eine von
ihnen ihre „Gesangskunst“ (sit venia verbo) zum Besten gibt,
in schamloser Dekolletierung auf dem Podium sitzend, ihre Beize
dar und „animieren“ zum Trinken. Kommis und Studenten bilden
die „verständnisvolle“ Zuhörerschar, in den Hafenstädten die
Matrosen. Wer kennt nicht die berühmteste Tingel-Tangel-Straße
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 25
(41.—60. Tausend.)
386
der Welt, den Spielbudenplatz und die Reeperbalm in St. Pauli,
der Hafenvorstadt von Hamburg? Hier reiht sich ein Variété ans
andere, und alle sind überfüllt von einer rauchenden, trinkenden,
die Lieder der Chanteusen mitsingenden Menge. Eine besondere
Art dieser Vergnügungsorte stellen die sogenannten „Rummel“
dar, eine Spezialität Berlins. Wo irgendwo inmitten oder auch
außerhalb der Stadt durch Abbruch alter Häuser oder sonst ein
größerer Bauplatz längere Zeit frei ist, schlagen Tingel-Tangel-
besitzer ihre Buden auf, werden Karussels und Kuchenbuden er-
richtet, und es entwickelt sich ein buntes Treiben, an dem aus-
schließlich die unteren Volksklassen sich beteiligen. Hier suchen
die allerniedrigsten Prostituierten ihr Brot und finden es.
4. „Pensionate“ undMaisons de passe. — Geht man
durch die Straßen Berlins, so fallen einem bald Schilder an den
Haustüren auf mit dem Vermerk: „Hier sind Zimmer auf Monate,
Wochen und Tage zu vermieten“. Ich will nun nicht behaupten,
daß immer diesen Ankündigungen eine Verlockung zur Un-
zucht oder die Darbietung einer Gelegenheit dazu zugrunde liegt.
Aber in vielen Fällen dienen diese Offerten als Kennzeichen des
in solchen Wohnungen stattfindenden „Verkehrs“. Oft dienen
mehrere Stockwerke, ja ganze Häuser diesem Zwecke. Es ist
ein „Privat-Hötel“, ein Hotel gami, in Wirklichkeit aber ein
verkapptes Bordell, ein „Absteigequartier“ für Prostituierte und
ihre Kunden, eine Stätte, wo von dem Wirte — meist ist dieser
Wirt allerdings weiblichen Geschlechts — das Kuppeleigewerbe
im größten Umfange betrieben wird. Ohne diese bereits zur
Genüge bekannten und verdächtigen Schilder, unter dem minder
auffälligen Namen einer „Pension“ figurieren andere Wohnungen,
die mehr für die exquisiten Genüsse und Raffinements der reichen
Lebewelt eingerichtet sind und geschlechtlichen „Orgien“ im
größten Umfange, der Verkuppelung und Verführung junger
Mädchen, und den Zusammenkünften der besseren Demimonde
und ihrer Klientel dienen.
Folgendes Beispiel aus dem „Berliner Tageblatt“ (Nr. 383
vom 30. Juli 1904) möge das illustrieren:
Aus einer Dresdener Fremdenpension. Vor der sechsten Straf-
kammer des königlichen Landgerichts Dresden gelangte ein aufsehen-
erregender Prozeß gegen die Inhaber der Dresdener Fremdenpension H.,
den aus Göda bei Bautzen gebürtigen ehemaligen 73 Jahre alten
Polizei beamten Michael Sch. und dessen 52 jährige Ehefrau Anna Karo-
387
line Sch. geb. H. zur Verhandlung. Das Ehepaar lebte bis zum Jahre
1898 in Zwickau, siedelte dann nach Dresden über und begründete
zuerst Marschallstraße, dann Elisenstraße und später am Terrassen-
ufer eine Fremdenpension, die namentlich von Berlinern viel fre-
quentiert wurde. Später sollte die Pension nach der Bäcknitzstraße
verlegt werden. Den Inhabern aber wurde seitens der Polizei die
Konzession versagt, da man aus mancherlei Anzeichen zu der An-
nahme gelangt war, daß in der „Pension II.“ wilde Orgien und
Gelage gefeiert wurden. Die Pension verblieb daher am Terrassen-
ufer, aber die Sittenpolizei behielt sie stets im Auge, bis es ihr
endlich gelang, das Nest auszunehmem Nun stellte es sich heraus,
daß der saubere Ehemann seit geraumer Zeit die eigene Tochter ver-
kuppelte. Das Mädchen, das dadurch von Stufe zu Stufe sank, brachte
Damen der Halbwelt, auch einige Verkäuferinnen und andere mit in
die Pension. Junge Kaufleute und Lebemänner stellten sich ein, und
was dann weiter geschehen ist, wurde vor Gericht unter Ausschluß
der Oeffentlichkeit verhandelt. Die Pensionsinhaber befanden sich in
steter Geldverlegenheit. Der Gerichtsvollzieher war ein ständiger Gast
in der Pension, und Schmidt und Frau leisteten auch den Offen-
barungseid. Dessenungeachtet brandschatzte die Pensionsmutter eine
Anzahl Dresdener Kaufleute. Als Inhaberin der Pension H. gewährte
man der sehr distinguiert auftretenden Dame gern Kredit, und diesen
nützte die Kupplerin redlich aus. Vor Gericht führten die Ange-
klagten eine Unschuldskomödie auf und suchten die Vorgänge in der
Pension als eine „harmlose Abendunterhaltung“ hinzustellen. Sie
wurden aber beide verurteilt, und zwar der Ehemann zu drei Monaten,
die am meisten beteiligte Ehefrau unter Einrechnung einer bereits
früher erkannten dreimonatigen Strafe zu einer Gesamtstrafe von
einem Jahr Gefängnis. Beiden wurden ferner die bürgerlichen Ehren-
rechte auf die Dauer von zwei Jahren aberkannt und gleichzeitig
Polizeiaufsicht über sie verhängt.
5. Massageinstitute. — Mit diesen echt modernen
Etablissements, die wesentlich der masochistischen Prostitution
dienen, werden wir uns im Kapitel „Masochismus“ näher be-
schäftigen. Die meisten „Masseusen“ sind Prostituierte, betreiben
auch die gewöhnliche Prostitution, und insofern erscheint ihre
Erwähnung an dieser Stelle gerechtfertigt.
6. Die Weibercafes. — Sie sind in allen großen Städten,
besonders in London, Paris, Wien, Berlin, Budapest sehr zahl-
reich und dienen als hauptsächliche Vermittler der Tages-
prostitution, Die Prostituierten sitzen hier in Scharen
stundenlang und warten auf Klientel, die natürlich auch die
genossenen Getränke bezahlen muß. Gewisse Berliner Cafés, wie
z. B. das „Café National“, das seit mehreren Jahren eingegangene
Café Keck in der Leipziger Straße sind allerdings typische
25*
388
Nachtcafés, wo von Einbruch der Dunkelheit an bis zum
frühen Morgen die Prostituierten auf Kundschaft warten.
Natürlich erschöpfen die genannten Rubriken bei weitem
nicht Umfang und Art der modernen Prostitution, die viel mehr
Schlupfwinkel und Möglichkeiten der Betätigung hat. Die meisten
aber haben irgend eine Beziehung zu den erwähnten Stätten der
Prostitution, so daß wir nicht näher darauf einzugehen brauchen.
Prostitution kann natürlich überall getrieben werden, und die
Verlockungen dazu finden sich an allen Orten, wo größere
Menschenmengen Zusammenkommen.
Anhang.
Die Halbwelt.
Zur Prostitution im weiteren Sinne des Wortes gehört auch
die „Halbwelt“ („Demi-Monde“), unter welchem, von dem
jüngeren Alexander Dumas stammenden Namen man die
Kategorien der „Maitressen“, femmes soutenues, Loretten, Kokotten
und galanten Damen zusammenfaßt.
A. Dumas gibt an der berühmten Stelle (Akt II Szene 9)
seines Schauspiels „Demi-Monde“ durch den Mund des Olivier
von Jalin die folgende Definition der Halbwelt:
,jAße diese Frauen haben einen Fehltritt in ihrer Vergangenheit,
einen kleinen schwarzen Fleck auf ihrem Namen, und sie drängen
sich so viel als möglich zusammen, damit diese Flecke weniger ins
Auge fallen. Sie haben dasselbe Pierkommen, dasselbe Aeußere, die-
selben Vorurteile der guten Gesellschaft, aber gehören ihr nicht mehr
an und bilden das, was wir die „Halb-Weit“ (Demi-Monde) nennen,
die wie eine Insel auf dem Ozean von Paris schwimmt und alles an
sich zieht, aufnimmt und anerkennt, was vom festen Lande fällt,
auswandert oder flieht — ungerechnet die fremden Schiffbrüchigen,
die kommen — man weiß nicht woher 1 . . .
Seit die Ehemänner, unter dem Schutz des Gesetzbuches, das Recht
haben, eine pflichtvergessene Frau aus dem Schoß der Familie zu verban-
nen, hat die eheliche Sittenlehre eine Umwandlung erlitten, die eine neue
Welt geschaffen hat — denn was wird aus allen diesen verstoßenen, kom-
promittierten Frauen? — Die erste, die sich vor die Tür gesetzt sah,
beweinte ihre Schuld und verbarg ihre Schande in der Zurückgezogen-
heit; aber — die zweite? Die zweite sucht die erste auf, und sobald
sie zwei waren, nannten sie die Schuld ein Unglück, das Verbrechen
einen Irrtum und fingen an, sich gegenseitig zu trösten und zu ent-
schuldigen. Drei geworden, luden sie sich zum Diner, vier — tanzten
<ii* Quadrille. v Nun gruppierten sich tun diese Frauen bald auch1
389
noch junge Mädchen, die ihr Leben mit einem Fehltritt begannen;
falsche Witwen; Frauen, die den Namen des Geliebten tragen, bei dem
sie leben; einige jener raschen „Ehen“, die ihr Supernumerariat in
einem langjährigen Liebesverhältnis machten; endlich alle Frauen,
die glauben machen wollen, daß sie etwas waren und nicht als das
erscheinen wollen, was sie sind. Heutzutage ist diese regelwidrige
Welt in voller Blüte und ihre Bastard-Gesellschaft ist bei jungen
Männern sehr beliebt. Denn hier ist die Liebe nicht so schwierig
wie oben und nicht so teuer wie — unten.“
Aus dem letzten Satze ersieht man, daß der ursprüngliche
Begriff der „Halbwelt“ nicht so weit war wie der heutige, vor
allem noch nicht denjenigen der Prostitution in sich schloß, wie
das jetzt der Fall ist. Die Halbweltdame des Dumas war
„nicht so teuer“ wie die gewöhnliche Prostituierte, unsere heutigen
Demimondänen sind gerade dadurch charakterisiert, daß sie hoch
im Preise stehen. Es sind Prostituierte für die oberen Zehn-
tausend. Und doch haben sie mit der alten Demimonde das ge-
meinsam, daß sie nicht wie die eigentlichen Prostituierten wahl-
los jedem Zahlungsfähigen sich preisgehen, sondern daß sie auf
die gesellschaftliche Stellung ihrer Liebhaber und deren Charakter
als „Gentleman“ Wert legen. Ja, sie können etwas wie Liebe
zeigen. Am besten ließe sich die heutige Halbwelt mit den
griechischen Hetären vergleichen. Sie bildet einen charakte-
ristischen Bestandteil des modernen High Life. Wo dieses am
meisten hervortritt, bei den Rennen, den Theaterpremieren, in
den fashionablen Seebädern, in Monte Carlo, den Blumenkorsos,
Wohltätigkeitsbazaren, großen Maskenbällen, da trifft man auch
die Halbwelt, die, was Schönheit, Toilette, distinguiertes Auf-
treten, Bildung und Unterhaltungsgabe betrifft, sich in nichis
von den Damen der vornehmen Welt, den „mondänen“ Frauen
unterscheidet. Gewisse Typen der Demimonde verwirklichen in
der Tat das Ideal der griechischen Hetäre, nur ist sie noch mehr
raffiniertes Genußweib als diese, durch und durch Kultur, die
eigentliche Schöpferin der Mode, tonangebend in allen Dingen
des Geschmacks. Die Mondäne und Demimondäne sind im äußeren
Auftreten kaum voneinander zu unterscheiden, wenigstens in
Paris nicht, wo ein witziger Schriftsteller ihren Unterschied dahin
definiert, daß die erstere nur am Tage, die zweite auch bei Nacht
ihre Liebhaber empfängt.65) Nur der Kenner spürt den „Halb-
65) Victor Joze, Paris-Gomorrhe. Moeurs du jour, Paris 1898,
Seite 173.
welthauch“, das undefinierbare Etwas, das den galanten Damen
in den Augen der jeunesse dorée einen so besonderen Reiz verleiht.
Aus welchen Kreisen rekrutiert sich die Halbwelt ? Die
Theaterdamen, die Sterne der Variétés und des Balletts, stellen
ihr Kontingent, auch die Aristokratie ist vertreten, doch manche
zärtliche Lorette oder eisige „fille de marbre“ ist niederer Her-
kunft, versteht es aber ausgezeichnet, sich rasch allen Anforde-
rungen des High Life anzupassen, iLr Dogcart ebenso graziös
zu lenken, wie die echteste Gräfin, und in Longchamps oder
Karlshorst, Ostende oder Trouville die vornehme Dame zu spielen.
Der einzige Unterschied zwischen diesen, eben der Unter-
schied einer — halben Welt, ist die Tatsache, daß diese vornehme
Lebensführung der Demimondäne nicht aus eigenen Mitteln be-
stritten wird, sondern aus der Tasche eines oder häufig mehrerer
reicher Galans.
Den Typus der „grande cocotte“ trifft man echt und unver-
fälscht nur in Paris. Hier spielt die Demimondäne eine große
Rolle in der Oeffentlichkeit. Die Zeit der früheren Pürsten-
maitressen mit ihren politischen Intriguen und ihrer weit reichen-
den Machtsphäre ist freilich vorbei, eine Lola Montez, eine
Aurora Königsmark ist heute auf die Dauer nicht mehr
möglich. Doch unterhält namentlich die Pariser Demimonde ein-
flußreiche Beziehungen zu der neuen Großmacht unserer Zeit,
zur Presse. Georg Dahlen nennt die im Dienste der Demi-
monde stehenden Journalisten „Preß-Pridoline“, weil sie „ihre
Feder nicht sowohl mit Dukaten als mit mehr oder minder be-
neidenswerten Schäferstunden in vornehmen Boudoirs bezahlt zu
wissen lieben,“66) und Victor Joze schildert ebenfalls die durch
eine Liebesnacht oder auch nur ein Lächeln bezahlte Reklame,
die Pariser Schriftsteller in den Zeitungen für die vornehmen
Kokotten des Quartier Marboeuf oder der Avenue du Bois de
Boulogne machen, um indische Nabobs, russische Großfürsten oder
amerikanische Milliardäre auf diese oder jene beauté à la mode
aufmerksam zu machen. So etwas ist für Paris charakteristisch.
In anderen Hauptstädten wird die käufliche Galanterie nicht
so an die Oeffentlichkeit gebracht, sie führt hier ein ver-
borgeneres Dasein.
66) Georg Dahlen, Aufzeichnungen über die europäische Ge-
sellschaft, Berlin 1885, S. 126.
391
Denn was der Deutsche, speziell der Berliner „Halbwelt“
nennt, ist nichts weniger als der Typus der geschilderten echten
Demi mondän p- Unsere Halbwelt rekrutiert sich zum größten Teile
aus intelligenten Prostituierten, die besonders in den öffentlichen
Gärten, im Zoologischen Garten, im Lehrter Ausstellungspark,
in den vornehmen Nachtrestaurants zu finden sind und hier
jeden Abend neue Beute suchen, jeden Abend einem anderen
Liebhaber ihre Reize für eine bestimmte Summe verkaufen,
während die wirkliche, echte Halbweltdame nie mehr als einen
oder zwei Verehrer hat, die ihren ganzen Lebensunterhalt be-
streiten, und jedenfalls öffentlich nicht so dem Prostitutions-
gewerbe nachgeht, wie die geschilderten Prostituierten.
Endlich gibt es noch einen anderen Typus, den man mit
der Demimonde nicht in einen Topf werfen darf. Das ist die
internationale Dirne, die von einem Orte zum anderen
reist, zwar oft Air und Auftreten einer vornehmen Lorette hat,
aber doch ein viel unsteteres, bewegteres Leben führt als diese
und oft neben der Prostitution noch das Gewerbe einer Hoch-
staplerin betreibt. Bald ist sie in Paris, bald in London, Biarritz,
Monte Carlo (dem Hauptfelde ihrer Tätigkeit!), bald in Kon-
stantinopel, Smyrna, Petersburg und Berlin. Bisweilen unter-
nimmt sie auch eine Entdeckungsreise nach der neuen Welt.
Deutschland stellt einen nicht geringen Prozentsatz zu diesem
internationalen Kokotten tum. Diese wandernden Kokotten sind
besonders in Offiziers- und Börsenkreisen sehr bekannt, und
werden von diesen nicht selten weiter „empfohlen“, wie man
Reisenden Empfehlungen mitgibt. Oder sie werden gar „ver-
lost“, wie das kürzlich in München in Offizierskreisen vorkam,
und dem glücklichen, meist allerdings bedauernswerten Gewinner
zugeteilt. Im Auslande legen sie sich mit Vorliebe, französische
oder exotische Namen bei.
VIERZEHNTES KAPITEL.
Die Geschlechtskrankheiten.
Im Verein, mit der Alkoholvergiftung und der Tuberkulose kann
man die Syphilis als die Pest der Gegenwart ansehen.
Alfred Fournier.
Inhalt des vierzehnten Kapitels.
Die Prostitution Herd, nicht Ursache der Geschlechtskrankheiten.
— Zur Philosophie der Geschlechtskrankheiten. — Alter derselben. —
Zeitliche und örtliche Entstehung. — Der Ursprung der Syphilis. —
Praktische Bedeutung des Nachweises ihres neuzeitlichen Charakters.
— Die theologisch-animistische Theorie der Geschlechtskrankheiten.
— Ihre Widerlegung. — Unverschuldete Ansteckung. — Der Begriff der
spezifischen Infektionskrankheit. — Bekämpfung der Geschlechtskrank-
heiten durch die Wissenschaft. —
Die Syphilis als spezifische Krankheit der Neuzeit. — Schilderung
ihrer Symptome, ihres Verlaufes und ihrer Ausgänge. — Folgen der
Syphilis für Familie, Nachkommen und Rasse. — Erbsyphilis der ersten
und zweiten Generation. — Die Entartung der Rasse durch Syphilis. —
Das Alter der Ansteckung mit Syphilis bei Mann und Weib. — Der
weiche Schanker. — Der Tripper. — Wandlung der Anschauungen über
die Gefahren des Trippers. — Der Harnröhrentripper des Manues. —
Akutes und chronisches Stadium. — Complika.tionen. — Der Tripper
beim Weibe. — Die „Unterleibsleiden“ der Frauen. — Die Erblindung
durch Tripper.
Anhang. Die Geschlechtskrankheiten bei Homosexuellen.
394
Das Zentralproblem der sexuellen Frage ist, wie ich schon
im Anfänge des vorigen Kapitels sagte, die Ausrottung der
Prostitution und der Geschlechtskrankheiten, deren
hauptsächlicher Herd jene ist. Ich sage, der hauptsächliche
„Herd“, nicht die „Ursache“. Denn wären alle Prostituierte
gesund, dann könnte man ruhig die Prostitution bestehen lassen
— abgesehen von ihren moralisch depravierenden 'Wirkungen —
und die Geschlechtskrankheiten würden von selbst aufhören.
Diese Behauptung stelle ich an den Anfang des Kapitels
über die Geschlechtskrankheiten, weil es heutzutage immer noch
eine merkwürdige Art von Philosophie oder besser
Theologie der Geschlechtskrankheiten gibt, die be-
züglich des Ursprungs derselben die seltsamsten Hypothesen
auf stellt.
So sagt z. B. der Schriftsteller Alexander W e i 11 in
seinen konfusen „Gesetzen und Mysterien der Liebe“ (Deutsch
von Carl Weißbrodt, Berlin 1895 S. 88):
„Wozu sich den Kopf über die Heilung der Syphilis zer-
brechen ? Wenn man ein Uebel heben will, so sucht man vor
allem andern die Ursachen desselben zu ergründen, um diese zu
beseitigen. Ist die Veranlassung des Uebels behoben, so schwindet
dieses selbst. Ist die Schlange getötet, so schadet ihr Gift nicht
mehr. Wie will man aber die Ursachen der Syphilis beseitigen,
da sich dieselbe doch Tag für Tag durch neue Ausschreitungen
erneuert und gehegt wird durch die behördlich zugelassene
Prostitution und unsere gesellschaftlichen Gesetze, welche ins-
gesamt gegen die Monogamie der Jugend und die Vermehrung
der Bevölkerung sind ? Könnte man heute alle Syphiliskrank'
heiten heilen, so würde morgen dieselbe Krankheit
unter einer neuen Form wiederkehren, da sie
durch die gleichen Regellosigkeiten aufs neue
395
hervorgerufen werden würde. (!) Es ist völlig nutzlos,
mit Jod und Quecksilber vorzugehen, denn jede neuerliche Ver-
letzung der Naturgesetze würde doch wieder neue, unheilbare
Krankheiten hervorrufen, welchen man nur entrinnen kann, wenn
man den festen Willen hat, jenes Gesetz strenge zu befolgen.“
Ja, W e i 11 geht so weit zu behaupten, daß jeder Mann,
der mit zwei gesunden Frauen zu gleicher Zeit geschlecht-
lichen Umgang hat, sich die Syphilis zuzieht, selbst wenn beide
Frauen ihm treu wären, da „jede Ausschweifung im
Geschlechtsgenusse an und für sich schon das
Uebel her vorrufe!“
Nach dieser Ansicht, die von vielen Laien geteilt wird, wären
die Geschlechtskrankheiten, vor allem die schlimmste, die Syphilis,
so alt, wie die sexuelle Ausschweifung überhaupt, d. h. so alt
wie das Menschengeschlecht und ein unabwend-
bares Verhängnis desselben.
In meinem Werke über den „Ursprung der Syphilis“ habe
ich diese Anschauung widerlegt, die in allgemein philosophischer
und sozialhygienischer Beziehung bedeutungsvolle Frage nach der
wahren Natur der Syphilis beantwortet und nachgewiesen, daß
sie (wie auch die übrigen venerischen Krankheiten) eine zeit-
liche und örtliche Entstehung hatte, nicht ewig existiert
hat und eines Tages unter bestimmten Voraussetzungen wieder
verschwinden wird.
Die Geschichte der Syphilis hat eine eminent praktische
Bedeutung. Geht doch aus ihr mit aller Sicherheit hervor, daß
die gefährlichste und gefürchtetste Geschlechtskrankheit für die
europäische und für die alte Kulturwelt den Charakter des
rein Zufälligen hat, das retrospectiv — mit unserer
heutigen Erfahrung betrachtet — vielleicht im ersten Beginne
hätte fern gehalten und im Keime erstickt werden können.
Die praktische Bedeutung dieser Erkenntnis, daß die
Syphilis für die alte Kulturwelt ein historisches Phänomen dar-
stellt, daß sie eine Geschichte, einen Anfang oder, wie Voltaire
halb ironisch sagte, eine Genealogie hat, kann nicht hoch genug
eingeschätzt werden.
Würde nicht etwas Befreiendes, Erlösendes in der Vorstellung
liegen, daß es für die alte Welt eine Zeit gegeben hat, in der
die Syphilis nicht existierte, daß dieser Zeitraum in Vergleichung
mit dem seit dem ersten Auftreten der Syphilis verflossenen ein
396
unendlich, großer ist, und daß daher, wenn wir den Blick nun
in die Zukunft richten, die Geschichte der Lustseuche den
Charakter einer bloßen Episode für die europäische Kultur-
menschheit annimmt ?
Zugleich würde diese sichere Erkenntnis eine eindringliche
Warnung für alle jene Finsterlinge beider Geschlechter bilden,
die die Frage der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten aus-
schließlich mit religiösen und moralischen Dingen verquicken
möchten und so die einfachsten, klarsten Verhältnisse verdunkeln,
alles auf einen unsicheren Boden stellen und jede Möglichkeit
einer erfolgreichen Bekämpfung der Syphilis versperren.
Noch heute spukt leider in manchen Köpfen die alte Vor-
stellung, daß der geschlechtliche Verkehr eine Sünde sei, für
die es eine Strafe gäbe und diese Strafe sei eben eine Geschlechts-
krankheit, wie z. B. die Syphilis. T y 1 o r, der berühmte eng-
lische Anthropologe, hat nachgewiesen, daß diese Idee aus dem
bis in die prähistorische Zeit zurückreichenden Animismus
sich entwickelt hat, der in den Krankheiten dämonische Einflüsse
sah. Wir stehen noch heute unter dem Einflüsse dieser Lehre,
dieser finsteren, dämonischen Auffassung alles Sexuellen. Ich
erinnere nur an die Ideen Tolstois, der neuerdings in dem
unglücklichen Dr. W eininger einen ihn noch in bezug auf
die fanatische Verdammung des Geschlechtsverkehrs übertreffenden
Nachfolger gefunden hat. Bis vor kurzem enthielten auch ge-
wisse Bestimmungen unserer Krankenkassengesetzgebung deut-
liche Spuren dieser Anschauung. Die meisten Aerzte und Histo-
riker, die da sagten, daß die Syphilis so alt sei wie der Ge-
schlechtsverkehr überhaupt, die das Wort prägten: ubi Venus,
ibi Syphilis, huldigten unbewußt ebenfalls dieser Auffassung,
daß die Geschlechtskrankheiten als eine göttliche Strafe anzu-
sehen seien.
Dieser theologischen Theorie vom Ursprünge der Syphilis,
wie man sie nennen könnte, sind einige unwiderlegbare Tatsachen
entgegenzuhalten, die sie ohne weiteres in ihrer ganzen Nichtigkeit
und Haltlosigkeit erscheinen lassen.
Schon allein der Umstand, daß es eine unverschuldete
Ansoeckung mit Syphilis gibt, daß z. B. in gewissen Distrikten
Rußlands bis zu 90 o/o der Fälle dieser Krankheit ganz außer-
halb des geschlechtlichen Verkehrs durch zufällige Berührungen
veranlaßt werden, zeigt die Torheit jener abergläubischen Ideen.
397
Zweitens ist es eine allgemein bekannte Tatsache, daß recht
häufig noch völlig unverdorbene Individuen, unschuldige Neu-
linge sich bei der ersten Gelegenheit geschlechtlichen Verkehrs
syphilitisch anstecken, während die größere Erfahrung und
genauere Kenntnis der hier drohenden Gefahren notorische Wüst-
linge zu wirksamen Schutzmaßregeln veranlaßt, die doch nichts
nützen würden, wenn die Syphilis wirklich die Strafe für Aus-
schweifungen dieser Art wäre.
Drittens widerlegt das Vorkommen der Syphilis bei kleinen
Kindern — teils durch Vererbung, teils aber auch auf dem
schon erwähnten Wege der zufälligen Berührung erworben —
in schlagender Weise die obige Anschauung, die leider noch weite
Kreise beherrscht und fasziniert.
Man könnte noch weitere Argumente gegen dieselbe anführen,
doch dürfte das Gesagte genügend die Haltlosigkeit dieses Aber-
glaubens beleuchtet haben. Die Syphilis eines Individuums ist
eben nicht die Folge des geschlechtlichen Verkehrs, sondern nur
die Folge einer anderen Syphilis bei einem anderen Individuum,
d. h. sie ist eine spezifische Infektionskrankheit, die
auch ohne jeden sexuellen Verkehr, bei Berührungen anderer
Art, durch das ihr eigentümliche spezifische Gift übertragen wird.
Syphilis entsteht nur durch Syphilis.
Wir haben daher ausschließlich nur sie in der gleichen
Weise wie die übrigen Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen, wir
müssen, wie ein portugiesischer Arzt sehr treffend gesagt hat,
der Tyrannei der Syphilis die Tyrannei der menschlichen Ver-
nunft entgegenstellen. Die Hauptaufgabe einer Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten wird in der Tat eine solche Organi-
sation der durch die Vernunft und die Erfahrung dargebotenen
Kampfmittel gegen diese Krankheit sein. Sie muß die Kenntnis
derselben in immer weiteren Kreisen der Menschheit verbreiten
und dafür sorgen, daß jedem einzelnen die Bedeutung und die
Gefahren der Syphilis und der übrigen Geschlechtskrankheiten
aufs deutlichste bewußt werden.
Auch hier ist die Geschichte unsere Lehrmeisterin, Leuchte
der Wahrheit, und verheißt uns vollen Erfolg in der Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten.
Die Ergebnisse meiner Untersuchungen über den Ursprung
der Syphilis weisen alle auf eine einzige, höchst bedeutungs-
volle Tatsache hin, nämlich die, daß es sich bei der Syphilis,
393
was die alte Kulturwelt betrifft, um eine spezifisclieKrank-
heit der Neuzeit bandelt, die am Ende des 15. Jahr-
hunderts zum ersten Male hier auftrat, von deren früherer
Existenz selbst bis in die prähistorischen Zeiten hinein sich auch
nicht die geringste Spur nachweisen läßt. Diese Ansicht wurde
schon vor der Veröffentlichung meines auf ganz neue Quellen-
studien basierten kritischen Werkes von sehr hervorragenden
Aerzten vertreten, von denen ich aus dem 18. Jahrhundert Jean
Astruc und Christoph Girtanner, aus dem 19. den
spanischen Militärarzt M o n t e j o und von deutschen Aerzten vor
allem Rudolf Virchow, A. Geigel, v. Liebermeister,
C. Binz und P. G. Unna nenne. Auch der große Philosoph
Arthur Schopenhauer vertrat diese Ansicht.1)
R i c o r d , der berühmte französische Syphilidologe, sprach
einst von einem Romane der Syphilis, der noch geschrieben
werden müsse. Ich möchte sie eher mit einem Drama ver-
gleichen, dessen einzelne Akte Jahrhunderte sind. Dann sind
von diesem Drama bereits vier Akte gespielt worden. Wir be-
finden uns gerade eben jetzt im Anfänge des fünften. Wir
haben also noch ein ganzes Jahrhundert vor uns, um mit allen
Kräften, die der wissenschaftlichen medizinischen Forschung, der
praktischen Heilkunde und Hygiene in Verbindung mit sozialen
Maßnahmen zu Gebote stehen, darauf hinzuarbeiten, daß dieser
fünfte Akt auch der letzte sei, wie es sich bei einem richtigen
Drama gehört.
Die Geschichte der Syphilis ist deshalb so lange in Dunkel
gehüllt gewesen, weil man noch bis auf Philipp Ricord,
also bis zum Beginne der zweiten Hälfte des
19. Jahrh underts, die drei venerischen Krankheiten: die
Syphilis oder Lustseuche, den sogenannten weichen
Schanker (venerisches Geschwür) und die Gonorrhöe
oder Tripper im Grunde für wesenseins hielt, während wir
heute wissen, daß gerade die Syphilis als spezifische Infektions-
krankheit von konstitutionellem Charakter den ganzer
Körper durchseucht und von den anderen, nur einen rein ört-
lichen Charakter aufweisenden venerischen Leiden vollkommen
x) Vgl. darüber Iwan Bloch, Schopenhauers Krankheit im
Jahre 1823. Ein Beitrag zur Pathographie auf Grund eines unver-
öffentlichten Dokumentes in: Medizinische Klinik 1906, No. 25 u. 26
{Mitteilung aller Aeußerungen Schopenhauers über die Syphilis).
_
399
getrennt werden muß. Jener frühere Glaube aber an die Identität
aller venerischen Affektionen, der sogar durch eine Autorität
wie John Hunter vermittelst falsch gedeuteter Experimente
befestigt wurde, mußte dazu führen, auch die geschichtliche
Seite von diesem Gesichtspunkte aus zu behandeln.
Wenn Tripper und weicher Schanker ,,syphilitisch er“ Natur
waren, dann war natürlich die Syphilis von jeher dagewesen.
Unschwer konnten jetzt einige Schilderungen und Erwähnungen
von Genitalleiden bei antiken und mittelalterlichen Schriftstellern
auf Syphilis bezogen werden. Erst die fortschreitende Aufklärung
über die gänzliche Wesensverschiedenheit der drei venerischen
Affektionen erwies auch die Haltlosigkeit jener Deutungen, ebenso
die Bekanntschaft mit den pseudovenerischen und pseudo-
syphilitschen Krankheiten, die uns die moderne Derma-
tologie vermittelt hat. Auch hat man niemals in der alten
Kulturwelt syphilitische Knochen aus antiker oder mittelalter-
licher Zeit gefunden.2) Erst aus der Zeit nach der Ent-
deckung Amerikas und vor allem nachdem Ausbruche
der großen Syphilisepidemie gelegentlich des
italienischen Feldzuges Karls VIII. von Frank-
reich in den Jahren 1494—1495 stammen die ersten syphi-
litischen Knochen, d. h. erst damals verbreitete sich die Syphilis
in der alten Kulturwelt.
In meinem Werke ,,Der Ursprung der Syphilis“ (Jena 1901)* * * * * 8)
habe ich, gestützt auf eine Kritik der älteren Anschauungen
und unter Benutzung eines sehr reichhaltigen neuen Quellen-
materials, den Nachweis erbracht, daß die Syphilis durch
die Mannschaft des Columbus von Zentralamerika, speziell
der Insel Haiti, in den Jahren 1493 und 1494 in Spanien
eingeschleppt worden und von dort durch den Heereszug
Karls VIEL sich epidemieartig in Italien und nach Zer-
2) Hierüber habe ich zuerst in der „Société d’Anthropologie de
Paris“ in einem am 19. April 1906 gehaltenen Vortrage „La syphilis
prétendue préhistorique“ Mitteilung gemacht und behandle die wichtige
Frage der Knochenfunde in dem im Druck befindlichen zweiten
Bande meines „Ursprung der Syphilis“, S. 317—364.
8) Die Ergebnisse desselben habe ich in einem in der Staats-
wissenschaftlichen Vereinigung in Berlin gehaltenen Vortrage kurz zu-
sammengefaßt: „Das erste Auftreten der Lustseuche in Europa“,
Jena 1904.
Streuung der Soldaten in den übrigen Ländern Europas
verbreitete, auch, bald durch die Portugiesen nach dem fernen
Osten, nach Indien, China und Japan gebracht wurde. Die
Syphilis hatte bei ihrem ersten Auftreten in der alten Kultur-
welt eine außerordentliche Bösartigkeit, alle durch sie her-
vorgerufenen Krankheitserscheinungen verliefen rascher und hef-
tiger als heutzutage, die Mortalität war eine viel größere, die
Folgen auch bei Genesung viel schlimmere. Diese Bösartigkeit
der damaligen Lustseuche kann nach unserer modernen An-
schauungsweise über die Natur und Erscheinungsart der Krank-
heit nur so erklärt werden, daß jene Völker, die nota bene alle
in gleich intensiver Weise davon ergriffen wurden, bis dahin
vollkommen syphilisfrei gewesen waren ! A 11 e V olks-
kreise und alle Nationen wurden in gleichem Maße und mit
derselben Heftigkeit von der Syphilis heimgesucht.
Noch heute beobachten wir überall, wo die Lustseuche in
bisher syphilisfreie Gegenden eingeschleppt wird, denselben
akuten Verlauf, dieselbe Heftigkeit der Erscheinungen wie bei
ihrem ersten Auftreten in Europa. In den seit der ersten Ein-
schleppung verflossenen vier Jahrhunderten ist eine Ab-
schwächung des syphilitischen Giftes, eine gewisse Immuni-
sierung der europäischen Menschheit gegen dasselbe deutlich er-
kennbar. Im allgemeinen hat heute die Syphilis — verglichen
mit jener ersten Zeit — einen relativ milden Verlauf. Darauf
kommen wir später noch zurück.
Die beiden anderen Geschlechtskrankheiten, Tripper und
weicher Schanker, haben ohne Zweifel schon im Altertume
existiert. Aber auch sie sind spezifische Infektions-
krankheiten, werden nur durch das ihnen eigentümliche Gift
erzeugt, ebenso wie die Syphilis ihr eigenes Gift hat.
Nachdem Bi cord (1800— 1889) in den Jahren 1830—1850
die völlige Verschiedenheit von Syphilis und Tripper nach-
gewiesen, die Lehre von den drei Stadien der Syphilis, dem primären,
sekundären und tertiären, aufgestellt und endlich den weichen,
nichtsyphilitischen vom harten syphilitischen
Schanker unterscheiden gelehrt, V i r c h o w dann in seiner
berühmten Abhandlung ,,Ueber die Natur der konstitutionellen
syphilitischen Affektionen“ (Virchows Archiv 1858, Bd. XV,
S. 217 ff.) über den eigentümlichen Verlauf der konstitutionellen
Syphilis und die Ursachen des zeitweiligen Verschwindens und
plötzlichen Wiederauftauchens der Krankheitserscheinun'gen helles
Licht verbreitet hatte, begann erst 1879 mit Albert Neißers
epochemachender Entdeckung des Gonokokkus als spezifischen
Erregers des Trippers das eigentliche wissenschaftliche
Studium der venerischen Krankheiten, das vorher
auf vollkommen unsicherer Basis geruht hatte. 1889 bis 1892
folgte die Entdeckung des Bazillus des weichen Schan-
kers durch Ducrey und Unna, wodurch die völlige
Verschiedenheit des weichen und harten Schankeis erwiesen wurde,
und endlich haben uns die letzten drei Jahre (1903—1906) über-
raschende und in ihrer Tragweite noch unabsehbare Ent-
deckungen über die Natur des syphilitischen
Giftes gebracht. Im Jahre 1903 gelang es Elias Metsch-
n i k o f f, die Syphilis vom Menschen auf den Affen zu über-
tragen, und damit die Grundlage für die weitere Erforschung
der Syphilis durch das Tierexperiment zu liefern, die Lassar
dann durch die Impfung des syphilitischen Giftes von einem
Affen auf einen anderen, sowie A. N e i ß e r durch seine experi-
mentellen Forschungen auf Java noch verbreiterten,4 *) und im
März 1905 veröffentlichte der zu früh der Wissenschaft entrissene
geniale Protozoen forscher Fritz Schaudinn seine erste Unter-
suchung über den mutmaßlichen Erreger der Syphilis, die
sogenannte „Spirochaete pallid a“. Zahllose N achunter-
suchungen haben den Zusammenhang dieser zur Gattung der
Protozoen gehörigen Spirillenform mit der syphilitischen Er-
krankung bestätigt. Damit aber sind wir der Lösung
des Problems der sicheren Syphi 1 ishei 1 ung und
derlmmunisierunggegen Syphilisganz bedeutend
näher gekommen. Ganz neue Aussichten eröffnen sich uns
in dieser Hinsicht.6)
Wenn dereinst die Menschheit den Befreiern von der „Ge-
schlechtspest“, von der Hydra der venerischen Affektionen,
ein Denkmal setzen wird, dann werden auf diesem nur vier Namen
stehen: Bicord, Neißer, Metschnikoff, Schaudinn!
4) Vgl. A. Neißer, Die experimentelle Syphilisforschung nach
ihrem gegenwärtigen Stande. Berlin 1906.
6) Vgl. Erich Hoffmann, Die Aetiologie der Syphilis, Berlin
1906; Hans Hübner, Ueber moderne Syphilisforschungen, in:
Zeitschr. f. Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1906, Bd. V, S. 468
bis 481.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
26
402
Nach diesen orientierenden Vorbemerkungen über das Wesen
der GeschlecbtskranMieiten gehe ich zu einer kurzen Schilderung
derselben über6) und beginne mit der gefährlichsten Geschlechts-
krankheit, der Syphilis.
Die ersten Erscheinungen der Syphilis zeigen sich etwa drei
bis vier Wochen nach erfolgter Ansteckung an der Stelle, wo
die Ansteckung erfolgt ist, und das braucht durchaus nicht
immer der Geschlechtsteil zu sein. Die Syphilis "wird zwar am
häufigsten durch den geschlechtlichen Verkehr übertragen, nicht
selten aber auch durch Berührungen anderer Art, z. B. durch
Küssen , durch gynäkologische oder chirurgische Unter-
suchungen und Operationen, durch Trinken aus einem
Glase, das eben vorher ein Syphilitischer benutzt hat, durch
Benutzung fremder, ungereinigter Taschentücher, Badetücher und
Betten, durch den Gebrauch fremder Tabakspfeifen, Blasinstru-
mente, Zahnbürsten und Zahnstocher, der Mundstücke in den
Glasbläsereien, durch ungereinigte Rasiermesser, durch
Tätowierung, durch die Unsitte, fremde Bleistifte in den Mund
zu nehmen, durch Befeuchten der Briefmarken mit der Zunge,
durch Aussaugen der Wunde bei der Zirkumzision, durch
Saugen des Kindes an den Brüsten einer syphili-
tischen Amme7) usw. In England hat sogar öfter der Brauch,
vor Gericht zur Bekräftigung des Schwurs die Bibel zu küssen,
Veranlassung zur Uebertragung der Syphilis gegeben.
6) loh will nicht unterlassen, hier einige vortreffliche neuere all-
gemeinverständliche Schriften darüber zu nennen: A. Blaschko,
Die Geschlechtskrankheiten. Volkstümlich dargestellt, Berlin 1904;
Paul Zweifel, Die geheimen Krankheiten in ihrer Bedeutung für
die Gesundheit, Leipzig 1902; Alfred E ournier, Die Syphilis eine
soziale Gefahr. Deutsch von Gaston Vorberg, Leipzig 1905; Kar 1
Ries, Ueber unverschuldete geschlechtliche Erkrankungen, Stuttgart
(1904); O. Burwinkel, Die Geschlechtskrankheiten, Leipzig o. J.
(1905); Waldvogel, Die Gefahren der Geschlechtskrankheiten und
ihre Verhütung, Stuttgart 1905. — Gerade in der Wahl der populären
Schriften über Geschlechtskrankheiten sollte der Laie sich nur an die
besten Namen halten, weil auf diesem Gebiete die Schundliteratur
überwuchert und durch Uebertreibung oder falsche und irreführende
Darstellungen mehr Schaden als Nutzen stiftet. Die hier genannten
Schriften kann ich als durchaus wissenschaftliche und zuverlässige
Aufklärungsschriften empfehlen.
7) Galewsky, Ueber die Uebertragung von Geschlechtskrank-
heiten beim Stillgeschäft, in: Zeitschr. f. Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten 1906, Bd. V, S. 365—371.
403
In kulturell auf niedrigem Niveau stehenden Gegenden, wie
z. B. in gewissen Distrikten Rußlands und der Türkei, erfolgen
sogar 50—60o/o der Ansteckungen auf außergeschlechtlichem
Wege.
Ansteckend sind alle Absonderungen der syphilitischen
Affektionen aller drei Stadien, auch die früher angezweifelte
Ansteckungsfähigkeit des tertiären Stadiums ist neuerdings be-
wiesen, das Blut kann gleichfalls, wenn auch seltener, die An-
steckung vermitteln, dagegen sind die reinen, d. h. die nicht
durch krankhafte Absonderungen verunreinigten physiologischen
Sekrete, wie Speiehel, Tränen, Milch nicht ansteckend. Häufig
wird dagegen die Syphilis durch den Samen übertragen.
Die Ansteckung erfolgt nur an solchen Stellen, wo eine
Kontinuitätstrennung der Oberhaut oder Schleimhaut, ein Einriß,
eine oberflächliche Wunde vorhanden ist, durch die das Gift ein-
dringen kann. So kann aber auch ein scheinbar gesunder Syphi-
litiker, wenn er z. B. beim Beischlaf „sich aufreibt“, d. h. eine
kleine Abschürfung am Gliede bezw. (bei einer Frau) in der Scheide
bekommt, dann doch die Syphilis übertragen, falls das andere
Individuum gleichfalls solche der Ansteckung leicht zugängliche
Stellen hat.
Wie erwähnt, zeigen sich aber erst zwei bis vier Wochen
nach erfolgter Ansteckung die ersten Erscheinungen der Syphilis
in Gestalt eines kleinen Bläschens oder Knötchens an der infizierten
Stelle, seltener auch wohl einer bloß wunden Stelle von eigen-
tümlicher Röte. Allmählich vergrößert sich dieses Knötchen oder
diese Stelle, verhärtet sich immer mehr am Grunde, während
die Oberfläche oft geschwürig zerfällt und höchst ansteckenden
Eiter absondert (sogenannter „harter Schanker“ oder
„Brimäraffekt“).8) Die Verhärtung ist in den meisten Fällen
bereits das sichere Anzeichen dafür, daß das syphilitische Gift
schon in den Körper eingedrungen ist. Wenigstens ist es nur
in sehr seltenen Fällen gelungen, durch Ausschneiden oder Aus-
brennen des harten Schankers der Syphilis den Weg ins Blut
8) Es gibt allerdings auch eine solche „Verhärtung“ bei anderen
nicht syphilitischen Affektionen der Genitalien, z. B. bei besonderer
Lokalisation derselben oder nach Aetzungen. Nur der Arzt kann hier
entscheiden, ob e3 sich um eine syphilitische Ansteckung handelt
oder nicht.
26*
404
abzuschneiden. Fast immer traten trotzdem "bald die Erscheinungen
der allgemeinen Durchseuchung des Körpers mit dem Gifte auf.
Von der Eintrittsstelle aus, also da, wo der harte Schanker
sich bildet, gelangt das syphilitische Gift zunächst auf dem
Wege des Lymphstromes in die Leistendrüsen, die in der dritten
bis vierten Woche nach dem Auftreten des harten Schanker-s an-
fangen zu schwellen und hart zu werden. Diese Schwellung der
Leistendrüsen ist schmerzlos (sogenannte „indolente Bu-
bonen“) im Gegensatz zu der schmerzhaften Schwellung beim
weichen Schanker. Von hier aus tritt das Gift nun auf dem
Blut- und Lymphwege seine AVanderung durch den Körper an,
deren einzelne Etappen man an den Schwellungen der Lymph-
drüsen an der Brust, dem Ellenbogen, dem Halse usw. verfolgen
kann. Zuweilen machen sich andere Symptome einer Allgemein-
infektion bemerkbar; vor allem das Auftreten von Fieber (nie
vor dem 40. Tage nach der Ansteckung), Schmerzen in den
Muskeln, Gelenken, Nerven, auch starke Kopfschmerzen, allge-
meine M attigkeit und Blässe und Rückgang des Ernährungs-
zustandes.
Es sind die Vorläufer des sogenannten sekundären
Stadiums der Syphilis, das nunmehr durch Auftreten eines viel-
gestaltigen Hautausschlages manifest wird und die Diagnose
„Syphilis“ sicher stellt. Deshalb soll der Kranke in zweifelhaften
Fällen von Geschwüren an den Geschlechtsteilen stets Wochen
und Monate hindurch täglich sorgfältig seine Körperhaut in-
spizieren und auf das Auftreten von roten Flecken oder Knötchen
achten. Dieser syphilitische Hautausschlag ist auch in den
späteren Perioden eines der sichersten und am meisten charakte-
ristischen Merkmale der Krankheit.
Der Ausschlag tritt meist zuerst am Rumpfe in Form von
rosafarbenen Flecken auf (sogenannte „Roseola syphi-
1 i t i c a“), breitet sich dann über den Körper aus, nicht selten
treten bereits zugleich oder kurze Zeit nach dem Fleckenausschlag
Knötchen auf und stark erhabene Verdickungen an den Schleim-
hauteingängen, besonders am After, in der Mundschleimhaut und
auf der Zunge (sogenannte „Plaques muqueuses“, „breite
Kondylome“). Durch schmerzhafte Empfindungen im Munde
oder durch Jucken am After wird der Kranke von selbst auf
diese Erscheinungen aufmerksam. Oft sind diese es, im Verein
mit einer heftigen Entzündung der Tonsillen und des Rachens
m
(sog. „Angina syphilitica“), die den Patienten zuerst zum
Arzt führen, nachdem alle früheren Krankheitssymptome unbe-
merkt vorüber gegangen waren! Als charakteristische Formen
der sekundären syphilitischen Hautveränderungen seien ferner
noch erwähnt: der sogenannte „Venuskranz“ (Corona Veneris),
mit welchem schönen Namen man einen Hautausschlag an der
Stirn, besonders an der Haargrenze entlang, bezeichnet, der aller-
dings vom Laien auch mit anderen nicht selten hier vorkommenden
Hautaffektionen verwechselt werden kann, das sogenannte
„Venushalsband“ (Collier de Venus oder Leukoderma
syphiliticu m), eine fast nur bei Frauen vorkommende
eigentümliche Pigmentierung der Haut an Hals und Nacken in
Gestalt brauner Flecken mit dazwischen liegenden weißen
Stellen. Dieses Symptom ist ein absolut sicheres Kennzeichen
der Syphilis. Ebenso charakteristisch ist die sogenannte „Psori-
asis syphilitic a“, das Auftreten von eigentümlichen
Flecken und Verdickungen an Handteller und Fußsohle, ferner
der syphilitische ,,H aarausfal 1“, der von dem gewöhnlichen
Haarausfall sich durch sein plötzliches Auftreten und seine herd-
artige Verbreitung auf dem Kopfe unterscheidet. Nicht selten
zeigen sich auch eitrige Hautausschläge in diesem sekundären
Stadium der Syphilis.
Der syphilitische Hautausschlag ist nur das äußere Sicht-
barwerden der den ganzen Körper, also auch die inneren Organe
in Mitleidenschaft ziehenden Krankheit. Auch die inneren Organe
werden gleichzeitig ergriffen. Die Affektion der Leber äußert
sich durch Gelbsucht, die des Gehirns und der Hirnhäute durch
Kopfschmerzen, eine in diesem Stadium oft a.uffällige Gedächt-
nisschwäche, die der Milz durch Anschwellung, der Nieren
durch Auftreten von Eiweiß im Urin, der Knochen durch sehr
schmerzhafte entzündliche Schwellungen, des Auges besonders
durch die berüchtigte Entzündung der Regenbogenhaut
(60% aller Entzündungen der Regenbogenhaut sind syphilitischer
N atur!)
Bleibt die Krankheit unbehandelt, so wiederholen sich die
geschilderten Erscheinungen mehrfach und werden immer bös-
artiger und nach längerer Zeit gesellen sich ganz neue Krank-
heitssymptome dazu (oft schon vom dritten Jahre an, durch-
schnittlich 5—10 Jahre nach der Infektion, aber auch noch später),
die den Uebergang des syphilitischen Krankheitsprozesses in das
406
tertiäre Stadium bezeichnen. Dahin gehören das Auftreten sehr
großer und nach kürzerem oder längerem Bestehen geschwürig zer-
fallender Knoten in der Haut und in den inneren Organen, der
sogenannten Gummiknoten („Gumma syphiliticum“),
deren Zerfall die größten Entstellungen oder Lebensgefahren mit
sich bringt, z. B. Durchlöcherung des harten Gaumens, Einsmken
der Nase (syphilitische ,,S att elnase“), goschwürige Zerstörung
großer Teile des Schädelknochens, des Mastdarmes, der Leber,
der Lunge, der Hoden, der Blutgefäße (besonders gefährlich die
gummösen Erkrankungen der Hirngefäße!), des Gehirns und
Bückenmarks. Schlaganfälle in jugendlichem Alter und
Nervenlähmungen der verschiedensten Art, sowie plötz-
liche Taubheit und Erblindung sind meist auf syphilitische
Erkrankungen zurückzuführen. Viele chronische Leber-, Nieren-
und Nervenleiden sind Folgen früherer Syphilis, auch die Ver-
kalkung der Arterien, die gefährliche Erweiterung
der großen Blutgefäße, besonders der Hauptschlagader,
der Aorta („Aneurysma Aortae“) sind sehr* häufig syphilitischen
Ursprungs.
Durch die Untersuchungen von Alfred Fournier pnd
Wilhelm Erb wissen wir heute, daß zwei schwere Erkran-
kungen des Zentralnervensystems, die Tabes oder Biicken-
marksschwindsucht und die progressive Paralyse
oder fortschreitende Lähmung der Irren fast aus-
schließlich (in ca. 95 o/o der Fälle) auf eine frühere syphilitische
Erkrankung zurückzuführen sind. Unter 5749 Fällen seiner
Privatpraxis beobachtete Fournier nicht weniger als 758 Fälle
von Gehimsyphilis, 631 Fälle von Bückenmarksschwindsucht und
83 Fälle von Gehirnerweichung. Tabes und progressive Paralyse
sind um so gefährlicher, als sie nicht mehr eigentliche „syphili-
tische“ Erkrankungen sind, die also durch spezifische antisyphili-
tische Heilmittel beseitigt werden könnten, sondern nur schwere
degenerative Veränderungen des durch die vorangegangene Syphilis
veränderten, gewissermaßen dafür präparierten Zentralnerven-
systems, sogenannte „parasyphilitische“ Erkrankungen, bei
denen eine antisyphilitische Behandlung gar keinen oder nur
wenig Erfolg hat.
Noch trauriger sind die Folgen der Syphilis für Familie,
Nachkommenschaft und Basse. Die Syphilis in der Ehe,
die Erbsyphilis und die Degeneration der Basse durch.
407
die Syphilis, das sind die hier in Betracht kommenden traurigen
Erscheinungen.
In seinem schönen Werbe über „Syphilis und Ehe“ (deutsch
von P. Michelson, Berlin 1881) hat Alfred Fournier,
gegenwärtig der größte Kenner der Syphilis in allen ihren Er-
scheinungen und Beziehungen, den verhängnisvollen Einfluß der
Syphilis auf das eheliche Leben geschildert, und in seiner kürz-
lich erschienenen Schrift „Eie Syphilis eine soziale Gefahr“ auch
die beiden anderen Momente gewürdigt. Er fand durchschnittlich
unter 100 syphilitischen Frauen 20, die von ihren Ehemännern
angesteckt worden waren, entweder gleich im Beginne der Ehe
oder auch im späteren Verlaufe derselben oder endlich auf dem
Wege durch die Leibesfrucht bei der Zeugung. Eie Ehescheidung
auf Grund von Ansteckung mit Syphilis durch den Gatten kommt
heute sehr oft vor.
Eie Vererbung der Syphilis auf das Kind kann vom
Vater oder der Mutter aus erfolgen, absolut sicher tritt sie ein,
wenn beide syphilitisch sind. Eie verschiedenen hier in Betracht
kommenden Möglichkeiten der Uebertragung und der eventuellen
Immunität von Mutter oder Kind, wie sie durch das sogenannte
Colles-Baumes sehe und das P r o f e t a sehe Gesetz zum
Ausdruck kommen, können hier nicht näher erörtert werden. Ist
die Mutter selbst syphilitisch infiziert worden oder von vorn-
herein syphilitisch, so werden die Kinder entweder nicht aus-
getragen, es erfolgen Fehlgeburten, oder sie werden tot geboren
oder endlich kommen sie mit den Symptomen der hereditären
Syphilis zur Welt.
Häufig vorkommende Früh- und Totgeburten in einer Familie
sind sehr verdächtig hinsichtlich ihres syphilitischen Ursprungs.
Eie Massensterblichkeit der Kinder in einer Familie ist
nach Fournier für den Arzt ein wichtiges Erkennungszeichen
der erblichen Syphilis. Eie syphilitische Erkrankung des Vaters
äußert sich in einer Kindersterblichkeit von 28 °/o, die der Mutter
in einer solchen von 60 °/o, die Erkrankung beider Eltern in einer
Sterblichkeit von 68 o/o. Geradezu unheimlich, bis zu 84—86 °/o,
ist die Sterblichkeit unter den Kindern syphilitischer Prosti-
tuierten.
Eie lebend geborenen, hereditär-syphilitischen Kinder sind
meist sehr schwächlich, von geringem Körpergewicht, haben oft
eine welke, runzelige Haut, die mit typischen syphilitischen Aus-
408
schlagen bedeckt ist, oft mit großen Eiterblasen, besonders an
Handteller und Fußsohle („Pemphigus syphiliticus“),
auch die inneren Organe, Milz, Leber und Knochen weisen krank-
hafte Veränderungen auf. Charakteristisch ist auch die syphili-
tische Affektion der oberen Luftwege, besonders der syphilitische
Schnupfen der neugeborenen hereditärsyphilitischen Kinder.
Weiter erzeugt die Erbsyphilis schwere Störungen der Ent-
wicklung und Erscheinungen, die Fournier als „Spät-
syphilis“ bezeichnet hat (Syphilis hereditaria tarda), weil sie
erst in den späteren Lebensjahren auf treten.9) Dauernde Lebens-
sch wache, Zurückbleiben in der Entwicklung,
typische Degenerationszeichen in Gestalt verschieden-
artiger Mißbildungen, z. B. Auskerbung der oberen Schneide-
zähne (ein von Jonathan Hutchinson zuerst beschriebenes
Symptom), Mißbildungen der Nase, der Ohren, des Gaumens,
Zwergwuchs, Taubstummheit, Mißbildungen der äußeren und
inneren Geschlechtsorgane, englische Krankheit, Epilepsie und
Geistesschwäche sind Folgen ererbter Syphilis. Tarnowsky,
Fournier, Barthélémy haben die Folgen der Erbsyphilis
bis in die zweite und dritte Generation verfolgen und so eine
wichtige Ursache der Entartung der Kasse nach weisen
können. Die Syphilis des Großvaters kann noch beim Enkel ihre
verhängnisvolle Wirkung ausüben und alle oben genannten Ent-
artungszeichen hervorrufen. Ja, die Erbsyphilis der zweiten
Generation tritt oft mit derselben Stärke auf wie in der ersten,
und wie die erworbene Syphilis, so kann auch die hereditäre
Syphilis bei Frauen Neigung zu Fehl- und Totgeburten erzeugen.
Nach einer von Edmond Fournier an der Hand von
11 0 00 Fällen von Syphilis (10 000 Männer, 1000 Frauen) aus
seines Vaters, Alfred Fournier, Privatpraxis auf gestellten
Statistik über das Alter der Ansteckung ergibt sich, daß beim
M an ne die Ansteckung am häufigsten zwischen 20 und 26 Jahren
(Höhepunkt das 23. Lebensjahr), beim Weibe zwischen 18 und
21 Jahren erfolgt. 8 °/o der syphilitischen Männer und 20 °/o der
syphilitischen Frauen infizierten sich vor dem 20. Lebensjahre.
Die Syphilis ist doch heute wesentlich eine Eirankheit der
9) Vergl. das soeben erschienene vorzügliche Werk von Edmond
Fournier, Recherches et diagnostic de l’hérédo-syphilis tardive,
Paris 1907-
409
unerfahrenen Jugend. Diese Tatsache ist wichtig für die
Frage der Verhütung und der Aufklärung.10)
Weit geringere Bedeutung als die Syphilis besitzt der rein
Örtliche weiche Schanker, der niemals eine Allgemein-
infektion zur Folge hat. Der weiche Schanker wird durch einen
spezifischen Erreger, einen kettenbildenden Bazillus, hervor-
gerufen, der sich im Eiter des Schankergeschwüres findet. Ein
bis zwei Tage nach der Ansteckung bildet sich ein kleines
Eiterbläschen an der Uebertragungsstelle, meist den äußeren Ge-
schlechtsteilen, dieses platzt bald und ein tief ausgehöhltes Ge-
schwür kommt zum Vorschein, das sich meist rasch vergrößert
und häufig durch die geschwürbildende Eigenschaft des Eiters
in der Umgebung neue Schanker entstehen läßt, so daß der
weiche Schanker meist in mehreren Geschwüren vorkommt. Unter
geeigneter Behandlung mit antiseptischen Pulvern und mit Aetz-
mitteln heilen die Schankergeschwüre meist ziemlich rasch, es
gibt aber sehr gefährliche Verlaufsweisen des weichen Schankers,
wie den serpiginösen, unaufhaltsam vorwärts kriechenden
und den phagedänischen bezw. gangränösen, den bran-
digen Schanker, deren die ärztliche Kunst nur mit größter Mühe
Herr werden kann. Eine ungefährlichere, aber sehr unangenehme
und schmerzhafte Komplikation des weichen Schankers ist die
Entzündung der Leistendrüsen, meist nur auf einer Seite, dieser
schmerzhafte „Bubo“ (im Gegensatz zum schmerzlosen syphili-
tischen Bubo) hat eine außerordentlich große Neigung zur Ver-
eiterung. Erfolgt diese und der Durchbruch des Eiters, so können
Fisteln und neue Schankergeschwüre an den Durchbruchstellen
entstehen. Durch Bettruhe, Einreibung von Jodsalbe, kalte Um-
schläge, Injektion von Höllensteinlösung in den Bubo, innerlichen
Gebrauch von Jodkalium kann man diesen üblen Ausgang verhüten.
Eine mächtige Wandlung der Anschauungen hat
sich im Laufe der letzten dreißig Jahre bezüglich' der Natur
und Bedeutung der Tripperkrankheit oder Gonorrhöe
10) Als größere wissenschaftliche Werke über Syphilis nenne ich
die die gesamte Literatur enthaltenden von Isidor Neumann
(Wien 1899, 2. Aufl.) und Joseph Lang (Wiesbaden 1896, 2. Aufl.),
vor allem aber das epochemachende Werk von Alfred Fournier,
„Traité de la syphilis“. Paris 1898 ff. (2 Bände in 4 Teilen).
410
vollzogen.11) Während man dieselbe früher für eine relativ harm-
lose Krankheit hielt, wissen wir heute, daß der Tripper sowohl
beim Manne als auch besonders bei der Frau langwierige, ge-
fährliche und schmerzhafte Krankheitserscheinungen hervorruft
und die Quelle unsäglicher Leiden, elenden Siechtums zahlreicher
Frauen und die Hauptursache der männlichen und weiblichen
Unfruchtbarkeit ist.
Der Tripper ist wesentlich eine Schleimhauterkran-
kung und unterscheidet sich hierdurch von der Syphilis, die
eine auf dem Wege der Blutbahnen sich ausbreitende Allgemein-
erkrankung ist. In seltenen Fällen allerdings kann auch der Tripper
Allgemeinerscheinungen machen, der Tripperrheumatis-
mus, gonorrhoische Rückenmarks- und Herzerkrankungen und
Nervenleiden gehören hierher, können aber als relativ seltene
Vorkommnisse außer acht gelassen werden.
Der eigentliche typische Sitz des Trippers ist die Schleim-
haut der Harn- und Geschlechtsorgane des Mannes
und des Weibes, wobei beim Manne im ganzen mehr die Ham-,
bei der Frau mehr die Geschlechtsorgane in Mitleidenschaft ge-
zogen werden. Ursache des echten Trippers ist stets die Ueber-
tragung der durch den (von Ne iß er 1879 entdeckten) Gono-
kokkus hervorgerufenen eitrigen Entzündung von einem
Menschen auf den anderen. Es gibt auch einfache Harn-
röhrenentzündungen mit eitrigem Ausfluß, in dem keine
Gonokokken gefunden werden. Sie entstehen ebenfalls durch
Ansteckung, der Erreger ist aber noch nicht nachgewiesen, ebenso
dunkel ist die Beziehung mancher diesen einfachen Harnröhren-
katarrh hervorrufenden Irritamente, z. B. der bei der Menstruation
wirksamen zu dem supponierten Erreger. Jedenfalls verlaufen
diese einfachen Katarrhe sehr milde und heilen nach wenigen
Tagen oder Wochen von selbst oder unter milden antiseptischen
Einspritzungen.
Anders der echte Tripper. Beim Manne beginnt er etwa zwei
bis sechs Tage nach dem unreinen Beischlafe mit Brennen beim
Urinieren, Jucken an der Harnröhrenöffnung, die leicht gerötet
ist und einen zunächst schleimigen, später eitrigen und dann
gelb oder grünlich gefärbten Ausfluß von selbst oder auf Druck
11) Das grundlegende wissenschaftliche Werk über den Tripper
schrieb Ernest Finger, Die Blennorrhoe der Sexualorgane, 5. Aufl.
Leipzig u. Wien 1901.
411
gegen die Harnröhre hervortreten läßt. Entzündung, Ausfluß
und Schmerzhaftigkeit, besonders beim Urinieren, nehmen im
Laufe der nächsten Wochen zu, außerdem zeigt sich manchmal
leichtes Fieber, Mattigkeit, seelische Depression, und der Kranke
wird besonders in der Nacht von heftigen und schmerzhaften
Erektionen gequält. Selten kommt es zu Blutungen aus der Harn-
röhre (sog. „russischer Tripper“). Manchmal nimmt die
Sache ein gutes Ende, besonders beim ersten Tripper wird das
beobachtet. Schon in der dritten Woche können die geschilderten
Symptome zurückgehen und in der vierten bis sechstens Woche
nach der Ansteckung kann der ganze Krankheitsprozeß beendet,
der Ausfluß verschwunden, der Urin wieder klar und in der
Tat definitive Heilung des Trippers eingetreten sein.
Aber die Zahl dieser Glücklichen ist zu zählen. In der
Mehrzahl der Fälle kommt es zu weiteren Erscheinungen und
Komplikationen. Der Tripper wird „subakut“ und später
„chronisch“. Schon liicord hat gesagt: Wenn ein Tripper
einmal angefangen hat, dann weiß nur Gott, wann er aufhören
wird. Glücklicherweise ist dieser Pessimismus heute nicht mehr
ganz berechtigt, aber es ist eine Tatsache, daß in den meisten
Fällen auch heute noch der Tripper ein sehr hartnäckiges,
langwieriges Leiden darstellt, nicht nur ein wahres Kreuz für
den Patienten, sondern auch für den Arzt. Die Gonokokken
wuchern in die Tiefe der Schleimhaut und wandern weiter nach
hinten, der hintere Teil der Harnröhre erkrankt, was sich vor
allem durch häufigen schmerzhaften Harndrang bemerkbar
macht, weiter kann die Blase, die Vorsteherdrüse und
der Nebenhoden ergriffen werden. Doppelseitige Nebenhoden-
entzündung ist oft sehr verhängnisvoll für die Zeugungsfähigkeit.
In ca. 50 o/o der Fälle hat man Zeugungsunfähio'keit danach
beobachtet.
Ist der Tripper chronisch geworden, so bilden sich Ver-
dickungen an einzelnen Stellen der Harnröhrenschleimhaut, der
Urin bleibt lange Zeit trübe, der Ausfluß wird allerdings spär-
licher, zeigt sich aber mit konstanter Bosheit jeden Morgen, wenn
der Patient erwacht, als sogenannter „Bon j o u r“ - T r o p f e n
in der Harnröhrenmündung, auch Beschwerden von seiten der Vor-
steherdrüse (schmerzhafte Sensationen besonders beim Stuhl-
gänge) und Symptome der Harnröhrenverengerung können sich
einstellen. Sehr oft ist auch eine relative Impotenz und schwere
41*2
sexuelle Neurasthenie die Folge eines chronischen Trippers. Das
Schlimmste aber ist die lange Dauer der Ansteckungs-
fähigkeit. Immer ist die Gefahr vorhanden, daß noch irgendwo
Gonokokken verborgen sind und bei Gelegenheit den Prozeß neu
anfachen und die Krankheit übertragen können. Zweifel teilt
einen Fall mit, wo ein Mann sogar noch 13 Jahre nach Beginn
seines Trippers eine Frau ansteckte!
Und die Ansteckung einer Frau mit Tripper, das ist, wie
wir heute wissen, ein ganzes Schicksal. Es ist das unsterbliche
Verdienst des deutsch-amerikanischen Arztes Noeggerath, im
Jahre 1872 den Nachweis erbracht zu haben, daß die Mehrzahl
der langwierigen „Unterleibsleiden“ der Frau nichts weiter
sind als die Folgen einer gonorrhoischen Infektion. Der Tripper
bevorzugt die inneren Geschlechtsorgane des Weibes, die Gono-
kokken finden auf den weiten Schleimhautflächen derselben die
günstigsten Lebensbedingungen und tausend Schlupfwinkel und
Verstecke vor den therapeutischen Eingriffen des Arztes.
„Sie wuchern mit der Gesetzmäßigkeit, wie das Unkraut,
wenn man es nicht ausrotten kann, über die ganze Fläche der
Schleimhaut hinauf und ergreifen mit derselben Gesetzmäßigkeit
die Schleimhäute der Gebärmutter und der Eileiter. Auch hier
gibt es diese Geschwüre, auch hier die Verwachsungen und auch
hier dadurch Zeugungsunfähigkeit. Aber es kommt bei den Frauen
noch etwas hinzu, daß nämlich diese Krankheit sie in elender
Weise niederwirft und sie ganz im Unterschiede vom Manne
jahrelangen gräßlichen Schmerzen aussetzt. So oft sie sich be-
stimmte Bewegungen erlauben, fast jahrzehntelang, bekommen
sie Schmerzen, oft ganz fürchterliche und sind meist zu einem
Leben der Entbehrung und des Elends um anderer und um ihres
eigenen Mannes Schuld willen verurteilt“ (Zweifel).
Der Tripper des Weibes, der Scheide, Gebärmutter, Mutter-
trompete, Eierstöcke und Bauchfell sukzessive, schleichend er-
greift, ist ein wahres Martyrium, ein Inferno auf Erden. An
Leib und Seele siech, schleppen diese unglücklichen Frauen ihr
elendes Dasein dahin, dem so häufig noch dazu der einzige Trost
versagt bleibt: die Mutterschaft. Denn der Tripper ist die häufigste
Ursache der weiblichen Sterilität.
Tripperkranken Menschen droht außerdem noch die Gefahr
der Erblindung durch Uebertragung des Trippergiftes auf
das Auge — einer der unseligsten Zufälle, die es geben kann —
413
neugeborene Kinder sind bei der Geburt derselben Gefahr von
seiten der Geschlechtsteile einer tripperkranken Mutter ausge-
setzt. Der größte Teil der Blinden in früherer Zeit hatte auf
diese Weise kurz nach der Geburt das Augenlicht verloren. Seit
Credes segensreichem Vorschläge der Einträufelung von Höllen-
steinlösung in die Bindehaut neugeborener Kinder gehören Tripper-
erkrankungen des Auges zu den Seltenheiten.
Anhang.
Die Geschlechtskrankheiten bei Homosexuellen.
Es ist ein alter, auch von den Homosexuellen selbst geteilter
Glaube, daß venerische Ansteckungen bei ihnen zu den Selten-
heiten gehören. Wenn die männlichen Homosexuellen nur unter
sich geschlechtlich verkehrten, so erschiene diese Annahme
einigermaßen plausibel. Denn der Hauptherd geschlechtlicher
Ansteckung ist die weibliche Prostitution, die auf heterosexuelle
Männer die Geschlechtskrankheiten überträgt. Da nun die Homo-
sexuellen oft mit heterosexuellen Männern — abgesehen von ge-
legentlichem Verkehr mit Weibern — geschlechtliche Akte vor-
nehmen, so ist a priori die Möglichkeit der Ansteckung auch
für sie gegeben und wird in der Tat beobachtet. Vor allem
huldigen viele männliche Prostituierte auch dem Verkehr mit
Weibern und verbreiten dadurch auch venerische Leiden unter
homosexuellen Männern.
Daß Syphilis ebenso leicht verbreitet werden kann, wie
unter Heterosexuellen, ist klar, da sie ja durch die mannigfaltigsten
Berührungen übertragen wird, durch Küsse, andere Liebkosungen
usw. Wie steht es aber mit dem Tripper?
Bei den heterosexuellen Männern und Frauen wird der Tripper
fast ausschließlich durch den Geschlechtsakt, die Einführung des
männlichen Gliedes in die weibliche Scheide übertragen. Der
analoge Akt zwischen Männern, d. h. die Päderastie, die Immissio
penis in an um, kommt aber gewiß viel seltener vor als der
gewöhnliche Akt zwischen Mann und Frau, er wird meist durch
mutuelle Onanie, durch Küsse und andere Liebkosungen ersetzt,
recht häufig auch durch Coitus in os. Letzterer ist ent-
414
schieden häufiger als die eigentliche Pädikation. Von dem durch
letztere hei bestehender Gonorrhöe des aktiven Mannes hervor-
gerufenen Mastdarmtripper hört man eigentlich selten. Gibt es
gar eine Möglichkeit der gonorrhoischen Ansteckung durch Coitus
in os bei Homosexuellen ?
Daß es einen typischen Tripper der Mundhöhle gibt,
ist außer allem Zweifel. Die Beobachtungen von K u 111 e r,
Atkinson, Rosinski, Dohrn, Käst haben das bewiesen.12)
Horand und Cazenave haben sogar eine Tripperinfektion
der Harnröhre nach einem oralen Koitus beobachtet!13) Mir er-
zählte ein Homosexueller, daß er vor Jahren einmal nach einem
Coitus in os eines Mannes einen mehrwöchentlichen Ausfluß aus
der Harnröhre bekommen habe, der von selbst schließlich wieder
auf gehört habe, also wohl keine eigentliche Gonorrhöe war, sondern
nur eine Urethritis infolge Ansteckung durch infektiöse Angina.
In dem betreffenden Fall schloß sich der Harnröhrenkatarrh an
diesen Coitus in os an, eine andere Infektionsquelle war aus-
geschlossen.
Umgekehrt erfolgt in einem zweiten Falle eine, wahr-
scheinlich gonorrhoische Infektion der Mundhöhle von
der Harnröhre aus.
Ein 45 jähriger Homosexueller ließ eines Tages von einem h e -
terosexuellen Manne den Coitus in os an sich vollziehen. Einige
Tage darauf fühlte er Schlingbeschwerden, bekam Eieber, und sa,h
im Spiegel, daß das Zäpfchen angeschwollen war. Ein Spezialist für
Halsleiden konstatierte nur eine katarrhalische Affektion. Hie Sache
wurde aber schlimmer, und ein zweiter Halsspezialist stellte das Vor-
handensein einer eitrigen Angina auf beiden Tonsillen fest, verordnete
Argentaminpinselungen Und Dampfbäder, daneben Eichenrindenab-
kochung zum Gurgeln, worauf die Affektion sich zurückbildete. Sechs
Wochen später bekam der Patient im Kniegelenk und rechten
Fußgelenk eine Anschwellung und Schmerzen, die aber ebenfalls
unter Frießnitzumschlägen nach 14 Tagen verschwanden. Von dem
ganzen Leiden ist jetzt nichts mehr zurückgeblieben.
Diese Schilderung des durchaus zuverlässigen Patienten er-
weckt doch sehr stark den Verdacht einer Angina gonor-
12) Vgl. M. v. Zeißl, Diagnose und Behandlung der venerischen
Erkrankungen, 3. Auflage. Berlin u. Wien 1905, S. 171—172.
1S) ibidem, S. 172.
415
r h1 o i c a mit konsekutiver gonorrhoischer Gelenkerkrankung.
Leider wurde von dem betreffenden Arzte der Tonsilleneiter nicht
auf Gonokokken untersucht. Der Fall bleibt trotzdem sehr merk-
würdig.
Daß bei homosexuellen Weibern sowohl Syphilis als auch
Tripper, letzterer bei den Friktionen der Genitalien gegeneinander,
leicht übertragen werden können, ist klar. Wie sich das in praxi
verhält, ist mir nicht bekannt .geworden.
FÜNFZEHNTES KAPITEL.
Die Verhütung, Behandlung und Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten.
Mit einigem Vertrauen kann der Menschenfreund ihr allmähliches
Abnehmen und Erlöschen in einer nicht zu fernen Zukunft erwarten,
■wenn die Behörden, denen die Beaufsichtigung und Beförderung des
allgemeinen Gesundheitswohles, srwie die Handhabung der öffentlichen
Moral obliegt, in ihren Anstrengungen nicht ermatten, und wenn die
wissenschaftliche Forschung ihren von der Macht der Gewohnheit und
des Vorurteiles unabhängigen Standpunkt fest und klar behauptet.
E. F. Marx.
417
Inhalt des fünfzehnten Kapitels.
Die Ausrottung der Geschlechtskrankheiten. — Organisation des
Kampfes gegen sie. — Die internationale Konferenz in Brüssel. — Die
Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten. — Die drei Methoden der Bekämpfung der Venerie. —
Die persönliche Verhütung der Geschlechts-
krankheiten. — Rolle der Reinlichkeit. — Vorhautsekret und
Eicheltripper. — Die Bedeutung der Beschneidung. — Technik der
Säuberung der Genitalien vor und nach dem Beischlafe. — Untersuchung
auf Krankheit. — Gefahren des wiederholten Koitus. — Spezielle Schutz-
mittel. — Der Condom. — Arten und Technik des Gebrauchs. — Die
Einträufelung von Silbersalzlösungen. — Ihr relativer Wert. — Fett-
einreibungen. — Metschnikoffs Salbe zur Verhütung der Syphilis.
— Antiseptische Waschungen. — Die öffentliche Ankündigung der
Schutzmittel. — Der strafrechtliche Schutz gegen geschlechtliche An-
steckung. — Gutachten der Juristen darüber (v. Liszt, v. Bar,
Schmölder).
Die Ausrottung der Geschlechtskrankheiten
durch die ärztliche Behandlung. — Günstige Verhältnisse
bei der Syphilis. — Abschwächung des syphilitischen Giftes. — Das
Quecksilber und seine Bedeutung. — Ein „Triumph der Medizin“. —
Methoden der Quecksilberbehandlung der Syphilis. — Wirkung der
Quecksilberkur. — Mittel zur Nachbehandlung der Syphilis. — Die Heil-
barkeit der Syphilis. — Die Behandlung des Trippers. — Notwendigkeit
der mikroskopischen Untersuchung und die wissenschaftliche Metho-
dik dabei. — Die verschiedenen Behandlungsverfahren. — Feststellung
der Heilung des Trippers. — Erleichterung der Behandlung der Ge-
schlechtskrankheiten für die großen Massen. — Krankenkassen und Ge-
schlechtskrankheiten.
Die staatliche und öffentliche Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten. — Statistik der venerischen Leiden.
— Blaschkos Forschungen. — Frequenz der Geschlechtskrankheiten
in Dänemark. — In den einzelnen Ständen Deutschlands. — Die preußi-
sche Statistik vom 30. April 1900. — Folgerungen daraus. — Die ver-
schiedenen Infektionsquellen. — Die Prostitution Hauptinfektionsquelle.
-— Gefährlichkeit der jugendlichen Prostituierten. — Staatliche Maß-
nahmen gegen die Verbreitung der Venerie durch Prostitution. —
Die Reglementierung. — Kritik derselben. — Ihre Ungesetzlichkeit. —
Ihre Nutzlosigkeit und ihre Gefahren. — Günstiger Einfluß der Auf-
hebung der Sittenkontrolle. — Prostitution und Verbrechen. — Das
Zuhältertum. — Kritik der Lombrososehen Theorie der Beziehungen
zwischen Prostitution und Kriminalität. — Die Bordellfrage. — Rück-
gang der Bordelle. — Gefahren der Bordelle. — Bordellstraßen und
Kasernierung der Prostitution. — Vorschläge zur Untersuchung der
männlichen Bordellklientel. — Kritik. — Der wahre Weg zur Aus-
rottung der Prostitution.
Bloch, Sexuallehen. 7.—9. Auflage.
(41,—60. Tausend.)
27
418
Das Motto, welches ich diesem der Bekämpfung und Aus-
rottung der Geschlechtskrankheiten gewidmeten Kapitel voran-
gesetzt habe, ist einer interessanten akademischen Abhandlung
des Göttinger Professors der Medizin K. F. H. Marx entnommen
(bekanntlich der Arzt Heinrich Heines während dessen
Studienzeit in Göttingen), die den Titel führt „Ueber die Ab-
nahme der Krankheiten durch die Zunahme der Zivilisation“
(Göttingen 1844, S. 35).
Die hoffnungsfreudige Zuversicht, die hier ein Akademiker
bezüglich der endgültigen Austilgung der venerischen Leiden
ausspricht, wurde schon damals von einem eminenten Prak-
tiker wie Parent-Duchatelet geteilt. Er ruft, leider nicht
den Aerzten und Sozialhygienikern, sondern der Polizei zu:
„Verfolgt ohne Unterlaß die Krankheiten, welche durch
Lustdirnen verbreitet werden; nehmt euch das Ziel vor,
sie aus der Liste der menschlichen Leiden ver-
schwinden zu lassen; eure Bemühungen, zweifelt
nicht daran, werden von Erfolg gekrönt werden,
obschon erst das Werk mehrerer Geschlechter
s ein.“1)
Aber erst zwei volle Generationen mußten vergehen, ehe die
Frage der Bekämpfung und Ausrottung der Ge-
schlechtskrankheiten eine brennende Zeitfrage,
eine Frage des öffentlichen Gemeinwohles, der sozialen
Hygiene wurde, wie diejenige des Kampfes gegen Tuberkulose,
Säuglingssterblichkeit und Alkoholismus. Noch einmal wiederhole
ich es: der organisierte, systematische Kampf
!) Parent-Duchatelet, Die Sittenverderbnis des weib-
lichen Geschlechts in Paris, Leipzig 1837, Bd. II, S. 234. Ebenso
bemerkt Julius Donath, Die Anfänge des menschlichen Geistes,
Stuttgart 1898, S. 19: „Syphilis und Alkoholismus können
durch gesellschaftliche Einrichtungen und vorbeugende Maßregeln
ebenso zum Schwinden gebracht werden wie Pest
und Cholera.“
419
gegen die Geschlechtskrankheiten befindet sich
noch in seinen ersten Anfängen. Er datiert eigentlich
erst seit sieben Jahren, seit der Abhaltung der ersten inter-
nationalen Konferenz für die Prophylaxe der
Syphilis und der venerischen Krankheiten zu
Brüssel (4. bis 8. September 1899), an der sich fast sämtliche
europäischen und außereuropäischen Kulturstaaten beteiligten, und
wo nicht nur Aerzte und Dermatologen, sondern auch Juristen,
Pastoren, Gesandts chafts attach é s, Schriftsteller, Philanthropen
und Frauen ihre Ansichten darlegten und dadurch bekundeten,
daß die Frage der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten eine
alle Klassen der Gesellschaft interessierende ist, und von allen
gemeinsam in Angriff genommen werden muß. Im Anschluß an
diese erste internationale Konferenz wurde dann 1899 die
„Société internationale de prophylaxie sanitaire
et morale de la syphilis et des maladies véné-
riennes“ gegründet, die ihren Sitz in Brüssel hat und in
periodischen Zwischenräumen sich zu internationalen Konferenzen,
wie die erste war, vereinigt.
Namentlich von Deutschland aus brachte man dieser Organi-
sation reges Interesse entgegen Und man entschloß sich bald
zur Gründung einer nationalen „Deutschen Gesellschaft
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“,
deren konstituierende Versammlung am 19. Oktober 1902 im
Bürgersaale des Berliner Bathaussaales stattfand. Sie wurde mit
einer Eröffnungsansprache von Albert Neißer eingeleitet,
worauf Alfred Blaschko über die „Verbreitung der Ge-
schlechtskrankheiten“, Edmund Lesser über die „Gefahren
der Geschlechtskrankheiten“, Martin Kirchner über die
„Soziale Bedeutung der Geschlechtskrankheiten“ und Albert
Neißer über die „Aufgaben der Deutschen Gesellschaft zur
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ sprachen. Der Vor-
stand der Gesellschaft besteht aus den Herren : A. Neißer
(Vorsitzender), E. Lesser (stellvertretender Vorsitzender und
Schatzmeister) und A. Blaschko (Generalsekretär). Gesell-
schaftsorgan sind die vom Vorstande herausgegebenen „Mit-
teilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge-
schlechtskrankheiten“ (Jährlich 6 Hefte, bisher 4 Jahrgänge), die
den Mitgliedern (Jahresbeitrag nur 3 Mark) gratis zugehen. Im
Frühjahr 1903 wurde dann noch eine größere „Zeitschrift für
27*
420
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten“ gegründet (bisher fünf
Bände), die zur Aufnahme umfassenderer kritischer Arbeiten dient.
Noch in demselben Jahre 1902 bildeten sich die ersten
Zweigvereine und Ortsgruppen der „D. G. z. B. d. G.“
in Hannover, "Wiesbaden, Breslau, Berlin. Es folgten dann
München, Mannheim, Cöln, Beuthen, Danzig, Stettin, Posen, Dort-
mund, Elberfeld, Frankfurt a. M.. Görlitz, Plamburg, Königsberg,
Nürnberg, Stuttgart, Heidelberg.
Durch Vorträge, Verteilung von Flugschriften und Merk-
blättern, Veranstaltung öffentlicher Diskussionen wird seit vier
Jahren jetzt die Aufklärung über die Gefahren der Geschlechts-
krankheiten in die weitesten Kreise getragen. Von den übrigen
Tätigkeiten und Maßnahmen der Gesellschaft wird noch später
die Iiede sein.
Gehen wir nun zu einer imBahmen dieses Werkes zwar kurzen,
aber doch alle wesentlichen Punkte berücksichtigenden Schilderung
des modernen Kampfes gegen die Geschlechtskrankheiten über.
Die Austilgung der Venerie wird auf dreifache Weise
verfolgt :
1. durch Maßregeln der persönlichen Verhütung der
Ansteckung ;
2. durch die Bekämpfung und Verminderung der Geschlechts-
krankheiten durch ärztliche Behandlung;
3. durch Maßnahmen von seiten der öffentlichen
Hygiene, des Staates und der Erziehung.
Die persönliche Verhütung der Geschlechtskrank-
heiten2) hat mit der steigenden wissenschaftlichen Erkenntnis der
s) Die Literatm- ist sehr groß. Icli erwähne außer dem die ältere
Literatur zusammenfassenden Werke von J. K. Proksch, Die Yor-
bauung der venerischen Krankheiten, Wien 1872: E. Lang, Ueber Vor-
bauung der venerischen Krankheiten, Wien 1894; M. J oseph, Prophy-
laxe der Haut- und Geschlechtskrankheiten, München 1900; Neu-
berger, Die Verhütung der Geschlechtskrankheiten, München und
Berlin 1904 (S. 35—37); Felix Block, Wie schützen wir uns vor
den Geschlechtskrankheiten und ihren üblen Folgen? 2. Auflage,
Leipzig 1905; E. Boureau, Conseils pratiques à la jeunesse
pour éviter les avaries, Paris 1905 ; Suarez de Mendoza,
Conseils de prophylaxie sanitaire et morale, Paris 1906 ; der-
selbe, ABC à l’usage des mères de famille pour la défense de
leurs foyers contre les grands fléaux du XXe siècle: Tuberculose, Ava-
riose (= Syphilis), Neissérose (= Tripper), Alcoolisme, Mortalité infan-
tile, Paris 1905; derselbe, Avariose des Innocents, Paris 1905.
421
Ursachen und Ansteckungswege große Fortschritte gemacht. Wir
wissen doch jetzt das Wo und Wie, wir können persönliche
Maßregeln treffen, die uns wenigstens eine ziemlich sichere
Garantie dafür geben, daß wir uns in einem bestimmten Fall
nicht geschlechtlich anstecken werden. Es müssen da ver-
schiedene Gesichtspunkte beachtet werden, deren Zusammenwirken
erst einen Erfolg verspricht, ein einzelnes Moment verbürgt
denselben nicht.
Von allen auf dem Gebiete der Verhütung der Geschlechts-
krankheiten erfahrenen Aerzten aus älterer und neuerer Zeit
wird übereinstimmend die These aufgestellt, daß die hauptsäch-
liche und in jedem Falle unerläßliche Vorbedingung der Ver-
meidung venerischer Infektion absolute Reinlichkeit und
Sauberkeit auf beiden Seiten sei. Derjenige, welcher auf
peinlichste Sauberkeit von Körper, Kleidung und Wäsche hält,
wird auch darauf bedacht sein, jede aus einem geschlechtlichen
Verkehr akquirierte Unsauberkeit sofort zu entfernen. Rein-
lichkeit und Gesundheit sind hier oft (nicht immer) identisch.
Jedenfalls hege man das größte Mißtrauen gegen eine
evident unsaubere, das Aeußere vernachlässigende Person, was
immer ein Zeichen dafür ist, daß diese auch bezüglich des ge-
schlechtlichen Verkehrs nicht sehr wählerisch und penibel ist.
„Teutschland, geh’ ins Bad!“ rief einst Heinrich
Laube, das ist auch eine gute Devise im Kampfe gegen die
Geschlechtskrankheiten. Jede Unreinlichkeit ist ein Irritament,
schädigt die Intaktheit der Haut, besonders jede Unreinlichkeit
an den Geschlechtsteilen, vor allem den männlichen, wo unter
der Vorhaut sich oft das „Smegma“, der Vorhauttalg, zersetzt
und eine die Infektion sehr begünstigende Entzündung, die so-
genannte „Balanitis“ oder den „*Eicheltripper“, hervor-
ruft.3) Ist die Vorhaut durch die Beschneidung entfernt worden,
so hört damit auch jene Absonderung auf und die Eichelschleim-
haut wandelt sich in eine derbe, allen Reizen und Infektions-
erregern weit weniger zugängliche Haut um. Es ist kein Zweifel,
daß die Beschneidung bis zu einem gewissen Grade ein Schutz-
mittel gegen die syphilitische Ansteckung ist, während sie freilich
gegen Tripper nicht schützt. Neustätter hat kürzlich einige
3) Vgl. auch die beherzigenswerten Ausführungen von Robert
Hessen, Reinlichkeit oder Sittlichkeit? In: „Die Zukunft“ vom
9. Juni 1906, S. 367—377. (Auch Separatdruck, München 1906.)
422
hierauf bezügliche Tatsachen zusammengestellt.4) U. a. hat
Breitenstein 15000 eingeborene beschnittene und 18000
europäische unbeschnittene Soldaten der holländisch-indischen
Armee gegenübergestellt, die unter gleichen örtlichen, sozialen
und hygienischen Verhältnissen lebten. Von ihnen erkrankten
nun im Jahre 1895: an Geschlechtskrankheiten im allgemeinen
16 o/o von den beschnittenen, 41 o/0 von den unbeschnittenen
Soldaten! An Syphilis 0,8 o/o von den ersteren, dagegen 4,1 o/0,
also fünfmal so viel, von den letzteren. Aehnliehe Beobachtungen
machte der berühmte englische Syphilidologe Jonathan Hut-
chinson, einer der wärmsten Befürworter der allgemeinen Ein-
führung der Beschneidung als Schutzmittel gegen venerische,
speziell syphilitische Infektion. Uebrigens liegt das nicht etwa
an der Kasse, man hat auch bei wegen Pliimose und anderen
Leiden beschnittenen Christen, deren Zahl eine nicht geringe ist,
dieselbe Beobachtung gemacht.
Da nun die Beschneidung als allgemeine, prophylaktische
Maßregel voraussichtlich sich nicht einbürgem wird, so bleibt
nur übrig, den Grundsatz der möglichst täglichen vorsichtigen
und zarten Keinigung des Vorhautsackes nachdrücklich zu emp-
fehlen. Hierdurch wird Entzündung und Wundwerden dieser
Partie am wirksamsten verhütet und zugleich auch ohne Be-
schneidung eine gewisse Widerstandsfähigkeit erzielt. Man
bediene sich für die Waschungen am zweckmäßigsten lauwarmen,
abgekochten Wassers. Dabei trockne man vorsichtig ab, um
die Haut nicht „aufzureiben“. Auch für die Frau sind
häufige Waschungen der äußeren Geschlechtsteile und Scheiden-
spülungen von größter Bedeutung bezüglich der Verhütung einer
venerischen Infektion. Vor und nach dem Akte sind diese Maß-
nahmen besonders wichtig, weil man oft rein mechanisch
dadurch gewisse eben übertragene Infektionsstoffe entfernt. Dem-
selben Zweck dient das Urinieren, das ganz gewiß geeignet
ist, z. B. etwaigen in die Harnröhre eingedrungenen Trippereiter
wieder hinaus zu befördern, bevor die Gonokokken Zeit hatten,
sich in die Schleimhaut festzusetzen. Ich kenne eine Reihe
von Patienten, die keine anderen Schutzmaß-
regeln beim Geschlechtsverkehr trafen, als die *)
*) Otto Neustätter, Die öffentliche .Ankündigung der Schutz-
mittel in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,
Leipzig 1905, Bd. IV, Heft 3, S. 225—227.
423
Beobachtung äußerster Reinlichkeit durch
Waschungen und Spülungen bei Mann und Frau
vor und nach dem Akte, sowie durch Urinieren, und dann frei
von Infektion blieben, aber fast immer sich eine solche zuzogen,
sobald sie diese einfachen Maßnahmen unter-
ließen.
Deshalb können dieselben, womöglich Unter Zuhilfenahme der
stets eine gewisse antiseptische Wirkung ausübenden Seife,
nicht warm genug empfohlen werden, trotzdem sie natürlich
keine absolut sicheren Schutzmaßregeln darstellen. Sie
haben aber den Vorteil, daß man sie erstens immer dann an-
wenden kann, wenn die weiter unten zu besprechenden eigent-
lichen „Schutzmittel“ nicht zu Gebote stehen, und daß sie zweitens
stets auch mit diesen zugleich angewendet werden können. Es
klingt etwas zynisch, ist aber wahr, wenn man sagt: Waschen
und Urinieren sind die erste und wichtigste Schutz-
maßregel gegen geschlechtliche Ansteckung.
Ein zweiter Punkt, der hier als wesentlich in Betracht kommt,
betrifft die Herrschaft über sich selbst vor und bei dem
geschlechtlichen Akte, wenn man von der sexuellen Erregung
selbst absieht, die ja immer die Zurechnungsfähigkeit vermindert
und Vernunft und Verstand beiseite schiebt. Aber doch sollte
niemand im Zustande des Alkoholrausches den Bei-
schlaf vollziehen, wo er ganz und gar die Kontrolle über
sich verliert und wo die Folgen oft so verhängnisvolle sind,
wie sie bereits oben (S. 327—328) geschildert worden sind. Ferner
will Liebe zwar das Dunkel, die Vorsicht aber das Sonnen-
licht. Jeder sollte eine ihm hinsichtlich des Gesundheitszustandes
fremde Person einmal erst im hellen Tageslichte anschauen, ehe
er sich auf einen Geschlechtsverkehr mit ihr einläßt. Verdächtige
Flecke auf der Haut, besonders an der Stirn, am Rumpfe, weiße
Stellen an den Lippen, an der Zunge, am Halse und Nacken,
sichtbare Drüsenschwellungen, starker Ausfluß aus den Ge-
schlechtsteilen, wunde Stellen an denselben usw. sind unbedingt
verdächtig und Veranlassung zur Zurückhaltung vom intimeren
Verkehr. Französische Aerzte empfehlen sogar die Untersuchung
der Leisten- und Halsdrüsen unter der harmlosen Form von
Liebkosungen. Doch dürften Laien selten die Uebung besitzen,
nicht besonders ausgeprägte Drüsenschwellungen zu entdecken.
Besonders die Vergrößerung der Halsdrüsen, dieser „Puls der
m
Syphilis“, wie Alfred Foürnier sagt, ist ein ziemlich sicheres
Kennzeichen der Syphilis.
Gefährlich ist auch unter Umständen mehrfache Aus-
übung des Beischlafes rasch hintereinander, weil eine alte Er-
fahrung gelehrt hat, daß etwaige Infektionsstoffe erst beim
zweiten oder dritten Koitus zutage treten und erst dann infizieren.
Das erklärt auch die oft beobachtete Tatsache, daß beim Ver-
kehr einer (nota bene kranken) Frau mit zwei gesunden Männern
oft der erste gesund bleibt, der zweite infiziert wird.
Ich gehe jetzt zu den speziellen Schutzmitteln
über, die man seit langer Zeit zur Verhütung venerischer An-
steckung empfohlen hat.
1. Der Condom (Präservativ). Er ist das älteste
und noch heute ohne Frage das beste und zuverlässigste
künstliche Schutzmittel. Schon im Altertum gebraucht, wurde er
im 16. Jahrhundert von dem italienischen Arzte Fallopia
wieder empfohlen, ist also nicht eine Erfindung eines Arztes
„Conton“, nach dem er angeblich benannt sein soll, eher schon
hängt er vielleicht mit der französischen Stadt „Condom“ zu-
sammen. Hans Ferdy (A. Meyerhof) vermutet, daß das
Wort aus „condus“ — derjenige, der etwas verwahrt, ver-
derbt sei, und daß es eigentlich heißen müsse: der „Condus“
statt der „Condom“.* 5)
Der Condom ist eine Schutzhülle, mit der das männliche
Glied vor dem Beischlafe bedeckt wird. Man unterscheidet den
aus Gummi, Guttapercha, Kautschuk hergestellten „Gummi-
condom“ und den aus der Coecalschleimhaut von Ziegen oder
Schafen fabrizierten „C oeca 1“- oder (irrtümlich) „Fisch-
blasencondo m“. Letzterer ist dünner, zarter, stumpft die
Empfindung weniger ab als der Gummicondom. Dieser letztere
ist aber bezüglich der Haltbarkeit und Zerreißbarkeit zuver-
lässiger, wenn man die kleine Vorsichtsmaßregel nicht außer
acht läßt, ihn kühl aufzubewahren und vor längerer Einwirkung
der Wärme zu schützen. Die Gewohnheit, die Gummicondome
längere Zeit in der Tasche bei sich zu tragen, begünstigt ihr
schnelles Undichtwerden und ihre Brüchigkeit. Der Fischblasen-
condom dagegen wird sehr leicht rissig und undicht, obgleich
6) H. Ferdy, Zur Geschichte des Coecal-Condoms in: Zeit-
schrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1905, Bd. III, Heft 4,
S. 144—147.
425
gewöhnlich, das Gegenteil behauptet wird, und man ihn dem
Gummicondom vorzieht, im Glauben, daß das Teure auch das
Bessere sei. Ueberhaupt ist die Reklame auf diesem Gebiete sehr
tätig und preist alle möglichen Spezialitäten an. In England
wurden sogar Condome mit — Porträts, z. B. Gladston'es
und anderer hochgestellter Personen vertrieben!
Der Condom ist ein „Gesamtschutzmitte 1“, d. h. er
schützt gegen Tripper und Syphilis, soweit letztere, was am
häufigsten ist, von den Geschlechtsteilen aus übertragen wird.
Alle hervorragenden Spezialisten für Geschlechtskrankheiten sind
darin einig, daß er bei guter Qualität, richtiger Anwendung,
Vorsicht beim Abstreifen, wo sehr leicht an der Außenseite
haftende infektiöse Stoffe noch nachträglich anstecken können,
das allerbeste und sicherste Mittel von allen weiter anzu-
führenden Prophylactica ist. Er ist freilich nur bei Männern
anwendbar, schützt aber gleichzeitig auch die Erau sicher vor
Tripperansteckung, nicht selten auch vor syphilitischer Infektion.
2. Einträufelung von Silbersalzlösungen (In-
stillatione n).6) — Sie dienen ausschließlich zur Verhütung des
Trippers, sind also kein Geesamtschutzmittel. Ihre Einführung
verdanken wir Blokusewski, der 2 o/o i g e Höllenstein -
1 ö s u n g empfahl, später haben sich die Silbereiweißlösungen
mehr eingebürgert, wie das Protargol in 10—20 %iger, Al-
b arg in in 4—10 %iger Lösung oder eine Lösung von 20 o/oiger
Protargolgelatine. Diese Lösungen kommen in Tropfgläschen, z. B.
als „Sanitas“ (Höllenstein) von Blokusewski, „Viro“ oder
„Phallokos“apparate mit Protargol in den Handel, müssen dunkel
aufbewahrt und nach längerer Zeit durch frische Lösung ersetzt
werden, da sie mit der Zeit unwirksam werden. Man träufelt
sofort nach dem Beischlaf nach vorherigem Urinieren ein oder
zwei Tropfen in die Harnröhre und läßt einen Tropfen außen
am Bändchen entlang laufen.7) Die Anschauungen über den Schutz-
6) Vgl. dazu die ganz vortreffliche, durch kritischen Geist ausge-
zeichnete Abhandlung von R. de Campagnolle, Ueber den Wert
der modernen Instillationsprophy laxe der Gonorrhöe, in: Zeitschrift
für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1904, Bd. III, No. 1—4,
S. 1—31, S. 51—115, S. 148 (mit vollständiger Literatur).
7) An Stelle der Lösungen empfiehlt Cronquist („Beitrag zur
persönlichen Prophylaxe gegen die Gonorrhöe“ in: Medizin. Klinik 1906,
No. 10) Stäbchen auf festem, bei Körperwärme schmelzendem Albar-
g i n , bis zu 2 o/o enthaltend (unter dem Namen ,,A n t i g o n“ - Stäbchen
-
426
wert dieses Verfahrens sind geteilt. So sicher wie der Condom
ist dasselbe nicht. Es sind Infektionen trotz Einträufelung beob-
achtet worden. Vor allem aber zieht die gewohnheitsmäßige An-
Wendung unangenehme Reizerscheinungen in der Harn-
röhre nach sich, die eine katarrhalische Entzündung
zur Folge haben imd so oft erst künstlich die Neigung zur
Infektion vergrößern. Man sollte also diese Einträufelungen nur
gelegentlich an wenden, gewohnheitsmäßig nur den
Condom.
3. Fetteinreibungen. — Während die Einträufelungen
chemischer Lösungen einseitig nur der Tripperverhütung dienen,
schützt die seit langer Zeit empfohlene Einfettung des Gliedes
mit einfachem Fett oder antiseptischen bezw. spezifischen Salben
vor oder nach dem Beischlafe nur gegen Syphilis. Es ist klar,
daß eine das Glied bedeckende Fettschicht schon rein mechanisch
das Eindringen von Infektionsstoffen in die Haut verhindert,
es ist aber ebenso klar, daß durch die Bewegung und Beibung
bei der Begattung, besonders bei längerer Dauer derselben, dieser
Fettüberzug wieder ab gestreift und entfernt wird, und so doch
das Gift noch eine Eintrittspforte finden kann. Der Schutz ist
nur ein sehr relativer. Doch berichten Autoren wie N e .i ß e r,
Max Joseph, Loeb, Campagnolle über günstige Er-
fahrungen bezüglich der Syphilisverhütung mit dem Einfetten
des Gliedes, wozu am besten einfache Vaseline oder auch der
Schleich sehe W achsseif encreme, der dem Viroapparat beige-
geben ist, zu benutzen sind. In jedem Falle ist diese Methode
besser als gar nichts. Wer kein anderes Schutzmittel bei sich
hat, soll sich ihrer erinnern, zumal da wohl stets in der Wohnung
irgend ein dafür brauchbares Fett oder Salbe vorhanden ist.
Um gleichzeitig durch dieses Mittel auch den Tripper zu
verhüten, hat man die Einspritzung antiseptischer Salben in die
Harnröhre vor dem Akte empfohlen, eine umständliche und
ünsichere Methode.
Sehr bemerkenswert ist aber die neuerdings von Metschni-
k o f f8) empfohlene Einreibung einer spezifischen Queck-
im Handel). Der Hauptvorteil gegenüber den Lösungen soll die große
Haltbarkeit der Stäbchen sein. Sie werden nach dem Koitus in die
Harnröhre eingeführt.
8) Denselben Gedanken hatten übrigens schon vorher in Deutsch-
land Eduard Bichies und S, Eehrmann ausgesprochen-
427
silbersalbe nach dem Beischlafe zur Vernichtung des etwa
eingedrungenen syphilitischen Virus.9 *) Er benutzte dazu nicht
die stark reizende „graue“ Salbe, sondern weiße Präzipitat-
salbe, Salbe von salizyl-arsenigsaurem Queck-
silber (Enesol) und vor allem 30 %ige Kalomelsalbe,
nach jedem verdächtigen Koitus soll dieselbe 4—5 Minuten lang
am Orte der möglichen Infektion eingerieben werden, möglichst
sofort, es ist aber auch noch eine Wirkung nach 18—24 Stunden
beobachtet worden. Die Versuche an mit Syphilis geimpften
Affen fielen positiv aus, auch an einem Studenten der Medizin,
der sich selbst freiwillig der Impfung mit dem Syphilisgift unter-
zogen hatte, scheint die Einreibung mit Kalomelsalbe den Aus-
bruch der Krankheit verhindert zu haben.
Jedenfalls beansprucht diese neue Methode
der Syphilisprophylaxe die größte Beachtung.
Weitere Erfahrungen müssen ergeben, ob sie eine allgemeinere
Anwendung verdient.
4. Antiseptische Waschungen. — Die Waschungen
des Gliedes und Scheidenspiilungen mit antiseptischen Lösungen
(Sublimat, Lysol, übermangansaures Kalium usw.) nach dem
Akte gehören zu den unsicheren Schutzmitteln, weil das Sublimat
usw. in etwaige Itisse nicht eindringt, da infolge der stärkeren
Absonderung der Talgdrüsen der männlichen und weiblichen
Geschlechtsorgane dieselben mit einer Fettschicht überzogen
werden, die das Eindringen wässriger Flüssigkeiten verhindert,
nicht aber in demselben Grade dasjenige des syphilitischen
Giftes. Antiseptische Waschungen nach dem Akte haben des-
halb geringeren Wert als solche vor demselben.
Die Kenntnis der Schutzmittel, vor allem der unter 1, 2
und 3 genannten, sollte eine viel allgemeinere sein als sie bisher
ist. Leider betrachtet man sie aber im öffentlichen Leben viel-
fach noch vom Standpunkte des Moralisten als „unzüchtige“
Mittel und das Strafgesetz reiht sie bisher noch in diese Bubrik
ein, so daß ihrer öffentlichen Ankündigung und Ver-
breitung noch große Hindernisse entgegenstehen.
9) E. Metschnikoff, Ueber Syphilisprophylaxe in: Medizi-
nische Klinik 1906, No. 15, S. 372—373. — Ygl. dazu ferner Paul
Maisonneuve, Expérimentation sur la prophylaxie de la syphilis,
Paris 1906; A. Neißer, Die experimentelle Syphilisfor3chung, Berlin
imt & 81—83.
428
Auf dem im März 1905 in München abgehaltenen zweiten
Kongreß der D. G. z. B. d. G. wurde die Frage der öffentlichen
Ankündigung der Schutzmittel auf die Tagesordnung gesetzt und
in zwei ausgezeichneten Referaten von Otto Neustätter10)
und Georg Bernhar d11) erörtert. Bernhard möchte dem
§ 184 Absatz 3 des Strafgesetzbuches, der denjenigen mit Strafe
bedroht, der „Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauch bestimmt
sind, ausstellt, oder solche Gegenstände dem Publikum ankündigt
oder anpreist“, eine Legaldefinition beifügen des Wort-
lauts : Gegenstände, die lediglich der Ansteckungs-
gefahr oder der Konzeption Vorbeugen sollen,
gelten nicht als zu „unzüchtigem Gebrauch be-
stimmt,“ und Neustätter plädiert für eine Aenderung
des bestehenden gesetzlichen Zustandes, dahin-
gehend, daß die öffentliche Ankündigung der zur Vor-
beugung und Heilung von.Geschlechtskrankheiten
dienenden Mittel unter gewissen Vorsichtsmaßregeln
gegen Ausbeutung oder Irreführung freigegeben wird.
Hie Regelung der Ankündigung erfolgt am besten im Zu-
sammenhang mit der notwendigen Ordnung der
Ankündigung von Heil- und Schutzmitteln im
allgemeinen. Ein Reichsgesetz müßte einer obersten
Sanitätsbehörde, etwa dem Kaiserlichen Gesundheitsamte,
die Befugnis einräumen, derartige Ankündigungen nach
Prüfung auf Inhalt und Form zuzulassen.
Eine andere strafrechtliche Beziehung der Prophylaxe der
Geschlechtskrankheiten betrifft den strafrechtlichen
Schutz gegen geschlechtliche Ansteckung. Franz
v. Liszt,* 12) v. Bar13) und SchmöldeH4) haben diese juristisch-
i°) 0. Neustätter, Die öffentliche Ankündigung der Schutz-
mittel in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1905,
Bd. IV, S. 203—252.
11) G. ¿Bernhard, Strafgesetz und Schutzmittel gegen .Geschlechts-
krankheiten, ebendort, S. 253—273.
12) F. v. Liszt, Der strafrechtliche Schutz gegen Gesundheits-
gefährdung durch Geschlechtskranke in: Zeitschrift für Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten 1903, Bd. I, S. 1—25.
13) von Bar, Gutachten betreffend den Erlaß eines besonderen
Strafgesetzes gegen schuldhafte venerische Infektion, ebendas. S. 64—72.
u) R. S c h m ö 1 d e r , Strafrechtliche und zivilrechtliche Bedeutung
der Geschlechtskrankheiten, ebendaselbst S. 73—98. — Diskussion über
diese Referate S. 99—106.
429
kriminelle Seite der Verhütung der Geschlechtskrankheiten auf
dem ersten Kongresse der D. G. z. B. d. G. in Frankfurt a. M.
(1903) erörtert.
Bisher konnte die fahrlässige oder bewußte Uebertragung
einer Geschlechtskrankheit nur als Körperverletzung bestraft
werden, da im Strafgesetzbuch ein einschlägiger Paragraph fehlt.
Nur im ol denburgischen Strafgesetzbuch von 1814 hat man
diesen Fall bereits ausdrücklich vorgesehen (Art. 387) und b e-
straft sogar den Beischlaf einer infizierten Per-
son mit einer gesunden ohne Rücksicht auf die
erfolgte Ansteckung. In außerdeutschen Gesetzgebungen
findet sich die Bestrafung der wissentlichen Uebertragung der
Venerie durch Beischlaf mehrfach. In Deutschland wurde sie
vom Reichstage 1900 abgelehnt, v. Liszt schlug Einfügung
des folgenden Paragraphen in das Strafgesetzbuch vor:
„Wer wissend, daß er an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit
leidet, den Beischlaf ansübt oder auf andere Weise einen Menschen
der Gefahr der Ansteckung aussetzt, wird mit Gefängnis bis zu zwei
Jahren bestraft, neben welchem auf Verlust der bürgerlichen Ehren-
rechte erkannt werden kann.
Ist die Handlung von einem Ehegatten gegen den anderen be-
gangen, so tritt die Verfolgung nur auf Antrag ein.“
Schmölder ergänzt diese Fassung noch durch einen Absatz,
betreffend die Bestrafung der mit Geschlechtskrankheiten be-
hafteten Prostituierten.
Demgegenüber hat v. Bar auf die Unzuträglichkeiten und
Gefahren hingewiesen, die diese Strafbestimmungen mit sich
bringen, besonders auf die Gefahr der Erpressungen und
der Nötigung der Aerzte zur Preisgebung des ärztlichen
Geheimnisses. Auch ist der Nachweis des Wissens um die
Geschlechtskrankheit nur schwer zu erbringen, ebenso der-
jenige der Uebertragung von einer bestimmten Person aus.
v. Bar spricht sich aus diesen und anderen Gründen entschieden
gegen einen solchen Strafparagraphen aus. In der Diskussion
über die Referate wurden diese Bedenken von C. Frankel,
Ries, Oppenheimer u. a. geteilt, Neißer trat für eine
solche Strafbestimmung ein, weil dann diese Handlungen öffent-
lich als schwer strafbare und ehrenrührige gekenn-
zeichnet würden und so durch die bloße Existenz des Paragraphen
ein erziehlicher Einfluß ausgeübt würde.
430
Jedenfalls ist eine solche Strafbestimmung eine zweischneidige
Sache und wir kommen vorläufig mit dem auf solche Fälle an-
wendbaren Körperverletzungsparagraphen des Strafgesetzbuches
aus.
.Das zweite große Mittel zur Eindämmung und gänzlichen
Ausrottung der Geschlechtskrankheiten ist ihre Beseiti-
gung durch die ärztliche Behandlung, die Ver-
stopfung zahlreicher Infektionsquellen durch die Vernichtung
der an den Individuen haftenden Erreger der
Syphilis und des Trippers. Die systematische,
methodische Behandlung im großen, das ist das zu er-
strebende Ziel. Auch dem ärmsten Venerischen werde sie in
derselben ausgiebigen Weise zuteil wie dem reichen Lebemanne.
Es kann nicht genug Gelegenheiten zur Behandlung der
Geschlechtskrankheiten geben, in öffentlichen Hospitälern und
privaten Kliniken, in Ambulatorien und Sanatorien, in Rekon-
valeszentenheimen und Prostituiertenpolikliniken, überall muß
Gelegenheit geschaffen werden für eine zielbewußte, ausdauernde
antivenerische Therapie. Wie die Tuberkulose jetzt systematisch,
im großen bekämpft wird, so sei es auch mit den Geschlechts-
krankheiten.
Da die Syphilis nur etwa 25%, d. h. nur den vierten
Teil der Geschlechtskrankheiten ausmacht, da sie überhaupt seit
vier Jahrhunderten eine natürliche Tendenz zur Abnahme zeigt,
auch eine Abschwächung des Giftes deutlich erkennen läßt, so
ist hier die Aussicht auf radikalen Erfolg am
größten.
Unsere Vorfahren haben uns einen großen Teil des
Kampfes gegen die Syphilis abgenommen. Das bezeugt der
relativ milde Verlauf der Syphilis in den meisten unkom-
plizierten Fällen, der auf eine relative Immunisierung der euro-
päischen Menschheit gegen das syphilitische Gift schließen läßt?
„Es gibt in Europa,“ sagt Albert Reibmayr,
„sicher keinen Menschen, von dessen 4000 Ahnen,
die er innerhalb der letzten vier Jahrhunderte
gehabt hat, nicht zahlreiche mit dieser Krank-
heit zu kämpfen gehabt haben, so sehr sich auch
431
das Gefühl mancher gegen diese ihm unangenehme,
aber ganz zweifellose Tatsache sträuben mag.“15)
Aber diese unzweifelhafte Tatsache, daß wir alle von
unseren Vorfahren her ein wenig „syphilisiert“ sind, kommt
dem Kampf gegen die Syphilis zugute, den unsere Zeit mit
Energie, mit freudigster Hoffnung auf Erfolg aufgenommen hat.
Allen voran der ewig jugendfrische Meister und Nestor der
europäischen Syphilisforschung, der 75jährige Alfred Four-
nier, dessen Lebensabend ganz dem Kampfe gegen die Syphilis
als „soziale Gefahr“ gewidmet ist, der den großen, unsterblichen
wissenschaftlichen Standardwerken seines Lebens jetzt die kleinen,
aber nicht minder gehaltreichen kleineren Aufklärungs-
schriften folgen läßt, die für - billigen Preis in ganz Frank-
reich verbreitet, auch zum Teil schon ins Deutsche übersetzt,
das Volk für den Kampf gegen die Syphilis gewinnen sollen.
Als ich im April 1906 dem Meister einen Besuch abstattete,
überreichte er mir die letzte dieser populären Kampfschriften.
Sie führt den fragenden und doch verheißungsvollen Titel:
En guérit-on?
Wird man geheilt?
und die auf Seite 4 gegebene zuversichtliche Antwort lautet:
„Ja, man wird geheilt.“ Denn „von allen Krank-
heiten ist die Syphilis diejenige, die am besten,
am leichtesten und sichersten geheilt wird.“ Und
warum ? Weil wir gegen sie ein wunderbares Spezifikum be-
sitzen, das zur richtigen Zeit und auf die richtige
Weise angewendet, Wunder wirkt. Dieses Mittel ist das
Quecksilber.
Ich stelle diesen Namen recht deutlich und sichtbar vor die
Augen des Lesers, einen Namen, der für jeden Arzt, der Syphilis
zü behandeln in die Lage kommt, einen wahrhaft zauberhaften
Klang hat, einen Namen, über den gewissenlose Igno-
ranten, böswillige Feinde der menschlichen Ge-
sundheit ihr Anathema ausgesprochen, in dem sich aber einem
großen Denker und ehrlichen Menschen wie Schopenhauer
15) Albert Reibmayr, Die Imtmmisienmg der Familien bei
üblichen Krankheiten (Tuberkulös©, Lues, Geistesstörungen), Leipzig
and Wien 1899, S. 17.
432
der „Triumph der Medizin“ verkörperte, wie er seihst am
eigenen Leihe erfuhr. Alle ehrlichen, kritischen und gewissen-
haften Aerzte stimmen diesem Urteile hei. Ich habe es in meinem
„Ursprünge der Syphilis“ (Bd. I, S. 127) in die "Worte gekleidet:
„Das Quecksilber ist und bleibt — trotz der der Ignoranz
und Böswilligkeit entsprungenen gegenteiligen Aussagen der
Kurpfuscher und ihrer Sippe — das göttliche Mittel gegen
die Syphilis, das für diese dasselbe bedeutet, was das Wasser
für das Feuer ist, in den Händen desjenigen Arztes,
der richtig mit ihm umzugehen weiß, es zur rechten Zeit
und in der rechten Form an wendet, den Verlauf der
Krankheit bei seinem Patienten genau beobachtet und die immer
wesentliche Quecksilberkur durch andere thrrapeutische Maß-
nahmen unterstützt.“
Nur der Arzt, der wissenschaftlich gebildete Mediziner
kann Syphilis heilen, der Kurpfuscher gewiß nicht, in dessen
Händen ist Quecksilber allerdings ein gefährliches „Gift“. Aber
er hat kein Hecht und er fälscht bewußt die "Wahrheit, wenn er
fortwährend in die Welt hinausposaunt, daß wir Aerzte die
„unglücklichen“ Syphilitiker mit Quecksilber „vergiften“. Auf
solche dreiste Anschuldigungen muß man kurz und bündig ant-
worten.
So habe ich auf meiner vorjährigen, im Auftrage der Deut-
schen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
unternommenen Vortragsreise16) auf die Angriffe der Natur-
heilkundigen von Graudenz gegen meine Ausführungen über die
Heilwirkung des Quecksilbers bei Syphilis im dortigen „Geselligen“
die folgende kurze Antwort veröffentlicht, die meines Erachtens
durchaus genügt, um den Wert und die Bedeutung der Queck-
silberbehandlung ins rechte Licht zu setzen:
1. Es ist unzählige Male von den erfahrensten
und gewissenhaftesten Aerzten beobachtet wor-
den, daß ohne Quecksilber behandelte Fälle von
Syphilis sehr traurig, mit den schlimmsten Zu-
fällen wie schweren Zerstörungen der Haut, der
inneren Organe, Gehirnsyphilis, Knochenfraß,
Verlust der Nase usw. verliefen.
iö) Vgl, Iwan Bloch, Persönliche Eindrücke von meiner dies-
jährigen Vortragsreise, in: Medizinische Klinik 1906, No. 10.
433
2. Daß in solchen vorher ohne Quecksilber
behandelten Fällen die Anwendung des letzteren
sofort dem Zerstörungsprozesse Einhalt gebietet
und den Menschen vor dem Tode oder schwerem
Siechtum und körperlicher Entstellung rettet.
3. Hat kein Geringerer als Virchow in
seiner berühmten Abhandlung „lieber die Natur
der konstitutionell-syphilitischen Affektionen“
(Berlin 1859, S. 7—14) die Hypothesen des pp. Her-
mann17) als jeder tatsächlichen Grundlage ent-
behrend zurückgewiesen.
4. Müßte ich mich selbst wegen fahrlässiger
Körperverletzung denunzieren, falls ich es heute,
nach den Erfahrungen von vier Jahrhunderten,
noch wagen wollte, eine Syphilis ohne Queck-
silber zu behandeln.
"Wozu immer wieder kämpfen gegen den Un- und Aber-
glauben, der sich an das Quecksilber heftet ? Wozu ewig dieselben
nichtigen Anschuldigungen widerlegen? Vier Jahrhunderte hat
der göttliche Merkur alle Angriffe überdauert Und wird sie
weiter überdauern, bevor nicht das ersehnte, noch bessere Mittel
gefunden ist: die prophylaktische Immunisierung
gegen die syphilitische Ansteck un g.18)
Sei es, daß man die Quecksilberkuren in Form der alten
bewährten „Schmierkur“ (Einreibungskur) oder der
„E i n s p r i t z u n g s k u r“ oder der innerlichen Behandlung
macht, stets muß sie unter ärztlicher Leitung gemacht werden,
da hier zahlreiche, nur dem Arzte erkennbare individuelle Momente
zu berücksichtigen sind. Eine Quecksilberkur ist eine ernste,
aber, das kann man mit gutem Gewissen versichern, auch dank-
bare Sache. In „En guérit-on“ hat Fournier sehr anschau-
lich die herrlichen Erfolge einer kritisch, sorgfältig
geleiteten Quecksilberkur geschildert. Freilich ich gehöre
nicht zu den „Doktoren, die sich ein Haus von purem Queck-
17) Ein fanatischer ärztlicher Quecksilberfeind ! Es gibt auch
solche Käuze. Sie sind aber seltene Vögel in der ärztlichen Welt.
18) Neuerdings hat R. Kaufmann die wissenschaftlichen An-
schauungen der Gegenwart in einer lesenswerten kleinen Abhandlung
„Ueber Quecksilber als Heilmittel“, Leipzig 1906, zusammengestellt,
die ich allen sich für die Erage Interessierenden warm empfehlen kann.
B1 6 o h , Sexaalleben. 7.—9. Anflage. 28
(41,—60. Tausend.')
434
silber bauen“, wenn sie wider die „Franzosen“ (= Syphilis) zu
Felde ziehen, wie es in Schillers „Räubern“ heißt. Ich trete
für einen vernünftigen, maßvollen Quecksilbergebraueh
im Laufe der Syphilisbehandlung und für eine gute „Nach-
behandlung“ neben der Quecksilbertherapie ein.19) Queck-
silber, nicht im Uebermaße gegeben, zerstört nicht nur das
syphilitische Gift, es beeinflußt auch das Allgemeinbefinden sehr
günstig und bewirkt bisweilen sogar eine Vermehrung der roten
Blutkörperchen. Das Quecksilber ist da nicht nur nicht ein Gift,
es ist ein herrliches Erfrischungs- und Belebungs-
mittel. Das illustriert sehr deutlich der folgende von mir beob-
achtete Fall, den ich den Herren Natur heilkundigen zur Revision
ihrer Ansichten über Quecksilberwirkung vorlege.
Es handelt sich um einen 30 jährigen Beamten, den ich schon
seit dem Jahre 1898 öfter wegen anderer Leiden (Gonorrhöe usw.)
behandelt hatte, und der, stets blaß und hohlwangig, keineswegs den
Eindruck einer sehr widerstandsfähigen Natur machte. Im Spätsommer
akquirierte derselbe eine sehr schwer verlaufende Syphilis, die u. a.
mit einer äußerst schmerzhaften, vereiternden Lympfgefäßentzündung am
Gliede kompliziert und von Fieber, starker Mattigkeit und Abgeschlagen-
heit begleitet war. Sofortige Einleitung einer energischen Schmierkur.
Unter dieser nicht nur schnelles Schwinden der Krankheitssymptome,
sondern auch eine auffällige Veränderung des Allgemeinbefindens im
Sinne einer Roboration, wie sie selbst vor der Krankheit nicht be-
standen hatte. Trotz einer leichten Mundentzündung fühlte sich der
Patient während und nach der Kur so wohl und arbeitsfrisch
wie nie zuvor, und noch heute hält dieser günstige Zu-
stand unverändert an, der sich vor allem durch die Zunahme
des Körpergewichts, durch das gute Aussehen usw. dokumentiert. Der
Patient, der jetzt, D/a Jahre nach der Kur, keinen Rückfall be-
kommen hat, erklärte mir wiederholt spontan, daß er
nur seiner Syphilis (I) bezw. der Quecksilberkur
diese erfreuliche Besserung seines Gesundheitszu-
standes zu verdanken habe.
Eine einzige Quecksilberkur ist imstande, die Syphilis für
immer zn heilen! Darüber liegen zahlreiche zuverlässige Beob-
achtungen vor. In den meisten Fällen freilich treten in den ersten
Jahren Rückfälle ein, und hier heißt es, vorsichtig mit dem
auch hier unentbehrlichen Quecksilber umgehen und alle Mittel
der vorerwähnten „Nachbehandlung“ heranziehen, von Medika-
19) Vgl. Iwan Bloch, Die Nachbehandlung der Syphilis, int
Medizinische Klinik 1905, No. 4, S. 88—91.
435
menten vor allem das Jod, den Schwefel (in den seit alter»
berühmten Schwefelbädern zu Aachen, Nenndorf usw.) und das
zuerst von mir wieder empfohlene Arsen; auch die Wasserkur,
Sol- und Jodbäder, sowie Aufenthalt an der See, im Gebirge,
die Massage sind gute Unterstützungsmittel der spezifischen Kur.
V or allem aber muß der Ernährungszustand des
Patienten20) stets im Augfe behalten und gefördert werden, wozu
Eisenpräparate, Nährpräparate wie das Sanatogen, auch Milch-
kuren von Nutzen sind. Strenge Abstinenz vom Al-
kohol ist bei jeder Syphilisbehandlung Bedingung, der Alkohol
wirkt höchst ungünstig auf den Syphilisprozeß ein und
ist oft die einzige Ursache immer wiederkehrender Rückfälle des
Leidens.
Jede gründliche Syphilisbehandlimg nimmt mehrere Jahre
in Anspruch, während welcher der Patient sich dem Arzte öfter
vorstellen und bei etwaigen Rückfällen einer erneuten Behandlung
unterziehen muß. Diese Gründlichkeit wird aber auch stets be-
lohnt. Konsequenz trägt hier die schönsten Früchte. Die
Syphilis ist heilbar. Es ist reine Phantasie, wenn man immer
sagt, die Syphilis heile niemals, sie peinige ihre Opfer bis ans
Lebensende, sie kenne keinen Pardon. Das ist nicht wahr. Laßt
eure Syphilis behandeln, richtig, gründlich behandeln, wenn
es nötig ist, Jahre hindurch, und ihr werdet von ihr befreit
werden. Syphilis, sagt Fournier, ist ein Unglück, aber ein
Unglück, das wieder gut gemacht werden kann. An dem Tage,
wo man merkt, daß man die Syphilis bekommen hat, da muß
man „kaltblütig und männlich“ die Situation betrachten und
sich sagen:
„Nun gibt es einen Kampf zwischen der Syphilis und mir.
Ans Werk also und Mut! Mut, weil die Wissenschaft mir
.versichert, daß man mit Hilfe des Quecksilbers, der
Hygiene und der Zeit auch ans Ende der Syphilis kommt
und weil sie mir die feste Zuversicht gibt, daß ich eines Tages
wieder so gesund sein werde wie einst, und dann auch das Recht
auf eine Familie, die Freiheit und das Glück erlange, Vater
zu sein!“21)
Mit diesen trostreichen Worten des größten Syphiliskenners
20) VgL Iwan Bloch, Ueber Ernährungstherapie bei Syphilis,
in: Medizinische Klinik 1905, No. 18, S. 442—446.
21 ) Alfred Eournier, En guérit-on? Paris 1906, S. 95—96.
28*
436
der Gegenwart schließe ich die Ausführungen über die Ausrottung
der Syphilis durch die Behandlung und wende mich zu der nicht
minder wichtigen Behandlung des Trippers.
Die neueren wissenschaftlichen Forschungen, besonders die
von A. N e i ß e r und E. Finger, haben erwiesen, daß der
infektiöse, durch Gonokokken hervorgerufene Harnröhrentripper
des Mannes keineswegs eine so unschuldige „Kinderkrankheit“
ist, wie man früher glaubte, sondern ein sehr ernstes, hart-
näckiges, nicht selten der besten Behandlung Widerstand leistendes
Leiden, das jahrelang bestehen bleiben kann und noch nach
Jahren ansteckungsfähig ist. Noch schlimmer verhält es
sich mit der Gonorrhöe der weiblichen Geschlechtsorgane, deren
Heilung noch schwieriger, deren Ausgänge noch verhängnisvoller
sind, wie oben bereits geschildert wurde. Wenn schon die Syphilis,
so gehört erst recht der Tripper in die Behandlung des Arztes.
Nur dieser beherrscht die wissenschaftliche Methode und sehr
komplizierte Technik der Tripperbehandlung. Nur dieser kann
die beim Tripper unerläßliche Kontrolle mit dem Mikro-
skop anstellen und die einzelnen Stadien des Prozesses durch
dieses und andere Untersuchungsmethoden genau konstatieren.
Jeder Schuster glaubt den Tripper heilen zu können, und doch
erfordert gerade dieser, beinahe noch mehr als die Syphilis, die
genaueste Kenntnis der örtlichen anatomischen und pathologischen
Verhältnisse. „Während man doch,“ sagt Blaschko mit Recht,
„eine beschädigte Uhr nie einem Bäcker, ein zerrissenes Kleid
nie einem Klempner zur Reparatur geben würde, glaubt man,
daß, um das köstlichste Gut des Menschen, die Gesundheit wieder-
herzustellen, es nicht nötig sei, sich gründliche Kenntnisse vom
menschlichen Körper, vom Wesen und von den Ursachen der Krank-
heiten anzueignen. Einem jeden, der in seinem gewöhnlichen Be-
rufe Schiffbruch gelitten, der es aber versteht, mit kräftiger
Lunge auf die sogenannte „Schulmedizin“ zu schimpfen, und seine
eigenen Erfolge gebührend anzupreisen, traut man die wunderbare
Fähigkeit zu, ohne jede Vorkenntnisse alle Leiden der Menschen
aus der Welt zu zaubern.“
Auch der Tripper ist eine heilbare Krankheit, wenn auch
oft sehr schwer heilbar. Das ersehen wir daraus, daß trotz der
enormen, die der Syphilis um ein Vielfaches übertreffenden Ver-
breitung des Trippers, doch schließlich die Mehrzahl der
tripperkranken Männer und ein großer Bruchteil der tripper-
487
kranken Frauen wieder gesund und das Leiden für immer
getilgt wird.
Die Behandlung des Trippers ist sehr mannigfaltig. Inner-
halb der ersten zwei Tage gelingt es nicht selten, ihn
durch Einspritzung starker Aetzmittel sofort zu coupieren
und den Gonokokken sogleich den Garaus zu machen. Jedenfalls
soll sich jeder Patient beim ersten Bemerken von Ausfluß, selbst
nicht eitrigem, aus der Harnröhre sofort zum Arzt begeben,
um die Natur des Leidens, das in den meisten Fällen ein echter
Tripper ist, feststellen zu lassen. Ist die Coupierung des Trippers
nicht gelungen oder nicht mehr möglich, dann lasse man zunächst
dem Schicksale seinen Lauf. Das beste ist dann, wenn die Ver-
hältnisse es gestatten, 8 bis 14tägige Bettruhe neben milder,
nicht reizender Diät, strenge Vermeidung aller
alkoholischen Getränke — letzteres übrigens während der
ganzen Dauer des Trippers —, Trinken von Bärentraubenblätter-
tee, bei heftigen Entzündungssymptomen kalte Umschläge aufs
Glied. Erst nach Ablauf der ersten stärkeren Entzündungs-
erscheinungen, bei denen durch die Reaktion der Hamröhren-
schleimhaut bereits ein großer Teil der Krankheitserreger wieder
entfernt wird, beginne man mit Einspritzungen oder Aus-
spülungen der Harnröhre, deren medikamentöse Bestandteile
wieder nur ein erfahrener Arzt, der jeden einzelnen Fall für
sich betrachtet, bestimmen kann. Ist Bettruhe nicht möglich, so
trage der Kranke ein sogenanntes „Suspensorium“ zur
Ruhigstellung der bei Tripper jederzeit arg gefährdeten Hoden,
speziell der Nebenhoden. Ergreift, was häufig vorkommt, der
Tripper den hinteren Teil der Harnröhre, oder die Blase, die
Vorsteherdrüse, oder wird er endlich chronisch, so sind wieder
besondere Behandlungsmethoden mit inneren Mitteln, mit
örtlichen Aetzungen, Massage, Dehnung, medika-
mentösen Stäbchen, Bäderbehandlung usw. nötig. —
Die Heilung erfolgt nur sehr allmählich, häufig kommen Rück-
fälle, selbst Aufhören des Ausflusses ist kein sicheres Zeichen
der Heilung, wie der immer noch trübe, gonokokkenhaltige „Fäden“
enthaltende Urin beweist. Erst wenn letzterer ganz klar und
in etwaigen Fäden bei wiederholter Untersuchung keine Tripper-
erreger mehr gefunden werden, auch* die Vorsteherdrüse, ein
Lieblingssitz der letzten Reste von Gonorrhöe, frei ist, kann die
Heilung als sicher angenommen werden. Noch schwieriger ist die
438
Feststellung derselben bei der Frau. Aber Ausdauer in der Be-
handlung und immer wiederholte Untersuchung führen auch hier
schließlich zum Ziele oder können wenigstens die Ansteckungs-
fähigkeit beseitigen.
Von größtem Werte für die Ausrottung der Geschlechts-
krankheiten durch die Behandlung ist die Erleichterung der
Behandlung für die große Masse der unbemittelten
Bevölkerung, des Proletariats. Da kommen vor allem die
Krankenkassen in Betracht. Und da ist es sehr erfreulich,
zu konstatieren, daß in den letzten Jahren die Krankenkassen
den Geschlechtskrankheiten ihre besondere Aufmerksamkeit zu-
gewendet haben, nachdem in einer Reihe ausgezeichneter Arbeiten
über die Betätigung der Krankenkassen in der Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten A. Blaschko,22) Albert Neißer,23)
R. Leder man n24) und Albert Koh n25) die Aufgabe der
Krankenkassen in dieser Beziehung beleuchtet haben. Gerade die
Krankenkassen sind in der Lage, eine genaue Statistik über ihre
Geschlechtskranken zu führen, Aufklärung durch Wort und Schrift
in weitestem Maße unter ihren Mitgliedern zu verbreiten, die
Krankenhausbehandlung und spezialärztliche Behandlung zu er-
leichtern, eventuell erkrankte Familienmitglieder der Versicherten
mit zu versorgen, regelmäßig jährlich ein- bis zweimal alle
Kassenmitglieder einer ärztlichen Untersuchung unterziehen zu
lassen, Krankheitsverhütungsvorschriften unter dieselben zu ver-
teilen. Auch die Frage des Krankengeldbezuges muß für Ge-
schlechtskranke neu geregelt werden.26) Endlich hat man in Ver-
22) A. Blaschko, Die Behandlung der Geschlechtskrankheiten
in Krankenkassen und Heilanstalten, Berlin 1890; ferner Referat für
die 2. Brüsseler Konferenz 1902.
23) A. Neißer, Krankenkassen und Bekämpfung der Geschlechts-
krankheiten, in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
1904, Bd. II, S. 161—169, 181—194, 221—247.
24) R. Ledermann, Reichen die bisherigen Bestimmungen des
Krankenversicherungsgesetzes zur Heilung von Geschlechtskrankheiten
aus? Ebendaselbst 1905, Bd. III, S. 449—463.
25) Albert Kohn, Dürfen Krankenkassen hygienische Kongresse
beschicken? Ebendaselbst 1906, Bd. V, S. 121—130.
26) Rudolf Lennhoff wies in einem am 8. Februar 1907
in "der Ortsgruppe Berlin der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten gehaltenen Yortrage über „G eschlechts-
krankheiten und soziale Gesetzgebung“ vor allem auf
die Notwendigkeit hin, noch weitere unbemittelte Volkskreise, bc-
bindung mit dem Krankenkassen wesen die Errichtung von
„Tagessanatorien“ (Neißer), „Arbeitssanatorien“
(Saalfeld), „ambulanten Behandlungsstätten“
(Ledermann) und „ftekonvaleszentenheimen“ (Stern)
für geschlechtskranke Krankenkassenmitglieder und Versicherte
empfohlen. Alle diese Einrichtungen ließen sich übrigens auch
für die große Allgemeinheit nutzbar machen.
’Welche glänzenden Resultate durch eine solche systema-
tische Behandlung möglichst aller venerischen Kranken in
dem Bereiche eines ganzen Staates erzielt werden können, beweist
die kolossale Abnahme der Zahl der Venerischen in Schweden
und Norwegen und in Bosnien, wo eine unentgeltliche Behandlung
aller solcher Kranken auf Staatskosten in die Wege geleitet wurde.
So hat denn mit Becht die planmäßige Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten, die seit wenigen Jahren in allen zivili-
sierten Staaten Europas begonnen hat, diesen Punkt einer aus-
reichenden Behandlung und baldigen Heilung der frischen
Syphilis und frischen Gonorrhöe ganz besonders) ins Auge gefaßt.
Wir kommen nunmehr zu dem dritten Faktor in der Be-
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, der wesentlich die Auf-
gaben des Staates, der sozialen Hygiene und öffent-
lichen Pädagogik umfaßt.
Die Grundlage für die staatliche Bekämpfung der Ge-
schlechtskrankheiten bildet die Kenntnis des Umfanges ihrer
Verbreitung, also eine genaue Statistik der vene-
rischen Leiden.
Diesen Weg in Deutschland zuerst betreten zu haben, ist
sonders die Dienstboten, in die Krankenversicherung einzu-
beziehen. Geschlechtskranke Dienstboten bilden, da sie heute ihr
Leiden meist verschweigen, um nicht entlassen zu werden, eine ge-
fährliche Ansteckungsquelle für die Herrschaft und deren Kinder. Daher
tut Gelegenheit zur gründlichen und raschen Behandlung der ge-
schlechtskranken Dienstboten vor allem not. Wichtig ist die Ein-
führung der noch nicht bestehenden Schweigepflicht für die Kassen-
beamten. Neuerdings hat die Landesversicherungsanstalt Berlin eine
eigene Heilanstalt für Geschlechtskranke in Lichtenberg errichtet, in
der jährlich über 400 Kranke behandelt werden.
440
wiederum daß große Verdienst von Bl a sch ko.27) Wenn wir
von der Verbreitung der Venerie in außereuropäischen Ländern,
über die er interessante Angaben macht, absehen, so liegen die
Verhältnisse in Europa so, daß die Großstädte, Industrie- und
Handelsplätze, Garnisonorte und Universitäten ziemlich stark
durchseucht, die kleineren Provinzialstädte weniger befallen, die
Landbevölkerung verhältnismäßig frei ist, mit Ausnahme der
unkultivierten Landstriche Rußlands und der Balkanstaaten, wo
die Landbevölkerung in erschreckendem Maße von Syphilis durch-
seucht ist. Eine exakte Statistik über die Verbreitung der vene-
rischen Krankheiten in den einzelnen europäischen Ländern
existiert nicht. Den besten Maßstab bilden die Erkrankungs-
ziffern der Armeen. Danach hätten Dänemark, Deutschland,
Deutsch-Oesterreich und die Schweiz die günstigsten Verhältnisse,
dann kämen Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal, Nord- und
Mittelitalien. Am ungünstigsten wären die Verhältnisse in Süd-
italien, Griechenland, Türkei; Rußland und — England. Die
Armeestatistik reicht aber nicht aus, denn tatsächlich ist Eng-
land bezüglich der Verbreitung der Venerie mit am günstigsten
gestellt. Die exaktesten Angaben stammen aus den skandinavischen
Ländern, Norwegen und Dänemark, in denen seit Jahren sämt-
liche Aerzte eine Liste der von ihnen behandelten Fälle von
Infektionskrankheiten zu führen und allwöchentlich dem
Gesundheitsamte einzureichen haben. Danach beträgt die Venerie
in Kopenhagen das Vielfache der Geschlechtskrankheiten in der
Provinz, sie hat aber auch von 1876—1895 in Kopenhagen be-
deutend abgenommen, und zwar sind alle Geschlechtskrank-
heiten an dieser Abnahme beteiligt, die Gonorrhöe beträgt fast
70 Prozent aller Geschlechtskrankheiten. Was die Ver-
breitung der Ansteckung betrifft, so bildet nach der Kopenhagener
Statistik eine venerische Frau einen Ansteckungsherd für vier
Männer, von vier venerischen Männern dagegen verbreitet nur
einer die Eirankheit auf eine Frau weiter. Es erkranken durch-
schnittlich jährlich 16—20 o/o aller jungen Leute zwischen 20 bis
30 Jahren, an Gonorrhöe von 8 einer, an Syphilis von 55 einer.
In diesen zehn Jahren infizieren sich mit Gonorrhöe 100 : 119,
27) A. Blaschko, Die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten,
in: Hygiene der Prostitution und der venerischen Krankheiten, Jena
1900, S. 19—36.
441
d. K. jeder durchschnittlich einmal, manche mehr-
fach, an Syphilis 18 oder einer von 5,5.
Besonderen Wert haben auch die Zahlen, die Blaschko
1898 aus den sorgfältig geführten Büchern einer großen, über
ganz Deutschland verbreiteten kaufmännischen Krankenkasse ge-
wonnen hat, ferner die Enquete über die Venerie bei Arbeitern,
Kellnerinnen (geheime Prostitution) und Studenten. Das Resultat
dieser Statistik für Berlin veranschaulicht folgende Uebersicht:
Geh Prostitution 30 0/ Geh. Prostitution
WÜHPÜÜW Studenten »•/.
8flüWI Kaufleute 16%
itlSStl Pili® Arbeiter 9%
m m Soldaten 4%
Venerische Krankheiten in den verschiedenen Volksschichten Berlins
(nach Blaschko).
Danach ist die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten unter
Kaufleuten, Studenten und der geheimen Prosti-
tution, vorzugsweise den Kellnerinnen, am größten, viel
geringer unter Arbeitern und Soldaten. Es ergab sich
ferner aus der Enquete Blaschkos, daß von den Männern,
die über 30 Jahre alt in die Ehe treten, jeder
zweimal Gonorrhöe gehabt und jeder vierte und
fünfte syphilitisch war. Zu den gleichen Zahlen ge-
langte Wilhelm Erb in Heidelberg.
Noch bedeutsamer waren die Ergebnisse einer Statistik, die
von seiten des preußischen Kultusministeriums am 30. April 1900
für das gesamte Königreich Preußen erhoben wurde.28)
28) Die Verbreitung der venerischen Krankheiten in Preußen sowie
die Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Krankheiten usw., bearbeitet von
A. Guttstadt, Berlin 1901 (Zeitschrift des Kgl. Preußischen Sta-
tistischen Bureaus. Ergänzungsheft XX.)
442
Danach wurden an diesem Tage in Preußen 41 OÖO Geschlechts-
kranke, darunter 11 000 mit frischer Syphilis behandelt, in
Berlin 11600, darunter 3000 frische Syphilitische. Die Ver-
teilung im einzelnen ersieht man aus beifolgendem Schema:
Venerische Krankheiten in der männlichen Bevölkerung Preußens am
30. April 1900 (nach Blaschko).
Auf 10000 erwachsene Männer kamen also an diesem Tage
in Berlin 142, in den übrigen Großstädten 100, in den kleinen
und Mittelstädten 50 und in ganz Preußen durchschnittlich
28 Geschlechtskranke. Natürlich sind diese Zahlen in Wirklich-
keit größer, da nur 63°/o der Aerzte auf die Umfrage antworteten
und auch die jährliche Erkrankungsziffer sicher eine sehr
viel größere ist. Kirchner29) nimmt denn auch an, daß in
Preußen täglich mehr als 100 000 Menschen, d. h.
etwa 3 von je 1000 Köpfen, an einer übertragbaren Geschlechts-
krankheit leiden, und er veranschlagt die Schädigung des National-
vermögens durch den Typhus auf etwa 8 Millionen Mark jähr-
lich, die durch die Geschlechtskrankheiten aber auf mindestens
90 Millionen Mark jährlich.
Der Anteil der M ä n n e r an der Krankheitsziffer des 30. April
1900 betrug 75°/o, der der Frauen 25%.
Für eine genaue Feststellung der Verbreitung der Venerie
und Zahl der Geschlechtskranken ist von größter Wichtigkeit
eine Neuregelung der ärztlichen Meldepflicht und
29) M. Kirchner, Die soziale Bedeutung der Geschlechtskrank-
heiten, a. a. O., S. 26.
413
Verse liwiegenheits -Verpflicht u n g80) gegenüber öffent-
lichen Behörden. Letztere ist auch noch hinsichlich der Ver-
hinderung venerischer Ansteckung in der Ehe usw. von Bedeutung.
Neben der Frage der Verbreitung und Frequenz der Ge-
schlechtskrankheiten beansprucht diejenige nach den gefähr-
lichsten Infektionsquellen das größte Interesse im
Kampfe gegen die Venerie, d. h. die Frage, wo sich Männer und
Frauen am häufigsten ihre Geschlechtskrankheit holen.
Auch da hat Bla sch ko interessante Ermittlungen ange-
stellt, die u. a. folgendes ergaben:
Von 437 syphilitischen Männern holten sich ihre Krankheit
395 (81.1 o/o) bei gewerbsmäßigen Prostituierten (offiziellen
eingeschriebenen und geheimen),
23 (4,7%) bei Kellnerinnen,
23 (4,9%) bei ihrem „Verhältnis“,
45 (9,2%) bei gelegentlichen Bekanntschaften, Ladenmäd-
chen, Arbeiterinnen.
Danach bildet also die Prostitution, öffentliche und
geheime (zu der auch noch die ,,Kellnerinnen“ und „gelegent-
lichen Bekanntschaften“ gezählt werden könnten), den Haupt-
herd der geschlechtlichen Ansteckung.
Und daß der wilde Geschlechtsverkehr hier fast aus-
schließlich anzuschuldigen ist, beweist folgende Statistik
Blaschkos:
Von 67 syphilitischen Ehefrauen, fast alles Arbeiterfrauen,
wurden 64 von ihren Männern angesteckt, während u m g e - * S.
30) YgL C kotzen und Simonson, Meldepflicht und Ver-
schwiegenheits-Verpflichtung des Arztes bei Geschlechtskrankheiten,
in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1904, Bd. II,
S. 433—474; A. N e i ß e r, Abänderung des § 300 des Reichs-Straf-
gesetzbuches und ärztliches Anzeigerecht in ihrer Bedeutung für die
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, ebendaselbst 1905, Bd. IV, S. 1
bis 28; Bernstein, Aerztliches Berufsgeheimnis und Geschlechts-
krankheiten, ibidem S. 29—31; M. El e s c h , Das ärztliche Berufs-
geheimnis und die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten; ibidem
S. 32—61; Magnus Möller, Ueber die Verschwiegenheitspflicht
des Arztes, über Meldepflicht bzw. Melderecht und über die Ermitte-
lung der Ansteckungsquelle bei ansteckenden Geschlechtskrank-
heiten, ibidem 1906, Bd. V, S. 241—258, 283—301; Ludwig Ben-
dix, Zur Verschwiegenheitspflicht der Aerzte, ibidem 1906, S. 372
bis 376.
444
kehrt von 106 Ehemännern nur 7 die Erkrankung sich von
ihrer Frau zugezogen hatten, die anderen 99 durch außer-
ehelichen Geschlechtsverkehr vor und nach der Ver-
heiratung.
Eine andere sehr lehrreiche Statistik über die Infektions-
quellen veröffentlichte Heinrich Loeb.31) Sie betrifft die
Verhältnisse in Mannheim. Danach wurden als Infektionsquellen
angegeben:
Kellnerin, Büfettdame, 155 mal
Dienstmädchen, Köchin 67 >>
Ladnerin 65 ?
Bürgermädchen, Haustochtei 29 ?»
Näherin, Stickerin 27 ??
Zimmermädchen 20
Fabrikarbeiterin 17
Künstlerin, Sängerin, Balletteuse 16 55
Eigene Ehefrau resp. Braut 12 >>
Schneiderin, Modistin 11 ??
Büglerin 9 5?
Buchhalterin 4 ??
."Witwe 4 55
Landmädchen 3 55
Maitresse 3 55
Summa 442
Hier spielt, wie man sieht, der Haupttypus der geheimen
Prostitution, die Kellnerin, die größte Rolle, danach folgen
in weitem Abstande Dienst- und Ladenmädchen. Hiermit ist aber
nicht gesagt, daß die öffentliche Prostitution ungefährlicher sei,
wir wissen, daß eine niemals geschlechtskrank gewesene Prosti-
tuierte eine „Sehenswürdigkeit“ ist (H. Berger), daß auch die
reglementierten Prostituierten fast alle, besonders in jugendlichem
Alter, infektiös sind und in gleichem Maße wie die geheime
Prostitution zur Verbreitung der Venerie beitragen. Es ist eine
alte Tatsache, daß die jugendlichen Prostituierten gefähr-
licher sind als alte ausgediente Dirnen, weil sie alle mehr
oder weniger frisch erkrankt sind und sowohl Syphilis als auch
3l) H. Loeb, Statistisches über Geschlechtskrankheiten in Mann-
heim; in: Zeitschrift für Bekämpfung- der Geschlechtskrankheiten 1904,
Bd. II, S. 97—98.
445
Gonorrhöe bei ihnen noch in den ansteckenden Stadien sich be-
finden. H. Berger meint auf Grund statistischer Erhebungen,32)
daß die das zarteste Epithel besitzenden rothaarigen Mädchen
am schnellsten und meisten erkranken, die Schwarzen im Beginn
am wenigsten; später bestehe zwischen blond, braun und schwarz
kein wesentlicher Unterschied mehr. Aber die Schwarzen neigten
später mehr zur Infektion, weil sie stärker begehrt werden.
Nachdem wir gesehen haben, daß heute immer noch die
Prostitution die Hauptrolle bei der venerischen Infektion
spielt, drängt sich an dieser Stelle die Erage auf, was kann
der Staat tun, um diese Quelle zu verstopfen, und
haben die Maßregeln, die er bisher dagegen er-
griffen hat, irgend welchen Nutzen in dieser Be-
ziehung gehabt? Kurz, welche Bolle spielt die bisher
übliche staatliche Reglementierung der Prostitution im
Kampfe gegen die Geschlechtskrankheiten?
Mit Schmölder33) verstehen wir unter „Beglementierung“
das folgende in der Mehrzahl der Kulturstaaten übliche Ver-
fahren. Die Polizei führt eine Liste, in die die von ihr für
Prostituierte gehaltenen Mädchen und Frauen eingetragen werden.
Die „eingeschriebenen“ („inscrites“) erhalten die „licentia stupri“
d. h. die Erlaubnis zum Unzuchtsgewerbe unter
ständiger Aufsicht der Polizei (die berüchtigte
„Sittenkontrolle“),34) die mit einer Menge von Geboten, Ver-
boten und Zwangsmaßregeln verknüpft ist, vor allem aber die
Nötigung zur ärztlichen Untersuchung in bestimmten
Zwischenräumen und zur eventuellen Zwangsbehandlung
zur Folge hat. Zugleich wird die öffentliche Unzucht der nicht
Eingeschriebenen so viel wie möglich unterdrückt. Anschaulich
hat Berger (Die Prostitution in Hannover, S. 1—19) die Ver-
hältnisse der Beglementierung und ihre Folgen geschildert. Vor
allem aber haben Blaschko, Schmölder und Neißer die
gegenwärtig übliche Beglementierung vom moralischen, juristi-
32) H. Berger, Die Prostitution in Hannover, Berlin 1902, S. 37
bis 38.
8S) Schmölder, Staat und Prostitution, Berlin 1900, S. 1.
34) Vgl. J. Fabry, Zur Frage der Inskription unter sittenpoli-
zeilicher Aufsicht mit besonderer Berücksichtigung Dortmunder Ver-
hältnisse. In: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
1906, Bd. V, S. 325—342.
446
sehen und ärztlichen Standpunkte gewürdigt und sie teils ganz
verworfen (Blaschko, Schmölder), teils für stark reform-
bedürftig (Neiße r35)) erklärt. Weiter haben sich unter den
Neueren zur Frage der Reglementierung in negativem Sinne
Anna Pappritz ,36) in positivem Clausmann ,37) und
Friedrich Hammer,38) in unbestimmtem S. Bettmann39)
geäußert.
Zur Beurteilung des Zwangssystems der Reglementierung
nehmen wir hier nur* einen einzigen Standpunkt ein,
denjenigen ihres eventuellen Nutzens für die Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten. Wir erkennen die besonders von der
abolitionistischen, d. h. auf Aufhebung der Reglemen-
tierung gerichteten Bewegung hervorgehobenen ethischen und
humanitären Gesichtspunkte, die diese Aufhebung gebieterisch
fordern, durchaus an. Aber sie dürften trotz allem nicht maß-
gebend sein, wenn wirklich die Reglementierung auch nur das
geringste für die Verminderung der Geschlechtskrankheiten und
die Eindämmung der Prostitution leistete. Aber das Gegenteil
ist der Fall!
Daß die zwangsweise Einschreibung der aufgegriffenen
Mädchen eine von Frankreich übernommene, bei uns durchaus
ungesetzliche polizeiliche Maßregel ist, hat der Oberlandes-
gerichtsrat Schmölder40) überzeugend nachgewiesen. Es ist
vielfältig erwiesen, daß diese ungesetzliche Zwangseinschreibung
viele Mädchen, die gar nicht zur dauernden Prostitution neigten,
erst zu Dirnen gemacht hat, daß sie künstlich Prosti-
A. N e i ß e r, Nach welcher Richtung läßt sich die Reglemen-
tierung der Prostitution reformieren? In: Zeitschrift für Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten 1903, Bd. I, S. 163—350.
36) Anna Pappritz, Läßt sich die heutige Reglementierung
reformieren und in welcher Weise? In: Zeitschrift für Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten 1903, Bd. I, S. 357—372.
37) Olausmann, Prostitution, Polizei und Justiz, ebendaselbst
1906, Bd. Y, S. 219—225.
38) FriedrichHammer, Die Reglementierung der Prostitution,
in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1904/05,
Bd. III, S. 373—385, S. 425—435.
39) S. Bett mann, Die ärztliche Ueberwachung der Prosti-
tuierten, Jena 1905 (eine gründliche Bearbeitung des gesamten Materials
über die Frage).
*°) Schmölder, Die gewerbsmäßige Unzucht und die zwangs-
weise Eintragung in die Dimenlisten, Berlin 1894.
447
tuierte züchtet. Wie viele Mißbräuche und Ueberschrei-
tungen der polizeilichen Machtbefugnisse laufen bei der zwangs-
weisen Stellung unter „Sitte“ unter! Auf Grund wie vieler rach-
süchtiger Denunziationen erfolgt dieselbe oft! Das zum Studium
der New Yorker Prostitution eingesetzte „Komitee der Fünf-
zehn“ erklärt in seinem Bericht: „Männer mit politischem Ver-
stände sind der Ansicht, daß jeder Eingriff in die Freiheit des
Individuums ein Uebel an sich ist, und daß er sich nur dadurch
rechtfertigen läßt, daß das daraus entstehende Gute wirklich
sehr hoch anzuschlagen ist. Ein System, das es der Polizei
ermöglicht, auf einen Verdacht hin irgend einen Bürger anzu-
halten und ihn einer verletzenden Untersuchung zu unterziehen,
nur zu dem Zwecke, eine etwa vorhandene Krankheit zu ent-
decken und ihn dann ins Gefängnis zu stecken auf den Verdacht
hin, daß er unmoralischen Verkehr haben könnte, wenn man ihn
freiließe, kann unmöglich als mit den Prinzipien der persönlichen
Freiheit in Uebereinstimmung befindlich bezeichnet werden.“41)
Blaschko und F i a u x haben nachgewiesen, daß die
Reglementierung nur einen geringen Bruchteil der Prosti-
tuierten trifft, meist die älteren, während die gerade bezüglich
der venerischen Infektion so gefährlichen Anfängerinnen,
ferner das Heer der heimlichen und halben Prostituierten,
der Gelegenheitsprostituierten, der Demimonde
davon frei bleiben und absichtlich frei bleiben sollen, auch wegen
der ungeheuren Kosten nicht überwacht werden können. In Berlin
wird überhaupt nur der fünfte Teil der aufgegriffenen Mädchen
reglementiert, vier Fünftel werden „verwarnt und entlassen“.
Und auch von diesem fünften Teil stellt in Wirklichkeit ein
großer Prozentsatz nicht unter Kontrolle, weil die „Flucht aus
den Listen“ die dauernde Aufsicht unmöglich macht. Fiaux
weist nach, daß mehr als 50 o/o der ärztlichen Untersuchungen,
die an den 4000 von 1888—1901 in Berlin reglementierten Frauen
hätten gemacht werden sollen, in Wirklichkeit ausgefallen
sind.42)
41) The Social Evil. With special reference to conditions existing
in the City of New York. A report prepared under the Direction of the
Committee of Fifteen. New York and London 1902, S. 91—92. Zit.
nach v. During, Prostitution und Geschlechtskrankheiten, S. 18.
42) Eine scharfe Kritik der Reglementierung und ihrer Resul-
tate findet sich auch in der ausgezeichneten Dissertation von Paul
Es ist sogar sicher, daß die reglementierte Prostitution
in gesundheitlicher Beziehung gefährlicher ist als die freie
Prostitution. Die unter Sitte stehende Dirne lebt in beständiger
Furcht vor der Zwangsbehandlung im Krankenhaus und sucht
so eine Erkrankung möglichst lange zu verheimlichen oder
sich zeitweise der ärztlichen Untersuchung ganz
zu entziehen. Die freie Prostituierte hat ein Interesse daran,
möglichst bald gesund zu werden, und begibt sich meist sofort
freiwillig in die Behandlung eines Arztes. So kommt es, daß
gerade unter den reglementierten Dirnen auffallend viele Kranke
sind. Dazu kommt noch die mangelhafte ärztliche
Untersuchung, weil die Zahl der Aerzte und die verfügbare
Zeit zu gering bemessen sind. So wurde, während naciliweislich
jede dritte Prostituierte tripperkrank ist, in Berlin 1889 an-
geblich erst bei der 200sten, 1884 sogar erst bei der 1873sten
Untersuchung ein Tripperfall konstatiert. Und sehr viele in
ärztlicher Zwangsbehandlung befindliche kranke Prostituierte
werden, wie Blaschko nachweist, ungeheilt wieder ihrem
Gewerbe zurückgegeben und verbreiten frank und frei ihre Krank-
heit weiter. Die von Blaschko eruierten Zahlen reden in
dieser Beziehung eine sehr verständliche Sprache:
jährl. Prozentsatz der an Syphilis Erkrankten
reglementierte freilebende
Paris 1878—87 12,2 7,0
Brüssel 1887—89 25,0 9,0
Petersburg 1890 33,5 12,0
Antwerpen 1882—84 51,3 7,7
Daher ist es klar, daß die Aufhebung der Sittenkontrolle
nicht nur keinen ungünstigen, sondern einen überaus günstigen
Einfluß auf die Frequenz der venerischen Leiden ausübt. Das
beweisen die Verhältnisse in England und Norwegen. In Chri-
stiania hat die Syphilis nach Aufhebung der Reglementierung
im Jahre 1888 abgenommen, erstens wohl, weil jetzt die Zahl
der kranken Mädchen sich vergrößerte, die sich ärztlich be-
handeln ließen, während sie vorher das Leiden verheimlichten.
Emile Morhardt, Les maladies vénériennes et la reglémen-
tation de la prostitution au point de vue de l’hygiène sociale,
Paris 1906.
449
um nicht der Sittenpolizei in die Hände zu fallen, und zweitens
weil jetzt die Furcht vor venerischer Ansteckung viele junge
Leute vom Geschlechtsverkehr mit Prostituierten abhielt, den sie
unter der Herrschaft der Kontrolle irrtümlich für gefahrlos
hielten. So ist es auch in London, wo es keine Reglementierung
gibt. Die Frequenz der Venerie hat abgenommen, weil die jungen
Leute jetzt den Verkehr mit Prostituierten möglichst meiden.
So ist denn auch in dem klassischen Lande der Reglementie-
rung, in Frankreich, die zum Studium der Prostitution eingesetzte
außerparlamentarische Kommission zu dem Beschluß gekommen:
„Die Reglementierung der Prostituierten ist
verw er flieh.“ Der von der Sittenpolizei immer geltend ge-
machte Hauptgrund für die Beibehaltung der Reglementierung,
daß sie ein Interesse an dieser habe wegen des innigen
Konnexes vieler Prostituierter zum Verbrecher-
tum, ist nicht stichhaltig. Allerdings ist das Zuhältertum43)
von der Prostitution untrennbar, ebenso die Welt des Ver-
brechens ihr nahe, ersteres, weil auch die Dime einen Menschen
nötig hat, an den sie sich anlehnen, der ihrem Herzen etwas
sein kann, dem sie nicht bloß Ware ist44) und das zweite, weil
die Prostituierte ebenso geächtet, infamiert, eben solche
Paria-Natur ist wie der Verbrecher. Lombrosos Lehre, daß
die Prostitution durchweg ein Aequivalent der Kriminalität sei,
ist gewiß nicht berechtigt. Nur durch die äußeren Ver-
hältnisse wird das Gros der Prostituierten in die
Beziehungen zur Verbrecherwelt hineingedrängt.
Und unter diesen äußeren Verhältnissen spielt die Reglemen-
tierung durch die mit ihr verbundene Ausstoßung der
Prostituierten aus der ehrbaren Gesellschaft die Hauptrolle!
Schon deshalb müßte sie fallen, weil dann dem Verbrechertum
ein starker Zufluß aus den Kreisen der Prostituierten abge-
schnitten wird.
Früher schon, als man sich von der Nutzlosigkeit und Ge-
fährlichkeit der Reglementierung überzeugte, erscholl der Ruf:
43) Vgl. die vortreffliche Schilderung desselben bei Hans Ost-
wald, Das Zuhältertum in Berlin, Berlin und Leipzig 1905.
44) „Der Mensch erwacht in der Dirne. Das ist das ganze Ge-
heimnis und die Ursache des Zuhältertums.“ (H. Ostwald.)
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 29
('41.—60. Tausend.)
450
Fort mit den Bordellen! Es wurde schon auf den stetigen
Rückgang der Bordelle in allen großen Städten hinge wiesen.
1841 gab es in Paris noch 235 Bordelle (bei 1 200 000 Einwohnern);
1900 nur noch 48 Bordelle (bei 3 600000 Einwohnern). Auch für
Petersburg und andere Großstädte läßt sich derselbe Rückgang
feststellen; trotzdem doch überall die Bevölkerung stark zuge-
nommen hat. Das beweist, daß die Bordelle keinem Bedürfnis
mehr entsprechen.45) Sie bilden heute bei dem hochentwickelten
Verkehr öffentliche Kalamitäten, bringen die Stadtteile in üblen
Geruch, entwerten die Grundstücke. Auch für die Sklaverei der
Bordellwirte sind die Zeiten vorüber. Außerdem begünstigt die
Existenz der Bordelle den Mädchenhandel, die Züchtung der
Perversitäten und die Zunahme der Venerie, da es klar ist, daß
gerade das Bordellmädchen, das sich oft tagsüber zehn oder zwölf
Männern hingeben muß, der Gefahr venerischer Infektion ganz
besonders stark ausgesetzt ist, zumal da es jeden Mann wahl-
los annehmen muß, um der Bordellwirtin Geld abliefern zu
können, während die frei lebende Prostituierte wenigstens einen
ihr krank erscheinenden Mann abweisen kann. Nach Lecour,
Mireur, D id ay und Sper k sind die Bordellmädchen unge-
fähr dreimal so häufig syphilitisch wie die freien Prosti-
tuierten.46)
Auch andere Modifikationen des Bordellwesens, wie die soge-
nannten „Kontrollstraßen“,47) deren bekannteste Bremen
besitzt,48) d. h. gegen den Verkehr abgeschlossene Straßen, deren
45) Die Unbeliebtheit der Pariser Bordelle konstatiert auch
Lassar, Die Prostitution zu Paris, Berliner klin. Wochenschrift 1892,
No. 5.
4e) J. Butgers („Skizzen aus Holland“. In: Zeitschrift für
Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1906, Bd. V, S. 345) hat
diese Tatsache (Zutreffend in dem Worte zusammengefaßt: ,,Die
Infektionsgefahr ist ,der Zentralisation geradezu
proportional.“
47) Anna Pappritz, Welchen Schutz können Bordellstraßen
gewähren? In: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
1904/05, Bd. III, S. 417—424.
4S) Stachow, Die Ivontrollstraße in Bremen, ibidem 1905,
Bd. IV, S. 77—87.
451
Häuser nur von unter Kontrolle befindlichen Prostituierten be-
wohnt werden, die aber im übrigen frei und nicht unter einer
Bordellwirtin leben, ebenso die „Kasernierung“49) in be-
stimmten Stadtteilen und die „Dirnenquartiere“50 *) sind aus
den erwähnten Gründen abzulehnen.
Das ganze Bordellunwesen und seine eminenten Gefahren
hat übrigens in den vortreffliehen Arbeiten von E. v. Düring,61)
Henriette Fürth ,52) Karl Nötzel53) und Martin
Bruck54) eine grelle Beleuchtung und Verurteilung gefunden.
Für Beibehaltung der Bordelle haben auch jene Autoren ein
'Wort eingelegt, die die ärztliche Zwangsuntersuchung nicht bloß
auf die Prostituierten, sondern auch auf deren männliche Klientel
ausgedehnt wissen wollen. Diesen Vorschlag macht z. B. Ernst
Kromayer in seinem trotz mancher utopistischen Gedanken
doch sehr anregenden Buche „Zur Austilgung der Syphilis“
(Berlin 1898, S. 67—68). Mit Becht sagt v. Düring in seiner
Kritik dieser Idee, daß das ganz verfehlt sein würde, weil erstens
nur eine Minderzahl von Männern die Bordelle besucht, zweitens
in der Geschwindigkeit dort gar keine ordentliche Untersuchung
vorgenommen werden kann und drittens die Aerzte sich für diese
„ärztliche Portierstelle“ in Bordellen schönstens bedanken würden.
Lassar, der letzteren Punkt berücksichtigt, meint, daß die
Wirtin oder ein Heildiener oder sonst jemand sehr wohl diese
Untersuchung bei Männern vornehmen könne.55) Aber dafür
49) Fabry, Ucber Bordelle und Bordellstraßen, ibidem 1905,
S. 157—169 (Für Kasernierung); Wolff, Zur Kasernierungsfrage, ibi-
dem 1905, Bd. IV, S. 73—76 (Für Kasernierung); F. Block, Die
Kasernierung der Prostitution in Hannover, Hannover 1907.
50) F. Z i n ß e r , Die Prostitutionsverhältnisse der Stadt Köln,
ibidem 1906, Bd. V, S. 201—218.
61) E. v. Düring, Die Bordellfrage, ibidem 1905, S. 111—128.
52) H. Fürth, Die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und
die Bordelle, ibidem S. 129—156.
53) K. Nötzel, Oeffentliche Häuser in Rußland, ibidem 1906, S. 41
bis 56, 81—106.
54) M. Bruck, Die guten Sitten und der Bordellverkauf, ibidem,
S. 57—62.
65) O. Lassar, Prostitution und Geschlechtskrankheiten, in:
Hygienische Rundschau 1891, No. 23.
29*
452
würden sich erstens wiederum die Männer bedanken, zweitens
ist es sehr zweifelhaft, ob diese Leute imstande sind, eine der-
artige doch gute ärztliche Kenntnisse voraussetzende
Untersuchung vorzunehmen und drittens würde dadurch die Zahl
der — Kurpfuscher nur vergrößert. Also auch diese Unter-
suchung der Männer ist eine Utopie.
Nein, das wahre Heil liegt ganz gewiß nur in absoluter
Freiheit, in einer Erlösung der Prostitution von dem
Drucke der Polizei, ihrer allmählichen Loslösung vom
Verbrechertum, ja, ich scheue das Wort nicht, in einer
„Veredelung“ der Prostituierten. Die „Dirne“ muß ver-
schwinden, der „Mensch“ muß wieder erwachen. Die prostituierte
Frau muß wieder zugelassen werden zur sozialen Gemeinschaft.
Kein Zwang mehr! Freie und freiwillige Behandlung
in Polikliniken56) und Krankenhäusern, Fürsorgeerziehung
jugendlicher Prostituierter57) nicht in den gef ängnis artigen
„M agdalenenhäuser n“, sondern vermittels der ethisch-
pädagogischen Einwirkung von Mensch zu Mensch, wofür
die „Prostituiertenbriefe“ der edlen Menschenfreundin Frau
Eggers-Smidt,58) auch die Erfahrungen bei der Heils-
armee59) so schönes Zeugnis ab legen.
Treffend hat auch Kromayer dargelegt, wie sehr das
Aufhören der heutigen Verfehmung des geschlechtlichen Verkehrs
außerhalb der Zwangsehe die Prostitution einschränken würde
und damit die Geschlechtskrankheiten.60) Das ist ja auch so
sonnenklar. Aber leider wollen es selbst die nicht wahr haben,
die die heutigen Zustände und Prostitutionsverhältnisse für un-
haltbar erklären.
66) B. Marcuse, Zur ambulatorischen Behandlung der Prosti-
tuierten; in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
1906; S. 1—8.
67) F. Schiller, Fürsorgeerziehung und Prostitutionsbekämp-
fung, ibidem 1903/04, Bd. II, S. 294—313, 341—379.
«) ibidem 1905, Bd. III, S. 336—350.
69) p. Kampffmeyer, Von der Erziehungsarbeit an Prosti-
tuierten, ibidem, S. 351—352.
6°) E. Kromayer, Mutterschutz und Arzt, in: „Mutterschutz“
1905, Heft 3, S. 351—352.
453
Der Jammer des Lebens muß von diesen unglücklichen Ge-
schöpfen genommen werden. Aber wir selbst müssen es tun,
und bald. Denn sie sind nicht dazu imstande. Das letzte und
höchste Ziel des Kampfes gegen die Geschlechtskrankheiten ist
diö Menschwerdung der Dirne.61)
61) Soeben, Oktober 1906, ist der erste Schritt auf diesem Wege
getan worden. Das Berliner Polizeipräsidium richtete an die Spezial-
ärzte für Geschlechtskrankheiten die Anfrage, ob sie geneigt seien,
unbemittelte Prostituierte, die noch nicht unter Polizeikontrolle stehen,
unentgeltlich zu behandeln. Es soll den Mädchen dann von der Polizei
ein Verzeichnis dieser Aerzte übergehen werden. Geben sie sich in
Behandlung, so wird keine Auskunftserteilung von seiten der Aerzte
beansprucht. Es soll die Ausstellung von Attesten, die von den Patien-
tinnen der Polizei vorgestellt werden, genügen, um sie von der
Stellung unter Kontrolle und der Zwangsverweisung
in die Krankenstation des städtischen Obdachs zu
befreien. Weitere Einzelheiten sollen später in Gemeinschaft mit
dem Vorstande der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrank-
heiten vereinbart werden.
454
SECHZEHNTES KAPITEL.
Sexuelle Reiz- und Schwächezustände (Auto-Erotismus,
Onanie, sexuelle Hyperästhesie und Anästhesie, Samen-
verluste, Impotenz und sexuelle Neurasthenie).
Üeberdies machen die Zustände moderner Zivilisation den Auto-
Erotismus zu einer Erscheinung von zunehmender sozialer Bedeutung.
Havelock Ellis.
45 5
Inhalt des sechzehnten Kapitels.
Große Verbreitung der autoerotischen Erscheinungen. — Ihre kul-
turelie Bedeutung. — Physiologische und pathologische Beziehungen der-
selben. — Verbreitung bei Tieren und primitiven Völkern. — Das auto-
erotische Instrumentarium. — Ursachen des Auto-Erotismus und der
Onanie. — Neue Anschauungen über die Säuglingsonanie. — Die Sexual-
spannung der Pubertät. — Sexualtoxine. — Mechanische Reize in der
Sexualspannung. — Beruhigung und Schmerzlinderung durch Onanie. —
Verführung als Ursache der Masturbation. — Die Massenonanie in
Schulen usw. — Krankheiten als Ursachen der Onanie. — Vererbung der
Neigung zur Onanie. — Onanie beim weiblichen Geschlecht. — Häufig-
keit derselben. — Gedankenonanie.—Sexuelle Tagesträume.—Erotische
Korrespondenzen. — Folgen der Onanie. — Uebertreibungen der älteren
Zeit. — Analyse der Schädlichkeiten des Onanismus. — Veränderungen
der Psyche und des Willens. — Erklärung einiger Zeiterscheinungen aus
der Onanie. — Körperliche Folgen der Onanie. —• Oertliche Verände-
rungen der Genitalien. — Abnormitäten der Libido. — Behandlung und
Heilung der Onanie. — Kleidung. — Hosen und Onanie. — Das Buch
des Dr. Bernhard Faust. — Verschiedene ärztliche Behandlungs-
methoden der Onanie.
Die sexuelle Neurasthenie. — Ihr Zusammenhang mit Onanie. —
Relative Selbständigkeit ihrer Symptome. — Die abnorme Steigerung
des Geschlechtstriebes (sexuelle Hyperästhesie). — Ursachen. — Eigen-
artige Form von nächtlicher Steigerung des Geschlechtstriebes. —
Satyriasis und Priapismus. — Die Nymphomanie. — Ursachen der
Mannstollheit des Weibes. — Beispiele. — Behandlung der sexuellen
Hyperästhesie. — Die abnorme Herabsetzung des Geschlechtstriebes
(sexuelle Anästhesie). — Ursachen. — Häufigkeit der sexuellen Kälte
des Weibes. — Ursachen. — Der Vaginismus. — Behandlung der weib-
lichen Frigidität. — Frigidität und Prostitution. — Frigidität und
Ehe. — Die Erotomanie. — Die Samen Verluste. — Lallemands
Unterscheidung normaler und abnormer Pollutionen. — Die krankhaften
Pollutionen. — Tagespollutionen. — Abnormitäten der Genitalien und
der Empfindung bei Pollutionen. — Die Spermatorrhöe und Prosta-
torrhoe. — Pollutionen bei Weibern. — Aeltere und neuere Beobach-
tungen. — Aerztliche Behandlung der Pollutionen.
Die Impotenz. — Hauptformen. — Mißbildungen der Genitalien.
— Kastration. — Gonorrhoische Erkrankungen. — Azoospermie. —
456
Kleinheit und Verletzungen des Gliedes. Unvollständige Erektionen.
— Zentrale und periphere Ursachen der Erektion. — Funktionelle
Impotenz. — Allgemeinleiden. — Schädliche Wirkung von Alkohol und
Tabak. — Die nervöse Impotenz. — Die psychische Impotenz der Hoch-
zeitsnacht. — Sexuelle Perversionen als Ursache der Impotenz. —
Beispiele. — Geistige Arbeit und Potenz. — Wirkung momentaner Vor-
stellungen. — Die Beflexionsimpotenz. — Rousseaus venetianisches
Abenteuer. — Die neurasthenische Impotenz. — Formen und Symp-
tome. — Impotenz durch Abstinenz. — Senile Impotenz. — Behandlung
der Impotenz.
Andere Erscheinungen der sexuellen Neurasthenie (Magenaffek-
tionen U8w.). — Sexuelle Hypochondrie. — Die Behandlung der sexuellen
Neurasthenie.
457
Eine beinahe ebenso große Verbreitung wie die Geschlechts-
krankheiten haben die abnormen sexuellen Erscheinungen, die
hier unter dem Begriff „Sexuelle Reiz- und Schwächezustände“
zusammengefaßt kurz geschildert werden sollen. Sie sind zum
Teil im Wesen des Menschen begründet, teils Aeußerungen
eines Naturtriebes, instinktiver Erregung, wie wir sie auch
bei Tieren beobachten, teils im Zusammenhänge mit seinem
geistigen Wesen, mit der Zivilisation. Ja, man kann
sagen: das Doppelwesen des Menschen, der körperlich-seelische
Dualismus spiegelt sich in diesen Phänomenen seiner Sexualität
am klarsten. Hier ist er ganz Mensch.
Es ist das große Verdienst von Havelock Ellis,1) zu-
erst auf die „unwillkürlichen“ Aeußerungen des Geschlechtstriebes
hingewiesen zu haben, die dem Menschen auch ohne Beziehung
zum anderen Geschlecht eigentümlich sind. Er legte ihnen den
bezeichnenden Namen „Auto-Erotismus“ bei, womit er das
„Phänomen der spontanen geschlechtlichen Erregung, ohne
irgend welche Anregung, direkt oder indirekt,
seitens einer anderen Person“ bezeichnet. Im weitesten
Maße gehören daher zum Auto-Erotismus auch die normalen
Aeußerungen von Kunst und Poesie, insofern sie Ausfluß erotischen
Empfindens sind und alle jene Erscheinungen, die ich als
„sexuelle Aequivalente“ bezeichnet habe, alle Verwand-
lungen sexueller Energie, wie die religiös-sexuellen Erscheinungen,
die Umwandlung individueller Liebe in allgemeine Menschenliebe,
die Modereize und jede starke Tätigkeit, durch die die
Geschlechtsspannung eine Art von Auslösung findet, wenn dieselbe
auch meist unbewußt bleibt, wie beim Tanz, bei Gesellschafts-
spielen und anderen Vergnügungen.
Ich habe schon in meiner Abhandlung über „Die Perversen“
!) Havelock Ellis, Geschlechtstrieb und Schamgefühl, Würz-
burg 1901, S. 163—291.
458
(Berlin 1905, S. 14—-15) ausgeführt, daß gar kein Zweifel dar-
über "besteht, daß der Gesamtheit dieser sexuellen Aequivalente
eine außerordentlich große Bedeutung in dem Entwicklungsprozesse
der Menschheit zukommt, daß sie die natürlichen Aus -
wege für Spannungsgefühle und überschüssige Kräfte sexuellen
Ursprungs darstellen, die man unnötigerweise nicht versperren
sollte, um nicht noch weit bösere, gefährlichere Ab-
lenkungen derselben hervorzurufen, wie z. B. solche auf poli-
tischem Gebiete.
Nachträglich finde ich in Friedrich Nietzsches „Nach-
gelassenen Werken“ (Bd. XII der Gesamtausgabe, Leipzig 1901,
S. 149) eine interessante hierher gehörige Aeußerung:
„Viele unserer Triebe finden ihre Auslösung in einer mecha-
nischen starken Tätigkeit, die zweckmäßig gewählt sein kann:
ohne dies gibt es verderbliche und schädliche Auslösungen. Haß,
Zorn, Geschlechtstrieb uswx könnten an die Maschine
gestellt werden und nützlich arbeiten lernen, zum Beispiel
Holz hacken oder Briefe tragen oder den Pflug führen. Man
muß seine Triebe ausarbeiten. Das Leben des Gelehrten
erfordert namentlich so etwas.“
Welch weiser und treffender Ausspruch! Unsere ganze Kultur
ist durchzogen von sexuellen Aequivalenten, Lebenslust und
Daseinsfreude gründet sich auf dieselben, mögen unsere Puritaner
und asexuellen „Sittlichkeits“- Fanatiker sich noch so sehr gegen
diese Tatsache sträuben. Und es ist gut, daß der Geschlechtstrieb
„zivilisiert“ worden ist, daß es jetzt so viele spontane Aus-
lösungen desselben gibt, daß das Gebiet des „Auto-Erotismus“
mit steigender Kultur sich vergrößert. Viele neue feinere und
edlere Anregungen und Reize strömen daraus der Liebe und dem
Leben zu, die eine verjüngende und kräftigende Wirkung haben.
Jedoch fehlt auch diesem Licht nicht der Schatten, in Gestalt
der häufigen Beeinträchtigung der Natürlichkeit und Ursprüng-
lichkeit des Geschlechtstriebes durch die Phantasie, die ihn nicht
selten in falsche Bahnen drängt und perverse Aeußerungen der-
selben hervorruft.
Der Auto-Erotismus (mit Einschluß seiner gröberen Form,
der Onanie) ist also in gewissem Grade eine physiologische
Erscheinung, krankhaft wird er nur unter bestimmten Bedingungen,
d. h. bei von vornherein kranken Individuen. Das ist ja schon
eine alte ärztliche Lehre, daß es eine physiologische Onanie faute
450
de mieux gibt und eine krankhafte bei Neurasthenie, Geistes-
krankheiten und anderen Leiden. Dasselbe gilt vom Auto-Erotis-
mus in seinem ganzen Umfange. Wenn Fürbringer die Onanie
im wesentlichen als „eine unnatürliche Befriedigung des
Geschlechtstriebes“ bezeichnet,2) so ist das nur zum Teil richtig.
Es gibt eine natürliche, physiologische Onanie,
einen normalen Auto - Erotismus. Dieser Ansicht ist auch
Metschnikoff.* * * 8) Er sagt: „Es ist die menschliche
Natur selbst, welche die Empfindung sich in einer allzu
frühen Zeit entwickeln und sie der Reife der geschlechtlichen
Elemente vorauseilen läßt.“ Er erblickt die letzte Ursache des
Auto-Erotismus, der weder ein „Laster“ noch ein „Verbrechen“
sei, in der Disharmonie der Natur des Menschen, in der zu
frühzeitigen Entwicklung der Geschlechtsempfindung. Deshalb
trifft man ihn bei den allerniedrigsten Rassen ebensogut, wie
bei Kulturvölkern, ja sogar unter den Tieren ist der Auto-
Erotismus eine weit verbreitete Erscheinung. Das kann man nicht
nur bei den vielleicht schon ein wenig zivilisierten Affen unserer
Zoologischen Gärten beobachten, die coram publioo ungeniert
onanieren, sondern auch bei Pferden, die den Penis so lange hin
und her bewegen, bis Samenerguß erfolgt, auch bei Stuten, die
sich an irgend welchen festen Gegenständen reiben, ähnlich wie
Hirsche. Sogar Elefanten onanieren. Unter primitiven Völkern
ist die Onanie beinahe noch mehr verbreitet, als unter zivili-
sierten Rassen. Bei südafrikanischen Stämmen ist sie direkt
Volkssitte, wie Gustav Fritsch berichtet.
Havelock Ellis hat das gesamte autoerotische Instru-
mentarium zusammengestellt, und da ergibt sich, daß die wilden
Völker ebenso raffiniert sind in der Fabrikation onanistischer
Reizapparate für Frauen, wie die höchstentwickelte Unzuchts-
industrie der Kulturvölker. Am häufigsten werden tägliche Ge-
brauchsgegenstände zur autoerotischen Befriedigung benutzt, wie
in Hawaii die Banane, in unseren Breiten die Gurken, Steckrüben,
Möhren, Runkelrüben. Ferner fand man in der Scheide und Blase
von Weibern: Bleistifte, Siegellackstangen, leere Zwirnrollen,
Schnürnadeln, Stricknadeln, Häkelnadeln, Nadelbüchsen, Kom-
2) Fürbringer, Artikel „Onanie“, in: Eulenburgs „Real-
Enzyklopädie der gesamten Heilkunde“, 3. Auflage, Wien und Leipzig
1898, Bd. XVII, S. 523.
8) Metschnikoff a. a. O., S. 125.
passe, Glasstöpsel, Kerzen, Flaschenkorke, Trinkgläser, Gabeln,
Zahnstocher, Zahnbürsten, Pomadenbüchsen, Maikäfer (!),4)
Hühnereier und besonders häufig Haarnadeln. Im Jahre 1862
war die Onanie mit Haarnadeln in Deutschland so verbreitet,
daß ein Chirurg ein besonderes Instrument zur Entfernung von
Haarnadeln aus der weiblichen Blase erfand! Auch heute noch
ist diese Haamadeln-Masturbation ungemein häufig.5) Raffiniert
sind künstliche Nachahmungen des männlichen Gliedes, soge-
nannte „Godemichés“ (Gaude mihi, Dildoes, Consolateurs,
„bijoux indiscrets“ usw.),* 6) die schon auf altbabylonischen Skulp-
turen, in Aegypten und in den Mimiamben des Herondas
(3. Jahrh. v. Chr.) Vorkommen7) und seit uralter Zeit in Ost-
asien gebraucht werden, wo schon die Spanier sie auf den Philip-
pinen antrafen. Besonders bekannt geworden sind die künstlichen
Wachsphalli der balinesischen Frauen. In Europa wetterte schon
im 12. Jahrhundert der Bischof Burchard von Worms gegen
die künstlichen Mannesglieder, besonders in der italienischen
Renaissance wurde ihr Gebrauch allgemeiner, die Technik der
Herstellung immer raffinierter. Darin erreichte das Frankreich
des 18. Jahrhunderts den Gipfel. Kein Geringerer als —
Mirabeau, der berühmte französische Politiker, hat in seinem
erotischen Roman „Le rideau levé ou l’éducation de Laure“ einen
solchen künstlichen Phallus geschildert und ich gebe seine Be-
schreibung wieder, damit man sich von der raffiniert kunstvollen
Technik in der Herstellung solcher autoerotischen Instrumente
eine Vorstellung machen kann:
*) In einem französischen Erotikum wird geschildert, wie ein Im-
potenter, um wieder leistungsfähig zu werden, einen — Maikäfer auf
seinem Penis herumkrabbeln läßt.
6) Einzig dastehend ist wohl der folgende Fall eines alten 64-
jährigen Onanisten, den A. Wild („Ein Beitrag zum Raffinement
der Masturbation.“ In: Münchener ruedizin. Wochenschr. 1906, No. 11)
neuerdings mitteilt. Er führte sich ein — Fichtenästchen in die Harn-
röhre ein, und zwar so, daß die Nadeln beim Zurückziehen als Wider-
haken wirkten. Beim Yersuch der Herausnahme brach das Aestchen
ab und mußte vom Arzte mittelst Komzange entfernt werden 1
6) Ygl. die sehr ausführlichen historisch-literarischen Nachweisun-
gen über die Godemichés in meinem „Geschlechtsleben in England“,
Berlin 1903, Bd. II, S. 284—292.
7) Ygl. die Erklärung dieser Stelle bei Iwan Bloch, Kannten die
Alten die Kontagiosität der venerischen Krankheiten? In: Deutsche
Medizinische Wochenschrift 1899, No. 6.
461
„Das Instrument glich in allem einem natürlichen männlichen
Gliede. Der einzige Unterschied bestand darin, daß es von der Spitze
bis zur Wurzel von transversalen Wellen durchzogen war, um eine
lebhaftere Reibung zu ermöglichen. Ganz aus Silber (I) hergestellt,
war es mit einer Art von glattem und sehr hartem Firnis in den
natürlichen Farben überzogen. Im übrigen war es leicht und dünn
gearbeitet, im Inneren hohl. Durch die Mitte des leeren Mittelraumes
zog sich eine runde Röhre, von dem gleichen Metalle und fast von
der doppelten Stärke einer Gänsefederpose, in welcher sich ein Kolben
befand; die Röhre schloß sich mittelst einer Schraube dicht an ein
anderes Endchen an, das durchbohrt und am Grunde des Kopfes fest-
gelötet war. Demzufolge ergaben sich leere Räume rings um diese
kleine Spritze und innerhalb der Wände, welche das Glied imitierten.
Ein Stückchen Kork, äußerst genau passend zugeschnitten, verschloß
das letztere dicht und hatte in der Mitte ein Loch, welches eben
nur das Anfangsendchen der kleinen Spritze durchließ, worin wiederum
eine stählerne Sprungfeder traf, welche, spiralförmig gedreht, den
Kolben durch Abschnellen bewegte . . .
Man füllt den Godemiché („Genieße meiner“) mit Wasser, welches
so weit erwärmt worden ist, daß man es noch eben an die Lippen zu
bringen vermag, ohne dieselben zu verbrühen. Dann verschließt man
die Oeffnung mittelst des Korkes, an dem ein Ring angebracht ist,
um ihn zurückziehen zu können, und füllt dann die kleine Pumpe, indem
man den Druckkolben zurückzieht, mit einer dünnen, weißlich ge-
färbten Lösung von Fischleim (! ), die man bereit hält. Die Wärme
des Wassers teilt sich sofort auch dem Fischleim mit, der, soweit dies
möglich ist, der menschlichen Samenflüssigkeit ähnelt.“
Diese Schilderung stammt aus dem Jahre 1786! Aber auch
heute noch werden dieselben Apparate mit denselben Vorrich-
tungen in den Katalogen gewisser Händler mit „Pariser Gummi-
artikeln“ angepriesen. Ob sie wirklich existieren, weiß ich nicht,
da ich niemals ein derartiges Fabrikat zu Gesicht bekommen habe.
Havelock Ellis nimmt an, daß sie auch heute noch ger
braucht werden. In Bordellen benutzen noch heute die Prosti-
tuierten recht primitive lederne Phalli, wie sie schon von
Herondas und Aristophanes geschildert worden sind, zu
erotischen Praktiken und Schaustellungen.
Außerdem gibt es noch zahlreiche andere Weisen der rein
peripber-mechanischen Onanie. So kann durch die Reibung und
Bewegung der Geschlechtsteile beim Radfahren, Reiten, sehr
häufig bei der Nähmaschinenarbeit, bei Eisen bahn fahr ten mastur-
batorische Reizung hervorgerufen werden. Vielfach genügt bei
Frauen ein bloßes Uebereinanderpressen der Schenkel, um Orgas-
mus hervorzurufen, während Männer fast immer zu stärker
462
wirkenden mechanischen Manipulationen, wie manueller Reihung
(= manustupratio) greifen müssen.
Welches sind nun die allgemeinen physiologischen Ur-
sachen der autoerotischen Erscheinungen, speziell der Onanie ?
Da ist es interessant, festzustellen, daß der Auto-Erotismus
fast immer ein Vorläufer der vollentwickelten
Sexualität ist und bereits lange Zeit vor der Pubertät sich
zeigt, ja eigentlich schon kurz nach der Geburt auf tritt, da aus
der älteren 'und neueren medizinischen Literatur zahlreiche Beob-
achtungen über Onanie von Säuglingen vorliegen, von der
Onanie der Kinder ganz abgesehen. Der Auto-Erotismus der
Säuglinge ist rein peripherer Natur und beruht auf mecha-
nischer Erregung gewisser Körperteile, der ersten „erogeuen“
Zonen des Menschen. Freud rechnet zu diesen am frühesten
eine sexuelle Lust vermittelnden Körpergegenden vor allem die
Lippen des Kindes, die beim Saugen an der Mutterbrust oder
ihren Surrogaten eine instinktive Lustempfindung haben, woran
auch wohl die Reizung durch den warmen Milchstrom einen
Anteil hat. Das „Wonnesaugen“ des Säuglings ist autoerotischer
Natur. Nicht selten kombiniert sich nun mit demselben die Reibung
gewisser empfindlicher Körperstellen der Brust und der äußeren
Genitalien. Eine Art von Orgasmus tritt ein und danach Ein-
schlafen. Treffend vergleicht Freud diese Erscheinung mit der
Tatsache, daß im späteren Leben sexuelle Befriedigung oft das
beste Schlafmittel ist. Auch Freud hält die Säuglingsonanie
für eine in gewissen Grenzen physiologische Erscheinung, für
eine Absicht der Natur, dadurch das „künftige Primat dieser
erogenen Zonen für die Geschlechtstätigkeit festzulegen.“8)
Mit dem Eintritte der Pubertät empfangen die autoerotischen
Instinkte neue Impulse, neue Quellen, die hauptsächlich durch
die Entwicklung der Genitalien und durch die Entleerung der
Geschlechtsprodukte gegeben sind. Man hat verschiedene Theorien
darüber aufgestellt, wodurch schließlich die Auslösung der da-
durch bedingten „Sexualspannung“ zustande kommt, die auch
als die letzte Ursache der Onanie des geschleehtsreifen Menschen
anzusehen ist. Die am meisten plausible Hypothese ist die
chemische Theorie der Sexualspannung und Sexualerregung, die
8) S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Leipzig und
Wien 1905, S. 37, S. 42. i ,
463
bereits oben (S. 51) näher erörtert wurde. Sei es nun, daß, wie
Freud anniinmt, ein im Organismus allgemein verbreiteter Stoff
durch die Heizung der erogenen Zonen zersetzt wird, und daß diese
Zersetzungsprodukte dann zu einer Entladung der Sexualspannung
führen, sei es, daß die Geschlechtsorgane selbst solche chemische
Substanzen, „Sexual toxine“, produzieren. Hierfür spricht die
experimentelle Beobachtung, daß man Tieren die Eierstöcke und
alle in Betracht kommenden Nerven herausnahm. Verleibte man
dann ihrem Körper Eierstockextrakt ein, so trat wieder Brunst
ein. Starling hat für diese chemischen Sexualstoffe den Namen
„Hormone“ eingeführt. Sie scheinen auch, worauf wir später
zurückkommen, bei gewissen Abnormitäten und Perversionen des
Geschlechtstriebes eine Bolle zu spielen. Auch B. Ko ß manu
spricht von einer „neurochemischen“ Schädigung, als einer
Intoxikation des Nervensystems durch „zurückgehaltene Sekrete
oder Exkrete der Sexualorgane“.9)
Derselbe Autor stellt daneben die neuromechanische
Theorie der Geschlechtsspannung auf, worunter er den durch
rein mechanische Ueberfüllung der zum Geschlechtsapparat
gehörigen Organe ansgeübten mechanischen Beiz auf die
Geschlechtsnerven und dadurch reflektorisch auf die Hirn- und
Bückenmarkszentren versteht, dessen Beseitigung durch den
Orgasmus und die Ejakulation herbeigeführt wird. Haig er-
klärt das Gefühl der Erleichterung nach Onanie und dadurch
bedingter Lösung der Sexualspannung mehr durch den Mechanismus
des Blutdrucks. Er bemerkt: „Da der Geschlechtsakt einen
niedrigeren und sinkenden Blutdruck verursacht, muß er not-
wendigerweise Erleichterung schaffen für Zustände, die durch
hohen und steigenden Blutdruck hervorgerufen werden, z. B.
geistige Verstimmung und schlechte Laune, und wenn mich meine
Beobachtungen nicht täuschen, haben wir hier eine Beziehung
zwischen Zuständen von hohem Blutdruck mit geistiger und
körperlicher Verstimmung und masturbatorischen Handlungen,
denn diese Handlungen erleichtern diese Zustände und werden
leicht zu diesem Zwecke ausgeübt.“ (Zitiert nach H. Ellis
a. a. O. S. 272.)
9) R. Koßmann, Darf der Arzt zum außerehelichen Geschlechts-
verkehr raten? In: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrank-
heiten 1905, Bd. III, S. 126.
¿64
Uebereinstimmend hiermit ist die Schilderung, die ein
33jähriger Mönch dem Dr. Garnier gab: „Wenn keine nächt-
liche Pollution erfolgt, verursacht das Zurückhalten des Samens
allgemeine Störung, Kopfschmerz und Schlaflosigkeit. Ich gestehe,
daß ich mich dann und wann, tun mir Erleichterung zu schaffen,
auf den Leib lege, und so einen Samenabgang erziele. Ich fühle
mich sofort, befreit, eine Last scheint mir von der Brust
genommen und der Schlaf kehrt zurück.“ (Ib. S. 273.)
Aehnliche Motive für die Masturbation geben viele sonst
gesünde Onanisten an, sie gelten in gleichem Maße übrigens auch
für den normalen, nicht exzessiven Geschlechtsgenuß normaler
Menschen. Personen aus den verschiedensten Gesellschaftsklassen,
Gelehrte, Kaufleute, Handarbeiter, die ich bezüglich der Wirkung
des Samenergusses, sei es des durch Onanie oder durch Koitus
erfolgten, befragte, schilderten mir übereinstimmend dieses Ge-
fühl der „Befreiung“ von einer Last, einem Druck, von schäd-
lichen im Körper auf gespeicherten Stoffen und ihre Empfindungen
neuer Lebensfrische, geistiger Energie und Schaffenskraft nach
solchen in den normalen Grenzen bleibenden Entladungen der
Sexualspannung. Die Häufigkeit dieser Entladungen ist bei ver-
schiedenen Individuen verschieden, bei einem erfolgen sie in kurzen,
beim andern in langen Zwischen räumen. Dieser Punkt spielt eine
bedeutende Rolle in der „Enthaltsamkeitsfrage“, bei deren Er-
örterung wir darauf noch einmal zurückkommen.
Onanie ist oft ein Schlaf - und Beruhigungsmittel,
stumpft die Nerven ab, und damit hängt es zusammen, daß nicht
selten Schmerzen durch Masturbation beseitigt werden. Hier
erinnere ich wieder an die bereits oben (S. 48) mitgeteilte An-
schauung eines geistvollen jüngeren Psychiaters Edmund
Förster, daß mit der Sexualspannung zugleich ein vermehrter
Reiz auf die Schmerznerven der Genitalien einhergeht. Es
wäre wohl sehr denkbar, daß die Sexualspannung, besonders wenn
sie auf chemischen Ursachen beruht, auch von anderen Körper-
stellen ausgehende Schmerzen steigert und daß ihre Lösung dann
diese Schmerzen mildert oder ganz beseitigt. So berichtet Coe
(American Journal of Obstetrics 1889 S. 766) über eine Frau,
die heftige menstruelle Ovarialschmerzen sofort durch Mastur-
bation beseitigte. Bezeichnenderweise waren diese Schmerzen
— ein ausgezeichneter Beleg für die Richtigkeit der Forster-
schen Anschauung — von starkem sexuellen Trieb be-
465
gleitet, der zugleich, mit ihnen aufhörte und in der Intermenstrual-
periode nicht wiederkehrte. Schon der Phrenologe Gail kannte
die schmerzlindernde Wirkung der Onanie.
Neben diesen mehr natürlichen Ursachen der Onanie, die
schon an sich die große Verbreitung der Onanie erklären, kommen
noch die durch Verführung und krankhafte Zustände
gegebenen in Betracht.
Auf Verführung beruhen alle die Erscheinungen von
Mass e n o n a n i e in Pensionaten, Kadettenanstalten, Kasernen,
Schulen ,10 *) Fabriken (besonders denen mit weiblichen Arbeite-
rinnen!), Gefängnissen usw. Einer verführt den anderen und die
Onanie verbreitet sich wie eine Epidemie, die einzelnen stehen
unter dem Einflüsse einer Massensuggestion, der sie sich
nicht entziehen können. Thomalla berichtet von Internaten,
in denen Wettonanieren veranstaltet wurde und derjenige Onanist
den ausgesetzten Preis erhielt, bei dem der Samenerguß zuerst
ein trat! Ferner erzählt er von einem Gymnasiastenverein, in dem
obszöne Vorträge gehalten und durch verbotene Bilder die Knaben
geschlechtlich so weit erregt wurden, bis die Erektion eintrat,
dann erfolgte allgemeine Onanie, ebenfalls mit Wetten.
Diese Massenonanie ist wohl der beste Beweis dafür, daß
es nicht lauter von Natur krankhaft veranlagte Individuen sind,
die masturbieren. Denn nichts ist leichter zu suggerieren als
Onanie. Havelock Ellis11) teilt folgenden Fall eines unver-
heirateten, 31 jährigen gesunden Mädchens mit, der diese Tat-
sache drastisch beleuchtet:
„Als ich. ungefähr 26 Jahre zählte, machte mir eine Freundin das
Geständnis, daß sie schon seit mehreren Jahren masturbiere und so
Sklavin ihrer Gewohnheit geworden sei, so daß sie ernstlich von den
üblen Folgen zu leiden habe. Ich hörte ihrer Erzählung mit Teil-
nahme und Interesse, aber etwas skeptisch zu und beschloß, den
Versuch an mir selbst zu machen, in der Absicht, die Sache
besser verstehen und meiner Freundin dann helfen zu können. Nach
einigem Bemühen gelang es mir, das zu erwecken, was
bisher unbewußt und ungekannt in mir geschlum-
mert hatte. Ich ließ die Gewohnheit absichtlich stärker werden
und eines Nachts — denn ich tat es gewöhnlich vor dem Einschlafen,
10) Vgl. B. Thomalla, Onanie in der Schule, deren Folgen
und Bekämpfung, in: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrank-
heiten 1906, Bd. V, S. 63—68.
u) H. Ellis, Geschlechtstrieb und Schamgefühl, S. 279.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 00
(41.—60. Tausend.)
466
nie des Morgens — erzielte ich wirklich eine äußerst angenehme Be-
friedigung. Aber am nächsten Morgen erwachte mein Gewissen. Ich
fühlte auch Schmerzen im Hinterkopf und das Rückenmark entlang.
Ich stellte das Masturbieren eine Zeitlang ein, und nahm es später
wieder auf, ziemlich regelmäßig einmal im Monat, wenige Tage nach
jeder Menstruation .... Die Gewohnheit übermannte mich mit er-
schreckender Geschwindigkeit, und ich wurde mehr oder weniger ihre
Sklavin . . . Zum Schlüsse muß ich noch sagen, daß die Masturbation
sich bei mir als einer der blinden Zufälle in meiner Lebensgeschichte
erwiesen hat, aus denen ich viele wertvolle Erfahrungen schöpfte.“
Häufig geben örtliche krankhafte Veränderungen an den
oder in der Nähe der Geschlechtsteile Veranlassung zur Onanie,
so Hautleiden, Eingeweidewürmer, Verengerung der Vorhaut, ent-
zündliche Zustände am Gliede oder am Eingang der* Scheide,
Krätze und andere juckende Affektionen des Gliedes, Obstipation,
Urinanomalien u. a. m. Ferner sind Geisteskrankheiten, Epilepsie,
degenerative Nervenleiden häufige Ursachen der Masturbation.
Man hat Onanie nach epileptischen Anfällen bei Patienten be-
obachtet, die sonst nie masturbierten. Es ist kein Zweifel, daß
auch die Neurasthenie stark die Onanie begünstigt. Exzessive
Onanie ist fast stets Folge, nicht Ursache bereits vorhandener
Neurasthenie, sie ist die „Erscheinung einer in der Entwicklung
begriffenen Erkrankung oder einer dauernd bestehenden degene-
rativen Veranlagung“.12) Für diese Fälle unüberwindlicher, habi-
tueller, exzessiver Onanie trifft Oppenheims Anschauung zu,
daß die Neigung zur Onanie oft vererbt wird. Einen charakte-
ristischen Beleg dafür liefert eine Beobachtung von Block
(H. E11 i s a. a. 0. S. 240) bei einem kleinen Mädchen, das schon
mit zwei Jahren anfing zu masturbieren und diese Neigung
wahrscheinlich von der Mutter und Großmutter geerbt hatte, die
ihr Lebenlang masturbiert hatte, während die Großmutter sogar
in einer Anstalt an „masturbatorischem Irresein“ gestorben war.
Wohl in den meisten Fällen von Auftreten der Onanie bei
Säuglingen handelt es sich um solche Vererbung. Manchmal
mögen ja die eigentümlichen Wiegebewegungen der Säuglinge
nur Ausdruck eines allgemeinen Behaglichkeitsgefühles sein, wie
Fürbringer meint und mit eigentlicher Onanie nichts zu tun
haben. Aber andererseits ist nicht zu leugnen, daß veritable
12) Gustav Aschaffenburg, Die Beziehungen des sexuellen
Lebens zur Entstehung von Nerven- und Geisteskrankheiten, in: Mün-
chener Medizinische Wochenschrift 1906, No. 37, S. 1794.
467
Masturbation schon im ersten und zweiten Lebensjahre beobachtet
worden ist. H. Ellis, J. P. West, Louis Mayer haben
solche Fälle mitgeteilt. Ja, bei etwas älteren Kindern, von drei
Jahren an aufwärts, spielt bereits die Verführung und Suggestion
eine große Holle. Dem Verfasser der „Splitter“ erzählte ein
Professor, daß er bei einem Besuch der Kleinkinderanstalt in
St. G(allen) ein etwa dreijähriges Mädchen bemerkt habe, das
verdächtige Bewegungen machte. Die darauf aufmerksam gemachte
Oberschwester sagte, daß fast alle Babies, die sie ins Haus be-
kämen, schon angesteckt seien. (Splitter S. 375.)
Eine andere Streitfrage betrifft die Verbreitung der
Onanie unter dem weiblichen Geschlecht. Ist sie
größer oder geringer als unter Männern ? M e t s c h n i k o f f13)
behauptet, daß sie bei Mädchen weit weniger häufig vorkomme
als bei Knaben, weil die geschlechtliche Erregbarkeit beim weib-
lichen Geschlecht im allgemeinen weit später sich entwickle.
Auch Affenweibchen onanierten nur in Ausnahmefällen, während
bei den Männern Masturbation sehr häufig vorkomme. Der
Umstand, den Metschnikoff weiter zur Begründung seiner An-
sicht von der Seltenheit der Onanie bei Weibern anführt, daß
nämlich die meisten Mädchen erst nach der Hochzeit über ge-
schlechtliche Empfindungen aufgeklärt würden, beweist nicht viel,
da die bei der Frau durch Onanie ausgelösten Gefühle ganz anderer
Natur sind, als die durch den Koitus und dieser sie oft erst
mit ganz neuen Empfindungen bekannt macht. T i s s o t hielt die
Onanie bei Frauen für häufiger als die bei Männern, Deslandes
glaubte, daß kein Unterschied darin zwischen den Geschlechtern
bestehe, Lawson Tait, Spitzka und Dana neigen mehr
der Ansicht Metschnikoffs von der größeren Seltenheit der
Onanie bei Frauen zu. Albert Eulenburg hält die Onanie
„für nicht ganz so häufig bei der weiblichen Jugend wie bei der
männlichen,“ aber doch für „unendlich häufiger als sich Eltern,
Lehrer und Laien beiderlei Geschlechts in der Hegel träumen
lassen.“14) Plaveloek Ellis meint, daß die Onanie nach der
Pubertät bei Frauen häufiger sei, da die Männer sich dann viel
eher auf normale Weise beim anderen Geschlecht befriedigen
13) Metschnikoff, Studien über die Natur des Menschen,
S. 126.
14) A. Eulenburg, Sexuale Neuropathie, Leipzig 1895, S. 80.
30*
468
könnten. Otto Adler schätzt schon deshalb die Frequenz der
Masturbation sehr hoch, weil er sie als Hauptursache der nach
ihm weit verbreiteten mangelhaften Geschlechtsempfindung des
Weibes ausspricht, wenn er auch nicht Rohleders ungeheure
Zahl von 95 Masturbantinnen unter 100 Frauen (!!) akzeptiert.15 16)
L. Löwenf eld, der Rohleders und Bergers (99 °/o)
Schätzungen als Uebertreibungen charakterisiert, hält die Frequenz
der Onanie bei Weibern für nicht so groß, wie die bei Männern.16)
In Wahrheit dürfte die Masturbation, gleiche Umstände und
Ursachen vorausgesetzt, bei beiden Geschlechtern annähernd in
gleichem Maße verbreitet sein.
Doch das bezieht sich nur auf die peripher-mechanische
Onanie, von dieser hat man mit Hecht die „Gedankenonanie“
(Gedankenunzucht) oder „psychisehe Onanie“ getrennt, bei
der bloß durch Vorstellungen ohne Zuhilfenahme manueller Reize
an den Genitalien die geschlechtliche Erregung hervorgerufen
und Orgasmus herbeigeführt wird. Die Gedankenunzucht, von
der schon Eduard Reich sagt, daß unsere Zeit ihr in der
großartigsten Weise Nahrung gibt,17) entwickelt sich in den
meisten Fällen aus der eigentlichen Masturbation, bei welcher
die Phantasie die Aufgabe hat, alle Faktoren der normalen
Geschlechtsbefriedigung zu ersetzen. Der bloße physische Akt
reicht wohl nur im ersten Beginne des Lasters aus. Jeder auf-
richtige Onanist gesteht, daß er recht bald die Phantasie zu
Hilfe nehmen muß, um die geschlechtliche Befriedigung herbei-
zuführen, und daß schließlich Vorstellungen allein die ganze
Libido beherrschen, und der Orgasmus oft genug den Abschluß
eines im übrigen ausschließlich ideellen Aktes bildet. „So groß
ist die Macht der Phantasie“, bemerkt der erfahrene Roubaud,
„daß sie ganz allein ohne Zuhilfenahme von körperlicher Reizung
nicht nur den venerischen Orgasmus, sondern auch die Eja-
kulation des Samens herbeiführen kann, wie dies einem meiner
Studienkameraden jedesmal passierte, wenn er an seine Geliebte
15) Otto Adler, Die mangelhafte Geschlechtsempfindung des
Weibes, Berlin 1904, S. 112. Mendel beobachtete exzessive Onanie
bei hypochondrischen Frauen (Deutsche Medizinal-Zeitung 1889, No. 16,
S. 180).
16) L. Löwenfeld, Sexualleben und Nervenleiden, 4. Auflage,
Wiesbaden 1906, S. 114.
17) E. Reich, Unsittlichkeit und Unmüßigkeit, Neuwied und
Leipzig 1866, S. 122.
dachte !18) Hammond kannte sogar eine förmliche Sekte solcher
„Onanisten durch bloße Gedankenunzncht“, die eine Art Ver-
einigung oder Genossenschaft bildeten und sich durch gewisse
Zeichen einander zu erkennen gaben.19) Mir erzählte ein Patient,
daß er in Gedanken alle ihm begegnenden oder in der Eisenbahn
usw. gegenübersitzenden Frauen zu entkleiden pflege, sich dann
recht deutlich ihr Genitale vorstelle und bei dieser Vorstellung
lebhafte Wollustgefühle bis zur Ejakulation habe. Auch Löwen-
feld hat mehrere solche Fälle beobachtet. Eulenburg spricht
von einer „ideellen Kohabitation“. .Die Vorstellungen sind meist
lasziver Natur, brauchen es aber nicht immer zu sein,
v. Sehrenck-Notzing berichtet von einer 20jährigen Dame,
bei der die bloßen Vorstellungen von Männern, aber auch an-
genehme Sinneswahrnehmungen wie Theaterszenen oder musika-
lische Eindrücke oder schöne Gemälde den sexuellen Orgasmus
aüslösten.20)
Verwandt mit der Gedankenunzucht ist das Brüten über
geschlechtlichen Vorstellungen, die „delectatio morosa“ der Theo-
logen und die mit Traumphantasien verknüpfte erotische Er-
regung oder der „sexuelle Tagestraum“ (Havelock E11 i s).
Es ist das Ausspinnen einer fortlaufenden erotischen Geschichte
mit irgend einem Helden oder irgend einer Heldin, die jeden
Tag weiter geführt wird. Meist geschieht das im Bette
vor dem Einschlafen. Sexuelle Biegungen sind der eigentliche
Beweggrund dieser Geschichten. Man findet häufig sorgfältig
ausgearbeitete und mehr oder weniger erotische Tagesträume bei
jungen Männern und besonders jungen Frauen, nicht selten mit
perversen Elementen darin. Dies Träumen führt nach Havelock
E11 i s nicht notwendigerweise zur Masturbation, obgleich es
häufig geschlechtliche Ergüsse hervorruft. Es kommt bei ge-
sunden und abnormen Personen vor, namentlich bei phantasie-
reichen Individuen. Rousseau hatte solche erotischen Tages-
träume, der amerikanische Schriftsteller G a r 1 a n d hat in seiner
18) Félix Roubaud, Traité de l’impuissance et de la stérilité
chez l’homme et chez la femme, 3. éd., Paris 1876, S. 7.
19) W. A. Hammond, Sexuelle Impotenz beim männlichen und
weiblichen Geschlecht, deutsch von L. Salinger, Berlin 1891, S. 45,
20) A. v. Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie bei
krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes, Stuttgart 1892, S. 66
bis 67.
47Ö
„Kose of D'ut chers Ooolly“ di© Rolle, die ein Zirkusreiter in den
erotischen Tages träumen eines normalen, gesunden Mäd-
chens während der Pubertätszeit spielt, außerordentlich gut
beschrieben.21)
In naher Beziehung zu diesen psychisch-onanistisehen Tages-
träumen steht eine andere Erscheinung, auf die ich meines Wissens
zuerst hingewiesen und die ich. als „E rotograp h o m a n i e“
bezeichnet habe.22) Es gibt nämlich zahlreiche Männer und Frauen,
welche sich von ihren weiblichen und männlichen Geliebten, von
Prostituierten, Masseusen usw. Briefe mit geschlechtlich er-
regendem Inhalte schreiben lassen oder auch, was ebenso häufig
vorkommt, selbst derartige stark mit Obszönitäten versetzte Briefe
schreiben. Solche von glühendster Erotik erfüllte Korrespon-
denzen scheinen neuerdings als besonders sexuelles Raffinement
in Aufnahme zu kommen, sie wirken auch wie eine Art von
geistiger Onanie. Ein solcher obszöner Briefwechsel spielte kürz-
lich in einem in Ostpreußen gegen zwei Homosexuelle ver-
handelten Prozesse eine Rolle. Es gibt auch eine unschuldigere,
gewissermaßen physiologische Erotographomanie der Pubertäts-
zeit, wo die leidenschaftlichsten Briefe an fiktive Geliebte ge-
schrieben werden, und der noch dunkle Geschlechtsdrang in diesen
erotischen Phantasien eine Befriedigung findet.
Nach dieser kurzen Schilderung der verschiedenen Formen
und Abarten der Onanie wenden wir uns zur Besprechung der
Folgen derselben. Da hat sich nun im Laufe der Zeit eine
gründliche Wandlung der Ansichten vollzogen. Während noch
der eigentliche Begründer der wissenschaftlichen Literatur über
Onanie, T i s s o t, in seiner berühmten Monographie („Onanie oder
Abhandlung von den Krankheiten, welche aus der Selbstbefleckung
entstehen“, Petersburg 1774) die Masturbation für das Uebel aller
Uebel erklärte und alle möglichen schweren Leiden daraus ab-
leitete, und in seinem Buche ein durch die als Motto beigegebenen
Verse des v. Canitz:
Wenn schnöde Wollust dich erfüllt,
So werde durch ein Schreckensbild
Verdorrter Totenknochen
Der Kitzel unterbrochen —
21) Vgl. Havelock Ellis, Geschlechtstrieb und Schamgefühl,
S. 184—186.
22) Iwan Bloch, Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis, Dresden 1903, Bd. II, S. 107—108.
471
sehr gut charakterisierter Pessimismus vorherrscht, worin ihm
Voltaire im „Dictionnaire Philosophique“ und die Autoren der
beiden ersten Drittel des 19. Jahrhunderts folgten, allen voran
Lallemand in seinem berühmten Buche über die unfreiwilligen
Samenverluste, aber auch deutsche Aerzte, wie z. B. Hermann
Leitner in seiner Dissertation „De masturbatione“ (Pest 1844),
wo es im Vorwort u. a. heißt: „Nichts vergrößern die Schrift-
steller, welche von den schrecklichen Folg'en der Selbstbefleckung
sprechen, mit zu gelinden Farben malen sie selbst noch,“23)
hat die moderne medizinische Wissenschaft diese Uebertreibungen
auf das richtige Maß zurückgeführt. Das Verdienst hierfür ge-
bührt vor allem W. Erb und Fürbringer. Der alte Glaube
an die ungeheuerlichen Gefahren und die eminente Schädlichkeit
der Onanie spukt noch wie ein Schreckgespenst in gewissen, zum
Teil in Hunderten von Auflagen weitverbreiteten populären
Schriften. Wer hat nicht von ßetaus „Selbstbewahrung“ ge-
hört,24) dem Prototyp dieser gefährlichen Literatur, die als
Hauptquelle sexueller Hypochondrie bezeichnet werden kann, aber
auch nicht selten direkt als geschlechtlicher Beiz wirkt, weil
sie zwar den Teufel malt, aber auch die Wollust dazul
Heute sind alle erfahrenen Aerzte, die sich mit dem Studium
der Onanie und ihren Folgen beschäftigt haben, der Ansicht,
daß mäßige Onanie bei gesunden, erblich nicht belasteten Per-
sonen keine schlimmen Folgen hat. Nur das U eber maß schadet,
bei gesunden Leuten aber immer noch weniger als bei von Natur
krankhaft veranlagten. Ich möchte das auch so ausdrücken: nicht
die „Onanie“ ist schädlich, sondern der „Onanismus“, d. h.
jahrelang fortgesetzte, habituelle und exzessive Onanie beein-
trächtigt die Gesundheit ganz entschieden. Eine
Grenze, wo die ungefährliche Onanie aufhört und der verderb-
liche Onanismus anfängt, läßt sich generell nicht bestimmen. Die
Verschiedenheit der Individuen gestaltet auch die Beaktionen
ganz verschieden. So erwähnt C urschmann einen geistvollen
schönwissenschaftlichen Schriftsteller, der, trotzdem er seit
23) S. 18 seiner Dissertation sagt er sogar: „Es gibt keine Krank-
heit des Körpers oder der Seele, die nicht auf die Onanie zuriickgeführt
werden kann.“
24) E u le n b u r g erwähnt noch den „Pei’sönlichen Schutz“ von
Laurentius, den „Jugendspiegel“ von Bernhardi, den „Jo-
hannistrieb“ von B. Mohrmann, die „Krankheit der Welt“ von
A. Damm.
m
11 Jahren aufs intensivste der Onanie gefröhnt, körperlich und
geistig frisch geblieben, mit bedeutendem Erfolge literarisch
tätig war. Das gleiche berichtet Fürbringer von einem
Dozenten. Es ist hier mit der Onanie wie mit dem Geschlechts-
verkehr, dessen Wirkungen auch individuell verschieden sind.
Man hat neuerdings Onanie und Koitus in dieser Hinsicht mit-
einander verglichen. Sir James Paget sagt in seinen Vor-
lesungen über „Sexual-Hypochondrie“: „Masturbation schadet nicht
mehr und nicht weniger als geschlechtlicher Verkehr, der ebenso
häufig und bei demselben allgemeinen Gesundheitszustand, im
selben Alter unter anderen Verhältnissen gepflogen wird.“
Erb und Curschmann gingen sogar noch weiter, da sie eine
geringere Rückwirkung aufs Nervensystem bei der Onanie an-
nehmen als beim Koitus. In der Wirklichkeit jedoch er-
weist sich die Masturbation fast immer schädlicher als der Koitus.
Die Gründe dafür sind einleuchtend. Erstens wird Onanie viel
früher begonnen, meist in einem Alter, wo der Körper noch
nicht widerstandsfähig ist. Die Onanie im Kindesalter ist daher
ganz besonders schädlich.25) Löwenfeld meint (a. a. 0. S. 127),
daß die vor der Mannbarkeit begonnene Selbstbefriedigung noch
leichter und entschiedener als die in späteren Jahren geübte eine
Schwäche des Nervensystems begründet, bei neuropathischen
Kindern sah er mehrfach als Folgen der Masturbation hoch-
gradige allgemeine Nervosität, Angstanfälle, Schlaflosigkeit,
Zurückbleiben der geistigen Entwicklung. Zweitens ist die Onanie
dadurch gefährlicher als der Beischlaf, weil sie viel öfter
geübt werden kann, wegen der häufigeren Gelegenheit, so daß vier-
bis fünffache und noch häufigere Masturbation an einem Tage
nichts Seltenes ist. Drittens sind denn doch die seelischen
Wirkungen der Onanie ungleich verhängnisvoller als die des
normalen Koitus. Das „einsame“ Laster beeinflußt Psyche und
Charakter schon beim Kinde. Dieses sucht die Einsamkeit, wird
menschenscheu, verschlossen, verdrießlich, unlustig, hypochon-
drisch. Beim Erwachsenen ist das Gefühl des Erniedrigenden,
Sündhaften der Onanie noch lebhafter, Selbstvertrauen und Selbst-
25) Das trifft nach A. J a c o b i (Die Geschichte der Pädiatrie
und ihre Beziehungen zu anderen Künsten und Wissenschaften, Berlin
1905, S. 66) jedoch nicht für ganz junge Kinder im Alter von 1—10
Jahren zu, denen Masturbation weniger schade als Halb- oder Ganz-
Krwachseneru
bewußtsein schwinden, der Masturbant empfindet sich ganz als
„Sklave“ seines Lasters, der ewige Kampf gegen den immer
wiederkehrenden Trieb reiht ihn mehr auf, als die körperliche
Schädigung. Es resultiert daraus das ganze Heer der Willens-
krankheiten, denn durch die Onanie wird die Intelligenz
viel weniger geschädigt als die Lehensenergie, die Begeisterungs-
fähigkeit und Tatkraft. Das kühle blasierte Wesen vieler junger
Männer, die die natürliche Jugendlust nie gekannt zu haben
scheinen, das ganze „Demiviergetum“ moderner junger Mädchen
hängt ohne Zweifel mit der Onanie und Gedankenunzucht zu-
sammen. Das Fürsichsein des Onanisten in geschlechtlicher Be-
ziehung steigert den Egoismus, die Herzenskälte, stumpft das
feinere ethische Empfinden ah. Der Kampf gegen die önanie
als Massenerscheinung ist ein eminent sozialer Kampf für den
Altruismus, er weckt und fördert die Teilnahme der Jugend an
allen Fragen des Gemeinwohles. Eigentümliche Extravaganzen
und Unnatürlichkeiten in der Kunst und Literatur wird man
zum Teil auch auf das Konto der Onanie setzen können, ja manche
Werke tragen deutlich ihren Stempel. So weist Havelock
Ellis mit Recht auf die eigentümliche Melancholie in Gogols
Erzählungen hin, der sehr stark masturbierte. Man könnte auch
gewisse Schriften aus unserer Zeit namhaft machen, hei denen
eine solche Vermutung sich aufdrängt.
Auch die körperlichen Folgen übermäßig und gewohn-
heitsmäßig betriebener Onanie können recht ernste sein. Besonders
das Auge erleidet mannigfache Schädigungen, wie namentlich
die Forschungen von Hermann Cohn dargetan haben.
Reizungen der Bindehaut, Lidkrampf, AJkkommodationsschwäche,
subjektive Lichtempfindungen, Lichtscheu können infolge von
Masturbation auftreten. Auch das Herz wird in Mitleidenschaft
gezogen, Kreh 1 spricht sogar von einem „Masturbanten-
herz“ als einer Folge der dauernden nervösen Uebererregbarkeit,
die Herz und Gefäße schädigt, was sich durch unregelmäßigen
Puls, Druck- und Schmerzgefühl in der Herzgegend, Herz-
klopfen usw. bekundet. Aufhören der Onanie bringt alle diese
beunruhigenden Symptome sofort zum Verschwinden. Sehr wichtig
ist auch der ursächliche Zusammenhang zwischen Onanie und
Nerven- bezw, Geisteskrankheiten. Hier muß man
aber, worauf neuerdings Asohaffenburg wieder mit Nach-
druck hingewiesen hat, streng unterscheiden zwischen der Onanie
474
infolge von bereits vorher bestehenden nervös-psychischen
Leiden, wo sich ein Circulus vitiosus entwickelt, da hier die
Masturbation teils Folge des ursprünglichen Leidens, teils Ursache
einer Verschlimmerung des letzteren ist, und den Wirkungen der
Onanie auf das gesunde Zentralnervensystem. Und da stimmt
auch Aschaffen bürg der Ansicht derjenigen bei, die diese
Wirkungen für nicht so schlimme halten, als man früher an-
nahm. Auch Aschaffenburg erblickt das am meisten
schädigende Moment in der psychischen Wirkung der Onanie,
in dem beständigen, aber immer vergeblichen Kampfe gegen
dieselbe. Das ist die Quelle der meisten hypochondrischen und
anderen Beschwerden. Es gelang ihm oft, durch Aufdeckung
dieser psychischen Genese, sämtliche krankhafte Erscheinungen
zum Verschwinden zu bringen. Sobald der Patient weiß, daß
diese nur rein seelisch bedingt sind, fühlt er sich von ihnen
befreit. Daß Masturbation nie eine direkte Ursache von Geistes-
krankheiten ist, wird jetzt allgemein von den Psychiatern an-
erkannt,26) sie stellt höchstens ein begünstigendes Moment dar.
Das „masturbatorische Irresein“ tritt nur bei erblich
belasteten, schon vorher schwer neurasthenischen Individuen auf.27)
Jedoch kann die Onanie ohne Zweifel Ursache rein ört-
lioher Veränderungen an den Geschlechtsteilen sein, wie
entzündlicher Zustände der Vorsteherdrüse (Pro-
stata), der Spermator rhöe und Prostatorrhoe, bei
Frauen auch des weißen Flusses, übermäßig schmerz-
hafter Menstruation und anderer Störungen der
Periode, im Zusammenhänge mit welchen Erscheinungen sich
das Krankheitsbild der „sexuellen Neurasthenie“ ent-
wickeln kann, das wir weiter unten betrachten.
Eine sehr bedenkliche Folge des Onanismus (nicht der Onanie)
ist die Abneigung gegen den normalen geschlecht-
lichen Verkehr, die er hervorruft, und die Erzeugung
sexueller Perversionen. Ersteres macht sich mehr beim
weiblichen, letzteres mehr beim männlichen Geschlecht geltend.
Masturbation ist Hauptursache der sexuellen Kälte des Weibes
und seiner Abneigung gegen den natürlichen Geschlechtsverkehr.
Gewiß spielt hier das seelische Moment die Hauptrolle, aber doch * *
26) Ygl. H. Rohleder, Die Masturbation, Berlin 1899, S. 185
bis 192.
*7) Vgl. L. Löwenfeld a, a. O., S. 137.
475
auch eine gewisse Abstumpfung der Geschlechtsorgane durch
exzessive Masturbationsreize. Sie sind für die normalen Reize
des Koitus nicht mehr empfänglich. Auch bezieht sich die
Masturbation oft nur auf eine bestimmte Stelle des weib-
lichen Geschlechtsteils, besonders häufig auf die Klitoris oder
die Schamlippen, und diese Stellen werden dann durch den Koitus
nicht genügend gereizt. Beim Manne wird auch durch den Bei-
schlaf die bei Masturbation besonders empfindliche Stelle seines
Gliedes gereizt, weshalb er viel häufiger trotz Onanismus auch
beim Koitus geschlechtliche Befriedigung findet als die Frau.
Trotzdem gibt es auch besondere Masturbations arten beim Manne,
deren Effekt durch den Koitus nicht erreicht wird. Dann kann
dieser auch bei ihm keinen Orgasmus auslösen.
Die nahe Beziehung des Onanismus zu sexuellen Perversionen
liegt auf der Hand. Je häufiger der onanistische Akt wieder-
holt, je mehr die normale Sensibilität abgestumpft wird, desto
stärkerer und seltsamerer, vom Gewöhnlichen abweichender An-
reize bedarf es, um Orgasmus herbeizuführen. Der Inhalt der
lasziven Vorstellungen muß immer häufiger variiert werden und
wird bald ganz dem Gebiet des Perversen entnommen. Allmählich
nisten sich diese sexuell perversen Ideen ein und werden schließ-
lich zu vollkommen geschlechtlichen Perversionen. Ein
klassischer Beleg hierfür ist der von Tardieu28) berichtete Fall
eines Mannes, der sieben- bis achtmal am Tage mastur-
bierte und schließlich seine Phantasie bis zur Vorstellung von
Schändung weiblicher Leichen erhitzte und zerrüttete, endlich zur
praktischen Ausführung dieser scheußlichen Ideen über-
ging, die auch deutlichen sadistischen Charakter angenommen
hatten. Er verschaffte sich den Anblick aufgeschlitzter Tier-
leiber, tötete Hunde, grub menschliche Leichname aus, alles, um
dadurch seiner durch die Onanie verderbten Phantasie und damit
seiner Libido Befriedigung zu verschaffen. Auch in der Aetiologie
der Pseudo-Homosexualität spielt die Masturbation ohne Zweifel
eine Rolle, worauf schon Havelock Ellis hingewiesen hat,29)
die mexikanischen „Mujerados“ werden durch tägliche mehrmalige
Masturbation zu Päderasten gezüchtet. Sogar sodomitische Vor-
28) A. Tardieu, Etude médico-légale sur les attentats aux moeurs,
Paris 1878, S. 114.
29) Ygl. auch meine Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia
sexualis, I, S. 135.
476
Stellungen werden durch Onanismus hervorgerufen, v. Schrenck-
N o t z i n g30) berichtet von einer Frau, die 30 Jahre lang mastur-
biert hatte und sich schließlich vorstellte, sie werde von einem
Hengste begattet.
Die Aussichten für die Behandlung und Heilung der
Onanie sind ohne Frage bei Kindern am größten. Eltern, Lehrer
und Arzt müssen hier Zusammenwirken, um einen vollen Erfolg
zu erzielen. Natürlich müssen vor allem die Onanie begünstigende
lokale und allgemeine Krankheitszustände beseitigt werden, das
versteht sich von selbst. Auch die Diät sei leicht, reizlos, die
Kleidung und das Lager leicht und kühl. Im Jahre 1791 ver-
öffentlichte der schaumburg-lippische Leibarzt Dr. Bernhard
Christian Faust eine merkwürdige Schrift unter dem Titel
„Wie der Geschlechtstrieb der Menschen in Ordnung zu bringen,“
mit einer Vorrede des bekannten Pädagogen J. II. Campe (Braun-
schweig 1791). Er stellt in diesem Buche die These auf, daß
die hauptsächlichste Ursache der Onanie der Knaben die —
Hosen seien. Auch das Ein wickeln in Windeln reizt nach
ihm frühzeitig die Geschlechtsteile. Später entsteht durch die
Hosen „eine große und feuchte Wärme, die am vorzüglichsten
und größten in der Gegend der Geschlechtsteile ist, wo das Hemd
sich in Falten zusammenschlägt“ (S. 46). Auch muß der Knabe,
„wenn er seinen Ham ablassen will, sein kleines männliches Glied
aus den Hosen zerren; im ersten Anfänge und auch noch lange
Zeit nachher, kann der kleine Knabe dies nicht selbst bewerk-
stelligen ; Kinder, Mägde und Knechte helfen ihm, und zerren
und spielen mit seinen Geburtsteilen: durch dies Befühlen,
Zerren und Spielen, das der Knabe selbst oder andere mit seinen
Geburtsteilen treiben, gerät der Knabe (auch das Mädchen, das
sehr oft hilft, und dem der unschuldige Knabe aus Dankbarkeit
manchmal wieder helfen will) in eine vertraute Bekanntschaft
mit Teilen, die sonst heilig, unrein und Schamteile waren. Das
Kind gewöhnt sich an, mit den Geburtsteilen zu spielen, und
die Gelegenheitsonanie zur Selbstbefleckung ist durch
die Hosen hervorgebracht“ (S. 45). Als Abhilfe schlug
er eine mehr der weiblichen Kleidung angepaßte Kleidung für
die Knaben vom 9. bis 14. Lebensjahre vor, in der die Hosen
wegfallen. Die Kinder werden also „der Natur gemäß, Kinder
80) v. Schreack-Notzing a. a. 0., S. 9.
seyn und spät reifen. — Und der Geschlechts trieb der Menschen
wird in Ordnung kommen: und die Menschen werden besser und
glücklicher werden“ (S. 217).
Wenn nun auch die weitläufige und systematische Durch-
führung dieser These in einem dickleibigen Buche lächerlich wirkt,
so ist doch etwas Wahres daran, und unzweckmäßig enge und
warme Kleidung begünstigt zweifellos den Hang zur Onanie.
Säuglingen und kleinen Kindern kann man nachts nach dem
Vorschläge Ultzmanns die Hände in Fäustlinge binden oder
an den Bettrand anschnüren, auch die Methode älterer Aerzte,
mit großen Messern und Scheren bewaffnet vor dem Kinde zu
erscheinen und mit schmerzhaften Operationen oder gar Ab-
schneidung der Genitalien zu drohen, kann manchmal nützlich
sein und Radikalheilung herbeiführen. Auch die wirkliche
Vornahme kleiner Operationen hilft nicht selten. Fürbringer
heilte einen jungen Burschen, bei dem keine Belehrung und keine
Strafe half, dauernd durch einfaches Abkappen des vorderen Teils
seiner Vorhaut mit schartiger Schere und verschaffte einer jungen
Dame, die sogar in der Gesellschaft ihrem leidenschaftlichen
Hange zur Onanie frönte, durch wiederholte Aetzungen der
Vulva Heilung. Andere Aerzte durchbohren die Vorhaut und
legen einen Ring ein. Sogar mit Käfigen für die Genitalien, deren
Schlüssel beim Vater ist (1), mit Penisbinden ohne Oeffnung
ist man gegen die Onanie vorgegangen. Auch die Prügelstrafe
hat bisweilen Erfolg. Von größtem Werte ist ständige Auf-
sicht, Schutz vor Verführung — „Eltern, schützt eure
Kinder vor den Dienstboten!“ rief schon Rétif de la Bre-
tonne —, ernste mündliche Ermahnungen und Vor-
stellungen, Anregung und Förderung de Energie
und Willenskraft (durch Sport und Spiel, Gartenarbeiten
(Thomalla), Stellung den Ehrgeiz anstachelnder Aufgaben),
klimatische Kuren, Bäder- und Wasserbehand-
lung sind weitere gute Mittel im Kampfe gegen die
Onanie. Derselben Mittel bedient man sich in der Behandlung
der Masturbation bei Erwachsenen, nur daß bei ihnen
Psychotherapie die Hauptrolle spielt. Manchmal können
hier auch lokale Aetzungen der Harnröhre und Massage der
Vorsteherdrüse die Heilung herbeiführen. Ganz verkehrt
wäre es, jugendliche Onanisten auf den Weg des Geschlechts-
verkehrs zu weisen nach Art der Pariser „Suppenhändler“, wie
478
sie der Volksmünd nennt, die ihre jungen Zöglinge, um sie von
der Onanie zu heilen, in Freudenhäuser führen !31)
Die Onanie steht im innigsten Zusammenhänge mit der
reizbaren Nervenschwäche oder „Neurasthenie“,
dieser typischen Kulturkrankheit, speziell mit der genitalen Form
derselben, der „sexuellen Neurasthenie“. In einer Analyse
von 333 Neurastheniefällen fanden Collins und Philipp, daß
123 Fälle, also mehr als ein Drittel, eine Folge von Ueber-
arbeitung oder Masturbation waren.32) Freud, v. Krafft-
Ebing, Savill, Gattel, Rohleder sehen in der Onanie
die wirkliche Ursache der Neurasthenie. Fürbringer, Löwen-
feld, Eulenburg sind der Ansicht, daß noch andere schädi-
gende Ursachen mit im Spiele sein müssen, um das typische
Bild der sexuellen Neurasthenie hervorzurufen. Sicher ist, daß
sehr häufig auch umgekehrt diese das Primäre, die Onanie das
Sekundäre ist. Die Onanie ist dann nur ein Symptom der
sexuellen Neurasthenie. Dieselbe doppelte Betrachtungsweise läßt
sich auf die anderen krankhaften Erscheinungen anwenden, aus
denen das klinische Bild der sexuellen Neurasthenie sich zusammen-
setzt. Jedes dieser Symptome der reizbaren Sexualschwäche, die
übermäßige geschlechtliche Erregbarkeit, die mangelhafte Ge-
schlechtsempfindung, die Samen Verluste, und die Impotenz kann
wie die Onanie eine gewisse Selbständigkeit besitzen und
durch verschiedene Ursachen hervorgerufen werden und zur
sexuellen Neurasthenie führen, es kann aber auch erst auf dem
Boden der sexuellen Neurasthenie sich entwickeln. Oft ist es
unmöglich, den ursprünglichen Anfang dieses Circulus vitiosus
festzustellen. Es erweist sich daher als praktisch, das von
Bear d33) zuerst aufgestellte Krankheitsbild der sexuellen Neur-
asthenie nach seinen einzelnen Symptomen zu besprechen, wie
das auch A. Eulenburg34) in einer ausgezeichneten Abhandlung
31) Ygl. A. W e i 11, Gesetze und Mysterien der Liebe, “Berlin 1895,
S. 101.
32) Havelock Ellis a. a. O., S. 266.
33) G. M. Beard, Die sexuelle Neurasthenie, 2. Auflage, Leipzig
und Wien 1890.
84) A. E ulenburg, Sexuale Neurasthenie, in: Deutsche Klinik
1902, Bd. VI, S. 163—206,
479
und L. Löwenfeld in seinem bekannten Werke über „Sexual-
leben und Nervenleiden“ getan haben.
Die abnorme Steigerung des Geschlechts-
triebes (sexuelle Hyperästhesie, Satyriasis,
Nymphomanie) beginnt da, wo die Grenze des normalen
Geschlechtstriebes überschritten wird, und die ist individuell
sehr verschieden nach Alter, Rasse, Lebensgewohnheiten, äußeren
Einflüssen. Der normale Geschlechtstrieb kann auch durch be-
sondere Umstände zeitweise gesteigert werden, wie z. B. durch
lange Enthaltsamkeit, durch erotische Reizungen verschiedener
Art, ohne daß man schon von einer „Hyperästhesie“ sprechen
könnte. Diese ist immer ein abnormer Zustand, der auf ver-
schiedene Ursachen zurückgeführt werden kann. Er kommt
häufiger bei Männern vor („Satyriasis“) als bei Frauen („Nympho-
manie“), kann dauernd bestehen oder nur periodisch auftreten,
geht fast immer von lasziven Vorstellungen aus und ist
je nach der Ursache von einer mehr oder minder großen Ver-
minderung bezw. gänzlichen Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit
begleitet. Die Leichtigkeit, mit der geschlechtliche Vorstellungen
eine abnorm erhöhte Begierde und Beaktion von seiten des Genital-
apparates auslösen, ist charakteristisch für die sexuelle Hyper-
ästhesie, die solche Grade erreichen kann, daß der Mensch wirk-
lich „geschlechtstoll“ wird und sich wie ein wildes Tier auf das
erste ihm begegnende Wesen des anderen Geschlechts stürzt, um
seine Lust an ihm zu befriedigen oder auch derart vom Ge-
schlechtstrieb „umnebelt“ ist, in des Wortes eigentlichster Be-
deutung, daß er sich an einem beliebigen anderen lebenden oder
leblosen Objekt geschlechtlich vergreift und sich in diesem Zu-
stande zu Akten der Päderastie, Bestialität, Vergewaltigung von
Kindern u. a. m. hinreißen läßt. In diesen schwersten Fällen
läßt sich stets eine Geisteskrankheit, Paralyse, Manie, periodisches
Irresein, sehr oft Epilepsie (Lombroso) als Ursache nach-
weisen. Mehr chronisch und in leichteren Formen wird die sexuelle
Hyperästhesie nach exzessiver Masturbation beobachtet, oft auch
in Verknüpfung mit angeborener neuropathischer Konstitution.
Löwenfeld beschreibt eine eigenartige nächtliche sexuelle
Hyperästhesie bei verheirateten Männern, vorwiegend in den
vierziger oder fünfziger Jahren, die aus verschiedenen Gründen
auf den ehelichen Verkehr verzichten mußten und Abstinenz
übten. Bei Tage waren sie von Beschwerden frei, diese traten
480
nur bei Nacht auf. Bald oder einige Stunden nach dem Ein-
schlafen stellten sich heftige, schmerzhafte, dauernde
Erektionen des Gliedes („Priapismus“) ein, die den
Schlaf störten und morgens ein Gefühl der Abspannung hinter-
ließen. Hier war offenbar eine Uebererregbarkeit des genitalen
Erektionszentrums vorhanden, die durch die von den Sexual-
organen ausgehenden Beize bedingt wurde und sich erst zeigte,
wenn im Schlaf die vom Gehirn ausgehenden Hemmungen fort-
gefallen waren. Dieser nächtliche Priapismus kann nach Löwen-
felds Beobachtungen Jahre dauern.35)
Die sexuelle Hyperästhesie bei Frauen oder die „Nympho-
manie“ ist in ihren leichteren Formen ebenfalls meistens eine
Folge übertriebener Masturbation, solche Frauen haben weniger
eine heftigere Neigung zum normalen Geschlechtsverkehr, der im
Gegenteil ihre abnorme und perverse geschlechtliche Erregbarkeit
nicht befriedigen kann, als vielmehr den Drang, sich auf jede
Wehe neue Sensationen an den Geschlechtsteilen zu verschaffen.
Das sind die Frauen, die z. B. den Frauenarzt möglichst oft
zum Zwecke gynäkologischer Untersuchung konsultieren, weil die
Untersuchung mit dem Mutterspiegel oder andere Manipulationen
sie geschlechtlich erregen. Auch im Klimakterium, der Zeit des
Aufhörens der Periode, kommen solche Zustände vor. Die eigent-
liche Nymphomanie entwickelt sich stets auf dem Boden schwerer
Neurasthenie und Hysterie oder direkter Hirn- und Geistes-
krankheiten. Dann entsteht der Typus des „m annstollen“
Weibes, wie ihn schon Juvenal in der Kaiserin Messalina ge-
schildert hat, die im Bordell sich allen Besuchern hingibt, ohne
ihre Geschlechtslust ganz befriedigt zu sehen. Solche Typen
existieren auch heute noch. So erzählen die Gebrüder Goncourt
in ihren Tagebüchern von einer alten Haushälterin, die jahrzehnte-
lang den ausschweifendsten Liebesorgien frönte, zahllose Lieb-
haber aushielt und ein „Geheimleben voll nächtlicher Orgien in
fremden Betten“ führte, „voll nymphomaner Begierden, daß ihre
Liebhaber entsetzt sagten: Einer bleibt auf dem Platze, sie oder
ich!“36) Augenblicklich lebt in Charlottenburg eine wegen ihrer
35) L. Löwenfeld a. a. O., S. 273—274.
86) Edmond und Julea de Goncourt, Tagebuchblätter
1851—1895. Ausgewählt, verdeutscht und eingeleitet von Heinrich
Stümcke, Berlin und Leipzig 1905, S. 40—41.
4SI
unglaublichen Geschlechtsbrunst und Mannstollheit bekannte Frau
eines Arbeiters, eines berufsmäßigen Messerstechers, der aus dem
Gefängnisse nicht herauskommt. Seine Frau, der man übrigens
äußerlich kaum etwas ansieht, gibt sich oft täglich vier oder
fünf Männern hin, sie fordert jedes männliche Wesen, das mit
ihr in Berührung kommt, auf, den Geschlechtsakt mit ihr zu
vollziehen. — Den folgenden unglaublichen Fall dieser Art teilte
T r e 1 a t mit:
Madame V., von starker Konstitution, angenehmem Aeußeren,
liebenswürdigem Benehmen, großer Zurückhaltung, kam 1. Januar 1854
in die Behandlung T.’s. Sie arbeitet trotz ihrer 60 Jahre sehr fleißig
und gönnt sich kaum Zeit zum Essen. Nichts deutet in ihrem Aeußeren
oder in ihren Handlungen während ihres Aufenthaltes im Irrenhause
darauf hin, daß sie irgendwie geistig krank ist. Während vier Jahren
kein obszönes Wort, nicht eine Geste, nicht die geringste leidenschaft-
liche, von Zorn oder Ungeduld zeugende Bewegung.
Seit dem frühesten Alter hat sie schon Männer aufgesucht und
sich ihnen preisgegeben. Als junges Mädchen brachte sie ihre Eltern
durch dieses herabwürdigende Benehmen zur Verzweiflung. Von liebens-
würdigem Charakter, errötete sie, wenn man ein Wort an sie richtete,
schlug jedesmal die Augen nieder, wenn sie sich in Gegenwart mehrerer
Personen befand; sobald sie sich aber mit einem jungen oder alten
Mann, selbst mit einem Kind allein befand, wurde sie sofort umge-
wandelt, hob ihre Unterröcke auf und attakierte mit einer wütenden
Energie den, welcher das Objekt ihres Liebeswahnsinns war. In diesen
Momenten war sie eine Messalina, während man sie einige Augen-
blicke vorher für eine Jungfrau gehalten hätte. Einige Male stieß
sie auf Widerstand und erhielt starke moralische Strafpredigten, aber
noch öfter war man ihr zu Willen. Obwohl sich Abenteuer trauriger
Art häuften, verheirateten sie ihre Eltern in der Hoffnung, dadurch
der moralischen Störung ein Ziel zu setzen. Die Heirat war für sie
nur ein Skandal mehr. Sie liebte ihren Gatten mit Leidenschaft,
aber sie liebte mit derselben Leidenschaft jeden Mann, mit dem sie
zufällig allein war; und sie zeigte so viel Beharrlichkeit und List,
daß sie jeder Ueberwacbung spottete und oft zu ihrem Ziel gelangte.
Bald war es ein bei der Arbeit beschäftigter Handwerker, bald ein
Spaziergänger, welchen sie auf der Straße interpellierte und welchen
sie unter irgend einem Vorwände zu sich hinaufkommen ließ. Ein
junger Mann, ein Bedienter, ein Kind, das aus der Schule zurück-
kehrte! Sie zeigte so viel Unschuld im Aeußeren und sprach so, daß
jeder ihr ohne Mißtrauen folgte. Mehr als einmal wurde sie ge-
schlagen oder bestohlen, was sie nicht hinderte, immer wieder in
ihren Fehler zurückzufallen; selbst als Großmutter setzte sie ihre
Lebensweise fort.
Eines Tags lockte sie einen Knaben von 12 Jahren zu sich, dem
sie einredete, seine Mutter ■wollte zu ihr kommen. Sie gab ihm Bon-
Bloch, Sexualieoen. 7.—".Auflage. 31
(41.—60. Tausend.)
482
bons, umarmte und liebkoste ihn, und als sie ihn dann entkleidete
und sich ihm mit obszönen Berührungen näherte, sträubte sich da-
gegen die Ehrbarkeit des* Knaben; er schlug sie und erzählte alles
seinem 24 jährigen Bruder, welcher in das von dem Knaben bezeichnet©
Haus stieg und die feile Frau aufs äußerste beschimpfte, indem er
sagte: „Unter solchen Verhältnissen hilft man sich selbst ohne Gericht,
um nicht seinen Namen in so schlechte Gesellschaft zu bringen. Ich
hoffe, daß sie nach dieser Standpauke nicht mit anderen wieder ange-
fangen wird.“ Während dieser Szene kam zufällig der Schwiegersohn,
ahnte den Zusammenhang, bevor man noch Zeit hatte, irgend etwas
zu sagen und stellte sich auf die Seite dessen, der so prompt Gerechtig-
keit ausübte.
Sie wurde in ein Kloster eingeschlossen, wo sie sich so gut, so
süß, so liebreizend naiv und so jungfräulich unschuldig zeigte, daß
man nicht glauben wollte, daß sie jemals den geringsten Fehler be-
gangen hätte und daß man Anstalten traf, sie den Ihrigen zurückzu-
geben. Sie hatte alle Bewohner dieses Klosters durch den Eifer erbaut,
mit dem sie sich den Religionsübungen hingegeben hatte. War sie
einmal frei, so fing sie ihr Skandaltreiben wieder an und so verlief ihr
ganzes Leben.
Nachdem sie ihren Gatten und ihre Kinder zur Verzweiflung ge-
bracht hatte, hofften diese endlich, daß das Alter das Feuer, das sie
verzehre, erlöschen würde. Sie täuschten sich. Je mehr Exzesse
sie sich erlaubte, um so mehr nahm sie zu, um so frischer
wurde sie. Es ist kaum zu glauben, daß so niedrige Gedanken
und Gewohnheiten der Physiognomie diesen süßen Ausdruck lassen
können, der Stimme so viel Jugend, dem Benehmen so viel Ruhe
und dem Blick eine solche klare Sicherheit. Sie wurde Witwe. Ihre
Kinder konnten sie wegen ihres schrecklichen Wesens nicht mehr bei
sich behalten und hatten sie weit weggebracht; dorthin schickten sie
ihr eine Rente. Da sie alt geworden war, so war sie gezwungen, die
schändlichen Dienste, die sie sich leisten ließ, zu bezahlen, und da die
kleine Pension, welche sie erhielt, für diese Zwecke nicht ausreichte,
so arbeitete sie mit einem unermüdlichen Eifer, um die große Zahl
ihrer Liebhaber bezahlen zu können.
Wenn man die alte flinke Frau bei der Arbeit sitzen sah, wie sie
im Alter von 70 Jahren und darüber sich ohne Brille beschäftigte,
immer sauber und sorgfältig, aber nicht auffallend gekleidet, mit ein-
fachem und ehrbarem Aussehen, offenem Gesicht, so hätte man nie-
mals ihre schimpfliche Lebensweise geahnt. Verschiedene der elenden
Männer, welche von ihr bezahlt worden waren, erzählten, wie arbeit-
sam sie war; sie versicherten Trelat ihre Moralität in der Hoffnung,
ihr die Freiheit zu verschaffen und so ihr Gehalt wieder zu erlangen.
T. konnte sich nicht dazu verstehen und es gelang ihm, einem von
ihnen das Geständnis und die Details seiner schamlosen Liebe zu
entreißen.
Diese feile Frau bewahrte ihre Ruhe, ihr reizendes Wesen und
ihr ehrbares Benehmen bis zu ihrem Tode. Sie starb im Alter von
483
7-1 Jahren an einer Hirnhämorrhagie. Etwas Besonderes wurde im
Hirn nicht gefunden. (Joum. de med. de Paris 1889, No. 16.)
Was die Behandlung der abnormen geschlechtlichen Ueber-
erregbarkeit betrifft, so erfordern die schweren Formen der
Satyriasis und der Nymphomanie dringend die Anstalts-
behandlung. In den leichteren Formen wird man durch
Psychotherapie, Kaltwasserkuren, innerliche Beruhigungsmittel,
wie Bromkampfer, Bromkalium, Regelung der Diät, zweckmäßige
Kleidung und Lager37) günstige Erfolge erzielen.
Das Gegenteil der sexuellen Hyperästhesie ist die sexuelle
Anästhesie oder die abnorme Herabsetzung und Ver-
minderung des Geschlechtstriebes, sie kommt bei
Männern und Frauen als angeborener Zustand vor, bedingt
durch Verkümmerung oder Mangel der Geschlechtsorgane, nach
erschöpfenden Krankheiten oder durch Zurückbleiben der sexu-
ellen Entwicklung aus noch unbekannten Ursachen. Diesen
letzteren Zustand bezeichnet A. Eulenburg mit dem treffen-
den Namen „psy chosexualer I n f an tilis mus“. Derselbe
Autor nennt die sexuelle Anästhesie auch „sexuelle Appetitlosig-
keit“. Sie kommt bei Frauen häufiger vor als bei Männern, ist
hier allerdings oft nur eine scheinbare, eine Pseudoanästhesie,
weil der Mann es nicht versteht, die noch schlummernden geschlecht-
lichen Empfindungen zu wecken (vergl. oben S. 92). Neuerdings
hat Otto Adler dieser „mangelhaften Geschlechtsempfindung
des Weibes“ eine umfangreiche und interessante Monographie ge-
widmet (Berlin 1904). Nach ihm ist die Angabe Guttzeits,
daß von zehn Weibern vier gar nichts in coitu
empfinden und denselben erdulden ohne alles
angenehme Gefühl bei der Friktion und ohne
eine Ahnung vom Hochgenuß der Ejakulation
zu haben, daß also 40 o/o der Weiber an sexueller Kälte
und Empfindungslosigkeit, an „Frigidität“ leiden, zwar
ein wenig übertrieben hinsichtlich der Prozentzahl, aber doch
der richtige Ausdruck für die Tatsache, daß mangelhafte Ge-
37) , ,Ich habe in meinem Leben manchen geilen Bock und manche»
«eile Weib beobachtet und fand fast immer, daß ausnehmend wollüstige
Personen sehr warm sich kleiden, sehr warm schliefen. Ich habe schon
mehrere in früheren Jahren beobachtete Fälle von warmer Bekleidung
der Geschlechtsteile bei Frauen, die durch Lüsternheit sich auszeich-
neten, mitgeteilt, und könnte die Zahl der Beispiele um einige Dutzend
vermehren.“ E, Reich, Unsittlichkeit und Unmäßigkeit, S. 43—14,
31*
4SI
schlechisempfindung bei Frauen selir viel häufiger vorkommt als
bei Männern, bei denen z. B. Effert z38) die Häufigkeit der Frigi-
dität nur auf 1 o/o schätzt.39) Bei der Frau erklären verschiedene
Umstände die Häufigkeit der mangelhaften Geschlechts-
empfindung. Zunächst setzt Onanie viel mehr als beim Manne
die geschlechtliche Erregbarkeit herab, stumpft vor allem die
Empfindung für den normalen Geschlechtsverkehr ab, sowohl auf
psychischem Wege als auch durch Unempfindlich werden der
äußeren Geschlechtsteile, durch zu geringe Reizung des Kitzlers
bei der Begattung, während dieses Organ gerade bei der Mastur-
bation besonders stark gereizt wird, durch Ungeschicklichkeit und
Brutalität des Mannes in coitu, die mehr Schmerz als Wollust-
gefühl hervorruft und sehr häufig die erste Veranlassung zum
sogenannten Scheidenkrampf oder „V a g i n i s m u s“i0) ist,
und durch Impotenz des Mannes.
Die Behandlung der mangelhaften Geschlechtsempfindung
des Weibes muß vor allem die seelischen Momente berücksichtigen
und daher mehr vom Gatten oder Geliebten als vom Arzte aus-
gehen, die Umstände der Begattung müssen den individuellen
Verhältnissen angepaßt werden (Veränderung der Lage, präpara-
38) O. Effert z, Ueber Neurasthema sexualis, New York 1894,
S. 46.
39) Uebrigens die der Frauen auf mehr als 10 o/0. Die Wahrheit
dürfte in der Mitte der Angaben von E f f e r t z und Cr u 11 z e i t liegen.
«) Darunter versteht man unwillkürliche krampfhafte Zusammen-
ziehungen der Scheidenmuskeln bei abnormer Empfindlichkeit des
Scheideneingangs, die auf Onanie beruht, oder durch die erwähnten
Schmerzempfindungen und Verletzungen bei ungeschicktem und bru-
talem Koitus ausgelöst wird, was bei weitem am häufigsten der Fall
ist. besonders wenn das Glied sehr groß und der Scheideneingang sehr
eng oder das weibliche Genitale sehr weit nach vorn gelagert ist. Der
Vaginismus geht meist von dabei entstandenen kleinen Verletzungen
und Einrissen aus, mit der körperlichen Schmerzhaftigkeit verbindet
sich die seelische Angst vor neuen Annäherungsversuchen, und so
entsteht ein Reflexkrampf. Bisweilen tritt dieser Scheidenkrampf erst
iiach Einführung des Gliedes auf, so daß dieses festgehalten wird.
(Penis captivus). Vor einigen Jahren ereignete sich in Bremen der
merkwürdige Fall, daß am hellen Tage einem in einer verborgenen Ecke
der Freihafengegend den Koitus ausübenden Hafenarbeiter dieses Schick-
sal widerfuhr, und er sich aus dem Gefängnis nicht wieder befreien
konnte. Unter großem Menschenauflauf wurde das Paar im geschlossenen
Wagen ins Hospital gebracht, wo erst die Chloroformnarkose des Mäd-
chens den Krampf löste und den Liebhaber befreite!
435
torische Zärtlichkeiten usw.), eventuelle Schmerzempfindlichkeit
und Vaginismus kann durch mechanische Behandlung, durch Ent-
fernung schmerzhafter Hymenaireste, durch Heilung kleiner
Verletzungen, auch durch Dehnungen mit dem Mutterspiegel
beseitigt werden. Es scheint auch, worauf eine Beobachtung von
Courty hin weist, mit dem Momente der Schwängerung eine
stärkere Erregung des Wollustgefühles in ooitu bei sonst frigiden
Frauen einzutreten.
Sexuell frigide Frauen der niederen Stände werden, worauf
auch E f f e r t z hinweist, öfters Prostituierte. Sie behalten immer
in der Ausübung ihres Berufes ihren klaren Kopf, da sie geschlecht-
lich von vornherein unempfindlich sind und ihr ganzes Dichten
und Trachten auf die Ausbeutung der Männer richten können.
Der folgende von Effertz (a. a. O. S. 51) mitgeteilte Fall
illustriert diesen Zusammenhang sehr deutlich:
„Ich wurde auch einmal von einer solchen hochgestiegenen He-
täre konsultiert, angeblich wegen Gelenkrheumatismus. Als ich ihr
die Diagnose Lues mitteilte, wurde sie sehr gerührt und sagte mir,
ich solle deswegen nicht schlecht von ihr denken; sie sei besser wie
ihr Euf; sie habe das niemals aus böser Lust g^.an.* sie sei ganz ge-
fühllos; sie habe das nur getan, um ihren Eltern einen sorgenfreien
Lebensabend und ihrem kleinen Kinde eine gesicherte Zukunft zu ver-
schaffen. Bei der Gelegenheit erklärte sie mir auch, daß sie ihre Er-
folge ihrer Sprödigkeit verdanke, die ihr allerdings nie schwer
gefallen sei. Sie habe sich nie unter tausend Mark hergegeben.
Sie mokierte sich dabei sehr über ihre Kolleginnen, diese dummen und
schlechten Mädels, die sich oft, wenn ihnen der Sekt in den Kopf
gestiegen sei, für nichts hergegeben hätten und selbst den Kavalieren
nachgestiegen seien.“
Otto Adler schildert Madame de Warens aus
Eousseans „Confessions“ als Typus einer solchen „femme de
glace“. — Frigide Frauen heiraten relativ häufiger als geschlecht-
lich stark erregbare, weil ihre natürliche Zurückhaltung ihnen
in den Augen der Männer einen großen Beiz verleiht und auch
für ihre Treue eine gewisse Gewähr bietet. Solche Ehen werden
natürlich fast stets unglücklich, da die Männer bald den wahren
Sachverhalt merken, und nach dem Worte des Ovid: „Odi
concubitus qui non utrimque resolvunt“ außerhalb des Hauses Er-
widerung ihrer Liebe suchen. Bisweilen wird ja von frigiden
Frauen Libido und Orgasmus geheuchelt und der Mann getäuscht,
bisweilen sogar wird trotz offenkundiger Frigidität der Frau die
Ehe doch glücklich, wenn nämlich der Ehemann halb oder ganz
iS 6
impotent ist und. freiwillig auf den Koitus verzichtet. Einen
solchen merkwürdigen Fall beobachtete ich kürzlich:
Es handelt sich um einen sonst körperlich und geistig völlig
gesunden Kaufmann, Ende der dreißiger Jahre, der seit dem elften
Lebensjahre bis jetzt masturbiert hat, zwischen dem 11. und 18. Jahr
täglich zweimal. Er will oft da-bei Ejakulation ohne Erektion gehabt
haben, er versuchte in den 20iger Jahren öfter den Koitus, hatte aber
niemals eine Erektion, überhaupt kam es nie zu einer solchen, wenn
er seine Gedanken darauf richtete, sondern nur ohne sein Zutun, bei
anderen Gelegenheiten als dem geschlechtlichen Verkehr. So hatte
er bis zu seiner im 30. Lebensjahre erfolgten Verlobung niemals den
regelrechten Koitus vollzogen, sondern sich nur durch Masturbation ge-
schlechtlich befriedigt und ging deshalb nur mit Bangen in die Ehe,
obwohl er während der elfmonatlichen Verlobungszeit sehr viel weniger
onaniert hatte. In der Hochzeitsnacht und später stellte es sich aber
heraus, daß auch seine 20 jährige Frau eine natürliche Abnei-
gung gegen den Koitus hatte, überhaupt sehr frigide war
und nur dann Spuren von geschlechtlicher Empfindung zeigte, wenn
durch onanistische Beizungen von seiten des Mannes ihre Libido ein
wenig angeregt worden war. Aus sich allein heraus bekundet sie nie-
mals das Verlangen nach sexueller Befriedigung, selbst nicht durch
Masturbation. Die beiden leben seit sieben Jahren in glücklichster
Ehe und lieben sich zärtlich, ohne jemals den Beischlaf miteinander
vollzogen zu haben. Diese mangelhafte Geschlechtsempfindung der
.Frau und ihr geringes Entgegenkommen hat natürlich die Impotenz
des Mannes nicht gebessert, und er befriedigt sich nach wie vor teils
durch mutuelle, teils durch eigene Masturbation.
Es beweist dieser Fall auch, daß die Fähigkeit zur Liebe
in gewissem Grade unabhängig ist von der Stärke der Libido,
frigide Männer und Frauen können durchaus „erotisch“, d. h.
zärtlichkeitsbedürftig sein, ebenso wie die „Erotomanie“ d. h.
die übermäßige Sehnsucht nach Liebe41) von Satyriasis und
Nymphomanie (= übermäßige Geschlechtslust) völlig ver-
schieden ist.
Beim Manne ist die sexuelle Frigidität in der Mehrzahl der
Fälle mit Geschlechtsschwäche oder Impotenz verbunden, d. h.
dem Unvermögen der Begattung oder der Zeugung. Der erstere
Modus ist eigentlich nur dem Manne eigentümlich. Der zweite,
die eigentliche „Unfruchtbarkeit“, kommt auch bei der Frau vor.
Für die männliche Impotenz kommen verschiedene Symptome,
41) Zwei typische Beispiele weiblicher Erotomanie schildert Ko-
dier, Die geheimen Verirrungen des weiblichen Geschlechts, Leipzig
1831, S. 123—128. ~ .
487
Vorläufer und Begleiterscheinungen in Betracht, die wir gesondert
besprechen müssen, da sie oft als selbständige Leiden auftreten.
Das gilt vor allem von den Ausflüssen von Ge-
schleehtssekreten aus der Harnröhre, den Samen-
verlusten (Pollutionen und Spermatorrhöe) und der
Entleerung des Sekretes der Vorsteherdrüse, der sogen.
„Prostatorrhöe“. Die Literatur über diese teils physiolo-
gischen (wie ein Teil der Pollutionen), teils krankhaften Zustände
ist enorm. Grundlegend bleibt trotz aller Uebertreibungen des
Verfassers das berühmte Werk des Dr. M. Lallemand „Ueber
die unfreiwilligen Samenergießungen“ (deutsch von C. J. A.
Venus, Weimar 1837). In neuerer Zeit ist dieses wichtige Gebiet
der Sexualpathologie besonders durch die Forschungen hervor-
ragender deutscher Aerzte, besonders von C ursch mann und
Fürbringer gefördert worden.
Die wichtigste Frage bei den Samen Verlusten oder Pollu-
tionen ist die: handelt es sich um physiologische, innerhalb der
Gesundheitsbreite liegende oder um krankhafte Vorgänge?
Als normale, nicht krankhafte Samenverluste ließ Lalle-
mand die Pollutionen bei gesunden, geschlechtsreifen,
enthaltsamen Individuen gelten, die von selbst während
des Schlafes unter Erektion des Gliedes und Wollust-
gefühlen stattfinden. Er betrachtete sie mit Recht als physio-
logische Notwendigkeit, bezeichnete als ihren Zweck die Lösung
der Sexualspannung, die Verhinderung übermäßiger Anhäufung
der Sexualprodukte und verglich ihre Wirkung mit den Blutungen
aus der Nase, die „in der Jugend so häufig und in den meisten
Fällen entschieden heilsam sind“. Aber er wies auch schon auf
die unbestimmte, fließende Grenze zwischen normalen
und krankhaften Pollutionen hin. Dieser letztere Gesichtspunkt
bestimmte wohl Eulen bürg (Sexuale Neurasthenie S. 171) im
Gegensätze zu den übrigen Autoren alle Pollutionen, auch die
■physiologischen, als abnorme anzusprechen. In der Praxis läßt
sich indessen meist ein Unterschied zwischen den physiologischen
und krankhaften Samen Verlusten feststellen. Die ersteren zeichnen
sich, abgesehen von den eben erwähnten Merkmalen, durch ihr
selteneres Auftreten und durch das Fehlen einer nach-
teiligen Wirkung auf Wohlbefinden und Gesundheit aus. Sobald
Pollutionen solch schädigenden Einfluß haben, sind sie krank-
haft, und das sind sie meist, wenn sie abnorm früh, schon
■vor der Pubertät, abnorm häufig, zu abnormer Tageszeit
und unter abnormem Verhalten der Genitalien vor sich
gehen. Nach Piirbringer schwanken die normalen Intervalle
der Pollutionen bei enthaltsamen Jünglingen zwischen 10 und
30 Tagen, Löwenfeld hält wöchentlich einmal auf tretende
Pollutionen, selbst das vorübergehende Auftreten von Pollutionen
an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen im Gefolge sexueller
Erregungen noch für normal. Dauert aber dieses mehrmalige Auf-
treten in einer Woche oder gar an einem Tage längere Zeit
hindurch an, so handelt es sich stets um krankhafte Pollutionen.
Diese treten bisweilen nicht nur bei Nacht, sondern, warauf zu-
erst der deutsche Arzt W i c h m a n n in seiner Dissertation „De
pollutione diurna“ (Göttingen 1782) hinwies, auch am Tage
(.,Tagespollutionen“), im wachen Zustande auf, ohne Onanie
oder Koitus, schon auf leichte mechanische oder psychische Heize.
Dann kann häufig dabei Erektion des Gliedes völlig fehlen,
die Ejakulation des Samens erfolgt bei schlaffem Gliede, ja auch
jede wollüstige Empfindung kann fehlen, nicht selten werden
diese Pollutionen sogar von schmerzhaften Empfindungen-
in den Genitalien begleitet, und statt wollüstiger Träume oder
Gedanken erfolgt im Schlafe die Ejakulation unter Angstträumen,
die Tagespollution unter starken Unlustgefühlen. Gewöhnlich wird
bei diesen Pollutionen im Anfänge noch der gewöhnliche Samen
entleert, der eine Mischung von Hodensekret, Prostatasaft, Sanien-
blasensekret. und Sekret der sogenannten Cowper sehen Drüsen
der Harnröhre darstellt, auch zahlreiche Samenfäden enthält.
Nach längerem Bestände des Leidens wird der Samen dünner (durch
Verminderung des dickeren Hodensekrets) und durchsichtiger, die
Samenfäden sind weniger zahlreich, meist unentwickelt, zuletzt
können sie ganz fehlen. Löwenfeld beobachtete eine eigentüm-
liche Porm der Pollution, bei der der Samen nur in Tropfen
sich entleerte oder auch gänzlich fehlte, also eine Pollu-
tion ohne Ejakulation,42) bloßer wollüstiger Orgasmus. Hier-
bei konnte Löwenfeld konstatieren, daß nicht der Samen Ver-
lust an sich schwächt, wie das Lallem and annahm, sondern
daß die nervöse Erschütterung des Lendenmarks dabei
die Hauptrolle spielt. Diese reizbare Schwäche des Lendenmarka
kann schon vorher bestehen oder erst infolge gehäufter Pollu-
tionen oder sexueller Erregungen sich entwickeln, sie kann außer
1S) L. Löwenfeld a. a. O., S. 206—207.
den eigentlichen Samenverlusten auch die „Spermatorrhöe“
d. h. den während des Urinierens oder der Defäkation
beobachteten Samenabgang, sowie die seltenere
„Prost atorrliö e“, den Abgang des Sekrets der Prostata oder
Vorsteherdrüse hervorrufen. Längere Dauer aller dieser krank-
haften Ausflüsse beeinträchtigt die Gesundheit ernstlich und er-
zeugt das typische Bild der sexuellen Neurasthenie. Als U r -
Sachen der Samen Verluste kommen Onanie, exzessiver Ge-
schlechtsverkehr, chronische Entzündungen der Harnröhre, be-
sonders nach Tripper, Verengerungen der Harnröhre, Mast-
darmaffektionen, Alkoholismus, Zuckerkrankheit, Bückenmarks-
schwindsucht (Tabes dorsalis) in Betracht.
Auch hei Frauen sind pollutionsartige Vorgänge
zu beobachten, allerdings viel seltener als beim Manne und meist
als Folge langjähriger Onanie. Nach Adler (a. a. O. S. 180)
kommen Pollutionen, d. h. Entleerungen des Sekretes der Scheiden-
drüsen und Gebärmutterschleimhaut, sowie der am Scheidenein-
gange belegenen Bartholini sehen Drüsen niemals bei keuschen
und reinen Jungfrauen vor, sondern nur bei solchen Frauen, die
bereits den Genuß des geschlechtlichen Verkehrs kennen, aber
zur Enthaltsamkeit gezwungen sind. Daher sind Pollutionen ein
„Leiden junger Witwen“ und erscheinen beim jungen Mädchen
nur, wenn es durch Masturbation die Geschlechtslust kennen ge-
lernt hat. Eulenburg bemerkt (Sexuale Neurasthenie S. 174):
„Unter lasziven Träumen spontan erfolgende, mehr oder weniger
abundante Ergüsse des von den Drüsen gelieferten hellen, zäh-
schleimigen Sekretes bilden eine hervorragende Erscheinung
sexualer Neurasthenie beim Weibe und können mit den unter
ähnlichen Umständen sich ereignenden krankhaften Pollutionen
männlicher Neurastheniker wohl in Parallele gestellt werden;
man hört aber weniger davon und sie sind auch (selbst den Aerzten)
vielfach nicht genügend bekannt, werden daher, namentlich wenn
sie bei physischer Virginität und anderweitig normaler Genital-
beschaffenheit Vorkommen, meist nicht in gebührender Weise be-
achtet.“ Die älteren Aerzte, namentlich die des 18. Jahrhunderts,43)
43) Swediaur erzählt z. B.: „Ich habe, ohechon weit seltener,
die nämlichen Krankheiten bei dem anderen Geschlechte stattfinden,
sehen (er spricht von der Tages-Pollution). Ich behandle in diesem
Augenblicke eine 28 jährige Frau, die seit anderthalb Jahren, wo sie
einen Mißfall gehabt hat, an sehr häufigen, unwillkürlichen
490
kannten diese Pollutionen des Weibes sehr wohl und haben sie
ausführlich geschildert; in der erotischen und pornographischen
Literatur spielten sie von jeher eine große Bolle. Eine inter-
essante Beobachtung über eigentümliche pollutionsartige Vorgänge
teilte Paul Bernhardt44) mit. Es handelt sich um eine
25 jährige hysterische Näherin, bei der jeder A er ge r eine ge-
schlechtliche Aufregung hervorruft, die völlig der Empfindung
der Ivohabitation gleicht und mit einem Schleimverlust endet.
Nie ist aber dabei eine Spur von Lustgefühl, im Gegenteil fühlt
sie sich kreuzelend. Auch wenn sie etwas Unangenehmes
träumt oder Angstträume hat, wiederholt sich dieser Zu-
stand. Patientin ist erotisch sehr indifferent, stellt auch Onanie
in Abrede.
In der Behandlung der Pollutionen, die stets sorgfältige
ärztliche Ueberlegung und Prüfung des einzelnen Falles erfordern,
spielen diätetische und hygienische Maßregeln, Land-
und Gebirgsaufenthalt, eine methodische Kaltwasser-
kur oder auch warme Bäder, Massage, Elektrizität,
Mastkuren, Brompräparate, lokale Behandlung
der Harnröhre u. a. m. eine Bolle.
Die letzte und wichtigste mit der sexuellen Neurasthenie in
Zusammenhang stehende Erscheinung ist die Geschlechts-
schwäche oder Impotenz in ihren verschiedenen Formen.45)
nächtlichen Pollutionen leidet, die durch sehr wollüstige Träume er-
regt und von allen den Symptomen der Rückenmarksverzehrung be-
gleitet werden, die Hippokrates als eine dem männlichen G-e-
schlechte zukommende Krankheit beschrieben hat.“ Zitiert nach L.
D es 1 a n d e s , Von der Onanie und den übrigen Verirrungen des Ge-
schlechtstriebes, Leipzig 1835, S. 204.
44) P. Bernhardt, Ueber pollutionsartige Vorgänge beim Weibe
ohne sexuelle Vorstellungen und Lustgefühle, in: Die ärztliche Praxis
.1903, No. 17, S. 193—197.
45) Die beste neuere Arbeit über Impotenz ist die von F ü r -
b r i n g e r , Die Störungen der Geschlechtsfunktionen des Mannes,
2. Auflage, Wien 1901. — Vgl. ferner Frenzei, Von dem Unvermögen
zur Fortpflanzung, Wittenberg 1800; F. Roubaud, Traité de l’im-
puissance et de la stérilité chez l’homme et chez la femme, Paris 1878;
V. v. G y u r k o v e c h k y , Pathologie und Therapie der männlichen.
Impotenz, 2. Auflage, Wien und Leipzig 1897 ; J. Steinbacher,
Die männliche Impotenz, 5. Auflage, Berlin 1892; W. A. Hammond,
Sexuelle Impotenz beim männlichen und weiblichen G-eschlechte, Berlin
1891; A. Eulenburg, Sexuale Neurasthenie, S. 177—183; Leo-
pold C asper, Impotentia et Sterilitas virilis, München 1S90.
491
Man ■unterscheidet beim Manne zwei Hauptformen der
Impotenz: 1. die „Impotentia coeundi“, d. h. das Unver-
mögen, überhaupt das Glied zu erigieren und die Begattung aus-
zuführen; 2. die „Impotentia generandi“, d. h. das Un-
vermögen, zu befruchten (entweder aus Mangel an Samen oder
aus unfruchtbarer Beschaffenheit desselben).
Angeborene Mißbildungen der Genitalien, durch die Impotenz
bedingt wird, kommen selten vor. Gyurkovechky fand sie
unter 6000 militärpflichtigen jungen Männern nur dreimal.
Häufiger kommen erworbene Defekte als Ursachen in Betracht,
so z. B. der durch Kastration gesetzte gänzliche oder teilweise
Mangel des Penis und der Hoden, wie bei den Eunuchen und
Kastraten. Es ist bekannt, daß trotzdem Geschlechts lust be-
stehen bleiben kann, ja, daß bei erhaltenem Penis sogar Erektion
und Begattung möglich ist, falls die Kastration nach Eintritt
der Pubertät ausgeführt worden war. Daß natürlich meist die
Potenz sehr stark beeinträchtigt wird und schließlich doch ganz
schwinden kann, ist klar und wird durch das Vorkommen von
Impotenz nach einseitiger Kastration noch mehr ins Licht
gerückt. Einen tragischen Fall der letzteren Art berichtet
v. Gyurkovechky (a. a. 0. S. 71):
Ich hatte an der Universität zu Wien einen älteren Kollegen,
welchem ein Hode wegen hartnäckiger, infolge von Gonorrhöe entstan-
dener Erkrankung entfernt werden mußte, wTorauf der zweite Hole voll-
ständig atrophierte. Der bedauernswerte, schöne, elegante und liebens-
würdige junge Mann war wohl noch durch einige Jahre imstande, den
Beischlaf auszuüben, rühmte sich dessen und machte den Damen ostenta-
tiv die Cour, doch ward er immer seltener imstande, den Beischlaf
auszuüben, und nach drei Jahren zog er sich von der Damenwelt
gänzlich zurück, wurde allmählich mürrisch und verschlosssea, bis er
eines Tages aus Wien verschwand, das Studium aufgab und nie wieder
etwas von sich hören ließ. Dieser Fall ist mir lebhaft im Gedächtnisse
und illustriert ganz vorzüglich den Einfluß der Manneskraft auf das
ganze Wesen des Individuums.
Wenn allerdings der zweite Hoden intakt bleibt, wird die
Begattungsfähigkeit nicht beeinträchtigt und auch die Zeugungs-
fähigkeit bleibt, wenn auch in niederem Grade, erhalten.
Eine wichtige Quelle der männlichen Sterilität, wobei die
Begattungsfähigkeit bestehen bleibt, ist die doppelseitige
Entzündung der Nebenhoden (Epididymitis) nach
Tripper. Sie macht mehr als 50 °/o aller Ursachen der männ-
lichen Zeugungsnnfähigkeit aus. Finger fand in 85 A» .von
Epididymitis Fehlen der Samenfäden im Samen (sog.
„A zoospermie“) und Ftirbr inger kommt auf Grund seiner
Erfahrungen zu einem Prozentsatz von 80 °/o zeugungsunfähig'er
Männer mit doppelseitiger Epididymitis. So kann man wirklich
ebenso von einer „Tripper-Sterilität des Mannes“
sprechen. Viele unfruchtbare Ehen sind es, wie namentlich
F. Kehrers gründliche Untersuchungen zuerst erwiesen haben,
durch die Schuld des Mannes. Und die ebenso verhängnisvolle
Tripper-Sterilität der Frau stammt auch meistens vom Manne,
der ihr die gonorrhoische „Infektion als Morgengabe“46) dar-
ge bracht hat.
Exzessive absolute Kleinheit des Gliedes, auch rela-
tive Kleinheit bei Fettsucht und Geschwülsten, Miß-
bildungen des Gliedes, ferner die nicht seltene mechanische
Behinderung der Erektion durch Verletzungen und Schwielen-
bildnngen in den „Schwellkörpern“ (besonders durch gonorrhoische
Entzündungen) können die Begattung unmöglich machen. Für-
b r i k g e r und Finger beobachteten auch einen von Tripper
und Geschwülsten unabhängigen eigentümlichen chronischen
Schrumpfungsprozeß der Schwellkörper. Alle diese Verhältnisse
bedingen eine unvollständige Erektion, bei der das Glied
an einer Stelle winklig oder bogenförmig eingeknickt und daher
zur Einführung in die Scheide ungeeignet ist.
Alle die bisher genannten Formen der Impotentia coeundi
sind nicht so häufig wie diejenigen, bei denen äußerlich
die Genitalien vollkommen intakt sind und bei denen
es sich lediglich um Mangelhaftigkeit oder gänzliches
F e h 1 e n der Erektion infolge verschiedener Allgemein-
leiden handelt.
Die Erektion, das Steifwerden des Glieaes, wird sowohl
zentral vom Gehirn (durch wollüstige Vorstellungen) und
Rückenmark (durch direkte Beizungen), als auch peripher von
den Geschlechtsteilen aus (durch Reibung der Eichel, durch
Reize, die von Harnröhre, Blase, Prostata, Samenblasen, Mast-
darm und Umgebung der Genitalien, z. B. dem Gesäß ausgehen,
und krankhafter oder physiologischer Natur sein können) bewirkt.
Bei entzündlichen Zuständen in den Geschlechtsorganen, besonders
*«) W. Schallmayer, Infektion als Morgengabe, in: Zeit-
schrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten 1903/01, Bd. II,
&. SG?-fl9.
Tripper der vorderen und hinteren Harnröhre, kommen daher
leicht Erektionen zustande, ebenso gehen von der gefüllten Blase
Beize zur Erektion aus, was die bekannten „Mor ge ne Sek-
tionen“ bewirkt, die mancher sonst durchaus Impotente aas-
nutzt. Auch Schläge auf das G-esäß bewirken Erektionen, worauf
wir bei Besprechung des Flagellantismus noch zurückkonimen.
Das Wesen der Erektion kann man ganz kurz bezeichnen
als Steifwerden des Gliedes durch das reichliche Ein strömen
von Blut in die durch Beizung der Erektionsnerven
erweiterten netzförmigen Hohlräume der Schwell-
körper. Die dabei erfolgende Aufrichtung des Gliedes
beruht auf der Wirkung eines bestimmten Muskels, des „Mus-
culus ischiocavernosus“.
Die Impotenz bei intakten äußeren Genitalien ist in der
Mehrzahl der Fälle eine zentral bedingte, im letzten Grunde
psychische, wenn auch schwere körperliche Affektionen oder
lokale krankhafte Zustände dabei eine begünstigende Bolle spielen
(sogenannte „funktionelle Impoten z“).
So ist Impotenz nicht selten eine der frühesten Er-
scheinungen der Zuckerkrankheit und der B right sehen
N ierenschrumpfung, ferner schwerer Erschöp-
fungszustände — wobei die Lungenschwindsucht eine Aus-
nahme macht, worauf schon das alte Wort „Phthisicus salax'.“
hinweist —, der Fettsucht, der Eückenmarksschwind-
sucht, wo die Potenz allmählich erlischt, die Libido die Fällig-
keit zur Erektion überdauert. Auch gewisse Gifte schädigen
die Potenz in hohem Grade. Das gilt besonders vom Alkohol,
von dessen die Potenz schädigenden Wirkungen schon früher die
Bede war (S. 326—327). Georg Hirth tritt geradezu für die
Anerkennung einer „Impotentia alcoholica“ ein. „Vor
allem kein Alkohol,“ sagt er, „namentlich nicht als Mittel
zur Erzielung von Erektionen. In der Jugend braucht der Mensch
keine derartigen Beizmittel, und im Alter geht’s ihm leicht wie
dem Pförtner in Shakespeares „Macbeth“ (II, 3), der den Trank
einen Doppelzüngler bei der Unzucht nennt: „er treibt das Ver-
langen und vertreibt das Vollbringen; er zeugt und verscheucht
die Wollust, er macht ihr Blut und nimmt ihr das Herz, er
kommt zu ihr und zu nichts; endlich gängelt er sie in Schlaf,
straft sie Lügen und läßt sie liegen“.47) Für bringe rs An-
47) G. Hirth, Wege zur Liebe, S. 461, 463.
494
sicht, daß Alkoholgenuß bis zur leichten Berauschung die Potenz
eher steigere, wobei er sich auf angehende Geschlechtsinvaliden
beruft, die „nur noch“ im leichten Alkoholrausch den Beischlaf
zu leisten vermochten, kann nicht als allgemein zu Recht be-
stehend angesehen werden. Beseitigte bei diesen von vornherein
geschlechtsinvaliden Individuen der Alkoholrausch nicht etwa
noch stärkere psychische Hemmungen, die im nüch-
ternen Zustande die Erektion verhinderten ? Für normale Indi-
viduen ist der Alkohol jedenfalls kein Potenzmittel, sondern das
Gegenteil eines solchen.
Starkes Rauchen schädigt ohne Zweifel ebenfalls die
Potenz.48) Nikotin und Liebe vertragen sich ebensowenig wie
Alkohol und Liebe. Fürbringer, Hirth, Eulenburg
schreiben dem Tabakmißbrauch eine depotenzierende Wirkung’
bei. Interessant ist folgende Stelle aus dem Tagebuche der
Gon courts (a. a. O. S. 89): „Zwischen dem Tabak und
dem Weibe herrscht ein Antagonismus. Der Ge-
schmack an dem einen vermindert den am andern;
das ist so wahr, daß die leidenschaftlichen Frauenjäger eines
schönen Tages den Tabak aufgeben, weil sie fühlen oder
sich einbilden, daß der Tabak die Begierde und
die Liebeskraft heruntersetzt.“
Kaffee, Tee im Uebermaß genommen, vor allem Mor-
phium sind ebenfalls potenzfeindlich.
Das Gros der funktionellen Potenzformen bildet die nervöse
Impotenz, die heute dem Arzte am allerhäufigsten begegnet.
Sie hängt innig zusammen mit der „reizbaren Nervenschwäche“
oder sexuellen Neurasthenie, deren wichtigstes Symptom diese
„psychische“ Impotenz darstellt. Es gibt allerdings, und das
rechtfertigt die Selbständigkeit der psychischen Impotenz, auch
zahlreiche Fälle von Impotenz ohne Neurasthenie (Für-
bringer). Diese merkwürdige Form kommt hauptsächlich bei
völlig gesunden jungen Ehemännern vor, die oft vorher
durchaus potent waren und auf normale Weise den Koitus aus-
48) Jacquemart berichtet über einen eklatanten Fall von.
Impotentia coeundi, die bei einem Techniker infolge seiner An-
stellung in einer Staatstabakfabrik auftrat; nachdem der Patient die
Stellung aufgegeben, stellte sich die normale Potenz wieder ein. VgL
Loebisch, Artikel „Tabak“ in Eulenburgs Real-Enzyklopädie
1900, Bd. XXIY, S. 19.
495
geübt hatten oder völlig abstinent gelebt haben, ohne etwa durch
Onanie sich zu entschädigen. Diese macht die Aufregung der
Hochzeitsnacht, Scham und Befangenheit u. a. oft psychisch
impotent. BetP9) spricht von einer „Impotenz aus Er-
barmen“, die durch das „Mitgefühl mit den Schmerzen der
noch jungfräulichen Gattin“ beim Koitusversuch erzeugt wird.
„Die jungen Eheleute kosen [und überbieten einander an Zärt-
lichkeiten, doch wenn es ernst wird, wenn der Mann von seinem
Gattenrechte Gebrauch machen will, bemächtigt sich der Frau
ungeheure Angst, sie bebt und zittert an allen Gliedern, krümmt
und windet sich, schreit und jammert. Der Mann erschlafft und
dann, wenn die Frau sich schon resigniert in ihr Schicksal er-
geben will, ist er verbraucht, sinkt ermattet zurück und ist
kampfunfähig geworden.“
Es ist klar, daß diese Formen der psychischen Impotenz,
die in den verschiedensten Nuancen auftreten, meist vorüber-
gehende Erscheinungen sind und eine gute Voraussage hinsicht-
lich der Heilung zulassen.
Sehr viel schwieriger steht es in jenen, heutzutage immer
häufiger vorkommenden Fällen von psychischer Impotenz infolge
von sexuellen Perversionen. Sadistische, masochistische,
fetischistische und homosexuelle Neigungen können bei einzelnen
so überwiegen, daß entweder ohne ihre vorherige Befriedigung
eine Begattung nicht möglich ist, oder daß sie überhaupt ganz
an die Stelle des normalen Koitus treten, dieser also über-
haupt nicht mehr möglich ist (relative und absolute psychische
Impotenz durch sexuelle Perversionen). Zur ersteren Kategorie
gehören z. B. die nicht selten beobachteten Fälle, daß Homo-
sexuelle nur nach vorherigen Liebkosungen ihrer männlichen
Freunde imstande sind, mit Weibern zu verkehren, oder daß
Masochisten einer präparatorischen Flagellation sich unterziehen
müssen, um potent zu werden. In der zweiten Kategorie kommt
es gar nicht mehr zur Begattung, der Orgasmus erfolgt bereits
durch die Betätigung der perversen Triebe, und es besteht sogar
oft ein Widerwillen gegen den Koitus.
Bekannt ist auch jene seltsame relative psychische Impotenz,
bei der der Mann nur mit Prostituierten die Begattung
vollziehen kann, während er bei ehrbaren Frauen impotent ist. 49
49) S. R e t i , Sexuelle Gebrechen, 2. Auflage, Halle a. S. 1904, S. 15.
496
Das mag aber oft genug mit dem Bestehen einer sexuellen
Perversion Zusammenhängen, die eben nur bei Prostituierten be-
friedigt wird.
Eine andere Form der relativen psychischen Impotenz ist
die temporäre Impotenz, bei der die Potenz ganz der Ge-
w o h n h e i t unterworfen ist und einer Abänderung der Gewohn-
heit gleichsam nicht folgen kann. So berichtet Frenzei von
einem Manne, der den Koitus mit seiner Frau stets beim Schlafen-
gehen vollzogen hatte und völlig impotent wurde, als diese
Gewohnheit unterbrochen wurde und er nun den Akt in der Frühe
ausüben sollte. Erst nach und nach gewann er seine Potenz
wieder und konnte sich an die veränderten Umstände gewöhnen.50)
Eine ebenfalls nicht selten bei sonst gesunden Männern vor-
kommende Form der Impotenz ist diejenige, die durch starke
geistige Tätigkeit oder künstlerische Produktion hervor-
gerufen wird, die Impotenz der Gelehrten und Künstler. Sie
ist meist vorübergehender Natur,51) zeigt sich eben nur während
der Periode des geistigen Schaffens und sie erklärt sich nach
dem Gesetze der sexuellen Aequivalente sehr leicht daraus, daß
die aktive Sexualität hier eben außer Funktion tritt, weil sie
in die latente Form der geistigen Produktion umgesetzt wild.
Einen merkwürdigen Fall dieser Gelehrtenimpotenz teilt der
eben genannte Frenzel mit.52) Verwandt mit dieser Art ist
die Impotenz durch vorübergehende geistige Ablenkung,
durch momentane Vorstellungen, die plötzlich als
psychische Hemmungen wirken. Diese plötzlichen Vorstellungen
können sehr verschiedenen Inhalt haben, freudige, traurige, angst-
volle, ärgerliche sein, in jedem Falle können sie sofort die eben
noch vorhandene Potenz aufheben und die Erektion des
Gliedes unmöglich machen. Solche Zustände kommen sowohl bei
gesunden als auch bei leicht erregbaren und neurasthenischen
Individuen vor. Ein klassischer Fall dieser Art ist J. J.
Rousseaus Abenteuer mit der venetianischen Kurtisane
Giülietta, das er sehr ausführlich in den „Confessions“
schildert. Er tritt bei ihr ein, voll leidenschaftlicher Begierde
nach Geschlechtsgenuß, aber die Natur hat „in seinen Kopf
50) J. S. T. Frenzei, Von dem Unvermögen zur Fortpflanzung,
Wittenberg 1800, Teil I, S. 164.
51) Bei Newton soll sie dauernde Impotenz hervorgerufen haben.
62) Frenzei a. a. O., S. 155—156,
497
ein Gift gegen diese unaussprechliche Glückseligkeit gelegt“,
nach der sein „Herz“ verlangt. Kaum hat er das schöne
Mädchen erblickt, als ihm ein Gedanke kommt, der ihn bis zu
Tränen bewegt und gänzlich von seinem Vorhaben ablenkt. Er
gerät immer tiefer in diese Reflexion, die Begierde verliert sich
völlig und er ist nicht imstande, sich als Mann zu zeigen. Wir
verdanken dieser tragikomischen Episode den sprichwörtlich ge-
wordenen Ausruf des enttäuschten Mädchens: „Lascia le donne
e studia la matematica“ (Laß die Frauen und studiere lieber
Mathematik!). In der Re flexionsliebe eines Kierke-
gaard, Grillparzer, Alfred de Müsset und anderer
geistig hochstehender Männer ist ebenfalls das Moment der
Impotenz unverkennbar.
Die Mehrzahl aller Fälle von Impotenz gehört der eigent-
lichen nervösen, neurasthenischen Impotenz an und ist
besonders in den Kreisen verbreitet, die überhaupt das größte
Kontingent zur Neurasthenie stellen, also unter Offizieren, Kauf-
leuten, Aerzten und anderen beruflich stark in Anspruch ge-
nommenen Klassen der gebildeten Stände. Unter den Ursachen
der neurasthenischen Impotenz spielen exzessive Onanie und
chronischer Tripper mit seinen Folgezuständen die Hauptrolle.
Die neur asthenische Impotenz äußert sich vor allem durch die
abnormen Verhältnisse von Erektion und Ejakulation, die jede
für sich allein vermindert oder gänzlich aufgehoben sein oder
auch beide zugleich ein abnormes Verhalten zeigen können, ja,
es können sogar die Erektionen sehr häufig erfolgen und
besonders stark und lange dauernd sein (sogenannter
„Priapismus“), während Ejakulation und Wollustgefühl
gänzlich fehlen und meist sehr schmerzhafte Empfindungen
diese Erektionen begleiten. Ein besonders charakteristisches
Symptom der nervösen Impotenz ist der vorzeitige, ver-
frühte Samenerguß, nicht bloß erst ante portas, sondern
oft schon bei der ersten Regung der Libido sexualis, wobei an-
fangs die Erektion noch sehr gut möglich sein kann. In anderen
Fällen wiederum erfolgt wohl Erektion, aber keine Ejakulation
des Samens. Schließlich können beide gänzlich fehlen (sogenannte
„paralytische Impotenz“).
Die folgenden Fälle eigener Beobachtung veranschaulichen
einige der genannten verschiedenen Typen von Impotenz:
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 82
(41.—60. Tausend.)
498
1. 29 jähriger Mann, seit 10 Monaten verheiratet, klagt nach
offenbar allzu häufigem Genüsse der ehelichen Freuden über früher
niemals so empfundene Schwäche und Mattigkeit nach der Kohabitation
sowie über immer häufiger werdende verfrühte Ejakulation schon bei
bloßer Berührung der Vulva. Erektion stets vorhanden und kräftig.
Auf Befragen gibt er an, daß er auf der vierwöchentlichen Hochzeits-
reise täglich einmal, von da an zwei- bis dreimal wöchentlich die
Kohabitation vollzogen habe.
2. 21 jähriger Mann. Gibt an, daß er vor I1/2 Jahren zuerst ge-
schlechtlichen Verkehr gesucht habe, aber noch niemals den Koitus
habe vollziehen können. Leidet schon seit seinem 11. Jahre an häufigen
Pollutionen und starker geschlechtlicher Erregbarkeit. Er hat schon
sehr oft versucht, die Kohabitation auszuführen, aber es kam stets zu
präzipitierter Ejakulation bei schlaffem Gliede. Er hat eigentlich nur
Morgenerektionen infolge gefüllter Blase. Vielleicht hat ein starker
linksseitiger Krampfaderbruch des Hodens (Varicocele) Anteil an der
Genesis dieser Impotenz.
3. 48 jähriger Mann verspürt seit einigen Jahren deutliches Nach-
lassen der Potenz. Die Ejakulation erfolgt fast stets kurz vor der
Immissio membri bei schlaffem oder nur halberigiertem Gliede. Ist die
Erektion vollständig, so bleibt dagegen die Ejakulation aus.
Sehr eigentümlich und eine Art von Analogie zum Vaginismus
der Frauen ist die Impotenz durch übergroße Schmerz-
empfindlichkeit der Eichel als Folge sexueller Neur-
asthenie oder örtlicher Entzündungsvorgänge (Eichcltripper usw.).
Die Schmerzen heim Koitus sind bei diesem Zustande oft so
heftig, daß die Betreffenden jeden geschlechtlichen Verkehr
aufgeben.
Die Frage, ob es eine Impotenz infolge von ge-
schlechtlicher Enthaltsamkeit gibt, ist noch strittig.
Fürbringer kennt keinen sicheren Fall. Nach Virey53)
werden durch „völlige und stete Enthaltung des Beischlafes“ beim
Manne die Samen bereitenden Organe, die Hoden, die Samen-
bläschen und die Vasa deferentia, ebenso auch das Glied ver-
kleinert, ziehen sieh zusammen, werden „unansehnlich, runzelig,
untätig“. Schon Galen berichtet dies von den Athleten der
römischen Kaiserzeit, die streng enthaltsam leben mußten.
Virey erwähnt einen „sehr keuschen Heiligen, bei dem man
nach dem Tode kaum eine Spur von Geschlechtsteilen fand“ (!).
Daß absolute Abstinenz schließlich doch die Potenz beeinträch-
tigen muß, wenn auch nur auf psychischem Wege, ist a priori 5
5S) J. J. Virey, Das Weib. Leipzig 1827, S. 367.
499
wahrscheinlich. Neuerdings hat v. Schrenck-Notzin g54 *)
einen solchen Fall mitgeteilt, wo trotz lebhaften Verlangens
nach normalem Geschlechtsverkehr bei einem 35jährigen Gelehrten,
der bis zur Ehe vollkommen abstinent gelebt, auch nie-
mals Onanie getrieben hatte, jeder Versuch zum Koitus mißlang.
Endlich muß der mehr oder weniger physiologischen p r ä -
senilen und senilen Impotenz gedacht werden, die den
Eintritt des Greisenalters begleitet, aber natürlich zeitlich sehr
verschieden auf tritt. Denn es gibt Greise schon mit 40 Jahren
und Leute, die es mit 70 Jahren noch nicht sind. v. Gyurko-
vechky datiert das erste Nachlassen der sexuellen Kraft vom
40. Lebensjahre an und das völlige Erlöschen um das 65. Lebens-
jahr. Es gibt aber viele Ausnahmen, man hat volle Potenz
bezüglich Libido, Erektion und Ejakulation noch bei 70 und
80 jährigen Männern beobachtet, ja es sind einzelne Fälle be-
kannt, wo 90 und 100 jährige noch Kinder gezeugt haben.55) Im
Sinne Metschnikoffs und Hirths, die in ihren Werken
die Verhütung des Alters als hygienisches Ideal proklamieren,
ist diese physiologische „potentia senilis“ keine Utopie und eine
künftige wissenschaftliche Makrobiotik wird die Schwelle des
Greisenalters um 10 bis 20 Jahre hinausrücken. „Aber ich ver-
lange nicht,“ sagt Georg Hirth, „daß der Mensch in vor-
geschrittenen Jahren seine sexuellen Wasserkünste spielen lasse,
nur daß er das Bewußtsein des Springenlassenkönnens
habe, ja, das verlange ich!“ (Wege zur Liebe, S. 462.)
Die Behandlung der männlichen Impotenz in ihren ver-
schiedenen Formen ist zwar bezüglich der Wahl der jedesmaligen
Behandlungsmethoden in den einzelnen Fällen schwierig, aber
nicht aussichtslos, wenn sie auf eine genaue, kritische, individuelle
Analyse der einzelnen Ursachen und Symptome sich gründet. Sie
ist teils eine örtliche, teils eine allgemeine. Bei Impotenz
infolge exzessiver Onanie oder der bekannten „Tripperimpotenz“
erreicht man gute Erfolge mit leichten Aetzungen der
Harnröhre und Massage der Prostata, lokalen
54) v. Schrenck-Notzing, Kriminal-psychologische tmd psy-
chopathologische Studien, Leipzig 1902, S. 176.
66) Der Engländer Thomas Parr, der 152 Jahre alt wurde,
heiratete wieder im 120. Jahre und seine Frau soll „ihm sein Alter nie
angemerkt, haben“. Vgl. Wilhelm Ebstein, Die Kunst, das
menschliche Leben zu verlängern, Wiesbaden 1891, S. 70.
32*
kohlensauren Duschen oder Kohlensäurebädern, wärmen
oder kalten Sitzbädern, elektrischer Behandlung, mit der
man allerdings sehr vorsichtig sein muß. Bisweilen leistet bei
mangelhaften Erektionen die Applikation einer 10 °/o i g e n äthe-
rischen Kampf erlös ung in der Form der Einreibung oder
des Sprays auf die ganze Genitalgegend gute Dienste. Auch
mechanische Apparate hat man angegeben, um die Erektion zu
befördern, so z. B. den sogenannten „Schlitten“, ein aus zwei
Metallschienen bestehendes Leitungsinstrument für das ungenügend
erigierte Glied, oder den „E r e k t o r“ von G a ß e n , der ähn-
lich wirkt. Diese Apparate haben nur den Nutzen, daß sie dem
Gliede einen gewissen Halt geben, jede andere Wirkung muß
ihnen, wie ebenfalls den anderen Gaßensehen Apparaten, dem
„Kompressor“, „Kumulator“ und „Ultimo“ abgesprochen werden
(Löwenfeld., Fürbringer). Daß etwaige örtliche mit der
Impotenz in Zusammenhang stehende Veränderungen an den
Genitalien beseitigt werden müssen, versteht sich von selbst, ebenso
wie die Behandlung eines der Impotenz zugrunde liegenden All-
gemeinleidens. Für die allgemeine Therapie der Impotenz kommt
die psychische Beeinflussung in erster Linie in Betracht, die
zunächst meist eine zeitweilige Ablenkung der Gedanken von
der Sexualsphäre überhaupt herbeizuführen versuchen muß, wo-
für das strikte Verbot geschlechtlicher Betätigung (Onanie usw.)
die Grundlage bildet, sodann muß Wille und Selbstver-
trauen gestärkt werden. Hier kann neben dem Arzte eme ver-
ständige Frau sehr viel zum Erfolge beitragen. Bisweilen bringen
bloße Veränderungen in den Lebensgewohnheiten und Be-
ziehungen der Gatten, vor allem in der Ausübung des Geschlechts-
verkehrs (veränderte Lage, größeres Entgegenkommen der
Frau usw.), sichtbare Heileffekte zustande. Die Behandlung einer
zugrunde liegenden Neurasthenie wirkt ebenfalls günstig. Alkohol
und Tabak werden am besten ganz verboten. Eine Unzahl von
Medikamenten ist gegen Impotenz empfohlen worden. Der
Glaube an die herrliche Wirkung der Kanthariden ist ebenso ein
Aberglaube wie derjenige an die aphrodisische Wirkung von
Sellerie, Spargel, Kaviar, Trüffeln. Gewiß rufen diese alle eine
Erregung der Genitalorgane hervor, diese besteht aber nur in
einem gesteigerten Blutzufluß zu denselben, der sehr flüchtiger
Natur und bei häufiger Einwirkung (besonders nach Kanthariden)
nicht unbedenklich ist. Man kann ihn mit der bloß reizenden
öOI
Wirkung der Flagellation vergleichen, Mehr Vertrauen ver-
dienen Phosphor, Strychnin und vor allem das neuer-
dings von Spiegel aus der westafrikanisehen „Yohimbehe-
Rinde“ dargestellte Yohimbin ,56) das besonders von Mendel
und Eulenburg bei neurasthenischer Impotenz warm empfohlen
wurde. Nach in zwei Fällen von präseniler und Tripperimpotenz
gemachten Erfahrungen mit dem Yohimbin „Riedel“ kann ich
das günstige Urteil Eulenburgs durchaus bestätigen. In dem
Falle von präseniler Impotenz bei einem hohen Fünfziger war
Yohimbin das einzige Mittel, welches ihm nach mehreren Jahren
wieder zu Erektionen und zu wiederholter Ausübung des Koitus
verhalf. Eulenburg teilt den wohl einzig dastehenden Fall
mit, daß Yohimbin schon nach wenigen Tagen einem
seit 12 Jahren impotenten Manne die Potenz wieder gab! Das
interessante Mittel ist jedenfalls eine wertvolle Bereicherung
unseres aphrodisischen Arzneischatzes und das erste, das auf den
Namen eines Spezifikums gegen Impotenz Anspruch erheben kann.
Aus den geschilderten einzelnen Leiden (Onanie, sexueller
Hyper- und Anästhesie, Pollutionen, Impotenz) setzt sich nun
das Krankheitsbild der sexuellen Neurasthenie zusammen,
das noch durch verschiedene andere Symptome vervollständigt
wird, unter denen wir gewisse Angstempfindungen und
Zwangsvorstellungen erwähnen, wie die auch dem Laien
bekannte „Platzangst“, die man sehr häufig gerade bei
sexuellen Neurasthenikern trifft, ebenso wie die Furcht, allein
in der Eisenbahn zu fahren oder die im Theater oder Konzert-
saal plötzlich sich geltend machende Furcht vor Brand und der
damit verbundene Drang, baldmöglichst ins Freie zu kommen,
ferner Lendenschmerzen und Neuralgien der Geni-
talien, Anomalien und Schmerzen bei der Harn-
entleerung, Neigung zu sexuellen Perversitäten,
Magenaffektionen ,67) wie nervöses Aufstoßen, Erbrechen,
schmerzhafte Magenkrämpfe, Appetitlosigkeit oder auch Heiß-
hunger, nervöse Dyspepsie u. a. m., Migräne, Herz-
beschwerden mannigfaltigster Art. Kein Wunder, daß bei
68) Es gelangt als „Yohimbin Spiegel“ und „Yohimbin Riede,“ in
den Handel. Beide Präpapara e sind gleichwertig,
B7) Ygl. Alexander Peyer, Ueber Magenaffektionen bei männ-
lichen Genitalleiden, Leipzig 1890.
502
hochgradiger Ausbildung der sexuellen Neurasthenie und An-
wesenheit mehrerer der erwähnten Erscheinungen sich zuletzt ein
völliger geistiger Erschöpfungszustand verbunden mit
krankhafter Reizbarkeit und hypochondrisch-
melancholischen Vorstellungen ausbildet. Es kommt dann
schließlich zu einer typischen „sexuellen Hypochondrie“.
Die Behandlung der sexuellen Neurasthenie, die in den zu-
letzt geschilderten Allgemeinsymptomen übrigens auch beim
"Weibe (bei dem sich noch Eehlen der oder Schmerzen bei
der Menstruation, Blutungen58) usw. hinzugesellen) vor-
kommt, deckt sich im wesentlichen mit der bereits geschilderten
Therapie der Einzelsymptome. Eventuell wären noch Mast- oder
allgemeine Kaltwasserkuren, Gymnastik, allgemeine
Massage, klimatische Kuren usw. in Anwendung zu
bringen.
58) Vgl. Koblanck, Einige klinische Beobachtungen über Stö-
rungen der physiologischen Funktion der weiblichen Sexualorgane, in:
Zeitschrift für Geburtshilfe und Gynäkologie, Bd. 43, Heft 3. —
Moriz Porosz (Sexuelle Wahrheiten, Leipzig 1907, S. 213—218)
widmet nicht mit Unrecht der „Neurasthenie junger Ehefrauen“ ein
besonderes Kapitel. Der Uebergang vom jungfräulichen Zustande in
das eheliche Leben bringt oft solche vorübergehenden neurasthe-
nischen Zustände bei dem Weibe hervor, besonders beim Vorhanden-
sein irgend welcher Disharmonien im ehelichen Verkehr.
SIEBZEHNTES KAPITEL.
Die anthropologische Betrachtung der Psychopathia
sexualis.
Ich hoffe, daß die Aerzte in nicht zn ferner Zukunft das Zusammen-
gehen mit den Folkloristen und Ethnologen zur Förderung der Wissen-
schaft freudig begrüßen werden.
Friedrich S. Krauß.
Inhalt des siebzehnten Kapitels.
Die anthropologische und die klinische Auffassung der sexuellen
Anomalien. — Allörtliche und allzeitliche Natur der Psychopathia
sexualis. — Sekundäre Rolle von Kultur und Entartung. — Das Märchen
von der guten alten Zeit. — Die unbegründete Furcht vor Entartung. —
Die „nervöse Entartung“ in früheren Zeiten. — Neuere Widerlegungen
der Entartungstheorie. — Metschnikoffs „Studien über die Natur
des Menschen“. — Georg Hirths Begriff der „erblichen Ent-
lastung.“
Hauptsätze der anthropologischen Theorie der Psychopathia
sexualis. — Das geschlechtliche Variationsbedürfnis. — Sexuelle Per-
versionen bei Gesunden. — Wirkung äußerer Einflüsse. — Krankheits-
eindrücke. — Künstliche Züchtung von Perversionen (Wiederholung,
Suggestion, Nachahmung, Verführung). — Bedeutung der Geschlechts-
Unterschiede. — Angeborensein von Perversionen. — Die Verbreitung
von Perversionen unter Naturvölkern. — Beispiele. — Die Unzucht auf
dem Lande. — Einfluß von Rasse und Nationalität. — Von Lebens-
alter und Geschlecht. — Soziale Differenzen, — Einfluß der Zivilisation.
— Wirkung des Konventionalismus. — Die Unruhe der heutigen Zeit.
— Seelische Gestaltung der modernen Perversität.
Anhang: Sexuelle Perversionen durch Krank-
heiten. Allgemeine Uebersicht. — Epilepsie und sexuelle Per-
versionen. —r Andere Geisteskrankheiten. — Syphilis und sexuelle Per-
version. — Abnormitäten der Genitalien,
505
In meinen 1902 und 1903 erschienenen „Beiträgen zur Aetio-
logie der Psychopathia sexualis“ habe ich zum ersten Male den
Versuch unternommen, das große Gebiet der sogenannten „Psycho-
pathia sexualis“, der geschlechtlichen Verirrungen, Ausartungen,
Anomalien, Perversitäten und Perversionen systematisch vom
Standpunkte des Anthropologen und Ethnologen zu
betrachten. Ich ging dabei von der Ansicht aus, daß zunächst
nicht einseitig der „kranke Mensch“, sondern allseitig der
„Mensch als Mensch“, sowohl als Kultur- wie als Natur-
mensch ins Auge gefaßt werden müsse, um neue Anschauungen
über die Natur der Psychopathia sexualis zu bekommen und die
alten demgemäß zu korrigieren und zu modifizieren.
Bisher hatte ausschließlich die klinische, rein medi-
zinische Auffassung die Lehre von der Psychopathia sexualis
beherrscht und unter einseitiger Bevorzugung der Beobachtungen
von krankhaften Erscheinungen bei Individuen mit abnormer Vita
sexualis ihre allgemeine, grundsätzliche Anschauung vom Wesen
der sexuellen Anomalien sich gebildet, die darnach fast gänzlich
in den Bereich des Arztes fallen und als Entartungserschei-
nungen bezeichnet werden. H. J. Löwenstein,1) IIäuß 1 er1 2)
und Kaan3) waren in den zwanziger bezw. vierziger Jahren
des 19. Jahrhunderts die ersten, die von dieser medizinischen
Betrachtungsweise der sexuellen Verirrungen ausgingen, bis dann
im letzten Viertel desselben Jahrhunderts Richard von
Kr aff t- Ebing4) die moderne Sexualpathologie in ein um-
1) Hermann Joseph Löwenstein, „De mentis aberrationi-
bus ex partium sexualium conditione abnormi oriundis“, Bonn 1823.
2) Joseph Häußler, Ueber die Beziehungen des Sexualsystemes
zur Psyche, Würzburg 1826.
8) Heinrich Kaan, Psychopathia sexualis, Leipzig 1844.
4) R, v. Kraf ft -Ebing, Psychopathia sexualis, Stuttgart 1882,
506
fassendes wissenschaftliches System brachte,5) das eigentlich mit
dem Begriffe der Degeneration steht und fällt.
Ohne die Bedeutung der klinischen Forschung auf diesem
Gebiete, ohne den Scharfsinn, den tiefen wissenschaftlichen Ernst,
die zahlreichen wertvollen Anregungen des eigentlichen Schöpfers
der modernen Sexualpathologie, der Krafft-Ebing ist und
bleibt, ohne diese außerordentlichen Verdienste im geringsten zu
Unterschätzen, muß ich doch darauf hinweisen, daß die rein medi-
zinische Auffassung der sexuellen Verirrungen eine einseitige ist
und wesentlich durch die anthropologisch-ethnologische Forschung
ergänzt und berichtigt wird.
Begeben wir uns aus dem Krankensaal und dem ärztlichen
Sprechzimmer heraus, machen wir eine Reise um die Welt, be-
obachten wir das geschlechtliche Tun und Treiben des Genus
Homo in allen seinen so verschiedenen Erscheinungen, nicht als
Aerzte, sondern als gewöhnliche Beobachter, vergleichen wir die
Sexualität des Kulturmenschen mit derjenigen des Naturmenschen,
dann werden wir erkennen, wie unendlich viel weiter der Gesichts-
kreis für die Beurteilung der Psychopathia sexualis geworden
ist, wie das Kultur- und Zeitphänomen zurücktritt hinter dem
allgemein menschlichen Phänomen, das überall in seinen Grund-
zügen dasselbe ist. Die Psychopathia sexualis findet sich
überall und zu allen Zeiten. Kultur, Zivilisation, Krank-
heiten, Degeneration spielen nur die Rolle von begünstigenden,
modifizierenden, intensitätssteigernden Faktoren.
Ich gehe nicht so weit wie Freud, dem sich „angesichts
der nun erkannten großen Verbreitung der Perversionsneigungen
der Gesichtspunkt aufdrängte, daß die Anlage zu den Perver-
sionen die ursprüngliche allgemeine Anlage des mensch-
lichen Geschlechtstriebes sei, aus welcher das normale Sexual-
verhalten infolge organischer Veränderungen und psychischer
Hemmungen im Laufe der Reifung entwickelt werde“,6) aber ich
behaupte jedenfalls/daß dem Menschengeschlecht als solchem un-
abhängig von der Kultur sexuelle Perversitäten und Perversionen
neben den normalen Sexualäußerungen eigentümlich sind und
6) Es sei nicht verschwiegen, daß kurz vorher schon der fran-
zösische Arzt Moreau de Tours ein zusammenfassendes wissenschaft-
liches Werk über die Psychopathia sexualis unter dem Titel „Des
aberrations du sens génésique“, Paris 1880, herausgegeben hat.
6) S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 70.
507
daß ihre Verbreitung unter Kultur- und Naturvölkern weit
über den Kreis der eigentlichen „Entarteten“ hin-
aus g e h t.
Der Geschlechtstrieb als rein physische Funktion ist weder
ein Vergleichungsobjekt noch ein Unterscheidungsmerkmal
zwischen primitiven und zivilisierten Menschen. Die „Elementar-
gedanken“ der Menschheit kehren in den elementaren Erschei-
nungsformen geschlechtlicher Verirrungen überall wieder.
Ich habe aus meinen in dem oben erwähnten 'Werke nieder-
gelegten Untersuchungen die feste Ueberzeugung gewonnen, die
ich als eine durch die Lehren der Anthropologie, Völkerkunde
und Kulturgeschichte bewiesene wissenschaftliche Wahr-
heit hinstellen möchte, daß es heute, in unserer als so besonders
„nervös“, „entartet“ und „überkultiviert“ verschrieenen Zeit,
nicht nur nicht mehr „Perverse“ gibt als in früheren Zeiten —
man denke nur an das Mittelalter mit seinen furchtbaren Aus-
schweifungen in epidemischer Verbreitung —, sondern daß auch
der größte Teil der heutigen Perversen nicht zu den „Degene-
rierten“ zu zählen ist, und daß es endlich andere als rein sexuelle
Faktoren sein müssen, welche die Lebenskraft eines Volkes
schwächen und untergraben. Denn geschlechtliche Verirrungen
allein haben im großen und ganzen nur einen geringen Ein-
fluß auf die Dekadence eines Volkes. Sie gewinnen denselben
erst in Verbindung mit hier nicht näher zu erörternden Ursachen
ökonomisch-politischer Natur.
So alt wie die Menschheit, ist ja das Märchen von der guten
alten Zeit, von der goldenen Jugend des Menschengeschlechtes,
von der herrlichen Vergangenheit, auf die eine immer verderbte,
physisch und moralisch verrottete jeweilige Gegenwart ge-
folgt sein soll.7) Schon die Alten waren dieser Ansicht, sie kehrt
im Mittelalter, in der Renaissance wieder, um seit Rousseaus
leidenschaftlicher Verdammung aller Kultur ein beliebtes und
gegenüber den Unwissenden und Leichtgläubigen auch bewährtes
Kampfmittel in den Händen aller Zeloten, Sittlichkeitseiferer,
Rückschrittler und Hüter der konventionellen Moral zu werden.
Die Anthropologie, Prähistorie und die Kulturgeschichte über-
haupt haben diese schönen Träume von der guten alten Zeit und
7) Vgl. darüber die interessanten Bemerkungen bei G. H. 0.
L i p p e r t, Der Mensch im rohen Natur-Zustande, Elberfeld 1818,j S. i ff.
508
der besseren Vergangenheit gründlich zerstört. Nichts blieb
übrig als die jeweilig — schönere Gegenwart!
Schon ein so kritisch veranlagter und scharf blickender Geist
wie Lessin g ist der Hypothese eines Rousseau von der
Korruption durch die „Kultur“ entgegengetreten. Es sei richtig,
daß das kulturell so hochstehende und dabei verderbte Athen
hin sei, aber das tugendhafte Sparta, sei es nicht auch hin?
Selbst Rousseau mußte schließlich zugeben, daß eine Ver-
nichtung der Kultur nichts nützen werde, die Welt werde dann
in Barbarei versinken und die Sittenverderbnis doch bleiben.
Der diese Aeußerungen mitteilende Philologe Muf f8) fügt noch
hinzu, daß, wenn die Kultur auch nicht gekommen wäre, das
Laster doch geherrscht hätte und daß die Kultur mit dem
geistigen Fortschritte auch die Mittel zur Bekämpfung des-
selben gebracht habe.
Aerzte und Naturforscher haben sich schon seit'langer Zeit
gegen die Theorie der verderbten und entarteten „Gegenwart“
ausgesprochen. So erklärt ein Landsmann Rousseaus, Dr.
Delvincourt,9) wie „falsch die Behauptung der Fanatiker und
Frömmler sei, die die meisten Krankheiten, vor allem die sexuellen
Leiden auf die SittenVerderbnis unseres Jahrhunderts zurückführen
und behaupten, daß die Rasse entarte und das Anathema gegen
die heutige Jugend schleudern, der sie gern wie den Tieren einen
Maulkorb anlegen möchten.“ Darf man denn, fragt er, in einer
Zeit, wo die Zivilisation mit Riesenschritten vorwärts eilt, unsere
Ohren mit Sophismen ermüden, die nicht einmal mehr das un-
wissende Volk betrügen können? Und er führt aus, wie seit
uralter Zeit überall auf der Erde das Laster sich breit
gemacht hat, welchen schändlichen Ausschweifungen unsere Vor-
fahren sich ergeben haben, er weist mit Recht hin auf die zahl-
losen „monuments de turpitude“ aller Zeiten.
Um dieselbe Zeit (nota bene schon vor mehr als 60 Jahren!)
trat in Deutschland der berühmte Naturforscher Christian
Gottfried Ehrenberg in einer Akademierede mit dem be- * *)
8) Christian Muff, Was ist Kultur? Halle 1880, S. 30—31.
*) G. L. N. Delvincourt, De la mucite genito-sexuelle, Paris
1834, S. 64. — Treffende Bemerkungen über die angebliche Degene-
ration der Franzosen auch bei P. N ä c k e, „Zur angeblichen Entartung
der romanischen Völker, speziell Frankreichs“. In: Archiv für Rassen
und Gesellschaftsbiologie 1906, Bd. III.
509
zeichnenden Titel: „Ueber die naturwissenschaftlich
und medizinisch völlig unbegründete Furcht vor
körperlicher Entkräftung der Völker durch die
fortschreitende Geistesentwicklung“ (Berlin 1842)
dem Glauben an den unheilvollen Einfluß der Kultur auf die
Volkskraft und Volksmoral entgegen. Uns interessieren besonders
seine Bemerkungen über den angeblich depravierenden Einfluß
der Kultur' auf die Sexualität. Er sagt (S. 8):
„Der Eintritt der Geschlechtsreife (Pubertät), gerade so, wie er
von der Natur in warmen Klimaten etwas früher, im 10. bis 15, in
kalten etwas später, im 14. bis 18. Lebensjahre, herbeigeführt wird, ist
der natürliche Maßstab der menschlichen Bestimmung und Kraft, und
wenn unsere reifere Schuljugend, bei welcher dieser Zeitpunkt der Ent-
wicklung schon eingetreten ist und sein muß, auch von Geschlechts-
reizen versucht wird, so ist das ganz naturgemäß und macht nur eine
Wachsamkeit über dies Verhältnis bei allen solchen pädagogischen An-
stalten und bei den Eltern zur besonderen Pflicht. Selbst wenn heim-
liche Laster irgendwo bei der Jugend auf bedauernswerte Weise über-
hand nähmen, wäre das keine physische Schwäche, Ueberreizung und
Verschlechterung des Volkes und der Zeit durch die Schulen, sondern
nur ein lokaler Mangel an energischer zweckmäßiger Leitung und der
nötigen Beaufsichtigung der Jugend in den speziellen Anstalten, oder
an strenger Sittlichkeit im Familienleben solcher Kinder, dem auch
nur durch auf diese speziellen Quellen des Uebels gerichtete Gegen-
wirkung zu begegnen ist. Manchmal mag es mit Epidemien von Krank-
heiten zu vergleichen sein, die auch bei untadelhafter Vorsicht sich
eindrängen. Ganz ebenso ist es mit den durch Ermahnung and. eigene
Sittlichkeit des geistigen und politischen Volksrates hie und da oft
leicht gezügelten Massen der Erwachsenen und der bei dessen Mangel
hier und da hervortretenden argen Zügellosigkeit derselben, wo ja oft
genug Ursache und Wirkung in ihrem vorübergehenden Wechselver-
hältnis dem Beobachter der Völkergeschichte entgegentreten.“
Ehrenberg gelangt zü dem auch für unsere Zeit be-
herzigenswerten und durchaus gültigen Schlüsse, daß der wissen-
schaftlichen Nachforschung die ganze Menschengeschichte, so weit
und breit sie zu übersehen ist, nicht eine gebrechliche Ver-
feinerung, nicht eine nervöse Ueberreizung der Völker durch die
wachsende Bildung zeigt.10) sondern einen durch alle diese Ver-
10) Wie z. B. Immermann in den um die gleiche Zeit (1836) er-
schienenen „Epigonen“ annimmt, wo er dem Arzte die Worte in den
Mund legt: „Der Arzt hat eine. große Aufgabe in der Gegenwart zu
lösen. Krankheiten, besonders die Nervenübel, wozu
seit einer Reihe von Jahren das Menschengeschlecht
vorzugsweise disponiert i3t, sind das moderne Fa-
510
hältnisse gleich kräftig fort ent wickelten Körper
und einen immer segensreicheren nur mit Begeisterung zu über-
schauenden Aufschwung aller menschlichen edleren Tätigkeiten.
Auf der 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
zu Berlin im Jahre 1886 hat der berühmte Physiker Werner
von Siemens dieselbe Präge in einer formvollendeten Bede
behandelt, die Nichtigkeit der Hypothese von dem unheilvollen
Einflüsse der Kultur auf die physische und moralische Natur des
Menschen nachgewiesen und sich zu dem innigen Glauben bekannt,
daß „unsere Porschungs- und Erfindungstätigkeit die Menschheit
höheren Kulturstufen zuführt, sie veredelt und idealen Be-
strebungen zugänglicher macht, daß das hereinbrechende natur-
wissenschaftliche Zeitalter ihre Lebensnot, ihr Siechtum mindern,
ihren Lebensgenuß erhöhen, sie besser, glücklicher und mit ihrem
Geschick zufriedener machen wird.“
Ist die Menschheit degeneriert? fragt ein berühmter Spezia-
list,11) der einst durch seine Spezialität den größten Ueberblick
über die Ausdehnung einer auch oft als Degenerationssymptom
angesprochenen krankhaften Erscheinung besaß, nämlich des Haar-
ausfalles und der Kahlköpfigkeit, und er antwortet: „Sicher-
lich nicht! In der viel tausendjährigen Arbeit der Kultur
hat unsere Organisation in ihrem Grundwesen keine Erschütterung
erfahren, nur äußerlich zerzaust haben uns die Kämpfe.“
Furchtbar haben in früheren Zeiten die großen ansteckenden
Volksseuchen in heute kaum geahntem Umfange die Kulturmensch-
heit dezimiert und gewiß ebensosehr die kräftigen Naturen hin-
weggerafft, wie die weniger widerstandsfähigen: Pest, Blattern,
Aussatz, englischer Schweiß, Scharlach, Cholera, Syphilis, die in
ihren Anfängen viel schlimmer war als heute, haben oft die Blüte
der Jugend vernichtet, und doch hat die Menschheit nicht darunter *
t j in.“ Ygl. Leopold Hirschberg, Medizinisches aus der schönen
Literatur. Ein Laienurteil über „Nervosität aus dem Jahre 1836“, in:
Medizinische Woche 1906, No. 41, S. 428. — Also schon vor 70 Jahren
war das deutsche Volk „nervös“, nota bene 34 Jahre vor Sedan,
30 Jahre nach Jenal Daher können weder Jena noch Sedan mit der
nervösen „Entartung“ in einen Zusammenhang gebracht werden. Aehn-
lich jammerten die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts (1) über den
„Nervosismus“ ihrer Zeit, auf den Cullen und Brown ihre ärzt-
lichen Theorien gründeten.
n) J. Pohl-Pincus, Die Krankheiten des menschlichen Haares
und die Haarpflege, 3. Auflage, Leipzig 1885, S. 57.
öll
gelitten. Früher gab es viel heftigere, bösartigere Nervenleiden
als unsere heutige „Nervosität“, die vielfach nur eine A n -
passungserscheinung, keine eigentliche Krankheit dar-
stellt. Veitstanz, Tanzwut und ähnliche psychisch-nervöse Epi-
demien zerrütteten die mittelalterliche Menschheit, ohne dauernden
Schaden zu stiften oder eine progressive Entartung herbeizuführen.
Und die furchtbarsten sexuellen Ausschweifungen vermochten die
Volkskraft nicht zu erschüttern.
Betreffs dieses Punktes, des angeblichen Zusammenhanges
geschlechtlicher Ausschweifungen mit dem politischen Verfall
einer Nation, bemerkt Carl Bleib treu12) mit Recht:
„Das alte Rom erzeugte seine größten Männer in einer Zeit mora-
lischer Entartung. Die höchste Blüte der hellenischen Kultur fiel
mit einer Periode gründlicher Unsittlichkeit zusammen. Man könnte
nun freilich einwenden, daß nach Pericles, Phidias, Aristophanes, Euri-
pides, Alkibiades, Sokrates der Niedergang der hellenischen Rasse be-
gonnen habe, obwohl diese ja noch sehr viel später in Erscheinungen
höchsten Ranges wie Alexander, Aristoteles, Demosthenes ihre Lebens-
kraft bewies. Aber dieser Einwurf wird nicht viel helfen. Denn bereits
in den ersten Anfängen des griechischen Volkes, in den Gesetz-
gebungen des Solon wie des Lykurg, finden wir die bedenklichsten
und deutlichsten Anzeichen, daß gerade die Geschlechtsbeziehungen,
speziell Ehe und Kinderzeugung, bei dieser jugendlich frischen Rasse
in hohem Grade zerrüttet waren.
Ganz ähnlich finden wir in der italienischen Renaissance und in
der Hohenstaufenzeit eine gründliche Verwirrung der Geschlechts-
beziehungen. Auch hat gerade das 18. Jahrhundert allen berechtigten
Jeremiaden Rousseaus über die allgemeine Unnatur und allen Leiden
des jungen Weither zum Trotz, eine unerschöpfliche Fülle genialer Indi-
viduen erzeugt und gerade in Frankreich, das am schwersten an sitt-
licher Fäulnis krankte, eine Generation der Mirabeau und Bonaparte
geboren, von deren unerhörter Lebenskraft wir noch heute zehren.“
Endlich erwähne ich noch zwei hervorragende Schriftsteller
der letzten Jahre, die in ihren bezüglich der allgemein philo-
sophischen Ansichten viel Wesensverwandtes aufweisenden Werken
den unberechtigten Entartungsphantasien — es gibt auch eine
berechtigte Bekämpfung der immer wirksamen Ursachen der
Entartung durch Alkoholismus, Syphilis usw. — energisch ent-
gegengetreten und den Glauben an das Leben und die Lebens-
kraft gepredigt haben. Ich meine Elias Metschnikoff und
Georg Hirth.
12) C. B 1 e i b t r e u , Paradoxe der konventionellen Lügen, 6. Auf-
lage, Berlin 1888, S. 1—2.
512
In seinen „Studien über die Natur des Menschen“ (Leip-zig
1904) vertritt Metschnikoff eine „optimistische Philosophie“
im Gegensatz zu den pessimistischen Entartungstheorien unserer
Zeit, als deren Haupt'Vertreter P. J. Möbius angesehen werden
kann, und weist nach, wie über die Unvollkommenheiten und
„Disharmonien“ der menschlichen Organisation hinaus weitere
Entwicklungen und Vervollkommnungen der menschlichen Natur
gerade im Zusammenhänge mit der Kultur möglich sind.
Die Menschheit fängt erst an, wirklich zu leben.
Sie ist durch die Kultur nicht nur nicht entartet, sondern hat
durch diese überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, das „physio-
logische Alter“ und den „physiologischen Tod“ herbeizuführen.
Nicht rückwärts heißt die Devise, sondern vorwärts!
Die Pessimisten rufen: Das Dasein hat doch gar keinen Zweck!
Wozu leben und sterben? Das furchtbare „Wozu“, mit dem
Friedrich von H e 11 w a 1 d seine Kulturgeschichte schließt,
erschüttert tagtäglich die Gemüter. Metschnikoff weist nach,
daß diese Frage mit der Existenz der Disharmonie der mensch-
lichen Natur zusammenhängt. Die Entwicklung geht aber dahin,
diese Disharmonien in Harmonien umzuformen („Orthobiose“).
Dann aber wird der Zweck des menschlichen Daseins in der
„Vollendung des ganzen und physiologischen Lebenszyklus be-
stehen, mit einem normalen Alter, das mit dem Aufhören des
Lebensinstinkts und mit dem Auftreten des Instinkts des natür-
lich en Todes endet.“ Das ist gewissermaßen die wissenschaft-
liche Formulierung des „Uebermenschen“ Nietzsches, der
ja aus ganz ähnlichen Erwägungen heraus die Entartungshypothese
bekämpfte und ebenfalls aus den Disharmonien, Unvollkommen-
heiten und Schmerzen des Lebens die Ueberzeugung seiner fort-
schreitenden Entwicklung schöpfte und so durchaus wie
Metschnikoff das Leben bejahte. Metschnikoffs
Idealmensch der Zukunft ist realisierbar, aber nur durch die
Prinzipien der Wissenschaft und Geisteskultur.
Aehnliehen Anschauungen wie Metschnikoff huldigt
Georg Hirth. Er hat vor allem den äußerst glücklichen Be-
griff der „erblichen Entlastung“13) in die Wissenschaft
eingeführt und damit gegenüber den pessimistischen Entartungs-
theorien und der psychischen Lähmung, die das heute schon in
18) G. H i r t b, Erbliche Entlastung, in: Wege zur Freiheit,
München 1903, S. 106—127.
613
aller Munde befindliche Wort „Erbliche Belastung“ hervorruft,
geradezu ein erlösendes Wort ausgesprochen, ein „starkes,
trostreiches Gegenstromwort“. Dadurch wird einfach die unbe-
streitbare Tatsache zum Ausdrucke gebracht, daß „die Errungen-
schaften aller einzelnen durch die Millionen von Geschlechtern
ein unablässig fortwirkendes Gemeingut der ge-
samten Menschheit bilden, eine naturgesetzliche Trieb-
kraft, welche sieghaft über die Sünden und Verfehlungen der
einzelnen hinwegschreitet . . . Das will sagen, daß in unserem
gesamten Organismus, solange er nur noch lebt, neben den etwa
ererbten oder von uns selbst verschuldeten zerstörenden Ein-
flüssen eine Masse von alten und neuen aufbauenden Ein-
flüssen an der Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand arbeitet... Die Entlastung durch uralte ge-
sunde und starke Keime ist stärker als die Belastung durch
jüngste, schwache und kranke; wäre es nicht so, dann wäre die
gesamte Menschheit längst untergegangen, da es wohl kaum einen
einzigen Stammbaum gibt, der nicht irgendwann wurmstichig
gewesen wäre.“
Ich kann auf die sehr interessante Begründung dieser An-
schauung, die mit Recht auch die Fähigkeit der Selbstregene-
ration, der Entfernung krankhafter und Zuführung neuer, ge-
sunder Lebensreize in den Vordergrund stellt und den Umfang
der erblichen „Belastung“ bedeutend einschränkt, nicht näher
eingeben. Die Folgerung, die H i r t h daraus zieht, ist gleich-
lautend mit derjenigen Metschnikoffs, nämlich die, daß
es mit unserem Leben noch aufwärts gehen kann,
eine Ansicht, die H i r t h überall im Kampfe mit „den Mächten
der Finsternis und Degeneration“ aufs glücklichste vertritt.
Nachdem wir gesehen haben, daß die „Entartung“ unserer
Zeit, auf deren medizinischen Begriff wir in einem der nächsten
Kapitel genauer zu sprechen kommen, nicht größer ist als die
früherer Epochen, daß die sexuellen Anomalien immer dagewesen
sind, kehren wir zur Würdigung dieses Punktes, zur anthropolo-
gischen Betrachtung der Psychopathia sexualis zurück.
In meiner „Aetiologie der Psychopathia sexualis“ habe ich
die allgemein menschlichen Erscheinungen des Geschlechtstriebes
und seiner Verirrungen vom Standpunkte des Anthropologen und
Ethnologen zusammengestellt und das Gemeinsame derselben
in primitiven und zivilisierten Zuständen, d. h. die überall wieder-
ßloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 33
(41.—-60. Tausend.)
kehrenden, dem Germs Homo als solchem eigentümlichen Grund-
züge und Grundphänomene der Vita sexualis zu ermitteln gesucht.
Als Hauptresultat ergaben sich mir folgende Sätze:
Die Degeneration kann nicht, wie dies
V. Krafft-Ebing in seiner „Psychopathia sexua-
lis“ getan hat, als heuristisches Prinzip in der
Erforschung, Erkenntnis und Beurteilung der
geschlechtlichen Verirrungen und Perversionen
verwendet werden.
Sie bildet allerhöchstens einen begünstigenden Faktor,
ein frequenzvermehrendes Moment.
Dagegen ist die endgültige, letzte Ursache
aller geschlechtlichen Perversionen, Aberra-
tionen, Abnormitäten, Irrationalitäten das dem
Genus Homo eigentümliche geschlechtliche Va-
riationsbedürfnis, welches als eine physiolo-
gische Erscheinung aufzufassen ist und dessen
Steigerung zum geschlechtlichen Reizhunger
die schwersten sexuellen Perversionen erzeugen
kann.
Ihm gegenüber spielen die „Degeneration“ oder Krankheiten
nur eine untergeordnete Rolle und können nur zur Erklärung
einer relativ kleinen Zahl von Fällen sexueller Verirrungen mit-
herangezogen werden, größtenteils jener, die wegen pathologischer
Zustände oder in foro zur Kenntnis des Arztes kommen. In der
Tat sind die meisten Fälle sexueller Perversionen, die in
klinischer oder forensischer Beziehung dem Arzte begegnen,
pathologisch, aber sie bilden durchaus die Minderzahl, das
Gros fällt nicht unter den Begriff der Entartung.14)
„Die Aerzte,“ sagt Freud, der die Berechtigung meiner
Theorie ausdrücklich anerkennt (Drei Abhandlungen zur Sexual-
U) Damit stimmt überein die These N ä с к e s , daß „alle sexuellen
abnormen Praktiken im Irrenhause doch meist viel seltener
sind, als der Laie, ja sogar viele Aerzte sich das vor-
stellen.“ Vgl. P. Näcke, Einige psychologisch dunkle Fälle von
geschlechtlichen Verirrungen in der Irrenanstalt in: Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen, Leipzig 1903, Bd. V, S. 196. — Ferner der-
selbe, Problemi nel campo delle psicopatie sessuali. In : Archivio
delle psicopatie sessuali, 1896; derselbe, Die sexuellen Perversi-
täten in der Irrenanstalt. In: Wiener klinische Rundschau 1899, No.
27—30.
515
theorie, S. 80), „die Aerzte, welche die Perversionen zuerst an
ausgeprägten Beispielen und unter besonderen Bedingungen
studiert haben, sind natürlich geneigt gewesen, ihnen den Charakter
eines Krankheits- oder Degenerationszeichens zuzusprechen, ganz
ähnlich wie bei der Inversion. Die alltägliche Erfahrung hat
gezeigt, daß die meisten dieser Ueberschreitungen, wenigstens die
minder argen unter ihnen, einen selten fehlenden Bestand-
teil des Sexuallebens der Gesunden bilden und von ihnen wie
andere Intimitäten auch beurteilt werden. Wo die Verhältnisse
es begünstigen, kann auch der Normale eine solche
Perversion eine ganze Zeitlang an die Stelle des
normalen Sexualzieles setzen oder ihr einen
Platz neben diesem einräumen. Bei keinem Ge-
sunden dürfte irgend ein pervers zu nennender
Zusatz zum normalen Sexualziel fehlen.“15)
Ein zweiter wichtiger Faktor in der Genesis sexueller
Anomalien ist die leichte Bestimmbarkeit des Ge-
schlechtstriebes durch äußere Einflüsse, die
assoziative Einbeziehung mannigfa 11iger äuße-
rer Beize in das sexuelle Empfinden selbst, der
von mir sogenannten „synästhetischen Beize“ im Liebes-
ieben des Menschen. Hieraus haben sich allmählich alle Be-
ziehungen der Kunst, Beligion, Mode usw. zur Sexualität ent-
wickelt und liefern im Verein mit den den Geschlechtsakt be-
gleitenden Sinneseindrücken und psychischen und physischen Mit-
bewegungen der Phantasie ein unendlich reiches Material für eine
möglichst vielseitige Verwirklichung des Variationsbedürfnisses.
Das Variationsbedürfnis in Verbindung mit dem sexuellen
„Beizhunger“ (Hoch©)16) spielt besonders für das Auftreten
sexueller Perversionen beim Erwachsenen und im späteren
Lebensalter eine große Bolle, die Wirkung äußerer Ein-
flüsse macht sich am deutlichsten im Kindesalter be-
merkbar, wo sie am tiefsten und nachhaltigsten empfunden wird
und dauernd mit dem sexuellen Empfinden verknüpft werden
kann (Binet, v. Schrenck-Notzing).
Schon Alexander v. Humboldt erinnert im „Kosmos“
(Bd. II, Einleitung) an die bekannte Erfahrung, daß „oft sinn-
15) S. Freud a. a. O., S. 19—20.
16) A. Hoche, „Zur Frage der forensischen Beurteilung sexueller
Vergehen, in: Neurologisches Ceatralblatt 1896, S. 58.
33*
Ö16
liehe Eindrücke und zufällig scheinende Um-
stände in jungen Gemütern die ganze Richtung
eines Menschenlebens bestimmen.“ Freud weist auf
die psychologische Tatsache hin, daß selbst scheinbar vergessene
Kindheitseindrücke dennoch die tiefsten Spuren in unserem Seelen-
leben hinterlassen und unsere ganze spätere Entwicklung bestimmt
haben. Die Eindrücke der Kindheit sind oft das Schicksal selbst.
Deshalb werden z. B. Kinder von Verbrechern wieder Verbrecher,
nicht weil sie „geborene“ Verbrecher sind, sondern weil sie als
Kinder in der Atmosphäre des Verbrechens auf ge wachsen sind
und die hier empfangenen Eindrücke fest und tief sich einnisteten.
Deshalb sollte der Kampf gegen das Verbrechen in erster Linie
die Erziehung der Verbrecherkinder ins Auge fassen!
Aus dem geschlechtlichen Variationsbedürfnis und der Wir-
kung äußerer Einflüsse ergibt sich die Möglichkeit und wirkliche
Häufigkeit des Erworbenseins und der künstlichen
Züchtung geschlechtlicher Perversionen und Perversitäten, die
je nach der Intensität des Triebes, welche bekanntlich bei
verschiedenen Menschen eine verschieden starke je nach
der Leichtigkeit der Beeinflussung ist, bald früher, bald später,
bald nur vorübergehend, bald dauernd auftreten.
Ein dritter wichtiger ursächlicher Faktor der Entstehung
sexueller Perversionen ist die häufige AViederholung
derselben geschlechtlichen Verirrung. Es kann keinem Zweifel
unterliegen, daß der normale Mensch sich an die verschiedensten
geschlechtlichen A^erirrungen gewöhnen kann, so daß diese
zu Perversionen werden, die auch beim gesunden Menschen
in der gleichen Weise auftreten, wie beim kranken.
Viertens spielt die Suggestion und die Nach-
ahmung in der Vita sexualis primitiver und zivilisierter
A^ölker eine höchst bemerkenswerte Rolle, gemäß welcher gewisse
V erirrungen auf geschlechtlichem Gebiete sich mit größter
Schnelligkeit verbreiten und als Sitten, Gebräuche, Moden und
psychische Epidemien auftreten. Diejenigen, welche überall die
Perversität aus krankhafter Anlage wittern, unterschätzen den
gewaltigen Einfluß, welcher im menschlichen Geschlechtsleben
das Beispiel und die Verführung ausüben. Das tritt am
krassesten zutage in jenen sexuellen Perversionen, die V olks-
sitten geworden sind. Das berühmteste Beispiel bietet die
griechische Päderastie dar, angeblich aus Kreta ein-
517
geschleppt, wahrscheinlich aber ursprünglich zuerst ausgehend
von einigen echten Homosexuellen, die in ihrem Interesse ihre
Neigung künstlich einigen Heterosexuellen weitersuggerierten, bis
schließlich die Knabenliebe eine Volkssitte wurde, der auch jeder
heterosexuelle Mann huldigte. Welche verhängnisvolle Holle die
moderne Prostitution, insbesondere die Bordelle in der
Suggestion von Perversionen spielen, wurde schon oben angedeutet.
Wir kommen darauf noch öfter zurück. Schrank erwähnt
(Prostitution in Wien I, 285) eine Prostituierte, die sich als
Künstlerin in sexuellen Perversitäten aller Art eines „europäischen
Weltrufes“ erfreute und den Beinamen „ewige Jungfrau“ führte,
weil sie den Männern jede Gattung Genusses gewährte, außer
dem einen, der regelrechten Begattung (aus Furcht vor Schwanger-
schaft).
Fünftens bildet der Unterschied zwischen Mann und
Weib in Wesen, Art und Intensität des geschlechtlichen Empfindens
(sexuelle Aktivität des Mannes, sexuelle Passivität des Weibes)
eine reiche Quelle geschlechtlicher Verirrungen, die wesentlich
dem Gebiete des Masochismus und Sadismus angehören.
Sechstens gibt es endlich bei sonst gesunden
Menschen sehr früh auftretende, wahrscheinlich auf
angeborenen Zuständen beruhende Veränderungen in der
Eichtung und dem Ziele des geschlechtlichen Empfindens, Ab-
weichungen vom Typus der differenzierten heterosexuellen Liebe.
Die echte Homosexualität ist die hier in Betracht
kommende hauptsächliche Erscheinung, auch sie kommt durchaus
unabhängig von der Degeneration und Kultur bei sonst ge-
sunden Menschen und über die ganze Erde verbreitet vor.
Aus all diesen Tatsachen ergibt sich die Unhaltbarkeit
einer rein klinisch-pathologischen Auffassung der ge-
schlechtlichen Verirrungen und Perversionen. Es muß jetzt der
Standpunkt eingenommen werden, daß zwar auch zahlreiche
kranke, degenerierte und psychopathische Individuen geschlecht-
liche Anomalien aufweisen, daß aber dieselben Anomalien
und Verirrungen außerordentlich häufig bei gesunden Per-
sonen Vorkommen.
Die ethnologische Forschung, für deren genauere Details ich
auf mein oben erwähntes Werk, sowie auf die bahnbrechenden
'518
Forschungen von Ploß- Bartel s,17) Mantegazz a,18) Fried-
rich S. Krauß19) und Havelock Ellis20) verweise, hat den
stringenten Nachweis erbracht, daß die geschlechtlichen Ver-
irrungen und Perversionen ubiquitär sind, auf der ganzen
Erde verbreitet, bei primitiven Völkern genau so wie bei zivili-
sierten, daß sie nach der psycho-physischen Seite hin „Elementar-
gedanken“ im Sinne Bastians sind, die überall in qualitativ
gleichartiger Weise wiederkehren, aus denselben Bedingungen
entspringend. Wie die Prostitution, so ist auch die sexuelle
Perversion ein tief im Menschen wurzelnder Hang zur ge-
schlechtlichen Ausartung, es ist eine primitive, exquisit anthropo-
logische Erscheinung, die durch die Kultur nicht verstärkt, sondern
gemildert wird. Charles Darwin weist mit Recht darauf hin,
daß die Verabscheuung der Unzüchtigkeit und geschlecht-
licher Verirrungen eine „moderne Tugend“ ist und dem zivili-
sierten Leben angehört, aber dem. Wesen des primitiven Natur-
menschen ganz fremd ist. Dieser schwelgt (worauf auch
Wilhelm Roscher hinweist) in wilder Unzucht, geschlecht-
licher Perversion und Ausschweifung.21) Die sexuellen Verirrungen
der Kulturvölker sind meist Nachahmungen der von primi-
tiven Völkern gegebenen Beispiele.
So entsprechen den bekannten „Reizringen“ europäischer
Gummifabrikanten (vgl. darüber Weißen borg in: Verhand-
lungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft 1893, S. 135)
die „Reizsteine“ der Battaker (Staudinger, ebendas. 1891,
S. 351), die „Penisstäbchen“ der wilden Orang-sinnoi in Malakka
(Vaughan Stevens in: Zeitschrift für Ethnologie 1896, S. 181
bis 182), der „Ampallang“ der Sundainseln (v. Miklucho-
Maclay in: Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Ge-
sellschaft 1876, S. 22—28). Die „Renifleurs“ und „Gamahucheurs“
der Pariser Bordelle und Bedürfnisanstalten finden ihr typisches
17) Ploß-Bartels, Das Weib in der Natur- und Völkerkunde,
8. Auflage, Leipzig 1905, 2 Bände.
18) M a n t e g a z z a, Anthropologisch-kulturhistorische Studien über
die Geschlechtsverhältnisse des Menschen, 3. Auflage, Jena o. J.
19) F. S. Krauß, Die Zeugung in Sitte und Brauch der Südslaven,
in: Kryptadia, Bd. VI—VIII, Paris 1899—1902 und in dem Sammelwerk
„Anthropophyteia“, Leipzig 1904—1906 (bis jetzt 3 Bände).
20) In allen seinen Schriften.
S1) Vgl. Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und
die geschlechtliche Zuchtwahl. 5. Auflage, Stuttgart 1890, S. 130—131.
519
Analogon in den vom Fin-de-siecletum wahrhaftig weit entfernten
wilden Urinfetischisten (!) und Cunnilingi der Karolineninsel
Ponapé (vgl. Ploß-Bartels). Und welche perverse Phantasie
haben die Weiber dieser selben Insel! Nach Otto Finsch
(Zeitschrift für Ethnologie 1880, S. 316) haben dort die Männer
alle nur einen Hoden, da allen Knaben im Alter von 7 bis
8 Jahren der linke Hode mittelst eines geschärften Stückes
Bambus exstirpiert wird. Die Männer sollen dadurch den
Mädchen begehrlicher werden! Bei den Massai wird aus ähn-
lichen Gründen die Beschneidung so ausgeführt, daß ein Stück
der Vorhaut als eine Art fester Hautknoten zurückbleibt. „Diese
Art der Beschneidung schätzen die Weiber gar sehr, bei den
Schwarzen dreht sich eben doch alles nur um sinnliche Genüsse“
(Medizinisches aus Inner-Afrika von M. C. in: Deutsche Medizi-
nische Presse 1902, Nr. 14, S. 116). Und was sind unsere Lebe-
männer gegen die Täuni-Insulaner der Südsee, die bestimmte
Weiber von der Ehe ausschließen und zu bloßen „Genußgegen-
ständen“, „Genußmenschen“ bestimmen und mit diesen Genuß-
menschen alle möglichen sexuellen Kaffinemen ts treiben (Demp-
w o 1 f, Medizinische Anschauungen der Tauni-Insulaner in: Zeit-
schrift für Ethnologie 1902, S. 335).
Bestehen also zwischen primitiven und zivilisierten Völkern
keine prinzipiellen Unterschiede, so entfallen diese nach den
neueren Untersuchungen ebenso zwischen Stadt und Land.22)
Ich führe hier nur die vor 60 Jahren niedergeschriebene Aeußerung
eines erfahrenen Autors an:
„Man glaubt gewöhnlich, daß es dort um die Sittlichkeit weit
besser stehe, als in den Städten, aber dieser Glaube ist sehr irrtümlich,
Bordelle und professionierte Winkeldirnen können natürlich auf dem
Lande nicht existieren, aber fast jede Bauernmagd wird dort zur
Winkeldirne. Es ist unglaublich, welche Ausschweifungen namentlich
zwischen dem männlichen und weiblichen Gesinde auf den Dörfern
getrieben werden. Jede Scheune, jede Tenne, jeder Heuhaufen, jeder
Wald wird ein Zeuge derselben, und die Gutsbesitzer, Wirtschafts Ver-
walter und Forstbeamten gehen in dieser Beziehung gewöhnlich mit dem
schlechtesten Beispiele voran. Namentlich wirkt es nachteilig auf die
Sittlichkeit, wenn in heißen Sommern Personen verschiedenen Ge-
schlechts in halb entblößtem Zustande und in völlig entlegenen
22) Vgl. ¿Lie höchst wertvolles Material enthaltende große Enquete
des Pastors C. Wagner, Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse
der evangelischen Landbewohner im Deutschen Reiche, Leipzig 1897
bis 1898, 3 Bände.
620
Gegenden tagelang miteinander auf dem Felde arbeiten und gemein-
schaftlich. beieinander ruhen.“28)
Es wird hier auch schon die in der späteren Enquete hervar-
gehobene Tatsache erwähnt, daß die Bauernburschen nach be-
endigter Militärzeit die in der Stadt gesammelte Erfahrung über
sexuelle Ausschweifungen und Perversitäten auf dem Lande
verwerten und so diese Neigungen hier weiterverbreiten.
Da die sexuellen Anomalien eine allgemein menschliche Er-
scheinung sind, so spielen Basse und N ationalität als
solche eine geringere Belle, als man gewöhnlich annimmt. Der
Mongole und Malaie ist nicht minder wollüstig als der Semit
und viele arische Stämme. Unter den Semiten sind die Araber
und Türken sexuell-perverse Völker par excellence. Sie suchen
ihre sexuelle Befriedigung gleichzeitig im Weiberharem und im
Knabenbordell (Unzählige Sittenschilderungen der Beiseschrift-
steller über die Türkei, Levante, Kairo, Marokko, den arabischen
Sudan, die Araber in Ostafrika usw.). Unter den arischen Völkern
haben sich vor allem die Inder einen begründeten Buf als raffinierte
Praktiker einer in ein System gebrachten Psychopathia sexualis
erworben. Außer 48 Figurae Veneris (Stellungen beim Beischlafe)
üben sie alle möglichen perversen sexuellen Praktiken und haben
in verschiedenen Lehrbüchern23 24) eine planmäßige Anleitung
zu geschlechtlicher Unzucht. Hier fehlt offensichtlich jede Spur
von krankhaften Zuständen, von Entartung und Psychopathie.
Es handelt sich um Volkssitten und Gebräuche. Die Unzucht bei
den Griechen und Bömem, zwei anderen arischen Völkern, ist
zu bekannt, als daß nähere Angaben nötig wären. Im modernen
Europa galten einst die Franzosen für die Erbpächter sexuellen
Baffinements, was längst nicht mehr zutrifft und wohl niemals
zutreffend war. Doch übertreffen sie in der, wenn man so sagen
darf, äußeren Technik und Eleganz der geschlechtlichen Aus-
schweifung alle anderen Völker. Man sagt ihnen von jeher eine
gewisse Vorliebe für das skatologische Element im Geschlechts-
leben nach, ob mit Becht, ist nach den neuesten in der „Anthropo-
phyteia“ von Friedrich S. Krauß veröffentlichten For-
schungen über die Slaven sehr zweifelhaft. Daß unter den
letzteren die geschlechtlichen Perversionen aller Art eine außer-
23) Die Prostitution in Berlin und ihre Opfer, Berlin 1846, S. 27.
24) Vgl. die genaue Bibliographie derselben in meinen „Beiträgen
&ur Aetiologie der Psychopathia sexualis“, Bd. I, S. 29—30,
I
■
521
ordentliche Verbreitung haben, hat dieser Forscher an der Hand
eines ungeheuren Materials erwiesen. Daß die Engländer von
jeher eine besondere Neigung zu sadistischen Praktiken, besonders
der Flagellation, gehabt haben, ist allbekannt. Ich komme später
auf diese merkwürdige Erscheinung zurück. Den Deutschen
vindizieren die Franzosen eine besondere Neigung zur Homo-
sexualität („le vice allemand“), doch lassen sich hierfür keine
ausreichenden Gründe anführen, der Deutsche ist Kosmopolit
auch in der Psychopathia sexualis.
Was die Beziehungen des Lebensalters zu den sexuellen
Perversionen betrifft, so ist die Häufigkeit derselben nach der
Pubertät eine größere als vorher25) und nimmt mit den Jahren zu.
Die Zeit, in welcher die Phantasie ihre größte Tätigkeit ent-
faltet, der Beginn der Mannbarkeit, ist der Entstehung und Fest-
setzung geschlechtlicher Verirrungen überaus günstig, während
andererseits auch das Alter der abnehmenden Geschlechtskraft,
die zu ihrer Anregung neuer Reize bedarf, häufig abnorme Arten
der sexuellen Befriedigung erzeugt.26)
"Welches Geschlecht neigt mehr zu Ausartungen des
Geschlechtstriebes, das männliche oder das weibliche ?
Das von Anfang an mächtigere sexuale Triebleben des Mannes
in Verbindung mit dem größeren Alkoholgenuß macht ihn ent-
schieden empfänglicher für geschlechtliche Abwege als die Frau,
deren Sexualität erst ganz allmählich sich entwickelt und durch
die Mutterschaft starke Hemmungen hinsichtlich der Ausbildung
etwaiger sexueller Anomalien erfährt. Auf der anderen Seite ist
die viel schwierigere Auslösung von Wollustgefühlen bei
Frauen durch den normalen Koitus nicht selten die Veran-
lassung, daß sie zu perversen Arten des Geschlechtsverkehrs
neigen und auch den Mann dazu verführen und dann in der
Erfindung sexueller Raffinements ihn übertreffen. Bei primitiven
Völkern, wo die Verhältnisse am klarsten liegen, ist das noch
deutlich erkennbar, während die Kultur es oft verschleiert. Alle
jene künstlichen Verunstaltungen der männlichen Genitalien bei
25) Doch hat man typische sexuelle Perversionen auch schon bei
Kindern beobachtet, was hauptsächlich Anlaß zur Aufstellung der Lehre
vom „Angeborensein“ der sexuellen Perversionen gegeben hat.
26) Vgl, die Aeußerungen des Marquis d e S ad e über die abnorme
Sexualität der Greise in meinen „Neuen Forschungen über den Mar-
quis de Sade“, Berlin 1904, S. 421—422.
522
Naturvölkern, die dem Manne dock viel mehr Beschwerden als
Genuß bereiten, dagegen die Wollust der Frau während des Ge-
schlechtsaktes vergrößern, können nicht anders erklärt werden, als
aus einem ursprünglichen Verlangen der Frauen. Dahin gehören
Einschnitte in die Eichel und Einpflanzen von Kieseln in die
Wunde, bis die Eichel ein warziges Aussehen bekommt (Java),
Durchlöcherungen des männlichen Gliedes zum Zwecke der Be-
festigung von mit Borsten besetzten Stäbchen, Vogelfedern, Stäb-
chen mit Kugeln (der berüchtigte „Ampallang“ der Dajaks auf
Borneo) oder Schnüren, Ringen, glockenförmigen Apparaten, die
Umhüllung des Gliedes mit Futteralen aus Tierfellen oder mit
bleiernen Zylindern usw. Die weibliche Phantasie ist hier uner-
schöpflich gewesen, v. Miklucho -Maclay, der große Kenner
der Sexualpsychologie bei den Naturvölkern des malaiischen und
Südsee-Archipels erklärt es für höchst wahrscheinlich, daß alle
diese Sitten samt allen den Apparaten von Frauen
selbst oder nur für Frauen erfunden sind. Die
Frauen weisen alle Männer zurück, die diese Reizapparate an
ihrem Gliede nicht besitzen. Finsch und Kubary bestätigen
das und weisen nach, daß meist die Frigidität der Weiber sie
solche Reizmittel begehren läßt. Auch bei Kulturvölkern kann
man reiches Material für die sexuellen Perversitäten der Frauen
sammeln, wie dies neuerdings Paul de Regia in „Les Perver-
sités de la Femme“ (Paris 1904) und René Schwaeblé in
„Les Dótraquées de Paris“ (Paris 1904) getan haben.
Soziale Differenzen hinsichtlich der Häufigkeit
sexueller Perversionen existieren nicht. Sexuelle Perversionen
sind bei den unteren Volksklassen ebenso verbreitet wie bei den
oberen. A. Ferguson, Havelock Ellis, Tarnowsky,
J. A. Symonds bekunden übereinstimmend diese Tatsache, die
ja bei der anthropologischen Auffassung der Psychopathia sexualis
keiner weiteren Erklärung bedarf.
Endlich kommen wir zum letzten und wichtigsten Punkt,
zu der Frage nach den Beziehungen der Kultur und Zivili-
sation zur Psychopathia sexualis. Ist diese in ihrem Wesen
zwar unabhängig von der Kultur, eine allgemeine menschliche
Erscheinung, so läßt sich doch ein gewisser Einfluß der
Zivilisation auf die äußere Erscheinungsweise und die innere
seelische Gestaltung der geschlechtlichen Ausartungen nicht ver-
kennen. Namentlich in letzterer, in seelischer Beziehung ist die
523
„mondäne“ Perversität komplizierter als die primitive, wenn-
gleich das Wesen beider das gleiche ist.
Der moderne Kulturmensch ist im Hinblick auf seine Ge-
schlechtlichkeit ein eigentümliches Dop pel wesen. Das Ge-
schlechtliche in ihm führt eine Art von unabhängigem Dasein,
trotz innigster Beziehungen zum ganzen übrigen geistigen Leben.
Es gibt Momente, wo sich selbst im höchststehenden Geistes-
menschen die bloße Sexualität von der Liebe trennt und sich
in ihrer ganzen elementaren Natur jenseits von Gut und Böse
äußert. Ich sprach schon früher den Gedanken aus, daß diese
häufig zu beobachtende Erscheinung mich an die „Monomanie“
der alten Irrenärzte erinnere. „II y a en nous deux êtres, l’être
moral et la bête : l’être moral sait ce que mérite l’amour véritable,
la bête aspire à la fange où on la pousse“, heißt es in einem
französischen Erotikum (Impressions d’une fille par Léna de
Mauregard, Paris 1900. Bd. I, S. 57—58).
Keine menschliche Triebäußerung verträgt sich so wenig wie
die Sexualität mit dem Zwang und dem Konventionalis-
mus, wie sie jede Kultur mit sich bringen. Carl Haupt-
mann hat in einer interessanten sozialpsychologischen Studie
„Unsere Wirklichkeit“ (München 1902) diesen gerade unserer Zeit
eigentümlichen furchtbaren Konvention alismus eindrucksvoll ge-
schildert, der die „Wirklichkeit“ der Liebe so sehr zurückdrängt,
alles Ursprüngliche in ihr unterdrückt, ins Dunkel des eigenen
Innern bannt und nur die konventionellen, sanktionierten Formen
der Geschlechtsliebe bestehen läßt. Dieser Zwang, dieser äußere
Druck entwickelt einen .Vulkan von elementarer Sexualität, der
meist schlummert, aber plötzlich ausbrechen und den Exzessen
wildester Natur freien Baum geben kann. Dingelstedt hat
in seinem Verszyklus „Ein Boman“ diesen Zustand sehr anschau-
lich geschildert:
Wenn du die Leidenschaft willst kennen lernen,
Mußt du dich nur nicht aus der Welt entfernen.
Such* sie nicht auf in friedlicher Idylle,
In strohgedeckter und begnügter Stille . . ,
Da suche sie in festlich vollem Saale
Bei Spiel und Tanz, an feierlichem Mahle,
Dort, eingeschnürt in Form und Zwang und Sitte,
Thront sie wie Banquos Geist in ihrer Mitte.
Aehnlich sagt Charles Albert:27) „Wenn die Liebe in
27) C h. Albert, Die freie Liebe, S. 148,
524
unseren Tagen so oft als Verirrung oder Leidenschaft auftritt,
so ist das fast immer durch die Hindernisse aller Art zu er-
klären, die sich ihr entgegenstellen. Kein anderes Gefühl wird
so sehr gehindert, bekämpft und verabscheut und mit materiellen
und moralischen Fesseln beladen. Wir wissen, wie die Erziehung
den Anfang damit macht, die Liebe für etwas Verbotenes aus-
zugeben und wie die Härte des ökonomischen Lebens darin fort-
fährt. Kaum, daß ein junger Mann oder ein junges Mädchen in
das Leben hinaustreten, kaum daß sie Fühlung genommen haben
mit der Gesellschaft, so finden sie schon tausend Schwierigkeiten,
die ihrem sexuellen Ausleben entgegenstehen. Wie wäre es da
möglich, daß innerhalb einer solchen Gesellschaft nicht die Liebe
zur fixen Idee der Individuen und zu ihrer fortwährenden Beun-
ruhigung würde? Die Natur läßt sich durch unsere künstliche
Gesellschaftsordnung nicht hemmen. Das Liebesbedürfnis in uns
bleibt lebendig, schreit auf in ungestillter Begierde, und wenn
ihm nichts antwortet, als der Widerhall seines Schmerzes, so
verfällt es in das Perverse. Die Liebe, die an einer vollkommenen
Befriedigung und Beruhigung gehindert ist, wird für viele zu
einer schmerzlichen Plage . . . Die überreiche Phantasie und das
unbefriedigte Verlangen bringen die quälendsten und anormalsten
Formen der Liebe hervor. Gerade in einer Gesellschaft, die der
Liebe keinen Platz einräumen will, muß die Liebesleidenschaft
die größten Verheerungen anrichten. Der Trieb zur Liebe, der
durch die soziale Ordnung niedergedrückt ist, macht sich nicht
nur mit einer Heftigkeit Luft, wie sie die Folge jedes Druckes
ist, sondern er erfindet auch alle jene Raffinements und Korrup-
tionen, welche den Genuß der Liebe intensiver machen sollen.
Im Bewußtsein, von der Gesellschaft geächtet zu sein, sucht er
durch Heftigkeit zurückzugewinnen, was ihm an Sinnlichkeit
fehlt.“
Der Drang nach der Wirklichkeit der Liebe, nach dem
Elementaren und Ursprünglichen macht sich in der Aufsuchung
des möglichst großen Kontrastes zum Konventionellen, zur
gewöhnlichen sanktionierten Art der sexuellen Betätigung Luft.
Die Liebe schreit „Natur“ und kommt dadurch zur „Unnatur“,
zur möglichst rohen, gemeinen Ausschweifung. Dieser Zu-
sammenhang wurde bereits oben (S. 359—361) klargelegt. Gewisse
Zeiterscheinungen sprechen auch hierfür, z. B. die merkwürdige
Vorliebe für die brutalsten, rohesten, gewöhnlichsten Tänze, bloße
525
Gliederverrenkungen, wie den Cancan, die Craquette (Machicha),
den Cakewalk und andere wilde Negertänze, die das heutige
Publikum mehr begeistern, als die schönsten und graziösesten,
geistig belebten Ballettänze. Erst seit ich auf den oben ge-
schilderten Zusammenhang gekommen bin, kann ich mir die selt-
same Anziehungskraft dieser Tänze erklären, die mir bis dahin
unbegreiflich war.
Ein weiterer Faktor, der die Entstehung sexueller Perver-
sionen begünstigt, ist die jeder höheren Kultur anhaftende
Unruhe, das Hasten und Jagen, der verschärfte Kampf ums
Dasein, der rasche und häufige Wechsel von neuen Eindrücken.
Schon vor 50 Jähren rief der berühmte Irrenarzt Guislain
aus: „Was erfüllt unsere Gedanken? Pläne, Neuerungen, Re-
formen. Wonach streben wir europäischen Menschen? Nach Be-
wegung, Aufregungen. Was empfinden wir? Reizungen, Illu-
sionen, Täuschungen.“28) Keine Zeit mehr zu ruhiger, ausdauernder
Liebe, zu inniger Vertiefung der Gefühle, zur Kultur des
Herzens. Der Lebens- und Geisteskampf unserer Zeit läßt nur
noch die flüchtige Empfindung übrig, die, je kürzer sie ist, um so
heftiger, intensiver sein muß, um Ersatz für die fehlende
„große“ Liebe zu schaffen. Die Liebe wird zur bloßen Sen-
sation, die in einem kurzen Augenblicke eine ganze Welt in
sich auf nehmen möchte. Die moderne Jugend begehrt solches
Erleben einer Welt durch die Liebe, das ewige Gefühl unserer
klassischen Periode hat sich gerade bei hervorragenden Geistern
in eine leidenschaftliche Sehnsucht verwandelt, den Geist der
Zeit treu und wahr in sich widerzuspiegeln, alle Unruhe, alle
Freude, alles Leid der modernen Kultur in sich zu erleben.
Daraus resultiert eine seltsame, mehr seelische Ge-
staltung der modernen Perversität, ein eigenartiger Spiritualismus
in der Psychopathia sexualis, eine wahre Irrfahrt und Odyssee
des Geistes auf dem weiten Gebiete der geschlechtlichen Aus-
schweifungen. Ohne Zweifel haben es die Franzosen hierin am
weitesten gebracht, und die Namen eines Baudelaire,
Barbey d’Aurevilly, Verlaine, Hannon, Harau-
court, Jean Larocque, Guy de Maupassant bezeichnen
beinahe ebenso viele eigentümliche seelische Verfeinerungen und
Bereicherungen des rein Sinnlichen. Es ist nicht einmal mehr
28) Joseph Guislain, Klinische Vorträge über Geisteskrank-
heiten, Berlin 1854, S. 229.
526
bloße Reflexionsliebe wie bei Kierkegaard, Grillparzer
und in den Schriften des jungen Deutschlands, wo zwar die
Reflexion vorherrscht, aber sich doch mehr auf die höhere Liebe
erstreckt, hier dagegen ist es die bloße Sinnenlust, der neue
seelische Momente abgewonnen werden sollen. Die "Wollust wird
Gehirnphänomen, wird zerebral, ätherisch. So bilden sich die
merkwürdigsten, unerhörtesten Gefühlsassoziationen auf sexuellem
Gebiete, rechte fin de siecle-Produkte, die allerdings spezifisch
modern sind und früher nicht möglich waren. Die Phantasie
feiert hier die tollsten Orgien, aber vergeblich. Denn es ist
immer dasselbe Spiel, derselbe Effekt, dasselbe Endresultat: die
gewöhnlichste Wollust. Der Traum Hermann Bahrs von der
„ungeschlechtlichen Wollust“ und dem Ersätze des tierischen
Triebes durch feinere Organe ist eben ein Traum. Der elementare
Geschlechtstrieb widerstrebt jeder Zergliederung und Subli-
mierung. Er kehrt stets und unverändert als derselbe wieder.
Es ist vergeblich, durch ihn neue Offenbarungen zu bekommen.
Solche Bemühungen enden mit körperlicher und geistiger Im-
potenz oder — mit sexuellen Perversitäten. In dieser Beziehung
vermag zwar die Phantasie des Kulturmenschen nichts dem
Wesen nach, aber doch der äußeren Erscheinung nach
Neues zu schaffen. Dafür spricht die Zunahme der rein ideellen,
mit gewissen geistigen Strömungen unserer Zeit zusammen-
hängenden geschlechtlichen Perversitäten. Martial d’Estoc
hat in seinem Buche „Paris Eros“ (Paris 1903) eine anschau-
liche Schilderung dieser eigenartigen seelischen Modifikationen
sexueller Verirrungen gegeben.
Anhang.
Sexuelle Perversionen durch Krankheiten.
Daß zahlreiche mit einer abnormen Vita sexualis be-
haftete Menschen kranke Individuen sind, das mit aller Energie
betont zu haben, ist das unsterbliche Verdienst von C a s p e r
und v. Krafft-Ebing und wird es immer bleiben. Dies ist
ihr „monumentum aere perennius“ in der Geschichte der Medizin
und der Kultur. Die rein medizinische, anatomisch-somatische
und psychiatrische Untersuchung ermittelt ohne Zweifel eine
mehr oder weniger große Zahl von Individuen, deren abnormes
Geschlechtsleben auch pathologisch begründet ist.
527
Ich will aii dieser Stelle nicht auf die eigentümlichen
Grenzzustände zwischen Gesundheit und Krank-
heit eingehen, die man hei vielen sexuell Perversen feststellen
kann, auf die „Abnormitäten“, „psychopathischen Minderwertig-
keiten“, die „Desequilibrierten“ usw., ebenso nicht auf die Frage
der Bedeutung der „Entartungszeichen“, der Stigmata der Degene-
ration, weil diese erst im Zusammenhänge mit der forensischen
Beurteilung strafbarer Betätigung sexueller Perversionen ge-
würdigt werden können und in dem betreffenden Kapitel be-
sprochen werden sollen.
Hier soll nur kurz von wirklichen und leicht feststellbaren
Krankheiten die Bede sein, die für die Entstehung und Betätigung
sexueller Perversionen eine ursächliche Bedeutung besitzen. Die
große Mehrzahl gehört natürlich den Geisteskrank-
heit e n an.
v. Krafft-Ebing, der die meisten Beobachtungen über
eine pathologische Aetiologie der sexuellen Perversionen gesammelt
hat, macht im einzelnen namhaft: psychische Entwicklungs-
hemmungen (Idiotie und Schwachsinn), erworbene geistige
Schwächezustände (nach Geisteskrankheiten, Apoplexie, Kopf-
verletzung, Syphilis, durch progressive Paralyse), Epilepsie,
periodisches Irresein, Manie, Melancholie, Hysterie, Paranoia.
Unter diesen beansprucht die größte Bedeutung die Epi-
1 epsie.29) Sie kommt viel häufiger als krankhaftes Moment
bei sexuell perversen Handlungen und Delikten in Betracht als
man bisher geglaubt hat. Der Psychiater Arndt behauptet,
daß, wo immer ein absonderliches sexuelles Leben besteht, stets
an ein epileptisches Moment zu denken sei. Lombroso nimmt
an, daß alle frühreifen und eigentümlichen Satyriasiker verlarvte
Epileptiker sind und führt mehrere Beispiele zur Stütze dieser
Meinung an, auch einen Fall von MacDonald, der den Zu-
sammenhang zwischen Epilepsie und geschlechtlicher Perversität
erweist.30) Besonders im sogenannten epileptischen „Dämmer-
29) Kowalewski, Ueber Perversionen des Gescblecbtssinnes
bei Epileptikern, in: Jahrbücher für Psychiatrie 1887, Bd. VII, Heft 3.
30) 0. Lombroso, Neue Fortschritte in den Verbrecher Studien,
Gera 1899, S. 197—200. — Tarnowsky hat sogar eine Form der
„epileptischen Päderastie“ aufgestellt. Vgl. B. Tarnowsky, Die
krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes, Berlin 1886, S. 8
u. S. 51.
528
zustande“ werden geschlechtliche perverse Handlungen begangen;
exhibitionistische und andere coram publico sich abspielende
sexuelle Betätigungen sind vielfach auf eine epileptische Er-
krankung zurückzuführen. Aehnlich impulsive sexuelle Hand-
lungen und ähnliche Dämmerzustände beobachtet man nach
Kopfverletzungen und im alkoholischen Rausche,
auch nach schweren Erschöpfungen. Viele Fälle von
„periodischer Psychopathia sexualis“ beruhen auch auf
epileptischer Grundlage.
Der Altersblödsinn und die Derne ntiaj>aralytica
(fortschreitende Lähmung der Irren), ferner die schweren
Formen der Neurasthenie und die Hysterie verändern
oft das Sexualleben in krankhafter Weise und begünstigen die
Entstehung sexueller Perversionen.
Von großem Interesse ist es, daß Tarnowsky und Freud
der Syphilis eine große Rolle in der Pathogenese der sexuellen
Anomalien einräumen. Freud fand in 50 o/o seiner sexual-
pathologischen Fälle, daß die abnorme sexuelle Konstitution als
der letzte Ausläufer einer syphilitischen Erbschaft zu betrachten
war (Freud, a. a. O. S. 74). Tarnowsky beobachtete, daß
hereditär syphilitische oder auch von syphilitischen Eltern er-
zeugte, aber keine wahrnehmbaren Symptome darbietenden Kinder
später Erscheinungen eines perversen Geschlechtssinnes aufwiesen
(Tarnowsky a. a. O. S. 34—35). Offenbar ist dies aus
derselben, das Nervensystem intensiv schädigen-
den Wirkung zu erklären (vielleicht durch
Toxine?), welche man der Syphilis auch in der
Aetiologie der Tabes und Dementia paralytica
zuschreibt. In der anamnestischen Untersuchung sexuell
Perverser kann demnach vorausgegangene Syphilis eine gewisse
Bedeutung gewinnen.31 *)
Die Syphilis leitet über zu den direkten körperlichen
Abnormitäten und krankhaften Veränderungen an den
Genitalien als Ursachen sexueller Anomalien. Bei der Frau
bat nicht selten ein Gebärmuttervorfall Veranlassung zu perverser
31) E. Laurent (Die krankhafte Liebe, Leipzig 1895, S. 48—45)
betrachtet die tuberkulöse Vererbung als ein wichtiges ätiolo-
gisches Moment sexueller Anomalien, die dann bei blonden, schwäch-
lichen Individuen öfter auf treten sollen als bei brünetten (?).
529
Befriedigung des Geschlechtstriebes, z. B. durch Pädikation, ge-
geben,32) beim Manne spielt die Kürze des Vorhautbändchens
eine ähnliche Rolle,33) ebenso die Verengerung der Vorhaut.
Wollenmann teilt den Pall eines mit Phimose behafteten
jungen Menschen mit, der bei der ersten Ausübung des Koitus
einen heftigen Schmerz empfand und seitdem eine Abneigung
gegen den normalen Geschlechtsverkehr hatte. Dagegen verfiel
er unter dem Einflüsse eines Verführers der mutuellen Onanie.
Erst nach operativer Beseitigung der Phimose hörte sein Hang
zum männlichen Geschlecht auf und die sexuelle Perversion
schwand gänzlich.34)
32) Bacon, Die Wirkung von Bildungsfehlern und Störungen der
weiblichen Geschlechtsorgane auf den Geschlechtstrieb, in: American
Journal of Dermatology, Bd. Ill, Heft 2, 1899.
S3) M. F6re, Eine geschlechtliche Hyperästhesie im Zusammen-
hang mit der Kürze des Frenulum penis, in: Monatshefte für prak-
tische Dermatologie 1896, Bd. 23, S. 45.
34) A. G. Wollenmann, Die Phimose als Ursache einer per-
versen Sexualempfindung, in: Der ärztliche Praktiker 1895, No. 23. —
Daß krankhafte Veränderungen der Genitalsphäre oder in der Nähe
derselben nicht selten bei Sittlichkeitsdelikten als veranlassendes Mo-
ment mit herangezogen werden müssen, weist Matthaes nach (Zur
Statistik der Sittlichkeitsverbrechen. In: Archiv für Kriminalanthro-
pologie 1903, Bd. XII, S. 319.)
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
84
530
ACHTZEHNTES KAPITEL.
Der Abfall vom >Veibe.
Du Priesterin des blühendsten Lebens, wie mag dir einer jener
blassen Schemen, eine jener Allgemeinheiten nahen, die Philosophen
und Moralisten aus Verzweiflung am menschlichen Geschlecht er-
fanden ?
G. Jung.
531
Inhalt des achtzehnten Kapitels.
Nichtidentität des Weiber hasses mit der Homosexualität. — Zur
Geschichte der Misogynie. — Der Weiberhaß bei den Griechen. —
Die christliche Misogynie als eigentliche Quelle der modernen Weiber-
veraclitung. — Charakter der modernen Misogynie. — De Sade und
seine neueren Nachfolger (Schopenhauer, Strindberg, Wei-
ninger). — Die wissenschaftliche Misogynie (Möbius, Schürt z,
B. Friedländer, E. v. Mayer). — Unterschiede der einzelnen
Richtungen. — Gegenströmungen. — Anfänge eines neuen Liebeslebens
der Geschlechter. — Gemeinsamer Anteil am Leben. — Die Freiheit
mit, nicht ohne das Weib.
34*
Ich schicke dem längeren Kapitel über die Homosexualität
ein kürzeres über das Zeitphänomen des „Abfalls vom Weibe“
voraus, um zu verhüten, daß man beide Erscheinungen in einen
Topf werfe und, wie es heute oft geschieht, die männlichen Homo-
sexuellen als „Weiberfeinde“ für die augenblicklich grassierende
geistige Epidemie des Weiberhasses verantwortlich mache.
Das wäre die größte Ungerechtigkeit, weil erstens diese Be-
wegung gar nicht von den Homosexuellen ausgegangen ist,
sondern von tjrpisch heterosexuellen Individuen wie Schopen-
hauer, Strindberg u. a., und weil zweitens die Homo-
sexuellen als solche gar keine Weiberfeinde sind, es vielmehr
nur eine Minorität von ihnen ist, die den misogynen Tiraden
eines Strindberg und Weininger Beifall klatscht.
Die Weiberfeinde bilden heute eine Art „viertes Ge-
s c h 1 e c h t“,1) dem anzugehören Mode geworden ist oder viel-
mehr wieder Mode geworden ist. Denn der Weiberhaß hat
eine alte Geschichte. Es gab immer Zeiten, wo die Männer
riefen: „Weib, was hab’ ich mit dir zu schaffen? Ich gehöre
dem Jahrhundert an!“,2) wo das Weib als „seelenloses“ Wesen
„verneint“ wurde und die Männerwelt sich an sich selbst be-
rauschte und stolz war auf ihre Einsamkeit, auf ihre „splendid
isolation“.
Weniger von Belang ist es, daß schon die Chinesen seit
alten Zeiten dem Weibe die Seele und damit die Existenz- * *)
!) So nennt Y. Hoffmann in einem schlechten Roman „Das
vierte Geschlecht“ (Berlin 1902) die nicht homosexuellen Weiber-
feinde.
*) Karl Gutzkow, Säkularbilder, Frankfurt a. M. 1846, Bd. I,
S. 55.
533
berechtigung abspraehen,3) als daß bei dem höchstentwickelten
Kulturvolke des Altertums Männer wie Hesiod, Simonides4 *)
und namentlich Euripides als wütende Misogynen auftraten.
„Dem Euripides verhaßt und allen Göttern“, nennt Aristo-
phanes die Weiber. Im „Jon“, „Hippolytos“, „Hekabe“,
„Kyklops“ des Euripides finden sich die schärfsten Ausfälle
gegen das weibliche Geschlecht. Am berühmtesten ist die Stelle
aus dem „Hippolytos“ (Vers 602—637, 650—655):
Was hast du doch der Menschen gleißend Ungemach,
Die Frau’n, o Zeus, an dieses Sonnenlicht gebracht?
Trugst du Verlangen, ein Geschlecht von Sterblichen
Zu schaffen, sollten diese nicht vom Weibe sein:
Nein, Männer mußten, wenn sie dir des Eisens Wucht,
Gold oder Erz in deinem Tempel dargebracht,
Nachwuchs von Kindern aus des Gottes Hand dafür
Als Gegengabe nehmen, nach dem echten Wert
Des Dargebotenen Jeder, und im freien Haus
Als Freie wohnen ohne das Geschlecht der Frau’n
Da haben wir schon die ganze Quintessenz der modernen
Misogynie. Aber Euripides verrät uns auch ihren letzten
Beweggrund. „Das Unbezwinglichste von allen ist ein
Weib“, sagt er in einem Fragment. Hinc illae lacrimae! Nur
die Männer, die dem Weibe nicht gewachsen sind, die es
nicht als freie Persönlichkeit auf sich wirken ließen, die so
wenig ihrer selbst sicher sind, daß sie vom weiblichen
Wesen eine Einbuße, Beeinträchtigung oder gar Vernichtung der
eigenen Individualität befürchten, nur diese sind die echten
Weiberhasser.
Daß diese hellenische Misogynie in engstem Zusammenhänge
mit der weiten Verbreitung der Knabenliebe als einer Volkssitte
stand, läßt sich nicht bezweifeln. Darauf kommen wir noch bei
der Besprechung der griechischen Päderastie zurück.
8) Im Shi-king findet sich folgende Charakteristik des Weibes:
Genug, daß sie das Böse meidet,
Denn was kann Gutes tun ein Weib?
Auch die indische Literatur ist überreich an solchen Gedanken. Vgl,
H. Scturtz, Altersklassen und Männerbünde, S. 52.
4) Simonides ließ die Weiber von den verschiedenen Tieren
abstammen. — W. Schubert (Aus der Berliner Papyros Sammlung, in;
Vossische Zeitung No. 23 vom 15. Januar 1907) erwähnt ein langes
Bruchstück einer griechischen Anthologie, die Lob und Tadel der
Weiber in Worten der Dichter zusammenstellt.
534
Bei den Römern nahm das Weib, wie schon das Institut
der Vestalinnen beweist, eine viel höhere Stellung ein als bei
den Griechen, ebenso war es den Germanen eine verehrungswürdige
Erscheinung.
Die eigentliche Urquelle des modernen Weiberhasscs
ist das Christentum, die christliche Lehre von der ursprüng-
lich bösen, sündhaften, teuflischen Natur des Weibes. Ein
Strindberg und Weininger, ja sogar ein Benedikt
Friedländer trotz seines Hasses gegen die Priester, sind nur
die letzten Ausläufer einer durch die ganze christliche Zeit der
Weltgeschichte von Beginn an sich hinziehenden Bewegung gegen
Wesen und Wert des Weibes.
„Würde ich aufgefordert werden,“ sagt Finck,s) „die ein-
flußreichsten Verfeinerungselemente der modernen Zivilisation
aufzuzählen, so würde ich antworten: „Frauen, Schönheit, Liebe
und Ehe!“ Würde man mich aber nach dem innersten und
eigensten Wesen des Geistes des früheren Mittelalters fragen,
dann würde meine Antwort lauten: „Tödliche Feindschaft gegen
alles Weibliche, gegen Schönheit, gegen Liebe und Ehe!“
Die Geschichte der mittelalterlichen Misogynie hat J. M i -
chelet geschrieben, in seinem Buche „Die Hexe“ (Deutsche
Ausgabe, Leipzig 1863). Da das Weib und die Berührung mit
demselben als das radikal Böse betrachtet wurde, so wurde
Askese in Theorie und Praxis das Ideal, das Zölibat war
nur eine natürliche Folge dieses Weiberhasses, ebenso die
späteren Hexenprozesse. Man kann also dieser mittelalter-
lichen Misogynie im Gegensätze zur modernen, die nur eine
schwächliche Nachahmung darstellt, eine gewisse Folgerichtigkeit
nicht absprechen. Was damals ernst gemeint war, ist heute zum
Teil nur Phrase, dilettantische Nachäfferei und Prahlerei. Die
groben Schimpfereien eines Abraham a Santa Clara auf
die Weiber wirken dagegen noch erfrischend und aufrichtig.6)
Die moderne Weiberfeindschaft ist nun zwar sicher eine
6) H. T. Finck, Romantische Liebe und persönliche Schönheit,
Breslau 1894, Bd. I, S. 186—187.
6) Ebenso amüsant ist das misogyne „Alphabet de l’imperfection
et malice des femmes“ von Jacques Olivier (Rouen 1646), in
dem alle bis 1646 beobachteten schlechten Eigenschaften der Weiber
mit einer rührenden Sorgfalt und Vollständigkeit zusammengetragen
sind.
535
Erbschaft christlicher Provenienz und eine altüberkommene
Tradition, aber sie hat noch ihre besonderen Eigentümlichkeiten.
Sie ist doch viel mehr eine Sache der UeberSättigung oder
Enttäuschung als des Glaubens und der Ueber-
zeugung, die denn doch trotz aller Ausartungen im christ-
lichen Mittelalter die wirksamsten ursächlichen Faktoren in der
Misogynie waren. Eiinzu kommt noch bei unseren Neomisogynen
der geistige Hochmut, der vom Standpunkt der akademisch-
theoretischen Bildung, die ihm als der höchste Gipfel des Daseins
erscheint, auf das geistig angeblich unbedeutende Weib herab-
blickt, ja wohl gar mitleidig über dessen „physiologischen Schwach-
sinn“ lächelt und ganz und gar das tiefinnige Herzens- und
Gemütslebens jedes echten Weibes übersieht, das denn doch allein
schon ein gewichtiges Aequivalent des rein theoretischen Wissens
bildet, ganz abgesehen davon, daß geistig hochstehende Weiber
auch heute nichts Seltenes mehr sind.
Blickt man in der Tat auf das Leben derjenigen, die den
modernen Weiberhaß in ein System gebracht haben, so wird man
die genannten Ursachen aus ihren persönlichen Erlebnissen und
Eindrücken leicht eruieren können. Der erste konsequente neuere
Vertreter der Misogynie, der Marquis de Sa de, lebte in einer
sehr unglücklichen Ehe, erfuhr auch in einem Liebesverhältnisse
Enttäuschungen und nährte seinen Weiberhaß durch ein aus-
schweifendes Leben und die daraus resultierende Uebersättigung.
Wer denkt nicht bei Schopenhauer an das unerfreuliche
Verhältnis zu seiner Mutter? Denn wer seine Mutter wirklich
geliebt hat, wer die ganze Zärtlichkeit und Aufopferung der
Mutterliebe erfahren hat, der kann nie und nimmer ein wirk-
licher, prinzipieller „Weiberfeind“ werden. Nun war aber das
gegenseitige Verhältnis Schopenhauers und seiner Mutter
eher Haß als Liebe. Ohne Zweifel hat auch seine syphilitische
Ansteckung, über die ich zuerst Mitteilung gemacht habe, einen
Anteil an seinem späteren Frauenhaß.
Strindberg hat in seiner „Beichte eines Toren“ selbst
den Beweis für den ursächlichen Zusammenhang seiner Misogynie
mit seinen Lebenserfahrungen und Enttäuschungen geliefert, und
auch aus Weiningers Buch hört man allzu deutlich heraus,
daß er kein Glück bei den Frauen gehabt oder unangenehme
Erfahrungen mit ihnen gemacht hat.
De S a de, der vielleicht auch Schopenhauer nicht
unbekannt war,7) ist der erste Vertreter einer konsequenten Weiber-
feindschaft aus Prinzip. Es ist sehr interessant, worauf ich schon
früher (Neue Forschungen über den Marquis de Sade, S. 433)
hin wies, daß de Sades und Schopenhauers Urteile über
die körperlichen Eigenschaften des "Weibes zum Teil wörtlich
übereinstimmen. Während Schopenhauer in seiner Abhand-
lung „Ueber die Weiber“ (Werke ed. Grisebach Bd. V, S. 654)
von dem „niedrig gewachsenen, schmalschultrigen, breithüftigen
und kurzbeinigen Geschlecht“ spricht, das nur der vom
Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt das
„schöne“ habe nennen können, findet man in der „Juliette“
(III, 187—188) des Marquis de Sade folgende ganz ähnliche
Auslassungen über den Frauenkörper: „Entkleidet doch einmal
dieses euer Idol! Sind es diese beiden kurzen und krummen
Beine, die euch den Kopf verdrehen?“ Dieser körperlichen
Häßlichkeit des Weibes entspricht die seelische, von der de Sade
dasselbe abschreckende Bild entwirft (Juliette III, 188—189).
Durch alle seine Werke zieht sich dieser fanatische Weiberhaß.
Sarmiento in „Aline et Valcour“ (II, 115) möchte am liebsten
alle Frauen vertilgen und preist den Mann glücklich, der ge-
lernt hat, auf den Umgang mit diesem „niedrigen, falschen und
schädlichen Geschlecht“ ganz zu verzichten.
Ganz im Geiste de Sades, den schon die Frauen Verächter
des zweiten Kaiserreiches als Autorität anführten, haben dann
Schopenhauer in dem eben erwähnten Kapitel über die
Weiber, Strindberg in der „Beichte eines Toren“, Wei-
nin ger in „Geschlecht und Charakter“ die Verachtung weib-
lichen Wesens gepredigt.8) Und diese Saat ist in der heutigen
Jugend auf fruchtbaren Boden gefallen. Jeder dumme Junge
bläht sich auf in seinem „Mannesstolze“ und fühlt sich als
„Bitter vom Geiste“ gegenüber dem „inferioren“ Geschlechte,
jeder enttäuschte und übersättigte Lebemann huldigt — freilich
meist nur vorübergehend — der ihn in seinem Selbstgefühle
stärkenden Mode der Misogynie. Wenn man überhaupt von einem
7) Wir wissen, daß er Liebhaber von erotischen Schriften war,
worüber man nähere Mitteilungen in Grisebachs „Gespräche und
Selbstgespräche Schopenhauers“ findet.
8) Daß Nietzsche zu Unrecht in den Geruch der Misogynie
gekommen ist, weist Helene Stöcker überzeugend nach
(„Nietzsches Frauenfeindschaft“ in: „Zukunft“, 1903, wieder abge-
druckt in: Die Liebe und die Frauen, Minden 1906, S. 65—74.)^
537
„physiologischen Schwachsinn“ reden darf, dann könnte man ihn
auf diese wenig erfreulichen Typen anwenden. Diese An-
maßung der Männer ist wirklich eine Art „geistigen Defekts“,
wie auch Georg Hirth bemerkt (Wege zur Freiheit, S. 281).
Leider hat sich diese Misogynie auch in die Wissenschaft
eingeschlichen. Ich kann die Schrift von P. J. M ö b i u s9) bei
aller Hochschätzung und Anerkennung der sonstigen hoch-
bedeutenden Leistungen des berühmten Neurologen nur als
eine Entgleisung, einen lapsus calami bezeichnen.10) Aber er steht
nicht allein. Auch das vortreffliche Buch von Heinrich
Schurtz über „Altersklassen und Männerbünde“ (Berlin 1902)
ist von diesem misogynen Hauch durchweht, ebenso das nicht
minder anregende Werk „Die Lebensgesetze der Kultur“ (Halle
1904) von Eduard v. Mayer. Dieses Buch im Verein mit dem
ebenso geistvollen inhaltreichen Werke „Renaissance des Eros
Uranios“ (Berlin 1904) von Benedikt Fried Länder und den
von Adolf Brand, dem Herausgeber der homosexuellen Zeit-
schrift „Der Eigene“, und Edwin Bab (vgl. dessen „Frauen-
bewegung und Freundesliebe“, Berlin 1904) ausgehenden Be-
strebungen einer „Männeremanzipation“ fordernden homo-
sexuellen Sondergruppe hat wohl die Hauptveranlassung zu
dem Glauben gegeben, als ob die männlichen Homosexuellen die
eigentlichen „Frauenleugner“ seien und von ihnen die Verbreitung
der gegenwärtig grassierenden Misogynie ausgegangen sei. Ich
wiederhole es, daß dieser Zusammenhang nur für die ge-
nannte Gruppe gilt, daß im Gegenteil der echte Weiber-
haß von (typisch heterosexuellen) Männern wie Schopen-
hauer und Strindberg gelehrt worden ist. Benedikt
Friedländer und Eduard, v, Mayer predigen vor allem
eine „männliche Kultur“, eine Vertiefung der seelischen Be-
ziehungen zwischen Männern, während Strindberg und
Schopenhauer, selbst Weininger uns eigentlich im un-
klaren darüber lassen, was denn eigentlich an die Stelle des
9) P. J. Möbius, Ueber den physiologischen Schwachsinn des
Weibes, 4. Auflage, Halle 1902. N ä c k e nennt den jüngst verstor-
benen Möbius den „deutschen Lombros o“, um damit einerseits
das unzweifelhaft Geniale des Mannes, andrerseits das Oberflächliche
und rein Hypothetische in seinen wissenschaftlichen Deduktionen zu
kennzeichnen.
10) Die Gründe für dieses Urteil gab ich bereits oben im fünften
Kapitel.
538
Weibes treten soll. Alle fünf stimmen darin überein, daß der
„Umgang“ des Mannes mit dem Weibe möglichst beschränkt werde,
aber nur die beiden ersten treten offen und frei für homosexuelle
Beziehungen oder wenigstens für eine „physiologische Freund-
schaft“ (B. Friedländer) zwischen Männern ein. Schopen-
hauer, Strindberg und Weininger wagen es nicht, diese
Konsequenz zu ziehen. Das ist aber die notwendige Folge
einer prinzipiellen Misogynie.
Dem heterosexuellen Mann — und das ist die übergroße
Mehrzahl — erscheint die edle, ideale asexuelle Männer-
freundschaft in einem ganz anderen Lichte als dem Misogynen,
dem sie ein Ersatz der geschlechtlichen Liebe sein soll, während
sie für jenen ein köstliches Gut neben der Liebe zum Weibe
darstellt.
Ist denn ein Grund vorhanden zu diesem Abfall vom Weibe?
Mehren sich nicht überall die Zeichen, daß neue Beziehungen
sich anbahnen zwischen den Geschlechtern, daß zahlreiche neue
Berührungspunkte seelischer Natur zum Vorschein kommen, mit
einem Worte, daß ein ganz neues, edleres, ver-
heißungsvolles Liebesieben sich bildet? Ich will nicht
in das Gegenteil des Weiberhasses verfallen und einen Lobes-
hymnus auf weibliches Wesen anstimmen, wie die Wed de,
D aumer, Q u e n s e 1, G r o d d e c k u. a. es getan haben,
aber ich deute nur die Zeichen der Zeit, wenn ich sage: Auch
das Weib erwacht! Zu einem ganz neuen Dasein der freien,
sich ihrer Hechte und Pflichten bewußten Persönlichkeit. Auch
das Weib will seinen Anteil haben am Inhalt und den Aufgaben
des Lebens, es will uns nicht knechten, wie die Misogynen uns
vor jammern, sondern es will freie Männer vor sich sehen.
Denn wo bliebe das „Weib“, wenn wir Sklaven würden? Wie
könnten Sklaven Liebe geben?
Das Leben ist heute eine schwere Aufgabe geworden für
Mann und Weib. Jeder von beiden muß sie lösen im Vertrauen
auf die eigene Kraft, aber auch im Vertrauen auf die Kraft
des anderen, die in Gestalt von Liebe oder Freundschaft fühl-
bar wird und die eigene Kraft steigert.
Nicht „frei vom Weibe“ ist das Wort der Zukunft, sondern:
frei mit dem Weibe.
NEUNZEHNTES KAPITEL.
Das Rätsel der Homosexualität.
Durch die Wissenschaft zur Gerechtigkeit!
Magnus H i r s c h f e 1 <1.
540
Inhalt des neunzehnten Kapitels.
Tatsächliche Existenz der originären, angeborenen Homosexualität.
— Unterscheidung von der Pseudo - Homosexualität. — Die Homo-
sexualität eine anthropologische, keine Entartungserscheinung. —
Sekundärer Ursprung der „homosexuellen Neurasthenie“. — Seltenheit
der Entartungszeichen bei Homosexuellen. — Frühzeitiges spontanes
Auftreten der Homosexualität. — Als Wesensausfluß der Persönlichkeit.
— Homosexualität beim Kinde. — Körperliche und seelische Merkmale
der voll ausgebildeten Homosexualität. — Feminine und virile Uranier.
— Körperliche Eigentümlichkeiten der Homosexuellen. — Seelische Be-
sonderheiten. — Verbreitung. — Zahlenverhältnisse. — Ethnologie der
Homosexualität. — Zur älteren Geschichte und Literatur. — Berühmte
Homosexuelle. — Die Betätigung der gleichgeschlechtlichen Liebe. —
Beziehungen zwischen Homo- und Heterosexuellen. — Art des geschlecht-
lichen Verkehrs. — Beispiele. — Gesellschaftliche Beziehungen der
Homosexuellen. — Rendezvousorte. — Die Pariser „Witwenallee“ —
Ein Abenteuer Victor Hugos. — Urnische Klubs unter dem zweiten
Kaiserreiche. — Pariser Urningsbälle. — Gesellige Veranstaltungen der
Homosexuellen in Berlin. — Urnische Lokale. — Berliner Männer-
bälle. — Männliche Prostitution. — Männerbordelle. — Erpressertum. —
Der § 175. — Kritik desselben. — Begründung der Notwendigkeit
seiner Aufhebung. —■ Die Erpressungen an und die Selbstmorde von
Homosexuellen. — Die Aufklärung des Volkes. — Tätigkeit des wissen-
schaftlich-humanitären Komitees. — Die Homosexualität beim Weibe. —
Geringerer Prozentsatz echter weiblicher Homosexuellen. — „Gedanken
einer Einsamen“. — Verhältnis der homosexuellen Frauen zu Männern. —
Frauenbewegung und Homosexualität. — Sexuelle Beziehungen der
Tribaden. — Die „Protectrices“. — Geselliges Leben der Tribaden. —
Lesbische Prostitution.
Anhang. Theorie der Homosexualität. — Die Homo-
sexualität eine heterogene Sexualität. — Unzulänglichkeit der Zwischen-
stufentheorie. — Meine theoretische Auffassung der Homosexualität. —-
Die Bedeutung der Homosexualität für die Kultur.
541
Ich nenne die Homosexualität oder die g 1 e i c h -
geschlechtliche Liebe, die Liebe zwischen Mann
und Mann (Uranismus) oder Frau und Frau (Tribadie) als
angeborenen oder in frühester Kindheit spontan
auftretenden Zustand ein „Rätsel“, weil sie mir in der
Tat, je genauer ich sie in den letzten Jahren kennen gelernt
habe, je mehr ich wissenschaftlich in sie einzudringen suchte,
um so rätselhafter, dunkler, unverständlicher geworden ist. Aber
sie ist, sie existiert. Daran ist nicht zu zweifeln.
In den Jahren 1905 und 1906 habe ich mich fast ausschließ-
lich mit dem Problem der Homosexualität beschäftigt und Ge-
legenheit gehabt, eine sehr große Zahl echter Homosexueller,
sowohl Männer als auch Frauen, zu sehen, zu untersuchen und
während längerer Zeit zu Hause und in der Oeffentlichkeit zu
beobachten, ihre Lebensweise, ihre Gewohnheiten, Anschauungen,
ihr ganzes Tun und Treiben, auch im Verhältnis zu den nicht
homosexuellen Personen gleichen und anderen Geschlechtes kennen
zu lernen. Und da hat sich mir die unzweifelhafte Tatsache er-
geben, daß die Verbreitung der echten Homosexualität als ange-
borener Naturerscheinung doch eine viel größere ist, als ich
früher annahm,1) so daß ich mich jetzt genötigt sehe, die andere
Kategorie der erworbenen, scheinbaren, gelegent-
lichen Homosexualität, von deren Vorhandensein ich
nach wie vor fest überzeugt bin, unter der Bezeichnung
„Pseudo-Homosexualität“ davon zu trennen und in einem
besonderen Kapitel zu behandeln.
Früher glaubte ich, daß die echte Homosexualität nur eine
Abart der Pseudo-Homosexualität, gewissermaßen eine larvierte
Pseudo-Homosexualität sei. Jetzt muß ich anerkennen, daß sie
eine besondere, wohl charakterisierte Gruppe
bildet, welche von allen Formen der Pseudo-Homosexualität
!) Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis, Bd. I, S. 219.
542
scharf zu trennen ist. Ich muß aus meinen ärztlichen Beobach-
tungen, die ich so genau und so objektiv wie möglich angestellt
habe, den Schluß ziehen, daß bei durchaus gesunden, sich
von anderen normalen Menschen nicht unterscheidenden Individuen
beider Geschlechter schon in frühester Kindheit und sicher-
lich nicht durch irgend welche äußeren Einflüsse hervorgerufen
sich die Neigung und nach der Pubertät der Geschlechts-
trieb auf Personen des eigenen Geschlechts richtet
und ebensowenig zu ändern ist, wie man einem hetero-
sexuellen Manne den Trieb zum Weibe austreiben kann.
Vor allem lege ich bei dieser Definition der echten originären
Homosexualität den Nachdruck auf das Wort: „gesunde“.
Denn v. Krafft-Ebing und mit ihm diejenigen Psychiater,
die an die angeborene Homosexualität glauben, halten sie dennoch
für ein krankhaftes Entartungsphänomen, für den Ausdruck
schwerer erblicher Belastung und neuropsychopathischer Konsti-
tution.2) Nun ist zwar zuzugeben, daß ein Teil der echten
Homosexuellen — wie übrigens auch ein Teil der Heterosexuellen
— mit einer derartigen krankhaften Konstitution behaftet ist,
daß ferner ein anderer Teil Erscheinungen von Nervosität
und Neurasthenie aufweist, die ohne Zweifel während des
Lebens aus einem ursprünglich gesunden Zustande sich erst durch
den Lebenskampf, die schmerzlichen Erfahrungen des „Anders-
seins“ als die große Menge usw. sich entwickelt haben, daß aber
ein dritter und zwar der größere Bruchteil der originären
Homosexuellen durchaus gesund, hereditär nicht be-
lastet, körperlich und psychisch normal ist.
Ich habe eine große Zahl von Homosexuellen aus allen
Altersklassen und Berufsständen beobachtet, bei denen nicht das
geringste Krankhafte festzustellen war. Sie waren ebenso gesund
und normal wie gesunde Heterosexuelle. Schon früher, als ich
noch nicht von der relativ großen Häufigkeit des Vorkommens
der echten originären Homosexualität Kenntnis hatte, war es mir
auf Grund meiner anthropologischen Theorie der sexuellen
2) Lombroso hat sogar auf dem G. Internationalen Kongreß
für Kriminalanthropologie zu Turin, Mai 1906, eine Parallele zwischen
der angeborenen Homosexualität und — dem angeborenen Hang zum
Verbrechen gezogen! Daß diese in keiner Weise existiert, sondern
Verbrechen und Homosexualität toto coelo verschieden sind, zeigt Paul
N ä c k e einleuchtend („Vergleich von Verbrechen und Homosexuali-
tät“. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie 1906, S. 477—487).
543
Anomalien klar gewesen, daß die Homosexualität ebensogut bei
gesunden Menschen Vorkommen könne, wie bei kranken. Darin
habe ich von jeher mit Magnus Hirschfeld, dem Haupt-
vertreter dieser Anschauung übereingestimmt, gegenüber der
Theorie von der degenerativen Natur der Homosexualität. Für
mich besteht heute kein Zweifel mehr, daß Homosexualität
mit völliger geistiger und körperlicher Gesund-
heit vereinbar sein kann.
Es ist sehr interessant, daß v. Krafft-Ebing später auch
zu derselben Ansicht gelangt ist und damit eigentlich die Ent-
artungshypothese feierlich abgeschworen hat. In seinen „Neuen
Studien auf dem Gebiete der Homosexualität“ sagt er:3)
„Der Erkenntnis gegenüber, daß die konträre Sexualität eine ein-
geborene Anomalie, eine Störung in der Evolution des Geschlechtslebens
qua monosexualer und der Artung der Geschlechtsdrüsen kongruenter
seelisch-körperlicher Entwicklung darstellt, läßt sich der Be-
griff der „Krankheit“ nicht fest halten. Viel eher kann
man hier von einer Mißbildung sprechen, und die Anomalie mit körper-
lichen Mißbildungen, z. B. anatomischen Abweichungen vom Bildungs-
typus in Parallele stellen. Damit ist aber der Annahme einer gleichzei-
tigen Psychopathie nichts präjudiziert, denn Personen, welche derartige
anatomische und auch funktionelle Abweichungen vom Typus (Stigmata
degenerationis) darbieten, können zeitlebens physisch ge-
sund bleiben, ja selbst überwertig sein. Immerhin wird
ein so schwerwiegendes Ausderartschlagen wie die verkehrte Geschlechts-
empfindung, eine viel größere Bedeutung für die Psyche haben, als so
manche anderweitige anatomische oder funktionelle Entartungserschei-
nung. So erklärt es sich wohl, daß die Störung in der Entwicklung
eines normalen Geschlechtslebens öfters der Entstehung einer harmo-
nischen psychischen Persönlichkeit abträglich werden kann.
Nicht selten stößt man bei konträr Sexualen auf neuropathische
und psychopathische Veranlagungen, so z. B. auf konstitutionelle Neur-
asthenien und Hysterien, auf mildere Formen periodischer Psychose,
auf Entwicklungshemmungen psychischer Energien (Intelligenz, mora-
lischer Sinn), unter welchen besonders die ethische Minderwertigkeit,
namentlich wenn zugleich Hypersexualität vorhanden ist, zu den
schwersten Verirrungen des Geschlechtstriebes führen kann. Immer-
hin kann man nachweisen, daß, relativ genommen, die Heterosexualen
viel größere Zyniker zu sein pflegen, als die Homosexualen.
8) In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, herausgeg. von Mag-
nus Hirschfeld, Leipzig 1901, Bd. Ill, S. 5. — Vgl. auch die
Darlegung der neueren Anschauungen bei P. N ä c k e, Probleme auf
dem Gebiete der Homosexualität. In: Allgemeine Zeitschrift für
Psychiatrie 1902, Bd. 59, S. 805—829 (spricht sich ebenfalls für die
Existenz normaler gesunder Homosexueller aus).
Auch weitere Entartungsörscheinungen auf sexuellem Gebiete in
Gestalt von Sadismus, Masochismus, Fetischismus finden sich ungleich
häufiger bei den ersteren . . .
Daß die konträre Sexualempfindung an und für sich nicht als
psychische Entartung oder gar Krankheit betrachtet werden kann,
geht u. a. daraus hervor, daß sie sogar mit geistiger
Super io rität vereinbar ist. — Beweis dafür Männer bei
allen Nationen, deren konträre Sexualität festgestellt ist und die gleich-
wohl als Schriftsteller, Dichter, Künstler, Feldherren, Staatsmänner der
Stolz ihres Volkes sind.
Ein weiterer Beweis dafür, daß die konträre Sexualempfindung
nicht Krankheit, aber auch nicht lasterhafte Hin-
gabe an das Unsittliche sein kann, liegt darin, daß
sie alle die edlen Regungen des Herzens, weiche die heterosexuale
Liebe hervor zu bringen vermag, ebenfalls entwickeln kann — in Ge-
stalt von Edelmut, Aufopferung, Menschenliebe, Kunstsinn, eigene
schöpferische Tätigkeit usw., aber auch die Leidenschaften und Fehler
der Liebe (Eifersucht, Selbstmord, Mord, unglückliche Liebe mit ihrem
deletären Einfluß auf Seele und Körper usw.).
Nach meinen Untersuchungen und Beobachtungen ist das
Verhältnis von Gesundheit und Krankheit bei
Homosexuellen ursprünglich das gleiche wie bei Hetero-
sexuellen und wird nur im Laufe des Lebens infolge der sozialen
und individuellen Isolierung der Homosexuellen, die wie ein
psychisches Trauma wirkt, zuungunsten der Krankheit
etwas verschoben; hier handelt es sich aber meist um er-
worbene nervöse Leiden und Beschwerden, um die Ausbildung
eines eigenartigen Typus „homosexueller Neurasthenie“,
der bei oberflächlichen Beobachtern sehr wohl eine Verwechslung
des „post hoc“ mit dem „propter hoc“ hervorrufen kann.
Magnus Hirschfeld, der ohne Zweifel die relativ und
absolut größte Erfahrung auf dem Gebiete der Homosexualität
besitzt, gibt an,4) daß nach seinem Untersuchungsmateriale —
und das ist ein riesiges — mindestens 75 % von gesunden Eltern
aus glücklichen, oft sehr kinderreichen Ehen stammen, und daß
nervöse oder geistige Anomalien, Alkoholismus, Blutsverwandt-
schaft, Syphilis in der Aszendenz keineswegs häufiger sind, wie
unter den Vorfahren normalsexueller Personen. Nur in 20—25 %
der Homosexuellen fanden er und E. Burchard erbliche Be-
lastung. nur in 16 o/o ausgesprochene „Entartungszeichen“, und
zwar waren diese Stigmatisierten durchweg zugleich erblich be-
lastet. Hierfür spricht auch, worauf ich schon in meiner „Aetiologie
4) M. Hirschfeld, Der umische Mensch, Leipzig 1903, S. 139ff.
515
der Psychopathia s,,xualis“ hinwies, die allörtliche und allzeit-
liche Verbreitung der Homosexualität, ihre Unabhängigkeit von
der Kultur, ihr Vorkommen bei Naturvölkern, die nicht den
Bedingungen der Entartung in dem Maße unterworfen sind wie
die Kulturvölker, ihre Verbreitung auf dem Lande, wo die degene-
rierenden Einflüsse großstädtischen Lebens in Fortfall kommen.
Das -wesentliche Charakteristikum der echten Homosexualität,
das sehr frühe spontane Auftreten derselben, das man
nur auf eine Naturanlage beziehen kann, erscheint mir jetzt eben-
falls als eine über jeden Zweifel erhabene Tatsache. Nachdem
Männer der höchsten und angesehensten Berufe, vor allem
aktive Richter, praktische Aerzte, Naturwissen-
schaftler, vor allem auch Theologen und als große Forscher
berühmte Gelehrte höheren Alters, sich als durch und durch
homosexuell von Kindheit an mir gegenüber bekannt hatten, bin
ich von der Existenz der originären, wenigstens sehr früh auf-
tretenden Homosexualität durchaus überzeugt worden.
Besonders die Angaben der Aerzte sind von großer Bedeutung.
Die Richtigkeit des von Hirschfeld (a. a. 0. S. 12) zitierten
Ausspruches eines hervorragenden, selbst homosexuellen Psychia-
ters: „Ich kann und muß erklären, daß ich niemals einen Fall
von Homosexualität kennen gelernt habe, dem ich nicht das
Prädikat „angeboren“ hätte beilegen müssen“, ist mir ebenfalls
von mehreren homosexuellen Aerzten bestätigt worden. Der Be-
griff „angeboren“ verträgt sich sehr wohl mit der fast in jedem
Falle von Homosexualität nachweisbaren gelegentlichen äußeren
Veranlassung der ersten gleichgeschlechtlichen Regungen. Diese
können bekanntlich auch vorübergehend bei heterosexuellen
Individuen ausgelöst werden, wovon im Kapitel „Pseudo-Homo-
sexualität“ die Rede ist. Bei der echten Homosexualität jedoch
spielen sie von vornherein die dominierende Rolle und bleiben
dauernd bestehen, weil sie aus der Naturanlage, aus einem
tief eingewurzelten Triebe hervorgehen. Das lehrt die folgende
interessante Autobiographie eines 30jährigen Gelehrten:
„Seit meiner frühen Kindheit lag etwas Mädchenhaftes in meinem
ganzen Wesen, sowohl äußerlich, wie (besonders) innerlich. Ich war
sehr ruhig, gehorsam, fleißig, empfindlich gegen Lob und Tadel, etwas
witzig. Ich befand mich meistenteils unter Erwachsenen und war
allgemein beliebt. Geschlechtliche Regungen stellten sich bei mir unge-
wöhnlich früh ein. Ungefähr sechs Jahre war ich alt, als einmal
ein Hauslehrer sich auf den Rand des Bettes niedersetzte, in dem
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41,—60. Tausend,) OQ
I«
m
ich im Fieber lag, mich liebkoste nnd mi$ seiner Hand mfembram
rneum tetigit: die dabei entstandene Wollust war so intensiv, daß eie
bis jetzt aus meiner Erinnerung nicht verschwunden ist. In der Schule,
wo ich mich stets durch meine Aufführung und Erfolge auszeichnete,
habe ich mir zuweilen eine gegenseitige „Betastung“ mit verschiedenen
Schülern gefallen lassen. Von welcher Seite ich die ungewöhnliche
Intensität des geschlechtlichen Triebes geerbt haben mag, weiß ich
nicht, ich erinnere mich aber, daß ich gegen mein 12. Jahr schon
sehr viel darunter zu leiden hatte und daß ich es wie eine Erlösung
empfand, als mir ein Kamerad einen einmaligen Unterricht in der
Onanie gab. Eigentümlich ist, daß dabei einige Zeit hindurch noch keine
Samenentleerung stattfand. Als letzteres sich einstellte, war ich sehr er-
schrocken und beunruhigt., gewöhnte mich aber allmählich daran und
dies um so mehr, als ich gar keinen Zweifel darüber hegte, daß alle
Männer sich regelmäßig dasselbe Vergnügen verschaffen. Dieser „para-
diesische“ Zustand dauerte indessen nicht sehr lange, und seitdem
ich das Unnatürliche und Gefährliche meines Verfahrens eingesehen
habe, führte ich einen furchtbaren und erfolglosen Kampf gegen mich
selbst. Ich hatte auch sonst in meinem Leben gehr viel auszustehen
\ind ich kann im allgemeinen sagen, daß ich aus meiner ganzen Ver-
gangenheit fast keine einzige wirklich frohe Erinnerung bewahrt ha.be;
doch könnte ich sogar mit einigem Stolz und Genugtuung auf diese Ver-
gangenheit znrückblicken, wenn nicht die sexuelle Seite meines Lebens
so düstere Schatten in meiner Seele hinterließe.
Ich erinnere mich, daß meine Augen von jeher sich unwillkürlich
voll Sehnsucht auf etwas ältere, vigoröse Männer richteten, ohne daß
ich dieser Tatsache genügende Beachtung schenkte. Ich glaubte, daß
ich nur deswegen der Onanie (deren Wirkung ich in meiner Phan-
tasie gewiß zum Teil übertreibe) anheimfalle, weil ich nicht die Möglich-
keit habe, mit Frauen geschlechtlich zu verkehren (sonst pflegte ich
zuweilen einen freundschaftlichen Umgang mit jungen Mädchen, die
sich zu mir äußerst hingezogen fühlten; ich habe aber immer dafür
gesorgt, daß solche Liebesregungen im Keime erstickt wurden, weil
ich fühlte, daß es mir unmöglich ist, ihnen enfcgegenzukommen). Ich
entschloß mich endlich, bei den Prostituierten, die meinem ästhetischen
und sittlichen Gefühl zuwider waren, Rettung zu suchen, fand sie
aber freilich nicht: entweder konnte ich den normalen geschlechtlichen
Akt. überhaupt nicht vollziehen, oder geschah es ohne besondere Lust,
wobei bald darauf die Angst vor der Ansteckung eintrat. Zwar hatte
ich oft Gelegenheit, ein „Liebesverhältnis“ mit einem Weibe anzu-
knüpfen, ich tat es aber nicht und warf mir innerlich meine lächerliche
Schüchternheit nnd mein zu empfindliches Gewissen vor. Wenn beides
auch walir ist, so habe ich doch bei dieser Tatsache den Hauptgrund
außer acht gelassen, den nämlich, daß ich hauptsächlich homosexuell
veranlagt bin und daß ich mich vom anderen Geschlecht physisch
fast gar nicht angezogen fühle. Nicht umsonst mußte ich mir beim
Onanieren fast immer hübsche ältere Männer vorstellen, nicht umsonst
spielten sie auch in meinen Lfebesträumen die Hauptrolle. Diese N30-
g-ung war in mir zu stark, um mir für lange ganz unbewußt, zu
bleiben, da ich sie aber niclit begreifen konnte und an den Emst der
Bache nicht glauben wollte (ich wußte ja, daß der Mann eich zum
Weibe und nicht zum Manne hingezogen fühlen „muß“), so habe ich
unaufhörlich und verzweifelt gegen diese Zwangsvorstellungen gekämpft,
indem ich mich mit schwankendem Erfolge auch um die Abschaffung
der Onanie bemüht, die mich erstens sehr wenig befriedigte und
zweitens immer mehr meine Hoffnung auf die eventuelle Erzeugung
gesunder Kinder zerstörte. Fast glaubte ich mich für das geschlecht-
liche Leben überhaupt nicht mehr tauglich, als ich eines Tages be-
merkte, daß der Anblick eines Membrum virile mein ganzes Blut in Auf-
wallung brachte. Ich erinnerte mich nun, daß dies auch früher zuweilen
der Fall war, wenn auch in weniger auffallender Weise. Ich mußte also
im stillen anerkennen, daß ich doch nicht „wie alle“ bin. Diese Tat-
sache, die ich früher ahnte, und von der ich mich immer fester über-
zeugte, versetzte mich in Verzweiflung, die um so größer war, als ich
mich auch schon sonst sehr unglücklich fühlte und als ich zu keinem
Menschen davon sprechen konnte. Zuweilen dachte ich doch noch,
daß es sich um ein „Mißverständnis“ handelte und daß eine Rettung
möglich sei. Da geschah es, daß ein einfaches Mädchen sich in mich
stark verliebte und ich ging darauf ein, mit ihm ein Verhältnis anzu-
knüpfen, obgleich ich ihm offen gestand, daß es sich für mich nur
um den physischen Genuß handelte und daß ich ihm nichts für die
Zukunft verspreche, aus welchem Grunde dafür gesorgt werden müsse,
daß keine Nachkommenschaft entstehe. Während dieser Periode, die
mehrere Monate dauerte, habe ich mir zuweilen meine fortdauernde
Zuneigung zu Männern vorgeworfen, sie ganz zu unterdrücken war
jedoch unmöglich. Das Verhältnis mit dem Mädchen dauerte noch
fort, als ich einmal in einer Bedürfnisanstalt einen älteren Herrn be-
merkte, der mir sehr auffiel: er sah mich prüfend an, er neigte sich
behutsam, um membrum meum videre, er näherte sich mir allmählich,
bewegte seine leicht zitternde Hand und . . . membrum meum tetigit.
Ich war so betroffen und erschrocken, daß ich bald darauf
davonlief und mich dann einige Zeit hütete, an derselben Stelle
vorüberzugehen. Um so stärker aber war nachher der Drang, diesen
seltsamen Mann wieder zn finden; dies war auch gar nicht schwer.
Was ist denn das für ein 'Rätsel, so ein Mann, und wie kommt es,
daß er das zu tun wagte, wovon ich immer nur mit Herzbeben und
mit Entsetzen über mich selbst träumen konnte? Gibt es vielleicht
noch einen, noch mehrere solcher Sonderlinge? Kurze Zeit genügte,
um mich zu überzeugen, daß ich in meinem Empfinden nicht ganz ein-
sam bin. Das war aber ein schwacher Trost. Vielmehr wurde seitdem
(also in den letzten fünf Ja.hrei)) mein innerer Kampf noch unerträg-
licher, denn früher hatte ich mir nur die homosexuellen Vorstellungen
und die einsame Selbstbefleckung vorzuwerfen, jetzt kam zuweilen
die gegenseitige Onanie (die mir eigentlich „natürliche“ sexuelle Be-
friedigung) hinzu, die ich mir deswegen nicht verzeihen konnte, weil
sie in so unästhetischer Weise stattfand und mit solchen Gefahren ver-
35*
bunden war. Der Verlockung für lange Zeit widerstehen konnte ich
jedocli, trotz aller Anstrengung, nicht, und so wurde ich die ganze Zeit
von meinem Triebe wie ein wildes Tier gehetzt, und konnte nirgends
und in nichts Beruhigung und Vergessenheit finden. Ich habe oft ab-
sichtlich meinen Aufenthaltsort geändert; es dauerte aber gewöhnlich
nicht lange und neue „Begegnisse“ fanden statt. Die Qualen, die mir
durch die Unbezwinglichkeit des Triebes zuteil wurden, in Worten
auszudriieken, ist mir immöglich. Ich muß nur bewundern, daß ich
dabei meinen Verstand nicht verloren habe und daß ich in den Augen
meiner Freunde und Bekannten noch immer „der normalste aller Men-
schen“ bin, wie vorher. In dem sinn- und erfolglosen Kampfe gegen einen
Trieb, der mir mindestens zum großen Teil angeboren ist, habe ich meine
besten Kräfte verloren, trotzdem ich schon seit lange eingesehen habe,
daß dieser Trieb an und für sich weder krankhaft noch sündhaft ist.
Denn eine Abweichung von der Norm ist noch keine Krankheit, und
die Befriedigung eines natürlichen Triebes, die in keiner Hinsicht und
für keinen Menschen schlimme Folgen hat — kann nicht als Sünde
angesehen werden. Warum mußte ich also, warum muß ich gegen diesen
Trieb wie ein Wahnsinniger kämpfen? — Weil er so allgemein miß-
verstanden, so unerbittlich verurteilt wird. Was hilft es, daß ich
jetzt von Liebe und Achtung umgeben bin? Ich weiß ja, daß so viele
sich von mir mit Abscheu abwenden werden, wenn sie meine sexuelle
Beschaffenheit, die sie eigentlich gar nichts angeht, kennen lernen.
Spott und Verachtung wird mir dann zuteil werden. Ich werde von
den meisten Mensphen als ein Wüstling angesehen werden, während
ich fühle und weiß, daß ich, trotz aller Sinnlichkeit meiner Natur,
zu etwas anderem geschaffen bin, als meinen Gelüsten nachzugehen.
Wer wird mir glauben, daß ich im Kampfe mit mir selbst verblute?
Wer wird mit mir Mitleid haben? Dieser Gedanke ist unerträglich.
Ich bin zur ewigen Einsamkeit verurteilt, ich habe nicht das mora-
lische Recht, ein Heim zu gründen, ein Kind zu umarmen, das mich
mit „Vater“ ansprechen würde — ist denn diese Strafe für Gott weiß
welche Sünden nicht groß genug? Wofür noch das Bewußtsein haben
müssen, daß ich ein Paria der Gesellschaft bin? Durch ihre aus Un-
wissenheit, Dummheit und Bosheit zusammengesetzte Meinung über
die Homosexuellen treibt sie diese Unglücklichen in den Tod (oder
in eine verbrecherische Ehe) und dann erklärt sie triumphierend: „Da
sieht man doch, daß wir es mit Degenerierten zu tun haben!“ — Nein,
meine Herrschaften, das sind meistens geistig und moralisch sehr ge-
sunde Menschen, denen Sie das Leben unerträglich gemacht haben.
Ich will von mir sprechen: warum sehne ich mich nach dem Tode?
Sicher nicht, weil ich geistig nicht normal bin. Ich bin kein krank-
hafter Pessimist, und weiß sehr wohl, daß das Leben sehr schön sein
kann. Aber leider nicht für mich. Für mich ist das Leben eine Hölle;
ich bin meiner inneren Kämpfe unendlich müde; es fällt mir furchtbar
schwer, fortwährend den glücklichen, lebensfrohen Mann zu heucheln;
ich breche unter der Last meiner schweren, eisernen Maske zusammen. —
Ich ließ mich vor kurzem hypnotisieren, um meine Gedanken von ge-
549
schlechtlichen Dingen überhaupt womöglich abzulenken. Da flüsterte
mir einmal mein Hypnotiseur zu: „Sie werden schon sehen, Sie werden
ruhig sein“, und unwillkürlich mußte ich im Schlafe bei diesen Worten
aufschluchzen: Ruhig sein! Gott, ist das möglich? Weiß denn ein
„normaler“ Mensch überhaupt, wie dieses Wort für unsereinen klingt?
Ach, wer wird meinen unsagbaren Schmerz verstehen? Vielleicht könnten
das meine teuren Eltern, die mich über alles liebten, als ob sie das
Vorgefühl hatten, daß ich ihr unglücklichstes Kind werden muß. Sie
sind aber seit mehreren Jahren tot, und so stehe ich trotz meinen mir
sehr ergebenen Verwandten und Freunden ganz einsam in dieser Welt
und suche vergeblich eine Antwort auf die Fragen: „Wofür?“ und
„Wozu?“ —
Die echte Homosexualität weist wie die Heterosexualität die
Charaktere eines aus dem Wesen der Persönlichkeit ent-
springenden Triebes auf, der von der Wiege bis zum Grabe
wirksam die Kontinuität des Individuums auch be-
züglich dieser bestimmten Geschlechtsrichtung erweist, es gibt
also keine Homosexualität, die bloß auf gewisse Lebensalter
beschränkt wäre, etwa auf die Kindheit, oder das Jünglings-
alter, oder die Zeit der Keife oder gar das Greisenalter. Damit
scheiden sowohl die Greisenpäderastie Schopenhauers, die
erst mit dem Greisenalter beginnt, als auch die Liebe der
griechischen Knaben zu den älteren Männern aus dem Gebiete
der Homosexualität aus und müssen in die Kategorie der Pseudo-
Homosexualität eingereiht werden. Eine Neigung, die wie
die originäre Homosexualität ein Wesensausfluß des be-
treffenden Individuums ist, kann nicht verschwinden, solange
jenes individuelle Wesen selbst bestehen bleibt, kann nicht zeit-
lich entstellen und vergehen. Die Homosexualität erstreckt sich
durch das ganze Leben und bricht, durch irgend welche Ursachen
(z. B. aufgezwungene Ehe) zeitweilig zurückgedrängt, immer
wieder durch. Ob es wirklich eine echte t a r d i v e , d. h. erst
im späteren Lebensalter zum Vorschein kommende originäre Homo-
sexualität gibt, wie v. Krafft-Ebing meint,5) erscheint mir
zweifelhaft. Es sind wohl durchgängig Fälle von Pseudo-Homo-
sexualität, die teils nach vorangegangener Heterosexualität oder
auf bisexueller Grundlage sich entwickelten und zur Kategorie
der „erworbenen“ Homosexualität gehören, die stets eine
Pseudo-Homosexualität ist.
Der Lebenslauf des echten Homosexuellen entspricht durch-
ä) v. Krafft-Ebing, Ueber tardive Homosexualität, in: Jahr-
buch für sexuelle Zwischenstufen, 1901, Bd. III, S» I—20,
5sa
aus der eindeutigen Inversion des Gesehleehtstriebes und der da-
durch bedingte Typus tritt schon in der Kindheit hervor. Das
„Anderssein“ wird nicht bloß von ihm selbst, sondern auch
von seiner Umgebung schon sehr früh empfunden. Das
„mädchenhafte“ (bei weiblichen Homosexuellen „jungenhafte“)
und „aparte“ Wesen wird von den Familienangehörigen oder
Spielkameraden oder Lehrern oft bemerkt und gibt Veranlassung
zu Spitznamen. Diese Aeußerungen und Wahrnehmungen sind
eine wertvolle objektive Bestätigung der subjektiven Empfin-
dungen der homosexuellen Kinder. Ein protestantischer Geist-
licher, dessen homosexueller Sohn ebenfalls Theologie studierte,
bemerkte M. Hirschfeld gegenüber: „Er war von Anfang
an anders, wie meine fünf anderen Söhne“. Die später zu er-
wähnenden körperlichen und geistigen Eigentümlichkeiten lassen
sich oft schon in frühester Kindheit in Andeutungen nach weisen.
Ja, Hirschfeld hat wiederholt bei 10 bis 14jährigen Kindern
die Diagnose „Homosexualität“ stellen können. Er erwähnt u. a.
einen 12 jährigen, sehr schreckhaften Knaben, der an Migräne
litt und viel weinte, sich von seinen Mitschülern fern hielt und
bereits mit einem Freunde täglich korrespondierte. Er hatte Vor-
liebe für Blumen und Musik, dagegen sehr geringe Begabung
für Mathematik, nach Hirselifeld eine für Homosexualität
ziemlich charakteristische Erscheinung. Die Untersuchung des
sehr schamhaften Knaben ergab einen noch völlig unent-
wickelten Genital appa rat, der Penis glich dem eines
4 jährigen Kindes, dagegen waren die Brüste stark entwickelt
und glichen denen eines Mädchens im Beginne der Pubertät.
Ob die Vorliebe der Knaben für Mädchenspiele oder der
Mädchen für Knabenspiele als ein diagnostisch wertvolles Symptom
der späteren Homosexualität aufgefaßt werden kann, möchte ich
bezweifeln, da die Vorliebe für Puppenspielen oder Kochen auch
bei Knaben beobachtet wird, die später durchaus heterosexuell
werden. Doch spielen diese Dinge in den Autobiographien Homo-
sexueller eine große Polle und haben besonders dann in der Tat
eine große Bedeutung, wenn diese Neigungen nach der Pubertät
andauern, wo die heterosexuell differenzierte Psyche sich definitiv
nach der flüchtigen Episode dieser Jugendspiele in der ihrem
nunmehr vollentwickelten geschlechtlichen Empfinden entsprechen-
den Weise betätigt.
Die Pubertät ist die bedeutsamste Periode bezüglich der
m
endgültigen Fixierung der Homosexualität durch, bestimmte
körperliche und seelische Merkmale.
Die Betrachtung der körperlich-seelischen Charaktere der
männlichen Homosexuellen läßt deutlich zwei verschiedene
Typen unterscheiden : die femininen und die virilen
Uranier. Ueber das Zahlenverhältnis beider existieren keine
bestimmten Angaben. Hirschfeld schildert in seinem
„Umischen Menschen“ hauptsächlich den Typus des mehr oder
weniger effeminierten, d. h. des mehr Anklänge an weibliches
Wesen zeigenden Urnings, ohne sich darüber auszusprechen, ob
die Zahl der femininen Homosexuellen größer ist als diejenige
der virilen, d. h. der Homosexuellen mit vorwiegend männlichem
Wesen. Ein anderer erfahrener Kenner des Umingtums, Dr.
J. E. Meisner6) meint, daß in den meisten Fällen der männ-
liche Homosexuelle eher als weiblichen Geschlechtes bezeichnet
werden müsse. Nach meinen Beobachtungen scheint mir das
Zahlenverhältnis zwischen den virilen und femininen Uraniern
ungefähr das gleiche zu sein.7) Immerhin gibt es zahlreiche virile
Homosexuelle oder besser Homosexuelle von durchaus männ-
lichem Körperbau ohne größere Abweichungen vom normalen
Typus, die doch eine mehr oder weniger feminine Empfindungs-
weise haben. Die Unterscheidung zwischen femininen und virilen
Homosexuellen dürfte daher nur eine relative sein und für die
meisten Fälle Hirschfelds Aeußerung (Der urnische Mensch,
S. 86) zutreffen: „Einen Homosexuellen, der sich körperlich und
geistig nicht vom Vollmann unterscheidet, habe ich unter 1500
nicht gesellen und glaube daher an sein Vorkommen nicht eher,
bis ich ihn persönlich kennen gelernt habe.“ Besonders nach
Abnahme eines etwa vorhandenen Bartes tritt bisweilen der
weibliche Gesiehtsausdruck bei männlichen Homosexuellen deut-
lich hervor, die sonst durchaus als Männer erscheinen. Wichtiger
noch sind für die Feststellung eines weiblichen Einschlages direkte
6) J. E. Meißner, Uranismus oder sogenannte gleichgeschlecht-
liche Liebe, Leipzig 1906, S. 11.
7) Max Katte (Die virilen Homosexuellen, in: Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen, Leipzig 1905, Bd. VII, S. 94) bemerkt, daß
es ein Fehler der neueren Schriftsteller auf dem Gebiete der Homo-
sexualität sei, daß sie so ganz vorzugsweise den femininen Typus
des homosexuellen Mannes schildern und rechtfertigen und den virilen
vernachlässigen. Das gleiche gilt von der Schilderung der entsprechenden
Typen homosexueller Weiher.
Sö2
körperliche Merkmale. Dahin gehören eine mehr dem weiblichen
Typus sich annähernde größere Fettablagerung, die die
Körperkonturen rundet, dementsprechend ist die Muskulatur
schwächer entwickelt als die der heterosexuellen Männer, die
Haut ist zart, weich, der „Teint“ viel reiner als bei letzteren.
Als ich im vergangenen Winter einem Umingsballe beiwohnte,
da fiel mir sogleich bei den dekolletierten Männern auf, daß
die Haut an Schulter, Nacken und Rücken auffallend weiß war
— auch bei denen, die sich nicht gepudert hatten — und fast
stets die bei normalen Männern so häufig vorkommenden kleinen
Akneknötchen fehlten. Auch die eigentümliche Rundung der
Schultern ganz wie bei Frauen war bemerkenswert.
Nach Hirschfeld faßt sich die Haut der Urninge meist
wärmer an als die ihrer Umgebung. Er führt die im Volke
verbreitete Bezeichnung „warmer Bruder“ (auch das Wort schwul
— schwül bedeutet ähnliches) auf diesen Umstand zurück, und
leitet die lateinische Bezeichnung „homo mollis“ (= weicher Mann)
von der Weichheit der Haut und Muskulatur ab (eher wohl von
der ganzen effeminierten, verweichlichen Natur des Urnings).
Von großem Interesse ist das Verhältnis zwischen Schulter-
breite und Beckenbreite beim homosexuellen Mann.
Während die Schulterbreite beim heterosexuellen Mann um einige
Zentimeter die Beckenbreite übertrifft und beim Weibe die letztere
größer ist als die Schulterbreite, soll nach Hirsch feld der
Unterschied beim Urning meist sehr gering oder überhaupt nicht
vorhanden sein. Das würde allerdings bezüglich des Körperbaus
den Ausdruck „Zwischenstufe“ rechtfertigen und dem homo-
sexuellen Mann eine Stellung zwischen dem heterosexuellen Manne
und dem heterosexuellen Weibe zuweisen. Doch gibt es ohne
Zweifel zahlreiche virile Homosexuelle, bei denen diese größere
Beckenbreite nicht vorhanden ist. Untersuchungen über die ent-
sprechenden Verhältnisse bei homosexuellen Frauen sind meines
Wissens noch nicht gemacht worden. Auffallend ist der oft
üppige Haarwuchs der Urninge, besonders bei den effemi-
nierten Typen, während die virilen Homosexuellen sich dadurch
wieder mehr den normalen Männern nähern, daß bei ihnen
Kahlköpfigkeit häufiger ist.
Nachdem neuerdings besonders durch die Untersuchungen von
H. Swoboda die Aufmerksamkeit auf die Menstruations-
äquivalente bei Männern gelenkt worden ist, ist das Auf-
553
treten solcher bei Urningen von Interesse. Hirschfeld be-
richtet von einem femininen Homosexuellen, der seit seinem
14. Lebensjahr alle 28 Tage an Migräne, zugleich an heftigen
Kücken- und Kreuzschmerzen leidet, so daß seine Stiefmutter
zu ihm sagte: „Das ist ja bei dir, wie bei uns“.
Auch der Gang und die Bewegungen des femininen
Urnings haben etwas "Weibliches und fallen auch dem Nicht
kenner auf. Kleine, trippelnde Schritte, tänzelnde und gezierte
Bewegungen sind charakteristisch für den Effeminierten.
Wenn wir oben (S. 69) zu dem Resultat kamen, daß das
erwachsene Normalweib dem Kinde und jugendlichen Menschen
näher steht als der Mann, so müssen wir die Eigentümlichkeit
vieler männlicher Homosexueller, lange jung zu bleiben
und jugendliches Aussehen zu bewahren, entschieden als ein
mehr weibliches Merkmal deuten.
Sehr bemerkenswert ist das Verhalten der Stimme. Der
Stimmwechsel tritt überhaupt nicht oder erst sehr spät ein, auch
bleibt die Fälligkeit, Sopran oder Fistelstimme zu singen, lange
erhalten. Andere, bei denen der Stimmwechsel unterblieb, können
ihr Organ durch Uebung wesentlich vertiefen. Ein typisches und
bekanntes Beispiel ist der Baritonsänger Willibald von
Sadler-Grün, den ich im vorletzten Winter zu hören
Gelegenheit hatte, wo er unter dem Namen „Urany Verde“
eine Gesangstournee durch Deutschland unternahm und in Frauen-
tracht seine Lieder vortrug. Er berichtet von sich: „Meine Stimme
hat nie einen merklichen Umschlag oder Uebergang gehabt, mit
23 Jahren konnte ich Sopran singen und kann es noch heute
(30 Jahre), tiefere Sprach- und Singtöne habe ich erst durch
Schule und Uebung erlangt“ (Hirschfeld, Der umische
Mensch, S. 65). Bei diesen typischen Effeminierten tragen auch
die Brüste vollkommen weiblichen Charakter, wie denn nach
Hirschfeld bei urnischen Knaben in der Pubertätszeit mit
Schmerzhaftigkeit verknüpftes Anschwellen der Brüste zur Keife-
fl) Aber auch bei heterosexuellen Knaben. Der unveröffentlichten
Autobiographie eines homosexuellen Arztes entnehme ich folgende
Stelle: „Wann die Geschlechtsreife eintrat, vermag ich nicht anzu-
geben, ich vermute das 16.—17. Lebensjahr. Sicher aber weiß ich,
daß ich in der Pubertätszeit ein Anschwellen der Brüste bemerkt habe.
Es handelte sich um eine leichte Verwölbung, die nicht viel über den
Warzenhof hinausging und auf Druck schmerzhaft war. Ich erinnere
564
zeit durchaus nicht selten Vorkommen soll.®) Jedoch muß ich
im Gegensätze zu II i r s c h f e 1 d hervorheben, daß abnorm starke
Entwicklung der Brüste auch bei durchaus normal heterosexuellen
Männern eine keineswegs seltene Erscheinung ist. Für die Diagnose
der Homosexualität ist jedenfalls die mangelhafte Entwicklung
des Kehlkopfes und das Ausbleiben des Stimmwechsels wichtiger
als die stärkere Entwicklung der Brüste. Nachträglich erinnere
ich mich, daß mir bei einem Studiengenossen schon vor langen
Jahren seine hohe Stimme auf fiel. Heute erst bin ich imstande,
mit dieser Tatsache seine absolute Abneigung gegen den Ge-
schlechtsverkehr mit Frauen, seine Unempfindlichkeit gegen weib-
liche Reize überhaupt, in Zusammenhang zu bringen und darauf-
hin die absolut sichere Diagnose „Homosexualität“ zu stellen.
Bei den virilen Homosexuellen sind nun alle die ge-
nannten körperlichen Eigentümlichkeiten viel weniger stark aus-
geprägt. sie nähern sich, in ihrer ganzen Erscheinung mehl’ den
heterosexuellen Männern, haben aber immer noch verhältnis-
mäßig mehr Weibliches in sich als die letzteren. Solch einen
typischen virilen Homosexuellen, der allerdings den weiblichen
Einschlag ganz und gar vermissen ließ, lernte ich kürzlich während
einer Eisenbahnfahrt kennen, wo er mir durch misogyne Aeufie-
rungen gegenüber den anderen Mitreisenden und durch die Er-
klärung auffiel, daß er in seinem Leben — es war ein Mann
Anfang der Dreißiger — höchstens drei oder viermal mit Frauen
Geschlechtsverkehr gehabt habe. Während eines längeren Auf-
enthaltes des Zuges auf einer Station nahm ich unter Hinweis
auf meine Eigenschaft als Arzt Gelegenheit, ihn zu fragen, «b
er nicht homosexuell sei, was er auch alsbald zugestand. Er
habe bereits in frühester Kindheit sich instinktiv nur zu männ-
lichen Wesen hingezogen gefühlt und niemals auch nur die
geringste Zuneigung zu Frauen empfunden. Hier war auch jede
äußere Beeinflussung ausgeschlossen, da der Betreffende zu Hause
und vorwiegend in weiblicher Umgebung aufgewachsen war.
Er war, wie erwähnt, dem Ansehen nach .Vollmann durch und
mich genau, daß ioh mich darüber beunruhigte und fürchtete, eine Ent-
zündung zu bekommen. Uebrigens scheint die Sache bei
jedem normalen Mann vorzukommen; ein Präparande, den
ioh danach fragte, gab an, im 15. Lebensjahre ein Anschwellen der
Brustdrüsen gemerkt zu haben; jetzt, im 17. Lebensjahre, hat er die-
ersten Pollutionen gehabt j eo- empfindet geschlechtlich normal“
durch und gab auch an, daß er keinerlei körperliche Merkmale
habe, die auf einen weiblichen Einschlag hindeuteten. Daß dieses
bei 2ablreichen virilen Homosexuellen der Fall ist, beweist ja
auch die bezeichnende Tatsache, daß viele dem Soldaten-
stände angehören (besonders Offiziere), an den doch bezüglich
der Virilität die größten Anforderungen gestellt werden.
Die seelischen Eigenschaften der männlichen Homo-
sexuellen entsprechen ganz den körperlichen und halten die Mitte
ein zwischen der Psyche des heterosexuellen Mannes und der
des Weibes. Doch tritt alles Gefühlsmäßige bedeutend
stärker hervor als energischer Wille und klug berechnender
Verstand. Etwas Sanftes* Schmiegsames ist den meisten Urningen
eigen. Diese Anpassungsfälligkeit äußert sich in Gutmütigkeit,
Gefälligkeit bis zur Aufopferung, vor allem aber in einer er-
staunlichen Beweglichkeit des Phantasielebens, die
mir für den Homosexuellen etwas Charakteristisches zu sein
scheint und seine häufige Begabung für die Kunst erklärt, vor
allem für die Musik, die ja seinem weniger festausgeprägten
und umrissenen Wesen am meisten entspricht, aber auch für
Dichtung, Malerei, Schauspielkunst und Plastik. „Für alle
schönen Künste“, sagt Hirschfeld, „von der Kochkunst und
Kunststickerei bis zur Bildhauerkunst finden sich starke Talente
im Urningtum.“ Die Neigung zu geistiger Beschäftigung ist
überhaupt bei den Homosexuellen größer als die zu körperlicher
Arbeit. Damit verbunden ist der Ehrgeiz, sich geistig vor der
Umgebung auszuzeichnen. Hirschfelds Angabe, daß die
Homosexuellen aus niederen Ständen ihr Milieu geistig überragen,
kann ich nach häufigen Unterhaltungen mit homosexuellen
Arbeitern, Hausdienern usw. durchaus bestätigen. Die Besonder-
heit der Anlage hat hier früh eine gewisse geistige Vertiefung
herbeigeführt, hat diese Menschen früh gelehrt, über die Welt
und das menschliche Dasein nachzudenken. Jeder Homo-
sexuelle ist ein Philosoph für sich. Die meisten Heterosexuellen,
namentlich der niederen Klassen, kommen gar nicht dazu, so viel
über sich und ihre Beziehungen zur Außenwelt nachzudenken,
wie das beim Homosexuellen ganz natürlich ist. Das Phan-
tastische, Träumerische tritt beim Homosexuellen viel
mehr hervor als ein brutaler Wirkliehkeitssinn. Das spricht sich
am meisten in seiner Liebe aus, die lange nicht so häufig aus-
schließlich grobmaterielle Sinnlichkeit ist wie beim Iletero-
556
sexuellen, sondern stets daneben ein inniges Zärtliehkeitsbedürfnis,
eine eigentümliche ideale Färbung erkennen läßt. Goethe hat
diese letztere geradezu der mehr sinnlichen heterosexuellen Liebe
gegenübergestellt. Er sagt von dem „sonderbaren Phänomen“ der
„Liebe der Männer untereinander“: „Vorausgesetzt, daß sie selten
bis zum höchsten Grade der Sinnlichkeit getrieben wird, sondern
sich in den mittleren Regionen der Neigung und Leidenschaft
verweilt: so kann ich sagen, daß ich die schönsten Erscheinungen
davon, welche wir nur aus griechischen Ueberlieferungen haben,
hier mit eigenen Augen sehen und als ein aufmerksamer Natur-
forscher das Psychische und Moralische davon beobachten konnte“
(Goethes Briefe, Weimar 1890, Bd. VIII S. 314, Brief vom
29. Dezember 1787 aus Rom an Karl August). Der Ideal-
begriff der „platonischen“, d. h. der homosexuellen Liebe war
ein unsinnlicher, ungeschlechtlicher. Das seelische Moment spielt
auch im modernen Uranismus eine bedeutende, viel zu wenig
gekannte Rolle, die man unterschätzt, während man die sinnliche
Seite überschätzt. • •
Die Homosexualität als anthropologische Erscheinung ist in
allen Ständen und Volksklassen verbreitet. Man findet sie bei
Arbeitern so gut wie bei Aristokraten, fürstlichen Persönlich-
keiten und Geisteshelden. Aerzte, Juristen, Theologen, Philo-
sophen, Kaufleute, Künstler üsw., sie alle stellen ihr Kontingent
zum Uranismus. Wenn man das auffällig häufige Vorkommen
der Homosexualität in den höchsten Gesellschaftsklassen, be-
sonders in der hohen und höchsten Aristokratie vielleicht mit
Degenerationsvorgängen in Beziehung bringen kann, so stammen
andererseits zahlreiche Homosexuelle aus gesunden, nicht durch
eine lange „Ahnenreihe“ erblich belasteten Familien. Neuerdings
hat G. 'Merzbach9) die Beziehungen zwischen Homosexualität
und Beruf untersucht und nachgewiesen, daß die Wahl des Be-
rufes meist eine Folge der natürlichen Neigung ist. So finden
wir besonders viele Homosexuelle in der Konfektion und Fabri-
kation von Fabrikartikeln. Andere werden Damenkomiker, Schau-
spieler, Tänzer. Die als Damen auftretenden Schauspieler und
Sänger sind größtenteils originäre Homosexuelle.10) Auch unter
9) G. Merzbach, Homosexualität und Beruf, in: Jahrbuch
für sexuelle Zwischenstufen, 1902, Bd. IV, S. 187—198.
10) Vgl. W. S., Vom Weibmann auf der Bühne, in: Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen, 1901, Bd. II, S, 313—
SF7
Friseuren und Kellnern findet man relativ zahlreiche
Urninge.
Was die Verbreitung der Homosexualität betrifft, so
waren die Angaben bis auf die neueste Zeit einander sehr wider-
sprechend. Die ersten genaueren Angaben finden sich in der
Schrift eines unter dem Namen M. Kertbeny schreibenden
Arztes11) über „§ 143 des Preußischen Strafgesetzbuches vom
14. April 1851 und seine Aufrechterhaltung als § 152 im Ent-
würfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund usw.“
(Leipzig 1869). Der Verfasser zählt in Berlin 10 000 Homosexuelle
unter 700000 Einwohnern (— 1,425 o/o). Ein Patient v. Krafft-
Ebings kannte in einer Stadt von 13 000 Einwohnern 14 Urninge,
in einer anderen von 60000 Einwohnern wenigstens 80. Noch
viele andere ebenso unsichere Schätzungen teilt M. Hirsch feld
mit. Sie bewegen sich zwischen 2 °/o und 0,1 %0, schwanken
also innerhalb weiter Grenzen. Es ist deshalb angesichts der
Wichtigkeit der genauen Feststellung der Zahl der Homo-
sexuellen, die auch ich schon früher für wünschenswert erklärt
hatte, ein großes Verdienst von Magnus Hirschfeld, den
durchaus anerkennenswerten Versuch gemacht zu haben,* 12) etwas
exaktere Angaben über die Zahl der Homosexuellen zu gewinnen.
Er ermittelte durch Zusammenstellung von 30 Stichproben (An-
gaben von Homosexuellen aus verschiedenen Gesellschaftsklassen)
und durch eine Umfrage mittelst geschlossener Briefe, daß der
Anteil der männlichen Homosexuellen an der Bevölkerung
oa. 1,5 o/o beträgt, also eine erheblich größere Zahl, als
man bisher angenommen hatte. Ich hätte früher die Richtigkeit
dieser Zahl bezweifelt; seitdem ich aber mein Augenmerk auf
die Homosexualität gerichtet und viele angesehene, ehrenwerte,
ruhige und objektive Leute, von denen ich es nicht geahnt hätte,
habe versichern hören, daß sie von Kindheit an so gewesen seien,
hege ich keinerlei Zweifel mehr über die ungefähre Richtigkeit
der Hirschfeld sehen Statistik. Mit derselben stimmt überein
die Enquete des Dr. v. Römer in Amsterdam, die 1,9 o/o Homo-
11) Er ist auch der Erfinder des Wortes „homosexuell“, das sich
bei ihm zum ersten Male findet.
12) M. Hirschfeld, Das Ergebnis der statistischen Unter-
suchungen über den Prozentsatz der Homosexuellen, in: Jahrbuch für
sexuelle Zwisdaenstufen, 1904, BcL VI, S. 109—178,
m,
sexuelle ergab. Eine dritte von Hirschfeld unter 3en Berliner
Metallarbeitern veranstaltete Enquete ergab 1,1 o/o.
Die normale, heterosexuelle Liebe war in ca. 94
bis 96 o/o der drei Enqueten vertreten, ein „imposantes Bekenntnis
der Liebe des Mannes zum Weibe, eine kraftvolle Kundgebung
der Art für die Erhaltung der Art“ und eine Widerlegung der
„Befürchtungen, daß je das urnische Element eines Volkes Wesen
und Wert der großen Mehrheit beeinträchtigen könnte“
(H i r s c h f e 1 d).
Als „bisexuell“, d. h. Neigung zu beiden Geschlechtern
empfindend, bezeichneten sich bei den drei Enqueten durch-
schnittlich 3,9 o/o, von welchen aber wieder 0,8 °/o vorwiegend
homosexuell empfanden.
Die Gesamtzahl der rein und vorwiegend Homosexuellen
stellt sich darnach auf 2,2 o/0. Das würde auf die Gesamtbevölke-
rung von 56 367 178, nach der vorletzten Volkszählung von 1900
berechnet, gegen 1 200 000 Homosexuelle im ganzen
Reiche ergeben, davon in Berlin (bei 2Vs Millionen Einwohnern)
allein 5 6 000.
Es ist im Interesse des naturwissenschaftlichen und sozialen
Studiums der Homosexualität dringend erforderlich, daß diese
statistischen Untersuchungen fortgesetzt werden. Denn wenn es
sich heraussteilen sollte, daß die obige Berechnung für das
Gesamtreich zutrifft, was ich nicht ohne weiteres annehmen
möchte, da sich naturgemäß in Berlin eine relativ größere Zahl
von Homosexuellen konzentriert, so käme dem Umingtum tat-
sächlich eine größere soziale Bedeutung zu, als bisher angenommen
wurde. In jedem Falle ist ihre Zahl groß genug, um sie als
eine merkwürdige anthropologische Varietät des Genus Homo
erscheinen zu lassen.
Daß sie letzteres ist-, dafür spricht die Tatsache ihrer all-
örtlichen und allzeitliohen Verbreitung, Neben der Pseudo-Homo-
sexualität als Volkssitte hat schon im Altertum die echte Homo-
sexualität eine Rolle gespielt, ihr Vorkommen bei allen Natur-
völkern hat F. Kars oh13) in einer vortrefflichen Arbeit erwiesen,
wobei freilich auch viele Fälle von unechter Homosexualität mit-
unterlaufen. Daß die Homosexualität kein Zeichen von „Ent*
13) F. K a r s c h, Uranismus oder Päderastie und Tribadie bei
den Naturvölkern, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1901,
Bd. III, S. 72—201.
affönff1 isf, beweib äiieE 3er üirfstaiid, daß sie gerade unter
den noch vollkräftigen Germanen und Angelsachsen eine größere
Verbreitung hat als unter den Rumänen. Besonders häufig ist
sie in den deutschen Ostseeprovinzen. Schon bei den alten
Skandinaviern kam sie vor.14) Neuerdings hat F. Kars eh um-
fassende ethnologische Forschungen über Homosexualität ange-
kündigt, als deren ersten Band er soeben „Das gleichgeschlecht-
liche Leben der Ostasiaten: Chinesen, Japaner, Koreaner“
(München 1906) erscheinen ließ.16) Er hebt jetzt im Vorwort
ausdrücklich hervor, daß er neben der originären Homosexualität
auch die gezüchtete oder erworbene gleichgeschlechtliche Liehe
behandle, das, was ich „Pseudo-Homosexualität“ nenne.
Meine frühere Auffassung, daß bei den Juden echte Homo-
sexualität selten sei, muß ich berichtigen, da ich inzwischen
zahlreiche jüdische Homosexuelle kennen gelernt habe.
Für die ältere Geschichte und Literatur der
Homosexualität sind als wichtigste, weil nahezu erschöpfende
Quellen, der Artikel „Päderastie“ von Meier in Er sch und
Gr übers Allgemeiner Enzyklopädie (Leipzig 1837, UL Sektion,
9. Teil S. 149—189), ferner Rosenbaums „Geschichte der Lust-
seuöhe im Altcrtume“ (Halle a. S. 1893, S. 119—227)16) und end-
lich die zahlreiche interessante Angaben enthaltenden Schriften
dos eisten deutschen Forschers über Homosexualität, des selbst
homosexuell veranlagten ehemaligen hannoverschen Amtsassessors
Karl Heinrich Ulrichs,* * * * * * 1 * 17) der unter dem Pseudonym
„Nuina Numantms“ seine der Befreiung der Homosexuellen und
dem Nachweis der angeborenen Natur der Homosexualität ge-
widmeten „Anthropologischen Studien über mannniännliche Ge-
sohlechtsliebe“ unter verschiedenen seltsamen Obertiteln, wie
u) Spuren von Konträrserualität bei den alten Skandinaviern. Mit-
teilungen eines norwegischen Gelehrten, in: Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen, 1902, Bd. IV, S. 244—263.
i») Ueber die Homosexualität in Japan, vgl. auch „Nan sho k’
(die Päderastie in Japan)“ von Suyewo Iwaya, in: Jahrbuoh
für sexuelle Zwischenstufen, 1902, Bd. IV, S. 264—271.
1S) Auch ich widme in dem in Vorbereitung befindlichen zweiten
Bande des „Ursprung der Syphilis“ der Homosexualität und Pseudo-
homosexualität im Altertum und Mittelalter eine ausführliche kritische,
die neuesten Forschungen berücksichtigende Untersuchung.
17) Vgl. „Vier Briefe von Karl Heinrich Ulrichs (Numa Numan-
tius) an seine Verwandten“, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen
1899, Bd .1, ß. 36—96 (mit Bild),
56Ö
„Vindex“ (Leipzig 1864), „Inclusa“ (Leipzig 1864), „Vindicta“
(Leipzig 1865), „Formatrix“ (Leipzig 1865), „Ara spei“ (Leipzig
1865), „Gladius furens“ (Kassel 1868), „Memnon“ (Sohleiz 1868),
„Incubus“ (Leipzig 1869), „Argonauticus“ (Leipzig 1869), „Araxes“
(Schleiz 1870), „Uranus“ (Leipzig 1870), „Kritische Pfeile“
(Stuttgart 1879) veröffentlichte. Außerdem gab Ulrichs, dessen
Lebenszeit in die Jahre 1825 bis 1895 fiel, noch urnisclie Poesien
unter dem Titel „Auf Bienchens Flügeln“ (Leipzig 1875) heraus.
Diese jetzt ziemlich seltenen Schriften (zum größten Teil 1898 neu
gedruckt) enthalten bereits viele Gesichtspunkte zur Beurteilung
der Homosexualität, die auch von der neueren Forschung als
richtig anerkannt worden sind.
Wichtige Beiträge zur Kenntnis der Homosexualität liefert
auch das Studium des Lebens und der Werke berühmter und
geistig hervorragender Urninge. Als unzweifelhaft homosexuell
können gelten der Dichter Platen,18) Michel Angelo,19)
Oskar Wilde,20) Heinrich Hößli,21) Walt Whitman,22)
Heinrich Bulthaupt,23) der Geschichtsschreiber Johannes
v. Müller,24) König Heinrich IH. von Frankreich,25)
18) Ludwig Frey, Aus dem Seelenleben des Grafen Platen,
in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1899, Bd. I, S. 159—214
und 1904, Bd. VI, S. 357—448.
19) Numa Prätorius, Michel Angelos Urningtum. Ebendas.
1900, Bd. II, S. 254-267.
20) Numa Prätorius, Oskar Wilde. Ein Bericht, ebendaselbst
1901, Bd. III, S. 265—274; Johannes Ga ulke, Oskar Wildes
„Dorian Gray“, ebendaselbst, S. 275—291.
21) F. K a r s c h , Heinrich H ö ß 1 i, ebendaselbst 1903, Bd. V, S. 449
bis 556. Ilößli ist der Verfasser des Werkes „Eros. Die Männer-
liebe der Griechen“ (Glarus und St. Gallen, 1836 und 1838,
zwei Bände), das nach Karac li für die Neuzeit das bedeutet, was
Pia tos „Gastmahl“ und „Phädrus“ für das Altertum gewesen sind.
Harsch gibt eine sehr gute Inhaltsübersicht und Analyse des be-
deutenden Buches.
22) Eduard Bertz, Walt Whitman, Ein Charakterbild, in:
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1905, Bd. VII, S. 155—287.
23) J. E. Meisner, Uranismus, Leipzig, S. 16, und mündliche Mit-
teilung Meisners, der Bulthaupt persönlich gekannt hat, an mich.
24) F. Harsch, Quellenmaterial zur Beurteilung angeblicher
und wirklicher Uranier. 2. Johann von Müller, der Geschiehtsschreiber
(1752—1809), in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1902, Bd. IV,
S. 349-457.
25) L. S. A. M. von Römer, Heinrich der Dritte, König von
Frankreich und Polen, ebendaselbst, Bd. IV, S. 572—669.
561
die Musiker Franz von Holstein23) und Peter Tsc h a ï -
kowsky ,26 27) die Schriftsteller Graf Emmerich von Stadion
und Emil Mario Vaeano ,28) Herzog August von
Gotha,29) Georges Eekhön d ,3°) der belgische Bildhauer
Jérôme Duquesnoy (1602—1654).31) Ferner hat man, was
mir aber nicht erwiesen erscheint, auch Friedrich den
Großen, J. J. Winkelmann, der höchstens bisexuell
war, da von ihm leidenschaftliche Briefe an eine Frau bekannt
sind, Alexander v. Sternberg,32) von dem das gleiche
gilt, die Reformatoren B e z a33) und Calvin ,34) die man ganz
zu Unrecht beschuldigt hat, endlich Byron und Grillparze r35)
für Urninge erklärt, von den übrigen ganz und gar haltlosen
Hypothesen ganz zu schweigen. Immerhin ist es eine Tatsache,
daß eine große Zahl geistig hervorragender Männer echte Homo-
sexuelle waren, und daß ihre abweichende Veranlagung sie nicht
gehindert hat, Bedeutendes auf anderen Gebieten zu leisten. Das
geschah aber trotz und nicht, wie manche bemusterte Apologeten
es wollen, wegen ihres Urningtums.
Wenn wir nun die Betätigung der gleichgeschlechtlichen
Liebe ins Auge fassen, so ergibt sich, daß dieselbe sowohl Homo-
sexuellen als auch Heterosexuellen gegenüber erfolgen kann und
tatsächlich erfolgt. Nach der Darstellung von M e i s n e r
26) J. E. Meisner, a. a. O. S. 17.
27) Magnus Hirschfeld, Geschlechtsübergänge, Leipzig 1905,
Tafel XXXII (Text und Abbildung 82 und 83).
28) Ebendaselbst, Tafel XXXII (Text und Abbildung 78 und 79).
29) E. Karsch, Herzog August der Glückliche (1772—1822), in:
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1903, Bd. V, S. 615—693.
30) Numa Prätorius, Georges Eekhoud. Ein Vorwort, in :
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1900, Bd, II, S. 268—277.
31) G. Eekhoud, Un illustre uraniste du XVIIe siècle. Jérôme
Duquesnoy, Sculpteur Flamand, ebendaselbst S. 277—287.
32) F. Karsch, A. v. Sternberg, der Romanschreiber, eben-
daselbst 1902, Bd. IV, S. 458—571. Er fand sexuelle Befriedigung darin,
beim Anblicke männlicher Posteriora zu masturbieren, hat aber auch
vielfach Beziehungen zu Weibern gehabt.
33) Derselbe, Theodor Beza, der Reformator (1519—1605), eben-
daselbst, S. 291—349.
34) H. J. S c h o u t e n, Die vermeintliche Päderastie des Reforma-
tors Jean Calvin, ebendaselbst 1905, Bd. VII, S. 291—306.
35) Hans Rau, Franz Grillparzer und sein Liebesieben. Berlin
1903.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(11.—60. Tausend.)
36
562
(Uranismus, S. 19—20) wäre das Liebesideal der meisten homo-
sexuellen Männer ein heterosexueller Mann und der Verkehr
zwischen zwei Urningen eigentlich nur ein Notbehelf. Jedoch
wurde mir diese Angabe von verschiedenen Homosexuellen ¡als
unrichtig bezeichnet, in der Mehrzahl der Fälle spiele doch
die Anziehung zwischen zwei Homosexuellen die Hauptrolle.
Ulrichs freilich suchte die sexuellen Beziehungen zwischen
Homosexuellen und Heterosexuellen theoretisch zu rechtfertigen
und behauptete (vgl. z. B. „Inclusa“, S. 64—65), daß die Natur
den Heterosexuellen oder „Dioning“, wie er ihn nennt, keineswegs
für das Weib allein, sondern ebensowohl auch für den Urning
bestimmt habe zur „Erfüllung der nicht auf Fortpflanzung ge
richteten geschlechtlichen Naturzwecke“. Nach Hirschfeld
(Der urnische Mensch, S. 22—23) ist es zweifellos, daß, während
viele Homosexuelle ebenfalls urnisch Empfindenden bei weitem
den Vorzug geben und manchen es gleich ist, ob die Betreffenden
konträr fühlen oder nicht, eine ganze Anzahl von Urningen
ausschließlich zu normalsexuellen kraftvollen Naturen sich
hingezogen fühlen. Es wird in der Hegel den Homosexuellen
nicht schwer, bei heterosexuellen Individuen ihre Neigungen zu
befriedigen. Ein Urning in mittleren Jahren erzählte mir, daß
junge heterosexuelle Männer fast stets auf die in dieser Hin-,
sicht geäußerten Wünsche von Homosexuellen eingeben, erstens
aus bloßer Neugierde und zweitens nicht selten aus sexueller
Erregung. Ja, homosexuelle feminine Männer sollen nach diesem
Gewährsmann bisweilen auf stark sinnliche Heterosexuelle den
Eindruck des Weibes machen und von letzteren zur mutuellen
Onanie verführt werden, besonders im Alkoholrausch. Nicht
selten kommt es vor, wofür mir ein eklatantes Beispiel bekannt
wurde, daß ein junger Heterosexueller ein Liebesverhältnis mit
einem Mädchen hat und doch gelegentlich, wenn er verhindert
ist, mit diesem geschlechtlich zu verkehren, sehr gern mit
einem Homosexuellen seiner Bekanntschaft verkehrt. Auch die
männliche Prostitution besteht zu einem guten Teil aus Hetero-
sexuellen, die des Gelderwerbs wregen sich den Homosexuellen
preisgeben. Nicht selten halten Heterosexuelle sehr feminine, in
Frauentracht auf tretende Urninge für echte Weiber und ver-
kehren mit ihnen in diesem Glauben, den jene geschickt aufrecht
zu erhalten wissen.
Was nun die speziellen Verhältnisse der sexuellen Anziehung
563
betrifft, so kommt eigentliche Knabenliebe36) oder besser Kinder-
liebe (Pädophilie) bei Homosexuellen nur selten vor, am
meisten bevorzugt wird das Alter zwischen 17 und 25 Jahren,
sowohl von reiferen homosexuellen Männern als auch von Greisen.
Umgekehrt ist es aber keine seltene Erscheinung, daß Jüng-
linge oder auch reifere Männer sich ausschließlich zu alten Männern
hingezogen fühlen (sog. „Gerontophilie“). Eemer bevor-
zugen feminine Urninge die virilen Homosexuellen, manche dieser
letzteren wiederum haben geradezu einen Abscheu vor Effemi-
nierten und Männern in Weiberkleidern, vor jenen männlichen
Weibern, die sich mit Vorliebe weibliche Spitznamen, z. B. Luise
statt Ludwig, Georgine statt Georg, beilegen und sich unter-
einander mit „Schwester“ anreden, wie bereits der Kaiser
Heliogabal mit „Herrin“ statt mit „Herr“ angeredet sein
wollte. Manche Urninge lieben bartlose Männer, andere Männer
mit Schnurr- oder Vollbart, auch das bunte Tuch fasziniert viele
Homosexuelle genau so wie die Frauen. Im übrigen wirken hier
alle möglichen anderen individuellen Details in gleicher Weise
anziehend, wie das auch in der heterosexuellen Liebe der Fall
ist (Haar, Wuchs, Gang, Auge, Hände, Intelligenz, Charakter).
Ideale Liebe und Befriedigung gröbster Sinnlichkeit sind
auch die beiden Pole, zwischen denen die Liebesäußerungen
der Homosexuellen sich bewegen. Viele beschränken sich auf
bloße Berührungen, Liebkosungen, Küsse und Umarmungen. Am
häufigsten wird geschlechtliche Befriedigung durch mutuelle
Onanie herbeigeführt. Der Begriff, den der Nichthomosexuelle
besonders mit dem Worte „Päderastie“ verknüpft, ist der der
„Pädikation“,37) d. h. der immissio membri in anum, Dieser
sexuelle Akt soll aber bei weitem nicht so häufig Vorkommen
als von heterosexueller Seite angenommen wird, nach M. Hirsch-
feld nur’ in 8 o/o, nach G. Merzbach sogar nur in 6% der
Fälle. In einer mir vorliegenden Abhandlung eines Homosexuellen
über die Pädikation wird sie allerdings als viel häufiger hin-
gestellt und als die „natürlichste und am wenigsten schädigende
Befriedigung“ bezeichnet. Nach mündlicher Mitteilung an mich
36) Uebrigens betraf auch die Knabenliebe, „Päderastie“ der
Griechen, bereits mannbare Jünglinge.
37) Ich behalte dieses einmal eingebürgerte Wort bei, obwohl es
wahrscheinlich richtiger „Pedication“ heißen muß (von pedex = podex
abgeleitet).
S6*
564
waren dem Verfasser dieser Abhandlung über hundert Fälle von
Pädikation ohne jede konsekutive Schädigung bekannt. Häufig
tritt an Stelle der Pädikation der Coitus inter femora, noch
häufiger die „Fellation“, der Coitus in os und der weit verbreitete
„Zungenkuß“.38) Auch andere perverse Betätigungen des homo-
sexuellen Triebes kommen vor, wie AnilingUS, Fetischismus
Masochismus, Sadismus, Exhibitionismus usw. ganz wie bei hetero-
sexuellen Individuen.
Was das Verhältnis der echten Homosexuellen zu den Frauen,
betrifft, so perhorreszieren sie im allgemeinen jeden ge-
schlechtlichen Verkehr mit dem Weibe, aber nicht das
Weib als solches. Frauen sind im Gegenteil recht beliebt bei
den meisten Homosexuellen, besonders feminine Urninge suchen
gern ihre Gesellschaft, um mit ihnen von allerlei weiblichen.
Angelegenheiten zu plaudern. Ehen werden oft aus Unkenntnis-
der eigenen Homosexualität oder um diese vor der Welt zu ver-
schleiern oder gar aus pekuniären Gründen geschlossen. Sie fallen
recht unglücklich aus, wenn die Frau liebesbedürftig ist und
den Sachverhalt merkt oder auch auf die männlichen Liebhaber
des Gatten eifersüchtig wird, können aber bei Frigidität der
Frau recht glücklich werden. An sich sind sie immer eine unnatür-
liche Sache. Hirschfeld39) hat die Frage der Heirat Homo-
sexueller ausführlich behandelt und auch auf das nicht seltene
Vorkommen von Ehen zwischen homosexuellen Männern und
homosexuellen Frauen hingewiesen. Das von ihm konstatierte
völlige Fehlen des „Triebes der Arterhaltung“ bei Homosexuellen
beiderlei Geschlechts — nur 3 °/o haben den Wunsch, Kinder zu
besitzen -— läßt sie für den Zweck der Ehe wenig geeignet
erscheinen.
Die geschilderten sexuellen Verhältnisse mögen durch einige
originale Mitteilungen aus homosexuellen Autobiographien illu-
striert. werden. So schreibt ein 27 jähriger Ausländer:
„Quand j’étais petit (4—6 ans) j’aimais regarder les parties viriles
des hommes, sans savoir pourquoi, mais ça m’attirait. J’aime beau-
38) Vgl. P. Näcke, Der Kuß Homosexueller, in: Archiv für
Kriminalanthropologie und Kriminalistik von H. Groß, 1904, Bd. XVII,
Heft 1—2, S. 177. Vgl. auch die Mitteilungen über den Zungenkuß, in:
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1905, Bd. VII, S. 757—759.
39) M. Hirschfeld, „Sind sexuelle Zwischenstufen zur Eh©
geeignet?“ in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1901, Bd. IIL>.
S. 37—71.
565
tsottp regarder la sculpture, les tableaux, qui représentent la nudité
masculine. Je déteste des travaux féminins, je n’aime pas la mode,
un simple costume me suffit. J’ai connu le „grand secret du monde“
quand j’avais 12 années, mais la femme m’intéressait toujours trop
peu et j’aimais demander aux petits garçons (10—14 ans) de me mon-
trer leurs parties viriles. J’ai commencé à avoir des commerces char-
nelles avec des garçons (18—24 ans) quand j’avais 24 ans. Seulement
„coitus inter femora“ face à facei, mais pas au derrière. Après chacun
nels avec des garçons (18—24 ans) quand j’avais 24 ans. Seulement
akt“, mais je suis toujours un „Uebermensch“ actif. Pour moi un
jeune homme de 18—24 ans est comme une femme. Pour moi — une
femme c’est une chose ( ! ), mais pas un homme. Peut-être c’est origi-
nal, drôle pour nos temps, mais que faire. La femme c’est une ma-
chine à produire des enfants et rien de plus. Je ne suis pas marié
et je ne marierai jamais !“
Ein anderer Homosexueller berichtet :
Ich war etwa fünf Jahre alt, als ich auf einem Spaziergang (mit
•dem Kindermädchen in der Anlage sah, wie ein Mann onanierte; ohne
ku wissen, was dies war, beschäftigte dieses Bild meine Phantasie
noch viele Jahre. In meinen Träumen bis zu 14 Jahren spielte das
Zusammenleben mit einem Altersgenossen eine Hauptrolle. Mit 13
Jahren verliebte ich mich in einen Schulkameraden, der mir jedoch
wenig gewogen war; was mich an ihm vielleicht besonders interessierte,
war der Umstand, daß er geschlechtliche Aufklärung in die Klasse
brachte. Durch Wegzug in eine andere Stadt verlor ich ihn aus dem
Gesichte. Obwolü ich von dem eigentlichen Geschlechtsleben damals
noch nichts wußte, suchte ich doch Objekte, welche meine Sinnlich-
keit erregten. t
Ein unbekannter Mann von ca. 35 Jahren verführte mich und trieb,
sobald er mich traf, mit mir Päderastie. Ich fühlte wohl das Verwerfliche
in diesem Umgänge, war aber zu schwach, als daß ich mich hätte
diesem Einflüsse entziehen können. Nach etwa drei Monaten war er
verschwunden. Jetzt wußte ich auch, was Onanie ist, zumal in der
Schule sehr viele Ausschweifungen vorkamen.
Mit 18 Jahren verließ ich die Schule, und wie sich nun bei den
anderen Kameraden der Trieb zum Weibe zeigte, so fühlte ich immer
mehr, wie mich alles zum Manne hinzog. Oefter versuchte ich, dem
Drängen meiner Freunde nachgebend, mit Damen der Halbwelt in Be-
rührung zu kommen, doch hat mich dieses jedesmal mit dem größten
Abscheu und Widerwillen erfüllt. Es ist für mich ein furchtbares
Gefühl, wenn ich merke, daß sich eine Dame für mich interessiert.
Um so mehr interessierte mich daher das männliche Geschlecht. Wenn
ich einen Mann liebe, so denke ich dabei nicht (nur) an die ge-
schlechtliche Vereinigung, sondern ich suche in ihm das zu lesen,
was ich selbst zu geben bereit bin: alleiniges Interesse, Treue, selbst-
lose Hingabe ; wenn ich einen Mann liebe, kenne ich sonst nichts mehr.
Es hat für mich Interesse jeder anständige Mensch, Alter 20—40
Jahre, der nicht gerade widrig häßlich ist, in. erster Linie aber ein®
edle Psyche besitzt. In vereinzelten Pallen hat auch bei mir schon
das Mitleid zur Liebe geführt.
Die höchste Bedeutung für mich besitzt der Kuß, und eben weil
ich die Liebe nur für den heiligen Zweck geschaffen erachte, daß die
Menschen sich gegenseitig dadurch veredeln und sittlich fördern, so
ist es für mich stets abstoßend gewesen, wenn ich sehen mußten
wie Männer zusammen flirten, ebenso wie das bei den Heterosexuellen der
Fall ist. Aus diesem Grunde habe ich eine Abneigung, Veranstaltungen
zu besuchen, wie z. B. im Dresdener Casino, wo alles zusammenkommt»
Gleichdenkende Urninge habe ich fast gar nicht kennen gelernt.
Ein 32 jähriger homosexueller Arzt äußert sich über seine
Sexualität folgendermaßen:
„In welchem Alter die geschlechtlichen Neigungen auftraten, ver-
mag ich nicht anzugeben. Der Geschlechtstrieb ist auf den Mann ge-
richtet. Er war vor und während der Pubertätszeit vollkommen unbe-
stimmt, ich glaube sogar, ich hegte in dieser Zeit den Wunsch, einmal
den Akt mit einem Mädchen ausüben zu dürfen. Liebe war das aber
nicht, sondern ein rein physisches Verlangen, die seelische Seite des
Triebes fehlte in der Zeit noch vollkommen. Der Trieb erstreckt sich
nur auf den Jüngling. Ich habe bisher weder weiblichen noch männ-
lichen Geschlechtsverkehr gehabt, glaube aber, daß ich zum normalen
Akt fähig wäre; aber ein Genuß wäre es mir nicht, sondern ¿nichts
weiter als Onanie. Es besteht vollkommene Gleichgültigkeit gegen-
über dem weiblichen Geschlechte, aber kein Haß oder Ekel. Die Liebe»s-
träume40) bezogen sich stets auf Personen desselben Geschlechtes. Mich
interessieren auf der Bühne, im Zirkus stets mehr die Herren als die
Damen, ich bewundere auch berühmte Schauspielerinnen oder Sänge-
rinnen, aber das Interesse ist ein rein künstlerisches. Von diesem Stand-
punkt aus weiß ich auch die Schönheit einer Jungfrau voll zu
würdigen und habe sogar manchmal gewünscht, ein Mädchen malen
zu dürfen. Das Interesse ist aber stets ein malerisches; aparte Haar-
farbe, Beleuchtung, interessante Gesichtszüge. Der Umgang mit Per-
sonen des anderen Geschlechts ist vollkommen ungeniert. Scham emp-
finde ich allerdings mehr den Frauen gegenüber, jedoch ist das Scham-
gefühl den Männern gegenüber auch sehr stark; es kostet mich stets
eine große Ueberwindung, beim Baden mich in Gegenwart anderer
zu entkleiden, ebenso fällt es mir sehr schwer, in Gegenwart anderen
Urin zu lassen.
Meine Liebe bezieht sich nur auf den Jüngling im Alter von
40) Es ist das Verdienst von N ä c k e, auf die Bedeutung der
sexuellen Träume für die Diagnostik der Homo- und Hetero-
sexualität hingewiesen zu haben. Vgl. seine Abhandlung „Die foren-
sische Bedeutung der Träume“, in: Archiv für Kriminalanthropologie
1899, Bd. III; derselbe, „Der Traum als feinstes Reagens für die
Art des sexualen Empfindens“. In: Monatsschrift für Kriminalpsycho-
logie 1905.
567
17—24 Jahren, oder richtiger gesagt, auf den Jüngling im Pubertäts-
alter. Einer ist z. B. erst 18 Jahre alt, aber geschlechtlich voll-
kommen reif, sehr groß und stark, so daß ihn jeder auf 20 Jahre
schätzt.
Meine Triebrichtung ist mir erst nach der Lektüre des Jahi’-
buches für sexuelle Zwischenstufen vollkommen klar geworden. Ich
war mir zwar bewußt, daß mich Jünglinge sehr interessierten, habe
aber bisher nicht gewußt, daß das Interesse geschlechtlicher Natur
ist. Ich hatte zwar von Päderastie, Fall Krupp und anderen gehört,
aber im stillen gedacht: die sind durch Uebersättigung darauf ge-
kommen, sie sind ja verheiratet. Du aber fühlst viel reiner und
edler, Päderastie ist dir ekelhaft, dich wird nie ein Mensch ver%
stehen können.
Ein gewisses geschlechtliches Interesse erweckt bei mir jeder
Jüngling im Pubertätsalter, am meisten jedoch schlanke, sehnige Ge-
stalten, ohne Fettpolster, mit guter, aber nicht übermäßig entwickelter
Muskulatur, sanften, bescheidenen Charakters. Roheit ist jedenfalls
imstande, die beginnende Neigung vollständig zu zerstören. Ziemlich
kalt lassen mich vierschrötige, plumpe Gestalten, oder solche mit
übermäßigem Fettpolster oder breitem, weiblichem Gesäß. Die in der
griechischen Skulptur verkörperten Jünglingsgestalten sind mein Ideal-
typus. Bartlosigkeit oder nur Anflug von Bart ist Bedingung. Ein
Jüngling mit einem ausgebildeten Schnurrbart läßt mich kalt. Er
ist mir schon zu männlich. Die geistige Bildung spielt bei der An-
ziehung keine Rolle, jedoch ist Bescheidenheit und Sanftmut für ein
intimes Verhältnis Bedingung. Ich gebe keinen bestimmten Berufs-
arten den Vorzug. Pädagogische Neigungen habe ich zwar, jedoch
scheinen mir dieselben bei der Anziehung keine Rolle zu spielen,
treten vielmehr erst später in Aktion. Einen, den man liebt, möchte
man aüch geistig vervollkommnen. Die Anziehung beruht in erster
Linie auf Schönheit des Körpers, Schönheit des Gesichtes kommt
erst in zweiter Linie in Betracht. Der Geruch hat keinen Einfluß
auf die Anziehung.“
Nun schildert der Betreffende, der (nota bene) mit 32 Jahren
noch keinen Geschlechtsverkehr, weder heterosexuellen noch
homosexuellen gehabt hat, wie überhaupt im Gegensätze zu den
Heterosexuellen die Homosexuellen oft sehr spät zu eigent-
licher Betätigung ihres Triebes gelangen, die Anfänge seiner
Liebe zu einem schönen 18 jährigen Jüngling. Es heißt da u. a.:
„Mein Auge verschlang jede Bewegung seines Körpers, der mir
immer neue Schönheiten offenbarte; am liebsten wäre ich ihm um
den Hals gefallen und hätte ihn geküßt; zu einem geschlechtlichen
Umgang erschien er mir zu rein, zu schön, zu edel, ich hätte vor
ihm im Staube liegen und seine Schönheit anbeten mögen. Ich müßte
ein Dichter sein, um diese zarten, heiligen Gefühle in die richtigen
Worte zu kleiden. Und das alles in sich verschließen zu müssen,
äußerlich kalt bleiben, zum Rasendwerden! Habt doch Mitleid mit
uns und gönnt uns wenigstens eine Umarmung, einen Kuß; das schadet
doch gewiß keinem etwas und für mich wäre es eine Wohltat. Die
schreckliche Spannung, die uns zu Tode quält, würde sich zum Teil
lösen. Ich habe immer das Gefühl, daß die Vorgänge der geschlecht-
lichen Anziehung elektrischer Natur sein müssen; ich komme mir
vor wie mit Elektrizität geladen, die Spannung steigert sich zum
höchsten Grade, wenn die geliebte Person in der Nähe ist und eine
längere Berührung oder Streicheln mit der Hand ist schon imstande,
eine gewisse Beruhigung der Nerven herbeizuführen. Die Spannung
gleicht sich etwas aus. — Die verschiedenen Komponenten des Ge-
schlechtsgenusses sind augenscheinlich bei den Menschen sehr ver-
schieden stark ausgebildet, so ist es erklärlich, wenn auf einen der
Geruch des Lieblings, auf einen anderen der Klang der mutierenden
Stimme, auf einen dritten der Geschmack des Kusses (Zungenkuß)
erregend wirkt; ja, es ist denkbar, daß es auch einen rein geistigen
Geschlechtsgenuß gibt und einem schon der Anblick der geliebten
Person oder die Unterhaltung oder ein Brief genügt.
Geschlechtlicher Verkehr wurde bisher noch nicht gepflegt, ich
kann jedoch versichern, daß die Art des Begehrens mehr weiblich
ist, mein Ideal wäre es, wenn der Liebling zu mir geschlechtlich
entbrennen würde, ich würde ein williges Opfer sein; ich wünschte
direkt, weibliche Geschlechtsorgane zu besitzen, um dem Liebling an-
ziehend zu erscheinen.
Ich habe stark gegen meine Natur angekämpft und fühlte mich
sehr unglücklich. Ich halte mich für körperlich und geistig gesund.
Ich habe nur eine Doppelnatur mit der Geburt erhalten (zwei Seelen,
wohnen, ach, in meiner Brust). Der Körper ist mehr Mann, die Seele
mehr Weib, daher der Konflikt und mein Begehren äußerlich, nur
den Körper betrachtet, naturwidrig; meine Seele kann leider keiner
sehen.
■Weshalb liebe ich nur den Jüngling? Weil er in idealer Weise
mein Wesen ergänzt. Mein geschlechtliches Empfinden ist in der Haupt-
sache weiblich, richtet sich also auf das männliche, und gerade auf
das männliche in der Jünglingszeit, weil das weibliche Empfinden
durch eine kleine männliche Note meines Wesens herabgedämpft ist.
Der feminine Uranier liebt wahrscheinlich den Vollmann als beste
Ergänzung seiner Natur. Die leichte männliche Note meines geschlecht-
lichen Empfindens verlangt am Manne auch eine leichte weibliche
Note, die wir im Jünglinge wiederfinden. Er hat in der Tat etwas
Weibliches an eich: Bartlosigkeit, keine übermäßige Stärke der Mus-
kulatur, sanften Charakter, empfängliches Gemüt, und doch ist er
männlich und geschlechtsreif. Die Geschlechtsreife gehört zu jeder
Liebe. Der Jüngling ist also die ideale Ergänzung meines Wesens.
Meine Liebe ist ebenso groß, so heilig und rein wie die hetero-
sexuelle Liebe, sie ist der Aufopferung fähig, ja, ich könnte für
einen Liebling, der mich voll verstände und mir in jeder Beziehung
gefiele, in den Tod gehen, das können Sie mir glauben.
Ach, wie schmerzlich ist es, wenn man uns als Wüstlinge oder
Kranke ansieht.“
Ich muß sagten, daß die vorstehenden Bekenntnisse eines
hochachtbaren ärztlichen Kollegen, einer geistig bedeutenden und
ideal empfindenden Natur den tiefsten Eindruck auf mich ge-
macht und wesentlich mit dazu beigetragen haben, meine An-
schauungen über das Wesen der originären Homosexualität zu
berichtigen. Aehnliche mündliche Mitteilungen empfing ich von
anderen von Kindheit an homosexuellen Aerzten, einem Neurologen
und einem Psychiater, und ich lege auf die Angaben dieser als
Aerzte und als Homosexuelle doppelt sachverständigen Kollegen
den größten Wert. Es ist auch wichtig, daß, woran ich auch
früher nie gezweifelt habe, gerade die urnischen Aerzte das Gros
der Homosexuellen für körperlich und geistig gesund erklären
und die Allgemeingültigkeit der Entartungstheorie bestreiten.
Während die Homosexuellen in den kleineren Provinzstädten
und auf dem Lande meist auf sich angewiesen sind, ihre Natur
verbergen müssen oder höchstens an einzelne gleich empfindende
Personen sich anschließen können, haben von jeher in den großen
Städten die Homosexuellen miteinander Fühlung gesucht, es haben
sieh gewisse Treffpunkte, lie n de z vous - Orte, nur für Urninge ge-
bildet, in gewissen Straßen und Plätzen, urnischen Klubs,
Pensionatein und urnischen Kneipen, auf urnischen Bällen, ja
sogar in gewissen Badeanstalten. Außerdem vereinigen sich die
einzelnen sozialen Gruppen der Homosexuellen unter sich. So
berichtet z. B. Hirschf eld41) von einer Abendgesellschaft,
die ¡aus lauter homosexuellen Prinzen, Grafen und Baronen bestand.
Derartige päderastische Treffpunkte und Vereinigungen gab es
schon im 18. Jahrhundert in Paris. Seit dieser Zeit bis ca. 1840
dienten besonders gewisse dunkle Seitenalleen der Champs Elysées,
der ganze Komplex von Gebüschen von der Place de la Concorde
bis zur Allée des Veuves zwischen der Grande Avenue des Champs
Elysées und dem Cour de la Beine von Beginn der Dunkelheit
an den ständigen Rendezvous der Homosexuellen, nicht etwa bloß
der männlichen Prostitution, sondern allen Urningen, die hier
im Dunkel Liebe suchten und fanden. Der Mittelpunkt dieses
abendlichen Treibens war die Allée des Veuves (heutige Avenue
Montaigne), die „Witwenallee“ — „Witwe“ war damals die
41 ) M. Hirschfeld, Berlins drittes Geschlecht, Berlin u. Leip-
zig, 1906, S. 26.
570
Bezeichnung für den passiven Päderasten. Diese Gregend der
Champs Elysées war von den Homosexuellen gewissermaßen in
Erbpacht genommen, sie duldeten keinen Heterosexuellen dort,
sperrten die Zugänge durch Stricke ah und stellten an den Ein-
gängen der Allee Wachen auf, die jedem Besucher die Parole
abforderten. Selbst die Polizei wagte sich in dieses Dunkel nicht
hinein.
Victor Hugo, der im Jahre 1831 in der in der Nahe gelegenen
Rue Jean Goujon wohnte, begleitete oft seine Freunde, die bei ihm
zu Besuch waren, in vorgerückter nächtlicher Stunde noch ein Stück
Weges, man ging in Gruppen, von Kunst und Literatur plaudernd,
bis zur Place de la Concorde. Dort trennte der berühmte Dichter
sich von seinen Besuchern und kehrte, unterwegs neue Verse verfassend,
allein nach Hause zurück. Er bemerkte öfter Individuen, die sich
bei seinem Kommen am Eingang der Allée des Veuves aufhielten
und ihn von ferne beobachteten, ohne ihn anzureden. Er konnte sich
nicht denken, daß diese Leute Diebe seien und fragte sich nach der
Ursache der ständigen Anwesenheit derselben an diesem einsamen
Orte, ohne aber, trotz der häufigen Wiederholung dieser Szenen, nähere
Nachforschungen anzustellen. Da wurde er einmal mitten in seinen
poetischen Träumereien durch einen Menschen gestört, der aus dem
Dunkel des Gebüsches hervortrat und mit höflichem Gruße zu ihm
sagte: „Mein Herr, wir bitten Sie, hier nicht länger zu bleiben. Wir
wissen, wer Sie sind und wir möchten nicht, daß einer der unseligen,
der Sie nicht kennt, Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten könnte.“ „Was
macht Ihr demi dal“ antwortete Victor Hugo, „jeden Abend sehe
ich Personen umhergehen und unter den Bäumen verschwinden.“
„Achten Sie nicht darauf, mein Herr“, war die lebhafte Antwort,
„wir stören und belästigen niemanden, aber wir dulden nicht, daß
man uns störe und belästige, wir sind hier unterun s.“ Victor
Hugo verstand, verbeugte sich und setzte seinen Weg fort. Als er
an einem anderen Abend mit seinen Freunden durch die der Allée
des Veuves parallel laufende Allee gehen wollte, fand er auch diese
durch eine Menge Stühle versperrt, die mit Stricken festgebunden
waren. „Hier ist kein Durchgang“, rief eine drohende Stimme, aber
eine andere, weniger scharfe, fügte wohlwollend hinzu: „Wir bitten
Herrn Victor Hugo, nur dieses einzige Mal an der anderen Seite
der Avenue des Champs Elysées zu gehen.“42)
Unter dem zweiten Kaiserreiche bewahrte die inzwischen
behaute Allée des Veuves ihren alten Ruf als Rendezvousstätte
i2) Die Schilderung dieser interessanten Szene, wie auch die übrigen
Angaben über die Organisation der Homosexuellen in Paris, finden sich
bei Pisanus Fraxi (Henry Spencer Ashbee), Centuria
Librorum absconditorum, London, 1879. S. 406—416 (nach persönlichen
Mitteilungen von Paul Lacroix).
571
der Homosexuellen. Ein aus Mitgliedern der höchsten Gesell-
schaftsklassen, Personen vom kaiserlichen Hofe, Senatoren, Finanz-
größen usw. bestehender umischer Klub hatte in einem pracht-
voll ausgestatteten Hotel der Allée des Veuves seine Zusammen-
künfte, bei denen besonders Soldaten der Leibgarde der Kaiserin.
(Dragons de l’Impératrice) und der Hundertgarde des Kaisers
mit Hilfe kostbarer Geschenke als Geliebte der verschiedenen
vornehmen Urninge fungierten, wofür das Wort „faire l’Im-
pératrice“ aufkam. In dem Hotel wohnten auch vorübergehend
Unbekannte, die man nur nach Vorzeigen einer Art Medaille
mit geheimnisvoller Inschrift aufnahm. Man fand bei der polizei-
lichen Durchsuchung des Hotels eine Menge von Frauenkostümen,
u. a. ähnliche, wie sie die Kaiserin Eugenie bei feierlichen
Gelegenheiten zu tragen pflegte. Außerdem entdeckte man zahl-
reiche Briefe zwischen den Mitgliedern des Klubs und ihren
Günstlingen von der Hundertgarde oder der Kaiseringarde. Man
machte über das Ergebnis der Haussuchung dem Kaiser Mit-
teilung; als dieser sah, daß die höchsten Personen und hervor-
ragendsten Namen in die Affäre verwickelt waren, befahl er
sofortige Einstellung des Verfahrens und sprach zu dem Procureur-
général die Worte: „Man muß seinem Volke und seinem Lande
solche Schande ersparen, der Skandal bessert niemanden und
stiftet nur Schaden“. In der Tat drang über diese Affäre so
gut wie gar nichts in die Oeffentlichkeit. Von einem anderen
urnischen Klub des zweiten Kaiserreiches berichtet Tardieu ,43)
in dessen Lokale Geheimkabinette mit erotischen Bildern vor-
handen waren. Wie damals die Urninge Bekanntschaften mit
Heterosexuellen anknüpften, entnimmt man einem Polizeibericht
vom 16. Juli 1864, in dem das Vorgehen und die Erlebnisse
eines älteren Homosexuellen, „un vieux monsieur fort bien et
puissamment riche“, folgendermaßen geschildert werden:
„Er gellt ins Café Truffant, sieht einen jungen Soldaten, der ihm
gefällt, läßt ihm durch den Kellner ein Rendezvous anbieten und geht
fort, ohne die Antwort abzuwarten. Geht der Soldat darauf ein, so
begibt er sich zu dem angegebenen Rendezvous-Orte, und niemals
allein, da man den Yater C----------n (den alten Urning) genau kennt
Kaum haben die beiden sich getroffen, als auch schon andere Soldaten
43) Ambroise Tardieu, Die Vergehen gegen die Sittlichkeit
in staatsärztlicher Beziehung. Deutsch von F. W. Th ei le, Weimar,
1860, S. 133-184.
572
erscheinen, den Alten schlagen, und ihn zwingen, alles Geld, das er
bei eich hat, abzuliefern. Er tut es gutwillig und bittet dabei fort-
während um Verzeihung. Wenn er keinen Sou mehr hat und auch die
Uhr losgeworden ist, geht er mit Tränen in den Augen fort und
■wiederholt immer wieder die Worte: „Wie unglücklich ist doch ein
Mensch wie ich.“ “
Dieser alte Urning war offenbar zugleich auch Masochist und
ein sehr geeignetes Objekt für Erpresser, die wTir denn hier auch
an der Arbeit sehen. In dem erwähnten Polizeibericht -werden
auch homosexuelle Orgien geschildert, bei denen die Teilnehmer
sich Frauennamen gaben, mutuelle Onanie und Fellation trieben,
auch obszöne Praktiken mit einer — Hündin vomakmen. Wenn
Oscar Méténier in seinem Buche „Vertus et vices allemands“
(Paris 1904) Berlin das Monopol der Umingsbälle zuweist, welche
nach seiner Ansicht in Paris nicht möglich wären, so trifft das
wenigstens für die Zeit des zweiten Kaiserreiches nicht zu. In
jenem Polizeibericht werden auch zwei typische Umingsbälle
erwähnt, einer, den im Hause Place de la Madeleine No. 8 ein
„homme d’affaires“, E. D . . . . d, am 2. Januar 1864 gab, ein
zweiter, den der Vicomte de M . . y im Pavillon Bo han, Bue
de Bivoli 172, am 16. Januar 1864 veranstaltete und an dem
wenigstens 150 Männer, zum Teil in Frauentracht teilnahmen,
die bei manchen so täuschend war, daß selbst der Gastgeber
nicht imstande war, das wirkliche Geschlecht zu erkennen.
Es ist allerdings richtig, daß es wohl in keiner Stadt so
viele gesellige Veranstaltungen der Homosexuellen für Homo-
sexuelle gibt wie in Berlin. Hirschfeld erwähnt außer
Privatgesellschaften, Diners, Soupers, Kaffees, 5 Uhr-Tees, Pick-
nicks, Hausbällen und Sommerfesten der Homosexuellen die Jours
fixes, von denen jeden Winter einige von Urningen und Uranie-
rinnen für ihre Freunde und Freundinnen eingerichtet werden.
Außerdem treffen sich die männlichen und weiblichen Homo-
sexuellen in bestimmten, nur von ihnen frequentierten Bestau-
rante, Cafés, Konditoreien und Kneipen.44) Solcher umischen
Lokale gibt es ca. 18 bis 20 in Berlin. Dann gibt es gesellige
literarische Vereinigungen, wie den früheren Klub „Lohengrin“,
die antifeministisehe „Gesellschaft der Eigenen“, die „Platen-
Gemeinschaft“ usw. Auch urnisehe Kabaretts existieren.
44) Daneben gibt es viele öffentliche Lokale, die zwar von Urningen
bevorzugt, aber auch von Heterosexuellen frequentiert werden.
573
Hirschfeld hat in seinem zwar populär geschriebenen, aber
durch die Anschaulichkeit der Schilderung höchst gediegenen
Büchlein „Berlins drittes Geschlecht“ alle diese umischen Ver-
anstaltungen eingehend beschrieben und ich verweise wegen der
genaueren Einzelheiten auf diese interessante Schrift, deren
Authentizität ich aus eigener Wahrnehmung bei meinen Besuchen
der genannten manschen Zusammenkünfte durchaus bestätigen
kann.45) 1
In Paris gibt es keine ausschließlich urnischen Lokale, diese
werden dort ersetzt durch verschiedene Anstalten für Dampf-
bäder, die fast ausschließlich von Homosexuellen besucht werden
und zwar von solchen im Alter gegen Ende 20 bis zum höchsten
Alter. In dem Industrieviertel in der Nachbarschaft der Place
de la République existierte vor einigen Jahren ein fast aus-
schließlich von jungen Homosexuellen zwischen 15 und 20 Jahren
besuchtes Dampfbad. Auf den großen Boulevards befindet sich
ein sehr teures (10—20 Eres.), nur von reichen Homosexuellen
besuchtes Bad, in dem u. a. auch ein berühmter französischer
Komponist verkehrte.46) \
Eine besondere Spezies der Berliner Urningslokale sind die
„Soldatenkneipen“ in der Nähe der Kasernen, wo die Soldaten
von Homosexuellen freigehalten werden und mit ihnen Beziehungen
anknüpfen. Auch einen „Soldatenstrich“ gibt es, auf dem die
Soldaten promenieren und sich den Homosexuellen anbieten.
Ebenso unterhalten die Athleten vielfache Beziehungen, mit den
Homosexuellen. i
Die Umingsbälle sind heute allerdings für Berlin charakte-
ristisch. Schon Krafft-Ebing hat sie eingehend beschrieben
und neuerdings Hirschfeld in dem oben genannten Buche. Auch
ich habe im letzten Winter einen solchen „Männerball“ besucht,
auf dem ca. 800 bis 1000 Homosexuelle anwesend waren, teils in
Männer-, teils in Frauentracht oder Phantasiekostümen. Nur der
Wissende hätte manche als Frauen verkleidete Homosexuelle von
45) Vgi_ hierzu auch die Bemerkungen von P. N ä c k e, Ein Be-
such bei den Homosexuellen in Berlin. In: Archiv für Kriminal-
anthropologie 1904, Bd. XV, Heft 1 u. 2.
46) Vgh p. N ä c k e, Quelques détails sur les homosexuels de Paris,
In: Archives d’anthropologie criminelle, 1905. Nouv. Série T. IV,
Ho. 138. Referat in Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1906,
Bd. VIII, S. 795—796.
574
wirklichen Frauen unterscheiden können. Ich erinnere mich einer
graziösen Sylphide, die am Arme ihres Tänzers durch den Saal
schwebte — das ist der richtige Ausdruck — ihr feines Ge-
sichtchen während des Tanzes recht zierlich an die Schulter des
Mannes lehnte und mit den strahlenden schw'arzen xAugen über-
mütig kokettierte. Ich hielt sie allen Ernstes für ein Weib, bis
ich belehrt wurde, daß es ein — Friseur sei! Bei anderen in
weiblicher Tracht erschienenen Urningen erleichterte ein kräf-
tiger — Schnurrbart die Diagnose.
Eine dunkle Seite in den Beziehungen der Homosexuellen
zur Oeffentlichkeit bildet die sogenannte „männliche Pro-
stitution“, die schon im Altertum existierte und besonders
unter dem zweiten französischen Kaiserreiche eine förmliche
Organisation hatte, deren Einzelheiten Tardieu mitteilt. Sie
rekrutiert sich teils aus homo-, teils aus heterosexuellen Männern
der niederen und ärmeren Klassen, die sich den zahlungsfähigen
Umingen gegen Entgelt hingeben und in allen Künsten raffi-
nierter Buhlerei (Schminken, kokettes Zursehautragen männlicher
Beize usw.) geübt sind (sog. „Tanten“). Es gibt in allen Großstädten
einen sogenannten „Strich“, auf dem die männlichen Prostituierten
zu promenieren pflegen, um ihre Kunden anzulocken, in Berlin
sind es namentlich die Friedrichstraße, die Passage47) und gewisse
Wege im Tiergarten. Ganz wie die weibliche hat auch die
männliche Prostitution ihre „Absteigquartiere“, ja es
gab und gibt noch heute in Frankreich typische „Männer-
bordelle“. Ein solches existierte z. B. von 1820 bis 1826 in
der in der Nähe des Louvre gelegenen Bue du Doyenné in Paris.
Die männlichen Insassen desselben wurden sogar ärztlich unter-
sucht, um die Klientel vor venerischer Ansteckung zu schützen.
Mit Einbruch der Dunkelheit stellten sich die Besucher ein und
wurden von jungen Effeminierten empfangen und hineingeleitet.48)
Noch schlimmer war eine andere Form männlicher Prostitution
unter der Restauration und in den Anfängen der Regierung
Ludwig Philipps, nämlich die sogenannte „grande montre
des cuks“ in der Rue des Marais, wo eine ganze Schar von männ-
47) Vgl. Die Geheimnisse der Berliner Passage, Berlin o. J.
(ca. 1877), S. 19—20.
48) Vgl. Pisanus Fraxi, Centuria librorum absconditorum,
London, 1879, S. 404—406 (nach Mitteilungen von Paul Lacroix,
der die Vorgänge selbst beobachtete).
575
Hohen Prostituierten ilire Beize den dorthin sich begebenden
Homosexuellen zur Schau stellte und anbot. Die Art, wie das
geschah, läßt sich nicht näher beschreiben, wird aber durch jene
Bezeichnung' zur Genüge ausgedrückt,40) Männerbordelle gibt es
auch heute noch in Paris. So existierte bis Ende 1905 in der
Rue St. Martin ein kleines Hotel, dessen homosexueller Besitzer
nicht nur Urningen Zimmer zu vorübergehendem Aufenthalte
vermietete, sondern auch stets fünf bis sechs junge Leute im
Alter von 15 bis 22 Jahren im Hotel beherbergte und Homo-
sexuellen gegen Bezahlung zur Verfügung stellte. Außer diesem
Hotel gab es im Jahre 1905 noch eine Art Männerbordell bei
einem Urning, der in seiner Wohnung nachmittags ein halbes
Dutzend junger Leute zur Auswahl der besuchenden homosexuellen
Herren bereit hielt oder herbeirufen ließ und sofort ein Zimmer
für einige Francs die Stunde vermietete.49 50)
Eine weitere mit der männlichen Prostitution in innigster
Beziehung stehende Erscheinung ist das Erpressertum oder
die „Chantage“. Schon Tardieu (a. a. O. S. 128—130) hat
dasselbe in lebhaften Färben geschildert und die engen Be-
ziehungen der männlichen Prostitution zum Verbrechertum her-
vorgehoben. Das Erpressertum ist heute eine Art „Spezialberuf“
geworden,51) das nicht bloß gegen homosexuelle, sondern auch
gegen heterosexuelle Personen vorgeht und nicht scharf genug
verfolgt werden kann. Oft peinigen diese gemeingefährlichen
Subjekte jahrelang ihre unglücklichen Opfer. Tardieu berichtet
von einem berühmten Gelehrten, dessen „Geldbeutel die Erpresser
als den ihrigen ansehen durften“. Er wurde mehr als
20 Jahre hindurch durch mehrere Generationen von Gaunern
ausgebeutet, die einander dieses sichere Einkommen vermachten.
Er „kam aus einer Hand in die andere“. Meist suchen sich die
Erpresser in den öffentlichen Bedürfnisanstalten ihren Opfern
zu nähern, treten dort plötzlich mit der Behauptung hervor, sie
seien unzüchtig berührt worden und verlangen Schweigegeld, das
49) Ebendaselbst, S. 404—407.
60) Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1906, Bd. VIII, S. 796
bis 797. Nach d’Estoc (Paris-Eros, S. 207—208) findet man in diesen
Bordellen besonders Südländer, Italiener, Orientalen, Berbern und
Neger als männliche Prostituierte.
ei) Vgl. Ludwig Frey, Zur Charakteristik des Rupfertums in:
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1899, Bd. I, S. 71—96.
limen meist gegeben wird, sogar von Heterosexuellen, wie kürz-
lich in Berlin von einem gänzlich, unschuldigen jungen Kauf-
mann, dessen Braut ihn erst durch Denunziation des schamlosen
Erpressers von diesem befreite. Daß natürlich Erpressungen nach
wirklicher Anknüpfung von seiten Homosexueller und nach
sexuellen Akten gang und gäbe sind, ist klar, und es ist kein
Zweifel, daß in Deutschland die Existenz des § 175 des Reichs--
Strafgesetzbuches das Erpressertum gewaltig gefördert hat, die
Ursache zahlreicher unerquicklicher und gemeinschädlicher Skan-
dale und vieler Selbstmorde geworden ist.
Dieser berüchtigte § 175 lautet:
Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männ-
lichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist
mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte erkannt werden.
Dieser Strafparagraph stimmt überein mit dem § 143 des
ehemaligen preußischen Strafgesetzbuches. Aehnliche Straf-
bestimmungen,52) zum Teil sogar* noch schwerere, haben Oester-
reich, Ungarn, Norwegen, Schweden, Dänemark, Rußland, Bul-
garien, der Staat New York, die meisten Kantone der Schweiz
und namentlich Großbritannien, wo die härtesten Strafen ver-
hängt werden und wenigstens logischerweise auch der homo-
sexuelle Verkehr zwischen Weibern bestraft wird. Alle be-
sonderen Strafbestimmungen gegen homosexuellen Geschlechts-
verkehr sind dagegen aufgehoben in Frankreich, Belgien,
Holland, Portugal, Türkei, Italien, Spanien, den schweizerischen
Kantonen Genf, Wallis, Wandt, Tessin, dem Großherzogtum
Luxemburg, dem Fürstentum Monaco und in Mexiko.
Der § 143 des preußischen Strafgesetzbuches wurde bei Be-
ratung des deutschen Strafgesetzbuches als § 175 wieder über-
nommen, mit Rücksicht auf das „Reehtsbewußtsein“ des Volkes,
das „derlei Handlungen nicht bloß als Laster, sondern als Ver-
brechen beurteile“. Dieses Reehtsbewußtsein gründete sich aber
auf eine mangelhafte Kenntnis und irrige Auffassung der Homo-
sexualität. Sobald man erkannt hat, daß es sich bei dieser um
eine originäre Naturanlage handelt und sobald diese Aufklärung
52) Vgl. Numa Praetorius, Die strafrechtlichen Bestimmun-
gen gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr, historisch nnd kritisch
dargestellt in Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1899, Bd. I,
S. 97—158.
577
in weite Kreise des Volkes gedrungen sein wird, wird das alte
Rechtsbewußtsein durch ein neues ersetzt werden, das ge-
bieterisch die Aufhebung einer Strafbestimmung
fordert, durch die eine Naturerscheinung als Laster
hingestellt und infamiert wird. Nachdem ich mich durch meine
Studien in den letzten Jahren überzeugt habe, daß esi sich bei
der Homosexualität um ein typisch biologisches Phänomen handelt,
kann ich die Bestrebungen des von Dr. Magnus Hirschfeld
geleiteten „Wissenschaftlich-humanitären Komi-
tees“, die auf Aufklärung des Volkes über das Wesen der
Homosexualität und auf die Aufhebung des § 175 abzielen, nur
durchaus billigen, um so mehr als wirkliche homosexuelle
Delikte sehr gut durch die Strafbestimmungen gegen sexuelle
Delikte überhaupt getroffen werden.
Abegesehen von dieser allgemeinen Kodifikation des Un-
rechts im § 175 und den gleich zu erwähnenden traurigen
Konsequenzen desselben sind auch die Bestimmungen desselben
sehr unklar und unlogisch.
1. Wird nur die widernatürliche Unzucht zwischen Männern
bestraft, diejenige zwischen Krauen straffrei gelassen. Weshalb
aber letztere, wenn man sich einmal auf den, wie wir sahen,
unhaltbaren Standpunkt des Lasters und Verbrechens stellt,
weniger lasterhaft sein sollte als die Unzucht zwischen Männern,
ist nicht einzusehen.
2. Ist der Begriff „widernatürliche Unzucht“ ebenso unklar
und inkonsequent und macht eine gerechte Judikatur geradezu
unmöglich. Es wird nämlich nicht bloß darunter die Pädikation
(immissio mernbri in anum) verstanden, sondern überhaupt jede
„beischlafsähnliche“ Handlung zwischen Männern (also ooitus
in os, inter femora, ja die bloße frictio mernbri), während
mutuelle Onanie oder Anilingus und andere perverse Praktiken
straffrei sind.
3. Schützt der § 175 keine Rechtsgüter,53) da weder die ge-
schlechtliche Freiheit des einzelnen durch den Verkehr erwachsener
Männer, die in vollem Einverständnis handeln, gestört wird,
noch das sittliche Gefühl verletzt wird, wenn die Tat nicht von
dritten gesehen wird. Hiergegen gewährt aber § 183 des Straf- * S.
53) Ygl. Richter Z., Schützt § 175 Rechtsgüter? Eine krimina-
listische Studie. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1900, Bd. II,
S. 30—52.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 37
(41.—60. Tausend.)
578
gesetzbuch.es (öffentliche Erregung eines Aergernisses durch eine
unzüchtige Handlung) bereits genügenden Schutz.
4. Wenn § 175 besonders mit Rücksicht auf die Existenz
der gewerbsmäßigen männlichen Unzucht aufrecht erhalten wird,
so hat v. Liszt mit Recht dagegen geltend gemacht, daß letztere
durch eine geänderte Fassung des § 3616 des StrGrR. unschädlich
gemacht werden kann, ebenso wie der Schutz der Tugend durch
besondere Strafbestimmungen gewährleistet wird.
5. Ist die Wirksamkeit des § 175 nur eine sehr beschränkte.
Nach Hirschfeld (J. f. s. Zw. VI, 175) werden nur 0,007 o/o
der heute nach § 175 strafbaren homosexuellen Handlungen be-
kannt und bestraft. Es werden also nur einzelne wenige für
eine Tat bestraft, die viele Tausende in gleicher Weise täglich
ungestraft begehen.
6. Kannte die Gesetzgebung bei Schaffung des § 175 gar
nicht den homosexuellen Trieb als Wesensausfluß der Persön-
lichkeit, sondern wollte nur Heterosexuelle bestrafen, die gleich-
geschlechtliche Handlungen vornehmen, keinesfalls aber echte
Homosexuelle (Vgl. Numa Praetorius, Zur Frage der Zu-
rechnungsfähigkeit der Homosexuellen. In: Monatsschr. f. Ivri-
min alpsychologie von G. Asch affen bürg 1906, S. 561.).
Die schlimmste und traurigste Wirkung des § 175 ist die
dauernde Infamierung und soziale Aeohtung von Personen, die
ohne jede Schuld zu ihrer von derjenigen der großen Mehr-
zahl abweichenden Empfindung gekommen sind. Der Staat be-
geht ein Verbrechen, wenn er eine biologische Erscheinung, die
neuerdings sogar von der evangelischen und katholischen Kirche54)
als solche anerkannt und von dem Stigma der Unsittlichkeit be-
freit worden ist, noch weiter in die Kategorie der Laster und
Verbrechen einreiht. Die Fortdauer dieses großen Unrechts ist
54) Ygl. Urteile römisch-katholischer Priester über die Stellung
des Christentums zur staatlichen Bestrafung der gleichgeschlechtlichen
Liebe (Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1900, Bd. II, S. 161—203).
Welche Stellung hat die christliche Kirche zu der gleichgeschlecht-
lichen Liebe und ihrer staatlichen Bestrafung einzusehen? Yon einem
evangelischen Theologen, ebendaselbst, Bd. III, S. 204—210; Caspar
Wirz, Der Uranier vor Kirche und Schrift (orthodox-evangelisch),
ebendaselbst, Bd. VI, S. 63—108; Homosexualität und Bibel. Von einem
katholischen Geistlichen, ebendaselbst, Bd. IV, S. 199—243; Aus den
Aufzeichnungen eines (katholischen) Geistlichen, ebendaselbst, Bd. V,
S. 1172—1178.
579
die Hauptursache der so häufig vorkommenden Selbstmorde
Homosexueller, die gerade von geistig und sittlich hochstehenden
Männern, ja häufig noch vor Betätigung des homo-
sexuellen Triebes begangen weiden, der beste Beweis, daß
es sich nicht um lasterhafte, sondern um unglückliche Menschen
handelt, die die Schmach der sozialen Aechtung und die unge-
rechte Verständnislosigkeit ihrer Umgebung nicht ertragen können.
Wie viele Selbstmorde aus homosexuellen Motiven begangen
werden, entzieht sich jeder genaueren Feststellung. Bei vielen
ist aus gewissen äußeren Umständen nur die bloße Vermutung
möglich. Mir schreibt ein hochangesehener älterer Homosexueller
über diese Frage der Selbstmorde Homosexueller, daß eine
Familie, „wenn ein braver und nicht aufgeklärter Sohn, der
unter seiner falschen Anlage furchtbar leidet, sich erschießt,
lieber einen Schanker (den er nie gehabt hat) als Erklärung
anführt, als daß sie seine Homosexualität zugibt“. Solcher Fälle
seien ihm mehrere vorgekommen. „Dann soll man lieber unglück-
liche Liebe angeben, denn das ist die Wahrheit.“ Zola55) er-
zählt von dem Briefe eines Homosexuellen als dem „herz-
zerreißendsten Schrei menschlicher Qual“, den er jemals ver-
nommen habe.
„Er wehrte sich dagegen, so schändlichen Liebesgelüsten nachzu-
geben, und er verlangte zu wissen, woher diese Verachtung aller stamme,
woher diese stete Bereitwilligkeit der Gerichtshöfe, ihn niederzuschmet-
tern, wo er doch in seinem Fleisch und Blut den Ekel vor dem Weibe,
die wahre Liebe zum Manne mit zur Welt gebracht habe. Niemals
hat ein vom Dämon Besessener, niemals hat ein dem unbekannten
Verhängnis des Geschlechtstriebes preisgegebener armer Menschenleib
so gräßlich sein Elend hinausgeheult. Hat man nicht hier einen wirk-
lichen physiologischen Fall leibhaftig vor Augen, ein Herumtasten,
einen halben Irrtum der Natur? Nichts ist tragischer, meiner Meinung
nach, und nichts verlangt mehr nach der Enquete und dem Heilmittel,
falls es ein solches gibt.“
Die volle Aufklärung des Volkes wird ganz von
selbst eine Aenderung in der Auffassung der Homosexualität
herbeiführen, zu der übrigens die große Zahl der vornehmen
und den besseren Ständen angehörigen Homosexuellen sehr viel
beitragen könnte, wenn sie frei und offen sich zu ihrer Neigung
bekenne» würden; die Heimlichtuerei und Heuchelei vieler
55) Ein Brief Emile Zolas an Dr. Laupts über die Frage der Homo-
sexualität. Uebersetzt und eingeleitet von Rudolf von Beulwitz,
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1905, Bd. VII, S. 371—386.
580
Urninge ist für die bisherige falsche Auffassung der Homo-
sexualität mit verantwortlich zu machen. Diesen Vorwurf“ kann
man ihnen nicht ersparen.
Endlich ist der § 175 nicht bloß ein Unrecht hinsichtlich
der Homosexuellen, sondern auch eine Gefahr für die Hetero-
sexuellen durch das mit seiner Existenz eng verknüpfte Er-
pressertu m. Nicht genug, daß diese niedrigste Gattung von
Verbrechern, die nur zum kleineren Teil aus der männlichen
Prostitution sich rekrutieren, zahlreiche unglückliche Urninge
sozial und pekuniär ruinieren, viele zum Selbstmord oder zu
Verbrechen treiben, wofür der aufsehenerregende Fall eines
Landgerichtsdirektors vor einigen Jahren ein typisches Beispiel
lieferte, nein, sie wagen es auch mit immer größerem Erfolge,
den §175 zu Erpressungsversuchen an völlig normal-
heterosexuellen Individuen auszubeuten. Es gelingt ihnen
das oft besser als bei Homosexuellen, weil dem normalen Manne
der Gedanke noch entsetzlicher ist, für homosexuell gehalten
zu werden.
Abhilfe für alle diese Uebelstände, die Selbstmorde sowohl
wie die Erpressung, kann nur durch Aufklärung des ganzen
Volkes — das Allerwichtigste — und durch bedingungslose
Aufhebung des § 175 geschaffen werden.
Es ist ein nicht hoch genug anzuerkennendes Verdienst des
„Wissenschaftlieh-humanitären Komitees“, daß es sich vor allem
die Aufklärung des Volkes durch populäre Schriften56) der Ge-
lehrten durch wissenschaftliche Veröffentlichungen wie das höchst
gediegene „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“ (8 Bände
1899—1906), durch Vorträge, Veranstaltung öffentlicher Ver-
sammlungen, Petitionen usw. angelegen sein läßt.
Die Eingabe des Komitees an die gesetzgebenden Körper-
schaften des Deutschen Beiches, betreffend die Aufhebung des
§ 175 BStrGB. fand 5000 Unterschriften aus den Kreisen der
Gelehrten, Biehter, Aerzte, Geistlichen, Schullehrer, Schriftsteller
und Künstler, darunter die hervorragendsten Namen des geistigen
Deutschlands. Ich nenne u. a. nur Ferdinand Avenarius,.
Hans von Basedow, Woldemar v. Biedermann,
H. Bulthaupt, Professor Crede, Albert Eulenburg,
56) Was soll das Volk vom dritten Geschlecht wissen? Eine Auf-
klärungsschrift herausgegeben vom wissenschaftlich - humanitären.
Komitee, Leipzig 1904 (Preis 20 Pfennige).
581
Theodor Gaedertz, Rudolf von Gottschall, Franz
Gör res, O. E. Hartleben, Ger hart Hauptmann,
S. Jadassohn, Hermann Kaulbaeh, R. v. Krafft-
Ebing, Joseph Kürschner, H. Kurella, Walter
Leistikow, Leppmann, Max Liebermann, G. von
Liebig, Detlev v. Liliencron, Franz v. Liszt,
Berthold Litzmann, Ph. Lotmar, John Henry
Mackay, Mendel, Friedrich Moritz, P. Näcke,
Paul Natorp, Albert Neißer, Max Nordau, A. v.
Oechelhäuser, A. v. Oppenheim, J. Pagel, Pelman,
R. Pen zig, Placzek, Felix Poppenberg, Rainer
Maria Rilke, 0. Rosenbach, Wilhelm Roux, Max
Rubner, Benno Rüttenauer, Johannes Schlaf,
Arthur Schnitzler, A. v. Schrenck-Notzing, Alwin
■Schulz, Moritz Schwalb, Georg Schweinfurth,
Adolf v. Sonnenthal, K. v. Tepper-L aski, H. Un-
v er rieht, Max Yerworn, A. Vierkandt, Richard
V o ß, Hans Wachenhusen, Felix Weingartner,
Adolf Wilbrandt, Ernst v. Wildenbruch, F. von
Winkel, E. von Wolzogen, Ernst Ziegler, Theo-
bald Ziegler, Theophil Zolling.
Außerdem sei noch erwähnt, daß im Jahre 1904 nicht weniger
als 2800 deutsche Aerzte, sowie 750 Direktoren und Lehrer
höherer Schulen die Petition an den Reichstag wegen Aufhebung
des § 175 unterschrieben. Durch die die höchsten Gesellschafts-
kreise in Mitleidenschaft ziehenden Skandale — ich erinnere nur
an die Fälle Hohenau, Krupp, Israel, v. Schenk u. a.
— hat sich auch den maßgebenden staatlichen Kreisen die Ueber-
zeugung aufgedrängt, daß die Aufhebung des berüchtigten
Urningsparagraphen eine unbedingte Notwendigkeit ist. Es steht
zu erwarten, daß dieselbe in wenigen Jahren erfolgen wird.
Neben der echten originären Homosexualität bei Männern
hat diejenige bei Weibern eine viel geringere Bedeutung, weil
•sie ohne Zweifel viel seltener ist als jene. In Vergleichung
mit der Zahl der Urninge ist die Zahl der weiblichen
Homosexuellen, der „Umin den“ oder „Lesbierinnen“
oder „Tribaden“, eine relativ kleine, während umgekehrt bei
Frauen auch im späteren Alter die sogenannte „Pseudo-Homo-
582
Sexualität“ (s. das folgende Kapitel) weit häufiger verkommt
als bei Männern. Für den heterosexuellen Mann ist es meist
unmöglich, sich in homosexuelle Empfindungsweise hineinzuver-
setzen oder gar homosexueller Betätigung Geschmack abzuge-
winnen, der heterosexuellen Frau fällt dies ohne Zweifel viel
leichter, ja. Zärtlichkeiten und Liebkosungen spielen auch
zwischen normalen heterosexuellen Frauen eine Rolle, die uns
das Verständnis für das leichte Auftreten pseudohomosexueller
Neigungen erleichtert. Trotzdem läßt sich an der
Existenz echter originärer Homosexualität bei
Frauen nicht zweifeln. Das sind jene Fälle, wo wie bei
Urningen der gleichgeschlechtliche Trieb schon aus frühester
Kindheit, oft lange Zeit vor der Pubertät auf tritt, wo auch im
äußeren Habitus das Mädchen sich von den heterosexuellen
Kameradinnen unterscheidet, Anklänge an den männlichen Körper-
bau vorhanden sind (schwache Entwicklung der Brüste, geringere
Beckenbreite, Entwicklung* eines Schnurrbarts, tiefe Stimme usw.)
oder diese auch fehlen können und die Mädchen sich durch nichts
als die perverse Richtung des Sexualtriebes von anderen Mädchen
unterscheiden. Diese echten Tribaden sind viel seltener als die
unechten, die Pseudolesbierinnen. Wenn man z. B. einen Urnings-
ball besucht, ist man sicher, daß 99 o/o der dort versammelten
männlichen Homosexuellen echte Homosexuelle sind, auf einem
Umindenball — auch solche gibt es in Berlin — ist sicher ein
viel kleinerer Prozentsatz „echt“, das Gros setzt sich aus weib-
lichen Pseudohomosexuellen zusammen. Ich teile hier die inter-
essanten Aufzeichnungen einer echten Urninde mit, aus denen
dieses Verhältnis zwischen originärer und Pseudo-Homosexualität
bei Frauen ebenfalls sehr deutlich hervorgeht
Gedanken einer Einsamen!
Anf dem Lande geboren, als Tochter eines Kaufmannes, ent-
wickelte ich mich als sehr träumerisch veranlagtes Wesen, mit einer
unendlichen Sehnsucht nach etwas Unbekanntem, Schönem, Großem,
etwa Sängerin, Künstlerin zu werden. Mit 12 Jahren war ich ein
vollständig, sehr üppig entwickeltes „Weib“, wenngleich noch halbes
Kind, stets von einem unbändigen Verlangen nach
einem geliebten weiblichen Wesen erfüllt, das mich
küssen, liebkosen sollte, zu dem ich aufschauen wollte in
Liebe und Ergebung. Mit dem 13. Jahre kam ich in eine Pension
nach einer Provinzstadt zn Verwandten, wo ich ein Jahr lang eine
Töchterschule besuchte — von meinen Träumen konnte mir kein einziger
erfüllt -werden, meine Mutter, welche, als ich drei Jahre alt war, bereits
Witwe war, hatte mit sechs -unerzogenen Kindern einen schweren wirt-
schaftlichen Kampf zu bestehen. Nachdem meine älteren Geschwister ver-
heiratet waren, mußte ich, 24 Jahre alt, hinaus in die Welt, mir eine Exi-
stenz zu suchen, unbekannt mit der Welt und ihren Gefahren, der Gemein-
heit und Intrige preisgegeben. Ich kam zu einer Witwe in Stellung, wo-
selbst ich den Posten einer „Geschäftsführerin“, „Gesellschafterin“ usw.
inne hatte. Meine „Prinzipalin“, welche eine Frau von 60 Jahren war,
war mir die erste Zeit unsympathisch, doch sie behandelte mich liebe-
voll und mütterlich, was mir, da ich eine weiche, empfängliche Natur
war, gefiel, allmählich wurde ich ihre Vertraute; ich mußte jeden
Abend zu ihr ins Bett kommen (ich schlief nebenan), sie mit meinen
Händen berühren, ich verstand eigentlich nicht recht, wozu ich sie
z. B. an den Beinen streicheln sollte, aber eines Abends führte diese
„Sechzigjährige“ meine Hand an eine verborgene Stelle, jetzt wurde
mir klar, daß dieses „Weib“ noch erotische Empfindungen hatte. Ich
fühlte, wie sie unter meiner Berührung erschauerte, mich heftig an
sich drückte, usw., ich empfand aber nichts, vielleicht, wenn es eine
gleichalterige Freundin gewesen wäre, — es kam mir nie eine leise
Ahnung, daß ich „psychisch“ doch anders sei, wie andere Mädchen —
ich hatte eine unendliche Sehnsucht nach Liebe, zwar* nicht nach
direkt sinnlicher, nach seelischer — aus der sich dann die sinnliche
entwickeln könnte. Zu unseren Kunden gehörte auch ein junger Kauf-
mann, ein stattlicher Mann, welcher mich mit seiner Liebe bestürmte
und nach langem Zögern mich dahin brachte, daß ich ihm eines
Tages das Beste, was ein Weib zu geben hat, gab. Er nahm mit
brutaler Wollust von meinem Leibe Besitz, ich war in dem Wahn,
daß er mich zu seinem Weibe machen würde — ich hatte ja bei
dem Akt gar keine Empfindungen und war enttäuscht. Eines Tages
erklärte mir mein Verführer, daß er sich verheiraten wolle, forderte
den mir geschenkten Ring zurück, wollte mich mit Geld abfinden;
bis ins Innerste getroffen, ohne ratende, helfende Menschenseele (meiner
„Prinzipalin“ entdeckte ich mich aus Scham nicht), warf ich ihm den
Ring hin, verließ die Stellung und machte mich selbständig. Ich will
nur kurz streifen, wie ich um meine Existenz gekämpft, gelitten —
wie ich von schuftigen Männern belogen und betrogen wurde. Als
ich nach Berlin kam, hörte und las ich von gleichgeschlechtlicher
Liebe, ich suchte nach einem weiblichen Wesen, dem ich mich in
Liebe anschließen könnte, ich fand aber nicht das, was ich erträumte,
nämlich, seelische Liebe, aus der die Sinnenliebe entspringt; wohl
lernte ich homosexuelle Frauen kennen, doch sie brachten mir eine
so elementare Leidenschaft entgegen — brutal sinnlich —, da.ß ich
trotz meiner Sehnsucht nach „gleichgeschlechtlicher“ Liebe der Wirk-
lichkeit empfindungslos gegenüber stand. Allein, beim Küssen mir
sympathischer Frauenlippen habe ich wohl eine angenehme Empfindung
— aber jener süße Zustand, den ich durch meine Berührungen her vor-
gerufen, blieb bei mir aus. Ich fing an, darüber nachzudenken,
warum wohl hat die Natur dir diese Empfindungen versagt — da ich
584
doch ein normal entwickeltes Weib war? — Jahrelang lebte ich
„asketisch“, da ich mich als ein „psychologisches“ Problem betrachtete,
vermied ich jeden Verkehr — nur Verlangen nach Zärtlichkeiten hatte
ich — ich verliebte mich oft in hübsche Frauen, dabei den Wunsch
hegend, sie zu küssen und zu berühren, auch hatte ich „Weiber“
von jener Sorte kennen gelernt, die sich für Geld dem „Weibe“
prostituieren; sie waren mir entsetzlich und nie konnte ich mich
mit solchen befreunden, weil sie nur gemeine, brutale Sinnlichkeit
kennen, der ich empfindungslos gegenüberstehe.
Vor einigen Jahren machte ich eine schwere Unterleibs- und
Nervenkrankheit durch — ich habe die 40 bereits überschritten. Nach
zweijährigem Kranksein fühle ich nun noch das Verlangen nach
gleichgeschlechtlicher Liebe — glücklos ha.be ich bisher gelebt, ich
frage mich fortwährend, warum hat die Natur so grausam an dir gehan-
delt ? Ist es nicht möglich, nur einmal jene Empfindungen zu genießen ?
Vor einigen Wochen lernte ich eine Frau kennen, eine verheiratete
Frau, der Mann schon seit Jahren impotent, während sie dagegen
ein sehr leidenschaftliches Geschöpf ist. Leider steht diese Frau,
obgleich sie mir sonst sehr sympathisch ist, auf einer ziemlich niedrigen
Bildungsstufe, und was mich noch mehr abschreckt — sie hat ein Ver-
hältnis mit einer Freundin, welche ganz ungebildet ist, die aber in
sinnlicher Liebe ihr gleichkommt und. Nacht für Nacht sie neben
ihrem Manne bei sich hat und beide schwelgen in perverser Wollust,
wobei die Freundin das „Männchen“ ist. Mir ist zwar schon manches
auf meinen Lebe ns pfaden begegnet, aber eine solche Ehe doch noch
nicht; der Mann nennt sich Kunstmaler, läßt der Frau freies Spiel
in bisexueller Liebe — ich glaube, dieser Mann hat zugleich einen
Sinnenkitzel beim Anblick der beiden Freundinnen — und zeichnet
auch „Akte“, mit denen er wohl Geschäfte macht — ich habe dort
in jenem Hause in einen tiefen Abgrund gesehen, es kommen dort
noch andere bisexuelle „Weibchen“ hin. Obgleich ich durch diese
Frau in meiner Ruhe aufgeschreckt, gewissermaßen in einen Rausch
versetzt bin, stoßen die Verhältnisse mich sehr ab — da dieses Weib
so tief im Sumpfe steht, daß sie es selbst kaum weiß, nur durch
mich erst merkt sie das, aber ein längerer Verkehr kann nicht statt-
finden, da sie all die Eigenschaften, die ich bei einem Weibe, das
ich liebe, suche, vermissen läßt. Im Grunde genommen, beneide ich
dieses Geschöpf — denn sie ist glücklich —, da sie jene süßen Emp-
findungen im vollen Maße genießt — die die Natur mir versagt. Gibt
es noch mehr solche Glücklosen? Vielleicht wäre die Bekanntschaft
eines solchen „Weibes“ mit denselben Empfindungen, die eigentlich
keine sind, ein Glück l Wenn das Schicksal doch wenigstens so viel
Erbarmen hätte, mir eine Leidensgefährtin in den Weg zu führen j
ich hoffe, aber glaube es nicht.
Zu welchem Geschlecht gehöre ich eigentlich?
In der Lebensgeschickte dieser echten Urninde tritt das ideale
Moment besonders hervor, ebenso die instinktive Abneigung
gegen den Mann, die merkwürdigerweise oft bei stark weib-
lichen Erscheinungen mehr ausgeprägt ist als bei den mehr männ-
lichen Tribaden, als deren Prototyp die Malerin Rosa Bonheur
gelten kann. Diese letzteren fühlen sich schon in der Kindheit
als Knaben und ziehen die Gesellschaft von Knaben dem Um-
gänge mit Mädchen vor,57) und behalten zeitlebens trotz ihrer
gleichgeschlechtlichen Liebe starke Sympathien für Männer. Doch
kommt ein solches Doppelverhältnis auch bei den Uminden der
ersten Gattung vor. Selbst die echte Uminde, möchte ich sagen,
ist nicht so extrem homosexuell, wie der echte Urning. Man
höre das folgende Bekenntnis58) einer originären Homosexuellen
und urteile:
„Ich bin. keiner Lebenswerte verlustig gegangen. Im Gregenteil.
Eine vielseitige, schattierungsreiche, geistige Sympathie bringt der
hochstehende Mann mir entgegen. Ich lehrte unbewußt viele, daß eine
Seele lieben, tiefen Zauber einschließt. Meine Freunde haben mich
nötig. Ich teile ihre Interessen, eine schöne, freiere Form waltet im
Verhältnis von mir zu ihnen, ja die wundersame Nuance sympathischer
Glefühle, die der Franzose so ausgezeichnet ,,1’amitie amoureuse“ be-
zeichnet, löst meine Wesensart sichtlich oft im Manne aus, eine
besondere Melodie schwingt zwischen ihm und mir. Und eine besondere
Melodie erklingt in der Stille meiner Seele: Alle feinen, zarten
Sensationen, die die Freundin mir gegeben, verdichten sich mir zur
Schaffenskraft — die Ekstasen meiner Brust nehmen Form und
Gestalt an; aus der Vergeistigung der Triebe strömt mir ein silbern
klarer Quell, sprudeln mir Leidenschaft und Glut, meine Ausnahme-
seele hebt mich aufwärts, über Leiden und Qualen hinweg, so ist
ein Talent gezeugt und in Wonneschauem geboren.“
Das Bedürfnis nach einem geistigen Kontakte mit Männern
ist bei den homosexuellen Frauen entschieden stärker als Um-
gekehrt die entsprechende Neigung der Urninge nach geistiger
Berührung mit weiblichem Wesen. Deshalb ist es kein Zufall,
daß in der „Frauenbewegung“, d. h. in jener auf die An-
eignung aller Errungenschaften männlicher Geisteskultur gerich-
teten Bewegung, die homosexuellen Frauen eine bedeutsame Rolle * S.
57) Vgl. „Die Wahrheit über mich. Selbstbiographie einer Konträr-
sexuellen“ in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1901, Bd. III,
S. 292—307.
«) M. F., Wie ich es sehe. Ebendaselbst, S 308—312.
586
gespielt haben.59) Ja, nach einem Autor60) ist die „Frauenfrage“
wesentlich die Frage nach dem Schicksal der virilen homosexuellen
Frauen. Ob der wütende Männerhaß, das Gegenstück zum Anti-
feminismus der Gruppe der „Eigenen“, wirklich besonders von
der urnischen Gruppe der Frauenbewegung ausgeht, wie
Hamme r61) behauptet, möchte ich bezweifeln, da keinerlei
literarische Belege von Bedeutung dafür vorliegen. Auch haben
mir homosexuelle Frauen von geistiger Bedeutung versichert,
daß bei ihnen auch nicht entfernt eine solche prinzipielle Männer-
feindschaft bestehe, wie mutatis mutandis die Misogynie von
hetero- bezw. homosexueller Seite als System ausgebildet worden
sei. Für die Verbreitung der Pseudo-Homosexualität hat die
Frauenbewegung eine sehr große Bedeutung, wie wir noch sehen
werden.
Die individuellen und sozialen Verhältnisse des weiblichen
Umingtums sind ungefähr die gleichen wie die des männlichen.
Auch hier gibt es eine ganze Skala vom reinen Platonismus bis
zu glühendster Sinnlichkeit. Eine Art von platonischen Tribaden
sind die von Catulle Mendès in einer gleichnamigen Skizze
geschilderten „Protectrices“. Das sind vornehme Damen, welche
sich den Luxus einer „Protégée“ gestatten, eines meist an einem
Theater beschäftigten Mädchens, mit dem sie während der Vor-
stellung Blicke wechseln, für das sie Rechnungen zahlen, mit
dem sie spazieren fahren, ohne daß es zu eigentlichen sexuellen
Akten kommt. In anderen Fällen ist sinnliche Befriedigung das
erstrebte Ziel, das durch Küsse, Umarmungen, Friktion der
Genitalien, Cunnilingus (den sogenannten „Sapphismus“) er-
reicht wird, wobei der eine Teil, der „Vater“, aktiv, der andere,
die „Mutter“, passiv ist. Es gibt leidenschaftlich innige Ver-
hältnisse von langer Dauer, wahre „Ehen“ unter Tribaden.
So berichtet d’Estoc (Paris-Eros, S. 58) von 30 jähriger
Dauer eines solchen Verhältnisses. Doch neigen weibliche
Homosexuelle noch häufiger zur Abwechslung als männ-
liche. Eine ältere Tribade, deren Korrespondenz mir vorliegt,
59) Vgl. Anna Rüling, Welches Interesse hat die Frauen-
bewegung an der Lösung des homosexuellen Problems? Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen, Bd. VII, S. 131—151.
60) A r d u i n , Die Frauenfrage und die sexuellen Zwischenstufen.
Ebendaselbst, 1900, Bd. II, S. 211—223.
61) W. Hammer, Die Tribadie Berlins. Berlin 1906. S. 97.
587
hatte innerhalb von vier Jahren drei Liebesverhältnisse. Eifer-
sucht spielt in diesen eine noch größere Rolle als in heterosexuellen
Liaisons. Zwei sympathische Uminden, die Zusammenleben,
schilderten mir sehr anschaulich diese Freuden und Leiden des
amor lesbicus. Ursache der Zwistigkeiten ist immer eine tertia,
nie ein tertius gaudens.
Wie die Urninge haben auch die Tribaden ihre geselligen
Zusammenkünfte, jour fixes — einem solchen, bei dem vier
weibliche echte Homosexuelle und ein männlicher Homosexueller
zusammenkamen, wohnte ich bei — ihre Stammlokale und sogar
ihre Bälle, wo die virilen Tribaden in Herrenkostümen er-
scheinen62) und (wie übrigens auch zu Hause) männliche Spitz-
namen führen. Auch weibliche Prostituierte gibt es, die nur den
Urninden zu Gebote stehen. Diese tribadische Prostitution ist
besonders umfangreich in Paris. Man nennt sie „gouines“ oder
„gougnottes“ oder „chevalières du Clair de Lune.“. Theater-
agenturen sollen sich besonders mit tribadischer Kuppelei befassen«
Auch Tribadenbordelle gibt es in Paris.63)
Anhang.
Theorie der Homosexualität.
Die originäre, angeborene, dauernde Homosexualität ist wohl
dem Menschen ausschließlich eigentümlich. Ob es solche Natur-
anlagen bei Tieren gibt, ist sehr unsicher. Man kennt bei ihnen
homosexuelle Akte, aber keine Homosexualität.64) Wir haben also
keinen phylogenetischen Anknüpfungspunkt für die Erklärung
der Homosexualität. Auch' von den übrigen sexuellen Perversionen,
dem Sadismus und Masochismus, ist die Homosexualität grund-
sätzlich verschieden. Diese stellen durchgängig extreme
Formen biologischer Erscheinungen dar, abnorme Steigerungen
physiologischer Triebäußerungen innerhalb des normalen hetero-
sexuellen Lebens, innerhalb der Sexualität überhaupt. Die
62) Ygl. die Schilderung eines Urnindenballes bei M. Hirsch -
feld, Berlins drittes Geschlecht, S. 56—57.
63) Vgl. Martial d’Estoc, Paris Eros, S. 59ff.
64) Vgl. F. Karsch, Päderastie und Tribadie bei den Tieren
auf Grund der Literatur. In: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen,
1900, Bd. II, S. 126—160. — P. Näcke, Die Päderastie bei Tieren.
In: Archiv für Kriminalanthropologie 1904, Bd. XIV, S. 361—362.
588
Homosexualität ist aber Aenderung der Triebrichtung
selbst, des Wesens der Sexualität, kurz gesagt, das Auf-
treten einer dem Körperbau heterogenen, nicht ent-
sprechenden Sexualität. Homosexualität als Auftreten
-einer „weiblichen Sexualpsyche“ in einem männlichen Körper
bezw. einer männlichen Sexualpsyche in einem weiblichen Körper
zu bezeichnen, trifft nicht für alle Fälle zu, z. B. nicht für die
virilen Urninge oder die weiblich gebliebenen Tribaden. Die
Definition der Homosexualität als einer nicht dem Körperbau
entsprechenden Sexualität umfaßt beide Möglichkeiten.
Ueberall, wo die Homosexualität sich bei Männern mit
stärkerer Ausbildung sekundärer weiblicher Geschlechtsmerkmale
oder bei Frauen mit stark männlichen Charakteren findet, läßt
sich die gleichgeschlechtliche Empfindung einigermaßen somatisch
begründen. Aber nicht vollständig. Denn die von Hirschfeld
auf gestellte ,,Z wischenstufen theorie“, die Mischung weiblicher und
männlicher Charaktere läßt sich wohl für die „Bisexualität“, für
unbestimmte geschlechtliche Empfindung überhaupt verwerten,
nicht aber für die durchaus einseitige, eindeutige, oft sehr früh
schon vor der Pubertät auftretende, nur auf das gleiche Ge-
schlecht gerichtete Empfindung. Außerdem läßt sich bisweilen
auch bei heterosexuellen männlichen Individuen der äußerliche
Ausdruck einer solchen starken Mischung bezw. eines stärkeren
weiblichen Einschlags nachweisen.
Die Zwischenstufentheorie Hirschfelds, die übrigens
auch v. Krafft-Ebing in seiner letzten Arbeit (Neue Studien
auf dem Gebiete der Homosexualität, a. a. 0. S. 4) anerkannt
zu haben scheint, und die aus den graduellen Uebergängen zwischen
den Geschlechtern („Geschlechtsübergänge“ Hirschfelds) die
homosexuellen Phänomene erklärt, übrigens fälschlich die typisch
hermaphroditischen Zustände mitheranzieht, diese interessante
Theorie erklärt nur einen Teil der originären Homosexualität.
Aber sie versagt da, wo Homosexualität bei Fehlen
jeder Abweichung vom Typus auftritt, also z. B.
in jenen Fällen, wo männliche Individuen mit durchaus normalem
männlichen Körperbau bereits von Kindheit an, lange vor der
Pubertät streng homosexuell empfanden. Diese Fälle aber sind
■es gerade, die einer naturwissenschaftlichen Erklärung die größten
Schwierigkeiten darbieten. Hic Bhodus, hie saita!
Ulrichs’ „weibliche Seele in einem männlichen Körper“
gilt für die effiminierten Urninge, wie er selbst einer war.
Ist aber das Empfinden der virilen Homosexuellen „weiblich“?
Weshalb spricht man von einem „dritten“ Geschlecht? Hier liegen
Schwierigkeiten, über die man nicht ohne weiteres hinwegkommt.
Wie kommt es, daß die zentralen Organe bei den Homo-
sexuellen nicht den peripheren Geschlechtsorganen entsprechen,
obgleich doch letztere embryologisch lange vor den ersteren aus-
gebildet werden, also die Zentralorgane sich eigentlich nach den
peripheren Teilen richten müßten? Sie tun es aber nicht. Das
läßt sich nur so erklären, daß die Verbindung der Zentralorgane
mit den peripheren Organen durch ein drittes Moment unter-
brochen, gestört wird, und daß dieses letztere eine eigen-
tümliche Wirkung auf die Zentralorgane unabhängig
von den Keimdrüsen ausübt.
Ich will diese neue Theorie der Homosexualität folgender-
maßen formulieren:
1. Das sogenannte „undifferenzierte“ Stadium des Geschlechts-
triebes (Max D e s s o i r) kann oft ausbleiben, dann, wenn der
Geschlechtstrieb schon vor der Pubertät bei Heterosexuellen
oder Homosexuellen eindeutig auf ein bestimmtes Geschlecht sich
richtet. Gerade bei der Homosexualität zeigt sich oft schon vor
der Pubertät die klare und eindeutige, bestimmte Richtung des
Triebes auf das gleiche Geschlecht.
2. Eine kritische Theorie der Homosexualität muß auch die
extremen Fälle erklären, vor allem also die männliche Homo-
sexualität bei völliger Virilität.
3. Die Geschlechtsteile und Keimdrüsen können nicht das
Bestimmende sein, da bei typisch normalen männlichen Genitalien
und Testikeln Homosexualität auftritt; auch das Gehirn an sich
kann bei der echten Homosexualität nicht das1 Bestimmende sein,
da trotz stärkster absichtlicher und unabsichtlicher heterosexueller
Einflüsse auf Denken und Phantasie doch die Homosexualität
nicht auszurotten ist und sich weiter entwickelt.
4. Da diese Homosexualität als Neigung (nicht als Geschlechts-
trieb) oft schon lange vor der Pubertät und vor der eigent-
lichen Tätigkeit der Keimdrüsen auftritt, so liegt die Vermutung
nahe, daß irgend welche zwar mit der „Sexualität“, aber nicht
direkt mit den Keimdrüsen in Zusammenhang stehende physio-
logische Erscheinung bei Homosexuellen eine Veränderung
erfährt, die eine Äenderung der Triebrichtung zur Folge hat.
.590
5. Es läge am nächsten, hier an chemische Einflüsse zu
denken, an Aenderungen im Chemismus der Sexualspannung, die
sicher eine große Unabhängigkeit von den Keimdrüsen be-
sitzt, da sie bei Kastraten und Eunuchen erhalten bleiben kann.
Das Wesen dieses Sexualchemismus ist noch völlig dunkel.
N ach den Ausführungen Starlings und L. K r e h 1 s65) (auf
der vorjährigen Naturforscher Versammlung in Stuttgart) über
die Störungen der chemischen Korrelationen im Organismus,
namentlich der Störungen der von den Sexualorganen ausgehenden
chemischen Wirkungen, ist eine solche Vorstellungsweise durch-
aus annehmbar und naturwissenschaftlich haltbar. Alle näheren
Details über diese „Sexualhormone“ (nach dem Ausdrucke Star-
lings) sind noch unbekannt, aber früher schon erwähnte
Experimente haben ihre Existenz ergeben. Meines Erachtens
kann der anatomische Widerspruch, die naturwissenschaftliche
Ungeheuerlichkeit einer weiblichen bezw. unmännlich gearteten
Psyche in einem typisch männlichen Körper oder einer weiblich
unmännlichen Sexualpsyche bei normal gebauten und normal
funktionierenden männlichen Genitalien nur auf diese Weise ge-
löst werden, wenn man diesen interkurrenten dritten Faktor
zu Hilfe nimmt. Diesen kann man aber sehr wohl aus irgend
welchen bereits embryonalen Störungen des Sexual-
chemismus ableiten. Das würde auch erklären, weshalb die
Homosexualität so oft in völlig gesunden Familien auftritt, als
eine vereinzelte Erscheinung, die nichts mit der Vererbung oder
gar Degeneration zu tun hat. Wenn v. Römer im Gegenteil die
Homosexualität als eine „Regenerations“-Erscheinung bezeichnet,
so liegen auch hierfür keine genügend sicheren Anhaltspunkte
vor. Hier beginnt das Rätsel der Homosexualität. Wenigstens
für mich ist es ein solches. Meine Theorie soll nur die Tatsache
und den wahrscheinlichen physiologischen Zusammenhang der
Homosexualität besser und vor allem naturwissenschaftlich
richtiger erklären als die früheren Theorien. Ueber die letzte
65) L. Krehl, Ueber die Störung chemischer Korrelationen im
Organismus, Leipzig 1907. Es heißt dort u. a. auf S. 3: „Wenn man
auch annehmen muß, daß viele Arten von Zellen schon in der An-
lage gleichsam den Stempel ihrer männlichen oder weiblichen Natur
erhalten, so gewinnt diese ihre wirkliche Ausbildung
doch zweifellos wesentlich unter dem andauernden
chemischen Einfluß der Ovarien und Testike 1.“
591
Ursache des relativ häufigen Vorkommens der Homosexualität
als einer originären Erscheinung vermag auch sie nichts aus-
zusagen.
Ich vermesse mich nicht, in die letzten Gründe alles Seins
und Geschehens eindringen zu können. Es bleibt hier ein Rätsel
zu lösen. Aber vom Standpunkte der Kultur und der Fort-
pflanzung ist die Homosexualität eine sinn- und zwecklose dyste-
leologische Erscheinung, wie manches andere „Naturprodukt“,
z. B. der menschliche Blinddarm. Ich habe bereits in einem
früheren Kapitel ausgeführt, daß die Kultur eine immer
schärfere sexuelle Differenzierung herbeigeführt hat, daß
die Antithese „Mann“ und „Weib“ eine immer deutlichere
geworden ist. Die Scheidung der Geschlechter ist mehr eine
Kultur- als eine Naturtatsache. Alle sexuelle Indifferenz, alle
geschlechtlichen „Uebergänge“ sind primitiven Charakters, mit
Recht läßt Eduard von Mayer die Homosexualität in der
Urzeit des Menschengeschlechtes viel weiter verbreitet sein als
heute, ja als der heterosexuellen Liebe ebenbürtig auf treten.
Die Kultur hat mittelst der Vererbung, Anpassung und Differen-
zierung die gleichgeschlechtlichen Triebe immer mehr einge-
schränkt. Gewiß hat der homosexuelle Mensch als Mensch
dieselbe Daseinsberechtigung wie der heterosexuelle. Es wäre
Frevel, daran zu zweifeln. Auch als Geschlechtswesen, soweit
nur die individuelle Seite der Liebe in Betracht kommt, hat
er einen gewissen Sinn. Aber sowohl für die Gattung als auch
für den Kulturfortschritt hat die Homosexualität gar keine oder
nur eine sehr geringe Bedeutung. Daß sie als eine Art dauernder
„Monosexualität“ den Gattungszwecken widerspricht, ist klar.
Ebenso sicher ist es, daß die gesamte Kultur das Produkt der
körperlich-geistigen Differenzierung der Geschlechter ist, gewisser-
maßen heterosexuellen Charakter hat. Die größten geistigen
Werte verdanken wir Hetero- nicht Homosexuellen. Uebrigens
verbürgt erst die Fortpflanzung die Erhaltung
und Dauer neuer geistiger Werte. Im letzten Grunde
sind die letzteren nicht ohne die erstere möglich. So banal und
selbstverständlich es auch klingen mag, es muß doch immer wieder
ausgesprochen werden, daß es geistige Werte nur gibt im Hinblick
auf die Zukunft, daß sie nur im Zusammenhänge und
der Aufeinanderfolge der Generationen ihre wahre
Bedeutung erhalten, daher ewig von der heterosexuellen Liebe
592
als der Vermittlerin dieser Kontinuität abhängig sein werden..
Die mono- und homosexuellen, dauernd auf das eigene Ich oder
das eigene Geschlecht beschränkten Instinkte sind also ihrem
tiefsten Wesen nach dysteleologisch und antievolutio-
nist isch. Dabei bleibt die Möglichkeit ganz außer Betracht,
daß ihnen temporär für die individuelle Entwicklung des ein-
zelnen eine relative Berechtigung zukommt.66)
Uebrigens haben die meisten Homosexuellen ein tiefes Gefühl
dieser Sinn- und Zwecklosigkeit ihrer Empfindungsweise, dem sie.
oft einen traurigen und herzergreifenden Ausdruck geben. Gerade
bei edlen, geistig bedeutenden Homosexuellen, wirklichen Kultur-
trägern, tritt dieses Gefühl der Inkongruenz von Homosexualität
und Leben am meisten hervor. Selbst der geistvolle N u m a
Praetorius erkennt an, (Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen
VI, 543), daß die ,,in dem heterosexuellen Triebe der Mehrzahl
der Männer begründete Liebe zum entgegengesetzten Geschlecht
eine derartige Entwicklung, Verfeinerung und Bedeutung erlangt.
hat, daß die homosexuelle Liebe ihr gegenüber nur eine unter-
geordnete Bolle spielen wird.“
66) Letzteres hat besonders Max Katte in seiner Abhandlung
„Der Daseinszweck der Homosexuellen“ ausgeführt (Jahrbuch für
sexuelle Zwischenstufen, Bd. IV, S. 272—288), aber jene evolutionisti-
schen Gesichtspunkte völlig ignoriert. — Ebenso Hans freimark
(Der Sinn des Uranismus, Leipzig 1906, S. 14), der die Homosexualität
als Uebergang zu einem Zustande betrachtet, da „die Menschen nicht
mehr des grobmateriellen Kontaktes zur Zeugung bedürfen.
693
ZWANZIGSTES KAPITEL.
Die Pseudo-Homosexualität (griechische und orientalische
Päderastie, Hermaphroditismus, bisexuelle Varietäten).
Nous sommes les enfants des anciennes Sodomes;
Puisque l’on nous voit beaux, laissons-nous nous aimer
Notre sort est le plus désirable: charmer,
Nous sommes adorés des femmes et des hommes 1
Eachilde.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
38
564
Inhalt des zwanzigsten Kapitels.
Zusammenhang der Pseudo - Homosexualität mit der Bisexualität.
— Hohes Alter der Idee der Bisexualität. — Magnus Hirsch-
felds Abhandlung über Bisexualität. — Die Bisexualität der
Pubertätszeit. — Pseudohomosexuelle Neigungen in dieser Periode. —
Beispiele (Gutzkow, Grillparzer). — Als Massenerscheinung.
— Analogie mit der Pseudo-Heterosexualität jugendlicher Homosexu-
ellen. — Persistenz der Bisexualität. — Die ,,Junoren“. — Wahn der
Geschlechtsverwandlung. — Züchtung von Päderasten. — Weibmänner
und Mannweiber. — Brouardels Typus effiminierter Pariser Gassen-
jungen. — Homosexualität im Trancezustand. — Pseudo-Homosexualität
aus Mangel heterosexuellen Verkehrs. — Analmasturbanten. — Die
Pseudo-Homosexualität der Prostituierten. — Temporäre Pseudo-Tribadie
in Paris. — Der Pseudouranismus als Volkssitte. — Erklärung der
griechischen Knabenliebe. — Ihr fundamentaler Unterschied von der
heutigen echten Homosexualität. — Wert der edlen, asexuellen Männer-
freundschaft. — Ein Brief Gutzkows. — Der platonische Eros und
die griechisch-orientalische Päderastie. — Die Bisexualität in der deut-
schen Romantik. — Erklärung derselben. — Der Hermaphroditismus.
— Bisherige Unterschätzung der Bedeutung des Zwittertums. — Neuere
Forschungen. — Der wahre Plermaphroditismus. — Der Pseudoherma-
phroditismus. — Männliche und weibliche Scheinzwitter.
■
595
Der Streit, ob die Homosexualität eine angeborene oder er-
worbene Erscheinung sei, konnte nur deshalb bisher nicht ge-
schlichtet werden, weil man nicht streng genug das große Gebiet
derjenigen gleichgeschlechtlichen Aeußerungen von ihr getrennt
hat, für die ich jetzt den Namen „Pseudo-Homosexuali-
tät“ vorschlage, um damit ihre Wesensverschiedenheit von der
echten Homosexualität zum richtigen Ausdrucke zu bringen. Diese
ist angeboren, originär, dauernder Wesensausfluß der
Persönlichkeit, die Pseudo-Homosexualität dagegen eine entweder
äußerlich suggerierte, vorübergehende, nicht mit dem Wesen
der Persönlichkeit verknüpfte gleichgeschlechtliche Empfindung
oder gar nur eine scheinbare durch Herniaphroditismus oder
andere körperliche und psychische Abnormitäten vorgetäuschte
Homosexualität.
Die Pseudo-Homosexualität der ersteren Kategorie ist nur
erklärbar durch die erst in den letzten Jahren wissenschaftlich
gewürdigte Tatsache der „Bisexualität“, d. h. der Möglichkeit
doppelgeschlechtlichen Empfindens ein und derselben Person, was
sich wieder durch die bisexuelle Keimanlage jedes Individuums
erklärt. Es bleibt in jedem Manne ein Rest vom Weibe, in jedem
Weibe ein Rest vom Manne zurück, gewissermaßen im Zustande
latenter Energie, die aber durch irgend welche äußeren Umstände
in kinetische Energie umgewandelt werden kann, immer aber
neben der eigentlichen spezifischen Geschlechtsnatur eine geringe
Rolle spielt. Diese Bisexualität ist bereits oben (S. 43—45 und
74—75) gewürdigt und als eine in jeder Beziehung sekundäre
Erscheinung charakterisiert worden, der keine größere Bedeutung
zukommt. Die Idee der Bisexualität ist nicht neu, weder Fließ
noch Weininger sind ihre Entdecker. Sie war schon den Alten
bekannt,1) fast mit den gleichen Worten wie Weininger gibt
U Ygl. L. S. A. M. v. Römer, Ueber die androgynisebe Idee
des Lebens. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 1903, Bd. Y, S. 707
bis 910.
88*
598
Beton Heinse im „Ardinghello“ ihr Ausdruck (s. oben S. 44).
Neuerdings hat Magnus Hirschfeld2) die historisch-litera-
rischen Details über Bisexualität zusammengestellt.
Die Bisexualität macht sich besonders in der Pubertätszeit
geltend, in der Zeit des unklaren Sehnens und Drängens, der
sogenannten Indifferenzperiode, die dem vollständigen Erwachen
des Geschlechtstriebes vorausgeht. Der psychischen Bisexualität
entspricht da oft genug die körperliche, eine leicht mädchenhafte
Nuance beim Knaben, eine leicht knabenhafte beim Mädchen, der
Typus des träumerischen Jünglings und des wilden Backfisches.
Da entstehen dann leicht zärtliche Neigungen zwischen gleichen
Geschlechtern, namentlich gehen sie aus dem ständigen Beieinander-
sein hervor, wo der dunkle Drang vorübergehend homosexuelle
Empfindungen unter gleichaltrigen Knaben oder Mädchen auslöst,
oder aus der anbetenden Verehrung älterer Personen gleichen
Geschlechts. Schon Gutzkow hat diese beiden Formen der
Pseudo-Homosexualität unterschieden, deren einer er selbst unter-
legen war. In den „Säkularbildern“ (Frankfurt 1846, Bd. I, S. 50
bis 51) bemerkt er: „Das Gefühl der Liebe entspringt bei den
meisten weiblichen Naturen nicht aus dem stillen Nachdenken
über die Geheimnisse derselben, sondern aus einer magnetischen
Gewöhnung an andere Individuen, die sie für besser und schöner
als sich selbst halten. Gewöhnlich geht der Liebe zum Manne
eine oft grenzenlose Liebe zum Weibe voraus. Junge Mädchen
verlieben sich in ältere, eine Erscheinung, die sich freilich auch
bei den Knaben findet: wie ich mir denn bewußt bin, einst als
Knabe zu einem meiner Kameraden, der mir jetzt ganz fatal
ist, die heißeste Leidenschaft getragen zu haben.“ Aehnlich er-
klärt sich die vorübergehende zärtliche Liebe Grillparzers
zu Altmüller (vgl. Grillparzers Tagebücher, ed. G1 ossy
und Sauer, Stuttgart o. J., S. 24—26). In Pensionaten, Kasernen,
Kadettenanstalten findet man oft diese pseudohomosexuellen
Liaisons. Das Gefängnis ist nach Parent-Duchatelet die
hohe Schule der Tribadie. Er und andere französische Autoren
2) M. Hirschfeld, Zur Theorie und Geschichte der Bisexualität
in: Vom Wesen der Liebe, Leipzig 1905, S. 93—133. — Vgl. auch
P. N ä c k e , Einige psychiatrische Erfahrungen als Stütze für die Lehre
von der bisexuellen Anlage des Menschen. In: Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen 1906, Bd. VIII, S. 583—603.
597
berichten von der epidemischen Verbreitung homosexueller Prak-
tiken in Weibergefängnissen. Ueberall, wo Homosexualität
plötzlich als eine Massenerscheinung auftritt, handelt
es sich nicht um echten, originären Uranismus, sondern um
Pseudo-Homosexualität. Das für diese sehr zugängliche lüsterne
Milieu der Pensionswelt hat Hans v. Kahlenberg in „Nix-
chen“ (Wien 1904, S. 41) anschaulich geschildert.
Die jugendliche Bisexualität findet sich in leichten Anklängen
fast in jedem Menschen, ist aber ein typisches Pubertätsphänomen
und verschwindet mit dieser, um der voll ausgebildeten Hetero-
sexualität Platz zu machen. Uebrigens kommt bei Homosexuellen,
wo die gleichgeschlechtliche Empfindung erst nach der Pubertät
in bestimmter Weise sich geltend macht, auch eine ganz analoge
Neigung zum anderen Geschlecht vor und während der Pubertät
vor. So erzählte mir ein 23 jähriger typischer Homosexueller,
der jetzt horror feminae hat, daß er mit 16 oder 17 Jahren
für Mädchen stark geschwärmt habe und ihnen nachgelaufen sei,
übrigens ohne geschlechtliche Begierden. Diese vorübergehende
unklare Schwärmerei Homosexueller für das andere Geschlecht
ist eine Art von „Pseudo-Heterosexualität“.
Bisweilen dauert die Bisexualität über die Pubertätszeit
hinaus oder persistiert in seltenen Fällen durch das ganze Leben,
nach Hirschfeld besonders bei „genialisch und priesterlich-
pädagogisch veranlagten Männern“. Meist hat jedoch auch dann
eine Triebrichtung, die heterosexuelle oder die homosexuelle,
das Uebergewicht. Man nennt diese Individuen „psychische
Hermaphroditen“ (K r a f f t - E b i n g). Diese bisexuellen Varie-
täten können sich auf sehr verschiedene Weise äußern, meist
ist diese Gynandrie oder Androgynie rein seelisch, kommt nur
durch Verknüpfung mit bestimmten Neigungen, besonders
fetischistischen, zum Ausdruck. Die beiden folgenden, sehr
merkwürdigen Fälle werfen auf diese eigentümliche Form der
Bisexualität ein helles Licht. Man könnte für die in diesen Fällen
geschilderte ziemlich spezifische Art der Bisexualität den vor-
geschlagenen Namen „Junoren“ akzeptieren:
1. Fall eines psychischen Hermaphroditen:
N. N., ein amerikanischer Journalist, 33 Jahre alt, schreibt: Von
frühester Jugend her hatte ich einen Drang, in weiblicher Kleidung
zu erscheinen, und wenn immer sich eine Gelegenheit bot, schaffte ich
mir elegante Wäschestücke, seidene Unterröcke und was immer in der
598
Mode war, an. Schon als Knabe entwendete ich meiner Schwester Klei-
dungsstücke und trug sie heimlich, bis ich später, als meine Mutter
starb, in die Lage kam, meinen Wünschen vollen Lauf zu lassen und so
kam ich bald in den Besitz einer Garderobe, die der der elegantesten
Modedame gleichkam. Obwohl tagsüber gezwungen, als Mann zu er-
scheinen, trage ich doch unter dieser Kleidung vollständige Damen-
unterwäsche, Korsett, durchbrochene Strümpfe und was sonst noch
einer Frau zukommt. Selbst ein Armband und Frauenlackstiefeletten
mit zierlichen hohen Hacken. Wenn es Abend wird, atme ich er-
leichtert auf, denn dann fällt die lästige Maske und ich fühle mich
ganz Weib. Eingehüllt in ein Tea Gown (Hauskleid) von eleganter
Ausstattung und lauschenden Seidenunterröcken bin ich befähigt, erst
recht meinen Liebhabereien, darunter der Erforschung der Prähistorie,
einem ernsten Studium oder mit Routine Geschäften nachzugehen.
Ein Gefühl der Ruhe umfängt mich, das mir bei Tage in männlicher
Kleidung unmöglich ist. Obwohl völlig ein Weib, empfinde ich doch
nicht da^ Bedürfnis, mich einem Manne hinzugeben. Wohl schmeichelt
es mir, wenn ich in Frauenkleidung Gefallen errege, aber irgend welche
Wünsche meinem eigenen Geschlecht gegenüber hege ich nicht. Es
mag sein, daß ich mein alter ego noch nicht gefunden habe. Im
Gegenteil. Trotz meiner ausgesprochenen weibischen Gewohnheiten,
heiratete ich eine Dame und bin Vater eines kräftigen, schönen
Mädchens, welches keine den meinen im entferntesten ähnlichen
Neigungen hegt. Meine Frau, eine energische, gebildete Dame, wußte
genau von meiner Leidenschaft, glaubte aber im Laufe der Zeit mich
davon abzubringen, was aber nicht gelang, sondern ich gab mich
zwar meinen ehelichen Pflichten, noch mehr aber meinen Gewohn-
heiten hin. Einer angebotenen Scheidung wich meine Frau aus
und ist jetzt, soweit es ihr möglich ist, einverstanden und
gegenwärtig, wo ich diese Zeilen schreibe, schwanger. Mein
Habitus ist durchaus männlich, mit Ausnahme des Beckens und
der Waden, die weibische Formen aufweisen. Resümee: Aeußere
Erscheinung männlich, wenn in Frauenkleidem vollständig die ent-
sprechende Figur, Taille 20 Zoll, Brust 34 Zoll, Figur hoch 176 cm,
Gewicht 125 Pfund, Hände lang und schmal, Gefühl Weib. Wenn in-
Männerkleidung, ein gewisses Unbehagen. Wenn ich eine elegante
Frau oder Schauspielerin sehe, denke ich, wie ich wohl in deren Kleidung
aussehen würde. Ohrringe, Perlen, Kollier und ähnlichen Schmuck habe
ich in Fülle und auf Bällen schwelge ich in dem Gedanken, mich in
Frauenkleidern zeigen zu dürfen. Wenn möglich, werde ich männ-
liche Kleidung vollständig ablegen.
2. Mit zirka 15y2 Jahren fing ich an, mich für weibliche Kleidung
zu interessieren, ich wurde durch einen inneren Drang zu den Schau-
fenstern der Damenkonfektionsgeschäfte, Korsettgeschäfte hingezogen.
An den Schuhwarenschaufenstern war es die weibliche Fußbekleidung,
die meine Aufmerksamkeit mehr in Anspruch nahm, als die männliche,
so war es auch mit Stoffen, worunter mir die einfarbigen Damen-
kostümstoffe am besten gefielen, schöne blaue Stoffe (Satintuch) zogen
599
mich besonders an, auch für blauen Samt hatte ich eine besondere Vor-
liebe, mit der Zeit stellte sich in mir das Verlangen ein, solche Sachen
zu besitzen und tragen zu dürfen. Da ich aber von Haus aus nicht die
Mittel besaß, mir meine Wünsche zu erfüllen, so konnte ich das Ver-
langen, welches mitunter recht heftig wurde, nicht stillen, ich suchte
es daher mit allen mir zu Gebote stehenden religiösen und Vernunft-
gründen zu bekämpfen, jedoch nützte mir das wenig, da auch bei der
Begegnung eines nach meinem Geschmack gekleideten weiblichen Wesens
sofort dieser Hang in mir ausgelöst wurde. Traf ich ein Weib, welches
den Hang (ich werde denselben von jetzt an mit Kostümreiz bezeich-
nen) auslöste, so suchte ich, um meinen Kostümreiz wieder zu unter-
drücken, nach einem mir mißfallenden Weib. In mir kämpfte (damals
mir jedoch noch unklar) das männliche Wesen gegen das weibliche. Eines
Tages siegte das weibliche in mir, indem es mich dazu hinriß (während
meine Eltern einmal nicht zu Hause waren), einen Kostümierungsversuch
mit meiner Schwester Kleidung zu machen, doch als ich das Korsett
angelegt hatte, trat Erektion mit sofortigem Samenerguß ein, der aber
keine Zufriedenheit in mir hervorrief, ich ärgerte mich darüber, daß
das Anlegen des Korsetts Samenerguß erzeugte. In verschiedenen
Zwischenräumen machte ich immer wieder die Versuche, mich weiblich
zu kleiden, und suchte dabei alles zu vermeiden, was dazu führen
konnte, eine Erektion auszulösen. Nach und nach gelang mir das
Umkleiden, dabei trat das Verlangen nach Liebkosungen eines weib-
lichen Wesens bei mir ein, daher stellte mich das Umkleiden allein
nicht zufrieden. Ferner machte mir das Umkleiden auch deshalb
keine rechte Ereude, weil ich kein Kostüm besaß, das mir gut paßte,
trotzdem es außer der sexuellen Anregung ein Gefühl des Wohlbehagens
hervorrief. Nach dem Umkleiden beschäftigte sich stets meine Phan-
tasie damit, wie schön es wäre, wenn ich eine Geliebte hätte, vor der
ich mich ungeniert so geben könnte, wie ich war. Dabei schwebte
mir immer ein gleichalteriges Mädchen mit schönem, vollem Haar
(langen Zöpfen), sowie voller Brustform und Hüften vor, dies löste
dann meist eine Pollution aus, welche ich mitunter dadurch zu ver-
hindern suchte, daß ich die Kleidungsstücke so rasch wie möglich
auszog.
Durch einen Kollegen wurde ich zur Onanie dadurch verführt, in-
dem er mir erzählte, falls ich kein Weib hätte, das sich mir hingäbe,
so könnte ich mich ja selbst befriedigen. Die erste Zeit widerstand
ich, doch da mich der Kostümreiz plagte und ich gefunden hatte, daß
nach einer Samenentleerung ich wieder für einige Zeit Ruhe hatte,
ferner ich der Gefahr nicht ausgesetzt war, durch Umkleiden entdeckt
zu werden, so begann ich die Selbstbefleckung. Die Onanie gewährte
mir nicht die rechte Befriedigung und trat daher nach getaner Selbst-
befriedigung bei mir Unwillen darüber ein, auch eine Erschlaffung,
außerdem fehlte das Gefühl des Wohlbehagens, das durch das Um-
kleiden hervorgerufen wurde.
Ich war schüchtern und wurde dem weiblichen Geschlecht gegen-
über leicht verlegen, mied daher den weiblichen Verkehr, auch meines
600
Kostümreizes wegen. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich
von Natur aus in somatischer Hinsicht mehr weiblich ausgestartet
worden wäre, so daß ich hätte ungeniert mich unter gleicha.lterigen
Mädchen bewegen können. Tanzen lernte ich aus oben angegebenen
Gründen auch nicht. Beim Herumdrehen wurde ich leicht schwindelig,
auch litt ich zwischen 171/2 und 19 Jahren an Ohnmachtsanfällen.
Mit ca. 22 Jahren verliebte ich mich in meine jetzige Frau, welche
mich durch ihre Anmut, Wesen und Figur anzog. Meine Frau war
noch schüchterner als ich. Meine Zuneigung zog mich zu meiner
Braut hin, doch meines Kostümreizes wegen vermied ich ein allzu
häufiges Zusammensein mit ihr. Von nun an begann ich darüber nach-
zudenken, wie ich es möglich machen könnte, meine Braut in mein
wahres Wesen einzuweihen, alle Versuche, die ich machtet schlugen
fehl. Ich verließ nach ca. einem halben Jahr unserer Bekanntschaft den
Ort, an dem meine Braut ansässig war. Die Bekanntschaft zwischen
meiner Frau und mir währte sieben Jahre, ehe wir uns heirateten.
Der Grund lag hauptsächlich darin, daß wir beide unbemittelt waren,
Wrenn ich mit meiner Braut zusammen war, mußte ich immer an
meinen Kostümreiz denken. Kurz vor unserer Ehe teilte ich meiner
Frau in einem Briefe über meinen Hang einiges mit, ich hielt dies
für meine Pflicht. Meine Hoffnungen wurden in meiner Ehe zunichte.
Meine Frau konnte nicht begreifen, wie ich daran Gefallen finden
konnte, mich weiblich zu kleiden; erst war sie mir gegenüber betreffs
meines Kostümreizes gleichgültig, später hielt sie es für einen krank-
haften, an Wahnsinn grenzenden Hang. Ich mußte oft meine Phan-
tasie zu Hilfe nehmen, um Erektion zu erzeugen. Meine Ehe gestaltete
sich von Jahr zu Jahr unglücklicher, meine Frau schob mir meines
Hanges wegen alle möglichen Pervei’sitäten unter und ist der Mei-
nung, daß so veranlagte Individuen wie ich einer wahren, aufrichtigen
Liebe zu einem Weibe überhaupt nicht fähig sind. Wie ich mir weib-
liche Kleidung nach meinem Geschmack verschaffen sollte, wußte ich
nicht; in meiner Ehe war es nicht besser, eher schlechter mit meinem
Kostümreiz geworden. Ich hatte noch mehr schlaflose Nächte meines
Kostümreizes wegen, als früher, wo ich noch ledig war. Ich wurde
mit der Zeit immer mißlauniger und dadurch zeitweise grob zu meiner
Frau, was mir hinterher selbst leid tat. In den schlaflosen Nächten
grübelte ich darüber nach, wie ich es möglich machen könnte, daß meine
Frau an meinem Kostümreiz keinen Anstoß mehr nehme und mir meine
Wünsche betreffs desselben erfülle. Nach und nach gelang es mir
auch, meine Frau so weit für mich zu gewinnen, daß sie einwilligte,
mir ein Kostüm zu machen, doch sollte ich auch hiervon nicht viel
haben.
Meine Frau suchte immer nach einer Ursache, sie glaubte, daß
das Kostümieren einen Grund habe, oder etwas bei mir auslöse, was
ich ihr nicht sagen wolle. Meine Frau quälte mich damit ständig,
sie glaubte nicht an meine Offenheit und brachte mir kein Vertrauen
mehr entgegen. Meine Frau glaubte, mir müsse jeder meinen Hang
ansehen. Sie versuchte, bei anderen Frauen etwas darüber zu er»
601
fahren. Diese wußten ihr über Männer, die so veranlagt wären, wie ich,
nur Schlechtes und Gemeines zu berichten, ich sollte unbedingt ein
Urning sein, sollte mit Weibern meine Frau hintergehen, die Männer-
kleidung anlegen, nur an minderjährigen Mädchen Gefallen finden und
dergleichen mehr. Ich litt furchtbar unter diesen unwahren Anschul-
digungen.
Ich versuchte nochmals in einem von mir verfaßten Aufsatz, welchen
ich mit „Die Junoren“ betitelte, meiner Frau alles klar zu machen.
Als Junoren bezeichnete ich darin Männer, weiche äußerlich als Weib
(in Kleidung, Gebaren, Körperform) auftreten oder auftreten möchten,
sexuell dagegen männlich veranlagt sind. Alles dies nützte mir nichts.
Das Zusammenleben gestaltete sich zeitweise immer unerträglicher.
Es kam oft zu Szenen, die auf meinen seelischen Zustand niederdrückend
wirkten; nach heftigen Szenen traten bei mir nächtliche Pollutionen
ein ohne jedes Lustgefühl, auch die Erektionen blieben für längere
Zeit danach unvollständig, es trat eine Art Impotenz ein.
Nach jedem neuen Vorwurf, den mir meine Frau machte, vermied
ich es, des Abends gleich nach Hause zu gehen, ich irrte stundenlang
in abgelegenen Straßen umher, dabei überkam mich ein Gefühl der
Oede und Leere, meine sämtlichen Nerven vibrierten, ich konnte mitunter
meine Glieder nicht still halten; hätte ich keine Kinder gehabt, resp.
hätte ich dieselben versorgt gewußt, ich hätte gewußt, was ich in einer
solchen Stimmung zu tun gehabt hätte. Eins quält mich noch:
Werden meine Kinder nicht erblich belastet sein?
Beide Fälle habe ich selbst gesehen. Die Betreffenden machen
einen etwas nervösen Eindruck, sind aber sonst ganz gesund
Und männlich und bestreiten jede Neigung zu Männern. Die
Sucht, Weiberkleider anzuziehen und sich als Weib zu fühlen,
kann auch als krankhafte Erscheinung während des späteren
Lebens auftreten, als „Wahn der Geschlechtsverwandlung“ (Meta-
morphosis sexualis paranoica) oder künstlich gezüchtet
werden, wie bei den alten Scythen und bei den mexikanischen
„Mujerados“, die gerade aus den ursprünglich kräftigsten,
absolut nicht weibisch aussehenden Männern ausgewählt werden
und durch beständiges Herumreiten und exzessive Masturbation
impotent (Atrophie der Genitalien) und weibisch gemacht werden,
wobei sich sogar sekundär die Brüste entwickeln (Hammond).
Alles das gehört zur Kategorie der Pseudo-Homosexualität.
Ob die zahlreichen historischen Weibmänner und Mannweiber
wie z. B. der berühmte Chevalier d’Eon, die von Gautie£
in dem gleichnamigen Romane verewigte Mademoiselle
de Maupin und viele andere in Männerkleidern auf tretende
Weiber oder als Weiber verkleidete Männer echte Homosexuelle
602
oder Pseudo-Homosexuelle bezw. Bisexuelle waren, läßt sich oft
nicht mehr entscheiden.
Dagegen halte ich den interessanten, von Brouardel be-
schriebenen und in den Verhandlungen des zweiten kriminal-
anthropologischen Kongresses zu Paris von 1889 mitgeteilten
Typus effeminierter Pariser Gassenjungen für
typisch homosexuell und originärer Natur.
„Mit 12—16 Jahren ist der Kerl noch klein, begreift langsam
und hat keine Willenskraft ; er hat zur Zeit der Pubertät eine Ent-
wickelungshemmung erlitten und seine Körperbildung ist stationär ge-
blieben. Der Penis ist dünn und schmächtig, die Hoden sind klein, die
Schamhaare spärlich, die Haut ist glatt und der Bart sein- dünn. Das
Skelett entwickelt sich nicht voll zu einem männlichen, das Becken
weitet sich und die äußeren Formen werden rundlich (potelées), weil
in den subkutanen Geweben Fettablagerungen entstehen, welche auch
die Brüste schwellen machen.“
Dieser Zustand bleibt bestehen, Brouardel fand ihn noch
bei Individuen von 25—30 Jahren. Intellektuelle Sterilität und
Zeugungsunvermögen charakterisieren diese Großstadtkinder.
Auch im gutbürgerlichen Milieu findet man diese Typen, aus
denen sich hier nach Brouardel die „Décadents“ rekrutieren,
während die effeminierten Gamins gewerbsmäßige Päderasten
oder Verfertiger von „Pariser Artikeln“ werden.3)
Unschwer läßt sich in dieser Schilderung echte originäre
Homosexualität erkennen.
Heber eine eigentümliche Form von Pseudo-Homosexualität
bei einem im gewöhnlichen Leben asexuellen Individuum berichtet
M. H i r s c h f e 1 d.4) Es handelte sich um ein stark feminines
und neurasthenisches Mitglied eines spiritistischen Vereins, das
im normalen Zustand weder zum Weibe, noch zum Manne sich
sinnlich hingezogen fühlte, dagegen im Trancezustande sich als
Indierin fühlte und dann eine starke Liebe zu einem seiner
Vereinsbrüder empfand.
Auch bei chronischen Intoxikationen, besonders beim Alkoho-
lismus, kommt Pseudo-Homosexualität als länger dauernder Zu-
stand oder als vorübergehende Handlung vor.
Eine wichtige Kategorie der Pseudo-Homosexualität bildet
s) Vgl. C. Lombroso, Neue Fortschritte in den Verbrecher-
studien, Gera 1899, S. 109—111.
4) M. Hirschfeld, Berlins drittes Geschlecht, S. 13»
G03
diejenige, die aus Mangel an Gelegenheit zum ge-
schlechtlichen Verkehr mit dem anderen Ge-
schlecht entsteht, also bei Weibermangel auf Schiffen, in
Mönchsklöstern, Männergefängnissen, in der französischen
Fremdenlegion usw., bezw. bei Männermangel in Nonnenklöstern,
bei unverheirateten oder unglücklich verheirateten Frauen, die
ein großes Kontingent zur Pseudotribadie stellen.6)
Hier sind auch die „Wüstlingspäderasten“ zu erwähnen,
für welche wirklich existierende Gattung der Pseudo-
homosexuellen wir den Namen „Analmasturbanten“ ein-
führen. Es sind heterosexuelle Individuen, bei denen entweder
von vornherein der Anus die Rolle einer erogenen Zone spielt
oder diese erst nach Erschöpfung aller übrigen Sexualreize be-
kommt. Hammond, v. Schrenek-Notzing, Taxil haben
die Existenz dieser Analmasturbanten und das häufige Auftreten
pseudohomosexueller Neigungen bei ihnen überzeugend nach-
gewiesen.6)
Eine interessante Erscheinung ist die Pseudo-Homo-
sexualität der weiblichen Prostituierten. Gewiß
gibt es unter ihnen viele echte Tribaden, die gerade diese originäre
Anlage zur weibweibliehen Liebe besonders zu dem Gewerbe
der Prostitution, bei dem das Herz keine Rolle spielt und spielen
darf, befähigt. Die von Natur heterosexuellen Prostituierten
werden nun aus zwei Gründen homosexuell. Erstens durch den
Verkehr und den Einfluß ihrer echt lesbischen Gefährtinnen, den
das innige Solidaritätsgefühl aller Prostituierten noch besonders
verstärkt. Zweitens durch den mit der Zeit immer tiefer ein-
wurzelnden, aus den Lebenserfahrungen geschöpften Widerwillen
gegen den Verkehr mit Männern, den sie nur in seiner brutalen
Geschlechtsroheit kennen lernen. Der ständige Zwang, die tierische
Sinnlichkeit blasierter Lebemänner durch die ekelhaftesten
Prozeduren befriedigen zu müssen, flößt ihnen schließlich einen
unüberwindlichen Widerwillen gegen das männliche Geschlecht
ein, so daß sie alle zärtlicheren Gefühle, die sie hegen, dem
eigenen Geschlechte zuwenden. Die homosexuelle Verbindung er-
6) Diese Pseudoti-ibaden, vornehmlich aus der Aristokratie und der
höheren Bourgeoisie, heißen im Pariser Jargon „Sapphos“, im Gegen-
satz zu den eigentlichen echten „Lesbiennes.“
e) "Vgl. meine „Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia sexualis“,
Bd. I, S. 224—227.
604
scheint ihnen, wie Eulenburg mit Recht bemerkt (Sexuale
Neuropathie, S. 143—144), als etwas „Höheres, Reineres und
Unschuldigeres“, in einem idealeren Lichte als der Geschlechts-
verkehr mit Männern. Bordellwirtinnen begünstigen übrigens
die tribadische Liebe, weil sie dadurch sich die Zuhälter vom
Leibe halten.7)
Als Modesache, wie J. de Vaudère in seinen „Demi-sexes“
es schildert, ist die Pseudotribadie besonders in Paris verbreitet
und äußert sich hier besonders in der Form der von Martineau8)
aufgestellten temporären Homosexualität, der eine umfang-
reiche Prostitution zu Gebote steht und die durch ihr inter-
mittierendes Auftreten in Form von geistigen Epidemien deutlich
ihren Charakter als Pseudo-Homosexualität bekundet.
Ohne Zweifel handelt es sich um letztere ebenfalls in allen
jenen Fällen, wo gleichgeschlechtliche Liebe in einem den Prozent-
satz der gewöhnlichen Homosexualität bei weitem überschreitenden
Maße als Volkssitte auftritt. Das typische Beispiel hierfür
ist die alt griechische Knabenliebe oder „Päderastie“
(im guten Sinne des Wortes). Da ich hier das Sexualleben der
Gegenwart behandle, so will ich auf dieses interessante
Thema nicht genauer eingehen und verweise den Leser auf den
demnächst erscheinenden zweiten Band meines „Ursprung der
Syphilis“, wo ich dasselbe ausführlicher behandle.
Da die griechische Knabenliebe ein allgemein verbreiteter
Brauch war, dessen Ursprung direkt auf Kreta, indirekt auf den
Orient zurückgeführt wird, so ist es klar, daß nur ein Teil der
Päderasten echte Homosexuelle waren. Das Gros setzte sich aus
Pseudohomosexuellen zusammen. Es ist möglich, daß die Sitte
zuerst von originär Homosexuellen eingeführt und auch später
durch diese aufrecht erhalten wurde. Aber bald wurde es all-
gemeiner Brauch, daß der Mann neben seiner Frau, die bloße
„Zeugungsmaschine“ war, die eigentliche seelische Liebe beim
Jüngling suchte. Weil die Frau für den antiken Menschen keine
Seele und keine Individualität hatte, war die Knabenliebe
für ihn etwas ganz Natürliches und sittlich zu
Rechtfertigendes. Es wäre aber völlig unnatürlich, wenn
7) Vgl. L. Martineau, Leçons sur les déformations vulvaires
et anales, Paris 1885, S. 21.
8) Ebendaselbst, S. 29—31.
(>05
man für die heterosexuelle Allgemeinheit unserer Zeit die antike
Knabenliebe wieder einführen wollte, da wir modernen Menschen
erkannt haben, daß auch der Frau eine Seele zukommt, daß
sie die gleiche Berechtigung zur Entwicklung ihres Menschen-
wesens hat wie der Mann, daß sie ein Gegenstand individueller,
seelisch vertiefter Liebe sein kann und sein soll. Ich freue mich,
daß die Kämpfer für das Eecht der echten geborenen Homo-
sexuellen, daß Männer wie Magnus Hirschfeld, Numa
Prätorius und andere Forscher sich neuerdings energisch gegen
die Bestrebungen ausgesprochen haben, die darauf abzielen, eine
Art Propaganda für die Männer liebe unter den Heterosexuellen
zu machen, einen förmlichen Kultus des Urningtums einzu-
führen. Diese Bestrebungen können der guten und gerechten
Sache der Homosexuellen nur schaden.
Niemand kann die edle Männerfreundschaft, die
heutzutage viel zu wenig gepflegt wird,9) höher schätzen als
ich und aufrichtiger wünschen, daß auch Männer von „Liebe“
zueinander sprechen können,10) ohne in den Verdacht der Homo-
sexualität zu kommen. In gewissem Sinne stimme ich durchaus
den schönen Ausführungen von Heinrich Schurtz und
Benedict Friedländer über die Männerfreundschaft als
normalen Grundtrieb des Menschen und als Grundlage der Sozia-
9) Carl Gutzkow schreibt in einem wunderschönen Brief an
Max Ring: „Unsere Zeit ist so trennend, unsere Herzen schlagen
so einsam, und doch ist das Bedürfnis engerer Bande da.; aber wer
wagt sie zu knüpfen 1 Was man so aus der Jugend an innigerem
Verkehr mit anderen mitbringt, das geht in die Winde. Dann kommt
die Frauenliebe, die unser Hex*z allein erfüllt, dann die Sorge um die
materielle Existenz, die unseren Egoismus steigert, und die Gefahr,
daß unsere Herzen einschrumpfen, stellt sich zeitig genug ein. Wer
rückt sich menschlich nahe? Wer gesteht ein, daß er des Anderen
bedarf und sein Leben ohne Liebe ist? Wir trotzen und protzen
und leiden darunter. Also, wenn auch nicht mit Carlos- und Posa-
Ueberschwenglichkeit, doch mit warmem Mannesgefühl nennen wir
uns Freunde!“ (Berlin in der Reaktionszeit. Erinnerungen von Max
Ring in: Deutsche Dichtung, 1898, Bd. 23, S. 51—52.)
10) Solch eine asexuelle, edle Liebe zwischen Männern leuchtet
z. B. aus den Briefen des Grafen Arthur Gobineau an seinen
Freund, Fürst Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, hervor. Vgl.
Ph. Fürst zu Eulenburg-Hertefeld „Eine Erinnerung an Graf
Arthur Gobineau“, Stuttgart 1906 (besonders S. 22—23).
606
lität bei.11) Aber diese auf natürliche Sympathie und gemeinsame
Arbeit gegründete Freundschaft heterosexueller Männer hat auch
nicht die geringste sexuelle Beimischung, während
die griechische Knabenliebe, für die man sich neuerdings wieder
begeistert, nur in den herrlichen Dialogen eines P1 a t o12) zum
geistigen Eros verklärt wurde, in der Wirklichkeit aber zur
gröbsten Sinnlichkeit entartete, da der Jüngling die Geschlechts-
lust reizte wie ein Weib und auch als solches gebraucht wurde,13)
so daß die ursprüngliche Idealität des Verhältnisses verloren ging.
Bei der orientalischen Knabenliebe14) ist dieses ideale
Element wohl niemals vorhanden gewesen und haben von vorn-
herein die sinnlichen Beziehungen die Hauptrolle gespielt. Die
Knaben bordeile des islamitischen Orients werden von hetero-
sexuellen Männern ebenso besucht wie von homosexuellen. Die-
selben Männer erfreuen sich au Weibern und an Knaben. Die
Bisexualität wird hier als selbstverständlich in die Praxis
übersetzt.
Auch die deutsche Kultur hat eine Epoche gehabt, wo die
bisexuellen Gefühlsregungen bei beiden Geschlechtern deutlicher
hervortraten, ohne freilich immer zur physischen Betätigung der
Pseudo-Homosexualität zu führen. Diese merkwürdige Periode
war die Zeit des Ueberganges vom 18. zum 19. Jahrhundert.
u) Vgl. H. Schurtz, Altersklassen und Männerbünde, Berlin
1904; B. .Friedländer, Die physiologische Freundschaft als nor-
maler Grundtrieb des Menschen und als Grundtrieb der Sozialität.
Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1904, Bd. VI, S. 179 u. 214
und derselbe, Renaissance des Eros Uranios, Berlin 1904, S. 163
bis 211.
12) O. Kiefer, Platos Stellung zur Homosexualität, Jahrbuch
für sexuelle Zwischenstufen, 1905, Bd. VII, S. 107—126. — Vgl. auch
lyx-ische und bukolische Dichtung. Ebendaselbst, 1906, VIII, S. 619
bis 684.
13) Diesen Zusammenhang hat (nur umgekehrt) schon He i n r i c h
Laube erkannt. An einer Stelle des „Jungen Europa“ (Bd. I, S. 72
der Neuausgabe, Wien 1876) heißt es: „Constantie bleibt das schönste
Weib, das ich gesehen. Linie, Muskel, Form, Auge, Wort, Geist,
Gefühl — alles ist straff an ihr; sie ist der Gedanke eines Mannes,
der weibliche Form gefunden. Ich liebe diese Kraft am Weibe über
alles; das Weiche, Vergehende, Ergebene gewährt mir zu wenig Wider-
stand. Vielleicht sind solche Weiber der Uebergang
zur griechischen Knabenliebe.“
14) Vgl. hierzu auch P. Näcke, Die Homosexualität im Orient.
In: Archiv f. Kriminalanthrop. 1904, Bd. 16, S. 333 ff.
60?
Der „Sturm und Drang“ hat ausgetobt. Seine wilde Tatkraft
ist gebändigt, sein ungestümes Wollen beruhigt, in bestimmte
konkrete Eichtungen gelenkt, seine aktive Energie gewissermaßen
potentiell geworden in zwei neuen Bildungs- und Gefühlsrich-
tungen der Zeit, die nebeneinander hergehen und trotz aller
gegensätzlichen Verschiedenheiten sich mannigfach berühren und
beeinflussen: dem Klassizismus und der Romantik. Jener ging,
durch Winckelmann angeregt, zurück auf die „edle Einfalt
und stille Größe“ der Antike, auf die Aesthetik der strengen
Form, deren Wunder uns, wie kein anderer, Goethe offenbart
hat. Die Romantik dagegen ist nur die Bezeichnung für eine
grenzenlose Erweiterung und Vertiefung des Gefühlslebens, für
die gerade das Formlose charakteristisch ist. Am deutlichsten
tritt das bei Novalis, Tieck, Wackenroder hervor. Be-
zeichnenderweise berührten sich beide Richtungen im Sexuellen.
Ich brauche nur den Namen Winckelmann zu nennen, um
anzudeuten, wie sehr die rein ästhetische Auffassung,15) das rein
ästhetische Genießen der schönen Menschengestalt die Entwicklung
homosexueller Empfindung'sweise begünstigen mußte. Man kann
von einer „griechischen Renaissance“ in dieser Hinsicht sprechen.
Auf der anderen Seite war die romantische Stimmung, das Ver-
tiefen in das eigene Gefühlsleben, das ewige Suchen nach neuen,
eigenartigen Empfindungen sehr geeignet, jene so tief unter der
Schwelle des Bewußtseins schlummernden Gefühlsregungen her-
vorzulocken, die wir heute als „bisexuelle“ bezeichnen. In
Friedrich Schlegels „Lucinde“ finden wir z. B. diese zwei-
geschlechtliche Empfindungsweise öfter angedeutet, so an der
Stelle, wo er von einer Vertauschung der männlichen und weib-
lichen Rolle im Liebeskampfe spricht. Wenn in den zahlreichen
Briefwechseln der Zeit die Küsse, Umarmungen, Liebkosungen
und Zärtlichkeiten zwischen zwei Männern oder auch zwei Frauen
nur so hin- und herfliegen, so darf dies weder als rein homo-
sexuelles Empfinden, noch als bloß konventioneller zeitgenössischer
Brauch gedacht werden, sondern ist eben der sehr bezeichnende
15) Das bestätigt Goethe in einem Gespräch mit dem Kanzler
von Müller, wo er die „Verirrung“ der griechischen Liebe daraus
ableitet, „daß nach seinem ästhetischen Maßstab der Mann immerhin
weit schöner, vorzüglicher, vollendeter wie die Frau sei. Ein solches
einmal entstandene Gefühl schwenke dann leicht ins Tierische, grob
Materielle hinüber.“ Vgl. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen, 1905,
VII, S. 127.
608
Ausdruck einer durch die Ueberspaimung, Uebertreibung und
künstliche Steigerung des Gefühlslebens erzeugten Neigung zu
bisexuellen Phantasien und Träumen. Nur so kann man z. B.
die leidenschaftlichen Zärtlichkeitsergüsse verstehen, die sich in
manchen an Männer gerichteten Briefen16) des doch eigentlich
durchaus heterosexuellen Jean Paul finden.
Das gleiche gilt von den Frauen dieser Zeit. Nach W el cker
zeigten die Freundschaften der Frauen der romantischen Periode
diesen Charakter einer platonischen Liebe. Als die Herrschaft
der Romantik die „erregbare Jugend auf die verschiedenste Art
bewegte, waren in mehr als einem sittenstrengen Kreise zwei
Freundinnen so unzertrennlich und einander so unentbehrlich, daß
man in der Gesellschaft sich zuweilen zulächelte über diese
Verliebtheit, während ein niedriger Verdacht unmöglich gewesen
wäre“.17)
Einen interessanten Beleg für die Pseudo-Homosexualität der
Frauen in jener Zeit liefert eine Stelle18) aus einem Roman eines
Schülers des Jean Paul, aus Ernst Wagners (1768—1812)
„Isidora“, wo eine lesbische Liebesszene zwischen der Prinzessin
Isidora und ihrer Freimdin Olympia sehr deutlich geschildert
wird, die außerdem beide in leidenschaftlicher Liebe an zwei
Männern hängen.
Eine letzte und nicht unwichtige Erscheinungsform der
Pseudo-Homosexualität ist das Zwitter tum oder der H e r rn a-
p h r o d i t i s m u s. Es ist merkwürdig, daß die Wissenschaft erst
in den letzten Jahren sich eingehender mit den hermaphroditisahen
Zuständen beschäftigt hat, die bisher, wie auch Blumreich19)
16) Besonders der Briefwechsel mit Christian Otto ist hier-
für lehrreich. (Vgl. Jean Pauls Briefwechsel mit seiner Frau und
Christian Otto. Herausgegeben von Paul Herrlich, Berlin 1902.)
Z. B. schreibt er einmal an diesen Freund: „Ach, mein Guter, mein
Teurer, wenn ich doch Deine Gestalt bald wieder an meiner Brust hätte.“
Vgl. auch die sehr interessanten A usführungen über die eigentümlich
innigen Männerfreundschaften dieser Zeit, im neuesten, achten Bande der
„Deutschen Geschichte“ von Karl Lamprecht, Freiburg i. B., 1906.
17) F. G. We Icker, Ueber die Oden der Sappho, in: Rheinisches
Museum für Philologie, N. F., 1856, Bd. XI, S. 237.
18) Ich habe dieselbe im neuesten, achten Bande des Jahrbuches
für sexuelle Zwischenstufen, S. 609—610, mitgeteilt.
18) L. Blumreich, Frauenkrankheiten, Empfängnisunfähigkeit
und Ehe, in: Krankheiten und Ehe von Senator und Kaminer,
München 1901, S. 537.
609
hervorhebt, in ihrer sozialen Bedeutung und ihrer Häufigkeit
weit unterschätzt wurden. Es ist das große Verdienst von Neu-
gebauer20) und Magnus Hirschfeld,21) die allgemeine
Aufmerksamkeit auf diese merkwürdigen sexuellen Zwischenstufen
gelenkt und ihre eminent praktische Bedeutung nachgewiesen zu
haben, von der niemand vorher eine Ahnung hatte, wie sich aus
dem auffälligen Umstande ergibt, daß das neue Bürgerliche
Gesetzbuch für das Deutsche Reich die zivilrechtlichen Bestim-
mungen des alten preußischen Landrechts über die Zwitter gänz-
lich beseitigt hat, mit der Begründung, es gäbe keine Personen
unbestimmten oder unbestimmbaren Geschlechtes!
Zu den größten Seltenheiten gehört der sogenannte „wahre
Hermaphroditismus“ (echtes Zwittertum), wo männliche
und weibliche Keimdrüsen (Hoden und Eierstöeke) indemselben
Individuum Vorkommen. Durch die Untersuchungen von Sälen
(1899), Gar re-Simon (1903) und Ludwig Pick (1905) ist
die Existenz dieser gemischten Keimdrüsen („ovotestes“) als Tab
Sache erwiesen worden. Walter Simon hat im 172. Bande
von „Virehows Archiv“ den von Gar re beobachteten seltenen
Fall von wahrem Zwittertum beschrieben. Bei einer 20 jährigen
als Mann auf erzogenen und durchaus männlich fühlenden Person
20) Franz Neugebauer, 17 Fälle von Koinzidenz von Geistes-
anomalien mit Pseudohermaphroditismus, zusammengestellt aus einer
Gesamtkasuistik von 713 Beobachtungen von Scheinzwittertum. Jahr-
buch für sexuelle Zwischenstufen, 1900, Bd. II, S. 224—253. — Der«
selbe, Interessante Beobachtungen aus dem Gebiete des Schein«
zwittertums Ebendas., 1902, Bd. IV, S. 1—176; derselbe, Chirur-
gische Ueberraschungen auf dem Gebiete des Scheinzwittertums,
Kasuistik von 134 Beobachtungen mit 54 Fällen irrtümlicher Geschlechts«
bestimmung, größtenteils durch das Skalpell der Chirurgen erwiesen.
Ebendaselbst, 1903, Bd. V, S. 205—424; derselbe, 103 Beobachtun-
gen von mehr oder weniger hochgradiger Entwickelung eines Uterus
beim Manne (Pseudohermaphroditismus masculinus internus), nebst Zu-
sammenstellung der Beobachtungen von periodischen regelmäßigen Ge-
nitalblutungen, Menstruation, vikariierender Menstruation, Pseudo-
menstruation, Molimina menstrualia usw. bei Scheinzwittem. Ebendas.
1904, Bd. VI. S. 215—326. Derselbe, Zusammenstellung der Literatur
über Hermaphroditismus beim Menschen. Ebendas., 1905, Bd. VII,
S. 471—670 und 1906, Bd. VIII, S. 685—700.
21) Magnus Hirschfeld, Geschleclitsübergänge. Mischungen
männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere (Sexuelle Zwischen-
stufen), Leipzig 1905.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.) 39
61Ö
traten plötzlich unter Ansehwelien der Brüste (Gynäkomastie)
monatliche Blutungen aus dem vermeintlichen Hodenspalt auf,
auch ging von Zeit zu Zeit unter wollüstigen Erektionen des
Gliedes weißlicher Schleim ab, wobei die libidinösen Vorstellungen
sich stets auf das Weib bezogen. Körperbau und Gesichtsausdruck
dieses Individuums waren weiblich, Thoraxbau, Schulter und
Armansatz männlichen Charakters. In einer rechtsseitigen leisten-
bruchartigen Geschwulst fand man einen Hodeneierstock, Neben-
hoden, Nebeneierstock, Samenstrang und Muttertrompete.
Häufiger als diese Fälle, wo natürlich die Geschlechts-
bestimmung so gut wie unmöglich ist, sind die Fälle von
„Pseudohermaphroditismus“ (Scheinz wittertum), die
auch für die Frage der Pseudo-Homosexualität die größere Be-
deutung besitzen. Bei diesem Scheinzwittertum sind zwar die
Keimdrüsen eindeutig männlich oder weiblich, aber die Beschaffen-
heit der ausführenden und der äußeren Geschlechtsorgane
ist hinsichtlich des Geschlechtes unbestimmt, teils männlich, teils
weiblich, teils völlig undifferenziert, was aus einer unvollständigen
oder ganz ausbleibenden Differenzierung der ursprünglich gleichen
Anlage der äußeren Genitalien bei beiden Geschlechtern zu er-
klären ist (Hemmung der Wachstumsvorgänge an irgend einem
Punkte der Entwicklung). So entsteht ein „Pseudohermaphroditis-
mus masculinus“, wenn die „Geschlechtsrinne“ nicht vollständig
verwächst, die Harnröhre unten einen Spalt behält (Hypospadie),
auch beide Hälften des Hodensackes sich nicht schließen und
einen Spalt zwischen sich lassen, der den Eingang zu einer
Scheide vortäuscht. Da meist die Hoden in der Bauchhöhle
Zurückgeblieben sind oder in der Leistengegend eine Art Leisten-
bruch Vortäuschen, so hält man das Glied für eine Art vergrößerter
Klitoris und das Individuum irrtümlich für ein Weib (erreur
de sexe). Kommt noch hinzu, daß wegen des angeblichen „Leisten-
bruehes“ das dauernde Tragen eines Bruchbandes verordnet worden
ist, so schwindet sehr häufig das Hodengewebe vollkommen in-
folge von Druckatrophie und dann ist die richtige Diagnose noch
schwieriger. Einen derartigen Fall sah ich kürzlich bei einem
22 jährigen männlichen Scheinzwitter, der als „Weib“ auf ge-
wachsen war, stets sich aber nur zu Frauen hingezogen gefühlt
hatte und bei beträchtlicher Größe des Membrum trotz bestehender
Hypospadie auch imstande war, regelrecht den Koitus zu voll-
ziehen. In dem Ejakulat hatte der untersuchende Arzt keine
Spermatozoon gefunden, die Hoden waren wohl durch Tragen
eines Leistenbruchbandes atrophiert.
Bei Vorhandensein von weiblichen Keimdrüsen entsteht ein
„Pseudohermaphroditismus femininus“, wenn die äußeren Ge-
schlechtsteile dieses weiblichen Seheinzwitters eine gewisse Aehn-
licbkeit mit männlichen aufweisen, z. B. bei ungewöhnlicher
Größe der Klitoris und gleichzeitigem Verwachsen der großen
Schamlippen, so daß der Scheideneingang zu fehlen scheint. Auch
hier kann bei verfehlter Diagnose und demgemäßer Erziehung
als Mann scheinbare Homosexualität durch spätere Neigung
zum Manne auftreten.
Es gibt in beiden Arien des Scheinzwittertums die ver-
schiedensten anatomischen und physiologischen Möglichkeiten,
was das Verhältnis der sekundären Geschlechtscharaktere zum
anatomischen Charakter der Keimdrüsen, die Menstrualäquivalente
bei männlichen Scheinzwittem, das Verhältnis des Geschlechts-
triebes zu den Geschlechtsdrüsen, die größere oder geringere
Stärke des Triebes, die periodischen Genitalblutungen bei männ-
lichen Scheinzwittern, etwaige sexuelle Perversionen usw. betrifft.
Ich muß bezüglich der genaueren Details auf die Arbeiten von
Neugebauer und Hirschfeld verweisen. Erwähnen will ich
nur noch den von letzterem Autor beobachteten und beschriebenen
Fall eines männlichen Scheinzwitters, der als „Weib“ aufge-
wachsenen 40jährigen Friderike S., die von jeher nur Neigung
zum Weibe und Widerwillen gegen den Geschlechtsverkehr mit
dem Manne hatte. Es ließ sich bei ihr ein hodenartiger Keim-
stock nachweisen, von dem ein samenstrangartiges Gebilde aus-
ging, im linken Leistenkanal steckte ein atrophischer Keimstock
unbestimmten Charakters. Der Geschlechtshöcker war ein
Zwischending zwischen Penis und Klitoris. Große und kleine
Schamlippen begrenzten eine kurz, blind endigende Scheide.
Innere weibliche Organe (Uterus usw.) waren nicht nachweisbar,
dagegen schien eine Vorsteherdrüse vorhanden zu sein. Im
Sexualsekret, das aus einer anderen Oeffnung als der Harn
hervorquoll, wies H. Friedenthal sehr zahlreiche
völlig normale Spermatozoen nach, wodurch die
männliche Natur dieses Pseudoweibes zur Evidenz erwiesen
wnrde, ebenso der „homosexuelle“ Charakter ihrer Neigungen
nunmehr als heterosexueller sich offenbarte.
EINUNDZWARZIGSTES KAPITEL.
Die Algolagnie (Sadismus und Masochismus).
Wir müssen, uns fort und fort gewärtig halten, daß auf keinem
anderen Gebiete so wie auf dem des Geschlechtslebens Erhabenstes
und Gemeinstes, Ueber- und Untermenschliches dicht beisammen und
eng miteinander verknüpft liegen, da sich die feinsten und tiefsten
Wurzeln unserer geistig-körperlichen Existenz großenteils aus diesem
Untergründe entfalten; und daß der Mensch nicht so tief, bis weit
unter das Niveau der Tierheit herabsinken könnte, wenn er nicht zuvor
eine unermeßliche Kulturhöhe im Kampfe mit der Natur und mit sich
selbst eigenkräftig erstiegen hätte.
Albert Eulen bürg.
613
Inhalt des einundzwanzigsten Kapitels.
Die Algolagnie oder Schmerzlüsternheit. — Biologische Wurzeln
derselben. — Ihre Rolle im Kulturleben der Menschheit. — Zusammen-
hang von Schmerz und Lust. — Der Schmerz in der Vita sexualis. —
Sadismus und Masochismus. — Die physiologischen algolagnistischen
Erscheinungen. — Der sexuelle Genuß des seelischen Schmerzes. —
Philosophische Anschauungen darüber. — Weltschmerz und Pessimismus
als Genußquellen. — Die Wonne des Leids. — Die Grausamkeit als
Vermittlerin der Schmerzlüsternheit. — Theorien der Grausamkeit. —
Der Machtgenuß. — Nietzsches Würdigung der Grausamkeit als
Kulturfaktors. — Sadistische und masochistische Kulturphänomene. —
Beispiele aus der Gegenwart. — Steigerung der Geschlechtslust durch
emotionelle Erschütterung. ~~ Evolutionistische Theorie der Algolagnie.
— Grausamkeit des Weibes. — Der Wollüstlinge und Prostituierten. —
Der „Tropenkoller“ als besondere Form des Sadismus. — Verschiedene
Erklärungen de3 Tropenkollers. — Einfluß der Sexualdifferenzen von
Mann und Weib. — Genesis des „Pantoffelhelden“ und der „Maitressen-
herrschaft“. — Koketterie und Flirt. — Häufige Verknüpfung von Sadis-
mus und Masochismus. — Die Flagellation als Hauptform
der Algolagnie. — Nachahmung der physiologischen Algolagnie.
— Erregende Wirkung von Massage und Friktion. — Verschiedene
Faktoren der sexuellen Wirkung der passiven Flagellation. — Der
aktiven Flagellation. — Gelegenheitsursachen der Flagellation. — Sexu-
elle Wirkung des Prügelns auf Kinder. — Beispiele. — Der „Erzieher-
Flagellantismus“ (Dippoldismus). — Beispiele. — Flagellation und
Prostitution. — Flagellationsbordelle. — Neigung des Weibes zur Fla-
gellation. — Eine Pariser „Schule“. — Die „Korsettdisziplin“. — Sa-
distische Körperverletzungen und Lustmorde. — Charakteristik des
Lustmordes. — Die „Mädchenstecher“. — Andere Arten sadistischer
Körperverletzung. — Der sexuelle Vampyrismus. — Beeinträchtigung und
Schädigung fremden Eigentums aus sadistischen Motiven. — Vitriol-
attentate. — Sadistische Brandstiftung. — Die sexuelle Kleptomanie.
—- Symbolische Formen des Sadismus. — Der Wortsadismus. — Erotische
Wörterbücher. — Verbaler Exhibitionismus. — Beispiel. — Andere
Arten der symbolischen Algolagnie. — Der Satanismus. —- Große Ver-
breitung der passiven Algolagnie, des Masochismus. — Die passive
Schmerzlüsternheit. Beispiele. — Masochistische Marterinstrumente.
— Eine „Folterkammer“. — Die masochistische Prostitution. — Brief
eines Masochisten. — Ein „Sklave“. — Charakteristik der männlichen
Masochisten. —- Einige typische Fälle von Masochismus. — Masochis-
mus bei Weibern. — Brief einer Masochistin.
Anhang, Ein Beitrag zur Psychologie der russi-
schen Revolution. (Entwickelungsgeschichte eines
algolagnistischen Revolutionärs.)
Ist die in den vorigen Kapiteln geschilderte Homosexualität
nebst den pseudohomosexuellen Erscheinungen eine keineswegs
allgemein verbreitete Form der Variation des sexuellen Triebes,
so ist dagegen die „Algolagnie“ es um so häufiger, unter
welchem von Schrenck-Notzing eingeführten Gesamtnamen
wir die Erscheinungen des Sadismus und Masochismus
zusammenfassen, da beide sexuellen Perversionen in engster Be-
ziehung zueinander stehen.
Die Algolagnie oder Schmerzlüsternheit gehört, wenn man
von ihren extremsten Aeußerungen, wie dem Lust- oder Selbst-
mord aus Wollust, absieht, sicherlich zu den am meisten ver-
breiteten geschlechtlichen Verirrungen, ja findet sich in ihren
leichtesten Formen fast bei jedem Menschen. Eine erfahrene Frau
teilte Havelock Ellis1) mit, daß sie nur einen einzigen Mann
kennen gelernt habe, der keine sadistischen Gelüste gehabt habe.
Umgekehrt gibt es wenig Frauen, in deren Sexualität nicht
irgend welche algolagnistischen Erscheinungen nachweisbar
wären. Das ist natürlich, da wie keine andere sexuelle Aberration
gerade die Alolagnie die tiefsten biologischen Wur-
zeln hat. Ihr Kern, die Lust am fremden oder eigenen
Schmerz (hier Schmerz im weitesten Sinne physisch und
seelisch genommen), ist ein elementares Phänomen der Liebes-
betätigimg. „Liebe ist ihrer Natur nach Schmerz“, heißt es
schon im „Divan“ des persischen Dichters Rümi. Daß es sich
hier um eine anthropologische und in weiten Grenzen normale
Erscheinung handelt, ist sicher. Die Algolagnie spielt die größte
Rolle im individuellen Leben des einzelnen Menschen und im
Kulturleben der ganzen Menschheit. Sie läßt uns in die ver-
borgensten Tiefen der Menschenseele schauen und bietet uns das
i) H. Ellis, Das Geschlechtsgefübl, Würsburg 1903, S. 94.
615
merkwürdig« Phänomen der Verknüpfung uralter primitiv*
tierischer Instinkte mit der höchsten Geistigkeit dar. Sie er-
niedrigt und vertieft die Lieh© und, berührt die geheimsten Seiten
unseres Wesens.
Der Schmerz beseelt
Und er entfesselt nied’re Triebe,
Die sonst dem Menschenherz gefehlt . . .
Der Schmerz betäubt — er kann beglücken,
Im Schmerz liegt ein geheimes Fleh’n;
Er läßt mit feurigem Berücken
Ein frevelhaftes Bild erstelin,
singt Josef Lauff in seiner „Geißlerm“ (Köln 1901). Gibt
es eine Lust ohne Schmerz, gibt es Liebe ohne Leid? Wer die
Kulturgeschichte kennt, wird diese Frage verneinen. Der Schmerz
ist ein Kulturfaktor ersten Ranges, er ist die Vorbedingung und
Begleiterscheinung der Lust, der Lebensbejahung. Das ist der
große Gedanke der Nietzsche sehen Philosophie. Der Schmerz
der Liebe ist nur ein Spezialfall des großen, unermeßlichen Welt-
schmerzes und der Weltlust, die in den grandiosen Schilderungen
eines Schopenhauer uns so tief ergreifen, und von jeher der
erhabenste Gegenstand für die Betrachtungen von Philosophen
und Kulturforschern gewesen sind.8)
Daß Liebeslust und Liebesschmerz, di© schöpferische Kraft
und die Zerstörung, ja, daß Liebe und Tod, die schon Leopard!
in einem wunderbaren Gedicht als Zwillingsbrüder besang, nur
durch einen „dünnen Schleier“ (II. Ellis) geschieden sind, das
hat zuerst in seinen berüchtigten Werken der furchtbare Marquis
de Sade3) ausgesprochen, dessen Bücher nur eine einzige Para-
phrase des Satzes von dem Zusammenhänge zwischen Schmerz
*) Eine speziell© Darstellung fanden sie in dem interessanten Buche
von G. H. Schneider, Freud’ und Leid des Menschengeschlechts.
Eine sozial-psychologische Untersuchung der ethischen Grundprobleme.
Stuttgart 1883,
a) Vgl. Eugen Dübren (Iwan Bloch), Neue Forschungen
über den Marquis de Sade und seine Zeit. Berlin 1901. —- Ich verweise
den Leser nur auf dieses, mein zweites Werk über den Marquis de
Sade als kritische Darstellung des wirklichen de Sade auf
Grund neuer archivalisoher Quellen. — Das erste Werk erkenne ioh als
eine vielfache Irrtümer enthaltende, unzulängliche Jugendarbeit nicht
mehr an«
G16
und Wollust sind, und zwar besteht na-ch de Sade dieser Zu-
sammenhang nicht bloß in der aktiven Algolagnie, d. h. der
Schmerzzufügung, der Wollust der Grausamkeit, dem so-
genannten „Sadismus“, sondern ebensosehr in der passiven
Algolagnie, dem Schmerzerleiden, der Wollust des Ge-
quältwerdens, oder dem nach dem Schriftsteller Sacher-
Masoch so genannten „Masochismus“, de Sade, der der erste
konsequente Vertreter der anthropologisch-ethnologischen Theorie
der Psychopathia sexualis war, hat schon fast alle Tatsachen
über die biologischen Wurzeln der Schmerz] üsternheit und über
die algolagnistischen Erscheinungen in der Ethnologie und Kultur-
geschichte gesammelt.
Die Grundlage für das Verständnis der aktiven und passiven
Algolagnie bildet die Tatsache, daß es sich hier zunächst nur
um eine rein biologische Erscheinung handelt, die in jeder
normalen Liebe hervortritt. Der Geschlechtsakt zeigt uns Schmerz
und Lust in einer unlöslichen Verknüpfung. Die Liebesumarmung
ist ein „süßer Schmerz“, eine wehe Lust.
Sage mir, geliebtes Mädchen, sage mir den wirren Zauber, der
dein Wesen jäh verfärbet, wenn dich Amors Pfeil berührt? Wie sich
deine Züge hellen, trunken deine Augen lachen, deine Lippen Küsse
lechzen, deine Schönheit warm erglühet und erblüht zum siebenten
Gesicht? Und vor allem sag mir, Holde, welchen Sphären jene Töne,
jene Weisen wohl entstammen, wenn du dich dem Liebsten gibst? —
schmerzerfüllte Sphärenklänge, die wie Singen wilder Schwäne
mich durch schauem und befrei’n?
Ach, Geliebter, kann ich wissen, — kann ich wissen, wenn
ich fühle — fühle höchster Lüste, tiefste, ach so grau-
sam süße Schmerzen? Eins nur weiß ich, daß ich sterbe,
wenn du liebend mich vernichtest, sterbe, um erneut zu leben, —
hundert heiße Tode sterbe, und daß meine Seele singet lebensschwangre
Todesweisen.4)
Die Natur des Wollustgefühles ist noch ziemlich dunkel,
daß aber als Begleiterscheinung, wahrscheinlich sogar als ein
Teil desselben schmerzhafte Empfindungen auftreten, ist sicher.
Ich erinnere an die oben (S. 48) erwähnten, interessanten Aus-
führungen von Edmund Förster über die Auffassung der
Sexualspannung als eines Reizes auf die Schmerznerven der
Genitalien. Deutlicher spiegelt sich der Schmerz (aktiver und
4) G. Hirth, Wege zur Liebe, S. 638.
Gl?
passiver) in der Liebesumar-irmng selbst, in Ersciieinungen,5) wie
sie bereits früher (S. 55—56) geschildert wurden, wie wildes
Anpressen, heftige Zuckungen, Zähneknirschen, Schreien und
Beißen, sowohl von seiten des Mannes als auch des Weibes.
Schon Lucretius (De rerum natura, Buch IV, Vers 1054 bis
1061) hat diese normalen sadistischen und masochistischen Begleit-
erscheinungen des Koitus anschaulich geschildert. Dabei ist der
Sadismus zwar vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich auf
seiten des Mannes und umgekehrt der Masochismus nicht aus-
schließlich auf seiten des Weibes. Die sadistischen „Liebesbisse“
z. B. gehen sogar häufiger vom Weibe aus, besonders bei den
Naturvölkern,6) bei den slavischen Völkern liebt der Mann mehr
den „Bißkuß“ während des Aktes.7 8)
Es brausen mir wie Wirbelwind
Im Busen namenlose Triebe:
Ich möchte dich beißen, einzig Kind,
Du süße Frucht, vor Lust und Liebe
singt Karl Beck in seinen „Stillen Liedern“.
Wie nahe diese Phänomene mit der Vorstellung von Blut
und Grausamkeit Zusammenhängen, die durch die Rötung
und den Blutzufluß während der geschlechtlichen Aufregung
begünstigt wird, habe ich bereits oben (S. 56) angedeutet und
in meinen „Beiträgen zur Aetiologie der Psychopathia sexualis“
(H, 39—41) ausführlicher begründet. Damit hängt auch die
sexuell erregende Wirkung der roten Farbe zusammen.
Es kommt bei diesen algolagnistischen Aeußerungen, solange
sie innerhalb der physiologischen Grenzen bleiben, weniger der
wirkliche physische Schmerz, die wirkliche Zufügung oder
Erduldung einer Grausamkeit in Betracht als die Vorstellung
davon, als der seelische Schmerz, ja oft wird wirklicher Schmerz
nicht als solcher, sondern nur durch die Vorstellung lustvoll
empfunden. Besonders Eulenburg3) hat auf diese seelische
5) Sie sind bei Tieren noch deutlicher zu beobachten.
6) Havelock Ellis, Erotik und Schmerz, in: Das Geschlechts-
gefühl, S. 88.
7) Friedrich S. Krauß, Die Zeugung in Sitte, Brauch und
Glauben der Südslaven, in: Kryptadia, Paris 1899, Bd. VI, S. 208—209.
8) A. Eulenburg, lieber Sadismus und Masochismus, in: Grenz-
fragen des Nerven- und Seelenlebens, herausgegeben von Loewenfeld
und Kure 11a, Wiesbaden 1902, Heft 19, S. 9—10.
618
Vertiefung der Algol agnie mit Recht hinge wiesen. Seelen-
schmerzen und Tränen geben der Liebe eine wundersame Tiefe,
steigern die Leidenschaft, wie schon Goethe in seiner „Stella“
das geschildert hat. Die Liebe bedarf der Unlust, um als Liebe
empfunden zu werden. Warum? Weil die Unlust auch etwas
Neues ist, ein Kontrast zu der Lust, deren Ewigkeit unerträglich
wäre. Sehr fein heißt es in den zwar apokryphen, aber darum
psychologisch nicht minder interessanten Briefen der N i n o n
de Lenclos (Deutsche Ausgabe, Berlin 1906, S. 220—221):
„Die Abwechslung in dem seelischen Zustand ist also wesentlich
für das Glück der beiden Liebenden. Und was könnte besser als ein
Getrenntsein diesen Vorteil verschaffen? Haben Sie niemals die Süßig-
keit eines zärtlichen Abschieds empfunden? Die Unruhe, das .Be-
dauern, die Tränen, die ihn begleiten, sind sie nicht etwas Kostbares
für eine zarte, sensible Seele? Gewöhnliche Liebende betrachten die
Trennung auf wenige Tage als ein Uebel. Betrachten sie aber die
Natur ihres angeblichen Schmerzes ein wenig genauer, so werden sie
bald bemerken, daß er, anstatt einen unangenehmen Eindruck auf die
Seele zu machen, im Gegenteil, eine entzückende Wollust darin erweckt.
Dieser Schmerz enthält einen entzückenden Beiz und er beweist uns,
daß, wie sehr auch das Herz in Mitleidenschaft gezogen wird, es
immer in einer angenehmen Verfassung sich befindet, sobald es seine
Empfindsamkeit ausüben kann.“
Aehnlieh bemerkt G. H. Schneider (a. a. 0. S. 126—127),
daß sich in allen Liebesverhältnissen das Bedürfnis zeigt, den
„Kontrast zwischen Liebesleid und Liebeswonne durch Miß-
stimmungen, durch vorübergehendes, gegenseitiges Quälen, durch
momentane neckische Erregung der Eifersucht seitens des Weibes
oder durch scherzhafte oder ernste Drohungen zum Bewußtsein
zu bringen, und dieses Bedürfnis wird schon instinktiv immer
vom Menschen befriedigt, weil er instinktiv fühlt., daß sonst
die Liehe verschwindet oder verschwinden, wird“. Er erklärt
diese Notwendigkeit des Bedürfnisses nach Schmerz und Leid
in der Liebe aus einer gewissen Abnutzung und Ermüdung der
betreffenden Nervenzentren, die zeitweilige Ruhe verlangen,
und aus dem schon bei den menschlichen Vorfahren und den
Tieren bestehenden abwechselnden Auftreten ganz entgegen-
gesetzter Gefühle wie Liebe und Haß, so daß auch die Erregung
der die Gefühle der Unlust vermittelnden Zentren ein. notwendiges
Bedürfnis sei.
Nichts läßt sieh in der Tat schwerer ertragen als eine Keihe
619
von schönen Tagen, auch nicht in der Liebe. Weshalb werden
gerade die besten, unveränderlich zärtlichen Ehemänner oder Ehe-
frauen so häufig betrogen? Gewiß, weil sie oft versäumen, in
die Süßigkeit der Liebe auch einmal ein wenig Bitterkeit zu
mischen und den anderen Teil ab und zu die „Wonne des Leids“
kosten zu lassen.
Frau Venus, meine schöne Frau,
Von süßem Wein und Küssen
Ist meine Seele worden krank,
Ich schmachte nach Bitternissen.
Heinrich Heine.
Der seelische Schmerz als allgemein soziologische und
literarisch-philosophische Erscheinung offenbart sich im Welt-
schmerz und Pessimismus. Beide Empfindungsweisen
bergen hohe Lustgefühle in sich. Schopenhauer, der es doch
wohl wußte, bemerkt (Werke ed. Grisebach, I, 508), daß die
Erkenntnis der Leiden des Daseins, der Gram, der sich über das
Ganze des Lebens verbreitet, von einer heimlichen Freude
begleitet wird, welche von dem „melancholischesten“ aller Völker
„the j o y of grief“ genannt worden »ei. Vortrefflich hat auch
Kuno Fischer in seiner Darstellung der Sehopenhauer-
schen Philosophie den Genuß hervorgehoben und geschildert, der
in der pessimistischen Empfindungsweise liegt, und O. Zimmer-
mann hat ein interessantes kulturpsychologisches Werk über
die „Wonne des Leids“ (2. Auflage, Leipzig 1885) geschrieben.
Bildet die Lust am eigenen oder fremden Schmerz den Kern
aller algolagnistischen Erscheinungen, so kommt der Grausam-
keit als Vermittlerin dieser Schmerzlüsternheit nur eine sekun-
däre Bolle zu. Der tief eingewurzelte, schon in der Kindheit
auftretende Instinkt zur Grausamkeit hängt biologisch mit der
Schmerzempfindung zusammen. Man hat verschiedene Theorien
der Grausamkeit aufgestellt. So verursacht sie nach Schopen-
haiier fremde Schmerzen, um die eigene Qual zu lindem, wäre
also nur eine Art Heilmittel eigener Schmerzen. Einleuchtender
ist die Erklärung des englischen Psychologen B a i n, der die
Grausamkeit aus dem Machtbewußtsein und dem Macht-
genuß ableitet, aus der Wonne, durch sie über das gepeinigte
Individuum zu herrschen. Nietzsche ist der berühmteste
Apostel dieser Maditerweitenmg, dieses Machtgenusses im „lieber-
menschentum“ und durch die „Herrenmorar'. Er feiert förmlich
die Grausamkeit als ein Förderungsmittel aller höheren Kultur.
„Fast alles“, sagt er, „was wir „höhere Kultur“ nennen, beruht
auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit . . . Was
die schmerzliche Wollust der Komödie ausmacht, ist Grausamkeit;
was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem.
Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der
Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süßigkeit allein von der
eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der
Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier
angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japaner von
heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadtarbeiter,
der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianer in,
welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich „er-
gehen läßt“, — was diese alle genießen und mit geheimnisvoller
Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke
der großen Circe „Grausamkeit“.
„Man muß aber,“ fährt er sehr richtig fort, „die tölpelhafte Psycho-
logie von ehedem davonjagen, welche von der Grausamkeit nur zu
lehren wußte, daß sie beim Anblicke fremden Leids entstände!
Es gibt einen reichlichen, überreichlichen Genuß auch am eigenen
Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, und wo nur der Mensch zur*
Selbstverleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbstverstümmelung,
wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung,
Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Bußkrampfe, zur Ge-
wissensvivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell’ intelletto sich
überreden läßt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt
und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der gegen
sich selbst gewendeten Grausamkeit.“
Mit wenigen genialen Strichen hat hier Nietzsche die
hauptsächlichsten algolagnistischen Kulturphänomene gezeichnet.
Die Ethnologie und die Weltgeschichte liefern uns in gleichem
Maße zahlreiche interessante Belege für den primitiven Hang
der Menschennatur zu sadistischen und masochistischen Aeuße-
ningen. Man muß diese über die ganze Welt verbreiteten, in
den verschiedenartigsten Formen zutag'e tretenden Phänomene der
aktiven und passiven Algolagnie kennen, um viele Vorkommnisse
der Gegenwart zu verstehen. In meinen „Beiträgen zur Aetiologie
der Psychopathia sexualis“ (Bd. II, S. 43—75; S. 95—98; S. 109
bis 113; S. 120—157; S. 228—240) habe ich diese anthropologischen
und ethnologischen Daten über die allzeitliche und allörtliche Ver-
breitung der Algolagnie ausführlich mitgeteilt und auf das hier-
für besonders beweiskräftige Auftreten von Sadismus und
Masochismus als Massenersohoinung liingewiesen : bei
Kriegszügea, Gladiatoimkämpfen, Mensciionjagdeu, Tierlietzen,
Sticrgefechten,9) tbeatralischen Sensationsstüeken, bei öffentlichen
Hinrichtungen, in der Inquisition und den Hexenprozessen, in
der noch heute in Nordamerika üblichen Lynchjustiz,10) in dem
Benehmen der Volksmassen bei der früher gebräuchlichen Strafe
des Prangerstehens, besonders auch bei Revolutionen, wofür heute
wieder aus Rußland die furchtbarsten Beispiele vorliegen (vgl.
auch den Anhang), in der uralten Sitte der „Raubehe“, im
Kannibalismus, dem Vampyr- und Wärwolfsg’lauben, der Sklaverei,
dem Flagellantismus und den Geißlerfahrten des Mittelalters,
dem schrecklichen „Satanismus“ derselben Zeitepoche, der Gynä-
kokratie oder Weiberherrsdhaft, dem Frauendienst der Minnezeit,
dem italienischen Cicisbeat und der slavischen Geschlechtssklaverei
der Männer, der Askese und dem Märtyrertum, der ethnologischen
Verbreitung der scatologischen, kopro- und urolagnistischen Ge-
bräuche usw. usw. Es genügen diese Tatsachen, um den Beweis
zu erbringen, daß zu allen Zeiten und bei allen Völkern Sadismus
und Masochismus in allen auch heute noch beobachteten Formen
weit verbreitet waren und aus gewissen tief eingewurzelten
Instinkten der Volksseele hervorgehen, deren Existenz auch
heutenoeh überall zutage tritt.
So z. B. nahm (nach Voss. Zeitung 475, vom 10. Oktober 1906)
das große Automobil-Rennen um den Vanderbilt-Pokal, das Anfang
Oktober 1908 auf Long Island stattfand, einen Verlauf, der mit seinen
Begleitumständen an die scheußlichen Vorgänge bei den alten Gladiato-
renspielen erinnerte. Drei Männer kamen während des Rennens auf
der Stelle ums Leben, eine Frau und ein Knabe wurden so schwer ver-
letzt, daß sie im Sterben liegen, und 20—30 Personen erlitten Glieder-
brüche und andere Verletzungen. An 600 000 Menschen waren aus
allen Gebieten der Vereinigten Staaten zum Rennen zusammengeströmt.
Schon vor Beginn der Fahrt war die ungeheure Menge in hysterischer
Erregung. Der Automobilklub hatte sorgfältige Vorbereitungen zur Siche-
rung der Rennstrecke getroffen und sie auf beiden Seiten durch ein
acht Fuß hohes Drahtnetz abgesperrt. Diese Schutzwand wurde indes
von der Menge niedergerissen, die sich gerade an den Stellen am
weitesten nach vorwärts drängte, wo die mächtigen Rennwagen mit
9) C h. F é r é, Le sadisme aux courses de taureaux. In : Revue de
médecine 1900, No. 8.
10) Das sadistische Element der Lynchjustiz hat neuerdings be-
sonders anschaulich Felix Baumann geschildert in seinem inter-
essanten Buche „Im dunkelsten Amerika. Sittenschilderungen aus den
Vereinigten Staaten“, Dresden 1902.
höchster Geschwindigkeit vorbeirasen sollten. Trotz aller Mahnungen
der Polizei traten die Sensationslustigen erst zurück, als die entsetzten
Fahrer mit ihren Wagen unmittelbar vor ihnen auftauchten. An einer
Wendung des Weges hatte sich eine an tausend Personen zählende Zu-
sohauerschar aus den besten Kreisen New-Yorks versammelt. Jedesmal,
wenn an dieser gefährlichen Stelle einer der Rennwagen verunglückte,
stürmten diese Leute vorwärts, um alles aus nächster Nähe zu sehen.
Die Frauen kreischten und fielen vor Erregung in Ohnmacht, und die
Polizei mußte rücksichtslos mit ihren Knüppeln dreinschlagen, um
Raum für di© mchfolgenden Wagen zu schaffen und unabsehbares
Unglück zu verhüten. Die Menscnen waren wie wahnsinnig
vor Sucht, Blut zu sehen; eine Dame, die mit der Menge vor-
wärtsstürmte, als ein Wagen sich überschlagen hatte, machte ihrer
Enttäuschung durch den Ruf Luft: „Ach, keiner tot!“
Der Petersburger Berichterstatter der „Täglichen Rundschau“ (No.
66 vom 17. März 1906) berichtet in einem Aufsatz „Rußland, wie es ist“
über die russischen Strafexpeditionen gegen die Revolutionäre: „Den
politischen Zweck ihrer „Mission“ haben sie schon längst vergessen:
sie morden und sengen aus angeborener Mordlust, aus
Rassenblutgier, aus einer bereits deutlich wahr-
nehmbaren, krankhaften Perversität. Die Erschießung von
Knaben, die Durchpeitschung von Frauen — von schlimmeren, hier
nicht wiederzugebenden „Bestrafungen“ ganz abgesehen —,
die in Gegenwart oder gar unter tätiger Beihilfe der größeren und
kleineren Saträplein vor sich gegangen ist, und über die ich ein recht
beträchtliches Material gesammelt habe, bringt mich, den ehemaligen
Kriminalpsychologen, auf ganz merkwürdige Gedanken.“
In diesen Fällen ist wohl die Hauptursaehe der grausam-
wollüstigen Handlungen die lebhafte emotionelle Er-
schütterung, die heftige Erregung, die ihrerseits wieder die
Geschlechtslust steigert. Schon de Sade wußte, daß Erregung
durch starke Affekte ^uch die sexuellen Vorgänge mächtig beein-
flußt, steigert, verändert und abnorm gestaltet. „Alle Sensationen
verstärken sich gegenseitig.“ Zorn, Furcht, Wut, Haß, Grausam-
keit, vergrößern die Sexualspannung, und demgemäß auch die
Lust ihrer Entladung. Bouillier11) wies darauf hin, daß es
häufig nicht die Lust an Blut und Leiden an sich ist, sondern nur
diese Steigerung der Emotion, die die sexuelle Grausamkeit hervor-
ruft, oft bei Menschen, die im sonstigen Leben sehr sanfte und
mitleidsvolle Naturen sind. Ebenso erklärt Hör wie z12) den * 13
u) Francisque Bouillier, Du plaisir et de la douleur,
Paris 1865, S. 72.
13) А. H о r w i c z, Psycnoiogiscne Analysen auf psychologischer
Grundlage, Magdeburg 1878, II» S, 361.
Genuß des Martems lediglich aus den starken sinnlichen Reizen
dabei
Helvétius, Bain, Lull y, James, Herbert Spen-
cer, Steinmetz und viele andere Psychologen und Anthro-
pologen suchen diese innige Verknüpfung der Affekte, speziell
der Grausamkeit mit der Sexualität evolutionistisch zu
erklären, da zur Befriedigung der geschlechtlichen Bedürfnisse
der einzelnen stets ein Liebeskampf, ein Opfern vieler Mitbewerber
um die Gunst des geliebten Wesens notwendig war, wodurch
eine Assoziation zwischen Blutvergießen und
sexuellem Genüsse entstand, und die Kampfeswut, wie
Marro sehr richtig hervorhebt, durch eine Art von Ueber-
tragung von dem Riva-len sich plötzlich gegen das Weib richten
kann und nun sadistischen Charakter annimmt. Deutliche Spuren
dieses Zusammenhanges lassen sich noch in gewissen, bei vielen
Völkern zu beobachtenden Volksgebräuchen nach weisen, z. B.
wenn in Neu-Kaledonien das Mädchen von ihrem Liebhaber im
Busche verfolgt und nach geschehener Ueberwältigung und Be-
gattung „zersehunden, zerschlagen und zerkratzt, mit Bißwunden
an Schultern und Nacken bedeckt, zurückkehrt“.
Ick halte die emotionelle Theorie der Grausamkeit für die
beste, weil sie für alle Tatsachen die zwangloseste Erklärung
liefert und vor allem auch die so häufig beobachtete Grausamkeit
des Weibes erklärt, das als leichter erregbares Wesen
auch höhere, raffiniertere Grade von Grausamkeit zeigt als der
durch die Affekte nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu
bringende Mann. Schon Montaigne18) machte die feine Beob-
achtung, daß die Grausamkeit meist von einer „mollesse féminine“
begleitet sei, ebenso bemerkt Havelock Ellis,14) daß die
äußersten, raffiniertesten Grade von Sadismus häufiger mit einer
gewissen weiblichen Organisation zusammenfallen.
Man könnte die Grausamkeit des Weibes und entnervter,
weibischer Wollüstlinge auch aus der Furcht und Feigheit er-
klären, aus dem erniedrigenden Bewußtsein der Schwäche des
eigenen Wesens, das durch Grausamkeit gleichsam Rache nimmt
an der Stärke der anderen und vorübergehend durch den damit
verbundenen Machtrausch in der bloßen Idee der Superiorität
1S) Michel Montaigne, Essais, Paris 1886, S. 36.
l4) H. Ellis, Das Geschlechtegefühl, S. 117,
schwelgt. So erklärt sich gewiß die furchtbare Grausamkeit der
blasierten Wüstlinge, wie sie de Sade in seinen Romanen
schildert. Typen dieser Art waren Tiberius, Caligula,
Nero, Domitianus, Heliogabal, Cesare Borgia, von
Weibern Katharina von Medici und jene „zarten Kreolinnen,
die, wenn sie eben der wollüstigsten Genüsse sich erfreut haben,
die unglücklichen Neger unter ihren Augen mit Peitschenhieben
zerfleischen lassen“.* 16)
Außerdem verlangt die Abstumpfung der Sinne, wie
sie nach langen gewohnheitsmäßigen Aus sch w eifun gen eintritt,
die stärkeren Reizmittel der Grausamkeit. Wie beim Wüstling,
so schafft diese Abstumpfung auch bei der Prostituierten eine
Prädisposition für Sadismus. Viele Prostituierte und Masseusen
werden ebensosehr aus Neigung wie aus Gewohnheit (durch den
Verkehr mit der masochistischen Klientel) Sadistinnen und finden
einen sexuellen Genuß darin, die Männer zu peinigen, sie ver-
körpern Ideale von „Herrinnen“.
Bei Europäern ruft das heiße Klima eine besondere Art
wollüstiger Grausamkeit hervor, den sogenannten „Tropen-
k o 11 e r“. Seine Psychologie ist eine komplizierte. Es vereinigen
sich verschiedene begünstigende Umstände, um den Tropenkoller
zum Ausbruch zu bringen. Zunächst tritt er fast ausschließlich
bei Europäern auf, die in amtlichen Stellungen mit einer großen
Machtbefugnis ausgestattet, wie sie ihnen in der Heimat
nicht eingeräumt war, in die Tropen kommen, meist in Gegenden,
wo alle Schranken der konventionellen Moral und der landläufigen
gesellschaftlichen Beziehungen beseitigt sind, und der zivilisierte
Mensch ganz seinen inneren Trieben folgen kann, auch sich einer
„inferioren“ Rasse gegenüber befindet, die er als halb- oder ganz-
tierische Wesen ansieht und behandelt.16) Der Einfluß des Klimas
ist ebenfalls von großer Bedeutung, sei es, daß, wie Hans
v. Becker annimmt, durch die enorme Hitze Stoffwechsel-
störungen hervorgerufen werden und diese dann durch Bildung
von Toxinen das Zentralnervensystem und die Psyche schädigen
und die „tropical moral insanity“ herbeiführen, eine krankhafte
Impulsivität verbunden mit völliger Entwertung ethisch-morali-
1B) J. J. V i r e y, Das Weib, S. 347.
16) Diesen Gesichtspunkt hat I elix v. Luschan besonders be-
tont. Vgl. Politisch-anthropologische Revue, 1902, No, 1, S. 71.
625
gelier Grundsätze, sei es,, daß die abnorm Kobe Temperatur nach
Ansicht des Tropenhygienikers Plehn nur bei chronischen
Alkoholisten akute Ansbrüche in Form des „Tropenkollers“
hervorruft. Jedenfalls charakterisiert dieser letztere sich besonders
häufig durch exquisit sadistische Handlungen, wie die Kolonial-
skandale aller Länder beweisen. Im Zusammenhänge hiermit
bedarf es keiner weiteren Begründung, wie sehr die Institute
der Sklaverei und Leibeigenschaft von jeher sadistische
Instinkte erzeugt und gefördert haben, überhaupt alle Verhält-
nisse, wo einzelne das unbeschränkte Verfügungsrecht über Leib
und Leben ihrer Mitmenschen hatten.
Eine allgemeine Ursache der Algolagnie, der aktiven sowohl
als auch besonders der passiven liegt in dem verschiedenen
sexuellen Verhalten von Mann und Weib, das wieder
auf der Verschiedenheit der männlichen und weiblichen Natur
beruht. Die der stürmisch begehrenden Aktivität des Mannes
entgegengesetzte ruhige Passivität des Weibes, die man treffend
mit einem Magneten verglichen hat, der bei aller scheinbaren
Unbeweglichkeit doch das Eisen (den Mann) unwiderstehlich an-
zieht und festhält, gewissermaßen zu seinem Sklaven macht, diese
Passivität begründet die unverkennbare Ueberlegenheit des Weibes
in der rein sinnlichen Liebe. Die physische Natur allein
verleiht ihr ein Uebergewicht über den Mann, selbst dort, wo
sie äußerlich geknechtet erscheint. So ist offiziell bei den
Indianern Zentral-Brasiliens der Mann Herr und Gebieter der
Frau — und tut, was sie will.17) Und so ist es auch unter
der höchsten Kultur geblieben, wo rein sinnliche Beziehungen
allein in dem Verhältnis zwischen Mann und Weib maßgebend sind.
Der echte — es gibt auch scheinbare — „Pantoffelheld“
unserer europäischen Kultur ist derjenige Mann, der von Anfang
an durch sein übermäßiges geschlechtliches Bedürfnis unter die
Herrschaft seiner Frau gerät, durch dieses Bedürfnis fortdauernd
in Abhängigkeit von ihr erhalten wird, welche sich dann erst sekun-
där auf andere Verhältnisse erstreckt. Dies ist das psychologische
Geheimnis des Pantoffelheldentums, ebenso auch der „Mai-
tresse n-Herrschaft“, die zuerst nur auf die rein ge-
schlechtlichen Beziehungen zwischen König oder Fürst einerseits
17) K. v. d. Steinen, Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens,
Berlin 1894, S. 332.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 40
(41.—60. Tausend.)
626
und der MaitresSe andererseits sich gründet, später aber auch,
nach der politischen Seite sich betätigt. Je größer die sexuelle
Passivität und Kälte des "Weibes, desto leichter gewinnt es die
Herrschaft über den Mann. Ein probates Mittel hierzu ist die
schon früher erwähnte „Koketterie“, die man auch als die
Bemühung der "Weiber, die Männer an sich zu fesseln und unter
ihre Herrschaft zu bringen, definieren kann, und von der der
angelsächsische „Flirt“ nur eine leichtere Nuance ist, mehr
geistig-ästhetische Koketterie, während die echte Kokette sich
rein sinnlicher Mittel bedient und allein auf das Geschlecht
spekuliert, und zwar ohne Rücksicht auf die geistigen Eigen-
schaften. „Ein wirklich gefallsüchtiges Weib hört die fadeste
Schmeichelei des Geringsten mit Freuden an, gibt, sich die Mühe,
die Begierde des Verachtetsten zu reizen, auch wenn sie täglich
von lechzenden Bewunderern umschwärmt wird.“18) Joseph
Peladan erzählt in einem seiner Romane, wie eine vornehme
Mondäne beim Einsteigen in einen Wagen einem armen Manne
absichtlich ihre Waden zeigt, obgleich sie fortwährend mit den
Herren ihres Standes in gewagtester Weise kokettierte. Das
Weib trachtet eben instinktiv nach Unterwerfung des Mannes
und die wollüstige Reizung dient ihm als das beste und erprobteste
Mittel zu diesem Zwecke. Insofern der Mann ein „Sklave“ und
„Opfer“ seiner Sinnlichkeit wird, bekundet er seine masochistische
Disposition, insofern er aber sich durch' seine Kraft und Intelligenz
über diese „Geschlechtshörigkeit“ erhebt und nunmehr die natür-
liche Aktivität und Energie auch in den geschlechtlichen Be-
ziehungen zu dem ganz in die Passivität zurückgesunkenen Weibe
rücksichtslos und brutal betätigt, wiegt bei ihm das sadistische
Element vor. Hieraus ersieht man schon, weshalb Sadismus und
Masochismus sehr oft bei derselben Person auftreten können, sie
sind nur die aktive und passive Form der beiden zugrunde
liegenden Algolagnie, die das eigentliche Wesen dieser Er-
scheinungen ausmacht.
Wenn wir im folgenden in Kürze die einzelnen Erscheinungs-
formen und Typen des Sadismus bezw. Masochismus schildern,
so geschieht das also stets unter der stillschweigenden Voraus-
setzung, daß die meisten Typen keine reinen Formen von Sadismus
oder Masochismus sind, sondern eine Mischung von beiden. Das
18) S. R. Steinmetz, Ethnologische Studien zur ersten Ent-
wickelung der Strafe, Leiden und Leipzig 1894, Bd. I. S. 23.
gilt vor allem von der ata weitesten verbreiteten algolagnistiscben
Perversion, der sogenannten Flagellomanie (sexuelle
Flagellationssucht oder Flagellantismus), d. h.
dem Geißeln und Feit sehen oder Gegeißeltwerden
und Gepeitschtwerden zum Zwecke der geschlecht-
lichen Erregung. Die ausführlichste kritische Darstellung
des sexuellen Flagellantismus in physiologisch-psychologischer
und literar- und kulturliistorischer Beziehung findet sich im
zweiten Bande meines Werkes über das „Geschlechtsleben in
England“ (Berlin 1903, S. 336—481). Hier ist ziemlich vollständig
das gesamte einschlägige ältere und neuere Material gesammelt.19)
Die Flagellation ist deshalb der hauptsächliche Modus der
Betätigung sadistischer Neigungen geworden, weil gerade bei ihr
sich alle physiologischen sadistischen Begleiterscheinungen des
geschlechtlichen Verkehrs vereinigen und stärker potenziert zu-
tage treten. Sie ist eine Nachahmung und bewußte Synthese
dieser sadistischen Begleiterscheinungen und in primitivster Form
bereits bei Tieren zu beobachten. Besonders bei Tritonen und
Salamandern kann man eine typische, mit dem Schwänze aus-
geführte Flagellation vor dem Koitus beobachten. Der wollüstige
Genuß bei der Flagellation ist ein verschiedener, je nachdem
es sich um die aktive oder passive Flagellation handelt. Das
Wesen der letzteren besteht darin, daß heftige Beibungen und
Schläge, besonders in der Genitalgegend, speziell auf das Gesäß,
einen durch die schmerzhaften Sensationen eigentümlich ge-
steigerten wollüstigen Beiz Hervorrufen. Schon die bloße
Massage und Friktion der Haut hat diese Wirkung, be-
sonders nach warmen Bädern, was seit alters im Orient bekannt
ist und in den „türkischen“ Bädern geübt wird. Speziell die
Reibung des Gesäßes ruft eine rein physische, reflek-
torische Erregung des spinalen und sympathischen E ja-
kul ationsz ent rums hervor, noch! schneller bewirkt dies iS
iS) Vgl. ferner Albert Eulenburg, Sadismus und Masochis-
mus, Wiesbaden 1902, S. 67—68 (mit guter Bibliographie) ; Iwan
Bloch, Beiträge zur Aetiologie der Psychopathia. sexualis, Bd. II,
S. 76—97; Pierre Guénolé, L’étrange passion. La Flagellation
dans les moeurs d’aujourd’hui. Etudes et Documents. Paris 1904.
Don Brennus Aléra, La flagellation passioneile. Paris 1905.
Lord Drialys, Les délices du fouet. Précédé d’un Essai sur la
Flagellation et le Masochisme par Jean de Villiot, Paris 1907
(enthält zahlreiche interessante Details).
40*
628
das Geißeln und Peitschen, dieser Teile (sogenannte „untere
Disziplin“). Die Schmerzempfindungen sollen dabei schließlich in
reine Wollustgefühle übergehen, allerdings muß die Phantasie
da wohl sehr nachhelfen und das masochistische Element tritt
bei dem die Geißelung Erduldenden entschieden in den Vorder-
grund. Der durch die Geißelung verursachte stärkere Blutzufluß
zu den Geschlechtsteilen trägt freilich auch zur Hervorrufung
und Verstärkung des Wollustgefühles bei, gleichzeitig wird
durch ihn die Erektion des Gliedes herbeigeführt, daher die schon
von Petronius an einer berühmten Stelle des „Satyrikon.“
beschriebene sehr alte Benutzung der Flagellation zur Beseitigung
von Impotenz.
Für den aktiven Flagellanten ist die wollüstige Beizung
wesentlich sadistischer Natur, der Anblick der unter der Flagel-
lation zuckenden, sich rötenden oder gar blutenden Teile, das
Schreien des Flagellierten, die erotische Wirkung der kallipygi-
schen Beize spielen hier die Hauptrolle.
Die Neigung zur Flagellation, zur* passiven und aktiven,
läßt sich meist auf okkasionelle Veranlassungen
zurückführen, so durch den zufälligen Anblick von Prügelszenen,
während der Zuschauer gerade im Zustande sexueller Erregung
sich befindet, durch die offizielle und rituelle Ausübung der
Prügelstrafe in Schulen, Gefängnissen,20) Kasernen, Klöstern usw.,
durch das Prügeln und Schlagen bei Gesellschaftsspielen. Be-
sonders gefährlich ist das Prügeln von Kindern, deren Ge-
schlechtstrieb durch Schläge auf das Gesäß nur allzu häufig ge-
weckt und dann mit dem Prügeln unbewußt in einen dauernden
Kausalzusammenhang gebracht wird, woraus dann schließlich
eine sexuelle Perversion, eben die „Flagellomanie“ hervorgeht.
Bekannt ist Bousseaus diesen Zusammenhang schildernde
Erzählung aus den „Confessions“. Ich teile hier folgende Dar-
stellung eines Patienten über die ähnliche Entstehung seiner
Neigung zur Flagellation mit:
So ist bei mir leider seit frühester Jugend ein ähnlicher Flagellan-
tismus, wie Sie ihn schildern, geweckt worden. Dieser wurde zuerst
dadurch ausgebildet, daß meine Eltern den Dienstmädchen ein weit-
20) Besonders zur Zeit, als in Deutschland die Prügelstrafe noch
üblich war. Welche sadistischen Wirkungen diese hatte, schildert
W. Reinhard in dem berühmten Buche „Lenchen im Zuchthause“
(Karlsruhe 1840, Neudruck ca. 1901). In Rußland sind ja diese Ver-
hältnisse noch heute unverändert,
gellendes Zücht igungsreckt einräumten. So erhielt ich noch in meinem
14. Jahre von diesen mit voller Einwilligung meines Vaters Schläge;
und zwar wurden dieselben, da mein Vater jede andere Züchtigung
als gesundheitsschädlich streng verboten hatte, stets auf das Gesäil
verabfolgt und waren immer mit der Entblößung desselben verbunden.
Ja, ich erinnere mich noch lebhaft, daß mich im oben genannten
Alter ein Dienstmädchen, das kaum zwei Jahre älter war als ich,
mit besonderem Eifer die Rute fühlen ließ. Ebensogut weiß ich aber
auch, daß ich bereits in meinem neunten Jahre, als ich auf Sexta,
kam, infolge des ausgiebigen Gebrauchs, den gewöhnlich die Mädchen
von ihrer Befugnis machten, mir nichts mehr aus den Schlägen machte,
vielmehr schon von da ab, oft absichtlich, eine Züchtigung durch
die Dienstmädchen herbeiführte, was ja nicht schwer war. Und von
meinem 14. Jahre ab gab ich dann persönlich den Mädchen die Erlaubnis,
die Züchtigungen in obiger Weise ohne Wissen meiner Eltern fort-
zusetzen, und wurde stets durch eine solche geschlechtlich erregt.
Eben eine solche Erregung hatte ich auch durch den bloßen Anblick
der Züchtigungen meiner etwas jüngeren beiden Schwestern, welche
sogar bis in ihr 15. Jahr noch die Rute bekamen. Dies hatte nun
bei meinen Schwestern die Folge, daß sie zwar nicht späterhin noch
eine Fortsetzung dieser ihnen stets unangenehmen Prozedur begehrten,
dagegen immer gerne der Vornahme einer solchen bei mir zusahen.
Ja, mein Lustgefühl wurde sogar durch ihre Gegenwart noch gesteigert.
Auch bereitete es mir namentlich in späteren Jahren stets einen höheren
Genuß, wenn das Dienstmädchen mir in Gegenwart von ihren Freun-
dinnen Schläge gab, oder gar eine von diesen mich ihre Hand fühlen
ließ. Ich hatte nämlich am liebsten das Draufschlagen mit der bloßen
Hand, wenn ich mir auch mitunter grausame Züchtigungen mit dem
Stock und der Hundepeitsche auf ihren besonderen Wunsch gefallen ließ.
In einem zweiten Falle meiner Beobachtung-, der einen
28 jährigen Juristen betrifft, war der ursächliche Zusammenhang
für das Auftreten der Flagellomanie ein etwas anderer, Inehr
indirekter.
Mit 11 oder 12 Jahren lag er einmal auf einer Hundehütte uncL
masturbierte, wobei er sich die Füße festband, um in der sexuellen Er-
regung nicht herunterzurutschen. Seitdem hatte er stets das Bedürf-
nis, sich fesseln zu lassen, was er durch Knabenspiele (Räuber und
Gendarm) zu erlangen suchte, wobei er stets angenehme geschlecht-
liche Gefühle hatte, die durch onanistische Friktionen noch verstärkt
wurden. Im Alter von 15 Jahren trat dann im Zusammenhänge hier-
mit das Bedürfnis nach Prügeln während der Fesselung ein. Der Patient
hat zwar eine Abneigung gegen den normalen Koitus und gegen die
weiblichen Genitalien, begehrt aber die Flagellation nur von einem
Weibe. Ein zweimaliger Versuch zum normalen Geschlechtsverkehr
mißlang. Patient brachte auch einem Dienstmädchen die Neigung zur
passiven und aktiven Flagellation bei, und diese war nach anfänglichem
630
Widerstreben schon nach einem halben Jahre eine passionierte Fla-
gellantin. — Der Patient ist sonst durchaus gesund, hat auch als Ein-
jähriger bei der Kavallerie gedient.
Was die Entstehung des leider sehr verbreiteten „Erzieher-
Sadismus“ betrifft, wofür der allbekannte Fall des Lehrers
Dippold ja in neuester Zeit ein so erschreckendes Beispiel
lieferte,21) so kann der Lehrer oder Erzieher im Anfänge seiner
Tätigkeit noch durchaus frei von irgend welchen flagellantistischen
Neigungen sein. Diese stellen sich vielmehr erst im Laufe der
gewohnheitsmäßigen Ausübung der körperlichen Züchtigungen
ein, so daß diese allmählich dem Betreffenden einen sexuellen
Genuß bereiten. Solange sich diese Züchtigungen in normalen
Grenzen halten imd nur gelegentlich vorgenommen werden, handelt
es sich um eine Neigung und Aberration der geschlechtlichen
Befriedigung, die bei zahlreichen gesunden Individuen vorkommt,
auch wenn sie nicht Lehrer und Erzieher sind und meist im
Bordell oder bei „Masseusen“ Gelegenheit zur Betätigung suchen
und finden. In den Fällen aber, wo eine systematische Flagello-
manie sich ausbildet und der Betreffende nicht mehr prügelt,
sondern mißhandelt und foltert und zwar gewohnheitsmäßig und
mit bestialischer Grausamkeit, wie im Falle Dippold, da
dürfte es sich doch wohl stets um einen auf dem Boden einer
krankhaften Veranlagung entwickelten Sadismus handeln. Der-
art scheinen die folgenden Fälle zu sein:
1. Ein Fall, welcher an Dippold erinnert, kam vor der Strafkammer II
in Hamburg zur Verhandlung. Angeklagt war ein den gebildeten Stän-
den angehöriger Mann, welcher Universitäten besucht hat, Reserve-
offizier geworden ist und noch mehrere andere Stellungen, zuletzt die-
jenige des Redakteurs eines Fachblattes, bekleidet hat, welches von
einer Annoncenexpedition herausgegeben wird. Der Angeklagte wohnte
von 1900 bis 1903 in Berlin. Dort trat er in ein intimes Verhältnis
zu einer Frau, die er veranlaßte, ihm ihren Knaben zur Erziehung zu
übergeben. Nachdem er im Juli 1903 nach Hamburg übergesiedelt
war, veranlaßte er Anfang Januar 1904 die Frau, ihren Knaben zum
Zweck der Fortsetzung der Erziehung nach Hamburg zu senden. Hier
gab er den Knaben in eine Pension, mietete aber, „um beim Unterricht
nicht gestört zu werden“, noch ein besonderes Zimmer in der Nähe
der Pension. Beim Mieten fragte er die Wirtin, ob auch Portieren und
Vorhänge zum Verhängen der Fenster vorhanden seien. Gleich am
ersten Tage des Besuchs des Zimmers bemerkte die Vermieterin, daß
21) P. Näcke, Forensisch - psychiatrisch - psychologische Rand-
glossen zum Prozeß Dippold, insbesondere über Sadismus. In: Archiv
für Kriminalanthropologie 1903, Bd. XIII, Heft 4, S. 350—372.
631
der Angeklagte den Knaben züchtigte, und da sie dies in ihrer Wohnung
nicht dulden wollte, erstattete sie Anzeige bei der Polizei, Letztere
fand aber keinen Grund zum Einschreiten. Nach einiger Zeit erfuhr
die Frau bei Befragung des Knaben indessen merkwürdige Dinge, nament-
lich auch über die „Erziehungsmethode“, welche der Angeklagte in
Berlin betrieben hatte und erstattete sie abermals Anzeige, worauf der
Angeklagte verhaftet wurde. Der Angeklagte gab zu, den Knaben
heftig mit dem Rohrstock gezüchtigt zu haben, doch sei dies nur
aus erzieherischen Gründen geschehen, da. der Knabe einen schlechten
Charakter habe. Demgegenüber gaben sowohl seine Berliner als die
Hamburger Lehrer und die Inhaberin der Pension, in welcher -der
Knabe wohnte, demselben ein sehr gutes Zeugnis. Mit Rücksicht auf
die Art und Weise der vorgenommenen Züchtigungen, welche in der
unter Ausschluß der Oeffentlichkeit stattfindenden Verhandlung ein-
gehend erörtert wurde, war es dem Gericht nicht zweifelhaft, daß
der Angeklagte die Züchtigungen nicht im erzieherischen Interesse,
sondern aus perversen Neigungen vorgenommen hat, und verurteilte es
ihn wegen Sittenvergehens zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahre
und zwei Jahren Ehrverlust. Bemerkenswert ist, daß der Angeklagte
in der letzten Zeit der Tat mit einer jungen Frau in glücklichster
Ehe lebte.
2. Dippolds Nachfolger. Folgende seltsame Geschichte wird dem
„Berliner Tageblatt“ (No. 629 vom 11. Dezember 1903) berichtet: Ein
hiesiger Möbelpolierer machte sich an Knaben, die er auf der Straße
sah, heran, gab ihnen irgend einen Auftrag und richtete es so ein,
daß sie schließlich zu ihm auf sein Zimmer kommen mußten. Hier
gab er sich dann für einen Kriminalbeamten aus, zeigte den Jungen
eine Marke, die sie für einen Ausweis hielten, und hielt ihnen eine
scharfe Strafpredigt. „Zu seinem Bedauern“ teilte ihnen der Kriminal-
beamte schließlich mit, daß er ihre Eltern wegen der vielen Unarten
und bösen Streiche der Jungen in eine Geldstrafe nehmen müßte,
wenn die Uebeltäter es nicht vorzögen, sich auf der Stelle körperlich
züchtigen zu lassen. Der „Beamte“ hatte leichte Mühe, seine Opfer
zur Entgegennahme der Züchtigung zu bewegen. Nachdem er sie dann
über das Knie gelegt und mit einem Stock bearbeitet hatte, sah er
nach, ob die Schläge auch etwa zu deutliche Spuren hinterlassen
hätten, und schickte nun die Jungen mit einigen Ermahnungen nach
Hause. Die Gezüchtigten hüteten sich zwar*, ihren Eltern zu erzählen,
wras mit ihnen vorgegangen war, aber es kam doch an den Tag, und
der neue Dippold, der nach einem Verhör auf freiem Fuße belassen
wurde, wird sich nun wegen der Mißhandlungen und wegen Anmaßung
eines Amtes zu verantworten haben. Bisher kommen zwei Fälle in
Betracht, wahrscheinlich aber dürften es noch mehr sein. Der 25
Jahre alte junge Mann macht mit seiner kleinen und schmächtigen
Gestalt und einem blonden Schnurrbärtchen den Eindruck eines Acht-
zehnjährigen.
Häufig wird die Neigung zur Flagellation erst in den Bor-
632
dellen künstlich gezüchtet. Hogarth hat mit Recht in seinem
„Weg einer Buhlerin“ die Rute als notwendiges Requisit des
Bordellinterieurs angebracht, und nur selten fehlt dieses einfache
Flagellationsinstrument in der Wohnung einer Prostituierten.
Freilich hat es nur England, das klassische Land der Flagello-
manie zu eigentlichen „Flagellationsbordellen“22) gebracht, z. B.
in dem berüchtigten Institut der Theresa Berkley, der
Erfinderin eines besonderen Apparates zum Auspeitschen der
Männer, des sogenannten „Berkley-Pferdes“. Es scheint, daß in
England besonders das weibliche Geschlecht Geschmack an der
aktiven (und auch passiven) Flagellation findet, wie denn auch
ein deutscher Autor23) dem Weibe eine größere Neigung zur
Flagellomanie vindiziert. Diese Neigung wird durch gewisse
männliche Flagellanten gefördert, die in der Flagellation von
Weibern Befriedigung finden. Guénolé (a. a. 0. S. 151—152)
berichtet sogar von geheimen Stätten in Paris, wo junge Frauen
und kleine Mädchen sich zu einer Art „Schule“ versammeln, in
der männliche Sadisten mit der Rute den „Unterricht“ erteilen!
Im Zusammenhänge mit der Flagellation steht die eigentüm-
liche Neigung zum Fesseln, zum Wehrlosmachen der zu
flagellierenden Individuen, wofür es sogar besondere Apparate
nach Art des im 18. Jahrhundert vom Herzog von Fronsaä
erfundenen „Fesselstuhles“ gibt.24) Hierher gehört auch der Zwang,
enge Schuhe und Handschuhe, und besonders enge Korsetts zu
tragen, die sogenannte „Korsettdisziplin“, wobei die oder
auch der Betreffende in ein ganz enges Korsett eingezwängt wird,
was besonders in England mit der sexuellen Flagellation ver-
bunden wird.
Ist die Flagellomanie nur in relativ seltenen Fällen ein die
Zurechnungsfähigkeit gänzlich ausschließender krankhafter Zu-
22) Ygl. über die englischen Flagellationsbordeile und die The-
resa Berkley mein „Geschlechtsleben in England“, Bd. II, S. 429
bis 443.
23) H. La wes, Die weiblichen Reize, Leipzig o. J. (ca. 1877),
Seite 180.
24) Siegfried Türkei (Sexualpathologische Fälle. In: Archiv
für Kriminalanthropologie 1903, Bd. XI, S. 219—220) erwähnt den Fall
eines Schauspielers, der, unter dem Namen „Der Notzüchter“ bekannt,
Prostituierte veranlaßte, sich gegen gute Honorierung oft stundenlang*
zu wehren und erst dann scheinbar seiner Gewaltanwendung zu weichen.
Einmal nahm er ein junges Mädchen mit in seine Wohnung, fesselte
es plötzlich und vergewaltigte es in diesem Zustande.
633
stand, so ist letzterer in der Mehrzahl der Fälle bei den Formen
von Sadismus vorhanden, die wir nunmehr besprechen. Dazu
gehören:
1. Sadistische Körperverletzungen und „Lust-
morde1^. — Haupttypen dieser Kategorie sind die „Mädchen-
stecher“ und Lustmörder, die nur zum Zwecke der sexuellen
Erregung bezw. bereits unter dem Einflüsse derselben, Frauen
mehr oder minder schwere Verletzungen mit dem Messer oder
anderen Mordinstrumenten beibringen. Die Absicht der Tötung
besteht dabei wohl nur in den seltensten Fällen. Der „Lustmord“
ist meist nur ein Mord im Anschlüsse an einen mit Gewalt
erzwungenen Geschlechtsakt (aus Furcht vor Entdeckung usw.),
der mit diesem letzteren selbst nichts zu tun hat, oder erscheint
auch nur als Lustmord, wenn der Tod gegen die Absicht des
Attentäters infolge einer sadistischen Körperverletzung eingetreten
ist. Die Tötung ans rein geschlechtlichen Motiven, als Akzessorium
oder Surrogat des Geschlechtsaktes ist ein sehr seltenes Vor-
kommnis, wie die Fälle des Andreas Bickel, des Menes-
clou, Alton, Gruyo, Verzeni,25) „Jack the Kipper“,
des Frauenmörders von Whitechapel. Viele „Mordepidemien“
(manie homicide), wie sie kürzlich in Schweden im Anschluß
an die vielfachen Morde des unbegreiflicherweise dafür hin ge-
richteten, zweifellos geisteskranken Nordlund auftraten, hängen
gewiß mit sexuellen Dingen zusammen. Die beiden folgenden
Fälle aus Deutschland betreffen typische „Mädchenstecher“.
#■
Ludwigshafen a. Eh., 26. März 1901. Nach Art des Whitechapler
Frauenmörders machte ein unheimlicher Verbrecher seit Wochen den
in der Eichtung nach dem Vororte Mundenheim gelegenen Stadtteil un-
sicher. Nicht weniger als elf Mädchen wurden nach Eintritt der
Dunkelheit durch Stiche in den Unterleib mehr oder weniger schwer
verletzt. Heute Nacht gelang es der Polizei, den Täter festzunehmen.
Es ist der 28 jährige Viehtreiber Wilhelm Damian. Er war schon vor
fünf Jahren unter dem Verdacht, an einem Dienstmädchen einen Lust-
mord verübt zu haben, in Untersuchungshaft genommen, aber mangels
genügender Beweismittel wieder freigelassen worden. Jetzt wird auch
der Verdacht rege, daß Damian außerdem einen vor zwei Jahren bei
Mundenheim an einem siebenjährigen Mädchen begangenen Lustmord
auf dem Gewissen habe, da die näheren Umstände die Täterschaft eines
Schlächters voraus setzen, was bei ihm zutrifft.
25) Hier hing nach Krafft -Ebing das Leben seiner' Opfer von
dem raschen oder spät n Eintreten der Ejakulation ab.
Kiel, 29. November 1901. Es ist noch immer nicht gelungen, des
Messerhelden habhaft zu werden, der bereits seit acht Tagen sein
Wesen in den verschiedensten Stadtteilen treibt. Wenn er anfangs
sich ausschließlich auf die nördlichen Quartiere beschränkt und dort
nur Frauen und Mädchen verwundet hatte, so ist er in den letzten
Tagen nicht nur im Mittelpunkte, sondern auch ganz im Süden der
Stadt aufgetaucht, wo vorgestern abend noch ein Mädchen durch zwei
Stiche am Halse und in der Hüfte verwundet worden ist. Inzwischen
ist auch ein Mann, wie es scheint von demselben Täter, angestochen,
aber nicht verletzt worden. Und dies hat sich ereignet in einer der
belebtesten Straßen der Stadt, so daß das Entkommen des Täters
geradezu rätselhaft ist.
Auch andere eigenartige sadistische Verletzungen kommen
vor. So wurde 1902 von der Breslauer Strafkammer ein 22jähriger
Buchdrucker verurteilt, weil er in dreizehn Fällen junge
Damen mit Schwefelsäure begossen hatte! Auch hier hat
es sich wahrscheinlich um sadistische Neigungen gehandelt. Ob
ein Ende Oktober 1906 in Berlin beobachteter Fall, in dem ein
junges Mädchen einem anderen Mädchen vom Zahnarzt (!) zwei
Zähne ohne Grund ausziehen ließ (nach vorheriger Betäubung),
sadistischer Natur ist, ist noch nicht festgestellt. Dagegen
handelt es sich um zweifellosen Sadismus in jenen Fällen, wo
Männer oder Frauen dem Liebespartner kleinere Verletzungen
beibringen, um dann das Blut zu sehen bezw. auszusaugen, wo-
bei sie sexuelle Befriedigung haben („sexueller Vampyris-
m u s“). Auch manche Giftmorde, die mit Vorliebe von Frauen
begangen werden, entspringen sadistischen Neigungen. Wenigstens
waren die meisten professionellen Giftmischerinnen, wie die
Jegado, Brinvilliers, die Ü r s i n u s, die berüchtigte
Bremer Giftmischerin Gottfried u. a. geschlechtlich sehr stark
erregbare bezw. ausschweifende Frauen, so daß hier wohl Wollust
und Mordlust in einem ursächlichen Zusammenhänge stehen.
2. Beeinträchtigung und Schädigung fremden
Eigentums aus sadistischen Motiven. — Hierzu ge-
hören alle sadistischen Beschädigungen nicht der Person selbst,
sondern des ihr gehörigen Eigentums, z. B. das Begießen der
Kleidung mit Vitriol, wofür der folgende Fall (nach Voss.' Zeit.
No. 574, vom 7. Dezember 1905) ein Beispiel ist.
Mit Vitriol macht zurzeit ein unbekannter Mann den Südosten
Berlins unsicher. Der gefährliche Bursche hat es hauptsächlich auf
helle Damenkleidung abgesehen. Gestern abend vernichtete er einer
635
jungen Dame, welche die Hermannstraße passierte, ihr helles neues
Kleid fast vollständig. Der Täter, der sich anscheinend nur ein
Vergnügen macht, die Bekleidung von Damen zu beschädigen, ist
von mittlerer Figur, etwa 35 Jahre alt, hat blondes Haar und trägt
einen modefarbenen Ueberzieher.
Ferner gehört hierher die Brandstiftung aus sexuellen
Motiven, die man früher26) aus einer Art von „Feuergier“ ab-
leitete, die aber wohl, wenn sexuelle Motive mitspielen, rein
sadistischer Natur ist.27) Ebenso ist die sexuelle Klepto-
manie, der Diebstahl aus sexuellen Motiven zu beurteilen.
Schon Lichtenberg kannte ihn, da er sagt, daß „der Ge-
schlechtstrieb so häufig zu Diebereien verleitet“, und dem in
England gemachten Vorschläge, die Diebe zu — kastrieren, Bei-
fall zollt.28) Die organische Bedingtheit der heute besonders in
den großen Warenhäusern beobachteten Kleptomanie ist sehr
häufig eine sexuelle (Pubertät, Klimakterium, Menstruations-
anomalien usw.). Fälle solcher Art haben Worbe, Gönner,
Schmidtlein, Unzer, Häußler, Lombroso und
Ferrerò mitgeteilt. Jedenfalls ist der Verdacht einer sexuell-
sadistischen Grundlage der Kleptomanie stets gerechtfertigt, wenn
reiche Damen wiederholt ganz unbrauchbare und geringwertige
Gegenstände entwenden.
Außer diesen beiden Kategorien von Sadismus, die zum
großen Teile auf krankhaften Zuständen beruhen, gibt es nun
noch symbolische Formen des Sadismus, wo dieser mehr in
der Vorstellung als in der Wirklichkeit sich betätigte und in
allen möglichen Phantasien der Schmerzzufügung und
Demütigung schwelgt.29) Dieser abgeschwächte Sadismus steht
wieder in einem gewissen Zusammenhänge mit dem physiologischen
Sadismus. So ist der sogenannte „WortSadismus“ weiter
26) y gi. San t lus, Zur Psychologie der menschlichen Triebe,
Archiv für Psychiatrie, 1861, Bd. VI, S. 255.
S7) Vgl. über die sadistische Brandstiftung meine „Beiträge“, usw.,
II, 116-118.
28) G. Chr. Lichtcnbergs Vermischte Schriften, herausgegeben
von L. Chr. Lichtenberg und Friedrich Kries, Göttingen
1801, Bd. II, S. 447.
29) Hierher gehört auch der eigentümliche, von Siegfried
Türkei („Sexualpathologische Fälle“ in: Archiv für Kriminalanthro-
pologie 1903, Bd. XI, S. 215—218) mitgeteilte Fall eines Historikers,
den der „Anblick eines sexuell entbehrenden Weibes und ihres psy-
chischen Leidens“ durch die „Qual der Liebe“ sexuell erregte. — Ein
nichts als eine Steigerung und drastische Betonung der physio-
logischen Wollustlaute und Schreie in coitu, deren Wirkung im
Wortsadismus durch die Akzentuierung des Tierischen,
Brutalen, Rohen und Obszönen erhöht wird und stärkeren
sexuellen Reiz hat. Der Wortsadismus ist nicht etwa ein be-
sonders ausgeklügeltes Raffinement moderner Wüstlinge, sondern
eine folkloristische und ethnologische Erscheinung, eine außer-
ordentlich verbreitete Ausdrucksform der primitiven sadistischen
Instinkte des Genus Homo. In der Volkssprache aller Länder
verbinden sich das Schimpfwort und der E1 uch überaus
häufig mit geschlechtlichen Dingen bezw. werden geschlechtlich
nuanciert. Die Naivität dieser tausendfach variierten geschlecht-
lichen Zynismen und Elüche bezeugt ihren Ursprung aus rein
instinktiven Quellen der Volksseele, wie das schon die Gebrüder
Grimm erkannt haben, die dem obszönen Wortschatz des
deutschen Volkes in ihrem berühmten Wörterbuch sorgfältige
kritische Untersuchungen gewidmet haben. Reiches Material für
das Studium der Quellen des Wortsadismus bieten die Vo ca-
bularia erotica von Hesychios bis auf die Neuzeit, ebenso
die lokalen und provinziellen Rätsel- und Sprichwörter-
sammlungen.30) Ein typisch ausgebildeter Wortsadismus findet
sich bei den Indern, besonders den Erauen, mit Recht leitet ibr»
der indische Erotiker Vätsyäyana aus den verschiedenen
Leuten ab, die auch im normalen Beischlafe ausgestoßen werden.
In europäischen Bordellen sind die Wortsadisten und Wort-
masochisten wohlbekannte Erscheinungen, Männer, die durch das
Aussprechen möglichst roher, gemeiner, obszöner Worte, Elüche
und Beschimpfungen, sei es, daß sie selbst dies tun (Wortsadismus)
oder anhören (Wortmasochisten) einen geschlechtlichen Genuß
finden. In einem erotischen Roman heißt es: „Denn wir müssen
uns mit Worten sagen — das! Seufzer sind Lügen! Stöhnen
ist nichts — Worte sind alles!” Zu diesem Wortsadisten ge-
anderer Mann (ibidem S. 222—223) fand sexuelle Erregung und Befrie-
digung nur dadurch, daß er sich an der sichtbaren Angst weiblicher
Individuen weidete, z. B. solcher, die er selbst fälschlich wegen
Diebstahls denunziert hatte!
so) Vgl. das Verzeichnis der erotischen Wörterbücher in meinen
„Beiträgen zur Aetiologie der Psychopathia sexualis“, Eid. II, S. 10t
bis 105. — Neuerdings widmet die von E. S. Krauß herausgegebene
„Anthropophyteia“ diesen eigenartigen Aeußerungen der Volksseele eine
besondere Aufmerksamkeit.
687
hören auch die von A. Eulen bürg (Sexuale Neuropathie, S. 104)
als „verbale Exhibitionisten” geschilderten Individuen,
die sich gern vor anderen in lasziven Gesprächen ergehen bezw.
Frauen schmutzige Worte ins Ohr flüstern. Viele Männer suchen
bei Dirnen nicht Geschlechtsverkehr, sondern nur die Gelegenheit
zu solcher mehr als freien Unterhaltung. Der folgende noch
durch bisexuelle bezw. masochistische Züge komplizierte Fall ist
hierfür charakteristisch.
Ein Großkaufmann in mittleren Jahren stattet von Zeit zu Zeit
einer Kokotte einen Besuch ab, zieht sich, dann die Samtkleider des
Mädchens an, während sie Herrenkleidung anlegen muß. Dann gehen
sie Arm in Arm in dunkeln, wenig belebten Straßen spazieren und
führen eine äußerst obszöne, zynische Unterhaltung. Dies allein genügt
ihm zur sexuellen Befriedigung. Während der ganzen Zeit rührt er
das Mädchen nicht an.
Uebrigens können diese sexuellen Zynismen und Beschimp-
fungen auch brieflich mitgeteilt werden. Dann hätten wir eine
Art von „Schriftsadismus“ und „Schriftmasochis-
mus“. Besonders der erstere wird in den Kreisen der „Masseusen“
und „.strengen Erzieherinnen“ gegenüber ihrer masochistischen
Klientel oft angewendet, während die Antworten der zweiten
Gattung angehören.
Eine merkwürdige symbolische Form von Sadismus bezw.
Masochismus stellt das Einö 1 en und Einseifen zum Zwecke
der geschlechtlichen Befriedigung dar. Besonders das Einseifen
ist eine in der Bordellpraxis sehr bekannte Erscheinung. Ent-
weder findet der betreffende Mann im Ed.nseifen der Dirne einen
sexuellen Genuß oder er läßt sich selbst von ihr zum Zwecke
geschlechtlicher Erregung einseifen. Als ich vor einiger Zeit in
einem Zivilprozesse, wo ein Mann der ersteren Handlung be-
schuldigt wurde, auf analoge Vorkommnisse in Bordellen bezw.
bei Prostituierten hinwies, bestritt ein anderer Arzt dieses „Ein-
seifen“ zum Zwecke geschlechtlicher Erregung als ihm „unbe-
kannt“. Es ist aber eine sehr bekannte Erscheinung, deren
Existenz mir auch von Berliner und namentlich Hamburger
Kollegen bestätigt wurde. Nach ihrer ganzen Art ist sie
sadistischer bezw. masochistischer Natur. Ob dabei eine „Be-
sudelung“ vorkommt, wie in jenem von Krafft-Ebing be-
richteten Falle, wo ein Mann seine Geliebte mit Kohle schwärzt,
ist dabei gleigültig. Der larvierte Sadismus steckt in dem
A kte der Manipulation des Einölens bezw. Einseifens selbst.
Als eine letzte Form des symbolischen Sadismus kann die
Gotteslästerung ans sexuellen Motiven betrachtet
werden, der sogenannte „Satanismus“, der besonders im
Mittelalter eine große Rolle spielte und in der „Satans mes so“
einen eigenen Kult fand, wo die religiöse Messe durch geschlecht-
liche Handlungen profaniert und aufs äußerste beschimpft wurde.
Nach Schwâblé sollen diese obszönen Messen heute wieder
an zwei Orten in Paris gefeiert werden. Er schildert ausführlich
eine solche Satansmesse in einem Hause der Rue de Vaugirard.31)
Die passive Algolagnie, der Masochismus, die
Sucht, Schmerzen und Demütigungen und Erniedri-
gungen aller Art zum Zwecke der geschlechtlichen Erregung
zu erdulden, ist heute vielleicht noch mehr verbreitet als sein
Widerspiel, der Sadismus.32) Die im Konventionalismus der Zeit
liegende Ursache habe ich schon öfter hervorgehoben (vgl. oben
S. 360—362; 518—520). Hierfür spricht auch die merkwürdige
Tatsache, daß gerade Juristen, hohe Staatsbeamten und Richter
ein unverhältnismäßig großes Kontingent zur masochistischen
Klientel stellen, also Leute, denen in ihrer Lebensstellung eine
gewisse Machtbefugnis eingeräumt ist, denen der Beruf eine strenge
Amtsmiene auf zwingt. Gerade diese empfinden vielleicht die
Betätigung masochistischer Neigungen als eine Art Befreiung vom
konventionellen Drucke und der Maske des Berufs.
Der Zusammenhang zwischen Liebe, Wollust und Schmerz-
erduldung ist bereits beleuchtet worden. Beim Masochismus kommt
noch das wichtige Moment der Demütigung, der völligen Hin-
gebung mit Leib und Seele, der Opferung hinzu. Sehr schön
schildert die Vereinigung dieser Empfindungen und ihre wollüstige
Betonung Alfred de Müsset:83)
S1) R. Schwaeblé, Les Détraquées de Pa,ris, S. 3—10.
32) Der typische literarische Vertreter des Masochismus, der auch
im Leben ein leidenschaftlicher Anbeter der Peitsche war, ist Leopold
von Sacher-Masoch (1836—1895). Vgl. über ihn, sein Leben,
seine sexuellen Perversionen und seine Schriften : C. F. v. Schlichte-
groll, Sacher-Masoch und der Masochismus, Dresden 1901 ; W a n d a
von Sacher-Masoch, Meine Lebens beichte. Berlin und Leipzig
1906; C. F. v. Schlichtegroll, „Wanda“ ohne Pelz und Maske.
Eine Antwort auf „Wanda“ von Sacher-Masochs „Meine Lebensbeichte“
nebst Veröffentlichungen aus Sacher-Masochs Tagebuch, Leipzig 1906.
8S) A. de Müsset, Beichte eines Kindes seiner Zeit. Deutsch
von H. Conrad, Leipzig 1903, S. 39.
639
„Meine Leidenschaft für meine G-eliebte war geradezu unbändig
gewesen, und mein ganzes Leben hatte davon etwas Mönchisch-Wildes
bekommen. Ich will nur ein Beispiel dafür anführen: Sie hatte mir
ihr Miniaturbildnis in einem Medaillon gegeben; ich trug es auf dem
Herzen — das tun viele Männer. Aber als ich eines Tages bei einem
Trödler eine eiserne Geißel fand, an deren Ende ein mit Stacheln
besetztes Blättchen angebracht war, da ließ ich das Medaillon an dem
Plättchen befestigen und trug es so. Die Stacheln, die bei jeder
Bewegung mir in die Brust eindrangen, verursachten mir eine so eigen-
tümliche Wonne, daß ich zuweilen meine Hand darauf preßte, um
sie tiefer eindringen zu fühlen. Ich weiß wohl, so etwas ist Torheit;
aber die Liebe macht noch ganz andere Torheiten.“
Der physische Schmerz spielt beim Masochismus eine große
Rolle. Die „Herrinnen“ verfügen über ein reichhaltiges Instru-
mentarium zur Hervorrufung desselben, denn die Masochisten
haben oft die seltsamsten Gelüste bezüglich der Axt und Methodik
der Schmerzzufügung. Einzig dastehend in ihrer Art sind wohl
die beiden folgenden authentischen Fälle, die mir von Kollegen
Dr. D. in Hamburg freundliehst mitgeteilt wurden:
1. Ein reicher Hamburger Kaufmann, der unter dem Namen „Nagel-
wilhelm“ bei den Prostituierten bekannt ist, verkehrte sexuell nur
mit einigen Prostituierten, die sich die Nägel ganz spitz wachsen
ließen. Sie mußten ihn dann an der Raphe scroti und am Membrum so
lange kratzen, bis das Blut in Strömen herablief. Eines Tages er-
schien er beim Arzte mit einem furchtbaren Oedema scroti et penis.
2. Ein anderer Mann ließ sich mit dicken, sogenannten Pack-
nadeln den Hodensack auf dem Polster des Sophas annähen, verharrte
eine Zeitlang in dieser „fesselnden“ Situation, worauf der Knoten
wieder gelöst wurde!
Alle möglichen schneidenden und stechenden Instrumente und
brennenden Gegenstände dienen zur Befriedigung der Schmerz-
lüsternheit der Masochisten. Diese lassen sich kratzen, beißen,
zwicken, brennen, Haare ausreißen, mit Füßen treten, mit Ruten
oder Ochsenziemern peitschen und auf alle mögliche "Weise in
besonderen „Folterkammern“ und „Hinrichtungszimmern“
„peinlich befragen“. Eine solche veritable Folterkammer bei einer
Hamburger Prostituierten hat kürzlich Staatsanwalt Dr. Ertel
beschrieben.34) Das in der Wohnung der betreffenden Dirne auf-
genommene Protokoll des Untersuchungsrichters hierüber lautet:
S4) Ertel, Ein „Sklave“. In Archiv für Kriminal-Anthropologie
und Kriminalistik, herausgegeben von Hans Groß, Leipzig 1906,
Bd. 25, Heft 1—2, Seite 107. — Hamburg scheint überhaupt ein Dorado
640
„Seitwärts hinter dem Badezimmer ist die Eingangstür zn dem
sogenannten schwarzen Zimmer.
Die sämtlichen Wände dieses einfenstrigen Zimmers waren mit
einem völlig schwarzen kalikoartigen Stoff überzogen, ebenso die Gips-
decke, von deren Mitte ans einer schwarzen Rosette ein Flaschenzug hing,
bestehend aus den üblichen Rollen und Scheiben, in diesem Falle
von Metall, und einer starken, gedrehten Schnur.
In der dunklen Ecke zwischen dem Fenster und der Wand stand
ein eigentümliches, aus grob gehobelten Bohlen zusammengeschlagenes
Gerüst, bestehend aus zwei nebeneinander gestellten gleichen Teilen.
Mit der Rückseite war dies Gerüst an die neben dem Fenster befindliche
Wand gelehnt.
Der Zweck dieses Gerüstes war nicht ohne weiteres erkennbar.
Yon der Seite aus gesehen war die Gestalt dieses Holzgestelles etwa
diejenige eines Gerüstes eines schweren, unbeholfen gearbeiteten Lehn-
sessels. Der obere Teil der Lehne befand sich etwa in Schulterhöhe.
An dem Gerüste am oberen Rande befanden sich fünf ziemlich starke
eiserne Ringe eingeschroben. Das Gerüst hat Rollen unter den Fuß-
brettern und läßt sich fortschieben.
An der Wand'hing an einem Nagel ein mit Schnallen versehener
Ledergurt, an welchem ein großer Prügelhaken war, ferner ein fast
fingerdickes, am Ende in eine Schlinge a.uslaufendes Tau; weiter zwei
Hundehalsbänder, ein Teil eines Stockdegens — Griff mit kantiger,
spitzer Stahlklinge — dem Anscheine nach aus einem hierzu ein-
gerichteten Damensonnenschirm oder Spazierstock stammend, wie an
dem Griff zu erkennen war, ein zirka 50 cm langes Bambusstäbchen,
zwei Lederriemen, mehrere längere Schnüre und Taue und ein Paar
schwere eiserne Handfesseln mit Schrauben und Schlüssel zum Fesseln,
sowie eine Laterna magica-
Das von der Wand des schwarzen Zimmers nach dem Badezimmer
führende Milchglasfenster war durch besondere Vorhänge verhüllt. Die
innere Seite der Zimmertür war gleichfalls schwarz überzogen.
Bezüglich dieses schwarzen Zimmers hat die A. angegeben:
Z. verlangte, daß ein Zimmer als „Zimmer des Gerichts“ ganz
schwarz drapiert würde. Er schickte mir Flaschenzüge aus Köln,
an denen er in die Höhe gezogen und aufgehängt35) werden wollte.
Das regte ihn auf, er wurde ganz blau aussehend und „wurde dabei
fertig“. Ich habe dabei Angst gehabt, daß er sterben könnte, und
es nur einmal geschehen lassen.
Auf dem Gestell im schwarzen Zimmer wurde Z. festgeschnallt
für die masochistische Prostitution zu sein. Ygl. auch die Mitteilungen
bei D. Hansen, Stock und Peitsche, 2. Aufl., Dresden 1902, S. 164
bis 165.
®5) Ueber die wollüstigen Empfindungen beim Hängen vergl.
meine „Beiträge usw.“ II, 173, besonders aber „Geschlechtsleben in
England“, Berlin 1903, Bd. III, S, 94—99; Havelock Ellis, Das
Geschlechtsgefühl, S. 153—161.
641
und festgebunden, wobei er die Illusion zu haben glaubte, daß er auf
dem Schafott sei.“
Eine ausgebreitete masochistische Prostitution in
allen Großstädten dient den Gelüsten der männlichen und nicht
selten auch weiblichen Masochisten. Diese Priesterinnen der
Venus flagellatrix verbergen sich gewöhnlich hinter der Deck-
firma einer „Masseuse“,36) einer „Erzieherin“ oder „Gou-
vernante“ mit dem vielsagenden Beiworte „streng“ oder
„energisch“, auch „Wanda“ ist ein beliebter Deckname,
dem der masochistische Spitzname „Severin“ (nach den Haupt-
personen in Sacher-Masochs „Venus im Pelz“) entspricht.
Diese Weiber, die „Herrinnen“, behandeln nun ihre
masochistische Klientel vollkommen als „Sklaven“ oder
„Hunde“ und erhalten diese Fiktion nicht bloß bei sich, sondern
auch in den Korrespondenzen — die Masochisten sind alle leiden-
schaftliche Korrespondenten — aufrecht. Auch das Verhältnis
der „Dame“ zu ihrem „Pagen“ ist sehr beliebt (sogenannter
„Pag’ismus“). Die Art des Verhältnisses macht der folgende
Originalbrief eines solchen Masochisten klar:
Berlin, 7. 6. 02. Gnädigste Dame! Vorerst bitte ich gehorsamst
um Verzeihung, daß ich es wage, an Sie, hochverehrte Dame, zu
schreiben. Ich sah letzthin eine Dame von herrlicher Figur und mit
üppigen Hüften in Ihr Haus gehen und vermute, daß Sie diese Dame
waren. Wenn Sie gnädigste Dame einen Diener und Sklaven wollen,
der allen Ihren Befehlen blind gehorcht und Ihnen auf Kommando
als willenloser Sklave die niedrigsten und schmutzigsten Dienste leistet,
so wäre ich glücklich, wenn Sie die Gnade hätten, mich dazu zu
machen, und ich Sie von Zeit zu Zeit besuchen dürfte, um Ihnen,
meiner strengen Herrin und Gebieterin, zu dienen. Wenn ich Ihnen
einmal nicht gehorchen sollte, so können Sie mich aufs grausamste
mißhandeln und züchtigen.
Wollen Sie, gnädigste Dame, sich herablassen, mir, Ihrem niedrig-
sten Diener, zu antworten und sich beiliegenden Kuverts zu bedienen,
ob Sie des Abends spazieren gehen und wie und wo, in welchem Café
vielleicht Sie den Abend verbringen und ob Sie meine strenge Herrin
sein wollen und ich Ihr Sklave sein darf. Vielleicht könnten Sie,
hochverehrte Dame, Freitag abend 8 Uhr an der Normaluhr am
Oranienburger Tor sein, mit einer Rose in der Hand. Voll Unter-
würfigkeit und Demut Ihrer strengen Befehle harrend und Ihnen die
angebeteten Füße und Hände sklavisch küssend, Ihr gehorsamster
Diener und willenloser, niedrigster Knecht.
36) Vgl. Castor und Pollux, Das Masseusen-Unwesen in Berlin,
Berlin 1900.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
41
642
Solch ein Sklave schwelgt, nun geradezu mit Wollust in
den niedrigsten Dienstleistungen, in den ekelhaftesten Erniedri-
gungen, die durch die Namen „Kopro-“ und „Urolagnie“
zur Genüge angedeutet werden. Mir liegen eine Reihe von diese
Dinge mit allen Einzelheiten schildernden Briefen von Masochisten
vor, sogar in poetischer Form (!), die sich wegen ihres scheuß-
lichen Inhaltes nicht wiedergeben lassen. Eine genügende Vor-
stellung von diesem „Sklaventum“ des Masochisten gibt der er-
wähnte Bericht des Staatsanwalts Dr. Ertel, in dem die „Herrin“
U. a. erzählt:
„Wenn ich meine Mahlzeiten einnahm, lag er entweder unter
meinem Tisch oder in einer Ecke im Zimmer, ich warf ihm Knochen
zu und setzte ihm auch den Rest meiner Speisen vor. Er bellte manch-
mal wie ein Hund, hatte auch meistens ein Hundehalsband um mit
einer Kette daran. Er hat sich den Namen Nero gegeben, so nannte
ich ihn. Wenn jemand ohne Erlaubnis zu mir kommen wollte, so
biß er ihn in die Beine, das war die Vorstufe zum Sklaven. Er
scheuerte bei mir die Zimmer auf, schälte Kartoffeln, machte einen
Braten sowie sonstige Hausarbeiten. Er wollte auch mein Pferd sein,
ich sollte auf ihm reiten, er trug mich so aus einem Zimmer ins
andere.37) Wenn er sich gegen etwas sträubte, sollte ich die Peitsche
anwenden. Er erzählte mir, er hätte früher mit einem Damenkomiker
erst korrespondiert, dann verkehrt, er ist ihn aber bald über geworden
und verschwand dann auf längere Zeit, um ihn los zu werden, und der
kam inzwischen nach auswärts. Er sagte mir auch, er verabredet sich
mit den Frauenzimmern im Schaarhof (eine Straße in Hamburg, in
der die von den untersten Schichten der Bevölkerung aufgesuchten
Dirnen zu wohnen pflegen), diese haben gerade am Sonnabend viel
Verkehr, wenn die Arbeiter Geld bekommen haben, die Frauenzimmer
annoncieren dann „Spitzbart komme, alles bereit“. Er läßt sich auch
Briefe senden unter der Chiffre „J. R. 18, Hauptpostl., Stephanplatz“.
Manchmal mußte ich ihn in einen Kleiderschrank einsperren, da-
bei eine Kette am Hals und so kurz, daß er sich nicht rühren konnte,
die Schranktür dabei geschlossen.
37) Das ist eine beliebte masochistische Situation. Hans Bai-
dung hat sie schon auf einem Bilde verewigt, wo P h y 11 i s auf
dem Aristoteles reitet. Nach freundlicher Mitteilung des Kollegen
Dr. Kantorowicz in Hannover erwähnt J. v. Falke ein Elfenbein-
relief mit der Darstellung desselben Motivs. Der König Alexander
sieht zu und „freut sich der Szene, wie der bärtige Alte, von der
Schönheit gebändigt, mit dem Zügel im Munde, auf allen Vieren
kriechend, die mit der Peitsche bewaffnete Dame zu tragen hat.“ In
Semrau-Lübkes Grundriss der Kunstgeschichte, Stuttgart 1903,
Bd. III, S. 532, wird ein Glasgemälde aus der Sammlung Rahn, in
Zürich erwähnt, das dieselbe Geschichte darstellt.
643
In meiner Wohnung mußte ich ihm Sklavenkleidung geben zum
Tragen, damit er sich ganz als Sklave fühlte. Ich hatte ihm sein
ganzes Geld abgenommen, seine sämtlichen Schlüssel von seiner Woh-
nung, Kontor und vom Geldschrank und ließ ihn nach einer Nacht
und zwei Tagen wieder gehen. Z. tut das nur zeitweilig, daß er
aus sich herausgeht, er ist manchmal sehr vernünftig. Es verkehrt
kein anständiger Mensch mit ihm, sein Umgang, wobei er sich am
wohisten fühlt, sind Huren und sonst obskures Gesindel, das hat mir
Z. selbst gesagt. Selbst die Leute, die ihn brauchen, gehen ihm auf
der Straße aus dem Wege.
Er wollte noch das Frisieren und Schminken erlernen, wenn ich
ihm den Befehl gäbe; geschminkte Gesichter reizen ihn.
Einmal sagte er mir, ich möchte doch noch einen Sklaven be-
sorgen ; dieses tat ich, ich habe vorher den Z. fesseln müssen an Händen
und Füßen, den Kopf habe ich in Watte verhüllen müssen, um dem
neuen Sklaven vorzureden, er sei so mißhandelt worden und nun ins
Lazarett gebracht (Mädchenzimmer); als später der eine Sklave kam,
habe ich ihm alles so erklärt, wie mir Z. sagte und führte ihn zu
Z. hinein; der wunderte sich über den gefesselten Kerl, erschrak und
ging bald nach Hause.“
Eine andere Prostituierte berichtet:
„Z. habe ich in No. 8 der Schwiegerstraße kennen gelernt. Er
hat mit mir zwei- oder dreimal verkehrt. Er hat sich von mir peitschen
und hauen lassen. Z. verlangte einmal von mir, ich sollte einen
Mann holen, was ich getan habe. Dieser Mann hat sich bei mir im
Bett selbst befriedigt, ohne mich zu gebrauchen. Z. lag bei dieser
Gelegenheit unterm Bett. Er wollte dies. Ich glaube, er hat es sich
so eingerichtet, um sich dadurch Aufregung zu verschaffen. Z. und
dieser Mann haben sich gegenseitig gar nicht gesehen.
Als der Mann fort war, trieb Z. noch die ekelhaftesten Dinge.
Wenn Z. sich peitschen ließ, ließ er sich die Hände mit einer
eisernen Acht zusammenschließen.“
Es wäre ganz falsch, wenn man annehmen würde, daß es sich
bei diesen ihre Menschenwürde aufs tiefste erniedrigenden, sich
ihrer Mannheit vollkommen entäußernden, bis unter das Tier
sinkenden masochistischen „Sklaven“ stets um effeminierte, degene-
rierte Schwächlinge handle. Nein, viel häufiger sind es ge-
sunde, kraftstrotzende Männer, von imponieren-
dem Aussehen und vornehmer Haltung, die sich in
solchen traurigen Rollen gefallen und offenbare geschlechtliche
Befriedigung durch diese gänzliche Umkehrung ihres Wesens
finden. Der eben geschilderte Sklave war „von Natur groß
und stattlich. Ein großer Vollbart umrahmt seine sympathi-
schen und energischen Gesichtszüge. Sein Auge ist klar und
scharfblickend. In Handeln und Aussehen eine
41*
644
durchaus männliche Erscheinung!“38) In Berlin gibt-
es Masochisten in höchsten Staatsstellungen, nach Erscheinung
und Beruf echte Herrennaturen, Uehermenschen, die nur hei ihrer
„Herrin“ zu Sklaven werden. Nach Sacher- Masoch sollen
besonders Deutsche und Russen zum Masochismus neigen, doch
ist er in Frankreich und England ebenfalls sehr verbreitet. Zola
schildert in „Nana“ einen solchen Typus.
Nicht immer ist der Sklaventypus voll ausgeprägt, meist
äußert sich der Masochismus in einer leichteren Form, es gibt
da die verschiedenartigsten Nuancen, bisweilen tritt sogar nur
die rein seelische Beeinträchtigung und Demütigung hervor, in
scheinbar läppischen Prozeduren und Praktiken (symbolischer
Masochismus). Einige authentische Fälle mögen das illustrieren.
Sie klingen zwar unglaublich, sind aber wahr.
1. Ein mit einer ebenso schönen Frau verheirateter schöner und
stattlicher Offizier unterhielt einen ständigen Verkehr mit einer —
alten, robusten Waschfrau, mit der er sich auch sexuell betätigte.
Da er von diesem Weibe nicht lassen wollte, ließ seine Frau sich
von ihm scheiden.
2. Ein 50 jähriger höherer Staatsbeamter besucht ab und zu eine
Prostituierte, zieht deren Kleider an, mit Korsett und Strümpfen,
während sie Herrenkleider anlegt. Dann spielen sie zwei Stunden
Karten. Um 11 Uhr legt er sich angezogen in ihr Bett, während sie
nackt auf dem Kanapee liegen muß. Weiter geschieht ihr nichts.
Er macht nicht den geringsten Versuch, sie zu berülmen und geht nach
einiger Zeit fort, nachdem er ihr 50 Mk. gezahlt hat.
3. Ein verstorbener aktiver Staatsminister (!) besuchte ebenfalls
öfter eine Kokotte, die sich auf ihn setzen mußte, und dann in corpus
totum ei minxit. Das genügte vollständig, um ihn geschlechtlich zu
befriedigen (Urolagnie).
4. Ein Techniker trifft eine (vorher bereits instruierte) Prostituierte
auf der Straße und fragt sie, ob er für 20 Mk. mitkommen dürfe.
In der Wohnung der Dirne angelangt, erklärt er plötzlich weinerlich,
er habe nur 5 Mk. bei sich. Die Dirne überschüttet ihn mit Schimpf-
worten, nimmt ihm erst die 5 Mk. ab und durchsucht dann sorg-
fältig seine Kleidung, bis sie dann irgendwo eingenäht einen — Hundert-
markschein findet! Der Moment dieser Entdeckung ist zugleich der-
jenige des sexuellen Orgasmus des Mannes. Auf sein Flehen und
Winseln, ihm doch wenigstens die Hälfte zurückzugeben, bekommt
er nur höhnische Antworten und neue Schelte. Schließlich drückt
sie ihm — eine Mark in die Hand und verabschiedet ihn. Dieser
Vorgang wiederholt sich regelmäßig alle vierzehn Tage, ein teurer
Spaß für den durchaus nicht besonders finanzkräftigen Mann. Er
38) Ertel, a. a. O., S. 105—106.
645
kann aber von dieser absonderlichen Leidenschaft, die für ihn die
einzige Art der geschlechtlichen Befriedigung ist, nicht lassen.
Der Masochismus ist bei Männern entschieden häufiger als
bei Frauen, da letztere mehr Herrinnen über ihren Geschlechts-
trieb sind und sich von diesem nicht so leicht unterjochen und
versklaven lassen, wie die Männer. Der physiologische Masochis-
mus des Weibes ist mehr seelischer Natur. Doch kann auch bei
geschlechtlich sehr erregbaren Weibern eine ähnliche „Geschlechts-
hörigkeit“ wie bei Männern verkommen. Schon Shakespeare
hat der Helena im „Sommernachtstraum“, die sich als „Hündchen'
des Demetrius fühlt, deutliche masochistische Züge verliehen.
Masochistisch angehaucht sind auch die in Bordellen oder
auf der Straße sich prostituierenden vornehmen Weiber, wie
solche neuerdings d’Estoe in „Paris-Eros“ schildert, als deren
Prototyp die berüchtigte Messalina gelten kann, ferner die
vornehmen Damen, die mit Männern aus niedrigen Ständen, mit
Arbeitern, Kutschern usw., dauernde geschlechtliche Beziehungen
unterhalten, ja beim Straßengesindel geschlechtliche Genüsse
suchen, wofür Lombroso Beispiele gesammelt hat. Daß es
auch eine passive Algolagnie bei Frauen gibt, beweist der
folgende Brief einer typischen Masochistin:
Berlin, den 9. November 02. Sehr geehrte Frau! Ich erlaube
mir die höfliche Anfrage, ob Sie mich in meiner Wohnung am Kur-
fürstendamm einmal wöchentlich nach Ihrer Sprechstunde abends be-
suchen wollen. Ich habe den eigentümlichen Wunsch, von Zeit zu Zeit
in allerstrengster und in energischster Weise auf das
allerschärfste bis aufs Blut gezüchtigt zu werden.
Ich bin 28 Jahre alt, verwitwet, habe eine große, sehr üppige Figur.
Für die Züchtigung erhalten Sie 50 Mk. Sollten Sie auf meinen Wunsch
eingehen wollen, so bitte ich Sie, mir genau zu beschreiben, wie
Sie dieselbe auszuführen gedenken. Auf welchen Körperteil soll sich
dieselbe erstrecken, wie soll derselbe ev. bekleidet sein, welches Züch-
tigungsinstrument wollen Sie anwenden? In welcher Lage soll ich
mich bei der Züchtigung befinden? Wieviel Hiebe werden Sie das
erstemal erteilen?
Meine Wollust steigert sich nach dem sechsten Buteanhieb der-
maßen, daß mein Körper vor Sinnlichkeit zittert. Neigen Sie auch
zur Sinnlichkeit und vollführen Sie die Prügelstrafe auch aus reiner
Wollust?
Ihre w. Antwort sehe ich entgegen unter Postamt 50, A. v. S.
Ob hier eine homosexuelle Nuance mit hineinspielt, läßt sich
nicht entscheiden. In meinen „Beiträgen zur Aetiologie der Psycho-
646
pathia sexualis“ (Bd. II, S. 183) habe ich den Brief einer anderen
sicher heterosexuellen Masochistin an einen „energischen“ Mann
mitgeteilt.
Anhang.39)
Ein Beitrag zur Psychologie der russischen
Revolution (Entwicklungsgeschichte eines
algolagnistischen Revolutionärs).
Der Verfasser nachfolgender Aufzeichnungen, der russische An-
archist N. K., wurde in den ersten Monaten 1906 in Warschau verhaftet.
Er sollte — wie jeder, der sich um diese Zeit dort als dieser Partei»
angehörig entpuppte — sofort, ohne Urteil, kriegsrechtlich erschossen
werden.
Sein Verhalten bei der Füsilierung seiner vor ihm verhafteten,
Genossen, sowie im Verhöre, wies jedoch auf ein so hochgradiges
Absurdum seiner seelischen Individualität hin, daß der Oberst — dem
der Richterspruch oblag — einen Psychopathen in ihm vermutete und
ihn bis zur Feststellung dessen in der Zitadelle internierte. — Hierselbst
verfaßte K. seine Aufzeichnungen, die im nachstehenden wortgetreu
und ohne Kommentar wiedergegeben sind.
I.
Meine Eltern waren entgegengesetzte Elemente: Der Vater: Stark,
grob, brutal, egoistisch; materiell bis zum Exzeß; — die Mutter:
Leidend, zart, gefühlvoll, ätherisch. Aus einer solchen Kreuzung mußte
ein masochistischer Charakter entstehen.
Mein Vater erzog mich mit Gebrüll, Prügel und Schrecken; meine
Mutter entgalt mir das alles wieder mit Streicheln, Küssen und Weinen.
— Ich zitterte vor geheimer Angst und frohlockte innerlich
zugleich, wenn mich mein Vater übers Knie legte. Denn kaum war
die Exekution vorbei, so rannte er, irgend jemanden — einen Knecht,
eine Magd, einen Diener usw. — zu ohrfeigen. Ich lief mit brennendem
Hintern zu meiner Mutter. Da wurden zuerst die Striemen inspiziert
und dann geweint, umarmt, geküßt — und zum Schluß gelacht. —
Das wiederholte sich in unregelmäßigen Intervallen.
In diese Kinderjahre fällt auch schon meine erste Erkenntnis des
masochistischen Prinzips im Leben. Dieselbe gründete sich auf folgende
Beobachtungen:
89) Der nachfolgende, überaus wertvolle Beitrag zur Psycho-
logie der gegenwärtigen russischen Revolution wurde im Septem-
ber 1906 Herrn Kollegen Dr. Magnus Hirschfeld aus Rußland
zugeschickt. Derselbe hat diese hochinteressanten Aufzeichnungen,
die zugleich auf das Wesen der Algolagnie ein helles Licht werfen,
mir freundlichst zur Veröffentlichung an dieser Stelle überlassen. Es
bandelt sich um ein wohl einzig dastehendes kulturpsychologisches
Dokument, das die Beachtung des Politikers und Soziologen nicht
minder verdient, als diejenige des Anthropologen und Psychologen
647
Alle meine Gespielen und Gespielinnen hatten die Sucht, sich
gegenseitig Possen zu spielen; einander bei den Eltern zu verklatschen
und zu verleumden; in jeder Weise zu quälen — um dann durch doppelte
Liebe alles wieder gut zu machen. Andererseits bemerkte ich, daß
kein Kind ein anderes liebte, von dem es nicht gequält wurde.
Solche standen sich gleichgültig gegenüber.
In dieser gegenseitigen Qual und dem Gequält w e r d e n mußte
also von Natur aus ein gewisser Reiz, eine Lust liegen. Diese
war das: Sichvertiefen, Sichhineindenken, Mitfühlen des Schmerzes
anderer. Das ist kein Sadismus — den gibt’s überhaupt nicht —•
sondern nur verfeinerter Masochismus; denn man bereitet
Schmerzen, um sie mitfühlen, also selbst empfinden zu können.
Ich hatte es besonders auf die Mädchen abgesehen, vernichtete
ihr Spielzeug, zerriß ihre Puppen, beschmutzte ihre Kleider u. s. f.
Wenn sie dann so recht bitterlich weinten, kämpfte und kämpfte ich
mit den Tränen, bis sie endlich doch nicht mehr zurückzuhalten waren.
Dann schlich ich hin, umarmte, streichelte und küßte die Zürnende
und weinte mit ihr. Welchen Schmerz und welche Lust empfand ich,
wenn sie mich wegstieß, mich schlug und mir in3 Gesicht spie 11 Ich
brachte ihr wieder schöneres Spielzeug und war so glücklich,
wenn sich ihr Weinen wieder in Lachen verwandelte 1!
Wie oft verleumdete ich andere Kinder bei ihren Eltern, um den
seelischen Schmerz einer unverdienten Züchtigung mitempfinden zu
können!! Doch bildete ich keine Ausnahme; die meisten meiner Ge-
spielen waren auch so. Ich erinnere mich, daß ein elfjähriges Mädchen
einen zwölfjährigen Jungen verleumdete: er hätte sie am Schamteile
berührt, während sie im Freien schlief! Der glückliche, arme Junge
wurde in der Schule und zu Hause schrecklich geschlagen. Alle Kinder
hetzten, höhnten und flohen ihn wie die Pest. — Er wurde ganz
menschenscheu ?
Was erlebte ich da einmal?
Mürrisch und verdrossen lag er unter einem Baume. Das oben
erwähnte Mädchen schlich sachte auf ihn zu, blieb bei ihm stehen
und rief bittend seinen Namen. Wild fuhr er auf und wollte die
Plucht ergreifen. Sie aber umklammerte seine Hand, fiel auf die Knie
und bat ihn um Vergebung. — Es nützte nichts, daß er sie beschimpfte,
sie schlug und mit den Füßen trat. Sie umschlang ihn, weinte so
herzzerbrechend und schmeichelte ihm so lange, bis er sich neben
sie setzte und sich liebkosen ließ. So saßen sie lange und weinten
und lachten, und weinten.
Plötzlich ergriff sie seine Hand und preßte sie heftig zwischen
ihre Schenkel.----------------
Dieser Kontakt bildete das Schlußglied einer langen logischen
Kette.-----—
Das waren die Fakta, welche mich zuerst instinktiv fühlen
ließen, daß, — wie jedes grundlegende Ding, alles was mit der Vor-
silbe „Ur“ beginnt — Urkraft, Urstoff, Urtrieb usw. — die Vereinigung
zweier Extreme darstellt: der Urtrieb „Liebe“ ebenfalls erst die Ver-
648
Schmelzung zweier Entgegengesetzter sein kann. Letztere sind hier
Lust und Schmerz, wie sie sich bei der Elektrizität positive und negative
Elektrizität, beim Magnetismus positiver und negativer Magnetismus,
beim Atom positives und negatives Jon, beim Geschlecht Mann und
Weib usw. nennen.
II.
Meine Gymnasial- und Universitätsjahre verbrachte ich in
Petersburg.
Mit Ungestüm warf ich mich der rein physischen „Liebe“ (?),
der Orgie, in all ihren Abarten in die Arme. Den körperlich-geschlecht-
lichen Masochismus mit seinen raffinierten Sinnesreizen durchkostete
ich bis zur Neige, konnte mir aber nie erklären, daß die Menschheit
mit einer so rohen Definition des Begriffes „Masochismus“ sich zu-
frieden gab. Der geschlechtliche Masochismus ist zwar der „in die
Augen springendste“. Das ist aber bei der geschlechtlichen Liebe
auch der Eall; und trotzdem wird man nicht behaupten: Liebe ist
nur Geschlechtstrieb.
Ich schritt über diesen körperlichen Masochismus hinweg; er
war für mich nur eine notwendige Evolutionsphase. Es begann der
seelische sich meiner zu bemächtigen. Uum diese Zeit
lernte ich ein Mädchen lieben, von wunderbarem Charakter. S i e
liebte mich ebenfalls wahnsinnig.
Wäre ich Bettler und Strolch gewesen — sie würde mit mir auf der
Landstraße herumgezogen sein. — Sie hätte mich zur Zwangsarbeit
nach Kara, Kamtschatka und Sachalin begleitet und für mich ebenso
das Schafott bestiegen, wäre, um mich zu erhalten, sogar Prostituierte
geworden. Es war eine Seligkeit, sie zu lieben und so geliebt zu werden.
War es zu verwundern,, daß konform mit dieser unendlichen Liebe
die begleitenden Leiden auch ins Endlose gehen und schließlich zur
Katastrophe führen mußten ?!
Jede Nacht schliefen wir zusammen, obwohl wir monatelang nicht
geschlechtlich verkehrten. Wir hielten uns nur eng umschlungen und
schliefen so sanft!! — — — — — —
Uns auch nur auf Stunden zu trennen, war qualvoll. Wenn ich
allein fortging, mußte ich genau die Zeit angeben, wann ich wieder-
komme. Blieb ich eine Viertelstunde länger fort, so malte sich Mascha
schon aus, daß ich vom Tram überfahren wurde, einen Blutsturz be-
kommen habe, plötzlich wahnsinnig geworden und in die Newa ge-
sprungen oder mir sonst irgend etwas passiert sei. Dann stand sie
beständig am Fenster, die Straße zu inspizieren. Ging jemand im
Hausflur, lief sie schnell, nachzusehen. War ich es nicht, dann
erfaßte sie eine schreckliche Bangigkeit. Kam ich endlich, dann wartete
sie schon in der Türe meiner, unter Tränen lächelnd. Dann gab’s
Umarmungen und Küsse, als wenn ich eben von einer Nordpolfahrt
zurückgekehrt wäre; aber auch Vorwürfe, wie: „Du liebst mich gar nicht,
sonst könntest du mich nicht so quälen! (?) Du weißt, wie ich un-
ruhig bin um dich!“
Allmählich erst begann ich diesen Zustand zu verstehen, als u n -
649
abwendbare Konsequenz des masochistischen Prin-
zips in der Liebe.
Diese Seelen -Marter, die sich die Liebenden be-
reiten in der beständigen Furcht, den Geliebten zu
verlieren, oder seiner Liebe verlustig zu gehen, ist
innig mit der Liebe selbst verknüpft. Ohne diese
Angst wäre Liebe überhaupt undenkbar. Wer liebt,
muß sich beständig mit dieser Angst quälen und je
stärker man liebt, desto stärker wird auch diese Qual
sein. Wenn die letztere durch den andern Beteilig-
ten noch verstärkt wird, so steigert das wieder un-
sere Liebe.
Diese Notwendigkeit fühlten wir auch und entschlossen uns, un-
verehelicht ein Kind zu zeugen.
Was dieser Schritt für uns — als Sprößlinge vornehmer Häuser
— bedeutete, läßt sich leicht abschätzen!
Aber mutig wollten wir der ganzen Gesellschaft trotzen, um durch
die damit verbundenen Leiden die Liebe zu heiligen!
III.
Kaum ward Mascha schwanger, so fühlte ich einen unwidersteh-
lichen Zwang, unsere beiderseitige Qual zu steigern! Zu steigern!!
Zu steigern!!! Denn unsere Liebe schien mir noch nicht groß genug,
noch nicht würdig, nicht heilig genug, um in einem neuen Lebewesen
uns selbst zu kristallisieren!
Dieser eine Gedanke folterte mich unausgesetzt. Vergebens suchte
ich mir einzureden, daß unsere Liebe die alltägliche doch millionenfach
überrage; daß sie überhaupt ihresgleichen nicht habe I — — Immer
wieder flüsterte mein Gewissen mir zu: „Wie kannst du an dich
nur den Maßstab gewöhnlicher Menschen, wenn sie auch die hervor-
ragendsten Charaktere sind, legen ?! Du bist doch der bewußte
Masochist! Dem müssen doch deine Ideale angepaßt sein! Ist
es etwas Außergewöhnliches, ein uneheliches Kind zu haben ? 1 Ihr
müßt also eure Leiden verschärfen! Verschärfen!!“
(Er schildert nun, wie er seine Geliebte auf alle möglichen
Weisen quält.)
Mascha wurde durch meine Schikanen schließlich s o nervös wie
ich. — Nun begann sie wirklich alles verkehrt zu machen.
„Lass’ mich in Ruh’!?! Du bist schuld! Du machst mich
noch ganz verrückt!!“
Wegen der harmlosesten Dinge gerieten wir in Wut, uns dadurch
gegenseitig immer mehr reizend und verbitternd.
Zehn-, zwanzigmal des Tages standen wir uns gegenüber mit vor-
gebeugtem Oberkörper, vor Zorn zitternd, mit vor Wut verzerrtem
Munde, funkelnden Augen und gespreizten Fingern, wie sprungbereite
Tiger. Manchmal schlug sie mich ins Gesicht oder spie nach mir.
„O, du Ekel! Wie ich dich hasse!! Ich möchte dich — —
ich möchte dich —------------!“
Dann sagten wir einander ruhig und kühl, daß wir nicht zusammen-
050
passen; daß wir uns getäuscht haben; daß es nun aus sei, für immer j
baten einander um Vergebung und trennten uns.
Bald kamen die Gewissensbisse; die Frage: „Wer ist schuld?**
Nun brach der Schmerz hervor: „Aus, aus! 1 Für immer! Was hab’
ich getan!?! Was hab’ ich getan?!? — — — Es kann nicht sein!
Es kann nicht sein!! Ich werde auf den Knien um Vergebung'
flehen! — — Mein muß sie wieder werden — und wenn sie mit
Ketten an den Himmel gebunden ist!!!“-----------
„0 Liebe, Liebe! Wie unendlich ist dein Schmerz!!“ — — —
Jetzt begann ich mit nervöser Hast zu überlegen: Wo wird
sie sein? Bei Katja?! Auf! Zu ihr!“
„War Mascha hier?“
„Ja — nicht lange ist sie weg!“
„Sagte sie nicht, wo sie zu treffen ist?“
„Nein! — Habt ihr euch wieder gezankt?“
„Hm! — Bißchen — aber schuld bin ich! — Ich muß sie treffen!
~ Adieu I“
Bei A und B und C und D war sie nicht. Sollte sie vielleicht
gar in ihrem Schmerz — — —?1 Nein, nein! Nur das nicht! Nur
das nicht!!
So hämmert es fort in den Schläfen, während man Trepp’ auf,
Trepp’ ab springt!
Sechs Uhr! Jetzt geht sie am Newsky-Prospekt spazieren!!---------
Endlich hier! Basch vorwärts und nicht verpaßt! Ist sie das?
Nein! Aber dort? Auch nicht! Das ist sie jetzt?! Nein — doch —
nein — ja doch, ja! — — Jetzt etwas langsamer. — — Nun sieht
sie mich. — Sie macht eine Wendung, auf die andere Seite zu gehen.
— — Sie überlegt sich’s und bleibt auf dieser. — — —
„Gehst du schon lange spazieren?“ — — — — —
Mascha liegt in meinen Armen. Wir weinen und lachen, — —
weinen und lachen.-------Nie, nie, nie wieder!!------Vergib, vergib!!
— — Wir umschlingen, pressen und küssen uns, als ob es gälte, in-
einander aufzugehen.---------Wir beschimpfen uns, zausen uns an den
Haaren und ohrfeigen einander wollüstig. — — — Dann reiben wir
Wange an Wange und flüstern uns die verrücktesten Kosenamen
zu. — — — — — —
O Paradies der Liebe!! Warum haderte ich mit meinem Schick-
sal, daß es mir so unerhörte Qualen auferlegte?! — Nur sie allein
können eine Seligkeit wie diese gebären!!
O Schicksal! Mehr, mehr, noch mehr Marter I — Damit meine
Liebe wachse!
IV.
Unser Zusammenleben wurde immer unerträglicher. Und doch
konnten wir auch nicht eine Stunde ohne einander aushalten. Ein
furchtbares Verhängnis kettete uns zusammen und v;arf uns in den
Strudel dieses zwitterhaften, in seiner elementaren Gewalt unüber-
windlichen Triebes. Sich demselben zu entreißen, das verhinderten
die gemeinsamen Fesseln.
651
Immer furchtbarer, immer wahnwitziger gestalteten sich unsere
Auftritte und die sie von Zeit zn Zeit unterbrechenden Liebes - E ru pt i o nen.
(Nach immer qualvoller werdenden gegenseitigen seelischen Foltern
bittet K. seine Geliebte — das Kind abzutreiben 1)
Sie weinte still. — Dann küßte sie mich — und ging.-----
Der Schlüssel knarrte im Schloß.------
„Mascha 1 MaschaI Um Gottes willen! Mascha! Was willst du
tun ?! ? — —
Ich rüttelte an der Türe wie wahnsinnig; — eie gab nicht nach. —
Ich riß das Fenster auf. — — „Hilfe! Hilfe!“ — Die Türe wird er-
brochen. — Fort zu Maschas Türe! — Kasch ist sie gesprengt.------
Sie liegt da. — — Tot! — — Gift! — —-------
Y.
Endlich — nach Wochen — war ich wieder etwas ruhiger und
konnte einige Gedanken fassen. Ich war so entkräftet, daß ich mich
nur mit fremder Hilfe vom Bett aufs Sofa oder zurück schleppen konnte.
Man hatte gefürchtet, daß ich’s nicht überstehen würde. — Wochen-
lang die erschütterndsten übermenschlichen Leiden erdulden — zwischen
Tod und Wahnsinn schweben! — — —
Aber auch übermenschliche Liebe war mir zuteil geworden!
Das Bild von Sais war mir entschleiert! — — Ich hatte die Liebe
gekostet bis zum letzten Tropfen! — Aber nur der wird dessen
teilhaftig, der zuerst den Becher des Leidens zur Neige getrunken!
— Beides geht über die Kraft I — —
O, kurzsichtige Welt, die du den Mord Maschas: „Sadismus“
nennen wirst! — Haben denn ihre Leiden mir nicht doppelt so
tief ins Herz geschnitten?! Hat sich nicht meine Seele gekrampft
bei ihrer Qual ?! — Ich wollte ja nur mich quälen! — Bin ich
schuld, daß das nur möglich ist durch ihr Martyrium ? — Hat
sie nicht auch alle meine überirdischen Seligkeiten geteilt ? I — Wer
diese gekostet: der gibt sie nicht — und wenn er den doppelten
Preis an Leiden zahlen muß I!
Ist das nicht „Masochismus“?!
Habt ihr, die ihr über mich urteilen wollt, das kennen gelernt?
Nein! Wer will sich dann zum Richter über etwas aufwerfen, das
er nicht kennt ?!
O rohe Psychologie, die da lehrt: aus einem unmenschlichen
Triebe — „aus Grausamkeit“ — begingen wir „Verbrechen“ am Nächsten.
Nur aus einem rein menschlichen Triebe — „aus Liebe“ — be-
gehen wir das am Nächsten, was ihr „Verbrechen“ nennt: damit er
jenes unnennbaren Glückes teilhabe, das wir fühlen. Uns bewegen
somit reine ethische Momente.
Glaubt ihr, nur wir sind Masochisten? Oder glaubt ihr, nur
jene sind es, die sich von der Dirne treten, ohrfeigen, geißeln, be-
schmutzen und in den Mund spucken lassen?!
0 ihr Idioten! Ich sage euch: Alle Liebe ist masochistisch, und
652
alles, was zu ihr führt, mit ihr verbunden ist, oder daraus resultiert,
trägt den Stempel „Lust und Leid“!
Die Natur fehlt nie. Wer glaubt also, daß es Laune, Zufall
oder Ironie von ihr war, als sie die Liebe mit so viel Qual verband?!
Wer denkt da nicht an alle die Tragödien der unglücklichen
Liebe, mit ihren Morden und Selbstmorden; all ihrem körperlichen
und seelischen Martyrium, die uns jeder Tag bringt?!
Wer denkt nicht an die Trauerspiele der geschlechtlichen Lust,
die sich uns in den Krankenhäusern darbieten?! All der Hundert-
tansende, die der Ausschweifung erlegen sind, als Resultat der ge-
schlechtlichen Lust?! All der Rückenmarksleidenden, Syphilitiker,
Paralytiker usw. ?!
Wer erinnert sich nicht der Poltern, die die geschlechtlich Per-
versen über sich, und die Menschheit gebracht haben?! All der Lust-
morde ! Und aller Gegenmaßregeln. Der Lustmorde, die man beging,
— die Lustmorde zu verhindern! —
Wer gedenkt nicht der Qualen der Schwangerschaft ? I Ihres Ri-
sikos auf Leben und Tod!
Sollten das alles Fehlgriffe der Natur sein? Nein! Nein!! Die
Begleitung der Lust durch den Schmerz muß durch irgend einen be-
stimmten Zweck begründet sein. Dieser Grund ist: Daß die Lust,
ohne ihr Gegenteil, den Schmerz, überhaupt nicht
fühlbar, nicht denkbar, nicht vorstellbar wäre: so-
wie uns Kälte ohne Wärme, Licht ohne Dunkel nicht
zum Bewußtsein kommen könnte. Lust würde also bei
Mangel des Schmerzes gar nicht als Lust empfunden.
Ergo: Muß durch Steigerung des Schmerzes die Lust
zu höherer Geltung kommen, denn je größer die Kon-
traste, desto leichter fühlen wir sie.
„Masochismus ist somit ein Naturgesetz.“
Je höher er bei einem Individuum ausgeprägt er-
scheint, desto höher, desto übermenschlicher ist
dasselbe.
VI.
Durch die Erkenntnis des masochistischen Naturgesetzes geriet
ich in einen eigenartigen Zustand. Individuelle Liebe und Leiden
machten auf mich keinen sonderlichen Eindruck mehr. Ich begann
den Masochismus im Leben und Wirken der Natur, in der Geschichte
der Menschheit, im sozialen Leben und in der Kultur zu beobachten.
Gründet sich nicht das große Entwicklungsprinzip der Natur
darauf, daß Existenz und Fortschritt einer Gattung abhängig sind
von dem Druck des umgebenden Milieus ?! Je schwieriger die Existenz-
bedingungen, je härter der Druck der Umgebung, je mehr Leiden
eine Gattung zu erdulden hat, um so stärker muß die Reaktion hier-
auf bei derselben eintreten; um so stärker werden ihre Kräfte und
Fähigkeiten angespannt und müssen rückwirkend die Gattung auf eine
höhere Stufe erheben!
653
„Das Leiden also ist das treibende Moment in
der Natur. Dieselbe ist somit — masochistiscli.“
Auch innerhalb der Gattung selbst gilt dieses Gesetz. Haben sich
nicht in der Gattung „Mensch“ gerade jene Varietäten am höchsten
entwickelt, die das härteste Milieu zu bewältigen hatten?! Die
von der Natur am schwersten mit Nahrungs sorgen geplagt wurden?!
Die am meisten litten?!
Ist nicht die Existenz der Lebewesen abhängig vom „Kampf ums
Dasein“, von der gegenseitigen Bekämpfung der Arten, gegenseitiger
Vernichtung?!
Es ist ein charakteristisches Zeichen für die menschliche Natur,
daß alle Religionen, die sie sich schuf, von dem Leitsatz erfüllt sind:
„Nur durch Leiden kannst du selig werden!“
Ist es nicht erst recht Masochismus, wenn sich die Mensch-
heit, durch die moderne Wissenschaft, auch noch der Hoffnung aufs
Jenseits, auf Ewigkeit und Seligkeit, beraubt und nichts an seine
Stelle setzt?!
Betrachtet die Weltgeschichte!
War nicht die Geburt jeder großen Idee mit furchtbaren Wehen
— mit dem Wirken von Eeuer und Schwert, Blut und Tod — verknüpft?!
Hat nicht die Menschheit ihre größten Wohltäter ans Kreuz ge-
schlagen ?! Ihnen mit Galgen, Folterkammer, Rad, Scheiterhaufen,
Zucht- und Irrenhaus gedankt ? I
Und alles aus Menschenliebe!
Alle die Christen- und Judenverfolgungen, Inquisition, Ketzer-
verbrennungen, Hexen- und andere Prozesse, die Religionskriege aller
Zeiten waren Ausflüsse der — Menschenliebe. Sie bezweckten:
die Menschheit vor dem Raube ihrer Seligkeit, durch die Irrlehren,
zu bewahren!
Die Menschenliebe gebar die Neros, Torquemadas, grausamen
Iwans und Schdanows!
Warum plagten diese die Menschen? — Um deren Qualen sich
vergegenwärtigen, sie mitfühlen, mitempfinden zu können. Um im
Geiste selbst diese Martern durchzumachen; also sich zu quälen
durch das Hineinversetzen in die Schmerzen anderer. — „Somit ist
Sadismus in seinen Motiven nichts als — Masochis-
m u s.“
Die Menschenliebe errichtete das Kreuz Christi, entzündete
die Scheiterhaufen des Huß, Bruno, Galilei, folterte Thomas Münzer,
erdolchte Marat, enthauptete Hebert und zimmerte die Galgen von
Ai'ad, Petersburg, Chikago u. s. f.!
Die Menschenliebe baute die Bastille, den Tower, den Spiel-
berg, Blackwells-Island und die Schlüsselburg, baute die Folterkammern
der Inquisition, der mittelalterlichen Rechtspflege und jene von Mont-
juich, Alcalla del valle, Borissoglebsk u. a. m.!!
Merkwürdig! Daß gerade eure „Menschenliebe“ der grausamste
Folterknecht, unerbittlichste Henker, blutdürstigste Menschenschlächter
und größte aller Verbrecher warl
€54
Erseht ihr nicht darinnen das weise Walten des
masochistischen Prinzips?! Daß nur die Verfol-
gungen es waren, welche diese Ideen verbreiteten?!
Jeder Fortschritt, den die Menschheit in der Kultur machte, mußte
mit unerhörten Opfern bezahlt werden. Die übermenschlichsten Leiden
von Millionen Sklaven schufen die Kultur des Altertums, der Phönizier,
Babylonier, Perser, Assyrier, Griechen und Römer! (Zu dieser so oft
bestrittenen Tatsache siehe Mommsen: „Gegenüber dem Leiden der
Sklaven im Altertum sind alle Negerleiden nur ein Tropfen!“)
Die indische Kultur ist das Produkt der entsetzlichsten Aus-
beutung und Unterdrückung der niederen Kasten durch die höheren.
Der Boden der Südstaaten Amerikas wurde kultiviert — indem
man ihn mit Schweiß, Blut und Knochen der Negersklaven düngtet
Den Boden Europas machten wiederum die Leiden der Sklaven
und Leibeigenen urbar u. s. f.
In den entsetzlichsten Geburtswehen mußte sich die Menschheit
— in den Sklavenaufständen, Bauernkriegen und Revolutionen des
18., 19. und 20. Jahrhunderts — krümmen, um die Fruchthülle des
Feudalsystems zu sprengen: damit der Kapitalismus geboren werde.
Diese neueste Kultur fußt wiederum auf der furchtbaren Aus-
beutung, Unterdrückung und Verelendung der Millionen und Millionen
von Proletariern.
Welche Verwüstungen in der Menschheit richten nicht die Kultur-
errungenschaften der Technik an! — Jede Erfindung und Entdeckung
fordert ihre Opfer! —
Wie oft werden Chemiker bei der Schaffung neuer Präparate
durch deren Explosion zerschmettert oder durch Entwicklung giftiger
Dämpfe getötet!
Zählt die Ingenieure, die Opfer ihres Berufes wurden, oder die
Bakteriologen, die sich beim Studium durch Infizierung Siechtum und
Tod holen!
Zählt alle die Opfer der Berufskrankheiten, der Tuberkulose,
Phosphornekrose, Blei- und Quecksilbervergiftung usw.! — Zählt alle
jene, die vom Gerüst stürzen, als Seeleute ertrinken, als Eisenbahner
überfahren, in den Fabriken von den Maschinen zerrissen werden und
in den Bergwerken durch Einsturz, schlagende Wetter u. a. umkommen I
Gedenket an Hunger und Elend von Witwen und Waisen dieser
Opfer der Technik und Wissenschaft, an die Arbeitslosigkeit und
andere soziale Schäden des Kapitalismus!
Die Rebellion der Opfer dieses Systems zeitigt wieder den
„Klassenkampf“ mit neuen Qualen, neuen Leiden! — Um die Mensch-
heit endlich durch Schaffung einer Zukunftsgesellschaft endgültig vom
Leiden zu befreien ? ? — Man glaubt es! Aber das ist Unsinn!
Die Leiden nehmen nur eine andere Form an — und steigern
sich!! —
Glaubt ihr denn, alle bisherige Qual der Menschheit sei nur Zu-
fall, nicht V orsehung gewesen ? I
0 neinI Die Leiden waren nur der .Stimulus, welcher die
655
Menschheit- vorwärts trieb, zu neuem Schaffen, größerem Fortschritt,
um den Leiden zu entfliehen! — Der Fortschritt brachte neue
Leiden u. s. f.
„Das Leiden ist also der Kulturfaktor der
Menschheit! — Sie von Leiden befreien, heißt: sie
der Kultur berauben wollen.“
Kann man sich denn ein Leben vollkommener Befriedigung vor-
stellen ?
Nein! Ohne Qual müßten die Bedürfnisse erschlaffen, welche
allein den Anreiz zum Fortschritt bilden! — Ohne Qual gibt es auch
keine Genüsse. Denn alles kommt uns erst durch sein Gegenteil zum
Bewußtsein.
„Uns von Qual befreien, heißt: uns die Genüsse
rauben. — Dann aber — haben wir kein Interesse
mehr zu leben!“
„Kultur ist somit Vereinigung, Zwittergebilde,
von Lust und Schmerz, also: Masochismus!! — Der
Fortschritt der Menschheit ist nur möglich durch
das masochistische Kulturprinzip.“
O, grausamsüße Philosophie GolgathasU Ewig
bleibst du das Moira und Kismet der Menschheit!!!
VIL
„Immer mehr, immer Bessere eurer Art sollen zu-
grunde gehen, denn ihr sollt es immer schlimmer haben.
•So allein — so allein wächst der Mensch in die Höhe —
(Nietzsche: „Zarathustra“, II, p. 126.)
Herrlicher Nietzsche!
Jetzt erst erfasse ich deinen „Uebermenschen“! — Nun teile ich
deinen Haß des Alltäglichen und Mittelmäßigen!
Hinweg mit der spießbürgerlichen Feigheit: „Nur ja nicht über
die Schnur hauen! — Alles mit Maß und Ziel! — Ja nicht übertreiben
und ins Extrem verfallen!“ —
Nein! — Nur mutig hinein ins Extreme! — Nur Faulheit, Bequem-
lichkeit und Feigheit scheut sich gelegentlich vor einem Dampfbad
mit darauffolgender kalter Dusche!
Wie aber der Körper durch dieses „laisser faire et laisser passer“
verweichlicht, widerstandsunfähig wird, Stoffe ansammelt, die über-
flüssig und darum schädlich sind, so muß auch die Menschheit, welche
dieser Devise folgt, durch die Spießbürgerkrankheit, genannt „Mittel-
mäßigkeit“, zugrunde gehen.
Nur hinein mit der Menschheit ins Dampfbad — und dann unter
die kalte Dusche! Damit sie gestählt, verjüngt und gekräftigt werde 1 —
Sich der überflüssigen Stoffe entledige!
„Macht es den Menschen nur immer schlimmer und härter! Dann
wird schon die Reaktion eintreten und sie vorwärts treiben!“
Nach dieser Devise begann ich von nun ab zu handeln. — Den
Schmerz verstärken, damit die Lust größer seil
656
Eine unendliche Liebe zur Menschheit ergriff mich, seitdem ich
ihre Bestimmung erkannte, die mit meiner’ Individualität so seltsam
harmonierte, — Ich wurde gleichsam die Menschheit
selber; fühlte den Herzschlag von Millionen in mir. Die wider-
strebendsten Gefühle vereinigten sich in meiner Person. Ich fühlte
ebenso als Kapitalist, wie als Proletarier; als orthodoxer Christ und
Katholik ebenso, wie als Jude oder .Atheist; als Mann und Weib
zugleich.
Alle Leiden und Ereuden der Menschheit empfand ich in mir und
vertiefte mich in dieselben.
Einmal noch wollte ich sie alle im Geiste durchkosten. — Ich
studierte die Weltgeschichte; aber mit welchem Empfinden! — Ich
blieb nicht bei den Tatsachen stehen, sondern versetzte mich in die
Personen der Handelnden; vergegenwärtigte mir all das Massenelend
und die Massenpsychosen.
Welch manikalischen Schmerz bereitete mir das alles! Wie be-
gann ich die herrliche Menschheit zu lieben, die all das erduldet! I
Nun war der Augenblick gekommen! Jetzt nur rasch mitten
hinein in die Extreme des Lebens! — Untertauchen in all den Leiden
der Millionen und sie verzehn-, verhundert-, vertausendfachen! Das
Wollustgefühl trinken, mit dem sie sich im Paroxysmus der Raserei
zerfleischen, und dann — so recht Mensch sein II
VIII.
Von nun ab warf ich mich mit Ungestüm der anarchistischen
Bewegung extremster Richtung in die Arme. Mein ganzes Vermögen
opferte ich zur Unterstützung von Zeitungen, Herausgabe von Bro-
schüren, zum Unterhalt der Agitatoren und dergl.
Zu gleicher Zeit blieb ich aber in Fühlung mit den „oberen
Zehntausend“. Sämtliche in Betracht kommenden Staaten Europas und
Amerikas durchreiste ich, überall Verbindungen anknüpfend, überall
unter den empfänglicheren Elementen der Bewegung meine radikalsten
Tendenzen entwickelnd — meistens mit Erfolg.
(Schildert nun ausführlich seine propagandistische, destruktive
Tätigkeit, besonders in Spanien.)
IX.
Indessen begann sich in meiner östlichen Heimat immer mehr
die revolutionäre Strömung zu entfalten; auch der Anarchismus gewann
an Boden. — Ich fühlte, daß dort sich das geeignete Feld für meine>^
weitere Tätigkeit befinde.
Meinen weiteren Aufenthalt nahm ich nun teils in Paris, teils
in Genf und Zürich, um von hier aus die Bewegung meiner Richtung
in Pluß bringen zu können.
Unter meinen Landsleuten gewann ich sehr bald Anhänger, denen
nichts zu phantastisch, nichts zu radikal erschien.
Alsbald waren wir im Besitz einer kleinen Druckerei, mit Hilfe»
deren wir Flugblätter, Broschüren und Zeitungen bersteilten.
657
Diese hatten meist den Inhalt: die Arbeiterschaft möge sich nicht
auf politische Forderungen, wie „allgemeines Wahlrecht“, „persönliche
Freiheit“ und dergl., verlegen. Denn, wenn das alles vorhanden ist,
bleibt trotzdem noch die soziale Bedrückung, die Ausbeutung; diese
ist die fühlbarste und aus ihr resultiert jede andere. Die Arbeiterschaft
solle vielmehr die „soziale Revolution“ machen, die „Expropriation
der Expropriateure“ vornehmen.
In den Zeitungen und Broschüren wurde in wissenschaftlicher
Weise die Berechtigung aller Formen der individuellen Expropriation
— als Raub, Diebstahl, Erpressung usw. — nachgewiesen; ebenso die
Notwendigkeit des sozialen und ökonomischen Terrors: im Angriff
aufs Eigentum; Zerstörung der — sich in Privat- oder staatlichen
Händen befindlichen — sozialen Güter, um leichter von ihnen Besitz
ergreifen zu können.
Als der russisch-japanische Krieg ausbrach, fühlten wir alle, daß
nun bald die Zeit größerer Aktionen kommen werde. — Die Mehrzahl
von uns übersiedelte nach Polen, Litauen und Beßarabien. Nur wenige
blieben in der Schweiz, Paris und London, um von hier aus die Ver-
bindungen aufrecht zu erhalten.
X.
Für mich begann nun wieder die Zeit schrecklicher Leiden. —
Mit wahnsinniger Hast stürzte ich mich auf jede Nachricht vom
Kriegsschauplätze. Gierig verschlang ich die Berichte von den furcht-
baren, wochenlangen Schlachten; von den entsetzlichen Stürmen auf
Port Arthur. Alle die grausigen Einzelheiten sah ich deutlich vor
meinen Augen.
Alle die furchtbaren Qualen der Massen mache ich im Geiste
mit. Vergegenwärtige mir, wie sie tagelang im Kampfe siehen; vor
Hunger, Durst und Müdigkeit das Bewußtsein verloren haben und
nur mehr automatisch kämpfen. Schließlich haben sie darauf ver-
gessen, Nahrung zu sich zu nehmen, zu trinken und zu ruhen!
— Es fällt ihnen gar nicht ein, daß sie sich von den Hungers-und
Durstes-Qualen befreien, ihr Leben retten könnten, indem sie etwas
genießen. — So wüten sie fort bis zum Umfallen.
Ich war zu nichts anderem mehr fähig, als mit brummendem
Kopf, fieberhaft klopfenden Schläfen Kriegsberichte zu studieren. Tag
und Nacht standen diese Bilder vor mir. — O, könnte ich mitten
drinnen stehen in dieser Hölle! — Wie liebte ich diese Völker, die
zu so etwas Grandiosem fähig waren! Mir war, ihnen zuzurufen:
„Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!“ —
Ja, das sind die wahren Kultur-Nationen! Welchen Fortschritt
mußten diese horrenden Leiden gebären! Welche Zukunft für die
Menschheit!! Welche bevorstehenden Freuden.
XI.
Inzwischen war mein gesamtes Vermögen für die revolutionäre
Bewegung geopfert. Das wmnige Geld, das uns noch möglich war, hier
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
42
658
und da aufzutreiben, brauchte man höchst notwendig für Parteizwecke.
So durchlebte ich das entsetzlichste Elend. — Bald war ich in War-
schau, bald in Lodz, Bialystok, Kiew oder Odessa. — Unsere meisten
Anhänger hatten wir in den armen Judenvierteln dieser Städte. —
Mein Erwerb bestand aus Gelegenheitsarbeit und Gelegenheits-
Diebstahl. Wenn in diesen Branchen nichts los war, so zog ich mit
noch einigen meiner Gattung von einem unserer Anhänger zum andern.
p— Die Leute teilten das Wenige, das sie hatten, mit uns.
Eine Wollust war es mir, jetzt endlich unterzutauchen in den
äußersten Grenzen des Elendes, die man erreichen kann.
Eine ungeheure Ueberwindung gehörte dazu, in diesem Milieu
leben zxi können. Welche herrlichen Qualen durchlitt ich, bis ich den
Ekel und den Abscheu überwunden hatte, den mir diese ganze Um-
gebung einflößte. Furchtbarer Schmutz starrte mir überall entgegen.
Trotz all dem Schmutz und Elend, in welchem ich dieses Volk
schmachten sah, — oder gerade deswegen, — begann ich es zu lieben,
wie noch kein anderes. — Wenn sie erzählten von den furchtbaren
Verfolgungen, die ihr Volk erduldet hatte, wie kein zweites, dann be-
mächtigte sich meiner eine unnennbare Sehnsucht, einer der ihren zu
sein. Dann bewunderte ich ihre ungeheure Kraft, mit der sie, trotz
allen Verfolgungen, in dem furchtbarsten Elend, das ich um mich sah,
noch die glühendsten Revolutionäre sein konnten.
XII.
Ueberall war jetzt die Revolution mächtig im Fluß. Wir ent-
wickelten eine fieberhafte Tätigkeit an allen Orten. — Vorerst hatten
wir noch keinen großen Einfluß, aber unsere Emissäre griffen überall
tatkräftig ein, um die Bewegung aus einer politischen zu einer sozialen,
oder wenigstens ökonomischen zu machen.
Zu diesem Zwecke hatten . wir uns in Warschau eine Geheim-
druckerei verschafft, mit der wir die nötigen Flugblätter verfertigten.
Geschrieben wurden selbe von einem Studenten, der in diesem Fache
ein Genie war. Keiner verstand es so wie er, an die Instinkte der Masse
zu appellieren. Die Wucht seines Stils war unübertrefflich. — Er
faßte die Tatsachen zusammen, beleuchtete sie von der ihm passenden
Seite und zog dann seine Schlüsse daraus, die in ihrer einfachen,
packenden Logik verblüfften. Dann verwendete er das, um den Fana-
tismus zu entflammen, erinnerte daran, wie dort und dort und dort
so viele Opfer für dieselbe Idee gebracht wurden; wie man dort und
anderswo auf den Barrikaden dafür gestorben und lieber im Kerker
verfault sei, als von den gerechten Forderungen abgelassen habe. In
dieser Art fand er immer Anklang bei der Menge.
Sehr wirkungsvoll war es auch, die Leute an all die kleinlichen
Schikanen zu erinnern, denen jeder von ihnen seitens der Fabrikanten
oder Vorgesetzten ausgesetzt war; darauf hinzuweisen, wie sie, die
alles erzeugten, eigentlich gar nicht als Menschen, viel weniger noch
als gleichberechtigt anerkannt wurden. — Dieser Hinweis versetzte
die Proletarier am ehesten noch in Raserei und an einigen Orten,
■
659
so in Lagonsk, Tiflis und Baku, gelang es uns damit, die Bewegung
aufs ökonomische Gebiet zu leiten. Es war ein großer Vorteil, daß
wir überall Verbindungen hatten und schnell benachrichtigt wurden,
wenn sich’s zu regen begann, so daß rasch einer von uns hinreisen
konnte.
In Tiflis ging die Sache nicht nach meinem Wunsch; hier
waren die Leute allzu praktisch. — Sie begannen weder zu streiken,
noch zu demolieren oder gegen das Militär zu kämpfen. — Nein. —
Sie sagten einfach: soviel Lohn wollen wir; dann arbeiten, wir nur
noch solange; und keine Ware darf im Preise gesteigert werden. —
Jeden, der sich nicht fügen will, werden wir erschießen. — — Sämt-
liche Einwohner fügten sich. — Nach kurzer Zeit ging allerdings alles
wieder verloren.
Mehr Freude bereitete mir Baku. — Hier stellten die Petroleum-
bohrer ihre Forderungen, und als dieselben binnen zwei Tagen nicht
bewilligt waren, steckten sie 140 Bohrtürme in Brand. — Dann erfüllten
die Unternehmer zu meinem großen Aerger alles, was verlangt wurde.
Ich hatte mich schon so unmenschlich gefreut, baldigst mein Lebens-
Ideal erfüllt zu sehen. — Indes — es sollte sich früher eine solche
Situation bieten, als ich dachte. — — — —
Schon lange war der Religions- und Rassen-Haß zwischen Ar-
meniern und Tataren aufs äußerste gestiegen. In ganz Kaukasien
brodelte es, wie in einem Hexenkessel. — Selbstverständlich blieb ich
nun in Baku, der Dinge gewärtig, die da kommen würden.
Die ganze Bevölkerung war aufs äußerste gespannt; alles schwebte
in peinlicher Ungewißheit: wird der Tanz losgehen oder nicht? —
Ich fühlte, man braucht nur ein Sandkorn ins Rollen zu bringen
und im Nu wird es zur Lawine anwachsen! — Eine furchtbare Auf-
regung ergriff mich; diese seelische Spannung war unerträglich. —
Von Minute zu Minute stieg eine entsetzliche Angst vor dem Un-
bestimmten in mir auf, und doch brannte das höllische Verlangen
in mir: jetzt, in diesem Augenblicke möchte es schon losgehen, damit
endlich meine nervenzerrüttende Erwartung ausgelöst würde.
Da kam mir eine dämonische Idee: Man braucht ja nur irgend
welche geeigneten Gerüchte in Umlauf setzen — und der Sturm brach los.
Innerlich erschauerte ich vor den gräßlichen Folgen, und doch
trieb mich etwas in mir mit unwiderstehlicher Gewalt: endlich auf
den Kontakt zu drücken und den Strom zu schließen, der die Explosion
лиг Folge haben mußte — ,,Es ist ja nur eine Art wohltätiger Geburts-
hilfe“ — flüsterte etwas in mir. — „Kommen muß es auf jeden Fall!
Je früher das Gewitter vorüberzieht, desto besser ist es!“
So hatte sich meiner ein Widerstreit der Empfindungen bemächtigt,
der mich unzurechnungsfähig machte. Zwischen den zwei Naturen in
mir, die meinen Masochismus bildeten, wurde ich von augenblicklichen
Gefühlen hin und her geschleudert wie ein Spielball. Ein einziges Wort
von anderer Seite hätte eine solche Suggestion in mir bewirkt, daß
ich blindlings alles Verlangte gemacht hätte.
Meine Verfassung glich der jener Leute, von denen Blanqui sagt:
42*
660
Paris birgt fortwährend ihrer 50 000, welche bereit sind, auf einen-.
Wink der Hand für irgend etwas Blut zu verspritzen; — gleichviel,
ob für die Freiheit oder für die Reaktion — hätte er hinzusetzen sollen.
Diese „Stürzt-alles-um-Stimmung“ — die mir solange ein psycho-
logisches Rätsel war, konnte ich nun an meiner eigenen Person als
Folge erhöhter, masochistischer Veranlagung studieren. — Dem ganzen
zwitterhaften Zustand lag nichts, als die Liebe zur Menschheit zu-
grunde. — Eine alltägliche Menschheit bietet uns keine Sensationen.
— Lieben können wir nur, was uns Außergewöhnliches bietet. — So-
haben wir das Streben, die Menschheit in Jammer und Not zu sehen —
um sie heißer zu lieben; zu lieben deshalb, weil uns ihr Elend un-
geheuren Schmerz bereitet.
Tagelang irrte ich umher, mit mir selbst einen furchtbaren seeli-
schen Kampf ausfechtend. — Ich fühlte, es gibt keinen Ausweg, als-
entweder die Katastrophe herbeiführen, oder Selbstmord. Länger zu
warten, das ging über meine Kräfte. Ein Zufall sollte entscheiden. —
Eine Art Traumzustand hatte meinen Organismus ergriffen. Ich
wußte nicht recht: ist alles um mich herum Wirklichkeit oder nur
Traum?! — Ja, ich zweifelte sogar an meiner Existenz! — In keinem
Augenblick wußte ich, wo ich eben sei, wie ich dahin gekommen, was
ich vordem gemacht, noch warum ich eigentlich — bin. — Ich er-
innere mich nur noch, plötzlich mit einem mir gänzlich unbekannten
Herrn in tiefem Gespräch auf der Gasse promeniert zu sein. — Unsere
Unterhaltung drehte sich darum: was sein wird? — Beide waren wir
zurückhaltend, lauernd. Jeder schien das Gefühl zu haben: „Er durch-
schaut mich, ich darf mich nicht verraten! — Vielleicht gelingt es
mir, aus ihm etwas herauszubringen!“ — — So sprachen wir mit
äußerster Vorsicht um das, was jeder in der Seele des andern las,
herum. — —
Die Vorübergehenden gafften uns an; wahrscheinlich waren wir
etwas laut geworden. Wie mir schien, ging jemand hinter uns, um
unser Gespräch zu belauschen. Wir blieben stehen, damit derselbe
gezwungen wäre, vorbei zu gehen. Es war ein frecher Bursche in den
Flegeljahren; er blieb — die Hände in den Hosentaschen — einige
Schritte abseits stehen und hörte uns mit Interesse zu. Mein Be-
gleiter wurde ebenso verlegen wie ich, und wir begannen beide zu.
stottern. Im Moment hatte sich um uns eine Schar Neugieriger ge-
sammelt, die hofften, etwas Interessantes zu hören. Immer mehr ver-
wirrten wir uns; mir schwindelte und ich begann wieder irgend etwas-
zu reden. E^ mußte ein Unsinn sein, denn mein Gegenüber sah mich halb
erstaunt und halb erschreckt an, und einige Leute in der Menge begannen
zu kichern. Das machte mich noch kopfloser und ich begann ärgerlich zu
werden. Plötzlich schrie ich ihn unvermittelt an: „Ein furchtbares Un-
glück wird das zur Folge haben. — Man hat den Tataren Füße und Hände
abgehauen und sie werden nun die ganze Stadt massakrieren!“
— — Alles begann durcheinander zu sprechen: Füße und Hände
abgehauen — — —!“ Der Kontakt war gedrückt. — — — —
Ich weiß nicht, wie ich nach Hause kam. — Meine Wirtin raunte-
G61
-mir eine Neuigkeit zu: „Die Tataren werden die Stadt einäschern
und alle Armenier ermorden; man hat einigen von ihnen Füße und
Hände abgehauen, die Nasen abgeschnitten, Augen ausgestochen, sieden-
des Del in die Ohren gegossen — — —! Alles flüchtet oder ver-
barrikadiert sich!“
XIII.
Den Anfang des Dramas sah ich nicht; denn gleich nach meinem
Nachhausekommen verfiel ich in einen mehr als fünfzigstündigen,
totenähnlichen Schlaf. Kein Körper hätte noch weiter sich aufrecht
erhalten können nach einem solchen seelischen Sturm. — Als ich er-
wachte, war ich so schwach, daß ich nur mit Mühe einige Schritte
machen konnte; der ganze Körper zitterte unaufhörlich. — Ich hatte
absolut kein anderes Verlangen, als nach Ruhe. — Nachdem ich etwas
.zu mir genommen, schlief ich wieder ein, bis zum nächsten Morgen.
Nun fühlte ich mich wieder ziemlich gekräftigt, obwohl Arme
und Beine noch sehr zitterten. Meine Wirtin — eine schon lange
hier niedergelassene Deutsche — erzählte mir von den Greueltaten
-der Tataren. Als ich ausging, war die Stadt wie ausgestorben. Auf
der Straße lagen noch immer schrecklich verstümmelte Leichen herum;
die Läden waren geschlossen; hier und da ein Haus demoliert. Soviel
ich vernahm, hatten die Tataren in Tiflis noch ärger gehaust. —
Hier in Baku hatten sie die Bohrtürme der Armenier in Brand gesteckt;
durch diese waren sämtliche andern ebenfalls in Brand geraten, so
daß die ganze Petroleumindustrie ruiniert, Zehntausende arbeitslos waren.
All das machte jedoch keinen Eindruck mehr auf mich; eine
furchtbare Schlaffheit und Apathie hatte sich meiner bemächtigt;
ich fühlte weder Schmerz, noch Lust, noch Mitleiden bei alldem. Es
war die Reaktion auf die vorherige Nerven-Ueberspannung.
Mich litt es nicht mehr liier und ich beschloß nach Kiew, und
«später nach Warschau oder Lodz zurückzukehren.
XIV.
Nach kurzem Aufenthalt in Rostow am Don langte ich in Kiew
an und wurde in der Gruppe mit vielen Freuden empfangen. Man hatte
schon geglaubt, daß ich bei den Metzeleien ums Leben gekommen sei.
Unsere Erfolge in Tiflis und Baku, auf wirtschaftlichem Gebiet,
durch den ökonomischen Terror, nützten sie jetzt bei jeder Gelegen-
heit aus; bedauerten nur, daß durch die Rassenkämpfe alles wieder
zerstört worden.
Während meiner Abwesenheit hatte sich hier überall sehr viel ver-
ändert. In Odessa, Kiew, Warschau, Lodz und Bialystok hatte
man gelungene „Expropriationen“ gemacht. — Diese „neue Taktik“
hatte nicht nur fast ausnahmslos „durchschlagenden“ Erfolg errungen,
sondern uns auch die Sympathien jener zugewendet, die bis jetzt unseren
Einfluß auf die Revolution nicht so sehr ernst genommen hatten.
Diese „Expropriationen“ wurden auf verschiedene Art vorgenommen.
Z. B. wurde durch einen unserer Genossen, der Postbeamter war, aus-
662
gekundschaftet, wann in der Umgebung an einsamer Stelle die Post-
kutsche einen größeren Betrag mitführte. Diese wurde dann über-
fallen und ausgeplündert.
Oder wurde ausspioniert, wann in einem größeren Geschäftshaus,,
respektive einer Bank, größere Geldsummen in bar vorhanden waren,
und um welche Zeit der geringste Geschäftsverkehr herrscht. — Bis
an die Zähne bewaffnet drang man dann ein, erpreßte die Herausgabe
des Geldes und hinterließ eine Quittung mit dem gefürchteten Stempel
der betreffenden Organisation. Auch kam es vor — wie in Odessa —
daß in ein Geschäftslokal vorne eine Bombe geschleudert wurde. Alles
lief nach vorne, zu sehen, was geschehen sei. Einstweilen drang eine
andere Abteilung von hinten ein und plünderte die .Kasse.
Welche Summe von Intelligenz, Energie, Ausdauer und Kennt-
nissen verwendet werden mußte, um ein solches Unternehmen zu er-
möglichen, wie wochenlang beobachtet, Pläne ent- und verworfen, oft
im letzten Moment geändert oder fallen gelassen werden mußten, davon
kann sich jeder — oder auch niemand — eine Vorstellung machen.
Jedoch werde ich auf eine detaillierte Schilderung dieser Vor-
gänge nicht eingehen, weil meine Aufzeichnungen nicht die Be-
stimmung einer Schilderung der Pi.evolution oder deren Teilnehmer
haben, sondern einzig und allein die Motive meines Han-
delns darlegen sollen. So schildere ich das Milieu nur insoweit,
als es zur Erläuterung dieser Motive nötig ist.
Die „Expropriationen“ waren übrigens kein Spezifikum der Anar-
chisten, sondern wurden auch von allen anderen terroristischen Par-
teien vorgenommen.
Wer aber glaubt, die Revolutionäre hätten das Geld für persön-
liche Bedürfnisse verwandt, der täuscht sich gewaltig. Nach wie»
vor blieben sie in ihren elenden Löchern, aßen faule Heringe und gingen
roboten, um die Verbindung mit den Arbeitern und deren Vertrauen
nicht zu verlieren. Das Geld verwendete man nur zu revolutionä-
ren Zwecken. Eür Bewaffnung, Drucksachen, Einrichtung von Bomben-
Laboratorien, Reisekosten für die Schmuggler und Propagandisten, zur
Bestechung, sowie für Unterstützung Verhafteter und deren — als auch,
der Getöteten oder Verwundeten — Eamilien.
XV.
Bald nach meiner Zurückkunft aus Baku war ich nach Warschau
übersiedelt, um den ersten Mai 1905 — der hier nach europäischem
Datum gefeiert wurde — mitmachen zu können.
Der Krieg, die unaufhörlichen Massen-Streiks und Unruhen hatten,
überall entsetzliches Elend im Gefolge, das durch die hereingebrochene
Krise, den Stillstand aller Industriezweige noch gesteigert wurde.
All den Jammer, von dem ich immer geträumt hatte, sah ich;
nun unaufhörlich um mich. Man hätte glauben sollen, daß endlich
meine Wüsche ihre Befriedigung gefunden hätten! Doch dem war
nicht so. Im gleichen Maße, als die Not um mich herum wuchs,
stumpfte sich auch mein Empfinden für dieselbe ab; ich gewöhnte
663
mich an ihren Anblick; betrachtete sie als etwas Alltägliches, Selbst-
verständliches. Etwas mehr liebte und verehrte ich die Menschheit
um dieser Leiden willen allerdings; aber als etwas „über die Kraft“,
etwas „Uebermenschliches“, was zu meiner vollkommenen Befriedigung
nötig gewesen wäre — empfand ich dieselben nicht. Vielleicht wäre mir
dieses übermenschliche Gefühl in Baku zuteil geworden, wenn mein
Körper nicht im entscheidenden Augenblicke zusammengebrochen wäre.
Oder war das vielleicht eine Vorsehung der Natur? Hatte sie dem
Individuum diese Grenze gesteckt, um zu verhindern, daß es sich
übers Menschliche erhebe ?
„War mein damaliger Zustand vielleicht so etwas wie „Ohnmacht
der Seele“, die eintritt, wenn die Qualen derselben beginnen, ins
Uebermenschliche hinüberzugehen; ebenso, wie die körperliche Ohn-
macht uns befällt, wenn die körperlichen Schmerzen das Menschliche
übersteigen ? ? 1“
Diese Frage begann mich nun zu beschäftigen. Ich mußte mir
durch ein Experiment Gewißheit verschaffen, und wenn die halbe
Menschheit als Versuchskaninchen enden mußte!!
Mit Ungeduld wartete ich auf den ersten Mai. — Vielleicht
bringt er mir des Rätsels Lösung! — Die Arbeiter waren noch
unentschlossen: sollten sie demonstrieren oder nicht. — Ich begann
für die Demonstration Stimmung zu machen; warum, das läßt
sich leicht erraten. — — — — — — —
Es war wohl eine der größten Demonstrationen, die Warschau
je gesehen. In den engen Gassen staute sich eine unabsehbare Menge.
Plötzlich drang von allen Seiten das Militär auf die Demonstranten
ein. — Eine furchtbare Panik — wie ich sie noch nie gesehen —
erfaßte diese. An Widerstand war nicht zu denken. — Rette sich
wer kann 1 f
In wahnsinniger Todesangst begann alles zu schreien und in die
Häuser zu flüchten. — Bei den Haustoren entstand ein furcht-
bares Gedränge. Viele wurden erdrückt; die Stürzenden von den Nach-
folgenden zu Brei getreten. Im Parterre wurden die Fenster einge-
schlagen und man kroch durch dieselben in die Wohnungen. Da-
zwischen wüteten die Kosaken mit Säbeln und Nagaiken. Ohren-
betäubendes Angstgeschrei, das Stöhnen der Verwundeten vermischte
sich mit dem bestialischen „Süiy“ der Kosaken zu einem nerven-
zerreißenden Höllenkonzert. Dazu die unnatürlich erweiterten Pupillen,
weit aufgerissenen Augen und angstverzerrten Gesichter der Flüchtenden.
Dieselbe Aufregung hatte sich auch meiner bemächtigt; mit wild
pochendem Herzen und einem unerträglich beängstigendem zusammen-
ziehenden Gefühl in der Kreuzgegend, das1 den ganzen Organismus in
eine Art Angst-Ekstase versetzte, begann ich zu hoffen. — — — —
Es wollte nicht kommen.---------------------
XVI.
In Odessa, das erschöpft war durch unaufhörliche Kämpfe und
Streiks, fühlte man das Erstarken der Reaktion und befürchtete einen
G64
„Pogrom“ (Judenverfolgung). Die Reaktion bediente sich als Werk-
zeug in diesen „Pogromen“ immer des Lumpenproletariats.
Da die tüchtigsten unter den Odessaer Genossen selber Juden
waren und somit keinen Einfluß auf das Lumpenproletariat haben
konnten, drang man in mich, nach Odessa zu fahren und als Nicht-
Jude auf dasselbe einzuwirken, um den Pogrom zu verhindern. Es
ging nicht an, sich davon zu entbinden, obwohl ich im Geheimen
mich der Pogrome freute.
In Kiew, wo ich etwas zu besorgen hatte, traf ich per Zufall
einen Bekannten aus meiner besseren Vergangenheit. Derselbe wußte
nichts von meiner revolutionären Laufbahn. Er seinerseits war ein
Erz-Antisemit. Durch die Unruhen war sein Geschäft total zurück-
gegangen. Die ganze Revolution bezeichnete er als eine Judenmache
und schimpfte auf die Regierung, die sich derselben gegenüber —
seiner Meinung nach — der Schwäche schuldig machte.
„Aber“, fuhr er fort, indem er mir mit den Augen zuzwinkerte,
wenn die Regierung nichts tut, werden wir uns schon selbst zu helfen
wissen!“ Ich schien ganz seiner Meinung zu sein, und er teilte mir
verstohlen mit, daß schon ein geheimes Komitee in Odessa existiere,
das die „Sache“ in die Hand nehmen will. Er wäre auch Mitglied.
Es sei schon sehr viel Geld gesammelt, um gewisse Leute zu bezahlen,
die die ganze Hetze arrangieren sollten. Wenn ich mitmachen wolle,
so könne ich bei ihm zu Gast sein, und er werde mich ins Komitee
einführen. Ich willigte ein.
Am nächsten Tage wurde ich tatsächlich ins „Komitee“ ein-
geführt. Wer die Herren desselben waren, erfuhr ich nicht genau.
Eines hatten sie alle gemeinsam: eine furchtbare Indolenz. — Alles
war schon vorbereitet. Man wollte patriotische Kundgebungen ver-
anstalten und dann Proklamationen unter das Volk werfen, des In-
halts : die Juden hätten sich mit den Japanern zur Vernichtung des
heiligen Rußland verschworen; die Revolution wurde von ihnen be-
gonnen, damit Väterchens Heer auf zwei Seiten kämpfen müsse. An
dem ganzen jetzigen Elend seien also nur die Juden schuld, usw. —
Für Leute, die den ganzen Rummel arrangieren wollten, war schon
gesorgt. Nur die Proklamation war noch zu verfassen.
Mein Bekannter begann nun, mein schriftstellerisches Genie zu
preisen und man drang in mich, sofort mit der Abfassung einer solchen
Flugschrift zu beginnen. Der Vorschlag kam mir gelegen; ich brauche
nicht zu sagen, warum. Mit ganzem Feuer legte ich mich ins Zeug
und die Proklamation wurde ein Meisterstück in Demagogie und im
„Appell an das Tier im Menschen“, wie das gewöhnlich genannt wird.
Die Verbreitung dieses „Kulturdokuments“, wie es von revolu-
tionärer Seite genannt wurde, fand anläßlich der geplanten Kund-
gebung statt. Der Tag verlief ohne Ausschreitungen, obwohl man das
anziehende Gewitter sozusagen in der Luft liegen fühlte. Erst gegen
Abend wurden hier und da einige Juden geprügelt. „
Am zweiten Tage veranstalteten unsere Leute wieder eine Kund-
geoung. Von anderer Seite versuchte man eine Gegendemonstration
und es kam zu Zusammenstößen. Die schwarzen Banden (das Lumpen-
proletariat); welche im Namen des Patriotismus“ kämpften, zerstreuten
die Gegendemonstranten und begannen in der Judenstadt zu demolieren
und zu plündern.
Das Klirren der Scheiben und Krachen der zerbrochenen Aus-
lagen und Möbel schien die Menge immer mehr zu fanatisieren; sie
mußte dabei eine gewisse Wollust empfinden. Endlich fand man auch
Juden, die sich versteckt hatten. Ein schreckliches Zetergeschrei er-
hob sich. Man stieß sie auf die Straße. Hier schlug man mit allein
möglichen, Knütteln, Beilen, Messern auf sie los, bis sie völlig unkennt-
lich waren. Immer mehr von ihnen fand man. Die meisten begannen
auf den Knien um ihr Leben zu flehen; - es war ein scheußlicher
Anblick, wie sie, bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen, noch immer
um Gnade wimmerten. Nun schien der Pöbel erst Blut zu riechen
und seine ganze wahre Menschennatur zu entfalten. Jeder begann
nach seiner individuellen Phantasie zu morden. Hier schnitt man
einer stillenden Mutter die Brust ab; dort riß man einigen Mädchen
die Kleider ab und peitschte sie durch die Straßen; da zog man
eine Jüdin nackt aus, fesselte sie, band sie mit den Haaren an die
Achse einer Droschke — und fort gings im Galopp, sie zu Tode zu
schleifen. Hinterher liefen Gassenjungen, auf sie losschlagend. —
Doch wozu diese Szenen schildern, bei denen sich das Herz vor Weh
im Leibe krampft, und man zugleich laut auf jauchzen wollte! —
Hier sah ich wiederum die 50 000 Blanquis in ihrem Milieu.
Ein Wink der Hand hatte alle diese veranlaßt — obwohl sicher 99 o/0
davon keine Judenfeinde waren — sich in den höllischsten antisemi-
tischen Exzessen zu wälzen. Würde es die Polizei erlauben — so wie
sie die Pogrome duldet —, so würden sie auf denselben Wink der
Hand über irgend eine andere Menschengattung, z. B. die Kapitalisten,
herfallen.
Welcher psychologische Faktor trieb sie dazu? — Etwa bloß
Hang zur Grausamkeit? — Nein! — Diese für sich allein betrachtet,
ohne edlere Motive, ist unmenschlich, mit der menschlichen Natur
unvereinbar, und der Mensch kann sich nicht seiner Natur entledigen.
Es mußten also andere, menschlich-begreiflichere Motive derselben
zugrunde liegen.
Aber seht nur alle diese Schlächter einmal an! Betrachtet ihre
Physiognomien! — Kein Zug von Grausamkeit; nur Leiden, uner-
hörtes Leiden spiegelt sich auf denselben wider! — Die Todesangst
und der Schmerz ihrer Opfer bereitet ihnen unerhörte Qualen! —
Glaubt ihr* nicht, daß diese Leute dann nach Hause gehen und sich
im Seelenschmerz winden werden?! — Beständig werden sie den letzten,
brechenden Blick ihrer Opfer klagend und vorwurfsvoll auf sich ge-
richtet fühlen! — Welchen Haß, welche Verachtung werden sie gegen
das Tier in sich immerwährend herumtragen! — Sie werden das Ver-
langen haben, sich ins Gesicht zu speien, sich zu schlagen und zu
erwürgen! — Vor jedem, dem sie begegnen, werden sie den Blick
senken: ,,Er weiß, daß ich unter grausamen Foltern Leute gemordet
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habe, gegen die kein Haß in meinem Herzen war! Gemordet mir des-
halb, weil ich das instinktive Verlangen nach Seelenmartern in mir
hatte! Weil dnrch die plötzlich mich überrumpelnde Situation der
eine Pol meiner zwitterhaften Natur ausgelöst wurde!“
„Sie sind Masochisten; nur wissen sie es nicht!“
Eine Verachtung meiner selbst erfaßte mich plötzlich inmitten
dieser satanischen Leidensorgie solcher unbewußter, instink-
tiver Masochisten. Die Erinnerung, daß alle diese Leute sich nur
von einem blinden, tierischen Triebe hinreißen ließen und morgen vor
ihrem Gotte auf den Knien herumrutschen und um Verzeihung flehen
werden, — flößte mir Ekel ein. Ich begann diese stupide Masse
zu hassen; ich wollte sie sehen, wie sie sich im Staube krümmen
und um Gnade heulen wird.
Zu diesem Zwecke brauchte man nur den „Selbstschutz“ (eine
Verbindung zur Verhinderung von Judenverfolgungen) zu organisieren.
Um dies zu bewerkstelligen, suchte ich in die Judenstadt zu kommen.
Durch einige Seitengäßchen gelang es mir. Kaum war ich eingeclxungen,
kamen mir auch schon Haufen von „Selbstschützlern“ entgegen.
Endlich stieß ich auf einige Genossen darunter und schloß mich
ihnen an.
Ein erbitterter Kampf begann nun zu wüten. — Als die schwarzen
Banden so energisch angegriffen wurden, war es mit ihrem ganzen
Heldentum vorbei; sie flüchteten. In diesem Augenblicke schritt das
Militär ein; nicht, wie man meinen sollte, gegen die schwarze Bande
— sondern gegen die Selbstschützler.
Mein nach vorn gestreckter Arm wurde von einer Gewehrkugel
in eigentümlicher Weise der Länge nach durchschossen. Ich sank um,
erholte mich aber bald und konnte flüchten.
Jenes unaussprechliche Gefühl vollkommener Befriedigung durch
Leiden, nach welchem ich immerfort suchte, — das ich sozusagen in
mir schlummern fühlte —, war mir wieder nicht zuteil geworden.
Unausgesetzt hatte ich den Eindruck, daß mir etwas mangle, daß
ich irgend etwas in mir zu wecken habe, was bis dato nur so ganz
verschwommen in meinem Bewußtsein existierte. — Zugleich flüsterte
mir eine Stimme zu, daß ich das Uebermenschliche verlange; die
Erreichung desselben muß logischerweise meine nur menschlichen
Kräfte übersteigen und die Vernichtung nach sich ziehen.
Tag und Nacht plagten mich diese Gedanken: „Erreichen mußt
du diese Erkenntnis — und wenn du darunter zugrunde gehst! — —
Wenn aber im letzten Augenblick — wie in Baku — das weitere
Unvermögen, die „seelische Ohnmacht“ eintritt?!“
Das eine wußte ich: „Wenn du es erreichst, so nur durch dich
selber; alle anderen werden vor dir zusammenbrechen!“
XVII.
Eür die weitere Entwicklung der revolutionären Dinge hatte ich
kein Interesse mehr, seitdem sie mir für meine Zwecke nicht mehr
dienlich waren.
667
Die neuen Fragen, die auftauchten — so die Propaganda unter
dem Lumpenproletariat —, ließen mich kalt. — In den Pogromen
hatte man gesehen, welche ungeweckte — angeblich revolutionäre, in
Wirklichkeit masochistische — Kraft im Lumpenproletariat
schlummere. Daß dieselbe sich im Dienste der Reaktion verwenden
ließ, schrieb man dem Umstand zu, daß alle diese Diebe, Einbrecher
und Prostituierten einzig und allein mit der Arbeiterklasse in Berührung
kamen. Da sie aber von dieser nichts als Verachtung ernteten, kehrt©
sich ihr Empfinden gegen dieselbe.
Diesem Uebelstande wollte man dadurch begegnen, indem man
sozusagen unter die Verbrecher ging, sowie man in den früheren Jahren
unters Volk gegangen war. Man suchte das Lumpenproletariat zu
organisieren, um seine Sympathien zu gewinnen.
Teilweise gelang das, obwohl es sehr viel Korruption mit sich
brachte. So kam es vor, daß die Verbrecher sich das zunutze machten
und im Namen des Anarchismus ihr Metier zu betreiben begannen.
Sie statteten z. B. in Warschau einem immens reichen jüdischen
Bankier, dessen Vater kürzlich gestorben war, einen Besuch ab ünd
erpreßten unter dem Deckmantel des Anarchismus von ihm 10 000
Rubel mit der Drohung, daß sie — falls er sich weigere, das Geld zu
geben — die Leiche seines Vaters ausgraben und in ungeheiligtem
Boden verscharren würden. Wer bedenkt, daß das Entsetzlichste für
einen orthodoxen Juden ist, in ungeheiligter Erde zu ruhen, der wird
begreifen, daß der Bankier das Geld gab, dieses Vorgehen aber überall
tiefste Empörung hervorrief und man Anarchisten und gemeine Ver-
brecher zu identifizieren begann.
Nun hatten die Anarchisten nicht nur die Verfolgung der Re-
gierung, sondern auch der anderen revolutionären Parteien und der
Lumpenproletarier zu erdulden. Der letzteren deshalb, weil sie sich
weigerten, für gewisse Vergehen — die zum persönlichen Vorteil, nicht
für revolutionäre Zwecke vorgenommen wurden — ihren Namen her-
zugeben.
Diese Hetzjagd von drei Seiten sollte bald das Debacle bringen.
Während dieser Zeit grübelte ich fortwährend an dem Problem:
„Wird sich das traumhafte Gebilde in dir realisieren lassen? — Wird
es dein Untergang sein? — Oder wird es deine Kraft übersteigen und
wieder jene ,seelische Ohnmacht* eintreten?“
Durch ein Experiment wäre es festzulegen! — Wenn man Pest-
bazillen säen würde! — Wenn ganze Städte dem Hauch dei'selben
erliegen! — Wenn die Todesangst auch die Scharen jener ergreifen
wird, die in ihrer Feigheit bei jedem Streik, jeder Demonstration^
jedem Barrikadenkampf sich hinter dem Ofen oder unterm Bett ver-
kriechen! — Wenn diese Todesangst ganzer Städte, ganzer Länder
sich zu einer jener Massenpsychosen steigern wird, wie im Mittel-
alter! — Wenn man in der Verzweiflung nach den Urhebern suchen
und sich gegenseitig zerfleischen wird! — Wird dann meine Erlösung
kommen? — Wird mir eine Antwort werden?
Ich schaudere vor den Leiden, die mir das bringen würden!
€68
Ich fühle, daß ich dem nicht gewachsen bin! — Ich leide auf andei’er
Seite unaussprechlich: weil ich keine Antwort, keine Erkenntnis, keine
Befriedigung habe! — Ich will — und kann nicht. — Noch länger
■dieser Zwitterzustand: ist Tod oder Wahnsinn! — Was tun? — Wie
.sich aus diesem schrecklichen Dilemma befreien?
O, warum bin ich nicht wie andere?! — Warum kann ich nicht
•einfach hinnehmen, wie es ist?! — Warum mußte ich zu erkennen —
beginnen, um dann der Unergi’ündlichkeit bewußt zu werden?! —
Warum quälte ich mich, den Berg zu erklimmen — — um vor einem
bodenlosen Abgrund zu stehen?! — Vor einem Abgrund, dessen ge-
heimnisvolle Tiefe sich mir nur offenbart — wenn ich mich kopfüber
hineinstürze!!
Was tun? — Was tun?! — Soll ich — oder nicht?? — Ich
will! — Ich muß!!
Als ich wollte — wurde ich verhaftet! — Zufall — oder Vor-
sehung ? ?!
0, Schicksal, Schicksal! D a s ist zuviel des Leidens! — —
O, Menschen, Menschen! — Was habt ihr getan! — Ein einziger
wollte sehen! — Ein einziger wollte den Schleier von dem Bilde
reißen — und ihr habt es verhindert! — Ewig werdet ihr Finsternis
um euch haben!! — — Warum wollt ihr aber mir, mir das Licht
nicht gönnen?!
S o dankt ihr mir, der die Menschheit geliebt: wie kein anderer!
Ja! Das ist wieder die grausame, unerbittliche Philosophie
Golgathas:
„W er lieben will — muß leiden!!“
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Der sexuelle Fetischismus.
Bezüglich der Entwickelung physiologischer Liebe ist es wahr-
scheinlich! daß ihr Keim immer in einem individuellen Fetischzauber,,
welchen die Person des einen Geschlechts auf eine des anderen aus-
übt, zu suchen und zu finden ist.
R. v. Krafft-Ebing.
Inhalt des zweiundzwanzigsten Kapitels.
Ps}-chologische Grundlage des sexuellen Fetischismus. — Defi-
nition. — Die „Teilanziehung“. — Theorie des Fetischismus. —
Psychologischer Prozeß bei seiner Entstehung. — Die Idealisierung
und Akzentuierung in der Liebe. — Die ideelle Isolierung be-
stimmter Teile. — Der „kleine“ und der „große“ Fetischismus.
•— Die häufigsten Formen des sexuellen Fetischismus. — Der
Rassenf etischismus. — Seltsame Neigungen zu exotischen Indivi-
duen. — Der Haarfetischismus. — Verschiedene Formen desselben. —
Die „Zopfabschneider“. — Prozeß eines Zopfabschneiders. — Haar-
fetiscliismus bei Frauen. — Glatzenfetischismus. — Fetischismus für
andere Körperteile. — Busenfetischismus. — Genitalfetischismus. —
Phalluskult. — Cunnilingus und Fellatio. — Ein Fall von Genital-
fetischismus. — Ein Hermaphroditenfetischist. — Handfetischismus.
— Gesäßfetischismus. — Geruchsfetischismus. — Rotes Haar und Kör-
pergeruch. — Eine Stelle aus d’Annunzios „Lust“. — Achsel-
geruchfetischismus. — Der Gesamtkörpergeruch als Fetisch. — Wirkung
der spezifischen Genitalgerüche. — Skatologische Fetische. — Die
„Skatologie“ in der Völkerkunde und im Folklore. — Die „Muse latri-
nale“. — Die „Renifleurs“ und „Epongeurs“. — Sexuelle Parfüme.
— Wirkung von Blumen und Duftstoffen. — Sexueller Geschmacks-
fetischismus. — Priapische Genußmittel. — Beispiele. — Fetischismus
für Reiterinnen. — Für körperliche Defekte. — Für Greise. — Stimmen-
fetischismus. — Gegenstandsfetischismus. — Der Schuhfetischismus
oder „Retifismus“. — Erklärung desselben. — Besonderheiten des Schuh-
fetischismus. — Korsett-, Strumpf- und Taschentuchfetischismus. —
Stoff- und Kostümfetischismus.
Wie die Algol agnie rulit auch der sexuelle Fetischis-
mus durchaus auf fetischistischer Grundlage und ist nur eine
mehr oder weniger abnorme Steigerung der im Wesen der
sexuellen Anziehung liegenden fetischistischen Vorstellungen und
Empfindungen.
Unter Fetischismus (vom portugiesischen „feitiQo“, italienisch
„fetisso“ == Zauber) versteht man die Uebertragung und Be-
schränkung der Liebe zu einer Gesamtpersönlichkeit bezw. Ge-
samtvorstellung auf einen Teil dieser Persönlichkeit oder auch
nur auf einen in Beziehung zu dieser Gesamtpersönlichkeit
tretenden leblosen körperlichen Gegenstand.1) Dieser faszi-
nierende „Teil“ der geliebten Persönlichkeit bezw. der mit dieser
letzteren assoziativ verknüpfte „Gegenstand“ ist dann der sexuelle
„Fetisch“. Innerhalb der physiologischen Grenzen wirkt zwar
der betreffende Teil vorzugsweise anziehend und erregend, bleibt
aber in der Vorstellung des Liebenden immer in Zusammenhang
mit der ganzen Persönlichkeit, zu der er gehört. Abnorm bezw.
pathologisch wird der sexuelle Fetischismus erst, wenn die Teil-
vorstellung ganz von der Gesamtvorstellung losgelöst wird, also
z. B. der Zopf oder ein Taschentuch allein ohne den dazu
gehörigen Träger geliebt wird.
Die Entwicklung jeder Liebe läßt sich auf fetischistische
Vorstellungen zurückführen, da nach dem ersten allgemeinen Ein-
druck, den die geliebte Person auf den Liebenden macht, es stets
gewisse Teile oder Funktionen sind, die einen größeren
Eindruck machen, größere erotische Wirkung ausüben als andere,
an denen also die Phantasie und Empfindung haften bleibt.
i) M. Hirschfeld hat daher den glücklichen Namen „Teil-
anziöhung“ für Fetischismus vorgeschlagen, leider läßt sich kein
Adjektiv davon bilden, so daß aus praktischen Gründen das Fremd-
wort vorläufig besser verwendbar ist.
672
Ich habe (Beiträge usw., Bd. II, S. 311), wie übrigens später
auch M. Hirsch feld, die sexuellen Fetische als in dem je-
weiligen Falle besonders geeignete Symbole des Wesens der
geliebten Person definiert, an die die Vorstellung des ganzen
Typus am leichtesten anknüpfen kann.
Sexuelle Fetische können sein : 1. Körperteile, 2. Kör-
perfunktionen und Emanationen und 3. Gegen-
stände, die zum Körper in irgend einer Beziehung-
stehen.
Unter 1. wären zu nennen: Hand, Fuß, Nase, Ohren, Augen,
Kopfhaar, Barthaar, Hals und Nacken, Busen, Hüften, Genitalien,.
Gesäß, Waden. Alle diese Teile können sexuelle Fetische werden.
Das gleiche gilt von den unter 2. fallenden Momenten: Be-
wegung, Gang, Stimme, Blick, Geruch, Hautfarbe.
Unter 3. sind zu erwähnen: die Kleidung als Ganzes (als
Kostüm) und in ihren einzelnen Teilen, Ober- und Unterkleidung,,
Hut, Brille, Haartracht, Schlips, Jacke, Korsett, Hemd* Jupons,
Strümpfe, Schuhe oder Stiefel, Schürze, Taschentuch, Kleider-
stoffe (Pelz, Samt, Seide), Kleiderfarbe (Trauerkleidung, bunte
Blusen, weiße Kleider, Uniform), Mode (Cui de Paris, Décolleté
und Retroussé, Trikot). Ja, der Kleiderfetischismus geht so weit,,
daß sögar die verschiedenen Formen der Absätze an den Schuhen,
bestimmte Verzierung an einzelnen Stellen der Kleidung, schließ-
lich sogar jede auffallende Stelle derselben Sexualfetisch werden
kann.
Die Fetischwirkung wird noch durch eine besondere Eigen-
schaft der menschlichen Liebe verstärkt. Das ist ihre Neigung
zur Idealisierung, Verschönerung und Vergröße-
rung der die Sinne am meisten affizierenden Teile. Diese Ver-
schönerung und Idealisierung erstreckt sich dann auch vom Körper
auf die Kleidung und Gebrauchsgegenstände der geliebten Person,
bleibt aber immer noch im Zusammenhänge mit der ganzen Persön-
lichkeit. Erst durch die Vergrößerung und Akzentuierung eines
bestimmten Teiles wird dieser aus der Gesamtvorstellung heraus-
gehoben und so seine Erhebung und Umwandlung zu einem
„Fetisch“ vorbereitet. In dem Kapitel über die Kleidung wurde
bereits dieses allgemein anthropologische Phänomen der Ver-
größerung und Hervorhebung vieler Teile durch bestimmte
Maßnahmen gewürdigt, wie durch Bemalen, durch Kleidungs-
stücke, Entblößungen, Haartracht usw.
673
Indem nun durch die ideelle und wirkliche Akzentuierung
der betreffende Teil bereits als ein mehr selständiges Gebilde
hervortritt und sich von der Gesamtpersönlichkeit gleichsam ab-
löst, wird er unwillkürlich von dem betreffenden Fetischisten
in Gedanken isoliert und zu einem für sich selbständigen
Reize verallgemeinert, der nunmehr völlig an die Stelle
der Persönlichkeit zeitweise oder dauernd treten kann.
Der hier geschilderte psychologische Prozeß umfaßt das, was
Bin et den „kleinen“ und den „großen“ Fetischismus nennt.
Der kleine Fetischismus besteht dann, wenn der Verliebte,
ohne schon die ganze Person der Geliebten aus dem Auge zu
verlieren, doch bereits einzelnen besonderen Reizen derselben
seine Aufmerksamkeit zuwendet bezw. durch ganz bestimmte
Eigenschaften der geliebten Frau überhaupt erst an sie
gefesselt wird, wie die Form und Kleinheit der Hand, Farbe
und Leuchten des Auges, Fülle und Weichheit des Haares, den
Teint, einem bestimmten Geruch, eine melodische Stimme usw.
Beim „kleinen“ Fetischismus bildet die Teilvorstellung zwar einen
sehr hervorstechenden Zug im Gesamtbilde, vermag aber dieses
letztere nicht gänzlich auszulöschen.
Beim „großen“ Fetischismus dagegen wird ein bestimmter
Teil oder eine Funktion und Eigenschaft oder ein Kleidungstück
und Gebrauchsgegenstand der geliebten. Person von dieser isoliert,
verwandelt sich gewissermaßen in diese letztere selbst und nimmt
ganz und gar den Charakter eines durch sich allein sexuell er-
regenden Wesens an. Das ist der eigentliche sexuelle Fetischismus.
Binet und v. Sehren ck-Notzing haben die Entstehung
desselben auf eine meist in der Kindheit nachweisbare Gelegen-
heitsursache zurückgeführt, auf einen fetischistischen Ein-
druck, der zufällig mit sexueller Erregung zusammentreffend seit-
dem dauernd sexuell betont wurde. Die Pubertätszeit und die
ersten sexuellen Beziehungen sind für die Bildung einer solchen
Ideenassoziation besonders gefährlich, v. Schrenck -Kotzing
weist mit Recht darauf hin, daß diese perversen assoziativen Ver-
knüpfungen als Reaktion auf äußere lebhafte Eindrücke nicht
nur, wie Binet annimmt, bei prädisponierten Individuen Vor-
kommen, sondern ganz besonders charakteristisch
für das kindliche Geistesleben zur Zeit des Ge-
hirnwachstums, sowie für die minder entwickelte
Denkkraft der Naturvölker sind, die ja heute auch
B 1 o o h , Sexualleben. 7.—9. Auflage. 43
(41.—60. Tausend.)
674
noch auf anderen Gebieten dem Fetischismus in ausgedehntestem
Maße huldigen, ja, daß sie sogar nicht selten bei ganz normal
entwickelten Gehirnen Vorkommen. Derartige Gelegenheiten bietesi
sich bei Spielen, bei der Lektüre, bei solitärer und mutueller
Onanie. Fast stets läßt sich in der Entstehung des Fetischismus
eine solche okkassionelle Veranlassung nachweisen.
In zahlreichen Fällen des „großen“ Fetischismus, besonders
bei der Kategorie der Haarfetischisten („Zopfabschneider“), Schuh-
fetischisten und Wäsche-, besonders Taschentuchfetischisten, liegt
außerdem noch eine mehr oder weniger schwere psychopathische
Konstitution vor, auf Grund deren der Trieb sich als eine Art
„Zwangsvorstellung“ entwickelt hat. Das sind die Fälle
die meist forensische Bedeutung gewinnen und zur Kenntnis der
Oeffentlichkeit gelangen.
Im folgenden geben wir eine kurze Uebersicht der wichtigsten
und am häufigsten beobachteten Formen des sexuellen Fetischismus.
Zunächst können Teile, Funktionen und Eigen-
schaften des Körpers sexuelle Fetische werden. Die hier vom
Kopf bis zu den Füßen sich bietenden Möglichkeiten haben wir
schon oben aufgezählt. Jedoch kann, so seltsam das klingt, auch
der ganze Mensch sexueller Fetisch sein, und zwar nicht
als Gesamtpersönlichkeit — das wäre ja normale Liebe —, sondern
als nationales oder Rassenindividuum. Dann haben
wir den sogenannten „Rassenfetischismus“. Die europäi-
schen Zeitungen sind voll von interessanten Berichten über die
eigentümliche Anziehungskraft, die exotische Individuen wie Neger,
Araber, Abessynier, Marokkaner, Inder, Japaner usw. auf die
europäische Männer- und Frauenwelt ausüben, je nachdem es sich
um weibliche oder männliche Repräsentanten jener exotischen
Rassen handelt. Bei jedem Aufenthalte von Angehörigen dieser
Völker in irgend einer europäischen Hauptstadt hört man von
seltsamen Liebesaffären zwischen weißen Mädchen und diesen
Fremdlingen, von romantischen Entführungen und anderen tollen
Abenteuern. Das Neue, Eigenartige, Pikante der fremden Rasse
wirkt wie ein Fetisch. Größe, Gestalt, Physiognomie, Hautfarbe,
Hautgeruch, Tätowierung, Schmuck, Kleidung, Sprache, Tanz
und Gesang dieser „wilden“ Menschen üben eine faszinierende
Wirkung aus. Weiße Männer hatten von jeher ein besonderes
Faible für Negerinnen, Mulattinnen, und Kreolinnen. Schon im
675
18. Jahrhundert gab es in Paris Negerinnenbordelle, besonders
nach Bonapartes ägyptischer Expedition kamen Schwarze
beiderlei Geschlechts in Menge nach Paris und fanden lebhaften
Zuspruch von Männern und Frauen. Trotz des eingewurzelten
Rassenhasses führt auch in Amerika der Rassenfetischismus zahl-
reiche solche Verhältnisse herbei. Das „coloured g-irl“ übt eine
große Anziehungskraft auf den Yankee aus und auch die stolzen
Amerikanerinnen hegen, besonders häufig in Chicago, eine gewisse
Vorliebe für männliche „niggers“.2) Aber noch größer ist um-
gekehrt die Anziehungskraft des Weißen auf den Neger. Be-
sonders bei kultivierten Negern spielt die weiße Frau die Rolle
eines Fetisch. Daraus erklären sich die so häufig vorkommenden
und zu Lynchjustiz Veranlassung gebenden Gewaltakte von
Negern gegen weiße Mädchen.
Unter den Körperteilen, die als Fetische wirken, kommt be-
sonders das weibliche Haupthaar in Betracht. Dieser „Haar-
f e t i s c h i s m u s“ ist als physiologischer „kleiner“ und patho-
logischer „großer“ Fetischismus weit verbreitet. Fülle und Farbe
des Han res wirken in gleichem Maße, auch in der normalen Liebe,
als „Fetisch“. Das Haar, „des süßen Fleisches zartest, süßestes
Gewächs“, wie Eduard Grisebach im „Neuen Tanhäuser“
es nennt, hat eine große sexuelle Bedeutung, beim Urmenschen
hat es wahrscheinlich dieselbe Rulle des sexuell anreizenden
,, Verschleierns“ gespielt, wie später Tätowierung und Kleidung.
Kopfhaar und Kopffrisur spielen bei allen aNturvölkern eine be-
deutsame Rolle in der geschlechtlichen Zuchtwahl. Auch der Duft
des Haares wirkt sexuell erregend und bleibt in der Vorstellung
haften. Auch die Weichheit des Haares, das Wallende, Wogende
im gelösten weiblichen Hauthaar, das Knistern der Haare regen
die Phantasie an. Am wichtigsten aber ist die Färbe des Haares,
und zwar behauptet hier das blonde bezw. rotblonde Haar ohne
Zweifel den Vorrang als sexueller Fetisch. Ein solcher war es
schon in der römischen Kaiserzeit. Die Demimonde aller Zeiten
benutzt diese Form des Haarfetischismus der Männer für ihre
Zwecke durch Blondfärbung der Haare bezw. Tragen von blonden
Perücken. Es gibt jedoch auch Fetische für braune, schwarze * 10
*) Vgl. Felix Baumann, Aus dem dunkelsten Amerika, S.
10 und S. 41.
676
und rote Haare. Jon Lehmann erzählt (Breslauer Zeitung*
vom 24. August 1906) von einem großen Mädchenjäger, der mit
allen hübschen Mädchen vorlieb nahm, nur durfte die Betreffende'
keine roten Haare haben und keine — Pastorstochter sein. Un-
zählige Male hatte er das erklärt. Nach Jahren fand ihn
Lehmann wieder als glücklichen Ehegatten einer — Pastors-
tocbter mit roten Haaren! C’est l’amour qui a fait oela, erwiderte
er lakonisch auf die erstaunte Frage, weshalb er den Vorsätzen
seiner Jugend untreu geworden sei.
Der Haarfetischismus äußert sich auf verschiedene Arten.
Manche Leute sind eigentlich mehr Geruchsfetischisten, da sie
sich mit dem bloßen Beriechen des Haares begnügen und dies
ihre einzige oder hauptsächliche sexuelle Befriedigung bildet.
Andere Haarfetischisten finden im Anblick bezw. im Durchwühlen
des Haares geschlechtlichen Genuß. Dafür ist der folgende von
Archenholtz (England und Italien, Leipzig 1785, I, 448) mit-
geteilte Fall maßgebend:
„Ich habe einen Engländer gekannt, der ein rechtschaffener, liebens-
würdiger Mann war, allein einen höchst bizarren Geschmack hatte,
der, wie er mir oft versicherte, tief in seiner Seele lag. Das größte
Vergnügen, das nur allein seine Pinne berauschen konnte, war, die
Haare eines schönen Weibes zu kämmen. Er unterhielt eine reizende
Maitresse bloß zu diesem Zwecke. Liebe und Frau kamen hier-
bei in keine Betrachtung, er hatte es bloß mit ihren
Haaren zu tun, die sie in den ihm gefälligen Stunden entnadeltn
mußte, damit er darin mit seinen Händen wühlen konnte. Diese
Operation verschaffte ihm einen höchstmöglichen Grad körperlicher
Wollust.“
Die auffälligste Klasse der Haarfetischisten sind die soge-
nannten „Zopfabschneide r“. Den Uebergang dazu bildet die
besonders in früheren Zeiten weit verbreitete Sitte des Ab-
schneidens und des Aufbewahrens von Locken als erotischer
Fetische. Dieser sexuelle Beliquienkult blühte besonders im
18. Jahrhundert, zur Zeit der „Empfindsamkeit“. Friedrich
S. Krauß berichtet (Anthropophyteia, Bd. I, S. 163), daß bei
den Südslaven Burschen und Mädchen einander sogar Büschel von
— Schamhaaren als sexuelle Fetische überreichen. Auch die.
„Perückensammler“ gehören zu der Kategorie harmloser Haar-
fetischisten. Ernster sind die wirklichen „Zopfabschneider“,
Individuen, die gewohnheitsmäßig Mädchen die Zöpfe abschneiden,
im Besitze dieser Zöpfe glücklich sind, schon allein im Anblick
677
oder der Berührung (derselben geschlechtliche Befriedigung haben.
Diese Zopfabschneider sind fast ausschließlich pathologische
Individuen, die unter der Einwirkung von Zwangsimpulsen
■handeln. Neuerdings kamen in Berlin zwei derartige Eälle vor.
Die Gerichtsverhandlung über den ersten Fall ergab so inter-
essante Aufschlüsse über die Entwicklung, Psychologie und Be-
tätigung des Zopffetischismus, daß sie der Erinnerung wert ist
und deshalb hier mitgeteilt sei, nach dem Berliner Tageblatt,
No. 118 vom 6. März 1906:
Perversitäten vor Gericht.
Der Zopfabschneider, dessen Verhaftung seinerzeit so großes Auf-
sehen erregte, stand in der Person des Studenten an der Technischen
Hochschule in Charlottenburg, Robert St., vor dem hiesigen Schöffen-
gericht unter Vorsitz des Gerichtsassessors Förster. Die Anklage ver-
trat Staatsanwalt Rohde, die Verteidigung führte Justizrat Dr. Richard
Wolff. Der aus der Untersuchungshaft vorgeführte Angeklagte ist
1883 in Valparaiso geboren. Er wird beschuldigt, in den Monaten
November v. J. bis Januar d. J. in sechzehn Fällen dadurch, daß er
sich auf der Straße an junge Mädchen herandrängte, ihnen die Zöpfe
■abschnitt und auch die Zopfbändchen mitnahm, des Diebstahls, in
zwölf Fällen der körperlichen Mißhandlung und der tätlichen Beleidi-
gung sich schuldig gemacht zu haben. Als medizinische Sachver-
ständige sind die Medizinalräte Dr. Hoffmann und Dr. Leppmann ge-
laden. — Während der Verhandlung wird die Oeffentlichkeit ausge-
schlossen, den Vertretern der Presse aber der Zutritt gestattet..
Auf die Fragen des Vorsitzenden bekundet der Angeklagte, daß
«er 1888 nach Deutschland gekommen ist, und die Schulen in Thorn,
in Bergedorf und Hamburg besucht habe. Er hat in Hamburg das
Abiturientenexamen gemacht und ein gutes Abgangszeugnis erhalten.
Er hat stets hervorragende Begabung für Mathematik gezeigt, ein
Semester in München studiert, steht jetzt im 6. Semester, studiert
Schiffsbautechnik und hat im Oktober v. J. ein Vorexamen gemacht.
Dazu hat er, nach seiner Angabe, sehr intensiv gearbeitet. Er gibt
zu, in 16 Fällen in den Straßen Berlins Mädchen die Zöpfe abge-
-■schnitten zu haben. In seiner Wohnung sind 31 Zöpfe vorgefunden
worden. — Vors.: Haben Sie schon in früheren Jahren solche Nei-
gungen gehabt ? — Angekl.:: Einmal, im Alter von 16 Jahren habe
ich abends meiner dreizehnjährigen Schwester heimlich Haar abge-
.schnitten und es behalten. Die Neigung für schönes langes Haar
habe ich immer gehabt, schließlich ist sie so stark aufgetreten, daß
Ich ihr nicht widerstehen konnte. Zum ersten Male habe ich am
Tage des Einzuges der Kronprinzessin einem Mädchen einige Haare ab-
geschnitten. Ich weiß nicht, weshalb ich plötzlich dem Triebe nicht
widerstehen konnte. Der Trieb wurde lebendiger, als ich von einer
IReise nach Südamerika, die ich als Maschinenvolontär gemacht, zu-
678
rückkehrte. Die Reise hatte fünf Monate gedauert, ich hatte an Bord
stark gearbeitet, war auf der ganzen Reise in mißmutiger Stimmung,,
und als ich. zurückkehrte, wurde die Anfechtung immer größer. —
Vors.: Wie kam denn die Anfechtung über Sie? — Ich lief öfter
kleinen Mädehen nach, ohne daß ich den Wunsch, ihr Haar zu be-
sitzen, ausführen konnte. Da gelang es mir, in dem Gedränge der
Einzugsfeierlichkeiten Unter den Linden einem Mädchen ihr loses Haar
mit einer Schere abzuschneiden, ohne daß das Mädchen davon etwas
merkte. — Vors.: Was machten Sie mit dem Haar? — Angekl.: Gar
nichts. — Vors.: Was dachten Sie sich denn dabei? — Angekl.: Gar
nichts. Ich habe das Haar einfach in die Tasche gesteckt. — Vors.: Und
weiter? — Angekl.: Ich habe dann noch mehrere Male Unter den
Linden loses Haar abgeschnitten. — Vors.: Wann fingen Sie an, ganze
Zöpfe abzuschneiden? — Angekl.: Im November, bei dem Einzug des
Königs von Spanien. Da habe ich am Opernplatz einem Kinde den
Zopf abgeschnitten; das Mädchen merkte nichts davon, und ich blieb
ruhig stehen. Der Zopf war mit einem Bändchen versehen. — Präs.:
Was haben Sie mit dem Zopf gemacht? — Angekl.: Ich habe ihn zu
Hause ausgeflochten, ausgekämmt und in einem Kästchen im Schreib-
tisch, das die Aufschrift „Erinnerungen“ trug, aufbewahrt. Ich habe
das Haar dann manchmal hervorgeholt und geküßt, manch-
mal es auch auf mein Kopfkissen gelegt und meinen Kopf darauf
ruhen lassen. — Vors.: Waren Sie sich denn nicht bewußt, etwas
Böses und Uebles zu tun, und daß Sie einen tiefen Eingriff in die
Kechtssphäre eines anderen ausübten? —Angekl.: Daran habe ich nicht
gedacht. — Vors.: Wenn nun etwa heute die Untersuchungshaft auf-
gehoben würde, und Sie in die Freiheit zurückkehrem würden: würden
Sie dann dasselbe wieder tun? — Angekl.: Ich glaube nicht, daß ich
es noch einmal tun würde, da ich jetzt erfahren, was für Folgen
dies hat. — Vors.: Können Sie die Bürgschaft dafür übernehmen,
daß in Zukunft der Wille stärker ist als der Trieb? — Angekl.: Eine
Garantie könnte ich nicht übernehmen. — Vors.: Haben Sie denn nie
gelesen, daß die Berliner Bürgerschaft über das Zopfabschneiden sehr
beunruhigt war? — Angekl.: Ich hatte nichts gelesen. — Vors.: Wann
wurden Sie verhaftet? — Angekl.: Am 27. Januar hatte ich einem
Mädchen, das zwei Zöpfe hatte, den einen abgeschnitten; als es wieder
in meine Nähe kam, wollte ich den andern Zopf auch abschnedden und
dabei wurde ich verhaftet. — Vors.: Ist es richtig, daß Sie jeden einzelnen
Zopf mit einem Bändchen und dem Datum des Abschneidens be-
zeichne ten? — Angekl.: Zum Teil habe ich es getan. — Vors.: Haben
Sie einmal mit einer Frau Beziehungen gehabt ? — Angekl.: Nein,
niemals. Ich habe nur einen starken Trieb, schönes langes Haar in
Besitz zu bekommen, gehabt. — Präs.: Würde Ihnen auch langes schönes
Männerhaar genügt haben? — Angekl.: Ja. — Justizrat Dr. Wolff:
Haben Sie nicht schon in ganz früher Jugend diesen krankhaften Trieb
gehabt? Sie haben mir gesagt, Sie erinnerten sich noch des Haares man-
cher Mädchen aus Ihrer Thorner Zeit. Damals waren Sie acht Jahre
alt. Sie haben mir gesagt, daß Sie an die Trägerinnen des Haares*
679
gar nicht mehr gedacht haben, um so mehr aber an deren Haar. —
Angekl.: Das ist richtig. Mir ist es auch gleichgültig, ob die Trägerin
des Haares jung und schön oder alt und häßlich ist. Ich hatte nur
Interesse an dem Haar. — Vors.: Auch an weißem Haar? — Angekl.:
Ich habe nur eine Vorliebe für blondes Haar. — Auf eine weitere Frage
des Vorsitzenden erklärt der Angeklagte, daß er im Akademischen
Trunverein aktiv gewesen und einem studentischen Keuschheitsbunde an-
gehöre. — Justizr. Dr. Wolff: Der Angekl. hat sich auch dahin aus-
gesprochen, daß ihm während seiner Arbeit oftmals plötzlich Zöpfe vor
seinen Augen zu schwirren schienen. Er sei auch oft in Träumereien ver-
fallen, daß ihm in allen Ländern Frauen und Mädchen mit schönen
Haaren dienstbar seien, und er sie ihres Haarschmuckes berauben könne.
Der Angeklagte hat sich auch unter seinen Kollegen stets zurückgesetzt
gefühlt. Er hatte das Gefühl, daß er zu Großem bestimmt sei
und seine Kameraden dies nicht anerkennen wollten. Der Angeklagte,
dessen Vater gestorben, wird in seinem Studium von dritter Seite
unterstützt, sein Bruder ist Seeoffizier, eine Schwester ist geistes-
krank. — Von den vorgeladenen Zeugen wurden nur drei vernommen.
Ein Hauptmann v. W., dessen Tochter bei einem Spaziergang in der
Leipzigerstraße gleichfalls durch den Angeklagten eines Teiles ihres
Haarschmuckes beraubt worden ist, bekundet: der Vorfall habe für
das Mädchen sehr unangenehme Folgen gehabt. Das Kind ist seitdem
von einem großen Angstgefühl beherrscht, hat einen Nervenchoc er-
litten und schreit in der Nacht wiederholt ängstlich auf, da sie von
dem Zopfabschneider träumt. — Zeugin Frau Gail, eine alte Bekannte
der Familie des Angeklagten, schildert seinen Charakter als außer-
ordentlich gut. Von seiner Tat sind alle, die ihn kannten, völlig über-
rascht gewesen; eine Vorliebe für fremdes Haar ist ihr bei ihm nie
aufgefallen. In der letzten Zeit war er offenbar geistig überanstrengt
und sehr zerstreut, im übrigen ist er nie lustig und fröhlich wie andere
junge Leute gewesen. Nach weiteren Mitteilungen der Zeugin ans
der Familiengeschichte ist der Angeklagte erblich erheblich belastet.
— Studiosus Schmeding, Vorsitzender des Vereins zur Aufrechterhaltung
des Keuschheitsprinzips, ist mit dem Angeklagten infolge gleicher
Anschauungen näher bekannt geworden. Er schildert ihn als einen
guten Charakter, aber als träumerischen, schwermütigen und ver-
schlossenen Menschen, der harmlose Fröhlichkeit und Freude nicht
kannte. — Medizinalrat Dr. Hoffmann: Es handelt sich hier um eine
eigenartige Betätigung des Geschlechtstriebes. Wenn auch eine solche
durchaus nicht der Verantwortung enthebt, so ist doch in diesem Falle
die normale Sphäre schon von Jugend an zurückgedrängt. Der An-
geklagte ist ein Phantast, der sich nicht anerkannt glaubt, er glaubt,
er könne sich unsichtbar machen, sich ein großes Schloß bauen und
die Zimmer darin mit unzähligen Zöpfen ausstatten. Dazu ist er erb-
lichbelastet, und die körperliche Untersuchung zeigt eine Menge
Degenerationszeichen. Der Schutz des §51 des Strafgesetz-
buches dürfte also hier Platz greifen. Da der Angeklagte schwerlich
die Kraft haben dürfte, seine Neigung zu unterdrücken, so würde eine
680
Behandlung in der Irrenanstalt notwendig erscheinen. — Medizinalrat
Dr. Leppmann: Der hier vorliegende Fall ist ein äußerst seltener.
Der Angeklagte ist erblich schwer belastet und hat eine Reihe von
Entartungszeichen. Der Angeklagte war bei seinen Taten sicher ge-
mütskrank und ist auch jetzt noch krank. Krafft-Ebing kennt nur
wenige derartige Fälle, ebenso Dr. Moll. Die freie Willensbestimmung
des Angeklagten war ausgeschlossen, er ist auch jetzt noch nicht
gesund und muß wie ein Kranker behandelt werden. — Staatsanwalt
Rhode: Wenn der Angeklagte geistig gesund wäre, so würde er außer-
ordentlich schwer bestraft werden müssen, denn es liegt eine ungeheure
Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vor. Es ist nicht richtig,
daß das Strafrecht bezüglich solcher Tat eine Lücke enthält. Man
kann im einzelnen darüber streiten, unter welchen Paragraph sie zu
subsumieren ist, aber es kann keine Rede davon sein, daß sie straf-
los bleiben müßte. Objektiv liegt unzweifelhaft Beleidigung vor, ebenso
zweifellos wird der Begriff der Körperverletzung erfüllt, auch Dieb-
stahl würde vorliegen können. Nähere Erörterungen in dieser Be-
ziehung erübrigen sich infolge des Gutachtens der Sachverständigen,
das den Antrag auf Freisprechung notwendig mache. Nach kurzer
Beratung verkündete der Vorsitzende:
Das öffentliche Rechtsgefühl erheische natürlich strenge Sühne
für eine solche Tat; die vorliegende ist aber dem Angeklagten nicht
anzurechnen. Nach den Ausführungen der Sachverständigen muß der
Angeklagte freigesprochen werden in der Erwartung, daß er sofort
durch die Familie einer Anstalt zugewiesen wird. Dieses Resultat
wird vielleicht nicht überall befriedigen, ein anderes war aber auf
Grund der Beweisaufnahme nicht möglich.
Dieser Fall scheint suggestiv gewirkt zu haben. Denn kurz
darauf wurde ein Kassierer Alfred L. verhaftet, der zwei jungen
Mädchen die Zöpfe abgeschnitten hatte. Man fand in seiner
Wohnung außerdem noch 17 andere Zöpfe, die er gekauft
hatte, darunter denjenigen eines — Chinesen! Schon als Schüler
litt L. an der krankhaften Neigung.
Es gibt auch homosexuelle bezw. pseudohomosexuelle Haar-
fetischisten, besonders unter Weibern, für die das Haupthaar
eines anderen Weibes zum Fetisch wird. Bemerkenswert ist
folgende Stelle in Gabriele d’Annunzios Roman „Lust“
(Berlin 1902, S. 210—212):
„Entsinnst du dich“ — fragte Donna Francesca (ihre Freundin
Donna Maria) — „im Institut, wie wir alle dich kämmen wollten?
Große Kämpfe fanden deswegen jeden Tag statt. Stelle dir vor,
Andreas, daß sogar Blut floß! Ach, ich werde nie die Szene zwischen
Carlotta Fiordelise und Gabriella Vanni vergessen. Es wurde zur
Manie! Maria Bandinelli zu kämmen, war das Ziel der Sehnsucht
681
sämtlicher Zöglinge, der Großen und der Kleinen. Die Ansteckung
verbreitete sich über das ganze Institut, es erfolgten Verbote, Ver-
warnungen, strenge Strafen, ja, es wurde uns sogar angedroht, die
Haare abzuschneiden. Erinnerst du dich, Maria? Unser aller Herzen
waren verzaubert von der schwarzen Schlange, die dir bis an die
Fersen hing. Wieviel leidenschaftliche Tränen des Abends ! Und als
Gabriella Vanni dir aus Eifersucht jenen verräterischen Schnitt mit
der Schere beibrachte? Gabriella hatte wirklich den Kopf verloren.
Entsinnst du dich?“ . . .
Andreas überlegte, daß keine seiner Freundinnen einen solchen
Haarwuchs besessen habe, einen so dichten, dunklen Wald, um sich
darin zu verirren. Die Geschichte aller dieser jungen Mädchen, die,
in einen Zopf verliebt, von Leidenschaft und Eifersucht erfüllt, darauf
brannten, Kamm und Hände an diesen lebendigen Schatz zu legen,
erschien ihm als eine reizende und poetische Episode des Kloster-
lebens.“
Es gibt auch einen negativen Haarfetischismus. Hirsch-
f e 1 d berichtet von einer Prostituierten, die eine ausgesprochene
Glatzenfetischistin war. Bei manchen Völkern ist Enthaarung
ein sexuelles Reizmittel.
Nase, Lippen, Mund (vgl. Bélots Roman „La bouche de
Madame X.“) und Ohren können ebenfalls Gegenstand des sexuellen
Fetischismus sein, freilich meist nur des kleinen, ebenso die Augen,
die als Fetischzauber eine bedeutende Rolle spielen und besonders
durch ihre Farbe wirken. Es ist ungewiß, ob in dieser Beziehung
den klaren, blauen oder den strahlenden schwarzen Augen eine
größere Bedeutung zukommt. Der weibliche Busen ist ein natür-
licher physiologischer Fetisch für das männliche Geschlecht. Und
doch gibt es eine merkwürdige Gattung von Busenfetischisten,
die den isolierten, vom Körper abgetrennten Busen zu — Buch-
einbänden verwenden. Nach Witkowski (Tetoniana, Paris 1898,
S. 35) lassen gewisse Biblio- und Erotomanen Bücher in Weiber-
haut binden, die der Busengegend entnommen ist, so daß die
Brustwarzen auf dem Deckel charakteristische Wülste bilden!
Weitere Mitteilungen über diese Menschenhautfetischisten macht
Dr. Picard in der „Gazette médicale de Paris“ vom 19. Juli 1902.
v. Krafft-Ebing bestritt, daß es einen besonderen
„Genitalfetischismus“ gebe. Jedoch widerspricht die all-
gemeine Verbreitung des Phalluskultus dieser Annahme, der ohne
Zweifel mit fetischistischen Vorstellungen zusammenhängt, die
durch die Symbole des Lingam und der Yoni verkörpert werden.
682
Nach Weininger3) wäre das Weih überhaupt nur Phallus-
fetischistin, der Mann existierte für dasselbe nur als Ge-
schlechtsteil :
„Man hat es entweder nicht sehen oder sagen wollen, man hat sich
aber auch kaum noch eine richtige Vorstellung davon gebildet, was
das Zeugungsglied des Mannes für das Weib, als Frau, wie schon als
Jungfrau, psychologisch bedeutet, wie es das ganze Leben der Frau,
wenn auch oft völlig im Unbewußten, zu oberst beherrscht. Ich
meine keineswegs, daß die Frau den Geschlechtsteil des Mannes schön
oder auch nur hübsch findet. Sie empfindet ihn vielmehr ähnlich, wie
der Mensch das Medusenhaupt, der Vogel die Schlange; er übt auf
sie eine hypnotisierende, bannende, faszinierende Wirkung aus.“
Goethe hat mehr die Schönheit, die das Mannesglied in
den Augen des Weibes hat, hervorgehoben, wenn er in den
Paralipomena zum ersten Teile des „Faust“ (Weimarer Ausgabe,
Bd. XIV, S. 307) den Satan in seiner Ansprache an die Weiber
sagen läßt:
Für euch sind zwei Dinge
Von köstlichem Glanz,
Das leuchtende Gold
Und ein glänzender —
Auch Georg Hirth (Wege zur Liebe, S. 566—567) kon-
statiert den instinktiven Glauben des Weibes an die „greifbare
Schönheit und paradiesische Kraft des Phallus“ und beklagt die
„unnatürliche Verkleinerung und lügnerische Verheimlichung
dieses männlichsten Körperteils“ durch die von der Männerwelt
erfundene konventionelle Moral.
Die weite Verbreitung genitalfetischistischer Neigungen bei
Mann und Weib erhellt auch aus dem überaus häufigen Vor-
kommen der isolierten Adoration der Genitalien im „Cunnilingus“
und der „Fellatio“, die bei vielen Individuen völlig den normalen
Koitus ersetzt.
Seltsam ist ein mir bekannter Fall von isoliertem Penis-Vorhaut-
fetischismus bei einem heterosexuellen — Manne. Es ist ein 30 jähriger
Naturwissenschaftler, bei dem bereits im Alter von vier Jahren die
ersten sexuellen Erregungen auftraten, die sich später gegen die Puber-
tätszeit stets an die Vorstellung eines männlichen Gliedes, speziell
der Vorhaut, anknüpften, während vor eigentlichem geschlechtlichen
s) Geschlecht und Charakter, S. 340—341.
683
Verkehr mit Männern Widerwillen bestand und der Betreffende sich
durchaus zu Brauen hingezogen fühlt. Jedoch tritt von Zeit zu Zeit
die Vorstellung des Membrum virile wie eine Art Zwangsvorstellung
auf, im Anschluß an welche der Patient masturbiert und nicht selten
die Umrisse eines Membrum dabei aufzeichnet.
Für kaum möglich sollte man es halten, daß es Fälle gibt,
wo der Fetischismus sich auf — zweifelhafte Genitalien bezieht,
„Hermapbroditenfetischisten“. Und doch ist mir ein solcher
veritabler Fall von Zwitterfetischismus bekannt geworden.
Es ist ein Offizier, der überall nach zwitterhaften Bildungen'
an den Genitalien fahndet. Er ist nach dieser Richtung in den Kreisen
der Berliner Prostituierten ziemlich bekannt, die seine Neigung weid-
lich durch Nachweis angeblicher Zwitter ausnutzen. Er hat auch
glücklich mehrere wirkliche Zwitter entdeckt, hat aber trotz aller
Anerbietungen nie Gegenliebe gefunden.
Die Hand, besonders die Frauenhand, ist nicht bloß Gegen-
stand der Chiromantik, sondern auch eines sie beseelenden sexuellen
Fetischismus. Eine schöne feingebildete Hand ist ein mächtiger
Liebeszauber. B i n e t berichtet von einem fungen Manne, den
ausschließlich die Frauenhand sexuell erregte und der überall
Gelegenheit suchte, schöne Frauenhände zu berühren. Isolierter
Fußfetischismus kommt seltener vor, meist ist er mit dem sehr
häufigen Schuhfetischismus verknüpft (s. unten). Das Gesäß, die
kallipygischen Beize des Weibes sind von jeher ein sexueller
Fetisch für Männer gewesen, der bei Flagellanten auch isoliert
wirken kann und dann von der Gesamtpersönlichkeit ganz ge-
trennt wird. Für solche Individuen existieren in sexueller Be-
ziehung nur noch die Posteriora.
Unter den Körperfunktionen, die als Fetisch wirken können,
nimmt der Geruch, die Ausdünstung des Körpers entschieden
den ersten Platz ein. Geruchsfetischismus ist eine sehr häufige
Erscheinung. Ueber die innigen Beziehungen des Geruchssinnes
zur Vita sexualis und die Existenz eigener sexueller Gerüche
wurde bereits im ersten Kapitel (S. 17—20) das Wesentliche ge-
sagt. Als sexuelle Gerüche kommen der Haarduft, die Aus-
dünstung der Achselhöhle, die Gerüche der regio genitalis und
die allgemeine Hautausdünstung in Betracht.4)
4) In Band II der „Anthropophyteia“ (1905, S. 445—447) habe ich
unter dem Titel „Der Geruchssinn in der Vita sexualis“ eine Umfrage
über dieses interessante Thema veröffentlicht. Unter den mir von ver-
684
Der Fetischismus für rote Haare ist häufig nur ein schein-
barer Haarfetischismus, viel öfter ein Geruchsfetischismus, weil
man von jeher rothaarigen Individuen eine besonders starke,
sexuell erregende Ausdünstung zugeschrieben hat. In den
romanischen Ländern, Frankreich und Italien, ist dieser Glaube
Allgemein verbreitet. Ich zitiere wieder eine Stelle aus d’An-
nunzios „Lust“ (S. 66):
„Habt ihr die Achselhöhlen von Madame Chlysoloras bemerkt?
Seht!“ Der Herzog von Beffi zeigte eine Tänzerin, anf deren marmor-
weißer Stirn eirr Feuerbrand von roten Haaren glänzte, ähnlich wie
bei den Priesterinnen des Alma Tadema. Ihre Taille war anf den
Schultern mit einem einfachen Bande zusammengehalten, und unter
-den Achseln sah man zwei üppige Büschel roter Haare.
Bomminaco fing an, sich über den eigentümlichen Geruch zu
verbreiten, der von rothaarigen Frauen ausgeht.“
Einet erzählt von einem Studenten der Medizin, der eines
Tages auf einer Bank beim Lesen plötzlich eine Erektion bekam
und aufschauend eine rothaarige Frau auf derselben Bank be-
merkte, von der ein starker Geruch ausging.
Auch der Achselgeruch scheint in Frankreich fetischi-
stische Liebhaber zu finden. Die französische Kokotte nimmt
beim Koitus gewohnheitsmäßig eine Lage ein, bei der der Mann
die Nase zwischen ihre Achselhöhlen legt und bietet diese Lage
bisweilen selbst an. Auf den ausgelassenen Bällen des Pariser
Winters, besonders dem sehr freien bal des quat’z arts im Früh-
ling, sieht man fortgesetzt Männer die Achselhöhlen der
Mädchen beriechen.
Daß der Gesamtkörpergeruch unter Umständen als sexueller
Fetisch wirkt, ist unzweifelhaft. Manche seltsamen Liebes-
verhältnisse erklären sich so. Von jeher galt der Schweißgeruch
im Volke als ein starkes Aphrodisiakum. Ich erwähne die bereits
von Krafft-Ebing mitgeteilten Fälle des Königs Hein-
rich III., der sich mit dem schweißtriefenden Hemd der Maria
v. Cleve das Gesicht trocknete und dadurch von leidenschaft-
licher Liebe zu ihr ergriffen wurde, ferner den Fall jenes Bauern,
der mit seinem einige Zeit unter den Achseln getragenen Taschen-
schiedenen Seiten zugegangenen Antworten nenne ich besonders die-
jenigen von Herrn Direktor Prof. Dr. Th. Petermann und Herrn
Oscar A. H. Schmitz, die mir wertvolle, auch an dieser Stelle
z. T. benutzte Notizen und Beobachtungen mitteilten
68&
tuche den Dirnen beim Tanze das Gesicht abtroeknete und sie
so wollüstig erregte. Ein indischer König beroch bei der Aus-
wahl seiner Geliebten nur die von ihrer Ausdünstung durch-
tränkten Kleider und wählte diejenige, deren Kleidung am an-
genehmsten roch.5) Oscar A. H. Schmitz teilt mir mit, daß
ein englischer Indienreisender ihm erzählte, daß in Indien die
Verliebten miteinander bisweilen die Wäsche austauschen. Jeder
trägt das von den Ausdünstungen des anderen imprägnierte Hemd.
Die Liebe der Prinzessin Chimay zu dem Zigeuner Rigö soll
eine typische „Geruchsliebe“ gewesen sein. Auf Franzosen soli-
der Geruch von Negerinnen und Mulattinnen besonders erregend
wirken, wofür der Dichter Baudelaire als Beispiel angeführt
wird, der ja überhaupt den Geruch für den dritten und höchsten
Grad der Wollust erklärte. Neuerdings hat Peter Altenberg
im „Prodromos“ die sexuelle Bedeutung des Gesamtkörpergeruchs
geschildert. Solche in den allgemeinen Ausdünstungen weiblicher
Wesen schwelgenden typischen Geruchsfetisehisten schildert der
Pariser Polizeichef Mace und beschreibt sehr anschaulich, wie
sie in den großen Warenhäusern sich zwischen dem weiblichen
Publikum bewegen, um sich an den Düften desselben zu berauschen.
Gegenüber diesem allgemeinen Körpergeruche spielen die
spezifischen Genitalgerüche beim Menschen eine untergeordnete
Bolle, ja sie werden meist unangenehm empfunden. Falck6)
meint allerdings, daß dieser Widerwille erst nach dem Ge-
schlechtsgenusse auftrete, während vorher in der Tat eine leichte
erotische Reizung durch den Geruch des männlichen bezw. weib-
lichen Genitale bestehe. Manche Fälle von Cunnilingus und
Fellatio sind gewiß auch auf Geruchseindrücke zurückzuführen.
Der folgende Fall ist ebenfalls bezeichnend für die sexuelle
Wirkung von Genitalgerüchen.
Eine Italienerin rhato-romanischer Herkunft liebte es, den Geruch
der Geschlechtsflüssigkeiten nach einer Schäferstunde an der Hand
zu bewahren, von der sie bei sonstiger penibler Reinlichkeit einige
Fingerspitzen nicht wusch. Besonders neigte sie dazu, diesen Geruch
mit Zigarettengeruch zu vereinigen. Sie hatte keinerlei Zeichen von
Degeneration, war im Gegenteil ein sehr robuster, ungebrochener Mensch.
5) W.itmalett, Der Mann und das Weib in ehelicher Verbin-
dung, Leipzig u. Stuttgart, S. 48; J. P.E rank, System einer voll-
ständigen medicinischen Polizey, Erankenthal 1791, Bd. II, S. 78—79..
6) N. D. E a 1 c k, Abhandlung über die venerischen Krankheiten^
A. d. Engl. Hamburg u. Kiel 1775, Teil I, S. 122.
686
Eine der merkwürdigsten ünd ungeheuerlichsten Erschei-
nungen auf dem Gebiete der sexuellen Perversitäten ist die, daß
die Vorgänge und Produkte der letzten Ausschei-
dungen des Stoffwechsels mit der Libido sexualis ver-
knüpft werden, wahre sexuelle Fetische sein und namentlich zu
einer förmlichen Spezialität des Geruchsfetischismus Anlaß geben
können. Die Lage der Ausgänge des Darmkanals und des Harn-
apparates in der unmittelbaren Nähe der Geschlechtsteile
bedingt eine gewisse assoziative Verknüpfung der Funktionen
dieser Teile, die durch verschiedene Umstände erleichtert wird
(vgl. meine „Beiträge usw.“, II, 224—225). Außerdem tritt auch
hier die idealisierende Wirkung der Libido sexualis hervor, die
Identifizierung der begehrten Person mit dem eigenen Ich läßt
das Unangenehme und Ekelhafte jener Vorgänge und Teile ver-
schwinden und schließlich wirkt die Vergleichung der wirklich
ästhetischen Heize jener Person mit diesen allzu grob-materiellen
Vorgängen als ein sinnlich erregender Kontrast. Es handelt sich
keineswegs dabei um eine ganz außergewöhnliche Ideenassoziation
einiger völlig entarteter Individuen, sondern um eine all-
gemeine anthropologische und ethnologische Er-
scheinung. Das habe ich zuerst ausführlich naöhgewiesen
(Beiträge II, 223—240) und besonders die merkwürdige Holle
der sogenannten „S catolo gi e“, d. h. die sexuelle Betonung
der Endprodukte des menschlichen Stoffwechsels und der damit
verbundenen Vorgänge, im Folklore, im Mythus, Aber-
glauben und in der Literatur aller Völker und
.Zeiten beleuchtet. Erst hierdurch gewinnen wir das Verständnis
für die Möglichkeit der erotischen Wirkung von Defäkation und
Miktion, die auch in der Gegenwart so oft beobachtet wird, vor
allem in der sogenannten „Muse latrinale“, dem weit ver-
breiteten Brauche, die Wände der Bedürfnisanstalten mit obszönen
Inschriften zu bekritzeln,7) und in der sexuellen „Kopro-und
U r o 1 a g n i e“ ihren Ausdruck gefunden hat. Es ist klar, daß
hei dieser masochistische und sadistische Elemente eine bedeutende
Holle spielen. Jedoch gibt es reine Formen von Geruchsfetischismus
in dieser Kategorie, wie jene Individuen, die durch den Geruch
von Urin oder Fäces der geliebten Person sexuell erregt werden
7) Schon Martial erwähnt (Epigr. XII, 61, Vers 7—10) die
•obszönen „carmina quae legunt cacantes“.
687
■
oder überhaupt durch den Geruch dieser Exkremente, gleichgültig
von welcher Person sie stammen. Das sind die „Renifleurs“ und
„Epongeurs“ der französischen Beobachter, die sich in die öffent-
lichen Bedürfnisanstalten einschleichen, um durch den dort vor-
handenen Geruch der Exkremente des anderen Geschlechts sexuell
erregt zu werden. Ja, es gibt sogar Individuen, die die Akte
der Defäkation und Miktion von anderen auf ihrem eigenen
Körper vollziehen lassen. Hier konkurriert das masochistische
Element mit dem geruchsfetischistischen.
Eine größere Rolle als die natürlichen Sexualgerüche spielen
heute die künstlichen Dufts toffe oder Parfüme, die
in der Tat vielfach als sexuelle Fetische verwendet werden. Ihr
Ursprung und die Veranlassung ihrer Herstellung wurde bereits
früher (S. 19) erläutert. Von jeher bedient sich ihrer die Prosti-
tution und Demimonde im weitesten Umfange zur sexuellen An-
lockung der Männer. Männer sind überhaupt empfänglicher für
die sexuelle Reizung durch Parfüme als Weiber. Die Parfüme
werden teils aus Pflanzen hergestellt, wie denn schon — was
manche Bauerndirnen benutzen — der bloße Duft gewisser Blumen
den Geschlechtstrieb erregt,8) teils sind sie tierischer Provenienz
wie Moschus, Zibeth, Ambra. Eine französische Parfümfirma
annonciert häufig ein Parfüm: „charrne secret“, dessen lokale
Benutzung nach der Annonce nicht zweifelhaft sein kann. Doch
wird meist nur irgend ein Teil der Kleidung oder Wäsche
parfümiert. Es gibt typische „Parfümfe tischist e n“, die
nur durch ein bestimmtes Parfüm geschlechtlich erregt werden
und ohne dasselbe impotent sind.
Neben dem Geruch spielt der Geschmack eine sehr geringe
Rolle. Doch deutet die uralte Volkssitte der „priapischen
G e n u ß m i 11 e 1“ auf fetischistische Vorstellungen dieser Art.
Ounnilingus und Fellatio hängen vielleicht auch mit einem
„Schmeckenwollen“ der Genitalien zusammen, ebenso wie jene
nicht selten geübten Praktiken, wo Genußmittel oder Getränke
mit den Genitalien in Berührung gebracht, gewissermaßen mit
8) Manche Frauen werden auch durch die Blüte der zahmen
Kastanie, deren Geruch Aehnlichkeit mit dem des männlichen Sperma
hat, geschlechtlich erregt. Ein Korrespondent teilte mir mehrere der-
artige Beobachtungen aus dem Taunus mit. So schildert G-. d’A n -
nunzio („Lust“, S. 110) die Erweckung der Libido sexualis einer
Frau durch Biechen an einem Blumenstrauß.
588
ihrer Essenz imprägniert und dann verzehrt werden. Dahin ge-
hört auch, der folgende Originalfall:
Ein Mann findet nur dadurch geschlechtliche Befriedigung, daß-
er eine — Zigarre mit dem Mundende in das -weibliche Genitale intro-
duziert, dort längere Zeit beläßt und dann dieselbe raucht, mit dem
so imprägnierten Ende im Munde.
Es gibt noch viele Formen von Fetischismus, die sich auf
die Art und Erscheinung des Menschen beziehen. Es ist unmög-
lich, alle die unzähligen Variationen zu erwähnen. Ich weise
z. B. nur auf den nicht seltenen Fetischismus der Frauen für
Athleten und Akrobaten oder Sänger und Schauspieler hin, auf
den der Männer für Tänzerinnen und namentlich für Reiterinnen*
deren Erscheinung auf manche Männer geradezu faszinierend
wirkt, besonders wenn sie zu Pferde sitzen.
Aehnlich dem schon erwähnten Hermaphroditenfetischismus
gibt es einen solchen für andere körperliche Defekte, für fette*
lahme, bucklige, hinkende Personen.
Dem von K r a f f t - E b i n g berichteten Falle eines Mannes, der
nur hinkende Mädchen liebte, kann ich einen zweiten eigener Beob-
achtung hinzufügen, einen 32 jährigen Kaufmann (mit leichten De-
generationssymptomen : Darwin sches Spitzohr, leichte Schädel-
asymmetrie, aber sonst durchaus kräftigem Körperbau, hat auch ein-
jährig bei der Kavallerie gedient), der, seit seinem zehnten Jahre,
exzessiver Masturbation ergeben, nur potent ist, wenn er mit
einem hinkenden Mädchen verkehrt. Kann nicht angeben, wann
diese Perversion zuerst bei ihm aufgetreten ist. Jedenfalls hat sie
sich zu einem typischen Fetischismus bei ihm entwickelt.
In diese Kategorie gehört auch die abnorme Liebe zu.
greisenhaften Individuen, die heterosexuelle „Gerontophilie“,
und die fetischistische Wirkung gewisser Charaktereigenschaften.
So ist es eine alte Erfahrung, daß donjuaneskes, freches und selbst-
bewußtes Auftreten der Männer, ja selbst Zynismus und sexuelle
Renommisterei manche Frauen geradezu faszinieren können. Das
ist eine Art Gegenstück zu der früher geschilderten Wirkung
der Prostituierten und galanten Damen auf die Männer.
Einen seltsamen Fetisch bildet auch die menschliche Stimme.
Eine sympathische Stimme ist oft die Ursache einer heftigen
Liebesleidenschaft gewesen. Sänger und Sängerinnen wissen ein
Wort von diesem mächtigen Fetischzauber mitzureden.
Daß der sexuelle Fetischismus sich schließlich auch auf
689
Gegenstände erstrecken kann, die mit der geliebten Person oder
mit einem menschlichen Individuum überhaupt in Beziehung
steh en („G e g e n s t a n d s f e t i s c h i s m u s“), erklärt sieh sehr
leicht aus der bereits früher ausführlich geschilderten (S. 152 ff.)
Personifizierung und Beseelung dieser menschlichen
Gebrauchsobjekte, besonders der Kleidung, die als ein Teil
der Persönlichkeit selbst erscheint und so ganz natürlich
zu einem sexuellen Fetisch werden kann.
Unter den verschiedenen Formen des Kleidungsfetischismus
ist der Schuhfetischismus oder „Retifismus“ bei weitem
die häufigste. Man hat nach dem Marquis de S a de die in seinen
Schriften am meisten hervorstechende sexuelle Perversion, die
aktive Algolagnie als „Sadismus“ bezeichnet und von Sacher-
Masoch für die passive Algolagnie den Namen „Masochismus“
entlehnt. Ich glaube, daß man, wie ich dies in meinem Werke
über Rétif de la Bretonne9) vorgeschlagen habe, mit dem-
selben und noch größerem Rechte den Fuß- und Schuhfetischismus
als „Retifismus“ bezeichnen kann. Denn es ist diejenige sexuelle
Perversion, die in Rétifs Leben (1734—1806) am meisten her-
vortritt und die auch in ihm ihren ersten literarischen Interpreten
und Apostel in genau derselben Weise gefunden hat, wie der
Sadismus von de Sade und der Masochismus von Leopold
v. Sacher-Masoch in weiteren Kreisen bekannt gemacht wurde.
Rétif hat zuerst den typischen Schuh- und Fußfetischismus
geschildert und auch die erste Geschichte desselben geschrieben.
Bei ihm trat diese Neigung schon im Alter von zehn Jahren
auf, wie er in seiner berühmten, auch von Goethe, Schiller,
W i e 1 a n d und anderen Heroen unserer klassischen Literatur
bewunderten Autobiographie, dem „Monsieur Nicolas“ (Bd. I,
S. 90—93) erzählt. An dieser Stelle gibt er zugleich eine sehr
gute Erklärung der Genesis des Fuß- und Schuhfetischismus:
„Hat denn aber diese Vorliebe für schöne Füße, die in mir
so stark ist, daß sie unfehlbar meine heftigsten Be-
gierden erregt und mich über sonstige Häßlichkeit
liinwegsehen läßt, ihre Ursache in einer physischen oder geisti-
gen Anlage? Sie ist bei allen, die sie hegen, sehr stark. Hängt sie
zusammen mit einer Vorliebe für leichten Gang, graziösen und wollüsti-
gen Tanz? Die seltsame Anziehung, die die Fußbekleidung ausübt,
9) Eugen Dühren (Iwan Bloch), Rétif de la Bretonne,
Der Mensch, Der Schriftsteller, der Reformator. Berlin 1906.
B 1 o c b , Sexualleben. 7.-9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
44
690'
ist doch nur der Reflex der Vorliebe für schöne Füße, die selbst ein
Tier anmutig machen. Man schätzt die Hülle dann fast
so hoch wie die Sache selbst. Die Leidenschaft, die ich seit
meiner Kindheit für schöne Fußbekleidung hege, war eine erworbene
Neigung, die auf einer natürlichen Vorliebe beruhte. Aber die für
einen kleinen Fuß hat einen physischen Grund, der sich in dem latei-
nischen Sprichwort: „Parvus pes, barathrum grande“ verrät.“
Rétif stellt den Typus eines Schuhfetischisten dar. Er
zitterte vor Lust beim Anblick von Frauenschuhen und errötete
vor ihnen, als wenn sie die Mädchen selbst wären, er sammelte
als echter Fetischist die Pantoffeln und Schuhe seiner Geliebten,
küßte und beroch sie, masturbierte bisweilen in sie hinein. Be-
sonders faszinierten ihn die hohen Absätze von Frauen-
schuhen, deren Anblick ihn in hochgradige sexuelle Erregung'
versetzte.
Daß der Schuhfetischismus schon im Altertum vorkam und
man früh Beziehungen zwischen Fuß und Vita sexualis annahm,
habe ich bereits früher nachgewiesen (Aetiologie der Psychopathia
sexualis, II, 323—325). In den modernen Schuhfetischismus
spielen masochistische (Idee des Getretenwerdens, des den Fuß
auf den Nacken Setzens) oder sadistische (des auf den Fuß
Tretens usw.) Vorstellungen mithinein, auch die vom Leder aus-
gehenden Geruchsempfindungen, sowie die Farbe der Schuhe haben
eine Bedeutung. Die „Fußfreier“ — so heißen die Schuh-
fetischisten in der Sprache der Prostituierten — haben ent-
sprechend der Differenzierung der Schuhformen und Schuhmoden
die verschiedenartigsten fetischistischen Neigungen. Der eine liebt
Damen-, der andere Reitstiefel, der dritte Tanzschuhe, der vierte
Pantoffeln, der fünfte gar grobe Bauernholzschuhe. Auch be-
züglich der Verzierungen, der Farbe, der Absätze usw. gehen die
Neigungen auseinander. In einem mir bekannt gewordenen Falle
war ein Geistlicher bloßer Hackenfetischist; Hirschfeld er-
wähnt (Vom Wesen der Liebe, 148) einen Mann, der nur durch
die — Knöohelfalten an ’Schuhen sexuell erregt wurde, eine Frau,
die für — bestaubte Männerstiefel schwärmte usw.10)
Von den übrigen Kleidungsstücken bilden Korsett,
Unterrock, Hemd, Schürze und besonders Strümpfe
i°) Vgl. über den Schuhfetiscliismus noch. die Arbeit von
P. Nâcke, Un cas de fétischisme de souliers etc. In: Bulletin de
la société de médecine mentale de Belgique 1894.
691
und. Taschentücher Gegenstände des sexuellen Fetischismus.
Félicien Hops scheint Korsett- und Strumpf fetischist zu-
gleich gewesen zu sein, da er seine weiblichen Gestalten oft nackt
und nur mit Korsett und Strümpfen bekleidet darstellt. Es gibt
zahlreiche Männer, die mit einer Frau geschlechtlich nur ver-
kehren können, wenn sie die Strümpfe oder Schuhe anbehält.
Andere werden durch die Kleidungsstücke allein erregt, stellen
sich z. B. vor den Korsettläden auf, um durch den Anblick der
Korsetts Orgasmus und Ejakulation herbeizuführen, oder sammeln
bezw. entwenden11) weibliche Wäschestücke, besonders Taschen-
tücher, um durch den Geruch oder Anblick derselben sich zu
erregen, auch wohl mit ihnen zu masturbieren. Endlich gibt es
Fetischisten für bestimmte Stoffe, wie Pelz (bei den Masochisten
beliebt), Samt, Seide, oder für ganze Kostüme, wie Beitkostüm,
Trikot oder Trauerkleidung usw. d ’ E s t o c beschreibt unter dem
Namen „la course des areignées“ das Auftreten von 20 Weibern
in einem Bordell, die nur mit langen schwarzen bis zu den
Schultern reichenden Handschuhen und mit ebensolchen Strümpfen
bekleidet waren. In Berliner Zeitungen war kürzlich von dem
Fetischismus eines Prinzen für lange IMnenhandschuhe an zarten
Frauenarmen die Bede. Einzig in seiner Art ist wohl ein —
Brillenfetischist, von dem Hirschfeld (a. a. O. S. 145—146)
berichtet.
n) Ueber einen solchen Wäschedieb berichteten vor einigen Jahren
die Berliner Zeitungen (vgl. B. T. 465 vom 13. September 1903). Er
war der Schrecken aller Hausfrauen in den westlichen Villenvororten,
Schließlich wurde er ertappt und als der Arbeiter K. W. festgestellt.
Man fand in seiner Wohnung ein ganzes Lager von Frauenwäsche.
44*
692
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Unzucht mit Kindern, Blutschande, Unzucht mit Leichen
und Tieren, Exhibitionismus und andere geschlechtliche
Perversitäten (nebst Anhang: Die Behandlung der sexuellen
Perversionen).
Aber welchen Grund von Verwüstungen richtet ein öffentlicher
oder Privatlehrer unter der Jugend an, wenn sein Herz unrein ist! .
Was traurige Beispiele von Verführungen, welche selbst durch diejenigen,
die zur Tugend anzuführen bestellt sind, ausgeübt, und durch die
abscheulichste aller Leidenschaften bewirkt worden sind!
Johann Peter Frank,
693
Inhalt des dreinndzwanzigsten Kapitels.
Unzucht von Erwachsenen mit Kindern. — PMophilia erotica.
— Abergläubische Motive. — Der Sunamitismus. — Als Volkssitte.
— Die Gelegenheitsursachen der Pädophilie. — Häufigkeit bei Dienst-
boten und Erziehern. — Die Unzucht mit Kindern bis zum sechsten
Lebensjahre. — Beispiele. —- Mit Kindern zwischen sechs und vierzehn
Jahren. — Anziehungskraft der „fruits verts“ auf Wüstlinge. — Ur-
sachen. — Die Deflorationsmanie. — Andere ursächliche Faktoren der
Unzucht mit Kindern. — Beispiele.
Verfrühtes Auftreten de3 Geschlechtstriebes bei Kindern. — Ur-
sachen. — Auf dem Lande. — Die „höhere Tochter“. — Frühreife
Mädchentypen. — Beispiele geschlechtlichen Verkehrs von Kindern
untereinander. — Die Kinderprostitution. — Pariser Blumenmädchen.
— Berliner Streichholz Verkäuferinnen und „Musikschülerinnen“. — Er-
pressungen. — Ursachen der Kinderprostitution.
Blutschande. — Ursachen. — Der Inzest in Frankreich. — Sexu-
elle Beziehungen naher Verwandten zu ein und derselben Person.
Unzucht mit Tieren (Zoophilie, Sodomie, Bestialität). — Die echte
Zoophilie. — Ein merkwürdiger Fall davon. — Ursachen der Sodomie.
—• Häufigkeit auf dem Lande. — Mitteilung- von Fällen. — Sodomie
eines Weibes. — Angebliche Verführung von Menschen durch Tiere.
Die Unzucht mit Leichen (Nekrophilie). — Motive. — Symbolische
Nekrophilie. — Statuenliebe. —- Wirkung von Museen auf ungebildete
Individuen. — Geschlechtlicher Verkehr mit Statuen. — Pygmalionis-
mus. — Unzucht mit Nachbildungen des Körpers. — „Dames et hommes
de voyage“. — Exhibitionismus. —- Krankhafte Grundlagen desselben.
— Andere Motive. — Onanie als Ursache. — Ein merkwürdiger Fall
von Exhibitionismus. — Die „Frotteurs“. — Beispiel. — Voyeurs. —
Geheime sexuelle Klubs. — Die „Essayeurs“. — Die „stercoraires pla-
toniques“. — Die Päclikation. — Die sexuelle Opium-, Haschisch- und
Aethersucht. — Ihre Betätigung in Pariser Lokalen. — Sexuelle Phan-
tasien der Opiumraucher.
Anhang. Die Behandlung der sexuellen Perversionen.
Bedeutung der psychologischen Faktoren für die Behandlung der
sexuellen Perversionen. — Behandlung der Grundleiden. — Psychische
und suggestive Therapie. — Mündliche Aussprache. — Das Vertrauen
auf das wissenschaftliche Verständnis des Arztes. — Die sexuellen
Perversionen als Willenskrankheiten. — Notwendigkeit einer Erziehung
des Willens. — Wachsuggestion. — Suggestion durch Briefe. — Durch
Hypnose. — Spezielle Vorschriften.
094
Eines der traurigsten, leider sehr häufigen Vorkommnisse
ist der vorzeitige geschlechtliche Verkehr von
Kindern, teils als Unzucht von Erwachsenen mit
Kindern, teils als vorzeitiges Auftreten des Ge-
schlechtstriebes und Betätigung desselben hei
Kindern. Diese beiden Kategorien geschlechtlicher Betätigung
von Kindern muß man streng unterscheiden.
Mit Unrecht brachte Krafft-Ebing die angebliche „Ueber-
handnahme“ der die Kinder betreffenden Sexualdelikte mit der
sich ausbreitenden Nervosität in den letzten Generationen in Zu-
sammenhang, da diese Art der Unzucht zu allen Zeiten und
bei allen Völkern und nicht weniger selten als heutzutage vor-
gekommen ist. Die „Pädophilia erotica“ ist eine sehr
weit verbreitete Erscheinung. Sie kommt vor aus aber-
gläubischen1) Gründen, wie z. B. in vielen Ländern der
Glaube herrscht, daß durch die Begattung eines unberührten
Kindes venerische und andere Krankheiten geheilt werden. Auch
die uralte Ansicht, daß der Verkehr mit unreifen Mädchen das
Leben verlängere, daß ihre Ausdünstung alte Männer verjünge
(sog. „Sunamitismus“) beförderte früher und auch noch
heute die Unzucht mit Kindern. Selten sind Schüchternheit und
Impotenz erwachsener Männer, die ihnen den Verkehr mit er-
wachsenen Weibern erschweren bezw. unmöglich machen, Ver-
anlassung zur Verführung und Vergewaltigung von wehr- und
ahnungslosen Kindern. Unzucht mit Kindern als Volkssitte
ist ein Symptom primitiver Kultur, daher bei Naturvölkern
noch heute anzutreffen, worüber Ploß-Bartels eingehende
Mitteilungen macht.
Was nun die Ursachen und die Ausübung der Unzucht mit
i) Staatsanwalt A m s c h 1 teilt im Archiv f. Kriminalanthropologie
1904, Bd. XVI, S. 173, einen krassen lall dieser Art mit, in dem ein mit
Geschwüren behafteter Bauer auf den Bat hin, daß nur eine reine Jung-
frau ihm Heilung bringen könne, mit seiner — eigenen Tochter ge-
schlechtlich verkehrte und — geheilt ward!!
Kindern in der Gegenwart betrifft, spielt offenbar die
Gelegenheit als Verführerin eine große Rolle. Alle jene
Personen, die durch ihren Beruf tagtäglich oder auch nächtlicher-
weile längere Zeit mit Kindern in Berührung kommen und mit
ihnen allein sind, wie Dienstboten, Kinderwärterinnen, Erziehe-
rinnen, Hausdamen, Lehrer und Lehrerinnen, Vorstener und An-
gestellte von Waisenanstalten usw., stellen ein unverhältnismäßig
großes Kontingent zu den Verbrechen aus § 176 3 und § 182
RStrG. Der Grund ist nicht etwa eine größere Lasterhaftigkeit
dieser Personen als diejenige von Leuten in anderen Berufen,
sondern einzig und allein der Umstand, daß sie stets mit Kindern
zusammen sind, und daß eine etwa eintretende sexuelle Erregung
sich dann auf diese richtet, einfach weil keine Erwachsenen da
sind. Bisweilen kommt eine krankhafte, neuro- oder psycho-
pathische Konstitution in Betracht, noch häufiger allerdings bloße
Lüsternheit und Sinnlichkeit, die die bloße Gelegenheit ausnutzt.
Schon Rétif de la Bretonne hat die Eltern vor den
Dienstboten und Kinderwärterinnen als Verführern der Kinder
gewarnt. Denn diese treiben Unzucht schon mit Kindern in den
ersten Lebensjahren, spielen, um ihre Wollust zu be-
friedigen. mit den Genitalien der unschuldigen Würmer und
wecken so früh geschlechtliche Empfindungen bei diesen, die
Ursache vorzeitiger Onanie werden. Diese Unzucht mit kleinen
Kindern, die man sehr gut von derjenigen mit großen unter-
scheiden könnte, indem man etwa für jene das 1. bis 6., für
diese das 6. bis 14. Lebensjahr als Grenzbestimmung festsetzt,
ist weit häufiger, als man glaubt, und vielleicht noch gefähr-
licher für die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes
als die zweite Art, die Unzucht mit größeren Kindern. Meist
sind es Personen weiblichen Geschlechts, die sich an solchen
kleinen Kindern vergreifen. Nicht selten ist die Furcht vor
Schwängerung durch erwachsene Männer der Grund solcher Ver-
irrungen. Meist ist es Lüsternheit. So in den folgenden mir
bekannten Fällen:
In dem einen verführte eine Buchhalterin einen vierjährigen
Knaben zu systematischer Unzucht, in dem andern nahm die (horribile
dictu) eigene Mutter ihren fünfjährigen Sohn zu sich ins Bett und
lehrte ihn den Koitus vollziehen, so weit das möglich war, sowie Mani-
pulationen an ihren Genitalien vornehmen. Der Junge wiederholte
das dann bei seinem dreijährigen Schwesterchen, wobei ertappt, er
die ganze Geschichte erzählte.
Ein vierjähriger Knabe spielte viel an seinen Geschlechts-
teilen, machte außerdem eigentümliche, beischlafähnliche Bewegungen
im Bette sowie auch bei der Mutter. Als die sehr Erschrockene ihn
dann fragte, wie er dazu käme, gestand er, daß ein im Hause angestelltes
20 jähriges Fräulein diese Manipulationen mit ihm vorgenommen habe.
Auch M a g n a n berichtet (Psychiatrische Vorlesungen,
Heft 2/3, S. 41) von einer 29 jährigen Dame, die mit ihrem
5 jährigen Neffen geschlechtliche Akte vornahm.
Diese Fälle dringen seltener in die Oeffentlichkeit, weil sie
meist unentdeckt bleiben. Die unzüchtigen Handlungen mit
Kindern, wie sie eine ständige Rubrik der Zeitungen bilden, be-
treffen meist größere Kinder zwischen 6 imd 14 Jahren. Hier
kommen hauptsächlich Lehrer und Erzieher männlichen und weib-
lichen Geschlechts als Attentäter in Betracht. Ferner auffällig
viele andere Frauen, die hier oft eine sexuelle Aktivität be-
tätigen, die sie im Verkehr mit erwachsenen Männern vermissen
lassen. Drittens "Wüstlinge und Lebemänner, die durch ,,fruits
verts“ neue, pikante Erregungen suchen. Von ihnen sagt
L a u r e n t :2)
„Sie haben das Weib gebraucht und mißbraucht; sie haben alle
Stufen der natürlichen und nicht natürlichen Liebe durchgemacht; sie
sind nach Lesbos und dann nach Paphos gegangen, und sie haben
alles, auch noch so Raffinierte mitgemacht. Ihre Gelüste werden
matter, ihre Männlichkeit läßt nach und bereitet sich zum Sterben.
Aber wenn sie auch erschöpft sind, s o ergeben sie sich doch noch
nicht in ihr Los. Es geht ihnen wie den Trunkenbolden, denen es
schon im Halse aufstößt und die noch immer trinken wollen. Eines
Tages bemerken sie kleine Mädchen in der Straße und werden von deren
jugendlichen Reizen gerührt. So entsteht ihre Liebe.“
Das Unschuldige, Natürliche und Reine im "Wesen
des Kindes und der unberührten Jungfrau wirkt auf solche ver-
derbten Individuen erregend, als Kontrast zu ihrer eigenen
sexuellen Schamlosigkeit und Raffiniertheit. Dieser Kontrast
wirkt als intensiver Reiz. Unverkennbar ist auch ein sadi-
stisches Moment in der Vollziehung des Beischlafes mit einem
wehrlosen Kinde, und in dem blutigen Akt der Deflorierung eines
unreifen Individuums. In den achtziger Jahren grassierte in
England eine solche „Deflorationsmani e“, deren schauder-
2) E. Laureat, Die krankhafte Liebe. Eine psycho-pathologische
Studie, Leipzig 1895, S. 183—184. — Vgl. ferner P. Bernard, Des
attentats ä la pudeur sur les petites filles. Paris 1886.
697
hafte Details besonders durch die bekannten Enthüllungen der
„Pall Mall Gazette“ grell beleuchtet wurden.3) Was dieses sadi-
stische Element in der Unzucht mit Kindern betrifft, so ist die
Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß auch in dem Prügeln
der Kinder von seiten der Lehrer die erste Veranlassung zur
Weckung sexueller Regungen4 *) und zur Anknüpfung von sexuellen
Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler zu suchen ist.
Andere nicht seltene Veranlassungen zum geschlechtlichen
Mißbrauch von Kindern geben der Alkoholrausch lind der
A ltersblö d s i n n. Auch V agabunden, die lange weiblichen
Umgang entbehrt haben, befriedigen ihre lange zurückgehaltene
Libido an dem ersten besten ihnen begegnenden Kinde. Die
Kinderarbeit in Fabriken ist ebenfalls eine Gelegenheits-
ursache der Unzucht mit Kindern.
Es seien nur einige besonders markante und verschiedenartige
Fälle von Unzucht mit Kindern erwähnt:
1. Der 20 jährige Sohn cles Grünkramhändlers A. in der Keibel-
straße trieb mit dem 8 jährigen Töchterchen des Milchhändlers W.
in derselben Straße schon seit längerer Zeit unsittlichen Verkehr. Aber
er vergewaltigte nicht nur das Kind, sondern fügte ihm auch dabei
verschiedene Verletzungen zu. Der Bursche setzte selbst dann noch
sein schändliches Treiben fort, als er mit einer bösen Krankheit be-
haftet war, und steckte natürlich auch das Kind an. Das Kind
wurde bettlägerig und der hinzugezogene Arzt stellte die Ansteckung-
fest. Trotzdem legte sich das kleine Mädchen noch aufs Leugnen
und gestand erst, nachdem es Prügel bekommen hatte, den Verkehr
mit A. Letzterer, der einen verkrüppelten Fuß hat, hielt, sobald er seine
ruchlose Handlungsweise entdeckt sah, sich in einem Stalle verborgen,
wo er nach längerem Suchen von der Kriminalpolizei verhaftet wurde.
Nun sitzt der Patron seit zirka acht Tagen im Untersuchungsgefängnis.
(Kleines Journal, No. 247 v. 7. 9. 1903.)
2. Das Modell und die Freundin eines Malers verführte während
der Abwesenheit desselben einen 12 jährigen Knaben nach vorheriger
wiederholter Masturbation zum Koitus und Cunnilingus.
3. Eine berühmte, jetzt bereits in hohem Alter stehende Schau-
spielerin rief bei einem achtjährigen Knaben, der bei ihr eine Bestellung
ausrichtete, durch verschiedene Manipulationen Erektion hervor und
verführte ihn zum Koitus, worauf sie ihn zu häufigen Besuchen ein-
3) Vgl. die ausführliche Schilderung dieser Vorkommnisse in
meinem „Geschlechtsleben in England“, Charlottenburg 1901, Bd. I,
S. 350-381.
4) Vgl. darüber vor allem die zutreffenden Bemerkungen von
J. P. Frank, System einer medicinischen Polizey, Frankenthal 1792,
Bd. VI, S. 94—95.
698
lud und acht Jahre hindurch dieses unzüchtige Treiben mit ihm
fortsetzte.
4. Auch eine Wohltäterin. Die Lehrerin Friederike B., die
wegen Unzucht und Entführung des minderjährigen Knaben Szepsan
angeklagt war, wurde vom Kreisgericht in St. Pölten zu sechs Monaten
schweren Kerkers verurteilt. Sie hatte im April 1900 Szepsan ver-
schwinden lassen; sie ließ ihn unter falschem Namen in belgischen
und römischen, zuletzt in Jerusalemer Klöstern aufnehmen. Der
Wiener Abgeordnete Schuhmaier entdeckte endlich, daß der Knabe
in Nendeln (Fürstentum Liechtenstein) verborgen gehalten wurde. Die
B. leugnete alle Schuld, gab sich für die Wohltäterin Szepsans aus,
den sie dem geistlichen Stande zuführen wollte. (Berl. Tageblatt,
6. Juli 1906.)
5. Eine große Skandalaffäre wird vom „Matin“ angekündigt. Vor
einiger Zeit verhaftete die Polizei in Paris einen jungen Burschen
wegen eines Vergehens gegen gewisse staatliche und Naturgesetze.
Das Individuum denunzierte daraufhin einen alten Grafen W. und
mehrere seiner Freunde, darunter auch Baron A., die täglich
vor Pariser Knabenschulen Schüler erwarteten und sie in Automobilen
nach der Wohnung A.’s und des Grafen brachten. Die Polizei
organisierte auf diese Anzeige hin eine Ueberwachung von Söhnen
wohlhabender Familien, welche die Schulen besuchten, und stellte
die Richtigkeit jener Angaben fest. Der Graf und seine Freunde
entführten die Knaben, unter ihnen drei Söhne eines Ingenieurs, deren
ältester 13 Jahre alt war, nach den Avenuen Mac Mahon und Friedland.
A., der mit einem jungen Mädchen aus der Pariser Aristokratie ver-
lobt ist, wurde verhaftet; Graf W. ist entflohen. Die Durchsuchung
der Wohnungen förderte allerlei kompromittierendes Material zutage.
(Berl. Tagebl., 345 v. 10. 7. 1903.)
Bei der großen Verbreitung der Unzucht mit Kindern muß
stets ein Punkt wegen seiner großen forensischen Bedeutung ins
Auge gefaßt werden. Das ist das Ausgehen der Initiative zur
Unzucht von den Kindern selbst, das wieder nur eine
Folge des verfrühten Auftretens des Geschlechts-
triebes beim Kinde ist.
Auch hierbei handelt es sich nur in einem Teil der Fälle
um degenerative, krankhafte, vererbte Zustände, in vielen Fällen
kommt diese sexuelle Perversität bei sonst durchaus gesunden
Kindern vor6) und wird durch Verführung, schlechte Erziehung
und Gelegenheitsursachen, wie Eingeweidewürmer usw., hervor-
gerufen. Das läßt sich schon bei den Kindern der Naturvölker
beobachten, bei denen diese Erscheinung der sexuellen Frühreife
6) Vgl. Solliers Aeußerung darüber bei von Schrenck-
Notzing, Die Suggestions-Therapie usw., S. 7.
699
vielleicht noch häufiger vorkommt, zum Teil durch klimatische
Ursachen bedingt. Auf dem Lande macht die Beobachtung der
in der Oeffentlichkeit vor sich gehenden sexuellen Akte von
Tieren die Kinder schon früh mit dem geschlechtlichen Verkehr
vertraut. In den Großstädten haben Prostitution und Schlaf-
stellenwesen, sowie überhaupt das Wohnungselend aus bereits
früher angeführten Gründen dieselbe Wirkung.
Abgesehen von der weiter unten zu erwähnenden Kinder-
prostitution kann man solche frühreifen Typen von Kindern in
der Großstadt auch in allen übrigen Schichten der Bevölkerung
beobachten. In den Kreisen der Bourgeoisie und der oberen
Zehntausend ist es der Typus der „höheren Tochter“, der „Demi-
Vierge“ und „halben Unschuld“, den neuerdings Hans v. Kah-
lenberg in seiner Erzählung „Nixchen“ so unübertrefflich ge-
schildert hat. Beim weiblichen Geschlecht tritt überhaupt diese
geschlechtliche Frühreife weit bestimmter und deutlicher hervor.
Nicht übel wird in einem Aufsätze „Der Zoo als Erzieher“ in
der Wochenschrift „Der Roland von Berlin“ (No. 27 vom 5. Juli
1906) ein solcher Typus geschildert:
„Es bilden sich sogar schon bestimmte Typen des frühreifen
Mädchens heraus, die durchaus als eine Errungenschaft des zwanzig-
sten Jahrhunderts zu begrüßen (sic) sind. Man unterscheidet da un-
schwer heißblütig-sinnliche Beanlagungen von ausgesprochen perversen.
Ein kurzbeiniger, starkbusiger Typus ist der vorherrschende. Solche
Blitzmädel entwickeln eine außerordentlich starke Energie und scheinen
auch ihren bleichwangigen und halbverlebten jungen Rittern geistig
überlegen zu sein. Sie gehen auffallend und grell gekleidet und tragen
hochgedonnerte Hüte. Während die ganze Eigur auf fünfzehn bis
sechzehn Jahre hindeutet, wenn man sie von der Rückansicht abschätzt,
muten Vorderansicht und Antlitz mindestens acht Jahre älter an.
Sie schnüren sich mit Vorliebe eng, um mit der wiegenden runden
Hüfte kokettieren zu können und um mit dem übernatürlich stark
entwickelten Busen um so gewisser zu imponieren. Aber diese Ent-
wickelung zeigt gerade die seelische und körperliche Verderbnis und
berührt widerwärtig, zumal wenn unentwickelte Schultern und dünne
Arme hart neben der Fülle das zarte Alter unwiderleglich dartun.
Die brünetten, scharfgeschnittenen Gesichter mit den blitzenden, klugen
Augen, die fürs erste faszinieren, deuten schon die Linien an, welche
die Leidenschaften da hineinzugraben im Begriffe sind, und schon lugt
die Megäre daraus hervor, die spätestens bis zu dreißig Jahren voll-
endet sein wird.*'
Geschlechtlicher Verkehr von Kindern untereinander oder mit
Erwachsenen, wobei die Anreizungen von den Kindern ausgehen,
sind durchaus keine seltenen Vorkommnisse. Folgende bemerkens-
werte Fälle mögen das illustrieren:
1. Vor einigen Jahren stand ein 13 jähriger Schüler K. J. vor der
Strafkammer des Landgerichts II Berlin unter der Anschuldigung,
sich in mehreren Fällen an Mädchen von sechs bis acht Jahren ver-
gangen zu haben. Die Beweisaufnahme ergab die volle Schuld des
Angeklagten. Er wurde einer Zwangserziehungsanstalt überwiesen.
2. Ein junger Mann macht die Bekanntschaft eines 16 jährigen
Backfisches. Trotz heftiger Leidenschaft wagt er nicht, das Mädchen
zu berühren, weil er sich durch ihre unschuldig-süße Miene täuschen
läßt und nicht der erste Verführer sein will. Kurz darauf erfährt er,
daß dieser Engel bereits seit Jahren mit einem 40 jährigen verheirateten
Manne geschlechtlich verkehrte!
3. Legroux stellte 1890 in der Wochen Versammlung der Aerzte
des Hospitals Saint Louis einen 11 jährigen Knaben vor, der sich durch
dreimonatlichen geschlechtlichen Verkehr mit einem siebenjährigen
syphilitischen Mädchen auf die gewöhnliche Weise per vias naturales
angesteckt hatte (Referat in Unnas Monatsheften für Dermatologie,
1890, Ed. X, S. 335).
4. In Paris wurde im Dezember 1905 (laut Voss. Zeitung vom
15. Dezember 1905, No. 588) eine Bande jugendlicher Straßen- und
Ladendiebe, zehn Burschen im Alter von 11 bis 14 Jahren, verhaftet,
die unter der Leitung eines 12 jährigen Knaben und eines 13 jährigen
Mädchens Elisa Cailles, genannt „die schöne Aliette“, standen. Diese
Aliette, ein reizendes, kleines Persönchen in langen Kleidern von aller-
modernstem Schnitt, mit wundervollem Hut und eleganten Handschuhen,
rühmte mit beispielloser Selbstverständlichkeit ihre Bande. Das seien
alle fesche Kerle. Sie seien alle zusammen ihre Lieb-
haber und mit den zehn Männern sei sie die glück-
lichste der Frauen. Auch erzählte sie dem erstaunten Polizei-
kommissar von dem Berge, in dem sie als „Frau Venus“ Hof hält.
Märchen, die leider keine Märchen sind, und sich nicht nacherzählen
lassen.
Die Unzucht mit Kindern erklärt auch die betrübende Er-
scheinung einer ausgebreiteten Kinderprostitution in allen
Großstädten der alten 'und neuen Kulturwelt, worüber sich in den
früher genannten Werken über die Prostitution in diesen Städten
detaillierte Angaben finden.6) Die kleinen Pariser Blumen-
verkäuferinnen, „jene verdorbenen Geschöpfe, die die Plerren in
den Wagen begleiten, um in den einsamen Straßen die amore a la
Francese zu machen, wie man in Neapel sagt“ (Laurent), die
6) Ueber die Kinderprostitution in Berlin findet man zahlreiche
Mitteilungen in der Schrift „Die Kinder-Prostitution Berlins. Un-
geschminkte Enthüllungen und Sittenbilder von einem Eingeweihten.“
Leipzig o. J. (1895).
701
Berliner Streichhölzer- und. Wachskerzen - Verkäuferinnen oder
„Musikschülerinnen“ stellen ein großes Kontingent zur Kinder-
prostitution. Vielfach stehen sie mit ebenso jugendlichen Ver-
brechern und Zuhältern in Verbindung und benutzen die Existenz
des § 176 3 und § 182 RStrG. zu Erpressungen. Es gibt unter
ihnen sogar einige, die sich auf besondere sexuelle „Spezialitäten“
■verlegen und perverse Gelüste in raffinierter Weise befriedigen.
Das soziale Elend, Beispiel und Verführung sind zwar oft als
Ursachen dieser frühzeitigen sexuellen Verkommenheit anzu-
schuldigen, jedoch dürfte gerade für die Kinderprostitution
Lombrosos Lehre von der geborenen Dirne eine größere
Geltung besitzen
Nur selten dürfte die B1 uts ch an d e oder der Inzest
(§ 173 StrGB.), der geschlechtliche Verkehr zwischen Bluts-
verwandten auf - und absteigender Linie und zwischen Geschwistern
pathologische Ursachen haben. Ueberhaupt ist die Entstehung
der Furcht und des Abscheus vor dem Inzest noch eine der
„großen Kontroversen der urgeschichtlichen Forschung“.7) Noch
in historischen Zeiten und bei primitiven Völkern war blut-
schänderischer Verkehr erlaubt und weit verbreitet. Ohne Zweifel
haben rassenhygienische Erfahrungen über die Verderblichkeit
dieser extremsten Form der Inzucht zu der Erkenntnis der Ver-
werflichkeit des Inzestes geführt. Heute kommt Blutschande fast
nur noch durch gelegentliche, zufällige Veranlassungen zustande,
z. B. im Alkoholrausch, durch das enge Zusammenwohnen in
kleinen Wohnungen, bei Fehlen anderweitigen außer familiären
Geschlechtsverkehrs, wobei eine nicht selten in den unteren Be-
völkerungsschichten zu beobachtende völlige Verständnislosigkeit
für das Unmoralische der Blutschande als begünstigender Faktor
mitwirkt. Merkwürdig ist die Neigung zu blutschänderischen
Verbindungen in bestimmten Zeitepochen, z. B. dem französischen
Bokoko, wo sie wie durch Massensuggestion hervorgerufen in
erschreckender Häufigkeit sich zeigte. Zahlreiche historisch be-
glaubigte Beispiele hierfür habe ich in meinen „Neuen Forschungen
über den Marquis de S ade“ (S. 165—168) angeführt. Mi r abe au
und besonders Betif de la Bretonne (vgl. mein Werk über
7) G. Schm oll er, Grundriß der allgemeinen Volkswirtschafts-
lehre, Leipzig 1901. Bel. I, S. 233.
tat
702
ihn S. 381—382) schwelgten in schauerlich blasphemischen Inzest-
ideen.8) Nach Theodor Mundt, der über diese Neigungen in
seinen „Pariser Kaiser-Skizzen“ (Berlin 1867, I, 141—142) spricht,
scheint das französische Naturell nicht so stark wie das germanische
mit dem kreatürlichen Abscheu gegen Vermischungen innerhalb
desselben Blutes erfüllt zu sein. Eugen Sue erwähnt in seinen
„Geheimnissen von Paris“, daß in den untersten Volksschichten
oft Väter mit ihren Töchtern sich geschlechtlich vermischen.
Nahe an Blutschande grenzen Verhältnisse, wo Eltern und
Kinder zu derselben Person sexuelle Beziehungen haben, z. B.
Mutter und Tochter einen gemeinsamen Geliebten haben. Noch
andere seltsame Kombinationen sind hier möglich und wirklich
beobachtet. Einzig ist wohl der von d’ Estoc (Paris-Eros, S. 209)
mitgeteilte Fall, in dem ein junger Mann geschlechtlichen Ver-
kehr mit einer Frau und deren beiden Töchtern hatte und außer-
dem dem Vater dieser Familie als passiver Päderast diente! In
einem Romanmanuskript, das ich einseben konnte, war ähnlich
ein Mann gemeinsamer Geliebter eines Ehepaares.
Eine der merkwürdigsten geschlechtlichen Verirrungen, deren
Wirklichkeit man sich, wie schon Mirabeau9) hervorhebt, nicht
vorstellen kann, ist die geschlechtliche Unzucht, über-
haupt sexuelle Beziehung zu Tieren, die sogenannte
Sodomie oder Bestialität und die Zoophilie.
Wir besprechen zunächst die Zoophilie, die sexuelle Neigung
zu Tieren ohne direkte geschlechtliche Betätigung. Die echte
Zoophilie oder der „Tier f e tis chismus“ als eine aus-
schließlich den sexuellen Vorstellungskreis eines Menschen
beherrschende Perversion ist sehr selten. Bisher war eigentlich
nur ein einziger von Dr. Hane 1887 in den „Wiener medizinischen
Blättern“ veröffentlichter, auch von Krafft-Ebing zitierter
Fall bekannt. Einen zweiten Fall von echter Zoophilie habe ich
im Jahre 1905 beobachtet und darüber bereits an anderer Stelle10)
8) Daß solche noch heute Wirklichkeit werden können, beweist der
von Staatsanwalt Dr. Kersten im „Archiv für Kriminalanthropologie“
(1904, Bd. XVI, S. 330) mitgeteilte Fall eines 65 jährigen Maurers, der
mit seiner 18 jährigen Stieftochter eine Tochter erzeugte und später mit
dieser leiblichen Tochter, als sie 13 Jahre alt geworden war, geschlecht-
lich verkehrte!
9) G. Mirabeau, „Erotika Bibiion“, Brüssel 1868, S. 91.
10) Iwan Bloch, Ein merkwürdiger Fall von sexueller Per-
version (Zoophilie) in: „Medizinische Klinik“, 1906, No. 2.
703
berichtet. Der außerordentlich seltene Fall sei hier noch einmal
wiederholt:
Es handelt sich um einen 42 jährigen Landwirt, große stattliche
Erscheinung, von gesundem Aussehen und normaler Körperbeschaffen-
heit. Die hereditäre und familiäre Anamnese ergibt wenig ursäch-
liche Anhaltspunkte für die eigentümliche Entwickelung seiner Vita
sexualis. In der Familie sollen mehrfach unglückliche Ehen vor-
gekommen sein. Auch die Eltern des Patienten lebten in solcher un-
harmonischen Ehe. Seine Mutter hatte ein herrisches Wesen, er fühlte
keine Liebe zu ihr. Ueber sexuelle Abnormitäten in der Familie
weiß er nichts zu sagen. Er legt besonderen Wert darauf, daß er
als Säugling mit der Flasche aufgezogen wurde und ihm so die natür-
lichen ersten unbewußten sexuellen Erregungen, wie sie nach der von
S. Freud aufgestellten Theorie das Saugen an der Mutterbrust ge-
währt, verloren gingen. Hierin erblickt er einen wesentlichen Grund
für seine spätere sexuelle Unempfindlichkeit gegen das weibliche
Geschlecht 1
Als zwölfjähriger Knabe verspürte Patient zum ersten Male eine
geschlechtliche Erregung, als er auf einem schönen Pferde ritt. Seit-
dem ist sein ganzes Sexualempfinden eng mit der Vorstellung schöner
Pferde verknüpft, in dem Sinne, daß allein deren Anblick ihn libidinös
erregt, so daß er seit Jahren jede Woche einmal beim Reiten eine
Ejakulation mit starkem Wollustgefühl hat. Bemerkenswert ist aber,
daß er keinerlei erotische Träume hat, die sich auf Pferde beziehen.
Wie erwähnt, ist sein geschlechtliches Empfinden gegenüber dem mensch-
lichen Weibe (und auch Manne) gleich Null. Er hat schopenhauersche
Ansichten über die Frauen. Die wenigen Versuche eines intimeren
Verkehrs mit Frauen — zumeist waren es Puellae publicae — widerten
ihn an, es kam zu keiner oder einer nur sehr schwachen Erektion
dabei. Die Vita sexualis des Patienten ist überhaupt keine sehr rege,
er leidet auch nicht an Pollutionen und wird durch die einmal
wöchentlich erfolgende Ejakulation und libiclinöse Erregung durch
Pferde vollkommen befriedigt.
Seit mehreren Jahren leidet Patient an häufiger Schlaflosigkeit,
deren Veranlassung er in materiellen Sorgen und in dem Nachgrübeln
über seinen sexual abnormen Zustand erblickt. Brom, Veronal und
andere Schlafmittel nützen nur wenig, da bald Gewöhnung an die-
selben eintritt, dagegen sind kalte Fußbäder von besserer Wirkung.
Der Patient, der, wie er erwähnt, gegen den normalen Beischlaf
als einen „tierischen Akt“ einen großen Widerwillen hat, glaubt, daß
er vielleicht zu einem normalen sexuellen Zustande gelangen könne,
wenn er eine sympathische, ihm seelisch und körperlich zusagende
Frau fände. Er ist aber in dieser Beziehung sehr skeptisch, da er
die Seltenheit einer vollen Harmonie, die die Vorbedingung einer glück-
lichen Ehe sei, genau kennt.
Der Patient bot keinerlei Symptome der „Degeneration“ dar, die
Genitalien waren normal, und bei einem 42 jährigen Manne kann eine
704'
infolge von materiellen Sorgen und Gemütsdepressionen hervorgerufene
nervöse Schlaflosigkeit nicht als ein Symptom der Entartung verwertet
werden, wenn inan bedenkt, wie oft auch bei sonst gesunden Personen
infolge des Lebenskampfes sich diese nervöse Schlaflosigkeit schon am
Ende der 30 er Jahre einstellen kann.
Die eigentliche Zoophilie als typische sexuelle Perversion
scheint überwiegend bei Männern vorzukommen. Die rein cnani-
stischen Zwecken dienende Verwendung von Tieren (Hunden) zum
Belecken der weiblichen Genitalien kann man nicht hierher rechnen.
In französischen .Romanen und Sittenstudien aus neuerer Zeit
werden allerdings auch Typen von zoophilen Frauen geschildert,
so z. B. ist in Octave Mirbeaus „Badereise eines Neur-
asthenikers“ (1902) die Prinzessin Karagnine eine solche Perverse,
die eine eigentümliche „Leidenschaft für Tiere“, besonders für
Hengste, besitzt, und dieselben mit offenbaren Zeichen einer
sexuellen Erregung liebkost. Und in dem Tagebuche der Gon-
courts finde ich die folgende Bemerkung: „Jedesmal, wenn ich
den Zoologischen Garten besuche, bin ich betroffen, wie vielen
bizarren, merkwürdigen, exzentrischen, exotischen, Undefinierbaren
Weibern man hier begegnet, die die Berührung mit der Tierheit
an diesem Orte für die Abenteuer der physischen Liebe zu be-
fähigen scheint.“ (Edmond und Jules de Goncourt, Tage-
buchblätter 1851—1895. Ausgewählt, verdeutscht und eingeleitet
von Heinrich Stümcke, Berlin und Leipzig 1905, S. 258.)
Auch K. Schwaeblé macht interessante Mitteilungen über die
zoophilen Neigungen französischer Frauen (Les Détraquées de
Paris, S. 203—212).
Jedenfalls bieten die modernen zoologischen Gärten noch
mehr als das Leben auf dem Lande Gelegenheit, zoophile Instinkte
zu wecken und können in dieser Beziehung gefährlich werden. Ich
erinnere mich aus meiner hannoverschen Gymnasialzeit an selt-
same Szenen, die im dortigen vielbesuchten Zoologischen Garten
sich ereigneten, und die wir damals natürlich nicht zu deuten
wußten, auf die aber durch die obigen Bemerkungen und Beob-
achtungen ein aufklärendes Licht fällt.
So werden wir uns nicht weiter über den folgenden höchst
merkwürdigen Fall von Zoophilie beim weiblichen Geschlecht
wundern :
Kleptomanie einer Dreizehnjährigen. Ein dreizehnjähriges Mäd-
chen, das der Kleptomanie unrettbar verfallen ist und, nebenbei ge-
sagt, seine krankhafte Neigung nur — Pferden gegenüber empfindet,
705
isfc das Neueste auf dem Gebiet der Dekadenoe. Das Unglückskiud
ist die Tochter Frida des Ehepaares Dr. aus der Hochs tes traile. Auf
sie ist eine ganze Reihe von Fuhrwerksdiebstählen zurückzuführen,
die eigentlich nur raffinierten Dieben zugetraut werden konnten. Die
krankhafte Neigung zwingt das Kind, die Pferde beim Zügel zu nehmen
und in seine Gewalt zu bringen. Irgend eine Absicht, die Tiere zu
verkaufen, oder etwas vom Wagen zu stehlen, hat Frida Dr. nicht.
Die Liebhaberei für Pferde hat das Kind schon in früherer Zeit zu
ungewöhnlichen Taten getrieben. So holte es sich das Pferd eines
Molkereibesitzers in der Elbingerstraße aus dem Stall, bestieg es und
trabte auf dem Hofe umher. Aus Furcht vor Strafe kletterte es dann
auf einen Taubenschlag, von dem es erst später wieder heruntergeholt
werden konnte. Das Kind befindet sich wegen seiner höchst eigen-
artigen Veranlagung seit längerer Zeit in ärztlicher Behandlung, deren
Ergebnis schon jetzt erkennen läßt, daß Frida für ihre Taten straf-
rechtlich nicht verantwortlich gemacht werden kann. (Beri. Tagebl.,
No. 352 vom 14. Juli 1906.) ,
Was nun die wirklich© Unzucht und geschlechtliche Akte
mit Tieren (Sodomie, Bestialität) betrifft,11) so gibt es kaum ein
Tier, das nicht den menschlichen Lüsten irgendwie und irgend-
wann gedient hätte, naturgemäß wurden am meisten die immer
zu Gebote stehenden Haustiere benutzt, wie Hunde, Katzen,
Schafe, Ziegen, Hühner, Gänse, Enten, Pferde. Martin
Sch uri g stellte bereits 1730 in seiner „Gynaecologia“ (S. 380
bis 387) eine überaus reiche Kasuistik sodomitischer Verirrungen
zusammen, in der außer den genannten Tieren noch Affen, Bären
und — Fische Vorkommen. Im Altertum waren Schlangen oft
Objekte der Unzucht von seiten der Frauen, spielten die Eolie
des heutigen „Schoßhündchens“. Die Verbreitung der Bestialität
ist eine allgemeine.12) Besonders berüchtigt wegen der Häufigkeit
derselben sind China und Italien, im ersteren Land ist es die
u) Von neuerer Literatur darüber nenne ich G. Dubois-De-
s а u 11 e, Etude sur la Bestialité au point de vue historique, médical
et juridique, Paris 1905; F. Reichert, Die Bedeutung der sexuellen
Psychopathie der Menschen für die Tierheilkunde, Inaugural-Dissertation,
Bern u. München 1902; Franz Hora, Ein Fall von Unzucht wider
die Natur an einer Gans, in: Tierärztliches Zentralblatt, 1903, No. 13,
S. 197; R. Froehner, Sadistische Verletzungen von Tieren. In:
Deutsche tierärztliche Wochenschrift, 1903, No. 7, S. 153; derselbe,
Der preußische Kreistierarzt, Beadin 1904, Bd. I, S. 487—491; Grund-
mann, Ein Fall von Sodomie und Sadismus. In: Deutsche tier-
ärztliche Wochenschrift, 1905, No. 45.
i2) Ygi, über die Ethnologie der Sodomie meine „Aetiologie der
Psychopathia sexnalis“, II, 272—276,'
В 1 о c ù , öBXuaUeütiii. (.—9. Aullage. _
(41.—60. Tausend.) 45
708
Gans, im zweiten die Ziege, die mit Vorliebe zu geschlecht-
lichem Mißbrauch benutzt werden. Pferde und Esel spielen in
Indien und bei den Südslaven die Hauptrolle unter den sodomi-
tischen Objekten.13)
Die Unzucht mit Tieren ist auf verschiedene Beweggründe
und Veranlassungen, nur selten auf krankhafte Veranlagung
zurückzuführen. In den unteren Volksklassen und bei manchen
Völkern, z. B. den Südslaven und Persern gibt bisweilen der Aber-
glaube, daß eine bestehende venerische Krankheit durch Bei-
schlaf mit einem Tiere geheilt wird, Veranlassung zur Sodomie.
Häufiger ist Mangel an Gelegenheit zur normalen
Befriedigung des Geschlechtstriebes Ursache der Bestialität,, die
natürlich deshalb auf dem Lande am meisten verbreitet ist,
weiL dort die Menschen mehr mit Tieren zusammen leben als in
den Städten. Der Hirt, der mit seiner Herde in einsamer Gegend
weilt, der Knecht, der plötzlich im Stalle von sexueller Erregung
ergriffen wird, der Bauer, dessen Frau vielleicht krank-ist, sie
alle werden nur durch die Gelegenheit zu Sodomiten. Fried rieh
S. Krauß erfuhr von einem zuverlässigen Gewährsmann, daß
bei der österreichischen Kavallerie häufig slavische Soldaten inr
Stall den Schemel an eine Stute rücken und ihren Geschlechtstrieb
darin, befriedigen. Wenn sie dabei ertappt werden, entschuldigen
sie sich damit, daß sie zu arm seien, inn Frauen zü bekommen.
Gewöhnlich läßt man diese Burschen straffrei. Auch in Bordellen
sind .spdomitische Praktiken üblich, sei es, daß Wüstlinge selbst
dieselben in, Szene setzen oder Prostituierte sich dazu hergeben.
Häufig sind sadistische Motive, die auch durch Martern und
Abschlachten' der Tiere während des Koitus zum Ausdruck
kommen, mit im Spiele. -
Solch eine Bordellszene in einem .Bordell der Via San Pietro all’
örto zu Mailand schilderte mir ein Augenzeuge. Es handelte ..sich
dabei .um einen alten Lebemann, der von zwei Dirnen schließlich so
weit gebracht wurde, daß er eine Ente prädizieren konnte, der während
des sodomitischen Aktes der Hals abgeschnitten wurde!
Einen anderen Fall von sadistischer Bestialität teilte kürz-
lich der Bezirkstierarzt Dr. Grundmann in Marienburg
(Sachsen) mit (Referat in der Berliner Tierärztlichen Wochen-
schrift vom 14. September 1906): 1
1S) Vgl. E. S. Krauß, Von sodomitischen Verirrungen. In: „Au-
thropophyteia“, Bd. III, S. 265—322.
707
Ein übelbeleumdeter, 38 jähriger Mann schlich sich nachts in
einen Kuhstall ein, um an einer Kuh seine Geschlechtslust zu be-
friedigen. Zunächst führte er seinen Geschlechtsteil in die Scheide
eines 3/,i Jahr alten Rindes ein. Dann versuchte er dies bei einer
Kuh, die jedoch ausschlug und ihn zu Boden warf. Aus Zorn darüber
bohrte er den Stiel einer Mistgabel zuerst in den After des Jungrindes,
dann in den After der Kuh mit aller Gewalt hinein. Die Kuh ver-
endete kurz darauf, während die Kalbe am nächsten Tage notge-
schlachtet werden mußte. Bei der Kuh fand sich außer einem 3—4 cm
langen Riß im Mastdarm Zerreißung der rechten und linken Nieren-
kapsel, Perforation des Gekröses, des Kolons, des viereckigen und
rechten Leberlappens, der Haube, des rechten Wanstsackes und des
Zwerchfells, ferner ein 1 cm langer und ebenso tiefer Riß in der
rechten Lunge. Diese bedeutenden Verletzungen sprechen dafür, daß
der Gabelstiel mehrmals vor- und rückwärts gestoßen worden ist.
Aehnlich war auch der Befund an der notgeschlachteten Kalbe. Sperrua-
tozoen wurden in der Vagina der letzteren nicht gefunden. Der An-
geklagte wurde wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit im Sinne des
§ 175 des RStrGB. und wegen Sachbeschädigung zu zwei Jahren
drei Monaten Gefängnisstrafe verurteilt.
Den seltenen Fall von Sodomie eines Weibes sah Krauß
(a, a. 0. S. 281): ,
„Wenn ich den vielfachen Mitteilungen Glauben schenken darf,
und sie dürften nicht insgesamt auf leere Vermutungen zurückzuführen
sein, geben sich unter Südslaven verhältnismäßig häufig Frauen Pferden
und Eseln hin. Wie sie dabei zu Werke gehen, weiß ich nicht aus
eigener Anschauung. Mir war es nur vergönnt, eine bildhübsche Chro-
wotin zu belauschen, die sich nachts vollkommen entkleidet vor einer
brennenden Lampe stehend mit einem Kater abgab. Sie geriet
dabei in einen so furchtbaren Orgasmus, daß sie mich gar nicht be-
merkte, obwohl ich kaum zwei Schritte von dem Fenster entfernt die
Szene beobachtete. Sie machte auf mich einen ungemein komischen
Eindruck.“
Die Rolle des Schoßhündchens bei manchen Damen wurde
schon oben erwähnt.
Man hat früher in allem Ernste die Frage aufgeworfen, ob
ein Mensch auch durch ein Tier verführt bezw. vergewaltigt
werden könnte, und noch Hufeland erzählte eine abenteuer-
liche Geschichte von der Begattung eines schlafenden kleinen
Mädchens durch einen Hund, die ich an anderer Stelle14) kritisch
beleuchtet habe, aber für ein solches Vorkommnis und die Mög-
lichkeit desselben liegen keinerlei Beweise vor. In Bordellen hat
u) Iwan Bloch, Der Ursprung der Syphilis, Jena 1901, Teil I,
Seite 22.
45*
708
man allerdings bisweilen durch Dressur Hunde zum Koitus
mit Dirnen abgerichtet.15)
Viel seltener als die Unzucht mit Tieren kommt diejenige
mit Leichen vor, die sogenannte „Nekrophilie“. Schon in
de S a des Werken wird der algolagnistische Faktor dieser selt-
samen geschlechtlichen Verirrung, das sadistische bezw. masochi-
stische Element in der Nekrophilie hervorgehoben, das darin
liegt, daß es sich bei dem toten Individuum um ein gänzlich
hilf- und wehrloses Wesen handelt, das die Schändung über sich
ergehen lassen muß, ferner in den nicht seltenen gleichzeitigen
Verstümmelungen der Leichen,16) in der Vorstellung der Ver-
wesung, des Gestankes, der Kälte, des Grauens. Auch hier spielt
die Gelegenheit eine Rolle. Soldaten oder Mönche, die mit der
Totenwache beauftragt waren, vergingen sich bei zufälliger ge-
schlechtlicher Erregung an weiblichen Leichen.
Die Leichenschändung kommt zwar nicht so selten vor, wie
man bisher annahm, gehört aber doch zu den sexuellen Ver-
irrungen, über die nur sehr wenige authentische Beobachtungen,
meist von französischen Autoren vorliegen. Aus neuerer Zeit ist
der folgende Fall,17) der sich im April 1901 zu trug, bemerkenswert:
Ueber eine kaum glaubliche Leichenschändung wird uns aus
Schönau an der sächsisch - böhmischen Grenze bei Zillone folgendes
15) Wohl einzig dastehend ist der folgende authentische Fall aus
dem Jahre 1902. Ein Mann zwang seine gutmütige, etwas geisteS-
beschränkte Frau, sich einem männlichen Hühnerhunde hinzugeben, den
er selbst für den Akt präparierte und im Laufe der Zeit fünf- bis
sechsmal den Koitus mit der Frau ausführen ließ, wobei er zusah!
(„Ein abscheulicher Fall". In: Archiv für Kriminalanthropologie 1903,
Bd. XII, S. 320—321.)
16) Mit Nekrophilie, hängt auch der Vampyrglaube z. T. zusammen.
In südslavischen Ländern fand man bisweilen die Leichen jung ver-
schiedener Frauen und Mädchen ausgescharrt vor. Der Leichen-
schänder hatte sie geschlechtlich mißbraucht und dann noch die Brüste
verstümmelt und die Eingeweide herausgerissen. F. S. Krauß, An-
thropophyteia-, Bd. II, S. 391. —■ Aehnlich verfuhr in den 40 er Jahren
des 19. Jahrhunderts der berüchtigte Leichenschänder Sergeant
Bertrand.
17) Mitgeteilt bei A. Eulenburg, Sadismus und Masochismus,
Seite 56.
Ein anderer Fall von Leichenschändung mit nachfolgender Ver-
stümmelung ereignete sich in der Nacht vom 21. zum 22. Dezember
1901 in Weiher, Amtsgericht Kulmbach, an der Leiche einer Tagelöhners-
frau im Sterbezimmer. Der dem Trünke ergebene Täter hatte infolge
709
gemeldet: Auf dem dortigen Friedhof war am Vormittage die dreißig-
jährige verehelichte Frau Maschke beerdigt, die Gruft jedoch noch
nicht völlig geschlossen worden. Als nun am Nachmittage eine Ein-
wohnerin aus Schönau das neben der Frau Maschke befindliche Grab
eines Verwandten besuchte, bemerkte sie zu ihrem nicht geringen Ent-
setzen, wie sich der Deckel des Sarges, in welchem die Leiche der
Frau Maschke ruhte, hin und her bewegte. Die Entdeckerin dieses
grausigen Vorkommnisses begab sich daher zum Totengräber und er-
stattete diesem Anzeige. Der Kirchhofsbeamte eilte infolgedessen mit
mehreren Arbeitern sofort an die bezeichnete Grabstätte, wo sie zu
ihrem großen Schreck den schon oft vorbestraften Armenhäusler Wo-
katsch dabei überraschten, als dieser im Begriff war, die Frauenleiche
zu schänden. Der bestialische Verbrecher -wurde sofort ergriffen und
dem zuständigen Bezirksgericht Hainspach überwiesen. Bald darauf
fand an Ort und Stelle die gerichtliche Untersuchung statt, zu welchem
Behufe die Leiche wieder aus der Gruft genommen und nach der
Leichenhalle gebracht wurde, um dort feststellen zu können, wie weit
sich der Verbrecher bereits an der Leiche vergangen hatte.“
Im Folklore, Mythus und der belletristischen Literatur spielt
die Nekrophilie eine größere Itolle, worüber ich an anderer Stelle
(Beiträge usw., II, 288—296) genauere Nach Weisungen gegeben
habe. Die Idee, die Vorstellung der Leichenschändung oder
auch des Verkehrs mit leblosen Menschen ruft ziemlich Läufig
eigenartige Formen von sexuellen Verirrungen hervor. Dahin
gehört zunächst die symbolische Nekrophilie, bei der
der Betreffende sich mit dem bloßen Scheintode begnügt. Prosti-
tuierte oder andere Weiber müssen sich in ein Totengewand
kleiden, in einen Sarg oder aufs „Sterbebett“ legen, eventuell in
einem als „Totenzimmer“ drapierten Gemache, und sich während
der ganzen Zeit tot stellen, während der Nekrophile durch irgend
welche Akte sich sexuell an ihnen befriedigt. Fälle solcher Art
berichten de Sade, Neri, Taxil, Tarnowsky u, a.
Nahe verwandt mit diesen nekrophilen Neigungen ist die
merkwürdige „Venus statuaria“, die Liebe zu und der
geschlechtliche Verkehr mit Statuen und anderen
Nachbildungen der menschlichen Person. Auch hier-
für kommen, außer gewissen ästhetischen Motiven18) bei
starker sexueller Hyperästhesie auch andere sexuelle Delikte, u. a. So-
domie, sich zuschulden kommen lassen. (Vgl. „Ein Fall von Leichen-
schändung. Nach den Gerichtsakten.“ In: Archiv für Kriminalanthro-
pologie 1904, Bd. XVI, S. 289—303.)
18) Diese waren bei den aus dem Altertum berichteten Fällen von
Rtatuenliebe maßgebend.
710
besonders künstlerisch vollendet ausgeführten Statuen, dieselben
Motive wie bei der Nekrophilie in Frage: das sadistische, das
masochistische, das fetischistische. Bei sexuell besonders erreg-
baren Individuen kann schon ein Gang durch ein Museum mit
vielen Bildwerken Libido hervorrufen. Dafür liegen Beispiele vor.
Meist handelt es sich aber um unreife, jugendliche, vor allem
ungebildete Individuen, die jedes ästhetischen Sinnes bar sind
und außerdem in Prüderie und Scheu vor dem Nackten auf-
gewachsen sind. Das sind dieselben Individuen, die der katholische
Moraltheologe Bouvier meint, wenn er in seinem „Manuel des
Confesseurs“ (Verviers 1876) den Fall der Masturbation vor einer
Statue der heiligen Jungfrau kasuistisch untersucht. Daß direkter
geschlechtlicher Verkehr mit Statuen als Teil eines religiösen
Fetischismus und Phalluskults vorkommt, dafür wurden bereits
oben (S. 109—110) Beispiele angeführt. Hier wird die Statue
für die Gottheit genommen, bei der profanen Statuenliebe für den
lebenden Menschen, wie in dem berühmten Falle jenes Gärtners,
der Koitus versuche an der Statue der — Venus von Milo machte.
Die Idee des Lebens der Statuen tritt noch deutlicher hervor
im sogenannten „Pygmalionismus“, einer Nachäffung der
alten Sage von Pygmalion und der Galathea und Ausbeutung
derselben zu erotischen Zwecken. Nackte lebende Weiber stehen
hier als „Statuen“ auf entsprechenden Piedestalen und werden
von den Pygmalionisten angebetet, wobei sie sich allmählich be-
leben. Diese ganze Szene verschafft denselben — meist alten,
abgelebten 'Wüstlingen — einen sexuellen Genuß. Can 1er hat
aus Pariser Bordellen derartige Praktiken beschrieben, bei denen
einmal sogar drei Prostituierte als die Göttinnen Venus,. Minerva
und Juno auf traten.19)
In diesem Zusammenhänge möge auch die Unzucht erwähnt
werden, die mit künstlichen Nachbildungen des mensch-
lichen Körpers und einzelner Teile getiieben wird. Es gibt wahre
Vaucansons auf diesem Gebiete der pornographischen Technik,
geschickte Mechaniker, die aus Gummi und anderen schmiegsamen
Stoffen ganze männliche oder weibliche Körper verfertigen, die
als „Hommes“ oder „Dames de voyage“ Unzuchtszwecken 13 * * *
13) Vgl. L. Fi aux, Les maisons de tolérance, Paris 1892, S. 176
bis 177. — Uebrigens kann man die bekannten „Tableaux vivants“
der Variétés als eine leichtere Form solcher pygmalionistischen Schau-
stellungen bezeichnen.
711
dienen. Besondere die Genitalien sind naturgetreu dargestellt.
Sogar das Sekret der Bartholinisehen Drüsen wird durch
einen mit Oel gefüllten „pneumatischen Schlauch'' nachgeahmt.
Aehnlich täuscht eine Flüssigkeit und eine Vorrichtung die
Ejakulation des Spermas vor. Diese künstlichen Menschen werden
tatsächlich in Katalogen gewisser Fabrikanten von „Pariser
Gummiartikeln“ angeboten. Nähere Mitteilungen über diese
„Unzuchtspuppen“ macht Schwaeblé (Les Détraquées de Paris,
S. 247—253). Das Erstaunlichste aber auf diesem Gebiete ist
ein erotischer Roman „La femme endormie par Madame B . . .
(avocat), Melbourne (Paris) 1899, dessen Liebesheldin eine solche
künstliche Puppe ist, die sich, wie der Autor in der Einleitung
ausführt, zu allen geschlechtlichen Raffinements gebrauchen läßt,
ohne sich wie eine lebende Frau dagegen zu sträuben. Das Buch
ist eine unglaublich raffinierte und detaillierte A1 führung dieses
Gedankens.
Eine relativ häufig vor kommende sexuelle Verirrung ist
der zuerst von Lasègue^0) beschriebene „Exhibitionis-
mus“, d. h. die Entblößung der Genitalien, überhaupt
nackter Körperteile bezw. die Vornahme sexueller Akte
in der Oeffentlichkeit zum Zwecke oder im Drange
eigener geschlechtlicher Erregung. Es handelt sich fast
stets um eine krankhafte Erscheinung auf Grundlage
epileptischer oder anderer Geistesstörungen. So fand
S e i f f e r unter 86 Fällen von Exhibitionismus 18 Epileptiker,
17 Demente, 13 „Degenerierte“, 8 Neurastheniker, 8 Alkoholiker,
11 „gewohnheitsmäßige“ Exhibitionisten und zehnmal ver-
schiedene andere Zustände. Von den 86 Fällen betrafen
11 Personen weiblichen Geschlechts.20 21) Neuerdings hat Bur gl
in einer sorgfältigen kritischen Arbeit über den Exhibitionismus22)
die beiden Bezeichnungen „Exhibition“ und „Exhibitionismus“
vorgeschlagen, die erstere für die einmalige Vornahme der
Exhibition, die zweite für die mehrmalige oder gewöhn-
20) C h. Lasègue, Les exhibitionnistes. In: Lünion médicale
1877, No. 60.
21) Vgl. A. Hoche, Grundzüge einer allgemeinen gerichtlichen
Psychopathologie in: Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie, Berlin
1901, S. 502.
22) G. B u r g 1, Die Exhibitionisten vor dem Strafrichter in : Zeit-
schrift für Psychiatrie, 1903, Bd. 60, Heft 1—2, S. 119—144,
712
heitsmäßige Betätigung der Entblößung der Genitalien
coram pnblioo. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil Exhibition
außer bei Geisteskranken auch bei Geistesgesunden verkommt,
Exhibitionismus dagegen, abgesehen von einzelnen seltenen Aus-
nahmen bei nicht geisteskranken Wüstlingen, nur geisteskranke
oder geistig defekte Individuen betrifft.
Bei letzteren handelt es sich stets um schwachsinnige Hand-
lungen oder um impulsive Handlungen im epileptischen oder
alkoholischen Dämmerzustand oder endlich um Zwangshandlungen
bei Neurasthenie, Hysterie, Paranoia, progressiver Paralyse und
anderen Geisteskrankheiten. Es können aber auch Fälle von
Exhibition bezw. Exhibitionismus aus anderen Motiven bei mehr
oder weniger gesunden Leuten Vorkommen. In slavischen Gegenden
ist Entblößen der Geschlechtsteile oder des Gesäßes nicht selten
ein Ausdruck der Verachtung gegen irgend jemanden, auch
des Aberglaubens (Krauß). Der Exhibitionismus als
Volkssitte kam bei Volksfesten des Mittelalters und bei den
,,obszönen Gebärden“ der Alten23) sehr häufig vor. Daß durch
frühzeitige Gewöhnung schon in der Kindheit die
Neigung zu Exhibitionismus begünstigt werden kann, beweist ein
von v. Schrenck-Notzing24) mitgeteilter Fall, wo der Be-
treffende als Knabe an Kinderspielen teilgenommen hatte, bei
denen die Kinder mit entblößten Genitalien aneinander vorbei-
zogen. In seiner an feinen Bemerkungen reichen Abhandlung
über die Anomalien des Geschlechtstriebes hat H o che (a. a. O.
S. 488) sehr richtig auf die Förderung exhibitionistischer
Neigungen durch habituelle Onanie hingewiesen. Durch letztere
gehe das Schamgefühl dem eigenen Körper gegen-
über mit Sicherheit verloren, und so fehlen dem Onanisten
beim Auftreten ungewöhnlicher Impulse, z. B. zum Entblößen
der Geschlechtsteile vor dem anderen Geschlechte, gewisse
mächtige Hemmungen, die beim Nichtonanisten diese An-
triebe unterdrücken.
Von den beiden folgenden Fällen von Exhibitionismus ist
derjenige eines 25 jährigen homosexuellen Offiziers entschieden * 2
2S) Ueber diese kulturgeschichtlich sehr merkwürdige Sitte der
obszönen Geberden vgl. den demnächst erscheinenden Bd. II meines
„Ursprung der Syphilis“.
2i) v. Sc hrenck - Notzing, Kriminalpsychologische und
psychopathologische Studien, Leipzig 1902, S. 50—57
der merkwürdigste. Auch dieser Patient hat in der Jugend sehr
stark onaniert und berichtet über seine exhibitiönistischen Nei-
gungen das Folgende:
„Bereits als Knabe von 7—10 Jahren (also bereits vor der Onanie)
pflegte ich gern barfuß zu gehen und mich so den Leuten zu zeigen.
Dieser Trieb verschwand plötzlich. Aber mit etwa 15—16 JcJhren (mit
Beginn der Masturbation) tauchte er wieder auf und hat sich bis in
die neueste Zeit erhalten. Da mir anderweitig die Zeit und Gelegenheit
fehlte, so konnte ich diese Launen hauptsächlich nur in meiner Heimat
befriedigen, wenn ich mich auf Ferien, Urlaub usw. dort auf hielt.
Da ich in meiner Heimatstadt und ihrer Umgegend sehr l»ekannt bin,
so suchte ich durch sehr lange Spaziergänge, eventuell auch unter
Benutzung von Fahrgelegenheit, in solche Gegenden zu gelangen, in
denen ich unerkannt zu bleiben hoffte. Ich pflegte hierzu einen Joppen-
anzug zu tragen, die Hosen etwas weit und von möglichst dünnem
Stoff, so daß ich sie bequem derart aufschürzen konnte, daß auch
der Oberschenkel nackt sein konnte, dieses mußte unbedingt sein, denn
wenn die Oberschenkel bedeckt blieben, hätte mir die ganze Sache
keine Freude bereitet. Ferner pflegte ich hierbei, was ich sonst nie
tue, keine Unterwäsche und kein Oberhemd, sondern ein Nachthemd
zu tragen. Sobald ich in die erwähnte Gegend gekommen war, ver-
steckte ich Joppe, Strümpfe und Schuhe an einer geeigneten Stelle.
Das Nachthemd wurde blusenartig arrangiert usw. Meist hatte ich
schon vorher zu Hause Kostümprobe abgehalten. Oft ging ich auch
auf Leute zu, die bei der Feldarbeit (Heumacher liebte ich sehr) waren.
Ich bat dann, mithelfen zu dürfen, was mir meist gern gewährt wurde.
Ich zog dann erst die Jacke aus, machte mich allmählich barfuß,
schürzte dann, obwohl ein äußerer Grund dazu nicht vorlag, die Hosen
auf, bis ich schließlich in dem oben erwähnten Kostüm war. Ich
mußte, wie gesagt, aber gesehen werden, die einfachen Leute bezw.
Arbeiter mußten mir genügen, wenn mich aber gebildete Leute-, z, B.
Kurgäste sahen, war es mir sehr lieb. Als einst ein Herr zu einem
andern sagte: „Sieh mal den hübschen Bengel, was der für schöne
Beine hat,“ und ich dieses zufällig hörte, war ich selig. Ich war
damals 18 Jahre alt, aber noch heute denke ich mit großer Freude
daran zurück. Auch liebte ich es, mich nackt zu zeigen, ich
hielt mich dabei aber stets in der Nähe von Teichen, Bächen usw.
auf, um nötigenfalls den Vorwand, gebadet zu haben, gebrauchen zu
können. Oefters aber legte ich mich in unmittelbarer Nähe von Bahn-
linien an geeigneter Stelle nackt in malerischer Pose hin und ließ
dann die Züge an mir vorbeifahren.
Meist tat ich dies nur bei warmem, schönem Wetter, Öfters
auch bei Schnee. Bei diesen Fahrten in wenig oder gar keiner Gewan-
dung hatte ich ein äußerst angenehmes Gefühl. Die Sache endete
meist damit, daß ich durch Onanie es zur Ejakulation kommen ließ,
wodurch ich gewissermaßen in die Wirklichkeit zurück-
gerufen wurde. Denn sonst hä 11 e i c k. er 1 au be i c h , es
714
niemals fertig gebracht, wieder in meine normale
Kleidung zu schlüpfen, zumal da ich in solchen
Fällen gegen Hunger, Durst, Müdigkeit, Hitze usw.
fast unempfindlich war. Es war eben ein traum-
artiger, äußerst wohliger, angenehmer Zustand.
Die Sucht, mich nackt photographieren zu lassen, kam auch später.
Ich hätte auch furchtbar gern Modell als Akt gestanden. Ich ver-
suchte mit großer Energie und an den verschiedensten Orten (Wien,
Leipzig, Hamburg) einen Photographen für meine Zwecke zu bekommen.
Ich wurde aber überall unter Achselzucken, Kopfschütteln usw. ab-
gewiesen. Endlich gelang es mir in Erfurt bei einem kleinen Photo-
graphen, meine Wünsche erfüllt zu sehen. (Patient hat einige dieser
Aufnahmen eingeschickt.)“
Es handelt sich wohl, wie aus der Schilderung1 deutlich her-
vorgeht, um einen Exhibitionismus auf epileptischer oder neur-
asthenischer Grundlage. Der Patient schildert den „Dämmer-
zustand“, aus dem er zur „Wirklichkeit“ wieder erwacht, sehr
anschaulich. Freilich spricht dagegen die lückenlose Erinnerung
an diese Handlungen.
Ohne Zweifel handelt es sich um neurasthenischen Exhibi-
tionismus bei dem folgenden Fall von v. Schrenck-Notzing
(a. a. O. S. 96):
„31 jähriger Porträtmaler, angeklagt wegen wiederholter Ex-
hibition. Phantasie und Sinnlichkeit des L. sind seit frühester Jugend
abnorm erregbar. Seit 20 Jahren exzessive fast täglich geübte Onanie
unter Bevorzugung der begleitenden Vorstellung männlicher und weib-
licher Genitalien. Fand im Koitus keine Befriedigung. Präsentierte
seine Genitalien mit Vorliebe öffentlich weiblichen Personen gegen-
über, in der Meinung, dieselben dadurch geschlechtlich aufzuregen.
Das Exhibieren stand im Mittelpunkt seines Sexuallebens und bekam
einen zwangsartigen Charakter. Daneben besteht schwere Neurasthenie
mit tiefgreifenden Charakterveränderungen: Energielosigkeit, Weiner-
lichkeit, Selbstmordideen usw. Zeichen geistiger Schwäche. Das Ex-
hibitionieren ist ihm volles Aequivalent für den Geschlechtsgenuß und
findet aus Organist s Nötigung statt. Ethisch und intellektuell ge-
schwächte Persönlichkeit. Der Patient wurde wegen stark verminderter
Zurechnungsfähigkeit freigesprochen.“
Als eine Abart der Exhibitionisten müssen noch die soge-
nannten „Frotteurs“ erwähnt werden, Individuen, die ihre
entblößten oder verhüllten Genitalien an Personen anderen Ge-
schlechts reihen und dadurch geschlechtliche Befriedigung haben.
Auch bei ihnen handelt es sich fast stets um krankhafte Zu-
stände. Der folgende Fall (Voss. Ztg. No. 258 vom 6. Juni 1906)
wurde kürzlich in Berlin beobachtet:
715
Ein Zwischenfall im kgl. Gpernhause während einer „Loliengrin“-
Aufführung hatte seinerzeit ein Nachspiel vor dein Schöffengericht I.
Wegen Vergehens gegen den § 184 StGBs. war der Architekt Eduard
P. angeklagt. Im Februar und März 1906 wurden im Opernhause
wiederholt die Kostüme von Damen in einer ekelerregenden Weise
besudelt. Während die Damen ihre ganze Aufmerksamkeit der Bühne
zuwendeten, nahm der hinter ihnen sitzende oder stehende Atten-
täter die Besudelung vor, um dann in der nächsten Pause zu ver-
schwinden. Die ganze Handlungsweise ließ auf das Treiben eines
anormal veranlagten Menschen schließen, der an diesem Orte gewissen
perversen Neigungen huldigt. Es wurden auf Ersuchen der Intendan-
tur allabendlich mehrere Kriminalbeamte in dem Zuschauerraum
plaziert, bis es schließlich gelang, den Uebeltäter in der Person des
Angeklagten festzunehmen. Während des zweiten Aktes einer „Lohen-
grin“-Aufführung beobachtete der Kriminalschutzmann Brumme den
Angeschuldigten, wie er sich auf dem Stehplatz in auffälliger Weise
an eine Dame herandrängte und unter dem Schutze des Halbdunkels
die in Frage kommende Handlung vornahm. P. wurde verhaftet und
räumte ein, sich wiederholt in dieser Weise vergangen zu haben.
Vor Gericht bekannte der Angeklagte ebenfalls, daß er wiederholt der-
artige Handlungen begangen habe; wie er dazu gekommen sei, wisse
er nicht. Nachträglich habe ihn jedesmal die Reue über sein Tun
gepackt. i
Auf das Gutachten des ärztlichen Sachverständigen Dr.
Magnus Hirschfeld beschloß der Gerichtshof Vertagung
und längere Beobachtung des Geisteszustandes des Angeklagten,
der dann bei der zweiten Verhandlung im Januar 1907 freige-
eproehen wurde, unter Anwendung des § 51 II. Str. G.
Das psychische Element des Exhibitionismus spielt auch
eine Bolle in den Praktiken der sogenannten „Voyeurs“25) und
„Yoyeuses“, jener zahlreichen Gruppe männlicher oder weib-
licher Individuen, die durch den Anblick sexueller Akte
anderer Personen geschlechtlich erregt werden (aktive Voyeurs)
oder bei der Vornahme eigener Geschlechtsakte sich von
anderen betrachten lassen (passive Voyeurs). In vielen
Bordellen hat man Löcher oder andere Vorrichtungen für diese
„Voyeurs“ oder „Gagas“ angebracht, durch die sie sexuelle Szenen
beobachten. Auch in Modeläden sollen Männer die Damen bei
25) Nicht zu verwechseln mit den „essayeur s“, einer Spezi-
alität der Pariser Bordelle. Das sind männliche Individuen, die von
der Bordellwirtin gemietet werden, um unter dem Anschein von Klienten
durch unzüchtige Manipulationen mit den Dirnen im „Salon“ die an-
deren dort anwesenden fremden Gäste geil zu machen und zur Unzucht
anznreiaen. Vgl. L. Fiaux, Les maisons de tolérance, S. 177.
der Kostümprobe beobachten, wie mir ein Pariser mitteilt. Neuer-
dings drängen sich auch Frauen immer mehr zu diesen Schau-
spielen, so daß Schwaeblé die „Voyeuses“ in einem eigenen
Kapitel seines Buches über die perversen Weiber von Paris be-
handelt. Schon Messalina zwang ihre Hofdamen, sich in ihrer
Gegenwart zu prostituieren. Nicht selten vereinigen sich männ-
liche und weibliche Voyeurs zu kleinen Gesellschaften und
geheimen sexuellen Klubs, wo unter den Augen aller
die sexuellen Akte vorgenommen werden.
So wurde Ende September 1906 in Graz ein „Geheimbund zu un-
sittlichen Zwecken“ von der Polizei entdeckt. An der Spitze dieses
eigenartigen Vereins, der regelrecht nach Statuten geleitet wurde und
über große Barmittel verfügte, stand ein 30 jähriger Engroshändler
B. jun. Außerdem gehörte eine ganze Anzahl angesehener Leute diesem
Sexualklub an. In dem großen Restaurant „Zum Königstiger“ hatte
er seine Zusammenkünfte. Unter dem Titel einer „Schönheitskon-
kurrenz“ wurden in dem schönen Garten dieses Restaurants Festlich-
keiten abgehalten, die dann als Orgien hinter verschlossenen Türen
ihren Abschluß fanden. Auch die prachtvollen Anlagen des Schloß-
berges waren der Schauplatz mancher „Vereinsszenen.“26)
Eine sonderbare Kategorie der Voyeurs bilden die sogenannten
„stercoraires platoniques“,27) Individuen, die im Anblick
der Defäkation und Miktion anderer einen sexuellen Genuß finden
und in Bordellen oder in Bedürfnisanstalten diese Vorgänge beob-
achten. Auf dem Abort eines Berliner Stadtbahnhofes hatte ein
solcher „stercoraire“ kürzlich eine Vorrichtung in Gestalt einer
künstlich hergesteliten Oeffnung angebracht, durch die er den
Defäka tionsakt beobachten konnte !
Hier mag auch die heterosexuelle Pädikation eine
Erwähnung finden, der Coitus analis, der nach den Berichten
fran zösischer Autoren (Tardieu, Martineau, T a x i 1) in
Frankreich besonders häufig zu sein scheint, aber auch in anderen
Ländern nichts Seltenes ist. Sie wird verständlich nur durch die
Tatsache, daß auch der Anus schon früh eine erogene Zone sein
kann. Nähere Angaben darüber macht Freud.28) Krauß hat
im zweiten Bande der „Anthropophyteia“ (S. 392 ff.) zahlreiche
Beispiele von Pädikation mitgeteilt. U. a. erwähnt er zwei von
26) Vgl. über die geheimen sexuellen Klubs mein „Geschlechtsleben
in England“, Bd. I, S. 406-415.
27) Vgl. L. Taxil, La corruption fin de siècle, Pains 1894, S. 226.
2ä) S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 8. 40—42.
dem Ethnologen Friedrich Müller ihm mitgeteilte Fälle,
wo die Männer n ur den Coitus ana.lis mit ihren Frauen vollzogen.
Endlich sei nocli der, wie es scheint, auf Frankreich be-
schränkte gewohnheitsmäßige Genuß von Opium,
Haschisch und A e t h e r zum Zwecke geschlecht-
licher Erregung erwähnt, über den Schwaeble (a. a. 0.
S. 19—36) und d’Estoo (a. a. 0. S. 151—158) sehr interessante
Mitteilungen maqhen. Es gibt eigene Opium-, Haschisch- und
Aetberlokale in Paris, teils für Männer, teils für Frauen. Drei
Opiumlokale liegen z. B. in der Nähe des Etoile in der Avenue
Hoche, der Avenue Jena und der Rue Lauriston, ein Aether-
restaurant in Neuilly, eins für Opium, Haschisch und Aether.
in der Rue de Rivoli. Alle diese Genußmittel rufen nach einiger
Zeit sexuelle Vorstellungen und Phantasien höchst seltsamer Art
verbunden mit merkwürdigen Wo 11 ustgefühlen hervor. Das Opium
zaubert „glühende glänzende Bilder einer exzessiv gesteigerten
Phantasie“ vor die Seele,20) häufig perversen Inhalts, ähnlich,
nocli stärker wirkt der Haschisch, und der Aether bewirkt eine
starke Erregung der Sexualorgane, eine „Vibration des Fleisches
und der Seele“. Das Interieur dieser unheilvollen Stätten exotischen
Genusses, wo es sehr häufig auch zu homosexuellen Akten kommt,
schildern die beiden genannten französischen Autoren sehr an-
schaulich.30)
29) L. Lewin, Artikel, „Opium“ in Eulenburgs Realenzyklo-
pädie der Heilkunde, Wien 1898, Bd. 17, S. 629.
so) Die folgenden interessanten Mitteilungen A. Wernichs
(Geographisch-medizinische Studien usw., S. 48—50) erläutern genauer
die Art der sexuellen Phantasien der Opiumraucher, die den Charakter
eines unbestimmten und durchaus nicht drängenden geschlechtlichen
Sehnens tragen: „Es braucht gar nioht zur Befriedigung zu kommen,
man ist fast abgeneigt, die schönen Bilder durch ein begrenztes zu
ersetzen. Es jagen sich alle freudigen sexuellen Ereignisse des Lebens
in eigenartiger Flucht und Vermischung. Lockende Gestalten, denen
man sich nur von weitem hat nähern können, stellen sich in den
reizendsten Stellungen dar. Oft ist man selbst gar nicht beteiligt;
schöne Weiber, die man an irgend einem Teil der Welt, auf Theatern
usw. sah, begegnen sich vor unseren Augen mit den geliebtesten Ge-
spielen unserer Jugend. Alles, was die Erinnerung und der Halb-
traum herbeiführt, ist nackt, glänzend, zärtlich, schmeichlerisch —
und für uns allein; für mich diese Gruppierungen, diese Quellufer mit
badenden Gestalten, diese Winke, diese Umarmungen.“ — Es ist deshalb
kein Zufall, daß die meisten chinesischen Bordelle Einrichtungen zum
718
Anhang.
Die Behandlung der sexuellen Perversionen.
In der so schwierigen Behandlung der sexuellen Perversionen
und Anomalien spielen die Menschenkenntnis, der Takt und das
feinere Verständnis des Arztes für die psychologischen Besonder-
heiten jedes einzelnen Falles eine größere Bolle als eine bestimmte
ärztliche Behandlungsmethode. Die richtige Erfassung des
Wesens der sexuell abnormen Persönlichkeit ist die Voraus-
setzung einer günstigen Beeinflussung und Beseitigung krank-
hafter Triebe und Gewohnheiten. Wohl muß der Arzt alle der
sexuellen Abnormität zugrunde liegenden wirklichen
Krankheiten in erster Linie behandeln mit den Mitteln, wie
sie die physikalischen und medikamentösen Heilmethoden uns in
reichem Maße zur Verfügung stellen. Körperliche und geistige
Buhe ist hier oft die erste Bürgerpflicht, wofür Versetzung in,
andere Umgebung, klimatische und Anstaltskuren, auch Medika-
mente wie Brom und Kampfer sehr nützlich sind. Aber die
Hauptsache bleibt die psychische, suggestive Behandlung.
Schon die bloße Aussprache mit dem Arzte, die Möglichkeit,
endlich, endlich einmal einem durchaus objektiven, ruhigen, ver-
ständnisvollen, durch seinen Beruf in alle Geheimnisse des mensch-
lichen Seelen- und Trieblebens und seiner körperlichen Bedin-
gungen eingeweihten Zuhörer und Batgeber sich anvertrauen zu
können, schon diese Tatsache gewährt vielen dieser Unglücklichen,
die von dem Dämon eines unseligen Triebes gepeinigt werden,
in ihrer oft großen seelischen Verzweiflung und Hypochondrie
einen innigen Trost und heilsame Beruhigung. Das ist der große
Triumph der ärztlichen Forschungen auf diesem bisher so ver-
pönten und doch so unendlich lebenswichtigen Gebiete, welches
nur krasse Ignoranz oder böswillige Heuchelei als „anrüchig“
und „unwürdig“ bezeichnen konnte, daß wir über das unfrucht-
bare und gefährliche „Moralpredigen“ hinaus zu einem wissen-
schaftlichen Verständnis der sexuellen Anomalien vor-
gedrungen sind, ihre in der körperlichen und psychischen Natur
Opiumrauchen haben und umgekehrt sehr viele Opiumhäuser Gelegen-
heit zum Geschlechtsgenuß gewähren. Ja, die Dirnen sollen Opium-
raucher deshalb besonders gern haben, weil dieselben, so lange die
Opiumwirkung anhält, ein Ende des Genusses nicht kennen.
719
des Mensclieü liegenden Wurzeln bloßgelegt und ihren Zusammen*
hang mit so vielen anderen Kulturerscheinungen unserer Zeit
erkannt haben. Wenn ich von einer „Behandlung“ der gewöhn-
lichen, weit verbreiteten sexuellen Anomalien spreche, dann er-
scheint mir der Standpunkt als der beste, daß man sie als reine
Willenskrankheiten betrachtet, die zu allen Zeiten ver-
breitet waren, nie aber deutlicher in die Erscheinung traten und
mehr sich geltend machten als heute, wo der Wille, die Energie
die wertvollste Waffe im immer heftiger entbrennenden Kampfe
ums Dasein geworden ist. Nicht dem Apathischen, wie
Napoleon III. sagte, gehört die Zukunft, sondern dem Ener-
gischen, dem Manne mit dem eisernen "Willen. Nichts aber
lähmt den Willen so sehr als die Herrschaft blinder und vor
allem abnormer Triebe. Ganz gewiß bergen sie bei noch so
häufiger Befriedigung mehr Unlust- als Lustgefühle in sich und
sind eine unversiegbare Quelle der Hypochondrie und Selbst-
verachtung. Je stärker der Trieb wird, je länger die Gewohnheit
gedauert hat, ihm nachzugeben, um so größer die Willenlosigkeit,
in die .das Individuum versinkt. Die erste und wichtigste Auf-
gabe des Arztes ist daher Schwächung des Triebes durch Stärkung
des Willens. Er muß konsequent und methodisch den Willen
erziehen, um dem Patienten zum Siege über seine Triebe zu.
verhelfen. Wie Goethe es im „Epimenides“ ausdrückt:
Noch ist vieles zu erfüllen,
Noch ist manches nicht vorbei:
Doch wir alle, durch den W i 11 e n
Sind wir schon von Banden frei.
Der beste Weg dazu ist die persönliche Beein-
flussung durch Suggestion. Es empfehlen sich häufige
Besprechungen und Unterredungen des Patienten mit
dem Arzte, die noch durch briefliche Mitteilungen des
Arztes nach dem Muster der „Psychotherapeutischen Briefe“ von
H. Oppenheim (Berlin 1906)31) eine wichtige Ergänzung er-
fahren können. Auch die Hypnose ist von Wert, obgleich sie
nicht viel mehr zu leisten scheint als die Wachsuggestion.32)
31) Ich verweise besonders auf den letzten, an einen Onanisten
gerichteten Brief (S. 42—44) als für unser Gebiet lehrreich.
32) Vgl. auch Alfred Puchs, Therapie der anormalen Vita
ißsualis bei Männern, Stuttgart 1899.
Es ist nicht so leicht, einen Hamlet, in einen ?fatmenschen
umzuwandeln. Man stelle dem Willen Aufgaben, geistige und
körperliche, man reguliere die Lebensweise, man gebe der Indivi-
dualität des Einzelfalles angepaßte spezielle Vorschriften und
ziehe unter Umständen auch, die Angehörigen und Freunde zur
tätigen Beihilfe mit heran. Der große Willensfeind Alkohol muß
ganz]ich verbannt, dagegen der Sinn für feinere Genüsse,33) auch
für leichteren Sport und Wanderung geweckt werden. Die Vita
sexualis bedarf der Beruhigung in jedem Falle, vor allem ist
Masturbation energisch zu bekämpfen. Gelingt es, die Stärke des
Triebes herabzusetzen, diejenige des Willens zu erhöhen, so ist
schon viel erreicht. Im einzelnen muß daneben stets der Versuch
gemacht werden, das abnorme Verhalten der Libido und ihrer
Betätigung ganz allmählich zur Norm überzuleiten, eventuell
unter Zuhilfenahme von Suggestionsvorstellungen in coitu, bei
denen allerdings die Hilfe des Partners unentbehrlich ist. Nur
ein erfahrener Arzt kann liier das Nichtige treffen.
S3) Hierbei ist Musik, besonders die emotionelle Wagners,
nur mit Vorsicht zu. genießen.
YIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Die Sittlichkeitsvergehen in forensischer Beziehung.
Bei dem eigentümlichen Charakter der sexuell-perversen Akte, oder
'vielmehr bei dem stark verbreiteten Interesse an sexuellen Fragen
and der an denselben haftenden Hypokrisie, ist es begreiflich, wenn
diesen Akten eine erhöhte forensische Wichtigkeit zugeschrieben wird,
die ihnen von Kechtsweegn keineswegs zugesprochen werden kann. Und
eben die Hypokrisie ist es, mit welcher alle Fragen in der Oeffentlich-
keifc behandelt werden, die mit der Sexualität Zusammenhängen, welche
eine natürliche Betrachtungsweise verhindert und eine unbefangene
Beurteilung der einschlägigen Tatsachen so sehr erschwert.
J. S a 1 g o.
'S loch, Sexualleben. 7,—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
46
Inhalt des viernndzwanzigsten Kapitels.
Bedeutung der sexuellen Perversionen für Staat und Gesellschaft-
— Ueberschätzung ihrer schädlichen Wirkungen. — Einseitige Beur-
teilung derselben vom forensisch-psychiatrischen Standpunkte. —- Große
Verbreitung unter gesunden Individuen. — Der Schutz gegen wirkliche
Schädigung öffentlicher und privater Interessen durch sexuelle Delikte.
— Häufigkeit derselben bei Kranken. — Der Begriff der Entartung. —
Die erbliche Belastung und die Degenerationszeichen. — Ihre Bedeutung.
— Soziale Bedingtheit der Degeneration. — Bedeutung der Tätowierung.
— § 51 des Strafgesetzbuches. — Der Begriff der verminderten Zu-
rechnungsfähigkeit. — Charakteristik des Sexualaffektes. — Andere, die
Zurechnungsfähigkeit vermindernde Faktoren (Menstruation usw.) —
Gesichtspunkte bei der Beurteilung von Unzucht mit Minderjährigen.
— Wert der Kinder au ssagen vor Gericht. — Das Schutzalter. — Ueber
die Beurteilung und Bestrafung sexueller Vergehen.
Daß der Staat die Gesellschaft vor gewissen Ausschreitungen
des Sexualtriebes schützen muß, sobald diese sich als „Sitt-
lich k e i t s v er ge hen“ öffentlich manifestieren und Person und
Rechte der Mitmenschen beeinträchtigen, kann nicht
zweifelhaft sein. Man hat den Geschlechtstrieb mit einem mäch-
tigen Strom verglichen, der, in sein natürliches Bett eingedämmt,
dem ganzen Lande ein nie versiegender Quell von Segnungen ist,
der aber, sobald er mit elementarer Gewalt aus den Ufern tritt,
alles überflutend das unsäglichste Leid über die Bevölkerung
bringt.1) Das ist richtig, wenn es wirklich jemals eintreten sollte.
Aber wie ich schon früher bemerkt habe, haben im ganzen
die sexuellen Perversionen eine viel geringere Rolle in der
Decadence untergegangener Völker gespielt, als man früher an-
nahm. Die biologische und ökonomische Erforschung der Kultur-
geschichte hat uns zahlreiche andere Momente kennen gelehrt,
die bei solchem Auflösungsprozesse mindestens ebenso, ja in vielen
Fällen noch mehr wirksam waren als die sexuelle ,,Entartung“.
Ja, häufig sind sexuelle Perversionen und unnatürliche Be-
friedigungen des Geschlechtstriebes erst eine Folge ökono-
misch-sozial er Abnormitäten und hängen eng zusammen
mit der sogenannten „sozialen Frage“. Der oben genannte Strom,
um bei dem Bilde zu bleiben, tritt nur ein wenig aus den Ufern,
ohne gleich alles zu überschwemmen und zu zerstören. Und so-
lange diese destruktiven Tendenzen fehlen, hat der Staat kein
Recht, gegen die sexuellen Perversionen einzuschreiten, oder kann
dies höchstens indirekt durch Beseitigung ihrer sozialen Ursachen
i) E. Weisbrod, Die Sittlichkeitsverbrechen vor dem Gesetze. '
Berlin u. Leipzig 1891, S. 5. — Vgl. über die Sittlichkeitsverbrechen
außer der früher erwähnten Schrift von Tardieu noch die inter-
essanten „Notes et observations de médecine légale. Attentats aux
moeurs. Avec 26 fig. Paris 1896“ von H. Legludic, und P. V i az z i
„Sui reati sessuali, Turin 1896 ; L. T h o i n o t, Attentats aux moeurs
et perversions du sens génital, Paris 1898; Toulouse, Les délits
sexuels, in : Les conflits intersexuels et sociaux. Paris 1904, S. 318—326.
724
tun. Bei der ungeheueren Verbreitung sexueller Anomalien auch
unter sonst gesunden Menschen muß man sich doch fragen, ob
ihre Bedeutung trotz oder besser wegen der Sittlichkeitsvergehen,
zu denen sie unter Umständen führen können, nicht überschätzt
worden ist. Diesen Gedanken hat neuerdings auch ein Psychiater,
J. Salgó, in seiner lesenswerten Abhandlung über „Die foren-
sische Bedeutung der sexuellen Perversität“ (Halle 1907) aus-
geführt. Es erfüllt mich mit besonderer Genugtuung, daß die
Anschauung, die ich seit Jahren vertrete, daß sexuelle Perversi-
täten in der Mehrzahl nicht Kennzeichen von „Entartung“ sind,
wie man namentlich unter dem Einflüsse der diesen Begriff viel
zu weit fassenden Lehren von M ö b i u s annahm, nunmehr auch
Eingang bei den Psychiatern und Neurologen findet. Uebrigens
hatte schon der verstorbene J o 11 y in einem vor praktischen
Aerzten gehaltenen Vortrage über die sexuellen Verirrungen
ausdrücklich die Richtigkeit meiner Auffassung der sexuellen
Anomalien als einer anthropologischen Erscheinung anerkannt.
Bezüglich der Natur der sexuellen Perversionen wird die psychia-
trische Wissenschaft ihre generellen Anschauungen sehr modi-
fizieren müssen, tun zu einer objektiven Beurteilung der Bedeutung
derselben zu gelangen.
„Die Psychiatrie“, sagt Salgó (a. a. O., S. 37—38), „darf
dem Lockrufe der in eine Sackgasse geratenen Recht-
sprechung nicht folgen, indem sie die schweren ge-
setzgeberischen Fehler im Punkte der perversen Sexu-
alität mit dem Mantel der Fachwissenschaft zu
decken versucht. Das unbestrittene Gebiet der psy-
chiatrischen Erfahrung der forensischen Fragen ist
groß genug, und es bedarf keiner künstlichen Aus-
dehnung. Eine solche aber ist es, wenn sie die sämt-
lichen Aberrationen der Geschlechtstätigkeiten,
oder gar nur eine einzige, ohne zweifellos nachweis-
bare Symptome physischer Störung und deutlich er-
kennbaren Verlaufs ty pus als krankhaft bezeichnet,
bloß weil sie mit dem bestehenden Strafgesetze in
Widerspruch geraten sin d.“
Die Sackgasse der Psychiatrie ist das Gefängnis und das
Irrenhaus. Nur weil sie es vorzugsweise mit den sexuellen Per-
versitäten, die kriminelle oder psychiatrische Bedeutung haben,
zu tun hatte, mit den Ausartungen und Delikten
der sexuell Perversen, verlor sie den Blick für die geradezu
ungeheure Verbreitung sexueller Perversionen auch unter geistig
und körperlich gesunden Menschen, unter denen Homosexualität,
Sadismus, Masochismus, Fetischismus usw. in mehr* oder weniger
schweren Formen verkommen, gerade so wie andere. „Laster“, wie
leidenschaftliches Tabakrauchen, irgend ein Sport zur unaus-
rottbaren oder wenigstens nur sehr schwer zu be-
seitigenden Gewohnheit werden können. Es kann weder
der Jurisprudenz noch der Psychiatrie der Vorwurf erspart werden,
daß sie die „öffentliche Meinung“, dieses furchtbare und so oft
kulturfeindliche Ungeheuer, bezüglich der sexuellen Perversitäten
irregeführt haben, über deren Natur erst die neuere wissenschaft-
liche, speziell anthropologische Forschung Licht verbreitet hat.
Ich kenne eine Menge körperlich und geistig ge-
sunder, ja, in ihrer urgermanischen Rassenkraft
imponierender Personen, die mir gestanden, im
Banne der schwersten sexuellen Perversionen zu
stehen! Man erinnere sich auch der oben mitgeteilten Schilde-
rung eines masochistischen „Sklaven“ extremster Form. Ich gehe
nicht so weit wie Salgó, der ohne weiteres den sexuellen Ano-
malien, so weit sie nicht kriminell sind, dieselbe „Existenz-
berechtigung“ (S. 7) zuerkennt, wie den normalen Trieben, aber
ich konstatiere nur, daß jene ersteren vielfach bei sonst gesunden
Individuen existieren und nicht immer die eigene Gesundheit oder
das leibliche und sittliche Wohl eines anderen so schädigen,
wie das bei den auf krankhafter Basis entstehenden und den
forensische Bedeutung gewinnenden sexuellen Perversionen der
Fall ist. Vor allem verurteile ich aufs schärfste die schon sehr
alte Mode der Verherrlichung sexueller Perversitäten, die
man als ein besonderes „Vorrecht“ höchster Geistesbildung und
besonderer Verfeinerung des Gefühls anspricht, was durch die
schon oft erwähnte Tatsache schlagend widerlegt wird, daß die
unglaublichsten und raffiniertesten sexuellen Praktiken bei wilden
Naturvölkern Vorkommen, die in dieser Beziehung unseren
modernen Décadents und Genußästheten nichts nachgeben. Jeden-
falls aber haben an sich die sexuellen Perversionen weder eine
moralische noch forensische Bedeutung und müssen als mehr oder
weniger biologische Variationen des normalen Triebes betrachtet
werden.
Wo dagegen ein öffentliches oder individuelles
Interesse durch sie geschädigt wird, da hat allerdings der Staat
ein Recht zum Einschreiten und zur Prophylaxe. Ueberall, wo
es sieh um Erregung eines öffentlichen Aergernisses, um körper-
liche und geistige Schädigungen anderer Menschen, um An-
wendung von Gewalt, um Mißbrauch der geminderten oder auf-
gehobenen Zurechnungsfähigkeit von Kindern, Bewußtlosen,
Schlafenden und Geisteskranken handelt, da muß die Gesellschaft
in ihrem Interesse einschreiten und sich durch geeignete Maß-
nahme gegen solche Delikte schützen. Es ist nun sicher -— und
das festgestellt zu haben, ist ein Ruhmestitel der psychiatrischen
Wissenschaft —, daß gerade diese sexuellen Delikte in einer
großen Zahl von Fällen von kranken und mehr oder weniger
unzurechnungsfähigen Individuen begangen werden. Da-
her ist die Forderung durchaus berechtigt, in jedem solchen
krimineller Falle den körperlichen und geistigen Zustand des
Inkulpaten ärztlich untersuchen zu lassen. Eine typische Geistes-
krankheit, wie Schwachsinn, Epilepsie, alkoholisches Irresein,
Paralyse, Paranoia usw. wird sich unschwer feststellen lassen,
und damit Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit ohne
weiteres ausgeschlossen. Schwieriger sind die Uebergänge von
Gesundheit und Krankheit, die sogenannten ,,G renzzustände“,
die,„psychopathischen Minderwertigkeiten“ und „Desiquilibrierten“
zu beurteilen. Für diese spielen in der forensischen Medizin be-
sonders zwei Begriffe eine große Rolle, derjenige der „Ent-
artung“ (Degeneration) und der „verminderten Zu-
rech nungsfähigkei t“.
Jeder sexuell Perverse muß zunächst bezüglich schwerer erb-
licher Belastung, sowie der sogenannten „Entartungszeichen“
untersucht werden. Ist ein mehrfaches Vorkommen von
schweren Geisteskrankheiten, von Alkoholismus, Syphilis,
Diabetes und anderen zur Entartung führenden Krankheiten in
der Familie des Betreffenden nachweisbar, so ist der Verdacht
auf eine psychopathische Grundlage der sexuellen Delikte ge-
rechtfertigt. Jedoch muß hervorgehoben werden, daß die erb-
liche Belastung sich nicht in jedem Falle geltend macht,2) daher
nicht immer als ursächliches Moment für das Auftreten einer
geschlechtlichen Perversion verantwortlich gemacht werden kann.
Die sogenannten Entartungszeichen („Stigmata“) haben nur
Bedeutung, wenn sie sehr stark ausgeprägt und mehrfach
2) Vgl. Th. Ziehen, Artikel „Degeneratives Irresein“ in Eulen-
burgs Kealenzklopädie, Wien 1895, Bd. V, S. 418; A. Ho che,
Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie, S. 413.
727
vorhanden sind. Man unterscheidet körperliche lind geistige
Stigmata degenerationis. Zu den ersteren gehören Entwicklungs-
Störungen und Hemmungen, Mißbildungen wie Schädelasymme-
trien, Enge des Gaumens, Hasenscharte, Wolfsrachen, Zahn- und
Haaranomalien, Sprachfehler, Tic convulsif, abnorme und krank-
hafte Zustände der Genitalien und Genitalfunktionen und be-
sonders Mißbildungen des Ohres wie das Morel sehe Ohr (gänz-
liches oder teilweises Fehlen der Helix oder Antihelix), das
T) a rwin sehe Spitzohr usw.s)
Die geistigen Entartungsersoheinungen umfassen alles das,
was man als ,,bizarre oder abnorme“ Charaktere, als „Sonder-
linge“ und „Originale“', als „psychopathische Minderwertigkeiten“
(J. L. A. Koch), als „Desiquilibrierte“ (Esc hie), als „dégénérés
supérieurs“ (Magnan) beschrieben hat, eigentümliche Störungen
der Harmonie des Seelenlebens, die durch Mangel an Ebenmaß,
an Gleichgewicht zwischen Intellekt und Gefühl, sowie durch
eine abnorme Reizbarkeit und Reaktionsfähigkeit ausgezeichnet
sind. Es kann völliger Mangel des ethischen Empfindens bestehen,
sogenannte „moral insanity“, von der übrigens E. Kräpelin
und seine Schule nachgewiesen haben, daß sie sich erst sekundär
in späterer Zeit im Anschluß an bestimmte Geisteskrankheiten
entwickeln kann. Auffällig ist bei diesen Desiquilibrierten die
Disharmonie der ganzen Lebensführung, die innere Haltlosigkeit,
das Sprunghafte, Unstete, Plötzliche ihrer Handlungen, die oft
unter dem Eindrücke von Zwangsvorstellungen und abnormen
Impulsen erfolgen, das abnorm frühe Auftreten und die außer-
ordentliche Intensität des Geschlechtstriebes, die Neigung zur
Grausamkeit (O. R o s e n b a c h). Bei der Beurteilung der Gesamt-
s) Vgl. hierzu P. Näcke „Ueber den Wert der sog. Degenerations-
zeichen“ (Arch. f. Kriminalpsychologie, Mai 1904) und „Der hohe
Wert gewisser Entartungszeichen“ (Arch. f. Kriminalanthr. 1904,
Bd. XYI, S. 181—182). Am bedeutsamsten sind nach ihm die Stigmata
am Kopf und am Genitalsystem wegen der Beziehungen zum Gehirn
und zur Fortpflanzung. Entwicklungsstörungen der Ohrmuschel sind
nicht so wichtig wie solche des Augapfels (Fehlen der [Regenbogen-
haut, Nystagmus, Linsentrübungen, Iriscolobom, Ptosis, Mikrophthal-
mus, Anophthalmus, Farbenblindheit usw.). — Auf die Bedeutung
und Häufigkeit der Anomalien der Geschlechtsteile bei Stupratoren.
und sexuell Perversen macht neuerdings Penta aufmerksam (Vgl.
Archiv f. Kriminalanthr. 1904, Bd. XVI, S. 343; vgl. auch die oben
mitgeteilten Beobachtungen von M a 11 h a e s).
728
Persönlichkeit der Degenerierten ist immer der ganze Lebens
lauf in Betracht zu ziehen, auf den sich nur allzu oft das
Stifter sehe Wort anwenden läßt: „Es waren in seinem
liehen nur Anfänge ohne Fortsetzung und Fortsetzungen ohne
Anfang".
Auf der anderen Seite ist nicht zu vergessen, daß einerseits
viele körperliche Degenerationszeichen auch bei Gesunden ver-
kommen, andererseits dieselben bei Geisteskranken und Verbrechern
auch auf soziale Ursachen zurückgeführt werden können, auf
schlechte Lebensverhältnisse und mangelhafte Ernährung, auf
Alkoholismus, Syphilis, englische Krankheit Deshalb betont
P. Näcke4 5) mit Recht, daß viele der sogenannten
Degenerationszeichen nur sozial bedingt sind
und durch eine zweckmäßige soziale Hygiene verschwinden, wie
er das an dem Beispiel des rhachitischen „Arbeitsbeins" englischer
Fabrikarbeiter nachweist. Für den Nachweis der „Entartung" ist
daher der Nachdruck auf die geistigen Stigmata zu legen,
die Abnormität der geistigen Persönlichkeit, ihres intellektuellen
und affektiven Charakters ist festzustellen und daraus eventuell
die Unwiderstehlichkeit einer krankhaften Triebäußerung abzu-
leiten.
Neben diesem Studium der Degenerationszeichen hat das-
jenige etwaiger Tätowierungen ein forensisches Interesse
für die Beurteilung von sexuellen Delikten. Charakter und Zeit
der Tätowierung geben bisweilen interessante Aufschlüsse über
das Wesen der Persönlichkeit
So berichtet Lombroso6) über einen 50jährigen Sittlichkeits-
verbrecher mit Henkelohren und spärlichem Haarwuchs, der au einem.
16 jährigen Mädchen, dessen Mutter seine Geliebte war, Notzucht ver-
übte. Derselbe hatte sich bereits in seinem 15. Lebensjahre
die obszönsten Bilder auf seinem Körper eintätowieren lassen und auf
Befragen erklärte er, daß er mit 13 Jahren, zu masturbieren und mit
15 Jahren Frauen zu gebrauchen angefangen habe. Er leugnete das
Verbrechen der Notzucht und behauptete, das Mädchen ohne Gewalt,
gebraucht zu haben. Seine Tätowierungen erwiesen in-
dessen zur E v i d e in z , daß er wohl fähig war, ein sexuelleg-
Verbrechen zu begehen. Sie konnten als ein sicheres und wich-
tiges Beweismittel dienen.
4) Paul Näcke, Verbrechen und Wahnsinn beim Weibe. Wien
und Leipzig 1894, S. 154—166.
5) C. Lombroso, Neue Fortschritte in den Verbrecherstudien.
S. 177—178.
Das trat noch deutlicher in dem Falle des Stuprators Francesco
Spiteri hervor, den Dr. F. Santangelo 1892 veröffentlicht hat,
dessen ganze unsittliche und sexuell-perverse Le-
bensführung geradezu wunderbar durch die Täto-
wierungen veranschaulicht wurde, mit welchen sein
ganzer Körper bedeckt war. Erwähnt sei nur die Zeichnung
eines Fisches und von sieben Punkten auf dem Membrum. Das be-
deutete, daß sein Penis (ital. pesce = Fisch) seit seiner Jugend sieben
Knaben pädiziert (= sieben Punkte) habe!
Neben der Frage der Entartung kommt diejenige der ver-
minderten oder aufgehobenen Zurechnungsfähig-
k e i t- bei sexuellen Delikten in Betracht. Aufgehoben6) ist die
Zurechnungsfähigkeit bei offenkundigen Geisteskrankheiten, im
epileptischen Dämmerzustand, im schweren Alkoholrausch. Von der
gänzlichen Unzurechnungsfähigkeit bis zur völligen Zurechnungs-
fähigkeit gibt es zahlreiche Uebergänge, die alle unter den Be-
griff der verminderten Zurechnungsfähigkeit fallen.
Dieser Tatsache entspricht der für die forensische Beurteilung
maßgebende § 51 des Re ich ss t ra«fgese tz bu ch es nicht. Derselbe
lautet :
„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter
zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Be-
wußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand,
durch welchen seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.“
Hier ist zwar der Begriff „krankhafte Störung der Geistes-
tätigkeit“ bedeutend weiter als der einer Geisteskrankheit, insofern
er auch vorübergehende geistige Störungen nicht direkt geistes-
kranker Personen mitumfaßt, aber es fehlt hier doch der noch
wichtigere Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit, der
auf lalle jene geschilderten Grenzzustände und Uebergänge zwischen
geistiger Gesundheit und geistiger Krankheit anwendbar ist. Schon
Häußler (a. a. O. S. 39) hat vor 80 Jahren die Forderung
nach Einführung des Begriffes der verminderten Zurechnungs-
fähigkeit erhoben, d. h. eines Zustandes, „in dem die Verant-
wortlichkeit für die Handlungen durch die geling entwickelte
Intelligenz beeinträchtigt wird, ohne daß die Störung der
Geistestätigkeit hochgradig genug ist, um die freie 'Willens-
bestimmung- vollständig auszuschließen“ (Aschaffenburg).
®) Vgl. G. Aschaffenburg, Die Zurechnungsfähigkeit Lei
Geisteskrankheiten, in Hoches Handbuch der gerichtlichen Psychi-
atrie, S. 13—47.
.Seitdem durch J o 11 y s am 16. September 1887 vor dem Verein
Deutscher Irrenärzte in Frankfurt gehaltenen Vortrag „Ueber
verminderte Zurechnungsfähigkeit“ die Diskussion über diese
Frage angeregt worden war, hat sich die Mehrzahl der deutschen
Psychiater für legislatorische Festlegung dieses Begriffes aus-
gesprochen, u. a. Wollenberg, Hoche, Cramer, Kirn,
Aschaffenburg, v. S chr en ck- No t z in g u. a.7)
Bei der verminderten Zurechnungsfähigkeit sind Indivi-
duen und Handlungen zu unterscheiden. Bei den oben als
„psychopathischen Minderwertigkeiten“ gekennzeichneten Indivi-
duen kann die Zurechnungsfähigkeit dauernd und für zahlreiche
verschiedenartige Handlungen vermindert sein, in anderen Fällen
können auch gesunde, normale Individuen bezüglich einzelner
Handlungen vermindert zurechnungsfähig sein, wenn nämlich
ein überaus starker Affekt oder ein akuter Rausch für
eine gewisse Zeit und für eine bestimmte Handlung die
Zurechnungsfähigkeit aufhebt. Hierfür kommen außer der
akuten Alkoholvergiftung besonders geschlechtliche Vor-
gänge in Betracht. Schon Häußler8) hat den vom Ge-
schlechtstrieb umgarnten und unter dem Einflüsse desselben
eine bestimmte Handlung ausführenden Menschen für nicht
ganz zurechnungsfähig und den Wollüstling für „nicht ganz
psychisch gesund“ erklärt. Auch Forel9) reiht den „Sklaven
des Geschlechtstriebes“ unter die geistig Abnormen und vermindert
Zurechnungsfähigen ein. Ich halte es für zweifellos, daß ge-
schlechtliche Affekte, besonders wenn sie plötzlich auf treten, die
Zurechnungsfähigkeit vermindern und die freie Willensbestim-
mung mindestens beeinträchtigen. Von gewissen Vorgängen der
Vita sexualis, wie der Epoche der Pubertät bei Mann und
Frau, der Menstruation, Schwangerschaft und des
Klimakteriums beim Weibe wird dies ja auch bereits aner-
kannt. Es sollte aber für den Geschlechtstrieb ganz im allge-
meinen zugegeben werden, besonders wenn die ganze Art der
Handlung darauf hin weist, daß sie die Folge eines plötzlich
7) Ygl. A. v. Schrenck-Notzing, Die Frage nach der ver-
minderten Zurechnungsfähigkeit usw. in: Kriminalpsychologische und
Psychopathologische Studien, Leipzig 1902, S. 76—101.
8) Häußler, a. a. O., S. 39.
9) A. Forel, Ueber die Zurechnungsfähigkeit des normalen Men-
.schen“, München 1901, S. 21.
731
auftretenden starken Affektes gewesen ist. Auch. v. K r a f f t -
Ebing10) ist dieser Ansicht. Es wird sich auch meist feststellen
lassen, oh das Delikt allein durch einen starken ge-
schlechtlich e n A f f e k t, der Intelligenz und Willensfreiheit
selbst des „zurechnungsfähigen Menschen“ zeitweilig beschränkte
oder sogar gänzlich aufhob, verursacht worden ist, oder ob noch
andere Motive dabei obwalteten, die als Ausfluß bewußter
Ueberlegung aufzufassen waren.
Zum Schlüsse muß noch ein Punkt erwähnt werden, der die
sexuellen Delikte mit Kindern betrifft und forensische Bedeutung
hat. Das ist der Umstand, daß es sich häufig gar nicht- um
„Verführung“ von Kindern handelt, sondern daß die Anreizung
zuerst von den Kindern selbst ausgeht. Ueber das frühe Auf-
treten geschlechtlicher Kegungen bei Kindern wurde bereits im
vorigen Kapitel berichtet. Man kann auch hier eine edlere und
eine grob sinnliche Liebe unterscheiden.
Für die ersfcere führe ich das Beispiel der heißen, anschmiegenden
Liebe eines 12 jährigen Mädchens zu einem 40 jährigen, durchaus ehren-
haften Manne an, der an sexuelle Berührung der Kleinen sicherlich
nicht dachte, und sich doch vor ihren leidenschaftlichen Liebkosungen
nicht retten konnte. Oft beobachtet man solche innige Zuneigung- ganz
junger Mädchen zu reiferen Männern, und man muß sich hüten, in
solchen Fällen stets an pädophile Unzucht zu denken.
In einem anderen Falle klagte eine Mutter, daß ihr siebenjähriges
Töchterlein unausgesetzt hinter einem 14 jährigen Knaben her sei, von
dem. es nicht lassen könne.
Maria Lisch ne wska berichtet (Mutterschutz, 1905, S. 156)
von einem noch nicht sechsjährigen Knaben, der seinen schlafenden
Pflegeeltem das Hemd aufhob und sie zu begatten versuchte.
Die so häufigen Delikte von Geistlichen und Lehrern an
den von ihnen unterrichteten Mädchen erscheinen nicht selten
in einem anderen Lichte, wenn man die jugendlichen Denunzian-
tinnen einem genaueren Verhör unterwirft, nächstdem einer
körperlichen Untersuchung, wobei oft die längst eingewurzelte
Schamlosigkeit und ein lange vor dem Delikte mit anderen
Männern gepflegter und zwar freiwillig gepflegter geschlecht-
licher Verkehr ans Licht kommen. Schon Casper hat auf diese
Verhältnisse eindringlich hingewiesen. Sehr oft gehen auch von
den Schulmädchen selbst tatsächlich Anreizungen
io) v. K r af f t - E b i n g , Psychopathia sexualis, S. 331.
schlimmster Art ans, die sogar manchem jungen, sittlich ge-
festigten Lehrer verderblich geworden sind.
Endlich ist ein wichtiger Punkt nicht zu vergessen: die
1= n g 1 a u b w ü r d i g k e i t kindlicher Aussagen, die neuerdings
von dem Kinderarzt Adolf Baginsky in einer vortrefflichen
Arbeit11) behandelt worden ist. Dieser ausgezeichnete Kenner der
kindlichen Seele erklärt:
„Kinderaussagen vor Gericht sind für den wirklich erfahrenen
Kinderkenner geradezu null und nichtig, ganz wertlos und
ohne Bedeutung; um so bedeutungsloser fast und nichtiger, je öfter
das Kind die Aussage wiederholt, je fester es bei der gleichen Aus-
sage bleibt.“
Er verweist auf das in Schweden geltende Gesetz, das Kinder
erst nach vollendetem 15. Lebensjahre als Zengen vor Gericht
zuläßt.
Man wird alle diese Verhältnisse bei der Frage des soge-
nannten Schutzalters berücksichtigen müssen. Mit Recht
bemerkt M. Hirschfeld, daß das natürliche Schutzalter das
der Entscheidungsfähigkeit sei (Vom Wesen der Liebe, S. 284).
Ich halte die Bestimmung des italienischen Strafgesetzbuches für
die beste, welche das Schutzalter für beide Geschlechter bis
zur Vollendung des 16. Lebensjahres festsetzt.
Die. meisten Verbrechen aus rein sexuellen Motiven gehören
zu den Leidenschaftsverbrechen im Sinne Ferris und zwar zu
den Verbrechen unter dem Zwange des stärksten organischen
Triebes. Ob die heutigen Strafen gegen dieselben die geeigneten
sind, bezweifle ich. Jedenfalls sind hier vor allem „mildernde“
Umstände am Platze und gilt das Wort: „Richtet nicht, auf daß
ihr nicht gerichtet werdet!“ Ja, hat nicht ein evangelischer
Geistlicher recht,12) wenn er sagt:
,,D ie ungeheure Mehrzahl von Männern und
Frauen, die sich zu öffentlichen Richtern der Sitt-
lichkeit aufwerfen, während sie selber die Gebote
derselben bei jeder Gelegenheit übertreten, lügen.
Tag für Tag, ihr ganzes Leben, ihre Stellung ist
auf Heuchelei und Lüge gebaut.“
u) A. Baginsky, Die Impressionabilität des Kindes unter dem
Einfluß des Milieus in: Medizinische Reform, herausg. von Rudolf
Lennhoff, 1906, No. 43 u. 44 (besonders S. 533—534).
12) Auch eine konventionelle Lüge. Studie über Liebe, Ehe und
Unsittlichkeit von einem evangelischen Geistlichen. Leipzig o. J., S. 7
733
Es kommt nur sehr selten vor, daß ein Richter, der einen
Dieb oder Mörder verurteilt, selbst sich dieser Verbrechen schuldig
gemacht hat, aber ohne Zweifel geschieht es sehr häufig, daß
Richter andere Menschen wegen sexueller Delikte verurteilen, die
sie selbst auch begangen haben. Bei den sexuellen Ver-
brechern handelt es sich fast stets um Individuen, die durch
ärztliche Beeinflussung viel eher gebessert werden als
durch Gefängnisstrafen. Der Schutz der Gesellschaft gegen sie
muß den Aerzten an vertraut werden. „Die Aerzte werden
die Richter der Zukunft auf diesem Gebiete sein,“
sagt M. Hirsch feld mit Recht.13) Bis dahin seien die deutschen
Richter an eine Anekdote erinnert, die ich in einer alten franzö-
sischen Enzyklopädie11) fand:
Eine Kurtisane in Madrid tötete iliren Geliebten wegen seiner
Untreue. Sie wurde verhaftet und vor den König geführt, dem eie
nichts in der ganzen Angelegenheit verheimlichte. Der König sagte
darauf: du hast zu viel Liebe, um vernünftig sein zu können.
l3) Kraepelin (Zur Frage der geminderten Zurechnungsfähig-
keit, in: Monatsschrift für Kriminal-Psychiatrie, 1904, Heft 8) plädiert
fur Festsetzung der Internierung nicht durch Eich ter, sondern durch
ärztliche „Kriminal-Pädagogen“ und verlangt nicht Gefängnis, sondern
„Sicherungsanstalten“ für die gemindert zurechnungsfähigen Krimi-
nellen. Ebenso will P. Näcke (Üeber die sogenannte „Moral In-
sauity“, Wiesbaden 1902, S. 60) das Gefängnis zu einer Art von
„Krankenhaus und Erziehungs anstatt“ umgestaltet wissen.
u) Encyclopediana ou Dictionnaire encyclopédique des Ana, Paris
1791, S. 59.
734
FUENFUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Die Enthaltsamkeitsfrage.
O heiliger Büßer, folg’ ich dir,
-oolge ich dir, Frau Minne?
Eduard Grisebacln
735«
Inhalt des fflnfnndzwanzlgsten Kapitels.
Große Verschiedenheit der Ansichten über die geschlechtliche
Enthaltsamkeit. — Fünf Gruppen. — Die Apostel der absoluten
Askese. — Kritik derselben. — Die Anschauung der doppelten Ge-
schlechtsmoral. — Widerlegung. — Der grundlose Zweifel an der Mög-
lichkeit der Abstinenz. — Befürwortung einer relativen temporären
Enthaltsamkeit vom ärztlichen und moralischen Standpunkt. — Die
relative Abstinenz als Kulturideal. — Ihre Anerkennung bei den alten
Israeliten. — Weise Vorschriften und Aussprüche in Bibel und Talmud.
— Entstellung dieser Idee durch den Gedanken der absoluten Askese.
— Reaktion gegen letztere. — Regeln über die Häufigkeit des Bei-
schlafs. — Die Selbstbeherrschung als Prinzip des Genusses. — Die
Enthaltsamkeit vor dem ersten Geschlechtsverkehr. — Geschlechts-
reife und Körperreife. — Die Sexualspannung ¿er zwanziger Jahre. —■
Erbs Erfahrungen über die schädlichen Folgen der Abstinenz. —
Löwenfelds Mitteilungen. — Vergleichung mit do<c Gefahren des
außerehelichen Geschlechts Verkehrs. — Wert der Abstinenz in späterer-
Zeit. — Einfluß auf die geistige Tätigkeit, — Hoher Euiturwert der
Enthaltsamkeitsidee.
In keiner Frage stehen sich die Ansichten so schroff gegen-
über wie in derjenigen der Bedeutung, des Wertes und der Folgen
der geschlechtlichen Enthaltsamkeit.
Ich unterscheide hier fünf Gruppen :
1. die Apostel einer absoluten Askese durch das ganze
Leben hindurch (Tolstoi, Weininger, Norbert Gra-
be w s k y , K u r n i g u. a.) ;
2. die ärztlichen Befürworter einer relativen, tem-
porären Enthaltsamkeit bis zur Möglichkeit eines dauern-
den, hygienisch einwandfreien Geschlechtsverkehrs ;
3. die Vertreter der „doppelten Geschlechtsmora 1“,
die zwar vom Weibe geschlechtliche Enthaltsamkeit bis zur Ehe
verlangen, aber diese als für den Mann unmöglich erklären;
4. die „Vera“-Enthusiasten, die aus moralischen
Gründen Abstinenz für beide Geschlechter bis zur Ehe verlangen;
5. die Zweifler an der Möglichkeit jeder Abstinenz, der
absoluten und relativen überhaupt.
Ueber die sub 1 erwähnte absolute lebenslängliche geschlecht-
liche Enthaltsamkeit braucht weiter kein Wort gesagt zu werden.
Sie ist ein Unding, ein frommer Aberglaube, eine aus dem
Glauben an die „Sündhaftigkeit“ des Geschlechtsverkehrs ge-
borene natur- und Imi tur w idri ge Utopie.
Der normale Gesehlechtstrieb ist eine natürliche, reine
und an sich durchaus ethische Naturerscheinung, den erst der
Mensch in wahnsinnigster Verblendung und sittlich verwerf-
lichster Verfälschung seines eigensten Wesens zur „Sünde“, zum
„Bösen“ gemacht hat. Der Mensch hat ein natürliches, geborenes
Hecht auf Befriedigung des Geschlechtstriebes. Die absolute Askese
muß als eine durchaus unsittliche Lehre verworfen werden.
Das gleiche gilt von der unter 3 erwähnten doppelten Ge-
schlechtsinoral, die dem Manne zubilligt, was sie der Frau ver-
weigert. Diese „Moral“ (lucus a non lueendo) statuiert für den
Mann einen Naturtrieb und ein Recht auf Befriedigung desselben,
während sie die Existenz eines solchen Triebes und Rechtes beim
Weibe leugnet! Daß diese Anschauung nur eine Konsequenz der
„ Zwangs ehenmoral“ ist, habe ich bereits früher auseinander-
gesetzt.1)
Auch der Standpunkt der unter 5 genannten Skeptiker be-
züglich der Möglichkeit jeder, auch nur zeitweiligen Abstinenz
ist abzulehnen. Allerdings ist der Mensch ein Naturwesen, sein
Geseblechtstrieb ist ein natürlicher und als solcher berechtigter
Instinkt, aber zugleich ist der Mensch ein Kultur wesen.
Kultur ist Erhöhung, Veredlung, Verklärung der Natur, deren
allzu heftige Triebe und Klüfte durch die Kultur eingeschränkt
und harmonisiert werden. Dem Recht auf geschlechtliche Befriedi-
gung steht daher die Pflicht gegenüber, den Sexualtrieb in
den Grenzen zu halten, ihn in solche Bahnen zu lenken, daß
keinerlei Schädigung des Individuums und der Gesellschaft er-
folgt und er wie alle anderen Triebe den Zwecken der Kultur-
entwicklung dient. Für diese Zwecke ist aber eine relative
Enthaltsamkeit sehr bedeutungsvoll, bisher noch viel zu
wenig gewürdigt, was eben nur möglich ist, wenn man d i e
Sexualität durchaus bejaht, aber sie zugleich zu einem
K u 11 u r f a k t o r ersten Ranges machen will. Ich habe ja
diese „Individualisierung“ des Geschlechtstriebes ausführlich ge-
schildert; und verweise auf die betreffenden Kapitel. Ohne Aner-
kennung des Wertes zeitweiliger Abstinenz und der Be-
deutung der dadurch aufgespeicherten sexuellen Energie und
ihrer Umsetzung’ in andere Energien geistiger Natur ist diese
Individualisierung nicht möglich.
(Sowohl die ärztlichen (unter 2) als auch die moralischen
(unter 4) Befürworter einer relativen temporären Enthaltsamkeit
für beide Geschlechter haben von ihrem Standpunkt aus das
Richtige getroffen. Das ist zwar in beiden Fällen ein „Stand-
punkt des Ideals“, um mit F. A. Lange zu sprechen, aber gerade
dieser ist der Jugend, und besonders unserer deutschen Jugend
!) Auch P. Näcke (Einiges zur Frauenfrage und zur sexuellen
Abstinenz a. a. O., S. 49) spricht sich sehr scharf gegen diese doppelte
Moral aus, die er ein „offenbares Unrecht“ nennt. Vgl. auch Max
Thal, Sexuelle Moral. Ein Versuch der Lösung des Problems der
geschlechtlichen, insbesondere der sogen. Doppelten Moral, Breslau 1904.
Bloch. Sexualleben. 7.—9. Auflage. in
(41.—60. Tausend.)
738
aufs innigste zu wünschen.. Es kann nicht oft und laut genug
gesagt werden, welch ein unendlicher Segen aus dem Willen zur
und der Verwirklichung der zeitweiligen geschlechtlichen Ent-
haltsamkeit hervorgeht, besonders in den Jahren der Vorbe-
reitung zum Leben, aber auch in jenen des s e 1 b s t ä n d i g e n
Schaffens.
Die Bedeutung der relativen geschlechtlichen Enthalt-
samkeit ist zuerst von den alten Israeliten erkannt worden.
Zahlreiche weise Vorschriften und Aussprüche bezeugen das.
Julius Preuß, der rühmliohst bekannte Forscher auf dem
Gebiete der althebräischen' Medizin hat kürzlich in einer inter-
essanten Arbeit „Sexuelles in Bibel und Talmud“ (Allgemeine
Medizin. Gentral-Zeitung 1906, No. 30 ff.) die hierauf bezüglichen
Tatsachen zusammengestellt.
Danach, war für den Unverheirateten Keuschheit eine selbstver-
ständliche Forderung. Freilich heiratete man bei der allgemeinen
Frühreife schon sehr jung, schon mit 18—20 Jahren, und R. Huna
meinte, daß, wer mit 20 Jahren noch unverheiratet ist, seine Tage
mit Sünden, oder, was als schlimmer gilt, mit sündigen Gedanken
zubringt. Drei erwähnt Gott lobend jeden Tag: einen Unverheirateten,
der in einer Großstadt wohnt und nicht sündigt, einen Armen, der
ein Wertobjekt, das er findet, dem Eigentümer abliefert, und einen
Reichen, der seinen Zehnt heimlich gibt. Als diese Lehre einst in
Gegenwart des R. Safra vorgetragen wurde, der als Junggeselle in
einer Großstadt wohnte, erstrahlte sein Gesicht vor Freude, Raba
aber sagte zu ihm: nicht solche, wie du bist, meint man, sondern:
solche, wie R. Chanina und R. Os cha ja, die in der Straße der
Dirnen wohnen, für sie Schuhe arbeiten, zu denen daher die Dirnen
kommen und sie anschauen, die aber trotzdem ihre Augen nicht er-
heben, um sie anzuschauen.
Auch nach der Verheiratung suchte man durch beachtens-
werte Vorschriften die große kulturelle Idee einer zeitweiligen
geschlechtlichen Abstinenz durchzuführen. So war der Beischlaf
während der Menstruation streng verboten und galt als Tod-
sünde, ebenso, die Begattung bei anderen Blutungen aus. den
Genitalien, nur daß hier die Enthaltsamkeit noch länger dauern
mußte. Die katholischen Moraltheologen gestatten seltsamerweise
ohne Einschränkung den Geschlechtsverkehr bei diesen krank-
haften Blutungen und unter gewissen Voraussetzungen auch bei
der Menstruation. — Ferner war bei den alten Juden der Bei-
schlaf während der Trauerwoche um Eltern und Geschwister,
dann am Versöhnungsfeste verboten. Auch Herbergsgäste auf der
739
Reise sollten, wohl aus Gründen dos Anstandes, nicht den Beischlaf
ausüben, ebenso war derselbe in Zeiten der Hungersnot verboten,
um die Kräfte zu schonen. . .... • . , ,
Goldene Sprüche kennzeichnen den Wert der Mäßigkeit und
relativen Enthaltsamkeit: - : - ' •• . <
Nach einem alten israelitischen Volkswort gehört der Beischlaf
zu den acht Dingen, die nur in geringem Maße genossen,
schön, in großem Maße aber schädlich si n d.. Die übrigen
sind: Wege (Gehen), Besitz, Arbeit, Wein, Schlaf, warmes Wasser
(zum Bad und zum Getränk) und Aderlaß.
R. Jochanan lehrte: „Es gibt ein kleines Glied am Menschen,
wer es sättigt, hungert, wer es hungern läßt, ist satt.“
R. 11 a i: ,,Wenn der Mensch einsieht, daß sein böser Trieb mächtiger
ist, als er selbst, so gehe er an einen Ort, wo man ihn nicht kennt,
ziehe dunkle Kleider an, hülle sich in dunklen Turban und tue»
wa3 sein Herz verlangt, entweihe aber nicht öffentlich den Namen
Gottes.“ Das kann nur heißen: daß das Verlangen im allgemeinen nur
den beherrscht,, der bereits die Frucht gekostet hat, daß also das
sicherste Mittel gegen die Begierde die Abstinenz ist. Wo aber trotz-
dem einmal der Trieb übermächtig zu werden droht, da hat der Mensch
die Pflicht, dagegen änzukämpfen und jedenfalls nicht sofort nach-
zugeben. •' - ; ' '
Dieser alte Gedanke der relativen Askese wurde leider durch
die utopistisclie und naturwidrige Idee der absoluten Askese ver-
fälscht und in den Hintergrund gedrängt und sein bedeutender
Wert auch bei der naturgemäß einsetzenden Reaktion gegen das
absolute Keusehheitsprinzip gänzlich übersehen. Diese Reaktion
führte sogar zu Regeln über die Häufigkeit des Beischlafes, wie
zu dem angeblich von Luther stammenden Ausspruch: „In der
Woche zwier schadet weder mir noch ihr usw.“, obgleich
sich gerade auf diesem Gebiete keine Regeln
geben lassen und die gr ö ß t en ind i v i d ue 1 le n Ver-
schiedenheiten gerade hier zutage treten, so daß
dä&;*;,zweimal in der Woche“ für manche Konstitutionen schon des
Guten zuviel ist und nur für robuste Naturen als eben zulässig
bezeichnet werden kann. ,Eine längere Zeit hindurch gewöhn;
h'eitsmäßig tägliche Ausübung, des Beischlafes dürfte sogar
einem Herkules schlecht bekommen und is-t unter allen
Umständen s ch ä dlich für beide Teile. Die Natur
selbst.hat durch eine gewisse Periodizität der geschlechtlichen
Erregung, die beim Weibe freilich deutlicher hervortritt als heim
Manne, der „immer“ liehen kann, die zeitweilige Abstinenz er-
47*
740
leichtert. Ja, diese ist im Grunde ein natürliches Gebot selbst’
der extremsten Genußphilosophie. So weist mit Recht Fr i e d r i eh
Albert Lange2) darauf hin, daß, selbst wenn die sinnliche
Lust wie bei Aristipp oder bei Lame 11 r i e zum Prinz ip
erhoben wird, noch die Selbstbeherrschung eine Forderung
der Philosophie bleibt, wäre es auch nur wegen der dauernden
Erhaltung der Genußfähigkeit. So singt auch der Dichter des
„Neuen Tanhäuser“:
Selig, der da ewig schmachtet,
Sei gepriesen, Tantalus,
Hätt’ er je, wonach er trachtet,
Würd’ es auch schon Ueberdruß:
Gib mir immer Eine Beere,
Aus der vollen Traube nur,
Und ich schmachte gern, Cythere,
Lebenslang auf deiner Spur!
Die Entha 1 tsamkeitsfrage ist eine völlig verschiedene, je
nachdem sie sich auf die Zeit vor oder nach dem ersten ge-
schlechtlichen Verkehr bezieht. Erfahrungsgemäß wird die Ab-
stinenz im ersteren Falle sich viel besser ertragen lassen, als wenn
bereits von der verbotenen Frucht gekostet worden ist. Betrachtet
man mit dem Verfasser dieses Buches die relative Askese als das
erstrebenswerte Ideal, so wird man trachten, dieselbe in der
Jugend solange als möglich ohne eine Unterbrechung durch
Geschlechtsverkehr durchzuführen, während man in der späteren
Periode des vollentwickelten geschlechtlichen Lebens sie nur von
Zeit zu Zeit ein treten läßt,
Was den ersten Punkt betrifft, so wäre es das größte Glück
für jeden Menschen, wenn er bis zur völligen Reifung von Körper
und Geist, also bis zum 25. Lebensjahre, geschlechtlich abstinent
bleiben könnte.3) Das ist aber meist eine Unmöglichkeit. Möglich
2) Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus,
herausg. v. O. A. E11 i s s e n, Leipzig 1906, Bd. II, S. 633.
3) „Ich kann Euch, Geliebte,“ schrieb der 89 jährige Ernst
Moritz Arndt an die Jenenser Burschenschaft, „nichts Besseres
wünschen, als daß Ihr Euren Lauf in Jena ordnet und macht, wie
ich ihn weiland machte, tapfer, rüstig und ernst gegen die lustigen
üppigen Jugendtriebe zu kämpfen, welche in den Besten leicht mit
einem Zuviel durchgehen wollen . . . Ihr müßt in diesen Euren köst-
lichsten Jahren zwischen 18 und 28 mit doppelter Männlichkeit, Tapfer-
keit und Keuschheit streben nach Cajus Julius Cäsars Lobe der
deutschen Jünglinge,“
74L
aber ist. es für jeden gesunden Menschen und eine gebieterische
Forderung der individuellen und sozialen Hygiene, sich
mindestens bis zum 20. Lebensjahre des sexuellen
V erkehrs gänzlich zu enthalten. Das ist ohne Schaden
durchführbar und wird von unzähligen Menschen männlichen
und weiblichen Geschlechts durchgeführt. Es ist ja eine Tat-
sache, daß in den Kulturländern noch keineswegs mit der ge-
schlechtlichen Reife von Mädchen und Jüngling die körperliche
und. geistige Reife koinzidiert, sondern im Gegenteil erst drei
bis fünf Jahre später eintritt. Erst zwischen dem 20. und 22. Jahre
erreicht der Mann seine vollständige Entwicklung.4) Wird der
Sexualtrieb nicht künstlich geweckt und genährt, so kann auch ohne
Onanie und Pollutionen der geschlechtliche Drang ein sehr mäßiger
bleiben und leicht unterdrückt werden. Die Beziehungen zum
anderen Geschlecht sind noch nicht notwendig für* * die Entwick-
lung des eigenen Wesens geworden. Der Mensch hat noch genug
mit sich selbst zu tun. Erst mit dem Beginne der zwanziger
Jahre verändert sich die Sachlage, die Sexualspannung wird so
groß, daß sie nach der ihr adäquaten und natürlichen Lösung
durch den normalen Geschlechtsakt verlangt. Ist dieser unmög-
lich, so sind Pollutionen ein natürlicher oder Masturbation ein
unnatürlicher Ausweg, meist wird auch bei länger fortgesetzter
Enthaltsamkeit Lebensfrische und Geistes- und Gemütszustand
mehr oder weniger beeinträchtigt. Darauf mit Nachdruck gegen-
über den die Totalabstinenz des reifen Menschen für völlig un-
schädlich erklärenden Autoren5) hingewiesen zu haben, ist das
große Verdienst von Wilhelm Erb,6) dem berühmten, viel-
erfahrener* Heidelberger Neurologen.
„Es ist eine bekannte Tatsache,“ sagt er, „daß gesunde junge
Männer mit starkem Geschlechtstrieb unter der Abstinenz nicht wenig
zu leiden haben; daß sie zeitweise von dem Triebe „wie besessen“ sind,
*) Vgl. darüber auch die Ausführungen v. A. Herzen, Wissen-
schaft und Sittlichkeit, Berlin 1901, S. 11—12. Denselben Zeitpunkt
für die männliche Reife nahm schon J. 0. G. Ackermann an (Ueber
die Krankheiten der Gelehrten, Nürnberg 1777, S. 268).
®) leb nenne nur SevedRibbing, Acton, Rubner, Paget,
Heg ar, B e a 1 e , Herzen, A. Eulenburg, V. C n y r i m,
Fürbringe r.
•) Wilhelm Erb, Bemerkungen über die Folgen der sexuellen
Abstinenz. In: Zeitschrift für Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten,
1903, Bd. II, Heft 1, S. 1—18.
742
daß sich ihnen erotische Gedanken überall eindrängen, sie in der Arbeit
und der Nachtruhe stören und gebieterisch nach Entlastung verlangen;
ich muß mich dabei immer des Zitats eines meiner Jugendfreunde,
eines jungen Künstlers erinnern, der bei der Besprechung dieser Dinge
bedeutungsvoll zu sagen pflegte: ,,Wer nie die kummervollen Nächte
in seinem Bette weinend saß . . usw., und derselbe Mann wußte
die erlösende, entlastende und geradezu erfrischende Wirkung einer
zeitweiligen Befriedigung nicht genug zu rühmen; und das gleiche
ist mir unzählige Male von ernsten, durchaus mäßigen Männern be-
stätigt worden.“
Auch Frauen machten ihm ähnliche Geständnisse.7) In zahl-
reichen Fällen beobachtete Erb körperliche und geistige Schädi-
gungen durch die Abstinenz bei gesunden, besonders aber bei
neuropathischen Individuen.
Wichtig sind auch die Untersuchungen von L. Löwenfel d8)
über den Einfluß der Abstinenz. Er fand, daß bei Männern unter
dem 24. Jahre seltener nennenswerte Belästigungen infolge ge-
schlechtlicher Abstinenz Vorkommen als bei solchen im Alter von
24—36 Jahren, den Jahren voller Manneskraft und sexueller
Leistungsfähigkeit, wo bei Gesunden diese Belästigungen freilich
leichterer Natur sind (allgemeine Erregtheit, sexuelle Hyper-
ästhesie, hypochondrische Ideen, Arbeitsunlust, leichte Schwindel-
anfälle), bei Neuropathen dagegen sich bis zu Zwangsvorstellungen,
Melancholie, Angstgefühlen, Halluzinationen steigern können.
Weibliche Personen ertragen nach Löwenfeld die Abstinenz,
selbst die absolute, viel besser als Männer, aber auch bei ihnen
können sich hysterisch-neurasthenische Zustände infolge geschlecht-
licher Enthaltsamkeit entwickeln.
Alle diese schädlichen Folgen der Abstinenz sind aber weder
beim Manne noch bei der Frau derart, daß dort, wo die Gelegen-
heit zum hygienisch und ethisch einwandfreien Geschlechtsverkehr
mangelt, die Befriedigung des Geschlechtstriebes als „Heilmittel“
vom Arzte angeraten zu werden braucht. Nein, selbst Erb be-
tont, daß gegenüber den durch die Geschlechtskrankheiten drohen-
den Gefahren die unzweifelhaften, wenn auch im ganzen relativ
seltenen und geringen Gesundheitsschädigungen durch die Ent-
L ; ?) Schon Theodor Mundt hat sehr anschaulich in seiner ^Ma-
donna“ (Leipzig 1835, S. 240—241) die wohltuende und erfrischende
Wirkung des Koitus auf das Weib geschildert.
8) L. Löwenfeld, Sexualleben und Nervenleiden, 4. Auflage,
S. 62—69.
743
haltsamkeit nichtinsGewichtfallen. Der „außereheliche“
Geschlechtsverkehr birgt die Gefahr der syphilitischen oder
gonorrhoischen Ansteckung oder der unehelichen Schwangerschaft
in sich, welch letztere leider heute noch als eine Art schwerer
Krankheit betrachtet werden kann. Demgegenüber verschwinden
die etwaigen schädlichen Folgen der Abstinenz.
In der späteren Zeit, wo die Möglichkeit einer dauernden
reinen Liebe gegeben ist, liegt der Wert der zeitweiligen sexuellen
Abstinenz besonders auf geistigem Gebiete. Gerade für den
„Erotokraten“, wie Georg Hirth das mit einem starken und
gesunden Geschlechtstriebe ausgestattete Individuum nennt, hat
diese temporäre Abstinenz eine gewisse Bedeutung, weil das auf-
gespeicherte Quantum Sexualspannung der inneren geistigen Pro-
duktion zustatten kommt. Eine Reihe stark geschlechtsbedürftiger,
geistig bedeutender Männer bekannten mir, daß infolge der Ab-
stinenz zeitweise eine eigentümliche Vertiefung und Konzentration
ihrer geistigen Fähigkeiten eintrete, wodurch unleugbar eine
Steigerung der geistigen Leistungen zustande komme. Dieser
Punkt der Hygiene der geistigen Tätigkeit, der einem Goethe
nicht unbekannt gewesen zu sein scheint, ist noch wenig erforscht
worden.
Jedenfalls steht fest, daß vom Standpunkt der Kultur die
Idee der geschlechtlichen Enthaltsamkeit ihre Berechtigung hat,
schon allein, weil sie eines der großen Mittel zur Stärkung und
Kräftigung des Willens ist, weil sie zweitens einen wirksamen
Schutz gegen die Gefahren der wilden Liebe bildet und weil sie
endlieh darauf hin weist, daß überhaupt das Leben noch andere,
des Strebens werte Dinge hat als das Geschlechtliche, daß sein
Inhalt durch dieses noch lange nicht erschöpft wird, wenn auch
der Geschlechts trieb neben dem Selbsterhaltungstrieb immer der
mächtigste Lebensreiz bleiben wird.
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL,
Die sexuelle Erziehung.
Besser ©in Jaiir zu früh, als eine Stunde zu spät.
Oker Blom
Inhalt des sechsundzwanzigsten Kapitels.
Ignorierung des Sexuellen bis zur Gegenwart durch Wissenschaft
und Leben. — Die Gefa.hr des blinden Zufalls auf sexuellem Gebiete.
— Notwendigkeit einer Aufklärung der nachfolgenden Generationen.
— Die sexuelle Erziehung als Teil der allgemeinen Pädagogik.
— Das Recht auf Kenntnis des eigenen Körpers. — Die
geschlechtliche Aufklärung der Jugend. — Streit über das Wann
und Wie. — Unterschied zwischen der ländlichen und städtischen
Jugend. — Anknüpfungspunkte. — Eine Stelle aus Gutzkows Auto-
biographie. — Trübe Quellen der ersten sexuellen Aufklärung. —
Charakter der pädagogischen Aufklärung. — Bedeutung derselben. —
Vorschläge für die Methodik der sexuellen Aufklärung (Sigmund,
L i sehne ws ka, F. W. Förster). — Meine Ansicht. — Erziehung
des Charakters und Willens. — Hauptregeln der sexuellen Pädagogik.
— Die Erziehung zur Mannhaftigkeit.
Es ist merkwürdig und unbegreiflich, wie die Menschheit
bis zur Gegenwart die Tatsache der Geschlechtlichkeit eigentlich
völlig ignoriert, ja bis vor kurzem sogar die wissenschaftliche
Erforschung* derselben durch den Erwachsenen (!) für un-
würdig hielt. Der mystische Gedanke der Sünde, des radikal Bösen
im Sexuellen war ein Dogma, das sogar die Naturforschung anzu-
erkennen schien. Wir standen dem Geschlechtlichen gegenüber wie
einer Sphinx-und Gorgonenhaupt zugleich, wie dem verschleierten
Bilde von Sais. Wir waren machtlos gegen diese unheimliche,
tückische Macht, gegen das blinde Ungefahr des Zufalls,
der , gerade auf dem geschlechtlichen Gebiete eine so verhängnis-
volle Rolle spielt.. Wie überall im Leben, so kann auch hier die
Herrschaft des Zufalls nur durch die Erkenntnis aufgehoben
werden. Die Lösung der sexuellen Frage setzt Offenheit,
Klarheit, Wissen auf geschlechtlichem Gebiete voraus; 'Er-
kenntnis von Ursache und Wirkung und Vermittlung dieser
Erkenntnis an die nachfolgende Generation, damit diese
ohne Schaden klug werde. Die sexuelle Erziehung, ist
ein wichtiges Kapitel der allgemeinen Pädagogik.1)
Von Tieren, Pflanzen, Steinen erhält der jugendliche Mensch
heutzutage genaueste Kenntnis, aber man verweigerte ihm
bisher noch das Recht auf das Verständnis seines eigenen Körpers,
auf die Kenntnis lebenswichtiger Funktionen desselben. Es kann
gar kein Zweifel darüber bestehen, daß der moderne Mensch, der
sich so sehr als ein soziales Wesen fühlen gelernt hat, ein
heiliges, natürliches Recht auf dieses Wissen von sich selbst hat.
Nachdem schon erleuchtete Pädagogen der Aufklärungszeit
wie Rousseau, Salzmann, Basedow, Jean Paul u. a.
für. die frühzeitige geschlechtliche Aufklärung der Jugend ein-
x) Deshalb hat auch F r. W. Foerster in seiner herrlichen
,,Jugendlehre“ (Berlin 1906) ihr einen besonderen Abschnitt („Sexuelle
Pädagogik“, S. 602—652) gewidmet.
getreten waren und ausgezeichnete Vorschläge* I. 2) darüber gemacht
hatten, ist erst in den letzten Jahren im Zusammenhänge mit
den Fragen des Mutterschutzes, der Bekämpfung der Prostitution
und der Geschlechtskrankheiten das Interesse für diesen Gegem
stand; neu erwacht, und es existiert bereits auf diesem Gebiete
eine hauptsächlich den letzten Jahren angehörende, umfangreiche
Literatur3 * S.) aus der Feder von Aerzten, Pädagogen, Hygienikern
2) MariaLischnewska hat die Hauptstellen in der Einleitung
ihrer vorzüglichen Arbeit über „Die geschlechtliche Belehrung der Kin-
der“ in: Zeitschrift „Mutterschutz“, 1905, Bd. I, S. 137—150, mitgeteilt.
3) Außer den beiden schon erwähnten trefflichen Schriften
von F. W. Förster und M. Lischnewskä nenne ich:
Richard Flachs, Die geschlechtliche Aufklärung bei der Er-
ziehung unserer Jugend, Dresden und Leipzig 1906 (mitaus-
führlicher Bibliographie); Carl Kopp, Das Geschlechtliche
in der Jugenderziehung, Leipzig 1904Max Marcuse, Die
geschlechtliche ; Aufklärung der Jugend, Leipzig 1905; Sexuelle
Hygiene und sexuelle Aufklärung in der Schule (Diskussion auf dem
I. Internat. Kongreß für Schul - Gesundheitspflege in Nürnberg, 1904),
in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge-
schlechtskrankheiten, 1904, Bd. II, S. 63—71; Karl Ullmana, Lieber
sexuelle Aufklärung der Schuljugend. In: Monatsschrift für Gesund-
heitspflege, 1906, No. 1; M. Flesch, Die Aufklärung in der Schule.
In: Blätter für Völksgesundheitspflege, Bd. IV, S. 164; Emma Eck-
stein, Die Sexualfrage in der Erziehung des Kindes, Leipzig 1904;
Adelheid v. Bennigsen, Sexuelle Pädagogik in Haus und Schule,
Berlin 1903; Alfred;. Fournier, Pour nos fils quand ils auront
18ans, Paris 1905; M. Oker-Bloin, Beim Onkel Doktor auf dem
Lande. Ein Buch für Eltern. Autor. Uebersetzung von L. Burg er-
ste in. 2. Aufl., Wien 1906; Friedrich Sieber t, Ein Buch
für Eltern, München 1905; derselbe, Wie sag’s ich meinem Kinde?
München 1904; Mary Wood-Allen, Wenn der Knabe zum Mahn
wird, Zürich 1904; dieselbe, Sag’ mir die Wahrheit, liebe Mutter i
W. Bus eh, Keine Storchgeschichten mehr. Praktische Anleitung,
wie man seinen Kindern die Wahrheit sagt und seine Familie vor. sitt-
lichen Schäden bewahrt, Leipzig 1904; E. von den Steinen, Das
menschliche Geschlechtsleben. Vortrag, gehalten vor Abiturienten,
Düsseldorf 1906 (vgl. dazu derselbe, Die Abiturienten vor träge über
das Geschlechtsleben, in: Z. für Bekämpf, der Geschlechtskrankheiten
1906, Bd. V, S. 259—260) ; F. S i e b e r t, Unseren Söhnen. Aufklärung
über die Gefahren des Geschlechtslebens, Straubing 1907; F. Siebert,
Das sexuelle Problem im Kindesalter. In: Das Buch vom KindEer
herausgegeben von Adele Schreiber, Leipzig u. Berlin 1907,.Bd, I,
S. 106—117. L. Bergfeld, Zerreiße die Binde vor deinen Augen,
liebe Schwester. Ein offener Brief an jedes erwachsene junge Mädchen.
Müncheaa 1907.
und Frauenrechtlerinnen. Es ist in Wahrheit eine brennende
Zeitfrage, deren Lösung man hier unternimmt. Denn die richtige
sexuelle Erziehung bildet die Grundlage für eine Veredlung und
Sanierung des gesamten Geschlechtslebens. Nur das Wissen
und der Wille können hier das Heil bringen. So gliedert sich
die sexuelle Pädagogik ganz natürlich in diese beiden Teile: die
geschlechtliche Aufklärung und die Erzieh u n g
des Willens.
Die Notwendigkeit der geschlechtlichen Aufklärung wird
jetzt von allen einsichtigen Sozialhygienikern und Pädagogen an-
erkannt. Eine Meinungsverschiedenheit besteht nur über das
Wann und das Wie. Die einen plädieren für möglichst früh-
zeitige Aufklärung' schon in den ersten Schuljahren, die anderen
wollen sie bis zur Pubertät oder gar noch später hinausschieben.
Ich bin der Ansicht, daß die Verhältnisse hier gänzlich ver-
schieden sind, je nachdem es sich um kleinere Städte und das
platte Land handelt, wo eine schärfere Beaufsichtigung des Kindes
möglich ist und die Gefahren vorzeitiger sexueller Entwicklung
und Verführung nicht so groß sind, oder ob es sich um Groß-
städte handelt, wo meines Erachtens die Kinder nicht früh
genug aufgeklärt werden können, da das großstädtische Leben
die Kinder aller Klassen, die soziale Misere noch ganz besonders
diejenigen der unteren Volksschichten schon so früh mit sexuellen
Dingen in Berührung bringt, daß die zweckmäßige Aufklärung
eine Notwendigkeit wird. Großstadtkinder sollten schon vom
10. Jahre an ganz allmählich und vorsichtig mit den Haupt-
tatsachen des sexuellen Lebens bekannt gemacht werden. Man
findet hier mehr Anknüpfungspunkte als man ahnt. Das
hat Gutzkow in seiner herrlichen Autobiographie „Aus der
Knaben zeit“ (Frankfurt a. M. 1852, S. 263—264) sehr schön
geschildert:
„Die erste Aussaat der Liebe schon im Kinderherzen geht so geheim-
nisvoll vor sich, wie sich der Tau auf Blumen senkt. Spielend und scher-
zend tastet die Unschuld im Gebiete der Nacht. Worte, Empfindungen,
Begriffe, die dem Erwachsenen voll gefährlicher Widerhaken scheinen,
läßt das Kind mit sorgloser Sicherheit an und nimmt das geschlecht-
liche Doppelleben der Menschheit wie ein Urewiges, mit ihm selbst-
redend auf die Welt Gekommenes, das keiner Erklärung bedarf. Aus
dem Schoß der Mutter geboren, ist dem Kind di© Mutter die sichere
Brücke über alle Rätsel des Weibes hin. Das Kind ahmt die Liebe des
Taters zur Mutter nach, spielt Familie, spielt Vater, Mutter, spielt
sich selbst als Kind. Aus raschelndem Herbstlaub, aus zerlassenen
Strohbündeln werden Hütten und Nester gebaut und halbstundenlang
kann ein völlig unschuldiger Knabe neben seiner Gespielin stumm und
wie von Liebesahnung magnetisiert daliegen. Die Gefahr steht einem
solchen Bilde kindlicher Naivität freilich nicht fern, sie lauert wohl
und sucht sich die Gelegenheit zur Verführung. Aber niemals ver-
steht ein Kind ganz die Bedeutung der harten Strafe, die es oft für
sein nachgeahmtes Ifflandsches Familienleben trifft. Das Liebeslebem
der Erwachsenen erst bricht auf die Phantasie des Kindes und sein
stilles Grübeln wie mit der Tür ins Haus. Man schont so wenig die
Unschuld, man zeigt sich leidenschaftlich, man kost in Kindernähe.
Das Kind sieht, es grübelt, horcht. Gewisse Hieroglyphen erschrecken
es, Erzählungen werden belacht, Erzählungen, die plötzlich über ganz
befreundete Menschen ein wunderlich-fremdartiges Licht werfen. Der
Knabe wird bemerken, daß seine ältere Schwester irgend eine Freude
oder ein Leid hat, das er ganz nicht fassen kann. Ein älterer Bruder
nimmt, geschwellt von Lebensübermut, Jugendlust, Abenteuerdrang
kein Blatt vor den Mund .... Solche und ähnliche, zahllos vorge-
kommene und umständlich berichtete Geschichten wurden ihrer Aben-
teuerlichkeit wegen mit gierigem Ohr belauscht. Der rote, durch sie
sich hinziehende Faden von Liebe und vom Beiz schöner Frauen ent-
schlüpfte der Kindeshand und doch fehlte eine gewisse geheimnisvolle
Wirkung nicht.“
Das Kind hört und sieht viel Erotisches, sogar Unsitt-
liches, aber es steht nicht darüber, es vermag dasselbe nicht zu
deuten, die Unwissenheit läi5t es grübeln, bald tauchen lüsterne
Gedanken auf. Maria Lischnewska schildert diesen psycho-
logischen Prozeß in der Kindesseele sehr anschaulich, zum Teil
nach ihren eigenen Beobachtungen als Lehrerin, und übt scharfe
und berechtigte Kritik am Storchmärchen und anderen Fabeln,
die das Kind nur ungläubig anhört,4) um dann von älteren nichts-
nutzigen Kameraden auf sehr bedenkliche Weise aufgeklärt zu
werden. So lernen oft zehn- oder zwölfjährige Kinder ohne
eigentliches Wissen bereits sexuelle Dinge von der niedrigsten
Seite kennen, verfügen nicht selten über einen erstaunlichen
Wortschatz von schmutzigen Ausdrücken oder singen gar schon
obszöne Lieder, wofür M. Lischnewska ein drastisches Bei-
spiel von einem 12 jährigen Mädchen mitteilt.
Nein, es ist gar keine Frage, daß schon das reifere Sclnü-
4) Oder mit scharfsinniger Logik widerlegt, wie folgende Geschichte
beweist: „Pepito, ein Kind von sieben Jahren, fragte seine Mutter: Sage,
Mama, wie kommen die Kinder? — Man kauft sie. —Ich glaube nicht,
daß man sie kauft! — Warum? — Weil die Armen am meisten haben.''
Mud, etwa vom 10. Lebensjahre an, ohne Befürchtung nachteiliger
Folgen von Eltern und Erziehern über geschlechtliche Dinge auf-
geklärt werden muß, um solchen Gefahren, wie sie eben ge-
schildert wurden, vorzubeugen. Nur muß diese Unterweisung
jeder individuellen Beziehung, jedes persönlichen Charakters ent-
kleidet und ganz allgemein als eine naturwissenschaft-
liche Erkenntnis, als dem Gebiete der physiologischen und
.pathologischen Wissenschaft entnommene medizinische Lehre vor-
getragen werden. Dann wird jede unerwünschte Nebenwirkung,
jede Beziehung auf subjektive Empfindungen ausgeschlossen sein.
Wenn Matthisson die Jugend deshalb glücklich preist, weil
das Buch der Möglichkeiten vor ihrem Blicke noch nicht
entrollt sei, so gilt das gewiß nicht für die geschlechtliche
Aufklärung. Hier muß bis zu einem gewissen Grade dieses Buch
der Möglichkeiten entrollt werden, wenn die ganze Poesie und
ideale Auffassung des Lebens nicht durch die rauhe Wirklichkeit
gründlich zerstört werden soll. Gerade in diesem Falle verstehen
wir das wunderbare Wort von Goethe, daß wir der Dichtung
Schleier aus der Hand der Wahrheit empfangen. Erst diese
ermöglicht eine wirklich ernste und vertiefte Auffassung der
geschlechtlichen Verhältnisse, erst diese erzeugt das Bewußtsein
der Verantwortlichkeit, das nicht früh genug geweckt
werden kann. Das eigentlich Gefährliche ist, wie auch F r e.u d5)
hervorhebt, die Mischung von „Lüsternheit und Prüderie“, mit
der die Menschheit die sexuellen Probleme zu betrachten pflegt,
eben w-e i 1 sie nicht genügend in den Zusammenhang von Ursache
und Wirkung auf diesem Gebiete eingeweiht ist.
'Für die Methodik der geschlechtlichen Aufklärung hat man
verschiedene Vorschläge gemacht. Ich erwähne hauptsächlich die-
jenigen des österreichischen Be als chul p ro f essors Sigmund, der
Volksschullehrerin Maria Lischnewska und des Univer-
sitätslehrers F. W. Fö rster.
Sigmund (zitiert nach Ullmann a. a. 0. S. 7) schaltet
die Volksschüler, d. h. alle Kinder bis zum 11. Lebensjahre,
prinzipiell von jeder systematischen Aufklärung aus und beginnt
mit ihr erst, im Gymnasium. Sein Aufklärungsschema ist das
folgende: .
5) S. Freud, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosen lehre.
Leipzig u. Wien 1906, S. 216.
1. Die Aufklärung der Schüler des Gymnasiums vollzieht sieh
in fünf Stufen (I., II., V., 'VI., VII. Klasse).
2. Die Aufklärung in den unteren Klassen beschränkt * sich auf
Teilvorgänge der sexuellen Fortpflanzung, und zwar in der I. Klasse:
Entstehung und Geburt der Säugetier jungen, Entstehung der Insekten-
eier; in der II. Klasse: Entstehung und Geburt des Reptilien- und
Vogeleies, Befruchtung der Fisch- und Lurcheneier, die Eier des See-
igels und der Quallen. Der Begattungsakt wird hierbei in
den ersten zwei M i 11 e ls c.hu 1 k 1 a s s e n, d. i. etwa vor
dem 13. Lebensjahre, überhaupt nicht erwähnt.
3. Die Begriffsbildung „sexuelles Leben“ vollzieht sich im bo-
tanischen und zoologischen Unterrichte des Obergymnasiums in syn-
thetischer Form, wobei kein wesentliches Moment -verschwiegen werde,
der Begattungsakt als minder wesentlich unerwähnt bleibe oder in den
Hintergrund trete.
4. Alles den Menschen betreffende Sexuelle und alles Pathologische
bleibe dem hygienischen Unterrichte überlassen, der mit einer wöchent-
lichen Stunde in der Septima auch die gesamte Somato.logie behandle.
5. Der Lehrstoff der Naturgeschichte in der VI. Klasse umfasse
nur die Zoologie; das natürliche System werde in auf steigender .-Reihe
behandelt (mit Ausschluß der Somatologie des Menschen, die logischer-
weise im Anschlüsse an die Zoologie, also erst in der Septima, als
Vorbereitung zur Hygiene vorgetragen werden soll).
6. In Elternkonferenzen mögen die Eltern über die Art der ihren
Kindern zuteil werdenden Aufklärung unterrichtet und zugleich ab-
geleitet werden, im Einklänge mit der Schule auf diesem Gebiete zu
wirken.
Maria Lischnewska will bereits in der dritten Volks-
schulklasse, also beim 8 jährigen Kinde, bei Gelegenheit des hier
beginnenden naturwissenschaftlichen Unterrichts, besonders an.
dem Beispiele der pflanzlichen Befruchtung, sowie der Fort:
pflanzung der Fische und Vögel die erste Aufklärung geben;
Ja, selbst auf die Frage: Wo kommen die kleinen Kinder her?■
soll sch on eine Antwort gegeben werden, etwa so: •
- „Das Kind liegt im Leibe der Mutter; wenn sie atmet, dann atmet
es auch ; wenn sie ißt und trinkt, bekommt' es auch .seine Speise. ES'
liegt da warm und sicher. Allmählich wird es: größer und bewegt
sich. Es muß sich auch ein bißchen krumm legen, weil es da drinnen
so eng ist. Die Mutter aber fühlt, daß es lebt; sie ist voll Freude
und bereitet ihm Hemd, Röckchen und Bett. Endlich ist es ausge-
wachsen. Der Leib der Mutter öffnet sich, und das Kind kommt ans’
Licht. Die Mutter aber nimmt es mit Freuden in. ihren Arm und tränkt
es mit ihrer Milch. — Dann macht der Lehrer eine Pause. „Nun,
möchtet ihr das Kindchen wohl einmal sehen?“ Da gibt’s natürlich
ein vielstimmiges: „Ach ja! ach ja!“ Da stellt der Lehrer ein Bild
hin, wie es die medizinischen Atlanten schon heute in ’größer Schön-'
heit bringen: Die Banclidecke der Mutter zurückgeschlagen, das Kind
schlummernd. Dann sagt er: „So ruhst auch du im Leibe deiner
Mutter. Zu ihr gehörst du, wie zu keinem andern Menschen auf der
Welt. Darum sollst du sie immer lieb haben und ehren.“
Damit ist des Kindes Wissensdrang gestillt. Es ist erlöst von
allem Forschen in Winkeln und Dassen. Ein heiliger Schauer der
Ehrfurcht hat sich über die Quellen des Lebens gelegt.“
Im vierten Schuljahr werden weitere Beispiele für die Fort-
pflanzung der Pflanzen, Fische und Vögel mitgeteilt, im fünften
und sechsten die erste Darstellung des Begattungs Vorganges bei
den Säugetieren, sowie der Embryologie gegeben, auch der Vor-
gang der Geburt geschildert. Dann folgen (also bereits mit 1 •>
oder 14 Jahren) die Aufklärungen über die Entwicklung des ge-
schlechtlichen Lebens und über die Geschlechtskrankheiten, also
über die Hygiene und den Schutz des eigenen Leibes. Auch
Aerzte wie Oker Blom und Dr. Agnes Hacker fordern
mit Entschiedenheit diese letztere Aufklärung noch v o r der ge-
schlechtlichen Reife.
F. W. Förster will mit der gesamten Aufklärung bis zum
12. oder 13. Jahre warten und auf etwaige frühere Zweifel
des Kindes am Storchenmärchen die Antwort geben (a. a. O. S. 600):
„Woher die kleinen Kinder kommen, das ist etwas, das du jetzt
noch nicht verstehst. Selbst wir Erwachsenen verstehen erst den
kleinsten Teil davon. Ich will dir aber versprechen, daß ich es dir
einmal erzähle und erkläre an deinem zwölften Geburtstag — aber nur.
wenn du mir etwas anderes versprichst: Weißt du, es gibt so nase-
weise Buben und Mädchen, die tun so, als wüßten sie alles schon
ganz genau, weil sie irgendwo einmal etwas aufgeschnappt haben, aber
ohne Sinn und Verstand —, versprich mir, daß du niemals hinhörst,
wenn sie davon zu reden beginnen; denn du kannst sicher sein, das
wirkliche Geheimnis wissen sie nicht, denn sonst würden sie nicht
davon reden — wer es wirklich weiß, der hält es heilig nnd still und
trägt es nicht auf der Gasse herum.“
Entschieden spricht sich Förster gegen die Anknüpfung*
der geschlechtlichen Aufklärung an die Fortpflanzungsvorgänge
im Pflanzen- und Tierreiche aus, da. dadurch der „Mensch zu nahe
mit dem vegetativen und animalischen Leben zusammengerückt
werde“ und der „heiligende Gedanke“ der Erhebung des Menschen
über das Tierische dabei zu kurz käme. Er gibt dann sehr schöne
753
Beispiele und Anweisungen für eine solche geschlechtliche Auf-
klärung 12 jähriger Kinder.
Ich hin der Ansicht, daß man, ohne den Unterschied zwischen
Mensch und Tier irgendwie zu verwischen, sehr wohl die erste
Aufklärung, etwa vom 10. Lehensjahre an, im Anschluß an die
im naturkundlichen Unterricht mitgeteilten Tatsachen über die
Fortpflanzung der Tiere und Pflanzen gehen kann und dann ganz
allmählich bis zum 14. Jahre alle wichtigen Punkte auf diesem
Gebiete einschließlich der Geschlechtskrankheiten erörtert. Daß
natürlich auch nach dieser Zeit, besonders in den so gefährlichen
Jahren der Pubertät, die systematische Aufklärung fortgesetzt
werden muß, versteht sich von selbst. Der Mensch kann das
Gute und Nützliche auf diesem Gebiete nie oft genug hören.
Alle Aufklärung aber nützt nichts, wenn nicht eine Er-
ziehung des Charakters und Willens mit ihr Hand
in Hand geht. Unsere Schuljugend denkt und träumt zu viel
und handelt zu wenig. Bisher glaubte man, daß es genüge, die
Kinder lernen und immer wieder lernen zu lassen, ihre Gesund-
heit zu behüten, für gute Nahrung und guten Schlaf zu sorgen,
ohne daß man daran dachte, auch die Individualität ¡und
die in jedem schlummernde Energie zu wecken. Das „Gym-
nasium“ soll der Gymnastik nicht nur des Leibes, sondern
auch der Seele dienen und dadurch die heute ganz verloren ge-
gangene Harmonie zwischen beiden herstellen. Die körperliche
Erziehung durch Spiel und Sport ist nur ein Mittel zu diesem
Zwecke. Die Hauptsache ist die Stählung des Charakters, die
Gewöhnung1 an Selbstbeherrschung und Entsagung durch eine
tiefe innerliche Auffassung der sexuellen Probleme. Nirgends
rächt sich das phantastische Träumen mehr als in geschlecht-
licher Beziehung, weshalb auch die sogenannten „einzigen Kinder“
besonders gefährdet sind,6) nirgends feiern klare Erkenntnis,
objektives Wissen und ein fester Wille schönere Triumphe gegen-
über dem blinden Triebe als hier. Die Hauptregel der sexuellen
Pädagogik heißt: Vermeidung der ersten Gelegenheit und
der ersten Berührung, Femhaltung des Kindes und jugend-
lichen Menschen von allen aufregenden Vergnügungen und Ge-
nüssen der Erwachsenen. Die Erziehung der Mannhaftigkeit, wie
6) Vgl. Engen Neter, Das einzige Kind und seine Erziehung,
München 1906.
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. 48
(41.—60. Tausend.)
li
754
sie neuerdings Mos so,7) Güßfeldt,8) Georg Sticker,9)
und Ludwig Gurlitt10) geschildert haben, hat besonders für
das Sexualleben die größte Bedeutung. Das haben vor allem
Hans Wegener11) und F. W. Förster (a. a. 0.) betont.
Die Moralstatistik hat unwiderleglich erwiesen, daß der kulturelle
und sittliche Fortschritt nicht von Strafen und prophylaktischen
Maßregeln gegen Vergehen und Exzesse der Leidenschaft ab-
hängt, sondern nur von der innerlichen Besserung und Er-
starkung der einzelnen Individuen. Schon Guizot hat erklärt :
„C’est de l’étet intérieur de l’homme que dépend l’état visible
de la société“. Das hat dann Drobisch12) in seiner „Moralischen
Statistik“ genauer begründet. Energie ist das Zauberwort für
alle Lebenswirren der Gegenwart, die geistigen und die leib-
lichen. Uebung, Arbeit, Enthaltsamkeit, Hygiene des eigenen
Körpers sind die Mittel zur Erziehung von Charakteren, die auch
in der sexuellen Pädagogik die Hauptrolle spielen.
7) Angel o Mo sso, Die körperliche Erziehung der Jugend,
Hamburg u. Leipzig 1894.
8) Paul G-üßfeldt, Die Erziehung der deutschen Jugend,
Berlin 1890.
9) G-eorg Sticker, Gesundheit und Erziehung, 2. Auflage,
Gießen 1903.
10) Ludwig G u r 1 i 11, Die Erziehung zur Mannhaftigkeit,
Berlin 1907.
11) Hans Wegener, Wir jungen Männer. Das sexuelle Problem
des gebildeten jungen Mannes vor der Ehe : Reinheit, Kraft und Frauen-
liebe. Düsseldorf u. Leipzig 1906.
12) M. W. Drobisch, Die moralische Statistik und die mensch-
liche Willensfreiheit, Leipzig 1867, S. 95—101. — Wertvolle Arbeiten
über die Charaktererziehung und die soziale Erziehung des Kindes
finden sich im ersten Band (2. Abteilung) des von Adele Schreiber
herausgegebenen monumentalen Werkes „Das Buch vom Kinde“ (Leipzig
und Berlin 1907) aus der Feder von Laura Frost (S. 42—53),
F. A. Schmidt (S. 168—179), Lüngen (S. 192—201), Gr. Ker-
schensteiner (S. 202—207), R. f enzig (S. 215—222) und
Adele Schreiber (S. 223—231). — Wichtig für die sexuelle Er-
ziehung ist auch die heute wieder aktuelle Frage der gemeinsamen
Erziehung beider Geschlechter, der sog. „Koedukation“. Daß
diese gerade in sexueller Beziehung gute Wirkungen hat, ist durch
die Erfahrung erwiesen. Vgl. G-ertrud Bäumer, Koedukation,
ebendaselbst, Bd. II, S. 44—48.
SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Neomalthusianismus, sexueller Präventiv verkehr,
künstliche Sterilität und künstlicher Abort.
Man hat früher solche Vorschläge als unsittlich und strafbar
angesehen und sie strafrechtlich verfolgt, sie als Eingriff in die gött-
liche Schicksalslenkung verurteilt. Das geht zu weit. Menschliche
Voraussicht und planmäßiges Handeln, muß, wie überall, so auch hier
erlaubt sein.
Gustav Schmoller.
48*
756
Inhalt des siebenundzwanzigsten Kapitels.
Bedeutung des Bevölkerungsproblems. — Malthus und seine
Lehre. — Irrtum derselben. — Temporäre Gültigkeit. — Das „moral
restraint“. — Der Neomaltkusianismus. — Die Gründung der „Mal-
thusian League“. — Hohes Alter malthusianischer Praktiken, — Die
Disharmonie des Familieninstinkts. — Die Mica-Operation der Australier.
— Der künstliche Abort bei Naturvölkern. — Sexueller Präventiv-
verkehr im Altertum. — Im 16. und 17. Jahrhundert. — Relative
Berechtigung von Präventivmitteln. — Anschauungen neuerer Aerzte
darüber. — Uebersicht der gebräuchlichsten Methoden des sexuellen
Präventivverkehrs. — Beschränkung des Koitus auf bestimmte Zeiten.
— Vorschlag von Soranos und Capellmann. — Feskstitows
„Konzeptionskurve“. — Einfluß bestimmter Jahreszeiten. — Verlän-
gerung der Laktationsperiode. — Buttenstedts „Glücksehe“ und
Funckes „Neue Offenbarung“. — Kritik dieser Phantasien. — Ab-
weichungen von der normalen Art des Koitus. — Passives Verhalten
des Weibes. — Der „Coitus interruptus“. — Uebertreibung seiner schäd-
lichen Wirkung. — Coitus interruptus und Angstneurose. — Geringe
Nebenwirkung bei gesunden Individuen. — Mehrfache Unterbrechungen
des Beischlafes. — Mechanische Mittel zur Verhütung der Empfängnis.
— Kompression. — Muskelaktionen. — Mensingas „Okklusivpessar“..
— Ilollwegs „Obturator“. — Der Kondom, — Chemisch-
physikalische Präventivmittel. — Ausspülungen. — „Lady’s
Friend“. — Antiseptische Pulver und Sicherheitsschwämmchen.
— Kombinationen chemischer und mechanischer Mittel. — Der
„Venus-Apparat“. — Das Duplex-Okklusivpessarium. — Entzündliche
Affektionen nach Anwendung chemischer Präventivmittel. — Der Herpes
genitalis. — Die künstliche Sterilität. — Operative Methoden zur
Herbeiführung derselben. — Vaporisation und Kastration — Die
„Ovariées“. — Große Verbreitung des künstlichen Abortes. — Kritische
Bemerkungen über die Bestrafung desselben in Deutschland. — Das
Recht des ungeborenen Kindes. — Notzucht und Abort. — Die Mittel
und Methoden der Fruchtabtreibung. — Innere Mittel. — Mechanische
Methoden. — Gefährlichkeit und Folgen beider. — Soziale Mittel zur
Einschränkung des Aborts.
757
Das sogenannte „Bevölkerungsproblem“ ist heute,
wo zu den schon früher dafür maßgebenden wirtschaft-
lichen Ursachen noch Erwägungen und Bestrebungen der indi-
viduellen und der sozialen Hygiene sich gesellt haben, viel
mehr ins Bewußtsein der Kulturmenschheit getreten als früher,
es ist aus dem Stadium der Theorie in dasjenige der Praxis ge-
kommen. Das erkennen selbst ernsthafte kritische National-
ökonomen, wie z. B. G. Schmoller1) an. Die wachsende Ein-
sicht in die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die Er-
kenntnis des Zusammenhanges der wirtschaftlichen Verhältnisse
mit der Zahl und Qualität der Bevölkerung mußte ganz: von
selbst zur Diskussion der Frage führen, ob die Regelung der
Kinderzahl nicht eine der Hauptaufgaben der modernen Kultur
sei. Der Engländer Robert Malthus war der erste, der,
angeregt durch eine Idee Benjamin Franklins, 1798 in
seinem „Essay on Population“ diese ernste und furchtbare Frage der
natürlichen Folgen des ungehemmten geschlechtlichen Verkehrs
aufgeworfen und in höchst pessimistischem Sinne beantwortet hat.
Während sich nämlich nach ihm die Menschen in geometrischer
Progression vermehren, im Verhältnisse von 1, 2, 4, 8, 16 usw.„
vermehren sich die Nahrungsmittel nur in arithmetrischer Pro-
gression, im Verhältnisse von 1, 2, 3, 4, 5 usw. Hieraus ergibt
sich, daß die Bevölkerungszahl nur durch dezimierende Einflüsse,
wie Laster, Elend, Krankheit, den ganzen „Kampf ums Dasein“,
durch Präventivmaßnahmen und die sogenannte moralische Ent-
haltsamkeit in und vor der Ehe, der Ernährungsmöglichkeit
proportional bleiben kann. Obgleich diese berühmte, alles, was
in Europa nicht nur lebte, sondern auch Leben schaffen wollte,
mit Schrecken erfüllende Theorie im allgemeinen heute als falsch
0 Vgl. dessen klassische Abhandlung „Die Bevölkerung, ihre
natürliche Gliederung und Bewegung“ in: Grundriß der allgemeinen
Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1901, Bd. I, S. 158—187.
ih
758
erkannt worden ist,2) da sie die technischen Fortschritte in der
Bodenbearbeitung und der Vermehrung der Nahrungsmittel gar
nicht berücksichtigt, ebenso die Möglichkeit, einer besseren Ver-
teilung der Güter beiseite läßt, so ist sie doch vielfach für gewisse-
soziale Verhältnisse der neueren Zeit zutreffend, sie hat temporäre
Gültigkeit für gewisse Kulturperioden, wie z. B. die gegenwärtige.
Malthus empfahl als Hauptmittel zur Verhütung' der lieber-
Völkerung die Enthaltung vom Geschlechtsverkehr (moral
restraint) vor der Ehe und verspätetes Eingehen dieser
letzteren, war also schon ein Apostel der im 25. Kapitel ge-
würdigten „relativen Askese“.
Diese Anschauung fand in England frühzeitig Anhänger
unter den Nationalökonomen und Soziologen, wie Chalmers,
Ricardo, J. St. Mill, Say, Thornton u. a- Sie wurde
auch in weiteren Volkskreisen lebhaft diskutiert, so daß bereits
um 1825 die „Disciples of Malthus“ eine typische Erscheinung
des englischen Lebens waren.
Eine weitere Entwicklung des Malthusianismus nach der
praktischen Seite hin stellt der sogenannte „Neomalthusia-
nismus1' dar, d. h. die Lehre von den Mitteln zur Verhütung
der Empfängnis und zur Einschränkung der Kinderzahl, die von
Francis Place 1822 zuerst vor der Oeffentlichkeit erörtert
wurde, aber erst durch die am 17. Juli 1877 erfolgte Gründung
der „Malthusian League“ weitere Verbreitung fand, besonders
auch in Holland und Frankreich. Die hauptsächlichsten Vor-
kämpfer des Neu-Malthusianismus in England sind John
Stuart Mill, Charles Drysdale, Bradlaugdi und.
Mrs. Be a s an t.
Die ma 11Imsianische Praxis ist jedoch viel älter als die Theorie.
Me ts chn i ko f f3) erklärt das Bestreben, die Kinderzahl zu
verringern, für eine weit verbreitete „Disharmonie des Familien-
instinkts“, der an sich viel jünger und in der Tierreihe weniger
verbreitet sei als der Geschlechtsinstinkt. Tiere kennen allerdings
keine Verhinderung der Empfängnis. Das ist das Privilegium
2) Vgl. Franz Oppenheimer, Das Bevölkerungsgesetz des
T. R. Malthus und der neueren Nationalökonomen. Darstellung und
Kritik, Bern 1900. Ferner die interessante Darstellung und Kritik
der Malthus sehen Lehre bei Henry George, Fortschritt und
Armut. Deutsch von David Haek, Reklamausgabe, S. 106—168.
s) Elias Metschnikoff, Studien über die Natur des Men-
schen, S. 132—138.
759
der menschlichen Gattung. Bei primitiven Völkern schon bedient
man sich vielfach solcher Präventivmittel, unter denen das be-
kannteste die „Mica“- Operation der Australier ist, die Auf-
schlitzung der ganzen Harnröhre an ihrer unteren Seite, so daß
der Samen weiter hinten am Hodensack herausfließt und außerhalb
der Scheide entleert wird.4) Ueber die weite Verbreitung des
künstlichen Abortes unter Naturvölkern macht Ploß-Bartels
nähere Mitteilungen. Es handelt sich also durchaus nicht um
eine mit dem Eudämonismus und der Genußsucht der „Kultur-
völker“ zusammenhängende Erscheinung, wie neuere Autoren an-
nehmen, sondern in der Tat um eine weit verbreitete Disharmonie
des Eamilieninstinkts,5) der unter bestimmten Verhältnissen
eine gewisse Berechtigung zukommt. Die Periode der unbedingten
Verwerfung des Neomalthusianismus durch Frömmler und ab-
solute Moralisten ist endgültig vorüber. Nicht bloß Aerzte,
sondern auch Nationalökonomen von Ruf erkennen die relative
Berechtigung und Zulässigkeit von Präventivmitteln zur Ein-
schränkung der Kinderzeugung unter gewissen Voraussetzungen
an. Mit Recht hat man geltend gemacht,6) daß eigentlich in
jede r Ehe ein Zeitpunkt eintritt, wo Präventivmaßregeln im
sexuellen Verkehr ergriffen werden und notwendig sind, weil
sowohl die Rücksicht auf den Gesundheitszustand der Frau als
auch die ökonomischen Verhältnisse das gebieterisch verlangen.
*) Näheres über diese interessante „nationalökonomische“ Operation
bei M|ax Bartels, Die Medizin der Naturvölker, Leipzig 1893,
S. 297—298.
5) Auch das Altertum kannte Präventivverkehr und Abort. Be-
rühmt ist jene Stelle des Geschichtsschreibers Polybius (XXXYII
9, 5), wo es heißt: „Zu meiner Zeit litt ganz Griechenland an Kinder-
losigkeit, überhaupt an Menschenmangel; denn die Menschen
hatten sich dem Wohlleben, der Geldgier und der Bequemlichkeit zu-
gewandt, sie wolltennichtmehrheiraten, oder nur wenig
Kinder aufziehe n. Nicht das feindliche Schwert hat die antiken
Staaten entvölkert, sondern der Mangel an Nachwuchs.“ — Auch in
Spanien herrschte im 16. und 17. Jahrhundert infolge der in der neuen
Welt erworbenen Reichtümer eine kolossale Ehe- und Kinderscheu,
so daß die Bevölkerung auf neun Millionen reduziert und die Heran-
ziehung von vier Kindern mit dem Adel belohnt wurde. — Vgl. J.
Unold, Aufgaben und Ziele des Menschenlebens, Leipzig 1904, S. 110.
6) Vgl. z. B. H. Kisch, Künstliche Sterilität in: Eulenburgs
Real-Enzyklopädie, 3. Auflage, 1900, Bd. XXIII, S. 372.
Dies© Verhältnisse hat A. He gar7) sehr verständig erörtert und
sowohl die Berechtigung des praktischen Neomalthusianismus für
jede gewöhnliche Ehe wie für die ganze Bevölkerung nachge-
wiesen. Durch eine „Regulierung der Fortpflanzung“ soll der
übermäßigen Vermehrung der Bevölkerung vorgebeugt, durch
Verringerung der Quantität die Qualität der Erzeugten verbessert
werden. Späte Heirat, lange Pausen zwischen den einzelnen
Niederkünften, möglichste geschlechtliche Enthaltsamkeit dienen
diesem Zwecke.
Wie Hegar erkennt auch der Münchener Hygieniker Max
Grub er8) die Notwendigkeit an, der Erzeugung von Kindern
Schranken zu setzen, da die Vermehrungsfähigkeit des Menschen
viel größer sei als seine Fähigkeit, die Unterhaltsmittel zu ver-
mehren. Er schildert sehr anschaulich das physische und moralische
Elend der Eltern und der Kinder bei zu großer Zahl der letzteren,
weist auch darauf hin, daß vom vierten Kinde einer Mutter an
die angeborene Kraft und Gesundheit der Kinder mehr und mehr
abnimmt. Natürlich gebieten auch Krankheiten der Eltern und
die drohende Gefahr der Vererbung den sexuellen Präventiv-
verkehr bezw. das moral restraint. Jedenfalls stellt Gruber
den durchaus neomalthusianischen Satz auf: „Die Kindererzeugung
muß in Schranken gehalten werden, wenn sich der Mensch vorn
dem grausamen Zustande befreien will, der in der unvernünftigen
Natur das Gleichgewicht erhält: Massen tod neben Massen-
zeugung'!“
Ebenso erblickt L. Löwenfeld9) in der Empfehlung des
Präventivverkehrs „nichts Unschickliches oder Unsittliches“ und
ein „Mittel, das zur Verringerung des Notstandes der unteren
Klassen und der hohen Kindersterblichkeit entschieden beitragen
kann, wenn auch keineswegs das Allheilmittel für alle sozialen
Gebrechen unserer Zeit“, und spricht unter scharfer Polemik gegen
die Verurteilung des Präventiv Verkehrs durch einen „wider-
wärtigen ärztlichen Zelotismus“ diesem Verkehr eine „immense
hygienische Bedeutung“ zu. Auch viele andere Aerzte, wie
7) A. Hegar, Der Geschlechtstrieb, Stuttgart 1894, S. 58—59;
S. 104—105.
8) M. Gruber, Hygiene des Geschlechtslebens, Stuttgart 1905,
S. 60—62.
9) L. Löwenfeld, Sexualleben und Nervenleiden, S. 154—156.
761
Mcnsinga,10 11) der Erfinder des Okklusivpessars, der zuerst
in Deutschland mit Energie für die Berechtigung des sexuellen
Präventiv Verkehrs eingetreten ist und die Indikationen desselben
genauer festgestellt, besonders auch auf die nachteiligen Folgen
der großen Kinderzahl für die Gesundheit der Frau hingewiesen
hat, F ür brin g er ,n) Spener12) u. a. haben auf die eminente
hygienische und soziale Bedeutung des sexuellen Präventiv-
verkehrs hingewiesen, während dagegen in Frankreich, wohl mit
Bücksicht auf den erschreckenden Rückgang der Bevölkerungs-
sahl die wissenschaftliche Medizin einen mehr feindseligen Stand-
punkt einnimmt, freilich nicht mehr ganz so kraß, wie das in
dem veralteten, aber interessante Details enthaltenden Werke
Bergerets13) zum Ausdrucke kommt. Auch ein Laie, Hans
Ferdy (A. Meyerho f)14) hat verschiedene interessante Schriften
über den praktischen Neomalthusianismus veröffentlicht.
Wir geben nunmehr eine kurze Uebersicht über die gebräuch-
lichsten Methoden und Mittel des sexuellen Präventivverkehrs :
1. Beschränkung des Koitus auf bestimmte
Zeiten. — Es ist klar, daß durch eine relative Askese und
durch eine Einschränkung der Zahl der einzelnen Kohabitationen
auch die Möglichkeiten der Befruchtung bedeutend eingeschränkt
werden. So empfahl Ca pellmann, übrigens nach dem Vor-
gänge des antiken Gynäkologetn Soranos, in einer 1883 ver-
öffentlichten Schrift „Fakultative Sterilität ohne Verletzung der
Sittengesetze“ Enthaltung vom Beischlafe 14 Tage nach und
10) C. Hasse (Mensinga), Ueber fakultative Sterilität, Berlin-
Neuwied 1885, 4. Auflage; derselbe, Wie sichert man am besten
das Leben der Ehefrauen? ebend. 1890; derselbe, Zur Prognose
des eheweiblichen Lebens, ebend. 1892; derselbe, Vom Sichinacht-
nehmen, Neuwied 1905.
11) P. Fürbringer, Sexuelle Hygiene in der Ehe. In : Sena-
tor-Kaminer, Krankheiten und Ehe, München 1904, Teil I,
S. 162—167.
12) Spener, Artikel „Künstliche Sterilität“ in: Eulenburgs
Enzyklopädischen Jahrbüchern der gesamten Heilkunde, N. F., Bd. I,
Berlin und Wien 1903, S. 456—459.
13) L. Bergeret, Des fraudes dans läccomplissement des fonc-
tions génératrices, 14. Auflage, Paris 1893. — Vgl. ferner Toulouse,
Les conflits intersexuels, Paris 1904, S. 41—58.
U) H. F e r d y, Die Mittel zur Verhütung der Konzeption, 8. Auf-
lage, Leipzig 1907, 2 Teile ; derselbe, Sittliche Selbstbeschränkung.
Behagliche Zeitbetrachtung eines Malthusianers, Hildesheim 1904.
7G2
3—4 Tage vor Beginn der Menstruation, in dem Glauben, daß
die Befruchtung wesentlich an die Tage vor und nach der
Menstruation geknüpft sei. Es ist allerdings nach den Ver-
suchen des Physiologen Victor Hensen richtig, daß die
größte Zahl der Befruchtungen in den ersten Tagen nach
Ablauf der Menstruation erfolgt, aber die Konzeption kann
auch an jedem anderen Tage erfolgen, wenn auch die Wahr-
schein lichkeitszahlen immer geringere werden. Feskstitow
hat eine auf statistischen Grundlagen beruhende interessante
„Konzeptionskurve“ entworfen, nach welcher sich die Häufigkeit
der Befruchtung am 0., 1., 9., 11. und 23. Tage nach beendeter
Menstruation wie 48: 62:13: 9 :1 verhält; zwischen diesen Punkten
ist der Verlauf der Kurve ungefähr geradlinig. Selbst am 23. Tage
nach der Menstruation besteht also noch 1/62 der maximalen
Wahrscheinlichkeit der Konzeption. Immerhin ist die Befruch-
tungsmöglichkeit dann weit geringer als kurz nach der
Menstruation, jedoch nicht absolut ausgeschlossen.
Ferner hat man empfohlen, in gewissen Jahreszeiten,
denen man einen besonderen Einfluß auf die Fruchtbarkeit zu-
schrieb, — das sind hauptsächlich die Monate Mai und Juni —
sich des Beischlafes zu enthalten. Das ist natürlich ganz
unsicher, da dieselbe Mutter in allen Monaten des Jahres
konzipieren kann, wie die ganz verschieden fallenden Geburts-
tage der Kinder beweisen.
Etwas zuverlässiger, aber ebenfalls nicht absolut sicher ist
das Verfahren, nach der Geburt eines Kindes künstlich die
Laktations - oder Säugungsperiode der Mutter zu ver-
längern, da es bekannt ist, daß während der Stillungszeit
oft die Periode ausbleibt und nur selten eine Befruchtung er-
folgt. Auf diese Wahrnehmung, die, wie gesagt, keine absolute
Gültigkeit besitzt, ist neuerdings eine sehr merkwürdige Methode
des praktischen Malthusianismus gegründet worden, die als „neue
Offenbarung“ und als Verwirklichung der „Glücksehe“ der
staunenden Mitwelt von den beiden Entdeckern Karl Butten-
ste d t15) und Richard E. Funcke16) angekündigt wurde.
15) Karl Buttenstedt, Die Glücksehe (die Offenbarung im
Weibe). Eine Naturstudie. Dritte verbesserte Auflage. Friedrichs-
hagen o. J. (ea. 1904).
16) Richard E. Funcke, Eine neue Offenbarung der Natur.
Ein Geheimnis des sexuellen Lebens. Keine Prostitution mehr! Han-
nover 1906.
Diese seltsamen Apostel haben die erwähnte Wahrnehmung’ von
der relativen Unfruchtbarkeit des säugenden Weibes mit einer
anderen Beobachtung kombiniert, nämlich der, daß bisweilen auch,
von den Brustdrüsen nicht schwangerer oder sogar noch gänz-
lich jungfräulicher Weiber Milch sezerniert wird, besonders zur
Zeit der Menstruation. Es war dies ja schon älteren Gynäkologen
wie z. B. Dietrich Wilhelm Buseh17) bekannt. Butten-
s t e d t, dem wohl die „Priorität“ der neuen Glückseligkeitslehre
zukommt, kam als Verfechter der allerdings sehr eudämonistischen
Theorie von der Möglichkeit eines ewigen Lebens der Menschheit
und dem Aufhören des Todes (!) auf den Gedanken, die Laktation
bei allen Weibern künstlich hervorzurufen und zwar durch
Saugen der Männer an den Brüsten!! Hierdurch soll künstliche
Sterilität und Ausbleiben der Periode hervorgerufen werden.
Natürlich ist die Frauenmilch auch ein Lebenselixier für alte
Menschen, eine wahre Panaoee zur Verlängerung des Lebens ad
infinitum, die „Glücks-Ehe“ selbst ein Heilmittel für alle möglichen
Leiden der degenerierten Menschheit. Und in diese Jubelhymne
stimmt auch Funcke ein, der die Frauenmilch als die „beste*
natürlichste und köstlichste Arznei“ preist und für Mädchen und
Frauen auf S. 70 seines Buches den „neuen kategorischen Impe-
rativ“ (sic) prägt:
„Du sollst deine Lebenskraft nicht ungenützt lassen — du sollst
nicht menstruieren, wenn dn nicht den festen Willen und den Wunsch
hast, schwanger zu werden — du sollst deine Lebenskraft in der Form
der Milch aus deinen Brüsten fließen lassen zum Wohle und Genuss©
anderer Menschen.
Buttenstedt, der eine gewisse historische Belesenheit
besitzt, will sogar auch die Brüste der — Männer milchergiebig
machen (S. 24), so daß die Geschlechter ihr „Blut durch die
Brüste“ austauschen können, einander immer ähnlicher und zuletzt
— Urninge werden!
17) D. W. H. Busch, Das Geschlechtsleben des Weihes in physio-
logischer, pathologischer und therapeutischer Hinsicht, Leipzig 1840,
Bd. II, S. 94: „Das allmähliche Anschwellen der Brüste und das
Vorhandensein der Milch in denselben erregt zwar in hohem Grade
den Verdacht der Schwangerschaft, gibt aber keinen sicheren Beweis
ab. Diese Organe schwellen oft in pathologischen Zuständen sehr
bedeutend an, und man hat selbst bei Jungfrauen, unbeschwängerten
Weibern, Witwen, alten Frauen und selbst bei Männern Milch in den
Brüsten gefunden.“
764
Dieses schöne Sänge- oder besser Säugetieridyll hält der
wissenschaftlichen Kritik nicht stand. Erstens ist der Erfolg der
angeratenen Manipulation sehr zweifelhaft und dürfte nur
in wenigen Fällen ein Resultat ergehen, zweitens wäre eine solche
künstliche Laktation, längere Zeit fortgesetzt, für die betreffenden
Frauen sehr schädlich, wie ja auch die über Gebühr ver-
längerte Laktationsperiode nach der Geburt nachteilig ist, und
drittens last not least dürfte die angebliche antikonzeptionelle»
Wirkung wohl in den meisten Fällen aus bleiben. Jedenfalls
ist gar kein Grund vorhanden, weshalb eine Schwängerung nicht
eintreten sollte, da der Zustand der Genitalorgane ganz gewiß
diese gestattet und jedenfalls von denjenigen der Frauen, die
geboren haben, sich wesentlich unterscheidet.
2. Abweichungen von der normalen Art des
K o i tu s. Man hat durch verschiedene Modifikationen des Ge-
schlechtsaktes die Befruchtung zu verhindern gesucht. So empfahl
man, gestützt auf den alten Glauben, daß aktive Beteiligung am
Akte sowie Libido Und Orgasmus Vorbedingungen der Empfängnis
seien, ein mehr passives Verhalten des Weibes in coitu, eine Ab-
lenkung der Seele und der Sinne vom Geschlechtsakte, nach Art
des „Cong-Fou“ der Chinesen, die diesen Trick häufig während des
Beischlafes anwenden. Diese Meinung ist trügerisch, da auch
bei Fehlen jeder Aktivität und jedes Orgasmus, überhaupt unter
den verschiedensten Umständen Konzeption eintreten kann.18) Es
handelt sich also um eine ganz unsichere Methode.
Zuverlässig dagegen und daher außerordentlicli weit ver-
bleitet ist der sogenannte „Coitus interruptus“, der unter-
brochene Beischlaf, wobei das männliche Glied kurz vor der
Ejakulation des Samens aus der weiblichen Scheide entfernt wird,
{sog. „Zurückziehen“, „Sichinachtnehmen“, sexueller Zwangs-
verkehr, „Fraudieren“, Congressus reservatus, Onanismus con-
jugalis). Die Ansichten über die Schädlichkeit dieser die Schwänge-
rung mit Sicherheit verhütenden Präventivmethode haben sich in
letzter Zeit gegen früher bedeutend geändert, insofern man die
Nachteile heute geringer einschätzt als früher. Am meisten hat
Dr. med. AlfredDammin seinem Werke „Neura“ die schädliche
1S) Das hat Measinga in einer lesenswerten kleinen Studie
„Ein Beitrag zum Mechanismus der Konzeption“, Berlin-Neuwied 1891,
näher ausgeführt.
76h
Wirkung des Coitus interruptus übertrieben, da er die ganze
Degeneration einer Busse auf ihn zurückführte. Diese extremen,,
durch keinerlei Tatsachen unterstützten Anschauungen des Ent-
artungsfanatikers Damm fanden eine kürzere Darstellung in
dem Büchlein von E. Peters „Geschlechtsleben und Nervenkraft
(Köln 1906).19) Es ist nicht zu bestreiten und auch von anderen
Aerzten, wie Gaillard Thomas, Goodell, V alenta,
Bergeret, Mantegazza, Payer, Mensinga, Beard,
Hirt, Eulenburg, Freud, v. T s e h i c h, G a 11 e 1 u. a.
hervorgehoben worden, daß die „vergebliche“ Aufregung beim
Coitus interruptus, das Ausbleiben der natürlichen Lösung der
Sexualspannung, die willkürliche Hinausschiebung der Ejakulation,
die Willensanstrengung während des Aktes eine vorübergehende
schädliche Einwirkung auf das Nervensystem haben, die aber nach
neueren Forschungen nur bei vorher bereits neuropathischen
Individuen dauernde Leiden in Form der „Angstneurose“, die,
wie F r e u d20) nachgewiesen hat, in einem ursächlichen Zusammen-
hänge mit dem Coitus interruptus steht, oder anderer neurasthe-
nisch-hysterischer Beschwerden, eventuell auch lokaler Beiz-
zustände hervorruft. Für die schädliche Wirkung frustaner
sexueller Erregungen spricht auch die Häufigkeit nervöser Be-
schwerden in der Verlobungszeit, die ein witziger Kollege mir
gegenüber als einen einzigen Coitus interruptus bezeichnete. Daß
aber bei gesunden Individuen selbst durch länger fortgesetzte Aus-
übung des unterbrochenen Beischlafes ernstere und dauernde
Schädigungen der Gesundheit erfolgen, ist nach den Erfahrungen
von Fürbringer, Oppenheim, v. Krafft-Ebing, Eoh-
leder, Spener und vor allem L. Löwenfeld, der darüber
besonders genaue Forschungen anstellte, nicht erwiesen und
mindestens selten. Das gleiche gilt von den angeblich, durch
Coitus interruptus verursachten Frauenleiden.
Eine andere, nach Barrucco besonders in Italien verbreitete
Methode des sexuellen Präventivverkehrs ist die Verlängerung
des geschlechtlichen Genusses durch mehrfache Unter-
brechungen des Aktes unter neuen Erektionen. Das ist natürlich
19) Zur Propagierung der Damm sehen Ideen wurde der
„Deutsche Bund für Regeneration“ gegründet, dessen 1. Vorsitzender
obengenannter Peters, dessen Organ die Zeitschrift „Volkskraft“ ist.
20) S. Freud, Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehm«
1906, S. 70—71.
766
äußerst schädlich. Fürbringer berichtet allerdings über frigide
Männer, die den ehelichen Beischlaf ohne jede Rückwirkung auf
ihren Gesundheitszustand ungebührlich lange ausdehnten. Einer
dieser Herren hatte während des Aktes noch Zeit zum Rauchen
und Lesen gefunden!
3. Mechanische Mittel zur Verhütung der Emp-
fängnis. Nach Kisch ist in Siebenbürgen und Frankreich
ein Verfahren üblich, bei dem während des Aktes die Frau bei
Beginn der männlichen Ejakulation durch energischen Finger-
druck den vor der Prostata gelegenen Teil des erigierten Gliedes
komprimiert und die Ejakulation verhindert, so daß der Samen
nach der Blase zu regurgitiert und später mit dem Urin entleert
wird. Ohne Zweifel eine sehr gesundheitsschädliche Manipulation.
In Italien und Neu-Guinea entfernen manche Weiber das
Sperma nach vollendetem Koitus durch Muskelaktionen, heftige
Bewegungen des Mittelkörpers, aus der Scheide.
Eine ohne Zweifel sehr geistvoll erdachte mechanische Vor-
richtung zur Verhinderung der Konzeption stellt das sogenannte
„0 kklusivpessar“ von Dr. Mensinga vor, eine von einem
Stahlringe umfaßte Halbkugel aus Gummi, die vor dem Koitus
eingeführt wird bezw. längere Zeit liegen bleibt und die Mutter-
mundöffnung verschließt. Wenn es gut sitzt, verhütet es in der
Tat ziemlich sicher die Befruchtung. Aber gegen seine allgemeinere
Anwendung sprechen doch verschiedene Umstände: 1. die Un-
bequemlichkeit der Einführung, die die meisten Frauen nicht
erlernen, 2. das Verschieben des Pessars während des Aktes, 3. das
Auftreten von Reizzuständen aller Art (Ausfluß, Adnexerkran-
kungen usw.) nach längerem Liegen des Pessars. Neuerdings aus
Mosetig-Battist hergestellte Pessare sollen keine solchen Reiz-
wirkungen haben. Uebrigens haben Mensinga selbst und E ar-
tet noch andere Verbesserungen am Okklusivpessar angebracht.
Leichter einzulegen ist Galls „Ballonokklusivpessar“, bei dem
Luft mittels eines Gebläses in einen eine weiche elastische Gummi-
scheibe umgebenden dünnwandigen Gummikranz eingeblasen wird.
Zu warnen ist vor dem gefährlichen Holl wegschen „Obtu-
rator“. — Das mechanische Idealmittel für den sexuellen Präventiv-
verkehr ist auch hier wieder der Kondom, über dessen An-
wendung und Qualitäten ja schon früher (s. oben S. 424—425) das
Wesentliche gesagt wurde. Einfach in der Anwendung, ist er bei
guter Beschaffenheit sicher in der Wirkung und das relativ un-
767
schädlichste aller Präventivmittel, bei dem auch der normale
Ablauf des Koitus, abgesehen von der Empfindung bei der Eja-
kulation, gewährleistet wird. Als schädlich zu verwerfen ist der
Gebrauch der sog. „Heizkondoms“, die einen Hing von Stacheln
oder Spitzen haben, zur Verstärkung der Libido bei der Frau.
4. Che misch -physikalische Präventivmittel.
Hierzu gehören vor allem Ausspülungen der Scheide sofort
nach dem Akte, zu welchem Zwecke kaltes Wasser, Lösungen von
Alaun (lo/o), Cuprum sulfuricum (Va—1 °/o), Chininum sulfuricum
(1 : 400) usw. benutzt werden. Die Ausspülungen müssen in
liegender Stellung der Frau gemacht und das Mutterrohr tief
in die Scheide eingeführt werden. Die Methode ist aber sehr
unza verlässi g.21)
Dasselbe gilt von der Vernichtung der Spermatozoen durch
Einblasen von chemisch wirkenden Pulvern oder Einlegen von
antiseptischen „Sicherheitsschwämmchen“, die Hoh-
le der nicht mit Unrecht „Unsicherheits-Schwämmchen“ genannt
hat, sowie von ihren Kombinationen mit mechanischen Vor-
richtungen.
Die Zahl der zu dieser Kategorie gehörigen Mittel ist Legion.
Ich erwähne nur die Borsäure oder Chinin oder Zitronensäure ent-
haltenden „Sicherheitsovale“, die „Yaginalzäpfchen“, „Salus Ovula“,
Kamps antikonzeptionelle Wattetampons, Hüters Scheidenpulver-
b'läser „For the Malthusian“, Noffkes „Tamponspekulum“, „Sperma-
thanaton“,22) W e i ß 1 s Präservativ (Kombination von Spekulum, Gummi-
platte mit Stahlfeder und imprägniertem Wattetampon), der „Yenus-
apparat“ (Doppelballon, dessen kleinerer mit „Yenuspulver“ (sic) ge-
füllter Ballon in die Scheide eingeführt wird, während die Frau selbst
im Moment der Ejakulation auf den neben ihrem Schenkel liegenden
großen Ball drückt, wodurch das Pulver aus dem kleinen Ballon in,'die
Scheide entleert wird), das „Duplex-Okklusivpessarium“ (mit Doppel-
wänden und runden Oeffnungen und einer das Sperma abtötenden
Borsäuretablette im Innern).
21) Am bequemsten und vollkommensten wird die Scheidenaus-
spülung durch die amerikanische Irrigatorspritze „Lady’s F r ie nd“
bewirkt. — Sehr eingehend schildert die Technik der Scheidenaus-
spülungen L. Yolkmann, Die Lösung der sozialen Frage durch
die Frau, Berlin und Leipzig 1891, S. 29—31.
22) R. Braun berichtet neuerdings („Ueber einige mit den
Spermathanaton - Pastillen gemachten Erfahrungen“, Medizin. Woche
1906, No. 13) über Erfolge mit diesem Mittel. Doch dürfte es im
allgemeinen, wie alle übrigen chemischen Mittel, nicht absolut sicher
die Empfängnis verhüten.
768
Es mag sein, daß ab und zu durch eines der genannten Mittel
eine Befruchtung verhütet wird. Aber im großen und ganzen sind
sie sehr unsicher. Ob die in diesen Mitteln eingeführten chemischen
Substanzen immer harmlos sind, ist zweifelhaft. Vielleicht lassen
sich manche eigentümlichen entzündlichen Veränderungen der
Genitalien bei Mann und Frau darauf zurückführen. So berichtet
Blumreich23) von einem Manne, der nach einem Koitus unter
Anwendung einer Vaginalkugel einen äußerst hartnäckigen ent-
zündlichen Ausschlag am Gliede bekam.
Ich erwähne bei dieser Gelegenheit, daß der sogenannte „Herpes-
genitalis oder sexual i s“, ein eigentümlicher, bläschenförmiger
Ausschlag an den Geschlechtsteilen, besonders den männlichen, der
viele Patienten in Schrecken versetzt, weil sie ihn für syphilitisch
halten, in der großen Mehrzahl der Fälle, durch sehr verschieden-
artige Irritamente hervorgerufen wird und als eine harmlose Affektion.,
anzusehen ist.24)
Außer den genannten Methoden des sexuellen Präventiv-
Verkehrs kommen noch zwei Radikalmittel des praktischen Mal-
thusianismus in Betracht, die in die rein ärztliche Domäne
fallen und nur dann herangezogen werden sollten, wo es sich
um Leben und Tod handelt, wo eine Empfängnis bezw. Geburt
für die Frau sicheren Tod oder schweres Siechtum bedeutet. Diese
beiden Mittel sind die operative Herbeiführung einer künst-
lichen Sterilität Und der künstliche Abort.
Künstliche Unfruchtbarkeit wird durch verschiedene opera-
tive Verfahren erreicht, so durch absich tlich herbeige führte Lage-
veränderungen der Gebärmutter, wie sie bei den Eingeborenen
des malaiischen Archipels üblich sind, durch die von Kehrer
empfohlene Durchschneidung der Muttertrompeten,
durch die sogenannte „Castratio uterina“ mittelst der V apori-
s a t i o n , der Anwendung heißen Dampfes (P i n c u s), wodurch
die Menstruation aufgehoben wird und die Uterushöhle obliteriert,
und endlich durch die eigentliche Kastration, die Exstir-
pation der Eierstöcke (Ovariotomie), die sogar von alters
her bei ganz rohen Naturvölkern ausgeführt worden ist, um die*
23) L. Blumreich', Frauenkrankheiten, Empfängnis-Unfähigkeit
und Ehe in: Senator-Kaminer „Krankheiten und Ehe“, 1904,
Teil III, S. 535. ,
24) Vgl. über den Herpes genitalis Iwan Bloch, Der Ursprung
der Syphilis, Teil II, S. 385—388.
769
Fortpflanzung zu verhindern.25) In dem theoretisch antimalthu-
sianischen, praktisch aber durchaus malthusianisehen Frankreich,
aus dem auch das Lied stammt:
Ah! l’amour, l’amourl
O’est le plaisir d’un jour
Pour le regret d’ neuf mois,
scheint nach neueren Schilderungen26) die Ovariotomie als Prä-
ventivmittel in der vornehmen Damenwelt sehr beliebt zu sein.
Es gibt sogar „Spezialärzte“ zur Herstellung dieser kinderfeind-
lichen „ovariees“, die gegen ein großes Honorar diese Operation
vornehmen. In Deutschland wird glücklicherweise dieses Radikal-
mittel zur Verhütung der Empfängnis bei gesunden Personen nicht
angewendet und auf schwer kranke Individuen beschränkt, ist
also nur ein rein ärztliches Heilmittel.
Daß die früher genannten Präventivmittel, abgesehen vom
Coitus interruptus und Kondom, sehr unzuverlässig sind, beweist
das überaus häufige Vorkommen des absichtlichen, künstlichen
Abortes in allen Gesellschaftskreisen aller Länder.27) Die künst-
liche Fruchtabtreibung ist bekanntlich eine kriminelle Handlung,
gegen die nach §§ 218—220 des StrGB. harte Zuchthaus- und
Gefängnisstrafen für alle beteiligten Personen, die Schwangere
selbst und ihre Mithelfer, vorgesehen sind. Im Orient und bei
Naturvölkern ist die Fruchtabtreibung straflos. In den europäi-
schen Kulturländern wird der künstliche Abort bestraft, in
Deutschland sogar der bloße Versuch, selbst wenn nur eine
eingebildete Schwangerschaft vorliegt. Daß der Staat gegen die
Fruchtabtreibung als eine unsittliche und widernatürliche Hand-
lung einsehreiten muß, ist klar, und vor allem durch den Um-
stand begründet, daß der absichtliche Abort in so vielen Fällen
Leben und Gesundheit der Frauen gefährdet. Aber um strafen
zu können, sollte er vor allem die sozialen Voraus-
setzungen dafür schaffen, sollte er die von ihm selbst
begünstigte Infamierung der unehelichen Mutterschaft
25) Vgl. die Schilderungen aus Australien bei Max Bartels,
Die Medizin der Naturvölker, Leipzig 1893, S. 306—307.
26) Ygi R. Schwaeblé, Kapitel „Ovariées“ in: Les Détraquées
de Paris, S. 255—258.
27) Vgl. H. P1 o ß , Zur Geschichte der Fruchtabtreibung, Leipzig
1883; Galliot, Recherches historiques sur l’avortement criminel,
Paris 1884.
B1 o o h , Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.) 49
770
beseitigen und auch in anderer Beziehung die sozialen Grundlagen
für Ermöglichung der Mutterschaft verbessern (Mütter- und
Schwangerenheime, Mutterschaftsversicherung usw.). Es ist ein
seltsamer Widerspruch, auf den auch Gisela von Streit-
b e r g28) aufmerksam macht, daß die uneheliche Empfängnis als
Sünde und Schande angesehen, dagegen gleichzeitig das Leben
des entstehenden Kindes als heilig angesehen wird, des
geborenen aber wiederum infamiert wird. In der Tat haftet
ja dem unehelichen Kinde in der zugleich lächerlichen und im
tiefsten Grunde verderbten Gesellschaftsmoral unserer Zeit etwas
Verächtliches und Ehrenrühriges an. Daß die Personen, die ein
Gewerbe aus der Eruchtabtreibung machen, hart bestraft
werden, ist nur recht und billig. Jedoch ist es zweifelhaft, ob
gegenüber den Müttern, besonders den unehelichen, die außer-
gewöhnliche Höhe der Strafe gerechtfertigt, ja, ob überhaupt bis
zu einem gewissen Zeitpunkte eine Strafe juristisch zulässig ist.
Bekanntlich beginnt nach § 1 des BGB. die Rechtsfähigkeit des
Menschen erst mit der Vollendung der Geburt,29) und es ist die
Präge, ob der noch unentwickelte menschliche Pötus bereits Per-
sönlichkeitsrechte hat. Es handelt sich doch ohne Zweifel um ein
noch nicht in die Existenz übergetretenes, erst werdendes Wesen.
Die juristische und rechtsphilosophische Begründung der Strafen
gegen den Abort liegt noch sehr im argen. Man denke z. B. nur
an eine Schwängerung durch Notzucht! Soll da wirklich die
Betreffende nicht berechtigt sein, sich durch irgend welche Mittel
des ihr mit Gewalt aufgedrungenen Kindes in seinen ersten
Anfängen zu entledigen ?
Die Mittel und Methoden der Pruchtabtreibung30) vor der
28. bis 30. Schwangerschaftswoche sind sehr mannigfaltig und
zerfallen in die beiden Kategorien der inneren und der
28) Gräfin Gisela von Streitberg, Das Recht zur Be-
seitigung keimenden Lebens, § 218 des Reichs-Straf-Gesetzbuchs in
neuer Beleuchtung, Oranienburg 1904.
29) In einer soeben erschienenen, mir noch nicht zugänglich ge-
wordenen Schrift ,,Nasciturus. Darstellung des Lebens vor der Geburt
und der Rechtsstellung des werdenden Menschen“ behandelt der Gynä-
kologe F. Ahlfeld dieses Thema eingehender.
30) Ygl. L e w i n und Brenning, Die Fruchtabtreibung durch
Gifte, Berlin 1899; E. v. Hofmanns Lehrbuch der gerichtlichen
Medizin, herausg. von A. Kolisko, 9. Auflage, Berlin u. Wien 1903,
S. 220—258.
771
mechanischen Mittel. Sichere innere Abortivmittel gibt es
nicht, fast alle sind gefährlich durch ihre Giftwirkung,
am meisten gebraucht werden Mutterkorn, das ätherische Oel
des Sadebaums (Iuniperus sabina), der Thujaarten, der Eibenbaum
(Taxus baccata), Terpentinöl, Bernsteinöl, Reinfarren, Raute,
Kampfer, Kanthariden, Aloe, Phosphor u. a. m. Mechanisch wird
Abtreibung bewirkt durch Stoß, heftige Bewegungen, z. B. beim
Koitus, Massage, Eihautstich, heiße Injektionen und Dämpfe,
Fingermanipulationen am Muttermunde, Einlegen von Sonden und
anderen Gegenständen in den Muttermund, Blutentziehungen,
Applikationen des elektrischen Stromes usw. Stets droht l)ei allen
diesen Praktiken die große Gefahr der Verletzung, Vergiftung,
Infektion, Ruptur und Perforation der Gebärmutter, Eintritt von
Luft in die Uterusvenen, Verbrennung der inneren Geschlechts-
teile usw. Kein Wunder, daß so überaus häufig der Tod erfolgt
und fast stets schwere Erkrankungen die Folge der Anwendung
dieser Abortivmittel sind.
Der Staat würde, abgesehen von der früher erwähnten Ehr-
barmachung der unehelichen Mutterschaft, am meisten dadurch
den künstlichen Abort einschränken, wenn er die Kenntnis der
erlaubten Mittel zur Verhütung der Empfängnis in allen
Volkskreisen verbreitete.
Daß die neomalthusianische Praxis besonders in den Groß-
städten sich geltend macht, beweist ihren Zusammenhang mit
ökonomischen Fragen und dem gerade hier erschwerten Kampf
ums Dasein. Das Heil der Zukunft beruht auf der Beseitigung
des moralischen und juristischen Zwanges zur Ehe, worin schon
Gutzkow (Säkularbilder Ï. 174—175) die Hauptursache der
sozialen und geschlechtlichen Misere erblickte und auf der ver-
nünftigen Regelung des sexuellen Präventiv Verkehrs, der keines-
wegs mit einem absoluten Widerwillen gegen die „fécondité“
à la Weininger identisch ist. Die Sehnsucht nach und die
Freude am Kinde wird im Gegenteil erst dann recht natürlich
und innig empfunden werden.
49*
in
ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Die sexuelle Hygiene.
Der Mensch, prüft mit skrupulöser Sorgfalt den Charakter und
den Stammbaum seiner Pferde, Rinder und Hunde, ehe er sie paart.
Wenn er aber zu seiner eigenen Heirat kommt, nimmt er sich niemals
solche Mühe. Doch könnte er durch Wahl nicht bloß für die körper-
liche Konstitution und das Aeußere seiner Nachkommen, sondern auch
für ihre intellektuellen und moralischen Eigenschaften etwas tun.
Charles Darwin.
Inhalt des achtundzwanzigsten Kapitels.
Die sexuelle Hygiene als Sozialhygiene. — Begründung durch
Darwin. — Neuere Arbeiten. — Die „Fortpflanzungshygiene“. -—
Degeneration und Regeneration (erbliche Belastung und Entlastung). —
Möglichkeit des Verschwindens krankhafter Anlagen. — Die „Eugenik“
(Galton). — Die Liebes- und Gattenwahl. — Prinzipien derselben. —
Darwins Vorschriften über die sexuelle Auslese. — Eheverbote. —
Vererbung der Krankheitsdispositionen und Krankheitskonstitutionen. —
Die Gefahr des Alkoholismus für die Deszendenz. — Trinkerfamilien.
— Direkte Wirkung des Alkohols auf die Keimzellen. — Beobachtungen
darüber. — Die Syphilis als Ursache der Entartung der Rasse. —
Syphilis und Lebensdauer. — Degenerierende Wirkung der Tuber-
kulose. — Direkte Infektion. — Vererbung des tuberkulösen Habitus.
— Geisteskrankheiten, Diathesen und bösartige Geschwülste. — Die
nervösen Affektionen. — Die erbliche Verkümmerung der weiblichen
Brustdrüsen. — Neuere Arbeiten darüber. — Wirkung zu jugendlichen
und zu hohen Alters der Gatten. — Einfluß der Blutsverwandtschaft.
— Die Bedeutung der Inzucht für die Rassenbildung. — Die Gefahren
der zu nahen Blutsverwandtschaft. —- Bedeutung geistiger Eigen-
schaften für die Liebeswahl. — Die Züchtung von Talenten. — Be-
deutung derselben für die Frauenfrage. — Für die Verbesserung der
Rasse. — Größere Widerstandskraft der Frauen gegen degenerative
Einflüsse. — Aeußerungen Carl Vogts darüber. — Ungünstige
Wirkung der Zwangsehenmoral und des Mammonismus. — Bedeutung
der Rassenhygiene und des sexuellen Verantwortlichkeitsgefühls.
774
Die sexuelle Hygiene in individueller Beziehung* ist bereits
in den Kapiteln über die Verhütung und Bekämpfung der Ge-
schlechtskrankheiten, über die Enthaltsamkeitsfrage, die sexuelle
Erziehung und den sexuellen Präventivverkehr behandelt worden,
hier wollen wir kurz auf die sozialen Beziehungen der Ge-
sundheitslehre des Geschlechtslebens hin weisen. Nachdem Dar-
win namentlich in seiner „Abstammung des Menschen“ der
sozialen Bedeutung der Sexualhygiene grundlegende Betrachtungen
gewidmet hatte, haben sich unter dem Einflüsse der neueren anthro-
pologischen Rassen forschung besonders He gar,1) A. Ploetz2)
und R. Koßmann3) mit diesen Problemen beschäftigt, die
man auch zweckmäßig unter dem Namen der „Fortpflan-
zungshygiene“ zusammenfaßt, als welche sie einen Teil der
allgemeinen Rassenbiologie bilden.
Leider hat die Rassenbiologie, was ihr u. a. Max Grube r4)
mit Recht zum Vorwurf gemacht hat, die Begriffe der „Degene-
ration“ und „erblichen Belastung“ über Gebühr in den Vorder-
grund gestellt, während sie diejenigen der „Regeneration“ und
der „erblichen Entlastung“ allzusehr vernachlässigt hat. Und
doch ist es sicher, daß fortwährend diese letzteren Einflüsse im
Sinne der Gesundung und Erstarkung der Rasse tätig sind, daß
die Einführung neuen gesunden Blutes auch in entarteten
Familien eine Auffrischung und Regeneration herbeizuführen ver-
mag. Mit Recht sagt Gr über (Hygiene des Geschlechtslebens
1905, S. 55): „Völlig normal und erblich unbelastet ist schließ-
lich kein einziger Mensch, und andererseits lehrt die Erfahrung,
daß krankhafte Anlagen in Familien, ebenso wie sie entstanden
sind, auch wieder vergehen können. Manche von diesen
4) A. He gar, Der Geschlechtstrieb, Stuttgart 1894.
3) A. Ploetz, Grundlinien einer Rassenhygiene, Berlin 1895.
3) R. Koßmann, Züchtungspolitik, Schmargendorf-Berlin 1905.
*) Max Grub er, Führt die Hygiene zur Entartung der Rasse?
In: Münchener medizin. Wochenschrift v. G. u. 13. Oktober 1903.
775
Anlagen können. durch zweckmäßige Lebensfwei.se für das Indi-
viduum unwirksam gemacht werden, und durch fortgesetzte
Kreuzungen mit Stämmen, welche diese Anlagen nicht besitzen,
kann das Krankhafte zum Verschwinden gebracht werden, falls
es sich nicht um allzu schwere Entartungen handelt.“
Diese Erkenntnis vermindert nicht im geringsten die große
Bedeutung einer zweckmäßigen Liebes- und Gattenwahl oder das
sexuelle Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der großen Tatsache
der Vererbung. Die erfreuliche Tatsache der erblichen Ent-
lastung unterstützt im Gregenteil alle Bestrebungen einer ver-
nünftigen „Eugenik“ (Gal ton)5), nach denen wir uns, wie
Nietzsche sagt, nicht bloß fort-, sondern auch hinauf-
pflanzen sollen.
Das Zentralproblem der Fortpflanzungshygiene ist dasjenige
der Liebeswahl, der sexuellen Auslese (geschlechtliche Zucht-
wahl). Es ist die schwierigste und sehr selten in vollem Maße
erfüllte Aufgabe, daß der richtige Mann auch die richtige Frau
finde, daß die Individualitäten sich in jeder Weise entsprechen
und ergänzen. In den meisten Fällen muß man sich mit einer
relativen Harmonie und mit beiderseitiger Gesundheit be-
gnügen. Die Gesetze einer verfeinerten, differenzierten Gatten-
wahl sind noch nicht gefunden. Havelock Ellis6) hat darüber
eingehende Untersuchungen angestellt, ohne zu einem positiven
Ergebnis zu gelangen. Es ergab sich ihm nur die allgemeine
Feststellung, daß bei der Liebeswahl Gleichheit der Rassen-
und der individuellen Merkmale (Homogamie) und zugleich
Ungleichheit der sekundären S e x u al me r k m al e
(Heterogamie) bevorzugt wird, im übrigen aber sehr verschieden-
artige und komplizierte Einflüsse bei der sexuellen Auslese maß-
gebend sind. Auch konstatiert H. Ellis eine natürliche Ab-
neigung gegen die Liebe zu Blutsverwandten, die er allerdings
6) Francis Galton, Entwürfe zu einer Fortpflanzungs-
Hygiene (Eugenik). In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie
von A. P 1 o e t z , 1905, Bd. II, S. 812—829; ferner W. Schallmayer,
Ehe, Vererbung und Ethik der Fortpflanzung, in: Das Buch vom Kinde,
herausgegeben von Adele Schreiber, Leipzig und Berlin 1907,
Bd. I, S. IN—XX; Alfred Grotjahn, Soziale Hygiene und Ent-
artungsproblem, Jena 1904.
6) H. Ellis, Die Gattenwahl Deim Menschen mit Rücksicht auf
Sinnesphysiologie und allgemeine Biologie. Deutsch von E. Jentsch
u. H. K u r e 11 a , Würzbuxg 1906.
T76
durch die bloße Gewohnheit des beständigen Miteinanderlebens
von Kindheit an erklärt.
Darwin hat für die sexuelle Auslese das Prinzip aufgestellt,
daß beide Geschlechter sich der Heirat enthalten sollten, wenn
sie in irgend welchem ausgesprochenen Grade an Körper oder
Geist untergeordnet und minderwertig wären. Auf diesem Ge-
danken beruhen die alte und weit verbreitete Sitte der Tötung
und Aussetzung kranker und lebensunfähiger Kinder, sowie die
neueren Eheverbote in einigen amerikanischen Staaten, z. B.
Michigan, die Geisteskranken, Tuberkulösen und Syphilitischen
die Heirat (auch die Fortpflanzung?) untersagen.7)
Der wichtigste Grundsatz einer rationellen Fortpflanzungs-
hygiene ist ohne Zweifel der, daß nur gesunde Menschen oder
wenigstens nur mit solchen Abnormitäten bezw. Krankheiten
behaftete Individuen sich paaren, die die Nachkommenschaft nicht
physisch oder geistig beeinträchtigen. Nicht Krankheit an sich,
sondern die Vererbung derselben ist die große Gefahr für
die Verschlechterung der Familien und der Rassen. Deshalb be-
sitzt das Studium der Vererbung, der Krankheitsdispositionen und
der Krankheitskonstitutionen eine so große Bedeutung für die
Rassenbiologie.
"Was nun die Krankheiten betrifft, auf die man bei der
sexuellen Auslese ganz besonders achten muß, so spielen hier
die „drei Geißeln“ der Menschheit: Al ko hol ismus , Syphi-
lis und Tuberkulose die Hauptrolle.
Abgesehen davon, daß der Alkoholismus8) beim Trinker selbst
zur Nervenschwäche, Geistesstörungen aller Art (Delirium tremens,
Schwachsinn, Verrücktheit, Nervenentzündung usw.) führt, übt
er einen sehr unheilvollen Einfluß auf die leider oft zahlreiche
7) Ueber Eheverbote vgl. P. N ä c k e , „Eheverbote“ in.: Arch. f.
Kriminalanthr., 1906, Bd. 22; M. Marcuse, Gesetzliche Eheverbote
für Kranke und Minderwertige, in: Soziale Medizin und Hygiene, 1907,
Heft 2 u. 3. — In Dakota soll sogar ärztliche Untersuchung der Heirats-
kandidaten gesetzliche Vorschrift sein. (Arch. f. Kriminalanthr., 1903,
Bd. XI, S. 266—267.)
8) Vgl. besonders die ausführliche Abhandlung von A. und E.
Leppmann, Alkoholismus, Morphinismus und Ehe, bei Senator -
Kaminer, a. a. O., III, S. 400—420. Vgl. ferner über den Al-
kohol als „Verderber der Rasse“ die gründliche Studie von Alfred
P1 o e t z , Zur Bedeutung des Alkohols für Leben und Entwicklung
der Rasse. In: Archiv für Rassen- u. Gesellschaftsbiologie, 1904, Bd. I,
S. 229—253.
Nachkommenschaft ans, wie das Studium der „Trinkerfamilien“
(vgl. Jörger, Die Familie Zero. In: Archiv für Rassen-
biologie 1905, Bd. II, S. 494 bis 559) beweist. Nur ein sehr
geringer Bruchteil der Deszendenz ist körperlich und geistig
normal (ca. 7—17 °/o), die Mehrzahl weist eine rasch fort-
schreitende Entartung auf, die besonders körperlicherseits
durch die Neigung zu Tuberkulose und Epilepsie, seelischerseits
durch diejenige zu Trunk, Verbrechen und Schwachsinn zum
Ausdruck kommt. Der Alkohol ist ein direktes Gift für die
Keimzellen, so sehr, daß man nach dem Grade der Trunksucht
den Grad der erblichen Belastung beinahe im voraus bestimmen
kann. Es kann also ein sonst gesunder Vater auch im ein-
maligen schweren akuten Alkoholrausch ein lebensunfähiges oder
lebensschwaches, vollkommen entartetes Kind erzeugen! Anderer-
seits hat man beobachtet, daß das einem chronischen Alkoholismus
huldigende Individuum bei gelegentlicher Verminderung des
Alkoholkonsums auch lebenskräftigere Kinder erzeugt. Hiernach
ist die Ehe bezw. die Fortpflanzung mit einem Alkoholisten oder
Alkoholistin bezw. die Zeugung im Zustande der Trunkenheit
absolut verwerflich.
Daß Syphilis neben dem Alkohol wohl die Hauptursache der
Entartung der Rasse ist, haben wir oben (S. 404—406) bereits
gezeigt.9) Diese Tatsache, die wir den Forschungen von Alfred
Fournier und Tarnowsky verdanken, steht heute fest. Mit
Recht erklärt E. Heddaeus,10) der meint, daß heute alle Welt
mit ererbter oder erworbener Syphilis durchseucht sei, die Aus-
tilgung der Syphilis für die wichtigste Aufgabe der Fört-
pflanzungshygiene. Die früher erwähnten ätiologischen und pro-
phylaktisch-therapeutischen Forschungen, zu denen noch die so-
eben erfolgte Entdeckung11) syphilitischer Antistoffe bei früheren
Syphilitikern hinzukommt, eröffnen die Aussicht auf Verwirk-
lichung dieses schönen Gedankens. Die Schwächung und Ent-
artung der Individuen durch die erworbene und ererbte Syphilis
9) Vgl. auch R. Ledermann, Syphilis und Ehe, bei Senator-
Kamine r, a. a. O., III, S. 400—420. — Alfred Fournier,
Syphilis und Ehe. Berlin 1881.
i°) E. H e d d a e u s , Ueber Züchtung gesunder Menschen. In: Allg.
medizin. Zentral-Zeitung, 1901, No. 6.
n) A. Wassermann und E. Plaut, Ueber das Vorkommen
syphilitischer Antistoffe in der Zerebrospinalflüssigkeit von Paralytikern.
In: Deutsche Medizinische Wochenschrift, 3906, No. 44.
778
ergibt sich auch aüs den neueren Untersuchungen über den Ein-
fluß der Syphilis auf die Lebensdauer, unter denen ich die Arbeiten
von A. Bla sch ko12) und Hans Tilesius13) nenne.
Die dritte zur Degenereszenz führende Krankheit ist die
Tuberkulose, die durch direkte Infektion des Keimes, häufiger
aber durch Erzeugung einer Prädiposition auf die Nachkommen-
schaft vererbt werden kann. Diese bloße Prädiposition, gekenn-
zeichnet durch den sogenannten „tuberkulösen Habitus“ (lang-
auigeschossene, hagere Individuen mit flachem Brustkorb, schwach
entwickelten Muskeln, blassem Aussehen), bildet keinen absoluten
Hinderungsgrund der Fortpflanzung, da die Gesundheit des anderen
Gatten die Gefahr einer Vererbung mindert oder ganz aufhebt.
Dagegen ist manifeste Tuberkulose oder Skrophulose eine Gegen-
anzeige gegen die Ehe.
Dasselbe gilt von wirklichen Geisteskrankheiten, von
ßchweren Diathesen wie Gicht, Fettsucht, Zuckerkrankheit,
vom Krebs und anderen bösartigen Geschwülsten, während das
Gros der „nervösen“ Affektionen und anderen körperlichen Krank-
heiten nur unter bestimmten Verhältnissen die Ehe ausschließt.14)
Sehr imgünstig für die Nachkommenschaft ist auch die
Verkümmerung der weiblichen Brustdrüsen und
die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Stillen, auf die
Mensinga,15) G. v. Bunge,16) G. Hirth17) und Emil Ab-
derhalden,18) A. Hegar19) u. a. hingewiesen haben, und die
12) A. Blaschko, Der Einfluß der Syphilis auf die Lebens-
dauer. In: Verhandlungen des IV. Internationalen Kongresses für Ver-
sicherungs-Medizin, Berlin 1906, S. 95—149.
1S) Hans Tilesius, Ueber die Syphilis bei Lebensversicherung.
Ebend. S. 201—213.
**) In dem großen Werke von Senator u. Kaminer, „Krank-
heiten und Ehe“, München 1904, 3 Teile, findet man eine detaillierte Er-
örterung aller hier in Betracht kommenden Verhältnisse u. Möglichkeiten.
15) Mensinga, Ueber Stillungsnot und deren Heilung, Berlin-
Neuwied 1888.
16) G. v. Bunge, Die zunehmende Unfähigkeit der Frauen, ihre
Kinder zu stillen, München 1903.
17) G. H i r t h, Die Mutterbrust, ihre Unersetzlichkeit und ihre
Erziehung zur früheren Kraft, in: Wege z. Liebe, S. 1—57.
18) Emil Abderhalden, Zur Frage der Unfähigkeit der
Frauen, ihre Kinder zu stillen. In: Medizinische Klinik, 1906, No. 45.
19) A. Hegar, Die Verkümmerung der Brustdrüse und die
Stillungsnot. In: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, 1905,
Bd. II, S. 830-844.
779
erwiesenermaßen auf die Nachkommenschaft höchst ungünstig ein-
wirkt, da sie durch die künstliche Milchnahrung durchaus nicht
ersetzt werden kann. Nach Bunge sind Alkoholismus, Tuber-
kulose, Syphilis, Geisteskrankheiten der Aszendenz die hauptsäch-
lichsten Ursachen der Verkümmerung der Brustdrüsen. Ob letztere
im Zunehmen begriffen bezw. vererbbar ist, bedarf, wie Abder-
halden ausführt, noch genauerer kritischer Untersuchung.
Zu jugendliches (unter 20 bei der Frau, unter 24 beim
Manne) und zu hohes Alter (über 40 bei der Frau, über 50
beim Manne) der Ehegatten ist ebenfalls nachteilig für die Des-
zendenz (größere Sterblichkeit der Säuglinge, häufigeres Vor-
kommen von Mißbildungen und Idiotie, von Rachitis usw.). Ebenso
ungünstig ist allzu nahe Blutsverwandtschaft,20) da
hierdurch ungünstige Erblichkeitseffekte von vornherein ver-
stärkt werden. Auf einem gewissen Grade oder besser einer
Annäherung an die Inzucht beruht jede Rassenbildung. Die
„Rassenfrage“ in diesem Sinne ist eine Art von Hochhaltung
des Inzuchtsprinzips, das eine mehr oder weniger große Bluts-
verwandtschaft aller Angehörigen einer bestimmten Rasse voraus-
setzt. Die alleinige Weglassung von fiemdem Blute bedingt also
noch keine Entartung. Aber ebenso sicher ist es, daß fort-
gesetzte nahe Inzucht von Blutsverwandten derselben
Familie eine fortschreitende Tendenz zur Degene-
ration zur Folge hat, weil bei den Gatten dieselben Krankheits-
anlagen vorhanden sind und sich bei der Befruchtung summieren.
Das ergibt sich ganz deutlich aus einer Statistik von Morris
(bei Gr über 1. c. S. 32). Die Ehe zwischen Onkel und Nichten
bezw. Tanten und Neffen oder die leider viel zu häufige Ver-
mischung von Vetter und Base ist also durchaus zu widerraten.
Auch auf geistige Eigenschaften ist bei der Liebeswahl
der größte Wert zu legen, charaktervolle und intelligente Indi-
viduen sind zu bevorzugen. Gerade bezüglich der Züchtung von
Talenten empfahl Nietzsche (Nachgelassene Werke, Leipzig
1901, Bd. XII, S. 188) die Polygamie für geistig hervorragende
Männer oder Frauen, damit sie Gelegenheit hätten, bei mehreren
Personen des anderen Geschlechts sich fortzupflanzen und so, da
ja die späteren Kinder ein und derselben Frau nicht mehr so
20) Vgl. F. Kraus, Blutsverwandtschaft in der Ehe und deren
Folgen für die Nachkommenschaft, in: Senator-Kaminer, a. a. 0.,
I, 66-88.
780
kräftig und hervorragend sind, wie die Erstgeborenen, die Mog-
lichkeit einer Züchtung von mehreren Talenten und tüchtigen
Individuen gegeben sei. Für die Frauenfrage hat die Züchtung
hervorragender weiblicher Talente ein besonderes Interesse.
Charles Darwiu21) meint:
„Damit die Frau dieselbe Höhe wie der Mann erreicht, müßte sie
in der Nähe ihrer Reifezeit zur Energie und Ausdauer und zur An-
strengung ihres Verstandes und ihrer Einbildungskraft bis auf den
höchsten Punkt erzogen werden; und dann würde sie wahrscheinlich
diese Eigenschaften hauptsächlich ihren erwachsenen Töchtern über-
liefern. Alle Frauen könnten indes nicht hierdurch in die Höhe ge-
bracht werden, wenn nicht viele Generationen hindurch diejenigen
Frauen, welche sich in den eben erwähnten kräftigen Tugenden aus-
zeichneten, verheiratet würden und Nachkommen in größerer Anzahl
erzeugten, als andere Frauen.“
In einer wertvollen Arbeit hat kürzlich. W. Schallmaye r22)
die große Bedeutung der Nachkommenschaft der Begabteren für
die Verbesserung der Rasse und die Einzelheiten der psychischen
Vererbung erörtert.
•Wie in der ganzen Tierwelt, so hat auch in der mensch-
lichen Rasse die weibliche Natur mehr konservativen, Verände-
rungen, auch im ungünstigen Sinne, mehr abgeneigten Charakter
als die variablere, selbst den Einflüssen der Degeneration schneller
erliegende Natur des Mannes. Daher trifft man in untergehenden
Rassen viel mehr nicht degenerierte Weiber als Männer. In
interessanter Weise äußert sich Carl Vogt an einer wohl wenig
bekannten Stelle23) darüber:
„Es sind die Weiber, Freund, welche die Rasse erhalten, die in
Körper und Geist den Typus des Volksstammes am längsten bewahren,
und darum gleichsam den Spiegel der Zukunft und der Vergangenheit
bilden, die einem Volke beschieden sind. Du wirst wohl schon oft
Bemerkungen gemacht haben über das Mißverhältnis, welches in man-
chen Volksstämmen zwischen Männern und Weibern existiert wie dort
das männliche, hier das weibliche Geschlecht hinter dam andern an
21) Gh. Darwin, Die Abstammung des Menschen, Stuttgart 1890,
Seite 639.
22) W. S c h a 11 m a y e r, Die soziologische Bedeutung des Nach-
wuchses der Begabteren und die psychische Vererbung. In: Archiv
für Rassen- und Gesellschafts-Biologie, 1905, Bd. II, S. 36—75. Vgl. auch
S. R. Steinmetz, Der Nachwuchs der Begabten. In: Zeitschrift für
Sozialwissenschaft 1904, H. 1.
23) Carl Vogt, Ozean und Mittelmeer. Reisebriefe. Frank-
furt a. M. 1848, Bd. II, S. 203—204.
781
körperlicher Schönheit wie an geistiger Ausbildung zuriickstekt. Dies
Verhältnis zwischen den beiden Geschlechtern ist es gerade, aus dem
man Vergangenheit und Zukunft erschließen kann. Gutes und Schlech-
tes, Fortschritt und Rückschritt, wird zuerst von dem Manne ange-
nommen, und geht von diesem auf das Weib über, dessen konservative
Natur nur weit allmählicher den fremden Einflüssen nachgibt. Da
aber die Stufe geistiger Kultur, die ein Volk einnimmt, sich nicht
nur in seiner Körperbildung reflektiert, sondern geradezu von der-
selben abhängt, so ist es leicht erklärlich, daß in einer aufstrebenden
Natur, die im Fortschritte begriffen ist, die Männer, in einer sinkenden
dagegen die Weiber den Vorzug der Weiberschönheit und der in-
tellektuellen Fähigkeiten in Anspruch nehmen können. Findest du
einen Volksstamm, der schöne Weiber, aber im Durchschnitt häßliche,
schlecht gebildete Männer hat, so kannst du mit Sicherheit gehaupten,
daß derselbe schon längst seinen Kulminationspunkt überschritten hat,
und dem Untergang entgegengeht.“
Für die Rassenbiologie ist es mindestens ebenso wichtig, wenn
nicht noch von größerer Bedeutung, daß gesunde, tüchtige und
begabte Männer sich fortpflanzen, als daß man bei der Liebes-
wahl die entsprechenden Eigenschaften der Frauen für ausschlag-
gebender hält. Freilich wird die Rassenbiologie, wenn sie wirk-
liche „Züchtungserfolge“ erzielen will, nicht umhin können, die
gegenwärtig übliche Zwangsehenmoral zu beseitigen und nach
dem Vorschläge von Nietzsche, v. Ehrenfels u. a. in be-
stimmten Fällen Polygamie für wünschenswert zu erklären,
schon unter dem Gesichtspunkte, daß die Zwangsehe die einzige
Ursache der Herrschaft des „Mammonismus“ im Sexualleben
ist, über dessen verderbliche "Wirkungen24) weiter nichts gesagt
zü werden braucht. Gefährlich ist der Mammonismus nur durch
die Vernichtung des sexuellen Verantwortlich-
keitsgefühls, wodurch die natürliche Liebe auf der einen
und alle Erwägungen rassenhygienischer Natur auf der anderen
Seite völlig ausgeschaltet werden. Der Mangel an beiden ist die
Ursache der Entartung.
24) Schon Alex. v. Humboldt (Reise in die Aequinoktial-
gegenden usw., II, 17) bemerkt, daß in Europa ein sehr buckliges
oder sehr häßliches Mädchen, wenn es nur Vermögen habe,
heirate, und daß die Kinder die Mißbildung der Mutter häufig erben,
während bei wilden Völkern eine natürliche Abneigung gegen solche
Heiraten bestehe, die durch Geld nicht zu überwinden sei.
782
NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL.
Das Sexualleben in der Oeffentlickkeit (Sexuelle
Kurpfuscherei, Annoncen und Skandale).
Eia Hauptgrund, welcher für alle Zeiten die Ausrottung des Kur-
pfuschertums unmöglich macht, liegt in der Tatsache, welche das
Sprichwort „Die Dummen werden nicht alle“ kurz und
bündig zum Ausdruck bringt.
Wilhelm Ebstein.
783
Inhalt des nennnndzwanzigsten Kapitels.
Größere Oeffentlichkeit de3 Sexuallebens im Zeitalter des Ver-
kehrs. — Drei Formen dieser Oeffentlichkeit. — Die sexuelle Kur-
pfuscherei. — Beziehungen der Kurpfuscherei zum Geschlechtsleben,
— Neuere Beispiele. — Die Geheimmittel- und Unsittlichkeitsindustrie.
— Oeffentliche Anpreisung von Sexualmitteln. — Kurpfuscherannoncen,
Zeitungsannoncen zu sexuellen Zwecken, — Die Heiratsannoncen,
— Zur Geschichte derselben. — Die beiden ältesten Heiratsannoncen, —
Die Geld- und Namensheiraten. — Die Scheinehen. — Unsittliche
Annoncen. — Darlehnsannoncen. — Bekanntschafts-, Freundschafts-
und Stellungsgesuche. — Heterosexuelle und homosexuelle. — Die Brief-
wechselannoncen. — Wohnungsannoncen zu sexuellen Zwecken. — Un-
terrichtsannoncen. — Rendezvous- und Postillon d’amour-Annoncen. —
Der postlagemde Briefverkehr. — Vertrauliche Auskünfte. — Annoncen
zu sexuell-perversen Zwecken. — Straßenzettel. — Bordellführer. —
Die öffentlichen Skandale sexuellen Charakters. — Morde und
Selbstmorde aus Liebe. — Ehebruchskandale. — Entführungen, Duelle^
Kuppeleiprozesse. — Orgien und Hochstaplertum.
J84
Im Zeitalter des Verkehrs, des Telegraphen und der Presse
ist auch die Rolle, die das Sexualleben in der Oeffentlich-
k e i t spielt, eine bedeutend größere geworden als früher. Von
jeher bildete zwar das Geschlechtliche einen Hauptbestandteil der
„Chronique scandaleuse“, aber es konnte keine derartige Aus-
nutzung dier öffentlichen Tageszeitungen geben, wie sie durch
das heutige hochentwickelte Preß wesen ermöglicht wird. Unter
drei Formen tritt heute das1 Sexualleben an die Oeffentlichkeit:
in Gestalt eines skrupellosen Kurpfuschertums, der auf
das Sexualleben sich beziehenden Zeitungsannoncen und
der durch die Presse verbreiteten Sexualskandale. Wir
wollen kurz auf die wichtigsten Momente in diesen meist uner-
freulichen Erscheinungen hinweisen.
Nach dem bekannten Worte, daß Hunger und Liebe die
Welt regieren, hat sich auch die Kurpfuscherei von jeher den
Gebieten der Verdauungskrankheiten und der Gesohlechtsleiden
mit Vorliebe zugewendet und besonders auf letzterem erstaunliche
Leistungen hervorgebracht, welche vielleicht die lehrreichsten
Aufschlüsse darüber geben, wie weit menschliche Narrheit, Ver-
worfenheit und Aberglauben gehen. Wenn man die Geschichte
der Kurpfuscherei und medizinischen Charlatanerie aller Zeiten
und Völker betrachtet,1) ergibt sich unwiderleglich die Richtigkeit
der Gleichung „Kurpfuscherei — Verbreitung des ge-
schlechtlichen Lasters und der Unzucht“. Diese Be-
ziehungen der Kurpfuscherei zu dem Geschlechtsleben und den
geschlechtlichen Verbrechen haben neuerdings C. R e i ß i g2) und
C. Alexander3) sehr drastisch beleuchtet.
*) Vgl. die wertvolle historisch-kritische Monographie von Professor
Wilhelm Ebstein, Charlatanerie und. Kurpfuscherei im Deutschen
Reich, Stuttgart 1905.
2) C. R e i ß i g, Medizinische Wissenschaft und Kurpfuscherei,
Leipzig 1900, S. 114 ff.
8) C. Alexander, WaJrre und falsche Heilkunde, Berlin 1899,
S. 46-49.
/85
Beißig verweist besonders auf das „entsittlichendeTreiben vieler
Magnetiseure, Laienhypnotiseure und ähnlicher Leute, die unter dem
Deckmantel von Helfern der Kranken allerlei unsittliche Ge-
lüste befriedigen“ und teilt dafür sehr charakteristische Beispiele mit.
Polizeiliche Ermittlungen haben ergeben, daß zahlreiche Masseusen
und männliche Pfuscher, die gewöhnlich unter dem hochtönenden
Kamen eines „Professors“, „Direktors“, „Hygienologen“, „Magneto-
pathen“ usw. auftreten und „diskrete Leiden“ bezw. „Frauenkrank-
heiten“ behandeln, sich in Wirklichkeit mit Kindsabtreibungen,
Verkuppelungen, Herbeiführung künstlicher ge-
schlechtlicher Erregung und Verschaffung des Men-
schenmaterials zur Befriedigung perverser Gelüste
befassen. Wer kennt nicht das ominöse Wort „Rat und Hilfe“? Unter
dem Deckmantel der Kurpfuscherei wird Unzucht schlimmster Art
getrieben. So erwähnt Alexander (1. c. S. 48) einen „Gehörleiden-
Spezialisten“, der unter Entfaltung einer großen Zeitungs-Reklame von
Ort zu Ort reiste, um „Gehörfehler“ zu beseitigen, aber diese Gelegen-
heit benutzte, um unsittliche Attentate auf junge Mädchen auszuüben
(Schwurgerichtsverhandlung in Glatz vom 10. Juli 1896). Der „Magneti-
seur“ M. hypnotisierte junge Mädchen und verging sich dann gegen
sie, ein anderer untersuchte wegen eines Ohrenleidens die Genitalien
und nahm hierbei unsittliche Manipulationen vor. In einem Artikel
„Durchlauchtigste Kurpfuscherei“ im Aerztlichen Vereinsblatt No. 418,
August 1900, berichtet Dr. Reißig, daß es „Ihrer Durchlaucht der
Prinzessin Maria von Rohan in Salzburg“ als eine heilige Pflicht
erscheint, dem Tischler (I) Kühne in Leipzig unterm 9. November
1889 zu bezeugen, daß seine Geschlechtsreibebäder (!) „von unschätz-
barem Werte und wunderbarer Wirkung gewesen sind“ und „den Aerzten
die genaueste Prüfung dieser neuen Heilmethode zu empfehlen sei“.
Neben der Behandlung' der „geheimen Leiden“,4 *) die unsäg-
liches Unheil stiftet, den unsauberen und gefährlichen Praktiken
der „Masseusen“ und Kindsabtreiberinnen hängt die sogenannte
„Geheimmittel- und Unsittliehkeits-Industrie“6)
eng mit dem Kurpfuschertum zusammen, die eich auf die Fabri-
kation und öffentliche Anpreisung von „Sexualmitteln“ aller Art,
4) Vgl. C. Alexander, Geschlechtskrankheiten und Kur-
pfuscherei in: Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung
der Geschlechtskrankheiten, 1902/03, Bd. I, No. 6 und No. 7; Rechts-
anwalt II e n n i g, Geschlechtskrankheiten und Kurpfuscherei, eben-
daselbst No. 7; Petition der D. G. z. B, d. G. an den Herrn Reichs-
kanzler, betr. die Schädigung der Geschlechtskranken durch die Kur-
pfuscher, ebendaselbst No. 7.
6) Vgl. die noch für heutige Verhältnisse Gültigkeit besitzende
Schrift von H. Beta, Die Geheimmittel- und Unsittlichkeits-Industrie
in der Tagespresse, Berlin 1872, wo bereits der „Hygienologe“ Jakobi,
der Nestor der Berliner Kurpfuscher, vorkommt,
Bio oh, Sexualleben. 7.-—9. Auflage.
(41,—60. Tausend.) 50
78G
Aphrodisiacis, „Schutzmitteln“, den berüchtigten Mitteln gegen
„Schwächezustände“, Unfruchtbarkeit, Pollutionen, Mangel an
Wollustgefühl usw. verlegt. Ja sogar künstliche Unfruchtbar-
machung, nicht etwa von Frauen, sondern von Männern, mittelst
Röntgenstrahlen wird angepriesen.6) Die Zeitungen wimmeln von
Annoncen, die alle diese Mittel empfehlen. Auch unter der Firma
der „Cbiromantik“ und Sterndeuterei verbirgt sich die sexuelle
Kurpfuscherei. Sie lockt ihre Kunden hauptsächlich durch
Zeitungsannoncen an.
Die Zeitungsannoncen zu sexuellen Zwecken sind nicht mehr
als zweihundert Jahre alt. Ihre älteste und harmloseste Form
war die Heiratsannonce,7) deren beide ersten am 19. Juli
1695 in Houghtons, des Vaters des englischen Annoncen-
wesens, „Collection for Improvement of Husbandry and Trade“
erschienen. Diese beiden historisch denkwürdigen Annoncen lauten:
„Ein Gentleman, 30 Jahre alt, welcher sagt, daß er ein sehr
bedeutendes Vermögen hat, möchte sich gern mit einer jungen Dame
verheiraten, die ein Vermögen von ungefähr 3000 Pfund hat, und er
will einen angemessenen Kontrakt darüber machen.
Ein junger Mann, 25 Jahre alt, mit einem guten Geschäfte, und
dessen Vater bereit ist, ihm tausend Pfund zu geben, würde gern eine
passende Ehe eingehen. Er ist von seinen Eltern als Dissenter erzogen
worden und ist ein nüchterner Mann.“
Man sieht, daß schon diese ersten Heiratsannoncen das
Punctum saliens (welches brauche ich wohl nicht zu sagen) nicht
vergessen. Alle folgenden bis auf den heutigen Tag sind ihnen
ähnlich. Höchstens, daß zur „Geld“- noch die „Namensheirat“,
sowie die „Scheinehe“ hinzugekommen sind, die ebenfalls ungeniert
in den Zeitungen offeriert werden. Die Mehrzahl der Heirats-
annoncen verfolgen pekuniäre oder unlautere Zwecke und gehören
zu den sogenannten „U ns i 11 lieh ke its annon cen“, die sich
unter allen möglichen anderen Rubriken verbergen. Ich teile im
folgenden einige der bekanntesten Unzuchtsannoncen mit, wobei
ich als Paradigmata lauter Originalannoncen aus den angesehensten
deutschen und österreichischen Zeitungen beifüge. Ich erwähne:
1. Darlehn s anno nee n. Meist bittet hier eine „junge“,
„fesche“ Dame einen älteren Herrn um ein Darlehen oder auch
umgekehrt ein junger Mann richtet die gleiche Bitte an eine
6) Vgl. W. E b s t e i n a. a. 0. S. 46.
7) Vgl. die ausführliche Geschichte der Heiratsannoncen in meinem
„Geschlechtsleben in England“, Charl. 1901, Bd. I, S. 140—159.
78?
„Dame aus besten Kreisen". Manchmal sind es auch „allein-
stehende Damen“, „junge Witwen“ oder „Jungverheiratete Frauen",
die „ohne Vorwissen ihres Mannes“, in „vorübergehender Not-
lage“ einen „Helfer“ suchen. Fast stets sind Notlage und Heirat
fingiert. Es handelt sich meist um Annoncen heimlicher Prosti-
tuierter, nach Art der Masseusenannoncen. Anders ist das fol-
gende Inserat zu deuten:
Welche edeldenkende Dame würde jungem, weitgereistem
Ingenieur 12 000 Mark auf 1/2 Jahr gegen gute Sicherheit leihen?
2. Bekanntschafts-, Freundschafts- und Stel-
lungsgesuche. Sie zerfallen in die beiden Kategorien der
heterosexuellen und homosexuellen Annoncen. Beispiele für
erste re sind:
Junge Witwe, 27 Jahre, sucht freundschaftlichen Verkehr
mit besserer Persönlichkeit, die ihr mit Rat und Tat zur Seite
steht. —
Junge Fremde wünscht Bekanntschaft (1), um aus momen-
taner Verlegenheit zu kommen. —
Kaufmann, mittl. Jahre, sucht die Bekanntschaft einer an-
sehnlichen Dame (magere Figur bevorzugt) zum freundschaft-
lichen Verkehr.
Mehr oder weniger deutlichen homosexuellen Beiklang haben
folgende Annoncen:
Gutsituierte junge Dame, Ende 20er, sucht achtbare solide
Freundin. —
Gebildete Dame mittlerer Jahre sucht Damenklub. —
Gutsituierter älterer Herr sucht freundschaftlichen Verkehr
mit jüngerer Persönlichkeit. —
Junger Kaufmann, Mitte 20er, sucht freundschaftlichen Ver-
kehr mit jungem Herrn aus guter Familie. —
Junge Dame, hier fremd, wünscht Freundin. „Lesbos“.;
Exped. der Zeitung.8)
Besonders scheint sich! eine wohl inzwischen eingegangene,
in München erschienene homosexuelle „psychologisch-erosophische“
Zeitschrift „Der Seelenforscher“ (Herausgeber AugustFleisch-
mann) auf derartige Annoncen verlegt zu haben. In der N0. 11
des 2. Jahrganges vom November 1903 finde ich u. a. folgende
bezeichnende Annoncen:
8) Vgl. Paul Näcke, Zeitungsannoncen von weiblichen Homo-
sexuellen in: Archiv für Kriminalanthropologie von Hans Groß, 1902,
Bd. X, S. 226—229 (aus Münchener Zeitungen).
50*
788
Junger kräftiger (I) Mann, Schweizer, 24 Jahre alt, gut emp-
fohlen, sucht Stelle zu einzelnem Herrn. —
Junger Freundling, 20 Jahre, von angenehmem Aeußern, ehren-
haften und idealen Geistes, 3ucht Position als Korrespondent,
Gesellschafter bei vermögendem, wenn auch älteren Herrn. —
Reich talentierter, manischer Jüngling sucht die Gönner-
schaft eines edlen vermögenden Uraniers. —
Ein sehr braver, liebevoller und netter Jüngling, welcher sich
zurzeit in Staatsstellung befindet, sucht bis längstens Weihnachten
einen vermögenden, gutherzigen und alleinst eh en-
den Herrn, dem er ein treuer Lebensbegleiter, unter Führung
eines angenehmen Lebenswandels, sein könnte und welchem er
bis an das Ende seines Lebens unter treuer Hingebung und Pflicht-
erfüllung zur Seite stehen würde.9)
Auch die zahlreichen Annoncen, in denen junge Mädchen
und Frauen oder Witwen „Stellung“ als Wirtschafterin, Gesell-
schafterin. Hausdame bei „einzelnem“, wohlsituiertem“ Herrn
suchen, dienen meist unsittlichen Zwecken.
3. Briefwechse 1 annoncen. Auch diese bilden eine
ständige Rubrik der Tageszeitungen und dienen teils den Zwecken
der Prostitution oder der Anknüpfung des sexuellen Verkehrs,
teils aber wirklich der Absicht eines mehr oder weniger erotischen
Briefwechsels, wie z. B. aus folgender Anzeige erhellt:
Junger gebildeter Mann sucht anregenden (l) Briefwechsel
mit junger Dame.
Junge Dame wünscht mit gleichgesinnter Dame besserer
Stände in Briefwechsel zu treten.
4. Wohnungsannoncen. Im Mittelpunkt dieser An-
noncen steht das „ungenierte Zimmer“ oder das Zimmer „mit
separatem Eingang“, die „sturmfreie Bude“ des Studenten. Den
Herren werden solche Zimmer meist offeriert, die Damen müssen
dieselben selbst suchen, wie in folgender Annonce:
Dame (Künstlerin) wünscht gut möbliertes ungeniertes Zimmer
mit Kabinett (Bad, Klavier) als Alleinmieterin.
Auch die Annoncen über „tageweise“ zu vermietende Zimmer
sind meist Hinweise auf Gelegenheiten zur Unzucht.
5. Unterrichtsannoncen. Auch hier gibt es eine Form
der Anzeige, die unschwer den wahren Zweck erkennen läßt, z. B.:
9) Ygl. dazu auch P. Näcke, Angebot und Nachfrage von Homo-
sexuellen in Zeitungen. In: Archiv für Kriminalanthropologie 1902,
Bd. VIII, S. 319-350. -
789
Junge Engländerin erteilt' anregenden Unterricht. —
Jeune Française, gaie, (!) bien recomm., qui enseigne de
méthode facile et rapide, donne des leçons.
Sehr häufig sind sadistisch1 - masochistische Unterrichts-
änzeigen, in denen die „Energie“ oder „imponierende Erscheinung“
des Lehrers oder der Lehrerin betont wird, auch das Wort
„Disziplin“ in unverkennbarer Nebenbedeutung vorkommt.
6. Bendezvous* und Postillon d’amour-Annon-
cen. Sie dienen den Verabredungen von Liebespaaren, ehebreche-
rischen Zwecken, sowie der Anknüpfung erster Bekanntschaft.
Beispiele : i
Veronika.
Heute leider verhindert, somit 21. ,
„Drahtlose Telegraphie“.
Vielen Dank für lieben Brief. Fahre heute hinunter Tausend Grüße. L.
„Guter Ruf“.
Brief erliegt unter „Sophie G.“ postlagernd Wien 1/1, Hauptpostamt.
M. S. A.
Heute 4. Bär. 16. 6. A. Bitte b. Nachricht. Innigst K.D.D.
A. 15.
Je n'oublie pas et j’espère.
Häufig sind auch die Bitten um Angabe von Adressen, die
Herren in den Zeitungen an Damen richten, denen sie unter-
wegs flüchtig (in der Stadtbahn, elektrischem Straßenbahnwagen
usw.) begegnet sind. Da wird unter Beschreibung von Aussehen,
Kostüm, Zeit und Ort des ersten Zusammentreffens die be-
treffende Dame ersucht, „vertrauensvoll“ ihre Adresse auf dem
und dem Postamt niederzulegen bezw. zu einem genau bestimmten
Bendezvous zu kommen.
Ein großer Teil de® postlagernden Briefverkehrs
ist erotischer Natur und gehört in diese Kategorie.
7. Vertrauliche Auskünfte. Unter diesem Titel
bieten sich öffentlich in den Zeitungen Individuen an, die gegen
(meist sehr hohes) Honorar das Privatleben, fast ausschließlich
das sexuelle Leben und Treiben von Personen heimlich beob-
achten und mit allen Mitteln skrupellosen Detektivtums dabei
zu Wege gehen. Sie spielen in Ehebruchsprozessen, auf Eifer-
sucht beruhenden Ehezwistigkeiten usw. die Hauptrollen, und
sind ein Krebsschaden unserer Zeit,10) gegen den nicht energisch
10) Vgl. auch die Mitteilung über diese sexuellen Detektivs in dem
Aufsatze „Vom Liebesmarkt“ im „Roland von Berlin“ No. 45 vom
790
genug eingeschritten werden kann, Eine solche Detektava&nonCie
ist die folgende:
Gebeimausküafte!
VertraulichI Aufklärend 1 Unauffällig! Wahrheitsgemäß! Ueberall her!
Außerordentlich zutreffende, beliebte Heiratsauskünfte ; Lebensweise,
Familienverhältnisse, Liaisons, Charaktereigenschaften, Berufstätig-
keit, Gegenwartssituation, Vergangenheitsnachweis, Zukunftsaussichten,
Vermögensverbältnisse, Heiratsmitgift, Verpflichtungen, Verkehrs-
umgang usw.
8. Annoncen zu sexuell perversen Zwecken. Die
Homosexuellen Annoncen wurden bereits erwähnt. Eine größere
Rolle noch spielen die sadistisch-masochistischen An-
noncen, die meist unter der Deckfirma der „Massage“ und
des „Erziehers“ oder der „energischen“ Person gehen. Beispiele:
M a s о c h. Wer interessiert sich dafür 1 Adr. unter „Kismet“,
Annoncenbureau. —
Adlige Witwe, mittleren Alters, energisch, sucht Stellung
bei vornehmem Herrn als Empfangsdame, ev. Vorleserin. —
Cabinet de massage, par dame diplômée, hydrothérapie. Mme.
D. 82, rue Blanche. —
Massage suédois, par dame diplômée, tous les jours de 10 à
8 heures. —
Madame Martinet, leçons de maintien . . .
Monsieur dés. gouvernante gr. et forte, 40 a. sévère,
pour éduc. enfant diffic. A, B. p. r. Amiene.
Energische, distinguierte Frau, in momentaner Verlegen-
heit, wünscht größeres Darlehen nur vom Selbstdarleiher. —
Severin sucht seine Wanda!
Dreißig Mark erbittet junger Mann von Dama „Sacher
Masoch“, Postamt Köpenickerstraße.
Sogar fetischistische Annoncen kommen vor, wie die folgende
eines Schuhfetischisten :
Junger Gutsbesitzer kauft für besondere Sammlung elegante
Schuhe, getragen von hochgestellten Schauspielerinnen und fürst-
lichen Damen.
9. Straßenzettel. Diese werden in den Großstädten von
an den Straßenecken stehenden Individuen verteilt und beziehen
sich meist auf Restaurants mit weiblicher Bedienung. Ein Bei-
spiel möge genügen :
8. November 1906. — In diesem Falle hatte eine eifersüchtige junge
Frau 1500 Mark geopfert, um ihren Gatten durch einen solchen Detektiv
„kontrollieren“ zu lassen.
701
Restaurant zur gemütlichen Sächsin.
Sächsische Bedienung von hübschen jungen Damen, an der Bar
Miß Elly. Klavier- und Gesangvorträge. Um freundlichen Besuch bittet
Die junge Wirtin.
Auch „Chiromanten“, Magnetopathen und andere Charlatane
lassen durch Straßenzettel für sich Reklame machen. In den
romanischen Ländern, besonders in Paris, stehen richtige „Bor-
dellführer“ an den Straßenecken, die die Passanten direkt
zu unzüchtigen Schaustellungen, Unzucht mit Kindern, homo-
sexuellem Verkehr usw. einladen.
Die dritte Form, unter welcher das Sexualleben in der Oeffent-
lichkeit erscheint, ist die der durch die Presse gehenden großen
Skandale und sensationellen Ereignisse mit sexuellem Hinter-
gründe. Ich nenne hier, ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu
erheben, nur die Morde und Selbstmorde aus Eifersucht,
verschmähter oder durch äußere Verhältnisse unglücklicher Liebe,
die den besten Beweis dafür liefern, daß die individuelle „Ein-
liebe“ in unserer Zeit ebenso heftig und leidenschaftlich ist
wie früher, ferner die Ent- und Verführungen, die Ehe-
bruchsskandale und Ehebruchsprozesse, überhaupt
alle vor Gericht verhandelten Prozesse über Sexual-
delikte, die Duelle aus erotischen Motiven, die F amilien-
d r a m e n auf gleichem Hintergründe, die großen Kuppelei-
prozesse, die Entdeckungen geheimer sexueller Klubs
und erotischer Orgien, die Enthüllungen aus
Klöstern und weltlichen Instituten, die Heldentaten
von Hochstaplern, die sehr häufig gerade den Sexualtrieb
anderer Individuen für ihre unlauteren Zwecke ausbeuten usw. usw.
Beispiele für alle diese Kategorien skandalöser und sensationeller
Ereignisse findet man tagtäglich in den Zeitungen. Sie üben
gerade wegen des sexuellen Gewandes sehr häufig eine suggestive
Wirkung aus, so daß man kurz nachher oft von ähnlichen Vor-
fällen hört. Wenn man eine psychische Kontag'ion annehmen will,
so kommt diesen sensationellen Zeitungsberichten ein viel größerer
Anteil daran zu, als der gesamten sogenannten erotischen
Literatur.
792
DBEISSIGSTES KAPITEL.
Das Pornographische in Schrift- und Bildtum.
Wer will das Höchste aus Wollust machen, der krönt ein Schwein
in wüster Lache.
Hans Burgkmair.
793
Inhalt des dreißigsten Kapitels.
Unterschied zwischen Pornographie und Erotik. — Eine alte Doktor-
dissertation über obszöne Bücher aus dem Jahre 1688. — Definition
des Obszönen darin. — Moderne Definition eines obszönen Buches. —
Behandlung der rein geschlechtlichen Beziehungen vom künstlerischen
und wissenschaftlichen Standpunkt. — Beurteilung der Gesamttendenz.
— Sittlichkeitsfanatismus und medizinischeSchriftstellerei. — Die künst-
lerische Behandlung des Sexuellen. — Humoristische Auffassung. —■
Das Erotische in der Karikatur. — Die mystisch-satanistische Auf-
fassung des Sexuellen. — Bedeutung von Individualität und Alter
des Lesers oder Beschauers. — Gefahr der Bibellektüre für Kinder. —
Ein Wort John Miltons darüber. — Bedeutung des kulturgeschicht-
lichen Maßstabes von Zeit und Sitte für die Beurteilung einer erotischen
Schrift. — Beispiel der Werke des Nicolas Chorier und des
Marquis de Sade. — Bemerkung über die neueren deutschen Ueber-
setzungen pornographischer Werke. — Vergleichung der obszönen Bücher
mit Naturgiften. — Die neuere obszöne Literatur. — Merkwürdige Vor-
liebe großer Künstler und Dichter für das pornographisch-erotische
Element. — Französische Zelebritäten als Pornographen (V oltaire,
Mirabeau, Müsset, Gautier, Droz usw.). — Goethe und
Schopenhauer als Erotiker. — Schillers und Goethes Lektüre
französischer Erotik. — Beschäftigung der Frauen mit der porno-
graphischen Literatur. — Obszöne Bilder großer Maler von Lucas
Cranach bis zur Gegenwart. — Pornographische Schundliteratur und
Schundbilder. — Herkunft derselben. — Gefahren der Kolportage-
literatur. — Aussichtslosigkeit der Bestrebungen der Sittlichkeitsver-
eine. — Historische Belege dafür. — Der wahre Weg zur Unschädlich-
machung der Pornographie.
794
"Was ist ein obszönes, pornographisches Buch oder Bild? Zur
richtigen und objektiven Definition dieses Begriffes muß man
sich stets den Unterschied zwischen „Pornographie“ und
„Erotik“ gegenwärtig halten. Die Verwechslung dieser beiden
Begriffe erklärt die großen Meinungsverschiedenheiten der Sach-
verständigen vor Gericht bei Gelegenheit der Beurteilung eines
als „unsittlich“ und „unzüchtig“ inkriminierten Schrift- oder
Bildwerkes.
Das Obszöne ist toto coelo verschieden vom Erotischen. In
meinem Besitze ist eine seltene Schrift, wohl die erste Mono-
graphie über die obszönen Bücher. Sie stammt aus clem Jahre
1688 und ist eine Leipziger Doktordissertation.1) Damals konnte
man noch über solche Themata akademische Abhandlungen
verfassen. Heute wäre das wohl nur noch in der juristischen
Fakultät vom kriminellen Standpunkte aus möglich. Wir haben
bezüglich der unbefangenen wissenschaftlichen und kultur-
geschichtlichen Würdigung der Pornographie gewaltige Rück-
schritte gemacht, und es gehört heute ein gewisser Mut dazu,
auch diese Dinge der wissenschaftlichen Erkenntnis zu er-
schließen und auch diese seltsamen Auswüchse des Menschen-
geistes unbefangen und objektiv zu betrachten.
In der erwähnten Abhandlung gibt der gelehrte Verfasser
auf Seite 5 eine Definition des Obszönen, die erkennen läßt, daß
er letzteres vom Erotischen durchaus nicht unterscheidet, beide
in einen Topf wirft. Nach ihm sind nämlich obszöne Schriften
„alle diejenigen, deren Verfasser sich in deutlichen unzüchtigen
Reden ergehen und frech über die Geschlechtsteile sprechen oder
schamlose Akte wollüstiger und unreiner Menschen in solchen
Worten schildern, daß keusche und zarte Ohren davor zurück-
schaudern.“
Nun können aber dieselben unzüchtigen Schilderungen in einer
D Johannes David Schreber (aus Meißen), De libris
obscoenis, Leipzig 1688, 4°.
795
Schrift Vorkommen, ohne daß diese als „obszön“ bezeichnet werden
kann. Obszön ist nur dasjenige Buch, welches
einzig und allein, ausschließlich zum Zwecke
der geschlechtlichen Erregung verfaßt wurde,
dessen Inhalt auf die Erweckung der groben tierischen Sinnlichkeit
im Menschen abzielt.
Diese Definition schließt alle übrigen Literaturprodukte,
welche trotz einzelner erotischer oder gar obszöner Stellen doch
ganz andere Zwecke als den oben erwähnten ver-
f o 1 ge n , z. B. künstlerische, religiöse, wissenschaftliche (Kultur-
historie, Dichtung, Belletristik, Medizin, Folkloristik usw.) grund-
sätzlich aus.
Die Frage nämlich, ob auch die rein geschlechtlichen
Beziehungen Gegenstand künstlerischer und wissen-
schaftlicher Darstellung sein dürfen, kann man unbedingt
bejahen, wenn man eben eine rein künstlerische bezw. wissen-
schaftlich-kritische Darstellung und Durchdringung erotischer
Objekte voraussetzt, d. h. es muß in dem Kunstwerk oder dem
wissenschaftlichen Werk das rein Sexuelle völlig hinter der
höheren künstlerischen oder szientifischen Auffassung ver-
schwinden. Das ist nur dann möglich, wenn der dargestellte
Gegenstand gänzlich der Aktualität entkleidet und
unter völliger Vernachlässigung von Zeit und Ort mehr nach
seiner allgemein menschlichen Seite betrachtet wird,
wenn ferner in der Wiedergabe des rein Geschlechtlichen zu-
gleich eine das rein Physische verklärende, gewissermaßen
überwindende Auffassung des Künstlers oder eine dasselbe
in seinen kausalen Beziehungen erkennende Kritik des Ge-
lehrten zum Ausdrucke kommt.
Die Gesamttendenz ist maßgebend, nicht die anstößige
Einzelheit. Ich brauche über die Bedeutung medizinischer, ethno-
logischer, psychologischer und kulturgeschichtlicher Werke über
das Sexualleben weiter kein Wort zu verlieren.2) Sie wird glück-
licherweise jetzt auch von den größten Sittlichkeitsfanatikern
anerkannt, und es dürfte wohl in Deutschland nicht Vorkommen,
daß ein Gericht, wie kürzlich in Belgien,3) gegen ein medizi-
2) Vgl. Iwan Bloch, Lex Heinze und die medizinische Schrift-
stellerei. In: Die medizinische Woche No. 9 vom 12. März 1900.
8) Vgl. darüber Aerztlicher Zentral-Anzeiger No. 24 vom 10. Juni
1901.
706
nisches UnterneEmen wegen pornographischer ( I ) Abbildungen
vorgeht.4)
Das gleiche gilt von der künstlerischen Behandlung des
Sexuellen. "Welch dankbaren Stoff bietet z. B. alles Geschlecht-
liche nicht der humoristischen Auffassung dar! Wie kurz
ist hier der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen! In einem
mir vorliegenden Exemplare von Fr. Th. Vischers Erstlings-
schrift „Ueber das Erhabene und Komische“ (Stuttgart 1837),
das einst im Besitze eines Freundes Goethes, des Driburger
Badearztes Anton Theobald Brück war, findet sich auf
S. 203 von dessen Hand die treffende Eandbemerkung : „Guter
Witz vergoldet selbst den Nickel des Obszönen“. Das Geschlecht-
liche fordert geradezu den Witz heraus. Das hat auch Schopen-
hauer ausgesprochen und aus dem ihm zugrunde liegenden
tiefen Ernst erklärt (Welt als Wille und Vorstellung, I, 330).
Daher sind, worauf Eduard Fuchs5 6) mit Recht hin weist, die
Mehrzahl aller erotischen Schöpfungen karikaturistisch. Der
glänzendste Vertreter dieser humoristischen Auffassung des
Sexuellen ist der geniale englische Künstler Thomas Row-
1 a n d s o n, der heute sowohl in England als auch in Deutschland
längst hinter Schloß und Riegel wäre.
Auch das mystisch-satanistische Element im Ge-
schlechtlichen reizt zu künstlerischer Wiedergabe und wir sehen
in den Werken eines Baudelaire, Barbey d’Aurevilly,
Félicien Rops, Aubrey Beardsley, Toulouse Lau-
trec u. a., daß auch das „Perverse“ durchaus einer künst-
lerischen Darstellung fähig ist. Aber selbst die reine Obszönität,
ohne jede Idee, wie sie z. B. in den obszönen Zeichnungen der
Carracci zutage tritt, kann als rein künstlerisches Produkt
*•) Leider habe ich mich in dieser optimistischen Annahme ge-
täuscht. Im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, No. 77 vom
3. April 1906, finde ich nämlich in der Liste der Beschlagnahmen:
„lieber antikonzeptionelle Mittel. Sonderabdruck in der „Deutschen
Medizinischen Presse, Berlin, No. 7 vom 6. April 1899. —■
Unbrauchbarmachung aller Exemplare sowie der zu ihrer Herstellung
bestimmten Platten und Formen (Landgericht I zu Berlin). Bbl. 1905
No. 275, S. 11122.“
6) Eduard Fuchs, Das erotische Element in der Karikatur,
Berlin 1904, S. 10. Vgl. auch Paul Leppin, Das Lächerliche im
Erotischen. In : Das Blaubuch, herausg. von Ilgenstein und Kalt-
hoff, No. 4, vom 1. Februar 1906, S. 149—155.
797
wirken, wenn das Verständnis des Beschauers so weit gereift ist,
daß das rein Sexuelle vollkommen hinter der künstlerischen Auf-
fassung zurücktritt. Man muß überhaupt Individualität und Alter
des Beschauers oder Lesers berücksichtigen. Für Kinder und
unreife Menschen sind sogar jene nicht obszönen, künstle-
rischen, religiösen und wissenschaftlichen Literaturwerke unter
Umständen gefährlich, die der Erwachsene im Geiste ihrer Zeit
anschaut und beurteilt, wie z. B. die Bibel und die Schriften
der Kirchenväter. Der gewiß nicht unfromme John M i 1 -
ton6) schrieb: „Die Bibel erzählt oft Blasphemien auf keine
zarte Weise, sie schildert den fleischlichen Sinn laster-
hafter Menschen nicht ohne Eleganz.“ — Kinderlektüre
kann daher nicht sorgfältig genug überwacht werden, da ein
sehr großer Teil auch der Literatur, die nicht eigentlich obszön
ist, aber geschlechtliche Dinge berührt, auf die kindliche
Phantasie so wirkt wie die wirkliche Pornographie auf den
Erwachsenen.
Zur Beurteilung einer erotischen Schrift muß man endlich
den kulturgeschichtlichen Maßstab der Zeit und der
Sitte anlegen. Vieles, was uns heute obszön erscheint, war es
im Mittelalter nicht; andererseits kannten schon die Alten Porno-
graphen und rein obszöne Bücher. Werken, wie z. B. denjenigen
des Marquis de Sade oder des Nicolas Chorier („Gespräche
der Aloysia- Sigaea“) kommt nicht bloß eine kulturhistorische
Bedeutung zu, sie haben auch für den Anthropologen und
Mediziner ein Interesse als merkwürdige Dokumente der Art und
Aeußerung geschlechtlicher Perversitäten in früheren Zeiten.
Auch liefern alle pornographischen Schriften lehrreiche Beiträge
zum Studium der Genesis sexueller Perversionen. Wenn man aber
diese Bedeutung z. B. der Werke de S ades für Gelehrte und
Bibliophilen gelten läßt, so kann es nicht scharf genug verur-
teilt werden, daß in neuerer Zeit das wahnsinnige Unternehmen
einer — Uebersetzung de Sades gemacht wurde. Hier liegt
reine Pornologie vor. Denn alle diejenigen, die sich vom Stand-
punkte des Mediziners, Psychologen oder Kulturforschers mit der
pornographischen Literatur beschäftigen, sind auch imstande oder
sollten es wenigstens sein, diese Autoren in der Originalsprache
6) John Miltons Areopagitica, deutsch von E. Eoepell,
Berlin 1851, S. 16,
798
zu lesen.7) Ich kann daher das Heer der kürzlich erschienenen
deutschen Uebersetzungen der pornographischen Schriften von
John Cleland, Mirabeau, Nerciat, de Sade, der
„Antijustine“ des E-etif de la Bretonne, des „Portier des
Chartreux“, Alfred de Mussets „Gamiani“ usw. nur als
Pornographie bezeichnen, wenngleich ich zugeben muß, daß die
Originalausgaben dem wissenschaftlich interessierten Forscher oft
unzugänglich sind und er sich dann faute de mieux mit Ueber-
setzuDgen begnügen muß.
Man kann die obszönen Schriften mit Giften der Natur
vergleichen, die ja auch genau studiert werden
müssen, aber nur denen an vertraut werden, die ihre schäd-
lichen Wirkungen genau kennen, beherrschen und paralysieren
können und sie als ein Objekt der Naturforschung betrachten,
das ihnen das Verständnis für andere Erscheinungen vermittelt.
Das pornographische Element in Schrift- und Bildtum8) hat
eine alte Geschichte. In Griechenland, Rom, Aegypten, besonders
aber in Indien, Japan und China gab es eine umfangreiche
obszöne Literatur. In Europa nehmen die französische,
italienische und englische obszöne Literatur nach Um-
fang und Verbreitung die erste Stelle ein. Am gefährlichsten
wirken die französischen Pornographica, weil sie in eine elegante
Form gekleidet sind, während die englischen Erotika, mit einziger
Ausnahme von Clelands „Fanny Hill“ geradezu abschreckend
durch die Roheit der gemeinen Ausdrücke wirken und die
deutschen Schriften auf diesem Gebiete nicht viel besser sind
als die englischen und zu einem großen Teile aus schlechten
Uebersetzungen fremder Pornographica bestehen, abgesehen von
7) Eine Ausnahme macht der im italienischen Original äußerst
schwer verständliche A r e t i n o , von dem ich daher eine so meister-
hafte Uebersetzung, wie sie der Insel-Verlag gebracht hat, für gerecht-
fertigt halte.
8) Zur Orientierung über die moderne Pornographie empfehle ich
vor allem die auf amtlichem Material beruhende Schrift von Ludwig
Kemmer, Die graphische Reklame der Prostitution, München 1906. —
Vgl. ferner Heinrich Stümcke, Die unsittliche Literatur der
Gegenwart in: Zwischen den Garben, Leipzig 1899, S. 100—107; der-
selbe, Literarische Sünden und Herzenssachen, Berlin 1894, S. 30—34;
Sebastian Brant, Die Prostitution auf der Großen Berliner Kunst-
Ausstellung 1895, 2. Auflage, Berlin 1895. — Die Kapitel über erotische
Literatur und Kunst in meinen „Neuen Forschungen über den Marquis
de Sade, 1904, S. 237—272, „Geschlechtsleben in England, III, 236—473,
799
einigen älteren Produkten, die immer wieder neu aufgelegt werden,
wie die „.Denkwürdigkeiten des Herrn v. H.“ von Schilling
oder die „Memoiren einer Sängerin“, deren erster Teil der be-
rühmten Wilhelmine Schröder-Devrient zugeschrieben
wird. Es ist überhaupt eine merkwürdige Erscheinung und wider-
spricht durchaus der Behauptung der Lex Heinze-Männer, daß
Pornographie und wahre Kunst sich nicht miteinander vertragen,
daß so viele Geister ersten Ranges, große Künstler in Wort
und Bild, selbst die Pornographie durch eigene Werke be-
reichert haben bezw. wenigstens Liebhaber derselben gewesen sind.
Das trat schon in der italienischen Renaissance deutlich hervor,
läßt sich aber bis zur Gegenwart verfolgen. Männer wie
Voltaire („La Pucelle d’Orléans“), Mirabeau („L’éducation
de Laure“, „Ma conversion“ usw.), Alfred de Musset (,,Ga-
miani“), Guy de Maupassant („Les cousines de la colonelle“),
Théophile Gautier („Lettre à la présidente“), Gustave
Dr o z („Un été à la campagne“) haben echte und rechte porno-
graphische Bücher geschrieben. Aber auch unsere deutschen
Literaturheroen waren von solchen Neigungen nicht frei. Goethe
schrieb nicht bloß das „Tagebuch“, sondern auch andere noch
gänzlich unbekannte Erotika, die auf Befehl der Groß-
herzogin Sophie versiegelt und sekretiert worden sind.9)
Schopenhauer, der zu Frauenstädt10) sagte, ein Philo-
soph müsse „nicht bloß mit dem Kopfe, sondern auch mit dem
Genitale aktiv sein“, war ein Liebhaber von Pornographicis, so-
9) Vgl. G. Ilirth, Wege zur Liebe, S. 352. Diese Tatsache hat
mir Herr F. v. Biedermann ebenfalls bestätigt. Als Frauenstädt
einmal zu Schopenhauer sagte, daß Goethe außerhalb des Hofes
gern zynische Ausdrücke gebraucht habe, erwiderte Schopenhauer:
„Ja, es hat gar vieles nebeneinander Platz im Menschen“, und er
bestätigte aus eigener Erfahrung, daß Goethe derbe Ausdrücke geliebt.
Vgl. Schopenhauers Gespräche und Selbstgespräche. Herausgegeben von
E. Grisebach, Berlin 1902, S. 40. Zum Stiftungsfeste 1907 des Ber-
liner Bibliophilen-Abends hat Flodoard Freiherr von Bieder-
mann aus dem Nachlasse seines Vaters Woldemar v. B. „Ver-
heimlichte Epigramme Goethes“ veröffentlicht (Privatdruck in nur
40 Exemplaren). Viele ähnliche erotische Gedichte Goethes werden
noch im Goethe-Archiv sorgsam verwahrt und der Oeffentlichkeit ent-
zogen.
10) Arthur Schopenhauer von E. O. Lindner und Memorabilien,
Briefe und Nachlaßstücke, herausgegeben von Julius Frauen-
städt, Berlin 1862, S. 270,
800
gar solchen skatologischer Natur, und erzählte gern „zynische
Geschichten, die sich nicht wiedergeben lassen“, z. B. auch über
die verschiedenen Arten von Küssen, über die Ausartungen des
Geschleohtstriebes usw.11) Schiller und Goethe erfreuten sich
an der Lektüre von Diderots „Nonne“ und „Bijoux indiscrets“,
sowie R é t i f s „Monsieur Nicolas“ und der „Liaisons dange-
reuses“ des Choderlos de Laclos, welche Bücher heute als
„unzüchtig“ konfisziert wurden. Ebenso war Lichtenberg ein
sehr eifriger Leser und großer Kenner nicht bloß der erotischen,
sondern auch der pornographischen Literatur ; er erwähnt in seinen
Briefen z. B. die Lektüre von Pornographicis wie Clelands
„Woman of pleasure“ (Briefe ed. Leitzmann und Schüdde-
kopf Bd. II S. 187) und „Lyndamine“ usw. Auch geistreiche
Frauen lasen zu jener Zeit Pornographica. Die Geliebte des
Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, Pauline Wiesel,
begeisterte sich für Mirabeaus obszöne Schriften, wie aus
einem Briefe von Friedrich Gentz hervorgeht, wo dieser sie
als „kalte Libertinagen“ ablehnt und der Freundin ähnliche Pro-
dukte Voltaires, Crébillons und Grécourts empfiehlt.12 13 * *)
Diese Tatsachen entschuldigen nicht etwa die Pornographie,
sondern widerlegen nur die These, daß sie echtes künstlerisches
Empfinden ausschließe. Es hat eben, wie Schopenhauer
richtig erklärt, vieles im Menschen nebeneinander Platz. Das
tritt noch deutlicher in der bildenden Kunst hervor. Ein Durch-
blättern von Eduard Fuchs’ Buch über das erotische Element
in der Karikatur lehrt, daß die größten Maler auch gelegentlich
direkt unzüchtige, obszöne Bilder gemalt bezw. gezeichnet
haben. Ich nenne nur die Namen Lucas Or an ach, Anni-
bale Carracci, H. S. Beham, Rembrandt, G. Aide-
grever, Adrian van 0stade, Watteau, Boucher,
Fragonard, Vivan-Denon, Gillray, Lawrence,
Rowlandson, Heinrich Hamberg, Wilhelm von
Kaulbach, Schadow, Otto Greiner, Willette,
Kubin, Julius Pascin18), Beardsley u. a.
u) Schopenhauers Gespräche und Selbstgespräche, S. 42, 53, 106.
12) Rudolf v. Gottschall, Die deutsche Nationalliteratur
des neunzehnten Jahrhunderts, 5. Auflage, Breslau 1881, Bd. I, S. 255.
13) Vgl. über diesen neuerdings bekannt gewordenen Maler des
Perversen: Max Ludwig, Erregungen und Beruhigungen, in: Welt
am Montag vom 21. Dez. 1906, 1
801
Neben dieser höheren Pornographie gibt es min auch eine
niedere: obszöne Schundschriften und pornographische Bilder
schlimmster Art, wie Ansichtspostkarten, „Aktphotographien“
usw., in denen alle möglichen sexuellen Perversitäten durch
Druck oder Bild dargestellt werden (Onanie, „Poses lubriques“',
Darstellung nackter Körperteile, kopro- und urolagnistiseher
Akte, Sodomie, Sadismus, Masochismus, Päderastie, Inzest, Kinder-
unzucht, Orgien, obszöne Paraphrasen von Sprichwörtern, Not-
zucht usw.). Ueber den Vertrieb dieser Obszönitäten und die
Reklame dafür durch Kataloge und Inserate macht Kemmei
(a. a. O. S. 31—45) eingehende Mitteilungen. Sie werden in
Frankreich, Deutschland, Belgien, Spanien (besonders Barcelona)
hergestellt. Ihre Gefährlichkeit ist unbestreitbar, sie wirken
suggestiv und reizen zur Nachahmung, ja vermögen direkt
sexuelle Perversitäten zu erzeugen.14) Aber sie sind nicht so ge-
fährlich, wie die eigentliche Kolportageliteratur15) und
die populären Schundschriften über „geheime Sünden“.
Diese allein erhitzen die Phantasie zu Verbrechen und sexuellen
Schandtaten. Das ist eine alte Erfahrung. In dem im Jahre 1901
verhandelten Knabenmordprozeß Thärigen-Kroft (vgl. Voss. Ztg.
No. 161 vom 5. April 1901) bekannten die beiden Mörder, durch
Hintertreppenromane, Indianer- und Räubergeschichten zu ihrem
Verbrechen angefeuert worden zu sein. Die gleiche Ursache gab
ein im Dezember 1906 in Kottbus wegen Mordes angeklagter
14 jähriger Knabe an.
Wie ist nun den sittlichen Schäden durch eine solche Lite-
ratur entgegenzuwirken ? Ich halte alle Bestrebungen der Ver-
eine zur Bekämpfung der Unsittlichkeit für illusorisch und zwei-
schneidig, da sie ihren Zweck stets verfehlen und leider
auch, worüber kein Zweifel sein kann, die Freiheit von Kunst
und Wissenschaft gefährden.16) Alle Maßnahmen, die von Kindern
14) Ygl. darüber meine „Beiträge zur Aetiologie der Paychopathia
sexualis“, I, 194—200.
15) Vgp Paul Dehn, Moderne Kolportage - Literatur, Stutt-
gart 1894; Der Kampf gegen die Schundliteratur. In: Nationalzeitung
683 vom 11. Dez. 1906; Johannes Liebert, Das Indianerbuch und
die BackfischerzäBlung. In: Der Zeitgeist No. 51 vom 17. Dez. 1906.
16) Die Literatur über die Bekämpfung der Pornographie ist sehr
groß. Ich nenne: Francisque Sarcey, La presse pornographique,
in: Le Livre. Bibliographie moderne. November 1880, Paris 1880,
S. 287—289; Hermann Roeren, Die öffentliche Unsittlichkeit
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.) 51
802
ünd unreifen Individuen, für die auch wissenschaft-
liche Bücher, religiöse Schriften, wie z. B. die
ün kastrierte Bibel, sowie illustrierte Witz-
blätter usw. gefährlich sein können, eine Lektüre
fernhalten, die zu sexuellen Beizungen Veranlassung geben
könnte, sind zu billigen. Aber im übrigen dienen alle
Verbote und der ganze Kampf gegen die Unsittlichkeit nur dazu,
die Pornographie zu fördern. Je strengere Maßnahmen
gegen dieselbe getroffen werden, um so größer die Ver-
breitung. Das ist eine uralte Erfahrung, eine unum-
stößliche Tatsache. Schon Tacitus (Ann. XIV c. 50) hat diese
eigentümliche Erscheinung richtig erklärt: „Libros exuri jussit,
conquisitos lectitatosque, donec cum periculo
parabantur: mox licentia habendi oblivionem attulit“. Sind
die seit 500 Jahren vom Henker öffentlich verbrannten, die
konfiszierten und angeblich in allen Exemplaren vernichteten
pornographischen Bücher, die obszönen Kupferstiche usw., deren
Platten zerstört wurden, etwa vom Erdboden verschwunden ?
Haben alle diese Konfiskationen und „Condamnations“16) der
und ihre Bekämpfung, Köln o. J. (ca. 1903) ; F. S. Schultze, Die
Unsittlichkeit und die christliche Familie, Leipzig 1892 ; Jacques
Jolowicz, Der Kampf gegen die Unzucht, Leipzig 1904;. — Unter
den Gegenschriften : Karl Frenzei, Die Kunst und das Straf-
gesetz, Berlin 1885; (Erwiderung darauf von Max Heinemann, Der
Prozeß Graef und die deutsche Kunst, Berlin 1885) ; Die moralische
Heilsarmee in Berlin. Männerbund zur Bekämpfung der öffentlichen
Unsittlichkeit. Ein Zeitbild von ***, Berlin 1889; Gegen Prüderie
und Lüge, München 1892, enthält u. a. : „Die Unsittlichkeitsentrüstung
der Pietisten und die freie Literatur“ von Dr. Oskar Panizza;
Georg Keben, Die Eselsbrücken der Sittlichkeit. Eine Antwort der
Antiphilister, Berlin 1900; Heinrich Schneegans, Prüderie und
Wissenschaft, in : Frankfurter Zeitung, No. 123 vom 5. Mai 1906 ;
Strafrecht und Sittlichkeit, in: Yossische Zeitung 447 vom 24. Sep-
tember 1903 (gegen die Konfiskation von Hans v. Kahlenbergs
„Nixchen“).
1T) Ueber den Umfang dieses Kampfes gegen die Pornographie
unterrichten: „Catalogue des Ecrits, Gravures et Dessins condamnés
depuis 1814 jusqu’au 1er janvier 1850, suivi de la liste des Individus
condamnés pour délits de presse“, Paris 1850; „Catalogue des ouvrages
condamnés comme contraire à la morale publique et aux bonnes moeurs
du 1er janvier 1814 au 31 décembre 1873“, Paris L874 ; Fernand
D r u j o n, Catalogue des ouvrages, écrits et dessins de toute nature
poursuivis, supprimés ou condamnés depuis le 21 octobre 1814 jus-
803
„livres défendus“ etwas genützt ? Nein, alle die tausendmal
konfiszierten, vernichteten pornographischen Schriften tauchen
immer wieder von neuem auf, ja, sie werden um so
zahlreicher, je mehr man sie verfolgt. Der Kampf gegen sie
war von jeher ein Kampf gegen eine Hydra, eine Danaidenarbeit.
Er hat gar keinen Zweck und nur den Nachteil, daß bei dem
allgemeinen Eifer, der „unsittlichen“ Literatur den Garaus zu
machen, wissenschaftliche und künstlerische Interessen aufs
ernsteste gefährdet werden. Glücklicherweise ist dieser Kampf
heute weniger dringend als je. Im Verhältnis der Bevölkerung
war die unsittliche Literatur vor 1870 in Deutschland weit
mehr verbreitet als heute, gerade in den 50er und 60er Jahren
des 19. Jahrhunderts blühte sie besonders üppig, auch zur Zeit
der Freiheitskriege wurden in Deutschland zahlreiche originale
obszöne Bücher gedruckt. Heute ist das Interesse für soziale,
naturwissenschaftliche, technische und philosophische Fragen, für
den Sport ein so großes geworden, auch dasjenige für sexuelle
Fragen so vertieft worden, daß ein Ueberwuchern der Porno-
graphie nicht zu befürchten ist. Hieraus kann man schon den
<einzigen und richtigen Weg erkennen, den man zu
gehen hat, um die üblen Wirkungen der Pornographie zu para-
lysieren. Das ist die Sorge für gediegene Volksbildung
und die Vermehrung der Bildungsgelegenheiten, sowie die
Verbilligung der Bücher. Ein einziges Unternehmen wie die
von A. Beimann herausgegebene „Deutsche Bücherei“ (pro
Band 25 Pfennige), eine Sammlung der besten erzählenden Lite-
ratur und populärwissenschaftlicher Arbeiten aus der Feder her-
vorragender Gelehrten und Essayisten gräbt der Schundliteratur
mehr Boden ab als sämtliche Vereine zur Hebung der Sittlichkeit.
qu'au 31 juillet 1877 etc., Paris 1878 ; Index Librorum Prohibitorum
Sanctissimi Domini, Pii IX. Pont. Max. Jussu editus. Editio novissima
in qua libri omnes ab Apostolica Rede usque ad annum 1876 proscripti
suis locis recensentur. Rom 1876; Catalogue des livres défendus par
la Commission impériale et royale jusqu’à l’année 1786, Brüssel 1788;
•O. Delepierre, Des livres condamnés au feu en Angleterre. Für
Deutschland vergl. die regelmäßigen Mitteilungen über die verbotenen
und konfiszierten Druckschriften im „Börsenblatt für den deutschen
Buchhandel“..
61*
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL.
Die Liebe in der belletristischen Literatur.
Ja, es fragt sich, ob nicht gerade dieses dnrch die Kultur unserer
Zeit verbotene Erotische von der Kunst dargestellt werden muß,
weil es einem tiefinneren Bedürfnisse des Menschen, einer Sehnsucht
nach Ergänzung seiner lückenhaften Existenz entspricht.
Konrad Lange.
805
Inhalt des einunddreißigsten Kapitels.
Die Liebe der Kern der Belletristik. ■— Notwendigkeit des erotischen.
Elementes in der schönen Literatur. — Aeußerungen des Aesthetikers
Konrad Lange darüber. — Dos Sexuelle in der Belletristik wesent-
lich Problemliteratur. — Als Zeitspiegel. — Schilderung der Pubertät
in unseren Dichtungen. — Der Demivierge-Typus. — Die „Yera“-Bücher.
— Misogynie und asketische Romane und Gegenschriften. — Das Ver-
hältnis und die freie Liebe in der Literatur. — Der regellose Sexual-
verkehr. — Die Ehe in der Literatur. — Ehebruchsromane. — Die
emanzipierte Frau in der Belletristik. — Die Romane der Gefallenen.
— Vorläufer und Nachahmungen des „Tagebuchs einer Verlorenen“. —
Belletristische Schilderungen des Bordell- und Prostitutionslebens. —
Alkoholismus und Syphilis in der Literatur. — Sexuelle Perversitäten
in der Belletristik. — Larocques „Voluptueuses“ usw. — Die Homo-
ond Bisexualität in der Belletristik. — Masochismus und Sadismus. —
Psychologische Liebesromane. — Ernstere und tiefere Auffassung der
sexuellen Fragen in der modernen Belletristik.
806
Daß die Liebe von jeher den Kern aller schönen Literatur
ausgemacht hat, ist ja eine bekannte Tatsache. Es dürfte auch
wohl nur wenige neuere Bomane oder Dramen geben, in denen
sie nicht eine Bolle spielte. Es ist eine Fabel, daß das Sexuelle
erst heute mit besonderer Vorliebe in der Belletristik be-
handelt würde, daß das Vorherrschen der erotischen Literatur,
die von der pornographischen durch ihre künstlerische Absicht
und Form zu unterscheiden ist, ein Kennzeichen der modernen
Kultur sei. Ein Blick in den die erotische Weltliteratur ent-
haltenden Katalog der Bibliothek des Dichters und Bibliophilen
Eduard Grisebach1) lehrt ihre Existenz bei allen Kultur-
völkern und zu allen Zeiten. Daß das Erotische nicht bloß eine
Berechtigung hat in der schönen Literatur, sondern sogar eine
Notwendigkeit ist, hat sehr richtig der Aesthetiker Konrad
Lange2) erkannt. Wer, der die menschliche Natur kennt, könnte
auch daran zweifeln ? Lange äußert sich u. a. folgendermaßen
darüber:
„Eine Kunst, die das Nackte darstellt, weil es ihr Gelegenheit
gibt, in der Darstellung des Fleisches zu schwelgen, weil sie den
Menschen für die Krone der Schöpfung hält und den zweckmäßigen
anatomischen Bau seines Körpers bewundert, die ist in ihrem
Rechte, die tut, was sie darf und soll . . .
Wenn wir das Nackte in der Malerei und Plastik nicht für an-
stößig halten, obwohl es uns selbst nicht einfällt, im Leben nackt
zu gehen, so werden wir auch in der Poesie das Ero-
tische zuweilen in einer Form zulassen müssen, in
der wir ihm im Leben keine Berechtigung zugestehen.
Ja, es fragt sich, ob nicht gerade dieses durch die Kultur unserer
*) Eduard Grisebach, Weltliteratur-Katalog. Mit litera-
rischen und bibliographischen Anmerkungen. 2. Auflage, Berlin 1905.
2) K. Lange, Das Wesen der Kun** Berlin 1901, Bd. II,
S. 161—177.
807
Zeit verbotene Erotische von der Kunst dargestellt werden muß,
weil es einem tiefinneren Bedürfnisse des Menschen, einer Sehnsucht
nach Ergänzung seiner lückenhaften Existenz entspricht . . .
Die Liebe ist nun einmal neben dem Hunger und Durst das
stärkste Gefühl im Menschen, ihr Genuß neben dem Tod eines seiner
wichtigsten Erlebnisse. Kein Wunder, daß auch die Kunst eine be-
sondere Neigung hat, sie zu schildern. Eine Kunst, die überhaupt
das Leben darstellen will, kann einen Instinkt, der im Leben der
meisten Menschen eine so große Rolle spielt, aus dem so zahlreiche
Konflikte hervorgehen, nicht unberücksichtigt lassen. Ueber den Grad
und die Art der Schilderung entscheiden aber keine morali-
schen, sondern lediglich ästhetische Erwägungen.
Die Aufgabe des Dichters ist nur, die Uebertretung des Sittenkodex
so zu schildern, daß sie sich aus der ganzen Handlung, aus den
Charakteren, den äußeren Verhältnissen mit Notwendigkeit ergibt.
Dann tritt der unmoralische Inhalt in den Dienst der Illusion.“
Es ist natürlich unmöglich, in dem beschränkten Rahmen
dieses "Werkes, eine erschöpfende Darstellung des sexuellen
Elementes in der modernen Belletristik zu geben. Ich kann nur
auf einige bekanntere Erscheinungen hinweisen, die alle ein Ge-
meinsames habeü. Die Liebe und das Sexuelle in der Belletristik
ist wesentlich P r o b 1 e m literatur. Der Ernst und das tiefe
soziale Empfinden, mit dem heute die sexuellen Fragen betrachtet
und erörtert werden, spiegelt sich auch in der schönen Literatur
wieder. Der Erwachsene will längst auch hier über das Niveau
seichter Erzählungskunst und Backfischmoral erhoben sein und
verlangt eine ernste und aufrichtige Darstellung der sexuellen
Fragen. Mit Recht bemerkt Frey,3) daß es ein allgemeinerer
und gesünderer Zug der Zeit als der perverser Neugier sei, der,
zur Wahl erotischer Stoffe drängt. In der wirtschaftlich determi-
nierten Frone durchschnittlichen Geschicks, in der Abenteuerarmut
und Monotonie eines zivilisierter geregelten Lebens sei es die
Erotik allein, die individuelle Farben in manches Dasein bringt.
Ich gebe im folgenden nur eine kurze orientierende Ueber-
sicht über die in der neueren Belletristik behandelten sexuellen
Probleme, um einen Begriff davon zu geben, wie viele und
interessante Vorwürfe heute die verschiedenen Erscheinungen des
Sexuallebens dem Dichter liefern.
Schon die ersten sexuellen Regungen des Kindes sind
s) Philipp Frey, Der Kampf der Geschlechter, Wien 1904,
S. 33-34.
808
dichterisch behandelt worden, so in Frank Wedekinds Drama
„Frühlingserwachen“, dann die sexuellen Nöte der Puber-
tätszeit in Bonnetains berüchtigtem Onanistenroman
„Chariot s’amuse“, in Walter Bloems Roman „Der krasse
Fuchs“, in Max von Münchhausens „Eckhart von Jeperen“
und ergreifend in dem Romane „Lothar oder Untergang einer
Kindheit“ von Oscar A. H. Schmitz.
Der Typus des sexuell frühreifen, physisch zwar noch intakten,
aber seelisch verderbten Mädchens ist durch Marcel Prévosts
„Demivierge“ bekannt geworden, zu welchem Roman das deutsche
„Nixchen“ von Hans von Kahlenberg das Seitenstück
bildet. Edlere Typen der mit dem Laster spielenden Mädchen
schildert Clara Eysell-Kilburger in „Dilettanten des
Lasters“.
Ihnen diametral entgegengesetzt sind die „Vera“-Charaktere,
so genannt nach dem Buche von Vera „Eine für Viele. Aus
dem Tagebuche eines Mädchens“, die vom Manne dieselbe Reinheit
und Keuschheit vor der Ehe fordern, wie er sie von ihnen ver-
langt. Die Svava in Björnsons Drama „Der Handschuh“ ist
ein solcher Typus. Ueber dieses Problem entstand eine ganze
Literatur, die sich an die erste Schrift von Vera anschloß, wie
„Eine für sich selbst“ (von „Auch Jemand“), „Einer für Viele“',
„Eine für Vera. Aus dem Tagebuche einer jungen Frau“ für
und Christine Th a 1er „Eine Mutter für Viele“, Verus
„Einer für Viele“ und „Kranke Seelen. Von einem Arzte“ gegen
die Vera-Forderung der männlichen Enthaltsamkeit vor der Ehe.
Hier schließen sich an die die Misogynie verherrlichenden
Romane von Strindberg „Beichte eines Toren“ und „Ver-
gangenheit eines Toren“, während Tolstoi in der „Kreutzer-
sonate“ labsolute Askese verlangt. Diese Ideen, die inWeininger
einen pseudowissenschaftlichen Apologeten fanden, bekämpft eine
interessante Autobiographie in novellistischer Form „Das Weib
vom Manne erschaffen. Bekenntnisse einer Frau“ (Aus dem
Norwegischen übersetzt von Tyra Bentsen). Zolas herr-
licher Hymnus auf die Fruchtbarkeit in „Fécondité“ ist eine
'Widerlegung dieses extrem asketiseh-malthusianischen Stand-
punktes.
Das „Verhältnis“ und die „freie Liebe“ sind heute Gegen-
stand unzähliger Romane und Novellen. T o v o t e behandelt das
Problem in „Im Liebesrausch“ und anderen Novellen mehr ober-
809
fläch lieh von der derbsiimlichen Seite, die ideale, allerdings mit
der Heirat schließende freie Liebe wird in Peter Nansens
„Maria“ geschildert. Ebenso gedenkt Frenßen in „Hilligenlei“
des vielfach auf dem Lande üblichen vorehelichen Geschlechts-
verkehrs, wie in dem Beispiel von Wilhelm Boje und Hella
Andersen und der ersten freien Liebe von Anna Boje und geißelt
in strengen Worten die Zurückdrängung natürlicher Triebe durch
die konventionelle Moral.4)
In „Martin Birks Jugend“ hat Hjalmar Söderberg die
große Not idealer junger Männer geschildert, die nicht imstande
sind zu heiraten und den Verkehr mit gewöhnlichen Prostituierten
verabscheuen.
Im Gegensätze hierzu hat Camille Lemonnier in „Die
Liebe im Menschen“ die großen Gefahren des Ueberwucherns
des Sexuellen dargestellt, ebenso wie Arthur Schnitzler in
seinem köstlichen „Beigen“ die ganze Misere des regellosen
Sexualverkehrs, der eigentlichen „wilden Liebe“ und ge-
schlechtlichen Promiskuität uns drastisch vor Augen führt.
Die soziale Aechtung und die heutigen verhängnisvollen
Folgen der freien Liebe in Gestalt der unehelichen Mutter-
schaft haben in Dramen wie Sudermanns „Heimat“, Ger-
hart Hauptmanns „Bose Bernd“, und Bomanen wie Ga-
brieleBeuters „Aus guter Familie“, Johann Bo jers „Eine *)
*) „Die bürgerliche Sitte ist die große Mörderin, sie mordet dir
und vielen deiner Schwestern die Jugend. Sieh’, wenn wir in natür-
lichen Zuständen lebten, dann würdest du immer, von den Tagen
deiner Kindheit an, von jungen Leuten des anderen Geschlechts um-
geben gewesen sein. Der eine hätte dir eine Freundlichkeit erwiesen;
der andere hätte dich aus der Ferne verehrt, mit dem dritten hättest
du fröhlich gespielt. Seit deinem zwanzigsten Jahre aber hätten drei
oder vier oder mehr herzlich und heiß um dich geworben, weil du
stark und schön und keusch bist. Und so wärest du mit Weinen,
Zanken und Vertragen, Spielen und Küssen allmählich ein Weib ge-
worden. So ist es ja bei den Arbeiter- und Handwerkerkindem noch.
Ein schönes, keusches, fleißiges Arbeiterkind hat Bewerber übergenug.
Aber beim Stand der sogenannten gebildeten Leute hat die Sitte die
ganze schöne Natur verdreht und verzerrt .... Wo die bürgerliche
Jugend geht und steht, da geht und steht als eine alte, jugend-
feindliche Tante die Sitte und verdirbt euch armen Mädchen die beste
Lebenszeit, und viele kommen nicht zum Heiraten und viele kommen
zu spät dazu.“
810
Pilgerfahrt“ und Ernst Eberhardts „Das Kind“ ihren
Ausdruck gefunden.
Auch in der schönen Literatur tritt es in die Erscheinung,
welch eine brennende Zeitfrage die Zwangsehe geworden ist.
Vor allem hat Ibsen in den „Gespenstern“, in „Nora“, der „Frau
vom Meere“, „Hedda Gabler“, ,„Klein Eyolf“ die gewaltigen
Schäden der modernen Konventionsehe aufgedeckt und das Ideal
einer neuen Ehe auf Grund tief innerlicher Auffassung der Liebe
und auf Grund gemeinsamer Lebensarbeit aufgestellt. Der Ein-
fluß Ibsens zeigt sich in allen das Eheproblem behandelnden
Dramen und Romanen. Ich erwähne nur als besonders gelungen
in dieser Beziehung Ludwig Fuldas Drama „Die Sklavin“,
ferner „Fanny Roth. Eine Jung*-Frauengeschichte“ von Grete
Meisel-Heß und Karl Larsens „Was siehst du aber den
Splitter“.
Die wichtige Frage der Bedeutung der Standes- und Klassen-
unterschiede für die Ehe hat Ernst v. Wildenbruch in
seinem Drama „Die Haubenlerche“ behandelt.
Die klassischen Ehebruchsromane sind und bleiben
Erneste Feydeaus entzückende „Fanny“ und Gustave
Flauberts „Madame Bovary“, wie überhaupt in der franzö-
sischen Literatur, auch der dramatischen, der Ehebruch ein be-
liebtes Motiv bildet.
Auch einzelne besonders charakteristische Erscheinungen
des Sexuallebens haben dichterische Darstellung gefunden. So hat
Ernst v. Wo 1 zogen in „Das dritte Geschlecht“ die ver-
schiedenen Typen der emanzipierten Frau geschildert,
ebenso Maria Janitschek in „Die neue Eva“. Auch Anna
Mahr in Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen“ ist
solch ein Typus. Von allen wird der besonders aktuelle Konflikt
zwischen Weib und Persönlichkeit behandelt (besonders deutlich
und drastisch in M. Janitscheks Novelle „Das neue Weib“
in: Die neue Eva, S. 191—218).
Das Gegenstück zum Weibe, das eine Persönlichkeit werden
will, bildet das Weib, das sie niemals hatte bezw. ganz verloren
hat, das nur noch Sache, Objekt des Genusses für den Mann ist:
die Prostituierte. Ich erwähnte schon oben (S. 351), daß
Margarete Böhme mit ihrem sensationellen „Tagebuch einer
Verlorenen“ keineswegs die erste in der Darstellung des Lebens-
laufes von, Prostituierten gewesen sei. Schon aus dem 16. Jahr-
811
Kundert stammen solche Romane, wie z. B. die berühmte „Lozana
Andaluza“ des Francisco Delgado, auch Defoes ^Ge-
schichte der Moll Flanders“ und des Abbé Prévost „Manon
Lescaut“ (beide aus dem 18. Jahrhundert) gehören hierher. Außer
den „Memoiren einer Hamburger Prostituierten“ (s. oben S. 351)
existieren aus dem 19. Jahrhundert noch andere Vorläufer des
„Tagebuchs einer Verlorenen“, wie die „Fille Elisa“ E. Gon-
courts, Leon Leipzigers „Ballhaus-Anna“ u. a. Daß Frau
Böhmes im übrigen ausgezeichnetes Buch bald Nachahmungen
finden würde, wie z. B. Hedwig Hards „Beichte einer Ge-
fallenen“, wie „Das Tagebuch einer anderen Verlorenen“ und die
rem pornographisch© „Geschichte der Josephine Mutzenbecher, einer
Wiener Dirne“, war vorauszusehen. Auch Daudets „Sappho“,
Zolas „Nana“, Christian Kroghs „Albertine“, George
Moores „Esther Waters“, K. Morburgers „Die da gefallen
sind“ gehören hierher.
Das Bordell- und Prostitutionsleben in allen
seinen Beziehungen zur modernen Kultur und in seinem Einfluß
auf menschliche Charaktere schilderten Frank Wedekind in
„Die Büchse der Pandora“ und in „Hidalla“, sowie besonders
anschaulich Oscar Méténier in seinem sieben Bände um-
fassenden Romanzyklus „Tartufes et Satyres“.
Auch die Rolle des Alkohols und der Syphilis im
Sexualleben ist in der Belletristik beleuchtet worden, ln Gerhart
Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ verläßt Loth seine Ge-
liebte Helene, nachdem er erfahren hat, daß sie einer degenerierten
Säuferfamilie entsprossen ist. Die verhängnisvollen Folgen der
Syphilis haben Ibsen in den „Gespenstern“ und neuerdings
besonders anschaulich Brieux in „Les Avariés“ geschildert.5)
Außerordentlich umfangreich, besonders in Frankreich, ist
die belletristische Literatur über sexuelle Perversitäten.
Nach Art der „Rougon-Macquart“ Serie hat ihnen Jean La-
rocque einen Romanzyklus von elf Bänden unter dem Gesamt-
titel „Les Voluptueuses“ gewidmet (Einzeltitel: „Ley“, „Viviane“,
;„Odile“, „Fausta“, „Daphné“, „Phoebé“, „Fusette“, „La Naïade“,
„Louvette“, „Lucine“ und „Hémine“, in welchem letzteren Bande
sogar koprolagnistische Details eingehend behandelt werden!)
von denen einzelne Bände, wie z. B. „Phoebé“, sogar ins Englische 6
6) Ygl. Bayet, A propos des „Avariés“, Brüssel 1902.
r
812
übersetzt worden sind. Ebenso bieten die Werke von Baude-
laire, Verlaine, Guy de Maupassant reiches Material
für das Studium der Psychopothia sexualis, denen sich die Ge-
dichtsammlungen „La légende des sexes“ von Edmond Harau-
eourt und die „Rimes de joie“ von Théodore Hannon
sowie die „Chants de Maldoror“ anschließen. Auch Octave
Mir beau gibt uns in seinem „Journal d’une femme de chambre“
einen Ueberbliek über das ganze Register der sexuellen Perversi-
täten.6) Er sowohl wie die geistreiche Rachilde, die in ihren
Romanen „Monsieur Vénus“, „Les hors nature“ und „Madame
Adonis“ die Frage der Homosexualität behandelt, lassen niemals
den künstlerischen Geist in der Schilderung dieser heiklen Gegen-
stände vermissen, wie überhaupt die „Part pour Part “-Lehre
besonders für dieses Gebiet geschaffen worden zu sein scheint.
Die Homo- und Bisexualität ist in so zahlreichen
Werken der schönen Literatur behandelt worden, daß es ganz
unmöglich ist, hier alle aufzuzählen. Man findet sie ziemlich
vollständig gesammelt in den einzelnen Bänden des „Jahrbuches
für sexuelle Zwischenstufen“.6 7) Ich kann nur einige besonders
bekannte und künstlerisch bedeutende homosexuelle Romane und
Dichtungen nennen. Schon Jouy hatte in seiner entzückenden
„Galerie des Femmes“ (Paris 1799) den „Lesbiennes“ ein eigenes
Kapitel gewidmet, Théophile Gautier in „Mademoiselle
de Maupin“ das interessante Problem der Bisexualität behandelt,
Zola in „Nana“ das lesbische Verhältnis zwischen Satin und
der Titelheldin dargestellt, Paul Verlaine schon 1867 die
tribadischen Poesien „Les amies“ veröffentlicht.8) Seitdem haben
sich auch Engländer, Deutsche, Belgier, Italiener in der homo-
sexuellen Belletristik betätigt. Ich erwähne Oscar Wildes
„Dorian Gray“, Georges Eekhouds „Escal-Vigor“, Walt
Whitmans „Leaves of grass“, Prime-Stevensons „Ire-
naeus“, Louis d’Herdys „L’homme-Sirène“, F. G. Per-
nauhms „Eroole Tomei“, „Die Infamen“ und „Der junge Kurt“,
6) Hier wäre noch zu erwähnen Willys „La môme Picrate“
sowie die „Claudine“ - Romane dieses .Autors („Claudine à l’école“,
„Claudine à Paris“ etc.).
7) Man vergleiche auch das Werk „Lieblingsminne und Freundes-
liebe in der Weltliteratur“ von Elisar von Kupffer.
8) Denen er später z. T. noch unveröffentlichte homosexuelle
Poesien „Les hommes“ hinzufügte.
813
die sensationelle „Idylle ' sapphique“ der Demimondäne Liane
de Pougy, das Epos „Ganymedes“ von C. W. Geißler Und
das Drama „Jasminblüte“ von D i 1 s n e r.
Den Masochismus hat sein Namengeber L. v. Sacher-
Masoch in der Belletristik zu Ehren gebracht, besonders im
„Vermächtnis Kains“, von dessen Novellen die „Venus im Pelz“ die
berühmteste ist, in den „Galizischen Geschichten“, den „Messalinen
Wiens“, „Die schwarze Zarin“, den „Wiener Hofgeschichten“.
Er ist auch der einzige geblieben, der diese Perversität künstlerisch
behandelt. Die neueren masochistischen (und sadistischen) Romane
gehören durchweg zu den schlimmsten Erzeugnissen der Kolpor-
tageliteratur. Nur Lou Andreas-Salomé hat mit der ihr
eigenen feinen psycholog-ischen Charakterisierungskunst in „Eine
Ausschweifung“ den seelischen Masochismus eines Weibes künst-
lerisch geschildert.
Der sadistischen Liebe begegnen wir in Oscar Wildes
„Salome“, in den „Diaboliques“ des Barbey d’Aurevilly,
dem satanischen Element in Huysmans „Là bas“ und Sk
Przybyszewskis verschiedenen Romanen. Auch Herbert
Eulenbergs Drama „Ritter Blaubart“ stellt einen sadistischen
Typus dar.
Zum Schlüsse erwähne ich noch einige Schriftsteller, die uns
die ganze Psychologie der modernen Liebe, vor allem aber
die Tiefen der Reflexionsliebe erschlossen haben, das seelische
Raffinement derselben, all die mannigfaltigen Stimmungen,
Illusionen und Träume des modernen Eros. J. P. Jakobsens
„Niels Lyhne“, Hans Jägers „Christiania-Bohême“, Oscar
Mys in gs „Große Leidenschaft“, Heinrich Manns „Jagd
nach Liebe“, Gabriele d’Annunzios „II piacere“, ,,Trionfo
délia morte“ und „Fuoco“ sind vorbildlich für diese Stimmungs-
und Reflexionsliebe. Mit außerordentlicher Kunst hat Lou
Andreas-Salomé in ihren Erzählungen, die ich in dieser
Beziehung zu den wertvollsten der neueren Literatur rechne, in
.„Ruth“, „Fenitschka“, „Ma“, „Menschenkinder“, die feineren see-
lischen Beziehungen zwischen Mann und Weib dargestellt. Sie
ist wohl die beste Kennerin der modernen Frauenseele. Auch
Elisabeth Dauthendey („Vom neuen Weibe und seiner
Liebe“), Gabriele Reuter („Liselotte von Reckling“, „Ellen
von der Weiden“) und Rosa Mayreder („Idole“) sind groß in
814
der Schilderung komplizierter Frauencliarakfcere.9) Ein wichtiges
und interessantes Thema hat Yvette Guilbert in „Les demi-
vieiiles“ behandelt: die Psychologie des alternden Weibes, das
noch nicht auf die Liebe verzichten kann und doch durch die rauhe
Wirklichkeit dazu genötigt wird.
Die angeführten Schriften, die man leicht verzehnfachen
könnte, ohne die Fülle der die Sexualprobleme berührenden
neueren Belletristika zu erschöpfen, dürften genügen, um eine
Vorstellung davon zu geben, wie groß das Interesse für die be-
deutsamen Fragen des Sexuallebens ist, wie detailliert und kom-
pliziert die hier möglichen Probleme unter dem Einflüsse des
modernen Kulturlebens geworden sind, und mit welchem Emst
sie in der schönen Literatur behandelt werden. Das Seichte,
Frivole à la Wieland und Clauren findet heute keinen
Anklang mehr. An seine Stelle ist die grandiose Sittensohilderung
getreten, eine mehr dramatische Behandlung der sexuellen
Fragen (auch in den Prosaerzählungen) durch schonungslose Auf-
deckung auch der Nachtseiten des Liebeslebens und durch psycho-
logisches Eindringen in alle Regungen der liebenden Seele. Im
ganzen betrachtet wird die Liebe in der modernen Belletristik
weit würdiger und von höheren Gesichtspunkten aus behandelt
als früher. Es ist nicht der geringste Grund dafür
vorhanden, das Ueberwuchem der sexuellen Probleme in der
schönen Literatur als ein Entartung-sSymptom aufzufassen. Sie
ist auch hier nur ein Spiegel der Zeit. Und deren Richtung geht
deutlich auf eine neue, ernste und tiefere Auffassung der sexuellen
Beziehungen zwischen Mann und Weib.
9) Auch der soeben (Februar 1907) erschienene bedeutende Roman
„Die Stimme“ von Grete Meisel-Heß 'Berlin 1907) gehört hierher.
815
ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL.
Die wissenschaftliche Literatur über das Sexualleben.
Auch der Schaden ist betont worden, welchen Publikationen über
geschlechtliche Fragen anrichten können. Gewiß spielt das porno-
graphische Interesse der Laien und des Gelehrtentums dabei eine
Rolle! Aber der Nutzen, den die rückhaltlose wissen-
schaftliche Aufklärung des sexuellen Problems auch
in weiteren Kreisen bringen kann, ist ein so enorm
großer, daß jene Bedenken dagegen verschwinden.
A. v. Schrenck-Notzing.
8IG
Inhalt des zweiunddreißigsten Kapitels.
Notwendigkeit der wissenschaftlichen Behandlung sexueller
Probleme. — Nichtigkeit und Lächerlichkeit der dagegen erhobenen
Eimvände. — Ebenso große Verbreitung sexueller Perversitäten vor
der Zeit des wissenschaftlichen Studiums desselben. — de Sades
System der Psychopathia sexualis. — Nachträge zur neueren wissen-
schaftlichen Literatur. — Arbeiten über Homosexualität. — Ueber
erotischen Symbolismus. — Allgemeine Untersuchungen über den Ge-
schlechtstrieb. — Gesamtwerke über die sexuelle Frage. — Die Zeit-
schriftenliteratur über das Sexualleben.
817
Die Wahrheit ist immer etwas Gutes, auch die Wahrheit
über das Geschlechtsleben. Keine Prüderie und moralische
Heuchelei wird diesen Satz widerlegen können. Wer die immense
Bedeutung der Sexualität für die ganze Kultur erkannt hat, wer,
wie der Verfasser vorliegenden Werkes, sich durch lange Jahre
mit der Ergründung dieses Zusammenhanges nach der medizi-
nischen, anthropologisch-ethnologischen und literatur- und kultur-
historischen Seite hin beschäftigt hat, der hat nicht nur das
Recht, sondern auch die Pflicht, seine Untersuchungen zu ver-
öffentlichen, seine Ansichten und seine Meinung öffentlich zu
bekennen, und ein© bestimmte und klare Stellung zu den brennenden
Zeitfragen auf diesem Gebiete einzunehmen.
Man hat Männern, wie Ploß-Bartels, die in ihrem be-
rühmten und durchaus wissenschaftlichen Werke über das „Weib
in der Natur- und Völkerkunde“ es nicht vermeiden konnten,
zahlreiche pikante, selbst obszöne Details zusammenzutragen und
u. a. in einem besonderen Kapitel die verschiedenen Stellungen
beim Beischlafe ausführlich zu beschreiben und zu erläutern,
man hat ferner einem Krafft-Ebing, dessen „Ps^ychopathia
sexual is“ viele eingehende Autobiographien und Kranken-
geschichten sexuell perverser Individuen enthält, daraus einen
Vorwurf gemacht, daß ihre Bücher in zahlreichen Auflagen und
zu Tausenden verbreitet worden sind und mehr von Laien als
von Aerzten gekauft worden seien. Abgesehen davon, daß in
früheren Zeiten viel gefährlichere Bücher, wie z. B. die durch
lüsterne Schreibart ausgezeichneten Werke von Virey,
Flittner, G. F. Most, Rozier, das Wörterbuch „Eros“
weiteste Verbreitung fanden, daß selbst in den einer strengen
wissenschaftlichen Darstellung sich befleißigenden Werken, wie
den zahlreichen Monographien des Martin Sch urig oder der
schon dem 19. Jahrhundert angehörenden Schrift Frenzeis
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(11.—GO. Tausend.)
52
81 8
über Impotenz sich geradezu obszöne Stellen und unglaublich
zynische Geschichten (wie bei Frenzei 1. c. S. 161; S. 155—156')
finden, abgesehen endlich von der geradezu ungeheuren Masse
pornographischer Schriften, neben der die wissenschaftliche
Literatur über das Sexualleben verschwindend klein ist, braucht
nur auf die Tatsache hingewiesen zu werden, daß alle ge-
schlechtlichen (Perversitäten, schon vor der „Psyehopathia ¡sexualis“
von Krafft-Ebing bestanden haben, daß sie ubiquitär und
omnitemporär sind. Schon im 18. Jahrhundert konnte der Marquis
de Sade in seinem Roman „Die 120 Tage von Sodom“ ein System
der Psyehopathia sexualis aufstellen, das nicht nur alle von
Krafft-Ebing geschilderten perversen Typen enthält, sondern
sogar noch reichhaltiger ist und noch mehr Kategorien von
sexuellen Anomalien aufweist, als das Buch des Wiener
Psychiaters.1) Dieses Werk ist ein ungeheuer wichtiges Kultur-
dokument,2) weil es die Fabel von der modernen Degeneration
gründlich widerlegt und den Beweis liefert, daß ganz kurz
vor dem mächtigen Aufschwünge des französischen Volkes und
den Heldenkämpfen der napoleonischen Epoche die erschreck-
lichsten Perversitäten verbreitet waren, an deren Wirklichkeit
nach heutigen Erfahrungen nicht gezweifelt werden kann.
1) Vgl. meine „Neuen Forschungen über den Marquis de'S ade“,
Berlin 1904, S. 437—450.
2) Neuerdings hat A. Moll („Enzyklopädische Jahrbücher der ge-
samten Heilkunde“, 1906, XIII, 238—239) die „Ansicht“1 ausgesprochen,
ohne den geringsten Beweis dafür zu erbringen, daß
die „120 Tage von Sodom“ eine Fälschung seien. Abgesehen davon,
daß ich in meiner französischen Ausgabe derselben alle historisch-
kritischen Details für ihre Herkunft erbracht habe, daß das Original-
manuskript, wie die Prüfung aller Sachverständigen ergab, 1. aus dem
18. Jahrhundert stammt; 2. durchweg de Sades Original-
handschrift, 3. durchweg seinen Stil zeigt, wäre die Fäl-
schung dieses eine 12 m, 10 cm lange Rolle darstellenden Manuskripts,
das auf beiden Seiten mit mikroskopisch kleinen Buchstaben beschrieben
ist und aus lauter aneinander geklebten einzelnen Blättern besteht,
ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn etwas echt und authentisch ist,
so ist es dieses Werk. Herr Geheimrat Professor Dr. Albert Eulen-
burg, ohne Zweifel einer der besten, wenn nicht der beste de Sade-
Kenner, erklärte mir, daß dieses Werk mit absoluter Sicher-
heit aus de Sades Feder stamme. Ich muß also die ohne
jeden Beweis und ohne Prüfung des Originahnanuskriptes auf-
gestellte Behauptung M o 11 s als unwissenschaftlich und
völlig aus der Luft gegriffen zurückweisen.
7
819
Die wissenschaftliche Schriftstellerei, seihst die populär
wissenschaftliche,3) über das Gebiet des Sexuallebens, kann also
in keiner Weise für die Verbreitung sexueller Perversionen ver-
antwortlich gemacht werden. Das hat schon einer der Begründer
der modernen Sexualwissenschaft, A. v. Schrenck-Notzing,4)
hervorgehoben und kürzlich noch S. Freud betont, der wohl
am weitesten gegangen ist in der biologisch-physiologischen Ab-
leitung- der sexuellen Perversionen.
Im Vorwort zu der Uebersetzung von Havelock Ellis’
„Das Geschlechtsgefühl“ (Würzburg 1903, S. IX—X), einem
Buche, in dem u. a. ausführliche Analysen der Entwicklung und
Ausartungen des Geschlechtstriebes sich finden, auch der Sadismus
und Masochismus eine durch zahlreiche Beispiele erläuterte
detaillierte Darstellung gefunden hat, sagt der Uebersetzer,
Dr. H. Kurella, meines Erachtens mit vollem Rechte:
„Die tägliche Erfahrung in meiner, zum großen Teil aus Frauen
und Mädchen bestehenden nervenärztlichen Klientel zeigt mir, wie
wichtig gerade die Aufklärung über das Geschlechtsleben für weibliche
Nervenleidende ist; ich wünsche deshalb dem Buche die
weiteste Verbreitung unter den Müttern he ran-
wachsender Töchter; wenden Sie die Erkenntnis, die aus seinem
Inhalt genommen werden kann, in der rechten Weise an, so wird
unermeßlich viel Leiden und Elend verhütet werden können. Schon
allein diese Anwendung seiner Lehren wird Autor und Herausgeber
für das Peinliche entschädigen, das immer darin liegt, ein Buch in die
Welt zu senden, das schließlich auch einmal als pikante Lektüre an-
gepriesen oder verbreitet werden kann, ein Schicksal, dem jedes die
Erotik streifende Buch ausgesetzt ist, so ernsthaft auch seine Haltung
und Tendenz sein mag.“
Die rege wissenschaftliche Tätigkeit, die augenblicklich auf
dem Gebiete der Sexualprobleme herrscht, kann nur mit Freude
als Förderung der Erkenntnis in einer der wichtigsten Lebens-
fragen begrüßt werden. Während früher nur Psychiater und
Neurologen sich mit sexuellen Fragen beschäftigten, ist das
Interesse dafür neuerdings auch in den Kreisen der übrigen
3) Ich habe in populären Schriften über das Sexualleben schon
manche interessante Bemerkung, ja sogar viele neue Gedanken ge-
funden. Natürlich verstehe ich unter „populär“ die echten volks-
tümlichen Schriften, nicht die Kolportage- und Schundliteratur.
4) A. v. Schrenck-Notzing, Die Suggestions-Therapie bei
krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinnes, Stuttgart 1892, Vor-
wort S. IX. ’ •
62*
820
Aerzte, der Anthropologen, Folkloristen, Psychologen, Aesthetiker
und Kulturforscher bedeutend gewachsen. Das hat, wie ich schon
oben (S. 500 ff.) ausführte, das Gute, eine einseitige Betrachtung
der einschlägigen Probleme zu verhüten. Jeder ernste Forscher,
welcher Disziplin er auch angehöre, kann hier Neues und die
Erkenntnis Förderndes beitragen, am meisten jedoch ohne
Frage der Arzt, der, wie dies schon v. Schrenck-Notzin g5)
ausgeführt hat, möglichst die anderen Gebiete der Biologie, der
Anthropologie, der Geschichte, der schönen Literatur, der Psycho-
logie und forensischen Medizin mitheranziehen soll.
Es ist zwecklos, die Werke aller neueren Autoren über das
Sexualleben hier noch einmal aufzuzählen. Sie sind ja im Texte
des vorliegenden Werkes oft genug erwähnt worden.6) Ich bringe
an dieser Stelle nur einige wenige Nachträge von Werken, die
im Texte nicht berücksichtigt wurden und vor allem eine Ueber-
sicht über die wichtigste Zeitschriftenliteratur auf
diesem Gebiete.
Von größeren Monographien über Homosexualität sind noch
zu erwähnen diejenigen von Havelock Ellis und J. A. Sy-
5) v. Schrenck-Notzing, Literaturzusammenstellung über die
Psychologie und Psychopathologie der vita sexualis in: Zeitschrift
für Hypnotismus, Bd. VII, Heft 1/2, S. 121.
6) Um einen Begriff von dem großen Interesse der verschiedensten
Gelehrtenkreise der Gegenwart an der Sexualwissenschaft zu geben,
nenne ich hier nur kurz noch einige bloße Namen, ohne die Liste
erschöpfen zu wollen: R. v. Krafft-Ebing, Mantegazza,
Ploß-Bartels, A. Eulenburg, v. Schrenck-Notzing,
Er. S. Krauß, Tarnowsky, L. Löwenfeld, Havelock
Ellis, Magnus Hirschfeld, S. Freud, Georg H i r t h,
H. Kurella, H. S w ob o da, Laurent, A. Iloche, O.
Lombroso, P. Fürbringer, E. Carpenter, Rohleder,
Alfred F o u r n i e r , A. Einet, Marro, J. J. Bachofen, J.
Köhler, E. Weste rmarck, Max D e s s o i r , Alfred
Blase h ko, Albert Neißer, Elias Metschnikoff, Fritz
Schau dinn, Ducrey, Unna, Oskar Schultz e, Wilhelm
Waldeyer, V. v. Gyurlcovechky, Louis Fiaux, Leon
Taxil, Wilhelm Fließ, Willy Hellpach, P. J. Möbius,
Heinrich Schurtz, B. Friedländer, Eduard von Mayer,
Hans Ostwald, R. Koßmann, Otto Adler, W. H a m m o n d,
Beard, Wilhelm Erb, Paul Näcke, J. Salgö, H. T. Find:,
F. Neugebauer, G. Wagner, H. Ferdy, Rosa Mayreder,
Ellen Key, Helene Stöcker, Anna P a p p r i t z, Maria
Lischnewska, Li 1 y Braun u. v. a.
m o n d s ,7) von A. Moll ,8) von J. Chevalier9) und L a u p t s.10)
Man findet in ihnen eine reiche Kasuistik und namentlich in
den beiden ersteren das gesamte historisch-kritische Material
über Homosexualität bis zum Erscheinen des „Jahrbuches für
sexuelle Zwischenstufen“ (1899 ff.).
Soeben gelangt ein neues Werk von Havelock Ellis11)
in der amerikanischen Ausgabe in meine Hände, der fünfte Band
seiner „Studies in the Psychology of Sex“, enthaltend Studien
über den „Erotischen Symbolismus“ (Fetischismus, Exhibitionis-
mus usw.), den „Mechanismus der Detumeszenz“ und das „psy-
chische Verhalten während der Schwangerschaft“ mit einem An-
hang von Analysen der geschlechtlichen Entwicklung verschiedener
Individuen. Das an interessanten Einzelheiten reiche Buch wird
ohne Zweifel gleich den früheren Bänden dieser „Studien“ auch
in deutscher Sprache erscheinen.
Spezielle Studien über den Geschlechtstrieb veröffentlichten
Mol l12) und F e r e.13) In dem Werke M o 11 s , von dem bisher
nur der erste Teil erschienen ist, wird der Geschlechtstrieb in
die beiden Komponenten des „Detumeszenztriebes“, d. h. des Triebes
zur Entleerung der Keimstoffe, und des „Kontrektat-ionstriebes“,
7) Havelock E11 i s und J. À. Symonds, Das konträre
Geschlechtsgefühl. Deutsche Ausgabe besorgt unter Mitwirkung von
Hans Kurella, Leipzig 1896.
8) Albert Moll, Die konträre Sexualempfindung. 3. Auflage,
Berlin 1899.
9) J. Chevalier, I/inversion sexuelle, Lyon und Paris 1893
{mit Yorrede von A. Lacassagne).
10) Laupts, Perversion et perversité sexuelles. Préface par
Emile Zola, Paris 1896. (Enthält interessante kritisch-literarische
und medizinische Studien über Homosexualität).
n) Havelock E11 i s, Studies in the Psychology of Sex.
Bd. Y. Erotic Symbolism etc. Philadelphia 1906. Inzwischen ist die
von Ernst Jentsch besorgte deutsche Ausgabe erschienen unter
dem Titel : „Die krankhaften Geschlechts-Empfindungen auf dissozia-
tiver Grundlage“, Würzburg 1907.
12) A. M o 11, Untersuchungen über die Libido sexualis, Berlin
1897, Teil I.
13) Charles Féré, L’instinct sexuel, évolution et dissolution,
Paris 1899.
822
d. h. des Triebes zum anderen Individuum, zerlegt und hieraus
die verschiedenen Erscheinungen der Sexualität erklärt. Fere
hat besonders das instinktive Element im Geschlechtstriebe zum
Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht und ist außer-
dem wohl der extremste Vertreter der atavistischen Theorie der
sexuellen Perversionen.
Eine interessante Sexualpsychologie im Sinne der Freud’-
schen Lehren veröffentlichte Otto Pank14). Auch ihre Tendenz
ist eine Bekämpfung der Entartungsfurcht.
Endlich sind noch zwei Werke zu erwähnen, die das ganze
Sexualleben behandeln, ein größeres und ein kleineres. Forels15}
umfangreiches Buch zeichnet sich aus durch eine von Anfang
bis zu Ende originelle, subjektive Auffassung und durch
einen zukunftsfreudigen Optimismus, wie ich das
bereits in meiner Rezension des Buches in der „Deutschen Aerzte-
zeitung“ gesagt habe. Als ein solches subjektives Zukunfts-
programm einer künftigen Lösung der Sexualprobleme wird es
immer dauernden Wert behalten und man wird stets mit Ver-
gnügen den temperamentvollen Ausführungen des geistreichen
und sympathischen Verfassers folgen, wenn er auch häufig etwas
allzu grau in grau malt. Diesen Vorzügen steht der große Mangel
einer so gut wie gänzlichen Vernachlässigung der so zahlreichen
wichtigen neueren Forschungen auf fast allen Gebieten des Sexual-
lebens gegenüber. Besonders die Kapitel über Syphilis und Ge-
schlechtskrankheiten, über Homosexualität und sexuelle Perver-
sionen, und über die Ehe lassen das erkennen. Das letztere Kapitel
ist ein bloßer Auszug aus Westermarck. Der Verfasser ist sich
aller dieser Mängel wohl bewußt und gesteht sie offen ein. Trotz-
dem möchte man das Buch nicht missen, weil sein Wert gerade
auf der Subjektivität beruht und weil in ihm ein so inniger
Glaube an die große Bedeutung der sozialen Betätigung für
die höhere Entwicklung der Liebe sich offenbart. Eine kürzere,
interessante, aber an Paradoxen reiche Behandlung der Sexual-
probleme findet sich in einem Buche von Leo Berg.16)
u) Otto Rank, Der Künstler. Ansätze zu einer Sexual-Psycho-
logie. Wien und Leipzig 1907.
15) August F o r e 1, Die sexuelle Frage, München 1906.
16) Leo Berg, Geschlechter, Berlin 1906.
823
Zum Schlüsse gebe ich noch eine kurze Uebersicht über die
Zeitschriften und periodischen Publikationen, die sich mit sexuellen
Fragen beschäftigen. Eine große Zeitschrift für das Gesamt-
gebiet der Sexualforschung existiert nicht. Die meisten pflegen
bestimmte sexuelle Sonderdisziplinen. Eine ziemlich unbedeutende
Zeitschrift „Vita sexualis“, die 1899 zuerst erschien, scheint
nach wenigen Jahren wieder eingegangen zu sein. Speziell mit den
Problemen der Homo- und Bisexualität und der sexuellen Zwischen-
stufen beschäftigt sich das von Magnus Hirschfeld her-
ausgegebene „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“
(bis jetzt 8 Bände), eine höchst gediegene Publikation. Bein
populären und belletristischen Zwecken dient die homosexuelle
Monatsschrift „Der Eigene“ (von Adolf Brand). Eine
ebenso wertvolle periodische Veröffentlichung wie das genannte
Jahrbuch ist die von Friedrich S. Krauß herausgegebene,
jährlich erscheinende „ A n t li r o p o p h y t e i a“ (bisher drei Bände),
die besonders die folkloristischen und völkerkundlichen For-
schungen auf sexuellem Gebiete pflegt und eine wahre Fündgrube
neuer Tatsachen und Beobachtungen ist. Auch die Zeitschriften
für das Studium der Geschlechtsleiden, wie das „Archiv für
Dermatologie und Syphilis“ (von F. J. Pick, bis jetzt
82 Bände), die „Monatshefte für praktische Derma-
tologie“ (von Unna und Tänzer, bis jetzt 44 Bände, die
Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexu-
elle Hygiene“ (von W. Hammer (früher K. B.ies), bis
jetzt vier Bände) und die anderen deutschen und ausländischen
dermato-urologischen Zeitschriften enthalten viel Material über
venerische Krankheiten und sexuelle Perversionen. Interessante
Aufsätze über alle sexuellen Fragen, sowie eine reiche Kasuistik
und Bibliographie finden sich in dem ,,Archiv für Kriminal-
anthropologie und Kriminalistik“ (bisher 27 Bände,
Herausgeber Hans Groß), meist aus der Feder des kenntnis-
reichen und überall originellen Psychiaters Paul Näcke, ferner
in der „M onatsschriftfürKriminalpsychologieund
Strafrechtsreform“ von Gustav Aschaffenburg, in
der Monatsschrift „Mutterschutz. Zeitschrift zur De-
form der sexuellen Ethik“ von H e 1 e n e S t ö c k e r (s. oben
S. 300 u. 304) und in der von Karl V anselow herausgegebenen
Monatsschrift „Geschlecht und Gesellschaft“, mit dem
Beiblatt „Sexualreform“ (bisher zwei Bände), sowie in der von
824
demselben herausgegebenen illustrierten Monatsschrift „Die
Sehönheit“ (bisher vier Bände). Endlich ist noch der wesentlich
rassenhygienischen Zwecken dienenden, wertvolles Material ent-
haltenden Zeitschriften zu gedenken, der von Ludwig Welt-
mann herausgegebenen „Politisch- Anthropologischen
Kevue“(bisher fünf Jahrgänge) und des von Alfred Ploetz
redigierten „Archiv für Rassen- und Gesellschafts-
Biologie“ (bisher drei Jahrgänge).
825
DKEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL.
Ausblick in die Zukunft.
Glücklich, wer in seiner Individualität das Instrument besitzt,
auf dem die Welt mit ihrem ganzen Reichtum spielen kann! Ihm
wird auch die Geschlechtlichkeit ein Mittel sein, das Innerste des
Lebens zu fassen, sein schmerzlichstes Leiden und seine berauschendste
Seligkeit, seinen furchtbarsten Abgrund und seinen strahlendsten Gipfel.
Rosa Mayredsr.)
82G
Inhalt des dreiunddreißigsten Kapitels.
.Die Zukunft der menschlichen Liebe. — Die Anzeichen des Fort-
schrittes und der vollkommeneren Gestaltung des Sexuallebens. —
Verhältnis der Sexualität zum inneren, individuellen Leben. — Die
Formel des kategorischen Imperativs im Sexualleben. — Die Ver-
knüpfung der Liebe mit der Lebensarbeit. — * Liebe und Persönlichkeit.
m,
Rückblickend auf den langen "Weg, der hinter uns liegt, und
der uns an allen Höhen und Tiefen des menschlichen Liebes- und
Geschlechtslebens vorbeiführte, wollen wir noch kurz antworten
auf die inhaltsschwere Frage: was ist die Zukunft der mensch-
lichen Liebe? Läßt sich ein Fortschritt zum Bessern erkennen,
sind Ansätze zu einer neuen, edleren, vollkommeneren Gestaltung
des Sexuallebens vorhanden? Die Antwort ist ein überzeugtes
und freudiges J a!
Niemals zuvor, zu keiner Zeit der Menschheitsgeschichte
hat man der menschlichen Liebe ein so ernstes, tiefes Interesse
entgegengebracht wie heute, niemals sie unter so eminent
sozialen Gesichtspunkten betrachtet. Wie ich schon auf der
ersten öffentlichen Versammlung des Bundes für Mutterschutz
ausführte, entspricht die Idee einer Reform, Veredelung und natür-
licheren Gestaltung des sexuellen Lebens durchaus der gesamten
die Gesundung aller Lebens Verhältnisse ins Auge fassenden
Richtung unserer Zeit. Die Erkenntnis bricht sich immer mehr
Bahn, daß auch das menschliche Geschlechtsleben bewußten
Eingriffen im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung zugäng-
lich ist, daß das Verhältnis zwischen Mann und Weib sowohl
in individueller als auch in sozialer Beziehung durch die Ver-
änderungen und Fortschritte der kulturellen Entwicklung beein-
flußt wird und nicht künstlich mit Gewalt in Zuständen, wie
sie vor hundert oder zweihundert Jahren maßgebend waren,
zurtickgchalten werden kann.
Unsere Liebe ist von dieser Erde, behaftet mit allen irdischen
Mängeln und Leiden. Trotzdem bejahen wir sie freudig, in
der zuversichtlichen Hoffnung, daß auch sie allen feindlichen
und verderblichen Einflüssen entrückt und über die vergängliche
828
und zufällige Form hinaus zum schönsten Ausdruck inneren,
individuellen Lebens erhoben werden kann. In der Sphinx
des Individuums ist gewiß das Furchtbare und Dämonische des
Geschlechtstriebes das größte Rätsel. Aber der Weg der Be-
freiung liegt klar und offen vor uns. Bekämpfen wir mutig
alle in diesem Buche geschilderten feindlichen Gewalten, die das
Liebesieben unserer Zeit vergiften, zerstören wir alle Keime der
Entartung, und prägen wir unserem sexuellen Gewissen drei
Worte ein: Gesundheit! Reinheit! Verantwortlich-
keit!
Und noch eins. Weshalb droht heute so oft die Liebe unter-
zugehen in der allgemeinen Zersplitterung des Lebens? Weshalb
klagen die vornehmsten Geister und die größten Liebeskünstler
über das Fragmentarische alle Liebe? Weil sie isoliert ist, weil
sie nicht verknüpft wird mit der Lebensarbeit, mit dem
Kampfe um Freiheit, den ein jeder Mensch führen muß, weil
sie nicht aufgefaßt wird als gemeinsame Bewältigung des
Daseins, als Gemeinsamkeit des inneren Wachstums.
Nur zu oft steht der Mann der Zukunft dem Weibe der Ver-
gangenheit oder das Weib der Zukunft dem Manne der Ver-
gangenheit gegenüber, das bloße Geschlecht dem anderen.
Und doch ist individuelle Liebe nur möglich, wenn sie über die
Zwecke der bloßen Geschlechtsbefriedigung und der Fortpflanzung
hinaus auch dem Leben dient und allen Kulturaufgaben der Zeit.
Die wunderbarsten Herzensträume können die positive Arbeit,
die das Leben von der Liebe fordert, nicht ersetzen. Ohne
freie Tat gibt es keine Liebe! Das ist das große Wort
eines großen Denkers. Und ich füge hinzu: kein Recht auf
Liebe. Das hat nur die Persönlichkeit, der schaffende,
strebende, wollende Mensch, sei es Mann oder Frau. Wie oft
sucht der Mann die Liebe bei der Frau und kann sie nicht
finden und hätte es doch so leicht:
.... doch wenn ich suchend drücke
Die Fänge meines Geistes in ihr Hirn,
Dünkt mich, daß hinter dieser hohen Stirn
Ein Etwas liegt, das einst gefehlt dem Glücke.
In diesem schönen Verse Ada Christens enthüllt sich
das Geheimnis aller Liebe. Wir sollen nicht das Niedere suchen
im anderen Geschlecht, in der geliebten Person, sondern das
829
Höchste, ihr geistiges Wesen, ihr Wellen, ihre Entwicklungs-
inöglichkeit. Vor den Augen des modernen Menschen steht die
individuelle Liebe zweier freier Persönlichkeiten als ein Ideal,
wie es Dingelstedt poetisch in dem Worte ausdrückt:
Und Liebe blüht nur in dem Doppel-Leben
Verwandter Seelen, die nach oben streben.
831
Anhang zur 4.—6. Auflage
(Nachträge und Ergänzungen).
Zu S. 35. Daß unter Umständen sogar das — Auge eine erogene Stelle
sein kann, beweist die merkwürdige Beobachtung von Dr. Emil Bock, daß das
sachte Verreiben von gelber Salbe im Auge bei manchen weiblichen Kranken die
Erscheinungen des Orgasmus in ihren Geberden hervorrief.
Zn S. 37 u. 38. In dem Romane „Hunger“ von Knut Hamsun wird
eine besondere Beziehung und Wechselwirkung zwischen Hunger und Libido
sexualis geschildert. — Ebenso spricht Georg Lomer im Anfänge seiner ge-
dankenreichen Schrift „Liebe und Psychose“ (Wiesbaden 1907) die Ansicht aus,
daß Hunger und Liebe nicht etwa Gegensätze sind, sondern das eine vielmehr
die Vollendung, Potenzierung oder Sublimierung des anderen darstellt. Bei den
Spinnen läuft das Männchen nicht selten Gefahr, von dem stärkeren Weibchen
beim Liebesakt tatsächlich gefressen zu werden!
Zu S GS. Vgl. hierzu auch noch die gediegene Arbeit von Paul
Bartels „Ueber Geschlechtsunterschiede am Schädel“, Berlin 1898, deren Re-
sultat ist, „daß wir z. Z. einen durchgreifenden Unterschied zwischen Männer-
und Weiberschädel nicht kennen, ja daß ein solcher wahrscheinlich überhaupt
nicht vorhanden ist“.
Zu S. 97 ff. Ueber die Beziehungen zwischen Sexualität und Nerven-
system vgl. auch den geistvollen Vortrag von Albert Eulenburg: „Geschlechts-
leben und Nervensystem“ in Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft zur Be-
kämpfung der Geschlechtskrankheiten, 1907, Bd. V, No. 2 und 3.
Zu S. 99. Nach Möbius („Ueber die Wirkungen der Kastration“,
Halle 1906) ist die Sexualität das gemeinsame Produkt von Hoden- und Gehirn-
tätigkeit.
Zu S. 115 ff. Ueber die zum Teil noch heute herrschende religiöse
Prostitution in Südborneo bringt die in Amsterdam erscheinende „Deutsche
Wochenzeitung in den Niederlanden“ vom 30. Juli 1907 den folgenden Bericht:
„In den Dajakländern findet man beinahe in jedem Kampong Balians und Basirs.
Die Balians sind Freudenmädchen, die zu gleicher Zeit auch ärztliche Hilfe-
leistungen bieten. Außerdem gibt es Basirs; es sind dies Männer, die sich als
Frauen kleiden und im übrigen gerade wie die Balians handeln; doch nicht alle
Basirs ähneln sich in dieser Weise. Balians und Basirs werden auch gewöhnlich
verwendet, um bei festlichen Gelegenheiten religiöse Zeremonien zu verrichten,
so bei Hochzeiten, Sterbefällen und Geburten usw. Je nach der Festlichkeit
fungieren dann 5—15 von ihnen. Der Vorsitzende der Balians und Basirs heißt
Upu; hierzu wird gewöhnlich die oder der Aelteste und Erfahrenste erwählt.
Dieser Upu sitzt in der Mitte und die anderen links und rechts von ihm. Bei
einem großen Fest verdient der Upu 20—30 Gulden, die anderen 1—15. Je
weiter ein Balian vom Upu entfernt sitzt, desto weniger beträgt sein Honorar.
Dies Honorar nennt man „Laluh“. Die raffinierten Balians und Basirs heißen
„Bawimait maninjan sangjang“, d. h. heilige Frauen Heutzutage findet man
keine Basirs mehr, die unsittlich handeln, weil die Regierung hiergegen mit
schwären Strafen vorgegangen ist. Auch dürfen sie sich nicht mehr öffentlich in
Frauenkleidem zeigen.“
882
Zu S. 210. Die Frage der geschlechtlichen Promiskuität behandelt neuer-
dings P. Näcke („Die Uranfänge der menschlichen Gesellschaft“ in „Die Um-
schau“ vom 17. August 1907). Er glaubt, daß der Zustand reinster Promiskuität
nur kurze Zeit währte und einzelne Zentren, Kerne von Familienbildungen auf-
traten, eine Art von „Semi-Promiskuität“, die bis zu völliger Ausbildung des
Familienverbandes viel -.länger andauerte als der Zustand reinster Promiskuität.
Doch waren diese ersten Familien nur zeitliche und wurden erst später fester
und dauernder. Diese Annahme ändert jedoch an der Tatsache ursprüng-
licher reiner Promiskuität nicht das geringste. Auch Näcke erkennt diese als
das Natürliche für den primitiven Menschen an.
Zu S. 221 ff. Zur Ehefrage vergl. die geistreiche Broschüre von Gabriele
Reuter, Das Problem der Ehe, Berlin 1907. — Die Verfasserin konstatiert eine
„tiefgreifende Unzufriedenheit mit den jetzigen Ehezuständen, eine Sehnsucht, ja
ein unruhvolles Bedürfnis nach Besserung.“ In der Ehe vollzieht sich nach ihr
der körperliche und seelische Werdeprozeß des Menschen am konzentriertesten.
Als Ursache der vielen unglücklichen Ehen unserer Zeit bezeichnet sie den gerade
heute mit besonderer Stärke hervortretenden Unterschied in Denkweise und Welt-
anschauung zwischen den Angehörigen derselben Gesellschaftsschichten und
Bildungsklassen, besonders in religiöser Beziehung, und das Experimentieren mit
den so ungeregelten Daseinsverhältnissen, sowie die Frauenbewegung. Nach
Gabriele Reuter wird das Kind der Regulator aller Veränderungen der Ehe
werden, die in der Zukunft zu erwarten sind. Als „Ehe“ definiert Verfasserin
jeden ernsten Bund zwischen Mann und Weib, der zum Zweck einer Lebens-
gemeinschaft und mit der Absicht, Kinder zu zeugen und zu erziehen, geschlossen
wird — ganz gleich ob mit oder ohne staatliche und kirchliche Autorisation. Im
Gegensätze zu diesem Begriff der „Ehe“ stehen dann flüchtige oder länger
dauernde, aber nur der Anregung und dem Sinnengenusse dienende Bündnisse.
Interessant ist, daß die Verfasserin der modernen Frau „Güte und mütterliche
Nachsicht“ bezüglich der ehelichen Untreue des Gatten empfiehlt. Es sei für das
Wohl ihrer Kinder und ihr eigenes wichtiger, daß er ihr Liebe, Hochachtung
und Freundschaft, als unbedingte physische Treue bewahre. Nur hat Verf. nicht
an die Möglichkeit geschlechtlicher Infektion bei gelegentlicher Untreue gedacht,
die das Wohl der Gattin und der Kinder sehr stark bedroht! Mit Recht tritt
Verf. für eine Erleichterung der Ehescheidungen ein. Diese werde die Ehen
nicht verflachen, sondern gerade beide Teile vorsichtiger, behutsamer machen,
dem andern weh zu tun. Die Kinder sollten stets bis zum 14. Jahre bei der
Mutter bleiben. — Vgl. ferner die erschöpfende Darstellung des modernen Ehe-
lebens in der Schrift: „Ueber das eheliche Glück. Erfahrungen, Reflexionen und
Ratschläge eines Arztes.“ (Wiesbaden 1906.)
Zu S. 223. Vielleicht beruht auch die Forderung der jungfräulichen Un-
berührtheit des Weibes auf der alten Erfahrung, daß durch den geschlechtlichen
Verkehr und noch mehr durch die erste Konzeption im weiblichen Organismus
weitgehende spezifische Veränderungen gesetzt werden, so daß der erste Mann
für immer das weibliche Wesen in seinem Sinne umprägt und sogar noch auf die
von einem zweiten erzeugte Nachkommenschaft seine Wirkung ausübt. (Vgl.
hierüber G. Lomer, Liebe und Psychose S. 37.)
Zu S. 230. Die Idee der Simultanliebe wird auch in einem neuerdings
erschienenen französischen Romane „A la merci de l’heure“ von Jean Tarbef
(Paris, 1907) durchgeführt. Die Heldin hat zwei Liebhaber nötig, einen berühmten
älteren Gelehrten für Kopf und Herz und daneben einen jüngeren Arzt für die
Befriedigung ihrer Sinnlichkeit. — Umgekehrt schildern die Doppelliebe eines
Mannes zu einer Weltdame und einem Naturkinde Knut Hamsun in „Pan“ und
Guy de Maupassant in „Notre coeur“.
Zn S. 270. Als eine Zeitgenossin der vielliebenden George Sand tmd
gleich dieser theoretische und praktische Vertreterin der freien Liebe sei Horte nse
Allart de M6ritens (1801—1879) genannt, die Cousine der bekannten Schrift-
stellerin Delphine Gay und Verfasserin eines 1872 erschienenen Schlüsselromans
„Les Enchantements de Prudence“, in dem sie die Geschichte ihres der freien
Liebe gewidmeten Lebens erzählt. Zuerst die Geliebte eines Edelmannes, entfloh
sie, als sie ihre Schwangerschaft entdeckte, und war dann nacheinander mit dem
833
italienischen Staatsmanne Gino Capponi (1826—1829), mit dem berühmten
französischen Schriftsteller Chateaubriand (1829—1831), dem englischen Roman-
dichter Bulwer (1831—1836), dem Italiener Mazzini (1837—1840), dem Kritiker
Sainte-Beuve (1840—1841) in freier Liebe verbunden, um in den Jahren 1843
bis 1845 die „höchst legitime und sehr unglückliche Gattin eines Architekten
Napoleon de Méritens zu werden, während sie mit ihren früheren Liebhabern
sehr glücklich gelebt hatte. Léon Séché hat neuerdings in der „Revue de
Paris“ vom 1. Juli 1907 das Leben dieser merkwürdigen Priesterin der freien
Liebe geschildert, zu deren oben erwähntem Roman George Sand die Vor-
rede schrieb. Vgl. Literarisches Echo vom 1. August 1907 Sp. 1612—1613.
Zu S. 302. Auch in Holland ist ein Bund für Mutterschutz gegründet
worden, die „Vereeniging Onderlinge Vrouwenbescherming“.
Zu S. 329. Ein drastisches Beispiel für die jedes ästhetische Empfinden
zeitweilig vernichtende Wirkung des Alkohols teilt E. Kraepelin (Die psychia-
trischen Aufgaben des Staates, Jena 1900 S. 6) mit: Eine ganze Reihe von
Studenten wurde von einer viel beschäftigten Prostituierten angesteckt, die von
Jugend auf schwachsinnig, mit Lupus der Nase und frischer Syphilis behaftet war!
Zu S. 351. In den 70er Jahren nannte man in Wien Männer, die für
den Koitus käuflich waren, „Hengste“.
Zu S. 361—364. Hierher gehört in gewissem Sinne auch die Aeußerung
Gutzkows in den „Neuen Serapionsbrüdern“ (Breslau 1877 Bd. I S. 198), daß der
Mann das Bedürfnis habe, zuweilen das „Weib an sich“, nicht das Weib mit den
tausendNücken der Gattinnen, der Mütter, der Töchter zu sehen und mit ihm umzu gehen.
Zu S. 375. Schon vor Hellpach hat übrigens Anton Baumgarten
in zwei im 8. und 11. Bande des „Archiv für Kriminalanthropologie“ veröffent-
lichten, beachtenswertes Material enthaltenden Aufsätzen „Polizei und Prostitution“
und „Die Beziehungen der Prostitution zum Verbrechen“ eine sozialpsychologische
Erklärung der Prostitution zu geben versucht.
Zu S. 401. Zahlreiche neue Gesichtspunkte, die durch die Entdeckungen
auf dem Gebiete der Syphilisforschung angeregt worden sind, finden sich in der
vorzüglichen Abhandlung von J. Jadassohn „Syphilidologische Beiträge“: im
Archiv für Dermatologie und Syphilis 1907 (Festschrift für Prof. Neißer). Vgl.
ferner die Darstellung der neuen Syphilislehren bei P. G. Unna und Iwan
Bloch: „Die Praxis der Hautkrankheiten“ (Wien und Berlin 1908 S. 548—592).
Zu S. 443—444. Die Frage der syphilitischen Ansteckung der Ehefrauen
durch ihre Männer behandelt neuerdings Alfred Fournier: „Die Syphilis der
ehrbaren Frauen“ (deutsch von G. Vorberg, Leipzig und Wien 1907).
Zu S. 453. In seiner gedankenreichen Studie: „Die Zukunft der
Prostitution“ (in: Monatsschrift „Mutterschutz“, Juli 1907 S. 274—288) vertritt
auch Havelock Ellis die optimistische Auffassung der allmählichen und sicheren
Verminderung der Prostitution auf indirektem Wege, d. h. dadurch, daß wir
uns selbst sozial wie wirtschaftlich auf eine höhere Stufe der Menschlichkeit heben.
Zu S. 459. C. Posner führt die Befunde von Fremdkörpern in der
Harnröhre des Mannes nicht alle auf Onanie zurück. Er konstatierte öfter, daß
dieselben von anderen Personen eingeführt worden seien, und meint, es handle
sich hier um Betätigung sadistischer Neigungen, z. T. bei Homosexuellen
(C. Posner „Fremdkörper in der Harnröhre des Mannes; nebst Bemerkungen
über die Psychologie solcher Fälle“, ln: Therapie der Gegenwart, September 1902).
Zu S. 471. Daß selbst exzessive Onanie Gesundheit und Arbeitsfrische
wenig oder gar nicht beeinträchtigen kann, lehrt der folgende von mir beobachtete
Fall. Es handelt sich um einen 40jährigen Gelehrten, der, wahrscheinlich durch
ein Kindermädchen verführt, seit seinem fünften Lebensjahre ununterbrochen der
Masturbation fröhnt und seit der Pubertät tagtäglich mehrere Male (drei-
bis zehnmal!) onaniert, ohne daß seine Arbeitskraft darunter gelitten hat. Der
Patient ist ein großer, kräftiger, gesunder Mann, eine wirklich imponierende Er-
scheinung. Niemand würde einen habituellen Onanisten in ihm vermuten. Daß
aus der Onanie des Knaben und Jünglings sich ein Zustand von förmlichem
Onanismus beim Manne entwickelte, ist in diesem Falle wohl wesentlich einem
fortgesetzten alkoholischen Mißbrauch zuzuschreiben. Pat. trinkt täglich 12 bis
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage. co
(41.—60. Tausend.) ho
834
14 Glas Münchener Bier. Auch ist er starker Raucher. Eine hereditäre Ver-
anlagung zur Onanie ist nicht nachweisbar. Für den Patienten existiert das weibliche
Geschlecht eigentlich nur noch in der Phantasie, er hat nur sehr selten geschlecht-
lichen Verkehr und meidet Damengesellschaft, obgleich er viel Glück bei Frauen hat.
Zu S. 472—473. Vgl. hierzu die interessanten Erörterungen über die
Onanie vom philosophischen Standpunkt bei A. Schopenhauer, Neue Paralipomena
ed. Grisebach S. 226—227.
Zu S. 483—484. In einer interessanten und gediegenen Arbeit hat Carl
Laker schon 1889 als „Eine besondere Form von verkehrter Richtung des
weiblichen Geschlechtstriebes“ (Archiv für Gynäkologie, 1889, Bd. XXXIV,
Heft 3, S. 293ff.) Fälle von sexueller Frigidität des Weibes in coitu beschrieben,
die nicht als „Anaesthesia sexualis“ aufzufassen sind, da der Geschlechtstrieb
normal, häufig sogar gesteigert ist und nur geschlechtliche Befriedigung bei der
normalen Begattung völlig fehlt und erst durch einfache oder wechselseitige
Onanie erreicht wird. Es besteht dabei normale Zuneigung zum anderen
Geschlecht, körperliche und geistige Gesundheit. Der Verfasser nimmt an, daß
durch irgendwelche anatomische Abweichungen eine Erregung der das Wollust-
gefühl vermittelnden, größtenteils in der Klitoris endigenden sensiblen Nerven
beim Beiscblafe nicht zustande kommt und durch Aenderung der Stellung in coitu
eventuell doch noch hervorgerufen werden kann. Der oben S. 93 von mir mit-
geteilte Fall gehört zu dieser Kategorie von relativer bezw. temporärer
Anaesthesia sexualis, während bei der eigentlichen absoluten sexuellen
Anästhesie auch der Geschlechts trieb von vornherein fehlt oder durch Exzesse
verloren geht wie bei weiblichen Wüstlingen und Prostituierten.
Za S. 486. Daß der Zustand der „Erotomanie“, des übermäßigen Ver-
liebtseins, bereits von den alten und mittelalterlichen Aerzten vielfach als ein
krankhafter angesehen und beschrieben worden ist, darauf hat in jüngster Zeit
u. a. Julius Pagel aufmerksam gemacht. Er veröffentlichte (in der „Deutschen
Medizinal-Zeitung“, 1892, S. 841) unter der Ueberschrift „Ein historischer Beitrag
zum Kapitel ,Ekelkuren‘“ die Uebersetzung einer Stelle aus dem „Liliuni
medicinae“ des Bernhard von Gordon in Montpellier, einem sehr bekannten
und beliebten Kompendium aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts, in welchem,
übrigens nach dem Vorgang von Avicenna, der „amor (h)ereos“ zu den
„melancholicae passiones“ gerechnet und als besonderer Abschnitt in der Gruppe
der Hirnkrankheiten behandelt wird (Ausgabe des „Lilium medicinae“, Lyon
1550, S. 210). Auf den recht lehrreichen und merkwürdigen Ii halt kann ich
leider hier nicht näher eingehen (u. a. soll dem Erotomanen von einer möglichst
häßlichen und widerwärtigen alten Vettel ein mit Menstrualblut beflecktes Hemd
der Angebeteten vor die Nase gehalten werden mit den bezeichnenden Worten:
„talis est amica tua“). Es sei nur vermerkt, daß diese echt mittelalterliche
„Ekelkur“ ganz grell zu ihrem Nachteil absticht von der Art, wie im Altertum
(drittes vorchristliches Jahrhundert) Erasistratos, der Schüler des Aristoteles
und berühmte Arzt der Alexandrinischen Schule, den in seine Stiefmutter
Stratonica verliebten Königssohn Antiochos heilte. Die liebliche und der
antiken Heilkunst alle Ehre bereitende Erzählung möge man gleichfalls bei
J. Pagel nachlesen („Einführung in die Geschichte der Medizin“, Berlin 1898,
S. 90). — In einer umfassenden Arbeit „Zur Geschichte der Liebe als Krank-
heit“ (Arch. für Kulturgeschichte, herausg. von Georg Steinhausen, Berlin
1905, Bd. III, S. 66—86) ist neuerdings Hjalmar Crohns auf diesen Gegen-
stand zurückgekommen. Hier liegt ein Thema mit einer reichen Literatur vor,
das gelegentlich einmal eine Sonderbearbeitung an anderer Stelle rechtfertigte.
Zu S. 487. Ueber die physiologische Pollution und ihre geringe Ver-
schiedenheit vom normalen Samenerguß im Koitus macht Schopenhauer (Neue
Paralipomena, S. 230—231) eine zutreffende BemerkuDg.
Zu S. 490. In die von P. Bernhardt aufgestellte Kategorie der sexuellen
Erregung durch Angst und Aerger gehört auch der mir von Herrn Primarius
Dr. Emil Bock mitgeteilte Fall eines Quintaners, der aus Aufregung, eine Schul-
arbeit nicht vollenden zu können, seine erste Ejakulation bekam. — Zur Literatur
über Impotenz: Nicolo Barrucco, Die sexuelle Neurasthenie und ihre Be-
835
ziehung zu den Krankheiten der Geschlechtsorgane. Deutsch v. R. Wichmann.
2. Auflage, Berlin 1907.
Zu S. 494. Dupuy hat das häufige Vorkommen von Impotenz bei
Männern beobachtet, welche große Quantitäten von starkem Kaffee (täglich
5—6 Tassen) tranken. Die männliche Kraft kehrte wieder, sowie der Kaffee-
genuß ausgesetzt wurde, während bei Wiederaufnahme desselben die Impotenz
von neuem eintrat (Referat in Deutsche Medizinal-Zeitung 1888, No. 13, S. 162,
nach „Comptes rend, de la société de biologie“ 1886, No. 27).
Za S. 49S—499. Ich möchte nach neueren Beobachtungen ebenfalls einen
schädigenden Einfluß der lange fortgesetzten absoluten sexuellen Abstinenz auf
die Potenz, besonders die Potentia coeundi annehmen. Als Beweis hierfür führe
ich namentlich zwei Fälle von noch in den zwanziger Jahren stehenden Aka-
demikern an, die beide bis vor kurzem keinen geschlechtlichen Verkehr gehabt
hatten, einer war sogar in zweijähriger Ehe enthaltsam geblieben! Beide hatten in
letzter Zeit wiederholt vergeblich versucht, den normalen Coitus auszuführen,
jedoch mit gänzlichem Mißerfolge quoad erectionem.
Zu S. 501. Das als angebliches Spezifikum gegen Impotenz angepriesene
„Muiracithin“, hat sich in meiner Praxis durchaus nicht bewährt. —
Zu 8. 513. Eine gründliche wissenschaftliche Widerlegung erfährt
4ie Entartungstheorie auch in der ausgezeichneten Schrift von Dr. William
Hirsch „Genie und Entartung. Eine psychologische Studie.“ (2. Auflage, Berlin
und Leipzig 1904). Am Schlüsse (S. 340) sagt der Verfasser: „Nach den an-
gestellten Untersuchungen müssen wir notwendigerweise zu dem Resultat ge-
langen, daß von den erwähnten Autoren der Beweis einer allgemeinen Degene-
ration der Kulturvölker in keiner Weise erbracht ist. Die Menschheit befindet
sich nicht in einer „schwarzen Pest von Entartung“ und die Welt braucht sich
durch das Märchen von der „Völkerdämmerung“ ebensowenig in Schrecken ver-
setzen zu lassen wie durch Herrn Falbs Prophezeiung vom bevorstehenden Unter-
gänge unseres Planeten.“ — Es kann nicht geleugnet werden, daß die größere
Verbreitung der schädlichen Genußmittel (Alkohol, Tabak usw.) und die rasche
Vermehrung der Zahl der Großstädte, die rapide Zunahme ihrer Bevölkerung,
durch welche Prostitution und Geschlechtskrankheiten besonders gefördert werden,
gewichtige ursächliche Faktoren lür die Entartung der Rasse darstellen. Jedoch
bildet die großartige Ausbildung der öffentlichen Hygiene, der die indi-
viduelle mehr und mehr zur Seite tritt, ein wirksames Gegenwicht. Die „Ent-
lastung“ im Sinne Hirths tritt hier deutlich zu Tage.
Zu S. 515. Treffend bemerkt Lomer (a. a. O. S. 47): „Die Natur kümmert
sich sehr wenig darum, ob wir eine ihrer Maßnahmen kurzweg als „psychotisch“
bezeichnen oder nicht. Sie geht unbeirrt ihren Weg und überschreitet dabei,
muß es sein, auch einmal die Breite des uns als „normal“ Geltenden
um ein Beträchtliches.“
Zu S. 522. Daß auch europäische Frauen bisweilen derartige Verun-
staltungen der männlichen Genitalien zur Steigerung ihres Wollustgefühles ver-
langen, beweist der folgende Fall: Vor einigen Jahren wurde ein 50jähriger Mann
auf der syphilitischen Abteilung des Laibacher Spitals aufgenommen. Sein Aus-
fluß erwies sich aber nur als Balanitis (Eicheltripper); man fand aber bei ihm
seinen ganzen sehr großen Penis mit stäbchenförmigen Körpern durchsetzt, die
sich nach Einschnitten in die Haut als Haarnadeln und Stecknadeln erwiesen,
letztere 5—6 cm lang mit pfefferkorngroßem Messingknopf, wenigstens zehn Stück.
Eine davon steckte teilweise im Hoden. Nach Entfernung der Fremdkörper teilte
der Mann mit, daß seine Geliebte diese hineingesteckt habe, damit ihr besser „die
Natur komme“. Die Nadeln lagen alle subkutan, manchmal den Peniskörper ring-
förmig umschließend.
Zu S. 529 Z. 9—19. In Uebereinstimmung mit den hier ausgesprochenen
Sätzen bemerkt Schopenhauer (Neue Paralipomena S. 234—235): „Die aus
dem Geschlechtstrieb entspringenden Kapricen sind ganz analog den Irr-
lichtern. Sie täuschen auf das lebhafteste; aber folgen wir ihnen, so führen
sie uns in den Sumpf, und verschwinden.“
53’
83G
Za S. 563. Es gibt übrigens auch eine heterosexuelle „Gerontophilie“,
d. h. abnorme Liebe junger Männer zu alten Frauen oder junger Mädchen zu
alten Männern. So teilt Féré („Note sur une anomalie de l’instinct sexuel:
Gérontophilie“ in: Journal de Neurologie, 1905) den Fall eines 27jährigen Mannes
mit, der sich nur zu weißhaarigen älteren Frauen hingezogen fühlte und dies auf
Eindrücke der frühesten Jugend zurückführte, als er als 4jähriges Kind bei einer
älteren, mit seiner Familie befreundeten Dame im Bette schlief und hierbei die
ersten sexuellen Regungen verspürte. Gegen junge Mädchen und Frauen hatte
er Abneigung, und als einmal eine bejahrte Geliebte ihre weißen Haare blond
färbte, verlor sich sogleich seine Liebe zu ihr.
Za S. 603. Ueber die Päderastie in Gefängnissen vgl. Ch. Perrier, La
pédérastie en prison, Lyon 1900.
Zu S. 610. Der hier erwähnte 22jährige männliche Scheinzwitter hat
kürzlich die psychologisch recht interessante Geschichte seines Lebens als „Weib“
veröffentlicht, unter dem bezeichnenden Titel: „Aus eines Mannes Mädchenjahren“
(von „Nobody“, Beilin 1907).
Zu S. 622. Eine eigentümliche Form der sexuellen Erregung durch andere
Affekte hat neuerdings Charles Féré unter dem Namen „Ergophilie“ be-
schrieben („Note sur une anomalie de l’instinct sexuel: ergophilie.“ In
Belgique médicale 1905). Es handelt sich um eine 26jährige Frau, die als vier-
jähriges Kind die erste geschlechtliche Regung verspürte, als sie bei einer Jahr-
marktsbande eine kleine, ebenso alte Jongleurin mit drei Kugeln ihre Kunststücke
ausführen sah. Jedesmal, wenn sie sich später diese Szene ins Gedächtnis zurück-
rief, hatte sie Orgasmus. Auch beim Anblick eines im Zirkus mit Eleganz und
Leichtigkeit seine Exerzitien ausführenden Athleten hatte sie denselben. Des-
gleichen, als sie einen Schnitter mähen sah. In einer frigiden Ehe kehrte sie
immer wieder zu diesen Vorstellungen als dem einzigen Mittel sexueller Be-
friedigung zurück. Mit Recht unterscheidet Féré diese Art der sexuellen Er-
regung durch den Anblick einer eleganten körperlichen Uebung vom Sadismus.
Der allgemein erregende Anblick der Bewegung hatte hier eine speziell
erregende Wirkung auf die Genitalien einer offenbar hysterischen Person. —
Vielleicht gehört auch der von Amrain (Anthropophyteia, Bd. IV, S. 242) mit-
geteilte Fall hierher, in dem ein 53jähriger Rentier durch das Herumgewirbelt-
werden von Dirnen auf schnell rotierenden Stühlen geschlechtlich erregt wird.
Zu S. 632. Folgenden merkwürdigen Fall von sadistischer Freiheits-
beraubung teilt Kiernan mit (nach der deutschen Uebersetzung von P. Näcke,
nebst Epikrise Näckes in: Archiv für Kriminalanthropologie, 1907, S. 359—360):
„Merkwürdiger Fall von Fetischismus. In „The Alienist and Neurologist“,
1906, S. 462, erzählt Kiernan folgendes: Zwei sehr angesehene Bürger von
Wladikaukas (Rußland) hatten wiederholt Mädchen aus angesehenen Familien ent-
führt und in merkwürdiger Weise behandelt. Wegen senilen Schwachsinns
wurden sie freigesprochen und in eine Irrenanstalt geschafft. Das letzte Opfer
war eine junge Erbin, die von jenen ein ganzes Jahr gefangen gehalten ward.
Zwei Greise mit Masken überfielen sie in der Nacht, verstopften ihr den Mund,
verbanden ihr die Augen und entführten sie per Wagen. In einem reichen Salon
ward sie befreit. Die zwei Greise, ohne ein Wort zu sagen, gaben ihr ein enges
Federkleid und sperrten sie in einen großen, vergoldeten Käfig, der im Salon
stand. Der eine — den andern sah sie niemals wieder — beguckte sie schweigend
jeden Morgen durch die Käfigstäbe, warf ihr manchmal Stücke Zucker hin und
brachte jeden Morgen einen Topf heißen Wassers, das er in den Futtemapf des
Vogels goß, indem er sagte: „Bade dich, Vögelchen.“ Das waren die einzigen
Worte, die sie je hörte! Erst nach einem Jahr entließ sie der Herr aus dem
Käfig, verband ihr die Augen und brachte sie per Wagen bis nahe an ihre
Wohnung. — Ein ähnlicher Fall ist mir nie in der Literatur vorgekommen.
Alles verlief hier rein platonisch, nichts von Coitus, Exhibition oder Onanie vor
oder nach Beschauen des eigentümlichen Vogels. Sicher liegt hier eine abortive
sexuelle Befriedigung vor, mit sadistischem Anstriche und dem Umstande, daß
nur junge Mädchen aus guten Familien im Vogelkleide und in Käfigen die Libido
erregen konnten. Warum gerade die Gestalt des Vogels? Vielleicht spielte im
Unterbewußtsein der Vogel als ein geiles Tier eine gewisse Rolle mit. Warum.
S37
beteiligte sich nur der eine an dem Beschauen? Daß es junge Mädchen sein
mußten, ist bei Greisen natürlich: les extrêmes se touchent. Daß sie aber auch
aus guter Familie sein mußten, darin liegt wahrscheinlich ein sadistischer Zug,
noch mehr natürlich in der Gefangennahme.“
Za S. 633. Vgl. über die Frauenmorde von Whitechapel : E. C. Spitzka,
The Whitechapel Murders: their medico-legal and historical aspects. In: The
Journal of nervous and mental diseases, Dezember 1888. Großes Aufsehen und
Schrecken erregte ein Mädchenstecher („piqueur“) in Paris in den Jahren 1818
und 1819. In zahlreichen Karikaturen, Volksliedern, Vaudevilles wurde dieser
Attentäter „gefeiert“, wovon eine sehr seltene Broschüre „La Piqûre à la Mode“
(Paris 1819) Zeugnis ablegt. Vgl. J. Grand-Carter et in: Les Images Ga-
lantes 1907 Nr. 7. — Viel Schrecken verbreiteten auch im Juli 1907 die Taten
eines neuen „Jack the Kipper“ in New York und die grausamen Kindesmorde
eines offenbar geisteskranken, bisher nicht ergriffenen Sadisten in Berlin, der an
einem Tage mehreren kleinen Mädchen mit einer Schere den Bauch aufschlitzte.
Zu S. 635. Einen typischen Fall von sexueller Kleptomanie teilt H. Zingerle
mit („Beiträge zur psychologischen Genese sexueller Perversitäten“ in: Jahrbücher
für Psychiatrie und Neurologie 1900): Eine 21jährige von Kindheit an psycho-
pathische Frau hatte von der Schulzeit an das bestimmte Verlangen, sich fremde
Gegenstände anzueignen, am liebsten solche aus braunem Leder (braune Schuhe),
Schirme, Geld. Nur das Stehlen befriedigte sie, nicht das Behalten des
Gestohlenen, das sie meist zerstörte oder verschenkte. Sie hat beim Diebstahl
ein ausgesprochenes Gefühl von Wollust mit Absonderung eines
Sekretes in den Genitalien. Sie handelt mehr aus einem unwiderstehlichen An-
triebe und Zwange und empfindet nach der Tat Abscheu davor. Sie bevorzugt
große und schwer zu verbergende Gegenstände, gerade die ihr sich entgegen-
stellenden Hindernisse und Gefahren und die in deren Begleitung auf-
tretenden Affekte sind das Wesentliche und die Wollust erweckende Moment.
Die psychopathische Grundlage des Zustandes ließ sich einwandfrei feststellen.
Zu S. 644. Zu den vier krassen Fällen von Masochismus kommt noch
der folgende, ebenso merkwürdige: Ein den besten Ständen angehöriger Mann,
Dreißiger, frequentiert nur Prostituierte mit — falschen Zähnen. Sie müssen
diese herausnehmen, worauf er an den Zähnen saugt. Sodann streckt er sich auf
dem Kanapee aus, und die Prostituierte muß ihm eins ihrer schmutzigen Hemden
aufs Gesicht legen, während er zugleich in jeder Hand einen ihrer Schuhe hält.
Das ist für ihn der kritische Moment. Das Mädchen selbst würdigt er während
der ganzen Prozedur keines Blickes, für ihn existieren nur Zähne, Hemd und
Schuhe. Es handelt sich also um einen Masochismus mit stark fetischistischem
Einschläge. — Die oben erwähnte mittelalterliche „Ekelkur“ (Vorhalten eines
schmutzigen Mädchenhemdes ) würde bei diesem Manne nur das Gegenteil er-
reicht haben.
Zu S. 681-G83. Einen drastischen Fall von ausschließlichem Genital-
fetischismus teilt P. Garnier mit (Les Fétichistes, Paris 1896, S. 170—174).
Es handelt sich um einen 48jährigen Mann, der, im gewöhnlichen geschlechtlichen
Verkehr beinahe völlig impotent, sexuelle Befriedigung nur durch Betrachten
der Genitalien von Menschen und Tieren erzielte und ähnlich wie in dem
von mir (S. 682—683) mitgeteilten Falle ebenfalls durch das Zeichnen von
Genitalien sexuell erregt wurde. Der Betreffende bot deutliche Symptome eines
Nervenleidens dar.
Zu S. 683. Anfang der 70 er Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde in
Graz eine Gräfin Chorinsky von ihrem Gatten und dessen Geliebten, Fräulein
von Ebergenyi, ermordet. Als sie eingesperrt wurden, schrieben sie sich im Ge-
fängnisse Briefe, denen sie ihre abgeschnittenen Fingernägel beilegten, an deren
Geruch sie sich „berauschten“.
Zu S. 686—6S7. Vgl. hierzu S. Soukhanoff, Contribution à l’étude
des perversions sexuelles in: Annales médico-psychologiques, Januar—Februar-
heft 1901 (Fall von Uro- und Koprolagnie bei einem 27jährigen habituellen
Onanisten). Einen merkwürdigen Fall von geschlechtlicher Erregung durch den
Geruch von frisch gemachtem Heu bei einem 25jährigen Juristen teilt Amrain
mit (Anthropophyteia Bd. IV S. 237). Der Betreffende zieht sich völlig nackt aus.
838
wälzt sich „wie besoffen“ im. Heu, bis Ejakulation eintritt. Er nennt seinen Trieb
eine Vis maior.
Zn S. 689—690. Auf die Gelüste von Schuhfetischisten spekulierte auch
offenbar die an der sensationellen Ermordung des Grafen Komarowsky (Sep-
tember 1907) beteiligte Madame Tarnowsky. Sie bestellte bei einer Berliner
Firma meist gleich 20 Paar eleganteste Schuhe auf einmal, und zu jedem Paar
Schuhe passende Strümpfe aus feinstem seidenen Gewebe, die von der gleichen
Farbe wie die Schuhe sein mußten. Ferner trug sie an den Fußgelenken zwei
schwere goldene Kettenarmbänder. Zu jeder ihrer zahlreichen Morgentoiletten
trug sie eigens für sie angefertigte Pantoffeln im Preise von 30—40 Mark.
Zu 8. 698—699. Vgl. hierzu auch Emil Schultze-Malkowsky, „Der
sexuelle Trieb im Kindesalter“ in Zeitschrift: „Geschlecht und Gesellschaft“ 1907,
Heft 8, S. 370—373 (Mitteilung von fünf sexuellen Szenen aus dem Jahre 1864,
deren Heldin ein Mädchen von 7 Jahren war!)
Zu S. 701 — 702. Im August 1907 wurde vom Berliner Landgericht I ein
47jähriger Handwerker zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er mit seiner
eigenen jetzt 27jährigen Tochter seit 15 Jahren (!) Blutschande getrieben und
das auch fortgesetzt hatte, als er sich zum zweiten Male verheiratete. Das Mädchen
hatte sich jahrelang in einem Zustande geschlechtlicher Hörigkeit dem Vater
gegenüber befunden, der eifersüchtig darüber wachte, daß die Tochter sich mit
keinem anderen Manne abgab.
Bei manchen Indianerstämmen Zentralamerikas soll Inzest immer Vor-
kommen, wenn die älteste Tochter den Vater auf einige Tage in die Berge be-
gleitet, um ihm seinen Maiskuchen zu bereiten.
Zu S. 705. Eine gründliche kritische Studie über Unzucht mit Tieren
liefert A. Hab er da in der „Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin 1907, 3. Folge,
Bd. XXXIII, Suppl.-Heft. Sie betrifft 172 forensische Fälle, unter diesen waren
nur zwei Mädchen von 16 und 29 Jahren, die mit Hunden Unzucht getrieben
hatten. Die meisten der männlichen Täter waren Personen, die durch ihren
Beruf viel mit Haustieren zu tun hatten, fast die Hälfte waren unter
20 Jahren. Die mißbrauchten Tiere waren Rinder, Ziegen, Pferde, Hunde,
Schweine, Schafe und Hühner. Meist handelte es sich um beischlafähnliche
Akte, weniger oft um andere sexuelle Berührungen. Das 16jährige Mädchen
wurde dabei betroffen, als es sich vom Hunde begatten ließ. Die meisten männ-
lichen Täter benutzten weibliche Tiere. In zwei Fällen ließen sich junge
Burschen von Hunden per anum gebrauchen, die dazu abgerichtet wurden und in
beiden Fällen Einrisse des Afters und Mastdarms erzeugten. Nur in wenigen
der 172 Fälle von Sodomie lag Grund vor, an der geistigen Gesundheit der Täter
zu zweifeln. Es handelte sich dann um Altersschwachsinn, Epilepsie, Trunkenheit.
Die Hauptgründe für die Ausübung der Sodomie waren: die erhöhte Gelegenheit,
die geringere Möglichkeit auf dem Lande zum ehelichen oder außerehelichen
Geschlechtsverkehr, der Aberglaube (Heilung von Venerie durch Umgang mit Tieren).
Zu S. 706. Mitte der 70er Jahre wurde in der Kärntnerstraße in Wien
eine Prostituierte in ihrem Zimmer ermordet gefunden und ihre Zimmer- und
Berufsgenossin als Täterin zu Kerkerstrafe verurteilt. Nach einigen Jahren wurde
der wirkliche Mörder entdeckt, und zwar verriet ihn der Umstand, daß er nur
dann eine Erektion bekam, wenn er ein Huhn schlachtete. Er war unter den
Prostituierten als „Hendelherr“ bekannt.
Zu 8. 707. In der Nähe von Sagor, im Savethal bei Laibach erregte vor
einigen Jahren ein „närrischer“ Auerhahn, der das ganze Jahr, auch bei Tage
„balzte“, Aufsehen, besonders nachdem man herausgefunden hatte, daß er —
Bäuerinnen angriff! Es wuiden sogar Lichtbilder hiervon aufgenommen.
Einen Fall von Sodomie mit einem Kaninchen teilt Boëteau mit („Un
cas de bestialité“. In: France médicale 1891, Bd. 38, S. 593).
Ueber passive Sodomie mit Hunden vgl. A. Montalti „La pederastia tra
il cane a l’uomo“ (In: Sperimentale 1887, Bd. 60 S. 285); Delastre et Linas,
„Sodomie bestiale“ (Société de médecine légale 1873—1874 Bd. III S. 165);
Brouatdel „Pédérastie d’un chien à l’homme“ (In: Semaine médicale 1887,
Bd. VII, S. 318). — Féré, „Note sur un cas de bestialité chez la femme“ (In:
Archives de Neurologie, 1903, No. 90).
889
Zu S. 710-711. Ein russischer Leser teilt mir mit, daß in einem russischen
Kataloge für pornographische Bilder und andere Artikel künstliche männliche
Glieder für Frauen und impotente — Männer zum Preise von 10 und 15 Rubeln,
weibliche Genitalien für 30 Rubel angeboten und tatsächlich geliefert werden.
Zu S. 711. Vgl. hierzu noch Hugo Hoppe, Drei Fälle von Sittlichkeits-
vergehen. In: Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin 1900, 3. Folge, Bd. XX,
Heft 2 (zwei psychopathische Fälle, ein Fall bei einem geistig Gesunden). —
H. Hoff mann, Ein Fall von Exhibitionismus. In: Zeitschrift für Medizinal-
beamte 1902, Heft 1 (Geistesgesundheit, Verurteilung).
Zu S. 721. Vgl. über die Sittlichkeitsvergehen das umfassende Werk von
Mittermaier, Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit, Berlin 1906
(erörtert die Gesetzgebung der verschiedenen Länder in vergleichender Dar-
stellung).— Ferner J. Werthauer, Sittlichkeitsdelikte der Großstadt, Berlin 1907.
Zu S. 736. Vgl. hierzu noch O. Schreiber, Ueber die sexuelle Ent-
haltsamkeit in: Medizinische Blätter, 1907, No. 25—27.
Zu S. 744 ff. Die Frage der sexuellen Erziehung und Aufklärung steht
augenblicklich im Vordergrund des Interesses, und mit Recht. Hängt doch von
ihr wesentlich die weitere Reform und Gesundung aller sexuellen Verhältnisse
der Kulturvölker ab. Deshalb beschäftigen sich die inzwischen im Druck er-
schienenen Verhandlungen („Sexualpädagogik“, Leipzig 1907, 8°, XII,
322 Seilen) des dritten Kongresses der D. Ges. zur Bek. der Geschlechtskrankheiten
nur mit diesem Gegenstände, der nach vier Richtungen hin in eingehenden Refe-
raten und Diskussionen erörtert wurde: I. Sexuelle Belehrung in Haus und
Schule; II. Sexuelle Aufklärung der geschlechtsreifen Jugend; III. Sexuelle Be-
lehrung der Lehrer und Eltern und IV. Sexuelle Diätetik und Erziehung. Der
gegenwärtige Stand der Sexualpädagogik in ihren verschiedenen Teilen ist in
diesem umfangreichen Bande genau festgelegt, außerdem ist am Schlüsse eine
Uebersicht über die neueste Literatur dieser aktuellen Frage beigefügt worden.
— Viel Beherzigenswertes über sexuelle Diätetik bringen H. Mann, „Die Kunst
der sexuellen Lebensführung“ (Oranienburg 1907), und A. Eulenburg,
„Sexuelle Diätetik“ (in: Mutterschutz, Juli- und Augustheft 1907). Als Gegner
frühzeitiger sexueller Aufklärung bekennt sich G. Leubuscher („Schularzttätigkeit
und Schulgesundheitspflege“, Leipzig 1907, S. 65—70). Er möchte sie erst beim
Verlassen der Schule gegeben sehen. Doch wirken seine Gründe nicht über-
zeugend und gelten vor allem nicht für die Großstadt.
Zn S. 776—777. Die Gefahr des Alkoholismus für die Nachkommenschaft
wird durch die Erfahrung illustriert, daß etwa 1/3 der überlebenden Kinder trunk-
süchtiger Eltern an Epilepsie erkranken, und daß mehr als die Hälfte der idiotischen
Kinder von trunksüchtigen Eltern abstammt. Vgl. E. Kraepelin, Die
psychiatrischen Aufgaben des Staates, Jena 1900, S. 3. — Ueber den verderb-
lichen Einfluß der Syphilis bis auf die zweite und dritte Generation vgl. die
Monographie von B. Tarnowsky, La famille syphilitique et sa descendance,
Clermont (Oise), 1904.
Zu S. 792 ff. Vgl. zu diesem Kapitel noch die freilich etwas sehr sub-
jektiv und pro domo gehaltene Schrift von Willy Schindler, Das erotische
Element in Literatur und Kunst, Berlin 1907.
Zu S. 808. Bezüglich der belletristischen Behandlung der Pubertätszeit
sind ferner noch zu nennen: Hermann Hesses „Unterm Rad“, Emil Strauß’
„Freund Hein“, Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törlefi“,
Hans Harts „Was zur Sonne will“, Robert Saudeks „Eine Gymnasiasten-
tragödie“ in 4 Akten (vgl. Gustav Zielers orientierende Uebersicht „Frühlings
Erwachen“ in: Das literarische Echo vom 15. August 1907).
Zu S. S09—810. Die mannigfaltigen Konflikte der freien Liebe und der
unehelichen Mutterschaft zeigt an dem Schicksal einer bedeutenden Frau Mar-
celle Tinayre in „La Rebelle“.
Zu S. 813. Neuerdings (seit 1. Februar 19071 erscheint sogar eine maso-
chistische Monatsschrift: „Geißel und Rute. Archiv für Erziehung (sic!) Er-
wachsener.“ (Herausgegeben von C. vom Stein o. O. (Budapest) 1907, bisher
8 Monatshefte.) Sie enthält masochistische Novellen, Korrespondenzen, kultur-
geschichtliche Aufsätze und Annoncen.
840
La S. 821. Besondere Erwähnung verdient das grundlegende Werk von
A. Marro über die Pubertät bei Mann und Frau, am besten die französische
Ausgabe zu benutzen: „La puberté chez l’homme et chez la femme. Etudiée
dans ses rapports avec l’anthropologie, la psychiatrie, la pédagogie et la socio-
logie.“ (Paris 1902, gr. 8°, 536 Seiten.)
Zn S. 822. Viele interessante Details enthält die Studie des italienischen
Psychiaters Pasquale Penta „I pervertimenti sessuali nell’ uomo e Vincenzo
Verzeni strangolatore di donne“ (Neapel 1893). Verfasser gibt darin Beiträge
zu einer Geschichte der Psychopathia sexualis (Kap. I), ferner einen eingehenden
Bericht über Verzeni und seine Lustmorde (Kap. II), untersucht dann die
Aehnlichkeiten und Unterschiede des menschlichen und tierischen Geschlechts-
triebes (Kap. III), die biologischen Grundlagen des Lustmordes (Kap. IV), bringt
eine Uebersicht über die verschiedenen sexuellen Perversionen (Kap. V) und
bespricht endlich die Notzucht (Kap. VI) und die forensische Bedeutung der
letzteren und der sexuellen Perversionen (Kap. VII).
Vom veterinärmedizinischen Standpunkte ist die soeben erschienene vor-
zügliche „Sexualbiologie“ von Robert Müller (Berlin 1907) geschrieben, deren
Untertitel: „Vergleichend-entwickelungsgeschichtliche Studien über das Geschlechts-
leben des Menschen und der höheren Tiere“ über die Absicht des Verfassers
orientiert, die allgemeinen biologischen Wurzeln der Geschlechtserscheinungen
bloßzulegen. Diese vergleichende Betrachtung des Geschlechtslebens des
Menschen und der höheren Tiere läßt viele Dinge in einem neuen Lichte er-
scheinen und erschließt das Verständnis für manche bisher dunkle Erscheinungen
des Geschlechtstriebes.
Ein größeres allgemeines populäres Werk über das Sexualleben ist gegen-
wärtig im Erscheinen begriffen: „Mann und Weib“ unter Mitwirkung hervor-
ragender Fachgelehrter herausgeg. von R. Koßmann und J. Weiß, Stuttgart
1907. Bisher sind 10 reich illustrierte Lieferungen erschienen.
Zu S. 823. Besonders reichhaltig ist der vierte Band der von Fr. S.
Krauß herausgegebenen „Anthropophyteia“ (erscheint im Oktober 1907).
Er enthält u. a. die Abhandlungen von H. Felder über das Solinger und
bergische Idiotikon eroticum, über „erotische Pflanzenbenennungen im deutschen
Volke“ von Aigremont, über „Zeitehen in Norddalmatien“ von A. Mitrovié,
die „Zuchtwahlehe in Bosnien“ von Fr. S. Krauß, „Erotische Tätowierungen“
von H. E. Luedecke, das „Geschlechtsleben der Samoaner“ von W. von Bülo w,
„Deutsche Bauernzählungen“ (erotischen Charakters) von F. Wernert, „Bergische
Volkserzählungen, die sich auf das Geschlechtsleben beziehen“ von H. Felder,
„Städtische Erzählungen aus Köln a. Rhein“ von J. Malzbänden, „Erotik und
Skatologie im Zauberbann und Bannspruch“ von Krauß und Mitrovic, „Mein
Besuch bei einer Zauberfrau in Norddalmatien“ von A. Mitrovic, „Von ab-
sonderlichen geschlechtlichen Gelüsten und Lüstlingen“ von Karl Amrain, „Der
Geruchssinn in der Vita sexualis“, Erhebungen von Krauß, Mitrovié und
Wernert, „Die Erotik beim Haberfeldtreiben in Oberbayern“ von Georg Queri,
„Ein japanisches Frühlingsbild“ von B. Läufer, „Ueber den „oXiaßo;“ der
Hellenen“ von O. Knapp, „Koitus und Sexualinstinkt“, eine Umfrage von
A. Kind, „Die Stärkung männlicher Kraft“, eine Umfrage von K. Amrain,
„Erotik in der Numismatik“ von H. E. Luedecke, „Erotische und skatologische
Sprichwörter und Redensarten der Serben“ von V. S. Karadzic, „Grundlagen
der Skatologie“ von Luedecke, „Slavische Volksüberlieferungen über den Ge-
schlechtsverkehr“ von Fr. S. Krauß.
841
Anhang zur 7.—9. Auflage.
(Nachträge und Ergänzungen.)
Zu S, 3—7. Wenn G. v. Rohden in seiner geistvollen Abhandlung
„ Individualisierung des Geschlechtslebens“ (in Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1908
No. 2 und 3), die an zahlreichen Stellen sich auf das vorliegende Buch bezieht,
zu dem Ergebnis gelangt, daß „die Individualisierung im letzten Grunde doch
wieder dem Gattungszweck sich unterordnet“, da die Gattung eben durch dieses
geläuterte, vergeistigte Geschlechtsleben gehoben, „hinaufgepflanzt“ wird, so steht
das nicht im Widerspruch mit meiner Definition der menschlichen Liebe (S. 3)
als inniger untrennbarer Verknüpfung des Gattungszweckes und der selb-
ständigen Bedeutung des Sexuellen im Leben des liebenden Individuums selbst.
Man kann aber diese Bedeutung für den einzelnen Menschen nicht hoch genug
anschlagen, ohne die Gattung irgendwie zu beeinträchtigen. Eine Vervollkomm-
nung der individuellen Liebesfähigkeit ist sogar ein erstrebenswertes Ziel, da
ohne Zweifel auch diese vererbt werden kann.
Zu S. 50ff. Vgl. die wichtige Abhandlung von Max Katte, Die Prä-
liminarien des Geschlechtsaktes, ihre physiologische und psychologische Erklärung
(Zeitschr. f. Sexualwissenschaft 1908 No. 10 S. 601—617).
Zu S. 28. In Hedwig Dohms Novelle „Wie Frauen werden“ erklärt
die Heldin Käthe, sie sei überzeugt, daß man in kommenden Zeitaltern die
Kultur nicht nach dem Verbrauch der Seife, sondern nach dem Aussterben der
Bärte bemessen würde.
Zu S. 81. Eine interessante Erklärung für die Unterschiede der künst-
lerischen Begabung bei Mann und Weib gibt L. vonSzöllösy in seinem an-
regenden Buche „Mann und Weib. Zwei grundlegende Naturprinzipien. Eine
sexualphilosophische Untersuchung“. (Würzburg 1908.) Danach findet das
weibliche Geschlecht die Objektivation des Schönen in sich selbst, sucht sie also
nicht außerhalb seiner selbst. Für die Frau „bedeutet das Aesthetische das Ich,
als das vorstellbar Konkreteste, und so ist es für sie unmöglich, gegen das
Reine, das Abstrahierte in der Aesthetik zu tendieren“. Daher ist das künst-
lerische Streben der Frauen bloßer „Nachahmungstrieb“, und das eigentlich
Schöpferische ist Sache des Mannes.
Zu S. 91. Die Disharmonie, die aus dem Mißverhältnisse zwischen dem
rascheren Orgasmus des Mannes und dem langsameren der Frau entsteht, hat
neuerdings A. Strindberg in seinem merkwürdigen Romane „Schwarze Fahnen“
(Deutsche Ausgabe, München 1908 S. 138) treffend geschildert, zugleich aber
nach seiner Art die Ansprüche des Weibes auf gleiche sexuelle Befriedigung
zurückgewiesen. Er sagt u. a.: „Als sich die Frauen gegen die Natur empörten
und sich dem Manne gleichstellen wollten, entdeckten sie, daß er größere augen-
blickliche Freude als sie habe. Da wurden sie neidisch. Sie konnten nicht be-
greifen, daß die Frau als reichlichen Ersatz die Mutterfreude bekommen hat.
Sie wollten dem Manne gleich seinl Da beginnt dieser Feldzug, der so viele
von unsern Freunden ruiniert hat. Als sie aus unverständigem Element mit
sich zu teilen suchten, gerieten sie in ein sinnloses Streben hinein und gingen
unter. Der Mann, welcher der aktive ist, ist feurig; die Frau, die passive, ist
phlegmatisch, und soll es sein, um empfangen zu können. Der Mann, als der
842
Positive, ist maßgebend; die Frau, als die Negative, besitzt die Fähigkeit, sich
anzupassen. Darum hat sie auch kein Recht auf Kritik! Die Hand bestimmt
doch die Nummer des Handschuhs; nicht der Handschuh sagt zur Hand: du bist
zu groß, du bist zu klein. Jetzt aber haben die Handschuhe sich empört . . .
Ich habe eben in einer medizinischen Zeitschrift gelesen, die Frau, die Mannes-
freude verlangt, ist pervers; sie hat nur das Recht, Frauenfreude zu fordern;
das ist Schwangerschaft. Die Frau, die etwas anderes verlangt, ist zum Freuden-
haus geboren. — Jetzt ist die Verkehrtheit so weit gediehen, daß die meisten
Frauen ihre Männer anklagen, sie seien zu feurig. Kann man das Feuer an-
klagen, daß es zu warm ist? Das ist ja Wahnsinn! — Du erinnerst dich aus
unserer Jugendzeit, wie sich die Mädchen vor phlegmatischen Herren grauten.
Das war gesund, denn ein phlegmatischer Herr ist weiblich, da das Phlegma die
Natur des Weibes ist. Und jetzt klagen sie die Feurigen an! WTenn Zeus ein
sterbliches Weib beglückte, schlug er ein wie ein Blitz!“
Zu S. 117ff. Vgl. hierzu die vorzügliche Arbeit von Julian Marcuse,
Die sexuelle Frage und das Christentum, Leipzig 1908. — Ferner Josef Leute,
Das Sexualproblem und die katholische Kirche, Frankfurt a. M. 1908 (höchst
interessant).
Zu S. 127—130. Vgl. die geistvolle Abhandlung von Theodor Peter-
mann, Dämonen- und Phantomenliebe (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft 1908
No. 5 S. 289—298).
Zu S. 173. Walther Rathenau erblickt („Reflexionen“, Leipzig 19Ö8
S. 228—229) in dem „Mißverständnis der Prüderie“ eine „groteske Szene mensch-
licher Komödie“, die er folgendermaßen schildert:
„Zwei Gruppen ehrlicher Menschen stehen sich gegenüber und halten
einander wechselseitig für Heuchler oder Wüstlinge.
Der Grund: unsere Unkenntnis sexueller SeelenvorgäDge. Man muß wissen,
daß eine große Gattung Menschen von starker und zurückgedrängter Sexualität
vor jeder Nacktheit oder Laszivität heimgesucht werden von Reizen und Er-
regungen, die sie nicht zu bändigen wissen. Sie können nicht anders denken,
als daß alle übrigen ihnen gleichgeartet sind; und so leiden sie in jeder ihnen
verfänglichen Lage dreifach. Die eigene unzeitliche Erregung empfinden sie als
Aergernis; die vermutete der anderen ist ihnen ein Greuel; und in den Augen
dieser anderen glauben sie selbst sich ein Gespött.
Allein die andere Gruppe, mehr ästhetisch-sinnlich als sexual veranlagt,
weiß von diesen Vorgängen nichts und kann sie nicht erraten. Sie hält den
Unmut ihrer Brüder für Heuchelei und Lüge. Sie ist empört, daß man ihre
harmlosen Freuden verkümmert und sie selbst, die Unschuldigen, als Lüstlinge
verschreit.“
Nach Rathenau ist die erste Gruppe physiognomisch leicht erkennbar.
Es sind „meist dunkelhaarige, hagere, starkknochige Leute mit starken Nasen,
langen Gesichtern und tiefliegenden Augen“. Er hält es für ungewiß, ob Rassen-
merkmale oder säkulare Wirkungen des christlichen Pietismus das Phänomen
erklären.
Za S. 174. Es ist bemerkenswert, daß gerade Theologen der verschie-
densten Richtung in neuester Zeit für eine freie und imbefangene Auffassung des
Geschlechtlichen eintreten. Ich nenne nur Gustav v. Rohden (vgl. dessen
oben erwähnte Schrift) und Ernst Baars (vgl. dessen ¿.Sexuelle Ethik“, Groß-
Lichterfelde-West 1908).
Zu S. 202. Vgl. noch Arthur Kronfeld, Sexualität und ästhetisches
Empfinden in ihrem genetischen Zusammenhänge, Straßburg 1906. — Eduard
v. Mayer, Die erotischen Wurzeln der Kunst (Zeitschr. f. Sexualw. 1908 No. 6
S. 334—346). — Ernst Subak, Erotische Aesthetik, Berlin 1908.
Zu S. 211. Nach Kurt Breysig („Die Frau und die Entstehung der
Familie“ in: Die Neue Generation 1908 No. 10 S. 357—364) ist der Schichten-
bau der Geschlechter aus dem der Männer- und Frauenbünde entstanden. Die
eingeschlechtliche Horde besonders der Männerbünde wurde durch das Geschlecht
verdrängt. „Die Horde“, sagt Breysig, „gewährte mit ihrem Mischverkehr der
rohen Gier, insbesondere den Frauen, weit zügellosere Freiheit, weit größere
Wahl, sowie Zahl der Befriedigungsmöglichkeiten, als die Ehe des Zeitalters der
843
Geschlechtsordnung, die den Frauen so starke Schranken setzte.“ Die Frau gab
dann nach Breysig die nie wieder erreichte Selbständigkeit in den Frauenbünden
auf, um durch die Ehe und Sonderfamilie den dauernden Schutz des Vaters für
sich und das Kind zu gewinnen. Die Frau war es, die zuerst die Ehe auf kurze,
später auf lange Zeit und zuletzt die lebenslängliche Ehe herbeigeführt hat.
Zu S. 225. Aehnliche Ansichten wie Lecky hatte Karl Immermann.
Man beziehe jetzt alles, klagt er im Gespräche mit Gutzkow, was zwischen
Mann und Frau Vorgehen darf, auf die Ehe, auf das, was zu derselben direkt
führt und aus ihr entspringt. Die tausend Nuancen und Schattierungen, welche
neben diesem Grundverhältnis möglich sind, erlaubt und für das Leben des
Geistes und Gemütes höchst förderlich sein können, seien, wenigstens gegen
sonst, sehr reduziert und stünden gegenwärtig immer in Gefahr, für lächerlich
oder verfänglich zu gelten. Nun werde aber der Mann, der nicht mit ver-
schiedenartigen Frauen lebt, notwendig ein barbarischer Philister, wie derjenige,
der bloß mit Frauen lebt, zum egoistischen Schwächling werden müsse. Vgl.
Richard Fellner, Geschichte einer deutschen Musterbühne. Karl Immermanns
Leitung des Stadttheaters zu Düsseldorf. Stuttgart 1888 S. 97.
Zn S. 229—230. Ueber die „Doppelliebe“ vergl. die sehr interessanten
und geistreichen Ausführungen von Georg Hirth in seinem neuen Buche
„Wege zur Heimat“, München 1909 S. 54-1—555, S. 615.
Zu S. 2G3ff. Zur neuesten Literatur über die freie Liebe vergl. Ellen
Key, Mutter und Kind, Berlin 1909; Oscar A. H. Schmitz, Die Zeitehe
(Neue Generation 1908 No. 4 S. 127—133); Heinrich Meyer-Benfey, Die
neue Ethik und ihre Gegner (ebendas. No. 5 S. 153—168); Helene Stöcker,
Zur Psychologie der freien Hingabe (ebendas. No. 9 S. 321—327); Ernst Kro-
mayer, Neue Geschlechtsmoral (ebendas. S. 343—346); Ernst Baars, Du
sollst nicht ehebrechen (ebendas. No. 10 S. 364—371); Aage Madelung, Das
erotische Problem (ebendas. No. 11 S. 420—427); Henriette Fürth, Das Ge-
schlechtsproblem und die moderne Moral, Leipzig-Gautzsch 1908.
Zu S. 273—276. Als eine interessante Verwirklichung des Schopen-
hauer sehen Tetragamieprojektes erscheint die folgende freundliche Mitteilung
des Herrn Theodor Hernried in Wien.
In Ungarn, in der Nähe von Tata-Tovaros, liegt eine kleine Ortschaft, die
nur von Bergarbeitern bewohnt ist. Unter diesen gibt es Tag- und Nachtarbeiter.
Es hat sich nun dort der Brauch herausgebildet, daß ein verheirateter Tag-
arbeiter z. B. einen ledigen Nachtarbeiter, ein verheirateter Nacht- einen ledigen
Tagarbeiter in Kost nimmt. Die Ledigen übernehmen in gleichem Maße wie die
Verheirateten die Pflichten und auch die Rechte des Ehemannes. Sie leben
in Frauengemeinschaft, liefern aber pünktlich ihren Wochenlohn ab. Dieser
Brauch ist dort vollkommen eingebürgert und gilt nicht als unsittlich. — Hier-
nach ist es möglich, daß Schopenhauer seine Theorie an wirkliche Zustände
angeknüpft hat.
Zu S. 306. Die traurigen Folgen der Infamierung der unehelichen Mutter-
schaft schildert ergreifend Adele Schreibcjr, „Romane aus dem Leben“ (Neue
Generation 1908 No. 1 u. 2).
Zu S. 310 Schlußabsatz. Eine neuerliche Verfügung des französischen
Kriegsministeriums bezeichnet die erste wahrhaft unbefangene und sittliche
Würdigung der vielverfehmten freien Ehe von staatlicher Seite. Der „Berliner
Lokalanzeiger“ unter dem 8. Januar 1909 berichtet darüber:
Seit Einführung der zweijährigen Dienstzeit pflegt die französische Militär-
verwaltung den Müttern und Schwestern, besonders aber den Gattinnen der
Soldaten und Reservisten Unterstützungen zu gewähren, um dadurch für den
Ausfall des Verdienstes durch den Ernährer einen kleinen Ersatz zu bieten. Jetzt
hat das französische Kriegsministerium bestimmt, daß auch den Mädchen, die in
freier Liebe mit den einberafenen Soldaten verbunden sind, Unterstützungen zu-
gewandt werden sollen. Dadurch will das Kriegsministerium dokumentieren, daß
es in bezug auf die Unterstützungsbedürftigkeit keinerlei Unterschiede gelten
läßt zwischen einer wirklichen Ehe, welche durch das Gesetz und die Kirche
sanktioniert ist, und einer sogenannten Freiehe, die sie der legitimen für gleich-
wertig hält.
844
Die in Rußland neuerdings an Artzibaschews berühmten Roman „Ssanin*
(Deutsch: München 1908) anknüpfende Propaganda für freie Liebe (vgl. W. Day a:
„Die sexuelle Bewegung in Rußland“ in: Z. f. Sexualw. 1908 No. 8 S. 493—502)
betrifft, nach ihrer Umsetzung in die Praxis zu urteilen, eher die „wilde“ als die
freie Liebe.
Zu S. 328. Sehr drastisch wird bereits im Talmud (Keth. 65a) die Wir-
kung des Alkohols auf das Weib geschildert: ein Glas Wein ist schön für die
Frau, zwei sind etwas Häßliches, bei dreien fordert sie mit Worten (den Coitus),
bei vieren fordert sie sogar einen Esel auf der Straße auf, jeglichen Anstand
vergessend.
Zu S. 362. Bezeichnend ist auch eine Aeußerung des Mystikers Novalis
in einem Briefe an Karoline vom 27. Februar 1799: „Ich weiß, daß die Phan-
tasie das Unsittlichste, das geistig Tierischste am liebsten mag; indes weiß ich
auch, wie sehr alle Phantasie wie ein Traum ist, der die Nacht, die Sinnlosigkeit
und die Einsamkeit liebt.“
Zu S. 363. Aehnlich sagt derselbe Autor (L. Pietsch) bei der Schilderung
■eines Kunstwerkes (Voss. Zeit. No. 311 vom 5. Juli 1908): „Durch die Seiteniür
dieses Saales 17 in seiner Nordwestwand erblickt man in der Mitte des schmalen
Nachbarsaales 18 die meisterlich aus Holz gemeißelte, leicht getönte lebensgroße
nackte Frauenstatue von Jaray „Phryne vor ihren Richtern“. Siegesstolz im
sicheren Bewußtsein der Wirkung ihrer sinnlich verführerischen Gestalt steht sie
stramm und keck auf beiden Füßen da, das rothaarige Haupt frech lächelnd zur
rechten Schulter gewendet. Was sagte doch Kong Frederik von Dänemark von
seiner geliebten Rasmussen? „Ach, sie ist ja so herrlich gemeinI“
Zu S. 401. Für die Feststellung und Behandlung der Syphilis ist von
größter Wichtigkeit die von Wassermann neuerdings begründete „Sero-
diagnostik“ der Syphilis mittels Komplementbindung, wodurch es gelingt,
früher vorhanden gewesene oder noch bestehende Syphilis aus dem Nachweise
von „Antikörpern“ und „Antigenen“ im Blutserum zu diagnostizieren. Die Unter-
suchungen darüber, welche Bedeutung die Serodiagnostik für die Behandlung
der Syphilis hat, sind noch in vollem Gange und haben einstweilen noch keine
sicheren Handhaben ergeben.
Zu S. 441. Neuerdings hat Wilhelm Erb dagegen Verwahrung ein-
gelegt, daß seine Tripperstatistik mit derjenigen Blaschkos übereinstimme. Er
fand im Gegenteil bei 2000 Männern über 25 Jahre der höheren und höchsten
Stände bedeutend geringere Zahlen. Es hatten nämlich nur 48,5% von
diesen Tripper gehabt, 18,2% Syphilis, 7,7% Schanker und 45% waren über-
haupt von jeder venerischen Infektion freigeblieben. Sein Material
bestand in der übergroßen Mehrzahl der Fälle aus Kaufleuten (zumeist aus Deutsch-
land), dann aus akademisch-gebildeten Kreisen (früheren Studenten!) und ziem-
lich zahlreichen Offizieren, also Berufskreisen, bei denen der Tripper am meisten
verbreitet ist. Blaschkos Einwendung, daß eine „retrospektive“, nur auf die
Anamnese gegründete Statistik zu viele Fehlerquellen enthalte, will Erb gerade
bezüglich des Trippers nicht gelten lassen, da im allgemeinen reifere Männer bei
richiiger Befragung hierüber zuverlässige Angaben machen. Blaschko be-
trachtet Erbs Zahlen nur als „Mindestziffern“ und als relativ gültig nur für be-
stimmte soziale Schichten. Blaschkos höhere Zahlen entstammen den Büchern
einer großen kaufmännischen Krankenkasse, ferner der Enquete über die Venerie
bei Arbeitern, Kellnerinnen und Studenten. Auch Erb ist überzeugt, daß sich
in anderen Bevölkerungsschichten und Beobachtungskreisen als in den von ihm
untersuchten andere Resultate ergeben werden. Vgl. W. Erb, Zur Statistik des
Trippers beim Manne und seiner Folgen für die Ehefrauen (Münchener medizin.
Wochenschr. 1906 No. 48); A. Blaschko, Ueber die Häufigkeit des Trippers
in Deutschland (ebendort 1907 No. 5); W. Erb, Antikritisches zu meiner Tripper-
statistik (ebendort 1907 No. 31).
Zu S. 457. Vom Autoerotismus streng zu unterscheiden ist der von
Rohleder als eine besondere Form des menschlichen Geschlechtstricbes be-
schriebene „Automonosexualismus“, d. h. der Trieb, der auf sich selbst, und
zwar auf sich selbst einzig und allein gerichtet ist. Er teilt zwei derartige
seltene Fälle mit. Ich habe schon in meinen „Beiträgen zur Aetiologie der
' 845-
Psychopathia sexualis“ (Dresden 1902 Bd. I S. 201) darauf hingewiesen, daß
mancher Knabe, manches Mädchen zuerst durch den Anblick ihres Spiegelbildes
in nacktem Zustande sexuell erregt werden. Wird diese Erregung fixiert, so
haben wir den „Automonosexualismus“, der übrigens schon früher als „Nar-
cissismus“ beschrieben wurde (nach dem griechischen Narciß, der sich in sein
eigenes Spiegelbild verliebte), ln einem alten Buche „Cythereana“ findet sich
die Erzählung von Narciß unter der bezeichnenden Ueberschrift „Uroramore mei“.
Vgl. Gay, Bibliographie de l’amour I, 778. Vgl. auch Theodor Petermann,
Dämonen- und Phantomenliebe (Zeituhr. f. Sexualw. 1908 No. 5 S. 294ff.).
Zu S. 510. Daß die behauptete „Dekadenz“ der modernen Kulturmensch-
heit eine Fabel ist, beweisen die interessanten Untersuchungen über „die Zu-
nahme der Körpergröße der militärpflichtigen Jugend in einigen europäischen
Staaten“, die kürzlich Dr. Heinrich Schwiening, Stabsarzt im preußischen
Kriegsministerium, veröffentlicht hat (in: Deutsche militärärztliche Zeitschrift 190&
Heft 10 S. 409—423). Daraus ergibt sich, daß sich in allen Kulturstaaten
Europas, über die verwertbares Material vorliegt, in den letzten Jahrzehnten eine
deutliche Tendenz einer Größenzunahme bei der männlichen Jugend im militär-
pflichtigen Alter bemerkbar macht. Man wird sich der Schlußfolgerung Scb wie-
nin gs nur anschließen können, daß diese Zunahme der Körpergröße ganz ent-
schieden gegen die von verschiedensten Seiten behauptete Dekadenz, gegen einen
Niedergang der Bevölkerung überhaupt spricht.
Zu S. 518 oben. Einen neuen wertvollen Beitrag zur anthropologischen
Grundlegung der Sexualwissenschaft lieferte Otto Stoll in seinem großen Werke
„Das Geschlechtsleben in der Völkerpsychologie“ (Leipzig 1908). Auf Grund
eines reichen Quellenmaterials behandelt der Verfasser u. a. die Schönheitsideale
in der Ethnologie, die Tätowierung, Haar- und Barttrachten, Mutilationen, Be-
malung des Körpers, den Schmuck, Beschneidung, Tanz, phallische Feste, Musik,
die Zote in ethnologischer Beziehung, Rolle des Geruchssinnes und der Haut-
sinne, Kuß, Beischlaf, sexuelle Perversitäten, Kastration.
Zu S. 526. Von großer Bedeutung für die Erkenntnis und die Behandlung
der sexuellen Perversionen krankhafter Natur und der mit ihnen zusammen-
hängenden neurasthenischen und hysterischen Zustände ist die von Freud und
seinen Schülern ausgebaute Methode der sog. „Psychoanalyse“. Diese beruht
darauf, die meist unbewußten, früher aus dem Bewußtsein „verdrängten“ Vor-
stellungen ausfindig zu machen, auf welche sich die Krankheitssymptome zurück-
führen lassen, und dann sie dem Kranken zum Bewußtsein zu bringen. Die
unbewußte Phantasie steht nach Freud in einer „sehr wichtigen Beziehung zum
Sexualleben der Person; sie ist nämlich identisch mit der Phantasie, welche
derselben während einer Periode von Masturbation zur sexuellen Befriedigung
gedient hat. Der masturbatorische Akt setzte sich damals aus zwei Stücken
zusammen, aus der Hervorrufung der Phantasie und aus der aktiven Leistung
zur Selbstbefriedigung auf der Höhe derselben. Ursprünglich war die Aktion
eine rein autoerotische Vornahme zur Lustgewinnung von einer bestimmten,
erogen zu nennenden Körperstelle. Später verschmolz diese Aktion mit einer
Wunschvorstellung aus dem Kreise der Objektliebe und diente zur teilweisen
Realisierung der Situation, in welcher diese Phantasie gipfelte. Wenn dann die
Person auf diese Art der masturbatorisch-phantastischen Befriedigung verzichtet,
so wird die Aktion unterlassen, die Phantasie aber wird aus einer bewußten zu
einer unbewußten. Tritt keine andere Weise der sexuellen Befriedigung ein,
verbleibt die Person in der Abstinenz und gelingt es ihr nicht, ihre Libido zu
sublimieren, d. h. die sexuelle Erregung auf ein höheres Ziel abzulenken (ein
„sexuelles Aequivalent“ zu finden), so ist jetzt die Bedingung dafür gegeben,
daß die unbewußte Phantasie aufgefrischt werde, wuchere und sich mit der ganzen
Macht des Liebesbedürfnisses wenigstens in einem Stück ihres Inhaltes als Krank-
heitssymptom durchsetze.“ Die verdrängten Vorstellungen, deren Entdeckung durch
die Psychoanalyse Vorbedingung des Heilerfolges ist, stellen eine Art von moderner
Modifikation der alten Heinrothschen verborgenen „Sünde“ im Leben jedes
Menschen vor, die von ihm als die Ursache aller krankhaft nervösen Zustände
angesehen werden. Jedenfalls bildet die Psychoanalyse eine bedeutsame Be-
reicherung der Diagnostik und Therapie sexualpathologischer Zustände. VgL
846
J. Sadger, Die Bedeutung der psychoanalytischen Methode nach Freud in:
Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 1907 No. 229. — Zur Literatur
der Psychoanalyse vgl. noch außer den früher erwähnten Schriften von Freud
die folgenden Abhandlungen aus seiner Feder: Hysterische Phantasie und ihre
Beziehung zur Bisexualität (Z. f. Sexualwissenschaft 1908 No. 1); Die kulturelle
Sexualmoral und die moderne Nervosität („Sexualprobleme“ 1908 S. 107 fi.);
Ueber infantile Sexualtheorien (ebenda S. 763 ff.); ferner die vorzügliche Arbeit
von W. St ekel, Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung, 2. Aufl., Berlin-
Wien 1909; A. Muthmann, Zur Psychologie und Therapie neurotischer Symptome;
Karl Abraham, Das Erleiden sexueller Traumen als Form infantiler Sexual-
betätigung (Centralbl. f. Nervenheilkunde 1907 No. 249); Derselbe, Die
psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholismus (Z. f. Sexualw.
1908 No. 8); Derselbe, Traum und Mythus (Schriften z. angewandten Seelen-
kunde herausg. von Prof. S. Freud, Heft 4), Leipzig-Wien 1909; W. Stekel,
Die sexuelle Wurzel der Kleptomanie (Z. f. Sexualw. 1908 No. 10); Alfred
Adler, Zwei Träume einer Prostituierten (Z. f. Sexualw. 1908 No. 2); J. Sadger,
Zur Aetiologie der konträren Sexualempfindung (Medizin. Klinik 1909 No. 2).
Gute Dienste für die Psychoanalyse leistet der unter Mitwirkung von Karl
Abraham, Iwan Bloch, James Fraenkel, Otto Juliusburger, Hein-
rich Korber, Carl Friedr. Jordan, Max Tischler, Georg Tobias
F. Stein, L. S. A. M. v. Römer und P. Bürger-Diether von Magnus
Hirschfeld herausgegebene „Psychoanalytische Fragebogen“ (Berlinl909).
Za S. 541. Vgl. zur Frage der Homosexualität die vorzüglichen Arbeiten
von Paul N äcke, Die Diagnose der Homosexualität (in: Neurolog. Centralbl. 1908
No. 8 S. 338—351); Einteilung der Homosexuellen (Zeitschr. f. Psychiatrie Bd. 65
S. 109—128); Die Homosexualität in romanischen Ländern (Z. f. Sexualw. 1908
No. 6 S. 359—364). Vom „Jahrbuch f. sex. Zwischenstufen“ erschien neuer-
dings Bd. IX (Leipzig 1908).
Zu S. 556. In einem in der „Zeitschr. f. Sexualwissenschaft“ 1908 No. 9
veröffentlichten Aufsatze „Die Homosexualität in Köln am Ende des 15. Jahr-
hunderts“ habe ich aus Kölner Prozeßakten des Jahres 1484 den überraschenden
Nachweis erbracht, daß schon damals der Prozentsatz der Homo-
sexuellen an der Bevölkerung der gleiche war wie heute, daß also von einer
Zunahme der Homosexuellen im Laufe der Jahrhunderte nicht die Rede sein
kann. Auch sonst waren die Zustände z. B. bezüglich des Vorkommens der
Homosexuellen in allen Volksklassen, der Existenz einer männlichen Prostitution,
bestimmter Treffpunkte der Homosexuellen und einer förmlichen Organisation
genau dieselben wie heute.
Zu S. 561. Der belgische Schriftsteller Georges Eekhoud ist zu Un-
recht unter den berühmten Homosexuellen aufgeführt worden. Sein Name muß
gestrichen und die Quelle im „Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen“ (II, 268
bis 277) in anderem Sinne interpretiert werden.
Zu S. 605. Es wäre hier, bei der Erwähnung des Fürsten Eulenburg,
der Ort, auf die sensationelle „Moltke-Harden-Affäre“ einzugehen, die in
den Jahren 1907 und 1908 so sehr die Leidenschaften erregt hat. Hier spielten
nicht bloß die durch allerlei fragwürdige Mittel entfesselten sogenannten „Volks-
instinkte“ eine bedauerliche Rolle, sondern auch persönliche Rankünen, wie sie
in der unten erwähnten Schrift von Hirschfeld dargelegt sind. Da die Affäre,
sowohl was den Moltke-Harden-, als auch was den Eulenburg-Prozeß betrifft,
noch nicht zum Abschlüsse gelangt ist, so ist ein endgültiges Urteil darüber noch
nicht möglich. In ihrem Mittelpunkt stand die interessante Frage, ob Abneigung
gegen das weibliche Geschlecht stets völlige Homosexualität involviert. Diese
Frage muß unbedingt verneint werden. Es gibt sicher eine abnorme psycho-
sexuelle Konstitution, die teils der Asexualität, teils der unbewußten, nie
den Drang zur Betätigung in sich fühlenden Homosexualität angehört. Man muß
sie dem großen, noch sehr wenig erforschten Gebiete der Hirschfeld sehen
Zwischenstufen zurechnen, das auch neuerdings von F. v. Neugebauer in seinem
Monumentalwerke über den Hermaphroditismus als tatsächlich bestehend anerkannt
worden ist.
847
Was das bei Gelegenheit dieser Prozesse gegen den um die wissenschaftliche
Erforschung der Homosexualität hochverdienten Dr. Magnus Hirschfeld ver-
anstaltete Kesseltreiben anbetrifft, so belehrt über die gänzliche Grund- und
Haltlosigkeit desselben am besten die Schrift des angesehenen Münchener
Nervenarztes und Sexualpathologen L. Löwenfeld, „Homosexualität und Straf-
gesetz“ (Wiesbaden 1908. Vgl. auch meine Besprechung dieser Schrift in der
„Zeitschrift für Sexualwissenschaft“ 1908 No. 2, S. 106—109). Zur Literatur der
Moltke-Harden-Afläre seien genannt: M. Hirschfeld, Sexualpsychologie und
Volkspsychologie, Leipzig 1908; G. Merzbach, Zur Psychologie des Falles
Moltke, Wien 1907; Johannes W. Harnisch, Harden im Recht, Berlin 1908;
Derselbe, Harden, Eulenburgund — Moltke, Berlin 1908; Erich Mühsam, Die
Jagd auf Harden, Berlin 1908; K. H. Sturm, Maximilian Harden. Beiträge zur
Kenntnis und Würdigung eines deutschen Publizisten, Leipzig 1908. G. Hirth,
Wege zur Heimat S. 463—469.
Zu S. 608—611. Inzwischen ist das längst mit Spannung erwartete große
Buch über den Hermaphroditismus von F. L. v. Neugebauer erschienen, zu-
gleich ein Monumentalwerk der Sexualwissenschaft: „Hermaphroditismus beim
Menschen“ (Leipzig 1908, Werner Klinkhardt, Lex.-Oktav, VII, 747 Seiten). Es
enthält 346 höchst instruktive Abbildungen, eine erschöpfende Kasuistik vom
Altertum bis zur Gegenwart (mit Verzeichnis der gesamten Literatur) und eine
vorzügliche kritische Beleuchtung dieser Kasuistik vom anatomischen, physio-
logischen, pathologischen, psychologischen und juristischen Standpunkt nebst
Mitteilung sehr merkwürdiger Lebensläufe von Hermaphroditen. Neugebauer
unterscheidet jetzt (S. 619 ff.) außer dem so seltenen wahren und dem häufigeren
Pseudohermaphroditismus auch noch den nicht ganz seltenen „Hermaphroditis-
mus neutralis“, wo weder für den Hoden noch für das Ovarium charakte-
ristisches Gewebe vorhanden ist (Virchows „Homines generis neutrius“) und
reiht hier Hirschfelds „sexuelle Zwischenstufen“ an, bei denen das
psychosexuelle Empfinden ein der Keimdrüse entgegengesetztes ist, z. B. weiblich
bei normalen und funktionsfähigen Hoden. Hieraus erklärt er einen Teil der
Fälle von Homosexualität, allerdings ohne die eigentliche Ursache des ab-
weichenden sexuellen Empfindens nachzuweisen. Er zählt diese Fälle zu denen
„zweifelhaften Geschlechts“ (sexe douteux).
Zu S. 621. Wie sehr auch heute noch die sadistischen Instinkte bei
Hinrichtungen hervortreten, bewiesen die Vorgänge bei der Hinrichtung der
Grete Beier in Freiberg (23. Juli 1908), zu der der Andrang so groß war.
daß zweihundert (!) Einlaßkarten ausgegeben wurden, und das noch widerlichere
Schauspiel der Exekution der vier Raubmörder Deroo, Canut-Vrornant,
Auguste Pollet und Abel Pollet in Béihune (am 11. Januar 1909), wo
nicht nur der Scharfrichter Deibler bei seiner Ankunft und Abreise Gegen-
stand enthusiastischer Kundgebungen war, sondern auch die Guillotine vor und
während der vierfachen Hinrichtung von einer johlenden und jauchzenden Volks-
menge umgeben war. Ungefähr 10000 Menschen sollen anwesend gewesen sein.
Vgl. die ausführlichen Berichte in den Zeitungen „Le Matin“ und „Le Journal“
vom 12. Januar 1909. — Ebenso vollzog sich die Hinrichtung des Raubmörders
Danvers in Carpentras (26. Januar 1909) inmitten eines ausgelassenen Karnevals-
treibens. Maskierte Männer zogen vor das Gefängnis und sangen das „De
Profundis“, damit der Delinquent sein eigenes Sterbelied hörel Vgl. „Le Maiin“
vom 27. Januar 1909.
Zu S. 625. Rohleder (Vorlesungen über Geschlechtstrieb und gesamtes
Geschlechtsleben des Menschen, 2. Aufl., Berlin 1907 S. 139 u. S. 179) erwähnt
die mit Recht von ihm als unzulänglich bezeichnete Benennung „Aktivismus“ für
Sadismus und „Passivismus“ für Masochismus.
Zu S. 638. Ueber die Aetiologie und Geschichte des Satanismus vgl.
auch die interessante Broschüre von Fabre des Essarts „Sadisme, Satanisme
et Gnose“, Paris 1906.
Ueber den S. 677—680 geschilderten Fall des Zopfabschneiders aus dem
Jahre 1906 brachte die Voss. Zeitung zwei Jahre später (No. 193 vom 25. April
1908) folgende Notiz;
848
Hamburg, 24. April. (Eig. Drahtber.) Der Zopfabschneider, der seit
einiger Zeit hier wieder sein Unwesen trieb, wurde in der Person eines in
Valparaiso geborenen 23jährigen geisteskranken Studenten verhaftet. Es ist
derselbe, der vor zwei Jahren in Berlin wegen gleicher Straftaten verhaftet und
bei dem 31 abgeschnittene Mädchenzöpfe vorgefunden wurden. Damals wurde
er für längere Zeit der Heilanstalt übergeben. Nach seiner Entlassung kam er
zu seiner in Hamburg wohnenden Mutter und wurde Kaufmann. Bei der Haus-
suchung wurden jetzt sieben abgeschnittene Mädchenzöpfe gefunden, die ebenso
wie seinerzeit in Berlin mit Schleifen umwunden und mit Zetteln versehen waren,
auf denen er Datum und Herkunftsort vermerkt hatte. Der pervers veranlagte
junge Mann soll jetzt dauernd einer Heilanstalt überwiesen werden.
Zu S. 683. Vgl. noch Paul Näcke, Der Fußfetischismus der Chinesen
(Z. f. Sexualw. 1908 No. 11 S. 60—672).
Zu S. 700. Die folgende für den forensischen Mediziner sehr interessante
Schilderung von geschlechtlichem Verkehr zwischen Kindern findet sich in
Friedrich Hebbels Tagebüchern (Bd. II, Berlin 1903 S. 251—252): „Soeben
sehe ich von meinem Hinterstübchen etwas, was ich doch nicht für möglich
gehalten hätte. Ein 5jähriger Knabe, Sohn des nebenan wohnenden Buchbinders,
hatte in einer kleinen Boutike, die im Garten steht, ein Mädchen von etwa
sechs Jahren auf den Arbeitstisch seines Vaters gelegt, ihr die Röcke aufgehoben,
— natürlich mit ihrer Einwilligung, denn sie sträubte sich nicht im geringsten
— sie völlig entblößt und betastete nun ihren Leib und ihre Geschlechtsteile.
Dies dauerte wenigstens zwei Minuten, da wurde das Mädchen, durch das Fenster
blinzelnd, mich gewahr. Nun huschte sie vom Tisch herunter, der Knabe trat
heraus, aber nur, um die bis dahin offen gewesene Tür mittels eines Spatens,
den er von außen vorsetzte, zuzumachen. Jetzt schlüpfte er wieder mit großer
Behutsamkeit, damit der Spaten nicht umfalle, hinein, ich behielt die Boutike im
Auge und es dauerte nicht lange, als die Tür wieder aufgiDg, weil das Mädchen
nun rücklings auf der Erde liegend, sie in einer Bewegung mit dem Kopf auf-
gestoßen hatte. Der Knabe kam wieder heraus, setzte den Spaten vor und
schlüpfte abermals vorsichtig hinein. Jetzt blieb die Tür geraume Zeit zu, darauf
erschien der Knabe wieder, das Mädchen aber, zu meinem Fenster hinaufspähend,
wagte sich nicht heraus, sondern kuckte nur von Zeit zu Zeit um die Ecke, ohne
Zweifel, weil sie die Verführerin war und ein Bewußtsein für die Sache hatte,
das dem Knaben noch abzugehen schien.“ — Eine ähnliche Beobachtung teilt
Adolf Patze mit (Ueber Bordelle und die Sittenverderbnis unserer Zeit, Leipzig
1845 S. 48—49 Anmerkung).
Zu S. 723 (Literatur). Vgl. noch Dannemann, Zur Genese und Pro-
phylaxe der Sittlichkeitsverbrechen (S -A. aus „Klinik für psychische und nervöse
Krankheiten“, Halle 1907 S. 559 — 588); E. Laurent, La criminalité infantile,
Paris 1906 S. 71—76; Camille Granier, La femme criminelle, Paris 1906
S. 155 — 241; J. Grasset, Demifous et demiresponsables, Paris 1908;
P. Brouardel, Les attentats aux moeurs, Paris 1909 (posthumes vorzügliches
Werk des berühmten Pariser Gerichtsarztes. Besonders interessant ist das Kapitel
„Attentats aux moeurs faussement allégués“ S. 52—72).
Zu S. 726. Wie hoch der Prozentsatz psychisch Kranker unter den
Sittlichkeitsverbrechern ist, beweisen die Untersuchungen von Aschaffenburg
an 200 verurteilten Sittlichkeitsverbrechern leichterer Ait des Zentralgefängnisses
in Halle. Er fand unter ihnen nur 99 Zurechnungsfähige. Von ihnen waren
aber noch 54 mäßig imbezill oder epileptisch, neurasthenisch, hysterisch, trunk-
süchtig. 44 verdienten direkt die Bezeichnung: unzurechnungsfähig wegen
Imbezillität, seniler Demenz usw., 35 mußten als Grenzfälle betrachtet werden,
16 als vermindert Zurechnungsfähige, und bei sechs war der Untersucher im
Zweifel, wohin er sie rechnen sollte. (Vgl. Dannemann a. a. O. S. 560—561.)
Ebenso fand Leppmann unter 90 Zuchthäuslern des Gefängnisses Moabit nur
30 Normale. Voll verantwortliche Imbezillität und Epilepsie spielen, kombiniert
mit dem Alkoholgenuß, die Hauptrolle in der Genese sexueller Gewaltakte und
Verbrechen.
Zn S. 736. Zur Abstinenzfrage vgl. Paul Näcke, Gedanken über sexuelle
Abstinenz (Mutterschutz 1907 Heft 6, S. 321—333); Hermann Rohleder, Die
849
Abstinentia sexualis (Zeitschr. f. Sexualwissenschaft 1908 No. 11 S. 625—659);
Anton Nyström, Kasuistische Materialien zur Enthaltsamkeitsfrage (ebendas.
No. 10 S. 620—624).
Za S. 747 (Literatur). Anfang Dezember 1908 wurde als Ergebnis des
*Dörer-Bund-Preisausschreibens über die sexuelle Aufklärung der Kinder“ ein
Werk in zwei Bänden angekündigt, von denen der erste praktische die „Aufklärungs-
aatworten“, der zweite theoretische die „Aufklärungsmöglichkeiten“ enthalten soll.
Im ganzen sind nicht weniger als 475 Beiträge aus allen Berufsklassen eingegangen.
Zu S. 787. 28jähriger Herr sucht ältere vermögende alleinstehende
Dame zur Beteiligung an einem Unternehmen. Off. unt. J. R. XI. Postamt Beuthstr.
Zu S. 795. Friedrich Hebbel bemerkt (Tagebücher III, 322, Leipzig
1908, Max Hesse): „Werke des Witzes können unsittlich sein und waren es oft;
poetische Werke können es gar nicht sein und waren es nie. Die Poesie faßt
alles in der Wurzel und im Zusammenhang, der Witz kann sich recht wohl auch
ans einzelne hängen.“
Zu S. 796. Neuerdings erschien die vorzügliche „Geschichte der erotischen
Kunst“ von Eduard Fuchs, Berlin 1908 (Privatdruck).
Zu S. 799. Ueber Goethes Bedürfnis, auch das „Irdischste, Schmutzigste“
mit „antik zynischer Offenheit“ dichterisch auszudrücken, finden sich interessante
Bemerkungen bei Hermán Grimm „Goethe“ 5. Auflage, Berlin 1894 S. 312—313.
Zu S. 801 (Anmerkung 16). Vgl. auch über den Begriff itnzüchtige
Literatur die Schrift von Richard Wolff, „Was ist unzüchtig? Was ist un-
sittlich? Was ist normal? Die Gefahren für den Buch- und Kunsthandel aus
§ 184 RStrGB.“ (Berlin 1909).
Zu S. 804. Das große populäre Sammelwerk von Koßmann und Weiß
„Mann und Weib“ liegt jetzt vollständig in 3 Bänden vor (Stuttgart 1907/1908).
Ferner sei auf das inzwischen erschienene größere Werk von Hermann
Rohleder „Vorlesungen über Geschlechtstrieb und gesamtes Geschlechtsleben
des Menschen“ (Berlin 1907, 2 Bände) hingewiesen, die das normale und patho-
logische Geschlechtsleben umfassen, während die Monographie von Georg
Merzbach „Die krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinces“ ein vorzugs-
weise praktisches Kompendium für Studierende und Aerzte darstellt, die sich
auf Grund der reichen Kasuistik älterer und neuerer Autoren kurz und eingehend
über das Gebiet der Sexualpathologie belehren wollen.
Zu S. 806. Ueber das Erotische in Literatur und Kunst vgl. die fein-
sinnige Abhandlung von Ernst Schur „Ueber das Erotische“ (in: Die neue
Generation 1908 No. 2 S. 47-50).
Zu S. 824. Im Jahre 1908 sind nicht weniger als drei neue sexualwissen-
schaftlicbe Zeitschriften erschienen. Die hervorragendste ist ohne Zweifel die
von Magnus Hirschfeld herausgegebene „Zeitschrift für Sexualwissen-
schaft“ (Leipzig 1908, 12 Monatshefte in Großoktav). Sie versprach ihrem
höchst wertvollen und mannigfaltigen Inhalt nach und bei der Mitatbeiterschaft
fast sämtlicher Sexualforscher von Bedeutung das bisher noch nicht existierende
große Organ für das Gesamtgebiet der Sexualforschung zu werden. Leider
hat sie mit dem 1. Januar 1909 als selbständige Zeitschrift zu existieren aufgehört,
und ich glaube nicht, daß ihre Fusion mit den ebenfalls seit 1908 von Max
Marcuse herausgegebeuen „Sexualproblemen“ (Frankfurt a. M. 1908 und
1909) ein Ersatz für den beklagenswerten Verlust eines wirklichen wissen-
schaftlichen Organes für Sexualforschung sein wird. Die „Sexualprobleme“,
ebenso wie das unter dem veränderten Namen „Neue Generation“ (Berlin 1908
und 1909) von Helene Stöcker herausgegebene alte Publikationsorgan des
Bundes für Mutterschutz verfolgen vorwiegend sozialethische und sozial-
hygienische Ziele auf sexuellem Gebiete. Das hindert nicht, daß auch in beiden
letzteren Zeitschriften sehr wertvolles Material niedergelegt ist. Von der vor-
trefflichen „Anthropophyteia“ von Friedrich S. Krauß ist soeben der fünfte
Band (Leipzig 1908) erschienen, der wiederum höchst interessante Beiträge zum
erotischen Folklore enthält. Derselbe Autor schrieb eine umfangreiche Studie
über das „Geschlechtsleben in Glauben, Sitte und Brauch der Japaner“ (Leipzig
1907), die die phallischen Kulte, die vaterrechtliche Ehe, die Stundenehe, Homo-
Bloch, Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
54
850
Sexualität, die mechanischen Mittel zur Befriedigung' des Geschlechtstriebcs, die
Erotik der Bildwerke und den Fuchskult behandelt.
Zu S. 836. An den von Fere mitgeteilten Fall der Liebe eines 27jah-
rigcn Mannes zu alten Frauen reiht sich ein zweiter, den Wagner von Jauregg
in einem Gutachten der Wiener medizinischen Fakultät veröffentlicht hat (»Alt-
Weiberliebe, Sadismus, fraglicher Lustmord“ in: Wiener klinische Wochenschrift
1907 No. 17). Es handelte sich um einen 29jährigen Taglöhner von geringer
Intelligenz, der im 17. Lebensjahre von einer alten Frau zum ersten Male zum
Beischlafe verführt wurde und seitdem nur zu alten Frauen sich hingezogen
fühlte und geschlechtlichen Verkehr mit ihnen anstrebte und teils ohne, teils mit
Gewalt erreichte. Darunter befanden sich Frauen zwischen 64 und 76 Jahren.
Wie der Fall von Fere ist also auch dieser auf einen Eindruck in der
Jugend zurückzuführen und spricht für die Richtigkeit der Binetschen Theorie
von der fundamentalen Bedeutung solcher Eindrücke beim ersten Erwachen des
Geschlechtslebens hinsichtlich der Genesis und Förderung sexueller Abnormitäten.
I
Namenregister.
Abälard 101
Abderhalden, Emil 778,
779
Achelis, Thomas 214
Ackermann, J. C. G. 741
Acton, W. 355, 356, 741
Adam 36
Adler, Otto 468, 483, 485,
489, 820
Ahlfeld,, F., 770
Aigremont 840.
Albert, Charles 94, 98,
278, 279, 523
Aldegrever, G. 800
Alerà, Don Brennus 627
Alexander, C. 784, 785
Amrain, K. 836, 836, 840
Almquist, C. J. L. 271
Alsberg 65
Altenberg, Peter 685
Altmann-Gottheiner, Elisa-
beth 88
Altmüller 596
Alton 633
Allan 77
Amschi 694
Andreas-Salome, Lou 813
Andrian, F. von 98
d'Annunzio, Gabriele 326,
680, 684, 687, 813
Antiochos 834
Apelles 114
Aquino, Thomas v. 132
Archenholtz 676
Arduin 586
Aretino, Pietro 345, 798
Aristipp 740
Aristophanes 461, 533
Aristoteles 102, 642, 834
Arndt, Ernst Moritz 527,
740
Arnobius 110
Aschaffenburg, G. 328,
466, 473, 474, 729, 823
Ashbee, Henry Spencer 570
Assing. Ludmilla 270
Astruc, Jean 398
Atkinson 414
Augagneur, V. 356
August von Gotha, Her-
zog 561
Augustinus 110, 124
d’Aurevilly, Barbey 196,
525, 796, 813
Avenarius, F'erdinand 580
Avicenna 834
Bab, Edwin 537
Bachofen, J. J. 11, 111,
113, 211, 218, 820
Bacon 529
Bade, Th. 385
Baginsky, Adolf 732
Bahr, Hermann 153, 157,
526
Bain 623
Balbi, Gasparo 110
Baidung, Hans 642
Bar, v. 428, 429
Bär 330
Barbosa, Duarte 109
Bärenbach 83
Barrault 270
Barrucco 765, 834
Bartels, Max 759, 769
—, Paul 831
Barth 150
Barthélémy 408
Bartholini 489
Baschbirtzew, Marie 205
Basedow, Hans von 580,
746
Bastian 116, 211, 214, 518
Bataille, Henri 244
Batut 146
Baudelaire 196, 525, 685,
796, 812
Bauer, Friedrich 301
—, Leopold 157, 158
Baumann, Felix 379, 621,
675
Bäumer, Gertrud 754
Baumgarten, A. 833
Bayet 811
Beale 741
Beard, G. M. 478, 765, 820
Beardsley, Aubrey 796,800
Beasant 758
Beck, Karl 617
Becker, G. W. 346
—, Hans von 624
Beham, H. S. 800
Behrend, F. J. 352
Behrmann, S. 426
Belot 681
Bendix, Ludwig 443
Benedikt 132
Bennigsen, Adelheid, v.
747
Bentsen, Tyra 808
Benzi 132
Béraud 349
Berg, Leo 822
Berger, FI. 444, 445, 468
Bergeret, L. 761, 765
Bergfeld, L. 747
Bergh, Rudolf 26, 55, 146
Berkley, Theresa 632
Bernard. Gentil 319
—, P. 696
Bernhard, Georg 428
Bernhardi 471
Bernhardt, Paul 490, 834
Bernstein 443
Bertrand 708
Bertz, Eduard 560
Beta, H. 785
Bettmann, S. 446
Beulwitz, Rudolf von 579
Beyle, Plenry (Stendhal)
319
Beza 561
Bickel, Andreas 633
Bie, Oskar 202
Biedermann, F. v. 799
—, Woldemar v. 580
Bilharz, Alfons 57, 51, 83
Billroth, Theodor 106
54*
II
Binet, A. 515, 673, 683,
684, 820
Binz, С. 398
Bischoff, 65, 67, 68
Björnson,Björnstjerne287,
808
Blaschko, Alfred VI, 284,
298, 352, 356, 357, 361,
369, 373, 374, 377, 402,
419, 436, 438, 440, 441,
443, 445, 446, 447, 448,
778, 820
Blanc, Louis 359
Bleibtreu, Cari 511
Bleuler, E. 92
Bloch, Ivvan 126, 131,214,
242, 260, 279, 298, 301,
302, 345, 357, 398, 432,
434, 435, 447, 460, 470,
615, 627, 689, 702, 707,
768, 795, 833
Block, Felix 420, 466
Blokusewski 425
Blom, Oker 744, 747, 752
Blumreich, L. 608, 768
Boas, Franz 214
Bock, Emil IX, 831, 834
Boöteau 838
Böhme, Jakob 64
—, Margarete 353, 810
Böhmert 301
Boileau 122
Bois-Reymond, Emil Du
185
Bojer, Johann 809
Bölsche, Wilhelm 20, 24,
27, 34, 36, 45, 46, 47,
48, 135, 200
Bonaparte 675
Bonheur, Rosa 585
Bonhoeffer 328
Bonnard, de 232
Bonneau, Alcide 345
Bonnetain 808
Borgia, Cesare 624
Borgius, W. 298, 305
Börne 83
Böttger, Hugo 298
Boucher 800
Bouillier, Francisque 622
Boureau, E. 420
Bourget, Paul 319
Brachvogel, Udo 179
Bradlaugh 758
Brand, Adolf 537, 823
Brandt, Wilhelm 302
Brant, Sebastian 798
Braun, Lily 298, 301, 305,
306, 820
—, R. 767
Bré, Ruth 297, 298, 301
Breitenstein 422
Brenning 770
Brieux 811
Bright 493
Brinvilliers 634
Broca 69
Broicher, Charlotte 267
Brooks 61
Brouardel 602
Biown 510
Bruck, Martin 451
Brück, AntonTheobald 796
Bücher, Karl 86
Büchner, Alexander 270
Buckle 84, 236
Buddha 33
Budin 14
Buffenoir, H. 185
Buffon 99
Bülow, Frieda von 240
—, W. V. 840
Bulthaupt, Heinrich 560,
580
Bulwer 833
Bunge, G. V. 778, 779
Burchard 460
—, E. 544
Burdach 35, 52, 82
Bürger 310
Burgerstein, L. 747
Burgkmair, Hans 792
Burgl, G. 711
Burwinkel, O. 402
Busch 52, 54, 747
—, Dietrich Wilhelm 763
Bussy, Charles de 124
Butler, Josephine 357
Buttenstedt, Karl 762, 763
Buttler, Eva von 105
Byron 36, 83, 185, 187,
241, 561
Cabral, A. 97
Caitanya 116
Caligula 624
Calvin 561
Campagnolle, R. de 425,
426
Campbell 89
Campe, J. H. 476
Cangiamila 132
Canitz, V. 470
Canler 710
Capellmann 132, 761
Capponi, H. 833
Carpenter, Edward 41, 49,
103, 277, 278, 279, 280,
281, 820
Carracci, Annibale 796,800
Casanova 194, 320
Casper, Leopold 490, 526
Castor und Pollux 641
Cazenave 414
Challemel-Lacour 125
Chalmers 758
Chateaubriand 237, 833
Cbatelet, Du 183
Chesterfield 320
Chevalier, J. 821
Chimay 685
Chorier, Nicolas 797
Chotzen 443
Christen, Ada 828
Clara, Abraham aSanta 534
Claret, Antouio Maria 132
Clauren 814
Clausmann 446
Cleland, John 798, 800
Cleve, Maria von 684
Cnyrim, C. 741
Coe 464
Cohn, Hermann 473
Codes-Baume 407
Collins 478
Columbus 399
Commenge, O. 356
Comte 105
Conrad, H. 638
—, M. G. 298
Conradt, Heinrich 345
Constantin 111
Coulon, Henri 244
Courty 485
Cowper 488
Cramer 730
Cranach, Lucas 800
Crebillon 800
Crede 413, 580
Crohns, H. 834
Cronquist 425
Ciuz, Ignacio dos Santos
350
Cullen 510
Cuuningham 69
Curschmaun 471, 472, 487
Curtius, Quintus 111
Cuvier 5
Dahlen, Georg 390
Damaschke, A. 298
Damm, A. 471, 764, 765
Dana 467
Dante 180
Darwin, Charles 5, 26,
29, 39, 40, 44, 61, 77,
82, 180, 200, 518, 688,
772, 774, 776, 780
Daudet 811
Daumer 538
Ill
Dauthendey, Elisabeth 813
Dehreyne 132
Deffand, Du 183
Defoe 811
Dehn, Paul 801
Delastre 838
Delaunay 78
Delepierre, O. 803
Delgado, Francisco 345,
811
Delvincouit, G. L. N. 508
Démeunier 110
Dempwolf 519
Dennewitz, Billow von 298
Dens 132
Deslandes 52, 467, 490
Dessoir, Max 589, 820
Diday 450
Diderot 800
Dilsner 813
Dingelstedt 196, 523, 829
Diodor 213
Dippold 630
Dittrich, O. 319
Dohm, Hedwig 298
Dohrn 414
Domitianus 624
Donath, Julius 418
Drago 147
Drialys 627
Drobisch 237, 754
Droste-Hülshoff, Annette
von 85, 201
Droz, Gustave 799
Drudo, Hilarius 319
Drujon, Ferdinand 802
Drysdale, Charles 758
Dubois-Desaulle, G. 705
Duchesne, E. A. 350
Ducrey 401, 820
Duensing, Frieda 298, 308
Dühren, E., siehe Iwan
Bloch
Dühiing, E, 260, 279
Dulaure, J. A. 110
Dumas, Alexander 388, 389
Dupuy 835
Duquesnoy, Jérôme 561
Düring, E. von 357, 369,
451
Dürkheim 149
Duse, Eleonore 205
Dyer, Alfred G. 377
Earlet 766
Eberhardt, Ernst 810
Eberstadt, Rudolph 222,
223
Eberstaller 69
Ebstein, Erich VI
Ebstein, Wilhelm 499, 782,
• 784, 786
Eckart 197
Eckstein, Emma 747
Edwards, Milne 61
Eekhoud, Georges 561,
812
Etfertz, O. 484, 485
Egerton, George 205
Eggers-Smidt 452
Ehrenberg, Christian Gott-
fried 508, 509
Ehrenfels, Chr. v. 298,
362, 781
Ellis, Havelock 16, 20, 28,
29, 36, 37, 40, 61, 65,
70, 77, 78, 79, 80, 81,
82, 87, 91, 133, 138,
139, 147, 149, 175, 454,
457, 459, 461, 463, 465,
466, 467, 469, 470, 473,
475, 478, 518, 522, 614,
615, 617, 623, 640, 775,
819, 820, 821, 833
Ellissen, O. A. 740
Emerson 202
l’Enclos, Ninon de 183
Enfantin 270
d’Enjoy 37
d’Eon 601
Epiktet 80
Erasistratos 834
Erb, W. 298, 406, 441,
471, 472, 741, 742, 820
Erkelenz, A. 298
Ersch 559
Ertel 639, 642, 644
Eschle 727
d’Estoc, Martial 526, 575,
586, 587, 645, 691, 702,
717
Ettlinger, Karl 319
Eugenie 571
Eulenberg, Herbert 813
Eulenburg, Albert VI 89,
93, 214, 298, 459, 467,
469, 471, 478, 483, 487,
489, 490, 494, 501, 580,
604, 612, 617, 627, 637,
708, 717, 726, 741, 759,
761, 765, 818, 820, 831,
835, 839
Eulenburg-Hertefeld 605
Euripides 533
Eusebius 111
Eyck, Jan van 160
Eye, A. v. 166
Eysell - Kilburger, Clara
808
Fabry, J. 445, 451
Falck, N. 1). 685
Falke, Jacob 182
—, J. v. 642
Fallopia 424
Faust, Bernhard Christian
476
Federn, Karl 277, 279
Felder, H. 840
Ferdy, Hans 424, 761
Fer6, Ch. 529, 621, 821,
822, 836, 838
Ferguson, A. 522
Ferrero, G. 77, 89, 140,
357, 635
Ferri 732
Feskstitow 762
Feuerbach, Ludwig 107,
120
Feydeau, Erneste 810
Fiaux, L. 330, 356, 357,
380, 381, 447, 710, 715,
820
Filliucius 132
Finck, H. T. 177, 179,
534, 820
Finger, Emest 410, 436,
491, 492
Finkeistein 301, 302
Finsch, O. 144, 519, 522
Fischer, Kuno 180, 191,
198, 269, 270, 619
Flachs, Richard 747
Flaubert, Gustave 153, 810
Flechsig 298
Fleischmann, August 787
Flesch, Max 298, 301, 443,
747
Fließ, Wilhelm 19, 30,
595, 820
Flittner 817
Foerster, Fr. W. 746, 747,
750, 752, 754
Forel, A. 298, 730, 822
Forster, Edmund 48, 464,
616
Fouque 188
Fourier 270
Fournier, Alfred 392, 402,
406, 407, 408, 409,
424, 431, 433, 435, 747,
777, 820
—, Edmond 408
Fragonard 800
Francillon 82
Francke, E. 298
Franckenau, Georg Franck
von 345
Frank, J. 129
IT
Frank, J. P. 685, 692, 697
Frankel, C. 429
Franklin, Benjamin 757
Frassette 69
Frauenstadt J. 100, 273,
799
Fred, W. 166
Freimark, Hans 592
Freüßen 809
Frenzel, J. S. T. 490, 496,
817, 818
—, Karl 193, 194, 802
Freud, S. 50. 51, 302,
462, 463, 478, 506, 514,
515, 516,528, 703, 716,
750, 765, 819, 820
Frey, Ludwig 560
—, Philipp 101, 212, 575,
807
Friedenthal, H. 611
Friedjung 302
Friedländer, B. 45, 537,
538, 605, 606, 820
Friedrich der Große 561
Fritsch, Gustav 65, 459
Froehner, R. 705
Fronsac 632
Frost, Laura 754
Fryer, John 110
Fuchs, Alfred 719
—, Eduard 796, 806
Fulda, Ludwig 810
Funcke, Richard E. 762,
763
Fürbringer, P. 459, 466,
471, 472, 477, 478, 488,
490, 492, 493, 494, 500,
741, 761, 765, 766, 820
Fürth, Henriette 297, 298,
Clacdertz, Theodor 581
Galen 498
Galewsky 402
Gail 465, 766
—, Louise von 201
Galli 301
Galliot 769
Galton, Francis 775
Garland 469
Garnier 464
Garré-Çimon 609
Gaßen 500
Gattei 478, 765
Gaulke, Johannes 560
Gautier, Théophile 85,
196, 601, 799, 812
Gay, D. 832
Gegenbaur 25
Geigel, A. 398
Geißler, C. W. 813
Gentz, Friedrich 800
George, Henry 758
Gerland 87
Giacomo, Salvatore di 345
Gildemeister, O. 241
Gillray 800
Girardin, Delphine de 85
Giraud-Teulon 211
Girtanner, Christoph 398
Giuffrida-Ruggieri, 69, 70
Giulietta 151, 496
Gladstone 425
Gleiß, O. 323
Glossy 596
Gobineau, Arthur 605
Godwin, William 266
Goebeler, Dorothee 238
Goethe, J. W. v. V, 36,
185, 186, 187, 188, 189,
191, 206, 228, 232, 267,
268, 269, 310, 359, 556,
607, 618, 682, 689, 719,
743, 750, 799, 800
—, August 268
Gogol 473
Goncourt, E. u. J. de 108,
164, 232. 363, 480, 494,
704, 811
Gönner 635
Goodell 765
Gordon, B. von 834
Görres, Franz 581
Götter, Luise 205
Gottfried 634
! Gottschall, Rudolf von 133,
270, 581, 800
Grabowsky, Norbert 736
Grand-Carteret, J. 837
Grazer, R. 144
Grazie, Marie Eugen ie
delle 302
Greaves 147
Grecourt 800
Griesinger 102
Grillparzer 195, 325, 497,
526, 561, 596
Grimm, Gebrüder 636
Grimmen, Stefan 363
Grisebach, Eduard 5, 196,
204, 228, 271, 274, 349,
536, 619, 675, 734, 799,
800, 806
Groddeck 538
Groos 139
Groß, Hans 210, 564, 639.
787, 823
Groß-Hoffinger, Anton J.
247, 253, 254, 354, 373
Grotjahn, Alfred 775
Grubcr, Max 559, 760.
774, 779
Grundmann 706
Gruyo 633
Gualino 35
Guenolc, Pierre 627, 632
Guilbert, Yvette 147, 814
Guislain, Joseph 525
Guizot 754
Gumplowicz, Ladislaus 279
Gurlitt, Ludwig 754
Gury 132
Giißfeldt, Paul 754
Guttstadt, A. 441
Gultzeit 483, 484
Gutzkow, Karl 173, 189,
192, 193, 194, 195, 227,
230, 281, 310, 532, 596,
605, 771, 833
Guyau 202
Gu)'on, Abbe llö
Guyot, Yves 356’
Gyurkovechky, V. v. 52,
490, 491, 499, 820
Haberda, A. 838
Hacker, Agnes 298, 301,
752
Haeckel, Ernst 5, 8, 10,
17, 269
Haek, David 758
Hagel, Christine 230
Hahn-Hahn, Ida 231
Haig 463
Hall, Marshall 52
Hammer, Friedrich 365,
446
| —, W. 351, 586, 823
Hammond, W. A. 469.
490, 603, 820
Hamsun, K. 831. 832
Hanc 702
Hannon, Theodore 525,
812
Hansen, D, 640
Hanslick 106
Iiaraucourt, Edmond 525,
812
I Hard, Hedwig SIX
Hardy, E. 112, 117, 123
Harnack, Adolf 123
Hart, Hans 839
Hartleben, O. E. 581
Hartmann, Eduard von 6,
45, 74, 206, 227, 233
Hasse, C. 761
Hauptmann, Carl 523
—, Gerhart 581, 809, 810,
811
V
Häußler, Joseph 505, 635,
729, 730
Havelburg, W. 64
Ileape 29
ITeddaeus 777
Hegar, A. 29S, 741, 760,
774, 778
Hegel 103
H 'ine, Heinrich 185, 187,
192, 191, 197, 418, 619
Ileinemanu, Max 802
Heinrich III. von Frank-
reich 560, 684
Heinsc, Wilhelm V, 44,
191, 192, 596
Ilelbig 26, 27
Heliogabal 563, 624
Hellmann, Roderich 337
IIHlpach, Willy 298, 311.
315, 318, 327, 331, 375,
820, 833
Hel!wald, Friedrich von
211, 512
HeU etius 623
Hennig 785
Hensen, Victor 762
Herder 39, 181
d'Ilerdy, Louis 812
Hering, Ewald 16
Hermann 433
Ilerodot 111, 114, 212
Ilerondas 460, 461
Herrmann, Anion 214
—, Emanuel 144
Herz, Henriette 270
Herzen, A. 741
Ilesiod 533
Hesse, Hermann 839
Hessen, Robert 320, 421
Hippel, von 84
Ilippokrates 490
Hirn, Yrjo 143, 145, 149
Hirsch, William 835
Hirschberg, Clara 298
—, Leopold 510
Hirschfeld, Magnus VI,
35, 44, 47, 202, 327,
330, 539, 543, 544, 545,
550, 551, 552, 553, 554,
555, 557, 558, 561, 562,
563, 564, 569, 572, 573,
577, 578, 5S7, 588, 596,
597, 602, 605, 609, 611,
646, 671, 672, 681, 690,
691, 715, 732, 733, 820,
823
Hirth, Georg IV, VI, 4,
71, 76, 93, 100, 127,
152. 157, 158, 179, 180,
226, 231, 268, 298, 322,
493, 494, 499, 511, 512,
513, 537, 616, 6S2, 743,
765, 778, 799, 820, 835
Hoche, A. 144, 515, 711,
712, 724, 729, 730, 820
Hoensbroech, Gral von
127, 132, 298
Höffding, Harald 184
Hoffmann, Erich 401
—, V. 532
Hofmann, E. von 770
Hogarth 632
Hohenau 581
Holstein, Franz von 561
Holtzendorff 130
Holtzendorff-Kohler 215
Holzinger 129, 130
Hoppe, A. 328
—, Hugo 839
Hora, Franz 705
Horand 414
Horwicz, A. 622
Hößli, Heinrich 560
I-Iübner, A. H. 328, 368
Hans 401
Hufeland 707
Hügel 230, 356
Hugo, Victor 569
Humboldt, Alexander von
143, 515, 781
Hunter, John 82, 399
Hutchinson, Jonathan 408, ■
422
Huxley, Thomas 87
Huysman, 813
I Ibsen 197, 810, 811
j Icard 82
! Hai, R. 739
Ilgenstein 796
Immermann 509
Israel, Bianca 298, 511
Iwaya, Suyewo 559
Jack the Ripper 633, 837
Jacobi, A. 472
Jacobowski, L. 32
Jacquemart 494
Jadassohn, J. 833
—, S. 581
Jäger, Hans 813
Jakobi 785
Jakobsen, J. P. 362, 363,
813
James 623
Janitschek, Maria 810
Janssen, Lina 302
Jas trow 77
Jean Paul 180, 189, 190,
230, 310, 608, 746
Jeannel, J. 355
Jegado 634
Jentsch, E. 775, 821
Joachimsen-Böhm, Marga-
rethe 301
Jochanan, R. 739
Joel, Karl 190
Joest 144, 145
Jolly 724, 730
Jolowicz, Jacques 802
Jones, Вurne 205
Jörg 777
Joseph, M. 420, 426
Jouy 812]
Joze, Victor 389, 390
Jung, G. 530
Juvenal 116, 154, 4S0
Kaan, Heinrich 505
Kahlenberg, Hans von
597, 699, 802, 80S
Kaliske, A. 770
Kalthoff 796
Kammer, S. siehe Senator-
Kaminer
Kampffmeyer, Paul 369,
375, 452
Kant 31, 32
! Kapp, Ernst 155, 166
Karadzic 840
Karl IV. 309
Karl August 556
Ivarlfeldt 285
Karsch, F. 558, 559, 560,
561, 587
Käst 414
Kätscher 144
Katte, Max 551, 592
Kaufmann, R. 433
Kaulbach, Hermann 531
—, Wilhelm von 800
Keben, Georg 134, 369,
802
Kehrer, F. 492, 768
Kemeny, Julius 377
Kemmer, Ludwig 798, 801
Kerschensteiner, G. 754
Kersten 702
Kertbeny, M. 557
Key, Ellen IV, 271, 279,
281, 282, 283, 284, 285,
286, 287, 289, 291, 292,
293, 294, 296, 297, 301,
354, 820
Kiefer, O. 606
Kielmeyer 5
Kierkegaard 195, 227, 320,
323, 497, 526
! Kiernan 836
! Kirchner, Martin 419, 442
VI
Kirn 730
Kisch, Heinrich 89, 91
—, B. H. 759, 766
Kjöienson, Hjalmar 320
Klaatsch 144
Klein, Gustav 18
—, Hugo 158, 302
Kleist 37
Knapp, O. 840
Kobelt 52, 53
Koblanck 502
Koch, J. L. A. 174, 727
Köhler, Joseph 211, 214,
215, 219, 298, 820
Kohn, Albert 301, 438
Königsmark 390
Kopp, Arthur 181
—, Carl 747
Koßmann, R. 463, 774, 820
Kowalewska, Sonja 205
Kowalewski 527
Krafft-Ebing, von 159,202,
478, 505, 506, 514, 526,
527, 543, 549, 557, 573,
581, 588, 597, 633, 637,
669, 681, 684, 688, 694,
702, 731, 765, 817, 818,
820
Kräpelin, E. 376, 727, 733,
833, 839
Kromayer, Ernst 451, 452
Kraus, Karl 153, 377
Krause 34
Krauß, Friedrich S. VI,
18, 19, 38, 55, 147, 211,
214, 503, 518, 520, 617,
636, 676, 706, 707, 712,
716, 779, 820, 823, 840
Krehl, L. 473, 590
Kries, Friedrich 635
Krogh, Christian 811
Kröner, Eugen 18
Krupp 581
Kubary, J. 144, 522
Kubin 800
Kühne 785
Kulischer 113
Kupffer, Elisar von 230,
812
Kurelia, H. 140, 147, 366,
581, 819, 820, 821
Kurnig 736
Kürschner, Joseph 581
Kuttler 414
Lacassagne, A. 146, 821
Laclos, Choderlos de 323,
800
Lacroix, Paul 570, 574
Lactantius 110
Ladenberg, von 352
Laehr, Heinrich 239
Lafitte, Paul 79
Laker, C. 834
Lallemand 471, 487, 488
Lamettrie 740
Lamprecht, Karl 608
Landmann 298
Landois 52
Landsberg, Hans 301
Lang, E. 420
—, Joseph 409
—, Otto 327
Lange, C. 80
—, E. V. 65
—, Friedrich Albert 740
—, Konrad 70, 146, 202,
203, 804, 806
Laquer, B. 327
Laroche, Sophie 230
Larocque, Jean 525, 811
Larsen, Karl 810
Lasègue, Ch. 711
Lassar 450, 451
Laube, Heinrich 192, 194,
196, 197, 421, 606
Läufer, B. 840
Lauff, Josef 615
Laupt 821
Laurent, E. 19, 528, 696,
700, 820
Lautrec, Toulouse 796
Lawes, H. 632
Lawrence 800
Lazarus 113
Leca 325
Lecky, W. H. 226, 339
Lecour 450
Ledermann, R. 438, 439
Leffler, Anna Charlotte
205
Legludic, H. 723
Legroux 700
Lehmann, Jon 676
Leipziger, Leon 811
Leistikow, Walter 581
Leitner, Hermann 471
Leitzmann 800
Lemer, Julien 233
Lemonnier, Camille 809
Léñelos, Ninon de 618
Lennhoff, Rudolf 438, 732
Leopardi 85, 115, 615
Leppin, Paul 796
Leppmann, A. u. F. 581,
776
Lermontoff 206
Lespinasse 183
Lesser, Edmund 350, 419
Lessing 508
Letourneau, Charles 30,
149, 280
Leubuscher, G. 839
Leupoldt, Johann Michael
74
Leufi, Hans 298
Levy-Rathenau, Josephine
87
Lewin, L 717, 770
Librowicz, J. 37
Lichtenberg 800
—, G. Chr. 635
—, L. Chr. 635
Liebermann, Max 581
Liebermeister, v. 398
Liebert, Johannes 801
Liebig, G. von 581
Liguori 132
Liliencron, Detlev von 581
Linas 838
Lindner, E. O. 799
Lindwurm, Arnold 4
Linschoten, Jan Huvgen
van 109
Lionardo 204
Lippert, G. H. C. 352,
353, 367, 373
Lischnewska, Maria 297,
298, 301, 302, 305, 308,
731, 747, 749, 750, 751.
820
Liszt, R. v. 298, 578, 581
Litzmann, Berthold 581
Loeb, Heinrich 426, 444
Loebisch 494
Lohmann 150
Lohsing 210
Lombroso, C. 56, 61, 77*
89, 140, 146, 357, 364.
365, 368, 369, 444, 479,
527, 537, 542, 602, 635,
645, 701, 728, 820
Lomer, G. 831, 832, 835
Lotmar, Ph. 581
Lotze, H. 152
Louis Ferdinand 270, 800
Louys, Pierre 244
Lovelace 322
LSwenfeld, L. 468, 469,
472, 474. 478, 479, 480,
488, 500, 742, 760, 765
Lowenstein, H. J. 505
Lubbock 29, 211
Lucas 298
Lucianus 153, 155
Lucretius 16, 617
Ludwig XIV. 183
— XV. 183
—, Max 800
—, Philipp 574
Luedecke, II. E. 840
Lnlly 623
Liingen 754
Luschan, Félix von 624
Luther 739
MacDonald 527
Macé 685
Mackay, John Henry 581
M’Lennan 107, 211
Maeterlinck 244
Magendie 51, 54, 89
Magnan 696, 727
Magnaud 244
Maisonneuve, Paul 427
Malthus, Robert 757, 758
Malzbânden 840
Mann, Heinrich 813
—, H. 839
Manouvrier 69
Manso, J. C. F. 319
Mantegazza 15, 34, 56, 75,
101, 183, 214, 518, 765,
820
Marchand 65
Marc Aurel 80
Marcion 124
Marcuse, B 452
—, Max 298, 301, 302,
308, 747, 776
Marholm, Laura 205
Maria Theresia 26
Marilaun, Kerner von 12
Maro, Francis 281
Marquardt 144
Marro 146, 820, 840
Martial 686
Martin, R. 12
Martineau, L. 356,604, 716
Martius, K. Fr. Ph. v. 113,
128, 129
Marx, K. F. 416, 418
Mason 86
Matthaes 529, 727
Matthisson 750
Maupassant, Guy de 525,
799, 812, 832
Maupin, de 601
Mayer, Eduard von 45,
108, 109, 218, 537, 591,
820
—, Louis 467
Mayet 301, 302
Mayreder, Posa VI, 73,
74, 75, 76, 82, 89, 302,
322, 323, 813, 825
Mazzini, 833
Medici, Katharina von 624
Meier 559
Meinken, Metta 298
Meisel-Heß, Grete 127,
810, 814
Meisner, T. E. 551, 560,
561
Melnikow 213
Memling, Hans 160
Mendel 187, 501, 581
Mendès, Catulle 320, 586
Mendoza, Suarez de 420
Menesclou 633
Menge 158, 159
Mensinga 208, 761, 764,
765, 766, 778
Mercier, Sebastian 276
Meickel, Friedrich 187
Merian, H. 368
Méritens, H. Allard de,
832, 833
—, Napoléon de, 833
Merkel 65
Merzbach, G. 556, 563
Messalina 645, 716
Méténier, Oscar 572, 811
Metschnikoff, Elias IV, 14,
30, 121, 234, 276. 401,
426, 427, 459, 467, 499,
511, 513, 758, 820
Metternich, Melanie 230
Metzger 37
Meyer, Bruno 298, 301
—, Elard Hugo 29, 236,
298
Meyer-Benfey, II. 189
Meyerhof, A. 761
Meynert 97
Michel Angelo 560
Michelet, J. 128, 130, 534
Michelson, P. 407
Miklucho-Maclay, v. 145,
518, 522
Mill, John Stuart 287, 758
Miller 187
Milton, John 797
Minot 78
Mirabeau, G. 75, 205, 460,
702, 798, 799, 800
Mirbeau, Octave 244, 704,
812
Mireur 346, 450
Mitroviè 840
Mittermaier 839
Möbius, P. J. 39, 45, 512,
537, 724, 820, 831
Mocquet, Jean 110
Moesta 298
Mohnike 37
Mohrmann, B. 471
j Moja 132
Molina 132
I Moll, A. 298, 818, 821
y II
Möller, Magnus 443
Montaigne, Michel 623
Montalti, А. 838
Montejo 398
Montez, Lola 390
Moore, George 811
Moraglia 91
Morburger, K. 811
Moreau 40
—, de Tours 506
Morgan 211
Morhardt, Paul Emile 448
Moritz, Friedrich 581
Morris 779
Moseley 148
Mosso, Angel о 80, 754
Most, G. F. 817
Moullet 132
Muche, Klara 298
Muff, Christian 508
Mulji, Karsandas 112
Müller 298
-, v. 607
—, Friedrich 211, 717
—, F. W. 355
—, Johannes v. 52, 560
—, Robert 840
Münchhausen, Max v. 808
Mundt, Theodor 83, 190,
191, 192, 194, 196, 702,
742
Münsterberg 77
Murger, Henry 276, 363
Musil, R. 839'
Müsset, Alfred de 163,
195, 497, 638, 798, 799
Mylitta 111
Mysing, Oscar 813
Näcke.Paul VII, IX, 35, 55,
70, 210, 508, 514, 542,
564, 566, 573, 581, 587,
596, 606, 630, 690, 727,
728, 737, 776, 787, 788,
820, 823, 832, 836
Nansen, Peter 809
Napoleon III. 719
Natorp, Paul 581
Naumann, Friedrich 298,
305, 306
—, Gustav 202
Nefzawi 35
Neißer, AlbertVIII IX,298,
401, 410, 419, 426, 429,
436, 438, 439, 443, 445,
446, 581, 820, 833
Nerciat 798
Nero 624
Nerrlich, Paul 608
Neter, Eugen 753
VIH
Neuberger 420
Neugebatier, Franz 609,
611, 820
Neumarm, Hugo 308
—, Isidor 409
Neustätter, Otto 322, 428
Newton 496
Nevinny 835
Nietzsche, Friedrich 84.
103, 188, 190, 197, 202,
232, 305, 458, 512, 536,
615, 619, 620
Nippold, Friedrich 130
Nobody 836
Noeggerath 412
Nordau, Max 226, 229,
263, 581
Nordlund 633
Nötzel, Karl 451
Novalis 190, 607
Nyström, Anion 294, 295
Obst, Bernhaid 214
Ocrisia 110
Oechelhäuser, A. v. 581
Ofner 302
Olberg, Oda 369
Olivier, Jacques 534
Oncken 130
Oppenheim, A. v. 466,
581, 765
—, H.f 719
Oppenheimer, Franz 298,
429, 758
Oschaja, R. 738
Ostade, Adrian van 800
Ostwald, Hans 308, 384,
449, 820
Otto, Christian 608
Ovid 83, 162, 319, 485
Pacini 34
Fagel, J. 581, 834
Paget, James 472, 741
Panizza, Oskar 802
Pappenheim, Berta 378
Pappritz, Anna 369, 370,
372, 446, 450, 820
Paracelsus 61
Parent-Duchatelet, A. J. B.
346, 348, 349, 351, 355,
358, 366, 367, 418, 596
Parr, Thomas 499
Pascin, Julius 800
Fasset 69
Payer 765
Pearl, Cora 363
Pearson 69
Peladan, Joseph 626
Pellacani 80
Pelman 298, 581
Penta 727, 840
Penzig, R. 581, 754
Peor, Baal 110
Pereira 132
Pernauhm, F. G. 812
Perrier, Ch. 836
Petermann, Th. 35, 684
Peters, E. 765
Petrarca 180
Petronius 628
Peyer, Alexander 501
Pfeiffer 369, 375
Pfitzner 65, 68
Philipp 478
Phryne 114
Phyllis 641
Picard 681
Pick, F. J. 823
—, Ludwig 609
Pietsch, Ludwig 363
Pincus 768
Pisanus Fraxi 574
Pitié, Giuseppe 214
Place, Francis 758
Placzek 581
Platen 83, 560
Plato 64, 80, 99, 180, 200,
560, 606
Plaut, F. 777
Plehn 625
Ploetz, Alfred 298, 774,
775, 776, 824
Ploß, H. 769
Ploß-Bartels 77, 98, 113,
115, 117, 145, 214, 518,
519, 694, 759, 817, 820
Pohl-Pincus, J, 510
Poincaré 244
Polo, Marco 213, 214
Polybius 759
Poppenberg, Felix 190,581
Posner, C. 833, 835
Post 113, 211, 214
Potthoff, Heinrich 298
Potton 350
Pougy, Liane de 813
Prätorius, Numa 560, 561,
576, 578, 592, 605
Praxiteles 114
Preuß, Julius 738
Prévost, Marcel 184, 244,
738, 811
Priapus 110
Prime-Stevenson 812
Probst 127
Profeta 407
Proksch, J. K. 420
Przybyszewski, St. 813
Ptidor, Heinrich 1S9, 160,
164, 165
Puschmann 110
Quensel, II. 61, 538
Queri, G. 840
Quctelet 65
Quinault 183
Rabinowitscli, Lydia 298
—, Sera 378
Rachilde 593, 812
Rahel 270
Rake 322
Ramberg, Heinrich 800
Rank, Otto 822
Ranke, Johannes 65, 66
Ratzel, Friedrich 64, 97
Rau, Hans 561
Rebentisch 65
Rèe, Pani 16
Régla, Paul de 522
Rehfues 134
Reibmayr, Albert 430, 431
Reich, Eduard 309. 468,
4 83
Reichert, F. 705
Reinhard, W. 628
Reinl, Carl 30
Reifsig, C. 784, 785
Rembrand t 800
Rémusat. Abel 112
Retau 471
Réti, S. 495
Rétif de la Bretonne 227,
270, 324, 345, 477, 689,
690, 695, 701, 708, 800
Reuter, Gabriele 297, 298.
809, 813, 832
Rey 358
Rheinhard, W. 32
Rhyn, Otto Henne am 377,
379
Ribbing, Scved 741
Ricardo 758
Richardson 185
Richet 140
Richter, Eduard 426
Ricord 398, 400, 411
Riehl, W. H. 62, 63, 64
Ries, Karl 175, 298, 402,
429, 823
Rigò 685
Rilke, Rainer Maria 581
Ring, Max 605
Ritter, B. 156
Robinsohn, Isaac 147. 214
Roda Roda 295
Rodriguez 132
Roe 110
Ro-epdl» R. 797
Roerci;, Hermann SOI
Rohan, Maria von 785
Robleder 468, 474, 478,
765, 766, 820
Sôhrmann, Cari 351
Römer, L. S. A. M. v.
557, 560, 590, 595
Rops, Félicien 196,691.796
Roscher, W. H. 115
Rosenbach, O. 158, 377,
378, 581, 727
Rosenbaum, ]ulius 344,559
Rosenfeld, G. 327, 329
Rosenthal, Oscar 327, 376,
383
Rosinski 414
Rossetti 205
Rottmann 113
Roubaud, F. 52, 55, 468,
490
Rousse au 29, 83, 151, 184,
185, 186, 188, 189, 231,
469, 485, 507, 503, 628,
746
Rousselot 132
Roux, Wilhelm 581
Rowlandson, Thomas 796,
800
Rozier 486, 817
Ruben, Regina 301
Rubner, Max 581, 741
R ii dinger 69
Rucdebusch, Emil F. 302
Rugc, A, 236
Ruling, Anna 586
Rûmi 614
Runge, Max 306
Ruskin, John 267
Rutgers, J. 377, 450
Rüttenauer, Benno 581
Ryan, Michael 163,349,350
Sa 132
Saaifeld 439
Sacher-Masoch, Leopold
von 163, 616, 638, 641,
644, 689, 813
—, Wanda von 638
Sade, Marquis de 102, 127,
196, 376, 521, 535, 536
615, 616, 624. 689, 701,
70S, 709, 797, 818
Sadler- Grün, Willibald von
553
Saettler, J. C. 132
Safra, R. 738
Sainte-Beuve 833
Saint-Simon 270
Saint-Yves, G. 180
Salgo, J. 721, 724, 725,
746, 820
Salilla 147
Salomon, Alice 87
Sancbez, Thomas 132
Sand, George 195, 270,
271, 283, 310. 832, 833
Sänger, William M. 355
Santangelo, F. 729
Santayana, G. 202
Santlus 99, 201, 635
Sarcey, Francisque 801
Saudek, R. 839
Sauer 596
Savill 478
Say 758
Scävola, Emerentius 230
Schadow 800
Schallmayer, W. 492, 775,
780
Schaudinn, Fritz 401, 820
Schauta 302
Scheel, Alfred 301
Scheffel 36
Schelling 35, 99, 231, 269
Schenk, v. 581
Scherer, Wilhelm 203
Scherr, Johannes 182
Schiller, Fr. von 32, 39,
98, 241, 360, 374, 434,
452, 689, 800
Schilling 799
Schindler, W. 839
Schlaf, Johannes 581
Schlegel, A. W. 269
—, Caroline 205, 310
—, Dorothea 270
—, Friedrich 133, 188,
189, 267, 607
Schleiermacher, Friedrich
103, 173, 174, 189, 231,
278
Schlesinger-Eckstein, The-
rese 278
Schlichtegroll, C. F. v. 638
Schmitz, Oscar A. H. 320,
321, 322, 323, 684, 685,
688, 808
Schmölder, R. 428, 429,
445, 446
Schmoller, G. 88, 235, 237,
701, 755, 757
Schneegans, Fleinrich 802
Schneider, G. H. 615, 618
Schnitzler, Arthur 581, 809
Schopenhauer 4, 5, 6, 28,
80, 100, 107, 125, 126,
154, 161, 202, 215, 228,
271, 273, 274, 275, 276,
282, 301, 349, 398, 431,
эо2, oöO э36, по/, -J )8,
549, 615, 619, 796, 799,
800
Schouten, H. J. 561
Schrank, Josef 354. 358,
368, 517
Schreber, Johannes David
794
Schreiber, Adele 38, 297,
298, 301, 302. 308, 747,
754, 775
—, О. 839
Schrenck-Notzing, A. v.
469, 476, 499. 515, 531,
603, 614. 673, 693, 712,
714, 730, 815, 819, 8,20
Schröder-Devrient, Wïl-
helmine 231, 799
Schroeer, Samuel 13,2
Schubert, Gotthilf Heinrich
von 128
—, W. 533
Schücking, Lewi a 20.1
Schüddekopf 800
Schultze, F. S. 802
—, W. 110
—, Oskar 60, 65, 63. 69,
70. 820
Schultze-Malkowsky 838
Schultze-Naumburg, Paul
168
Schulz, Alwin 581
Schurig, Martin 705, 317
Schurtz, Heinrich 15, 64,
149, 210, 211, 215, 216,
236, 359, 364, 605, 606,
820
Schwaeblé, René 147, 148,
522, 638, 704, 711. 716,
769
Schwalb, Moritz 581
Schwalbe 65, 68
Schwartz, W. 110
Schweinfurth, Georg 581
Seher, Konrad 5
Sello 301
Sellon, Edward 115, 117
Semrau-Liibke 642
Senator-Kaminer 64, 761,
768, 776, 777, 773, 779
Seneca 154
Sergi 140
Severserenus 307
Seyffert, Hermann 382
Shakespeare 183, 645
Shaw 77, 91, 92
Shelley 266
Shortt 115
Siebert, Friedrich 747
Siemens, Werner von Si§
X
Sigmund 750
Silvestre, A. 319, 320
Simmel, Georg 138, 162,
166, 167, 172
Simen, Ferdinand 43
—, Walter 609
Simonides 533
Símonson 443
Siva 117
Stiers 132
Sbram, Amalie 205
Söderberg, Iljaimar 809
Sobnrev, Heinrich 298
Sokrates 242
Soldán, W. G. 129
Sollier 698
Sombart, Werner 155, 166,
3 67, 168, 298
Sonnenthal, Adolf v. 581
Seranos 761
Soto 132
Sowkhanoff 837
Spann, Ottomar 301, 308
Spencer, Herbert 59, 60,
70, 144, 623
Spener 761, 765
Speik 450
Spiegel 501
Spitzka 467
Splingard, Alexis 377
Stachow 450
Stadion, Emmerich von 561
Starke 113
Starling 463, 590
Standinger 518
Steffens, Heinrich 17
Stein, Charlotte von 268
—, Ludwig, 144, 145, 207,
236
—, C. vom 839
—. Karl von den 66, 138,
141. 143, 145, 150, 214,
625
Steinbacher, J. 490
Steinen, E. von den 747
SteinhanseD, G. 834
Steinmetz, S. R. 623, 626,
780
Steinthal 113
Stendhal 319, 321
Stern 439
Siernberg, Alexander von
561
Sterne 185
Stevens, Vaughan 518
Stevenson, W. B. 309
Sticker, Georg 754
Stiedenroth 229
Stieglitz, Charlotte 83
Stifter 728
Stöcker. Helene VI 189,
190, 238, 297, 298, 300,
301. 302, 304, 305, 536,
820, 823
Stockham, Alice 238
Strabo 111
Stratonice 834
Stratz, C. H. 65, 70, 138,
143, 150, 155, 156
Streitberg, Gisela von 770
Strindberg, August 6, 45,
127, 532, 535, 536, 537,
538, 808
Stritt, Marie 298
Ströhmberg 357
Strümpell 330
Stülpnagel, von 372
Stümcke, Heinrich VI
164, 197, 480, 704, 798
Suaiez 132
Sudermann 809
Sue, Eugen 702
Sulzer, J. G. 5
Swedenborg 206
Swediaur 489
Swieten, van 26
Swoboda, Hermann 30,
115, 552, 820
Symonds J. A. 522,820,821
Tacitus 802
Taine 322
Tait, Lawson 467
—, William 350
Thal, Max 737
Thaler, Christine 808
Tamburini 132
Tänzer 823
Tarbel, J. 831
Tardieu, A. 475, 571, 574,
575, 716, 723
Tarnowsky 357, 408, 522,
527, 528, 709, 777, 820,
839
Taube 308
Taxil, Leon 380, 603, 709,
716, 820
Tepper-Laski, K. v. 581
Theopold 52, 54
Thoinot, L. 723
Thomalla, R. 465, 477
Thomas, Gaillard 765
Thompson, Helen Bradford
77, 82
Thornton 758
Tiberius 624
Tieck 607
Tilesius, Hans 778
Tinayre, M. 839
Tissot 467, 470
Tizian 160, 163
Tobler, L. 113
Tolstoi 6, 125, 126, 326,
396, 736, 808
Topinard 65, 66
Topp, Rudolf 103
Toulouse 723, 761
Tovote 808
Trelat 481
Trinius, A. 310
Troll-Borostyani, Irma von
298
Tronow 147
Tschaikowsky 561
Tschich, v. 765
Türkei, Siegfried 632, 635
Tylor, Edward B. 106,107,
145, 396
Ullmann, Karl 747, 750
Ulrichs, Karl Heinrich 559,
562, 588
Ultzmann 477
Unna, P. G. 398, 401,700,
820, 823, 833
Unold, J. 759
Unverricht, H. 581
Unzer 635
Ursinus 634
Usener 117
Vacano, Emil Mario 561
Valenta 765
Vallabha 112
Vanselow, Karl 304, 823
Varro 154
Vater 34
Vötsyöyana 56, 636
Vaudere, J. de 604
Velde, van de 30
Veniero, Lorenzo 345
Vera 808
Verlaine 525, 812
Verulam, Baco von 144
Verus 808
Verworn, Max 581
Verzeni 633, 840
Viazzi, P. 723
Vierkandt, A. 581
Vierordt 65, 66, 67
Villiot, Jean de 627
Virchow, Rudolf 398, 400,
433, 609
Virey, J. J. 32, 33, 101,
150, 366, 498, 624, 817
Vischer, Friedrich Theodor
151, 157, 160, 166, 796
Vitalius 124
Vivaldi 132
Vivan-Denon 800
Xi
Vogt, C. 77, 780
Yolkelt, Johannes 39, 201,
202
Volkmann, L. 767
Voltaire 38, 101, 395,471,
799, 800
Vorberg, Gaston 402
Voß, Richard 581
Vulpius, Christine 268
Wachenhusen, Hans 581
Wackenroder 190, 607
Wagner, C. 90, 519, 820
—, Ernst 608, 720
—, Richard 323, 377
Waitz, G. 113. 149, 205
Waldeyer 59, 65, 68, 161,
820
Waldvogel 402
Walser, Karl 183
Wardlaw, Ralph 350
Warens, de 485
Warneck 115
Wassermann, A. 777
Watteau 800
Weber, Max 298
Wedde 538
Wedekind, Frank 808, 811
Wegener, Hars 754
Weill, Alexander 394, 395,
478
Weingartner, Felix 581
Weiuinger, Otto V, 6, 43,
44, 45, 73, 74, 102, 122,
125, 126, 127, 396, 532,
536,537,538, 595, 682,
736, 771, 808
Weismann 4, 44, 102
Weisbrod, E. 723
Weiß, Julius 840
Weißbrodt, Carl 394
Weißenberg 518
Welcker 65, 67, 608
Wernert, F. 840
Wemich, A. 269, 717
Werthauer, Johannes 839
Wesendonk 323
West, J. P. 467
Westermarck 144, 150,
210, 211, 820
Whitman, Walt 560, 812
Wichmann, R. 488
Wickseil, Knut 294
Wiedersheim, R. 22, 25, 26
Wieland 230, 689, 814
Wienbarg 181, 194
Wiesel, Pauline 270, 800
Wigand, O. 156
Wigandt 132
Wilbrandt, Adolf 581
Wilcken 211
Wild, A. 460
Wilde, Oskar 560, 812,813
Wildenbruch, Ernst v. 581,
810
Wille, Bruno 298
Willette 800
Willy 812
Wilser, L. 298
Winkel, F. von 581
Winckelmann 84, 561, 60?
Wirz, Caspar 578
Witkowski 681
Witmallet 685
Wollenberg 730
Wollenmann, A. G. 529
Wollstonecraft, Mary 160,
266
Weltmann, L. 298, 824
Wolzogen, Ernst von 14,
581, 810
Wood-Allen, Mary 747
Worbe 635
Zeisig, J. 353
Zeiß, Max 102
Zenardi 132
Zeppelin, von 295
Ziegler, Ernst 581
—, Theobald 581
Ziehen, Th. 726
Zieler, G. 839
Zimmermann, Ö. 619
Zimmern, Helen 266
Zingerle. H. 837
Zinßer, F. 451
Zola, Emile 197, 579, 644,
811, 821
Zolling, Theophil 581
Zwaardemaker 18
Zweifel, Paul 402, 412
Sach regis fer.
Aberglauben, sexueller
112, 141, 694, 712, 838
Abfall vom Weibe, siehe
Misogynie
Abolitionismus357,446
Abort, künstlicher 769,
770, 771
Absätze, hohe 690
Abstinenz, geschlecht-
liche 121,284,498—499,
734—743, 835, 839
Achseln, Geruch der 684
Aeqiiivalente, sexuelle
100—101, 457, 496
Aetherrausch 717
After, Beziehungen zur
Vita sexualis 46
Akzentuierung von
Körperteilen durch die
Kleidung 151 ff.
Algolagnie 612 — 668,
siehe auch Sadismus und
Masochismus
Alimenta tionsklage
306—308
Alkohol, Beziehung zum
Sexualleben 326—331,
423, 730, 833, zur Prosti-
tution 376, zur Impotenz
493—494, und homo-
sexuelle Akte 602, Un-
zucht mit Kindern 697,
Wirkung auf die Nach-
kommenschaft 776—777,
839 in der Belletristik
811
Altersblödsinn 528,
697, 838
Altersunterschied in
der Ehe 235, 779
Ampallang 522
Analmasturbanien 603
Anästhesie, sexuelle 92,
93, 483—486, 522, 834
Angina syphilitica 405
Angstneurose 765
Animierkneipen 381
bis 384
Annoncen, sex.786—791
Ansteckung, geschlecht-
liche 333, 335, 396,
XII
402 — 403, 408—409,
420—427
Anthropologische Be-
trachtung des Sexual-
lebens 106, der Psycho-
patbia sexuaiis 503 bis
526, 724
Antipathie, sexuelle 85
Arktische Kleidung 151
Arsen bei Syphilis 435
Artistisch-emotionel-
les Element in der
Liebe 189, 190, 196
Aerzte, homosexuelle 545
Asexualität 102, 127
Askese, sexuelle 120 bis
127, absolute 736, re-
lative 737—740, 743
Aesthetik, sexuelles Ele-
ment in der 39, 40,
200 ff.
Aufklärung über Homo-
sexualität 579—580, all-
gemeine sexuelle 748 bis
753, 839
Augen 681, 831
Außerehelicher Ver-
kehr 265, 311—338
Ausspülungen 767
Auto-Erotismus 457
bis 463
Azoospermie 492
Baillokale 384-385
Bart, geringere Bedeutung
als sexuelles Lockmittel
27—28
Becken, Sexualdifferenz
des 65—66
Begattungsorgane,
siehe Geschlechtsorgane
Begleiterscheinungen
beim Coitus 55—56
Behaarung, Reduktion
dermenschlichen 26—28
Beischlaf, siehe Coitus
Belletristik, Liebe in
der 804, 814
Berkleypferd 632
Berührung, sexuelle Be-
deutung der 49, 753
Beschneidung 422
Bestialität, siehe So-
domie
Bev ölkerungs-
problem 757
Bildungstrieb 99—100
Bisexualität 44, 75, 558,
595—597, 606—608
Biss küss 37, 46, 55
Blut und Sexualität 55
Blutkörperchen, Zahl
der roten, bei Mann und
Weib 67—68
Blutschande siehe In-
zest
Blutsverwandtschaft
779
Bohêmeliebe 196, 276
Bordelle 345, 377, 380
bis 381, 450-452, 632,
675
Bordeiltührer 791
Bordelljargon 381
Brandstiftung, sexuelle
635
Briefe, erotische 470,
Behandlung durch 719
Brustdrüsen, Reduktion
der menschlichen 25 bis
26, Verkümmerung 158,
778—779, Verhalten bei
Homosexuellen 553 bis
554, Saugen an den
762—764.
Bubonen, syphilitische
404, bei weichem Schan-
ker 409
Bücherei, deutsche 803
Busen 681
Casanova-Typus 320
bis 322
Chantage 575 ff.
Chemotropismus, ero-
tischer 17—18
Chiromantik 786, 791
Christentum, Sexual-
mystik im 117—134,
Charakter der christ-
lichen Askese 125, und
Misogynie 534
Coitus 51—56, 761 bis
764, interruptus 746 bis
766
Condom 424—425, 766
bis 767
Cunnilingus 586, 682,
685
D âmes de voyage 710
bis 711
Defekte, körperliche,
Anziehungskraft der 688
Defloration, religiöse
109 ff.,—Manie696—697
Degeneration siehe
Entartung.
Demimonde siehe
Halbwelt
Descensus testiculo-
rum 47
Desiquilibrirte 727
Diathesen 778
Dienstmädehen, Anteil
der, an der Prostitution
353, 354, 355, 373 bis
374, als Verführerinnen
von Kindern 695
Differenzierung, ge-
schlechtliche 11—13,
Bedeutung lür die Kul-
tur 15, 62, Bedeuiimg
für die Phylogenese 59,
Wesen dermenschlichen
70, auf psychischem Ge-
biete 74 ff., sexuelle
Perversionen u. 517,625
Dirne, körperliche und
psychische Charaktere
365—368, internationale
391, Veredelung der
452—453
Disharmonien, sexuelle
121,459, 512, 758—759
Distanzliebe 20 — 21,
48—49
Don Juan-Typus 320
bis 322
Effeminierte 551—554
Ehe 207-259, 266, 303
bis 304, 832
Ehebruchsskandale
791
Eheliche Pflicht 237
bis 238
Ehelosigkeit 306, 308
Ehelüge 226—228
Ehemündigkeit 233
Ehereform 244—246,
259, 280, 337
Ehescheidung 221 ff.,
242—246, 269, 286 bis
293
Ehetypen 247—259
Eheverbote 776
Eichel, Hyperästhesie
der 498
Eicheltripper 421
Eigentumsschädi-
gung, sadistische
634—635
Einölen 637
Einseifen 637
Ejakulation 50, 51
Ekelkur, 834, 837
Emanzipation des Wei-
bes 63, 85 ff., 585 bis
586, 810
XIII
Entartung bei Prosti-
tuierten 368, durch Sy-
philis 406 —408, 777
bis 778, bei Homo-
sexuellen 544—545,
Zeichen der 726—728,
soziale Ursachen 728,
durch Altohol 776—777,
durch Tuberkulose 778,
durch Diathesen 778
E n tar tungs th eorie, IV,
505. 510,'542, 724, 774,
835
Entblößung von Körper-
teilen 151 ff.
Enthaarung 681
Enthaltsamkeit s. Ab-
stinenz.
Entlastung, sexuelle
50—52, erbliche 512
bis 513, 774-775, 835
Epikur äismus, Cha-
rakter des modernen 314
Epilepsie als Ursache
sexueller Hyperästhesie
479, sexueller Perver-
sionen 527—528, bei
Exhibitionismus 711 bis
712, bei Sodomie 838
Epongeurs 687
Erblindung bei Sy-
philis 406
Erektion 55, 492—493
Erektor 500
Ergophilie 836
Его gen e Hautstellen 35,
50, 831
Erotik, Berechtigung der
806—807, Unterschied
von der Pornographie
794-798, 839
Eroiographomanie470
Erotokrat 743
Erotomanie 486, 834
Erpressertum 575 ff.
Erziehersadismus 630
bis 631
Erziehung, sexuelle 744
bis 754, 839
Es geht an-Idee 271
Essayeurs 715
Eugenik 775
Exhibitionismus 711
bis 715,839 verbaler 637,
ncurasthenischer 714
Fabrikarbeiterinnen
Lage der 370—373
Familie 218
Farbenlust, sexuelle
146,148-149,675—676
Fellatio 682, 685
Fesseln, sadistisches 632,
836—837
Feste, sexuelle 116 ff.,
146, 213
Fetischismus, sexueller
597,669—691,837—838
Fettansatz bei Mann
und Weib 67
Fetteinreibungen 426
bis 427
Figurae Veneris 56
Flagellomanie 627 bis
633
Flirt 626
Folterkammern 639
bis 641
Fortpflanzungs-
hygiene 774
Fortpflanzungstrieb
103
Frauenfrage 85 ff.
Frauenraub 218
Freie Liebe siehe Liebe
Freie Ehe siehe Ge-
wissensehe
Freiheit, Beziehungen
zur erotischen Aesthetik
203, zur Liebe 284, 828
Frigidität, sexuelle,
siehe Anästhesie
Frotteurs 714—715
Fluchtabtreibung
siehe Abort
Frühreife, sexuelle 318,
466-467,698-700,731
Funktionstrieb 100,
200
Fußfetischismus 683
Fußfreier 690
Galanterie 181, 182 bi3
183
Gang, aufrechter, Be-
ziehung zur Vita sexu-
aiis 38 — 39, 56, des
Urnings 553
Gans, Unzucht mit 706
Gassenjungen, effe-
minierte 602
Gattenwahl 40, 285,
775-776
Gedankenonanie 468,
469
i Gefängnisse, homo-
sexuelle Akte in 603,836
i Gefühlstöne, sexuelle
I 98
Gegenstands-
fetischismus 689
Geheimmittel, sexuelle
785
Gehirn, Unterschei-
dungsmerkmal der
menschlichen und tieri-
schen Sexualität 24 bis
25, Sexualdifferenz 68
bis 69
Gehörs sinn in der Vita
sexualis 40
Geisteskrankheiten,
nach Onanie 473—474,
als Ursache sexueller
Hyperästhesie 479, sexu-
eller Perversionen 527
bis 528, als Ursache der
Entartung 778
Geistestätigkeit, und
Potenz 496 — 497, und
Abstinenz 743
Geldehen 235 — 237,781
Gelegenheitsursache,
Bedeutung der 673,
695, 753, 838
Genie, erotisches 322 bis
323
Genitalien, Variation
der weiblichen 26,
Nervenendapparate der
48, Verhüllung 149,
Mißbildungen der, als
Ursache von Impotenz
491, 492, von Perver-
sionen 528—529, 727,
Fetischismus für 681 bis
683, 837, Geruch der 685
Genußleben 314 — 319,
324—331
Genußmittel, pria-
pische 687—688
Gerontophilie 563,688,
836
Geruch, seelisches Ele-
mentarphänomen der
Liebe 17, Geschlecht-
liche Gerüche IS, des
Körpers 684—685, der
Genitalien 685, Parfüm-
drüsen, sexuelle 18 bis
19, Genitalstellen der
Nase 19, sexuelle Par-
füme 19, 687, Ab-
schwächung der eroti-
schen Gerüche durch die
Kultur 20, Verkümme-
rung des Geruchsorgancs
25, Beziehungen der
Haare zum 27, 676, 684,
XIV
Riechkuss 37 - 38, von
Pelz 163, Fetischismus
683-687, 837
Geschlecht, das dritte
14—15, Bedeutung des,
für die Aetiologie der
Psyehopathia sexualis
521—522, das vierte 532
Geschlechtsakt siebe
Coitus
Geschlechtsfreiheit
337
Geschlechtskrank-
heiten 342, 343, 392
bis 415, Verhütung der
416 — 430, Behandlung
der 430—439, Statistik
der 439 -445
Geschlechtsmoral,
doppelte 222, 277, 736
bis 737
Geschlechtsöffnung
45 —46
Geschlechtsorgane,
Ursprung und Zweck
43—45, Differenzierung
43—44, Lochfrage 45
bis 46, Gliedfrage 46
bis 47, Lustfrage 47—50
Geschlechtssiun 47
Geschlechtstrieb, Ver-
erbung 16, Beziehungen
der Kultur zum 16—17,
835 Periodizität 29,
Komponenten 50 — 51
Geschlechts unter-
schiede, körperliche
57 — 70, 831. seelische
71—93
Geschmackssinn in der
Vita sexualis 38
Geselligkeit, erotisches
Element in der 202 bis
203
Gesellschaft, Deutsche,
zur Bekämpfung der
Geschlechtskrankheiten
419—420
Gesicht, sexuelle Be-
ziehung zur Kleidung
164—165
Gesichtssinn in der
Vita sexualis 38—40
Gewissensehe 294 bis
296
Gewohnheit in der
Liebe 232, Bedeutung
für die Genesis sexueller
Perversionen 516, 712,
725
Giftmord 634
Glatze, sexuelle An-
ziehung durch 681
Glied, männlich., s. Penis
Glücksehe 763
Godemiche 460—461
Gonorrhoe 409—413,
Behandlung 436—438,
Ursache von Pollutionen
489, von Impotenz 491
bis 492
Gottheiten, sexuelle 109
bis 113
Grausamkeit, Beziehun-
gen zur Wollust 617
bis 624
Grenzzustände, psy-
chische 726
Grisette 333—334
Gruppenehe 215—217
Gumma 406
Gymnastik 753
Gynäkokratie 64
H aare, Ausfall der, bei
Syphilis 405, Haarwuchs
der Homosexuellen 552,
Fetischismus 675—681
Hackenfetischismus
690
Halbwelt 388—391, Be-
ziehungen zur Mode 167,
Haarfärbung 675
Handfetischismus 683
Hängen, wollüstige Ge-
fühle beim 640
Harnorgane, Beziehung
zu den Geschlechts-
organen 46
Haschischrausch 717
Häßlichkeit, sexuelle
Wirkung der 206
H aut, Beziehung zur
Sexualität 34 — 35, 48,
49—50
Heirat, vorzeitige 233,
Heiratsalter 235,Heirats-
trieb 237
„Hengste“ 833
Hermaphroditismus
608—611, Reste b. nor-
malen Menschen 13—14,
43~45, i. d. Urgeschichte
64, philosophische Idee
des 74, Hermaphroditen-
fetischismus 683
Herpes genitalis 768
Herrin 639, 641
Herrischer Erotiker
322
I Hetärismus 220
I Heterogamie 775
Heterosexualitäi 13.
16, 558
Hexenglauben, sexu-
elle Elemente im 127
bis 130, 534
Hierodulen, 114
Hochstapler 791
Hoden, Beziehungen zum
Gehirn 99, 831
Homogamie 775
Homosexualität 539 bis
592, homosexuelle Tä-
towierungen 147, Ge-
schlechtskrankheiten bei
Homosexuellen 413 bis
4)5, Rendezvous der
569, Bälle 572, 573 bis
574, Theoiie der 587
bis 592, temporäre 604,
836, in der Belletristik
812—813
Hörigkeit, geschlecht-
liche 182, 626, 641 ff.
Hormone siehe Sexual-
stoffe
Hosen, Beziehungen zur
Onanie 476
Hosenlätze 162
Ilüftschmuck 149
Humoristische Be-
trachtung des Sexuellen
797
Hund, Unzucht mit 704,
707, 838
Hygiene, sexuelle 772
bis 781
Hymen, Bedeutung und
Zweck des 14
Hyperästhesie, sexuelle
479—483, 529
Hypnose 719
Hypochondrie, sexuelle
502
Idealisierung der Sinne
179—180, von Körper-
teilen 672, von Körper-
funktionen 686
Idealtypus, mensch-
licher 61
Illusionsbedürfnis,
erotisches 202
Impotenz 490 bis 501,
835, funktionelle 493,
nervöse 494, 497, tem-
poräre 496, paralytische
497, senile 499, Be-
handlung der 499—501
XV
Individuum, Bedeutung
der Liebe für das 3 bis
4, 32, 104, 282
Infantilismus, psycho-
sexualer 483
I ns trum ent ar iura,auto-
erotisches 459—461
Intellekt bei Mann und
Weib 77—79
Inzest 701—702, 838
Inzucht 779
Jod bei Syphilis 435
Junges Deutschland,
Liebesprobleme des 192
bis 195
Jungfernhäutchen, s.
Ply men
Jungfrau in der Ethno-
logie 113, 213-214
Jnnoren 597—600
Juristen, Neigung zum
Masochismus 638
Kabaretts 385
Kaffe e, Schädlichkei t494,
835
Kaften 377
Kallipygische Reize
159-160
Kapital, Beziehungen
zum Sexualleben 278
Kaprylgerüche, sexu-
eller Charakter der 18
Kastration 491, 768 bis
769
Kasuistik, religiös- sexu-
elle 131—132
Kaufehe 218
Kehlkopf, Sexualdiffe-
renz 68
Keimzellen, Verschmel-
zung der 10—11, Ener-
getik der 76, Urbilder
des männlichen und
weiblichen Wesens 76
bis 77
Kellnerinnen, Be-
ziehungen zur Prosti-
tution 381, 382, 383,
444
Kinder, geschlechtliche
Betätigung der 14, 698
bis 701,731,838, Rechte
der 289, Schutz der 290,
Kinderpflegezwang 293,
Uneheliche 299 ff., 308,
Kinderarbeit und Prosti-
tution 370, und Ver-
führung 697, Massen-
sterblichkeit bei Syphilis
407 ff., Onanie der 466
bis 467, sexuelle Sug-
gestibilität 515, homo-
sexuelle 550 ff., Prügeln
von 628, Entstehung des
P'etischismns 673 ff.,
Verführung der 695 bis
698, Kinderprostitution
700—701, Wert gericht-
licher Aussagen 732,
Schutzalter 732, sexuelle
Erziehung und Aufklä-
rung 746—754, Koedu-
kation 754, Lektüre der
797
Kitzel, sexueller 50
Kitzler siehe Klitoris
Kleidung 141-172,
Wesen 152—153, Unter-
schied zwischen antiker
undmoderner 154, Ober-
und Unterkleidung 154
bis 155, geschlechtliche
Unterschiede 161—162,
Wirkung auf die Plaut
163, Beziehungen zur
Behaarung 27, Fetischis-
mus 689—691
Kleptomanie, sexuelle
635, 704, 837
Klitoris, Rückbildung
26, Erregbarkeit 26,
Rudiment eines ur-
sprünglichen Ge-
schlechtsgliedes 47
Kloakenliebe 46
Klubs, sexuelle 716
Knabenliebe 604. 606
Koedukation 754
Koketterie 139—140,
626
Kokotte 390
Kolportageliteratur
801
Komitee, wissenschaft-
lich-humanitäres 577
Kommunismus 278 bis
279
Kondylome, syphiliti-
sche 404
Konferenz zur Be-
kämpfung des Mädchen-
handels 378, Internatio-
nale für die Prophylaxe
der vener. Krankheiten
419
Konkubinat 226
Kontrollstrassen 450
Konvention alismus,
der Ritterzeit 182—183,
der Gegenwart 523 bis
525
Konzeption 762
Kopfmasse bei Mann
und Weib 68
Koprolagnie 642, 686
bis 687
Körpergewicht, Sexual-
differenz des 67
Körpergrösse, Sexual-
differenz der 66
Körperverletzung,
sadistische 633
Korsett 155—159, Dis-
ziplin 632, Fetischismus
691
Kostüm 165—166
Krankenkassen 438
Krankheiten, Beziehun-
gen zur Ehe 238
Kviminal - Pädagogen
733
Krinoline siehe Reifrock
Kultur, Beziehungen zur
Prostitution 361—364,
zumAuto-Erotismus 458,
zur Psychopatbia sexn-
alis 505 ff., 522—526
Kunst, Sexualdiffereuzen
der künstlerischen Be-
gabung 81—82, künst-
lerisches Element in der
Liebe 198—206, das
Sexuelle als Gegenstand
der 795 ff.
Kuppelei 376
Kur pfusche re ¡.sexuelle
784—786, 791
Kuss, erotische Bedeu-
tung 35—36, Ursprung,
36—38, Bisskuss 37
Lady’s Friend 767
Laktationsperiode,
künstliche Verlängerung
der 762—764
Land, sexuelle Verirrun-
gen auf dem 519—520,
706, 838
Lebensalter, Verhalten
der Sexualität 521
L e b e w e 11, Führer für die
324, 325
Leichen, Unzucht mit,
siehe Nekrophilie
Lesbische Liebe siehe;
Tribadie
Leviratsehe 219
Leukoderma siehe
Venushalsband
Bloch. Sexualleben. 7.—9. Auflage.
(41.—60. Tausend.)
XVI
Liebe, Teil der Wissen-
schaft vom Menschen III,
Bedeutung und Ziel der
з, 98—99, Ursprung
31—32, Gattungszweck
und Individualzweck der
3—4, Entwickelungs- 1
fähigkeit der 5—6, Ele-
mentarphänomen 10, 17,
sekundäre Erschei-
nungen der 20, 24—56,
Eintritt der geistigen
Elemente in der 28, 31,
97 ff., Bedeutung der
Sinnesreize für die 33
bis 40, Schönheit und
Liebe 39—40, Bedeu-
tung der Persönlichkeit
88, 102, 103, 194, 203
bis 206, 828, Individua-
lisierung der 103—104,
134, 177—197, roman-
tische 181, 188, plato-
nische 180, 608, Natur-
gefühl und 184—185,
sentimentale 185, 186,
Weltschmerz und 186 ff.,
klassische 190—192,
Selbstanalyse in der
194— 195, satanisch-
diabolisches Element
der 196, 323, artistische
189, 190, 196, künst-
lerisches Element in
der 198—206, freie
195- 196, 260-310,
808—809, 832—833,
Doppelliebe 229—230,
832, Einliebe 230, Liebe
и. Ehe 241, Bohemeliebe
196, 276, wilde 311 bis
338, 809, in der Belle-
tristik 804 — 814, als
Krankheit 834
Liebeskunst 319—324
Liebeswahl sieheGatten-
wahl
Lippen, Beziehung zu
den Genitalien 38
Lustmord 633—634, 837
Lustseuche siehe
Syphilis
Lynchjustiz, Sadismus
bei 621
Mädchenhandel 376bis
379
Mädchenstecher 633
bis 634, 837
Magenaffektionen bei
sexueller Neurasthenie
501
Magie, sexuelle 83—84,
128
Maisons de passe 386
Mammonismus 781
Männerbälle 573
Männeremanzipation
537
Männerfreundschaft
605—606
Mannesschönheit 205
bis 206, 607
Mannweib 601—602
Marienkultus 120
Masochismus 638 —668,
837, biologische Wurzel
56,614ff., religiöser 112,
der Ritterzeit 182, Be-
ziehung zur Prostitution
361—364, in der Kunst
642, in der Belletristik
813, 839, von Frauen
645—646
Massageinstitute 387,
627, 641 ff.
Masturbantenherz 473
Masturbation siehe
Onanie
Matriarchat siehe
Mutterrecht
Menstruation 30, 82,
474, 502, 730
Menstruationsäqui-
valente 552—553
Messe, obszöne 638
Metamorphosis sexu-
alis 601
Mica-Operation 759
Minderwertigkeit,
psychopathische 727
Minne 181—182
Mischliebe 20—21
Misogynie 127, 183,
336, 531—538, 808
Mode, Theorie der 166
bis 168, als Teil des
Genußlebens 169—172
Monandrie 223
Monismus, erotischer 5,
283
Monogamie 219 ff., 286
Moral insanity 727
Moral restraint 758
Moralstatistik 754
Morganatische Ehe
226
Mugerados 475—476,
601
Muiracithin 835
Muse latrinale 686
Musik, Beziehungen zur
Sexualität 40
Muskulatur bei Marin
und Weib 67
Mütterheime 299
Mutterrecht 217, 220
bis 221
Mutterschaft, Recht auf
286, 809—810
Mutterschafts Ver-
sicherung 300, 302
Mutterschutz 297—308,
833
Mystik, sexuelle 116ff.,
133—134, 796
Nachtleben der großen
Städte 316—317, 325
Nacktheit, Beziehungen
zum Schamgefühl 141 ff.,
172—176
Nahrungstrieb und
Sexualität 37, 38, 831
Nase, Genitalstellen d. 19
Nationalität u. sexuelle
Anomalien 520—521
Naturgefühl, Beziehun-
gen zur Liebe 184
Nautsches, indische 115
Nebenhodenentzün-
dung 411, 491
Neger 674—675
Nekrophilie 708—709
Neomalthusianismus
757—771
Neurasthenie, Onanie
bei 466, sexuelle 478
bis 502, junger Ehe-
frauen 502, als An-
passungserscheinung
511, und Homosexuali-
tät 542, 544
Neurochemische
Theorie der Sexual-
spannung 463
Neuromechanische
Theorie der Sexual-
spannung 463
Neurosen, sexuelle, Ur-
sache 51
Notzucht 770
Nymphomanie480—483
Obszön 794 ff., Täto-
wierungen 146 —147,
Worte 636—637
Oeffentlichkeit,
I Sexualleb. i, d. 782—791
XVII
Qkkîusivp essar 766
Olfaktorischer Kuß
(Riechkuß) s. Geruch
Onanie 459—478, 833bis
834, Ursache sexueller
Anästhesie 93, 484, des
Exhibitionismus 712
Onanismus 471
Opfer, sexuelles 112
Opiumrausch 717
Orgasmus, sexueller 53,
55
Orthobiose 512
Ovariotomie 768—769
Pädagogik, sexuelle,
siehe Erziehung
Päderastie 604
P ä d i k a t i o n 529, 563 bis
564, 716—717
Pädophilie 563, 694
Pagismus 641
Paläolithischer
Mensch, Erotik des
29, 144—145
Pantoffelheld 625
Paralyse, progressive,
nach Syphilis 406, als
Ursache sexueller Per-
versionen 528
Parasyphilitische Er-
krankungen 406
Parfüme, erotische 19
Pastoralmedizin 131
Patriarchat siehe Vater-
recht
Pelz, erotische Wirkung
von 163, Venus im 163
bis 164
Penis, freie Beweglich-
keit des menschlichen 47,
künstlicher 110, 460,
461, Mißbildungen 491,
abnorme Kleinheit 493,
Fetischismus 681, 682
Penis knochen 47
Pensionate 386
Periodizität, sexuelle
29—30, 60
Perversionen, sexuelle,
Beziehungen zur Onanie
474—476, zur Impotenz
496, Züchtung von 516,
Angeborensein 517,
ethnologische Verbrei-
tung 517—519, durch
Krankheiten 526—529,
Behandlung der 718 bis
720, in der Belletristik
811—813
Perversität, Charakter
der modernen 525—526
Pessimismus in der
Liebe 196—197, Genuß
im 619
Pferd, Unzucht mit 706
Phallus, Kult des 109ff.,
682
Phimose 529
Photographien, obs-
zöne 801
Platonismus 180
Platzangst 501
Polikliniken für Pro-
stituierte 350, 453, für
Venerische 439
Pollutionen siehe
Samenverluste
Polyandrie 216
Polygamie, fakultative
220, 779
Pol3rgynie 216, 272
Pornographie 349,
792—803, 839
Präraphaelitisches
Schönheitsideal 205,
Auffassung der Liebe 267
Präservativ s. Condom
Präventivverkehr,
sexueller 759—769
Priapismus 480, 497
Priester, sexuelle Vor-
rechte der 111 ff.
Primäre Sexualphäno-
mene 20
Promiskuität, ge-
schlechtliche 210—217,
832
Prostatorrhoe 474,489
Prostituierte, geborene
357, 364—365, Pseudo-
homosexualität der 603
bis 604, in der Belle-
tristik 810—811
Prostitution 224, 339
bis 391, 439—453, De-
finition 358—359, reli-
giöse 108—115, 359 bis
360, 831, Literatur 344
bis357, Reglementierung
346, 356, 357, männ-
liche 351, 574—575, Ur-
sachen 352, 357, 361,
369, 374, 375—377, 485,
833,heimliche 356,381ff.,
öffentliche 379 ff., Ka-
sernierung 450—451,
Verbrechen und 449,
masochistische 641 ff.
Protectrices 586
Prozesse 791
Prüderie 172—176
Prügel, Geiahren der 628
Pseudo-Don Juan 324
Pseudohermaphrodi-
tismus 610—611, 836
Pseudo - Homosexu-
alität 475, 541, 549,
593—611
Psoriasis syphilitica
405
Psychotherapie 477,
SCO, 718
Pubertät 462, 550-551,
730, 839, 840
Pulver, spermatötende767
Putzsucht 374
Pjrgmalionismus 710
Quecksilber als Heil-
mittel bei Syphilis 431
bis 435
Rasse, Bedeutung für die
sexuellen Anomalien
520, Fetischismus für
674—675
Raubehe 218
Reflexionsliebel94bis
195, 497, 813-814
Reformkleid 168
Regenbogenhaut, Ent-
zündung der 405
Regeneration 513, 774
bis 775
Reifrock 160—161
Reizhunger, sexueller
514, 515
Reizringe518—519,767,
835
Rekonvaleszenten-
heime 439
Religion, Beziehungen
zur Sexualität 94—134
Renifleurs 686
Retifismus siehe Schuh-
fetischismus
Retrousse 151 ff.
Revolution, Rolle der
Algolagnie in der 621,
646—668
Rhythmotr opismus
200
Romantik der Liebe
181, 188-190
Roseola syphilitica
404
Rote Farbe, sexuelle Be-
deutung 55—56, Haare
675, 676
XVIII
Rückbildung sexueller
Charaktere 25—28
Rückenmarks-
schwindsucht siehe
Tabes
Sadismus 626—638,833,
836—837, biologische
Wurzeln 55, 56, 614 ff.,
religiöser 112, 638, sym-
bolischer 635—638, sa-
distische Sodomie 706
707, 838, in der Belle-
tristik 813
Samenverluste 487 bis
490, 834
Sapphismus 586
Satanismus 196, 323,
621, 638, 796
Sattelnase 406
Satyriasis 479
Scatologie 686
Schädel, männliche und
weibliche 68, 831
Schamgefühl, sexuelles
135-176, 712
Schanker, harter 400,
403, weicher 409
Scheidenkrampf siehe
Vaginismus
Scheid en muskel 54; 484
Scheidungsrat 293
Schlaganfall bei Syphi-
lis 406
Schmerz, Beziehung des
Wollustgefühles zum
48, 464, 614—617
Schmuck, sexuelle Be-
deutung des 143
Schnüren, Einfluß des
158—159
Schönheit, Funktion der
Liebe 39—40, Sexual-
differenz 70, moderne
Auffassung der 203—206
Schreien in coitu 55
Schri-ftmasochismus
637
Schriftsadismus 637
Schuh fetischismus
6S9—690, 838
Schutzalter 732
Schutzmittel gegen
venerische Ansteckung
424—427
Schwachsinn, „physio-
logischer“, des Weibes
45
Schwefelbäder bei Sy-
philis 435
Schwefelsäure, Be-
gießen mit 634
Schwellkörper der
männlichen und weib-
lichen Genitalien 51
Sekten, sexuell-religiöse
116, 117, 118, 123, 124
Sekundäre Sexualphäno-
mene und Sexualcharak-
lere 20, 64 ff.
Selbstbeherrschung
280, 740
Selbstmorde 791
Semi-Promiskuität 833
Sensibilität, sexuelle,
des Weibes 89—93
Sentimentalität 185
Sexualbiologie 840
Sexualphilosophie 102
Sexualreform, Vereini-
gung für 304
Sexualsphäre, weib-
liche 90 —91
Sexualstoffe 50, 51,
463, 590
Sexualtoxine siehe
Sexualstoffe
Sexualwissenschaft
815—824, 840
Sexualzellen 47—48
Sicherheitsschwäm in-
dien 767
Si Iber salze 425
Simultanliebe 230, 832
Sinnesempfindungen ,
Sexualdifferenz 77
Sinnesreize, erotische
33—40
Sittenkoutrolle 345,
346, 356, 357, 445-449
Sittlichkeitsdelikte
529, 721—733, 839
Skandale, sexuelle 791
Sklaverei, sexuelle 182,
641-644
Sodomie 475—476, 705
bis 708, 838
Soldaten, homosexuelle
555, urnische Soldaten-
kneipen 573
Spannung, sexuelle 50
bis 51, 462, 743
Spätprostituierte 328
Spätsyphilis 408
Spencersches Gesetz 59
bis 60, 70
S p e r m a t o r r h o e 474,489
Spermatozoen 10—11,
76, 611, 767
Spirochaete pallida
401
Sprache, Beziehungen
zur Liebe 97
Städtewesen, Beziehun-
gen zur Prostitution 360
Statuen, Unzucht mit
709—711
Steilung beim Coitus 56
Stercoraires 716
Stimme, sexuelle Bedeu-
tung 40, der Urninge
553, als Fetisch 688
Strafgesetze gegen
homosexuellen Verkehr
576—581
Straßenprostitution
379-380
Straßenzettel 790’
Suggestibilität bei
Mann und Weib 79, 80
Suggestion, Bedeutung
der. für dieVita sexualis
465, 516—517, Behand-
lung durch 719
Sunamitismus 694
Süßigkeiten, Neigung
für 38
Synästhetische Reize
515
Synthetischer Mensch
75
Syphilis, Ursprung der
395 — 400, Erreger der
401, 833, bei Affen 401,
Behandlung 430—435,
Beziehung zu sexuellen
Perversionen 528, in
der Belletristik 811
Tabakrauchen, Ursache
von Impotenz 494
Tabes als Folge der
Syphilis 406, 528
Tages träum, sexueller
469
Talent, Züchtung des
779—780
Tanzsalons 384, 385
Taschentuchfetiscbis-
mus 691
Tastsinn, sexuelle Be-
deutung 34—38
Tätowierung zu eroti-
schen Zwecken 144 bis
148, forensische Be-
deutung 728—729
Teilanziehung, sexuelle
671, 672
XIX
Tempelprostitution
113
Tetragamie 273—276
Teufelsbuhlschaft 129
Théologiens mammil-
laires 132
Tiere, Unzucht mit, siehe
Sodomie
Tingel-Tangel 385
Totems 215, 216
Traum, sexueller 469
Tribadie 541, 581—587
Tripper siehe Gonorrhoe
Tropenkoller 624—625
Tropische Kleidung 151
Tuberkulose, Beziehung
zurPsychopathia sexualis
528
Umarmung, Rolle beim
Geschlechtsakt 46—47
Umwertungsgesell-
schaft 302
Unfruchtbarkeit des
Weibes 159, 410, des
Mannes 410, 492, künst-
liche 757—771, fakul-
tative 761
Unio mystica 118—119
Unfruchtbarkeit 410
Unterleibsleiden bei
Frauen 412
Uranismus 541
Urninde 581
Urning 551
Urolagnie 642, 686 bis
687
Vaginismus 484—485
Vampyrismus, sexueller
634, 708
Vaporisation 768
Variabilität, sexuelle
61, 69, 82
Variations bedürfnis,
sexuelles 144, 215, 228,
514 ff., 835
Variétés 385—386
Vaterrecht 217, 219
Venerie siehe Ge-
schlechtskrankheiten
Venushalsband 405
Venuskranz 405
Vera-Enthusiasten
736, 737
Verantwortlichkeit,
sexuelle 266, 305, 781,
828
Vererbung der Syphilis
407, v. Krankheiten 776
Verführung 294, 311 bis
338, 465
Verhältnis das 331, 808
bis 809
Verhüllung als sexu-
eller Reiz 150
Verkalkung der Ar-
terien 406
Virile Homosexuelle
554—555
Visionen geschlecht-
liche 124
Vocabularia erotica,
636
Volksbildung 803
Vorlust sexuelle 50
Vojreurs 715—716
Wäschefeti sehismus
690—691
Waschungen, antisep-
tische 427
Weib, Behaarung27,Ver-
halten beim Coitus
54—55, Ursprünglich-
keit und Einfachheit der
weiblichen Natur 60 bis
61. Kulturtypus 62—60,
Snggestibilität 79, 83,
Emotivität 80—81, ge-
schlechtliche Sensibilität
89—93, Magie 83, 84,
128, 483—485, Täto-
wierungen 147 bis 148,
Schönheitstypen, mo-
derne 203—205, Onanie
beim 467—468, Manns-
tollheit 480, Pollutionen
489—490, Sexuelle Neur-
asthenie 592, Flagellan-
üsmus 632, Masochis-
mus 645, Giftmord 634,
Sodomie707,838/Wider-
stand gegen Degene-
ration 780—781
„Weib an sich“ 833
Weibercafés 387—388
Weibertausch 217
Weiberverleihen 216
Weibmann 601
Weißer Fluß 159, 474
Weltschmerz, verschie-
dene Arten des eroti-
schen 186,187—188,619
Wilde Liebe siehe Liebe
Willen, Erziehung des
719—720, 743, 753 bis
754
Willens kr ankhei ten
473, 719
Wohnungselend, Be-
ziehungen zur Prosti-
tution 375—376
Wollust 47—50
Wortsadismus 55, 56,
635—636
Yohimbin 501
Zeitehe 268—269
Zeitschriften, Sexual-
wissenschaft!., 823—824
Zeugung, geschlecht-
liche 11—12
Ziege, Unzucht mit 706
Zivilehe 221
Zoophilie 702—705
Zopfabschneider 676
bis 680
Zuhält er tum 449
Zukunft der mensch-
lichen Liebe 825—829
Zurechnungsfähig-
keit, verminderte 729
bis 731
Zwangsehemoral 263
bis 264, 354, 810
Zwangsvorstellung
674
Zwischenstufe, sexuelle
552, 588
Zwitterbildung siehe
Hermaphroditismus
.Univers//;
yn\\ief3'
AtäV
pibt'O
zuBgi
Verlag von Louis Marcus in Berlin SW. 61
Die Krankheiten
der
männlichen Harnorgane
Von Dr. Martin Friedlaender, Berlin
Mit 80 Abbildungen
Preis broschiert 6,— Mark, gebunden 7,— Mark.
Das Werk gibt eine ausführliche Darstellung der an der Prof.
Lassar’sehen KliniK in Berlin gebräuchlichen Untersuchung;;- und
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Das deutsche Testament
insbesondere
das Pripai- und ilohesiameni
Von J. Marcus, Amtsgerichtsrat in Berlin
Mit zahlreichen Zeichnungen, Beispielen und Mustern
3. Auflage. — Preis gebunden 3,— Mark.
Das Buch verfolgt in erster Linie den Zweck, dem Laien die Abfassung
des eigenhändigen Testaments zu erleichtern — eine bei der Wichtigkeit der
Frage gewiss lohnende Aufgabe, die mit Geschick und praktischem Ver-
ständnisse gelöst ist. Die Darstellung dürfte für das Publikum weitester
Kreise interessant sein und kann jedermann bestens empfohlen werden.
Verlag von Louis Marcus in Berlin SW. 6i
Verlag* von Louis Marcus in Berlin SW. 81
dg?
w
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Sexualbiologie
m
m
m
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leben des Menschen und der höheren Tiere
Von Professor Dr. Robert Müller
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gesichteten Stoff der verwickelten Beziehungen des Geschlechts-
triebes und alles dessen, was damit zusammenhängt, bei Mensch
und Tier zu verfolgen, wird sich reich belohnt sehen. Qar
manche Tatsache, auf die der Forscher beim Studium der Ursachen
des Verbrechens stösst und die seinem Erklärungsbedürfnis
Schwierigkeiten bereitet, wird seinem Verständnis auf Grund von
Mülleris »Sexualbiologie" näher gebracht, ja unter Umständen in
ganz neue Beleuchtung gerückt werden!
Monatsschrift für Kriminalpsychologie.
V erlag von Louis Marcus in Berlin SW. 61
Verlag von Louis Marcus in Berlin SW. 61
Handbuch
des
Hypnotismus
Seine Anwendung in Medizin,
Erziehung und Psychologie
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Dr. Paul Joire
Professor am psychophysiologischen Institut zu Paris,
Präsident der Société universelle d’études psychiques
Autorisierte deutsche Uebersetzung von
Dr. med. O. von Boltenstern
in Berlin
Mit 44 Démonstrations-Abblldüngen
Erste und zweite Auflage
Das in gutem Sinne allgemein verständlich geschriebene, durch
höchst eigenartige Abbildungen belebte geistvolle Buch wendet sich
an die weitesten Kreise aller derer, die für Hypnotismus Interesse
haben oder für diese im praütischen Leben höchst wichtige Materie
Erfahrungen sammeln wollen.
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Verlag von Louis Mareus ln Berlin SW. Sl
P«tß & Garkb G. ni. b. H., Berlin W. 57.
Siebente bis neunte, um einen Anhang
vermehrte Stereotyp-Auflage.