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allgemeine Mythologie
und ihre
ethnologischen Grundlagen
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Paul Ehrenreich
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J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung
1910
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Mythologische Bibliothek
Herausgegeben von der
Gesellschaft für vergleichende Mythenforschung
IV. Band, Heft 1
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ASSCHSCOHGNET
Vorwort.
Allgemein mythologische Untersuchungen gehören be-
kanntlich zu den undankbarsten Aufgaben, Auf einem Gebiet,
WO noch so vieles streitig ist und selbst Gesichertes immer
wieder aufs neue bestritten wird, wo mehr vermutet als bewiesen
werden kann, wo die Polemik meist in überflüssig gereiztem
Ton geführt wird und auf sachliche Prüfung von Argumenten
Nur selten zu rechnen ist, da so manchem der spezialistisch
arbeitenden Fachleute die zur Beurteilung der allgemeinen
Fragen unerläßliche Weite des Gesichtskreises abgeht, darf
niemand hoffen, mit Ansichten durchzudringen, die appro-
bierten Lehrmeinungen widersprechen oder auch nur zu
widersprechen scheinen.
Wer jedoch unbeirrt durch persönliche Rücksichten der
Sachezu dienen bereit ist, wird sich leicht über solche Schwie-
rigkeiten hinwegsetzen. Autoritäten gibt es zudem auf diesem
Gebiete überhaupt noch nicht, Zu lernen haben wir noch
alle, für keine Frage ist das letzte: Wort gesprochen. Jeder
STNsthafte Mitarbeiter hat Anspruch darauf, gehört zu werden,
Zur Erschließung der Mythologie als allgemein mensch-
licher Erscheinung ist vor allem die Wissenschaft berufen,
die die Äußerungen des menschlichen Geistes in ihrer Ge-
Samtheit, als materiellen und geistigen Kulturbesitz, überschaut
und auf dem Wege der Vergleichung bis zu den einfachsten
STTeichbaren Formen zu verfolgen strebt, die Ethnologie,
als allgemeine Kulturwissenschaft, ;
Daß die Völkerkunde im weitesten Sinne, der nichts
Menschliches fremd ist, im Streit der Meinungen eine Ver-
Mittlerrolle zu übernehmen vermag, ohne die Kreise der Spezial-
MV
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
forschung zu stören, daß sie sich vielmehr dieser überall hilf-
reich erweist, wo die Einzelbefunde auf ihre Allgemeingültig-
keit zu prüfen sind, soll im folgenden gezeigt werden,
Um eine systematische Darstellung der allgemeinen My-
thologie handelt es sich hier noch nicht. Eine solche müßte,
um dauernden Wert zu besitzen, das Gesamtergebnis der bis-
herigen Mythen- und Märchenforschung für alle Teile der Erde
enthalten. Diese Aufgabe überstiege die Kräfte eines einzelnen
bei weitem. Sie erfordert Vorarbeiten, die nur auf dem Wege
internationaler Sammelforschung zu bewältigen sind,
Generationen haben sich bemüht, die Verwandtschafts-
verhältnisse der indoeuropäischen Mythen- und Märchenkreise
zu entwirren, die Grundbedeutung der darin vorkommenden
Motive und Persönlichkeiten festzustellen, ihre kultischen und
religiösen Beziehungen Zu erforschen, wie groß sind trotzdem
noch die Lücken, wie wenig ist das tatsächlich Ermittelte
überhaupt anerkanntes Gemeingut geworden! Fehlt es doch
nicht an Mythologen, die diese Arbeiten geflissentlich ignorieren.
Das gleiche wäre für die Mythen Amerikas, Afrikas und
Polynesiens zu leisten, was wiederum Generationen erfordern
würde.
Abschließendes vermag also zurzeit noch niemand zu sagen.
Noch stehen wir mitten. in der Sammelarbeit, die um so mehr
drängt, als uns das Material, für die primitiveren Formen der
Mythologie wenigstens, unter den Händen zuentschwinden droht.
Streng genommen dürfte also ein Buch wie dieses noch
gar nicht geschrieben werden, Seine Existenzberechtigung
gewinnt es durch die Erfahrung, daß planloses Sammeln einen
unverhältnismäßigen Zeit- und Kraftverlust bedingt. Es bedarf
eben von Zeit zu Zeit einer orientierenden Umschau über die
nächsten Wege und Ziele der Forschung.
Da die Entwickelung der heutigen Völkerkunde und
Mythenforschung bereits eine Stufe erreicht hat, die dem Auge
ins Weite zu schweifen erlaubt, so lohnt sich immerhin ein
Versuch, zusammenzufassen, Was sich aus der Fülle der Einzel-
beobachtungen schon jetzt an allgemeingültigen Erkenntnissen
dem ethnologisch geschärften Blick darbietet und zwar um
so mehr, als die Grundfragen der Mythologie auch von den
Vorwort.
Fachethnologen bisher ziemlich vernachlässigt wurden. Die
Arbeiten von Tylor, Lang, Frazer, Frobenius, die hier
in erster Linie zu nennen wären, behandeln nur einzelne Seiten
der Sache, nehmen auf die Ergebnisse der neueren Mythen-
forschung zu wenig Rücksicht und stehen auch dem Material
vielfach nicht objektiv genug gegenüber.
Daß eine ausschließlich philologisch-literarische Betrach-
lungsweise hier völlig im Stich läßt, bedarf heute keines Be-
Weises mehr, Jede Richtung aber kann in ihrer Weise zur
Klärung beitragen, sofern sie nur nicht alleinige Geltung be-
ansprucht. Daher wird hier auch absprechende Kritik will-
kommen sein, wenn sie nur mit sachlichen Einwendungen,
Nicht mit bloßen Redensarten operiert und von ausreichender
Materialkenntnis getragen wird. Die Hauptsache ist, daß diese
Fragen überhaupt einmal unbefangen erörtert und von den
Verschiedensten Seiten beleuchtet werden.
Unliebsame Erfahrungen bei früheren Arbeiten veranlassen
den Verfasser allzu anspruchsvollen Kritikern gegenüber fol-
gendes zu bemerken:
1. Er ist nicht von E. Siecke oder Andrew Lang „be-
einflußt“, hat vielmehr auf Grund selbständiger Studien die
Ansichten dieser Forscher im wesentlichen für richtig erkannt.
Daß er andererseits auch vielfach von ihnen abweicht, wird
Sich ergeben.
2. Das beigegebene Literaturverzeichnis ist keine „Biblio-
8Taphie“ der Gesamtmaterie, die allein ein Buch füllen würde,
Sondern nur eine Übersicht der hauptsächlichsten in der Arbeit
angeführten Schriften. Daß darin die französische Literatur
SCgen die deutsche und englisch-amerikanische zurücktritt,
beruht nicht etwa auf chauvinistischen Neigungen des Ver-
Kesers, sondern ist durch die Richtung seiner Spezialstudien
edineot,.
3. Die verschiedentlich gegebenen Mythendeutungen sind
ZUNächst ganz subjektiv zu nehmen, beanspruchen also keine
absolute Geltung, wohl aber Berücksichtigung solange keine
vesseren, d. h. der realen Naturanschauung mehr entsprechen-
den Vorliegen.
AM
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
4. Die Verantwortung für die Richtigkeit von Einzelheiten
aus Gebieten der Spezialforschung muß den betreffenden
Autoren überlassen bleiben.
Von einer ausführlichen kritischen Beurteilung und Wür-
digung älterer Arbeiten über die mythologischen Grundfragen,
an denen das erste Drittel des XIX, Jahrhunderts so reich
war, mußte aus äußeren Gründen abgesehen werden, Leider!
denn erst während der Arbeit zeigte sich, wie vieles von dem,
was Männer wie Hermann, Buttmann, Creuzer, nament-
lich aber Otfried Müller, trotz der Mängel ihrer Methode,
der Einseitigkeit ihrer Betrachtungsweise und der Unvoll-
kommenheit ihres Materials erkannt und erörtert haben, noch
heute Beachtung verdient und erst jetzt recht gewürdigt werden
kann. Auch die Arbeiten des jetzt SO gut wie vergessenen
Nork, besonders dessen „Biblische Mythologie“ (Stuttgart
1842), wären hier anzuführen, Wer sich durch die oft ab-
strusen Gedankengänge und abenteuerlichen Etymologien jenes
Autors nicht abschrecken läßt, wird mit Erstaunen wahrnehmen,
wie der mit wahrhaft genialer Intuition begabte Forscher
schon vor siebzig Jahren einen großen Teil dessen vorweg-
genommen hat, was heute als neueste Errungenschaft der
Wissenschaft angesehen wird, wie die mythologische Bedeu-
tung des Mondes, die Beziehungen der griechischen zur semi-
tischen Mythenwelt, den astralen Kern der Patriarchenlegenden,
die iranischen Bestandteile der neutestamentlichen Religion,
die mythischen Zusammenhänge der Moses- und Dionysossage
mit der Christuslegende u. a.
Es ist wahrlich ein schwerwiegendes Zeugnis für ihre
Richtigkeit, wenn verschiedene Forscher auf verschiedenen
Wegen zu gleichen Ergebnissen gelangt sind,
Von neueren wichtigen Arbeiten konnten leider Sieckes
„Götterattribute“ (Jena 1909), Hüsings „Die iranische Über-
lieferung und das arische System (Leipzig 1909) und Eduard
Hahns, an bedeutsamen mondmythologischen Bemerkungen
so reiche „Entstehung der Pflugkultur“ (Heidelberg 1910),
nicht mehr berücksichtigt werden. Der dritte Teil des
großen Wundt’schen Werks erschien während der Arbeit
und gab dem Verfasser Gelegenheit, seinen abweichen-
Vorwort.
VIE
den Standpunkt in der Bewertung himmelsmythologischer
Vorstellungen und Stoffe eingehender zu begründen. Inwie-
weit ihm dies gelungen ist, dürfte nicht die heutige, sondern
die zukünftige Kritik zu entscheiden haben (vgl. hierüber
Hüsing, Iranische Überlieferung, S. V). Da Wundt die
Probleme der Mythendeutung nicht behandelt hat, so mögen
die betreffenden Abschnitte trotz der Verschiedenheit ihrer
Grundlage als eine Art Ergänzung zu jenem Werke aufge-
laßt werden.
Im übrigen ist sich der Verfasser der Mängel seiner Arbeit
vollkommen bewußt. Sie liegen einmal in der Unsicherheit
der Definitionen, wie überhaupt dem nicht immer siegreichen
„Kampf mit dem Wort“, wie er niemandem erspart bleibt,
der sich auf ein wenig betretenes, ungenügend vorbereitetes
Gebiet wagt. Fehlgriffe im Ausdruck erzeugen aber immer
die Gefahr neuer Mißverständnisse und unnützer Kontroversen.
Zweitens bildet der lückenhafte Zustand der Forschung,
Namentlich das gänzliche Fehlen geeigneter vergleichender
Vorarbeiten für die meisten exotischen Mythenkreise ein fast un-
überwindliches Hindernis für eine völlig befriedigende Behand-
lung vieler der hier angeregten Fragen. So ist es zurzeit noch
unmöglich, bei weltweit verbreiteten Stoffen und Motiven, wie
Ögersage, Verschlingung, magische Flucht u. a. Einheimisches
von Entlehntem, Primäres von Sekundärem mit Sicherheit zu
unterscheiden. Damit sind Fehlerquellen gegeben, die sich
In ihrer Tragweite nicht übersehen lassen. Auf mancherlei
Modifikationen der Ergebnisse in Einzelheiten muß man also
gefaßt sein.
Sicherlich werden die großen Grundprobleme, wie das
Verhältnis von Mythus, Sage und Märchen, das der Natur-
Motive zu den soziologischen, das Wesen des Mythus über-
haupt, wie die an die Mythendeutung anknüpfenden Fragen
hoch auf lange hinaus die Geister beschäftigen. Es soll hier
über sie nichts entschieden sondern nur gezeigt werden, was
die heutige Ethnologie zu ihrer Lösung beizutragen vermag.
Berlin, im April 1910.
P. FR.
Inhaltsübersicht.
Seite
IH
Vorwort . . -
I. Binleitung. . . +
II. Vergleichende und allgemeine Mythologie
III. Aufgaben der allgemeinen Mythologie
LV. Die ethnologische Betrachtungsweise
V. Mythologische Entwickelungsstufen
VI. Stoffe der Mythologie . . + +
VII. Die mythologische Personifkation .
VIII. Mythische Formen . .
IX. Mythendeutung + . + + 4 0
X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung
XI. Mythenwanderung .
XII Schluß .
Register . , +
Literaturverzeichnis . .
Druckfehler und Berichtigungen
5
9
0
35
169
L91
230
262
274
277
285
I88
Kapitel I.
Einleitung.
‚Auf dem Gebiete der Mythologie steht bekanntlich die
!Mmer weitere Vertiefung der Spezialforschung im schroffsten
Gegensatz zu der herrschenden Unklarheit über die allgemeinen
Fragen, die Prinzipien und Methodik dieser Wissenschaft. Je
ünabsehbarer die Literatur über Märchen und Mythen an-
schwillt, um so störender wird dieser Zustand, um so schwie-
riger die Verständigung, um so unfruchtbarer die Polemik.
Noch immer bestehen die größten Meinungsverschiedenheiten
über das Wesen des Mythus, sein Verhältnis zu Sage und
Märchen, seine Deutung und Naturgrundlage, seine geschicht-
liche Bewertung und seine Beziehung zu Kultus und Religion.
Noch immer gibt es Forscher, die für die Gesamt- oder doch
die Hauptmasse des Mythenbestandes der Menschheit ein
SNgbegrenztes Entstehungs- und Ausbreitungszentrum an-
nehmen, Andere huldigen einem platten Euhemerismus oder
Suchen überall tiefsinnige Symbolik, wieder andere legen an
die mythische Erzählung den Maßstab der Logik an und be-
Spötteln die Versuche, für mythische Vorstellungen Natur-
S’undlagen nachzuweisen, ohne aber selbst der Naturdeu-
tungen — häufig invita Minerva — entbehren zu können,
WENN sich das Bedürfnis einer Erklärung einmal ernsthaft
Zeltend macht. Die enge Verwandtschaft des Mythus mit
dem Märchen wird noch heute vielfach verkannt, sein reli-
Slöser Gehalt allzusehr hervorgehoben.
; Natürlich liegt der Grund der herrschenden Begriffsver-
Wirrung in der freilich verzeihlichen Einseitigkeit, der jeder
Mytholog, Bibliothek: Ehrenreich.,
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Spezialforscher verfällt, wenn er es versäumt, rechtzeitig ver-
gleichende Umschau zu halten, Der Philolog wird stets ge-
neigt sein, das volkstümliche zugunsten des individuell
dichterischen oder religiös bearbeiteten, kurz des literarischen
Materials zu vernachlässigen, der Folklorist wird die unge-
schriebene Tradition des Volksmundes höher bewerten, der
Psycholog wird die seelischen Momente im Volksglauben vor-
zugsweise berücksichtigen, zugleich aber bei Zergliederung
der mythologischen Vorstellungen verleitet sein, psycholo-
gische Theorien auf ein unzulängliches Tatsachenmaterial
zu gründen oder dieses einer schon fertigen Theorie anzu-
passen. Der Historiker wird leicht das mythische in der
geschichtlichen Überlieferung übersehen oder alles für my-
thisch halten, was nicht das volle Licht der Geschichte ver-
trägt. In manchen mythologischen Arbeiten der Neuzeit
macht sich daher eine gewisse Resignation geltend, ein Zweifel,
ob es überhaupt möglich sei, den Problemen des Mythus bei-
zukommen. Man wendet sich daher lieber den Kulten und
Ritualen zu, die man als den eigentlichen Mutterboden des
Mythus betrachtet, oder man treibt Dämonologie, sogenannte
„niedere Mythologie“, beschränkt sich auch auf philologisch-
literaturgeschichtliche Durchsiebung des schriftlich überlie-
ferten Materials.
Diese Skrupel sind völlig berechtigt. Wir beobachten
nämlich bei der Mythologie die eigentümliche Erscheinung,
daß alle ihre Probleme sich scheinbar restlos von den ver-
schiedensten Standpunkten aus erklären lassen *. Der eine
leitet alle Mythen von Sonne oder Mond, der andere aus Ge-
wittererscheinungen, der dritte aus Dämonismus oder Traum-
visionen ab, der vierte endlich betrachtet sie als Niederschlag
altorientalischer Priesterweisheit,
Da alle diese Untersuchungen von berufenen Forschern
mit dem Aufwand tiefster Gelehrsamkeit angestellt und durch
zweifellos richtiges Material belegt sind, so muß ein derartiges
Auseinandergehen der Ansichten die Überzeugung befestigen,
daß jede Beschäftigung mit der Mythologie ein unfruchtbares
1) Wundt, Mythus 2, p. 122.
Kapitel I. HKinleitung.
J
Beginnen sei, als entzöge sich der Mythus wie ein Proteus
jeder Annäherung vermöge seines unberechenbaren Gestalten-
wechsels. Es bliebe somit nichts anderes übrig, als entweder
auf eine wissenschaftliche Mythologie überhaupt zu verzichten,
Oder eine neue Basis zu suchen, von der aus eine Vermitte-
lung zwischen den widersprechenden Ansichten möglich ist.
Kine solche Grundlage bietet uns nun die Völkerkunde im
Verein mit der Völkerpsychologie, die die vergleichende eth-
Nologische Betrachtungsweise an die Stelle der Einzelunter-
Suchung setzt, im Wechsel der Erscheinungen das Allge-
Meingiltige festzuhalten sucht und so die Prinzipien
bestimmt, die allen mythologischen Bildungen zugrunde liegen.
Der Mythus kann in seinem Wesen nur als allgemein-
Menschliches Phänomen erfaßt werden. Im mythischen Denken
bekundet sich die ursprünglichste menschliche Geistestätigkeit,
deren objektiv vorliegendes Erzeugnis eben das Mythenmaterial
Ist. Die gesamte Vorstellungswelt des primitiven Menschen
ist mythisch, aber die mythische Weltanschauung ist nicht
auf das Jugendstadium der Geistesentwicklung beschränkt,
Sondern dauert durch alle Kulturstufen hindurch fort. Sie
bildet den Mutterboden des religiösen Lebens sowohl wie der
Anfänge der Wissenschaft, bis endlich bei der Ausbildung des
begrifflichen Denkens die wissenschaftliche Weltanschauung
an ihre Stelle tritt. Noch ist bekanntlich dieser Prozeß nicht
abgeschlossen, weil aus der Tiefe des Volksgeistes heraus die
üralten mythischen Vorstellungen, naturbedingt wie sie sind,
IMmer wieder aufs neue hervorbrechen, wobei sie sich freilich
weniger in der Schaffung neuer mythischer Erzählungen als
In Mythischer Formulierung des Naturwissens oder der reli-
giösen Anschauungen äußern.
Mythen oder Märchen fehlen, soweit unsere Beobachtung
reicht, keinem Volke, womit aber nicht gesagt ist, daß jede
aufgezeichnete Erzählung dem betreffenden Volke ursprüng-
lich angehört. Doch ist die Ausbildungsstufe des Mythen-
besitzes eine sehr verschiedene, Sie hängt ab von-Anlage,
Selstiger Regsamkeit, örtlichen Bedingungen, auch wohl vom
Sprachcharakter des betreffenden Volks, steht aber nicht in
direktem Verhältnis zu dessen Kulturhöhe. Hochentwickelte
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Völker, wie z. B. die Römer, verbleiben oft auf einer über-
aus niedrigen Stufe der Mythologie, ebensooft stoßen wir auf
das Gegenteil. Litauer, Slaven und Finnen, Nordamerikaner
und Polynesier zeigen einen erstaunlichen Reichtum der
mythenbildenden Phantasie, die an sich wiederum durchaus
keine höhere Entwicklung der religiösen Ideen bedingt. Außer-
dem ist aber auch mit einer Unvollständigkeit der Überliefe-
rung zu rechnen. Schon hieraus ergibt sich, daß die Probleme
des Mythus als Allgemeinerscheinung sich nicht aus dem
Sagenschatze des einzelnen Volkes lösen lassen, sondern eine
möglichst weite Umschau und Vergleichung erfordern.
Theoretisch denkbar ist freilich, daß eine einzige hoch-
entwickelte Mythologie, wie etwa die griechische, dazu genügt,
praktisch aber stellt sich die Sache anders. Der griechische
Mythus ist uns vorwiegend in dichterischer Bearbeitung be-
kannt, in der die Wirkung freischaffender Phantasie nicht
von vornherein zu bemessen ist. Die Kultmythen der Griechen,
die sicherlich uralte Vorstellungen enthalten, sind nur dürftig
und lückenhaft überliefert, und gerade diese Reste, wie wir
sie z. B. bei Pausanias und Plutarch finden, bleiben uns ohne
Kenntnis der ethnologischen Parallelen vielfach unverständ-
lich. Noch spärlicher ist das Material an echten Volksmärchen,
auf das nur der reiche neugriechische Besitzstand bis zu
einem gewissen Grade Rückschlüsse gestattet.
Obwohl der griechische Mythus ein Gemisch von örtlich
entwickelten Vorstellungen mit altarischem Erbgut und frem-
den, namentlich vorderasiatischen und ägyptischen Elementen
darstellt, so sind doch diese Bestandteile so eng miteinander
verwebt und so sehr von griechischem Geiste erfüllt, daß es
ungemein schwierig ist, das allgemein Menschliche vom
spezifisch Griechischen zu sondern. Jede Einzelmythologie
hat eben ihren lokalen Charakter, der nicht nur von der Eigen-
tümlichkeit des Volksgeistes, sondern auch von der Natur des
Landes abhängt. Der Einfluß der Umwelt äußert sich in der
griechischen Sage so gut, wie in der nordischen oder indischen.
Das Allgemeingültige wird sich nur aus einer erdumfassenden
ethnologischen Betrachtung erschließen lassen, die alle erreich-
baren Mythenkreise berücksichtigt und unter diesen wiederum
Kapitel I. KHEinleitung.
die der niederen Kulturstufen und deren Überlebsel. im Volks-
glauben der eigentlichen Kulturvölker zum Ausgangspunkt
nimmt.
Die Verwertung ethnologischen Vergleichsmaterials zur
Aufhellung dunkler Fragen der Kulturmythologien, besonders
der griechischen, ist freilich nichts Neues mehr. So haben schon
Steinthal und Max Müller (neuerdings auch 0. Gruppe)
und viele andere ethnologische Parallelen mit Geschick be-
nützt, aber man schöpfte dabei selten aus Quellen erster Hand,
Noch seltener aus den neu erschlossenen, die allein allen An-
Sprüchen genügen, bevorzugte vielmehr, und zwar nicht immer
kritisch, die Kompilationen oder solche Arbeiten, die das
Material in den Dienst bestimmter Theorien stellen, wie die von
Tylor, Frazer, Lang, Caspari, Lippert. Im allgemeinen
Waren es aber weniger die Mythen selbst als die Dämonologie,
Wie überhaupt die Erscheinungen des Aberglaubens, die ani-
Mistischen, totemistischen und fetischistischen Vorstellungen
Niederer Rassen, die die Aufmerksamkeit fesselten, aber gerade
für diese ist erst aus neuester Zeit einwandfreies Material
vorhanden, das unmittelbar für die Erklärung auch antiker
Verhältnisse brauchbar ist. Der Wert unseres ethnologischen
Vergleichsmaterials liegt aber weniger in seinen erklärenden
Parallelen an sich, als in den völkerpsychologischen Auf-
Schlüssen allgemeiner Art.
Wer das Wesen und die Urformen des Mythus, zumal
des Naturmythus, ergründen will, muß wissen, was überall
auf der Erde über die Natur gedacht wurde und wird; er
muß also die volkstümlichen Naturanschauungen kennen, die
Mythenbildende Phantasie beim Werke beobachten und dem
Wechselnden Spiel der Ideenassoziationen folgen, er muß die
Gestalten, die die Einbildungskraft des naiven Menschen wie
AUS einem „Zauberkessel“! entsteigen läßt, leibhaftig vor sich
Sehen und sich endlich an konkreten Beispielen die Form-
Veränderungen klar machen, die die einfachsten mythischen
Gebilde unter dem Einfluß der Kulte, der religiösen Ideen
und der dichterischen Versinnbildlichungen und allegorischen
a *) Mannhardt, Die lettischen Sonnenmythen, Zeitschr. f. Ethn. 7,
D, 3925
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Umdeutungen durchmachen, ohne deshalb die Spuren ihres
Ursprungs völlig abzustreifen!. Gerade dieses zähe Fest-
halten der Urvorstellungen trotz allem verhüllenden Beiwerk
gibt die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Zergliederung
auch der kompliziertesten Formen.
Die Grundlage für die allgemeine Forschung auf mytho-
logischem Gebiete kann nicht umfassend genug sein. Nicht
nur sind möglichst viele Völkerkreise zu berücksichtigen, es
muß auch jede Seite volkstümlicher Lebenserfahrung und
Geistestätigkeit herangezogen werden. Sprache, Religion,
Volksbrauch, Spruchweisheit, Rätsel, kurz alles, was in den
Bereich des Folklore gehört. Ebenso auch geographische Um-
welt und politische Organisation, die namentlich auf die
Formen der Mythen und Märchen von größtem Einfluß sind.
Die Untersuchung darf sich ganz besonders nicht auf den
religiösen Mythus beschränken, wenn es sich um die Anfänge
handelt, da dem primitiven Mythus eine religiöse Bedeutung
ebensowenig zukommt, wie dem ihm wesensverwandten oder
vielmehr wesensgleichen Märchen. Die enge Verknüpfung
des Mythus mit der Religion ist eine Erscheinung der reli-
gionsgeschichtlichen Entwickelung, die besondere Betrachtung
erfordert. Wir können zwar diesen religiösen Mythus als den
sogenannten „echten Mythus“ auffassen, müssen aber dabei
festhalten, daß diese Unterscheidung eine rein praktische und
subjektive, nicht aber im Wesen des Mythus begründete ist.
Wohl kann ein einzelner Mythus aus religiöser Wurzel ent-
sprießen, als Allgemeinerscheinung aber ist der Mythus ein
selbständiges Gebilde, und zwar, wenn wir Böckhs Definition
annehmen: „Der sinnliche in Personifikationen gegebene Aus-
druck der gesamten ethischen und physischen Erkenntnis“?,
Die Ethnologie betrachtet den Mythus nicht als religions-
geschichtliche, sondern als völkerpsychologische Er-
scheinung, als Erzeugnis des Volksgeistes, in dem sich die
Weltanschauung der Urzeit sowohl, wie die des naiv betrach-
tenden Menschen der Gegenwart reflektiert. als notwendige
ı) Bastian, Das Beständige in den Menschenrassen, p. 71. —
)) Böckh, Eneycl., p. 561.
Kapitel I. Einleitung.
Denk- und Ausdrucksform einer zu anderem als bildlichen
und mythischen Denken nicht vorbereiteten Zeit*,
Die Hauptquelle für die Kenntnis dieses primitiven Geistes-
zustandes ist für uns das Märchen und zwar zunächst das
einfache, „naturmythologische Märchen“, wie Wundt es nennt,
in dem die mythische Denkweise sich unmittelbar bekundet,
Innige Verbindung mit der Natur und ihren Geschöpfen, Ein-
fachheit der Handlung, die oft nur an ein Motiv sich anrankt
oder wenige verknüpft, Schlichtheit der Form und moralische
Indifferenz sowie Mangel leitender Ideen unterscheiden es von
den späteren Formen, namentlich dem auf dichterischer Kr-
findung beruhenden oder doch poetisch umgearbeiteten Kunst-
märchen der Literatur, das die einfachen Vorstellungen und
Motive einer Tendenz dienstbar macht und allegorische Ein-
kleidung zum Ausdruck von Lebensweisheit oder moralischer
Prinzipien benutzt. Je mehr freie Erfindung sich im Märchen
geltend macht, um so geringer ist sein mythologischer Wert.
Lokale Ungebundenheit ist dagegen ebensowenig wie die
Kausalität des Wunders ein Kriterium für das eigentliche
Märchen. KErsteres trifft höchstens für unsere europäischen
Märchen zu. In anderen Gebieten, namentlich Amerika und
Özeanien, ist Ort und Persönlichkeit oft genau bestimmt,
mögen auch diese Beziehungen erst sekundär hineingelegt sein.
Von einer Kausalität des Wunders, wie sie Wundt (Mythus 1,
P. 380) hervorhebt, kann im eigentlichen Sinne nur im späteren
Kunstmärchen die Rede sein. Denn Wunder nennen wir nur
die außergewöhnlichen, die natürliche Kausalität durchbre-
Chenden Erscheinungen. Im primitiven und zum Teil sogar
Noch im Volksmärchen sind Zauberkräfte, wie die Fähigkeit
beliebigen Gestaltenwechsels und dergleichen Eigenschaften,
die den Trägern der Handlung ihrer Natur nach zukommen.
Sie gehören als selbstverständlich zu deren Wesen. Erst im
Märchen der höheren Kulturstufen, vor allem in der an histo-
"sche Vorgänge oder örtliche Erscheinungen anknüpfenden
Sage werden die magischen Qualitäten bestimmten Persönlich-
keiten im Gegensatz zu anderen beigelegt und ihre Wirkungen
) Fritzsche, N. Jahrb. £. d. klass. Altert. 13, p. 556,
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
als etwas Unheimliches, Außergewöhnliches, den regelmäßigen
Verlauf der Dinge Widersprechendes empfunden.
Eine Mittelstellung nimmt das sogenannte Volksmärchen
ein. Es teilt mit dem primitiven Märchen den volkstüm-
lichen Charakter, die Beziehung zur Natur, die oft freilich
nur symbolisch angedeutet ist, betont aber mehr das spezifisch
Menschliche mit seinen Trieben und Affekten, besitzt ein
gewisses Zeitkolorit und verwendet schon verwickelte Kom-
binationen von Motiven zur Darstellung größerer Handlungs-
folgen (im Abenteuer, Glücks- und Schicksalsmärchen). Mit
dem Kunstmärchen verbindet es das Hervortreten der gestal-
tenden Phantasie des Erzählers in mehr oder weniger künst-
lerischer Form. Sein mythologischer Wert besteht zunächst
darin, daß.es trotz aller Zutaten uralte mythische Vorstellungen
mit außerordentlicher Treue wiederzugeben pflegt, oft weit
treuer und durchsichtiger als der als älter überlieferte Götter-
mythus. Der unverkennbare naturmythologische Gehalt vieler
Volksmärchen gibt ihnen denselben Quellenwert, wie den
primitiven Formen.
Die höheren Formen des Märchens, die nicht nur will-
kürliche Kombinationen einzelner mythologischer Vorstellungen
sind, sondern diese einer Idee unterordnen, sie zu einem ab-
geschlossenen Ganzen mit einer erkennbaren Pointe zusammen-
fassen, haben für die Mythologie im allgemeinen noch eine
praktische Bedeutung, indem sie ihrer Natur nach zur Wan-
derung neigen, leicht fremde Stoffe aufnehmen oder sich
solchen assimilieren und dadurch zur weiten geographischen
Ausbreitung gewisser Mythentypen und Motive beigetragen
haben. Das gilt namentlich auch für das indische Kunst-
märchen, das drei Weltteile mit Material versorgt hat. Durch
Vergleichung ganzer Reihen solcher verwandter Volks- und
Kunstmärchen lassen sich bekanntlich die Urformen und die
alten mythologischen Vorstellungen, auf denen sie beruhen,
heraussondern. Die Märchenvergleichung bildet also, wie
Leßmann mit Recht sagt, das Gerüst für die vergleichende
Mythologie. Das naturmythologische, unter Umständen auch
das Kunstmärchen, wird zum Mythus im engeren Sinne, wenn
bei der Ausbildung von Götterkulten die Naturgrundlage
Kapitel I. Einleitung.
}
solcher Märchen auf übermenschliche Wesenheiten, die direkte
oder indirekte Naturpersonifikationen sind, bezogen wird.
Sonnen- und Mondmärchen werden also zu Mythen von Sonnen-
und Mondgöttern !.
Indessen setzt ein solcher Mythus durchaus nicht immer
ein fertiges Märchen voraus. Auch aus einzelnen natur-
Mythologischen Vorstellungen, die der Natursphäre der be-
treffenden Gottheiten entlehnt sind, kann die Herausarbeitung
erfolgen. So kann z. B. ein Mythus wie die Trennung des
Weltelternpaars aus den Erscheinungen des Tagesanbruchs,
die Entmannung des Uranus durch die Kronössichel aus den
Erscheinungen des Tagesanbruchs mit der am geröteten
Himmel stehenden abnehmenden Mondsichel unmittelbar
abgeleitet sein ohne Anlehnung an ein bereits vorhandenes
Märchenhaftes Vorbild.
Wird der Mythus zur esoterischen Kultlegende, so kann
neben ihm das entsprechende Märchen als volkstümliche Form
In Umlauf bleiben. Ebenso können Märchen als Rückbildungen
und Entartungen von Götter- und Kultmythen sekundär ent-
Stehen, während letztere wiederum auch zur Erklärung unver-
Ständlich gewordener Kultbräuche erfunden werden. Wie und
In welchem Umfange solche Umbildungen erfolgen, bedarf
Noch methodischer Untersuchung, Eine prinzipielle Bedeu-
tung kommt, wie wir sehen werden, diesen Fragen nicht zu,
da tatsächlich alle die genannten Fälle vorkommen. Da das
Verhältnis des Menschen zur umgebenden Natur seine Welt-
Schauung bedingt, so muß der eigentliche Kern der Mytho-
logie der Naturmythus im weitesten Sinne sein, der eben
diese Weltanschauung zum Ausdruck bringt. Damit ist nicht
36Sagt, daß alle mythologischen Bildungen Naturmythen in
') Nach Gruppe „ist von dem nichtreligiösen Volksmärchen, diesem
reinen Spiel der Phantasie, keine organische Entwickelung denkbar zu dem
Mythus, welcher ein Teil der Religion ist“ (vgl. Supplem. zu den Jahrb. f.
Phil, 1892, p. 267). Undenkbar aber ist dieser Übergang doch wohl nur für
den, der die Naturgrundlage dieser Märchen und Mythen nicht sieht oder
"licht sehen will. Der Ermittelung dieser Naturgrundlagen wird die allge-
Meine Mythologie die Wege ebnen. Was rein phantastisch ist. läßt sich
* Priori überhaupt nicht sagen.
4
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
dem Sinne sind, daß sie etwa immer nur die Verhältnisse
der kosmischen Welt, des Vegetationslebens oder das Spiel
der atmosphärischen Erscheinungen wiedergeben. Der Mythus
ist, wie Roscher in seiner Selene sagt (p. X), „keineswegs
auf das Gebiet der äußeren Natur beschränkt, vielmehr ist die
mythische Welt ebenso groß und mannigfach, wie die Welt
der Vorstellungen oder der menschlichen Phantasie überhaupt,
die wiederum nur ein subjektives Abbild der ganzen Welt ist“.
Viele Mythen zeigen gar keine oder nur phantastisch hin-
einverwebte Naturmotive oder sekundär hineingelegte Natur-
beziehungen. Aberglaube, Sitte, soziologische Verhältnisse,
visionäre und Traumzustände können die Grundlage von
Mythenbildungen werden, die wohl manchmal ein naturali-
stisches Gewand annehmen, ebensooft aber völlig selbst-
ständige Typen repräsentieren.
Wenn nun die allgemeine Mythologie den Naturmythus
zum Ausgangspunkt nimmt und die Frage nach dem Natur-
gehalt mythologischer Vorstellungen in den Vordergrund stellt,
so sind dafür folgende Umstände maßgebend:
1. Naturmythen sind uns als etwas Sicheres, unmittelbar
zu Erkennendes gegeben. Mag die unabsehbare Masse des
Mythen- und Märchenmaterials aller Zeiten und Völker wie
ein unentwirrbares Chaos vor uns liegen, so erkennen wir
doch eins von vornherein, daß ein Teil dieses Materials ganz
unzweifelhaft aus der Natur Abgesehenes darstellt, d. h. Natur-
vorgänge als menschliche Handlungen wiedergibt oder mensch-
liche Handlungen in einer . überirdischen Natursphäre sich
abspielen läßt. Damit gewinnen wir eine Basis für jede
weitere Untersuchung.
2, Nur der Naturmythus enthält universell vorkommende
Elemente, die allgemein sichtbaren Erscheinungen entsprechen
und deshalb auch Allgemeingültiges abzuleiten erlauben.
3. Da Götter im allgemeinen personifizierte Naturwesen-
heiten sind oder waren, so ist vorauszusetzen, daß auch der
Kern des religiösen Mythus ein naturmythologischer ist.
Was nicht Naturmythus ist, ist Einzelerscheinung, spe-
zifisch bedingt durch Volkstum und Ortlichkeit, doch können
natürlich auch bestimmte örtliche Verhältnisse wieder Natur-
Kapitel I. Einleitung.
il
Mythen erzeugen, wie z. B. der Vulkanismus. Dieser Unter-
Schied ist wichtig für die Beurteilung der Mythenwanderungen.
Beide Kategorien können wandern, aber der Beweis der Wan-
derung ist für den echten Naturmythus weit schwieriger als
für den aus anderen Verhältnissen entstandenen, weil die
allgemein sichtbaren immer und überall gleich eindrucks-
Vollen Erscheinungen, die ihren Kern und Inhalt bilden, ihrer
Natur nach unabhängig voneinander eine ähnliche Form-
gebung bedingen.
Auch die Dämonologie darf der Mythenforscher nicht
unbeachtet lassen, ebensowenig wie die dem Animismus und
demi Zauberglauben entspringenden Vorstellungen. Ihre Ver-
Nachlässigung ist ein Hauptfehler der neueren himmelsmytho-
logischen Richtung. Viele Einzelheiten und Motive sind nur
aus Dämonologie und Seelenglauben erklärbar. Die Ansicht,
daß dämonische Wesen keine Mythen haben, ist in dieser
Fassung (vgl. Leßmann, Aufgaben u. Ziele, p. 7) sicherlich
falsch. Es sei z. B. an die weltweit verbreitete Ogersage
Mit ihren ganz bestimmten, immer wiederkehrenden Typen,
an die Mythen von den Kentauren und Gandharven, an die
Gestalten des Pan, der slavischen Mittagsgöttin, des Rübezahl,
der indianischen Wald- und Winddämonen und gewisser
Individuell sich abhebender Elfen und Zwerge unserer
Märchenwelt erinnert. Wenn viele dieser Wesen in letzter
Linie auch mit Naturerscheinungen wie Nebel, Sturm, Mond
und Sonne zusammenhängen, so wird ihr Charakter als Dä-
MONeNn dadurch nicht im mindesten berührt. Man könnte
höchstens sagen, daß Dämonen, die Mythen haben, auch
bestimmte Naturgrundlagen haben müssen.
Auf dem Animismusberuht der Glaube an das Beseeltsein
der äußeren Natur, der die ganze Mythen- und Märchenwelt be-
herrscht. Ob die Personifikation der Naturerscheinungen erst
durch den Seelenglauben zustande kommt, oder durch ihn nur
Unterstützt oder vermittelt wird, bleibe dahingestellt. Jedenfalls
ist er eine der wichtigsten Quellen mythologischer Vorstellungen,
auch wenn er nur einzelne Motive, nicht abgeschlossene my-
thische Bildungen erzeugt. Ebenso sind die Äußerungen des
Traumlebens und des Schamanismus für gewisse Mythen-
zZ
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
formen von der allergrößten Bedeutung. . Ganze Reihen von
Motiven sind nur hieraus erklärbar. Es ist also eine bedauer-
liche Verkennung der Sachlage, die genannten auch in der
griechischen Mythologie ungemein wichtigen Elemente will-
kürlich aus der Betrachtung ausscheiden zu wollen, nur weil
sie gerade nichts mit dem Kalender zu tun haben.
Die große Ungleichartigkeit des Tatsachenmaterials könnte
sehr wohl von der Aufgabe abschrecken oder eine Be-
schränkung auf das philologisch-literarisch Gesicherte er-
heischen, wenn uns nicht die kritisch vergleichende Methode
die Mittel böte, die Spreu vom Weizen zu sondern. Sie lehrt
uns vor allem die außerordentliche Persistenz der aus der
Natur abgeleiteten Züge erkennen, die die verschiedenartigsten
Erzählungen vergleichbar macht, sobald ihr gleicher Kern, die
allen zugrunde liegende Naturanschauung, erkannt ist, Enger
Zusammengehöriges, sei es abgeleitet aus gleicher Grundform,
sei es Variation eines bestimmten Typus, erfordert natürlich
gruppenweise Sonderung. Alle Hilfsmittel philologischer und
literarischer Kritik dienen dazu. Auch der geographischen
Ausbreitung gebührt Aufmerksamkeit. Sachkenntnis und
kritischer Sinn, vor allem auch ein Gefühl für das psycho-
logisch Wahrscheinliche wird über viele Schwierigkeiten hin-
weghelfen.,
Eine Beschränkung auf das in der Literatur niedergelegte
philologisch gesicherte Material, also etwa das der antiken,
indischen oder nordischen Sagenwelt, würde keinen Vorteil
bieten, da auch dieses ja doch nur aus einer Bearbeitung
noch älterer Stoffe besteht und ein Gemisch von sakralen,
spekulativen und volkstümlichen Elementen darstellt, die für
uns zunächst völlig unkontrollierbar bleiben. Diese Kontrolle
soll uns gerade die auf breitester Grundlage errichtete allge-
meine Mythologie ermöglichen. Die Ungleichartigkeit des
Gesamtmaterials würde also auch bei dieser Einschränkung
des Arbeitsfeldes fortbestehen.
Im übrigen ist nicht einzusehen, warum eine mythische
Erzählung, die zufällig von irgendeinem Autor des Altertums,
der vielleicht selbst ihre Bedeutung nicht mehr kannte oder
sie gar mißverständlich entstellte, mehr Vertrauen verdienen
Kapitel I. HEinleitung.
13
Soll als eine in der Gegenwart unmittelbar aus dem Volks-
mund aufgezeichnete Sage, zumal wenn das Volk, bei dem
sie noch lebendig ist, einer kulturgeschichtlichen älteren Stufe
angehört, als etwa das hellenische.
Leitsätze. Auch die allgemeine Mythologie bedarf ge-
wisser für die induktive Behandlung ihrer Probleme unerläß-
licher Voraussetzungen,
Es sind dies erstens grundsätzliche Anschauungen über
das Wesen des Mythus, deren Erkenntnis ein positives Er-
gebnis hundertjähriger Arbeit auf diesem Forschungsgebiete
darstellt. Ihre psychologische Begründung ist im wesentlichen
das Verdienst Wundts und der Gegenstand seiner großen
umfassenden völkerpsychologischen Darstellung des Mythus.
1. Im Mythus spricht sich primitive Weltanschauung aus,
daher ist die Kenntnis des Weltbildes primitiver Völker und
überhaupt der Art, wie der naive Mensch die Erscheinungen
der Natur auffaßt und innerlich verarbeitet, die Vorbedingung
für jede Mythenforschung 2.
2. Das mythische Denken ist nicht auf eine frühere, jetzt
abgeschlossene Periode der menschlichen Geistesentwickelung
beschränkt, sondern dauert fort, freilich unter dem Einfluß
der Wissenschaft sich mehr und mehr abschwächend.
8, Die mythologische Apperzeption trägt den Charakter
UNMittelbarer Wahrnehmung der Wirklichkeit. Der primitive
Mythus beruht also auf sinnlich realer Anschauung und je
mehr eine solche in der Erzählung hervortritt, um so ursprüng-
licher ist die Sage ihrem Charakter nach, mag auch die Über-
lieferung einer neueren Zeit angehören.
4. Symbolisierung d. h. Verbildlichung abstrakter Begriffe
Und nicht unmittelbar sichtbarer Vorgänge der Natur und des
Innenlebens durch mythischen Ausdruck der konkreten Art
Sehört, wenn sie bewußt und absichtlich erfolgt, einer
Späteren Periode der Sagenbildung an. Auf primitiver Stufe
8ibt es nur eine unbewußte, gleichsam instinktive, durch die
Apperzeption selbst gegebene, Verbildlichung, die als solche
Nicht empfunden wird.
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Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
5. Allegorie, d. h. „Andersrede“, bewußte absichtliche Ver-
hüllung abstrakter ethisch-religiöser Ideen durch mythische
Einkleidung ist ein Erzeugnis der Dichtung auf Spekulation
und gehört nicht der Mythologie, sondern der Religionsgeschichte
an. Der echte Mythus ist seinem Ursprung nach niemals alle-
gorisch gemeint.
Zweitens bedarf auch die Beurteilung und Bewertung
des Materials gewisser Grundsätze, die zwar noch nicht all-
gemein anerkannt, ebensowenig aber widerlegt sind und min-
destens dieselbe Beachtung verdienen, wie die gegenteiligen
Ansichten.
Li. Das Alter der Überlieferung ist gleichgültig, wenn der
altertümliche Charakter eines Mythus sich aus Form und
inhalt ergibt, also naive Naturanschauung sich in ihm aus-
spricht.
Dieser Punkt ist der am meisten bestrittene. Die älteste
Überlieferung ist ja gewöhnlich die literarische und schrift-
liche Tradition beansprucht von selbst schon größere Autorität
als die mündliche. Die Erfahrung hat aber gelehrt, daß durch-
aus nicht immer die literarischen Materialien auch die ältesten
Formen wiedergeben 4. Älter als das dichterisch oder religiös
kultisch Überlieferte ist oft die Volkstradition, die, ohne schrift-
lich fixiert zu sein, nebenher geht, bis sie später unmittelbar
aus dem Volksmunde aufgezeichnet wird, wobei sich dann
meist die außerordentliche Persistenz uralter Anschauungen
zeigt. Die wirkliche Volkstradition kann sogar, wie dies
v. Schroeder beim Rigveda nachgewiesen hat?, von der
priesterlich-kultischen absichtlich außer acht gelassen sein.
Natürlich wird man schon aus methodischen Gründen niemals
versäumen dürfen, die ältesten Fassungen, soweit es möglich
1) Bezüglich der Quellen betont Seeck mit Recht: „Als jung hat zu
gelten nicht was in den späteren Quellen steht, sondern was die Einwirkung
der konziliatorischen Kritik verrät, auch wenn es bei Homer oder Hesiod zu
lesen ist“ (Gesch. d. Unterg- d. antiken Welt 2, p- 578).
Ebenso sagt Wundt: „Die nach der historischen Tradition und dem
weit zurückgehenden Anfang in ihrer Kultur ältesten Völker sind keines-
wegs in der Ausgestaltung ihrer Mythen die ältesten, sondern repräsentieren
im Gegenteil verhältnismäßig späte Entwickelungsstufen“ (Mythus 3, p. 434).
2) v. Schroeder, Mysterium und Mimus im Rigveda, p. 53.
Kapitel I. Einleitung.
15
ist, aufzufinden oder zu rekonstruieren, was durch das auf-
fallend zähe Haften der alten mythischen Motive wesentlich
erleichtert wird. Bei Beurteilung des Alters wie überhaupt
des mythologischen Wertes einer Erzählung wird ein subjek-
tives Moment niemals ganz auszuschließen sein. Es gehört
Nicht nur Sachkenntnis, Erfahrung und Scharfblick, sondern
auch ein gewisser Takt und poetisches Gefühl dazu, einer Sage
äNZusehen, ob sie primitiv ist, d. h. die naive Weltanschauung
reflektiert oder nicht. Die Regel: „Je ursprünglicher desto
einfacher“ 1äßt sich nicht ohne weiteres umkehren in: „Je
einfacher desto ursprünglicher“, da wir mit der Möglichkeit
degenerativer Prozesse rechnen müssen. So kann mythisches
Material aus einer höheren Kulturstufe auf Völker niederer
Kultur übertragen sehr wohl den niederen Anschauungen
ÄNgepaßt und vereinfacht werden. Hieraus ergeben sich für
die Frage der Mythenwanderungen oft Schwierigkeiten. So
hängt z.B. die nordamerikanische Sage von der Erdfischung
(bei den Algonkins) so unverkennbar mit den entsprechenden
Nordasiatischen Sagen zusammen, daß eine direkte Überwan-
derung nach Amerika kaum mehr zweifelhaft ist!. Die Ent-
fernung würde dabei kein Hindernis sein. Auffallend ist
Jedoch, daß die amerikanischen Formen weit primitiver er-
scheinen als die asiatischen. Das kann auf einer Amerikani-
SIETUNg des eingeführten Materials beruhen, oder aber gemein-
SAMes einfaches Material kann in Asien unter dem Einfluß
\ndischer oder iranischer Kulte eine weitere Ausbildung er-
lahren haben, während auf amerikanischem Boden die pri-
Mitive Form sich erhielt. Nur wenn die einfache UÜberliefe-
"Ung zugleich unmittelbar an der Naturanschauung haftet,
darf sie, gleichviel wie alt sie ist, als primitives Material be-
trachtet werden, d.h. je mehr dies der Fall ist, um so sicherer
'St ihr primitiver Charakter.
‚2. Es kommt ferner nicht darauf an, ob die mytholo-
SlsSchen Tatsachen mit unsern modernen Anschauungen Vver-
einbar und ob sie uns psychologisch erklärbar sind oder nicht,
Sobald ihr wirkliches Vorhandensein im Volksglauben fest
‘) Dähnhardt, Natursagen 1, p. 74 ff.
}
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
steht. Wenn also die Erfahrung ergibt, daß die menschliche
Phantasie vor allem durch die Vorgänge am Himmel zur
Mythenbildung angeregt wurde, so dürfen wir nicht der Theorie
zuliebe, daß der Mensch sich zuerst um das nächstliegende
kümmere, etwa die Vorgänge der irdischen Welt als Quelle
mythischer Vorstellungen ansehen, vielmehr müssen wir unsere
theoretischen Anschauungen einer Revision unterziehen. Selbst
wenn wir zugeben, daß die nächstliegende Umwelt zuerst Be-
achtung findet, so beweist das doch nichts für die Mythen-
bildung. Diese könnte gleichwohl erst durch die Himmels-
beobachtung angeregt sein. Warum aber die Himmelserschei-
nungen nicht zugleich mit den irdischen die Aufmerksamkeit
sollten gefesselt haben, ist vollkommen unerfindlich, Schon
die Alten waren darüber nicht im Zweifel:
„Os homini sublime dedit coelumque tueri
Zussit et erectos ad sidera tollere vultus‘“
singt der römische Dichter.
Wenn der Volksglaube aller Zeiten nicht die Sonne,
sondern den Mond als Beherrscher des organischen Lebens
ansieht, so müssen wir das hinnehmen und psychologisch zu
erklären suchen ohne Rücksicht auf unsere das Gegenteil
erkennende wissenschaftliche Weltanschauung, die eben mit
der mythischen nichts gemein hat.
83. Jeder Mythus ist, wenn wir seine Bedeutung erkennen
wollen, zunächst wörtlich zu nehmen. Keiner seiner Züge
darf ungeprüft für willkürlich gelten. Ein Mythus, der aus-
drücklich das Verhältnis von Sonne und Mond zueinander
oder zum Morgenstern behandelt, muß als Sonnen-, Mond-
oder Morgensternmythus aufgefaßt werden, solange nicht
triftige Gründe für das Vorliegen einer sekundären Umdeu-
tung, für ein nachträgliches Hineingelegtsein jener Natur-
beziehung beigebracht sind. Ist die Naturgrundlage aber,
wie so oft, verhüllt oder durch eine andere ersetzt, wird z, B.
die himmlische Handlung zum rein irdischen Tier- oder
Heldenmärchen, liegt eine Einkleidung symbolischer Art vor,
so muß sich das durch ganz bestimmte Kriterien kundgeben.
Wir suchen dann mit Hülfe der alle Veränderungen über-
Kapitel I. Einleitung.
17
dauernden mythischen Motive die Grundbedeutung aufzu-
finden, die diesen Motiven entspricht. sie verständlich macht.
Diese Normen sind nicht spekulativ gewonnen, sondern
ergeben sich aus unbefangener Betrachtung des Materials
Von selbst. Sie nehmen die Einzeltatsachen als etwas objektiv
Gegebenes hin. Nur unhaltbare Konsequenzen würden sie
erschüttern. Es kommt ihnen also nur eine relative Bedeu-
tung zu, da ihr Wert an ihren Früchten erkannt wird.
Natürlich bleibt es jedem unbenommen, den mythologischen
Problemen von anderen, ja entgegengesetzten Voraussetzungen
näher zu treten, aber ermutigend sind solche Versuche bisher
Nicht gewesen, wie die noch allgemein herrschende Verwirrung
beweist.
Wer nach wie vor sich den Mythus nicht anders vor-
Stellen kann wie als einen Niederschlag altorientalischer
Priesterweisheit, oder gar als „Denkfehler alter Weisen“, als
allegorische Deutung von Ritualsymbolen oder als poetische
Einkleidung historischer Ereignisse, möge diese Schrift un-
beachtet lassen. Wer sie sonst zur Hand nimmt, sei daran
erinnert, daß es sich hier nicht um ein abgeschlossenes System,
Sondern vielmehr um einen orientierenden Entwurf handelt,
der eine Reihe von Grundfragen zur Diskussion stellt, um
zur Weiterarbeit nach bestimmten Richtungen hin anzuregen,
dabei aber aus äußeren Gründen auf das Beibringen eines
STSChöpfenden Materials an Belegen verzichten muß. Solche
Sind einer späteren ausführlicheren Arbeit vorbehalten.
Die Gesamtmythologie der Menschheit liegt vor uns wie
ein dicht verwachsener tropischer Urwald, durch den wir zu-
nächst Richtungspfade anlegen nach Punkten, die weite Um-
Schau gestatten und als Basis für weitere Wegaufnahmen dienen
können. Dabei mögen wir darauf gefaßt sein, uns gelegent-
lich in Sackgassen zu verlaufen oder unüberwindliche Hinder-
nisse auf weiten Wegen umgehen, bisweilen auch mit kühnen
Hypothesen überspringen zu müssen. Je größer die Zahl der
Mitarbeiter ist, die von verschiedenen Seiten vordringen, um
SO aussichtsvoller ist die Mühe des Unternehmens, und solche
%u Werben ist der Zweck dieser Arbeit.
Mytholog, Bibliothek: Ehrenreich.
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Endlich sei darauf hingewiesen, daß wir in der Mythologie
mehr als auf anderen Gebieten uns mit Wahrscheinlich-
keitsbeweisen behelfen müssen, Oft sind wir, so unwissen-
schaftlich es klingt, bei der Deutung von Einzelheiten auf das
Raten angewiesen. Das liegt an den Lücken des Materials,
die manchmal Jahrhunderte umfassen, teils an der Unmög-
lichkeit, Phantasiegebilde wie den Mythus verstandesgemäß
logisch zu behandeln. Unser Verfahren wird häufig dasselbe
sein müssen, wie das der ersten Entzifferungsversuche von
[nschriften in unbekannten Zeichen und Sprachen, wobei das
Ergebnis jeder einzelnen Operation den Maßstab für die Rich-
tigkeit unserer Vermutungen abgibt. Der Fall, daß theoretisch
angenommenes durch neu hinzukommendes Material uner-
wartete Bestätigung findet, ist in der Mythenforschung unge-
mein häufig und beweist dann auf das beste die Richtigkeit
des eingeschlagenen Weges.
Leider sind auch unsere direkten Beweise nicht immer
zwingend. Sie sind es vielleicht für den, der gleiche Grund-
anschauungen teilt, nicht aber für den; der, von anderen Vor-
aussetzungen ausgehend, um diesen nicht untreu zu werden,
vor evidenten Ergebnissen die Augen verschließt, oder über-
haupt nicht über eine genügend extensive Sachkenntnis Vver-
fügt, die für unsere Aufgabe durch keine noch so vertiefte
Kenntnis einer Einzelmythologie ersetzt werden kann. Indessen
gehört dies zu den Entwickelungshemmungen jeder Wissen-
schaft. Auch Urgeschichte, Medizin, Linguistik und Religions-
wissenschaft der Neuzeit haben sich so durchsetzen müssen,
eine Mauer von Vorurteilen durchbrechend,
Kapitel II.
Vergleichende und allgemeine Mythologie.
Die allgemeine Mythologie ist vergleichende. im wei-
testen Sinne, weil die Ermittelung des Allgemeingültigen
Und seine Sonderung von dem individuell, örtlich und ethnisch
Bedingten nur auf dem Wege der Vergleichung möglich ist.
Die Vergleichung von Einzelmythen oder des mytholo-
Bischen Materials einzelner Kulturkreise untereinander ist
Aufgabe der vergleichenden Mythologie im engeren Sinne.
Ihr Zweck ist die F eststellung der Verwandtschaft von Sagen
und Sagenkreisen, die Aufdeckung kulturgeschichtlicher Zu-
SAMmenhänge und die Ermittelung der Bedeutung gewisser
Weitverbreiteter Typen, die größere Vergleichsreihen erfordern.
Sie bedarf dazu klarer Allgemeinbegriffe und Grundsätze
und diese soll die allgemeine Mythologie formulieren, die die
Vergleichung extensiv betreibt, d. h. die Ähnlichkeiten über
alle Zugänglichen Mythenkreise hin verfolgt, ohne Rücksicht
auf historische oder religionsgeschichtliche, aber mit desto
größerer Betonung der völkerpsychologischen Momente.
_ Weil es an einer solchen Prinzipienlehre bisher fehlte,
Sind auch die Ergebnisse der vergleichenden Mythologie im
°Ngeren Sinne so unbefriedigend geblieben, Vielen gilt sie
Nur als müßiger Zeitvertreib für Dilettanten, was freilich einst
Auch von anderen Wissenschaften galt.
Es vergeht kaum ein Jahr, in dem sie nicht ein oder
Mehrere Male für tot erklärt wird, „aber wäre sie tot“, sagt
©In französischer Forscher, „so brauchte man sie nicht immer
Wieder von neuem zu töten“.
3%
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Jedenfalls ist es auffallend, daß die vergleichende My-
thologie um Anerkennung ihrer Daseinsberechtigung als
Wissenschaft noch zu ringen hat, während doch sonst die
vergleichende Methode auf allen Gebieten der Natur und
Geisteswissenschaften die größten Erfolge erzielte. Entspricht
doch Vergleichung, in rechtem Sinne durchgeführt, dem Ex-
periment der Erfahrungswissenschaften. Nur sie gewährleistet
Einsicht in die Zusammenhänge, die Auffindung von Gesetzen,
das höchste Ziel wissenschaftlicher Forschung überhaupt.
Schon einmal stand die vergleichende Mythologie als Ge-
nossin der Sprachwissenschaft im Vordergrund des Interesses,
als Kuhn, Max Müller u. a. es unternahmen, den Gemein-
besitz mythologischer Anschauungen der arischen Völker auf
linguistischem Wege festzustellen. Wenn diese Bestrebungen
nicht zum Ziele führten, namentlich aber keine allgemeine
Mythologie zu begründen vermochten, so lag das nicht etwa
an der Wertlosigkeit ihrer Ergebnisse, sondern daran, daß
gewisse Mängel der Methode, die wiederum in der damals
noch herrschenden Unklarheit über das Wesen des Mythus
begründet waren, das Mißtrauen der philologischen Fach-
genossen erweckte *!, das dann bald in öde, rein negative
Skepsis auslief. Philologie und Mythologie waren damals
noch eng verbunden, obwohl schon Grimm die Volkskunde
als Grundlage aller Mythenforschung hingestellt hatte. Es
galt und gilt wohl auch heute noch der Philologe als einzig
kompetenter Beurteiler auch allgemein mythologischer Fragen,
nicht bloß der literarischen Überlieferung mythologischer Ur-
kunden. Dieses Verhältnis ist zwar historisch, aber nicht
sachlich begründet. Die Mythologie ist eben nicht bloß an-
gewandte Philologie, sondern noch sehr viel mehr, nämlich eine
selbständige völkerpsychologische Disziplin.
Etwas anders liegt die Sache nun bezüglich der Sprach-
forschung. Daß Kuhn von dieser aus dem Mythus bei-
zukommen suchte, ist auch sachlich völlig berechtigt, da
Sprach- und Mythenbildung unzweifelhaft aufs engste ver-
knüpft sind. ;
') v. Schroeder, Mysterium und Mimus, p. VII ff.
Kapitel II. Vergleichende und allgemeine Mythologie. 21
Mit der Sprache bildet der Mensch sich seine Außenwelt,
deren Eindrücke sich im primitiven Mythus, den sog. natur-
Mythologischen Märchen, wiederspiegeln. Seine Weltan-
schauung kleidet er auch unbewußt in das Gewand des Mythus.
Das mythologische Denken beruht, wie Wundt es defi-
niert, auf personifizierender Apperzeption der Erscheinungen
der Außenwelt und gibt zunächst nur die unmittelbar sinn-
liche Anschauung wieder, Die Sprache unterstützt oder voll-
endet den Personifikationsprozeß, indem sie die Natureindrücke
durch Wortsymbole wiedergibt, die der menschlichen Sphäre
entnommen sind, d. h. sie bedient sich unwillkürlich oder
unbewußt des metaphorischen Ausdrucks. Die Metapher ist
also eine Begleiterscheinung der Mythenbildung, nicht aber
deren Quelle. So sehr sie der Verpersönlichung entgegen
kommt, tritt sie als mythenbildender Faktor erst auf, wenn sie
bewußt erfolgt, vor allem also bei der späteren dichterischen
Verarbeitung, oder religiös kultischen Umbildung des ursprüng-
lichen Mythenmaterials. Ansätze dazu finden sich indessen
Schon bei Völkern niederer Kultur *.
Ein Mythus kann sich aus einer Wortmetapher entwickeln,
wenn deren eigentlicher Sinn vergessen ist, doch ist das nicht
die Entstehungsart des Mythus überhaupt. Der Regel nach
wird vielmehr die mythische Vorstellung unmittelbar in die
Natur hineingesehen.
Aus der Verkennung der mythologischen Bedeutung der
Metapher, die noch heute nicht ganz überwunden ist, erwuchs
VON vornherein ein Hindernis für das Verständnis des Mythus,
Weil damit die alte Vorstellung von einem schon dem ur-
Sprünglichen Mythus innewohnenden, eine tiefere Bedeutung
verdeckenden Doppelsinn, also die allegorische Auffassung,
aufs neue eingeführt wurde.
Ein prinzipieller Fehler war weiter die übertriebene Be-
Wertung der Etymologie mythologischer Namen. Aus ihr
Sollte sich unmittelbar Sinn und Bedeutung eines Mythus
geben. Das ist jedoch nur dann möglich, wenn der Name
den Naturkern selbst unverkennbar wiedergibt, was nur aus-
‘) Tylor, Anf, a. Kultur 1, p. 296.
22
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
nahmsweise der Fall ist. Wohl läßt sich aus Übereinstimmung
der mythischen Namen die Verwandtschaft gewisser Mythen-
komplexe erkennen, nicht aber ohne weiteres deren Inhalt
und Grundbedeutung erschließen. Bei der Vieldeutigkeit
der meisten mythischen Namen ergibt sich der Begrifts-
kreis, dem der Name im Einzelfalle entnommen ist, erst aus
dem Inhalte und der Naturgrundlage des Mythus!., Die einsei-
tige etymologische Behandlung lenkte von der Hauptsache,
nämlich der Erklärung des Mytheninhalts, ab.
Die Etymologie selbst war damals noch nicht so sicher
begründet, als daß für die Namensgleichungen völliges Ein-
verständnis sich hätte erzielen lassen. Die meisten Gleichungen
und ihre Ableitungen aus Sanskritwurzeln erwiesen sich als
philologisch anfechtbar, da sie den später ermittelten Laut-
gesetzen nicht absolut genau entsprachen. War deren Rich-
tigkeit und ausnahmslose Gültigkeit einmal angenommen —
ob mit Recht oder Unrecht sei dahingestellt — so hatte die
Kritik leichtes Spiel, den Grundpfeiler des ganzen Systems
zu erschüttern ®.
Der unzweifelhaft naturmythologische Gehalt vieler Mythen
und Göttergestalten wurde zwar erkannt, aber im einzelnen
mit größter Willkür ausgedeutet, da über den Anschauungs-
kreis, dem die Mythen entspringen, keine Klarheit herrschte,
Was fehlte, war eine genügende Kenntnis des lebendigen
Volksglaubens, So wurde die so überaus wichtige Mond-
mythologie fast ganz übersehen? und die Aufmerksamkeit
ohne ersichtlichen Grund rein auf die atmosphärischen Er-
') Bezüglich der Etymologie sagt Curtius: „Die etymologische Wissen-
schaft kann sehr oft nur die Sphäre angeben, innerhalb welcher die Deutung
liegen kann, nicht diese selbst bieten“.
„Deutungen schwieriger Wörter können häufig nur durch einen glück-
lichen Griff aus der Fülle der Sachkenntnis herausgefunden werden und
gleichen immer bis zu einem gewissen Grade den Konjekturen im Gebiete
der Kritik“. (Grundz. d. gr. Etym., p. 117. Vgl. auch Böckh, Encykl.)
p. 582.) — ?) Oldenberg, Aus Indien und Iran, p. 150. — %) So versteigt
sich Max Müller (Beitr. zur wiss. Mythologie 2, p-201) zu der Behauptung:
„Die Beziehungen des Mondes zur Sonne sind so unsicher und so wenig
geregelt, daß sie nicht leicht mythologischen Ausdruck fnden“ 1
Kapitel IT. Vergleichende und allgemeine Mythologie. 93
Scheinungen, wie Sturmwolken, Gewitter, Morgenröte, als
mythologischem Urkern gerichtet.
So lange man die Vergleichung auf indische, griechische
und nordische Mythen beschränkte, konnte man einigermaßen
damit auskommen, weil meteorologische Elemente hier in
manchen Fällen erkennbar oder doch annehmbar sind; ging
man über diesen Kreis hinaus, so ergaben sich Schwierig-
keiten, denen man nur durch willkürliches Hineindeuten be-
gegnen konnte.
So ganz ergebnislos, wie man heute annimmt, waren die
Bemühungen jener älteren Schule indessen doch nicht. Schon
der Umstand, daß man auch in der Folgezeit immer wieder
versuchte, nach gleicher Methode, wenn auch durch Auf-
stellung anderer Etymologien oder Einführung anderer Natur-
grundlagen, die Fragen zu lösen, beweist, wie hoch man die
einmal gewonnene Erkenntnis von dem naturmythischen
Charakter der göttlichen Wesenheiten und ihrer Fabeln be-
Wertete, Ja, wir dürfen sogar mit Sicherheit voraussagen,
daß ein Teil der heute zurückgewiesenen und begrabenen
Deutungen und Gleichungen noch einmal seine Auferstehung
feiern wird. So lassen sich z. B. nach unsern heutigen An-
Schauungen für die Identität von Saranyu und ’Ecwüs, von
Särameya und “Eoueias sachliche durch ethnologische Parallelen
gestützte Gründe genug anführen, auch wenn diese Etymo-
logien den strengen Lautgesetzen nicht entsprechen sollten‘.
Selbst die viel angefeindete M. Müller’sche Auffassung
des Mythus als einer „Sprachkrankheit“ ist, wie Siecke? ge-
zeigt hat, in gewissem Sinne richtig.
Wir dürfen vor allem nicht vergessen, daß die Kritik der
Kuhn-Müller’schen Richtung, rein negativ, wie sie war, ihrer-
seits nichts Besseres an deren Stelle zu setzen wußte ®, und
doch muß, wie Winternitz einmal sehr richtig hervorhebt,
eine Widerlegung dieser Theorien in jedem einzelnen Falle
gefordert werden. Es genüge nicht, über die vergleichende
) Oldenberg, Aus Indien und Iran, p. 55. — 2) Siecke, Liebes-
gesch, d. Himmels, p. 91. — 3) Es wirkt sogar komisch, die Gegner, wenn
36 wirklich einmal etwas erklären wollen, immer wieder mit jenen Anschau-
lngen operieren zu sehen.
24
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Mythologie im allgemeinen abzuurteilen, oder sie in Bausch
und Bogen zu verwerfen. Das sei Willkür, nicht Wissen-
schaft. Es müsse versucht werden, festzustellen, welche
ihrer Resultate sicher seien und welche nicht.
Ferner ist zu berücksichtigen, daß es sich bei Kuhns
Theorie zunächst gar nicht um vergleichende Mythologie im
allgemeinen Sinne, sondern nur um den Nachweis eines my-
thologischen Gemeinbesitzes der arischen Völker handelt. Es
kann also schon deshalb aus dem Mißerfolge Kuhns kein
Argument gegen eine allgemein vergleichende Mythologie ab-
geleitet. werden, weil für diese die Frage, ob es eine panarische
Mythologie gegeben hat oder nicht, vollkommen gleichgültig ist.
Es war ein Verhängnis, daß der erste Versuch einer ver-
gleichenden Mythologie an den Veda und die griechische
Sagenwelt anknüpfte, deren besondere Schwierigkeiten mit
den damaligen Hilfsmitteln unlösbar waren. Im Veda, den
man fälschlich als eine Art primitiver Urmythologie der Mensch-
heit ansah, sind zwar die Göttergestalten größtenteils deut-
liche Naturpersonifikationen, aber so unplastisch, so wenig in
ihrer Wirkungssphäre bestimmt, so sehr überwuchert von
rituellem Beiwerk, daß es ungemein schwierig ist, eine rest-
lose Erklärung ihrer Naturgrundlagen zu erhalten, während
bei den Griechen die Götter zwar plastisch bestimmt, aber
gerade deswegen fast ganz von ihrem Naturkern losgelöst
sind. Der eigentliche Mythus wiederum ist im Veda nur in
Bruchstücken oder schwer verständlichen Andeutungen er-
halten, deren Interpretation erst in neuerer Zeit einigermaßen
sicher gestellt ist. Der volkstümliche Glaube tritt erst in den
späteren Schriften,. wie den Brahmanas, hervor. Der grie-
chische Mythus ist wiederum fast ausschließlich in dichte-
rischer Bearbeitung überliefert, während der Volksglaube,
besonders das. so überaus wichtige Märchen, nur ganz dürftig
bekannt ist*. .
(janz anders wäre das Ergebnis gewesen, wenn man von
der naiven, an klaren naturmythologischen Zügen überreichen
Volkspoesie der Slaven, Letten und Finnen ausgegangen wäre.
*) Vgl. hierüber Böckh, Eneykl., p. 567.
Kapitel II. Vergleichende und allgemeine Mythologie. 95
Was damit zu erreichen ist, hat Mannhardt in seiner klas-
sischen Arbeit über die lettischen Sonnenmythen (Zeitschr.
£. Ethn. VII, 1877, p. 783 ft. 209 ff. 281 ff.) gezeigt.
Aus dem lebendigen Volksglauben also, dem Urquell aller
Poesie und aller mythischen Phantasiegebilde, muß das Ver-
ständnis für das innerste Wesen der Mythologie geschöpft
werden. Damit wird also die vergleichende Mythologie zu
einem Zweig der Volkskunde im weitesten Sinne, der Völker-
Psychologie und Ethnologie.
Diese Einsicht ließ nicht lange auf sich warten. Schon
Grimm hatte den Weg gewiesen, Steinthal, Lazarus,
Geiger, Mannhardt, Gubernatis u. a. folgten ihm,
Lubbock und namentlich Tylor in seinem noch heute un-
übertroffenen Werke über die Anfänge der Kultur eroberten
der ethnologischen Betrachtungsweise endgültig den ihr ge-
Sührenden Platz. v. Hahn endlich legte in seinen „Sag-
Wissenschaftlichen Studien“ den ersten Grund zu einer syste-
Matischen Mythenvergleichung. Daneben arbeitete die phi-
lologische Richtung spezialistisch weiter, aber mit fast aus-
Schließlicher Beschränkung auf das arische Gebiet mit seinen
umfassenden Literatururkunden.
Beide Richtungen blieben zunächst voneinander unab-
hängig. Nur selten und gezwungen wagten sich die Philo-
logen auf das uferlose Meer der Völkerkunde, wo noch alles
unsicher und problematisch erschien. Charakteristisch ist die
Scheu, mit der Max Müller gelegentlich die Ethnologie zu
Rate zog. „Erst wenn alles umsonst ist“, sagt er in seinen
Beiträgen zur wissenschaftlichen Mythologie, „wird es an der
Zeit sein, einen liebevollen Blick auf das Folklore unver:
wandter und unzivilisierter Rassen zu werfen“,
Unleugbar hat diese Arbeitsteilung die Kenntnis der
Einzelmythologien außerordentlich vertieft, ebenso hat die
durch Grimm. angebahnte Folklore- und Märchenforschung
Innerhalb des indo-europäischen Kulturkreises, die immer aufs
neue Reste uralten mythologischen Erbguts in den Äußerungen
des Volksglaubens, der Volksdichtung und Sitte wiederzufinden
Wußte, der Mythologie ganz neue Seiten abgewonnen und Ein-
blicke in das Dunkel der Vorgeschichte eröffnet, die wiederum
26
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
der Spezialforschung als Hilfsmittel dienten. Dazu kam dann
in neuester Zeit die enorme Erweiterung unseres Gesichts-
kreises durch die ethnologische Forschung, die statt einzelner
Völkerkreise die Gesamtmenschheit vergleichend heranzog
und nun die merkwürdigen Analogien entdeckte, die zwischen
den Mythenbildungen selbst entfernter Völker untereinander
und mit denen der alten Kulturen Europas und des Orients
yestehen.
Daß man sich angesichts dieser Überfülle an eine syste-
matische Vergleichung des durch die Spezialforscher gesam-
melten Materials mit dem ethnologisch-volkskundlichen nicht
gern heran machte, ist verständlich. Es war dies auch zu-
nächst nicht nötig, so lange es nur darauf ankam, mittelst
der Einzelmythologien der Kulturvölker religionsgeschichtliche
Fragen zu lösen. An sich war es ein richtiger Gedanke, vor-
erst griechisches aus ‚griechischem, indisches aus indischem
zu erklären, Daß zum Verständnis der griechischen Götter-
gestalten nur die griechische Mythologie in ihrer scharf aus-
geprägten Eigenart in Betracht kommen dürfe, war ohnehin
selbstverständlich. Gilt es doch heute noch manchem als
eine Art Blasphemie allgemein Menschliches auch im Hellenen-
tum wiederfinden zu wollen.
Für die Frage der Mythenwanderungen und Entlehnungen,
zu der die Analogien der indischen, iranischen, nordischen und
griechischen Sagen anregten, genügte die einfache Verglei-
chung der überlieferten Formen auf rein philologischem und
literaturgeschichtlichem Wege.
Die Mythen der niederen Rassen, zumal die der eigent-
lichen Wildstämme, galten wegen ihres vielfach „kindischen“,
grotesken, niedrig komischen Inhalts höchstens als interessante
Kuriositäten oder für verkommene Reste höherer Vorstellungen
der asiatischen Kulturvölker, Daß Mythen der Deutung
bedürfen, wenn sie für Religionsgeschichte und Kultuserklärung
verwendbar sein sollen, daß nur aus der Grundbedeutung, dem
Naturkern eines Mythus oder einer mythologischen Gestalt,
deren Vergleichswert und Stellung im System sich bestimmen
läßt, wird noch immer viel zu wenig berücksichtigt. An
Deutungsversuchen hat es nie gefehlt, aber alle waren dem
Kapitel II. Vergleichende und allgemeine Mythologie. 27
Vorwurfe der Unwissenschaftlichkeit ausgesetzt. Fast nie
war Einigung zu erzielen, weil es eben gänzlich an festen
Deutungsprinzipien mangelte. Wo der eine einen Naturmythus
Sah, leugnete der andere die Existenz von Naturmythen über-
haupt. Was der eine auf Sonne bezog, bezog der andere
auf Mond. Dieselbe Gottheit konnte, wie z. B. Hermes,
Sonnen-, Mond-, Wind-, Vegetations-, Gewitter-, Nebel- und
Traumgott sein, ohne daß der Grund dieser Vieldeutigkeit in
etwas anderem gesucht wurde als in der Willkür des jeweilig
deutenden Mythologen.
Irreführend wirkte auch die im ersten Drittel des 19. Jahr-
hunderts von Creuzer inaugurierte, aber auch späterhin
Vielfach wieder aufgenommene Theorie, daß die Gesamtmytho-
logie ein Reflex altorientalischer, ägyptischer oder indischer
Priesterweisheit sei, die neuerdings in Form der panbaby-
lonischen Lehre wieder auftaucht. Was daran an letzterer
annehmbar ist, wird uns im folgenden beschäftigen.
Im Gegensatz dazu behaupten wieder andere Forscher,
wie z. B. Hüsing und Leßmann, es gäbe in der alten Welt
überhaupt nur arische Mythen und zwar nur solche, deren
Grundlage der Mondkalender sei.
Bei der anscheinenden Hoffnungslosigkeit einer befriedi-
genden Erklärung derartiger Divergenzen sehen daher viele
Von einer Deutung prinzipiell ab und schränken den Begriff
des Mythus auf solche Erzählungen ein, die sich erst sekundär
aus der Erklärung unverständlich gewordener Kulthandlungen
Sntwickelt haben.
Alle diese Ansichten sind an und für sich berechtigt,
ihr Fehler liegt nur in der Einseitigkeit der Betrachtungs-
weise. Sie führen immer nur zu einer konstruktiven Mytho-
logie, die die Tatsachen einer von vornherein fertigen Theorie
Unterordnet. Das Gesamtergebnis ist schließlich der Wirr-
Warr, der heute die Beschäftigung mit der Mythologie wenig-
Stens für den Nichtspezialisten so unerquicklich macht.
Dieser Zustand der Dinge ist nachgerade unerträglich.
_ Zugegeben, daß der bisherigen vergleichenden Mythologie
In Zug der Unwissenschaftlichkeit anhaftete, so ist damit
doch nicht gesagt, daß dieser Zustand andauern solle. Es
28
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
muß möglich sein, auf dem Wege der Induktion, ausgehend
von den bisher gesicherten Erkenntnissen vom Wesen des
Mythus zu einer allgemeinen Mythologie, zu einer Theorie
der Bildungsprinzipien des Mythus zu gelangen, die die
inneren Zusammenhänge seiner tausendfältig wechselnden
Erscheinungen erfassen lehrt und durch Feststellung des
psychologisch Möglichen die Willkür der Deutungen aus-
schaltet. Wir würden damit zugleich einen sicheren Maßstab
für die Beurteilung des Verhältnisses der einzelnen Mytho-
logien zueinander erhalten, also auch die Frage der Entleh-
nung und Wanderung mythischer Elemente klar formulieren
können.
Die Zeit dazu ist gekommen. Wir stehen heute solchen
Problemen ganz anders gerüstet gegenüber wie früher, infolge
der außerordentlichen Erweiterung unseres ethnographischen
und geschichtlichen Horizonts und der Vertiefung unserer
völkerpsychologischen Einsichten. Dazu kommt die Wieder-
entdeckung der altorientalischen Kultur und Geisteswelt, die
zahllose neue Fragen aufwirft, mit denen sich die Mythen-
forschung so gut wie die Archäologie auseinander setzen muß.
Gerade auf diesem Gebiet wird die Entscheidung über die
Frage: Was ist allgemein menschlich, was ist altorientalisch
oder babylonisch? immer dringender und nur die Völkerkunde
vermag sie zu beantworten.
Worauf es zunächst ankommt, ist die methodische Sich-
tung des riesigen, immer mehr anschwellenden Materials,
verbunden mit vorläufiger Bearbeitung des Gefundenen, die,
wie Hüsing sagt, schon für die Sammlung weiteren Stoffs
unerläßlich ist. Was wir jetzt leisten, ist nur Vorarbeit, aus
der sich ergeben soll, welche Züge aus dem Wirrsal der
Einzelheiten bedeutungsvoll und weiterer Verfolgung wert
sind. Die dabei unvermeidlichen Irrtümer und Mißgriffe dürfen
nicht abschrecken, denn „die Aufgabe der Wissenschaft ist“,
wie Leßmann einmal treffend sagt, „Wahrheit zu schaffen,
nicht bloß Irrtümer zu vermeiden“.
Kapitel ILL.
Aufgaben der allgemeinen Mythologie.
Die allgemeine Mythologie gewinnt ihre Erkenntnisse und
Gesetze natürlich aus der Durchforschung der Einzelmytholo-
gien, die zurzeit nur für die der Kulturvölker einigermaßen
genügend durchgeführt ist. Näher bekannt sind im übrigen
die Mythen Nordamerikas, Ost- und Südasiens, Polynesiens
und einiger Teile Afrikas. Alles übrige ist fragmentarisch.
Große Lücken weist namentlich die wichtige Mythenwelt Süd-
amerikas auf. Für Afrika ist eine erhebliche Erweiterung
unserer Kenntnisse in nächster Zeit zu erwarten.
Da die vergleichende Durcharbeitung sich bisher fast
ausschließlich auf das in Literaturschöpfungen niedergelegte
Material bezog, so fiel auch der historisch-philologischen Be-
rachtungsweise die Hauptrolle in der Mythenforschung zu.
Man kümmerte sich also weniger um Erklärung der Mythen
Und ihrer Persönlichkeiten, als um die Aufdeckung der genea-
logischen Zusammenhänge von Mythen und Mythenkomplexen
innerhalb einer bestimmten Völkerfamilie oder im Kkultur-
geschichtlichen Zusammenhang stehender Völkerkreise, also
der griechischen mit den semitischen, der iranischen mit den
Indischen und ‚germanischen, dieser wiederum mit den sla-
vischen, keltischen und finnischen usw.
So ist es z. B. durch die Arbeiten v. Hahns und Hü-
sings gelungen, den innigen Zusammenhang der griechischen,
germanischen, iranischen und indischen Heldensage festzu-
Stellen. Gruppe, Jensen, Winckler, Stucken haben
die mannigfachen Beziehungen zwischen der griechischen und
30
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
semitischen Sagenwelt verfolgt und dabei auch die astralen
Grundlagen vieler Mythenelemente entdeckt, ohne freilich mit
ihren Deutungen überall Anklang zu finden. Es gelang sogar
den Gegnern dieser Anschauungsweise, auch diese auf nahe
verwandte oder doch kulturell und geschichtlich verbundene
Stämme beschränkten Vergleichungen verständnislos zu dis-
kreditieren, WennGolther die Berechtigung leugnet, deutsche
mit skandinavischen und slavischen Sagen zu vergleichen, so
heißt das nichts anderes, als auf eine wissenschaftliche My-
thologie, die etwas anderes sein soll als Literatur- oder Reli-
gionsgeschichte, Verzicht zu leisten !.
Die vergleichende Spezialforschung wird sich glücklicher-
weise durch solche Machtsprüche nicht abhalten lassen, ihr
Werk weiterzuführen, Ihr Endziel wäre die Durcharbeitung
aller erreichbaren, also auch der nicht literarisch niedergelegten
Mythologien, die Feststellung des Mythenbestandes und der
charakteristischen Sagentypen aller größeren Völkergruppen,
die Ermittelung ihrer etwaigen verwandtschaftlichen Bezie-
hungen und Verfolgung aller auf Entlehnung oder Beein-
flussung deutenden Momente. Hierbei kommt der etymolo-
gischen Namensforschung eine wichtige Rolle zu.
Vorläufig sind wir noch weit von diesem Ziele entfernt,
können aber immerhin jenen auf europäisch-vorderasiatischem
Gebiet erzielten Ergebnissen andere gegenüberstellen, die be-
weisen, daß die gleiche Methode auch bei exotischen Halb-
kultur- und Naturvölkern anwendbar ist ?®.
So besitzen wir bereits Material genug, um die einzelnen
mythologischen Provinzen Amerikas schärfer zu bestimmen,
die für sie charakteristischen mythischen Helden in ihrer
Individualität und zum Teil auch ihrer Naturgrundlage zu
*) Leßmann, Kyrossage, p. 4. — ?) Orientierende Übersichten lassen
sich namentlich aus folgenden zusammenfassenden Darstellungen gewinnen:
Brinton, American hero myths; Brühl, Die Kulturvölker Alt-
Amerikas; Ehrenreich, Mythen und Legenden der südamerikanischen
Urvölker; Schirren, ‚Wandersagen der Neuseeländer; Waitz-Ger-
land, Anthropologie der Naturvölker, Bd. VI; Theophilus Hahn, Teui
Goab; Frobenius, Weltanschauung der Naturvölker. sowie dessen: Zeit-
alter des Sonnengotts.
Kapitel III. Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 31
erfassen und die gleichsam‘ wellenförmige Ausbreitung ge-
wisser mythischer Typen und Einzelelemente über den Konti-
nent hin zu verfolgen.
Für die irokesische Völkergruppe sind bezeichnend die
Gestalten des Bruderpaars Joskeha und Tawiskaron,
für die Algonkingruppe die Einzelgestalt des Mänabusch
(Michabazo, Wisakä, Napi), des „großen Hasen“, für den nord-
Westamerikanischen Kreis Yetl, der Rabe und die „großen
Verwandler“.
Im Gebiet der alten Kulturnationen Zentralamerikas be-
gegnen wir den vergöttlichten Gestalten des Quetzalcouatl,
Kukulkan, Votan mit ihren Gegnern und Antagonisten,
In Südamerika unterscheiden wir die Sagenkreise des Bochica
in Kolumbien, des Viracocha, Pachacamac und Koni-
Taya in Peru, der Heldenpaare Keri und Kame bei den
Zentralkaraiben, denen Tiri und Karu (als Vater und Sohn)
bei den Yurakare Boliviens entsprechen, bei den Östtupi die
an Monan und dessen Nachfolger anknüpfenden Sagen, die
ebenfalls wieder ein Brüderpaar Tamenduare und Ari-
kute als Dioskuren zum Mittelpunkt haben. Gewisse ge-
Mmeinsame Züge wiederholen sich auch über das ganze ameri-
kanische Gebiet hin, wie die magische Empfängnis und Geburt
(Manchmal mit dem Motiv des Streits der Ungeborenen), der
Kampf mit Ungeheuern zur Weltreinigung, die Erdfischung
(auf Nordamerika beschränkt), das Hervorgehen der Völker
aus der Erde oder Herabsteigen vom Himmel am Faden mit
dem Motiv der Lochverstopfung durch eine allzu beleibte
Person.
Das geheimnisvolle Verschwinden des Heroen, mit dem
Versprechen der Wiederkehr ist ein auf die Kulturländer be-
Schränkter Zug, dagegen findet sich bei den Wildstämmen
die Vorstellung, daß der Held noch heute im Lande der Weißen
Im fernen Osten lebe, von wo er seinem Volk die Kultur-
güter sendet.
In Polynesien ist der Sagenkreis Mauis besonders auf
Tahiti und Neuseeland der bekannteste, in Melanesien der des
Qat und seiner elf Brüder (Banks-Inseln)!.
mm
*) Codrington, The Melanesians, Oxford 1891.
Po
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
In Afrika bildet bei den Hottentotten die Gestalt des
Tsui goab (Heitsi Eibib) den Mittelpunkt einer echt ur-
wüchsigen Mythengruppe, während im Westen (Yoruba,
Ouinea, Loango) die götterhaften Wesen wie Schango,
Schanpanna, Odente, Nzambi hervortreten.
In Zentralasien sind die an den thibetischen Helden Don-
grub! oder Kesar (den Gesser Chan der Mongolen) an-
knüpfenden Sagen die am meisten charakteristischen, freilich
mit indischem und iranischem Lehngut vermischt.
Mit der Erkenntnis des Bestehens großer über weite Ge-
biete sprach- oder kulturverwandter Stämme sich ausbreitender
Sagenkreise und deren Übergreifen auf benachbarte allophyle
Völker wurde man zugleich aufmerksam auf das Auftreten
gewisser isolierter Sagentypen und Motive an verschiedenen
weit entlegenen Stellen der Erde außerhalb der Gruppen
mythologischer Angleichung, die aber entweder gar nicht
oder nur aus verschwommenen Hypothesen von urzeitlichen
Wanderungen und Kulturbeeinflussungen über geographisch
unüberbrückbare Entfernungen hin erklärbar waren. Solche
Typen sind ?: der Besuch im Himmel oder in der Unterwelt,
der Besuch bei einem kannibalischen Wesen und wunder-
bare Rettung aus dessen Gewalt, meist verbunden mit dem
Motiv der magischen Flucht, der sog. Mädchenangelmythus,
die Trugheilung und die damit verwandte Tötung durch List,
die Tötung eines Riesen, dessen Seele sich in irgend einem
verborgenen Körperteil oder in einem Versteck außerhalb des
Körpers befindet (Motiv: Rieseneiseele, n. Frobenius), die Sage
von dem gefährlichen, die Freier tötenden Mädchen, gewisse
Formen der Erdfischung durch Tiere und die Amazonensagen,
Dazu kommen einige nur an zwei oder drei völlig iso-
lierten, durch den halben Erdumfang getrennten Stellen auf-
tretende, wie die Phae@tonsage in Griechenland und Nordwest-
amerika, die Sage von den aus Papageien entstandenen Frauen,
die sich den aus Kataklysmen geretteten Männern zugesellen,
im australasiatischen und südamerikanischen Gebiet.
*) Francke, Der Frühlings- und Wintermythus der Kesarsage. Hel-
singfors 1902. — 2?) Zahlreiche Beispiele gibt Frobenius: Zeitalter des
Sonnengottes.
Kapitel III. Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 33
Hierbei ist nun die nächste Aufgabe eine genaue Regi-
strierung und kartographische Eintragung der Einzelfälle, aus
der sich vielleicht Ausbreitungslinien erkennen lassen. Für
einige der erwähnten Typen kann schon jetzt das nord- oder
Zentralasiatische Gebiet mit einiger Wahrscheinlichkeit als
Ausgangsort angenommen werden, ohne daß eine schärfere
Abgrenzung zurzeit möglich ist,
Nach Analogie der biologischen Ausdrücke Fauna und
Flora für die für bestimmte geographische Gebiete charakte-
ristischen Pflanzen- und Tierarten hat Hüsing die Bezeich-
nung Fama für den Mythenbestand eines solchen Areals
Vorgeschlagen. Es ist also die Aufstellung solcher Famae
für alle Teile der Erde die Hauptaufgabe einer speziellen ver-
gleichenden Mythologie,
Aus der Formanalyse, der Bestimmung genealogischer
Verwandtschaft oder kulturgeschichtlichen Zusammenhanges
und der geographischen Verbreitung der einzelnen Typen
würde sich so eine Art mythologischer Systematik ergeben,
die der biologisch-naturwissenschaftlichen entspricht.
Eine solche würde, da sie auf Formvergleichung und
Beschreibung beruht, rein morphologisch sein. Sie gibt, so
lange sie auf Deutung des Mytheninhalts verzichtet, nur ein
künstliches, nach äußeren Ähnlichkeiten (Analogien) klassifi-
Zierendes System.
Volle Einsicht in die Zusammenhänge gewährt nur der
Nachweis innerer Verwandtschaft, der Homologie und
diese wird erst aus der Deutung und Erklärung des Inhalts
Sewonnen.
In manchen Fällen ergibt sich der Inhalt ohne weiteres
AUS der Form, da aber gleicher Inhalt in verschiedene Formen
S6g0ssen werden kann, andererseits dieselbe Form auch ver-
Schiedene Inhalte deckt, so haftet allen auf bloßer Formver-
gleichung beruhenden Deutungen eine gewisse Unsicherheit
an. Dieselbe Erscheinung läßt sich eben verschieden deuten.
Hierauf beruht gerade die Verwirrung, die die vergleichende
Mythologie so sehr in Mißkredit gebracht hat.
Wir bedürfen also eines ergänzenden Verfahrens, das um-
gekehrt die Formen aus dem Inhalte erklärt, das zeigt, wie
Mytholog, Bibliothek: Ehrenreich. 3
34
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
im gegebenen Falle die Form nur immer einem bestimmten
Vorstellungsinhalte entspricht, daß sie also nicht etwas rein
Zufälliges oder Willkürliches ist, sondern sich mit. einer ge-
wissen Notwendigkeit ergibt.
Jeder Naturvorgang erfordert bestimmte psychologisch
begründete Ausdrucksformen, die teils unmittelbar aus der
Apperzeption, teils aus Assoziationen hervorgehen.
So kann z. B. das Verschwinden des Mondes in der Sonne
aufgefaßt werden als Verschlingung eines Heroen, als dessen
Kampf mit einem Ungeheuer, als Sturz des Mondwesens in
eine Feuergrube, Zisterne, Verjüngungsbad usw., als ein Ge-
kochtwerden im Kessel, den die letzte sichtbare Mondsichel
darstellt, endlich auch als Kopulation (Vermählung oder Inzest
von Sonne und Mond). Vorstellungen, die alle durch die kon-
krete Naturanschauung unmittelbar gegeben sind und ent-
sprechende Reihen mythischer Formen erzeugen, die trotz
aller Verschiedenheit auf die gleiche Grundidee zurückweisen.
Ein Mythus, der in eine dieser Formen gegossen ist, wird
immer noch besondere Züge erkennen lassen, die auf den
Mondwechsel als Naturkern hindeuten, wie z. B. die Motive
der Schwärzung, des dreitägigen Verborgen- oder Entrückt-
seins, des Kopfabschneidens mit der Sichel, der Unterschie-
bung, des Gewandwechsels u. a. Es fehlt nicht an Mythen,
die alle jene Mondwechselmomente kombiniert enthalten.
Es handelt sich also darum, den Anschauungskreis fest-
zustellen, dem der Mytheninhalt entnommen ist und von dem
alle Formen abhängen, und diesen Kreis durch Prüfung seiner
Einzelzüge so weit einzuengen, bis die Grundvorstellung er-
kannt ist, die alle Einzelheiten des Mythus deckt.
Im diese Grundanschauungen aufzufinden, ihre Einklei-
dungen und die Abwandlung ihrer Formen zu verstehen
bedarf es fester Normen, die uns lehren, worauf es ankommt,
welche Züge wesentlich, welche Deutungen psychologisch
und sachlich möglich sind, was das Allgemeingültige, was
das völkisch oder örtlich Bedingte ist. Solche Normen auf-
zustellen ist die Aufgabe der allgemeinen Mythologie als
Prinzipienlehre.
Kapitel IIXI.. Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 35
Sie sind abzuleiten aus den in den Mythenbildungen aller
Völker unverkennbar hervortretenden Gleichläuf igkeit der
Entwickelung, die von vornherein das Walten von Gesetzen
Wahrscheinlich macht ?.
Voraussetzung ist dabei die Einheit des menschlichen
Seelenlebens auf primitiver Stufe, das Vorhandensein allge-
Mein verbreiteter auf gleicher Gehirnorganisation beruhender
Elementargedanken (im Sinne Bastians), wofür alle Ergeb-
nisse ethnologischer Forschung sowohl, wie. die tatsächliche
Gleichläufigkeit menschlicher Kulturentwickelung sprechen
und die zugleich den einzigen stichhaltigen Beweis für die
Einheit des Menschengeschlechts, d. h. seine Ent-
Wickelung aus einem gemeinsamen tierischen Ahnen darstellt?.
Für den Naturmythus ergibt sich hieraus unmittelbar, daß
die gleiche Naturgrundlage gleiche mythische Vorstellungen
zeugen muß, wodurch ein gesetzmäßiger Verlauf der mythen-
bildenden Prozesse von vornherein wahrscheinlich wird.
Die Psychologie hat das Wesen des mythischen Den:
kens und den Charakter der mythischen Erzählung klar zu
legen, eine Aufgabe, die bereits zu gutem Teile gelöst ist,
WENN auch im einzelnen, trotz der großartigen Arbeit Wundts,
Noch viel zu tun bleibt. Dazu bedient sie sich naturgemäß der
einfachsten und durchsichtigsten Formen des Mythus, nämlich
des Naturmythologischen Märchens, wie die Völkerkunde
°S darbietet. Ist die Personifikation der Naturerscheinungen
und Vorgänge als Hauptmoment: des mythischen Denkens
erkannt, so fragt es sich, wie diese zustande kommt, welche
Eigenschaften eine Erscheinung haben muß, um mythisches
*) „Die Sage offenbart eine Regelmäßigkeit der Entwickelung, die bei
Annahme einer gänzlich motivlos handelnden Phantasie gänzlich unerklärlich
‘St und die man nur bestimmten Bildungsgesetzen zuschreiben kann.“
„Diese Entwickelung ist so gleichmäßig, daß man die Sage als ein
Organisches Erzeugnis der gesamten Menschheit behandeln kann, in welchem
individuell nationales, ja selbst Rassenunterschiede den allgemeinen Eigen-
schaften des menschlichen Geistes gegenüber nur eine untergeordnete Stelle
“nnehmen,.“ Tylor, Anf. d. Kultur 1, p. 410. — ?) Daß heutzutage immer
noch hier und da diese allgemeine psychische Grundlage bestritten wird, ändert
an der Sache natürlich gar nichts.
35
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Leben zu gewinnen. Auch hierfür liefert die Ethnologie eine
sichere Unterlage,
Sind im Mythus Vorgänge der Umwelt als Handlungen
von mehr oder weniger menschlich gedachten Persönlichkeiten
aufgefaßt, so müssen diese Handlungen selbst wieder der
Naturgrundlage genau entsprechen.
Diese wird erkannt aus den mythologischen Motiven.
Jede mythische Handlung besteht aus einer ursächlich
verknüpften Folge von Einzelzügen, Situationen und Akzi-
denzen, die aus der Naturgrundlage abgeleitet, meist sogar
geradezu real daraus abgesehen sind. Diese Motive ent-
sprechen den einzelnen Phasen des Naturvorgangs, dem sie
den Charakter einer menschlichen Handlung verleihen.
Die Motive geben den ursprünglichen Inhalt des Mythus
an, weil sie dasjenige Element sind, das auf konkreter Grund-
lage beruhend am festesten mit der ursprünglichen Natur-
anschauung verbunden bleibt, ungeachtet aller sekundären
Formveränderungen. Andererseits bestimmen sie die Form,
sofern sie die mythenbildende Phantasie in der bestimmten
Richtung weiterführen, die durch das Hauptmotiv der ganzen
Reihe angegeben ist.
Nicht immer aber wird der Mythus konsequent weiter
gesponnen, indem manchmal andere Motivreihen eingeführt
werden, die zwar vom gleichen Naturkern ausgehen, aber
eine andere Auffassung davon wiedergeben. So kann z. B.
in demselben Mythus der Mond als Person (direkt oder als
Figur in der Mondscheibe), als Tier (Bock, Stier, Frosch) oder
als Gegenstand (Schüssel, Sichelschwert, Sieb) erscheinen,
wodurch verschiedene sich kreuzende und gegenseitig bedin-
gende Motivreihen in die Handlung verwoben werden.
Namentlich im Volksmärchen ist diese Erscheinung etwas
ganz gewöhnliches,
Die Durchmusterung des gesamten Mythenbestandes der
Menschheit lehrt nun, daß die Zahl der Motive keine unbe-
grenzte ist, daß vielmehr nur verhältnismäßig wenige in allen
Sagenkreisen sich immer aufs neue wiederholen, auch ganze
Motivreihen in immer wieder neuen Kombinationen auftreten.
Das stimmt zu der Tatsache, daß auch die Zahl der mythisch
Kapitel 11. Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 37
verwendeten Naturanschauungen nur eine beschränkte ist.
Es muß also eine Korrelation zwischen Naturkernen und
Motiven bestehen, die die merkwürdigen mythischen Parallelen
an den verschiedensten Punkten der Erde zu großem Teil
wenigstens erklärlich macht. Die Sammlung und Registrie-
rung der Motive unter kurzen Stichwörtern (wie sie neuer-
dings durch Stucken, Frobenius, Boas u. a. üblich ge-
Worden sind) ist die wichtigste und unerläßliche Vorarbeit
für jede allgemein vergleichende Mythologie.
Viele Motive sind eindeutig und unzweifelhaft der Natur
entlehnt, andere mehrdeutig, noch andere zwar klar formu-
liert, aber noch unerklärt. Abzusehen ist vorläufig von den
zahlreichen noch ganz unbestimmten, die der zukünftigen
Forschung überlassen bleiben.
Zum Verständnis der Motive und der Erkenntnis ihrer
Stwaigen Naturbedeutung bedarf es folgender Dinge:
1. Einer Kenntnis des Weltbildes der Völker. Wir müssen
wissen, welche Vorstellungen sich der Mensch von Sonne,
Mond und Sternen. Gewitter, Erdbeben usw. gebildet hat, um
die daraus abgeleiteten Erzählungen und mythischen Bilder
ZU verstehen.
2, Einer psychologisch begründeten Einsicht in den Vor-
Stellungskreis des primitiven Menschen, um zu wissen, welche
Naturerscheinungen einer mythischen Verarbeitung entgegen-
kommen und welche nicht, denn nicht alle Eindrücke der
Umwelt sind mythologisch gleichwertig, nicht jede Natur-
Personifikation hat gleiche mythenbildende Kraft,
3. Naturkenntnis seitens des Mythologen selbst, und
Zwar gehört dazu nicht nur das Vertrautsein mit der Natur
und ihren Erscheinungsformen, sondern auch das Vermögen,
das im Mythus poetisch dargestellte poetisch nachzuempfinden.
Mythus und Dichtung gehören eben in der Überlieferung aufs
SNgste zusammen. Wie schon Tylor, Mannhardt und
v. Hahn hervorhoben, können die Naturbeziehungen des
Mythus nicht in der Studierstube, sondern nur in der leben-
digen Natur erfaßt werden!
*) Niemand hat diesen Grundsatz besser zum Ausdruck gebracht, als
J. von Hahn in folgenden Worten: „Wessen Herz im Bücherstaube ver-
38
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
So selbstverständlich das auch erscheinen mag, so oft
wird es übersehen. Selbst Gelehrte unterliegen den wunder-
lichsten Irrtümern, die die zunehmende Naturentfremdung
des Kulturmenschen erklärlich macht. Ein Mytholog hat nie-
mals den Mond durch die Wolken ziehen. sehen; ein anderer
ist sich über die Lage des Nordpols im Unklaren, ein dritter
sieht den Mondhasen nicht oder glaubt, daß der Mond nur
Nachts sichtbar sei, andere endlich übersehen die scheinbare
Ostwanderung des Mondes oder wissen nicht, wann der Mond
der Sonne folgt oder ihr vorausgeht. Ein weit verbreiteter
Irrtum ist, daß vor Sonnenaufgang kein Licht vorhanden sei,
mythisches Licht also immer die Sonne zur Voraussetzung
habe, Lichtwesen nur immer solarer Natur seien. Nicht um-
sonst ruft also Siecke allen Mythologen ein: Hinaus ins
Freie! zu.
Das ist nun aber vielfach leichter gesagt wie getan.
Kine erdumspannende Mythologie, wie es die allgemein
vergleichende sein muß, verlangt auch eine Kenntnis der
Natur fremder Zonen. Man muß z. B. die horizontale Stellung
der Mondsichel in niederen Breiten gesehen haben, um die
[dee des mit Wasser oder einer dunklen Masse gefüllten
Mondgefäßes zu verstehen. Auch die Hasenfigur im Voll-
monde erscheint weit auffälliger in den Tropen als bei uns.
Man muß das Sternenbild des Skorpions mit seinem langen
Hakenschweif über dem südlichen Ozean gesehen haben, um
sich den polynesischen Mythus von Mauis Fischfang verständ-
lich zu machen, ebenso wie sich die Sage vom Himmelsloch
aus dem schwarzen Fleck in der südlichen Milchstraße, dem
bekannten „Kohlensack“, im brasilischen Mythus unmittel-
bar erklärt, Wer in den Wüsten Afrikas und Nordamerikas
die zauberhafte Erscheinung der Fata Morgana hat auf sich
wirken lassen, wird auch viele der daraus abgeleiteten Züge
trocknet ist, der lasse ab von jeder Sagdeutung, denn wenn ihr’s nicht fühlt,
ihr werdet’s nicht erjagen. Wenn dir aber das Herz noch frisch im Busen
schlägt, so gehe hinaus in die Natur und öffne es, so weit du kannst, allen
ihren Eindrücken und dann lies die alten Sagen von neuem und frage, was sie
wohl bedeuten mögen. Doch vergiß dabei nicht, daß es dir nie gelingen
wird, so ‚völlig mit der Natur eins zu werden wie jene, welche sie erdacht
haben“. (Sagw. Studien, p. 109.)
Kapitel III. Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 39
arabischer und indianischer Sagen besser verstehen. Das
gleiche gilt für die Phänomene des Vulkanismus, die mythisch
in Polynesien und Zentralamerika eine so bedeutsame Rolle
spielen.
Aber sogar in Europa selbst ist vieles nur aus ganz
lokalen Verhältnissen erklärlich, wofür u. a. auf das von
Laistner in seinen „Nebelsagen“ zusammengestellte Material
hingewiesen sein mag.
Die Form des Mythus hängt hauptsächlich ab von den
Ideenassoziationen, die sich aus der Grundvorstellung
entwickeln, Sie setzen sich nicht ins Ungemessene fort, son-
dern bewegen sich innerhalb des Anschauungskreises der
Grundvorstellung, d. h. sie bleiben mit dem Naturkern begriff-
lich verbunden. So erzeugt die Vorstellung des Mondes als
Sichelschwert, zugleich die der Handhabung dieser Waffe als
Enthauptung oder Abhäutung eines Wesens, unterstützt durch
die Auffassung der Aurora als Blut des Verletzten.
Die Tötung des abnehmenden, in der Sonne verschwinden-
denMondes erzeugt die Vorstellung des Morgensterns als Herz
der Seele des Getöteten, wodurch wiederum eine Wesens-
angleichung von Mond und Morgenstern bedingt wird.
Wird der Phasenwechsel des Mondes als Hautwechsel,
Hautabziehen oder Anlegen gefaßt, so führt das einerseits zur
Idee der Verkleidung in ein schwarzes oder goldenes Gewand
(in den Grimmschen Märchen überaus häufig), andererseits
wird die Vorstellung einer Schlange ausgelöst, deren Häutungs-
prozeß ein universell beachtetes und mythisch verwertetes
Moment ist. Der oft betonten Schlangennatur! des Mondes
entspricht wiederum seine Eigenschaft als stern- dann auch
Menschenverschlingendes Ungeheuer, die er aber auch mit
der Sonne teilt, von der er selbst verschlungen wird. Die
Schlange ist wiederum zugleich ein Wesen der irdischen
Sphäre, eine chthonische Macht als Erdträger, Weltschlange,
Seelentier, Repräsentant der aus der Tiefe quellenden Wasser-
läufe u. dgl. Ihr Hautwechsel wird dann mythisch angeglichen
‘) Daß, wie Siecke (Mythol. Briefe, p. 35) meint, die schmalste Form
der Mondsichel als Schlange gefaßt wurde, ist möglich, läßt sich jedoch nicht
direkt belegen.
|
Ehrenreich, Ällgemeine Mythologie.
dem Vegetationswechsel der Erde in den Jahreszeiten, was
dadurch unterstützt wird, daß der Mond das himmlische Gegen-
bild der irdischen Schlange, der eigentliche Vegetationsdämon
ist. Diese Beziehungen zwischen Mond, Schlange und Erde
lassen sich über die ganze Welt hin ethnologisch belegen,
obwohl ihre psychologische Grundlage noch keineswegs völlig
klar ist. Das gilt namentlich für die Weitverbreitete Vor-
stellung des Schlangenhaars der Mond-, Alp- und Unterwelts-
dämonen (Erinnyen und Gorgonen). Unmittelbar anschaulich
sind Schlangenhaare bei Gewitterwesen, da der Blitz sehr
gewöhnlich als Schlange gefaßt wird, doch ist in Anbetracht
der großen Seltenheit solcher Personifikationen in dieser Deu-
tung Vorsicht geboten, wenn man sich nicht auf den Irr-
pfaden der Schwartz’schen Gewittermythologie verlieren will.
In der Idee der die Erde umgebenden Welt- oder Midgard-
Schlange vereinigen sich zwei Vorstellungsreihen, von denen
die eine an die himmlische Erscheinung der Milchstraße, die
andere an den irdischen Ozean anknüpft, dessen Bewegungen
und Gezeitenwechsel einer in ihm hausenden Urschlange zu-
geschrieben wird, die auch unmittelbar in Erscheinung tritt,
nämlich als Wasserhose, Ein klassisches Beispiel dafür ist
die Erzählung der Edda vom Angeln der Midgardschlange
durch Thor !, in der das Phänomen der Wassertrombe überaus
anschaulich geschildert ist. Auch hierbei kann es wieder zu
Assoziationen mit Mondvorstellungen kommen, wenn man sich
den Mond als den Kopf der Weltschlange (= Milchstraße)
denkt. Wird dem sinnlichen Eindruck entsprechend der Blitz
als ein vom Himmel herabschreitender einbeiniger Mann auf-
gefaßt (wie in Nordostasien und Südafrika), so liegt es nahe,
mythische Feuerbringer üb erhaupt, sowie auch Hüter und Kigen-
tümer des unterirdischen Feuers zu hinkenden, einbeinigen
oder aus nur einer Körperhälfte bestehenden Wesen zu machen
(in Polynesien und Nordamerika). ;
Auf diesem Spiel der Ideenassoziationen beruht haupt-
sächlich der bunte Wechsel der Formen und Motive, der soviel
„Uunnützes Bemühen und vergeblichen Streit“ in der Mythologie
‘) v. Hahn, Sagw. Studien, p. 192 ££.
Kapitel III. Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 41
Srzeugt hat, das Schwankende und Unnahbare im Wesen der
Mythischen Gestalten, die bei jedem Versuch schärferer Be-
stimmung sich zu verwandeln oder elbenhaft zu entschwinden
Scheinen. Im Märchen dienen die Assoziationen der fessel-
losen Phantasie dazu, die Spannung zu erhöhen und beliebige
Stoffe. kombinieren zu können. Im religiösen Mythus kommt
die Neigung hinzu, auf den Gott oder Heroen alle möglichen
Züge zu übertragen, die ihn als übermenschliches Wesen
kennzeichnen. Daher ist von vornherein nicht zu erwarten,
daß eine Gottheit in den verschiedenen mit ihr verbundenen
Mythen immer die gleiche Bedeutung hat, vielmehr wechselt
diese je nach der hervorzuhebenden Wesensseite, und dieser
Wesensverschiedenheit entsprechen wiederum die Assoziations-
Teihen, die aus der Naturgrundlage des Gottes ableitbar sind.
So ist der Mondgott immer zugleich Vegetations-, Erd-,
Geburts- und Totengott (Unterweltsherr oder Seelenführer),
Sehr häufig zugleich Wind-, Wetter-, Gewitter-, Blitz- und
Feuergott, d. h. deren Erzeuger oder Beeinflusser. In dieser
Kigenschaft sowohl wie als Zeitregulator gleicht er sich dem
Sonnengott an, sobald im Kalender die Sonnenrechnung an
die Stelle der Mondrechnung tritt. Als Beherrscher der Zeit-
Perioden wird er mit gewissen periodisch sichtbaren, be-
deutsame Zeitabschnitte markierenden Gestirnen, wie Venus,
Orion und Plejaden, in begrifflichen oder genealogischen Zu-
SaMmenhang gebracht.
Diese ethnologisch und psychologisch wohlbegründeten
aSSOzlativen Beziehungen des Mondes zu Sonne, Gestirnen;
Erde, Wetter und Feuer sind. vorausgesetzt, daß man sie
Sehen will, gerade in der griechischen Mythologie mit beson-
derer Deutlichkeit zu verfolgen, finden sich aber ebenso in
allen Weltteilen wieder.
Daß die Mythologie sich aus einfachen, an sinnlich kon-
kreten Unterlagen haftenden Uranschauungen entwickelt haben
Muß, ist ein Postulat, das im Ernste kaum noch bestreitbar
ist. Es ist das logische Ergebnis aller Beobachtungen, die
Uns über den Gang der Entwickelung des menschlichen
Kulturbesitzes materieller und geistiger Art zu Gebote stehen.
Dr
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Ohne ein gewisses Maß naturmythologischer Phantasietätig-
Keit können wir uns den primitiven Menschen ebensowenig
vorstellen wie ohne Sprache, als homo alalus.
Die Weiterentwickelung der Mythologie aus jenen Ur-
elementen ist von den verschiedenartigsten Faktoren abhängig,
deren Prüfung und Bewertung zu den schwierigsten Aufgaben
der allgemeinen Mythologie gehört. Zeigen doch selbst so
nahe verwandte Völker, wie Griechen und Italiker, eine
überaus verschiedene mythologische Beanlagung.,
Es verrät sicherlich eine recht armselige Weltanschauung,
sich den sprachbegabten Urmenschen der Diluvialzeit— denn
nur um einen solchen kann es sich handeln — als ein jeder
Phantasietätigkeit bares, ausschließlich von tierischen Trieben
beherrschtes Wesen vorzustellen, das seine einfachsten Be-
griffe von der Umwelt und ihren eindrucksvollsten, am Himmel
sich abspielenden Vorgängen erst durch Berührung mit einer
auf geheimnisvolle Weise entstandenen höheren Urkultur, etwa
der sumerischen habe empfangen können. Wie wäre ein
derartiges Geschöpf überhaupt zur Annahme höherer Ideen
und Anschauungen befähigt gewesen?
Der Begriff des Urmenschen im ethnologischen Sinne
wird uns später beschäftigen, Hier sei nur bemerkt, daß der
Mensch der ältesten Periode, die für uns in Betracht kommt,
also der Zeit, aus der die ältesten Zeugen menschlicher Tätig-
keit, wie Werkzeuge, Kunstprodukte und Bestattungsformen
stammen, bereits gewisse materielle und geistige Kulturbesitz-
Lümer gehabt haben muß. Nur indirekt, aber darum nicht
weniger sicher, lassen diese sich erschließen aus dem, was
allen Völkern Gemeingut war und ist. Es sind dies die
primitiven Werkzeuge, Geräte und Waffen einfachster Form,
von denen die steinernen nur den uns erhaltenen Teil aus-
machen, ferner Flechtkunst, Fellbereitung und Feuerentzün-
dung. Auf geistigem Gebiet sind es der Seelenglaube, die
animistische, in der Vorstellung von der Allbeseelung
der Natur gipfelnde ‚Weltanschauung überhaupt, der darauf
gegründete Zauberglaube mit seinen Äußerungen im Scha-
manismus und endlich die einfachsten mythologischen Vor-
stellungen, die auf personifizierender Apperzeption der Natur-
Kapitel III, Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 43
vorgänge beruhend, diese als Handlungen lebender Wesen
auffassen und sie zugleich unter Einfluß eines dunklen unbe-
wußten Kausalitätsdranges erklären. Damit ist als gemein-
Same Urform des Mythus im weitesten Sinne das Sog. „Natur-
Mythologische Märchen“ gegeben, das einfach Angeschautes
erzählt und die Einzelheiten der Eindrücke und Vorstel-
lungen in phantastischer Weise nach menschlicher Analogie
in kausalen Zusammenhang bringt.
Derartige „Urmären“ sind universell, wenn auch nicht
überall gleich entwickelt oder vollständig überliefert. In ihnen
müssen, wenn irgendwo, die primitivsten Vorstellungen des
Menschengeschlechts über Welt und Leben niedergelegt sein,
daher auch die große Übereinstimmung dieser aus der Natur
Zeschöpfien Urmären in allen Teilen der Erde und ihr unver-
kennbares Hervortreten im Volksglauben der Kulturmensch-
heit. Wir betrachten sie als die unterste Schicht, als
den Mutterboden aller Mythologie. Sie gehen aus real sinn-
licher Anschauung hervor, haften daher an konkreten, greif-
bar körperlichen Naturgrundlagen, nicht bloß an gedachten,
Spekulativ abgeleiteten. Das entspricht von vornherein’ psy-
Chologischen Gesetzen, das wird auch durch ihre Stoffe und
Motive bestätigt, die uns zeigen, welche Naturerscheinungen
SS sind, die die Phantasie seit Urzeiten besonders bewegt
haben, so daß sie allgemein, d. h. unabhängig von Raum und
Zeit, verbreitet sind. Es können nur solche sein, die nicht
Nur auf einzelne, etwa besonders poetisch begabte Individuen,
Sondern auf die Masse wirkten und dadurch gleichsam mit
Slementarer Gewalt mythische Vorstellungen auslösen mußten.
Das sind nun in erster Linie die ' Erscheinungsreihen
Von Sonne, Mond und einigen besonders auffälligen oder
für praktisch wichtige Zeitabschnitte bedeutsamen Sternen
und Sternbildern. Ob wir berechtigt sind, diesen Kreis
der Urvorstellungen noch weiter einzuengen und etwa nur
die Phänomenen des Mondes aller Mythologie zugrunde zu
legen, wird später zu erörtern sein. Mit der Erkenntnis
des Vorhandenseins eines mythischen Urbestandes, der
Seine Stoffe der Natur entlehnt, indem. er deren Vorgänge
ins Menschliche übersetzt, ist ein wichtiger Schritt zur
A
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Lösung unserer Aufgabe getan. Wir haben einen festen
Punkt, von dem aus es möglich ist, auch solche Mythen
und Motive zu erklären, deren Naturbeziehung nicht mehr
unmittelbar kenntlich ist. Dies geschieht durch den Nach-
weis, daß 1. die Handlung einen allgemein sichtbaren Natur-
vorgang in seinen Phasen wiedergibt, 2. daß die Personen
mit ihren Attributen eine der Handlung entsprechende Natur-
unterlage haben, 8. daß die Motive und Einzelzüge mit den
ethnologisch belegten Vorstellungen des Volksglaubens von
den Naturerscheinungen vereinbar sind. In vielen Fällen
gelingt dieser Beweis vollständig, in anderen läßt sich dagegen
nur ganz im allgemeinen der Anschauungskreis des Mythus
feststellen, solange nicht besonders durchsichtige Varianten
genauere Analysen gestatten.
Der ältesten Schicht der Mythenbildung ist auch ein Teil
derjenigen Erzählungen zuzurechnen, die die äußeren Formen
der Tierwelt und der Erdoberfläche ätiologisch erklären. Ihr
Gegenstand ist also etwas nicht allgemein, sondern nur lokal
Sichtbares. Die Themata sind verschieden, aber die Gleich-
heit der menschlichen Geistesfunktionen bewirkt deren gleich-
förmige mythologische Behandlung.
So stimmen alle Sagen, die die Körpereigenschaften der
Tiere erklären, bei allen Völkern aller Kulturen auffallend
überein und unterscheiden sich nur durch die spezifischen
Lokalfärbungen, In diesem Sinne gehören also auch sie zu
den allgemein verbreiteten mythischen Typen. Nicht überall
beachtet oder selbständig mythisch verwertet sind die atmo-
sphärischen Erscheinungen Auroren, Gewitter, Wolken usw.,
die auch sehr verschiedenartig gedeutet werden. Mythen, die
diese Erscheinungen behandeln, mögen schon der ältesten
Periode angehören, aber ihre relativ große Verschiedenheit
beweist, daß die ersten Anfänge der Naturmythologie nicht
auf sie allein zurückgehen können, wie man ehemals glaubte,
daß es sich bei ihnen vielmehr um örtliche, durch besondere
Geistesrichtung des Volkes oder die geographischen Eigen-
tümlichkeiten ihrer Zone bedingte Bildungen handelt.
Das Gleiche gilt von den aus Kulthandlungen oder sozialen
Verhältnissen abgeleiteten explanatorischen Mythen, die wohl
Kapitel III. Aufgaben der allgemeinen Mythologie, 45
sämtlich spätere Bildungen sind, wenngleich Ansätze dazu
Schon bei Naturvölkern, namentlich bei den Nordamerikanern,
vorkommen. Sie voll zu verstehen, bedarf es der Kenntnis
der religiösen und gesellschaftlichen Zustände der betreffen-
den Völker. Doch kommen auch hierbei vielfach auffällige
Formverwandtschaften vor, wie z. B. die Totem- und Wappen-
Sagen der verschiedensten Völker beweisen. Es handelt
Sich dann ebenfalls um das Walten gleicher psychologischer
Prozesse, die dem, was unter gleichen kulturgeschichtlichen
Bedingungen entsteht, eine ähnliche Prägung geben. Ferner
aber zeigen sich hierbei nach näherer Prüfung nicht selten
deutliche naturmythologische Unterlagen, die nur durch das
Hineinrücken der Handlung in die irdische Sphäre mensch-
liche Motivationen erhalten. Insofern sind sie also vergleich-
bar, aber die interessanten Probleme gerade dieser Mythen
sind noch gar nicht in Angriff genommen. Soviel läßt sich
jedoch jetzt schon erkennen, daß gewisse gesellschaftliche
Formen mit bestimmten Sagentypen im Zusammenhang stehen,
So die Amazonensage mit dem Matriarchat, das weit verbreitete
Motiv der Vaterwahl (das Kind findet den unbekannten Vater
aus der Zahl der Männer mittelst eines Erkennungszeichens
heraus): mit der polyandrischen Eheform.
Unser Ergebnis ist also: Eine Urmythologie der
Menschheit kann nur aus solchen Vorstellungen erschlossen
und begriffen werden, die allen Völkern gemeinsam sind,
Sie können nur aus Naturanschauungen entstehen, die allen
Menschen als Unterlage für ihre Phantasiebildungen unab-
hängig von Zeit und Ort gegeben sind, wie die Phänome der
kosmischen Körper Sonne, Mond und Gestirne, Allgemeingut
Sind ferner gewisse auf gleicher psychischer Organisation des
Menschen beruhende Vorstellungen über die irdische Um-
weit, die sich in gleicher ätiologischer Betrachtungsweise
äußern und viele der dem menschlichen Traumleben ent-
Nommene Motive.
Nur diese lassen sich vorläufig als allgemein - mytholo-
gischer Besitz aus dem gegebenen Material ableiten und die
Zukunft muß lehren, ob und wie er sich vermehren wird.
Alles übrige ist zunächst als spezifische, örtlich, ethnisch,
ij
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
religionsgeschichtlich oder individuell bedingte Erscheinung
aufzufassen, erfordert aber völkerpsychologische Erklärung
oder Ermittelung der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge.
In diese Aufgabe teilt sich nun die allgemein vergleichende
mit der philologisch-literarischen Forschung.
Wir haben vorausgesetzt, daß universell Verbreitetes auch
überall oder doch an sehr vielen Punkten selbständig ent-
standen ist, Sind wir dazu nun ohne weiteres berechtigt?
Wäre es angesichts der Tatsache, daß z. B. indogermanisches
Sagengut über den größten Teil der alten Welt verbreitet ist,
vielleicht sogar auch auf der Neuen Spuren hinterlassen hat
nicht denkbar, daß auch jene einfachen allgemeingiltigen Vor-
stellungen über Sonne, Mond und Sterne einem einzigen
Zentrum der Ausbreitung entstammen, ihre Universalität also
nur eine sekundäre, scheinbare wäre. Darin liegt sicherlich
eine Schwierigkeit. Denn wenn es an sich für die allgemeine
Mythologie gleichgültig ist, ob mythische Vorstellungen ein-
oder mehrmals entstanden sind, so ist doch das wesentliche
Kennzeichen der Grundvorstellungen, von denen sie ausgeht,
die Universalität, ihr allgemeines Auftreten im Sinne
einer unbegrenzten Entstehungsmöglichkeit, nicht bloß einer
unbeschränkten nachträglichen Verbreitung von Ort zu Ort,
von einem Zentrum aus,
. In Wirklichkeit ist diese Schwierigkeit jedoch mehr
konstruiert als praktisch vorhanden, wenn wir die Regel
im Auge behalten, daß ein Mythus um so eher als primitiv
zu betrachten ist, je einfacher und anschaulicher er ist, je
unmittelbarer er die Natureindrücke reflektiert. Dann liegt
für uns die Sache so: Aus universell verbreiteten, ein-
fachen mythischen Gedanken ist auf Wanderung und Ent-
lehnung überhaupt nicht zu schließen, beides müßte viel-
mehr besonders bewiesen werden. Erst bei komplizierten
Formen, die sich mehr und mehr von der Naturanschauung
losgelöst haben, und wo gleiche Motivkombinationen sich
regelmäßig wiederholen, läßt sich Entlehnung beweisen, je
übereinstimmender die gleichen Verbindungen sich an anderen
Stellen wiederfinden, Hier gilt keine allgemeine Regel, son-
Kapitel III. Aufgaben der allgemeinen Mythologie. 47
dern die vergleichende Prüfung von Fall zu Fall mit allen
Hilfsmitteln der Forschung.
Die vergleichende Mythologie, mag sie nun die Verwandt-
Schaft bestimmter Mythenkreise erforschen oder als Allgemein-
wissenschaft in die Bildungsgesetze der Mythen eindringen,
wird niemals die Hilfsmittel verschmähen dürfen, die ihr die
Philologisch-literarische Forschung darbietet. Das uns nur
für relativ wenige Mythenkreise Literaturquellen zu Gebote
Stehen, ist ein Übelstand, mit dem wir uns abfinden müssen,
Er wird zum guten Teil ausgeglichen durch die unvermittelte
Aufzeichnung des Volksglaubens aus dem lebenden Volks-
Mund, die so selbst zur Urkunde wird. Philologie und Völker-
kunde müssen also zusammenwirken, aber in verschiedenen
Richtungen. Erstere dringt in die Tiefe, letztere geht in die
Breite.
Auf diesem Verhältnis beruht, wie A, Vierkandt einmal!
erörtert hat, der Vorzug der Ethnologie für die Beantwortung
allgemeiner Fragen, während die Philologie bei der größeren
Genauigkeit ihrer Zeugnisse den speziellen Problemen besser
Zerüstet gegenüber stehe.
Das schließt indessen nicht aus, daß auch die Völker-
kunde in die Tiefe zu dringen vermag, wenn es sich darum
handelt, den primitivsten Anschauungen nachzuspüren, denn
auch sie verfügt heute über Zeugnisse, die denen der Philo-
logie, soweit es sich um Altertumskunde handelt, mindestens
gleichwertig sind, sie in mancher Beziehung, wie in der Ge-
Nayigkeit der Überlieferung, sogar übertreffen. Andererseits
läßt sich die philologische Methode heute schon vielfach auf
die Traditionen niederer Völker ohne weiteres anwenden,
Namentlich für die der Nordamerikaner, Polynesier, selbst
Afrikaner, so daß auch in. dieser Hinsicht .für die Folgezeit
eine weitere gegenseitige Durchdringung und Befruchtung
beider Forschungsmethoden zu erwarten ist. Sie stehen jeden-
falls gleichberechtigt nebeneinander und nichts ist verkehrter,
als hier einen künstlichen Gegensatz schaffen zu wollen und
etwa gar die eine als wissenschaftlich hinzustellen, die andere
als unwissenschaftlich zu brandmarken,
1) Archiv f, vgl. Rel.-W. 1, p. 98.
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Oft genug stoßen wir bei Deutung eines mythologischen
Moments auf Schwierigkeiten, weil das Material unvollständig
ist oder das theoretisch aus allgemeinen Erwägungen Gelor-
derte durch den Einzelfall nicht bestätigt wird. Da zeigt
uns die Literatur das Vorkommen von Varianten und Parallel-
formen, oder sie vermag die ursprüngliche Fassung des betreffen-
den Mythus nachzuweisen, oder es führt uns die philologische
Prüfung der Namen auf die richtige Fährte, Umgekehrt läßt
uns aber auch die rein philologische Forschung im Stich,
wenn es sich darum handelt, Einzelheiten zu erklären, die
nur aus allgemeinen Anschauungen heraus zu begreifen sind.
Oft weisen z. B. inhaltlich verschiedene Mythen gleiche Motive,
verschiedene Gottheiten gleiche Attribute und Wesenszüge
auf, ein Verhältnis, das nicht einfach hinzunehmen, sondern
Zu erklären ist. Mit Ausdrücken, wie Hypostasen, Anglei-
chungen, Übertragungen u. dgl., kommt man dabei nicht aus.
Warum werden die scheinbar so verschiedenen Märchen- und
Mythenhelden magisch empfangen und geboren, warum werden
sie in Kästen, Körbe, Futterschwingen, Krippen und Muschel-
Schalen gelegt und in diesen oft dem Wasser übergeben ?
Warum werden Vegetationsgottheiten so oft zerstückelt, zer-
rissen und wiederbelebt? Warum ist der indische Agni wie
der nordische Loki ein Sohn der Naq el? Wie erklärt sich die
Parallele dazu in der hordwestamerikanischen Rabensage, wo
Jetl, der Rabe, in eine Fichtennadel verwandelt, sich von dem
Weibe, das ihn in dieser Gestalt beim Trinken verschluckt
hat, wiedergebären läßt? Was haben Artemis und andere
Jagdgottheiten mit Hautkrankheiten zu tun!, — Derartiges
läßt sich philologisch höchstens konstatieren, aber nicht er-
gründen, Antwort gibt nur die ethnologische Vergleichung
der betreffenden Motive, indem sie deren lunaren Charakter
nachweist und damit ganze Reihen von Analogien erklärt?
"Gruppe, Gr. Myth,, p. 1270. — *) So ist z. B. der „mythische“ Zu-
sammenhang des Mondes mit dem heiligen Korb (&4&vn), der Dioskuren und
der Helena, auf den Gruppe (Archiv f. vgl. Rel.-W, 2, p. 275) aufmerk-
sam macht, keineswegs rätselhaft, vielmehr etwas ganz Selbstverständliches.
Kapitel IV.
Die ethnologische Betrachtungsweise.
Die ethnologische Betrachtungsweise ist ihrem Wesen
nach vergleichend, wie umgekehrt jede vergleichende My-
thologie eine ethnologische ist, auch wenn die Vergleichung
sich nur über wenige nächstverwandte Völker und Kultur-
kreise erstreckt. Je weiter sie ausgreift, um so sicherer
werden ihre Ergebnisse, um so eher wird sie Allgemeingültiges
erkennen.
Das ethnologische Vergleichsmaterial besteht
!. in den Überlieferungen der alten Kulturvölker, der klas-
Sischen Welt sowohl wie von Indien und Iran, Agypten und
Babylonien, mit denen sich die Völkerkunde natürlich eben-
sogut zu befassen hat, wie die Philologie und Archäologie.
Sie bilden den historisch, aber nicht kulturgeschichtlich
ältesten Teil. Als Endergebnis einer langen Entwickelungs-
reihe liegen diese Traditionen hauptsächlich in dichterischer
oder spekulativ kultischer Überarbeitung vor, enthalten aber
dabei noch zahlreiche Spuren und Bruchstücke des eigentlich
Volkstümlichen.
2. In den Äußerungen des Volksglaubens (Folklore) der
heutigen Kulturvölker. In Märchen, Sage und Brauch haben
sich bei ihnen uralte mythische Anschauungen erhalten, die
neben dem übernommenen kirchlichen Glauben und der
schriftlich fixierten Tradition von jeher lebendig waren und
ihr Dasein unter den mannigfachsten Verhüllungen immer
wieder aufs neue bekunden.
Mytholog. Bibliothek: Ehrenreich.
a7
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Allein reicht dieses Material indessen nicht aus. Es be-
steht aus den verschiedenartigsten, mythologisch oft völlig
ungleichwertigen Elementen, die sich im Wechsel der Kultur-
perioden überlagert und gemischt haben. Christliches, Alt-
orientalisches und Altheidnisches bilden hier ein dichtver-
schlungenes Gewebe, das oft kaum entwirrbar ist, und dessen
einzelne Teile wieder Material zu sekundären Bildungen ab-
gegeben haben. Die Märchen der Kulturvölker sind keines-
wegs immer unmittelbar der primitiven Auffassung entsprossen,
sondern ebenso oft verblaßte Nachbildungen des literarischen
Kunstmärchens, das seine höchste Ausbildung bekanntlich in
Indien erfahren hat. Wenn auch die alte Benfey’sche Theorie
der Herkunft aller unserer Märchen aus Indien in ihrer Ein-
seitigkeit nicht mehr zu Recht besteht, so ist doch anderer-
seits ein gewisser indischer Einschlag in dem Märchenmaterial
der europäischen Völker unverkennbar. Die rechte Würdi-
gung gewinnen unsere volkstümlichen Erzählungen erst im
Zusammenhange mit den geistigen Äußerungen der Natur-
völker, mit denen sie sich nach Inhalt und Form oft auf das
innigste berühren. Wir haben es also
3. zu tun mit den volkstümlichen und sakralen Überliefe-
rungen der sogenannten Naturvölker, sowie der schriftlosen
oder nur über Schriftsurrogate unvollkommener Art verfügen-
den Halbkulturvölker, Hierzu gehören auch die Mythologien
Altamerikas, sowie die japanische Shintomythologie der
vorbuddhistischen Zeit, Dieses Material ist das wichtigste,
weil in ihm sich der Mythus naiv, urwüchsig, anschaulich,
d, h. an der Naturanschauung haftend darstellt, dichterisch
wenig beeinflußt und von spekulativ religiösen Elementen fast
ganz frei ist.
Zwei Einwände werden gewöhnlich von ferner Stehenden
dagegen erhoben. Man wisse einmal zu wenig Positives über
die mythischen Ideen der Naturvölker, und dieses wenige sei
unzuverlässig aufgezeichnet, voll von Fehlern, Irrtümern und
Mißverständnissen: der manchmal allzu oberflächlichen Ge-
währsmänner, zweitens aber sei es nicht alt, fast niemals
älter als etwa 400 Jahre, daher mit dem des Altertums über-
haupt nicht vergleichbar.
Kapitel IV. Die ethnologische Betrachtungsweise, 51
Der erste Einwand hatte früher einmal Berechtigung,
heute glücklicherweise nicht mehr. Die neueren Forschungen,
angestellt durch geschulte, nach jahrelangem Verkehr mit
den Eingeborenen sprachkundige Beobachter, vielfach unter-
stützt durch die modernsten Hilfsmittel der Phonographie,
haben uns mit einer kaum mehr übersehbaren Fülle mytho-
logischen Materials versehen, das den höchsten Ansprüchen
an Korrektheit genügt, so daß sich die älteren Materialien,
mit denen z. B. Tylor noch zu arbeiten hatte, gar nicht
damit vergleichen lassen. In den letzten zwanzig Jahren ist
aus Amerika, Nordasien und Ozeanien mehr eingeheimst
worden, als in allen Jahrhunderten vorher.
Der Einwand des allzugeringen Alters erledigt sich durch
die Überlegung, daß hier nicht das Alter der Überlieferung,
sondern die Altertümlichkeit von Form und Inhalt, also nicht
das chronologische, sondern das kulturgeschichtliche
Alter in Frage kommt. Altes Gut ist trotz modernen Gewands
oft allein an den fast unverrückbar haftenden mythischen
Motiven zu erkennen, was rein modern ist, keinen Zusammen-
hang mit der älteren volkstümlichen Vorstellungswelt mehr
zeigt, oder ein flüchtiges Erzeugnis der Phantasie des ein-
zelnen ist, wird sachkundige Kritik meist ohne Schwierigkeit
auszuscheiden wissen,
Im allgemeinen entspricht die Entwickelung von Mythus
und Religion der kulturgeschichtlichen Stufe eines jeden
Volks. Sie kann zwar hinter dieser zurückbleiben, weil eben
die Gebilde der mythischen Phantasie fester haften als äußerer
Kulturbesitz, wenn sie, wie Z. B. bei den Römern, von reli-
giösen Institutionen getragen werden, die an sich schon das
Äußerste an Beharrungstendenz aufweisen. Nicht leicht aber
gehen sie darüber hinaus. Es gibt schwerlich Völker mit
höheren Religionsvorstellungen, als ihrer Kulturstufe gemäß
ist. Wo das scheinbar der Fall ist, handelt es sich immer
um fremde Beeinflussung. Regel ist, daß die aus höheren
Stufen der Geisteskultur stammenden Elemente den primi-
tiveren Anschauungen angepaßt und demgemäß umgeformt
werden. Produkte dieser Art sind der tibetische Buddhismus
(Lamaismus), das abyssinische Christentum, die Negerreligion
m
52
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
von Haiti, die Volksreligion Indiens und Chinas, sowie die
der meisten Malayen und indischen Aboriginer, soweit sie
brahmanistische Einwirkungen erhielten.
Was von der Religion gilt, gilt auch vom Mythen-
bestand. Wie oft erscheinen hier nicht Götter- und Helden
der Kulturmythologien aufgepfropft auf die Gestalten urwüch-
siger Einbildungskraft, wobei sie vielleicht ihre Namen und
Attribute erhalten, ihre Handlungen aber durchaus den wilden
Vorstellungen angepaßt sind! Charakteristisch hierfür ist die
Rolle der brahmanischen Gottheiten und Heroen in den Sagen-
kreisen des malaiischen Archipels, der iranischen bei den
Turkvölkern Zentralasiens, der buddhistischen Fabelwesen
und Dämonen bei den Tibetern und Mongolen, gewisser mexi-
kanischer Gestalten (wie Quetzalcouatl) bei den Stämmen des
amerikanischen Pueblogebiets!
Für die Völkerkunde sind alle Mythologien prinzipiell
gleichwertig. Sie erkennt nur einen Stufen-, keinen Wesens-
unterschied an. Wie der vergleichende Anatom kein Glied
in der Kette der Organismen von der einfachen Zelle bis zum
wunderbar gegliederten Zellenbau des menschlichen Organis-
mus unbeachtet läßt, weil eben die stark differenzierten höheren
Formen und Wachstumsprozesse der Wesen erst aus den
leichter analysierbaren niederen Organismen verständlich
werden, so muß auch der Ethnolog die höheren Mythenformen
aus den niederen erschließen !.
*) Daß schon Otfried Müller sich der Bedeutung ethnologischer Be-
trachtungsweise voll bewußt war, zeigen seine vortrefflichen Ausführungen in
den Proleg. p. 282 ff, Er sagt hier u. a.: „Die Mythologien verschiedener
Völker stehen sich schon dadurch, daß sie Mythologien sind, untereinander
näher als unserm heutigen unmythischen Denken und Darstellen; und das-
selbige Verfahren, dieselbe Epoche der Entwickelung des menschlichen Geistes,
muß sich in großen Zügen in allen nachweisen lassen“. So redet er denn
einer allseitigen Beschäftigung mit Sagen und Mythen aller Art das Wort
und gedenkt dabei der Äußerungen der „Nadowessier“ und Negervölker so
gut wie der „letzten Gestaltung des mythischen“, der Volks- und Kinder-
märchen. „Tränke und nähre dich mit diesem Wein und diesen Speisen und
Kapitel IV. Die ethnologische Betrachtungsweise, 53
Im letzten Grunde ist freilich der niedrigste Organismus,
die Zelle, an sich ein ebenso großes Rätsel wie der Mensch
selbst. Daher dürfen wir an das, was uns die Naturvölker
bieten können, keine allzugroßen Erwartungen knüpfen und
nicht zu viel daraus beweisen wollen. Denn die letzte Ent-
Stehung mythischer Vorstellungen ist ebenso wie die des
Seelenglaubens (Animismus) oder der Sprache unserer direkten
Beobachtung entzogen. Wir können uns zwar einen Begriff
davon machen, nicht aber ihren zureichenden Grund erkennen,
der ihr Auftreten und Gestalt im einzelnen Falle bestimmt.
Ohne mythische Vorstellungen irgendwelcher Art ist uns
der Mensch ebensowenig denkbar, wie ohne Sprache und
öhne den Seelenglauben.
Wenn wir daher die Weltanschauung des Wilden zur
Grundlage unserer Betrachtung machen, so ist damit nicht die
des sprachlosen, „präanimistischen“, nur tierischen Instinkten
folgenden, also nur der Erde zugewandten sogenannten Ur-
Menschen gemeint, die uns für immer verborgen ist und
überhaupt nichts angeht, sondern die der noch heute unserer
Beobachtung zugänglichen Naturvölker.
Die Begriffe „Naturvolk“ und „Urmensch“ bedürfen, weil
oft unkritisch verwendet und zusammengeworfen, näherer
Bestimmung.
Naturvölker sind, nach Ratzel, nicht kulturlose, sondern
kulturarme Völker. Arm an Kulturgütern sind sie, weil
sie außerhalb der großen historischen Kultursysteme stehend
von deren geschichtlichen Bewegungen nicht nachweislich
berührt worden sind, oder sich dazu nur rein passiv verhalten
haben und angewiesen blieben auf die eigenen einfachen,
selbsterzeugten Kulturmittel allein oder deren sich aus dem
Kontakt mit ähnlichen Völkergruppen ergebenden Krgän-
zungen und Vervollkonmnungen.
Seinem Umfange nach ist der Begriff des Naturvolkes
schwer abzugrenzen. Er umfaßt Völker der verschiedensten
Entwickelungsstufen. Die einen, wie Tasmanier, Australier.
laß den Geist des Mythus aus allen diesen Außerungen deine Phantasie be-
leben und erregen; und manches Vorurteil wird schwinden, manche
Analogie dein Studium auf neue Wege führen.“
54
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Buschmänner, Feuerländer, Botokuden nehmen die unterste
Stelle ein und gelten als moderne Überlebsel einer Urperiode,
die die anderen weit hinter sich haben. Ihnen gegenüber
stehen fast an den Pforten der Kultur oder Halbkultur die gei-
stig und materiell hoch entwickelten Irokesen, Nordwestameri-
kaner, Puebloindianer, Polynesier und andere Malayen, gewisse
Westafrikaner (wie die Ehve und Bafiote) und die Sudanesen
usw., Völker, die uns etwa die Kultur der Germanen und Kelten
bei ihrer ersten Berührung mit den Römern veranschaulichen.
Von den Zwischengliedern beider Extreme zeichnen sich einige
durch ihre überaus vollkommene, von höchster Intelligenz
und erstaunlichem Scharfsinn zeugende Anpassung an die
denkbar ungünstigsten Naturverhältnisse aus, wie die Nord-
ostasiaten, namentlich aber die Eskimo. Andere wiederum
leisten Hervorragendes in Agrikultur oder Schiffahrt (Papuas
und Melanesier).
Alles das deutet darauf hin, daß auch die Naturvölker
auf eine Jahrtausende lange Entwickelung zurückblicken, die
bei den einen sich schneller und folgenreicher vollzog als bei
den anderen, wobei auch Perioden des Fortschritts mit solchen
des Stillstandes wechselten.
Welche Verhältnisse diese Verschiedenheiten bewirkt
haben, wissen wir nicht. Wirksam sind vor allem Rassen-
begabung und geographische Lage, von der Bewegungsmög-
lichkeit oder Beharrungszwang bestimmt werden. Jede Ab-
geschlossenheit unter ungünstigen örtlichen Bedingungen
erzeugt schließlich Stagnation und Entartung, doch kann auch
schrankenlose Wanderungsfreiheit, wie bei den unsteten No-
maden, kulturhemmend sein.
Ein gewisses Maß von Kulturaustausch und gegenseitiger
Befruchtung der Ideenwelt muß als unerläßliche Entwicke-
lungsbewegung auch bei den meisten Naturvölkern voraus-
gesetzt werden. Wieweit sich das erstreckt, hat die spe-
zielle Ethnologie oder Ethnographie zu untersuchen.
Nicht zu vergessen ist der bisher allzuwenig beachtete
Einfluß besonders beanlagter Individuen, auch bei primitiven
Völkern, deren Herdennatur durchaus nicht so ausgemacht
ist, wie man gewöhnlich annimmt.
Kapitel IV. Die ethnologische Betrachtungsweise. 55
Die geistigen Fähigkeiten der Naturvölker werden ge-
wöhnlich bedeutend unterschätzt. Man traut ihnen nicht zu,
etwas aus eigener geistiger Kraft hervorbringen zu können.
Diese Unterschätzung der Wilden hängt mit unseren
Vorstellungen von der Urzeit und dem halbtierischen Ur-
menschen zusammen, die wir uns auf Grund biologischer,
soziologischer Beobachtungen, namentlich aber psychologischer
Deduktionen gebildet haben.
Urmensch. Die Psychologie, in dem Bestreben alle mensch-
liche Geistestätigkeit durch Analyse auf immer einfachere
Formen zu reduzieren, gelangt schließlich zur Konstruktion
eines theoretischen Urmenschen, dem eigentlich alle Merk-
male fehlen, die den Menschen überhaupt noch vom Tier
unterscheiden. Dieser „Urmensch“ ist eine reine Abstraktion.
In Wirklichkeit wissen wir von ihm gar nichts, als was wir
aus den Befunden bei den Naturvölkern abstrahiert haben.
Wir dürfen also die Eigenschaften der Naturvölker nicht wieder
aus jenem Urmenschen erklären wollen,
Im ethnologischen Sinne können wir überhaupt nicht
von einem Urmenschen im allgemeinen reden, müssen viel-
mehr für jede der sechs oder sieben Hauptrassen, vielleicht
sogar auch für deren größere Unterabteilungen, einen beson-
deren Urmenschen voraussetzen. Wenn wir nun auch zu
dem Schlusse berechtigt sind, daß diese Urmenschen wieder
auf eine noch primitivere, dem Bilde jenes halbtierischen
Ahnen entsprechende gemeinsame Stammform zurückgehen,
was eine rein zoologische Frage ist, SO läßt sich doch über
diese ethnologisch nichts mehr aussagen. Sicherlich sind
wir berechtigt, die ersten Äußerungen einer Mythologie,
die naive Auffassung des Weltbildes, die personifizierende
Apperzeption der Naturerscheinungen und Kräfte in die Ur-
zeit jeder Rasse zurückzuverlegen, d.h. in unserem Sinne in
die Zeit der Sprachbildung und der ersten Ansätze begriff-
lichen Denkens. Die uns zugänglichen Formen der mythischen
Überlieferung aber gehören einer viel späteren Epoche an.
Mögen sie bei den niedrigsten Wildstämmen noch roh und
einfach, im Ausdruck grotesk und „komisch“ sein, So können
sie doch, wie das Beispiel der Nordamerikaner und Polynesier
56
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
beweist, bei höher differenzierten Völkern einen beträchtlichen
Ausbildungsgrad, selbst poetischen Wert erlangen, Wir
müssen also nicht das für den Urmenschen Vermutete, son-
dern das an den Wilden durch Beobachtung Ermittelte zum
Ausgangspunkt unserer Betrachtung machen.
Was wir heute von dem geistigen Leben der Naturvölker
wissen, läßt schon ein paar wichtige Fundamentalsätze für die
Beurteilung ihrer Mythologie erkennen.
1. Der Wilde weiß in der Natur, soweit sie ihn praktisch
berührt, außerordentlich viel besser Bescheid, als der ihr
künstlich entfremdete Kulturmensch, also die Masse der mo-
dernen Stadtbewohner und Stubenhocker.
2. Daß der Wilde keinen Sinn für Kausalität habe, ist
eine ziemlich willkürliche Annahme. Die Erfindung zweck-
mäßiger Instrumente und Methoden der Nahrungsbeschaffung
selbst bei den rohesten Völkern spricht an sich schon da-
gegen. Wie hätte der Mensch sich ohne Kausalitätsdrang
überhaupt vervollkommnen können ? Dem Wilden fehlt nur der
Begriff des Gesetzlichen. Er erklärt sich die Welt und ihre
Erscheinungen nach einfacher sinnlicher Analogie ohne theore-
tisches Grübeln, denn die Antwort ist immer im Nächstlie-
genden gegeben. Das Eingreifen übermenschlicher Mächte
ist für ihn selbstverständlich. Es gilt das „Post hoc ergo
propter hoc“. Ursache und Folge werden verwechselt, aber
darin ist er vom ungebildeten Europäer nicht wesentlich ver-
schieden.
3. Der Wilde kümmert sich durchaus nicht nur um die
Befriedigung seiner animalischen Triebe, um Notdurft und
Nahrung des Lebens, um die Vorgänge seiner unmittelbaren
Umgebung, sondern noch um sehr viel mehr. Mag sein Sinnen
und Trachten, wie Wundt sagt, auch ausschließlich auf
praktische Bedürfnisse gerichtet sein (Mythus 2, p. 560), so
folgt daraus doch nicht, daß, was uns unpraktisch erscheint,
auch für ihn unpraktisch sein muß.
Diese Begriffe wechseln eben mit der Kulturstufe. Uns
erscheint es als unpraktisch und widersinnig, den Toten Nah-
rungsmittel und ihre Besitztümer mit ins Grab zu geben. Für
den Wilden ist dies durchaus praktisch und rationell, denn
Kapitel IV. Die ethnologische Betrachtungsweise. 57
damit erleichtert er den Abgeschiedenen die Reise ins ferne
dJeelenland und hindert zugleich seine Rückkehr als beäng-
stigender Spukgeist oder Alpdämon!, Die Gebilde seiner
eigenen Phantasie sind dem Wilden praktisch bedeutsame
Realitäten, ebenso wie unser heutiger Volksaberglaube noch
durchaus praktischen Zwecken dient: Heilungs-, Wetter-, Sym-
pathie- und Liebeszauber u. dgl. Geister- und Seelenglaube,
Traum- und Visionserscheinungen werden eine ebenso wich-
tige Quelle mythischer Vorstellungen, wie die Betrachtung
des Sternhimmels der kosmischen Umwelt. Kein Volk ist
bekannt, das nicht wenigstens die Anfänge einer Astral-
mythologie hervorgebracht hat, die sich neben der rein prak-
tischen Himmelsbeobachtung zwecks Orientierung und Zeit-
berechnung entwickelte und deren Ausbildung natürlich von
den allgemeinen Kultur- und Lebensverhältnissen, namentlich
der Schiffahrt und des Ackerbaus, abhängt. Mit der eigent-
lichen rechnerischen Astronomie haben diese Dinge zunächst
noch gar nichts zu tun.
+. Es ist ebenso verkehrt, dem Wilden die Fähigkeit der
Abstraktion und der Bildung von Allgemeinbegriffen abzu-
sprechen. Mit der fortschreitenden Kenntnis der Sprachen
der Naturvölker wächst die Zahl der Beweise für das Gegen-
teil zusehends?*. Nur ist die Fähigkeit zu solchen höheren
Leistungen des Geistes ungleich verteilt. Sie ist außerordent-
lich stark entwickelt bei Nordamerikanern und Polynesiern,
beträchtlich bei manchen Afrikanern, auffallend gering bei
den meisten Südamerikanern. Aber auch hierbei darf wiederum
nicht vergessen werden, daß viele unserer Abstrakta für den
Wilden konkrete Begriffe sind. So ist die uns unfaßliche
Seele für ihn etwas körperlich Wahrnehmbares. Licht und
Rinsternis werden auch stofflich gedacht. Schlaf. Hunger,
I) Auch Beck (Nachahmung, p. 73) hat dieses Verhältnis völlig ver-
kannt und überträgt unseren Begriff des Zweckmäßigen auf die Anschauungs-
weise des Naturmenschen. — ?) Vgl. Anthropos 1, p. 191. 475. W. J.
Thomas zeigt in seiner Abhandlung: „Der Mangel an Generalisations-
vermögen bei den Negern“ (Zeitschr. f£. Sozialwissenschaft 7, 1904, p. 205
bis 221) an den vou Ellis gesammelten Sprichwörtern westafrikanischer
Neger, deren Fähigkeit, in abstrakten Begriffen zu denken.
58
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Erdbeben, Feuer u. dgl. gelten als lebende Wesen. Wo die
Sprache nicht ausreicht, müssen stoffliche Ausdrücke in
übertragener Bedeutung verwendet werden. Metaphorische
und poetische Ausdrücke sind demgemäß schon frühzeitig
ausgebildet, kommen schon bei den primitivsten Völkern vor.
Auf ihnen beruhen die in der Mythologie aller Völker so be-
deutsamen Rätselfragen!.
‘) Laistner, Nebelsagen, p. 30,
Kapitel V.
Mythologische Entwickelungsstufen.
Der gemeinsame Mutterboden aller mythischen Gebilde
ist gegeben in den im einfachen Naturmärchen sich bekun-
denden mythischen Vorstellungen der Naturvölker, deren
Geisteszustand sich dem der Kindheitsperiode des Individuums
vergleichen läßt. Auch auf geistigem Gebiete gilt eben das
biogenetische Grundgesetz, daß das Individuum in seiner
eigenen Entwicklung die der Gattung wiederholt. Alle Völker,
das können wir mit Sicherheit sagen, standen einstmals auf
einer annähernd gleichen Stufe der Kultur oder Unkultur,
alle haben einmal ein wildes Stadium durchlaufen und auf
Parallelbahnen verschiedene Höhen der Ausbildung erreicht,
die aber keine Wesens- sondern nur Gradunterschiede be-
deuten. Es sind nicht zeitlich sondern kulturgeschichtlich
gleichläufige Abschnitte, die von den einzelnen Völkern in
sehr verschiedenen Zeiträumen durchmessen wurden, Manche
haben sich im Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte
nicht über die unterste Stufe erhoben, bei anderen ist später
ein Stillstand eingetreten, oder Entwickelungshemmungen
haben von der geraden Bahn abgelenkt und zu Sonderbil-
dungen geführt, die nicht mehr mit anderen unmittelbar ver-
gleichbar sind, oder es haben durch Einflüsse von außen her
Aufpfropfungen heterogener Elemente stattgefunden, durch
die wiederum besondere Entwickelungsrichtungen bestimmt
wurden,
Die Hauptsache ist die verhältnismäßig große Überein-
stimmung der niederen Kulturformen untereinander, sowie.
30
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
die Tatsache, daß jede höhere Kulturstufe die Wesenszüge
der durchlaufenen niederen als sogenannte „Überlebsel“ neben
den späteren Errungenschaften zu bewahren pflegt.
Diese Gleichläufigkeit der gesamten menschlichen
Kulturentwickelung ist das wichtigste Gesamtergebnis der
neueren ethnologischen Forschung! und gibt die Basis ab für
die Beurteilung aller geschichtlichen Vorgänge, die nicht durch
die Initiative von Einzelpersönlichkeiten, sondern durch die
in der menschlichen Gesellschaft selbst wirksamen Kräfte
bedingt sind.
Was sich im materiellen Kulturbesitz in Sitte und sozialem
Leben zeigt, zeigt sich auch in der Mythologie. Die erstaun-
liche allgemeine Gleichartigkeit der niederen Formen und das
unverkennbare Hervortreten einzelner niederer Züge auch
innerhalb der am höchsten ausgebildeten Kulturmythologien
beweist, daß das, was für Indianer, Neger oder Polynesier
gilt oder bis vor kurzem noch galt, ehedem auch für Inder,
Hellenen und Semiten gegolten hat.
Dieser „wilde“ Einschlag offenbart sich in Mythen, wie
der vom Kampfe Marduks mit der Tiamat, von der Entstehung
Evas aus der Adamsrippe, der Entmannung des Uranus durch
Kronos, der Jugendgeschichte des Zeus, der Tötung des
Agastya im Rigveda, der Drachenkämpfe des Herakles, Per-
seus und Theseus, der ältesten von Plutarch überlieferten ?
Form der Romulussage, in Einzelheiten der Dionysos- und der
Argonautensage usw,
Er ist gerade das Moment, das den alten Mythologen
und Philosophen so anstößig erschien. In ihm sahen sie eine
blasphemische Erniedrigung des göttlichen Wesens, ihn
suchten sie, so gut es ging, durch allegorische Interpreta-
tionen hinwegzudeuten.
Aber auch die nordische Sagenwelt und die indischen
Puranas sind voll von derartigen wilden Zügen, die trotz des
großen chronologischen Unterschieds sämtlich eine unmittel-
’) Sie ist vom historischen Standpunkte aus gut dargestellt von
K. Breysig, Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte. Berlin 1904.
?) S. meine Abhandlung: Götter und Heilbringer. Zeitschr, f. Ethn. 38,
p. 603 Anm.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen, 61
bare Vergleichung mit den wilden Geistesprodukten gestatten,
wenigstens für die Frage der Grundbedeutung, des Natur-
kerns des Mythus. Welche Bedeutung diese Mythen in der
Religion, dem Kultus oder der Soziologie des betreffenden
Volkes haben, wieweit sie ferner symbolisch oder gar alle-
gorisch aufzufassen sind, ist eine besondere Frage, die mit
der des Grundkerns nicht unmittelbar zusammenhängt.
Urformen. Als mythologischer Allgemeinbesitz, der auf
primitiver Stufe den Bestand der Mythologie erschöpft und
daher als Ureigentum der Menschheit anzusehen ist, darf
folgendes gelten:
1. Tierfabeln einfachster Form, d. h. Erzählungen, wie
die Tiere ihre eigentümliche Gestalt und Farbe erhalten haben,
2, Ähnliche Erzählungen von der Entstehung merkwür-
diger geologischer Formen, Felsbildungen, Seen u. dgl.
Der Charakter solcher Fabelmärchen ist auf der ganzen
Welt bei Völkern aller Kulturstufen ein absolut gleicher,
nur die jeweilige Lokalfärbung macht Unterschiede. Sie
sind rein explanatorisch oder ätiologisch, erklären aber nicht
aus spekulativen Gründen, sondern naiv, gleichsam unbewußt
aus reiner „Lust zu fabulieren“,
3. Erzählungen von Sonne, Mond und auffälligen Stern-
bildern, von dem was ihre Gestalt, ihre Bahn und ihren KEr-
scheinungswandel bedingt, wie sie an den Himmel gekommen
sind, und wie sie von dort in die menschlichen Verhältnisse
eingreifen.
4. Erzählungen über den Ursprung auffälliger biologischer
Erscheinungen: Geburt, Tod, Geschlechtsfunktionen und Unter-
schiede. Auch das periodische Auftreten von Tierschwärmen
und -Wanderungen wird behandelt, Hierbei tritt nicht selten
schon frühzeitig (z. B. in Nordamerika) ein bewußt speku-
latives Moment hervor.
3. Eine meist in engster Beziehung zur Kosmogonie
stehende Heroensage, in der eine oder mehrere übermensch-
liche Persönlichkeiten von mehr oder weniger deutlichem,
astralem, lunarem oder solarem Charakter der Erde und ihren
Geschöpfen die Form geben. Die Helden selbst werden meist
genealogisch von einem übermenschlich, menschlich oder un-
32
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
bestimmt gedachten höheren Himmelswesen abgeleitet, das
als solches sowohl Mond- als Sonnenzüge in sich vereinigen
kann, göttliche Qualitäten aber noch nicht besitzt: da es
kein Gegenstand der Verehrung ist. Es spielt eine rein my-
thische, keine kultische Rolle. Die primitivste Form dieser
Heroensage zeigt uns den Helden nicht selten als tierisches
Wesen oder als menschlich-tierische Mischgestalt, die sich
erst später zum wirklichen Menschen umwandelt. Die tierische
Form ist manchmal auch nur als „Maske“ gedacht. Abge-
sehen von seiner Zauberkraft entbehrt der Held höherer Quali-
täten und wird ganz von niederen Trieben beherrscht. Seine
Taten sind eine zusammenhangslose Reihe von Abenteuern,
in denen er zwar höhere Kräfte betätigt, aber nur launisch,
willkürlich, egoistisch. Sie dienen zwar, wie die Schaffung
der Gestirne, des Lichts oder des Feuers, dem mensch-
lichen Wohl, aber nur zufällig, nicht von vornherein
darauf berechnet. Ebenso oft schädigt der Held Menschen
und Tiere, die ihm dafür ihrerseits übel mitspielen. Himmels-
mythologische Züge fehlen fast niemals und treten besonders
in seiner Geburtsgeschichte und seiner Schöpfertätigkeit her-
vor, sind aber überwuchert durch phantastische Zutaten gro-
tesk-komischer, nicht selten obszöner Art. Er ist so eine reine
Märchenfigur ohne alle religiösen Qualitäten, Die besten Bei-
spiele liefert die amerikanische Sagenwelt in der Gestalt des
Raben (Yetl) der Nordweststämme und des Coyote bei den
Prärieindianern und Kaliforniern. Auch in Sibirien und Süd-
afrika begegnen wir ähnlichen Gestalten, deren Wesensver-
wandtschaft mit unserem volkstümlichen Teufel oft frappant
hervortritt. Alle diese Erzählungen haben im wesentlichen
die Form des naturmythologischen Märchens. Wenn nun auch
dieses somit bei allen Völkern den Mutterboden der Mytho-
logie bildet, so folgt daraus nicht, daß diese Märchen sich
auch immer zu wirklichen Religions- und Kultmythen weiter
entwickeln, daß ein Sonnen- oder Mondmärchen also zur
Mythe vom Sonnen- oder Mondgott wird. Es kann vielmehr
die Weiterbildung auf einen toten Punkt geraten durch früh-
zeitige Ablenkung in die Richtung der Clan- und Totemlegende.
So dreht sich z. B. fast die gesamte australische Mytho-
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 63
logie um die Frage, wie die einzelnen Totemgruppen ihre
Schutzgeister erlangten, wobei Sonne, Mond und Sterne eben-
falls als solche auftreten. Daneben bleiben die einfachen be-
schreibenden Naturmärchen bestehen. Bei den Zulustämmen
Afrikas hat der Kult der Ahnen (der Ztongos) alle mytholo-
gischen Vorstellungen absorbiert, Nur die Sagen von dem
Stammesahnen Unkulunkulu lassen noch schwache Spuren
ursprünglicher lunarer Anschauungen durchschimmern *.
Ähnliche Verhältnisse bestehen in Nordwestamerika, Auch
hier steht (z. B. bei den Kwakiutl, Haida, Bilgula) die Ahnen-
und Wappensage als Gemisch aller möglichen Elemente im
Vordergrund, als eine Weiterbildung der Vorstellungen der
östlichen Stämme über den Erwerb des persönlichen Manitu
oder Schutzgeistes. Daneben findet sich ein reicher Bestand
an echt naturmythologischen Märchen und solchen, die auf
schamanistische oder zurzeit noch unqualifizierbare Vor-
stellungen zurückgehen, Aus beiden Quellen schöpfen die
Traditionen der hier hoch entwickelten Geheimbünde, die für
den eigentlich religiösen Kult keinen Raum lassen. Die soziale
Clan-, Familien- und Geheimbundlegende überwuchert hier
also völlig den Religionsmythus,
Die einfachsten Formen der Mythologie, wie sie uns etwa
die Australier, Papuas und ihre Verwandten Australasiens,
die Südafrikaner, Ost- und Südamerikaner zeigen, werden bei
höher entwickelten, wirtschaftlich und sozial mehr gefestigten
Naturvölkern durch weit verwickeltere Bildungen ersetzt oder
von ihnen überlagert, die uns nahe an die Kulturmythologien
heranführen. Was uns Nordamerikaner, Nordasiaten, Poly-
nesier und Westafrikaner zeigen, erinnert schon ganz an das
mythische Besitztum der Germanen, Slaven, Letten und Finnen
und dürfte etwa dem Bilde entsprechen, das wir uns von
einer urindogermanischen Mythologie rekonstruieren können,
Auch die japanische, mexikanische und peruanische gehört
in diesen Zusammenhang. Bei Babyloniern, Ägyptern und
{ndern hat sich die Sonderung der priesterlichen und der
i) Callaway, Izinyanga Zokubula or divination among the Ama-
zulu. Natal-London 1870.
54
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
volkstümlichen Mythologie bereits vollzogen. Daher darf jene
nicht mehr ohne weiteres mit den primitiven Formen ver-
glichen werden.
Bei den Griechen wurde die Kluft zwar durch die Dich-
tung und die bildende Kunst überbrückt, zugleich aber, wie
bei den Indern, durch die philosophische Spekulation eine noch
tiefer gehende geschaffen.
Weiterbildung. Als allgemeine Entwickelungsbedingungen
kommen in Betracht: geistige Beanlagung, religiöse und ge-
sellschaftliche Momente, Dichtung und Kunst mit ihren indi-
viduellen Einflüssen, geschichtliche Schicksale und Völker-
verkehr, die wiederum geographisch bedingt sind. Unter dem
Einfluß der geschriebenen Literatur und der verstandesmäßigen
wissenschaftlichen. Weltbetrachtung erlischt dann mehr und
mehr die Schöpferkraft der mythenbildenden Phantasie.
Dieses Bild zeigt der Mythus der heutigen Kulturwelt.
Zwar leben alte mythische Gedanken im Volksglauben fort,
aber als geschlossene Erzählungen gehören sie wesentlich der
Kinderwelt an, wie die obsoleten Waffen und Geräte der Vor-
zeit zu Kinderspielzeug wurden. Was noch etwa neu entsteht,
ermangelt der Triebkraft, bleibt ephemer oder örtlich be-
schränkt, nimmt auch: wohl die Form historischer Sage oder
religiöser Legende an.
Die treibenden Momente liegen entweder im Volke
selbst oder wirken von außen ein, Wir unterscheiden also:
_ 1. eine Weiterbildung von innen heraus, bedingt durch die
Kräfte des mehr und mehr sich entwickelnden geistigen, ge-
sellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens,
2, die Weiterbildung durch die gegenseitige Beeinflussung
der Völker und den Kontakt mit höheren Kulturen.
Eine scharfe Trennung beider ist jedoch schon deshalb
nicht durchführbar, weil jede engere Berührung von Völkern
ein Ferment für die Entfaltung auch ihrer inneren Kräfte
abgibt, sofern nur der kulturelle Abstand der Beteiligten nicht
allzugroß ist,
Die erste Form der Weiterbildung ist hauptsächlich
durch die Entwickelung der religiösen Vorstellungen und
Kulte gegeben, soweit diese mehr sind als bloße Zauberriten. Ist
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 65
eine Götterwelt einmal entstanden, werden Helden der Vor-
zeit nicht nur im Gedächtnis bewahrt, sondern als dauernd
wirksame, ihr Volk schützende Wesen verehrt, so werden die
Mären von den gewaltigen Wesenheiten der Natur auf sie
bezogen und erhalten dadurch Kristallisationspunkte für weitere
Bildungen.
Die hierbei wirksamen inneren Kräfte mögen außer
Betrachtung bleiben, da wir über sie doch höchstens speku-
lieren können, dagegen kennen wir das wichtigste äußere
Moment, nämlich die Entwickelung der Agrikultur. Von
allen Völkern wird der Erwerb der ersten Kulturpflanzen ein-
gehend mythologisch behandelt und meist an die Person eines
himmlischen Helden, des Heilbringers oder Kulturheroen ge-
knüpft. Die rohen Zauberbräuche der Jägerstämme, die sich
auf Erlangung und Vermehrung der Beutetiere beziehen, sind
zwar schon der erste Ansatz zum Kultus, sofern sie eine
magische Beeinflussung übermenschlicher Wesenheiten, der
Tier- und Elementargeister, die Bannung von Krankheits-
dämonen oder der Seelen Abgeschiedener bezwecken, aber
erst der Ackerbau bringt die ohnehin regelmäßige Wieder-
holung erfordernden Zauberakte in ein festes System der Zeit-
folge. Auch er bedarf der Zauberriten für alljährliche Er-
neuerung der Vegetation, für Herbeiführung von Regen und
günstigen Wind, aber er wandelt sie mehr und mehr in
symbolische Handlungen um und stellt neben die launisch
wirkenden Dämonen der Vegetation diejenigen personifizierten
Kräfte und Erscheinungen der Natur selbst, deren Wirken
auf die menschlichen Verrichtungen unmittelbar ersichtlich
ist, vor allem also Mond-und Sonne und deren Ableitungen
als Erd-, Keim-, Feuer-, Wind- und Regengötter!. Der
Mensch sucht jetzt nicht mehr den Dämon zu bannen oder
seinem Willen zu fügen, sondern seine Gunst zu gewinnen.
Das Gefühl der Abhängigkeit tritt in den Vordergrund
und damit Opferhandlung und Gebet. Je fester so ein reli-
ıy Daß es sich hierbei tatsächlich um Ableitungen handelt, nicht um
ursprünglich selbständige Wesenheiten, ist schon jetzt kaum mehr zweifelhaft,
abensowenig wie die überwiegende Bedeutung des Mondes vor der Sonne.
Mytholog. Bibliothek; Ehrenreich,
r
36
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
giöses System gefügt wird, um so inniger verbindet sich der
Mythus mit dem Kult. Der Naturmythus wird zum Götter-
mythus oder wird zunächst in die menschliche Sphäre über-
tragen und mit der Person des Kulturheroen verbunden,
der bei den Naturvölkern den eigentlichen Mittelpunkt der
Mythologie bildet.
Bald ist es der angenommene Ahnherr des Stammes oder
der einzelnen Sippen oder überhaupt eine geheimnisvolle Per-
sönlichkeit, ein Geisterwesen, ein Mensch der Vorzeit mit
schamanistischen Qualitäten, immer aber eine Gestalt, in der
animistische und naturmythologische Vorstellungen sich
mischen, auch wenn die Erzählung den Helden als irdisch,
und zwar menschlich oder tiergestaltet auffaßt.
Sehr wichtig ist zugleich der Einfluß der auf sozialer
Grundlage erwachsenden Geheimbünde, deren erste An-
fänge wir schon bei niederen Naturvölkern, wie Australiern
und Kaliforniern, als nach Altersklassen organisierte Männer-
bünde antreffen. Vereinigungen schamanistischen Charakters
treten frühzeitig hinzu und können sowohl mit. .den Alters-
klassen als mit einzelnen Sippen und Familien engere Be-
ziehungen eingehen. Indem die Mitgliedschaft erblich wird
und auszeichnend, rangerhöhend wirkt, entstehen besondere
religiös-soziale Bildungen, die Kultgenossenschaften, denen die
Abhaltung der schamanistischen Zauberriten für die Gesamt-
heit obliegt. Alle diese Verbände entwickeln besondere Tra-
ditionen über die Art ihrer Stiftung, die Bedeutung ihrer
Symbole, den Erwerb ihrer magischen Kräfte, deren Mittel-
punkt immer bestimmte Geisterwesen, Naturdämonen, ver-
götterte Ahnherren oder überhaupt mythische Persönlichkeiten
der Stammessage bilden, die im übrigen keine besonderen
göttlichen Qualitäten zu besitzen brauchen. Es können wie
z. B. in Nordwestamerika die Dämonen der Hamatsa-Kanni-
balenbünde einfache Märchen- und Fabelwesen sein.
In diesen Verbänden fixieren sich also leicht bestimmte
Mythentypen, die entweder mit den Vorstellungen über die
Wachstum und Leben beherrschenden Naturdämonen zu-
sammenhängen oder auch einfäche Adaptierungen anderwei-
tigen mythischen Materials sind. Vielfach wird so der ganze
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 67
Sagenbesitz eines Stammes :systematisiert und in kausalen
Zusammenhang gebracht, namentlich auch in die Kosmogonie
und Heldensage verwoben. . Der tierische oder menschliche
Schutzgeist des Bundes wird dem Kulturheroen gleichgesetzt,
alle möglichen Märchenzüge auf ihn übertragen oder seine
Gestalt mit allen wichtigen mythischen oder historischen Er-
eignissen in Verbindung gebracht. Indem solche Vereini-
gungen auch bei anderen Stämmen Boden gewinnen durch
Connubium, Kauf, selbst durch gewaltsame Aneignung der
Mitgliedschaft, z. B. durch Mord (wie in Nordamerika), werden
zugleich der weiteren Ausbreitung jener Mysterienmythen die
Wege geebnet.
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß im Zeremoniell der
Einweihung in die Männerbünde bei vielen Naturvölkern,
zumal Afrikas und Ozeaniens, weniger bei denen Amerikas,
mondmythologische Züge auffallend häufig hervortreten. Es
scheint sich um eine gesetzmäßige Erscheinung zu handeln,
deren Bedeutung für die allgemeine Mythologie und Religions-
geschichte noch nicht abzusehen ist,
Auf dieser Stufe scheidet sich also der Mythus vom
Märchen, indem einzelne Mythenmärchen esoterischen Zwecken
angepaßt zu Sonderbildungen werden, während die übrigen
im Volksmunde weiter leben. Der esoterische Mythus hat
dann meist eine primitivere oder abgeblaßte Parallel-
form volkstümlicher Art. Das ist besonders deutlich in Nord-
amerika zu verfolgen, wo die Scheidung sich auch noch in
eigentümlichen Beschränkungen äußert, denen die Mitteilung
solcher Erzählungen unterliegt. Volkstümliche Schwänke und
Anekdoten, namentlich aber die ins niedrig komische herab-
gezogenen Elemente der wirklichen Mythen, die sogenannten
Coyote-(Präriefuchs-)Geschichten, dürfen zu jeder Zeit erzählt
werden, die Märchen nur im Winter, „damit die Schlangen
sie nicht hören“, die esoterischen Kultlegenden dagegen nur
während der sakralen Handlungen selbst. Der Rezitator
nimmt, wie Matthews uns von den Navaho berichtet, im Geiste
selbst an der mythischen Handlung teil. Er fühlt sich eins
mit dem Helden, dessen Taten und Schicksale er erzählt. Er
weilt selbst in der Unterwelt, wenn die Wanderung der Ahnen,
Br
58
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
ihr Aufsteigen aus den vier Unterwelten auf die heutige
Oberwelt geschildert wird, und muß sich besonderer Reini-
gungszeremonien unterziehen, um den Hauch der Tiefe wieder
los zu werden, der an ihm haftet. Was der übermenschliche
Stifter für die Kultgenossenschaft und den Geheimbund ist,
ist für die Gesamtheit der gemeinsame Stammesahne, der
Kulturheros, dessen Sage unter dem Einfluß der esote-
rischen Verbände mit ihren Ritualen in gleicher Weise syste-
matisiert wird. Der Held wird in eine höhere Sphäre erhoben.
Er vollführt seine Taten zum besten des Volks, Er befreit
die Welt von Ungeheuern, setzt die Gestirne an den Himmel,
ordnet die Verhältnisse der menschlichen Gesellschaft, bringt
das Feuer und die Kulturpflanzen, lehrt die Künste, kurz, er
wird zum Heilbringer im eigentlichen Sinne!
Übernatürliche Herkunft, magische Eigenschaften und
Attribute, wunderbare Taten und Schicksale, häufig auch ein
geheimnisvolles Ende (Entrücktwerden, Aufstieg zum Himmel,
Verwandlung in Gestirne, Tiere, Felsen, Verschwinden in der
Erde oder auf dem Meere) sind die gewöhnlichsten Züge
solcher Helden, mit denen fast überall die eigentliche Mytho-
logie beginnt. Von Göttermythen ist im strengen Sinne noch
nicht die Rede. Auch die großen personifizierten Himmels-
erscheinungen, wie Sonne und Mond, treten mythologisch nur
in Verbindung mit diesen Heroengestalten hervor, die gewisser-
maßen als halbmenschliche Mittelspersonen die irdische mit
der in ein unbestimmtes Dämmerlicht gehüllten himmlischen
oder übersinnlichen Welt verbinden.
Diese konstant auftretenden Beziehungen der Kultur-
heroen zu Feuer, Licht und Kulturpflanzen haben die Mytho-
logen seit langem dazu geführt, Himmelserscheinungen als
Grundlage jener Gestalten zu vermuten, ohne freilich über
deren nähere Bestimmung einig zu werden. Mit allgemeinen
Bezeichnungen, wie Lichtgöttern oder Sonnenhelden, ist hier
1) Der Feuerraub gehört zu den wichtigsten mythologischen Vorwürfen,
die auf dieser Stufe zur phantastischen Darstellung kommen. Das Feuer ist
keineswegs immer vom Himmel oder aus der Unterwelt geholt, sondern ist
häufig im ursprünglichen Besitz von Tieren. Der Held raubt es oft selbst
in. Tiergestalt oder läßt es durch dienstbare Tiere rauben.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 69
nichts getan, die Frage muß zunächst auf vergleichendem
Wege von Fall zu Fall entschieden werden. Soviel wissen
wir aber schon jetzt, daß ihre Mehrzahl auf Sonne, Mond,
Morgen- und Abendstern zurückgeht, soweit die Einzelheiten
der betreffenden Mythen deutbar sind.
Damit steht im Einklang, daß in den entwickelteren
Mythologien — von Naturvölkern kommen dabei besonders
Nordamerikaner und Polynesier in Betracht — die Helden als
Zwillinge oder überhaupt als Brüder- und Geschwisterpaare
auftreten, bisweilen auch aufgelöst in mehrere genealogisch
zusammenhängende Gruppen, wobei auch wohl ein antagoni-
stischer Gegensatz zwischen den einzelnen Individuen und
Paaren bestehen kann. Die uns geläufigen Gestalten der
Dioskuren und Acvins und ihre zahllosen Parallelformen in
Sagen und Märchen haben ihr Gegenstück in fast allen Teilen
der Erde, weil sie eben durch das gleiche Natursubstrat mit
ihnen begrifflich verbunden sind. Die Beziehungen zum
Zwillingsgestirn, das außerhalb des babylonischen Einfluß-
kreises nur selten (u. a, bei den Australiern) beachtet zu sein
scheint, sind wahrscheinlich sekundär. Verständlich wird uns
das Wesen dieser Gestalten erst aus ihrem Zusammenhange mit
dem Himmelsgott, oder besser dem höchsten Himmelswesen,
zunächst dem im Himmel lokalisierten fabelhaften Ahn-
herrn, der erst im weiteren Verlauf der Entwickelung gött-
liche Qualitäten gewinnt.
Ist dieses Stadium der Ausbildung erreicht, So kann die
Weiterentwickelung eine aufsteigende sein, indem der Kultur-
heros zum Gott wird oder mit schon bestehenden Gottheiten
verschmilzt, denen er den persönlichen, individualen Cha-
rakter verleiht, oder aber sie wird regressiV. Der Held ver-
menschlicht sich immer mehr. Er wird zur Sagengestalt oder
wird mit historischen Personen ausgeglichen, was um so
leichter erfolgt, als neben der esoterischen Form seiner Le-
gende gewöhnlich die märchenhaft volkstümliche erhalten
bleibt, die sich naturgemäß von selbst schon in einer niederen
irdischen Sphäre bewegt.
Indem die Tätigkeit des Kulturheroen an den Anfang
der Dinge oder doch in die Zeit des noch Formlosen, Unge-
1 y
Ehrenreich; Allgemeine Mythologie;
stalteten verlegt wird, geht mit der Ausbildung der Kultur-
sage auch die weitere Ausgestaltung der Kosmogonie einher,
und zwar im engsten Zusammenhang mit der Naturanschauung,
Die Schöpfung wird nach Analogie der tierischen oder
menschlichen Zeugung gedacht (Himmel und Erde als Welt-
elternpaar, Entstehung der Erde aus dem Weltei, des Menschen-
geschlechts aus Maden), oder nach Analogie des Pflanzenauf-
sprießens auf dürrem Felsgrund, oder einfach als Sonnenauf-
gang (Weltmorgen, auch wohl Durchbrechen der Sonne durch
den Nebel), endlich auch als einfache menschliche Handlung:
Auffischen der Erde aus dem Urmeer, Formung der Erde und
ihrer Geschöpfe aus Ton, Schnitzen der Lebewesen aus Holz,
mit dem häufigen Motiv der anfänglichen Unvollkommenheit
des Geschaffenen und mehrfacher Wiederholung der Arbeit,
Diese besonders in Nordamerika, Polynesien und Nord-
asien ausgebildeten Sagen haben ihre direkten Parallelen bei
den alten Kulturvölkern. Die Trennung des Weltelternpaars
findet sich bei den Ägyptern, das Weltei kehrt bei den Indern,
die Tonmodellierung bei Griechen und Semiten wieder. Gerade
hierbei tragen vielfach die jüngsten Überlieferungen den
ältesten Charakter, indem sie am getreuesten das vor Augen
liegende Naturbild wiedergeben. So ist z. B. die von Wlis-
locki! mitgeteilte Trennungssage der Zigeuner die einfache
Schilderung des Durchbruchs der Sonne durch den Himmel
und Erde scheinbar verbindenden Nebel unter Mitwirkung
des Windes. Weit, aber nicht universell verbreitet sind
die Sagen von einer Zerstörung der Welt oder der Lebe-
wesen durch Kataklysmen, Sintflut oder Sinbrand
und ihrer Wiedererneuerung, für deren KErklärung noch
nicht alle Schwierigkeiten überwunden sind. Die trotz
mancher Ähnlichkeiten doch sehr verschiedenen Typen dieser
Sagen deuten auf mehrfache unabhängige Entstehung, wobei
aber die einzelnen Formen selbständig gewandert sind. Mythen
dieses Inhalts sind zur Wanderung geradezu prädestiniert,
daher der weitreichende Einfluß der durch die Missionen ver-
breiteten biblischen Sage oder einzelner ihrer Züge auch bei
‘) Stucken, Astralmythen, p. 472.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 71
Völkern, die nicht unmittelbar von der Katechese berührt
wurden, nicht zu verwundern ist. Auf babylonische Einflüsse
hierbei zurückzugreifen, ist zum mindesten überflüssig.
Viele Flutsagen sind einfach rationalistische Deutungen
lokaler Verhältnisse. So haben in Nordamerika die Reste
fossiler Tiere und Seemuscheln im Binnenlande Anlaß zu
solchen Sagen gegeben, wie teils ausdrücklich von den Ein-
geborenen mitgeteilt wird, teils aus dem Wortlaut ersichtlich
ist. In Peru und Kolumbien gaben vulkanische und seismische
Störungen Veranlassung. In anderen Fällen sind es Wald- und
Savannenbrände, Überschwemmungen weiter Ebenen durch
Regengüsse, Flußaustritt, Sturmfluten u. dgl.
Zur Himmelsmythologie gehört sicherlich der bekannteste
Typus der Flutsagen, der biblisch-babylonische, der, abgesehen
von den direkt entlehnten Formen, auch bei den Naturvölkern
zahlreiche Analogien hat, die freilich nun wiederum auch
sekundär durch Missionseinflüsse sich der biblischen angleichen
können. Das charakteristische Motiv ist das Mondschiff auf
dem Himmelsozean, bisweilen auch, wie in Amerika, als Floß
oder verspundetes Rohr aufgefaßt. Der gerettete Mondheld
ist vielfach zugleich auch der erste Ahnherr des Menschen-
geschlechts und Kulturbringer. Daher die Sage vom Urwasser,
aus dem der Held die Erde herausfischt, mit der eigentlichen
Flutsage häufig zusammenfällt. Auch die Einzelheiten der
biblischen Flutsage sind, wie Böklen* bewiesen hat,
nur mondmythologisch zu erklären. Wichtige Ergänzungen
dazu lieferte neuerdings Friedrichs, der in dem Wechsel
des Tageshimmels mit dem Nachthimmel und dem ent-
sprechenden Verhältnis der Hauptgestirne zueinander den
Naturkern der Flutsagen sieht. Es gelingt dadurch zugleich
eine Reihe bisher unverständlicher Flutsagen von Natur-
völkern befriedigend zu erklären, namentlich die polynesische
von Raiatea (s. Friedrichs, Grundlagen, PD. 270) und die
nordwestamerikanische (Friedrichs, Grundl,, p. 271, n. Boas,
Ind. Sagen, p. 167), Zu den lunaren Flutsagen gehören wahr-
scheinlich auch diejenigen Typen, in denen die Flut durch
1) E. Böklen, Die Sintflutsage, Archiv f. vgl. Rel,-Wiss, 6, 1—61.
97—150.,
72
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
unvorsichtiges Zerbrechen von Gefäßen oder neugieriges Öffnen
verdeckter Löcher erregt wird, wie verschiedentlich in Amerika
(Antillen, Guyana) und im malayischen Gebiete, An Stelle
des Mondkahns tritt hier die Vorstellung des Mondes als Gefäß
oder schwarzes Loch (im Neumond).
Sicheres läßt sich darüber jedoch noch nicht sagen.
Bemerkenswert ist noch, daß auffallend häufig bei den Natur-
völkern Australasiens, Polynesiens und Amerikas als Ursache
der Flut der Bruch irgend eines Tabu, besonders aber Jagd-
frevel angegeben wird. Die Idee einer periodisch wieder-
kehrenden Weltvernichtung und Erneuerung, die sog. Kalpen-
theorie der Inder, ist auf Asien und Nordamerika beschränkt.
Daß. die griechische Lehre von dem goldenen, silbernen und
eisernen Zeitalter ebenso wie ihre germanischen und iranischen
Parallelen irgendwie mit altbabylonischen Vorstellungen zu-
sammenhängen, ist höchst wahrscheinlich. Die mexikanische
Lehre von den vier, der jetzigen voraufgehenden „Sonnen“
zeigt einen eigenartigen Typus mit deutlicher Bezugnahme
auf elementare Katastrophen. Die erst neuerdings bekannt
gewordene Weltperiodenlehre der Caddostämme Nordamerikas
(Wichita) ist wohl ein ganz modernes Produkt rationalistischer
Art. Priesterliche Spekulation sucht hierdurch den allgemeinen
Verfall der Stammeskultur, die Naturveränderungen, besonders
das Verschwinden gewisser Tierklassen seit dem Erscheinen
der Weißen durch eine allmähliche Degeneration der orga-
nischen Welt zu erklären !.
Das Wesen der Kulturmythologien liegt in der engen
Verbindung von Mythus, Religion und Dichtung und weiter-
hin der philosophischen Spekulation und der bildenden Kunst,
wodurch das Unbestimmte., Wandelbare und Zusammenhangs-
‘ı Wer daran zweifelt, daß solche Spekulationen dem Geiste der „Wilden“
zuzumuten sind, sei daran erinnert, daß die Neigung zu wmetaphysischen
Grübeleien über Gott und die Welt zu den charakteristischen Eigenschaften
wenigstens der nordamerikanischen Rasse gehört. Mag sie dem Urzeitmenschen
gefehlt haben, dem Indianer der historischen Zeit haftet sie in hervorragendem
Maße an, auch wenn es vielleicht äußerer Einflüsse bedurfte, diese Anlage
zu entwickeln. Reiches Material hierüber bringt J. Mooneys große Arbeit
über Religion des Geistertanzes (Ann. Report XIV, des Bureau of ethnology
Washington 1896).
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 73
lose des primitiven Mythenmärchens einer systematischen
Ordnung Platz macht. Es entsteht so, als Ergebnis einer
langen Entwickelung, die Mythologie im engeren Sinne, die
Göttersage und Kultlegende unter schärferer Ausprägung der
Göttervorstellungen durch Individualisierung der einzelnen
Göttergestalten und deren Vereinigung zu einem nach Analogie
der menschlichen Gemeinschaften gedachten Pantheons !.
Meist tritt dabei eine Differenzierung der Naturgottheiten nach
den verschiedenen Seiten ihres Wesens oder nach lokalen
Kultformen ein, wodurch zugleich auch ein Rangunterschied
bedingt wird. Ebenso aber kann dieselbe Göttergestalt ver-
schiedene Seiten ihrer Natursphäre vertreten.
Gelangt endlich die Spekulation zur Annahme eines all-
beherrschenden Eingotts, so ist damit die Götterwelt noch
nicht abgetan. Sie besteht als System übermenschlicher, aber
jenem untergeordneter, oder indegenerierter, dämonenhafter
Wesen weiter, wie die heidnischen Götter beweisen, die unter
dem Einfluß des Christentums als Teufel im Volksaberglauben
fortleben. Andrerseits schafft sich aber das Volk auch neue
in Form von Lokaldämonen, Heroen und Heiligen.
Die Götter der Kulturmythologien sind nicht mehr bloße
Naturpersonifikationen, von indifferentem oder „dämonischem“
Charakter wie die der Naturvölker, sondern wirkliche über-
weltliche Persönlichkeiten, die auch außerhalb der Sphäre,
der sie ihre begriffliche Entstehung verdanken *, frei wirken,
vom Substrat abgelöst, können sie als Objekte des reli-
giösen Glaubens sich wiederum in der äußeren Natur, in
Gestirnen, Wettererscheinungen oder Elementen manifestieren.
Die geglaubten Götter werden dann wieder in die Natur hin-
eingesehen, eine Rückprojektion, die gleichfalls wieder zur
Verwischung ihrer ursprünglichen Grundbedeutung beiträgt.
Dieser Punkt wird gewöhnlich zu wenig beachtet. .
Die völlige Verpersönlichung, wie wir sie in höchster
Ausbildung bei den Griechen beobachten, beruht, wie Wundt
vortrefflich dargelegt hat (Mythus 3, p. 742), auf dem Einfluß
der dichterisch bearbeiteten Heldensage auf die (jöttervor-
) Wundt, Mythus 8, p. 742. — ?) Schrader, Reallexikon, p. 675.
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
stellungen. Der Gott nimmt die Charakterzüge des mensch-
lich handelnden und leidenden Helden an, wobei seine dämo-
nischen Qualitäten zurücktreten. Anfänge dieser Entwicke-
lung lassen sich bei den Indern, selbst auch den Mexikanern
beobachten, Die Göttersage wäre demnach nur eine besondere
Form der Heldensage.
Die Frage nach dem Ursprung der Gottesidee und
dem Verhältnis der Gottheiten der niederen und höheren
Kulturen zueinander, sowie überhaupt nach. der Entwickelungs-
reihe, die von den ersten Anfängen bis zum Gott der Offen-
barungsreligionen. führt, ist die schwierigste der Religions-
geschichte überhaupt und kann hier nur soweit gestreift werden,
als sie die Mythologie berührt. Sie wird namentlich durch
zwei Momente ungemein verwickelt.
Einmal läßt der Begriff. der Gottheit die verschiedensten
Definitionen zu, über die noch keine Einigung herrscht. Im
Gegensatz zu der allgemeinsten Auffassung, daß jede rätsel-
hafte Macht eine Gottheit sei, beschränkt Wundt! diesen
Begriff auf ein Wesen, dem die Merkmale des außer- oder
überweltlichen Daseins, der machtvollen Persönlichkeit und
der ewigen Dauer zukommen. Ebensogut könnte man aber
auch auf die Momente der dauernden Wirksamkeit und der
kultischen Verehrung das Hauptgewicht legen. Zusammen-
genommen würden diese Momente den Begriff der Gottheit
aufs äußerste einengen. Es ergäbe sich dann je nach der
Anzahl der Merkmale, die ein solches Wesen in sich vereinigt,
ein Stufenunterschied in der Vergöttlichung, aber wir können
nicht beweisen, daß damit zugleich die Entwickelungs-
stufen des Gottesbegriffs überhaupt gegeben sind. Auch die
einzelnen Merkmale haben wieder Gradunterschiede. Der
Begriff der Persönlichkeit hat z. B. bei den Griechen
durch den Einfluß der bildenden Kunst eine ganz andere Be-
deutung gewonnen als bei anderen Völkern. Die ewige
Dauer wird bei den Germanen durch die Vorstellung einer
Götterdämmerung abgeschwächt, bei den Griechen durch die
Moira. Der außerweltliche Sitz ist wiederum verschieden
I) Wundt, Mythus 2, p, 462
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 75
qualifiziert, je nachdem es sich um den Luftraum oder den
Überhimmel handelt.
Eine zweite Schwierigkeit liegt in der Unsicherheit der
Unterscheidung höherer und niederer Göttervorstellungen.
Daß diese den niederen Kulturstufen zukommen müssen,
leuchtet ein, deshalb entsprechen aber höheren Kulturverhält-
nissen nicht immer auch höhere Göttervorstellungen. Auch
bei den Kulturvölkern geht in der Mythologie Höheres und
Niederes nebeneinander her. Jenes gehört der Priesterspeku-
lation, dieses dem Volksglauben an. Das Volk macht sich
aber von der Gottheit entweder gar keinen oder einen rein
materialistisch-anthropomorphen Begriff. Daher ist auch die
Vorstellung eines persönlich handelnden Gottes an sich durch-
aus noch keine höhere als die eines unerkennbar und un-
nahbar über der irdischen Welt thronenden Wesens, könnte
vielmehr als degeneriert aufgefaßt werden. Demgemäß war
denn auch bei den Griechen die philosophische Spekulation
fortwährend bemüht, die allzu vermenschlichten Götter wieder
zu vergeistigen.
Die Qualität der Göttervorstellung hängt weniger von
äußeren, formalen Eigenschaften ab. als von ihrem ethischen
oder ästhetischen Gehalt.
Läßt sich nun eine Entwickelung verfolgen, die von den
schemenhaften Dämonen der Wilden zu den mehr oder weniger
unpersönlichen Naturgottheiten der Halbkulturvölker, zu den
persönlichen, heroenhaften oder idealmenschlichen der Grie-
chen und endlich zum Eingott der höchsten Religionsformen
überleitet?
Wundt verneint diese Frage (Mythus 8, p. 407). Aus
den dämonischen Vorstellungen der Naturvölker sei überhaupt
keine Einsicht in die Entwickelung der höheren Götter zu
gewinnen, denn die Naturvölker hätten noch keine Götter,
sondern nur Dämonen unbestimmter unpersönlicher Art.
Danach bestände also eine tiefe Kluft zwischen der primi-
tiven und der höheren Göttervorstellung.
Das ist nun aber in Anbetracht der unleugbaren Persi-
) v. Hahn, Sagw. Studien, p. 117 ££.
'6
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
stenz niederer Anschauungen durch alle Stufen der Entwicke-
lung hindurch von vornherein unwahrscheinlich. |
Wir sehen, daß die Kulturreligionen, auch wenn die
höchste Stufe erreicht ist, darum die früheren doch nicht
vollständig aufgeben, mit ihren Wurzeln vielmehr in der
untersten Schicht des mythischen Denkens haften bleiben,
daher denn auch die niedrigsten Formen des Dämonismus,
des Fetischismus und des Zauberglaubens sich gelegent-
lich noch in ihnen bekunden. Nur die geistige Auslese des
Volks hat mit allem Früheren gebrochen, wobei aber die Los-
lösung von der mythischen Weltanschauung häufig auch eine
von der Religion überhaupt zur Folge hat.
Da es sich nicht um eine rein lineare Entwickelung, son-
dern um ein Aufsteigen in Parallelbahnen handelt, so ist es
an sich sehr wohl möglich, daß sich bei einzelnen besonders
beanlagten Völkern auf dem Boden einer schattenhaften nur
durch Zauber beeinflußbaren Dämonenwelt die Idee eines
ewigen, mit übermenschlicher Kraft begabten Wesens heraus-
gebildet hat, das Schützer der Gemeinde und ihrer Institu-
tionen wird und damit schließlich auch ethische Qualitäten
erhält.
Wenn nun auch die ältesten Kulturvölker, die scheinbar
schon mit völlig ausgebildeten religiösen Ideen in die Ge-
schichte eintreten, über die Anfänge dieses Prozesses nichts
aussagen, so lassen sich diese doch bei einzelnen heutigen
Völkern niederer Kultur tatsächlich erkennen, nämlich bei
den Nordamerikanern und einzelnen Westafrikanern (wie
Evhe) und zwar, wie zu erwarten ist, im engsten Zusammen-
hang mit den esoterischen Kulten der Geheimbünde und der
Ausbildung der Heroensage.,
Die gleichen Triebkräfte, die diese der weißen Rasse
gegenüber doch immerhin minderwertigen Völker zu höheren
geistigen Leistungen angeregt haben, können, wenn unsere
Anschauungen über die allgemeine Gleichläufigkeit der mensch-
lichen Entwickelung überhaupt richtig sind, sehr wohl schon
vor Jahrtausenden bei geistig regsameren Völkern, wie Ur-
semiten und Urindogermanen, wirksam gewesen sein und
ihnen den Vorsprung verschafft haben, dem sie nicht nur
Kapitel V. Mpythologische Entwickelungsstufen, 77
höher potenzierte Götter, sondern auch höhere Gottesideen
und religiöse Systeme verdanken.
Um eine Einsicht in diesen Entwickelungsgang zu ge-
winnen, müssen wir zunächst fragen, ob denn eine so schroffe
Scheidung der Dämonen von den Göttern, wie Wundt sie
verlangt, sich für alle Fälle aufrecht erhalten läßt. Je mehr
sich unsere Kenntnis der Dämonenwelt niederer Völker er-
weitert, um so zweifelhafter erscheint das. Der Ausdruck
„Dämon“, den wir auf alle Wesen anwenden, die nicht jene
drei für den echten Gott postulierten Merkmale aufweisen,
ist ja zunächst nur ein Notbehelf, Er umfaßt Wesenheiten
der allerverschiedensten Art. Wundt selbst unterscheidet
Spuk-, Krankheits-, Vegetations-, Orts- und Himmelsdämonen,
die sich in atmosphärischen Mächten manifestieren. Wer
will aber a priori sagen, welche Vorstellungen die Naturvölker
mit den einzelnen Dämonen dieser Kategorien verbinden?
Das können eben nur weitere Erfahrungstatsachen lehren, die
wir erst zu gewinnen haben,
Wie wir schon jetzt sehen, handelt es sich durchaus
nicht immer um unbestimmte, schattenhafte, sondern auch
um wohl charakterisierte Gestalten mit ganz bestimmten
Funktionen und selbst Formen, die ebenfalls außerweltlich
oder doch überirdisch lokalisiert und Mittelpunkt besonderer
Sagengruppen sein können. Es sei erinnert an die ameri-
kanischen Beispiele der Spinnenfrau, des Dämmerungsweibes,
der „Herrin der harten Substanzen“, der Kornmutter, ferner
an die robbenbeherrschende Sedna der Eskimo auf dem
Meeresgrunde und den Polarsterngott der Tschuktschen.
Nicht selten verbergen sich hinter solchen Gestalten un-
verkennbar himmelsmythologische Wesen, wie Sonne, Mond,
Morgenstern u. a. So sind die Schutzgötter der Frauen, die
Dämonen der Jagd fast ausnahmslos, die Kriegsgötter wenig-
stens häufig, unzweifelhafte Mondwesen.
Vor allem aber sind viele der sogenannten „Dämonen“
analog den Dü incerti der Römer wirkliche Numina, personi-
fizierte Kräfte unbestimmter Art, wie die Manitus der In-
dianer oder Gattungswesen, wie deren große Tiergeister, die
als riesige Prototypen der einzelnen Tiergattungen gedacht
18
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie. ;
sind. Unter dem Einfluß des Seelenglaubens, des Ahnenkults
und des Totemismus gewinnen diese Wesen mythologische
Bedeutung und sind für das Verständnis der Göttervorstellungen
von der allergrößten Wichtigkeit, zu der allerdings die Ver-
nachlässigung, die ihnen sehr zum Schaden der Sache noch
immer seitens der Mythologen zuteil wird, im umgekehrten
Verhältnis steht,
Die psychologische Seite der Entstehungsfrage dieser
Numina geht uns hier nichts an, sondern nur ihre tatsäch-
liche Existenz und weite Verbreitung. So lange keine bessere
Erklärung vorliegt, mag man sie als Produkt eines naiven
Kausalitätsdranges betrachten, das zwar nicht bis in eine
Urzeit zurückzugehen braucht, sich aber bei geistig regsamen
Völkern immerhin schon frühzeitig ausbilden konnte.
Wie nun jede Einzelerscheinung der Natur als Vorgang
die Wirkung einer geheimnisvollen unbestimmten, oder aber
tierisch und menschlich personifizierten Kraft ist, so kann
auch die Gesamterscheinung der Welt das Ergebnis einer
solchen Kraftäußerung sein, einer obersten Kausalität, die,
wenn menschlich gedacht, die Rolle des Schöpfers oder De-
miurgen spielt. Es ist dies das bei so vielen Völkern auch
niederer Kulturstufe jetzt sicher nachgewiesene oberste
Himmelswesen, das, weil keiner Verehrung teilhaftig,
noch nicht als Gott zu bezeichnen ist, weshalb Andrew
Lang den Ausdruck Allvater dafür vorgeschlagen hat!.
Dieses Wesen bleibt entweder unbestimmt, weil man von
ihm nichts weiß oder nichts mehr sagen kann, oder es ist
als ein menschliches Gattungswesen gedacht, ausgestattet mit
Zauberqualitäten, und damit der Prototyp der irdischen Scha-
manen, die ihm, wie oft ausdrücklich gesagt wird, ihre ge-
heimnisvollen Fähigkeiten verdanken. Als Ahnherr des
') Die Einwände, die man aus theoretischen Gründen gegen das tat-
sächliche Vorkommen solcher Vorstellungen auf niederen Stufen der Kultur
gemacht hat, sind angesichts des immer mehr anschwellenden Materials völlig
belanglos. Die positiven Ergebnisse A. Langs sind durch die wichtige
Arbeit P. W. Schmidts: Sur Videe d’un etre supreme, im Anthropos, IT
and III, bedeutend vermehrt und erweitert worden, so daß eine rein negie-
rende Kritik hier nicht mehr am Platz ist.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 79
Menschengeschlechts haust es im Ahnenlande, dem Himmel,
wohin es sich nach beendetem Schöpfungswerk wieder zurück-
gezogen hat, ohne weiter in die menschlichen Verhältnisse
einzugreifen.
Es ist ein grobes Mißverständnis, hierin einen primitiven
Monotheismus im religiösen Sinne zu sehen, weil jenes Wesen
eben mit der Religion noch nichts zu tun hat, vielmehr rein
mythisch ist.
Erst in der Folge kann es als Dämon wirkend gedacht
werden und endlich auch, wie gewisse afrikanische und
amerikanische Formen beweisen !, Gottesqualitäten erhalten,
doch steht es dann eben nicht mehr allein, sondern hat, sei
es als beherrschendes Wesen, sei es als primus inter pares,
andere Naturgötter neben ‚sich. Möglich ist allerdings, daß
der jüdische Monotheismus und die indische Brahmanlehre
nicht rein spekulativ entstanden sind, sondern auf jener ur-
alten Vorstellung eines höchsten Himmelswesens fußen.
Unmittelbar tritt aber dessen Bedeutung ‚für die Aus-
bildung persönlicher Götter überhaupt hervor, Daß aus
den großen impressiven, die menschlichen Verhältnisse beherr-
schenden Naturphänomenen, wie etwa Sonne und Mond,
Naturgottheiten entstehen, sobald Zauberbrauch und Kultritus
deren Kräfte herbeiruft oder abwehrt, ist ohne weiteres klar
und auch allgemein anerkannt. Ebenso sicher aber wirkt,
worauf auch Wundt (Mythus 3, 311) aufmerksam macht, die
allzu feste Fixierung der Vorstellung eines Gottes in einem
bestimmten Naturobjekt der Ausbildung eines persönlichen,
selbständig handelnden Wesens entgegen, Solche Naturgott-
heiten würden also etwas Wesenloses und Schemenhaftes an
sich tragen.
Da ist es nun die Idee des Numens als persönlicher Kraft,
als Kausalität der Himmelserscheinungen, die zur Vorstellung
eines zauberhaft wirkenden Übermenschenreiter, als Träger,
Leiter, Beweger oder Bewohner jener kosmischen Objekte
führt. Sonne und Mond sind seine Körperteile, Attribute
oder Wohnsitze, aber auch seine Abkömmlinge. Ebenso sind
häufig die Wolken sein Kleid, der Donner seine Stimme.
1) z. B. der Tirawa der Pani,
3
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Andererseits kann aber jede Himmelserscheinung als
Sitz oder Manifestation eines besonderen Numens aufgefaßt
werden, das nicht immer ursprünglich schon ein himmlisches
zu sein braucht, vielmehr auch vom irdischen Zauberer,
Häuptling oder zauberkräftigen Helden ausgehen kann. So
berichten viele Erzählungen der Naturvölker, namentlich
Australiens und Amerikas, wie ein mächtiger Zauberer Sonne
ınd Mond an den Himmel wirft oder von dort herabholt, wie
er sie in der Eklipse mit der Hand verdeckt oder in ihnen
seinen Aufenthalt nimmt, sie fesselt, zusammenkoppelt und
ihre Bahn regelt. Allverbreitet ist auch die Idee, daß Sterne
die Seelen Verstorbener, Meteore und Kometen die von
Häuptlingen und Zauberern sind, Der Mond als Sternenhüter
wird dann von selbst zum Toten- und Unterweltsgott. Auch
hier sehen wir also die Mitwirkung animistischer Vorstellungen
bei der Assimilierung irdischer und himmlischer Vorgänge
und Personen,
Ebenso verschmilzt auch das personifizierte Numen mit
der Himmelserscheinung, in der es sich manifestiert, die sein
Attribut oder Wohnsitz ist. Es kann so Gegenstand des
Kultus werden und wirkliche Gottesqualitäten erlangen, wäh-
rend andererseits Sonne und Mond als seine Abkömmlinge
oder Wesensäußerungen persönliches Leben als Götter oder
Götterhelden gewinnen.
Diese Verpersönlichung des Numens und seine Verbin-
dung oder Parallelisierung mit den rohen Naturgottheiten
bezeichnet eine Phase der Entwickelung, von der aus sich die
Brücke zu den Gottheiten der Kulturmythologien schlagen 1äßt,
Nach Wundt haben diese, soweit es sich um die grie-
chische Götterlehre handelt, ihre Individualität, ihr persön-
liches Leben erst aus der Heldensage gewonnen. Das ist
sicherlich richtig, nur braucht letztere nicht erst die spätere
literarisch fixierte Heldensage zu sein, denn schon auf weit
früherer Kulturstufe macht sich der Einfluß ihrer primitiven
Formen geltend, die wir als das Kulturmärchen der Kultur-
heroensage bezeichnen. Diese begleitet die Ausbildung der
Göttervorstellungen von Anfang an. Sie scheint überhaupt
die Quelle aller religiöser Mythenbildung zu sein.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 81
Die Himmelsmythologie, die Grundlage oder doch der für
die Religionsentwickelung wichtigste Teil der mythologischen
Vorstellungen faßt von vornherein schon Sonne, Mond und
Sterne als handelnde Wesen auf und überträgt demnach auf
sie menschliche Züge. Schon dadurch verleiht sie ihnen ein
gewisses Maß von Persönlichkeit. Daher haften diese Natur-
personifikationen durchaus nicht immer am Natursubstrat, wie
die irdische Fassung zahlreicher Himmelsmythen beweist, zu
deren Erkennung freilich Scharfblick und positive Material-
kenntnis gehört.
Auf das Mythenmärchen geht aber auch die spätere Helden-
sage zurück und zwar auf die Form, die wir als Kultur-
märchen oder Kulturheroenmythus bezeichnen. Der
Kulturheros ist fast immer ein Abkömmling, ein magisch er-
zeugter Sohn jenes höheren, manchmal auch direkt als Sonne
gefaßten Himmelswesens, ein „Dioskuros“ oder Dioskuren-
paar. Der einzelne sowohl wie die Zweiheit kann lunare und
solare Züge in sich vereinigen. Die Geburtsgeschichte ent-
spricht fast stets der des Mondes, daher die Motive der Ein-
legung in die Schale, des Hervorkommens aus dem Gefäß (das
in Amerika bisweilen mit einer dunklen Blutmasse gefüllt ge-
dacht wird), des Durchbrechens der mütterlichen Seite mit dem
Feuerstein am Kopf (vgl. Indras und des irokesischen Ta-
wiskarons Geburt). Die Taten des Helden können entweder
ebenfalls lunar als Kampf des hellen und schwarzen Mondes,
oder solar als Kampf der Sonne mit Mond und Gestirnen
gefaßt sein und zwar diesen unmittelbar darstellen oder ihn
durch irdische Taten versinnbildlichen.
Schon die große Zahl von Fällen in allen Teilen der Erde,
in denen diese Beziehungen zu den Himmelskörpern ausdrück-
lich angegeben sind, genügt, um den himmelsmythologischen
Charakter der Heldensage für mindestens sehr wahrscheinlich
hinzustellen und ermöglicht auch die weniger deutlichen Züge
in anderen Mythen zu erklären.
Mag man mit Wundt (Mythus 38, 48) psychologisch den
Helden als eine „Projektion menschlicher Wünsche und Hoft-
nungen“ auffassen, das, Was der Mythus im einzelnen von
ihm sagt, zeigt über die ganze Erde hin so auffallende Über-
Mvtholog. Bibliothek: Ehrenreich, ß
39
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
einstimmungen, daß nur die Annahme einer realen Natur-
unterlage aus dem Bereich der allgemein sichtbaren Himmels-
erscheinungen die formell gleichen Ergebnisse dieses psycho-
logischen Prozesses erklärt,
Die spätere Heldensage, auch wenn sie an historische
Ereignisse anknüpft, überträgt auf ihren Helden gewöhnlich
auch die Züge des himmlischen Heroen. Seine Geburts-
geschichte, sein Kampf mit Ungeheuern, Drachen, Dämonen,
Zauberern, der Zwist mit seinem Bruder, sein Untergang oder
Apotheose (Entrücktwerden) lassen immer wieder die Züge der
Himmelsmythologie hervortreten, die freilich die willkürlich
schaltende Phantasie des Dichters häufig umformt und ver-
dunkelt, so daß es manchmal umfassender Vergleichsreihen
bedarf, um sie wieder aufzufinden. Der Streit darüber, ob
die irdischen oder die himmlischen Elemente der Sage das
Primäre sind, ist hierbei völlig müßig, da die Assimilation
beider Sphären zum Wesen der Sagbildung gehört.
Was für die Heldensage gilt, gilt auch für die Kult-
legende. Da die religiösen Vorstellungen in erster Linie
an die Himmelsmächte anknüpfen, so ist von vornherein zu
erwarten, daß auch die im Mythenmärchen wurzelnde Kult-
legende ihre wichtigsten Züge der Himmelsmythologie ent-
lehnt. Ganz unverkennbar tritt das in der griechischen My-
thologie hervor in den Legenden von Dionysos, Orpheus, The-
seus, Perseus und Herakles, ebenso in der Osirissage. Nicht
ein beliebiger Märchenheld ist der mit göttlicher Kraft aus-
gestattete Held der Kultlegende, sondern eine Gestalt, deren
Prototyp der Kultur- und Heilbringer der primitiven Mythologie
ist, ein Wesen, das auf das engste mit denjenigen Naturphäno-
menen verknüpft ist, die die Objekte der Agrikulturriten, der
Quelle aller Kulte, bilden: Sonne und Mond mit ihren astralen
Parallelformen, wie Venus, Orion, Plejaden u. a.
Göttersage und Kultlegende schaffen für die Religion
feste Glaubensformen. Sie geben dem Mythus, wie Wundt
hervorhebt (Mythus 3, 592), den Charakter der Glaubens-
überzeugung. Auch sie verwenden alte Formen des pri-
mitiven Mythenmärchens, erzeugen aber auch neue Elemente
explikativer Art, um unverständlich gewordene Kultformen
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 83
und Symbole zu erklären, oder gewisse Lehren symbolisch
verständlich zu machen oder allegorisch zu verhüllen.
Gewöhnlich handelt es sich aber auch hierbei weniger
um völlige Neuschöpfungen, als um Modifikationen bereits
gegebener mythischer Grundformen. Es können also sicher-
lich Mythen oder einzelne mythische Züge aus Kultsymbolik
und Ritual entstehen, daß diese aber überhaupt den Mythus
erst erzeugt haben, ist, so allgemein ausgedrückt, unhaltbar.
Selbst wenn sich einzelne griechische Mythen als solche Ab-
leitungen erweisen würden, so wäre damit noch nichts All-
gemeingültiges gewonnen, weder für die griechische Mytho-
logie, noch auch für die anderer Völker. Die Möglichkeit
selbständiger Mythenbildungen bliebe daneben immer bestehen,
es sei denn, daß man von vornherein nur solche Erzählungen
als Mythen betrachtet, deren explikative Entstehung aus Ri-
tualien erwiesen oder wenigstens wahrscheinlich ist. Das
wäre aber reine Willkür. Im übrigen ist ein stichhal-
tiger Beweis für Einzelfälle auch in der griechischen Mytho-
Jogie nicht geliefert worden. Was Gruppe! davon anführt,
geht über bloße Vermutungen nicht hinaus. Keinesfalls darf
diese Theorie, die allgemein gefaßt, ungeheuerliche Konse-
quenzen ergibt, als etwas Selbstverständliches betrachtet
werden ?.
1) Bezüglich der Enthauptung der Gorgo, die er als Sturmwolke
faßt, obwohl solche keinen „Kopf mit furchtbaren Augen“ haben, sagt Gruppe
‘Gr. Myth. p. 1210, Anm, 5): „Vielleicht (!) suchte man durch das symbo-
lische Ahbschlagen oder Zertrümmern eines imitierten Hauptes das Wetter zu
bannen“. Da gibt es denn doch näherliegende Erklärungen, wie Siecke
gezeigt hat.
Selbst Gottheiten höchster Ordnung wie Zeus sollen nach Grupp e (Gr.
Myth. p. 1102) ein Element enthalten, das nur aus Riten zu erklären ist, durch die
man Regen herbeizuführen hoffte. „Man bediente sich eines Fetisches, in welchem
man die Himmelskraft lebendig wähnte und welche man deshalb Zeus nannte.
Dieser Name ging dann auf den Fetisch selbst über, was nach Überwindung
des reinen Fetischismus dazu führte, die unverständlichen Riten aus der Ge-
schichte des Zeus zu erklären: so sind die Legenden von dem umwickelten
Stein, von der Ernährung durch Amaltheia usw. entstanden.“ Das begreife
wer kann! Diese mythischen Züge sind ganz gewiß nicht so entstanden, be-
zuhen vielmehr auf real-sinnlicher Wahrnehmung. — 2) Man wäre z. B. ge-
nötigt, einen so unzweifelhaften Mythus wie die Paradiessage von Adam und
Eva auf ein altes Ritual, etwa Vegetationszauber, zurückzuführen. “
a
3
A
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Die Mythen der älteren Kulturvölker sind für die Ent-
scheidung dieser Frage überhaupt wenig geeignet, weil wir
über deren Rituale nur überaus mangelhaft unterrichtet sind.
Sucht man doch so oft erst aus dem gegebenen Mythus das
Ritual hypothetisch heraus zu konstruieren. Damit ist natür-
lich nicht weiter zu kommen,
Nun weist uns aber die Ethnologie auf ein Gebiet hin,
wo wir die Rituale mit allen dazugehörigen Mythen und Sym-
bolen auf das genaueste kennen, nämlich Nordamerika.
Hier finden wir, daß gleiche und ähnliche Rituale mit ganz
verschiedenen Mythen verbunden sind, wie z. B. der soge-
nannte Sonnentanz der Präriestämme, dem bei den Arapaho die
bekannte Algonkinsage von der Erdfischung und die Ent-
führung zweier Weiber durch Sonne und Mond, bei den
Cheyenne eine Traumerzählung, analog der den sogenannten
Medizingeschichten, bei den Blackfeet ein einfacher Stern-
und Mondwechselmythus zugrunde liegt,
Manche Rituale sind auf ganz willkürlich gewählte
Mythenmärchen bezogen, die bisweilen altweltlichen Ursprungs
verdächtigt sind, wie die Sage von der gefährlichen Braut im
Morgensternzeremoniell der Pani!. Noch auffallender ist das
bei den Hamatsa (Menschenfresser)-Mysterien der Nordwest-
stämme (Kwakiutl), wo das zugrunde liegende Märchen von
dem kannibalischen Dämon, aus dessen Gewalt der Held sich
auf magischem Wege rettet, deutlich auf Ostsibirien als Ur-
sprungsland hinweist. Bei den Zunßi und Hopi liegen den
ganz abweichenden Ritualen der einzelnen Kultgenossen-
schaften besonders umgearbeitete Episoden der gemeinsamen
Schöpfungs- und Wandersage zugrunde, die in ihren Haupt-
zügen wiederum auf die Nayaho übergegangen ist, ohne aber
deren Rituale zu beeinflussen.
In manchen Fällen, wie z. B. beim sogenannten Flöten-
tanz der Hopi stellt das Ritual ein historisches Ereignis dra-
matisch dar.
‚Jedenfalls liegen der Regel nach einem Kultmythus schon
anderweitig bekannte Stoffe oder in anderen Verbindungen
') G. A, Dorsey, the Pawnee myth. P. I, p. 38, Nr. 6.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 85
vorkommende mythische Elemente zugrunde, Was das Ritual
dem hinzufügt, ist äußeres Beiwerk, als Anpassung zu be-
stimmtem Zweck.
Auch für die antike Welt dürfte es sich ähnlich ver-
halten. Das Ritual der Dionysosmysterien hat nicht den
Dionysosmythus erst geschaffen. Vielmehr sind Kultbräuche,
wie der Akt mit der Futterschwinge, das Zerreißen lebender
Tiere, die rituelle Rolle der Schlange, sofort als abgeleitete
verständlich, wenn wir im Auge behalten, daß das Wesen
des Dionysos als Vegetationsgott zugleich seine ursprüngliche
Mondnatur in sich schließt.
Eine allgemeine Theorie über das Verhältnis des Mythus
zu Kultus und Ritual bedarf auf alle Fälle einer umfassenden
Grundlage tatsächlicher ethnologischer Befunde. Rein speku-
lative Erwägungen sind dafür völlig nutzlos.
Die bildende Kunst gibt den mythischen Gestalten
plastische Bestimmtheit. Sie läßt sie sinnfällig werden, ZU-
nächst noch durch äußeres symbolisches Beiwerk, indem etwa
übermenschliche Eigenschaften durch tierische Charaktere
(Ägypten, Mexiko), oder durch astrale Symbole (wie in Ba-
bylon), oder durch groteske Steigerung und Vervielfältigung
der menschlichen Körperform selbst (Indien) versinnbildlicht
werden, bis endlich bei den Griechen die rein ästhetische
Darstellung sich durchsetzt in der Idealisierung der mensch-
lichen Züge zu übermenschlichen Idealformen.
Te mehr das Menschliche dabei hervortritt, um so ent-
schiedener trennt sich die Göttergestalt von ihrem Natur-
substrat, um so undurchsichtiger wird auch der Mythus.
Diese allmähliche Versinnlichung mythischer Wesen ist
in ihrer Entwickelung systematisch noch nicht untersucht.
Sie tritt nicht plötzlich ein, sondern wird schon auf primi-
tiver Stufe bei Naturvölkern vorbereitet, aber weniger durch
die bildende, als durch die dekorative Kunst. Die symbo-
lischen Abzeichen, die eine Dämonengestalt charakterisieren,
werden nicht auf bildliche oder plastische Darstellungen der-
selben übertragen, sondern auf die menschliche Person selbst,
die in einer besonderen Vermummung den Dämon darstellt.
Es handelt sich also um das Maskenkostüm, dessen Rolle
36
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
im Mimus und Mysterienspiel alle Kulturperioden überdauert
hat. Die Maske kann entweder das Tier oder eine phanta-
stische Dämonengestalt von menschlicher Grundform sein,
oder ihre Form ist rein konventionell, ohne erkennbare Be-
ziehung zum Dargestellten, die dann erst durch gewisse
Bemalungsmuster, Ansätze und Behänge ornamental gekenn-
zeichnet wird. Bei den Mexikanern ist der Zusammenhang
von Göttergestalt und Maske noch vollkommen deutlich. Auch
bei den Ägyptern sind die tierköpfigen Gottheiten noch durch-
aus maskenhaft. Für das vedische Indien hat v. Schroeder!
darauf hingewiesen, daß manche mythischen Gestalten nur
verständlich werden, wenn die Beschreibung nicht. auf die
Personen, sondern auf die in den kultischen Tänzen auf-
tretenden Masken zu beziehen ist. So werden z. B. die Maruts,
die Sturmgötter, als eine reich geschmückte bewaffnete J üng-
lingsschar vorgestellt 2.
Die Masken der Naturvölker scheinen, soweit wir urteilen
können, durchaus individualisiert zu sein, ihre Form also nicht
nur müßiger Laune zu entspringen. Vielfach gilt die Maske
selbst schon als lebendes Wesen, gewissermaßen als ein Dämon,
der sich auf den Träger niederläßt. Daher die vielen mit
ihrer Anwendung verbundenen Tabugebräuche und andere
Zeremonien, unter denen die in Nordamerika bei gewissen
Festen übliche Maskenfütterung die merkwürdigste ist.
Die Maske erscheint überall als Vorstufe des Kultbildes,
daher in den älteren Missionsberichten Masken und Idole fort-
während verwechselt werden, Die Maskentänze der Indianer
galten den Conquistadoren als Teufelsdienst, wobei der Böse
selbst leibhaftig anwesend war.
Jede höhere Mythologie ist zugleich Kalendermytho-
logie, weil alle Kulthandlungen zeitlicher Fixierung bedürfen,
') L. v. Schroeder, Myst., p. 494,
‘) Daß der Gebrauch von Masken in der vedischen Literatur nicht er-
wähnt wird, ist kein Gegenbeweis, Der Ausdruck „Maske“ ist hier im wei-
teren Sinne zu fassen. Es braucht sich nicht um Verlarvungen des Gesichts
zu handeln, vielmehr genügen einfache Verkleidungen, Abzeichen oder in der
Hand getragene Embleme, wie sie noch heute bei Naturvölkern statt der
eigentlichen Masken üblich sind.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 87
wie die Agrikulturriten, aus denen sie hervorgegangen sind.
Die Götter werden zu symbolischen Repräsentanten derjenigen
Zeitabschnitte, deren astrale Unterlage sie darstellen. Was
der Mond für den Monat ist, sind für das Jahr die Sonne, für
die Jahreszeit und die Vegetationsperioden der Orion und die
Plejaden. So entsteht schließlich als Höhepunkt dieser Entwicke-
lung das System der chaldäischen Astrallehre, das die gesamte
Mythologie dem Kalender unterordnet, oder diesen in ein
mythisches Gewand kleidet.
Auch die Kontraste der Jahreszeiten und ihrer
Witterungsverhältnisse werden durch Mythen ausgedrückt,
die auf den Gegensatz von Sonne und Mond, Hellmond und
Schwarzmond zurückgehen. Der Kampf des Frühlings mit
dem Winter, der der Sonne mit den Dämonen der Unterwelt
und der Finsternis, das Töten und Austreiben des Winter-
dämons sind Vorgänge, die bis auf den heutigen Tag für
unzählige Volksbräuche und Feste den Stoff lieferten. Die
damit verbundenen mimischen Darstellungen sind bekanntlich
für die Entwickelung der religiösen Kulte sowohl wie des
Dramas von allergrößter Bedeutung gewesen.
Näher kann auf diese Dinge angesichts der darüber be-
reits vorliegenden massenhaften Literatur nicht eingegangen
werden.
Diese Assimilation von Elementen der Himmels-, Vege-
tations- und Wettermythologie ist der Hauptgrund für den
schwankenden Charakter so vieler ursprünglich rein solarer
oder lunarer Gottheiten bei allen Völkern, die so viel über-
flüssigen Streit verursacht hat. Sie gestatten eben die ver-
schiedensten Deutungen, je nachdem die eine oder die andere
Seite ihres Wesens mythisch zum Ausdruck gebracht wird.
Alle jene Beziehungen zu Zeitabschnitten, Vegetations- und
Jahresperioden sind eben sekundäre, die wir nur aus dem
Grundkern dieser Gestalten, den großen sichtbaren Himmels-
körpern selbst, verstehen können.
Hat die Religion naturmythologische Vorstellungen zu
Glaubenswahrheiten umgeformt, oder die Dichtung ihnen in
der Heldensage einen mehr oder weniger geschichtlichen
Charakter aufgeprägt, so können aus ihnen wiederum sekun-
zu
Ehrenreich; Allgemeine Mythologie,
däre Märchenelemente hervorgehen, die das Gerüst unserer
heutigen Volksmärchen bilden und die charakteristischen
Spuren der alten Göttermythologie oft so überraschend deut-
lich hervortreten lassen.
Indem sich dabei aber die Reste uralter Formen der
Naturmythologie, die der. Volksglaube durch alle Kulturstufen
hindurch treu bewahrt hat, mit jenen sekundären Ableitungen
durchdringen und ferner die individuelle Dichtung in der
Literatur die mythischen Stoffe mit freischaltender Phantasie
bearbeitet, sie kombiniert und bestimmten Tendenzen dienstbar
macht, so entstehen die überaus verwickelten Bildungen, wie
die indische und westeuropäische Märchenwelt sie aufweist,
deren Analyse nur innerhalb gewisser Grenzen möglich ist.
Doch hat gerade bei diesen Formen das Aufspüren der pri-
mitiven Naturmotive in ihren mannigfaltigen Verhüllungen
seinen besonderen Reiz,
Das zweite Moment der Weiterbildung ist die gegen-
seitige Beeinflussung der Völker, die sowohl in der Wan-
derung von Stoffen und Motiven als in einer mehr oder weniger
weitgehenden Assimilierung des Mythenbestandes innerhalb
eines größeren Kreises sich kund gibt.
Daß zwischen benachbarten Stämmen gegenseitiger Aus-
tausch seit ältester Zeit bestehen muß, ist ganz natürlich.
Gemeinsame Feste, die Aufnahme fremder Frauen, Kinder
und Sklaven in den Stamm, die Übertragung der Mitglied-
schaft von Geheimbünden durch Heirat oder deren gewaltsame
Aneignung (wie z. B. in Nordwestamerika) bedingen not-
wendigerweise auch eine Angleichung des Mythen- und Sagen-
besitzes. Systematisch sind diese Verhältnisse freilich bei
Naturvölkern noch nicht studiert. Genaueres wissen wir aus
Nordamerika, wo z. B. die Algonkin-Mythologie den größten
Teil der Präriestämme, auch der allophylen, beeinflußt hat,
Auch in Kalifornien, bei den fernen Athapasken des Nordens
und den pazifischen Küstenstämmen begegnen wir noch ihren
Spuren, Die letzteren haben wiederum trotz großer ethnischer
Verschiedenheit unter sich einen ziemlich weitgehenden mytho-
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 89
logischen Ausgleich hergestellt, Dasselbe gilt von den Pueblo-
völkern, die wieder die benachbarten Navahos und wahrschein-
lich auch einige Präriestämme beeinflußt haben. In Süd-
amerika scheinen die nördlichen arowakischen Stämme
mythisches Material bis weit in den Süden und Westen des
Kontinents verbreitet zu haben. Ebenso bestehen zwischen
Zentralbrasilien, Ostbolivien und dem Tupi-Guarani-Gebiet am
Paraguay und in Ostbrasilien mythologische Zusammenhänge,
die ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe‘.
In Afrika kennt man das Loango- und das Ervhe-Gebiet
als Ausstrahlungszentren, in Ozeanien hat innerhalb der
melanesischen nnd papuanischen Inselwelt die Mischung der
Rassen unter sich sowohl wie mit Polynesiern und Malayen
den Austausch der Traditionen erleichtert,
Da es sich in allen diesen Fällen um Völker von ziemlich
gleicher Kulturstufe handelt, so hat hier die Frage der Beein-
flussung weniger ein mythologisches als ein allgemein kultur-
geschichtliches Interesse, wie der Austausch des Kulturbesitzes
überhaupt. Der Charakter der Mythologie selbst wird dadurch
nicht wesentlich verändert, Das fremde Gut wird eben dem
einheimischen völlig assimiliert.
9, Weit wichtiger ist die Frage, wie die Mythen und Kulte
der höheren, namentlich der alten Kulturvölker die Vor-
stellungen der niederen Rassen beeinflußt und befruchtet
haben. Sie gehört zu den am meisten umstrittenen. Die
Theorien des „Völkergedankens“ und der Entlehnung
stehen sich noch schroff gegenüber und von den Vertretern
der letzteren suchen die einen in Indien, die andern in Ägypten
oder Babylonien den Ursprung aller mythologischen Vor-
stellungen, die bei den heutigen Naturvölkern sich nur als
degenerierte Reste erhalten haben sollen.
Da das ganze Problem noch niemals systematisch auf
umfassender Grundlage behandelt ist und daher noch riesiger
Vorarbeiten bedarf, so möge es hier genügen, durch einen
Hinweis auf das Tatsächliche einiges zur Klärung der Sache
beizutragen. ;
iy P. Ehrenreich, Mythen und Legenden der südamerikanischen Ur-
völker. Berlin 1905.
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Unmittelbar hervortretend ist der Einfluß Indiens auf
seine Nachbarländer (Hinterindien und den malayischen
Archipel), bis in das ozeanische Gebiet hinein, ferner über
einen großen Teil Hochasiens, Tibet, China und Japan. Jene
Sphäre ist die der hinduistisch-brahmanischen Religion und
Kultur, letztere die des Buddhismus und seiner Abarten.
Nicht minder bedeutsam ist Persien, das neben den
gemeinsamen altarischen Elementen die dualistische Religion
des Zoroaster zu einem großartigen System ausbildete und
damit auch tiefgreifende Einwirkungen auf das Christentum
ausübte unter Vermittelung der großen Sektenbildungen der
Manichäer, Gnostiker und des Mithraskults, Diese iranischen
Traditionen zeigen ihre deutlichen Spuren in Zentralasien bei
den Turkvölkern, ferner bei den finnisch-ugrischen Stämmen,
den Slaven und Germanen. Auch ein Vordringen einzelner
Elemente bis nach Nordamerika liegt nicht außer Bereich
der Möglichkeit?
Die großartigen Entdeckungen der Neuzeit in Ostturkestan
und der Mongolei, dem Herzen des alten Uigurenreichs, wo
sich indo- und graecobuddhistische, iranische und christliche
Kulturelemente gegenseitig durchdrungen haben und in zahl-
losen Literaturresten zu uns reden, werden uns sicherlich die
Ausbreitungslinien der Traditionen über ganz Asien hin und
darüber hinaus erkennen lassen.
Auch die Periode des großen Mongolenreichs des Dschin-
gischan und seiner Nachfolger, denen jene alte zentralasiatische
Kultur erlag, kommt trotz ihres zerstörenden Einflusses doch
wegen der mit ihr verbundenen Völkerverschiebungen und
Zersplitterungen für die Ausbreitung und Assimilierung von
Sagenmaterial in Betracht.
Noch wichtiger ist der während des ganzen Mittelalters
dauernde Einfluß der Araber, die die indisch-iranische
Märchenwelt den westlichen Ländern übermittelten. Nicht
nur Europa, sondern auch Nord- und Ostafrika bis in das
Gebiet der Kaffernstämme hinein ist in dieser Beziehung von
ihnen beeinflußt,
N Dähnhardt, Natursagen 1, p. 74 £.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 91
Einer älteren Schicht gehören die Einflüsse der grie-
chischen Kulturwelt auf die mythologisch merkwürdig wenig
entwickelte römische an, die dadurch völlig umgestaltet wurde,
Griechenland selbst hat vieles vom Orient, Syrien, Baby-
Jonien und Ägypten übernommen, entweder direkt oder durch
Vermittelung kleinasiatischer Völker‘, von denen wiederum
die Phrygier als selbständiges Element besonders bedeut-
sam sind.
Die römische Kaiserzeit hat dann eine völlig regel-
lose Amalgamierung aller möglichen orientalischen Elemente
mit griechisch-römischen zuwege gebracht, von der auch das
Christentum noch Spuren trägt,
Wie steht es nun mit der ältesten Schicht, den Einflüssen
der babylonischen Weltanschauung und ihrer Mythen? In
welchem Sinne besteht die panbabylonische Theorie
zu Recht, die alle Mythen der Welt als Niederschlag der alt-
babylonischen oder allgemein der altorientalischen Astral-
religion auffaßt, also als die popularisierte Form einer uralten
Astrallehre, die Wissenschaft und Religion in sich begriff?
Die babylonische Theorie wird in zwei Fassungen auf-
gestellt, nämlich .
ı. alle Mythen sind Astralmythen, die kein Volk aus sich
selbst heraus geschaffen haben kann. Da die Urheimat der
Astronomie Babylonien ist, so müssen alle Mythen babylo-
nisches Lehngut sein und sind nur aus dem babylonischen
Welt- und Himmelsbild verständlich, Da ferner diese Astral-
lehre als religiös-wissenschaftliches System schon in der
ältesten für uns: erreichbaren Zeit, etwa dem vierten VOor-
ehristlichen Jahrtausend vollständig abgeschlossen vorliegt,
ıy Doch läßt sich hierbei nicht immer entscheiden, wer der nehmende
und wer der gebende Teil war. Die merkwürdigen, neuerdings von Jensen
zwischen griechischen und jsraelitischen Sagen nachgewiesenen Analogien
sind ganz unverkennbar, auch wenn ein Teil derselben sich nur als scheinbar
herausstellen sollte. Jedenfalls ist es unzulässig, sie einfach als „wüste Phan-
tastereien abzulehnen“, so bequem das auch sein mag. Damit ist aber die
Priorität der israelitischen durchaus noch nicht erwiesen, zumal das Alter der
biblischen Tradition in der vorliegenden Form höchst problematisch bleibt.
Es ist ebensogut möglich, daß die griechische Tradition die ältere ist und
überhaupt der Schlüssel des Rätsels in Kleinasien zu suchen ist.
32
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
so sind ihre Anfänge noch mehrere Jahrtausende früher zu
setzen, in eine Periode, die der heutigen Verteilung der Rassen
auf der Erde vorausgeht, als also die meisten Völker noch
in ihren asiatischen Ursitzen saßen. Von dort hätten sie
dann Reste jener altorientalischen Anschauungen in ihre
gegenwärtigen Ausbreitungsgebiete mit sich genommen.
Diese Auffassung wird von Hugo Winckler! vertreten,
dem auch Stucken nahe steht.
Die andere geht hauptsächlich auf Jeremias? zurück.
2. Die babylonische Astrallehre ist am Beginn der Ge-
schichte fertig und hat sich im Verlaufe der Jahrtausende in
einzelnen Zügen über die ganze Erde verbreitet, demgemäß
auch bei wilden Völkern ihre Spuren hinterlassen. Das Vor-
kommen roher astraler Naturmythen auch bei diesen wird
ausdrücklich anerkannt, ihnen aber nur eine geringe Bedeu-
tung zugeschrieben, da alle Mythen, die unserer Untersuchung
zugänglich sind, immer ein mehr oder weniger deutliches
vabylonisches Gepräge tragen. Das gilt besonders für die
auf der ganzen Welt verbreiteten Plejadenmythen. '
Beide Theorien lehnen das Problem der Mythenentstehung
von vornherein ab und verfahren rein deduktiv. Der baby-
lonische Mythus ist als Voraussetzung gegeben, die Mythen-
forschung wird zu einem einfachen „Anhängsel der Assy-
riologie“,
Die erste strengere Fassung ist vom ethnologischen Stand-
punkte aus undiskutierbar, Auch wenn die Hauptvoraus-
setzung, daß das spätere astronomische System der Babylonier
in dieser Form schon der allerältesten Zeit vor Beginn der
Geschichte angehört, sich bestätigen sollte — vorläufig be-
stehen darüber unter den Fachleuten selbst die allergrößten
Meinungsverschiedenheiten ? — so blieben noch zwei andere
“) Winckler, Die babylonische Kultur mit ihren Beziehungen zur
ansrigen. 2 Aufl. Leipzig 1902, — Himmels- und Weltenbild der Babylonier.
2. Aufl. Leipzig 1903, — Stucken, Astralmythen. Leipzig 1897—1907.
") Jeremias, Das alte Testament im Lichte des alten Orients. 2. Aufl.
Leipzig 1907.
°) M.Jastrow, Die Rel. d, Babylonier 2, p. 432, 455 ff, — X. Ku gler,
Auf den Trümmern des Panbabylonismus. Anthropos IV, p. 477—499.
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen, 93
mit allen unseren sonstigen Kenntnissen unvereinbare, ja
geradezu unvorstellbare,
1. daß die babylonische Kultur älter sei als die gegen-
wärtige Verteilung des Menschengeschlechts,
2. daß kein Volk außer den Babyloniern je Sterne
beobachtet habe, Astralmythen also an sich schon ohne
weiteres babylonische oder altorientalische Ideenübertragung
bewiesen.
Beide Annahmen entbehren jeder Grundlage, Systematisch
ausgebildete, auf Rechnung beruhende Kalenderkunde und
Astronomie darf mit der primitiven Himmelsbeobachtung der
Naturvölker zu rein praktischen Zwecken nicht zusammen-
geworfen werden. Die letztere ist logisch wie psychologisch
als eine Vorstufe, nicht als degenerierte Form der ersteren
zu betrachten, wenn überhaupt ein Entwickelungsgesetz auch
die geistige Welt beherrscht.
Was sonst über diese Frage zu sagen wäre, hat P. W.
Schmidt in seiner wichtigen kritischen Abhandlung: Der
Panbabylonismus (Mitt, d. anthr. Ges. Wien, Bd, 38) ein-
gehend dargelegt, ohne bisher eine Erwiderung seitens der
Gegner gefunden zu haben.
Die zweite Fassung der Theorie enthält einen annehmbaren
Kern. Da nachweislich sowohl die chinesische, wie die
indische Kulturwelt astralmythologische Elemente von Babylon
her direkt oder indirekt empfangen hat, sei es auch erst in
späterer Zeit, als die sogenannte chaldäische Astrologie voll-
ständig ausgebildet war, oder selbst schon griechische Ele-
mente aufgenommen hatte, so ist es nur natürlich, daß die
von China oder Indien beeinflußten Völker gleichfalls Spuren
babylonischer Anschauungen in ihren Traditionen aufweisen.
In welchem Maße das der Fall ist, muß Gegenstand besonderer
Prüfung sein. Anzeichen dafür sind die Fünf- oder Sieben-
zahl der Planeten, der Tierkreis, die Mondstationen, die Sint-
flutsage mit Erhaltung der charakteristischen babylonischen
Motive, sowie gewisse Formen der Zwillings- und Plejaden-
mythen. Bloße Analogien in allgemein verbreiteten, auf ein-
facher Naturbetrachtung beruhenden Mythen und Motiven be-
weisen hierfür nichts. Das gilt namentlich für einen großen
94
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Teil .des von Stucken beigebrachten Materials. Herab-
stimmend ist im übrigen die Tatsache, daß in einigen Fällen,
wo indische Kultureinflüsse historisch feststehen und auch
aus dem materiellen Kulturbesitz deutlich hervortreten, die
Mythologie des betreffenden Volks, von einigen Namens-
gleichungen abgesehen, kaum eine Spur von Verwandtschaft
mit der indischen erkennen läßt, wie z. B. bei den Dayaks
von Borneo, im Gegensatz zu den Battaks auf Sumatra, die
einen starken indischen Einschlag erkennen lassen. Wir
werden im allgemeinen gut tun, die babylonischen Vorstellungen
nur da zur Erklärung heranzuziehen, wo deutliche Spuren
davon in den oben erwähnten Momenten vorhanden sind,
oder besondere historische und geographische Verhältnisse,
wie etwa die Einflußsphäre der Inder und Araber von vorn-
herein dafür sprechen.
Ein besonderes Interesse knüpft sich an die Frage der
Beeinflussung der. amerikanischen Mythenwelt durch
die altweltliche, die jedoch dadurch verwirrt wird, daß man
das Problem der Entstehung der altamerikanischen Kulturen
damit verquickt. Dieses ist erst dann zur Erörterung reif,
wenn das Verhältnis der altamerikanischen Kulturen zuein-
ander, also der mexikanischen zu der der Maya und beider
zur kolumbischen und peruanischen einigermaßen klar gestellt
ist. Außerdem hat man sich des wunderlichen Vorurteils zu
entschlagen, als sei die amerikanische Kultur etwas ganz
Absonderliches, eine Geistestat, die jener Rasse nicht zuzutrauen
sei, während in Wahrheit die amerikanische an geistiger
Befähigung nur von der europäischen und mongolischen über-
troffen wird, jedenfalls also den dritten Platz behauptet, und
alle Charakterzüge ihrer Kulturen, namentlich ihre astrono-
mischen Anschauungen und sozialen Bildungen bei den
primitiveren amerikanischen Stämmen bereits im Keime vor-
gebildet sind. .
Andererseits unterliegt es heute keinem Zweifel mehr,
daß zunächst zwischen Nordwestamerika und Nordostasien
ein Zusammenhang der mythischen Überlieferungen besteht,
und daß asiatische Elemente auch bei den südlicheren
Stämmen (Kaliforniern und Prärieindianern) sporadisch vor-
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 95
kommen, einiges sogar bis nach Südamerika hin verfolgbar ?!
ist, hier freilich ohne besondere Beeinflussung des allgemeinen
Charakters der Erzählungen, Daß dieser Import fremden
Guts aber in eine graue Vorzeit zurückreicht, ist unbewiesen
und kaum wahrscheinlich®. Es wird sich damit ähnlich ver-
halten, wie mit der Übernahme gewisser Stücke des materiellen
Kulturbesitzes. So hat z. B. Alaska den Tabak nicht direkt
aus seiner südlichen Heimat, sondern auf dem Umwege über
Asien her erhalten, wie auch aus den asiatischen Pfeifen-
formen der dortigen Eskimo und Dene hervorgeht. Am
Kolumbiafluß treten unvermittelt asiatische Kanuformen bei
den Kutenai auf. Auch die Analogie des mexikanischen
Patollispiels mit dem indischen Pachissi gehört in diesen
Zusammenhang.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß es den altwelt-
lichen Urvölkern niemals an Gelegenheit gefehlt hat, fremdes
Material aus höheren Kulturschichten aufzunehmen, und daß
für Amerika, Australien und Polynesien das Auftreten Zzer-
streuter altweltlicher Elemente wenigstens wahrscheinlich
erklärlich wird.
Daneben vollzog sich, wie die unverkennbare Mythen-
verwandtschaft selbst stammesfremder Gruppen innerhalb
größerer geographischer Areale beweist, ein Ausgleichungs-
prozeß zwischen den benachbarten Völkern gleichviel welchen
Stammes, der sicherlich sehr früh begonnen hat. So dürften die
auffälligen Beziehungen zwischen den nordischen, slavischen,
iranischen. finnischen und uralaltaischen Traditionen in eine
1) Ausführliches darüber in meinen Mythen und Legenden der süd-
amer. Urvölker.
?, Ein wichtiges, bisher noch allzuwenig beachtetes Element für den
Import europäischen Märchenmaterials nach Amerika sind die französischen
„Voyageurs“, Jäger und Händler, die während des 17. und 18. Jahrhunderts
die entlegensten Gegenden Kanadas und der heutigen Unionsstaaten durch-
zogen und stets als Freunde der Indianer mit diesen in engster Berührung
standen. Viele dieser Erzühlungen werden von den Indianern selbst als
Fremdgut anerkannt und auf diese Voyageurs zurückgeführt. In einzelnen
Gegenden Südamerikas hat die Kolonisation dazu beigetragen. So hat Leh-
mann-Nitsche die Übernahme Grimm’scher Märchen durch die Araukaner
and Pampasindianer festgestellt (Verh. des intern. Amerikanisten-Kongresses
in Stuttgart 1904).
J6
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Zeit zurückreichen, wo jene Völker noch auf einer ziemlich
gleichmäßig niederen Kulturstufe standen, also nicht erst
durch die literarische Festlegung der Mythen bedingt sein.
Wahrscheinlich handelt essich vielmehr um urindogermanisches
Erbgut, an dem auch die benachbarten asiatischen Stämme
durch frühen Kontakt Anteil hatten. Für die Finnen wenigstens
ist das vollkommen sicher *.
Dagegen beweist die Isoliertheit eines Volks in historischer
Zeit nicht, daß dessen Abschließung eine sehr alte ist, oder
gar in Urzeiten zurückreicht. So braucht z. B. die tatsäch-
liche Abgeschlossenheit der im Jahre 1884 im Xinguquell-
gebiet entdeckten brasilischen Urvölker, die weder den Hund
noch die Bananenkultur kannten, nicht älter zu sein als die
Zeit der großen Entdeckungen, also 400 Jahre, wahrscheinlich
ist sie weit Jünger.
Es steht also der Annahme nichts im Wege, daß lange
vor jenen historisch erweislichen großen Völker- und Kultur-
bewegungen die Bewohner jeder größeren geographischen
Provinz miteinander im Austausch standen und ebenso wie
ihr Kulturbesitz auch ihr Sagenbestand ein Mischprodukt aller
möglichen Elemente aus näheren oder ferneren Gegenden
darstellt. Wieweit diese Mischung geht und welche Anhalts-
punkte, um Fremdes vom Einheimischen zu scheiden, VOor-
handen sind, hat die Mythenvergleichung von allgemeinmytho-
logischen Gesichtspunkten aus zu entscheiden.
Die Frage, ob es überhaupt Völker gibt, deren Mythen
und Märchen völlig selbständig entstanden sind und ob
größerer Reichtum mythischer Produktion nicht eben nur
durch eine solche Befruchtung der Phantasie durch fremde
Einwirkungen zustande kommt, 1äßt sich zurzeit noch nicht
völlig zufriedenstellend beantworten.
Im allgemeinen scheint in der Tat die Reichhaltigkeit
der Mythologie um so geringer Zu sein, je primitiver und ab-
geschlossener ein Volk dahin lebt. Ein gewisser Vorrat an
1) O, Schrader, Reallexikon, p. 893 £.
Kapitel V. Mythologisehe Entwickelungsstufen. 97
naturmythologischen Märchen aber kommt jedem Volke zu,
und daß diese bei gleicher Naturgrundlage unabhängig von
Zeit und Ort Ähnlichkeiten aüfweisen müssen, ist nur natür-
lich. Jeder Versuch, hierbei Entlehnungen oder Beeinflussungen
nachzuweisen, wird vergeblich sein, wenn nicht bestimmte
linguistische oder sachliche Momente dafür sprechen. So
beweist z. B. das Auftreten arowakischer Namen in den
Mythenmärchen der Karaiben Zentralbrasiliens zum Teil mit
Umkehrung ihrer Grundbedeutung, daß hier Lehngut oder
Beeinflussung aus dem arowakischen Völkerkreise vorliegt,
Ahnliches läßt sich zwischen Polynesiern und Melanesiern,
„wischen Hottentotten und Kaffern feststellen.
Wir haben somit zwei Momente auseinander zu halten,
ı.die gegenseitige Beeinflussung der Einzelvölker untersich,
2, die gemeinsame Beeinflussung durch die von höheren
Kulturen ausgehenden Strömungen.
Die erstere führt zu einer fast völligen Verschmelzung
der mythischen Elemente, entsprechend dem Gesamtcharakter
der Kultur des betreffenden Volks. ‚Auf gleicher psychischer
Grundlage beruhend können solche Amalgamierungen vom
allgemein mythologischen Standpunkt aus als einheitliche
Erscheinungen betrachtet werden. Ihre Zerlegung in die
einzelnen ethnischen Bestandteile ist nur von ethnologischem,
nicht von allgemein-mythologischem Interesse.
Die Beeinflussungen der zweiten Gruppe sind weit leichter
erkennbar, da hier die Elemente nur locker verbunden sind.
Eingeführtes überlagert als leicht ablösbare Schicht die pri-
mitiveren Gebilde. Die Erzählungen sind oft en bloc über-
nommen und rein äußerlich mit heimischem Material in Ver-
bindung gebracht, die Namen oft ohne weiteres als fremd-
artig erkennbar, Im religiösen Mythus sind manchmal nur
die Götternamen übernommen, während die Handlung sich
ganz in einheimischen Vorstellungen bewegt. Dieser Fall
ist besonders häufig in den Mythen der malayischen Völker
Mytholog. Bibliothek: Ehrenreich,
A...
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
(Sumatra und Borneo), die auch sonst für diese Entlehnungs-
fragen von großem Interesse sind.
So lassen sich viele Traditionen der Malakkastämme als
buddhistisch, solche von Java und Sumatra und Bali als
hinduistisch erkennen. Ebenso verhält es sich mit dem semi-
tischen Material in Griechenland, mit dem iranischen in
Zentralasien. Es gibt Motive, die in der alten Welt ungemein
häufig, in Amerika dagegen so selten sind, daß ihr Vorkommen
fast sicher auf Import hinweist, so z. B. das Motiv der aus-
gebotenen Königstochter, das in Amerika nur einmal bei den
Osages vorkommt, Auch das der gefährlichen, die Männer töten-
den Braut in den Mythen der Caddostämme scheint yon außen
her entlehnt. Das Auftreten der sogenannten drei mythischen
Brüder ist für die indo-europäische Märchenwelt so charakte-
ristisch, wie die Rolle der Siebenzahl mit ihrer Übertragung
vom Kalender auf Farben und Metalle, für Mythus und Welt-
bild des babylonisch-orientalischen Kulturkreises. Aus beiden
gewinnen wir somit Anhaltspunkte für Bestimmung ihrer
Einflußsphäre. Die vergleichende Mythologie hat hier also
ein weites Feld, durch umfassende Vergleichungen die Motive
und mythischen Elemente auf ihren Ursprung zurück zu ver-
folgen, und ihren Veränderungen und Umdeutungen nachzu-
spüren, Älteres von Jüngeren, höhere von vrimitiven Vor-
stellungen zu sondern.
Neuerdings wird von einem Teil der Mythenforscher viel-
fach die Frage aufgeworfen, ob. nicht aller Mythenbesitz
primitiver Völker in letzter Linie der literarischen Überliefe-
rung der Kulturvölker entstammt, deren entarteter Rest er sei.
Schon die panbabylonische Theorie vertritt gewissermaßen
diese Anschauung. Ihre Ablehnung schließt die Möglichkeit
nicht aus, daß etwa indische, iranische oder antike Götter-
und Heldensagen als Urstoff alle ähnlichen Bildungen auf
der Welt veranlaßt hat und somit das, was die Naturvölker
davon zeigen, nur eine degenerierte Nachbildung jener höheren
Tradition darstellt,
Hierzu Stellung zu nehmen ist erst dann angezeigt, wenn
die Vertreter dieser Auffassung, meist Spezialisten auf indo-
iranischem Gebiet, sich erst einmal eine so eingehende Kenntnis
Kapitel V. Mythologische Entwickelungsstufen. 99
des Mythenbesitzes exotischer Völker verschafft haben werden,
um die Berechtigung so weit reichender Schlüsse nachprüfen
zu können. Vorläufig kommen wir mit der Annahme einer
Wanderung gewisser Formen vollkommen aus, für die aber
die Übereinstimmungen in rein naturmythologischen Zügen
nicht beweiskräftig sind.
Kapitel VI.
Stoffe der Mythologie.
Daß alles menschliche Erfahren ursprünglich zu mythi-
schem Ausdruck drängt, ist längst anerkannt. Woher schöpft
der Mensch aber seine Erfahrung? Zunächst aus der Natur,
in der er seit Anbeginn lebt und webt, ferner aus seinem
eigenen Leben, seinen Schicksalen, seinen körperlichen und
seelischen Zuständen, endlich auch aus seiner Stellung zu den
Mitmenschen, also der gesellschaftlichen Umwelt in ihren
historischen Formen und Formveränderungen.
Sofern aber der Mensch selbst nur ein Teil der Natur ist
und seine Lebensformen überall durch die Naturverhältnisse
bestimmt und beherrscht werden, so wäre in letzter Linie
jede Mythologie Naturmythologie.
Die Frage, ob es überhaupt einen Naturmythus gibt,
braucht also gar nicht erst erörtert zu werden.
Die Bedeutung der Natur als der Quelle mythischer
Vorstellungen ist niemals ganz verkannt worden, Schon die
Alten waren sich des innigen Zusammenhanges ihrer Götter-
gestalten und deren Mythen mit den Eindrücken der Natur
stets bewußt! und erst der Überkritik der modernen Zeit im
ı) Vgl. hierüber die Bemerkungen L. Heidemanns (Elem. d. gr.
Rel.-Gesch., Beiblatt d. Germania Nr. 52, 1908): „Platon sagt von der Ur-
bevölkerung Griechenlands, daß ihr Glaube mit dem der meisten Barbaren
übereinstimmte, indem sie Sonne, Mond, Erde, die Sterne und den Himmel
als Gottheiten verehrten .... So waren nach Aristoteles ursprünglich auch
nur-die Gestirne göttliche Wesen, wie von der Väterzeit her uns den Späteren,
in Gestalt des Mythus überliefert ist“.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 101
Verein mit der zunehmenden Naturentfremdung des Kultur-
menschen war es vorbehalten, das Selbstverständliche, im
innersten Wesen des Menschen Begründete wieder in Zweifel
zu ziehen.
Zu weit gefaßt würde der Begriff Natur aber Stoffe
vereinigen, die mythologisch völlig ungleichwertig sind, Wir
beschränken ihn daher aus praktischen Gründen auf die
außerhalb des Menschen stehende Erscheinungswelt und stellen
dieser die Welt der menschlichen, der seelischen und gesell-
schaftlichen Erscheinungen gegenüber. Eine scharfe Sonde-
rung beider Gruppen besteht aber schon deshalb nicht, weil
jede Wiedergabe von Natureindrücken und Vorgängen als
menschlicher Handlungen in einer Form erfolgen muß, die
den allgemeinen Lebens- und Kulturverhältnissen des betreffen-
den Volks angepaßt ist.
Beide Abteilungen umfassen aber alles wesentliche. Was
sonst noch vorhanden ist, mag reines Phantasieprodukt sein
und als solches unerklärt bleiben. Jedoch ist es fraglich, ob
sich die mythenbildende Phantasie überhaupt ohne eine sinn-
liche oder Erfahrungsgrundlage betätigen kann. denn die
Möglichkeit rein erfundener Erzählungen würde noch nicht
Jeren Lebensfähigkeit als Mythen beweisen.
Mit Ausdrücken, wie reine Phantasiebildung, spontane
Entstehung, Produkt des Folklore muß man in mythologischen
Erörterungen so sparsam wie möglich sein,
Nehmen wir den Naturmythus als gegeben an, so fragt
es sich weiter, welchen Anteil die einzelnen Naturerschei-
nungen und Vorgänge an der Bildung mythologischer Vor-
stellungen haben und wie aus diesen im Einzelfalle eine von
einheitlichen Gedanken getragene mythische Erzählung ent-
steht. Letzteres ist hauptsächlich ein psychologisches Problem,
dem Wundt einen Hauptabschnitt seines großen Werkes ge-
widmet hat,
Die allgemeine und vergleichende Mythologie wird, soweit
sie sich an das Sachliche hält, zu erklären haben, wie aus
wenigen einfachen Naturanschauungen eine große Zahl my-
thischer Gebilde entstehen kann.
In diesem Zusammenhange ist noch eine wichtige Prin-
‘99
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
zipienfrage zu erörtern, ob nämlich die Naturbeziehungen nicht
oft erst sekundär in den Mythus hineingelegt sind.
Es handelt sich dabei hauptsächlich um himmelsmytho-
logische Vorstellungen, die in Erzählungen von augenscheinlich
menschlich irdischem Charakter auftreten.
Die neuere Richtung der Mythenforschung in Nordamerika,
die unter Führung einer Autorität wie Franz Boas steht!,
geht von der Tatsache aus, daß Mythen und Märchen fast
stets Vorgänge, Handlungen und Erlebnisse der irdisch-mensch-
lichen oder tierischen Welt darstellen, die zunächst als rein
fiktive, dichterische Produkte der Volksphantasie, des Folklore,
zu betrachten sind. Zeigen sich darin Züge der Natur- und
Himmelsmythologie, sind z. B. die Helden mit Namen be-
zeichnet, die auf Himmelserscheinungen, wie Sonne, Mond
und Morgenstern hindeuten, so hat eine nachträgliche Identi-
fikation der irdischen Helden‘ mit diesen Himmelskörpern
stattgefunden oder die himmlischen Persönlichkeiten treten
einfach für die irdischen ein, was dann wiederum eine Ein-
führung solarer oder lunarer Motive in die Handlung zur Folge
hat. An primäre Himmelsmythen ist nur in den wenigen
Fällen zu denken, wo die Handlung ausdrücklich im Himmel
sich abspielt und die betreffenden Himmelswesen direkt an-
gegeben sind.
Daß solche sekundären Übertragungen vorkommen, unter-
liegt keinem Zweifel. Das beweist schon die überaus häufige
Ausstattung historischer Helden mit himmelsmythologischen
Zügen, aber diese müssen schon dem Volksglauben geläufig
sein, um so verwendet zu werden.
An eine sekundäre Übertragung wird man besonders in
den übrigens seltenen Fällen zu denken haben, wo in einer
rein irdischen Erzählung etwa nur die Namen der handelnden
Personen auf Himmelswesen hindeuten, ohne daß sich sonst
himmelsmythologische Motive finden. Liegt die Sache aber
umgekehrt, sind diese Motive in ihrer charakteristischen Form
und Folge vertreten, ohne daß die Namen auf himmlische
‘'\ Eine gute Einführung in die Theorie dieser Schule gibt die kritische
Abhändlung und Dissertation von R. H. Lowie, The test theme in north-
american mythology.. Journ. of Am. Folklore 21, pvp. 97— 148.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie, 103
Wesen deuten, was bei näherer Prüfung aber oft dennoch der
Fall ist, so spricht die irdische Fassung keineswegs gegen
ein ursprüngliches himmlisches Urbild der Erzählung nament-
lich dann nicht, wenn sich ähnliche Erzählungen an den ver-
schiedensten Punkten der Erde wiederholen. Dann bleibt,
wenn wir nicht zu schwierigen unbeweisbaren Wanderungs-
hypothesen greifen wollen, nur die Annahme eines auf irdische
Verhältnisse übertragenen Himmelsmythus übrig, der all-
gemein Sichtbares überall in analoger Weise zum Ausdruck
bringt. Die Zahl der Beispiele hierfür ist Legion. Es sei
nur auf das riesige von Stucken in seinen Astralmythen
zusammengestellte Material verwiesen, das, mögen die vom
Verfasser daraus‘gezogenen Schlüsse auch noch so anfecht-
bar sein, doch zweifellos himmelsmythologischen Ursprungs
ist, oder mindestens von derartigen Vorstellungen durchsetzt
ist. Es ist ausgeschlossen, daß sich solche weitreichenden
Analogien ohne eine gemeinsame Naturgrundlage hätten bilden
können. Welcher Art diese ist, muß die vergleichende Analyse
entscheiden und diese ergibt, daß in der überwiegenden Mehr-
zahl der Fälle der Mond, in einigen die Sonne oder die von
Stucken in den Vordergrund gestellten Plejaden mit Orion
in Frage kommen.
Jedenfalls sind wir bei solchen Erfahrungen berechtigt,
jede Erzählung von scheinbar rein irdischem Charakter auf
die etwa darin enthaltenen himmelsmythologischen Elemente
zu prüfen, nicht aber diese Frage von vornherein abzuschneiden.
Ob im gegebenen Falle die himmelsmythologischen Beziehungen
sekundär sind oder nicht, hat für die allgemeine Mythologie
keine praktische Bedeutung, wenn wir überhaupt die Natur-
erfahrung als Grundlage mythischer Anschauungen erkannt
haben.
Es handelt sich hier um eine Frage der Psychologie.
Wir sehen, daß beide Prozesse das vermenschlichende Herab-
rücken himmlischer Erscheinungen auf die Erde, das Hinaus-
projizieren irdischer Erfahrungen in die äußere Natur ‚und
den Himmel sich fortwährend nebeneinander abspielen und
so eine völlige Assimilation irdischer und himmlischer Vor-
stellungen erzeugen,
104
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Was die Boas’sche Schule im Auge hat, ist offenbar nichts
anderes als diese von Wundt so eingehend behandelte Er-
scheinung der Assimilation.
Sicherlich beginnt die mythologische Entwickelung auf
irdischem Boden, insofern erst Erfahrungen in der nächsten
Umwelt gemacht sein müssen, ehe man sie in die himmlische
Welt projizieren kann. Der Mensch muß erst verschlingende
Tiere fürchten, ehe er vom Verschlingen des Mondes durch
die Sonne reden kann. Er muß Jäger sein, um die Sonne
als pfeilschießenden Jäger anzusehen... Wundt ist also ganz
im Recht, wenn er (Mythus 3, p. 229) darlegt, daß nicht die
Himmelserscheinungen von vornherein auf die Erde verlegt,
sondern erst nach irdischen Erfahrungen in das irdische Leben
einbezogen werden,
Dasselbe gilt für das Tiermärchen, das menschliche
Handlungen auf Tiere überträgt.
Das beweist aber noch nichts für den Mythus oder das
Märchen im Sinne einer Erzählung von wunderbarem, aben-
teuerlichem, übermenschlichem Charakter.
Die einfache Schilderung irdischer Vorgänge, seien sie
wirklich oder erdichtet, ist noch kein Mythus und kein Märchen.
Sie wird erst dazu durch phantastische Motivierung, durch
Einführung des Außergewöhnlichen, des Übernatürlichen.
Diese Elemente liefern nun
1. der Dämonen- und Zauberglaube, oft in Verbindung
mit den Erfahrungen des Traumlebens und visionärer Zu-
stände,
2, diejenigen Himmelserscheinungen, die uns solche
wunderbaren Vorgänge handgreiflich vor Augen führen. Nur
am Himmel sehen wir den Vorgang der Verschlingung eines
Wesens und dessen unversehrtes Wiederausschlüpfen, seine
Wiedergeburt nach vorhergehender Tötung und Zerstücke-
lung, wachsendes Gold, nachwachsende Lebern und Drachen-
köpfe, unsichtbar machende Tarnkappen, Entstehung eines
Wesens aus der Rippe oder überhaupt dessen magische Geburt.
Pür manche Forscher, zu denen u. a. auch Lowie zu
gehören scheint (vgl. a. a. 0. p. 100) sind derartige Vorkommnisse
freilich die natürlichsten Dinge von der Welt, an deren irdischer
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie.
105
Unterlage nicht zu zweifeln ist. Das ist eben Ansichtssache,
die keiner weiteren Diskussion bedarf, |
Ein himmlischer Vorgang kann nun aber gar nicht anders
als in Ausdrücken beschrieben werden, die den menschlichen
Verhältnissen entnommen sind. Das liegt in der Natur der
Sprache begründet. Schon Goethe sagt, der Mensch müsse
bei seiner Anschauung ungewöhnlicher Naturverhältnisse stets
nach menschlichen Ausdrücken greifen, wobei er seinen Gegen-
stand herabziehe.,
Jedenfalls erhält dadurch der himmlische Vorgang von
vornherein das Gepräge einer irdischen Handlung, auch wenn
er zunächst noch am Himmel sich abspielt. Nichts verwischt
sich aber in der Mythologie leichter, als die Grenze zwischen
Himmel und Erde?,
Im Neumond ist für den Naturmenschen der Mond ge-
storben, wiedergeboren wird er im Westen. Diese wunder-
bare Erscheinung beruht auf magischer Ursache (Motiv der
magischen Empfängnis oder Geburt). In der Neusichel liegt
der Neugeborene in einer Schale, Muschel, Krippe, Futter-
schwinge, einem Korbe u. dgl. Er wächst schnell heran,
kämpft mit einem schwarzen Ungeheuer, das ihn verschlingt.
Aus dessen Seite bricht er wieder unverletzt hervor. Eine
weitere Verschlingung erfolgt im Osten durch die Sonne, Er
bleibt drei Tage im Bauche des Dämons, um am vierten aufs
neue zu erstehen; oder aber er wandert nach Osten dem
scheinbaren Mondlauf entsprechend zu seinem Vater oder
Ahnen, der Sonne, wo er in der abnehmbaren Sichel der
Kesselprobe unterworfen wird.
So wird also durch die bloße Beschreibung des erschauten
Mondwechsels das Mondschicksal von selbst zum *Helden-
schicksal und es ist nur natürlich, daß gelegentlich umge-
kehrt auch ein irdischer Held dem Mondhelden angeglichen
'‘) Vgl. auch Siecke, Drachenkämpfe, p. 98.
%) Unter diesem Gesichtspunkt ist es nicht recht verständlich, warum
Wundt die primäre Translokation 'himmlischer Vorgänge auf die Erde als
psychologisch unmöglich zurückweisen will, Daß der Einfluß der Himmels-
erscheinungen auf irdische Stoffe ein plöt zlicher gewesen sei und es je
eine Zeit gegeben habe, wo letztere nicht vorhanden waren (Mythus 3, p. 229)
hat meines Wissens noch niemand behauptet,
106
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
wird, Durch diese Übertragung von mondmythologischen
Zügen auf den irdischen, selbst den geschichtlichen,
Helden wird dieser eben ein mythischer.
Gleiches gilt von der Sonne, wenn sie als wilder Jäger
Sterne verfolgt, verschlingt oder opfert, wenn sie als Held
die Finsternis oder in der Eklipse die sie vertretenden Dä-
monen bekämpft, oder selbst am Erdrand durch Ungeheuer ver-
schlungen wird, um dann emporsteigend die nachtverschlun-
gene Welt zu neuem Leben zu erwecken,
Eine andere Möglichkeit, Sonne und Mond direkt zu
irdischen Wesen zu machen, liegt in den Tiergestalten,
als welche sie apperzipiert werden.
Theromorphe Sonnenwesen sind im Mythus und Märchen
häufig Adler, Schwan, Löwe, Stachelschwein und Roß. Für
den Mond kommen in Betracht besonders gehörnte "Tiere,
Bock, Widder, Ziege, Kuh, ferner aber solche, die in die
Fleckenfigur hineingesehen werden, wie Hase, Frosch, Kröte,
Spinne, Schildkröte, vielleicht auch Schlange.
Außer diesen über die ganze Welt unabhängig von den
ethnischen Gruppierungen vorkommenden Sonnen- und Mond-
tieren finden sich zahlreiche andere von lokaler Bedeutung,
deren Entstehung nicht unmittelbar aus der Form klar ist.
Sie beruhen offenbar auf Assoziationen, deren Reihe meist
nicht mehr ohne weiteres rekonstruiert werden kann.
Die Beeinflussung des irdischen Tiermärchens durch diese
Himmelstiere ist unbestreitbar und gibt sich durch das Auf-
treten der Himmelsmotive in jenen deutlich kund,
Soviel über das Wechselspiel der Projektion menschlicher
Erfahrungen an den Himmel und ihre Rückwanderung auf
die Erde, das, wie Wundt ausführlich dargelegt hat, die
Mythenentwickelung von Anbeginn an begleitet und geradezu
zum Wesen des Mythus gehört.
Die einseitige Betonung der sekundären Übertragungen
im Sinne der amerikanischen Schule würde die Mythologie
in ein Chaos verwandeln, ohne etwas zur Erklärung beizu-
tragen.
:) Wie in dem Kaffernmärchen von Sikulume bei Wundt, Mythus 3,
m 9241
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie.
167
Mythische Stoffe liefert also
[ die Natur.
d. h. die gesamte Umwelt des Menschen, umfassend die
kosmischen und atmosphärischen Erscheinungen, die orga-
nischen und anorganischen Gebilde, also Tier- und Pflanzenwelt,
sowie Erdoberfläche,
Der Mythus gibt entweder die Naturvorgänge selbst wieder,
oder er wird aus gegebenen Erscheinungen oder Objekten der
Natur herausgesponnen.
Offenbar ist die erste Gruppe, wenn auch nicht die größte,
so doch die mythologisch bedeutsamste, da hier die mythische
Handlung unmittelbar anschaulich in dem beobachteten Vor-
gange selbst enthalten ist. Die Erzählung bringt nur die
Motivierung hinzu.
Bei der zweiten Gruppe ist die Handlung erst zu der
gegebenen Erscheinung hinzugedichtet, gewöhnlich aus ihren
Eigenschaften oder besonders eindrucksvollen Einzelzügen
abgeleitet.
Hiermit gewinnen wir sofort eine feste Unterlage zur
Bestimmung des mythologischen Wertes der einzelnen Natur-
gebiete.
Vorgänge als Unterlage für Mythenbildungen beob-
achten wir
1. in der Atmosphäre als meteorologische Erscheinungen,
Gewitter, Nebel und Wolkenspiel, Auroren usW.
2. an den kosmischen Himmelserscheinungen, den gegen-
seitigen Beziehungen der Himmelskörper zueinander sowohl,
wie im Auf- und Untergange zur Erde, Die Phänomene der
ersten Gruppe galten nach den Anschauungen der älteren Schule
(Kuhn, Max Müller, Schwartz) als die Hauptquelle des
Mythus, doch erwiesen sich die darauf gegründeten Deutungen
meist als anfechtbar und waren auch mit den ethnologischen
Erfahrungen nicht in Einklang zu bringen. Wettermythen
sind nicht allgemein verbreitet und haben, wo sie vorkommen,
aus Mangel an einer geeigneten individuellen Unterlage für
die Personifikation einen verschwommenen, vieldeutigen Cha-
158
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
rakter. Oft sind es ganz sekundäre Bildungen, aus denen
sich nichts allgemein Gültiges ableiten läßt.
Kosmische Erscheinungen, Weit bedeutsamer sind nun
zweifellos die an den Himmelskörpern beobachteten Vorgänge.
Himmelsmythen kommen überall vor und Personifikationen
himmlischer Erscheinungen sind meist scharf individualisiert.
Dagegen zu sprechen scheint das von Wundt hervor-
gehobene Zurücktreten der Himmelsmythologie gegen das
Tiermärchen in der primitiven Mythenbildung (Mythus 3,
p. 67), wonach also die wichtigste mythische Rolle der Tier-
welt zukäme. Indessen handelt es sich hier ja gar nicht um
die Anfänge, sondern um weiter ausgebildete Formen des
Mythus, um das in historischer Zeit vorliegende Material. Daß
das Tiermärchen im Anfang vorwiegt, ist ganz natürlich, das
hängt mit der Urbeschäftigung des Menschen, dem Jägertum,
zusammen. Ebenso oft bewegt sich übrigens die Handlung
in rein menschlicher Sphäre, wie denn bekanntlich jede
Grenze zwischen Tier und Menschenwelt auf jener Stufe sich
verwischt.
Sicher ist aber, daß unter den primitiven Märchen, seien
sie menschlich oder tierisch gefaßt, sich eine große Anzahl
befindet, die deutliche Himmelsmotive erkennen läßt und nur
aus solchen verständlich ist. Gerade diese sind es, die zum
eigentlichen Mythus überleiten. Die Verbindung mit. der
Himmelsmythologie gibt dem Märchen erst die religiös-kultische
Bedeutung, den Wahrheitsgehalt, der es zum Mythus im
engeren Sinne macht. Dieser drängt das ursprünglich tierische
Element mehr und mehr zurück und betont das Übermensch-
liche, Göttliche, wenn auch bei Völkern der Übergangsstufe,
wie bei den Nordamerikanern die Kultmythen zum Teil noch
tierische Fassung haben und neben der Götter- und Helden-
sage das Tiermärchen als populäre Parallelform einhergeht.
Während das Märchen alle Seiten der Natur in seinen Bereich
zieht, da in ihm die Phantasie unbeschränkt waltet, wird der
Mythus im engeren Sinne, das auf übermenschliche Persön-
lichkeiten als Bestandteil eines Glaubens bezogene Märchen,
vorzugsweise an diejenigen Naturerscheinungen anknüpfen,
die die Personifikationsgrundlage für jene Wesen abgeben
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 109
oder doch durch besondere Eigenschaften mit ihnen im begriff-
lichen Zusammenhang stehen.
Götter sind aus personifizierten Naturerscheinungen ent-
standen unter dem Einfluß der Agrikulturkulte, in Verbindung
mit den Dämonenvorstellungen und die Erfahrung lehrt, daß
in erster Linie Sonne und Mond und periodische Sterne, in
zweiter atmosphärische Elemente wie Feuer, Blitz, Wetter-
erscheinungen in Betracht kommen, wobei aber die letzteren
häufig auf jene als Ursprung hinweisen, also sekundäre Mo-
mente darstellen. Die Annahme, daß Sonnen-, Mond- und
Wettermärchen die Hauptquelle der eigentlichen Mythologie
sind, ist somit kein bloßer Einfall oder eine konstruktive
Spekulation, die etwas nicht in der Sache Begründetes
von außen her in sie hineinträgt, sondern ein auf tatsäch-
liche Unterlagen begründetes Postulat, das schließlich wohl
auch der psychologischen Prüfung standhalten dürfte, Es
wird hier also die Ansicht vertreten, daß nicht die zufälligen,
einmal sich abspielenden Naturvorgänge die mythologisch
bedeutsamsten sind, sondern die oft wiederholten regelmäßig
wechselnden, die allgemein sichtbar und impressiv zugleich,
den Eindruck des Gesetzmäßigen, Unabwendbaren hervor-
rufen und von fest umschriebenen, konkret wahrnehmbaren
und damit Individualcharakter besitzenden Gestalten getragen
sind. Solche wahrnehmbaren, phantastisch als Persönlich-
keiten apperzipierten Naturwesen sind in erster Linie:
Sonne und Mond,
Sie sind die von der Natur gegebenen Individualitäten,
die in weit höherem Maße als andere Erscheinungen zur Ver-
persönlichung prädestiniert, als die Hauptträger des eigent-
lichen, Götter- und Heldensage umfassenden Mythus zu be-
trachten sind, wenn auch nicht als die Quelle aller mytholo-
gischen Vorstellungen überhaupt.
Letzteres ist wenigstens zurzeit unbeweisbar, auch psy-
chologisch unwahrscheinlich.
Welchem dieser beiden kosmischen Hauptkörper kommt
nun der Vorrang zu?
Lange Zeit erschien es selbstverständlich, daß das nur die
Sonne sein könne. Die Eigenschaft als strahlendes Tages-
L10
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
gestirn, als Besieger der Nacht- und Finsternisdämonen, als
Wärme- und Lebenspender für die ganze organische Welt
mußte dies ohne weiteres rechtfertigen.
So hat es denn zu keiner Zeit an Versuchen gefehlt, die
Sonne in den Mittelpunkt der mythologischen Vorstellungen
zu rücken. Vom Altertum an bis auf die Neuzeit haben zahl-
reiche klassische Mythologen sowohl wie Historiker (so neuer-
dings noch Seeck in seiner Geschichte des Untergangs der
antiken Welt) die Allgemeingültigkeit der Sonnenmythologie ver-
fochten. Von den Ethnologen sind die Arbeiten von Schirren,
die älteren Mannhardts, die von Frobenius ganz von
solaren Vorstellungen beherrscht. Letzterer spricht geradezu
von einem Zeitalter des Sonnengottes als erster Periode mytho-
logischer Begriffsentwickelung. Daß die Haupthelden der
großen epischen Sagenzyklen nichts anderes sein könnten
als Sonnenpersonifikationen, verstand sich bis auf die jüngste
Zeit von selbst, es erschien eben überflüssig, sich über diese
Deutung Rechenschaft zu geben.
Wenn nun auch, wie zu erwarten ist, die Sonne als
Märchenfigur sowohl wie als Substrat für Göttervorstellungen
eine wichtige Rolle spielt und selbst der Himmelsgott oder
das höchste Wesen, der Allvater im Sinne Andrew Langs,
sehr häufig sich in der Sonne manifestierend gedacht wird,
so lehrt doch die Prüfung unseres Materials, daß die mythen-
bildende Kraft der Sonne eine ziemlich beschränkte ist, wenn
auch Sonnenmythen allverbreitet und formverwandt sind,
Es gibt tatsächlich nur verhältnismäßig wenige Mythen, die
rein aus der Anschauung der Sonne als kosmischen Körpers
abzuleiten sind.
Das ist hauptsächlich aus zwei Ursachen zu erklären.
Einmal aus der relativen Einförmigkeit der solaren Erschei-
nungen, die höchstens im Augenblick des Auf- oder Unter-
gangs des Gestirns einen impressiven Gestaltenwechsel auf-
weisen. Dadurch hat die Phantasie von vornherein nur einen
geringen Spielraum.
Das Aufsteigen einer glühenden Kugel oder Scheibe aus
dem Meere oder der Erde, ihr Versinken, ihre zeitweilige
Abwanderung nach Norden oder Süden, ihr scheinbarer Still-
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 111
stand in den Solstitialpunkten, die Streifenbildung der Sonnen-
strahlen in der Atmosphäre, ihre Gestaltveränderung am
Horizont, das Phänomen der Nebensonnen in höheren Breiten,
ihr vorübergehendes Verschwinden in der Eklipse, ihre Kraft-
abnahme am Abend oder im Winter (Sonnenschwäche) alles
das kann unmittelbar eine mythische Erzählung auslösen,
erschöpft aber auch so ziemlich das ganze rein solare Vor-
stellungsmaterial.
Manches davon kommt außerdem nicht nur der Sonne,
sondern auch anderen Gestirnen zu. Als Typen solcher reiner
Sonnenmythen seien angeführt: die drei großen Schritte
Vischnus, die Reinigung des Augiasstalles durch Herakles
mit ihren Parallelen in europäischen und amerikanischen
Märchen, aus denen die Klärung des Wolkenhimmels durch
die Sonne sich deutlich als Naturgrundlage ergibt, endlich
diejenigen Verschlingungsmythen, die an den Auf- oder Unter-
gang der Sonne anknüpfen. Dahin gehört auch die von
Wundt (Mythus 8, p. 242) gerade nicht als Sonnenunter-
gang gedeutete Erzählung vom Kaffernhelden Sikulume, in
der das Blut des getöteten allverschlingenden Ungeheuers,
dessen Inneres eine ganze Horde Lebender birgt, den Himmel
rötet.
Die zahllosen Parallelformen in allen Weltteilen lassen
über die Deutung keinen Zweifel.
Die Sonne hat zwar Individualität, sie erzeugt aus sich
heraus mythologische Elemente, aber eine bestimmte Hand-
lungsfolge ist in diesen allein noch nicht oder nicht deutlich
gegeben, wenn nicht noch andere Elemente hinzutreten. Das
sind die Wechselbeziehungen zum Monde, den Sternen, den
Auroren. Es müssen bestimmte konkrete Vorstellungsinhalte
gegeben sein, auf die die Tätigkeit der Sonne sich richtet.
Dann erst erscheint sie als Agens einer Handlungsfolge, die
unmittelbar einen Mytheninhalt ergibt.
Sie bekämpft oder verschlingt die Gestirne, tötet, kocht
oder schmilzt den Mond, ist dessen Gemahl oder der der Auroren
und der Erde, bekämpft die Finsternis und ihre Dämonen,
spielt im Märchen. die Rolle als König, Königin Hexe oder
12
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Menschenfresser, hat Menschen Riesen, Dämonen und Phan-
tomen gegenüber versteinernde oder auflösende Kraft.
In der Heldensage trägt häufig einer der mythischen
Brüder oder Zwillinge Sonnencharakter, ohne aber immer
eine direkte Sonnenpersonifikation zu sein. Die Gestalt des
Helden ist meist vom Natursubstrat abgelöst. Die Sonne ist
sein Attribut, Schild, Waffe, Schmuck oder ein Objekt seiner
Tätigkeit. Er ist ihr Herr und Besitzer, er holt sie herbei,
setzt sie an ihre Stelle, regelt ihren Lauf usw. Außerordentlich
häufig sind dabei assoziative Umformungen und Übertragungen.
Die Sonnenmotive erscheinen in der Heldensage selten völlig
rein und eindeutig, verbinden sich vielmehr auch mit anderen
kosmischen Lichtgestalten und den sie beherrschenden Kräften.
Daher rührt die Unsicherheit über die Mond- oder Sonnennatur
eines Helden, die den Mythologen von jeher soviel zu schaffen
machte und manchem die Frage nahe legte, ob nicht alle
sogenannten Sonnenhelden einem Prototyp nachgebildet sind,
der den Mond zur Grundlage hat, Soweit dürfen wir aber
noch nicht gehen.
Im allgemeinen gilt, für die Kulturmythologie wenigstens,
die Regel, daß die Sonne mythologisch um So bedeutungs-
voller ist, je mehr sich das in ihr personifizierte Wesen von
seinem Grundkern ablöst, je mehr es also in die mensch-
liche Sphäre rückt. Der eigentliche Träger der Sonnen-
mythologie ist nicht der Sonnengott, sondern der Sonnen-
held, der aber meist nicht eine unmittelbare Personifikation
der physischen Sonne ist, vielmehr genealogisch auf den
Himmelsgott oder das höchste Wesen zurückgeht und erst
sekundär zum sonnengleichen Wesen, zum Agens der Sonne,
zur Personifikation der Sonnenkraft wird. Daher beobachten
wir die Tatsache, daß in den Kulturmythologien die personi-
fizierte Sonne, wie Helios der Griechen, Surya der Inder,
Tonatiuh der Mexikaner, fast gar keine mythische Bedeutung
hat, denn das Haften an der kosmischen Unterlage wirkt, wie
auch Wundt dargelegt hat, der mythologischen Ausbildung
entgegen. Hier treten dann die menschlich handelnden und
leidenden, heldenhaften Gottheiten ein, wie Apollo, Indra,
Herakles. Huitzilopochtli, von deren Taten die Sage erzählt
Kapitel VI. ‘ Stoffe der Mythologie. 113
und die als Himmelsabkömmlinge Repräsentanten der Vver-
schiedensten himmlischen Kräfte sind, sich also nicht nur mit
der Sonne, sondern auch mit Mond und Feuer, Blitz und Ge“
witter verbinden, Es sind gleichsam Sonnengötter zweiter
Ordnung, womit aber nicht gesagt ist, daß sie deshalb jüngere
Bildungen sind. Sie sind im Gegenteil, wie wir sehen werden;
wahrscheinlich älter als die eigentlichen Sonnengötter und
den Kulturheroen wesensverwandt.
Schon die niederen Mythologien zeigen eine Vorstufe
dieses Verhältnisses. Hier ist die Sonne entweder. eine bloße
Erscheinungsform oder ein Attribut des Himmelswesens oder
sie bleibt als Personifikation eine reine Märchenfigur, während
der Sonnenheld neben. dem Mondhelden als Kulturheros’ in
den Mittelpunkt der eigentlichen Mythologie rückt. A
Aber noch ein zweites Hemmungsmoment für die Ent-
wickelung reiner Sonnenmythen darf nicht übersehen werden.
Die Volkskunde lehrt, daß gerade die) enigen Eigenschaften
der Sonne, die uns Kulturmenschen die bedeutsamsten sind
und recht eigentlich zu ihrem Wesen gehören, wie Licht:
und Wärmespendung und damit die Beeinflussung des Vege-
tationslebens, von primitiven Völkern sonderbarerweise als
nebensächlich betrachtet, selbst ganz übersehen werden. So
erscheinen Licht und Wärme oft unabhängig von der Sonne,
wie das ja auch der naiven Naturbeobachtung in gewissem
Sinne entspricht. Ist doch das Licht früher da als die Sonne,
Auch der biblische Schöpfungsbericht vertritt diese. An:
schauung. Daher erscheint im Mythus der Sonnengott oft
dunkel an Farbe und nur bei seinem Erscheinen umhüllt. er
sich mit glänzendem Gewand !, oder er ist nur durch besondere
Attribute, den goldenen Sonnenschild, den glänzenden Kopf-
oder Nasenschmuck, lichtspendend.
Bei den Zentralkaraiben Südamerikas ist die Wärme erst
nachträglich hinzugezaubert. Die Sonne selbst ist ein Feder-
ball, bei den Pima Nordamerikas sogar ein Eisgebilde, Auch
die Beziehungen zum Feuer sind nicht ohne weiteres gegeben:
‘'\ Vgl. E. Selers Angaben über die Sonnengottheit von Michuacan.
Gesamm, Abh. 3, p. 142.
Mvtholog. Bibliothek: Ehrenreich,
114
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Den Feuerraubmythen liegt weit häufiger der Mond als die
Sonne zugrunde, was bisweilen mit der angenommenen
Feuersteinnatur des Mondes zusammenhängt.
Die mythologisch wichtigste kosmische Erscheinung ist
unzweifelhaft der Mond, der merkwürdigerweise von der
älteren Schule der vergleichenden Mythologie völlig vernach-
lässigt wurde.
Die Einführung der Mondmythologie ist hauptsächlich
das Verdienst E. Sieckes, dessen aus der griechischen und
indischen Mythologie entwickelten Anschauungen trotz man-
cher Bedenken im einzelnen, der Hauptsache nach richtig
und mit den Ergebnissen der Ethnologie gut vereinhar sind.
Von der iranischen Mythologie ausgehend ist Hüsing zu
ähnlichen Ideen gekommen, neigt aber zu einer etwas ein-
seitigen Auffassung, die keineswegs durch die Sachlage
geboten ist.
Mondmythen sind die universellsten und gleichartigsten
aller Naturmythen. Bei ihnen herrscht die größte Überein-
stimmung zwischen höherer und niederer Mythologie, Sie
erfüllen in hervorragender Weise die Bedingungen der An-
schaulichkeit, der Allgemeingültigkeit und der absoluten
Identität der Vorlage mit dem mythologischen Abbild. Im
Gegensatz zur Sonne erzeugt der Mond schon als KEinzel-
erscheinung unmittelbar eine überaus große Zahl mythischer
Vorstellungen. Als Individuum ist er menschlich gedacht,
etwa als Held, Hirt, Jäger, Schmied, Kahlkopf, Oger, Frau der
Sonne, Jungfrau, Hexe, altes Weib usw. apperzipiert, in
tierischer Form als Adler, Eber (mit Goldborsten), Stier, Bock,
Kuh, Hase usw. Zugrunde liegen dabei sowohl die Gesamt-
erscheinung des Mondes als die Fleckenfigur und die Phasen-
gestalten, von denen natürlich die gehörnten Formen die
bedeutsamsten sind,
Als Gegenstand ist der Mond Ball, Sichel, Sichelschwert,
Bogen, Stein (besonders Feuerstein), Messer, Muschel, Knochen
(Rippe, Schlüsselbein), Zahn, Schädel, Schale, Kessel, Sieb,
Hammer, Schuh (namentlich auch die glühenden Schuhe und
Siebenmeilenstiefel unserer Märchen), Mühle, Rad, Huf und
Hufeisen, Schloß, goldenes Kleid, Rüstung oder Schild, Kamm,
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 115
Krone, Wiege, Schiff, Krippe, Korb, Goldbrunnen, Verjüngungs-
bad u. a., Vorstellungen, die in den mannigfachsten Kombi-
nationen und Assoziationen auftretend der märchenbildenden
Phantasie eine unabsehbare Weite des Spielraums darbieten.,
Zahlreiche explanatorische Märchen knüpfen an die in der
Mondscheibe sichtbaren Menschen- und Tiergestalten an, indem
sie zeigen, wie diese Wesen in den Mond gekommen sind
(durch Heirat, Entführung, Strafe für Übermut). Die Auf-
fassung des Mondes als Seelenland, Paradies oder Hölle!
reicht bis in die Kulturreligionen hinein.
Phasenbildungen und Mondwechsel sind das Thema un-
zähliger über die ganze Welt verbreiteter Mythentypen, von
denen hier folgende Gruppen als die wichtigsten angeführt
seien.
Die erste geht aus von den Formverschiedenheiten der
Mondscheibe selbst. Wir haben sie zum Teil schon kennen
gelernt: Magische Erzeugung oder Geburt der Neusichel, Ge-
burt aus einer Nadel oder mit Durchbrechung der mütter-
lichen Seite. Auch das Motiv der Schenkelgeburt gehört
wahrscheinlich hierher. Der neugeborene Held liegt in der
Krippe oder Schale oder ist noch von Eihäuten umhüllt. Der
Vollmond repräsentiert ihn in der Vollkraft nach Besiegung
des schwarzen Dämonen. Die Abnahme ist Zerstückelung
(Gesichtsdefekt), Abhäutung oder allmähliches Verschlungen-
werden. Die letzte Sichel stellt die Enthauptung eines Mond-
wesens durch ein Krummschwert dar, das Gekochtwerden im
Kessel oder sonst eine Feuerprobe imı Sonnenfeuer, ebenso auch
bisweilen eine Sehnendurchschneidung (wie beim jugendlichen
Zeus), das Herz- oder Leberabschneiden in vielen Verschlin-
gungsmythen. Die Entrückung des Helden in ein fernes Land
oder den Himmel fällt in die Neumondzeit bis zur Wieder-
kehr der neuen Sichel, die auch als Wiederbelebung des
Gestorbenen aus einem übriggebliebenen Knochen oder Zahn
gefaßt wird.
Eine zweite knüpft an das Wechselverhältnis der be
leuchteten zur unbeleuchteten Mondscheibe an.
‘) Tylor, Anf. d. Kultur 2, p. 70.
«
no
_
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Es. ist ein Kampf einer hellen und einer dunkelen Macht,
des Lichtwesens mit dem Finsternisdämon, oder zweier diese
Prinzipien vertretender antagonistischer Brüder, Hierauf be-
rühen die meisten Drachenkämpfe und ein Teil der Ver-
schlingungsepisoden der Heldensagen nebst. dem so häufigen
Motiv der feindlichen Brüder. Auch der Gegensatz der ab-
und zunehmenden Sichel bringt die Zweiheit zum Ausdruck,
wozu als drittes noch der Vollmond oder Neumond kommen
kann. Hierin ist die Zwei- und Dreiköpfigkeit so vieler
mythischer Wesen, Götter und Dämonen begründet, sowie
die Dreiheit mancher Attribute, wie Z. B. der dreirädrige
Wagen der Agcvins.
Eine dritte geht aus von der Tatsache des ersten Todes,
dem der Mond als Ahnherr, Menschenschöpfer oder erster
Mensch unterliegt. Der Held wird Herrscher im Totenreich,
das mythisch ebensooft am Sternhimmel wie in der Unterwelt
gedacht ist. Gestalten wie Yama, Osiris, Kronos, Persephone
gehören in. diesen Zusammenhang, ebenso wie die auf der
ganzen Welt auffallend ähnlichen Mythen über die Entstehung
des Todes, den Besuch in der Unterwelt, die Zurückführung
einer. Person aus dem Totenreich (Typus: Orpheus).
Die vierte faßt die Konjunktion von Sonne und Mond
als Heirat, Hochzeit, Inzest oder Liebesverhältnis auf (iegös
ydmos). Sie behandelt den ganzen Wechselvorgang als Ge-
schichte eines Liebespaars mit Flucht, Verfolgung, Trennung
und Wiedersehen mit den Motiven der Entschleierung, des
Nacktsehens, abgeschwächt als Frage nach der Herkunft
(Typus: Urvacı, Melusine, Psyche. Lohengrin), wobei die Rollen
des weiblichen oder männlichen Partners zwischen beiden
Gestirnen wechseln können,
Eine fünfte behandelt die Frage, wie das im Osten ver-
schwundene Mondlicht oder Feuer immer wieder nach Westen
zurückgelangt, oder dahin gebracht wird. Das ist im wesent-
lichen Gegenstand der Argonautensage und ihrer amerika-
nischen und ozeanischen Parallelen. Auch der vedische Mythus
vom Raube und der Wiedergewinnung Agnis! gehört hierher,
ıy L. v. Schroeder, Myst., p. 181.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie: 117
wie die darin vorkommenden typischen Mondmotive beweisen,
vielleicht auch die Rückführung der Helena, das Grundmotiv
der Trojasage *.
Eine sechste geht aus vom Neumond als Dunkelform
des Mondes oft mit Berücksichtigung der letzten sichtbaren
Sichel. Die Motive der Verhüllung, der Tarnkappe, der Ver-
kleidung, des Unterschiebens einer Braut, der Enthauptung mit
Verbergen des abgeschlagenen Hauptes im Sack (Perseus und
Medusa), sowie einzelne Fälle der Blendung gehören dazu, Das
völlige Verschwinden des Mondes ist Entrückung, Verbannung,
Gefangenschaft des Helden. Er wird in eine Grube, Zisterne,
Kerker, Brunnen geworfen, um auf wunderbare Weise gerettet
zu werden, oder der ganze Vorgang ist bis zum Wieder-
erscheinen der Neusichel eine Verjüngungskur im . Sonnen-
feuer oder Jungbrunnen. Auch die Mutter des Mondhelden,
die natürlich selber Mond ist, wird in den Turm u. dgl. ge-
sperrt, wo sie magisch empfängt (Dana@ und Rapunzelmotiv),
oder mit dem Neugeborenen in einem Kahn oder im Faß ver-
spundet den Fluten des Himmelsozeans übergeben. a
Die Mondgrundlage zahlloser Märchen und Mythen dieser
Art läßt sich durch ein massenhaftes Vergleichmaterial be-
legen. Näher darauf einzugehen ist hier nicht der Ort, da
diese Dinge schon von anderer Seite gründlich genug erörtert
sind. Wem das in den Arbeiten von Leßmann, Siecke, Hü-
sing, v. Hahn, Gubernatis, Mannhardt, Hoffmann-
Kutschke u. a. niedergelegte Material nicht genügt, wird
auch durch weitere Zugaben nicht überzeugt werden. Wer
es ungeprüft verwirft, begibt sich damit ohnehin des Rechts,
darüber zu urteilen,
Nicht minder zahlreich sind die Mythen, die von der
nichtastralen Seite des Mondes ausgehen, seine Beziehungen
zur Vegetation, zur Unterwelt, zu Wetter und: Wind. Ge-
stalten wie Hermes, Dionysos, Apollo, Loki, Demeter, Indra,
Thor usw. sind sämtlich mit mondmythologischen Zügen aus:
gestattet, ohne daß wir sie aber deswegen sämtlich als Mond-
yottheiten anzusprechen brauchen. Inwieweit sie das sind,
ıy Siecke, Myth. Briefe, p. 63 £. 210,
‚18
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
erfordert wieder eine besondere Untersuchung mythen- und
religionsgeschichtlicher Art. Aber gerade die Leichtigkeit,
mit der Mondcharaktere auf solche göttlichen Wesen über-
tragen werden, deren mythisches Wirken sich unmittelbar
auf den Menschen und seine Lebensverhältnisse richtet, be-
weist, wie sehr die gesamte mythologische Vorstellungswelt
von den am Monde gewonnenen Anschauungen beherrscht wird.
Daher gestattet denn auch die Mondmythologie die richtige
Beurteilung solcher Mythen, die scheinbar ganz anderen
Natursphären entstammen. Nicht nur die Sonne, sondern
auch das Venusgestirn, die Plejaden und Orion, ferner Erde
mit ihren chthonischen Wesen, vor allem auch die Auroren,
stehen, wie die Folklore des gesamten Menschengeschlechts
lehrt, in bestimmten gesetzmäßigen Beziehungen zum Monde,
sei es, daß ihre Mythen umgeformte Mondmythen sind, wie
das z. B. in der Dionysos- und Orionsage deutlich hervortritt,
sei es, daß sie nach Analogie der letzteren gebildet sind, indem
sie wenigstens Mondmotive verwenden.
So besteht denn auch hier wieder ein Assimilations-
prozeß, der die verschiedensten Naturanschauungen unter
Vermittelung des Mondmythus miteinander in Berührung
bringt und verschmilzt. Diese Berührung ist manchmal nicht
nur assoziativ, sondern auch direkt apperzeptiv gegeben. So
hat z. B., wie auch von Gruppe hervorgehoben ist, die
überaus eindrucksvolle Konjunktion des Mondes mit der Venus
zu einer mythologischen Angleichung beider Gestirne geführt,
die von größter religionsgeschichtlicher Bedeutung ist. Beide
können sogar als Teile eines Wesens gefaßt werden, wie der
Morgenstern als Herz des sterbenden und verbrannten Mond-
helden in der Apotheose (Quetzalcouatl in Mexiko). So erklärt
es sich auch, wie manche bekannte Götter und Heroinen,
wie Aphrodite, Istar, Helena, Freya, mythologisch bald Mond-
bald Morgensternzüge tragen, obwohl sie ursprünglich nur
das eine oder das andere waren.
Die hohe Bedeutung der Mondmythologie liegt darin, daß
sie eine große Reihe bisher gar nicht oder nur sehr gezwungen
deutbarer Züge mit einem Schlage für jeden, der überhaupt
Kapitel VI, Stoffe der Mythologie. 119
sehen will, einwandsfrei aufklärt!, daß sie Übereinstim-
mungen in Einzelheiten, ohne zu unbeweisbaren Entlehnungs-
t*heorien zu greifen, aus der gemeinsamen Naturgrundlage
allein verständlich macht, wobei zugleich scheinbar wider-
sprechende Deutungen miteinander vereinbar werden, Streitig-
keiten, wie die über die Bedeutung der Namen Saranyü,
Saramä, Hermeias und deren Verhältnis zueinander hätten
sich niemals erhoben, wenn man die gemeinsame Mondgrund-
lage dieser mythologischen Wesen beachtet hätte.
Die Ergebnisse der literaturgeschichtlich-philologischen
Mythenvergleichung werden durch die Mondtheorie oft in
überraschender Weise bestätigt und ergänzt. Die wichtigsten
Heldensagen aller Völker lassen sich durch sie einheitlich
erfassen als Äußerungen des gleichen, nur räumlich und zeit-
lich differenzierten Völkergedankens. Eine Menge von Kult-
symbolen, Zeremonien, mythisch begründeten Volksbräuchen,
namentlich viele Einzelheiten der Vegetations- und Agrikultur-
riten, empfangen durch sie ihre zureichende Begründung.
Kurzum, es gibt kein Gebiet der Mythologie, wo diese Theorie
nicht wie ein Scheinwerfer die Finsternis erhellt.
Die ungeheure mythologische Fruchtbarkeit der vom Monde
abgeleiteten Vorstellungen hat aber andererseits die Mond-
theorie wieder in Mißkredit gebracht. Wie alles Neue und
zugleich Einfache wird sie als unwissenschaftlich? abgetan
1) Sofern stichhaltige Einwände bisher noch nicht gemacht sind, Auch
Wundts Entgegnungen (Mythus 8. p. 49 ff.) kann ich als solche nicht an-
erkennen.
2) P. W. Schmidt in seinem Referat über Sieckes Hermes, der
Mondgott, im Anthropos 4, 1909, p. 829, bemängelt die Methode der
Siecke”’schen Schule, der die strenge Achtsamkeit auf den lückenlosen
Verlauf des Entstehens, Wachsens, Sichmischens und Vergehens der mytho-
logischen Gebilde abgehe. Der ersten Entstehung einer solchen Mythe nach-
zugehen, ihre innere Entwickelung zu verfolgen, die äußeren Beeinflussungen
und Mischungen zu notieren, erst das gebe eine zuverlässige Methode. Der-
artige Ermahnungen sind mindestens überflüssig, denn die Notwendigkeit
solchen Vorgehens hat noch niemand geleugnet, am wenigsten die Siecke’sche
„Schule“. Gerade ‘sie forscht ja nach der ersten Entstehung (was ihr
wiederum von Wundt zum Vorwurf gemacht wird) und sucht die innere
Entwickelung wie die äußeren Umformungsmomente zu erkennen, wofür als
20
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
und doch weiß die Mehrzahl der Gegner in der Regel nichts
anderes zu erwidern, als daß „ihnen die ganze Richtung
nicht paßt“. Ein ernsthafter Einwand wäre nur der: wenn
alles aus Mond zu erklären ist, so bewegt man sich in den-
selben gefährlichen Bahnen wie früher, als man ebenso ein-
fach alles aus Gewitter, Sonne und Morgenröte erklären zu
können meinte,
Ganz so liegt die Sache denn doch nicht. Abgesehen
davon, daß niemand alles zu erklären sich anmaßt, sind
mondmythologische Vorstellungen Allgemeingut, während
Gewitter und meteorologische Erscheinungen nur in gewissen
Gebieten mythisch verarbeitet sind und wegen der Unbe-
stimmtheit ihrer Personifikationsgrundlage ‚jedes plastischen
Charakters entbehren, Das ist die Hauptsache, Mondvor-
stellungen sind unmittelbar sinnfällig. Das Auge nimmt
direkt wahr, was die mythische Erzählung berichtet, Wir
sehen das Mondschiff auf dem Himmelsozean, wir sehen
das Mondweib aus der Rippe ihres schlafenden Vorgängers,
des verdunkelten Mondes, entstehen, so gut wie der Australier
die Erneuerung des Mondes als verhungerten Jägers aus
seinem Schlüsselbein, Wir sehen die Zerstückelung des
Dionysos und die. Verbrennung seiner Mutter im himmlischen
Feuer.‘ Auch die Sonne wird freilich zerstückelt, um Sterne
daraus zu machen. das ist aber eine nicht sinnlich wahrnehm-
Beweis nur auf Hüsings und Leßmanns Arbeiten über die Kyrossage
hingewiesen sel.
Darin liegt ja gerade die Bedeutung der Mondtheorie, daß sie ein Licht
auf die ersten Anfänge der Mythen wirft, jüngeres von älterem, innere
Entwickelung von äußerer Zutat mit viel größerer Sicherheit zu unterscheiden
erlaubt, als alle bisherigen Methoden, deren völliges Fiasko eben durch die
in der Mythologie herrschende Verwirrung genugsam illustriert wird.
Daß dabei Fehlschlüsse und vorschnelle Verallgemeinerungen vorkommen,
nicht. alle"Meinungen Sieckes oder Hüsings haltbar sind, ist selbstver-
ständlich.. Wir stehen ja erst im Beginn einer neuen Forschungsperiode.
Jene Richtung. geht nicht von willkürlichen Annahmen, sondern von. tatsäch-
lichen Beobachtungen aus. Ihre Grundlage bildet nicht ein Dogma von
der Präponderanz des Mondes, sondern die Erkenntnis, daß der ursprüng-
liche Mythus real Angeschautes schildert, was noch heute :in. gleicher
Weise wahrnehmbar ist. Erst daraus ist dann die Möndtheorie . erwachsen
and darf beanspruchen, auf ihre Tragweite geprüft zu werden.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. i21
bare, erst spekulativ gewonnene Vorstellung, die als sekundäre
Übertragung von Mondzügen auf, die Sonne aufzufassen ist,
sofern dem sinnlich Massiven die Priorität gebührt. . Wenn
die Inder die Aurora als die „rote Kuh“ auffassen, so ist das
nur verständlich, wenn die in der Aurora periodisch erschei-
nende Mondsichel mit ihren Kuhhörnern das ‚körperliche
Substrat für diese Vorstellung abgegeben hat. Nicht alles,
aber doch sehr vieles, und zwar gerade das religionsgeschicht-
lich Wichtige läßt sich aus der Mondtheorie erklären, vor
allem die HEinzelzüge der Helden- und Kulturbringersage,
denen man bisher ziemlich ratlos gegenüber stand.
Natürlich ist auch die Mondtheorie dem Schicksal aller
sonstigen mythologischen Theorien nicht entgangen, nämlich
der allzu einseitigen Ausverfolgung bis zu den äußersten
Konsequenzen. Das ist insofern methodisch berechtigt, als
wir die Grenzen ihrer Anwendung bestimmen müssen, aber
wir dürfen der Theorie zuliebe nicht an den überlieferten
Tatsachen rütteln oder diesen einen anderen Sinn unterlegen,
als Wortlaut und Zusammenhang erfordert.
Die Neigung dazu ist in neuester Zeit bedenklich im
Steigen und wird früher oder später zu einer Reaktion führen.
Daß die Mondmythologie der Urschicht angehört, ist
zweifellos, daß der Urmythus aber ausschließlich Mond-
mythus sei, ist weder wahrscheinlich noch beweisbar. Eben-
sowenig läßt die ungeheure Mannigfaltigkeit‘. der späteren
mythologischen Bildungen, namentlich wenn das Märchen mit
einbegriffen wird, eine ausschließlich lunare Erklärung zu, es
sei denn, daß man sich willkürlich auf die Kalendermythen
im engeren Sinne beschränken, oder gar dem Wortlaut der
Überlieferung Gewalt antun will,
Wenn der Mythus ursprünglich naive Naturanschauung
wiedergibt, so ist es von vornherein psychologisch unwahr-
scheinlich, daß nur die lunaren Erscheinungen beachtet wurden,
Höchstens könnte man annehmen, daß nur diese infolge der
besprochenen Eigenart des Mondes zu lebenskräftigen: my-
thischen Erzählungen ausgestaltet wurden oder sich allein
in der Überlieferung hielten. Das ist aber, wie ein Überblick
über das Gesamtmaterial lehrt, schwerlich der Fall gewesen,
99
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Mit dem Monde gehören Sonne und Sterne untrennbar zu-
sammen. Der größte Teil der Mondmythologie schildert gerade
das Verhältnis des Mondes zu ihnen, Die ganze Astral-
mythologie beruht ja in letzter Linie auf der Auffassung von
Sonne und Mond als Geschwisterpaar, deren Nachkommen
wieder Sonne, Mond und Sterne sind. . Gerade dieses Ver-
hältnis ist urmythologisch im vollsten Sinne des Worts,
Da nun Mond und Sonne miteinander sowohl wie mit
gewissen Sternen und Sternbildern analoge Erscheinungen
darbieten, so gehen die davon abgeleiteten mythischen Vor-
stellungen auf dem Wege der Assoziation leicht ineinander über.
Mond und Sonne haben oft gleiche Schicksale. Beide
werden verschlungen, beide wachsen schnell heran, beiden
ist das haar-, d. h. strahlenlose Aufsteigen gemeinsam, beide
zeigen ab- und zunehmende Kraft. Der Schwäche der Sonne
am Abend oder im Winter entspricht der Mond in seiner
Dunkelform, die dann wieder der Dunkelform der Sonne unter
dem Horizont mythisch entsprechen kann. Das Venusgestirn
spielt der Sonne gegenüber dieselbe Rolle, wie der Mond.
Morgen- und Abendstern, die in Konjunktion mit der ab- und
zunehmenden Sichel eines der eindrucksvollsten Himmels-
bilder lieferten, werden schon dadurch mit dem Monde wesens-
verwandt und daher oft auf die Person des Mondwesens be-
zogen als dessen Herz, Finger, Waffe, Ring oder sonst mythisch
oedeutsames Attribut.
Ebenso können die periodisch wiederkehrenden Kon-
stellationen, wie Plejaden, Orion, die durch Sonne oder Mond
gedeckt werden, sich diesen mythisch angleichen. So wird
die Dionysos-Sage auch auf den Orion bezogen, die Plejaden-
gruppe, wie Siecke gezeigt hat!, in enge Beziehung zum
Mond und zu Hermes als Mondwesen gebracht.
Es ist also verkehrt, überall einen Mondmythus anzu-
nehmen, wo von Verschlingen, Zerstückeln, Entrücktwerden
u. dgl. die Rede ist, wenn nicht der ganze Zusammenhang
und die sonstigen Mondmotive in regelmäßiger, dem Natur-
verlauf entsprechender Folge diese Deutung sicher stellt, Ein
') Siecke, Hermes, der Mondgott, p. 20 ££.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie.
123
einzelnes Motiv beweist. an und für sich nichts, fordert
höchstens dazu auf, nach weiteren zu suchen. Verschlingende
Wesen sind, wie bereits gesagt wurde, auch die Nacht, Wolken,
Nebel und vor allem Alptraumdämonen. Letztere verdanken
ihre häufigen mondmythologischen Wesenszüge nur dem Um-
stande, daß der Mond selbst nach allgemein herrschendem
Volksglauben Alpträume erzeugt. Deshalb braucht eine solche
Traumerzählung kein Mondmythus zu sein, ebensowenig wie
die Alpdämonen Personifikationen des Mondes, wie man das
z. B. von Erinnyen, Gorgonen, Lamien behauptet hat, wohl
aber können sie sekundär auf dem Wege der Vorstellungs-
assoziation in einen Mondmythus als Vertreter des Mondes
eingeführt werden. Diese Rolle spielt die Medusa in der
Perseussage. Das Gorgonenhaupt, das Odysseus bei seinem
Unterweltsbesuche fürchtet, ist dagegen ein echtes Alptraum-
bild, das wohl durch den Eindruck des durch die Sturm-
wolken ziehenden Mondes erzeugt aber nicht. mehr mit diesem
identisch ist.
Der Mondbogen kann nicht nur als Waffe des Mondgottes,
sondern auch als die des Sonnengottes gefaßt werden, denn
er erscheint kurz vor oder kurz nach der Sonne. Diese Vor-
stellung ist sogar natürlicher und ursprünglicher, als wie das
bloße Hinzudenken eines göttlichen Wesens zu dem Ssicht-
baren Bogen. Daher braucht Odysseus durchaus nicht Mond-
gott zu sein, wie Siecke will. Auch als Sonnengott oder
besser solare Personifikation ist der Bogen seine Waffe, mit
der er die seine Mondgemahlin Penelope! umwerbenden
Freier, die Sterne, tötet, ein typisches Bild des Sonnenaufgangs,
das auch in den Mythen Amerikas sein Gegenstück hat?
Ohne willkürliche Umdeutungen ist es schwerlich möglich,
alle die erwähnten Züge und Persönlichkeiten aus Mondvor-
stellungen allein abzuleiten, solange der Wortlaut des Mythus
nicht ausdrücklich darauf hinweist, kann das nur von Fall
zu Fall bewiesen werden. Selbst dann dürfte man ohne die
t) An der Mondnatur von Gestalten wie Penelope, Kalypso, Kirke ist
wohl kaum noch zu zweifeln. Die abfälligen Bemerkungen Gruppes hier-
über (Jahrb. f. d. Altert. Wiss. Supplement 1907) sind ganz unbegründet.
2) Tylor, Anf, d. Kultur 1, p. 340 (a. Schooleraft),.
24
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Sonne wenigstens kaum auskommen. So hat Laistner die
Umwandlung ursprünglicher Sonnen- und Mondmythen, die
als solche. in Griechenland erhalten sind, in nordische Nebel-
sagen tatsächlich festgestellt. Erst die Weiterführung solcher
Untersuchungen in allen erreichbaren Mythologien wird ent-
scheiden, ob darin eine allgemeingültige Erscheinung zu sehen
ist. Vorläufig sind wir noch weit davon entfernt.
Ferner ist es ein Irrtum anzunehmen, ein Mythus sei
vollständig erklärt, wenn er sich aus einer Reihe von einzelnen
Mondmotiven zusammengesetzt erweist. Das ist nur dann
der Fall, wenn damit zugleich der Verlauf eines ganzen am
Monde wahrgenommenen Vorgangs bestimmt wird. Es gibt
aber auch Mythen, die einzelne lunare Vorstellungen ganz
lose verbinden. So hat Böklen („Adam und Qain“) gezeigt,
daß in der biblischen Paradiessage nicht nur alle geschilderten
Vorgänge ihr lunares Vorbild haben, sondern auch alle darin
vorkommenden Gestalten, Objekte, Pflanzen, Örtlichkeiten auf
den Mond zurückgehen.
Die Beobachtung ist richtig, aber es erhebt sich die Frage,
wie der Mythenerfinder oder -Dichter, denn um einen solchen
handelt es sich hier wohl sicher, dazugekommen ist, alle
diese Züge zu einem Einzelmythus zu kombinieren. Hier ist
eben aus diesem Mosaik einzelner Mondvorstellungen etwas
Neues entstanden. Ein besonderer Sinn ist hier symbolisch
oder allegorisch untergelegt, der eine besondere Interpretation
arheischt !.
1) Unzutreffend ist dagegen die Kritik Wundts (Mythus 3. p. 53), der
es für selbstverständlich hält, daß die von Böklen in der genannten
Arbeit und von Siecke in seinen Drachenkämpfen aufgestellten Mond-
zleichungen nicht gleichzeitig hätten gültig sein können, ‚vielmehr für
jede Mondgleichung eine andere Epoche anzusetzen sei, so daß z. B. zur Zeit,
als Adam. Mondwesen war, Eva noch nicht existierte, und Adam seine Mond-
natur bereits eingebüßt hatte, als sich in jener der Mond verkörperte. Er
fragt: „War Adam Mensch, als Eva in: Gestalt der Mondsichel apperzipiert
wurde? Ist Adam oder ist das Paradies das frühere Mondwesen usw. ?“
Wundt hat hier den Kernpunkt der Sache nicht erkannt. Gerade
das ist selbstverständlich, daß eine Reihe von Mondgleichungen, von Einzel-
vorstellungen über den Mond, gleichzeitig nebeneinander ‘bestehen.
Was ‚früher oder später ist, läßt sich, solange es sich um die einfachsten Vor-
stellungen handelt, überhaupt nicht bestimmen. Darauf kommt es auch gar
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie, 125
Die mythologischen Qualitäten und Beziehungen des
Mondes lassen schon jetzt folgende gesetzmäßig überall wieder-
kehrende Verhältnisse erkennen ?,
1. Der Mond ist Ahnherr und Stammvater des Volks oder
Stammvater des Menschengeschlechts und als erster Gestor-
bener der erste Mensch selbst. Fast in allen Mythologien
tragen die Persönlichkeiten dieser Art Mondcharakter.
9. Der Mond steht immer in engster Beziehung zur Erde,
zunächst als Vegetations- und Unterweltsdämon oder Numen.
Er ist Vegetationsgott nicht im Sinne eines Korndämons,
d. h. einer auf animistischer Grundlage beruhenden Keim-
seele, sondern einer von außen her auf das vegetative Leben
wirkenden Macht, die sich auch der Tier- und Menschenwelt
gegenüber äußert? Er ist demgemäß auch Regulator des
Sexuallebens, besonders des weiblichen (Erreger der Men-
struation® und Geburtsgott oder -göttin), der Libido sexualis,
insbesondere auch ihrer perversen Formen,
Schwieriger zu verstehen aber und noch nicht völlig
geklärt ist die häufige Assoziation, die zwischen Mond und
Erdkörper besteht. Im Mythus entspricht sehr oft die Erde dem
Monde in ihrem beiderseitigen Verhältnis zur Sonne. Beide
können Gattinnen eines Sonnenwesens und damit mythisch
gleichwertig werden. Aber auch die einfache sinnliche Analogie
wirkt mit. Der Erde im Weltmeer entspricht der Mond im
Himmelsozean. Erd- oder Weltzerstörung und Wiedergeburt
nimmt mythisch leicht die Form des Mondwechselmythus. an.
Auch manche Sintflutsagen sind in diesem Sinne zu inter-
pretieren *.
nicht an, denn jede dieser Vorstellungen oder Apperzeptionen kann zum
Anknüpfungspunkt mythischer Motive werden, deren Kombination dann das
Gerüst der Erzählung bildet. — *) Der Ausdruck „Gesetz“ ist hier natürlich
sum grano salis zu verstehen. Die Zahl der Fälle ist so groß, daß Ausnahmen
auf besonderen Verhältnissen beruhen müssen, die sich häufig auch nachweisen
lassen, wenn nicht etwa Unvollständigkeit der Überlieferung vorliegt. — *) Nur
Jadurch wird überhaupt die Aufhöhung eines Vegetationsdämons zu einer Gott-
heit höherer Art möglich. — *®) Das erste Auftreten der Menses wird bei vielen
Völkern geradezu als eine Defloration durch den Mond aufgefaßt, ein mytho-
logisch äußerst wichtiges Faktum. — 4) Über die Beziehungen von Mond und
Erde vgl. Friedrichs, Grundlagen, p. 278 ff. — Dähnhardt, Natur-
sagen 1, p. 17,
a)
3
ri.
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
3, Eine weitere Beziehung zur Erde erhält der Mond durch
seine chthonische Qualität als Unterweltsmacht, die ihm als
Totengott, Seelenführer, Seelenbeherrscher zukommt, Er gilt,
wie namentlich in Amerika vielfach, als die die Unterwelt
erleuchtende Sonne. Dadurch tritt er auch mit dem Feuer
der Erdtiefe in Beziehung und gibt den betreffenden Gott-
heiten, wie den chthonischen Wesen überhaupt, manche seiner
Wesenszüge ab, so z. B. oft verstümmelte Gliedmaßen, Mehr-
köpfigkeit, Geflecktheit, Ungeziefer, Skolopender- und Schlangen-
haar u. dgl., was in fast allen Mythologien von der griechischen
bis zur polynesischen wiederkehrt,
Es unterliegt danach keinem Zweifel, daß Gestalten, wie
Yama, die beiden Sarameyau, Hermes Psychopompos, Charon,
Kerberos, die Erinnys, die „zweifarbige“ Hel ihre mytholo-
gischen Charaktere dem Kreise der Mondvorstellungen ent-
lehnt haben. Ob sie deswegen alle ursprünglich Mond-
wesen sind, mag dahingestellt bleiben, Die Möglichkeit ist
jedenfalls vorhanden,
4. Der Mond ist überall Traumdämon, Traumgott, ins-
besondere Erreger des Alptraums und damit oft selbst ein
Alpwesen, eine Beziehung, die ihn wiederum auch von dieser
Seite her mit dem Totenreich verknüpft. Es erklären sich
hieraus die eigentümlichen, sonst ganz unverständlichen Be-
ziehungen des Pan, dessen Alpnatur Roscher überzeugend
dargelegt hat, zur Penelope, die in der griechischen Mytho-
logie zu so wunderlichen Spekulationen geführt haben.
5. Der Mond ist überall Beherrscher und Regulator der
Witterung, also Wind- und Gewitterdämon, eine urmythologische
Vorstellung, die alle Kulturperioden überdauert hat und noch
im heutigen Volksglauben völlig lebensfrisch geblieben ist.
Die mondmythologischen Züge bei Zeus, Thor, Wotan, die
Zwiespältigkeit im Wesen des Hermes, des japanischen Su-
sanowo und des mexikanischen Quetzalcouatl, sind dadurch
vollkommen verständlich.
6. Die Dunkelform des Mondes, der Neumond, spielt im
Mythus der europäisch-iranischen Welt eine besondere Rolle
als dritte Person einer Bruderdreiheit, deren Name meist nur
durch das Zahlwort des Dritten Trita, Thrita, Tocios ersetzt
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 127
wird. Ausführlich erörtert das Hüsing in den „Beiträgen
zur Kyrossage“, p. VI! (vgl. auch Gruppe, Griech, Myth.,
p. 1219, Anm. 3).
In der Dreiheit
Zeus, Poseidon, Hades
Wotan, Niödr, Loki entsprechen Hades
und Loki dieser Dunkelform *.
Bei den meisten Völkern, die sich mit der Zweiheit be-
gnügen, ist der Dunkelmond einfach der schwarze Zwillings-
bruder des weißen, wenn nicht ab- und zunehmende Sichel
als besondere Persönlichkeiten gefaßt werden,
7. Daß die ganze Reihenfolge der Mondphasen bis zum
Wiedererscheinen der Neusichel als der Lebensgang eines
göttlichen oder übermenschlichen Helden aufgefaßt oder sym-
bolisch damit verglichen wird, haben wir bereits gesehen.
Es gibt kaum eine Mythologie, die nicht wenigstens Spuren
dieser Vorstellung aufweist. Die überraschende Ähnlichkeit
aller hierher gehörigen Mythen über die ganze Erde hin be-
weist, daß wir es hier mit einem wirklichen, gesetzmäßig
begründeten Völkergedanken zu tun haben, wobei nur aus
sehr weitgehenden Spezialübereinstimmungen auf eine gegen-
seitige Beeinflussung der einzelnen Mythenkreise geschlossen
werden kann.
8. In allen Kulturmythologien führt die Umwandlung der
Mondrechnung in die Sonnenrechnung von selbst zu einer
Übertragung der Mondmythologie auf die Sonne oder den
Himmelsgott, den sie vertritt. So werden Mondwechsel- zu
Jahreswechselmythen, und Gestalten wie Zeus, Herakles,
Simson, Siegfried, Apollo, müssen schon deswegen sonnen-
und mondmythologische Züge gemischt enthalten.
Sterne. Sternbeobachtung ist so alt wie die Menschheit, hat
aber in ihrer primitiven Form mit der späteren rechnerischen
Astronomie noch gar nichts zu tun. Sie dient zunächst rein
ıy Eine solche Dunkelform neben Sonne und Vollmond ist auch der
japanische Susanowo, was sich aus dem Text des Nihongi (japanische Mytho-
logie n. Florenz, p. 31) klar ergibt, aber von Lowie (a. a. O. p. 114)
sowie von Florenz selbst (a. a. O. p. 319) nicht verstanden ist.
„28
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
praktischen Bedürfnissen der Orientierung bei See- und
Steppenvölkern, sodann der zeitlichen Fixierung von Festen
und Zeremonien. Die Entwickelung der Agrikultur bedingt
an sich schon eine Beachtung der den Jahreszeitwechsel und
damit die Folge der Feldarbeiten markierenden Gestirne.
Alle Gestirne, die diesen Zwecken dienen, werden mythisch
verwendet. Dazu kommen andere, deren besonders impressive
Form bloß. die Phantasie beschäftigte, die aus der wunder-
baren Erscheinung allerlei Mären herausspann, sei es auch
nur, um zu erklären, wie diese Dinge an. den Himmel ge-
langten.
Bei Beurteilung. von Sternmythen darf nicht vergessen
werden, daß ein großer Teil davon erst spät, nach Aus-
bildung einer Kalenderwissenschaft entstanden ist und zwar
oft aus rein individuell dichterischer Fiktion. Das gilt für
die meisten antiken Mythen dieser Art, die, wie Gruppe
meint, erst in der alexandrinischen Zeit erfunden wurden.
Auch viele der europäischen Märchen von Astralcharakter,
namentlich der Grimm’schen Sammlung, sind in der vorlie-
genden Fassung erst in einer Zeit entstanden, wo Kalender-
kunde schon Allgemeingut war und astrologische Spekulationen
die Gemüter erfüllten, daher denn die aus ihnen gewonnenen
Deutungsprinzipien nicht ohne weiteres auf die Märchen der
Naturvölker zu übertragen sind,
Von einer Kalenderwissenschaft ist bei diesen noch nicht
die Rede, denn solche ist rechnerische Astronomie, Schon
deshalb geht es nicht an, den Mythus im allgemeinen als
einen Niederschlag der Kalenderkunde zu betrachten.
Von. den Fixsternen und deren Konstellationen sind
allenthalben beachtet und mythologisch daher besonders
wichtig Orion und die Plejaden. Letztere deuten bei
den meisten Völkern Amerikas und Ozeaniens in ihrem helia-
kischen Aufgang den Wechsel der Hauptjahreszeiten, der
warmen oder kühlen, der Regen- und Trockenzeit, in Ozeanien
auch den Wechsel der Monsune, an. Es tritt hier geradezu
an Stelle des Sonnenjahres ein. Plejadenjahr!. In Afrika
' 1) R.Andree, Globus 64, p. 362 ff. — K. von den Steinen, Globus 65,
po, 243 .
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie.
199
ist nicht nur für Ägypten, sondern auch für das ganze
Gebiet der tropischen Westküste und ihres Hinterlandes
(Loango, Kongo usw.) der Sirius der Jahresstern, der
übrigens auch bei den Pueblostämmen Nordamerikas eine
kalendarisch-mythische Rolle spielt.
Orion ist, wenn er in Menschengestalt apperzipiert wird,
was aber keineswegs immer der Fall ist, gewöhnlich ein
Riese, auch wohl Oger oder übermenschlicher Jäger, der die
Plejaden (deren Zahl entweder unbestimmt bleibt oder zwischen
sechs und sieben schwankt) als ein Schwarm von Vögeln,
Frauen, Kindern verfolgt, ein Verhältnis, das zu unzähligen
explanatorischen Mythen und Märchen Anlaß gegeben hat.
Von ihrer ungeheuren Formenfülle gibt das von Stucken
in seinen Astralmythen zusammengestellte Material einen
Begriff, Ihre verwickelten Beziehungen zur Sonnenmythologie
gehören zu den schwierigsten Problemen der Wissenschaft,
deren Entwirrung der Zukunft vorbehalten bleibt.
Für die nördliche Halbkugel sind die Circumpolar-Stern-
bilder des großen und kleinen Bären besonders bedeut-
sam. Nicht nur bei den Nordeuropäern (Germanen, Slaven
und Letten), sondern auch den Nordamerikanern bis nach
Mexiko hin sind diese charakteristischen Gestalten mythisch
verwendet worden, wobei aber markante Unterschiede in der
Auffassung vorkommen. So ist der „Wagen“ auf die alte
Welt beschränkt. In Nordamerika besteht der „Bär“ nur aus
den vier Sternen des Körpers, während die drei anderen die
verfolgenden Jäger darstellen. Zahlreiche Märchen von den
sieben Brüdern mit ihrer kleinen Schwester, die zum Himmel
ı) Die Oriongruppe kann auch als Gegenstand aufgefaßt werden, SO
7. B. bei den Bakairi Brasiliens als Manioktrockengestell, oder sie wird in
ihre einzelnen Teile zerlegt. Namentlich treten die Gürtelsterne oft selb-
ständig auf als Jakobsstab, Mäher, Frauen des Riesen usw.
Ein wichtiges Moment ist auch die scheinbare Arm- oder Kopflosig-
keit des Orion, wodurch die in dessen Mythen oft eingeflochtenen Motive der
Enthauptung, Zerstückelung und des Armausreißens erklärlich werden, die
wohl als ursprünglich lunar zu fassen sind. Das Letztgenannte kommt aber
auch in Verbindung mit anderen Sternbildern vor. Die Angleichung des
Orion mit dem Dionysos bei den Griechen hängt sicherlich mit dieser asso-
ziativen Übertragung von Mondcharakteren zusammen.
Mvtholog. Bibliothek: Ehrenreich,
L30
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,‘
entrückt werden, knüpfen an dieses Sternbild an, auf das
auch sonst manche der Siebengestirnssagen zu beziehen sind,
die gelegentlich auf die Plejaden, unser Siebengestirn, ge-
deutet werden,
Der Skorpion, das seiner Tiergestalt nach am schärfsten
charakterisierte Sternbild mit seinem langen, angelartig
gekrümmten Schweif, ist außerhalb der alten Kulturwelt be-
sonders bei den Südseevölkern beachtet (Mauis Angel), wird
aber manchmal mit den benachbarten Sternen zu einer kom-
plizierten Gruppe vereinigt, die einen ganzen Mythus illustriert!.
Am Südhimmel ist das Kreuz mit den daneben leuchtenden
Sternen des Centauren und dem auffälligen schwarzen Kohlen-
sack (dem Himmelsloch) die impressivste Erscheinung, die
namentlich in Südamerika und Australien mythisch angedeutet
wurde. Auch das Sternbild der Zwillinge (Gemini) scheint
außer im Orient nur in australischen und polynesischen Mythen
vorzukommen.
Betreffs der Milchstraße als Himmelsbaum (Weltesche),
Weg ins Seelenland, Himmelsschlange usw. sei auf das von
Andree (Ethnogr. Parallelen I, p. 109) zusammengestellte
Material verwiesen,
Damit ist die Reihe der universell oder doch über weitere
Erdgebiete hin mythisch verwendeten Fixsterne so ziemlich
erschöpft. Was sonst noch vorkommt, ist nur von lokaler
Bedeutung oder läßt sich nicht genauer identifizieren.
Der Tierkreis als solcher gehört natürlich ausschließ-
lich der asiatischen Kulturwelt an, doch liegt möglicherweise
dem mexikanischen System der zwanzig Tageszeichen etwas
ähnliches zugrunde.
Auch die Planeten werden als solche nur in der syste-
matischen Astronomie der Kulturvölker unterschieden, Bei
den Mexikanern entsprechen ihnen die sechs sonst mytholo-
gisch bedeutungslosen „Himmelswanderer“®% Alle übrigen
Völker beachten fast ausschließlich die Venus (als Morgen-
und Abendstern getrennt), deren Vorbeigang an Sonne und
Mond eine der wichtigsten mythologischen Quellen ist. Wie in
‘) Haddon, Anth. exp. to Torres Straits VI, p. 83.
’) Seler, Codex Borgia IL p. 157—165,
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie, 131
Europa ist auch in Amerika der Morgenstern als Märchenheld
und Kulturheros bedeutsam, doch tritt an seine Stelle hier
häufig der Merkur, gelegentlich auch, wie beiden Pani, der Mars,
worüber aber noch Unsicherheit besteht. Auffallend ist das
völlige Zurücktreten des Jupiter bei den meisten Naturvölkern.
Auch Kometenmythen scheinen äußerst selten zu
sein. Nur aus Nordamerika sind einige bekannt, in denen
z. B. erzählt wird, wie ein in den Himmel entrückter Mann
später in mehrjährigen regelmäßigen Zwischenräumen auf
einem langgeschweiften Rosse in der Luft wieder erscheint.
Ein ungemein wichtiges, aber leider noch wenig beachtetes
Element der Mythologie ist der Nordpol bezw. der Nord-
stern als Drehungspunkt des Himmels, dessen schon den
Babyloniern geläufige Beziehung zum Himmelsgott und dem
Feuer zuerst von Caspari und Geiger, später besonders
von Frau Nuttall in Anlehnung an gewisse mexikanische
Vorstellungen darüber näher erörtert worden ist‘, Die Aus-
führungen dieser verdienten Amerikanistin haben indes, weil
allzu kühn abschweifend, wenig Beifall gefunden, enthalten
aber sicher einen richtigen Kern und fordern zur Nachprüfung
um so mehr auf, als neuere Beobachtungen bei primitiven
Völkern die Hauptpunkte zu bestätigen scheinen *. Auch auf
die Entstehung der weltverbreiteten Symbole oder Wirbel-
ornamente des Svastika und des Triskeles fällt dadurch ein
neues Licht. Für die astralen Beziehungen dieser Symbole
hat auch kürzlich Friedrichs weitere Belege beigebracht ®.
1) Zelia Nuttall, The fundamental principles of old and new world
civilisations. Cambridge, Mass, 1901. ;
', Bogoras, The Chukchee, p. 307.
Sehr instruktiv ist in dieser Beziehung die Mythologie der Tschuk-
tschen (n. Bogoras), die ihre Hauptgottheit als „den ruhenden Pol in
der Erscheinungen Flucht“ im Nordstern lokalisieren. — Die Beziehung der
Weltdrehung zur Mechanik des Feuerquirls tritt deutlich in den nordwest-
amerikanischen Sayen vom Ursprung des Feuerbohrers in einem Wirbel des
Ozeans hervor (n. Boas). Die griechische Vorstellung vom Zentralfeuer, die
Gestalt der Hestia, als Göttin der Weltmitte, der das Herdfeuer als Mittel-
punkt des Hauses entspricht, gehört gewiß in diesen Gedankenkreis ebenso
wie die babylonische Vorstellung vom Ursprung des Feuers am. Nordpunkt
Nibiru.
{3
£
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Als Ganzes ist der Sternhimme]l fast überall das Seelen-
land, das Land der mythischen Ahnen, in das die Seelen der
Abgeschiedenen zurückkehren. Damit wird er der Unterwelt
mythologisch gleichwertig, ein äußerst bedeutsames, wie es
scheint gesetzmäßig wiederkehrendes Verhältnis, aus dem sich
z. B. die Rolle des Mondes als Unterweltbeherrschers von
selbst ergibt. Wenn Plutarch die Unterweltsfürstin Perse-
phone im Monde lokalisiert, so bewegt er sich ganz im Be-
reiche dieser uralten Vorstellung.
Sind die Sterne menschliche Seelen, so wird auch deren
oft angenommene Einäugigkeit verständlich, woraus sich
wiederum die Idee ergibt, daß das Himmelsland mit einsei-
tigen Halbmenschen bevölkert sei (Nordwestamerika und
Afrika). Assoziationen mit der Vorstellung des Halbmondes
und der einbeinigen oder halbseitigen Blitzdämonen spielen
hierbei wahrscheinlich mit.
In den Sternbildern sieht man außer Persönlichkeiten
auch Objekte und geographische Örtlichkeiten, die in der
Ahnensage und Kosmogonie irgendwie bedeutsam sind. Am
unmittelbarsten tritt diese Anschauung in der Stammessage
der Bakairi Südamerikas hervor (s. K. von den Steinen,
Naturv. Zentralbras., p. 359 ff.).
Auch sonst ist sie ungemein häufig. In der raffiniert
ausgebildeten Sternmythologie der nordamerikanischen Kaddo-
stämme (Pani und Verwandte) hat jedes irdische Objekt
sakraler Bedeutung sein astrales Gegenbild am Himmel, also
ganz entsprechend der babylonischen Lehre von der Korre-
lation des Himmelsbildes mit dem Weltbild. Diese
aber als die Quelle jener indianischen Anschauung aufzu-
fassen, liegt keine Veranlassung vor, Ebensogut darf die
babylonische Lehre die Systematisierung einer uralten volks-
tümlichen Vorstellung sein, die sich bei den heutigen Natur-
völkern frisch erhalten hat und nichts anderes ist als die
konsequente Weiterbildung der Idee eines himmlischen Seelen-
und Ahnenlandes.
In dem Material der primitiven und der alten Kultur-
völker sind die Sternmythen meist unmittelbar als solche
yekennzeichnet, die Sterne also ausdrücklich genannt, Ent-
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 133
weder spielt sich der Vorgang am Himmel selbst ab; Orion
verfolgt die Plejaden, der große Bär kämpft mit dem kleinen,
dieser mit Kassiopeia, oder er wird zum Teil auf die Erde
verlegt: Sterne steigen herab, nehmen Menschengestalt an,
entführen Frauen, handeln als Helden oder deren Helfer, um
dann nach Erfüllung ihrer Aufgabe oder infolge irgendwelcher
Zwischenfälle wieder in den Himmel entrückt zu werden.
Ebenso werden irdische Personen zu Sternen, indem sie im
Spiel oder auf der Flucht sich zum Himmel erheben, auch
wohl zum Lohn oder zur Strafe dahin versetzt werden,
Im neueren Märchen ist die Sternbeziehung meist verhüllt
und muß durch die Deutung erschlossen werden. Es handelt
sich dann aber fast ausschließlich um das Verhältnis von
Morgen- und Abendstern zu Sonne und Mond, überhaupt um
das Wirken der mythischen Trias Sonne, Mond, Venus. Solche
an die Verdunkelungsphänomene dieser Gestirne anknüpfenden
Erzählungen sind keine eigentlichen Sternmythen mehr, ge-
hören vielmehr zum Typus der Mondwechselmythen, mit denen
sie untrennbar verbunden sind.
Auch in den Sternmythen bekundet sich also die innige
Assimilation irdischer und himmlischer Erscheinungen,
Himmel und Erde stehen im Mythus nicht nur als
Personifikationen, sondern auch als Schauplätze mythischer
Vorgänge in engster Wechselbeziehung, die es unmög-
lich macht, Mythen nach diesen örtlichen Kategorien zu
scheiden. Daher wird auch so oft, entsprechend dem
Sinneseindrucke, die unmittelbare Berührung beider Reiche
ausdrücklich betont. Häufig ist die Vorstellung, daß in der
Urzeit, der Schöpfungsperiode, der Himmel noch dicht über
der Erde lag und sich erst später infolge menschlicher Über-
griffe von ihr entfernte (Nordasien und Afrika), oder daß ein
direkter Übertritt von dem einen zur anderen möglich war.
Amerikanische Sagen berichten sogar, daß einstmals die ganze
Welt umkippte und der Himmel mit der Erde einfach den
Platz tauschte.
Die Handlung der Ahnensage beginnt meist im Himmel,
von wo der Held als Kulturheros auf einer Brücke, dem Regen-
bogen, zur Erde herabsteigt, oder sich an einem Spinnfaden
134
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
oder einer Schlingpflanze herabläßt. Im Märchen und der
Heldensage beginnt die Handlung auf der Erde. Der Held
steigt mit ebensolchen magischen Hilfsmitteln (auch Pfeil-
ketten) zum Himmel auf, um dort seine Taten zu vollbringen.
Mythologisch sind solche Erzählungen durchaus gleichwertig.
Die gleichen Handlungen können sich auch in der Unterwelt
abspielen, die das natürliche Komplement zur Oberwelt und
zum Himmel bildet.
Die Erscheinungen der Atmosphäre treten mythologisch
keineswegs so stark hervor, wie die ältere Schule annahm,
die im Gewitter, der Morgenröte oder Dämmerung den Schlüssel
zum Verständnis aller Mythenbildungen zu besitzen. glaubte.
Heute unterschätzt man eher diese Seite der Natur, um so
mehr, als meteorologische Mythenmärchen sehr ungleichmäßig
entwickelt sind und in vielen Gebieten fast ganz fehlen. Das
hängt natürlich mit den jeweiligen klimatischen Verhältnissen
des Landes zusammen. Die nördlichen Breiten, ausgezeichnet
durch überaus wechselreiche Witterung, starke Temperatur-
schwankungen, durch sehr verschiedene Form der Nieder-
schläge, durch eigentümliche, aus der Langsamkeit der schein-
baren Sonnenbewegung sich ergebende Dämmerungserschei-
nungen, durch Häufigkeit und Intensität der Nebelbildungen,
endlich durch Luftphänomene besonderer Art, wie Höfe,
Nebensonnen, Nordlichter! lassen eine ausgiebigere mytholo-
gische Verarbeitung solcher Stoffe erwarten als die Tropen-
länder mit ihren zwar mächtigen aber einförmigen, fast
mechanisch sich abspielenden Vorgängen des Luftraums.
Trockene Steppen und Wüstengebiete mit ihren Staub- und
Wirbelwinden, Luftspiegelungen werden wieder ihre besondere
mythologischen Formen erzeugen müssen.
Im allgemeinen steht aber der Mangel einer körperlich
apperzipierbaren Unterlage der selbständigen Mythologisierung
der atmosphärischen Erscheinungen im Wege. Sie liefern
eher mythologisches Beiwerk und dienen der Ausmalung
mythischer Situationen, verbinden sich daher leicht mit ander-
weitigen mytihischen Stoffen.
) v. Hahn, Sagyw. Studien, p. 450 f£.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 135
Wenn nun auch einzelne dieser Erscheinungen ein ge-
wisses Maß von plastischer Bestimmtheit besitzen, so haben
diese doch mehr eine lokale Bedeutung. Ihre Auffassung in
der personifizierenden Phantasie ist nicht so natürlich be-
stimmt, wie die der kosmischen Himmelserscheinungen. Ks
fehlt ihnen die auf Allgemeinsichtbarkeit beruhende Univer-
salität, der Individualcharakter, der gerade für die Gestirne
so bedeutsam ist.
Am meisten ist die großartige Erscheinung des Gewitters
ihrem mythologischen Werte nach überschätzt worden, bis
die Übertreibungen der von W. Schwartz ausgehenden
Richtung die Reaktion hervorriefen, die fast in jedem Mythus
einen Gewittervorgang reflektiert sah, Heute, wo unser Blick
mehr geschärft ist und wir die Grenzen der Gewittermythologie
besser kennen, vermögen wir zugleich auch ihrer Bedeutung
gerecht zu werden. Sie fehlt zunächst über weite Gebiete
hin gänzlich, besonders da, wo das Gewitter eine regelmäßige,
alltägliche Erscheinung ist, die den Menschen unmittelbar
gar nicht berührt, wie Z, B. in den Regenwaldgebieten Süd-
amerikas und anderer Tropenländer, Die physikalisch be-
gründete Seltenheit der Blitzschläge in jenen Gegenden mag
zu dieser Vernachlässigung beigetragen haben.
Der Mangel eines plastisch greifbaren Wahrnehmungs-
inhaltes tritt beim Gewitter am entschiedensten hervor. Man
muß daher einen solchen gleichsam künstlich schaffen und
die Erscheinung sekundär damit verbinden. Der Aufruhr der
Elemente ist fast überall als Kampf gedacht. Bei den Arau-
kanern und Chaco-Indianern kämpfen die Seelen von Kriegern
um den Vorrang, oder es kämpft allgemein eine göttliche
Persönlichkeit mit einem Dämon (Indra mit Vritra, Thor mit
dem Riesen usw.), wobei dieser als die Wetterwolke gefaßt
ader nicht besonders charakterisiert sein kann, oder es handelt
sich überhaupt um den Zornesausbruch eines himmlischen
Wesens, wie Zeus oder Thor, Schwartz spricht auch von
einer „Begattung oder Vermählung der Himmlischen im Ge-
witter“, was für manche Fälle möglicherweise zutrifft. Da
die Beteiligten nicht unmittelbar sichtbar sind, so hat die
Phantasie freies Spiel. Das Gewitter kann daher in ver-
136
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
schiedenster Weise im Mythus verwendet werden, wo über-
haupt das Motiv des Kampfes für die Handlung wesentlich
ist, namentlich also, wenn diese selbst im Himmel sich ab-
spielt. Als Einzelerscheinung hat der Vorgang keine mythen-
bildende Kraft, er erzeugt nur mythische Vorstellungen oder
Motive, die im Mythus mit den verschiedensten Persönlich-
keiten verbunden sein können.
Von den Begleiterscheinungen des Gewitters ist die be-
deutsamste der Blitz, der fast überall als eine geschleuderte
Waffe, Stein. Donnerkeil, Hammer aufgefaßt wird. Der Schleu-
derer ist ein übermenschliches Wesen, eine Götter- oder Helden-
gestalt,
Es handelt sich hierbei keineswegs um eine einfache
Personifikation des Blitzes, vielmehr wird zu der sichtbaren
Waffe ein Agens hinzukonstruiert, was schon von Olden-
berg in bezug auf den vedischen Indra richtig erkannt
wurde!t, In manchen Fällen wird aber als dieses Agens
merkwürdigerweise der Mond angenommen. Ob das eine
sekundäre Übertragung ist, oder die Rolle des Mondes als
Feuerbringer dabei in Betracht kommt, läßt sich noch nicht
sicher entscheiden. Die von Siecke für Thor und Indra
nachgewiesenen Mondbeziehungen (vgl. besonders das über
den Thorshammer gesagte, Myth. Briefe, p. 182) dürfen nicht
übersehen werden. Auch bei den Eskimo kommt der Mond
als Blitzerzeuger vor. Vielleicht hängt der ganze Vorstellungs-
komplex mit der oft angenommenen Feuersteinnatur des
Mondes zusammen *.
Der Blitzdämon kann auch tierisch gedacht sein. Be-
kannt ist der Donnervogel der Indianer, der den Blitz aus
seinen Augen sprüht. Bei den Mexikanern stürzt ein fackel-
tragender Hund vom Himmel herab. Die Puebloindianer
apperzipieren dagegen die Einzelblitze direkt als Schlangen,
die nun als Regenbringer zu Fruchtbarkeitsdämonen werden,
Von großem Interesse ist die Vorstellung des Blitzes als
eines einbeinigen oder halbseitigen Mannes bei den Nord-
'y 4. Oldenberg, Rel. d. Veda, p. 42.
2) Über verwandte Vorstellungen bei den Babyloniern s. Hommel,
Grundriß, pvp. 166, 2, ;
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 137
ostasiaten, Koryäken und Tschuktschen. Vielleicht hängen
die zahlreichen Halbwesen, denen wir im Himmel oder der
Unterwelt bei Amerikanern und Polynesiern begegnen und
die meist in Beziehung zum Feuer stehen, ebenfalls mit dem
Blitz zusammen, wodurch auch die Lahmheit des Feuer- und
Vulkangottes Hephaistos eine neue Beleuchtung erfahren
würde.
Für den Donner gilt, was für das Gewitter im allgemeinen
gesagt wurde. Er ist außerdem die Stimme eines himm-
lischen Wesens oder wird, wie in Amerika, durch den Flügel-
schlag eines gewaltigen Vogels erzeugt. Jedes Volk legt im
übrigen eine ihm geläufige, seinem Kulturzustande ent-
sprechende Anschauung unter. Wie man unsern Kindern von
einem Kegelschieben der Engel erzählt, so hören die Inder
den Götterwagen rasseln, die Eskimo himmlische Weiber
auf trockene Häute klopfen, die Japaner den Wetterdämon
die Pauken schlagen usW.
Von den Dämmerungserscheinungen ist die wichtigste
die Morgen- bezw. Abendröte, auf die bekanntlich Max
Müller sein Hauptaugenmerk richtete. Als Gegenstand so
vieler vedischer Hymnen schien sie recht eigentlich eine dem
Urmythus angehörige Gestalt zu sein, wenn auch ihre mythen-
bildende Kraft ziemlich problematisch blieb, denn gerade die
von Müller auf sie und ihre Beziehungen zur Sonne geden-
teten Mythen gestatten eine ganz andere Erklärung. In
der Tat spielt die Aurora als Sonnentochter oder Geliebte
nicht nur in Indien, sondern auch in den slavischen, lit-
t+hauischen und westeuropäischen Märchen eine wichtige Rolle,
Außerhalb der indogermanischen Welt ist sie jedoch als my-
thische Figur so selten, daß ihr eine universelle Bedeutung
nicht beizumessen ist. Natürlich ist nicht ausgeschlossen,
daß die Zahl der auf die Aurora bezüglichen Mythen hier
bei genauerer Prüfung vermehrt wird‘, Offenbar hat auch
1) Ein interessantes Beispiel hierfür gib£ die Stammesmythe der Bakairi
Brasiliens. Daß die getötete Mutter der beiden Zwillingsheroen als Morgen-
röte zu fassen sei, hat von den Steinen mit guten Gründen abgelehnt
(Naturv. Zentralbras., p. 371). Eine neue Variante dieses Mythus aus der
Tradition der Guarani, die ich einer Privatmitteilung des Herrn Vojtech
138
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
hier die unsichere Personifizierungsgrundlage ein Hindernis
für die mythische Entwickelung abgegeben. Die „Rosenfinger“
oder das glänzend goldrote Gewand sind so ziemlich alles,
was die unmittelbar persönliche Apperzeption unterstützen
könnte. Erst durch die innige Verbindung, mit der in ihr
sich zeigenden Venus oder der Mondsichel gewinnt die Gestalt
ein gewisses individuelles Leben. Nur dieser Zusammenhang
hat Märchen und Mythen erzeugt, wie die von Mannhardt
und Friedrichs zusammengestellten Materialien beweisen.
Ein interessantes Beispiel hierfür ist auch die von Siecke
zuerst richtig gedeutete Sage von Eos und ihrem schwarzen
Sohne Memnon (Mythol. Briefe, p. 58 ff.) *.
Weit häufiger wird die Aurora dem unmittelbaren Kin-
druck gemäß als Feuer (Waberlohe) oder Blut eines getöteten
Helden oder Ungeheuers aufgefaßt. Auch die in den ger-
manischen Märchen so oft erwähnten Dornbüsche (Typus:
Dornröschen==schlafende Walküre) sind wohl, wie Friedrichs
gezeigt hat, als Auroren zu deuten, obwohl die psychologische
Erklärung dafür streitig ist.
Die graue Dämmerung wird sowohl, in Europa wie
in Amerika als Wolf gefaßt, wozu sich auch anderswo Ana-
logien finden. Hieraus erklärt sich auch die Beziehung Apollos
zum Wolf als Avxnyeyrs, mit der die klassischen Mythologen
meist nichts Rechtes anzufangen wissen. Als Sonnengott
gefaßt kann Apollo gar nichts anderes sein, wie ein, Wölfin-
sohn“. Dazu bietet die Auffassung der Hopi-Indianer Nord-
amerikas eine interessante Parallele, nach der die Sonne sich
bei ihrem Aufgang zunächst in ein Wolfsfell, dann in ein
rothes Fuchsfell kleidet, also eine direkte Wiedergabe des
Natureindrucks. Ähnlich erhält bei den Australiern die Sonne
von den Seelen, die sie in der Unterwelt während der Nacht
besucht hat. am Morgen ein rotes Känguruhfell als Kleidung.
FriG verdanke, ergibt jetzt die Aurorennatur dieser Gestalt ganz unzweifel-
haft. Namentlich wird das Wiederaufleben am Abend. das von den Steinen
vermißte, hier ausdrücklich. erwähnt. |
i\ Der Auffassung Hüsings, daß das Wort Hüs ebenso wie “HAt05
ursprünglich überhaupt den Mond bezeichnet habe, kann ich mich aus metho-
dischen Gründen nicht anschließen, auch wenn der etymologische Zusammen-
hang beider Worte mit Zeinvn erwiesen wäre.
Kapitel VI, Stoffe der Mythologie. 139
Persönlich erscheint die graue Dämmerung bei den Nord-
amerikanern als das „Dämmerungsweib“ (Dawn woman), das
mythologisch eine bedeutende, bisweilen bösartige Rolle spielt,
auch wohl mit der Spinnenfrau oder der Mondhexe ange-
glichen wird,
Die vom Winde abgeleiteten Vorstellungen knüpfen teils
an seine mechanischen, fühl- oder hörbaren Wirkungen an,
teils an die dem Auge wahrnehmbaren, wie Staub- und
Wasserwirbel.
Im ersteren Falle stellt er die Lebensäußerung (Atem,
Stimme) eines himmlisch-dämonischen Wesens dar, dessen
Natur durch die Qualität des Windes bestimmt wird. Dem
Nordwinde als unholdem Frostriesen steht der sanfte Zephyr als
„holder“ Knabe gegenüber, nicht nur bei Germanen und
Griechen, sondern auch bei Nordamerikanern. Ähnliches
findet sich aber allenthalben.
Im Wirbelwind, besonders in der Thrombe, wird der Wind
individualisiert, So erscheint bei den Nordamerikanern ein
Wirbelwindweib. Die Riesen und Drachen der Orientalen
repräsentieren oft die Sandhosen der Wüste, Als eine solche
hat man auch mit Recht den Erdensohn Antaios gedeutet,
dessen Kraft im Kampfe mit Herakles sich verdoppelt, wenn
er die Mutter berührt. und schwindet. wenn er sich von ihr
ablöst.
Viele dieser Winddämonen stehen aber in engster Be-
ziehung zum Seelenglauben, In den Windwirbeln sieht der
Indianer die Geister Verstorbener, die bei den Germanen im
Sturm als „wildes Heer“ dahinfahren und sich damit, wie
von Schroeder richtig erkannt hat, aufs engste mit den
indischen Maruts! berühren. Da nun auch Sonne, Mond und
Sterne im Sturme durch die Wolken zu ziehen scheinen, so
ergeben sich wieder Assimilationen der Windwesen zu diesen
Gestirnen, die in allen Mythologien erkennbar sind.
Das Hauptgebiet der Windmythen ist Nordamerika, wo-die
die ganze Mythologie durchdringende Hervorhebung der vier
oder sechs Kardinalpunkte die Hauptwinde zu wichtigen Per-
ıy v. Schroeder, Myst. u. Mim. im Rgv., p. 147.
140
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
sönlichkeiten gemacht hat, deren Antagonismus den Gegen-
stand dieser Mythen bildet (vgl. Michabazos Kampf mit seinen
Windbrüdern, Brinton, Am, hero myths, p. 47ff.)., Aber
auch in Nord- und Zentralasien (Tibet), in Griechenland und
namentlich im nordischen Europa fehlt es nicht an Beispielen.
Seltener scheinen sie im Orient zu sein. Nur die spezifischen
Wüstenwinde, der heiße Samum (Seth, Typhon), sowie die
Staubwirbelthromben treten hier als dämonische Gegner von
Göttern und Helden hervor.
Verhältnismäßig groß ist die mythologische Kraft der
Wolken und Nebelbildungen, weil hierbei sich dem Auge
oft in ihren Phasen verfolgbare Vorgänge darbieten und zu-
gleich fest umschriebene Gestalten vorhanden sind, die deren
Apperzeption als körperliche Wesen und Objekte unterstützen.
Wolkengebilde haben zu allen Zeiten die Phantasie an-
geregt. „Luftschlösser“ sind wirklich wahrgenommene Wolken-
bauten, die freilich vergänglichen Werke von Riesen und
Dämonen. Die Wolken sind regenspendende Geisterwesen,
sind Segelschiffe, Wasserschläuche, Mäntel, Rosse der Himm-
lischen, die Rinder oder Schafherden der Sonne, nicht nur
bei Homer, sondern auch in unserem Volksglauben *. Ebenso
können sie in ihren dunklen Formen als Mist und Unrat
den Hof des Himmels bedecken, bis ein Heros, sei es ein
Sonnenwesen wie Herakles, oder wie in Nordwestamerika ein
Winddämon, ihn reinigt,
Nebelbildungen spezifischer Form sind nur von lokaler,
aber nicht zu unterschätzender Bedeutung, wie Laistner
in seinem trefflichen Werke über die „Nebelsagen“ gezeigt
hat. Eine systematische Weiterverfolgung dieser Sagenformen
auf außereuropäischem Gebiet wäre ein dringendes Bedürfnis.
Bezüglich des Regens sei nur bemerkt, daß er auffallend
oft als Exkret (Harn, Schweiß, Speichel) eines himmlischen
Wesens gefaßt wird, was zu allerlei grotesken Erzählungen
geführt hat. Das wichtige mythologische Motiv der magischen
Empfängnis durch solche Exkrete ist meist ein bildlicher Aus-
Aruck der Erdbefruchtung durch Regen. Im übrigen sind die
1) Über Wolken als Götterrinder s. Roscher, Hermes, p. 43,
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 141
Vorstellungen über die Natur der Niederschläge auch inner-
halb desselben ethnischen Kreises sehr variabel, so daß AN-
gemeingültiges nicht daraus zu entnehmen ist.
Auch für den Regenbogen muß auf die reiche Literatur
verwiesen werden !. Die Vorstellung der Himmelsbrücke wiegt
vor, sonst findet sich auch die des Schmucks oder bunt-
farbigen Gewandes einer Gottheit. Tierisch personifiziert wird
er als Fisch oder buntfarbige Schlange in Amerika und Afrika.
Noch nicht erklärt sind die dem Regenbogen oft zugeschrie-
benen bösartigen Qualitäten. Bei den Karaiben stellt er
geradezu den Yolok, d. h. Teufel, oder Krankheitsdämon dar,
Die Stoffe der irdischen Umwelt sind hauptsächlich dem
Tierleben entnommen, doch darf nicht vergessen werden,
daß hinter vielen der sogenannten Tiermärchen sich Himmels-
märchen verbergen, indem die tierisch aufgefaßten Himmels-
körper sich den irdischen Tieren angleichen, oder irdische
Märchen durch Einfügung himmelsmythologischer Motive eine
besondere phantastische Färbung erhalten. Derartige Fälle
sind bereits erörtert. Die gleichen Assimilationen bestehen
zwischen der tierischen und der menschlichen Welt. Es
resultiert daraus die Tierfabel mit ihren späteren Abarten
scherzhaften und moralisierenden Charakters, in der Tiere
sich ganz wie Menschen benehmen und von menschlichen
Affekten und Trieben bewegt werden. Ks handelt sich
aber hierbei nicht bloß um einen symbolischen Ausdruck
menschlicher Verhältnisse durch tierische, sondern um eine
grob realistisch aufgefaßte Wesenseinheit beider. Die Tiere
bewegen sich in denselben materiellen und sozialen Lebens-
formen wie der Mensch, von dem sie sich nur in der Gestalt
unterscheiden, die sie aber häufig auch wieder mit ihm
tauschen. Ebenso verwandelt sich der Mensch in ein Tier,
geht Tierheiraten ein, wird auch wohl leibhaftig in die
tierischen Gemeinschaften aufgenommen. Diese völlige Ver-
schmelzung menschlichen und tierischen Wesens ist der auf-
1) Tylor, Anf. d. Kultur 1, p. 290; 2, p. 265.
142
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
fälligste Charakterzug der primitiven Märchen und tritt am
stärksten bei den Jägerstämmen Nordamerikas und Nord-
asiens auf.
Jedenfalls gehören diese Tiermärchen, in denen sich die
Weltanschauung des urzeitlichen Jägertums reflektiert, dem
ältesten mythischen Besitz der Menschheit so gut an, wie die
einfachen Himmels- und Gestirnsmythen, mit denen sie überall
enge Verbindungen eingehen.
Die absoluteste Übereinstimmung in der Form zeigen die
explikativen Tiermärchen, die die körperlichen Merkmale
bestimmter Tierarten auf äußere Einwirkungen oder Zufälle
in der Vorzeit zurückführen und meist episodisch anderen
Erzählungen eingefügt sind. Sie unterscheiden sich nur im
zoologischen Stoff, nicht aber in dessen mythischer Behand-
lung, die von Zeit und Raum völlig unabhängig ist.
Auch die Anfänge des eigentlichen Mythus, die primitiven
Formen der Stammes- und Heldensage, die Kosmogonien, die
Sippen- und Mysterientraditionen werden bei den niederen
Völkern noch vollkommen von der Tiermythologie beherrscht,
die ihre‘ Spuren bis in die Kulturwelt hinein erkennen läßt.
Die zahlreichen Verwandlungssagen, die heiligen Tiere, die
tierischen Begleiter und Symbole höherer Gottheiten beweisen
das. Die Idee der tierischen Abkunft der Menschen über-
haupt oder einzelner hervorragender Geschlechter und die
darauf sich gründenden Formen des Totemismus, die Tier-
götter oder tierischen Demiurgen, deren Macht und Bedeutung
ganz ohne Beziehung zum physischen Charakter des be-
treffenden Tieres stehen, die tierischen Helfer und Schutzgeister
einzelner oder ganzer Genossenschaften finden sich in auf-
fallender Übereinstimmung auf der ganzen Welt wieder und
wurzeln in der gleichen Urgrundlage menschlicher Elementar-
gedanken.
Eine völlig befriedigende psychologische Erklärung für
eine Bewertung des Tiers, die dieses noch über den Menschen
erhebt, ist noch nicht gegeben. Die totemistische Theorie,
für die auch Wundt sich entscheidet, reicht allein nicht aus.
Wir müssen uns zunächst an das einfache Faktum halten
und systematisch diese Seite tiermythologischer Anschauungen
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie, 143
da studieren, wo wir noch authentische Angaben darüber zu
gewinnen hoffen dürfen, bei den Naturvölkern Nordamerikas,
Nordasiens und Afrikas, Material genug liegt schon vor.
Arbeiten wie die von Sternberg über die Tiergötter. der
Giljaken (Archiv f. Rel‚-Wiss, 8, 1905, p. 244 ff., 456 ff.) werden
uns auch in der psychologischen Erkenntnis weiter fördern,
als alle theoretischen Spekulationen vermögen. a
Soweit wir bis jetzt urteilen können, scheinen zwei Mo-
mente dabei besonders wichtig zu sein:
1. Die Annahme magischer Kräfte in‘ den Tieren, die
teils aus ihren wunderbaren, den menschlichen überlegenen
Instinkten, teils aus der scheinbar von ihnen ausgehenden
Beeinflussung der Naturvorgänge, wie Witterung, Pflanzen-
wachstum, Luft- und Gestirnsbewegung, erkannt werden, Es
ist die nach dem irokesischen Ausdruck sogenannte Orenda-
Theorie, die Preuß seiner Abhandlung über die „Anfänge
der Religion und Kunst“ (Globus 86 u. 87, 1904) zugrunde legt.
9. Die Tatsache, daß der Naturmensch eine Reihe seiner
wichtigsten Kulturgüter, Waffen, Werkzeuge, Kleidung, den
Tieren unmittelbar verdankt, denen er sie heute noch nehmen
muß?. Auch viele Nutzpflanzen gelten als ursprünglich
tierisches Besitztum, da die Tiere nicht nur eßbare Früchte
auffinden, sondern selbst Vorräte davon anlegen. Hierauf
beruht die Rolle der Tiere im Kulturmärchen, der Kultur-
heroensage, die auch den Feuerraub gern besonders listigen
Tieren überträgt und ihn explikativ mit körperlichen Eigen-
schaften derselben verbindet, also Schwarzfärbung, Rotbeinig-
keit u. dgl. als eine bei dieser Gelegenheit erhaltene Ver-
brennung auffaßt. Auch die leuchtenden Augen gewisser
Tiere lassen sie als Feuerbesitzer erscheinen. eine in Amerika
häufige Vorstellung.
Seltener als die Tierwelt liefert die Pflanzenwelt
mythischen Stoff. Die Art der Behandlung aber ist so ziem-
lich die gleiche, namentlich was die explikativen Formen
anlangt. Die Ähnlichkeit vieler Pflanzen mit Menschen und
1) J. N. Hewitt, Orenda and a definition of religion. Am. Anthr.
N. S. 1902, p. 88£.
2) K.von den Steinen, Naturv, Zentralbras., p- 354,
144
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Tieren oder von Früchten mit animalischen Körperteilen hat
eine große Anzahl von Verwandlun gsmärchen und
Mythen erzeugt, ein besonders beliebter Stoff der individuellen
Dichtung, der aber erst auf späterer Stufe eine größere Be-
deutung und eigene mythische Triebkraft gewinnt. Bei den
Naturvölkern tritt die Pflanzenwelt im allgemeinen mythisch
wenig hervor, nur den Kulturpflanzen wird ein regeres Interesse
entgegengebracht. Soweit diese nicht von Tieren geliefert
werden, läßt man sie aus den Körperteilen eines übermensch-
lichen mythischen Wesens entstehen (vgl. Wundt, Mythus 8,
p. 197), oder sie gelten als Produkte eines einzigen fabel-
haften Baumes.
In Amerika, wo solche Sagen sehr verbreitet sind, kommen
auch unmittelbare Personifikationen von Kulturpflanzen vor,
die als göttliche Wesen im Kultzeremoniell eine Rolle spielen,
wie die Kornmutter der Prärie-Indianer, und die drei gött-
lichen Helfer der Irokesen, die in Bohne, Kürbis und Mais
versinnbildlicht sind. Die Maisgottheit der Hopi ist im Mythus
ein Wesen, das ganz aus Maiskolben besteht,
In Polynesien hat die Ähnlichkeit der Kokosfrucht mit
ainem menschlichen Kopf die Sage erzeugt, die Palme sei
aus dem durch die Wellen angeschwemmten Haupte eines
geköpften Wesens entstanden.
Pflanzen von narkotischer Wirkung, oder deren Produkte
Rauschtränke liefern, wie Tabak, Wein, Ahorn, Agave, Kawa,
Soma sind natürlich als göttlichen Ursprungs in den Götter-
mythus eingeführt, Hierdurch berührt sich dann die Pflanzen-
mit der Himmelsmythologie. Rauschzustände sind wie Träume
und Visionen eine Wirkung des Mondes, der als Vegetations-
gott das Pflanzenleben beherrscht, dessen Schale den leben-
erneuernden Zaubertrank enthält.
Solche Göttertränke und Speisen wie Nektar, Ambrosia,
Honig, Soma, Wein, Pulque sind deshalb mythologisch aufs
engste mit dem Monde und seinen Gestalten verbunden, ein
Zug, der ebenfalls zu den allgemeingültig und gesetzmäßig
wiederkehrenden gehört!.
1!) Daß der Soma erst in der späteren vedischen Literatur ausdrücklich
als Mondgottheit erwähnt wird, beweist nichts gegen das Alter dieser Vor-
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 145
Eine andere Beziehung zum Himmel ist durch die Auf-
fassung der Milchstraße als eines Weltbaumes gegeben,
die in den Schöpfungssagen der meisten Völker hervortritt.
Dabei können Sonne, Mond und Sterne Früchte dieses Baumes
sein. Die Vorstellungen vom Hesperidengarten, der Welt-
esche Yggdrasil, der Paradiesbäume sind hier zu nennen.
Der Weltbaummythus gehört also eigentlich nicht in die
Pflanzen-, sondern in die Himmelsmythologie, was im Gegen-
satz zu Wundts Ausführungen (Mythus 3, p. 193. 220) be-
merkt sei. Der schöne nordamerikanische Mythus vom
Sprachenbaum, auf dessen Ästen verschiedene Vögel den
einzelnen Völkern ihre Sprachen verkünden, gehört zur Tier-
mythologie, er ist offenbar aus der Beobachtung sprechender
Vögel erwachsen und wurzelt demnach in der tiermythischen
Vorstellung.
Auch die Formen der Erdoberfläche erzeugen haupt-
sächlich explikative Mythen, die menschenähnliche Fels-
bildungen für versteinerte Wesen der Vorzeit erklären, Seen
und Wasserläufe mit der Flut als Urflut oder Kataklysma in
Verbindung bringen. Fossile Knochenfunde deuten überall
auf ein vernichtetes Riesengeschlecht oder auf unterirdisch
lebende Ungeheuer, die beim Durchgraben der Erde vom
Sonnenlicht getroffen den Tod fanden, Vorstellungen, die in
Amerika und Asien ungemein verbreitet, sonderbarerweise
weder von den Mythologen noch den Psychologen bisher recht
gewürdigt sind,
Daß auch die griechische Sage vom Gigantenkampf
unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten ist, sofern sie
wenigstens Motive jenes Vorstellungskreises enthält, liegt auf
der Hand. Mit einer spekulativ allegorischen Erklärung kommt
man hier allein nicht aus.
stellung, die durch die auffallenden ethnologischen Parallelen sicher gestellt
ist. Nicht nur Hillebrandt, sondern auch v. Schroeder, der den mond-
mythologischen Anschauungen sonst skeptisch gegenübersteht, haben die
Mondnatur des Soma auch für den Rigveda anerkannt. — Besonders wichtig
sind für diese Frage die Gestalten der mexikanischen Pulque-Götter, deren
arsprüngliche Mondnatur jetzt von Seler überzeugend bewiesen ist (Zeit-
schr. f. Ethn. 89, p. 10).
Mvtholog. Bibliothek: Ehrenreich,
146
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Erdbeben werden bekanntlich fast überall auf die Be-
wegungen fabelhafter dämonischer oder tierischer Erdträger
zurückgeführt, sei es, daß diese ihren Unwillen äußern oder
nur ihre unbequeme Stellung verändern wollen. Nach ost-
asiatischer Anschauung sind sie eine einfache Folge des
Wühlens der oben. erwähnten Ungeheuer des Erdinnern!.
IL. Menschliche Verhältnisse.
Die Stoffe und Motive, die die Erscheinungen des mensch-
lichen Lebens nach seiner physischen, seelischen, sozialen und
historischen Seite liefern, bilden, wie schon bemerkt, keine
von denen der Außenwelt scharf gesonderte Gruppe, vielmehr
spielen auch hier naturmythologische Vorstellungen überall
hinein, wenn sie auch oft erst bei genauerer Prüfung hervor-
treten. Es scheint sogar, daß diese menschlichen, oder wie
man sie auch genannt hat, ethnologischen Stoffe erst aus
dieser Verbindung mythologisch fruchtbar werden.
Ihre Bedeutung ist im wesentlichen eine formale. Sie
geben die Einkleidung, den Rahmen der naturmythologischen
Handlung ab, passen sie den menschlichen Verhältnissen an,
kurz, sie gießen sie in diejenige Form, die sie als mensch-
liche Handlung erscheinen läßt. Dadurch wird aber, die
Naturgrundlage schließlich verwischt. Die rein menschlich
gefaßte, an historische Personen, Ereignisse und Örtlichkeiten
anknüpfende Sage wird nur selten eine solche noch erkennen
lassen.
In seiner Körperform und dem gesamten physisch-ani-
malischen Leben ist der Mensch selbst nur ein Teil der
Natur, daher unterliegt auch diese Seite seines Wesens einer
explikativen mythischen Behandlung so gut wie die Erschei-
nungen der Tier- und Pflanzenwelt.
Rigentümlichkeiten der Körperbildung werden also ganz
analog den explikativen Tiermärchen erklärt. Hauptgegen-
“) In Afrika gelten, wie B. Struck in einer wichtigen Abhandlung,
„Zur Kenntnis afrikanischer Erdbebenvorstellungen“ (Globus 95, Nr. 6) gezeigt
hat, auch rein animistische oder manistische Agenzien als Ursache der Er-
schütterung. Es sind die Seelen mächtiger Häuptlinge, die auch den Cha-
rakter von Lokaldämonen annehmen können.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 147
stände sind die Hautfärbung der verschiedenen Rassen, der
Bart des Mannes, die weibliche Bartlosigkeit, die Körper-
öffnungen, die Entstehung der Fingernägel, die KExkrete.
Interessante Beispiele hat u. a. Dähnhardt in seinen „Natur-
sagen“ (1. Bd.) zusammengestellt.
Während nun solche Erzählungen, der naiven Natur-
anschauung erwachsen, oft geradezu wie flüchtige Eingebungen
scherzhafter Laune anmuten, tritt bei einer anderen Gruppe
vielfach ein ausgesprochen spekulatives Moment hervor.
Sie behandelt Erscheinungen, die auf das Tiefste in alle
menschlichen Verhältnisse eingreifen, das ganze soziale und
religiöse Leben der Gesamtheit so gut wie den einzelnen be-
rühren: den Gegensatz der Geschlechter, die Phänomene der
Pubertät, die weiblichen Geschlechtsfunktionen, insbesondere
die Menstruation, Zeugung und Geburt und endlich den Tod
und seine Ursachen.
Alle Völker haben sich mit diesen Fragen beschäftigt,
wobei es irrelevant ist, in welche Periode wir das Erwachen
des Kausalitätsdrangs solchen Problemen gegenüber anzusetzen
haben und wie er psychologisch zu erklären ist, Uns inter-
essiert hier nur die Tatsache an sich, sowie die weitere Tat-
sache, daß spekulativ beanlagte Völker, wie die nordameri-
kanischen Indianer, sie zum Gegenstand geradezu raffinierter
Grübeleien gemacht haben.
Trotz aller Verschiedenheiten im einzelnen stimmen doch
die betreffenden Mythen darin überein, daß sie von mond-
mythologischen Vorstellungen ausgehen. Der Mond beherrscht
das Geschlechtsleben, er erregt den weiblichen Monatsfluß,
er ist der erste Tote und zugleich der Wiedergeborene und
somit überall der Gott der Geburt und Zeugung und wird in
diesen Beziehungen in sehr vielen Fällen ausdrücklich ge-
nannt, während in anderen es sich aus den Nebenumständen
ergibt. Natürlich kann auch der Kulturheros die Stelle des
Mondes dabei vertreten, dem er so oft wesensgleich ist. Wenn
bei den Algonkins Michabazo der große Hase (als Mondfigur!),
aus dem Blutklumpen in der Feuersteinschale entstanden, bei
seiner Pflegemutter die Menstruation erregt, so unterliegt die
mythologische Bedeutung. des Vorgangs keinem Zweifel,
10%
‚43
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Die gewöhnlichste Form der Mythen von dem Ursprung
des Todes ist die, daß der Heros oder der Mond selbst dem
Menschen eine dem Monde analoge Wiederverjüngung zusagt,
die dann durch irgend ein Versehen, wie mißverstandene
Botschaft, ausbleibt. (Beispiele u. a. bei Tylor, Anf. d.
Kultur 1, p. 349.) In Amerika tritt das Motiv der Wasser-
probe häufig hervor !,
In den Pubertätsweihen der Jünglinge bei fast allen
Naturvölkern, wo die scheinbare Tötung und Wiederbelebung
des Kandidaten eine so große Rolle spielt, wird die Beziehung
des Mondes zum Geschlechtsleben in mannigfachster Weise
zum Ausdruck gebracht,
Das seelische Leben des Menschen beherrscht natürlich
das gesamte mythologische Denken.
Der Seelenglaube, die Annahme einer Dualität von Körper
und Seele, ist, gleichviel wie er entstanden sein mag, eine
allgemein menschliche Eigenschaft, die dazu geführt hat, auch
in der gesamten Natur Äußerungen seelischer Kräfte wieder-
zufinden, also auch das Leblose beseelt und die personifizie-
rende Apperzeption der Erscheinungen unterstützt hat, Er
bildet also die Hauptquelle der mythologischen Vorstellungen,
wie das im einzelnen durch Wundt. psychologisch be-
gründet worden ist,
Eine andere Frage ist, ob aus dem Seelenglauben un-
mittelbar Mythen hervorgehen, ob man also von einem Seelen-
mythus in demselben Sinne reden darf, wie von dem Natur-
mythus. Wundt hat den Begriff des Seelenmythus nicht
näher bestimmt. Er scheint darunter nur die einzelnen aus
dem Seelenglauben stammenden Vorstellungen zu verstehen.
Man könnte allenfalls Mythen, die die Zurückführung einer
Seele aus der Unterwelt behandeln (Typus: Orpheus) als Seelen-
mythen auffassen, wenn hierbei die Beziehung zur Seele als
eine primäre zu erweisen wäre, was nicht immer der Fall ist.
Oft nämlich verbergen sich dahinter Himmelsmythen, was
sich freilich erst nach sorgfältiger Analyse ergibt. Nur eine
41 Vgl. Grinnell, Blackfoot lodge tales, p. 188, — Literaturangaben
über andere Formen bei Dorsevyv, the Skidi Pawnee, p. 332.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 149
Gruppe von Mythen entlehnt ihren Stoff den seelischen Er-
scheinungen unmittelbar, das sind die Traummythen.
Die außerordentliche Bedeutung des Traumlebens für
Dichtung und Mythus war zu allen Zeiten anerkannt, Schon
der biedere Hans Sachs nennt alles Dichten „Wahrtraum-
deuterei“, In neuerer Zeit haben besonders Laistner und
Roscher den Einfluß der Traumvorstellungen auf die Mythen-
bildung verfolgt. Laistner ging in seinem heute fast ver-
gessenen, aber noch immer schätzenswerten Buche „Die
Rätsel der Sphinx“ von den Erscheinungen des Alptraums
aus und es gelang ihm, eine Reihe mythologischer Wesen
wie Erinuyen, Gorgonen, Empusen, Serpel, die slavischen
Mittagsgöttinnen usw. ganz richtig als Alpwesen zu erweisen,
ebenso die Motive der Fragen, der Fesselung, der widerlichen
Speise, der Verfolgung, des schnellen Gestaltenwechsels u. a.
in den entsprechenden Alptraumsituationen wiederzufinden.
Auch Mannhardt war auf anderem Wege zu ähnlichen Er-
gebnissen gekommen. Ohne Einseitigkeiten und Irrtümer
ging es natürlich dabei nicht ab. So schlug Laistners
Versuch, auch höhere Gottheiten, wie Demeter, Persephone,
Hermes, zu einfachen Alpwesen zu machen und dies auch
etymologisch zu begründen, fehl. Dennoch enthalten seine
Darlegungen, die sich hauptsächlich auf germanisches, sla-
visches und griechisches Material stützen, vieles Richtige,
Nach ihm hat Roscher in seiner Abhandlung „Ephialtes“
(Abh. d. k. sächs. Ges, d. Wiss., Bd. 20, Nr. 2, Leipzig 1903)
die Gestalten des Pan, der Silene, Faune und Satyrn mit
Erfolg als Traumdämonen gedeutet mit besonderer Bezug-
nahme auf den erotischen Alptraum (Incubus und Succubus),
der sicherlich eine allgemein menschliche Erfahrung ist.
Die Naturvölker liefern nun Belege in Hülle und Fülle,
Bei den Nordamerikanern bilden die Traummythen einen
integrierenden Bestandteil der Mythologie, So sind hier die
Sagen über die Stiftung der religiösen Gesellschaften (Medizin-
Logen) ganz unverkennbare Traumerzählungen, in denen die
Traumsituation meist ausdrücklich angegeben ist. Bei den
Pima und Yuma bilden die Träume nach ihrer eigenen An-
vabe sogar die einzige Quelle der Mythologie,
150
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Die Hauptbedeutung des Traums als mythenbildenden
Faktors liegt darin, daß seine phantastischen Motive und
Situationen auch in Erzählungen anderen Ursprungs aufge-
nommen werden und hier die mannigfaltigsten Assoziationen
eingehen können. So werden z. B. Oger- und Verschlingungs-
mythen, seien sie irdischen oder himmlischen Ursprungs,
leicht denjenigen Alptraummythen nach gebildet, die Laistner
als den „Besuch im Hause des Alps“ determiniert, mit den
Nebenmotiven des Lausens, Scheinessens, der Verfolgung und
der magischen Flucht. Ebenso nimmt die magische Emp-
fängnis die Züge der erotischen Alptraumsituation, des Incubus,
an. Der geheimnisvolle, über Tag in ein Tier verwandelte
Liebhaber, eine der häufigsten Märchenfiguren beider Hemi-
sphären, gehört hierher. Auch der nächtliche Kampf mit dem
unverwundbaren oder unsichtbaren Dämon (J akob und Jahwe,
Siegfried und Alberich, Dietrich und Laurin) ist ein in den
Mythus übernommener Alpkampf. In gleichem Sinne sind
die Rätselproben !, die schwierigen nur durch Tierhilfe erfüll-
baren Aufgaben zu beurteilen.
Daß auch hierbei mondmythologische Vorstellungen fort-
während mit hineinspielen, hat nichts Auffallendes, da der
Mond nicht nur nach mythischer Vorstellung die Träume
sendet, sondern selbst auch unmittelbar die physische Ursache
gewisser Alptraumformen ist. Daher schreibt man so vielen
dieser Traumdämonen Eigenschaften zu, die sonst auch die
Mondwesen kennzeichnen, wie Gesichts- und Beindefekte (rück-
wärts gewendete Füße oder Knie!), ausgehöhlte Rücken oder
Schädel, Einäugigkeit, Schlangenhaar, Lemuren- oder Skelett-
gestalt usw. Derartige Wesen, wie sie in den Mythologien
aller Zeiten und Völker vorkommen, brauchen daher keines-
wegs eigentliche Mondpersonifikationen zu sein, da sie ihre
1) Der Rätsel- und Fragetraum wird von Laistner mit Recht mit
unserem bekannten Examentraum in Parallele gestellt. Wundt dagegen
bezweifelt, daß letzterer, als spezifische Erscheinung des modernen Kultur-
lebens, auf primitiver Stufe vorkommt (Mythus 2, p. 122), vergißt aber dabei,
daß es auch bei Naturvölkern solche unserm Examen ähnliche angsttraum-
crregende Situationen gibt. Das sind die Initiationsweihen der Knaben mit
ihren von fratzenhaften Schreckgestalten geleiteten Zeremonien, bei denen es
an Unterweisungen, Fragen und körperlichen Peinigungen nicht fehlt.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie, 151
lunaren Charaktere erst auf einem Umwege, durch Vermitte-
lung der Traumvorstellungen erhalten haben. Es handelt sich
auch hierbei wieder um eine Assimilationserscheinung.
Im engsten Zusammenhang mit den Vorstellungen und
Motiven des Traumlebens stehen die des Schamanismus
wie des Zauberglaubens überhaupt. Bei allen primitiven
Völkern pflegen die Schamanen (Geisterbeschwörer, Zauber-
ärzte, Propheten) ihre Macht durch phantastische Erzählungen
ihrer Taten, ihrer Kämpfe mit himmlischen oder höllischen
Dämonen oder Gegenschamanen in ein helles Licht zu setzen.
Es sind meist Erlebnisse ihres traumhaften Trance-Zustandes,
in den sie bei ihren Beschwörungen verfallen, Sie ersteigen
den Himmel, Mond und Sonne, oder gelangen in die Unter-
welt, werden von den dortigen Herrschern oder Dämonen zu
Wettkämpfen herausgefordert, wobei die Gegner die Vver-
schiedensten Gestalten nacheinander annehmen und sich gegen-
seitig zu übertölpeln suchen, Typisch hierfür sind die Erzäh-
lungen der sibirischen, nordwestamerikanischen und Eskimo-
schamanen, bei denen die Motive der Heldenprobe und des
Verwandlungskampfes in allen möglichen Varianten Vor-
kommen!. Aus der antiken Sage sei an die Probearbeiten
Jasons in Kolchis, an den Kampf des Menelaos mit Proteus,
des Peleus mit Thetis, vor allem auch an die Unterweltsfahrt
des Theseus und Peirithoos erinnert, bei der sogar Spezialana-
logien mit entsprechenden amerikanischen Sagen (vom Typus:
Besuch im Himmel) vorkommen, wie das Motiv des ver-
zauberten, gefährlichen Sitzes.
Soziologie. Stoffe, die den sozialen Verhältnissen
und Lebensformen des Menschen entlehnt sind, sei es, daß
sie explikativ Sitten und Einrichtungen, Tabuvorschriften,
Geburts- und Trauergebräuche begründen, sei es, daß sie die
Entstehung gesellschaftlicher Formen, Totems?, Wappen,
ı) Ein gutes Beispiel bei Bogoras, the Chukchee, p. 306.
?) Als Totem-Mythen dürfen nur solche angesehen werden, die es ihrem
Wortlaute nach sind. Auch ein großer Teil der Wappensagen gehört dazu,
Neuerdings herrscht die Neigung, diesen Begriff in unzulässiger Weise aus-
zudehnen. So sieht Sal. Reinach Totemvorstellung überall da mythisch
noahandelt, wo von Tierverwandlungen. Tieropfern als Ersatz menschlicher,
152 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Geheimbünde behandeln, sind überaus mannigfaltig und er-
fordern zu ihrer Erklärung eine genaue Kenntnis der spezi-
fischen ethnischen Eigentümlichkeiten des betreffenden Volks.
Allgemeingültiges läßt sich daher noch kaum daraus ableiten,
zumal eine systematische Prüfung solcher Mythen aus dem
Gesamtmaterial heraus noch nicht unternommen ist, Auch
hierfür würden die in Nordamerika gewonnenen Angaben die
Grundlage abzugeben haben. Interessant ist die Tatsache,
daß dort Erzählungen dieser Art unter Verwendung der ver-
schiedensten Materialien vielleicht sogar frei zu pädagogischen
Zwecken erfunden werden. Sie vertreten geradezu die Stelle
unserer Jugendliteratur. Ein beliebtes Thema ist der arme
verlassene Knabe, der durch Standhaftigkeit und Vertrauen
auf göttliche Helfer schließlich als Held und Wohltäter seines
Volks zu hohem Ansehen kommt, oder das spröde, alle Freier
abweisende Mädchen, dessen Stolz gedemütigt wird, indem
es mit einem armseligen Gatten von abstoßendem Äußeren
vorliebnehmen muß. Die Gebote der Sitte, der Pietät und
Freundestreue, des Opfermuts werden so in charakteristischen
Erzählungen nach menschlichen Vorbildern der Jugend ein-
von Tiermaskeraden und Speiseverboten die Rede ist, oder ein Gott oder Held
zerrissen oder geopfert wird (Mythes, Cultes et Religions, Paris 1905—8, I,
p. 7 d. Einl.), Er versteigt sich sogar zu dem Dicetum: „Agir autrement
c'est tourner le dos A l’&vidence, je dirais presque & la probite scientifique“. (!)
Auch daß die tierischen Begleiter der Götter so gut wie ihre Verwandlung in
Tiere auf alten Totemismus hindeuten, gilt ihm als völlig selbstverständlich
(a. a. O. I, p. 18).
Daß totemistische Ideen derartige mythische Gebilde erzeugen können,
ist klar, daß diese aber so entstanden sein müssen, ist eine ganz willkür-
liche Annahme, Prinzipiell läßt sich das überhaupt nicht entscheiden, sondern
nur von Fall zu Fall. Vor allem müßte die Existenz des urzeitlichen Tote-
mismus für das betreffende Volk erst bewiesen sein. Der Totemismus ist
weder eine primitive Religion, wie Reinach behauptet, noch eine universelle
Erscheinung, die uns berechtigen könnte, sie auch da anzunehmen, wo direkte
Zeugnisse nicht vorliegen Andererseits ist er in seinem Wesen noch so
unklar, so vielgestaltig in seinen Formen, die selbst in Amerika, von wo die
Bezeichnung stammt, sich jeder begrifflichen Zusammenfassung entziehen, daß
er zunächst nur als provisorischer Sammelname für vielleicht ganz Heterogenes
zu benutzen ist. Unklar wie der Totemismus ist, darf er nicht zur Erklärung
anderer Dinge herangezogen werden.
Kapitel VI. Stoffe der Mythologie. 153
geprägt, natürlich aber im engsten Zusammenhang mit den
herrschenden religiösen Glaubensvorstellungen. Daher denn
auch die große Rolle der Himmelskörper, Sonne, Mond und
Morgenstern in diesen Erzählungen, sowie der Tiere und
Tiergeister als Helfer und Berater des Helden, wodurch das
Ganze oft ein völlig naturmythologisches Gepräge erhält X,
Daß geschichtliche Ereignisse mythisch ausgeschmückt
oder in rein mythologischer Form überliefert worden sind,
unterliegt keinem Zweifel. Hierin liegt geradezu ein Beweis
für die Fortdauer des mythischen Denkens auf allen Kultur-
stufen?. Die interessanteste Erscheinung ist die fast gesetZ-
mäßig auftretende Umkleidung bedeutsamer historischer Per-
sönlichkeiten, Helden, Könige, Religionsstifter, mit den Zügen
der Sonnen- und Mondmythologie unter besonderer Betonung
der magischen Zeugung und Geburt, der Entrückung oder
Wiederauferstehung und Apotheose®, Daher besteht bei jedem
Mythus von historischem Charakter die Möglichkeit, daß wirk-
liche Geschichte dahinter steckt, ebenso wie historische Er-
eignisse nachträglich in mythische Form gegossen werden,
die gerade durch das ihr anhaftende Element des Wunder-
baren, Abenteuerlichen die Erinnerung an die Großtaten der
Vorzeit wach zu halten geeignet ist, namentlich wenn die
Dichtung sich des Stoffes bemächtigt. Gerade der Dichter
ı) Zahlreiche Beispiele solcher Erzählungen enthalten: G. A, Dorsey,
the Pawnee Mythology I, Washington 1906; Traditions of the Arapaho,
Chicago 1908. — Wissler u. Duvall, Mythology of the Blackfoot Indians.
New York 1908,
?) Sehr richtig sagt Gruppe: Die Frage nach den geschichtlichen Ele-
menten des griechischen Mythus darf nicht als Prinzipienfrage behandelt
werden. An sich ist es ebensogut möglich, daß die griechischen Heldensagen
wirkliche Vorgänge, wie daß sie nur Gedachtes schildern (warum aber nicht
auch aus der Natur Abgesehenes?), daher muß der Beweis in jedem Falle
zon neuem geführt werden (Jahrb. f. Alterth. 1907, Suppl. p. 28).
3) Wenn Reinach sich darüber wundert, daß die Auferstehung eines
Helden, dessen Todesart auf ein altes Opferritual hindeute, ein fast konstanter
Zug seines Mythus sei (unter Bezugnahme auf Dionysos, Adonis, Osiris,
Orpheus, denen man noch Romulus und viele andere beifügen könnte), so
sieht er gewissermaßen den Wald vor Bäumen nicht. In seiner Tieropfer-
und Totemtheorie befangen, hat er kein Auge für die himmelsmythologische
Seite dieser Mythen, die dieses Rätsel ohne weiteres löst,
154 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
bedarf des mythologischen Apparats, um auf die Phantasie
einzuwirken. Die Kunstdichtung der späteren Zeit verwendet
die Mythologie ganz schablonenmäßig, wie das Beispiel Virgils
und der Dichter der Renaissance zeigen, Das Volk sucht sich
seine Urgeschichte in mythische Form zu bringen in den
Ahnen- und Wandersagen, häufig in unmittelbarem Anschluß
an die Kosmogonie, wodurch wiederum eine ausgiebige Ver-
wendung natur- und himmelsmythologischen Materials bedingt
ist. Typisch hierfür sind in Amerika die Wandersagen der
Pueblostämme, in der alten Welt die der Israeliten. In diesen
tritt neben zwar unscharfen, aber doch unverkennbaren Zügen
der Astralmythologie das eponymische Element stark hervor,
das Völker und Stämme immer wieder in Einzelwesen per-
sonifiziert.
Auch der griechische Stammesmythus zeigt ähnliches.
Insofern sagt Böckh ganz richtig; „Der Mythus ist die
Urgeschichte des Volks in symbolischer Sprache. Was nicht
Person ist, nicht einzelne äußere Handlung, wird Person, und
alles, was als Geschichte erschienen ist oder sich innerlich
im Geiste ereignet hat, wird Handlung und äußeres Schicksal
von Personen“ (Encykl., p. 561),
Kapitel VII.
Die mythologische Personifikation.
Daß im mythischen Denken der Mensch sein eigenes
Wesen in die Natur hinaus projiziert, daß er seine Affekte
und Triebe im Spiel der Naturgewalten wiederfindet und damit
zu einer Personifikation der Erscheinungen und Objekte der
Außenwelt gelangt, ist jetzt wohl allgemein anerkannt.
Nachdem uns Wundt die psychologischen Bedingungen der
personifizierenden Apperzeption und die mit ihr verbundenen
Assoziationsvorgänge dargelegt hat, handelt es sich bezüglich
dieser Funktion der Phantasie nicht mehr darum, wie? sondern
was? im Mythus personifiziert wird und welcher mythologische
Wert, welche mythenbildende Kraft den einzelnen Personifi-
kationen zukommt. Gerade hieran hat die allgemeine Mytho-
logie ein Hauptinteresse, weil aus Art und Gehalt der Per-
sonifikationen die Kriterien für die Naturgrundlage oder
wenigstens den Anschauungskreis gewonnen werden, dem ein
gegebener Mythus entstammt. Schon Wundt selbst hat
hervorgehoben, daß nicht jeder Gegenstand das Interesse an-
regt, das schließlich zu einer Verpersönlichung im mythischen
Sinne führt, daß vielmehr bestimmte Eigenschaften der sub-
jektiven Funktion hilfreich zur Seite stehen müssen (Mythus 1,
p. 582). Es kommt also darauf an, zu erkennen, wie sich
die mythenbildende Kraft einer gegebenen Naturpersonifikation
zu den Eigenschaften ihrer Naturgrundlage verhält.
Wir gelangen am besten auf rein empirischem Wege zum
Ziel durch unbefangene Prüfung des Tatsachenmaterials.
Dieses lehrt nun auf den ersten Blick eine fast unbe-
yrenzte Personifikationsmöglichkeit. Nicht nur alle Erschei-
156
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
nungen der Natur, sondern auch seelische Zustände und
Lebensformen des Menschen können gelegentlich vermensch-
licht werden.
Ebenso deutlich zeigt sich aber die Ungleichartigkeit
dieser Personifikationen.
Erstens in ihrer Verbreitung. Universell und von an-
nähernd gleichem Charakter sind nur die der kosmischen
Körper, wie Sonne und Mond, andere, wie Himmel, Erde,
Wind, Wolken, irdische Formationen, sind zwar weit aber
nicht allgemein verbreitet und stark differenziert, andere, wie
Feuer und Wasser, sind sehr selten, wieder andere kommen
nur unter bestimmten Kulturverhältnissen vor, wie Zeitab-
schnitte, menschliche Beziehungen, Krieg, Friede, Handel und
überhaupt abstrakte Eigenschaften, Zustände und Begriffe.
Zweitens in ihrer mythenbildenden Kraft. Diese ist
am größten und mannigfachsten ausgeprägt bei den Himmels-
körpern als fest umschriebenen, sinnlich real wahrgenommenen,
mit Eigenbewegung und Gestaltveränderung, also scheinbarem
Leben begabten Individualitäten,
Geringer ist die der atmosphärischen Erscheinungen, die
entweder, wie die Aurora oder Dämmerung, fester Formen
überhaupt ermangeln, oder, wie Wolken und Nebelbildungen,
solche nur vorübergehend oder verschwommen besitzen, oder
sie nur indirekt auf assoziativem Wege erhalten, wie die Eos,
bei der nur die Rosenfinger oder die mit ihr verbundene Mond-
sichel die Vorstellung des Körperlichen erwecken.
Leblose irdische Objekte, wie Berge, Felsbildungen u, dgl.,
haben zwar Körperlichkeit, oft geradezu menschliche Form,
doch fehlt ihnen die Bewegung. Ihre mythologische Rolle ist
örtlich bedingt und beschränkt sich im allgemeinen auf die
Verwandlungssagen, kann aber gelegentlich durch besondere
Verhältnisse gesteigert werden. So wird z. B. bei ostsibi-
rischen Völkern (n. Bogoras) der tägliche Wechsel des
Schattens der Berge nach Länge und Kürze als deren Lebens-
äußerung betrachtet, wie denn überhaupt hier eine ganze
Schattenwelt als Komplement neben der wirklichen Erschei-
nungswelt steht. Leichter und wirksamer ist die Personifi-
kation der Pflanzen, zumal der Bäume, weil hier den oft vor-
Kapitel VII. Die mythologische Personifikation. 157
handenen anthropomorphen Formen akustische Erscheinungen,
Tonäußerungen im Rauschen und „Flüstern“ sich hinzuge-
sellen. Solche werden übrigens auch den Bergen im Echo
zugeschrieben, soweit man dieses nicht als die Stimme eines
besonderen dämonischen Wesens auffaßt.
Die Tiere gehören als dem Menschen wesensgleich nicht
in diesen Zusammenhang, Jede Personifikation kann an sich
sowohl theromorph wie anthropomorph sein. Danach ist also
der Wert einer Personifikation um so größer, je anschaulicher
und plastischer sie ist, je mehr ihrer Naturgrundlage indivi-
duelles Leben zukommt und je mehr sie die allgemeinen
menschlichen Verhältnisse berührt, Die überragende Bedeu-
tung der Verpersönlichungen von Sonne und Mond liegt darin
begründet, daß bei ihnen alle unterstützenden Momente,
Körperlichkeit, Allgemeinsichtbarkeit, Eigenbewegung und
objektive Wirkung gleichzeitig gegeben sind,
Das Fehlen eines oder mehrerer dieser Momente ver-
mindert dementsprechend den Personifikationswert, Sichtbare,
aber körperlich unbestimmte, örtlich nicht gebundene Erschei-
nungen, wie Wasser, Luft, Licht stehen am Ende der Reihe,
Ihr Personifikationswert ist so gering, daß es zweifelhaft ist,
ob sie überhaupt als selbständige Verpersönlichungen vor-
kommen,
Dagegen erhalten manche unkörperliche Phänomene einen
persönlichen Charakter durch ihrenatürliche Vergesellschaftung
mit anderen, die körperlich bestimmt sind, wie die Aurora
durch ihre Verbindung mit Sonne, Mond, Wolken und Morgen-
stern. Bei der seltenen Personifikation der Nacht wirkt ihre
oft angenommene stoffliche Natur mit, sowie ihre assoziative
Beziehung zum Schwarzmond und den Wesen der Unterwelt.
Auch aus der Wirkung kann die Persönlichkeit kon-
struiert werden. So ist das Feuer als belebtes, zerstörendes,
fressendes Element ein dämonisches, oft kannibalisches Wesen,
daher in vielen Ogermythen das Haus des Menschenfressers
durch Rauch oder Feuer kenntlich ist.
Der Wind ist ein blasendes Ungeheuer, auch je nach
seiner Stärke ein Riese oder zarter Knabe. Ähnlich werden
Hitze und Kälte nach Maßgabe ihrer Wirkung als dämonische
158
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Wesen personifiziert, Den Eis- und Frostriesen der Germanen
stehen die nordamerikanischen „Kältemacher“ und Eiswesen
(deren Finger KEiszapfen sind) gegenüber, Solche Bildungen
gehören zum Teil schon zu den metaphorischen. In der Tat
können alle der greifbaren Unterlage entbehrenden Erschei-
nungen unter Vermittelung der Sprachmetapher verpersön-
licht werden, die freilich erst auf höherer Stufe unter dem
Einflusse der Dichtung, dann aber um so entschiedener
mythische Kraft entwickelt. Solche metaphorischen Bildungen
sind z. B. die Aurora als Sonnentochter oder Geliebte, die
Nacht oder Finsternis als verschlingendes Ungeheuer, die
Dämmerung, Wolke oder Nebel als grauer Wolf,
Die weitaus wichtigste ist die Auffassung der Erde als
Mutter, des Himmels als Vater, also beider als des Welt-
elternpaars, das in so vielen Kosmogonien den Beginn der
Entwickelung bestimmt.
Die Vorstellung einer Mutter Erde ist keine durch die
Naturanschauung unmittelbar gegebene, setzt vielmehr schon
einen hohen Grad von Abstraktion voraus, findet sich daher
vorwiegend bei geistig vorgeschrittenen Völkern, zumal solchen,
deren Sprachcharakter metaphorische Bilderrede besonders
begünstigt. Es sind das außer den indoarischen Völkern
Inder, Griechen, Germanen, vor allen die Indianer Nord-
amerikas. Bei letzteren ist die „Mutter Erde“ eine wenn auch
weniger im Mythus so doch im Kult und der ganzen Welt-
auffassung überall hervortretende Gestalt, Ihre Brüste sind
die Hügel, ihre Knochen die Felsgebirge, die Seen ihre Augen,
die Flüsse ihre Adern, die Vegetation ihr Haar. Aus ihrer
Körperöffnung geht, wie das Kind aus der Vagina, das Menschen-
geschlecht hervor!, Solche Ideen erklären den Widerstand
der Indianer gegen die Pflugkultur, die die Haut der KErd-
mutter verletzt. Auch bei den Aruaken Südamerikas und der
Antillen ist eine steinerne Urmutter bekannt, deren Schoß
nicht nur den Menschen, sondern auch alle seine Kulturgüter
bis auf den heutigen Tag gebiert?,
‘) Man nennt sie geradezu „das horizontal liegende Weib“,
'ı Ehrenreich, Mythen und Legenden, p. 33.
Kapitel vIL Die mythologische Personifikation. 159
Von einer unmittelbaren Apperzeption als Persönlichkeit
kann hierbei natürlich keine Rede sein. HEs spielt ein speku-
latives Moment oder ein Gefühlszustand mit, für den die
Metapher die einzig mögliche Ausdrucksform darstellt, Aus
ihr entwickelt sich dann assoziativ die Übertragung des Vater-
begriffs auf den Himmel, da die Mutter eines männlichen
Komplements bedarf.
Hierbei fehlt es nun nicht an unterstützenden Momenten.
Solche sind
1. die sinnliche Anschauung, daß die Befruchtung der
Mutter durch den Regen erfolgt, den die Himmelsmächte
Wolken, Sonne, Blitz erzeugen. Das befruchtende Wesen ist
also im oder am Himmel zu suchen.
2, Da nun der Himmel selbst gewisse körperliche Unter-
lagen für ein solches Wesen darbietet (Sonne und Mond als
Augen, Donner als Stimme, Wind als Atem), so ist er selbst
dieses Wesen, der Urvater. Damit assoziiert sich aber
3_ die universelle Vorstellung eines höchsten Himmels-
wesens, sei es, daß dieses ganz unbestimmt bleibt oder als
übermenschlicher Zauberer gedacht ist oder endlich göttliche
Qualitäten besitzt.
Aus der Verbindung der auf dem Wege der Metapher
gewonnenen Vorstellung des Urvaters oder männlichen Kom-
plements der Erdmutter mit dem Träger der himmlischen
Kräfte erwächst dann die Vorstellung des Vaters im Himmel,
des Dyaush pitar, Zeus und Jupiter.
Personifikationen abstrakter Begriffe, Eigenschaften,
Handlungen, Zustände, Zeitabschnitte, Lebensperioden (wie
Jugend, Alter, Tod), Jahreszeiten sind von sehr geringer my-
thologischer, wohl aber oft kultischer Bedeutung. Sie sind
bekanntlich am stärksten in der griechisch-römischen Welt
entwickelt. In der nordisch- germanischen Sage ‚sind sie
mehr ein Erzeugnis dichterischer Verbildlichung. Im einzelnen
kann ihr Ursprung ein sehr verschiedener sein, Für die
antike Mythologie hat neuerdings Deubner in Roschers
Wörterbuch (p. 2067 ft.) die Formen eingehend behandelt und
namentlich ihre häufige Entstehung aus adjektivischen Bei-
namen anderer Gottheiten dargelegt. Für die einfachen Be-
150
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
griffspersonifikationen ist die von Lehrs in seinen
populären Aufsätzen (p. 78) gegebene Erklärung bemerkens-
wert: „Die lebendige Auffassung eines Gegenstandes nach
lebensvollem Eindruck oder nach dem, den er auf den Menschen
macht, schafft ein Wort, das eben, indem der Gegenstand
sogleich angenehm oder unangenehm auf uns einwirkend
gedacht ist, sogleich auch in die Persönlichkeit überzugehen
pflegt“.
Für die Regsamkeit des griechischen Geistes dürfte das
durchaus zutreffen. Aber auch auf niederer Stufe zeigen sich
schon Anfänge solcher Begriffspersonifikationen, die indes noch
wenig studiert sind,
Einen Anhaltspunkt für das Verständnis solcher Bildungen
auf niederer Stufe geben uns die mimischen Darstellungen
der Naturvölker, auf deren Bedeutung für die plastische
Fixierung mythischer Gestalten bereits hingewiesen wurde.
In einer der Tanzzeremonien der nordamerikanischen Indianer
(Kwakiutl) versinnlicht ein Tänzer das Erdbeben, indem
sein Tanz ein solches erzeugen soll, ein anderer den Schlaf‘,
weil man eine einschläfernde Wirkung von seiner Produktion
erwartet. So könnte also die Tanzmaske selbst zur Personi-
fikation des Erdbebens oder des Schlafes werden, ebenso wie
die Masken der Winter- oder Frühlingsdämonen diese ‚Jahres-
zeiten selbst versinnlichen.
Nach dieser Richtung hin verdienten die Maskentänze
der Naturvölker eine eingehendere Prüfung.
Die Bedeutung solcher Personifikationen abstrakten Inhalts
ist, wie gesagt, eine fast ausschließlich kultische und zere-
monielle, Im Mythus treten dafür konkretere Gestalten ein,
die auf Naturpersonifikationen zurückgehenden Götter, Dä-
monen und übermenschliche Wesen, in deren Wirkungskreis
der Inhalt des darzustellenden Begriffs fällt.
So ist die Jagdgottheit keine Personifikation der Jagd,
sondern fast immer die Mondgottheit oder doch ein mit lunaren
Zügen ausgestattetes Wesen. Hieraus erklärt sich z. B, die
Beziehung der Artemis zur Vegetation, zur Geburt und zu
1) Über eine interessante Personifikation des Hungers s. Teit,
Shushwap, p. 578, m. Abb.
Kapitel VII.. Die mythologische Personifikation. 161
den Hautkrankheiten, die aus ihrer Eigenschaft als Jagd-
göttin allein unverständlich wären. ;
Kriegsgötter sind keine Personifikationen des Kriegs
als solchen, sondern gehen auf Sonnen-, Mond- und Sturm-
gottheiten zurück, deren Züge sich nicht immer auseinander
halten lassen. So ist Mars vorwiegend Vegetations-, Mond- und
Sturmgott!. Ares hauptsächlich letzteres. Der germanische Tyr
(Ziu) steht ebenfalls mit Mond und Wind in Beziehung, während
der mexikanische Huitzilopochtli Sonnencharakter trägt. In
manchen Fällen scheinen den Kriegsgöttern sogar aufgehöhte
menschliche Heroen zugrunde zu liegen, wie das vom poly-
nesischen Oro vermutet wird, vorausgesetzt, daß es sich nicht
einfach um eine rationalistische Deutung handelt, wie z. B.
die Chinesen ihren Kriegsgott für einen berühmten General
der Vorzeit halten. Natürlich können Kriegsgötter auch ge-
legentlich mit den mythischen Kulturheroen, den Vernichtern
vorzeitlicher Ungeheuer und Dämonen, zusammenfallen, wie
die Zwillingsgötter der nordamerikanischen Pueblostämme und
der Navaho.
Auch die Götter des Spiels und der Lust sind nicht
einfache Abstraktionen, sondern‘ hängen mit Persönlichkeiten
bestimmterer Art zusammen. Der große Spieler der Nord-
amerikaner, der nicht nur sein Eigentum, sondern auch seine
Glieder verspielt und zurückgewinnt, hat, wie der Hermes-
sohn Autolykos, unverkennbare Mondqualitäten. Daß Hermes
selbst Spiel und Diebstahl pflegt, ergibt sich aus seiner
Doppelnatur als Mond- und Windwesen von selbst.
Der Tod, den unsere Kultsymbolik als Genius mit er-
löschender Fackel oder als Skelettgestalt versinnlicht, tritt in
Sage und Mythus der Regel nach ebenfalls als konkretes dämo-
nisches Wesen auf, dessen Spezialzüge oft den Alptraumein-
drücken entlehnt sind. Bei Naturvölkern sind es meist die
Toten selbst, die die Lebenden nach sich ziehen. Daß sie
sich diesen im Traume nähern, liegt in der Natur der
Sache. Bei den Eskimo findet sich die Vorstellung, der Tod
sei ein Mann der Vorzeit, der aus Wut über den Tod (!)
4) v. Schroeder, Mysterium, p. 141.
Mythologz. Bibliothek: Ehrenreich.
162
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
seiner Angehörigen seinerseits das Menschengeschlecht zu
vernichten strebe, Hier handelt es sich also um eine Asso-
ziation' mit den gewöhnlichen Vorstellungen von kanniba-
lischen Dämonen. In den Kulturmythologien tritt an Stelle
des abstrakten Todes meist der Unterweltsherrscher, wie Yama,
ein, dessen Beziehungen zum Monde sich überall auf der Welt
wiederfinden. Todesgott und Zeit- d. h. Mondgott, fließen immer
leicht zusammen und berühren sich andererseits mit den
Feuer- und Vegetationsgottheiten. So ist auch Muyngwu,
der skelettgestaltige Todes- und Keimgott der Hopi-Indianer,
eigentlich Feuer- oder Unterweltsgott,
Die Personifikationen von Naturerscheinungen zerfallen
in zwei Gruppen, die man als direkte und indirekte
unterscheiden kann. Wir haben bisher nur die erstere be-
trachtet, bei der die Naturvorlage unmittelbar als mensch-
liches oder tierisches Wesen apperzipiert oder metaphorisch
als solches dargestellt wird.
Viele Naturerscheinungen lassen aber noch eine andere
Art der Auffassung zu, nämlich die dingliche. Das be-
trachtete Objekt ist dann nicht Person, sondern ein Gegen-
stand, dessen Art durch die Naturvorlage unmittelbar be-
stimmt wird, So ist die Sonne nicht nur menschliches Wesen,
sondern auch Schild, Schmuck, Ball, Rad, der Mond Gefäß, Sichel,
Beil, Bogen, Steinmesser, Der Regenbogen kann nicht nur
als Schlange oder Fisch, sondern auch als Gürtel oder Brücke
gefaßt sein. Wolken sind nicht nur Riesen, Vögel, Vieh-
herden, Geisterwesen, sondern auch Kleider, Mäntel, Unrat
oder Wassersäcke usw.
Um hier zu einer vollen Personifikation zu gelangen,
muß, wenn der mythische Vorgang in seiner Handlungsfolge
das erfordert, ein Agens hinzugedacht werden, das diese ding-
lichen Objekte bewegt und beherrscht, Am klarsten tritt das
beim Blitz hervor. Wird dieser seiner Natur entsprechend
als. eine geschleuderte Waffe apperzipiert, so muß im Himmel
ein Wesen sein, von dem diese Tätigkeit ausgeht, ein Schleu-
derer, dessen nähere Wesensbeschaffenheit zunächst noch
Kapitel VIL Die mythologische Personifikation. 163
unbestimmt bleibt. Also nicht das Objekt wird hier per-
sonifiziert, sondern die darin oder darauf wirkende Kraft,
die hinter ihm stehende Macht.
Insofern ist also hier die Personifikation eine indirekte,
weil sie erst durch Vermittelung einer besonderen der sinn-
lichen Unterlage entbehrenden Vorstellung zustande kommt,
Die Erweiterung, die der Personifikationsbegriff hiermit
gewinnt, ermöglicht die Klärung einer alten Streitfrage unter
den Mythologen, ob nämlich eine Naturerscheinung als der
„Körper“ oder das „Haus“ des Gottes zu betrachten sei, dessen
Personifikationsgrundlage sie bildet, d. h. ob die Erscheinung
den Gott selbst repräsentiert oder dieser nur an ihr haftet,
ihren Inhalt ausmacht, ob also z. B. Agni der Inder das Feuer
ist oder sich nur im Feuer manifestiert, ob die babylo-
nischen Götter die Sterne sind oder nur in ihnen wirken.
Dieselben Fragen sind den griechischen Gottheiten, be-
sonders Zeus gegenüber aufgeworfen worden, Auch in der
christlichen Abendmahlslehre tritt dieser Zwiespalt bekannt-
lich noch hervor.
Gewöhnlich gilt der zweite Fall, die Annahme der im
Objekt wirkenden göttlichen Kraft, als ein Ergebnis religiöser
Spekulation, der erste auf massiverer Vorstellung beruhende
als Ausdruck echt volkstümlicher Anschauung.
So einfach liegt die Sache aber keineswegs. Wir haben
es vielmehr mit zwei von vornherein getrennten Vorstellungs-
reihen zu tun, die erst. im Verlaufe der Entwickelung mitein-
ander verschmelzen, mit der Personifikation von Erschei-
nungen und der von Kräften, deren mythische Stellung
sich danach bestimmt, ob die handelnde Person oder der Vor-
xang der Handlung hervorgehoben werden soll.
Alle Naturvorgänge beruhen auf Kräften, die den mensch-
lichen analog sind. Jede Bewegung hat eine unbekannte
Ursache, die die mythenbildende Phantasie zu einer mensch-
lichen Willensäußerung macht. Daher muß sie ausgehen von
einem menschlichen, aber mit höheren Qualitäten begabten
Wesen, dessen Dasein nicht sinnlich wahrgenommen, sondern
nur aus seinen Wirkungen erschlossen wird. . Dieses Wesen
ist entweder ein den menschlichen Schamanen analoger Zau-
11*
164
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
berer!, oder es bleibt unbestimmt. Es ist dann ein Uner-
klärliches, Wunderbares, ein Manitu im Sinne der Indianer
oder nach der uns geläufigeren Auffassung der Römer ein
Numen.
Diese Einzelkräfte oder Numina können nun wieder in
eine Allkraft zusammengefaßt. werden, als deren Träger zu-
nächst der demiurgisch wirkende Stammesahne gilt, die aber
auch ganz unbestimmt bleiben kann, als der „Lebensherr“,
„der große Unbekannte“, „der große Geist“, wie die india-
nischen Termini alle lauten, Die Bedeutung dieses schon
relativ frühzeitig auftretenden Wesens und mythischen All-
vaters für die Entwickelung des Gottesbegriffs ist bereits dar-
gelegt worden. Im übrigen fallen die meisten dieser perso-
nifizierten Kräfte unter den Begriff des Dämonischen. Das
Numen kann aber unter dem Einflusse bestimmter Kultur-
verhältnisse eine festere Gestalt annehmen, Es kann zum
Repräsentanten gewisser Typen des Handelns und der Existenz
werden unter Namen, die „einen in gewisser Weise Tätigen“
bezeichnen. Solche Formen erwähnt schon Usener bei den
Römern und Lithauern. Besonders auffällig treten sie aber
in der vedischen Mythologie hervor. Außer Hillebrandt hat
sie hier namentlich Oldenberg in seiner „Vedaforschung“
(p. 78) als Problem hingestellt. Es sind die Götter, die als
Schützer (Tratar), Antreiber (Savitar), Herr des Zaubers (Bri-
haspati), Herr des Gebets (Brahmanaspati) usw. bezeichnet
werden und sich nicht ohne weiteres den Naturgottheiten ein-
reihen lassen.
Mögen diese Gottheiten rein fiktive Bildungen sein, her-
vorgegangen aus dem Bedürfnisse, für alle möglichen Arten
des Geschehens und für alle Formen menschlichen Tuns einen
Sondergott zu haben. so hindert das durchaus nicht. daß bei
1) Daß primitive Völker ihren Schamanen und Zauberärzten eine Macht
über Naturvorgänge zuschreiben, ist allbekannt und zwar handelt es sich nicht
nur um Beeinflussung des Wetters, sondern selbst um mechanische Wirkungen
auf die kosmischen Erscheinungen. Die Bakairi Brasiliens erzählen, wie ein
Schamane zum Himmel fliegt und den Mond mit der Hand verdeckt, um eine
FEklipse hervorzubringen. Auch in der Kosmogonie wirken gelegentlich
’rdische Zauberer als Organisatoren kosmischer Verhältnisse mit.
Kapitel VII. Die mythologische Personifikation. 165
manchen derselben in letzter Linie auch naturmythologische
Vorstellungen mit hineinspielen, die Hill ebrandt denn auch
im Gegensatz zu Oldenberg hervorhebt. Beides ist durch-
aus vereinbar.
Der „Antreiber“ kann sich sehr wohl. aus der Idee eines
die Gestirne antreibenden Numens entwickelt haben, daher
Savitar in den Hymnen oft mit den Zügen von Sonne, Bri-
haspati ebenso mit solchen des Mondes ausgestattet wird.
Deswegen brauchen sie selbstverständlich keine Sonnen- und
Mondgötter zu sein. Bei den Pani Nordamerikas ist der
Morgenstern ein solcher „Antreiber“, weil er die Sterne vom
Himmel zu scheuchen scheint. In dieselbe Kategorie gehört
auch ein großer Teil der römischen Sondergötter.
Auch bei den Polynesiern sind sie vertreten. So hat auf
Tonga jede Verrichtung, wie Tatauierung, Bootsbau. Handel,
Diebstahl usw. ihren Sondergott.
Für die eigentliche Mythologie sind diese Numina natür-
lich meist bedeutungslos, sie können aber mythisches Leben
gewinnen, wenn sie aus sonst mythisch wichtigen Einzel-
erscheinungen abgeleitet sind, wie Sonne, Mond, Blitz und
Gewitter. So kann die Idee der vedischen Götterschmiede, der
Ribhus, der Rivalen des Tvashtar, abgeleitet sein aus den von
ihnen verfertigten goldenen Mondschalen, für die sie also die
personifizierte Kausalität darstellen. Sie wären danach keine
Mondgötter, sondern nur Mondverfertiger, d. h. die den Ge-
staltenwechsel des Mondes bedingenden Numina. Daß Tvashtar
selbst ein formbildendes Mondnumen darstellt oder mit der
Dunkelform des Mondes identisch ist, geht aus der Zusammen-
stellung seiner mythischen Einzelzüge bei Oldenberg (Re-
ligion des Veda, p. 234) völlig klar hervor. Er besitzt die
lunaren Merkmale sogar in seltener Vollständigkeit *. Inwie-
weit diese einfache Grundvorstellung in den komplizierteren
Parallelgebilden der Germanen und Griechen, Wieland. Dai-
1) Um so sonderbarer berührt es, daß Oldenberg die Identifizierung
les von den Ribhus gevierteilten Götterbechers, des Werkes Tvashtars, mit
dem Monde zu den „Vermutungen ungewissester Art“ rechnet. Es gibt in der
ganzen Mythologie kaum etwas Gewisseres als das. Völlig verkehrt ist es frei-
lich hierbei an die vier Monate der Jahreszeiten zu denken.
166
Ehrenreich; Allgemeine Mythologie,
dalos; Hephaistos, noch zu erkennen ist, das zu entscheideri,
bleibe der speziellen Mythenforschung überlassen !.
Wahrscheinlich sind auch die sogenannten Wettergott-
heiten, bei denen sich im Mythus solare, lunare und meteo-
rologische Züge mischen, wie Indra, Thor und die verwandten
Gestalten heldenhaften Charakters als Krreger des Blitzes,
Träger des Donnerkeils oder Hammers ursprünglich solche
Himmelsnumina. Daß der Mythus sie in engere, meist genea-
logische Beziehung zum höchsten Himmelswesen, zum Himmels-
gott, bringt, haben wir gesehen, daß sie andererseits aber auch
Prototypen von Sagenhelden abgeben, liegt gleichfalls in ihrem
Wesen begründet. Natürlich verschmilzt nun das Numen
leicht mit derjenigen Erscheinung, mit der es begrifflich zu-
sammenhängt. Das in der Sonne hausende Numen wird mit
dieser selbst identifiziert, das Mondnumen ebenso mit dem
Monde, das des Himmels mit beiden. Dieser Vermischungs-
prozeß wird erleichtert durch die gegenständliche Auffassung
der Gestirne. Das Naturobjekt wird dann zum Attribut des
persönlich gefaßten Numens, Die Sonnenscheibe wird Schild
oder Rad des Sonnengottes, der Mondbogen Waffe oder Hals-
schmuck des Mondgottes. Dazu kommt dann die symboli-
sierende Darstellung in Piktographie und Kunst, die den Gott
rein menschlich wiedergibt und sein Wesen nur durch die
Attribute kennzeichnet. Der Sonnengott trägt Krone, Schild
oder Pfeilbogen, der Mondgott den Halbmondschmuck oder
Doppelaxt und Sichelmesser, der Himmelsgott Mantel (Aegis)
ınd Blitzbündel oder Donnerkeil (Vajra). Statt der Menschen-
gestalt kann natürlich auch die tierische eintreten, die an
sich schon gewissermaßen Symbol ist. Weit seltener ist die
der Naturgrundlage unmittelbar entsprechende Darstellung.
Am häufigsten findet sie sich bei der Sonne. Das Sonnen-
bild des aztekischen sog. Kalendersteins, das goldene Antlitz
Viracochas im Sonnentempel zu Cuzco, die Sonnenmasken
*) Für die Götterschmiede ist freilich auch die Annahme einer solaren
Grundlage (etwa Sonnenstrahlen) zulässig, da sich die Vorstellung, daß die
Sonne die Mondveränderungen erzeugt, auch bei den vedischen Indern immer-
hin vorausgesetzt werden kann. Für diese Erklärung entscheidet. sich auch
Siecke, Liebesgeschichte, p. 88 ff.
Kapitel VII. Die mythologisehe Personifikation. 167
der Hopi und Bilyula sind die bekanntesten amerikanischen
Beispiele.
Numina manifestieren sich in allen Naturerscheinungen,
von denen fühlbare und sichtbare Wirkungen ausgehen, in den
Phänomenen des Himmels sowohl wie in den vier Elementen
und namentlich auch in der Tierwelt, wo die früher erwähnten
Gattungswesen, denen die Tierseelen entstammen, ihre Ver-
treter sind. Da alle Kräfte in letzter Linie im Himmel ihren
Ursprung haben, wie die der Gestirne, Winde und Nieder-
schläge, und der Seelenglaube auch die animistischen Kr-
scheinungen mit dem Himmel in Verbindung bringt, so ist
es natürlich, daß das Numen der Himmelskraft die Himmels-
personifikation, der Himmelsgott der höheren Kulturstufen
alle Erscheinungen des Himmels in seinen Bereich zieht und
mit allen mythisch verbunden sein kann, daher z. B. Zeus
(wie mancher seiner Abkömmlinge) nicht nur als Wetter- und
Donnergott, sondern auch als Sonnen-, Mond- und Tiergott-
heit auftritt. Auch die Numina der einzelnen Erscheinungen
gehen untereinander Verbindungen ein. Die Kraft, die im
Feuer wirkt, wirkt in allen feurigen Erscheinungen, im
Sonnen-, Mond- und Sternfeuer, Daher Agnis Beziehungen
zum Mond und zum Soma, die in der lunaren Einkleidung
des Mythus von seiner Wiedergewinnung zum Ausdruck
kommt, und seine durch L. v. Schroeder erwiesene Wesens-
verwandtschaft mit Apollon*.
Ebenso tritt das himmlische mit dem irdischen und dem
unterirdischen Feuer in Wechselbeziehung. Als Blitz befruchtet
das himmlische Feuer die Erde, die vegetativen Kräfte der
Erde stammen vom Monde, d. h. dem Mondfeuer, sofern auch
der Mond oft Blitzerzeuger und Feuerwesen ist, auch wo seine
Feuersteinnatur nicht ausdrücklich betont wird. Im polyne-
sischen. Mythus steigt die Mutter Mauis, der glühende Lava-
strom, zum Himmel, um dort zur Sonne zu werden, So
verbindet sich das chthonische mit dem himmlischen Feuer.
1) L. v. Schroeder, Mysterium und Mimus, p. 208.
158
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Auch die Tier- und Pflanzenwelt wird in den Bereich
dieser Vorstellungen gezogen. Das Tier birgt Feuer in seinem
Leibe, als animalische Wärme, im feurigen Auge tritt es
sichtbar in Erscheinung. Der Heros der Bakairi schlägt es
dem Kampfuchs aus den Augen. In die Wurzeln der Bäume
dringt nach kalifornischer Anschauung das unterirdische Feuer
ein, um durch das Bohren des Feuerquirls wieder aus dem
Holz hervorgelockt zu werden.
Derartige Assoziationen kehren in allen Mythologien in
ganz analogen Formen wieder.
Es ergibt sich aus alledem, daß die Vorstellung der Gott-
heit als Personifikation einer Erscheinung von der einer gött-
lichen, in der Erscheinung wirkenden Kraft, trotz der Ver-
schiedenheit ihrer psychologischen Grundlagen, praktisch nicht
zu trennen ist, weil beide sich von Anfang an zu vermischen
streben, nur tritt jene mehr im Mythus, diese mehr im Kultus
hervor und erfährt dann in der Religion als Gegenstand der
Glaubenslehre systematische Weiterbildung.
Kapitel VHI
Mythische Formen.
Daß die ungeheure Formenfülle der mythischen Bildungen
einer Analyse nach logischen Gesichtspunkten widerstrebt,
ist klar. Nur psychologische oder genetische Betrach-
tungsweise ermöglicht eine Klassifikation der Typen. Die
erstere, wie Wundt sie durchgeführt hat, geht aus vom
Subjekt. Sie fragt, wie der Mensch seine Erfahrungen und
Seelenzustände mythisch wiedergibt, wie seine Krlebnisse,
Schicksale, Hoffnungen und Befürchtungen sich in seinen
Mythen wiederspiegeln und gelangt so zur Aufstellung von
Formen wie Schicksals-. Abenteuer-, Glücks-, Kulturmärchen
u, dgl,
Da aber jede dieser so gewonnenen Kategorien Bildungen
des allerverschiedensten Ursprungs umfaßt, die ihrem Wesen
nach ganz inkommensurabel sein können, So ist aus dieser
Art der Betrachtung für die allgemeine Mythologie wenig zu
gewinnen.
Ihre Bedeutung liegt mehr nach der ästhetischen Seite
hin. Sie erklärt die Formen, die das mythische Vorstellungs-
material in der dichterischen Behandlung annimmt.
Die genetische Betrachtung geht aus vom Objekt, von
den Natureindrücken, den Erfahrungen der Umwelt und des
Innenlebens, denen die mythischen Vorstellungen entstammen
und fragt, welche Ausdrucksformen diese Erfahrungen Zzu-
lassen und welchen Abwandlungen und Einkleidungen sie
inneren Gesetzen gemäß unterliegen.
Kw
7:
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Die Naturerfahrung läßt folgende mythische Ausdrucks-
formen zu:
1. Einfache Wiedergabe angeschauter Vorgänge, wie
Mondwechsel, Eklipsen, Tages- oder Jahreslauf der Gestirne,
Gewitter, vulkanische Erscheinungen usw., sofern die einzelnen
Züge dieser Vorgänge nicht nur aufgezählt, sondern durch
die Phantasie miteinander in ursächlichen Zusammenhang
gebracht und auf übermenschliche Wesenheiten bezogen werden
unter Verwendung derjenigen mythischen Motive, die der
betreffenden Naturvorlage entsprechen,
Der Mond folgt der Sonne aus Liebe, er flieht sie aus
Furcht, verfolgt sie aus Haß und umgekehrt, je nachdem die
Konjunktion beider als Heirat oder Inzest gefaßt wird. Der
Mond wird (zur Strafe) von der Sonne zerhauen, er wird
schwarz, weil er um seine von der Sonne gefressenen Kinder,
die Sterne, trauert. Die Sonne bleibt stehen an den Wende-
punkten, weil dämonische Wesen sie dort zurücktreiben usw.
In diesem Gedankenkreise bewegen sich die primitivsten
Himmelsmärchen aller Zeiten und Völker.
2, Erklärung von Vorgängen, die nicht nur unbewußt,
gleichsam instinktiv in der einfachen Erzählung selbst ent-
halten ist, indem sie unwillkürlich den Vorgang und die
dabei handelnden Personen ins Menschliche überträgt, sondern
unter dem Einfluß des Kausalitätsdranges selbst schöpferisch
wirkt. Hierher gehören die sog. explikativen Märchen und
Mythen, die die Eigenschaften von Tieren und Örtlichkeiten,
die Form und Lokalisierung von Sternbildern behandeln und mit
urzeitlichen Ereignissen in Verbindung bringen. Daß auch
sie schon der ältesten uns zugänglichen Schicht der Mythen-
bildung angehören, haben wir bereits gesehen. Derartige
Erzählungen können natürlich auch als Scherzmärchen gefaßt
sein, daß sie aber ursprünglich nur solche sind, wie Wundt
meint (Mythus 8, p. 74), läßt sich aus dem Material nicht
beweisen. Dagegen spricht schon ihre ausgiebige Verwen-
dung in den primitiven Schöpfungsmythen 2,
“) Tylor, Anf. d. Kultur 1, p. 350,
’) 0. Dähnharädt teilt die naturerklärenden Sagen in zwei von Grund
aus verschiedene Gruppen: 1. die rein naturdeutenden (ätiologischen), d. h.
Kapitel VIII Mythische Formen.
i71
3. Verknüpfung des Naturwissens mit den Erfahrungen
des menschlichen Lebens, also Parallelisierung himmlischer
und irdischer Erscheinungen. So werden Taten und Schick-
sale von Sonne und. Mond als solche irdischer Helden dar-
gestellt und umgekehrt irdische Helden mit den Wesenszügen
jener ausgestattet, auch wohl die persönlich apperzipierten
Gestirne selbst an Stelle irdischer Persönlichkeiten in die
Handlung eingeführt. Kurz, es werden nicht nur Natur- und
Himmelsvorgänge in Mythen, Märchen und Schwänken wieder-
gegeben, sondern umgekehrt auch solche dem menschlichen
Leben entnommene Erzählungen zur poetischen Ausdeutung
natürlicher Dinge und Vorgänge benützt !.
Da diese Assimilierungsformen überall zusammen vor-
kommen, so hat die Frage, welches Verhältnis das ursprüng-
liche sei, nur ein psychologisches, kein mythologischesInteresse,
4. Spekulative Auslegung der Naturbeobachtung, wie sie
in den Rituallegenden der Kosmogonie und Theogonie her-
vortritt.
Die Ausprägung der mythologischen Grundidee
wird verschieden sein, je nachdem der Mythus mittelbar oder
unmittelbar an der Naturanschauung haftet, oder sich von
ihr ablöst und damit Umformungen aller Art erleidet, Wir
unterscheiden danach primäre und sekundäre Mythen, die
beide sowohl einfach wie Kombinationen verschiedener Stoffe
sein können.
Der primäre Mythus knüpft wie das naturmytholo-
vische Märchen überhaupt an einfache sinnfällige Erschei-
nungen an und zwar hauptsächlich an die eindrucksvollen,
Solche, die aus dem Bedürfnis der poetischen Naturerklärung hervorgegangen
und lediglich zu diesem Zwecke erfunden sind, 2, die willkürlich natur-
deutenden, die ursprünglich zu anderen Zwecken als dem der Naturerklärung
erfunden und infolge der Vorliebe für die poetische Naturerklärung umge-
staltet sind (Zeitschr. f. Volkskunde 17, p. 2). Diese Kategorien lassen sich
im Sagenbestand der Kulturvölker zweifellos erkennen, für die primitiveren
Stufen darf jedoch aus psychologischen Gründen das poetische Bedürfnis
nicht allzu sehr betont werden.
1) Dähnhardt in Z, £. Volksk. 17, p. 2: Ob sich dabei wirklich „an
Stelle der Moral. die Deutung des naturgeschichtlichen Ursprungs“ setzt,
bleibt dahingestellt.
L72
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
regelmäßig am Himmel sich abspielenden, die als Massen-
eindrücke unabhängig von Raum und Zeit von Anbeginn an
das menschliche Geistesleben beeinflußt haben. Dieser Eigen-
schaft der Allgemeinsichtbarkeit und des regelmäßigen
Wechsels verdanken die daraus abgeleiteten Erzählungen ihre
Fixierung im Volksgeist, ihren Wahrheitscharakter, den
(nach Wundt) jeder echte Mythus haben muß.
Der Mythus faßt das sich regelmäßig Wiederholende als
ein einmaliges Ereignis auf. Die Beobachtung lehrt, daß
die Sonne allmonatlich den Mond tötet, daß dieser auch einmal
im Monatsverlauf von einem schwarzen Ungeheuer bekämpft
und verschlungen wird, um dann wiederzuerstehen. Dem
Mythus zufolge sind das einmalige Ereignisse und Aben-
teuer des Sonnen- oder Mondhelden der grauen Vorzeit, als
alle Dinge noch sprachen, die Götter den irdischen Wesen
sich zugesellten oder die Erde noch nicht vorhanden, viel-
mehr das Himmelsland der Ursitz der Ahnen, der Schauplatz
gyöttlicher Tätigkeit war 1.
KEinzelerscheinungen lokaler Art haben eine weit geringere
Persistenz im Volksbewußtsein und werden daher nur aus-
nahmsweise zu wahren Mythen verarbeitet, wenn sie besonders
impressiv sind. Sie haften meist, wie die Nebelsagen, an der
Örtlichkeit und können nur durch eine besondere Eindrucks-
kraft und wiederholtes Auftreten innerhalb des Erinnerungs-
bereichs einer oder mehrerer Generationen, wie das beim
Erdbeben und vulkanischen Ausbrüchen der Fall ist, mythen-
bildend werden. ;
Die Erzählung kann den Vorgang als Gesamterschei-
nung behandeln, also Mondwechsel, Durchbruch der Sonne
durch den Nebel, Sonnenauf- und Untergang als Handlung
wiedergeben, sie kann aber auch von den Personifika-
tionen und dinglichen Vorstellungen, die in die KErschei-
nungen hineingesehen werden. sowie von den durch diese
*) „Das Sonderwesen der Sagbilder besteht darin, daß sie den in regel-
mäßigen oder unregelmäßigen Zeitabschnitten sich wiederholenden Natur-
verlauf durch die Bildung eines bestimmten als vergangen betrachteten
menschlichen Begebnisses versinnlichen und somit gegen den Zeitbegriff ver-
stoßen.“ v. Hahn, Saywiss. Studien, v. 55.
Kapitel VIII. Mythische Formen.
173
bedingten Kinzelmotiven ausgehen und die Handlung aus
solchen Eindrücken gleichsam herausspinnen. So entstehen
die von Frobenius so benannten Konsequenzmythen. Ist
der Mond z. B. erster Mensch und Ahnherr, oder in seiner
Doppelform Zwillingspaar, so erzählt der Mythus von der
Geburt, den Taten und dem Ausgang dieser Wesen, indem
alle mit dem Monde verbundenen Vorstellungen Motive für
das Tun und Leiden des Helden abgeben. Ist der Mond ein
Schiff, so schildert der Mythus dessen Erbauung, die Reise
über den Himmelsozean und ihre Zwischenfälle und Gefahren,
die ebenfalls wie die Symplegaden oder Walfischdrachen der
himmlischen Sphäre angehören. Ist er die Frucht eines himm-
lischen Baums, so ergibt sich die Erzählung vom Essen dieser
Frucht oder ihre Herbeiholung aus fernem Lande (Paradies
und Hesperidengarten), wobei dann die Spekulation die Folgen
dieses Genusses im moralischen Sinne weiter ausmalt, also
etwa das Motiv der Verbotsübertretung einführt. Ist der
Mond ein Sichelschwert, so wird dessen Verwendung im
Kampf ausgeführt (Motiv: Kopfabschneiden), ist er eine Rippe,
so wird die Entstehung eines neuen Mondwesens, wie Kva,
daraus motiviert. Ebenso können einzelne Züge und Motive
den Anknüpfungspunkt bilden. Das Verschlungenwerden der
Himmelskörper führt auf die Sagen von Ogern, Drachen und
Seeungeheuern, die durch List besiegt den Verschlungenen
wieder frei geben müssen, oder veranlaßt die Verbindung der
Erzählung mit anderen, die derartige Wesen schon zum Gegen-
stand . haben, besonders Alptraumsagen. Der Hautwechsel
des Mondes führt auf die Sage vom Geschundenwerden einer
Persönlichkeit, auf das Unterschieben eines falschen Lieb-
habers unter Verkleidung, auf die Verjüngung des alt und
schwarz Gewordenen durch ein Goldbad usw. Das allmäh-
liche Wachsen des Mondes unter dem dunklen Teil führt zur
Sage vom wachsenden Gold, das durch den daraufliegenden
schwarzen Drachen behütet wird (Fafnir), oder das Großziehen
eines Drachens. der schließlich das ganze Haus erfüllt!
1) S. hierüber Liebrecht, Beiträge zur Volkskunde, p. 65 ff. Diesem
Motiv gegenüber läßt die Theorie von der unbedingten Priorität des irdischen
Vorgangs und seiner nachträglichen Proiektion an den Himmel völlig im
174
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Das einfache der Natur entlehnte Mythenmaterial kann
die mannigfaltigsten Kombinationen und Umbildungen
durchmachen, Abgesehen von der Willkür individuell dichte-
rischer Phantasie beruhen diese Veränderungen wesentlich
auf folgenden Momenten:
1. Die Mehrzahl der mythisch verwendeten Naturerschei-
nungen läßt verschiedene psychologisch gleich berechtigte
Auffassungen zu, woraus sich verschiedene Vorstellungsreihen
ergeben, die im Mythus nebeneinander auftreten und unter-
einander verknüpft werden können. Der Mond ist nicht nur
Mensch, sondern auch Tier, ferner lebloses Objekt (Rippe,
Schale, Messer, Axt, Schiff). Verschlungen werden nicht nur
Sonne und Mond, sondern auch Sterne und Sternbilder, und,
wie die tägliche Erfahrung lehrt, Menschen und Tiere. Ver-
schlinger sind nicht nur Sonne und Mond, sondern auch Erde,
Nacht, irdische Tiere, Ungeheuer, die wiederum anthropomorph
als Ogern und Hexen auftreten. Dadurch sind unabsehbare
Kombinationsmöglichkeiten gegeben. So sind in dem Paradies-
mythus, in der Argonautensage, im Mythus vom Kampfe
Thors mit Hrungnir verschiedene einfache Mondmythen mit-
einander verbunden, deren jede eine andere Auffassung des
Mondes repräsentiert. Eine Mischung von solaren und lunaren
Zügen zeigen die Herakles-, Perseus- und Siegfriedsage !.
2. Ein Mythenheld kann, wenn er himmlischer Herkunft
ist, seine Wesenszüge allen bedeutsamen Himmelsphänomenen
entlehnen, also sowohl der Sonne oder dem Monde als auch
dem Orion oder dem Morgenstern angeglichen werden, neben
ihm aber können diese Gestirne auch als besondere Indivi-
dualitäten auftreten oder genealogisch mit ihm verbunden
sein. Ebenso können sich die Wesenszüge von Sonne und
Stich, denn wachsendes Gold ist eben nur am Himmel sichtbar, während
man es auf Erden leider vermißt.
*) Für diese hat Siecke (Drachenkämpfe, p. 100 £f.) ihre Mischung
aus mindestens drei Urmären vom Urgötterpaar Sonne und Mond nachge-
wiesen, die dem Verhältnis von Siegfried, Brunhild und Gunther zueinander
entsprechen. Weniger gelungen, weil allzu kompliziert und zu weit von der
natürlichen Anschauung sich entfernend, scheinen mir die von Hahn (Sagw.
Siud., p. 270 ff.) und Friedrichs (Grundlagen, p. 444) gegebenen Deu-
tungen.
Kapitel VIII. Mythische Formen.
175
Mond auf mehrere Gestalten verteilen, entsprechend der
Stellung dieser Himmelskörper im Tages- oder Jahreslauf,
was je nach der Ausbildung der astronomischen Anschauungen
des betreffenden Volks und der Eigenart der geographischen
Umwelt verschiedenartigen Ausdruck erfordert.
3. Erscheinungen, die in der Natur vergesellschaftet auf-
treten, wie Sonne und Mond mit Morgen- oder Abendstern
und den dazu gehörigen Auroren, werden untereinander in
engere Beziehung gebracht und die aus ihnen abgeleiteten
Motive und Personifikationen in dieselbe Handlung .verwoben.
Das einfachste Beispiel ist der Drachenkampf um die Preis-
jungfrau, des Perseus um Andromeda, des Herakles um Hesione,
Siegfrieds um die Königstochter ?,
4. Endlich kommt die ganz lose Verknüpfung verschie-
dener Stoffe in Betracht, wie sie namentlich die Heldensage
zeigt, wo es darauf ankommt, durch Einfügen immer neuer
Momente die Handlung zu erweitern und möglichst viel Her-
vorhebendes auf den Helden zu übertragen, Hierbei wechseln
fortwährend Sonnen- und Mondmotive mit solchen der irdischen
Sphäre.
Was die griechische Herakles-, die iranische Rustem-, die
germanische Siegfriedsage zeigt, findet sich in ähnlicher Weise
in den Ansätzen zur Heldensage in Amerika. Der Mondheld
Michabazo wird ebenso wie der Rabe der Nordweststämme
oder der Coyote der Kalifornier und Präriestämme in die ver-
schiedensten Märchen als Hauptperson eingeführt, die, wie
wir aus den Varianten wissen, ursprünglich gar nichts mit
ihm zu tun haben, zum Teil sogar ganz anderen Sagen-
kreisen, selbst altweltlichen, entlehnt sind.
Die der Heldensage entstammende oder unter ihrem Ein-
fluß entstandene Göttersage zeigt natürlich das Gleiche. Als
Beispiel diene der Kampf des Zeus mit dem Typhoeus, dessen
erster Teil ein deutlicher Mondmythus ist (wie die Harpe als
Waffe des Gottes, die Sehnenausschneidung und ihre Regene-
rierung durch Hermes, den Sohn beweist), während der zweite
einen vulkanischen Ausbruch mit den damit verbundenen
‘) Derartige Jungfrauen entsprechen meist dem Venusgestirn, das wäh-
rend des Kampfes sichtbar bleibt.
175
Ehrenreich, Allyzemeine Mythologie.
elektrischen Entladungen (Donner und Blitz) schildert und
zwar in vollster Anschaulichkeit!, "Dem entspricht denn auch
die Bannung des besiegten Dämons in den Krater des Aetna.
Bei diesen Kombinationen entbehrt die Handlung oft jeder
Einheitlichkeit. Sie ist manchmal geradezu zusammengestückt.
In vielen der sogenannten Abenteuermärchen und den primi-
tiven Heldensagen der Naturvölker bildet meist nur die Per-
sönlichkeit des Helden das einigende Band. Auch in den
Kulturmythologien fehlt es nicht an Beispielen, doch wird
hier oft nachträglich dem ganzen Komplex eine bestimmte
[dee untergelegt, wie z. B. der Heraklessage.
Die einzelnen Elemente können aber auch eine modifi-
zierte Wiederholung derselben Handlung sein und zwar ist
für den altweltlichen Mythus eine dreifache, für den neuwelt-
lichen eine vierfache Wiederholung charakteristisch, oder die
Handlungen werden auf mehrere wesensverwandte oder genea-
logisch zusammenhängende Personen verteilt, Solche sind
die bekannten mythischen Bruder- oder Freundespaare oder
Triaden, deren enge Beziehung zu Sonne, Mond und Venus-
gestirn oder den drei Hauptformen des Mondes allein wir
bereits. kennen gelernt haben.
In Amerika steht diese Verteilung oft in deutlicher Be-
ziehung zu den Kardinalpunkten, die die Handlung ört-
lich bestimmen. Häufig ist damit das interessante Motiv des
Wanderrverbots verbunden, das der „verbotenen Kammer“
unserer Märchen (vom Typus „Blaubart“ und „Marienkind“) ent-
spricht. Eine Richtung wird dem Helden einzuschlagen ver-
boten, da hier Unheil seiner wartet. Der Zuwiderhandelnde
kommt. .dann in allerlei gefahrvolle Situationen,
Auffallend häufig ist in germanischen und slavischen
Märchen die Mehrteilung der Handlung zugleich mit einer
Abstufung verbunden, Es sind die sogenannten mythischen
Stationen, deren Bedeutung in der europäischen Märchen-
welt neuerdings Friedrichs so eingehend dargelegt hat.
Wenn wir absehen von einigen irrtümlichen oder willkür-
Die Beschreibung des Dämons bei Apollodor trifft in allen
Einzelheiten auf die unten schlangenförmig gewundene, im oberen Teile
»inienförmig sich ausbreitende vulkanische Aschenwolke zu.
i\
Kapitel VIII. Mythische Formen. 177
lichen Deutungen, so ist für eine große Anzahl von Fällen
der astrale Charakter dieser Stufenfolgen, ihre Beziehung zu
Sonne, Mond und Venus oder Sterne im allgemeinen ganz
unverkennbar, zumal sie oft ausdrücklich erwähnt wird.
Der Held kommt zur Sonne, von der Sonne zum Monde,
von diesem zum Sterne oder umgekehrt. Von jedem dieser
Wesen erhält er gewisse magische Attribute, Waffen, Talis-
mane, Rüstungen, Pferde, Kleider usw., die in Farbe oder
Beschaffenheit jenen Himmelswesen entsprechen. Ebenso er-
scheint der Held zuerst im Sonnen-, dann im Mond- oder
Sternenkleide, oder er besucht drei diesen entsprechende
Schlösser. Auch die verschiedenen Himmelsfärbungen werden
diesen Stufen entsprechend verwendet, wodurch neue Va-
rianten entstehen. Ebenso können auch die drei Hauptformen
des Mondes dafür eintreten.
Es wäre von allergrößtem Interesse, dieses Prinzip der
Stationen auch in anderen Mythenkreisen nachzuweisen,
Spuren davon zeigt auch die zentralasiatische Sagenwelt,
7. B. der tibetische Kesarmythus. In Amerika würden nament-
lich die von Preuß gesammelten Kultmythen der Kora und
Huicholes in Mexiko, wo gerade der Morgenstern eine so große
Rolle spielt, daraufhin zu prüfen sein. Deutliche Ansätze
dazu sind auch in den Mythen des nordwestpazifischen Kultur-
kreises und der Oregonstämme (Kathlamet, Wishram und
Tschinuk) erkennbar.
Eine scharfe Grenze zwischen den primären und sekun-
dären Formen besteht nicht. Überall, wo trotz aller
Kombinationen und den dadurch bedingten Umformungen die
Naturgrundlage noch durchsichtig bleibt oder wenigstens noch
aus der Motivfolge zu ersehen ist, kann die Erzählung noch den
primären zugerechnet werden. Je mehr aber die dichterische
Phantasie oder die Fabulierlust des Erzählers wirksam sind,
je mehr die menschlichen Züge betont werden, um den
Mythus zu einer Darstellung menschlicher Schicksale und
Wünsche zu machen, um so mehr verflüchtigt sich natürlich
die Erinnerung an den Naturgehalt. Verschiebungen, Um-
kehrungen, mißverständliche oder willkürliche Verwendung
der Motive sind dann etwas Gewöhnliches. Selbst frei er-
Mytholog, Bibliothek: Ehrenreich. 12
178 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
fundene dienen der Ausschmückung oder Führung der Hand-
lung, wenn es darauf ankommt, sie spannend oder eindrucks-
voll zu gestalten. Heldenkämpfe und Abenteuer fordern be-
sonders dazu heraus.
Der Held, der das Mondungeheuer tötet, vollführt das
gleiche den irdischen Ungeheuern gegenüber und wird damit
Wohltäter seines Volks, ebenso wie der irdische Held die
Charakterzüge des himmlischen Vernichters erhält. So
wiederholt der mythische Alexander in Indien die Taten
seines göttlichen Vorgängers Dionysos. Besonders häufig
können Personen, die an sich gar nichts mit Naturwesen-
heiten zu tun haben, in eine ursprünglich naturmythologische
Handlung als Agentien eingeführt werden und diese in ihrem
Sinne umprägen. Sie können nicht nur historisch, sondern
auch rein fingiert sein. Bei Alptraummythen, insbesondere
ien dahingehörigen Ogersagen, kann der Held sehr wohl der
ursprüngliche Erzähler selbst sein. Auf den Oger wiederum
kann alles übertragen sein, womit die Phantasie die Vor-
stellung des verschlingenden Ungeheuers verbindet.
Das Märchen sowohl wie die Heldensage verwendet
Naturmotive oft als bloßes Ausdrucksmittel phantastischer
Vorstellungsreihen, wozu vor allem die sogenannten Glücks-
oder Abenteuermärchen herausfordern. Die ursprüngliche
Bedeutung der hierbei meist ganz willkürlich kombinierten
Elemente wird daher leicht verkannt. So sind in dem von
W undt (Mythus 38, p. 95) angeführten und als reines Phantasie-
produkt gedeuteten Menomini-(Odjibway-)Märchen (n. Ann.
Rep. Bureau of Ethn. 14, p. 283 ff.) die Motive des Goldes in
der Achselhöhle, des rollenden Balls, auf dem der Held dahin-
fährt, des im roten Haar verborgenen Herzens der Hexe und
deren Verbrennung ebenso sicher dem Himmel entlehnt, wie
in unsern Märchen die Goldmotive von Allerleirauh, das
Tischlein deck dich und die unerschöpfliche Speise, was sich
aus Vergleichsreihen für jeden ergibt, der die Prüfung nicht
scheut und dem Eigensinn oder Vorurteil nicht den Blick
trübt %,
1) Massenhaftes Material bietet G. Friedrichs a. a. 0.
Kapitel VIII. Mythische Formen. 179
Da die Sprache fast niemals imstande ist, eine Natur-
anschauung anders wiederzugeben als mit Übertragung von
Begriffen der menschlichen Sphäre auf die Natur, so muß die
Einkleidung des Grundgedankens immer eine mehr oder
weniger metaphorische sein, ohne daß aber diese Metaphern
als solche dem Mythenerfinder zum Bewußtsein kommen.
Die Metapher ist untrennbar mit der personifizierenden Auf-
fassung verbunden. Sie ist wie diese zunächst unwillkürlich
simultan oder wieFritzsche sagt (N.Jahrb.f. d. klass. Altert. 13,
pP. 557), ein momentan unbewußtes Urteil. „Der Sehende
deutet nicht, sondern sieht die Speichen des Sonnenrades.
„Man findet keinen anderen als den bildlichen Ausdruck
dafür.“ Ebenso Wundt (Sprache 2, p. 557): „wo die passende
Wortvorstellung mangelt, wird durch natürliche Assoziation
eine Übertragung veranlaßt, die an sich durchaus nicht als
solche empfunden wird“.
Der sprachliche Ausdruck also erfordert, sobald mehr als
die roheste sinnliche Anschauung wiedergegeben werden soll,
eine metaphorische Form, die dann mit dem Eintreten indi-
vidueller Gestaltungskraft weitere Assoziationen hervorbringt.
So wird die menschlich aufgefaßte Sonne zum Könige, Prinzen,
Helden, Wundervogel, der Mond zum Weibe, Königstochter,
Hexe, Zauberer, der Morgenstern zum Diener oder Wagen-
lenker, Jäger usw.
Damit ist natürlich nicht gesagt, daß alle mythischen
und märchenhaften Helden, Prinzen, Könige, Hexen solche
metaphorisch gefaßten Naturwesenheiten sind.
Ob das im Einzelfalle zutrifft, kann nur der Zusammen-
hang der Motive und der allgemeine Charakter der Erzäh-
lung entscheiden, wobei aber die Tatsache der fortdauernden
Assimilation himmlischer und irdischer Vorgänge und Vor-
stellungen zu berücksichtigen ist.
Daß bei dichterischer Behandlung solcher Stoffe im Kunst-
märchen und Epos die echte, absichtlich gewählte oder im
Affekt gegebene Metapher! eingeführt wird und daß diese
wiederum in das poetische Gleichnis übergehen kann, ver-
) Wundt, Sprache 2, v. 557 f.
180 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
steht sich von selbst. Das von Wundt ausführlich darge-
legte Verhältnis dieser drei Formen der Übertragung zuein-
ander kommt für unser Thema nicht in Betracht.
Der Mythus kann auch solche Erscheinungen und Vor-
gänge ausdrücken, die nicht unmittelbar sichtbar, sondern
nur vorgestellt sind. Er gewinnt dann eine symbolische
Bedeutung, er stellt Nichtsinnliches in Formen dar, die der
sinnlichen Vorstellungswelt entstammen.
Bei der auch von Wundt (Mythus 1, p. 555) hervor-
gehobenen großen Unbestimmtheit des Symbolbegriffs in der
Mythologie muß dieser noch besonders erörtert werden.
Symbolisierung ist Veranschaulichung eines Sinnes durch
ein Bild, einer abstrakten Vorstellung durch eine konkrete,
Die mythischen Vorstellungen an sich sind keine Symbole,
etwa für abstrakte religiöse Ideen, oder symbolischer Ausdruck
von Naturerscheinungen. Wundt sagt darüber: „Ist das
primitive naturmythologische Märchen die Grundform, so ist
der spätere eigentliche, religiöse Mythus nicht als ein Symbol
für jenes zu betrachten. Die mythische Vorstellung ist viel-
mehr Wirklichkeit, Löst sie sich im religiösen Mythus von
der Naturerscheinung ab, so erlischt auch die Erinnerung
daran. Erst der reflektierende Mytholog betrachtet ihn als
Symbol für die Naturbedeutung“.
Das ist ganz richtig, schließt aber nicht aus, daß my-
thische Vorstellungen, die ursprünglich keine Symbole sind,
zu solchen werden können, wenn nämlich der mythische
Ausdruck des konkret angeschauten Vorganges verwendet
wird, um andere, nicht unmittelbar auf die Sinne wirkende,
aber doch analoge oder assoziativ mit der ursprünglichen Vor-
stellung verbundene wenigstens bildlich als konkret darzu-
stellen. Wie der Mensch nicht alle Eindrücke der Außen-
welt unmittelbar in Lautformen wiedergeben kann, sondern
sich der Vermittelung der Metapher bedienen muß, so vermag
er auch nicht alle Naturvorgänge unmittelbar mythisch aus-
zudrücken, sondern nur das, was konkret sichtbar seine Sinne
berührt. Zahlreiche Vorgänge und Erscheinungen der Um-
welt nimmt er nun nicht direkt, sondern nur in ihren Wir-
kungen wahr, oder er erschließt ihr Vorhandensein und
Kapitel VIII. Mythische Formen 181
Wechselspiel spekulativ. Sie sind für ihn bedeutsam, beein-
flussen sein ganzes Leben, seine Daseinsformen, ohne aber
ein greifbares Substrat aufzuweisen. Nichtsdestoweniger sind
sie Realitäten. Wie Sonne und Mond reale Erscheinungen
sind, so sind es auch Sommer, Winter, Tag und Nacht, Leben
und Tod, Licht und Finsternis, endlich auch nützlich und
schädlich, gut und böse,
Das Bedürfnis, auch diese als Realitäten empfundenen
Gegensätze zum Ausdruck zu bringen, tritt ein mit dem Er-
wachen des höheren Geisteslebens bei Ausbildung der reli-
giösen Kulte, der Geheimgesellschaften und fester Satzungen
für die soziale Ordnung,
Man bedient sich dazu der Formen des einfachen Natur-
mythus, sofern dieser Assoziationen hervorruft, die jenen ab-
strakten Vorstellungen eine festere Unterlage zu verleihen
geeignet sind. Ein Mythus, der den Kampf von Sonne und
Mond, Hellmond und Schwarzmond zum Gegenstand hat, wird
auch für den Kampf zwischen Licht und Dunkel, Sommer und
Winter, gutem und bösem Prinzip verwendbar sein, ebenso
wie etwa im Orpheustypus für die Rückführung einer Seele
aus dem Hades.
Ein besonders interessantes Beispiel symbolischer Ver-
wendung einer mondmythologischen Vorstellungsreihe ist der
Mythus von der Wiedergewinnung des Agni im Rigveda (10,
51—53; 10, 124), den Hillebrandt (Ved. Mythologie I, 2,
p. 134—148) und v. Schroeder (Myst. u. Mimus, p. 181 ff.)
mit Recht auf die kultischen Handlungen beziehen, die mit
der alljährlich im Frühjahr stattfindenden Entzündung des
neuen Opferfeuers verbunden sind. Als Naturgrundlage be-
trachtet ersterer das Verschwinden der Sonne in den Wassern,
d. h. in der Regenzeit, während v, Schroeder an die Winter-
‘) Nach Gruppe besteht keine Nötigung, Mythen zu erfinden „zum
Ausdruck von Naturerscheinungen, für welche die Sprache längst Worte
besaß“ (Griech. Kulte u. Mythen, $ 85). Ganz richtig, aber diese Nötigung
tritt ein, sobald der Naturvorgang in poetischer oder sonstwie getragener
Rede behandelt werden soll, wie das die sakralen Rezitationen und Gesänge
bei Agrikultur oder Pubertätszeremonien erfordern, die oft als Text die
dazugehörigen mimischen Darstellungen begleiten.
182
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
nebel und Wolken denken möchte, wobei vielleicht eine Er-
innerung an nördlichere Wohnsitze des Volks mitspielt, wo
die Sonne tatsächlich zur Zeit der Wintersonnenwende vor-
übergehend verschwindet. Das würde der von anderer Seite
aufgestellten Hypothese einer arktischen Urheimat der Arier
entsprechen.
Einer solchen Hypothese bedarf es jedoch nicht, wenn
wir die Sonne, die ja im nördlichen Indien, im Lande der
Vedalieder, eben tatsächlich nicht verschwindet, als Natur-
grundlage fallen lassen und den Mond dafür einsetzen, der,
wie uns die ethnologischen Parallelen beweisen, ebensogut das
Feuer repräsentieren kann. Damit erklären sich alle dunklen
Stellen jenes. Liedes, Der Mond verschwindet wirklich in
den Himmelswassern in eine Eihaut gehüllt, er ist wirklich
ein Saucika, ein Nadelsohn, wie sein germanischer Vertreter
Loki! oder der Rabe Nordwestamerikas, der sich in dieser
Form freilich als Tannennadel von der Mondjungfrau ver-
schlucken und wieder gebären läßt. Zurück holt ihn Yama,
der Herr der Toten, als den alle Völker den Mondgott be-
trachten. Er kommt, wie Schroeder wohl richtig deutet,
aus dem Reiche oder von der Partei des dunklen Rudra-Civa,
der Dunkelform des Mondes, um sich den lichten durch
Varuna-Soma-Indra vertretenen Formen anzuschließen.
Wenn zudem, wie die Brahmanas berichten, der ent-
flohene Agni sich zwischen den Hörnern eines Bocks ver-
birgt, wenn das Beil nebst scharfen Hörnern seine Waffen
sind, so stimmen diese Züge mit dem lunaren Wesen des
Gottes vortrefflich. Dadurch erfahren auch die interessanten
von Schroeder nachgewiesenen Beziehungen zwischen Agni
und Apollo, die für das Verständnis auch dieses Gottes eine
ganz neue Unterlage bieten, einige Aufklärung. Sie machen
diesen Beweis sogar zu einem unanfechtbaren.
Wir dürfen also bezüglich dieser Erzählung sagen: die
konkrete Anschauung des Verschwindens und Wiedererschei-
nens eines feurigen Himmelskörpers wird mythisch verwendet,
um symbolisch das Verlöschen und Wiederaufflammen des
Opferfeuers auszudrücken.
') v. Schroeder, Myst., p. 2182
Kapitel VIII. Mythische Formen.
183
Daß dabei das Verlöschen des Feuers im Wasser ‚und
seine Wiederkehr im Blitz aus dem Himmelswasser assoziativ
mitwirkt, ist nur natürlich.
Ein gutes Beispiel aus der griechischen Mythologie liefert
die von v. Hahn angeführte Hyakinthossage (SagwW. Studien,
p. 27). Der schöne Jüngling Hyakinthos, der Liebling des
Sonnengottes, wird von diesem getötet, indem Boreas der
Nordwind ihm die von jenem geschleuderte Wurfscheibe in
den Kopf wirft. Hier ist der Naturkern offenbar eine Mond-
tötung durch die Sonne. Das im Haupte des abnehmenden
Mondes steckende glänzende Diskusstück gibt, wie zahlreiche
mythische Parallelen beweisen, die Grundanschauung. Dieser
Mythus dient, symbolisch angewendet, um das bei der Sonnen-
wende eintretende Verdorren der Vegetation anzudeuten. Der
Vegetationsgott ist, wie fast immer der Mond, in diesem
Falle Hyakinthos selbst. Ihn tötet die Sonne als verdorrende
Kraft in Verbindung mit Boreas, der gerade um diese Zeit
weht und den Himmel aufklärt.
Das Wesen der mythischen Symbolisierung wird am
besten gekennzeichnet durch die Art, wie es von Hahn
selbst verkannt wird. Er sagt nämlich (Sagw. Studien,
p. 48): „Der Kampf des Gottes mit der Schlange ist ein tief
gewurzelter Sagenzug, dessen Naturkeim wohl in dem Siege
der Frühjahrssonne über den im Winter vorwaltenden Wasser-
stoff (?) zu suchen ist“. Gerade das Umgekehrte ist richtig.
Der konkret wahrnehmbare Kampf, d. h. eine psychologisch
als Kampf auffaßbare Naturerscheinung, wie die Mondver-
nichtung durch die Sonne oder ähnliches, ist der Grundkern
und diese Kampfsage dient zur Schilderung und Ausmalung
nicht konkret und persönlich. wahrnehmbarer Kämpfe, wie
den des Frühlings mit dem Winter.
Dagegen hat v.Hahn richtig erkannt, daß die unmittel-
bar aufgefaßte Erscheinung des Tageslaufs der Sonne zur
mythischen Darstellung der Vorgänge ihres Jahreslaufs ver-
wendet wird. Der abendlichen Sonnenschwäche entspricht
als Alterserscheinung die winterliche, das nächtliche Ver-
schwinden der Sonne ihrer winterlichen Abwanderung, die
im hohen Norden sogar zusammenfallen. So kann also. der
184 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
ursprünglich nur den Tag- und Nachtwechsel darstellende
Sonnenmythus symbolisch den Jahreslauf versinnbildlichen,
der sich dem Auge nicht direkt, sondern nur durch Reflek-
tion oder auf Grund systematischer Beobachtung "darbietet,
Das Einfachste, Anschaulichste und Impressivste bleibt
aber immer der Erscheinungskreis*des Mondes, dessen Züge
namentlich da gewählt werden, wo das Moment des Kampfes
oder gewaltsamen Raubes hervorgehoben wird, weil eben der
Mond in dem Verhältnis der hellen zur dunklen Hälfte oder
seines feindlichen Gegensatzes zur Sonne die Kampfvorstellung
unmittelbar auslöst.
Mit der weiteren Systematisierung religiöser Vorstellungen
wächst natürlich die Zahl und Mannigfaltigkeit der symbo-
lischen Mythen, und um so mehr äußert sich dabei der Ein-
fluß der individuellen Phantasie in der Dichtung. Unberechtigt
ist es jedoch, solche Formen immer nur als etwas spekulativ
Entstandenes, also Sekundäres, religionsgeschichtlich Be-
dingtes aufzufassen und daher überall, wo sie auf niederen
Kulturstufen auftreten, eine Beeinflussung seitens höherer
anzunehmen. Überall, wo die Natur des Landes schroffe
Gegensätze in Klima und Vegetationswechsel zeigt, die sich
in der ganzen Lebenshaltung des Volks unmittelbar fühlbar
machen, können derartige Mythen volkstümlich entstehen.
Wir sehen sie daher am stärksten bei den Germanen, Slaven,
Zentralasiaten, Nordamerikanern entwickelt', In südlicheren
Gegenden erzeugen die Gegensätze der Dürre und der nassen
Jahreszeit analoge Formen. Dem gleichförmigen Bilde, das
die Natur der Äquatorialländer das ganze Jahr hindurch dar-
bietet, entspricht auch die relative Kinförmigkeit der mythischen
Gebilde der betreffenden Völker jener Zone.
Daß die Jahreszeit- und Vegetationswechselmythen ihre
Formen dem Mondwechselmythus entlehnen, ist eine in allen
entwickelteren Mythologien hervortretende Erscheinung, deren
*) Reiches Material über die nordisch-germanischen und. slavischen
Jahreszeitmythen hat Carus Sterne in seinen leider allzuwenig geschätzten
Werken „Tuisko Land“ (Glogau 1891) und die „Trojaburgen Nordeuropas“
(Glogau 1893) zusammengestellt. ohne freilich deren lunaren Einschlag er-
kannt zu haben.
Kapitel VIIL Mythische Formen. 185
gesetzmäßiger Charakter mit der Erweiterung unserer Kenntnis
sich immer deutlicher bekundet. Mondmythologische Motive
erkennen wir jetzt nicht nur in der Tötung des Adonis durch
den Eberzahn, in der Zerreißung des Aktäon durch
Hunde, des Dionysos durch die Titanen und des Wieder-
erstehen solcher Helden in verjüngter Gestalt, sondern auch
in zahlreichen amerikanischen Parallelen. Bei den Irokesen
kämpft Joskeha der „Ahornsproß“ (analog dem Dionysos oder
Soma) als Frühlingsdämon mit seinem Bruder Tawiskaron,
dem FEismann, den er zersprengt, ebenso wie in Mexiko Tez-
katlipoca, der Feuersteingott, im Kampf mit Quetzalcouatl zer-
sprengt wird. Eis und Feuerstein sind in Nordamerika viel-
fach homologe Begriffe, Auch Michabazo, der große Hase, ist
ein Eiszerbrecher. In diesen Fällen läßt sich die ursprüng-
liche Mondnatur der Helden direkt beweisen '.
Ähnliches zeigt die tibetische Kesarsage, aber in noch
primitiverer Form, da hier die Mondmotive noch ganz äußer-
lich mit den Wettermotiven verbunden sind.
Möglich ist natürlich, daß auf jeder Entwickelungsstufe
solche Naturmythen auch unmittelbar ohne Anlehnung an das
mondmythologische Schema entstehen können. Das hängt
wesentlich ab vom Grade der HEinbildungskraft und dem
Sprachcharakter des betreffenden Volks. Überall, wo die
Neigung zur Bilderrede die anthropomorphe Auffassung großer
egindrucksvoller Naturprozesse unterstützt, wie bei den Ger-
manen und Nordamerikanern, wird der Kampf des Winters
mit dem Frühling, des Lichts mit der Finsternis, mythische
Formen annehmen können, die keiner greifbar sinnlichen
himmelsmythologischen Vorlage bedürfen.
In gleicher Weise wird auch .die einfache Folge der
Zeitabschnitte symbolisch durch Mythen ausgedrückt, die sich
ursprünglich auf die die Zeit regulierenden Gestirne beziehen.
So entstehen die Kalendermythen, in denen der Mond-
wechsel dem Tages- und Jahreswechsel entspricht und letzterer
wiederum mit den Venusumläufen, den Orion- und Plejaden-
perioden in Verbindung gebracht wird.
ı) Ehrenreich, Götter und Heilbringer, Z. f. E, 38, p. 572.
136
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Die Götter werden dabei zu Regenten der Zeitabschnitte,
Wie der Mond den Monat beherrscht, so die Sonne das Jahr.
Wie der Mond nach seinen Phasen im kleinen Kreislauf ver-
schiedene Wesen verkörpert, so erscheint die Sonne im Früh-
ling als jugendlicher Held, der den Winter besiegt hat. Im
Winter ist sie gealtert, dienstbar oder abgewandert. Diese
Periode der Abwesenheit wird wiederum dem dreitägigen
Entrücktsein des Mondes mythisch angeglichen. Der Mond-
kampf wird zum Kampf mit den Sternbildern im Jahreszyklus
(Typus: Herakles und Gilgamesch). Wie der Mond scheinbar
seine Phasengestalten verschlingt, so ‚verschlingt die Sonne,
der Zeitgott des Jahres, die Monde, der Wochenigott die Tage.
Größere Perioden bestimmen sich nach der in achtjährigen
Zwischenräumen sich wiederholenden Konjunktion von Venus
und Mond, Rückführung eines Wesens aus der Ferne oder der
Unterwelt (Typus: Helena und die Dioskuren).
So kann der Mythus, ausgehend von den einfachsten, un-
mittelbar sinnfälligen Phänomenen des kleinen d. h. Mondkreis-
laufs, allmählich alle kosmischen Erscheinungen in seinen
Bereich ziehen und sie zu einem großartigen System ver-
schmelzen, wie es die babylonische Astrallehre ist, die in der
Mythologie. und Wissenschaft eins geworden sind.
Diese Verhältnisse sind längst bekannt und bearbeitet !,
freilich aber oft allzu einseitig und ohne genügende Rücksicht
auf den Schlüssel zum Verständnis des ganzen, den lunaren
Grundkern, dessen Feststellung auch für die babylonische
„Lehre“ ein Hauptverdienst Hugo Wincklers bleibt, auch
wenn seine panbabylonistischen Folgerungen daraus proble-
matisch sein mögen.
Ob wir deshalb berechtigt sind, mit Hüsing und Leß-
mann die Mythologie überhaupt als einen Ausdruck der
Kalenderkunde zu betrachten, bleibe dahingestellt. Es
FF"
*).Ein. ungeheures Material darüber ist in der wichtigen, aber jetzt
wohl wegen ihrer überaus unklaren Fassung und schwerfälligen Diktion so
ziemlich vergessenen Abhandlung von K. F., Meyer: Die Sieben vor Theben
and die chaldäische Woche (Zeitschr. f. Ethnologie 7, p. 105; 8, p. 1f.
p- 264 #£.) zusammengetragen, die wohl eine eingehende kritische Würdigung
verdiente, -
Kapitel VIII. Mythische Formen. 187
kommt eben darauf an, was man unter Kalender und Kalender-
mythus versteht, Erscheinungen wie Mondwechsel, Venus-
vorbeigang oder Eklipsen sind so impressiv, daß die bloße
Anschauung schon zu mythischer Verarbeitung herausfordert,
ohne daß man sich dabei ihrer Bedeutung für Zeiteinteilung
und Messung bewußt zu werden braucht. Erst wo das eigent-
lich chronologische, das rechnerische Moment im Mythus her-
vortritt, darf man meines Erachtens von einem Kalendermythus
reden. Das wird z. B. durch die sog. heiligen Zahlen
angedeutet. Im altorientalischen Kulturkreise treten die Fünf,
Sieben, Zwölf, Vierzig in Beziehung auf Planeten, Tierkreis-
bilder und Plejaden, im indogermanischen die Drei, Acht und
Neun in Beziehung auf die Mondperioden auf. In Mexiko
hat, nach Seler, die Dreizehn ebenfalls lunare Bedeutung,
während die Vier und Neun in Beziehung zu den Kardinal-
punkten zu stehen scheinen.
Wie die einfachen, unmittelbar astral bestimmten Zeit-
abschnitte kann auch der Wechsel mehr oder weniger ima-
ginärer Weltperioden durch Mythen versinnbildlicht werden,
die Varianten des einfachen lunaren oder solaren Verhält-
nisses sind. Auch diese Formen, die Zielinsky zum Gegen-
stand einer wichtigen Abhandlung gemacht hat!, behandeln
dann nicht mehr Wahrgenommenes, sondern sind „vom
Wahrgenommenen auf bloß Vorstellbares übertragen“.
Die Götter bekämpfen die Giganten, Zeus die Titanen,
Damit wird die Herrschaft der Himmels- über die Erdmächte
begründet, die dann später ebenfalls dem Untergang verfällt.
Diesen Gedanken der Vergänglichkeit des Götterreichs und
der Wiedererneuerung haben die Germanen zum Kernpunkt
ihrer Glaubensvorstellungen in der „Götterdämmerung“ ge-
macht, die Inder in ihrer Kalpentheorie, die nach jeder Welt-
vernichtung einen neuen Kreislauf beginnen läßt, die Mexi-
kaner in ihrem Mythus von den vier Sonnenzeitaltern.
[nwieweit hierbei babylonische Einflüsse mitwirken, mögen
die Fachleute entscheiden. Die Hauptsache ist, daß alle diese
Mythen immer wieder die Züge des alten Gestirns- und Jahres-
1) Th. Zielinsky, Die Orestessage und die Rechtfertigungsidee. Neue
Jahrb. für das klass. Altertum II, 1899, p. 81 ff‚; 161 £f
188
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
zeitenkampfes hervortreten lassen. Noch deutlicher zeigt sich
das himmelsmythologische Element in den Schöpfungs- und
Kataklysmensagen, die jene Weltperioden voneinander ab-
grenzen. Hier fehlt oft sogar die symbolische Einkleidung
und der Mythus gibt das einfache Naturphänomen des Tag-
und Nachtwechsels oder Mondfahrt über den Himmelsozean,
Durchbruch der Sonne durch den Nebel unmittelbar wieder,
Die allegorische Einkleidung ist eine spätere, unter
besonderen Bedingungen zustande gekommene Mythenform,
die nicht mehr zur eigentlichen Mythologie gehört. Allegorie
und Mythus schließen sich aus. Der Mythus ist Rede, keine
Andersrede?!, wie die der Spekulation, nicht dem unmittel-
baren Naturempfinden, entsprossene allegorische Erzählung.
Dennoch darf diese aus praktischen Gründen nicht unbeachtet
bleiben, da einmal der symbolische Mythus chne scharfe
Grenze in die Allegorie übergehen kann, z. B. wenn der
Kampf der kosmischen Wesenheiten und die Gegensätze der
Jahreszeiten zum Widerstreit zweier entgegengesetzter ethi-
scher Prinzipien, des Guten und des Bösen, wird. Zweitens
aber, weil die Allegorie für die religionsgeschichtliche Ent-
wickelung der Mythologie von der größten Bedeutung ist.
Sie führt ja die mythische Weltanschauung in die religiöse
über, indem sie dem Mythus religiöse Ideen unterlegt, oder
solchen Ideen eine frei erfundene mythische Einkleidung gibt.
Derartige Formen, zu denen auch die Parabeln gehören,
kommen für die allgemeine Mythologie nicht in Betracht.
. Anders steht es mit den allegorischen Umdeutungen oder
Überarbeitungen schon vorhandener Mythen, mag deren ur-
sprünglicher Sinn vergessen sein oder nicht?. Jeder Mythus,
der Bestandteil einer esoterischen Lehre geworden ist. unter-
?) Siecke, Myth. Briefe, p. 47, mit Bezugnahme auf Otfried
Müller; Prolegomena zu einer wiss. Myth. Göttingen 1825.
) Bei dem Symbol stehen Urbild und Abbild miteinander in natur-
notwendigem, begrifflichem Zusammenhang, während die Allegorie das Abbild
willkürlich wählt und so durch Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit der
Phantasie freien Spielraum läßt. Das Symbol ist aus sich selbst heraus ver-
ständlich, die Allegorie nur durch künstliche Interpretation. Sie arbeitet
stets mit bewußter Absicht, während das Symbol sich spontan entwickeln
kann, sofern es aus einfachen Ideenassoziationen hervorgeht:
Kapitel VIII. Mythische Formen. 189
liegt naturgemäß der Allegorisierung,. Man forscht nach einem
dahinter verborgenen Sinn, daher legt das Ritual einen solchen
hinein und sucht ihm die gesamte Symbolik anzupassen.
Wir können diesen Prozeß noch aufs deutlichste in Amerika
verfolgen, wo die ursprünglichen Formen der Kultmythen
meist noch völlig klar sind, So liegt der Morgensternzeremonie
der Pani! die altweltliche Sage von der gefährlichen Braut
zugrunde, die nun allegorisch auf das Verhältnis des Volks
zu seinen Sterngöttern umgedeutet wird. Die Pandorabüchse
der griechischen Sage ist sicherlich das Mondgefäß, aber die
Erzählung hat durch Allegorisierung eine moralische Bedeutung
gewonnen. Wenn der lunare Mythus vom Raube der Persephone,
der im Monde herrschenden Totengöttin (n. Plutarch), sym-
bolisch den Vegetationswechsel im Jahresverlauf andeutet, so
wird in der allegorischen Fassung Persephone selbst zum
Saatkorn, das untergepflügt in der Erde verschwindet; um
später wieder aufzusprossen, oder ihr Raub zum Schicksal der
menschlichen Seele (n. Preller und anderen). Hier sehen
wir also eine deutliche Stufenfolge von der volkstümlichen,
realistischen Auffassung eines unmittelbar sichtbaren Raubes
der Mondgöttin zur symbolisierenden des Dichters und weiter
zur spekulativ umdeutenden des Mysterienpriesters 2,
Noch etwas anderes ist die allegorische Umdeutung seitens
der gelehrten Mythologen des Altertums und der Neuzeit, die
fast immer willkürlich nach vagen Analogien erfolgt und nur
insofern von Interesse ist, als sie zeigt, wie sich die gleichen
Verirrungen in allen Zeitaltern wiederholen,
Oft ist es unmöglich, unter dem allegorischen Beiwerk
den Naturkern der Sage zu erkennen, namentlich, wenn die
Dichtung unsere einzige Quelle bleibt und der Dichter seinen
) G. Dorsey, Pawnee mythology I, Nr. 6.
’) Als abschreckendes Beispiel platt rationalistischer Auffassung sei hier
die Deutung dieser Sage durch Lehrs erwähnt, der in seinen populären
Aufsätzen (p. 275 ff.) gegen den „Schwindel der Naturerklärung“ zu Felde
zieht. Er glaubt, die Sage sei entstanden „aus der ganz veränderten Vor-
stellung über die Unterwelt im homerischen und hesiodischen Zeitalter“. Sie
beziehe sich auf den Verkehr beider Welten miteinander. Da keiner frei-
willig hinabsteige, so entwickele sich die Idee des Raubes. der die Einfüh-
rung des Unterweltsfährmanns entspreche !
L90 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Stoff von vornherein allegorisch auffaßt, wie das z.B. in den
ganz von künstlicher Bildlichkeit und allegorischer Personifi-
kationsweise beherrschten nordischen Skaldenliedern der
Fall ist.
Mag der allegorische Mythus frei erfunden sein, mag er
die Formen eines schon vorhandenen Mythus benutzen, um
sie mit neuen Ideen zu erfüllen, in jedem Falle ist durch die
Allegorisierung etwas Neues, Abgeschlossenes entstanden,
das nicht mehr dem mythischen Denken, sondern der phan-
tastischen oder grübelnden Spekulation angehört und daher
stets als ein Endprodukt, eine Degenerationserscheinung der
eigentlichen Mythologie aufzufassen ist, „eine mythische Form
ohne mythischen Inhalt“.
1) S. Uhland in der Einleitung seines „Mythus vom Thor“.
Kapitel IX,
Mythendeutung
Eine Hauptaufgabe der allgemeinen Mythologie ist die
Formulierung fester Grundsätze für die Deutung von Mythen
und mythischen Gestalten. Aus der richtigen Deutung
muß nicht nur die Grundvorstellung, der ein gegebener
Mythus entwachsen ist, erkennen lassen, sondern auch deren
verschiedene Einkleidungen in allen Mythen des gleichen
Typus verständlich werden. Die Erfahrung lehrt nämlich,
daß diese fast niemals willkürlich gewählt sind, sondern
mit der Grundvorstellung in einem psychologisch und selbst
logisch begründeten Zusammenhang stehen. Sie entsprechen
eben den mit ihr sich notwendig verbindenden Ideenasso-
ziationen.
Im Naturmythus ist die Grundbedeutung durch ‘den
Naturkern gegeben, auf den alle Einzelzüge und Motive
zurückweisen.
Diese Urbedeutung, die uns zeigt, woran die Phantasie
des Mythenerfinders sich anlehnte, ist zu unterscheiden von
der späteren übertragenen, symbolischen oder allegorischen
Bedeutung des Mythus als Bestandteils eines abgeschlossenen
religiös-mythologischen Systems,
Das Deutungsproblem geht also über das historisch nach-
weisbare hinaus, es reicht sogar bis an die vor jeder Über-
lieferung liegenden ersten Anfänge der Mythenentwickelung.
Betreten wir nun damit nicht einen allzu unsicheren
Boden, als daß wissenschaftliche Behandlung noch möglich
wäre? Geraten wir nicht geradezu in eine konstruktive My-
1992
. Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
thologie hinein, die der Mythenbildung ein von außen her
hineingetragenes Prinzip zugrunde legt (vgl. Wundt, Mythus 1,
pP. 543; 3, p. 49 ff)? Sind es nicht gerade die willkürlichen
Deutungsversuche gewesen, die der vergleichenden Mythologie
den Stempel der Unwissenschaftlichkeit aufdrückten?
Die Antwort liegt nahe.
So gut wie die Sprachforschung eine indogermanische
Ursprache konstruiert, wie der Prähistoriker an der Hand
objektiv gegebener Funde verschollene Kulturperioden auf-
deckt, der Anthropolog den Spuren des Urmenschen nachgeht,
So muß es auch dem Mythologen gestattet sein, die Urformen
der Mythenbildung sowohl wie die Urform eines gegebenen
Mythus, d. h. seine Naturgrundlage, zu erschließen. Ein a priori
angenommenes Prinzip ist dazu gar nicht nötig, sondern nur
unbefangene Prüfung objektiv gegebener Tatsachen, wie sie
Mythus und Volksglaube in ziemlicher Fülle darbieten !.
Das Aufsuchen einer „Grundbedeutung“ steht nun schein-
bar im Widerspruch mit dem Satze, daß jeder Mythus nach
seinem Wortlaut aufzufassen ist, seine Deutung also in sich
selbst tragen muß. Warum soll man einen dahinter verbor-
genen „Grundkern“ suchen, der nicht aus der Erzählung
unmittelbar hervortritt?
Es handelt sich jedoch hierbei gar nicht um einen ver-
borgenen, etwa allegorisch verhüllten Sinn, sondern um die
Erklärung der im gegebenen Mythus vorliegenden Ausdrucks-
form einer als wahr empfundenen mythischen Vorstellung,
Reine Phantasiegebilde ohne irgend eine bestimmte Unter-
lage würden überhaupt keiner Deutung bedürfen, höchstens
einer psychologischen Analyse. Wie will man aber einer
Erzählung ohne weiteres ansehen. ob sie eine reine Phantasie-
*) Auch die mondmythologische Richtung Sieckes und Hüsin ys,
der Wundt neben der panbabylonischen den Vorwurf. konstruktiven Vor-
gehens macht, hat sich ihre Theorie nicht aus den Fingern gesogen, sondern
sie aus tatsächlich gegebenen Befunden abgeleitet. Ihr richtiger Kern wird
durch den Vorwurf der Einseitigkeit nicht berührt, darf jedenfalls nicht un-
geprüft verworfen werden, Denn diese Theorie erklärt wenigstens große und
wichtige Teile der Mythologie zwanglos, was bisher keine andere vermochte,
and hat somit mindestens den Wert einer „guten“ Hypothese. Ob sie halt-
bar bleibt und innerhalb welcher Grenzen, muß die Zukunft lehren.
Kapitel IX. Mythendeutung.
153
schöpfung ist? Es gibt dafür nur ein negatives Merkmal, daß
sich nämlich keine bestimmte Unterlage erweisen läßt.
Dennoch kann sie vorhanden sein.
Bei vielen Erzählungen ergibt sie sich unmittelbar aus
dem Wortlaut. Wird vom Kampf zwischen Sonne und Mond
oder dem Streit der Winde berichtet, wird die Gestalt der
Tiere erklärt oder das Verhältnis des Menschen zur Tierwelt
in Abenteuermärchen oder Verwandlungssagen behandelt, so
wird meist über den Sinn des Ganzen kein Zweifel bestehen.
Der Verdacht, daß etwas anderes dahinter steckt, wird erst
dann sich regen, wenn die Erzählung nicht unmittelbar ver-
ständlich ist, wenn sie unzusammenhängend oder sinnlos er-
scheint, wenn Einzelzüge auffallender, scheinbar grotesker Art
sich in den verschiedensten Mythen des gleichen oder anderer eth-
nischer Gebiete ständig wiederholen, wenn das Wesen der auf-
tretenden Personen unklar bleibt, namentlich wenn von my-
thischen Helden und Gottheiten Dinge ausgesagt werden, die im
Widers pruch zu ihren göttlichen Qualitäten stehen. Wie kommt
Zeus, der Himmelsgott zu so vielen profanen Liebschaften?
Was bedeuten die Zerreißung des Dionysosknaben, die wieder
nachwachsende Leber des Prometheus, die Eselsohren des
Midas, die so häufigen Einsperrungen der Heroinen und
Königstöchter, die Probearbeiten der Helden und deren Ent-
rückungen, zumal sie nicht etwa auf den griechischen Mythus
beschränkt sind, sondern an andern Stellen der Erde in
manchmal auffälligen Analogien wiederkehren?
Die Frage, was sich die Mythenerfinder bei ihren wunder-
lichen und abstoßenden Geschichten gedacht haben, hat ein
eminentes psychologisches wie kulturgeschichtliches Interesse,
Sie hat überhaupt erst den Anlaß gegeben, sich mit der
Mythologie wissenschaftlich oder spekulativ zu befassen.
Schon den Griechen war es ein praktisch wichtiges Problem,
wie es denn komme, daß man von den Göttern Dinge erzähle,
die sie in den Augen ihrer Verehrer sittlich herabsetzen
müßten. Das führte von selbst dazu, dem Mythus einen ver-
borgenen allegorischen Sinn unterzulegen.
Heute wissen wir, daß der Mythus überhaupt nichts ver-
birgt, sondern als wahr Empfundenes schildert, daß aber
Mrytholoe. Bibliothek: Ehrenreich. 13
194
Ä . KEhrenreich, Allgemeine Mythologie.
seine Ausdrucksformen verschieden sind, je nachdem konkret
Sichtbares oder nur Vorgestelltes den Inhalt bildet, daß ferner
durch Verblassen der Grundidee, durch Kombination ver-
schiedener Stoffe, durch Umformungen aller Art, wie sie
Kultus und Religionsentwickelung bedingen, neue abgeleitete
Formen entstehen. Gerade diese sind es, die uns für gewöhn-
lich vorliegen und die nur noch durch die charakteristischen,
festhaftenden, alle Veränderungen überdauernden Naturmotive
ihre ursprüngliche Bedeutung verraten.
Die gegebene Form zeigt uns also meist nur die Außen-
seite der mythologischen Erscheinung. Um sie in ihren
Variationen zu verstehen, müssen wir zu dem Kern vordringen.
Wo dieser offen zutage tritt oder hindurchschimmert, bedarf
es keiner Deutung. Wir müssen dagegen deuten, wo das
Verständnis des Ganzen von seiner Auffindung abhängt, wo
also nicht bloß Analogien festzustellen sind, sondern
Homologien, d. h. innere Verwandtschaften, kurz, wo
das einigende Band für vielfältig wechselnde Formenreihen
zu suchen ist.
Denn nur der Naturkern gestattet scheinbar Heterogenes
auf eine gemeinsame Formel zu bringen. Nur er gibt den
„Generalnenner“ ab, der es ermöglicht, ganze Reihen sonst
problematischer Formen von einem Punkt aus zu erklären,
wie das z. B. in hervorragender Weise beim sog. Mondmythus
der Fall ist.
Nicht jeder Mythus ist Naturmythus, wohl aber müssen
wir jeden, dessen Sinn zweifelhaft ist, auf seinen Naturgehalt
prüfen, weil nur der Naturmythus sichere Merkmale besitzt.
Er bildet den Ausgangspunkt. Erst wenn die Erklärung aus
der Naturanschauung nicht gelingt, sehen wir uns nach
anderen, etwa soziologischen oder animistischen. um!
?) Die Frage wird häufig auch so formuliert: Müssen denn alle Mythen
aus der Natur abgeleitet oder gedeutet werden, warum Beziehungen zur kos-
mischen oder atmosphärischen Umwelt suchen, wo menschliches Handeln
geschildert wird? Von Müssen ist natürlich nicht die Rede.‘ Män muß sich
ja überhaupt nicht mit der Mythologie beschäftigen, tut man es. aber, will man
auf die wichtigen Einsichten nicht verzichten, die sie uns in die Geistes-
entwickelung der Menschheit gewährt, so empfiehlt es sich. da zu beginnen,
wo eine sichere Unterlage vorhanden ist. nämlich bei der Naturmvtholorgie.
Kapitel IX, Mythendeutung.
195
Gewöhnlich aber kommen alle drei Momente in Betracht, in-
dem das naturmythologische denInh alt, das soziologische oder
das animistische die Form bestimmt. Naturvorgänge und Er-
fahrungen lassen sich mythisch eben nur als menschliche Hand-
lungen darstellen, während umgekehrt menschliche Hand-
lungen erst durch Assimilation mit beobachteten wunder-
baren Naturerscheinungen, wie es die himmlischen sind,
mythischen Charakter gewinnen.
Jede Deutung muß naturgemäß die psychologischen
Momente berücksichtigen, sie muß sich innerhalb der Grenzen
des psychologisch Möglichen halten.
Andererseits bedarf die Psychologie selbst einer klaren
Stellungnahme zu den Deutungsfragen. Sie muß die Deutungs-
prinzipien psychologisch zu formulieren suchen, was bisher noch
nicht geschehen ist. Auch Wundt hat diese Seite der Unter-
suchung, wie es scheint absichtlich, vernachlässigt. Verfolgt
man aber, wie gerade dieser Forscher das in so scharfsinniger
Weise getan hat, die mannigfachen Assimilationen, die
zwischen den irdischen und den himmlischen Motiven im
Naturmythus bestehen, so wird man fortwährend vor die
Frage gestellt, welche Züge eines gegebenen Mythus reine
Phantasieprodukte sind, welchen eine bestimmte Naturan-
schauung zugrunde liegt und welcher Art diese ist, was
als himmlisch und was als irdisch zu gelten hat, welche Vor-
stellungen die primitiveren sind und welche den Einfluß des
individuell Dichterischen verraten im Sinne einer bloßen poe-
tischen Ausschmückung. Es darf nicht bloß der Willkür
überlassen bleiben, ob wir einen gegebenen Mythus als einen
Sonnenuntergangs- oder Mondwechselmythus, oder als ein rein
phantastisch erfundenes Heldenabenteuermärchen auffassen
wollen. Wir müssen uns in jedem einzelnen Falle darüber
klar sein, warum das eine oder das andere zutrifft, oder ob
überhaupt eine Entscheidung möglich ist.
So gestatten viele der von Wundt in dem Abschnitte
über die Himmelsmärchen (Mythus 8, p. 207 ff.) gegebenen
und demgemäß jeden Mythus auf seine etwaige Naturgrundlage prüfen.
Genügt diese zur Erklärung, so bedarf es keiner anderen, solange solche
nichts besseres leistet. Vgl. E. Siecke, Myth. Briefe, p. 16 £,
19*
196 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Beispiele eine ganz andere Deutung und damit auch andere
psychologische Interpretation. Die nordwestamerikanische
Sage vom Besuch des Helden im Himmel und seinen Aben-
teuern daselbst ist nur mondmythologisch zu verstehen !.
Alle Züge darin entspringen realer Anschauung, nicht bloß
„Phantastisch schwärmender Märchenphantasie“, Von Zügen
des „Truhenmärchens“ finde ich keine Spur. Auch das me-
lanesische Märchen von St. Isabel (n. Codrington), a. a. 0.
p. 286, ist ein echtes Mondwechselmärchen, das keineswegs
so komplizierte Assoziationen voraussetzt, wie Wundt an-
nimmt (p. 287. 2838). Ein sehr charakteristisches Mond-
märchen ist auch das nordwestamerikanische vom Harz-
mann (Mythus 1, p. 387, n. Boas, Sagen, p. 64), der an der
Sonne zerschmilzt, was aus neu- und altweltlichen Parallelen
unzweifelhaft hervorgeht. Ein typisches Sonnenuntergangs-
märchen ist die kaffrische Erzählung von Sikulumes Ver-
schlingung (p. 241), die nach Wundt kein einziges Merkmal
eines Himmelsvorgangs tragen soll. '
Die amerikanische Erzählung vom Sonnensohn und dem
Tintenfisch (Mythus: 3, p. 284; n. Boas, Sagen, p. 68) ist
dagegen trotz ihrer scheinbaren Einfachheit sehr schwierig
zu interpretieren.
Es würde zu weit führen, näher auf die Deutung dieser
Sagen einzugehen. Es kam nur darauf an zu zeigen, wie
sehr im gegebenen Falle die Meinungen auseinandergehen
können und wie nötig es ist, sich über alle Einzelheiten der
Interpretation Rechenschaft zu geben, wenn man eine solche
Erzählung zum Ausgangspunkt psychologischer oder ver-
gleichender Deduktionen nehmen will.
Wie kommt es ferner, daß n. Wundt (Mythus 38, p. 5)
auf den frühen Stadien der Mythenbildung die Erzählung
nicht in sich geschlossen ist, sondern aus einer phantastischen
Folge von Ereignissen besteht, die ohne erklärliche Motive
anfängt und aufhört? Sollte das nicht oft an dem Betrachter
selbst liegen, der den eigentlichen Sinn, nämlich die Natur-
grundlage der Erzählung, nicht versteht. die freilich oft genug
*) Wobei es allerdings nötig ist, sich an das Original (Boas,
Sazen, p. 38 ff.) zu halten.
Kapitel IX. . Mythendeutung, 197
nur schwierig oder ganz im allgemeinen zu ermitteln ist. So
macht die von Wundt (Mythus 8, p. 72) angeführte, ziem-
lich einfältige amerikanische Tierfabel entschieden den Ein-
druck eines Himmelsmärchens, sofern das Kaninchen, das
seine Großmutter in den Korb steckt, deren Gewand umnimmt
und mit seinem ausgerissenen Bein den Bären und seine
beiden Kinder tötet, auf den Mond zu beziehen sein dürfte.
Der Bär wäre dann die Sonne, seine beiden Kinder Morgen-
und Abendstern, die Großmutter der in den Korb der letzten
Sichel gelegte Schwarzmond, während die erste Neusichel
den Hammer oder das ausgerissene Bein darstellt, mit dem
die untergehende Sonne (der Bär) getötet wird. Diese Deu-
tung ist natürlich ganz unverbindlich, beansprucht aber Be-
rücksichtigung, weil sie alle in der Fabel vorkommenden
Motive deckt und durch eine Reihe von Parallelen zu stützen
ist. Nach Wundt führt von den spärlichen (?) Zwillings-
mythen der Naturvölker, die der Doppelheit der Gestirne,
Sonne und Mond, ihren Ursprung verdanken, keine Brücke zu
den Zwillingsheroensagen, den Freunden- oder Feindespaaren
der Kulturmythologien (Mythus 8, p. 278. 288). Sollte der
Versuch, diese Brücke zu schlagen, vielleicht nur darum nicht
gelingen, weil der Mytholog die bereits dafür vorliegenden
Vorarbeiten und Materialien, wie sie z. B. von Hahn für
die Gestalten des Theseus und Peirithoos, Dietrich und
Wittig geliefert hat, einer Prüfung nicht für wert hält? Die
Brücke ist schon geschlagen, nur scheut man sich. sie zu
betreten,
Erscheint uns ein Mythus als eine Aneinanderreihung
phantastischer Abenteuer, eines oder mehrerer Helden, wie
etwa die Herakles- oder die Argonautensage, so ist er durch
eine einfache Einreihung in die Kategorie der Abenteuer-
märchen nicht erklärt. Was uns interessiert, .ist die Art
dieser Abenteuer im einzelnen, das Wiederkehren der gleichen
Abenteuer in ähnlichen oder ganz anderen Zusammenhängen
an den verschiedensten Punkten der Erde. Was bedeutet,
um eine der häufigsten Perioden herauszugreifen, der Drachen-
kampf mit dem oft damit verbundenen Motiv der Jungfrauen-
befreiung? Warum sind diese Ungeheuer so oft doppel-, drei-,
L98
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
neun- oder zwölfköpfig, wo die irdischen doch höchstens
einköpfig zu sein pflegen? Warum schlüpft der unverletzte
Held haarlos heraus? Was bedeutet die so oft erwähnte
Rettung aus dem Erdloch, in das ihn seine Feinde gestürzt
haben, mit den Motiven der Seitenhöhle und des Hausein-
sturzes (Typus: Simson, mit alt- und heuweltlichen Varianten),
ferner die Blendung einäugiger Riesen und Dämonen (Poly-
phem), der Schuß des Blinden (Typus: Hödur) ?
Ist es angesichts so.weit verbreiteter Parallelbildungen,
wie sie z, B. Stucken in überwältigender Fülle zusammen-
gestellt hat, wirklich so ungereimt, sie aus gemeinsamer
Naturgrundlage zu erklären, anstatt aus einer vor Jahrtau-
senden um die Erde gegangenen „mythologischen Welle“?
Der Anteil der direkten Entlehnung bezw. Wanderung der
Motive wird sich nur aus vergleichenden Spezialuntersuchungen
feststellen lassen, aber die selbständige Entstehung solcher
Vorstellungen von vornherein auszuschließen, geht nicht an,
wenigstens soweit sich in ihnen himmelsmythologische Grund-
lagen erkennen lassen.
Mag dasMärchen, die Tierfabel, der volkstümliche Schwank
eine freie, phantastische Verarbeitung naturmythologischer
Stoffe oder gelegentlich ganz frei erfunden sein, für den
Mythus im eigentlichen Sinne, dem ein Wahrheitsgehalt
innewohnt, in dem Götter oder übermenschliche Wesenheiten
auftreten, als Gestalten des Glaubens, in denen Ideale des
ganzen Volks sich verkörpern, muß stets eine bestimmte reale
Grundlage als Kristallisationspunkt angenommen werden,. die
eben diesen Wahrheitsgehalt bedingt und diese ist, da es sich
um himmlische Wesen handelt. zunächst am Himmel zu
suchen 1.
Noch heute sehen wir die wunderbaren Vorgänge sich
am Himmel‘ abspielen, die auf der Stufe kindlicher Natur-
betrachtung in Form des Mythus wiedergegeben wurden,
') Deshalb betrachten auch die nordamerikanischen Indianer ihre Himmels-
mythen als die wahren Geschichten, im Gegensatz zu den Tiermärchen
und den pädagogischen Zwecken dienenden Abenteuererzählungen, worauf
Wundt selbst aufmerksam macht.
Kapitel IX. Mythendeutung.
139
während wir sie heute in das Gewand mathematischer For-
meln kleiden *.
Das natürliche Komplement des Himmels bildet die Unter-
welt, der die himmlischen Wesen gleichfalls angehören, wenn
sie unter dem Horizont versinken, die aber auch mythisch
an Stelle des Sternhimmels treten kann.
Derselbe Wahrheitsgehalt kommt auch solchen Mythen
zu, die mit dem Seelenglauben, dem Traumleben und dem
Schamanismus zusammenhängen, weil der primitive Volks-
glaube in allen übersinnlichen Erscheinungen Realitäten sieht
und jedes Individuum diese Realität an sich selbst erfahren
hat und täglich wieder erfährt.
Fast immer gesellen sich hierbei aber auch naturmytho-
logische Vorstellungen hinzu. So erhält das Hinabsteigen
einer Seele in die Unterwelt, ihre Zurückführung und Apo-
theose, ihre mythische Form durch das Vorbild der Mondent-
rückung und Wiederkehr oft in Verbindung mit dem analogen
Phänomen des Venusgestirns, dessen „Höllenfahrt“ nicht nur
in Babylonien, sondern auch in Mexiko, wie uns Seler gezeigt
hat, zu einem mythologisch so hoch bedeutsamen Moment ge-
worden ist.
Wenn wir also bei der Mythendeutung zunächst von der
Himmelsmythologie ausgehen, so beruht das nicht auf einer
vorgefaßten Meinung, daß alle Mythen und Märchen Himmels-
mythen sind, sondern
1. auf der einfachen Überlegung, daß eine Erzählung von
Taten und Schicksalen übermenschlicher Wesen, die größtenteils
Personifikationen von Himmelsmächten sind, höchstwahrschein-
lich auf himmelsmythologischen Vorstellungen beruht;
9. auf der Tatsache, daß viele Mythen sich ausgespro-
chenermaßen auf Himmelsvorgänge beziehen;
3 auf der Erfahrung, daß himmelsmythologische Züge
und Motive weit durchsichtiger und gegen sekundäre Ver-
änderungen widerstandsfähiger sind als andere,
Oh sich im Einzelfalle der Mythus wirklich als Himmels-
mythus erweist oder nicht und welche himmlische Erschei-
1) Beck, Die Nachahmung, p. 50.
200 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
nung ihm zugrunde liegt, ist eine Frage für sich. Die Haupt-
sache ist, daß wir in der Himmelsmythologie einen gesicherten
Angriffspunkt besitzen, der wenigstens einen Teil, und zwar
gerade den religionsgeschichtlich wichtigsten, der Probleme
lösbar macht. Unsere Aufgabe ist, zu untersuchen, wie weit
wir von dieser Basis aus kommen.
Mit einer gewissen Berechtigung erhebt Gruppe Ein-
spruch gegen unkritische N aturdeutungen, wenn er sagt: „Es
wird in irgend einem Mythus ein Zug auf den Söonnengott
bezogen und dann gefolgert, daß alle Mythen, in denen der-
selbe Zug vorkommt, ebenfalls solare Bedeutung haben. So
sollen Mythen, in denen Herden geraubt werden, mythischer
Ausdruck für die Erbeutung der Sternenherde durch die Sonne
sein“. Ob Seeck, gegen dessen solar-mythologischen An-
Schauungen in seinem Werke über den Untergang der antiken
Welt sich diese Kritik richtet, wirklich so unwissenschaftlich
verfahren ist, bleibe dahingestellt. Der ethnologisch geschulte
Forscher, dem die volkstümlichen Anschauungen über die
Gestirne geläufig sind, wird die Deutung eines Einzelmythus
nur auf Grund umfassender vergleichender Vorstudien unter-
nehmen, die ihn lehren, welche Motive und Kinzelzüge für
die Himmelskörper charakteristisch sind und dem realen
Natureindruck entsprechen.
Vergleicht man eine Reihe von Mythenmärchen verschie-
dener Völker niederer Kultur, die sich ausdrücklich auf
Sonne und Mond beziehen, also etwa das gegenseitige Ver-
hältnis dieser Himmelskörper zum Gegenstand haben, so er.
hält man unmittelbar die Naturbedeutung einer Reihe von
Motiven, die den einzelnen Phasen jenes Naturvorgangs ent-
sprechen. Solche sind z. B. das Verschlungen- und Wieder-
belebtwerden, Hautwechsel und Hautabziehen oder Verkleidung,
Blendung oder Gesichtsdefekt einer Person, das Schwärzen,
Verbrennen, Zerstückeln eines Wesens, Weben und.Wieder-
auftrennen eines Gewands, die Geburt auf widernatürlichem
Wege (Durchbrechen der mütterlichen Seite oder Schenkel-
geburt), Erzeugung eines Wesens aus der Rippe usw. Werden
solche Züge vom Monde ausgesagt oder auf eine Persönlich-
keit bezogen, die durch Namen, mythischen Charakter oder
Kapitel IX. Mythendeutung.
201
Attribute auf den Mond hinweist, wozu auch die Mondtiere
gehören, und entspricht die Reihenfolge und kausale Ver-
knüpfung dieser Motive den am Monde beobachteten Erschei-
nungen, so sind sie mit völliger Bestimmtheit als Mondmotive
erkannt.
In ähnlicher Weise stellen wir Sonnenmöotive fest, wie
das Verschlingen von Mond und Sternen, die Rolle der Sonne
als Wolkenhirt, die Dienstbarkeit und Abwanderung, die erd-
umspannenden Schritte, den Haarverlust als Schwächezustand,
die Ausstattung mit Pfeilen und Stacheln (Stachelsitz, Be-
ziehungen zu Stacheltieren), . goldene Gewänder, Schmuck-
stücke, Wagen (einrädrig!), der dämonentötende Glutstein usw.
Daß Sonnen- und Mondmotive nicht immer klar geschieden
sind, sondern mannigfache Angleichungen erfahren, liegt in
der Natur dieser Körper begründet. Verschlingung, Feuer
oder Gold charakterisiert bekanntlich beide Wesenheiten.
Ebensolche Angleichungen bestehen zwischen Mond und
Venus. Diese ist als Morgenstern das Herz oder die Seele
des sterbenden Mondheroen oder die vom Monde aus der
Unterwelt zurückgeführte Seele. Morgen- und Abendstern
sind Geschwister, Sonnensprößlinge, die fackeltragenden An-
treiber oder Verscheucher der Sterne u. dgl. Im allgemeinen
ist die Rolle des Venusgestirns im Märchen weit mannigfaltiger
wie im Mythus. Sie kann hier wie dort meist indirekt aus
dessen Verhältnis zu Sonne und Mond erschlossen werden,
Alle diese Motive von sicher belegter himmelsmythologischer
Bedeutung kehren nun in Erzählungen ganz irdischen oder
unbestimmten Charakters wieder, was darauf hindeutet, daß
es sich bei diesen um Projektion himmlischer Vorstellungen
auf die Erde handelt. Je durchsichtiger die Motive bleiben,
je deutlicher der Parallelismus zwischen der irdischen und der
himmlischen Handlungsfolge hervortritt, um so wahrschein-
licher ist diese Annahme.
Nicht selten verraten solche Erzählungen ihr himmlisches
Urbild schon durch Namen !, Körverbeschaffenheit, Attribute,
ty) Es sei jedoch hier schon bemerkt, daß die Bedeutung mythologischer
Namen und Persönlichkeiten sich im Verlauf der Entwickelung häufig ändert.
Die Auslegung, die der Mythenerzähler gibt. oder die zur Zeit der Aufzeich-
202
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Taten und Schicksale der auftretenden Hauptpersonen, Gold-
haar, sonnenglänzendes Antlitz, Feueratem, goldene, silberne,
sternbedeckte Kleider, Nebelkappen usw. deuten an sich schon
auf eine Sonnen- oder allgemeine Himmelsqualität des Helden,
während Mehrköpfigkeit, Einäugigkeit, Hörner, Schlangenhaar,
Hohlheit des Körpers wie überhaupt Körperdefekte und Haut-
abnormitäten spezifisch lunare Kennzeichen sind, doch kann
in seiner gutartigen Gestalt das Mondwesen auch durch be-
sondere Schönheit, Gold- oder Silberhaar (Goldkamm!), Silber-
schmuck oder Kleidung ausgezeichnet sein.
Will man solche Gestalten. nicht als einfache Phantasie-
gebilde ansehen, so bleibt nur die Annahme einer himmels-
mythologischen, bisweilen freilich auch erst durch Traumvor-
stellungen vermittelten Grundlage übrig.
Diese Hypothese wird dann meist durch weitere Züge des
Mytheninhalts unterstützt, oft sogar überraschend bestätigt,
Zu beachten sind dabei die genealogischen Verhältnisse
der Hauptpersonen. Sind Mond und Sonne in ihrer mythischen
Rolle klar, so sind deren Abkömmlinge entweder einfache
Wiederholungen ihres Wesens, also ebenfalls Mond- und Sonnen-
personifikationen, oder sie vertreten Erscheinungen, die mit
nung im Volke lebte, braucht nicht mehr die ursprüngliche zu sein. Sie ist viel-
mehr oft erst durch Ideenassoziation aus der Urbedeutung abgeleitet. Die
volkstümliche Auslegung ist insbesondere dann nicht maßgebend, wenn sie der
Konstanz entbehrt, was immer Unsicherheit der Tradition beweist oder wenn
sie dem Mytheninhalte widerspricht. In den Märchenmythen der Naturvölker
sind. solche Abweichungen überaus häufig, ohne aber deshalb immer unver-
einbar zu sein. Wenn z. B. die heutigen Irokesen die Ataöntsik, die Mutter
ihrer Brüderheroen, als die Dämmerung oder das „Dämmerungsweib“ auf-
fassen, während ihre mythischen Züge durchaus die eines Mondwesens sind,
was der älteren Überlieferung entsprechen würde, so liegt darin kein Wider-
spruch, da beide Deutungen dem gleichen Vorstellungskreise angehören. Von
altweltlichen Analogien sei die indische Himmelskuh erwähnt, in der die Vor-
stellungen von Mondsichel und Morgenröte sich verbinden, ferner die Ver-
wandtschaft von Eos und Selene (n. Hüsing), die enge Beziehung Apollos
zum Dämmerungswolf. In anderen amerikanischen Mythen wird dieselbe
Person nicht nur des gleichen Mythenkreises, sondern auch in Varianten der
gleichen Sage, auf Sonne, Mond oder Morgenstern gedeutet, bei anderen
wechselt die Bedeutung von Feuer, Donner, Feuerstein, Stern usw. Was hier
das Ursprüngliche ist, wird sich immer nur aus einer genauen Analyse des
Mytheninhalts erkennen lassen. Oft genug bleibt aber ein non liquet.
Kapitel IX. Mythendeutung.
203
jenen vergesellschaftet sind, wie Morgen- und Abendstern oder
die Auroren, was durchaus der volkstümlichen Naturauffassung
entspricht.
Gehört nun, wenn auch zunächst nur hypothetisch, das
Urbild des Mythus in den Bereich der Himmelserscheinungen,
so erhalten wir deren nähere Bestimmung, wenn es gelingt
wenigstens das Hauptmotiv der Erzählung mit irgend einem
auffälligen Phänomen des Himmels in Verbindung zu bringen
und zu zeigen, daß es nur im Zusammenhang mit diesem
einen Sinn gibt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Kreis
der in Frage kommenden Phänomene nur ein beschränkter
ist. Erfahrungsgemäß handelt es sich meist nur um Variationen
verhältnismäßig weniger Grundthemata, wie Mondwechsel,
Tages- und Jahreslauf der Sonne, Venusvorübergang und die
damit assoziierten Erscheinungen des Luftraumes, Wetter-
mythen tragen in der Regel die Deutung in sich selbst. Es
kommt darauf an zu prüfen, ob eine dieser Erscheinungen
die wichtigsten Züge der Sage deckt und ob eine psychologische
Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhanges von Motiv und Er-
scheinung besteht.
Dafür liegen nun manchmal ausdrückliche Zeugnisse in
den Varianten oder im Charakter und Handeln der mythischen
Persönlichkeiten vor, oder endlich das Motiv erklärt sich selbst,
sofern es überhaupt aus der himmlischen Sphäre hergeleitet ist.
Motive wie die Enthauptung mit dem Wiedernachwachsen
der Köpfe, das Verschwinden einer Person beim Umsehen des
Partners (Typus: Orpheus und Urvacı), die verbotene Kammer
(Typus: Blaubart, Marienkind), die Kesselprobe, die unterge-
schobene Braut, das Verspielen und Wiedergewinnen von
Gliedern, die magische Empfängnis und Geburt, die Einsperrung
einer Heroine in den Turm werden fast niemals ihre Ab-
leitung aus Mondvorstellungen verkennen lassen, während
andere von Natur mehrdeutig sind und besonderer Prüfung
bedürfen.
Die Umformungen der ursprünglichen Naturelemente
können aber soweit gehen, daß wir mit den aus einfachen
Himmelsmärchen gewonnenen Aufschlüssen nicht mehr aus-
kommen. So lange eine Erzählung am Natursubstrat haftet,
204 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
ist ihre Variationsbreite beschränkt. Je weiter aber die Ver-
menschlichung der Persönlichkeiten geht, um so mehr paßt
sich auch die Handlung den menschlichen Daseinsformen und
Erlebnissen und Affekten an. Damit entstehen neue Motiv-
reihen, die sich immer weiter von der Naturgrundlage ent-
fernen. In vielen Fällen wird hier jeder Deutungsversuch
vergeblich sein, wenn uns nicht die Vergleichung Anhalts-
punkte gibt. So hat sich z. B. das aus der Lohengrin- und
Melusinensage bekannte Motiv der Frage nach der Her-
kunft als mythisch gleichwertig dem Motiv des Um-
schauens erwiesen. Der Einzelmythus hätte uns das niemals
verraten. Aber selbst aus diesem lassen sich manche Motive
unmittelbar als himmlische erkennen, wenn wir uns nur fragen,
wo das, was das Motiv anzeigt, konkret sichtbar sei. Wir
brauchen nur die Augen zu öffnen, um zu sehen, welche Er-
scheinung der Natur uns Motive wie die unerschöpfliche
Speise, das von selbst sich füllende, unentleerbare Gefäß, das
wachsende Gold, die, Fütterung des Rosses mit dem Fleisch
des Reiters usw, handgreiflich darstellt, selbst wenn wir die
volkstümlichen Mondvorstellungen übersehen wollen.
Das Motiv der Preisjungfrau beim Drachenkampf wird
jetzt mit Recht auf das Venusgestirn gedeutet, das während
des Kampfes, d, h. der Konjunktion von Sonne und Mond,
neben den Kämpfern am Himmel steht oder bei der Eklipse
dem Kampf des schwarzen Dämons mit der Sonne neben
dieser erscheint. Hieraus erklärt sich auch der häufige Zug
der Verweigerung der Braut und ihres Ersatzes durch eine
andere, Der Sonnenheld verliert den Morgenstern und erhält
statt seiner den Abendstern. Sehr häufig wird der Wechsel
der Himmelsfärbungen im Tagesverlauf zu mythischen Motiven
verwendet. Vergossenes Blut, Ausschütten von Milch und
Pech, Ausbreiten von Tüchern und Zeltdächern, Überflutungen,
(Sintfluttypus), sowie das Erklimmen von Türmen, goldenen
Schlössern, Glasbergen usw. mit magischer Hilfe oder auf
Zauberrossen sind solche im Märchen ungemein häufigen
Himmelsmotive durchsichtigster Art.
Ein unzweifelhaftes Himmelsmotiv ist das der Klapp-
felsen oder Symplegaden. Wundt, der es als rein
Kapitel IX. Mythendeutung.
205
irdisch auffaßt, sieht vom psychologischen Standpunkte aus
darin „die Objektivierung der Furcht beim Passieren enger
Durchfahrten zu Lande oder zu Wasser“, Mythologisch genügt
diese Erklärung nicht, da sie das Sachliche zu wenig berück-
sichtigt. Furchterregend könnte doch nur die Erwartung des
Scheiterns oder Eingeklemmtwerdens sein, Das charakte-
ristische Moment für die Symplegaden ist aber der schnelle
Wechsel des Öffnens und Schließens, das die Benutzung eines
bestimmten Zeitpunktes für die Durchfahrt verlangt, so wie
das Abgequetschtwerden eines Schiffsendes oder Körperteiles.
Wir müssen uns auch hier nach einer realen Vorlage um-
sehen und auf die führt uns die überaus verbreitete Vor-
stellung, daß am Erdrand, wo Himmel und Erde sich berühren,
ein Spalt sich befindet, über dem der Himmel sich erhebt
und senkt. Auf der ganzen nördlichen Hemisphäre ist diese
Idee herrschend. Die Tschuktschen leiten aus dieser klappen-
den Bewegung die Entstehung der Winde ab. Ungemein
ehtwickelt ist das Motiv in Amerika, Im Nordwestgebiet
erzählt man von der auf und zu schlagenden Tür des
Himmelshäuptlings, die dem hindurchpassierenden Monde
Stücke abquetscht oder von dem sich öffnenden Schnabel
eines riesigen Vogels, Dies leitet wieder zu der mexikanischen
Vorstellung vom Erdrachen über, der die Sonne verschlingt
und wieder von sich gibt, Symplegaden und Verschlingungs-
mythen fallen daher auch oft zusammen, indem der Vver-
schlungene Held den Moment abpaßt, wo der Fisch den Rachen
öffnet, gelingt ihm der Austritt. Andere Assoziationen leiten
über zu dem Blitz, der das Himmelsgewölbe plötzlich erhellt,
Eine eigentümliche Umformung zeigt die Algonkinsage von
den vier Brüdern, die beim Aufstieg zum Himmel den Augen-
blick abpassen, wo der Himmel der Erde sich nähert um über
zu springen, wobei der eine in den Spalt stürzt (Tylor, Anf,
d. Kultur 1, p. 3483).
Wegen ihrer Lage am Erdrande bezeichnen die Symple-
gyaden oft ausdrücklich den Eingang zur Unterwelt und bilden
das erste der zahlreichen Hindernisse auf der Höllenfahrt.
Ebenso gehören sie zu den notwendigen Bestandteilen der
Abenteuermärchen von der weiten Meerfahrt (Typus: Argo-
206
‘ Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
nauten), sofern diese auf ein fernes jenseits des Horizonte
gelegenes Land gerichtet ist.
Irdisch sind die Symplegaden also nur in dem Sinne,
daß sie die Übergangsstelle von der Erde zum Himmel einer-
seits und zur Unterwelt andererseits darstellen.
Wesentlich gefördert wird die Motivdeutung durch solche
Erzählungen, die sich in beiden Natursphären abspielen !.
Entweder steigt ein irdischer Held zum Himmel auf, um mit
den dortigen Wesen in freundliche oder feindliche Berührung
Zu kommen, eine Ehe einzugehen, Kämpfe oder Prüfungen
durchzumachen, worauf er freiwillig oder gezwungen, manch-
mal zur Sühne für irgend ein Vergehen (wie z. B. Neugier)
die Heimat wiederfindet, oder ein himmlisches Wesen steigt
zur Erde herab, um einem Helden oder Bedürftigen als Helfer
und Berater zur Seite zu stehen, eine weniger wichtige, aber
in Nordamerika auffallend entwickelte Form, bei der Traum
ınd Visionsmotive stark hervortreten.
Der erste Typus ist der sogenannte Besuch im Himmel
oder der dem Himmel mythologisch gleichwertigen Unterwelt,
die in den altweltlichen Varianten mehr bevorzugt wird. Auch
sin märchenhaftes Land jenseits des Ozeans kann dafür
eintreten.
Die überaus zahlreichen Himmelsreisen der Nordwest-
amerikaner verlaufen nach einem ziemlich gleichen Schema,
dessen Hauptmotive von durchaus himmlischem Charakter
sind, was sich nicht nur aus dem Zusammenhange, sondern
auch aus ihren Analogien in den Himmelsmythen anderer
Völker ergibt.
‘) Ob der Schauplatz ganz oder nur zum Teil irdisch bezw. himmlisch
ist, ist mythologisch irrelevant, weil, wie schon früher bemerkt, jede perso-
nifGzierende Auffassung himmlischer Erscheinungen diesen dadurch von selbst
irdische Qualitäten verleiht. Jedenfalls darf aus der irdischen Natur des
Schauplatzes kein Argument gegen den. himmlischen Ursprung des (Ganzen
entnommen werden.
Ferner ist zu beachten, daß mythische Unterwelt oft = Himmel, be-
sonders Nachthimmel ist und überhaupt zwischen Himmel und Erde my-
‘hisch dieselben unvermittelten Übergänge bestehen, wie zwischen Menschen-
and Tierwelt. Das liegt eben in der Natur des Mythus begründet und ent-
zieht sich logischer Betrachtung.
Kapitel IX. Mythendeutung. 207
Der Held steigt mittelst der Pfeilkette zum Himmel
auf, um die Tochter des dortigen Häuptlings zu freien, trifft
zunächst blinde Frauen, denen er die Speise wegnimmt und
wiederschafft. Er macht sie auch wieder sehend und erhält
dafür ihren Rat, Er gelangt in das Haus der Sonne oder
des Himmelshäuptlings durch die auf- und zuschnappende
Tür (Symplegadenmotiv), entgeht der Gefahr des Stachel-
sitzes?, erhält die Tochter, ein Sonnen- oder Mondwesen, nur
nach Bestehen gewisser weiterer Proben (wie Tierfang).
Der böse Schwiegervater versucht ihn beim Baumfällen in
einen Spalt zu klemmen. In anderen Fällen tut das der
Mond, dessen häßliche Tochter er verschmäht hat. Kin in
den Spalt geschobener Stein rettet ihn. Schließlich wird er
mit seiner Gattin in einem Korbe auf die Erde herabge-
lassen. Eine rote Wolke ist das Zeichen seines Herannahens.
Daran schließt sich dann eine andere Handlungsfolge, die
die Schicksale der Himmelstochter und ihrer Sprößlinge unter
den Menschen behandelt. Alle hier genannten Motive würden
aus rein irdischen Verhältnissen heraus unverständlich sein.
Sie gewinnen Sinn und Farbe nur aus ihrem himmelsmytho-
logischen Gehalt.
Die Motive der. Pfeilleiter und des Stachelsitzes
(Sonnenstrahlen und Stacheln), sowie des herabgelassenen
Korbes in der roten Wolke (Mondsichel in der Abendröte)
sind unmittelbar aus der Naturerscheinung abgesehen.
Schwieriger ist die Erklärung der Baumspalte mit der
Steineinklemmung, doch läßt die häutige Beteiligung
des Mondes dabei auf ein Mondmotiv schließen (Sichel und
Venus in der Konjunktion). Analogien liefern die ebenso ge-
deuteten eingeklemmten Zwerge der indischen und euro-
päischen Märchen. Das Unschädlichmachen durch den Stein
findet sich auch verbunden mit dem merkwürdigen, über die
Nordhemisphäre verbreiteten Motiv der gezähnten Vagina,
der Sonnen- oder Mondtochter, das in vielen der Himmelsbesuchs-
mythen gleichfalls als Heldenprobe verwendet wird. Man könnte
‘) Eine interessante Analogie zu dem Sitz, auf dem Theseus und Peiri-
thoos bei ihrem Besuch im Hades festgehannt werden.
208
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
hierbei aber auch an eine Abart des Symplegadenmotivs denken.
Eine völlige Klärung der Frage ist noch nicht möglich.
Daß die blinden Frauen und die Wegnahme ihrer
Speiseschüsseln mit der Dunkelform des Mondes zusammen-
hängen, ist dagegen im höchsten Maße wahrscheinlich.
Wir finden nämlich das gleiche Motiv in einem unzweifel-
haften Mondmythus der polynesischen Insel Nauru (mitgeteilt
vonBrandeisinBastians ethnologischem Notizblatt 3, p. 111),
Sie handelt von der Himmelfahrt der Mondbraut, d. h. der
im Monde sichtbaren weiblichen Gestalt. Diese trifft zuerst
die blinde Großmutter des Mondes, der sie nacheinander die
Speiseschüsseln fortnimmt und sie dann, um ihren Zorn zu
beschwichtigen, wieder sehend macht. Daß diese Schüssel
nur die wechselnden Phasenfiguren des Mondes sein können,
liegt auf der Hand, ebenso wie die unverkennbare Ähnlich-
keit dieses Motivs mit dem Phineusmotiv der griechischen
Argonautensage, das deren lunare Deutung in hohem Maße
unterstützt.
Die Sage von Nauru, die das Motiv weit treuer bewahrt
hat, wie die amerikanische, schließt sich insofern an die
europäischen Typen der Himmelsreise an, als sie wie diese
mit dem Besuch im Hause des Ogern verbunden ist. Der
Oger ist hier der Mond selbst, in Europa tritt auch die Sonne
als solcher auf. Noch häufiger ist; es dort die Hexe mit ihren
Verwandlungskünsten, die schließlich verbrannt wird oder
mit glühenden Schuhen tanzen muß, ‚wie die Mondsichel über
dem Feuer der Sonne auch ganz korrekt dem Augenschein
gemäß andeutet. So-lassen sich denn über die ganze Erde
hin.solche überaus festhaftenden, der realen Naturanschauung
entsprechenden. Züge in immer wieder neuen Kombinationen
und phantastischen Assoziationen nachweisen, was unmöglich
bloßer Zufall sein kann, sondern auf Gleichheit des Naturkerns
beruhen muß...
Für die Entlehnungstheorie bleibt ‘dabei; noch Spielraum
genug. So ist z. B.-die bei den Araukanern Südamerikas
auftretende Form des Himmelsbesuchs unverkennbar aus dem
Norden entlehnt, wenn auch der Verbreitungsweg noch völlig
Kapitel IX. Mythendeutung.
209
dunkel ist. Von den andern südamerikanischen Formen läßt
sich das aber durchaus nicht sagen‘.
Das Vorstehende mag genügen, um zu zeigen, daß die
von Gruppe in dieser Allgemeinheit gegen die solaren oder
lunaren Deutungen erhobenen Einwände hinfällig sind, daß
von einer Willkür hierbei nicht die Rede ist, wenn wir nur
den Grundsatz festhalten, daß nur solche Deutungen, die mög-
lichst viele Einzelzüge der Sage erklären, Anspruch auf An-
erkennung haben und daß in jedem Fall Sinneseindruck und
Mytheninhalt sich entsprechen müssen. Je weniger das der
Fall ist, um so zweifelhafter bleibt die Deutung.
Aus einem vereinzelten Naturmotiv ist natürlich zunächst
nichts zu schließen, aber die Erfahrung lehrt, daß, wo eins
vorhanden ist, sich meist bei genauerer Prüfung noch andere
vorfinden oder aus den Varianten erkannt werden.
So gelingt es manchmal fehlende Beziehungen zu Natur-
erscheinungen nach der Theorie hypothetisch vorauszube-
stimmen, die dann bei Erweiterung des Materials bestätigt
werden. Ein derartiger Fall wurde bereits erwähnt. Für die
nordwestamerikanische Rabensage war dem Zusammenhange
nach anzunehmen, daß die Tochter des Himmelshäuptlings,
die den in eine Tannennadel verwandelten Raben verschluckt
und als Kind wiedergebiert, der Mond sein mußte, was die früher
bekannten Fassungen nicht andeuteten. Durch Swanton
(Haida, p. 209) ist aber eine neue Variante bekannt geworden, die
dies ausdrücklich angibt. Ebenso ist die Vermutung, daß der
menschenfressende Schädel, der in so vielen Sagen der Prärie-
stämme eine Rolle spielt, der Mond sei, durch eine neue Pani-
Version bestätigt worden, nach der der Schädel zerschlagen
und aus seiner einen Hälfte der Mond, aus der anderen. die
Sonne gemacht wird, sodaß wir hier die beiden himmlischen
„Ogern“ nebeneinander vertreten finden ?.
') Ehrenreich, Mythen und Legenden, p. 49.
?) Ob es sich hierbei etwa um eine sekundäre Übertragung von Mond-
vorstellungen auf den Schädel handelt, ist Ansichtssache und mythologisch
vollkommen bedeutungslos., Jedenfalls ist die Auffassung des Mondes als
Schädel, oder als aus Totengebein bestehend, eine sehr verbreitete, auch
dichterisch verarbeitete, wie der bekannte Hymnus O, Jordans an den Mond,
den „Himmelstotenkopf“, beweist,
Myvtholoz. Bibliothek: Ehrenreich.
210 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Gänzliches Fehlen von Naturmotiven oder deren Unkennt-
lichkeit spricht nicht unbedingt gegen ihr ursprüngliches
Vorhandensein, denn der Mythus kann an besondere uns
unbekannte lokale Naturverhältnisse anknüpfen oder symboli-
sierende Umdeutungen erfahren haben, die nur durch längere
Vergleichsreihen zu überschauen sind und wo diese mangeln,
uns unverständlich bleiben müssen, Der negative Beweis,
daß ein Mythus nichts mit der Natur zu tun habe, läßt sich
wohl nur ganz ausnahmsweise führen. Hüsings bekannte
These, es gebe keinen Mythus von dem man beweisen könne,
daß er kein Mondmythus sei, erscheint mir methodisch nicht
zulässig. Vor allem ist sie unnötig, da das Vorhandensein
von Sonnen- oder Wettermythen der überragenden Bedeutung
des Mondes nicht wesentlich Abbruch tun würde.
Manche Motive von fast universeller Verbreitung gestatten
noch keine sichere Deutung, weil sie in ganz verschiedenen
Zusammenhängen auftreten und wohl überhaupt schon von
Natur mehrdeutig sind, indem sie verschiedenen Vorstellungs-
inhalten entsprechen, Dennoch ist eine Naturgrundlage viel-
fach unverkennbar, unentschieden bleibt nur, welcher Art
sie ist,
Das Motiv der Lähmung oder Beinwunde (Bein-
und Sehnenabschneiden) wird häufig auf die Sonne oder Wesen
von solarem Charakter bezogen. So berichten viele amerika-
nische und polynesische Mythen, wie der Sonne ein Bein abge-
schnitten wird, um ihren Lauf zu verlangsamen. Der Held
fängt sie vorher im Netz (Motiv: Sonnenfang). Die Natur-
grundlage ist offenbar der Sonnenstillstand an den Wende-
punkten oder ihre verlangsamte Bewegung zur Mittagszeit,
In anderen Fällen ist die gelähmte oder verstümmelte Person
aber unzweifelhaft der Mond, wie der mexikanische Tezcatlipoca
und der durch Knieverwundung sterbende Tsui Goab der
Hottentotten, der bei den Bakairi Brasiliens in dem mythischen
Jaguar?!, dem Pflegevater der beiden Kulturheroen, sein Gegen-
stück hat oder ein als Mond gefaßtes Himmelswesen, wie Zeus
im Typhonkampf, vielleicht auch die gelähmten Schmiede,
1) v. d. Steinen, Naturv. Zentr. Bras. p. 8375. Über die verwandten
australischen Wesen s, P. W. Schmidt, Z. f. Ethn. 40, p. 895.
Kapitel IX. Mythendeutung., 211
wie Hephaistos und Wieland. Es handelt sich also hier um
die Mondverstümmelung, ob dabei der Hellmond als Knie,
der Schwarzmond als die ausgeschnittene Stelle der Sehnen
defekt gefaßt wird, bleibt noch streitig.
Die Hüftverrenkung beim Jakobskampf, die von vielen
ebenfalls auf die Beinwunde der Sonne oder des Mondes be-
zogen wird, gehört wahrscheinlich einem ganz anderen Vor-
stellungskreise an, nämlich dem des Alptraums, wie das
Roscher in seinem ‚Ephialtes‘ überzeugend dargelegt hat.
Die äußerst gezwungene Erklärung Sal. Reinachs (Revue
des etudes ethn. et soziol. 1, p. 8338 ff.) übersteigt meine
Fassungskraft, Auch die Blendungen sind nicht einheit-
lich zu deuten, Die Neumondbeziehung ist am klarsten, wenn
die Wiedergewinnung des Gesichts unter Verhältnissen er-
wähnt wird, wie wir sie beim Phineus- oder blinde Frauen-
motiv kennen gelernt haben. Interessante untereinander
analoge aber nicht homologe Formen sind das versetzte Auge
Wotans und das weggewanderte und durch ein neues ersetzte
Auge des. Re in dem altägyptischen Mythus. Für die Orion-
und Kyklopenblendung ist diese Deutung jedoch nicht sicher,
Geblendet wird außerdem auch das Venusgestirn in seinen
beiden Formen, wie überhaupt jede Sternverdunkelung durch
Sonne oder Mond als Blendung gefaßt werden kann. Mythische
Blendung von Astralwesen ist im allgemeinen Unsicht-
barkeit. Sie kann, wie wir jetzt sicher wissen, auch durch
die Motive der Dummheit und Stummheit ersetzt werden,
die in unsern Märchen eine so wichtige Rolle spielen*.‘ ":-.
Von den sogenannten soziologischen Motiven reicht
ein Teil ebenfalls in die Natursphäre hinüber, verdient also
jene Bezeichnung nur bedingt. Das gilt namentlich für das
Motiv der Proben, denen der Held sich unterziehen muß,
um von seinen Ahnen anerkannt zu werden oder ein Weib
zu gewinnen. Seiner Form nach geht es natürlich auf die
uralte Sitte der Brautwerbungsproben zurück und ist insofern
soziologisch. Als solches kann es aus dem menschlichen
Kreis auf den himmlischen übertragen werden. Die auffallende
1) Zahlreiche Beispiele bei Friedrichs, a. a, 0.
212
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Häufigkeit der Kesselprobe, aus der der Held unverletzt oder
wieder verjüngt hervorgeht, deutet an sich schon auf den am
Feuer der Morgenröte über der Sonne hängenden Mondkessel
und diese Vermutung wird bestätigt, wenn in einzelnen Fällen
diese Art der Probe ausdrücklich auf den Mond bezogen wird.
Auch die Schwitzhäuser und Schreckenskammern der ostasiati-
schen und amerikanischen Mythen (z. B. Navaho und Kitsche
[im Popol Vuh]) sind nur phantastische Ausgestaltungen dieses
Motivs,
Ähnlich verhält es sich mit dem merkwürdigen Motiv
des Lausens, das ebenfalls auf einer in die Urzeit zurück-
reichenden Sitte beruht. Mythologisch ist aber der Umstand
wichtig, daß das Motiv ein wesentliches Moment der Oger-
sage bildet... Die Betonung des Parasitenbehaftetseins gerade
dieser Gestalt ist nur erklärlich, wenn wir den Mond als ihren
Grundkern erkannt haben. Diese Eigenschaft gehört wie
der Augenschein lehrt, zum Wesen des Mondes und der ihm
verwandten Gestalten der Unterwelt (z. B. Charon). )
Rein soziologisch scheint das bekannte Motiv des Kampfes
zwischen dem Vater und dem unerkannten Sohn zu
sein (Hildebrand und Hadubrand, Odysseus und Telephos und
ihre polynesischen und amerikanischen Parallelen), ebenso
das Motiv der Vaterwahl. Ein Kind diskreter Geburt erkennt
aus der Schaar der versammelten Stammesgenossen seinen
Vater heraus, indem es Speise oder Waffen von ihm annimmt,
Europa, Asien, Nord- und Südamerika*. Hier liegt sicherlich
ein alter, in primitiven Eheverhältnissen (Gruppenehe) be-
gründeter Brauch vor, was direkt durch die Tatsache be-
wiesen wird, daß die in Polyandrie lebenden Toda in Süd-
indien bei Geburt eines Kindes noch heute eine derartige
Zeremonie veranstalten.
Der Naturkern eines Mythus muß, wenn unsere psycho-
logischen Voraussetzungen richtig sind, immer ein einfacher,
der naiven Weltbetrachtung angemessener Gedanke sein, d. h.
er muß sinnlich reale, noch heut unmittelbar wahrnehmbare
') Ehrenreich, Mythen und Legenden, p. 62, 95.
Kapitel IX. Mythendeutung,
313
Erscheinungen ausdrücken, Er muß ferner auf alle Motive des
einfachen Mythus passen und womöglich alle Einzelheiten
erklären. Es darf also nichts Allegorisches oder Spekulatives
in der Grundidee enthalten sein, sondern nur unmittelbar
wirklich Erschautes,
Das Verdienst, dieses Grundgesetz aller Mythologie zum
erstenmal klar formuliert und konsequent angewendet zu
haben, gebührt Eduard Siecke.
Freilich werden diese Anforderungen nicht immer Voll-
ständig zu erfüllen sein, je mehr sie aber erfüllt werden, um
so sicherer ist die Deutung.
Siecke ging von der Voraussetzung aus, daß nur körper-
lich reale, d. h. scharf abgegrenzte, formhafte Dinge, wie
etwa Sonne und Mond (oder auch wohl gewisse auffällige
Konstellationen), ein mythisches Substrat abgeben können.
Danach wäre der älteste, sagen wir der „urzeitliche“ Mythus
ausschließlich an die Erscheinungen von Sonne und Mond
gebunden. Das mag, da wir ja über eine Urzeit unmittelbar
nichts aussagen können, dahingestellt bleiben. Notwendig
ist diese Annahme jedoch nicht.
Was uns heut unkörperlich erscheint, kann nämlich sehr
wohl für die naive Auffassung der Vorzeit etwas Körperliches
gewesen sein. Wir können das für Erscheinungen, wie Licht-
strahlen, Schatten, Nebelgebilde, Wolken, Nordlicht, Regen-
bogen, Dämmerung, Aurora, selbst Finsternis, direkt aus dem
Volksglauben belegen. Durch assoziative Verbindung mit den
festbestimmten Gestalten von Sonne, Mond, Venus gewinnt
die körperliche Apperzeption jener Phönomene noch einen
besonderen Rückhalt. Das Postulat einer realen Unterlage
würde also auch in solchen Fällen gewahrt sein, Vor allem
darf nicht vergessen werden, daß auch, wenn wir der Ein-
bildungskraft des Primitiven nicht allzuviel zumuten dürfen,
die Hauptmasse unserer Mythen und Märchen erst entstanden
ist, als die menschliche Phantasie schon lebhaft entwickelt
war, als die Sprache längst gewohnt war, Angeschautes in
mehr oder weniger bildlicher Form auszudrücken und die
personifizierende Auffassung nicht nur direkt Wahrgenom-
menes. sondern auch bloß Vorgestelltes in ihren Bereich zog,
214
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie:
Die Entwickelung der Mythologie ist eben durch das Erwachen
der Phantasie bedingt.
Wir dürfen daher den Anschauungskreis, dem der Urkern
im gegebenen Falle entstammt, nicht von vornherein allzu-
sehr einschränken wollen.
Auf den Naturkern führen die mythologischen Motive,
deren Naturbeziehung sich aus den volkstümlichen Vorstel-
lungen über die einzelnen Naturerscheinungen ergibt, die also
immer dem allgemeinen Weltbild entsprechen müssen. Dieses
wechselt je nach dem Stande der menschlichen Gesamtkultur,
des Zeitalters, dem der Mythus seinen Ursprung oder seine
jeweilige Form verdankt, So wird der Himmelsmythus, sobald
eine Art Kalenderwissenschaft entwickelt ist, einen anderen
Charakter tragen als auf der Stufe des naiv wilden Geistes-
zustandes, Daher sind auch unsere Märchen nicht ohne
weiteres denen der Naturvölker kommensurabel.
Von solchen kulturgeschichtlich bedingten Umformungen
abgesehen, gilt auch für die Motive die Regel, daß ein echtes
Naturmotiv einen sinnlich wahrnehmbaren Vorgang wieder-
geben, ihn geradezu malen oder wenigstens aus ihm ver-
ständlich sein muß. Je weniger das der Fall ist, um so un-
sicherer wird die Deutung, wenn die Verwischung nicht aus
besonderen Umständen zu erklären ist.
Daß weit oder gar universell verbreitete, von örtlichen
Verhältnissen unabhängige Motive auf eine himmelsmytholo-
gische Unterlage schließen lassen und daher nicht ohne triftige
Gründe als entlehnt oder gewandert zu betrachten sind, wurde
bereits gezeigt. Das Motiv des Kampfes mit dem Unge-
heuer muß, wenn es aus der Natur abstrahiert ist, ein in der
Natur wahrnehmbarer Kampf sein, d. h. an einem Vorgang
haften, dessen Auffassung als Kampf psychologisch be-
gründet ist,
Solche Kämpfe finden statt zwischen Sonne und Mond
in ihrer Konjunktion, zwischen beiden Himmelskörpern und
einem schwarzen Dämon in der Eklipse, zwischen heller und
schwarzer Mondscheibe im Phasenwechsel, Ferner kämpfen
Sonne und Mond mit den Sternen, die sie verdunkeln, Wesen
unbestimmter Art im Gewitter, himmlische und chthonische
Kapitel IX. Mythendeutung.
215
Wesen in vulkanischen Ausbrüchen u, dgl. Alle diese Mög-
lichkeiten sind im Einzelfall von vornherein in Betracht zu
ziehen, zugleich aber auch die irdischen Kämpfe mit Unge-
heuern, Schlangen, wilden Tieren, die der Mythus den himm-
lischen Kämpfen angleicht unter Übernahme himmlischer
Motive.
Enthalten diese irdischen Kampfsagen Züge, die nur aus
Himmelsvorlagen erklärlich sind, wie z. B. das Wiedernach-
wachsen abgeschlagener Köpfe eines mehrköpfigen Ungeheuers,
so muß die Erzählung als aus der himmlischen Sphäre ab-
geleitet betrachtet werden, solange nicht bestimmte Gründe
dagegen sprechen. Welcher Art dabei der Grundkern ist,
ergibt sich häufig aus Nebenmomenten.
Wenn die Enthauptung des unterliegenden Gegners durch
das Sichelschwert betont wird, so ist jener mit Sicherheit ein
Mondwesen, wie die von Perseus getötete Gorgone, die von
Herakles getötete Hydra, deren Mondbeziehungen noch aus
anderen Gründen wahrscheinlich sind. Dasselbe gilt, wenn
der Gegner oder einer seiner Teile am dritten Tage oder
kontinuierlich wiederauflebt.
Der Enthauptung verwandt sind das Ausschneiden der
Sehnen, der Drachenzunge, des Beinverlustes u, a.
Das Motiv des Verschlungenwerdens, das sich mit
dem des Kampfes verbinden oder selbständig auftreten kann,
ist seiner Natur nach vieldeutig.
Die Sonne verschlingt den Mond und die Sterne. Das-
selbe tut die Erde mit Sonne und Mond oder der Dämon der
Eklipse oder auch der personifizierte Nachthimmel. Schwarz-
mond und Hellmond verschlingen sich abwechselnd gegen-
seitig oder die Tiere im Monde sind die aktiven oder passiven
Elemente,
Wenn der verschlungene Held haarlos wieder erscheint,
so ist er zunächst als die von Erde oder Meer verschlungene
Sonne zu fassen, denn nur diese zeigt jene Erscheinung bei
ihrem strahlenlosen Aufgange am nebligen Horizont in auf-
fallender Weise. Das Motiv unterliegt natürlich auch der
Übertragung auf den Mond, doch ist es hier weit weniger
charakteristisch. Verschiebungen sind hierbei schon dadurch
216 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
möglich, daß der Held als himmlisches Wesen bald dem
einen, bald dem andern Gestirn angeglichen wird. Wird derHeld
in seiner Mondqualität vom Schwarzmond verschlungen, so
wird meist der dreitägige Aufenthalt im Bauche des Unge-
heuers betont, so daß der Ausschlüpfende die Sichel des zu-
nehmenden Mondes repräsentiert. Unter Umständen kann
aber auch die letzte abnehmende Sichel, wenn sie über dem
Horizont sich erhebt, als der Ausgeschlüpfte gelten, der Ver-
Schlinger ist dann das die Erde personifizierende Wesen
oder der Erdozean, d. h. der sog. Walfischdrache.
Auffallend häufig ist dabei das merkwürdige Motiv des
Herz-, Magen- oder Leberabschneidens, wodurch der Tod
des Ungeheuers herbeigeführt wird, Zahlreiche Beispiele hat
Frobenius in seinem „Zeitalter des Sonnengotts“ beige-
bracht. Er deutet nämlich das abgeschnittene Organ auf die
Sonne, was aber für die meisten Fälle nicht recht paßt,
Jedenfalls gibt es asiatische Beispiele, die beweisen, daß die
Eingeweide den schwarzen Kern der letzten Mondsichel, das
Messer diese Sichel selbst darstellen. Wir hätten es dann
in diesen Verschlingungstypen mit einer der so häufigen
Kombinationen mehrerer Mondmotive zu einer Handlung zu
tun. Als entschieden darf diese Frage aber noch nicht gelten.
Die Verschlingung durch Eklipsen ist meist dadurch
kenntlich, daß der Held unmittelbar den Körper des Drachen
durchbricht. Im kalifornischen Märchen verschlingt der Frosch
(das Mondtier) die Sonne, die seine Kinder, d. h. die Sterne,
gefressen hat. Diese bläht sich auf und kommt, den Leib
des Frosches durchbrechend, wieder hervor, In Indien ver-
schlingt der Rahu, der Dämon der Eklipse, den Helden, der
aus der Nackengrube wieder austritt, ebenso wie der tibetische
Kesar dies tut‘, Letzterer braucht, wie der Zusammenhang
lehrt, hier nicht selbst als Sonne oder Mond gefaßt zu werden.
Er ist hier als menschlicher Held gedacht, dessen Heldenstück
eben darin besteht, daß er es wagt, das Schicksal jener
Himmelskörper zu teilen.
Wo die Sonne als Verschlinger der Sterne auftritt, ist
der Charakter des Mythus ein anderer. Sie spielt dann die
!) Francke, Frühlingsmythus der Kesarsage, p. 6,
Kapitel IX. Mythendeutung. 217
Rolle eines kannibalischen Wesens, oder, wie im europäischen
Märchen, der Hexe. Ihre Opfer sind Mond und Morgenstern,
die dann als Neusichel und Abendstern entkommen. Die
näheren Umstände der Rettung, häufig verbunden mit der
sog. „magischen Flucht“, sind dann das Hauptthema der Er-
zählung.
Ob die in so vielen Mythen hervortretende Bösartigkeit
der Sonnenwesen mit den babylonischen Vorstellungen von
der Sonne als tötender Unterweltsmacht zusanımenhängt. wage
ich nicht zu entscheiden,
Ist der Mond der Verschlinger, so fehlen gewöhnlich die
sonstigen Kennzeichen der Monddämonen nicht, wie Einäugig-
keit, Mehrköpfigkeit, Halbgesicht, Aushöhlung des Rückens,
rückwärtsgewendete Knie, Ungeziefer, wirres Haar (Schlangen-
haar u. dgl.).
Daß der Teufel unserer Märchen und der mittelalterlichen
Vorstellungswelt derartigen Ogern in seinen Einzelzügen so
nahe steht, ist kein Zufall. Auch in seiner Gestalt sind
Mond- und Alptraumelemente zu einem phantastischen Gebilde
zusammengeflossen.
Ein Allverschlinger ist in der Regel die Nacht oder
Finsternis. Das Märchen erzählt dann, daß eine ganze Welt
Menschen und Tiere im Magen des Ungeheuers ruhen. Nach
Tötung dessen durch den Sonnenhelden erwachen die Ver-
schlungenen stets mit den Worten: „Wir haben geschlafen!“
Wenn dann noch das Blut des Getöteten den Himmel rötet,
so unterliegt diese Deutung keinem Zweifel mehr. Typisch
ist die von Wundt angeführte aber mißverstandene Kaffern-
sage vom Heros Sikulume. (Mythus 3, p. 241.)
Ebenso wie die Kampfsagen sind auch die Verschlingungs-
mythen in hohem Maße beeinflußt durch die Beobachtungen
des irdischen Lebens, also durch die Erfahrungen des Menschen
aus seinen Beziehungen zur Tierwelt. Daß Tiere einander
verschlingen, ist ein alltäglicher Vorgang, daß ein Mensch
einmal verschlungen wird, etwa durch ein Seeungeheuer,
ereignet sich schon seltener und kann dann immerhin so
impressiv wirken, daß damit der Ausgangspunkt für eine
Sagenbildung gegeben wird. Gewöhnlich wirkt aber in Ver-
218 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
schlingungssagen, wo der Mensch: aktiv oder passiv beteiligt
ist, die Vorstellung des Kannibalismus assoziatiy mit. Nichts
hindert die phantastische Ausgestaltung solcher irdischer
Verschlingungen im Mythus und ihre Übertragung in die
überirdische Sphäre, Daraus folgt aber nicht, daß die mythischen
Verschlingungen überhaupt nur aus einem irdischen Urbilde
abzuleiten sind, wie Wundt das annimmt, da gerade dem
am meisten charakteristischen Moment dabei, dem unver-
letzten Ausschlüpfen aus dem Bauch des Ungeheuers
oder Dämons, keine irdische Beobachtung entspricht, Die
Erfahrung lehrt vielmehr das Gegenteil.
Auch sind die verschlingenden mythischen Tiere durch-
aus nicht immer die eigentlichen Raubtiere, sondern ebenso
oft sonst harmlose Pflanzenfresser, Hirsche, Antilopen, Büffel,
Hasen, ferner Reiher, kleine Vögel und Insekten.
Manche Völker waren sich dieses Widerspruchs bewußt
und haben ihn durch explikative Mären, rationalistisch zu
begründen gesucht. So erzählen die nordamerikanischen
Indianer, daß die Büffel einst Menschen fraßen, aber durch
irgend welche Ereignisse der Vorzeit oder das Eingreifen
höherer, dem Menschen freundlicher Wesen genötigt wurden,
diesen Brauch aufzugeben. Manche Sagen lassen das Los
darüber entscheiden, welche Tiere den andern zur Nahrung
dienen sollen.
Für die Verschlingung im ganzen, denn um diese handelt es
sich hier hauptsächlich, können irdische Raubtiere schon deshalb
nicht als Prototypen in Frage kommen, weil sie ihre Beute über-
haupt nicht im eigentlichen Sinne verschlin gen, sondern zer-
reißen. Wollen wir uns nicht vorstellen, daß etwa insekten-
fressende Vögel das Urbild darstellen, was wieder mit den
meisten Mytheninhalten nicht vereinbar wäre, so bleiben nur
Schlangen, Frösche und Fische als Verschlinger im eigent-
lichen, naturanschaulichen Sinne. Das sind aber gerade die
Tiere, die die theromorphe Auffassung der Sonne oder des
Mondes! bestimmen. Wir dürfen daraus schließen, daß, mag
‘) Daß mythische Schlangen oft nichts anderes sind als Wasserläufe,
hat schon Forchhammer in seinem ‚Diaduchos‘ (Kiel 1875) behauptet, doch
sind seine, der griechischen Mythologie entnommenen Belege größtenteils
Kapitel IX. Mythendeutung. 219
auch der Begriff der Verschlingung von irdischer Erfahrung
abgeleitet sein, die mythische Vorstellung des Ver-
schlungenwerdens und Wiederausschlüpfens, die auch als Zer-
stückelung und Regenerierung gefaßt sein kann, an über-
irdische Verschlinger anknüpfen muß, die, theromorph ge-
faßt, sich den irdischen Tieren assimilieren. Daß die Phantasie
nicht bei den spezifischen Sonnen- oder Mondtieren stehen
bleibt, sondern auch andere, zumal sonst harmlose, mit heran-
zieht, hat nichts Auffallendes. Es dient das nur dazu, das
Abenteuerliche, Unheimliche, kurz das Märchenhafte des Vor-
gyangs zu steigern.
Darüber kann man natürlich verschiedener Meinung sein,
sicher ist aber, daß viele dieser mythischen Tiere unzweifel-
hafte Beziehungen zu Himmelserscheinungen haben, solchen
nämlich, die die Volksphantasie tierisch auffaßt. So ent-
sprechen dem Monde Hase, Frosch, Kröte, Spinne, Schlangen,
Fische, gehörnte und gefleckte Tiere, der Sonne Löwe, Adler,
Schwan, Stacheltiere, Hirsch, Elch usw.
Hinter dem Wolf verbirgt sich bei Indern und Germanen
oft die Vorstellung der grauen Dämmerung, der Wolke oder
des Nebelstreifs. Gleiches sehen wir in Amerika,
Ebensowenig brauchen die zahlreichen mythischen Un-
geheuer von grotesker furchtbarer Mischgestalt, wie Drachen
und Seemonstra, reine Phantasieprodukte zu sein. Mag die
Einbildungskraft noch soviel hinzugetragen haben, so bleibt
doch ein Rest, der eine natürliche Unterlage verlangt und
wäre es auch nur unter Vermittelung von Alptraumvor-
stellungen. Manche dieser Wesen verraten ihren Naturkern
schon unmittelbar durch ihre Körperbildung, wie die Mehr-
köpfigkeit und die ihnen zugeschriebene Unsterblichkeit. So
trägt nicht nur die lernäische Schlange unverkennbaren Mond-
anfechtbar, jedenfalls bei weitem nicht so überzeugend, wie die zahlreichen
aus Amerika bekannten Fälle, wo besonders heiße, von dumpfen unter-
irdischen Geräuschen begleitete Quellen als fabelhafte Schlangen theromor-
phisiert werden. Inwieweit hier die weit verbreitete Vorstellung des Meeres
als Weltschlange mitwirkt, deren Sprößlinge oder subordinierte Wesen die
von unten hervordringenden Wasser der Tiefe, d. h. des unterirdischen Ozeans
3aind. müssen Spezialuntersuchungen entscheiden.
220
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
charakter, sondern auch die nordwestamerikanische Sisiutl,
deren beide Schlangenköpfe und das menschliche Gesicht
in der Körpermitte bezeichnend genug sind, auch wenn wir
die zahlreichen darauf hindeutenden Züge ihrer Sagen nicht
in Rechnung ziehen,
Die ungemein zahlreichen Kannibalen (Ogern) an-
scheinend menschlichen Charakters sind keine einheitlichen
Bildungen. Wir haben es hier mit mindestens vier Elementen
zu tun.
1. Vorstellungen, die aus der Tatsache des menschlichen
Kannibalismus abgeleitet sind, der in der Urzeit wohl häu-
figer war, als in historischer Zeit. Noch heute beschuldigen
viele wilde Stämme ihre Nachbarn ohne ersichtlichen Grund
jener Sitte, Das geschieht häufig absichtlich, um Fremde
abzuhalten, Nachbarstämme aufzusuchen und damit den
Zwischenhandel zu umgehen. Solche Erzählungen wirken
dann suggestiv weiter und die Furcht vor jenen Leuten
äußert sich
2. in Alptraumvorstellungen, in die natürlich alles verwebt
werden kann, was die Natur an schreckhaften Eindrücken
hervorruft. Diese Beziehung des Alptraums zur Ogersage hat
Laistner in seinen Rätseln der Sphinx eingehend behandelt.
Daraus erklärt sich auch
3. der unverkennbare Mondcharakter so vieler Ogern.
Solche können aber auch unmittelbar aus Mondvorstellungen
abgeleitet sein, namentlich wenn sie einäugig oder in Skelett-
form gedacht sind. Der herumschweifende menschenfressende
Schädel der Nordamerikaner ist ein typisches Beispiel, ebenso
das in Nordasien häufige schnell heranwachsende, aus einem
Stein entwickelte, kannibalische Kind, Es kommen
4. Sternbilder in Betracht, vor allem der Orion, dessen
Auffassung als kannibalischer Jäger fast über die ganze
Welt verbreitet, aber noch unerklärt ist. Frobenius hat
die Sternnatur der Ogern besonders betont, doch deckt diese
Deutung nicht alle Fälle,
Bei den Zuni Nordamerikas ist der Sirius ein solcher
Dämon, dessen Feuersteinbewehrung ihn wiederum den kanni-
balischen Feuersteinriesen anderer amerikanischen Stämme
Kapitel IX. Mythendeutung. 221
angleicht, die irgendeine Beziehung zum Winter haben. Hier
handelt es sich aber schon um äußerst verwickelte Asso-
ziationen. Die Ogersagen sind also zum Teil höchst kompli-
zierte Bildungen, die nur von Fall zu Fall deutbar sind. Eine
der schwierigsten ist das Polyphemmärchen, an dem man
sich bisher ziemlich vergeblich versucht hat.
Sekundäre Umbildungen dichterischer oder spekulativer
Art, bei denen die Motive oft zu bloßen phantastischen Kr-
zählungsmomenten werden, Umstellungen und Verschiebungen
erfahren, die Handlung ganz ins Menschliche gezogen oder
in eine übersinnliche Sphäre erhoben wird, die Personen nach
den einzelnen Seiten ihres Wesens sich spalten oder Ver-
schmelzungen eingehen oder durch fiktive Bildungen ersetzt
werden, widerstreben einer Deutung in dem Maße, als die
Naturgrundlage verblaßt.
Bei den meisten unserer Märchen und vielen Einzelepisoden
der im Epos verarbeiteten Heldensage müssen wir uns daher
oft mit ganz allgemeinen Erklärungen begnügen (s. Guber-
natis, Tiere, p. 248). Produkten einer ungezügelten .Einbil-
dungskraft gegenüber, wie etwa den Märchen aus 1001 Nacht,
oder den aus heterogenen, oft weither geholten Elementen
bestehenden grotesken Sagen der Nordwestamerikaner, bleiben
bis auf Ausnahmen alle Versuche vorläufig aussichtslos,
In noch höherem Maße als unsere Märchen setzen die
der niederen exotischen Völker eine tiefgreifende Kenntnis der
gesamten Kultur und des geistigen Zustandes ihrer Urheber
voraus, um alle ihre Anspielungen, Pointen und Motive zu ver-
stehen. So kommen in Nordamerika Kombinationen der ver-
schiedensten Märchen vor, die völlig undeutbar wären, wenn
wir nicht zufällig aus dem Besitz verwandter Stämme die
einzelnen Teilmythen vollständig mit ihren klaren Naturbe-
ziehungen besäßen. Wie oft sind wir aber nicht solcher Ver-
gleichsmöglichkeit beraubt!
Etwas günstiger liegen die Verhältnisse bei den eigent-
lichen Göttermythen, bei denen von vornherein die Wahrschein-
lichkeit einer himmlischen Grundlage besteht.
Der Versuch einer Deutung von dieser Seite her ist um
so mehr gerechtfertigt, als diese Mythen, soweit wir bis jetzt
29292 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
urteilen können, ihrer Hauptmasse nach Varianten nur weniger
Grundformen sind, die in allen Teilen der Erde wiederkehren,
wenn auch bei Völkern niederer Kultur nur in Form des ein-
fachen Naturınärchens in seinen verschiedenen Einkleidungen
als Helden- und Abenteuermärchen, Tierfabeln im weiteren
Sinne, Kulturlegenden u. dgl.
Ebenso ist eine himmelmythologische Grundlage auch
für die meisten der großen epischen Heldendichtungen
der alten Kulturvölker anzunehmen, wie Gilgamesch-Epos,
Odyssee, Raämäyana, Argonauten-, Nibelungen- und Dietrich-
sage usW., Wenn es auch unentschieden bleibt, ob es sich
dabei um planmäßige dichterische Ausgestaltung eines großen
naturmythologischen Vorstellungskomplexes handelt oder ob
nur einzelne Naturmythen in die Handlung verwebt sind. Jeden-
falls erweisen sich die primitiven Formen solcher Epen wie das
finnische Kalewala und die tibetische Kesarsage, sowie die
Heldenlieder der tatarischen Völker als bunte Konglomerate ein-
facher naturmythischer Handlungen in menschlicher Fassung,
Von hier aus kann die Entwickelung sehr wohl zu einer
systematisierten epischen Behandlung eines umfassenden Natur-
verlaufs, wie etwa der kalendarischen Zyklen, sich erhoben haben.
Von jeher hat man die astrale oder kalendarische Grund-
lage jener Epen vermutet, ohne sich über deren nähere Be-
stimmung klar zu sein. Gewöhnlich begnügt man sich damit,
den Helden als eine Sonnenpersonifikation, als den „Sonnen-
helden“ zu betrachten, dessen Taten und Schicksale einfach
die der täglichen Sonne reflektieren, wie Siegfried, Achilleus,
Odysseus usw. Mit so vagen Annahmen kommt man aber
dabei nicht aus, Ebensowenig geht es an, die ganze Handlungs-
folge als ein bloßes dichterisches Phantasieprodukt anzu-
sehen. Die so oft ausdrücklich betonte göttliche Abkunft der
Helden, das fortwährende Eingreifen himmlischer Wesen, die
Namen und Attribute der Personen fordern zu einer Deutung
nach himmelsmythologischen Gesichtspunkten doch immer
wieder heraus. Daher sucht v, Hahn den Grundkern aller
Heldensagen in den „gläubigen Vorstellungen“ über die regel-
mäßige Folge der Jahreszeiten, zu deren Verkörperung der
periodische Wechsel der Gestirne diente (Studien, p.. 115),
Kapitel IX. Mythendeutung. 223
Diesem Nachweis ist der Hauptteil seines genialen, jetzt
mit Unrecht vergessenen Werkes gewidmet. Er wird für die
hellenische und germanische Sage mit dem größten Scharf-
sinn durchgeführt und ist trotz mancher Irrtümer im einzelnen
in den Hauptpunkten gelungen. Die großen indischen Epen
sind nach dieser Richtung hin noch zu wenig studiert, um
ein sicheres Urteil zu gestatten. Wohl aber hat Jensen die
kalendarische Grundlage des ältesten Epos der Welt, der
babylonischen Gilgameschsage, so gut wie erwiesen, jedoch
verbindet sich hier, entsprechend dem weiter ausgebildeten
astronomischen Weltbild der Babylonier, mit dem Jahreslauf
der Sonne und ihrer Beziehung zum Jahreszeitenwechsel das
zyklische Verhältnis höherer Ordnung, in dem die Sonne zu
den Fixsternen und Planeten steht. Das dürfte erst ein
Produkt spekulativer Überarbeitung einfacher Anschauungen
sein. Da nun andererseits auch der einfachste unmittelbar
sinnfällizge Zyklus nicht der Jahreslauf der Sonne, sondern
der monatliche durch den Mondwechsel bestimmte ist, so ist
zu erwarten, daß auch in jenen Epen noch lunare Grund-
vorstellungen nachweisbar sein müssen und das trifft in der
Tat ’zu.
Die lunaren Bestandteile der germanischen und iranischen
Heldensage, die v. Hahn bereits ahnte, sind durch Hüsing
und Siecke näher bestimmt worden. Die Beweise dieser
Forscher haben zu gelten, solange sie nicht widerlegt sind,
wozu bloße absprechende Phrasen freilich nicht genügen,
Von den griechischen Heldensagen enthält unverkennbare
lunare Züge zunächst die Odyssee, Hier ist vor allem
Penelope, die ihr Gewebe immer wieder aufs neue auftrennt,
eine auch durch andere mythologische Beziehungen als solche
gekennzeichnete Mondheroine, Die Freier sind, verbreiteten
volkstümlichen Vorstellungen entsprechend, die das schöne
Mondweib umschwärmenden Sterne, die der heimkehrende
Sonnenheros Odysseus mit dem Mondbogen (der abnehmenden
Sichel bei Tagesanbruch) tötet, Eine auffällige Analogie dazu
zeigt die schöne indianische Sage vom Schwanenjäger und
der Mondtochter, die Tylor (Anf. d. Kultur 1, p. 840) n.
Schoolcraft mitteilt, aber nicht ganz richtig deutet. Der
294 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
der untergehenden Sonne nachfliegende Schwan ist natürlich
nicht diese selbst, sondern, der Naturanschauung entsprechend,
die Sichel des zunehmenden Mondes, die sich tatsächlich so
verhält.
In der Troja-Sage gehört die Grundidee, die Rück-
führung der Helena, sicher dem lunaren Vorstellungskreise an,
d. h. sie behandelt das beliebte Thema des Mondwechsel-
phänomens. Von den Nebenmotiven gehören die Entrückungen
der Iphigenie und des Paris dazu. Für die Stadtbelagerung
und das troische Pferd, sowie den Gegensatz der verschiedenen
Heldenpaare, auf die von mancher Seite ein großes Gewicht
gelegt wird, möchte ich das nicht so sicher behaupten.
Sehr scharf ausgeprägt ist das rein lunare Verhältnis in
der Argonautensage, die eine Reihe von Mondmotiven
unter der Generalidee der Zurückführung des im Osten ver-
schwundenen Mondes nach Westen zusammenfaßt.
Diese spricht sich aus in den beiden Haupthandlungen :
[. der Flucht von Phrixos und Helle auf dem goldenen
Widder, dessen Fell im fernen Ostland durch den Drachen
bewacht und von Jason heimgeholt wird,
HM. in der gleichzeitigen Entführung der Hexe Medeia durch
Jason. Für die Mondnatur der letzteren genügen als Beweis
vollkommen die von Gruppe über sie zusammengestellten
Angaben (besonders ihre Beziehung zu Hera, Artemis, Iphi-
genie und anderen Gestalten lunaren Charakters). Spezifisch
lunare Nebenmotive sind
1. das Schiff Argo, das sein Ziel erst nach Passieren
der Symplegaden erreicht,
2. die fehlende Sandale Jasons,
3. der blinde Phineus, der durchaus den amerikanischen
und polynesischen blinden Frauen entspricht.
Nicht ausgesprochen lunar sind die Proben Jasons in
Kolchis, wenn auch die Aussaat der Drachenzähne und der
Kampf der ehernen Männer von Siecke in diesem Sinne gedeutet
wird (Drachenkämpfe, p. 59). Kuhn vermutet hier eine Be-
ziehung zur aufgehenden Sonne, Wahrscheinlich handelt es
sich aber um ein Sternmotiv. Da nach dem Volksglauben
die Sterne aus dem zerstückelten Monde gebildet sind, so ist
Kapitel IX. Mythendeutung,
295
die Entstehung der Sparten aus den Drachenzähnen nur ein
besonderer Ausdruck dieses Verhältnisses. Der von Jason
unter sie geworfene Stein ist dann als echter Zug eines Natur-
märchens der Morgenstern, der ihre Verdunkelung und
damit ihren Tod herbeiführt.
Ob diese Deutung richtig ist, mag bestritten werden.
Unbestreitbar ist nur, daß sie alle wesentlichen Momente des
Mythus deckt und in allen Punkten durch umfassendes Ver-
gleichsmaterial belegt werden kann. Sie wird außerdem ge-
stützt durch interessante Parallelen aus anderen Gebieten,
besonders durch den polynesischen Rata-Mythus von Aututaki
(vgl. Frobenius, Zeitalter, p. 63 ff‚). Auch hier handelt es
sich um eine abenteuerliche Seefahrt von West nach Ost mit
dem Motiv der Symplegaden (Klappmuschel). Als Ziel der
Reise wird ausdrücklich das Land des Mondscheins ange-
geben. Da die Nebenmotive abweichen, kann hier von einer
Entlehnung keine Rede sein, Die Verschlingung Jasons durch
den Drachen, die als Variante im Argonautenmythus vor-
kommt, ist hier ersetzt durch die Verschlingung des ganzen
Schiffs durch den Walfisch. Beim Ausschlüpfen aus dem
Rachen des Ungeheuers ist das Mondland erreicht, Es handelt
sich also um eine Westostfahrt der Sonne durch die Unter-
welt, bei den Argonauten dagegen um die Reise des abneh-
menden Mondes am Himmel. Jedenfalls aber reflektieren
beide Erzählungen himmlische Vorgänge, die im Mythus leicht
assoziativ verknüpft werden. Das Phineusmotiv kehrt, wie
schon gesagt, in dem Mondmythus der Insel Nauru wieder,
Auf die Analyse der schwierigen, stark umgeformten
nordwestamerikanischen Parallelen von der abenteuerlichen
Seefahrt, die das Phineusmotiv, die Symplegaden und Proben
zugleich enthalten und sich meist inhaltlich mit dem Typus
des Besuchs im Himmel nahe berühren, muß hier verzichtet
werden.
„Daß die Anpassung dieser aus dem kleinen Kreislauf von
Mond und Sonne entlehnten Stoffe an den Jahreslauf der
Gestirne und den Jahrzeitenwechsel nur eine sekundäre,
dichterisch oder spekulativ ausgestaltete Erweiterung darstellt,
liegt. auf der Hand. Ob das einmal etwa im iranischen
Mrvtholog. Bibliothek: Ehrenreich. 15
226
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
oder babylonischen Kulturkreise geschehen ist und dann
weiterhin einfach nachgeahmt wurde, oder ob die gleiche
lunare Urvorstellung bei verschiedenen Völkern zu einer
gleichen Ausdeutung ihres Kalendersystems in mythischer
Form geführt hat, bleibt noch ein Problem, ‘©
Der Umstand, daß im Epos die führenden Helden so oft
solare Züge tragen oder diese mit lunaren kombinieren, wird
gewöhnlich einfach auf eine spätere Änderung des Kalenders
zurückgeführt, den Ersatz der Mondrechnung durch die Sonnen-
rechnung. Es ist jedoch noch ein anderer Umstand für die
mythische Ausgleichung von Mond und Sonne in Betracht
zu ziehen.
So gut wie die Entwickelung zunächst an die lunaren
Vorstellungen anknüpft, kann sie auch schon von vornherein
von den Erscheinungen der Sonne ausgehen, indem nicht der
Monatswechsel, sondern der allerdings nicht mehr kalendarisch
bedeutsame aber doch sinnfällige impressive Tag- und Nacht-
wechsel, also der Sonnenstand im Tagesverlauf zugrunde
gelegt wird.
Dieser Anschauungskreis erweitert sich dann durch KEin-
beziehung der Funktionen der Sonne im Jahreslauf, indem
also dem Winter die Sonnenferne, dem Sommer die höchste
Sonnenkraft am Mittag, dem Frühjahr und Herbst die zu-
und abnehmende Kraft am Morgen und Abend entsprechen.
Mythen dieser Art, die an sich keine kalendarische Be-
deutung haben, sondern ein unmittelbares Ergebnis von Natur-
beobachtung sind, finden sich, wie v. Hahn gezeigt hat, bei
allen Kulturvölkern, fehlen aber auch den Hochasiaten, Nord-
amerikanern und Malayo-Polynesiern nicht. Sie können ganz
unabhängig neben den eigentlichen Kalendermythen bestehen,
gehen aber natürlich leicht mit diesen Verbindungen ein,
weil jede Zeiteinteilung zugleich die zeitliche Bestimmung der
Jahreszeiten in sich schließt. Die Ausbildung der Agrikultur
und der damit verbundenen Zauberriten und Feste führt
ganz von selbst zu einer immer sorgfältigeren Beobachtung
des Sonnenlaufs im Jahre. Man bedient sich dazu der ein-
fachen Bestimmung der Auf- und Untergangspunkte der Sonne
durch natürliche oder künstliche Landmarken, wie das noch
Kapitel IX. Mpythendeutung.
227
heute die Pueblo-Indianer Nordamerikas tun, Ebenso dienen
auch periodisch erscheinende, an bestimmte Jahreszeiten ge-
bundene Gestirne, wie Orion und Plejaden, zur Fixierung der
praktisch wichtigen Zeitabschnitte, So treten schließlich alle
kalendarisch verwendbaren Himmelskörper . zueinander in
Wechselbeziehungen.
Daher ist der Streit ganz müßig, ob z.B. eine Gestalt
wie Siegfried die Sonne, den Mond oder den Morgenstern
bedeutet, ob in der Odyssee der Jahres- oder der Tageslauf
der Sonne dargestellt wird. Alle diese Auffassungen können
gleichberechtigt sein, Die Hauptsache ist die Erkenntnis,
daß überhaupt zyklische Zeitverhältnisse in diesen Mythen
dargestellt und vorwiegend durch die der einfachsten realen
Anschauung entsprechende Form. nämlich die lunare, ver-
sinnlicht werden.
Es ist also ein Fundamentalirrtum, von dem sich weder
die Deutungsbeflissenen noch ihre Gegner frei gehalten haben,
daß jede einmal erkannte Deutung die Möglichkeit einer
anderen absolut ausschlösse, Es kommt eben ganz darauf
an, ob wir uns an den ursprünglichen Naturkern oder die
aus ihm abgeleiteten Formen halten wollen, ob das real Sinn-
liche oder Symbolische betont werden soll, ob wir die engere
mythologische oder die kultisch-religionsgeschichtliche Bedeu-
tung im Auge haben, wenn wir nur festhalten, daß das Ur-
sprüngliche immer das konkret Sinnfällige ist. Aber diese
konkrete Unterlage läßt, wie wir gesehen haben, selbst in
vielen Fällen eine verschiedene Auffassung zu, je nachdem
sie isoliert oder in Verbindung mit anderen apperzipiert wird.
Löst sich der Mythus von dieser Unterlage ab, dient er dem
symbolischen Ausdruck einer Idee oder dichterischen Inten-
tionen, so erhält damit auch der Begriff der Deutung einen
neuen Inhalt. In diesem Sinn hat also Ruskin recht, wenn
er sagt: „Die wahrste Bedeutung einer Sage ist die, welche
sie zur Blütezeit des Volkes trägt. Je weiter wir zurück-
gehen, um so weniger Bedeutung finden’ wir, bis wir schließ«-
lich auf den ersten engen Gedanken kommen, worinnen der
Keim der späteren vervollkommeten Überlieferung ist“,
(Ruskin, Königin der Luft, p. 9.)
An
27
A
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Diese „vervollkommete“ Überlieferung ist aber nicht mehr
Gegenstand der Mythologie, sondern der Religions- und Lite-
raturgeschichte,
Stets müssen wir bei der Mythendeutung im Auge be-
halten, daß zwar die Entstehung von Mythen aus einfacher
Naturbetrachtung, also der sogenannten Urmären, in eine
Zeit zurückreicht, die wir als die Urzeitstufe der betreffenden
Völkergruppe bezeichnen dürfen, daß aber die Ausbildung
einer Mythologie im engeren Sinne, einer mythischen, die
religiösen und sozialen Verhältnisse des Volkes reflektierenden
Weltanschauung erst auf einer vorgeschrittenen Stufe geistiger
Ausbildung erfolgte, wo zugleich die dichterische Phantasie
ihr Werk tat und die einfachen Vorstellungen zu einem dicht-
verschlungenen Gewebe zusammenfügte. Alle Erscheinungen
der Natur und des menschlichen Lebens unterliegen dann
mythischer Verarbeitung unter ausgiebiger Verwendung von
Symbolismus, Allegorie und metaphorischer Umdeutung, ein
Prozess, der weit früher einsetzt, als gemeinhin angenommen
wird, da wir ihn z. B. bei Polynesiern und Nordamerikanern,
selbst bei gewissen Westafrikanern, schon in seinen Anfängen
beobachten.
Es muß also jede Mythenerklärung, die mehr will als die
Bestimmung des Urkerns einer mythologischen Vorstellungs-
reihe, im gegebenen Falle den Stand der Weltanschauung des
betreffenden. Volkes berücksichtigen. Wo diese, wie bei den
Babyloniern schon durch ein festes astronomisches System
beherrscht wird, ist es nicht mehr möglich, die aus ihm er-
wachsenen Sagen allein aus den allereinfachsten Himmels-
vorgängen, wie Sonne und Mond in ihrem Widerspiel, abzu-
leiten. Hier muß der Anschauungskreis erweitert werden
durch Einbeziehung aller astralen Vorgänge, die kalendarisch
mit jenen Gestirnen zusammenhängen und aller irdischen,
die dem Himmelsbilde entsprechen.
Auch das mittelalterliche Welt- und Himmelsbild geht
wie das antike. in letzter Linie auf das babylonische zurück,
modifiziert freilich durch die griechische, indische und arabische
Astronomie. Daher entfernen sich auch unsere Volksmärchen
und Heldensagen, die ihre gegenwärtige Fassung im Mittel-
Kapitel IX. Mythendeutung.
2929
alter erlangt haben, in ihren kalendarischen Bestandteilen
schon weit von den einfachen ursprünglichen Anschauungen
und erfordern zu ihrer Deutung die Berücksichtigung aller
in der alten Himmelskunde gegebenen Elemente, die sich mit
den volkstümlichen Vorstellungen von Natur und Welt, sowie
der heidnischen und christlichen Dämonologie auf das mannig-
fachste verbinden, Demgemäß dürfen auch die von Friedrichs
aufgestellten Deutungen, die die Dunkelformen der Gestirne
so ausgiebig verwerten, auch wo sie richtig sind, nicht ohne
weiteres auf die Märchen niederer Rassen angewendet werden,
Diese selbst sind wiederum auf solche Vorstellungselemente
zu prüfen, die etwa dem Kontakt mit höheren Kulturen, mit
der hinduistischen, buddhistischen, iranischen und islami-
tischen Welt entsprungen sind.
Es wird also die Aufgabe der Mythendeutung eine um
so mehr verwickelte, je weniger wir in der Lage sind, alle
jene kulturgeschichtlich begründeten Faktoren zu übersehen.
Oft müssen wir, wie Gubernatis mit Recht hervorhebt, uns
hüten, zu viel deuten zu wollen und uns mit einer ganz
allgemeinen Feststellung des Anschauungskreises begnügen.
Kapitel X.
Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung.
Wesen und Bedeutung mythologischer Personen ist ein
Problem, das nicht nur deren mythische Rolle und Charakter-
züge, sondern auch ihre kultische und religionsgeschichtliche
Stellung zum Gegenstand hat.
Im allgemeinen ergibt sich mit der Grundbedeutung einer
mythischen Erzählung auch die der darin auftretenden Ge-
stalten, soweit sie nicht rein erfundene Phantasiegebilde sind.
Der. Märchenheld, dessen Persönlichkeit sonst irrelevant
ist, der nur im Rahmen der Einzelerzählung existiert, ist mit
lieser zugleich erklärt,
Anders verhält sich das mit den Gestalten der syste-
matisierten Mythologie, des Pantheons, den Helden der reli-
giösen Legende oder der ausgebildeten, ganze Mythengruppen
zusammenfassenden Heldensage. Diese sind mythisch gewöhn-
lich mehrdeutig oder scheinen es zu sein. Dieselbe Person
tritt als Träger von Handlungen auf, die den verschiedensten
Vorstellungskreisen eninommen sind, so daß in demselben
Sagenkomplex die Rolle des Helden stark variieren kann.
Ebenso oft steht, wie namentlich die griechische Mythenwelt
beweist, der Mytheninhalt mit dem kultischen Wesen eines
Gottes scheinbar im schroffsten Widerspruch.
Es müssen also, wenn wirklich Göttermythus wie Helden-
sage aus dem Märchen entstanden sind, Märchen verschie-
dener Art und Grundlage auf dieselbe Persönlichkeit über-
tragen worden sein. Ist das ganz willkürlich geschehen oder
liegt das im Wesen der mythischen Gestalt oder Gottheit
Kapitel X. - Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 231
begründet? Welche Schlüsse lassen sich aus der mythischen
Bedeutung einer Göttergestalt auf ihre religionsgeschicht-
liche ziehen?
Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es der Klärung
des gegenseitigen Verhältnisses von Märchenhelden, Heroen
und Göttern zueinander.
Märchenhelden, Die vergleichende Märchenforschung hat
uns gelehrt, daß die Hauptpersonen unserer Märchen, soweit
sich deren himmelsmythologische Grundlage überhaupt fest-
stellen läßt, gewöhnlich Personifikationen von Sonne, Mond,
Morgen- und Abendstern oder Auroren sind. Inwieweit die
dazugehörigen Dunkelformen noch mitwirken, bleibe dahin-
gestellt. Von universeller Bedeutung ist nur die des Mondes
als Neumond,
So entsprechen märchenhafte Prinzen oder Könige meist
der Sonne oder dem Morgenstern, ihre Gattinnen und Bräute
sind Monde und Auroren. Die bösartigen Wesen tragen meist
Mond-, manchmal auch Sonnencharakter, wenn die Unter-
weltsform der Sonne betont wird. Die Attribute dieser Per-
sonen, Kleider, Waffen, Begleittiere, Rosse und Vögel usw.,
stehen ebenso im engsten begrifflichen Zusammenhang mit
deren Naturgrundlage und endlich entsprechen die Schicksale
dieser Wesen durchaus dem, was der Volksglaube über die
betreffenden himmlischen Erscheinungen aussagt.
Ähnliches, wenn auch nicht absolut Gleichartiges, zeigt
nun auch das Märchenmaterial der Naturvölker. Unterschiede
sind bedingt durch die allgemeinen Kulturverhältnisse, durch
ethnologische und geographische Momente. Charakteristisch
für die niedere Stufe ist, wie z. B. in Amerika, die fortwährende
Vermischung mit der Tierfabel, das Zurücktreten oder die
roh sinnliche Betonung des erotischen Elements. Die astrale
Natur der Gestalten ist hier aber nicht minder ausgeprägt
und wird noch häufiger als in unseren Märchen ausdrücklich
hervorgehoben.
Gemeinsam aber ist allen entwickelteren Märchenbil-
dungen, der Kulturvölker sowohl wie der Naturvölker, das
für die allgemeine Mythologie so überaus wichtige Moment
des Hervortretens einer Zweiheitoder Dreiheit von Helden,
232
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
die aber auch zu vier, sechs oder zwölf vervielfältigt oder als
mehrere genealogisch zusammenhängende Gruppen erscheinen
können. Sie sind entweder im Verhältnis von Freunden,
Brüdern und Helfern oder von Feinden und Antagonisten
gedacht, wobei im Falle der Dreizahl der Dritte und Jüngste
und zunächst Unansehnlichste, oft geradezu als dumm oder
faul bezeichnet, in Wirklichkeit sich als der Stärkste und
Klügste erweist, den Sieg davon trägt, die Braut heimführt,
das Ungeheuer tötet usw.
Während die Zweizahl der Brüder universell ist, ist die
Dreizahl fast ausschließlich auf den arischen Kulturkreis be-
schränkt, wobei, wie Hüsing! nachgewiesen hat, für den
Dritten und dessen Sohn bei Germanen, Griechen, Indern und
Iraniern die Zahlbezeichnung Trita, Thrita, Tritos, Traitana,
Thretona, Triton (Tritogeneia) gewählt ist.
Dieser Dritte läßt sich in den meisten asiatischen und
europäischen Märchen als Vertreter des Neumonds, des letzten
abnehmenden Mondes oder des Venusgestirns feststellen,
woraus sich dann die Beziehung der beiden anderen zu Sonne
und Mond unmittelbar ergibt. Nicht immer sind natürlich
die astralen Grundlagen dieser Gestalten erkennbar, aber doch
so häufig, daß wir berechtigt sind, sie in zweifelhaften Fällen
hypothetisch anzunehmen und den Stoff daraufhin zu prüfen.
Diese Untersuchung wird, wenn nur genügend Varianten
vorliegen, selten vergeblich sein.
Die Mythenvergleichung ergibt nun, daß diese Märchen-
helden in allen wesentlichen Zügen mit den sogenannten
Kulturheroen der niederen Mythologien übereinstimmen,
Somit wäre in der Kulturheroensage die Brücke gegeben, die
aus dem Märchen zum eigentlichen Mythus und der Kult-
legende überleitet. Die Frage, ob die Märchenhelden verblaßte
Kulturheroen sind, oder diese aufgehöhte, nachträglich mytho-
logisierte Märchenhelden, läßt in dieser Fassung weder in dem
einen noch im anderen Sinne eine sichere Entscheidung zu.
Wir müssen das Verhältnis beider vielmehr unter dem Ge-
sichtspunkt des Parallelismus betrachten.
') G. Hüsing, Beitr, z. Kyrossage, VII.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung, 9233
Die Kulturheroen sind, soweit sie sich bestimmen lassen,
den Hauptgestirnen Sonne, Mond und. Venus wesensverwandt
oder mit ihnen genealogisch verbunden.
Der Mensch verdankt ja seine Kulturgüter tatsächlich
oder in der Idee den großen Gestirnen, nicht nur in der my-
thischen Vorzeit, sondern noch bis auf den heutigen Tag,
Diese Vorstellung entwickelt sich schon in ältester Zeit, so-
bald der Mensch sich der Abhängigkeit von himmlischen
Wesen bewußt wird.
Ebenso weit gehen aber die naturmythologischen Märchen
zurück, deren Helden die personifizierten Himmelskörper sind.
Sollen nun jene übermenschlichen Helfer des Volks nicht nur
schemenhafte Numina bleiben, sondern als persönlich han-
delnde Wesen dem Menschen näher treten, sollen sie mythisches
Leben gewinnen, indem ihre Taten und Schicksale als mensch-
liche sich darstellen, so ist das nur mit Hilfe der in den
Naturmärchen niedergelegten Vorstellungen möglich. Märchen-
held und Kulturheros fließen in der sogenannten Kultursage
zusammen. Diese entwickelt sich weiter zur eigentlichen
Kultur- oder Heilbringerlegende, während das Märchen da-
neben eine selbständige weitere Fortbildung durchmacht.
Andererseits kann auch die Kultlegende wieder zum Märchen
degenerieren.
Aus dieser für die niederen Mythologien so überaus cha-
rakteristischen engen Verbindung von Märchenhelden und
Kulturheroen läßt sich nun auch das Verständnis für die
Heroengestalten der höheren Mythologie und der großen
nationalen Epen der Kulturvölker gewinnen und damit auch
des Göttermythus, der, wie Wundt gezeigt hat, eine nach-
trägliche Übertragung der Heldensage auf die Gottheiten
darstellt.
Heroen. Bei dem Ausdruck Heroen denken wir zunächst an
diejenigen Gestalten, die in der Mythologie der Griechen eine
so eigenartige Ausbildung erfahren haben. Es sind Persönlich-
keiten, die, der Verbindung eines göttlichen mit einem mensch-
lichen Wesen entsprossen, ohne eigentliche Götter zu sein,
nach ihrem Tode wegen ihrer irdischen Taten zu den Göttern
entrückt, im übrigen aber sehr verschiedenen Ursprungs sind
234 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
und nur das miteinander gemein haben, daß ihnen kultische
Verehrung nur innerhalb. gewisser Grenzen zukommt. So
galten als Heroen alle bedeutsam hervortretenden Gestalten der
epischen Sage, fabelhafte Städtegründer, Stammes- ‘oder
Familienahnherren, und endlich im weitesten Sinne alle als
verklärt betrachteten Verstorbenen überhaupt (vgl. E. Meyer,
Gesch. d. Altert. 2, p. 428). Manche Heroen scheinen aus
wirklichen Lokalgottheiten oder rein fiktiv aus Kultnamen
höherer Gottheiten entstanden zu sein, andere sind ver-
götterte historische Persönlichkeiten, Immer aber unterscheidet
sie räumlich oder zeitlich beschränkte Wirksamkeit von den
eigentlichen höheren Göttern. Meist betätigen sie sich erst
nach ihrem Tode als Schutzgeister von Personen, Sippen oder
Örtlichkeiten.
Wesen und Grundbedeutung dieser Gestalten gehörte von
jeher zu den am meisten umstrittenen Problemen der antiken
Mythologie und Religionsgeschichte, Die Unklarheit hierüber
wirkt auch auf unsere allgemeinmythologischen Anschauungen
verwirrend ein, weil man vielfach geneigt ist, die spezifisch
griechischen Formen der Heroenverehrung und Mythologi-
sierung für etwas Allgemeingültiges zu halten und die ana-
logen Bildungen bei anderen Völkern nach den griechischen
Anschauungen zu beurteilen.
Die Hauptstreitfrage ist auch hier wieder, ob der Heros
ein degenerierter Gott oder ein aufgehöhter Mensch ist.
Nach Rohde (Psyche, p. 148) ist letzteres der Fall, Er
sieht in den Heroen durchaus aufgehöhte Menschenseelen,
nicht depotenzierte Götter. Dieser Satz bleibe in Kraft, auch
wenn eine Anzahl alter Götter in der Vorstellung zu sterb-
lichen Helden geworden, nach ihrem Tode zur Heroenwürde
aufgestiegen seien. Unmittelbar vom Gott aus würde dagegen
niemand zum Heros,
Umgekehrt kennt Ed. Meyer (a, a. O0. 2, p. 429) kein Bei-
spiel, wo ein ursprünglich sterbliches Wesen zum Gott ge-
worden sei und betont, daß Herakles in Wahrheit zu den
großen Göttern gehöre. und dem Dionysos, dem Apollo und
der Demeter gleichwertig sei (a. a. 0., p. 258). Gruppe sucht
den Schlüssel für die Heroengestalten im Dämonenbegriff.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 235
Solche Meinungsverschiedenheiten unter den Autoritäten
beweisen, daß, wie so oft, die Einzelmythologie verwickelten Ver-
hältnissen gegenüber versagt und eine weitere Umschau auf
ethnologischer Basis nötig ist.
Daß Gestalten so verschiedener Art und so ungleicher
mythologischer Bedeutung, wie die griechischen Heroen, keine
einheitliche Erklärung zulassen, ist von vornherein anzunehmen.
Schon aus der griechischen Religionsgeschichte selbst ergibt
sich, daß sowohl die Meyer’ sche wie die Roh de’ sche Theorie
zu Recht besteht. Tatsächlich können sowohl Gottheiten zu
Heroen werden, wie Menschen heroisiert werden. '
Folgende Fälle sind zunächst möglich:
1. Eine Gottheit kann zum Heros degenerieren, wenn sie
an verschiedenen Stellen unter verschiedenen Kultnamen als
Lokalgottheit verehrt wird, bis nach Zusammenschluß ver-
schiedener Stämme zu einer politischen Einheit eine dieser
Lokalformen die Oberhand gewinnt und damit zur Hauptgott-
heit wird, während die anderen als Götter von örtlich be-
schränkter Wirksamkeit, als Lokalheroen, weiterexistieren.
Dieser Fall scheint außerhalb der antiken Kultur noch
nicht belegt, also eine spezifisch griechische Sondererschei-
nung zu sein,
Das Gewöhnliche ist bei anderen Völkern, daß die Lokal-
gottheiten auch dann ihre eigentlich göttlichen Qualitäten bei-
behalten, wenn einer zum Stammes- und Nationalgott auf-
rückt, wie z, B. Marduk in Babylon, Ammon-Re in Ägypten.
2. Es kann, wie Rohde gezeigt hat, ein Gott sich in der
Sage vermenschlichen und dann wieder vergöttert werden
durch Aufhöhung zum Heros.
3. Die Möglichkeit der unmittelbaren Erhebung eines
Menschen zum Heros ergibt sich. schon aus der von Meyer
angeführten Tatsache, daß in Böotien jeder Verstorbene, sofern
er eines Totenkults teilhaftig war, den Ehrentitel eines %0ows
bekam, als Zeichen. seiner Apotheose,
Das steht nun auch völlig im Einklang mit unseren völker-
kundlichen Erfahrungen, Wir. wissen, daß Ahnherren von
Stämmen, Sippen und Familien, berühmte Krieger und Jäger,
wie überhaupt alle um die Gemeinschaft verdienten Persön-
236 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
lichkeiten zu Schutz- und Stammesgöttern mehr oder weniger
menschlichen Charakters, d.h. Heroen werden können. Auch
menschliche Tätigkeitsformen, Jagd, Krieg, geistige Produk-
tionen können unter allen Kulturstufen halbgöttlichen Wesen
als Wirkungsbereich zugeteilt werden, deren menschliche
Seite oder menschliche Abkunft sie durchaus als Heroen kenn-
zeichnet. Interessant sind solche Bildungen namentlich bei
den Aboriginern Indiens, wo selbst hervorragende oder ge-
fürchtete Europäer nach ihrem Tode Götterqualitäten erlangten
und dem heimischen Pantheon als Götter eingegliedert wurden.
Ähnliches ist aus Afrika, Amerika und Polynesien bekannt.
Es sei erinnert an Hiawatha der Irokesen, an Tach, den
Kulturheros der Arhuacos in Kolumbien, hinter dem sich
wahrscheinlich ein alter Missionar verbirgt, an Oro, den
Kriegsgott der Polynesier, der als ein berühmter Krieger
der Vorzeit gilt. Doch ist damit nicht gesagt, daß in allen
derartigen Fällen der Heroengestalt ein wirklicher Mensch
zugrunde liegt, vielmehr kann die Persönlichkeit eine rein
mythische sein und erst sekundär eine euhemeristische Um-
deutung erfahren haben, so wie z. B. der chinesische Krie@s-
gott für einen alten General gehalten wird.
Diese überall vorkommenden Erscheinungen der Heroi-
sierung wirklicher oder nur vorgestellter Menschen dürften
auch für die Erklärung mancher griechischer Heroen heran-
zuziehen sein.
Ein Teil der griechischen Heroen und zwar gerade die
mythologisch wichtigsten, wie Herakles, Theseus, Kadmos, die
Dioskuren, sind aber weder depotenzierte Götter, noch auf-
gehöhte Menschen, sondern Parallelbildungen zu den
eigentlichen Gottheiten, mit denen sie die gleichen Natur-
yrundlagen gemeinsam haben. Sie sind, wie ihre Mythen
beweisen, den Kulturheroen der Naturvölker wesensgleich
und wie diese menschlich gefaßte himmlische Numina, die
zwar ebenfalls Naturpersonifikationen sind, aber nicht die
Erscheinungen selbst, sondern die in ihnen wirkenden Kräfte
darstellen. Erst sekundär verschmelzen sie mit den Himmels-
1) Für die Weddahs auf Ceylon ist das neuerdings wieder von Selig-
mann festgestellt worden, vgl. Globus 94, p. 158.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 9237
körpern und verleihen diesen damit menschliches Leben und
mythologische Individualität. Sie gehen zurück auf das höchste
Himmelswesen unbestimmten oder übermenschlichen Cha-
rakters, mit dem der Mythus sie genealogisch verbindet und
da dieses Wesen als Inbegriff der Himmelskräfte, sowohl in
der Sonne wie im Monde sich manifestiert, so nehmen auch
seine Abkömmlinge, die Heroen, die Charaktere der Haupt-
gestirne an, oder sind doch mindestens überhaupt als himm-
lische Wesen gekennzeichnet.
Das spricht sich vor allem aus in ihrer magischen Emp-
fängnis oder übernatürlichen Geburt (mit den Motiven der
Schenkelgeburt und des Durchbrechens der mütterlichen Seite).
Ihre Mutter ist meist ein deutliches Mondwesen oder eine
Erdgöttin, oder auch wohl sekundär rein menschlich ohne
besondere Naturbeziehung gedacht.
In diesem Falle empfängt sie durch Essen von Früchten,
Anlegen von Gürteln, einmalige Berührung, Hauch oder An-
rede. Als Erdgöttin empfängt sie durch Sonnenstrahlen, Regen,
Blitz, Hagelkörner, die ihr in den Schoß fallen, in Amerika
durch Federbälle. Ist die Mutter eine Mondheroine, so fehlen
die Motive der Zerstückelung oder Verbrennung, der HEin-
sperrung in den Turm oder überhaupt der zeitweiligen Ver-
borgenheit und der Kindesaussetzung nicht. Der neugeborene
Held wird dementsprechend in eine Schale, den Korb, die
Futterschwinge, die Krippe oder den Schild gelegt.
Daß alle die genannten, im griechischen Mythus oft wieder-
kehrenden Motivenicht auf diesen beschränkt, sondern mensch-
liches Allgemeingut sind, kann nicht nachdrücklich genug
betont werden.
Ob die lunare Auffassung der Mutter das ursprünglichste
Verhältnis darstellt, bleibe unentschieden. Es ist dies mög-
lich, aber durchaus nicht notwendig, da an sich sowohl Erde
wie Mond das Komplement des Himmelsvaters sein kann.
Beide fallen auch sonst mythisch leicht zusammen, wie anderer-
seits der Himmelsvater Sonne und Mond in sich vereinigt
und deren Charaktere entweder auf einen seiner Sprößlinge
übertragen kann oder sie auf mehrere verteilt.
238
; Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Gewöhnlich handelt es sich um ein Heroenpaar, dessen
gegenseitiges Verhältnis ganz dem der himmelsmythologischen
Märchenhelden entspricht, die bei den Naturvölkern mit den
Kulturheroen völlig verschmelzen!. Es sind dann folgende
Fälle möglich:
1. Die Brüder sind Sonne und Mond, was der Mythus aber
oft dadurch umschreibt, daß er sie zu Schöpfern, Bewahrern,
Regulatoren dieser Gestirne macht,
2, Die Brüder sind Hellmond und Schwarzmond, oder
abnehmender und zunehmender Mond, wozu manchmal als
drittes Wesen noch eine Schwester oder Sonnentochter kommt,
die ihrerseits wieder mit Vollmond, Sonne oder Morgenstern
in Beziehung steht. Helena und die Dioskuren, Surya. und
die Acvins sind die bekanntesten Beispiele.
Doch kann diese dritte Gestalt auch einem. ganz anderen
Vorstellungskreise angehören. So ist in einem von Boas
(Zeitschr. f. Ethn. 40, 1908, p. 776) mitgeteilten Sonnenmythus
der Tschimschian Nordwestamerikas die Schwester dasjenige
Wesen, das die Sonne an den Solstitialpunkten festhält.
Wahrscheinlich sekundärer Art ist
3. die Auffassung der Brüder als Venusformen (Morgen-
und Abendstern) oder, was auf Amerika beschränkt. zu sein
scheint, Morgenstern und Merkur,
Alle diese Formen können in demselben Mythenkreis
nebeneinander hergehen und Assoziationen bewirken, die den
Grundcharakter der Gestalten stark verwischen.
In vielen Fällen berichtet der Mythus von einer nach-
träglichen Verwandlung der Heroen in die genannten Gestirne.
Ich halte das im Widerspruch zu anderen für mythologisch
belanglos.
Die Taten der Heroen sind, abgesehen von ihrer demiur-
gischen Wirksamkeit. die Vernichtung der die Welt verhee-
1) Von den Dioskuren, den göttlichen Zwillingen, behauptet Gruppe
sonderbarerweise, es seien bis jetzt alle Versuche gescheitert, Gestalten
dieser Art bei anderen Völkern nachzuweisen, als den drei indogermanischen
der Inder, Griechen und Litauer (Archiv f. vgl. Rel.-Wiss. 2, p. 274). In
Wirklichkeit bilden gerade sie eine der verbreitetsten mythologischen Er-
scheinungen, wenn eine absolute Übereinstimmung des Inhalts ihrer Mythen
nicht erwartet werden darf.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 239
renden Ungeheuer, der Feuerraub oder die Wiedergewinnung
des geraubten Feuers, die Beschaffung aller materiellen und
geistigen Kulturgüter. Ein nicht nur mythisch, sondern vor
allem religionsgeschichtlich wichtiges Moment ist das ihres
Antagonismus, der sie zu Vertretern entgegengesetzter
Prinzipien macht und demgemäß die weitgehendste speku-
lative Ausdeutung erfahren hat. Der Bruderkampf endet mit
der Tötung des Einen durch irgendein magisches Hilfsmittel
oder mit einer nur temporären Bändigung und Fesselung.
Von Mythologen, die sich vom Standpunkt des Kultur-
menschen aus nicht in die mythische Denkweise hinein zu
finden wissen, wird oft der Einwand gemacht, es widerspreche
der Logik, daß Wesen, die von Sonne und Mond abstammen,
selbst wieder Sonne und Mond sind, oder als Schöpfer
dieser Gestirne auftreten. Das ist sicherlich unlogisch, nur
ist eben der Mangel an Logik eins der wesentlichsten Kenn-
zeichen mythischer Denkweise, Da diese unlogische Betrach-
tungsart bei allen Völkern der Erde wiederkehrt, so müssen
wir sie als eine allgemeine Eigenschaft des naiven Geistes-
zustandes hinnehmen.
Manche Völker beseitigen übrigens diesen Widerspruch
dadurch, daß sie. eine besondere übersinnliche, himmlische
von der sichtbaren, irdischen Sonne unterscheiden. Wo das
Weltgebäude aus einer Reihe übereinanderliegender Welten
oder Himmel bestehend gedacht wird, hat natürlich jede davon
ihre besondere Sonne bezw. Mond.
Die primitivste Vorstellung ist bekanntlich die, daß die
irdische Sonne alltäglich durch eine neue ersetzt wird, oder
jede Lokalität ihre eigene Sonne hat. Auch derartiges ist bei
Beurteilung der Heroengenealogie mit in Rechnung zu ziehen.
Ein merkwürdiger, noch unerklärter, in Amerika mehr-
fach vorkommender Zug ist der, daß nur einer der Brüder
göttliche Qualitäten hat, während der andere rein menschlich
gedacht ist. Sein Vater ist ein Mensch, der die gottbefruchtete
Mutter zum zweiten Male schwängert. Demgemäß hat dieser
zweite Sohn schwächeren Charakter und menschliche Un-
vollkommenheiten.
247
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Das. Motiv erscheint auch in der Form, daß der zweite
aus der weggeworfenen Nachgeburt des ersten entsteht.
Dieser „Nachgeburtsknabe“ ist eine der häufigsten Sagen-
figuren der Prärieindianer*. Dagegen gehört das Motiv des
Streits der Kinder im Mutterleibe um den Vortritt bei
der Geburt sowohl der alten wie der neuen Welt an. Wir
finden es in der Jakob- und Esau-, der Tamar-, der Indrasage
so gut wie im irokesischen Mythus von Joskeha und Tawis-
karon. In den beiden letztgenannten Fällen ist das sicher
lunare Motiv des Durchbrechens der mütterlichen Seite mit
der Feuersteinkrone damit verbunden, sowie das Zwiegespräch
zwischen Mutter und Embryo.
Abschließendes läßt sich über diese merkwürdigen Vor-
stellungen zurzeit noch nicht sagen, solange die Varianten
nicht systematisch über die Erde hin verfolgt sind. Es mag
hier der Hinweis auf diese Probleme genügen. Häufig tritt
nur ein Bruder als Hauptperson auf, neben dem der andere,
auch als Gehilfe oder Freund gefaßt, eine untergeordnete
Stellung einnimmt, oder es ist überhaupt nur eine Einzel-
persönlichkeit tätig. Diese ist dann entweder das als Demiurg
wirksame Himmelswesen selbst oder dessen als Sonnen- oder
Mondheros gefaßter Abkömmling. Letzterer Art ist z. B.
Prometheus und seine zahllosen menschlichen oder thero-
morphen Parallelformen in allen Weltteilen. Ist der Heros,
wie meist, zugleich erster Mensch, Ahnherr oder Bildner des
Menschengeschlechts, so wiegen im Mythus die lunaren Züge
vor. Rein solare Formen, wie etwa der peruanische Viracocha,
sind selten,
Auch die Einzelpersönlichkeit kehrt nach Erfüllung ihrer
Aufgabe entweder zum Himmel zurück, verschwindet geheim-
nisvoll durch Entrückung, oder wird, wie z. B. Osiris, getötet,
ım nach Wiederbelebung Herrscher der Unterwelt zu werden.
Das hier Gesagte ist abgeleitet aus solchen Mythen, in
denen die himmelsmythologische Grundlage der Heroen ent-
*) Interessant ist in diesem Zusammenhang die afrikanische Vorstellung,
daß die Nachgeburt ein Bruder, ein alter ego der Frucht ist, daher das Kind
den Nabelschnurrest zeitlebens bewahren muß, mit dem seine Seele oder
Lebenskraft in mvystischer Beziehung steht.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 241
weder ausdrücklich angegeben ist oder aus dem ganzen Zu-
sammenhang erhellt. Nicht immer ist das der Fall, da die
fortschreitende Tendenz zur Vermenschlichung der Gestalten
deren Grundbedeutung verwischt. Sind Heroensage und
Kulturmärchen Bestandteile des religiösen Glaubens geworden,
so bleibt auch der himmelsmythologische Charakter gewöhn-
lich erhalten. Aber gerade diese Formen pflegen esoterisch
zu sein und werden selten original überliefert. Meist kennen
wir nur die populären Parallelbildungen, die die Helden zu
reinen Märchen- und Sagengestalten machen und ganz in die
irdische Sphäre rücken. Die mythischen Züge werden, weil
ihre Grundbedeutung nicht mehr verständlich ist, naturgemäß
dabei unterdrückt oder willkürlich umgeformt. Bietet dann
nicht die Mythenvergleichung eine Handhabe, das Wesen der
Gestalten zu ergründen, so stehen wir vor einem non liquet,
Daraus ist aber kein Gegenbeweis gegen die himmelsmytho-
logische. Grundlage abzuleiten. Da diese gerade in den pri-
mitiveren, noch nicht religiös und kultisch verarbeiteten Formen
am stärksten hervortritt, hat sie von vornherein die größere
innere Wahrscheinlichkeit, Indessen bleibt auch, wo sie
zweifellos feststeht, häufig noch eine Unsicherheit in der Einzel-
deutung bestehen, Nicht immer lassen sich das lunare, solare
oder astrale Element in der Person des Helden klar ausein-
anderhalten oder Heldenpaare sich nach diesen Prinzipien
klassifizieren. Wir müssen beachten, daß Mischformen hier
etwas ganz Gewöhnliches sind. Die Helden sind eben nicht
einfache Personifikationen der körperlichen Gestirne, sondern
Repräsentanten der sie bewegenden, ihre Erscheinungsformen
beherrschenden Kräfte. Ihre Taten und Schicksale sind nicht
identisch mit denen der Himmelskörper, sondern werden nur
durch diese illustriert, aus ihnen herausgelesen. Die Gestirne
sind nicht die Helden selbst, sondern nur Manifestationen
ihres Wesens. Sie sind mit ihnen nur in der Vorstellung
verbunden,
Die Elemente der Kulturheroensage finden sich nun, wenn
wir bei der griechischen Mythologie bleiben, ganz unverkenn-
bar in den Mythen von Herakles, Theseus, Perseus, Kadmos,
den Dioskuren, ferner auf anderen Gebieten, in denen von
Mrtholos. Bihliothek: Ehrenreich. 16
242 ; Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Romulus und Remus, Osiris, Krischna, Simson, Siegfried und
ihren Verwandten, mehr oder weniger vollständig, wieder,
wie u. a. ein Blick auf die von Hahn gegebene Tabelle
zeigt (Sagw. Studien, p. 8340).
Uralte, schon in den Mythen der niederen Rassen vör-
gebildete Grundvorstellungen sind in den Heroengestalten der
Kulturmythologien erhalten, die beweisen, daß deren Urtypen
mindestens so alt sind, wie die Götter selbst. Wieweit hier
die Entlehnung geht, wieviel dem Völkergedanken zuzurechnen
ist, das zu beantworten muß der Zukunft überlassen bleiben,
wenn man es nicht vorzieht, diese auffallenden Zeichen innerer
Wesensverwandtschaft einfach zu ignorieren, oder sie für ein
müßiges Spiel dichterischer Phantasie zu erklären.
So ist es denn kein Zufall, daß auch einzelne der höheren
Gottheiten, wie Apollon, Dionysos, Indra, Thor u. a. sich
mythisch gleichfalls den Kulturheroen annähern. Entweder
ist hier der Kulturheros zum Gott aufgehöht, wie das bei
Dionysos, Indra und Thor der Fall ist, oder der Mythus von
den Kulturheroen ist auf schon bestehende Naturgottheiten
übertragen, um sie zu persönlich wirkenden Gottheiten zu
machen, Daher zeigt sich die Spaltung des Sonnengottes in
den mythisch fast indifferenten Helios und den heldenhaft
wirkenden Apollon, der Mondgöttin in die mythisch bedeu-
tungslose Selene und die heroinenhafte Artemis. Das Gleiche
sehen wir bei den Mexikanern. Hier tritt neben den indiffe-
renten Sonnengott Tonatiuh der Kriegsgott Huitzilopochtli
mit dem Charakter des Sonnenheroen, neben Metztli, dem
Mondgott, das Bruder- oder Antagonistenpaar Tezcatlipoca und
Quetzalcouatl als Vertreter des zu- und abnehmenden Mondes
mit gleichzeitigen Beziehungen zu Abend- und Morgenstern.
Selbst der an der Spitze des griechischen Pantheons thronende
Himmelsgott Zeus trägt wie seine Genealogie, seine Geburts-
und Leidensgeschichte (Verborgensein vor Feinden, Sehnen-
durchschneidung beim Typhoeuskampf) kulturheroenhafte Merk-
male an sich. Gerade bei ihm zeigt sich die für das Himmels-
wesen Charakteristische Mischung solarer, lunarer und meteo-
rologischer Elemente, die den Erklärern ebenso zu schaffen
macht, wie der Umstand, daß auf Kreta sein Grab (!) ge-
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 243
zeigt wurde. Ob derartige Züge nationalgriechisch oder von
außen her entlehnt sind, ist irrelevant. Letzteres würde die
allgemeine Erfahrung nur bestätigen, daß heroenhafte Cha-
raktere sekundär auf die ursprünglichen Naturgötter über-
tragen werden.
Ein anderer Weg, die Gottheit zum menschlich wirkenden
Helden zu machen, ist durch die in Indien spezifisch ausge-
bildete Inkarnationslehre (Avatara) gegeben.
Götter, In der systematisierten Mythologie kann Grund-
bedeutung und Wesen der Götter und Heroen und deren
Stellung im Pantheon erschlossen werden
1. aus ihrem Namen,
2, aus ihren Attributen und Kultsymbolen,
3. aus ihrem Tun, d. h. aus dem, was im Mythus über
ihre Person und die Art ihrer Tätigkeit erzählt wird,
4. aus der ihnen durch den religiösen Glauben zuge-
schriebenen Wirkungssphäre, der im allgemeinen auch die
Mytheninhalte zu entsprechen pflegen.
Es sind dabei die früher erörterten allgemeinen Grund-
regeln für die Deutung mythischer Persönlichkeiten zu beachten:
1. die allgemeinen Prinzipien der Personifikation, insbe-
sondere die Kategorien der direkten und indirekten Verper-
sönlichung;
2. das Vorkommen rein fiktiver Bildungen, so daß also
nicht jede in einer Handlung tätige Persönlichkeit eine be-
stimmte Naturunterlage zu haben braucht;
3, das Vorkommen von Vervielfältigungen , besonders
Doppelungen einer Person, z. B. durch Einführung weiblicher
Gegenstücke zu männlichen;
4. daß Eltern oder Kinder eines Wesens meist dessen
Wiederholungen oder Prototypen sind, bisweilen freilich mit
assoziatiy begründeten Umformungen. Kinder von Sonne und
Mond sind also ebenfalls Sonnen und Monde, manchmal aber
auch Sterne, wie Morgen- und Abendstern, oder Auroren, was
aber außerhalb des indogermanischen Kreises selten ist. Sie
können ferner auch die Züge aller dieser Erscheinungen in
sich vereinigen.
244 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Nach den Anschauungen der älteren Schule ist der
Name das Wesentlichste an den Göttern. Aus ihm muß sich
deren Grundbedeutung unmittelbar ergeben. Sollte er nicht
direkt aus sich heraus verständlich sein, so bedarf es der
stymologischen Analyse. Theoretisch ist das im allgemeinen
richtig, in der Praxis jedoch ergeben sich dabei unüberwind-
liche Schwierigkeiten.
Viele Götternamen sind freilich Appellative, die die Natur-
grundlage unmittelbar angeben, wie Helios, Eos, Selene, Agni,
oder sind prädikative Ausdrücke, die auf gewisse KEigen-
schaften der entsprechenden Naturkörper hinweisen, wie „der
Glänzende“, „der Dunkle“, „die Verborgene“, „der Gefleckte“,
„der Rote“, „der Messende“, „der Antreibende“.
Auch die Kultnamen sind zum Teil solche adjektivischen
Ausdrücke. Bei den Semiten kommen verbale Bildungen
vor: Jahwe „er weht“, Ja’üq „er bewahrt“, Ja’qob „er über-
listet“, also „Aussagesätze über diejenige Eigenschaft, in der
das Wesen des Gottes besonders hervortritt“ (Ed. Meyer,
Gesch. d. Altertums 1 [2. Aufl.], p. 8371). Hierbei bestehen
nun schon Unsicherheiten.
Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß „der Messende“,
„die Fernwandelnde“ (Hekabe), „die Entgegenblickende“
‘Antiope), oder amerikanische Formen, wie „der früh Umher-
gehende“, Mondbezeichnungen sind, dagegen können Aus-
drücke, wie „der Glänzende“, schließlich auf jedes Gestirn
bezogen werden. Ebenso wird das Wesen Jahwes durch
seine Beziehung zum Windeswehen in keiner Weise erschöpft.
Die meisten dieser Bezeichnungen bleiben zunächst unklar,
besonders auch die bei den Naturvölkern so häufigen Tier-
namen. Sie werden uns erst verständlich, wenn die Natur-
unterlage auf anderem Wege, z. B. aus dem Mytheninhalte,
ermittelt ist. Erst aus der Sonnenbeziehung Apollos ver-
stehen wir dessen Beinamen Avxnyerns, aus der Mondbeziehung
des Hermes seine mit Unrecht bestrittene Verwandtschaft mit
der indischen Saramä und den Sarameyau, ebenso wie der
„große Hase“ Michabazo der Odjibway, der „rauchende Spiegel“
Tezcatlipoca der Mexikaner nur aus ihrer anderweitig fest-
gestellten lunaren Natur begreiflich werden.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 245
Anhaltspunkte geben manchmal auch die poetischen Bei-
namen im Epos: „der Goldene“, „der. Goldhaarige“, der mit
dem silbernen oder goldenen Bogen oder goldenem Schwert usw.
Doch sind nicht alle diese dichterischen Prädikate wirk-
liche Beinamen, sondern oft nur poetische Wendungen und
Gleichnisse, die den Gott nicht allgemein, sondern nur für
einen gegebenen Fall, einen besonderen Zusammenhang,
charakterisieren. Wenn z. B. in der Ilias 1, 47 von Apollon,
der als ®orßos doch ein Lichtwesen ist, gesagt wird, er sei mit
seinem Silberbogen »vxzl &oıxws in das achäische Lager ein-
gedrungen, so ist damit nur die geheimnisvolle Art seines
Einschleichens dichterisch ausgedrückt. Nicht die Person des
Gottes, der hier überhaupt ganz menschlich gefaßt ist, sondern
sein Tun hat der Dichter bei dem gewählten Vergleich im
Auge, Wir würden sagen, „er kam wie ein Dieb in der
Nacht“,
Es erscheint mir nicht geboten, mit Ed. Meyer aus
einem poetischen Ausdruck dieser Art ein Argument gegen
den sonst genügend gesicherten solaren Charakter Apollos
abzuleiten ?,
Die größte Schwierigkeit liegt darin, daß die meisten
Kultgottheiten der höheren Mythologien Eigennamen haben,
die jeder etymologischen Deutung spotten. Wo Gleichungen
aufgestellt werden, sind diese so abweichend voneinander und
unterliegen so häufigen Änderungen, daß selbst der philolo-
gisch durchgebildete Mythenforscher sich ihrer bei seinen
Deduktionen nur mit der allergrößten Vorsicht bedienen darf,
während der Nichtphilolog sie am besten ganz beiseite läßt.
Ist das schon in Sprachgebieten der Fall, die philologisch
gründlich durchgearbeitet sind, wie die indogermanischen, so
steigern sich natürlich die Unsicherheiten im Bereiche weniger
‘) Will man das vuxrti 80x06 als ein wirkliches Epitheton ansehen, so
ist freilich noch eine andere Erklärung möglich. Es könnte nämlich die
lunare Natur des Gottes betont sein. Der „Nachtgleiche“ mit dem Silber-
bogen wäre dann, der Naturanschauung ganz entsprechend, der Schwarz-
mond mit der abnehmenden Sichel der letzten Nachtstunden. Das würde
also nur eine Bestätigung des mehrfach erwähnten heroenhaften Charakters
des Gottes sein, der, wie alle Heroengestalten, lunare und solare Züge in sich
vereinigt.
246 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
bekannter Sprachen ins Ungemessene, so daß es geraten ist,
von allen Etymologien, die nicht unmittelbar durchsichtig
sind, abzusehen und erst, wenn eine Gestalt anderweitig aus
den Mytheninhalten erklärt ist, zu prüfen, inwieweit auch
ihr Name mit dieser Erklärung in Einklang zu bringen ist.
Etwas besser steht es mit den Attributen, weil diese
erfahrungsgemäß zu den dauerhaftesten Elementen gehören,
auch wenn ihre ursprüngliche Bedeutung längst vergessen ist.
Unverkennbar sind namentlich die Monds ymbole!: Halb-
monde als Kopfzierat der Selene und Artemis, als Brust- und
Schildemblem bei den mexikanischen Erd-, Vegetations- und
Rauschtrank-(Pulque-)Göttern. Die Hörner des Dionysos und
gewisser ägyptischer Gottheiten, das Sichelmesser des Kronos
und der Demeter, die Doppelaxt und die Schlangenstäbe des
Hermes und Asklepios, ferner die tierischen Begleiter, wie
Kaninchen, Hase, Schwan, Schlange, und endlich gewisse
Körpereigenschaften, wie Mehrköpfigkeit, Kahlheit oder Be-
haartheit, Fleckigkeit, Schlangenhaar, Gorgonenhaupt u. dgl.
Sonnensymbole sind Strahlenkrone, Pfeilbündel,
Schilde, Räder, glänzende Nasen- und Brustornamente.
Atmosphärische oder himmlische im weiteren Sinne
sind Blitzbündel, Donnerkeile (Vajra), Gürtel und Mäntel, die
in Amerika oft mit besonderen Wolken- und Gestirnsymbolen
verziert sind. Nicht alle Attribute sind natürlich ohne
weiteres verständlich, Bei exotischen Völkern erfordern sie
eine genaue Kenntnis ihrer ganzen mythischen Vorstellungs-
welt und der herrschenden Kunstformen, in die wir jetzt erst
einzudringen anfangen. Welche Rätsel barg nicht bis vor
kurzem die mexikanische und die polynesische Symbolik, die
uns Selers und von den Steinens Arbeiten allmählich
erschlossen haben. Das Gleiche haben Franz Boas und
‘) Daß die meisten dieser Attribute ursprünglich Anschauungsformen
der Götter selbst, d. h. ihres Natursubstrats sind und erst später die bildende
Kunst diese Sachbilder zu wirklichen Symbolen umgeschaffen hat, wird von
Siecke in seinem neuesten Werke „Götterattribute und sogenannte Symbole“
(Jena 1909) für die griechische und römische Mythologie eingehend dargelegt
und künstlerisch veranschaulicht. Inwieweit das allgemeingültig ist, bedarf
natürlich weiterer Untersuchungen.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 247
seine Mitarbeiter für Nordwestamerika, Fewkes, Stephen-
son, Cushing und Matthews für das Pueblogebiet, Dorsey,
Hoffmann, Kroeber u. a. für die Stämme der Ebenen ge-
leistet. Heute wissen wir, Was €s mit dem verstümmelten
Fuß und dem rauchenden Spiegel des mexikanischen Tez-
catlipoca für eine Bewandtnis hat, warum die Hopi ihren
Gott der Weltmitte und des Donners ohne Mittelleib dar-
stellen, die Prärieindianer die Staubpilze (Boviste) als Stern-
symbole verwenden.
Zu beachten ist außerdem, daß manche Symbole ver-
schiedenen Gottheiten zukommen, der Bogen z. B. sowohl den
Sonnen- wie den Mondgott charakterisieren kann. Bei den
Babyloniern ist der Hörnerschmuck sogar gemeinsames Ab-
zeichen aller Götter geworden, ebenso wie bei den Ägyptern
die Sonnenscheibe oft mit Hörnern kombiniert wird. Bei den
Hopiindianern sind Regen- und Wolkensymbole ebenfalls zum
Allgemeinbesitz der Götter geworden, da jeder Götterkult hier
noch reiner Regenzauber ist. Es handelt sich hierbei also
um religionsgeschichtliche Umformungen.
Daß die mythologische Bedeutung eines Gottes am besten
aus seinen Mythen und Kultlegenden selbst erkannt
wird, leuchtet ein. Wir haben also zu prüfen, was von ihm
erzählt wird und auf welche Naturgrundlage die Einzelzüge
seiner Mythen hindeuten. Ob seiner mythologischen Bedeu-
tung auch die kultische entspricht, ist wieder eine be-
sondere Frage.
Worauf es bei der Prüfung mythischer Züge und Motive
ankommt, haben wir bereits gesehen. Damit ist aber zunächst
die Rolle eines Gottes oder göttlichen Heroen nur für den
Einzelmythus bestimmt, nicht aber für den ganzen an seine
Person sich knüpfenden Mythenkreis, noch weniger seine
Stellung im Pantheon. Dieselbe Persönlichkeit kann in ver-
schiedenen Mythen einen verschiedenen Charakter tragen.
Insbesondere stimmen die Gestalten des Epos nicht immer
mit denen der kultischen Legenden überein.
Gewöhnlich schließt man daraus, daß verschiedene Mythen
auf. dieselbe Gestalt übertragen sind oder im Verlaufe der
Religionsentwickelung verschiedene Personen zu einer ZU-
248 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
sammengeflossen sind, die nun die Mythen aller ihrer Kompo-
nenten in sich vereinigt.
Als Ursachen solcher Umformungen gelten z, B. in der
griechischen Mythologie, wo diese Dinge am besten studiert
sind, Vorgänge religionsgeschichtlicher Art, Theokrasien, Re-
zeptionen fremder Gottheiten oder Angleichung mit solchen,
Spaltungen einer einzelnen Gestalt unter dem Einfluß der
Lokalkulte usw., wie dies Gruppe in seinem Handbuch (8 290)
eingehend dargestellt hat,
Für die allgemeine Betrachtungsweise reichen diese Er-
klärungen aber nicht aus, weil sich Ähnliches auch in anderen
Mythologien findet, wo die für die hellenische Religions- und
Mythengeschichte maßgebenden Faktoren wegfallen.
Der innere Grund für die wechselnde Rolle eines Gottes
im Mythus ist wohl darin zu suchen, daß die Mythen älter
sind als die Göttergestalt, mit der sie verbunden sind. Der
Gott in seiner festen religiösen Fassung als Glaubensgestalt
wird durch den Kult geschaffen, die mythische Erzählung
aber von seinen Taten und Schicksalen stammt aus dem
Vorrat naturmythologischer Märchen, über die jedes Volk lange
vor Ausbildung wirklicher religiöser Glaubensvorstellungen
und Kulte verfügt. In diesen Mythenmärchen sind die Träger
der Handlung personifizierte Naturerscheinungen und Kräfte
(Numina), aus denen die späteren Götter hervorgehen. Diese
Erscheinungen können aber in der mythenbildenden Phantasie
verschieden aufgefaßt werden und dem entsprechen ver-
schiedene Wesensseiten der daraus abgeleiteten Gottheiten,
die alle einen besonderen mythischen Ausdruck erfordern.
Der Mond erscheint nicht immer als Mond-, sondern auch
als Vegetations-, Unterwelts- und Wettergott, die Sonne nicht
nur als Sonnengott, sondern auch als Himmelsherr, Wolken-
hirt, als finstere Mächte bekämpfender Held. Beide Haupt-
gestirne sind aber auch bösartige verschlingende Dämonen.
Die Aurora kann bald in ihrem Verhältnis zur Sonne, bald
in dem zum Mond und Morgenstern dargestellt sein.
Die Naturgrundlage eines Gottes schwankt also hinsicht-
lich ihrer Auffassung in einer gewissen Variationsbreite.
Daher ist nun auch in den Kulturmythologien meistens die
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und. deren Deutung. 9249
Wirkungssphäre der Hauptgottheiten nicht scharf abgegrenzt,
was bei Deutungsversuchen nicht zu übersehen ist. Es wäre
falsch, einen Gott, der Donner und Blitz sendet, einfach als
Gewittergott anzusprechen oder gar als Gewitterpersonifika-
tion, seine Sphäre also auf die Wettererscheinungen zu be-
schränken. Das kann sehr wohl eine bloße Nebenfunktion
sein. Die Blitzwaffe kommt dem Himmelsgott seinem Wesen
gemäß zu, sie gebührt aber auch allen mit ihm begrifflich
verbundenen mythischen Heroen und heroenhaften Gottheiten,
wie Thor und Indra. In Amerika ist sie häufig das Attribut
der göttlichen Zwillinge, Ein bogenbewehrter Schütze und
Drachenkämpfer kann sowohl der Sonnen- wie der Mondgott
sein. Beide sind Wetterregulatoren, beide greifen in das
chthonische Gebiet über, Der Mond ist seiner Natur nach,
die Sonne in ihrer Untergangs- oder nächtlichen Dunkelform,
Unterweltsgott. Beide stehen in Beziehung zum Feuer
und zur Aurora, der Vegetation und dem Venusgestirn, ob-
wohl der Mond hierbei gewöhnlich den Vorrang hat oder einer
älteren Auffassung entspricht.
Derartige Verschiebungen und Überkreuzungen haben an
sich nichts Willkürliches oder Geheimnisvolles, Sie beruhen
nicht auf vagen, zufälligen Ideenassoziationen, sondern liegen
im Naturkern des betreffenden Götterwesens unmittelbar be-
gründet.
Sind verschiedene Apperzeptionen desselben Natursub-
strats möglich, so muß auch der Gott, der sich in ihm darstellt,
seine Rolle und Wirkungskreis dementsprechend wechseln.
Will man aber das Hauptgewicht auf Theokrasien und
Assimilationen legen, so darf nicht vergessen werden, daß
solche immer eine gewisse innere Wesensverwandtschaft der
so zusammenfließenden Persönlichkeiten voraussetzen. Wenn,
wie Gruppe ausführt (Handb., p. 1094), Gestalten wie Ky-
bele, Rhea, Hera, Astarte sich mit Aphrodite mischen, wenn
Apollo mit Adonis, Dionysos und Hyakinthos, Artemis mit
Hekate und Eileithyia sich angleichen, so ist das eben in
ihrer natürlichen Wesensverwandtschaft begründet, in dem
Junaren Grundelement, an dem alle diese Gestalten Anteil
haben, auch wenn einige von ihnen sekundär zu Vegetations-,
250 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Agrikultur- und Unterweltsgottheiten geworden sind. In dıesen
Fällen liegt die Sache einfach, weil die Mytheninhalte über
die ursprüngliche Mondnatur dieser Wesen keinen Zweifel
lassen *,
Ist der Naturkern aber selbst nicht einheitlich, ist die Per-
sonifikation ohne einen solchen oder auf Umwegen erfolgt,
wie z, B. bei den Göttern des Meeres, des Krieges, der mensch-
lichen Verrichtungen und Affekte, so ist von vornherein eine
große Verschiedenheit ihres mythischen Charakters zu erwarten.
In allen Mythologien finden sich Gestalten von himmels-
mythologischer Grundbedeutung mit Sagen und Einzelzügen
verbunden, die mit dieser unvereinbar sind, ihr sogar auch
wohl direkt widersprechen. Wie kommt z. B. der Schmiede-
gott Hephaistos zu einer Paarung mit der Liebesgöttin? Wie
ist sein erotisches Verhältnis zur Athene zu erklären? Diese
selbst ist trotz unzweifelhaft lunarer Anklänge (wie die Kopf-
geburt, ihre Beziehung zur Gorgone und zu den weiblichen
Verrichtungen) eine der am schwierigsten zu deutenden Gott-
heiten des griechischen Pantheons. Ähnlichen Schwierigkeiten
begegnen wir bei Poseidon und dem nordischen Loki. Hier
müssen besondere Umstände obgewaltet haben, deren Ermitte-
lung die Aufgabe der speziellen Mythenforschung ist.
Ist aus der Naturpersonifikation ein Kultgott entstanden,
so kann dieser Mythen verschiedenster Art mit seiner Person
verbinden, sofern diese nur geeignet sind, sein göttliches
Wirken zu veranschaulichen. Jeder Lokalkult, jeder eso-
') Man braucht sich dabei gar nicht um die Argumente der „Mond-
mythologen“ zu kümmern, sondern kann einfach das von den Vertretern der
skeptischen oder negativen Richtung beigebrachte Material reden lassen, be-
sonders die überaus sorgfältig gesammelten Angaben Gruppes. Dieser
gibt bezüglich Heras wenigstens zu, daß sie „bisweilen als Mondgöttin gefaßt
wurde“ (Handb. d. gr. Myth., p. 1127). Nach Eduard Meyer (Gesch. d.
Altertums 2, p. 114) trägt sie dagegen alle Züge der Erdgöttin. Ob sie
im Kult diese Stellung inne hat, wage ich nicht zu beurteilen, Sicher ist
aber, daß die von Meyer zum Beweise hervorgehobenen Züge der Kuh-
gestalt, der heiligen Hochzeit, ihre Verwandtschaft mit Io, die Flucht vor
dem Gemahl, ihre Wiederverjüngung, ihre Rolle als Geburtsgöttin nur auf
sine ursprüngliche Mondgöttin passen und ihre Übertragung auf die Erde uud
deren Vegetationswechsel nur eine symbolische, also sekundäre ist.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 251
terische Verband kann besondere Seiten dieser Gottheit her-
vorheben und in besonderen Kultlegenden, mögen sie frei
erfunden oder Umarbeitungen älterer naturmythischer Stoffe
sein, ausmalen und versinnlichen. Die Einflüsse der Helden-
und Kulturbringersage, die in den Kulten begründete Neigung,
auf den gerade angerufenen Gott die Attribute aller andern
zu häufen und ihn damit als den Allerhöchsten hinzustellen,
alles das wirkt zusammen, um das Urbild der göttlichen Per-
sönlichkeit zu: verhüllen. Je größer die Menge der auf sie
übertragenen. mythischen Vorstellungen ist, um so schwerer
ist es, sie alle unter einen Hut zu bringen.
Einer solchen Aufgabe gegenüber versagt die allgemeine
Mythologie und es tritt die Spezialforschung für den engeren
ethnischen Kreis in ihre Rechte. Gleichwohl verfügen wir
über eine Reihe sicherer Erkenntnisse von allgemeiner Be-
deutung, die für die Bestimmung der Hauptgötter jeder ge-
gebenen Mythologie die erste Orientierung ermöglichen und
die scheinbaren Widersprüche und Unklarheiten über die
mythische Rolle der einzelnen Gestalten zum guten Teil aus-
gleichen.
Als Gesamtergebnis unserer bisherigen Untersuchung
seien sie zu folgenden Grundsätzen zusammengefaßt:
1. Alle Hauptgötter sind Himmelswesen, Personifikationen
von Kräften sowohl wie von Erscheinungen der himmlischen
Sphäre.
2. Das höchste Himmelswesen kann als Himmelsgott mit
allen bedeutsamen Himmelserscheinungen verbunden sein.
3. Heroenhafte Gottheiten vereinigen meist Züge von
Sonne, Mond und Morgenstern oder verteilen diese auf ver-
schiedene, im Verwandtschaftsverhältnis gedachte Gestalten.
4. Niedere Gottheiten, Vegetationsdämonen und Elben
sind animistischer Natur oder Alptraumwesen und als solche
oft mit Mondcharakteren ausgestattet, ohne gerade unmittel-
bare Mondpersonifikationen zu sein,
5. Sonnengötter fallen oft mit dem Himmelsgott zusammen
und sind vielfach männliche Komplemente zu Mond und Erde,
Das Geschlechtsverhältnis beider Teile kann auch das um-
gekehrte sein, was allgemeinmythologisch bedeutungslos ist.
252
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
6. Mondgötter sind stets Vegetations-, Wetter-, meist auch
Erd- und Unterweltsgottheiten. Sie beherrschen stets das
menschliche Geschlechtsleben (Geburt und Pubertät), stehen
in Beziehung zur Schmiedekunst, zur Töpferei und den spe-
zifisch weiblichen Fertigkeiten, insbesondere Spinnen und
Weben. Sie senden oder heilen Haut- und Geisteskrankheiten
und sind als Traumgottheiten zugleich solche der Weissagung,
sowie Seelenführer.
7. Wie die Vegetationsgötter gehen auch die der Jagd
auf den Mond zurück, seltener die des Krieges.
8. Erd- und Unterweltsgottheiten stehen in engster Be-
ziehung zum Mond, letztere auch in seltenen Fällen zur Sonne.
9. Feuergötter stehen sehr.oft in Verbindung mit Mond,
Blitz und Erdpol (als Drehungspunkt des Himmels). Selten
sind sie der Sonne wesensgleich.
10. Weltelternpaar sind entweder Sonne und Mond oder
Himmel und Erde, Ihre Abkömmlinge sind wieder Sonne und
Mond oder Morgen- und Abendstern.
11. Der erste Mensch und Ahnherr des Menschen-
geschlechts, oft zugleich Demiurg, ist fast immer der Mond
ader ein von ihm abgeleitetes Wesen.
12, Stern-, Kriegs-, Wind- und Meergottheiten sind keine
einfachen Bildungen und lassen sich nur im Rahmen der
Einzelmythologie von Fall zu Fall beurteilen.
‚Diese Sätze gelten natürlich nicht ausnahmslos, werden
aber so oft, wenn auch manchmal erst im Verlauf der Unter-
suchung, bestätigt, daß wir bei Ausnahmen immer nach be-
sonderen Gründen zu forschen haben. Bemerkenswert ist
ihre unumschränkte Geltung für die griechische Mythologie,
Auch der Kultus läßt Rückschlüsse auf die mytholo-
gische Bedeutung eines Gottes zu, sofern sich oft in Kult-
formen Mytheninhalte wiederspiegeln. Gehört doch die dra-
matische Darstellung mythischer Vorgänge zu den gewöhn-
lichsten kultischen Ausdrucksmitteln !.
’) Nach Heidemann („Elemente der gr. Religionsgeschichte“) „ver-
halten sich Mythos und Kult zueinander wie Inhalt und Form, Enthält der
Mythos das, was man von der Gottheit weiß, in weiterem Sinne das Glaubens-
gebäude der Naturreligion, so treten die religiösen Überzeugungen im Kult
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 253
Dagegen ist seine kultische Bedeutung selbst, seine Rolle
als Gestalt des Glaubens ein religionsgeschichtliches Problem.
Sie ist etwas Wandelbares, abhängig vom Stand der Religions-
entwickelung und der Weltanschauung des Einzelvolks in
den einzelnen Perioden seiner Geschichte, Diese kultische
Bedeutung darf mit der mythologischen nicht verwechselt
werden. Das Verhältnis beider zueinander bildet noch immer
eine Streitfrage für die Mythologen, die durch das Dogma
von der unbedingten Priorität des Kults vor dem Mythus noch
unnötigerweise verwickelt wird. Ä
Sprechen wir den mythischen Dionysos als einen Mond-
gott an, So heißt das nur, daß seine Mytheninhalte mond-
mythologischen Vorstellungen reflektieren, nicht aber, daß er
zu irgendeiner Zeit von den Griechen als Mondgott betrachtet
und verehrt wurde‘, Das kann der Fall gewesen sein in
vorgeschichtlicher Zeit oder bei den Völkern, von denen die
Griechen diese Gestalt übernahmen, also etwa bei den Thra-
kern. Bei den Griechen selbst ist er Vegetationsgott oder
‚Dämon.
Apollon ist im Kult entschiedener Sonnen-, Vegetations-
und Wettergott, während seine Mythen ein Gemisch von
solaren und lunaren Elementen darstellen.
Der mexikanische Quetzalcouatl ist mythisch Mond- oder
Morgensterngott, im Kult dagegen Windgott. Demeter, im
Mythus entschiedene Mondgöttin. ist im Kult Erd- und Agri-
kulturgöttin.
Zeus, der im Mythus nicht nur Himmelsgott und Götter-
vater ist, sondern auch als Repräsentant himmlischer Kräfte
Sonnen-, Mond- und Wetterbeziehungen in sich vereinigt, hat
im Kult noch eine Menge von Spezialfunktionen, die schein-
bar mit seiner Grundlage nichts zu tun haben, und wird
außerdem noch anderen Göttern höherer Ordnung, wie Po-
aktiv in Erscheinung. Bei näherer Betrachtung offenbart er einen überaus
großen Reichtum sakraler Formen, die auf nichts anderes, als die Nach-
ahmung oder die dramatische Darstellung der Götterhandlungen hinaus-
taufen, deren Sinn der Mythus erschließt“
') Dieser Punkt wird gewöhnlich von den Gegnern der mondmytholo-
vischen Richtung völlig übersehen,
254
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
seidon, Hades, auch fremden, wie Serapis und Bel, angeglichen.
Noch größere Schwierigkeiten bietet das Verhältnis der my-
thischen zur kultischen Athene,
Derartige Diskrepanzen waren von jeher ein Kreuz für
die Mythologen. Sie gaben Veranlassung zu den wunder-
lichsten Deutungsversuchen und unterstützten die Neigung
zu symbolisierender oder allegorisierender Auffassung des
Mythus überhaupt. Ohne sie wäre man schwerlich auf den
Gedanken gekommen, dem Mythus selbständiges Dasein ab-
zusprechen und ihn nur als ein explikatives Element für den
Kultus anzusehen.
So verzichten denn auch viele Forscher ganz auf Erklä-
rung des Mythus und halten sich nur an die Kulte und Rituale.
Demgemäß sagt Bethe (D. Literaturzeitung 37, p. 2668), die
Mythologie sei ein Rätsel, das einzig Sichere seien die Kulte.
Man könne aus Mythen überhaupt nichts über das Wesen der
Gottheiten kennen lernen. In ähnlichem Sinne äußert sich
Gruppe(Hädb. d. gr. Myth., p. 1094). Nach ihm ist das ursprüng-
liche Wesen gerade der obersten Gottheiten dunkel. Es werde
klar erst in dem Augenblick, wo diese für die Religionsentwicke-
lung bedeutsam werden, d.h. also mit der Ausbildung systemati-
sierter Kulte. Man begreift dann freilich nicht, warum man
sich denn über dieses Wesen immer noch herumstreitet. Hierzu
läßt sich vom ethnologischen Standpunkt aus folgendes sagen.
Die Mythologie ist nur dann ein Rätsel, die Hauptgötter
ihrem Ursprunge nach nur dann dunkel, wenn man sich von
vornherein absichtlich der Erkenntnis verschließt, daß ihre
Gestalten Personifikationen von Naturerscheinungen und
Kräften sind.
Der Kult ist nur dann etwas Sicheres, wenn wir ihn
wirklich in allen Einzelheiten kennen und zugleich verstehen,
was, wie bereits bemerkt, nur ganz ausnahmsweise der Fall ist.
Das Wesen der Götter im philosophischen Sinne, der In-
begriff ihres religiösen und mythischen Gehalts ist ein theo-
logisches oder metaphysisches Problem, das jedes Zeitalter
verschieden zu lösen sucht, über das uns weder der Mythus
noch der Kult etwas aussagt. Denn seine Erkenntnis ist
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 9255
nicht Gegenstand des Volksglaubens, sondern der inneren Er-
fahrung des Individuums.
Wohl aber erkennen wir ‚überall den engen inneren Zu-
sammenhang von Mythus und Kult. Beide erklären sich gegen-
seitig. Gibt uns der Mythus keinen Aufschluß über das Wesen
der Gottheit, so läßt er uns doch den Naturkern erkennen,
an. dem die Göttergestalt sich herauskristallisierte, und es
ist daher von vornherein zu erwarten, daß auch der Kult in
irgend einer Weise diesen Naturkern zum Ausdruck bringt.
Dadurch fällt dann wieder ein Licht auf das mythische
Wesen der Göttergestalt.
Diese‘ Wechselwirkung läßt sich gerade bei den wich-
tigsten Kulten unmittelbar nachweisen.
Im Kultus wird diejenige Seite der Gottheit hervorgehoben,
die für die menschlichen Interessen von besonderer Bedeutung
ist. die also wirksam ist
1. in bezug auf die allgemeinen menschlichen Existenz-
bedingungen,
2. auf das menschliche Leben,
8. auf den Tod und die Verhältnisse des Jenseits,
Diesen drei Gebieten entsprechen
1. die Vegetations-, Wachstums- und Jahreszeitkulte, ein-
schließlich der Riten des Regen- und Wetterzaubers.
2. die Pubertätsweihen beider Geschlechter, als deren
Erweiterung die Initiationsweihen der Geheimbünde zu be-
trachten sind,
3. die Toten- und Ahnenkulte.
Die Mehrzahl der Kulte ist auf diese drei auch universell
verbreiteten Grundformen zurückzuführen, die untereinander
wiederum in engster Verbindung stehen. Alle sind ursprüng-
lich magische Handlungen zur Beförderung vegetativen
Wachstums, zur Stärkung menschlicher Lebensenergie, zum
Schutz der Lebenden gegen die Toten und deren dämonische
Wesensformen.
Wenn die einfachen Zauberpraktiken sich nicht mehr bloß
auf schemenhafte, dämonische Mächte richten, deren Dasein
sich nur in unbestimmten subjektiven Gefühlsregungen offen-
bart, sondern auf objektiv sichtbare oder in sichtbaren Er-
256
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
scheinungen wirksam gedachte Naturwesenheiten, so gewinnen
diese dadurch individuelles Leben, persönlichen Charakter,
d. h, sie werden zu Göttern. Der Zauberritus wird dann
zur Kultusform, das naturmythologische Märchen, das die
Vorgänge der Natur und die gegenseitigen Beziehungen ihrer
Kräfte und Phänomene zum Gegenstand hat, zur Erzählung
von diesen Göttern, zum Mythus, der nun als Legende in den
Kult einbezogen wird oder als Götter- oder Heldensage selb-
ständig daneben steht.
In diesem Sinne also schafft der Kult Götter, aber nicht
jedes Wesen, dem göttliche Qualitäten beigelegt werden, hat
kultische Bedeutung. Viele bleiben bloße Mythengestalten
oder geben ihre Kultbeziehungen an andere, abgeleitete Per-
sönlichkeiten ab.
Verstehen wir unter Kultus im höheren Sinne die syste-
matisierte Verehrung eines Wesens als Angelegenheit einer
ganzen Volksgemeinschaft oder bestimmter Volksgruppen,
Sippen und Kultverbände, so haben daran in erster Linie
solche Gottheiten Anteil, die der Mythus in ein engeres Ver-
hältnis zum Menschen bringt und sie zu gesteigerten mensch-
lichen Wesenheiten heroenhaften Charakters umformt. Das
vermag er aber nur bei denen, die durch ihren Grundkern
dazu prädestiniert sind, wo also solche Verpersönlichung kon-
kreterer Art durch die Naturunterlage psychologisch möglich
ist. Es sind diejenigen Erscheinungen und Kräfte der Natur,
die erfahrungsgemäß oder in der Vorstellung alle menschlichen
Daseinsformen und Bedingungen beherrschen, zugleich objektiv
sichtbar sind und demgemäß auch die größte mythische Be-
deutung haben, weil ihren Mythen ein objektiver Wahrheits-
gehalt zukommt, also Sonne und Mond, denen sich in zweiter
Linie und nur in engster Verbindung mit ihnen, Morgen-
stern, Himmel und Erde anreihen. Die sporadisch vor-
kommenden Feuer- und Sterngötter gehören nicht in diesen
Zusammenhang.
Wenn Caesar von den Germanen berichtet, daß sie nur die
Götter verehren, die sie sehen, so ist damit schon das an-
gedeutet, was wir heute als eine allgemeingültige Erscheinung
erkannt haben, wozu dann auch die Tatsache stimmt, daß
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 257
gerade das höchste Himmelswesen gewöhnlich eines Kults
entbehrt, eben weil es nicht sichtbar ist, weil es allzuhoch
über der menschlichen Sphäre thront. Erst wenn es sich
dieser nähert, wenn es in bestimmten realen Erscheinungen
sich manifestierend gedacht wird, rückt es in die Reihe der
Kultgottheiten ein als vermenschlichter Göttervater und
Himmelskönig des Pantheons. Ob die Naturerscheinung selbst
verehrt wird oder nur das darin sich bekundende Numen oder
dessen heroisierter Repräsentant, ist vom allgemeinmytholo-
gischen Standpunkt aus ohne Bedeutung. Das wechselt je
nach dem jeweiligen Stand der religiösen Entwickelung und
ist eine Frage der speziellen Religionsgeschichte. Bemerkens-
wert sind aber zwei in allen Kulturmythologien und Religionen
hervortretende Erscheinungen:
1. Gerade die direkten Personifikationen der Himmels:
körper sind gewöhnlich kultisch vernachlässigt. Sie werden
durch Ableitungen ersetzt, die einzelnen ihrer Erscheinungs-
formen oder Wesensseiten entsprechen oder einen heroenhaften
Charakter tragen. Der psychologische Grund dafür liegt be-
kanntlich darin, daß, solange die konkrete Erscheinung des
Objekts die Vorstellung beherrscht, deren vollkommene Ver-
persönlichung zu einem menschlich handelnden Wesen er-
schwert wird. Der wahrhaft persönlich wirkende, individuell
tätige Gott bedarf also einer möglichst vollkommenen Ablösung
von seinem Substrat,
2, Das auffallend starke Hervortreten mondmythologischer
Züge bei fast allen Kultgottheiten. Es veranlaßte bekanntlich
die Mondmythologen strenger Observanz, alle Götter vom
Monde abzuleiten und bestimmte wiederum ihre Gegner dazu,
die ganze Mondmythologie oder „Mondsucht“, wie der ge-
schmackvolle Ausdruck lautet, als absurd zu verwerfen.
In Wirklichkeit hat dieses Übergewicht des Mondes auch
in kultischer Beziehung gar nichts Wunderbares. Denn alle
drei Hauptgruppen menschlicher Lebensverhältnisse, die
Götterkulte bedingen, werden vom Monde beherrscht. Der
Mond ist Vegetations- und Wettergott, er ist Gott des Toten-
reichs, er beeinflußt das ganze organische Leben, Zeugung
und Geburt. In seinem Schicksal reflektiert sich das des
Mytholug. Bibliothek: Ehrenreich. 17
258
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Menschen, daher in den Pubertäts- und Mysterienweihen der
Naturvölker die Riten der Tötung und Wiederbelebung des
Kandidaten, deren Mondbeziehungen so oft ausdrücklich an-
gegeben oder aus dem Ritual erkenntlich sind, eine so große
Rolle spielen.
Dazu kommt seine Beziehung zum Traum und den reli-
gionsgeschichtlich so wichtigen ekstatischen Zuständen. Daß
auch die Erdgottheiten gewöhnlich bloße Umformungen von
Mondgöttern sind, ist bekannt.
Auch die Sonne tritt freilich in den Vegetationskulten
hervor. Auch sie wirkt auf Wetter und Niederschläge, aber
diese Züge sind nur lokal entwickelt und häufig nur sekundär
unter dem Einfluß des Kalenders aus ursprünglich lunaren
abgeleitet. Die eigentliche kultische Bedeutung der Sonne
gravitiert in anderer Richtung. Sie liegt in ihrer An-
gleichung an den Himmelsgott, dem sie als körperliches
Substrat dienen kann. Dadurch gewinnt sie dann manchmal
geradezu selbst die Qualität eines höchsten Wesens, wie in
Ägypten, Peru und sporadisch in Nordamerika und Asien.
Noch seltener und fast ganz auf die Agrikulturriten be-
schränkt sind die von Morgen- und Abendstern abgeleiteten
Kultformen.
Es liegt im Wesen des Kultus begründet, daß er gewöhn-
lich nur einzelne Seiten der Naturgottheit hervorhebt oder
sich in Lokalformen spezialisiert. Dadurch wird die Spaltung
der ursprünglich einfachen Göttergestalten begünstigt. Vom
Monde entspringen so die Sondergötter der Vegetation, der
Jagd und des Naturlebens, des Todes, der Geburt, des Rausch-
tranks usw. unter verschiedenen Namen, die manchmal ety-
mologisch noch auf die lunare Grundlage der Gestalt hin-
weisen, ebenso oft aber völlige Neuschöpfungen sind. Weniger
tritt dies bei der Sonne hervor. Ihre einzelnen Wesensseiten
als Wetter- und Vegetationsnumen, als zerstörende Kraft der
*\ Das wird auch neuerdings wiederum durch das von Preuß bei den
mexikanischen Indianern gesammelte Material bestätigt, vgl. Z. f. Ethn. 40.
p. 587. 601.
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 9259
verdorrenden Hitze werden seltener besondere Personifikationen
als die des Mondes. Sie sprechen sich mehr in verschiedenen
auf die Sonne als solcher bezogenen Kultformen aus, Doch
kann die Frühlingssonne, die den Jahresanfang markiert, in
ihrer symbolischen Bedeutung als Antagonist der Winter-
mächte zu einer besonderen heroenhaften Kultperson werden,
die, wie gesagt, im Mythus gern den Mondheroen assoziativ
angeglichen wird. Wird die Untergangsform im Kult hervor-
gehoben, so tritt sie in engere Beziehungen zur Unterwelt,
wie bei den Ägyptern Atum und Osiris, bei dem aber die
solaren Züge wohl sekundärer Art sind.
Gewöhnlich wird aber der Sonnengott im Kultus ebenso
wie im Mythus durch heroisierte Gestalten vertreten, die
keine Spezialfunktionen der Sonne darstellen, sondern, wie
wir gesehen haben, aus dem Himmelsgott abgeleitet und dem-
gemäß Sonnen-, Mond- und Wettergottheiten zugleich sind.
Unter diesem Gesichtspunkt sind also Gestalten wie Herakles,
Apollon, Indra, Thor, Marduk, Horus, Huitzilopochtli zu be-
urteilen. Allgemein läßt sich über den Ursprung abgeleiteter
Sonderformen folgendes aussagen:
ı. Sie entwickeln sich entweder selbständig unmittelbar
aus dem Natursubstrat heraus, indem die einzelnen Wir-
kungsseiten der Naturpersonifikation zu besonderen Göttern
werden, oder
2, sie entstehen mittelbar aus der zum Gott aufgehöhten
Naturpersonifikation unter spezifischem Einfluß schon ausge-
bildeter Kulte,
Im ersteren Falle erhalten die Ableitungen gewöhnlich
verschiedene Namen, wie die lunaren Gottheiten Hera, Aphro-
dite, Athene, Dionysos usw.
Im letzteren bleibt der ursprüngliche Name erhalten oder
wird durch einen mehr oder weniger durchsichtigen Bei- und
Kultnamen ersetzt. ;
Beide Gruppen, von denen die erste besonders Mond-, die
zweite Himmels- und Sonnengötter umfaßt, gehen natürlich
im Laufe der Religionsentwickelung ineinander über, was der
Mythus durch Aufstellung genealogischer Stammbäume äußer-
lich zum Ausdruck bringt.
en
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Ob wir uns bei der Wesensbestimmung eines Gottes an
seinen Grundkern halten wollen, der meist aus dem religiösen
Bewußtsein entschwunden ist, oder an die abgeleitete Form
der kultischen Glaubensgestalt. ist an sich gleichberechtigt,
je nachdem das mythologische oder das religionsgeschichtliche
Moment berücksichtigt wird,
Es ist also ein ziemlich müßiger Streit, ob z. B. eine
Gottheit, die im Mythus Mondcharakter trägt, ohne daß ihr
Name darauf hindeutet, als Mondgöttin zu betrachten sei
oder nicht. Sie ist es, sofern ihre mythischen Eigenschaften
dafür sprechen und das läßt sich direkt beweisen. Daß sie
diese Eigenschaften erst sekundär, etwa durch. Verschmelzung
mit fremden Gottheiten, erlangt hat oder überhaupt früher
etwas ganz anderes bedeutete, ist zwar möglich, muß aber,
solange man den Beweis dafür schuldig bleibt, außer acht
gelassen werden. Das Hauptargument hierfür wären auf-
fallende Verschiedenheiten der mythischen und der kultischen
Rolle, aber gerade solche sind selten und wo sie vorkommen,
meist nur scheinbare, Die meisten Schwierigkeiten fallen
bei richtiger Erkenntnis der mythischen Naturgrundlage fort,
vorausgesetzt, daß der Mytholog vorurteilsfrei genug ist, diese
nicht absichtlich zu übersehen.
Wird Artemis sowohl als Jagd- wie als Geburtsgöttin ver-
ehrt, verhängt und heilt sie Hautkrankheiten und Geistes-
störungen, ist Aphrodite, die Liebesgöttin, nicht nur wie
Athene Schützerin der weiblichen Tätigkeiten, sondern auch
analog der letzteren eine waffentragende, kriegerische Göttin,
so sind diese sich scheinbar widersprechenden Züge aus dem
lunaren Grundkern dieser Göttinnen, wie er sich schon aus
den Mytheninhalten ergibt, restlos erklärt, und dem ent-
sprechen auch ihre Kultsymbole und Begleittiere.
Ebensowenig steht die kultische schwarze oder verhüllte
Demeter mit ihren sonstigen Erscheinungsformen im Wider-
spruch.
Im allgemeinen gilt also die Regel:
Wo die mythischen Züge einer Gottheit mit den kul-
tischen auf eine bestimmte Naturgrundlage hindeuten, d. h.
mit dieser nicht nur vereinbar, sondern nur aus ihr allein
Kapitel X. Mythologische Persönlichkeiten und deren Deutung. 261
erklärlich sind, muß diese Gottheit jenem Substrat entsprossen
sein und ist als dessen Personifikation zu betrachten. Auf-
fällige Abweichungen in kultischer Beziehung sind für die
mythische Stellung bedeutungslos, wenn sie nicht gleichzeitig
auch mit mythischen Diskrepanzen verbunden sind. In diesem
Falle wären fremde Einflüsse oder religionsgeschichtliche Um-
formungen anzunehmen. Zu beachten ist aber, daß die Auf-
nahme fremder Gottheiten und Kulte auch aus anderen Völker-
und Kulturkreisen, wie wir sie zwischen Griechenland und
Kleinasien, Italien und dem Orient beobachten, wie sie ähn-
lich zwischen Indien und Innerasien stattgefunden hat, nur
dann zu einer innigen Assimilierung führt, wenn‘ die be-
treffenden Gottheiten schon von vornherein wesensVver-
wandt sind, also auf homologen Grundvorstellungen beruhen,
wie sie sich naturgemäß aus gleichem Grundkern ergeben.
Kapitel XI.
Mythenwanderung,
Das bereits früher im Anschluß an die Frage der gegen-
seitigen Beeinflussungen gestreifte Wanderungsproblem
verdient noch eine besondere Erörterung in bezug auf die
Wanderungen von Einzelmythen, Märchen und Motiven oder
das Auftreten ähnlicher Formen, seien sie analoge oder
homologe Bildungen, bei Völkern der verschiedensten Rassen
und Zonen. Man war ehedem für die Erklärung solcher Er-
scheinungen ausschließlich auf die Entlehnungstheorie ange-
wiesen und zwar in ihrer gröbsten Form, der Annahme eines
einheitlichen Ursprungs der Gesamtmythologie von einem ge-
wöhnlich im Bereich der orientalischen Kulturen gesuchten
Zentrum aus. So hielt Creuzer Indien, J.Braun Ägypten
für das Ursprungsland. Selbst die Massageten mußten als
ursprüngliche Mythenerfinder herhalten. Allen aber galt uralte,
später mißverstandene und entstellt überlieferte Priesterweis-
heit für die Quelle der mythologischen Vorstellungen.
Auch nachdem sich jene rein spekulativen Annahmen
als unhaltbar erwiesen hatten, dauerte die psychologisch er-
klärliche Neigung, alle Analogien auf Entlehnung zurückzu-
führen, fort, Benfeys zwar gut begründete, aber allzu ein-
seitig ausgedehnte Theorie vom Ursprung des gesamten euro-
päischen Märchenschatzes aus Indien befestigte nur diese
Anschauungen, zumal sie gleichzeitig der von jeher herrschen-
den Disposition entgegenkam, alles Licht aus dem Orient zu
erwarten,
Zu einer freieren Auffassung führte die von Bastian
begründete Theorie des Völkergedankens, nach der mit
Kapitel XI. Mythenwanderung. 263
Naturnotwendigkeit ähnliche Formen des geistigen und des
materiellen Kulturbesitzes entstehen, wenn sie auf gleichen
allgemein menschlichen Elementargedanken beruhen, die in
ihrer ethnisch oder umweltlich bedingten Eigenart oder Modi-
fikation eben den Völkergedanken darstellen.
Indessen konnte auch diese allzu allgemeingefaßte KEr-
klärung auf die Dauer nicht genügen. Einmal wurden weit-
reichende Kulturzusammenhänge, Entlehnungen und Beein-
flussungen, wie man sie früher nicht ahnte, tatsächlich fest-
gestellt, zweitens aber zeigte sich bei vielen mythischen
Analogien eine so große Übereinstimmung in Einzelheiten,
daß deren direkte Übermittelung von Volk zu Volk durch
Wanderung oder Import wahrscheinlicher wurde als das Wirken
einer allgemein gleichen Geistesanlage.
Daneben konnte natürlich auch der Völkergedanke inner-
halb beschränkterer Grenzen zu Recht bestehen.
Er ließ schließlich sogar noch eine schärfere Bestimmung
zu. Es zeigte sich nämlich, daß bei himmelsmythologischen
Stoffen, insbesondere bei Mythen lunaren Ursprungs, weit-
gehende Analogien auch in Einzelzügen ganz naturgemäß
auftreten können, ohne daß man auf Beeinflussung und Ent-
lehnung zu schließen braucht.
Weiterhin wurde man aufmerksam auf die sogenannten
Konvergenzähnlichkeiten, die darin bestehen, daß
Dinge verschiedenen Ursprungs unter Einfluß der gleichen
Umgebung und gleicher Kulturverhältnisse ähnliche Formen
annehmen.
Auf dem Gebiet der beschreibenden Naturwissenschaften
sind solche Konvergenzen längst bekannt. In die Ethnologie
haben Thilenius und von Luschan diesen Begriff einge-
führt, doch sind diese Erscheinungen zunächst erst auf SOZio-
logischem und ergologischem Gebiet verfolgt worden. Für
die Mythologie fehlt es noch ganz an Untersuchungen in dieser
Richtung!
Eine scharfe Reaktion gegen die Theorie des Völkerge-
dankens setzte erst ein mit der Lehre vom babylonischen
1) Ehrenreich im Korrespondenzbl. d. deutschen anthr. Ges. 1903, p. 176.
264
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Ursprung der Gesamtmythologie, die sich aber zunächst un-
abhängig vom. sogenannten., Panbabylonismus“ entwickelte,
vielmehr diesen erst begründenfhalf. Ihr eigentlicher Urheber
ist Eduard Stucken, der, auf ein riesiges, aus allen Welt-
teilen zusammengerafftes Material gestützt, es unternahm,
nicht nur den Mythen-, sondern auch den Märchenbesitz ent-
legener Völker mit gewissen Anschauungen der altorienta-
lischen Sternmythologie in genetische Beziehung zu bringen
in seinem tiefschürfenden, von erstaunlichem Fleiß und Be-
lesenheit zeugenden Werke über die Astralmythen der Ba-
bylonier und Hebräer.,
Es hat, wie fast alle genialen, aus dem gewohnten Geleise
heraustretenden Arbeiten, natürlich zunächst eine schroffe
Ablehnung erfahren, ohne daß man sich die Mühe nahm, das,
was daran richtig ist, einer Prüfung zu würdigen.
Einige Schuld daran trägt freilich auch die außerordent-
liche Unklarheit der Darstellung und die Unübersichtlichkeit
der ganzen Anlage, die durch den Mangel eines Index noch
besonders fühlbar wird,
Dennoch handelt es sich hier nicht um „wüste Phanta-
sien“, sondern um die Feststellung einer großen Zahl äußerst
wichtiger Tatsachen, die bestehen bleiben, auch wenn man
die Schlußfolgerungen des Verfassers ablehnt, Nach Stucken
wissen wir nicht, woher der Mythus stammt, Sicher sei nur,
daß im zweiten vorchristlichen Jahrtausend eine „mytholo-
gische Welle“ um die Erde ging, erzeugt durch die babylo-
nischen Vorstellungen über die Plejaden und deren astrono-
mische Rolle im Stierzeitalter, als der Sonnenlauf im Frühjahr
in den Plejaden begann und zugleich die erste Mondstation
in dieser Konstellation lag, Der Nachweis, daß die wichtigsten
Mythen aller Völker sich aus der Beziehung der Plejaden zu
Mond und Sonne erklären lassen, woraus wiederum folgen
würde, daß alle Völker diesen Plejadenmythus aus ihrer Ur-
heimat mitbrachten, bildet den Hauptgegenstand des Werks.
Die Schwächen der Beweisführung, die das Hauptgewicht
auf die oft nur scheinbaren Ähnlichkeiten der mythischen
Motive legt, ohne Rücksicht auf deren wirkliche Identität,
Kapitel XI. Mythenwanderung.
265
sind von P. W. Schmidt im Anthropos 3, p. 158, sowie in
seiner Kritik der Panbabylonisten ausführlich dargelegt.
Daraus folgt nun nicht, daß die von Stucken ange-
führten Parallelen falsch sind. Nur ein Teil beruht sicher-
lich auf irrtümlicher oder allzu gezwungener Deutung, Die
Hauptmasse besteht zu Recht, aber sie umfaßt fast ausschließ-
lich Analogien mondmythologischer Art, die für den Nachweis
genetischer Verwandtschaft meist untauglich sind,
Plejadenmythen kommen überall neben den Mondmythen
vor und können, weil beide Gestirne der Zeitbestimmung
dienen, sich mit diesen mannigfach durchkreuzen.
Für beide Gruppen ist der Beweis der Entlehnung oder
ihres Ursprungs in engerem Kreise kaum zu führen. Der
Völkergedanke genügt hier für die meisten Fälle vollständig,
Bei vielen der Stucken’schen Parallelen ist die Ent-
lehnung oder Wanderung aus kulturgeschichtlichen und geo-
graphischen Gründen wahrscheinlich, ohne daß sie deshalb
in einer grauen Vorzeit erfolgt zu sein braucht. Das bezieht
sich namentlich auf die griechisch-vorderasiatischen, die
amerikanisch-polynesischen und die südafrikanisch-westasia-
tischen Fälle.
Einige wenige sehr sporadisch auftretende Spezialanalogien
bleiben zunächst noch problematisch, genügen aber allein
nicht für die Aufstellung einer so gewagten Hypothese wie
die der „mythologischen Welle“,
Wir kommen also für die tatsächlich konstatierten Mythen-
verwandtschaften mit der einfachen Wanderungstheorie voll-
kommen aus, neben der aber die des Völkergedankens be-
stehen bleibt.
Wanderung, Entlehnung und selbständige Entstehung
sind an sich gleichberechtigt und von jeher nebeneinander
wirksam gewesen. Auch das ist keine Prinzipienfrage, sondern
muß durch die Kritik der Einzelfälle entschieden werden.
Einen Maßstab für die Beurteilung von Mythen- und
Märchenwanderungen geben uns die leichter zu übersehenden
Verhältnisse der Ausbreitung materiellen Kulturguts, Hier
beobachten wir
= ev
„AN
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie. .
1. selbständige Entstehung an verschiedenen Punkten
und Ausbreitung in die Nachbargebiete,
2. Entstehung an einem Punkte oder Zentrum mit peri-
pheriegleicher Ausbreitung von Volk zu Volk,
3. Entstehung an einem Punkte und Verbreitung in
fernere Gegenden durch Import, ohne Vermittelung von
Zwischengebieten.
Auch bei der Mythenverbreitung ist jede dieser Möglich-
keiten an und für sich gegeben.
Die selbständige Entstehung an verschiedenen, zahlreichen
Punkten ist das Wahrscheinlichste bei allen auf allgemein
sichtbaren Naturgrundlagen beruhenden Mythen, besonders
also den Mondmythen, deren Übereinstimmungen naturnot-
wendig sind.
Die wellenförmige Ausbreitung von einem Zentrum oder
abgeschlossenen Kulturgebiet ist anzunehmen, wo die geo-
graphischen oder kulturgeschichtlichen Beziehungen dafür
sprechen, wenn sich also schon literarisch fixierte Stoffe der
Kulturmythologien auf die Nachbarländer verbreiten, wobei
aber, wie Wundt hervorhebt (Mythus 3, p. 511), zu beachten
ist, daß die Aneignung mythischer Inhalte immer zugleich
selbständige Mythenbildung darstellt. So wird bei Übernahme
von Heldensagen die Gestalt des entlehnten Helden sich ähn-
lichen Typen assimilieren, die in der heimischen Märchen-
dichtung und Legende bereits vorgebildet sind.
Direkter Import in entfernte, namentlich überseeische
Gebiete, ist eine notwendige Folge des Weltverkehrs und
muß schon im frühesten Altertum mit der ersten Anbahnung
weitreichender Handelsverbindungen eingesetzt haben. Nicht
nur der Schiffsverkehr der Phönizier, sondern schon der weit
in die prähistorische Zeit zurückreichende Landhandel zwischen
Nordeuropa und den Mittelmeerländern sind hierbei als Fak-
toren zu nennen, für die spätere Zeit vor allem die Periode
Alexanders des Großen und des römischen Weltreichs, die
[ndien und selbst China in Berührung mit der Mittelmeer-
kultur brachten.
Für das Mittelalter kommen Perser und Araber in Be-
tracht, deren Einfluß sich von Zentral- und Südasien bis in
Kapitel XI. Mythenwanderung.
267
das Innere Afrikas verfolgen läßt. Was schon in älterer Zeit
die neue Welt erreicht haben mag, läßt sich nicht annähernd
abschätzen, doch brauchen die hier festgestellten Übertragungen
nicht in eine vorchristliche Epoche zurückzugehen. Erst mit
der Periode der großen Entdeckungen setzt die direkte Beein-
flussung der neuen Welt ein und zwar nicht nur von Europa,
sondern auch von Afrika aus. Das Auftreten gleicher afri-
kanischer Märchen- und Fabeltypen in Nord- und Südamerika
ist nur durch die Sklaveneinfuhr verständlich und verdiente
größere Beachtung als bisher !.
Der Rolle der französischen Voyageurs in Nordamerika
als Verbreiter europäischer Märchen während der älteren
Kolonisationsperiode wurde bereits gedacht. Die der eigent-
lichen Kolonisten und Missionare dürfte geringer anzuschlagen
sein, da jene den Eingeborenen meist feindlich gegenüber-
standen, diese sich wohl ausschließlich auf die Einbürgerung
christlich-religiöser Stoffe beschränkten. Doch haben gerade
die letzteren viele amerikanischen Kosmogonien und Flutsagen
beeinflußt. Im allgemeinen grenzt sich aber in Amerika das
importierte Material ziemlich scharf von dem einheimischen
ab und wird von den Indianern selbst als etwas Fremdartiges
empfunden.
Ein besonderer Fall ist der, daß ein Mythus, der in seiner
Urform sich bereits über ein größeres Gebiet ausgebreitet hat,
in den Subregionen. dieses Gebiets selbständige Umbildungen
durchmachen und mit den verschiedensten dort schon vor-
handenen Stoffen verschmelzen kann. Ein Beispiel liefert
vor allem der Zusammenhäng der iranischen und nordischen
Heldensage mit gewissen griechischen Typen. Dies deutet,
wenn v. Hahns Anschauungen darüber sich bewahrheiten
sollten, auf eine selbständige Weiterentwickelung von Bruch-
stücken einer in Osteuropa und Westasien.verbreiteten Ur-
‘) Der Fall, daß entwichene Sklaven unter den nordamerikanischen
Stämmen sogar die Häuptlingswürde erlangten, ist mehrfach konstatiert.
Für Südamerika (Guayana und einzelne Teile Brasiliens) sind die zu unab-
hängigen Horden vereinigten Buschneger (Marrons, Quilombos, Mucambeiros)
zu nennen, die vielfach den Handel mit den Indianern monopolisiert haben.
268 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
sage, die sich in jenen drei national differenzierten Sagen-
kreisen noch erkennen läßt.
Ein ähnliches Verhältnis hat bekanntlich P. Jensen! für
gewisse griechische und semitische Sagengruppen nachge-
wiesen, deren direkte Ableitung vom altbabylonischen Gil-
gameschepos damit aber noch nicht einwandsfrei festgestellt
ist. Denn auch dieses ist durchaus Kunstdichtung und könnte
sehr wohl die Bearbeitung eines älteren Stoffes sein, der ehe-
mals über ganz Vorderasien verbreitet war und sein spezifisch
astrales Gepräge erst unter dem Einfluß der babylonischen
Weltanschauung erhalten hat. Jedenfalls hat Jensen ein
interessantes Problem aufgerollt, das eine ernsthaftere Prüfung
verdiente, als seine Fachgenossen ihr bisher haben zuteil
werden lassen.
Die auch sonst von Jensen zwischen griechischen und
israelitisch-biblischen Sagen festgestellten Angleichungen —
ob sie alle zutreffen, bleibe dahingestellt — haben keineswegs
etwas Auffallendes, da wir auch in anderen Teilen der Erde
Analoges beobachten, So ist z. B, in Amerika die zuerst bei
den Algonkin (Odjibway) am Oberen See aufgezeichnete Sage
von der Erdfischung des Heroen Michabazo (Mänabusch) in
einer Menge von Varianten bis ins nördliche Kanada und
südlich nach Kalifornien hinein verbreitet, die durchaus nicht
alle den Eindruck einfacher Entlehnungen machen, sondern
wohl eigenartige Weiterbildungen desselben Urstoffssind, dessen
Urheimat vielleicht sogar in der alten Welt zu suchen ist.
Länder, die viele Jahrhunderte lang in kulturgeschicht-
lichen Wechselbeziehungen gestanden haben, wie Griechen-
land, Kleinasien, Syrien und Mesopotamien, werden immer
einen gewissen Bestand an Traditionen aufweisen, von denen
es unmöglich ist zu sagen, welchem der betreffenden Völker
sie ursprünglich zukommen und inwieweit es sich um Diffe-
renzierungen einer Grundform oder um einfache Entlehnungen
handelt.
Haben Wanderungen und Importe seit den ältesten Zeiten
stattgefunden, so sind für viele Gebiete weitgehende Ausglei-
?) Zeitschr. f, Assyriologie 21, p. 341—374.
Kapitel XI. Mythenwanderung.
269
chungen des Sagenmaterials‘ zu erwarten. Das zeigt sich
nun in der Tat beim Märchen, das alle religiösen und
politischen Umwälzungen überdauert hat. Man kann in bezug
auf dieses sogar von einem mythischen Gleichgewichtszustand
zwischen Europa und dem westlichen Asien reden, denn die
Märchenforschung hat ergeben, daß außerordentlich vieles,
was man als germanisch, keltisch oder romanisch ansah,
längst seine Vorbilder in Indien und Iran gehabt hat, ab-
gesehen natürlich von den primitiven Formen des Natur-
märchens. Auch wenn die Benfey’sche Theorie vom in-
dischen Ursprung aller Märchen einseitig übertrieben ist, so
bleibt doch immer noch genug des Lehnguts. Ähnliche
Ausgleichungen bestehen in Amerika unter den ethnisch ganz
verschiedenen Präriestämmen und bei denen der Nordwest-
küste, in geringerem Maße in Ostsibirien und Polynesien.
‚Jeder Erzählung von phantastisch-märchenhaftem Cha-
rakter haftet naturgemäß die Tendenz zur Wanderung an.
Sie verbreitet sich um so leichter, je mehr sie allgemein ver-
ständlich ist, je mehr „Pointe“ sie hat und je mehr sie schon
vorhandenen mythischen Anschauungen entgegenkommt. Das
eigentliche Märchen als volkstümliches. Produkt verbreitet
sich schneller als der Mythus im engeren Sinne. Es wird
geradezu erzählt, um verbreitet zu werden. Der Mythus da-
gegen wird in seiner mehr esoterischen Fassung nur bedin-
gungsweise übertragen, aber das Exoterische an ihm, d. h.
sein naturmythologischer märchenhafter Gehalt, nimmt volks-
tümliche Form an und hat dann die gleiche Ausbreitungs-
fähigkeit wie das Märchen.
Dieses wandert von Mund zu Mund und dringt allmäh-
lich in die Nachbargebiete ein (Penetration) oder wandert
mit seinem Urheber (Migration). Für den religiösen Mythus
kommt letzteres fast ausschließlich in Frage,
Der Beweis einer solchen Wanderung läßt sich aus der
Übereinstimmung der mythischen Motive führen, wenn diese
wirklich identisch oder verwandt, nicht bloß äußerlich ähnlich
sind, was sich aber meist erst aus umfassenden Vergleichs-
reihen ergibt.
370
I Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Es gehört dazu der Nachweis einer bestimmten Motiv-
folge oder charakteristischer Kombinationen, falls diese nicht
etwa auf einfachen allgemein sichtbaren Natureindrücken
beruhen, wie Sonnenuntergang oder Mondwechsel. Bei solchen
ist der Nachweis ganz spezieller Analogien nötig. Nur die
Wiederkehr ganz komplizierter Gedankenverbindungen und
Motive kann hier die Entlehnung sicher stellen, deren Wege
aber häufig sehr verschlungen sind,
Nachdem ich mich über diese Prinzipien in meinen Mythen
und Legenden der südamerikanischen Völker, p. 66 ff. bereits
ausführlich geäußert habe, mögen hier nur ein paar Beispiele
der Erläuterung dienen.
Zunächst die Ogersage. Menschenfressermärchen gehen
über die ganze Erde, sind aber keineswegs direkt verwandt.
Ihre gemeinsame Grundlage bilden wahrscheinlich, wie schon
Laistner vermutete, Alptraumvorstellungen, mit denen sich
aber Natureindrücke als objektive Elemente verbinden. Es
sind die Vorstellungen von Sonne, Mond und Orion als dämo-
nischen, verschlingenden, d, h. verdunkelnden und verfol-
genden Wesen, die assoziativ wiederum mit deren Dunkel-
oder Unterweltsformen zusammenhängen. Daher sind die
meisten Ogern Gestalten der Unterwelt, die fern am Horizont
in Höhlen hausen, womit ihre so häufige Mond- oder Stern-
natur nicht in Widerspruch steht, vielmehr liegt in dieser
gerade die Bestätigung dafür, Aus diesem verwickelten Vor-
stellungskomplex sind selbständige Sagentypen entstanden,
die zunächst jeder für sich gewandert sind und sich dabei
natürlich berührt und gemischt haben. Jede Gruppe hat ihre
charakteristischen Motive, die in gleicher Reihenfolge wieder-
kehren, aber nicht immer vollzählig erhalten sind. Die
interessanteste, am weitesten verbreitete und relativ voll-
ständigste ist gekennzeichnet durch die Motive der Menschen-
witterung, des Lausens, des Kopfbefundes, des Schein-
essens und der magischen Flucht. Sie ist in ihrer reinsten
Form in Nordasien und Nordamerika, sporadisch auch in Süd-
amerika und Ostafrika verbreitet. Auch in Europa fehlt sie
nicht, zeigt hier aber schon sekundäre Abwandlungen.
Im östlichen Europa sowie in Westasien begegnen wir
Kapitel XI. Mythenwanderung. 271
dem bekannten Polyphemtypus mit den Motiven des Augen-
ausbohrens und der Widderlist, dessen älteste Form die: home-
rische ist, aber deshalb nicht ursprünglich griechisch zu sein
braucht. Daß es sich um ein phönikisches Seefahrermärchen
handelt, ist möglich, aber unerweislich. Die osteuropäischen
und kaukasischen Formen sind aber keine direkten Ableger
der griechischen, sondern auf dem Umwege der Märchen von
1001 Nacht (Sindbaderzählung) dorthin gelangt.
Das übrige Europa besitzt noch zwei Formen, von denen
die eine mit dem Typus des Teufels mit den drei goldenen
Haaren (Grimm KHM. Nr. 29) gewisse Berührungspunkte mit
dem erstgenannten aufweist, während der andere mit dem
Typus Hänsel und Gretel von allen übrigen stark abweicht.
Auch andere Märchenstoffe, wie die Melusinensage, die
gefährliche Braut, oder das Giftmädchen, die von Frobenius
so genannte „Mädchenangelmythe“, scheinen sich auf dem
Untergrund von dämonistischen und Alptraumvorstellungen
in den verschiedenen Weltteilen in Sondertypen mit selbstän-
diger Ausbreitung entwickelt zu haben.
Etwas irgendwie Abschließendes läßt sich zurzeit hierüber
nicht sagen.
Das mit der Ogersage so häufig verbundene Motiv der
magischen Flucht vor dem Kannibalen oder der Hexe,
wobei die Fliehenden Gegenstände von sich werfen, wie Bürsten,
Kämme, Messer, Flüssigkeiten u. dgl., aus denen Hindernisse
für den Verfolger entstehen, kommt auch in anderen Kombi-
nationen, sowie als selbständig ausgebildetes Märchen vor
und ist vielleicht das verbreitetste aller Motive, dessen älteste,
aber nicht primitivste Form dem japanischen Isanagi-Mythus
(Florenz, Nihongi, p. 88ff.) angehört, obwohl man seine
Spuren schon in der altägyptischen Bata-Sage oder dem grie-
chischen Atalantamythus erkennen will.
Die unzähligen Abarten lassen keine bestimmte Klassi-
fikation zu, scheinen aber alle auf die gleiche Grundform
zurückzugehen. Die meisten auffälligeren Abweichungen sind
nur mißverständliche Entstellungen der Grundform und er-
weisen sich schon dadurch als Import. So kommen bei den
272
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Prärieindianern Varianten vor, wo der Verfolger die Hinder-
nisse vor den Fliehenden schafft, also eine Motivumkehrung.
In Afrika, Südamerika und Ozeanien findet sich die Sage
nur sporadisch. Ihre Hauptentwickelung liegt in der gemäßigten
Zone der nördlichen Hemisphäre und manches spricht dafür,
daß ihr ursprüngliches Zentrum im nordöstlichen Asien zu
suchen ist, wenn wir von dem zweifelhaften altägyptischen
Typus absehen, da diesem ein Hauptmoment, das Wegwerfen
der magischen Gegenstände, fehlt?
Dagegen hat nun in neuester Zeit die Annahme einer
mehrfachen unabhängigen Entstehung der Sage eine wichtige
Stütze gewonnen durch den von Friedrichs geführten Nach-
weis, daß ihr in einigen Fällen sicher himmelsmythologische
Vorstellungen zugrunde liegen. Die magischen Gegenstände
sind hier nichts anderes als die mythische Trias Sonne, Mond
und Venus, während die daraus entstehenden Hindernisse dem
Wechsel des Tag-, Abend- und Nachthimmels in ihren Fär-
dungen entsprechen (Grundzüge, p. 58. 75. 121). Die Unter-
suchungen müßten also nach dieser Richtung hin weiter-
geführt oder Friedrichs Auffassung widerlegt werden, die
zunächst natürlich nur für die von ihm angeführten Einzel-
fälle gilt,
Endlich sei noch auf einige rätselhafte Spezialanalogien
an sehr weit voneinander getrennten Punkten hingewiesen,
wo ein kulturgeschichtlicher Zusammenhang nicht erweislich,
ja nicht einmal vorstellbar ist. _
Dahin gehört das Vorkommen einer der griechischen
Phaöthonsage außerordentlich nahe stehenden Form an der
Nordwestküste Amerikas. Sie erzählt, wie der Mink (Marder-
*') Da das Motiv zweifellos mit Unterweltsvorstellungen zusammenhängt
— die Flucht ist eben, wie der Zusammenhang vieler dieser Erzählungen lehrt,
die Flucht aus der Unterwelt vor höllischen Dämonen — so ist die von
Bogoras ermittelte Tatsache wichtig, daß bei den Tschuktschen noch heute
die ganze Situation im Leichenritual dargestellt wird. (Am. Anthrop. N. S. 4.
1902, p. 626.)
Sehr merkwürdig ist aber auch die Angabe A. Bastians über ein
Kirchenfest älterer Zeit in Frankreich, bei dem die einzelnen Figuren der
Sage mit den magischen Gegenständen in der Prozession aufmarschieren.
‘Mensch in der Geschichte 2, p. 77.)
Kapitel XI. Mythenwanderung.
273
art) zu seinem Vater, der Sonne, in den Himmel steigt und
sich die Erlaubnis erwirkt, mit dessen glänzendem Nasen-
schmuck die Himmelsbahn zu ziehen und dabei unvorsichtiger-
weise die Erde in Brand setzt (Boas, Sagen, p. 157).
Ebenso auffallend ist die Übereinstimmung des vedischen
Indra mit dem Joskeha der Irokesen in vier Hauptzügen, die
sich trotz der natürlichen Wesensverwandtschaft beider Heroen,
in ihrer Kombination aus dem Völkergedanken allein nur
schwer erklären. Es sind dies: der Durchgang durch die
mütterliche Seite bei der Geburt mit dem Motiv der Feuer-
steinkrone, der Streit mit dem Bruder im Müutterleibe, die
Zurückholung geraubter Tiere, die in dem irokesischen Mythus
ein deutliches Jahreszeitwechselmotiv ist, und endlich die Be-
siegung eines Dämons mittelst einer magischen Waffe schein-
bar indifferenter Art (wie Baumzweig oder Hirschgeweih), die
jenem allein den Tod bringen kann, ein Motiv, das bekannt-
lich auch der nordischen Baldur-Sage angehört,
Die merkwürdigen Parallelen zwischen einer siamesischen
mit der altperuanischen Sage von Koniraya Viracocha, in der die
Empfängnis durch eine mit Semen virile imprägnierte Frucht
erfolgt und das neugeborene Kind nach dem Motiv der Vater-
wahl seinen geheimnisvollen Erzeuger aus der Schar der
Männer herausfindet, haben zwar ein Verbindungsglied an
der Nordwestküste Amerikas, aber gerade die beiden End-
glieder, das peruanische und das siamesische, zeigen die
größte Übereinstimmung in den Einzelheiten !.
Solche Fälle bleiben also problematisch, solange nicht
neues Material zur Überbrückung der Kluft beschafft wird.
Im übrigen kann auf das unerschöpfliche Thema der
Märchenwanderungen in diesem Zusammenhang nicht weiter
eingegangen werden.
1) Näheres s. Ehrenreich, Mythen und Legenden, p. 94.
Mytholog. Bibliothek: Ehrenreich.,
Kapitel XII,
Schluß.
Bei der außerordentlichen Kompliziertheit der Mythologie
ist zur Entscheidung ihrer allgemeinen Fragen die Mitarbeit
aller Wissenschaften nötig, deren Gegenstand überhaupt das
menschliche Geistesleben und seine kulturellen Betätigungen
sind. Nicht nur Philologie und Altertumswissenschaft, Völker-
kunde und Völkerpsychologie, Geschichte und Literatur müssen
zusammenwirken, sondern auch die Naturwissenschaft, ins-
besondere Astronomie und Biologie, haben ein Wort mitzureden.
Wenn die Ethnologie als allgemeine Völkerkunde dabei
einen gewissen Vorrang beanspruchen darf, so ist das einmal
in ihrer natürlichen Vielseitigkeit begründet, indem sie alle
Völker und alle Seiten des geistigen Lebens in ihren Bereich
zieht, zweitens aber darin, daß sie von jeher gewöhnt ist, in
engster Fühlung mit jenen anderen Wissenschaften zu arbeiten
und bereit ist, Belehrung anzunehmen, von welcher Seite sie
auch kommen mag. Sie schafft nicht nur neue positive Er-
kenntnis, sondern kontrolliert auch das auf anderem Wege
Gewonnene auf seine Allgemeingültigkeit und Tragweite. Sie
vergleicht nicht nur, sondern bestimmt auch, was vergleich-
bar ist, welche Ähnlichkeiten oder Differenzen nur scheinbar
oder im Wesen der Dinge begründet sind. So ist sie in her-
vorragendem Maße geeignet, vermittelnd zu wirken. In der
Ausgleichung sich bekämpfender Gegensätze liegt eine ihrer
Hauptaufgaben, ;
Gerade in der Mythologie ereignet es sich oft, daß Unter-
suchungen von verschiedenen Standpunkten aus unternommen,
Kapitel XII. Schluß.
275
zu gut vereinbaren Ergebnissen führen, ohne daß die betei-
ligten Forscher sich dessen bewußt werden. Ein typisches
Beispiel ist der Streit zwischen Roscher und Siecke über
die Bedeutung des Hermes. Wird längst Vermutetes auf
Grund neuer Methoden richtig formuliert und zur Evidenz
erhoben, so erregt das gewöhnlich Mißtrauen, werden gar
Schwierigkeiten, an denen vorher alles scheiterte, durch einen
kühnen Sprung überwunden, so trifft den Verwegenen zunächst
der Vorwurf der „Unwissenschaftlichkeit“, auch wenn das
sonst vergebens erstrebte Ziel glücklich erreicht wurde. Die
Geschichte aller Wissenschaften liefert Beispiele in Fülle.
Das ist natürlich psychologisch vollkommen begründet.
Man weist wichtige neue Erkenntnisse zurück aus Furcht, um-
lernen zu müssen. In Wahrheit braucht niemand umzulernen,
der von vornherein auf dem sicheren Boden des Tatsächlichen
stand. Wohl aber lernt er vielleicht das früher Erkannte
besser verstehen und ungeahnte Zusammenhänge finden.
Richtige Beobachtungen werden schließlich stets vereinbar
sein. Es gilt nur den Punkt zu ermitteln, in dem alle Fäden
zusammenlaufen,
Dazu bietet die ethnologische Betrachtungsweise, die den
Blick für das Wesentliche und Gemeinsame schärft, die das
völkerpsychologisch Begründete vom Zufälligen, individuell,
historisch oder örtlich Bedingten zu sondern vermag, die
hesten Hilfsmittel.
Andererseits darf natürlich die Ethnologie sich nicht an-
maßen, der Spezialforschung ins Handwerk zu pfuschen und
alle Fragen der Einzelmythologien lösen zu wollen. Diese
sind in erster Linie doch Schöpfungen der Einzelvölker und
müssen zunächst im Rahmen ihrer heimatlichen Umgebung
und Kultur betrachtet werden. Durch Feststellung des All-
gemeingültigen aber, die ihre Hauptaufgabe ist, vermag sie
unklare Erscheinungen begreiflichzu machen, Fragmentarisches
zu ergänzen, Widersprechendes auszugleichen und so oft für
ganze Reihen von Tatsachen, die als disjeeta membra die eigent-
lichen Streitobjekte der Spezialmythologen bildeten, das eini-
gende Band zu finden.
276 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Die fundamentale Bedeutung der himmelsmythologischen
Vorstellungen für Märchen, Mythus, Religionskult und Legende,
die Tatsache der wechselseitigen Assimilation irdischer und
himmlischer Vorgänge, der Parallelismus von Heldensage und
Naturmythus, das Wesen und die Qualitätsunterschiede der
Personifikation, namentlich aber die Verknüpfung menschlicher
Schicksale mit mondmythologischen Vorstellungen und die
Wesensverwandtschaft von Mond-, Wetter-, Vegetations- und
Unterweltsgottheiten sind im vorstehenden als die Hauptergeb-
nisse unserer ethnologischen Betrachtung des Mythus dargelegt
worden. Inwieweit diese Erkenntnisse noch modifiziert oder
ergänzt werden, wird die Zukunft lehren.
Am wenigsten dürfte die Theorie von der Wesensgleich-
heit der Mond-, Vegetations- und Unterweltsgottheiten anzu-
fechten sein, die allein schon genügt, eine ganze Reihe von
Streitfragen auf den Einzelgebieten (z. B. der griechischen
Mythologie) zu entscheiden. Diese Erkenntnis stützt sich auf
ein überwältigendes, täglich sich mehrendes Tatsachenmaterial
und die Wissenschaft, die sich an so vieles hat ‚gewöhnen
müssen, wird sich auch ihr auf die Dauer nicht entziehen
können.
Register.
I. Namen und Sachen,
Abenteuer 8, 176, 193, 197, 205,
Abstrakta, Personif. d., 159.
Achilleus 222,
Acvins 114, 238.
Adam 83, 124.
Adonis 105, 249
Agastya 60.
Agni 40, 181, 244.
Agrikultur 65, 128.
Ahnen u. Ahnenkult 63, 133, 235.
Aktaion 185.
Alberich 150.
Allegorie 14, 188 ff., 238.
Allkraft 164.
Allvater s. Himmelsgott.
Alptraum u. Alpwesen 40, 123,
149, 161, 166, 173, 178, 211, 270.
Amazonen 32, 45.
Ambrosia 144.
Ammon Re 2835. _
Analogie 194, 242.
Andromeda 175.
Animismus 11.
Antagonismus 239.
Antaios 139.
Antiope 244,
Aphrodite 118, 249, 251, 261,
Apollon 112, 117, 138, 167, 242,
9244, 249, 253, 259.
Apperzeption, mythologische, 13.
Argo, Schiff, 224.
Argonauten 60, 205, 222, 225.
Arikute 31.
Artemis 48, 224, 242, 249, 260,
Assoziationen 39, 155, 238.
Assimilation 104, 105, 171.
Astarte 249,
Astrallehre u. Mythus 91 ff,, 128,
Ataöntsik 202. [186.
Athene 250, 259,
Atmosphäre 134.
Attribute 246.
Atum 257.
Aurora s. Eos 137, 175, 231.
Babylon (u. Panbabylonismus) 63,
91, 199, 223, 238, 264.
Baldur 273.
Bär (Sternbild Ursa major) 129.
Beeinflussung 97,
Blitz 40, 136, 215.
Boreas 183.
Brüder (Heroen) 238, —kampf
239, —dreiheit 98.
Brunhild 174.
Buddhismus 52,
Dämmerung 240.
278 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Dämonen 11, 75, 164.
Danae 117.
Demeter 117, 253.
Deutungen 22, 191 ff., 228 ff,
Diebstahl 161.
Dietrich 150, 197, 222,
Dionysos 60, 117, 178, 185, 193,
242, 246, 249, 253, 259.
Dioskuren 48, 81, 186, 238,
Diskuswurf 183,
Dongrub 32.
Donner 137, —gott 247, —keil
166, 246.
Drache 173, 224, —zähne 225.
Dreiheit 126, 127, 232, 238,
Dualismus 239,
Dunkelform (d. Gestirne) 126, 229.
Dyaush 159.
Echo 157,
Eileithyia 249.
Einkleidung 179.
Eisriesen 158,
Eklipse 204, 216.
Elementargedanke 35, 46.
Elfen 11.
Empusen 149.
Entlehnung 89, 97.
Eos 138, 156, 202, 244,
Epos 222, 223.
Erde 1833, 125, — als Mutter 156,
— als Urgöttin 256, — gottheiten
258, Erdbeben personifiziert
146, 160, Erdrachen 2053.
Erdfischung 15, 32, 38,
Erinnys 23, 40, 123, 126, 149.
Esau 240,
Etymologie 21, 244,
Euhemerismus 1, 236,
Eva 83, 124,
Fafnir 173.
Fata morgana 38.
Faunus 149.
Feuer 167, 168, 181, —götter 252,
—raub 68, 143.
Flutsagen 71.
Gattungswesen 77.
Geheimbünde 66.
Gesser Chan 32,
Gewitter 40, 126, 135, 149.
Gigantenkampf 145, 187,
Gilgamesch 186, 222, 2923,
Gold 173.
Gorgonen 40, 123, 149, 215, 250.
Götter 74,109, 258, — Bedeutung
Götterdämmerung 187. 243.
Götterschmied 166.
Gunther 174.
Hades 127.
Harpe 175.
Hase (im Mond,) 147, 185, 243.
Heitsi Eibib 32.
Hekabe 244,
Hekate 249,
Hel 126.
Helena 48, 118, 186.
Helios 112, 138, 244.
Helle 224.
Hephaistos 211, 250,
Hera 224, 249, 250, 259,
Herakles 60, 111, 112, 139, 175,
186, 240, 259.
Heroen 233 ff., —paar 2831, 232,
238, —sage 61, 81, 112.
Hesione 175.
Hexe 217.
Hiawatha 236.
Himmel, Personif. 133, —kuh
121, 212, — als Urgott 256,
—farben 204, — aufstieg 205,
— als Vater 159, 237.
Himmelsgott 69, 167, 249, — als
höchstes Wesen 78, 110,251,257.
Himmelsmythologie 102, 107, 167,
Historische Mythen 153.
Hödur 198,
Homologie 194.
Horus 259.
Hrugnir 174.
Huitzilopochtli 112, 161, 259.
Hunger, personif. 160.
Hyakinthos 183, 249.
Jagdgottheiten 48, 160.
Jahreslauf d. Sonne 226.
Jahreszeiten 87, 184, 222, 273.
Jakob 240, —kampf 150.
Jason 151, 224, 225.
Incubus 149, 150.
Indra 81, 117, 135, 242, 259, 278.
Initiationsweihen 150.
Inkarnation 243.
Joskeha 31, 185, 241, 273.
Iphigenie 224,
Isanagl 211.
Istar 118,
Jupiter 224.
Kadmos 241.
Kalender 85, 93, 128, 185, 186,
187, 223, 226, 258.
Kalewala 222.
Kälte, personif. 158,
Kalypso 123.
Kame 31.
Kannibalismus 220, s. auch Oger.
Kassiopeia 133.
Kataklysmen 70
Keimgötter 182,
Kentauren 11.
Register,
370
Kerberos 126.
Keri 31,
Kesarsage 32, 222.
Kirke 123.
Kohlensack 38.
Kometen 131.
Koniraya 31, 2738.
Konvergenz 263.
Körperform d. Menschen 146, 147
Kosmisches 108.
Koyote 175.
Kräfte, personif. 163.
Kriegsgötter 161, 2836.
Krishna 241.
Kronos 116.
Kukulkan 31.
Kulturheroen 66, 68, 69, 81, 113,
232, 236, 241.
Kultus 64 ff., 248, 252, 254, —le-
Kunst 85. [gende 81 ff,
Kybele 249.
Kyklopen 211.
Kyrossage 127.
Lamien 123.
Laurin 150.
Leitsätze 13.
Loki 48. 117. 127, 150.
Magie 255.
Manitu 63, 164.
Marduk 60, 235. [237, 269.
Märchen 7, 8, 35, 50, 128, —held
Mars (Planet) 131, 161, 259.
Masken 85£f.
Maui 31, 38, 167.
Medeia 224,
Medusa 123.
Memnon 138.
Menelaos 151.
Mensch 146.
280 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Menstruation 125.
Merkur (Planet) 238.
Metapher 21, 158.
Meteorologie 107.
Metztli 242,
Midas 193.
Milchstraße 38, 130.
Mittagsgöttin 11.
Mond 16, 34, 48, 81, 83, 85, 114,
156, 162, 165, 179, 181, 182,
184, 187, 188, 209, 211, 212,
224, 225, 232, 238, 239, 249,
251, 257, 265, — in Beziehung
zum Feuer 117, — zum weib-
lichen Geschlecht 147, Ge-
stalten im — 36, 208, —götter
41, 161, 242, 249 (Unterwelts-
gott), 252, 256 (Urgott), 259,
260, —kampf 181, —märchen
196, 231, —motive 48, 170, 173,
174, 200, 215, 224, 240, — als
Mutter 287, —Mmythologie, all-
gem. 9, 114ff., 257, — als
Schwarzmond und Neumond
117, 165, 182, 197, 211, 232,
245, — konjunktion 116, —sta-
tionen 93, — als mythologische
Station 177, —tiere 39, 40, 119,
—verstümmelung 210, —ver-
schlingung 215, 217, — wechsel
34, 39, 185, 186, 203.
Morgenstern 89, 131, 189, 201
204, 225, 231, 251, 256.
Motive, allgem. 36, 214, 269,
Muyngwu 162.
Mysterien 63, 67, 84, 88,
Mythologie, primitive 60, 63, 67,
— Entwickelung 58, 64.
Mythus, allgem. 13, 21, 172,
—wanderung 262 ff.
Nachgeburtsknabe 240.
Nacht, personif, 217,
Nadelsohn 48, 182.
Namen 244,
Napi 31.
Naturdeutungen 200, —kern 191,
212, 227, 248, 255.
Naturmythus 3, 9, 10, 37, 43,
100, 107, 170, 194.
Naturvölker 53.
Nebelsagen 140, 158, 172,
Nektar 144.
Nibelungen 222,
Niödr 127,
Nordpol 77, 131, 252,
Numen 77 ff., 233, 248.
Nzambi 32.
Odente 32.
Odysseus 123, 222, 223, 227,
Oger 11, 129, 150, 157, 173, 178,
208, 209, 217, 220.
Orion 103, 122, 128, 129, 185,
211, 221, 270.
Oro 161, 236.
Orpheus 116, 153, 181.
Osiris 116, 240, 241. 9257.
Pachakamak 31. .
Pan 84, 132.
Panbabylonismus 27, 91, 93, 192.
Pandora 189,
Paradies 173.
Paradiessage 83, 124.
Parallelen 232, 236, 265.
Paris 224.
Peirithoos 197, 207.
Peleus 151.
Penelope 123, 223.
Penetration 209,
Persephone 116, 132, 189.
Perseus 60, 175, 215, 241.
Personifikation 73, 154 ff., 162ff.,
172 ff., 230 ff.
Pflanzen 143, 157.
Pflanzensagen 143.
Phaethon 32, 172,
Phineus 208, 225.
Phoebus 245.
Phrixos 224,
Planeten 98, 130, 187.
Plejaden 103, 122, 128, 129, 187,
Polyphem 198, 221. [215.
Poseidon 127, 250.
Probearbeiten 151.
Prometheus 193, 240.
Psychologie 35, 55, 113.
Pubertätsweihen 148.
Pulauegötter 145.
Qat 31. [242, 253.
Quetzalcouatl 31, 53, 126, 185.
Rabe 31, 48, 62, 109, 182.
Ramayana 222,
Rätsel 58, 150.
Re 211.
Regen 140, —bogen 141, 162.
Rhea 149.
Ribhus 165.
Riesen 145, 157, 158.
Romulus und Remus 241.
Rübezahl 11.
Rustem 175.
Sarameya 23,
Saranyü 23.
Satyrn 149.
Savitar 164.
Schamanismus 151.
Schango 32.
Schanpanna 32.
Register.
|
Schatten 156.
Schöpfung 70.
Schlaf, personif. 160.
Schlange 89, 40, 218.
Schmiede 166.
Schwarzmond s. Mond,
Seele 80, 148, 189.
Selene 202, 242, 244.
Serpel 149.
Set (Typhon) 140.
Shintomythologie 50.
Siebenzahl 98.
Siegfried 150, 174, 175, 224, 227,
Silen 149, [241,
Sikulume 111, 196, 217.
Simson 198, 241.
Sintflut, Sinbrand 90.
Sirius 220. .
Skorpion (Gestirn) 38, 130.
Soma 144, 167.
Sondergötter 165.
Sonne 16, 34, 41, 106, 112, 113,
119, 162, 166, 167, 174, 175,
179, 186, 187, 215, 216, 225,
226, 231, 238, 239, 244, 251,
259, 273, —gott 112, 113, 248,
256, 259, —heroen 112, 222,
240, — in Konjunktion mit
dem Monde 34, 116, 204, 214,
—motive 201, 215, —mythen
111, — als Oger 209, —tiere
106, 229, — im Tiermärchen
197, —stillstand 238, —sym-
bole 246, —untergang 111,
Sparten 225. [196, 197.
Sprache 20, 21, 105, 145.
Sterne 38, 127, 128, 216. Stern-
himmel 132.
Suceubus 149,
Surya 112, 238.
Suyusanowo 126.
282
Ehrenreich, Allgemeine Mythologie.
Symbol 13, 186, 188, 227, 298,
946. 9247.
Urzeit 220.
Urvacı 116.
Tach 236.
Tamar 240,
Tamenduare 31,
Tawiskaron 31, 81, 185, 240.
Teufel 62, 217.
Tezcatlipoca 185, 242, 247,
Theokrasie 248.
Theseus 60, 197, 207, 241.
Thetis 151,
Thor 40, 117, 135, 136, 242, 259,
Thretöna 282.
Thrita 232.
Thrombe 139,
Tiere 141, 218, —mythus 44, 197,
Tierkreis 93, 130, 187. 231.
Tirawa 79.
Tirı 31.
Titanen 187,
Tod, personif. 160, —ursprung
Tonatiuh 112, 242, [148.
Totem 45, 63, 151.
Traitana 232,
Tratar 164.
Traum 149, —götter 126.
Triskeles 131.
Triton, Tritogeneia, Tritos 232,
Trojasage 224-
Tsui-Goab (Tsüi-/Goab) 32, 210,
Tvashtar 165.
Typhon, Typhoeus 140, 175, 210,
Tyr 161. [242,
Unkulunkulu 63.
Unterwelt 157, 199, 200, 205,
272, —götter 162, —fahrt 151.
Urgötter 174.
Urmensch 42, 55.
Urmythus 43, 192, 213.
Vegetation, —götter 113, 1253,
251, 252, —wechsel 184,
—gzauber und -Kulte 65.
Venus (Gestirn) 130, 175, 186,
199, 201, 204, 211, 232.
Verwandlungen 151, 144, 193.
Viracocha 31, 166, 240.
Vishnu 111.
Völkergedanke 89, 213.
Votan (in Zentralamerika) 31.
Vritra 135,
Vulkanismus 39. 71.
Waldgeister 11.
Walküren 1838.
Weltbaum 145.
Welteltern 70, 252.
Weltperioden 72, 187.
Wesen der Götter 255.
Wettergott 166.
Widder 31.
Wieland 211.
Winde 11, 189.
Wisakä 31.
Wittig 197.
Wolf 138, 158, 245.
Wolken 140, 158, 162,
Wodan 126.
Yama 116, 182,
Zahlen 187,
Zeus 83, 126, 135, 159, 175, 187.
Ziu 161, [210, 242, 253.
Zwerge 11.
Zwillinge 69, 127, 130, 137, 197.
Zyklische Mythen 227.
Register.
7
Can
NS
II, Mythische Typen und Motive‘.
Allerleirauh 178. Feuerprobe 115.
Allverschlinger 217. Feuersteinkrone 273. [270,271.
Amazonen 32, Flucht, magische 32, 131, 217,
Angeln 32, 40, 268. Frage nach Herkunft 204.
Augiasstall 111. Futterschwinge 41, 105, 2837.
Ausgebotene Tochter, s. Preis-
jungfrau.
Ausschlüpfen 104, 115, 218.
Aussetzung 217.
Geburt auf ungewöhnlichem
Wege 81, 115.
Gefährliche Braut 32, 84, 189.
Gesichtsdefekt 115.
Glühende Schuhe 208.
Gold 178, — in Achselhöhle 178,
—bad 173, —gewand 39,
— wachsend 104, 173, —regen
117.
Baumfällen 207.
Baumspalte 207,
Beinwunde 210.
Besuch im Himmel s. Himmel.
Besuch beim Oger s. Oger.
Blaubart 176.
Blendung 117, 211,
Blinde Frauen 208.
Blindenschuß 198.
Haarverlust 198, 215.
Hänsel und Gretel 271.
Harzmann 198,
Hautabziehen, Hautwechsel 39,
115, 173.
Herz, abschneiden 216, — ver-
borgenes 178.
Himmelsbesuch 32, 115, 204.
Hochzeit, heilige 116, 170.
Hüftverrenkung (Jakobskampf)
210, 211.
Jungbrunnen 117.
Inzest 116. 170.
Dornröschen 138.
Drachenzähne 224, 225, —kampf
Drei Schritte 111. [175, 183.
Dreiheit 175, 216.
Dreirädriger Wagen 118.
Dummheit 211.
Durchbrechen der mütterlichen
Seite 115. 227, 273.
Eberzahn 185.
Eherne Männer 224.
Einklemmung 207.
Einsperrung 193, 237. [237.
Empfängnis, magische 48, 203,
Entführung, Entrückung 189, 240.
Enthauptung s. Kopfabschlagen.
Kahn 71, 117.
Kampf 135, 150, 184, 204, 214,
— Vater und Sohn 212.
Kessel (Probe) 115, 203.
Konfbefund 270. s. Lausen.
') Näheres über die mythologische Bedeutung dieser Stichworte enthalten
die angeführten Werke von E. Stucken, Astralmythen, und L. Frobenius’)
Zeitalter des Sonnengotts. Nichtfachleute seien auch auf die populäre Dar-
stellung von A. Thimme, Das Märchen, Leipzig 1909 (Handb. z. Volks-
kunde II), verwiesen.
284 Ehrenreich, Allgemeine Mythologie,
Kopfabschlagen 39, 83, 115, 117,
Korb 2837. [173, 215.
Krippe 48, 115, 237.
Lähmung 210.
Lausen 212, 270.
Leber, abschneiden 216. —nach-
wachsen 104, 208.
Mädchenangel 32, 271.
Magische Flucht s. Flucht.
Magische Waffen 273.
Marienkind 176.
Meerfahrt (Argonauten) 105, 174,
Melusine 116, 204, [205, 225.
Menschenwitterung 270.
Mondfigur 36, 115.
Mondmotive 114-—118, 240, 241.
Nadel 182,
Oger 32, 208, 270 £,
Pandorabüchse 189,
Papageifrauen 31.
Pfeilkette 207.
Phineus 225. .
Polyphem 271. [ter, s. 98.
Preisjungfrau, ausgebotene Toch-
Proben 193, 207, 211, 224, 2925.
Rapunzel 117.
Rieseneiseele 32,
Rippe 178.
Rollender Ball 178,
Sack 117.
Schale 48, 81.
Schauen 203.
Scheinessen 270.
Schenkelgeburt 227,
Schild 237.
Sehnen durchschneiden 210, 242. |
Seitenhöhle 198.
Sonnenmotive 106, 111.
Sonnenfang 210.
Soziologische Motive 211.
Spalte 257,
Speise wegnehmen 208.
Spieler 203.
Stachelsitz 207, 257,
Streit im Mutterleibe 240, 273.
Stummhbheit 211.
Symplegaden 173, 204. 225.
Tarnkappe 117.
Teufel mit 3 goldnen Haaren 271,
Tierfang 207.
Tischlein deck dich 178.
Trugheilung 32.
Turmeinsperrung 117. 237.
Unerschöpfliche Speise 178.
Unsichtbarkeit 211.
Untergeschobene Braut 203.
Vagina dentata 207.
Vaterwahl 45, 212.
Verbannung 117.
Verbergung vor Feinden 242.
Verborgenes Herz 178, s. Riesen-
Verbrennung 178, 237. [eiseele.
Verhüllung 117.
Verjüngungskur 117, 173,
Verkleidung 39.
Walfischdrache 216.
Wanderverbot 176.
Widderlist (Polyphem) 271.
Wiederbelebung 240.
Wiedergeburt 104, 115.
Zerreißung, Zerstückelung 104,
115, 185, 193, 2927.
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Druckfehler und Berichtigungen.
S, 80, Z. 3 v. o. hinter „himmlisches“ einzuschalten „Wesen“.
S. 60, Z. 12 v. u. statt „Rigveda“ lies „Rämäyana“.
S. 73, Z. 16 v. o. statt „indegenerierter“ lies „degenerierter“,
S. 78 Anm. 1 Z. 3 v. u. statt „sur l’idee d’un etre supreme“ lies „L’origine
de l'idee de dieu“.
A, W.Zickfeldt, Osterwieck/Harz,
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