Schön Annehen von Gottgau.
kine alte Sage aus dem
Saalkreise
nebst einem Nachwort
Slegmar Schultꝝe⸗sGallera.
Couis Nebert's Verlag (Albert Neubert)
Hhalle a. 8. 1914.
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Sehön Annchen von Cottgau.
Eine alte Sage aus dem
Saalkreise
nebst einem Nachwort
303
Siegmar Schultze Gallera.
Louis Nebert's Verlag (Albert Neubert)
Halle a. S. 1914.
.
— *
Aäô
— ——— — —
Daursche Akodemio
cisr Wleseneschofton
zu Berlin
Jlasittut fOr dautseho
— V — — — —
— — ——
Alle Rechte vorbehalten.
4
Dem Königlichen Landrat des Saalkreises
Herrn D. von Krosigk,
dem Förderer heimatlicher Forschung,
zugeeignet
vom
Verfasser.
Es begann das Jahr 1420. Der Winter setzte
grade am Neujahrstage ein. Ohne daß Schnee gefallen,
blies ein eisiger Wind fünf Tage ununterbrochen aus Ost.
Der kleine Beesener Bach wandelte sich zu einem schmalen
Krystallstreifen, seine Teiche zu blitzenden Spiegeln, daß
die Räder der Mühle zu Gottgau stille standen und kein
Tropfen Wasser sie trieb. In der Frühe des heiligen
Dreikönigstags hatte es zu schneien begonnen. Erst fielen
ganz kleine dünne Flöckchen, dann größere, und um Mittag
erhob sich ein Sturm, aus dem Schneefall wurde ein
Schneewehen. Die Flocken, die schon zur Erde gefallen,
stieben wieder auf und mischten sich mit denen des Himmels,
daß Weg und Steg, Äücker und Gärten, Sümpfe und
Wiesen ein unterschiedloses Einerlei wurden und man nicht
zehn Schritt weit sehen konnte.
Kunz Jost, der alte Müller, und seine Frau Marga—
rethe saßen in dem kleinen Gemach, neben dem Gehäuse
der Räder. Ein Feuer flammte im Kamin, es zuckte unter
den Stößen des Sturms auf und nieder, ein Olfunzelchen
hing von der Mitte der berußten Decke herab und gab
spärliches Licht. Die kleinen Fenster hielten die Läden ge—
schlossen, aber die Zweige und Ästchen des Holunders
peitschten und kratzten ohne Aufhören daran, als ob sie
Einlaß begehrten. Der Sturm pfiff bisweilen so hell, als
ob tausend Seelen in ihm wimmerten und schrieen.
Da auf einmal gab es einen heftigen Stoß an den
Laden. Der alte Müller fuhr zusammen, und sein Weib,
das eben ein Schläfchen machen wollte, schrak empor,
schickte sich an, nach der Türe zu eilen. Kunz hielt sein
Weib zurück: „Bleibe, Grete, ich will selbst nach dem Hof
sehen, ob alles in Ordnung ist'. Damit nahm er aus der
Ecke den alten Spieß und ging zur Türe hinaus.
Wie er aber hinaustrat, sah er die Pforte des Hofes,
die er doch fest verriegelt hatte, geöffnet. Ein großer
Mann, ganz in einen Mantel gehüllt, stand mitten in ihr,
schon zum Weggehen gewendet. Er kehrte dem Müller
sein Gesicht zu, unter der weiß beschneiten Kapuze streckte
sich ein langer, eisgrauer Bart hinab. Er hob die Hand
gegen den Müller und zeigte dann auf den Hof in eine
Ecke, die das weitvorspringende Dach der Scheune vor dem
Schnee geschützt hatte. Dann ging die Türe hinter ihm
zu. — Jost hatte den Alten schon öfters gesehen, es war
Eike, der Spielmann, rings im Volke durch seine Lieder
und Sagen bekannt. Er kam und schwand wieder, wann
er Lust hatte. Keiner wußte Näheres über ihn zu sagen.
Der alte Müller hatte keine Zeit Betrachtungen an—
zustellen, was denn der alte Spielmann zu solcher späten
Stunde eigentlich wollte. Ein tiefer Seufzer schreckte ihn
auf. In der Ecke des Hauses und der Scheune lag eine
Gestalt, in dunkle Kleider gehüllt, auf der Erde. Er trat
aäher: es war ein Weib, es hatte die schmale zarte Hand
weit vorgestreckt, wie Hülfe erflehend, das Antlitz lag in
tiefer Kümmernis auf der Erde, ein prächtiges Tuch, das
den Kopf verhüllt hatte, war zurückgeschoben, eine lichte
Flut von Haaren quoll aus ihm hervor. Ein kleines
Bübchen von etwa zehn Jahren stand neben der Mutter,
es hielt den Finger verlegen im Munde, da er des Alten
ansichtig wurde.
Der alte Müller trat jetzt dicht heran, er kniete nieder,
hob mit kräftigem Arm die ohnmächtige Frau empor;
da sah er erst, welch ein wunderbar feines Antlitz in
seinem Arme lag, das soeben seine großen Augen zu ihm
aufschlug und leise fragte: „Wo ist mein Kind?“ —
„Euer Söhnchen ist bei euchl“ tröstete der alte Kunz und
winkte den kleinen Buben heran; dem fielen die goldnen
krausen Löckchen, mit Schneeflöckchen vermischt, tief in das
rosige Gesichtchen, und zwei blaue Augen leuchteten der
Mutter ins Antlitz. Da drückte die Mutter ihr Söhnchen
wortlos an sich, aber der alte Mann nahm sie unter den
Arm: „Kommt in das Zimmer, erwärmt euch und sagt
mir, was euch bei dem schrecklichen Wetter hierher getrieben
hat“. Damit führte er die arme zitternde Frau in das
Stübchen, und hier ließ sie sich erschöpft und atemlos auf
einem hölzernen Brettstuhl nieder.
Sobald sie etwas Luft holen konnte, sprach die
Fremde: „Ihr sollt wissen, wer ich bin. Unbekannt will
ich nicht eine Minute länger in eurem Hause weilen. Mein
Gatte ist tot, Dorf und Land Frößnitz am Lauterberge
waren sein eigen. Vor Jahren zog er in die Fremde,
denn er sann nur auf Abenteuer, Sieg und Ehre, und
nichts konnte ihn daheim zurückhalten. Aber bald packte
mich eine schreckliche Sehnsucht, ich konnte ihn nicht eine
Minute vergessen, und so folgte ich seinen Spuren in die
Ferne. Er war zum Ordensmeister nach Preußen gelangt und
hatte hier Dienste gegen die heidnischen Kumanen genommen.
Er eroberte ihre Hauptfeste, aber sie überfielen ihn ver—
räterisch gegen ihr Wort bei Nacht, nahmen ihn gefangen
und töteten ihn. Ich beschloß aber mit meinem Kinde
wieder in die Heimat zu ziehen, daß der Bruder meines
Gatten, der Propst Konrad auf dem Lauterberg, die Ob—
hut meines Kindes übernehme. Heute bin ich von Köthen
her über Kattau gepilgert, und hier wäre ich sicherlich um—
gekommen, hätte mich nicht ein barmherziger Spielmann
aus Räuberhänden errettet und in dem Schneesturm den
Weg über den Bretterstieg der Fuhne und durch den
Morast zu euch gewiesen!“
Die Frau von Frößnitz sank erschöpft in ihren Sessel
zurück. Der alte Kunz trat aber aus der Ecke des Stüb—
chens hervor, wohin er sich ehrerbietig zurückgezogen hatte,
und sprach mit stockender Stimme: „Ach, daß ich euch
nichts Gutes vermelden kann, edle Frau! Euer Schwager,
der Propst Konrad, ist längst gestorben, und ein fremder
gewalttätiger Mann hat sich Dorf und Land und euer
Haus in Frößnitz ganz gegen Recht und Gesetz angeeignet.
Er ist ein Freund des Erzbischofs Günther und steht in
hoher Gunst bei ihm, während Propst Konrad bei dem
streitsüchtigen Herrn nicht eben gut angeschrieben war.“ —
Als dies Frau von Frößnitz erfuhr, brach sie ohn—
mächtig zusammen. Der Müller und sein Weib sprangen
herzu, trugen die zur Erde Gesunkene auf ein sorgsam be—
reitetes Lager und flößten ihr einen erwärmenden Mal⸗
vasierwein ein, den sie endlich in kleinen Schlucken zu sich
nahm. Doch die Kraft der armen Frau war gebrochen.
Noch einmal schlug sie die Augen auf, bat die alten
Müllersleute um ein paar Worte Gehör und flüsterte als—
dann in abgebrochenen Sätzen: „Sorgt für mein Kind,
es ist ein Mädchen und heißt Anna. Erzieht es, als wär's
euer eigenes, als einen Jungen, als einen Mühlknappen.
Schützt es vor allen Nachstellungen und Gefahren, und ist
es erwachsen, gebt es den heiligen Schwestern zur Marien⸗
kammer in Halle, auf daß es eine Nonne werde, daß es
in frommem, ruhigem Leben den Himmel erwerbe und
verschont sei von irdischer Liebe, die so reichliches Leid
bringt, wie ich es erdulden mußte. — Hier“ und damit
zffnete sie ihr Gewand und nestelte eine schwere goldene
Kette vom Hals „habt ihr euren Lohn. Und dies“ da—
mit zog sie aus der Tasche des Kleides ein ganz silbernes
Kästchen,, birgt den Schmuck und den Familienschatz meines
armen Ännchens.“ — Dies war das letzte, was die Frau
von Frößnitz noch sagen konnte, sie ließ ihr Töchterchen
zu sich kommen, nahm es noch einmal in ihre Arme, seg⸗
nete es und küßte es, und dann sank sie mit einem lauten
Seufzer auf das Lager zurück und war tot.
Drei Tage darauf wurde die vornehme Frau prächtig
bestattet. Zwei tiefschwarze Rosse zogen den Wagen, auf
dem der reich bekränzte Sarg stand, die zwei Kaplane der
Peterskirche Löbejüns, der des Petrusaltars und der des
Annenaltars, folgten der Leiche, und alles Volk in Löbejün
wie in dem kleinen Gottgau, das sich auf der Straße be—
fand, schloß sich ihnen an. Ganz zuletzt folgte aber ein
Mann im eisgrauen Bart, denn nur den sah man aus
der Kapuze ragen, in tiefer Andacht; keiner wagte ihn an—
zureden. Den Sarg führte man zur Peterskirche empor,
er wurde dicht unter der Nische, in der das Steinbild der
heiligen Anna stand, in die Gruft gesenkt. Und als alles
Volk sich verlaufen hatte, stand noch der alte Spielmann,
die Hände gefaltet, in tiefem Gebet vor dem frischen Grab—
hügel der edlen Frau. Der Kaplan des Annenaltars, den
die vornehme Frau in Sorge für ihr eigenes Töchterchen
Anna reich beschenkt hatte, las drinnen in der Kirche die
Seelenmesse.
Schön Ännchen erhielt nun die Kleider eines jungen
Mühlknappen: eine lederne Hose und ein derbes Wams,
die goldnen Haare wurden immer kurz geschnitten, daß
sie sich als Löckchen kräuselten, und in eine mehlbe⸗
stäubte Kappe geborgen. Der alte Kunz unterwies das
Mädchen in Arbeit und Gewerk eines Müllerburschen.
Den Schmuck hatten aber die Müllersleute wohlweislich
verborgen, hatten auch nichts dem Kinde von seiner Her—⸗
kunft verraten, gaben das Bürschchen vielmehr allenthalben
als ihr eigenes Kind aus, das sie aus der Ferne von Ver⸗
wandten wieder heimgebracht hätten.
Anna wurde nun Anno genannt, und dieses umge—
taufte Jüngelchen gewann bald die Herzen aller, die ihn
sahen und mit ihm sprachen. Es ward der Liebling der
alten Müllersleute, die seinen Mutwillen und seine Launen
ruhig ertrugen und ihm allen Willen ließen. den der kleine
unruhige Unband hatte.
So kam es denn, daß der kleine Anno draußen in
Wald und Wiese sich herumtummelte, statt daß er daheim
dem alten Pflegevater bei der Arbeit half. Wenn die
Sonne aufgestiegen war und rings das Land im Himmels⸗
glanze widerleuchtete und vom Finkenschlag und Amselruf
erklang, war Anno längst von Hause fort, streifte durch
Feld und Hag, Tal und Berg nach Herzenslust, lief erst
an die Mühlenteiche aufwärts, dann auf die Klippen und
dann weiter in den Wettiner und den Hallischen Wald.
Stunde auf Stunde verrann, ohne daß Anno an die
Heimkehr dachte. Die Sonne sandte schon senkrecht ihre
Strahlen auf die Blätter nieder, und der Schatten der
Bäume war der kleinste geworden, die Vöglein hatten er⸗
müdet aufgehört zu singen, der Wald lag stumm und
träge in der Mittagsschwüle und schlief wie verzaubert
in der tiefen Einsamkeit, aber Anno fühlte und sah von
alledem nichts, er kletterte noch immer auf die Bäume,
Nester zu suchen, legte noch immer Netze und knüpfte
Schlingen, allerlei Tiere zu fangen, haschte noch immer
nach bunten Schmetterlingen, stöberte noch immer hohle
Eichen und andere seltsame Schlupfwinkel auf; und war er
endlich von all dem Laufen, Klettern, Springen müde ge—
worden, dann legte er sich unter einen dicken alten Eichbaum.
stopfte sich ein paar Hände Moos unter sein Haupt und
schlief ein. So kam er, wenn die Sonne schon unterging,
oder gar erst abends zu seinen Pflegeeltern, die in Angst
und Sorge schier vergehen wollten, zurück.
Als er einstmals auf solchem Waldlager aufwachte,
war es schon sehr spät geworden. Die Sonne schien längst
nicht mehr, und die herbstliche kalte Abendluft zog durch
die Bäume. Ein Knabe in gleichem Alter stand vor Anno,
er hatte auf dessen Erwachen geduldig gewartet. Er stand
offenbar schon lange hier, denn seine Fußstapfen waren
tief in den Boden gewühlt. Er war prächtig und glänzend
gekleidet, ein kunstreiches Lederwams hüllte die Brust, und
eine kostbare Armbrust hing über dem Rücken, an der
Seite blinkte ein Dolch, und auf dem Haupte saß ein
Barett, von dem rote und weiße lange Federn hernieder—
nickten.
Anno richtete sich auf und sprang sofort auf die
Beine. „Wer bist du?“ fragte er rasch. „Wie kommst
du hierher?“ Der andere schwieg verlegen, aber sein
Blick heftete sich noch fester in Annos Augen. Der fragte
wiederum, ungeduldiger denn zuvor, und er stampfte da—
bei mit dem Fuß auf das Moos: „Sprich, was willst
du von mir? ich habe nichts verbrochen in diesem Waldel“
Da sprach der andere Knabe endlich, und seine Stimme
klang zart und weich wie die eines Mädchens: „Ich will
dir nichts zu leide tun, laß mich dich nach Hause begleiten.
Ich bin der Junker von Köler, und mein Vater hat die
Burg von Löbejün!“ — „Und ich bin Anno von Gottgau,
mein Vater hat die Muhle“, versetzte Anno XV
sich hoch, als wollte er den anderen überragen. Aber der
Junker fuhr fort: „Ich kenne hier jeden Weg und Steg,
es ist schon spät, ich will dich nach Hause begleiten, denn
du hast dich verirrtl· — Und da Anno trotzig seinen
Kopf zurückwarf und seine stahlblauen Augen finster auf
den fremden Jungen blitzten, fuhr dieser fort; „Du solltest
nicht an diesem Platze ruhn und schlafen!“ — „Warum
nicht?“ — „Er ist verhext, und der Teufel soll hier um⸗
gehen!“ — Anno lachte: „Es soll mir keiner nahe kommen,
selbst nicht der Teufel, ich habe hier ein langes scharfes
Messer“ und damit zog er aus einer Scheide, die ganz
verborgen an der Seite hing, einen haarscharfen, hell⸗
funkelnden Dolch und fuchtelte mit ihm in der Luft
herum. — „Steck ihn ein“ bat der Junker „und höre
mich an. Siehst du hier am Wege den gewaltigen großen
Stein, er ist viel größer denn ein Mann und so breit, wie
einer groß ist, und er steckt noch ebenso tief in der Erde.
Den hat der Teufel einst in aller Wut vom Lauterberg
geworfen, da er das Kloster nicht mehr vernichten konnte,
nun soll der Stein zum Verderben für alle werden, die in
seiner Nähe rasten und ruhen. Und Mord und Totschlag
ist schon genug an ihm geschehen! Komm lieber fort!“ —
Und der Junker wollte Annos Hand ergreifen. — Doch
Anno zog sie ihm eigenwillig aus seiner Hand: „Nein, ich
bleibe hier, ehe du mir nicht den Mord und Totschlag um
diesen Stein erzählt hast!“ — Der Junker blickte zu Boden:
„Es ist erst neulich einer hier ermordet worden, ein Mönch,
der zum Lauterberg gehen wollte. Aber das ist nicht das
Schlimmste!“ — „Was ist denn das Schlimmste, wenn
nicht das, daß man ermordet wird?“ — Der Junker
zauderte, aber, da Anno ihn fragend und befehlend an—
hlickte, antwortete er: „Das, daß man sich vor einem kom⸗
menden Unglück noch fürchten muß!“ — „Hvier soll sich
noch ein Unglück ereignen?“ — „Ja“, sagte der Junker
tonlos und schwieg. Da trat Anno ganz nahe an den
Junker heran, daß dieser plötzlich erschauerte, faßte dessen
Arm und führte ihn unter den seinen „Komm, du sollst
mich begleiten, aber das, was hier noch geschehen soll,
mußt du mir erzählen. Wenn du mir das versprichst,
wollen wir auch zusammen spielen!“
Da erheiterte sich des Junkers trübseliger Blick, und
er sagte sofort: „Ich habe dich gleich sehr lieb gehabt, da⸗
rum wollte ich dich warnen, ich kenne dich schon längst.
Einmal saß ich auf einer alten Eiche und nahm das Nest
eines Raben aus, da kamst du des Weges daher und leg⸗
test dich gerade unter mir hin zu schlafen. Da habe ich
dich nicht stören wollen und habe oben ruhig in den Zweigen
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gesessen, bis du wieder von dannen gingst.“ — Aber Anno
drückte den Arm des Junkers, zerrte ihn vorwärts und
rief: „Du hast mir versprochen zu erzählen, so erzähle und
komm nicht auf andere Dinge!“ —
Da fügte sich der Junker und begann: „Wir haben
hier einen alten Spielmann Eike, der kommt und geht,
wie er will, und ist dann wieder Wochen und Monate
fort. Keiner weiß, woher er stammt, aber er weiß über
alles hierzulande Bescheid. Er kennt unsere Burg, er
kennt das Kloster auf dem Lauterberg, er kennt jedes Dorf,
jedes Gehöft, als ob er hier von Jugend auf geweilt hätte.
Er ist schon alt, ist groß nund weiß sehr viel, viel mehr
als alle anderen Menschen hier, denn er kommt so weit
herum und kann auch lesen und schreiben. Er geht stets
in einer Kapuze wie ein Mönch und hat einen eisgrauen
Bart.“ — „Oho“ — fiel Anno ein — „er hat eine Kutte,
aber ein Schwert darunter und kann reiten und fechten
wie ein Rittersmann“ — „Ja, woher kennst du ihn
denn?“ — „Ach, er begleitete meine Mutter und mich,
als wir von ferne — nein“ — verbesserte sich Anno und
ward ganz rot „ich wollte nur sagen, als ich mit meiner
Muhme einstmals von Köthen nach Kattau ging, es war
tief im Winter, und eisig wehte der Wind und blies uns
die Flocken wie Eissplitter ins Gesicht, da suchten wir
Schutz, wir wären sonst erstarrt, in einer Kapelle, seitwärts
am Wege: kein Mensch war ja rings zu sehen noch zu
hören, nur die Wölfe bellten fernher so gräßlich und
hungrig. Und wie wir uns am Altare ausruhten, da
hörten wir plötzlich ein Klirren und Knattern von Schwer—
tern und Eisen, und wie wir hinsehen, steht ein Mann
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gegen zwei im Kampfe, die in die Kapelle dringen wollen.
Meine Muhme wollte mich erst verstecken, aber ich rannte
ihr fort, wollte dem Manne helfen, der kam uns wie ein
Mönch gekleidet entgegen, hatte ein Schwert in der Hand,
ganz rot von Blut, und wies mit der Hand hinaus, da
lag ein Toter im Schnee, der blutete noch aus vielen
Wunden; es war ein Dieb, ein Räuber, ein Mörder.
„Der andere ist entwischt, ich will euch aber begleiten“,
sagte der Mönch „es ist hier nicht geheuer, und hier könnt
ihr nicht bleiben, sonst müßt ihr erfrieren“ und damit
nahm er meine Muhme ganz behutsam und sorglich
am Arm und führte uns hinab über die Fuhne, zur
Mühle.“ —
„Ja, das ist er, unser alter Spielmann Eike, wahr⸗
haftig, das ist er, das sieht ihm ähnlich, so etwas er—⸗
zählt er, so etwas vollbringt er“ rief der Junker begeistert
aus „oh, du mußt ihn kennen lernen, du sollst ihn nur
erst hören, wenn er erzählt!“ — „Ja“ sagte Anno „aber
du wolltest mir doch vom Steine erzählen!“ — „Ach, das
ist etwas Trauriges“ meinte nun Heinz und senkte den
Kopf „an diesem Mordstein ist viel unschuldiges Blut ver⸗
gossen worden, und erst dann wird sein Fluch gesühnt und
der Teufel von diesem Stein verbannt, wenn eine edle
Fürstin hier für ihre Liebe ihr Leben läßt! Das soll eine
alte Prophezeiung sein, und die sollen immer eintreffen,
meinte der alte Eikel“ —
Unter solchen Gesprächen waren die beiden Knaben
zu den ersten strohbedeckten Hütten Löbejüns gekommen;
das war damals nicht viel mehr als ein größeres Dorf.
„Ich weiß jetzt den Weg von selbst“ sagte plötzlich Anno
„du kannst nun auch nach Hause gehen, denn es ist schon
spät für dich; höre aber, du kannst mich wiedersehen, aber
komm erst dann, wenn der alte Spielmann da ist, dann
sage mir Bescheid. Also sieh zu, daß du ihn überall suchst
und endlich findest. Dein Vater hat ja Boten und Rosse
genug. Suche ihn bald, dann soll er uns erzählen, und
das wird schön!“
Und damit reichte Anno seinem Wegegefährten die
Hand, der drückte sie hastig und versprach, sofort nach Eike
Suche halten zu lassen.
Der Junker begann, sobald er nach Hause gekom—⸗
men war, in Kellern und Böden, Wachstuben und Türmen
herumzusteigen, die Burgleute nach dem Spielmaunn zu
fragen. Nicht einer hatte ihn gesehen, aber man erwartete
ihn sicher um diese Zeit, war es doch schon Michaelis.
Im Winter suchten die fahrenden Leute Unterschlupf, und
auch Eike pflegte alljährlich einige Wochen hoch oben im
Kloster auf dem Lauterberg zu rasten —
Der Herbst war schön, trocken und klar, man sah
von dem Turm der Burg meilenweit in die Ferne, über
die Wiesen flogen die Marienfädchen, an den Hecken glüh⸗
ten die Hagebutten, an den Ebereschen die roten Korallen—
beeren, und über die gelben, roten und braunen Kronen
des Waldes im Fuhnetale und der Lauterberger Höhen
strich leise der kühle Herbstwind. — Den Junker litt es
nicht daheim. Er hielt Tag für Tag Umschau nach dem
Spielmann. Er streifte mit seinem Knechte weit in die
Lande herum, bis nach Köthen, nach Bernburg und südlich
nach Halle, nach Merseburg, aber er fand keinen Eike.
2
Und wenn er betrübt und traurig im Hallischen Walde
umherirrte, auch an dem Teufelssteine stundenlang Wache
hielt, alle alten Eichen durchsuchte und auch nach Spuren
im Moose und im Wege spähte: er fand keinen Anno.
Dann schleppte er sich unsäglich traurig nach Hause, das
Herz wollte ihm schier vor Sehnsucht brechen. Wie gern
hätte er den Kameraden nur einmal gesehen, er wollte ihn
ja gar nicht sprechen. Und nach der Mühle wagte er sich
gar nicht, ohne von Eike etwas zu wissen, denn Anno hatte
ja das fest und unerschütterlich zur Bedingung gemacht.
Und vor dem Unwillen des Knaben fürchtete er sich gradezu.
Endlich eines Morgens erfuhr er von einem Knechte,
daß Eike auf dem Lauterberg eingekehrt sei. Er war ja
gelehrt und des Lesens und Schreibens kundig und unter—
hielt sich gern mit einigen gelehrten Brüdern des Klosters.
— Schon den Vormittag war der Junker auf das Kloster
emporgeritten, hatte nach dem alten Eike gefragt und ihm
dann seine Bitte gesagt. Der Alte lächelte zwar verschmitzt.
als er von Anno hörte, daß er, der Spielmann, die Be—
dingung des Wiedersehens zwischen Anno und dem Junker
wäre. Er suchte allerlei Ausflüchte und schien sich insge—
heim an der Angst des Knaben zu weiden. Aber das
Junkerlein bettelte denn doch so schön und tat so artig,
daß der Alte ihm endlich nachgab und versprach, noch
heute auf die Burg zu kommen. Doch Heinz wollte seiner
Sache ganz sicher gehen und seine Beute keineswegs aus
dem Netze wieder lassen, er ging dem Alten nicht von dem
Leibe, und ehe die Dämmerung angebrochen, bestiegen er
und der Alte die Pferde, ritten nach Krosigk hinunter, dann
auf den Frößnitzstein zu und nun durch den Wald nach
Löbejün hinüber. — is
Kaum, daß Eike in den Burghof eingeritten war,
bewillkommnete ihn schon Herr Kurt von Köler, der Vater
des Junkers. Das schien keinem des Gesindes mehr wun—
derbar, denn der Alte war von Anfang an mit großer
Ehrfurcht von dem Herrn behandelt worden. — Heinz
gönnte sich keine Zeit, er kehrte seinen Fuchs um, und ehe
Vater und Gast die Begrüßungen ausgetauscht, sprengte
der Junge über die Brücke nach dem Markt hinab, dann
ritt er das Tal hinunter auf den Weg nach Gottgau.
Vor der Mühle, in dem großen Obstgarten traf er
Anno an. Der saß auf dem höchsten Birnbaum und
angelte nach den schönsten Birnen auf den äußersten Zweig—
lein, weil, wie er von oben herab dem Junker erklärte,
diese immer die süßesten seien, so hätte er es stets gefun—
den. Der Junker sah mit steigender Angst den wag—⸗
halsigen Kameraden immer höher auf dem Aste hinauf—
klimmen. Plötzlich ließ dieser sich los, ein Aufschrei entfuhr
Heinz, wie er Anno durch die Luft stürzen sah. Der fiel
mitten in einen gewaltigen Heuhaufen hinein. Endlich
tauchte Anno lachend aus dem Heu hervor. Da fiel ihm
Heinz vor übergroßer Freude um den Hals und rief nun:
„Eike ist da, Eike ist da, er ist schon auf der Burg,
endlich darf ich dich wiedersehen!“ — Kaum hatte Anno
das Wort gehört, so sprang er, so wie er war, in seinem
Alltagswams, das Gesicht zerschrammt, die Haare wirr,
doch glühend vor Erregung auf Heinzens Fuchs: „Setz dich
hinter mir auf“ kommandierte er fast atemlos, und kaum
war Heinz auf dem Pferd und hatte ihn umfaßt, spornte
er wie ein Toller das Tier, und fort gings über Stock
und Stein in den Ort hinein, zur Burg empor.
Das war eine Burg, wie sie Auno noch nicht ge—
sehen hatte. Da konnte man noch Verstecken spielen und
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und Ecken, Erkern und Söllern sitzen und träumen und
der Väter und Großväter gedenken, da war noch jedes alt,
wetterschwarz und halb verfallen. Ach, was hatte das
nicht alles gesehen, was konnte das nicht alles erzählen! —
Zuerst ritten sie über einen Wallgraben, darinnen wucherte
kniehohes Gras, ein paar wilde Kaninchen sprangen grade
hindurch und suchten in den Lehmlöchern an den Seiten
Unterschlupf; von den Wänden des Grabens strubbelte
manneslanger Teufelszwirn hernieder, als ob es Haar⸗
strähnen alter Riesenhexen wären; dann kamen sie durch
den Torweg, der war ganz aus schwarzen Holzbalken er⸗
baut, hatte oben ein Schindeldächelchen, auf dessen Mitte
ein windschiefes Türmchen saß, in dem gerade ein einziger
Mann stehen konnte. Eine alte Wetterfahne, mit einem
Ritter, zu dessen Füßen sich ein Drachen wand, knarrte
rechts und links herum, an den beiden Seiten des Tores
sah je ein Guckfensterchen heraus, aber ein Pförtner war
nirgends zu sehen. — Nun sprengten sie in den Hof, da
stob ein großer Hühnerschwarm ängstlich gackernd aus—
einander, und der Herr Hahn retirierte allen voran auf
einen Haufen Mist. Ein Trupp Gänse lief mit ausge—
spreizten Flügeln um die Ecke und verschwand unter lau—⸗
tem Geschnatter, und die weißen Tauben flogen gradaus
in den Taubenturm, der mitten in diesem Teile des Hofes
stand, denn der Hof war lang und verzweigte sich in
verschiedene Ecken und Sackplätze. Grade vor ihnen in
der Mitte des Hofes stand eine alte Kapelle aus dunklen
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Porphyrsteinen erbaut, ein paar düstere, rundbogige Butzen⸗
fensterchen schauten zur Seite, den Schluß bildete ein run—
der Anbau, der war ganz von wildem Epheu umwuchert.
Er streckte seine grünen Arme schon über den First des
Daches nach dem Holztürmchen empor, das über dem Ein—⸗
gang der Kapelle stand und in dem eine große Glocke
hing. — Rings um die Kapelle bildeten den Hof Scheunen,
Ställe und Wohnhäuser. Diese zeigten ganz schwarz ver⸗
wetterte Balken, die sich schon bogen unter der Last der
Stockwerke, der Putz fiel von den Lehmmauern nieder,
die Haustür hing schief in der Angel, und die Steinstufen,
die emporführten, waren ganz ausgetreten, so daß bei
Regen das Wasser in ihnen stand. Die Fenster blickten
unregelmäßig aus den drei Stockwerken herab, und die
Läden, schwarz verwittertes Holz, hingen schief und schlossen
kaum. Die Dächer hatten sich etwas über die Rennen
geschoben und schienen jeden Augenblick einstürzen zu wollen,
lange Schwanenhälse und Drachenleiber reckten sich neu⸗
gierig hinaus, sie spieen das Regen- und Schneewasser
von der Höhe in den Hof hinunter. Die Scheunen zeigten
Tennen, in denen Mägde und Knechte noch bis Abend
Getreide gedroschen hatten. Der Staub zog sich noch aus
der offenen Türe; in anderen lagen große Haufen Stroh
gebündelt übereinander. In den Ställen stampften die
Pferde; aus anderen, die mit Holzstaketen zugesetzt waren,
blökten die Kühe, und aus noch anderen hörte man die
Schafe um die Wette bald hoch bald tief schreien. In
der Mitte all dieser Gehöfte grade aus gegen Süden ge—
richtet lag das Wohnhaus des Burgherrn Kurt von Köler,
das jetzt Heinz und Anno betraten. Sie schritten durch
die kleine niedere Tür, die sich unter der Last des Erkers,
der über ihr hing, noch niedriger drückte. Die Fensterchen
des Erkers waren erleuchtet, es war der Saal des Burg⸗
herrn, zu dem jetzt die winklige Treppe empor Heinz seinen
Freund Anno führte. — Aber Anno fing plötzlich an sich zu
sträuben, er wollte sich nicht vor fremden Leuten so sehen lassen,
zwar hatte er sich die wirren Haare einigermaßen gestrichen
und seinen Wams zurecht gerückt. Doch ehe er sichs ver⸗
sah, hatte Heinz die Türe aufgerissen und den Spielge⸗
fährten in das Gemach gestoßen. „Vater“ rief er jubelnd
aus, „hier bringe ich Anno von Gottgau, von dem ich dir
soviel erzählt habe!“ und damit sprang er auf seinen Vater
zu. —
Da stand nun Anno, verlassen und ganz beschämt in
dem Saal vor lauter fremden Menschen und wagte kaum
aufzusehen. Rings an den Wänden hingen in Eisenringen
Kienspäne, die ihr unruhiges Licht in das Gemach warfen,
eine große Eichentafel stand mitten im Saal, zu oberst an
ihr saßen der Hausherr, seine Gattin, seine Kinder und
weiter hinab Knechte und Mägde der Burg. Zu Ehren
der Ankunft des Spielmanns wollte Herr Kurt ihnen allen
ein kleines Bankett geben. Der Alte war von des Herrn
Seite aufgestanden, auf Anno zugegangen, faßte ihn nun
an die Hand und sprach: „Anno, kennst du mich noch?“
Und da der Knabe, glücklich einen Bekannten zu sehen,
ihm schnell zunickte, fuhr Eile fort: „Nun komm, laß dich
zu dem Herrn von Köler führen und sage ihm freundlichen
Gruß.“ — Aber Herr Kurt schnitt jedes Wort des ver—⸗
legenen Jungen ab, nahm einen Stuhl, schob ihn zwischen
sich und den Alten und setzte Anno darauf: „So mein
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Junkerlein, nun verhalte dich hier hübsch ruhig und höre,
was unser Gast uns hier erzählt!“
Eike blickte sinnend vor sich hin, dann erhob er den
Kopf, warf schnell einen Blick auf den Burgherrn, der
nickte wie im Einverständnis ihm zu, und da nun alles
im Saal mäuschenstill war, begann der Alte, auf den
kleinen Anno herabblickend, als ob er nur zu ihm redete, also:
„Es war vor vielen, vielen Jahren, da lebte hier
am Lauterberge ein stolzer Ritter, der hatte nichts so gern
als Abenteuer, und wie ein echter rechter Artusheld wollte
er sich nicht verliegen. Er hatte aber eine edle schöne
Dame geheiratet, die liebte ihren Gemahl über alle Maßen,
wohl mehr denn ihren Gott im Himmel selbst, und so
stand sie ihm an Mut und Kühnheit nicht nach. Daher
erlaubte sie ihm, in die Ferne zu ziehen, auf daß er
mit Ruhm und Ehren beladen wieder heimkehre. — Als
er aber fortgezogen, fand sie nicht Ruhe noch Schlaf.
Kein Bissen schmeckte ihr mehr, kein Trunk behagte ihr
mehr. Ihre rosigen Wangen fielen ein wie die Blumen
auf der Wiese, und ihre schönen Augen verblaßten wie die
Sterne am Morgenhimmel. Ihr Pferd stand ungeduldig
im Stalle und wartete vergebens den Jagdruf der Herrin
zu hören, und so ward es krank und starb. Hirsche und
Rehe tummelten sich im Walde in großen Herden und
wurden nicht abgeschossen. Die goldene Frühlingssonne
wärmte nicht mehr ihr Herz, und der Duft der Veilchen
erquickte nicht mehr ihre Seele. Immer nur dachte sie
ihres Gemahles, ging die Sonne auf und ging sie unter—
und kam die dunkle Nacht, so verdoppelte fich ihre Qual,
sie seufzte und rief immer wieder unter heißen Tränen
7
ihres Gatten Namen. Aber nichts erbarmte sich ihres
Schmerzes, die Wände blieben kalt und gaben nur den
Widerhall ihrer Stimme zurück, die Sonne schien teilnahms⸗
los Tag für Tag, die Hirsche und Rehe sprangen lustig
im Walde, die Mägde kicherten im Hause, und die Knechte
schwatzten auf dem Hofe. — Da nahm sie endlich ihr
kleines Töchterchen, kleidete dies und sich auf das präch⸗
tigste an, steckte Gold und Silber zu sich, hieß ein paar
Knappen zu folgen und zog ihm nach, ihrem Gemahl, in
die weite Ferne, denn vor allzugroßer Sehnsucht wäre ihr
das Herz gebrochen. — Und sie fand glücklich seine Spur,
und sie folgte ihm durch Länder und immer weiter durch
Länder, und je näher sie ihm kam, desto leichter wurde ihr
wieder ums Herz, desto strahlender ging ihr wieder die
Sonne auf, desto schöner sangen ihr die Vöglein im Walde.
Ihrem Fußtritt entsprossen Blumen vor all dem Glück,
das sie wieder fühlte, und ihrem Auge entsprossen Sonnen⸗
strahlen vor all der Lust, die das nahe Wiedersehen mit
ihrem Gatten ihr bereitete. — Ihr Gemahl hatte unter—
dessen viele Kämpfe siegreich bestanden. Den Feinden galt
er für unverwundbar und unbesiegbar, er trug aber ein
Hemd, das die Gattin mit der heißesten Liebe und unter
den innigsten Gebeten gewoben und das sie zuletzt mit
dem Blute ihrer rechten Hand gefärbt hatte. Solche Liebe
schützte und behütete ihn Tag und Nacht in dem grim—
migsten Kampfe. — Endlich mußte er eine sehr feste Burg
mit seinen Kriegern belagern. Der Vogt der Burg aber
erfuhr, daß der Ritter gefeit sei und daß kein Spieß, kein
Pfeil und Schwert die Rüstung, welche die Gattin ge—
woben, versehren könne. Da sann er auf Verrat, tat, als
⸗
ob er sich unterwerfen wollte, schickte Boten hinab, er—
klärte sich für besiegt und nahm den Ritter in seine Burg
auf. Den führte er nun durch alle Gemächer des Schlosses,
in denen Gold, Silber und Edelsteine aufgespeichert
lagen, und übergab dies alles dem Ritter. Nun wollte
er ihm aber noch das Beste zeigen, und so führte er ihn
allein in den untersten Keller hinab. Dort hatte er aber
eine Schar Kriegsknechte ganz heimlich verborgen, die brachen
plötzlich hervor, warfen sich auf den Ritter, rissen ihm das
feiende Hemd vom Leibe, und so erlag er der Übermacht;
dann stießen sie ihm das Schwert durch den Leib, also
daß er starb. Da flohen seine Knechte entsetzt aus der
Burg. — Die Gattin war ständig ihrem Herrn und Ge—
mahl nachgezogen und ihm immer näher gekommen. Und
fo gelangte sie schon den anderen Tag vor die treulose
Burg. Hier vernahm sie den traurigen Tod ihres Gatten.
Da ergrimmte sie sehr und schwor furchtbare Rache, denn
kühn und mutig war sie wie ihr Geliebter. Also kleidete
sie sich sofort als Mann, zwängte ihren Leib in einen sil—
bernen Panzer und ihre zarten Beine in silberne Schienen.
Dann rief sie all die Mannen ihres Gatten zusammen,
versprach ihnen all das Gold, Silber und Edelgestein zur
Beute, und so sehr lenkten sie Liebe, Rache, Kühnheit und
Klugheit, daß sie die Burg im Sturme endlich nahm.
Den Vogt und all die Verräter ließ sie sofort im Burghof
aufknüpfen, die Schätze verteilte sie unter die Krieger, sie
selbst aber nahm nur den Leichnam ihres geliebten Gatten,
balsamierte ihn ein und barg ihn in einem köstlichen, von
Edelsteinen besetzten Sarg. Dann verbrannte sie die unglück⸗
elige Veste, die ihrem Gatten das Leben gekostet hatte.
*14
lud den Sarg des Geliebten auf ein Pferd mit prächtigen
Decken geschmückt, sie selbst aber folgte, einer demütigen
Bettlerin gleich, mit dem Kinde dem Sarge als Trauer⸗
geleit von Stadt zu Stadt und Land zu Land, bis sie
ihn unter großem Pomp in Magdeburg im Dome bei⸗
setzen ließ. — Darauf wanderte sie mit ihrem Töchterchen,
Haus und Hof aufzusuchen, in unser Land zurück, aber
das Herzeleid und die Sehnsucht nach dem Toten nahmen,
je näher sie kam, immer mehr Besitz von ihr und zuletzt,
als sie den Lauterberg zum ersten Male nach so langer
Zeit wieder sah und erfuhr, daß Land und Gut ihres
Gatten von einem wilden Räuber erobert und verwüstet
worden war, sank sie zur Erde und blieb liegen, und als
man fie aufheben wollte, war sie tot.“ —
Der Alte hatte geendet. Anno aber saß da, alles
um sich her vergessend. Sein erwartungsvoller Blick hing
noch an den Lippen des Spielmanns, seine Pulse klopften,
seine Wangen glühten im Fieber, seine Augen blitzten wie
hellblauer Stahl in der Sonne, und da der Alte noch
immer das nicht sagen wollte, was er so gerne noch hören
mußte und wollte, da rief er in die andächtige Stille:
„Aber was wurde denn aus der Tochter?“ — „Aus der
Tochter“ versetzte Eike und lächelte „wurde natürlich ein
stattliches Fräulein, wohl ebenso schön wie ihre Mutter
und ebenso kühn und wagemutig wie ihr Vater!“ —
„Und tat sie denn gar nichts?“ fragte Anno etwas ent—⸗
täuscht „ich wüßte wohl, was ich täte, wenn ich die Tochter
wäre.“ — „Nun was denn?“ fragte der Spielmann. —
„Ich eroberte sofort all mein Land und mein Schloß
vwieder und kämpfte gegen den Räuber, bis ich ihn besiegt
und getötet hätte, mit meinen eigenen Händen getötet
hätte!“ — „Wenn du aber arm bist und keine Leute und
Krieger bekämst?“ — „Dann würde ich mir einen Gemahl
nehmen, der mir ebenbürtig wäre und kühn und tapfer
wie ich, und dem würde ich keine Ruhe lassen.“ — —
„Aber du redest ja wie ein Mädchen, Anno!“ lachte der
Spielmann, und alle lachten im Saale mit, und am
lautesten lachte gar der Burgherr! — Da schwieg Anno
ganz bestürzt, und heiße Röte flammte über sein Gesicht,
und den ganzen Abend redete er kein Wort wieder. Der
Burgherr neigte sich aber hinter Annos Rücken und flüsterte
ihm ganz leise ins Ohr: „Du hast recht, Eike, edle Geburt
ut sich von selber kund, sie ist eine von Frößnitz. Die
Probe ist bestanden.“
Der Burgherr hatte den frischen Knaben bald in
sein Herz geschlossen. Er versprach sich durch seinen Ver—
kehr einen heilsamen Einfluß auf seinen Sohn Heinz, der
stilleren und fast ängstlichen Gemütes ihm zu sein schien.
Er sah es gern, daß die Kinder engere Freundschaft mit
einander schlossen. Er bat von den alten Müllersleuten
den kleinen Anno oft für den ganzen Tag zur Burg empor;
dann wurde allerlei gespielt: man schoß mit Armbrust und
Bogen auf dem Hof nach dem Ziel, einem ausgestopften
Uhu, oder man kletterte an dem Seil zu den Ladetüren
der Scheunen empor, oder man spielte Räuber und Ritter
und jagte durch alle Verstecke des Hofes und der wirren
Gebäude, oder man besuchte die Rüstkammer und probierte
Rüstungen an, dann lief man auch in die Küche und
drehte den Bratspieß, warf Scheite ins Feuer, daß es hoch
aufloderte und der wirbelnde Rauch hoch oben im Loch
des düstecen Spitzgewölbes entschwand. — Alles gab Anno
an, und getreulich folgte ihm Heinz, und der lebendige
Knabe brachte von Tag zu Tag mehr Leben und Hitze in
das Blut des Gefährten. Der Vater aber freute sich und
übersah das Lärmen und Tosen der Jungen, hörte nicht
das ängstliche Aufflattern der gescheuchten Hühner und
Gänse, das ärgerliche Knurren im Hundezwinger, sah nicht,
wenn ein Pfeil in eine Butzenscheibe flog, daß das Glas
klirrend auf den Boden fiel. — Am schönsten war es aber,
wenn der alte Spielmann an einem Winterabende am
Kamin des Saales saß und Heldenmären und Kriegsge⸗
schichten erzählte; dann war Anno so ganz Ohr und Auge,
daß der Burgherr einen Boten an die alten Müllersleute
abschickte zu vermelden, daß sie ihr Junkerlein heut nicht
mehr erwarten sollten; und die guten Alten mußten wieder
allein in ihrem Stübchen sitzen wie ehemals, sie duldeten
es aber gern, wußten sie doch, daß Annos Platz eher da
droben auf der Burg als bei ihnen hier unten auf der
Mühle war. —
Einstmals hatten die Knaben die alte Bücherei in
einem Winkel des Turmes entdeckt. Da stöberte Anno
bestäubte Pergamentbände durch, darinnen waren krause,
bunte Bilder von Rittern und Damen und Ungeheuern
gemalt, und jenseits stand der Text dazu. Die Buchstaben
dünkten ihm aber lauter Krähenfüße zu sein: so wenig wie
er diese entziffern konnte, so wenig auch jene. O wie gern
hätte er sie verstanden, um die merkwürdigen Bilder deuten
zu können! So mußte er seufzend zuletzt die kostbaren
Bände wieder hinlegen in Staub und Schmutz einen
Schatz, den er nicht heben konnte.
23
Tags darauf drängte er schmeichelnd den Burgherrn,
lesen und schreiben ihn lernen zu lassen, denn er wollte
späterhin alle diese Heldenmären studieren und wohl auch
selber welche dichten und schreiben. Und der gütige Herr
von Köler konnte seinem ,‚Junkerlein“, wie er Anno nannte,
nichts abschlagen und sagte zu. — Oh, wie ging er diesen
Abend zu Bett! Lange lag er vor Aufregung fiebernd
auf seinem Lager, und bald sah er sich wieder in dem
alten Turme. Da traten aus allen Wänden die glänzen⸗
den Ritter und schönen Damen hervor, auch die Unge—
heuer, Bären, Löwen und Drachen, und die Ritter kämpften
mit ihnen, schwer und gefahrvoll, bis sie endlich die Un—
getüme mit kühnem Schwertstreich erlegten, die holden
Damen setzten ihnen aber Kränze und Kronen auf. — —
Der Burgherr ließ den Sankt Annen-Kaplan kommen,
der mußte beide Knaben unterrichten. Anno faßte schnell
und leicht auf, konnte schon in einigen Wochen fließend
lesen, während Heinz noch immer buchstabierte. Anno saß
noch lange Zeit abends in dem Stübchen der Müllers⸗
leute und übte sich im Lesen und Schreiben, während
Heinz sich müde ins Bett gesehnt hatte. Es schien der
hohe Adel seines Geschlechts aus allem hervorzuleuchten,
das dieser Knabe sich vorsetzte: nichts halb zu tun. Wie
er ehedem in den Wäldern streifte und jagte und tollte,
so saß er jetzt hinter den Büchern und las und schrieb und
studierte. So konnte Anno bald Heldenlieder hersagen,
während der andere sie erst mühsam las. — Aber der
Kaplan gefiel beiden Knaben nicht, es war ein gar zu
rockener, mürrischer und heiliger Mann. Stets fand er
etwas an den Helden und den schönen Frauen auszusetzen
Ihre Liebe wäre ja nur irdische Sünde, darum fänden sie
zuletzt auch den Tod als solcher Sünde Lohn, und ihr
Trachten nach Ruhm und Ehre wäre eitel, und darum
müßten sie auch dem Teufel nach dem Tode verfallen. —
Dagegen empörte sich Annos Herz, und oftmals sagte er
zu seinem Freund: „Mir gleich! Komme ich auch in die
Hölle, so will ich doch für Ruhm und Ehre kämpfen und
für meine Liebe eher sterben, als daß ich wie ein Heiliger
den wilden Tieren vorgeworfen werde!“ Und der Freund
nickte ihm zu und drückte ihm stumm die Hand, wie er
das zu tun pflegte. Denn die Heiligen und ihre Wunder⸗
taten ließen die beiden Knaben ganz kalt, und selbst Anno
vermochte ihre Geschichten nur stockend und lückenhaft zu
erzählen, sodaß der Kaplan scharfe Worte versetzte, dann
aber, als alles andere nichts half, ein Birkenrütlein zu Hülfe
nahm. Aber am anderen Tage fehlte Anno und ebenfalls
Heinz am nächsten darauf, sodaß der Kaplan vor der
leeren Bank stand. — Selbst der Burgherr vermochte Anno
nicht wieder zum Unterricht zurückzuführen, ließ es zuletzt
auch gut sein, da er ja selber nicht viel von den Heiligen⸗
geschichten hielt und viel lieber Eikes Heldenmären ver⸗
nahm; obendrein verstanden ja beide Buben schon mehr
vom Lesen und Schreiben als er selber, und das genügte
ja für das Leben.
Einstmals kam auch ein Vetter Heinzens auf die
Burg zu Löbejün, der hieß Caspar aus dem Winkel.
Dessen Vater war Rudolf, der saß auf dem festen Schlosse
zu Zörbig und hatte viel Leute und Dörfer unter sich,
stand auch bei dem Erzbischof Günther in hohen Ehren, denn
er war ein kriegerischer Herr. — Caspar war um einen
⸗
Kopf größer denn Anno und Heinz, obgleich er ebenso
alt wie jene war, dazu war er schlank und behende, daß
keiner es ihm gleich tat. Er rannte mit dem Pferd um
die Wette, er nahm einen Anlauf und sprang über seines
Schimmels Rücken, er warf den Spieß doppelt so weit
denn die beiden andern, er war in all ihren Künsten
Meister, daß Anno mit Ehrfurcht auf ihn blickte und
stiller sich vor ihm bezeigte. Im Spiele stand er stets
allein gegen die beiden und zwang jene doch unter sich,
dann glich er, im Kampfe und Ringen sich mühend, einem
Helden der alten Sagen: die blonden Locken flatterten um
sein Haupt, seine Wangen glühten wie Feuer, und seine
Augen blitzten wie Stahl, und der Arm, dessen Ärmel sich
zurückgeschoben hatte, glänzte und schwoll in Muskeln und
Sehnen. Da freute sich Anno und nannte ihn Jung
Siegfried. Caspar aber lachte, daß die weißen Vorder—⸗
zähne wie zwei Hauer blitzten, und er schlang den Arm
um Anno und wirbelte ihn um sich, wie man einen Ball
am Stocke herumwirbelt.
Um seinen Sohn mutig zu machen, hatte ihn als
Kind sein Vater Rudolf auf sein großes Pferd gesetzt und
das angespornt, daß es mit ihm davonlief. Dasselbe
Rezept wollte jetzt Kaspar mit Heinz anwenden, als sie
sich im Walde tummelten. Caspar ritt einen ganz tollen
Schimmel, und Heinz wehrte sich mit Händen und Füßen,
sodaß sich Anno vor Lachen auf dem Rasen wälzte. Plötz—
lich aber sprang Anno auf, griff dem Pferd in die Mähne,
schwang sich auf seinen Rücken und jagte davon. Da
hatte Caspar so verdutzt hinterher geschaut,. daß Heinz des
Lachens kein Ende fand. —
3*
Ein andermal hatten sie einen Fuchs im Walde
in einem Eisen gefangen. Anno wollte ihn töten, Heinz
wollte ihn freilassen, Caspar aber bestimmte und setzte auch
seinen Willen durch: der Fuchs bliebe weiterhin im Eisen;
er wollte des anderen Tages nachsehen, ob der Fuchs
wirklich sein Bein abgenagt hätte, wie man immer sagte.
Das gefiel nun Anno keineswegs, er warf ihm Tierquälerei
vor, und er lernte zum ersten Mal einen Unterschied zwischen
Caspar und Heinz zu des letzteren Gunsten machen. — —
Caspar gesellte sich gern allen Lustbarkeiten und Fest⸗
lichkeiten zu, und je größer das Mahl war, das man an—
gerichtet hatte, desto besser gefiel es ihm: bei Essen und Trinken
konnte er den ganzen Abend und noch die Nacht hindurch sitzen.
Je seltener eine Speise oder ein Wein war, desto mehr
nahm er und ließ es sich schmecken. Heinz machte sich aus
alledem weniger, er schlich am liebsten aus Festen und
Gästgedränge davon, und Anno haßte geradezu das üppige
Essen und Trinken. Er behauptete zu Caspar, es ver⸗
weichliche den Menschen, mache ihn zum Knecht und Sklaven
seiner Gelüste. Und dann trank er aus der hohlen Hand
das Wasser des Waldquells und holte aus seinem ledernen
Täschlein, das er beständig an der Seite trug, etwas
schwarzes Brot und Salz, setzte sich nieder und verzehrte
es, und alle Bitten Heinzens vermochten nicht seinen Ent⸗
schluß zu ändern: er kehrte mit den Freunden nicht auf
die Burg zurück und nahm nicht an dem Festessen, zu dem
man ihn eingeladen hatte, teil.
Die Zeit kam, da Anno gefirmelt werden sollte.
Die Pflegeeltern, die alten Müllersleute, mußten daran
——
denken, dem Kinde das Geheimnis zu offenbaren. Bis
zur letzten Minute hatten sie sich den schweren Schritt
aufgespart, denn sie fürchteten gar sehr, wenn Anno
seine hohe Geburt und sein Geschlecht vernommen haben
würde, daß er zwar nicht mit Verachtung, aber doch gleich—
zültiger auf sie herabsehen würde und daß seine hoch—
strebende Sinnesart eine starke neue Nahrung erhielte, daß
er noch selbstherrlicher denn früher tun und lassen würde,
was ihm gelüstete.
Den Abend vor dem hohen Feste, da Anno schon
zu Bett gegangen war, trat die alte Müllerin an sein Lager,
strich seine blonden Locken zurück, drückte einen Kuß auf
seine Stirn und sprach: „Mein Kind, morgen ist der
heilige Tag, da du dem Herrn deinen Glauben bekennen
sollst, jeder Lug und Trug und jede Unwahrheit betrüben
ihn, du darfst ihn nicht kränken und ich auch nicht. Also
vernimm denn zuerst, daß du ein Mädchen und kein
Knabe bist, daß du Anna und nicht Anno heißt, von
heute ab empfange deinen rechtmäßigen Mädchennamen
zurück!“ — Das Kind sah die Alte an, halb ungläubig,
halb erschrocken: „Ein Mädchen bin ich wie Sabine, wie
Trude, wie Clementa, die ich allzeit verlacht habe? Ein
Mädchen im langen Rock, in Flechten bin ich, daß mich
die Buben an den Flechten zerren, wie ich es selber tat,
und ich mich nicht mehr wehren kann?“ — und Anna
brach in bitterliche Tränen aus: „Ein Mädchen, das der—⸗
einst nicht in die Schlacht ziehen und kämpfen darf, keine
Feinde besiegt und Heldentaten verrichtet? Kein Held
werde ich, der auf Abenteuer auszieht, den Lindwurm
tötet, kein Siegfried —“ und ein Schluchzen erstickte ihr
— 38
Wort. Die Alte streichelte indessen ihre Wangen, nun er—⸗
widerte sie: „Weine nicht, mein Ännchen, ich kann dir einen
Trost spenden, du bist nicht der armen Müllerleute Tochter,
du bist die Tochter hoher, edler Eltern. Deine Mutter war
es, die dich hierhergeführt hatte in jener schrecklichen Winter—
nacht und die dann hier starb und die sterbend uns dies
Kästchen übergab und diesen Schmuck, alles gehört dir,
dem edlen Fräulein von Frößnitz!“ — Hastig richtete sich
Ännchen auf, streckte die Hand zu dem silbernen Kästchen aus,
zffnete es und fuhr fast vor Schrecken zurück, soviel Gold,
Silber, Edelsteine und Perlen schimmerten ihr entgegen.
Plötzlich drückte sie beide Hände vor die Stirn: „O meine
Mutter, warum bist du so früh gestorben und hast mich
hier allein gelassen!“ Und dann nach einer Pause wendete
sie sich zu der Alten und rief klagend: „Warum habt ihr
mir immer vorgeredet, es wäre meine Muhme gewesen,
mit der ich hierher gekommen? Also sie war doch meine
Mutter, und ich habe nie mehr an sie gedacht!“ Und
Ännchen sank weinend in sich zusammen. „Deine Mutter
wollte es so, sie trug es uns auf, erst vor der Firmelung
dir alles zu sagen“, entschuldigte sich die Alte. — Aber
Ännchen hörte nicht mehr darauf, sie hatte ihre eigenen
Gedanken und fuhr fort: „So bin ich denn ein edles
Fräulein, da darf ich erst recht in dem Walde jagen und
streifen, Falken abrichten und die Reiherbeize machen,
Hirsche erlegen und Rehe, da brauche ich nicht mehr die
Nester von den Bäumen zu holen und die Hasen in der
Schlinge zu fangen!“ — Die Alte stotterte: „Das wird sich
wohl nicht so leicht machen lassen, der Wald ist nicht
unser.“ — „Nun denn“ fiel ihr Annchen rasch in die
]
Rede „dann heirate ich Heinz von Köler, dem gehört ja
der Wald, oder einen anderen Ritter, der noch einen größeren
Wald besitzt.“ — Da beschwichtigte die Alte das unge—
stüme Mädchen: „Ännchen, ich meine, du kannst viel
Schöneres erwerben, als Hirsche jagen und Reiher töten.
Sieh auf die heiligen Jungfrauen in dem frommen Kloster,
sie dienen Gott und dem himmlischen Heiland, fern von
allen Sünden und Leiden der Welt! Ach, irdische Liebe
macht nicht immer glücklich, und deine arme Mutter
wünschte dich vor dem schweren Herzeleid zu bewahren,
das ihr die Liebe einst gegeben hatte.“ Und nun erzählte
die Alte, was ihr die edle Frau von Frößnitz in ihrer
letzten Stunde von ihrem Gatten, ihrer Liebe, und seinem Tod
in weiter Ferne mitgeteilt hatte. — Da mußte Annchen
ganz urplötzlich des Spielmanns und seiner Erzählung
auf der Burg zu Löbejün gedenken! Es war der Liebe
Glück und Weh ihrer eigenen Eltern gewesen, das sie da⸗
mals so furchtbar erregt hatte, und sie gedachte nun auch
ihrer eigenen Antwort und ihres Wunsches. Da brach
sie in Tränen aus, schluchzte und ließ sich von der Alten
nicht mehr trösten. —
Am anderen Morgen fand die Firmelung statt. Paar—
weise hintereinander, je ein Knabe mit je einem Mädchen,
schritten sie durch die Straßen, die mit Tannenreisig und
Buchsbaum bestreut waren, hinüber zur Kirche. Die Mäd—
chen trugen ganz weiße Kleider und hatten einen grünen
Kranz auf der Stirn. Die Knaben gingen in einem neuen
schwarzen Wamse aus Seide oder Tuch barhäuptig. Ännchen
trat in einem silberblinkenden, schneeweißen Kleide neben
dem Junker Heinz vor den Altar. — Der arme Junker
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war noch immer ganz starr über die Verwandlung, die
sich über Nacht vollzogen, er wagte AÄnnchen kaum anzu⸗
sehen und stand und ging wie in Träumen umher. Und
traf ihn ihr Blick, so schoß das Blut blitzschnell in sein
Gesicht, als ob man ihn wie einen Dieb ertappt hätte.
Ganz wunderbar aber war es ihm zu Mute, als man
aus der kalten Kirche wieder in die schöne helle Oster⸗
sonne heraustrat; er sah alle Leute beiseite stehen und
hörte sie flüstern: „O AÄnnchen, Schön AÄnnchen von Gott⸗
gau!“ Und die Blüten der Bäume, unter denen sie hin⸗
schritten, dufteten und raunten: „O Ännchen, Schön Änn—⸗
chen von Gottgaul“ und die Bienen über die Blumen
flogen und summten: „O Ännchen, Schön Annchen von
Gottgau!“ und die Lerchen trillerten über die grünen
Auen und sangen: „O Ännchen, Schön Annchen von Gott⸗
gau!“ und da sagte er selber zuletzt ganz laut vor sich
hin: „O Ännchen, Schön Ännchen von Gottgau!“ —
Der Junker hatte sich ganz verwandelt. Ging man
frühmorgens in seine Kammer ihn zu wecken, fand man
sie bereits leer. Offnete man den Stall, in dem sein
Schimmel stand, war auch dieser leer. Fragte man den
Hofmeister, der die Knechte und Mägde auf dem Hofe be—
aufsichtigte, so erfuhr man, daß der Junker schon vor
Sonnenaufgang hinab in den Wald geritten sei. Dann
blieb er den ganzen Tag fort, und kam er des Abends,
sagte er nichts, nicht, wo er gewesen, nicht, was er getrieben.
Wortkarg, verschlossen ging er in sein Gemach.
Wo es ganz einsam war, im dichtesten Dickicht des
Waldes, hatte er sich eine Lagerstatt ausgehauen, da lag
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er auf dem Grase, hörte den Amseln und Finken zu und
starrte stundenlang in den Himmel. In die unergründ⸗
liche heitere Bläue blickte er, und er blickte in ihre Augen;
in der Sonne lange Goldstreifen, die auf den Kronen der
Bäume sich wiegten, schaute er, und er schaute in ihre
goldenen Haarsträhnen. Ein warmer Veilchenduft wehte
zu ihm hernieder, und er glaubte ihrer Lippen Nähe zu
spüren. — Er sah ein kleines Vergißmeinnicht neben sich
stehen, pflückte es ab und zupfte seine blauen Blättchen,
eins nach dem andern: „Sie hat mich lieb, sie hat mich
nicht lieb, hat mich lieb, nicht lieb.“ Und beim letzten
blieb es immer, so oft er zupfte. Ach, wäre sie doch der
Müllerknappe wie zuvor, seufzte er, ward ganz untröstlich,
und es fiel ihm so bang, so schwer aufs Herz, und so un—
endlich weh, daß er sich ins Gras barg und laut auf—
weinen wollte, aber er unterdrückte mannhast die Tränen.
Ja, es war ihm, als hätte er sie ganz und gar verloren,
seitdem sie das edle Fräulein von Frößnitz geworden!
Und nun erhob er sich, er hatte keine Ruhe mehr, da kam
er an den bösen Stein von Frößnitz, und da stand die
alte Eiche, wo sie einst gelegen, wo er sie zum ersten Mal
gesehen, ein Knabe wie er, und er warf die Arme aus—
einander, als wollte er sie umarmen, warf sich unter die
Eiche: „Ännchen, Schön Ännchen, komm doch her, komm
doch wieder!“ — — —
Er wagte sich nicht mehr zur Mühle hinab, Ännchen
würde ihn auslachen. O nein, er wollte sich nicht ver—
raten, er wollte ihr stolz und kühn entgegentreten. Sie
zeigte sich ja auch so, was sollte er da Rücksicht nehmen?
Doch im nächsten Augenblick rief es wieder in ihm: „Reite
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hin, reite hin, sage ihr alles, das ist das Beste!“ und
wieder sprach die erste Stimme: „Sie ritt ja sonst in den
Wald, einmal wirst du sie treffen, was sollst du ihr nach—
reiten?“ —
Dann erinnerte er sich ihres hochstrebenden Gemütes.
Sie erwartete sicher einen Helden, einen Fürsten, der sie
heimführen würde, aber nicht ein schmächtiges Junkerlein,
wie er es war. Und von neuem verzagte er. Plötzlich
sprang er auf, zog sein Schwert und hieb wie ein Wahn⸗
sinniger um sich herum, auf alle Äste und Zweige, daß
Splitter und Stücke, Holz und Blätter, alles um ihn her⸗
umflog, wie die Spreu beim Dreschen. Ein unsagbares
Gefühl durchraste ihn jählings, ein Strom von Kraft
durchflutete seine Adern, sein Schwert dünkte ihm zu leicht,
die Hiebe, die er austeilte, zu schwach. Und er hieb immer
flinker und toller, bis ihm schwarz vor den Augen wurde.
Ein dunkles Ahnen dämmerte in ihm auf, er wollte sie
erringen durch Kraft, durch Mut, durch Kampf. So wollte
sie es haben, so konnte er noch hoffen!
Er ritt in sausendem Galopp nach Hause, ritt, wie
er es noch nie getan, über Stock und Stein. Ja, er konnte
reiten, wie Caspar Aus dem Winkel ritt, wie sie selber
ritt, und das freute ihn auf einmal unbändig. Seine Zu—⸗
ve rsicht wuchs, seine Kraft und sein Glück.
Zu Hause kletterte er sofort in die alte Rüstkammer,
er schnallte sich einen Panzer um, er trug schwer an ihm,
er schwitzte, er keuchte, er behielt ihn aber am Leibe. Und
nun stieg er die steile enge Treppe zum Turm hinauf, und
dann stieg er wieder bis zur Erde hinab; das tat er ein—
mal, zweimal, ja zehnmal, bis seine Glieder ihm den Dienst
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versagten. Dann prüfte er die Schwerter. Da nahm er
ein großes, mit mächtigem ungefügen Griff, er wog es
in den Händen, es war viel zu schwer, dreimal so schwer
wie sein eigenes, aber er behielt es. Er fing an mit dem
Schwerte zu schlagen, zu fechten, zu üben. Seine Hände
erlahmten alsbald, seine Arme sanken schlaff an den Seiten
nieder, sie hingen wie abgeschnürt herab, er konnte sie nicht
heben. Nun gut, er ließ ihnen Zeit, und dann begann er
von neuem zu schlagen, zu fechten, zu üben.
So übte er heute, morgen, alle Tage. Und mit
Freuden fühlte er, wie seine Kraft wuchs, und mit seiner
Kraft wuchs seine Hoffnung, seine Zuversicht. —
Er hatte Ännchen so lange nicht gesehen! Er hatte
gehofft, ihr im Walde zu begegnen. Er war vom frühen
Morgen bis zum späten Abend, Tag um Tag, nun Wochen
lang herumgestreift und hatte sie doch nicht gesehen, nicht
eine Spur von ihr entdeckt! Er zürnte, er grollte ihr!
Trieb sie es nicht in den Wald wie ihn? Hatte sie denn
gar kein bischen Sehnsucht, da er soviel hatte? Und er
irrte von neuem planlos und unstät in den Wäldern her⸗
um. Tag um Tag, Woche um Woche! —
Eines Tages war Eike, der Spielmann, wieder da.
Er hatte mit Staunen des Junkers Verwandlung wahr⸗
genommen. Er sah sein wildes, trotziges, unbändiges
Wesen, und er wußte den Grund. Er lachte nicht mehr
über die geheime Qual des Knaben, der zum Jüngling
reifte, aber er lächelte kaum sichtbar vor sich hin und strich
sich seinen langen Bart. Er sann auf Trost, und er fand
ihn. — Eines Morgens hatte er dem Junker gesagt:
„Komm, laß uns in den Wald reiten, reiten wir mal wieder
zum Frößnitzstein! Mir ist, als träfen wir Ännchen dort,
und du weißt, ich sehe mehr als andere in die Zukunft!“
Der Junker war ihm um den Hals gefallen: „Eike, lieber
Eike!“ Dann aber faßte er sich: „Wie freue ich mich, daß
ich wieder mit dir reiten kann, du weißt nicht, wie lieb
ich dich habe, erzähle mir wieder von den alten Helden
und ihren Kämpfen!“ Doch von Ännchen sagte er nichts!
Sie kamen an den Frößnitzstein. AÄnnchen war noch
nicht da. Der Alte setzte sich ins grüne Moos, stützte sein
Haupt ins Kinn und sann in die Ferne und dachte an
alte Zeiten zurück. Hier hatte er vor zwanzig Jahren ge⸗—
sessen. So ungestüm schlug ihm noch damals sein Herz
wie diesem Knaben. So wild wallte sein Blut, so unbe⸗
zähmbar und doch viel trostloser, viel trostloser. Eine
weiße reine Gestalt tauchte aus den Blättern auf, oh, er
kannte sie, sie nahte ihm öfter, dieser selige schöne Geist!
Das Ebenbild Schön Ännchens, ihre Mutter! — Er wischte
sich mit der Hand über die Augen. „Tot, tot“, murmelte
er, „alles vorbei und verloren!“ — Er blickte zum Junker
hinüber, der stand und horchte einen Augenblick, dann
spannte er wieder seine Armbrust, legte einen Bolzen auf,
zielte und traf die alte Eiche, darunter er Annchen zum
ersten Male gesehen, mitten in den Stamm! Sein Auge
blitzte auf, aber die Freude war wild und glich dem
Wetterleuchten, das hinter Wetterwolken noch tief am Hori—
zonte wieder verschwindet.
Der Junker hoͤrte plötzlich auf, stampfte mit dem Fuß
auf das Moos, stieß es von dannen: „Sie hat uns wieder
zum Narren, sie kommt nicht!“ — „Schieße den Falken
dort oben!“ und der Alte zeigte zum Himmel. Sie „will
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einen haben, der alte Müller soll ihn ihr ausstopfen, sie
wird dir danken!“ — „Nein, ich will nicht!“ rief Heinz
dagegen. „Und wenn ich ihn zehnmal träfe, ich will nicht!
Sie ist ohne Gefühl und hart, will nur immer die Tiere
töten! Der Falke soll eben leben und weiterfliegen, hörst
du? Vorbei will ich schießen, wenn sie hier stände, ihr
zum ürger! Ach, sie kommt wieder nicht!“ Und er schleu—
derte die kostbare Armbrust an den Fuß der Eiche, daß
sie dort liegen blieb. —
Da hörten sie Hufschlag, schnell und schneller. Fast
atemlos sprengte ein schmuckes weißes Pferdchen auf dem
Krosigker Wege heran, kerzengrade saß ein Mädchen auf
ihm, im ganz weißen Kleid mit einem grünen Kranz von
wildem Epheu um die Stirn, die Haare fielen ganz golden
auf die Schulter, und der Blick ihrer veilchenblauen Augen
traf Heinz.
Der stand wie festgewurzelt. Sie hielt an, sprang
herab und reichte ihm die Hand. „Du auch hier, Heinz?“
Dann ging ihr Blick in die Runde, der sah die Armbrust,
die achtlos an den Fuß der Eiche hingeworfen war. Da
fragte sie: „Wie stehts mit dem Falken, den du mir ver—
sprochen hast?“ — Dem Junker waren alle Vorsätze ent⸗
schwunden, da stand er nun wortlos, brachte keinen Ton
hervor, wie ein dummer Junge, und sein ganzer Trotz war
wie der Märzenschnee unter dem Sonnenblick dahinge—
schmolzen. — Annchen schürzte ihre süße Lippe, ihr Auge
blickte seitwärts, und dann sprach sie leise: „Nun, ich sehe
wohl, daß ich Euch umsonst gebeten habe, Junker von
Köler, verzeiht mir!“ — Dem Junker wich das Blut aus
den Wangen, sie hatte ihn steif und förmlich mit „Ihr“
angeredet, das hatte sie noch nie getan, das war denn
doch zu toll!
Sie ließ ihn stehen, wandte sich zu dem Alten, setzte
sich zu ihm nieder, legte ihre Händchen in seine Hand
und im doppelt zärtlichen Tone bettelte sie: „Eike, nun
halte du wenigstens dein Versprechen und erzähle, er—
zähle!“ — „Nun“, sagte der Alte, „setz dich auch her,
Heinz, neben Ännchen setz dich, sie erlaubt es schon, und
dernimm du auch von deiner schönen Burg Löbejün, die
alte Sage von dem Helden, der hier oben die Fürsten⸗
tochter von dem Drachen befreite und die Burg erbaute!“
Der Junker setzte sich schweigend an Ännchens Seite nieder.
„Also“ fuhr der Alte fort, „man hatte das wunder—
schöne Fürstenkind oben, wo jetzt die Kapelle steht, an
einem mächtig dicken Baum gebunden, daß sie sich nicht
mehr rühren konnte, denn es war so ein Irrwisch, wie du,
Ännchen, einer bist! Und soviel sie vorher gelacht und
gesungen hatte, jetzt fing sie doch an zu weinen, als die
Knechte ihres Vaters sie banden. Ihr Vater, der Fürst,
stand aber von ferne, daß sie ihn nicht sehen konnte, und
ihm wollte schier das Herz zerspringen, da er die Klagen
seines Töchterleins hörte, aber das Volk verlangte, daß er
seine Tochter dem Untiere opferte, das alle Leute verschlang
und alle Äcker verwüstete. Denn nur dann, hatten die Priester
gesagt, würde der Groll der Götter besänftigt werden.“ —
„Ob das mein Vater auch getan hätte?“ unterbrach ihn
Ännchen, „ich hätte lieber für meine Tochter mit dem
Volke selbst gekämpft und meine Macht gegen seine gestellt,
ob die Götter es wollten oder nicht!“ — Eike fuhr fort:
„Und nachdem sie nun die Prinzessin ganz fest gebunden
hatten, machten sie sich allesamt davon, denn die Stunde
war gekommen, da der Drache aus der Fuhne herauf—
kriechen und das Mädchen als Fraß verzehren wollte. —
Bald hörte man auch wirklich ein Schnaufen und ein
Blasen, wie wenn ein starker Sturm durch die Lüfte zieht.
Da ging auch der Vater, der bis zuletzt hinter einem
Baume gestanden, eilends davon, und das Prinzeßchen war
nun ganz allein, an der dicken Eiche rettungslos ange—
vunden, stand ganz stumm, denn der Schrecken hatte ihr
jeden Laut genommen. Plötzlich knackten Büsche und
Bäume, und ein brandrot geschupptes Schlangenungetüm
wälzte sich hindurch, riß mit seinen Krallen Wurzeln,
Steine und Erdklumpen heraus, hielt inne, blickte sich mit
blutroten Augen um, krümmte sich in hohem Buckel und
schnellte wieder ein Stück vorwärts. Wie es so auf den
freien Platz gelangt war, sperrte es den blutroten Rachen
mannshoch auf, ließ seine dreifachen Zahnreihen wie scharfe
Eisenpfähle drinnen sehen, züngelte mit ganz spitzer zer—
spaltener Zunge in die Luft, und sein heißer Atem dampfte
schweflig hervor, dann stieß es ein Gewieher aus, wie das
eines Hengstes, aber ohrenbetäubend.“ — „Und die Prin—
zessin?“ fragte atemlos Schön Ännchen und packte des
Alten Arm — „Das arme Kind war ohnmächtig vor Ent—⸗
setzen geworden, und das war das beste für sie“ — „Ja“,
sagte Ännchen, „wenn man wenigstens so schändlich an—
gebunden und so dem Tode übergeben wird. Hätte sie
doch noch mit dem Ungetüm kämpfen können!“ — „Und
so sah sie denn nicht“, fuhr der Alte fort „daß der Drache
sich hoch aufgebäumt hatte und seinen Rachen vorstreckte,
nicht gegen sie, sondern gegen einen anderen, denn gerade
ihm gegenüber aus dem Walde sprengte ein wildes weißes
Roß hervor, schneller denn alle anderen sterblichen Rosse,
und ein junger Held saß darauf, der in seinem Leben
keine Furcht gekannt hatte und so der Herr selbst über den
Tod war! Der pflegte durch Feuer und Schnee, bei Tag
und bei Nacht zu reiten, war eines Königs Sohn und dem
Vaterhause entflohen, Abenteuer zu suchen und Kämpfe zu
bestehen. Der hatte auch von dem Drachen gehört.“ —
AÄunchens Wangen glühten, die Erzählung hatte sie sich
selber vergessen lassen, sie wandte sich zum Junker um und
kniff ihn in die Arme. „Hörst du, Heinz?“ Der aber
griff zum Schwerte, Ännchen lachte: „Recht so, recht so!
Laß uns kämpfen, wer der Drach ist, wer der Held!“ —
„Ruhig, Ännchen“, mahnte der Alte, „Dieser Jüngling al⸗
so, blond von Haaren, mit Augen scharf, wie die des Falken
sind, sprengte also mit vorgelegter Lanze gerade auf das
Untier ein, bohrte, ehe es den Rachen schloß, den Speer
hinein, durchdrang ihn und heftete ihn an den alten Baum
fest, sodaß das Untier festgenagelt war. Dann sprang er
vom Pferd und ließ das entlaufen, denn der Drache wälzte
und wand sich, schlug mit dem Schwanze und kratzte mit
den Krallen. Der Jüngling sprang hierhin und dorthin
und wich den Schlägen aus, zog das Schwert von der
Seite, und ehe das Untier es sich versah, hatte er eine
Blöße unter dessen Bauche entdeckt. Da rannte er sein
Schwert bis zum Hefte in die Gedärme und traf des
Drachen Herz. So brach die Schlange zusammen, schrie
noch einmal laut auf, hell wie eine schreckliche Pfeife, daß
die Prinzessin davon erwachte, und war, tot.“ — „Ach,
daß sie dem Kampfe nicht zusahl“ rief Annchen „oh, ich
—39
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aber habe alles gesehen! Siehst du so, Heinz Köler, du
bist das Untier, ich bin der Ritter“ und dabei zog sie
ihren Dolch aus der Scheide: , Nun wehre dich, Jüngelchen!“
und das trotzige Mädchen drängte es, Heldenkämpfe und
Heldensiege den Junker endlich zu lehren. Der aber war
schneller wie sie emporgesprungen, der Zorn übermannte
ihn, er stieß das Mädchen zurück, doch ihr Dolch zuckte
vor und verletzte seine Hand, daß das Blut den Fingern ent—⸗
quoll. Der Junker achtete der Wunde nicht, er entrang
ihr den Dolch und schleuderte ihn weit von sich. Und ehe
sich Annchen erholte und um sich sah, saß er auf seinem
Pferde und war in dem Wald verschwunden. — Wie aus
Träumen erwachend, strich sie die Haare aus der Stirn:
„Wo ist Heinz?“ rief fie, „Heinz, Heinz! Alter, wo ist er
hingegangen?“ Der aber zuckte die Achseln. Da sprang sie
auf und rief wieder: „Heinz, lieber Heinz, komm doch
zurück!“ — Der Junker hörte noch fern ihren Ruf, aber
eine Träne stand in seinen Augen, welche ihm Wut und
Erbitterung hervorgepreßt hatten. Dieses Mädchen, für
das er sein Herzblut im Kampfe gewagt hätte, konnte ihn
töten, konnte ihn wirklich töten! Aber er wollte sie fahren
lassen, wollte sie nicht wieder sehen, diese Grausame! Und
außer sich vor Erregung ritt er weiter, immer weiter da—⸗
von, schlug jede Entschuldigung, die sich hervorwagen
wollte, tot, alles tot, jede süße Erinnerung, selbst diesen
letzten ersterbenden Ruf: Oh, könnte er sich selber tot—⸗
schlagen, daß er Ruhe hätte vor sich und ihr! —
Eine geraume Zeit verstrich. Heinz sah nicht AÄnn⸗
chen und Ännchen nicht Heinz. Er hatte es ganz und gar
vermieden, in die Wälder zu reiten, in denen er sie zu
treffen noch hoffen konnte. Anfangs wollte ihn ihr zärt⸗
licher Ruf zurücklocken: „Heinz, lieber Heinz!“ so hatte sie
ihn ja noch nie genannt. Morgens klang er wie das
Silberglöcklein der Kapelle in seine noch träumenden Ohren,
kosend und schmeichelnd: „Komm doch zurück, Heinz, lieber
Heinz!“ und abends erstarb er wie das Sterbegeläut des
Totenkämmerleins seufzend und leise verzweifelnd: „Heinz,
lieber Heinz, warum bist du nicht gekommen?“ Dann
wälzte er sich ins Kissen und stopfte es vor seine Ohren
und legte die Hand auf die hämmernde Brust. Es war
doch alles nur Laune, ihr zärtlicher Ruf, ihre Bitte nur
Laune! Sahen sie sich wieder, begannen ihr Trotz und ihr
Spott von neuem sich zu regen. Und so blieb er stand—
haft und ritt nicht in die Wälder zurück. —
Er streifte seitdem in den Fuhnesümpfen herum. Bald
entdeckte er eines Keilers Spur, der sich im Morast ver—⸗
borgen hielt, den wollte er stellen. Zuletzt reizte ihn das
Tier so sehr, daß er sich nicht mehr die Zeit nahm auf
die Burg zu gehen, dort zu schlafen. Er kampierte im
Freien, in hohlen Bäumen, in Höhlen der Erde, kurz, wo
er Schutz fand. Die Wölfe hörte er in der Ferne des
Nachts heulen, es focht ihn nicht an, des Uhus schweren
Flügelschlag hörte er durch die Äste fast über sein Haupt
streichen, es kümmerte ihn nicht. Sein Antlitz war rauh und hart
geworden, die Haare hingen ihm in wirren Strähnen von
der Stirne nieder, die Haut der Hände bedeckten Schorf
und frische Wunden und die Innenfläche Schwielen von
Waffenarbeit. Schmutzig und blutbedeckt erhob er sich des
Morgens, und ebenso legte er sich des Abends nieder, nur
das Auge blitzte und leuchtete schärfer denn je, daß die
Leute mieden ihn anzusehen, und die Worte drängten sich
rascher und befehlend auf die Lippen, daß man unwill⸗
kürlich ihnen Gehör geben mußte. Er ritt längst nicht
mehr, er streifte immer zu Fuß, da konnte er besser spähen
uund töten, was ihm in den Weg kam. — Er hatte den
Eber bereits den vierten Tag verfolgt, als dieser empor in
die Höhenwaldungen, in die Richtung nach dem Frößnitz⸗
steine, ihm entschlüpfte.
Und AÄnnchen? — Sie mied es ebenfalls, den alten
lieben Wald wieder zu betreten, nein, das wollte sie nicht,
mit keinem einzigen Schritt! Warum war er geflohen,
warum war er auf ihr Bitten, auf ihr Flehen nicht zu⸗
rückgekehrt? Was hatte ihn verwandelt? Hatte er sich
früher je so gezeigt? Galt sie ihm nichts mehr? — Und
ruhelos eilte sie daheim in der Mühle von den Böden in
die Keller, schaffte dies, schaffte das, aber nichts machte
ihr Lust! Eilte von der Stube in die Küche, und kaum
trat sie an den Herd, war es ihr schon wieder leid. —
Endlich entfloh sie ins Freie, das Haus war zu eng und
zu dumpf, floh die Teiche empor auf die einsame Klippe
und warf sich droben ins hohe Gras, den Weihen und
Falken wie ehemals nachzuspähen, — aber da sah sie ihn
wieder, wie er aufsprang, den Dolch ihr entriß und dann
enteilte auf Nimmerwiedersehen. Die Tränen traten
ihr in die Augen, und sie raufte ihr schönes, goldenes
Haar, das ihn einst so entzückt hatte, daß er mit dem
Schwerte eine Locke sich abgeschnitten. Nein, sie haßte
ihn, sie sprang auf, oh sähe sie ihn, nur einmal noch, seine
Strafe ihm zu geben! — Plögtzich eilte sie heimwärts, eilte
B
in ihr Stübchen, zog sich die alte Mühlknappentracht an
und ging dem erstaunten Pflegevater zur Hand, Säcke vom
Mahlraum auf den Boden zu tragen. Schneller denn je
stürzte sie voran und sprang ihm, der erst hinaufächzte,
schon wieder entgegen, fiel ihm um den Hals, küßte ihn
und nahm ihm unversehens den schweren Sack ab und
schleppte ihn zu den anderen hinauf. Und endlich standen
sie alle oben, eng aneinander gereiht; da klatschte sie in die
mehlbestäubten Hände vor Freude, der Alte aber weilte
noch auf der Treppe, wischte sich mit der flachen Hand den
Schweiß von der Stirn und murmelte: „Da steckt etwas
dahinter, da steckt etwas dahinter!“ —
Dann aber, eines schönen Morgens, war Ännchen
samt ihrem Pferde wieder aus der Mühle entschwunden,
hatte ihr bestes weißes Seidenkleid angelegt, ihren Kronen⸗
schmuck in die Haare gesteckt und war auf und davon in
den Wald geritten. Das war nun wieder ein ganz neuer
Eigensinn des Mädchens, aber die alten Müllersleute sprachen
darüber, kein Wort mehr, sie waren ja an solche Launen
Schön, Annchens genugsam gewöhnt. —
Annchen war kurz entschlossen auf dem Weg nach
Löbejün davongaloppiert, war um die ersten Strohhütten
im Tale in Morast und Wiese entlang geritten und hatte
den Weg nach dem Lauterberg und nach Halle eingeschlagen.
So hatte sie endlich den Frößnitzstein erreicht.
Aber ein anderer war ihr zuvorgekommen. Der Junker
Köler saß dort, nein, er lag dort, wo sie das letzte
Mal beide gesessen, und hielt sein Gesicht in beiden Händen
verborgen. Jetzt, als sie herangetrabt kam, hob er sich
schnell empor, strich sich die wirren Haare zurück, drehte
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fich halb ab und sagte kein Wort. Was war das doch für
eine Schwachheit, die ihn sofort befiel, wenn er diesem
Mädchen gegenüber stand?
Ännchen sprang herab, sie gab ihm keine Hand:
„Nein, sage ich, ich sage es nochmals“ und sie stampfte
mit den Füßen auf, „Heinz ist kein Siegfried und Sieg—
fried kein Heinz! Und eine Natter ist kein Lindwurm und
ein Lindwurm keine Natter!“ Bei diesen Worten warf sie
dem Junker eine harmlose lange Natter, die sie aus dem
Gebüsch seitwärts gezogen, plötzlich vor die Beine.
Der Junker fuhr zurück, er dachte, es wäre ein giftiges
Reptil, eine Kreuzotter, wie es deren viele hier im Walde
gab. Er wollte sein Schwert ziehen, dem Kopf ihm ab—
zusäbeln. Ännchen klatschte in die Hände, bückte sich vor
Lachen und knixte: „Dachte ich's doch, dachte ich's doch!
Eine Natter ist kein Lindwurm und ein Lindwurm keine
Natter!“ —
Der Junker drehte ihr den Rücken, sie aber sah ein
flammendes Rot bis hinter seine Ohren sich ziehen. Oh,
sie hatte ihm schön eingeheizt! Seine Hand krampfte sich
an seines Schwertes Knauf; er aber sagte kein Wort, nicht
einmal ein Wort des Zornes, auf das sie sehnlichst ge—
wartet hatte.
Das reizte sie weiter, fie wollte doch sehen, wie viel
seine Trägheit zu tragen im stande war. „He, Junkerchen,
ich will euch wieder erzählen, was der Annenkaplan uns
gestern abend erzählte, als er uns besuchte!“ — Heinz
konnte den Annenkaplan um keinen Preis ausstehen, dieser
Mensch hatte ihn seit Wochen bei seinen Eltern verlästert,
seiner schwachen Mutter ins Gewissen geredet, auf die Pfade
ihres Sohnes, die durch Blut und Mord zur Hölle führten,
zu achten. — Ännchen klopfte Heinz auf die Schulter, er
schien nicht zu hören, nun zuckte er unter Ännchens Be—
rührung zusammen: „Es war einmal ein Dorf, denkt euch,
es wäre Löbejün, da kam eines Tages ein schreckliches Un⸗
getüm aus dem Wald, ein furchtbarer Löwe, der trottete
von dem Berge nieder, ein langer Schweif baumelte ihm
hinten und schreckliche Tatzen vorne. Die Kinder liefen
brüllend in die Häuser, die Mägde versteckten sich kreischend,
die Frauen verriegelten die Höfe, und die Männer suchten
nach Axt und Armbrust, einige stiegen auf die Dächer, an—
dere auf die Bäume, das Untier zu erlegen, und plötzlich
fing der Löwe an, aus voller Kehle zu schreien“ — —
Was war das? Der Junker wandte sich um, zog
blitzschnell sein Schwert, hielt es vor sich, die Zähne klirrten
wie Glas, doch nicht gegen sie, Gott bewahre, er schob sie
sacht bei Seite, und nun schoß er los, ein anderes Ziel
hatten seine Augen. Da, sie drehte sich um, dicht hinter ihr
stand ein Keiler, er war aus dem Gebüsch gebrochen, die
Augen waren unterlaufen, glühten in tückischer Wut. — Es
war ein furchtbar großes Tier, zwei gewaltige Hauer drohten
sie zu zerfleischen. — Das Blut war gänzlich aus Annchens
Gesicht gewichen, sie stand wie angewurzelt, ihr Herz hörte
auf zu schlagen, sie wollte rufen und konnte nicht. Sie
sah den Junker vorstürmen, er hatte gut gezielt, das
Schwert war mitten in den Leib gegangen. Aber der
Eber stürzte noch vor, gerade auf Ännchen los, die wie
gebannt da stand. Heinz packte sie, schleuderte sie blitz—
schnell hinter einen Baum, nun stürzte sich das Tier auf
ihn, er sprang zur Seite, zog den Dolch und stieß ihn dem
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Tiere an dem Ohre in den Kopf. Es taumelte und fiel
zur Erde.
Und jetzt kam Ännchen zu sich, langsam, ganz lang—
sam, während Heinz sich mühte, sein Schwert aus dem
Leib des Untiers zu ziehen. Er achtete ihrer kaum. Sie
hlickte zu ihm herüber, erstaunt, verwundert, ratlos. War
das noch Heinz von Köler? Dieser da, dem die Augen
blitzten wie Eisen auf dem Amboß, dessen Atem ging wie
eine Feuerlohe, dessen Arme zum Springen schwollen vor
Sehnen und Muskeln, dieser da, den sie vom ersten Tage
an geneckt und gereizt, den sie immer bitterer gekränkt und
verletzt hatte und der jetzt alle Kränkungen ihr so vergalt?
Der ihr das Leben rettete in dem Augenblicke, wo sie ihn
aufs ärgste schmähte und schalt? — Jählings stürzten ihr
die Tränen aus den Augen, krampfhaft schluchzte sie auf,
und machtlos sank sie in den Rasen nieder. Erschrocken
war er zu ihr hingetreten, sie streckte die Hände vor sich
aus, senkte den Kopf und flüsterte unter Schluchzen und
Weinen „Verzeihe mir Heinz, dieses letzte Mal, nie wieder“
— Da beugte er sich zu ihr nieder, umfaßte sie mit starken
Armen, zog sie zu sich empor und schloß ihr den Mund
mit Küussen.
War das ein Maien! So wonnig war dem Junker
Heinz von Köler noch niemals die Waldesluft in die
dungen gegangen, und so herrlich blaue Veilchen und
sonnengoldene Himmelsschlüsselchen hatte Schön Annchen
noch nimmer unter Strauch und Baum erschaut! Wenn
sie sich am taufrischen Morgen am Fuße der Burg auf
dem Krosigker Wege trafen, und wenn sie ihre Pferde
—
2
kreuz und quer durch die weiten Forsten gehen ließen, was
gab es dann nicht alles zu erzählen, was gab es nicht für
Zukunftspläne zu schmieden! Die Blätter der Bäume
neigten sich über die beiden, die holden Sonnenwinde um—
kosten sie schmeichelnd, und das strahlende Blau des Him—
mels deckte sich gütig und liebreich über sie.
Ännchen ritt auf einem schneeweißen Zelter, der trug
einen purpurroten goldumstickten Sattel, und an den Zügeln
hingen beiderseits fünfzig Schellen, die gaben weithin ein
lieblich Geläut durch den Jubel und Sonnenschein des
Waldes, und wenn der Junker alsdann auf Annchens
langwallendes Goldhaar, in ihrer Augen tiefe Bläue blickte,
dann kamen ihm die vier Zeilen nicht aus dem Sinn, die
sich in seinem Kopf von selbst gebildet hatten:
Von ihren goldnen Strähnen
Leuchten Wald und Straße,
Und ihr blaues Auge strahlt
Wie der weite Himmel.
Stieg der Duft ihres Rosengürtels empor, blühten ihre
Wangen wie zwei Rosen selbst in dem jubelnden Maien,
glaubte er sich verzaubert: die Fee Rosentrude ritt neben
ihm, die aus einem Rosenbusch entsprungen war und sich zu ihm
gesellt hatte, um ihn in ihr Zauberreich für immer ent—
führen zu wollen. Von weißer Seide fiel ihr Kleid her—
nieder, von grünem Samt der kostbare Mantel, so grün
und schillernd wie das zarteste Moos am feuchten Fels—
gestein Goldfäden schlangen sich durch ihr Haar, daß es
glitzerte und funkelte wie von tausend goldenen Tautropfen
übersät, sonst deckte nichts ihr schönes Haupt. Breite Silber—
streifen säumten ihre Ärmel, die bei jeder Bewegung des
Armes aufleuchteten im neuen Licht.
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So verrannen Wochen und Monde, ohne daß sie es
gewahr geworden. Ein neuer Tag stieg strahlender denn
der vorige und eine neue Nacht lieblicher und sehnsüchtiger
denn die letzte herauf. — Aber dann wurde Schön Annchen
schweigsamer, seltener erklang ihr mutwilliges Lachen durch
den Wald, und weniger entsprangen ihren rosigen Lippen
Scherze und Worte. Ja, manchmal strich sie sich mit der
feinen, schmalen Hand über die weiße, glatte Stirne, wie
um böse Bilder zu veriagen, und ihr Haupt neigte sich wie
im ernsten Nachdenken und in quälender Sorge. Ofter
hielten sie auch des Nachts böse Träume umfangen. So
hatte sie neulich geträumt, daß sie mit ihm auf die Jagd
geritten; da war ein großer, schwarzer Bär aus dem Walde
aufrechten Schrittes auf sie los gegangen, der Junker hatte
sich aufschreiend vor sie gestellt, aber sein Arm erlahmte
und fiel kraftlos zurück, des bösen Bären Tatze hakte nun
zu und holte das blutende Herz aus ihres liebsten Junkers
Leibe, und wie sie entsetzt aufschaute, hatte der Bär ein
bärtiges, grimmes Manuesantlitz bekommen, das neigte sich
über sie und wollte sie küssen. — Das hatte ihr geträumt,
und nach einer Woche hatte sich der Traum wiederholt.
Da hatte sie sich eines Morgens in aller Frühe zu Füßen
der heiligen Mutter Anna hingeworfen und ihren schönsten.
und liebsten Ring auf ihren Altar gelegt. — Vergebens!
Die schreckliche Sorge ließ sie nicht los, sie fraß wie ein
Vampyr Tag und Nacht an ihrem Herzen weiter. Der
Traum fiel ihr wieder ein, als fie an dem unseligen Steine
von Frößnitz mit ihrem Junker vorbeiritt. Sie gedachte
der düsteren Prophezeiung, die sie mutwillig ihrem Heinz
abgetrotzt hatte und seufzte tief auf: „Selige Fürstin, die
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für ihre Liebe ihr Leben einst hier läßt!“ — Und dann
—V— alten Müllers⸗
frau gesagt und ihrem Kinde geheißen hatte, eine Nonne
—D irdischer Liebe, die
ihr selbst so viel Herzeleid gebracht habe. Da däuchte es
ihr, daß die Sonne sich verfinsterte und der Himmel dunkel⸗
olett wurde, Kälte strich durch die Luft, und die Vöglein
krochen zu Neste, und die Rehe suchten ihre Schlupfwinkel
auf. Aber da hielt der Junker an, streichelte ihre Hand:
„Ännchen, mein Ännchen, was quälen dich für Gedanken?“ —
Nein, komme was da wolle, so lange er lebte, würde sie
keine Nonne werden.
Eines Abend war wieder einmal nach langer Zeit
der Spielmann Eike in die Mühle von Gottgau eingekehrt.
Er war ganz erschöpft angekommen, die Haare hingen ihm
in die Stirn, der Bart flatterte zerzaust, Stiefel und Hosen
waren über und über mit Schmutz bedeckt, die Stimme
versagte ihm, und an der Türe wäre er beinahe zusammen⸗
gebrochen. Erst als die alten Müllersleute ihm einen Stuhl
hinschoben und er sich mit ein paar Tropfen Wein gelabt,
vermochte er einiges zu sprechen: „Flieht, flieht, sobald ihr
konnt! Was ich längst geahnt, ist eingetroffen. Bald wird
eure Mühle und ganz Löbejün, Burg wie Häuser, in Flammen
aufgehen.“ — Sein Auge starrte in die Ferne, und er fuhr
leise, als wenn er mit sich spräche, fort: „Nicht Weib, nicht
Kind werden sie schonen, selbst nicht das Kind im Mutter—⸗
schoße! Die Männer werden sie in den Flammen rösten
und die Greise hängen! Oh, ich höre die Seufzer der
Sterbenden in den Abendlüften, und das Blut der Toten
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lnstitut sor dauteche Volkakunde
sehe ich in den Wolken sich widerspiegeln, es öffnen sich
der Erde Grüfte droben an der Kirche, Hunderte und Aber—
hunderte einzuschlucken, und die Häuser leuchten als Fackeln
der traurigen Todesfeier.“ — Er schwieg und schloß die
Augen.
Ännchen hatte ihm schweigend zugehört, dann hatte
sie sich an seine Seite gesetzt und seine Hand, da er schwieg,
erfaßt, hatte sich vornüber gebeugt und ihm fest und
fragend, nach einer Antwort, einer einzigen und letzten,
begierig ins Antlitz geblickt. Sein ahnender Geist sollte ihr
weissagen. — Der Spielmann fühlte ihren Blick, er schlug
die Augen auf, in die ihren zu sehen, er mußte ihr Rede
stehen, ob er auch nicht wollte. Wie im Banne eines Ge—
fichtes schüttelte er das müde Haupt, und endlich, von ihrem
Blick bezwungen, ganz zu sich, murmelte er: „Dich soll
keiner besitzen!“ —
Sein Blick schweifte in dem Stübchen herum, ängst⸗
lich, ruhelos. Plötzlich fuhr der Alte hoch, sein Bart
sträubte sich, die Augen traten aus ihren Höhlen, seine
Hand drückte sich auf die Brust, ein namenloses Entsetzen
ließ seine Züge versteinern. Hoch aufgerichtet starrte er in
die Ecke: „Ännchen, was ist das, wer sitzt dort in der
Ecke, auf dem Lager, bist du hier, Annchen? Oh, deine
Mutter! Ich muß dir alles sagen!“ rief er aus und
drückte die Hände vor sein Gesicht. „Oh! du hättest Nonne
werden sollen, sie wollte es, wollte dich vor allen Stürmen
retten — ach, wer weiß denn, ob du gerettet worden wärst?
War ich denn gerettet worden? Schlimmer litt ich als ihr da
draußen! Und wollte ich nicht gut machen an dir, was
ich fehlte? Wollte ich dir nicht geben, was ich entbehrte?
30
Das höchste Glück auf Erden, die Liebe?“ — Dann mit einem
plötzlichen Entschluß ergriff er AÄnnchens beide Hände und
trat dicht vor sie hin: „Ännchen, du bist kein Kind mehr,
höre mich an, ich muß dir alles sagen, vielleicht sehen wir
uns zum letzten Mal! — Ännchen, ich bin dein Oheim, der
Bruder deines Vaters, sein älterer Bruder. Meine Eltern
hatten mich, den Erstgeborenen, der Ehre Gottes gelobt,
mich ihrem Gelübde geopfert! Ich wurde Mönch dort
oben im Kloster. — — Mein jüngerer Bruder, dein Vater,
wurde Ritter, erbte all unser irdisches Gut und lebte stolz
und herrlich in der Welt, sann auf Schlacht und Ehre
und führte das schönste Weib heim, deine Mutter! — Ich
hatte sie eher geliebt als er, aber sie war mir für ewig
verloren, und weil ich Mönch war, errang er die süße
Beute! Und das entflammte noch mehr meine Liebel —
Für heilig galt ich und Gott wohlgefällig bei den Priestern,
ich geißelte mich Tag und Nacht, ich sang, ich betete, ich
büßte, und endlich ward ich Propst, der Propst Konrad!
Doch keine Ruhe fand ich bei Tag und Nacht, innerlich
hatte ich längst dem Dienste Gottes und aller Heiligen
entsagt und, statt zu beten, fluchte ich nun in der Stille
dem Klostertum und allen Gelübden! Dem Satan hätte
ich mich geweiht, hätte ich sie, deine Mutter, besitzen können!
Oftmals irrte ich bei Nacht und Nebel nach Frößnitz
hinab, küßte die Spuren ihrer Tritte und umarmte die
Bäume, wo sie gestanden, Blumen sah ich unter ihren
Füßen entsprießen und Sonnenstrahlen ihrem Auge ent—
leuchten; du hörtest ja mein Lied dort oben auf der
Burg! — Dann ritt ihr Gatte nach Ruhm und Sieg in
die Ferne, ich selber hatte ihm dazu geraten. Sie aber
8*
hatte die Schlingen des Teufels gemerkt, und ihr reines
Herz sehnte sich nach ihrem fernen Gatten desto heißer.
Sie folgte ihm nach, und ich blieb allein zurück. Die
Qualen des Leibes, die wir dereinst in der Hölle für un—
sere Sünden erdulden, können nicht stärker uns rösten, zer⸗
reißen, zerfleischen, als die Qualen der Seele, die ich jetzt
lebend auf der Erde erlitt. Mein Auge glühte sie wieder,
in meinen Worten hallten sie nach, nur mit äußerster Mühe
konnte ich mich auf ein paar Minuten verstellen. Endlich
entfloh ich dem Kloster, gab vor, eine Dienstreise zu machen.
Und selber sprengte ich das Gerücht aus, daß ich bei der
Überfahrt verunglückt sei. — Den Bart ließ ich mir
stehen, die Haare lang wachsen, die Stimme erklang rauh
und dunkel, das Gesicht färbte ich, Zorn und Haß gegen
Kloster und Gelübde, gegen Gott und alle Heiligen rissen
ihm tiefe Runen ein. Einen Stab nahm ich und Tracht
und Mantel des wandernden Spielmanns, so ward ich
allen unkenntlich, und heimatlos irrte ich von Land zu
Land, von Burg zu Burg. Doch meine Liebe folgte mir
nach, wie der Schatten dem Leibe, und ich fand nicht
Schutz, nicht Frieden vor ihr. Solange sie lebte, war ich
verdammt. Sie drängte mich zu den alten Helden und
schönen Heldenfrauen, die, ohne Gott und Gewissen zu
fragen, nahmen, was sie begehrten, oder den Tod darum
erkauften, denn sie wußten, daß das Leben kein Leben ist
ohne Liebe! Und so sang ich von ihnen, und immer
wieder trat deine Mutter vor meine Augen, ich sah sie
stehen, gehen im Saal, sang ich von Kriemhild, die ihren
Siegfried rächte, — hatte doch auch sie ihren Gatten gerächt!
sang ich von Gudrun im goldenen Himmelshaar, die ferne
3—
2
7
von dem Geliebten trauert, wie sie getrauert hat. — Und
endlich kehrte sie heim, des Gatten beraubt, demütig, gott⸗
ergeben, einer Bettlerin gleich. Ich erkannte sie in Kattau,
als sie vor dem Altare lag, wieder, ohne daß ich ihr Antlitz
sah, und du, ihr Ebenbild, standest bei ihr! Die Räuber
wollten euch töten und berauben, und wenn es zehn, zwanzig
gewesen, ich hätte den Kampf gewagt, ich hätte sie getötet,
denn sie war meine Stärke und mein Schirm! — Ich führte
euch in die Mühle in Sicherheit! Aber mich zog es mit
aller Gewalt wieder zum Hause zurück. Am Fenster habe
ich gestanden in eisigem Sturm und kniehohem Schnee, und
keiner ahnte da drinnen, auch sie nicht, daß auch draußen
einer starb, ich mit ihr! Ihr letzter Todesseufzer war ihr
letzter Gruß an mich, denn durfte ich ihr nahen? Ich
Ausgestoßener, Verfemter, dem Kloster Entlaufener, ich
Todfünder, durfte ich nahen der Guten und Reinen?
Sterbende sind doppelt heilig. Ganz von ferne folgte ich
ihrem Sarge und betete mein Herz frei an ihrem Grabe. —
Und nun gelobte ich ihr, dich zu behüten, mein Annchen,
wie meinen Augapfel. Auf allen deinen Wegen begleitete
ich dich, dir unsichtbar, und behütete dich, oft im Walde, oft
in der Mühle, Tags und Nachts, Winters und Sommers.
Bewahren wollte ich dich vor dem, was ich erlitten, gut
machen an dir, was ich verbrochen. — Oh, ich wußte es
ja, daß in des Klosters stillen Mauern nicht der Seele
Frieden wächst, wie deine Mutter wähnte. Ich sah dein
stolzes, kühnes, frohes Herz und wollte dir eine Liebe
geben, stolz, fest und kühn wie du. Und so erzog ich euch
beide, dich und den Junker. — — So, ÄÜnnchen, das ist,
was ich dir zu beichten habe, verurteile mich, wenn ich
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besser zu handeln vermochte. Geh in ein Kloster, oder laß
uns zusammen kämpfen, mit Heinz im Bunde, gegen das
Geschick wenn es angeht; wo nicht, laß uns fallen!“ —
Anderen Tages, als der Morgen eben dämmerte,
stand schon der Junker Heinz auf dem hohen Wartturm
der Burg, neben ihm Eike, der Spielmann. Beide schauten
starr und unverwandt gen Norden, in die weiten Gefilde
Anhalts. Als die Sonne endlich die Nebelmassen des
Himmels durchbrach, gewahrten sie ganz in der Ferne auf
den meilenweit ebenen Feldern ein Blitzen und Flimmern,
wie wenn unzählige Eisflöckchen in den Halmen säßen;
bald aber flammte mitten heraus ein blaßrotes Zünglein
gen Himmel. Das mußte in der Nähe von Köthen sein,
dort wo Köthen selbst lag, lagerte eine Dunstwolke merk⸗
würdig dunkel. —
Der Junker stieg eilends den Turm hinab, lief zum
Vater und teilte ihm das Geschaute mit. Sofort rief
dieser die Hornbläser, gab ihnen Befehl, auf schnellem
Roß in die Dörfer zu eilen, zur Wehr nach der Burg Löbejün
zu blasen. Dann sandte er Boten nach Amt Krosigk und
selbst auf den Giebichenstein bei Halle.
Eike, Heinz und der Burgherr hatten schnell ihren
Kriegsplan gefaßt: das weite und lange Fuhnesumpftal
war die beste und natürliche Wehr gegen die Kriegsbanden.
Diese Wehr, mußte man benutzen. Die einzige Gefahr
bildete der Übergang bei Kattau. Man beschloß, hier die
Holzbrücken eilends abzubrechen, sich selber diesseits auf⸗
zustellen und die Straße zu schützen, falls die Feinde den
Übergang versuchen sollten.
Heinz und Eike eilten in die Rüstkammer, teilten
Schwerter, Helme, Krebse aus, und die Leute waffneten
sich auf dem Hof. Andere hatten Speere, Lanzen, ja selbst
Heugabeln, Sensen, Ärxte, Beile; was man einigermaßen
Wehrhaftes fand, wurde hervorgezogen.
Der Vortrab ward bald gebildet. Es waren die
Burgmannen und die Leute Löbejüns. Die Bauern aus
den umliegenden Dörfern sollten, sobald sie sich versammelt
hätten, schleunigst nachrücken. Herr Kurt, der Junker nnd
Eike zogen mit ihren Haufen den Kirchberg an der hohen
Warte hinab auf den Kattauer Weg, der geradezu in den
Sumpf der Fuhne führte. Ein schmaler Knüppeldamm
streckte sich bis an den Fluß, den ein Holzsteg überbrückte.
Man brach ihn sofort ab, stellte sich diesseits der Fuhne
in Sumpf und Röhricht verborgen auf und erwartete so
den Feind. —
Bald trieb der Nordwind brandigen Rauch in die
Niederung. Wer auf dem Turm der Burg Löbejün jetzt
stand, sah in der großen anhaltischen Ebene hie und dort
Feuer aufflammen, als ob man hohe Holzstöße altgeheiligten
Festen zu Ehren entzündet hätte. Schwarze Rauchmassen
wälzten sich phantastisch über die Fläche dahin, aber die
Eisstückchen hatten sich bereits in eine Unzahl von Spießen
Schwertern und Helmen verwandelt, die in der Morgen⸗
sonne funkelten und blitzten. Schon hörte man das Ge—,
schrei und Gelärm fliehender Bauern, Weiber und Kinder,
die man hastig in die breiten Sümpfe der Fuhne hinab—
trieb. — Auch die Dörfer diesseits im Saalkreise gerieten
jetzt in hellen Aufruhr, die Streitbaren zogen gerüstet und
gewappnet nach Löbejün, die Weiber und Kinder flohen
35
entsetzt mit ihren wenigen Habseligkeiten in die Burg.
Hier warf man die Gräben auf, schanzte und trieb Palli⸗
saden ein, besserte Mauern aus, trug Pech und Ol, Pfeile,
Büchsen und Armbrüste auf die Wehrgänge.
Es war der furchtbarste Feind, der nahte, schlimmer
denn die Pest; denn diesem Feinde entrann keiner; wen
er einmal packte, der war dem Tode geweiht. Keiner hatte
ihn bisher zum Stehen gebracht, kein Kaiser, kein König,
kein Kurfürst. Jeden hatte er besiegt, eine ungeheure ent—
fesselte Naturmacht, die den Menschen elend zermalmt, und
der Himmel selbst schien mit den Hussiten im Bunde zu
sein. Sie konnten sich in Gefahren stürzen, welche es sein
wollten, sie gingen gerettet aus ihnen hervor, sie griffen
Städte und Burgen, die für unbesiegbar galten, an, und
diese mußten sich ergeben. Flüsse, noch so tief und noch
o breit, durchschwammen sie, Moräste durchwateten sie und
gelangten glücklich an das andere Ufer. — Waren sie in
einer Schlacht geringer an Zahl, Mut und Gewandtheit
ersetzten doppelt und dreifach den Mangel, und die Feinde,
die mit Kolben, Streitärten und Hellebarden auf sie ein⸗
drangen, büßten bald ihren Ubermut. Sie rissen die
Feinde mit eisernen Haken von den Rossen und zer⸗
schmetterten den Stürzenden die Köpfe mit ihren Morgen—
sternen, die Fliehenden wurden auf schnellen Rossen ein⸗
geholt und mit spitzen Lanzen aufgespießt. Keiner wurde
geschont: Männer und Weiber legte man gefesselt auf den
Boden und ließ die schweren Schlachtwagen darüber fahren,
um sich nicht die Mühe zu nehmen, die einzelnen abzu⸗
schlachten. Die Kinder warf man wie überflüssigen Plunder
in die brennenden Scheiterhaufen, in die Flammen der
—38
Dörfer. Selbst das Vieh sollte nicht das Leben behalten,
man stieß es nieder. So rächten die erbitterten Böhmen
den schmachvollen Tod ihres Meisters und Propheten Hus:
Hunderttausende wurden gerädert und ins Feuer geworfen,
dem zu Ehren, den man selber dem Feuertode geweiht
hatte. Ein entsetzlicher Führer wies ihnen die Pfade,
sein Name leuchtete wie der blutflammende, Tod und
Verderben verkündende Komet am Himmel: Procop. —
Jetzt hatte er alles Land an den Ufern der Elbe von
Magdeburg bis nach Altdresden in eine glimmende, aus—⸗
gestorbene Wüstenei berwandelt, an fünfzehnhundert Dörfer
waren in Trümmer gesunken, über tausend Burgen und
Städte in Schutt und Asche begraben. Mit 70000 Mann
rückte er weiter gen Westen vor, und der Vortrab unter
Sbinko näherte sich jetzt der Fuhne!
Man hörte unten im Tal die ersten Hussiten in das
Dörfchen Kattau einjagen; was sich jetzt nicht gerettet hatte,
war verloren. Flammende Pechpfeile fuhren in die Stroh⸗
dächer der Hütten, einige fielen bereits jenseits über die
Fuhne nieder. Dann liefen die Krieger mit rauhem Ge⸗
heul wie die Wölfe vor die Türen, wer drinnen blieb, er⸗
stickte und verbrannte, wer herauskam, wurde niederge⸗
metzelt, wer durch Hintertüren und Erdgänge entschlüpfte,
wurde verfolgt und aufgespießt. Zuletzt ging die kleine
Kapelle in lichterlohem Brand auf. Alles geschah in weni⸗
gen Minuten. —
Nach dieser Arbeit stürmten sie ins Tal der Fuhne
herab, neue Scharen hatten die ersten verstärkt. — Aber
die Aussicht auf den Kampf, die Wut über die Gottes⸗
lästerung, das Mitleid mit den Hülferufenden und dem
3
Schwerte Verfallenen, hatte den Junker herausgetrieben
aus dem Morast, er stand auf dem Damm, zielte und
schoß auf den ersten, der soeben drüben in die Fuhne ge—
stiegen war. Der fiel und verschwand im Wasser. — Ein
Hagelschauer von Pfeilen, Spießen und Bolzen war die
Antwort der Feinde, und ein wildes, rauhes, tierhaftes
Gebrüll der Donner dieser Wetterwolke. Dann stiegen
Hunderte an der ganzen Linie entlang in den Fluß, an—
dere ruderten auf Baumstämmen und Brettern, noch andere
setzten auf ihren Pferden hinüber. Die Löbejüner, zu ge⸗
ring an Zahl, konnten ihre Linie nicht so weit ausdehnen.
Sie wurden überflügelt, und bald drangen die Feinde von
rechts und von links durch den Morast sich mühend auf
sie ein.
Der Burgherr behauptete vorn auf dem Damm noch
seinen Stand. Er hatte noch jeden, der drüben ins Wasser
stieg, niedergestreckt, jetzt stieß ihn einer, aus dem Gebüsch
kriechend, den Spieß in die Seite, in die Lungen. Der
Schwerthieb Heinzens kam zu spät, er spaltete dem Feinde
den Schädel, doch der Vater sank wortlos, sterbend zur
Erde. Der Fall des Burgherrn besiegelte das Schicksal
der Löbejüner. Eine Menge Feinde setzte jetzt mitten durch
den Fluß, die ersten drängten den Junker zurück, der stach
und hieb wie ein Wahnsinniger um sich. In einer Wolke
von Pfeilen und Spießen, Kolben und Schwertern mußte
er von der Leiche des Vaters weichen. —
Noch einmal stand der Kampf. Eine Schar Bauern
war eben angelangt, mit frischer Kraft und wildem Un⸗
gestüm drängten sie in den Feind. Der Junker ruhte er⸗
schöpft einen Moment aus. Da umfaßte ihn ein starker
—9
Arm von hinten, hob ihn empor und warf ihn auf
ein Pferd. „Denke an Ännchen!“ raunte es ihm zu, und
Eike, der Spielmann, jagte mit dem Ohnmächtigen aus
dem Kampf und Gewirr auf die Burg. —
Es war die äußerste Gefahr. Der Widerstand der
Bauern war gebrochen. Sie wichen auf dem schmalen
Damm zurück, und bald flohen sie in wildester Regellosig⸗
keit auf den Ort los, in die Burg sich zu flüchten. Hinter
Eike, dem Spielmann, und dem Junker rasten sie jam—
mernd und rufend, von den Spießen und Geschossen der
Feinde umschwärmt zur Burg empor. —
Die Flüchtigen stürmten über die Brücke hinein in
den Hof, hinter ihnen dicht auf den Fersen die Feinde.
Einer führte sie an, dem keiner widerstand, Sbinko, breit
und groß wie ein Riese, ganz von pechschwarzem Bart
umwallt; pechschwarze Haarsträhnen mit Blut zusammen⸗
geklebt, hingen über sein Gesicht, das gelb wie eine Quitte
erglänzte, ein einziges, böses Schlitzauge funkelte blutunter⸗
laufen aus dem Haargewirr, das andere deckte eine schwarze
Kappe, es war ihm ehemals im Zweikampfe ausgedrückt
worden, in dem einzigen Unsieg, den er in tausend Kämpfen
erlitten. Sbinko glich einem Bären, der auf die Meute
der Hunde sich wälzte, Todesröcheln umraunte seine Bahn,
Blutlachen deckten die Fußstapfen, da er gestanden. Zwei
Knechte folgten ihm, die reichten ihm Spieße und Kolben,
Heugabeln und Saufänger, was sie grade zur Hand hatten,
er hatte immer zu tun: zu stechen, zu stoßen, zu schießen
und die Bahn seinem Volke frei zu machen. Die Toten
und Gestürzten überstieg er wie die Aschenhaufen und
Rauchtrümmer der Häuser. —
So war Sbinko mitten unter den Flüchtigen selbst über
die Brücke, in den Hof, in die Burg gelangt. Schritt für
Schritt drängte er sie jetzt weiter zurück in die Ställe,
Häuser, Scheunen, Kapelle. Sie waren ermüdet von der
Arbeit des Kampfes, gelähmt von den Mißerfolgen ihrer
höchsten Tapferkeit. Und da sie nun flüchteten, erscholl
das laute Klagen und Jammern der Weiber und Kinder
aus ihren Verstecken. Kochendes Wasser, glühendes Pech
und OÖl goß man aus den oberen Fenstern auf die in die
Häuser dringenden Feinde. Es half nichts. Man deckte
die Ziegel von den Dächern, man löste die Bruchsteine, es
half nichts. Man schmetterte Dachsparren nieder, Bretter
uͤnd Balken, die schrecklichen Feinde drangen immer stärker
nach. —
Heinz hatte den Spielmann im Gewirr verloren. Er
hatte wenige Mutige um sich geschart, die Kapelle zu ver—
teidigen, denn hier, hatte der Spielmann gesagt, weile
Annchen. — Sbinko hatte es auf den Junker abgesehen,
wäre der erst gefallen, so war die Burg genommen! Und
so drang Sbinko dicht hinter Heinz einher, schwang seineu
Streitkolben und zermalmte, wie ein würender Elephant
alles, was ihm vor die Füße kommt, zermalmt. —
Heinz wurde in den Innenraum der Kapelle gedrängt,
eine plötzliche Schwäche, die Folge des Blutverlustes, hatte
ihn übermannt. Dunkel scholl nur noch das Geschrei der
Frauen und das Gewimmer der Kinder an seine Ohren.
Dda rief ihn ein süßer Laut zum Leben zurück, Annchen
hatte den Taumelnden aufgefangen. Ihre weißen Arme
hielten ihn umschlungen, an ihrer Brust lag sein blasses
Haupt, ihre goldenen Haare umspielten seine blutbespritzten
80
Wangeu, sie beugte sich über ihn, ihre großen blauen
Augen bohrten sich entsetzt in das leblose Antlitz. Da
schlug er die Wimpern auf, ein seliges Lächeln verklärte
jhre starren Mienen, die Lippen öffneten sich, diese pur—
purnen Lippen, sie näherten sich aus eigenem Triebe den
seinen, und nun drückten sie sich so fest auf seinen Mund,
als gälte es nie sich zu trennen. Neues Leben, neuen Mut
zum Kampfe, neue Hoffnung auf Sieg durchloderten ihn,
ungestüm riß er sich los, seine blutlose Hand umspannte
von neuem das Schwert, und wieder drängte er vor.
Doch der ekle Sbinko hatte bereits das edle Wild—
bret erspäht. Für einen Augenblick vergaß er Raub und
Mord. Dieses Mädchen mußte sein eigen sein. „Mein!“
schrie er auf, warf die Arme von einander und stürmte
auf die Schreckensstarre ein. Oh, sie sah keinen Menschen
mehr, schwarze Borsten starrten um sein Gesicht, Bestien—
zähne gleißten aus seinen Lefzen, das war ein Tier, das
war ein Bär, das war der schreckliche Traum, der zum
dritten Mal erschien, den Tod endlich zu bringen. — Sie
sank in die Knie, da krallte seine Tatze sich in wahnwitziger
Lust in die blonden Flechten und riß den Kopf der Un—
glücklichen wild an sich heran. Heinz hob sein Schwert
zum Schlag, nur noch einmal, er rief zu allen Heiligen in
seiner tiefsten Not, diese letzte Bitte ihm zu gewähren!
Doch der Hieb war zu schwach, Sbinko wehrte ihn nur
mit der Eisenfaust, die einen fußlangen, haarscharfen Dolch
hielt, den sie augenblicks zum Entgelt in die unbedeckte
Brust des Jünglings stieß. Em starker Strahl hochroten
Bluts spritzte auf Annchen nieder, die schrie laut auf, und
die Besinnung verließ sie.
Eine Pechfackel in dem Ring an der Wand erhellte
nur mäßig die kleine Gruft der Georgskapelle. Ein schwarzer
Rauchstreifen floh wie eine endlose Schlange die Wand
empor. Auf der feuchten Lehmerde, die mit Porphyrschutt
untermischt war, lag weit ausgestreckt die Leiche eines
Jünglings in voller, reicher Junkertracht. Eine Mädchen⸗
gestalt im weißen Kleide kauerte regungslos am Kopfende,
fie hatte die zarten Kniee an die feuchte Erde gedrückt
und das Haupt des Toten erhoben, auf ihren Schooß
sorgsam gebettet. Nun schaute sie gebeugt, unverwandt
und starren, tränenlosen Auges auf den Toten nieder. —
Es war UÜnnchen, die bei ihrem herzallerliebsten Junker
die letzte Totenwacht hielt. Der wilde Sbinko, von Blut
und Wein berauscht, schlief oben in der Kapelle auf dem
Altare. Da hatte Ännchen den Wachen großen Schmuck
versprochen, und sie hatten endlich, gierig nach dem roten
Golde, den Toten, der oben auf den Hof hinausgeworfen
lag, in dieser Gruft geborgen. —
Stunde auf Stunde verrann, sie fühlte es nicht mehr,
sie saß ohne Wunsch und ohne Traum, ohne Hoffnung und
ohne Furcht, ohne Sinnen und ohne menschliches Denken;
mit dem Toten schien sie in die Ewigkeit eingegangen
zu sein. —
Da rührte sich eine Steinplatte an der Wand. Der
Stein wurde abgeschoben, und Eike, der Spielmann, kroch
aus einem Erdgange hervor. Ännchen rührte sich nicht,
noch immer schaute sie den Toten an, verloren dem Leben,
versunken in den Tod. —
Eike trat an die Betäubte, er rührte ihre Schultern
Jetzt schrak das Mädchen empor, starrte ihn an, schrecklich,
32
wie der Sinne beraubt, wie aus dem Tode gerufen. Vang—
sam besann sie sich auf alles, was geschehen war, tief seufzte
sie auf, sie erkannte nun Eike. Ja, Eike war das, aber
der Mönch und nicht mehr der Spielmann. Der weiße
Bart war gefallen, das hagere, schmerzzermürbte, bartlose
Antlitz deckte faft ganz die Kapuze, der Strick gürtete das
Mönchsgewand, und die Sandalen waren an die nackten
Füße geschnallt.
„Annchen“ sprach er, seine Stimme klang marklos,
fremd und gebrochen, „sorge für keinen weiter auf dieser
Erde, sorge für dich! Siehe, ich habe hier Nonnenkleid
und Nonnenschleier, zieh es an, komm mit, ich bringe dich
auf den Lauterberg, fliehe von dort nach Hallel!“ — Und
dann, da er keine Antwort erhielt, dringender: „Erfülle das
Gebot deiner Mutter, oh, sie hat sterbend alles geahnt,
Sterbende sehen die Zukunft, irdischer Liebe schreckliches
Weh ist über dich gekommen wie über sie“. —
AÄnnchen sagte noch immer kein Wort, aber sie schüttelte
ihr Haupt. Doch der Mönch, ihr Oheim, sprach wieder:
„Laß uns büßen, was wir gefehlt, Gott hat uns die Strafe
gesendet! Ich habe meine Sünde furchtbar erkannt, der
Tod steht vor der Tür und die ewige Hölle! Morgen in
der Frühe schmachte ich bei Wasser und Brot in dem tiefsten
Kerker dort droben! Büße auch du, daß du nicht ewiger
Hölle Qualen überantwortet wirst!“
Noch immer schwieg Ännchen, wie lange er auch der
Antwort harrte. „Annchen“ raunte er nochmals; wie um
den Toten nicht zu wecken, sprach er dumpf, leise und
schauerlich: „er ist tot, siehst du es nicht? Er ist tot, nimmer
steht er auf, der Mörder hat ihn gut getroffen. Deine
38
Liebe ruft ihn nimmer zum Leben zurück, nur Gottes Liebe!
Geh in dich, überlaß ihn Gott, rette dein Leben in den
Schoß der heiligen Jungfrau, eh du der Hölle verfällst,
komm mit!“ —
Der Mörder! Das Wort traf sie wie ein Geißelhieb,
sie zuckte zusammen. Im Auge funkelte es auf, wie ein
Falke blicken mag, der seine Beute schaut, und ihr Ohr
lauschte, noch einmal das Wort zu trinken; ihre Hand
krümmte sich, als umkrampfte sie einen Dolch, ihre Gestalt
beugte sich, als schliche sie zum Opfer. — Dem Mönch grauste
es. Wie schillernde Nattern fielen die goldenen Strähnen
und ballten sich auf ihrer Brust, und ihre Stimme schrie
empor: „Nimmer laß ich ihn, ehe er nicht gerächt ist, hörst
du? Du hast es in deiner Gewalt, mich dem Himmel an—
heim zu geben oder der Hölle und mit mir — dich selber!
Denn du hast mich hierher gebracht! Hilf mir zur Rache,
und ich gelobe dir, den Schleier zu nehmen!“ — Sie starrte
auf den Toten, Mut für das Schwere zu gewinnen, dann
stieß sie hervor, hart, rauhf und hastig: „Gehe augenblicks
zu Prokop, drüben hinter Kattau steht er, sag ihm mein
Leid und mein Weh und — meine Sehnsucht nach ihm!
Fleh ihn an, mich zu befreien, und sei es um meine — Hand!
Denn dieser da droben, Sbinko, muß fallen!“
Der Mönch trat erschrocken zurück, er hob beschwörend
die Hände empor: „Eike“, rief das Mädchen „du hast mir
umsonst nicht von Helden und Heldenfrauen gesungen, ich
weiß zu handeln und zu sterben wie sie. Besaß deine
Liebe nicht die Kraft, daß sie die Hölle überwand, meine
besitzt sil Gehe und flehe Prokop an um meine Be—
freiung, morgen schon in der Frühe ziehen wir ab, flehe
ihn, selbst um den Preis meiner Hand! Das Weitere
überlaß mir!“ —
AÄnnchen“ stieß Eike mühsam hervor — „Nichts
da!“ herrschte das Mädchen ihn an. Bei meiner Mutter
Schatten, ich befehle es dir! War so schwach deine Liebe,
daß du sie nicht gerächt hättest? Willst du ihre Tochter
verraten, du, den dieser und ich hier verklagen?“
Der Mönch senkte sein Haupt und zog die Kapuze tief
ins Gesicht. Er wandte sich zum Gehen. Ännchen hielt
ihm die Hand zum Abschied hin. Er ergriff sie und preßte
das Mädchen an sich, zum letzten Mal: „Ich gehe“ flüsterte
er „morgen sollst du befreit sein!“ —
Der Mönch war verschwunden. Noch immer schwelte
die Fackel, Stunde auf Stunde verrann, und AÄnnchen saß
wie zuvor tief über den Toten gebeugt, aber der Tod in ihr
war gebrochen, ihre Gedanken hingen furchtbaren Gesichten
nach; fast ganz unter dem Lide stand die Pupille, und das
Weiß des Auges glich hartem Horn, die Hände waren ge—
krampft, als hätten sie einen Feind erwürgt, Blut schmeckte ihr
Mund, Blut roch ihre Nase, und Blut sahen die Augen, Blut
auf dem Boden der Kapelle, Blut um die Leiche, Blut um
sie selber und das Blut war Sbinkos Blut! —
Der Morgen graute. Sbinkos Räuberscharen er—⸗
schienen in dem Hof der Burg. Waffen und Schilde klirrten,
die Schwerter erglänzten, die Helme und die Schienen.
Dazwischen mischte sich das Wimmern der gefangenen Weiber,
die in eine Ecke des Burghofs getrieben waren; auf den
Körpern der toten Angehörigen oder noch auf den Schwer—
verwundeten standen sie. —
Endlich war man zum Aufbruch bereit. Der Zug
ordnete sich. Ein paar Reiter ritten voraus, den Wald—
weg auszukundschaften. Dann folgte ein Trupp Bewaffneter,
sie trugen Büchsen und Feuerwaffen, Bogen und Armbrüste,
dann ritt Sbinko einher. Er saß, ein Riese auf seinem
schwarzen Hengste, kerzengrade, unbeweglich, eine Erzfigur,
aber sein eines Auge glänzte düster unter den schwarzen
Brauen, der Wein hielt seine Sinne noch umfangen, er
hatte ihn die schöne Beute gestern Nacht ganz vergessen
lassen. —
Jetzt sah er sich um, hinter ihm schritten die gefangenen
Weiber mit Stricken geschnürt, an Ketten geseilt, die kurz—⸗
weilige Beute der Krieger, die sie auspreßten und dann
wegwarfen und zertraten. Ein Spielzeug, und das war
auch seine Gefangene, Annchen, und weiter nichts! Sein
Blick schwirrte gleich einem tödlichen Pfeil auf die Un—
glückliche, die all den gefangenen Weibern voranschritt.
Wehrlos wollte sie ihr Antlitz schützen, wollte es mit den
Händen bedecken, doch Ketten und Stricke hinderten sie da—
ran, so senkte sie nur den Kopf. Sbinko schnalzte mit den
Lippen, und lächelnd beschloß er, noch am Morgen Rast
im Walde zu machen, sobald der Weinrausch des Abends
sich etwas gelegt hatte. —
Und weiter ging es, weiter. Da kam der Hügel,
ein altes Hünengrab, ganz von wilden Rosen umwuchert,
der Deckstein lag droben schief und halb eingesunken, hand⸗
hohes Moos hatte ihn überzogen. — Jetzt mußten sie das
Bächlein überschreiten, an dem die schönsten Vergißmeinnicht
und Veilchen blühten, mannshoch wucherten Farnkräuter
weiter unten in der Senkung; hier stand die mächtige alte
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Tanne, der Blitz hatte den Wipfel zerspalten, aber sie
bildete sich zur Seite eine neue Krone — — an allen hing
eine süße Erinnerung, alle standen nun in Trauer und
Einsamkeit und schienen ihr ewiges Lebewohl zu sagen. —
Und weiter schritt sie, weiter!
Sie kamen die Höhe empor, man konnte von hier
aus noch einmal die Burg erblicken. Annchen sah sich um,
auch ihr das letzte Lebewohl zu sagen. Ein hochlodernder
Scheiterhaufen all ihres Jugendglückes, all ihrer süßen
Erinnerungen grüßte sie dal! Aber ein furchtbares Schreck⸗
zeichen zugleich drohte dort oben anderen Hunderten und
Tausenden ringsum im Lande. Man hatte sie, ehe man
von dannen zog, in Brand gesteckt. Von den Dächern der
Scheunen, die mit Getreide und Stroh bis zum Dache
gefüllt waren, sprang die breite, hohe Flamme haushoch
in die Lüfte; sie hatte den Turm gepackt, von dem ein
gewaltiger, schwarzer Qualmstreifen in das Tal sich kräuselte.
Lange, schmale Feuerzungen beleckten jetzt den Holzturm
der Kapelle, sie krochen, vom Winde getrieben, auf dem First
des Schindeldaches dahin, das war die Leichenfackel für
ihren Junker, der tief in der Gruft den ewigen Schlaf
schlief. — Auch das mußte sie ertragen: alles irdische Glück
und selbst das höchste, erblüht ja, um zu vergehen, das
eine langsamer, das andere schneller.
Die Sonne stieg höher empor, und ihre Strahlen
wrafen wie blutende Pfeile die Augen Schön Ännchens.
Der Wind haͤtte sich gelegt, und ein Duft der Verwesung,
des Moders schob sich träge und schwer durch den Wald,
die Stille brütete auf den Höhen und Tälern, und sie glich
dem Schweigen des Todes in der Gruft und zwischen den
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Särgen: langsamer ritten die Reiter, müder und lässiger
chritten die Weiber. — Ännchen neigte zum dritten Male
ihr Haupt zur Seite, lauschte, ob sie noch immer nichts
hören konnte: würde denn Eike auf schnellem Rosse noch seine
Botschaft ausgerichtet haben? Würde Prokop sie befreien
aus den Klauen dieses Teufels? Würde sie noch das
Opfer ihrem herzliebsten Junker bringen? — Eine einsame
Weihe schwebte hoch oben in den Lüften, und Ännchen
seufzte, könnte sie einmal nur schauen und spähen wie diese!
O Rettung, Rettung, jede Minute bringt näher den Henker! —
Zwei Raben krächzten empor: schrieen sie nicht schon zum
Hochgericht, zu dem sie geführt wurde? Und das Schwert
Sbinkos funkelte vor ihr, leckte und gehrte es nicht schon
nach ihrem Halse? —
Jetzt kamen sie auf die Wiese, an die Waldblöße, wo
die alte Eiche stand, an deren Stamm sie dereinst ein⸗
geschlafen war, bis sie abends erwachte, und ihr Junker
vor ihr stand. Zum ersten Male hatte sie ihn damals ge—
sehen, und er hatte sie schon längst gekannt, hatte schon
vordem auf dem Baume gesessen, stundenlang, fie nicht zu
stören, wollte sie begleiten und beschirmen, daß ihr kein
Leids geschähe, und zehn Jahr alt waren sie beide! Da
war es ihr, als schritt sein Schatten über die Blumen da—
hin; es verdunkelte sich die Sonne, es erstarb der Wald,
die Blätter fielen von den Bäumen, die Blumen sanken
auf die Wiese, und sie dachte der traurigen Prophezeiung,
die er zaudernd und nur durch ihren Starrsinn gezwungen ihr
verraten hatte: eine edle Fürstin sollte dereinst für ihre Liebe
ihr Leben hier lassen! Sie seufzte laut auf, und sie sprach in
ihrem Herzen, und es war wie ein Gebet: „Könnte ich doch
hier, ja hier den Tod erleiden um meiner Liebe willen!“
und wiederum sprach sie: „Ja, ich würde gerne, so gerne
um seinetwillen hier sterben!“ — Sie schauderte zusammen,
ein kalter Luftzug berührte sie, und dann sah sie ganz deut—
lich ihren herzallerliebsten Junker dort stehen und ihr winken,
als sollte sie ihm folgen hinein in den Wald, in das grüne
Blättergrab, und ewig der Welt entschwinden. —
Sie schlug die Augen auf. Was war das? An
dem hohen Frößnitzsteine standen zwei, der Mönch, ihr Oheim,
der Alte hochaufgerichtet, reckengleich, und ein anderer neben
ihm, noch größer denn er, blond wallte das Haar in langen
Locken von seinem Haupte, und seine Augen blizzten stahl—
blau über den Trupp der Heranziehenden, und seine Blicke
flogen, als wären sie Falken, die nach Beute suchten, und
jetzt stießen sie plötzlich nieder auf sie, sie hatten gefunden. —
Ännchen erschauerte, ein mattes Rot stieg in ihren Wangen
auf, eine Morgenröte der Hoffnung .....
Das war ein Fürst, der dort stand, Zoll um Zoll
ein Fürst. Sein Blick war des Herrschens gewohnt, die
Flügel seiner Nase bebten leise vor Ungeduld, und die
Hand umfaßte ein gewaltiges, kostbares Schwert, das war
das Scepter, das er auf dieser Erde schwang. Er war
ganz in schwarzen Eisenpanzer gehüllt, aber sein Antlitz
blickte frei und kühn ohne jede Bewaffnung, ohne jedes
Visier; so zog er auch in die Schlacht, frei, unerschrocken,
furchtlos, und die Sage ging, daß nimmer ein Pfeil, eine
Kugel, ein Speer dies Gesicht treffen könne, es wäre gefeit
für alle Zeit, so lange er Furcht nicht kenne.
Prokop trat vor, Sbinko, der Rottenführer, sprang
vom Pferde herab, grüßte den Fürsten und erstattete Be—
337
richt. „Bringt mir die Gefangenen!“ sagte der Fürst und
weiter nichts. Die Reiter und Kriegsknechte traten zu
beiden Seiten des Weges, und die Schar der gefangenen
Weiber trat vor, allen voran Schön Annchen.
Einen Moment ließ der Feldherr seinen adlerkühnen
Blick auf die edle Gefangene schweifen. Er stemmte sein
Schwert vor sich hin, dann griff er zum Dolch, schnitt
selbst die Stricke der Jungfrau durch und sagte: „Du allein
von allen bist frei!“ — „Herr“ rief Sbinko und stürzte
vor: „Nie und nimmermehr diese! Alle anderen gebe ich
euch, nie und nimmermehr diese!“ Seine Stimme klang
fremd, rauh, dunkel, wie unterirdisches Grollen. Prokop
achtete seiner nicht, er sah nur Ännchen und sonst weiter
niemand und sagte nochmals: „Geh, du bist freil!“ — Sbinko
trat jetzt zwischen beide. Sein Blick bohrte sich zornig in
Prokops Auge, der Feldherr sollte ihn sehen, sollte gegen
ihn selber die Antwort wagen: „Sie ist mein!“ rief er im
höchsten Zorn „aller Welt und dem Teufel zum Trotz, sie
ist mein! Ihr wollt sie haben, aber ihr sollt sie nicht
haben, bei meinem Kopf, bei meinem Leben!“ Und der
Riese stand wie eine schwarze Wetterwolke vor Annchen. —
UÜber ihn blickend versetzte ruhig Prokop: „Krieger, Sbinko,
der Untere, lehnt sich auf gegen mein Wort! Auf, ergreift
ihn, fesselt ihn, führt ihn ab. — —“ Da, ein Blitzen, ein
Zucken und hohnvoll schrie Sbinko: „So nehmt sie denn
in Teufels Namen!“ Sbinkos Faust hatte den Dolch in
der Jungfrau Busen gestoßen, ein feiner Strahl roten
Blutes spritzte empor und rann auf Prokops Rüstung
nieder, auf seine Brust, über seinem Herzen herab. Er
zuckte zusammen, als ob glühende Tropfen ihn verbrannten.
——
7
Die Jungfrau sank zu Boden, die gefangenen Weiber und
Mägde liefen wehklagend herzu, Eike, der Mönch, stürzte
heran, warf sich zur Erde, hielt der Sterbenden Kopf em—
por, er hörte ihre letzten Worte: „Ich sterbe hier für ihn,
exlöftl“ —
Prokop stand wie gebannt, so sah er noch nie den
Tod. Und plötzlich reckte er sich hoch, übermenschlich er⸗
schien seine Gestalt, wild riß er das Schwert heraus, der
Zorn entflammte seine Kraft, und blitzend sauste es nieder,
des schwarzen Sbinko Kopf rollte auf die Wiese. Ein ein⸗
ziger Streich hatte ihm das Haupt hinweggenommen. —
Die Krieger standen entsetzt, sie sahen auf den zuckenden
Leichnam des Riesen. — Prokops Antlißz war weiß wie
Schnee geworden, alles Blut war aus ihm gewichen. Dann
hatte er sein Schwert von sich geschleudert und achtete
Sbinkos nicht mehr. Wieder sah er nur Annchen, näher
mußte er treten. Alles wich scheu vor ihm aus, nur Eike
blieb an der Leiche knieen und hielt noch immer den Kopf
der Entseelten in seinen Händen, über sie gebeugt, regungs—
los, wie aus Stein.
Prokop stand vor beiden, und je mehr er in das
Antlitz der Toten sah, desto stärker zog es ihn zu ihr hin.
Alle Welt war vor ihm versunken, das Antlitz, der Blick
der gebrochenen Augen bannte, bezauberte ihn unerklärlich.
Sie ging, ein Traumbild seiner Kindertage, ihm entgegen,
hier war erfüllt gewesen, was ihm in der Sehnsucht der
Nacht genaht war. — Und ganz sich vergessend, kniete er
hor der teuren Gestalt nieder und faßte ihre Hand. „Sie
ist tot“ flüsterte er „sie ist tot, wie oft habe ich sie ersehnt,
nun ist sie ewig verloren, oh, eines Fürsten würdige Braut!“
7
So schön war Ännchen, daß sie im Tode noch den
mächtigsten Feldherrn bannte, ihn, der vor nichts auf der
Erde gewichen war, der Schrecken und Furcht nicht kannte,
den Kampf und Tod Tag für Tag umtobten, der über
Tausende von Leichen schritt und tausend zu Leichen gemacht
hatte, ihn zwang sie zur Erde hinab. Er kniete nieder vor
ihr, ihr erloschenes Auge bannte ihn, und ihre erkaltete
Hand bezwang ihn: er zog seinen leuchtenden Ring vom
Finger und steckte ihn auf ihre Hand. — Jetzt stand er
auf und rief seinem Volk zu: „Diese hier ist meine Braut
und eure Fürstin! Auf, gebt ihr die Ehre!“ — Da
schwenkten und senkten sie die Fahnen, da schlugen sie die
Trommeln und Pauken, da ertönten Pfeifen und Hörner,
da schrie es aus tausend Männerkehlen: „Es lebe die
Fürstin, es lebe die Braut des Prokop'“ —
Da er die Lebende als Fürstin nicht hatte schmücken
und heimführen können, wollte er wenigstens die Tote
fürstlich bestatten. Den ganzen Tag traf Prokop die Zu—
rüstungen, alles ordnete er an, selbst das Kleinste besichtigte
er genau. Ein großer Erdhügel mitten auf der Wiese
wurde aufgeschüttet, mit grünem Rasen belegt, mit Blumen
bestreut, mit Stechpalmzweigen umsteckt, das war das
Paradebette der Fürstin! — Dann ließ er von den Weibern
und Töchtern des Landes die Tote aufs herrlichste ankleiden.
Er wählte selbst und nahm ein purpurnds Samtgewand
aus seinem Schatzwagen, das schönste, das er besaß; mit
goldenen Rosen war es durchstickt und übersät, das mußten
sie ihr anziehen. Er aber kniete nieder und zog über ihr
elfenzartes Handgelenk drei goldene Armbänder, legte um
72
ihren Hals eine Kette von Perlen und setzte auf ihr Haupt
ein funkelndes Krondiadem, dessen sich die Kaiserin des
Römischen Reiches nicht zu schämen brauchte. Das hatte
er ehedem für seine künftige Gattin bestimmt!
So glänzte und strahlte Schön Ännchen im Tode,
aber wie eine Braut zur Hochzeit und zur Krönung an⸗
getan. Über ihr strahlte die herrlichste Totenfackel der
Welt, die Sonne, die so gern sie geschaut hatte. Der blaue
strahlende Himmel war der köstlichste Baldachin, der sich,
über ihr wölbte, und die Vöglein, denen so oft sie gelauscht
hatte, sangen die Klagelieder. Die Bäume aber neigten
sich rings in der Nähe und Ferne und flüsterten: „Lebe⸗
wohl, Schön Ännchen, lebe wohll Wie oft scherzten wir
mit einander, spielten und lachten, nun hat alles ein Ende,
für immer! Leb wohl, lebe wohl, Schön Annchen von
Gottgau!“ —
Die Sonne sank bald hinter den Bergen, noch einmal
küßte sie Schön Ännchens bleichen Mund. So nahm sie
für immer von ihr Abschied; denn morgen früh, wenn sie
wieder aufstieg, lag Annchen schon längst in dem tiefen
Grabe!
Je tiefer die Dämmerung sank, desto düsterer saß
Prokop auf seinem hohen Sitze. Er dachte nicht an Speise
And Trank, sein Auge ruhte beständig auf Schön AÄnnchens
leblichem Gesicht, das lächelte heiter wie im Traume ihm
zu. — Jetzt traten die Krieger an, je zwei und zwei zogen
an der Leiche der Fürstin vorüber, fürstliche Ehren ihr
zu erweisen, und waährenddessen erklangen die dumpfen
Wirbel der Trauer auf weiß verhüllten Trommeln und
Pauken.
Die Nacht sank herab, und zahllose, düstere Fackeln
begannen rings im Kreise zu scheinen. Da kam Eike, der
Mönch, vom Lauterberge herab, ein schwarzer Wagen, mit
vier Pferden bespannt, folgte ihm langsam, er trug einen
gewaltigen Steinsarg. Und dem Sarge gingen zwölf
Mönche des Klosters nach. — Man setzte ihn zu des
Fürsten Füßen nieder. — Endlich gab er das Zeichen,
geschieden mußte sein, alles Menschenglück und alles
Menschenleid hat ein Ende. Sie ist dahin, auch er würde
sterben und alle, die um ihn standen, in wenigen Jahren,
in einer Sekunde der Ewigkeit!
Die Mönche traten um den Hügel, knieten und
beteten. Dann hielten sie die Totenmesse, Eike leitete sie.
Darauf kamen die Mägde, hoben die Tote auf schwarz—
samtner Decke empor und betteten sie vor Prokops Füßen
in den Sarg. Noch einmal leuchtete im Fackelscheine
Schön Ännchens goldenes Seidenhaar zu ihm empor, noch
einmal lächelte ihm ihr bleiches, süßes Antlitz zu. —
Prokop erhob sich, er hielt das Silberkästchen mit dem
Schmuck der Mutter, das er dem räuberischen Sbinko ab—
genommen hatte, in der Hand, jetzt legte er es zu ihren
Häupten in den Sarg. Dann ergriff er ihre todeskalte
Hand, zum letzten Abschied, er beugte sich tief, er küßte sie.
— O du Traumbild der Jugend, seiner süßesten Hoffnung,
jetzt schlossen die Krieger den Deckel über der Toten! — —
Dort, wo sie erstochen worden war, an dem uralten
Frößnitzer Teufelsstein, hatten die Leute Prokops die letzte
Ruhestätte gegraben, tief genug, daß keine Frevlerhand sie
mutwillig stören konnte! — An Ketten und Seilen ließ
man den Steinsarg in sie hinab. Der dunkelroten Fackeln
Schein gab ihm das Geleit in die Tiefe. Dann trat
Prokop an die Gruft: „Lebe wohl, Braut, Fürstin, Schön
Annchen von Gottgau, du ruhe in Frieden, ich ziehe in
Schlacht und Tod, bis mich Gott dich wiedersehen läßt!“
—uUnd damit warf er ihr eine einzige weiße Lilie in das
Grab hernieder. — Nun kamen die Mägde und Frauen,
warfen Kränze und Blumensträuße als letzten Gruß dem
Schoönen Ännchen von Gottgau nach, und zuletzt die Krieger
Prokops, ein jeder warf eine Schaufel Erde ihr nach, und
so groß war das Heer des Fürsten, daß ein großer Hügel
sich über die Gruft Schön Ännchens wölbte.
Der Fürst aber sprach: „Ihr Frauen und Mägdde,
zu Ehren Schön Ännchens kehret heim in eure Dorfer, ihr
seid frei!“ Und zu den Mönchen sprach er: „Ihr Mönche
des Lauterberges, zu Ehren Schön Annchens sei euer Kloster
gerettet, das ich zu plündern und zu zerstören beschloßl“
Dann wandte er sich zu Eike: „Eike aber, du Oheim Schön
Ännchens, zieh mit mir, ich bitte dich, du sollst mir von
ihr erzählen bis an meines Lebens Endel“
Nach diesen Worten senkten sich alle Fackeln, und
Eike sprach das Gebet! Dunkel ward es, und Nacht deckte
die Gruft des strahlend schönen Annchens von Gottgau! —
75
Nachwort.
Es war vor vielen Jahren, als ich an einem schnee—
stürmischen Winterabend müde und matt von langem
Wandern in die uralte Mühle von Gottgau einkehrte.
Bald hatte das freundlich herausschimmernde Licht der
Gaststube noch ein paar müde Weggesellen, Löbejüner,
hereingelockt. Ich lud sie an meinen Tisch, und gleich
waren wir im Gespräch und erzählten uns gegenseitig alte
Sagen und Geschichten, Spuk und Graus der Wüstungen
aus der Umgegend. Und da erklang zum ersten Male
der Name Schön Ännchens von Gottgau an mein Ohr,
das hier in dieser Mühle als Knabe verkleidet gelebt hatte, und
dann als edles Fräulein geliebt und gelitten und zuletzt
für ihre Liebe gestorben war. Überrascht und bewegt
lauschte ich der dunklen, halbverlorenen Sage, und das
düstere Sterben Schön Ännchens packte mein Herz. —
Jahre verstrichen, und Ännchens süßes Bild verblaßte
mehr und mehr in meiner Erinnerung. Dann aber, vor
drei Jahren, leuchtete es plötzlich aus der Nacht der Ver⸗
gessenheit schärfer denn je hervor. Ich hatte die Kultstätten
und die Heidensteine und die sagenhaften, mythischen Er⸗
zählungen, die an ihnen haften für meine „Geschichte des
Saalkreises von den ältesten Zeiten ab“ (Halle 1912)
näher zu erforschen. Da stieß ich auch auf den hochbe—
rühmten Fröß nitzstein. Es stand diese gewaltige Porphyr⸗
platte ehemals östlich, dicht an der alten Löbejüner Straße
76
(Weidenstraße, Schön Annchenweg), etwa 1800 m von
ihrer Abzweigung von der Halle-Plötzer Kreischaussee und
400 m südlich der „Neuen Häuser“. Sie ragte 9 Fuß
über die Erde, war 5 Fuß breit und 1 Fuß dick. Schon
Keferstein (1846) meldete, daß diesen Stein die gesamte
Umgegend als eine große Merkwürdigkeit betrachtete. Ich
hatte ihn noch 18885 gesehen, fand ihn aber jetzt nicht mehr.
Endlich sah ich ihn auf dem Hof des Rittergutes Krosigk
liegen. Der Besitzer meinte, die Pferde hätten vor
dem Steine gescheut, so hätte er ihn wegnehmen müssen.
Da aber der Stein, von vielen Generationen pietätvoll
geschützt, keinem bisher im Wege gestanden, wird er auch
in Zukunft seinen rechtmäßigen Platz wieder einnehmen
müssen. Schon wegen der Sage Schön Annchens, die sich
an ihn knüpft, und die ich hier nun von neuem erzählt
habe, ist dies dringend zu wünschen. Nicht bloß Heimat—⸗
geschichte und Heimatliebe, eine Menge andere edle Ge—
fühle fördert die überaus liebliche Erzählung, die diesen
Stein umspinnt. Und so gehört er dem Volke!
An unsern Stein knüpft sich aber noch eine Schatz⸗
gräbergeschichte, die ich, da sie die Schön Ännchensage indirekt
berührt, hier kurz andeuten möchte. — Es war gegen Ende
des 17. Jahrhunderts, als einem rechtschaffenen Bauern in
Frößnitz, Hans Beiling, träumte, er höre deutlich die Worte:
In Magdeburg auf der Brücke
Wirst du erlangen ein großes Glücke.
Als dies zum dritten Male ihm passiert war, beschloß er,
nach Magdeburg zu wandern und dort auf der Strombrücke
sein großes Glück zu erwarten. Er stand da nun den
ganzen Tag, ohne etwas zu sehen oder zu erfahren. Schon
49
—
wollte er mißmutig wieder an den Heimweg denken, als
ihn ein alter Invalide um sein Anliegen fragte und ihm
zum Trost als Gegenstück auch solch „albernen“ Traum
erzählte. Dreimal hatte er nachts gehört:
Beim Petersberg am Frößnitzstein
Da liegt ein Schatz, Hans, der sei dein.
Er kenne aber weder einen Petersberg noch einen Fröß—
nitzstein, hieße auch nicht Hans, sondern Jörg. — Als
dies Hans Beiling hörte, konnte er kaum den nächsten Tag
erwarten, nach Hause zu eilen. Und schon in der kommen—
den Nacht begann er mit seinem Sohne ans Werk zu
gehen. Er grub am Frößnitzstein nach und stieß bald auf
den Steinsarg Schön Annchens. Er öffnete mühsam den
schweren Sargdeckel, da glänzte ihm auf dem Totenschädel
die Fürstenkrone entgegen, auf den gebleichten Stirnknochen
das Diadem, und über den einzelnen Teilen der Gebeine
flimmerten die Kleinodien, welche der Feldherr der Hussiten
der schönen Toten als Mitgift in den Sarg gelegt hatte.
Zu Häupten stand aber das Schatzkästlein Schön Ann⸗
chens. — Hans Beiling nahm Ketten, Ringe, Perlen,
Edelsteine behutsam heraus, entweihte aber die Gebeine der
Toten nicht und deckte ihre Gruft sorgsam wieder zu.
Später zog er aus der Gegend fort, kaufte in der Fremde
bedeutende Güter, welche die Seinen bis auf den heutigen
Tag noch besitzen. —
Ich ging also aus Anlaß dieses Steines, an dem
Schön Ännchen begraben liegen sollte, der Sage selber jetzt
eifrig nach. Ich erfuhr, daß sie von wandernden Schau⸗
spielern und auf Liebhaberbühnen wiederholt in Löbejün
aufgeführt wurde. Ich ließ mir den Inhalt des Rührstücks
78
in Löbejün wie in den umliegenden Dörfern und in Gottgau
selbst erzählen und fand unter allerlei kleinen Abweichungen
die übereinstimmenden Grundzüge heraus. — Nun hörte
ich auch, daß die Sage ehemals vor vielen Jahrzehnten
unter dem Titel „Die Mühle von Gottgau“ als eine kleine
Erzählung in einer Lokalzeitung erschienen gewesen. Der
Verfasser, so stellte ich fest, konnte kein anderer, als der
verdienstvolle Forscher der Geschichte Rothenburgs und
Löbejüns, der Oberprediger Wilcke in Löbejün, gewesen
sein. Aber diese alte Zeitungserzählung irgendwie zu er⸗
halten, gelang mir bisher noch nicht. Wiederholt wanderte
ich nach Löbejün, wurde von einem Haus ins andere ge⸗
wiesen: keiner hatte sie mehr. In Wettin, in Könnern,
nirgends war sie zu finden. Selbst der ehemalige achtzig⸗
jährige Zeitungsverleger wußte sich ihrer nur noch dunkel
zu erinnern. Doch die Grundzüge auch dieser Bearbeitung
vermochte ich aus den verschiedenen Berichten genau zu
gewinnen.
Dies sind also die Quellen meiner Erzählung ge—
worden. Vieles, was mir an den alten Behandlungen höchst
mangelhaft erschien, mußte verbessert oder ergänzt werden.
Aber Entstehen und Wachsen der Liebe zwischen Schön
Ännchen und dem Junker, die doch durch das interessante
Verkleidungsmotiv (Annchen in Jungen- und in Mühl⸗
knappentracht) einen feinen Reiz auf einen Dichter aus⸗
üben mußte, fand ich nichts gesagt. Ich führte also dies
Moment frei und selbständig durch. — Daß der Junker
am Leben blieb — Ännchen schreit, als Sbinko den Ge—
fangenen durch Speerwürfe töten will, und ruft so den
Prokop herbei — trug auch nicht dazu bei, die Jugend—
73
liebe beider tief und tragisch zu gestalten, was doch im
ursprünglichen Mythus wohl gelegen hat. — Daß der
Streit zwischen Sbinko und Prokop sofort bei Annchens
Gefangennahme anhebt und Annchen sogleich erstochen
wird, peitscht die Handlung zu sehr vorwärts und läßt die
Feinheiten in dem merkwürdigen Verhältnis AÄnnchens zu
Prokop nicht entwickeln. — Die Gestalt des alten Spiel⸗
manns, der sich zuletzt als der totgesagte Propst Konrad
vom Petersberge entpuppt, fügte ich frei hinzu; sie sollte
der Erzählung mehr Farbe und Bedeutung geben und
den uralten Satz inniger deutscher Volksdichtung, daß Liebe
mit Leid am Ende gerne lohnt, zu vertiefen helfen. —
Ich ergänzte an der herrlichen Sage aber nicht bloß
aus ästhetischen Gründen, sondern auch, so möchte ich sagen,
aus wissenschaftlichen mythologischen. Denn auf nichts Gerin⸗
gerem, als auf einer uralten mythologischen Grundlage baut
sich unsere Sage auf. Und zwar sind es nach meiner
Forschung zwei Mythen, die sich in der Ännchensage zu—
—XV0
Eltern und zweitens der vom Lieben und Sterben Ännchens
selbst. Beide sind aber, wie wir sehen werden, in ihrem
letzten Grunde eine symbolische Darstellung ein und desselben
Vorgangs.
Sehen wir uns die erste Darstellung an! Ein kühner,
vornehmer Held zieht in die Ferne, nach Kampf und Ruhm
begierig. Aus übergroßer Sehnsucht folgt endlich die schöne
trauernde Gattin seinen Spuren, zieht ihm nach von Dorf
zu Dorf, von Land zu Land, bis sie ihm ganz nahe ist.
Da erfährt sie seine durch Verrat verübte Ermordung. Sie
rächt ihn, bestattet ihn, zieht trauernd in die Heimat und
stirbt am gebrochenen Herzen
Der mythologische Kern dieser Darstellung ist uralt.
Wir finden ihn bei den Germanen wie bei fernen südlichen
Völkern wieder. So in der nordischen Edda (im XI. /XII.
Ihd. niedergeschrieben) in der Gylfagining: Freia, die
Göttin der Liebe und Schönheit, hatte sich einem Manne
namens Odr vermählt, der nicht göttlichen Ursprungs war
wie sie. „Er zog aber fort auf ferne Wege, und Freia
weinte ihm nach, und ihre Tränen sind rotes Gold; sie
selbst hieß gradfagr, d. i. schön im Weinen. Freia hat viele
Namen: die Ursache ist, daß sie sich oft andere Namen gab,
als sie Odr zu suchen zu unbekannten Völkern fuhr. So
hieß sie: Mardoll, die übers Meer Glänzende, Horn, Gefn,
Syr. Freia besitzt den Halsschmuck Brisingamen („Halsband
der Brisinger“) genannt!
Der tiefsinnige Mythus ist sehr verdunkelt. Der Held
und irdische Odr ist nicht etwa Freyr, sondern Odin, der
Gott (Odr — deutsch Wuot (Wuotan). So vermutete schon
Holtzmann (Mythologie S. 180) allerdings aus dem Namen
Freia; ferner auch Simrock. — Offenbar deutet aber die
tiefe Klage Freias auf ein tragisches Ende des Geliebten,
auf seinen Tod. Und Parallelen in fremden Mythologien
(Aphrodite und Adonis, Isis und Osiris) ebenso wie sagen—
hafte Entstellungen des Mythus in unserer Heimat bestätigen
das: Odr stirbt wie Adonis und Osiris sterben, und wie
jene beiden wird auch er auf das heftigste von der ver—
lassenen Frau beklagt. Es sind eben Mythen des Frühlings⸗
ende und der Sonnenwende: der Gott der schönen Jahres—
zeit ist entflohen und stirbt in der Ferne, seine Gemahlin
sehnt sich nach ihm, weint ihm goldene Tränen nach und
zieht ihm nach in den Tod (Winter). — Oder der Jahres⸗
31
mythus wird in den Tagmythus übersetzt: Artemis (S die
Mondgöttin) oder Eos (S die Morgenröte) betrauern ihren
Geliebten Orion (den Riesen des schönen Nachtgestirns)
der serne dahinzieht und vor der Sonne Helligkeit verblaßt
und dahinsinkt. Eos weint ihrem Geliebten jeden Morgen,
bevor sie ihren Tageslauf beginnt, Tränen der Sehnsucht
nach, die wie Diamanten glänzen. Diese Tränen sind der
Tau, wie denn auch Freias Tränen so gedeutet werden
können.
Unter dem Einfluß des Christentums wird aus dem
Helden ein Fürst, der fern der Heimat weilt, und seine
Gattin zieht ihm aus übergroßer Sehnsucht nach, trauernd,
hilfesuchend oder als Bettlerin herumirrend und verstoßen,
entweder allein oder in Begleitung einer Dienerin, Amme usw.
Entweder ist der Gatte in der Ferne etwa als Ordensritter
oder als Kreuzritter gefallen (so wie hier: im Kampfe gegen
die heidnischen Kumanen) und dies ist die ursprüngliche
Fassung, oder er kehrt endlich zurück und belohnt diejenigen,
die seine hülflose Gemahlin beschützt hatten.
Daß sich der Mythus in solchen Fassungen in unserer
nächsten Nähe erhalten hat, zeigt die mannigfach erhaltene
Sage der vier bezw. fünf „Himmelfahrtsdörfer“: Gödewitz,
Gorsleben, Krimpe, Zörnick und Fienstedt. Ein Ritter war
ins gelobte Land gezogen. Seine junge Frau Elisabeth
ging, von ihrem Schwager verstoßen, ins Elend mitten in
der Winterszeit, nur von ihrer treuen Amme Gertrud be—⸗
gleitet. Todmatt fanden sie endlich Unterkunft bei einem
alten Bauer in Gorsleben. Der Alte gab die Fremde als
seine Muhme aus, sie wurde aber wegen ihrer glänzenden
Schönheit allenthalben bewundert. Endlich zu Himmelfahrt
20
kehrt ihr Gatte heim, der auf das Versprechen seiner Gattin
hin Gorsleben und den vier Dörfern, wo Elisabeth so gern
gesehen war, viel Freiheiten unter der Bedingung, ihr Ge⸗
dächtnisfest mit sieben Rinkeimern Bier zu feiern, gewährt. —
Nach einer anderen Tradition war es eine „Königin“
Elisabeth; offenbar lehnte sich die Sage an die Gattin
Ludwigs des Heiligen, der in das gelobte Land zog, an. —
Eine andere Mansfelder Sage führt das Fest der fünf
Dörfer auf eine Gräfin von Mansfeld zurück, die von ihrem
Gemahl verstoßen herumirrte und in diesen Dörfern gut
aufgenommen wurde. Der Graf erkannte später ihre Unschuld
und bestimmte Fest und Privilegien den Dörfern für alle
Zeiten. — Aus dem Eichsfeld lautet eine ähnliche Sage
„Das Fröuwechen von Engelland“ folgendermaßen: Der
König von Engelland zog einst über das Meer auf Abenteuer
aus und kam auch in das Eichsfeld. Bei Lengefeld an der
Werra überfiel ihn der Vogt von der Burg Bischofstein,
beraubte ihn seines Gutes und Geldes und tötete ihn. Die
Gemahlin des Königs erfuhr die Trauerbotschaft, und zog nach
dem Eichsfeld, den toten Gatten zu rächen. Sie wappnete
sich mit einem silbernen Panzer, der gefeit war, und be⸗
stürmte die Burg. Da träf sie der Vogt tödlich mit einer
Freikugel. Die Mannen beklagten den Tod der Fürstin,
bestatteten sie fürstlich und setzten einen großen Stein auf
ihr Grab. Dann stürmten sie das Schloß und hieben alles
nieder (Engelland ist bekanntlich das Seelenland, das Land
der Frau Holla— Freia) — Aus der Möbisburg bei Erfurt
wandert eine vornehme Fürstin und führt den Leichnam
ihres vom Feinde getöteten Gatten bei sich. Sie wird von
einigen Dörfern freundlich aufgenommen und beschenkt sie
33
mit vielen Waldungen. — Der Sieben-Gemeindewald
zwischen Stolberg und Berga soll auch von zwei wandernden
Frauen den Gemeinden geschenkt worden sein. AÄhnliches
hörte ich über einen Wald bei Kranichfeld. —
Verfolgen wir nun den zweiten Mythus, der Schön
Ännchen selbst betrifft. Ännchen wächst, ein wunderschönes
Mägdlein, unbekannt bei armen Leuten auf. Ihre edle
Abkunft wird erkannt, ein wunderbarer Schmuck ist ihr
Eigen. Alle Menschen sind von ihrer strahlenden Schönheit
bezaubert. Sie liebt einen edlen Jüngling, aber die Liebe
hringt Leid, und der Jüngling fällt, sie selbst haucht ihr
Leben unter dem Dolchstoß des Einäugigen aus. — Eine
ähnliche Erzählung hörte ich in der Dübener Heide über
das „Jungferngrab“. Eine Braut wurde hier von einem
fremden Reiter erstochen, sie ward begraben, und auf ihrem
Hügel legte man Blumen und Zweige nieder, wie ich selbst
solche in Mengen verdorrt liegen sah. Dem Reiter setzte
man nach, traf ihn auf dem Wege nach Schköna, etwa
zehn Minuten vom Jungferngrab, hieb ihn nieder und
begrub ihn: auf sein Grab wirft man aber Steine! —
Auch daß am heiligen Dreikönigstage, am Berchtentage,
das junge Edelkind gewissermaßen in die Welt einzieht und
daß der heilige Annenaltar eine sonderliche Rolle in der
Überlieferung spielt, scheinen mir zwei bemerkenswerte Züge
in der Sage zu sein. —
Das strahlend schöne Kind ist die Frühlingserde,
ihr Schmuck die Blütenpracht, ihr Geliebter der Sonnen—
jüngling. Erst fällt er von dem Stoß des Einäugigen,
dann sie selber. Der Einäugige (Hagen)) oder der Reiter
( Sturm) ist der Winter, er hat Erde wie Sonne ge—
3
tötet. — Wir sehen, im Grunde ist dieser Mythus derselbe
wie der erste, nur daß hier der Geliebte nicht in die Ferne
zieht und die Geliebte ihm nicht goldene Tränen nachweint,
aber der Tod der Frühlingsnatur ist in beiden Darstellungen
das grundlegende Motiv. Wie der Frühlings- oder Sonnen⸗
gott Galdur, Siegfried) vom Einäugigen und Blinden ge—
tötet wird, so hier die Frühlingsgöttin.
Auch dieser Mythus findet sich bei fernen südlichen
Völkern, bei den Hellenen: Persephone, die Vegetationsgöttin,
wird durch den Unterweltsgott zwar nicht getötet, doch in
die Unterwelt verschleppt; bei den Babyloniern: Istar wird
ihres Schmuckes beraubt und steigt in die Unterwelt nieder.
Es sind eben allgemein menschliche Vorstellungen und
Empfindungen, die zu den verschiedensten Zeiten unter den
orrschiedensten Himmelsstrichen teils selbständig, teils beein—
flußt entstanden sind. Nur das sollten sie uns betonen:
daß in der Ännchensage ein ähnlicher muthischer Urkern
wie in ihnen enthalten ist.
Ich will dieses noch weiter erhärten. Es heißt, daß
zu dem sagenhaften Stein (Frößnitzstein), unter dem
Annchen begraben lag, noch lange Jahre hindurch am
Todestage Ännchens Jünglinge und Mädchen gewallfahrtet
sind und von da zum Petersberge empor. Erst durch die
Reformation ist dieser uralte Brauch abgestellt worden.
Die Jugend zog hierher, offenbar um Kränze niederzulegen,
wie man noch heute auf dem Jungferngrab in der Dübener
Heide Blumen und grüne Zweige opfert. Es sind die
Gaben an die ehemalige Frühlingsgöttin. — Anderseits
aber haftet an unserem Frößnitzstein eine uralte Überliefernng
von einem Schatze. Solche Überlieferungen umspinnen
35
meist solche Steine, an denen ehemals ein heidnischer Kult
ausgeübt worden ist.
Zweitens aber: Am Petersberge liegt der Wohnsitz
Annchens, Frößnitz. Der Petersberg oder besser der Lauter—
berg (mons serenus) denn so hieß der Berg bis ins XVI.
Jahrhundert beim Volke, ist nachgewiesener Maßen ein uralter,
hochberühmter Götterberg der Germanen wie der Slaven
gewesen. (Vgl. meine „Geschichte des Saalkreises“ und
Band 3 der „Saalkreiswanderungen“). Ich will nur dies
hier kurz erwähnen: Auf dem Lauterberg hat nach der
Petersberger Mönchschronik (im XIII. Ihd. verfaßt) der „alte
Feind“ ( Teufel, Donar) einstmals gehaust. Auf diesen
Wohnsitz Donars deutet auch der Bräutigamsstein hier oben,
der dem Fruchtbarkeits- und Ehegott geweiht gewesen war;
ferner aber deuten auf die Kultstätte die vielen zum Teil hoch—
interessanten ehemaligen Hünengräber, Wälle, Urnenfunde
auf und um den Petersberg herum; vor allem aber die
vielen Teufelssteine, die der Teufel (Donar) von hier oben
in die Umgegend nach christlichen Kirchen geschleudert haben
soll (Sennewitz, Wettin, Gimritz, Löbejün, Wadendorf u. s. w.)
Auch unser Frößnitzstein war solch ein Teufelsstein. Das
Nähere über die Teufelssteine s. in meiner „Geschichte des
Saalkreises“. Alles dies führt zu einem Zusammenhang
Donars mit einer Vegetationsgöttin (Ostera, Walpurg, Freia),
wie ich einen solchen öfter hier an Kultstätten des Saalkreises
nachweisen kann.
Ich möchte aber noch einen andern Hinweis, der sich
mir aufdrängte, nicht von der Hand weisen. Im Mans—
feldischen, grade in jener Gegend, wo jene Elisabethsage
entstand, haben sich uralte germanische, slavische Uber—⸗
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lieferungen von der Göttin Holda, Luppe (Lubbe) erhalten.
Im Dorfe Schochwitz opferte 1462 das Volk einem gewissen
Verstorbenen, dem guten Lubben, Gebeine toter Tiere. Der
Bischof von Halberstadt, zu dessen Sprengel diese Gegend
gehörte, forderte auf, diesen „Götzendienst“ auszurotten;
denn Lubbe ist in der Tat kein Verstorbener, sondern ein
verkappter Götze der sorbischen Bevölkerung, der in der
dortigen Gegend hochgefeiert wurde (vgl. Lupholz, Lupberg.
Lupmühle). Die Bergkuppe war sein Opferplatz aus heid⸗
nischen Zeiten her. Es war ein Fruchtbarkeitsgott, dessen
sehr altes Steinbild sich an der Kirche von Müllersdorf
defindet, es hat wohl ehemals auf dem Lupberge gestanden
(vgl. Gesch. d. Saalkreises S. 128). — Merkwürdiger Weise
weiß aber die Ortssage nur von „einer heiligen Luppe“,
die einen Tempel in dem Lupholz gehabt haben und da—
selbst verehrt worden sein soll, und in dem alten Denkmal
an der Kirche, das in der Tat eher eine unbekleidete
weibliche Figur darstellt, die auf dem Rücken eines Tieres
Hundes?) zu stehen scheint, sieht das Volk eine Göttin,
die auf einem feurigen Hund reitet. Sagen von einem
feurigen Hunde, der nachts auf den Wanderer springt
und bei Schochwitz im Lupholz verschwindet, laufen noch
jetzt um. Ebenfalls wird noch in der Leichenrede des
M. Coelius über Luther am 20. Februar 1546 der gute
Lutzen, der ein toter Hund sei und im Mansfeldischen
verehrt würde, erwähnt. — Nun muß man aber wissen,
daß in derselben Gegend auch der Kult der germanischen
Goͤttin Berchta oder auch Holda blühte (ogl. Wüstung
Berchtenwende bei Sangerhausen, Holdenstedt, Holleben,
nicht zu verwechseln mit Hunosleben! Hollingsburn). So
erscheint im Teich bei Holdenstedt ein Weib, das nachts
wie lohes Feuer umgeht, liederliche Männer in den
Bach stürzt, ordentliche aber darüber geleitet. Das lohe
Feuer oder der feurige Hund sind die letzten Ausklänge
der glanzgeschmückten leuchtenden Göttin. Wir hätten
einen Widerschein der germanischen Göttin Berchta in der
slavisierten „guten Luppe“ zu sehen, die ebenfalls feurig
auf einem Hunde als Beschützerin der Herden und Acker
umherreitet. Ihr Name bedeutet „die Liebe“, „die Holde“,
sorbisch liub, liubic (lieben). Also wie Fro und Freia
hätten wir einen Gott Lubbo und eine Göttin Lubbe.
Dieselbe Wurzel liub steckt nun in dem Stadtnamen
Löbejün (961 Liubechun, 1124 Lobechune, 1156 Lubechune),
der in ältester Zeit offenbar Lübbechun oder Lubbechun
gesprochen wurde. Es ist sehr wohl möglich, daß auf dem
hochgelegenen Plateau der alten Burg eine Opferstätte des
Gottes Lubbe (Freyr) sich befunden hat, der dem heiligen
Georg und Landbauer (*Ge-orgos), der Gesundheit und
gut Wetter Bauern, Feldern und Tieren spendete, gewichen
ist. Der Drache, das Sinnbild für Morast und Sumpf,
lag ja gleich unter der Burg in den furchtbaren Fuhne—
sümpfen. — Ebenso möglich, ja wahrscheinlich ist es, daß
sich auf der Klippe bei Gottgau, aufwärts der ehemaligen
Mühlenteiche, eine alte Opferstätte der guten Göttin Luppe
befand (man zeigt hier noch einen Fleck „Blutrinne“
genannt), die glänzend in der Lohe durch die Nacht reitet,
wie denn auch eine , weiße Frau“ an diesen Klippen erscheinen
soll. Und hier hätten wir das Urbild unseres Schön Ännchens
von Gottgau! — Ein geheimnisvolles Band schlingt sich
um Gottgau und Löbejün, um die Göttin wie den Gott,
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und der alte Mythus ihrer Liebe und ihres Sterbens klingt
zum letzten Mal in der Geschichte Schön AÄnnchens wieder. —
Daß in Gottgau vielleicht auch dem „guten Lubben“ und
zwar ganz in der Nähe der „Klippe“ geopfert wurde, ist
auch wohl der Fall gewesen: denn dort, wo heute die Oko—
nomie steht, stieß man beim Ausschachten auf eine Menge
Tierknochen, und in der Höhlung des Fahrweges nach den
Mühlteichen zu steigerten sich dieselben zu vielen Ladungen. —
Ich weiß sehr wohl, daß in unserer verstandeshaften,
skeptischen, materiellen, von einer bestimmten Seite her ver⸗
greisten, ideal- und und ideenlosen Zeit es „Forscher“ giebt,
die jeden mythologischen Ausklang in unsere Tage, all die
geheimen Beziehungen jener uralten Poesie unserer ger⸗
manischen Vorfahren in unseren Sagen und Gebräuchen,
ja selbst in unserem eigenen Fühlen leugnen möchten, ebenso
die Hinweise auf unserer Vorfahren Kultstätten und Kult—
burgen. — Nun, diese arterienverkalkten Forscher glauben
wohl gar, daß unsere Vorfahren keinen Glauben, keine
Kultorte besessen haben; sie müßten dann ebenso gut glauben,
daß auch wir keinen Gott, keine Kirche, keinen Pfarrer be⸗
sitzen! — — Warum sollte das Erbe und das Blut der
Vorfahren nicht noch in den Enkeln weiter gelebt haben
und noch weiter leben? — Und sieht man nicht heute mit
Recht in der Psyche des einzelnen den Ausgangspunkt zur
Erforschung der Psyche seines Volkes und in dieser Psyche
des heutigen Kulturvolkes den Ausgangspunkt zur Er—
forschung der Psyche der Vorfahren, des ehemaligen Natur⸗
volkes?
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