Thesen zur Sachkulturforschung 159
die durch Ko-Prásenz der Akteure bzw. Kommunikation von Angesicht-
zu-Angesicht charakterisiert sind. Wird an diesem, durch ein ,lace-to-
face“-Paradigma geprägten Kontext-Begriff festgehalten, kónnen Praxen,
die sich durch fehlende Ko-Prásenz der Akteure auszeichnen, nicht oder
nicht zureichend interpretiert werden. Auf diese theorietechnischen Pro-
bleme wurde in aktuellen Debatten der Folklore Studies insbesondere im
Zusammenhang mit der Analyse medial vermittelter Kommunikation etwa
durch E-Mail hingewiesen."5 Eine partielle Revision und Anpassung des
Kontext-Begriffs sei — so wird argumentiert - schon allein deshalb geboten,
weil in einer durch Globalisierung und ,displacements? geprágten Welt
»shared place or physical context no longer defines those »folks« within
which we participate.“!7
Diese berechtigte Kritik muß allerdings noch erweitert werden, denn
nicht nur die Ko-Präsenz der Akteure in Interaktionssituationen, sondern
auch der Verbandlungscharakter des situativen Kontextes kann in kom-
plexen, durch weitreichende Institutionalisierungs- und Technisierungs-
prozesse geprägten Gesellschaften nicht generell vorausgesetzt werden.
Während bei „communicative events“ von einer hohen Flexibilität der Ak-
teure ausgegangen werden kann, den Rahmen der jeweiligen Interaktion zu
bestimmen, stellen sowohl Institutionen als auch Technik harte, nur be-
dingt „verhandelbare“ Handlungsumgebungen bereit, mit denen die Dau-
erhaftigkeit und Verläßlichkeit — eben die Nicht-Verhandelbarkeit — der In-
teraktionsrahmen gewährleistet werden soll. Der Effekt sowohl von Insti-
tutionalisierungs- als auch Technisierungsprozessen besteht schließlich
nicht zuletzt gerade darin, feste Zweck-Mittel-Relationen zu fixieren und
damit zu einer (Ver-)Handlungsentlastung beizutragen. Diese Problematik
einer nicht determinierenden Handlungslimitierung ist ebenso bei der Ana-
lyse zunehmend technisch mediierter Kommunikation als auch generell für
das Handeln in der „Technischen Welt“ zu beachten. Bislang ist jedoch
weder in der deutschen Sachforschung noch in den — in dieser Hinsicht dis-
kussionsfreudigeren und problembewufteren - Folklore Studies erkenn-
bar, wie durch Umstellung theoretischer Konzepte auf diese Problematik
reagiert werden soll.
Für die Frage nach dem „Umgang mit Technik“ erscheint es daher ge-
boten, die konzeptuellen Einseitigkeiten der in Volkskunde und Folklore
Studies vorherrschenden Kontext-Begriffe zu meiden, die weitgehend auf
ein analytisches Instrument zur Bestimmung von Ding-Bedeutungen oder
des Handlungs-Sinns beschränkt sind. Sowohl die in der Volkskunde im-
mer wieder angemahnte Berücksichtigung der sozialen Handlungsfelder in
sachkulturellen Studien als auch die in den Folklore Studies etablierte
126 Vgl. zu diesen Kritiken insbesondere Kirshenblatt-Gimblett, Bones of Contention:
Shuman/Briggs, Introduction, S. 121, oder Brenneis, Contributions, S. 298.
127 Brenneis, Contributions. S. 298.