Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
als etwas Unheimliches, Außergewöhnliches, den regelmäßigen
Verlauf der Dinge Widersprechendes empfunden.
Eine Mittelstellung nimmt das sogenannte Volksmärchen
ein. Es teilt mit dem primitiven Märchen den volkstüm-
lichen Charakter, die Beziehung zur Natur, die oft freilich
nur symbolisch angedeutet ist, betont aber mehr das spezifisch
Menschliche mit seinen Trieben und Affekten, besitzt ein
gewisses Zeitkolorit und verwendet schon verwickelte Kom-
binationen von Motiven zur Darstellung größerer Handlungs-
folgen (im Abenteuer, Glücks- und Schicksalsmärchen). Mit
dem Kunstmärchen verbindet es das Hervortreten der gestal-
tenden Phantasie des Erzählers in mehr oder weniger künst-
lerischer Form. Sein mythologischer Wert besteht zunächst
darin, daß.es trotz aller Zutaten uralte mythische Vorstellungen
mit außerordentlicher Treue wiederzugeben pflegt, oft weit
treuer und durchsichtiger als der als älter überlieferte Götter-
mythus. Der unverkennbare naturmythologische Gehalt vieler
Volksmärchen gibt ihnen denselben Quellenwert, wie den
primitiven Formen.
Die höheren Formen des Märchens, die nicht nur will-
kürliche Kombinationen einzelner mythologischer Vorstellungen
sind, sondern diese einer Idee unterordnen, sie zu einem ab-
geschlossenen Ganzen mit einer erkennbaren Pointe zusammen-
fassen, haben für die Mythologie im allgemeinen noch eine
praktische Bedeutung, indem sie ihrer Natur nach zur Wan-
derung neigen, leicht fremde Stoffe aufnehmen oder sich
solchen assimilieren und dadurch zur weiten geographischen
Ausbreitung gewisser Mythentypen und Motive beigetragen
haben. Das gilt namentlich auch für das indische Kunst-
märchen, das drei Weltteile mit Material versorgt hat. Durch
Vergleichung ganzer Reihen solcher verwandter Volks- und
Kunstmärchen lassen sich bekanntlich die Urformen und die
alten mythologischen Vorstellungen, auf denen sie beruhen,
heraussondern. Die Märchenvergleichung bildet also, wie
Leßmann mit Recht sagt, das Gerüst für die vergleichende
Mythologie. Das naturmythologische, unter Umständen auch
das Kunstmärchen, wird zum Mythus im engeren Sinne, wenn
bei der Ausbildung von Götterkulten die Naturgrundlage