Ein Ausblick 559
nach nichtrationalen, angeblich auf ursprüngliche Kulturformen zurückzu-
führende „Tiefen“ der Volkskultur scharf kritisiert, analysiert ausführlich
nicht-rationale Verhaltensweisen im Umgang mit Technik, die allerdings bei
ihm nicht mehr auf angeblich „Ursprüngliches“ verweisen, sondern durch
Technik selbst ausgelöst seien: Irrationalıtät ist hier Kennzeichen einer stets
prekären und brüchigen Moderne.
Auch in diesen bedeutenden Reformansätzen der 60er Jahre ist damit ein
grundlegendes Element des spezifisch volkskundlichen Denkstiles nach wie
vor — wenn auch abgeschwácht oder stark modifiziert — wirksam: Wie in der
ausführlichen Analyse der Diskussionen der Weimarer Zeit herausgearbei-
tet wurde, hatte sich die entstehende akademische Disziplin Volkskunde
weitgehend auf die Untersuchung des ,Nicht-Rationalen*, ,Prá-Logi-
schen* oder , Primitiven* in der Moderne verlegt. Soziale Phànomene wur-
den auf der Grundlage des etablierten wissenschaftlichen — d.h. objektivie-
renden - Diskurses der Volkskunde auf eine Weise als Forschungsgegen-
stànde konstruiert, dafs sie als Referenzmaschine für vorzivilisatorische
Mythen und angeblich Ursprüngliches dienen konnten. Das so geschaffene
disziplinäre Selbst- und Gegenstandsverstándnis brachte die Volkskunde,
die nach Resten alter Gemeinschaft suchte, folgerichtig in Gegensatz zur
Moderne und ihrer Beobachtung als Gesellschaft. Rationalität und Rationa-
lisierung, verstanden als typisch moderne Phänomene, blieben damit konse-
quent auf der anderen Seite der Unterscheidung, mit der sich die Volkskun-
de von der fast zeitgleich akademisch institutionalisierenden Soziologie ab-
grenzte.
Ein grundlegender Perspektivenwechsel konnte erst erfolgen, nachdem
die volkskundliche Beobachtung von gemeinschafts- und traditionsbeding-
tem Verbalten durch die Beobachtung von sozialem Handeln bzw. geteilter
oder abweichender Kultur ersetzt wurde. Dieser Wechsel des analytischen
Instrumentariums, insbesondere die Rezeption komplexer, der Untersu-
chung industriegesellschaftlicher Phánomene angemessener sozialwissen-
schaftlicher Theorien, erschlofi der Volkskunde und den sich in diesem Re-
formprozefi der 70er Jahre bildenden Nachfolgefáchern nicht nur die mo-
derne Gesellschaft als Untersuchungsfeld, sondern ermôglichte auch eine
grundlegende Kritik des , Kanons": Die ,Kanonizität“ der Untersuchungs-
gegenstände, die bislang das „einende Band“ der zahlreichen spezialisierten
und mit Autonomieanspruch ausgestatteten Bereiche der volkskundlichen
Objektivationsforschung dargestellt hatte, wurde erst zu dem Zeitpunkt als
„Theoriesurrogat“ kritisierbar, an dem sie als Orientierungsmittel und Iden-
titätsgarant durch die Etablierung eines wiederum Fachidentität verspre-
chenden theoretischen Fundamentes „aufgehoben“ werden konnte. So wa-
ren die um die Falkensteiner Tagung herum gruppierten Diskussionen, in
denen Anfang der 70er Jahre kontrovers um die künftige wissenschaftlich-
theoretische Ausrichtung der Volkskunde gerungen wurde, denn auch von
der doppelten Maßgabe geprägt, die alte, Kanon-basierte Fachdefinition zu