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DR. HANS KURELLA,
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CURT KABITZSCH (A. STUBERS VERLAG)
1909.
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Curt Kabitzsch (A. Stuber’s Verlag), Würzburg.
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Lehrbuch der spez. Diagnostik u. Therapie
‘ Von Chefarzt Dr. B. Bandelier und
der Tuberkulose. Chefarzt Dr. O. Roepke. Mit 1 farbigen
lith. Tafel, 4 Textabbildungen und 19 Temperatur-Kurven auf 5 lithogr. Tafeln.
3. vermehrte und verbesserte Auflage. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Rob.
Koch, Exzellenz., Preis brosch, Mk, 6.—, geb. Mk. 7.—.
Ein vortreffliches Lehrbuch und ein vorzüglicher Führer für alle Ärzte,
die mit allen von der Wissenschaft gebotenen Hilfsmitteln die Tuberkulose auch in
ihren ersten Anfängen feststellen wollen. „Sächs. ärztl. Korresp.-Blatt‘.
In nicht ganz 2 Jahren sind schon 3 Auflagen notwendig ge-
worden, der beste Beweis für die Güte dieses Buches. .
Frühdiagnose und "nberkulose-Immunität
mit besonderer Berücksichtigung der neuesten Forschungen, Konjunktival- und
Kutanreaktion, Opsonine etc., der Prognose und Therapie. . Von Dr. Wolg.-
Eisner-Berlin. Mit einem Vorwort von Geh. Med.-Rat Prof, Dr. H. Senator
und Geh. Med.-Rat. Prof, Dr. A. Wassermann. 2. verbesserte und erweiterte
Auflage. Mit 7 farb. lith, Tafeln, 1 schwarzen Tafel, 14 Kurventafeln und vielen Ab-
bildungen im Text. Preis brosch. M, 12.—, geb. M, 13.—:
: Von Dr. med. Henry HMughes,
Atemkuren mit 115 Rezepten. Arzt- in Bad Soden im Taunus.
Preis Mk. 1,—.
Verfasser bespricht die Art und Weise, wie der Arzt eine verschiedene
Regelung der Atmung, sei es zum Zwecke der Gesunderhaltung, sei es zum Zwecke
der Krankheitsbeseitigung verwenden soll. Sicherlich wird durch fleissige Beobach-
tung solcher ..‚Atemkuren‘“ manches Gute erreicht werden können.
Ärztl. Korrespardss*blatt Sachsens.
iin oo Kritik der ärztlichen Erkenntnis von Dr, SW,
Medizinische LO = ik. Bieryanski. Deutsch von Dr. A, Fabian.
Brosch, M. 4.30, geb. M. 5.50. ;
Inhalt: Einleitung. — Die Medizin und die medizin. Wissenschaft. — Die
Beobachtung. — Anamnestische Daten. — Der Krankheitsbegriff. — Die Klassi-
fikation der Krankheiten, — Erkennung der Krankheit. — Das Experiment in der
Medizin. — Das theoret. Gebäude der mediz. Wissenschaft. —' Mediz. Statistik.
Auffinden ärztl. Indikationen. — Die therapeutische Erkenntnis.
„Der Arzt behandelt leider die seelische Einwirkung seiner Person, seines Aus-
spruches, seines Wesens auf den Kranken als etwas Nebensächliches, doch gerade
dort, wo die Macht seiner Wissenschaft zu Ende ist, bei unheilbaren Prozessen kann
er unendlich viel leisten., Das Buch enthält eine Unzahl lehrreicher Detail aus
dem ärztlichen Leben und ist ebenso gedankenvoll als anregend geschrieben‘‘.
Ärztl. Zentralzeitung,
——>——
3 ; 22 Von Dr. med. EF’enry Hughes
Ärztliche Beredsamkeit. ‚rin 5.0 Soden. Preisarosch M. 1.
Der Verfasser gibt jenen Kollegen, die der Redegewandheit ermangeln, eine An-
leitung in so manchen schwierigen Fällen« welche die Ausübung der Praxis bringt, zur
rechten Zeit das rechte Wort zu sagen. „„Baver, ärztl. Korresp.-Blatt‘“.
Kompendium der Hautkrankheiten ln
und einer kurzen Kosmetik, Für Studierende und Ärzte. Von Dr. S. Jessner in
Königsberg i. Pr. (Dritte umgearbeitete Auflage. — 1906. — Gebunden Mk. 7,—,
Berliner klin. Wochenschrift: ‚Eine wortreffliche Durcharbeitung des grossen
Stoffs in engem Raume. Die Ausführung 1st stets grägnant, klar und so erschößfend,
dass es wunderbar erscheint, wie der der in dem flüssigen Stil des Verfasser ge-
haltenen Dartellung so viel auf so geringem Raum (322 SS) geboten werden konnte,
1 für Studierende und Ärzte.
Vademecum der Geburtshilfe fer rof Dr. Max Lange,
Dritte, völlig umgearbeitete Auflage. Mit 115 Abbildungen. Preis geb. Mk. 4.50.
. „Es gibt kein anderes Vademecum der Geburtshilfe, in dem so. viel drinsteht, in
dem die praktischen Ratschläge und therapeutischen Massnahmen so genau beschrieben
sind etc.** Zentralblatt für Gynäkologie.
Mann und Weib.
voa HAVELOCK ELLIS
Sexual-psychologischen Studien
sind folgende Bände in meinem Verlag erschienen:
Geschlechtstrieb und Schamgefühl.
2. Aufl. 1907. Preis: brosch. 5.— %, geb. 6.— Mo.
Das Geschlechtsgefühl.
2, erweiterte Aufl. 1909. Preis: brosch, 4.— 4, geb. 5.— M.
Mann und Weib.
2, Aufl. 1900. Preis: brosch. 6.— M, geb. 7.— M.
Die krankhaften Geschlechts-
empfindungen.
0907. Preis: brosch. 4.— M, geb. 5.— M.
Die Gattenwahl beim Menschen.
1906. Preis: brosch. 4.— M, geb. 5.— M.
Curt Kabitzsch (A. Stuber’s Verlag).
Würzburg,
MANN UND WEIB.
EINE DARSTELLUNG
DER SEKUNDÄAREN GESCHLECHTSMERKMALE
BEIM MENSCHEN
VON
HAVELOCK ELLIS.
ZWEITE AUFLAGE.
NACH DER VIERTEN AUFLAGE DES ENGLISCHEN
ORIGINALS UNTER MITWIRKUNG DES VERFASSERS
HERAUSGEGEBEN
VON
DR, HANS KURELLA,
NERVENARZT IN BONN.
MIT 2 TATELN, 22 ABBILDUNGEN UND ı3 KURVEN IM TEXT.
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5 338
WÜRZBURG
CURT KABITZSCH (A. STUBERS VERLAG)
1909.
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SS
Druck der Kgl. Universitätsdruckerei H. Stürtz, A. G., Würzburg.
Vorwort des Verfassers zur ersten Auflage
(1804).
Vor ungefähr ız Jahren habe ich zunächst zu
meiner eigenen Information angefangen, positive Daten
zu sammeln, die sich auf die Unterschiede zwischen
Mann und Weib bezogen. Was mich dazu veranlasste,
war die Überzeugung, dass diese Unterschiede vielen
Sozialen Problemen zugrunde liegen, für die ich mich
ernsthaft interessierte, und die Erfahrung, dass man
über die Tatsachen selbst nirgends vollständig und un-
Partelisch unterrichtet wird.
Ich habe jahrelang fortgefahren, Material zu sammeln,
ZU sichten und zu analysieren, und nachdem ich per-
Sönlich eine Meinung über die Tragweite der Tatsachen
SeWonnen hatte, glaube ich, ein dieselben zusammen-
fassendes Buch wird, wie es mir seinerzeit willkommen
SS Wesen wäre, viele Männer und Frauen interessieren,
die heute in derselben Lage sind, in der ich vor
12 Jahren war. Was ich in Zeitungen und Revuen an
8ewagten und unwissenden Vorstellungen über diese
Fragen bei jedem Blicke in die Tagesliteratur finde,
bestärkt mich in diesem Glauben. Ich gebe nun hier
nach bestem Vermögen eine anthropologische. und
Psycholo gische Untersuchung derjenigen sekundären
YI
VORWORT DES VERFASSERS.
Unterschiede der Geschlechter, welche die moderne
Forschung bei zivilisierten Menschenrassen nachge-
wiesen hat.
Ich habe mich beständig über viele Fragen, in
denen nur ein Spezialist einen brauchbaren Finger-
zeig geben kann, durch anerkannte Autoritäten ver-
schiedener Länder beraten lassen; ohne diese Quellen-
studien wäre mein Buch noch unvollkommener, als es,
wie mir wohl bewusst bleibt, auch in seiner gegen-
wärtigen Form ist. Ich bin allen diesen Spezialforschern
tief: verpflichtet für die Bereitwilligkeit und Liebens-
würdigkeit, mit der sie ausnahmslos meine Fragen be-
antwortet haben. Ich bin ferner einigen Freunden,
deren Namen im Texte nicht genannt sind, für all-
gemeine Winke und Hilfeleistungen verbunden.
Havelock Ellis,
Vorwort des Herausgebers zur ersten Auflage
(1895)
Die Bedeutung: der Ergebnisse der Naturforschung
für die soziale Politik, die von Männern wie Darwın,
Spencer und LomgBroso längst erkannt worden ist, wird
allmählich auch den Gelehrten hüben und drüben und
der ganzen gebildeten Welt klar. Nach meiner Über-
zeugung . liefert das vorliegende Werk einen ausser-
Ordentlich wichtigen Beitrag zu ernsten sozialen
Problemen, wie es andererseits eine empfindliche Lücke
in der anthropologischen Literatur ausfüllt,
Wenn ich es dem deutschen Publikum zugänglich
mache, so führe ich in dasselbe zugleich einen eng-
lischen Schriftsteller ein, der glänzende Leistungen
hinter sich und eine bedeutende literarische Laufbahn
vor sich hat und dessen höchst umfassende Bildung,
klares Urteil, warmes Gefühl und künstlerische Ge-
staltungskraft ihn in seltenem Masse befähigen, die
Natur des Weibes zu verstehen und darzustellen.
Er stimmt in so viel wesentlichen Punkten überein
mit dem von mir vor Jahresfrist deutsch herausgegebenen
Werke Lomsrosos über das Weib, dass sein Buch in
mancher Beziehung als ein wertvoller Kommentar und
eine aktenmässige Ergänzung der geistvollen und tiefen
VIII
VORWORT DES HERAUSGEBERS.
Darstellung des berühmten Italieners gelten kann;
andererseits weicht er in der Interpretation von Tat-
sachen so sehr von Lomgroso ab, dass sein Werk auch
dem Kenner des letzteren als völlig originell erscheinen
muss. In mancher Beziehung stehen beide Werke in
diametralem Gegensatz, und‘ gerade darin scheint mir
der Anstoss zu einer Neubelebung der Frauenfrage ge-
geben, deren Diskussion neuerdings ein wenig an
Mangel palpabeln Stoffes zu leiden hatte. Eine Reihe
von Kürzungen, Zusätzen und Änderungen sind in
Gemeinschaft mit dem Autor gemacht worden; die
wenigen von mir allein herrührenden Anmerkungen sind
durch ein K. bezeichnet,
Brieg, im September 1894.
DR, Hans Kurella.
Vorrede des Verfassers zur vierten englischen
Auflage (1904).
Das vorliegende Buch ist vor ıo Jahren als eine
Studie der sekundären Geschlechtsmerkmale beim
Menschen geschrieben worden. Es sollte zugleich als
Einführung in eine eingehendere Untersuchung und
Darstellung der primären geschlechtlichen Erscheinungen
auf psychischem Gebiete dienen. Somit wurde dieses
Buch zunächst als Mittel zu meiner eigenen Unter-
stützung und Instruktion zusammengestellt, einfach als
Notwendige Pionierarbeit für die Bearbeitung eines
Schwierigen und dunklen Gebiets, Es hat mich sehr
befriedigt, dass verschiedene hervorragende Anthropo-
logen und Psychologen mein kleines Werk als brauch-
bares Hilfsmittel anerkannt haben, und dass es auch,
Sowohl im englischen Original wie in den Übersetzungen
in verschiedene Sprachen, dem grösseren Publikum von
Interesse gewesen ist. Ich weiss selbst nicht genau,
wieviele Übersetzungen davon existieren, denn mit
einem rührenden Glauben an den unpersönlichen und
uninteressierten Charakter meiner Arbeit hat mancher
Übersetzer es nicht für notwendig gehalten, mir etwas
von der Ehre zu sagen, die er mir erwies: so ist es
VORREDE DES VERFASSERS.
gekommen, dass in einem Lande (Russisch-Polen) sogar
gleichzeitig zwei Übersetzungen erschienen sind.
Obgleich erst ı0 Jahre seit der Veröffentlichung
des Buches verflossen sind, so ist doch in diesem
kurzen Zeitraume viel sorgfältige und wertvolle spezia-
listische Arbeit erschienen, die sich auf die Frage des
Geschlechtsunterschiedes bezieht. Mehr als je zuvor
hat man sich neuerdings bemüht, die Existenz solcher
Unterschiede festzustellen; zum Teil mag das vorliegende
Werk dazu angeregt haben; jedenfalls war diese Tendenz
unvermeidlich. Das Ergebnis war, dass es zugleich
schwerer und leichter geworden ist, dieses Gebiet zu
beherrschen; leichter, weil das Material jetzt an Quantität
und Qualität zugenommen hat; schwerer, weil es exten-
siver und komplizierter geworden ist.
Ich habe die Genugtuung, zu wissen, dass mein
Buch die Anregung zu verschiedenen höchst lehrreichen
Forschungen in verschiedenen Ländern gegeben hat,
Indem ich auf die Nennung noch lebender Forscher
verzichte, erwähne ich ganz besonders Professor PFITZNER
in Strassburg, einen Anthropologen von grösster Sorg-
falt und Gründlichkeit, der 1903 vorzeitig verstorben
ist. Als ich in der ersten Auflage gewisse von ihm
gefundene Resultate zitierte, deutete ich an, dass er
ihre Bedeutung unrichtig interpretiert hätte, Mit seiner
gewohnten Aufrichtigkeit nahm PFITZNER die Unter-
suchung in viel grösserem Umfange wieder auf und
eröffnete damit eine Reihe von Forschungen, die er-
heblich zu unserer Kenntnis der Geschlechtsunter-
schiede beigetragen haben. Soviel ich weiss, ist nur
eine durch. mein Buch angeregte Untersuchung in
einem feindlichen und negierenden Geiste angelegt
worden. Da dieser Angriff sich auf gewichtiges Material
VORREDE DES VERFASSERS.
XI
zu stützen scheint, glaubte ich ihm eine Aufmerksam-
keit widmen zu müssen, die ich ihm sonst nicht zuge-
wendet haben würde; ich verweise in dieser Beziehung
auf die in Kapitel XVI dieses Buches gegebene
Polemik.
Aus den eben namhaft gemachten Gründen ist es viel-
leicht gekommen, dass die vorliegende Auflage das
Gebiet nicht so vollkommen beherrscht und umfasst,
wie ich das beim damaligen Stande unseres Wissens
für die erste Auflage behaupten darf. Um alle neuen
Untersuchungen dem Buche einzuverleiben, müsste ich
es nicht nur ganz neu niederschreiben, sondern ihm
auch einen höchst unhandlichen Umfang geben. Ich
habe aber zu meiner Arbeit das Vertrauen, dass sie in
ihrer vorliegenden vermehrten und verbesserten, aber
nicht völlig erneuerten ‘Form eine brauchbare Ein-
führung in das Gebiet bilden wird. Ich habe das
ganze Gebiet für diese Auflage wieder durchforscht
und viel neues Material hinzugefügt. Ich kann mit
Befriedigung konstatieren, dass ich keine der früheren
Schlussfolgerungen zu rektifizieren habe, und so ist
das Schlusskapitel fast unretuschiert geblieben.
Das einzige Kapitel, bei dem es nötig war, die
ursprünglichen Schlussfolgerungen zu streichen, ist das
über die Sinnesempfindungen; in seiner ursprünglichen
Form beruhte dieses Kapitel auf einem sorgfältigen
Studium des damals vorliegenden Materials, aber dieses
Material war spärlich; es ist nun reichlicher geworden
und deutet in mancher Hinsicht nach einer anderen
Richtung.
Ich darf den Leser wohl daran erinnern, dass ein
leitender Gedanke des Buches die Erörterung der
Frage war, inwieweit Unterschiede zwischen den Ge-
Azul
VORREDE DES VERFASSERS.
schlechtern künstlich, als das Resultat der Tradition und
des. Milieus sind, und inwieweit sie wirklich in der
gegebenen Konstitution des männlichen und des weib-
lichen Organismus wurzeln. Das blieb damals und
bleibt noch heute eine Frage, die nicht in dogmatischer
Weise bestimmt beantwortet werden kann. Wenn wir
aber auch nicht überall auf diesem Gebiete weiter
blicken, als unsere Väter, wenn wir selbst die Weisheit
entfernter Ahnen zu würdigen lernen, so können wir
doch immerhin sagen, dass unsere Anschauungen mehr
und mehr mit wissenschaftlicher Erkenntnis in Einklang
kommen und sich immer mehr von Vorurteilen los-
lösen. Darin liegt auf jeden Fall ein wirklicher Fort-
schritt.
Unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete sind noch
sehr jungen Datums. Ein Bewusstsein von sich selbst
hat sich der Mensch in wissenschaftlicher Form am
spätesten angeeignet. Die Anthropologie ist noch nicht
zweihundert Jahre alt, die wissenschaftliche Psychologie
noch nicht ein halbes Jahrhundert. Die Menschen haben
die Sterne erforscht, aber ihre eigenen Körper schienen
ihnen zu heilig und zugleich zu profan für ein wissen-
schaftliches Erforschen. Erst vor wenigen Jahren hat
der grosse französische Ethnograph GABRIEL DE MoR-
TILLET in Savoyen genaue Methoden für die FPhoto-
grammetrie des unbekleideten Körpers bei der gewöhn-
lichen Bevölkerung Europas eingeführt; und in den
wundervoll illustrierten Büchern des unermüdlichen
Dr. Stratz haben wir in populärerer, weniger wissen-
schaftlicher Form tatsächlich den ersten Versuch, den
menschlichen Körper in natürlicher und gesunder Weise
zu ‚betrachten und in Bildern seine Abarten nach
Alter, Geschlecht, individueller Entwicklung und Rasse
VORREDE DES VERFASSERS.
XI
zu veranschaulichen, während auf seiten der Psycho-
logie kaum gesagt werden kann, dass die gleichzeitigen
Bemühungen von Professor STANLEY HALL und seinen
Mitarbeitern in Amerika, auf breiter Grundlage den
Inhalt des menschlichen Geistes im frühen Alter zu
erforschen, vollkommen systematisch ausgestaltet wären.
Die nächste Zukunft wird über das Gebiet, auf
dem dieses kleine Buch sich bewegt, so genaue und
ausgedehnte Informationen und Entdeckungen bringen,
dass wir sie uns kaum vorstellen können, und dieser
Versuch eines Pioniers, über ein unerforschtes Gefilde
hinzuziehen, wird dann vergessen sein, oder es wird
die Erinnerung daran nur wie ein Markstein des Fort-
schritts noch erkennbar sein.
Carbis Water (Cornwall) im Februar 1904.
Havelock Ellis.
Vorrede des Herausgebers zur zweiten
deutschen Auflage.
Während das Original des vorliegenden Werks
von 1894 bis 1904 vier Auflagen erlebt hat, kann ich
erst nach ı4 Jahren mit einer deutschen Neuauflage
vor das Publikum treten. Dass meine von allen Sach-
verständigen als unentbehrliches Handbuch begrüsste,
benützte und in grösstem Umfange ausgeschriebene
Edition nicht früher neu aufgelegt worden ist, liegt
daran, dass. der Verlag von GEORG H. WiıcAnD bald nach
ihrem Erscheinen den Inhaber welchselte; seit vielen
Jahren war die Auflage erschöpft und auch antiqua-
risch kaum ein Exemplar zu haben.
Der jetzige Verleger hat selbst das Verdienst, eine
Neuauflage anzuregen und ohne Rücksicht auf die
Kosten würdig zu gestalten; nach So vielen Jahren
konnte ich nicht daran denken, die grosse, dem mir
befreundeten Verfasser zum Teil unbekannte Anzahl
einschlägiger Arbeiten, die seit 18094 in Deutschland
auf diesem Gebiete erschienen sind, völlig in meine
zweite Ausgabe hineinzuweben; €S seien nur die Namen
von Mozgıvs, MoLL, HELENE LANGE, ELLEN KEY, HELENE
Stöcker, Eueen Dünrıne, LıLLY BRAUN, SCHULTZE-NAUMBURG
und-— last not least — C. H. StrAtz genannt, als die
von Pionieren in vielen Provinzen des Gebiets, schliess-
lich der von KARL BÜCHER.
VORREDE DES HERAUSGEBERS.,
XV
Ich habe mich darauf beschränkt, unter besonderer
Berücksichtigung der psychologischen und der wirt-
Schaftsgenetischen Forschung, in von mir zumeist mit
K. gezeichneten Bemerkungen (oder Zusätzen im Text)
auf das allerwichtigste Neue hinzuweisen; dabei ist
allerdings die zweite Auflage um mehr als 130 Seiten
umfangreicher geworden, als die erste.
In dem Bestreben, nach 14Jähriger Ruhe das
Wiedererwachen dieser Ideenwelt nicht mehr als nötig
zu verzögern, habe ich ‘die statistischen Teile des
Kapitel XV, welche sich auf Geisteskrankheiten und
Kriminalität beziehen, unverändert gelassen; als Psy-
Chiater und Kriminalist von Fach hätte ich sonst diese
Paragraphen auf Grund der deutschen, österreichischen
und italienischen Irren- und Kriminalstatistik völlig um-
arbeiten müssen, was ohne zeitraubende Ermittelungen
und erhebliche Umfangsvermehrung kaum möglich ge-
wesen wäre, Während ich sonst für den Inhalt des
Buchs auch in allen Einzelheiten die volle Verantwor-
tung übernehme, konnte ich die verantwortliche Revision
dieser wenigen Paragraphen nicht übernehmen.
_ Möge meine Arbeit auch dazu beitragen, die gei-
Stige Gemeinschaft zwischen den beiden grossen Kultur-
völkern, denen Autor und Herausgeber angehören, so-
weit das davon zu erwarten ist, zu befestigen, . beson-
ders in Kopf und Herz der deutschen Frauen, deren
fortschreitender Emanzipation von alten einschränken-
den und neuen entwurzelnden Vorurteilen meine nicht
Sanz mühelose Mitarbeit an diesem Werke gewid-
Met ist.
Bonn, Ostern 1900.
Hans Kurella.
Inhaltsverzeichnis.
I. Kapitel.
Einleitung.
Seite
Die primitiv& Arbeitsteilung unter den Geschlechtern. —
Der Mann hauptsächlich Krieger, '’ die Frau hauptsäch-
lich Handarbeiterin. — Bei Naturvölkern steht das
Weib wirtschaftlich nicht unter dem Manne. — Die tech-
nische Arbeit des Weibes wird vom Manne allmählich
erst geteilt, dann von ihm monopolisiert. — Die Stel-
lung des Weibes im Zeitalter des Barbarismus und im
Mittelalter; ihre Ursachen. — Das physiologische? My-
sterium der Weiblichkät. .
II; Kapitel.
Formulierung des Problems der sekundären
Geschlechtsmerkmale.
Die Definition der sekundären Geschlechtsmerkmale. —
Tertiäre Geschlechtsmerkmale. — Der Massstab der
Vergleichung. — Der infantile und der senile Typus. —
Die menschenähnlichen Merkmale junger Affen. — Die
Stellung der niederen Menschenrassen. — Fehlerquellen.
Lücken des Tatsachenmaterials und der Erkenntnis -
2
IL Kapmitel.
N Wuchs und Proportionen des Körpers.
Allgemeine Merkmale der männlichen. und der weiblichen
Gestalt. — Grösse bei der Geburt. — Die stärkere Ent-
wicklung der Mädchen in der Pubertät. — Unterschiede
INHALTSVERZEICHNIS
XVII
Seite
des Wuchses bei Erwachsenen. — Bedeutung des Ge-
wichts. —. Der Bauch. — Die Brüste. — Der Brust:
korb. — Der Arm. — Die Hand. — Der Zeigefinger,
Das Bein. — Der Fuss. — Die Zukunft der kleinen Zehe.,
— Aligemeine Schlussfolgerungen
26
IV. Kapitel.
Das Becken.
Das Becken als das fundamentalste der sekundären Ge-
Schlechtsmerkmale. — Sein Bau; sein Verhalten im kind-
lichen Alter. — Beziehung zur Wirbelsäule, — Einfluss
der aufrechten Körperhaltung. — Beckenneigung. —
Der Sattelrücken. — Die Entwicklung der menschlichen
Wirbelsäule. — Nachteile der aufrechten Körperhaltung.
=— Die Frau führt die Entwicklung bezüglich des Beckens.
— Die Entwicklung des Beckens in Beziehung zur Ent-
Wicklung der sexuellen Affekte . .
64
V. Kapitel.
Der Kopf.
Der Ss . . . —_ Di H t-
ch .— Sein Verhalten beim Kinde., je Haup
Ursache der sexuellen Unterschiede am Schädel. —
Fr ühere Ansichten. — Die drei Hauptunterschiede der
Schädel beider Geschlechter. — Unwesentliche Unter-
Schiede, — Der Schädel-Index. — Das Gesicht. — Ge-
Schlechts-Unterschiede in der Entwicklung des Gesichts.
— Das Auge. — Der Gesichtswinkel, — Der Unter-
kiefer, — Die Zähne. — Die Schädel-Kapazität. — Ge-
SChlechtsunterschiede in der frontalen, parietalen und
OKZipitalen Schädelregion. — Der Schädel des Mannes
nähert Sich dem senilen, der des Weibes dem infantilen
YPuS, — Das Gehirn. — Unterschiede im Gehirn-
imst — Hirngewicht Irrer. — Die Normen des
eh SSWichts, Körperlänge und Körpergewicht. —
FehlSchlüsse,_ Das weibliche Gehirn ist relativ grösser
als das des Mannes. — Vorteile und Nachteile eines
groSsen Gehirns, _. Geschlechtsunterschiede in der Ge-
hirnentwicklung, Geschlechtsunterschiede in den fron-
talen, Parletalen ung okzipitalen Regionen des Gehirns.
„= Die Blutversorgung des Gehirns. — Das Kleinhirn
und andere Subkortikale Zentren. — Endergebnisse der
Untersuchungen über die Geschlechtsunterschiede am
Gehim . . +...
Ellis, Mann u. Weib. 2, Aufl.
IT
84
XVII
INHALTSVERZEICHNIS.
Seite
VI. Kapitel.
Die Sinne.
Der Tastsinn. — Die Untersuchungen von LoMBRoso,
JASTROW, GALTON, MARRO U. a. — Der feinere Tastsınn
des Weibes. — Die Erziehbarkeit des Tastsinns. —
Die Schmerzempfindung. — Die Untersuchungen
von JASTROW, GILBERT, GRIFFING U. 2. —- Die Kompli-
ziertheit der Frage. — Die Disvulnerabilität bei Wilden,
Kindern und vielleicht bei Frauen. — Der Geruch.
— Versuche von NıcHoLs und BAILEY, ÖTTOLENGHI,
GARBINI, MARRO U. 8. — Verschiedenheit der Schluss-
folgerungen. — Der Geschmack. — Untersuchungen
von NıcHoLs und BAILEY, OTTOLENGHI, TOULOUSE u. a.
_— Der Geschmackssinn ist beim Weibe feiner. — Das
Gehör. — Der unzureichende Stand der Prüfung der
Gehörschärfe des gesunden Ohrs. — Die untere, und
obere Hörgrenze liegen beim Manne wahrscheinlich
weiter voneinander. — Das Gesicht. — Blindheit ist
beim Manne häufiger. — Unbedeutendere Sehmängel
sind beim Weibe häufiger. — Es besteht kein ausge-
prägter Geschlechtsunterschied bezüglich der Seh-
Schärfe. — Farben-Empfindung und Farbenblindheit. —
Farbenblindheit ist beim Weibe sehr selten. — Sie ist
auch bei Wilden selten. — Die audition coloree.
— Diese und verwandte Erscheinungen sind beim
Weibe und Kinde häufiger als beim Stanne. — Ver-
wechslung von Sensibilität und Affektabilität . .
Die
Die Bewegungsfunktion.
VI. Kapitel.
Muskelkraft. — Die geringere Grösse der weiblichen
Gelenke. — Die Versuche Rıccarpis über die Errei-
chung der maximalen Kraftleistung. — Die Reaktionszeit.
— Die geringere Bewegungsfrequenz beim Weibe. —
Bryans Versuche über die Bewegungsfrequenz. — Sel-
tenheit weiblicher Akrobaten. — Die Frauen und das
Training. — Geschlechtsunterschiede in der Feinheit
der willkürlichen Bewegungen. — Die Telegraphistinnen.
— Die Handschrift. — Die geringere Muskelkraft des
Weibes ist wahrscheinlich eine organische Eigenschaft.
— Die manuelle Geschicklichkeit. — Die Ansichten der
Schullehrer. — Die allgemeine Meinung von der ge-
ringeren manuellen Geschicklichkeit des Weibes. —
Die Leistungen der Frauen in verschiedenen Gewerben.
— Sensorische Urteile. — Die Erfahrungen im Ge-
Seite
INHALTSVERZEICHNIS.
schäftsleben. — Verschiedene Versuche. — Frauen sind
wahrscheinlich ebenso zu genauen sensorischen Urteilen
befähigt, wie Männer . .
XIX
Seite
185
VIEL Kapitel.
Die intellektuelle Begabung.
Es gibt kein rein abstraktes Denken. — Die Schwierigkeit
der genauen Untersuchung intellektueller Prozesse. —
JastRows Enquete über Gedanken-Gewohnheiten und
Assoziationen. — Das Gedächtnis. — Die Geschwindig-
keit der Auffassung. — Frauen lesen schnell. — Der
weibliche Mutterwitz. — Die weibliche Tendenz zur
List und ihre Folgen. — Die grössere Frühreife der
Mädchen. — Das Betragen. —- Pubertät und geistige
Aktivität. — Technische und wirtschaftliche Fähigkeit.
— Die Erfahrungen der .Postverwaltung. — Das ab-
strakte Denken. — Die grössere Unabhängigkeit des
Mannes. — Frauen als Philosophen und Mathematiker.
— Die Religion. — Frauen als Sekten-Stifter. — Der
Beitrag der Frauen zur Gestaltung der katholischen
Kirche. — Die Politik. . . .
214
IX. Kapitel.
Der Stoffwechsel. ,
Das Blut Di .
reicher. BD ie roten Blutkörperchen beim Manne zahl-
— Dar s ES ämoglobinmenge beim Manne grösser.
sexuelle te sche Gewicht beim Manne höher. — Die
dem Erscp nterschiede bezüglich des. Blutes fallen mit
der Hansen der Pubertät zusammen. — Ansteigen
höheren A Obinmenge des Blutes beim Weibe im
höher bei klaan je Pulsfrequenz. — Sie ist immer
schlechtsunte rent als bei grossen Säugetieren. — Ge-
anderen Arten ede bei der Species Homo und bei
die Grössenunters, Sie sind nicht merklich grösser, als
Run — Dis virschiede erwarten liessen, — Die At-
"Der Mann sch e Kapazität beim Manne viel grösser.
kostale Atmung u mehr Kohlensäure aus. —. Die
Manne. — Neuere On Weibe, die abdominale beim
Geschlechtsuntersch; tersuchungen zeigen, dass dieser
eretiert nicht bei I. durchaus künstlich ist. — Er
u Kragen, die: kein en der Naturvölker und nicht
Den rorsetts. — Sein Arseft tragen. — Der Ursprung
Des Or Die Entwickl influss auf die Tätigkeit der
. ung des Brustkastens. — Seine
IL*
INHALTSVERZEICHNIS,
Beziehungen zur Schwindsucht. — Kein Geschlechts-
unterschied bezüglich der Temperatur nachweisbar. —
Die Absonderungen. — Die Urinmenge ist beim
Weibe wahrscheinlich grösser, die Harnstoffmenge ge-
ringer. — Besondere auf das Weib wirkende Einflüsse.
— Empfänglichkeit für Gifte, — Geschlechtsunter-
schiede in der elektiven Wirkung der Gifte auf be-
stimmte Organe. — Arsenik. — Opium. — Quecksilber.
— Spezielle sexuelle Empfänglichkeit für Gifte. —
Chloroform. — Blei: — Alkohol, das beste Beispiel der
elektiven sexuellen Wirkung auf das Nervensystem. —
Er wirkt beim Manne mehr auf das Gehirn, beim Weibe
auf das Rückenmark. — Haar- und Pigmentbil-
dung. — Geschlechtsunterschiede in der Verteilung
der I iaare. — Augen und Haar sind beim Weibe wahr-
scheinlich dunkler. — Mögliche vorteilhafte Wirkungen
dieser Verteilung . . .
Seite
253
X. Kapitel.
Die inneren Organe.
Psychologische Bedeutung der Eingeweide. — Die Schild-
drüse und ihre verschiedenen Zustände beim Weibe.
— Die BAsedDowsche Krankheit und die Physiologie
des Schrecks. — Kehlkopf und Stimme. — Beziehung
der Stimme zu den Genitalien. — Herz. — Lunge. —
Magen. — Verdauung. — Leber. — Milz. — Nieren.
— Harnblase: — Die emotionelle Bedeutung der Ein-
geweide . .
200
XI. Kapitel.
Der periodische Verlauf der weiblichen Lebens-
funktionen.
Die
Phänomene der Menstruation. — Ihr Ursprung. — Die
Annahme einer natürlichen Invalidität des eibes —
Der zyklische Verlauf des weiblichen Lebens. — Die
Beteiligung verschiedener Organe an dieser Funktions-
Schwankung: Das Herz, das Auge usw. — Die beson-
deren physischen .und en Phänomene des
Gipfels der Menstruations- elle. — Ihre Steigerung
bei schlechter Gesundheit. — Die wissenschaitliche,
soziale und jemals Bedeutung .der Periodizität der weib-
lichen Lebensfunktionen 2... + 2. Sa
313
INHALTSVERZEICHNIS.
XXI
Seite
XN. Kapitel.
Hypnotische Erscheinungen und verwandte
unbewusste Phänomene,
Hynotische Erscheinungen und verwandte unbe-
wusste Phänomene. — Umfang der zu behandeln-
den Erscheinungen. — Somnambulismus: — Mesmeris-
mus. — Hypnotismus. — Ekstase. - Verzückung. —
Katalepsie. — Magische Phänomene. — Die Frauen und
der Mystizismus. — Die Träume. — Bedeutung der
weiblichen Träume bei Naturvölkern; im Mittelalter. —
Resultate von HEERWAGEN, JASTROoW und CHmD. —
Wachhalluzinationen, — Untersuchungen von Sınc-
wıck. — Die Wirkung der Anästhetika. — Lach-
gas. — Beobachtungen SızLks. — Abnorme Erschei-
nungen während der Narkose bei Frauen häufiger. —
Meteorologische Sensibilität. — Selbstmord. —
Geistesstörung. — Periodizität des Wachstums. — N eur-
asthenie und. Hysterie. — Beide bei Frauen
häufiger. — Beschreibung der Neurasthenie. — :Defini-
tion der Hysterie. — Ihre Merkmale. — Suggestibilität.
— Relative Häufigkeit dieser Erkrankung bei beiden
Geschlechtern. — Kelisibs-hypna tische Phäno-
mene. — Natur der von den Frauen in den religiösen
Bewegungen gespielten Rolle. — Shaker, Theosophen,
Tanzwut, Camisarden. — Moderne hysterisch-religiöse
Epidemien: Christen. — Skopzen. — Analoge Phäno-
mene bei Naturvölkern. — Ihre Natur und Entstehung
333
XII. Kapitel.
Die Emotivität des ‚Weibes.
Die Emotivität des Weibes. — Was ist eine Gemüts-
bewegung? — Die grössere vasomotorische Erregbarkeit
des Weibes, — Physiologische und pathologische Belege.
— Der Herzschlag, — Die Epilepsie. — Das Erröten. —
Affektabilität des Muskelsystems. — Der Gesichtsaus-
druck. — Die Blase, — Die Schreckdisposition. — Frauen
erkranken leichter infolge von Affekten. — Zerstörungs-
trieb. — Zuchthausknall. — Die konstitutionelle Er-
schöpfbarkeit des Weibes, — Die Vorteile der weib.
lichen Emotivität. — Anämie und Emotivität. — Soziale
undforganische Faktoren der grösseren Emotivität des
eibes . . ..
380
XXX
INHALTSVERZEICHNIS,
XIV. Kapitel.
Die künstlerische Begabung.
Das Gewerbe ist weiblichen, die Kunst männlichen Ur-
sprungs, — Die Töpferei. — Tättowierung. — Malerei.
— Musik. — Gründe der Bern weiblichen Erfolge
in der Musik. — Metaphysik. — Mystizismus. — Poesie.
— Der Roman. — Gründe des weiblichen Erfolges im
Romane. — Die grössere schauspielerische Begabung
des Weibes. — Der’ stärkere künstlerische Impuls des
Mannes und seine Ursachen . .
Seite
A00Q
XV. Kapitel.
Die Psychopathischen Erscheinungen.
er Selbstmord. — Faktoren der Selbstmordziffer der
Geschlechter in Europa. — Einfluss des Alters. — Ur-
sachen des Selbstmordes. — Methoden des Selbst-
mordes. — Der Mann bevorzugt ‘aktive, das Weib
passive Methoden, — Bedeutung der Rasse für sexuelle
Unterschiede des Selbsmordes. — Die Geistesstö-
rungen. — Statistik. — Ätiologie... — Formen der
Geistesstörung. — Zunahme des Alkoholismus und .der
progressiven Paralyse. — Die progressive Paralyse als
typisch männliche Psychose. — Geistesstörungen und
Pruillsation. — Kriminalität. — Schwierigkeiten einer
Kriminologie, — Gründe ‘der geringeren weiblichen
Kriminalität. — Die besonderen Formen der weiblichen
Kriminalität. — Kriminalität und Zivilisation . .
D
XVI. Kapitel.
Die Variabilität bei den Geschlechtern.
meisten Anomalien sind beim Manne BE — Der
Einfluss des Beckens wirkt zugunsten der Mittelmässig-
keit. — Totgeborene Kinder. — Die Häufigkeit ange-
borener Missbildungen bei beiden Geschlechtern. — Die
Muskelabnormitäten. — Das Ohr und seine Anoma-
lien. — Psychische Anomalien, Idiotie, Genie etc.
— Vielleicht sind die primitiveren Rassenelemente inner-
halb einer Bevölkerung durch die Frauen deutlicher
vertreten. — Frauen neigen mehr als Männer dazu,
alte Gewohnheiten und alte Denkweisen zu bewahren.
— Der organische Konservatismus der Frauen. — Die
Variabilität und die PEArsonsche Biometrik. — Vorteile
dieser sexuellen Differenzierung . . . . .
Die
427
463
INHALTSVERZEICHNIS.
XXI
Seite
XVII. Kapitel,
Natalität und Mortalität.
Die Geburtlichkeit der Knaben ist höher als die der Mäd-
chen. — Ihre Sterblichkeit ist noch grösser. — Ursachen
der grösseren männlichen Sterblichkeit. — Die Wider.
standsfähigkeit der Frauen gegen Krankheiten. — Mor-
talität von Scharlachfieber, Pocken, Influenza u. a. —
Der moderne Rückgang der Sterblichkeit ist vorwiegend
den Frauen zugute gekommen. — Die grössere Lang-
lebigkeit der Frauen. — Die charakteristischen Zeichen
des hohen Alters sind bei Frauen weniger ausgeprägt.
— Die grössere Tendenz zum plötzlichen Tode beim
Manne. — Die Zähigkeit des Weibchens als zoologische
Tatsache. . .
505
XVII. Kapitel.
Zusammenfassung und Schluss.
Tragweite der gewormenen Resultate. — Kindlichkeit der
weiblichen Örganisation. —- Das Weib ist nicht nur ein
unentwickelter Mann. — Das Kind repräsentiert einen
höheren Entwicklungsgrad als der Erwachsene. — Der
menschliche Fortschritt ist eine Entwicklung im Sinne
der Jugendlichkeit. — In mancher Beziehung ist er eine
Annäherung an den weiblichen Typus. — Die Absur-
dität der sogenannten Superiorität eines Geschlechts. —
Die Geschlechter halten einander vollkommen das
Gleichgewicht. — Notwendigkeit sozialer Ausgleiche.
Wir dürfen diesem Ausgleich mit Ruhe entgegensehen
Verzeichnis der zitierten Autoren
Sachregister . .
520
534
545
I. Kapitel.
Einleitung.
Die Primitive Arbeitsteilung unter den Geschlechtern. — Der Mann
Be«Ptsächlich Krieger, die Frau hauptsächlich Handarbeiterin, —
Ve Naturvölkern steht das Weib wirtschaftlich nicht unter dem
ade. — Die technische Arbeit des Weibes wird vom_Manne
A Mählich erst geteilt, dann von ihm monopolisiert. — Die Stellung
Weibes im Zeitalter des Barbarismus und im Mittelalter; ihre
Ursachen. — Das physiologische Mysterium der Weiblichkeit,
u. »Der Mann jagt, fischt, kämpft und sitzt herum“,
&.Ste einst ein uetralischer Kurnai*), „das Übrige ist
“Che der Weiber“. Dieser Ausspruch enthält eine
a Sezeichnete Definition der sexuellen Arbeitsteilung,
R3: Man unter ganz primitiven Völkern, unabhängig von
hrima und Rasse, bei den Eskimos in ihren Schnee-
harten Sowohl, wie auf der andern Hälfte des Erdballs
1 den Australiern, findet?). Alle diejenigen Aufgaben,
Roche eine kraftvolle Entwickelung der Muskeln und
; Nochen und eine daraus resultierende Fähigkeit zu
a}. rmittierenden heftigen Anspannungen der Energie,
a Wechselnd mit Zeiten der Ruhe voraussetzen, fallen
nn Manne zu; die Sorge für die Nachkommenschaft
Sr, sowie all die mannigfachen. mit dem Hauswesen
N Fison and Howitt, Kamilaroi and Kurnai. Melbourne 1880.
States) Siehe z. B.: H. H. BAncrorrT, Native Races of the Pacific
Ellis, Mann und Weib. 2. Aufl.
A
EINLEITUNG.
zusammenhängenden Arbeiten, zu denen eine bei der
einzelnen Verrichtung weniger intensive, dagegen mehr
anhaltende Leistungsfähigkeit gehört, sind Sache des
Weibes,
Dies ist die allgemeine Regel, von der es indessen
sehr zahlreiche Ausnahmen gibt. So waren z. B. bei
den Similkamin- Indianern von Britisch Columbia —
nach den Berichten der Mrs. ALLISON, die ihre Lebens-
gewohnheiten genau kennt, — „die Weiber früher fast
ebenso gute Jäger wie die Männer“, gaben aber, um
sich in den Augen der weissen Ansiedler nicht lächerlich
zu machen, die Sitte des’ Jagens ganz auf?!). Bei den
Yaghan in Feuerland ist das Fischen ausschliesslich
Sache der Frauen®); ebenso ist es bei den Tasmaniern,
— vielleicht der tiefstehendsten Rassen, die wir kennen,
— wo allein die Weiber nach Fischen tauchen und auf
der Jagd nach Opossums den hohen, glattstämmigen
Gummibaum erklettern®). In allen Teilen der Welt, in
Australien und Afrika sowohl, als bei den alten Celten,
Germanen und Slawen haben die Frauen, wenn es not-
wendig war, ja in manchen Stämmen auch habituell am
Kriege teilgenommen. Im allgemeinen jedoch bleiben
die gefahr- und mühevollen Aufgaben des Krieges und
der Jagd, die in frühen Kulturepochen von so grosser
Bedeutung sind, dem Manne überlassen*). Diesen letzt-
genannten Beschäftigungen reiht sich der Tanz an, der
näher, als man auf den ersten Blick glauben sollte, mit
1) ArLıson, Similkameen-Indians. (Journal Anthropological
Institute. Febr. 1892, p. 307.) Sn ,
2) P. HyaADzs et J. DEnikErR, Mission Scientifique du Cap
Horn. Bd. VIL Paris 1891.
3) BACKHOUSE, zitiert von LIinG RoTH, Tasmanier, e&: 16.
4) Wie die von Tacitus geschilderten Frauen der Germanen
begleiteten auch die der irischen Celten ihre Männer in die Schlacht;
erst ein gegen Ende des siebenten Jahrhunderts erlassenes Ge-
setz machte diesem Brauche ein Ende. In dem grossen irischen
Heldenbuche, CUCHULAIN of MUIRTHEMNE, lernt CUCHULAIN die
Führung der Waffen von einer Kriegerin, und Königin Avife wird
darin als eine kriegerische Frau geschildert, die ihre beiden
Sn Dane , ihren Streitwagen und den Wagenführer über
alles liebt.
EINLEITUNG,
3
Krieg und Kampf zusammenhängt, indem er einerseits
die erforderliche Körpergewandtheit steigert und an-
dererseits das Gemüt des Betreffenden in einen für den
Krieg günstigen Zustand hoher Erregung bringt. Die
mehr einfache Tätigkeit des Weibes würde auch durch
starke Stimulantien eher geschädigt als gefördert werden.
Bei den Indianern von Guyana finden wir — nach
den Berichten eines sorgfältigen und liebevollen Beob-
achters!) — das typische Bild der sexuellen Arbeits-
teilung bei einer Rasse, die noch wenig Fortschritte in
der Kulturepoche der Barbarei gemacht hat: Die Männer
jagen, fällen die Bäume da, wo Cassava gepflanzt wer-
den soll, und säubern das Feld. Ist das geschehen, dann
wird von den Weibern gepflügt, gesäet und alle übrige
Arbeit getan. Der Ackerbau liegt ausschliesslich in
ihren Händen. Sie sind, wenn überhaupt, doch nur wenig
schwächer als die Männer und arbeiten von früh bis
spät, während die Männer viel in ihren Hängematten
liegen und rauchen. Im übrigen werden sie von den
Männern durchaus nicht grausam oder hart behandelt,
Die Töpferei wird ausschliesslich von den Frauen be-
sorgt, während die Männer in der Korbflechterei be-
sonders geschickt sind; sowohl Männer wie Frauen
spinnen und weben. Wenn wir uns nun dem Innern
eines anderen Erdteils zuwenden, so finden wir‘: im
östlichen Zentralafrika eine ganz ähnliche Arbeits-
teilung. „Die Arbeit liegt grösstenteils den Frauen ob
das ist durchgehends die Regel. Sie beackern das Feld,
säen das Korn ein und ernten die Frucht. Auch müssen
sie das Haus bauen, Getreide mahlen, Bier brauen,
kochen, waschen und überhaupt für das leibliche Wohl
der Familie sorgen, Die Männer besorgen das Vieh,
gehen auf die Jagd und führen Krieg. Sie verrichten
auch alle Schneiderarbeit und bringen viel Zeit damit
Zu, zusammenzusitzen und über öffentliche Angelegen-
heiten Rat zu halten“ 2).
ZZ
1) EvErRARD Im Thurn, Among the Indians of Guiana. 1883,
?) James MACcDonALD, East-Central-African Customs (Journ.
Anthropol. Institute, August 1892, p. ro2); für ein anderes Bei-
4 ab
EINLEITUNG.
Während bei allen primitiven Völkern die Männer
zu denjenigen Arbeiten sich am besten eignen, die
kurze, aber intensive Muskelanstrengungen erfordern,
sind die Frauen mehr befähigt zu anhaltender, aber
mehr passiver Energieentfaltung; so sind Frauen überall
die ersten Lastträger. Unter den Andombies, am Kongo,
haben, nach H. H. JomxsTone, die Frauen hart zu arbeiten
und schwere Lasten zu schleppen, führen jedoch ein
ganz glückliches Leben. Sie sind oft kräftiger als die
Männer, besser. entwickelt und sollen oft geradezu herr-
liche Gestalten besitzen. Von den Manyuema des
Arruwimi, in derselben Gegend, sagt PARKE: „es sind
schöne Geschöpfe, besonders sind die Frauen sehr
hübsch, und können ebenso schwere Lasten tragen wie
die Männer“ 1),
In Nordamerika sagte ein Indianer-Häuptling zu
HEaArne: „Die Weiber sind zur Arbeit geschaffen, eine
von ihnen kann so viel tragen oder heben, wie zwei
Männer“ 2),
SCHELLONG, der die Papuaner in dem deutschen
Schutzgebiet von Neu-Guinea vom anthropologischen
Standpunkte aus sorgfältig untersucht hat, fand die
spiel sexueller Arbeitsteilung bei einem primitiven Volke siehe
Brof. HADDons interessanten Bericht: „Ethnography ofthe Western
Tribes of Torres Straits“ (Journ, Anthrop. Inst. Februar 1890,
P- 342), „die Männer fischen, kämpfen, bauen Häuser, verrichten
etwas Gartenarbeiten, machen Fischnetze, Angelhaken, Speere etc.
und fertigen den Kopfputz, die Tanz Masken und andere zu ihren
verschiedenen Zeremonien notwendigen Requisiten an. Sie voll-
führen alle Riten und Tänze, und tun noch ein Übriges in auf-
und abstolzieren: ausserdem backen und spinnen sie, Die Weiber
kochen und bereiten das Mahl, verrichten die Hauptfeldarbeit,
Sammeln Muscheln, spiessen an den Küsten Fische, machen Klei
der und flechten Körbe und Matten“.
ı) T.H. PArke, Experiences in Equatorial Africa. 1891. PD. 344.
*) HEArRNe, zitiert von BANCROFT „Native Races. etc.“, Bd. I,
b 117, der Häuptling fügte noch hinzu: „Sie bauen auch unsere
elte, machen unsere Kleider und bessern sie aus, und sorgen
dafür, dass wir es des Nachts warm haben ; mit einem Wort, es
gibt hier zu Lande nichts, wenn man auch weit und breit herum-
reist, wobei wir ihre Hilfe entbehren könnten“.
EINLEITUNG.
3
Frauen stärker gebaut, als die Männer!). In Zentral-
australien kommt es gelegentlich wohl vor, dass Männer
ihre Frauen aus Eifersucht schlagen, aber bei solchen
Anlässen ereignet es sich nicht selten, dass die Frau
sich revanchiert und ohne Beihilfe dem Manne eine
tüchtige Tracht Schläge verabfolgt; In Kuba fochten
die Frauen an der Seite der Männer und erfreuten sich
einer grossen Unabhängigkeit. Bei einigen indischen
Rassen, sowie bei den Pueblos Nordamerikas und den
Patagoniern sind die Frauen ebenso gross, wie die
Männer, und auch bei den Russen besteht, was Körper-
länge anbetrifft, kein so grosser Unterschied zwischen
den Geschlechtern, wie bei Engländern oder Franzosen ?).
Die militärische Seite der primitiven Kultur ist das
Gebiet des Mannes, die wirtschaftliche das des Weibes.
Das charakteristische Werkzeug der Frau ist nicht die
Waffe, sondern das von densEskimos „ulu‘“ d. h. Weiber-
messer genannte Messer, das bei Naturvölkern zu allen
erdenklichen Zwecken dient und auch bei unsern
euröpäischen Frauen noch in der Form des kleinen
Küchenmessers fortlebt®. Der Mann unterzieht sich
der mühevollen Arbeit des Jagens, und wenn er das
Wildpret der Frau vor die Füsse geworfen hat, so ist
Sein Tagewerk getan. Das Zurichten und Kochen ist
ihre Sache, ebenso das Herstellen der Gefässe, in
denen gekocht wird. „Sie muss die Häute und andere
Überreste verwerten, denn :alle bei Herstellung der
Kleidung nötigen Arbeiten sind ebenfalls grösstenteils
ihre Aufgabe“ 4.
1) SCHELLONG, Beiträge zur Anthropologie der Papuas, Zeit-
schrift für Ethnologie, Heft IV, 1891, p. 173- ,
2) H. SCHAAFFHAUSEN, Die beiden menschlichen Geschlechter,
Anthrop. Studien. Bonn 1885. . ;
3) Siehe die ausgezeichnete Studie von Prof. OrtIs I. MAson
„The Ulu, or Womans knife of the Eskimo“. (Report of the
United States National-Museum, 1890.) .
4) Auch hier, wie überall, gibt es Ausnahmen. Im östlichen
Zentral-Afrika z. B. nähen die Männer ihre eigenen Kleider und
die ihrer Frauen, und sie machen ihre Sache gut. „Akkuratere
Schneider als die Afrikaner könnte man kaum irgendwo- finden“,
EINLEITUNG.
Die Zähmung der Haustiere liegt für gewöhnlich
in den Händen der Frauen, ebenso sind sie fast überall
die ersten Baumeister; in den verschiedensten Teilen
der Welt, bei Kaffern, Polynesiern, Kamtschadalen
und Feuerländern, wird die Hütte von Frauen erbaut.
Ebenso gehört der Ackerbau, wenn auch dem Manne
der rauhere und schwerere Teil der Urbarmachung des
Bodens zufällt, in das Arbeitsgebiet des Weibes, und
selbst heutzutage, in unserem hochzivilisierten Europa
behauptet sie diese Stellung; so sind in Italien von elf
Millionen Frauen im Alter von über neun Jahren mehr
als drei Millionen "beim Ackerbau tätig, Die Töpferei
lag ursprünglich ganz in den Händen der Frauen, und
heutzutage noch lernen in Europa, in Jütland, die Mäd-
chen das Formen von Töpfen!). In ihrer Eigenschaft als
die ersten Töpfer bahnten die Frauen der dekorativen
Kunst ihren Weg, wenn sie selbst auch nie über die
ersten Anfänge derselben hinausgingen. Das keinen
praktischen Wert besitzende Ornament hat, wie es
scheint, gewöhnlich den Mann zum Urheber?). Auch die
Zubereitung berauschender Getränke scheint eine Erfin-
dung der Frauen zu sein. Mag man über die alte hebrä-
ische Mythe, nach welcher das Weib die den Gärungs-
stoff enthaltende Baumfrucht gepflückt hat, denken wie
man will, die alte nordische Legende stellt jedenfalls
das Weib als die Erfinderin des Bieres hin 3),
sagt TAyLOr. Die Näherei gilt hier so durchaus als Männerarbeit,
dass sich eine Frau von ihrem Manne scheiden lassen darf, wenn
sie einen ungestopften Riss in ihrem Rocke nachweisen kann.
MacpDonaLD, East Central African Customs (Journ, Anthrop. Instit,
August 1892, pp. 102—110).
1) Siehe: HeEın, Altpreussische Wirtschaftsgeschichte bis zur
Ordenszeit. (Zeitschr. für Ethnologie. 1890, Heft V, S. 204.) Einen
Bericht über die primitive Töpferarbeit der Frauen siehe: Man,
Nicobar Pottery (Journ. Anthrop. Institute, August 1893).
?) Im THURN berichtet, dass in Guiana, wo die Töpferei aus-
schliesslich in Händen der Frauen liegt, doch die Ornamente an
den Gerätschaften eben so häufig von Männern als von Frauen
angebracht werden. .
83) „Magic songs of the Finns.“ Folk-Lore, März 1802.
EINLEITUNG,
In vielen Fällen sind die Frauen die Ärzte der
Urzeit gewesen!). Indessen ist das nicht allgemein der
Fall, denn in früheren Kulturepochen hing Medizin-
Zauber und Priestertum zusammen und letzteres lag
immer hauptsächlich in der Hand der Männer, welche
durch Stimulantien verschiedener Art, durch die Ab-
wechslung von Fastenzeiten und Orgien, durch ihre
langen Wanderungen und die Zufälle der Jagd und des
Krieges, mit den krankhaften geistigen Erscheinungen,
mit dem „Übernatürlichen“ in der Natur besser bekannt
Waren.
In Folgendem gebe ich eine Stelle aus dem an-
schaulichen Bericht von Ortis T. Mason (Kurator der
ethnologischen Abteilung des United States National
Museum) über weibliche Industrie bei primitiven Völkern
wieder. Er bezieht sich hauptsächlich auf diejenigen
Naturvölker, über die wir am besten unterrichtet sind,
nämlich die Indianer-Stänme Nordamerikas. (American
Antiquarıan, Januar 18809): „Folgen wir der Frau des
Wilden bei ihren täglichen Verrichtungen, um die Rolle
zu verstehen, die ihr auf so niedriger Kulturstufe zu-
fällt. Der Augenblick, wo das erlegte Tier vor ihre
Höhle, ihre Buschhütte, ihr Wigwam geworfen wird,
mag der Ausgangspunkt der Untersuchung sein. Sie
schlägt sich einen scharfen Feuersteinsplitter ab, den sie
als Messer verwendet, und wird so der erste Messer-
Schmied, der wahre Begründer von Sheffield. Mit
diesem Messer nun häutet sie das Tier sorgfältig ab,
wobei sie sich nicht träumen lässt, dass sie dadurch
zum Schutzpatron aller künftigen Fleischer wird. Dann
rollt sie das Fell auf, räuchert es, klopft es, bearbeitet
es mit Knochen- und Steingeräten, unter viel Mühe und
Schweiss, bis sie sich mit Stolz den ersten Gerber
nennen kann, Mit Nadeln, die aus Knochen, mit Fäden,
die aus Sehnen hergestellt sind. und einer Scheere aus
zZ
| ı) So fand Mrs. Bısmor, dass bei den Kurden die Frauen
allein medizinische Kenntnis besassen; sie waren die erblichen
„Hakims“. („Journeys in Persia and Kurdistan.“ 1891.) Siehe
auch: M. BArRTELS, Medizin der Naturvölker. Leipzig 1893, 5. 52, 53-
EINLEITUNG.
Feuerstein verfertigt sie mit grosser Mühe aus dem harten
Leder die Kleidung für ihren Gebieter, für sich und die
Kinder; kein Schild ist über der Hüttentür, aber da-
rinnen wohnt der erste Schneider. Aus besonders zu-
bereitetem Leder schneidet und näht sie die Mokassins
für ihren Mann. Mit kleinen Stückchen Pelz und Federn,
mit bunten Muscheln, Steinchen oder kleinen Samen-
körnern putzt sie Puppen aus für ihre Kinder. Mit
den Überresten des Leders macht sie den Kopfputz für
das nächste Tanzfest, oder sie schmückt die Wände
ihrer armseligen Wohnung damit aus und schafft mit
einem Schlage ein Dutzend moderner Industriezweige;
sie ist Spielzeugfabrikant, Putzmacherin, Modistin, Hut-
macher, Tapezierer und Dekorateur zugleich, Sie war
und ist noch der Koch für Alle, sorgt dafür, dass die
Nahrungsmittel nicht verderben und konserviert das
Leben des Mannes, Aus den Knochen des Tieres
endlich macht sie Nadeln und Schmucksachen, aus dem
Gras, das ihre Hütte umgibt, flicht sie Matten für den
Fussboden, Matratzen, Körbe, Taschen, Segel. Sie ist
die Mutter aller Spinner, Weber, Tapezierer und Segel-
macher, Indem sie verschiedene Stiche erfindet, und
bald hier, bald da ein klein wenig schwarz oder blau,
gelb oder rot in ihrem Geflecht anbringt, wird sie der
erste dekorative Künstler, von ihr stammen all die
Ornamente und Dekorationen einer späteren Kunst.
Nun bindet ’sie sich mit einem um die Stirn gehenden
Riemen einen Korb oder Beutel um und geht ins Feld
hinaus, wo sie im Schweisse ihres Angesichts arbeitet;
sie ist das erste Lasttier, das seinen Rücken je unter
einer Bürde gebogen hat. Wenn sie dann mit ihrer
Ladung von Eicheln, Wurzeln und Samenkörnern heim-
kommt, macht sie sich daran, dieselben in einer Art
von Mörser oder auf einer Steinplatte zu zerquetschen;
hierin zeigt sie sich deutlich als der erste Müller. Oder
vielleicht legt sie die Samenkörner in einen flachen
Trog und sucht mit Hilfe des Windes oder eines
heissen Steines die Hülsen zu entfernen; hier beginnt
ihr erster Versuch im Dreschen, Mit einem Stock,
EINLEITUNG.
()
dessen Ende im Feuer gehärtet und zugespitzt ist, gräbt
sie Wurzeln aus der Erde, jätet Unkraut aus, das
zwischen nützlichen Pflanzen wächst oder gräbt Löcher,
um Bohnen-, Kürbis- oder Maissamen hineinzustecken,
und während wir sie beobachten, sehen wir dem ersten
Gärtner, Bauern und Feldarbeiter zu. Vielleicht findet
sie auf der weiten Ebene oder dem angeschwemmten
Flussufer keine Höhle zum Schutz für sich und ihre
Kleinen, dann wird es gewiss nicht lange dauern und
der weibliche Korbmacher und Gerber von vorhin baut
aus Rasen oder Häuten eine schützende Hütte und wird
so der Architekt der Urzeit. Das jedoch steht fest,
dass alle Formen, alle Dekoration in der Töpferei dem
Weibe ihren Ursprung verdanken. In dem Kampf ums
Dasein, der unter den mannigfachen Beschäftigungen
ebenso besteht, wie unter Individuen und Arten, nahm
allmählich die Kriegführung nicht mehr den ganzen
Mann in Anspruch. Die von der Frau geschaffenen
Künste entwickelten sich und wurden durch die Mit-
arbeit des Mannes gehoben und verbessert. Ihr alter
Grabstock ist heutzutage der Pflug; der drückende
Tragriemen um ihre Stirn der Eisenbahnzug, ihr Boot
der Ozeandampfer, ihre steinerne Handmühle die kompli-
zierte Dampfmühle von heute. Aus ihrem einfachen
Instrument zur Bearbeitung von Häuten haben sich die
grossen Gerbereien und Schuhfabriken entwickelt, aus
ihrem Spinnrocken und Webstock der moderne grosse
Webstuhl, ihr Ton und weisser Sand ist heute die
Drehscheibe der Töpfer, ihr zugespitzter Stock und ihr
Haarpinsel der ganze Apparat der Plastik und Malerei.
In den frühen Epochen der Kunst, der Sprache, des
Sozialen Lebens, der Religion bilden die Frauen die”
industrielle, arbeitsame, konservierende Hälfte der Ge-
sellschaft. Alle friedlichen Beschäftigungen von heute
pldeten einst das spezielle Gebiet der weiblichen Tätig-
Qt die Frau kann als der Pionier, Erfinder und
chöpfer aller Industrie gelten.“
. Bei den Eskimos aus dem Innern des Landes finden
Wir nach der Beschreibung von Dr. Boas (Ze Central
0
EINLEITUNG.
Esktmos, Annual Report, Bureau of Eihnology 1884—85
pp. 579—580o) auch eine ganz detaillierte Teilung der
Arbeit unıer die beiden Geschlechter. Die Hauptauf-
gabe des Mannes ist, die Familie, d. h. seine Frau,
seine Kinder und diejenigen seiner Verwandten, die
keinen Versorger haben, durch die Jagd mit Nahrungs-
mitteln zu versehen. Er muss auf der Fahrt den
Schlitten ziehen, die Hunde füttern, das Haus aufrichten
und seine Jagdgeräte in Ordnung halten, mit Ausnahme
des Bootüberzugs und des Segels.
Die Frau muss alle Haushaltsarbeit, Kochen und
Nähen besorgen; sie. hat nach den Lampen zu sehen,
die Zelte und Bootüberzüge zu machen und auszubessern,
Felle zu gerben und die jungen Hunde aufzuziehen.
Ihre Sache ist es auch, für das Innere des Hauses zu
sorgen, den Boden zu ebnen und die Innenwände der
Schneehütte auszufüttern. An der Davisstrasse schlach-
ten die Männer alle Tiere, die sie erlegen, auch selbst
aus; an der Hudsonbay werden die Seehunde von den
Frauen ausgeschlachtet und die Häute von den Männern
zubereitet, was unter den östlichen Stämmen immer
Sache der Weiber ist. Überall rudern die Frauen die
grossen Boote, während °der Mann steuert. Krüppel,
die nicht auf die Jagd gehen können, tuen dieselbe
Arbeit, wie die Frauen.
Früher, als die ethnologische Kenntnis der primi-
tiven Rassen noch nicht so ausgedehnt war, wie heut-
zutage, ist oft behauptet worden, dass die Frauen eines
Stammes denselben in seinem Fortschritt, seiner Kraft-
entfaltung hemmen, dass sie eine „Quelle der Schwä-
chung“ für ihn bilden und infolge dessen immer in
einem Zustande der Erniedrigung, ja der Sklaverei
leben. Selbst. noch in unseren Tagen.hat mancher
Anthropologe, den sein Glaube an die Zukunft verleitet
hat, die Vergangenheit mit ungerechter Verachtung
zu behandeln, die Tatsachen aus dem Leben der Natur-
völker in falschem Lichte dargestellt. Auf Grund
eines ausgedehnten Tatsachenmaterials und einer ein-
sichtsvollen Interpretierung desselben können wir be-
EINLEITUNG.
11
haupten, dass, wenn auch bei vielen Stämmen in der
Tat eine mehr oder weniger ausgedehnte Unterwer-
fung der Weiber unter die Herrschaft ihrer stärkeren
Gebieter besteht, die Frauen doch, für gewöhnlich,
infolge ihrer intimeren Bekanntschaft mit produktiver
Arbeit, sowie ihrer grösseren diplomatischen Bega-
bung‘!), Einfluss, ja selbst Autorität erlangen. Hierzu
haben auch ohne Zweifel in vielen Fällen noch andere
Faktoren beigetragen, die mit einer besonderen Art
der Eheschliessung und Verschwägerung ZUSamMmEeN-
hängen und den Frauen eine geachtete Stellung ge-
Schaffen haben.
M’LzEnyan, LusBBock und LETOURANEFAU sind wohl die
hervorragendsten Anthropologen, die, offenbar gestützt
auf ihre Kenntnis das zivilisierten Weibes, die Theorie
aufgestellt haben, dass das Weib unter den Wilden
eine „Quelle der Schwäche“ für den Stamm bildet und
deshalb in einem Zustande der Unterdrückung lebt.
Indessen haben solche Forscher, die eine mehr als
oberflächliche Kenntnis von dem Leben der Naturvölker
besitzen, festgestellt, dass dieser Zustand der Unter-
drückung des Weibes wohl gelegentlich vorkommt,
dass aber auch sehr oft das gerade Gegenteil der Fall
ist. So finden wir bei Fıson und HowimmrT folgende Be-
merkung über die Frauen der Australier: „In Friedens-
zeiten sind sie fast ohne Ausnahme die tüchtigsten
Arbeiter und die nützlichsten Glieder der Gemeinschaft,
im Kriege sind sie‘sehr wohl imstande, sich’ selbst zu
schützen, ja, weit entfernt, eine Last für die Krieger
zu sein, beteiligen sie sich, wenn es nötig ist, am
Kampfe und fechten eben so tapfer, ja vielleicht noch
ı) Von den Frauen vieler Völker gilt dasselbe, was Rev. C.
HARRISON von den Haidas auf den Königin Charlotte-Inseln sagt:
„Die Frauen sind grosse Diplomaten und setzen gewöhnlich ihren
Willen durch, und es ist ein grosser Irıtum, wenn man glaubt,
dass sie als Sklaven behandelt werden.“ (Journal Anthropo-
logical Institute. Mai 1892, p. 472) CUrr (Australian Races) be-
tichtet, dass bei den australischen Dieyeries die Frauen beim
Schliessen von Verträgen als Gesandte dienen, und dass ihnen
Ihr Unternehmen niemals fehlschlägt.
u
-
EINLEITUNG.
leidenschaftlicher, als die Männer“. (Fıson and Howrrrt,
Kamtlaroi and Kurnati PP- 133—147, 358.) BucKLey,
der 32 Jahre lang unter australischen Wilden lebte,
berichtet, dass, wenn der Stamm, bei dem er sich auf-
hielt, von einer zahlreichen feindlichen Horde ange-
griffen wurde, die Männer ein Kriegsgeschrei erhoben,
woraufhin die Weiber ihre Röcke abwarfen und, mit
kurzen, dicken Stöcken bewaffnet, ihren Gatten und
Brüdern zu Hilfe eilten. (Ze and Adventures of
WiLLIAM BUCKLEY p. 43.) „Diejenigen, welche nur zivili-
sierte Frauen und ihre Lebensgewohnheiten kennen“,
sagt Fıson, „können sich kaum einen Begriff davon
machen, was die Weiber der Wilden zu leisten im-
stande sind, selbst in Zeiten, wo sie sich offenbar nicht
auf der Höhe ihrer Kraft befinden. So kann sich
z. B. ein ausstralischer Stamm nicht durch eine Solche
Kleinigkeit, wie die Geburt eines Kindes, in seinem
Marsch aufhalten lassen, das Neugeborene wird in
Felle gehüllt, die Horde setzt sich wieder in Bewegung
und die Mutter trabt mit. Bekanntlich wird auch bei
vielen Stänmen der Mann nach der Katastrophe zu
Bett gebracht, während die Mutter herumgeht und
ihre Arbeit tut, als wenn nichts vorgefallen wäre“,
Die menschliche Spezies ist die höchst beanlagte und
erfolgreichste von allen geworden, und Mason bemerkt
mit Recht: „Wenn die eine Hälfte dieser Spezies, näm-
lich die weibliche, mütterliche Hälfte, neben den ihr
von der Natur auferlegten Lasten, noch böswilliger
Quälerei und Verfolgung vonseiten der andern, stärkeren
Hälfte ausgesetzt wäre, so hätte sich die Menschheit
nicht halten hönnen“, (Mason, Woman’s share in primitive
culture, American Antiquarian an, 1889.)1') Ein
anderer bekannter amerikanischer Anthropologe, HorATIo
HaALeE, bemerkt in einer, bei dem Jahresmeeting der
Royal Society of Canada 1891 verlesenen (in dem Yourn.
Anthropol, Institute, Mai 1899 P. 427 abgedruckten)
1) 1895 bei MAcMILLAN in London als selbständiges Buch er-
schienen.
EINLFITUNG.
3
Schrift: „Die Anschauung, dass bei wilden Stämmen
die Frauen in der Regel mit Härte behandelt und als
Sklaven oder doch als inferiore Wesen angesehen werden,
ist, wie so viele allgemein verbreitete Meinungen, auf
einen Irrtum gegründet, indem man allzuweit gehende
Schlussfolgerungen auf zu geringe Erfahrung gründete.
Eine ausgedehntere ‚Erfahrung lehrt uns, dass eine
Unterjochung des weiblichen Geschlechtes durch das
Männliche allerdings existiert, jedoch nur in bestimmten
Gegenden und unter bestimmten Verhältnissen. Die
Frau eines Landeigentümers in Samoa. oder eine
Hirtenfrau bei den Navajos hat, was ihre Stellung in
der Familie und überhaupt im ganzen Stamme anbe-
trifft, keinen Grund, eine deutsche Bauernfrau zu be-
neiden. „Die Stellung der Frau“, sagt Haus, „hängt,
Sanz und gar von dem materiellen Wohlstand des,
Stammes, von der reichlichen oder spärlichen Nahrung
ab‘, Zum Beweise hierfür führt er den Unterschied
N der Stellung des Weibes bei den nördlichen, sub-
Arktischen und den südlichen Tinneh (oder Navajos) in
dem sonnigen, fruchtbaren Arizona an; „bei Ersteren
nd die Frauen Sklaven, bei letzteren Königinnen“.
„Die Weiber“, so führter weiter aus, „bilden den verhältnis-
Mässig schwächeren Teil der Gesellschaft und leiden
deshalb zu allererst unter harten Lebensbedingungen‘“,
. „Unter primitiven, unsicheren Lebensbedingungen
wird der Mann fast ganz von den Pflichten des Krieges
und der Jagd in Anspruch genommen; wenn aber all-
Mählich die Stellung des Stammes gesicherter und damit
die Subsistenzmittel reichlicher werden, legen die Männer
lie Waffen nieder, greifen zu den Werkzeugen der
F rauen und spezialisieren die von diesen geschaffenen
Industriezweige, So hat, wie Pror. Mason sagt, !) die
Ürau der Urzeit ihr „Ulu“ (das Frauenmesser), dem
Sattler übermacht und hat ihn die Bearbeitung des
Leders gelehrt; die Sattler der alten Egypter, wie sie
*uf Monumenten dargestellt sind, gebrauchten bei ihrer
!) „The Ulu“, Report U. S. National-Museum. 1890, D. 414.
14
EINLEITUNG.
Arbeit das Ulu, ja noch bis auf den heutigen Tag ist
es in Gebrauch, So mag es allmählich gekommen sein,
dass die verschiedenen Gewerbszweige sorgfältig unter
die beiden Geschlechter verteilt worden sind, wie wir
es noch jetzt bei einigen Völkern finden, die den Zu-
stand völliger Wildheit verlassen haben und in den
ersten Stadien des Barbarismus stehen, und bei denen
der Krieg nur eine untergeordnete Rolle spielt, So
ist bei den Melanesiern, einem ackerbautreibenden Volk,
das sehr grosses Geschick für diese Art der Arbeit
besitzt, „der betreffende Anteil der beiden Geschlechter
an der Feldarbeit durch lokale Traditionen ganz genau
bestimmt‘ 1). Indessen scheint eine so vollkommene
Gleichheit nur selten zu sein. Die Frauen haben zahl-
reiche Industrien und Haushaltsarbeiten erfunden und
gemeinsam ausgeübt. Sie waren nicht imstande, ihre
Arbeit zu differenzieren und konnten sie infolge dessen
auch auf keine höhere Entwickelungsstufe bringen. Die
Männer, mehr oder weniger von den Aufgaben der
Jagd und des. Krieges befreit, nahmen allmählich die
weiblichen Beschäftigungen auf, spezialisierten ‘sie und
entwickelten sie in ausserordentlichem Grade. Warum
die Teilung der Arbeit vonseiten der Männer ausge-
gangen ist und nicht von der der Frauen, ob es sich
dabei um die Folge physischer und intellektueller
Organisation handelt, oder ob sie nur sozialen Ursachen
zuzuschreiben ist, muss dahingestellt bleiben, Möglicher-
weise sind beide Arten von Ursachen dabei im-Spiel.
Die Mutterschaft mit allen zu ihr gehörigen Aufgaben
begünstigt entschieden einen Zustand undifferenzierter
Arbeit, und andererseits ist es wohl möglich, dass die
Erfahrungen des Kriegslebens das Verständnis für
den Wert der Spezialisierung der Arbeit herbeiführen,
In jedem Falle ist die Tatsache selbst unbestreitbar
und hat auf die Zivilisation einen ungeheuren‘ Einfluss
ausgeübt.
Die Stellung der beiden Geschlechter sowohl im
Er
1) CoprınGTon, The Melanesians. 1891, p. 2304.
EINLEITUNG.
15
Zustande der Wildheit, als in den frühen Stadien des
Barbarismus mit Sicherheit zu bestimmen,. ist keine
leichte Aufgabe, Es gibt nicht viele Rassen, die sich
in dem reinen, unverfälschten Anfangsstadium des
Barbarismus befinden, und es ist nicht so leicht, einen
Beobachter zu finden, der intelligent und liebevoll genug
ist, um die bei solchen Rassen herrschenden Zustände
richtig aufzufassen; ferner ist es schwer, die Einflüsse
gewisser Bedingungen, die eine Abweichung vom ge-
Wöhnlichen Typus verursachen, richtig abzuschätzen.
Wenn wir uns nun den in einem hochentwickelten
Stadium des Barbarismus befindlichen Rassen zuwenden,
wie wir sie im mittelalterlichen Europa vor uns haben,
SO stossen wir auf Schwierigkeiten anderer Art. Das
Material, auf das wir unser Urteil gründen müssen, ist
SO reichhaltig, dass es unmöglich ist, allgemeine Schlüsse
Zu ziehen. Wir stehen vor einem reichen Schatz von
Originaldokumenten: Chroniken, Romane, fabliaux,
Contes, Acta Sanctorum, Gesetzsammlungen und Sprüch-
Wörter, die alle unabsichtlich ein mehr oder weniger
helles Licht auf die Stellung beider Geschlechter im
Mittelalterlichen Europa werfen. Wem es nur vergönnt
Sewesen ist, hier und da einen Blick in diese fesselnde
Literatur zu werfen, kann sich kein abschliessendes
Urteil über den Gegenstand bilden; indessen frappieren
Uns gewisse Punkte immer und immer wieder. Im
Mittelalterlichen Europa war das kriegerische Element
das herrschende und daraus ergab sich die Übermacht
des männlichen Geschlechts von selbst. So finden wir
in dem grossen französischen Epen-Cyklus, dessen Stu-
dium KRABBES zu seiner Aufgabe gemacht hat!), diesen
kriegerischen Gesellschaftszustand zufällig und unabsicht-
lich, und deshalb um so naturgetreuer, geschildert. Die
Männer wären vor allem Kämpfer, und selbst die Frauen
Waren sehr eingenommen für Kampf und Krieg; sie emp-
nn
E ') THzoDor Krasses, Die Frau im altfranzösischen Karls-
GB9S, 1884. (STENGELS Ausgaben und Abhandlungen aus dem
ebiet der romanischen Philologie.)
El
I
EINLEITUNG.
fanden die äusserste Verachtung für die, welche sich
feige benahmen, und nahmen zu Zeiten selbst, wenn auch
in untergeordneter Weise, teilam Kriege, z, B. bewachten
sie die Gefangenen. Das vollständige Aufgehen der
Männer in kriegerischen Beschäftigungen blieb nicht
ohne Einfluss auf die Liebesleidenschaft, Immer sind
in diesen Epen die Frauen der werbende Teil; die
Männer sind im allgemeinen indifferent und selten
wirklich verliebt in die Damen, denen sie huldigen.
Sie erwidern nur die Leidenschaft der Frauen, und
zwar nicht immer so glühend, wie diese es wünschen.
Die Frauen küssen Öffentlich ohne Scheu denjenigen,
der ihnen gefällt, — nur ein einziges mal lesen wir von
einem Mädchen, das sich schämte, vor Zeugen zu küssen,
— während die Männer als entschieden weniger sinnlich
geschildert werden. Trotz dieser Freiheit der Initiative
jedoch gerät das Weib, sobald sie heiratet, ganz und
gar in die Gewalt des Mannes, der sie nicht selten mit
der äussersten Verachtung behandelt.
Selbst der Beginn des Kapitalismus war nicht im-
stande, das Vorwiegen des militärischen Geistes zu
beseitigen. Selbst in republikanischen Industriestädten
war es oft nötig, dass der Arbeiter auch die Waffe zu
führen verstand. In der frühen barbarischen Gesell-
schaft sehen wir, wie der Mann allmählich die vom
Weibe geschaffenen Gewerbszweige aufnahm und
spezialisierte; in dem höher entwickelten Barbarismus
Europas waren den Frauen nur noch einige wenige
einfache Haushaltsgeschäfte überlassen. Selbst in den
Klöstern, wo beide Geschlechter unter fast denselben
Bedingungen lebten, sehen wir niemals, dass die Ar-
beiten der Frauen auf irgend einem Gebiete mit denen
der Männer konkurrierten. Die Frauen gehörten ins
Haus oder, wie wir leider hinzufügen . müssen, ins
Bordell, während einanderer grosser Strom von Weibern,
ein Strom, der die Irren und Hysterischen umfasste,
aber sicherlich auch sehr viele, die keins von beiden
waren, in den Verdacht der Zauberei geriet und als
Hexen umkam. Dieses Auseinandergehen der Wege
EINLEITUNG.
17
des männlichen und weiblichen Geschlechts zog zwei
verschiedene Konsequenzen nachsich: einerseits scheinen
Sich, was wir indessen nicht mit voller Sicherheit hin-
zustellen wagen, stärker ausgesprochene körperliche
Geschlechtsunterschiede entwickelt zu haben, als wir
sie unter Wilden finden, und andererseits scheint hiermit
eine bisher unbekannte enorme Steigerung des Gemüts-
elements im Verkehr der beiden Geschlechter mitein-
ander Hand in Hand gegangen zu sein. Wenn wir in
diese wunderbare mittelalterliche Literatur einen Blick
werfen, so werden wir niemals ein kameradschaftliches
Verhältnis zwischen Mann und Frau finden, wie es sich
bei gemeinsamer Arbeit entwickelt und wie wir es auf
früheren Gesittungsstufen überall sehen. Wir finden
hingegen, dass die Männer unter dem Einfluss der
Christlich-asketischen Tradition und der tatsächlichen
mittelalterlichen Zustände im Weibe ein Symbol des
sinnlichen Lebenselements, ein Hemmnis des Fortschritts
sahen und dass andererseits, (vielleicht ein aus dem
Heidentum stammendes Gefühl mit mystischer Färbung)
die Frauen als das inspirierende, geistige, zivilisierende
Element des Lebens galten. Einerseits war das Weib
allem Anscheine nach zum Zeitvertreib, andererseits zur
Verehrung gut genug!), Ein grosser Teil der wirk-
lichen Arbeit des Lebens lag den Frauen ob, obgleich
unter militärischem wie unter klösterlichem Regime
Männer und Frauen verhältnismässig unabhängig von-
einander waren: aber die weibliche Arbeit schien als
_ 1) In der komischen Literatur des Mittelalters: „farces, fa-
bliaux, contes“ etc, finden wir auf Schritt und Tritt den Ausdruck
des Misstrauens, des Grauens vor dem Weibe, und daneben, nicht
nur in den Liebesdichtungen jener Epoche, sondern auch in einem
grossen Teil der Prosa-Literatur, die entgegengesetzte, gewisser-
Massen eine Ergänzung bildende Tendenz, das Weib zu verherr-
lichen. Einen Bericht über einen Teil dieser Literatur finden wir
Bei Thomas, in seinem „Essay sur le caractere, les moeurs et
lt des femmes“. Eine in‘ der Feinheit der psychologischen
Au assung ans Moderne grenzende zeitgenössische Schilderung
fing mittelalterlichen Frauen mit ihrem Reiz und ihrer Doppelnatur
den wir in „Petit Jehan de Saintre“.
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
‚3
EINLEITUNG.
kaum der Rede wert betrachtet zu werden; der Begriff
der Arbeit passte nicht zu dem Bilde, das das Mittel-
alter sich von den Frauen machte.
Ein Hauptmotiv dafür, dass etwas Geheimnisvolles,
Unheimliches die Frauen stets umgab in den Augen
der Männer und selbst in ihren eigenen Augen, liegt
in der Menstruation. Diese Funktion, für die sich im
physiologischen Leben des gesunden Mannes kein Ana-
logon irgend welcher Art findet, bildet unter allen
primitiven Rassen eine nie versiegende Quelle von Ver-
wunderung und tiefem Widerwillen, und zwar herrscht
in diesem Punkte, ja selbst in der Art diese Erscheinung
zu erklären, eine sonderbare Übereinstimmung, Wie
Pıoss und M. BARTELS nachgewiesen haben, steht sehr
oft die Schlange (oder ein ähnliches Reptil, wie Krokodil
oder Eidechse) mit der Menstruation oder doch mit
ihrem Ursprunge in irgend einem mythischen Zusammen-
hange. In Neu-Guinea, Guyana, Portugal und Deutsch-
land finden wir Spuren hiervon. An vielen Orten
herrscht der Glaube, eine Schlange hätte, aus Liebe
oder aus Hass und Rache, das Weib in die Geschlechts-
teile gebissen und so die Menstruation verursacht, Ich
möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass auch in
der hebräischen Sage vom Garten des Paradiases ein
ähnlicher primitiver Zusammenhang zwischen dem Weibe
und der Schlange besteht. Es fehlt uns hierfür noch
jede Erklärung, indessen ist die Stellung, die alle wilden
und barbarischen Völker der Erscheinung der Menstrua-
tion gegenüber einnehmen, heute wohl bekannt. Überall
gilt das Weib während der Zeit des Monatsflusses für
mehr oder weniger unrein; in denjenigen Ländern, wo
dieser Glaube stärker ausgesprochen ist, muss sie sich
von allen häuslichen Geschäften, besonders vom Kochen,
fern halten, schon ihre blosse Berührung gilt für be-
Äeckend; sie nimmt während der ganzen Zeit genau
dieselbe Stellung ein, wie der mittelalterliche Aussätzige,
d. h. sie muss (wie in einigen Teilen Indiens) eine be-
sondere Kleidung tragen, oder (wie in Surinam) jeden
warnen, der sich ihr nähert, und ihm laut zurufen, dass
EINLEITUNG.
19
sie unrein ist. Sie muss sich gar (wie im Kaukasus,
in Japan, auf den Karolinen, bei Hottentotten, nord-
amerikanischen Indianern und noch vielen anderen
Völkern) während der Zeit der Menstruation allein oder
mit ihren Leidensgefährtinnen zusammen in einer be-
sonders zu dem Zwecke bestimmten Hütte aufhalten.
Durch das alte Testament sind wir mit den bis ins
einzelne ausgearbeiteten Sitten- und Ritualgesetzen der
Juden genau bekannt, mit denen auch die heiligen
Bücher der Indier übereinstimmen, wenn sie lehren, dass
das Weib sich während der Menstruation als Paria zu
betrachten hat. Auf einem weströmischen Konzil wurde
den Frauen verboten, während dieser Zeit eine Kirche
zu betreten, und die heutige griechisch-katholische Kirche
erlaubt ihnen nicht, die Heiligenbilder zu küssen und
an der Abendmahlsfeier teilzunehmen. (Nähere ethno-
Sraphische Angaben über diesen Gegenstand finden sich
bei PLoss und MaAx Barteis. Das Weib. 3. Aufl. 18091,
Ba. I, Kap. X, 88 38 u. 39.). Auf den höheren Stufen des
Barbarismus verschwindet allmählich die Sitte, das Weib
Während der Menstruation anders als sonst zu behandeln,
wenn auch das Gefühl, das der Sitte zugrunde lag, noch
keineswegs verschwunden ist. Statt als ein Wesen be-
trachtet zu werden, das periodisch dem Zauber der Un-
Feinheit anheimfällt, wurde jetzt der Begriff der Un-
Teinheit mit dem Begriffe des Weibes selbst verschmolzen.
Viele früh-christliche Schriftsteller sind von dieser An-
sicht durchdrungen; das Weib ist, wie TERTULLIAN Sagt,
„janua diaboli“, und diese Anschauung dauerte bis ins
Mittelalter hinein, obgleich, wie ich hinzufügen muss,
unpartelische Asketen den Begriff der Unreinheit auch
auf das männliche Geschlecht ausdehnten. Der Glaube
an eine periodisch wiederkehrende. spezifische Unrein-
heit des Weibes ist auch bis auf den heutigen Tag
Nicht ausgestorben. -In England sowohl, als in vielen
anderen Ländern glaubt ein grosser Teil der zur unteren
und Mittelklasse gehörenden Frauen, dass Nahrungs-
Mittel verderben, wenn sie von einer menstruierten
Frau berührt werden, und erst vor wenigen Jahren
I*
2
EINLEITUNG.
äusserten sich im Laufe einer Diskussion über diesen
Gegenstand im British Medical Journal (1878) sogar
Mediziner dahin, dass sie sich aus eigener Erfahrung
von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugt hätten.
So schrieb ein Arzt, nachdem er sein Erstaunen darüber
ausgedrückt hatte, dass eine so feststehende Tatsache
überhaupt in Zweifel gezogen werden könne, und nach-
dem er aus seiner persönlichen Erfahrung Beispiele an-
geführt hatte, in denen sich das Verderben von Schinken
und anderen Nahrungsmitteln einzig und allein auf diese
Ursache zurückführen liess: „Die Italiener kennen diese
Wirkung der Menstruation seit 2000 Jahren, Engländer,
Amerikaner, ja selbst Australier sind davon überzeugt,
und ich möchte wohl wissen, ob es ein Land gibt, in
dem diese Tatsachen unbekannt sind.‘ Frauen aus allen
Ständen halten an diesem Glauben fest und in ihren
Augen ist die Menstruation, obschon einer der wichtigsten
Faktoren in ihrem persönlichen und öffentlichen Leben,
etwas so Schmachvolles, dass sie nicht einmal wagen,
darauf anzuspielen. |
Der Einfluss der kriegerischen Organisation der
mittelalterlichen Gesellschaft und der damit zusammen-
hängenden Bedingungen auf das weibliche Geschlecht
war ein sehr eigentümlicher, und wir können heute
noch seine Spuren nachweisen. Öffentlich suchten die
Frauen das engelhafte, mittelalterliche Ideal zu verwirk-
lichen, heimlich aber spielten sie mit den Männern; sie
arbeiteten entweder still und rechtschaffen ohne Osten-
tation im Hause, oder mit heimlichen Intriguen, durch
die sie in die öffentlichen Angelegenheiten einzugreifen
suchten. In den grossen Zentren des europäischen
Lebens haben während des Mittelalters und auch später
diese miteinander streitenden Ideale höchst anziehende
weibliche Persönlichkeiten geschaffen, die oft viel
Sympathischer und normaler sind, als man nach den
Einflüssen annehmen sollte, unter denen sie sich ent-
Wickelt haben, die aber alle von der unvermeidlichen
Zwiespältigkeit der Ideale mehr oder weniger stark be-
einflusst sind.
EINLEITUNG.
91.
Viele weibliche Charakterzüge aus jener Zeit haben
sich ohne Zweifel bis heute erhalten, wenn auch die
Bedingungen, unter denen sie entstanden, sich wesentlich
yeändert haben. Das ı8. Jahrhundert zeichnete sich in
ganz Europa, vor allem aber in England und Frank-
reich durch das Streben aus, sich über Natur und Ur-
sache der Dinge klar zu werden und so viel wie mög-
lich alle Vorurteile abzustreifen; da war es nur selbst-
verständlich, dass hierbei auch die Frage nach der
Stellung der Frau nicht unberücksichtigt blieb. Solche
Probleme liess man nicht länger in ungestörter Stille
sich entwickeln. Zu gleicher Zeit machte sich eine
wirtschaftliche Umwälzung geltend, mit der ausge-
sprochenen Tendenz, die Frau ihrem bisherigen Gebiete,
dem Hause, und den Mann seiner bisher mehr unab-
hängigen, intermittierenden Arbeit zu entziehen. Ein
neues, das kapitalistische, Regime begann, die Arbeit
wurde in grossen Zentren organisiert und die Einführung
von Maschinen setzte Männer und Frauen in stand,
Seite an Seite dieselben, oder doch ganz ähnliche Ar-
beiten zu verrichten. Diese Entwickelung schreitet noch
immer in derselben Richtung vorwärts. Heutzutage
hält man es für vernunftgemäss, dass beide Geschlechter
gemeinsam oder, wenn nicht das, so doch in ganz ähn-
licher Weise unterrichtet werden, und ihre Freistunden
mit den gleichen Spielen und Körperübungen ausfüllen.
Durch diese Einflüsse werden die künstlichen sexuellen
Differenzen aufgehoben, und die Zröberen Symptome
des: Übergewichts eines Geschlechtes über das andere
geraten allmählich in Vergessenheit, Dieser Prozess
des Übergangs ist immer noch in rapidem Fortschritt
begriffen. Er begann auf den niederen, mehr mecha-
nischen Arbeitsgebieten und dehnte sich allmählich auf
die höheren, mehr spezialisierten Formen der Arbeit
aus, Die Frauen haben allmählich die verschiedenen
gelehrten Berufsarten erobert, oder sind wenigstens
im Begriff, es zu tun, und streben zugleich danach,
dieselben bürgerlichen Rechte zu erwerben, wie die
Männer. ! Wtem Ahhat anal kam gu ae CE din Gameblenldn (tm Srann Shah,
8 LA uf f Yan And bummtchet Sam NR .
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(2 |
Bi
EINLEITUNG.
Derartige soziale Veränderungen führen mehr und
mehr zu einer Aufhebung der künstlichen Unterschiede
zwischen den Geschlechtern, während sich beim Auf-
steigen von den niederen zu den höheren Gesittungs-
stufen bisher die entgegengesetzte Tendenz geltend
gemacht hat. Wir wenden uns nun zur Betrachtung
der nicht künstlich geschaffenen Differenzen, die durch
keine Ausgleichung der sozialen Zuständen aufgehoben
werden können, zu jenen natürlichen Eigenschaften und
Anlagen, die immer einen unvermeidlichen Einfluss auf
die Verteilung der Arbeit unter die beiden Geschlechter
ausüben werden. Solange die Frauen sich durch primäre
sexuelle Charaktere und dadurch, dass sie empfangen
und gebären, vom Manne unterscheiden, solange werden
sie ihm auch sonst, bis zu den höchsten psychischen
Prozessen niemals gleich sein. Was ist nun, soweit
heute unser Wissen reicht, die Natur der fundamentalen
sekundär-sex.uellen Merkmale?
Il. Kapitel.
Formulierung des Problems der sekundären
Geschlechtsmerkmale.,
Die Definition der sekundären Geschlechtsmerkmale. — Tertiäre
Geschlechtsmerkmale, _— Der Massstab der Vergleichung. — Der
infantile und der senile Typus — Die menschenähnlichen Merk-
male junger Affen. — Die Stellung der niederen Menschenrassen.
— Fehlerquellen. — Lücken des Tatsachenmaterials und der
Erkenntnis.
Der Ausdruck „sekundäre sexuelle Charaktere“
wurde zuerst von HUNTER angewendet, und zwar auf
Organe, wie der Kamm des Hahnes und dergl.; in-
dessen gibt er, soviel ich weiss, nirgends: eine präzise
Definition dieses Ausdrucks. Auch Darwin, der in einem
seiner bedeutendsten Werke: Die Abstammung des
Menschen und die natürliche Zuchtwahl in ihrer Be-
ziehung zu dem Geschlecht, sehr viel über diesen
Gegenstand spricht, hat sich nicht exakt darüber aus-
gesprochen, was eigentlich unter der Bezeichnung „Se-
Kundäre sexuelle Charaktere“ zu verstehen sei, und
bemerkt nur, dass sie allmählich in die primären
sexuellen Organe übergehen und dass, wenn man den
Begriff „primär“ nicht auf die Keimdrüsen allein be-
schränkt, es kaum möglich ist, mit völliger Bestimmt-
heit zu sagen, was primär und was sekundär ist 1.
ı) „Abstammung des Menschen“, Kap. VII.
4
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
Wenn wir es mit dem Menschen zu tun haben, so
ist es wohl am richtigsten, die Keimdrüsen bei beiden
Geschlechtern und die damit in unmittelbarem Zusammen-
hange stehenden Organe für Emission und Rezeption
der Keimsubstanz als primäre Sexualmerkmale gesondert
zu betrachten. Die primären sexuellen Organe sind also
diejenigen, welche bei der F ortpflanzung eine wesent-
liche Rolle spielen, während z. B. die Brust — die nicht
absolut notwendig zur Reproduktion ist, sondern nur
als ein allerdings enorm wichtiges Hilfsmittel zur Erhal-
tung der Art gelten kann — einer der hauptsächlichsten
sekundären Charaktere ist, oder doch jedenfalls (wie
Darwin sagt), auf der Grenze zwischen primären und
sekundären Organen steht.
Die Schwierigkeit liegt aber eigentlich nicht in der
Scheidung der primären und sekundären Merkmale
untereinander, sondern in der Abgrenzung dieser letz-
teren nach einer andern Seite hin. Zu den am stärksten
ausgesprochenen, typischen sekundären Geschlechts-
Charakteren des Menschen gehören die Unterschiede in der
Quantität und Qualität des Haupthaares, das beim Manne
vorzugsweise im Gesicht, beim Weibe dagegen auf dem
Kopf auftritt, sowie die Unterschiede des Kehlkopfs
und der Stimme, die beim Manne zur Zeit der Pubertät
eine tief eingreifende Veränderung durchmachen, während
sich die weiblichen Stimmorgane während der Pubertät
verhältnismässig wenig entwickeln. Wir definieren da-
‚her vielleicht am zweckmässigsten die sekundären Ge-
schlechtsmerkmale beim Menschen als solche, welche die
beiden Geschlechter, indem sie dieselben stärker differen-
zieren, anziehender für einander machen und so dazu
dienen, die Vereinigung der Spermazelle und der Eizelle
zu befördern. Bei sonst gleichen Eigenschaften wird der
Mann mit tiefer, vibrierender Stimme anziehender für
ein weibliches Wesen sein, als der, welcher eine hohe,
schrille Weiberstimme besitzt. Es sind nicht eigentlich
ästhetische Gründe, die die beiden Geschlechter ver-
anlassen, bestimmten Individuen den Vorzug vor anderen
zu geben, sondern für den Mann sind die spezifisch
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
55
weiblichen Eigenschaften beim Weibe und für die Frau
die spezifisch männlichen Eigenschaften beim Manne
ganz besonders anziehend !), Die sekundären Geschlechts-
Charaktere sind diejenigen, welche die Fortpflanzung in-
direkt begünstigen, und die man sich sehr wohl durch
die geschlechtliche Zuchtwahl im Sinne Darwıns ent-
wickelt denken kann, gleichviel ob sie tatsächlich durch
sie entwickelt worden sind oder nicht.
Nun gibt es jedoch noch andere sexuelle Diffe-
renzen, die man nicht zu dieser Gruppe rechnen kann,
zahlreiche Unterschiede weniger augenfälliger Natur, die
oft relativ sind und sich nur bemerkbar machen, wenn
man den Durchschnitt in Betracht zieht. So haben wir
z.B. die verhältnismässig grössere Flachheit des Schädels,
die grössere Aktivität und Ausdehnung der Schilddrüse
und die geringere Durchschnittsmenge der roten Blut-
körperchen beim Weibe. Diese Differenzen hängen
wahrscheinlich indirekt mit primären und sekundären
sexuellen Charakteren zusammen. Vom Zzoologischen
Standpunkt aus sind sie kaum von Interesse, dagegen
vom anthropologischen und gelegentlich auch vom
pathologischen und sozialen Standpunkt aus höchst
bemerkenswert. In dieselbe Gruppe mit den sekundären
sexuellen Charakteren lassen sie sich keinesfalls ein-
reihen und wir tuen wohl am besten, sie zu einer neuen
Gruppe zusammenzufassen und als „tertiäre sexuelle
Charaktere“ zu bezeichnen.
Es wäre sehr wünschenswert, eine gute Einteilung
der sexuellen Merkmale in bestimmte Gruppen zu be-
sitzen, doch lässt sich wegen der Tendenz dieser Merk-
male, ineinander überzugehen, diese Teilung schwer
durchführen. Pror. CHARLES STEWART nennt sekundäre
sexuelle Charaktere alle diejenigen Merkmale. an denen
1) CHATEAUBRIAND sagt an irgend einer Stelle: „Es ist be-
kannt, dass das Weib sich instinktiv zu dem grossen kräftigen
Manne mehr hingezogen fühlt, als zu dem kleinen, schwächlichen,
und ich habe irgendwo gelesen, dass ein Mädchen ‚das zwischen
Herkules und’ Adonis zu «wählen hat, erröten “und Herkules die
Hand reichen wird.“
26
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
wir das männliche und weibliche Geschlecht von
einander unterscheiden, die von den wesentlichen Fort-
pflanzungsorganen unabhängig und zur Erzeugung und
Ernährung der Nachkommenschaft nicht unumgänglich
nötig sind. Diese Definition scheint indessen der
Gruppe der primären Charaktere eine ungehörig weite
Ausdehnung zu geben und zugleich für die von mir
sogenannten tertiären sexuellen Charaktere keinen
Raum zu lassen. Schliesslich sind ja, wenn wir alle
Tatsachen in Betracht ziehen, alle sexuellen Charak-
tere, wie WEISMANN nachweist, tatsächlich sekundärer
Natur (in dem Sinne, in welchem ich die sekundären
Charaktere definiert habe): „Ebenso sekundärer Natur
wie die Differenzierung der Zellen zu männlichen und
weiblichen Fortpflanzungszellen ist die der Personen
zu weiblichen und männlichen, und alle die zahlreichen
Unterschiede der Form und Funktion, welche das Ge-
schlecht bei den höheren Tieren charakterisieren, die
sogenannten „sekundären (reschlechtscharaktere“, die
ja selbst bis in die höchsten geistigen Regionen der
Menschen hineinragen, sind nichts als Anpassungen, um
die Vermischung der Vererbungstendenzen zweier
Individuen herbeizuführen.“ (A. WEIsmann, Aufsätze über
Vererbung und verwandte bwologische Fragen p. 633 ff.)
Wir haben es in dieser Schrift mit den sekundären
oder vielmehr nach meiner Definition mit sekundären
und tertiären Charakteren, und zwar ganz besonders
mit letzteren, zu tun. Um die Bedeutung jedes dieser
Merkmale genau festzustellen, müssen wir bestimmte
Typen haben, mit denen Vergleiche angestellt werden
können. Welches ist nun unser Vergleichtypus für die
sexuellen Charaktere beim Manne und beim Weibe?
Der Leser wird unten sehen, dass es zwei derartige
Typen gibt; den ersten stellt das Kind mit allen seinen
anatomischen und physiologischen Charakteren dar, den
zweiten Typus bilden die Merkmale des Affen, des
Wilden und des Menschen im Greisenalter. Jedes
männliche oder weibliche Merkmal; das wir der Beob-
achtung unterwerfen, werden wir nun instinktiv der
FORMULIERUNG DES PROBLEMS. 27
einen oder anderen Gruppe, dem Infantilismus oder der
Senilität, zuweisen, und nachdem die einzelnen Charak-
tere so ihren Platz angewiesen bekommen haben,
werden wir untersuchen, ob sie sich im allgemeinen der
einen oder anderen Seite, dem kindlichen oder dem
Greisentypus zuneigen. Ich möchte hierbei voraus-
schicken, dass, wenn ich im folgenden sage, ein be-
stimmtes Merkmal bei Mann oder Weib bringe das be-
treffende Individuum dem kindlichen oder dem Affen-
typus nahe, ich damit nicht im mindesten beabsichtige,
das betreffende Geschlecht irgendwie herabzusetzen.
Es ist dies nichts als ein Mittel zum klareren Verständnis
der von uns untersuchten, spezifisch männlichen oder
weiblichen Charaktere. Vielleicht wirft unsere Unter-
suchung auch ein Licht auf die schwierigere Frage
nach der Bedeutung des Infantilismus und der Senilität
im Entwicklungsprozesse.
Wir werden indessen gleich sehen, dass diese beiden
Typen, der kindliche und der senile, von ungleichem
Werte sind. Der Typus des Kindes ist verhältnis-
mässig einfach und unkompliziert.
Das Kind mit seinem verhältnismässig enormen
Kopfe, seinem grossen vorragenden Abdomen, „ganz
Kopf _und Bauch“, wie man €S definiert hat, mit seiner
schmalen Brust, den kurzen, schwachen Beinchen, ver-
hältnismässig Kkräftigen Armen, mit seiner weichen,
fast ganz haarlosen Haut, der grossen Leber, Niere,
Thymusdrüse und Nebenniere bietet ein ganz abge-
rundetes. anatomisches Bild dar; ebenso klar ist bei ihm
das Bild der physiologischen und psychischen Funktionen.
Der andere Typus dagegen, der zugleich den Affen, den
Wilden und den zivilisierten Menschen im Stadium der
Senilität umfasst, ist weit weniger klar definiert, So finden
wir z. B. dass die anthropoiden Affen in einer früheren
Lebensepoche ganz andere Merkmale zeigen, als später,
wenn sie erwachsen sind. Der junge Anthropoide besitzt
relativ viel menschliche, der alte relativ viel tierische‘
Merkmale. Der jugendliche Affe hat einen glatten,
runden Schädel und ein verhältnismässig kleines Gesicht,
Fe
ac
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
wie wir es beim Menschen sehen; sein Profil ist wenig
prognath, die Schädelbasis ist dem menschlichen Typus
ähnlicher und vor allem ist das Gehirn verhältnismässig
viel grösser als es beim erwachsenen Affen der Fall ist?).
Wenn wir z. B. den Gorilla vornehmen, so sehen wir,
dass der Fötus desselben sich vom erwachsenen Indi-
viduum durch einen verhältnismässig grösseren Kopf,
längeren Hals, schlankeren Rumpf, kürzere Gliedmassen,
längere Daumen und grosse Zehen, runderen Schädel,
weniger prognathes Gesichtund menschenähnlichereHand
unterscheidet“). In fast allen diesen Merkmalen nähert
sich der Gorillafötus dem Menschen. Der erwachsene
männliche Gorilla ist von diesem menschenähnlichen
Typus weit entfernt. Das Gehirn ist verhältnismässig
klein geworden, und sein Schädel, mit der fliehenden
Stirn, den grossen knöchernen Leisten, den scharfen
Ecken, den enorm vergrösserten Gesichtsteilen, mit
den weit hervorragenden Augenbrauenbögen, den mas-
sigen Kiefern und dem weit zurückliegenden Kinn bietet
ein abstossendes Bild dar; zugleich hat auch sein
dunkler haariger Körper einen viel mehr tierischen
Charakter angenommen. Der weibliche Affe steht in
der Mitte zwischen dem infantilen Typus und dem des
erwachsenen männlichen Affen, Soweit der Mensch
überhaupt affenähnlich ist, gleicht er dem infantilen,
nicht dem erwachsenen Affentypus. Auch der Mensch
entfernt sich im Laufe seines Lebens mehr und mehr
von dem spezifisch menschlichen Typus, den er in
seinen ersten Jahren zeigt, aber der Affe erreicht wäh-
rend der kurzen Dauer seines Lebens einen viel höheren
Grad der Degradation und der frühzeitigen Senilität,
Der Affe tritt mit reicher anthropoider Ausstattung ins
Leben, von der er sich im Laufe seines Lehens sehr
1) Siehe Prof. RAnke, „Über Beziehungen des Gehirns zum
Schädelbau“ (auf dem Danziger Kongress der Deutschen Anthro-
pologischen Gesellschaft. August 1891). |
2) DEnIKkER, Recherches anatomiques et embryologiques sur
es Singes anthropoides (Archives de Zoologie experimentale,
1805-—86).
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
29
weit entfernt; der Mensch wird mit noch reicherer
menschlicher, ja übermenschlicher Veranlagung geboren
und entfernt sich allmählich auch, wenn auch in ge-
ringerem Grade, von dem kindlichen Typus, um sich
mehr dem des Affen zu nähern. Bei den höheren
Säugetieren, wie Affe und Mensch, ‚scheint bis. zur Ge-
burt und noch eine kurze Zeit nachher eine rapide
und energische Bewegung in der Richtung der auf-
steigerden zoologischen Entwicklungslinie zu bestehen,
bis eine Zeit kommt, wo diese fötale oder infantile
Entwicklung nicht mehr in aufsteigender Richtung vor
sich geht, sondern so beschaffen ist, dass sie den beson-
deren Lebensbedürfnissen der Spezies entspricht, so dass
von diesem Zeitpunkte an das ganze Leben hindurch
hauptsächlich eine Entwicklung niederer Merkmale
stattfindet, eine langsame Bewegung in der Richtung
der Degeneration und Senilität, die jedoch absolut not-
wendig ist, wenn die Erhaltung und Stabilität der Spezies
wie der Individuen gesichert sein soll, Man kann wohl
sagen, dass die fötale Entwicklung, die geschützt vor
der Welt vor sich geht, eine, abstrakt genommen, auf-
wärts gerichtete Tendenz zeigt, dass aber nach der
Geburt alle weitere Entwicklung nur in einer kon-
kreten Anpassung an die Umgebung besteht, ohne
irgendwelche Rücksicht auf fortschreitende zoologische
Entwicklung.
Wir sehen also, dass die infantilen Zustände beim
Affen und beim Manne einander ähnlich sind und dem
allgemeinen menschlichen Typus am nächsten stehen,
während der Zustand der Erwachsenen bei beiden gleich-
falls nach Ähnlichkeit strebt und sich dem allgemeinen
Affentypus nähert. Die Merkmale, welche wir bei den nie-
deren Menschenrassen finden, stimmen mit denen überein,
die sich beim Affen und beim Mann im allgemeinen fin-
den, so sehr sie auch in mancher Richtung divergieren,
In manchen Beziehungen müssen gewisse Vertreter der
Schwarzen Rassen sogar für höher entwickelt gelten,
als die europäischen, So ist die bei Negern vorherr-
Sschende Kürze des Rumpfes und Länge der Beine von
30
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
dem entsprechenden Verhältnis beim Affen und beim
Kinde gleich weit entfernt. Im ganzen kann man sagen,
dass die gelben Rassen dem kindlichen Typus am
nächsten stehen, die Australier und Neger am fernsten,
letztere mit einer Annäherung an den Affentypus,
während die weissen Rassen eine Mittelstellung ein-
nehmen !).
In manchen Merkmalen ist jedoch der erwachsene
Europäer unverkennbar am weitesten entfernt von dem
Affen und dem primitiv menschlichen Typus einerseits,
dem kindlichen Typus andererseits; das gilt besonders
von der Nase, die ihre volle Entwicklung erst bei dem
erwachsenen Weissen erreicht. In mancher anderen Be-
ziehung, so in der Entwicklung der Körperbehaarung,
entfernt sich der erwachsene Europäer sowohl von dem
spezifisch menschlichen, als von dem infantilen Typus
und nähert sich etwas dem Affen.
Die Varietäten und unsicheren Ergebnisse auf
diesem relativ neuen Gebiete sind so beträchtlich, dass
wir niemals sagen können, ob ein Merkmal, weil es
pithekoid, primitiv oder .senil ist, allen drei Gruppen
zugleich angehört, und man kann nicht ohne weiteres
die Identität dieser Gruppen zur Grundlage von Schlüssen
machen. Für die praktische Betrachtung kommen aber
diese drei Gruppen einander darin nahe, dass sie alle
weit von den infantilen Charakteren abweichen, Da-
hin gehören z. B. der relativ kleine Kopf, das grosse,
wilde Gesicht, die langen Extremitäten, die allgemeine
Tendenz zum Behaartsein, die dunkle und runzlige Haut,
die Fettarmut, die Massigkeit des Muskel- und Knochen-
systems, eine allgemeine Neigung zur Verknöcherung,
und auf dem Gebiete des Nerven- und Seelenlebens
die Tendenz zur. Routine und Starrheit. Solche Eigen-
tümlichkeiten sind gewöhnlich, obgleich nicht absolut,
zugleich pithekoid, primitiv und senil. Wir erhalten also
auf der einen Seite die Gruppe der immaturen Merk-
1) Vgl. J. Range, Über das Mongolenauge (Verhandl. der
Deutschen Antlırop. Gesellschaft. 1888).
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
31
male, auf der anderen Seite diejenigen der Überreife;
jede Charakteristik eines erwachsenen männlichen oder
weiblichen Individuums geht nach der einen oder anderen
Richtung.
Selbst nach genauer Bestimmung‘ der sekundären
Geschlechtseigentümlichkeiten ist es manchmal nicht
leicht, die Bedeutung derselben auszumitteln, wozu noch
kommt, dass in vieler Beziehung die Tatsachen selber
noch nicht völlig genau bestimmt sind. Nur ein kleiner
Kreis von Forschern hat sich bisher mit den Geschlechts-
unterschieden beschäftigt; gewöhnlich sind dieselben
nur im Verlaufe breiter angelegter Untersuchungen als
Nebenresultate ermittelt worden, Ferner sind alle von mir
als tertiär bezeichneten Geschlechtsunterschiede nur eine
Sache der Statistik, der Durchschnittswerte, Um zu-
verlässige Resultate zu erlangen, müs-en die Beobach-
tungen nicht nur genau und gleichförmig : ausgeführt
werden, sondern sich auch auf eine sehr grosse Zahl
von Individuen erstrecken; bei einer geringen Zahl von
Individuen ergibt sich entweder das erwartete oder ein
unerwartetes Resultat; ersteres akzeptieren wir ohne
Zögern, bei letzterem vermuten wir eine Fehlerquelle
und verwerfen es. So war z. B. QuETELET, (ein genialer
Mann, aber ein unzuverlässiger Statistiker), der viel zur
Gewinnung neuer Grundlagen für die anthropologische
Forschung getan hat, gewohnt, seine Schlüsse auf ein
paar auserlesene Fälle zu gründen, die er als typisch
betrachtete, und mit dieser unzuverlässigen Methode
kam er immer zu dem erwarteten Resultat. So arbeitete
er eine vergleichende Tabelle für Körperlänge und
Gewicht aller Altersstufen aus, die mit schöner Gleich-
förmigkeit zeigt, dass das Weib auf keiner Altersstufe
grösser oder schwerer ist, als der Mann. Neuere
Untersuchungen in verschiedenen Ländern und an einem
grossen Material haben gezeigt, dass Mädchen während
gewisser Jahre ihrer Entwicklung Knaben an Körper-
länge und Gewicht merklich übertreffen. Diese Tat-
Sache war zu OQuerTteLets Zeit nicht bekannt, und er
Würde, falls er sie bei Messung ı3 jähriger Kinder ge-
32
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
funden hätte, sich gesagt haben: „Dieses Resultat ist
so äusserst unwahrscheinlich und so unvereinbar mit
meinen. anderen Ergebnissen, dass offenbar irgendwo
eine Fehlerquelle steckt.“ Er würde dann wahrschein-
lich eine neue kleine Zahl von Individuen untersucht
haben, und wenn das Resultat zufällig anders als das erste
ausgefallen wäre, dieses für irrig gehalten haben.
Ferner ist bis in die allerneueste Zeit von Hirnana-
tomen beständig mit Nachdruck behauptet worden, dass
der Stirnlappen des Gehirns bei Männern, der Scheitel-
lappen bei Weibern relativ grösser ist. Diese Anschauung
fängt man heute erst an, für das Gegenteil des wirk-
lichen Verhaltens zu betrachten, aber man muss ein-
räumen, dass sie unvermeidlich war, solange man sich
überzeugt hielt, dass die höchsten und abstraktesten
geistigen Prozesse das Stirnhirn zum Sitz haben. Wäre
ein Anatom bei der Untersuchung von ein paar oder
einem Dutzend Gehirnen zu dem Ergebnis gekommen,
dass das weibliche Stirnhirn relativ grösser Ist, so würde
er wahrscheinlich das Gefühl gehabt haben, vor einem
absurden Ergebnis zu stehen. Erst seitdem wir wissen,
dass das Stirnhirn des Affen relativ grösser I1st, als das
des Menschen, und keine besonderen Beziehungen zu
den höheren geistigen Funktionen hat, ist es möglich
geworden, die Tatsache zur Anerkennung Zu bringen,
dass diese Region’ bei Frauen relativ mehr ausgedehnt
ist. Erst wenn sorgfältig und methodisch durchgeführte
Beobachtungen an sehr zahlreichen Einzelfällen ohne
Voreingenommenheit durchgeführt Sind, wie sie in
Brocas Gehirntabellen, die erst nach seinem Tode
durchgearbeitet worden sind, vorliegen, kommt man zu
Resultaten, die sicher sind.
Wir haben nicht nur mit den Schwierigkeiten zu
rechnen, welche aus einer Zu kleinen Zahl von Beobach-
tungen entspringen und denen.wir durch Vergleichung
verschiedener Beobachtungsreihen begegnen können,
sondern mit den ernsteren Schwierigkeiten subjektiver
Fehlerquellen innerhalb der Persönlichkeit des Beobach-
ters. Letztere Fehlerquelle ist unglücklicherweise bei
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
400%
verschiedenen Beobachtern oft gleichartig, so dass wir
nichts gewinnen, wenn wir der einen Beobachtungsreihe
die andere gegenüberstellen. Andererseits können die
persönlichen Fehlerquellen von zwei Beobachtern so weit-
gehende Unterschiede der Resultate bedingen, dass ihre
beiden Beobachtungsreihen ganz unvergleichbar werden.
So kann ein gewissenhafter Forscher, wie MANOUVRIER,
finden, dass alle anatomischen und physiologischen
Tatsachen auf die Überlegenheit des Weibes deuten,
und ein anderer, ebenso gewissenhafter, wie DE LAUNAY
ermitteln, dass alles für die Superiorität des Mannes
spricht,
Ich habe mich bemüht, diejenigen Tatsachen der
Geschlechtsverschiedenheit, welche von zahlreichen kom-
petenten Forschern an grossen Beobachtungsreihen mit
einem hohen Masse von Gewissheit festgestellt worden
sind. in das hellste Licht zu stellen, und habe alle noch
unentschiedenen Fragen übergangen oder in den Hinter-
grund gestellt. In vielen Fällen war es mir möglich,
Tatsachen nebeneinander zu stellen, die, obgleich nicht
durchaus neu, früher noch nie in den Zusammenhang
gebracht worden sind, durch welchen ihre Bedeutung
erklärt wird. Dagegen habe ich an vielen, anscheinend
leicht zugänglichen Punkten nach sehr mühsamen Er-
mittelungen festgestellt, dass das bisher darüber Bekannte
zu widerspruchsvoll und unvollständig ist, um damit etwas
anzufangen. Derartige Dinge habe ich en passant er-
wähnt, nur um den gegenwärtigen Stand unserer Kennt-
nis zu zeigen, denn eine unvollständige Hypothese kann
doch als ‚Antrieb zu erfolgreicherer Forschung dienen.
In dieser Absicht habe ich nicht gezaudert, manche
peinlich dürren Strecken auf dem Gebiet der sekundären
Geschlechtseigentümlichkeiten anzudeuten.
Das vorliegende Buch ist, soviel ich‘ weiss, der
einzige Versuch, vom modernen Wissensstandpunkte
aus zusammenfassend die Frage nach den sekundären
Geschlechtseigentümlichkeiten zu behandeln, dagegen
Sibt es über diesen Gegenstand einige ältere Arbeiten,
die ich hier erwähnen will. Der erste wirklich wissen-
Ellis. Mann und Weib. a. Aufl.
34
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
schaftliche Versuch ist, soviel ich finden konnte, der von
Ackermann, Über die körperliche Verschiedenheit des
Mannes vom Weibe ausser den Geschlechtsteilen, Kob-
lenz 1788. ACKERMANN War ein Schüler des berühmten
Anatomen SoEMmmMErıne, und sein Buch ist zwar kurz und,
dem damaligen Standtpunkte des Wissens entsprechend,
ziemlich kahl, aber recht wissenschaftlich und frei von
Spekulation. Nach ihm kommt BURDACH, In seinem
grossen physiologischen Werke D7e Physiologie als Er-
fahrungswissenschaft, 1826—1840, hat dieser merkwür-
dige Mann sehr vollständig alle Seiten der Geschlechts-
verschiedenheit behandelt, welche damals in Betracht
gezogen werden konnten, Während manche seiner
Behauptungen zu kühn und revisionsbedürftig sind, ist
doch seine Behandlung der Frage im ganzen erstaunlich
exakt. BurdacH vernachlässigte gewisse Richtungen des
wissenschaftlichen Verfahrens, welche wir jetzt als wert-
voll betrachten, und stand zu sehr unter dem Einfluss
philosophischer Spekulation, aber seine Auffassung ist
die weiteste und denkbar wissenschaftlichste und anti-
zipiert sehr viele der Ergebnisse späterer Forschung,
ja das komplizierte Problem ist bis heute noch nicht
besser aufgestellt worden als von dem scharfsinnigen
Königsberger Physiologen. BURDACHS Schlussfolgerungen
eilen oft den Tatsachen etwas voraus, und da die In-
spiration keine anerkannte moderne Forschungsmethode
ist, hat kein Physiologe wie BuRDACH mit seinem SO
weiten Gesichtskreis, das Problem seither so umfassend
und sicher behandeln können. DARWIN hat in seiner
Abstammung des Menschen die sekundären menschlichen
Geschlechtseigentümlichkeiten berührt, aber nur soweit
sie seine allgemeine Theorie der geschlechtlichen Zucht-
wahl erläutern. Zu erwähnen ist das grosse Werk von
Pıoss und Max BarteLs: Das Weib in der Natur- und
Völkerkunde (7te Auflage Leipzig 1902), obgleich es in
erster Linie die bei den Menschenrassen vorhandenen
ethnologischen und anthropologischen Unterschiede be-
handelt. Dr. H. CampseLLs Diferences in Ihe nervous
organisation of man and woman, gphysiological and patho-
FORMULIERUNG DES PROBLEMS.
35
logical (London 189ı)ist interessant, doch fragmentarisch.
Zu erwähnen ist ferner das Werk von LomgBroso und
FEerrReROo, Das Werbals Verbrecherinund Prostituierte, denn
obwohl sein Hauptgegenstand die Verbrecherin ist. ist
der erste Teil des Buches der Untersuchung der Eigen-
tümlichkeiten des normalen Weibes gewidmet; es ist das
merkwürdigste und originellste Buch, welches neuer-
dings über diesen Gegenstand erschienen ist, obgleich
seine Schlussfolgerungen oft anfechtbar sind. Es wurde
erst veröffentlicht, als die erste Ausgabe meiner Schrift
völlig abgeschlossen war, jedoch habe ich damals noch
einige wenige Anmerkungen und Beziehungen auf die
wichtigeren Behauptungen desselben hier nachträglich
einfügen können. Zum grössten Teil sind die Fragen
des Geschlechtsunterschiedes neuerdings dem Feuilleton
und dem Revueartikel überlassen geblieben, deren Aus-
führungen gewöhnlich zu oberflächlich und zu aus-
schliesslich literarisch sind, um hier erwähnt zu
werden. Dagegen haben in neuerer Zeit Philosophen,
besonders LOTzE, SCHOPENHAUER und. HERBERT SPENCER,
das Thema mit grossem Scharfsinn, jedoch zugleich
unvollständig und einseitig behandelt.
Die neuesten Beiträge zur Lehre von den Geschlechts-
unterschieden bringen P. J, Mösıus (Beiträge zur Lehre
von den Geschlechts- Unterschieden), ein origineller und
vielseitig anregender Forscher, der 1907 gestorben ist,
und OsKAR SCHULZE in einer Zusammenfassung‘ der
anatomischen und sonstigen sekundären Unterschieds-
merkmale (Das Weib in anthropologischer Betrachtung,
1906, Würzburg). Manche originellen Untersuchungen,
die für die hier behandelten Probleme wichtig sind,
finden sich in MArros auf gründlicher Laboratoriums-
arbeit beruhender Schrift über die Pubertät (Za tubertä,
1598).
Da
III. Kapitel.
Wuchs und Proportionen des Körpers.
Allgemeine Merkmale der männlichen und der weiblichen Gestalt,
— Grösse bei der Geburt. — Die stärkere Entwicklung der Mäd-
chen in der Pubertät. — Unterschiede des _Wuchses bei Er-
wachsenen. — Bedeutung des Gewichts. — Der Bauch. — Die
Brüste. — Der Brustkorb. — Der Arm. — Die Hand, — Der
Zeigefinger. — Das Bein. — Der Fuss. — Die Zukunft der kleinen
Zehe. — Allgemeine Schlussfolgerungen.
Bei einem Blicke auf die”menschliche Gestalt oder
ihre klassische Darstellung in der griechischen Skulptur
bemerken wir gewisse deutliche geschlechtliche Unter-
schiede in Form und Konturen. Der Mann ist grösser
bei einer Tendenz zu eckigen, wenn auch nicht un-
schönen Umrissen, welche den Eindruck der Kraft
wachrufen. . Seine Knochenvorsprünge sind gewöhnlich
deutlicher und seine Muskeln sind überall klarer aus-
gesprochen. Das Weib ist kleiner und von zarterem
Bau. Die Knochenpunkte sind weniger deutlich sicht-
bar und die Muskeln sind, selbst in Fällen starker Ent-
wicklung, in reiches Fett- und Bindegewebe eingebettet,
welches sie halb verbirgt. Die. Gestalt des Mannes ist
aufrecht und straff zusammengefasst, die des Weibes
ungleichmässiger, mit breiten Hüften und fliessenden,
sich vordrängenden Kurven von Brust, Bauch und Hüften.
Während die Gestalt des Mannes instinktiv Handlung
Männliche und weibliche Normalgestalt.
sc
W
a
Den
a“
Männliche Normalgestalt Weibliche Normalgestalt
(Körperhöhe 166 cm) (Körperhöhe 158 cm)
mit eingezeichnetem Skelett zur Vergleichung der Proportionen
(nach MERKEL).
38 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
zu suchen scheint, fällt die des Weibes leicht in einen
Zustand relativer Ruhe und scheint in einer vornüber-
gebeugten Haltung Befriedigung zu finden.
Diese einfachen Geschlechtsunterschiede treten un-
mittelbar hervor und haben ihre Bedeutung. Eine ge-
nauere Kenntnis der Geschlechtsunterschiede der
menschlichen ‘Gestalt ist erst im letzten Jahrhundert
erlangt worden. Die alten Meister, wie LionAardo und
Dürer, scheinen eine gründliche Kenntnis der Körper-
proportionen besessen zu haben, aber dieses Wissen
scheint nicht auf einer umfassenden Induktion zu be-
ruhen und sie haben es gewöhnlich ihrer Kunst unter-
geordnet. In jüngster Zeit haben Anatomen und Anthro-
pologen zahlreiche Details über Wachstum und Pro-
portion des menschlichen Körpers nach Alter und
Geschlecht gesammelt. Diese Forschungen sind noch
nicht völlig abgeschlossen, aber gewisse bestimmte
Folgerungen treten doch deutlich hervor, und wenn es
auch nicht möglich ist, hier diese Untersuchungen in
ihrem vollen Umfange zu erörtern, so wird es doch
möglich sein, einige ihrer Hauptergebnisse zusammen-
zufassen. Schon bei der Geburt sind Knaben schwerer
als Mädchen; der Brustumfang der Knaben und ihre
Länge ist grösser, letztere in England und in Schott-
land etwa um !/s Zoll’), Es besteht ferner eine grössere
Variabilität der Körperlänge bei Knaben, während die
Mädchen sich regelmässiger verhalten. Die Wachstums-
verhältnisse beider Geschlechter in den ersten Lebens-
jahren sind nicht sehr genau bekannt; Mädchen und
Knaben wachsen schnell in den beiden ersten Jahren und
langsam während des dritten und vierten, wobei die
Knaben einen kleinen Vorsprung haben, wie auch in dem
Alter zwischen 5 und ı0 Jahren, in England?). Bis vor
20 Jahren hat man immer angenommen, dass Knaben
diesen Vorsprung während der ganzen Wachstumsperiode
1) „Report of the Anthropometric Committee of the British
Association 1883“.
2) Vgl. oben zitierten Report, S. 288.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 39
behalten; diese Annahme wurde a priori gemacht und
stützte sich auf einige Angaben QuETELETS. 1872 ver-
öffentlichte BowpiTteH seine epochemachenden Messungen
und Wägungen an nahezu 14000 Knaben und 11000
Mädchen Bostons und der Nachbarschaft; 1876 folgte
PAGLIANI mit zahlreichen Messungen an italienischen
Kindern. 1883 folgte der oben zitierte Bericht der
British Assocıation über Kinder in Grossbritannien;
1890 AxeL KzEys Beobachtungen an ı5000 Knaben und
3000 Mädchen in Schweden und 1891 die EmmL SCHMIDTS
an fast 5000 Knaben und 50o0o Mädchen in Leipzig.
Bowprteus Originaltafeln sind publiziert im Boston
Medical and Surgical Journal 1872, seine vollständige
Arbeit On the growth of children 1877 in dem VIII
Annual Rep. of the State Board of Health of Massa-
chusetts; sie finden sich, mit den englischen Ermitte-
lungen zusammengestellt, in dem Manual of Anthro-
pometry von ROoBERTS 1878. L. PacıIanıs Arbeiten (Sopra
alcuni fattori dello ‚Sviluppo umano) im Archivto fer
P antropolog1ia 1876 Bd, 6 und Arch, di Statist. 1877
Bd. IV. AxeL Keys Mitteilung: Die Pubertätsentwick-
lung und das Verhältnis derselben zu den Krankheits-
erscheinungen der Schuljugend steht in den Verhandl,.
des Berliner internat. med. Congresses 1890. SCHMIDTS
Resultate finden sich neben anderen neueren Unter-
suchungen über die Entwicklung der Kinder in dem
Correspond.-Bl. der deutschen Gesellschaft für Anthro-
pologie 1892.
Von allen diesen Mitteilungen ist die AxeL KeErYs
wohl die nützlichste, da sie kurz ist und alle vorher-
gehenden Untersuchungen in ihren Tabellen mit be-
rücksichtigt. Interessant sind ferner Untersuchungen von
JaszczyäskKI an polnischen und jüdischen Kindern War-
schaus, und die von GEIssLER und ULITZSCH an 21000
deutschen Kindern (Yahresber. der Anat. und Physiolog,
1890). Vergl. auch Sarcents Artikel: Z%e physical
Development of Women. (Scribners Magazıne 1889.)
(SaArsent gibt demnächst ein Buch über sehr ausgedehnte
Untersuchungen in dieser Richtung heraus.)
U
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
KNABEN.
Alter' 7 18 | 9 | 70] 47 12] 3[74T75|76| 17106] 70|20
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MÄDCHEN,
Alter 17° 21 01401411 12] 23] 341151 161771 08149120
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Nörösse | Jährliche Zunahme von 7-20 Jahre.
Gewicht
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 41
Aus diesen Arbeiten ergibt sich mit Sicherheit, dass
die Mädchen der europäischen Rassen während der
Pubertät mehrere Jahre hindurch grösser und schwerer
sind, als die gleichaltrigen Knaben. Der Zeitpunkt und
der Betrag, in denen dieses Übergewicht der Mädchen
anfängt und aufhört, sind nicht überall dieselben ?),
Vom Beginn des schulreifen Alters an und in den
nächsten Jahren sind Mädchen meist grösser und
schwerer als Knaben. Das ist wenigstens in England
wiederholt gefunden worden,
MvurraAngG' fand in Liverpool, dass vom Alter von
9 Jahren an und selbst bis zu ı4 Jahren (obgleich nicht
im zwölften Jahre) Mädchen entschieden grösser sind
als Knaben 3).
KeErr 3) fand unter vielen Tausend Londoner Schul-
kindern, dass in der ärmeren Volksklasse zwischen dem
9. und ı1. Jahre die Mädchen grösser als die Knaben,
und dass unter den Kindern der besseren Klasse die
Mädchen bis zum 10. Jahre grösser sind,
In beiden Bevölkerungsklassen waren die Mädchen
bis zum Alter von ıı Jahren schwerer als die Knaben.
In Grossbritannien wachsen die Mädchen schneller
zwischen ıo und 15 Jahren, sind effektiv grösser
zwischen ı1l/a und 14!/a Jahren und schwerer zwischen
1212 und ı512. Der Beschleunigung der Wachstums-
zunahme bei Mädchen entspricht eine Verlangsamung
bei den Knaben. Vom 1ı5. Jahre an haben wieder die
Knaben den Vorsprung, wachsen erst schnell, dann
langsamer und erreichen ihre volle Körperlänge mit
23 Jahren, während die Mädchen nach dem 16. Jahre
1) S. ferner Comes Untersuchungen über Schulkinder in
Lausanne (Zeitschr. f. Schulgesundheitspflege, 1896), und F. BurKs
eine grosse Menge von (zumeist in Amerika gesammeltem) Material
zusammenfassender Artikel im Americ. Turn. of Psychology:
Growth of Children in Height and Weight, 1898.
2) MurrFAnG, Ecoliers et Etudiants de Liverpool; L’Anthro-
Pologie, 1899.
3) KErRR, A to Education Committee of London County
Council (s. auch Brit. medic. journal, 19. Januar 1907).
12 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
sehr langsam wachsen und mit 20 Jahren zu wachsen
aufhören. Sowohl in Europa, wie in Nordamerika,
wachsen Knaben am meisten im 16. Jahre, Mädchen
im 13. und (wie in Schweden) im 1ı4. Der Periode
kräftigen Wachstums geht eine Periode ausgesprochener
Wachstumsverlangsamung voraus, deren Maximum bei
Knaben ins ıı., bei Mädchen ins ıo. Jahr fällt, bei
letzteren jedoch weniger regelmässig und deutlich, so
in Amerika, England, Deutschland, Schweden, Dänemark
und Italien. In den Vereinigten Staaten sind Knaben
während der ersten ı2 Lebensjahre 1—2 Zoll grösser,
als gleichalterige Mädchen, mit ı2!/2 Jahren fangen die
Mädchen an, schneller zu wachsen als Knaben und sind
während des 14. Jahres ungefähr einen Zoll grösser,
während des 16. Jahres werden dann wieder die Knaben
grösser. Englische und amerikanische Mädchen ent-
wickeln sich im ganzen ähnlicher als die Knaben beider
Nationen. So gewinnen Mädchen beider Völker im
13. Lebensjahre etwa ıo0l!/z Pfund an Gewicht, dagegen
beträgt die Gewichtszunahme des englischen Knaben
in seinem 16. Jahre fast 2!/2 Pfund mehr (16'/2 Pfund),
als die des amerikanischen Knaben. In Nordamerika
ähneln sich Knaben und Mädchen in dieser Periode in
höherem Masse, als in der europäischen Bevölkerung;
bei dem amerikanischen Mädchen ist die Periode der
stärkeren Entwicklung kurz und wenig ausgeprägt,
während sie in Schweden sich vom 1ı2. bis in das
16. Jahr erstreckt und in Deutschland im ı1ı, Jahre be-
ginnt und im 16. aufhört !). In Italien dauert sie ebenso-
lange und ist stark ausgesprochen. Dieses relativ geringe
Übergewicht des amerikanischen Mädchens ist aus der
grossen Entwicklungsenergie desamerikanischen Knaben
während der ganzen Pubertät zu erklären. Er gibt vom
13. bis zum 18, Jahre die grössten Durchschnittszahlen
für Länge und Gewicht, während der schwedische
Knabe in dem Alter vor und nach dieser Epoche an
1) Vgl. GeissLer und ULITzsCcHs Untersuchung von 21000
Kindern in Freiberg i. S.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 43
der Spitze steht. Das schwedische Mädchen steht
während der ganzen Entwicklungszeit an der Spitze,
mit alleiniger Ausnahme des Gewichts während des
14. Jahres, während dessen es hinter dem amerikanischen
Mädchen zurückbleibt. In Schweden erreicht die Pubertät
bei beiden Geschlechtern ihren Abschluss ein Jahr später
als in Amerika und Italien, Alle diese Abweichungen
sind nur unbedeutende Modifikationen der allgemeinen
Regel, dass die Entwicklung der Pubertät bei Mädchen
frühzeitiger ist. d. h. früher anfängt und früher endet,
PorTER kam bei seinen Untersuchungen an Kindern
in St. Louis zu dem Schlusse, dass die grössten und
schwersten auch die intelligentesten sind. Diese Er-
gebnisse sind jedoch angegriffen worden und GILBERT,
der Kinder in Jowa untersuchte, kam zu dem Ergeb-
nisse, dass, wenn überhaupt Unterschiede bestehen, die
Kinder um so unintelligenter erscheinen, je grösser und
schwerer sie sind.
Nach AxıL Key ist bei Knaben die Periode des
schnellsten Wachstums zugleich die Periode der grössten
Freiheit von Krankheiten, aber er fand diese Beziehung
zwischen Wachstum und Widerstandsfähigkeit gegen
Krankheit bei Mädchen weniger ausgeprägt; als Ur-
sache gibt er die verhältnismässig ungesunde Lebens-
weise an, welche heranwachsende Mädchen führen;
dieselbe Beziehung hat man in anderen Ländern, be-
sonders in Amerıka, gefunden, so fand CHRISTOPHER in
Chicago (Fourn. Amer. Med. Assoc., 14. Sept. 1907), dass
bei einer in der Pubertätsperiode deutlich ausgeprägten
Tendenz zum Erkranken die Mortalität gering ist, in
Boston fand sich, wie HArTweLL mitteilte, (Report of
the Director of Physical. Training, School Documents
Nr. 8. p. 43f., Boston 1894) in der Altersklasse von
10—15 Jahren, wo die Gewichts- und Längenzunahme
am schnellsten verläuft, die geringste Mortalität, Als
Jahr der geringsten Mortalität ergab sich das 13. bei
Knaben, das 12. bei Mädchen, so dass sich ein Parallelis-
mus des der Pubertät eigenen Widerstands gegen Krank-
IA
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
Zunahme der Grösse
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Diagramm der Zunahme von Körper-Grösse und -Gewicht
in Schweden nach Axgı Key.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 45
heiten ergibt; allerdings fälltbei Knaben das Wachstums-
Maximum etwas später als das Mortalitäts-Minimum.
HARTWELL hat auf eine interessante Parallele zwischen
der Häufigkeit des Stotterns und der Pubertäts-Ent-
wicklung hingewiesen (zit. W., p. 82 £.). Die Frequenz
des Stotterns variiert in verschiedenen Altersklassen,
und die Variation kann als ein Index des nervösen Gleich-
gewichts gelten. Er fand, dass Knaben von 8, ı3 und
16, und Mädchen von 7, ı2 und ı6 besonders zum
Stottern neigen, und schloss daraus, dass die Reizbar-
keit des Nervensystems, die sich im Stottern äussert,
in Korrelation steht zu den ausgeprägtesten Variationen
der Widerstandsfähigkeit des Organismus gegen das
Leben gefährdende Einflüsse,
Anscheinend ist die frühere Reife des weiblichen
Geschlechts nicht ein dem Menschen eigentümliches,
sondern ein weit verbreitetes zoologisches Phänomen.
Bei vielen Tieren sind die Weibchen im Wachsen
voraus (H, DE Varıeny, Artikel Crozssance im Dick, de
Physiologıe), so ist zwar das erwachsene Giraffen-
Männchen grösser als das Weibchen, dieses aber ist in
der Pubertät grösser. x
Die Entwicklung der Pubertät steht unverkennbar
unter dem Einfluss der Ernährung und Hygiene, hängt
also von der Gesellschaftsklasse ab, zu welcher das
Kind gehört. Jedoch scheint dieser Einfluss deutlich
begrenzt. PAGLIANI und. AxzL KEY haben hierauf be-
sonders geachtet. In Italien unterscheiden sich gut und
schlecht genährte Kinder in ihrer Entwicklung deutlich,
aber nach PAGLIAN wird die Langsamkeit der Entwicklung
schlechtgenährter Kinder dadurch kompensiert, dass sie
länger andauert, während die Entwicklung wohlgenährter
Kinder frühzeitig und schnell einsetzt, aber in ihren
späteren Stadien geringfügig ist. (Es ist bemerkenswert,
dass in dieser Beziehung das weibliche Geschlecht sich
verhält, wie wohlgenährte Kinder überhaupt.) Die Er-
nährung beeinflusst also die Wachstumsgeschwindigkeit,
Nicht aber das Resultat, das wesentlich von Geschlecht
und Rasse abhängt, Axeı Kır findet einen etwas anders
46 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
konstituierten Kompensationsvorgang, als DPAGLIANI,
nämlich, dass bei den Kindern der ärmeren Klassen die
Pubertät später beginnt, aber sehr schnell verläuft, um
zur selben Zeit, wie bei den wohlhabenden Klassen,
abzuschliessen. Er vergleicht dies Verhalten mit dem
einer Metallfeder, die sich stark zusammenpressen lässt,
um nach Beseitigung des Druckes um SOo eiliger zurück-
zuschnellen, deren Schwungkraft aber durch zu starken
oder zu lang dauernden Druck geschädigt werden kann.
QueETELET, PAGLIANI, BowprtocH und AxEL Key stimmen in
der Schlussfolgerung überein, dass Umgebung, Er-
nährung, Körperbewegung, Klima, Höhenlage und Be-
schäftigung die Wachstumsbeschleunigung um So ent-
schiedener beeinflussen, je weiter das Individuum von
dem Abschluss der Entwicklung entfernt ist, während
die schliesslich erreichte Körperlänge hauptsächlich von
Geschlecht und Rasse abhängt.
AxzL Key fand bezüglich des Einflusses der Gesund-
heit, dass Knaben während des rapidesten Wachstums
auch die geringste Krankheitsziffer. zeigen, während
die Kurve der Zahl der Erkrankten deutlich ansteigt
zu Beginn der Pubertät, wenn das Wachstum am
wenigsten steigt, und ein zweites Mal zur Zeit des
Wachstums-Abschlusses. Für diese Ergebnisse gibt es
keine annähernd gleich umfangreichen Kontroll- Er-
hebungen; sie widersprechen den gewöhnlichen Vor-
stellungen bezüglich der Schwäche des wachsenden
Knaben: Ker fand die Beziehung zwischen Wachstum
und Morbidität bei Mädchen nicht so deutlich ausge-
prägt und erklärt es daraus, dass Mädchen gewöhnlich
eine ungesundere Lebensweise führen. Ich bemerke
dazu, dass die (von BEvan LEWIS gegebene) Statistik
der Pubertäts-Psychosen bei Mädchen Keys Behauptung,
dass die Wachstumsperiode mit einer grösseren Wider-
standskraft gegen Krankheiten einhergeht, bestätigt;
von 77 derartigen Fällen bei Mädchen zwischen ı2 und
21 Jahren betrafen nur 3 Mädchen unter 15 Jahren,
während 56, also %4 im Alter von 18—21 Jahren vor-
kamen.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 47
. Ein Mädchen kann mit 20 Jahren als voll ent-
wickelt gelten, während ein junger Mann in demselben
Alter noch einige Jahre der Entwicklung vor sich hat,
besonders unter günstigen Umständen. So haben Ver
und GALToN an Cambridger Studenten nachgewiesen,
dass der Kopf des Studierenden nach dem 1ı9. Jahre
mehr wächst, als der Durchschnittskopf?).
Bekanntlich haben die oberen Klassen in den
meisten europäischen Rassen eine grössere Körper-
länge, als die unteren; das kann, wie LAPouGE meint,
zum Teil auf Rassenunterschieden beruhen, aber doch
Nicht ausschliesslich; auch meint GALTON, dass unter
den gebildeten Klassen die Durchschnittsgrösse jetzt
bedeutender ist, als vor einigen Jahren. KEingehende
Untersuchungen an weiblichen Studenten über die
mögliche Verlängerung der Entwicklungszeit unter
günstigen. Verhältnissen sind mir nicht bekannt; unter
gewöhnlichen Verhältnissen ist die Entwicklung beim
Weibe früher zu Ende, als beim Manne, und je nie-
driger die Rasse, desto früher wird die definitive
Körpergrösse erreicht, das ist z. B., nach Man, bei den
Nicobaresen bei Männern im 18. Jahre der Fall, bei
Weibern etwas früher?). Die Durchschnittshöhe er-
wachsener Männer in England ist ı. 700 m, die der
erwachsenen Frauen 1. 6o0o.m, das Verhältnis beider
also wie ı zu 0,930, Oder wie 16 zu 14,88, während in
Belgien mit seiner kleineren Rasse das Verhältnis nach
QuETELET wie 16 zu {5 ist®).
Die mittlere Körperlänge der Mitglieder der British
Association, gemessen 1889 in New-Castle, war 1715 mm,
die der weiblichen 1589 mm, die Differenz der Körper-
m
1) Journ. Anthrop. Inst., 1889, p. 140.
2) Journ. Anthrop. Inst., Mai 1889.
._ 3) Report of Anthropometric Committee of British Associa-
tion 1883. Nach GALTON ist das Verhältnis gleich 13 zu ı2 (Na-
tional Inheritance 1889), „setzen wir also jeder gemessenen Kör-
Perlänge eines Weibes einen Zoll auf jeden Fuss zu, so, können
wir ihre Grössenverhältnisse unmittelbar vergleichen mit denen
von Männern entsprechender Grösse“.
48 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
grösse beider Geschlechter entspricht also ganz der in
den Nachbarländern gefundenen. Sie betrug nach
TorınarRDd und RoLLET in Frankreich 120 mm, in Belgien
nach QuETELET 100 mm, in den Verein. Staaten nach
SARGENT jedoch etwas mehr, 130 mm, In Amerika ist
die Sexualdifferenz für das Gewicht etwas geringer, für
Höhe und vitale Kapazität jedoch merklich grösser als
in England, und zwar anscheinend infolge einer grösseren
Entwicklung des amerikanischen Mannes, nicht einer ge-
ringen: des Weibes.
SARGENT hat in der Chicagoer Weltausstellung zwei
Tonmodelle von Mann und Weib ausgestellt, nach dem
Durchschnitt von Messungen an mehreren tausend
Studenten in Harvard-College und an Schülerinnen
mehrerer höheren. Mädchenschulen. Die Julinummer
von Scribners Magazine 1893 gibt folgende Beschreibung
beider Figuren: „Die Figur des jungen Mannes gilt als
die schönere. Fest, schlankgliedrig, starknackig da-
stehend, gleicht er mehr dem Läufer, als dem Ruderer,
und zeigt nichts vulgäres, gebeugtes, nichts was hin-
deutete auf den verschlechternden Einfluss unseres Zeit-
alters der Maschinen oder auf die abnorme einseitige
Entwicklung des Fabrik- und Grosstadtlebens. Die
Pose stammt natürlich vom Bildhauer her und die
Masse zeigen: Höhe 5 Fuss 8 Zoll, Gewicht 138 Pfund,
soviel wie 149 mit unserer modernen Kleidung, Brust-
umfang 34 Zoll, bei Einatmung 37- Es ist erhebend,
dass sowohl an Gewicht, wie an Höhe und Stärke das
Modell den Durchschnitt jeder anderen Nation, selbst
der englischen übertrifft,
„Wir kommen nun zur weiblichen Statue; glissons
un peu. Ein bedeutender Künstler betrachtete die
Figur vom Standpunkte seines Berufs aus und hielt
sie für kein mustergültiges Modell. Natürlich, sagte ihr
Schöpfer, als solches. würde man den Durchschnitt der
Io oder 20 günstigen Prozente wählen, nicht dieses,
welches genau den Durchschnitt darstellt und in der
Mitte zwischen dem Besten und Schlechtesten steht
oder, anders ausgedrückt, das Beste der grössten Zahl
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 49
darstellt, Er führte dann naiv ihre Inferiorität gegen-
über dem Jüngling darauf zurück, dass ‚— Knaben
dürften das eigentlich: gar nicht hören — die Schüle-
innen der höheren Mädchenschulen Klassen repräsen-
Yeren, die sozial und intellektuell nicht so hoch stehen
Wie die, aus denen die Studenten sich rekrutieren.
(Das scheint jedoch keine zutreffende Erklärung zu sein;
die Mädchen der unteren Klassen sind, besonders auf
dem Lande, in einer der Entwicklung eines normalen
und schönen Körpers günstigen Situation.) Die weib-
liche Figur hat etwas Gebrechliches ohne ein ent-
Sprechendes Mehr an Anmut, die untere Hälfte ist
besser als die obere; zwar finden sich keine Spuren
79N zu engem Schnüren (der Taillen-Umfang ist über
24 Zoll), aber die Kurve des Rückens, die Dünnheit
des Rumpfes lassen Stärke und aufrechte Haltung
Vermissen, Die Höhe ist. 5 Fuss 3 Zoll, das Gewicht
114 Pfund, der Brustumfang nur 30, die Länge des
Fuüsses 19 7011 «
Die für den individuellen Zustand wichtigen Ge-
Wichtsunterschiede sind beim Erwachsenen für
Unsere vorliegende Untersuchung nicht von Bedeutung
und können leicht irre führen, infolge der weiblichen
Tendenz zur Entwicklung reichlichen Fett- und Binde-
ewebes, die zwar den Reiz und die Weichheit der sanft
Zerundeten weiblichen Formen, aber auch eine geringere
Quote wirklich vitalen Gewebes bedingen, und die das
Weib massiger erscheinen lassen, als es wirklich ist.
BıscHorr hat sich die Mühe genommen, bei einem 33 jäh-
rigen Manne, einer 32jährigen Frau und einem 16 jährigen
Knaben, die bei gutem Körperzustande durch einen
Unfall umkamen, die Verhältnisse der Arten der Ge-
webe zu bestimmen. Er fand folgende Beziehungen
zwischen Muskel- und Fettgewebe:
Mann Weib Knabe
Muskeln 41,8 9/0 35:8 % . 42,2 %0
Fett 18,2 %/0 28,2 %o 13,9 °/o
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl
50
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
Dank dem reichlicheren Fettansatze erreicht das
Weib, wie QuETELEeT fand, das höchste Gewicht erst
mit 50 Jahren, der Mann mit 40. Dieselbe Ursache
bedingt eine grössere Disposition des Weibes zur Fett-
sucht; BouvcHARD fand unter 86 Fällen dieses Leidens
62 Frauen und nur 24 Männer.
Dass der erwachsene Mann das Weib an Körper-
grösse und Masse übertrifft, ist ziemlich augenfällig
und genügend festgestellt; interessanter und bedeuten-
der sind jedoch die weniger augenfälligen Geschlechts-
unterschiede des Wachstums und der Proportion der
verschiedenen Körperteile. Ganz allgemein lässt sich
sagen, dass im Verhältnis zur ganzen Körperlänge
beim Weibe der Kopf länger ist als beim Manne, der
Hals kürzer, der Rumpf länger, Beine und Arme kürzer,
TorınarD fand bei Messungen an 78 Männern und
30 Frauen europäischer Rasse, dass bei jenen der Rumpf
33,5%, bei diesen 34°%o der ganzen Körperlänge aus-
macht, während Harısss in München die Rumpflänge
bei Männern auf 35,9%, bei Frauen auf 37,8% er-
mittelte, und CQueTteLeT Ähnliche Resultate erhielt.
Pror. Rıccardr fand bei der Untersuchung von 1200
oberitalienischen Männern und Frauen bezüglich der
Höhe des Körpers im Sitzen, dass hier bei Kindern
unter 6 Jahren keine Geschlechtsunterschiede beständen,
dass dann eine Zeit schwankender Verhältnisse kommt
und dass bei erwachsenen Männern dieses Mass 52 °/,
bei Frauen 53°%o der Körperlänge beträgt, daher werden
letztere, wenn sie sitzen, gewöhnlich für grösser gehalten,
als sie sind.
Rayge hält einen kurzen Rumpf unbedingt für ein
Zeichen höherer Entwicklung, es zeige dieses Merkmal
die voll erreichte Reife an!). Diese Behauptung ist
völlig zutreffend, wenn wir den erwachsenen Menschen
mit dem Kinde oder dem Affen vergleichen. Wie
QuETELET?) zeigt, ist der Kopf des Erwachsenen nur
1) „Beiträge zur Urgeschichte Bayerns“, Bd. VII, Heft 1—2.
2) „Anthropometrie“, S. 194 ff.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 51
Zweimal so hoch als der des Neugeborenen, dagegen
Sind die Beine fünfmal, die Arme viermal, der Rumpf
dreimal so lang als bei der Geburt. Die grössere
Länge des Rumpfes beim Weibe ist also einer jener
Ges chlechtsunterschiegs die nur auf das frühe Aufhören
des Wachstums beim Weibe zurückzuführen sind. Bei
EONSt gut PFroportionierten Männern, deren Wachstum
frühzeitig 8ehemmt worden ist, finden wir dieselben
Proportionen wie beim Weibe. Bei dem gewöhnlichen
Zwergentypus mit grossem Kopf und kleinen Beinen
LE 8t sich der infantile Typus in übertriebenem Grade,
Bei F ällen von rachitischer Entwicklungshemmung ist
der Rumpf Nur etwa einen Zoll kürzer als normal, die
Arme 212 Zoll, während die Beine bis zu 1012 Zoll
Kürzer Sein können, so dass der kindliche Typus er-
halten bleibt *). Umgekehrt ist bei Riesen die Grössen-
ametenz durch ungewöhnliche Länge der Beine. be.
gt,
Dagegen ist es nicht zutreffend, wie der Vergleich
der Erwachsenen verschiedener Menschenrassen zeigt,
ne ;Clative Kürze des Rumpfes ein Zeichen höherer
eMtWicklung Wäre, denn es besitzen die Neger den
[slativ kürzesten Rumpf, die gelben Rassen den
Ängsten, Während die Weissen in der Mitte stehen.
„Aus der i en Rum flänge ergibt sich
Natürlich ein Untersehia e der Lage des Körperzen-
trums Mach Alter und Geschlecht. Nach der Propor-
Uonslehre der alten Autoren und Künstler ist, wie
Schon Vitauvius aNgab, der Nabel die Mitte der Körper-
länge, Das ist Nicht "genau der Fall.. Je unreifer der
Körper St, desto niedriger liegt ‚der Nabel, und um so
Üefer liegt “Ch das Zentrum des Körpers, Bei der
Geburt fällt das Zentrum ziemlich genau mit dem N abel
ZUsSammen, Oder liegt 2 3 cm darüber; später verschiebt
das Zentrum Sich Mehr nach unten. bis es schliesslich
of the body.
1) WaLTtErR Pre, Lectures on growth rates
(Lancet, Juli-August 1800.)
2 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
beim Manne etwas unter der Symphyse liegt, beim
Weibe etwas darüber.
Beim Weibe ist die Strecke zwischen Nabel und
Symphyse grösser als beim Manne, d. h. beim Weibe
ist der Bauch ausgedehnter. Das ist (nach MANoUvRIER)
die Regel; nach CunyıneHAMm*) haben die verschiedenen
Regionen des Abdomens bei beiden Geschlechtern
gleiche Ausdehnung; da der Mann absolut grösser ist
als das Weib, ist bei letzterem also die relative Grösse
des Bauches bedeutender, ganz in Übereinstimmung mit
dem Fortpflanzungsgeschäft des Weibes, und mit der
Darstellung des. Weibes in der bildenden Kunst, wo
ein gerundeter, voller Bauch stets als eins der wesent-
lichsten Schönheits-Merkmale erscheint, während der
Mann ein flaches, nicht auffälliges Abdomen erhält;
die weibliche Bauchhaut ist ja in der Norm fettreicher,
als die des Mannes, und beim Weibe häuft das Fett
sich besonders stark in der Nachbarschaft des Nabels
an, so dass dieser beim Weibe mehr hervorspringt, als
beim Manne; der männliche Bauch ist auch muskulöser
und zeigt ein deutlicheres Relief der Muskellinien ;
zugleich ist jedoch ein grosses Abdomen ein kindliches
“und auf primitive Verfassung deutendes Merkmal; ich
habe es z. B. sehr ausgedehnt bei Feuerländern ge-
sehen, und ein Knabe dieses Volkes sah mit entblösstem
Abdomen ganz weiblich aus. >
Ein noch deutlicherer Geschlechtsunterschied liegt
in der Entwicklung der Brüste. Die Untersuchung
dieser Verhältnisse liegt jedoch ausserhalb des Rahmens
dieser Arbeit. Zu erwähnen ist die Bedeutung des Ab-
) standes der Brustwarzen von einander; er ist bei Männern
oft grösser als bei Frauen, der Grund davon ist, wie
Brücke ausführt, dass beim Weibe die Brust während
ihrer Entwicklung einer grösseren Hautfläche bedarf,
und da die Haut an den Seitenteilen des Körpers nach-
piebiger ist als zwischen den Brüsten, am Brustbein,
_ 1) „Delimitation of the regions of the abdomen.“ (Journal
of Andtomy and Physiology. 1893 Januar.)
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 53
haben die Brustwarzen die Tendenz, sich von einander
Zu entfernen '). «Die Brüste sollten immer in Feind-
Schaft leben“, Sagte ein Bildhauer zu Brücke, „die rechte
Sollte nach rechts, die linke nach links sehen“. Bei
wohlentwickelten Individuen ist das der Fall, und in
den sorgfältigen Messungen an Künstler-Modellen, die
QuUETELET am Schluss seiner Anthropometrie gibt, ist der
STOSSe Abstand zwischen den Brustwarzen bemerkens-
Wert, besonders bei den römischen und spanischen Frauen,
Über die Geschlechtsunterschiede am Brustkorb
gchen die Meinungen der anatomischen Autoritäten
auch ‚Weit auseinander, teils weil es an Untersuchungen
kü: Cinem grösseren Material fehlt, teils wegen der
K "Stlichen Deformierung des Brustkastens durch das
in 7Sett, die in Europa Sitte ist. Nach GEGENBAUER ist
breit Norm der weibliche Brustkorb relativ kurz und
der wrafür Spricht auch die Kürze des Rücken-Anteils
de Irbelsäule beim Weibe, sowie die relative Kürze
Schlaf ustbeins und die relativ grössere Länge des
sche‘ Selbeins beim Weibe. (Broca und Dwierrt.) Wahr-
du nlich ist in der Norm beim Weibe auch der Tiefen-
or hmesser der Brust geringer?). Ältere Anatomen
De 1 an, der Mann habe eine grosse Brust und kleinen
Die. Ch, das Weib eine kleine Brust und grossen Bauch.
Se Schlussfolgerung ist entsprechend der geringeren
Sinn
1, Ss ö önhei Fehler der menschlichen
en Se 60er do, Chönhe IS Buches enthält ‚eine
Brose Sante Darstellung "der Künstler-Anatomie, der weiblichen
hen Se AnthrOD OO Bischen Standpunkte aus ist die Brust ein-
Ba Te Stüdiert in dem grossen Werke von Pıoss und M. BARTELS,
Brust SS ie 4189, Diese Autoren unterscheiden drei Formen iS
Trust, die Scheibenform, die hemisphärische und die konische,
N 2) Die Wertvollsten Beiträge dazu hat WinTricH geliefert.
ach ihm ist der Diameter sterno-vertebralis: .
beim Manne beim Weibe
oben 16,58 cm 15,6 cm
En — 1923 , 18,5
(Handb h Den 19,23 ey. Abt. S. nf
angen 7 7 . L. 9 SS)
Erlangen 1887) spez. P Afhologie und Therapie, Bd. V,
4 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
Entwicklung der weiblichen Atmungsorgane richtig, je-
doch ist dabei die künstliche Einengung des unteren
Thoraxabschnittes zu berücksichtigen,
CHARPY hat den Brustkasten bei 200 Anatomie-
leichen verschiedenen Geschlechts untersucht und vor
dem 1ı5. Lebensjahre keinen ausgesprochenen Unter-
schied gefunden, für die späteren Lebensabschnitte aber
geringere Unterschiede, als zumeist angenommen wird.
Er unterscheidet drei verschiedene Typen des weiblichen
Brustkorbs, die jedoch mehr von künstlerischer als von
anthropologischer Bedeutung sind. ı. Der breite Typus,
quadratisch und massig, wie beim Manne, mit breiten
Schultern und Brüsten von Scheibenform, ist der Typus
der antiken Göttinnen, der Frauen von Ligurien, Tos-
kana und Trastevere; 2. der runde Typus, zarter und
von sexuell charakteristischerer Form, kleiner und mehr
zusammengedrückt, als der erste Typus, zugleich von
geringerer Tiefe, findet sich bei den Frauen von Venedig;
3. der lange Typus, bei dem die Lungen länglich sind,
‚Ohne jedoch zu geringe vitale Kapazität zu haben;
dies ist der Typus der Engländerinnen und der arabi-
schen Frauen mit ihren abfallenden Schultern und ihrer
graziösen Haltung ?).
Bei Frauen ist im allgemeinen der Rumpf relativ
lang, die Glieder relativ kurz; durch. letzteres Merkmal
nähert sich das Weib mehr dem kindlichen Zustande,
entfernt sich jedoch dadurch zugleich mehr als der Mann
vom Affen und vom Wilden, bei dem besonders der
Unterarm sehr lang ist.
Der Unterschied der Arme ist nicht bedeutend,
wird aber von allen Autoritäten hervorgehoben, so von
WeıssacH für die deutschen Frauen. .SArcent fand bei
amerikanischen Mädchen die Unterarme bedeutend
kürzer, die Arme nur wenig kürzer als bei Knaben;
nach Range haben die Frauen kürzere Arme und Unter-
arme. kürzere Beine und Oberschenkel: im Verhältnis
1) ADRIEN CHARPY, L’angle xiphoidien. (Revue d’Anthropol,
1884, p. 268.)
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 55
zu ihren kurzen Oberarmen noch kürzere Unterarme,
im Verhältnis zu ihren kurzen Oberschenkeln noch kür-
zere Unterschenkel und im Verhältnis zu ihrer kürzeren
oberen Extremität eine noch kürzere untere Extremität.
(Range, Physische Anthropologie der Bayern. Beiträge
zur Urgeschichte Bayerns Bd. VIII, Heft ı u. 2.) Ein
langer Unterarm und ein langes Bein würden, wenn wir
eine Vergleichung des Erwachsenen mit dem Kinde zu-
grunde legen, zu den Merkmalen einer höheren Ent-
wicklung gehören, dagegen auf. Inferiorität deuten;
wenn man den Europäer mit dem Neger und Australier,
bei denen die Arme besonders lang sind, . vergleicht.
.. Der männliche Arm unterscheidet sich vom weib-
lichen durch grössere Abgeflachtheit in der Jugend,
höhere Modellierung und weniger zylindrische Form im
reiferen Alter; beim, Erwachsenen Weibe rundet sich
der Arm durch Fettansatz ab und wird so zu einem
der Hauptreize des Weibes; der Oberarm ist zugleich
Seitlich ein wenig zusammengedrückt und wird (nach
Brücke) oft von den Künstlern der Renaissance so
dargestellt im Gegensatz zu dem breiten flachen
Unterarme.
Die Künstler bevorzugen bald den Arm des Knaben,
bald den des Mädchens; PaımA und viele andere. geben
ihren Engeln Mädchenarme, ANDREA DEL SARTO mit Vor-
liebe Knabenarme. Brücke macht einige beachtens-
werte Bemerkungen über den Einfluss körperlicher
Übung auf den Mädchenarm. Manche Mütter fürchten
für ihre Töchter jede Art von Übungen mit den Armen,
weil der Arm dadurch zu männlichen. Formen ent-
Wickelt werden könnte. Merkwürdigerweise befällt sie
diese Befürchtung nicht, wenn sie ihre Töchter stunden-
lang Klavier spielen lassen, wobei gewisse Muskeln des
Vorderarmes in höchst einseitiger Weise... angestrengt
Werden, Aber die Furcht, so wie sie besteht, ist über-
haupt eine unbegründete, Körperliche Übungen wirken
Kar unter zwei Bedingungen nachteilig auf die Körper-
Sen WENN SIE In zu zartem Alter vorgenommen
Sr so übertrieben werden, dass Abmagerung eintritt:
56 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
dass sonst selbst gewaltsame Übungen ohne Nachteil
ertragen werden können, davon sollte man doch über-
zeugt sein, seit die unter dem Namen LEonA Dares
bekannte Trapezturnerin die Schönheit ihrer Arme in
allen grossen Städten der Welt zur Schau gestellt hat.
(Brücke 1. c. S. 41.)
Die Hand und die Verhältnisse ihrer verschiedenen
Teile haben von Zeit zu Zeit viele Untersuchungen an-
geregt, so neuerdings die detaillierte Arbeit von PrITZNER,
welcher der von SCHWALBE gegründeten verdienstvollen
Strassburger anatomischen Schule angehört, Europäer
haben im allgemeinen kleinere Hände, als die schwarz-
häutigen Rassen; die gelben Rassen haben die längsten
Hände, was sich auffallend in ihren merkwürdigen
Tänzen zeigt, bei denen die Hand die Hauptrolle spielt.
Für die relative Grösse der Hand besteht nach QueteLET
und TopmArD kein Geschlechtsunterschied, RANnkE und
PriTzueER haben dagegen gefunden, dass die Hand beim
Weibe relativ kürzer ist; jedenfalls sind die Unterschiede
nicht bedeutend. |
Die relative Länge der einzelnen Finger ist gleich-
falls mehrfach untersucht worden. Nach ECckER ist bei
anthropoiden Affen und auch bei fast allen Negern der
Zeigefinger kürzer als der Ringfinger, bei der eleganter
geformten Hand des europäischen Weibes dagegen der
Zeigefinger länger als der. Ringfinger"). MANTEGAZZA
fand bei einem grossen Material, dass 500 Personen
einen kürzeren Zeigefinger besassen und nur 100 einen
längeren, dass ferner unter der ersteren Gruppe die
Männer bei weitem die Majorität bildeten, in der zweiten
Gruppe die Frauen. Unter 12 schönen Frauen aus
verschiedenen Teilen Italiens fand er (und vor ihm
Casanova) bei sechs einen längeren Zeigefinger, also er-
heblich häufiger als bei der Durchschnittsbevölkerung ®).
PritzneER bestätigt die Tatsache der grösseren Länge des
1) Archiv £. Anthropol. Bd. VII, S, 65. .
2) P. MAnTEGAzza, Della lunghezza relativa dell’indice. (Arch.
her AAO 1877, p: 22.) S. jedoch hierzu BRAUNE, Festgabe für
ARL LUDWIG {Bon 1874.
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f
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. * 57
Weiblichen Zeigefingers und findet den weiblichen Daumen
relativ kürzer. Das letztere Merkmal entspricht einem
relativ niedrigeren Organisationstypus, dagegen ist der
lange Zeigefinger gegenüber der konservativen Tendenz
des weiblichen Organismus von Interesse, weil er auf
Eine höhere Entwicklung deutet. PriıtTzyER bemerkt,
dass er sich damit begnüge, die Tatsache festzustellen,
aber für Menschen, die durchaus: eine Erklärung für
alles haben wollen, deutet er darauf hin, dass vielleicht
der ausgedehntere Gebrauch des Zeigefingers beim
Gestikulieren die Ursache seiner grösseren Entwicklung
beim Weibe sei 1).
WeIssENBERG unterstützte diese Schlussfolgerung ;
er fand bei Juden ein starkes Vorwiegen des Zeige-
fingers, besonders beim weiblichen Geschlechte, und
Wies darauf hin, dass auf assyrischen und ägyptischen
Bildwerken der Ringfinger gewöhnlich länger als der
Zeigefinger ist, und im ersteren Falle von schöner
Bildung %. Für, der die Proportionen der Finger bei
Menschen und Affen untersucht hat®), findet, dass, wenn
Man die Länge des Mittelfingers mit der der anderen
F Inger vergleicht, Daumen und (noch mehr) kleiner
Finger beim Weibe relativ kürzer sind, als beim Manne,
Während beim Affen der Daumen kurz, der kleine
Finger lang ist.
Durch die relative Länge seiner Beine unter-
Scheidet sich der erwachsene zivilisierte Mann am augen-
fälligsten vom Kinde, jedoch ‚nicht zugleich von den
Männern aller Naturvölker, da bei diesen manchmal sehr
lange Beine vorkommen. Das Bein ist derjenige Körper-
teil, welcher am schnellsten und in der variabelsten
Ausdehnung wächst und durch eine früh eintretende Ent-
LES
1) W. Prırzner, Beiträge zur Kenntnis des menschlichen
Extremitätenskeletts, ferner: Anthropologische Beziehung der
Hand- und Fussmasse, (In SCHWALBES Morphol. Arbeiten, Bd. ı
“. 2, 1890 u. 92.)
zZ *) S. WEIssEnBERG, „Die Formen der Hand und des Fusses“,
Zb f, Ethnologie; 1895, Heft 2.
* Journ. de P Anatomie et de Physiol., Mai-Juni 1900.
58 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
wicklungshemmung am meisten affiziert wird, obgleich
der Arm an derartigen Hemmungen gleichfalls teil-
nimmt!). Der Schenkel wächst mıt der grössten Ge-
schwindigkeit und zeigt auch die bedeutendsten Ge-
schlechtsunterschiede. Beim Weibe ist der Oberschenkel
massiger und ausgesprochen kürzer als beim Manne und
steht in einem anderen Winkel zum Becken. Die grössere
absolute und relative Länge des Oberschenkels beim
Manne ist sichergestellt, dagegen sind die Unter-
suchungsergebnisse für das ganze Bein weniger ge-
sichert, und nach einigen Beobachtern ist die relative
Länge des Unterschenkels beim Weibe um einen kleinen
Betrag grösser. Deutlich und schon in relativ frühem
Alter ausgesprochen ist der grössere Umfang des Ober-
schenkels beim Weibe; es ist ini der Tat das einzige
Körpermass, das sowohl beim europäischen, wie beim
amerikanischen Weibe schon von Beginn der Pubertät
an stets absolut und relativ entschieden grösser ist als
beim Manne; obgleich der Durchmesser und der Um-
fang der Hüften beim Weibe relativ grösser ist als
beim Manne, so erscheint dieser Unterschied doch
grösser als er wirklich ist, und ist nicht beständig
nachweisbar, oder doch nicht in frühem Alter, soweit
absolute Zahlen in Betracht kommen. Nach den Mes-
sungen QuerteLETs wird der oberste Umfang des Ober-
schenkels bei Mädchen absolut grösser vom 1ı4. Jahre
an, und ist schon im ı2. Jahre relativ grösser als bei
Knaben. Dr. Sarcınt -fand den Umfang des Ober-
schenkels bei ı5 jährigen Amerikanerinnen im Durch-
schnitt um 2 Zoll grösser als bei gleichaltrigen ameri-
kanischen Knaben. Bei 400 männlichen und weiblichen,
etwa 20 Jahre alten Studierenden (die in Amerika ziemlich
die Durchschnittsbevölkerung repräsentieren) fand SAR-
GENT den Oberschenkelumfang‘ ılla Zoll grösser; auch
er konstatierte, dass nur in diesem einzigen Masse das
Weih den Mann absolut übertrifft. Die von SARGENT
1) Humpury, Human Skeleton; Tormarp, Anthropologie
generale, p. 1030—1031 u. ROBERTS, Anthropometry, PD. 115—117.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. ‘59
dafür gegebene Erklärung, dass der Druck des Korsetts
beim Weibe durch Störung des Blutkreislaufs eine
grössere Massigkeit des Oberschenkels verursache, ist
höchst unwahrscheinlich. Bei seiner geringeren Länge
Nimmt der weibliche Oberschenkel nach unten schnell
ab und ist an seinem unteren Teile absolut kaum grösser
als beim Manne, so dass er eine mehr konische Form
erhält, der männliche Oberschenkel dagegen mehr eine
zylindrische. Dieses eigentümliche Merkmal gibt der
Gestalt des Weibes den Anschein geringerer Stabilität,
ein Eindruck, der noch dadurch gesteigert wird, dass
die Oberschenkel infolge der Breite des Beckens nach
Unten und innen konvergieren; diese Konvergenz gibt
den Eindruck eines einwärts stehenden Kniees und wird
kompensiert durch eine Divergenz der Unterschenkel.
Eine ähnliche Formeigentümlichkeit besteht beim weib-
lichen Arm, da der Unterarm nach aussen von der
Richtung des Oberarms abweicht 2).
PorTTer fand bei 90 Frauen zwischen Oberarm und
Unterarm einen Winkel von 167° 33‘; bei 95 Männern
War der Winkel 173° 17”2). .
„... Während der Mangel völliger Geradheit beim Arm
völlig unauffällig ist und das Auge nicht unangenehm
berührt, da die Arme die Körperlast nicht zu tragen
haben, ist der nicht völlig gerade Verlauf der Beine
beim Weibe der auffälligste, ästhetische Fehler der Form
Dei aufrechter Körperhaltung, macht das Weib unge-
Agnet für eine Haltung, die Energie ausdrücken soll,
und zwingt es, beim Laufen halbkreisförmige Rotationen
der Beine zu machen. Bei dem breithüftigen zivilisierten
Weibe ist diese Eigentümlichkeit viel häufiger, als bei
der Schmalhüftigen Wilden. Die Künstler suchen Ho
Selbe durch verschiedene Kunsteriffe zu verdecken, z. B.
nn
!) C. LANGER, Anatomie der äusseren Formen, S. 269, und
Brücke, 1. c. S. 83.
; ?) H. Percy PorTrTer, „Obliquity_ of the arm of the female
X extension“, Journ. de P.Anat. et de Phys., Juli 1895. — C. LANGER,
(Anatomie der äusseren Formen, S. 269. — E. BrRÜücKeg, Die mensch-
che Gestalt, 1890, S. 83.
60 WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
durch schmälere Hüften und relativ männliche Umrisse
oder durch Verlängerung des ganzen Beines. So ent-
sprechen die schönen, langen und geraden Beine, welche
die Schule von Fontainebleau und TirorEtTtTOo ihren
Frauen geben, einem idealen Kanon der Proportion,
der sich in der Natur selten findet.
Der Fuss ist noch eingehender untersucht worden
als die Hand, so von PrıTznNER, und zeigt gewisse inter-
essante Geschlechtsunterschiede. PrıtzueER unterscheidet
2 Fusstypen: den langen, mit langen und wohlentwickelten
mittleren Zehengliedern und den mit gedrungenen und
plumpen mittleren Zehengliedern. Es entsteht die Frage,
ob der zweite, beim Weibe gewöhnliche Typus der primi-
tivere ist 1). Wir sind, wie PrıTrzuerR bemerkt, gewohnt, die
weiblichen Formen als die primitiveren zu betrachten,
trotzdem aber ist er geneigt, den weiblichen Fusstypus
als eine neuerworbene Rasseneigenschaft anzusehen und
zwar als ein Zeichen der Rückbildung, nicht der pro-
gressiven Bildung. „Niemand kann eine Mittelphalanx
des gedrungeneren Typus betrachten, ohne zu fühlen,
dass sie eines höheren Säugetieres nicht würdig ist und
nur.eine partie honteuse bildet.“ Der Daumen und die
grosse Zehe des Weibes sind weniger entwickelt als
beim Manne; Länge des Daumens und der grossen Zehe
ist eine neue Erwerbung der Rasse und findet sich
beim Manne. PrıtrzyeR hat auch eine interessante Be-
obachtung über den gegenwärtigen Zustand und die
voraussichtliche künftige Entwicklung der kleinen Zehe
gemacht. Bekanntlich sind bis auf den Daumen und die
grosse Zehe, die zweigliedrig sind, Finger und Zehen
aus drei Gelenkgliedern („Phalangen“) zusammengesetzt.
Nach PritrzyerR hat die kleine Zehe die Tendenz, durch
Verschmelzung der Mittel- und Endphalanx zweigliedrig
zu werden. Dies ist kein Kunstprodukt, da die Ten-
denz beim Kinde und selbst beim Embryo so deutlich
hervortritt, wie beim Erwachsenen. Die menschliche
Spezies steht also mitten in einem Rückbildungsprozesse
1) ScuwaLBE, Morßhologische Arbeiten. Bd. I, S. 944.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 61
der kleinen Zehe, es handelt sich dabei jedoch nicht um
eine Degeneration der Menschheit, sondern nur um die
“Ines einzelnen Körperteils; es vollzieht sich nämlich
die aufsteigende Entwicklun g immer auf Kosten spezieller
Organe oder Teile, welche nicht länger gebraucht
werden und degenerieren oder verschwinden. Es ist
Interessant, dass in diesem Prozesse die Frauen ander
Spitze stehen; Prırzuer fand nämlich eine Verschmelzung
des Gelenks bei 41,5°%o der weiblichen und nur bei 31%
der männlichen Füsse. Übrigens ist wie auch PFriıTznNER
bemerkt, dieser Unterschied der Geschlechter erst noch
an einem grösseren Material zu bestätigen).
WEISsENBERG beachtete beim Studium der Finger
auch die relative Länge der grossen und der zweiten
Zehe (Zeitschr. f. Ethnol. 1895, Heft 2, S. 95). Er fand
bei mehr als der Hälfte der beobachteten Fälle (Griechen,
Juden usw.), dass die grosse Zehe länger war; bei
Baschkiren war dagegen die zweite Zehe länger. Bei
Griechen hatten die Weiber öfter als die Männer eine
längere grosse Zehe, bei Jüdinnen war das aber nicht
SO häufig wie bei Juden. In England fand Parg
Harrıson (Journ, of the Anthropol, Institute, XII, 1884),
dass die zweite Zehe beim Weibe zu grösserer Länge
tendiert, die grosse beim Manne; dieser sexuelle Unter-
Schied war bei verschiedenen Gruppen ausgeprägt.
P APILLAULT fand in Paris eine mässig grössere Häufigkeit
des Überwiegens der zweiten Zehe bei Frauen (18 %o
Segen 16% beim Manne), und ist der Meinung, dass
Zu einem gut gebauten Fusse eine lange grosse Zehe
Schört. STRATZ ist dagegen der Ansicht, dass der best-
Sntwickelte Fuss eine lange zweite Zehe hat, und die
Durchsicht aller grösseren Gemäldesammlungen be-
Stätigt diese Ansicht.
„Die beim Weibe vorhandene Tendenz zu einem
ärkeren Vorwiegen des Zeigefingers scheint also von
ner entsprechenden, wenn auch schwächeren Tendenz
aa
1) W. Prirzner, Die kleine Zehe. (Arch. f. Anatomie und
hysioz, 1890, Heft tu 2.) ( S.
br AN
32
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS.
zum Vorwiegen einer langen zweiten Zehe begleitet zu
sein. WEIrssENBERG betont, dass alte griechische Statuen
gewöhnlich eine längere zweite Zehe haben, und es
bestehen, wie er bemerkt, ästhetische Gründe für dieses
Vorwiegen. An ägyptischen Skulpturen (allerdings
nicht an ägyptischen Statuetten) fand er auch die zweite
Zehe gewöhnlich länger; an assyrischen Reliefs ist die
grosse Zehe immer länger.
Die Papuas, die besonders zu einer längeren zweiten
Zehe tendieren, nähern sich darnach dem klassischen
Ideale mehr als die modernen Europäer.
IiomBRoso hat vor einigen Jahren verschiedene
Gruppen abnormer und normaler Individuen in dieser
Richtung untersucht und gefunden, dass die Frauen
in allen Gruppen eine grössere Frequenz von längeren
zweiten Zehen zeigten, als die Männer (Arch, di
Psichtatria, 1901. p. 337), LomBrRoso kommt aber da-
bei infolge seiner Unbekanntschaft mit den Resultaten
früherer Beobachter zu irrigen allgemeinen Schlüssen,
OTToLENGHI und CARRARA haben die Füsse einer
grossen Zahl von Personen beiderlei Geschlechts unter-
sucht, unter denen sich ausser Normalen noch Irre,
Verbrecher und. Prostituierte befanden, um durch
Messung des Zwischenraumes zwischen. grosser und
zweiter Zehe zu bestimmen, inwieweit sich der Fuss
dem ursprünglichen Greiffuss nähert. Bei einer sorg-
fältigen Untersuchung von 100 normalen Männern und
260 normalen Frauen fand sich bei Frauen der Zwischen-
raum zwischen den beiden ersten Zehen und die Fähig-
keit, dieselben zu spreizen, Viel stärker ausgesprochen,
obgleich die Neigung der Frauen, den Fuss durch den
Schuh zusammenzupressen, eher das Gegenteil erwärten
liesse; wohlausgebildet fand sich dieser Zustand bei
28%0o der Frauen und ı1 %o der Männer. Unter Idioten,
Epileptikern, Prostituierten und männlichen Verbrechern
fand sich eine noch engere Annäherung an den primi-
tiven Greiffuss. Diese Untersuchungen sind, soviel ich
weiss, nicht von anderer Seite wiederholt worden.
WUCHS UND PROPORTIONEN DES KÖRPERS. 63
(OTrToLenen CARRARA, ZZ piede prensıle negli alienali €
EL delinquenti, Arch. di Psich. 1802 fasc. 4—5.)
In der etwas summarischen Übersicht über ein
STOsses Gebiet anthropologischer Untersuchungen, die
wir in diesem Kapitel gegeben haben, zeigt es sich
Vollkommen deutlich, dass die Unterschiede zwischen
Mann und Weib sich nicht nur auf allgemeine Propor-
tionen und Wachstumsgesetze erstrecken, sondern auf
jeden Teil des Körpers einzeln genommen, dass ein
Mann Mann ist bis auf seinen Daumen, und ein Weib
Weib bis in ihre kleine Zehe.
Mit voller Deutlichkeit ergeben sich drei allgemeine
Schlüsse: ı. das Weib ist früher reif als der Mann;
2. beim Weibe tritt Entwicklungshemmung früher ein;
3. die Proportionen des Weibes haben infolge dieser
beiden Tatsachen die Tendenz, sich denen der Kinder
und der Männer von kleiner Statur zu nähern ; dass
der körperliche Typus des Weibes jugendlich ist, ist
Fin sehr fundamentales Merkmal, dessen Einfluss sich
bis in die verstecktesten Schlupfwinkel des Lebens, auch
des seelischen, erstreckt. Es ist ein wichtiger, aber
durchaus nicht der einzige Faktor für die Bildung der
sekundären Geschlechtscharaktere N.
2
1) Viele weitere Details finden sich bei: DAFFNER, Das
Wachstum des Menschen, 1901; BuscHAaNn, Artikel: Körpergewicht,
B. der Realenzyklopädie der ges. Heilkunde, 1896; PFiTzNEr, Ein
Vena zur Kenntnis der sekundären Geschlechtsunterschiede beim
Chschen; idem: „Sozial anthropologische Studien“, in der Zeif-
Schrift f, Morphologie und Anthropologie, 1899-1902.
IV. Kapitel.
Das Becken.
Das Becken als das fundamentalste der sekundären Geschlechts-
merkmale. — Sein Bau; sein Verhalten im kindlichen Alter, —
Beziehung zur Wirbelsäule. — Einfluss der aufrechten Körper-
haltung. — Beckenneigung. — Der Sattelrücken. — Die Entwick-
lung der menschlichen Wirbelsäule. — Nachteile der aufrechten
Körperhaltung. — Die Frau führt die Entwicklung bezüglich des
Beckens. — Die Entwicklung des Beckens in Beziehung zur Ent-
wicklung der sexuellen Affekte.
In der vorhergehenden kurzen Skizze der Ge-
schlechtsunterschiede in Wachstum und Proportionen
des Menschen ist noch nicht von denjenigen Teilen
des Körpers gehandelt worden, die wir, wenigstens von
unserem gegenwärtigen Standpunkte aus, als die wich-
tigsten betrachten müssen, nämlich vom Kopfe und
vom Becken, Der Kopf beansprucht eine besondere
Behandlung, nicht nur als‘ der augenfälligste und
im allgemeinen interessanteste Teil des Körpers und als
Sitz der Hauptnervenzentren, sondern auch weil eine
ungeheuere Arbeit auf seine Erforschung verwendet
worden ist, eine Arbeit, die wir heute sogar als relativ
zu gross bezeichnen dürfen, Das Becken verdient eine
gesonderte Betrachtung als Sitz und Träger der auf-
fälligsten, beständigsten und unanfechtbarsten aller
sekundären geschlechtlichen Merkmale des mensch-
lichen Skeletts. Bei zahlreichen niederen Rassen ist
DAS BECKEN.
65
6S das in der Tat nicht in so hohem Masse, die Weiber
Einzelner zentralafrikanischer Völker z. B. sind, von hinten
betrachtet, kaum von Männern zu unterscheiden; selbst
arabische Frauen, bei denen das Becken (nach der Be-
Schreibung von KocHer und anderen) stark in die Breite
Entwickelt ist, zeigen nichts von der rundlichen Fülle
des wohlentwickelten europäischen Weibes. Das Becken
hat den Gang der aufsteigenden menschlichen Ent-
Wicklung mitgemacht; während seine Enge und geringe
Kapazität bei dunkeln Rassen affenähnlich ist, wird es
bei den höchsten europäischen Rassen zu einem Ge-
ScChlechts-Unterschieds-Merkmal, dasunmittelbarins Auge
fällt und kaum verborgen werden kann; die Frauen
dieser Rasse suchen es auch noch durch künstliche
Mittel deutlicher hervortreten zu lassen. Es ist sowohl
EIN Zeichen höherer Entwicklung, als eine Garantie der
Befähigung für die Mutterschaft, Frühere Autoren haben
auf dieses hervorstechendste aller sekundären Ge-
SChlechtsmerkmale hingewiesen durch die Bemerkung,
dass der Rumpf bei beiden Geschlechtern eine eiförmige
Gestalt hat, mit einem breiten und einem schmalen Ende,
Und dass beim Manne das breite Ende oben, beim Weibe
Anten ist, d. h. beim Mann wäre der Schulterdurch-
Messer grösser, als der der Hüften, beim Weibe kleiner.
Diese Behauptung ist, wie MATHas DuvaL und andere
8©Zeigt haben, übertrieben. Der Vergleich würde korrekt
:CIn, wenn er lautete, dass bei Mann und Weib der,
Rumpf ein Ovoid mit breiterem oberen Ende ist, und’
dass beim Manne der Unterschied zwischen dem unteren
und oberen Ende des Ovoids beträchtlich, beim Weibe
SCrngfügig ist!). So sind nach SARGcEnT bei 17—20jäh“
gen Amerikanerinnen die Hüften relativ breiter, absolut
jedoch schmäler als die des Mannes; im 20. Jahre ist
der Umfang der Hüften beim Weibe im Durch-
Schnitt einen halben Zoll kleiner; vergleicht man
Aber Männer und Frauen gleicher Körpergrösse, so
St dieses Mass beim Weibe um 6 Zoll grösser. Der
') M. Duvar, Precis d’anatomie artistique, p. 125.
S1llis, Mann u. Weib. 2. Aufl
Mi
‚u
DAS BECKEN.
Umfang des Oberschenkels ist das einzige Mass, welches
infolge eines Fettmantels fast immer und absolut grösser
beim Weibe ist, obgleich seine Grösse erheblich von der
relativen Grösse des Beckens abhängt.
Das Becken, der knöcherne Gürtel der unteren
Körperhälfte, steht beim Menschen unter ganz anderen
Bedingungen als bei Vierfüsslern. Bei letzteren bildet
es einen Bogen, welcher die hintere Hälfte des Körpers
trägt; senkrecht zu seiner lasttragenden Achse verläuft
die Richtung, in welcher die Leibesfrucht durch den
Bogen hindurchtritt, um in die Aussenwelt zu gelangen.
Beim Menschen trägt es nicht allein die Last des ganzen
Rumpfes, sondern die Last desselben wirkt fast in der-
selben Linie, in welcher die Achse des Fruchtaustritts
verläuft, Die Anpassung des Beckens an die aufrechte
Körperhaltung beruht also auf dem sehr feinen Zu-
sammenwirken verschiedener mechanischer Bedingungen,
und da dies Zusammenwirken beim Weibe auf das
Feinste adjustiert sein muss, so ist das weibliche Becken
in vielen Beziehungen höher entwickelt, als das des
Mannes, welches tierähnliche Eigenschaften bewahrt.
Das Becken besteht oben aus den Darmbeinen oder
dem Os ilium, das beim Menschen stark ausgebreitet
und ausgehöhlt ist; nach hinten aus dem verschmolzenen
Teil der Wirbelsäule, dem Kreuzbein, das nach unten
in den rudimentären Schwanzwirbeln (Os coccygis)
endet, vorn aus den beiden Schambeinen, welche in
einem Winkel von wechselnder Grösse zusammentreten,
und unten aus den beiden Sitzknochen, auf welchen
das Gewicht des Körpers bei sitzender Haltung ruht.
Alle diese das Becken bildenden 4 Knochenpaare sind
bei beiden Geschlechtern, verschieden angeordnet und
diese Verschiedenheiten sind zahlreich und deutlich aus-
geprägt. Sie können jedoch im wesentlichen dahin
i) Vgl. R. VernzAUu, Le Bassin dans les sexes et dans les
races. Paris 1875. GARSon, Pelvimetry (Journ. of Anat. and
Physiol. 1881). PLoss und MAx BArTeELs; Das Weib, Bd. L, S. 115.
E. Marrı, Sulla forma dei bacini in razze diverse. (Arch. fer
Pantroß., x892, fsc. 1.)
DAS BECKEN.
67
formuliert werden, dass das Becken beim Manne lang,
Eng und starkknochig, beim Weib breit, flach und zart
Ist; letzteres macht den Eindruck, so entstanden zu sein,
als wenn das verhältnismässig primitive und affenähn-
liche Becken des Mannes durch von innen nach unten
Wirkende Kräfte auseinandergepresst wäre, um das Ein-
trittstor ins Leben für das ungeborene Kind zu erweitern,
Oder wie die Gynäkologen sich gewöhnlich ausdrücken:
das weibliche Becken verdankt seine Breite faktisch
einer derartigen Druckkraft, welche die im Becken ent-
haltenen sexuellen Organe ausüben. _ .
.. Die Verbreiterung und weitere Öffnung des weib-
lichen Beckens hat ferner als zweites und mehr bei-
läufiges Resultat bewirkt, dass die Gelenkpfannen der
Öberschenkel weiter auseinanderliegen und diese selbst
STÖsser sind, was augenfällige Eigentümlichkeiten der
Weiblichen Körperform bedingt.
Der Abstand der Hüftbeinkämme beim Weibe er-
Scheint zwar absolut grösser als beim Manne, ist es
aber nur relativ; die Breite der oberen Öffnung des
Beckens ist jedoch relativ und absolut beim Weibe
STösser, und zwar bei niederen wie bei höheren Menschen-
Tassen, Segreı hat auf Grund dieser Tatsache einen
Index Üio-pelvicus angegeben, den er durch Multipli-
kation des Querdurchmessers des Beckenrands mit 100
und durch Division dieses Produktes mit dem Abstande
Zwischen den Hüftbeinkämmen erhält. Dabei ergibt
Sich — nach den Messungen von VERNEAU — für den
Süropäischen Mann ein Index von 46,5, für das euro-
Pälsche Weib von 50,8.
Bei der Messung von. Becken aus allen . Welt-
Segenden fand Sereı, dass der Index ilio-pelvicus fast
Ständig beim Weib grösser ist als beim Manne, und
dass Rassenunterschiede diesen Index sehr wenig zu
beeinflussen scheinen (Sereı, „L’indice ilio-pelvico“, Za
Clinıca OÖstetrica, 1899, fox. II).
Die Geschlechtsunterschiede am Becken treten sehr
Autlich hervor, nach FeHLne schon. von Beginn der
Srknöcherung an. (Arch. f. Gynäkol., X, 1876.)
Sk
PQ
DAS BECKEN.
FEHLINGS, Feststellungen sind von Professor ARTHUR
THoMson (Oxford) bestätigt worden, der solche Unter-
schiede bis in den dritten Schwangerschaftsmonat zu-
rückverfolgte. In einer sehr ausführlichen und reich
illustrierten Abhandlung über diese Frage‘ gibt er
Photographien, welche zeigen, dass der Schambeinwinkel
vom vierten Monate an beim Weibe merklich weiter
ist, und kommt zu dem Schlusse, dass im Fötalleben
die wesentlichen Sexualmerkmale ebenso bestimmt aus-
gebildet sind, wie an erwachsenen Körpern, und dass
alle im Laufe des Wachstums auftretenden Unterschiede
zwischen den fötalen und den voll entwickelten Formen,
— die vielleicht auf Druck und Muskelwirkung zurück-
führen sind — beide Geschlechter gleich beeinflussen,
und dass Einflüsse letzterer Art keineswegs, wie be-
hauptet worden ist, für die charakteristischen Unter-
schiedsmerkmale des weiblichen Beckens gegenüber dem
männlichen, als Ursachen in Frage kommen.
Nach Rommı sind sie bei der Geburt schon deut-
lich ausgeprägt, besonders in der grösseren Breite des
Schambogens und der geringeren Steilheit der Darm-
beine bei Mädchen‘).
Jüöreens fand bei der Beckenuntersuchung von je
25 Kindern beiderlei Geschlechts, dass die Becken der
Mädchen deutlich grösser waren, besonders im Quer-
durchmesser ?). Das kindliche Becken ist trotz des frühen
Auftretens sexueller Unterschiede im allgemeinen lang,
eng und steil, nähert sich also dem Becken der höheren
Affen und der niederen Menschenrassen, wie Kaffern,
Australier und Andamanen; bei europäischen Kindern
nähert sich ferner, wie LITZMANN gezeigt hat, der Quer-
durchmesser des Beckeneingangs stark dem Längen-
durchmesser, also den Verhältnissen bei niederen Rassen,
während bei erwachsenen Europäern der OQuerdurch-
1) G. Rom, Atti della Soc. Toscana di Scienze Naturali.
1892. Bd. VII
el „Beiträge zur normalen und pathologischen Anatomie des
menschlichen Beckens“, RunDoiLr VircHow-Festschrift. 1891.
DAS BECKEN.
69
messer bei weitem der grössere ist und zwar beim Weibe
In höherem Grade. In fast allen Beziehungen unter-
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Scheidet sich das Weibliche Becken stärker vom kind-
lichen, als das männliche; sein unterer Teil öffnet sich.
8
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DAS BECKEN.
anstatt zusammengedrängt zu sein, die spitzen Fortsätze
der Sitzbeine stehen besonders weit von einander.
Vergleichen wir die Breite des Beckens mit seiner
Länge, was ToPIiNnAaRD an einem grossen Material zur
Feststellung des Beckenindex getan hat, so finden wir,
dass in der Wirbeltierreihe das Becken von den niederen
Tieren an bis zum Europäer ständig relativ breiter ge-
worden ist, und dass diese relativ grössere Breite beim
weiblichen Geschlechte immer grösser ist als beim
männlichen. „Je höher eine Menschenrasse steht“, sagt
TorınarD!), „desto breiter ist das Becken, und deshalb
ist das absolut schöne Becken das geräumige. Wenn
die griechische Skulptur das Becken eng darstellt, so
beraubt sie das Weib nicht nur eines ihrer bestver-
dienten. Merkmale, sondern degradiert es ins Tierische“,
Auch durch die Breite seines Kreuzbeines weist das
weibliche Becken sich als höher entwickelt aus, Das
Kreuzbein ist bei Affen und Menschen niederer Rassen
lang, schmal und steil, entsprechend dem übrigen
Becken; der den Grad der Breite des Kreuzbeins be-
zeichnende Sakralindex zeigt eine progressive Zunahme
vom Hottentotten bis zum Europäer und gipfelt im
europäischen Weibe. Die allmähliche Entwicklung des
weiblichen Beckens und seine Abweichungen vom
männlichen Typus zeigen sich sehr deutlich in GArsons
sorfältig konstruierten Zeichnungen der typischen Becken-
formen bei andamanischen und eurdpäischen Frauen;
sie repräsentieren die Durchschnittsmasse von je 1ı3
Becken beider Kategorien weiblicher Becken.
STRATZ hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass ein
äusseres Merkmal für die Grösse des Beckens zu finden
ist in dem rautenförmigen Raume an der Oberfläche
der Kreuzbeingegend, den man nach MiıcmHaAELIs benennt.
Dieser Raum ist beiderseits lateral von zwei Grübchen
begrenzt, die den Spinae ilei posterior superior ent-
sprechen, nach oben durch ein anderes, gewönhlich über
Er DE a SE
1) TorınArD, Anthropologie generale, p. 1049.
DAS BECKEN.
71
dem Dornfortsatz des letzten Lendenwirbels gelegenes
Grübchen, und nach unten durch die Anfangsstelle der
Spalte zwischen den Hinterbacken. Beim Manne liegen
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DL
\
7
ji
Typisches Andamanisches Frauen-Becken. (Nach GArRson.)
FM
+
_
Typisches Europäisches Frauen-Becken. (Nach GARrRSson.)
die lateralen Grübchen, wenn sie überhaupt existieren,
Sinander um mehrere Zentimeter näher. . ;
StTraTz schildert diese Region eingehend (siehe die
Abbildung ‚zu Eingang dieses Kapitels) und hält die
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A
DAS BECKEN.
lateralen Grübchen für sekundäre Geschlechtsmerk-
male, deren Bedeutung fast so gross sei wie die der
Brüste, Das kann zwar kaum zugegeben werden,
andererseits gehen aber Brücke und WALDEYER zu weit,
wenn sie ihnen überhaupt jede sexuelle Bedeutung ab-
sprechen. Bei jedem jugendlichen, wohlgenährten Weibe
sind diese Grübchen breit und tief, und der so um-
grenzte Raum ist wohl abgegrenzt und merklich gegen
den Horizont geneigt. Mehrere älteren Autoren sprechen
im Tone der Bewunderung von diesen Grübchen als
einem weiblichen Reize und vergleichen sie mit denen
im Gesichte. Sie kommen nach Stratz nur in 18—20%0
der untersuchten Gruppen vor, (C. H, STRATz, Archiv f.
Anthropologie, Bd. 27, S. ı22, 1900; G. FrRITScH, Z£schr,
f. Ethnologie, Heft 2, S. ı42, 1598; Pıoss, Das Weib,
S. 181—188, 1901, ein reich illustrierter Abschnitt dieses
Werkes.)
Eine etwas tiefere Einsicht in die Probleme von
der Entstehung der Beckenform lässt sich gewinnen,
wenn man das Becken in seiner Beziehung zur Wirbel-
säule betrachtet, besonders in Beziehung zu den ver-
schiedenen Kräften, welche den Übergang zur voll-
ständig aufrechten Körperhaltung bedingen. Vertikale
Haltung steht in direktem Verhältnis zur Höhe der
Entwicklung und Ernährung, horizontaleim umgekehrten.
Die Affen sind nur unvollkommene Zweifüssler, mit
Tendenzen zur Haltung der Vierfüssler; der menschliche
Säugling ist als Zweifüssler ebenso unvollendet wie
der Affe; wilde Rassen stehen nicht so aufrecht wie
zivilisierte!),
Die Landbevölkerung hat die Tendenz zu einer
vornübergebeugten Körperhaltung (und zwar, wie De-
LAUNAY nachweist, unabhängig‘ von Feldarbeit), und der
Aristokrat hält sich aufrechter als der Plebejer. In dieser
i) Vgl. DEeLAunAYy, Etudes de biologie cömparee, I, p. 47—52.
1878; ferner Dr. FRAnK BAKERS bemerkenswerten Vortrag vor
der American Association for the Advancement of Science (1890) :
„Über die Entwicklung der aufrechten Haltung beim Menschen
und die Veränderungen, die der Körper dadurch erfahren hat“.
DAS BECKEN.
73
Beziehung scheinen Frauen dem kindlichen Zustande
Näher zu stehen als Männer. DEeLAUNAY berichtet, er
hätte unter den Eingeborenen Ceylons bemerkt, dass
die Frauen sich mehr nach vorn gebeugt halten als die
Männer, und auch in unseren europäischen Gesell-
Schaften wäre es leicht zu sehen, dass Frauen sich nicht
ganz aufrecht halten und mit nach vorn gebeugtem
Kopfe und Oberkörper gehen. Die Haltung des Weibes
hat für jeden sorgfältigen Beobachter eine wellenartige
Form, ausgenommen während der Schwangerschaft, und
eine reizvolle Bewegungsrichtung nach vorn, die mit
der stolzen und aufrechten Haltung des Mannes kon-
trastiert. Der Kopf neigt dazu, etwas nach vorn zu
fallen, und diese Tendenz scheint nicht eine Wirkung
der Gewöhnung zu sein, sondern eine anatomische Basis
Zu haben, wie CLELAND ausführt. Von Kindheit an wird
der Schädel mehr und mehr nach hinten geneigt, um
den Schwerpunkt mehr nach hinten zu verlegen. Bei
dem weiblichen Schädel ist dies nach CLELAND viel
weniger der Fall, und er ist in dieser, wie in mancher
anderen Beziehung dem kindlichen Schädel ähnlicher
als dem männlichen).
. Wie der Kopf beim Weibe mehr nach vorn ge-
NElgt ist, so ist auch das Becken mehr geneigt.
Das ist auf die teilweise Erhaltung eines kindlichen
Merkmals zurückzuführen, Der Winkel, den die Becken-
apertur beim Stehen zum Horizonte bildet, ist beim
Kinde etwa 70%—80°%, beim Manne 50%—55° beim Weibe
55°—60°9 (PapıLLAULTS Messverfahren gibt einen weiteren
Winkel, aber eine fast ebenso grosse sexuelle Differenz).
Diese Neigung tendiert dazu, den Venusberg nach rück-
Wärts zwischen den Schenkeln verschwinden zu lassen
und eine oft von Künstlern verwendete Kurve des Ab-
domens zu geben, und gibt dem Beckeninhalt eine
Stütze, Bei Tieren besteht anscheinend hier auch eine
Sexuelle Differenz; so beträgt der Winkel beim Hengste
. 1) CLELAND, The variations of the human Skull. (Philos. Trans-
actions, 1870.)
14
DAS BECKEN.
110°, bei der Stute 120°. Wahrscheinlich besteht beim
Weibe im Falle sehr geringer Beckenneigung eine Tendenz
zum Uterusprolaps. Die Rassenunterschiede sind recht
beträchtlich, so beträgt bei Mexikanerinnen, deren Becken
in mancher Hinsicht merkwürdig ist, eine durchschnitt-
liche Neigung von 61°—65°%1.
Der Beckenneigung entsprechend scheint der Anus
beim Weibe etwas mehr zurück und dem Steissbein näher
zu liegen, als beim Manne; beim Affen (und ähnlich auch
beim Kinde), besteht ein erheblicher Abstand zwischen
der Spitze des Steissbeins und dem After (CunnıncHAm).
Bei manchen afrikanischen Rassen, nach DELAunaAy selbst
bei den Marokkanern, ist die Vagina oft so weit nach
hinten gerichtet, dass der Coitus nur A la vache mög-
lich ist.
Die älteren Anthropologen pflegten die Becken-
neigung nach der Rıchtung des Urinstrahls beim Weibe
zu beurteilen; ein nach hinten gerichteter Strahl, wie
bei Tieren, findet sich nur selten, selbst bei niederen
Rassen; die Richtung des Strahls nach vorn zeigt,
dass die spezifisch menschliche, aufrechte Haltung völlig
entwickelt ist.
Die ursprüngliche Körperhaltung des Weibes beim
Urinlassen ist oft anatomisch erklärt worden (so von
WenrnicH bezüglich der Japanerinnen). Hier ist die
Haltung aber bei beiden Geschlechtern gerade umge-
kehrt, wie bei Europäern, d.h. die Männer kauern,
die Weiber stehen aufrecht. Letzteres war nach HErovoTt
auch in Agypten Sitte, und das war, nach GIRALDUS CAMB-
RENSIS, auch bei den alten Iren der Fall. So ist es auch
heute noch oder war es bis vor kurzem in Neuseeland,
bei den amerikanischen Indianern, — bei den Apachen, in
Colorado, in Nicaragua —, in Angola und einigen anderen
Teilen Afrikas und fast bei allen australischen Einge-
1) SAppeyY; s. auch H. Meyer, Die Beckenneigung, Arch. f.
Anatomie, 1861, S. 137. — FELSENREICH, „Beckenneigung“, Wiener
Mediz. Wochenschrift, 1898 — DE Yra, Ze Pelois Mexicain, -Atti
del XI. Congresso Medico, Rom 1894, vol. V, p. 137. — PAPILLAULT,
L’homme moyen a Paris, Bullet. Soc. Anthropol, 1902.
DAS BECKEN.
75
borenen; bei letzteren wird durch die Mika-Operation
die kauernde Stellung für den Mann passender, aber
diese Operation ist wohl nie allgemein angewendet
worden. Beim Urinlassen auf den Hacken zu sitzen, ist
bei den muhamedanischen Männern die übliche Haltung.
(Einzelne dieser Beispiele stammen aus der Schrift von
Captain I. Bourre, Scatological rites of all Nations, 1891
P. 148—153).
‚Es besteht kein Grund, anzunehmen, dass in dieser
Beziehung anatomische Verhältnisse eine erhebliche
Rolle spielen; es handelt sich dabei sowohl um psycho-
logische, wie um rituelle, wie schliesslich um Toiletten-
fragen. Was die Japanerinnen angeht, so schreibt mir
Prof, ANDERSON, dass kein Grund zur Annahme ana-
tOmischer Besonderheiten vorliege, vielmehr ‘machten
€S den Frauen die engen Röcke schwer, sie aufzuheben.
TReEcEAR, Präsident der Polynesischen Gesellschaft, einer
der besten Kenner der Maori, Schreibt mir, dass gegen-
Wärtig beide Geschlechter bei den Maoris kauern, dass
die Weiber früher jedoch zustehen pflegten, und macht die
Wichtige Bemerkung, dass der von den meisten primi-
tiven Völkern getragene Genitalgürtel das Urinlassen
Ohne Exhibition der Geschlechtsteile den Männern sehr
Srschwert, bei den Frauen es ermöglicht.
. Bei den meisten primitiven Völkern ist es eine
religiöse Pflicht, die Exhibition der Genitalien zu ver-
Meiden, Rituelle Rücksichten herrschten in dieser Be-
Ziehung auch uoch, als die Männer aus irgendwelchen
Gründen — vielleicht infolge ihrer Kleidung — die
kauernde Haltung aufgaben. Hesıon empfiehlt den
Männern, stehend vor einem sie ganz verdeckenden Gegen-
Stand zu urinieren, so dass keine Gottheit durch ihre
Blösse beleidigt werde (Zuge und Werke, 1, V. 727;
ferner DIOGENES LAERTIUS,- Pythagoras. VI 1, Z. 19).
Diese Gewohnheit hat sich auch bei zivilisierten Männern
bis zum heutigen Tage erhalten, obgleich sie schon lange
Nicht mehr darnach fragen, wie die Götter die Ange-
legenheit ansehen.
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{
DAS BECKEN.
Es ist merkwürdig, dass die Frauen allmählich die von
den Männern aufgegebene Haltung angenommen zu
haben scheinen. Dazu führt z.T. vielleicht der allge-
meine Gegensatz zwischen den Geschlechtern, der in
allen Dingen die Männer weibliche, die Weiber männ-
liche Bräuche vermeiden lässt; denn erst seit verhält-
nismässig kurzer Zeit hat die Frauentracht die alte
Haltung unmöglich gemacht, Jedenfalls ist nur in wenigen
Ländern die Haltung bei beiden Geschlechtern dieselbe
und das scheinen Länder zu sein, die sich in einem
Übergangszustande befinden. Fast überall sind die
Gewohnheiten beider Geschlechter in dieser Beziehung
entgegengesetzt und meist ist der Brauch in zivilisierten
Ländern umgekehrt wie der in unzivilisierten. Soviel
ich weiss, ist die Entwicklung dieser Erscheinungen
noch nie untersucht worden und doch sind sie so lehr-
reich und weittragend, wie viele hochrespektable
Diskussionen auf dem Gebiete der kulturellen Ent-
wicklung. ;
Die Beckenneigung steht in Beziehungen!) zu der
sattelförmigen Einbiegung der Wirbelsäule in der Lenden-
Kreuzbeingegend, die in ihrer pathologisch übertriebenen
Form als Lordose bezeichnet wird, sie ist mit derselben
aber nicht identisch; sie ist beim Affen nur leise an-
gedeutet und existiert nicht beim menschlichen Embryo;
dagegen ist sie bei den afrikanischen Rassen stark aus-
gesprochen und scheint durch die Tätigkeit der Rücken-
muskeln, so beim Rudern in aufrechter Haltung und
beim Tragen von Kindern auf den Hüften, verstärkt
zu werden. Dieser Sattel ist bei Frauen mehr aus-
geprägt als bei Männern, wie DucHENNE?) zuerst gezeigt
hat, und zwar besonders bei spanischen und kreolischen
ı) Durch die Sattelbiegung der Lumbo-sakral-Gegend wird
dem Becken eine Hebelbewegung aufgezwungen, durch die der
Vorsprung zwischen Kreuzbein und Wirbelsäule weiter nach vorn
kommt, und die Hüftgelenkpfannen weiter nach hinten.
| 2) Physiologie der Bewegungen. Deutsch von C. WERNICKE,
Cassel und Berlin, 1885, S. 575—3580.
Frauen!), bei deren schö-
ner Gestalt und Haltung
sie der hauptsächlichste
anatomische Faktor ist?).
CunnineHAMms Lumbo-
Vertebral-Index. drückt
den Grad der Tendenz
dieser Krümmung aus;
ein hoher Index zeigt
eine schwache Krüm-
mung, ein niedriger eine
Starke. Beim ‚Schimpan-
Sen ist der Index 117,
beim Australier 108, bei
dem Andamanen und
der Andamanin 106 und
105, beim Neger 105,
beim Europäer 96, bei
(21) irischen Männern
90,2, bei (22) irischen
Frauen 93,5. Der Ge-
‚Schlechtsunterschied
dieses Index. findet sich
bei den meisten Men-
Schenrassen mit Aus-
Nahme des Buschmannes
und nicht bei allen Affen.
DAS BECKEN.
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1) Art. „Ensellure“, Diet.
des Sciences anthrop.
2) Auch an mehreren
Küstenplätzen des nordwest-
lichen Frankreichs, in Bou-
logne, auf der Insel Breat, im
Fischerdorfe Portel findet
Sich diese graziöse Figur,
Diese und benachbarte Orte
Sollen nach LAGNEAU von
Basken kolonisiert worden
sein. (Bull. de la Soc. d’An-
thropol. II, p. 2342, p. 507.)
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78
DAS-BECKEN.
Die Krümmung ist also um so stärker, je höher die
anthropologische Stellung ist, und zeigt bei Frauen eine
Tendenz zu stärkerer Ausprägung, Die Anatomen
LUSCHKA, BALANDIN, CHARPY, RAVENEL stimmen alle über-
ein, dass die Lendenkrümmung beim Weibe am stärk-
sten. Nach CHARPY ist die Krümmung abhängig‘ von
der Neigung des Kreuzbeines, er ist der Meinung, dass
die Schwangerschaft mit der Entstehung der Lenden-
kurve viel zu tun hat. Nach CunniıneHAM hat das Tragen
von Kindern auf dem Arme oder auf dem Rücken eine
noch grössere Bedeutung, wozu er noch bemerkt, dass
das Merkmal unverkennbar erblich ist., Hottentotten
haben eine sehr ausgeprägte Lendenkrümmung, bei
vielleicht etwas grösserer Beckensteilheit, und der Gipfel
der Kurve liegt bei ihnen sehr weit unten. Neben
grösserer Krümmung der Lendenwirbelsäule ist die-
selbe auch relativ länger als beim Manne; beim Weibe
scheint die Kurve auch früher. zu beginnen und ihren
Gipfel früher zu erreichen. Es ist dies ein Merkmal,
das mit seiner Konsequenz, dem relativ geräumigeren
Bauch, das Weib für die Schwangerschaft angepasst er-
scheinen lässt. Beim Weibe beträgt die Länge der
Lendenwirbelsäule 32,8%, beim Manne nur 31,7% der
ganzen Wirbelsäule, während der dorsale Teil derselben
beim Manne 46,5%0 gegen 45.8°%% beim Weibe beträgt,
Die Lendenregion der Wirbelsäule ist beim Weibe also
nicht‘ nur länger, sondern auch anders aufgebaut, da
sie mehr gekrümmt ist, und die einzelnen Wirbel, dieser
Krümmung entsprechend, mehr differenziert sind. . Cun-
NINGHAM bemerkt dazu, alle diese Unterschiede liessen
sich durch die Unterschiede der Lebensgewohnheiten
beider. Geschlechter erklären. Kein anderer Feil der
Wirbelsäule hängt in seiner Form mehr ab von den
derselben obliegenden Funktionen, denn dieser Teil hat
1) Die oben gegebenen Zahlen stammen von Prof. CUNNINGHAM,
der die Verhältnisse der Wirbelsäule sehr genau untersucht hat,
Siehe „Memoirs of the Royal Irish Academy“, 1886, Nr. 2,. und
„The Lumbar Section of the Vertebral Column“ (Journ. of Anat.
and Physiol. Okt. 1888).
DAS BECKEN.
79
eigentlich die Last des darüber lagernden Körpers zu
tragen.
SOULARUVE fand bei gesonderter Messung der Vorder-
fMäche jedes einzelnen Wirbels gleichfalls eine relativ
grössere Länge der Lendenwirbel und konstatierte das-
selbe auch an den unteren Dorsalwirbeln. Der Unter-
schied war bei Europäern, Mongolen, Indianern und Negern
fast gleich gross. SovLARvE fand ferner, dass das Kreuz-
bein um einen sehr geringen Betrag breiter und auch
mehr gekrümmt ist; bei Mongolinnen und Indianerinnen
war es jedoch relativ breiter als bei Männern gleicher
Rasse. -
ROSENBERG ist bei seinen Untersuchungen über die
Entwicklung der Wirbelsäule zu dem Ergebnis ge-
kommen, dass sie beim Menschen mitten in einem Prozess
der Verkürzung steht. ‘Die Ahnenform der Wirbel-
Säule hatte nach seiner Meinung 25 bewegliche Wirbel
vor dem Kreuzbein; jetzt haben wir deren 24 und in
Zukunft werden nur noch 23 existieren. Er deutet ferner
an, dass die Existenz einer rudimentären, knorpeligen
Rippe am Querfortsatz des ersten Lendenwirbels, welcher
F Ortsatz später, mit dem Querfortsatz verschmilzt, auf
“nen Zustand deutet, den man jetzt gewöhnlich beim
Gibbon mit seinen ‚13 Rippen und 25 freien Wirbeln
findet, Dieser atavistische Typus findet sich auch heute
Noch manchmal beim Menschen (Morphol. Jahrbuch 1876).
RosEnBERGS Anschauung wird unterstützt durch Pror.
AMBROS BRINNINGHAM (Journ. of Anat, and Physiol., Fuly
1891). WIEDERSHEIM, der ROSENBERGS Anschauungen zu
teilen scheint, bemerkt, dass Fälle von Reduktion der
Zahl der Wirbel nur bei Frauen vorkommen, So
dass sie in dieser Beziehung an der Spitze des Ent-
Wicklungsprozesses stehen, entsprechend der höher
differenzierten Entwicklung ihres Beckens. Diese An-
Schauung wird jedoch nicht allgemein angenommen; so
.') SouLARUE, Etude des proportions de la colonne verlebrale
chez Ühomme et chez la Tem et Mem. Soc. d’Anthro-
POlogie, 1900.
%
5
DAS BECKEN.
verwirft sie. Pror. PATERSON deshalb, weil häufiger eine
Verlängerung als eine Verkürzung der präsakralen
Wirbelsäule bestände; das Referat seines Vortrags gibt
jedoch nicht Tatsachen, die seinen Widerspruch gegen
ROSENBERG hinlänglich begründen, und er gibt zu, dass
am kaudalen Ende der Wirbelsäule ein Verschmelzungs-
prozess vor sich geht.
Die Frage ist neuerdings von Prof, Dr. J. CUNNINGHAM
behandelt worden, er tritt gegen die Anschauung von
ParTerson auf und nähert sich der von RosEensBERG (Z%e
significance of Anatomical Varıations, Brit, Med. Journal,
10. Sept. 1898), Er nimmt an, dass die lumbo-sakrale
Region der Wirbelsäule, die eine Position labilen Gleich-
gewichts hat, sowohl retrospektiven wie progressiven
Variationen unterworfen sein kann, und führt aus (gegen
PATERSON), dass die Statistik allein die hier herrschenden
Entwicklungstendenzen nicht aufdecken kann; eine vor-
wärts gerichtete Variation kann sich zuerst nur schwer
gegen die starke Gegenströmurig normaler und atavisti-
scher Tendenzen behaupten, so dass sie nach längeren
Zeiträumen in der Statistik zum Vorschein kommt, Wenn
wir — so führt C. aus — annehmen, dass der Mensch
und die anthropoiden Affen von eimem gibbonähn-
lichen Ahnen abstammen mit mindestens 26 präsa-
kralen Wirbeln, so findet man deren beim Menschen
25, beim Gorilla und Schimpansen 24, beim Orang 23.
Der Orang ist also in dieser Richtung am weitesten. vor-
geschritten, und hat das Ziel erreicht, denn er variiert
relativ sehr wenig. Mensch und Gibbon hinken nach,
obgleich sie auf diesem Wege auch vorwärts gekommen
sind. CunyineHaMm bemerkt noch — ohne diesem Argu-
mente eine anatomische Bedeutung beizumessen — dass
der ästhetische Sinn des Menschen nachdrücklich einen
langen Rumpf mit kurzen Beinen ablehnt.
Wenn der Körper des Weibes mehr Reminiscenzen
an die Haltung der Vierfüssler verrät, als der des Mannes,
so hat das seine guten Gründe, Für die Mutterschaft
ist nämlich eine geringere Anpassung an die aufrechte
Haltung von Vorteil. Die Annahme der aufrechten
DAS BECKEN.
81
Körperhaltung ist für beide Geschlechter zum Ursprunge
von mehrfachen Nachteilen und pathologischen Zuständen
geworden, wie Baker gezeigt hat. Ich will als solche
hier nur nennen: Hernien, Blasensteine, Erkrankungen
des Wurmfortsatzes, variköse Venen, Gefahren der Ver-
letzung für die grossen Arterien, Torpidität der Gallen-.
blase, Einengung der Lungen und somit geringere
Fähigkeit für fortgesetzte schnelle Körperbewegung,
Leberstörung infolge von Stockungen in der Vena
cava und Neigung zu. Synkope. Das Weib teilt diese
Nachteile mit dem Manne, hat aber noch andere be-
sondere Schäden zu tragen. Die aufrechte Haltung hat
relativ nur unbedeutende Nachteile für die männlichen
Sexualorgane, beeinträchtigt dagegen die Funktionen
der Mutterschaft erheblich. BAKER bemerkt hierüber:
„Bei Vierfüsslern ist der Geburtsakt relativ leicht, da
das Becken kein ernstliches Hindernis bildet... Die. Ge-
Stalt des weiblichen Beckens ist daher das Resultat
eines Kompromisses zwischen zwei Tendenzen, der
tragenden und der die Geburt erleichternden. Wenn
Man bedenkt, dass parallel mit der Anpassung an die
aufrechte Haltung die Grösse des Kopfes der Frucht
Zugenommen hat, wodurch. ein neues Hindernis für
die Austreibung der Frucht geschaffen und die An-
DPassung erschwert wurde, können wir uns vorstellen,
Wie ernst der Kampf gewesen ist und werden uns nicht
länger wundern, dass Todesfälle während der Geburt
bei den höheren Rassen viel gewöhnlicher sind, und dass
die ganze Organisation des Weibes zeigt, dass sie in
dem Kampf um die höhere Entwicklung mehr gelitten
hat als der Mann. Bei keinem anderen Säugetier zeigt
Sich ein so tiefgehender Unterschied zwischen dem
Männlichen und weiblichen Becken. Bemerkenswert
St die Häufigkeit von Lageveränderungen des Uterus,
die bei Vierfüsslern fast unbekannt sind, und es ist be-
Zeichnend, dass eine der wirksamsten Massnahmen in
der Behandlung des dislozierten Organs die sogenannte
Knie- Ellenbogen-Lage ist, die stark an die Gewohnheiten
der Vierfüssler erinnert“, Um uns eines anschaulichen
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
39
DAS BECKEN.
teleologischen Ausdruckes zu bedienen, kann man sagen,
dass der Erwerb der aufrechten Stellung die Natur in
ein böses Dilemma gebracht hat. Für die Stabilität des
Körpers und die richtige Lagerung der Beckenorgane
ist es erforderlich, dass das Becken spröde, sein Knochen-
gürtel fest und hart, der innere Kanal schmal sei.
Andererseits erfordert das Gesetz der höheren Entwick-
lung eine die Stabilität des Beckengürtels verringernde
Weite des Beckenkanals, welche die Geburt von Kindern
mit grossen Köpfen ermöglicht. Die delikateste Ad-
justierung‘ ist nötig, um einen unversöhnlichen Konflikt
dieser direkt entgegengesetzten Anforderungen zu ver-
hüten. Wenn wir durch den Nabel geboren würden,
wie manche Kinder glauben, so würde dies Dilemma
nicht bestehen und es würde mehr Genie uud wahr-
scheinlich mehr Geistesstörung in der Welt geben; aber
dieser für den Zweifüssler sehr erspriessliche Geburts-
mechanismus würde in der Haltung eines Vierfüsslers
völlig unmöglich sein. Während dieser Kompromiss
nicht absolut vollkommen ist und wir an den Nachteilen
der Zweifüsslerhaltung leiden, haben die Bedürfnisse
der höheren Entwicklung der Rasse eine steigende Ex-
pansion des Beckens nötig gemacht; sie werden das
wahrscheinlich auch weiterhin tun, und die Frau ist die
natürliche Führerin in dieser Bewegung, Die Kinder
sind häufig etwas zu stark entwickelt für die Grösse
des Eintrittstors in die Welt; dieser raffiniert konstruierte
Knochengürtel ist eine zugunsten der Mittelmässigkeit
wirkende Grösse, welche hochentwickelte Früchte von
der Chance des Lebens ausschliesst; andererseits wird
dieser Faktor fortschreitend schwächer, denn die Grösse
des Kopfes hängt von beiden Eltern ab, und Frauen mit
engen Becken neigen zu Frühgeburten und zur Produktion
schwächlicher Kinder, so dass sie nicht leicht ihr enges
Becken auf eine fortpflanzungsfähige Generation ver-
erben, Bei der höheren Entwicklung einer Rasse muss
der Grössenzunahme des Kopfes immer eine stärkere
Entwicklung des Beckens voraus und parallel gehen.
Hier darf vielleicht ein Punkt berührt werden,
DAS BECKEN.
83
dessen Beziehung zur vorliegenden Frage gewöhnlich
ignoriert wird. Viele Schriftsteller, ich denke besonders
an D. F. Strauss im Neuen und alten Glauben und an
Rzınan und seine Einleitung zur Übersetzung des hohen
Liedes, haben in begeisterten Worten von einer künf-
tigen Menschheit gesprochen, in der die Sinnlichkeit
(womit sie den sexuellen Affekt meinen) fast‘ ver-
Schwunden sein soll, um einer rein geistigen Existenz
Platz zu machen. Eine solche Annahme ist völlig grund-
los. Wir wissen nicht gerade viel von den sexuellen
Emotionen (die von den Gewohnheiten des Geschlechts-
lebens zu unterscheiden sind) unter den niederen
Rassen, aber während ihre geschlechtlichen Gewohn-
heiten oft sehr frei sind, sind ihre geschlechtlichen
Gefühle nachweislich nicht sehr stark!). Kapitel XIHI
des berühmten Werkes von Pıoss bringt dafür genügende
Belege. Bei genauerer Information würden wir wahr-;
Scheinlich wissen, dass die höheren Rassen, d. h. die
Mit dem grösseren Becken, fast immer den stärksteı
Geschlechtstrieb haben. Mit dem Fortschritte der Zivili
Sation werden sexuelle Abnormitäten und Personen
Mit fehlendem oder schwachem Geschlechtstriebe häu-
figer, aber diese Individuen tragen, auch wenn sie
gesund und hochintelligent sind, nicht zur Fortpflanzung
der Rasse bei. Die zu diesem Zwecke bestgeeigneten
Individuen sind die mit grossem Becken, und da das
Becken der Sitz der grossen Fundamente der Ge-
Schlechtsaffekte ist, ist seine Entwicklung und die seiner
Nerven und Gefässe notwendig verbunden mit einer
höheren Intensität des Geschlechtsaffektes. Gleichzeitig
befähigt die grössere Aktivität der Hirnzentren Sıe Zu
“ner Beherrschung und Nutzbarmachung des stärker
Werdenden sexuellen Affektes, so dass die Reproduktion
n Schranken gehalten und das Gleichgewicht bis zu
“nem gewissen Masse wiederhergestellt wird.
—
Wa !) S. HavsLock EıiLıs, Das Geschlechtsgefühl, X. Auflage,
tZburg 1909, Appendix A.
OA
V. Kapitel. .
Der Kopf.
Der Schädel. — Sein Verhalten beim Kinde. — Die Haupt-
ursache der sexuellen Unterschiede am Schädel. — Frühere An-
sichten. — Die drei Hauptunterschiede der Schädel beider Ge-
schlechter. — Unwesentlichere Unterschiede, — Der Schädel-
Index. — Das Gesicht. — Geschlechts-Unterschiede in der Ent-
wicklung des Gesichts. — Das Auge. — Der Gesichtswinkel. —
Der Unterkiefer. — Die Zähne. — Die Schädel-Kapazität. —
Geschlechtsunterschiede in der frontalen, parietalen und occipi-
talen Schädelregion. — Der Schädel des Mannes nähert sich dem
senilen, der des Weibes dem infantilen Typus.
Das Gehirn. — Unterschiede im Hirngewicht. — Hirngewicht
Irrer. — Die Normen des Hirngewichts. — Körperlänge und
Körpergewicht. — Fehlschlüsse. — Das weibliche Gehirn ist relativ
grösser als das des Mannes. — Vorteile und Nachteile eines
grossen Gehirns. — Geschlechtsunterschiede in der‘ Gehirnent-
wicklung. — Geschlechtsunterschiede in den frontalen, parietalen
und occipitalen Regionen des Gehirns. — Die blutversorgung des
Gehirns. — Das Kleinhirn und andere subkortikale Zentren. —
Endergebnisse der Untersuchungen über die Geschlechtsunter-
schiede am Gehirn.
Das Studium des Beckens führt uns auf ganz natür-
lichem Wege zu der Untersuchung des Kopfes, der,
dank dem: Gebär-Mechanismus, zu jenem in so naher
Beziehung steht, und zwar wollen wir zuerst. den
Schädel betrachten, der an. sich eigentlich unwesentlich
ist und nur als die verhältnismässig leblose Kapsel
des lebendigen Gehirns, zu dessen Gestaltung er bis
DER KOPF.
35
zu einem gewissen Grade beiträgt und von dem er
seinerseits wieder zum Teil gebildet wird, Interesse ver-
dient; sodann wollen wir einen Blick in das interessante,
jedoch bisher noch nicht genügend erforschte Gebiet
des Gesichts tun und uns dann dem Gehirn zuwenden,
als dem unfraglich wichtigsten Organe, dem Sitz der
bei allen in unserem Organismus vor sich gehenden
Prozessen mehr oder weniger beteiligten Nervenzentren,
einem Organ, dass leider der Untersuchung nur sehr
schwer zugänglich ist.
Der Schädel.
Wenn wir den Schädel eines kleinen Kindes
betrachten, so finden wir, dass er sehr leicht. und sehr
glatt ist, mit dünnen, durchsichtigen, von zarten Blut-
gefässen durchzogenen Wänden. Die Augenhöhlen
erscheinen gross; der Unterkiefer ist klein und flach,
mit sehr stumpfen Ecken. Das Gesicht im ganzen
genommen ist relativ klein. Die Parietalknochen sind
Sehr gross, sie bilden den grösseren Teil des Schädeldachs
und einen grossen Teil der Schädelwände; an jedem
der Parietalknochen befindet sich ein wohlausgeprägter
Höcker, das Resultat von Druck-Kräften verschiedener
Art, der den Eindruck hervorruft, dass der Schädel
Ooch nicht seine volle. Ausdehnung erlangt hat. Die
übrigen Knochen sind meist in sehr unentwickeltem
Zustande und ihre Vereinigung ist noch unvollständig.
Die Knochenfortsätze und Leisten, die später den An-
Satzpunkt für kräftige Muskeln zur Aufrechterhaltung
en Drehung des Kopfes bilden, fehlen noch fast ganz.
erner finden wir, dass das Loch, durch welches das
Rückenmark aus der Schädelhöhle in den Wirbelkanal
übergeht, sehr weit zurückliegt, so dass der Kopf, wenn
H an dieser Verbindungsstelle zwischen Schädel und
; als unterstützt wird, die Neigung hat, nach vorn
u sinken.
. y Man würde einen Kinderschädel immer mit Leich-
gkeit erkennen, selbst wenn er so gross wäre wie der
36
DER KOPF.
eines Erwachsenen. Anders liegen die Sachen, wenn
wir uns nun von den Altersdifferenzen zu den Geschlechts-
unterschieden am ausgewachsenen Schädel wenden.
Einige Forscher (z. B. Azggsyr) sind, wenn auch nicht
Aa
&
P
1. Schädel eines Australnegers. 2. Schädel eines erwachsenen
Gorilla. 3. Schädel eines einjährigen Kindes, 4. Schädel eines
jungen Gorilla. (Nach WIEDERSHEIM.)
neuerdings, so weit gegangen, zu erklären, dass sich
ausser der Grösse absolut keine sexuellen Differenzen
am Schädel nachweisen lassen, und die kompetentesten
Kraniologen, wie z. VIRcHoWw, der ausgezeichnetste
DER KOPF.
87
von allen, behaupten, dass es bei Nicht- Europäern
ausserordentlich schwierig ist, aus dem Schädel das
Geschlecht zu erkennen, da die Kriterien, die für eine
Rasse gelten, sich auf eine andere nicht anwenden lassen,
obschon unter primitiven Rassen (z. B. den Einwohnern
von Neu- Britannien) die sexuellen Schädeldifferenzen
„kolossal“ sein können. Im ganzen befinden wir uns
wohl dem Schädel gegenüber in derselben Lage, wie
(nach Peiıtzuer) mit Bezug auf die Hand; dieser Anatom
erklärte nämlich, nachdem er Hunderte von skeletttierten
Händen sorgfältig untersucht und bei Berücksichtigung
des Durchschnitts merkliche sexuelle Differenzen ge-
funden hatte, dass er absolut ausserstande sei, die
Hand eines Mannes von der eines Weibes zu unter-
scheiden. MANTEGAZZA, ein sehr erfahrener Anthropologe,
fand beim Versuche, das Geschlecht von Schädeln
bekannten Ursprungs durch blosse Inspektion zu be-
stimmen, dass er sich in 3%o0 bis 5°%o irrte; REBENTISCH,
ein jüngerer und weniger erfahrener Beobachter, irrte
Sich in 9%.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist der Schädel
von ungleich geringerer Bedeutung als das Becken, und
obschon man nicht die Behauptung aufstellen darf, dass
sich die Unterschiede zwischen männlichem und weib-
lichem Schädel lediglich auf die Grösse beziehen, SO
ist es sehr wahrscheinlich, dass sich, wie MANOUVRIER
sagt, alle nachweisbaren sexuellen Schädel-Differenzen
auf die allgemeine physische Organisation zurückführen
lassen, d. h dass sie hauptsächlich von der grösseren
Frühreife des Weibes und der bei ihr früher eintreten-
den Entwicklungshemmung abhängen, wodurch sie in-
dessen, wie ich kaum hinzuzufügen brauche, durchaus
nicht an Bedeutung verlieren. ;
_ Jacosazus aus Kopenhagen, der 1709 sein Buch De
distinguendis cadaveribus fer crania schrieb, wies bereits
einige Geschlechtsunterschiede am Schädel nach. Söm-
NenıNG (De corporis humant fabrica, 1794) hielt den weib-
nen Schädel für verhältnismässig grösser als den männ-
ichen. Bıcmar dagegen (Anatomie descripkive, 1801)
A
DER KOPF.
fand wenig sexuelle Unterschiede, Gar. (Fonchkons du
cerveau, 1822) fand den Längsdurchmesser bei Frauen
grösser, die andern Durchmesser dagegen kleiner. Diese
Anschauungen der hervorragendsten Autoritäten jener
Zeit gründen sich indessen nicht auf genügend aus-
gedehnte und genaue Untersuchungen. BaArRnarD Davıs
und THurnam (Cranica Brilannica 1856—65) scheinen zu-
erst auf die Notwendigkeit hingewiesen zu haben, bei
kraniometrischen Tabellen immer auf eine Trennung
der Geschlechter zu achten. DureAu (Des caracttres
sexuels du cräne humain; Revue d’anthropologie 1873,
Bd. II. pp. 475—487) gab eine ausgezeichnete Dar-
stellung der geschichtlichen Entwicklung der Frage,
sowie des gesamten Tatsachenmaterials und MAnTEcAzzA
(Der Caratteri sessuali del cranio umano ; Arch. ger
V’Antropologia, 1872, Ba. IL. p. ı ff.) gab einen kri-
tischen Überblick über diesen Gegenstand.
Die wichtigsten neueren Untersuchungen finden
sich in zwei Inaugural-Dissertationen zusammengestellt:
E. RzzexntIscyH, Der Weiberschädel (Morpholog, Arbeiten
II, 2, 1893) und PavL Barters, Über Geschlechtsunter-
schiede am ‚Schädel, 1897. Eine gute allgemeine Dar-
stellung der Geschichte der Kephalometrie findet sich
bei MArase, Hıstoriqgue des recherches sur la Cihhalometrie,
L’Annee Psychologique, V, p. 254—208, 1899. Bezüglich
der Methoden s, MANovvRrıER, ibidem. P- 558—591.
PaAyıcH hat durch seine Untersuchun gen an Florentiner
Kinderschädeln nachgewiesen, dass sich schon vom
sechsten Jahre an sexuelle Unterschiede. bemerklich
machen und dass die wichtigsten derselben schon vor
dem zwölften Jahre deutlich ausgesprochen sind}').
Was nun. die konstantesten Geschlechtsmerkmale im
ganzen betrifft,. so lassen sich nicht zwei Autoritäten
zitieren, die darin völlig übereinstimmten, denn jeder
Kraniologe hat seine Lieblingsneigungen, und man muss
berücksichtigen, dass mancher Schädel in gewissen Merk-
1) Panıcy, Ricerche di craniologia sessuale. (Arch. ger
Panthrop, 1892, Heft 1.)
DER KOPF.
39
malen einen männlichen, nach andern einen weiblichen
Typus zeigt; während ein Männerschädel sich in seinem
Charakter einem Weiberschädel nähern kann, ist es
nach MaANnTEGAzzA häufiger der Fall, dass ein Weiber-
schädel dem eines Mannes ähnlich ist. ;
Es gibt kein einziges konstantes Geschlechtsmerk-
mal des Schädels, aber es gibt einige wenige Merk-
male, welche zusammengenommen keinen Zweifel an
dem Geschlechte des Individuums lassen. Ich will in
folgendem, so kurz als möglich, die Meinungen von
vier Anthropologen verschiedener Länder kurz darlegen,
von Broca in Frankreich, ScHAFFHAUSEN in Deutschland,
ManTzcazza in Italien und Turner in England’),
_ «©. Das vielleicht hervorragendste und charakte-
ristischste Merkmal des Männerschädels ist das Vor-
ı) Broca, Instructions craniologiques et craniometriques;
SCHAAFFHAUSEN, Über die heutige Schädellehre ( Korrespond.-Bl.
der Deutschen Gesellsch. f. Anthropol., 1889, S. 165); MANTEGAZZA,
Dei caratteri sessuali del cranio (Arch. per Panthrop); Sir _W.
TURrRNER (Report on the human crania, Challenger BT Zoo-
/ogy, Bd. X). Bei seinen Untersuchungen über die eschlechts-
unterschiede ist MöBıus eine eigenartige Differenz zwischen beiden
Geschlechtern aufgefallen, die ‚er in einem Vortrag auf der. Ver-
emmlung mitteldeutscher Psychiater in Leipzig (25. Oktober 1903)
Qchandelte, Während bekanntermassen sowohl Schädel ‚wie
Schädelraum des Männchens denjenigen des Weibchens an Grösse
Abertrifft, fand Mögıus bei Vierfüsslern und Vögeln eine stärkere
wsbuchtung des hinteren Teiles des Parietalbeines beim Weibchen.
Wenn auch nicht in gleichem Masse, so konnte er doch den Unter-
schied an den ihm zu Gebote stehenden Schädeln überall nach-
En Beim Affen und Menschen dagegen fand er diesen Ge-
SC lechtsunterschied am oberen Teil: des Hinterhauptbeines aus-
Seprägt. Bei den Tieren der ersten Art fällt die betreffende
S elle mit dem hinteren Gehirnpol der dritten Randwindung zu-
Raumen, dessen stärkere Entwicklung bei den Weibchen der
Gepbtiere am meisten ins Auge fällt. Während dieser hintere
ü S irnpol bei den übrigen Tieren unter das Seitenwandbein zu
Bader kommt, liegt er beim. Menschen .und Affen infolge der
die kung der Gehirnachse unter der Hinterhauptschuppe, wie
düse pressiones digitatae deutlich zeigen. — Von Interesse ist,
scho auch FLEcHsIG, wie er auf derselben Versammlung mitteilte,
Weit bei Neugeborenen Unterschiede zwischen männlichen und
Iblichen Gehirnen fand.
X)
DER KOPF.
springen der Glabella, einer knöchernen Vorwölbung über
der Nase, und der Supraciliarbogen, d. h. der Mann hat
überhängende Brauen, die beim Weibe nur wenig aus-
geprägt sind und beim Kinde nicht ‚existieren; sie
entwickeln sich zur Zeit der Pubertät, nehmen mit dem
Alter zu und bilden ein Merkmal von ausgesprochen
A
Typischer Männer-Schädel. (Nach Pormier.)
retrograder Bedeutung, da sie bei manchen niederen
Rassen übertrieben und bei den menschenähnlichen
Affen enorm entwickelt sind. Beim Manne sind mit
diesen Knochenvorsprüngen grosse Lufthöhlen der Stirn
verbunden, die beim .Weibe viel kleiner sind}).
1) Die Stirnhöhlen sind neuerdings genauer untersucht
worden von Prof. S. BrancHIı, Siena. „I seni frontali e le arcate
sopracigliariı“. (Arch. der Panthrop., 1892, eft 2.)
DER KOPF,
31
2. Beim Weibe erhalten sich gewisse Höcker des
kindlichen Schädels gewöhnlich deutlicher als beim
Manne, nämlich die Scheitelbein-Höcker aussen und
oben an der Rückseite des Kopfes, und die Stirnhöcker
über den Augen etwa in der Mitte der Stirn; beim
Manne haben dieselben den Anschein, durch Expansion
des Schädels zum Verstreichen gebracht zu sein.
+ A
Typischer Frauen-Schädel. (Nach! PomiEer.)
3. Alle vorspringenden Muskelansätze sind beim
Manne besser ausgebildet und die Schädelknochen sind
im allgemeinen dicker und stärker; So ist der Vorsprung
unten am Hinterhaupte, das Inion, beim Manne fast
immer grösser, wie auch die beim Kinde sehr kleinen
Warzenfortsätze hinter dem Ohr. Wenn ein Schädel
auf diesen Fortsätzen aufliegt, so ist er nach Broca
immer der eines Mannes; auch die rauhen Linien der
Muskel. Ansätze sind beim Manne mehr ausgesprochen.
J9
DER KOPF.
Über diese drei Punkte besteht unter den Anatomen
eine sehr allgemeine Übereinstimmung, Es existieren
noch andere Geschlechtsunterschiede, die aber weniger
augenfällig sind. So ist bei Weibern der Gipfel des
Kopfes flacher, die Stirn geht in einem deutlicheren
Winkel in die Schädeldecke über, während beim Manne
dieser Übergang in ‚einer allmählichen Krümmung
verläuft, ein Unterschied, der von EcKgerR hervor.
gehoben worden ist und von griechischen Bildhauern
dargestellt wird; der Weiberschädel ist auch bei den
meisten Rassen relativ etwas seichter, als beim Manne,
entsprechend der grösseren Flachheit des Schädeldachs;
dagegen ist die Basis des Weiberschädels gewöhnlich
kleiner, sein Bogen dagegen, von der Nasenwurzel bis
zum hinteren Punkte des Hinterhauptlochs gemessen,
oft eben so gross als beim Manne.
Die letztgenannten Merkmale haben nicht dieselbe
Bestimmtheit und Beständigkeit wie die drei zuerst er-
wähnten. ‚Die Flachheit der Decke des Weiberschädels,
die von WELCKER, Ecker, WEIssBACH, BENEDIKT und CLELAND
angegeben wird, scheint auf der Persistenz der Flachheit
des Schädeldachs zu beruhen, wie sie beim Kinde kon-
stant vorkommt; zur Zeit der Geburt ist der Schädel
bei beiden Geschlechtern gleich hoch, aber beim Schädel
des erwachsenen Weibes fehlt die schliessliche Höhen-
zunahme, die der Mann erwirbt, Es existieren jedoch
verschiedene Rassen mit bei beiden Geschlechtern gleicher
Schädelhöhe: hierher gehören die der älteren Steinzeit
angehörigen Funde, der Homme-Mort-Höhle (Broca),
die Auvergnaten (Broca), die Neukaledonier (Broca),
Negerschädel (Davıs und BRrocA), von HöLDEers Crania
Helvetica, die Korsen (Broca), von Davıs und THURNAM
gemessene antike Römerschädel, die von denselben
Autoren untersuchten irischen und angelsächsischen
Schädel.
Über. das Verhältnis zwischen Schädelbasis und
Schädelbogen. bei verschiedenen Rassen existiert eine
interessante. Arbeit von CLELAND (ZAe varıalions of the
human skull; Philosophical transactions 1870). Während
DER KOPF.
93
des Säuglings- und Kindesalters ist die Basis relativ
sehr klein, beim Weibe ist sie fast immer kurz, während
die Grösse des Bogens in manchen Fällen ebenso kurz
ist, wie beim Mann. Vergleicht man die Rassen, so
haben die Iren die grösste Verhältniszahl zwischen
Bogen und Basis, dann kommen die Chinesen. Die
Kürze der Basis beim Weibe ist also ein infantiles Merk-
mal, andererseits ist die bedeutende. Länge der Basis
beim Manne ein Merkmal, das sich den Verhältnissen
bei Wilden nähert. Als eine sehr auffallende, merk-
würdige Tatsache bezeichnet es CLELAND, dass bei un-
zivilisierten Rassen die Länge des Bogens sehr variabel,
die der Basis immer gross ist; wir finden also hier, wie
so oft, dass der infantile Zustand uns über die Rich-
tung der Entwicklung orientiert.
Zine sehr grosse Arbeit ist auf die Untersuchung des
Schädelindex. und sein Verhalten beiden verschiedenen
Rassen und Geschlechtern verwendet worden. Die Be-
deutung desselben für die Rassen-Anthropologie ist nicht
zu leugnen; als Geschlechtsmerkmal scheint der Index
weniger klar verwendbar zu sein, obschon manche
Anthropologen ihn auch in dieser Beziehung‘ für wich-
tig halten. Freilich gehen die Anschauungen gerade
darüber weit auseinander. Dieser von RETtzıus ange-
gebene und besonders von Broca eingehend untersuchte
Index. gibt an, wieviel Prozent der grössten Schädel-
länge die Schädelbreite ausmacht. Nach der sogen.
Frankfurter Übereinkunft bezeichnet. man Schädel mit
einem Index von 70—74 als dolichocephal, mit dem
Index. von 75—779 als mesaticephal und von 80—84 als
brachycephal; unter 70 liegt die Hyperdolichocephalie,
über 84 die Hyperbrachycephalie. Relativ breitköpfige
Personen haben also einen grossen, relativ langköpfige
einen kleinen Schädelindex. Viele bedeutende Anthro-
Pologen, u. a. QUATREFAGES, WELCKER, BrocaA, CALORI, be-
haupten, dass das Weib in Europa mehr dolichocephal
ist, als der Mann, d. h. dass derWeiberkopf die Tendenz
hat, eher lang als breit zu sein; aber die höhere Brachy-
tephalie des Weibes wird von andern, gleichfalls: be-
pe}
DER KOPF.
deutenden Anthropologen behauptet, z, B. von Hayr,
MANTEGAZZA, TorınaRD und WEISBACH; CLAPHAM hat fast
2000 geisteskranke Männer und ebensoviel geisteskranke
Frauen in. der Irrenanstalt zu Wakefield und eine kleinere
Zahl von normalen Männern und Frauen gemessen !);
aus den von ihm gegebenen Zahlen lässt sich be-
rechnen, dass der mittlere Schädelindex bei „geistes-
kranken Männern 80,3, bei geisteskranken Frauen 80,1
ist, bei normalen Männern dagegen 81,2, bei normalen
Frauen 80,5; es sind-also die normalen Personen etwas
mehr brachycephal als die geisteskranken, und die Männer
ein wenig mehr brachycephal, als die Frauen.
Vor einigen Jahren ergaben Messungen an den in
Bath versammelten Mitgliedern der British Association,
dass die Männer sehr erheblich mehr brachycephal sind,
als die Frauen; während 18,8%0 der Frauen dolichocephal
waren, gegenüber nur ı2,1°% 0 der Männer, waren 2,2 %o der
Frauen hyperbrachycephal gegenüber 9,1% der Männer.
Hier liegen offenbar besondere, nicht typische Verhält-
nisse vor, die wohl dadurch bedingt sind, dass sehr
grosse geistige Fähigkeiten oft mit Brachycephalie ver-
bunden sind, und dass von 2 Köpfen gleichen Umfangs
der brachycephale grösseren Schädelinhalt besitzt, als
der dolichocephale; die Männer der Vereinigung zählten
natürlich sehr viele hochbegabte Personen unter sich,
während die gleichfalls gemessenen Frauen einfach
Gattinnen oder Verwandte der Männer waren.
Wenn wir den Schädelindex unter den mensch-
lichen Rassen im allgemeinen untersuchen, so be-
gegnen wir denselben grossen Unterschieden, wie
folgende Tabelle zeigt:
Rassen, bei denen der Mann mehr brachy-
cephal ist als das Weib.
Paris. .. (TopınarD)
Auvergnaten (BrROoca)
A
') Artikel: „Head, Size and Shape of“, im Diet. of Psycholog.
Medicine.
DER KOPF.
Höhlenmenschen v. Lozere
Papuas v. Neu-Guinea. . .
Bewohner der Admirals-Inseln
Italiener aus Bologna .
Flamländer
Annamiten
Polynesier
Letten .
Lappen .
Alte Briten .
Nieder-Bretonen
Engländer . -
Alte Römer .
Basken . 0. 0.200000. 44
Moderne asiatische Griechen
Hindu . . .
Grönländer . .
(Broca)
(MANTEGAZZA)
(TURNER)
(CALORI)
(Hovze)
(MONnDIERE)
(CLAVEL)
‚4. (WOEBER)
(MANTEGAZZA, KHAROUZINE)
(Davıs)
(BrROoca)
(Davıs)
(Davıs)
(Broca)
{NEOPHYTOS)
(Davıs)
(DaAvıs)
45
Rassen, bei denen das Weib mehr brachy-
cephal ist als der Mann.
Berber aus Biskra . . . . .. + + (TOPINARD)
Neolithische Schädel (Depart. Marne) . (BROCA)
Kalifornier von Santa Barbara . (CARR)
Italiener . . (MANTEGAZZA)
Andammen . . . {FLOWER)
Neger. . (Broca, HuscHKe u. DaAvıs)
Tahitianer (DEniKeR u. LALOT)
Australier . . +. + (FLOWER)
Papuas der Loyalty-Inseln ‚Cranıa Ethnica)
Omahas . . . (MANOUVRIER) |
Neu-Caledonier (Crania Ethnica)
Ainos. . (TARNETZKI)
Veddahs . (THOMSON)
Finnen . (RETzıvus)
Sardinier (pD’HERCOURT)
Schweizer (Hıs)
Iren. . (Davıs)
Franzosen (SAPPEY)
96
DER KOPF.
Dänen‘.
Deutsche
Guanches
Chinesen
Czechen .
(Davıs)
(Krause)
(BrRoca)
(Davıs) )
(MATIEJKA)
Es ist klar, dass sich aus diesen ungleichartigen
und nicht immer absolut zuverlässigen Daten keine
definitiven Schlussfolgerungen ziehen lassen, ausge-
nommen die Beobachtung, dass in der ersten Reihe
die weissen, in der zweiten die dunkeln Rassen stark
überwiegen, Es ist dies nicht ohne Interesse, denn es
besteht kein Zweifel darüber, dass der dolichocephale
Typus. primitiver ist, als der brachycephale. Unter
Wilden und dunklen Rassen herrscht im allgemeinen
die Dolichocephalie vor; unter den prähistorischen Rassen
Europas war der dolichocephale Typus stärker vertreten,
als in dem heutigen Europa, und Vorwiegen der Brachy-
cephalie ist noch immer in steter Zunahme begriffen”).
Auf das höhere Alter der dolichocephalen Rassen deutet,
wie Vircnow. bemerkt, das Vorkommen derselben an
beiden Enden der langen Kontinente, deren hohes Alter
wir anerkennen müssen, hin®); die Gehirne brachycephaler
Individuen sind entschieden grösser als dıe dolicho-
cephaler, wie CaLorı nachgewiesen hat*), Wir haben
gute Gründe anzunehmen, dass eine aussergewöhnliche
Veranlagung des Gehirns eher mit Brachycephalie ver-
bunden ist. und es besteht kein Zweifel darüber, dass
E
1) ToPInArRD, . Anthrop. generale, pp. 376 ; MORSELLI
Arch... per Pantrop. vol. V, und verschiedene Sr deTE Quellen, ’
#) ToPınARD, L’homme dans la nature. 1891. :p. 161.
3) R. ViırcHow, Crania Ethnica Americana. 1892.
4) ToPınArD, Anthrop. gen., p. 568. TAPPEINER fand (Zischr.
f. Ethnologie, 1899, H. 5, S. 203), dass selbst bei einer sehr brachy-
cephalen Bevölkerung wie der Tirols die mehr brachycephalen
Schädel eine grössere Kapazität haben, das galt aber nicht für
die äusserste, ultrabrachycephale Gruppe. BoLK fand in Holland
die grösste Kapazität bei mesokephalen Schädeln, aber auch eine
Überlegenheit der. brachycephalen über die dolichocephalen;
AmMmMon konstatiert (Internat, Zentralbl. f. Anthrop., 1902, H. ı,
S, 8), dass seine Resultate denen BoLxgs nicht widersprechen. -
DER KOPF.
97
unter Irren, Verbrechern und Degenerierten im allge-
meinen Brachycephalie wohl manchmal vorkommt,
Dolichocephalie doch bei weitem vorwiegt und in höherem
Masse auftritt!)l. Schliesslich haben einige Beobachter
gefunden (Pruner, Bey und DuRanD DE Gros), dass Brachy-
cephalie sich häufig bei Frauen mit grossem Becken
zeigt ?).
Die Unterschiede sind oft sehr gering, aber selbst
dann sind sie manchmal so beständig oder in Harmonie
mit der Gesamtorganisation, dass man sie nicht ohne
weiteres vernachlässigen kann; geringen Unterschied
bei harmonischer Anordnung fand Priırzuwer im Elsass
und ArAnzapı fand bei acht Schädelgruppen aus acht
verschiedenen Provinzen, dass Frauen mässig, aber merk-
lich brachycephaler sind als Männer.
Es muss jedoch bemerkt werden, dass die ver-
schiedenen Reihen von Schädelmessungen, deren Resul-
tate hier im kurzen wiedergegeben werden, von sehr
ungleichem Werte sind; sie sind oft nur an einer sehr
geringen Reihe von Individuen der verschiedensten
Kategorien gemacht; wahrscheinlich werden wir erst
durch ausgedehntere Untersuchungen etwas weniger
widersprechende Resultate erhalten. : Broca war auf
Grund seiner ausgedehnten Erfahrung der Meinung, dass
bei dunklen Rassen das Weib mehr brachycephal ist, als
der Mann, während bei den heutigen Bewohnern West-
Frankreichs das Gegenteil der Fall ist®. Vircyow fand
bei einer Untersuchung der Schädel von Ureinwohnern
der westlichen Küste Amerikas grössere Brachycephalie
bei den Frauen, Dolichocephalie fand er häufig, Hyper-
dolichocephalie fast ausschliesslich bei Männern“). Es
wird sich vielleicht herausstellen. dass auf diesem wıe
n
_ 1) Siehe z. B.: M. BEenzpirT, Kraniometrie und Cephalometrie,
pain De P- 23; ferner: CLAPHAM, Head, Size and Shape. (Diet.
Sych. Med.
2) DeLAunAY, Bull. Soc. d’Anthrop., Paris, 5. März 1885.
3) Revue d’Anthropologie, Bd. II, p. 28.
4) R. ViırcnHow, Beiträge zur Kraniologie der Insulaner von
der Westküste Nordamerikas, (Zeitschr. f. Eth, 1889, Heft 5.)
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl, 7
8
DER KOPF.
auf so vielen anderen Gebieten, während im allgemeinen
Männer und Frauen keine allzugrossen Unterschiede
zeigen, sich doch bei unzivilisierten Rassen die Tendenz
des Weibes geltend macht, in diesem Falle mehr brachy-
cephal zu sein, was jedoch dadurch ausgeglichen wird,
dass bei zivilisierten Rassen die Männer den ersten
Platz einnehmen.
Es ist zweifelhaft, ob wir sagen können, dass die
Tendenz der Entwicklung im ganzen von der Dolicho-
cephalie zur Brachycephalie geht. Nach Bıscyorr haben
wir die anthropoiden Affen als recht eigentlich brachy-
cephal anzusehen; am meisten sind sie das in der
ersten Lebenszeit, und der Orang, der wohl das am
besten entwickelte Gehirn unter allen Anthropoiden be-
sitzt, ist am meisten brachycephal,
Beim Menschen hat das Neugeborene eine gewisse
Tendenz zur Dolichocephalie, erreicht aber bald eine
maximale Brachycephalie, Kinder sind fast überall
mehr brachycephal, als Erwachsene; letzteres findet
man sowohl bei dolichocephalen, als bei brachycephalen
Rassen, und selbst dann (wie DANIELLI bei den Nias auf
Sumatra nachgewiesen hat), wenn die Mutter. mehr
dolichocephal ist als der Vater. So fand z, B. Skxkorr,
dass bei Russen der Schädelindex sein Maximum in
der Kindheit zeigt und sich mit den jahren verringert,
so dass das Schädelwachstum sich mehr in der Richtung
von vorn nach hinten vollzieht. An den Schädeln er-
wachsener Russen fand Pororr, was den Schädelindex
betrifft, wenig sexuelle Differenzen. Es sei hier noch be-
merkt, dass in frühem Lebensalter im allgemeinen, jeden-
falls aber bei Europäern, Mädchen entschieden mehr
brachycephal sind als Knaben, So fand MANTEGAZZA
bei einer Messung von Kindern der ärmeren Klasse
in Bologna (fast 100 Knaben und über 100 Mädchen) im
Alter zwischen 4 und 14 Jahren, dass während der
Schädelindex. der Knaben nur 79,10 betrug, er bei den
Mädchen eine Höhe von 83,35!) erreichte, und fast ebenso
i) MANTEGAzzaA, Studi di Craniologia sessuale. (Arch. per
Pantrop., Band V.)
DER KOPF.
99
gross war, wie der erwachsener Männer aus Bologna,
während der erwachsener Frauen geringer war (CALORI).
CLAPHAM machte die interessante Beobachtung, dass,
während das Mittel des Schädelindex von Geisteskranken
im allgemeinen bei Männern ein wenig grösser ist, als
bei Frauen, bei Individuen unter 20 Jahren die
Frauen einen beträchtlich höheren Schädelindex be-
sitzen (82,9 gegen 78,6), und er schreibt diese Differenz
hauptsächlich einem geringeren Längenwachstum des
Schädels bei Mädchen zu. GERALD West, der an mehr
als 3000 Kindern zwischen 4 und 21 Jahren aus den
Schulen von Worcester (Verein. Staaten) Schädelmes-
sungen angestellt hat, fand, dass Mädchen das Maxi-
mum der Schädelbreite früher erreichen, als Knaben,
dass der Schädelindex der Mädchen während der Wachs-
tumsperiode im ganzen grösser ist, als der der Knaben,
und dass, während der bleibende Schädelindex bei
Mädchen fast derselbe ist, den sie schon mit 5 Jahren
erreichen, der endgültige Schädelindex bei Knaben
ı1/2%o geringer ist, als der, den sie mit 5 Jahren
zeigen?).
Hierher gehören wohl auf die Ergebnisse der Unter-
suchungen von Gönner, wonach bei 100 Neugeborenen
der Schädelindex. dem der Mutter näher stand, als dem
des Vaters; während 25°%o der Kinderschädel derselben
Indexgruppe angehörten, wie die Mutter, fielen nur
18% in die Indexgruppe, der der Vater angehörte*®).
Bezüglich englischer Kinder fand MACALISTER, dass
der Übergang von der Brachycephalie zur Mesati-
cephalie kurz nach dem Abschlusse der ersten Dentition
StattÄndet.
ace.
ı) G. West, The Growth of the Body, Head and F
(Science, 6. Januar 1893.) chä-
2) Gönner, Über Vererbung der Form und Kt „is SCHÜ
deis, Zischr. f. Geburtsh. u. Gynäkologie, 1895. Ne, (Rivista di
Merkmale des fötalen Schädels hat SERGI N artische Form des-
sc. biologiche, II, 1900); er findet als charakterist le Ossifkations
selben die pentagonale, dank dem Vorragen de
punkte.
100
DER KOPF.
Durch solche Untersuchungen können wir hoffen,
mehr über die Bedeutung des Schädelindex zu erfahren,
als wir bis jetzt wissen. Man wird finden, dass Brachy-
cephalie des Weibes mehr einem geringen Längen-
wachstum als einem erheblichen Breitenwachstum des
Schädels zuzuschreiben ist. Das späte Längenwachstum
ist eine Folge nicht sowohl der Hirnentwicklung als
der Ausdehnung der Stirnhöhlen, die in der Kindheit
fast ganz fehlen. Wenn der Schädelindex innerhalb
der Schädelhöhle gemessen würde, wie MAnovvrIiER rät,
so wäre die Brachycephalie beim Weibe grösser. Man
kann die Tatsachen dahin zusammenfassen, dass, wenn
überhaupt sexuelle Differenzen am Schädel sicher nach-
weisbar sind, das Weib bei den dunklen primitiveren
Rassen im allgemeinen um ein geringes mehr brachy-
cephal, bei den weissen, zivilisierten Rassen etwas mehr
dolichocephal ist. Es ist nicht schwer, den Grund dieses
Verhaltens einzusehen, wenn wir uns daran erinnern,
dass das Kind brachycephal ist, und dass Frauen’sich
dem kindlichen Typus mehr nähern, als Männer, wie
die Tendenz der Zivilisation in anatomischer Rücksicht auf
eine grössere Annäherung an den kindlichen Typus
ausgeht, als diese bei Naturvölkern zu finden ist.
Das Gesicht. — Es wird angemessen sein, an
dieser Stelle einen kurzen Überblick über die allge-
meine Struktur des Gesichts zu geben. Vom Gesicht
im allgemeinen kann man sagen, dass es im Lauf der
Entwicklung die Tendenz zeigt, kleiner zu werden,
während der Schädel sich vergrössert, Die Affen haben
im Vergleich zu ihren kleinen Schädeln enorme Ge-
sichter, was besonders beim Gorilla deutlich hervortritt.
Das Gesicht des Menschen ist verhältnismässig klein,
und das Gesicht des Weibes, mit ihrem relativ grossen
Schädel verglichen, ist, wie gewöhnlich behauptet wird,
noch kleiner als das des Mannes, so dass wie SOEMMERING
schon vor einem Jahrhundert sagte, der Mann in dieser
Hinsicht über dem Affen steht, das Weib jedoch noch
höher steht, als der Mann,
Die Entwicklung des Gesichts von der Kindheit
DER KOPF.
101
bis zur Reife ist eine Frage, die bisher auffallend wenig
Beachtung auf sich gelenkt hat, obschon sie von grossem
Interesse ist. Die einzige mir bekannte Untersuchung
an einer genügend grossen Zahl von Individuen ist die
von Pror. WsstT (Cambridge, Mass.) inWorcester (Verein,
Staaten) gemachte Untersuchung an 3250 Schulkindern
zwischen 4 und 21 Jahren!). Es scheint ein gewisser
Parallelismus zu bestehen zwischen Gesichtswachstum
und Körperwachstum überhaupt, sowohl in der Tendenz
zu Perioden der Wachstumsverzögerung, als in der
zeitweisen relativen Superiorität der Mädchen während
der Pubertät und in dem mehr kontinuierlichen Wachs-
tum bei Männern. Es scheint für das Gesicht drei Wachs-
tumsperioden zu geben, deren erste mit dem 7. Jahre
aufhört, während die letzte mit ungefähr 15 Jahren be-
ginnt. Zwischen ır und ı3 Jahren nähern sich im
Schädeldurchmesser die Mädchen den Knaben, während
im Gesichtsdurchmesser Mädchen und Knaben ganz
gleich zu sein scheinen, „Im Verhältnis zur Länge des
Kopfes“, sagt WeEsT, „ist bei Mädchen die Breite des
Kopfes und Gesichtes grösser als bei Knaben, und eben-
so ist bei ihnen die Breite des Gesichtes im Verhältnis
zur Breite des Kopfes eine grössere.“ Es fand sich,
dass während bei Mädchen das Gesicht mit ı7 Jahren
zu wachsen aufhört, das Gesicht des Knaben bis zu
18 Jahren und wahrscheinlich noch längere Zeit wächst.
Diese Ergebnisse scheinen also zu zeigen, dass das
Gesicht des Weibes relativ breiter ist, als das des
Mannes und zugleich, wie auch die alltägliche Beob-
achtung zu zeigen scheint, in Übereinstimmung mit den
von KoLLMANN berechneten Gesichtsindex, relativ kurz,
wie bei Kindern. Dazu stimmen auch PrirzwERS an
dem grossen Materiale des Strassburger anatomischen
Institutes gemachten Messungen an Erwachsenen; er
fand das Gesicht beim Weibe relativ breiter und kürzer,
worin eine weitgehende Bewahrung des kindlichen Typus
1) The Growth of the Face (Science, 3. Juli 1891); The
Growth of the Body, Head and Face. (Science, 6. Januar 1893;)
'%
A
DER KOPF.
gegeben ist. PrıTzueR fand eine grosse Konstanz der
sexuellen Unterschiede im Längen-Breiten-Index des
Gesichts, die sehr ausgeprägt erschien im Vergleiche
mit den geringfügigen Geschlechtsunterschieden be-
züglich des Längen-Breiten-Index. des Kopfes!). Da
der untere Teil des Gesichts beim Weibe geringer ent-
wickelt iat als beim Manne, so bilden die oberen Teile
mit den Augenhöhlen einem relativ grösseren Teil des
Gesichts (wie HuscHke bemerkt) und erschienen grösser
als sie wirklich sind, was noch stärker betont erscheint
durch die häufig rundere oder ovalere Gestalt der Augen-
höhlen‘ und vielleicht eine relativ grössere Höhe der
Orbita beim Weibe, Der wirkliche Unterschied ist
geringer, als es scheint. P. BARTELS fand, dass die
Augenhöhle, ausser bei Malayen und Singalesen, beim
Weibe nicht absolut grösser ist; dagegen fand er, wie
WELCKER, WeısBAcH, Ecker und REBENTISCH, dass das Ge-
sicht relativ breiter ist. ZEıLER?) fand dagegen, dass
sowohl beim Menschen wie beim Affen die Kapazität
der Orbita beim weiblichen Geschlechte absolut und
relativ kleiner ist. Es muss hinzugefügt werden, dass
TormarDds Stirn-Jochbein-Index eine relativ grössere
Breite des Gesichtes, verglichen mit der Schläfenbreite
beim Weibe, nachweist. Je höher dieser Index, um
so breiter sind die Schläfen und um so schmaler das
Gesicht, so das$ die höchsten Indices sich bei Hydro-
cephalus ergeben; der Index ist bei Kindern grösser
als bei Erwachsenen und bei Frauen stets grösser als
bei Männern. Die Augen des Weibes scheinen auf
den ersten Blick grösser zu sein und mehr hervorzu-
stehen als beim Mann, dies beruht jedoch nur darauf,
dass der obere Augenhöhlenrand beim Manne mehr
vorspringt. Rassen, bei denen dieses ausgesprochen
männliche Merkmal fehlt, haben ein weibliches oder
kindliches Aussehen. Jedoch ist die Augenhöhle des
1) Priıtzner, Morphol. Arb., VII, H. 2, 1896.
?) ZeiLErR, Beiträge zur Anthrop. d, Augenhöhle, Inaugural-
Dissert. 1899.
DER KOPF.
103
Weibes absolut? ungefähr ebenso hoch wie die des
Mannes und deshalb relativ höher. Der Augapfel selbst
ist nach Messungen von PRrIESTLEY SMITH in jedem Lebens-
alter beim Manne in horizontaler Richtung etwas grösser,
jedoch ist der Unterschied sehr klein, nur ungefähr
0,1 mm.
Der Gesichtswinkel misst den Grad des Vor-
springens des Oberkiefers; dass sich in dem Verhalten
desselben geschlechtliche Unterschiede aussprechen, ist
nicht allgemein anerkannt. Dasanthropologische Studium
des Gesichts ist noch stark vernachlässigt gegenüber
dem der Hirnkapsel, und die Kraniologen haben den
Winkel auch sehr verschieden gemessen. An der Hand
einiger Untersucher hat diese Frage jedoch einige klare
und wertvolle Antworten erhalten. WELCKER, dem eine
grosse Zahl von Kraniologen sich anschliesst, mass den
Gesichtswinkel durch Bestimmung des Grades, in welchem
der untere Nasenstachel vor die Nasenwurzel vorspringt.
Nach dieser Definition fanden die meisten Untersucher
bei Frauen einen höheren Grad der Prognathie. So
fand BENEDIKT mit dieser Methode, dass Kinder pro-
gnather sind als Erwachsene und dass die Prognathie
mit dem Alter abnimmt, anstatt, wie bei den anderen
Säugern, zuzunehmen, dass jedoch Frauen immer etwas
prognath bleiben. Die Durchschnittsdifferenz beider
Geschlechter beträgt jedoch nur einen halben Grad).
TormarD betrachtet als das wertvollste Hilfsmittel zur
Bestimmung der morphologischen Stellung eines Indi-
viduums am Gesicht den alveolo-subnasalen Index, der
in etwas anderen Massen als der Gesichtswinkel auch
das Vorspringen des Oberkiefers angibt. Die Unter-
suchung‘ dieses Index ergibt, dass niedere Rassen viel
prognather sind als höhere. Bei Hottentotten beträgt
er z.B. 50, bei Engländern, Franzosen und Deutschen
gegen 20, während Polynesier und Mongolen in
der Mitte stehen. Bei Untersuchung jeder grösseren
Serie von Schädeln arischen Ursprungs ergibt sich auch
ı) BEnEDIET, Kraniometrie und Cephalometrie, 1888, p. 31.
GA
DER KOPF.
mit diesem Index eine grössere Prognathie des Weibes,
so z. B. an Pariser Schädeln vom ı2, bis zum 10. Jahr-
hundert, unter Bretonen, Auvergnaten, Basken, Korsen,
ebenso wie an altägyptischen und javanischen Schädeln,
überall ist dasWeib deutlich prognather als der Mann.
Es ist merkwürdig, dass das nicht für die tiefer stehenden
dunklen Rassen gilt und anscheinend auch nicht. für
die Chinesen; unter afrikanischen Negern, Nubiern und
Buschmännern sind die Männer deutlich prognather als
die Weiber!), Das Weib hat also überall eine deut-
lich ausgesprochene alveolare Prognathie. Das ist ein
primitives Merkmal, aber durchaus kein Defekt, es gibt
vielmehr, wie VircnHow bemerkt, dem weiblichen Ge-
sichte häufig etwas Pikantes, Vielleicht liegt in der
leichten Prognathie des Weibes: die Suggestion eine
dem Kusse sich hingebenden ‚Gesichts; jedenfalls ist
dies Merkmal, wenn auch kein Zeichen höherer Ent-
wicklung, etwas höchst Reizvolles.
Verwendet man andere Messungsmethoden des Ge-
sichtswinkls, besonders solche, welche die Beziehungen
zwischen Oberkiefer und Stirn messen, so ergibt sich
gewöhnlich, falls überhaupt ein Unterschied hervortritt,
eine geringere Prognathie des Weibes. Es sind dies
jedoch weniger wichtige Varietäten des Gesichtswinkels,
Man kann die totale Prognathie des Gesichtes auch so
messen, dass man das Profil als Ganzes nimmt und den
Winkel misst, in dem der obere und der untere Teil
des Gesichtes an der Berührungsstelle der Schneide-
zähne zusammenstossen. CAMPER mass diesen von ihm
als maxillär bezeichneten Winkel, indem er von der
Stirn und vom Kinn aus Linien nach dem Treffpunkt
der Schneidezähne zog. TOorPinARD legt diesem Winkel
eine grosseWichtigkeit bei, eine fast ebenso grosse wie
der Hirnmasse und der aufrechten Körperhaltung, weil
man nach demselben sowohl eine der aufsteigenden Ent-
wicklung entsprechende Anordnung der Wirbeltiere
vornehmen, als auch die Individuen innerhalb einer
‘) TorınArD, Revue d’Anthrop., 1872, p. 628; 1973, PD. 71, 251.
DER KOPF.
105
Spezies klassifizieren kann. Je grösser der Maxillar-
winkel, desto höher der Grad der Entwicklung. Sowohl
bei niederen, wie bei höheren Rassen ist der Mazxillar-
winkel des Weibes immer deutlich kleiner; er bestätigt
also den Schluss, welcher aus der Untersuchung des
Oberkieferfortsatzes gezogen wurde, dass das Weib etwas
prognather ist, als der Mann.
Während Prognathie des Oberkiefers als eine Re-
miniszenz primitiver Zustände gelten muss, ist das Vor-
springen des unteren Teiles vom Unterkiefer ein aus-
gesprochen menschliches Merkmal, das bei den höchsten
FNa Gesichtswinkel nach P. Camper; “DM Mazxillarwinkel
nach demselben.
europäischen Rassen am deutlichsten ist, Ein zurück-
weichendes Kinn ist ein Merkmal der Degeneration.
Beim Weibe liegt das Kinn immer etwas mehr zurück
und auch sein Unterkieferwinkel ist, wie beim Kinde,
ausgesprochen gross. Andererseits ist das Gewicht des
Unterkiefers, wie MorseLLı und OrschHanskı gezeigt haben,
beim Weibe bedeutend geringer; dies ist ein Zeichen
höherer Entwicklung, denn Affen und niedere Menschen-
rassen haben relativ‘ massige Unterkiefer, wie sie sich
auch häufig bei Verbrechern finden; der weibliche
Unterkiefer wiegt nur 79% von dem des Mannes,
106
DER KOPF.
während der weibliche Schädel 85° 0 des männlichen
ausmacht !).
Es ist auffallend, dass die anthropologische Unter-
suchung der Zähne bei europäischen Rassen so wenig
Aufmerksamkeit gefunden hat, obgleich dies ein viel-
versprechendes und zugleich leicht zugängliches Arbeits-
feld ist. Pror.’E. ScHmDrt hat in dem Fragebogen für
die anthropologische Untersuchung von fast 10000
sächsischen Schulkindern auch eine Untersuchung der
Zähne vorgesehen, da die Messungen jedoch den Lehrern
anvertraut waren, hat sich begreiflicherweise wenig
ergeben. Einige wenige Anthropologen, unter ihnen
SCHAAFFHAUSEN und FLowER, haben interessante Resultate
erreicht; die berufensten Beobachter, die Zahnärzte,
haben sehr wenig zu unserer Kenntnis der Geschlechts-
unterschiede beigetragen, das hat sich wenigstens aus
den Antworten aufmeine Fragen an die hervorragendsten
Vertreter. dieses. Faches ergeben. GOorRHAM, der mehrere
tausend Zähne gewogen hat, spricht überhaupt nicht
von Geschlechtsunterschieden an denselben ?). Bei einem
Vergleich der niederen Menschenrassen mit den höheren
ergibt sich, wie allgemein anerkannt wird, dass bei
ersteren die Zähne grösser und regelmässiger angeordnet
sind, dass die Weisheitszähne mehr den anderen Back-
zähnen gleichen, weniger gedrängt stehen und nicht so
häufig fehlen, und dass der Zahnbogen eckiger, nicht
so abgerundet ist wie bei zivilisierten Rassen ®). Ohne
Zweifel zeigen bei Naturvölkern, heute und in der frühe-
ren Zeit, Oberkiefer und Gaumen weniger Unregelmässig-
keiten und Deformitäten, sind vielmehr gewöhnlich
ausserordentlich gut entwickelt; derartige Unregelmässig-
keiten scheinen auch unter den höheren und Mittelklassen
der europäischen Bevölkerung häufiger vorzukommen,
ı) E. MorseLL1, „Sul peso del cranio e della mandibula in
rapporto col sesso“, Archw. per PAntropol., 1876; REBENTISCH
(Morphol. Arb., 11, 2. 1893) hält dieses Merkmal für den wichtigsten
Geschlechtsunterschied; Ss. auch P. BArTeıs, cit. W., S. 22—43.
2) Med. Times, 9. Januar 1875.
3) C. S. Tomss, Manual of Dental Anatomy, 1889, p. 459-
DER KOPF.
107
als unter den arbeitenden Klassen. Massige Kiefer, und
wohl auch die solchen Kiefern entsprechenden psy-
chischen Eigenschaften, sind für zivilisierte Menschen
nicht von so hervorragender Bedeutung wie in wildem
Zustande. Bei zivilisierten Völkern geht die Richtung
der heutigen Entwicklung auf eine Verringerung der
Grösse der Zähne und zugleich auf eine Grössenabnahme
und Deformierung der Mundhöhle *).
Da der Unterkiefer beim Weibe erheblich kleiner
ist, als beim Manne, während die Zähne gleich gross
sind, sollten wir ein besonders häufiges Vorkommen Von
Störungen der Zahnentwicklung beim Weibe erwarten.
Dass die Unterkiefer beim Weibe infolge ihrer Klein-
heit ein Zusammendrängen der Zähne bedingen, das
zeigt ein grosses Material. C. S. Touss schreibt mir
in einem privaten Brief: „Wenn ich einen allgemeinen
Eindruck wiedergeben soll, — der allerdings, wie Sie
wissen, in solchen Fragen von geringer Bedeutung
ist, — so muss ich sagen, dass enge Zahnbögen, die
die Extraktion von. Zähnen notwendig machen, um
Raum zu gewinnen, bei Mädchen häufiger sind, als bei
Knaben.“
Prüft man die Tabellen in TALBors interessantem
und lehrreichen Werke über die Unregelmässigkeiten
der Zähne, so scheint es sich so zu verhalten, dass
Kieferanomalieen, besonders die Tendenz zur V-förmigen
Wölbung des Gaumens, beim Weibe besonders häufig
sind 2),
Was das Auftreten der Weisheitszähne betrifft, SO
hat Maeıtor durch eine Untersuchung derselben an
241 Männern und 259 Frauen nachgewiesen, dass S16
in Frankreich bei Frauen früherauftreten, als bei Männern,
nämlich bei ersteren meist mit 22, bei letzteren mıt
E&3 Jahren, und bei 6 Männern und ıo Frauen traten sıe
erst im 25sten Jahre auf®. Auf der andern Seite fand
1) S. OAKLEY CoLgs, Difformities of the mouth, p- 34-
2) TALBOT, The irregularities of the teeth, IV. Aufl., 1901.
3) Bull. Soc. d’Anthrop. de Paris, 20. Februar 1879.
LU8
DER KOPF.
OrTrTorY bei einer Untersuchung von über 600 Knaben
und Mädchen (ungefähr 300 jedes Geschlechts), dass
Caries sowohl der Milchzähne, als der Dauerzähne, bei
Mädchen häufiger ist, als bei Knaben, „Während der
ganzen Zahnungsperiode war Caries im Durchschnitt bei
Mädchen um 5°%o häufiger als bei Knaben. Dieses Ver-
hältnis ist während meiner elfjährigen Beobachtung
nahezu konstant geblieben“ ?).
). S. Turner trug auf dem Londoner internationalen
Kongresse für Hygiene die Ergebnisse seiner Unter-
suchung an einer grossen Zahl von Schulkindern vor.
Es zeigte sich, dass Knaben mehr Zähne verlieren als
Mädchen. Daraus würde sich ergeben, dass die Zähne
bei Mädchen stärker oder der Caries weniger unter-
worfen sind als bei Knaben. SrpanTton fand bei 200 ge-
sunden Brustkindern der Arbeiterklasse in Manchester,
dass die erste Dentition bei Mädchen früher als bei
Knaben eintritt, bei einem mittleren Zeitunterschied von
31 Tagen unter den Geschlechtern. (Brit. med. Journal,
8. Juni 1907.) Eine ähnliche Differenz der Geschlechter
scheint bezüglich der permanenten Zähne zu bestehen,
GALLIPPE?) fand freilich bei Männern eine grössere Dichtig-
keit der Zähne, als bei Frauen, aber er hat nur ein
kleines Material untersucht und die grösste Dichtigkeit
den Zähnen einer Frau konstatiert. FLOWER hat einen
Zahnindex angegeben, den man erhält, wenn man
die hundertfache Zahnlänge durch die Länge der
Schädelbasis dividiert. Er fand bei den weissen
Rassen kleine Zähne und Zahnindices und bezeichnet
sie als mikrodont; die gelben Rassen haben etwas
grössere Zähne, sind mesodont, die schwarzen
Rassen makrodont, mit grossen Zähnen und hohem
Zahnindex;; den grössten Index haben die anthropoiden
Affen. Unter den Affen überhaupt ist der Zahnindex
der Weibchen immer grösser als der der Männchen.
Auch beim Menschen zeigt sich ein ähnlicher Unter-
1) Incipiency of Dental Caries (Dental Cosmos, Januar 1889).
2) Compt. Rend. de la Societe de Biologie, 1881, p. 200.
DER KOPF.
109
schied der Geschlechter, da die Zähne des Weibes im
Verhältnis zur Schädel- und Körpergrösse immer grösser
sind als beim Manne. Bei zivilisierten Völkern ist aber
der Unterschied gering.
SCHAAFFHAUSEN hat gezeigt, dass die oberen mittleren
Schneidezähne bei Frauen und Mädchen nicht nur
relativ, sondern auch absolut grösser sind als bei
Männern. Beim Vergleich von 50 Knaben und 50 Mäd-
chen fand er bei diesen eine Zahnbreite, die sich zu
der jener verhielt wie 1,33 zu ı. Unter ı2 Holländern
in Zandvoort fand er eine Durchschnittsbreite von 8,3,
unter ebensoviel Frauen von 8,8 Millimeter. Beimanchen
Frauen sind die Zähne auffällig gross. Bei zivilisierten
Rassen sind also die Kiefer der Frauen relativ kleiner,
die Zähne derselben dagegen relativ und absolut grösser,
PArreınT hat bei je 100 Individuen jeden Geschlechts
in Leipzig die Schneidezähne gemessen und kommt zu
etwas anderen Ergebnissen als SCcHAAFFHAUSEN; er fand,
dass in den meisten Jahresdekadendie mittleren Schneide-
zähne beim Manne absolut breiter sind als beim Weibe,
später gab er zu, dass sie relativ breiter sind. P. BARTELS*)
kam bei der Zahnmessung an 60 Schädeln zu denselben
Ergebnissen wie PARREIDT.
M. BarteLs konstatiert diesen Geschlechtsunter-
schied in der ganzen Welt und gibt zahlreiche Photo-
graphien zur Illustration. STRATZ bringt breite Schneide-
zähne in Zusammenhang mit dem beim Weibe relativ
breiteren Gesicht und betrachtet sie als’ ein Zeichen
weiblicher Schönheit. Wahrscheinlich ‚ist jedoch bei
Naturvölkern niederster Entwicklung dieser Geschlechts-
unterschied geringer, so dass beide Geschlechter breitere
mittlere Schneidezähne haben; KLAATSCH hat das auch
bei Australiern gefunden?), ,
Betrachtet man den unteren Teil des Gesichts bei
beiden Geschlechtern. so stellen sich merkliche Diffe-
$ jede am Schädel,
1) PP. LS, Über Geschlechtsunterschie
S. 6 er eibe eine klare Zusammenfassung der ganzen
Kontroverse. | S
2) Zeitschr. f. Ethnologie, 1901, H. 3, >. 137
19
DER KOPF.
renzen heraus, welche sekundäre Geschlechtsunter-
schiede ersten Ranges darstellen. Beim Manne ent-
wickeln sich die Kiefer stärker, erhalten kräftigere
Muskeln und werden der Sitz auffallender haariger An-
hängsel.” Beim Weibe bleibt trotz der grösseren Breite
der Schneidezähne diese Gegend sanfter, runder, kleiner
weniger entwickelt, und dieser Unterschied erstreckt sich
bis in die Nachbarschaft der Kiefer, auf die Ohrmuscheln
und den Kehlkopf. Diese Region ist beim Weibe
sowohl infantiler als auch primitiver, zugleich lässt sie
geringere Animalität und in Hinsicht auf die Rassen-
entwicklung — wenn auch nicht auf die individuelle
Entwicklung — eine höhere Stufe erkennen. Diese
sexuell bedeutenden Unterschiede können auch in einer
ganz anderen Richtung von Bedeutung sein, und Woops
HuTcHInson hat darauf hingewiesen, dass sie die Unter-
schiede im Auftreten des Krebses bei beiden Ge-
schlechtern verständlichern machen. Bekanntlich sind
diejenigen Organe, welche am häufigsten vom Krebs
befallen werden, die Brustdrüse und die Gebär-
mutter, Wenn wir diese beiden weiblichen, an Drüsen-
gewebe reichen Geschlechtsapparate beiseite lassen, so
zeigt es sich, dass Krebs bei Männern häufiger ist, und
dass er gerade in der Region um den Mund herum
beim Manne überwiegt. Krebs des Öhres, der Parotis,
des Mundes, Schlundes, Kehlkopfs, der Speiseröhre, des
Halses und der Kiefer ist bei Männern zwei- bis drei-
mal so häufig, wie bei Frauen. (S, G. B. LonasTArr,
Etzology of cancer, Brit. med. Journ., 21. Sept. 1901.)
Nun sind alle Organe eng mit dem Munde ver-
bunden und man erklärt die grössere Häufigkeit dieser
Erkrankungen aus dem Einflusse des Tabakrauchens;
das ist aber wohl eine gesuchte Erklärung. Woops
HuTcHINson führt aus, dass Krebs an solchen Organen
erscheint, deren Funktion schon im Verfall ist, während
der Lebensprozess im übrigen Körper noch auf der Höhe
steht. Das trifft offenbar bei den Brüsten und dem Uterus
zu. Aber es gilt ‚auch bezüglich der hochentwickelten
männlichen Mundregion. Nach dem fünfzigsten Jahre
DER KOPF.
111
beginnen hier regressive Veränderungen in der Richtung
zum kindlichen Typus hin, und diese Veränderungen
sind beim Manne relativ viel grösser, weil diese Region
beim Weibe schon dem kindlichen Typus näher steht.
Die beim Manne bestehende Tendenz zu Karzinomen
dieser Gegend wäre also eine Degenerationserscheinung
an einer hoch entwickelten Region von grosser sexueller
Bedeutung, die darin mit der Krebsdisposition der Brüste
und des Uterus zu vergleichen ist.
Der Schädelinhalt.
Der Schädelinhalt ist eines derjenigen Merkmale,
bei dem Geschlechtsunterschiede bisher am aufmerk-
samsten untersucht worden sind, aber ohne sehr be-
deutende Ergebnisse!). Nimmt man irgend eine grössere
Schädelsammlung, gleichviel ob aus neuerer Zeit oder
aus dem Altertum, von zivilisierten oder unzivilisierten
Rassen, so ergibt sich für Weiberschädel stets eine
kleinere Kapazität, als für Männerschädel. Bedenkt
man nun, dass das Körpergewicht der Männer immer
bedeutender ist, als das der Frauen, so ist das Resultat
der Schädelmessung nicht überraschend; von dem rela-
tiven Schädelinhalt haben einzelne Anthropologen be-
hauptet, dass er beim Manne grösser wäre, als beim
Weibe, während andere aus ihrem Material mit gleichem
Recht den Schluss gezogen haben, dass bei‘ Frauen
der Schädelinhalt relativ grösser ist. Übrigens wird
die Grösse des Gehirns durch Ermittelung des Schädel-
inhalts nur ganz ungefähr bestimmt, und eine noch
rohere Annäherungsmethode besteht in der Berechnung
aus den äusseren Schädelmassen, zumal die Schädel-
knochen des Mannes massiger sind als die desWeibes 3).
1) Vgl. Pross und BArTeLs, Das Weib, Bd. I, pP. 15-
„?) MüöLLERS Archiv für Anatom., 1845. P- 89; ferner ROLLESTON,
Presidential Address (British Assoc. 1875); auch LE Box, Revue
d’Anthrop., 1879, p. 56. Es ist bemerkenswert, dass der Schädel
des Weibes einen grösseren Bruchteil des Skelettgewichtes aus-
119
DER KOPF.
Eine interessante, vor längerer Zeit von RETZIUS an-
geregte und später oft untersuchte Frage ist die nach
dem Verhältnis des Schädelinhalts bei verschiedenen
Rassen; es ist nämlich zweifelhaft, ob nicht bei höheren
Rassen dieser Unterschied grösser ist als bei niederen;
ich habe aus einer grossen Zahl von Quellen folgende
Tabelle zusammengestellt, u. a. unter Benutzung der
bekannten einschlägigen Arbeiten von WEIsBACH, TOPINARD
und FiLowEr!). Die Zahlen geben die durchschnittliche
Schädelkapazität beim Weibe in “oo der Schädelkapa-
zıtät des Mannes.
Neger (Davıs). .. 984
Buschmann (FLOWER). . 0. 2. 0.0.0. 951
Hottentotten und Buschmänner (Broca) 951
Hindu (Davıs) . 944
Neger (TIEDEMANN) 932
Eskimo (Broca) . 931
Australier (Broca) . 926
Malayen (TıeDEMANN) . 923
Niederländer (TIEDEMANN) 919
Preussen (KUPFFER) 918
Iren (Davıs) . .. 912
Andamanen (FLOWER) 911
Neukaledonier (Broca) 911
Niederländer (Broca) 909
Tasmanier (Broca) . 907
Kanaken (Davis) . 10.000400 0000. 1. 906
Veddah (Davıs, FLowEr, ViRcHOW, THomson) . . 903
Marauesas-Insulaner (Davıs) 902
macht, als der des Mannes. MANOUvRIER hat einen Kraniofemoral-
Index ersonnen, der angibt, wieviel Prozent des Schädelgewichts
das des Oberschenkels beträgt. Bei den meisten Frauen (83 °%)
war der Schädel schwerer, als der Oberschenkel, umgekehrt war
bei 81% der Männer der Schenkel schwerer. So betrachtet,
nimmt die relative Grösse des Schädels in folgender Reihe ab:
Kinder, Weiber, kleine Männer, grosse Männer, Affen.
1) WersBAcH, Der deutsche Weiberschädel (Arch. f. Anthropol.,
Bd. III, 1868); TorınAarD, L’Homme dans la nature, 1891, p. 218.
DER KOPF.
Deutsche (WELKER)
Auvergnaten (Broca)
Aino (KoGAnEIl) . . . 0.0.0...
Bayerische Stadtbevölkerung (RANkE)
Aino (KoPERNICK) . . ..
Australier (FLOWER) . 2... ..
Bayerische Landbevölkerung (RANKE)
Schotten (TURNER) .
Russen (Poporr)
Deutsche (Davıs)
Elsässer (SCHWALBE)
Deutsche (WEISBALH)
Alte Briten (Davıs)
Javanesen (T1EDEMANN)}
Australier (TURNER)
Chinesen (Davıs). .
Deutsche (TIEDEMANN)
Angelsachsen (Davıs)
Pariser ı2. Jahrh. (Broca)
Engländer (Davıs) . . .
Pariser ı9. Jahrh. (Broca)
Javaner (Broca). . . ,
Eskimo (FLOwER) . .
Deutsche (HvuscHxKeE)
113
897
807
894
893
890
889
888
887
884
883
880
878
877
874
871
870
864
862
862
860
858
855
855
838
Aus dieser Tabelle ergibt sich sehr deutlich, wie
durch die Entwicklung zu und in der Kultur der Unter-
schied des Schädelinhalts beider Geschlechter fort-
schreitend sich steigert, Natürlich ergaben sich auch
einige Abweichungen auf Grund von zu kleinem oder
nicht normalem Material oder von fehlerhaften Methoden
der Messung. Das gilt z. B. für die Messung der Veddah-
Schädel. Wenn aus der vorhandenen Zahl dieser
Schädel zwei nicht berücksichtigt worden wären, ein
abnorm grosser männlicher und ein abnorm kleiner
weiblicher, so würden die Veddahs als ein ausserordent-
lich primitives Naturvolk mit der geringsten ge-
schlechtlichen Differenz an der Spitze unserer Liste stehen,
wohin sie auch wohl gehören. Man darf aber nicht
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl
>
114
DER KOPF,
ohne weiteres annehmen, dass, wenn diese Divergenz
sich durchgehends feststellen lässt, sie ausschliesslich
auf den Einfluss der Zivilisation zurückzuführen ist. Es
kann sich dabei auch — wir WALDEYER annimmt — ledig-
lich um eine Rassenfrage handeln,
Unter den Faktoren, die einen grossen Schädel-
inhalt bedingen, spielen zwei, bedeutende Körpergrösse
und bedeutende geistige Arbeit, die Hauptrolle. Der
aus kleinen Individuen bestehende Stamm der Maraver
in Südindien ergibt eine, selbst absolut, grössere Schädel-
kapazität der Frauen; bei den grossgewaächsenen Deut-
schen ist die weibliche Schädelkapazität relativ klein,
Die Stadtbevölkerung hat eine grössere Schädelkapa-
zitüt als die Landbevölkerung, aber die der Landbe-
völkerung obliegende bedeutende Muskelarbeit hält ihre
Schädelkapazität auf einem noch ziemlich ansehnlichen
Niveau. RAnke fand bei 100 grossköpfigen Städtern
die kleinste Kapazität gleich 1218 ccm, während das
Minimum von 100 kleinköpfigen Dörflern 1260 war%).
Der Städter, der weder körperliche noch geistige Arbeit
zu leisten hat, steht anthropologisch sehr tief und bei
zivilisierten Völkern fällt die schwerste körperliche und
die ‚schwerste geistige Arbeit dem Manne zu. Es ist
von Interesse, dass JAcoBs und SPIELMANN bei ihrer Unter.
suchung der jüdischen Bevölkerung Londons fanden, dass
die Schädelmaasse der reichen und müssigen Jüdinnen des
Westends bedeutend unter denen der Männer stehen,
während im Ostend Juden und Jüdinnen sich in dieser
Beziehung kaum unterscheiden. Indessen ist doch nur
innerhalb enger Grenzen die Gleichheit der sozialen Be-
dingungen die Voraussetzung einer Gleichheit der Schädel-
merkmale. Unter Orangs und Gorillas sind_ die Ge-
schlechtsunterschiede am Schädel enorm; etwasAhnliches
gilt von den Australiern, die fast die niedrigste aller
lehenden Menschenrassen sind, und unter den einfach-
1)'J. Range, Stadt- und Landbevölkerung. (Beitr. z. Bio-
logie, 1882.) +
DER KOPF.
115
sten Bedingungen leben!). So sagt TURrRNER, bei der Be-
schreibung der Challenger-Schädel. „Bei den Austra-
lierschädeln waren die Geschlechtseigentümlichkeiten
sehr stark ausgesprochen. Die viel geringere Grösse
und Kapazität des Weiberschädels, die Zartheit seiner
Leisten und Vorsprünge, besonders der Glabella, seine
geringe Höhe und die Weite seiner Augenhöhlen, alles
das ergab erhebliche Unterscheidungsmerkmale zwischen
den Schädeln beider Geschlechter.“ Dass der Ge-
schlechtsunterschied der Schädelkapazitäten bei Kultur-
völkern so viel grösser ist, als bei Naturvölkern, ist nicht
unerklärlich und bleibt eine interessante und bedeutungS-
volle Tatsache.
Oft, besonders in der Jugendzeit der Kraniologie,
ist behauptet worden, dass der Stirnteil des Schädels,
der als der „edlere‘‘ Teil betrachtet wurde, beim Manne
mehr entwickelt ist, als beim Weibe. Jedoch ist die
Annahme, dass die Stirnregion etwas spezifisches und
im höheren Sinne menschliches ist, als die anderen
Regionen des Schädels, nicht genügend begründet.
CLELAND fand bei Vergleichungen der drei Regionen
des Schädels, der frontalen, parietalen und occipitalen,
keinen bemerkenswerten Unterschied. MANOUVRIER, der
diese Frage in der ausgedehntesten und sorgfältigsten
Weise untersucht hat, ermittelte aus den umfangreichen
Registern Brocas, dass in 14 von ı7 Schädelserien der
Stirnanteil des Längsbogens beim Weibe relativ grösser
war, als beim Manne, dass dagegen dasselbe für den
Parietalbogen nur bei 6 von ı7 Serien galt; er zog dar-
aus den Schluss, dass Frauen einen frontalen Schädel-
typus hätten, Männer einen parietalen?). Eine relativ
1) Auffallend sind die beträchtlichen Geschlechtsunterschiede
am Schädel auch bei den oberschlesischen Polen.
2) MANOUVRIER, Sur la grandeur du front et des principales
regions du cräne chez ”’homme et chez la femme. (Bull. de l’Ass,
franc. pour Pavanc. des sciences, 1882, p. 623—639); ferner Art.
„Sexe“, Dict. des Sc. Anthrop. Übrigens ist zu bemerken, dass
eine hohe Stirn durchaus nicht, wie man gewöhnlich annimmt,
die beständige Geleitschaft höherer Begabung bildet. BENEDIKT
Ok
a
LLU
%
DER KOPF.
grössere Breite des weiblichen Hinterhauptes ist von
MANOUVRIER gefunden worden, und auch von WEISBACH,
der an deutschen Schädeln zu dem Resultate kam, dass
das Hinterhaupt bei Weibern grösser und länger ist,
bei gleicher Breite. ToPınarD gibt für die beiden Ge-
schlechter der Pariser Bevölkerung Zahlen der relativen
Breite der verschiedenen Schädelregionen, aus denen
sich keine Superiorität des Weibes bezüglich der Stirn
ergibt, wohl aber bezüglich des hinteren Teils des
Schädels, woraus auf eine bedeutendere Grösse des
Kleinhirns und der Hinterhauptslappen des Grosshirns
zu schliessen ist; in der Regel findet sich dies Ver-
hältnis am deutlichsten bei den höheren Rassen. „Der
Schädelindex. der Russen und Javanen ist ungefähr der-
selbe, aber das höherstehende europäische Volk hat
eine grössere Hinterhauptsbreite, und dasselbe ergibt
sich, wenn man die Basken mit den Tasmaniern ver-
gleicht, obgleich beide Rassen bis auf die Dezimale
denselben Schädelindex. haben; der Pariser hat einen
nur um 2°%o grösseren Schädelindex, als die‘ Pariserin,
aber diese ist ihm in der occipitalen Breite um 8 Ein-
heiten voraus‘“}),
Pıcozzc hat an dem von MAczDo gesammelten Materiale
die Nähte an 1000 Schädeln portugiesischer Herkunft
untersucht, unter denen beide Geschlechter beinahe
gleich stark vertreten waren. Die Nähte an Weiber-
schädeln waren viel einfacher, sie verwachsen bei Weibern
(l. c. p. 25) ist gewöhnt, beim Weibe in einer hohen Stirn ein
Zeichen der Beanlagung zu Krämpfen und Degeneration zu sehen
und er zitiert die instinktive Gewohnheit der Frauen, sich die
Haare in eine zu hohe Stirn zu kämmen.
1) TorınarpD, 1. c. p. 694; Wırgs bemerkt in seinen Vor-
lesungen über Krankheiten des Nervensystems: „Schon die blosse
Betrachtung des Kopfes eines gut beanlagten Menschen zeigt,
dass derselbe nach hinten beträchtlich vorragt, während bei
schlecht entwickelten Personen Kopf und Hals fast eine senk-
rechte Linie bilden“. CLAPHAM fand bei der Messung von 4000
Köpfen, dass der vordere Umfang im Verhältnis zum Totalum-
fang wächst, wenn man von normalen Personen zu Irren und von
diesen zu Idioten übergeht (Journ. of Ment. Science, 1898, p. 293)-
DER KOPF.
117
im höheren Alter, worin P. ein infantiles Merkmal sieht.
Die Nähte der vorderen Schädelhälfte schliessen sich
beim Weibe früher, als die hinteren, weil sich die
Frontalregion beim Weibe früher entwickelt. (Archiv,
di Psichiatria, 1895, Fasc. V, p. 564.)
Fassen. wir alles zusammen, so ergibt sich aus der
Untersuchung des Schädels kein triftiger Grund, dem
einen Geschlecht eine höhere morphologische Stellung
einzuräumen, als dem anderen; die einzig ausgesprochenen
und allgemein feststellbaren Geschlechtsunterschiede am
Schädel sind, soweit unser heutiges Wissen reicht, die-
jenigen, die wir schon zu Anfang des Kapitels genannt
haben: beim Manne springen die Lufthöhlen und die
Muskelansätze stärker hervor, beim Weibe die Knochen-
wölbungen. Nach seinem Verhalten in diesen drei
Merkmalen nähert sich der Mann dem primitiven, pithe-
koiden und senilen Typus, die, wie VIRCHoW angedeutet
hat, sämtlich einander nahe stehen!). Der Mann darf
also, wenn er pharisäisch gestimmt ist, Gott danken,
dass sein Schädeltypus so weit von dem kindlichen
entfernt ist, und ganz ebenso steht es der Frau frei,
dankbar dafür zu sein, dass ihr Schädel dem senilen
Typus fernsteht.
Das Gehirn.
Die Anschauungen über die Geschlechts-Merkmale
des Gehirns haben ihre Geschichte, die nicht sehr ruhm-
volle Blätter in den Annalen der Wissenschaft füllt,
denn sie wimmeln von Vorurteilen. grundlosen Hypo-
1) In allen diesen Beziehungen nähert sich der ‚weibliche
Typus dem infantilen. Die mittlere Stellung der speziellen weib-
lichen Schädelmerkmale zwischen dem infantilen und maskulinen
Typus wurde zuerst von LISSAUER (Archiv f. Anthropol, 1885)
beachtet, und VIRcHOow hat oft darauf hingewiesen. PAUL BARTELS
(Über Geschlechtsunterschiede am Schädel 1897, S. 97) hält die
Tatsache, dass dem Weiberschädel animalische Merkmale des
Männerschädels fehlen, für ein Hauptergebnis der Forschung.
ALBRECHTS exzentrische Behauptung von der „grösseren Bestia-
lität“ des Weibes in anatomischer Hinsicht bedarf keiner ernst-
haften Erörterung. (Korresp.-Bl. d. Deutsch. Anthropol. Ges., 1884.)
113
DER KOPF.
thesen, Trugschlüssen und übereilten Verallgemeine-
rungen. Laien haben dies Problem mit Vorliebe be-
handelt und Naturforscher scheinen oft allen wissen-
schaftlichen Geist zu verlieren, sobald sie sich mit
dem Sitze des Geistes befassen. Mancher wissenschaft-
liche Ruf ist an diesem weichen, zarten Organ gescheitert.
Erst in der neuesten Zeit wird das Problem allgemein
mit Ruhe und Unvoreingenommenheit behandelt, aber
noch heute lassen sich die Tatsachen auf diesem Ge-
biete schnell aufzählen.
Bei den europäischen Rassen ist ohne jeden Zweifel
das absolute Gewicht des Männergehirns beträchtlich
grösser als das des Weibergehirns. Von anderen Rassen
wissen wir nicht viel über diesen Punkt; in der unten-
stehenden Tabelle gebe ich die Zahlen der Durch-
schnittsgewichte, wie sie in verschiedenen Ländern
von Forschern ersten Ranges, die mit grossem, meist
mehrere hundert Fälle umfassenden Materiale arbei-
teten, festgestellt worden sind.
Name des
Forschers
bei
Hirngewicht in Unterschied
Grammen in. Gr.
(Männern
\Weibern
(Männern
1Weibern
(Männern
|Weibern
Männern
| Weibern
Männern
| Weibern
Männern
| Weibern
Maxovvrıerd N annern
1410
1262
1424
1272
1365
I21I1
1400
1250
1362
1219
1354
1221
1353
1225
148
152
154
150
143
133
128
1) Die Zahlen sind den bekannten Untersuchungen BoypDs
am Londoner Marylebone-Siechenhaus entnommen. Fast die-
DER KOPF.
119
In Europa hat also der Mann ein absolut grösseres
Gehirn als das Weib. Die Schwierigkeiten beginnen
nun sogleich beim nächsten Schritte. Wenn man näm-
lich zunächst fragt, ob Männer auch relativ mehr Hirn-
masse haben als Weiber, so ist zunächst festzustellen,
mit welcher Grösse das Hirngewicht verglichen werden
soll, wenn das relative Hirngewicht zu ermitteln ist.
Gewöhnlich hat man als passendste Vergleichs-Grösse
die Statur gewählt. TopmnArRD hat dann bemerkt, dass
man besser die Höhe des Rumpfes, nicht die ganze
Körperlänge dem Vergleich zugrunde lege; soviel mir
bekannt ist, hat man das’ nie in grösserem Umfange
getan. Es ist nun nicht schwer, ziemlich genau die
Durchschnittsstatur einer Bevölkerung zu ermitteln,
und wenn ihr Verhältnis zum Hirngewicht ermittelt ist,
sind wir einer rationellen Methode näher gekommen.
Nun ist auch das auf die Statur bezogene relative Hirn-
gewicht des Mannes noch immer etwas grösser als das
des Weibes. Es beträgt z. B. nach BiscHOFF und nach
Bovyp das absolute Hirngewicht des Weibes 90 9% des
männlichen; die Durchschnittswerte der Statur bei beiden
Geschlechtern verhalten sich wie 93 zu 100 (in England);
mit Rücksicht auf die Statur hat also das relative Hirn-
gewicht des Engländers ein mässiges aber merkliches
Übergewicht, das ungefähr einer Unze entspricht. Ge-
nau dieselben Relationen sind auch bei der französischen
Bevölkerung vorhanden ?). Unter ‚Berufung‘ auf diese
Unze hat ein hervorragender Hirnanatom erklärt, „dass
selben Resultate erhielt Sir James CRICHTON-BROWNE bei der
Wiegung von fast 1600 Gehirnen Irrer, bei denen er für Männer
einen Durchschnitt von ı351, bei Frauen von 1223 Gramm er-
mittelte; diese Zahlen liegen bei Männern etwas unter dem Durch-
schnitt, wegen der gewöhnlich ernsteren Natur der Paychesen
beim Manne, So dass also in Irrenanstalten die Gesc lechter
einander näher stehen. S. CRIiCHTON-BROWNE, On the Weight of
the Brain in the Insane (Brain, Band 1-—1I); ferner: CLAPHAM,
Artikel „Brain, ‚Weight of“, (Diction. of Psychol, Medic.); TIGGES,
Das Gewicht des Gehirns und seiner Teile bei Geisteskranken.
(Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 1888, Bd. 45, Heft 1—2)
1) S. ToPInNARD, |]. c. p. 557.
120
DER KOPF.
somit in der Differenz der Grösse und der Schwere
des Gehirns offenbar eine fundamentale Verschieden-
heit beider Geschlechter gegeben ist“; diese Behauptung
ist auch oft. von anderen aufgestellt worden.
Eine eingehendere Erwägung zeigt nun aber, dass
e&5 zwar sehr nahe liegt und annähernd korrekt ist,
den relativen Gewichtsunterschied des Gehirns beider
Geschlechter auf Grund des Unterschiedes der Statur
zu bestimmen, dass dieses Verfahren aber das Weib nicht
gerade mit Billigkeit behandelt. Der Mann hat nicht
nur mehr Zoll Länge, sondern auch mehr Kubikzoll
Masse als das Weib. Wenn man sich die Durchschnitts-
masse beider Geschlechter durch zwei Säulen darge-
stellt denkt, deren Höhe der Durchschnittstatur der-
selben gleich ist, so wird die eine, den Mann repräsen-
tierende Säule einen grösseren Umfang haben als die
andere, Beim Weibe ist nur ein Mass, der Umfang
des Oberschenkels, ’absolut grösser, als beim Manne.
(S. oben Seite 58.) Denken wir uns nun für unsere
Zwecke die Typen beider Geschlechter in völlig säulen-
förmiger Gestalt, so dürfen wir nicht direkt die Hirn-
masse der‘: weiblichen mit der der männlichen Säule
vergleichen, denn bei der männlichen, Säule muss auf
den Zoll Länge mehr Hirnsubstanz kommen als auf die
weibliche, wenn sie dieser an Prozenten der Hirnmasse
auch nur gleichkommen soll. Die Unze mehr ist also
schon deshalb nötig, um den Mann der Frau wirklich
gleichzustellen.
Die offenbare Ungenauigkeit der Relation zur Sta-
tur hat nun mehrere hervorragende Anthropologen,
darunter REID, TIEDEMANN, WAGNER, WEISBACH, veranlasst,
das relative Hirngewicht auf Grund des Körpergewichts
zu bestimmen, was offenbar logischer ist. Es ergibt
sich dann fast regelmässig, dass das Weib im Ver-
gleich zum Körpergewicht ein grösseres oder ein
ungefähr ebenso grosses Gehirn hat als der Mann.
Das haben schon vor längerer Zeit verschiedene
deutsche, englische und französische Forscher be-
DER KOPF.
121
hauptet!). Neuerdings hat Bıscnorr ermittelt, dass das
Körpergewicht des Weibes sich zu dem des Mannes
verhält wie 83:1ı00, das Hirngewicht dagegen wie
90: 100; auch ViERorRDdDT hat die Tatsache, dass das
Weibergehirn im Verhältnis zum Körpergewicht grösser
als das Männergehirn ist, erläutert. Nach einer geeigneten
Relation findet sich also beim Weibe eine grössere
Hirnmasse als beim Manne 2.
Aber auch damit haben wir noch keine befriedigende
Beantwortung der uns jetzt beschäftigenden Frage ge-
funden; wenn man Hirngewicht und Körpergewicht
in Rapport setzt, so vergleicht man eine relativ recht
konstante Grösse mit einer anderen, äusserst variabeln ;
das Körpergewicht darf nur dann zum Vergleich heran-
gezogen werden, wenn es den Durchschnitt eines sehr
grossen Materials darstellt, innerhalb dessen die indi-
viduellen Unterschiede sich ausgleichen. Die wohl-
habenden, wohlgenährten und wenig arbeitenden Be-
völkerungsklassen haben ein grösseres Körpergewicht,
als diejenigen, die sich überarbeiten und gleichzeitig
ungenügend ernähren. Bei einem Individuum, das im
Armenhause stirbt, ist das Verhältnis zwischen Körper-
und Hirngewicht ein anderes, als bei der Durchschnitts-
bevölkerung, und zu dem Unterschiede zwischen ver-
schiedenen Individuen kommen noch Schwankungen
bei denselben Individuen. Wenn ein sonst wohlgenähr-
ter Mensch nach einer langen und erschöpfenden Krank-
heit stirbt, so fällt sein relatives Hirngewicht viel höher
aus, als es sich ergeben hätte, wenn er’ zu Beginn der
Krankheit gestorben wäre, Das Gewebe des Gehirns
widersteht in seinem Gewicht Ernährungsstörungen des
ganzen Körpers sehr erheblich, mehr als das Knochen-
1) Siehe z. B. TırDEMmAnN, Transact. Royal Soc., 1836, Bd. 126,
P. 3065; PARCHAPPE, Recherches sur Pencephale, 1836.
?) W. von BıscHorr, Das Hirngewicht des Menschen. Bonn
1880; H. VIERORDT, Das Massenwachstum der Körperorgane des
Menschen. (Arch. f. Anat. und Physiol., 1892.) TOPINARD leugnet
jeden erheblichen Unterschied beider Geschlechter in dieser Be-
Ziehung (l. c. D. 540).
‚99
DER KOPF.
gewebe; dagegen wechselt das Fettgewebe, welches
einen sehr grossen Teil des Körpergewichts ausmacht,
ausserordentlich an Masse und wird zuerst -aufgebraucht,
sobald der Organismus der WÜberanstrengung oder
einer unzureichenden Ernährung verfällt; lässt man
Tiere verhungern, so besitzen sie (nach Vor) schliess-
lich nur noch 3°%o ihres Fettes, während das Nerven-
gewebe nur 3*/2°% seines ursprünglichen Gewichtes
eingebüsst hat !). Vergleichen wir das Hirngewicht mit
der Statur, so ist das Resultat fehlerhaft, aber der
Fehler hat eine konstante Grösse, weil wir zwei fast
unveränderliche Grössen miteinander verglichen haben;
die Vergleichung des Hirngewichtes mit dem Körper-
gewicht ist prinzipiell richtiger, aber eine der vergli-
chenen Grössen ist so bedeutenden Schwankungen
unterworfen, dass sich Fehler ergeben, die weniger
konstant sind und sich nur auf Umwegen vermeiden
lassen.
Noch ein ernster und etwas konstanterer Fehler
ist in Rechnung zu ziehen, wenn man die Geschlechts-
unterschiede des Hirngewichts nach Massgabe des
Körpergewichts bemisst. Frauen sind, wie wir oben
gesehen haben, fettreicher als Männer. Beim erwach-
senen Weibe besteht eine Tendenz zur Fettablagerung
an Armen und Brüsten, in der Bauchhöhle und Bauch-
wand, ferner an Hüften und Oberschenkeln, während
eine ähnliche Tendenz beim Manne nur in mässiger
Ausdehnung besteht. Wie wir gesehen haben, verhält
sich die Fettmasse des Weibes zu der des Mannes wie
28,2 zu 18,2 und, auf das Muskelgewebe bezogen, wie
78 zu 43. Freilich stammen diese Resultate nur von
2 typischen, wohlgenährten Körpern; aber die grössere
Neigung des Weibes zum Fettansatz ist zweifellos, und
nur eine Teilerscheinung der sogenannten anabolischen
Tendenz des weiblichen Geschlechts. der Tendenz zu
1),5. WaLLER, Physiology, wo ein Diagramm den relativen
Verlust‘ der verschiedenen Gewebe unter dem Einflusse völliger
Nahrungsentziehung zeigt.
DER KOPF.
123
einer den Verbrauch übersteigenden Anbildung; be-
stätigt wird sie ferner dadurch, dass, während der Mann
sein grösstes Gewicht im 4osten Lebensjahre erreicht,
das Weib erst mit 50 Jahren dahin gelangt, obschon
ihr Wachstum so erheblich früher aufhört, als beim
Manne. Nun ist das Fettgewebe dem Lebensprozess
fast entrückt und, mit dem Muskel verglichen, fast
ebenso sehr dem Nerveneinfluss. Dass die Frauen
relativ so viel von einem nicht vitalen Gewebe in sich
tragen, muss berücksichtigt werden, wenn man ihr
relatives Hirngewicht mit dem des Mannes vergleicht.
Die wirklich aktive, organische Gewebsmasse des weib-
lichen Körpers beträgt nur 70%, der entsprechenden
Gewebe des Mannes; es beruht diese Angabe!) auf
einer annähernden Schätzung; legen wir aber dieses
Verhältnis der Bestimmung der relativen Hirngewichte
zugrunde, so hat das Weib mit einem absoluten Hirn-
gewicht, das 90°o von dem des Mannes beträgt, fak-
tisch einen erheblichen Überschuss an Hirnmasse.
Die beiden üblichen und handlichsten Methoden
zur Bestimmung der Geschlechsunterschiede des Hirn-
gewichts — durch Vergleich mit der Statur und durch
Vergleich mit dem Körpergewicht, sind also beide irrig,
und in beiden Fällen kommt das Weib in ungerecht-
fertigter Weise zu kurz. Die Annahme liegt nahe, dass
auf der anderen Seite vielleicht auch eine Fehlerquelle
liegt, so dass ein Gleichgewicht entstände; so.hat man
z. B. auf die grössere Massigkeit des Skeletts beim
Manne hingewiesen, aber dieser Umstand fällt hier
nicht erheblich ins Gewicht; berücksichtigt man z. B.
den Schädel, so ist das Verhältnis zwischen dem Ge-
wicht des Männerschädels zu dem des Weibes (nach
MonsezLu) gleich 100 zu 86; der Vergleich des Körper-
gewichts von Mann und Weib bei den Mitgliedern der
I) Prof. MANoOUvVRIER, der bekannte Pariser Anthropologe,
vertritt mit Eifer die anatomischen Vorzüge des Weibes und hat
die Bedeutung dieser Tatsachen besonders hervorgehoben: L,
MANnouvrıEr, Sur Pinterpretation de la quantite dans lencephale
Paris 188<, und Art. „Croissance“ im Dict. des Sciences anthrop.
124
DER KOPF.
British Association ergab sich in Bath als 100 zu 79,
und bei der kleinen belgischen Rasse, nach QUuETELET,
gleich 100 zu 87. Es verhalten. sich also die Knochen-
massen zu einander fast genau so, wie die Körpermassen,
In der Tat existiert aber noch eine Korrektion, welche
angebracht werden muss und zugunsten des Überge-
wichts der männlichen Hirnmasse wirkt; es wächst
nämlich das Hirngewicht langsamer, als die Zunahme
der Körpergrösse, wenn man eine grössere Zahl von
Individuen vergleicht, und das gilt unabhängig von Ge-
schlecht und von der Spezies für die meisten Säugetiere.
Grosse Männer haben also relativ kleinere Gehirne, als
kleine Männer, grosse Frauen haben relativ kleinere
Gehirne, als kleine Frauen, und das Gehirn einer sehr
kleinen Frau ist relativ viel grösser als das des grössten
Mannes !). Dieses Gesetz bedingt eine Korrektion, welche
vielleicht 2°%o beträgt, vielleicht etwas weniger, denn
Bıschorr und Ticess haben gezeigt, dass das Gehirn mit der
Körperlänge bei Frauen in stärkerem Verhältnis wächst,
als beim Manne; dies führt dazu, das Problem des
Hirngewichts zu komplizieren, und das relative Über-
gewicht der Hirnmasse beim Weibe wieder um einen
kleinen Betrag zu reduzieren, kurz, es ist noch kein
befriedigendes Schema entworfen, bei dem die Fehler-
quellen der Bestimmung des relativen Hirngewichts in
Beziehung auf Körperlänge und Körpermasse fort-
fielen.
Als andere Methoden sind vorgeschlagen worden,
die Vergleichung des Hirngewichtes mit dem eines
Knochens, oder dem des Herzens, oder eines bestimm-
ten Muskels. Eine befriedigende Schätzung liesse sich
vielleicht erreichen durch Zugrundelegung des Verhält-
nisses zur Körpermasse, unter Anwendung einer Kor-
1) BıscHorF, Broca und ToPınAarD haben gezeigt, dass dies
gilt, ob man die Hirnmasse mit der Länge oder mit dem Gewicht
des Körpers’ vergleicht, oder mit beidem. Vgl. u. a. BıScHOFF,
Das Hirngewicht, p. 92; TOPINARD, Anthrop. gen.,p.533; J, MARSHALL,
On the relation between the brain and the stature and mass of
the body. (Journ. of Anatom. and Phys., 1892.)
DER KOPF.
125
rektur, der ein anderes Verhältnis zugrunde gelegt
würde, z. B. die Abweichung von einem bestimmten
Mass des Verhältnisses. zwischen Oberschenkelumfang
und Knieumfang. Hier liegt noch ein grosses Gebiet
offen für die mathematische Richtung innerhalb der
Anthropologie; für den Augenblick müssen wir ‚uns
damit begnügen, dass eine allgemeine Übereinstimmung
über die Art und Richtung der Fehler in den gewöhn-
lichen Methoden vorhanden ist,
Es besteht also kein Zweifel, dass nach Eliminierung
der Hauptfehlerquellen im allgemeinen angenommen
werden muss, dass das Weib eine relativ grössere Masse
von Nervengewebe besitzt. Dass absolut grosse CGre-
hirne gewöhnlich neben gut entwickelter Muskulatur
vorkommen, ist anscheinend eine Bedingung für die
funktionelle Konstanz und den Tonus des Nervensystems.
Ein schweres Gehirn, das sein Fundament nicht in einer
kräftigen Muskulatur hat, ist nicht immer eine begehrens-
werte Gabe der Natur. Es ist oft nur mit Schwierig-
keit intellektuell zu verwerten, es fungiert mit zu grosser
Leichtigkeit und unkontrollierbar und kann zu explo-
siven Entladungen neigen; bemerkenswerterweise be-
sitzen die Epileptiker relativ grosse Gehirne*!), Ein
sehr beträchtlicher Teil der guten Leistungen in der
Welt ist von Gehirnen getan worden, die gross waren,
aber im Verhältnis zu der Masse des Körpers nicht
ungewöhnlich gross.
Es ist sicher, dass manche genialen Forscher und
Künstler Gehirne besessen haben, die sowohl absolut
als relativ enorm gross waren. Aber es ist kein Zweifel,
dass ein absolut und relativ grosses Gehirn ein Besitz-
tum von zweifelhaftem Werte ist. Sucht man die 6
schwersten Gehirne aus der Literatur zusammen (ich
übergehe dabei nicht völlig authentische Angaben), so
ist das schwerste von 2222 g ein von BiscHoFF er-
wähntes, das einem ganz gewöhnlichen Individuum an-
gehörte. Dann kommt das Gehirn TuRGENIEWS, des
1) Vgl. CLAPHAM, Art. „Brain, weight of“, Dicf. of Psych. med.
19€
DER KOPF,
grossen russischen Dichters, der ein ziemlich gross ge-
wachsener Mann war. Es wog 20ı2 g. Das dritte,
etwas kleinere, ist das eines Imbezillen, der in der
Irrenanstalt der Grafschaft Hants gestorben war, es
war nach LEviıneE von normaler Konsistenz. Das vierte
mit 109025 g Gewicht gehörte einem gewöhnlichen
Arbeiter und wurde von BıscHorr untersucht. Das
fünfte, ı900 g schwer, stammte von einem Ziegel-
streicher; das sechste, ı 830 g Gewicht, war das des
berühmten Zoologen Cuvıer *).
Die 6 grössten bisher bekannten Frauengehirne
sind nach TorınAarRD erstens das 1742 g schwere Ge-
hirn einer an Schwindsucht gestorbenen Geisteskranken,
deren Fall SxaAE mitgeteilt hat; es kommt sodann eins
von 1587 g, das einer mit 63 Jahren verstorbenen
geistig gesunden Frau gehörte ; dann ein ebenso schweres
von einer Geisteskranken aus der Irrenanstalt Wake-
field, mitgeteilt von CLAPHAM, und schliesslich drei Fälle
von 1580 g Gewicht; zwei derselben von Bovyp mitge-
teilt, stammten von geistig gesunden Frauen, das dritte
von einer Studentin der Medizin, die für ungewöhnlich
begabt galt und keine Zeichen von Geistesstörung ge-
zeigt hatte, aber Selbstmord beging, weil sie nach dem
Examen glaubte, es nicht bestanden zu haben.
Ein grosses Gehirn ist vielleicht ein gefährliches
Besitztum und soweit das Beweismaterial reicht, für
das Weib wahrscheinlich gefährlicher als für den Mann;
es ist oft unbeschäftigt oder ungeordnet und erhält
nicht immer die grosse Blutmasse, deren es bedarf;
es lässt sich sehr viel zugunsten der Vorzüge eines
i) Dieser Liste ist ein noch schwereres Hirn anzureihen, das
G. C. van WaLsem beschrieben hat (Neurol, Zentralblatt, Juli 1899).
Es stammte von einem epleptischen Idioten und wog 2850 g.
MANOUVRIER (Revue de F’Ecole d’Anthropologie, Dezember 1902)
hat ein 1935 g schweres Gehirn beschrieben; es rührte von einem
Manne her, der wegen seines Urteils und seines rechtlichen Ver-
haltens geachtet war, aber obskur geblieben ist. Die Richtigkeit
der Angaben über das Hirngewicht TuUrRGENIEWS ist bezweifelt
worden, aber grundlos.
DER KOPF.
127
kleinen, wohlgeordneten und tätigen Gehirns sagen,
Es ist wahrscheinlich, dass grosse Denker im allgemeinen
grosse Gehirne haben, aber unter ausgezeichneten
Männern der Tat scheinen kleine Gehirne eben so
häufig zu s«in, als grosse.
Welche Bedeutung das relative Vorwiegen des
Nervengewebes beim Weibe hat, wird etwas verständ-
licher durch einen Blick auf den Gang der Hirnent-
wicklung bei beiden Geschlechtern. Bei der Geburt
ist das Gehirn des Knaben grösser, als das des Mädchens,
Boy wog 40 Gehirne von Neugeborenen beiderlei
Geschlechts und fand bei Knaben ein Durchschnitts-
gewicht von 331 g, bei Mädchen von 283 g, mithin
eine Differenz von 48 g. Diese Zahl geben auch
Tormard und RüpieerR als ungefähre Durchschnitts-
Differenz an, später hat jedoch Miss eine grosse Zahl
von Hirnen Neugeborener gewogen und das Durch-
schnittsgewicht von (79) Knabengehirnen auf 339 g,
das von (69) Mädchen auf 330 g bestimmt; die Differenz
beträgt also nur 9 g. Nach Bovpo haben die Knaben
im Verhältnis zum Körpergewicht grössere Gehirne;
Mızs behauptet dasselbe von Mädchen. Ich glaube, es
lässt sich ziemlich einfach erklären, dass die meisten
Beobachter das Gehirn neugeborener Knaben ent-
schieden schwerer finden, als das von Mädchen. Unter
den Neugeborenen, die auf den Sektionstisch kommen,
finden sich mehr Knaben mit grossen Köpfen, weil un-
gewöhnlich grosse Köpfe bei Knaben häufiger sind
und dementsprechend auch die Todesfälle bei der Ge-
burt; diese Ausnahmefälle beeinflussen das Resultat
der Hirnwägungen Neugeborener im Sinne eines
grösseren männlichen Durchschnittsgewichts. Mädchen
sind relativ geschützt vor derlei Gefahren,
Das Gehirn wächst während der ersten Lebens-
monate ausserordentlich und während der übrigen Zeit
der ersten Lebensjahre noch immer sehr beträchtlich.
Bei einem dreimonatlichen Säugling hat das Gehirn
den fünften Teil des Körpergewichts, bei dem Er-
wachsenen nur 1/ss. Im sechsten Monat hat sich (nach
128
DER KOPF.
BoYyps ziemlich zahlreichen Messungen) das absolute
Hirngewicht bei Mädchen verdoppelt und bei Knaben
um fast eben so viel vermehrt; sein vierfaches Anfangs-
gewicht erreicht das Gehirn bei Mädchen im siebenten
Lebensjahr, bei Knaben noch vor dem vierzehnten.
Die frühzeitige Entwicklung des weiblichen Gehirns in
der Kindheit ist also sehr deutlich. Selbst Bovp’s
Zahlen, die ein relativ geringes Anfangsgewicht des
weiblichen Gehirns bei der Geburt angehen, zeigen,
dass Mädchen in dem Alter von 4—7 Jahren relativ
grössere Gehirne haben (nach der Körperlänge be-
messen), als Knaben. Während Mädchen in dem ge-
nannten Alter schon 92 %o ihres definitiven Hirngewichts
besitzen, sind Knaben um diese Zeit erst bei 83 %o an-
gelangt; Mädchengehirne wachsen nach dem siebenten
Jahre nur noch wenig und nach dem zwanzigsten Jahre
überhaupt nicht mehr. Entsprechend dem schnellen
Hirnwachstum in den ersten Lebensjahren besitzen
beide Geschlechter in der Kindheit, und zwar besonders
zwischen 2 und. 4 Jahren, im Verhältnis zur Körper-
länge die grösste Hirnmasse. Boyp, BıscHorr und BRocA
haben an einem grossen Material gefunden, dass das
Weib sein grösstes Hirngewicht vor dem zwanzigsten
Jahre besitzt, jedoch enthält diese Angabe, wie Topmarvp 1!)
ausführt, eine erhebliche Fehlerquelle, da die Ge-
schwindigkeit und der Umfang des Hirnwachstums
das Weib in diesem jugendlichen Alter grösseren
Chancen des Todes aussetzt, wie Knaben andrerseits
zur Zeit der Geburt mehr exponiert sind; man muss
sich nämlich der Tatsache bewusst sein, dass statistische
Daten über die Hirnverhältnisse jugendlicher Individuen
sich ausschliesslich auf solche Elemente der Bevölkerung
gründen, die im Kampf ums Dasein vorzeitig unter-
legen; man kann also die Ergebnisse an diesem Material
nicht ohne weiteres auf die Bestandteile der normalen
Bevölkerung anwenden, die ein reifes Alter erreichen;
bald nach dem zwanzigsten Jahre beginnt das Durch-
1) 1. c. p. 557.
DER KOPF.
129
schnittsgewicht des Gehirns beim Weibe abzunehmen,
beim Manne erst nach dem fünfundzwanzigsten Jahre;
im höheren Alter erleidet der Mann Wahrscheinlich
einen grösseren Verlust an Hirnmasse als das Weib,
Nach Eliminierung :aller Fehlerquellen haben wir
nun schliesslich ermittelt, dass Frauen ein relativ grösseres
Gehirn besitzen als Männer ; dieser Umstand hängt zu-
sammen mit der früheren Blüte und dem früheren Still-
stand, dem beim Weibe das Gehirn ebenso unterworfen ist,
wie der Körper im allgemeinen. Grosse Menschen haben
absolut grössere Gehirne als kleine Menschen; ‘die
grössten und massigsten Menschen haben im Durch-
schnitt die grössten Gehirne, aber ihre Gehirnmasse
ist nicht in demselben Massstab grösser wie ihr ganzer
Körper; die Statistiken BıscHorrs, BrRocas u. a. zeigen,
dass mit der ‚Zunahme ‚des :Körpergewichts und der
Körperlänge bei beiden Geschlechtern der relative Zu-
wachs des Hirngewichts abnimmt. ‚Eine relativ grosse
Hirnmasse ist ein Merkmal, «welches Frauen mit kleinen
Menschen im allgemeinen und mit Kindern teilen.
Von hohem Interesse ist die Frage, ob das Ver-
hältnis der verschiedenen Hirnteile zu einander beim
Weibe ein anderes ist, als beim .Manne. Es kommen
dabei folgende Verhältnisse in Betracht: das Verhältnis
der beiden ‚Hirnhemisphären, .des sog. Hirnmantels,
einerseits zum Kleinhirn, andrerseits. zu den Übergangs-
teilen zwischen Rückenmark und Hirn, welche :als ver-
längertes Mark ‚und ‚Brücke ‘bezeichnet werden; im
Grosshirn haben wir zwischen dem .Stirnlappen am
vorderen Ende, dem :occipitalen Lappen am "hinteren
Ende, und der mittleren Temporo-parietal-Region zu
unterscheiden.
MeEyYNERT hat mitRecht bemerkt, dass die Geschlechts-
unterschiede des Gehirns viel deutlicher in dem gegen-
seitigen Verhältnis seiner Teile ausgesprochen sind als
in dem Organ als ganzes genommen. Allerdings er-
fährt diese Tatsache eine sehr merkwürdige Illustration
durch die völlige Umkehrung der früheren Anschauun-
gen über die Geschlechtsunterschiede in. dem Ver-
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl. 9
130
DER KOPF.
hältnis der einzelnen Hirnteile, welche in neuester Zeit
unter den Hirnanatomen stattgefunden hat. Noch vor
wenigen Jahren wurde mit grosser Emphase behauptet,
besonders in Deutschland, dass schon von frühen Perioden
des Fötallebens an ausgesprochene Geschlechtsunter-
schiede am Hirnmantel hervortreten, welche die erheb-
liche, intellektuelle Überlegenheit des Mannes über das
Weib beweisen. Nach BurdacH unterscheidet sich der
Mann vom Weibe durch die Entwicklung seiner Stirn-
lappen; Huschre kam 1854 zu dem Schluss, dass der
Mann ein Homo frontalis, das Weib ein Homo parietalis
ist; RUEDINCER fand 1877, dass die Stirnlappen des
Mannes in jeder Beziehung stärker entwickelt sind, als
die des Weibhes, und dass Geschlechtsunterschiede schon
im Fötalleben deutlich sind; sein Schüler Passer hat
erst 1882 diese Resultate im wesentlichen bestätigt.
Alle diese Aufstellungen sind leicht begreiflich; sie
stützen sich meist auf eine sehr kleine Zahl von Gehirnen,
ferner ist das Gehirn ein ausserordentlich zu Varietäten
neigendes Organ und sehr schwer zu untersuchen,
schliesslich gilt nun einmal von jeher die Stirn und ihre
Region unbestritten als der Sitz aller höheren intellek-
tuellen Prozesse, und schon deshalb hatte ein Resultat
alle Wahrscheinlichkeit für sich, welches beim Mann
eine stärkere Entwicklung an dieser Region ergab.
Man darf nicht mehr länger annehmen, dass die
Stirnlappen beim Weibe mangelhaft entwickelt sind.
Broca fand bei einer Untersuchung von 360 Gehirnen,
mit einer sorgfältigen, gleichförmigen Methode, dass der
Stirnlappen beim Manne *?"/1000 des Hirnmantels beträgt
und *3/1000 beim Weibe.. Daraus ergibt sich minde-
stens eine Gleichheit der Geschlechter, Teilt man Brocas
Material in Altersklassen, so zeigt sich im frühen Mannes-
alter ein Übergewicht des Stirnlappens gegenüber dem
beim Weibe, dagegen eine Umkehrung dieses Verhält-
nisses im Greisenalter*). CrıcHrox Browse hat gezeigt,
1) Torıyarp, 1 cp. 580. Ausführlicher bei MANOUVRIER,
Artikel. Cerveau (Dict. de Physiologie).
DER KOPF.
131
dass bei Geisteskranken die relative Grösse des Stirn-
lappens beim Weibe nicht geringer, sondern sogar etwas
bedeutender ist, als beim Manne!). CLAPHAMS Zahlen,
die sich auf 450 Gehirne beziehen, zeigen wesentlich
eine Gleichheit der Geschlechter; an einer grossen Zahl
von Gehirnen Geisteskranker haben sowohl MeEynert
wie TıcecEs eine bedeutendere Grösse des Stirnlappens
beim Weibe ermittelt.
Die zuverlässigsten und genauesten Messungen, die
auch mit besonderer Rücksicht auf diese Fragen gemacht
worden sind, sind wohl die EBERSTALLERS, der nicht
weniger als 270 Hemisphären erwachsener Menschen,
176 männliche und 94 weibliche sorgfältig ausgemessen
hat; er fand eine etwas günstigere Entwicklung des
Stirnlappens beim Weibe, die sich darin aussprach, dass
das obere Ende der RoLAnvoschen Furche beim Weibe
5 mm weiter nach hinten reicht. Mit EBErstALLERs Er-
mittelungen stimmen die von Pror. CRNNINGHAM, eines
sehr vorsichtigen und zuverlässigen Beobachters, genau
überein. Soweit er überhaupt einen Geschlechtsunter-
schied fand, fiel er zugunsten des weiblichen Gehirns
aus, Er bemerkt auch, dass das untere Ende der
RouLAnDoschen Furche bei beiden Geschlechtern ungefähr
dieselbe Stelle der Hirnoberfläche einnimmt, und dass
in keiner Wachstumsperiode des Gehirns in Beziehung
auf diese Furche Geschlechtsunterschiede auftreten.
PasseT und andere haben behauptet, dass die RoLAnposche
Furche beim Manne absolut und relativ länger ist.
CunnineHAM, der sie in der Weise mass, dass er einen
Faden, der allen ihren Biegungen folgte, zwischen ihre
Wände einfügte, fand, dass der Vorteil eher auf seiten
des weiblichen Gehirns ist 2),
„... Während es also jetzt feststeht, dass die Geschlechts-
differenzen der Entwicklung des Stirnlappens, soweit
Solche überhaupt existieren, eine Bevorzugung des Weibes
1) In der Zeitschr. „Brain“, Bd. II, p. 62—64.
2) D. CUnNnInGHAM, Contribution to the surface Anatomy of
the cerebral Hemispheres, 1892.
Je
+
I
:DER KOPF.
zeigen, fängt man auch jetzt erst an, allmählich einzu-
sehen, ‚dass keine tatsächlichen Gründe vorliegen, dem
Stirnlappen besonders hohe Funktionen zuzuschreiben.
Bisher war diese Meinung ohne bestimmte Gründe weit
verbreitet, ‚und selbst Hırzıc, der Pionier des modernen
Fortschrittes in der Lehre von der Lokalisation der
Hirnfunktionen, hatte ihr das Gewicht seiner Autorität
geliehen, indem er dem logischen Denken seinen Sitz
in den Stirnlappen zuwies. Es ist nicht schwer, diese
althergebrachte Vorstellung zu erklären; es gehört zu den
festen, althergebrachten Assoziationen des Menschen,
mit den Vorstellungen von „Vorne“, „Oben“, „Spitze“ die
Idee von etwas Würdevollerem zu verbinden, als mit
den Vorstellungen „Hinten“, „unten“, „Basis“. Die Stirn
ist recht geeignet zur Anwendung dieser Voraus-
setzungen; sie ist gerade derjenige Teil des Körpers,
der am ‚meisten vorn, oben und an der Spitze sitzt; es
ist deshalb kein Wunder, dass der Sitz der höchsten
geistigen Vorgänge an eine Stelle verlegt wurde, wo die
Kraniologie der Vierfüssler sie kaum suchen würde; es
ist auch nicht überraschend, dass man sich erst in aller-
letzter Zeit daran gewöhnt hat, einen so hochstehenden
physiologischen Prozess, wie das Sehen auf das in-
timste mit dem Hinterhauptslappen verknüpft zu wissen.
Was nun den vordersten Teil des Gehirns, den soge-
nannten Präfrontallappen betrifft, so gibt derselbe auf
elektrische Reize keine bestimmte Reaktion; (wenn
auch die Tatsache der Miterregbarkeit gegenüber elek-
trischen Reizen, die für die Frontalregion festgestellt
ist, kein Argument gegen seine Wichtigkeit für den
Ablauf intellektueller Vorgänge darstellt); es liegt
kein Versuchsmaterial vor, um die Frontalregion in be-
sonderer und eigenartiger Weise mit intellektuellen
Prozessen in Zusammenhang zu bringen 2).
1) Wie SHERRINGTON Und CUNNINGHAM ausführen, ist auf
diesem Gebiete von .der klinischen und athologisch-anatomischen
Forschung mehr zu erwarten, als von Paboratoriums-Versuchen.
2) S. H. Musng, Berliner Sitzungsberichte, 1901, S. 1149-
Fızcusic, Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. 1904, 5. 232.
DER KOPF.
133
Ferner ist die Frontalregion des Gehirns bei den
anthropoiden Affen relativ sehr beträchtlich entwickelt.
und dass diese Affen sich durch besondere Intelligenz
auszeichnen, nimmt man gewöhnlich nicht an. Auch
ist der Frontallappen beim. Erwachsenen. nicht‘ mehr
entwickelt als: beim Fötus; es. ist schliesslich noch zu
erwähnen, dass nach CvnnincHAMms Ermittlungen die Ver-
hältnisse des Stirnhirns sich beim Weibe mehr den
anthropoiden Formen nähern als beim Manne, wenn-
gleich in einem wichtigen Punkte nach CunninecHAM der
Mann dem Affen näher steht, nämlich darin, dass beim
Manne ein kleinerer Teil des Stirnlappens vom Scheitel-
bein bedeckt wird, als beim Weibe. Übrigens ist zu
bemerken, dass wir heute zwar nicht. mit Bestimmtheit
dem Stirnhirn eine besondere Beziehung zu höheren
geistigen Prozessen zuschreiben dürfen, diese Beziehung
aber auch nicht entschieden leugnen können; sehr un-
wahrscheinlich wird dieselbe jedenfalls dadurch gemacht,
dass bei Idioten und Schwachsinnigen das Stirnhirn
einen sehr erheblichen Teil des ganzen Gehirns auS-
macht, wie die Zahlen CLAPHAMS zeigen. Die Frage
bleibt offen, obgleich es der heutigen Wissenschaft
mehr. entspricht,. anzunehmen, dass. bei intellektuellen
Prozessen das ganze Hirn in Anspruch genommen ist,
und sicher nicht am. wenigsten. die sensorimotorischen
mittleren Teile des Hirnmantels,. die wir experimentell
am besten kennen gelernt haben).
Es besteht jetzt allgemeine Übereinstimmung dar-
über, dass .die parietalen Teile des Gehirns einen grossen
1) Die Untersuchungen von FLECHSIG- über die Markscheiden-
entwicklung beim Neugeborenen machen es wahrscheinlich,, dass
die Hirnrinde eine „tektonische Dualität“ besitzt, dass geWISSE
Rindengebiete („Binnenfelder“), die sich sowohl‘ über den
Stirnpol des Hirns, wie über die zweite‘ und‘ dritte Stirnwin-
dung, den; Praecuneus: und ganz besonders: über den: Pa-
rietallappen’ ausdehnen, . eine besondere Beziehung. aller dieser
Rindengebiete — im Gegensatze zu den andern, den Projek-
tions-Feldern der Hirnrinde zu den höheren geistigen Leistungen
vermuten lassen. (Ber. d; sächs.. Ges; d. Wiss.,. 1904, S- 50—104,
S. 177-248.) — K.
134
DER KOPF.
und vielleicht vorherrschenden Anteil an den höheren
intellektuellen Prozessen haben. Es besteht keine Über-
einstimmung bezüglich des Einflusses der frontalen Hirn-
teile auf die höheren seelischen Funktionen.
Aber, obgleich es manchmal vorkommen mag, dass
Erkrankungen des vorderen Stirnhirns ohne psychische
oder körperliche Symptome verlaufen, gibt es doch
auch Fälle, wo auf Läsionen dieses Gebiets Störungen
und Veränderungen des Charakters folgen, HFERRIER
hat viele solche Fälle zusammengestellt, und ROBERT
Jonzs berichtet einen Fall, bei dem nach einer Ver-
letzung des Stirnhirns Verlust der höheren kontrollie-
renden psychischen Leistungen auftrat *).
Die sensorimotorischen mittleren Hirnzentren sind
im Scheitelteil des Gehirns zusammengedrängt, und es
scheint sicher festgestellt zu sein, dass sie beim Manne
vorwiegen; dies zeigen die Zahlen Brocas, die aller-
dings nur ein geringeres Übergewicht ergeben, und
noch deutlicher die von MEYNERT, RÜDINGER, CRICHTON
Browne, Tıecers u. a. Man hat Gründe anzunehmen,
dass die Scheitelregion von Personen mit ungewöhn-
licher intellektueller Energie sehr stark entwickelt ist.
So fand RtÜDincGER bei der Untersuchung‘ von ı8 Ge-
hirnen hervorragender Männer, dass die Scheitellappen
in der Richtung nach dem Stirnlappen hin stark ent-
wickelt waren; die Ausdehnung des Scheitellappens
beeinflusst den Schädelindex, seine starke Entwicklung
bedingt Brachycephalie. Wie oben ausgeführt wurde,
darf man annehmen, dass unter zivilisierten weissen
Rassen die Weiber etwas weniger brachycephal sind
als die Männer. Bei Affen ist der Scheitellappen des
Gehirns klein, weil Stirn- und Occipitallappen in die
Scheitelregion hineinreichen,
Es ist noch zweifelhaft, ob der Hinterhauptslappen
beim Weibe grösser ist als beim Manne. Brocas Zahlen
ergeben für beide ungefähr dieselbe relative Grösse
1) F. W. MortTt and RosErT Jones, Archives of Neurology,
Bd. IV, 1907.
DER KOPF,
135
im Alter der beginnenden Reife, eine geringere Grösse
beim Weibe im hohen Alter; CrıcaTon Browse . und
CunxıneHAMm fanden. ihn beim Weibe grösser, andere
Autoritäten sprechen sich nicht mit Bestimmtheit aus
oder neigen dazu, ihn beim Manne für grösser zu halten.
In dem Säugetierreiche hat dieser Hirnteil die Tendenz,
in der Richtung zum Menschen an relativer Grösse
abzunehmen; er ist bei den anthropoiden Affen relativ
kleiner, als bei den tieferstehenden Affen und beim
Menschen noch kleiner als bei jenen; andererseits wird
er bei höher stehenden Organismen windungsreicher,
so dass seine relative Abnahme nicht als ein Zeichen
der Rückbildung gelten. kann; das kleine Gehirn
GAMBETTAS war ein Wunder von Kompliziertheit der
Occipital-Windungen,
Ob die Blutgefässe und damit gie Blutzufuhr zum
Gehirn sich bei beiden Geschlechtern verschieden ver-
halten, ist noch wenig beobachtet worden. CRICHTON
Brown: und S. Martin haben darüber neuerdings interes-
sante Beobachtungen veröffentlicht... Sie fanden das
Verhältnis der Summe der Durchmesser der beiden
Arterien,. die das Gehirn mit Blut versorgen, der Arteria
carotis interna und der Arteria vertebralis, zur Hirn-
masse beim Weibe ‚grösser als beim Manne. Danach
würde das Gehirn des Weibes reichlicher mit Blut ver-
sorgt als das des Mannes und ist dadurch vor den
Nachteilen geschützt, die sich sonst für dasselbe aus
der relativen Armut des weiblichen Blutes ergeben
würden. Ferner fand sich beim Weibe eine etwas ge-
ringere Grösse der Carotis interna, eine bedeutendere
Grösse der vertebralis!). Diese Befunde ergaben sich
an einer kleinen Zahl von Leichen, stimmen aber völlig
mit den oben angegebenen sonstigen Tatsachen überein,
denn während die Carotis interna wesentlich die beim
Manne grössere Parietalregion versorgt, tut das die
vertebralis hauptsächlich nicht nur für die Hinterhaupts-
1) CRICcHTON-BROwNE, Sex in Education. (British Med. Journ,,
7. Mai 1802.)
136
DER KOPF.
lappen, sondern auch für mehrere Teile der Hirnbasis,
die beim Weibe grösser sind.
Etwas klarere Resultate als die Untersuchung des
Hirnmantels ergibt die Betrachtung der gröberen Ein-
teilung des Gehirns in Grosshirn, Kleinhirn und Brücke
nebst verlängertem. Mark. Es ist sicher anzunehmen,
dass das Kleinhirn beim Weibe relativ grösser ist, wie
schon GALL und CuvIER festgestellt haben. Brocas Material
ergab dasselbe und daneben ein geringes Übergewicht
des verlängerten Marks. Dr. P. Rey, der Brocas Hirn-
tabellen sorgfältig bearbeitet hat, findet, dass fast aus-
nahmslos alle Hirnzentren, mit Ausnahme des Gross-
hirns, beim Weibe relativ grösser sind *).
Boyos Zahlen ergeben, dass das Kleinhirn bei
Knaben zwischen 7 und ı4 Jahren 103°% oo ihres ge-
samten Gehirns ausmacht, bei Männern zwischen 30
und 40 Jahren 106%oo. Beim Weibe dagegen in erster
Altersstufe 105, in letzterer 108°% oo; das verlängerte
Mark ist beim männlichen Geschlecht etwas grösser im
Kindesalter, beim weiblichen im reiferen Alter. MARSHALL,
der von Boy geliefertes Material sorgfältig bearbeitet
hat, gibt in einer wichtigen Abhandlung an, dass das
Verhältnis des Kleinhirns zum Grosshirn beim er-
wachsenen Manne gleich ı zu 8,17 ist, beim erwach-
senen Weibe gleich ı zu 8?. Er berechnete ferner aus
Boyps Tabellen. für die einzelnen Hirnteile wieviel
Zehntel Unzen?) für jeden derselben auf einen Zoll
Körperlänge kommt:
Zahl der Fälle Alter
Ganzes Gehirn in !/10
Unzen pro Zoll der
Statur.
0,725
0,905
Männer 103 30—30
Weiber 85 30—40
1) P. Rev, Le poids du cervelet. (Revue d’Anthrop., 1884,
P- 193.)
2) J. MARSHALL, On the relation between the weight of the
brain and its parts and the stature and mass of the body in man.
(Journ. of Anat. and Physiol. Juli: 1892.)
8) ı Unze = 25 g.
DER KOPF.
37
Grosshirn Kleinhirn Brücke u. verläng. Mark.
Männer 0,632 0,077 0,015
Weiber 0,611 0,076 0,015
Es ergibt sich daraus, dass, wenn die gesamte
Hirnmasse des Mannes im Verhältnis zu seiner Körper-
länge grösser ist als beim Weibe, die Verteilung der
niederen Zentren bei beiden Geschlechtern die gleiche
ist. Rem, Pracocr, WeısBACH, MEYNERT und BiscHoFF
geben übereinstimmend an, dass in der relativen Grösse
des Kleinhirns kein bedeutender Geschlechtsunterschied
besteht. Dazu ist zu bemerken, dass entsprechend dem,
was wir schon über die Hirnmasse im allgemeinen ge-
sagt haben, diese Gleichheit der Relation zwischen
Kleinhirn und Körperhöhe eigentlich eine: stärkere
Kleinhirnentwicklung beim Weibe bedeutet, Einige der
Ganglien der Hirnbasis sind nach Tiıcess u. a. beim
Weibe sowohl absolut wie relativ grösser. Kombiniert
man die zahlreichen Tatsachen, so ergibt sich deutlich,
dass der Hirnmantel von allen Hirnteilen am meisten
einem Wechsel unterworfen ist. Das Kleinhirn, die
verschiedenen Ganglien der Basis und das Rückenmark
scheinen beständiger zu sein als das Gehirn und schwin-
den nicht im gleichen Masse im Alter und bei (reistesS-
störung.
Es ist bemerkenswert, dass das Kleinhirn beim
Weibe relativ grösser ist, als das Grosshirn; eine Tat-
sache, deren Bedeutung allerdings bis jetzt durchaus
nicht klar ist. Die heutigen positiven Aussagen der
Wissenschaft über das Kleinhirn sind geringer als vor
so Jahren. Die früher angenommene Beziehung‘ des-
selben zum Geschlechtstrieb existiert nicht. Seine Zer-
störung bedingt weder lokalisierte Lähmung noch In-
telligenzverlust. Seine einzige bestimmte Funktion ist,
soweit wir dieselbe kennen, mit der Innervation der
Muskelbewegung verknüpft. FERRIER deutet darauf hin,
dass Empfindungen von seiten der Eingeweide oder des
Allgemeingefühls im Kleinhirn zustande kommen, übri-
138
DER KOPF.
gens ist das Kleinhirn erst beim Erwachsenen voll ent-
wickelt, beim Neugeborenen kann es !/13 oder weniger
der Hirnmasse ausmachen, beim Erwachsenen beträgt
es ungefähr 1/7,
Seine Entwicklung ist ein Zeichen einer hohen
Position auf der zoologischen Skala und sie ist beim
Menschen relativ die grösste.
PrıstErR fand in jedem von ihm untersuchten Lebens-
alter, dass bei Mädchen im Verhältnis zur Hirnmasse
die des Rückenmarks grösser ist als bei Knaben, und
dass im Vergleich mit der Statur das Rückenmark bei
Mädchen schwerer ist als bei Knaben, obgleich er es
bei Mädchen immer ein wenig kürzer fand).
Man kann kaum sagen, dass der gegenwärtige
Standpunkt der Hirnforschung irgend welche wichtigen
Geschlechtsunterschiede aufgedeckt hätte. Künftig, wenn
die Tatsachen genauer festgestellt und in ihrer Bedeutung
verständlicher sein werden, wird das vielleicht: anders
sein. Heute muss man die Tatsache betonen, dass die
Bedeutung des Gehirns für unser Problem sehr über-
trieben worden ist. Seine Bedeutung‘ ist ohne Frage
gross, aber sie besteht in der innigen Verknüpfung mit
dem Körper überhaupt. Man ist geneigt gewesen, das
Gehirn als den despotischen Regenten des Körpers zu
betrachten, während es, soweit es überhaupt regiert,
ein durchaus demokratischer Regent ist. Die Hirn-
elemente sind zum grössten Teil nur sensori-motorische
Abgeordnete, die im Interesse einer gesicherten Exe-
kutive vereinigt sind. Es ist deswegen. nicht weiter
zu verwundern, wenn man diese zerebralen Vertreter
des Organismus, oft am besten durch Untersuchung
des Organismus selbst kennen lernt,
Während fast jede. Abweichung auch einmal in
einem Frauen-Hirn gefunden wird, ist der Prozent-Satz
ihres Vorkommens beim Weibe geringer.
WALDEYER, eine der ersten deutschen Autoritäten,
hat dem Urteile des schwedischen Forschers Rertzıus
VE
') Neurolog. Zentralblatt, ı. September 1903.
DER KOPF.
39
zugestimmt !). Dieses Ergebnis (d. h. die geringere
Variabilität) stimmt mit allgemeinen Tatsachen überein,
auf die wir im weiteren Verlaufe der Untersuchung
noch mehrfach stossen werden.
Während die Geschlechtsunterschiede am Hirn nur
als sehr. geringfügig bezeichnet werden können, sind
die Unterschiede in der relativen Masse des Rücken-
marks etwas mehr ausgeprägt. Miss hat sowohl bei
normalen wie bei geisteskranken Individuen gefunden,
dass Weiber im Verhältnis zur Hirnmasse durchweg
ein grösseres Rückenmark haben als Männer‘). Die
von der Sammelforschungs-Kommission der englischen
anatomischen Gesellschaft erhaltenen Resultate gehen
noch weiter und zeigen, dass das Weib bezüglich der
Länge des Rückenmarks dem Manne sogar absolut
überlegen ist. In den ı1ı5 untersuchten Fällen ergab
sich beim Weibe eine ausgesprochene Tendenz des
Rückenmarks, im Wirbelkanale tiefer hinabzureichen,
als beim Manne. Das weibliche Rückenmark ist im
Verhältnis zur Länge der Wirbelsäule länger, worin
eine durch das Geschlecht bedingte Besonderheit ge-
sehen werden kann, Weiber zeigten auch eine grössere
Variationsbreite als Männer; während das Rückenmark
im Durchschnitt beim Weibe absolut länger ist, fand
sich das längste Rückenmark überhaupt bei einer Frau
(es mass 47 cm), während das längste männliche Rücken-
mark nur 46!/z2 cm Länge hatte.
Im Verhältnis zur Durchschnittslänge der Wirbel-
säule, vom Foramen magnum bis zum Ende des Hohl-
raums, ist das Rückenmark beim Weibe ein wenig
länger als beim Manne; während sich die Länge der
_. 1) Gustav Rertzıus berücksichtigt in seiner sorgfältigen und
kritischen Studie über das menschliche Gehirn auch die Geschlechts.
Unterschiede. (Das Menschenhirn, I, S. 166 ff, Stockholm 1896.)
Er konstatiert zwar keine spezifischen oder charakteristischen
Geschlechtsunterschiede, findet aber, dass im ganzen die weib-
lichen Gehirne etwas weniger Abweichungen vom Typus und
eine grössere Einfachheit und Regelmässigkeit zeigen.
2) Zentralbl. f. Anthrop., 1897, H. 3, S. 273:
149)
DER KOPF.
weiblichen Wirbelsäule zur männlichen verhält wie 94,8
zu 100, ist das Verhältnis bezüglich des Rückenmarks
wie 97;1 zu 100. Dieses spinale Übergewicht ist auch
ein infantiles Merkmal und hat vielleicht eine gewisse
Bedeutung.
Während also das Gehirn ein unergiebiges Gebiet
für die Untersuchung von Geschlechtsunterschieden ab-
gibt, ist es äusserst instruktiv für die Untersuchung
der Übereinstimmung zwischen den Geschlechtern. Der
Mann besitzt kein relatives Übergewicht der Hirnmasse;
soweit ein solches existiert, ist es. auf seiten des
Weibes*!). Hier bedeutet es jedoch nicht intellektuelle
Überlegenheit, sondern ist nur eine Begleiterscheinung,
wie sie sich bei Kindern und bei kleinen Menschen
im allgemeinen findet. Auch: kennen wir keine: für
ein Geschlecht besonders charakteristische Anordnung
der Nervenelemente, die auf der einen oder‘ anderen
Seite eine Inferiorität bedeutet. Möglicherweise ist die
stärkere: Entwicklung der Scheitelgegend beim. Manne
ein: solches Merkmal, aber dasselbe ist so wenig‘ deut-
lich ausgeprägt, dass man es früher beim Manne ge-
leugnet und dem Weibe zugeschrieben hat. Vom gegen-
wärtigen Standpunkt der Hirnanatomie und Hirnphysio-
logie aus hat man keinen Grund anzunehmen, . dass. ein
Geschlecht irgendwelche Superiorität über das andere
besässe. Broca, der grösste französische Anthropologe,
dessen scharfer, klarer Verstand das Studium des
Menschen in so hohem Masse gefördert hat, nahm vor
vielen Jahren (186ı) an, dass das Weib von Natur und
infolge ihrer Hirnorganisation etwas weniger intelligent
wäre, als der Mann. Dieses Urteil ist häufig zitiert worden,
aber es ist weniger bekannt, dass mit dem Fortschritt
seiner Erfahrung Broca seine Meinung geändert hatte
ı) Es: wäre wissenswert, ob‘ derselbe Satz auch für die
niederen Tiere gilt. Beim Frosche, dessen Nervensystem am ge-
nauesten untersucht worden ist, fanden DonALDSON und SHOEMAKER
(im Gegensatze zu FUrBINI), dass: das Froschweibchen‘ im Ver-
hältnis zu seinem Körpergewichte, eine grössere Hirnmasse hat
als das Männchen.
DER KOPF.
141
und annahm, die Frage wäre nur eine Sache der Er-
ziehung, — Wwohlverstanden, nicht nur intellektueller,
sondern muskulärer Erziehung -- Mann und Weib,
wenn sie ganz ihren inneren Impulsen überlassen blieben,
würden zu einer grossen Ähnlichkeit gelangen, wie das
im Zustande der Wildheit der Fall ist *).
Es muss deutlich ausgesprochen werden, dass diese
Anschauung bei dem gegenwärtigen Stande unseres
Wissens nicht genügend wissenschaftlich begründet ist,
um als Faktor für die Entscheidung über Fragen des
praktischen und sozialen Lebens zu gelten.
ı) Vgl. die Diskussion in der Pariser Anthropologischen Ge-
sellschaft, im „Bulletin“ derselben vom 3. Juli 1879.
VI. Kapitel.
Die Sinne.
Der Tastsinn. — Die Untersuchungen von LOoMBROSO, JASTROW,
GALTON, MARRO u. a. — Der feinere Tastsinn des Weibes. —
Die Erziehbarkeit des Tastsinns.
Die Schmerzempfindung. — Die Untersuchungen von
PASTROW, GILBERT, GRIFFING u. a. — Die Kompliziertheit der
rage. — ‚Die Disvulnerabilität bei Wilden, Kindern und vielleicht
bei Frauen.
Der Geruch, — Versuche von NıcHoLs und BAILEY, OTTOLENGHI,
GARBINI, MARRO u. a. — Verschiedenheit der Schlussfolgerungen.
Der Geschmack. — Untersuchungen von NıcHoLs und BAILEY,
OTTOLENGHIL, TOULOUSE u. a. — Der Geschmackssinn ist beim
Weibe feiner.
Das Gehör. — Der unzureichende Stand der Prüfung der Ge-
hörschärfe des gesunden Ohrs. — Die untere und obere Hör-
renze liegen beim Manne wahrscheinlich weiter voneinander.
Das Gesicht. — Blindheit ist beim Manne häufiger. — Unbe-
deutendere Sehmängel sind beim Weibe häufiger. — Es besteht
kein ausgeprägter Geschlechtsunterschied bezüglich der Seh-
schärfe. — Farben-Empfindung und Farbenblindheit. — Farben-
blindheit ist beim Weibe sehr een, — Sie ist auch bei Wilden
selten.
Die „audition coloree“. — Dieses und-verwandte Erschei-
nungen sind beim Weibe und Kinde häufiger als beim Manne, —
Verwechslung von Sensibilität und Affektabilität.
Der Tastsinn.
Es kann kaum daran gezweifelt werden, dass das
Weib in der Sensibilität für Berührung und Druck dem
Manne überlegen ist. Die ersten systematischen Ver-
DIE SINNE.
143
suche auf diesem Gebiete, die hauptsächlich in Italien,
meist von LomBrRoso und seiner Schule, gemacht worden
sind, meist an abnormen Individuen, führten zu keinem
befriedigenden Ergebnisse. Später, oft mit feineren
Hilfsmitteln angestellte Untersuchungen, haben gezeigt,
dass Mädchen und Frauen für taktile Reize ausge-
sprochen sensibler sind, als Knaben und Männer. Das
ergab sich auch in Italien.
Selbst Lomsroso, der ermittelt hatte, dass der Tat-
sinn des Weibes stumpfer ist, fand ihn bei Mädchen
zwischen 6 und ız Jahren fein entwickelt. Dı MaTreIı,
der 160 Kinder untersuchte, fand den Tastsinn der
Mädchen feiner als den der Knaben!). OTToLENGHI®)
hat, gleichfalls in Italien, ausgedehnte Untersuchungen
an Mädchen und Frauen aller Gesellschafts- und Alters-
klassen gemacht (zusammen an fast 700) und gefunden,
dass dieselben im ganzen eine feinere Sensibilität be-
sitzen, als Knaben und Männer.
Den, ein russischer Arzt, fand bei der Untersuchung
der Sensibilität für Wärme, elektrische Reize und der
Reizlokalisation, nur geringe sexuelle Unterschiede; wo
solche bestanden, war das weibliche Geschlecht sen-
sibler.
In Deutschland fand Stern (München) bei Unter-
suchung vieler Personen, dass die Tastempfindung der
Finger bei Frauen entschieden grösser ist als bei Män-
nern, und bei Mädchen grösser als bei Knaben; Setzer
zeigten eine sehr feine Sensibilität, während die höch-
sten Grade bei Blinden zu finden waren 3).
GALTON in England, der die Spitzen des benutzten
Zirkels am Nacken aufsetzte und so den Einfluss der
verschiedenartigen Übung und der verschiedenen
1) Dı MaATrTeı, La sensibilitd nei fanciulle rapporto al Sesso,
ed all’ etä. Arch. di Psichiatria, 1901, fasc. III. ss
2) OTTOLENGHI, La Sensibilite de la femme, Revue scientif,,
28. März 1806.
3) A Seen, Zur ethnographischen Untersuchung des ER ern
Sinnes der Münchener Stadtbevölkerung. Beitr. z. Anthropolog
und Urgesch. Bayerns, 1895, Bd. XI, H. 3—4.
144
DIE SINNE.
Schwieligkeit der Haut ausschaltete, fand an 1300 In-
dividuen, dass Frauen im Verhältnis von 7:6 Ssen-
sibler sind als Männer. Er fand eine grössere Varia-
bilität bei Frauen und führt das, sicher mit Recht,
darauf zurück, dass Frauen mehr als Männer Störungen
der längere Zeit zu konzentrierenden Aufmerksamkeit
unterworfen sind; ihre Interesselosigkeit würde das
Resultat in demselben Sinne beeinflussen, wie eine ge-
ringere Sensibilität‘).
Gartons Ergebnisse sind besonders zuverlässig,
weil sie an einer für solche Proben geeignet gelegenen
Stelle des Körpers ermittelt worden sind, wo keine
hohe ‚Präzision der Messung erforderlich ist, da die
Raumschwelle am Nacken ungefähr einen halben Zoll
beträgt.
Pror. Jastrow®) stellte an männlichen und weib-
lichen Studenten eine kleine Reihe von Untersuchungen
an, die, wenn auch nicht absolut bündig, doch den
Vorzug besitzen, sich nachprüfen zu lassen. Die Proben
wurden speziell ausgewählt, um Schnell zu ein paar
typischen Resultaten zu kommen und zwar mit einem
von Pror. JastRow selbst erfundenen Asthesiometer. An
der Spitze des Zeigefingers betrug die Durchschnitts-
ziffer bei (32) Männern 1,71, bei (22) Frauen 1,52 mm. Auf
dem ‘Handrücken betrug ‘der Durchschnitt bei den
Männern 17,5, bei Frauen 15,9 MM. Die Sensibilität der
Handfläche wurde ‚durch das Minimum von Höhe be-
stimmt, aus welcher ein herabfallendes Stückchen Karton-
Papier (das 9 mg wog, ein Rechteck von ı mm Breite
und 2 mm Länge bildete und aus einem Stück Karton-
Papier geschnitten war, auf das man vorher anderes
Papier mit Millimeter-Einteilung geklebt hatte) noch
wahrgenommen wurde. Diese Entfernung -betrug -bei
ı) F. GALTON, Z7he relative sensitivity of Men and Women;
Nature, 10. Mai 1894-
2) „Studies from the laboratory of Experimental Psychology
of the University of Wisconsin“. (American Journal. of Psycho-
logy, April 1892.)
DIE SINNE.
145
27 Männern 58,2 mm, bei 22 Frauen dagegen nur
21,9. Bei einer Untersuchung des Drucksinns, wobei
der Finger auf den Hebel einer modifizierten Briefwage
gelegt. wurde, zeigte es sich, dass hierin kein wesent-
licher Unterschied’ der Geschlechter besteht, da. von
Männern sowohl als von Frauen ‘die Steigerung des
Anfangsgewichts um !/se und !/z noch deutlich abge-
schätzt wurde.
HELENE THoMpsen kam bei ihren Untersuchungen
in Chicago zu dem Ergebnis, das Frauen bei der Unter-
scheidung von zwei die Haut berührenden Spitzen
feiner empfinden als Männer.
Dr. A. MaAcvonaLD fand bei der Untersuchung an
der volaren Fläche des Handgelenks, dass Mädchen
feinere Berührungslokalisation haben als Knaben, So-
wohl vor wie nach der Pubertät, die bei beiden Ge-
schlechtern zu einer verminderten Sensibilität zu führen
schien, Diese Ergebnisse liessen sich nicht unverändert
auf Erwachsene anwenden, aber die Zahl der erwach-
senen Versuchspersonen war sehr klein?).
Marros Untersuchung der Sensibilität der Zeige-
fingerspitze im Alter zwischen ı0 und 20 Jahren zeigte,
dass Knaben nach dem ı4. Jahre, Mädchen vor dem-
selben sensibler waren. In einer anderen kleinen Reihe,
fand er im fortgeschritteneren Alter grössere Feinheit
beim Weibe?®).
Wir dürfen indessen nicht vergessen, dass die Fein-
heit des Tastsinns etwas sehr variables und in hohem
Grade, mehr als man glauben sollte, Produkt der. Er-
ziehung ist. PAULINE TARNowsKAJAs Untersuchungen der
Sinnesempfindung bei normalen, verbrecherischen und
prostituierten Frauen Russlands ergaben, dass Frauen,
die in der Stadt leben, schärfere Sinne besitzen, als
Frauen vom Lande; sie fand ferner, dass, während im
allgemeinen die Sensibilität bei Verbrechern stumpfer
ist als bei Nichtverbrechern, doch die in der Stadt
1) A. MAcoonALD, Psychol. Review, März 1806.
2) MArro, La Pubertd, p. 57.
Ellis, Mann und Weib. 2. Aufl.
1{}
LJi
+
x
DIE SINNE,
lebenden Diebinnen ein. viel feineres Tastgefühl besitzen,
als unbescholtene Bäuerinnen, die nie in der Stadt ge-
lebt hatten)).
Sehr interessante Beobachtungen über diesen Gegen-
stand hat Dr. FELKIN gemacht. Er untersuchte 150 Neger
und 3o Araber aus dem Sudan an 26 Körperstellen
und fand für. die Unterscheidungsfähigkeit auf der
Zungenspitze, wo sich bei Europäern eine Durchschnitts-
ziffer von ı,1 mm ergibt, bei Negern ein Mittel von
3 mm und bei Sudanesen ein Mittel von 2,6 mm, je-
doch. zeigte sich bei zwei Negerknaben, nachdem sie
4 Jahre in Europa erzogen worden waren, eine beträcht-
liche Verfeinerung des Tastsinns, so dass sie die beiden
Enden des Tastzirkels schon bei 2 mm unterschieden ®).
Ebenso wies Pror. Kroun nach, dass man durch Übung
dahin gebracht werden kann, Druckempfindungen der
Haut ganz korrekt zu lokalisieren. Anfangs war das
Individuum nur imstande, 2 von 7 Druckempfindungen
zu lokalisieren; nach einer Reihe von ı3o0 Sitzungen
jedoch konnte, es ohne Mühe 5 von 7 Reizen lokali-
sieren. Diese Verfeinerung durch Übung trat. sehr
schnell ein®). . N
Die Übung der Hautempfindung mittels des Asthe-
siometers ist sorgfältig von DrREessLER*) untersucht worden.
Die Schmerzempfindlichkeit,
Untersuchungen mit dem elektrischen Algometer,
die auf LoMBRosos Anregung von De Fıuper in Turin
gemacht worden sind, haben gezeigt, dass, während die
1) „Sur les organes des sens chez les femmes criminelles“
(Actes du Troisieme Congr&s International d’Anthropologie Crimi-
nelle, Brüssel 1893, p- 226.) .
2) FeLxzın, Differences of sensibility between Europeans and
Negroes (British Ass. Rep. 1889).
8) W. O. KroHn, An EL SP ÜNETO Study of simultaneous
stimulations of the sense of touch; Journ. of nerv. a. mental disease,
März 1893.
4) Amerie. Journ. of Psychology, Juni 1894.
DIE SINNE.
147
allgemeine Sensibilität bei Männern und Frauen nicht
wesentliche Unterschiede zeigt, die Schmerzempfind-
lichkeit bei Männern bedeutend grösser ist, als bei
Frauen; für erstere betrug die Zahl der Skala 609,23,
für letztere 53,16; bei jungen Personen waren diese
Differenzen weniger ausgesprochen, wenn auch immer
noch vorhanden, Zwei Frauen besassen neben normaler
allgemeiner Sensibilität absolute Unempfindlichkeit gegen
Schmerz, obschon keine Symptome irgend einer Krank-
heit vorhanden waren; indessen muss es sich hier um
ausserordentlich seltene Fälle handeln, oder diese Per-
sonen müssen hochgradig hysterisch gewesen sein. Aus
der kleinen Reihe von Untersuchungen, die von denselben
Forschern mit dem Du Bors-Reymonoschen Schlitten-
Induktorium angestellt wurden, ergab sich dagegen
wieder grössere Sensibilität seitens der Frauen sowohl
der höheren, als der unteren Klassen. Bei Prostituierten
und Verbrechern war sowohl die Schmerzempfindlichkeit
als die allgemeine Sensibilität ausgesprochen mangelhaft *).
PRoFEssoR JAastTRow machte verschiedene Versuche, die
Schmerzempfindlichkeit bei männlichen und weiblichen
Studenten zu untersuchen, wobei er einen kleinen Ham-
mer benutzte, der seinen Drehpunkt 200 mm weit vom
Kopfe entfernt hatte und den er auf die Spitze des
Zeigefingers jeder Hand fallen liess. Es wurde der
kleinste Winkel bestimmt, den der Hammer beim
Fallen durchlaufen musste, um eine schmerzhafte Emp-
findung‘ hervorzurufen, und dieser. Winkel war bei
verschiedenen Individuen auffallend konstant. Die
Zahlen ergaben rechts bei Männern 33,9, bei Frauen
16,6, links bei Männern 22,7, bei Frauen 14,8. Es ist
interessant, dass sich für die linke Hand bei Männern
und Frauen fast die gleichen Zahlen ergaben, während
sich bei der rechten Hand ein beträchtlicher Unterschied
. .1) Lomgroso, Tatto e tipo degenerativo in donne normali
crminali e alienate. (Arch. di Psich., 1891, Heft 1—2.)
. 2%) W. O. Krouy, An experimental study 'of simultaneous
Stimulations. of the sense of touch. (Journal of nervous and
Mental diseases, März 1893.)
10*
148
‚DIE SINNE.
geltend machte, was offenbar darauf zurückzuführen ist,
dass die rechte Hand durch schwere Arbeit mehr ab-
gehärtet ist.
MaAcpDonALD fand mit einem selbstkonstruierten Algo-
meter,. den er an den Schläfen applizierte, dass Mädchen
und Frauen in allen Altersklassen Schmerz besser
empfinden, als Knaben und Männer; im allgemeinen
fand sich im Alter eine Abnahme der Schmerzempfin-
dung und die linke Schläfe war (wie die linke Hand)
empfindlicher als die rechte. Die nicht arbeitenden
Klassen waren bei beiden Geschlechtern empfindlicher,
als die arbeitenden!). A. CarmAn hat bei Untersuchungen
mit dem MaAcDonALDschen Instrumente an 1500 Schul-
kindern in Michigan ähnliche Resultate gehabt).
GILBERT hat mit einem Algometer, das durch Druck
auf den Nagel des rechten Zeigefingers Schmerz her-
vorrief, die Schmerzschwelle bei Schulkindern in Jowa
untersucht; er beansprucht für dieses Verfahren den
Vorzug; dass es die Fehlerquellen vermeidet, die an
Hautstellen mit Neigung zur Schwielenbildung vor-
liegen, und dass dabei ein bestimmter Punkt erreicht
wird, wo die Druckempfindung in Schmerz übergeht.
Er fand, dass Knaben immer weniger schmerzempfind-
lich sind, und dass die Empfindlichkeit überall vom
6. bis zum 9. Jahre abnimmt. Der durchschnittliche
Unterschied zwischen den Geschlechtern erhielt sich
bis. zum 13. Jahre ungefähr auf derselben Höhe, dann
aber verloren die Knaben progressiv an Empfindlich-
keit, während die Mädchen ihre kindliche Empfindlich-
keit behielten ®).
Darnach scheint der Schluss berechtigt, dass, so-
weit die . Beweiskraft des Laboratoriumsexperiments
reicht, das Weib eine grössere Schmerzempfindlichkeit
besitzt, als der Mann. Die Angelegenheit ist aber
durchaus nicht einfach. Wie Grırrıne bemerkt, gilt
1) Psychological Review, 1896 und 1898.
2) Amer. Bourn. of Psychol., April 1899. a.
3) GILBERT, Univers. of Jova studies.in psychology, 1897, p. IX.
DIE SINNE.
149
sowohl für die Versuche mit dem Druckalgometer wie
mit faradischen Reizen, dass die Dicke der Epidermis
nicht der einzige variable Faktor ist, da manche Men-
schen mehr, andere weniger empfindlich sind, als das
Aussehen ihrer Haut vermuten lässt. Auch bestehen
grosse topographische Unterschiede für verschiedene
Hautstellen, so dass eine hohe Schmerzempfindungs-
schwelle an der Hand nicht notwendigerweise verbun-
den ist mit einem ähnlich hohen Schwellenwerte für
die Stirn. Ferner ist die Empfindlichkeit für elektrische
Reize ganz unabhängig von der Empfindlichkeit für
schmerzhafte Druckreize *).
Anscheinend entsprechen im ganzen sexuelle Unter-
schiede der Schmerzempfindlichkeit dem allgemeinen
Verhalten der Druckempfindung. Das hierher gehörige
Probeverfahren befriedigt in seiner Anwendung nicht
recht, und seine Ergebnisse sind nicht leicht zu deuten.
Deshalb‘ bestehen noch einige Meinungsverschieden-
heiten darüber, ob Männer oder Frauen eine grössere
Empfindlichkeit für Schmerzreize haben. OTTOLENGHI,
der die allgemeine Sensibilität bei Frauen feiner fand,
ermittelte bei Männern doch eine höhere Schmerzsen-
sibilität; er benutzte EDELMANNS Faradimeter auf dem
angefeuchteten Handrücken. Seine Tabellen zeigen
eine Zunahme der Schmerzsensibilität bis zum 24. Jahre;
von da an zeigen Frauen dreimal häufiger als Männer
Abstumpfung der Schmerzempfindung. Er räumt jedoch
ein, dass die Sache sich ziemlich kompliziert gestaltet
durch . eine „grössere Widerstandsfähigkeit“ gegen
Schmerz beim Weibe, und fand, dass in einer Schule
einige Mädchen dem Schmerze „trotzten“, und bis zur
äussersten Skalenstelle des Faradimeters. bestritten,
Schmerz zu fühlen.
‚Die Frage nach der relativen Schmerzempfind-
lichkeit der beiden. Geschlechter ist bisher immer auf
Grund mehr allgemeiner Tatsachen entschieden worden.
310 3 Z.
1) H. Grıirrıne, On individual sensibility to pain, Psycho
Review, Juli 1806.
„00
DIE SINNE.
Vieles scheint dafür zu sprechen, dass Frauen weniger
vom Schmerz angegriffen werden als Männer, Nach
Sereı wird die Tatsache, dass Frauen weniger leiden,
schon durch ihre grössere Resignation bewiesen, da
doch nicht anzunehmen ist, dass das Weib mehr
Willenskraft besitzt, als der Mann, und er weist darauf
hin, dass Männer, die ihre kranken Angehörigen pflegen,
bald selber krank und elend werden, während Frauen,
selbst Mütter, während der aufreibendsten Kranken-
pflege oft nicht einmal ihre gute Laune oder ihren
Appetit verlieren!). Mr. WiıiLLiAMs, ein Tätowierer von
Profession, sagte einem Korrespondenten der Pall Mall
Gazette: „Damen haben viel mehr Mut und ertragen
Schmerzen weit besser als Männer; obschon ich Ihnen
sagen muss, dass das Tätowieren, wissenschaftlich be-
trieben, fast schmerzlos ist, sind doch die Männer viel
ängstlicher als die Frauen, die ganz Still halten“.
BovcHeT, ein französischer Schriftsteller des 16. Jahr-
hunderts und guter Beobachter, meint, dass Frauen
die Kälte viel besser ertragen als Männer, und nicht
so viele Kleidungsstücke nötig haben ®).
Ein wenig mehr Licht fällt auf diesen Gegenstand,
wenn wir uns der Frage nach der Disvulnerabilität bei
beiden Geschlechtern zuwenden. Disvulnerabilität, ein
zuerst von BenepiKT gebrauchter Ausdruck, bedeutet die
Fähigkeit, Wunden und Verletzungen leicht und schnell
und mit verhältnismässig geringen üblen Folgen zu
überwinden, eine Fähigkeit, die bei niederen Tieren in
hohem Masse ausgesprochen ist; auch bei Wilden finden
wir sie deutlich ausgeprägt und mit hochgradiger Un-
empfindlichkeit verbunden. So besitzen die Zanzibariten
z. B. ein geradezu wunderbares Talent im Überwinden
von Verletzungen aller Art®), und Dr. REYBuRN kon-
1) Sercı, „Sensibilitä femminile“, (Z’Anomalo Okt. 1891.)
SEreı gibt an, dass er nicht sowohl die organische, als die Ge-
müts-Sensibilität untersucht hat.
2) SErEss, Bd. 1, p. 15.
3) T. H. PArge, Experiences in Equatorial-Africa, p. 435-
DIE SINNE.
151
statierte nach seinen Beobachtungen an mehr als
400000 Negern, die in den Jahren von 1865—72 in der
Poliklinik des amerikanischen Bureau für Negerflücht-
linge behandelt worden waren, dass sie sich von Ver-
letzungen und _ chirurgischen Eingriffen leichter erholen
als Weisse. Übrigens scheint man bei verschiedenen
Rassen verschiedene Grade von Widerstandsfähigkeit
gegen Schmerz zu finden, die mit der Kulturstufe,
welche das betreffende Volk einnimmt, in keiner Be-
ziehung steht. Pırocow, der ausgezeichnete russische
Chirurg fand, dass Juden, Muselmänner und Slawen
Schmerzen gut zu ertragen imstande sind, und SIR
Wiı.iam Mc. Cormac beobachtete bei den Türken abso-
lute Indifferenz gegen Schmerzen !). Auch die Gelassen-
heit, die Kinder in Krankheitsfällen zeigen, ist. oft auf-
gefallen ?).
Der französische Chirurg MALGAIGNE Wies Zuerst
1842 nach, dass Kinder zwischen 5 und ıs5 Jahren
Amputationen besser überstehen als Erwachsene, eine
Anschauung, die immer wieder bestätigt worden und
jetzt allgemein anerkannt ist. Pror. HorsLey sagt sehr
richtig „was operative Massregeln betrifft, so unterliegt
es keinem Zweifel, dass das Nervensystem eines Kindes
weniger von Traumen angegriffen wird, als das ‚eines
Erwachsenen“. Ebenso wies MaALGAIGNE nach, dass
Amputationen von Frauen besser ertragen werden als
von Männern, was auch seither wiederholt bestätigt
worden ist. LEGoOvEsT hat die Resultate. von‘ MALGAIGNE
für Paris, von LAvurıe für Glasgow‘ und von FENWICK
für Newcastle, Glasgow und Edinburgh zusammen-
gestellt. Unter 1244 Fällen von Amputation bei Männern
waren 441, d. h. 35,45% Todesfälle. Unter 284 Am-
putationen an weiblichen Patienten kamen 83, d. h.
20.20 %a Todesfälle vor3. Seiner Tabelle zufolge be-
ı) Mc, Cormac, HeaTtus „Dictionary of Surgery“. .
2) Siehe z. B.: A. B. Junosons Eröffnungs-Rede bei der
„American Orthopaedic Association in Washington“, 1891.
8) Art. „Amputations“, Dict. encycl. des Sciences Medicales.
152
DIE SINNE.
trägt der Unterschied zugunsten der Frauen 16,2%.
Es kann hier eingewendet werden, dass diese Differenz
wohl dem Umstande zuzuschreiben sein mag, dass
Männer ernsteren Unfällen ausgesetzt sind als Frauen,
indessen beziehen sich diese Zahlen nicht nur auf
Amputationen infolge von Unfällen, sondern auch auf
solche, die durch Krankheiten verursacht werden. Wir
haben es hier wahrscheinlich mit einem sexuellen Merk-
mal zu tun, das in engem Zusammenhange steht mit
der wohlbekannten grösseren Lebenszähigkeit des
Weibes, die sich schon bei der Geburt der weiblichen
Kinder” zeigt und auch im höheren Alter durch die
grosse Langlebigkeit der Frauen bestätigt wird,
In einem Vortrage LomsBrosos La SenstbilitE de la
Femme, der auf dem Internationalen Kongress für ex-
perimentelle Psychologie in London verlesen wurde,
und in den Verhandlungen dieses Kongresses p. 41—44
in abgekürzter Form wiedergegeben ist, werden für
die grössere sensorische Stumpfheit des Weibes sowie
für ihre grössere Disvulnerabilität zahlreiche Argumente
beigebracht. Aus diesem Vortrag, der indessen nicht
übermässig‘ reich an präzisen Einzelheiten ist und der
Kritik manche Angriffspunkte darbietet, zitiere ich fol-
gende Zeilen: „BILLROTH wählte immer, wenn er neue
Operationsmethoden zum ersten Mal probierte, Frauen
zu diesen Experimenten, da er sie für weniger sensibel
und daher mehr disvulnerabel hielt, d. h. für besser
geeignet, Schmerzen zu ertragen, als Männer. CARLE
versicherte mir, dass Frauen bei Operationen oft an
sich herumschneiden liessen, wie an fremden. Körpern.
Giordano teilte mir mit, dass auch die Schmerzen der
Geburt den Frauen relativ wenig Leiden verursachen,
so sehr sie sich auch davor fürchten. Dr. MARTIn,
einer der ersten Zahnärzte von Tvrın sagte, er habe zu
seinem grössten Erstaunen beobachtet, dass Frauen. alle
Arten von Zahnoperationen mutiger. und besser er-
tragen als Männer und auch MegLA: fand, dass Männer
bei solchen Operationen häufiger ohnmächtig werden
als Frauen. Die Sprichwörter verschiedener Nationen
DIE SINNE.
153
bestätigen die Tatsache der weiblichen Widerstands-
fähigkeit gegen Schmerz, so z. B.: ‚Frauen sterben)
niemals‘, ‚die Frau hat sieben Häute‘, ‚die Weiber haben!
sieben Leben und noch ein ganz kleines Leben‘ etc.‘
(Diese Argumente finden sich näher ausgeführt und
entwickelt bei Lomsroso und Ferrero, Das Weib als
Verbrecherin und Prostituierte, Hamburg, 1894. Siehe
auch Dr. CampBeELLS Nervous. Organisation etc, PP: 54
bis 55, 118.) CAMPBELL weist nach, wie gut Frauen Blut-
verluste und schlaflose Nächte vertragen und er fügt
hinzu: „Nichts hat mich mehr überrascht als die ausser-
ordentliche Resignation, ja man möchte fast sagen. Apa-
thie, mit der viele Frauen körperliche Leiden ertragen
und dem bevorstehenden Tode entgegensehen.“
Was die Pror. BILLROTH zugeschriebene Ausserung
betrifft, so bestätigte mir Dr. v. EiıseELsBERG, der viele
Jahre Hauptassistent des grossen Wiener Chirurgen
war, LomBrRosos Behauptung und sagte: Pror, BILLROTH
meint in der Tat, dass Frauen für alle Operationen
am Bauch grössere Widerstandskraft besitzen und
mehr Chancen haben, dieselben zu überwinden, als
die Männer, Diese Anschauung einer Autorität wie
BIiLLROTH ist, auch ohne statistische Belege, der Beach-
tung wert und stimmt vollkommen überein mit den
oben erwähnten Berichten über die Folgen von Am-
putationen. Es muss noch hinzugefügt werden, dass
die sexuellen Differenzen auf diesem Gebiete nicht sehr
beträchtlich sein können und‘ dass viele berühmte Chi-
rurgen (Sır JAmss PaczT z. B.) nichts davon beobachtet
haben, sie scheinen aber in der Tat zu bestehen. _
Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieser
Schrift ist die Frage von MaArceL Bavpovn behandelt
worden, („La superiorit& de la femme au point de vue
des operations abdominales“, Ze Progres Medical,
10. Juli 1897.) Er zitiert deutsche Statistiker (Arch. f.
klin. Chirurgie, ı1895—06, S. 484, 861), wonach bei
einer grossen Zahl von Gastro-Enterostomien die Mor-
talität‘ bei Männern 54, bei Frauen nur 35°%o war,
während sie bei einer Anzahl von Pylorektomien 64,3 %o
154
DIE SINNE.
bei Männern, 52,8% bei Frauen ausmacht. BAUDouIN
erwähnt eine Reihe von Ursachen für diese Unterschiede,
die jedoch nicht sehr überzeugend erscheinen.
Während das Experiment im ganzen zeigt, dass
die Schmerzempfindlichkeit: wie die allgemeine Berüh-
rungs-Sensibilität beim Weibe feiner als beim Manne
ist, muss man doch zugeben, dass die erstere: Sinnes-
qualität komplizierter ist als die letztere, und dass wir
bei ihrer quantitativen Bestimmung auf Elemente treffen,
die nicht dem Gebiete der reinen Sinnesphysiologie an-
gehören.
Nach einigen Forschern müsste man annehmen,
dass das Weib, selbst wenn es etwa Schmerz fühlt,
eine grössere Widerstandsfähigkeit dagegen besitzt und
weniger von ihm affiziert wird. Vielleicht ist es trotz
seiner in vieler Hinsicht grösseren nervösen Reizbarkeit
doch besser als der Mann befähigt, dem Schmerz und
dem Unheil zu widerstehen. Die soziale Rolle des
Weibes, seine Unterordnung unter Eltern, Ehemann
und Kinder, die ihr obliegende Pflicht der Unterwürfig-
keit und des Verbergens, haben alle dahin geführt, ihr
Toleranz gegen Schmerz beizubringen.
Man darf annehmen, dass das Weib sich nicht so
ganz in diese Rolle gefunden hätte, wenn in seiner
Natur nicht eine organische Grundlage wäre, die ihr
das natürlicher und leichter werden lässt, als es dem
Manne werden würde.
Wir werden uns diesem Probleme von einer
anderen Seite wieder nähern, wenn wir an die Unter-
suchung der Affektabilität des Weibes herantreten.
Geschlechtsunterschiede in der Schärfe des Geruchs-
sinns sind zuerst von E. H. Barmer und E. L. NIcCcHoLs
yemessen worden. Die erste Publikation!) von BAILEY,
Der Geruchssinn.
1) Proceedings of the
Nature, 25. November 1886.
Kansas Academy of Sciences, 1884.
DIE SINNE,
155
die zwei Jahre später in einer englischen Zeitschrift
von Bamer und NıchHoLs wiedergegeben wurde, zeigt,
dass für viele gewöhnliche Riechstoffe die Perzeption
beim Manne deutlich feiner ist als beim Weibe. Sie
verwendeten zu ihren Versuchen 5 Substanzen: Nelken-
öl, Amyl-Nitrit, Knoblauch-Extrakt, Brom und Cyan-
kali. Von jeder Substanz wurden mehrere Lösungen
angefertigt, jede einzelne war immer halb so stark als
die vorausgehende; die Zahl der Verdünnungen War
so gross, dass an den dünnsten Lösungen kein Geruch
mehr zu entdecken war. Die Flaschen wurden durch-
einander gestellt, und die Versuchsperson hatte sie
dann nach der Stärke des Geruchs zu ordnen.
In der ersten Versuchsreihe wurden ı7 Männer
und ı7 Frauen geprüft; die Resultate finden sich in
folgender Tabelle, die angibt, bei welchem Stärkegrade
die betreffende Substanz erkannt wurde.
Nelkenöl Amylnitrit
Es wurde noch a
erkannt: id. St. von: id. St. von:
Durchschnitt der
Männer 1:88218
Durchschnitt der
Frauen
1: 30567
Knoblauchessenz . Brom
Es wurde noch
erkannt: i. d. St. von:
Durchschnitt der
Männer 1:57927
Durchschnitt der
Frauen 1:43900
Cyankali
id.St. von:
1:49254 1: I00,140
1:16244 1:9002
In einer zweiten Versuchsreihe, deren Resultat die
folgende Tabelle angibt, waren 27 Männer und 21 Frauen
untersucht worden.
BR
Fr
DIE SINNE.
Blausäure Citronenöl Wintergrünöl
Es wurde noch
erkannt: Ind. St. von: Ind. St. von: Ind. St. von:
Durchschnitt der -
Männer 1:112000 1:280000 1: 600000
Durchschnitt der
Frauen 1:18000 1: 116000 1:311000
Drei der untersuchten Männer waren imstande, ein
Teil Blausäure aus 2 Millionen. Teilen Wasser heraus-
zufinden, d. h. aus einer Lösung, in der die feinsten
chemischen Reaktionen keine Spur der Säure mehr
nachweisen können. Zwei derselben hatten allerdings
einen Beruf, der die Ausbildung des Geruchs begünstigt.
Andererseits konnten mehrere Personen beiderlei Ge-
schlechtes Blausäure selbst in Lösung von überwältigen-
fiem Geruche nicht merken. Die Untersucher fanden,
dass im Durchschnitt die Geruchsempfindung bei
Männern viel feiner war als bei Frauen.
Aus einem interessanten Brief (vom 14. September
1892) ‚von Dr. NiıcyoLs, jetzt Prof. an der Cornell-
Universität, in dem er verschiedene, von mir an ihn
gerichtete Fragen beantwortete, zitiere ich folgendes :
„Ich muss hervörheben, dass weder ich noch Bamey,
als wir unsere Versuche machten, auf dem Gebiete der
Sinnesphysiologie zu Hause waren. Sein Interesse an
der Sache war ein rein chemisches, das meinige ein
rein physikalisches. An den Geschlechtsunterschied
hatten wir bei dem Plan unserer Versuche gar nicht
gedacht, und was sich dabei herausstellte, war genau
das Gegenteil unserer Vermutung, soweit wir eine solche
hatten. Die Zahl der Versuchspersonen ist vielleicht
zu klein, um weitgehende Schlussfolgerungen zu be-
gründen; immerhin schien uns der Unterschied zwischen
den Geschlechtern erwähnenswert, und innerhalb ge-
wisser Grenzen wichtig. Die Versuchspersonen waren
sämtlich Studenten und Studentinnen der Universität
von Kansas, die damals von gleichviel jungen Mädchen
und jungen Männern besucht wurde. Der einzige Unter-
DIE SINNE.
157
schied zwischen Versuchspersonen, der. ausser dem
Geschlecht in Betracht kam, bestand darin, dass die
jungen Männer, denen das Unterrichtsinstitut eine grosse
Zahl von Fächern zur Wahl stellte, sich lieber den
Naturwissenschaften zuwenden, als literarischen Fächern,
und dadurch eine gewisse Übung der Sinne erwerben,
Die einzigen Fälle, in denen die Schulung des Geruch-
sinns eine Rolle spielte, waren die von Studenten der
Pharmazie, die in der Erkennung der Drogen mittelst
der blossen Sinne (Tastsinn, Geschmack und Geruch),
geübt worden waren. Einen besonderen Einfluss des
gewohnheitsmässigen Tabaks und Alkoholgenusses bei
Männern haben wir nicht beobachtet. Derartige Ge-
wohnheiten waren eine Ausnahme, und die Einteilung
der Versuchspersonen in Raucher und Nichtraucher
ergab in den Resultaten keine Unterschiede. Ich fasse
das Gesagte noch einmal zusammen:
Die Kategorie von Individuen war eine besondere,
nämlich Studierende. Innerhalb dieser Kategorie wurde
keine besondere Auswahl getroffen, etwa durch Auswahl
der Raucher usw. Experimente wurden nicht mit der
Absicht durchgeführt, auf Geschlechtsunterschiede zu
prüfen. In den verschiedenen Experimenten wurden
nicht dieselben Individuen geprüft, jedoch nahmen
einzelne Personen an allen Experimenten teil.“
OTTULENGHI hat im Turiner Laboratorium für gericht-
liche Medizin den Geruchsinn bei beiden Geschlechtern
der normalen Bevölkerung und ‚der Verbrecherwelt
untersucht; die normalen Individuen waren 30 Männer
und 20 Frauen aus den mittleren und unteren Klassen,
keiner war Raucher oder Schnupfer, oder litt an Nasen-
Krankheiten. Die Zahl der untersuchten Verbrecher
und Verbrecherinnen betrug 80. OTTOLENGHI 1) bediente
sich zur Messung der Geruchsschärfe einer Sammlung
von ı2 Flaschen mit verschieden ‚starken Lösungen von
Nelkenessenz in Wasser. in dem Verhältnis von 1: 100
Bd. x g-Olfatto nei Criminali‘. (Arch. di Psichiatria, 1888,
158
DIE SINNE.
bis 1:50000. Im übrigen folgte er der Methode von
NıcyoLs und BaıLEy. Das Nelkenöl wurde gewählt wegen
seines starken Geruchs, weil es beliebig teilbar und sein
Geruch sehr bekannt ist. Er fand bei Frauen einen
etwas schwächeren Geruchssinn als bei Männern.
OrTrToLENGHISs Schlüsse sind von GaArsın angefochten
worden, der bemerkt, dass sie kaum durch OTTOLENGHIS
eigene Statistik gestützt werden. GaARBını hat selbst die
Entwicklung des Geruchssinns bei 400 kleineren Kin-
dern untersucht und gefunden, dass die Geruchempfind-
lichkeit bei Mädchen früher und stärker. entwickelt ist,
als bei Knaben 2).
Dieser Unterschied ist aber im Durchschnitt sehr
gering und nimmt mit den Jahren ab, so dass Knaben
und Mädchen mit sechs Jahren keinen merklichen Unter-
schied erkennen lassen, Garsınıs Untersuchungen be-
weisen also, wie BınerT bemerkt, nicht, dass Frauen eine
grössere Geruchsschärfe besitzen, als Männer, sondern
sie beweisen nur die frühere Entwicklung beim weib-
lichen Geschlechte. Auch Dı MaATrTEI fand bei Kindern
zwischen vier und zwölf Jahren eine grössere Geruch-
empfindlichkeit bei Mädchen.
Die Resultate von TovLouseE und VAscHDE haben
ähnliche Bedeutung. Marko fand in Oberitalien mit
ZWAARDEMAKERS Olfaktometer eine grössere Geruchsemp-
findlichkeit beim weiblichen Geschlecht, und zwar in
höherem Grade nach der Pubertät als vor derselben. Er
nimmt einen verstärkenden Einfluss der weiblichen Ge-
schlechtstätigkeit auf diesen. Sinn an. Die bisher vor-
liegenden wissenschaftlich exakten Beobachtungen
sprechen also deutlich für ein schärferes Geruchsvermögen
beim Manne. Frauen mit ausserordentlich feinem Geruch
kommen gewiss nicht sehr selten vor, vielleicht häufiger
als solche Männer, aber es handelt sich dabei gewöhn-
lich um junge hysterische Frauen, Dass Frauen in
der Tat nicht sehr empfindlich gegen Gerüche sind, be-
kommen Männer häufig durch die erstickend starken
1) Gars, Arch. per PAntropologia, 1896, fasc. 3.
DIE SINNE.
159
Parfums zu wissen, wie Frauen sie häufig gebrauchen‘).
Ein französischer Schriftsteller macht die Damen darauf
aufmerksam, .dass sie männlichen Nasen zweimal so
parfümiert erscheinen können, als ihren eigenen.
Es ist von Interesse, dass der übermässige Gebrauch
von Parfum bei den Frauen nicht erst eine moderne
Sitte ist. Ich finde in dem Paedagogus des heil. CLe-
MENS VON ALEXANDRIEN, diesem entzückenden Handbuch
für den Gebrauch halbheidnischer Christen, eine An-
deutung, dass schon zu seiner Zeit männliche Nasen
empfindlicher waren als weibliche; er gestattet einen
mässigen Gebrauch von Parfum, sagt aber dabei: „Die
Frauen mögen ein paar Wohlgerüche. auswählen, aber
solche, die nicht überwältigend für den Hausherrn sind“ 2).
Der Geschmack.
Der Mann hat ein Monopol für die höhere Koch-
kunst; Frauen sind zu Beschäftigungen wie Thee-Kosten
nicht verwendbar, die eine besonders feine Unterschei-
dung von Geschmacksempfindungen erfordern, sie sind
selten Weinkenner; und während Gourmandes häufig
sind, hat der Gourmet nicht einmal ’in der Sprache ein
weibliches Seitenstück, Man hat deshalb manchmal
behauptet, dass, wie der Geruchssinn, auch der Ge-
schmackssinn beim Weibe nicht so hoch entwickelt sei
wie beim Manne. Dieser Schluss ist jedoch durch
genaue Untersuchungen. nicht gerechtfertigt worden,
Anscheinend sind NıcnoLs und BaAmLeY auch die ersten,
die wie beim Geruch, beim Geschmack genaue Mes-
sungen der Geschlechtsunterschiede gegeben haben 3).
1) Ich will nicht absolut behaupten, dass eine Vorliebe für
Starke Parfums an sich eine Abstumpfung des Geruchsinnes be-
Weise; man muss auch beachten, m Frauen zum Gebrauch
Stark duftender Wohlgerüche. häufig veranlasst werden zur Ver-
deckung natürlicher Ausdünstungen.
2) L. c. Lib. II, cap. 8, „Über den Gebrauch der Salben und
Wohlgerüche.“ .
ih 8) Dr. E. BAmey und Dr. E. H. Nıcnyors, On the delicacy of
© sense of taste. (Science 1888, p. 145.)
„U
DIE SINNE.
Sie machten zunächst eine Reihe starker Lösungen für
die verschiedenen Klassen von. schmeckbaren Sub-
stanzen; für bitter wurde eine wässerige Chininlösung
von ı: 10000 gewählt, für süss eine Rohzuckerlösung
von ı:1ı10o, für sauer einprozentige, Schwefelsäure, für
laugenhaft ı : 10 doppeltkohlensaures Natron, für salzig
Kochsalz im Verhältnis 1ı:100; durch sukzessive Ver-
dünnung wurde jede dieser Lösungen zur stärksten
einer Reihe verschiedener Lösungen, von denen jedes
Glied halb so stark war als das vorausgehende. Die
letzte Lösung jeder: Reihe war So schwach, dass sie
nicht:erkannt werden konnte. Die Flaschen mit den
Lösungen wurden beliebig durcheinander gestellt, und
die Versuchsperson wurde aufgefordert, sie zu kosten
und entsprechend zu gruppieren. Es wurden 128 Per-
sonen untersucht, 82 männliche und 46 weibliche, Das
Durchschnittsergebnis findet sich in folgender Tabelle.
Männliche Beobachter
entdeckten
Chinin ein Teil in 392000
Zucker „. „2 x» 199
Säure „ » x» 2080
Alkali „ 2» x» 98
Salz .„ 20494. = 29 © 2240
Weibliche Beobachter
entdeckten
ein Teil in 456000
» 980 204
” 93 3 280
»”” ” CE I 26
“ 8 m 1980
3
Aus” diesen Resultaten schlossen die Experimen-
tatoren, dass der Geschmackssinn beim Weibe feiner
ist als beim Manne. Dies gilt für die untersuchten Sub-
stanzen mit Ausnahme des Salzes. . Die Untersucher
bemerken darüber: „Da wir dieselbe Abweichung in
früheren und ganz unabhängigen Versuchsreihen ge-
funden hatten, die in allen wesentlichen Punkten mit
den jetzigen übereinstimmten, glauben wir nicht, dass
diese Abweichung zufällig ist, oder dass sie durch aus-
gedehnte Untersuchungen eliminiert werden wird“. Es
kamen bedeutende individuelle Unterschiede zur Beobach-
tung bis zum Verhältnis von ı: 3, die nicht als Erfolge der
DIE SINNE,
{61
Übung erklärt werden können, da im Handhaben von
Chemikalien sehr erfahrene Männer von Frauen ohne
alle entsprechende Schulung übertroffen wurden. In
einigen Fällen war die Fähigkeit, ein stark verdünntes
Süss zu schmecken, begleitet von der Unfähigkeit, bitter
aus verdünnten Lösungen heraus zu finden. Die Schluss-
bemerkungen in dem oben zitierten Brief von NIcHOLS
gelten auch für die Versuche über den Geschmackssinn ?).
Bald danach wurde die Frage unabhängig von den
amerikanischen Untersuchern sehr sorgfältig von Dr.
OTTOLENGHI in Turin behandelt?). Er experimentierte
an 190 normalen Personen, nämlich an 50 Studenten,
Arzten und Juristen, 20 normalen Männern der untersten
Bevölkerungsschichten, 20 Gelegenheitsverbrechern, 60
geborenen Verbrechern, 20 Verbrecherinnen und 20
normalen Frauen; alle waren gesund und von kräftiger
Konstitution, die meisten zwischen 20 und 50 Jahren
alt. Er untersuchte die Empfindungen für bitter, süss
und salzig. Für bitter wählte er eine Strychninlösung
und fand, dass ı2%9 der normalen Personen noch in
800000 Teilen Wasser einen Teil Strychnin merkten;
von dieser Lösung als der schwächsten ausgehend,
machte er elf verschiedene Lösungen, deren stärkste
1:50000 Stark war; als Probesubstanz für süss nahm
er statt des zu wenig intensiven Zuckers Saccharin in
elf Abstufungen zwischen ı:10000 und 1: 100000;
letztere Lösung erkannten noch 25°%o der normalen
Männer und 45°%o der normalen Frauen; die elf Koch-
Salz-Lösungen lagen zwischen 3:100 und ı:500. Es
wurden zahlreiche Kautelen beobachtet: der Mund wurde
Zut mit lauwarmem Wasser ausgespült, jeder Versuch
. 1) Neuerdings hat BaıLeyY in ähnlicher Weise den Geschmacks-
Sinn bei Indianern untersucht. Er fand bei ihnen die Fähigkeit,
verdünnte Lösungen zu unterscheiden, geringer. Auch hier war
die Erregbarkeit für salzig bei den Männern grösser, im übrigen
Zeigten die Frauen einen feineren Geschmack. (Kansas University
Quarterly 1893.) |
di ?) „Il gusto nei criminali, in rapporto coi normali“. (Arch.
ı Psich. Bd. X, Heft 3—4.)
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl,
11
162
DIE SINNE.
wurde wiederholt und zur Vermeidung des störenden Ein-
flusses der Erwartung und subjektiver Sensationen wurden
Kontrollversuche mit destilliertem Wasser gemacht; die
Lösungen hatten die Lufttemperatur. Bei jedem Versuche
wurde genau ein halber Kubikzentimeter der Lösung
mit einer Pipette auf die Zunge gebracht. COTTOLENGHI
stellt seine Ergebnisse in einer Tabelle zusammen, in
welcher die Versuchspersonen in drei Gruppen mit
feiner, mittlerer und stumpfer Empfindung geteilt werden,
unter jeder der drei Kolonnen „bitter“, „süss“ und
„salzig“; die Tabelle ergibt auch für jede Geschmacks-
qualität die Prozentzahl der betreffenden Versuchs-
personen. Im ganzen zeigten nun die verbrecherischen
Personen, besonders die männlichen, eine sehr geringe
Proportion von Individuen mit feinem Geschmackssinn;
die Personen mit gelehrter Bildung zeigten vorwiegend
feinen Geschmack, z. B. fanden sich in der Spalte für
Bitter 54°%0 derselben mit feinem Geschmack, gegen
ı15%o bei den Verbrechern. Die Männer aus den
untersten Bevölkerungsklassen standen zwischen den
letztgenannten Kategorien, näherten sich jedoch mehr
den Verbrechern, mit ihnen auf gleicher Stufe standen
die Verbrecherinnen, während die normalen Frauen mit
den höher gebildeten Männern rangierten. So gehören
54° 0 letzterer, 50% ersterer Zu der Kategorie der
feinsten Empfindung für bitter, während zu der Kate-
gorie der stumpfsten Empfindung hierfür ı0°%o der
Frauen, 14°%o der höher gebildeten Männer gehörten;
diese letztere Gruppe hatte nur 4 Personen unter sich,
die die schwächste Strychninlösung unterschieden. 80°/o
der normalen Frauen gehörten zu der Kategorie fein-
ster Empfindung für süss, gegen 70° der höher ge-
bildeten Männer; 25°%o der letzteren und 45°o der Frauen
perzipierten den Geschmack der schwächsten Saccharin-
lösung; 90% der Frauen gegen 80%o der gebildeten
Männer hatten eine feine Empfindung für salzig, für
diese Geschmacksqualität waren Frauen auch darin besser
disponiert, dass 9g0°/o von ihnen die schwächste Salz-
lösung herausfanden, von den gebildeten Männern da-
DIE SINNE.
163
gegen nur 40°o; es ist bemerkenswert, dass dieses
Resultat einen merkwürdigen Kontrast zu der Beobach-
tung von Bameyr und Nıcmors bildet, wonach Männer
Einen ausserordentlich feinen Geschmack für Salz be-
Sässen. ;
ÖTTOLENGHI Schliesst aus diesen Beobachtungen, dass
Männer und Frauen nahezu dieselbe Feinheit der Emp-
findung für die genannten drei Geschmacksqualitäten
besitzen, glaubt jedoch, dass bei völliger Gleichheit der
Bedingungen und bei Berücksichtigung der Gewohnheit
der Männer, zu rauchen und zu trinken, sich bei Männern
ein feinerer Geschmackssinn würde feststellen lassen.
Eine Prüfung seiner sorgfältig ausgeführten und klar
dargestellten Versuche rechtferti gt jedoch diesen Schluss
Offenbar nicht. Er erbringt keinen Beweis dafür, dass
Alkohol und Tabak, wie sie der Durchschnitt der Stu-
dierenden, Ärzte und Juristen geniesst, die Geschmacks-
Werkzeuge schädigen, und auch Bamey und NicHoLs
teilen seine Vermutungen nicht. Ausserdem ist der
Einfluss der sozialen Situation bei OTToLENGHIS männ-
lichem Material so deutlich, dass man das Bedürfnis
fühlt, zu erfahren, zu welcher Klasse seine normalen
Frauen gehören. Wenn sie zu derselben Klasse ge-
hörten, wie die Studenten, Juristen und Arzte, dann
Zeigt das Material von OTToLENGHI einfach, dass Männer
und Frauen in dieser Beziehung gleich stehen. Es ist
Jedoch wahrscheinlicher, dass die Frauen vorwiegend
Ciner viel niedrigeren Gesellschaftsschicht angehörten,
und eher mit den Männern der untersten Klassen zu
Vergleichen sind!). Wenn das der Fall ist, so bestätigen
ÖTToLENGHIS Resultate die von NıcnoLs und BaerY. |
.. .. Di MarTrTeı untersuchte die Geschmacksschärfe bei
italienischen Schulkindern, seine Ergebnisse sind aber
.1) Dies scheint sich aus OTToLENGHIS Bemerkung zu ergeben
ar die auch von einem andern Standpunkte aus interessant Ist —,
dass Sich unter den normalen Frauen einige befanden, die „Aus:
Schweifungen und Lastern“ ergeben waren, und dass sich bei
been Abstumpfung mindestens in demselben Grade fand, wie
€] den Verbrecherinnen.,
11*
164
DIE SINNE.
nicht entscheidend. Er fand Mädchen mehr für süss,
Knaben mehr für bitter empfindlich, während die Ge-
schlechter sich gegen den salzigen Geschmack gleich
verhalten }).
In Russland fand Dex, Hass sowohl bei der gebilde-
ten Klasse wie beim Volke Frauen einen feineren Ge-
schmackssinn haben. In Paris fand TovLovse die Ge-
schmacksempfindlichkeit beim weiblichen Geschlechte
grösser, ausser für Salz- Lösungen, für die er (wie
NıcsoLs und BaıLey) Männer anscheinend empfind-
licher fand.
HELENE THoMmpson (Chicago) fand, dass Frauen Ge-
schmacksreize eher perzipieren als Männer, während
Männer bei Abstufung der Geschmacksreize mehr
Unterschieds-Empfindlichkeit zeigen. Sie macht die
wichtige Bemerkung, dass hohe Unterschiedsempfind-
lichkeit keineswegs, wie meist angenommen wird, mit
schneller Perzeption verknüpft ist, sondern eher mit
einer langsameren Perzeption.
Der Gehörssinn.
Taubheit, die gewöhnlich eine Folge von Entzün-
dungen des Mittel-Öhrs ist, kommt, nach Ansicht fast
aller Autoritäten, entschieden häufiger bei Männern
vor als bei Frauen. PoLITzZER, TROELTSCH, URBANTSCHITSCH,
WiıLDE, Duncanson u. a. stimmen in diesem Punkte über-
ein. Marc D’Espıne fand 97 taube Männer gegen 62
taube Frauen, ZauvurAL 698 taube Männer gegen 451
taube Frauen?). Unter Kindern sind die Geschlechts-
unterschiede in dieser Hinsicht gering.
Während indessen die grössere Tendenz des männ-
lichen Geschlechts zu pathologischen Störungen des
Gehörs sicher gestellt scheint, sind mir ausgedehntere
1) Arch. di Psichiatria, 2901, fasc. 3.
2) GELLE, Precis des Maladies de lOreille 1885 pp. 571 372
ferner: Wem, Untersuch, d. Ohren u. d. Gehörs V. 5905 Schul-
kindern. (Zeitschr. f. Ohrenh. Bd. XI, S. 106.)
DIE SINNE.
165
und zuverlässige Beobachtuugsreihen hinsichtlich der
Geschlechtsunterschiede des normalen Gehörs nicht
bekannt. Roncorox hat 20 gesunde Männer mit Bezug
auf ihre Gehörsschärfe untersucht und sie mit 15 ge-
Sunden Frauen verglichen; er fand eine grössere Hör-
Schärfe auf seiten der Männer, nämlich ı2 Männer mit
ausgesprochen feinem Gehörssinn gegenüber 7 Frauen *).
Unter den Irren fand er die Gehörsschärfe bei den
beiden Geschlechtern fast gleich. Vor kurzem hat Pror.
Jastrow einen kurzen Bericht über eine von ihm an-
gestellte Untersuchung des Gehörs publiziert. Es
handelte sich darum zu bestimmen, von welcher Höhe
Sin, 10 mgmm schweres Schrotkorn auf eine Glasplatte
herabfallen musste, wenn der Klang in einer Entfernung
von 25 Fuss noch gehört werden sollte. Es war leider
Unmöglich, während dieses Experimentes absolute
dauernde Stille herzustellen, indessen ergab sich doch
Eine . deutliche grössere Sensibilität auf seiten des
Weibes, denn während die männlichen Versuchsper-
Sonen den Fall des Schrotkorns nur aus einer Höhe
VON 35 mm perzipierten, genügten bei den weiblichen
17 mm ®).
Diese beiden Untersuchungsreihen führen also zu
Serade entgegengesetzten Resultaten.
Um die Ausdehnung des Gehörfeldes ?) zu bestimmen,
Machte GALTON in dem anthropometischen Laboratorium
zu South-Kensington Untersuchungen mit seiner Pfeife,
AUS denen sich ergab, dass der‘ höchste Ton derselben
Von 18% der Männer und ı1 %o der Frauen, der nächst-
hohe Ton von 34 °%o der Männer und 28°%. der Frauen
Sehört wurde. Diese Resultate stimmen mit dem über-
Sn. was wir über das Gesicht wissen. |
‚Es sei hier bemerkt, dass Klavierstimmer fast
Mmer Männer sind: ob dieser Umstand auf eine Un-
1). Arch. d. Psich. 1892, Heft I, pp. 108—109. ;
°) „Studies etc.“ Amer. Journ. Psychol. Apr. 1892, p. 422 ff.
vo 3) Ich bediene mich‘ dieses zwar nicht ganz exakten, aber
N ZWAARDEMAKER einmal eingeführten Ausdrucks. — K.
fr
3
DIE SINNE.
fähigkeit der Frauen, auf diesem Gebiet mit den
Männern erfolgreich zu ‚konkurrieren, zürückzuführen
ist, sei dahingestellt.
Der Gesichtssinn.
Blindheit ist in England (nach der Zählung von
1891) bis zum Alter von 65 Jahren häufiger bei Männern
als bei Frauen. Das Überwiegen des weiblichen Ge-
schlechts nach Überschreitung dieses Alters lässt sich
einfach auf die grössere Langlebigkeit der Frauen zu-
rückführen. Dass geringere Defekte des Gesichtssinnes
bei Männern häufiger sind, als bei Frauen, scheint in-
dessen nicht richtig zu sein. Am besten lässt sich die
sexuelle Verteilung der Sehstörungen an der Hand
der von Augenärzten gegebenen Tatsachen feststellen:
So kommen nach Dr. BRUDENELL CARTERS Beobachtungen
an 10000 Fällen von Augenkrankheiten und Sehstö-
rungen seiner Praxis, 4621 Männer auf 5379 Frauen,
das bedeutet 600 Frauen mehr, als wenn seine Patienten
nach dem Verhältnis der Geschlechter in der Bevölke-
rung verteilt gewesen wären. Bei einer Klassifizierung
der Fälle nach der Form ‚des Augapfels ergab: sich
folgendes Resultat:
Emmetropie, oder normale Re-
fraktion 2.0.02 700 9 4
Kurzsichtigkeit oder Myopie mit
Einschluss des einfachen und
zusammengesetzten Astigma-
tismus(Unregelmässigkeiten des
Augapfels) . ... 0.0...
Weitsichtigkeit od. Hypermetropie
inkl. des einfachen und zu-
sammengesetzten hypermetropi-
schen Astigmatismus . . . .
Gemischter Astigmatismus , ,
Männer Frauen Zusamm.
2123 2318 A441
1464 1684 3148
995 1328 2323
39 49 88
4621 5379 10000
DIE SINNE.
167
. Unter Carters, den wohlhabenden Klassen ange-
hörigen Patienten fand sich also, selbst wenn man das
Verhältnis der Geschlechter innerhalb der allgemeinen
Bevölkerung in Betracht zieht, ein ausgesprochenes
Überwiegen der Frauen und Mädchen. Diese Erschei-
nung erklärt CARTER nicht aus einer speziellen Tendenz
des weiblichen Geschlechts für irgend eine Form der
Augenkrankheiten, er ist vielmehr: geneigt, den Grund
hierfür in der grösseren Reizbarkeit des Weibes zu
Suchen, ferner darin, dass Frauen ihre Augen bei den
verschiedensten Arten von Handarbeiten anhaltender
anstrengen, und schliesslich in der grösseren Schwäche
ihrer Muskeln, die in der Regel weniger als die der
Männer zu der dauernden Anstrengung der Accommo-
dation und Konvergenz fähig sind!). Die Fälle von
CARTER sind sorgfältig ausgewählt und auch zahlreich
genug, um zuverlässig zu sein. Wir entnehmen aus
ihnen, dass Sehstörungen aller Art bei Frauen häufiger
Vorkommen, als bei Männern.
Behufs Feststellung der Häufigkeit von Augen-
krankheiten und Sehstörungen bei Schulkindern sind
in den Schulen der verschiedensten Länder, besonders
in den Verein. Staaten, in Deutschland und Schweden
Zahlreiche Untersuchungen angestellt worden; aus den
ausgedehntesten und zuverlässigsten derselben ergibt
Sich noch deutlicher, als aus CARTERSs Beobachtungen,
dass Kurzsichtigkeit bei Mädchen häufiger vorkommt,
als bei Knaben. So fand Pror. AxeL KEY bei seiner
Untersuchnng von ı1000 schwedischen Knaben Kurz-
Sichtigkeit bei 6%o der ırjährigen und 37,3% der
19jährigen Knaben, während eine Untersuchung von
3000 schwedischen Mädchen ergab, dass Kurzsichtig-
keit bei 21,4% der rojährigen und bei mehr als 50°%
der 20 jährigen vorkommt ?).
Di 1) „An Analysis of Ten Thousand Cases of Disease or
Isturbance of the Eyes, seen in Private Practice.“ (Lancet,
20. Okt. 1892.)
2) „Die Pubertätsentwicklung etc.“ pp. 30, 61.
4
{+
DIE SINNE.
In Amerika machte Dr. West Sehprüfungen an
793 Knaben und 6o2 Mädchen in den öffentlichen
Schulen von Worcester (Mass.), wobei er iür die
niederen Klassen SnELLEns, für die höheren GALTONs Seh-
proben anwendete. In allen 9 Klassen — mit Aus-
nahme der ersten, in welcher sich die jüngsten Kinder
befanden —, fand er Sehstörungen häufiger bei Mäd-
chen als bei Knaben; oft betrug der Unterschied mehr
als 10%o. Indessen schienen die ernsteren Fälle von
Sehstörungen bei Knaben häufiger vertreten zu sein
als bei Mädchen!). Auch aus Dr. F, WaArners Beob-
achtungen an 60000 Schulkindern geht hervor, dass
ernstere. Anomalien des Sehvermögens bei Knaben
häufiger sind ?).
Im Jahre 1902 beauftragte das Londoner Zentral-
Schulamt acht Augenärzte mit der Prüfung der Seh-
schärfe der Schulkinder seiner Kompetenz (14000 Knaben
und 13000 Mädchen). Der Bericht des Öberschularztes
dieser Behörde, des Dr. Jamz:s KERR, zeigt, dass unter
diesen im Alter von 8 bis ı2 Jahren stehenden Kindern
die relative Zahl der mit Sehstörungen behafteten in
jeder Altersstufe bei Mädchen entschieden grösser war
als bei Knaben, |
Wenn man die Kinder in zwei Gruppen teilte —
vorgeschrittene (jünger als das Durchschnittsalter ihrer
Lehrstufe) und zurückgebliebene (älter als der Durch-
schnitt) —, so bleibt dieser Unterschied unter den Ge-
schlechtern noch unverändert bestehen, wobei allerdings
die Gruppe der Zurückgebliebenen absolut mehr Seh-
störungen erkennen liess als die der Vorgeschrittenen 3).
Wenn wir uns von diesen Beobachtungen über die
Häufigkeit von Sehstörungen zu mehr speziellen Unter-
suchungen über die relative Sehschärfe bei beiden Ge-
schlechtern wenden, SO steht uns hier nur ein sehr
beschränktes Tatsachenmaterial zur Verfügung, Die
1) Amer. Journ. of Psychology, Aug. 1892, p. 595 ff.
2) Brit. Med. Journ. 25. März 1893.
8) Brit. med. Journal, 14. März 1903, p. 615.
DIE SINNE.
169
Untersuchung der Mitglieder der British Association
in Bath mittelst der GALTonschen Sehproben ergab
nur geringe sexuelle Differenzen. Die Männer sahen
im allgemeinen schärfer mit dem rechten, die Frauen
mit dem linken Auge. Bei Untersuchungen in seinem
Laboratorium auf der Hygiene-Ausstellung fand GALTON,
dass Männer im allgemeinen ein etwas schärferes Seh-
vermögen. besitzen als Frauen. JAcoss und SPIELMANN
fanden, dass die englischen Jüdinnen den englischen
Juden an Sehschärfe entschieden überlegen sind, so-
wohl was den Durchschnitt, als was das Maximum
und Minimum anbetrifft; sie stehen in dieser Hinsicht
über den von GaALTonN untersuchten männlichen und
Weiblichen Personen‘)
_ Ppror. JastRow hat an einer kleinen Zahl von männ-
lichen und weiblichen Studenten an der Universität
Wisconsin sorgfältige und höchst interessante Unter-
Suchungen gemacht?), Die Versuchspersonen waren
31 Männer, deren Durchschnittsalter 22 Jahre betrug,
und 22 Mädchen, die im Durchschnitt 21 Jahre zählten.
Die meisten stammten aus Wisconsin selbst und drei
Viertel von ihnen besassen Eltern von amerikanischer
Herkunft, meist Kaufleute, Ärzte, Juristen und Land-
Wirte, Die Studenten und Studentinnen waren fast alle
gesund, nur einige litten an Kopfschmerz. Die ge-
üruckten Seiten, mit denen J. experimentierte, wurden
erst ‚in eine Entfernung gebracht, in welcher die Ver-
Suchsperson nichts erkennen konnte, und dann allmählich
Soweit näher gerückt, bis sie eben mit Mühe zu lesen
Vermochte. Die Entfernung, in welcher die Seite mit
grösster Anstrengung entziffert wurde, war bel den
Männern ein klein wenig grösser als bei Frauen, in-
dessen war der Unterschied ganz verschwindend; eben-
50 war der nächstliegende Punkt, von welchem aus die
Buchstaben noch erkannt wurden. bei beiden Geschlech-
1) „Comparative Anthro t f English Jews.“ ourn.
Anthr. Inst. AUSUSE 1889.) pomelry OF Englich 4 (Sonn
2) „Studies etc.“ (Amer. Journ. Psych. Apr. 1892.)
70
DIE SINNE.
tern fast derselbe. Darauf wurde der kleinste Buch-
stabe festgestellt, der in einer Entfernung von 25 Fuss
noch erkannt wurde; es ergaben sich (in Dioptrien) 09,4
bei Männern, 6,7 bei Frauen.
Die Sehschärfe wurde auf verschiedene Weise
untersucht; es fand sich, dass Linien von ı mm
Dicke, die durch ebenfalls ı mm breite weisse Zwischen-
räume voneinander getrennt waren, von Männern in
einer Entfernung von. ı17 Zoll, von Frauen in einer
Entfernung von 97 Zoll deutlich erkannt wurden.
Eine ähnliche Untersuchung mit einem Schachbrett-
muster, dessen Felder 4 mm im Geviert hatten, ergab
für die Männer ı21, für die Frauen 124 Zoll; auch un-
regelmässige Flecken wurden von beiden Geschlechtern
in fast derselben Entfernung gezählt, wobei sich aller-
dings, wenn die Flecken sehr zahlreich waren, die
Männer etwas überlegen zeigten. Die Sehschärfe wurde
ferner untersucht durch Feststellung‘ des kleinsten Buch-
stabens, der in einer Entfernung von 25 Fuss durch
eine oder zwei Lagen gewöhnlicher Gaze noch lesbar
war. Es ergaben sich bei einer einfachen Gazeschicht
24,7 Dioptrien für Männer und 19,0 für Frauen, bei
doppelter Gazeschicht 45,0 Dioptrien für Männer, 42,0
für Frauen.
BorDieR (De P’acuite visuelle, Paris, Baillere, 1903)
fand bei Massenuntersuchungen, dass Erwachsene zwi-
schen ı8' und 20 Jahren die Sehprobe nach SnELLEN in
einer Entfernung von 8—10 Metern lasen, während
6—8 jährige Kinder bis auf 5 oder 6 Meter herantreten
mussten, um die letzte Buchstabenreihe zu lesen. Er
ging den Dingen nun auf den Grund, und fand, dass
die Sehschärfe nicht von der Geburt bis zum Alter
progressiv abnimmt, wie es die Zahlen von Donpers
und Vr. DE HAAN (1862) zeigen, sondern dass sie, und zwar
bei beiden Geschlechtern in verschiedenem Masse, all-
mählich bis zum Beginn der Pubertät zunimmt. Von
da ab bis zum Alter erfolgt ein Absinken der Seh-
schärfe entsprechend der Kurve von DE HaaAy.
DIE SINNE.
171
Die nebenstehende Kurve zeigt, dass die mittlere
Sehschärfe beim Manne grösser ist, als beim Weibe,
dass beim letzteren der aufsteigende Kurven-Ast kürzer
ist, als beim Manne, und dass diese Äste der verschie-
denen Dauer der Pubertätsentwicklung bei beiden Ge-
schlechtern entsprechen. Der Mann zeigt also hier eine
grössere Variationsbreite als das Weib. Es ist interes-
sant, dass bis zur Pubertät die Kurven fast genau so
verlaufen, wie die der Zunahme des Hirngewichts und
des Schädelinhalts bei beiden Geschlechtern.
Garen
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N —
4 WO I a 30 Zg
‚Jahre
A m
J 60 70 6.
Wenn wir nun das Beweismaterial zusammenfassen,
So kommen wir zu dem Schluss, dass, in den meisten,
ja vielleicht in allen zivilisierten Ländern die Frauen
den leichteren Sehstörungen, -die eine Folge mangel-
hafter Accomodation sind, also mit der Zivilisation
zusammenhängen, mehr unterworfen sind , während
1) Das Tierreich liefert uns einen Beweis für den Zusammen-
hang zwischen Sehstörungen und Zivilisation; MoTaAIs berichtet
in einem Rapport an die Pariser Akademie der Medizin über von
Ihm angestellte Untersuchungen an den Augen wilder Tiere, aus
172
DIE SINNE.
sich die ernsteren Störungen des Sehvermögens häufiger
bei Männern finden. Wenn wir indessen gesunde In-
dividuen beiderlei Geschlechts nehmen und sie auf die
Kraft und Schärfe ihres Sehvermögens hin prüfen, so
finden wir keine ausgesprochenen Geschlechtsunter-
schiede.,
Dieses Ergebnis stimmt zu unseren Erfahrungen
über die Sehschärfe der Wilden. Gegenwärtig sind
unsere Kenntnisse auf diesem Gebiete unvollständig,
aber so weit sie reichen, zeigen sie doch, dass „im
Naturzustande kein ausgeprägter Unterschied der Ge-
schlechter in der Sehschärfe besteht“ 1),
Farbenempfindung und Farbenblindheit.
NewrToN war imstande, 7 Farben im Spektrum zu
unterscheiden, Personen, welche diese. Fähigkeit be-
sitzen, sehen zwischen dem blauen und violetten noch
einen dunkelblauen Streifen, und die Orange-Linie er-
scheint ihnen breiter als gewöhnlichen Individuen; sie
haben in der Regel grosse Freude an Farben. GREEN
hat nur 3 Personen gefunden, die alle 7 Farben wahr-
zunehmen vermochten (er glaubt, dass diese seltene
Fähigkeit unter 2000 oder 3000 Personen nur einmal
vorkommt), und zwar waren alle 3 Männer?). Pror.
NıcyoLs hat einige interessante Untersuchungen über
die Geschlechtsunterschiede in der Sensibilität des Auges
denen sich ergibt, dass diejenigen Tiere, welche schon ausge-
wachsen waren, als sie gefangen EC°Nommen wurden, normales
Sehvermögen’ besitzen, während die in ihrer Jugend gefangenen,
oder gar in der Gefangenschaft geborenen Exemplare kurz-
sichtig sind. ;
ı), W. H. R. Rıvers, Reßorts of the Cambridge Expedition
fo Torres Straits, Il, 1. T., p. 28.
2) „Colour Blindness“ p. 103.
DIE SINNE.
173
für schwach gesättigte Farben gemacht). Die ausge-
wählten Farbstoffe waren Mennige, Chromgelb, Chrom-
säure und Ultramarin. Jeder dieser Farbstoffe wurde
sehr sorgfältig mit verschiedenen Mengen von (weisser)
kohlensaurer Magnesia gemischt, so dass eine Reihe
farbiger Pulver entstand, von der reinen, ungemischten
Farbe an, bis zu einer Mischung, die kaum von reinem
Weiss zu unterscheiden war. Diese Pulver kamen in
kleine Glasbehälter. Die so erhaltenen 4 Serien von
Flaschen mit ihrem Inhalt von rot und weiss, gelb und
weiss, grün und weiss und blau und weiss, wurden
nun durcheinander gestellt, und mussten von der Ver-
suchsperson je nach der Farbe und dem Grade der
Tönung sortiert und in die richtige Reihenfolge gebracht
werden. Die 54 untersuchten Individuen (31 Männer
und 23 Frauen) standen grösstenteils im Alter zwischen
15 und 30 Jahren. Fünf von ihnen waren mehr oder
weniger farbenblind, was sie jedoch nicht hinderte, die
Farben zu klassifizieren. In folgender Tabelle bezeichnen
die Zahlen den Betrag von Pigment, der sich in 100000000
Masseneinheiten der weissen Substanz fand, bei der-
jenigen farbenärmsten Mischung, die von dem Durch-
Schnitte der Versuchspersonen noch von reinem Weiss
unterschieden werden konnte.
Durchschnitt bei
Männern
Frauen
Mennige Chromgelb
15,9 ; 17:3
59,8 33:2
Chromoxyd Ultramarin
Durchschnitt bei Männern 817 148
„ Frauen 913 108
_ Wie die Tafel zeigt, waren im Durchschnitt die
männlichen Versuchspersonen messbar sensibler für
rn —
1) E. L. NıcHoLs, On the Sensitiveness of the Eye to Colours
X a Low Degree of Saturation. (Amer, Journ. of Science Bd.
XX. pp. 27.)
174
DIE SINNE,
rot, gelb und grün, die Frauen für blau allein, NIcHOLSs
bemerkt, dass das von Pigmenten reflektierte Licht
nicht monochromatisch ist, so dass diese Resultate nicht
genau das Verhalten des Auges gegen reine Spektral-
farben zeigen.
Die individuellen Unterschiede waren sehr gross:
8 Personen (5 Männer und 3 Frauen) konnten gelb in
einer Mischung von 3: 100000000 unterscheiden, wäh-
rend z Personen (beides Frauen) es erst in einer Mischung
entdeckten, die 190 Teile Pigment enthielt, Eine ge-
ringe Empfindlichkeit für grün trat allgemein hervor,
wie NicHoLs vermutet, infolge des beständigen Anblickes
des grünen Laubes. Die Anordnung der Flaschen
nach dem Grade der Farbigkeit ergab bei Frauen
bessere Resultate als bei Männern, jedoch betrafen
die beiden Fälle, die der vollständigen Genauigkeit am
nächsten kamen, Männer, Es wäre interessant, festzu-
stellen, ob eine besondere Feinheit in der Unterscheidung
für eine Farbe stets von einer besonderen Vorliebe für
diese Farbe begleitet ist, oder umgekehrt; für den
Augenblick lässt sich das nicht entscheiden, Pror.
E. Barnes fand in Kalifornien bei Untersuchung von
fast 1000 Kindern, dass jedes Geschlecht seine besondere
Vorliebe hat, die Mädchen für rot, die Knaben für
blau. Er bemerkt, dass Kinder mit fortschreitendem
Alter rot bevorzugen, woraus sich eine frühere Reife
der Mädchen ergibt.
Da aber (wie Garsını und andere gezeigt haben),
rot die erste Farbe ist, die im frühen Kinderalter wieder-
erkannt und geliebt wird, könnte die Vorliebe der
Frauen für rot als ein erhaltenes kindliches Merkmal
gelten. Anscheinend ist (wenigstens in Amerika, wo
die meisten derartigen Beobachtungen gemacht worden
sind) rot die am häufigsten von Frauen, blau die von
Männern gewählte Lieblingsfarbe. So fand JAstrow
in Chicago bei 4500 Erwachsenen, dass von je 30 Män-
nern ıo0 immer blau, 3 rot wählten, während von je
30 Frauen 5. rot und 4 blau wählten. WissLeEr erhielt
bei New-Yorker Studierenden ähnliche Resultate. aber
DIE SINNE.
175
im Wellesley College wurde blau vor rot der Vorzug
gegeben.
Frauen haben in ihrer Neigung zu Farben einen
grösseren Spielraum als Männer und sie ziehen grün
(das Aars in Deutschland als eine Lieblingsfarbe der
jungen Mädchen fand) viel häufiger als Männer vor
(Näheres siehe bei H. Euus, „Zhe Psychology of Red‘,
Popular Science Monthly, August und September 1900).
Soweit diese Beobachtungen einen Schluss erlauben,
deuten sie darauf hin, dass der Umfang der Empfin-
dungen beim Weibe geringer ist, als beim Manne, dass
jedoch innerhalb der Grenzen des beiden Geschlechtern
gemeinsamen Gebietes Frauen vielleicht eine etwas
feinere Unterschiedsempfindung besitzen.
_ Die Versuche von NıcnyoLs und BaıLey wurden an
einer kleinen Zahl von Individuen gemacht, so dass
sie nicht von entscheidender Bedeutung sind.
_ Gars hat in Toscana die Entwicklung des Farben-
sinns bei 600 Kindern sehr sorgfältig untersucht, unter
Berücksichtigung der Geschlechtsunterschiede, Er ver-
wandte zwei Methoden, eine, wobei das Kind die pas-
senden Farben zusammenzustellen hatte, und eine an-
dere, wobei es die Farben benannte.
. Bei der ersten oder „‚stummen“ Methode waren
die Knaben im dritten Jahre den Mädchen etwas über-
legen, die Mädchen im sechsten Jahre entschieden
voraus.
_ Bei der zweiten oder verbalen Methode waren die
Mädchen im fünften und sechsten Jahre entschieden
Voraus; ältere Kinder wurden nicht untersucht. Die
Mädchen erschienen früher reif als die Knaben”).
In Amerika prüfte GiLBERT (New-Haven) die Farben-
Unterscheidung einer grossen Zahl von Schulkindern
Zwischen sechs und siebzehn Jahren. Er beschränkte
Sich auf eine Farbe und zwar auf ı0 sehr gleichmässig
abgestufte Nüancen von Rot; das Kind bekam die
hellste Probe aus einem Satze und musste alle gleichen
U) Arch. ter ’Antropol., 1894, HH. ı.
176
DIE SINNE.
Probeobjekte aus einem anderen Probesatze auswählen.
Die Mädchen ergaben dabei etwas bessere Resultate,
aber die Kurven der Resultate an beiden Geschlechtern
kreuzen sich wiederholt. Die Knaben waren mit sechs
Jahren voraus, aber mit ı7 Jahren, wo die Kurven
enden, stehen die Mädchen vorne an. Der allgemeine
Durchschnitt aller Altersklassen ergibt einen sehr ge-
ringen Vorteil zugunsten der Mädchen, Jedoch waren
nur 18,7% der Mädchen — gegen 22,3% der Knaben
— unfähig, die Nüancen zu unterscheiden 1). Die Mäd-
chen hatten, wahrscheinlich infolge grösserer Übung
im Aussuchen gleicher Farben, einen kleinen, wohl be-
deutungslosen Vorteil bei dieser Probe.
Das Verhalten der Geschlechter mit bezug auf
Farbenblindheit ist genau bekannt; Männer sind viel
häufiger farbenblind als Frauen. Die Kommission der
Ophthalmologischen Gesellschaft zur Untersuchung der
Farbenblindheit fand (an fast 15000 Individuen) bei
Männern 4,16%o farbenblind, und höhere Grade dieser
Anomalie bei 3,5%; bei Frauen betrug die Häufigkeit
nur 0,4%, ausserdem. waren die Fälle weniger stark
ausgesprochen. Ho1MeRen, der 32000 Männer untersuchte,
fand 3,17%o farbenblind. Dr. J. JerFERIES bestimmte die
Farbenblindheit bei (14000) Frauen auf 0,8%, (Bei
18000 Männern 4,1°%o). T. H. BIicKkeERTON fand 0,16%
der Frauen farbenblind, es kommt also ein farbenblinder
Mann unter der Bevölkerung zivilisierter Länder auf
25—30 Männer, dagegen eine farbenblinde Frau auf
250—1000 Frauen; die Farbenblindheit ist also bei
Männern ıomal häufiger. In Frankreich fand auch
Favre diese Anomalie bei Männern ıomal häufiger als
bei Frauen.
Rasse und soziale Lage bedingen gewisse Abwei-
chungen im Vorkommen der Farbenblindheit, die von
Interesse, und vielleicht von Bedeutung für die Theorie
der Farbenblindheit sind. Unter akademisch gebildeten
. 1) J. A. GıLBERT, Studies from the Yale Psychological La-
boratory, II, p. 58, 1894.
DIE SINNE.
177
Männern fanddie obengenannte Kommission 2,5°/oFarben-
blinde, unter den Schülern iu Eton 2,46%, unter Leh-
rern und Schülern der Marlborough-Schule 2,5 °/o. Da-
gegen fanden sich unter Schutzmännern und Schul-
kindern der entsprechenden Gesellschaftsklasse 3,7 °/o
Farbenblinder, und bei Schulkindern der mittleren
Klassen 3,5%. In Irland ist die Anomalie bei Arbeiter-
kindern doppelt so häufig als bei Kindern der wohl-
habenderen Klassen. Auch scheint sie ganz allgemein
auf dem Lande häufiger zu sein, als in der Stadt, an-
dererseits auch bei Juden und Quäkern häufiger, als
bei der übrigen Bevölkerung. Unter (730) jüdischen
Frauen und Mädchen litten 3,1°/o daran, unter weiblichen
Mitgliedern der Quäkergemeinden 5,5 ° 0, jedoch waren
unter letzteren viel leichtere Fälle. Ähnliche Zahlen,
4,9% und 5,9%, fanden sich unter (949) Juden und
(491) Quäkern. Die Juden gehörten jedoch zu der
äirmeren Klasse ihrer Gemeinde, und der Defekt war
bei ihnen stärker ausgesprochen. Die Quäker gehörten
zu den Mittelklassen und zeigten geringere Defekte;
die reichen Quäker waren seltener farbenblind als die
armen, obgleich auch bei ihnen die Männer häufiger
als im Durchschnitt daran leiden. Bei der Unter-
suchung der Londoner Juden!) fanden Jacoss und
SpieLMANN die Anomalie bei einer nicht geringeren Zahl
als ı2,7%o0, und zwar im Ostende Londons bei 14,8%
ım Westende bei 3,4% 0; diese Beobachter bringen die
Häufigkeit dieser Anomalie in Zusammenhang mit der
Abwesenheit grosser Maler unter den Juden, und mit
den geschmacklosen Toiletten der Jüdinnen der unteren
Klassen ?).
Die Bedeutung der Farbenblindheit lässt sich nur
aufGrundnochausgedehntererBeobachtungen beurteilen.
Sie ist nämlich bei halbzivilisierten und bei Naturvölkern
Sehr selten, obgleich bei zivilisierten Völkern die unteren
S 1) Rep. of the Committee on Colour-Blindness of the Opht.
°C. (Transact, of the Opht. Soc. 1881.)
2) Journ. Anthr. Inst. 1889.
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
192
L75
DIE SINNE.
Klassen häufiger ergriffen sind. Einer der frühesten
Forscher auf diesem Gebiete, G. WIıLson, sagt von Stu-
denten verschiedenartiger asiatischer und afrikanischer
Herkunft, die er in London untersuchte: „Sie unterscheiden
Farben ausgezeichnet, und sicher schärfer, als die meisten
unserer Studenten, Soweit dieselben nicht besondere
Studien über Farben treiben; durch die grösste Schärfe
fiel der junge Kaffer auf!), Spätere und ausgedehntere
Untersuchungen ergaben bei niederen Rassen Seltenheit
der Farbenblindheit und scharfe Farbenwahrnehmung.
ScHELLONG hat dies bei den Papuas der Neuen Hebriden
konstatiert; sie unterscheiden ohne Zögern feine Nüancen,
obgleich ihr Wortschatz nur wenig Bezeichnungen für
Farben hat, und für grün und blau dieselben ?)“, Unter
1200 japanischen Soldaten waren 3,4°%0o farbenblind,
unter 600 Chinesen und 60oo Chinesinnen ıg Männer
und nur eine Frau (3,2 und 0,17 °% 0%. FAvRE fand unter
Eingeborenen Algiers 2,6°%o farbenblind. Dr. WEBSTER
Fox teilt mit, dass er unter 250 indianischen Kindern,
worunter 100 Knaben, keinen einzigen Fall gefunden
hat, und bei einer früheren Untersuchung von 250 in-
diänischen Knaben nur 2 Fälle oder kaum 10, während
unter den Knaben der weissen Bevölkerung Amerikas
5 °% 0 farbenblind waren. BuAKE und FRANKLINn, Dozenten
an der Kansas-Universität, haben gleichfalls Indianer
untersucht, und unter 285 nur 3 Fälle gefunden, also
etwas über 1°, unter 133 Frauen dagegen keinen Fall.
In Chile ist die Farbenblindheit entschieden seltener
als in Europa. C. Rıos teilt in seiner Dissertation
(Santiago) mit, dass er 1200 Personen, darunter 520
Knaben zwischen 5 und 15 Jahren, darauf untersucht
hat und bei 3°%0o der letzteren, bei 2,1 % der Männer
mehr oder weniger ausgeprägte Farbenblindheit gefunden
hat. Er untersuchte ferner 320 Frauen und Mädchen,
i) „Researches on Colour-Blindness“, Edinburgh 1855, p. 77.
?) „Beiträge zur Anthropologie der Papuas“. (Zeitschr. f.
Anthr. 1891, p. 188.)
8) „Science“, 14. Nov. 1890.
DIE SINNE,
{79
von letzteren ı43 im Alter von 5—15 Jahren. Ein
Mädchen konnte nicht zwischen blau und violett unter-
Scheiden, einige verwechselten matte Nüancen von grün
Mit gelb. Mehrere andere Mädchen zögerten etwas
beim Herausgreifen gewisser Farbenproben, dagegen
zeigte keine der erwachsenen Frauen einen Defekt der
Farbenempfindun g. Eineschwedische Reise-Kommission,
die vor einigen Jahren in Chile 500 Personen, darunter
Zahlreiche Kadetten, untersuchte, fand keinen Fall von
Farbenblindheit!). Dr. Rıos schreibt die Seltenheit der
Farbenblindheit in Chile, im Vergleich mit Europäern,
der Häufigkeit des Alkoholismus in Europa zu; wahr-
Scheinlicher ist, dass die starke Beimischung indianischen
Blutes dabei eine Rolle spielt.
Farbenblindheit ist sicher keine Krankheit und
hängt mit krankhaften Zuständen nicht zusammen.
Zwar ist sie unter Taubstummen etwas häufiger als
Unter der allgemeinen Bevölkerung, aber die bisher
Untersuchten Taubstummen gehören zu den untersten
Volksschichten, unter denen Farbenblindheit durchweg
häufiger ist; unter Schwachsinnigen ist sie selten ,
ebenso unter Kretins, bei denen doch schwere Hör-,
Geruchs- und Sprachdefekte häufig sind 2). Anderer-
Seits gehören die Juden mit ihrer häufigen Farbenblind-
heit zu den gesündesten Volksschichten (abgesehen von
Nervöser Beanlagung) und haben eine hohe Durch-
Schnittsbegabung, die Quäker bilden gleichfalls eine
Wohlhabende und hochstehende Klasse.
Die Bedeutung des verschiedenen Verhaltens der
Geschlechter bezüglich der Farbenblindheit ist noch
Nicht völlig klar. Das ganze Problem ist, wie das des
Mechanismus der Farbenempfindungen überhaupt, noch
“In Gegenstand der Diskussion; aber etwas Spezifisches
und in der ganzen Welt Nachweisbares scheint die
STOssere Neigung des Mannes zur Farbenblindheit zu
1) „Lancet“, August 1890. N
Ps 2) Vgl. HorsLey, Artikel „Kretinismus“ im Dictionary of
YcChological Medicine 1892.
19%*
150
DIE SINNE.
sein. Schulung hat darauf wenig Einfluss, wie die ge-
ringen Unterschiede zwischen Erwachsenen und Knaben
unter ı0 Jahren zeigen. Andererseits ist sie sicher erb-
lich, wie das Beispiel des Dr. P. Earıe zeigt, der unter
32 männlichen und 29 weiblichen Verwandten 20 Farben-
blinde, darunter nur zwei weibliche Personen hatte.
Als eine Quelle von Fehlern in dieser Beziehung ist
die ganz unzweifelhafte grössere Vertrautheit der Frauen
mit den Bezeichnungen der Farben genannt worden,
aber die modernen Untersuchungsmethoden setzen eine
derartige Kenntnis überhaupt nicht voraus; auch das
grössere Interesse der Frauen für die Kleidung ist als
Erklärung verwandt worden und die Befunde bei den
Quäkern, die eintönigen, farblosen Kleidern den ent-
schiedenen Vorzug gaben, könnte dieser Theorie als
weitere Stütze dienen. Aber alles das erklärt nicht
die bei Naturvölkern auftretenden Unterschiede zwischen
beiden Geschlechtern, und was die Quäker betrifft, so
kanlı man ebenso gut annehmen, dass sie sich aus
farbenblinden und gegen Farben indifferenten Individuen
mit Vorliebe rekrutiert haben.
Es ist gewiss charakteristisch, dass die bisherigen,
allerdings recht wenig umfänglichen Untersuchungen
über Geschlechtsunterschiede in der Schärfe der Farben-
empfindung so wenig den Tatsachen der Farbenblind-
heit analog sind. ‚Aus NiıcHoLs Experimenten ergab
sich, dass die von Farbenblinden unvollkommen emp-
fundenen Farben rot und grün die sind, gegen welche
der Mann sich sensibler zeigt; allerdings umfassen diese
Experimente nur eine kleine Zahl von Individuen. Auch
GREEN fand ungewöhnlich ausgedehnten Umfang der
Farbenempfindung‘ ausschliesslich bei Männern. Es
scheint sich hier also um zwei verschiedene Kategorien
von Erscheinungen zu handeln. Farbenblindheit ist
eine Analogie des Albinismus und anderer angeborener
Anomalien, die beim Manne häufig sind. Sie”hat mit
Differenzen in der Schärfe der Farbenunterscheidung
nichts zu tun, und wie bei anderen Sinnesempfindungen
scheint auch für die Farbenempfindung ein grösserer
DIE SINNE.
181
Umfang und eine bedeutendere Schärfe beim Manne
Zu existieren. ,
Die sogenannte „Audition color&e“ oder se-
kundäre Farbenempfindung in Begleitung der Gehörs-
empfindungen ist eine der best gekannten Erscheinungen
aus einer Gruppe von Phänomenen des-Seelenlebens,
die sich dem Abnormen nähern. Dieselbe besteht darin,
dass ein Klang dem Hörenden sofort und unwillkürlich
auch eine bestimmte Farbe vor das innere Auge bringt.
Gewöhnlich haben Personen, welche diese Eigentüm-
lichkeit besitzen, für jeden Vokal ein besonderes Farben-
Phantasma und auch Worte erscheinen entsprechend
farbig !). Neben der audition coloree finden sich auch
andere derartige Empfindungsassoziationen; Z. B. farbiges
Schmecken, farbiges Riechen, farbige Tast- und Be-
wegungsempfindungen. F. R. GALTON hat vor mehreren
Jahren verschiedene dieser Assoziationen untersucht
und sie bei Weibern häufiger gefunden als bei Männern;
auch fand er, dass dieselben bei Kindern ziemlich ge-
Wöhnlich, wenngleich nur schwach entwickelt sind 2).
GauLton untersuchte auch ein verwandtes Phänomen,
das er als Zahlenphantasma (number-form) bezeichnet,
die „plötzliche automatische Erscheinung einer deutlichen
und unveränderlichen Figur in dem geistigen Blickfelde,
in der jedes Zahlenzeichen einen bestimmten Platz hat,
Sobald eine Zahl vorgestellt wird“, annähernd fand er
diese Erscheinung einmal unter zo Männern und unter
15 Frauen. Zahlenphantasmen stellen sich in frühem
Alter ein und sind in der Jugend häufiger als im reifen
Alter, Von einer ähnlichen Fähigkeit, Gesichtsvor-
Stellungen lebhaft aufzunehmen und willkürlich zu re-
Produzieren, bemerkt GALTON, sie wäre bei Frauen
a
Di 1) S. Art. „Secondary Sensations“ von BLEULER, IN TUukKeEs
ict, of Psych. Med.; GRÜBER, L’Audition Coloree et les Pheno-
penes similaires (Proceedings of the Intern. Congr. of Experim.
Sychology, London 1892) und KrROoHx, Pseudo-Chromaesthesia
(Am, Journ, of Psych. Oct. 1892). Letzterer Artikel enthält. die
SCsamte Bibliographie des Gegenstandes.
2) „Inqauiries into human faculty“ p. 147-
ara "a 4
9
DIE SINNE.
stärker entwickelt als bei Männern und etwas stärker
bei Schülern der Volksschule als bei Männern; man
darf annehmen, dass sie bei manchen kleinen Kindern
sehr kräftig ist, für die es Jahre hindurch schwer ist,
zwischen der subjektiven und der objektiven Welt zu
unterscheiden. Das Sprechen und das Lernen aus
Büchern drängt die Erscheinung zurück (l. c. p.. 99).
Naturforscher, die GALTon nach dieser Erscheinung
fragten, wussten nichts von ihr, jedoch erklärten viele
Männer und noch mehr Frauen, daneben zahlreiche
Knaben und Mädchen, dass sie gewöhnlich derartige
geistige Bilder sehen, die sie deutlich von Wahrneh-
mungen unterscheiden konnten und dass dieselben leb-
hafte Farben haben, Eıngehende weitere Fragen er-
gaben die Wahrheit dieser Behauptungen (p. 85). FECHNER
sammelte 73 Fälle von audition coloree, von denen
38 Frauen betrafen; fast alle waren erwachsen und
gehörten zu den gebildeten Klassen!). KRroun fand,
dass Farbensehen und ähnliche Phänomene bei Frauen
häufiger zu finden sind. Neuere Untersuchungen in
einem amerikanischen Mädchen- College in Wellesley
an 543 Studentinnen ergab bei 6°%0o derselben audition
coloree und bei 18% diese Erscheinung, oder Zahlen-
phantasmen, oder beides nebeneinander; es ist das eine
sehr hohe Frequenz, der allerdings keine entsprechende
Untersuchung an höheren Lehranstalten für junge
Männer gegenübersteht. Die Resultate wurden ge-
prüft und bestätigt durch Wiederholung der Fragen
nach zwei Monaten 2.
1) Die grössere Affizierbarkeit oder Irritabilität des Weibes
wird auf einer sehr niederen Stufe primitiver Kultur bemerkbar
und wird oft mit, grösserer Sensibilität verwechselt. Ein inter-
essantes Beispiel ist in einer Mitteilung Im THurns enthalten: er
berichtet, dass Weiber manchmal an dem sehr kräftig durchge-
führten Peitsch-Spiel der Arawacken in Guyano teilnehmen; dann
tritt aber an Stelle der Peitsche ein geschnitzter, mit einer Vogel-
figur gezierter Holzstock, mit dem ein sanfter Schlag an Stelle
des scharfen Peitschenhiebes gegeben wird. . (Journ. Anthropol,
Institute, 1893, N
2) MARy WH. CaALKıns, Exper. Psychology ot Wellesley
College, Amer, Journ. of Psychol, V, 1892, November.
DIE SINNE.
183
So gross dieser Prozentsatz auch ist, ergab sich
ein noch grösserer bei weiteren Erhebungen an Schüle-
rinnen, die im Herbst 1892 eintraten; von 203 Mädchen
waren nicht weniger als 32, also 15,7% Farbenhörer,
während 61, oder 30,2 %0 Zahlenphantasmen hatten und
17, oder 8,4°%o beide Eigentümlichkeiten besassen *).
Nach alledem kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit
behaupten, dass alle Beobachter dieses merkwürdigen
Phänomens dasselbe bei Frauen häufiger gefunden
haben als bei Männern,
Wenn wir die Ergebnisse auf dem Gebiete der
Sinnesphysiologie zusammenfassen, so finden wir, dass
das Weib bezüglich der Tastempfindlichkeit dem Manne
fraglos überlegen ist, und wahrscheinlich auch in der
Unterschiedsempfindlichkeit des Geschmackssinnes; be-
züglich der anderen Sinne erlaubt das Material keine
So sicheren Schlüsse, aber man kann nicht sagen, dass
der Mann bezüglich eines der anderen Sinne dem Weibe
deutlich und entschieden überlegen ist. Der Vorteil
neigt entschieden nach der Seite des Weibes, aber nicht
in dem Grade, wie man nach der populären Auffassung
erwarten sollte. Es unterliegt kaum einem Zweifel,
dass die populäre Auffassung, obgleich sie der Rich-
tung nach zufällig zutrifft, tatsächlich auf der Ver-
wechselung von zwei völlig verschiedenen Qualitäten
der Nervenfunktion — der Sensibilität einerseits, der
Irritabilität (oder, wie es richtiger heissen sollte, der
Affizierbarkeit) andererseits — beruht.
Sensibilität bedeutet Schärfe und Intensität „der
Perzeption eines Sinnesreizes, Affektabilität die Dis-
Position, auf einen Reiz mit zentrifugaler Innervation
zu antworten. Diese beiden nervösen Qualitäten können
unabhängig voneinander variieren und tuen das ge-
Wöhnlich?), Die hier hervorgehobene klare Unter-
Scheidung zwischen Sensibilität und Irritabilität bei
beiden Geschlechtern ist in neuster Zeit von SERGI und
von Lomsroso und FErrero gemeinsam konstatiert wor-
1) Americ. Journal of Psycholog, Juli 1893-
2) S. Im a Tour Vn ya Wesbit. oe, p. 108.
184
DIE SINNE.
den, aber schon lange vorher hatte CoLErmeE mit feinem
psychologischen Instinkt bemerkt, dass ein wichtiger
Geschlechtsunterschied in der grösseren Irritabilität des
Weibes und der feineren Sensibilität des Mannes liegt.
Auch GaALTon, der zuerst genaue Untersuchungen über
sexuelle Unterschiede der Sinne machte, hat dies
Verhältnis angedeutet. Er bemerkt darüber: „Anfangs
glaubte ich infolge der Verwechselung der Qualität,
von der ich spreche (Sensibilität), mit der nervösen
Reizbarkeit, dass zartbesaitete Frauen, die unter Lärm,
greller Beleuchtung usw. leiden, eine entwickelte
Unterschiedsempfindung besitzen; eine solche liess sich
jedoch nicht finden. Bei krankhaft empfindlichen Per-
sonen werden sowohl Schmerz wie Empfindung durch
schwächere Reize als bei Gesunden hervorgerufen, aber
die Unterschiedsempfindlichkeit ist in diesen Fällen
grösserer Erregbarkeit nicht gesteigert. Ich fand, dass
in der Regel Männer feinere Unterschiede empfinden
als Frauen, und die Erfahrungen des Geschäftslebens
scheinen das zu bestätigen }).
Wenn wir uns mit der Untersuchung der Affizier-
barkeit des Weibes beschäftigen, wird diese wichtige
Unterscheidung‘ noch deutlicher hetvortreten.
1) S. u. a. KURELLA, Elektr. Gesundheits-Schädigungen am
Telephon. Leipzig 1905. — ÜULARENCE C. BLAKe, Über den Ein-
fluss des Telephongebrauchs auf das Hörvermögen, Zischr. f.
Ohrenheilk., XX, S. 83ff. (S. auch Fussnote ı, oben S. 182.)
VII. Kapitel.
Die Bewegungsfunktionen.
Die Muskelkraft. — Die geringere Grösse der weiblichen Gelenke.
— Die Versuche Rıccarvis über die Erreichung der maximalen
Kraftleistung. — Die Reaktionszeit. — Die geringere Bewegungs-
frequenz beim Weibe. — Bryans Versuche über die Bewegungs-
frequenz. — Seltenheit weiblicher Akrobaten. — Die Frauen und
das Training. — Geschlechtsunterschiede in der Feinheit der will-
kürlichen Bewegungen. — Die Telegraphistinnen. — Die Hand-
Schrift. — Die geringere Muskelkraft des Weibes ist wahrschein-
lich eine organische Eigenschaft. — Die manuelle Geschicklichkeit.
— Die Ansichten der Schullehrer. — Die ‚allgemeine Meinung
De der geringeren manuellen Geschicklichkeit des Weibes, —
ie Leistungen der Frauen in verschiedenen Gewerben. — Sen-
Sorische Urteile. — Die Erfahrungen im Geschäftsleben. — Ver-
schiedene Versuche. — Frauen sind wahrscheinlich ebenso zu
genauen sensorischen Urteilen befähigt, wie Männer.
Gegenüber den Zweifeln, die bezüglich der Ge-
Schlechtsunterschiede in der Empfindung von Sinnes-
reizen bestehen, ist über das Verhalten der motorischen
Reaktion auf dieselben in geschlechtlicher Beziehung
kein Zweifel möglich. Mit der Ausnahme einiger n16-
derer Rassen, und auch bei diesen fast nur ın der mehr
Passiven Leistung des Lastentragens, ze]1gen Frauen
überall eine geringere Fähigkeit zu kräftiger Muskel-
leistung und eine geringere Lust an ihrer Entfaltung.
Bei zivilisierten Rassen ist der Unterschied gross und
augenfällig. Mit der Ausnahme des Tanzes gibt es
186
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
keine einzige Form kräftiger Muskeltätigkeit, für die
das Weib grössere Neigung und Fähigkeit besässe als
der Mann.
Mädchen bleiben selbst während desjenigen Zeit-
raumes der Pubertät, in dem sie den Knaben sonst
fast überall voraus sind, an Muskelkraft und vitaler
Kapazität sehr weit hinter Knaben zurück. Nach Mes-
sungen mittelst des Dynamometers kann man sagen,
dass annäherungsweise die Kraft der Frauenhand um
ein Drittel geringer ist als die der Männerhand; Knaben
können ungefähr ein Drittel mehr tragen als Mädchen,
und während ein Mann ungefähr das Doppelte seines
eigenen Gewichtes tragen kann, trägt ein Weib nur
ungefähr die Hälfte des ihrigen. Bei den Mitgliedern
der British Association fand sich in Bath eine mittlere
Stärke der Hand ‘von 35—40 kg bei Männern, 20—25
bei Frauen. Die anthropometrische Kommission der
British Association‘ fand, dass erwachsene Mädchen
(hauptsächlich Ladenmädchen und Seminaristinnen) etwa
mehr als halb so stark sind als Männer. MANOoOUvRIER
fand bei Vergleichung des Gewichtes des Femur mit
der Leistung am Dynamometer, dass beim Manne sich
die Muskelkraft zu diesem Gewicht verhält wie 87,1 zu
100, beim -Weibe nur wie 54,5 zu 100. SARGENT fand,
dass die Leistung der Exspirationsmuskeln bei dem
schwächsten Knaben noch grösser ist als der Durch-
schnitt bei Mädchen, und obgleich bei Mädchen die
Kraft der Muskulatur der Beine, des Rückens, der
Brust und der Arme etwas besser ausfällt, bleibt doch
die Muskeikraft von 50°%o0o der Mädchen unter einem
Grade, den go °%o der Knaben überschreiten!). GALTON
fand in seinem Laboratorium, dass die stärksten von
1600 Frauen verschiedenen Alters am Dynamometer
höchstens einen Druck von 86 Pfd. erreichen, also un-
gefähr so viel wie ein Durchschnittsmann. „Wenn wir
die 100 stärksten Individuen aus zwei Gruppen aus-
EEE
1) SARGENT, „Physical Development of women“ (SCRIBNERS
Magazine 1880).
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
187
wählen wollten, von denen die eine aus 100 beliebig
herausgegriffenen Frauen, die andere aus 100 Männern
bestände, so würden wir die 7 schwächsten Männer
auszuscheiden und durch die 7 stärksten Frauen zu er-
setzen haben !).
Charakteristisch für diese Geschlechtsdifferenz ist
die Tatsache, dass beim Weibe nicht nur die Muskeln
kleiner sind und ihre Kraft geringer ist, sondern dass
auch die Gelenke entschieden kleiner sind. DwIGHT
konstatiert, dass geringe Grösse der Gelenke für das
Weib charakteristisch ist?). HeErsurn fand dasselbe bei
Naturvölkern. G. A. Donrsey®) konstatierte an Skeletten
aus den „Mounds“ von Ohio, von der amerikanischen
Nordwestküste und von alten Peruanern, dass „der
durchschnittliche Maximal-Diameter des Humeruskopfes
beim Manne 46,3, beim Weibe 37,7 mm ist. Der Durch-
schnitt des grössten Schenkelkopfmasses ist beim
Manne 47,3 mm, beim Weibe 41 mm. Die Maxima
des Durchmessers des Tibiakopfes. sind beim Manne
78,5, beim Weibe 67,4 mm.“
Eine interessante Differenz ist von RıccARpr ermittelt
Worden; dynamometrische Messungen an über 350 Män-
nern und Weibern ergaben, dass von ersteren 36°%o die
grösste Kraft beim ersten, 38°%o beim zweiten und
16,8% beim dritten Versuch, betätigten, bei den Wei-
bern 57,8 %o beim ersten Versuch, 20,4 %o beim zweiten
und 0,9% beim dritten Versuch ihr Maximum zeigten,
wenn die rechte. Hand. geprüft wurde; für die linke
Hand waren die entsprechenden Zahlen bei Männern
49,8, 24,8, 21,9%, bei Frauen 49, 36,2 une 9,9 0%. Es
erreichten also die schwächeren Frauen ihr Maximum
Schneller als die Männer, und die bei Männern schwächere
Hand, die linke, kommt dem Verhalten bei Weibern
Näher. woraus sich die Andeutung eines Zusammen-
1) Journ. of anthrop. Inst. 1885.
. 2) Boston med. and surg. journ., Juli 1904 und: Americ.
Journal of Analomy, 1904. & J J
3) Boston med. and surg. Reporter, 22. Juli 1897.
138
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
hanges zwischen Schwäche und Promptheit der Reak-
tion ergibt, der vielleicht auf den allgemeinen Charakter
der motorischen Tätigkeit beim Weibe hindeutest)).
Herzen hat den Einfluss des Geschlechtes und des
Alters auf die Reaktionszeit untersucht, Er ging von
der Langsamkeit aus, mit der Kinder zwei Bewegungen,
z. B. von Hand und von Fuss, assoziieren. Seine Zahlen
zeigen, dass Mädchen in früher Kindheit schneller rea-
gieren als Knaben, dass aber ihre Reaktionszeit gegen
die Pubertät hin nicht so. schnell abnimmt, wie bei
Knaben, und dass diese Entwicklung bei einer geringeren
Reaktionsgeschwindigkeit als bei Knaben zum Still-
stande gelangt ?®).
GILBERT fand bei Versuchen über die Reaktionszeit
an über tausend Schulkindern in Newhaven (Connecti-
cut), dass die Reaktionsgeschwindigkeit bei ihnen mit
den Jahren konstant zunimmt, und dass Knaben auf
allen Altersstufen zwischen 6 und 17 Jahren etwas
schneller reagieren als Mädchen; intelligente Kinder
reagierten schneller als schwerfällige. Wenn ausser
der einfachen Reaktion auch Unterscheidung und Wahl
mit in Frage kam, war der Unterschied der Geschlechter
geringer und die Mädchen funktionierten fast so schnell
wie die Knaben?)
ALBERT L. LEcois, der die Reaktionszeit (auf Licht-,
Schall- und elektrische Reize) an verschiedenen Klassen
von Individuen untersucht hat, fand für die abnehmende
Geschwindigkeit folgende Reihe: Amerikanische Männer,
Indianer, Neger, amerikanische Frauen; die Neger rea-
gierten jedoch auf Lichtreize am langsamsten‘*).
Die Reaktionszeit ist (nach BuccoLa) kürzer bei ge-
bildeten als bei ungebildeten Männern, aber die Ver-
suche an verschiedenen Italienern von genialer Begabung
1) P. RıccarpIi, Arch. per PAntrop., fasc. 3, 1889.
2) A, Herzen, Le cerveau et Vactivite cerebrale, p. 96—08.
8) J. A. GILBERT, Sfudies fr, the Yale Psychol. Laboratory,
Il, p. 77, 1894.
4) Psycholog. Review, März 1897.
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
189
hat eine lange Reaktionszeit ergeben‘) und WissLER
fand in diesem Verhalten ein sehr unbefriedigendes
Mass der geistigen Tüchtigkeit.
Die Reaktionszeit ist bei Geisteskranken lang, am
längsten bei Idioten. Einige von Herzen untersuchte
japanische Jongleure reagierten sehr langsam. Die
Norditaliener ergaben ihm eine schnellere Reaktion als
die Süditaliener, und ein Norweger reagierte am
Schnellsten von allen.
Die Zahl der in der Zeiteinheit geleisteten Bewe-
gungen ist: von verschiedenen Beobachtern untersucht
worden. CaArTei. und FUuLLERTON fanden diese ziemlich kon-
stante Zahl bei Frauen entschieden geringer?). JASTROW
fand bei amerikanischen Studenten beiderlei Geschlechtes,
dass normale Bewegungen, für die kein bestimmter Ver-
lauf vorgeschrieben ist, bei Frauen schneller sind, dass
aber die Maxima der Bewegungen, besonders wenn
längere Strecken zu durchmessen sind, beim Manne
schneller ausfallen®). Bryan hat diese Untersuchungen
an 800 Schulkindern in Worcester (Mass.) sorgfältig
durchgeführt. .Er verwendete ein ziemlich einfaches In-
strument, das den Druck auf einen Morse-Unterbrecher
auf dem Zifferblatt einer Uhr markierte; die dabei ver-
wendete Kraft kam nicht in Betracht, Bewegungen des
Oberarms, des Unterarms und der Finger konnten genau
registriert werden, so dass für jedes Gelenk die Frequenz
festzustellen war. Die so zwischen Knaben und Mädchen
gefundenen Unterschiede waren nicht beträchtlich, im
ganzen ergab sich eine geringe Überlegenheit des
Knaben. Der beste „Rekord“ ergab sich bei einem
Zwölfjährigen Mädchen, das wie das Bild der Gesundheit
aussah, Klavier nur nach dem Gehör, ohne Unterricht
Spielte, wobei. sie zwei Töne über eine Oktave griff,
jedoch eine gute Fussball-Spielerin war. Interessante
1) Psychological Review Monographs, IV, 1901. |
2) „On the perception of small differences.“ Philadelphia
1890, P- 119.
83) American. Journ. of Psychol. 1892, pP. 425-
190
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
Ergebnisse lieferte ein 1ı3jähriges Mädchen, das zwei
Jahre lang Violin-Unterricht erhalten hatte und mit den
bei diesem Instrumente geübten Gelenken hohe Zahlen
ergab, und niedere mit den nicht dabei geübten, So
der linken Schulter. Die Überlegenheit der Knaben in
dieser Beziehung nimmt im Alter von 6—9g Jahren all-
mählich, stärker in dem von 14—16 Jahren zu. Zwischen
10 und ı2 Jahren stehen sich darin beide Geschlechter
am nächsten. Mit ı3 Jahren sind die Mädchen bezüglich
jedes der genannten Gelenke besser entwickelt; die
Zeit zwischen ı2 und ız Jahren bedeutet für Knaben
eine gehemmte, für Mädchen eine beschleunigte Ent-
wicklung. Knaben zeigen im allgemeinen eine bessere
Leistung der rechten Extremität, während bei Mädchen
beide Seiten weniger differieren. Einige weitere auf
die Präzision der Bewegungen bezügliche Experimente
zeigten gleichfalls im ganzen eine Überlegenheit der
Knaben, Bryan resümiert seine allgemeinen Ergebnisse
folgendermassen: „Es lässt sich vermuten, dass die
allgemeine Zunahme der Frequenz zwischen ız und ı3
Jahren bei Mädchen und zwischen ı3 und ı4 bei
Knaben der Ausdruck einer bei vielen Individuen in
diesem Alter vorhandenen hohen Spannung innerhalb
des Nervensystems ist, dass die darauf folgende Ab-
nahme den Ausdruck einer Erschöpfung des Nerven-
systems nach den funktionellen. Ausgaben der voraus-
gehenden Periode bedeutet, und dass die Wieder-
beschleunigung eine Erholung andeutet. Es ist
charakteristisch, dass Beschleunigung und Hemmung
bei Mädchen weiter gehen als bei Knaben, und dass
Mädchen sich langsamer erholen. Es ist recht wahr-
scheinlich, dass diese Tatsachen eine hygienische Be-
deutung haben‘).
Es ist interessant, diese, übrigens noch der Nach-
prüfung bedürftigen Ermittelungen?) mit den Verhält-
ı) W, L. Bryan, On the Development of voluntary motor
ability. (Am. Journ. of Psych. Nov. 1892.)
2) DELAUNAY hat mit viel Originalität auseinandergesetzt,
dass die motorische Entwicklung mit Bewegungen zum Körper
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN. 191
nissen des Wachstums bei beiden Geschlechtern wäh-
rend der Pubertät zu vergleichen, deren Beschleunigung
und Verzögerung mit den von BRryYAN untersuchten
Erscheinungen vielleicht in Verbindung steht.
Die Bewegungen des Mannes sind stärker, schneller
und präziser als die des Weibes, eine Behauptung, die
noch nie angefochten worden ist, und die mit allen
praktischen Lebenserfahrungen übereinstimmt. Damit
harmonieren auch die Resultate der chemischen Blut-
und Muskeluntersuchung, welche einen höheren Wasser-
gehalt der Gewebe beim Weibe ergeben (Bibra, Pag-
lani!) u. a). Das ist in weiter Ausdehnung sicher
das Resultat von Verschiedenheiten des Milieus und
der Umgebung, zum Teil aber auch wohl eine Folge
der organischen Anlage. Die bedeutende Muskelkraft
des Weibes bei gewissen wilden Stämmen weist jedoch
darauf hin, dass der ungeheure Unterschied in der Mus-
hin (zentripetal) beginnt und zu Bewegungen vom Körper fort
(zentrifugal) fortschreitet; dass zentripetale Bewegungen, solche
der Adduktion und Pronation, unter wenig entwickelten Arten
und Individuen vorwiegen, wozu er Vierfüssler, Affen, niedere
Menschenrassen, Weiber, Kinder und die ungebildeten Volks-
Schichten rechnet, dagegen zentrifugale Bewegungen, Abduktion
and Sypination unter höheren Menschenrassen, bei Männern und
telligenten Personen vorwiegen. Pfropfenzieher usw. sind von
Inks nach rechts gearbeitet, ebenso Uhren, die früher von. rechts
Nach links gingen. Die Schrift, die früher, wie noch heute oft bei
Kindern, von aussen nach innen ging, geht jetzt von innen nach
aussen, „Frauen bevorzugen“, wie er bemerkt, „zentripetale Be-
Messungen ; so geben sie kleine Schläge mit der Handfläche,
Manner mit dem Handrücken. Nach meiner Beobachtung machen
‚Männer Kreisbewegungen in der Richtung des Uhrzeigers, Frauen
RI der entgegengesetzten Richtung. Ferner sind alle weiblichen
K eidungsstücke, vom Hemde bis zum Mantel, von rechts nac
enks zu knöpfen, die männlichen von links nach rechts. VE
ES Frau einen Männerrock angezogen hat, so knöpft sie a
kaken Hand zu, mittelst einer zentripetalen Bewegung 4 an
den hinzusetzen, dass, abgesehen von Entwicklungsten enzen
De den Mann charakterisierende Angriffshaltung zentrifugal, di,
“Narakteristische weibliche Abwehrhaltung zentripetal ist, Mage
Vergleiche z. B. die Stellung des Apoll von Belvedere mit de
Mediceischen Venus.
1) Arch. per Pantrop. Ba. VI, p. 173.
1 “9
* DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
kulatur zwischen beiden Geschlechtern, wie er sich bei
zivilisierten Völkern findet, unmöglich allein aus der
angeborenen Veranlagung erklärt werden kann. Aber
die Bedeutung des letztgenannten Faktors erhellt aus
der oben angedeuteten Analogie zwischen Wachstum
und Bewegungsfrequenz.
GuBERT fand an amerikanischen Schulkindern, dass
die Kraft des Handgelenks bei Mädchen ziemlich regel-
mässig zunahm, dass aber von ı4 Jahren an eine
Differenzierung. nach Geschlechtern zum Vorscheine
kam, indem Knaben von da an die schnellste Zunahme
zeigten, während die Weiterentwicklung der Mädchen
KILOGRAMM 7%
Zugkraft der Hand bei fixiertem Unterarm.
15
IN
RB
Z
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»
gut
VOR
KNABEN
EN NE.
RU SS U TO WR BT 67T 75 19 JAHRE
sich mässig, aber stetig verlangsamte, so dass ein
Jüngling von ıg Jahren gerade doppelt so viel leistet,
wie eine gleichalterige Jungfrau (s, Diagramm).
Es ist von Bedeutung, dass auf .der „Spezialitäten-
hbühne‘“ Beweise von Kraft relativ selten von Frauen
gegeben werden, und dass Frauen darin nichts Ausser-
ordentliches leisten. Eine sehr kompetente Autorität
bemerkt darüber: „Es ist eine Frage, ob es sich lohnt,
Frauen zu Akrobaten zu trainieren, sicher erreichen
sie niemals dieselbe Vollendung wie Männer, Tat-
sächlich werden nur wenige Frauen für diese Leistungen
trainiert und in vielen anscheinenden Ausnahmen ist
die Artistin ein Mann in weiblichem Aufputz, so in der
wohlbekannten Familie FrAntTz, wo eine als Frau ge-
‚nk
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
193
kleidete Person einen Mann auf der Schulter trägt und
ein Mädchen in jedem gerade ausgestreckten Arme.
Vergleicht man die „starke Frau“ z. B. Athleta, die
in ihrer Art ausgezeichnet ist, mit einem starken Manne,
etwa mit Sandow, so sieht man, dass sie absolut nicht
miteinander konkurrieren können“. Akrobaten sind
übrigens gewöhnlich auch die Kinder von Akrobaten
und werden von sehr jungen Jahren an sehr sorgfältig
und gewandt trainiert, so dass Mädchen insoweit eben-
So grosse Chancen auf Erfolg haben wie Männer. Die
allgemeine männliche Neigung zu kräftiger. Muskel-
aktion und die grössere Tendenz des Weibes zu ruhiger
Haltung und Kraftansammlung ist so formuliert worden:
beim Manne überwiegt der Stoffumsatz (Katabolie),
beim Weibe die Assimilation (Anabolie). Diese vielleicht
etwas zu sehr generalisierende Behauptung konstatiert,
erklärt aber nicht, die Überlegenheit des Mannes auf
dem Gebiete der Bewegung, die auch in der Tierwelt
Vorherrscht, und diese Überlegenheit ist höchst wahr-
Scheinlich eine tief im Wesen der Sexualität wurzelnde
Tatsache; sie steht in Beziehung zu den fundamentalsten
Eigenschaften beider Geschlechter und zu ihrer ganzen
Seelischen Veranlagung. Es ist kein blosser Zufall,
dass man in Pompeji und Herculanum (wie kürzlich
in Messina) unter den Verschütteten die Männer in der
Haltung heftigen, kraftvollen Widerstandes, die Frauen
In der einer verzweifelten Resignation, ihre Kinder an
Sich drückend, gefunden hat,
Über die Geschlechtsunterschiede der Stärke ver-
Schiedener Muskelgruppen gibt eine Untersuchung, die
KeLL0GG mit einem eigens dafür hergestellten Dynamo-
Meter angestellt hat, Auskunft; sie erstreckte sich auf
Je 200 Individuen beider Geschlechter. Er zeigte, dass
die Brustmuskeln bei Frauen merklich schwächer sind,
Was auch der geringen Inspirationskraft bei Frauen
entspricht; auch die Rückenmuskeln sind beim Weibe
Sehr schwach, worauf auch die häufigen Klagen der
Frauen über Rückenschmerzen deuten; relativ am
Schwächsten von allen Muskelgruppen sind die Beuger
Ellis, Mann u. Weib. 2 Aufl. 13
194
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
des Ellbogengelenks und die Pronatoren und Supina-
toren des Unterarms. Der Sitz der grössten Muskel-
kraft sind beim weiblichen Geschlechte die Beine, be-
sonders die Oberschenkel; die Abduktoren und Adduk-
toren des Oberschenkels sind im Durchschnitt beim
Weibe die stärksten Muskeln. Das stimmt mit der
weiter oben erwähnten Tatsache überein, dass der Um-
fang des Oberschenkels beim Weibe die einzige Dimen-
sion am Körper ist, worin es den Mann sowohl absolut
wie relativ übertrifft und weist darauf hin, dass die
massigeren Oberschenkel beim Weibe nicht nur auf
grössere Anhäufung von Fettgewebe in dieser Gegend
zurückzuführen sind }).
Die ausgeprägte Schwäche der Rückenmuskeln
beim Weibe, die auf Mangel an körperlicher Bewegung
zurückzuführen ist, führt nicht nur zu den bekannten
Rückenschmerzen, sondern auch zu der bei Mädchen
relativ so sehr häufigen seitlichen Verkrümmung der
Wirbelsäule, der sogenannten Skoliose. So fanden
Braprord und Loverr unter 2300 Fällen 84,5 %o bei
Mädchen, ı5;5°%o bei Knaben und B. RortH unter 1000
Fällen 87,8 % bei Mädchen ?). Die meisten Fälle dieser
Anomalie kommen zwischen dem ıo. und ı5. Lebens-
jahre vor, und zweifellos ist die mangelhafte Leistungs-
fähigkeit der Rückenmuskeln gerade im Alter der stärk-
sten Entwicklung, infolge der mangelhaften physischen
Erziehung der Mädchen, eine Tatsache von sehr grosser
Bedeutung 3).
Ich habe schon in der Einleitung darauf hinge-
wiesen, dass bei Naturvölkern in verschiedenen Erd-
teilen die Frauen oft fast oder ebenso stark zu sein
scheinen wie die Männer, manchmal sogar stärker.
) J. H. KeLLOGG, The value of strength tests (Amer. Assoc.
f, the advancement of phys. education, 1895).
2) Brit. med. journ., 9. Oct, 1907.
3) S. CHARCOT, Revision nosographique des atrophies mus-
culaires, Progr. med. 1885; Londe und Meige, Iconogr. de la
Salpetr., 1894, pl. XX.
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
195
Das ist zwar manchmal sicher der Fall, man könnte
leicht weitere NAchweise dafür zusammenbringen, aber
diese Tatsachen Bedürfen einer weiteren Analyse, ehe
ihre Bedeutung deutlich hervortritt. Ich stimme ganz
mit WALDEYER überein, wenn dieser ausführt, dass die
anscheinend grössere Stärke der Weiber, zZ. B. bei
manchen Negervölkern, einfach auf die sexuelle Arbeits-
teilung zurückzuführen ist, kraft welcher die Weiber
als Lastenträger tätig sind. Er bemerkt mit Recht,
dass ein Mann durch Tragen eines Säuglings eher
müde zu werden pflegt, als ein Kindermädchen („Vier
die somatischen Unterschiede der beiden Geschlechter“,
Korr.-B. d. Deutsch. anthropol. Gesellschaft, 1895, Nr. 9).
So ist es zu erklären, dass nach der Schlacht bei Adowa
die Weiber der schwarzen Soldaten imstande waren,
ihre Männer, denen die Abyssinier nach ihrer Gewohn-
heit den linken Fuss abgehackt hatten, auf ihren Rücken
Mehrere englische Meilen weit fortzutragen (FıAscHI,
„A report on the mutilated and evirated at the battle of
Adowa‘‘, Brit. med. journ., 29. August 1896).
_ Die starke Muskelentwicklung der Weiber bei
Vielen Naturvölkern ist also zweifellos die Folge eines
besonderen Trainierens und meist auf die Leistung
des Lastentragens beschränkt. Es zeigt sich darin aber
auch, was sich erreichen lässt, wenn die Muskeln mehr
geübt werden, als es bei Kulturvölkern der Fall ist.
Dasselbe lässt sich aber auch in Europa erreichen, wie
das Beispiel der Zechenarbeiterinnen in Lancaster zeigt.
„Ihre Arbeit — so berichtet eine Beobachterin aus
dieser Gegend — besteht darin, Kohlen zu schleppen
und sie auf Handwagen vom Stollen nach dem Kohlen-
Vorratshaufen zu fahren. Andere stehen unter einem
Maschinell betriebenen grossen Siebe und nehmen die
Steine und andere wertlose Bestandteile aus der Kohle
heraus, während diese auf einem endlosen Bande fort-
geführt und in einen untenstehenden Eisenbahnwagen
geworfen werden. . Andere halten die Röhre frei, welche
die Kohle auf ihrem Wege zu einem Kanalboote
passiert. Ein in einem Grubendorfe in Lancashire
19%
195
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
tätiger Arzt hält die Zechenarbeiterinnen für viel ge-
sunder und zäher als die Baumwollespinnerinnen der-
selben Gegend. Ein andrer in diesem Bezirke woh-
nender Herr erwähnte die schöne körperliche Entwick-
lung dieser Frauen und die prächtigen Kinder, die sie
zur Welt bringen“.
Ein amerikanischer Beobachter sagt von den Zechen-
arbeiterinnen im Bezirk von Wigan: „Man findet keine
runderen Gesichter, hübscheren Formen, volleren Nacken
oder niedlicheren Füsse, trotz ihrer Holzschuhe, im
träumerischen Andalusien. In der Dorfstrasse oder
Sonntags in der Kirche unterscheidet sich die Schlepperin
durch ihren hübschen Teint, ihre Gestalt und ihre graziöse
Haltung von allen anderen Arbeiterinnen.“ Es ist sehr
zu bedauern, dass die Eifersucht der Arbeiter und die
Vorurteile von der Unweiblichkeit wohl entwickelter
Muskeln in England kräftige Frauen von der gesun-
den Arbeit im Freien zu der ungesunden Arbeit in
geschlossenen Räumen treiben. Der bekannte ameri-
kanische Frauenarzt G. J. ENGELMANN findet, dass die
Gesundheit der Mädchen auf den höheren Schulen und
Universitäten in Amerika sich parallel der grösseren
Neigung zu Sport und körperlicher Übung gebessert
hat. Er schreibt: „Diese Richtung wird viel dazu bei-
tragen, die Anfälligkeit der Mädchen während der
Menstruationswelle zu beseitigen, wie wir es bei den
Akrobatinnen sehen, die, von Kindheit ab im Trai-
ning, ihre eine grosse Muskelnervenkraft erfordernden
Übungen. auch in der Menstrual-Periode fortsetzen‘.
(The American girl of to-day, Transact. of the Amer.
Gynaecol. Soc. 1900.)
Die geringere Entwicklungskraft der weiblichen Mus-
kulatur entspricht aber auch der geringeren Körper-
grösse und verschiedenen grundlegenden, organisch
bedingten Eigenheiten der weiblichen Natur. Es ist
sehr zu wünschen, dass die Mädchen sich um ihre
Muskelentwicklung und ihre körperliche Trainierung
kümmern, aber es ist nicht zu wünschen, dass sie das
tun aus dem ehrgeizigen Bestreben, mit dem Manne
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
197
zu rivalisieren, denn da Männer einmal. einen natür-
lichen Vorsprung in dieser Beziehung besitzen, muss eine
ausserordentliche, zu Zwecken des Wettbewerbs den
Mädchen auferlegte Anstrengung ernste Opfer und
Verluste in anderer Hinsicht herbeiführen, Für das
Weib ist die nicht willkürlich innervierte Muskulatur
(z. B. die der Blase, der Scheide und der Gebärmutter)
von besonderer Bedeutung, besonders in Beziehung
auf die Mutterschaft, die Entwicklung der willkürlichen
Muskulatur scheint keinen besonders wohltätigen Ein-
fluss auf die unwillkürliche Muskulatur zu haben. Ich
habe beobachtet, dass Frauen mit athletisch entwickel-
ter Muskulatur bei der Entbindung manchmal merk-
liche Uterus- und Blasenschwäche zeigen, während sehr
zarte Frauen oft die Leistungen des Geburtsaktes vor-
trefflich prästieren, trotz recht schwach entwickelter
äusserer Muskulatur. Soviel ich weiss, stimmt diese
Beobachtung mit den Erfahrungen der Spezialisten
überein. So schreibt EnGeLmann, der ja lebhaft für die
physische Trainierung der Frauen eintritt, doch privatim
an mich: „Bezüglich dieser interessanten und weit-
reichenden Frage scheint es eine Tatsache zu sein,
dass Frauen, die beständig alle ihre Muskeln üben,
schwer gebären. Anscheinend ist eine übertriebene
Entwicklung der willkürlichen Muskulatur für die
Mutterschaft ungünstig. Ich höre sowohl in England
wie in Amerika von Gymnastik-Lehrerinnen, dass ihre
Kolleginnen äusserst lange und schmerzhafte Wochen-
betten durchzumachen haben. Ich höre ähnliches auch
aus Zirkus-Kreisen, vielleicht sind das aber Ausnahmen.
Das ist vielleicht die Folge der Muskelanstrengung
beim Weibe, die ja durch Entwicklung der Muskel-
masse, der knöchernen Muskelsätze und des Skeletts
überhaupt zu einer Annäherung an den männlichen
Typus führen muss.“ Es ist richtig, dass Bauernfrauen
und Fabrikarbeiterinnen in dieser Richtung nicht be-
sonders leiden, aber in diesen Fällen vollzieht sich
die Muskelentwicklung in der Regel allmählich und
auf vielen Organgebieten und kann deshalb nicht so
DE
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
leicht zu Störungen des nervösen Gleichgewichts im
Körper führen.
Die körperliche Entwicklung der Mädchen sollte
deshalb nicht in derselben Richtung gefördert werden,
wie die jungen Männer, und LAGRANGE, Mosso u. a.
stehen auf gesundem Boden, wenn sie betonen, dass sie
nicht mit den Methoden der Athletik betrieben werden
sollte. . Die Punkte der grössten Schwäche sind beim
modernen Weibe, wie wir gesehen haben, die Atmungs-
und die Armmuskeln, ferner die Rückenmuskeln
nebst den sie ergänzenden Bauchmuskeln. Bewe-
gungen, . wie sie bei gewissen langsamen spanischen
Tänzen vorkommen, sind ausgezeichnet zur Korrektur
dieser Defekte geeignet und Schwimmen ist, wie MARRO
ausführt, dafür noch wertvoller *).
Mosso hat in einem Vortrage kürzlich darauf hin-
gewiesen, dass diese eben erörterten Defekte beim Weibe
ganz modernen Ursprungs und keineswegs der weib-
lichen Organisation inhaerent sind. Er zeigt, dass als
Modelle der Venus von Milo und der knidischen Aphro-
dite Mädchen gedient haben müssen, die durch Gym-
nastik und Spiele trainiert waren. Die Gestaltung der
Achselhöhle der Venus von Milo zeigt einen hohen
Grad der Entwicklung der Brustmuskulatur und am
deutlichsten ist die prächtige Modellierung der Bauch-
muskeln: „Die musculi recti sind deutlich sichtbar; der
obere Teil des Bauchs bis zum Nabel herab ist durch
eine Linie in der Mitte und eine auf der Seite geteilt;
auf einer Seite markieren zwei Furchen ‘den äusseren
Rand der musculi recti. Ich kenne keine moderne Sta-
tue, an der die gute Entwicklung der Bauchmuskeln so
gut ausgeprägt. ist“. Es gibt keine Muskelgruppe,
deren Entwicklung für das erwachsene Weib so
wünschenswert ist, wie die Bauchmuskeln.
1) Es sei hier auch auf die ausgezeichnete Darstellung und
hotographische Illustration der Haltung und Bewegung des weib-
lichen Körpers in dem bekannten Werke von STrRATz (Schönheit
des weiblichen Körpers) verwiesen.
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN. 199
Gusert hat die Geschlechtsunterschiede der will-
kürlichen Muskelleistung an einem eigenen Reaktions-
tableau geprüft, an dem die Versuchsperson einen
Druckknopf innerhalb von 5 Sekunden So oft wie mög-
lich zu drücken hatte; er fand bei der Untersuchung
von über 1000 Schulkindern zwischen 6 und 17 Jahren,
dass die Geschwindigkeit bis zum 1ı2, Jahre zunahm,
dass sie im 13. Jahre etwas abnahm und dann bis zum
Maximum im 17. Jahre wieder anstieg. Knaben zeig-
ten durchgehends eine höhere Frequenz von Schlägen
als Mädchen.
Beide Geschlechter zeigen im ı2. Jahre einen Ab-
fall, während Knaben aber im 13. Jahre eine Zunahme
der Frequenz zeigen, zeigen Mädchen einen weiteren
Abfall im 14. Jahre, wo. die Geschlechtsdifferenz am
grössten ist, und dann einen weiteren Abfall im 16.
Jahre, wo die Knaben eine ständige Zunahme zeigen.
Die Tendenz der Mädchen zu Minderleistungen in
diesen Jahren hängt, "wie auch GILBERT annimmt, zwWei-
fellos mit der Pubertät zusammen, und die körperliche
Entwicklung verzögert die nervöse Entwicklung auch
in anderen Beziehungen.
In einer anderen Versuchsreihe wurde die Schlag-
folge über 45 Sekunden ausgedehnt, um den Einfluss
der Ermüdung festzustellen; sie zeigte sich mit
15 Jahren am wenigsten ausgeprägt, Mädchen ermüde-
ten mit ı3 schneller als mit 12, während bei Knaben
dasselbe für ı3 und 24 Jahre gilt. Knaben ermüden
schneller als Mädchen. GiLBERT macht dazu folgen-
de wichtige Bemerkung: „Knaben ermüden durch-
gehends schneller bei willkürlicher Bewegung als Mäd-
Chen. Aber ich kann nach meinen Untersuchungen
nicht feststellen, dass sie auch leichter ermüden, denn
die Frequenz der Schläge war bei ihnen grösser als
bei den. Mädchen. Man darf nicht sagen, dass Knaben
leichter ermüden, denn bei Zusammenfassung der Er-
gebnisse für jedes Geschlecht im ganzen fand es sich,
1) Zowa studies in psychology, I, pP. 27.
200
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
dass die Mädchen im ganzen langsamer klopfen, als
die Knaben, so dass diese günstiger dastehen. Die
Durchschnittsfrequenz für Knaben aller Jahresstufen ist
20,4mal in 5 Sekunden, die der Mädchen 26,9 mal, also
8,5% langsamer als die Knaben. Im Durchschnitt ver-
lieren Knaben aller Jahrgänge 18,1 %0 durch Ermüdung,
Mädchen im Durchschnitt 16%o. In anderen Worten,
»f
A,
»q
22,
561
iP
, oo W132 3 4 PS 26 ir
— Knaben u,Mädchen zusammen
--Knaben allein
—.— «Mädchen allein
Durchschnittszahl der in 5 Sekunden ausgeführten Klopf:
bewegungen (nach GIiLBERT).
die Knaben verlieren durch Ermüdung ı,5%o mehr als
die Mädchen, und doch klopfen.sie um 8,5°%o schneller
als jene“,
Es ergibt sich also ein Vorrang der Knaben vor
den Mädchen, wenn willkürliche Leistungsfähigkeit und
Ermüdbarkeit zusammengefasst werden. Hier macht
sich also die mehr kontinuierliche Artung ‚der weib-
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
201
lichen und die mehr intermittierende der männlichen
Aktivität geltend, auf die ich schon zu Anfang des
ersten Kapitels hingedeutet habe. Wenn Frauen auf
dem ihnen eigenen Kraftniveau arbeiten, SO ermüden
sie weniger schnell, als Männer, die auf ihrem Energie-
niveau arbeiten; wenn aber Frauen versuchen, auf dem
männlichen Energieniveau zu arbeiten, So ermüden sie
viel schneller als Männer *). nn
Im praktischen Leben kann man die Geschlechts-
unterschiede in der. motorischen Leistung, die bei Klopf-
bewegungen. in Frage kommt, auf den Telegraphen-
ämtern beobachten. Ich bin Herrn C. G. GARLAND für
die folgenden Beobachtungen verpflichtet: „Beim Tele-
graphieren verwendet man ein System von langen und
kurzen Stromstössen, die durch einen Elektromagneten
eine gegen eine Feder wirkende Armatur in Bewegung
setzen. Wenn der. Taster heruntergedrückt wird,
schlagen seine beiden Kontakte aufeinander, schliessen
den Strom, und dann arbeitet die am anderen Ende der
Leitung befindliche Armatur in entsprechender Weise.
Die Handbewegungen an diesem Taster erfordern ziem-
liche Geschicklichkeit und Genauigkeit, besonders wenn
hohe Geschwindigkeiten bis zu 30 und mehr Worten
erreicht werden sollen. Eine in London 1893 gemachte
Berechnung zeigt, dass selbst bei der mässigen Ge-
schwindigkeit von 20 Worten in der Minute 300 Sig-
nale gesandt werden. Die Signale haben verschiedene
_ 1) Viele andere, meist in Amerika gewonnene Versuchs-
reihen, haben dasselbe Ergebnis, wie die oben im Text referierten.
So fand CHRISTOPHER bei ergographischen Versuchen an Schul-
kindern in Chicago durchaus eine Überlegenheit der Knaben über
die Mädchen; diese erreichten mit 14 Jahren ein Maximum, das
bis zum 20. Jahre konstant blieb; die Jünglinge erfuhren eine
ständige Zunahme und dann war ihre Leistung doppelt so gross,
wie bei den Mädchen. Mary Harmon fand im Kindergarten,
dass die Extensions- und Flexionsbewegungen bei Mädchen er-
heblich langsamer vor sich gehen, als bei Knaben. LEwıs fand
bezüglich derselben Armbewegungen, dass amerikanische Männer
darin amerikanischen Frauen entschieden überlegen waren, und
dass Indianer mit ihrer Leistung in der Mitte standen. “”
mi
> A€ =
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
Länge, und zwischen den Lettern und Worten müssen
Abstände von verschiedener Länge eingeschaltet werden,
Ich kann auf Grund einer dreizehnjährigen Erfahrung
sagen, dass die Frauen etwas langsamere Aufgeber
sind als die Männer. Diese können eine Zeit lang
selbst mit der Geschwindigkeit von 45 Worten aufgeben,
was. 600 Signale pro Minute nötig macht. Die Signale
der männlichen Beamten sind schärfer abgegrenzt, der
Unterschied zwischen Punkten und Strichen wird regel-
mässiger und besser gemacht. Die Signale der Frauen
neigen etwas zum „Schleppen“, wie wir es nennen. Die
einzelnen Signale verschwimmen ineinander, Die ganze
Aufgabe ist häufiger falsch, wenn es auch ausge-
zeichnete weibliche und mittelmässige männliche Tele-
graphisten gibt. Ich spreche hier vom Durchschnitte,
Die Art, den Morsetaster zu fassen, ist ein anderer
Punkt. Die normale Art, die die besten Resultate
gibt, besteht darin, dass der Taster leicht zwischen die
Spitzen des Zeigefingers, des Mittelfingers und des
Daumens genommen wird. So machen es die Männer
meistens, Die Telegraphistinnen haben dagegen eine
Neigung, auf dem Taster zu „tanzen“, d. h, sie wechseln
die Art der Berührung oft, klopfen abwechselnd mit
der Spitze und dem mittleren Gelenke des Zeige- und
Mittelfingers auf den Taster, und nehmen ihn dann
wieder zwischen mehrere Finger. Die Hand wird
manchmal mit einer Art Schwung vom Taster ge-
nommen und das macht dann einen gewissen Effekt
auf den Beobachter, Frauen ändern manchmal bei der
Aufgabe eines Wortes die Stellung der Hand auf dem
Taster zwei- oder dreimal. Die Regel scheint zu sein,
dass sie Punkte mit der Fingerspitze und Striche mit
einem mittleren Fingergliede bilden. Ein erfahrener Emp-
fänger kann oft aus den empfangenen Zeichen erraten,
ob sie von einem männlichen oder weiblichen Sender
ausgehen. Telegraphistinnen ermüden auch leichter
beim Senden, werden schnell ungeduldig und bringen
es schwerer fertig, gleichzeitig sich zu unterhalten und
zu telegraphieren, Schliesslich kann ich sagen, dass
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN. 203
Stationen, die nur weibliche Beamte haben, notorisch
ungeduldiger sind, dass sie aufgeregt und bei jedem
Versehen unduldsam werden.“ Zur Bestätigung von
GARLANDS Behauptung, dass Empfänger fast stets sagen
können, ob der Sender weiblichen oder männlichen Ge-
schlechts ist, erwähne ich, dass mir eine erfahrene Tele-
graphistin gesagt hat, sie würde oft durch den Draht
„Alter“ angeredet, von Beamten, die nicht glauben
wollen. dass sie ein Mädchen ist.
Geschlechtsunterschiede machen sich auch in der
Handschrift geltend, wenn dieser Unterschied sich auch
nicht leicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit unter-
suchen lässt. Neuerdings. hat man versucht, die Hand-
schrift exakt mittels eines‘ besonderen Kurvenausmessers
zu untersuchen, andere Präzisionsapparate haben GROoss
und DıeaL im Laboratorium der Heidelberger psychiatri-
schen Klinik angewendet. Letzterer findet, dass Frauen
schneller schreiben als Männer; ihre Schrift ist auch
grösser, und sie verwenden beim Schreiben nur halb
so starken Druck wie Männer. Sie können aber die
Schreibgeschwindigkeit nicht in derselben Ausdehnung
wie Männer steigern, und soweit sie schneller schreiben,
erreichen sie das durch Verkleinerung der Schriftzüge,
während Männer diesen Effekt durch grössere Willens-
anstrengung erreichen!). („Es hat demnach den An-
schein, als ob die Männer auf die Erschwerung der
Aufgabe wesentlich mit einer Erhöhung der Willens-
anstrengung antworten, während die Frauen im Gegen-
teil sich die Aufgabe durch Verkleinerung des Schreib-
weges zu erleichtern suchen‘‘. DıiEHL.)
Ein sehr namhafter Beobachter, Carı VoeT, macht
interessante Mitteilungen über die an weiblichen Studen-
ten auf Schweizer Universitäten gemachten Erfahrungen,
die eine geringere manuelle Geschicklichkeit derselben
ergeben: neben Lebhaftigkeit und ausgezeichnetem Ge-
ı) A. Dıru., Über die Eigenschaften der Schrift bei Gesunden.
Psychologische Arbeiten, Bd. 3, S. 57, 1899.
204
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
dächtnis sei alles was geleistet wird, auswendig gelernt:
„Etwas, was Laboratoriumsarbeit für Frauen besonders
schwierig macht, ist — man sollte es kaum glauben — dass
sie häufig ungeschickt und unbeholfen mit ihren Händen
sind. Die Assistenten der Laboratorien klagen einstimmig
darüber, dass die Studentinnen sie nach den allerkleinsten
Nebensachen fragen und dass eine Studentin mehr
Mühe und Störung verursacht, als drei Studenten. Man
könnte zu glauben versucht sein, dass die zarten Finger
junger Mädchen ganz besonders zum Mikroskopieren,
zum Handhaben von dünnen Glasplättchen und zur
Anfertigung feiner Schnitte passten, — Handfertigkeiten,
die der Mikroskopiker ständig ausübt — aber in der Tat
stellt sich gerade das Gegenteil heraus. Man erkennt
auf einen Blick den Arbeitsplatz einer Studentin an den
Glasfragmenten, zerbrochenen Instrumenten, schartigen
Messern, an Flecken von Farbstoffen und Chemikalien
und verdorbenen Präparaten. Sicher gibt es Aus-
nahmen, aber es sind eben Ausnahmen‘!).“ Diese: Be-
obachtungen sind recht interessant und ich habe mir
deshalb durch Vermittelung von Freunden Ausserungen
mehrerer erfahrener und wohlbekannter Dozenten über
den Grad manueller Geschicklichkeit bei Studierenden
beiderlei Geschlechtes verschafft. Die eingegangenen
Antworten erstrecken sich auf mehr als bloss manuelle
Geschicklichkeit, verdienen aber ein Zitat. So schreibt
Pror. M’KEnDdrıcK in Glasgow; „Nach meiner Erfahrung
sind Frauen im Durchschnitt ungefähr ebenso reinlich,
genau und flink bei ihren Manipulationen, wie Männer.
Mit „genau“ bezeichne ich, dass sie genügende und
gut koordinierte Muskelkraft der Finger, Hände und
Arme besitzen. Leichte und zugleich sichere Bewegungen
erfordern immer einen gut geordneten Mechanismus
der Muskulatur. Nach meiner Meinung besteht bezüg-
lich der Fähigkeit zur Ausführung komplizierter Hand-
griffe kein durchgehender Unterschied zwischen den
Geschlechtern. Bei beiden Geschlechtern besteht ein
ı) C. Vocrt, Revue d’Anthropolozie, 1888.
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN. 205
gewisser Prozentsatz von Individuen mit plumpen und
ungeschickten Fingern, aber nach meiner Erfahrung
ist derselbe bei Frauen nicht grösser. Manche Männer
besitzen eine delikate Manier, verbunden mit grosser
Ausdauer bei schwierigen Manipulationen, und manche
Frauen zeigen dieselben Vorzüge, Gleichzeitig kann
ich nicht behaupten, dass Frauen für feine manuelle
Tätigkeit besser beanlagt sind als Männer. Nachdem
ich zwanzig Jahre lang Studentinnen unterrichtet habe,
möchte ich meine Beobachtungen dahin zusammen-
fassen, dass viele Frauen dasselbe leisten, wie die Männer
im allgemeinen, und dass viele Männer nicht mehr
leisten, als der weibliche Durchschnitt,“
Dr. Haıısurton, Professor am Londoner King’s
College, schreibt: „Meine Antwort wäre wertvoller,
wenn sie sich auf eine Statistik stützte; da ich eine solche
nun nicht geführt habe, kann ich nur einen allgemeinen
Eindruck wiedergeben. Zum Teil beantwortet sich Ihre
Frage durch einen Blick auf die Erfolge weiblicher Stu-
denten beim naturwissenschaftlichen Examen; diese Er-
folge sprechen von einer bestimmten Art von Fähigkeit,
sind aber in meinen Augen nur in Verbindung mit
anderen Dingen von höherem Werte. Ich würde aber
für die Beantwortung Ihrer Frage eher Wert legen auf
die allgemeinen Leistungen der Studierenden, wie man
sie in praktischen Kursen sieht. Dann möchte ich im
ganzen sagen, dass Studentinnen durchschnittlich besser
sind als Studenten. Das mag zum Teil daher kommen,
dass ein Mädchen, welches Naturwissenschaften studiert,
es auf Grund besonderer Neigung und ernsten wissen-
schaftlichen Interesses tut, während unter den Studenten
sehr viele gar kein Interesse für ihre Arbeit haben und,
an sich stumpf und träge, nur deshalb studieren, weil
Eltern oder Vormünder es wollen; jedoch sind die besten
Studentinnen nicht so tüchtig wie die besten Studenten.
Sie fassen ihre Arbeit anders an, sind mehr Buch-
menschen und weniger praktisch, geben sich jedoch die
grenzenloseste Mühe, wie man es beim Studenten selten,
wenn überhaupt je, sieht. Bei beiden Geschlechtern
206
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN,
findet man häufig, dass gute Auffassung, Intelligenz,
Fleiss und ausgedehnte theoretische Kenntnisse mit
einer Unfähigkeit, praktische Arbeit zu tun, verbunden
sind; doch ist das bei keinem Geschlecht die Regel.
Jedoch trifft man immer wieder Leute, die ihre Finger
nicht zu brauchen wissen, so fleissig und begabt sie
auch in anderer Richtung sein mögen, und daneben
habe ich den Eindruck, als fände sich das beiStudentinnen
häufiger als bei Studenten.“
Dr. V. Jennines, der mehrere Jahre hindurch am
Birkbeck-Institute männliche und weibliche Zuhörer in
Biologie unterrichtet hat, schreibt: „Ich glaube, dass
Männer im ganzen manuell gewandter sind als Frauen,
In einer aus beiden Geschlechtern gleich gemischten
Zuhörerschaft würde ich erwarten, mehr Studenten als
Studentinnen zu finden, die von vornherein mit Geschick
sezieren und kleine Apparate handhaben, Dabei werden
die Männer, welche für derartige Arbeiten nicht be-
fähigt sind, wahrscheinlich untauglicher sein als der
weibliche Durchschnitt, wahrscheinlich deshalb, weil sie
sich weniger Mühe geben. Es ist schwer zu sagen,
wo eigentlich der Unterschied steckt und es ist un-
möglich zu bestimmen, wie viel die vererbten Gewohn-
heiten mit den geistigen Unterschieden der Geschlechter
zu tuen haben, Irgend welche Unterschiede der Nerven-
organisation scheinen den meisten zugrunde zu liegen.
Ein grosser Teil der anscheinenden Langsamkeit scheint
bedingt zu sein durch einen gewissen Mangel an Ini-
tiative und durch Unentschlossenheit, wenn es sich da-
rum handelt, „den nächsten Schritt zu tun“. Sicher ist
vieles auch durch grössere nervöse Reizbarkeit bedingt;
Bezeichnungen, wie: Nervosität, Ungeduld usw. drücken
das, was ich meine, nicht aus, aber es gibt eine Art
nicht zum Bewusstsein kommender Erschöpfung des
Nervensystems, die oft eine zarte manuelle Arbeit ver-
dirbt, und der stärkere Mann mit seinen weniger labilen
Nerven steht in dieser Beziehung: viel vorteilhafter da
als man allgemein glaubt. Das alles sind jedoch nur
Theorien und meine Meinung ist durchaus nicht fest
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
207
und entschieden, aber ich glaube, im ganzen neigt sie
zugunsten des Mannes,“
Man sieht, die Schreiber dieser beiden Briefe (die
übrigens an eine Dame gerichtet sind), unterstützen in
behutsamer Weise den Ausdruck der Erfahrung CARL
Voers, allerdings ohne eine Spur der bekannten Schroff-
heit dieses Gelehrten. Die Annahme einer allgemeinen
manuellen Ungeschicklichkeit der Studentinnen steht
wie 3 zu ı ; während M’KENDRICK, welcher die Minorität
vertritt, nicht behauptet, dass Frauen weniger unge-
schickt wären als Männer, Dass Frauen in besonders
hohem Grade die „wohlkoordinierte . Muskelkraft“ be-
sitzen, welche Prof. M’KEnprRıcK bei geschickten Mani-
pulationen für erforderlich hält, dafür sprechen, SO viel
ich weiss, keinerlei Erfahrungsbeweise, während, wie
wir später sehen werden, die von JENNINGS erwähnte,
nervöse Irritabilität ein wichtiger Faktor der Tätigkeit
des Weibes ist. N
Es ist, wie ich an einem anderen Orte angedeutet
habe, nicht leicht, die Geschicklichkeit männlicher und
weiblicher Arbeiter zu vergleichen, weil bei ihnen nur
selten dieselbe Arbeit unter denselben Bedingungen aus-
geführt wird !). Die Zigarren- und Zigarettenfabrikation
liefern ein geeignetes Feld für derartige Vergleiche; in
_ 1) In Deutschland hat die Berufszählung gezeigt, dass 1882
die Frauen !/s der Lohnarbeiterschaft stellten, 1895 schon die
Hälfte. In diesem Zeitraume nahm die Zahl der Arbeiterinnen
um 360000 zu, die der Arbeiter nur um 195000. Es gab 1895
bei uns überhaupt 2'/s Millionen gewerbstätige weibliche Personen.
Während — von Dienstboten und Landarbeiterinnen abge-
sehen — die Arbeiterinnen sich auf 199 Berufe verteilten, können
nur 21 davon als spezifische Frauenberufe gelten, und zwar liegen
diese auf dem Gebiete der Textil-Industrie, der Spielwaren, der
Bekleidungs- und Reinigungs-Gewerbe. In der Hausindustrie fallen
auf das weibliche Geschlecht 45,14 %o.
Auffallend bleibt die relative Superiorität der englischen
Frauenerwerbs-Frequenz über die unsrige; Sie rührt jedoch, vom
Bergbau (in kleinem Umfange) abgesehen, von der sehr grossen
Zahl weiblicher Dienstboten in in land‘ und Wales her. Die
Frauenlöhne betragen bei uns regelmässig nur !/2 bis ?%s der
Männerlöhne. — K.
292
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
den wichtigeren Branchen dieser Industrie ist Reinlich-
keit und sehr beträchtliche Handfertigkeit notwendig,
zugleich ein schneller und scharfer Blick. (Ganz be-
sonders auffallend ist in Deutschland die starke Ver-
mehrung der Arbeiterinnen in der Zigarren-Fabri-
kation. Es waren:
männlich weiblich
1882 62 933 47 535
1895 74 448 78 632
i. J.
Das trat besonders in Baden und Hessen hervor,
während zugleich die Hausindustrie auf diesem Gebiete
in diesem Zeitraume ganz phänomenal, um 84,15 %%o zu-
nahm, zumeist infolge Vermehrung der Frauen- und
Kinderarbeit. Dabei war im Durchschnitt (ohne die
mithelfenden Kinder) der Jahreslohn pro Kopf: 1892
Mk. 488, 1897 Mk. s51ı5. [Hausındustrie und Heim-
arbeit in Deutschland und Österreich, Teipzig 1899,
Bd. 3, S. 279f.]) Sie erfordert keine bedeutende Muskel-
kraft und kann deshalb Frauen gut verwenden; so
kommen unter den Zigarrenmachern in London-Ost
und in Hackney 800 Männer auf ı 100 Mädchen und
Frauen!). Jedoch werden die Frauen im allgemeinen
dabei zu einfacheren Verrichtungen verwendet, ihre
Leistungen gelten allgemein als minderwertig und sie
erhalten ı5—40°%o weniger Lohn. Dabei ist zu be-
merken, dass die männlichen Zigarrenarbeiter an Ge-
schicklichkeit und Intelligenz etwas über dem gewöhn-
lichen Arbeiter stehen. Eine grosse Zahl von Frauen
und Mädchen arbeiten in Zigarettenfabriken. Diese
Arbeit erfordert, wie man leicht einsieht, lange Übung
und grosse Geschicklichkeit, zumal die Zigarette heute
sehr genau gearbeitet sein muss. Die beste Arbeit
in dieser Branche machen auch heute noch Männer,
1) Diese Zahlen sind _einem interessanten Kapitel in BooTHS
„Labour and Life of the People“, 1889, Bd. I, Kap. 6 entnommen.
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
209
Frauen werden hauptsächlich für die sogenannte Stopf-
arbeit (push-work) verwendet, bei der in die fertige
Hülse der Tabak eingeschoben wird; diese viel ein-
fachere Arbeit produziert nur minderwertige Zigaretten.
Nach Miss CoıLLeT wird auch in der Tabakindustrie in
Leeds Männerarbeit bevorzugt; man meint dort, dass
Männer eine leichtere Hand haben und gleichmässigere
Arbeit liefern 9). .
In der Baumwollweberei, jedoch nicht in der Baum-
wollspinnerei, werden in England und Frankreich beide
Geschlechter gleich verwendet, und schon seit 1824
haben Arbeiter und Arbeiterinnen gleiche Löhne*®).
Schliesslich gibt es wenigstens eine Beschäftigung,
welche in erster Linie Handfertigkeit verlangt und in
welcherFrauen als entschieden brauchbarer gelten. Frauen
nähen das Sergefutter an Sätteln eben so gut und um
40°%o schneller als Männer; sie bekommen denselben
Stücklohn und verdienen wöchentlich 35 sh. gegen 25 sh
Wochenlohn der Männer. Für diese Beschäftigung sind
Frauen besser trainiert als Männer ®).
Nach einer weitverbreiteten Annahme sollen Frauen
subtiler arbeitende und geschicktere Finger haben,
Nimmt man die Nadelarbeit aus, in der die Frauen in
der Regel die Geschicklichkeit besitzen müssen, welche
die Übung mit sich bringt, so darf man annehmen,
dass die manuelle Geschicklichkeit des Weibes etwas
1) CiAra E. CoLLert, Woman’s work in Leeds. (Econ. Journ.
Sept. 1891.)
| 2) Die Textil-Hausindustrie (mit 90000 Arbeiterinnen i. J. 1895)
ist in Deutschland das alte weibliche Gebiet des SpinnenS,
Klöppelns, Strickens, wo die Frau als selbständige Arbei-
terin dominiert, während sie in der viel ausgedehnteren Weber EL
auf, dem Manne geleistete, Hilfshandgriffe beschränkt ist (*/s der
Webereiarbeiter sind weiblichen Geschlechts), Den 25 000 Be-
kleidungsarbeiterinnen Berlins (1895) stehen ca. 1230 Tabak-
industrie-Arbeiterinnen gegenüber.
- 8) Für diese und andere Beispiele siehe: SIDNEY WegBgB,
Alleged differenves in the wages paid to men and to women for
Sımilar work. (Econ. Journ. 16QE p. 635.) — Mrs. WegBB, Women
and the factory Acts, Fabian Tract. 67.
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
1A
21J
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
geringer ist, Diese Minderwertigkeit tritt in gewissen
schwierigen Spezialitäten deutlicher hervor. So können
Weberinnen selten den Aufzug selbst auf den Web-
stuhl bringen. Weibliche Wappengraveure sind merk-
würdigerweise nie imstande gewesen, ihren eigenen
Stichel zuzuspitzen, und haben deshalb dieses Gewerbe
fast ganz aufgegeben, In solchen Fällen handelt es sich
offenbar weniger um mangelnde Handfertigkeit als um
eine gewisse Ratlosigkeit und gering entwickelteInitiative,
Unter der Bezeichnung Unterschieds-Schät-
zung fassen wir verschiedene Erscheinungen zusammen,
welche zwar den einfachen Sinneseindrücken nahestehen,
jedoch durch motorische, reflektorische und intellektuelle
Elemente kompliziert sind!). Die Fähigkeit, Empfindungs-
unterschiede schnell und genau abzuschätzen, hat eine
sehr grosse praktische Bedeutung, jedoch ist es nicht
leicht, zuverlässige Untersuchungen über das Verhalten
dieser Prozesse bei beiden Geschlechtern zu finden oder
zu verarbeiten; auch findet man selten Fälle, in denen
Männer und Frauen unter absolut denselben Bedingungen
absolut dieselbe Arbeit tuen.
Das Wirtschaftsleben, in dem wohl sicher durch na-
türliche Auslese eine den Geschlechtsunterschieden ent-
sprechende Arbeitsteilung zustande gekommen ist, liefert
hier kein ganz eindeutiges Material. In den Salinen
verrichten Weiber oft Arbeit, die früher von Männern ge-
leistet wurde und sie sollen dort sauberer als Männer
gewisse Verrichtungen an Abdampfkästen leisten („tap-
ping the squares“); dabei leisten sie aber ein geringeres
Arbeitsquantum, da zwei Männer das Pensum von drei
Frauen leisten ?). In Amerika hat ein erfahrener Pflanzer
und Exporteur von Pfirsichen gefunden, dass Frauen für
diesen Betrieb gewandtere und schnellere Finger haben,
und dass sie bessere Sortierer und Packer sind, als
Männer 3). ;
1) S. L. WıLLIAM StTERrRx, P ; N :
fassung. Breslau 1898. , Psychologie. der Veränderungsauf:
2) ] „Wens, 1. c. 1891, |
8) Worlds Work, Juli 1902.
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
211
In Amerika gelten Frauen beim Geldzählen als
zuverlässiger und sollen sich selten irren oder eine falsche
Münze passieren lassen. Sie finden eine falsche Bank-
note schon beim Anfassen heraus und sie begehen kaum
einen Fehler, wo ein Bank-Kassierer sich hundertmal
irrt Y.
Es gibt einige wenige hierher gehörige Versuche,
zu messen, in welchem Grade motorische Reaktionen
den sie bedingenden Reizen quantitativ entsprechen,
darunter gehören einige Proben, die während der Zu-
sammenkunft der British-Association in Bath im anthro-
pometrischen Kabinet gemacht wurden. So fand sich,
dass Frauen beim Halbieren einer geraden Linie um
z0%o häufiger gute Resultate gaben, als Männer (45,5% 0
gegen 35,6 °%o bei Männern). Die Teilung einer Linie
in Drittel gelang beiden Geschlechtern fast gleich gut,
während die Männer bei der Abschätzung von Winkeln
(Herausfinden eines rechten Winkels) in 63% 0 der Ver-
suche das Richtige trafen, Frauen in 33,7%.
Bei seinen wiederholt zitierten Untersuchungen an
amerikanischen Schulkindern fand GIiLBERT, dass beide
Geschlechter bei der Beurteilung von Gewichtsunter-
schieden mit den Jahren Fortschritte machen. Mit
6 Jahren sind: die Knaben darin. den Mädchen ent-
schieden überlegen, von 7 bis 13 Jahr halten beide Ge-
schlechter unter leichten Schwankungen mit einander
Schritt; dann zeigt. sich eine entschiedene Überlegen-
heit der Knaben. GiseErtT untersuchte an denselben
Kindern die Genauigkeit, mit welcher Raum durch
adäquate Bewegungsgrössen gemessen wird; die Ver-
suchsperson beurteilte zuerst den Abstand von zweı
Spitzen mit dem Augenmass und hatte dann diese Länge
bei verdeckten Augen zu markieren, Dabei nahm die Ge-
nauigkeit mit den Jahren zu; zwischen 6 und ı0 Jahren
gaben die Mädchen, von da an die Knaben genauere
Resultate. Beim. Längenmass-Abschätzen Waren fast
ı) Wess, 1. ce. — Pall Mall Gazette, 27. September 1886.
14*
19
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
auf allen Jahresstufen die Knaben genauer als die
Mädchen ‘!),
Franz und HovsTton in New York fanden, dass beim
Schätzen von Zeiträumen, Abständen, Proportionen und
quantitativen Beziehungen überhaupt Knaben genauer
sind als Mädchen. (Psychol. Review, Sept. 1896).
JastrRow hat an Studenten und Studentinnen der
Wisconsin-Universität derartige Funktionen innerhalb
des Drucksinnes und des Raumsinnes der Haut unter-
sucht. . Die Versuchsperson hatte zunächst Schrot so-
lange in die Hand zu schütten, bis sie das Gewicht
einer Unze für erreicht hielt; die Männer taxierten im
Durchschnitt 47 Gramm gleich einer Unze, wählten
also ein um 65°o zu hohes Gewicht, die Frauen gaben
ein Durchschnittsgewicht von 22 Gramm, also 21% zu
wenig, als das einer Unze an. Demnächst musste so-
viel. Schrot in eine Schachtel geschüttet werden, bis
diese mit ihrem Inhalte gleich einer Unze geschätzt
wurde; bei diesem Versuche spielte eine wohlbekannte
Illusion eine Rolle, durch welche die Stärke eines Reizes
unterschätzt wird, wenn er auf eine grosse Fläche wirkt;
sowohl Frauen und Männer griffen bei diesem Ver-
suche zu hoch, die Männer jedoch in noch höherem
Grade. Bei der Wiederholung des Experiments mit
anderen Grössen — Schachtel‘+ Schrot sollten zusammen
ein Pfund wiegen, — griffen beide Geschlechter etwas
zu hoch, jedoch war der durchschnittliche Schätzungs-
fehler bei den Frauen sehr klein; in einem anderen
Versuch, in dem ein zweiter Gegenstand auf das doppelte
des Gewichtes eines zuerst geschätzten zu bringen war,
gaben die Frauen etwas bessere Resultate als die
Männer.
Die dem Raumsinn zugewendeten Versuche be-
standen darin, dass die Spitzen eines. Ästhesiometers
auf den Handrücken aufgesetzt und solange von einander
successiv entfernt wurden, bis ihre Distanz gleich einem
1) GiLBERT, Studies from the Yale Psych. Labor., 1894, id.,
Jowa Univers. Studies in Psychology, 1897.
DIE BEWEGUNGSFUNKTIONEN.
213
Zoll geschätzt wurde; sowohl Studentinnen wie Stu-
denten wählten zu grosse Abstände, wobei die Männer
etwas grössere Schätzungsfehler ergaben!). Auch in
der mehrfach zitierten Versuchs-Reihe in Bath gaben
beide Geschlechter fast gleiche Schätzungsfehler bei
einem ein wenig günstigerem Ergebnisse für die Männer;
Jastrows Beobachtungen ergaben ausnahmslos eine
grössere Unterschiedsempfindlichkeit bei Frauen; dabei
ist jedoch zu bemerken, dass Versuche über .den Haut-
sinn der Hand den Mann von vornherein ungünstig
stellen und deshalb für Ermittlung von Geschlechts-
unterschieden nicht sonderlich brauchbar sind. Dagegen
haben sie für die Aufklärung gewisser praktischer Zu-
stände einige Bedeutung, für welche es in Betracht
kommt, dass die Hautempfindungen des Mannes infolge
von Maltraitierung der Haut stumpfer sind, so dass die
Unterschiedsschätzung durch die Hand erschwert ist”).
1) Ve Studies from the University of Wisconsin.
(Amer. Journ. of Psychol. April 1892.)
2 Weitere Auskunft über das beträchtliche Material, das
über diese und die im folgenden Kapitel behandelten Fragen Zzu-
sammengebracht worden ist, findet sich in den verschiedenen ein-
schlägigen Jahresberichten und Sammelschriften, wie Psychological
Review, American Journal of Psychology, Pedagogical Seminar),
Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane,
Annee Psychologique, Archivio di Psichiatria u. a.
VIIL Kapitel.
Die intellektuelle Begabung.
Es gibt kein rein abstraktes Denken. — Die Schwierigkeit der ge-
nauen Untersuchung intellektueller Prozesse. — JASTRows Enquete
über Gedanken -Gewohnheiten und Assoziationen. — Das Ge-
dächtnis. — Die Geschwindigkeit der Auffassung. — Die Reaktions-
zeit. — Frauen lesen schnell. — Der weibliche Mutterwitz. — Die
weibliche Tendenz zur List und ihre Folgen. — Die grössere Früh-
reife der Mädchen. — Das Betragen. — Pubertät und geistige
Aktivität. — Technische und wirtschaftliche Fähigkeit. — Die Er-
fahrungen der Postverwaltung. — Das abstrakte Denken. — Die
grössere Unabhängigkeit des Mannes. — Frauen als Philosophen
und Mathematiker. — Die Religion. — Frauen als Sekten-Stitter. —
Der Beitrag der Frauen zur Gestaltung der katholischen Kirche. —
je Politik.
Unter dieser Bezeichnung‘ sollen verschiedene Ten-
denzen der Betrachtung unterworfen werden, die darauf
ausgehen, im Denken und Handeln rationelle Mo-
mente zur Geltung zu bringen. Freilich sind auch die
abstraktesten geistigen Prozesse nicht ausschliesslich
aus absolut rationellen Elementen gebildet. Das reinste
Licht der Intelligenz enthält eine Unendlichkeit von
farbigen Nüancen. Besässen wir eine genaue Methode,
um das Einmaleins — ein sehr verbreitetes, anscheinend
ganz abstraktes Besitztum — so, wie es im Individuum
von Kindheit auf innerlich fixiert ist. vollständig zu be-
schreiben, so würde es sich merkwürdig bunt gefärbt
zeigen durch Verschmelzung mit Gefühlen und Bildern,
von den blässesten Schattierungen bis zu den farben-
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
215
reichen Visionen des Farbenhörens. Man kann mit
Sicherheit behaupten, dass es nicht zwei Personen gibt,
die ein und dasselbe Einmaleins besitzen.
Der Umstand, dass jede intellektuelle Regung selbst
in ihrer einfachsten Form noch höchst kompliziert ist,
macht die sichere objektive Erkenntnis psychischer
Prozesse zu einem so ausgedehnten und zugleich so
schwierigen Forschungsgebiet.. Die Sache ist um so
mehr erschwert, als wir, um einigermassen zuverlässige
Resultate zu erzielen, mit völlig übereinstimmenden,
möglichst vereinfachten Methoden eine möglichst grosse
Zahl von Individuen untersuchen müssen. Der Blick
in unser eigenes Innenleben erschreckt und lähmt die
psychischen Prozesse in uns, es ist damit, wie PROF.
JastRow ganz richtig bemerkt, wie mit dem Innenleben
von Kindern, die in dem vertrauten Kreise des Familien-
lebens frei und ausgelassen sind, während die Gegenwart
‚ von Fremden sieschüchtern, still und konventionell macht.
Bisher ist eine objektive Erforschung der geistigen Vor-
gänge erst an sehr wenigen Punkten in Angriff genommen
worden, und überdies haben die Forscher, welche sich
mit dieser Frage beschäftigt haben, ganz verschiedene
Methoden angewendet, SO dass unsere Kenntnisse der
Geschlechtsunterschiede im intellektuellen Leben nur
fragmentarisch und lückenhaft sind, wie sich aus diesem
Kapitel zur Genüge ergeben wird. Was oben über das
Studium des Gehirnes gesagt wurde und über die geringe
Fruchtbarkeit desselben für die Kenntnis des Unter-
schiedes zwischen den Geschlechtern, das gilt in noch
höherem Grade für das Studium der intellektuellen
Prozesse.
Um zu einer sicheren, genauen Kenntnis der Ge-
schlechtsverschiedenheiten innerhalb des geistigen Lebens
zu gelangen, können wir uns nicht länger damit be-
gnügen, unsere ungefähren Eindrücke ‚in anregender
Weise wiederzugeben oder glänzende Theorien aufzu-
stellen. Diese haben ja gewiss auch ihr Interesse und
ihre Bedeutung, ‚aber für Untersuchungen, die den
Anspruch erheben, wissenschaftlich genannt zu werden,
216
; DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG
sind sie ohne allen Wert. Nur an der Hand gewissen-
hafter Experimente dürfen wir hoffen, eine höhere,
objektivere Kenntnis der intellektuellen Unterschiede der
Geschlechter zu erlangen. Ich will hier nur zwei Unter-
suchungsreihen von Pror. JAsTRow, einem der ersten
Forscher, der dieses schwierige Gebiet in Angriff ge-
nommen hat, erwähnen‘). Die Versuchspersonen waren
männliche und weibliche Universitätsstudenten, bei denen
zuerst die Gemeinsamkeit der Ideen und Denkgewohn-
heiten, die Natur der gewöhnlicheren Assoziationstypen,
und die ‚Zeitverhältnisse bei allen diesen Prozessen
untersucht wurden, so Studenten (25 männliche und
25 weibliche) wurden aufgefordert, 100 Worte, so schnell
sie: .könnten,. hintereinander aufzuschreiben und die
dazu gebrauchte Zeit zu markieren. Wortreihen in Satz-
form waren nicht zulässig. Von den so erhaltenen
5000: Worten‘ kamen fast 3000 mehrfach vor, ein
Beweis, wie gross die Gemeinsamkeit unserer Ideen
ist. Diese Gemeinsamkeit der Ideen ist bei Frauen
grösser als bei Männern. Während bei den männlichen
Studenten 1375 Worte nur einmal vorkamen, hatten
die weiblichen Studenten nur 1123 solcher‘ nur einmal
vertretenen Worte. Von 1266 nur einmal vorkommen-
den Worten waren 20,8% bei den Männern, 20,8 %0 nur
bei den Frauen zu finden. Bei einer Einteilung aller
vorhandenen Worte in Rubriken findet sich, dass bei
Männern bestimmte. Wortkategorien häufiger sind, als
bei: Frauen, nämlich Bezeichnungen aus dem Tierreich,
Eigennamen, Zeitwörter, andere Redeteile, Gerätschaften
und Werkzeuge, Eigenschaftswörter, Pflanzennamen,
abstrakte Begriffe, meteorologische und astronomische
Benennungen, Beschäftigungen und Berufe, Fuhrwerke,
geographische und landschaftliche Bezeichnungen. ‘ Bei
den Frauen dagegen kamen häufiger vor: Namen für
Kleidungsstücke, Stoffe, Wohnungseinrichtung, Nah-
1) „A Study in Mental Statistics“. (New Review, Dec. 1891.)
A Statistical Study _of Memory and Association“. (Educational
Review, New-York, Dec. 1891.)
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG. 217
rungsmittel, Gebäude und Baumaterial, Bezeichnungen
aus dem Mineralreich, Schreibwaren, Erziehungswesen,
Kunst, Amüsement, Verwandtschaft, Die von beiden
Geschlechtern gleich häufig gebrauchten Worte waren
Namen für Körperteile, Ausdrücke aus dem Handels-
leben und vermischte Worte. Die meisten von den
Männern gebrauchten Worte bezogen sich auf das Tier-
reich (254 zu 178), die meisten von den Frauen ge-
brauchten. auf Kleidung und Kleiderstoffe (224 zu 120).
Es lässt sich hieraus mit einigen Einschränkungen der
Schluss ziehen, dass im weiblichen Geistesleben der
Gedanke an die Kleidung die grösste Rolle spielt.
Indessen dürfen wir nicht vergessen, dass die Frauen
eine schwierigere, kompliziertere Kleidung tragen als die
Männer, und dass sie auch mit der Herstellung derselben
mehr zu tuen haben. In bezug auf die Bezeichnungen
für Nahrungsmittel besteht auch ein grosser Unterschied
zwischen den Geschlechtern, ja derselbe ist grösser als
bei einer anderen Wortklasse ; während bei den Männern
nur 53 Worte dieser Kategorie vorkommen, finden wir
bei den Frauen 179. Ob die Teilnahme, des weiblichen
Geschlechtes an der Zubereitung der Speisen genügt,
um dieses starke Überwiegen zu erklären, wagt ProF.
JAastrRow nicht zu entscheiden. „Im allgemeinen“, sagt
Pror. JastrRow, „zeigen die Resultate dieser Unter-
suchungen beim Weibe ein entschiedenes Interesse für
ihre unmittelbare Umgebung, für das fertige Pro-
dukt, für das Dekorative, Individuelle und Kon-
krete, während sich beim Manne eine Vorliebe
für das Entferntere, für das im Werden Begriffene, das
Nützliche, Allgemeine und Abstrakte geltend macht“.
Beachtenswert ist ferner die beim Manne stärker auS-
gesprochene Tendenz zur Anwendung reimender oder
alliterierender- Worte. ‘In bezug auf die Zeit, die das
Experiment in Anspruch nahm, liess sich kein ‚wesent-
licher Unterschied der Geschlechter feststellen.
Ein anderes Experiment von Pror. JASTROW hatte
das Ziel, die Prozesse des Gedächtnisses und der
Assoziation zu prüfen. Durch Wegziehen eines Vor-
218 DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
hanges wurde ein auf eine Tafel geschriebenes Wort
sichtbar und sofort musste jede der Versuchspersonen
auf einen Papierstreifen dasjenige Wort aufschreiben,
das ihr beim Anblick des auf der Tafel stehenden
Wortes einfiel, und darauf den Streifen so falten, dass
das geschriebene Wort nicht zu lesen war. Darauf
erschien ein neues Wort auf der Tafel, die Studenten
schrieben wieder das‘ erste Wort, das ihnen einfiel,
auf, und dieser Prozess wurde zehnmal; wiederholt,
(Es sei noch bemerkt, dass die 10 nach und nach auf
der Tafel erscheinenden Worte einfache Einsilber
waren und dass mehrere von den Worten darunter
waren, die, wie sich aus vorhergehender Untersuchung
ergeben hatte, im Bewusstsein obenan stehen), Genau
2 Tage später wurden‘ dann dieselben Versuchsper-
sonen ohne jede Vorbereitung aufgefordert, von den
vor 48 Stunden geschriebenen Worten so viele wieder
aufzuzeichnen, als sie sich irgend ins Gedächtnis zurück-
rufen konnten und zwar möglichst in derselben Reihen-
folge; schliesslich wurden die ursprünglich gegebenen
10 Worte wieder auf die Tafel geschrieben und jeder
der Studenten musste aufschreiben, so viel ihm von
den ursprünglichen Assoziationen einfiel. Die Resultate
der ersten Untersuchungsreihe werden als Original-Liste,
die der zweiten als A.-Liste und die der dritten als
B.-Liste bezeichnet. Die erste dieser Listen zeigt die
geläufigsten Assoziationen zu 10 gewöhnlichen Worten.
Die A.-Liste zeigt, wie viel davon rein gedächtnis-
mässig‘ reproduziert werden kann, und die B.-Liste
zeigt, inwieweit der Prozess der Reproduktion durch
das Sehen der ursprünglich gegebenen Worte befördert
wird. Es stellte sich heraus, dass die Männer 40% der
von ihnen aufgeschriebenen Worte total vergessen und
so%o richtig behalten hatten, während die Frauen nur
29% vergessen hatten und 58 °%o richtig reproduzierten,
woraus sich ergibt, dass in Sachen des Gedächtnisses
die Frauen den Männern entschieden überlegen sind.
Andererseits zeigte die B.-Liste bei beiden Ge-
schlechtern eine auffallende Übereinstimmung, ein Be-
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG. ;
219
weis dafür, dass das Vorhandensein der ursprünglich
gegebenen Worte den Männern mehr nützt als den
Frauen, wodurch das Verhältnis der total vergessenen
und der korrekt reproduzierten Worte bei ‚beiden Ge-
schlechtern dasselbe wurde, Es fand sich auch, dass
Männer Assoziationen durch Schall und vom Teil zum
Ganzen bevorzugen, Frauen dagegen die Assoziationen
vom Ganzen zum Teil und vom Objekt zur Qualität.
Ähnliche Untersuchungen stellte Prof. JAStROW auch
mit männlichen und weiblichen Gymnasiasten US
Milwaukee an, bei denen sich ebenfalls und in noch
höherem Grade die Überlegenheit des weiblichen Ge-
schlechtes in allem, was das Gedächtnis betrifft, zeigte.
Auch hier wurde der Unterschied zwischen den Ge-
schlechtern geringer, wenn das ursprünglich gegebene
Wort wiederholt wurde. Die Geschlechtsdifferenzen
waren bei den Schülern des Gymnasiums entschieden
grösser als bei den Studenten. Auch zeigte es sich,
dass während die Studenten ein besseres Gedächtnis
besassen als die Gymnasiasten, die Studentinnen in
Sachen des Gedächtnisses entschieden hinter den Schüle-
rinnen des Gymnasiums zurückstanden. In vielen Neben-
punkten ergaben sich eigentümliche, ganz unerwartete
Geschlechtsdifferenzen übereinstimmend bei Studenten
und Schülern des Gymnasiums; so fand sich bei beiden
Kategorien eine grössere Zahl gemeinsamer Assozla-
tionen bei Mädchen als bei Knaben. In einer folgenden
noch nicht veröffentlichten Untersuchungsreihe (deren
Resultate Pror. Jastrow so freundlich war, mir brieflich
mitzuteilen) behufs Feststellung der Natur dieser Asso-
ziationen wurden ı0 verschiedene Worte gegeben, Zu
deren jedem jede Versuchsperson 5 Worte aufzuschreiben
hatte, wie sie ihr gerade einfielen.
Eine Vergleichung dieser Wortreihen ergab für
das männliche Geschlecht eine Tendenz zu Assocla-
tionen durch Schall (z. B. man-can), vom Ganzen zum
Teil (z. B. Baum-Blatt), vom Objekt zur Tätigkeit
(z. B. Feder-schreiben), umgekehrt von der Tätigkeit
zum Objekt (z. B. schreiben-Feder) und schliesslich zu
2}
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
Assoziationen nach natürlicher (biologischer) Verwandt-
schaft, Bei Frauen überwogen die Assoziationen vom
Teil zum Ganzen (z. B. Hand-Arm), vom Objekt zur
Qualität (z. B. Baum-grün), umgekehrt von der Qualität
zum Objekt (z. B. blau-Himmel) und schliesslich Asso-
ziationen vermischter Natur (einschliesslich aller mehr-
deutigen und schwer klassifizierbaren Assoziationen).
Durch diese spezielleren Untersuchungen der Ge-
schlechtsunterschiede in den Assoziationselementen des
Gedankens werden die Resultate, die wir aus früheren
Beobachtungen ziehen zu dürfen glaubten, nicht völlig
bestätigt. Untersuchungen, wie die hier erwähnten,
geben unserer psychologischen Kenntnis eine sichere,
positive Grundlage, indessen müssen sie auf eine sehr
grosse Zahl von Individuen ausgedehnt werden, ehe
sich irgend welche allgemeinen Schlussfolgerungen
daraus ziehen lassen.
Über das Gedächtnis der Schulkinder sind in
neuerer Zeit verschiedene Versuche gemacht worden.
Im allgemeinen zeigt sich eine geringe Überlegenheit
der Mädchen, jedoch nicht auf jedem Gebiete des Ge-
dächtnisses. So fand Lossırn in Kiel, dass die Gesamt-
zunahme der Gedächtniskraft während der Schuljahre
bei Mädchen grösser war als bei Knaben, bei Mäd-
chen fand sich gegen das zwölfte Jahr eine allgemeine
Entwicklung aller Arten des Gedächtnisses. die nicht
ebenso gleichmässig bei Knaben auftrat; das Gedächt-
nis der Mädchen für Töne wuchs hauptsächlich gegen
das dreizehnte Jahr, das für Gesichts-Vorstellungen
gegen das vierzehnte Jahr. Ums elfte Jahr fand sich
eine geringe, zwischen zwölf und dreizehn Jahren eine
entschiedene Überlegenheit der Mädchen, die bei
sechs von acht Proben hervortrat. Auf der letzten
Stufe, zwischen dreizehn und vierzehneinhalb Jahren
ist der Vorsprung der Mädchen etwas geringer gewor-
den, tritt aber noch bei sechs Proben hervor. Das
Gedächtnis für Worte und auch für Gesichtsvorstel-
lungen war bei Mädchen entschieden besser entwickelt.
Bei Proben, welche Reproduktion in gleicher Reihen-
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
221
folge mit sich brachten, waren Knaben bezüglich Fi-
guren und Töne etwas voraus, aber in der Sphäre der
reellen Objekte waren die Mädchen wiederum ent-
schieden voraus.
Ein Artikel von Pror. StanıLey Haus ber den In-
halt des kindlichen Bewusstseins beim Eintritt in die
Schule (Paedagogical Seminary, Juni 1891; ferner Ber-
Liner Städtisches Jahrbuch 1870 S. 59—77) enthält einen
detaillierten Bericht über in Berlin angestellte Unter-
suchungen zur Feststellung der Kenntnisse und Begriffe
von mehreren tausend Kindern bei ihrem Eintritt in
die Schule. Obschon die Ausführung dieser Unter-
suchungen den Lehrern überlassen war, scheinen sich
doch einige zuverlässige Resultate daraus zu ergeben.
Die Vertrautheit der Kinder mit 75 verschiedenen
Gegenständen und Ideen wurde geprüft, und es stellte
sich heraus, dass die leichteren, weitverbreiteten Be-
griffe bei Mädchen, die schwierigen, mehr ins Einzelne
gehenden und exzeptionellen Begriffe bei Knaben am
häufigsten sind. Die Mädchen zeigten sich in folgenden
Begriffen überlegen: Name und Beruf des Vaters, Ge-
witter, Regenbogen, Hagel, Kartoffelfeld, Mond, Qua-
drat, Kreis, Alexander-Platz, Friedrichshain, Morgenrot,
Eiche, Tau und Botanischer Garten; sie hatten mehr
Raumbegriffe, die Knaben mehr Zahlenbegriffe. Die
Mädchen waren in. Märchenerzählungen (60,5 °%0o Md.,
39,5% Kn.), die Knaben in religiösen Vorstellungen
überlegen. (Kn. 60,3 %, Md. 39,7%). Da die Gelegen-
heit, sich diese Begriffe. anzueignen, wohl für beide
Geschlechter dieselbe ist, so muss es sich hier wohl
um Unterschiede der Anlage handeln. Den Mädchen
war Rotkäppchen bessert bekannt als Gott, und Schnee-
wittchen besser als Christus. Die Zahl der Knaben,
Welche einen vorgesprochenen Satz wiederholen, eine
vorgesungene musikalische Phrase nachsingen und ein
Lied vortragen konnten, war grösser als die der
Mädchen. |
Ferner gibt Pror. Haıs einen Bericht über eine
sorgfältiger ausgeführte Untersuchung an mehreren
%
222
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
hundert Kindern Bostons.. Diese Experimente, obschon
leider an viel zu geringem Material angestellt, ergaben
im ganzen dieselben Resultate wie die Berliner Unter-
suchungen. In den Antworten auf 34 typische. Fragen
(unter 49) wurden die Mädchen von den Knaben über-
troffen, dasselbe war in Berlin mit 75% der Antworten
der Fall. Die Mädchen zeichneten sich aus bei den
Fragen nach Körperteilen, häuslichem und Familien-
leben, Donner, Regenbogen, Quadrat, Kreis und Dreieck,
während ihnen die schwierigeren und weiter abliegen-
den Begriffe Würfel, Kugel, Pyramide nicht geläufig
waren. Die Erzählungen der kleinen Mädchen waren
phantasiereicher, dagegen standen sie, was die Kennt-
nis äusserer, entfernterer Dinge betrifft, sowie im Ge-
sang, im Schreiben nach Diktat, in der Kenntnis der
Zahlen und der Tiere entschieden‘ hinter . den Knaben
zurück. Der Berliner Bericht sagt: „Je gewöhnlicher,
naheliegender und leichter ein Begriff ist, desto grösser
ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Mädchen die Knaben
übertreffen werden und umgekehrt. Bei. Knaben kommt
es häufiger vor als bei Mädchen, dass sie ganz ge-
wöhnliche Dinge aus ihrer nächsten Umgebung nicht
kennen.“ Diese interessanten Tatsachen sind von grosser
Bedeutung für die später zu berührende Frage nach
der Begabung der beiden Geschlechter für abstraktes
Denken und. für praktisches Leben.
Ferner ist noch eine andere Beobachtungsreihe
zu erwähnen. Pror. C. S. Minor versandte eine Reihe
von Karten mit folgendem Inhalt: „Haben Sie die
Güte, diese Karte mit ı0 beliebigen Zeichnungen aus-
zufüllen, und zwar selbständig, ohne fremde Hilfe oder
Rat, und mit Angabe Ihrer Adresse.“ soo Karten von
Personen beider Geschlechter kamen zurück. Am
häufigsten kamen Kreise vor, nächstdem Quadrate,
Dreiecke, vierseitige Figuren.usw. Wiederholungen
fanden sich. bei den Frauen zahlreicher als bei den
Männern, obschon das nicht für alle Arten von Zeich-
nungen gilt. Im ganzen zeigten die Zeichnungen der
Männer eine grössere Mannigfaltigkeit als die der
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG. 223
Frauen. (C. S. Minor, Second Reßort on Experimental
Psychology: Upon the Diagram Test, Proceed. Am. Soc.
for Psych. Research. Bd. I Nr. 4 1880.)
Die Schnelligkeit: der Auffassung hat fast allge-
mein als ein weibliches Attribut gegolten und bisher
ist die Frage, ob sich das in der Tat so verhält, leider
noch nicht in befriedigender Weise gelöst worden;
indessen kann sie an dieser Stelle nicht ganz übergangen
werden. Jedenfalls müssen wir sie als eine mit ver-
schiedenen motorischen und intellektuellen Prozessen
komplizierte Erscheinung betrachten, wie sie zum Teil
im vorausgehenden Kapitel erörtert worden sind.
Hırzen machte in Florenz eine Reihe von Unter-
suchungen über den Einfluss von Alter und Geschlecht
auf die Reaktionszeit. Er war betroffen von der Lang-
samkeit, mit welcher Kinder zwei Bewegungen, z. B.
von Hand und Fuss, koordinieren oder assozlieren.
Aus seinen Zahlen ergibt sich, dass Mädchen anfangs
schneller reagieren als Knaben, aber während bei
letzteren die Reaktion bis zum Alter der Reife ganz
regelmässig an Geschwindigkeit zunimmt, ist bei den
Mädchen diese Zunahme nicht nur im ganzen lang-
samer, sondern sie hört auch bei einem geringeren
Grade von Geschwindigkeit als beim männlichen Ge-
schlecht ganz auf).
Unsere bisherigen. Kenntnisse der, Reaktionszeit ”)
und ihrer Verschiedenheiten sind indessen noch nicht aus-
yedehnt genug, um uns, ein entscheidendes Urteil über
1) A. HERZEN, Le Cerveau et Pactivite cerebrale, 1887, 96—08.
3) Unter Reaktionszeit versteht man bekanntlich die 1m Ex-
periment verlaufende Zeit, von dem Momente an, wo_ € Reiz
ein Sinnesorgan erregt, bis zu dem Momente, wo die Versuchs-
person durch eine bestimmte, für den Versuch verabredete Be-
wegung auf den Reiz reagiert. Diese Bewegung Ist für die psy-
chologische Forschung deshalb so wichtig, weil sie als Typ des
menschlichen Handelns, soweit dasselbe unmittelbar durch äussere
Vorgänge verursacht ist, gelten muss. Ihre Dauer bewegt, sich in
den werten Grenzen von 100—200 Tausendstel einer Sekunde, —K.
294
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
die Bedeutung‘ der schnellen oder langsamen Reaktion
zu erlauben. Nach BuccoLa reagieren Gebildete schneller
als Ungebildete, während kürzlich‘ angestellte Unter-
suchungen bei einigen genialen Italienern eine langsame
Reaktionszeit ergaben!). Auch Irre, ganz besonders
aber Idioten, reagieren sehr langsam. Bei einigen
japanischen Jongleuren fand Herzen verlangsamte Re-
aktionszeit; ferner fand er bei Norditalienern schnellere
Reaktion als bei den Südländern und die allerschnellste
bei einem Norweger.
Die Reaktionszeit gibt lediglich die grössere oder
geringere Geschwindigkeit an, mit der die Versuchs-
person auf ein gegebenes Zeichen mit einer Bewegung
antwortet ?). Vielleicht finden wir bei komplizierteren Pro-
zessen, die ein stärkeres intellektuelles Element enthalten,
stärker ausgesprochene Geschlechtsunterschiede. So hat
Romans Untersuchungen über die Schnelligkeit des
Lesens angestellt. Verschiedene Personen der gebildeten
Stände mussten ein und denselben Abschnitt eines
Buches so schnell sie konnten, durchlesen, wobei als
längste Zeit für 20 Zeilen 10 Sekunden bewilligt waren.
Sobald diese Zeit um war, wurde das Buch fortge-
nommen, und der Leser musste unmittelbar darauf alles
niederschreiben, was er davon behalten hatte. Es stellte
sich heraus, dass Frauen hierin den Männern überlegen
waren. Sie lasen nicht nur schneller, sondern sie waren
auch im ganzen besser imstande, über das Gelesene
zu berichten. Eine Dame z. B, las genau 4 mal so
schnell, als ihr Mann und konnte selbst dann noch eine
bessere Inhaltsangabe des Gelesenen machen als jener
von den wenigen Zeilen, die er noch hatte bewältigen
können. Indessen ist, wie sich herausstellte, diese Ge-
schwindigkeit kein Beweis hoher intellektueller Begabung
überhaupt, und viele der. höchstbegabten Männer ge-
ı) Arch. di Psich. 1892, pp. 394, 395.
2) S. besonders FLoURNoyY, Oberserv. s. quelq. types de
reaction. simple, Genf 1896. : (Die ganze Literatur bei SANFORD,
Am. J. Psychol., Il, p. 3, 271, 403.)
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
295
hörten zu den langsamsten Lesern !). Es ist eine häufig
gemachte Beobachtung, dass wir in der Jugend schnell,
und mit den Jahren allmählich immer langsamer lesen,
Es ist, als ob in der Jugend jeder Behauptung unmittel-
bar und ohne Zögern eine leere Kammer in unserem
Intellekt angewiesen würde, während in späterem Alter
jede Behauptung instinktiv einer Art von kritischem
Kreuzverhör unterzogen wird. Jede neue Tatsache
scheint den angehäuften Tatsachenvorrat, in den sie;
eindringt, aufzurühren, und so die Schnelligkeit des Pro+
zesses aufzuhalten. Dasselbe ist der Fall mit den An-
trieben zum Handeln, die bei einfach organisierten In-
dividuen direkt und unmittelbar wirken. „Ich tue immer
gerade das, woran ich denke,“ sagte ein Imbeciller, der
ein Sittlichkeitsverbrechen begangen hatte, zu ProrF.
MenpeEL, „und nachher überlege ich es mir“. In einem
höher organisierten Gehirn kommt die Überlegung vor
der Tat und verzögert dieselbe. Man kann sagen, dass
Impuls und Handlung die beiden Pole eines Stromes
bilden, der im Mittelstück seines Verlaufes intellektuell
ist. Je länger und komplizierter der intellektuelle Teil
der Bahn ist. desto länger wird es dauern, ehe der
Impuls sich in Handlung umsetzt.
Die männliche Denkmethode ist kräftig und über-
legt, die weibliche zeichnet sich durch Schnelligkeit
der Auffassung und Flinkheit der Reaktion aus. Bei
dieser letzteren Art und Weise kommen leicht Irrtümer
vor, werden aber 'auch bald wieder verbessert, dank
einer gewissen Beweglichkeit, die unter Umständen eın
äusserst wichtiges, ja vielleicht das allerwichtigste Er-
fordernis sein kann. Wenn zwei Personen beiderlei Ge-
schlechtes sich in einer kompromittierenden Lage befinden,
so wird immer die Frau, vermöge ihrer grösseren geistigen
i Men and
1) G.-J. RomaAngs, Mental Differences between
Women. (Sineteenth Cent. Mai 1887.) — Bei Dr. HE. N FERLT
Differences in the Nervous Organisation of Man an x ben
(IL. Teil, Kap. XII) befindet sich ein Abschnitt über Ferzep ion beim
männlichen und weiblichen Geschlecht, der jedoch keime neuen
Tatsachen enthält.
Ellis. Mann u. Weib. 2. Aufl.
{E
226 DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
Beweglichkeit, sich kühn aus der Klemme ziehen, Jedem
einzelnen sind aus dem eigenen Leben oder aus der
Geschichte Beispiele bekannt, wo Frauen durch ihre
Geistesgegenwart oder durch ihre schlauen, geschickten
Kniffe ihren Mann, ihren Liebhaber oder ihre Kinder
gerettet haben. Es ist nicht notwendig, auf diese Eigen-
tümlichkeit, die in ihren feinsten Formen Taktgefühl
genannt wird, näher einzugehen.
Die Anwendung von List zur Erreichung ihrer
Zwecke (wie wir sie auch bei den schwächeren, niederen
Tieren finden) ist unter Frauen so allgemein, dass, wie
Lomsroso und FErrRerRo bemerken, die Verstellung bei
Frauen „fast etwas Physiologisches‘“ ist. DiDEroT sagt
an einer Stelle: „Das einzige, was die Frauen von
Grund aus gelernt haben, ist, das Feigenblatt, das ihnen
ihre Stammmutter EvA vererbt hat, mit Anstand zu
tragen.“ In plumperer, derberer Form findet sich diese
Tatsache in den Sprüchwörtern vieler Nationen be-
stätigt, in einigen Ländern ist man sogar So weit
gegangen, die gerichtliche Zeugenaussage eines Weibes
geringer anzuschlagen, als die eines Mannes. Es wäre
jedoch äusserst unvernünftig, wenn man das vorsichtige,
indirekte Verfahren der Frauen einer angeborenen Per-
versität zuschreiben wollte. Diese Erscheinungen sind
vielmehr unvermeidlich und folgen aus der weiblichen
Konstitution, wie sie sich unter den Bedingungen, die das
weibliche Leben, beherrschen, betätigt; denn es gibt
gegenwärtig keinen Ort in der Welt, wenigstens in der
zivilisierten, wo eine Frau ‚alle ihre Wünsche und
Bestrebungen ohne Nachteil äussern und offenkundig die
Befriedigung derselben anstreben kann.
LomMmpBroso und FERRERO!) haben eine ausgezeichnete
Analyse dieser Eigentümlichkeit des weiblichen Geistes-
lebens gegeben, deren Vorhandensein niemand in Zweifel
ziehen wird und die bis zu einem gewissen Grade selbst
in dem intellektuell höchstentwickelten Weibe zur Gel-
1) „Das Weib als Verbrecherin“, Deutsch von H. KURELLA,
S. 144 ff. Hamburg 1894.
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG. 297
tung kommt. Sie führen diese Eigentümlichkeit auf
folgende Ursachen zurück, die alle ausschliesslich im
Frauenleben in Betracht kommen: I. Schwäche; denn
List und Täuschung sind die notwendigen Auskunfts-
mittel des Schwachen und Unterdrückten, nur der Starke
kann es sich gestatten, offen zu sein. 2. Die Men-
struation, eine Funktion, die mit einer Art von Wider-
willen betrachtet wird, weshalb die Frauen sich be-
mühen, sie zu verheimlichen; sie haben also allmonatlich
wenigstens 3—4 Tage lang Gelegenheit, sich in der
Verstellungskunst zu üben, indem sie ihren Zustand ent-
weder ganz verbergen, oder irgend 'ein anderes kleines
Leiden vorschieben. 3. Schamgefühl; weil bei einer
Frau jede Äusserung der Liebe, die nicht von einem
Manne provoziert worden ist, ihren guten Ruf gefährdet,
muss sie sich in der Kunst der Simulation üben, was
bei ihrem erregbaren Nervensystem nicht leicht ist.
Ferner gilt bei Frauen die Befriedigung der niedersten
Körperbedürfnisse als ein Mangel an Anstand, resp.
Zurückhaltung, so dass sie, wenn irgend möglich, diese
Bedürfnisse unterdrücken oder doch die Gelegenheit
zu ihrer Befriedigung durch die eine oder die andere
kleine List erreichen müssen; ferner ist bei den Frauen
jede Anspielung auf das geschlechtliche Leben offiziell
verpönt, es wird den Mädchen so lange als irgend
möglich verheimlicht, und wenn dieselben einmal früher
oder später hinter diese Geheimnisse kommen, dann
haben sie sich an den Gedanken gewöhnt, dass Unwahr-
haftigkeit in diesen Dingen zur Schamhaftigkeit ge-
hört und so setzen «sie die Tradition fort. 4. Die
Auslese; das Weib verbirgt instinktiv seine Mängel
und Fehler, ja, wenn es nötig ist, sein Alter, mit
einem Wort alles, was ihm in den Augen der Männer
schaden kann, wobei es oft gezwungen ist, seine besten
Seiten zu verstecken, wenn es glaubt, durch dieselben
lächerlich. oder abstossend zu werden; es wird einer
Frau verhältnismässig leicht, ihr eigenes Ich nach dem
Geschmack desjenigen umzuformen, dem sie sich ange-
nehm machen möchte, vorausgesetzt, dass sie ihn
15*
226
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
bewundert und liebt. Er würde sich in der Regel ab-
gestossen fühlen, wenn sie ihre eigene Persönlichkeit
rücksichtslos geltend machen wollte. Demselben Motiv
entspringen auch die Toilettenkünste, obschon diese,
wie oft betont worden ist, ebenso dazu dienen, Männer
anzuziehen, als andere Frauen zu ärgern und aus dem
Felde zu schlagen. 5. Der Wunsch, interessant zu
sein, der zu simulierter Schwäche etc. und zu einer
vorgegebenen Schutzbedürftigkeit führt. 6. Suggesti-
bilität; die grössere Suggestibilität des Weibes (s. u.
Kap. XI) bedingt eine unvermeidliche Verwechslung
des. Wirklichen und des Vorgegebenen, die durchaus un-
bewusst und unwillkürlich ist. 7. Die Pflichten der
Mutterschaft; ein grosser Teil der Erziehung des kind-
lichen Geistes durch die Mutter besteht darin, dass
sie ihm mit mehr oder weniger Geschick Unwahrheiten
erzählt, die den Zweck haben, bestimmte Tatsachen,
die zu wissen man für das Kind nicht dienlich hält,
vor ihm zu verheimlichen. Oft soll das Kind auch
durch solche falsche Vorspiegelungen erschreckt oder
sonst irgendwie beeinflusst werden, und so bildet für
die Frauen selbst die Erziehung ihrer Kinder eine Ge-
legenheit zur Übung in der Kunst der Verstellung.
(LomsBroso, 1. c. pp. 143—149.) — Ich glaube nun, es
müsste hier noch ein Motiv für diese spezifisch weibliche
Eigentümlichkeit angeführt werden, nämlich das Mitleid;
eine weibliche Eigenschaft, die Lomeroso und FERRERO
an anderer Stelle auch gebührend hervorheben. Das
übertriebene Bestreben, Andern alles Verletzende und
Peinliche zu ersparen, ist ein Hauptmotiv für Unwahr-
haftigkeiten geringeren Grades, und zwar ein Motiv, das
beim Weibe kräftiger wirkt als beim Manne. Ich
möchte auch darauf hinweisen, dass diese Tendenz zu
Vorsicht und List sich nicht auf das weibliche Geschlecht
beim Menschen allein beschränkt, vielmehr scheint die-
selbe eine weite Ausdehnung: im Tierreich zu besitzen
und sich daraus zu erklären, dass dem Weibchen die
Pflicht obliegt, die Nachkommenschaft vor Gefahr zu
schützen.. Weibliche Affen sind vorsichtiger und schlauer
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
229
als männliche, und man sagt, dass ein Jäger durch-
schnittlich nur eine säugende Affenmutter und zwei bis
vier andere Weibchen zu fangen imstande ist, gegen
40 Individuen des anderen, weniger vorsichtigen Ge-
schlechtes.
BucKLE hat die geistige Beweglichkeit der Frauen
von ihrer Tendenz hergeleitet, von Ideen, nicht von
einem geduldig gesammelten Tatsachenmaterial auszu-
gehen. Der männliche Geist, so behauptet er, ist von
Natur induktiv, der weibliche deduktiv angelegt”). Es
wäre vielleicht korrekter, wenn man sagte, dass das
Weib häufiger, vielleicht ohne jeden bewussten intellek-
tuellen Prozess, von den unmittelbar vor ihr liegenden
Tatsachen ausgeht. Es ist dies unzweifelhaft eine
wertvolle Gabe, und sicher hat BucKLE recht, wenn er
sagt, dass der feine und gewandte weibliche Geist durch
„das verhängnisvolle System, das sich Erziehung nennt“,
Ohne Zweifel schwer geschädigt wird. Er weist auf
die bekannte Tatsache hin, dass Frauen der niederen
Klassen eine viel grössere Schnelligkeit der Auffassung
und des Verständnisses besitzen, als Männer, so dass
Reisende sich in einem fremden Lande, dessen Sprache
sie nicht kennen, immer leichter mit Frauen verständigen
als mit Männern. In der Tat besteht wohl kaum ein
Zweifel daran, dass Frauen aus dem Volke einen
lebendigeren Geist besitzen als Männer, gleichviel
welchem Umstande diese Tatsache zuzuschreiben sein
mag.. So findet man z. B. in der Einsamkeit des
australischen „Busches“ wiederholt, dass, während der
männliche Ansiedler einem Fremden gegenüber meist
still und verlegen ist und kaum mehr als einsilbige
Worte herausbringt, seine Frau verhältnismässig ge-
läufig und fliessend spricht und über einen ziemlich
reichhaltigen Wortschatz verfügt. Vielleicht lässt sich
dieser Umstand auf die grössere Übung im Sprechen
zurückführen. die die Frau im Verlauf ihrer häuslichen
1) „The Influence of Women on the Progress of Knowledge“
BuckıEes Miscellaneous Works Bd. I.
2330
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
Geschäfte erreicht; indessen hat FEHLING konstatiert,
dass schon kleine Mädchen im Sprechen gewandter
sind als Knaben; es ist eine interessante, aber zweifellos
feststehende Tatsache, dass Frauen sehr selten stottern‘).
Bekanntlich sind Neger sehr beredt, besonders wenn
man ihre geringe geistige Befähigung in Betracht zieht.
Ich habe von Männern und Frauen, die zur tiefstehen-
den Rasse der Australier gehörten, recht gute Reden
über religiöse Gegenstände gehört; die Frau zeichnete
sich besonders durch Zungengeläufigkeit und Bered-
samkeit aus. BuUcKLE sagt, dass CURRIE, ein ausgezeichneter
Arzt, immer behauptet hätte, er bekäme, wennein Arbeiter-
ehepaar sich bei ihm Rat erholte, stets von der Frau
die klarste, präziseste Auskunft, während der Mann
zu schwerfällig zu einer solchen Berichterstattung wäre,
Es ist dies eine Erfahrung, die Arzte häufig machen.
Auch Pariser Advokaten scheinen der Ansicht zu sein,
dass Frauen besser Auskunft geben können, als Männer,
und sie pflegen zu den Männern des Arbeiterstandes
gewöhnlich zu sagen: „Schicken Sie mir Ihre Frau ”®).“
Die Frühreife. — RovsssAvu hat schon im Emile
darauf hingewiesen, dass Mädchen intellektuell früh-
reifer sind, als Knaben. Das stimmt mit allen neueren
Kenntnissen über die physische. Entwicklung der Ge-
schlechter überein. So behauptet DELAUNAY, dass in den
Schulen für beide Geschlechter, wo es sich um Kinder
unter ı2 Jahren handelt, die Mädchen bei den Lehrern
für intelligenter gelten als die Knaben 3.
BeLLE1 *) fand, dass italienische Schulmädchen von
ungefähr ı2 Jahren geistig mehr entwickelt sind als
gleichaltrige Knaben derselben Volksschicht,
SuaAw fand bei Untersuchungen über das Gedächtnis
1) Männer leiden nach Ssızorsxı („Über das Stottern“ Ber-
lin 1891) dreimal so häufig an diesem Übel als Frauen; die Sprich-
wörter vieler Nationen bestätigen die weibliche Zungengeläufig-
keit, s. LomBRoso und FERRERO S. 175.
2) DELAUNAY, Revue Scientif, 1881, p. 309.
8) Revue Scientif. 1881, p. 308. ;
4) Rivista speriment. di Freniatria, XXX, p; 446, 1903.
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG. 231
von Schulkindern, dass der Hauptunterschied die grössere
Frühreife der Gedächtnisentwicklung bei Mädchen war !).
EaARL Barnes schreibt (Pedagogical ‚Seminary März 18093):
„Auf Grund einer noch nicht ganz abgeschlossenen Unter-
suchung an 2900 kalifornischer Schulkinder mit Binets
Perzeptionsproben können wir sicher nachweisen, dass
die 11 —13 jährigen Mädchen eine beträchtlich eingehen-
dere und ausgedehntere Kenntnis der Gegenstände des
alltäglichen Lebens haben, als Knaben desselben Alters,
oder aber eine sehr überlegene Ausdrucksgabe.
MAcDonaLDs sorgfältige Statistik aus Washington über
1000 Schulkinder zeigt, dass die Mädchen in dem üb-
lichen Schulalter den Knaben voraus sind ?). In ihren
Gesamtleistungen waren die Mädchen in neun Fächern
voraus, in vier Fächern zurück, in einem den Knaben
gleich; die Frühreife der Mädchen scheint sich über das
Schulalter hinaus zu erstrecken: Scott THomas konstatiert
z. B., dass Studentinnen in Amerika früher einen aka-
demischen Grad erwerben, als an derselben Hochschule
promovierende Studenten 8),
Es ist eine interessante und vielleicht nicht unbe-
deutende Tatsache, dass bei primitiven. Völkern in allen
Teilen der Welt die Kinder in zartem Alter eine ent-
schiedene intellektuelle Frühreife zeigen "und zwar bei
den Eskimos ebenso wie bei den Australiern. LorD
WoLnLsELEY sagt von den afrikanischen Fantis: „Bei ihnen
sind die Knaben bei weitem geweckter, klüger und an-
stelliger als die Männer. Man kann einem Knaben an-
scheinend alles beibringen, aber nur bis zur Zeit der
Pubertät, von da an wird er allmählich immer stumpfer,
dümmer, fauler und alle Tage nichtsnutziger“. Unter
den niederen gelben Rassen ist dasselbe beobachtet
worden. So sagt LEcL#RE in seiner Studie über die,
Kambodschaner, dass ihre Kinder sehr intelligent sind,
dass sie aber mit 15 Jahren stehen bleiben und weniger
ı) Pedagogical Seminary 1806, October.
2) Education Report, 1897-—98, PP- 1043-—46-
83) Popular Science Monthly, Juni 1903-
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232 DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
aktiv werden; eine gewisse Verfinsterung, geistig „un peu
de nuit“, senkt sich auf ihre Seele herab und zugleich
werden ihre Gesichtszüge weniger regelmässig und
schön, als sie vordem waren. (LEcLERE, Moeurs et
coutumes des Cambodgrens ; Revue Scrient, 21. Juni 1893).
Es scheint, dass diese Frühreife und das darauf folgende
Zurückbleiben in der Entwicklung um so ausgesprochener
ist, je tiefer die Rasse steht. Diese Tatsache muss ohne
Zweifel mit dem eigentümlichen menschlichen Typus
der jungen und den mehr bestialischen Merkmalen
der erwachsenen anthropoiden Affen in Beziehung ge-
bracht werden.
Unter den zivilisierten, europäischen Rassen lässt
eine frühreife Intelligenz nicht besonders günstige Schlüsse
für die spätere intellektuelle Entwicklung zu, eine Er-
fahrung, die dadurch nicht erschüttert wird, dass unter
den Männern von abnorm hoher Intelligenz oder genialer
Veranlagung ausserordentliche Frühreife nicht selten
ist. Welchen Einfluss dieselbe im allgemeinen auf die
spätere Entwicklung hat, kann mit Bezug auf die In-
telligenz nicht mit Sicherheit angegeben werden, indessen
kann man aus anderen, der Beobachtung leichter zu-
gänglichen Gebieten, Schlüsse ziehen, So sagt GALTON
mit Bezug auf die Resultate gewisser Tabellen über die
Körperlänge der männlichen Bevölkerung (Reßort of the
Anthropometric Comitee of the British Association 1881):
„Frühreife ist im allgemeinen von keinem Vorteil für
das spätere Leben, ja sie kann sogar entschieden zum
Nachteil gereichen. Sicherlich bleibt die Schar der
Frühreifen nicht während des ganzen Verlaufes der
Entwicklung an der Spitze, es kommt vor, dass sie
geradezu zurückbleiben, so dass viele von denen, die im
Alter zwischen ı4 und ı6 Jahren in den ‚statistischen
Tabellen an sehr niedriger Stelle stehen, in späteren
Jahren sehr hoch hinaufrücken“,
Ein sorgfältiges Studium der Schulzeugnisse würde
wahrscheinlich interessante Resultate betreffs der Ge-
schlechtsunterschiede in der Intelligenz ergeben. Einiges
in dieser Richtung ist bereits von RovsseL, RICCARDI u. az
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
233
getan worden, besonders in Amerika nimmt man diese
Fragen jetzt ernsthaft vor!). RovsseL hat Z. B. die Be-
strafungen der Knaben und Mädchen in verschiedenen
belgischen Schulen mit einander verglichen. Er fand,
dass unter 100 Knaben 9 bis ı0 wegen kleiner Diebe-
reien bestraft worden waren, dagegen keines von 100
Mädchen. Ferner waren von 100 Knaben 54, Von 100
Mädchen nur ı7 wegen Streit und Schlägereien be-
straft worden; andererseits waren nach seinen Unter-
suchungen die Mädchen fauler als die Knaben, wobei
die Zahlen sich zu einander verhielten wie 21:2. Im
ganzen waren in den Jahren von 1860—79 31 9/ Knaben
gegen 26°%o Mädchen bestraft”). RICCARDI fand bei
einer Untersuchung mehrerer ı00 Schulkinder aus
Modena und Bologna, dass Mädchen im allgemeinen
lieber lernen, als Knaben (61 % gegen 43 °%o), dass sie
mehr Freude an Handarbeit haben (27 °% gegen 22 °/o),
und dass es viel mehr Knaben als Mädchen gibt, die
für nichts Interesse haben (35 %o gegen ı2 %/o). RICCARDI
fand ferner, dass Mädchen leichter zu erziehen, ge-
selliger, häuslicher und fleissiger sind und mehr tief-
gewurzelte atavistische Tendenzen zeigen, als Knaben ®).
Erst nach dem 16. Jahre beginnt die intellektuelle Über-
legenheit der Knaben sich geltend zu machen. Man
sieht, dass in betreff der Frage nach der Faulheit der
Mädchen die Resultate von Rıccarpr und RovsserL nicht
völlig übereinstimmen. Ich möchte an dieser Stelle
noch hinzufügen, dass es in Irrenhäusern gewöhnlich
für viel schwieriger gilt, Frauen zum Arbeiten zu be-
wegen, als Männer. Das beste Gebiet für ein objek-
1) So schreibt Prof. CARL BARNES: „Aus den nach BIinEeTs
Methode der Perzeptionsprüfung an 2900 Kindern aus Monterey
County (Californien) gemachten. Untersuchungen hat sich ergeben,
dass Mädchen zwischen ır und 13 Jahren eine bedeutend detail-
liertere, ausgedehntere Kenntnis der gewöhnlichen Gegenstände
aus ihrer Umgebung besitzen als Knaben gleichen Alters und
dass sie sich ferner besser auszudrücken verstehen.“ (Pedagog.,
Seminary, März 1893.)
2) T. Rousser, Enquete sur les Orphelinats etc. 1881.
3) Rıccarpu, Antropologia e Pedagogia I. Teil 1891, PP- 121, 161.
234. - DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
tives Studium der Entwicklung der Geschlechtsunter-
schiede in Charakter und Intelligenz bilden die für beide
Geschlechter zugleich bestimmten Schulen. .
Zahlreiche Beobachtungen sprechen dafür, dass bei
beiden Geschlechtern der Eintritt der Pubertät einen
modifizierenden, teils steigernden, teils herabsetzenden
Einfluss auf die geistigen Fähigkeiten hat. Es ist nicht
ganz unangebracht, hier auf den bedeutenden Einfluss
hinzuweisen, den sie auf das Betragen hat. Das zeigen
deutlich die von MArRro in Oberitalien gemachten Unter-
suchungen !). Ihr Wert beruht darauf, dass er bei beiden
Geschlechtern zwischen den Individuen, die positive, und
denen die keine Zeichen der Pubertät gezeigt haben,
unterscheidet. Bezüglich des Alters-Einflusses allein fand
er, dass ein Nachlassen eintritt vom elften Jahre an, wo
das Betragen gut ist, bis zum vierzehnten, wo es am
schlimmsten ist; von diesem Alter ab findet sich ein
ständiges und ununterbrochenes Aufsteigen bis zum
achtzehnten Jahre. Im Alter von ı3z und ı4 war das
Betragen der Knaben, die die Pubertät erreicht hatten,
schlechter als bei denen, die sie tioch nicht erreicht
hatten ; in den beiden folgenden Jahren aber war es um-
gekehrt, so dass es scheint, als ob eine Verschiebung
der Pubertät mit Neigung zu schlechtem oder abnormem
Betragen verbunden ist.
Bei den wohlsituierten Klassen mit gut genährten
Kindern wurde die Periode schlechten Betragens eher
erreicht als bei den niederen Klassen.
Bei Mädchen war gutes Betragen vor der ersten
Menstruation viel konstanter, nachher war das Betragen
wechselnd, am schlimmsten im Alter von ı4 und ı5,
von welcher Zeit an es ständig besser wurde. Der
Höhepunkt des bösen Betragens. scheint beim Mädchen
mit dem Höhepunkte physischer Entwicklung und dem
Erscheinen der Menstruation verknüpft zu sein, und so
teils von gesteigerter Assimilation, teils von nervös-
sexuellen Störungen abzuhängen.
ı) MArrRo, La Pubertä, p. 67€.
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG,
235
Ungleichmässigkeit des Betragens ist jedoch in
dieser Lebensperiode bei Mädchen weniger ausgespro-
chen, als bei Knaben.
Technische und wirtschaftliche Befähigung,
Die allmähliche Eröffnung verschiedener Berufs-
zweige hat viele praktische Erfahrungen über Ge-
schlechtsunterschiede in der Begabung für das Erwerbs-
leben ermöglicht, obschon nicht behauptet werden kann,
dass die Resultate bisher sehr genau beobachtet und
niedergelegt worden sind !). Dazu kommt, dass es
keineswegs leicht ist, einen Beschäftigungszweig zu
finden, in dem Männer und Frauen die gleiche Arbeit
unter denselben Bedingungen verrichten. Fast überall
tritt sofort eine Arbeitsteilung nach dem Geschlecht
ein, wodurch die Frauen instand gesetzt werden, weniger
grobe Arbeit unter leichteren Bedingungen zu tun; das
gilt selbst für die‘ Postverwaltung, bei der eine grosse
Zahl von Frauen Beschäftigung findet.
DeELAunAY befragte eine Reihe von Kaufleuten über
die Unterschiede der beiden Geschlechter in indu-
striellen Leistungen und sie stimmen alle darin überein,
dass „die Frauen fleissiger wären als Männer, aber
weniger intelligent“. So arbeiten z. B. in Druckereien
die Frauen in mechanischer Weise, achten mit pein-
lichster Aufmerksamkeit auf das Detail, haben aber kein
volles Verständnis für: das, was sie tuen, So dass sie
z. B. zu Neudrucken sehr gut verwendbar sind, indessen
nicht so gut Manuskripte lesen können, wie Männer *).
Sıpyer WEsB bemerkt, dass die Prudential-Lebensver-
1) Die Gelegenheiten für solche Beobachtungen mehren sich
zusehends. So ist z. B. in Massachusetts die Zahl der mit „Be-
winnbringender Arbeit“ beschäftigten weiblichen Personen, die
1875 nur 21° der Gesamtbevölkerung betrug, im Jahre 1885 bis
auf 30% gestiegen, oder mit anderen Worten, während die weib-
liche Bevölkerung sich um 17,7% vermehrt hat, hat die Zahl der
im Gewerbsleben beschäftigten Frauen um 64,6% Beer a
S. auch „Contribution au Mouvement feministe“. ( ournal des
Economistes, März 18929.)
236
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
sicherungsgesellschaft mehr als 200 Frauen mit Bureau-
arbeit (Kopieren von Briefen, Ausfüllen von Formu-
laren etc.) beschäftigt. „Diese Arbeit tuen sie, wie
man mir versichert hat, etwas besser und schneher als
Männer, aber sie fehlen doppelt so oft als Männer
wegen Krankheit, gewöhnlich nur wegen leichter Un-
pässlichkeit‘“. Überdies hat sich herausgestellt, dass man
ihnen andere als Routine-Arbeit nicht anvertrauen kann,
was die Verwendung weiblicher Arbeitskräfte für den
Arbeitgeber weniger vorteilhaft macht ?); jedoch sind
Frauen wahrscheinlich in Arbeiten, die blosse Routine
erfordern, d. h. fortgesetzte Arbeit bei geringer An-
strengung, Männern überlegen, da sie mehr Fleiss und
Geduld besitzen, Eigenschaften, die ihre Arbeit auf
allen Stufen der Kultur charakterisieren ®). ;
Es schien mir von Interesse, die Erfahrungen eines
der grössten Arbeitgeber, der Postverwaltung, über die
Arbeitskraft beider Geschlechter kennen zu lernen. Es
ist nicht gerade leicht, derartige Informationen zu. er-
halten, und durchaus unmöglich, dieselbe in bestimmter
und präziser Form zu bekommen. Immerhin habe ich
offizielle Nachrichten über die Erfahrungen an mehreren
grossen Postämtern in verschiedenen Teilen Englands
erhalten und diese Resultate können als typisch und
zuverlässig gelten. So meint der Chef eines der Haupt-
postämter, dass Frauen besseres als die Männer leisten
in der Buchführung, in der gleichzeitigen Erledigung
von Postanweisungs- und Sparkassengeschäften, im Be-
fördern und Aufnehmen von Depeschen und im Schalter-
verkehr mit ungebildeten Personen. Sie halten ihr
Inventar besser in Ordnung und gehen mit Geld sorg-
fältiger um, sie verständigen sich besser mit dem Publi-
kum und sind geduldiger. In einem andern westlichen
Bezirk wird der ganze Telegraphendienst von Frauen
ausgezeichnet besorgt. In einem grossen Provinzialbe-
1) Revue Scient, 1881, p. 307.
2) Sıopney WegBsg, 1. c. p. 635.
3) LomBrRoso und FERRERO bringen dafür weiteres Material
(l. c. S. 169—192).
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
237
zirk hat sich ergeben, dass Telegraphistinnen ebenso
intelligent und genau arbeiten als ihre männlichen Kol-
jegen, dass aber ihre Handschrift nicht so gut ist und
dass sie selten in der Weise wie die Männer ein Ver-
langen nach technischem Verständnis der Telegraphie
zeigen; in derselben Stadt berichtet die Postverwaltung
gleichfalls von einem entschiedenen Erfolge der weib-
lichen Arbeit, Klagen des Publikums über Unaufmerk-
samkeit und Unhöflichkeit kommen bei Postämtern,
welche Frauen verwenden, seltener vor; Frauen halten
ihren Markenvorrat in besserer Ordnung, verstossen
seltener gegen die Disziplin und gelten als weniger ge-
neigt zu Unterschlagungen als Männer. In der Regel
tuen sie ihre Arbeit intelligent, akkurat und unter ge-
wöhnlichen Umständen fast ebenso schnell als Männer;
aber bei Arbeitsanhäufung können sie bei schwereren
Aufgaben, besonders beim Bedienen der Wheatston-
schen Brücke und dgl. mit Männern nicht konkurrieren.
Ein anderer Bericht bezweifelt, dass Frauen befähigt
sind, die ununterbrochene, dringende Arbeit an dem
Schalter eines Hauptpostamtes zu leisten, gewöhnlich war
dazu männliche Hilfe nötig. Ein anderer Postdirektor
gibt als Regel an, dass Telegraphistinnen im Schalter-
dienst befriedigendes leisten, dass sie aber unter unge-
wöhnlich schweren Umständen den Leistungen männ-
licher Beamter nicht gleichkommen, und dass sie im
allgemeinen mehr Fehler machen als Männer; auch
können sie unter den Telegraphenboten nicht recht
Ordnung und Disziplin aufrecht erhalten. Beim Dienst
im Apparatensaal leisten sie ungefähr dasselbe wIe
Männer und bedienen mässig in Anspruch genommen&
Leitungen gut, an den am stärksten benutzten Leitungen
müssen jedoch männliche Beamte verwendet werden;
dies gilt besonders für neu eröffnete Strecken, auch
erschwert die geringere Kraft des Handgelenks Tele-
graphistinnen das erforderliche schnelle Schreibeh und
die Ausfertigung der erforderlichen Zahl von Kopien,
Für diese Art von Arbeit sind männliche Beamte auch
deshalb verwendbarer, weil sie mehr au courant der
238 DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
Tagesfragen sind, was beim Nachrichtendienst sehr ins
Gewicht fällt. Nach einem andern Gutachten halten
Frauen als Inspektionsbeamte im Apparatenzimmer das
ihnen obliegende, beständige Umhergehen nicht recht
aus und zeigen auch keine Neigung, sich technisches
Verständnis anzueignen. Diese und andere Urteile
stimmen in der Vergleichung der Fähigkeit beider Ge-
schlechter im wesentlichen überein und zwar besonders
darin, dass Frauen leichter zu belehren und zu leiten
sind, dass sie leichte Arbeit ebensogut machen und in
mancher Beziehung ausdauernder sind; andererseits
versäumen sie häufiger den Dienst wegen geringfügiger
Indisposition, versagen schneller unter starker Inan-
spruchnahme (obgleich sie in Beziehung auf Dienst-
stunden etc. rücksichtsvoller behandelt werden), und
zeigen weniger Intelligenz für ausserhalb der laufenden
Arbeit liegende Aufgaben, wobei sie besonders weniger
Lust und Fähigkeit zeigen (vielleicht weil sie doch mehr
mit Heiratsgedanken beschäftigt sind), sich aus- und
fortzubilden. In London hat man’ allgemein die Er-
fahrung gemacht, dass weibliche Beamte unhöflich gegen
das Publikum sind; es laufen soviel Klagen in dieser
Richtung ein, dass manche Vorgesetzte deswegen
Frauen nicht verwenden wollen, Einzelne Provinzial-
ämter berichten jedoch gerade das Gegenteil, vielleicht
spielt die Haltung des Publikums dabei eine Rolle,
Leider erleichtern die Postbehörden die Registrie-
rung oder doch jedenfalls die Veröffentlichung hierher-
gehöriger Beobachtungen durchaus nicht, obschon diese
Fragen bei der heutigen Ausdehnung der Frauenarbeit
von grossem und allyemeinem Interesse sind. Anstatt
derartige Erhebungen zu erschweren, die ja sekrete
Angelegenheiten nicht zu berühren brauchen, sollte das
Postamt einen Beamten haben, der einschlägige Beobach-
tungen zu sammeln und statistisch zu bearbeiten hätte.
Seine Berichte würden wertvolles Material liefern für
die Frage der Verwendbarkeit beider Geschlechter für
vielfache Aufgaben. Ein vor Kurzem erschienener Artikel
des Sekretärs der Post- und Telegraphen-Beamtenver-
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
239
einigung (C. H. GARLAND, „Women as Telegraphists‘“,
Economic Journal, Juni 1907) zeigt, dass alle euro-
päischen Verwaltungen dieselben Erfahrungen mit Tele-
graphistinnen gemacht haben.
Sıonzeyr Wess, der einige: der eben berührten Fak-
toren allerdings mehr vom ökonomischen als vom pSy-
chologischen Standpunkte aus untersucht hat, kommt
zu folgenden Schlüssen: „Die Neigung der Arbeitgeber,
Frauen zu beschäftigen, ist oft weniger durch die tat-
sächliche Billigkeit ihrer Arbeitslöhne bedingt, als durch
ihre Lenkbarkeit und ihren geringeren Korpsgeist.
Frauen striken weniger, sagte ein Arbeitgeber. Etwas
ähnliches wird berichtet bezüglich der schwarzen Arbeiter-
bevölkerung in den amerikanischen Südstaaten. Es
ist schwer, zu ‚allgemeinen Schlüssen zu kommen,
aber es scheint mir, als wären die geringeren Arbeits-
löhne der Frauen bedingt durch eine meist quantitative,
manchmal auch qualitative Inferiorität ihrer produktiven
Kraft und fast immer durch einen geringeren Reinge-
winn des Arbeitgebers. Die Ursachen der Ungleichheit
der Löhne für beide Geschlechter sind zahlreich und
verwickelt, und wahrscheinlich spielt die Frauenfrage im
eigentlichen Sinne gar keine Rolle dabei.“ (Sınney WEBB,
Alleged Differences in the Wages etc. Econ, Journ. 1891.)
Es steht gewiss im Zusammenhang mit dem, was
BucKLE den speziellen deduktiven Hang des weiblichen
Geistes genannt hat, dass Frauen den höchsten. Erfolg
immer auf dem Gebiete der Mathematik erreicht haben‘).
Das ist seit Jahrhunderten der Fall und selbst heute,
wo die biologischen Wissenschaften in so grosser Aus-
dehnung kultiviert werden und den Frauen überall offen
stehen, erreichen sie anscheinend den meisten Erfolg in
den mehr mathematisch betriebenen Gebieten der Natur-
wissenschaft. .
Die höheren und mehr aussergewöhnlichen intellek-
tuellen Fähigkeiten ‚beider Geschlechter lassen sich
leichter miteinander vergleichen, als ihre Durchschnitts-
fähigkeiten, obschon wir in beiden Fällen vor derselben,
heute noch nicht in befriedigender Weise lösbaren
Pa
‘{)
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
Schwierigkeit stehen, nämlich der, genau die Grenze
zwischen der organischen Konstitution und dem Einflusse
der Erziehung zu kennen,
Es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass
es ein absolut abstraktes von sensorischen und emotiven
Elementen völlig freies Denken nicht gibt. Der Ge-
danke, den wir abstrakt nennen, hat seine Grundlage
in dem organischen und affektiven Charakter des Indi-
viduums. Beim Weibe scheint das abstrakte Denken
sich gewöhnlich durch eine gewisse Empfänglichkeit und
Gelehrigkeit auszuzeichnen. Selbst in trivialen Fragen
nimmt das Weib im Durchschnitt leichter Behauptungen
und Meinungen an, als der Mann und in ernsteren Fragen
ist sie bereit, für eine Ansicht zu sterben, vorausgesetzt,
dass dieselbe mit genügender Autorität und Salbung
vorgebracht wird, um ihr Gemütsleben anzuregen. Dies
hängt mit der weiblichen Suggestibilität zusammen und
scheint auf einer organischen Grundlage zu beruhen,
so dass selbst da, wo eine energische-Erziehung zu
abstraktem Denken ein Nachgeben gegenüber diesem
Instinkt nicht zulässt, doch immer ein Kampf der Ten-
denzen besteht. Oder aber die rein rationelle Methode
des Denkens triumphiert und oft auf gewaltsame Weise
durch eine vollständige Unterdrückung aller anderen Ele-
mente. Pror. StAnLEey HaıL bemerkt gelegentlich einer
Reihe sehr sorgfältiger und interessanter Untersuchungen
an Kindern, dass das normale Kind den Heroismus der
Selbstaufopferung viel früher empfindet, als es die Er-
habenheit der Wahrheit zu begreifen imstande ist®).
In dieser Hinsicht gleicht das Weib dem Kinde und
der Grund dafür scheint ebenfalls in den organischen
Tatsachen des weiblichen Lebens zu liegen. \
f
1) Mathematiker neigen dazu, mehr Bewunderung für die
Intelligenz der Frauen zu zeigen, als Männer, die auf anderen
Gebieten der Wissenschaft arbeiten. |
?) „Childrens Lies“ (Am. Journ. of Psych. Jan. 1890). .
3) Es gibt bedeutend mehr Frauen als Männer, die mit Mrs.
Besant sagen können: „Wenn ich auf mein Leben zurückblicke,
so finde ich, dass der Grundton, selbst aller Fehler und blinden
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG. 241
Wir müssen ohne Zweifel BurRDdAacH zustimmen,
wenn er sagt: „Die Frauen akzeptieren die Wahrheit,
wie sie sie finden, während Männer das Bedürfnis haben,
Wahrheit zu schaffen.“ Letztere Methode führt ohne
Zweifel weiter, wenn auch oft nur weiter in Irrtümer
hinein. Der Grund hierfür liegt nicht allein darin, dass
Frauen bereitwilliger sind, das Feststehende oder das,
was am meisten mit dem äusseren Anschein!) über-
einstimmt, zu akzeptieren, so dass es z. B. undenkbar
wäre, dass eine Frau das Copernikanische Weltsystem
entdeckt haben sollte, sondern auch darin, dass Frauen
weniger dazu befähigt sind als Männer, selbständig
Zu sein.
Es ist nicht leicht, Beispiele von Frauen zu finden,
die sich langsam, geduldig und unaufhaltsam, trotz all-
gemeiner Gleichgültigkeit, ihren Weg zu voller Ent-
wicklung und Anerkennung erkämpfen, wie es einem
so tatkräftigen Mann, wie BaıLzac, gelang, abgesehen
Irrtümer und plumpen Torheiten, die Sehnsucht war, mich für
etwas, das ich grösser fühlte als mein eigenes Ich, aufzuopfern“.
(Autobiographie S. XIV.) Während der Instinkt der Selbstauf
opferung bei Frauen etwas Gewöhnliches ist, kann man nicht be-
haupten, dass bei den Männern die „Achtung vor der Erhaben-
heit der Wahrheit“ in ähnlicher Intensität und Ausdehnung vor-
handen wäre.
ı) Hier muss der Einfluss der Erziehung in Rechnung ge-
zogen werden. Frauen werden dazu erzogen, konventionelle Vor-
bilder anzuerkennen. So hat eine sorgfältige Untersuchung (von
Prof, StAnLey HaıL) an. mehreren hundert amerikanischen Kin-
dern über ihre Begriffe von Recht und Unrecht gezeigt, dass die
Antworten der Mädchen von denen der Knaben abweichen.
Mädchen nennen öfter spezielle und doppelt so oft als Knaben,
konventionelle Handlungen; erstere besonders, wo_ es sich um
Dinge handelt, die recht, letztere, wo-es sich um solche handelt,
die unrecht sind. Knaben sagen, es sei unrecht, zu stehlen, zu
Schlagen, zu stossen, Fenster einzuwerfen, sich zu betrinken,
Andere mit Stecknadeln zu stechen, sie zu schimpfen, oder auf
Sie zu schiessen, während kleine Mädchen meinen, es _ wäre Un-
recht, sich nicht zu kämmen, Butterflecke in seine Kleider zu
machen, auf Bäume zu klettern, zu schreien, Fliegen zu fangen etc.
(Pedagog. Seminary Bd. I, 1891, p. 165.)
Man denke indessen an das Wort SEenEecas: Palt natae, und
an MonTAiGNnes: leur roolle est souffrir, obeir, consenlir.
Ellis Mann und Weib 2. Aufl.
18
242
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
davon, dass eine begabte Frau gewöhnlich mehr Herr
über ihre Fähigkeiten ist und meist schon früh ein ge-
wisses Mass von Anerkennung und. Erfolg erreicht.
Noch schwieriger ist es, eine Frau zu finden, die, trotz
Widerwärtigkeiten und Verachtung, mehr oder weniger
erfolgreich nach. einem abstrakten intellektuellen Ziel
gestrebt hat, wie RoGEr BACOoNn, GALILEI, ‚WAGNER oder
Issen es vermochten. Das Weib hat nicht nur ein
grösseres Bedürfnis nach Sympathie, sondern es fehlt
ihr auch die dem Manne eigene hartnäckige Unab-
hängigkeit. Der Held von Issens Volksfeind, der zu dem
Schlusse kommt, der stärkste Mann ‚sei der, welcher
allein steht, hätte schwerlich eine Frau sein können.
Wenn, ein Mann an progressiver Paralyse erkrankt, so
entwickelt er in dem begleitenden Grössenwahn einen
hohen Grad von Egoismus und Selbstbewusstsein, bei
einer Frau zeigt sich jedoch in dem Erregungszustand
dieser Krankheit nicht selbstbewusster Egoismus, son-
dern äusserste Eitelkeit. In beiden bringt die Krank-
heit die verborgenen Tendenzen an den Tag: die des
Mannes nach Unabhängigkeit, die des Weibes nach
Abhängigkeit von der Meinung Anderer, Dazu
kommt, dass die offenbare Tendenz des Weibes, sich
durch unmittelbar gegebene Tatsachen lebhaft beein-
flussen zu lassen und mehr versteckte zu vernachlässigen,
mit philosophischem Denken, welches alle Dinge sub
specie aeternitatis sehen muss, unvereinbar ist. Wahr-
scheinlich muss man es diesen Ursachen zuschreiben,
dass sich unter Philosophen ersten Ranges kein einziges
Weib befindet, während. unter denen zweiten und dritten
Ranges Frauen, die wie HypPATIA, ConsTAnzeE NADEN einen
ehrenvollen Platz einnehmen, selten sind.
Hypatıa ist‘ zwar sehr berühmt, im übrigen haben
wir aber keinen Grund, ihr eine besondere Bedeutung
beizumessen. Dass sie ein starker und kritischer Geist
war, für den männlichen Geschmack sogar etwas zynisch,
zeigt die unübersetzbare Anekdote, die Sumas, der aller-
dings nicht als einwandfreie Autorität gelten kann, be-
richtet: „Cum de auditoribus quidam eam deperiret,
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
243
Pannos mensibus foedatos illi ostendisse dicitur et dixisse:
‚Hoc quidem adamas, o adolescens‘; et sic animum ejus
Sanasse“, ARıstTIPP (von Cyrene) hinterliess sein System
Seiner Tochter Arete, die ihren Sohn zum Philosophen
heranbildete. GoMperRz bemerkt in seinem Werke über
die griechischen Denker dazu, das sei „das einzige Bei-
Spiel in der ganzen Geschichte der Philosophie, wo der
Faden der Tradition durch die Hände einer Frau ge-
gangen ist, ein Umstand, der vielleicht zu der Schönheit
des daraus hervorgehenden Ergebnisses beigetragen
hat“, Lomsroso und FERRERO erwähnen die merkwürdige
Tatsache, dass im griechischen Altertum sich 34 Frauen
in der pythagoreischen Schule der Philosophie und nur
3 Oder 4 in irgend einer anderen philosophischen Schule
ausgezeichnet haben, in der zynischen nur eine. Nach
diesen Autoren käme das daher, dass die pythagoreische
Schule „eine Art klösterlicher Gemeinschaft war, die
Sich mehr an das Gemüt als an die Intelligenz wendete,
etwa der Gesellschaft Jesu vergleichbar, mit Riten, die
besondere moralische Ziele hatten und die Pflichten des
Familienlebens einschärften‘“, Dass COnsTANzE NapeEn in
hohem Grade eine Neigung zur philosophischen Speku-
lätion besass, ist zweifellos, obgleich sie, vielleicht wegen
Ihres frühen Todes, kein Monument ihres philosophischen
Denkens hinterlassen hat, HERBERT SPENCER hat in einem
Briefe, der vor einigen Jahren durch die Zeitungen lief,
folgende Bemerkungen über sie und über die weibliche
Intelligenz im allgemeinen gemacht: „Sehr selten sind
Rezeptivität und Originalität nebeneinander vorhanden,
In Ihrem Geiste scheinen sie jedoch gleich gross gewesen
Zus ein. Ich erinnere mich an keine Frau, mit Aus-
Nahme von GEoreE EuioT, welche dieselbe Vereinigung
YON grosser philosophischer Begabung mit allseitiger
Empfänglichkeit besessen hätte, Sicher hätte NADEN’s
feiner Geist viel zur F örderung des philosophischen Ge-
dankens tuen können und ihr Tod bedeutet einen grossen
Verlust. Ich kann bei dieser Gelegenheit jedoch nicht
ümhin zu bemerken, dass in ihrem, wie in anderen
Fällen eine so hohe geistige Entwicklung bei einem
16*
244.
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
Weibe einigermassen abnorm ist und auf Kosten der
Organisation unterhalten wird, was der Körper. des
Weibes nicht ohne mehr oder weniger tiefe Schädigung
ertragen kann.“
PauL LarırrE macht einige erwähnenswerte Be-
merkungen über die Unterschiede der höheren geistigen
Eigenschaften bei Mann und Weib, die viel verständiger
und gerechter sind als derartige Beobachtungen sonst
zu sein pflegen. Er weist auf die starke Entwicklnng
der Rezeptivität beim Weibe hin und fährt dann fort !):
„Wenn Kinder beider Geschlechter zusammen erzogen
werden, so sind die Mädchen während der ersten Jahre
an der Spitze; es handelt sich um diese Zeit wesentlich
um die Aufnahme und Bewahrung von Eindrücken,
und wir sehen alltäglich, dass Frauen durch die Leb-
haftigkeit ihrer Eindrücke und ihr Gedächtnis ihre männ-
liche Umgebung in den Schatten stellen. Zu diesen
Anlagen kommt der angeborene Sinn der Frauen für
Symmetrie und daraus erklärt sich, dass sie geometri-
schen Unterricht gewöhnlich mit Erfolg geniessen,
Dem entsprechend glänzen Studentinnen der Medizin beim
Examen in der Physiologie und allgemeinen Pathologie
und zeigen darin eine Klarheit in der Auffassung von
Tatsachenreihen, die geradezu frappiert; dagegen sind
sie entschieden inferior in klinischen Untersuchungen,
bei denen andere geistige Eigenschaften in Frage kommen.
Im allgemeinen sind Frauen mehr für Tatsachen als
für Gesetze empfänglich, mehr für konkrete, als für
allgemeine Gedanken. Wenn man irgendwo ein
Urteil über einen Bekannten abgeben hört, so wird das
des Mannes wahrscheinlich richtiger in den allgemeinen
Umrissen sein, Nüancen des Charakters werden aber
Frauen besser auffassen; eine stereotype Bewegung, ein
häufig angewandtes Wort, eine in gewissen Augen-
blicken auftretende Falte, ein Blick, ein Lächeln, das
alles bemerkt, katalogisiert und interpretiert eine Frau
am -besten. Dieselben Unterschiede zeigen sich in
1) PAUL LarıtTte, Le Paradoxe de Pegalite 1887, p. 117.
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
245
literarischen Arbeiten; an dem Buche einer Frau, sei
es nun Frau v. StAEL oder GEoreE ELIOT, ist das Detail
wertvoller als das Ganze. Niemand bezweifelt, dass die
Frauen uns im Briefstil überlegen sind. Woher diese
Überlegenheit? Wir verfassen einen Brief, wie wir einen
amtlichen Bericht abfassen würden und schreiben ihn
kühl nieder, eine Frau dagegen steht immer unter dem
Eindruck der Tatsachen, die sie schildert, und so bleibt
ihre Schilderung, ohne Aufwand an Rhetorik, immer
lebendig und treffend. Ebenso wie die Fähigkeiten
weicht die Denkweise der beiden Geschlechter von ein-
ander ab; wir Männer interessieren uns mehr für die
Beziehungen zwischen den Dingen als für die Dinge an
sich. LABRUYERES Genie hat, wie sich an mehr als einer
Stellen zeigt, einen entschieden weiblichen Zug, wogegen
der Genius des DEscARTES einen ausgesprochen männ-
lichenTypus zeigt. Eine Frau hätte wohl die Caract@res
Schreiben können, jedoch bezweifle ich, dass eine Frau
etwas wie den Discours de la Methode hervorzubringen
fähig wäre. Mit einem Wort: es gibt äquivalente Fähig-
keiten, aber sie sind nicht bei beiden Geschlechtern
dieselben.“
Ich möchte noch hinzufügen, dass eine Anzahl von
Frauen, die sich mit Mathematik beschäftigt haben,
Zu einer gewissen Berühmtheit ‚gelangt sind, obschon
keine von ihnen aussergewöhnliche Leistungen aufzu-
Weisen hat. So veröffentlichte im 17. Jahrhundert
Marıa Lewen ein Buch mit astronomischen Tabellen;
die MARQuIsE DU CHATELET übersetzte NEWTONS Princıpia
und schrieb mehrere gelehrte Abhandlungen, obwohl sie
zugleich für Putz, Diamanten und Marionetten den
lebhaftesten Geschmack hatte. MaDame LEPAUTE schrieb
für das von ihrem Manne herausgegebene Werk Horologie
eine Tabelle der Pendellängen, und half ihm bei der
Berechnung der Störungen des HALLEYSCHEN Kometen,
einer Arbeit, die, wie LALANDE sagt: „uns 6 Monate lang
Von früh bis abends beschäftigte; wir rechneten sogar
Manchmal während der Mahlzeiten“; MARIA AGNESI
Schrieb ein Buch über Differential- und Integralrechnung,
246
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
das von Mathematikern hochgeschätzt wird. LAURA
Bassı hatte eine Professur in Bologna und war zugleich
das Muster einer Gattin und Mutter; Mıss HERRSCHEL
war ihrem Bruder ein wertvoller Gehilfe. Mrs. SoMeR-
VILLE hatte ihrer mathematischen und allgemeinen
wissenschaftlichen Begabung wegen einen grossen Ruf.
SorHe GERMAN lieferte wichtige Beiträge zur Theorie
der Elastizität, und SorHE KowALEWwskA verdankte ihrer
hohen mathematischen, Begabung einen Lehrstuhl in
Schweden. (Viele dieser Tatsachen sind Dr. BEALES
Reports issued by the Schools Inquiry Commission on
the Educatton of Girls p. XIII entnommen. In dieser
Sammlung von Berichten seitens durchaus kompetenter
Forscher finden sich zahlreiche interessante Meinungs-
äusserungen über die geistige Befähigung der Frauen
und über die Natur und Resultate ihrer Erziehung.)
Auch in der Philosophie scheinen die Frauen zıem-
lich eng begrenzte Neigungen zu haben. Bei den
Damen beliebte Philosophen sind, nach den Erfahrungen
eines bekannten. Buchhändlers im Londoner West-End:
SCHOPENHAUER, PLATO, Marc AuREL, EpictTer und Rznanl),
das heisst, die konkretesten unter allen abstrakten
Denkern, zugleich die poetischsten, die persönlichsten
und vor allem die religiösesten finden bei Frauen den
meisten Anklang, denn jeder einzige dieser Philosophen
st von religiösen Gefühlen durchdrungen.
Dies führt zu einer Untersuchung der Frage,
welche Rolle Frauen bei der Bildung von Religionen
gespielt haben, Niemand wird das Vorhandensein
religiöser Tendenzen beim Weibe bestreiten, gleichviel,
welche organische Basis dieser Erscheinung zugrunde
liegt. Welchen Anteil haben nun innerhalb historischer
Zeit Frauen an der Entstehung neuer Religionen ge-
habt?
Ich habe, um diese Frage zu beantworten, das zu
Anfang dieses Jahrhunderts veröffentlichte Dictionary
of all Religions durchsucht. Es bildete eine fesselnde,
1) Westminster Gazette 13. Mai 1893.
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUN G. 247
wenn auch schmerzliche Seite der Geschichte - der
Menschheit. In diesem Buche wird über ungefähr
600 Religionen und Sekten berichtet, von/denen nur 7
durch Frauen gegründet worden sind. Das will sagen,
dass von all den grossen religiösen Bewegungen der
Welt 99 unter 100 ihren ersten Impuls von Männern
erhalten haben, so bereit die Frauen auch immer waren,
sich ihnen anzuschliessen. Die betreffenden Sekten sind:
die Bourignonisten, die Buchanisten, die Philadelphianer,
die Southcottianer, die Victimianer, die „Universal
Friends“ und die Wilhelmianer. Aus neuerer Zeit liessen
sich hier noch einige hinzufügen, wodurch jedoch das
Verhältnis nicht wesentlich verändert werden würde.
Es ist interessant, den Charakter dieser, durchgehends
mehr oder weniger christlich gefärbten, meist in den
letzten Jahrhunderten entstandenen Sekten etwas näher
zu betrachten.
Map. Bovrıecnon, aus Flandern gebürtig, war So
missgebildet, dass man bei ihrer Geburt im Zweifel
war, ob man sie nicht als Wechselbalg ersticken sollte.
Sie verband grosse Geisteskraft mit einem vagen und
Wenig wählerischen Mysticismus, — eine keineswegs
ungewöhnliche Kombination — verlangte Nachgiebig-
keit gegenüber inneren Impulsen, Ergebung in den
göttlichen Willen und verwarf alle äusseren Formen
der Gottesvermehrung. Sie war dem Katholizismus
und dem Protestantismus gleich abgeneigt und ihre
P ersönlichkeit war stärker als die Bewegung, die sie
ins Leben gerufen hatte. Mrs. BucHAN aus Glasgow
repräsentiert einen anderen Typus. Sie hielt sich für
das Weib der Apokalypse und glaubte, ihre Anhänger
in den Himmel führen zu können, ohne dass sie vorher
ZU sterben brauchten; indessen starb sie selber bald und
ihre Sekte mit ihr. Höchstwahrscheinlich war sie gelstes-
krank. Die Philadelphianer waren eine von JANE
LeADLEY in der letzten Hälfte des 17. Jahrhunderts ins
Leben gerufene Sekte von Mystikern. Die Anschauungen
dieser Sektiererin erinnerten in vieler Hinsicht an die
der Bovrıcnon, und die „Philadelphische Gesellschaft“ war
Aa an)
Bi]
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
eine Körperschaft von beträchtlicher Bedeutung, zu der
viele gelehrte Männer gehörten. JoHANNA SouTHCOTT und
ihre Wahnideen machten zu Anfang dieses Jahrhunderts
so grosses Aufsehen, dass man sich heute noch recht
wohl daran erinnert. Auch sie wird schwerlich geistig
gesund gewesen sein. Die Gesellschaft der Victimianer
war eine im ı8ten Jahrhundert vor MAD. BREHAN ZU-
sammengebrachte wunderliche Gruppe von Asketen;
diese Sekte war ziemlich verschroben und scheint nur
wenig Lebensfähigkeit besessen zu haben. Die Gemein-
schaft der „Universal Friends‘‘ wurde im vorigen Jahr-
hundert in Amerika von Jemina WıLkınson gegründet.
Sie hatte in jugendlichem Alter einen Anfall von ver-
zückter Ekstase, wurde inspiriert und konnte angeblich
Wunder tun, sagte sich von den Quäkern los und
gründete eine Stadt namens Jerusalem; ’sie predigte mit
grosser Beredtsamkeit und soll im übrigen eine ehrgeizige,
egoistische Person gewesen sein, die durch die Stiftungen
ihrer Gläubigen ihr Privatvermögen vergrösserte, Wil-
helminianer (im ı3. Jahrhundert) waren die Anhänger
der Böhmin WiıLHELMINA, die sich für eine Inkarnation des
heiligen Geistes hielt und den nicht unschönen Gedanken
hatte, dass, während das Blut Christi nur die frommen
Christen erlöste, durch sie Juden, Sarazenen und un-
würdige Christen des Heils teilhaftig werden sollten.
Im ganzen kann man nicht behaupten, dass diese
Sekten einen schlechten Eindruck machen, besonders
wenn man den Charakter der religiösen Sekten im: all-
gemeinen in Betracht zieht. Sie waren tolerant, mit
starker Tendenz zu Mystizismus, Verachtung gegen
Riten und Äusserlichkeiten und einem stark ausge-
sprochenen Element mildtätiger Nächstenliebe, Jedoch
bleibt die merkwürdige Tatsache bestehen, dass, wäh-
rend Frauen gewöhnlich den grösseren und zugleich
den eifrigeren, unermüdlichen Teil der Gefolgschaft
einer Religionssekte bilden, sie doch nur äusserst wenig
Sekten selbst ins Leben gerufen haben, und dass diese
wenigen noch eine geringe oder gar keine Lebensfähig-
keit besassen. Frauen haben sich gewöhnlich damit
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
249
begnügt, die Religionen anzunehmen, wie sie ihnen ge-
rade begegneten, und in ihrem Eifer haben sie die
Fähigkeit für kühle, klarblickende Organisation und
Beobachtung des Details verloren. Sie liefern viel von
der Glaubenssubstanz, wenn ein Mann die Form schafft,
in die sich dieselbe ergiessen kann. Das Studium der
Heilsarmee, der bemerkenswertesten religiösen Bewegung
unserer Zeit, ist in dieser Hinsicht von hohem Interesse.
Frauen haben im Christentum von seinem Beginn
an eine hervorragende Rolle gespielt, wenn sie auch,
wenigstens in der allerersten Zeit, nicht hervortraten.
In der Regel nehmen Frauen nur geringen Anteil an
Revolutionen (einen weit grösseren dagegen an Re-
volten von mehr überstürztem und flüchtigem. Cha-
rakter), jedoch finden wir bei einer Prüfung der Grab-
inschriften in den Katakomben, wie sie Dr. Rossı in
seinem Werk Za Roma Sotterranea gibt, dass 40°
der dort Begrabenen Frauen waren. (LOMBROSO und
Lasom: Der politische Verbrecher, Hamburg 1893, Bd. IN).
Frauen spielten ohne Zweifel eine ebenso grosse
Rolle im religiösen Leben auch vor der Ausbreitung
des Christentums. Unter den donarıa, welche Römer
den Heilung gewährenden Göttern spendeten, finden
sich Köpfe jeden Alters. SAMBon sagt darüber: „Einige
wenige sind die bärtiger Männer, sehr viele die von
Kindern und Jünglingen, aber die grosse Mehrzahl von
Frauen jeden Alters. (L. Samson, Donarıa of medical
interest, Brit. med. Journ., 20. Juli 1895.) Wenn wir
nun fragen, welche definitiven und dauernden Beiträge
diese stattliche Armee weiblicher Anhänger zu dem
Autbau der katholischen Kirche geliefert hat, so finden
wir eine kurze aber massgebende Antwort in Kardinal
Mannınes Vorrede zu der Übersetzung des schönen
kleinen Buches der hl. KATnarına von Genua: Z7ealise
on PP urgalory:1) „Zwei der grössten Feste der katholi-
ZZ
L 2) Eine interessante katholische Mystikerin war SUSANNE
ABROUSSE, deren ekstatische Begeisterung sich nach _anfangs
we religiösen Einwirkungen als Tertianerin ın eigentümlicher
eise mit republikanischen und Kkirchenreformatorischen Ge-
250
° DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
schen Kirche sind aus der Erleuchtung einfacher, un-
gelehrter Frauen entstanden.. Das Fronleichnamsfest
verdanken wir der Hingebung der hl. JuvuLiANE von
Retinne; das Fest des hl. Herzens der hl. MARGARETA
Masıa. Der hl. KATHARINA von Siena liess unser Herr
die Ehre zuteil werden, den Papst aus seiner glänzen-
den Verbannung zu Avignon auf den apostolischen
Stuhl zurück zu berufen. Der hl. Tueresa verlieh er
die besondere Gabe der Erleuchtung, die Wege zu
einer Vereinigung mit ihm im Gebet zu lehren. Der
hl. AnceLA von Foligno offenbarte er die 7 Grade der
Zerknirschung und die 5 Grade seiner Armut und der
hl. KATHARINA von Genua verlieh er eine Einsicht und
Anschauung der Zustände des Fegefeuers, die sich
ganz äussern wie die Gefühle eines, der dort seine
Liebe büsst.“
danken verknüpfte. (S. CHr. MorzaU, Une revolutionaire mystique,
Paris 1886; DE CosTA Gumarafs, La Pathologie des Mystiques,
pP’ 15—28, 1903.) Sie glaubte nach einer Vision in ihrem 13. Jahre
(1760) fest an ihre Mission, fastete streng, kasteite sich und schnitt
sich, um ihre Freier abzuschrecken, eines Nachts die Haare kurz
ab; ein andermal bedeckte sie sich, ‚um nicht Nachstellungen zu
erfahren, das ganze Gesicht mit Atzkalk. Mit 22 Jahren hat sie
vage Reformprojekte für die Kirche, bestürmt Geistliche und
Bischöfe jahrelang mit Manuskripten.
Zu Beginn der Revolution bestimmen sie zwei staatstreue
(„konstitutionelle“) Geistliche, PonTARD und Don Gertıe, nach
Paris zu kommen, wo ihre Visionen und Extasen von den anti-
ultramontanen, konstitutionellen Geistlichen im Kampf gegen die
royalistischen und papistischen Klerikalen ausgenutzt wurden.
Am ı1o. Februar 1792 billigt eine Versammlung von acht
konstitutionellen Bischöfen ihr „Projekt“. Sie wird im Palais der
Herzogin von Bourbon aufgenommen, als Prophetin konsultiert,
und beschäftigt sich hier mit Mesmerismus und Alchemie. Dann
bricht sie nach Rom auf, wo sie „ihr Projekt“ dem Papst vorzu-
legen, und ein grosses Wunder an sich selbst zu vollziehen ver-
spricht; sie kommt, überall predigend, bis Viterbo, wo sie von
päpstlichen Agenten aufgegriffen. und als „verrückt und gemein-
getährlich“ gefangen in die Engelsburg, gebracht wird; das Di-
rektorium erlangt auf diplomatischem Wege ihre Haftentlassung,
sie weigert sich aber, das Gefängnis zu verlassen und geht erst
nach der Einnahme und Okkupation Roms durch die Franzosen
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG. 251
Es ist auffallend, dass Frauen sehr viel weniger
geistige Fähigkeiten in der Schöpfung von Religionen
als auf dem, hiervon so verschiedenen Gebiete der
Politik bewiesen haben. Vor mehr als 60 Jahren hat
BurDdacH gesagt, dass Frauen sich aller Wahrscheinlich-
keit nach besser für die Politik eignen würden als
Männer, und als Beweis hierfür die grosse Zahl be-
gabter Regentinnen!) angeführt. Viele Jahre später
machte J. St. MııLL in seinem Buch Dre Hörigkeit des
Weirbes eine ganz ähnliche Bemerkung. Unter allen
Rassen und in allen Teilen der Welt haben Frauen
ausgezeichnet regiert, mit vollendeter Herrschaft selbst
über die wildesten, turbulentesten Horden. Bei vielen
primitiven Völkern liegen auch alle diplomatischen
Verhandlungen mit anderen Stämmen in den Händen
der Frauen, die sogar nicht selten über Krieg und
nach Paris zurück; hier lebt sie vom Ertrage der ihr bei ihrem
ersten Auftreten schon reichlich zugeflossenen Legate; ihre Fa-
milie versucht nach ihrem Tode (1821) vergeblich, ihr Testament
auf Grund von Geistesstörung anzufechten.
Man fand nach ihrem Tode eine grosse Zahl von Manu-
Skripten bei ihr; ein Teil davon war 1797 herausgegeben worden
{Ponrarp, Recueil des ouvrages de la celebre MLLE. LABROUSSE,
Bordeaux 1797).
„Seit 1779 verlangte sie die Erneuerung der Kirche, und sagt
ein Wunder voraus, das ihre Mission offenbar machen wird; es
Sollte darin bestehen, dass sie sich vor dem ganzen Universum
als Zuschauer vollkommen verwandeln und aus der Klasse der
Naturwesen heraustreten würde. Im Jahre 1790 glaubt sie „den
Augenblick gekommen, wo es für Frankreich notwendig ist, die
von ihr vorgeschlagenen Mittel anzuwenden, dann würde man
binnen 24 Stunden Frieden und Ruhe wiederkehren sehen; wenn
Nicht, würde es die Nation einen‘ furchtbaren Aderlass kosten“.
Bde erklärt sie sich als „parfaitement libre, und bereit, nach
illigung durch die Bischöfe ihre Mission durch ein Wunder zu
erfüllen‘.
R Auf diese Weise kamen die „staatstreuen“ Geistlichen der
Re olution zur Mitwirkung einer, auf einen gewissen, noch an der
Muche hängenden, Teil der revolutionären Massen einflussreichen
S yötkerin; man bestärkt sie in dem Projekt, den Papst in Rom
C'bst für die „constitution civile du clerge“ zu gewinnen: „la
Constitution civile du clerge est chose divine“.
1) Physiologie, Band I, S. 338.
252
DIE INTELLEKTUELLE BEGABUNG.
Frieden zu entscheiden haben. Das Spiel der Politik
scheint bei denen, die es spielen, spezifisch weibliche
Eigenschaften zu entwickeln und es ist vielleicht gar
kein grosses Kompliment für die Frauen, wenn wir
BurDdacH beistimmen. Sobald ihre Erziehung gesund
und umfassend genug ist, um sie instand zu setzen,
sich von Tändeleien und Sentimentalitäten loszumachen,
werden Frauen, aller Wahrscheinlichkeit nach, in wenig-
stens demselben Grade wie Männer die Fähigkeit be-
sitzen, praktische politische Angelegenheiten zu hand-
haben.
Man kann nicht behaupten, dass ich in diesem
Kapitel zu sehr bestimmten Resultaten gekommen wäre.
Einige wenige sorgfältige Untersuchungen, die aber noch
der Bestätigung und weiteren Ausdehnung bedürfen,
einige Beobachtungen über formlose Tatsachenmassen,
die in praktischer Lebenserfahrung aufgehäuft sind und
die ihren Wert haben, wenn sie auch in mannigfacher
Weise ‚missverstanden und falsch ausgelegt werden
können, — das ist alles, was die empirische Psychologie
bisher als Material über die intellektuellen Unterschiede
der Geschlechter der Diskussion zu bieten hat, Über
dies hinaus ist alles blosse Spekulation, die sich auf
vorübergehende soziale und erzieherische Unterschiede
gründet, und zwar in einem Umfange, der sich bis jetzt
noch nicht voll beurteilen lässt.
IX. Kapitel.
Der Stoffwechsel.
Das Blut. — Die roten Blutkörperchen beim Manne zahlreicher.
— Die Hämoglobinmenge beim Manne grösser. — Das spezifische
Gewicht beim Manne höher. — Die sexuellen Unterschiede be-
züglich des Blutes fallen mit dem Erscheinen der Pubertät Zzu-
sammen. — Ansteigen der Hämoglobinmenge des Blutes beim
Weibe im höheren Alter. — Die Pulsfrequenz. — Sie ist immer
höher bei kleinen als bei grossen Säugetieren. — Geschlechts-
unterschiede bei der Species homo und bei anderen Arten. —
Sie sind nicht merklich grösser, als die Grössenunterschiede er-
warten liessen.
Die Atmung. — Die vitale Kapazität beim Manne viel grösser.
— Der Mann scheidet mehr Kohlensäure aus. — Die kostale
Atmung beim Weibe, die abdominale beim Manne. — Neuere
Untersuchungen zeigen, dass dieser Geschlechtsunterschied durch-
aus künstlich ist. — Er existiert nicht bei Frauen der Naturvölker
und nicht bei Frauen, die kein Korsett tragen. — Der Ursprung
des Korsetts. — Sein Einfluss auf die Tätigkeit der Frauen. —
Die Entwicklung des Brustkastens. — Seine Beziehungen Zur
Schwindsucht. — Kein Geschlechtsunterschied bezüglich der Tem-
| peratur nachweisbar.
Die Absonderungen. — Die Urinmenge ist beim Weibe wahr-
Scheinlich grösser, die Harnstoffmenge geringer. — Besondere auf
das Weib wirkende Einflüsse. | .
Empfänglichk eit für Gifte. — Geschlechtsunterschiede in
er elektiven Wirkung der Gifte auf bestimmte Organe. — Arsenik.
To Opium, — Quecksilber. — Spezielle sexuelle Empfänglichkeit
N ifte. — Chloroform. — Blei. — Alkohol, das beste Beispiel
er elektiven sexuellen Wirkung auf das NervensySiem. — Er
Wirkt beim Manne mehr auf das Gehirn, beim Weibe auf das
Rückenmark.
254
DER STOFFWECHSEL.
Haar- und Pigmentbildung. — Geschlechtsunterschiede in
der Verteilung der Haare. — Augen und Haar sind beim Weibe
wahrscheinlich dunkler. — Mögliche vorteilhafte Wirkungen
dieser Verteilung.
Das Blut.
Unter Stoffwechsel verstehen wir den inneren
Lebensprozess, soweit er der chemischen und physi-
kalischen Forschung zugänglich ist und in welchem
die Gewebe des Körpers sich beständig ändern und
erneuern. Bei der Untersuchung‘ des Blutes kommen
wir dem zentralen Stoffwechsel- Vorgang am nächsten,
denn das Blut ist die unmittelbare Quelle der diesen
Prozess unterhaltenden Stoffe. Mit . Ausnahme so
elementarer Organismen, wie die Protozoen, besitzen
alle Tiere Blut, wobei allerdings seine Farbe, seine
Eigenschaften und Elemente bedeutende Unterschiede
zeigen. , Im allgemeinen kann man sagen, dass das
Blut der Wirbeltiere aus drei Elementen besteht: dem
Plasma oder dem flüssigen Vehikel, den weissen Blut-
körperchen und den roten Blutkörperchen, Davon tritt
im Lauf der Entwicklung das Plasma zuerst auf, die
roten Blutkörperchen zuletzt. Dementsprechend finden
wir beim Menschen während der Kindheit weniger rote
Blutkörperchen, als im reifen Alter, auch ist dann das
Hämoglobin (das -sauerstofftragende Element der roten
Blutkörperchen) in geringerem Betrage‘ vorhanden,
während die weissen Blutkörperchen zahlreicher sind
als im späteren Leben. (Haren).
Denis und nach ihm LeEcAanv haben zuerst auf
Geschlechtsunterschiede in der Blutzusammensetzung
hingewiesen; ihre später von BECcQuEREL und RoDIER
bestätigten Untersuchungen ergaben, dass das Blut des
Mannes weniger Wasser und mehr Blutkörperchen ent-
hält, und deshalb ein grösseres spezifisches Gewicht
besitzt, als das des Weibes; diese Ergebnisse sind
seitdem stets bestätigt worden,
Noch nicht genügend festgestellt ist, ob die weissen
Blutkörperchen beim Weibe zahlreicher sind oder
DER STOFFWECHSEL.
DB5S
nicht!), dagegen geben alle Physiologen übereinstim-
mend für das Blut des Mannes einen grösseren Gehalt
an roten Blutkörperchen an und dies Verhältnis findet
sich auch bei tiefer stehenden Säugetieren.
Caper fand beim Manne durchschnittlich 5 200000
rote Blutkörperchen gegen 4900000 beim Weibe und
einem entsprechenden Unterschied fand KORNILOFF
mit VırERorRdtsS Spektroskop. (Hayem, Du Sang; Paris
1889 p. 184 ff.) WELCKER gibt den Gehalt eines Kubik-
millimeters Blut an Blutkörperchen auf 5000000 beim
Manne und 4!/2 Millionen beim Weibe an, findet also
ein Verhältnis von 100 zu 90. LaAAcHE ermittelte an
60 Fällen beim Manne 4970000 und 4430000 beim
Weibe. MacrHAmL findet 5075000 für den gesunden
Mann und 4676000 beim gesunden Weibe. (Artikel
„Blood“, Dick. of Psych. Med.) EHrMmann und SIEGEL
geben. für den Mann 5 560000 an, für das Weib 5000000
an; Ortro fand beim Manne 4090000 und beim
Weibe 4580000.
Indessen ist die Menge des Hämoglobins ein ge-
Nnaueres Mass der funktionellen Energie des Bluts.
Nach LEICHTENSTERN ist dieselbe bei Frauen zwischen
1ı und 50 Jahren im Durchschnitt 8%o geringer als
beim Manne?). Nach M’Kznprıck enthält das Blut des
Mannes 14,5, das des Weibes 13,3% Hämoglobin;
Preyer gibt ı2—15 und 11—13°o an. Während der
Schwangerschaft ist der Hämoglobingehalt des Blutes
nur 9—12°%o. BuncE vermutet, dass in den mütterlichen
Organen schon vor der ersten Konzeption ein gewisses
Quantum von Eisen in Form von Hämoglobin aufge-
Speichert wird, um für die Versorgung der Frucht
disponibel zu sein und er hat diese Anschauung durch
den Nachweis gestützt, dass junge Tier relativ viel
mehr Eisen enthalten als erwachsene. Damit stimmen
die Resultate von FrIEDJjuNnG überein, wonach mensch-
1) Rosın beh ie , . . ;
Hayın bestreitet. auptet, sie wären zahlreicher beim Weibe, was
Leipziz „Untersuchungen über den Hämoglobingehalt des Blutes“,
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DER STOFFWECHSEL.
257
liche Milch 'einen kleinen aber konstanten Gehalt an
Eisen enthält, der im Laufe des Säugens nicht abnimmt;
in der Milch von Müttern reiferen Alters ist weniger
Eisen, und seine Abnahme kann eine Störung der Er-
nährung des Säuglings hervorrufen. Oder wir können
mit LLoyD Jonzs sagen, dass beim Weibe eine Reserve
für Gewebsbildung aufgestapelt wird, teils in Fett, teils
in Proteinsubstanzen, womit eine allgemeine Reduktion
des katabolischen Prozesses einhergeht.
_ Auch die Bestimmung des spezifischen Gewichts
isg eine geeignete Methode für die Schätzung der
Qualität des Bluts. Dasselbe ist beim Manne grösser
als beim Weibe, und zeigt eine Verringerung nach der
Nahrungsaufnahme (besonders wenn viel Wasser ge-
trunken wird), nach Körperbewegungen und während
der Schwangerschaft. In England hat Dr. LLoyD Jones
interessante Tatsachen über das spezifische Gewicht
des Blutes ermittelt. Er bestimmte dasselbe nach der
Methode von Ror an über 1500 gesunden Personen
beiderlei Geschlechts und jeden Alters. Er fand es am
grössten gleich nach der Geburt, ferner beim Weibe
im allgemeinen geringer als beim Manne, jedoch. tritt
dieser Geschlechtsunterschied vor dem 15. Jahre nicht
auf und zeigt in hohem Alter ein umgekehrtes Ver-
halten. Beim Manne beträgt das spezifische Gewicht
gleich nach der Geburt ungefähr 1066 und fällt während
der beiden folgenden Jahre bis auf ungefähr 1050 im
Üritten Jahre; es steigt nun bis gegen das 17. Jahr
und beträgt dann ungefähr 1058. Auf diesem Betrage
bleibt es bis ins mittlere Lebenalter und sinkt allmäh-
lich im höheren Alter. Bei Frauen beträgt das Spezi-
fische Gewicht bei der Geburt 1066 und sinkt wie beim
Manne in den ersten Jahren bis auf 1049 1m dritten
Jahre, um dann bis zum 14. Jahre auf 1055,5 zu Steigen.
Zwischen ı7 und 45 Jahren ist es etwas unter diesem
Niveau, und zwar um etwa 8/2 unter der des Mannes.
. Nach Dr. Luoyd Jonzs wechselt das spezifische Ge-
Wicht des Blutes auch mit der Konstitution; es ist geringer
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
17
2358
DER STOFFWECHSEL.
bei Personen mit heller Haut-, Haar- und Augenfarbe;
Jowzs vermutet, dass dieser Unterschied auf einer un-
vollkommenen Verschmelzung der die englische Bevöl-
kerung bildenden Rassen beruhe, und dass das wasser-
reichere Blut dem sächsischen und skandinavischen
Stamme gehöre. „Aus der äusseren Erscheinung eines
Individuums, Alter, Geschlecht, Haar- und Hautfarbe
kann man schon einen ziemlich zutreffenden Schluss
auf das ‚spezifische Gewicht seines Blutes machen.“
Neuerdings hat Jonzs nachgewiesen, dass trotz des ge-
ringeren spezifischen Gewichts des weiblichen Blutes
sein Plasma ein höheres spezifisches Gewicht hat, als
das des Mannes, und dass es während der Pubertät zu-
nehme, während es beim Manne stationär bleibt.
Die Geschlechtsunterschiede der Blutbeschaffenheit
treten also während der Pubertät hervor, Mit dem
Erscheinen der Menstruation sinkt das spezifische Ge-
wicht des Blutes, ihre periodische Wiederkehr. scheint
stets eine geringe Abnahme desselben hervorzurufen.
Zu den bemerkenswerten weiblichen Eigentümlichkeiten
gehört es, dass das spezifische Gewicht des Blutes
zwischen ı5 und 22 Jahren innerhalb weiter Grenzen
schwanken kann, ohne Störungen der Gesundheit; die
untere Grenze dieser Periode repräsentiert einen sehr
niedrigen Wert, Es ist dies das Lebensalter der Blut-
armut, und Jonzs deutet an, was sehr plausibel klingt,
dass die Chlorose junger Mädchen nur eine Steigerung
eines in diesem Alter physiologischen Zustandes dar-
stellt !), Bei älteren Frauen steigt das spezifische Ge-
wicht, worin Jones einen Faktor der grösseren Lang-
1) E. LLoyD Jones, On the Variations in the specific gravity
of the blood in health. (Journ. of phys. x887); „Further obser-
vations on the specific gravity of the blood“ 1891. (Letzteres
eine umfangreiche und bedeutende Monographie.) S. ferner:
„Preliminary Report on_the Causes of Chlorosis“ (Brit. Med.
Journ. 23. Sept, 1893). Jones nimmt an, dass während der Pu-
bertät innere Sekrete der Geschlechtsorgane im UÜberschusse in
das Blut gelangen und so auf komplizierte Weise die chlorotische
Blutbeschaffenheit hervorrufen.
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260
DER STOFFWECHSEL,
lebigkeit der Frauen sieht. Sicher ist gute Gesundheit
mit hohem, und schwächliche mit niedrigem Gewicht
des Blutes verbunden; Cambridger Studenten haben
Blut von sehr hohem, Knaben aus dem Armen- (Arbeits-)
hause von sehr niedrigem spezifischen Gewicht. Die
alte Vorstellung, dass Blut ein Masstab guter Rasse
ist, ist durchaus nicht absurd; die Natur charakterisiert
ihre eigentliche Aristokratie nirgends deutlicher als in
der Blutbeschaffenheit, allerdings nicht durch blaues
Blut, sondern durch die Zahl der roten Blutkörperchen
pro Kubikmillimeter, Der Geschlechtsunterschied der
Blutbeschaffenheit ist eine fundamentale Erscheinung,
deren Bedeutung nicht hoch genug angeschlagen
werden kann; jedoch wird ihr Einfluss vielleicht teil-
weise durch.andere Faktoren neutralisiert.
Die Pulzfrequenz. — Die Zahl der Pulsschläge
variiert bei verschiedenen Tieren sehr bedeutend; je
grösser der Körper, desto langsamer schlägt das Herz;
das Verhältnis dieser beiden Grössen ist nicht vollkom-
men direkt, wie eine Vergleichung der Vögel mit den
Säugetieren zeigt. Der Puls ist gewöhnlich 4mal
frequenter als die Atmung. Bei Vögeln ist die Pulszahl
sehr hoch; bei Säugetieren finden wir z. B., dass ’die
Zahl der Pulsschläge in der Minute bei der Maus 120,
beim Hunde 75, beim Pferde 42 und beim Elephanten 28
betragen. Die innerhalb derselben Spezies auftretenden
Unterschiede beruhen offenbar auf der Körpergrösse.
Grosse, kräftige Hunderassen haben einen langsameren
Puls, als kleine. Dr. SEYMUR TAyLor hat den Puls vieler
riesig grosser, muskulöser Männer untersucht, die in
Steinbrüchen und bei andern sehr schweren Arbeiten
beschäftigt, jedoch von ruhigem und überlegtem Tem-
perament waren und fand mit Erstaunen, dass sie bei
Ruhe und völliger Gesundheit 60 Pulsschläge hatten
und nur in einem Falle 40%).
Die Verschiedenheit der Pulszahl bei verschiedenen
Menschenrassen kommt wohl auf Rechnung der Körper-
1) „Remarks on slow heart“ (Lancet, 6. Juni 1891).
DER STOFFWECHSEL.
261
grösse, und nicht, wie DELAUNAY 1) meint, auf Rechnung
eines Zusammenhangs zwischen schnellem Puls und nie-
derer Organisation. So beträgt die Pulsnorm des
Franzosen (nach BEcLARD) 72, die des kleingewachsenen
Javanesen 74, der Chinesen und der Nikobaren-Insulaner
„7, während der Puls bei Asiaten und Afrikanern im
allgemeinen (nach JousseT) zwischen 77 und 86 variiert,
Übrigens fand WEISSENBERG bei den Baschkiren, deren
Durchschnitts-Statur nicht über 1661 mm beträgt, eine
durchschnittliche Pulszahl von 63.
Bei fast allen Tieren schlägt das Herz des
Männchens langsamer als das des Weibchens und bei
manchen Tieren soll — nach allerdings nicht absolut
zuverlässigen Quellen — der Unterschied beträchtlichsein;
der Puls des Löwen beträgt 40 (Dugoirs), der der Löwin
68 (Coum); der des Stieres 46, der Färse 56 (GIRARD),
der des Schafbocks 68, des Mutterschafes 80°).
Das weibliche Geschlecht beim Menschen zeigt eine
geringe, aber deutliche Differenz. Nach FRANKENHAUSEN
ist kurz vor der Geburt der Puls bei Knaben 124 bis
147, bei Mädchen 135 bis 154. DeraAuL fand bei der
Beobachtung von 41 männlichen und 29 weiblichen
Föten während der Schwangerschaft bei diesen eine
durchschnittliche Pulsfrequenz von 1309, bei jenen von
142. Nach der Geburt und einige Zeit später bleiben
die Geschlechter einander sehr nahe, und der Pulsryth-
mus erlangtseine sexuelle Eigentümlichkeit erst gegen das
zehnte. Lebensjahr; im hohen Alter zeigt sich beim
Weibe mehr als beim Manne eine Tendenz zu häufigeren
Pulsschlägen. Guy?) gibt folgende Tabelle der Puls-
zahlen nach Alter und Geschlecht:
1) DELAUNAY, Etudes de Biologie Comparee; 2m€ Partie:
Phy siologie.
2) DELAUNAY, Etudes etc. p. 47- vol e
3) Topps Cyclopaedia of Anatomy and Physlology, D. 167;
Guys Hospital Bepurts Ill, IV; Raserı „Arch. Ber F’Antropol.“
1880, pp. 46 ff.
6°
DER STOFF WECHSEL.
M.
97
84
76
73
70
68
70
57
58
70
567
7x
Die Beobachtungen von GILBERT an amerikanischen
Schulkindern deuten darauf hin, dass der Puls nicht
auf allen Altersstufen bei Knaben langsamer ist als
bei Mädchen. Er fand mit 6 Jahren den Puls der
Knaben langsamer, von da bis zu ı1 Jahren schneller,
als bei Mädchen; zwischen ı3 und ı4 schneller, und
yon ı6 aufwärts wieder langsamer. Bei beiden Ge-
schlechtern schien mit der Pubertät die Pulsfrequenz
zuzunehmen, bei Knaben in ausgeprägterer Weise?).
Wir können also mit M’KENDRICK sagen, dass in
Nord-Europa die gewöhnliche Pulszahl beim Manne 72,
beim. Weihbe.8o.beträgt; andere Beobachter geben etwas
grössere Zahlen für die Durchschnittsdifferenz der
Geschlechter, so MaArdYr und BEHIER dieselbe mit
10—14 an. QvEerTELETs Zahlen, die absolut niedriger
sind als die Guys, ergaben einen etwas grösseren Ge-
schlechts-Unterschied für die Zeit der Jugend und einen
etwas geringeren für das reife Alter. Aus Guys sehr
sorgsam ermittelten Zahlen würde sich ergeben, dass
die Pulsfrequenz bei erwachsenen Frauen zivilisierter
Völker ungefähr dieselbe ist, wie bei Knaben zur Zeit
der Pubertät. Dieser Unterschied ist nicht wesentlich
1) DALQUEN rechnet beim Weibe im Minimum 3, im Mazxi-
mum 10 Pulsschläge mehr (die Schwankungen der Pulsfrequenz
im gesunden Zustande). Giessener Dissertation 1868, S. 221.
2) Studies in Psychology, Univers. of Jowa, I, p. 32. 1897.
DER STOFFWECHSEL.
263
emeinen Grössen-Dif-
rösser als der, welcher den allgemeinen ©
ferenzen zwischen beiden Geschlechtern entsprechen
würde.
Die „vitale Kapazität“, d.h. der Betrag der ein-
geatmeten Luft, am Spirometer gemessen, ist beim
Weibe entschieden geringer. Selbst während der Puber-
täts-Entwicklung, wo das Mädchen den Knaben an Ge-
wicht und Statur übertrifft, ist es nach PAGLIANI und
anderen an vitaler Kapazität und Muskelkraft entschieden
inferior. Auch im reifen Alter ist bei Gleichheit der
Statur und des Brustumfanges die Atmungsgrösse des
Weibes um 30°%o geringer (HALLIBURTON). GILBERT fand
bei der Untersuchung von mehreren tausend Schul-
kindern in New Haven und Jowa®, dass Knaben
zwischen 9 und ı7 Jahren durchgehends eine grössere
Lungenkapazität. besassen; der Unterschied zwischen
den Geschlechtern war mit ı2 Jahren gering, während
aber die Mädchen in diesem Alter fast das Maximum
der Kapazität erreicht hatten, begann bei den Knaben
im ı3. Jahre erst die schnellste Zunahme. Bei den
Kindern aus Jowa, die besser entwickelt waren, als
die aus New Haven, fiel es auf, dass. die vitale Ka-
pazität nicht nur bei beiden Geschlechtern grösser War,
sondern auch, dass die anfängliche Geschlechtsdifferenz
geringer war. Die vitale Kapazität eines Mannes von
1500 mm Körperlänge beträgt gewöhnlich 2350, die
eines Weibes von gleicher Statur 2000 ccm (M’KENDRICK).
Meist beträgt diese Grösse beim Weibe 700 CCI
weniger. Nach ARNoLD entspricht bei Männern einem
Unterschiede von 25 cm in der Körperlänge eine
Differenz der vitalen Kapazität von 150 CCM, beim
Manne, von nur 130 ccm beim Weibe. Die britische
Naturforscher-Gesellschaft hat ermittelt, dass in England
die mittlere Inspirations-Grösse beim Manne 217, beim
Weibe etwa ız2 Kubik-Zoll beträgt, dass der grösste
Die Atmung.
3) J. A. GmBERrT, Studies from the Yale Psychological Labo-
ratory 1894, p. 75 — id., Jowa University Studies, pP. 23, 1897.
Ka
264
DER STOFFWECHSEL.
Geschlechts-Unterschied sich im Alter zwischen 20 und
40 Jahren findet, während in späteren Jahren dieser
Betrag beim Manne regelmässig abnimmt, beim Weibe
etwas weniger merklich,
cap
ROCK
IDOL
2800
7600
A000
220%;
2000
18020
1600
40
1200}
DOO
RO
.
3
2
15
14
15 16
— Knaben u.Mädchen zusammen
Xnaben allein
. A Mädchen allein
Lungen-Kapazität amerikanischer Schüler, (Nach GmBEerrT.)
Die Zahl der Atmungsbewegungen beträgt bei der
Geburt -44.in der Minute und nimmt allmählich bis auf 18
im reifen”Alter ab, wo dann nur ein sehr geringer Ge-
Schlechts-Unterschied besteht (QuetELer). Von grossem
DER STOFFWECHSEL.
265
Einfluss ist in allen Tierklassen die Körpergrösse,. So
atmet das Rhinozeros 6 mal in der Minute, die Ratte
210.mal.. Diese Verhältnisse sind neuerdings von RiıcHeT!)
untersucht worden, der die Abhängigkeit des Ausmasses
und der Intensität aller Funktionen von der Körpermasse
als eines der wichtigsten Gesetze der vergleichenden
Physiologie bezeichnet. Nach. Sısson verhält sich die
Dauer der Exspiration zu der der Inspiration beim er-
wachsenen Manne wie 7:6, bei Weibern, Kindern und
Greisen wie 8 oder 9 : 6; andere Beobachter geben etwas
abweichende Zahlen.
—_ Der Mann atmet mehr Kohlensäure aus als das
Weib. Die Menge des im Laufe einer Stunde oxydierten
Kohlenstoffes beträgt nach ANnDRAL und GAVARRET im
Alter zwischen 8 und ı5 Jahren bei Knaben 7,8, bei
Mädchen 6,4 g; zwischen ı6 und 3o Jahren beim
Manne ı1,2, beim Weibe 6,4 g; d. h. nach der Pubertät
wächst der Verbrauch des Mannes an Kohlenstoff fast
auf das Doppelte des Betrages beim Weibe; derselbe
steigt beim Weibe während der Schwangerschaft und
beim Aufhören der Menstruation. Energische Personen
scheiden mehr Kohlensäure aus als passivere von
gleichem Gewicht, und ein Kind relativ zweimal soviel
als ein Erwachsener.
Eine Folge dieses ausgesprochenen Geschlechts-
unterschiedes zeigt sich in dem weniger lebhaften Luft-
bedürfnisse des Weibes; BurDacH hat darauf hingewiesen
und die Erscheinung schon bei Neugeborenen festgestellt.
Wenn Männer und Frauen gleichzeitig Kohlenoxyd ein-
atmen, haben Frauen bessere Aussichten, mit dem Leben
davonzukommen, auf Grund ihres geringeren Sauerstoft-
bedürfnisses. In der Industrie vertragen Frauen die Nähe
heisser Öfen besser. Etwas Ähnliches zeigt sich bei
Sauerstoffmangel infolge von Luftverdünnung, SO dass
Weiber noch in Höhen existieren können, in denen
Männer krank werden (DELAUNAY). Daher kommt es
vielleicht. dass Verbrecherinnen bei der Strafe des Auf-
1) „La Chaleur Animale“, 1891.
267
DER STOFFWECHSEL.
hängens häufiger mit dem Leben davongekommen sind,
als Männer, von Tiretta de Bolsham an, die von Heinrich 1II.
im Jahre 1264 begnadigt wurde, weil sie die Strafe
überstanden hatte, bis auf neuere Zeit; manchmal sind
solche Personen durch das Rütteln des Karrens wieder-
belebt worden, der sie vom Richtplatz wegführte, und
manchmal durch die Geschicklichkeit der Ärzte, denen
ihr Körper zu anatomischen Zwecken übergeben worden
war; so wurde WıLLiAM PeTttY (später Sir William Petty)
zuerst in weiten Kreisen durch Wiederbelebung einer
Frau bekannt, die später heiratete und noch fünfzehn
Jahre lebte.
Bei zivilisierten Rassen atmet der Mann vorwiegend
mit Zwerchfell und Bauchmuskeln (abdominal), das
Weib mit den Brustmuskeln (kostal); über die Ur-
sache dieses Unterschiedes ist viel diskutiert worden.
BoERHAAVE fand ihn schon bei Kindern, spätere Unter-
suchungen haben das nicht bestätigt. Es ist jetzt, wie
BALLANTYNE!) bemerkt, allgemein anerkannt, dass der
Atmungstypus in den drei ersten Lebensjahren wesentlich
abdominal ist. Das Zwerchfell ist also der Hauptmuskel
der Atmung beim Kinde wie beim Mann, oder bei
jenem noch mehr als bei diesem. Die charakteristisch
kostale Form der Atmung beginnt beim Weibe (nach
Sısson) um das zehnte Lebensjahr; er und viele andere
Ärzte (BEAr, Massıck, WaALSHE etc.) schreiben das Auf-
treten dieses Typus dem Einflusse des Korsetts und
ähnlichen äusseren Atmungshindernissen zu. Dagegen
kam HuTcHnson auf Grund sorgfältiger Untersuchungen
zu dem Resultate, dass es sich bei dieser Erscheinung
nicht um den Druck der Kleider handele, denn er fand
kostale Atmung bei jungen Mädchen, die nie engsitzende
Kleider getragen hatten”), behauptete vielmehr, es handele
sich dabei um eine Anpassung an die Funktionen der
„. 1) „Introduction to diseases of infancy“ p. 170. Dagegen be-
zeichnen DEPAUL, SERGI und andere die Atmung der Kinder
als kostal. ,
2) Topps „Cyclopaedia of Anatomy and Physiology“. Art.:
Thorax. .
DER STOFFWECHSEL.
267
Mutterschaft. Auf Grund seiner. Ausführungen wurde
schliesslich die Theorie herrschend, dass, wie ROSENTHAL
sie formuliert, die kostale Atmung des Weibes ein durch
Vererbung befestigtes sekundär sexuelles Merkmal des
Weibes ist.
Neuerdings haben jedoch feinere Untersuchungen
auf breiterer Basis und mit exakteren Methoden den
Stand der Frage wieder geändert. 1890 veröffentlichte
W. Sum eine Arbeit über die „behaupteten Unterschiede
zwischen den Atembewegungen beim Manne und beim
Weibe‘1); unter Anwendung eines Stethographen nach
BUuRDON-SANDERSON in etwas veränderter Form nahm er
an fünfzig Personen Kurven der Thorax-Bewegungen in
der Mittellinie über folgenden fünf Punkten auf. ı. Dem
Sternum, 2. unter dem Processus ensiformis des’ Brust-
beines, 3. unmittelbar über dem Nabel, 4. unter dem
Nabel, 5. mitten zwischen Nabel und Pubes. Die
Kleider mussten dabei völlig locker sitzen und die Ver-
suchsperson durfte das Ziel des Versuches nicht kennen.
Es fand sich nun bei beiden Geschlechtern über dem
Sternum und über der Leber (unterhalb des processus
ensiformis) eine freie Atembewegung; für den Punkt
über dem Nabel ergaben sich ungleichmässige Resultate
und zwischen Nabel und Pubes ergaben sich in vielen
Fällen keine Atembewegungen. Die wichtigsten Unter-
schiede ergaben sich für den unter dem Nabel gelegenen
Punkt; hier fand man bei einer grösseren Gruppe von
Männern ausgiebige Bewegung, während eine kleine
Gruppe von Individuen mit weichen Bauchdecken nur
geringe Verschiebungen wahrnehmen liess; unter den
Frauen, die wie gewöhnlich angekleidet waren und ein
Korsett trugen, ergab sich bei einer grossen Gruppe Ab-
wesenheit oder starke Verringerung der Bewegung,
während mehrere muskulöse junge Frauen, die ein
Korsett anhatten, freie Bewegung zeigten; unter Frauen,
die an ein Korsett nicht gewöhnt waren, zeigten viele
ebenso freie Bewegung wie die Männer; in einem Falle
a
ı) „Brit. Med. Journal“, ı1. Öktober 1890.
A0E
DER STOFFWECHSEL.
war dieselbe sogar bedeutender als bei den Männern,
während eine andere Gruppe von Individuen mit weichen
Bauchdecken, die kein Korsett zu tragen pflegten, nur
geringe Bewegung zeigten. Von den in der üblichen
Weise unter Benutzung eines Korsetts gekleideten Frauen
zeigte eine grosse Gruppe ausserordentliche Vermin-
derung oder völlige Aufhebung der Bewegung, während
einige jüngere Frauen trotz des Korsetts freie Bewegung
hatten; unter Frauen, die nicht ans Korsett gewöhnt
waren, zeigte eine grosse Gruppe ebenso ausgiebige
Bewegungen, wie die Männer; in einem Falle waren
die Bewegungen sogar freier als beim Manne; eine
kleine Gruppe korsettloser Frauen mit weichen Bauch-
decken hatte nur geringe Bewegungen, SyMITH unter-
suchte ferner neun ostindische „Ayahs‘‘ (Kinderfrauen),
die orientalische Kleidung trugen und alle mehr als
einmal geboren hatten. Sie zeigten ausnahmslos eine
freie Bewegung der Region unterhalb des Nabels, die
mindestens so bedeutend war als bei englischen Männern.
Sum kam zu der Schlussfolgerung: „Dass die Kurven
gegen die geläufige physiologische Lehre von einem
natürlichen Geschlechtsunterschiede der Atmungsbe-
wegungen sprächen und für die Meinung Sıssons, dass
die vorhandenen Unterschiede hauptsächlich oder allein
durch die heutige weibliche Tracht bedingt wären.“
CunninecHAm bemerkt dazu, dass diese Untersuchungen
seine aufanatomische Tatsachen begründete Anschauung,
wonach kein wesentlicher Unterschied der Atembe-
wegungen beider Geschlechter wahrscheinlich sei, stütze.
Auch CuArRpy war auf anatomischem Wege zu dem
Satze gekommen, dass Knaben und Mädchen bis zum
15. Jahre keinen Unterschied in der Form des Brust-
kastens zeigen und dass die kostale Atmung sich nur
bei Frauen über 25 Jahren findet, die in ihren Einge-
weiden, besonders der Leber, Zeichen einer durch starkes
Schnüren bedingten Verbildung’ zeigen?).
In einem Briefe vom £. Oktober 1891 schreibt mir
1) CHarpy, L’angle xyphoidien. (Revue d’Anthropol. 1884.)
DER STOFFWECHSEL. 269
Dr. Sum; „Der einzige Punkt von Wichtigkeit, den ich
hinzuzusetzen habe, ist, dass die Schwangerschaft, weit
entfernt eine Ursache einer veränderten Atmungsweise
abzugeben, vielmehr unter starker Ausprägung der ab-
dominalen Atembewegungen verläuft; ich nehme an,
dass die relativ feste Masse des schwangeren Uterus,
ähnlich wie die Leber, leicht die Bewegungen des Zwerch-
felles auf die Körperdecken überträgt.“
Auch LzExnox Brown hat von einem anderen Stand-
punkte aus dasselbe Resultat erhalten und schreibt mir
privatim: „Nur wo das Korsett die unteren Rippen zu-
sammendrängt oder in Fällen von Schwangerschaft
oder Unterleibsgeschwülsten wird die Zwerchfellatmung
gehindert und kostale Atmung entwickelt.“
_ Gleichzeitig mit der ‚Arbeit von SymiTm veröffent-
lichten Pror. H. SewaLL (an der Michigan-Universität)
und MyrA PoLLARD weitere Untersuchungen über den-
selben Gegenstand mit demselben Resultat?. Ihre
Arbeit enthält Mitteilungen über graphische Atmungs-
prüfungen an Vollblut- und Halbblut-Indianerinnen,
von Dr. Mavs. Letzterer schreibt: „Es wurden im
ganzen 82 Personen untersucht und in jedem Falle die
Kurve der abdominalen und die der kostalen Atembe-
Wegungen aufgezeichnet.
_ Die untersuchten Mädchen waren teils von reinem,
teils von etwas mit europäischem Blut untermischten
Indianerblut und zwischen ı0 und 20 Jahren alt; genauer
gesagt, 33 waren Vollblut, 5 Viertelblut, 35 Halbblut und
2 waren dreiviertel Europäerblut; 75 zeigten einen ent-
Schieden abdominalen Atmungstypus, 3 einen kostalen
und in 3 Fällen waren beide Bewegungen gleich ent-
Wickelt, Die Individuen mit nicht völlig abdominalem
Typus gehörten zu den Zzivilisierten Stämmen, wie
Mohikaner und Chippewas und waren entweder halb
Oder dreiviertel weiss. während in keinem Falle eine
___ 2) On the relations of diaphragmatic and costal respiration,
Hr particular reference to phonation“. (Journal of Physio-
9£2y, 1890, Nr... 2.)
2760
DER STOFFWECHSEL.
Ansatmune Einatmung
Atmung des gesunden Weibes,
Aimung des Weibes im Corse
Brust
Bauch
yYlann
Brust
1,
onewa-Indıianerın
Rrust
Bauch
Weib, welches nie Corset trug
Rriust}
Brust
Rauch
Weib im Corset
Bauch
Brust
Rauch
Mann ım Corset
Ranch
Aund
Rrust
Rauch
Hund im Corset
Pneographische Curven'der Atmung‘ Beim Menschen und beim Hunde,
(Nach D. Mays.)
DER STOFFWECHSEL.,
271
Vollblutindianerin diesen Typus zeigte.“ Ferner enthält
die Arbeit von SewaLL Mitteilungen über stethogra-
phische Untersuchungen von Dr. KeELLo6 (Michigan)
die ähnliche Resultate gaben. „Ich habe 20 India-
nerinnen und eben so viele Chinesinnen untersucht und
den abdominalen Typus in jedem Falle sehr deutlich
gefunden. Die an Chinesinnen gefundenen Bewegungen
waren denen kräftiger Männer nicht gleich, sondern
denen von Männern, die eine sitzende Lebensweise
führen. ı4 Indianerinnen gehörten dem Yumastamme
an, dem primitivsten Indianerstamme Nordamerikas, bei
dem die meisten Weiber noch Kleider aus Baumrinde
tragen; das einzige weitere Kleidungsstück ist ein langer
Streifen von rotem Stoff, der über die Schultern ge-
worfen und um den Körper gelegt wird. Die Taille
ist nicht im geringsten eingeschnürt. Bei diesen Frauen
waren die abdominalen Atembewegungen 4—86 Mal so
ausgiebig als die der Rippen. Bei einigen Weibern
der Cherokesen und der Chickesawindianer, die alle
zivilisierte Kleidung trugen, gaben diejenigen, welche
Korsetts und enge Taillen getragen hatten, Atmungs-
kurven, wie die zivilisierten Frauen; die, welche nur lose
Kleider getragen hatten, normale Kurven. Auch bei
einigen zivilisierten Frauen, die niemals Korsetts und
enge Rockbänder getragen hatten, erhielt ich dieselben
Kurven, wie bei Chinesinnen und den Yumaweibern.“
Neuere Untersuchungen von KELL0G (Z%e Infuence
of Dress. 1892) bestätigen und erweitern diese Er-
fahrungen über den Einfluss der Kleidung; die beiden
umstehenden Figuren sind daraus entnommen; die
eine stellt eine zojährige deutsche Bäuerin dar und
Zeigt natürliche und gesunde‘ Formen, die andere eine
amerikanische Frau von“ DurchschnittstypuS, welche
die übliche Frauentracht getragen und sich wenig be-
Weot hat.
HULTERANTZ in Upsala hat zur Aufzeichnung der
Zwerchfellbewegungen bei der Atmung zur Vermeidung
der bei äusseren Messungen möglichen Irrtümer einen
Gummiballon in den Magen eingeführt und dann auf-
7.
5
DER STOFFWECHSEL.
N
A
Deutsches Bauernmädchen,
(Nach KELL0G.)
Amerikanerin.
DER STOFFWECHSEL.
273
gebläht; wegen der kleinen Zahl der untersuchten
Personen führten seine Versuche nicht zu allgemeinen
Ergebnissen, zeigten aber eine geringere Zwerchfell-
bewegung bei Frauen, und dass auch bei Männern der
Druck eines Gürtels die Zwerchfellbewegungen ein-
schränkte N,
Das vorhandene Material deutet darauf hin, dass die
Geschlechtsunterschiede der Atembewegungen bei zivili-
sierten Rassen nur das Resultat einer künstlichen Ein-
Schnürung‘ durch die gewöhnliche Frauenkleidung sind.
Es ist interessant, nachzuforschen, seit wann die
Frauen nach dem Besitze einer schlanken Taille streben.
In der Blütezeit Griechenlands zeigt sich keine Spur da-
von, in der Decadence fingen die Frauen an, die Taille
einzuschnüren, um durch die so hervorgehobene Breite
des Beckens anziehender zu erscheinen; HIPPokKrRATEs
tadelt die Frauen von Kos heftig, weil sie ihre
Taille mit einem Gürtel einschnürten. In Rom
finden wir die häufigen Anspielungen MarTtiALS auf
die schlanken Taillen der damaligen Damen, und
GaLens Äusserungen über die Nachteile des Schnürens,
die ganz wie die eines modernen Arztes klingen. Seit-
dem haben sich die Verhältnisse nur wenig geändert.
Das Relief des Beckens ist noch weiterhin gesteigert
worden durch eine Erfindung, die zur Zeit der Königin
Elisabeth „bumroll‘“ hiess, und welche man heute „Tour-
Nyre“ nennt. Die Einschnürung der unteren Brustgegend
Soll auch die nicht weniger wichtigen Geschlechtsunter-
Schiede am Thorax hervorgehen, wie Dr. L. Rosınson in
Sinem Briefe an mich sagt: |
„Ich denke, es ist sehr wahrscheinlich, dass einer
der Gründe (und es müssen triftige Gründe vorliegen)
für das Fortbestehen der Gewohnheit, den Bauchgürtel
fest anzuziehen, auch bei christlichen Fräulein darin
Zu suchen ist, dass diese Einschnüruhg die Atmung zur
Brustbewegung macht, und so den anziehenden Busen
SE
1) Über die respiratorischen Bewegungen des menschlichen
Zwerchfells. (Skandin. Arch. f. Physiol. 1891. Heft 1).
Ellis, Mann u. Weib. 2 Aufl.
A
DER STOFFWECHSEL.
durch seine beständige, gleichförmige Bewegung auf-
fallend zur Schau stellt. Das Anheben eines subklavi-
kulären Seufzers hatmehr Chancen, Sensation zu machen,
als das eines Magen- oder Nabelgegendseufzers‘“,
Diese doppelte Wirkung der Taillen-Einschnürung
auf Hüften und Brust genügt, um ihr Zustandekommen
verständlich zu machen, und sie hat sich bis heute teils
durch die Macht der Gewohnrheit, teils durch das „CGre-
fühl der Stütze“ erhalten, das alle Frauen, die ans Kor-
sett gewöhnt sind, fühlen, sobald sie es anlegen.
SARGENT hat ferner nachgewiesen, dass die Lungen-
kapazität unter dem Druck des Korsetts im Durch-
schnitt von 167 auf 134 Kubikzoll reduziert wird. Alles
in neuester Zeit gesammelte Material bestätigt die Auf-
fassung, dass es keine wirklichen, natürlichen Unter-
schiede der Geschlechter hinsichtlich der Atmungsbe-
wegungen gibt. Auch in Japan fand BaegeLz, dass nur
diejenigen Frauen, welche den breiten Frauengürtel
(06i) umbinden, kostale Atmung zeigen, während die
Bäuerinnen, die sich nicht einschnüren, wie die Bauern
abdominal atmen!). Fırz?) hat die Frage in einer wich-
tigen Abhandlung gründlich erörtert und keinen Ge-
schlechtsunterschied feststellen können. Die Idee, dass
Taillenbänder und Korsetts durch Begünstigung der
Blutzufuhr zum Hirn und zur Muskulatur nützen
könnten (wie Ror und ADayMı angedeutet haben), ist
unbegründet; jedenfalls wären solche Mittel überflüssig,
da für hinreichende Regulierung und Kompensation
schon von Natur gesorgt ist?), Andererseits ist es sicher,
dass die übliche Frauenkleidung durch Einschränkung
der Zwerchfellbewegung sowohl auf die Brust- wie auf
die Baucheingeweide einen schädlichen Einfluss hat.
So finden sich überall Gallensteine bei Frauen häufiger
als bei Männern. Dr. O. Mosuer*) fand bei 0,4 °/, der
1) Zeitschr. f. Ethnologie, 1901, H. 3, S. 211.
2) Journ. of experim. medicine, I, p. 677.
3) L. HıııL, Cerebral circulation, 1896, p. 112.
1) Joun Hopkins Hospit.-Bull. August 1901,
DER STOFFWECHSEL.
975
Frauen und 5,6%, der Männer Anlage zu Gallensteinen,
während in Deutschland Gallensteine bei Frauen doppelt
so häufig sind, als bei Männern, und bei Negerinnen
seltener als bei Negern. MosuEr nennt unter den Ur-
sachen dieser verschiedenen Häufigkeit bei den Ge-
schlechtern in erster Linie die durch die Kleidung be-
dingte kostale Atmung der Frauen, da der Ausfall der
Zwerchfellbewegungen Gallenstauung bedinge, und be-
zieht sich auf die Untersuchungen HEIDENHAINS und seiner
Schüler, wonach die Zwerchfellwirkung ein wichtiger
Faktor für die Entleerung der Gallenblase ist.
MeEmıerT hat Gründe für die Annahme beigebracht,
dass zu eng sitzende Kleidungsstücke, auch wenn nie
Korsetts getragen wurden, durch Einengung des Bauches
zur Gastroptose und damit zu Anämie und ihren ner-
vösen Folgezuständen führen können?!). Von 3ı in die
Dienstbotenschule in Dresden aufgenommenen jungen
Mädchen, unter denen ı2 nie Korsetts, wohl aber eng-
sitzende Kleidung getragen hatten, hatten 28 Gastro-
ptose; von diesen 28 waren ı2 anämisch, und zwar trug
bei 14 die Anämie den Charakter der Chlorose. MEINERT
bezieht sich auf die Feststellung von Hirsch, dass
Chlorose im Altertum und im Mittelalter unbekannt
gewesen ist; in Sachsen soll sie unter der bäuerlichen
Bevölkerung erst aufgetreten sein, seitdem diese städti-
Sche Tracht angenommen hat; in Persien, wo die
Frauen keine engen Kleider tragen, ist die Chlorose
Nach den Beobachtungen europäischer Ärzte unbekannt
und in Japan tritt sie nur da auf, wo die europäische
Tracht in Aufnahme gekommen ist. Wenn auch, nach
Meınert, die Einschnürung der unteren Thoraxgegend
ein Faktor der Entstehung‘ der Chlorose ist, so besteht
doch wahrscheinlich, wie. schon oben erwähnt, beim
Weibe eine besondere Veranlagung zur Anämie.
‚. Das ganze jetzt vorliegende Material beweist nun
Nicht, dass es wünschenswert wäre, den Gebrauch des
Korsetts bei zivilisierten europäischen Frauen ganz zu
a
1) Verh. d. zo. Vers. d. Gesellsch. £. Kinderheilk., 1893.
18*
270
DER STOFFWECHSEL.
beseitigen. Einige der schlimmsten Folgen von KEin-
schnürung der Taille, die MEnert beobachtet hat, fan-
den sich bei jungen Mädchen aus Bayern, die nie
Korsetts getragen hatten. Wenn mehrere schwere
Unterröcke getragen werden, finden diese ihre beste
Stütze immer an der Hüfte, und das macht ein gut
schliessendes Taillenband nötig. Gewisse moderne
Korsetts, welche die Last der Röcke auf die Hüften
verlegen, ohne übermässige Kompression der Brust und
des Bauchs sind bei verständigem Gebrauch wahr-
scheinlich besser, als gar kein Korsett. In dieser Be-
ziehung ist die von Srtratz eingenommene Stellung
(Schönheit des weiblichen Körpers, Kap. VIIL und XVI)
ganz verständig, sowohl vom hygienischen wie vom
Schönheitsstandpunkte. Bei jungen Mädchen widerrät
er Korsetts und Kleider, die deren Gebrauch nötig
machen, durchaus; wenn die volle Entwicklung erreicht
ist, also keinesfalls vor dem fünfzehnten Jahre (oder
später, wenn die volle Ausbildung der Hüften sich ver-
zögert), empfiehlt er den Gebrauch gewisser den natür-
lichen Körperformen angepasster Arten von Korsetts*?).
Wir haben nun gesehen, dass im Vergleich zur Ent-
wicklung beim Manne die Thoraxregion beim Weibe
die Tendenz hat, bedenklich zurückzubleiben. Die
vitale Kapazität ist beim Weibe in einem Masse, das
in gar keinem Verhältnisse zu der geringeren Körper-
grösse steht, geringer als beim Manne. Auch die weib-
lichen Lungen sind, wie wir sehen werden, zweifellos
allzu klein, während die Stärke .der Arm- und Brust-
muskeln (s. oben S. 93) ein sehr viel bedeutenderes
Zurückbleiben im Vergleich mit dem Manne zeigen,
als die der Beinmuskeln, so dass ihre Leistung den
allerschwächsten Punkt der weiblichen Organisation
darstellt.
Wahrscheinlich hat diese Minderwertigkeit eine
grosse Bedeutung für die besondere Disposition junger
1) Vgl. dazu SCHULTZE-NAUuMBURG, Die Kultur des weiblichen
Körpers als Grundlage der Frauenkleidung. Jena 1905, S. 60—121.
DER STOFFWECHSEL.
207
Mädchen zur Erkrankung an Phthise.. Seit 1860 hat
in England und Wales die Sterblichkeit der Mädchen
bis zum 2osten Jahre an Phthise ständig die derselben
Altersklassen beim männlichen Geschlechte um mehr
als 30%0 übertroffen!) BzEEvor, der das Verhalten der
Phthise bei den Geschlechtern besonders genau unter-
Sucht hat, führt die stärkere Disposition junger Mäd-
chen zur Erkrankung an Lungentuberkulose auf vor-
zeitige Hemmung der Entwicklung des Brustkastens
zurück ?),
In reiferen Jahren ist die Phthisis-Mortalität bei
Männern viel grösser als bei Frauen; aber dabei müssen
wir daran denken, dass dann die Frauen mit schwachen
Lungen bereits durch den Tod ausgeschieden worden
sind, und dass bei Männern der Einfluss ungesunder
Berufsarbeit und wahrscheinlich auch das grössere Be-
dürfnis nach reichlicher Nahrung einen sehr erheblichen
Einfluss ausüben. Besevors Anschauung erhält eine
wesentliche Stütze durch Wood HurTcHnsoxs Studien
über die Phthise und den Thorax der Phthisischen 3),
Er fand, dass der phthisische Thorax. tatsächlich. in
seinen unteren Abschnitten messbar geringer entwickelt
ist; darauf scheint also die besondere Disposition zur
Phthise, die sich bei Mädchen unter 20 Jahren findet,
zurückzuführen sein; dieser Faktor kann aber teilweise
ausgeschaltet werden, wenn Mädchen sich an ein tätiges
Leben in freier Luft gewöhnen und in ihrer freien Be-
wegung weniger gehemmt werden, als es jetzt Sitte ist.
a
1) S. das umstehende Diagramm nach Begvor; die deutsche
Mortalitäts-Statistik ergibt ähnliche Verhältnisse (A. WÜRZBURG,
Über den Einfluss des Älters und Geschlechts auf die Sterblichkeit
an Lungenschwindsucht. Mitt. d. k. Gesundheitsamts II, S. 96 ff.)
®) Lancet, 15. April 1899. In einer späteren Arbeit (Med,
Magazine, Juni 1900) bezeichnet B. es als wahrscheinlich, dass der
Stillstand des Wachstums der Lunge und die damit‘ zusammen-
hängende grössere Disposition zur Phthise auf elementare Unter-
Schiede in der Veranlagung der Geschlechter zurückzuführen ist,
Ich glaube nicht, dass damit das letzte Wort in dieser Frage ge-
Sprochen ist.
8) Studies in Human and comparative Pathology, Kap. V.
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3
DER STOFFWECHSEL.
279
Ängstliche Leute, besonders törichte Eltern, lassen
Mädchen, die, wie es oft vorkommt, gern auf Bäume
klettern, ihrer Neigung nicht folgen. Das ist aber, wie
HurTcuınson ausführt, gerade diejenige Art von Bewe-
gungsspiel, die Mädchen brauchen, um ihre Lungen zu
weiten. „Es scheint fast — bemerkt HuTcHnson — dass die
Rückkehr zu den Baumbewohner-Gewohnheiten unserer
Vorfahren das Haupterfordernis für eine richtige Ent-
wicklung des Brustkastens beim einzelnen wie bei der
Rasse ist. Der wohlbekannte kindliche Kletterinstinkt
sollte bei beiden Geschlechtern gleich respektiert wer-
den, selbst mit dem Risiko, die Kleider zu zerreissen
und gelegentlich einmal eine Rippe zu brechen.“
Jetzt ist der Unterschied der Phthise- Mortalität
zwischen den Geschlechtern in ländlichen Bezirken noch
mehr ausgesprochen, als in städtischen; Knaben haben
auf dem Lande viele Vorteile vor denen in der Stadt
voraus, aber das Leben ihrer Schwestern wird nach
denselben Grundsätzen geregelt, wie das der Stadt-
mädchen. Der natürliche Trieb der Mädchen, auf
Bäume zu klettern, wie die Konsequenz, mit der er
unterdrückt wird, wird deutlich bewiesen durch die
Versuche von SrtanLer Hauıı, in denen die Mädchen
unter den Dingen, die es „unrecht“ ist, zu tuen, SO
häufig „Klettern auf Bäume“ angaben.
Die Temperatur.
Das Material für die Bestimmung von Geschlechts-
unterschieden der Körpertemperatur ist gering und
widerspruchsvoll. Man weiss, dass ein gesteigerter Stoff-
wechsel und eine gesteigerte Zirkulation die Temperatur
erhöht. Bei Kindern und ‘jungen Menschen ist die
Temperatur etwas höher und erheblich variabler, als
bei Erwachsenen. Eine um 0,5 ° C niederere Temperatur
beim Weibe ist von Davıs, Rocer, Mıecnor, und DELAUNAY
gefunden worden, eine um ebensoviel höhere von ÖGLE
und WUNDERLICH, auch STockKTOoN HoucH fand bei Männern
eine während des ganzen Lebens höhere Temperatur
280
DER STOFFWECHSEL.
und grössere individuelle Schwankungen !). Wir dürfen
demnach den Physiologen zustimmen, welche die Exi-
stenz eines Geschlechtsunterschiedes der Temperatur für
nicht bewiesen ansehen.
Nach WALLER sind Temperaturschwankungen beim
Weibe von geringer Bedeutung; SqQvırReE fand ein ge-
ringes Steigen der Temperatur vor, ein Sinken nach
der Menstruation. Ein Steigen um 0,8 Grad vor der
Menstruation fand auch Dr. Mary JAcosy, während der-
selben einen geringen Abfall, aber nicht unter die Norm;
Martıns fand bei französischen zahmen Enten die
Temperatur der Weibchen um 0,3 Grad höher und
auch variabler. 2)
Die Absonderungen,
Dass im Stoffwechsel Unterschiede bestehen, er-
gibt auch die Untersuchung der Exkrete, deren wichtig-
stes und bestbekanntes der Urin ist; seine Menge und
seine Zusammensetzung wird nicht nur durch die Menge
der aufgenommenen Flüssigkeit und der stickstoffhaltigen
Nahrung beeinflusst, sondern die Nieren sind auch für viele
andere Einflüsse sehr empfindlich, wie den Gehalt der
Nahrung an Salzen, die Genussmittel (Koffein u. dgl.),
die Lufttemperatur, die nervöse Spannkraft, den Ge-
mütszustand und geistige Anstrengung. Ferner besteht
ein Kompensationsverhältnis zu der Ausscheidung von
Seiten der Haut 3). Nachts verursachen diese Einflüsse,
ı) Philad. Med. Times, Nov. 1873. — Popular Science Monthly
1874, P- 97- x ‚2 u
2) GAVARRET, Phenomöenes physiques de la vie. 1869, p. 80
bis 89. Ders., Art. „Chaleur Animale“ im Dict, encycl. des Sciences
Medicales.
8) BENEKE hat an. sich selbst beobachtet, dass bei gutem
Nerventonus, d. h. beim Gefühl kräftiger Gesundheit die Urin-
menge steigt, bei dem Gefühl von Schlaffheit und Depression ab-
nimmt. Dr. A. Haıcs neuere Untersuchungen bestätigen diese
Annahme, obgleich der Begriff des Nerventonus kein sehr be-
stimmter ist. (BENEKE, Archiv d. Ver, für wissensch. Heilk.,
Bd. I. — Haıc, Uric. acid. — S. auch: PArkes, Composition of
the Urine, p. 100. STARLING, Journ. of. Physiology, Bd. 19, p. 312,
Bd. 24, p. 317 ff)
DER STOFFWECHSEL.
281
wie es zu erwarten ist und BeıceLs Beobachtungen es
bestätigen, geringere Schwankungen als am Tage;
nach seinen Beobachtungen scheiden beide Geschlechter
Nachts gleichviel Urin aus, am Tage jedoch Männer er-
heblich mehr. Beauvnis hat einen, durch alle störende
Einflüsse hindurch merklichen Rhythmus der Urinaus-
Scheidung nachgewiesen. ‘Bald nach der Geburt zeigt
sich schon beim weiblichen Geschlecht eine geringere
Menge der flüssigen und festen Harnbestandteile,
Zwischen drei und sieben Jahren beträgt die z4stündige
Harnmenge bei Knaben 750, bei Mädchen 700 cbcm;
das ist anderthalb mal mehr Urin, im Verhältnis zum
Körpergewicht, als beim Erwachsenen; die relative Menge
des Harnstoffes ist bei Kindern sogar noch erheblicher,
womit die bedeutendere Grösse der Niere übereinstimmt.
Mit ı8 Jahren ist der Durchschnitt der Erwachsenen er-
reicht; derselbe ist beim Weibe absolut kleiner, relativ
Zrösser.
Die 24stündige Harnmenge bei beiden Geschlech-
tern im reifen Alter ist nach:
M.
W
LAnpors und STIRLING 1000—1500 cbem 900—1200 cbem
Yvon und BeRrLuIoz 1360 1100
BeAunis 1875 1812
M’KENDRICK 1500—2000 ,, 1100—1500
BEcousEReEL und RoDIer 1227 1337 »
Beaunis gibt eine relative, BECQUEREL Sogar eine
absolut‘ grössere. Harnmenge beim Weibe an. MOSsLER
fand bei jugenlichen Individuen die absolute Menge
beim Manne, die auf das Gewicht des Körpers bezogene
beim Weibe grösser. Englische Physiologen finden ge-
Wöhnlich einen beträchtlichen, französische einen ge-
tingen, nur relativen Unterschied, was wohl auf Ver-
Schiedenheiten der Gewohnheiten deutet?).
1) Yvon, Revue Med. VII, p. 713. — BECQUEREL et RoDIER,
TraiteE de chimie, pathologique, 1854. — PaArKes, Composition of
the Urine, 1860.
259
DER STOFFWECHSEL.
Die Wasserausscheidung durch den Urin ist beim
Weibe relativ grösser, die der festen Bestandteile ab-
solut und relativ kleiner als beim Manne; ihr Urin ist
deswegen heller und spezifisch leichter.
Alle Physiologen stimmen. darin überein, und die
Tatsache ist ein wertvollerer Massstab des Stoffwechsels,
als die Wasserausscheidung. Kinder mit ihrem leb-
haften Stoffwechsel scheiden relativ viel mehr Harnstoff
und Salze aus als Erwachsene, Im. Alter nehmen die
flüssigen und festen Bestandteile des Urins beträchtlich ab.
Die Menstruation beeinflusst mit dem ganzen Stoff-
wechsel auch die Urinmenge, jedoch scheint damit
nicht immer eine Vermehrung der festen Bestandteile
verbunden zu sein. BrıceL und DELAUNAY konstatierten
eine Vermehrung der Harnstoffausscheidung und zwar
letzterer um 20%, Dr. M. JAcosı ermittelte in 14 Unter-
suchungsreihen bei 6 Frauen 9 mal eine Abnahme,
5 mal eine Zunahme der Harnstoffmenge, dabei war
die ‚durchschnittliche Harnstoffausscheidung vor der
Menstruation gesteigert, nach derselben verringert.
MarrRo fand bei einer Beobachtungsreihe an acht
Frauen und Mädchen zwischen elf und sechsundzwanzig
Jahren, dass in den Jahren vor der Pubertät die Harn-
stoffmenge langsam proportional dem Körpergewicht
zunimmt, dass diese Zunahme aber mit dem Auftreten
der Menstruation nicht nur aufhört, sondern einer Ab-
nahme Platz macht; während der einzelnen Menstruations-
perioden fand er fast immer eine Abnahme der Harnstoff-
menge, die dann wieder anstieg und in den am weitesten
von zwei Menstruationsperioden entfernten Tagen an-
scheinend ein Maximum erreichte).
Über die Änderung des Stoffwechsels während
Schwangerschaft und Säugung gibt die Harnunter-
?) MaArro, La puberta, p. 47. M. nimmt an, dass die Ver-
ringerung der Harnstoffmenge während der Pubertät, zusammen
mit der verringerten Kohlensäureausscheidung, einen Zustand von
Herabsetzung des Stoffwechsels ausmache, der eine der physio-
logischer Bedingungen der Hysterie ist. — 5. auch SCHRADER,
Staff wechsel während der Menstruation, Zeitschr. f. klin. Medizin,
. 25.
DER STOFFWECHSEL.
283
suchung nur wenig Auskunft. HACcEMANN hat die Ver-
hältnisse bei trächtigen Hündinnen beobachtet. In der
ersten Hälfte der Trächtigkeit war die Menge des aus-
geschiedenen Stickstoffs grösser als des in der Nahrung
aufgenommenen. Der für den Aufbau der fötalen Ge-
webe nötige Stickstoff musste also den Geweben der
Mutter entnommen sein; in der Mitte der Trächtigkeit
stellte sich Stickstoffgleichgewicht ein, dem eine Periode
des Überschusses der Einnahme folgte; sofort nach der
Geburt stieg die Stickstoffsausscheidung und während
des Säugens überstieg die Ausscheidung die Aufnahme.
Beim Weibe verlaufen diese Prozesse unter gleichen Ver-
hältnissen wahrscheinlich ähnlich; wenigstens machen
dies interessante Beobachtungen von LAUvuLANIE und
CHAMBRELENT wahrscheinlich, die eine Abnahme der
giftigen Substanzen des Urins während der Schwanger-
schaft und in einzelnen Fällen ihr völliges Verschwinden
gegen Ende derselben zeigen.
Die Giftwirkungen.
Die Unterschiede, welche in der Wirkung von
Giften auf den männlichen und den weiblichen Körper
hervortreten, werfen ein Licht auf interessante Ver-
schiedenheiten des Stoffwechsels. Wir wissen manches
von der besonderen Empfänglichkeit der Kinder. gegen-
über Giften, wenn dieselben in kleinen Dosen zu Heil-
zwecken gegeben werden, und auch manches über ihre
Einwirkung auf verschiedene Tiere, dagegen ist unsere
Kenntnis von sexuellen Unterschieden in dieser Richtung
nur gering, da dieselben gewöhnlich so undeutlich sind,
dass nur sehr genaue Beobachtung oder eine sehr um-
fassende Erfahrung bestimmte Resultate liefern. Am
längsten und besten ist in dieser Beziehungdie Alkohol-
wirkung bekannt, einfach deshalb, weil kein anderes
Gift soviel Erfahrungsstoff liefert. Leider haben die
Ärzte von der ihnen gebotenen Gelegenheit, Syste-
matisch die Verschiedenheiten in der Wirkung der Mittel
zu notieren, die sie verabreichen, meist keinen oder
sehr geringen Gebrauch gemacht.
284
DER STOFFWECHSEL.
Eine ganze Reihe von Fragen, die uns interessieren,
könnten durch solche Beobachtungen aufgehellt werden.
Bewirken gewisse Mittel bei einem Geschlechte einen
grösseren Einfluss auf ein Organ, als bei einem andern?
Zeigt sich bei einem der Geschlechter eine so ausge-
sprochene Empfindlichkeit gegen ein Gift, dass die
therapeutische Dose. erheblich kleiner ausfallen muss,
als nach anderen Analogien zu erwarten wäre? Und
schliesslich, sind die höheren Nervenzentren bei dem
einen Geschlecht leichter affiziert als bei dem anderen?
Das Material zur Beantwortung der ersten Frage
ist. recht geringfügig, So habe ich einen Artikel von
Dr. F. A. Cox!) über 1700 von ihm mit Arsenik be-
behandelte Fälle gefunden. Er nennt darin mehrere
Unterschiede in den Symptomen bei beiden Geschlechtern
fand jedoch nicht, dass das Auftreten unerwünschter
Erscheinungen vom Geschlecht abhing; Magenerschei-
nungen waren bei Frauen, Darmerscheinungen und
Konjunktivalleiden bei Männern häufiger; nervöse Symp-
tome bei Frauen. Nach ‚den Erfahrungen HuTcHInsoNs
vertragen Kinder und junge Leute Arsenik gut; alte
Leute ziemlich schlecht, da es unter anderem bei ihnen
die Symptome von Degeneration der Nerven hervorruft,
wo dieselbe bisher latent vorhanden war?®).
Trovsseau und Pınovux erwähnen einige interessante
Beobachtungen über Unterschiede der Wirkung des
Opiums bei beiden Geschlechtern; nach ihren Beob-
achtungen war die Wirkung auf die Haut mehr bei
Frauen, die auf die Nieren mehr bei Männern ausge-
sprochen; eine Hypersekretion des Urins auf Opium
sahen sie nur zweimal bei Frauen eintreten, Erbrechen
nach Einverleibung von Opium durch die Haut kam
bai Frauen dreimal häufiger vor als bei Männern, bei
innerlicher Anwendung 11/2 mal häufiger bei Frauen;
letztere litten zumeist an Neuralgieen oder Neurosen.
1) „The administration of Arsenic“. (Provinc., Med. Journ.
1891, Februar.) |
59% 2) „Arsenic as a drug“ (Brit. med; Journ. 1891, Juni).
DER STOFFWECHSEL.
285
Auch LAvper Brunton hat bei Frauen die Neigung be-
Obachtet, auf Opium-Aufnahme mit Erbrechen und Kopf-
Schmerz zu reagieren!). Derselbe bestätigt auch eine
Angabe TrovsseAus über Quecksilberwirkung bei Frauen,
wonach sie leichter als Männer und als Kinder, die
grosse Gaben gut vertragen, Speichelfluss bekommen.
Männer sollen nach DE Savıcnac Antimon-Präparate
besser vertragen als Frauen und Kinder. ZUCCARELLI
fand bei-31 von ihm mit Atropin-Einspritzungen be-
handelten Fällen von Epilepsie bei Fraueneine viel weniger
ausgesprochene Wirkung als bei Männern; auch Kinder
vertragen, wie sicher ermittelt ist, Belladonna-Präparate
gut. Sulfonal, das schwere Lähmungs- und Benommen-
heits-Erscheinungen hervorrufen kann, muss Frauen in
erheblich geringeren Dosen verabreicht werden als
Männern; Monoo erreichte mit der Hälfte der bei
Männern erforderlichen Dosen dieses Mittels eine schlaf-
machende Wirkung?). Für die schlafmachende Wir-
kung des Somnal sind Frauen (nach UmpFEnBAcH) viel
weniger empfänglich als Männer; für Antipyrin sind sie
(nach GERMAIN SEE%), sehr sensibel, ebenso für Brom-
präparate, die das Gehirn und besonders auch das
Rückenmarksgewebe stark beeinflussen; Kinder ver-
tragen diese Präparate gut*), neigen aber (nach RADCLIFFE
Crocker) sehr zu Bromausschlägen.
ı) Wie Frauen, so sind auch Kinder gegen Opium sehr
empfindlich; dasselbe gilt für junge Säugetiere im allgemeinen.
Wenn man gleichzeitig einem alten und einem jungen Kaninchen
dieselbe Opium-Menge pro Kilogramm Körpergewicht gibt, So
wird bei einer gewissen Dose das alte Tier überleben, das Junge
unterliegen. (CH. CorRnEvin, Des plantes veneneuses, Paris 1887,
pP. 27—29.) Bei weiblichen Tieren‘ besteht nach CORNEVIN im all-
gemeinen eine grössere Empfänglichkeit für Gifte, namentlich für
Nervengifte, als bei männlichen Tieren. FonssAGRIVES betont das
besonders für das Opium (Artikel: „Opium“, Dict. encycl. des
Sci. medicales).
2) Arch. f. experim. Pathol. u. Pharm. 1891.
3) Academie de Medec. 14. Febr. 1888.
4) Nach Volırsın.
286
DER STOFFWECHSEL.
Eine bemerkenswerte Tatsache ist zuerst von eng-
lischen Ärzten beobachtet worden, nämlich die grössere
Häufigkeit von Todesfällen unter der Chloroformnarkose
bei Männern; nach Sansom sind dieselben doppelt so
häufig als bei Frauen, nach einer Angabe sogar 4 mal
so häufig, obgleich Chloroform!) so häufig bei Entbin-
dungen angewendet wird,
Der Bericht der Narkosen-Kommission, die 1901
von der Britischen medizinischen Gesellschaft eingesetzt
worden war, stützt sich auf 26000 Fälle von chirurgi-
scher Narkose und zeigt, dass der Prozentsatz der durch
die Narkose jeder Art herbeigeführten Komplikationen
bei Männern sich zu denen bei Frauen verhielt wie
15 zu ı. Bei Athernarkosen zeigten sich Frauen zwar
etwas mehr gefährdet als Männer (im Verhältnis von
1,6 zu ı) aber kleine Komplikationen waren unter
Äther bei Männern merklich häufiger als bei Frauen.
Unter Chloroform war die Gefahrenrate im Verhältnis
von“2 zu ı bei Männern grösser als bei Frauen. Bei
allen Arten von Narkose zusammen war die Zahl der
gefährdeten Fälle bei Männern zu denen bei Frauen
wie 1,7 zu ı. Kinder vertragen nach der langen im
Moorsfield-Hospital gesammelten Erfahrung Chloroform
ausgezeichnet. Kräftige und gesunde Kinder scheinen
nach Sansom ‚den Gefahren der Chloroform- Narkose
mehr ausgesetzt zu sein als zarte und schwächliche,
und die relativ grösste Zahl von tötlichen Ausgängen
der Narkose mittels Chloroform sind bei ganz gering-
fügigen chirurgischen Eingriffen und bei erträglicher
allgemeiner Gesundheit der Patienten vorgekommen.
Für Bleivergiftungen scheint das Zentralnerven-
system des Weibes empfindlicher zu sein als das des
Mannes. Sır J. ALDERSON fand häufiger Bleivergiftung
beim Manne, dagegen hält TAnqQuerREL das weibliche
Geschlecht für empfänglicher. ebenso Prof. T. OLIVER
in Newcastle, dem Zentrum der Bleiindustrie. In seinen
Goulston-Vorlesungen über die Bleivergiftung bemerkt
1) In England (K.).
DER STOFFWECHSEL. ;
287
er (S. 21— 25): „Es besteht meiner Meinung nach kein
Zweifel daran, dass Frauen dem schädlichen Einflusse
der Berührung mit Blei viel mehr ausgesetzt sind als
Männer; das liegt nicht einfach darin, dass ihre Art
der Beschäftigung in diesen Betrieben sie grösseren
Gefahren aussetzt, sondern es rührt von einer sexuellen
Idiosynkrasie her. Diese Meinung weicht so sehr von
der anderer Autoren ab, dass ich sie näher erläutern
muss. Ich habe an hunderten von Fällen die Erfah-
rung gemacht, dass sowohl bei akuter wie bei chroni-
scher Bleivergiftung Frauen schneller unter den Ein-
fluss des Giftes geraten als Männer. Es werden in
den Betrieben der Bleiindustrie mehr Frauen als Männer
beschäftigt, und auf den ersten Blick könnte man darin
die Ursache der grösseren Krankheitsziffer bei Frauen
sehen. Wenn ich einen bestimmten fünfjährigen Zeit-
abschnitt nehme, so wurden während desselben 135
Patienten im Royal Infirmary in Newcastle aufge-
nommen. Von diesen waren 91 Frauen und 44 Männer.
Frauen sind also unvergleichlich empfänglicher; und
dass es sich dabei nicht nur um Gewerbekrankheiten
handelt, geht daraus hervor, dass .bei der letzten Massen-
vergiftung mit Blei in Yorkshire, wo 1000 Fälle durch
bleihaltiges Trinkwasser erkrankten, der Spezial-Korre-
spondent des British Medical Fournal (s. daselbst. 1890,
Bd. I, p. 974) fand, dass auf einen Mann vier Frauen
erkrankt waren. Man kann nun darauf hinweisen, dass
Frauen wahrscheinlich mehr Wasser. trinken als Männer,
aber wenn man das auch zugibt, ergibt sich doch eine
Stärkere Beteiligung der Frauen; BRown fand 153 Männer
gegenüber 251 Frauen. Diese sind nicht nur empfäng-
licher, sondern sie sind es auch in einem früheren
Alter als Männer, und haben mehr Aussicht, an
Schweren Erscheinungen zu leiden, besonders an ner-
vösen Znfällen wie Epilepsie.
„AInteressant ist in dieser Beziehung, dass Junge
Weibliche Personen früh an Bleivergiftung erkranken,
sich von ihrer Kolik schnell erholen und sich dann
von neuem der Gefahr aussetzen, um schliesslich schwer
D8S
DER STOFFWECHSEL.
zu erkranken, während Männer in ıo- oder 20jähriger
Arbeit ein- oder zweimal eine Kolik haben und nach
langer Dienstzeit schliesslich der Bleilähmung oder
einer durch Bleiwirkung veranlassten Nierenkrankheit
zum Opfer fallen. Nach demselben Autor!) erkranken
Bleiarbeiterinnen gewöhnlich im Alter zwischen ı8 und
24 Jahren an Bleichsucht und Menstruationsstörungen
und sind auf dieser Basis beständig akuten Ausbrüchen
von Encephalopathia . Saturnina (Hirnerscheinungen)
unterworfen, Auch Sterilität und Frühgeburten ge-
hören zu den Folgen der Bleivergiftung.“
Der hervorragende Psychiater BEvan Lewıs?) be-
stätigt OLIVERS Angaben durch seine lebhafte Schilde-
rung der nervösen Störungen bei jungen Bleiarbeite-
rinnen („weisse Bleigespenster“, wie sie in den Blei-
distrikten genannt werden). Unter diese Störungen
gehören Hemmung der geschlechtlichen Entwicklung,
verbunden mit perversen, unnatürlichen Neigungen,
Hysterie, Veitstanz, epileptische und kataleptische Zu-
stände und ausgesprochene Geistesstörung. Die grössere
Disposition des weiblichen Geschlechts zur Bleivergif-
tung hängt vielleicht mit dem weniger lebhaften Stoff-
wechsel des Weibes zusammen, der für langsam
wirkende Gifte, deren furchtbarer Typus das Blei ist,
empfänglich machen muss,
Frauen sind wie Kinder bekanntlich empfindlicher
gegen Opium, nach FonssAGRIvEs sind die meisten Fälle
von toxischer Opiumwirkung bei Frauen beobachtet
worden, was LAuDER BRUunTOoN bestätigt. Opium beein-
flusst von allen Teilen des Nervensystems das Gross-
hirn am meisten, Kinder besitzen relativ mehr, Nerven-
und Gehirngewebe als Erwachsene, haben energischeres
Zellenleben und schnellere Resorption ®), woraus sich
1) T. OLIVER, Goulstonian Lectures on Lead-Poisoning, 1891,
P- 225
x ‚BEvAnN Lewis, Text-book of Mental disease, p. 345, 1889.
3) Die Versuche von YaArTsurTy über die Resorptionsgeschwin-
digkeit für Jodkalium und salizylsaures Natron ergeben eine sehr
viel schnellere Resorption bei Knaben und Jünglingen (Lancet
1891, 10. Jan.).
DER STOFFWECHSEL.
289
die stärkere Opiumwirkung bei ihnen erklärt. Auch
Säugetiere zeigen ähnliche Unterschiede im Verhalten
der Altersstufen; junge Kaninchen erliegen Dosen, die
relativ eben so gross sind wie Opiummengen, die er-
wachsene Tiere nicht schädigen!). Auch die Weibchen
vieler Säuger zeigen eine grössere Empfindlichkeit
gegen Gifte, besonders gegen Nervengifte, ganz wie
Frauen und Mädchen. Bei Kaltblütern, bei denen das
Gehirn relativ wenig neben dem Rückenmark bedeutet,
ruft Opium tetanische Zuckungen hervor, wie manch-
mal bei Kindern.
Das klarste und schlagendste Beispiel eines Nerven-
giftes, das auf beide Geschlechter ganz ‚verschieden
Wirkt, liefert der Alkohol. Der Alkoholismus trifft
Männer sehr viel häufiger, HERMANN fand auf 2800
Männliche 400 weibliche Alkoholisten; trotz dieser
beträchtlichen Beteiligung der Frauen sind die schweren
Hirnerscheinungen des Alkoholismus, zumal die des
Delirium tremens, fast ausschliesslich bei Männern zu
finden. RayYer in Paris fand im Jahre 1819 unter 170
Fällen des Delirs nur 7 Frauen, Bane in Kopenhagen
unter 456 Fällen nur eine Frau, ebenso HOoveH-GuLD-
BERG unter 173, CLIFFORD ALLBUTT hatte bis 1882 nicht
einen einzigen Fall bei einem Weibe gesehen”).
Andererseits finden sich alkoholische Erkrankungen
des Rückenmarks und der peripheren Nerver und
Bewegungsstörungen häufiger bei Frauen; So fand
LANcEREAUX 12 derartige Fälle bei Frauen, 3 bei Männern,
Broaosenr und CumrForRD ALLBUTT bestätigen das, wie
auch die Erfahrungen aller grösseren Krankenhäuser.
BaLL beobachtet geschlechtliche Erregung in Begleitung
der Trunksucht häufiger bei ‘Weibern ®). |
Die interessante Verschiedenheit in der Wirkung
des Alkohols auf das Nervensystem erhält ihre Be-
1) Cm. CorRnEvin, Des plantes veneneuses, Paris 1887, p. 27,
. 2) VERGA fand in Italien 9% weibliche Fälle von Del. tremens,
In der Charite in Berlin beträgt ihre Frequenz gewöhnlich zwischen
6 und 4%. — K.
3) L’Encephale, 1882, Nr. 3.
Ellis, Mann u, Weib. 2. Aufl,
{9
200
DER STOFF WECHSEL.
deutung in Verbindung mit den oben angeführten Tat-
sachen.
Über Alkoholismus bei Kindern ist verhältnis-
mässig wenig bekannt. DeMmMe hat ihn unter der armen
Bevölkerung gewisser Bezirke gefunden und eine Bro-
schüre darüber geschrieben; er schildert als Haupt-
symptome eine abnorme Erregung, die in extremen
Fällen unter Konvulsionen zum Tode führt und der
eine lähmungsartige, psychische und körperliche
Schwäche folgt; die Intoxikation scheint also bei
Kindern ihrem Auftreten bei Frauen sehr ähnlich zu
sein. Auch bei niederen Rassen ist Delirium tremens
sehr selten die Folge des Alkoholismus, so auch bei
amerikanischen Negern, wie REYBURN aus den Notizen
über, 400 000 Patienten des Bureaus für Negerflüchtlinge
nachweist; Alkoholismus führt bei ihnen viel leichter
zu Epilepsie oder Geistesstörung.
Hautfarbe und Haar.
Das Wachstum und die Färbung des Haares, wie
die des Körpers überhaupt, stehen wahrscheinlich in
engem Zusammenhang mit dem Stoffwechsel. Bei
allen haartragenden Tieren spielt das Haar und noch
mehr die Hautfarbe unter den sekundären Geschlechts-
merkmalen die erste Rolle, dabei ist reichlicher Haar-
wuchs und auffallende Hautfärbung vorwiegend beim
männlichen Geschlecht zu finden. Beim Menschen ist
die Färbung der Haut rudimentär und relativ stabil gewor-
den und die Geschlechtsunterschiede des Haarkleides sind
fast ausgeglichen, bis auf den Bartwuchs beim Manne und
die stärkere Entwicklung des Kopthaares beim Weibe.
Letztere ist auch noch bei den Völkern vorhanden, die
wie die Singalesen, das Haar in beiden Geschlechtern
lang tragen; bei den germanischen Rassen ist das ein-
zelne Haar beim Weibe stärker als beim Manne, auch
das ungeschnittene Haar der Knaben erreicht nie die
Länge des Mädchenhaares, Bei zivilisierten und un-
zivilisierten Rassen neigen die Frauen wenig zur Kahl-
DER STOFFWECHSEL.
291
köpfigkeit und leiden seltener als der Mann an Alopecia
areata, Während ferner bei europäischen Rassen der
Mann eine stärkere Entwicklung des Körperhaares hat,
Sind die Pubes beim Weibe stärker und das einzelne
Haar dieser Gegend hat, wie Prarr und WALDEYER ge-
funden haben, eine grössere Länge als beim Manne.
Die Geschlechtsunterschiede sind also im ganzen
kompensatorisch!). Eine wirkliche, sexuell bedingte
Unterscheidung, die einiges Interesse verdient, liegt in
der grösseren Persistenz des fötalen Lanugo beim
Weibe. Auf Gesicht, Hals und Körper behalten die
Frauen gewöhnlich dieses infantile Merkmal in viel
höherem Grade als der Mann, manchmal ist sein Auf-
treten sehr ausgeprägt.
‚Das Vorkommen von Haar im Gesicht beim Manne
ist eines der am meisten ausgesprochenen sekundären
Sexualmerkmale. Man hat auch das besonders häufige
Vorkommen von Akne bei erwachsenen jungen Männern
als ein sekundäres Sexual-Merkmal aufgefasst, da es
bei Frauen relativ selten ist. Wie Woopd HUuTcHINSON
ausführt (Studies in Human and Comparative Pathology,
P. 180), ist Akne eine Erkrankung der Talgdrüsen,
Welche unreife oder abortive Haar-Follikel‘ sind, und
Man muss daher das Auftreten von Akne, die gewöhn-
lich bei Jünglingen erscheint, mit dem normalen Auf-
treten von Haarwachstum im Gesicht zu dieser Zeit
in Verbindung bringen.
Vielleicht besser zu beantworten und von grossem
Interesse ist die Frage, ob das Weib dunkler ist als
der Mann. In sehr verschiedenen Weltgegenden, in
Südamerika, N euguinea, Japan, haben die Kinder helleres
Haar und hellere Haut als die Erwachsenen; nach vielen
Reisenden sind die Frauen der verschiedensten Völker
hellhäutiger; Bätz berichtet das von den Japanesen,
DAÄLBERTIS von den Papuas auf Neuguinea. Auch von
den Aino-Weibern wird das berichtet. Nach DrscHAMps
s 1) Näheres bei PrLoss und Barrteis, Das Weib, 7. Aufl,
. 28, 246 —256.
1O#*
5992
DER STOFFWECHSEL,
sind bei den Veddah die Kinder, jedoch nicht die
Frauen heller als die Männer. Unter den Feuerländern
ist nach Hyapss und Denker die Haut bei den Frauen
heller gefärbt als bei den Männern, jedoch ist sie vor
der Pubertät bei den Mädchen dunkler. Bei vielen
afrikanischen Völkern sind die Weiber weniger schwarz,
obgleich beide Geschlechter der Sanne gleich ausge-
setzt sind, und MAnTEcAzza machte dieselbe Beobachtung
an den Todos in Indien. Die Bestimmung derartiger
Unterschiede der Hautfarbe ist deswegen schwer, weil
der Einfluss der Sonnenstrahlen dabei nicht ganz
eliminiert werden kann und bei nur sehr wenigen
Rassen in dieser Beziehung beide Geschlechter unter
gleichen Bedingungen leben.
Interessanter ist die Frage nach der Haar- und
Augenfarbe, jedoch sind in dieser Richtung nur die euro-
päischen Rassen näher bekannt, unter ihnen am besten
die von Dr. Bepvor untersuchte Bevölkerung Englands,
Unter Kindern (in öffentlichen Schulen) sind zwischen 6
und ı5 Jahren blondhaarige und helläugige Mädchen
viel häufiger als Knaben; Knaben sind im ganzen
häufiger brünett!)., Das Nachdunkeln des Haares fällt
nach BepoobeE bei Männern in das Alter zwischen 20 und
23 Jahren, bei Frauen, entsprechend ihrer Frühreife, in
etwas frühere Zeit?). Ich verdanke Dr. BEDDoE einige
weitere Angaben, die sich in seinem Werke Races of
Britain vicht finden. Er weist auf Fehlerquellen hin,
die durch Haartracht, Kosmetika und Altersunterschiede
bedingt sein können. Ausserdem sieht man in England
mehr junge Mädchen als junge Männer auf den Strassen,
wodurch der Prozentsatz Londoner Frauen‘ künstlich
vermehrt wird; andererseits wird dies durch das späte
Nachdunkeln des Haares bei Männern kompensiert.
BeEopooss Tabellen ergeben in einer Reihe von Städten
mehr dunkelhaarige Frauen®).. in einer anderen Reihe
ı) Rep. of Anthrop. Comitt. of Brit. Assoc. 1893.
2) Rep. of Anthrop. Comitt. etc. 1880.
3) Comrie (Perthshire), Thirsk, Boston, Leicester, Worcester,
Norwich, Southampton.
DER STOFFWECHSEL.
293
mehr dunkelhaarige Männer‘!); diese Liste ist keine be-
Sondere Stütze für die Annahme BeEDdoo:s‘ von einer
häufigeren Dunkelhaarigkeit der Frauen. Klarer ist das
Ergebnis der Erhebungen über die Farbe der Augen,
die sich bei Frauen fast beständig?) dunkler fanden;
nur in Ipswich hatten die Männer dunklere Augen, in
Stoke-on-Trent und Norwich standen sich beide Ge-
Schlechter gleich. BEDDoE nimmt an, dass ausgedehntere
Ermittlungen zu demselben Ergebnis führen würden
und macht den Schluss, dass dunkle Augen unter
Frauen entschieden häufiger sind, dunkles Haar nicht
eben so stark bei ihnen überwiegt ®).
Anscheinend betrachtet BEDDoE braunes Haar und
braune Augen als häufiger bei Frauen, schwarzes Haar
und graue Augen als häufiger bei Männern. Dasselbe
ergaben Untersuchungen der Mitglieder der British
Association, auf den Versammlungen in Bath und New-
Castle; hier waren helläugig 44,6%. der Männer, 34,2
der Frauen, dunkeläugig 1ı2,3°%0 der Männer, 20,7% der
Frauen, die mittleren Nüancen bei beiden Geschlechtern
fast gleich häufig. In Newcastle hatten etwas mehr
Männer helle Augen und dunkles Haar und beträchtlich
mehr Frauen dunkle Augen und dunkles Haar; dieser
Unterschied ist auf eine ethnologische Differenz des
Materials zurückzuführen, da 50%o der untersuchten
Individuen in New-Castle geboren waren. Ungefähr
dasselbe Resultat wie BEnvoE fanden neuerdings HADDon
und Brown: bei der Untersuchung der Bevölkerung auf
den Aran-Inseln an der Westküste Irlands. Das Vor-
wiegen dunkler Augen fand sich deutlicher ausgeprägt
1) Forteviot (Perthshire), Stoke-on-Trent, Shrewsbury, Here-
ford und in Nord-Wales.
?) In Forteviot, Comrie, Thirsk, Boston, Leicester, Shrews-
bury, Hereford, Worcester, London, Southampton und Nord-Wales,
. 38) Nach CoiL1GNoN finden sich bei Japanern nur sehr ge-
Mnge Geschlechtsunterschiede in der Färbung von Haut, Haar
und Auge und dieselben sprechen für eine etwas hellere Pigmen-
tlerung beim weiblichen Geschlecht. Bei den Lappen sind nach
MANTEGAZZA und SOoMmmMIER 50% der Weiber und 30° der Männer
braunäugieg.
294
DER STOFFWECHSEL.
als das dunklen Haares?!), Dr. Beooor schreibt mir
privatim, dass an der Grenze von Wales die Männer
dunkelhaariger sind, wahrscheinlich weil dort Männer
welscher Abkunft häufiger sind. Ein Überwiegen dunkel-
haariger Frauen ist in Bezirken mit vorwiegend .teuto-
nischer Bevölkerung am häufigsten. Wahrscheinlich
haben die sächsischen Eroberer keltische Frauen ge-
heiratet, obgleich sie aus ihrer Heimat nicht nur ihre
Kühe, sondern gewiss auch viele Frauen mitgebracht
haben. Möglicherweise sind jedoch Frauen deshalb zu
einer dunkleren Färbung von Haaren und Iris geneigt,
weil bei ihnen Pigmente disponibel sind, die bei Männern
zur Färbung des Barthaars verwendet werden; zumal
die Frauen ungefähr in demselben Lebensalter nach-
dunkeln, in welchem beim Mann Bartwachstum beginnt.
Wir müssen uns aber daran erinnern, dass in bezug
auf die Haarmenge im ganzen keine grosse Ungleich-
heit der Geschlechter besteht.
Die neueste eingehende Untersuchung in Gross-
britannien ist die von GRAY und TocHER in Ost-Aber-
deenshire. Sie konstatierten die Farbe von Augen und
Haar bei über 14000 Kindern und fanden bei beiden
Geschlechtern ungefähr denselben Prozentsatz von
dunklem Haar, während die Mädchen in 3%o häufiger
dunkle Augen hatten. Unter mehreren tausend Er-
wachsenen war jedoch die häufigere Dunkelheit der Frauen
deutlicher ausgesprochen; sie hatten in ı1°%o häufiger
dunkle Haare als die Männer, und in 16,5% 0 häufiger
dunkle Augen?). PriıtrzuweR gibt folgende Tabelle der
Pigmentierung bei 500 Strassburger Anatomieleichen:
1) A. C. HADDon und C. R. Browse, Ethnography of the
Aran-Islands. (Proceed. Royal Irish Ac. 1893.)
2) J. Gray and J. F. Tocmer, Physical characteristics of
dult and school children in East-Aberdeenshire, Journ. Anthropol.
Instit., Januar-Juni 1900. KARL PzArson und ALICE LEE bestä-
tigen den Schluss, dass die Augen der Frauen dunkler sind, als
die der Männer. (Proceed. Roy. Soc., Bd. 66, p. 324, 1900. —
K. PzArson, Phil, Transactions, Bd. 195 a, p. 108, 1901.)
DER STOFFWECHSEL.,
blond brünett
1—10 86,1 -13,9
11—20 48,55 565
über 20 30,0 69,1
Alter
M.
W.
blond brünet
63,4 36,6
36,4 64,6
22,6 77:4
505
Diese Zahlen ergeben deutliche Geschlechtsunter-
schiede in allen Lebensaltern, was Prirzner !) aus einer
(im Elsass lokal begründeten) verschiedenen Mischung
ethnologischer Elemente bei den der Anatomie ver-
fallenden Individuen verschiedenen Geschlechts zu er-
klären sucht; das mag sein, P. übersieht jedoch, dass
diese Unterschiede international und auch bei Lebenden
vorhanden sind. Ganz’ dasselbe findet sich z. B. in
Dänemark. Hier fand Pror. W. SchmmpTt mehr blonde
und wenige brünette Männer; während rotes Haar bei
beiden Geschlechtern fast gleich häufig war, auch
helle Augen gab es viel häufiger bei Männern, mittlere
Schattierungen seltener und dunkle ungemein selten. Die
Resultate waren ganz die, wie in England: Frauen haben
häufiger dunkles Haar und noch häufiger dunkle Augen.
Man darf annehmen, dass dasselbe auch für die helleren
Rassen des nördlichen Europa gilt.
Infolge der abweichenden Ergebnisse von SCHMIDT
hat PriırzweR die Sache wieder aufgenommen und in
sehr erschöpfender Weise, unter möglichster Ausschal-
tung aller Fehlerquellen, an über 2000 Individuen aller
Altersstufen untersucht?). Es bestätigte sich dabei, dass
im Niederelsass die Frauen jeden Alters wirklich auS-
gesprochen dunkler sind, als die Männer, sowohl bezüg-
lich der Farbe der Haare wie der der Augen. Dunkle
Augen waren bei Frauen um 6—7° 0 häufiger, oder, wie
das Endresultat zeigt, es gibt 7%o mehr blondhaarige
1) SCHWALBE, Merpholos, Arbeiten, Bd. II, 1892. N
2) W. Prırzwer, Ein Beitrag zur Kenntnis der sekundären
Geschlechtsunterschiede beim Menschen, Morphologische Arbeiten,
Bd. VII, H. 3, 1901. Unter oberbayerischen Schulkindern fand
DAFFNER (Wachstum des Menschen, S. 126) die Mädchen etwas
heller, aber er hat nur 200 Individuen untersucht.
206
DER STOFFWECHSEL.
Individuen unter Männern als unter Frauen und 3%
mehr braunäugige Individuen unter den Frauen. Diese
grössere Pigmentation des weiblichen Geschlechts be-
trachtet PrıTtznER als ein spezifisches Geschlechtsmerkmal.
ELKıno untersuchte die stadtgeborene polnische
Fabrikarbeiterschaft in Warschau und fand drei Typen,
einen blonden, einen dunklen und einen gemischten;
von den Männern gehörten nur 17%°0o zum dunklen Typus.
von den Frauen 25%o; dieses stärkere Vorwiegen des
dunklen Typus bei den Frauen bestand auf Kosten des
gemischten Typus, da die Zahl der Blondinen dieselbe
war wie die der blonden Männer. Alle Anthropologen
stimmen darin überein, dass Jüdinnen dunklere Augen
haben als die Juden und die meisten finden die Jüdinnen
auch häufiger dunkelhaarig, ausser ELkınd und FIsHBERG.
FisyBERG fand jedoch bei 74%o der Judıinnen und nur
23° der Juden in Amerika eine dunkle Haut!). Unter
einer grossen Zahl bulgarischer Schulkinder; sowohl
in Mazedonien wie in Bulgarien, im Alter von 6 bis 20
Jahren, fand WarTerrF?®), dass der dunkle Typus bei Mäd-
chen etwas stärker vertreten ist als bei Knaben, wäh-
rend der blonde Typus gleich häufig ist, so dass, wie
bei der Warschauer Bevölkerung, bei den Mädchen ein
Defizit bezüglich des gemischten Typus bestand. Wurde
die Haar- und die Augenfarbe gesondert notiert, so
hatten die Mädchen mehr dunkle Augen, aber die
Knaben häufiger blondes Haar.
Wir sehen also, dass Frauen dunklere Haare und
noch ausgeprägter, dunklere Augen haben als Männer,
wenn auch dieser Unterschied bei Kindern weniger
ausgeprägt ist. Wir sind also zu dem Schlusse be-
rechtigt, dass es sich dabei um ein bei allen hellen
Rassen des nördlichen Europa nachweisbares Verhalten
handelt 3).
1) Amer. Anthroßologist, 1903; p. 95.
2) S. WarTErF, Korrespond.-Bl, d. deutschen anthrop. Gesellsch.,
März 1902.
3) Vgl. RırLeY, The races of Europe, p. 2322, 357 etc.
DER STOFFWECHSEL.
297
Bei nichteuropäischen Rassen und bei dunkelhäuti-
gen Völkern sind in kleinerem Umfange Beobachtungen
gemacht worden, die nicht immer auf ein ähnliches
Verhalten deuten. CHANTRE fand die Frauen bei den
Armeniern ganz entschieden dunkler, es kamen 51°/o
dunkelhaarige Männer auf 71% dunkelhaarige Frauen
und 51% dunkeläugige Männer auf 77%0 dunkeläugige
Frauen, so dass die Tendenz des weiblichen Geschlechts
zu Dunkeläugigkeit bei den Armenierinnen noch mehr
ausgesprochen ist, als die dunkle Haarfarbe. Helles
Haar fand sich bei ı2%o der Männer gegen 3°%o der
Frauen und helle Augen bei 12% der Männer, während
sie bei Frauen nicht vorkamen.
Unter Tartaren waren 63% der Männer und 78%
der Frauen dunkelhaarig, 56%o der Männer und 72°
der Frauen dunkeläugig. Bei den Kurden waren Männer
und Frauen bezüglich der dunklen Haarfarbe gleich,
aber es waren nur 66%o der Männer dunkelhaarig gegen
80% der Frauen. (E. CHANTRE, Misson scientifique en
Armenie Russe, Nouv. Arch, des miss. scientif., Bd. III,
1802.)
Bei den Lappen fand ManTEGcAzza bei 50°%o der
Frauen und bei nur 30%o der Männer braune Augen,
bei den Japanern sind nach CoLLienon Geschlechtsunter-
Schiede bezüglich der Haar- und Augenfarbe gering,
die Frauen sind etwas weniger dunkel. Bei den Feuer-
ländern haben nach Hyavss und Denker ‚die Frauen
ausschliesslich dunkles Haar, bei den Männern herrscht
die dunkle Haarfarbe vor.
Stratz macht auf die Häufigkeit dunklen Scham-
haars auch bei hellhaarigen Frauen aufmerksam‘).
Die Frage der Pigmentbildung ist von Bedeutung
für die Lebenszähigkeit der Individuen und der Rassen;
die blonde Bevölkerung Europas scheint progressiv abzu-
ä ij Eine sehr vollständige Behandlung dieser Frage hat neuer-
ings auch Dr. BEren gegeben: Symbolae ad cognitionem gehi-
talium etc. (Hospitalstidende 22. Aug. 1894 p. 825 ff.) — K.
ZIL
DER STOFFWECHSEL.
nehmen, QuATREFAGES behauptet das für die Normandie,
ScHAAFFHAUSEN für Deutschland, ScHmmEeR glaubt, etwas
ähnliches in Österreich beobachten zu können. Nach
Mayr ist der blonde Typus weniger widerstands- und
fortpflanzungsfähig, in Amerika zeigt sich, dass dunkel-
haarige Personen weniger häufig als blonde dauernde
Schädigungen durch Krankheiten aller Art davontragen‘).
Wenn sich diese Beobachtung bestätigt, so darf
man wohl die grössere Widerstandsfähigkeit der Frauen
gegen Krankheiten mit ihrer stärkeren Pigmentierung in
Zusammenhang bringen, Interessant wäre in dieser Bezie-
hung eineStatistik derPigmentierung langlebiger Personen.
Sır GEoreE Humpury, der seine Untersuchungen über
Langlebigkeit in seinem interessanten Werke Old Age
niedergelegt hat, konnte mir darüber brieflich keine
Auskunft geben. Dr. HADen Gvsst fand unter 42 mehr
als 70 Jahre alten Personen in Manchester 28 mit hel-
lem, 13 mit mittlerem, eine mit dunklem Teint, welche
Zahlen nicht für den oben angedeuteten Zusammenhang
sprechen. Die Statistik des Albinismus ergibt nichts
über die Verteilung desselben auf beide Geschlechter,
Bei den Negern, wo er am häufigsten ist, soll er öfter
Frauen treffen. In Italien fand ihn Raserı häufiger bei
Männern (66 M., 40 W.) und am häufigsten da, wo die
Rasse dunkelhäutig ist?®. Die ADDdisonsche Krankheit
mit ihrer dunkler Hautfärbung ist durchweg bei Männern
häufiger; BALL fand 53 Männer und 38 Frauen in der
Kasuistik dieser Krankheit.
Es fehlen noch genauere Untersuchungen über die
Ursachen und Wirkungen der Pigmentierung im Organis-
mus?). Dr. ALICE Ross bemerkt darüber, dass rothaarige
1) G. A. SCHIMMER, Erhebungen über die Farbe der Augen
etc. (Mitt, d. Anthrop. Gesellsch. Wien, Supplement I, 1884.)
2) TRELAT, Art. „Albinisme“ Diet. encycl. des sc. med.;
Raser, Archivio per F’Antrop, 1880, p. 203.
3) Auf die sehr bemerkenswerten Ausführungen, die kürz-
lich R. Steiner über_die Funktion des Pigments gemacht hat
(Zeitschrift für med. Elektrologie, Bd. z1, Heft 2, 1909), kann hier
nicht näher eingegangen werden.
DER STOFFWECHSEL.
209
Frauen und solche Brünetten, die zu Sommersprossen
neigen, häufiger Dammrisse und Warzenschrunden be
kommen, und dass sandfarbige Blondinen, die unter der
Sonne leichter braun als sommersprossig werden und
an Nacken, Achselhöhlen und Brustwarzen Braunfärbung
zeigen, am wenigsten zu diesen Verletzungen di1Spo-
niert sind.
X. Kapitel.
Die inneren Organe.
Psychologische Bedeutung der Eingeweide. — Die Schilddrüse
und ihre verschiedenen Zustände beim Weibe, — Die BAsedowsche
Krankheit und die Physiologie des Schreckes. — Kehlkopf und
Stimme. — Beziehung der Stimme zu den Genitalien. — Herz. —
Lunge. — Magen. — Verdauung. — Leber. — Milz. — Nieren. —
Harnblase. — Die emotionelle Bedeutung der Eingeweide.
Die Untersuchung der inneren Organe des Körpers,
ihrer Varietäten nach Alter, Geschlecht und Rasse, und
ihrer (nicht pathologischen) Veränderungen unter ver-
schiedenen Lebensbedingungen bilden einen wichtigen
Teil der Wissenschaft, der jedoch bisher noch nicht
in umfassender Weise dargestellt worden ist. Es ist
noch nicht allgemein anerkannt, dass, wie die An-
thropologie auf Anatomie, so die Psychologie auf
Physiologie gegründet ist. Wenn man sagt, dass die
Nebenniere ein der Spitze der Niere aufsitzender gang-
lionärer Körper ist, so sprechen wir eine anatomische
Tatsache aus; wenn wir weiter sagen, dass die Neben-
niere beim Weibe grösser ist als beim Manne und
sehr gross beim Neger, so behaupten wir eine anthro-
pologische Tatsache. .Ebenso bewegen wir uns auf
rein physiologischem Gebiete, wenn wir die normale
Bewegung des Pulses oder, des Herzens genau be-
obachten oder graphisch regristieren. Beobachten
wir jedoch diese Bewegungen unter dem Einfluss
wechselnder individueller Bedingungen, so nähern wir
DIE INNEREN ORGANE.
301
uns dem Gebiete psychologischer Untersuchungen, So
haben die subtilen physiologischen Experimente Mossos
und LEeHManys über die Gefässinnervation die engsten
Beziehungen zur Psychologie. Niemand kann heute ein
kompetenter Psychologe sein, wenn er nicht etwas
Physiologe ist, ganz wie der Physiologe etwas Che-
miker und Physiker sein muss. Die Physiologie der
Sinne führt hinüber zur Psychologie des Intellekts
und die Physiologie der inneren Organe Zur Psy-
chologie des Affektlebens. Wenn wir z. B. eine gründ-
liche physiologische Kenntnis der Schilddrüse besässen.
so würden wir wahrscheinlich mehr von der Psychologie
des Gemütslebens wissen, als uns alle introspektive
Beobachtung desselben und die malerische Schilderung
seiner äusseren Zeichen je gelehrt hat. .
Von der Schilddrüse, diesem interessanten Organ
am Halse wissen wir schon manches, was psychologische
Vorgänge beleuchtet, und derartige Streiflichter werden
uns in diesem Kapitel noch öfter begegnen, wenn €S
sich auch zunächst mit anatomischen. und physiolo-
gischen Tatsachen beschäftigt. Die Funktion der
Schilddrüse ist leider noch nicht völlig bekannt, höchst-
wahrscheinlich hat sie eine sehr enge Beziehung zu
dem Chemismus des Blutes !). Die Drüse ist beim Weibe
grösser als beim Manne, beim Neugeborenen bildet. sie
21/2% 00 des Körpergewichts, beim Erwachsenen nur
0,55% oo. Im höheren Alter nimmt ihre Grösse sehr
bedeutend ab, und ihre völlige Entfernung ist dann,
wie KocHER u. a. gezeigt haben, ohne erhebliche Nach-
teile möglich, während dieselbe Operation vor der
Pubertät ausgeführt, die Gesundheit stets aufs schwerste
schädigt. |
Alle Veränderungen im Organismus des Weibes
spiegeln sich im Verhalten der Schilddrüse wieder, so
1) Vicror Horsıey, The Function of the Thyroid_ Gland,
(Brit. Med. Journ. 1892, Jan.-F ebr.) — R. Traına, KRicerche Speri-
menlali sul sistema nervoso degli animali tireoprivt. J! Policlinico,
Oct, 1608 — G. R. Murray, „Goulstonian Lectures on the patho-
logy of the thyroid gland“, Brit, Med. Journ. März 1899.
BL
A
a
DIE INNEREN ORGANE.
dass MzEckeL schon vor langer Zeit sagen konnte, sie
wäre eine Wiederholung der Gebärmutter am Halse.
Die Abhängigkeit der Schwellung der Schilddrüse von
gleichen Zuständen in den Geschlechtsorganen scheint
schon seit sehr früher Zeit bekannt zu sein, mindestens
seit DEmoKrır, und mancher Volksgebrauch deutet auf
einen noch früheren Ursprung. Sie schwillt bei der
ersten Menstruation und wahrscheinlich auch bei jeder
folgenden, ferner kann die Schilddrüse beim definitiven
Authören der Menstruation anschwellen. Bei Hündin,
Katze, Ziege, Schaf und Reh vergrössert sich die
Schilddrüse in der Brunst. CATuLL macht eine An-
spielung darauf, dass der erste geschlechtliche Ver-
kehr eine Anschwellung des Halses, verursacht und
nach einer sehr alten Sitte, die noch heute im südlichen
Frankreich besteht, wird die Intaktheit jung verheirateter
Frauen durch Messen des Halses bestimmt; etwas ähn-
liches soll auch beim Manne durch den ersten geschlecht-
lichen Verkehr bedingt sein. (HEIDENREICH.) Die Angabe
DEMoxKrıTs von einer Schwelluhg‘ des Halses während
der Schwangerschaft ist neuerdings von TARNıER, LAWSON
Taır u. a. betädigt worden. Nach Freund!) findet sich
in der Schwangerschaft fast ausnahmslos eine Schwellung
der Thyroidea (in 45 Fällen von 50), ferner vergrössert
sie sich während der Entbindung und bleibt manchmal
auch. während der Laktation vergrössert; manchmal
tritt eine Schwellung der Schilddrüse in Verbindung
mit Gemütsbewegungen auf, auch beim Manne.
Fast alle Krankheiten der Schilddrüse sind bei
Frauen häufiger, So schwankt die Häufigkeit der ein-
fachen Vergrösserung der Drüse, des Kropfes, zwischen
einer 2—15 mal. SO grossen Zahl bei Frauen als bei
Männern. Kretinismus oder die durch Schilddrüsener-
krankung bedingte Idiotie scheint bei Männern etwas
häufiger zu sein, Sporadische, Fälle kommen jedoch
häufiger bei Frauen vor, nach FLiercHER BEACHS aus-
gedehnter Erfahrung etwa doppelt so häufig bei Frauen
8) HErMAnn FREUND, Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie, Bd. 31,
p. 446.
DIE INNEREN ORGANE.
303
als bei Männern. Myxödem, ein nahe verwandter,
jedoch erworbener Zustand, findet sich hauptsächlich
bei Frauen im mittleren Alter. Zu den schweren
Erkrankungen der Schilddrüse gehört die BASEDOwsche
Krankheit (GrRAves’ disease), deren nervöse Komplika-
tionen von Burner Yzo als eine Neurose des emotio-
nellen Nervensystems definiert worden sind 1). Alle
Beobachter fanden die BAsepowsche Krankheit häufiger
bei Frauen und zwar 2-—8 mal so häufig als bei Männern,
Die Symptome der Krankheit, das starre, glotzende
Auge, die Atemnot und das Herzklopfen, erinnern an
Schreckzustände; in der Tat hat Schreck oft die Krank-
heit hervorgerufen, so in Elsass-Lothringen, während des
deutsch-französischen Krieges, in mehreren Fällen. Dr. H.
W. Macxkınxzıe hat die Ähnlichkeit in den Symptomen
beider Zustände eingehend geschildert: „Die von DARWIN
und Sir CHARLES BeLL gegebene Beschreibung von
Menschen in schweren Zuständen von Angst und
Schrecken klingt fast wie die Schilderung derartiger
Kranker. Das Herz schlägt schnell und heftig
und klopft gegen die Rippen, alle Muskeln des
Körpers zittern, die Augen starren hervor, und die un-
bedeckten Augäpfel sind starr auf einen Gegenstand
gerichtet. Die Haut ist von kaltem, klebrigem Schweiss
bedeckt, der Darm ist in Unruhe, .die Haut ist über
Gesicht und Hals bis zu den Schlüsselbeinen gerötet.
Die Haare stehen aufrecht. Die Symptome des
Schreckens sind dem Menschen mit anderen Säuge-
tieren gemeinsam. Es gibt einige sekundäre Symptome
der Basepowschen Krankheit, die bei _Gemütsbe-
wegungen häufig vorkommen; dies sind Anderungen
in. der Pigmentierung der Haut und der Haare, Aus-
fallen der Haare und Nasenbluten“.
_ „Denkt man sich diese Symptome des Schreckens
infolge einer Anomalie im Nervensystem anhaltend fort-
dauern, so ergibt sich ein mit dem Symptomenbild
Y S, GreenrieLDs Vorlesung über die Schilddrüse im Brit,
Med, Journ. 1893, 9. Dezember. Ferner die bekannte deutsche
Monographie von G. BUSCHAN.
TE
304.
DIE INNEREN ORGANE. ' ;
der BaAsedowschen Krankheit übereinstimmender Zustand
mit allen Hauptsymptomen: Zittern, Herzklopfen, Kon-
gestionen, Schweiss, Glotzauge, Steigerung der Peristal-
tik. 'M. führt diese Analogien noch weiter aus und
nimmt an, dass die Schilddrüse bei Affekten eine ähn-
liche Rolle spielt, wie bei dem Zustandekommen vieler
Symptome der BAsepowschen Krankheit 1).
Zum Schluss machte M. folgend einteressante Bemer-
kung: „Wenn ein gewisser abnormer Zustand des
Nervensystems einmal eingetreten ist, so wird er be-
kanntlich von der assoziativen Verbindung mit der er-
regenden Ursache losgelöst, und wird zu einer ganz
selbständigen Erscheinung, so dass ein minimaler Reiz
genügt, um den Erscheinungs-Komplex. hervorzurufen.
In vielen Fällen wird die Krankheit durch einen
schweren seelischen Shock von neuem zur Entwick-
lung gebracht; vielleicht ist sie in vielen anderen
Fällen der Ausdruck einer organischen, unbewussten
Erinnerung des Individuums an einen von einem Vor-
fahren erlittenen Shock.“
„Wahrscheinlich hat die Funktions-Änderung der
Schilddrüse, deren Bedeutung für die Ernährung und
für die Nerven-Dyamik hinlänglich bewiesen ist, viel
mit manchen sekundären Symptomen der Krankheit
zu tuen; aber diese selbst ist eine sehr ausgebreitete
Störung des emotionellen Nervensystems.“
Kehlkopf und Stimme.
Einige geschlechtliche Differenzen treten auch in
der Funktion des Kehlkopfes hervor. Die Stimme bleibt
beim Weibe kindlich, Bei den niederen Menschenrassen
ist der Kehlkopf gewöhnlich unentwickelt und die
Stimme hoch und schrill, Bei europäischen Völkern
erreichen Kehlkopf und Stimme ihre höchste Entwick-
lung, ihre Stimme ist am sonorsten und alle grossen
Sänger sind europäischer Abkunft; in Beziehung auf
1) MAcKENnzIE, Clinical Lectures on GRAvEs’ Disease. (Lancet,
Sept. 1800.)
DIE INNEREN ORGANE.
305
Kraft der Stimme stehen die Tataren noch über den
sonst in dieser Beziehung am höchsten stehenden Deut-
schen!). Die Tendenz der Entwicklung ist auf die
Vergrösserung des Kehlkopfs und die Tieferlegung der
Stimmhöhe gerichtet).
Vor der Pubertät existieren keine wesentlichen ge-
schlechtlichen Stimmunterschiede; von da an vergrössert
sich der männliche Kehlkopf mehr als der weibliche,
A
B
N
(j
A, Männliche
B. Weibliche
v)
=
Stimmritze horizontal von oben.
Stimmritze horizontal von oben.
(Nach LANGER.)
A
+s
während die Stimme „bricht“ und tiefer wird. Kehl-
kopf und Stimme des Weibes bleiben dem kindlichen
Zustande näher; während die männliche Stimmritze in
der Pubertät im Verhältnis von 10: 5 wächst, vergrössert
sich die weibliche im Verhältnis von 7:5 (C. LANGER).
Bei Kastraten bleibt der Kehlkopf pueril, ist je-
doch etwas grösser als bei Frauen. Die alte italienische
Sitte der Kastration zeugt für enge Beziehungen zwischen
der Stimme und den Sexualorganen. Nach DELAUNAY
hat ein Bass nichts von geschlechtlichen und anderen
Ausschweifungen für seine Stimme zu besorgen, da-
ice in the nations
1) Sır Duncan Gısg, The character of the voice IN
of Africa and Asia, contrasted win that of the nations of Europe.
Mem., Anthrop. Soc. 1870, P- 244. . —
‘ TE DE AU, Erudes de blologie comparee. IT, p. 97—110.
20
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
ni:
X
DIE INNEREN ORGANE.
gegen müsste ein Tenor in jeder Beziehung sehr vor-
sichtig sein.
Prostituierte Mädchen haben eine mehr. männliche
Beschaffenheit des Kehlkopfs und der Stimme; Masını
hat darüber in Genua ausgedehnte Untersuchungen
gemacht, uhd nur bei ı2 %o, der Prostituierten weiblichen
Kehlkopftypus gefunden, dagegen nur bei 10%o nor-
maler Weiber den geräumigen männlichen Kehlkopf)).
Dem kindlichen Typus nähert sich der weibliche. Kehl-
kopf auch durch seinen höheren Sitz am Halse. Die
bedeutendere Grösse des männlichen Kehlkopfs zeigt
sich in allen Abmessungen, das ganze Organ ist etwa
um 1!/s grösser als beim Weibe, der Unterschied der
Längsdurchmesser ist bedeutend grösser, als der der
Querdurchmesser, Die Stimmbänder des Mannes sind
beträchtlich länger?., Der Unterschied der Stimme
gehört zu den auffallendsten sekundären Geschlechts-
merkmalen des Menschen. Die Endsilben von Worten
weiblichen Geschlechts scheinen bedingt zu sein durch
den Einfluss der grösseren Höhe und des schrilleren
Tones der weiblichen Stimme, was besonders im Fran-
zösischen hervortritt. (DELAUNAY.)
Der geschlechtliche Stimmunterschied ist durchaus
nicht auf den Menschen beschränkt, bei den meisten
Tieren hat das Weibchen eine schrillere und schwächere
Stimme als das Männchen, so die Henne, die Hündin
und die Stute; Burron bemerkt, dass die Eselin eine
hellere und durchdringendere Stimme hat als der Esel.
DARWIN sagt bei der Besprechung der lauten Stimme
männlicher Tiere während der Paarungszeit, die wahr-
scheinlichste Erklärung dafür wäre, dass der häufige
Gebrauch der Stimme unter der heftigen Erregung
durch Wut, Eifersucht und Liebe, viele Generationen
hindurch fortgesetzt, schliesslich eine erbliche Differen-
1) Archivio di Psichiatria, Bd. XIV, p. 145.
2) S. BEcLARD, Diet. encycl. des Se. med. (Art. „Larynx“);
Prof. K. Tacuczh (Tokio), Beiträge z. top. Anat..d. Kehlk. (Arch.
für Anat. und Physiolog. 1889, 5—86.)
DIE INNEREN ORGANE.
307
zierung der Stimmorgane hervorgerufen hat?!). Etwas
Bestimmteres über die Ursache und den Nutzen dieses
sekundären Merkmales zu sagen, ist kaum möglich;
wir haben darin eines der Mittel zu sehen, durch welche
die gegenseitige Anziehung der Geschlechter gesichert
wird. Die einfache Lebenserfahrung lehrt, dass die
Tiefe der männlichen, die höhere Lage und der sanftere
Klang der weiblichen Stimme das wechselseitige Wohl-
gefallen der Geschlechter steigert, Bei den niederen
Tieren ist fast immer das Männchen das stimmbegabtere.
Das ist beim Menschen nicht der Fall. Das Weib be-
sitzt für den Gebrauch der Stimme mehr Bereitschaft
und mehr Leistungsfähigkeit. So fand Monrog in Amerika,
dass Mädchen jeden Alters besser als Knaben Ton-
Jeitern singen und auch, wenngleich in weniger hohem
Grade, ihnen im Tongedächtnis überlegen sind (Psy-
cholog. Review. März 1003, pP. 155).
Die Brusteingeweide.,
Das Herz ist im kindlichen Alter beim weiblichen
Geschlecht eben sogross oder grösser als beim männ-
lichen. Nach den Tabellen von Boyp ist es in der
Altersstufe zwischen ı4 und 20 Jahren bei Mädchen
noch grösser, bleibt jedoch von dieser Zeit an um etwa
60 g hinter dem Gewicht bei Männern zurück; seine
definitive Grösse erreicht es erst im reifen Alters.
Buenern bemerkt: „Je grösser das Herz im Verhältnis
zu den Gefässen ist, desto höher ist der Blutdruck und
je früher diese Relation eintritt, desto früher, kräftiger
und vollständiger entwickelt sich die Pubertät?). In
Russland fand Faı« bis zum ı2. Jahre das Herz von
Knaben, von da ab bis zum 15. Jahre das von Mädchen
Srösser
\ Nach VIERORDT erreicht das männliche Herz sein
Taximalgewicht. wenn es ı3mal schwerer ist, als bei
iy „Descent of Man.“ II, Teil, Kap. 18. ;
. 2) F. W. Benege, Die anatomischen Grundlagen der Kon-
stitutionsanom alien des Menschen. Marburg 1878.
2
y%
Mr
3
DIE INNEREN ORGANE,
der Geburt. Das weibliche Herz wird kaum ız2mal so
schwer als bei der Geburt. Herzhypertrophie ist bei
Männern doppelt so häufig als bei Frauen; Herzatrophie
etwas häufiger bei Frauen.
Nach Boyo ist die weibliche rechte Lunge bei
Neugeborenen absolut grösser, zwischen 20 und 30 Jahren
wird jedoch dieses Organ beim Manne um ein Drittel
schwerer 1).
Die häufige Erkrankung von Lungen und Herz
macht die Ermittlung ihres normalen Gewichts auf
dem Sektionstisch schwer; wahrscheinlich entwickeln
sich beide Organe bei Kindern weiblichen Geschlechts
schneller und auch hier tritt uns die Erscheinung der
Frühreife und des Stehenbleibens bei einem gering-
fügigeren Endresultate entgegen; diesem Verhalten
entspricht, was wir von der Grösse des Brustkorbs, der
Vitalkapazität und der Muskelkraft beim Weibe wissen,
Der Magen scheint beim Weibe etwas grösser zu
sein; sein Gewicht ist bei neugeborenen Mädchen ab-
solut, bei solchen im Alter zwischen ı4 und 20 Jahren
relativ grösser, letzteres Verhältnis zeigt sich auch noch
im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Nach GEGENBAUR
ist beim Weibe der Magenfundus weniger als beim
Manne entfaltet und es findet sich beim Weibe auch
eine geringere Ausbuchtung der grossen Kurvatur.
BurRDAcH und andere ältere Anatomen fanden den
weiblichen Darmkanal länger und behaupten eine
schnellere Verdauung beim Weibe. DeLAUunNay erfuhr
von Waisenhausvorsteherinnen, dass kleine Mädchen
häufiger hungrig werden als kleine Knaben; auch in
Hospitälern für alte Leute zeigt es sich, dass dort, wo
täglich nur drei Mahlzeiten gegeben werden, alte Frauen
häufiger etwas davon aufheben, um es in der Zwischen-
zeit zu essen. Das Bedürfnis nach häufiger Nahrungs-
aufnahme ist eine Eigentümlichkeit der Jugend.
Gleichzeitig nehmen Frauen geringere Mengen
Nahrung auf als Männer, wie das schon der Blick in
y Bovp, Table of Weights of the Human Body and internal
Organs. (Philos. Trans. 1861.)
DIE INNEREN ORGANE.
309
den Speisezettel jeder geschlossenen Anstalt zeigt. Der
Leiter eines Londoner Speisehauses für Vegetarianer
fand, dass Männer bei ihrer Hauptmahlzeit Nahrungs-
mittel im Werte von ıo Pence (83 Pf), Frauen von
von 6 Pence (so Pf.) verzehren. Wenn übrigens Frauen
ordentlich arbeiten, gesund sind und nicht zu sparen
brauchen, so ist der Unterschied zwischen dem Appetit
bei beiden Geschlechtern nicht erheblich,
Es ist oft behauptet ‚worden, dass Frauen lieber
als Männer viel und gut essen. DELAUNAY, der merk-
würdige Erhebungen über die Häufigkeit übermässiger
Esslust in den verschiedensten Gesellschaftsklassen ge-
macht hat, erhielt durchgehends das gleiche Resultat,
und fand während der Menstruation und Schwanger-
schaft Gefrässigkeit am häufigsten, BRILLAT SAVARIN War
der Meinung, Frauen wären instinktiv gowrmandes, weil
das besser für die körperliche Schönheit wäre. Nach
meiner Meinung sind Frauen eher friandes als Q0UFV-
mandes und lieben bestimmte Speisen, bald sauere, bald
süsse; diese Annahme ist auch in Übereinstimmung
mit den Angaben DELAUNAYS, Wahrscheinlich wären
die Frauen seltener Leckermäuler, wenn Sie soviel
rauchten wie .die Männer, da der Geschmack an
Süssigkeiten und der an Tabak einander in der Regel
ausschliessen.
Die Leber ist bei der Geburt relativ sehr gros$s
und zwar nach Viırroror besonders bei Mädchen.
Nach GEemnsAuR beträgt das Organ *!/aı des männlichen,
Uss des weiblichen Körpergewichts. WIESENERS Zahlen
zeigen, dass die Grösse des Organs im Laufe des Lebens
sehr wechselt, so dass man nicht mit Sicherheit Unter-
schiede feststellen kann, die, wenn sie bestehen, wahr-
Scheinlich zugunsten der Frauen ausfallen !.
Die Milz ist nach den Tabellen Boyps bei weiblichen
Neu- und Frühgeborenen absolut grösser. Bis zum dritten
Monat ist sie hei beiden Geschlechtern absolut, von da
a 1) H. VırrorDt, Das Massenwachstum der Körperorgane
es Menschen. (Arch. f. Anat. u. Phys. 1890.)
31.
DIE INNEREN ORGANE.
an relativ gleich gross. Das grösste Gewicht erlangt
das Organ im 8. Lebensjahr; sie ist also im wesentlichen
ein Organ der Kindheit!). Andere Autoren finden die
Milz beim erwachsenen Weibe um ı2 bis 31 g schwerer
(BLOosFELD, GOCKE, VIERORDT).
Die Nieren sind in der Kindheit relativ sehr gross,
nach Boyp anfangs bei Mädchen absolut kleiner und dieser
Unterschied nimmt weiterhi zu. Nach Sappzy sind die
linearen Masse des Organs bei beiden Geschlechtern
absolut gleich. Das absolute Gewicht der Nieren ist
beim Weibe etwas geringer, das relative Gewicht zeigt
keine konstanten Unterschiede. Die (tiefere) Lage der
weiblichen Niere ist ein entschieden infantiles Merkmal.
Die Blase ist in der Kindheit relativ klein und
fast spindelförmig, später ist sie beim Manne ovoid, beim
Weibe ellipsoid; hier ist sie auch relativ grösser, dehn-
barer und in seitlicher Richtung grösser, Die Blase
ist somit beim Weibe wahrscheinlich höher entwickelt.
Über die relative Grösse der Blase bei beiden Ge-
schlechtern ist viel gestritten worden. Nach CRUvEILHIER
ist sie beim Weibe grösser, nach SaApprey und HOFFMANN
kleiner, und das grössere Viscus ist beim Weibe nur
ein künstliches Resultat sozialer Gewohnheiten. CHARPY,
der die Frage sehr eingehend untersucht hat, behauptet,
die weibliche Blase hätte eine geringere anatomische
Grösse, aber eine bedeutendere physiologische Kapa-
zität. Heıtrzmanx und WiınckeL, die Spezialstudien über
die weibliche Blase gemacht haben, finden sie beim Weibe
grösser. Harr und BaArsour machen die zweifellos
richtige Behauptung, dass die Kapazität der Blase im
Verhältnis zum Körpergewicht bedeutender ist.
GENOUVILLE fand bei der Untersuchung von 25 Leichen
beider Geschlechter, dass die Blase enthält:
beim Manne ohne Druck 88 g
Weibe » 3? 58 „9
Manne unter 200 mm Wasserdruck 238 ,
Weibe ”„ „ ”„ 29 ; 337 »”
') Gaston und VALLEE, Rev. mens. des malad. de lenfance.
Sept. 1892.
DIE INNEREN ORGANE,
311
Die weibliche Blase enthält also unter mässigem
Druck relativ und absolut mehr Raum als die männ-
liche N).
DucnasteLetT fand an lebenden Personen beim weib-
lichen Geschlechte eine grössere Toleranz gegen Wasser-
Einspritzungen in die Blase und konstatierte wie Mosso
und PeriıLAcanı, dass der Drang zum Harnlassen stets
beidemselben Drucke auftritt, der nicht von der Quantität
des Urins, sondern von dem Kontraktionszustande der
Blase abhängt. GENOUVILLE nimmt auch an, dass die
grössere Ausdehnbarkeit der weiblichen Blase von der
Gewohnheit abhängt, dass jedoch dieses Organ dafür
von vornherein prädisponiert ist. Es ist leichter, und
weniger muskulös als heim Manne. Die Blase des
Kindes ist noch weniger. ausdehnungsfähig als die des
Mannes, ihre anatomische Kapazität, an der Leiche be-
stimmt, ist auch nach GEnouviLLE (wie nach CHARPY, S. 0.)
beim Manne, die. physiologische beim Weibe grösser.
Im ganzen zeigt diese TJbersicht der Eingeweide
ein gewisses Übergewicht der Organe der Brusthöhle
beim Manne, über die der Bauchhöhle beim Weibe.
Jedoch ist unsere Kenntnis unvollkommen und zahlreiche
Fehlerquellen erschweren eine vollständige Orientierung.
Die bisherigen Resultate stimmen aber überein mit
der Kenntnis der äusseren Körperformen bei beiden
Geschlechtern, und mit der Behauptung einer stärkeren
Entwicklung des Bauches beim Weibe, wie sie sich bei
allen Autoren findet. Die grössere Muskelkraft des
Mannes hängt mit der stärkeren Entwicklung von Herz
und Lunge zusammen,
"her die Bedeutung der Eingeweide als Organ)
des Gefühlslebens lässt sich heute noch nicht viel sagen;
wir wissen nur, dass die organische Basis der Emotivität
ı) Die Versuche entsprechen nicht den Verhältnissen bei
Lebenden, da der Muskeltonus des SphinkterSs beim Weibe im
Leben andere Verhältnisse schafft, als an der Leiche. (GENOUVILLE,
Etude comparat. d. Org. de mictions d. 1 deux sexes. Arch. d.
Tokologie, Mai 1893.)
312
DIE INNEREN ORGANE.
hier zu suchen ist. Sehr alte, weitverbreitete psycho-
logische Anschauungen verlegen den Sitz der männ-
lichen Tugenden: Mut und Ausdauer, in die Brust, den
der weiblichen Tugenden: Liebe und Mitleid, in den
Bauch. Löwenherz ist ein emphatischer Ehrenname des
Mannes; die Leber galt früher als ein Organ der Liebe und
die Hebräer haben mit andern Rassen, z. B. mit denen
des stillen Ozeans, den Sitz des Mitleides in den Ein-
geweiden gesucht,
XI. Kapitel.
Der periodische Verlauf der weiblichen
Lebensfunktionen.
Die Phänomene der Menstruation, — Ihr Ursprung. — Die An-
nahme einer natürlichen Invalidität des Weibes. — Der zyklische
Verlauf des weiblichen Lebens. — Die Beteiligung verschiedener
Organe an dieser Funktions-Schwankung: Das Herz, das Auge
usw. — Die besonderen physischen und psychischen Phänomene
des Gipfels der Menstruations-Welle. — Ihre Steigerung bei
schlechter Gesundheit. — Die wissenschaftliche, soziale und legale
Bedeutung der Periodizität der weiblichen Lebensfunktionen.
Wir haben schon mehrmals die Tatsache berührt,
dass das Weib während der ganzen Dauer ihres SexXu-
ellen Lebens einem allmonatlichen Blutverluste unter-
worfen ist, dessen regelmässige Wiederkehr nur durch
die Schwangerschaft unterbrochen wird. Der Blutver-
lust in jedem Mondmonate liegt zwischen 100 und 200
Gramm, die Dauer der Blutung beträgt 3—5 Tage, die
Wiederkehr erfolgt durchschnittlich jeden 28sten Tag)
und die Zeit ihres ersten Auftretens liegt meist zwischen
dem ı4ten und ı6ten Jahre, es kann jedoch auch früher
Stattfinden 2).
_ 1) OsTErLOH fand in Dresden bei 3000 Frauen, deren allge-
meins und sexuelle Gesundheit gut war, dass die regelmässige
Wiederkehr der Menstruation bei 68°/o vorkam; be. fünf
Lesen Fällen dauerte die Blutung von einem Tage bis zu fünf
agen.
2) Die Tabellen von Guy und TıLT ergeben für London das
Auftreten der ersten Menstruation im 15. Jahre; WHITEHEAD in
Manchester hat mehrere tausend Fälle zusammengestellt, bei denen
314 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
Der Ursprung dieser periodischen Funktion ist
völlig unbekannt; sie existiert bei allen Menschenrassen
und Spuren davon finden sich bei höheren Säugetieren,
so, wie Aristoteles bemerkte, bei der Stute und der
Kuh, ferner bei der Sau und der Hündin. Bei Affen,
die nicht in der Gefangenschaft leben, findet sich eine
ausgesprochene Menstruation, die bei den höheren Affen
manchmal so reichlich ist wie beim Weibe!). Die
Blutung‘ ist einerseits um so reichlicher, je mehr das
Tier sich dem Menschen nähert, andererseits beim Weibe
um so geringer, je tiefer es der Rasse nach steht. Beim
die erste Menstruation in 24°% im 16. Jahre eintrat, gegen 19%
im 15. und 12° im 17. Jahre. Unter‘ den Einflüssen, die den
Eintritt der ersten Menstruation verfrühen oder verspäten können,
sind Klima, Rasse, Lebensgewohnheiten, soziale Stellung und das
Stadtleben die bekanntesten. Eine Zusammenstellung des darüber
Bekannten findet sich bei PLoss und BArRTELS, Das Weib, 7. Aufl.,
I901, Bd. I, S. 362—381.
Was den amerikanischen Kontinent angeht, so ist die F rage
neuerdings sehr genau an einem umfassenden Material von einem
hervorragenden Gynäkologen, G. J. ENGELMANN, geprüft worden.
Er findet das Durchschnittsalter für das erste Auftreten der Men-
struation bei 14 Jahren, mit einem Spielraum von 13l@ Jahren
bei reichen und gebildeten amerikanischen Mädchen, und von
14''2 bei Kindern der irischen und deutschen Arbeiterbevölkerung,
die in Amerika geboren worden sind. Er nimmt an, dass diese
Frühreife vom Klima gar nicht, von der Rasse sehr wenig beein-
flusst wird, während Milieu, Unterricht, Erziehung und allerlei
stimulierende Einflüsse ihre Hauptursachen sind. Es ist merk-
würdig, dass in dieser Beziehung die Amerikanerin europäischer
Rasse sich der Indianerin nähert, die früher reift, als die Mädchen
irgend eines anderen Landes der gemässigten Zone. SG. J ENGEL-
MANN, The age of first menstruation, Zrans. Amer. Gynaecol.
‚S0C., 1901.)
1) WILTSHIRE, Comparative physiology of menstruation. (Brit.
med. Journ. 1883.) In den letzten Jahren -ist die vergleichende
Physiologie der Menstruation erheblich von W. HEArpe gefördert
worden. Seine Hauptschriften hierüber sind: Menstruation of
Semnopithecus entellus, Trans, Roy. Soc., 1895; Menstruation and
ovulation of Macacus rhesus, ibid., 1897; The menstruation of
monkeys and the Human female, Trans. obstetr. soc., 1898; The
„sexual season“ of the mammals, Quarterly journ. microsc. S0oc.,
1900. S. auch HAvVELOCK ELLIS, Studies in the psychology of se%,
„The phenomena of sexual periodicity“.
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 315
Indianerweibe dauert z. B. die Menstruation nur zwei
Tage. Cooxg, der Ethnologe der Pzareyschen Nordpol-
expedition, ermittelte, dass bei den nördlichen Eskimo-
stimmen die Menstruation erst im 19ten Lebensjahre
eintritt und in der Norm während des langen arktischen
Winters ganz aufhört. .
Die merkwürdige Beziehung dieser Erscheinung
zum Mondzyklus’.ist von jeher augefallen. DARWIN
deutet an, dass dieser Zusammenhang vielleicht zurück-
weist auf sehr entfernte Etappen unserer Ahnenreihe
und dass eine Periodizität, welche dem Organismus
unserer primitivsten Vorfahren einstmals eingeprägt
wurde, sich bis heute erhalten hat. Ascidien, welche
nahe der Hochwasser- oder Ebbegrenze festsitzen,
würden durch eine derartige Ansiedelung den einschnel-
dendsten Veränderungen in der Ernährung periodisch
unterworfen gewesen sein und ein unter diesen Ver-
hältnissen regelmässig durchlaufener ı4tägiger Zyklus
würde eine allgemeine Tendenz zur Periodizität herbei-
führen!). Indessen führt Darwın die Menstruation ım
speziellen nicht auf den Verlauf. der Gezeiten zurück
und die Anwendung stösst auf die Schwierigkeit, dass
die Menstruation eine neuerworbene Eigenschaft ist °).
Diese Tatsache eines periodisch auftretenden Wund-
seins der sensibelsten weiblichen Organe und eines all-
monatlichen Blutverlustes ist häufig mit mehr oder
weniger Legitimität zur Frklärung der verschiedensten
Erscheinungen verwendet worden, Z, B. zur Erklärung
der früher abschliessenden Entwicklung 'der Mädchen
in Statur, Muskulatur, Kehlkopf usw. So bemerkt
ForHERGILL, dass nach seiner Erfahrung eine lange
dauernde Menstruation sich bei Mädchen von kleinem
ı) Descent of Man. I. Teil, Kap. VL | d a
2) Gegen Darwıns Hypothese darf nicht eingewen SEN en,
dass beim Mann ein derartiger periodischer Zyklus fehle, denn
einmal steht, wie unten gezeigt werden wird, der Mann primi-
tiven Zuständen sehr viel ferner und dann deuten 8ZWSSS Tat-
Sachen auf Rudimente einer ähnlichen Periodizität des Organismus
beim Mann. S. H. EıLıs, Studies in the Psychology of Sex,
Bd. II, 1900.
316 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
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PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 317
Wuchse findet und dass das Wachstum wieder ein-
setzte, wenn der Säfteverlust eingeschränkt wurde 9.
Diese Annahme scheint nicht gut begründet zu sein,
da bei allen Säugern und bei vielen anderen hochent-
wickelten Tieren die kräftigere Entwicklung des männ-
lichen Geschlechts noch stärker ausgesprochen ist als
beim Menschen. Die frühere und zartere Entwicklung
des Weibes bedingt so viele Vorteile, dass man dieselbe
nicht auf den zufälligen Einfluss einer periodischen
Funktion zurückführen darf. Es ist leicht zu begreifen,
dass die Menstruation den Irrtum hervorgerufen hat,
Frauen wären von Natur Invaliden. So definiert GALIANI
im Dialogue sur les femmes das, Weib als „un animal
naturellement faible et malade“; erst wäre sie, wie alle
Lebewesen, vor Abschluss des Wachstums invalide,
dann machte sie ein bekanntes Sympton 6 Tage im
Monat, also für den fünften Teil ihres Lebens, siech, und
dann kämen die quälenden Störungen der Schwanger-
schaft und der Lactation. Sie wäre also nur in Inter-
vallen eines beständigen Krankseins gesund. Das
brüske, kapriziöse, reizbare und zugleich versöhnliche
Wesen des Weibes sei ganz das einer. Kranken. Diese
Zustände trachteten wir Männer dadurch zu heilen, dass
wir ihnen vielleicht eine 'neue Krankheit hinzufügten.
Auch MicyeLer schildert‘ in seinem Buche L’Amour
(1859) das Weib als siech: „Das Weib leidet beständig
an dem Vernarben einer inneren Wunde, die die Ur-
sache eines ganzen Dramas ist. . Sie ist wirklich in 15
oder 20 von 28 Tagen, also fast immer, nicht nur In-
valide, sondern verwundet. Sie leidet unaufhörlich an
der ewigen Wunde der Liebe.“ Neuerdings hat eine
Dame diese Gedanken eines beständig und normaliter
beim Weibe bestehenden. pathologischen Zustandes
wieder ausgekramt und die Ursachen davON,; sehr un-
klar, in der Brutalität des Mannes nachweisen‘ wollen!
Es ist kaum nötig zu sagen, dass ein pathologischer
Zustand nicht normal sein kann und dass eine die halbe
1) J. FormercmLL, West-Riding Rep. Bd. VL
318 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
Menschheit affizierende Funktion nicht als Gesundheits-
störung ausgegeben werden darf.
Andere Autoren haben ‚dieser Funktion jede Be-
deutung für den allgemeinen Gesundiheitszustand des
Weibes abgesprochen, so Miss F. T. Cosse in einer
Polemik gegen MicHELET, und neuerdings Mrs. FAwcerT
in einer Bemerkung gegen F. Hanrıson: „Er behauptet,
‚alle Frauen sind funktionellen Störungen unterworfen,
die mit den höchsten Formen ununterbrochener An-
strengung unvereinbar sind‘. Diese Behauptung erlaube
ich mir auf das Entschiedenste zu bestreiten. Von der
eigentlichen Zeit des Wochenbettes abgesehen, ist das
durchschnittliche gesunde Weib gerade so fähig für all-
tägliche Arbeit wie der gesunde Durchschnittsmann.“
Mrs. FAwceTT schreibt das einer neuerdings durch ein
gesundheitsgemässeres Verhalten herbeigeführten erheb-
lichen Verbesserung der weiblichen Gesundheit zu).
Leider ist diese rosige Anschauung nicht ganz gerecht-
fertigt und gilt nur für einen gewissen Teil unserer
Frauen, Die Frage ist die: Wieviel Frauen erfreuen
sich einer Durchnitts-Gesundheit?
Gegenüber den verschiedensten mehr oder weniger
phantasievollen oder wissenschaftlichen Vermutungen
über die Bedeutung dieses monatlichen Blutverlustes
hat man in den letzten Jahren einsehen gelernt, dass
die Menstruation kein alleinstehendes Phänomen im
Leben des Weibes ist; sie ist nur ein äusseres Zeichen
einer bestimmten Phase einer in Monatszyklen ver-
laufenden Wellenbewegung des Organismus, welche
die ganze physische und psychische Organisation des
Weibes einem beständigen Wechsel unterwirft, und
deren Rhythmus sich jeden Tag bei der Untersuchung
jeder Funktion nachweisen lässt. Während man vom
Manne sagen kann, dass sein Leben in einer Ebene
V verläuft, bewegt sich das Leben des Weibes längs einer
aus Wellenberg und Wellental wechselvoll gebildeten
1) Fortnightly Review, September 1801.
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 319
Fläche. Dies ist eine Tatsache von hervorragendster
Bedeutung für die Untersuchung der physischen und
psychischen Lebenserscheinungen des Weibes und ihrer
Lebensführung, die man beständig vor Augen haben
Muss, wenn man das weibliche Leben verstehen will %).
v. Orr gibt in seiner unten zitierten Arbeit. ein Dia-
gramm der Monatswelle des weiblichen Organismus,
das wir umstehend abdrucken; dasselbe resümiert sehr
zahlreiche, täglich gemachte Beobachtungen von 68
Monatszyklen, die bei 60 gesunden Frauen angestellt
worden sind. Die Untersuchung erstreckte sich auf
Temperatur, Muskel!kraft, Vitalkapazität und Reflexbe-
wegung. Die Kurve stellt das Durchschnittsresultat
dar, nach welchem die Periode der grössten Erregbar-
keit die drei Tage vor Beginn der Menstruation ein-
Nimmt, jedoch kann ihr Eintritt sich bis zum Auftreten
der Blutung verzögern. Die krumme Linie A —B stellt
den Verlauf der physiologischen Schwankung während
eines 28tägigen Zyklus dar, die Linie c—d die 28 Tage
des Zyklus, die Linie c—E die Intensität der einzelnen
Funktionen; die schattierte Kolumme des Diagrammes
entspricht den Zeiten der eigentlichen Menstruation °).
. 2) Unsere Kenntnis der Periodizität des weiblichen Lebens
ist neueren Datums und stammt vorwiegend von GooDMAN (The
Yical theory of menstruation. Am. Journ, of Obstetrics 1878).
gl. auch Reini, Die Wellenbewegung der Lebensprozesse des
Weibes., (VOLKMANNS Samml. Nr. 243.) v. OrT, Des lois de la
Periodicite de la fonction physiologique dans Porganisme feminin.
(Nouv. Arch. d’Obstetrique 1890). Einige interessante Kapitel über
den monatlichen Rhythmus finden sich in dem mehrfach zitierten
Buch CAMPBELLSs „Nervous organisation of man and woman“ 1892.
3) Verschiedene Beobachter haben die menstruale Wellen-
bewegung graphisch darzustellen gesucht; V. Orts Schema ıst
aber wohl das genaueste. ENGELMANN sagt von demselben (7rans,
Amer. Gynaecol. Soc. 1900): „Das Schema stimmt durchaus zu
meinen eigenen Beobachtungen bezüglich der physischen und
Psychischen Veränderungen während der monatlichen Periode und
charakterisiert die Menstrualwelle in allen ihren Phasen. Es ist
fast völlig zutreffend für nervöse Krankheitssymptome, WIG SIE
die Hystero-Neurosen kennzeichnen. Während der Schwanger-
Schaft kommen ähnliche Schwankungen vor, aber sie sind von
längerer Dauer und viel grösserer Intensität.“
320 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSF UNKTIONEN.
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Diagramm des Monatszyklus beim Weibe. (Nach v. Orr.)
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 321
Am. sorgfältigsten ist die Herztätigkeit und die
Spannung des Gefässystems während des monatlichen
Zyklus untersucht worden. Schon in älterer Zeit hat
CuLLen behauptet, dass die Pulszahl in der Zeit vor
der Menstruation steigt. Dr. F. Barnes wies Sphymo-
graphisch am Pulse eine Steigerung der Gefässspannung
nach, STEPHENson fand einen monatlichen Zyklus der
Arterienspannung und.der Pulszahl. Dr. MARY JACOBY
schloss aus ihren sphygmographischen Untersuchungen,
dass die Füllung und Spannung des ArteriensyStems
beim Weibe einer rhythmischen Wellenbewegung unter-
worfen ist, die mit einem Minimum ı—4 Tage nach
dem Aufhören der Menstruation beginnt und deren
Maximum entweder 7—8 Tage vor der Menstruation
oder auf einen späteren Tag vor derselben oder selbst
auf den ersten Tag derselben fällt!). Die Beobach-
tungen von GiıLss zeigen, dass der Blutdruck am Tage
vor der Menstruation und an den beiden ersten Tagen
derselben am höchsten ist. Dr. CLeLıAa MospER fand
mittelst des Sphygmomanometers von Mosso, dass ein
Absinken des‘ Blutdrucks meistens unmittelbar vor
(manchmal erst während) der Menstrualblutung eintritt,
wobei der Tiefpunkt der Druckkurve mit dem Ein-
setzen der Blutung zusammenfällt®).
An dieser periodischen Anderung nehmen Schild-
drüse, Parotis, Halsmandeln und andere Organe durch
eine Anschwellung während der Menstruation teil.
Auch die Temperatur des Blutes erreicht einige Tage
vor der Menstruation. ihren höchsten Stand. Auf die
Schwankungen in der Menge des Harns und des Harn-
stoffs ist schon oben hingewiesen. Der grössten Aktivität
der Sexualorgane entspricht ein allgemeines Maximum
des Lebens überhaupt und bei den meisten gesunden
Frauen ist das geschlechtliche. Gefühlsleben am
stärksten während des ersten Maximums vor und des
dur: 1) Dr. Mary PutnaM JacosYy, The question of rest for women
uring menstruation; New-York 1877, P- 148—161. , |
2) MosuHEr, Normal Menstruation (John Hopkins Hospital
Bull., Apr. 1901.)
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
"I
322 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
zweiten Maximums nach der Menstruation. Dass da-
neben die geistige Energie, die Stärke und die Ge-
schicklichkeit der Muskelbewegung gewöhnlich während
der Menstruation etwas beeinträchtigt ist, auch bei den
gesundesten und willensstärksten‘ Individuen, ist eine
den meisten Frauen geläufige Tatsache; dass diese
Funktionen in der intermenstrualen Zeit ein ausge-
sprochenes Maximum hätten, ist bisher noch nicht
nachgewiesen. Zweifellos würde eine täglich vorge-
nommene Prüfung der Sinnesfunktionen einen monat-
lichen Rhythmus nachweisen; bisher ist FINKELSTEIN der
einzige, der in Petersburg unter Anleitung von MiERzE-
JEWSKI einen Sinn, das Auge, an 20 gesunden Frauen
im Alter. von 19—33 Jahren während der Menstruation
untersucht hat. Er fand in dieser Zeit eine konzentri-
sche Einengung des Gesichtsfeldes, die 1—3 Tage vor
ihrem Beginn einsetzte, ihre grösste Intensität am
dritten oder vierten Tage der Menstruation erreichte
und nach allmählicher Abnahme ‚am siebenten oder
achten Tage ihres Bestehens verschwand. Die Ein-
engung ist bei denjenigen Frauen deutlicher, bei
welchen die Menstruation mit Störungen des Allge-
meinbefindens, Kopfschmerz, Herzklopfen und anderen
nervösen Störungen einhergeht, ferner in Fällen von
starker Blutung. Nicht nur das Gesichtsfeld für weiss,
sondern auch das für grün, rot, gelb und blau er-
fahren eine gleichmässige Einengung; ziemlich häufig
wird die Empfindung für grün derartig verändert, dass
es als gelb erscheint, Die Empfindungsschärfe im Ge-
biet des deutlichen Sehens!) ist nur geringfügig beein-
trächtigt und kehrt nach der Menstruation schnell zur
Norm zurück, die Refraktion bleibt unverändert. Eine
ähnliche Periodizität würde sich wahrscheinlich auch
bei den anderen Sinnesorganen nachweisen lassen. So-
bald der Höhepunkt der Lebensenergie erreicht ist
oder ein bis zwei Tage später beginnt die menstruelle
1) Ophthalmic Review, 1887, p. 323—326. S. auch: SALMO
Comn, Uterus und Auge, 1890, S. 13—10.
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 323
Blutung. Selbst bei vollkommen gesunden Frauen
macht dieselbe sich mehr oder weniger deutlich im
ganzen Organismus fühlbar. Der Puls ist gewöhnlich
langsam und hochgespannt, es besteht ein Gefühl von
Spannung in den Organen des Beckens, die Brüste
Sind etwas vergrössert und können dadurch etwas emp-
findlich sein, die Tendenz zur, Schwellung zeigt sich
auch in der Vergrösserung der Schilddrüse. Die Tem-
Peratur ist selbst unter ganz physiologischen Verhält-
Nissen um 0,3—0,4° C gesteigert. Die Blutgefässe der
Haut und der Schleimhäute sind etwas stärker gefüllt
als gewöhnlich, so dass das Gesicht kongestioniert auSs-
sehen kann. Es besteht eine allgemeine nervöse
Spannung und Muskelunruhe, letztere häufig an den
Beinen, die Reflexe verlaufen schneller, der Nacken ist
oft steif, es besteht Neigung‘ zum Gähnen und der
Schlaf ist tiefer als gewöhnlich. Auch geringerer
Appetit, eine gewisse Störung der Magen- und Darm-
tätigkeit und Zustände von Flatulenz werden beobachtet.
Der Urin wird häufiger und reichlicher gelassen. Die
Menge des Harnstoffs ist vermindert, die der Harn-
Säure vermehrt, worauf Haıc!) die höhere Spannung
des Pulses und die Neigung zu gedrückter Stimmung
zurückführt. Zugleich besteht eine Pigmentablagerung
In der Haut, die auch bei Affen, jedoch stärker, hervor-
tritt; der farbige Kreis um die Brustwarze herum wird
gewöhnlich etwas dunkler, der Teint wird weniger
klar und häufig zieht sich um die Augen ein deut-
licher dunkler Ring; bei Brünetten treten alle diese
Veränderungen deutlicher auf und finden sich in noch
höherem Grade während der ‚Schwangerschaft, Wie
auch sonstige Beschwerden der Menstruation gleichfalls
die Schwangerschaft charakterisieren. Oft nehmen die
Ausdünstungen der Lunge und der Haut einen C1SCN-
tümlichen aromatischen Geruch an, der VON dem der
Menstrualflüssigkeit völlig verschieden ist. Auch die
Stimme ändert sich. zuweilen, wird heiser und unsicher
en
ı) Harc, Uric acid. 1892, p. 79:
21%
324 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
in den höheren Stimmlagen, so dass Sängerinnen in
dieser Zeit besser nicht auftreten 1).
Die meisten der genannten Zeichen finden sich bei
völlig gesunden Frauen, obgleich sich nicht immer alle
bei einer Person finden; einem geübten Beobachter
zeigen sie oft das Vorhandensein der Menstruation 2).
In psychischer Beziehung besteht auch bei völliger
Gesundheit eine Reihe anderer Symptome; das men-
struierende Weib ist impressionabler, suggestibler und
kann sich schlecht beherrschen. Schon BurDacı fand,
dass um: diese Zeit die Empfänglichkeit für Mesmeris-
mus gesteigert ist. In der Tat sind dann die hypno-
tischen Phänomene im weitesten Sinne leichter hervor-
zurufen und es kommt bei dazu prädisponierten Frauen
am häufigsten zu plötzlichen Kapricen, Anwandlungen
von übler Laune oder Niedergeschlagenheit, unerwarteten
Selbstbekenntnissen und Ausbrüchen von Eifersucht.
IcarRD bemerkt, dass man beim Durchblättern des
Tagebuchs eines jüngeren weiblichen Wesens wenig
Scharfsinn braucht, um die Seiten herauszufinden, die
während der Menstruation niedergeschrieben worden
sind,
Sehr gut fasst CLovustron den psychischen Zustand
gesunder Frauen während der Menstruation folgender-
massen zusammen: „Sie hat ihre eigene Psychologie,
1) Der bekannte Spezialist Lexnnox Brown hat mir brieflich
mitgeteilt, dass die Mehrzahl seiner Klientel während der Men-
struation an Stimmumfang nach oben verlören ; andere detonierten
um diese Zeit, besonders bei Dysmenorrhöe.‘ Auch die Klang-
farbe und Fülle der Stimme leide; die Stimme werde dünner und
weniger voll, auf dem Kontinent werde deshalb bei Kontrakten
mit Sängerinnen Dienstfreiheit während der Menstruation ausge-
macht, was englische Impresarios nicht zugeständen, in der Praxis
sich aber auch gefallen lassen müssten.
?) Dr, R. BArRNnEs geht näher auf einzelne Punkte der oben
gepobenen Schilderung ein. (Brit. Med, Journ., März 1880.) In
ıLTS Uterine and Ovarian Inflammation (1862, Kap. I—XIV) ist
eine eingehende Darstellung der Menstruation, die viele Tatsachen
und Statistiken über die verschiedenen nervösen und anderen
normalen Erscheinungen dieser Funktion gibt. (S. auch die Werke
von BRIERRE DE BOISMONT, KRIEGER u. a. über die Menstruation.)
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 325
deren Hauptzüge in einer gewissen Reizbarkeit und
geringeren psychischen Hemmung kurz vor Eintritt
des Prozesses und einer gewissen Energielosigkeit und
Lahmlegung der intellektuellen und Gemütskräfte in
den beiden ersten Tagen der Blutung bestehen; darauf
folgt eine Steigerung der Energie und des Gefühls
während 7—10 Tagen nach völligem Aufhören der
Blutung, die zusammenfällt mit der grössten Neigung
zur Konzeption (Mental diseases 1887, p- 480). ,
Die abergläubische Meinung, dass in dieser Zeit
zubereitete Nahrungsmittel leicht verderben, möchte
ich darauf zurückführen, dass die Frauen dann ihre
Arbeit mit weniger Lust und Geschick tuen.
„Energie und Feinheit. des geistigen Lebens“, be-
merkt ENGELMANN, (770, Americ. Gynaecol, Soc., 1900)
„sind in der Regel, mindestens während der ersten
Tage der Periode, herabgesetzt, wie etwa 65%o der
vielen darüber befragten Personen angaben; meist hört
man auch, dass Studium und geistige Arbeit um diese
Zeit schwerer und ermüdender ist und grössere An-
strengung erfordert; ebenso berichten die Fabrik-
arbeiterinnen, nur in grösserer Häufigkeit, bei 75°l0
von verringerter Arbeitsfähigkeit, wegen derer sie sich
schonen und sich auf.die Hilfe der Mitarbeiterinnen
bei der Fertigstellung mancher Arbeit verlassen.“
Cıru1a MosmerR fand (Yohn Hopkins Hosp. Bull.
1902), dass. eine, das subjektive Wohlbefinden dar-
stellende Kurve der menstrualen Veränderung des
Blutdrucks entspricht, wobei gesteigerte LeistungsS-
fähigkeit mit hohem, verminderte mit niederem Blut-
drucke zusammentrifft, In der Periode niederen Blut-
drucks schien die Empfänglichkeit für krankmachende
Einflüsse gesteigert zu sein.
Nach der vorausgehenden Betrachtung, der nor-
malen Begleiterscheinungen der Menstruation haben
wir noch einen Blick auf die abnormen, krankhaften
Zustände zu werfen, die sie hervorrufen kann und die
in der Regel eine Steigerung der gewöhnlichen Neben-
erscheinungen darstellen. Es kann zu 50 erheblichem
326 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
5
körperlichem Unbehagen und zu derartiger Leistungs-
unfähigkeit kommen, dass die Frauen in der Tat
mehrere Tage im Monat hindurch invalide werden; alle
möglichen Kongestivzustände der Eingeweide!) können
monatlich wiederkehren, andererseits kann sich die be-
gleitende Reizbarkeit und Verstimmung bis zur Geistes-
störung steigern. Migräne und Krämpfe von hysteri-
schem oder epileptischem Charakter?) kommen häufig
vor. Nymphomanie, Trunksucht und triebartige Dieb-
stähle entwickeln sich besonders leicht um diese Zeit
und von allen Formen geistiger Störung sind dann
Depressionszustände am häufigsten. Wenn ein Weib
ein Brutalitätsverbrechen begeht, ist sie wahrscheinlich
menstruiert; eine umfassende Statistik darüber existiert
nicht, da die Juristen für derartige Momente kein Ver-
ständnis haben. LomBroso hat unter 80 Weibern, die
wegen Widerstand gegen. die Polizei verhaftet waren,
nur neun gefunden, die nicht gleichzeitig menstruiert
waren 3).
LEGRAND DU SAULLE fand unter 56 Pariser Laden-
diebinnen 35 zur Zeit der Tat menstruiert, während
10 am Anfang der Menopause standen. Nach dem-
selben Autor sind hysterische Mädchen, wenn sie Nippes-
sachen, Parfümerien u. a. stehlen, fast immer zugleich
menstruiert oder im Anfang der sogenannten kriti-
schen Zeit.
Während der Menstruation besteht unzweifelhaft
eine starke Disposition zum Selbstmord. KRUGELSTEIN
hat an allen 107 Leichen von Selbstmörderinnen, die
er zu untersuchen hatte, Zeichen von Menstruation ge-
funden; wenn das auch nicht die Regel ist, — man
denke an die Häufigkeit des Selbstmordes im Greisen-
1) Pıicque, Visceral Affections of Menstrual Origin, „Gazette
des Hopitaux“ 19. Oct. 1893.
2) Dr. FısHER konstatierte bei 60 epileptischen F rauen, dass
16 nur während der Menstruation Krampfanfälle hatten und dass
sie bei mehreren anderen in dieser Zeit erheblich häufiger wurden.
(New- York. Med. News, Nov. 1891.)
3) LomBrRoso und FERRERO, Das Weib als Verbrecherin, D. 2364.
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 327
alter — so haben doch auch EsoumoL, BRIERRE DE Buls-
MONT, Morsau, R. Barnes u. a. die Neigung zum Selbst-
mord während dieser Zeit beobachtet *).
Der sogenannte Zuchthausknall weiblicher Ge-
fangener kommt während der Menstruation besonders
häufig vor. Auch bei geisteskranken Frauen steigern
sich die krankhaften Erscheinungen um diese Zeit oder
treten ausschliesslich dann auf; nach CLOUSTON werden
die typischen Züge der verschiedenen Psychosen dann
noch charakteristischer ®).
Diese Tatsachen der Psychiatrie sind sehr bedeu-
tungsvoll, sie zeigen, dass am Leben auch des gesun-
desten Weibes von Zeit zu Zeit ein Wurm nagt.
_ Die Menstruation ist also kein isolierter und zeit-
lich begrenzter Prozess, sondern nur eine Phase einer
beständigen Wellenbewegung im ganzen weiblichen
Organismus. Mit Recht sagt deshalb CAMPBELL, das
geschlechtsreife Weib wäre immer in der Menstruation
begriffen, gerade wie der Mond immer beständig im
ı) Die vollständigste Darstellung des psychischen Lebens
während der Menstruation gibt das Werk IcarDs „La femme
Du lant la periode menstruelle“, 1890. In England hat WYNN
ESTCOTT aus seiner Erfahrung als „Coroner“ (amtlicher Leichen-
beschauer) mitgeteilt, dass von 200 Selbstmörderinnen die Mehr-
zahl entweder gerade menstruiert oder im Klimakterium waren
(Lancet, ız. Aug. 1900), und in Deutschland konstatierte HELLER
bei der Obduktion von 70 Selbstmörderinnen, dass 357/0 während
der Menstruation gestorben waren, während von den übrigen
eine beträchtliche Anzahl schwanger oder im Puerperium be-
griffen waren. (Münch: med. Wochenschr., 1900, Nr. 48.)
Unter 211 Fällen von Selbstmord weiblicher Individuen fand
PıLcz (in Wien) in 25,1% prae- und in 10,9°% intramenstruale
Veränderungen der Geschlechtsorgane, also zusammen 36°,
Welche zur Zeit der Menses Hand sich gelegt hatten. a Fazs
Die Verstimmungszustände, Wiesbaden 1909, 21). — Pavchi
2?) „Mental diseases“, 1887, p. 482. Von deutschen Psychia-
tern sind sog. sympathische Psychosen während der Menstruation
eingehend beschrieben worden. Vgl. d, Dissertation von ELLEN
Powers, Zürich 1883. Einen direkten Einfluss der „Menstrual-
welle“ auf die einzelnen Phasen von Psychosen hat neuerdings
in sehr sorgfältiger Weise SCHÜLE nachgewiesen. (Allgem. Zeit.
Schr, f. Psych. 1891, Bd. 47.) — K.
328 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
Dead Ime- Wechseln ist. „Souvent femme varie‘“ bezeichnet eine
VA physiologische Tatsache, nicht eine willkürliche Kaprice.
f WI” Die Tatsache ist nicht bloss für Ärzte und Natur-
forscher, sondern auch für den Söziologen und für
die. ganze menschliche Gemeinschaft von Wichtigkeit.
Deshalb ist bei der Beurteilung jedes Ereignisses im
Leben des Weibes aufs genaueste festzustellen, in welche
Phase des monatlichen Zyklus dasselbe fällt. Wenn
irgend eine biologische Reaktion bei Mann und Weib
vergleichend festgestellt werden soll, so muss berück-
sichtigt werden, dass es von der Phase des Monats-
zyklus abhängen kann, ob sich eine Inferiorität oder
Superiorität des Weibes dem Manne gegenüber ergibt;
bei allen Proben von Kraft und Geschicklichkeit hängt
das Mass, in welchem das Weib über ihren Besitz an
Kraft und Genauigkeit verfügt, von dem gerade vor-
handenen Niveau ihrer Monatskurve ab; da es dabei
auf einige Tage mehr oder weniger ankommen kann,
ist der Intrigue weiter Spielraum gelassen. Ebenso
sollte bei jedem strafrechtlichen Verfahren gegen eine
Frau regelmässig das Verhalten der Tat zu ihrem
Monatszyklus ermittelt werden. Tatsächlich ist auch
bei gesunden Frauen die Selbstbeherrschung, d. h. die
sogenannte Willensfreiheit, während der Menstruation
beeinträchtigt und bei disequilibrierten und neuropathi-
schen Individuen ist das in noch höherem Masse der
Fall. Das muss unbedingt bei der Schuldfrage berück-
sichtigt werden.
Die Existenz des monatlichen Zyklus darf schliess-
lich nicht völlig ignoriert: werden bei der Erörterung
der Befähigung der Frau für das Erwerbsleben. Man
hat in der Postverwaltung und bei anderen Unter-
nehmungen, welche Männer und Frauen beschäftigen,
gefunden, dass Frauen wegen „leichten Unwohlseins“
häufiger die Arbeit versäumen als Männer. Das darf
nicht ganz übersehen werden, jedoch muss man sich
daran erinnern, dass Frauen in normalem Gesundheits-
zustand in keinem Abschnitt des Monats absolute Ruhe
und Enthaltung von nicht gesundheitsschädlicher Arbeit
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 329
brauchen. Wenn nun in der Tat so viele Frauen einer
derartigen Schonung bedürfen, so liegt das darin, dass
Frauen aus irgend einem Grunde sich so häufig nicht
in einem Zustand normaler Gesundheit befinden,
Brıerae DE Borsmont fand in Frankreich, dass von
360 Frauen 278 (77° 0) während der Menstruation mehr
Oder weniger an heftigen Schmerzen, litten und dass
nur 82 (23%) sich vollkommen wohl fühlten. Dr. Mary
Jacopy fand unter 268 amerikanischen Frauen 94 (35%0),
die niemals Schmerzen oder Schwäche während der
Menstruation fühlten; 25°%o aus dieser Kategorie waren
verheiratet, dagegen waren von denen, welche sich
leidend fühlten, nur ı 1 °o verheiratet. Dr. JACOBY schliesst
daraus, dass normale Frauen in dieser Zeit keiner Ruhe
bedürfen, fügt jedoch hinzu: „Es ist richtig, dass unter
unseren aufreibenden sozialen Zuständen 46,°/o der Frauen
Während der Menstruation mehr oder weniger leidend
Sind und eine grosse Zahl derselben muss, wenn sie in
industriellen oder anderen Unternehmungen beschäftigt
sind, aus Humanitätsgründen während dieser Zeit, wenn
möglich, geschont werden‘).
Diese Frage ist neuerdings in sehr grossem Um-
fange von G. J. ENGELMANN in den Vereinigten Staaten
untersucht worden; er bemerkt: „Um befriedigende
Resultate zu erhalten, müssen wir uns nicht damit be-
gnügen, individuelle Beobachtungen oder die Erfahrung
in einzelnen Berufen zu verzeichnen, sondern wir müssen
die Tatsachen nehmen, wie sie sich bei Repräsentanten
der amerikanischen Mädchen- und Frauenwelt unter
den wechselnden Bedingungen des modernen Lebens
finden, und das kann nur in grossen Lehrinstituten und
grossen geschäftlichen Organisationen geschehen“.
„Es schien mir wichtig, die Mädchen beim Studium
und bei der Arbeit zu ‘beobachten, vom Eintritt der
pP übertät durch die Periode der ersten Jugend bis zur
Reife, wo ein stabilerer, weniger impressionabler Zustand
ı) Bleiarbeiterinnen zwischen 18 und 24 Jahren erkranken
gewöhnlich an Menstruationsstörungen (THORPE und OLIVER, Report
N the employment of Lead in Manufacture of Pottery, London 1899).
330 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
erreicht wird. Also vom ı5. bis zum 26. Jahre, Das
bedeutet die Zeit des Mittelschul- und Hochschulbesuchs,
und die der beginnenden gewerblichen Tätigkeit, eine
Repräsentation geistiger und physischer Arbeit; und
das geschah ferner in zwischen diesen Tätigkeiten
stehenden Instituten, wie der „Normalschule für Gym-
nastik“, die sich auch mit der geistigen Tätigkeit ihrer
Schülerinnen beschäftigt, und in der Lehranstalt für
Pflegerinnen, wo auch körperliche Arbeit geleistet wird.
Das Durchschnittsalter ist auf der Hochschule 16, in der
Normalschule und- im College ı19—20, in der Turn-
schule 22,6, der Pflegerinnenschule 26, und bei Industrie-
arbeiterinnen 15—30 Jahre. Die Resultate sind in der
folgenden Tabelle zusammengestellt,
Gruppe
Prozentsatz der während der
Zahl Menstruation Leidenden
Vor dem Eintritt Nach dem Eintritt
96
71,6
69
69,1
56
57:4
67
College 100
Im Geschäft 800
College 50
Pflegerinnen 169
Normalschule 98
Städt. Normalschule 306
College 45
Städt. Normalschule 539
Hochschule "= 100
90
83,3
74
73
81
67,1
57
54:1
12
Die grossen Zahlen von Leidenden, die ENGELMANN
hier aufstellt, erklären sich daraus, dass er auch Fälle
mit mässigen Schmerzen in diese Statistik aufgenommen
hat, wobei sich noch ergab, dass ein Fünftel bis ein
Viertel der Mädchen, die überhaupt Beschwerden haben,
erhebliche Schmerzen haben, Der hohe Prozentsatz in
einem College (95) ist überraschend, die Angabe be-
ruht aber auf sorgfältiger” ärztlicher Beobachtung.
Wie zu erwarten war, finden sich auch sehr oft
erheblichere Beschwerden bei in Geschäften tätigen
Mädchen, mit einem Durchschnitt von 83%; aber da-
bei kommen grosse Unterschiede vor, selbst innerhalb
L
1,
PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN. 331
desselben Betriebes, je nach der Art der Arbeit. Die
Ladenmädchen, die in einem engen Raume fast den
ganzen Tag stehen und ihre Haltung nur wenig ändern
können, zeigen 91°; die sitzend arbeitenden, Buch-
halterinnen und Stenographinnen, 82°; und diejenigen,
die eine gewisse Bewegungsfreiheit haben — Kassiere-
rinnen, Packerinnen — ergeben nur 78°. .
Die grosse Zahl Leidender unter den künftigen
Pflegerinnen verdient deshalb Aufmerksamkeit, weil nur
ganz gesunde Mädchen zum Unterricht zugelassen
werden. Dass unter den Turnschülerinnen hier 71%
erscheinen, könnte erstaunlich aussehen, da sie unter
günstigen Arbeitsbedingungen stehen, wenn man nicht
wüsste, dass viele Mädchen, deren Gesundheit unter
anderer Arbeit schwer geschädigt worden ist, diese
Institute gerade zur Besserung ihrer Gesundheit auf-
Suchen.
_ Was die mittleren Schulen angeht, so ist besonders
die zu geringe Dauer und Häufigkeit der Turnstunden
in diesen Instituten anzuschuldigen, und dann zu be-
merken, dass in den höheren Klassen mit ihren .grös-
Seren Anforderungen die Zahl der an Menstruationsbe-
Schwerden Leidenden zunimmt.
In einer „Hochschule“ *), die auf der Tabelle die letzte
Stelle einnimmt, zeigt es sich, dass unter den Ein-
tretenden 42°%o0 früher Beschwerden gehabt, haben, und
dass ihre Zahl‘ während des Schulaufenthaltes unter
den sehr günstigen hygienischen Bedingungen der
Schule bis 32%0 abnimmt.
Bei den Arbeiterinnen nimmt die Häufigkeit der
Beschwerden im Laufe der Tätigkeit zu, am meisten
bei Mädchen, die fast den ganzen Tag hinter dem
Ladentische stehen müssen. (G. J. ENGELMANN The
American Girl of to-dav, Trans. Amer. Gynaecol,
Soc, 1900.)
CıELIA MosuER betont, dass die meisten sog. Men-
Strualbeschwerden nur indirekt durch die Folgen der
Lvze‘) Entspricht etwa dem modernen deutschen „Mädchen-
Yzeum“.
——— —
332 PERIOD. VERLAUF DER WEIBL. LEBENSFUNKTIONEN.
Blutdrucksverminderung ’in anderen Organen zustande
kommen; das ist gewiss der Fall, aber Störungen, die
bei und wegen der Menstrualperiode vorkommen, werden
ganz richtig als „Menstrualbeschwerden“ bezeichnet.
(C. Moser, Normal menstruation and some of the factors
modifying=1ıl, „Fohn Hopkins Hosp. Bull“, Apr. 1901.)
Jedenfalls ist ein Ergebnis sicher: es ist nicht
länger möglich, die Periodizität des weiblichen Lebens
als eine rein private Angelegenheit des Weibes zu be-
trachten, das ihr unterworfen ist3).
2) Die Gesellschaft für soziale Reform hat sich in Deutschland
dieser Sache besonders als einer öffentlichen angenommen. S.
Heft 7 u. 8 ihrer Schriften, 1902 (Jena) besonders S, 88—115,
S. 128 f. Dass ein rigoroser Ärbeiterinnenschutz während der
Menstruation zahllose Produktionszweige aus dem kowitrollierten
Fabrikbetrieb in die unkontrollierbare Heimarbeit dislozieren
würde, besonders in der Textil- und Tabakindustrie, ist freilich
sicher. (S. auch Dr. ZADEcg, Arbeiterinnenschutz, 1901.) — K.
XII. Kapitel.
Hypnotische Erscheinungen und verwandte
unbewusste Phänomene.
EEE EEE EEE
Umfang der zu behandelnden Erscheinungen, — Somnambulismus.
— Mesmerismus. — Hypnotismus. — Ekstase. — Verzückung. —
Katalepsie. — Magische Phänomene. — Die Frauen und der
. Mystizismus., ,
Die Träume. — Bedeutung der weiblichen Träume bei Natur-
Völkern; im Mittelalter. — Resultate von HEERWAGEN, JASTROW
und CHILD.
Wachh alluzinationen. — Untersuchungen von SIDGwICK.
Die Wirkung der Anästhetika. — Lachgas. — Beobach-
tungen Sırks. — Abnorme Erscheinungen während der Narkose
bei Frauen häufiger.
Meteorologische Sensibilıtät. — Selbstmord. — Geistes-
N störung. — Periodizität des Wachstums.
eurasthenie und Hysterie. — Beide bei Frauen häufiger.
Rn Beschreibung der Neurasthenie. — Definition der Hysterie. —
hre Merkmale. — Suggestibilität. — Relative Häufigkeit dieser
Relis: Erkrankung bei beiden Geschlechtern.
N eligiös-hypnotische Phänomene. — Natur der von den
Tu uen in den religiösen Bewegungen gespielten Rolle. — Shaker,
heosophen, Tanzwut, Camisarden. — Moderne hysterisch-reli-
giöse Epidemien: Christen. — Skopzen. — Analoge Phänomene
bei Naturvölkern. — Ihre Natur und Entstehung.
Unter der Bezeichnung „hypnotische Erscheinun gen“
verstehen wir nicht nur den Zustand des künstlich her-
Vorgerufenen Schlafes oder des Hypnotismus im engeren
Sinne, sondern die ganze Gruppe psychischer Er-
Scheinungen, die durch verminderte Kontrolle seitens
334
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
der höheren und verstärkte Aktivität der niederen Ner-
venzentren charakterisiert wird!). Die Erscheinungen
dieser Gruppe sind untereinander eng verknüpft und
alle sind charakterisiert durch ein herabgesetztes Be-
wusstsein des. Individuums oder durch verringerte
Kontrolle oder durch beides. Zusammen bilden sie
diejenige Klasse von Erscheinungen, die häufig als
„übermenschlich‘ bezeichnet worden sind, die aber, wie
CHAMBERS vor längerer Zeit bemerkt hat, ebensogut ‚als
minder menschlich bezeichnet werden könnten 2).
Am besten bekannt von diesen Erscheinungen ist
eine Modifikation des gewöhnlichen Schlafes, der wohl
die primitivste und fundamentalste Bewusstseinsform
bildet. Diese modifizierte Abart des Schlafes, der Zustand
des gewöhnlichen Somnambulismus oder Nachtwandelns,
in welchem die ‚motorischen Zentren wach sind und
auf Reize reagieren, während die höheren Zentren schlafen
und es an der Kontrolle über die mehr automatischen
Zentren fehlen lassen, ist in seinen geringeren Graden,
und wenn er in langen Zwischenräumen auftritt, nichts
ungewöhnliches, besonders bei Kindern 3. Uber das
Auftreten somnambulistischer Erscheinungen bei: Er-
wachsenen fehlen, soviel ich weiss, genaue statistische
Nachrichten, Die meisten von denen, welche sich mit
diesem Gegenstande beschäftigt haben, sind der Meinung,
dass der Somnambulismus häufiger bei Frauen vorkommt
als bei Männern, wenigstens seine schlimmsten, hart-
näckigsten Formen: indessen ist diese Behauptung, ob-
3) Ich will hier nur bemerken, dass die, in der Nerven-
physiologie als „niedrig“ bezeichneten Zentren, durchaus nicht
etwa niedrig in dem Sinne von unbedeutend sind, sondern im
Gegenteil zu den fundamentalen Elementen des Nervensystems
ehören.
5 2) Myers, LOMBROSO u. a; nennen dieselben neuerdings
„subliminal“, d. h. unter der Bewusstseinsschwelle liegend.
5) Dr. E. von DEN STEINEN (Über den natürlichen Somnam-
bulismus, 1881) fand bei seinen Untersuchungen in badischen
Waisenhäusern, dass sich bei 17 von 1000 Kindern (also bei 1,7%)
Ssomnambulische Erscheinungen nachweisen liessen. Neuro pathische
Veranlagung war dabei nicht Notwendig vorhanden.
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 335
schon sie wahrscheinlich ist, doch nicht. genügend
bewiesen. |
Die Phänomene des Mesmerismus, tierischen ‚Mag-
netismus etc., die man jetzt gewöhnlich unter dem
Namen Hypnotismus zusammenfasst, sind Zu allen Zeiten
Speziell mit der Natur des Weibes in Zusammenhang
gebracht worden; Frauen sind diesen Einflüssen stets
am leichtesten anheimgefallen und unsere Hauptfort-
Schritte in der Kenntnis des Hypnotismus verdanken
wir der Untersuchung an Frauen. Einige Enthuaslasten
haben behauptet, die meisten Personen (nach ‚LIEBAULT
80%), auf gut Glück und ohne Berücksichtigung des
Geschlechts ausgewählt, seien hypnotisierbar. Es ist
Vielleicht wahr, dass die Hypnose sich unter Anwendung
von grosser Geschicklichkeit und Geduld bei jedem
geistig gesunden Individuum hervorrufen lässt (denn
es ist bekanntermassen schwer, Irre zu hypnotisieren,
auch bei Aufbietung der grössten Geduld und Geschick-
lichkeit), aber die Tatsache bleibt bestehen, dass —
nach den Erfahrungen der kompetentesten Forscher —
Frauen leichter in den Zustand der Hypnose geraten
und die Erscheinungen derselben in ausgeprägterer Form
darbieten, In jeder Klinik finden wir hypnotisierbare
Frauen in grosser Anzahl. So fand Pırtrss, eine Haupt-
autorität auf diesem Gebiet, dass sich zwei Drittel der
hysterischen Frauen und selbst mit der grössten Über-
redungskunst nur ein Fünftel der hysterischen Männer
hypnotisieren lassen!). BeriLLON, ein enthusiastischer
und zugleich urteilsfähiger Anhänger der hypnotischen
Therapie, behandelte während des Jahres 1890 und An-
fang. 1891 (wie er auf dem Berliner internationalen
Medizinischen Kongress berichtete), 360 Patienten mit
Hypnotismus; hiervon waren 255 Frauen, 45 Kinder und
Nur 50 Männer, eine Angabe, die mit meinen eigenen
um dieselbe Zeit gemachten Erfahrungen über die
Verhältnisse in BirıLLoxs Klinik übereinstimmen. Wenn
diese Zahlen auch nicht genau das Geschlechtsverhält-
BZ.
(1 „Lecons cliniques“ etc. Bd. II, p. 404-
306
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
nis der hypnotisierbaren Personen unter der allgemeinen
Bevölkerung angeben, so beweisen sie doch, dass von
den Männern nur eine relativ geringe Zahl mit einiger
Aussicht auf Erfolg hypnotisch behandelt werden können.
Es sei hier erwähnt, dass Kinder leicht in den Zu-
stand der Hypnose zu bringen sind. Beaunıs tand
unter 100 Kindern im Alter zwischen 7 und ı4 Jahren
55 hypnotisierbare, nach BE£RmLON ist diese Zahl noch
zu niedrig gegriffen, indem sich seiner Ansicht nach
die meisten Kinder im Alter von ungefähr 7 Jahren,
soweit sie nicht Idioten sind, leicht hypnotisieren lassen !).
Die verwandten Phänomene der Ekstase, Verzückung
und Katalepsie sind nach allgemeiner Übereinstimmung
häufiger bei Frauen; jedenfalls finden wir die charak-
teristischen Fälle fast ohne Ausnahme bei Frauen. In
der Katalepsie sind die geistigen Fünktionen des Indi-
vidnums der Aussenwelt gegenüber sehr stark herab-
gesetzt oder ganz aufgehoben; die Muskeln sind passiv,
deshalb behalten die Glieder jede Stellung bei, die
ihnen gegeben wird. In der Ekstase, die sich nicht
klar von dem Trance-Zustand unterscheiden lässt, finden
wir weniger beeinträchtigte Muskelkontrolle, ‘während
die geistigen Kräfte des Individuums ganz von seinem
Visionen absorbiert sind, Während des Trance-Zustandes
tragen die Gesichtszüge der betreffenden Person den
Ausdruck überirdischer Verklärung, beim Erwachen
ist sie imstande, den Inhalt ihrer Visionen anzugeben;
derartige Visionen haben in der Geistes- und Religions-
geschichte der Menschheit eine grosse Rolle gespielt.
Sowohl Katalepsie als Ekstase sind. mit der Hysterie
verwandt, aber nicht notwendig mit ihr identisch ?).
!) Dr. E. BErRILLOn, Hypnotisme et Suggestion, Paris 1891,
P- 37. BeErnHEIM, De la suggestion, p. 29. TUCHMANN (Melusine,
1898) gibt Zitate darüber, dass Hexen viel häufiger sind als Zauberer.
s. auch Bopınus, Daemonomania, Basel 1581.
?) S. die kurzen Artikel „Catalepsy“, „Ekstasy“ und „Trance“
von Dr, Hack Turxe in dem Dick. Psych. Med.” sowie die aus-
gr cichneten Artikel (älteren Datums) von Dr. CHAMBERS über
kstase, Somnambulismus und Katalepsie, in REynoLDs „System
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
337
Alle früher als „magisch‘‘ bezeichneten Erschei-
nungen gehören zu der Gruppe der heute „hypnotisch“
genannten und diese sind immer in besondere Be-
Ziehung zum weiblichen Geschlecht gebracht worden,
Pımnus war der Meinung, dass Frauen sich am besten
Zu magischen Experimenten eigneten, ebenso QUuINTILIAN.
Nach Bopın verhielt sich die Zahl der weiblichen zu
der der männlichen Zauberer wie 50 zu 1°). |
Die Orakel, die in verschiedenen Religionen in einem
Mehr oder weniger hypnotischen Zustande gegeben
Worden sind und werden, gehen meist von Frauen aus.
Das war nicht nur bei den Griechen der Fall, sondern
auch bei den alten Babyloniern und Assyrern”).
Es ist von Interesse, dass magische Prozeduren, die
ganz denen entsprechen, .die man noch heute in England
In abgelegenen Gegenden findet (wo Hexerei — weisse
und schwarze — noch blüht, und „Verwünschen“ noch
einen, wenn auch oft abgeleugneten, Glauben findet), in
Einer fast gleichen Form vor sechstausend Jahren in der
ältesten historisch überlieferten Zivilisation existiert haben.
Es handelt sich um einen weitverbreiteten ®), anscheinend
damals schon uralten Glauben, dass manche Menschen
dämonische Kräfte besitzen und sie zum Schaden anderer
ausüben konnten, wo es ihnen gefiel, Solche Zauberer
konnten männlichen oder weiblichen Geschlechts sein,
Waren aber meistens Frauen. Diese Hexen erscheinen
Nach Tastrow in den alten Babylonischen Zaubertexten, In
of Medicine“; eine von modernen Gesichtspunkten ausgehende,
Ep reffliche Studie über die Unterschiede zwischen Katalepsie,
Mi Stase, Lethargie, Somnambulismus etc., welche alle als typische
sing Formen von Hypnose bei Hysterischen betrachtet werden,
Pr die „Lecons cliniques sur PHysterie et ’Hypnotisme“ Von
TRES; 1891, Bd. II, p. 117—142. |
1) MiLLInGEn, Curiosities of Medical Experience, 1857) Bd. I,
De 225, ferner: LomBRoso und FERRERO, Das Weib als_Ver-
Scherin, pp. 203—208. Grimm, Deutsche Mythologte, S. 1038-—41.
2) In einer Reihe von acht Orakeln, die an König Esarhaddon
geben waren, fand Prof. Morrıs JASTROW sechs, die von
rauen ausgingen. .
z 3) Morrıs JastRow, Religion of Babylonia and Assyria,
898, P- 266.
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
3“
zu
on
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
so enger Verbindung mit. Dämonen, dass wir die Hexe
alseine Person anzusehen haben, durch welche der Dämon
sich geoffenbart hat. Auf Grund dieser Beziehung
zu Dämonen erreichten die Hexen einen Standpunkt,
von dem aus sie die Dämonen beherrschen konnten,
ohne unter der Herrschaft der Dämonen zu stehen.
Der „böse Blick“ der babylonischen Hexe hatte eine
grosse Macht, ganz wie ihr „böses Wort“ (oder Zauber-
formel) und ihre aus giftigen Kräutern zubereiteten
Tränke. Es zeigt sich auch, dass die mehr indirekten Proze-
duren der heute noch überlieferten Zauberei den baby-
lonischen Frauen wohl bekannt waren. Durch sym-
pathetische Magie konnten sie ihr Opfer erdrosseln,
indem sie Knoten in einen Strick knüpften, oder sein
Bild aus Ton, Pech, Honig oder Talg machten. Sie
konnten es durch symbolische Handlungen an diesen
Figuren martern, verbrennen, ertränken oder begraben.
Die hypnotische und magische Begabung des Weibes
beruht hauptsächlich auf ihrer Nerven-Organisation und
sicher sind es die erwähnten physiologischen Mysterien
der Weiblichkeit, die von jeher tiefe Verwunderung
erweckt haben, denen wir die höhere Ausbildung dieser
„magischen“ Talente der Frauen verdanken. In wilden,
barbarischen Kulturzuständen wird den Frauen vielfach
ein ganz eigentümlicher Einfluss auf die gesamte Natur
zugeschrieben. So sagt Pımimvs in seiner Historia natu-
ralis (Buch VII c. 13): „Bei der Annäherung eines in
diesem Zustande (Menstruation) befindlichen Weibes
wird das Fleisch sauer; Samenkörner, die sie berührt,
werden unfruchtbar, Pfropfreiser sterben ab, Garten-
pflanzen welken, und von dem Baum, unter welchem
sie sitzt, fallen die Früchte ab.etc. etc.“ In Bordeaux
und in den Rheingegenden müssen es die Frauen noch
heutigen Tages vermeiden, zur Zeit ihrer monatlichen
Periode den Weinkeller zu betreten. (A. BaAstIan gibt
in dem Vorwort und den Anmerkungen zu seinem
Buche Zuselgrußpen ın Oceanten, Berlin 1883, eine ganze
Reihe ähnlicher abergläubischer Vorstellungen.) PL_mnıvs
sagt: „Hagelwetter, Wirbelwinde, ja selbst Blitze werden
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN,
339
aufgehalten, wenn ein Weib, das seinen Monatsfluss
hat, den Körper entblösst; dasselbe gilt für alle Arten
von stürmischem Wetter, und auf See beruhigt sich
das grösste Unwetter, sobald sich eine Frau entblösst,
selbst wenn sie nicht ihre Periode hat. Ebenso sterben
Raupen, Würmer und Käfer und fällt alles Ungeziefer
von den Getreideähren ab, wenn sich ein Weib zur
Zeit ihrer Periode nackt auszieht und über die Felder
geht.“ Viele dieser abergläubischen Vorstellungen haben
Sich in Italien bis auf unsere Zeit erhalten. So soll es
nach BasTAnzı in der Ortschaft Belluno Sitte sein, dass
einmal im Jahre ein Priester und ein nacktes junges
Mädchen am frühen Morgen durch die Felder gehen
(gewöhnlich getrennt voneinander), um die Raupen zu
vertreiben. (Die Einführung des Priesters ist ein Beweis
dafür, wie die katholische Kirche alle heidnischen Riten,
die sie nicht auszurotten vermochte, zu sanktionieren
gesucht hat.) Ähnliche Gebräuche sind über die ganze
Welt verbreitet. Das Erstaunen, welches die Frauen
in früherer Zeit erregten und heute noch erregen, hat
den Einfluss’ mächtig gestärkt, den sie durch die hier
als hypnotische Phänomene im weiteren Sinne bezeich-
neten Erscheinungen ausgeübt haben. (Viele Tatsachen,
die sich auf den Glauben an die magische Veranlagung
des Weibes in alten und neuen Zeiten beziehen, finden
sich bei Pross und Barteis, Das Weib, 7. Aufl, IL,
S, 663— 680. Diese Forscher glauben, dass dieser Glauben
allgemein verbreitet und wahrscheinlich eine fundamen-
tale Anschauung der gesamten Menschheit ist.)
Ein grosser Teil des Reizes, den Frauen auf das
männliche. Geschlecht ausüben, besteht in ihrer Ten-
denz zu ‘hypnotischen Leistungen, wie wir SIE ‚hier
erörtern; diese Mysterien sind Männer n!® müde ge-
Worden, zu beobachten, und das hat in der Literatur
des männlichen Geschlechts unauslöschliche Spuren
hinterlassen.
Dieses mysteriöse Etwas ist von DipvEROoT, der selbst
ebensoviel vom weiblichen Temperament besass wie
vom männlichen, in seinem rhapsodischen Fragment
990%
340 HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
Sur les femmes in sympathischer Weise beschrieben
worden: „Was uns an den Frauen in Erstaunen setzt,
sind ihre Anfälle von Eifersucht, ihre Liebesleidenschaft,
ihre Ausbrüche natürlicher Zärtlichkeit, ihre abergläubi-
schen Instinkte und die eigene Art und Weise, in der
sie an populären epidemischen Bewegungen teilnehmen.
Sie sind herrlich, wie KLi0oPstocks Seraphim und zu-
gleich furchtbar, wie MıLtons Engel der Finsternis, Ich
habe bei Frauen Grade von Liebe, Eifersucht, Aber-
glauben und Wut gesehen, wie sie Männer nie erreicht
haben. Ein Mann sass nie in Delphi auf dem heiligen
Dreifuss. Nur ein Weib war für die Stelle der Pythia
geschaffen, nur ein Weib war imstande, das Nahen
des Gottes zu fühlen, aus leiser Unruhe und Erregung
in einen Zustand schäumender Raserei überzugehen
und nach dem Aufschrei: „Ich fühle ihn, ich fühle ihn,
der Gott ist da!“ den göttlichen Willen in Worten zu
verkünden. Jedes Weib trägt ein Organ in sich, das,
indem es die schrecklichsten Krämpfe verursacht, sie
selbst zu einem willenlosen Wesen macht und Phan-
tome aller Art in ihr hervorrufen kann. In ihren
hysterischen Delirien erinnert sie sich an alles Ver-
gangene, tut sie Blicke in die Zukunft, kurz, alle Zeiten
sind ihr gegenwärtig. Nichts hängt inniger zusammen
als Ekstase, Visionen, prophetische und poetische Gabe
und Hysterie. MADAME GUYoN entwickelt an einzelnen
Stellen ihres Buches Zor7rents eine Beredsamkeit, die
ihresgleichen nicht hat. Die heilige THERESsA sagte von
den Teufeln: ‚Wie unglücklich müssen sie sein! sie
können ja nicht lieben!‘ Ein Weib war es, die in der
einen Hand eine Fackel, in der anderen einen Krug,
barfüssig durch die Strassen Alexandrias schritt und
sagte: ‚Den Himmel will ich‘ mit dieser Fackel an-
zünden und die Feuer der Hölle auslöschen mit diesem
Wasser, damit der Mensch Gott nur um seiner selbst
willen liebe‘, Nur ein Weib kann auf solche Gedanken
kommen. Aber diese glühende Einbildungskraft, dieses
scheinbar unbezähmbare Temperament kann durch ein
Wort ernüchtert werden. Ausserlich zivilisierter als
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 341
Männer, sind sie in ihrem Innern echte Wilde geblieben
und gehören alle mehr oder weniger zur Sippe Macchia-
vells. Das Weib der Apokalypse, auf dessen Stirn das
Wort ‚Geheimnis‘ geschrieben stand, kann als Symbol
des Weibes im allgemeinen gelten‘.
Die Träume.
Unter primitiven Völkern spielen die Träume der
Frauen oft eine hervorragende Rolle. So haben Z. B.
in dem Seedistrikt Shirwa in Zentralafrika die Prophe-
tinnen sehr wichtige, heilige Aufgaben zu erfüllen, ihnen
offenbaren die Götter oder die Geister der Abgeschie-
denen ihren Willen und zwar durch Träume. Die
Prophetin, die gewöhnlich eines der Häuptlingsweiber
ist, hat im Traum ihre Offenbarungen und verkündet
dann, in längeren oder kürzeren Zwischenräumen, je
nach Bedürfnis, in einem an Wahnsinn streifenden Zu-
Stande, orakelhafte Weisheiten!). Aus den Beschrei-
bungen der diese Orakelverkündungen begleitenden
Erregungs-Erscheinungen geht deutlich hervor, dass
wir es hier wesentlich mit hysterischen Symptomen zu
tun haben. Im übrigen sind diese Erscheinungen der
Hysterie unter Natuvrölkern durchaus nicht allein auf
das weibliche Geschlecht beschränkt, sondern wir finden
Sie auch bei Männern voll ausgesprägt.
„Erst wenn wir uns zu der Betrachtung von Rassen
im Zustand des höheren Barbarismus wenden, finden
wir bestimmte Tatsachen über das Vorkommen Von
Träumen bei beiden Geschlechtern. Die alten franzö-
Sischen Epenzyklen liefern uns für- ein Studium dieses
Gegenstandes, soweit das mittelalterliche Europa 1n
Frage kommt, ein interessantes Tatsachenmaterlal,
besonders seit Muyntz?) das Vorkommen von Träumen
1) James MaAcDonaLD, East Central African Customs (Journ.
Anthrop. Inst., Aug. 1892, p._105). ve
2) RıcHAarD MenTz, Die Träume in den altfranzösischen Karls-
und Artus-Epen, 1888. (STENGELS Ausgaben und Abhandlungen aus
dem Gebiet der romanischen Philologie, LXXUII.)
342
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
in dem Sagenkreise von König Karl und. König Artus
eingehend untersucht hat, Träume spielen nämlich in
diesen Epen eine grosse Rolle und haben eine grosse
Bedeutung, denn sie gelten als göttliche Offenbarungen.
Helden und Fürsten sind grosse Träumer, Heiden
selten oder nie. Der hervorragenste Träumer war
Karl der Grosse, obgleich nur in der Jugend und im
kräftigen Mannesalter,. Auch Frauen träumten viel,
woraus MEeEnTzZ Schliesst, dass sie in hohem Ansehen
gestanden haben müssen, „Diese Dichter haben Träume
mit besonderer Vorliebe Frauen zugeschrieben, was
nicht allein aus der grossen Zahl träumender Frauen,
sondern auch aus einigen ganz besonderen Fällen her-
vorgeht. So ist es, wenn einem Ehe- oder Liebes-
Paare irgend ein Unheil droht, immer die Frau, die Vor-
ahnungen dieses Missgeschicks in Gestalt von Träumen
hat; so z. B. als König Marke Tristan und Isolde, die
er im Walde schlafen findet, töten will, schliesslich
aber nur, zum Zeichen, dass er dagewesen, Schwert und
Ring bei ihnen zurücklässt.“ Nach Aufzählung mehrerer
anderer Beispiele sagt MeEntz: „Ich habe nicht einen
einzigen Fall gefunden, wo der Gatte oder Vater den
prophetischen Traum hatte, immer sind es die Frauen.
Die Rollen der Frauen sind überhaupt reich an Träumen
und ausser ihnen werden nur noch Fürsten und Helden
Träume zugeschrieben.“
In unserer Zeit wird den Träumen nicht mehr
göttlicher Ursprung zugeschrieben, dagegen haben sie
eine andere Bedeutung erlangt und zwar als wichtige
Grundlagen zur Lösung vieler psychologischer Probleme.
Dass Frauen mehr und intensiver träumen als Männer,
kann nicht in Zweifel gezogen werden. Während
Männer, wenn sie das Alter der Reife erreicht haben,
gewöhnlich beobachten, dass ihre Träume seltener und
weniger lebhaft werden und gewissermassen ins Dunkel
zurücktreten, WO Sie zwar‘ immer gegenwärtig sind,
aber nur mit Mühe perzipiert werden können, bleiben
die Träume beim Weibe gewöhnlich zahlreich und leb-
haft. Diese Tatsache ist allen Psychologen bekannt
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 343
und ist durch statistische Erhebungen oft bestätigt
worden. So fand Hezrwacen!), dass Frauen mehr als
Männer träumen und dass männliche Studierende in
dieser Hinsicht zwischen Frauen und älteren Männern
stehen. Das Träumen erreicht den höchsten Grad der
Intensität zwischen 20 und 25 Jahren, Verheiratete
Frauen träumen nach HEERwAGEn weniger als unverhei-
Tatete; auch fand er, dass bei Frauen ein traumreicher
Schlaf grössere Wahrscheinlichkeit einer langen Dauer
besitzt als ein traumloser, während das beim Manne
nicht der Fall ist. Männer haben einen festeren Schlaf
als Frauen, und am gesündesten schlafen Kinder.
Pror. JastrRow gibt in einer interessanten Studie?)
statistische‘ Mitteilungen über die Träume von 183
Blinden. Man hat Grund zu der Annahme, dass Blinde
im ganzen nicht so viel und intensiv träumen als Voll-
sichtige, aber die Geschlechtsunterschiede scheinen die-
selben zu sein. wie bei letzteren. Während 54,5%0o der
Männer selten, 19,2% häufig und 7,1%o jede Nacht
träumen, sind die entsprechenden Zahlen für das weib-
liche Geschlecht: 20,8%, 26,2% und 8,3% 0. Unter den
Frauen befinden sich mehr Individuen, welche häufig
träumen, und weniger „gelegentliche Träumer“, JASTROW
bemerkt: „Dies spricht für die Auffassung, dass die
wesentliche Züge und Tendenzen des Träumens bedingt
sind durch die Lebhaftigkeit des durch die Phantasie-
tätigkeit erregten Gefühls, denn gerade in der Ent-
Wicklung dieser Eigenschaften wird der Mann vom
Weibe übertroffen. Diese Anschauung findet ihre Stütze
in dem Verhalten der Träume während der verschie-
denen Lebensalter. In meinen Tabellen zeigt sich eine
Abnahme des allgemeinen Traumreichtums 1P der Zeit
Vom 5.—9, bis zum 10.—14. Jahre, eine weilter®, etwas
Zeringere Abnahme tritt in der Übergangszeit von
Vi
Tr 1) FrRıEDrICcH HEERWAGEN, Statistische Untersuchungen über
räume und Schlaf. (WurnpDrts Philosophische Studien, V, 2.)
Jan, uxThe Dreams of the Blind“ (New Princeton ' Review),
344
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNHEN.
letzterer Periode zu der der nächsten 5 Jahre ein und von
hier an scheinen die Träume allmählich seltener zu
werden. Die Kindheit, die Zeit der lebhaftesten Ein-
bildungskraft und des nüanciertesten Gemütslebens,
weist den grössten Reichtum an Träumen auf.“
Über Geschlechtsunterschiede in der Beschaffenheit
der Träume wissen wir gegenwärtig nur wenig. Ich
will hier nur einer Untersuchung über Die Statistik der
unbewussten Hirntätigkeit (Amer, Journ. of Psych.
Nov. 1892, Bd. V, Nr. 2) von Cyarıss M. CumpD Er-
wähnung tun, die unter der Leitung von Pror. A. C.
ARMSTRONG an 200 Studierenden (151 Männern, 49
Frauen) gemacht worden sind. Sie bezieht sich nicht
ausschliesslich auf das Träumen, behandelt jedoch ver-
schiedene hiermit in Zusammenhang stehende Fragen.
Es stellte sich hierbei u. a. heraus, dass nur ı12%o der
Frauen sich entsinnen, im‘ Zustande des Halbschlafes
logisch und zusammenhängend zu denken, während der
allgemeine Prozentsatz hierfür doppelt so gross ist. Die
geringe Beteiligung der Frauen erklärt sich aus ihrer
Fähigkeit, schnell wach zu werden, die bei dieser Unter-
suchung auch ermittelt wurde, In anderer Beziehung
stehen die Frauen mit 24° über dem allgemeinen
Durchschnitt von ı17°o0. Für die verschiedenen Alters-
klassen ergaben sich keine bedeutenden und vor allem
keine regelmässig wiederkehrenden Differenzen. Es
stellte sich heraus, dass die Träume der Frauen mehr
durch die Körperhaltung bedingt werden und dass sich
Frauen mehr als Männer im Traume moralischer Ge-
fühle bewusst sind, welch letzterer Umstand vielleicht
auf die grössere Lebendigkeit weiblicher Träume zu-
rückzuführen ist. Nach dem zosten Jahre nimmt das
Bewusstsein moralischer Grundsätze im Traume ab.
Personen unter 25 Jahren. werden am wenigsten durch
die Körperhaltung während des Schlafes beeinflusst,
wahrscheinlich weil bei ihnen der Traum ein mehr
konstantes und normales Phänomen ist. Es ergab sich
ferner, dass die Zahl derer, die überhaupt träumen,
sich mit zunehmendem Alter verringert; Sprechen im
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
345
Schlaf kommt nach diesen Tabellen bei Männern
häufiger vor als bei Frauen, während bei letzteren
wieder die Zahl derer, die im Schlaf auf Fragen ant-
worten können, bedeutend grösser ist (56% Frauen
gegen 32% Männer). Während Männer gewöhnlich
nur solche Fragen beantworten können, die sich auf
das beziehen, wovon sie eben sprechen, antworten
Frauen oft auf Fragen über jeden beliebigen Gegen-
stand. Im Alter unter 25 Jahren kommt Sprechen im
Schlaf viel häufiger vor als später und ebenso nimmt
die Fähigkeit, im Schlaf auf Fragen zu antworten, mit
dem Alter ab.
Halluzinationen bei Gesunden.
Sinnestäuschungen bei körperlicher und geistiger
Gesundheit stehen in naher Beziehung‘ zu den Träumen
Während des Schlafes *); ihr gelegentliches Vorkommen
ist, besonders bei genialen Männern und nach inten;
Siver geistiger Anstrengung, oft beobachtet worden ?)}
Sie lassen sich auch als eine Art von embryonaler
Form der hypnotischen Suggestion im gewöhnlichen
Leben hervorrufen und Pror. June fand, dass Frauen,
Kinder und Ungebildete leichter, wenn auch durchaus
nicht ausschliesslich dafür zugänglich sind *).
Was das Vorkommen von Halluzinationen bei der
Durchschnittsbevölkerung betrifft, so finden wir interes-
Sante, statistische Mitteilungen in der von Pror. HENRY
SinewıcK geleiteten Untersuchung über die Natur und
Häufigkeit von Sinnestäuschungen bei geistig gesunden
Personen *). Diese Erhebungen, die sich auf die Er-
fahrungen von 17000 Personen (ungefähr gleich viel
bei 1) Parısm hat in seiner scharfsinnigen und eingehenden Ar-
Pha „Halhızinationen und Ilusionen“ (1897) gezeigt, dass diese
änomene im Grenzgebiet des Schlafes “orzukommen pflegen.
2) S. z. B. Lomeroso, Der geniale Mensch, 5.67.
de P 3) „Des hallucinations suggerees a Vetat de veille“. (Rev.
e ’Hypn. 3889.) .
Soci 4) Dieser Bericht findet sich in den „Proceedings of the
Ociety for Psychic Research“, August 1894, PP- 25—422.
346 HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
Männer als Frauen) gründen, sind von hoher Be-
deutung. Es hat sich daraus ergeben, dass 656 Männer
(7,8%) und 1033 Frauen (12,0%) gelegentlich Sinnes-
täuschungen haben und diese Resultate werden wohl
den tatsächlichen Verhältnissen im allgemeinen ziemlich
nahe .kommen. Dabei ist es jedoch sehr wohl möglich,
dass sich Frauen leichter als Männer einbilden werden,
eine Halluzination gehabt zu haben, sowie dass sie,
wenn es sich um eine Tatsache handelt, dieselbe be-
reitwilliger zugestehen, als Männer. Auf Grund dieser
Erwägungen werden wahrscheinlich von der Quote der
Frauen einige Abzüge gemacht werden müssen, jedoch
steht eine stärkere Tendenz zu Halluzinationen völlig
im Einklang mit dem häufigen Vorkommen anderer,
verwandter Phänomene beim weihlichen Geschlecht.
Bei einer Klassifikation der erhaltenen Antworten je
nach der Kompetenz der Männer, welche sie gesammelt
haben, tritt dieses Überwiegen der Frauen noch deut-
licher hervor, denn wenn wir von der Gesamtzahl der
Antworten die 1649 von wissenschaftlich gebildeten
Männern (Medizinern und Psychologen) gesammelten
absondern, so ergibt sich für das weibliche Geschlecht
ein fast doppelt so grosser Prozentsatz als für das
männliche, nämlich 17,1 % Frauen gegen 9,0% 0 Männer.
Hierzu kommt, dass die untersuchten Personen
grösstenteils Engländer, oder doch Individuen eng-
lischer Zunge waren, neben einem gewissen Prozentsatz
anderer Nationen (gegen 600 Russen und 200 Brasi-
lianer) und dass sich beträchtliche Differenzen je nach
der Nationalität ergaben, So gaben unter den Eng-
ländern 7,3% Männer und 11,4°%0 Frauen an, Hallu-
zinationen gehabt zu haben, von den Russen 10,2 % 0
Männer und 21,4°%0o Frauen, und bei den Brasilianern
23,0% Männer und nur 27,7°%o Frauen. Von diesen
3 Nationalitäten scheinen also Sinnestäuschungen am
seltensten bei den Engländern, am häufigsten bei den
Brasilianern vorzukommen und sexuelle Unterschiede
bei‘ den Russen am grössten, bei Brasilianern am ge-
ringsten zu sein,
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 347
Die Wirkung der Anästhetika.
Für die Physiologie der Narkose, wie sie durch
Chloroform, Lachgas und andere anästhesierende Mittel
hervorgerufen wird, fehlt uns bis jetzt noch das volle
Verständnis. Von allen diesen Mitteln ist jedenfalls
das Nitroxyd das bestuntersuchte und auf dieses
Anästhetikum bezieht sich auch im wesentlichen alles
Folgende. Bei Beginn der Narkose tritt im Gehirn erst
ein Erregungszustand unter verstärkter Pulsation ‘der
Gefässe auf; es folgt dann ein Abschnitt regelloser
Wirkung und schliesslich die beruhigende Wirkung.
Die höchsten Zentren werden am ehesten eingeschläfert,
Während die niederen eine starke Tendenz zu Erregung
zeigen. Die Rückenmarkszentren werden der zere-
bralen Hemmung entzogen und vielleicht etwas gereizt.
Gewöhnlich besteht Erweiterung der Pupillen, welche
auf Lähmung der höheren oder Reizung der niederen
Zentren schliessen lässt: diese Erweiterung kann schon
in sehr frühen Stadien der Narkose beträchtlich
Sein, besonders bei anämischen und hysterischen In-
dividuen Y.
Dieser Einfluss der Anästhetika deutet auf ihre
enge Beziehung zu den oben als hypnotisch bezeichneten
Erscheinungen ; diese involvieren einen Ruhezustand oder
die Inkoordination der höheren Zentren, die eine regel-
(os Aktion bedingt; gerade zu derartigen Erscheinungen
ührt das Stickstoffoxydul, so dass wir es als ein leicht
kontrollierbares Mittel zur Herbeiführung und Unter-
echung hypnotischer Phänomene betrachten können.
ine wertvolle Quelle für die Untersuchung vieler der
Wichtigsten Geschlechtsunterschiede des Nervensystems
ze gegeben in der sorgfältigen Beobachtung der bei
ahnoperationen angewandten Lachgasnarkosen, da
Net seinem Einfluss der Mechanismus ‚unbewusster
ervenprozesse blossgelegt wird, die uns im bewussten
1) S.: J. F. W. Sırzg, Manual of nitrous oxide anaesthesia,
London 1688) DunLEey BuxTox, A note on ankle-clonus. (Brif.
ed. Journal, 24. Sept. 1887.)
348
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
Zustande des Subjekts völlig unzugänglich sind. Man
kann kaum sagen, dass die Wichtigkeit dieses Be-
obachtungsgebiets völlig verstanden wird, jedoch
existieren einige Beobachtungen von seiten wissenschaft-
licher Forscher, die einiges Licht auf diese Fragen
werfen,
Gewöhnlich zeigen Frauen schneller die Wirkung
der Anästhetika, schwangere Frauen vertragen sie gut;
trotz der schnelleren Wirkung sind Frauen bei der
Narkose Gefahren nicht mehr ausgesetzt als Männer,
vielleicht sogar weniger!). Auch Kinder geraten schnell
in tiefe Narkose, ertragen sie gut und erholen sich
eben so schnell?) von ihr wie Frauen. Eine von der
odontologischen Gesellschaft ernannte Kommission fand
folgende Zeitverhältnisse für die Lachgasnarkose:
Zeit bis zum Dauer Zeit von Beginn
Eintritt . der der Narkose
der Narkose Narkose b. z. völligen Erwachen
Männer ı Min. 21 Sek. 24 Sek. ı Min. 55 Sek.
Frauen 1 „ 16 28 2
Kinder I 3 22 I 4 40
{unter ı5 Jahren.)
Eine sehr genaue Bestimmung der Dauer der Nar-
kose ist übrigens kaum möglich. Wie wir sahen, be-
ruht die Wirkung eines Anästhetikums wie Lachgas
wesentlich auf der Betäubung der höheren Nerven-
zentren, durch welche die niederen Zentren in die Lage
kommen, eine Art von Orgie zu feiern, und es fragt
sich, bei welchem von beiden Geschlechtern die niederen
Zentren mehr dazu neigen. Manche, in der Narkose
mögliche Phänomene gelten bei Frauen für häufiger.
So erregen Chloroform, Äther, Lachgas, Kokain,
Bromäthyl und wahrscheinlich noch andere Narkotika
sexuelle Phantasmen: Frauen sind diesen erotischen
1) S, oben p. 286.
2) Dr. BUxXTON, Anaesthetics, London 1892; M. Perrın, Art.
„Anesthesie“, Dict. encycl, d. Se. Med.
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
349
Halluzinationen während der Narkose besonders unter-
Worfen und es sind Fälle beobachtet worden, wo es
unmöglich war, eine Patientin zu überzeugen, dass ihre
subjektiven Empfindungen keine objektive Ursache ge-
habt haben M.
Ärzte, welche öfter Narkosen zu machen haben,
Müssen sich der Gefahr, die sie infolgedessen laufen,
bewusst sein. Ferner ist bemerkt worden, dass Frauen
in der Narkose mehr zu Träumen neigen. Allgemeine
Muskelunruhe ist in allen Stadien der Lachgasnarkose
häufiger bei Frauen beobachtet worden; während des
gewöhnlich ganz ruhigen frühen Stadiums der Narkose
kommen nach SıLg bei Frauen und Mädchen, ganz beson-
ders bei hysterischen, alle möglichen Kapricen und
Possen vor; unter denen Singen und Umsichschlagen
Sehr gewöhnlich sind; häufig fangen Mädchen in dem
Moment, wo das Gas zu wirken anfängt, nachdem sie
anfangs ruhig gewesen sind, in völlig automatischer
und reflektorischer Weise an, zu schreien und um sich
Zu schlagen; „auch in dem Stadium der Rückkehr zum
Bewusstsein findet sich bei Frauen oft eine auSge-
Sprochene Erregung.‘ Halluzinationen mit dem Triebe,
irgendwo hin zu gehen, oder irgend etwas zu tun, sind
Schr gewöhnlich; auch kommt es zu mehr oder ‘weniger
heftigem Schreien, Stossen mit den Füssen, Jaktationen
und hvsterischem Weinen“.
Bestimmte Zahlen sind von grösserem Werte als
allgemeine Beobachtungen, jedoch bestätigt die bisher
Vorliegende Statistik diese letzteren. So fand GuNN ®),
dass Frauen nach der Narkose mehr zum Erbrechen
Neigen, als Männer; bei 2000 männlichen und ebenso-
Viel weiblichen Narkosen im Moorfields-Ophthalmic-Ho-
Spital fand sich das Symptom bei 51% der Weiber und
Man 1) S. u. a.: BuxTON, lc. p. 204. Sg bemerkt, dass bei
zu nnern eine geschlechtliche Erregung während der Narkose selten
r Beobachtung kommt. .
1) R. Marcus Gurwn, Brit. Med. Journ., 21. Juli 1883.
350
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
40% 0 der Männer; im übrigen findet SıLk!), dass Er-
brechen bei männlichen Individuen jedes Alters häufiger
ist, während Flatulenz unter der Narkose fast aus-
schliesslich bei Frauen vorkommt.
Eine Tendenz zu Muskelbewegungen wird am
ehesten beobachtet; rhythmische. Bewegungen, Pendeln
der Beine, Taktschlagen mit den Händen wurden 27 mal
beobachtet und zwar bei beiden Geschlechtern fast
ganz gleich häufig; eine Neigung zu Muskelrigidität,
die an Opisthotonus erinnerte, wurde bei Frauen
doppelt so oft beobachtet als bei Männern. Sechsmal
fand SıLk unzweideutige erotische Erregung und zwar
nur bei Frauen, die alle, bis auf eine Ausnahme, junge
Mädchen unter 24 Jahren waren. Unwillkürlicher Urin-
abgang kam zehnmal vor und zwar ausschliesslich bei
weiblichen Personen, zweimal davon bei Kindern unter
14 Jahren (20° der Mädchen), die übrigen Fälle bei
Frauen zwischen 15 und 40 Jahren. Neuerdings hat mir
Dr. SIıLk eine viel grössere Statistik von mehr als 5000
Fällen zugänglich gemacht, unter denen 3400 Personen
weiblichen Geschlechts betrafen. In den meisten Fällen
wurde die Narkose durch Lachgas erzielt. Die Er-
gebnisse an diesem grösseren Material bestätigen, von
kleinen Modifikationen abgesehen, die oben besproche-
nen Resultate. Erbrechen fand sich viel häufiger bei
Männern, rhythmische Muskelaktion bei beiden Ge-
schlechtern etwa gleich häufig, in jeder anderen Be-
ziehung zeigten die Frauen häufiger nervöse Störungen;
so fand sich Opisthotonus bei Frauen mehr als andert-
halbmal so häufig als bei Männern; erotische Erregung
fand sich unter den (1719) Männern einmal und unter
den Frauen 17 mal, also relativ 81/2 mal häufiger. Schaltet
man die (880) Kinder aus der Statistik aus. so fanden
') J. F.. W. SırLg, An Analysis of a series of 1000 nitrous
oxide administrations recorded systematically. (Zransact. odon-
folog. Soc. Juni 1890.) Ich verdanke Dr. Sırg briefliche Aus-
kunit über mehrere Punkte. Von seinen 1000 Fällen waren 240
Männer, 760 Frauen, Das Durchschnittsalter für beide Geschlech-
ter war 24 Jahre.
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 351
sich rhythmische Bewegungen nur bei Erwachsenen
beider Geschlechter, Knurren im Darm fast ausschliess-
lich bei erwachsenen Frauen,
Die Tatsachen, die sich bei der Narkose, welche
die Willenshandlungen vollständig ausschaltet, ergeben,
und deren Anführung an dieser‘ Stelle auf einem
grossen und zuverlässigen Material beruht, deuten mit
ziemlicher Klarheit. auf einen bestimmten Schluss,
dass nämlich hypnotische Phänomene beim Weibe
häufiger und deutlicher ausgeprägt auftreten als beim
Manne; die niederen Nervenzentren des Weibes lehnen
sich mehr gegen die Kontrolle der Hemmung auf als
beim Manne und geraten leichter in automatische
Tätigkeit.
Die meteorologische Sensibilität.
Die „meteorologische Sensibilität“ ist keine Sen-
Sibilität im eigentlichen Sinne des Wortes und steht mit
keinem der Sinnesorgane in Zusammenhang. Sie ist in
der Tat nur eine der Formen der sogenannten Emo-
tivität oder Affizierbarkeit, und ist daher affektiven Zu-
Ständen verwandt; sie soll hier gelegentlich der hypno-
tischen Phänomene besprochen werden.
_ Oft gehen einem Wechsel der Witterung elek-
trische, barometrische, thermische, hygrometrische und
Vielleicht auch magnetische Veränderungen längere
Zeit voraus, denen gegenüber der zivilisierte Mensch im
allgemeinen unempfindlich ist. Tiere aller Art dagegen,
Schafe, Schweine, Enten, Waldhühner, ‚Fische perZi-
Pieren diese Veränderungen und wissen sehr g€naV,
Was sie bedeuten. Genaue Beobachter des Tierlebens
haben sogar behauptet, es gäbe wenige Tiere, die
Nicht Wetterveränderungen mit Sicherheit im Voraus
fühlten 1). n
. Beim Menschen finden wir diesen „meteor ologischen
Sinn“, wie ihn Beauns nennt, nicht durchgehends, in-
dessen sind Individuen, die Wetterveränderungen und
!) St. Joun, Wild Sports of the Highlands. Kap. XXX
552
\HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
besonders Stürme im voraus empfinden, durchaus nicht
selten. Diese Sensibilität offenbart sich in verschiedenen
Symptomen, Schwere des Kopfes, allgemeines Unbe-
hagen, ein Gefühl von Druck, unbestimmte Schmerzen
etc, So treten bei manchen Personen zwei bis drei
Tage vor einem Schneesturm gastrische Störungen,
nervöse Reizbarkeit, sowie geistige und allgemeine
Depression auf, und Rheumatiker haben oft mit der
Sicherheit eines Barometers Schmerzen in ihren Knochen.
BeAunis (wie schon vor ihm GAVARRET) gibt an, dass
diese Sensibilität bei Frauen und Kindern häufiger ist
als bei Männern ; obschon statistische Mitteilungen hier-
über nicht vorliegen, so wird gewiss jeder, der seine
Aufmerksamkeit einmal dieser Frage zuwendet, dieses
häufigere Vorkommen meteorologischer Sensibilität bei
Frauen bestätigen. Am stärksten tritt diese Erschei-
nung bei nervösen und neuropathischen Individuen auf,
Nun zeigt sich jedoch die meteorologische Sensi-
bilität nicht bloss in bezug auf Wetterveränderungen,
sondern sie tritt auch auf als Empfänglichkeit für den
Einfluss der Jahreszeiten, so z. B. als die Tendenz zu all-
gemeiner nervöser Depression während einer bestimm-
ten Periode des ‘Jahres, meist während des F rühlings.
Mir selbst sind zu wenig solcher Fälle von Idiosynkrasie
bekannt, als dass ich entscheiden könnte, ob dieselbe
bei Frauen häufiger ist als bei Männern. obschon ich
zu letzterer Ansicht neige‘).
Sehr sorgfältig hat der amerikanische Gelehrte
Prof, Dexter auf Grund umfassender Ermittelungen
in Schulen und an Polizei- und Gerichtsakten Daten
'), Nach rheiner Erfahrung findet sich ein meist als Gewitter-
furcht aufgefasster Zustand von Depression bei antizyklonaler
Wetterlage unter dem Einfluss von heranziehenden Böen oder
Gewittern bei Frauen sechsmal häufiger als bei Männern; bei er-
wachsenen Männern habe ich überhaupt noch keinen derartigen
Fall beobachtet. Telephonistinnen scheinen besonders oft an der-
artigen „Schwüle-Neurosen“ anfallsweise zu leiden. (S. KURELLA,
Elektrische Gesundheitsstörungen am T. elephon, Leipzig 1905.) — K,
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 353
über die meteorologische Sensibilität gesammelt »”. Er
fand, dass sie in mancher Beziehung bei Kindern mehr
ausgesprochen ist als bei Erwachsenen und dass unter
Schulkindern Knaben sensibler sind, als Mädchen; da-
für sprachen sowohl die Kurven des Einflusses von
Hitze, Kälte und Wind, als auch die Erfahrungen der
Lehrer. Als Ursache dafür deutet er auf die bei
Knaben immer geringere Disziplin; ein Lehrer bemerkt,
dass Mädchen ihre Impulse zum Unfug nicht nur besser
beherrschen, sondern auch besser verbergen. Bei Er-
Wachsenen fand DExTeR dagegen immer eine grössere
meteorologische Sensibilität bei den‘ Frauen, womit die
Erfahrungen der Leiter von Lehrer- und Lehrerinnen-
Seminaren übereinstimmt.
Sehr deutlich trat der Unterschied der Geschlechter
in den New Yorker Polizeiberichten hervor. Die Hitze
steigerte die Kampflust der Frauen vielmehr als die
der Männer. Die Kurve der vorgekommenen tätlichen
Angriffe ist bei niederer Temperatur weit unter dem
Durchschnitte, steigt allmählich und erreicht bei Frauen
für die Temperaturen zwischen 80 und 85° F eine
Steigerung um 100°, doppelt so stark, als zu erwarten
war; an diesem Punkte sinkt die Kurve plötzlich, in-
folge des erschöpfenden Einflusses sehr grosser Hitze.
Die Kurve für das männliche Geschlecht zeigt keine
erheblichen Abweichungen von dem erwarteten Re-
Sultate, ‚und; der Abfall für die ganz hohen Tempera-
turen ist nicht so ausgesprochen.
_ Das häufige Vorkommen von Selbstmord und
Geistesstörung während der Frühlings- und Sommer-
Monate ist ein Beweis für die Sensibilität vieler Indi-
Viduen gegenüber den Einflüssen verschiedener Jahres-
zeiten?) Salhetmord setzt keineswegs notwendig Irresein
') E. G. Dexter, Conduct and the weather, „Monograph
Supplement, Psych. Review 1899“, H. 10. | Studie
2) DünKueım betrachtet in seiner soziologischen Stu Ts über
den Selbstmord („Le suicide“, ch. III, 1897) diese Salson-} rschei-
Nungen als tatsächlich sozial (durch die grössere Tageslänge im
Sommer) bedingt.
Ellis Mann und Weib 2. Aufl.
354
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
voraus, indessen involviert er einen der Geistesstörung
verwandten Zustand geistiger Instabilität; beide Er-
scheinungen sind denselben kosmischen Gesetzen unter-
worfen.
MorseLLI weist in seiner Monographie über den
Selbstmord auf die schnellere Entwicklung von Selbst-
mordneigungen bei Frauen im Sommer und während der
ersten warmen Frühlingstage hin. „Die relativ grössere
Zahl weiblicher Selbstmorde“, sagt er, „steht fest so-
wohl während der ganzen Jahreszeit (Italien, Preussen
und Sachsen) als während der wärmsten Monate: Juni
(Frankreich) und Juli (Bayern). In Italien finden wir
dasselbe Überwiegen weiblicher Selbstmorde im April
und Mai, während in gewissen warmen Monaten (Juli
in Bayern) die Zahl der weiblichen Selbstmorde die
höchste Durchschnittszahl der Männer bei weitem über-
trifft“. Bezüglich der Frage nach der monatlichen
Durchschnittszahl der Selbstmorde infolge von Geistes-
störung fand MorseLLI bei seinen Untersuchungen, dass
„bei Frauen gewaltsame Todesarten infolge von Geistes-
störung verhältnismässig zahlreicher sind in denjenigen
Monaten, die, dank ihrer durchschnittlichen Temperatur,
eine verhängnisvolle Wirkung ausüben, nämlich im April,
wo die erste, wenn auch nicht sehr intensive Hitze sich
dem Gehirn ausserordentlich fühlbar macht und im Juli,
wo die monatliche Durchschnittstemperatur das Maxi-
mum des’ Jahres erreicht.“
Ich möchte hier hervorheben, dass einige von mir
selbst angestellte Ermittelungen über die Häufigkeit des
Selbstmordes, die sich nicht auf die einzelnen Monate,
sondern auf Jahreszeiten beziehen, die Schlüsse Mor-
SELLIS nicht Vollständig bestätigen. So fand ich z. B.,
dass in Sachsen während der Jahre 1876—79 28,5%
der männlichen Selbstmorde im Frühjahr stattfanden,
dagegen nur 26,1% der weiblichen; wenn wir die
germanischen und skandinavischen Länder zusammen-
nehmen (Preussen 1869—72; Sachsen 1876—79; Däne-
mark 1874—78; Norwegen 1866—70; Schweden 1831
bis 51), so stellt sich heraus, dass von 18,836 männ-
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 355
lichen Selbstmorden 28,3 %, und von 4815 weiblichen
28,2% im Frühling stattfanden; im Sommer kamen
30,3% männliche und 20,3 °/o weibliche, im Herbst
22,5 männliche und 23,6°%o weibliche und im Winter
ganz gleich viel für beide Geschlechter, nämlich 18,9°/o.
Wir finden hier also keine ausgesprochenen Unter-
schiede zwischen den Geschlechtern, das Überwiegen
der Frauen im. Herbst wird durch das der Männer im
Sommer vollkommen wieder ausgeglichen. Wir können
also MonseLL’s Schlüsse nicht ohne weitere Unter-
suchungen akzeptieren.
Über das Vorkommen von Geistesstörung beim
männlichen und weiblichen Geschlecht in den verschie-
denen Monaten besitze ich kein ausreichendes Tat-
sachenmaterial; auch ist, soweit ich unterrichtet bin,
die Frage nach den sexuellen Verschiedenheiten auf
diesem Gebiet nicht oft aufgeworfen worden. Die
Zahlen über 2669 Aufnahmen in französischen Irren-
häusern, die BucKxmL und TuxE*) von PARCHAPPE erhalten
haben, scheinen zu ergeben, dass Männer . in dieser
Hinsicht mehr unter dem Einfluss der Jahreszeiten
stehen als Frauen, indessen ergeben sich sehr Vver-
schiedene Resultate, wenn wir die viel beträchtlicheren
Zahlen (fast 4000) der Aufnahmen in schottischen Irren-
häusern während der letzten 18 Jahre in Betracht
ziehen ?).
Tägliche Beobachtungen des Pulses, der Tempe-
ratur etc., alles dies liefert ein reiches, bis jetzt noch
wenig ausgebeutetes Feld für die Untersuchungen, der
verschiedenen monatlichen, jährlichen und SONStigen
physiologischen Perioden.
FA
') Manual of Psychol. Medic. 1888, p. 249- ü
lang.) „Reports of Board of: Commissioners in LunaCy, Scot-
and; ı7 Rep. p. 26 und 31 Rep. p. 28; zitiert, mit vielen Be-
Obachtungen über den physiologischen Einfluss_der Jahreszeiten,
in LEFFINGweLLS „Influence of Seasons upon Conduct‘“. (Social
Science Series, 1802, p. 101, 157.) Während der Jahre 1865 — 18974
wurden im Frühling und Sommer 54 Männer (von 1000) mehr
aufgenommen als im Herbst und Winter, und zwischen 1880-84
betrug dieser Überschuss 58. Frauen wurden während des ersteren
DQx*
Aa
VO
= HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
Interessant sind auch die Beziehungen, die zwischen
dem Körperwachstum einerseits und meteorologischer
Sensibilität und dem Einfluss der Jahreszeit andererseits
bestehen. Die Untersuchungen von WRETLIND (Schweden),
WayuL und besonders von MaLLıne -Hansen haben nach-
gewiesen, dass die Jahreszeit auf das Wachstum des
kindlichen Körpers von bedeutendem KEinfluss ist.
Allerdings ist bisher noch nicht ganz festgestellt, in-
wieweit hier der Einfluss der Ferien mitwirkt, indessen
ist doch ohne Zweifel der Einfluss der Jahreszeiten an
sich ein selbständig und regelmässig wiederkehrendes
physiologisches Phänomen. MaLıLme-Hansen hat nach-
gewiesen, dass sich in bezug auf das Körperwachstum
des Kindes drei, völlig voneinander getrennte Perioden
im Jahre unterscheiden lassen: ı. von Ende November
oder Anfang Dezember bis Ende März oder Anfang
April; in dieser Periode ist sowohl Längenwachstum
als Gewichtszunahme unbedeutend. 2. Von März-April
bis Juli-August; in dieser Zeit besteht sehr starkes
Längenwachstum, aber keine Gewichtszunahme, eher
ein Verlust an Gewicht. 3. Von Juli-August bis No-
vember-Dezember; dies ist die Zeit der Gewichtszu-
nahme, wo die tägliche Zunahme dreimal so gross ist,
als während des Winters, das Längenwachstum dagegen
minimal.
Ferner gibt es noch geringe, vom Temperatur-
Zeitraums 66, während des letzteren 76 im Frühling und Sommer
mehr aufgenommen als im Winter. Während ‚der drei Früh-
lingsmonate betrug die Zahl der aufgenommenen Männer 27,1%,
die der Frauen 27,5°%, oder anders ausgedrückt: während im
Januar die Zahl der Aufnahmen für beide Geschlechter fast ganz
gleich sind (1493 Männer gegen 1481 Frauen), zeigt sich im Monat
Mai ein ganz bedeutender Überschuss des weiblichen Geschlechts,
nämlich 1952 Frauen gegen 1669 Männer. In Schottland ist dem-
nach die grössere Sensibilität der Frauen gegenüber dem Einfluss
der Jahreszeiten deutlich ausgesprochen und konstant. In New-
York hat DexTER kürzlich ermittelt, dass eine Jahreskurve der
Erkrankung an Psychosen bei Frauen mehr ausgesprochen ’ist;
allerdings ist sein Material kaum gross genug; er fand einen
Haupt-Klimax im Mai, und geringere, aber deutlicher als bei
Männern ausgesprochene Maxima im März und im September.
HY PNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 357
wechsel abhängige Wachstumsschwankungen; so weist
MaLıLnec-Hansen nach, dass eine, auch nur wenige Tage
andauernde, erhöhte Temperatur das Längenwachstum
befördert. Es ist höchst interessant, dass die Zeit der
physischen Ruhe fast genau zusammenfällt mit der
der emotiven Ruhe, wie sich aus der relativ geringen
Zahl von Geistesstörungen, Selbstmorden, Morden und
Sittlichkeitsverbrechen ergibt. Ich habe MALLING-HANn-
sexns Werk leider nicht im Original in Händen gehabt,
kann also nicht angeben, ob sich aus seinen Zahlen
ein merklicher Geschlechtsunterschied in dieser Hinsicht
ergibt,
Neurasthenie und Hysterie sind wohl als die
typischsten weiblichen Nervenstörungen zu betrachten
und da sie in ihren Hauptumrissen die die hypnotischen
Phänomene im allgemeinen charakterisierenden Merk-
male zeigen, so fesseln sie an dieser Stelle unsere Auf-
merksamkeit.
Neurasthenie, wie man sie heute bezeichnet, oder
Spinalirritation, Nervosität etc. wie man früher sagte,
ist keineswegs eine moderne Krankheit; jedenfalls ist
sie so alt wie HıprprokratEes, der Vater der Medizin, ob-
Schon sie erst in diesem Jahrhundert, besonders von
BrarDd in Amerika und BovchHuT in Frankreich, ein-
gehend beschrieben worden ist. Indessen wird auch
heute noch die Neurasthenie, dieser umfassende Inbe-
griff unbestimmter nervöser Symptome, nicht von allen
Autoritäten als eine bestimmte Krankheit anerkannt.
So haben SchöLg und ManpEL derartige Fälle mehrfach
als Hypochondrie bezeichnet, während andere sie zu
den IJeichten Formen der Melancholie, Hysterie etc,
Iechnen. Es ist für unseren gegenwärtigen Standpunkt
völlig gleichgültig, wie die einzelnen Erscheinungen
krassifiziert und benannt werden; dass Sie, gleichviel
unter welchen Namen, bei Frauen bedeutend häufiger
vorkommen als bei Männern, darin stimmen die Mei-
nungen überein (s.. Hammoxp, Mößsıus, ARNDT u, a.),
Obgleich andere Autoritäten, wie LOEWENFELD und
LEVILLAIN, sie bei beiden Geschlechtern gleich oft oder
358
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
beim Manne häufiger gefunden haben. Nach einigen
Autoritäten sollen unter ı5 immer ı4 Fälle Frauen
betreffen, jedoch scheint mir diese Angabe entschieden
übertrieben. Die Symptome bestehen im allgemeinen
in einer Schwäche des Nervensystems, inklusive Gehirn
und Rückenmark, hervorgerufen teils durch ungenü-
gende, ungeeignete Ernährung, teils durch fehlerhafte
Entwicklung desselben, die sich in einer Tendenz zu
Erschöpfung und Irritabilität, sowie in Angstzuständen
und krankhafter Sensibilität äussert. Man findet die
Neurasthenie in allen Graden der Intensität, und ob-
schon sie nicht eigentlich ein bestimmtes, organisches
Leiden ist, bildet sie doch den Boden für organische
Nervenstörungen.
Das Studium der Neurasthenie wirft ein so helles
Licht auf die bei Frauen besonders häufigen hypno-
tischen und nervösen Zustände, besonders auf die An-
fangsstadien derselben, dass es nötig sein wird, sie in
ihren . Hauptumrissen zu schildern. Ich stütze mich
hierin speziell auf den ausgezeichneten Artikel von
Pror. R. AryDTt (Greifswald) über Neurasthenie. /Dic-
tionary of Psychological Medicine). Die charakte-
ristischen Merkmale der Neurasthenie sind mehr nega-
tiver als positiver Natur. Wir können sicher sein,
hypochondrischen oder paralytiformen, epileptoiden oder
hysteroiden Symptomen zu begegnen, ohne dass sie
doch so deutlich entwickelt wären, dass man die Krank-
heit als Hypochondrie oder Melancholie, progressive
Paralyse oder Epilepsie, Hysterie oder Tabes bezeich-
nen könnte, obschon sich jedes dieser Leiden später
daran anschliessen kann. Wir dürfen nicht vergessen,
dass es keine Funktion gibt ohne Organ und dass des-
halb jede funktionelle Störung eine organische Basis
haben muss, die früher oder später zu wirklicher Er-
nährungsstörung‘ führen kann.
Während es sich bei der Neurasthenie eigentlich
um einen Mangel an Spannkraft der Nervensubstanz
handelt, scheint, entsprechend einem wohlbekannten
Gesetz der Nervenerregung, die nervöse Energie vielmehr
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 359
gesteigert zu sein und zwar deshalb, weil der Wider-
stand verringert ist und das Nerven-System allzuschnell
und energisch auf die kleinsten Reize reagiert. Diese
gesteigerte Erregbarkeit, ein charakteristisches Merkmal
der Neurasthenie, hängt deshalb aufs engste mit jenem
Verlust der Kontrolle zusammen, den wir als ein wesent-
liches Element aller hypnotischen Erscheinungen kennen
gelernt haben. In einem späteren Stadium nimmt diese
gesteigerte Erregbarkeit rapide ab, die Nervenzentren
werden abgestumpft oder gelähmt und reagieren selbst
auf starke Reize nicht mehr entsprechend.
Da die Empfindungs-Nerven schon in normalem Zu-
stand erregbarer sind als die der Bewegung dienenden,
So tritt Hyperästhesie oder krankhaft gesteigerte Sensi-
bilität bei Neurasthenie früher auf als die BewegungS-
Schwäche. Diese beiden Symptome, Hyperästhesie und
Muskelschwäche, bilden die beiden Hauptmerkmale der
Neurasthenie. Da sich für das am häufigsten vorkom-
mende Symptom, die Hyperaesthesie, keine objektiven
Anhaltspunkte ergeben, so hat man oft geglaubt, es
hier mit einem imaginären Leiden zu tuen ZU haben,
und doch ist sie für den Patienten nichts weniger als
imaginär und kann ihm sein Leben unerträglich machen.
Der Neurastheniker fühlt in allen Teilen seines Körpers
alle Arten unbehaglicher Beschwerden und Empfindungen,
und da kein Schmerz und keine Empfindung zustande
kommt ohne Beteiligung des Gehirns, so haben wir
als zweites Element der Neurasthenie die sogenannte
cerebrale Irritation, die ihrerseits: wieder allerlei krank-
hafte, aus den abnormen Empfindungen entspringende
Befürchtungen hervorruft, so die Agoraphobie oder
Furcht vor grossen Räumen, Claustrophobie oder die
F Urcht vor verschlossenen Räumen, ferner Antropopho-
bie oder die Furcht unter Menschen zu kommen, Rupo-
Phobie oder die Furcht, schmutzig zu sein, Nyctophobie
oder Furcht vor der Nacht, und noch eine lange Reihe
ähnlicher Befürchtungen, die es nicht lohnt, mit beson-
deren Namen zu belegen. (In der Literatur finden wir
eine interessante Darstellung solcher krankhafter Zwangs-
360 HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
\vorstellungen in einem Kapitel von Borrows Zaven270,
die offenbar; aus dem Leben geschöpft ist.) In ihren
einfachsten, elementarsten Formen sind diese Befürch-
tungen etwas Natürliches; in ihrer höchst gesteigerten
Form, wo sie jeder Kontrolle seitens der Vernunft
spotten, gehören sie ins Bereich der Geistesstörungen;
‘bei Neurasthenikern treten sie in einer Zwischenform auf.
Den abnormen sensorischen Erscheinungen ent-
sprechen ebensolche motorische. Anfangs sind sie,
wie bei allen Varietäten hypnotischer Erscheinungen,
ausserordentlich intensiv. Spasmodische Krämpfe und
Zuckungen einzelner Gliedmassen kommen sehr häufig
vor, daneben aber auch Schlaffheit und Bewegungs-
losigkeit. Die Pupillen sind ungleich und erweitert, die
Sehnenreflexe gesteigert; häufiges Gähnen und Neigung
zum Erröten werden von BrEArD und anderen Autoritäten
ebenfalls zu den. charakteristischen Symptomen der
Neurasthenie gerechnet.
Die Neurasthenie ist ein allgemeiner Erregungs-
zustand des Nervensystems und es darf uns nicht über-
raschen, dass wir sie vorzugsweise bei Personen beider-
lei Gechlechts finden, die sich geistig überanstrengen,
bei Künstlern und Schriftstellern ‚und solchen Indivi-
duen, die sich übereifrig an sozialen Reformbewegungen
beteiligen. Die Hysterie, eine der hauptsächlichsten
schweren Erkrankungen, zu denen die Neurasthenie
führen kann, steht mit geistiger Anspannung in keinem
notwendigen Zusammenhang, im Gegenteil kommt sie
viel häufiger da vor, wo alle geistige Aktivität brach liegt.
_ Obschon einer der bedeutendsten älteren englischen
Arzte, SYDENHAM,' unserer Kenntnis der Hysterie eine
gesunde, wissenschaftliche Basis gab, ist das Wort
Hysterie nur allzu oft in falschem, ungenauem Sinne
angewendet, ja zu einem wahren Scheltwort geworden;
erst in den allerletzten Jahren ist diese Krankheit
näher definiert, ihre Natur eingehender und sorgfältiger
untersucht worden. Diesen Fortschritt verdanken wir
hauptsächlich der Initiative CHARcors und dem Kreise
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN- 361
ausgezeichneter und eifriger Neurologen, die er in der
Salpetriere um sich versammelte *).
Die Hysterie ist eine Krankheit, welche das ganze
Nervensystem und zwar vorzüglich das Gehirn ergreift;
Sie ist, wie CHARCoT lehrte und wie jetzt allgemein an-
genommen wird, wesentlich eine psychische ‚Krankheit ®).
Wenn wir uns die psychischen‘ Erscheinungen der
Hysterie in ihrem ganzen Umfange klar machen wollen,
So fassen wir sie am besten in das eine Wort „Sugge-
Stibilität‘‘ zusammen 3), Empfänglichkeit für Suggestion
ist ein fundamentaler Charakter des normalen Nerven-
lebens; selbst unter Bienen soll es vorkommen, dass
wenn ein räuberischer Bienenschwarm in einen fremden
Stock einfällt, um den Honig zu vernichten, die Besitzer
dieses Stockes von der Raublust angesteckt werden,
scharenweise ins Lager der Feinde übergehen und
ihnen dabei helfen, ihre eigene mühevolle Arbeit zu
zerstören. Dieselbe unvernünftige Suggestibilität zeigt
Sich, wenigstens in ihren Anfangsstadien, auch beim
gesunden Menschen. Eine englische Gefängnisoberauf-
Seherin teilte mit, dass wenn die unter ihrer Aufsicht
stehenden Gefangenen Wutanfälle bekämen und alles
zu zerschmettern und zu zerstören anfingen, sie sich
die grösste Mühe geben müsse, um sich nicht an
diesem Zerstörungswerk zu beteiligen; ähnliche Impulse
haben viele an sich selbst kennen gelernt. Bei der
Hysterie ist diese Tendenz bis zur Unwiderstehlichkeit
gesteigert und wird oft durch die schwächsten Sugge-
stionen. sei es von aussen her, sei es von innen heraus,
‘) GiLLES DE LA TOURETTE gibt in seinem „Traite clinıque
et therapeutique de PHysterie, d’apres Penseignement_ de la Sal-
petriere“ (Paris 1891) eine klare und anschauliche Zusammen-
assung des Standes unserer Kenntnis der Hysterie. | Eine noch
Spüter „erschienene Erörterung der neueren Definitionen der
es ‚gibt PIERRE Janet in einem Artikel der „Archives de
eurologie‘“, Bd. XXV, 1893.
2) CuHArcort, Lecons du Mardi, Bd. I, pP: 295 1887.
H 3) S. das ausgezeichnete Kapitel über den Seelenzustand
ysterischer in GILLES DE LA TOURETTES „Tralte Clinique“ ete,
1891, p. 486—5655,
362
HYPNOSTICHE ERSCHEINUNGEN.
hervorgerufen, so dass wir einer Erscheinung gegenüber-
stehen, die HUucHARD, der einer etwas älteren Schule
angehört, „moralische Ataxie“ nennt!). Firß nennt,
mit einer Anspielung auf diese Neigung zu fast unkon-
trollierbaren Reaktionen auf Reize aller Art, das hyste-
rische Individuum den „Frosch in der Psychologie“,
Dr. ConoLLY Norman (der „Schwäche, verbunden
mit Irritabilität“, die Hauptmerkmale des hysterischen
Charakters nennt), gibt folgende Beobachtungen über
„hysterische Manie‘“, eine Form des Irreseins, die in
Verbindung mit Hysterie vorkommt: „Bei hysterischer
Manie ist das Gemüt ausserordentlich erregbar; die
Qualen der Melancholie fehlen, die Depressions-
zustände gehen nur wenig in die ‚Tiefe. Eine
geringfügige, vorübergehende Verstimmung ruft sofort
Tränen hervor, oft unter lautem Schreien und den
Ausserungen tiefsten Kummers, und doch ist das zu-
grunde liegende Gefühl ganz flüchtig, Wir haben
es hier mit einer gewissen „Hyperästhesie zu tun, die
sich in allzuschneller Reaktion auf jeden affektiven
Reiz äussert, ohne eine entsprechende Gefühlsunterlage.
Daneben finden wir ein in hohem Grade reizbares
Temperament, jedoch ohne den Zustand beständiger
Zornmütigkeit, wie er in anderen Formen der Manie
auftritt. Das Gemüt ist reizbar und unbeständig bis
zum Aussersten, der Ausdruck der Gefühle zeichnet
sich‘ durch einen eigentümlich launischen und unbe-
stimmten Charakter aus, wie er sich überhaupt in dem
ganzen Benehmen des Patienten zeigt. Jeder Impuls
setzt sich mit erschreckender Geschwindigkeit in Hand-
lung um; wenn das Individuum überhaupt noch im-
stande. ist, feste Entschlüsse zu fassen, so geben oft
Launen und plötzliche Impulse die Motive zu Hand-
lungen ab“. („Hysterical Mania,“ im Dic£ of Psych. Med.)
Diese geistige Beweglichkeit, emotive Erregbarkeit
und unkontrollierbare Reaktion auf Reize hat oft dazu
') HucHARD, Caractere, moeurs, etat mental des Hysteriques.
(Arch. de Neurol., 1882, p. 187.) ) y q
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. *
363
geführt, die Hysterischen der Simulation und Betrügerei
anzuklagen, indessen sind solche Beschuldigungen gauz
unbegründet. „Der wirkliche Betrüger ist“, wie GILLES DE
LA TouRErTE mit Recht bemerkt (Z7aitd clinique p. 527)
„ein aktives, raisonnierendes Wesen, wenn aber Hyste-
Msche betrügen, SO sind sie sich dessen nicht bewusst;
Sie sind passive. Wesen, photographische Platten, die
jeden Eindruck wiedergeben, allerdings oft in ver-
grössertem Massstabe, aber stets bona fide und ohne
sich der Sache bewusst zu sein; mit dem Worte „Be-
trug“ ist, soweit es sich auf Hysterie bezieht, grosser
Missbrauch getrieben worden, ja er gilt vielfach als
Charakteristikum dieser Krankheitsform, was sich in-
dessen zum grossen Teil auf Unwissenheit zurück-
führen lässt.“
CLOUsTON definiert die Hysterie als „Verlust des
Seitens der höheren intellektuellen und moralischen
Funktionen auf die sexuellen Instinkte des Weibes
ausgeübten hemmenden Einflusses“. (Zdinburgh Med.
Fourn, Juni 1883. P- 1123.) Der Verlust der ge-
Samten, von den höheren Zentren ausgeübten Kontrolle
ist ohne Zweifel ein wesentlicher Charakterzug der
Hysterie, wie der hypnotischen Erscheinungen im
allgemeinen, jedoch ist nach Ansicht vieler ein sexu-
elles Element. in der Hysterie nicht notwendig‘ Vor-
handen. Früher ist das sexuelle Element in der Hysterie
etwas übertrieben worden, heutzutage dagegen herrscht
die Tendenz, es allzusehr beiseite zu Setzen. Irgend-
Welche sexuelle Reizung in grober Form oder ein in
die Augen fallendes Leiden der Geschlechtsorgane ist
jedenfalls bei der Hysterie nicht wesentlich, obschon
Sich viele hysterische Symptome auf sexuellen Ursprung
zurückführen lassen. . Es ist bemerkenswert, dass, wie
Lousroso nachweist (Das Weib als Verbrecherin SS.
517 ff), es sich bei den Verbrechen Hysterischer meist
um das sexuelle Leben handelt. Oft‘ finden wir eine
Rewisse Perversität der sexuellen Gefühle, indem die
Hysterische ein heftiges Verlangen nach Liebe und
Zärtlichkeit seitens des anderen Geschlechts hat, während
4
PD}
. HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN,
doch die normalen sexuellen Beziehungen ihr gleich-
gültig oder gar widerwärtig sind. Die Hysterischen
von heute und die „Besessenen“ von ehedem stimmen
in der Angabe überein, dass sie sehr häufig erotische
Träume haben, dass die erträumten Liebesabenteuer
aber viel häufiger Schmerz als Lust gewähren. Die irr-
tümliche Annahme eines besonderen Zusammenhangs
zwischen Hysterie und den Geschlechtsorganen ist wahr-
scheinlich. aus der zweifellosen Tatsache entstanden,
dass die organisch - sexuelle Sphäre des Weibes von
grösserer Ausdehnung ist, als die des Mannes. Wenn
daher die höheren kontrollierenden Zentren sich in
einer Art von Lähmungszustand befinden, so dürfen
wir erwarten, Erscheinungen aller Art, die sich auf
sexuellen Ursprung zurückführen lassen, beim Weibe
in den Vordergrund treten zu sehen. Es ist das nicht
in der Hysterie allein der Fall, sondern bei fast allen
Varietäten nervöser und geistiger Erkrankungen.
Ein Wort über die relative Frequenz der Hysterie
bei beiden Geschlechtern soll hier noch gesagt werden.
Bis vor ungefähr 10 Jahren nahm man allgemein an,
dass die Hysterie unvergleichlich häufiger beim Weibe
vorkäme als beim Manne. SypenmaM erkannte die
Hysterie bei Männern, besonders bei solchen, die bei
sitzender Lebensweise geistig arbeiten, an (wobei er
offenbar die jetzt als Neurasthenie bezeichnete Affek-
tion mit einschloss), indessen wurden solche Fälle
immer als Seltenheit betrachtet. Brıquer, die hervor-
ragendste Autorität auf dem Gebiet der Hysterie
während der Mitte des ı9. Jahrhunderts, fand’ unter
Hysterischen einen Mann auf 20 Frauen; in Deutsch-
land fand BoDENSTEIN in der Poliklinik von EULENBURG
und, MEnDEL einen hysterischen Mann auf ıo Frauen,
LOEWENFELD (München) einen Mann auf sechs Frauen,
und einen Knaben auf zwei Mädchen, Pırrıs dagegen
fand in Bordeaux einen Mann auf zwei Frauen, und
dieselbe .Beobachtung machte in Paris GiLLES DE LA
TovrertE an dem Material CyHArcorts. . Man kann daher
nicht länger behaupten, dass Hysterie beim Manne
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
365
Selten wäre, während wir andererseits ausreichende
Gründe zu der Annahme haben, dass sie nicht ganz
So häufig auftritt, wie uns diese neueren statistischen
Mitteilungen glauben machen wollen. Es wird allgemein
angenommen, dass Hysterie beim männlichen Geschlecht
gewöhnlich unter den ärmeren, schlecht genährten
Klassen, die das Krankenmaterial der Hospitäler bilden,
vorkommt, während sie beim weiblichen Geschlecht
entschieden häufiger unter den müssigen, wohlhabenden
Klassen auftritt, die nicht in die Hospitäler kommen,
Ferner ist von CHaARrcorT u. a. beobachtet worden, dass
die Hysterie beim Manne immer einen ernsteren, hart-
näckigeren Charakter trägt, während bei Frauen die
milderen Fälle häufiger sind, ein Umstand, der dazu
beiträgt, die Statistik der Hysterie bei beiden Ge-
schlechtern zu fälschen, da nur die ernsteren Fälle zur
Kenntnis des Arztes kommen. Nach alledem können
wir annehmen, dass die Hysterie beim Manne aller-
dings häufiger ist, als man früher annahm, jedoch bei
weitem nicht so häufig, wie beim Weibe. Diese An-
Schauung stimmt auch mit denen der bedeutendsten
Kenner. der Psychopathologie überein, von SYDENHAM
an, der behauptet, es gäbe nur wenig Frauen — und
nur solche, die ein hartes und arbeitsvolles Leben führen
— bei denen hysterische Symptome ganz fehlten, bis
zu Tonnını, nach dessen anschaulicher Phrase das hyste-
tische Individuum ein Kolossalbild alles dessen in sich
Vereinigt, was für spezifisch weiblich gilt, — „la g1-
SYantessa della feminilitä‘‘!
_ Es besteht ein interessanter Parallelismus, ja viel-
leicht eine tatsächliche, tiefliegende, biologische Be-
Ziehung zwischen der Suggestibilität des Weibes und
der eigentümlichen Tendenz zu Mimicry In F schung
etc., die wir bei den Weibchen einiger VS gel und
Säugetiere finden. Mimicry oder Suggestibilitat Ist eine
Anpassung an die Umgebung, die dem Geschlechte,
das weniger gut zu entfliehen und zu kämpfen versteht,
grössere Sicherheit gewährt.
366;
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
Religiös-hypnotische Erscheinungen.
Zwischen hypnotischen Erscheinungen — in dem
umfassenden Sinne, den wir hier damit verbinden — und
denen der Religion bestehen höchst intime Zusammen-
hänge. Die Zahl der Frauen, die hervorragende Rollen
in der Religion gespielt haben, ist keineswegs so gross,
wie die starke Beteiligung des weiblichen Geschlechtes
an allen religiösen Bewegungen vermuten liesse, immer-
hin aber ist sie nicht unbeträchtlich, und zwar hat sich
das weibliche Geschlecht immer in denjenigen Ge-
bieten der Religion hervorgetan, die ich mit den hypno-
tischen Erscheinungen decken. Als „Prophetinnen“
haben Frauen Trancezustände und Visionen gehabt oder
Offenbarungen gehört, die sie dann öffentlich verkün-
digten, und sind dadurch den Führern religiöser Be-
wegung von grösstem Nutzen gewesen, indem sie durch
den Reiz des Übernatürlichen Jünger anzulocken ver-
standen. ApzLLEs, Begründer der Sekte der Apelläaner
im zweiten Jahrhundert, wurde von der Prophetin
PHILOMENE. ‚kräftig unterstützt. MOoNnTANus, der selbst an
ähnlichen Zuständen litt, besass eifrige Gehilfen in den
Prophetinnen PrıscıLLA und Maxımmi.A, die durch ihre
Visionen während ihrer extatischen Anfälle TERTULLIAN,
einen der hervorragendsten Kirchenväter, beeinflusst
zu haben ‚scheinen. Die Quintilianer, geführt von der
Prophetin QumrTii1A, bildeten eine Untersekte der Mon-
tanisten; bei ihnen trugen die Jungfrauen bei feier-
lichen Gelegenheiten weisse Gewänder und übten pro-
phetische Funktionen aus; sie verteidigten auch die
Berechtigung der Frauen zur Bekleidung aller priester-
lichen und bischöflichen Ämter. PETERSEN, ein visio-
närer Anhänger des tausendjährigen Reiches im ı8ten
Jahrhundert, wurde von seiner ebenfalls an Visionen
leidenden Gattin unterstützt und beide wirkten im
Verein mit einer inspirierten Gräfin, die auch den Vorzug
hatte, mit ne Defeat zu sein. Man
könnte die Angabe der Zahl der Frauen, die sich an reli-
giösen Bewegungen beteiligt und dabei hypnotische Er-
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 367
scheinungen in hohem Grade gezeigt haben, mit Leich
tigkeit vermehren. Sehr viele der hervorragendsten
weiblichen Heiligen, die ein klösterliches Leben geführt
haben, waren hochgradig hysterisch. Es wird indessen
genügen, hier zweier Keligionssekten Erwähnung zu
tuen, die beide von Frauen geleitet und mit bestimmten
Formen hypnotischer (nicht hysterischer) Erscheinungen
identifiziert worden sind. Die Sekte der „Shaker“
wurde zwar nicht von einer Frau allein, wohl aber von
einem Manne und einer Frau gemeinschaftlich gegründet,
nämlich von James WARDLEY, einem Schneider aus der
Quäkergemeinde, und seiner Frau, Die hervorragendste
und erfolgreichste Leiterin in dieser Bewegung War
jedoch Anna Lzz:s aus _ Manchester, welche die Sekte
der Shaker in Amerika einführte, wo sie unter ihrer
Leitung und dank ihrem Missionseifer gedieh. Diese
Gemeinschaft beruhte auf kommunistischer Basis, ihr
Besitz wurde ausgezeichnet verwaltet. Das Charak-
teristische dieser Sekte, in der die Frauen stets eine
hervorragende Rolle spielten, lag in der Art ihres
Gottesdienstes, bei dem auf Musik und Gesang beson-
derer Wert gelegt wurde, während die Einrichtung des
Priestertums im gewöhnlichen Sinne ganz abgeschafft
war. Die Einführung von Tanz und Gesang als wesent-
liche Bestandteile‘ des GÖffesdienst&"Mötivierten sie
unter Berufung auf die Geschichte von der Rückkehr
des verlorenen Sohnes, in welcher der ältere Sohn, der
Repräsentant des „natürlichen“ Menschen, diese herz-
erquickende Freudenäusserung verurteilt. Ihre reli-
giösen Übungen bestehen, wie uns berichtet ‚wird,
nt spenteils aus Zittern („shaking“‘) und Beben. SInacn
nd Tanzen, Springen und Schreien, „Prophezeien "un
Sprechen ın remden” ZUnBeR, “Hypnotische Erschei-
Nungen von weniger grob muskulärem Charakter, aber
darum nicht weniger ausgesprochen, bilden auch die
Charakteristischen Merkmale der Sekte der TheQsORASn-
Es ist bemerkenswert, dass dies die &l e, von Frauen
Segründete und geleitete moderne Sekte ist und zu-
gleich die einzige in unserer Zeit, die sich auf „ma-
368
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
gische‘“ und esoterische Doktrinen und Gebräuche
gründet. Dies ist von hohem Wert für das Verständnis
der Geschichte, indem es uns’erklärt, wie „magische“
Sekten — bei denen sich Frauen immer in hervor-
ragender Weise beteiligt haben]— unter östlichen Ein-
Aüssen, zur Zeit des Verfalls des römischen Reiches,
entstehen und gedeihen konnten.
en
WE HE
Ma
(3
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Aa
ats
+
N
4
P. BREUGHEL, „Die Tanzwut“.
(Nach einem Stiche von :HonpDıuvs.)
Ferner gibt es eine andere grosse Klasse religiöser
Bewegungen, bei denen verschiedene hypnotische Er-
scheinungen, besonders solche von ansteckendem Cha-
rakter, eine: so grosse Rolle spielen, dass die intellek-
tuellen Elemente, die Dogmen u. dergl., fast ganz da-
gegen zurücktreten. An solchen religiösen Bewegungen
von unzweifelhaft pathologischem Charakter, die selten
einen irgendwie hervorragenden Führer besitzen, haben
sich immer in sehr. hohem Masse, ja oft ausschliesslich
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
369
Frauen beteiligt; sie tragen oft den Charakter von
Springkrämpfen und sind in manchen Fällen Varietäten
jener epidemischen Neurose, die man. als hysterische
Chorea bezeichnet. Die Sekte der Tanzsüchtigen, die
im ı4ten Jahrhundert in” Aachen aüf} 3m und sich
über Belgien verbreitete, bildet eines der besten Bei-
spiele für hypnotische Erscheinungen auf religiösem
Gebiet, bei denen Frauen eine hervorragende Roll®
spielten. Die Tanzwut begann im Jahre 1374, unmittel-
bar nach den ehr nıschen F Net der S Sömersonnen-
Wende am Johannistage. Mätiner und Weiber schienen
jede Spür von SEI6stbeherrschung verloren zu haben.
Plötzlich, gleichviel ob an öffentlichen Orten oder in
der Familie, fingen sie an zu tanzen, wobei sie ein-
ander an den Händen hielten und so lange mit äusserster
Heftigkeit rasten, bis sie erschöpft zu Boden fielen.
Während dieser Periode muskulärer Erregung waren
Sie unempfindlich gegen äussere Eindrücke und hatten
die wunderbarsten Visionen *).
‚Die Camisarden oder Propheten derGeyennen,
eine im 17ten Jahrhundert ın der Dauphine und in
Vivarais entstandene Sekte, die sich in Frankreich und
England grosser Frfolge erfreute, zeigten eine ganze
Reihe hypnotischer Erscheinungen und zählten wie
gewöhnlich Frauen zu ihren eifrigsten Jüngern; Die
Mitglieder dieser Sekte gerieten in _Ekstasen und hatten,
wie ° . . HEN
e sie es nannten, Inspirationen vom N heiligen. Geist.
„Sie hatten“, heisst es, “sonderbäre Anfälle, die mit
Zittern und Bewusstseinsverlust über sie kamen, wie
Öhnmachten, bei denen sie Arme und Beine von sich
Streckten und nach einigen stolpernden Schritten Zu
Boden stürzten. Sie schlugen sich mit ihren eigenen
Händen, fielen. auf den Rücken, schlossen die Augen
und holten mühsam Atem“. Diese Symptome ent-
Sprechen genau denen, die das Lachgas hervorruft,
und wenn dieses Mittel damals schon bekannt gewesen
Wäre, so würden wir uns sicher versucht fühlen, an
1) J. Hecker, Die Tanzwut. Berlin 1832.
ac ww — a
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
4
1
GG
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
Betrug zu glauben. Die betreffende Person blieb eine
Weile in: diesem Tranzezustand und erklärte dann, SIE
habe den Himmel offen, und Engel, Paradies und Hölle
gesehen. Die, welche das Nahen des prophetischen
Geistes fühlten, stürzten unter dem Aufschrei „Gnade,
Gnade‘ zur Erde nieder, nicht nur in ihren Versamm-
lungen, sondern in ihrer Wohnung, auf dem Felde,
wo sie sich gerade befanden. Die kleinste ihrer Ver-
sammlungen hatte gegen 4—500 Teilnehmer, oft aber
waren drei oder viertausend Menschen beisammen.
Die Hügel hallten wieder von ihrem lauten Schreien
nach Gnade, von Verwünschungen gegen die Geistlich-
keit, den Papst und sein antichristliches Reich, und
von Prophezeiungen über den nahen Sturz des Papst-
tums, und alles, was sie sagten, wurde mit ehrfürchtigem
Staunen gehört und aufgenommen }).
Es ist dies eine ausgezeichnete Schilderung reli-
giöser Orgien‘ auf Grund einer unbeherrschten hypno-
tischen Tätigkeit des Nervensystems.
In der konvulsivischen religiösen Bewegung. vQDP
Redruth zu Anfang dieses Jahrhund erts, die sich mit
ausserordentlicher Schnelligkeit über ein beträchtliches
Gebiet (von Helston bis. Camborne) ausbreitete und
durch unbezwingliche Bewegungen aller Teile des
Körpers charakterisiert war, wurde kein Geschlecht
und kein Alter verschont, die zahlreichsten Opfer jedoch
waren Frauen und Mädchen. Mit der ebenerwähnten
Sekte fast identisch war die religiöse Neurose der Shet-
land -Inseln,. ungefähr um dieselbe Zeit, von der fast
ausschliesslich jugendliche weibliche Wesen befallen
wurden ?).
1) „Dictionary of all Religions“, Art. „Camisards“; GREGOIRE,
Histoire des sectes religieuses, Paris 1810, Bd. I, p. 370; CHAUNCEY,
Works Bd. III, p. 2; — HucHson, French and English Prophets;
— LAcey „Prophetic Warnings“ und „A Brand Snatched from
the Burning“; — WiLson, Dissenting Churches, Bd. IV, p. 77-
2) Hecker, 1. c. Kap. IV und Appendix V. Die i. J. 1859
während der grossen religiösen Bewegung (revival) in’ Irland
beobachteten hysterischen Erscheinungen sind von Archidiak.
SrtopForD in seiner interessanten Schrift „The Work and the
Counterwork“ (Dublin 1859) eingehend untersucht worden.
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN, . 371
In Morzine, in einem Dörfchen der Haute - Savoie
brach in den Jahren zwischen 1861 und 65 eine: hy-
Sterisch-religiöse Epidemie aus, bei welcher zarte junge
Mädchen während des Paroxysmus mit vollem Ver-
ständnis auf Fragen in fremden Sprachen antworteten,
Schreckliche Lästerungen ausstiessen, Halluzinationen
hatten, mit wunderbarer Geschicklichkeit auf Bäume
kletterten und Prophezeiungen äusserten, die sich in
der Tat manchmal verwirklichten. Nach dem Anfall
Wussten sie von nichts. Diese Epidemie scheint auf junge
Mädchen beschränkt gewesen zu sein und die Bevöl-
kerung sah in all diesen Erscheinungen etwas Über-
natürliches. Nachdem die Geistlichkeit es vergebens
mit Teufelaustreibungen versucht hatte, schickte die
Verwaltungshbehörde eine Gensdarmeriebrigade an den
von der Krankheit befallenen Ort, ordnete die Isolierung
der befallenen Personen an und konnte bessere Er-
folge verzeichnen. Etwas Ähnliches ereignete sich vor
einigen Jahren in Verzegnis, einem Gebirgsdörfchen in
Friaul nach einer Missionspredigt, die ein Jesuitenpater
Unter der abergläubischen, hysterisch veranlagten Dorf-
bevölkerung gehalten hatte. Es traten, fast ausschliess-
lich bei Frauen, ausgesprochen hysterische Erscheinungen
in der Form. des ‚esessenheitswahns auf, die es nur
mit Hilfe ähnlicher Mittel wıe in Morzine!) zu unter-
drücken möglich war. Vor einigen Jahren machte auch
ein kleines italienisches Städchen, Alia bei Palermo,
Wegen des fanatischen Religionseifers seiner weiblichen
Bewohner von sich reden. Fälle von Geistesstörung,
Epilepsie und Hysterie traten massenhaft auf und die
Stadt geriet in das grösste physische und: moralische
Elend 2).
Gel Russland. ist das einzige moderne Land, das uns
tie, DE gibt, die verschiedenen Formen hypno-
s cher Erscheinungen auf religiösem Gebiete zu unter-
uüchen. denn hier treten sie mit der grössten Intensität
!) Pırres, Lecons cliniques sur Physterie, Bd. I, P; 40.
2?) „La Psychopathie religieuse d’Alia“ (L’Encephale, 1881).
D4*
372
‚HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
und. zugleich in ausgedehntestem Massstabe auf. Der
ausgesprochene Hang des russischen Volkes zur Religion,
seine -primitiven Lebensbedingungen, ‘sein halb- heid-
nischer Glaube‘ und die Unterdrückung, die Not, ın
der es lebt, alles dies sind Faktoren, welche die Be-
tätigung hypnotischer religiöser Erregungen. begün-
stigen. Während des gegenwärtigen Jahrhunderts sind
in Russland ‚eine ganze Reihe von Sekten gegründet
oder weiter entwickelt worden, bei denen Tanzen,
Springen, Geisseln, ja selbst Kastration, zum Ritus ge-
hörte, daneben auch andere von. praktischem, mehr
rationalistischem Charakter. In allen diesen Sekten
spielen Frauen eine hervorragende Rolle, zu manchen
gehören fast ausschliesslich Frauen und einige wenige
sind. von Frauen ins Leben gerufen worden. Es ist
nicht überraschend, dass bei diesen russischen Sekten
das weibliche Geschlecht die gleiche Freiheit geniesst,
wie das männliche. Die Sekte der „Christen‘“ glaubt,
dass in jedem Menschen ein. Teilchen der Gottheit
steckt ung, daher "jeder "anberängswürdig ist. Unter
Tanzen und Schlüchzen” der Frommen “das bei den
mystischen Sekten Russlands überhaupt eine grosse
Rolle. spielt — lässt sich dann der heilige _Geist_her-
nieder. Der Tanz ist wild und wirbelnd” und beginnt
um Mitternacht nach stundenlangen Gebeten, Psalmen-
gesängen und religiösen Gesprächen, Dann erheben
sich. die „Christen‘‘, Männer und Weiber, reissen sich
die Kleider vom Leibe und ziehen statt ihrer lange
weisse Hemden und weisse baumwollene Strümpfe an,
Lichter werden angezündet und nach Absingen eines
monotonen. Gesangs beginnt die ganze Gemeinde zu
springen und zu tanzen. Allmählich beteiligen sich
immer mehr Personen. an. diesem Tanz, bei dem die
Männer sich nach Osten, die Frauen. sich nach Westen
drehen und mit den Füssen den Takt schlagen. Ihre Bewe-
gungen. werden immer schneller, ihr Seufzen lauter und
schliesslich fängt jeder der Tanzenden an, sich — die
Männer nach. rechts, die Frauen nach links — um sich
selbst. zu drehen, mit einer solchen Geschwindigkeit,
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. ,
373
dass sich ihr Gesicht nicht mehr erkennen lässt. Sie
Springen, winden sich, laufen hintereinander her und
Deitschen einander. Mitten, ‚unter, wahnsinnigem „Ge-
lächter, unter Weinen und Schluchzen hört man.gellende
Schreiet „Er Kommt, er..Kommt, der heilige=Geist
kömmer“ Däimit erreicht die Erregung dieses grässlichen
Gespenstertanzes kreischender, weissgekleideter, halb-
Nackter Gestalten, der auf den Neuling einen er-
Schütternden ‚Eindruck macht, ihren Höhepunkt.
Männer und Weiber reissen ihre Kleidung ab, kriechen
auf allen Vieren herum, reiten einander auf dem Rücken
und geben sich schliesslich ganz der bis ; zum höchsten
Grade gesteig&rten, sexuellen Erregun “hin. Die Sekte
der CEFStERT WErWIHE die "Ehe NAT Anhänger
leben gewöhnlich asketisch; in solchen Momenten höchster
Erregung jedoch halten sie die Befriedigung des Ge-
Schlechtstriebes für gerechtfertigt. Zu dieser Sekte
Zehören sehr viel Frauen, die in hohem Ansehen
Stehen und gleiche Rechte mit den Männern geniessen;
in einem ihrer. Schlupfwinkel fand die Polizei i. J. 1845
Segen hündert junge Mädchen, Derihren relig10sen Zere-
monien wird oft ein kräftiges, schönes und intelligentes
junges Weib als die Personifikation der Gottheit und
als Symbol der zeugenden Kraft zur speziellen Ver-
hrung ausgewählt; sie nennen _ sie Jungfrau Maria und
Sehen in ihr die Göttin der Erde und zugleich ihre
Priesterin, vor der sie sich zu Boden niederwerfen.
Auf ihrem Kopfe trägt sie eine Schüssel ‚mit Wein-
trauben, die sie feierlich unter ihre Anbeter verteilt,
als Sakrament. .
Unter der Sekte der Skopzen, die den Christen
Nahesteht, werden Zhnliche &8Bräüche und die gleiche
v erehrung des Weibes auf die Spitze getrieben; ZU
Ihren Riten gehört die Kastration beider Geschlechter;
Sie verehren manchmal ein sich nackt darstellendes
Junges Mädchen, bedecken seinen Körper mit Küssen
und der Gegenstand der Verehrung erlaubt ihnen, wenn
die Küsse den Höhepunkt wilder Aufregung hervorge-
Müfen haben, in ihrem Blute zu kommunizieren; in einzelnen
374
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
Gemeinschaften der Skopzen besteht mehr als die
Hälfte der Mitglieder aus Weibern').
> Solche epidemischen religiösen Bewegungen finden
ihre Anhänger vorzugsweise unter Personen, bei denen
der hemmende Einfluss seitens der höheren psychischen
Zentren auf einer tiefen Stufe der Entwicklung steht.
Die relativ seltenen Fälle, in denen Personen von mehr
als Durchschnittsbildung sich in nennenswerter Zahl zu
ihnen hingezogen fühlen, lassen sich höchstwahrschein-
lich auf Perioden intellektueller Überanstrengung zurück-
führen, in denen die betreffenden Individuen sich ge-
zwungen sehen, einer Askese zu huldigen, für die sie
nicht geschaffen sind; schliesslich fallen die Fesseln des
Rationalismus ab und die bisher beherrschten hypno-
tischen Zentren machen ihrer Spannung mit ungeheurer
Befriedigung Luft. Hierin liegt der wichtigste Schlüssel
für die Psychologie der Bekehrungen.
Es istsehr natürlich, dass hypnotische Erscheinungen
unter primitiven Völkern am deutlichsten hervortreten,
und der „Schamane“, als welcher bei unzivilisierten
Rassen Priester oder Priesterin fast immer auftreten, stellt
den vollendeten Typus der i_„Dienste_der Religion
auf ihren höchsten Entwicklungsgrad gebrachten hypno-
tischen_Erscheinungen dar),
"Unter den zahlreichen religiösen Bewegungen hypno-
tischer Natur unter ziemlich primitiven Völkern will
ich hier nur die der „Klikuschi“ („Schreiende .be-
sessene Weiber“) erw La ehrslende_ Der
') Hauptquelle für die Kenntnis ‚des heutigen russischen
Sektenwesens ist: N. TsaAxnı, La Russie Sectaire, 1888. Mit den
Chlysts (oder „Christen“) hat sich neuerdings Dr. P. Jacosy in
Orel eingehend beschäftigt (Archiv d’Anthrop. Crimin., ı5. Dez.
1903); er findet, dass ihre Führer oft hysterisch oder geisteskrank
id, und dass ihre Gebräuche denen der finnischen Schamanen
Ähneln,
2) Gegenwärtig finden: sich bei den sibirischen Völkern mit
schamanistischen Traditionen auch Weiber als „Schamanka“.
Nach SoLowjew werden sie nur bei der Behandlung Irrer iür
den Schamanen gleichwertig gehalten. GMELIn fand aber bei den
Jakuten eine selbst von alten Zauberern sehr hochgeachtete
chamanka. (Journ. Anthrop. Instit, Nov. 1894, D. 1209.)
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN. 375
Frauen; die an schweren Anfällen. hysterisch-religiöser
Erregung litten, welche gewöhnlich nur kurze Zeit, oft
aber einen Tag oder länger anhielten. Solche Frauen
wurden im Mittelalter verfolgt und gefoltert. Eine ähn-
liche Form religiöser Bewegungen hypnotischer Natur
stellt die bei den Samojeden Sibiriens: vorkommende
„Jkota“ dar, eine fast nur bei verheirateten Frauen
vorkommende Neurose, die in ihren leichteren Fällen
durch Apathie mit gelegentlichen Zornausbrüchen cha-
rakterisiert ist, während in schwereren Fällen aus-
gesprochene maniakalische Erregung auftritt.
Der mittelalterlichen Tanzwut ganz ähnlich ist
das in Abessynien auftretende ‚Tigret“, eine von
NaATnHANAEL PEARCE, einem ungebildeten aber zuverlässigen
Augenzeugen geschilderte Religionsbewegung, die vor-
Zzugsweise Frauen ergriff, obschon auch Männer manch-
mal davon befallen wurden. Die abessynischen Frauen
sind auch heute hysterischen Affektionen sehr unter-
worfen.
Eine weitere Form hysterisch-religiöser Erregung,
Welche sich auf dem Wege der Nachahmung ausbreitet,
ist in Java unter dem Namen „Lata“ verbreitet und in
einer Shunchen Form“ als yTättah“ in Malacca, Diese
Formen finden sich vorwiegend bei eingebornen Frauen
von höherer und niederer sozialer Stellung und sind durch
Paroxysmen unwillkürlicher Bewegungen ausgezeichnet,
Wobei unartikulierte Laute ausgestossen werden, die dem
AS enannten „Zungenreden“.der „Christen“ entsprechen.
ugTeich besteht ein ausgesprochener Bewusstseinsver-
lust, ausserhalb der Anfälle sind. jedoch die Geisteskräfte
intakt. Lata‘ tritt in mehreren Formen auf, aber wie
beim Tarantismus des Mittelalters und bei fast allen
hypnotischen Erscheinungen findet sich eine unwider-
Stehliche Neigung zur Nachahmung, eine grenzenlose
Suggestibilität. Es existiert z. B. ein Bericht über eine
F rau, die ganz normal zu sein schien, die aber, wenn
In ihrer Gegenwart jemand den Rock auszog, sofort. in
Erregung ‚geriet, ihre Kleider herunterriss und sich
sonst indezent benahm, wobei sie zugleich den Urheber
376
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
dieser Erscheinung schimpfte, weil sie sich durch ihn
gekränkt fühlte. In einem anderen Falle beschäftigte
sich der an dieser Krankheit leidende Schiffskoch eines
Küstendampfers mit seinem Kindchen. Als einer der
Matrosen dies bemerkte, nahm er einen Holzklotz auf,
stellte sich dem Koch gegenüber und fing, in derselben
Weise wie der Koch mit dem Kinde, mit dem Holz-
klotz zu tändeln an; er hob ihn hoch in die Höhe, der
Koch mit dem Kinde tat dasselbe, darauf breitete der
Matrose. seine Arme aus und der Holzklotz fiel zu
Boden; der unglückliche Koch ahmte auch diese Be-
wegung nach und das Kind, das auf den Bretterboden
fiel, war sofort tot. Im übrigen sind die an Lata
Leidenden geistig durchaus gesund!),
Es ist hier nicht möglich, das interessante Thema
der Religionspsychologie eingehender zu behandeln 2), in-
dessen erhellt aus dem vorhergehenden wohl zur Genüge,
dass all die verschiedenen Formen und Stadien hyp-
notischer Erscheinungen (in dem Sinne, welchen wir
hier damit verbinden), die charakteristischsten Formen
religiöser _ Exaltation_ überhaupt darstellen. Diese
Tatsache 1$F auch dem frommen Historiker der Kami-
sarden nicht entgangen, der, wie wir gesehen haben,
über die grosse Ähnlichkeit zwischen den religiösen
Erscheinungen eben dieser Sekte und denen der Anästhesie
in der Narkose, dem niedrigsten und am wenigsten
intellektuellen der hypnotischen Zustände, erstaunt war.
Die allgemeinen charakteristischen Merkmale all. dieser
verschiedenen Formen der Hypnose lassen sich zu-
sammenfassen als eine verringerte Kontrolle seitens der
höheren intellektuellen Zentren . und erhöhte Aktivität
1) Art. „Klikuschi“, „Ikota“, „Lata“ „Tigretir“ im Dict. Psych.
Med, , Für „Lattah“ s, auch die Pall-Maill-Gazette, To. Juli 1893.
Über diese und ähnliche hypnotische Affektionen, die fast aus-
schliesslich bei Frauen vorkommen, S. auch MAx BaArTeLs, Medizin
der Naturvölker, p. 215 ff.; ferner: ToxrxArsKy, Merjatschenie. (In
der Festschrift für Prof, Kozuewnxıxow, Moskau 1800.)
; 2) Eingehendere Aufschlüsse finden sich in ‚Prof. STARBUCKS
Pub die sexuelle Seite behandelnder Studie: The Psychology of
eligion.
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
IT
der mehr spontanen und automatischen, motorischen und...
VIERTE Zentre: Wir“ können sagen, dass die
höhere iakoordinierte Tätigkeit der Nervenzentren einer
mehr inkoordinierten weicht, weshalb das Vorhandensein
hypnotischer Erscheinungen auf einen etwas niederen
Grad psychischer Koordination hindeutet 1). In der Kata-
lepsie und Anästhesie können sich die höheren Arten
der Hirntätigkeit im Zustande völliger Ruhe befinden,
Im Traum, in der Ekstase und der eigentlichen Hyp-
Nose werden sie in unkontrollierte Gebiete hineingezogen;
bei Halluzinationen bleiben sie in ihrer normalen Sphäre,
verfallen aber der Perversion, und in der Neurasthenie
und Hysterie besteht nur eine leichte Herabsetzung der
Kontrolle seitens. der höheren Zentren, während die er-
höhte Aktivität der niederen Zentren oft mit hochgradiger
intellektueller Aktivität in der Form religiöser Exaltation
Verknüpft ist.
Es ist nicht notwendig, hier die Ursachen der hyp-
Nnotischen religiösen Erscheinungen zu erörtern; dies
würde auf viele interessante Fragen führen, die indessen
Noch schwerlich spruchreif sind. IYLOR (Primitive
Cullure, . Auflage. 1801 Bd. IL, pp- 128—142 U. 410— 421)
at die Dane ach der Entwicklung der hier als hyp-
Notisch bezeichneten religiösen Phänomene von den
ältesten unkultivierten Epochen an bis auf. die „revivals“
Unserer. Zeit mit seiner gewohnten Meisterschaft be-
handelt. Er weist mit Nachdruck auf die Rolle_hin,
die das Fasten in ihrer Entwicklung spielt. „Brod und
Fleich würden den Asketen um manchen Engelsbesuch
bringen und sicherlich haben sich oft beim Öffnen der
Refektoriumstür die Pforten des Himmels vor Seinen
Blicken verschlossen“. Die Bedeutung des Fastens für
das Entstehen von Visionen NT OHNE Zweifer seht Sross,
dazu kommt noch die geschlechtliche Enthaltsamkeit,
die bei der Entwicklung mehr typischer motorischer
tn
‘) „Wenn wir in der Tierreihe allmählich höher steigen“,
Et FERRIER („Functions of the Brain‘, 1886), „SO werden: die
Zentren, die das Zerebrospinalsystem bilden, IMMEF 17MSEr In
ihrer Tätigkeit miteinander verknüpft und verschmolzen“.
508
HYPNOTISCHE ERSCHEINUNGEN.
—Erscheinungen eine grosse Rolle spielt. Keuschheit
wird den Jüngern fast aller Religionen zur Pflicht ge-
macht und es sind nur wenige _Sekten, bei denen auf,
dem Höhepunkt, religiöser Erregung Aussefne sn des
GSEMeCHE He bSSRI TEE tEeHEN- DI Unterartckung
desselben galt gewöhnlich als notwendig zur Entstehung
des religiösen Rausches, um so heftiger aber ist oft die
schliessliche Explosion des unterdrückten Geschlechts-
triebes, der sozusagen in einen anderen Kanal geleitet,
dessen Heftigkeit aber zugleich gesteigert wird, bis er
sich plötzlich mit Gewalt: in sein altes Bett zurückstürzt.
ÄNSTIE, ein scharfer Beobachter vieler Einzelheiten des
Gefühlslebens, sagt (Zeckures on Diseases of the Ner-
vous ‚System, Lancet. ı1ı. Jan. 1873): „Ich kenne in
der ganzen Pathologie keine befremdendere, ja keine
furchtbarere Tatsache als die Art und Weise, in der
ekstatische Zustände — die oft von sentimentalen Theo-
retikern für Beweise geistiger Exaltation gehalten werden
— die Brücke bilden zwischen den unschuldigen Narr-
heiten gewöhnlicher Hypnotisierter und den widerwär-
tigen, perversen Erscheinungen der Nymphomanie und
Satyriasis“. Als Anstıe schrieb, waren die organischen
Grundlagen geistiger Exaltation noch nicht so klar als
heute, jedoch hat er die Leichtigkeit, der ekstatische
Zustände in ausschweifende sexuelle E rregungen über-
SCHEH, ICh Hg erKannt, "Seither _ CE,
a ann 8.2 wischen, ERSE 45EN und sexuellen Er.
(CENNSSN Klar, nachgewiesen worden, (S. z. B. ConoLy
NöRMAN, Art. „Mähla“ Im Dıcl, for Psych. Med). ‘Die
Erscheinungen des religiösen Lebens haben ihre Grund-
lage zum grossen Teil im Geschlechtsleben und die
Mehrzahl der sogenannten Bekehrungen findet zur Zeit
der Pubertät statt. (S, den interessanten Artikel von
A. H. Dans B. D.: Ze New Life: A study of Re-
generation. im: Am. Journ, Psych. 1893 Bd. VI Nr. 1; s.
auch Krarrt-EBine: Psychopathia sexualis, 8. Anruf, 1803
pp- 8 Psychology of
Religion. StTARBUCK fand, dass Bekehrungen bei beiden
Geschlechtern meist die Tendenz haben, ein Jahr nach
HYPNOTISCHE. ERSCHEINUNGEN. 379
dem Eintreten der Pubertät vorzukommen; er fand als
Dürenschnmitrsalter Hür die Pubertät bei Mädchen 13,8,
bei Knaben 15,6 Jahre; das Durchschnittsalter der Be-
kehrung war für Mädchen 14,8, bei Knaben 16,4 Jahre.)
Wir dürfen nicht vergessen, dass die hypnotischen
Erscheinungen physiologische Tatsachen sind, wenn
sie auch leicht bis zu einem ausgesprochen pathologischen
Grade gesteigert und krankhaft modifiziert werden können;
ein Individuum, bei dem die höheren Zentren die
Tätigkeit der niedrigen „hypnotischen“ Zentren voll-
ständig unterdrücken, wäre jedoch in noch höherem
Grade pathologisch zu nennen.,. Hypnotische Erschei-
nungen, zugleich mit den damit verbundenen vasomoO-
torischen Veränderungen, bilden die hauptsächliche phy-
Siologische Basis dessen, was wir gemeinhin „Gefühle“,
„Emotionen“ nennen. Wenn wir daher zu dem Schlusse
gelangen, dass Frauen hy onotischen Erscheinungen mehr
unterworfen sind als Männer, Sö “aben wır nur ın einer
PraNIeran Und fündamentaleren Form die Entdeckung
Zemacht, dass Frauen „emotiver“ sind als Männer.
erübrigt nun nöCch, zu definieren, was wir unter der
„Emotivität“ des Weibes verstehen,
XI. Kapitel.
Die Emotivität des Weibes.
ea
CT a
Kr
Die Emotivität des Weibes. — Was ist eine Gemütsbe-
wegung. — Die grössere vasomotorische Erregbarkeit des Weibes:
— Physiologische und pathologische Belege, — Der Herzschlag.
Die Epilepsie. — Das Erröten. — Affektabilität des Muskel-
systems. — Der Gesichtsausdruck. — Die Blase. —— Die Schreck-
disposition. — Frauen erkranken leichter infolge von Affekten, —
Zerstörungstrieb. — Zuchthausknall. — Die konstitutionelle Er-
Schöpfbarkeit des Weibes. — Die Vorteile der weiblichen Emo-
tivität, — Anämie und Emotivität. — Soziale und organische
Faktoren der grösseren Emotivität des Weibes.
Das Weib reagiert auf physische und psychische
Reize prompter als der Mann; diese allgemeine These
kann vielleicht nach gewissen Richtungen eingeschränkt
werden, ist aber unbestritten, Schwieriger ist es, eine
treffende Bezeichnung für diese Eigentümlichkeit des
weiblichen Nervensystems zu finden. Wir könnten sie
völlig korrekt als rössere. „Irritabilität“, „Plastizität“
oder „Su gestibilität” bezeichnen. Alle diese Ausdrücke
sind Ze irommen Jegitm an Besten trifft im Englischen
die Sache ein von LAYcocrx gebildetes Wort, das hin-
reichend farblos ist, um einwandfrei zu sein und die
physische wie” tie psychische Seite zu treffen. Es ist
der Ausdruck „Affektabilität“ 1) (affectability).
?) Da dieser Ausdruck dem deutschen Leser völlig fremd
sein würde, habe ich ihn durch die uns etwas geläufigere Be-
zeichnung „Emotivität“ erSetzt, da es sich hier in der Sache ge-
rade um die Reizfolgen handelt, die in den sogenannten Gemüts-
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES. 381
Bei den vorausgehenden Betrachtungen über das
Vorwiegen „hypnotischer“ Phänomene beim Weibe, d. h.
die Tendenz der primitiveren Nervenzentren, über die
Zentren phylogenetisch neueren Ursprungs zu überwiegen
und gegen dieselben zu revoltieren, näherten wir uns
den dunkelsten Erscheinungen der grösseren Emotivität
des Weibes. Jetzt haben wir es mit weniger dunkeln
Erscheinungen der weiblichen Emotivität zu tun.
Was ist eine Gemütsbewegung? Die Beantwortung
dieser Frage wird uns die hier zu betrachtenden Er-
scheinungen leichter verständlich machen. Man glaubte
früher, und glaubt es vielfach noch heute, eine Ge-
mütsbewegung wäre ein rein geistiges Phänomen, und
Zorn oder Liebe könnte sich ausschliesslich im Gehirn
abspielen, etwa wie die Lösung einer Rechenaufgabe.
Dies ist nicht der Fall. Stellt man sich vor, dass der
Kopf vom Körper losgetrennt wäre und dass in irgend
einer Weise das Gehirn in die Lage versetzt würde,
weiter zu arbeiten, so würde es ohne Schwierigkeit eine
Mathematische Berechnung ausführen, dagegen wäre €s
nicht imstande, Zorn oder Liebe oder eine andere
Gemütsbewegung zu fühlen, ausser in der blässesten und
Vergeistigsten Gestalt. Wir alle wissen, dass Gemüts-
bewegungen, und zwar bei höheren Graden derselben,
in sehr ausgesprochener Weise, von verschiedenen Reiz-
erscheinungen des Herzens, der Blutgefässe, der Kinge-
weide und der Muskeln begleitet sind. Man hielt diese
physiologischen Vorgänge früher nur für „Begleiter-
Scheinungen“ der Gemütsbewegungen; neuere physiolo-
gische Untersuchungen haben es mehr als wahrschein-
lich gemacht, dass diese Erscheinungen durchaus nicht
nur etwas anderem parallel laufen, sondern für sich
En
bewegungen am deutlichsten hervortreten. Der Ausdruck von
LAycocxg. findet sich in seinem Buche „Nervous Diseases of
women“, p. 76. Ich habe die Bezeichnung „Emotivität auch in
der zwelten Aut lage beibehalten, obwohl damit ein umfassenderes
Gebiet, als das der Affekte, gemeint ist; was, das zeigt der Inhalt
des Kapitels. In mancher Hinsicht wäre die Neubildung . des
Wortes „Affizierbarkeit“ für dieses Gebiet: der Nervenfunktion
gerechtfentigtr Sn
382
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
allein die Affekte konstituieren, und dass, wo sie fehlen,
keine Gemütsbewegung gefühlt wird. Wenn ein Reiz
in das Nervensystem eindringt, so muss er erst wieder
in den Körper reflektiert werden und in die Zuckungen
des Herzens, der Muskeln und anderer Organe einge-
griffen haben, ehe er, zurückgeworfen, als die Empfindung
einer „Gemütsbewegung“ an anderer Stelle im Gehirn
wieder auftaucht. Wir wissen aus Versuchen an niederen
Tieren, dass alle Erscheinungen der Affekte bei Ab-
wesenheit der Organe des Bewusstseins, des Grosshirns,
hervorgerufen werden können, so dass es überflüssig ist,
anzunehmen, eine Gemütsbewegung entstände ebenso
im Gehirn, wie sie in demselben registriert wird. Wenn
man unter Anwendung feiner physiologischer Methoden
festgestellt hat, dass die Muskulatur und die Blutgefässe
eines Menschen sich im Zustande normaler Spannung
befinden, so kann man mit positiver Sicherheit annehmen,
dass er frei von Affekt ist. Dass die gröberen Aus-
drucksformen des Affekts willkürlich beherrscht werden
können, ändert die Lage der Sache nicht, denn selbst
für die nichtwissenschaftliche Beobachtung zeigt sich
der Affekt eines selbstbeherrschten Mannes im Zittern
eines Muskels, einer Änderung der Gesichtsfarbe und
der Zunahme der Pulszahl. Ganz wie man sagen kann:
ohne Muskel keine Bewegung, kann man auch sagen:
ohne Muskel keine Gemütsbewegung.
Ein italienischer Autor aus dem 1ı8. Jahrhundert,
BoccaLost, zeigt in seinem Buche Della Fisionomia eine
Andeutung der Erkenntnis, dass die Emotivität ttentisch
ist mit der körperlichen Organisation. Eine vollständige
und exakte Feststellung dieses Verhältnisses ist erst
neuerdings durch die Keinen Untersuchungen eines her-
vorragenden italienischen Physiologen, AnerLo Mosso,
gelungen, Mossö Hät-umter Anwendung geistreich er-
fundener Apparate (wie des Plethysmographen und einer
empfindlichen Wage) gezeigt, dass der ganze Organis-
mus und besonders das ganze vasomotorische System
auf jeden physischen oder psychischen Reiz reagiert, auf
ein blosses Wort, eine leichte Berührung, und hat dabei
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES. 383
nachgewiesen, dass jede Muskelbewegung, jede intellek-
tuelle Leistung eine Anderung der Blutverteilung im
ganzen Organismus hervorruft, so dass das Herz, die
ganze Masse der Blutgefässe und die Drüsen eine Art
Resonanzboden darstellen, an dem jede noch. so leichte
Änderung unseres Bewusstseins widerklingt!). Die un-
bedeutenden peripheren Anderungen dieser Art erreichen
das Bewusstsein nie wieder, wenn sie aber eine gewisse
Grenze der Intensität überschritten haben, so werden sie
zu bewussten Empfindungen, oder vielmehr Empfindungs-
komplexen und damit ist die Gemütsbewegung 8°-
geben.
Der erste Psychologe, der die Tragweite der
Untersuchungs Moss Tür die Theorie der Affekte er-
kannte, war Pror, W, JAmEs, der bertittte DEehrer am
Harvard College In einem Aufsatze, der 1884 in
der englischen Zeitschrift Mind (No. 34, April) erschien,
unternahm James in seiner bekannten klaren und
Scharfsinnigen Art die Beantwortung der Frage: „Was
Ist eine Gemütsbewegung ?“
Unter dem Hinweis auf die bedeutenden Vor-
arbeiten von BeLL,. Ban, Darwın | und besonders von
Mosso kommt er zu dem Ergebnis, dass „die körper-
lichen Veränderungen direkt der Perzeption des ’er-
regenden Eindrucks folgen und | dass die Wahr-
nehmung dieser Veränderungen im Moment ihres
Auftretens die Gemütsbewegung ist.“ Über die So
Nachgewiesene höchst intime Verknüpfung des Seelen-
lebens mit seinem körperlichen Substrat ‚bemerkt er:
„Entzücken, Liebe, Ehrgeiz, Entrüstung und Stolz,
Sind, als Gefühle betrachtet, Früchte desselben Bodens,
Wie die gröbsten körperlichen Sensationen von Lust
und Schmerz“. Ungefähr ein Jahr später hat € her-
Vorragender dänischer Arzt, Pror. C; Lanes in Kopen-
hagen, ohne Kenntnis von JAMEs’ Arbeit zu haben, ein
h ') Eine anziehende populäre Darlegung vielst seiner. Resultate
(Ce Mosso selbst in seinem Buche je. Furcht“ gegeben.
ipzig 1800, bei S. HIRZEL.) - 7m nn
84
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
kleines Buch herausgegeben, das genau die gleiche
Theorie entwickelt). Er betont noch mehr als JAMES
die Bedeutung-der emotiven Zirkulations-Symptome und
entwirft eine vasomotorische Theorie der Affekte, wo-
bei er besonders hervorhebt, wie wichtug d as richtige
Verständnis der Gemütsbewegungen für den Arzt ist:
„Es ist das vasomotorische System, dem wir die ganze
emotive Seite unseres Seelenlebens verdanken, unsere
Freuden und unsere Sorgen, unsere glücklichen und un-
glücklichen Stunden; wenn die Eindrücke, die unsere
Sinne treffen, nicht die Kraft besässen, dieses System
zur Tätigkeit anzuregen, so würden wir teilnahmslos und
leidenschaftslos durchs Leben gehen; Eindrücke der
Aussenwelt würden unsere Erfahrung bereichern und
unsere Kenntnisse vermehren, aber sie würden uns
weder Freude noch Ärger bereiten, in uns weder
Kummer noch Furcht erregen“, A hat neuer-
dings in seinem ausgezeichneten Handbuche der Ps ycho-
logie?, mit grosser Ausführlichkeit Und Bestimmtheit die
Sn ‚.ysiologische.. ‚Theorie der Affekte neu dargestellt.
Diese Auffassung ist noch nicht allgemein anerkannt,
aber soviel ich weiss, hat nur selten ein Psychologe von
Bedeutung und sicher kein Physiologe derselben ernst-
hafte Opposition gemacht.
Die Tatsache, dass beim Weibe der neuro-mus-
kuläre Regulator des spontanen organischen Lebens,
das die Blutgefässe innervierende System von Nerven-
elementen, prompter_auf Reize reagiert, hat einen
populären Ausdruck In dem Dean Satze gefunden,
dass_das Frauenherz zart ist. Das bedeutet, wie Mosso
bemerkt, nichts weiter, als dass der nervöse Apparat
des weiblichen Herzens und damit. die Zahl der Puls-
schläge von Reizen erregt wird, denen gegenüber ein
gesundes männliches Herz völlig ohne Reaktion bleiben
würde?), Ein Beweis für die grössere Erregbarkeit
') C. LANGE, Über Gemütsbewegungen. Deutsch von H.
KURELLA, Leipzig, 1887. TH. THomMmas.
2) II. p. 490ff. London 1890.
3) Mosso, 1. c. p. 84.
DIE EMOTIVITÄT. DES WEIBES.
385
des weiblichen Herzens liegt in der von mehreren Be-
obachtern mitgeteilten Tatsache, dass beim_Weibe_die
Zahl der Pulsschläge beim Erwachen vom Schlafe er-
heblich stärker zunimmt; die EIERN EN A A
Ewa LEBE Affziert Gas Herz des Weibes (Wie
das des Kindes) stärker als das des Mannes 1). Selbst
die verwickelten Erscheinungen der Hysterie werden
Vielfach, so von RosenrHAL, zurückgeführt auf eine
angeborene oder erworbene Widerstandslosigkeit des
Gefässnerven-Systems, Auch FErE zitiert und bestätigt
eine Bemerkung an MarsHALL Haus, dass die Hysterie
»In hohem Masse eine Krankheit der Emotionen ist, da
dieselben Organe, dieselben Funktionen (wie die der
Affekte) affiziert sind“. Auch die grössere Neigung der
Frauen, an der als Glaukom von den Augenärzten be-
Zeichneten Sehstörung zu erkranken, wird von PRIESTLEY
Surra auf die gegingere Stabilität „des yasomotorischen
Systems bezogen Desonders auf die von den GE-
Schlechtsorganen aus bedingten Störungen der Blutge-
fässe®, Man kann in der Tat. mit SoLis-CoHEN sagen
(Amer, Yourn. of Medic. Scien., July 1894), dass Frauen
für alle Formen ungeordneter Gefässinnervation stark
disponiert sind und damit auch für die begleitenden
Seringfügigeren nervösen Störungen, von der absoluten
Zusammenschnürung der Gefässe in der RAYNAvD schen
bis zu ihrer Erschlaffung in der BAsepow schen Krankheit %.
!) S, Artikel „Sommeil“ im Dict. encycl. d. Sc. med.
fana 5) P. Smrru, Pathology of glaucoma, Bon p- 123. WAGNER
er in seiner Praxis in Ödessa unter 1200 Fällen von Glaukom
R /o bei Männern und 62% bei Frauen. Die häufigere Erkran-
ung des weiblichen Geschlechts war in allen Altersklassen aus“
S<SProchen, ausser in denen unter 20, wo die Krankheit äusserst
B dest (C. R. du XIL Congr. Internat. Med., Moskau 1897,
Aut) Bezüglich der RaynavDschen Krankheit stimmen alle
peitoren darin überein, dass dieselbe viel häufiger bei EHE als
(Rn Männern vorkommt; die ersten französischen Publikationen
M AYNAUD, GRASSET u. a.) geben vier Frauen auf einen Mann an.
ONRO, der in Schottland beobachtete ( Raynaud's disease, Glas-
e 1899), fand 54 Frauen auf 39 Männer; ich selbst habe in den
obaten zwei Jahren unter vier Fällen, die ich längere Zeit be-
achten konnte, drei Frauen gefunden. — K.
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
#_
336
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES,
Frauen -sind_konvulsivischen Störungen mehr unter-
worfen als Männer; das zeigt sich ın der wrfösseren
Hacke rei der Epilepsie beim weiblichen Geschlechte,
einer Krankheit, die nichts ist, als ein vasomotorischer
und neuro-muskulärer Spasmus von grösster Heftigkeit,
der.anfänglich das Gehirn, später den ganzen Körper
affiziert. Wie GOoweErs ‚ausführt, beruht sie auf einer
abnormen Promptheit zur Aktion, oder in anderen
Worten, auf einer SOSSE ‚Affizierbarkeit.
Man hat in England früher eine grössere Häufig-
keit der Epilepsie beim männlichen Geschlechte ange-
nommen; das beruhte, wie GoweERrs gezeigt hat, auf der
Verwechslung echter Epilepsie mit konvulsivischen Er-
scheinungen, wie sie durch Hirnsyphilis und andere
organische Störungen hervorgerufen werden. Erst. bel
Erwachsenen, also ‚in ‚einem Alter, wo die Syphilis
ihre Rolle zu spielen anfängt, werden epileptoide Er-
scheinungen bei Männern häufiger, In Frankreich hat
man immer eine grössere Häufigkeit der Epilepsie bel
Frauen angenommen; nach EsqviroL kommen 3 epilep-
tische Frauen auf 2 epileptische Männer. GoweErs fand
in London 108 Frauen auf 100 Männer, bemerkt aber,
dass in dem Hospital, wo ‚er seine meisten Beob-
achtungen gesammelt hat, männliche Patienten über-
haupt stärker‘ vertreten sind. Die grössere Häufigkeit
echter Epilepsie geht auch daraus ‚hervor, dass bei
Männern die exogen entstandenen Fälle von Epilepsie
viel häufiger sind und Gowers führt ferner an, dass in
den ersten Lebensjahren “zweimal soviel Mädchen als
Knaben an Epilepsie leiden. Die Periode der häufigsten
Manifestationen der Epilepsie ist bei beiden Geschlechtern
die Pubertät und die darauffolgende Jugendzeit, und
Gowers findet das Maximum der Frequenz bei Knaben
im ı2., bei Mädchen im .16. Jahre. Erst nach dem 209-
Jahre wird die Epilepsie bei Männern häufiger, Die
Prognose ist bei Männern etwas besser als bei Frauen,
letztere zeigen auch etwas häufiger gleichzeitig :psSY”
chische Defekte. (Sir W. R. Gowers, Zödepsy, II Ed.
1901.)
DIE ‚EMOTIVITÄT DES WEIBES.
387
Durch seine grössere Frequenz und Schwere bei
Frauen und seine seltenere Frühentwicklung in: der
Pubertät scheint dieses Leiden die gewöhnlichen
Unterschiede der meisten Krankheiten bei den Ge-
Schlechtern umzukehren und kann demnach als ‚eine
Mehr dem weiblichen Geschlechte eigentümliche Affek-
tion betrachtet werden. Es steht auch bei beiden Ge-
Schlechtern im Zusammenhange mit der Entwicklung
des sexuellen Lebens; in manchen Fällen zeigen sich
die Attacken nur während der Menstruation, in anderen
Werden sie in dieser Zeit schwerer... Die Tendenz der
Epilepsie, früh im Leben’ aufzutreten, ‘ist so ausgeprägt,
dass Sir WiıLLIAM BROADBENT SO Weit geht, zu Sagen,
dass wenn sie bei Erwachsenen auftritt, wir immer
Nach einer auslösenden Ursache suchen müssen, oder
aber annehmen, dass es sich gar nicht um: echte
Epilevsie handelt. (Brik. med, journal, 1902, 4 Januar.)
_ Von den unmittelbaren Ursachen. der Epilepsie
Sind die am häufigsten nachweisbaren psychischer
Natur: Aufregung, Angst, und vor allem — besonders
bei Kindern — Schreck... Diese Ursachen wirken am
Stärksten auf Frauen, dank ihrer grösseren Affizierbar-
keit. Dabei ist‘ zu bemerken, dass die‘ Haupteigen-
Schaft, die bei Epileptischen in ihrem alltäglichen Ver-
halten hervortritt, ihre Reizbarkeit und Impulsivität
ist, die sich häufig mit religiösen oder sexuellen Vor-
Stellungen verbindet. Dieses Temperament ist oft vor
dem Erscheinen von Krampfanfällen nachweisbar. VoisiN
Sagt (Art. Epzlepsie im „Nouveau dict, de. medecine“):
„Wenn man diese Kranken in der Kindheit gekannt
hat, ehe die Krankheit sich entwickelte, fand man Sie
Zänkisch, ungelehrig, ruhelos, sehr empfindlich, zu
heftigen. Zornanfällen geneigt, mit Neigung zum Blass-
Werden bei jeder Verstimmung, Zu plötzlichen ziellosen
Bewegungen. Sie sehen schwach und traurlg 206; ‚ich
habe ‚oft gefunden, dass Epileptische in der Kindheit
Ihrer Ängstlichkeit wegen nicht im Dunkeln allein bleiben
konnten. „Alle diese Zeichen — die sich aber nicht in
jedem Falle finden — sind Zeichen der Affizierbarkeit.
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DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
Die allgemeine konvulsivische Tendenz der Frauen
in allen ihren Beziehungen hat ein hervorragender
Frauenarzt, RosERT Barnes, in seinen Lumley- Vorlesungen
über die konvulsivischen Krankheiten der Frauen aus-
gezeichnet dargestellt. Diese ihre Veranlagung hängt
nach ihm von den Funktionen der Fortpflanzung ab,
und die Erscheinungen dieser Veranlagung sind fast
ganz auf die Periode der reproduktiven Aktivität
beschränkt.
Beim Frosche tritt in der Brunstzeit eine derartige
nervöse Reizbarkeit auf, dass leichte Reizung der Haut
fast tetanische Konvulsionen hervorruft; „man kann
leicht fast ebenso sehr ausgesprochene, analoge Er-
scheinungen . beim Weibe beobachten, beim Eintreten
der Pubertät, während der Ovulation, in der Schwanger-
schaft und ganz besonders: während der Wehen.“ Die
Wehen sind nach ihm eine Reihe von Konvulsionen,
und während einer Wehe ähnelt der Zustand. so sehr
der Epilepsie, dass die beiden . Zustände sich kaum
unterscheiden lassen. Nach Barnss deutet gerade die
Periodizität des sexuellen Lebens beim Weibe da-
hin, dass ein Vorrat von Nervenkraft angesammelt
wird, der zum Gebrauch oder zu tumultuöser Explosion
bereit ist. Er betont die enge Beziehung zwischen der
Konvulsibilität des Weibes und ihrer Emotivität, die
bei jedem in die Fortpflanzungssphäre gehörenden
Vorgange eine grosse Rolle spielt. „Kurz, emotive
Affizierbarkeit ist das Mass der Veranlagung zu kon-
vulsivischen Erscheinungen.“ (R., Barnes, Z2e convulsıve
dıseases of women, Brit. med. Journ. April 1873.)
Das Erröten, die menschlichste aller Ausdrucks-
formen des Gefühls, wie DARwın es nannte, ist ein
Sturm im vasomotorischen Nervensystem, der sich der
Kontrolle des Willens entzieht und völlig spontan ist.
Dass Frauen häufiger erröten, beweist, was weiterer
Erklärung nicht bedarf, die höhere Affizierbarkeit ihrer
Gefässnerven 9.
‚ 1) Die Physiologie und Pathologie des Errötens ist von
DARWIN in dem Werke über den „Ausdruck der Gemütsbewe-
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
389
Partrınen fand in seinen Fällen von krankhaftem
Erröten ein Hauptmaximum im Alter zwischen 15 und
16, und ein zweites Maximum mit ı2 Jahren; das ent-
Spricht in merkwürdiger Weise dem doppelten Maximum
für das erste Auftreten der Epilepsie und deutet auf
die enge Beziehung zwischen Erröten und dem Ge-
Schlechtsleben. .
Eine verwandte Erscheinung von gleicher Bedeu-
tung ist die gleichfalls augenfällige, hohe Disposition des
Weibes zum Weinen und Lachen,
Sir B. RıcHArodson macht in seinem interessanten
Artikel über die „Psychologie des Weinens“1) die wohl
Nicht unentbehrliche Hypothese eines „Gram-Zentrums“.
Dasselbe Sammel-Werk enthält einen Artikel von
L. Rosnson über das Kitzelgefühl („Ticklishnes“), der
die Entstehung des Lachens in dem Gefühl des Kitzels
sieht. Bekanntlich sind Kinder kitzliger als Frauen
und diese sind es, im weitesten Sinne, mehr als Männer.
Dr. Giya LomBroso hat eine grosse Zahl von Per-
Sonen jeden Alters und Geschlechts, darunter auch
abnorm veranlagte, auf die Kitzelreflexe geprüft, die
sich bei Reizung der empfindlichsten Körpergegenden,
besonders des Bauchs und der‘ Fussohlen, auslösen
liessen, Sie fand’ diese Reflexe bei Kindern und bei
Jungen Leuten zwischen 15 und ı8 Jahren sehr ge-
Steigert, aber bei Erwachsenen herabgesetzt; sowohl
die abdominalen wie die plantaren Reflexe erschienen
bei Weihern häufiger als bei Männern 2).
Zungen“ geschildert worden, ferner von D. H. CAMPBELL. („Flushing
Un morbid blushing“, 1890.) Tıir fand bei 244 von 599 Frauen
eigung zu fliegender Röte. en
) „Tears, Psychology of“ (Diction of Psychol. Medicine).
?) CR. Congr. Internat. d’Anthrop. Crimin., Amsterdam, 20T
P. 295. FRANCOTTE in Lüttich hat den radiobicipitalen Reflex bei über
N Individuen beiderlei Geschlechts untersucht, die er nach ihrer
ormalität oder dem Grade ihrer Abnormität in verschiedene Grup-
Pengeteilt hatte. In allen Gruppen war Ausfall des Reflexes beiFrauen
Viel seltener, als bei Männern. Reflektorische Übererregbarkeit fand
Sich besonders bei anämischen und neuropathiSchen Personen.
v (Es handelt sich dabei um den von TERNBERG als „Radius-
orderarm-Reflex“ bezeichneten Kontraktionsvorgang am M. bi-
ceps; die Arbeit ist 1896 in Gent als Broschüre erschienen. — K.)
30)
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
Das reflektorische Zwinkern, oder der Lidschlag
bei plötzlicher Annäherung eines Gegenstandes an das
Auge, ist von PARTRIDGE bei 1100 Schulkindern in Nord-
amerika untersucht worden. Er untersuchte die Fähig-
keit, das Zwinkern zu unterdrücken, wenn zwischen
dem Auge und dem genäherten Gegenstande sich eine
Glasplatte befand. Je älter die untersuchten Personen
waren, um so leichter konnten sie den Lidschluss unter
diesen Umständen unterdrücken. Bei Knaben war
diese Steigerung der Kontrolle schnell und regelmässig;
bei Mädchen war sie geringer und unregelmässiger, mit
einem deutlichen Rückgange im achten Jahre, einem ge-
ringen mit zehn Jahren und einem sehr deutlichen Rück-
gange, fast auf das Niveau von sechs Jahren, im zwölften
Jahre. PARTRIDGE spricht von dem „ausgiebigeren neuro-
muskulären Training, welches der Durchschnitts-Knabe
infolge seines freieren Lebens erfährt“, aber er kann
damit nicht den Rückgang der Reflexhemmung bei
zwölfjährigen Mädchen erklären; es wäre interessant, zu
erfahren, ob der Plantarreflex und andere Reflexe sich
in diesem Alter bei Mädchen ähnlich verhalten.
Verwandtes Beweismaterial für die konvulsive Ten-
denz beim Weibe liegt darin, dass es so leicht der
Neigung zum Lachen und Weinen nachgiebt. RıcHArDson!)
definiert das Weinen als ein Resultat eines Reflexsturmes
im: Zentralnervensystem, bei dem eine derartige Ver-
änderung in den Endigungen der Tränendrüsen-Nerven
auftritt, dass die Drüsen reichlich Flüssigkeit absondert;
er führt an, dass Tränen abgesondert werden, wenn
das sympathische Nervensystem am meisten entwickelt
und impressionabel ist, und die wichtigen Affekte Furcht,
Kummer und Freude am lebhaftesten, und dass daher
Frauen mehr zum Weinen neigen.
Was das Lachen betrifft, so hat Rosmnson ange-
deutet, 'dass es seinen. Ursprung in den durch Kitzeln
hervorrufbaren Reflexerscheinungen hat?).
1) Art. „Tears“ im Diction. of Psych. Med,
„ 2) Rogsınson, Art. „Ticklishness“ im Diet. of Psych. Med.
Die Psychologie des Kitzelgefühls ist in sehr interessanter Art
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES. ;
391
„Ferner ist die schmollende Stellung der Lippen,
eine durchaus kindliche Artder Reaktion aufunangenehme
Erlebnisse, in vollkommen. ausgeprägter Form bei Er-
Wachsenen,. mit. Ausnahme Geisteskranker, äusserst
Selten ; leichte, aber deutliche Formen dieser Ausdrucks-
bewegung sind jedoch bei Frauen ziemlich gewöhnlich,
besonders als Ausdruck eines Gefühls verletzter Würde,
das sich in Worten nicht äussern kann.
Das Gesicht des Weibes ist ausdrucksvoller oder,
was wohl noch treffender ist, beweglicher als das des
Mannes 1), .d. h. das Weib besitzt eine grössere Affek-
tabilität des Nerven-Muskel-Systems, Beobachtet man
auf den Strassen der Grossstädte die Gesichter von
Frauen und Männern, die sich dort natürlich vor ein-
dringlicher Beobachtung sicher fühlen, so findet man bei
Männern häufiger einen bleibenden, unbeweglichen Aus-
druck, bei Frauen dagegen gewöhnlich eine beständige
Veränderung, besonders des Lippenschlusses und der
Stirnfalten, worin sich der Beginn körperlichen Leidens
ausdrückt. Man kann nicht eigentlich sagen, dass
Frauen-Gesichter reicher an Ausdruck sind, denn wenn
der fixe Ausdruck des männlichen Gesichts ver-
gangene Stimmungen wiedergibt,. sind die flüchtigen
und wechselnden Ausdrucksbewegungen im Gesicht des
Weibes noch nicht zu dem Ausdruck einer bleibenden
Stimmungslage verschmolzen. Frauen sind zumeist der
Spielball von noch unter der Schwelle des Bewussten
liegenden neuro-muskulären Spannkräften.
Das Gesicht des Kindes ist höchst beweglich. Dri
FE, WARNER hat an 60000 Schulkindern konstatiert, dass
Anzeichen abnormer nervöser Beweglichkeit bei Mädchen
Yon StAnLey HALL und ARTHUR ALLIN dargestellt worden. (4mer.
ourn. of Psych., Okt. 1897.) . ,
. Zahlreiche Untersuchungen über das Lachen sind neuerdings
in Frankreich. erschienen. nn Ki
1) S. besonders STrRATz, Die Schönheit des weiblichen Körpers,
S. 161 f., Stuttgart 1908.
CA al
MM
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
häufiger sind und dass Defekte der Ausdrucksbewegungen
bei ihnen viel seltener vorkommen )).
Im Verlauf von Geisteskrankheiten zeigt das Ge-
sicht des Weibes in sehr viel höherem Grade als das
des Mannes die beständige Wirkung lebhafter emotiver
Vorgänge. Frauen verdanken ihr bewegliches Gesicht
ihrer Reizbarkeit für innere und äussere Eindrücke;
in dem letzteren Falle handelt es sich um eine der
Suggestionsfähigkeit, die nur eine der Formen weib-
licher Affizierbarkeit ist, verwandte Erscheinung, Das
Weib antwortet, instinktiv und selbst wider Willen,
leichter als der Mann auf Einflüsse von aussen. Junge
Frauen oder Mädchen, besonders solche mit mangeln-
der Reflex- Beherrschung, ändern unwillkürlich ihre
ganze Haltung, wenn ein Mann sich ihnen nähert; so
gleichgültig er ihnen auch sein mag, sie können die
Reaktion ihres vasomotorischen und motorischen
Systems nicht verhindern und werden lebhafter und
zugleich befangener. Ferner passt sich das bewegliche
Gesicht des Weibes, anders als das starre Gesicht
des Mannes, dem Gesichts-Ausdrucke sich nähernder
Menschen an. Ich habe das kummervolle Gesicht einer
jungen Mutter, die eben ihr Kind verloren hatte, ein
automatisch verbindliches Lächeln annehmen sehen, in
Erwiderung auf das Lächeln einer Freundin; derartiges
würde bei einem Manne kaum vorkommen. Sehr viel
von dem weiblichen „Takt“ beruht auf dieser Grund-
lage; diese Affizierbarkeit ist den Frauen oft zum Vor-
wurf gemacht worden, selbst von ihrem eigenen Ge-
schlechte, aber es handelt sich dabei zumeist um eine
organische Veranlagung.
Die Affizierbarkeitdesunwillkürlichen Muskelsystems
bedingt gewisse Erscheinungen, die sich dem Augen-
schein entziehen oder latent verlaufen. Die Pupille er-
') F. WARNER, Rep. of a Committee as to average develop-
ment and condition of brain-function among children, 1888; „Lec-
tures on physical and mental condition of school children“ (Brit.
Med, ‘ Journ. Januar na Vgl. ferner W.’s Artikel „Facial Ex-
pression“ im „Diet. of Psychol. Medieine“.
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
393
Weitert oder verengt sich unwillkürlich bei leichten
Reizen jeder Art; nicht nur die Akkomodation des Auges
und seine Konvergenzbewegung, sondern die Reizung fast
jeder Hautstelle, Stossen und Streifen der Haut des Armes,
des Beines, des Halses, Reize, die andere Sinnesnerven
treffen, wie lautes Geräusch, sehr verschiedene Gemüts-
Zustände, alles das beeinflusst die Grösse der Pupille;
und zwar sind (u. a. nach Mozu) derartige Beziehungen
bei Frauen und Kindern viel deutlicher als bei Männern,
Ein noch empfindlicheres Organ für Reize jeder
Art als die Iris ist die Harnblase; nach Mosso und
PeLLAcanı ist sie wohl der feinste Psychometer des ganzen
Körpers. Diese Physiologen fanden, dass die Blase
Sich unmittelbar auf die leiseste Reizung irgend eines
Sinnesnerven zusammenzieht und dass auch die viel-
fachen Einflüsse auf den Organismus, welche Anderungen
des Blutdrucks und der Atembewegungen bedingen,
unmittelbar einen messbaren Einflussaufden Kontraktions-
Zustand der Blase ausüben. Bei plethysmographischer
Untersuchung der Blase mehrerer junger Frauen fanden
Sie, dass schon eine leise Berührung des Handrückens
mit dem Finger eine merkliche Zusammenziehung der
Blase sofort auslöste und dass ein Angeredetwerden,
eigenes Sprechen und die geringste geistige Leistung
dieselbe Wirkung hatten 1), Diese Reaktion ist noch
feiner als die der Blutgefässe und findet im ganzen
Organismus nichts Analoges. Born nennt die Harnblase
den Spiegel der Seele; eben so wahr könnte man sagen,
dass in gewissem Sinne die Seele der Spiegel der Blase
ist, Die schwächeren Kontraktionen der Blase spielen
in dem Empfindungskomplexe der Affekte kaum eine
bemerkbare Rolle, werden aber in ihren höheren Graden
Sehr merklich und „eine nervöse Blase ist eins der
frühesten Symptome eines nervösen Gehirns“ (GOODELL).
In dem Gesamtbilde vieler Gemütszustände, SO der
Furcht, der Schüchternheit, der Spannung, ist die
1) Vgl. meinen Artikel „Urinar Bladder“ im Dietion. of
Psycholos. ‘Medicine. ' Y
394.
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
Zusammenziehung der Blase ein wesentliches Ele-
ment ?). |
In ihrer höchsten, krampfhaften Form zeigt sich
die Erregbarkeit der Blase sehr gewöhnlich bei der
Inkontinenz der Kinder und nicht ganz selten gleicher-
weise bei jungen Frauen, unabhän gig von der Schwanger-
schaft. Bei Männern sind ähnliche Erscheinungen selten ?).
Man hat die Erscheinung aus der bedeutenden
Kürze und Breite der weiblichen Harnröhre erklären
wollen. Dem entgegen behauptet der in diesen Fragen
höchst kompetente MaAvrıce Hache, dass die zur Aus-
treibung des Urins nötige Kraft bei beiden Geschlechtern
gleich ist, während bei weiblichen Leichen die Blase
sich leichter. entleeren lässt (Artikel „Vessze“, Dict.
encycl. des Sciences Med.).
Eine ähnliche Erregbarkeit wie Gefässystem, Iris
und Blase würden sicher auch andere mit glatter Mus-
kulatur ausgestattete Organe erkennen lassen, wenn sie
mit ebenso feinen Hilfsmitteln untersucht werden könnten.
Die relativ bedeutendere Grösse der Unterleibs- und
einiger anderer Organe beim Weibe und das relativ
grössere Mass ihrer Funktionstätigkeit liefern die vis-
zeralen Faktoren der grösseren neuro-muskulären Affi-
zierbarkeit des Weibes.
Der Schreck ist ein Affekt, bei dem die eben be-
sprochenen Erscheinungen stark hervortreten, und das
Weib ist zum Schreck mehr disponiert als der Mann.
Beim niederen Volk tritt es ganz besonders deutlich
hervor, wie die Frauen gegenüber einem unerwarteten
Ereignis auffahren: und zu: schreien anfangen, während
die Männer gleichen Standes völlig gleichgültig bleiben.
Dasselbe gilt von dem nahe verwandten Affekt der
Furcht; die Statistik der Kinderselbstmorde in Preussen
zeigt, dass 19° o- dieser Fälle bei Knaben, 49% bei
Mädchen veranlasst waren durch Angst vor Schul-
1) REMBRANDT hat das bekanntlich drastisch in seiner Dar-
stellung des ängstlich zwischen Himmel und Erde schwebenden
Ganymed.(Dresdener Gallerie) gezeigt. — K.
2) Stevenson, Enuresis, (Lancet, z0. Januar 1891.)
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
395
Strafen. Dieser Geschlechtsunterschied ist vielleicht
von beiden Geschlechtern absichtlich genährt. worden,
da er den Mann zu der Entwicklung von Kraft und
schützender Tätigkeit veranlasst, die beiden Teilen an-
genehm ist. Schreck und Furcht bedingen häufig
Nervenkrankheiten bei Frauen und Kindern, jedoch
Selten bei Männern; unter den Ursachen der Epilepsie
Sollen sie nach GowErs in der Kindheit bei beiden
Geschlechtern in gleichem Masse wirksam Sein,. zur
Zeit der Pubertät jedoch mehr bei Mädchen und nach
dem 20. Jahre oft bei Frauen, selten bei Männern.
Chorea (Veitstanz) wird häufig durch Schreck hervor-
gerufen (nach der Sammelforschung der British Med.
Assoc. in 27%). Die „Krankheit erinnert durch die
Inkoordination und Unbeherrschtheit der Muskelbe-
wegungen an das Bild des Schrecks, entsteht manch-
mal durch Nachahmung und findet beim weiblichen
Geschlecht eine besondere Prädisposition; es kommen
in dieser Krankheit 3 Frauen auf einen Mann, jedoch
tritt die Prädisposition der Mädchen in der Kindheit
am wenigsten hervor; nach dem 16. Lebensjahr er-
krankten Knaben nur selten und im Alter von 20 bis
30 Jahren fast ausschliesslich Frauen. Übrigens spielen
unter den Ursachen der Nervenkrankheiten bei Frauen
die Affekte eine hervorragende Rolle. HanmMonD‘) meint,
dass moralisches und emotives Irresein ohne deutliche
intellektuelle Störungen häufiger bei Mädchen als bei
Knaben vorkommt. ‘ PITRES fand: einen. Einfluss von
Gemütsbewegungen bei der‘ Entstehung‘ von Nerven-
Krankheiten s54mal unter 69 Frauen; 8 mal unter 31
Männern ?).
Es ist auf die grosse Suggestibilität der Frauen
zurückzuführen, dass fast überall in der Welt hysterische
Erscheinungen von Zeit zu Zeit‘ ganz den Charakter
blosser Nachahmung angenommen haben, wobei der-
artig affizierte Frauen das Gebahren und ganz beson-
1) „Insanity“, p. 96.
2) „Lecons cliniques sur PHysterie“ I. p- 36.
MC
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
ders die Stimme von Tieren nachahmen, wie Hunde
bellen, wie Schafe blöken, wie Tauben girren etc.
Das Vorkommen solcher hysterischer Stimmen ist
schon vor zweitausend Jahren beobachtet worden‘)
Die bei Frauen, wie bereits erwähnt wurde, viel
häufigeren Zwangsvorstellungen, sind eine besondere
Form pathologischer Emotivität entstehen meist bei
schon bestehender Veranlagung infolge starker Gemüts-
bewegungen, religiöser oder sexueller Skrupel, Schreck,
selbst ängstigender Träume; Pırres und Rısıs fanden,
dass während der Pubertät, vor dem ı 5. Jahre, meist
schon Zwangsvorstellungen sich einzunisten beginnen
und dass ihre volle Entwicklung meist in die Jahre
zwischen 26 und 30 fällt, also in eine bei Frauen etwas
kritische Lebenszeit.
Dieselbe Suggestibilität bedingt es auch, dass
Frauen seltener an Nostalgie (krankhaftem Heimweh)
leiden, sich an neue Gewöhnheiten und eine neue Um-
gebung besser anpassen ?).
Dementsprechend ist bekanntlich die Frau eines
Self-made-man besser als ihr Mann imstande, sich den
Sitten und Gewohnheiten einer neuen, raffinierteren
Umgebung anzupassen.
Einige neuere experimental-psychologische Unter-
suchungen scheinen dafür zu sprechen, dass die Affizier-
barkeit des Weibes auch auf Gebieten hervortritt, die
der Emotivität ziemlich fernliegen, und ‚dass ‚sie selbst
ihre Unterschiedsschätzung beeinflusst. So fand GiLBERT
bei Versuchen, welche den Einfluss der Grösse ver-
schiedener Objekte auf die Beurteilung ihres Gewichts
ermitteln sollten, dass unter 2000 Schülern im Alter
von 6 bis ı7 Jahren, Mädchen (ausser im 9. Jahre, wo
beide Geschlechter gleich stehen) durchgehends dem
täuschenden suggestiven Einflusse der Grösse eines
1) F. HovssrY, Zmitation hysterique des cris d’animaux,
Rev, Mens, de l’Ec. d. Anthrop., 1898, pP. 209. Wir berühren hier
das Gebiet der weiter oben behandelten h Pnotischen Phänomene.
2) Vidal, Art. „Nostalgie“ im Diet. Pneyel, des Sci. med.
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
397
Objekts mehr unterliegen als Knaben, zumal in den
Jahren von ı5 bis 17.
TrırLerT fand auch, dass Mädchen durch das Vor-
geben, einen Ball in die Luft zu werfen, leicht getäuscht
Werden.
Zornmütigkeit (Reizbarkeit im gewöhnlichen Sinne
des Worts) ist eine Form der Affizierbarkeit, welche
von jeher, und wohl mit Recht, dem Weibe zuge-
Schrieben worden ist*).
TERENzZ sagt:
Mulieres sunt ferme, ut pueri, levi sententia,
Fortasse unum aliquod verbum hanc inter €as iram
conciverit.
In ihrer stärksten Form zeigt sich diese Disposition
in wilden und schrankenlosen Ausbrüchen zielloser Zer-
Störungssucht. Diese Erscheinung kann am besten, je-
doch nicht ausschliesslich, in Gefängnissen und Irren-
häusern beobachtet werden. Die englischen Gefängnis-
beamten betrachten krampfhafte Ausbrüche wilder Zer-
Störungswut als eine Eigentümlichkeit der F rauenab-
teilungen (sogenannte „breakings out“) 2).
Dass die weiblichen Kranken in Irrenanstalten viel
lauter sind, ist allgemein bekannt; Dr. CLovsTon bemerkt:
„Es ist zehnmal_soviel Lärm auf den Frauenabteilungen
als auf den Männerabteilun xen der Irrenanstalten“*). An
einer anderen Stelle sagt er, dass m dem Pubertäts-
Irresein an die Stelle der Kampfbereitschaft der männ-
lichen der Zerstörungstrieb bei weiblichen Kranken zu
treten scheint‘). Ein deutscher Irrenarzt, Dr. NÄCKE,
fand unter 53 irren Verbrecherinnen 41, oder 77:30,
Mit gesteigerter Reizbarkeit, 33, oder 62,2% waren ge-
Walttätig besonders zur Zeit der Menstruation und
Neigten zu Angriffen auf Ärzte und Wärterinnen; die
Meisten von diesen, jedoch nicht alle, waren zerstörungS-
Süchtig und demolierten in der Erregung Bettzeug, ihre
Be
1) LoMBROSo u. FERRERO, Das Weib als Verbrecherin, S. 57. f£
2) S.: Eiı1s, Verbrecher und Verbrechen, S. 161 ff.
5) Journ. of Ment. Science, April_1893. ,
4) Clouston, Art. „Developmental Insanities“ Dict. Psych. Med.
338
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
eigenen Kleider und besonders Fensterscheiben. Von
letzteren jede etwa 40 im Jahr. Die Ursache dieser
Ausbrüche soll in der ausserordentlichen Reizbarkeit
und dem grenzenlosen Egoismus dieser Frauen liegen:
Den „Zuchthäusknall“ in seiner plötzlichsten und heftig-
sten, anscheinend unmotivierten und fast epileptischen
Form fand NÄcKE in ı2 Fällen (oder 23% 0)!), Einer der
Gründe für die Neigung der Frauen zum Tanz liegt
wahrscheinlich darin, dass er ihnen ermöglicht, ihrer
neuro-muskulären Reizbarkeit, die sich sonst in explo-
siveren Formen Luft machen würde, einen legitimen
und harmonischen Ausdruck zu geben. Die Musik be-
friedigt dieses Bedürfnis in einem geringeren Grade,
denn sie erregt in gedämpfter, aber harmonischer Weise
das ganze Register der Emotivität.
Eine grosse Zahl der bisher behandelten Erschei-
nungen wird von Dr. CLAY SHaAw?), dem erfahrenen
Direktor der Londoner Bezirksirrenanstalt, in einem Artikel
über die Geschlechter beim Irresein gedankenreich be-
handelt, Die Arbeit ist reich an wichtigen Tatsachen
über die Emotivität des Weibes im allgemeinen, die ja
bei Geistesstörungen völlig unbeherrscht hervortritt. Ich
zitiere dieselbe in grösserem Umfange, weil sie an einer
schwer zugänglichen Stelle veröffentlicht ist. S. bemerkt,
dass Frauen in Irrenanstalten seltener zur Arbeit zu be-
wegen sind als Männer und dass sie dem Arzte un-
endlich mehr Sorge und Mühe bereiten, obgleich anderer-
seits Geistesstörungen der Frauen weniger schwer sind
und mehr Heilungen ergeben als beim Manne; er fährt
dann fort: „In den Irrenanstalten erfordern die Frauen
viel häufiger beständige Überwachung und Freiheits-
beschränkungen als Männer, die nur unter dem Einfluss
der Epilepsie und des Alkohols in ähnliche Zustände
geraten; der beste Beweis für diese Behauptung wird
durch einen Blick in die Gärten und Höte der Irren-
') Näcge, Verbrechen und Wahnsinn beim Weibe. (Allgem.
Zeitschrift für Psychiatrie 1892, Bd. 49.) nn
2) „The Sexes in Lunacy“. (St. Bartholomew Hospital Review
1888 Bd. 24).
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
399
Anstalten gegeben, der zeigt, dass das gefährliche und
Sehr störende Symptom des Zerstörungstriebes bei Frauen
in viel grösserer Ausdehnung verbreitet ist. In den
Männlichen Abteilungen finden sich nur unbedeutende
Beschädigungen, dagegen sind die Gärten der Frauen
die Verzweiflung des Gärtners, denn abgebrochene
Bäumchen, abgerissene Blumen, niedergetreten€ Pflanzen
Sprechen laut für den Gemütszustand der Insassen dieser
Anlagen; auch ein Blick auf die Bekleidung zeigt die
Srössere Zerstörungssucht der Frauen, Ich habe bisher
Nur von ziellosem Zerstörungstrieb gesprochen, aber die
Rechnung der Frauen steht noch viel schlimmer, WEnn
Wir auf die Spuren absichtlicher Zerstörung und Sach-
beschädigung achten. Zerschlagene Fensterscheiben,
Zerbrochenes Geschirr sind die häufigsten Zeugen der
Impulsivität, vielleicht weil sie für die Betätigung über-
Schüssiger Energie am ersten zur Hand sind; Männer
tuen derartige Dinge auch manchmal, bleiben aber dabei
Sehr weit hinter den Frauen zurück). Vielleicht arbeitet
das Gehirn beim Weibe schneller als beim Manne und
die sprüchwörtliche Schnelligkeit der weiblichen Schluss-
folgerungen ist teils auf die Disposition ihres Gehirns
Zu schnellen Entladungen, teils auf die Einflüsse der
Lehensführung zurückzuführen.“
. Bei geisteskranken Gouvernanten fand SHAW, dass
die, nur in gewöhnlichen „höheren Töchterschulen“ mit
Ihrer sentimentalen, oberflächlichen Dressur vorgebildeten
Mädchen als Kranke störend, laut, zerstörungssüchtig und
ünberechenbar sind; die von vornherein methodisch zu
höheren Lehrerinnen ‚vorgebildeten Gouvernanten, ‘so
Viele Deutsche, waren, wenn auch von Natur lebhaften
Temperaments, selbst in der Geistesstörung noch im-
Stande, ihre aufbrausenden Emotionen einigermassen zu
beherrschen. „Nach meiner Erfahrung sind deutsche
1) Nach meiner eigenen Erfahrung an etwa 2000 BEISIES-
kranken Frauen zerstören. dieselben deswegen mit Vorliebe Glas-
Waren und Geschirr, weil sie das Bedürfnis haben, möglichst viel
ärm zu erzeugen und dadurch die Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken. — KK. ;
00
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
und schottische Frauen und Mädchen die ruhigsten und
vernünftigsten Patienten, die Irinnen sind in der Regel
sehr lärmend und reizbar, aber keine andere Kategorie
kam den weiblichen Patienten aus dem östlichen London
an ausgesprochener Bösartigkeit und sinnloser Brutalität
nahe. Einer der auffallendsten Unterschiede der Ge-
schlechter in Irrenanstalten liegt in der Sprechweise,
und hierin sind die Frauen an Geläufigkeit, Bosheit und
Schmutzigkeit den Männern entschieden überlegen, ın
dieser Beziehung besteht gar kein Unterstmed zwischen
einem schamlosen Mannweibe aus den Quartieren des
Londoner Gesindels und einer eleganten Dame aus den
besten Vierteln. Sicherlich ist Lärm, Unreinlichkeit
und geschlechtliche Depravation in Sprache und Be-
tragen in den Frauenabteilungen der Irrenanstalten viel
gewöhnlicher als in den Männerabteilungen. Ich erwarte
bei einer Frau ebensowenig eine Wahnsinnsform von
ruhigem und undemonstrativem Verhalten zu finden, als
ich erwarten würde, einmal den Niagara zu sehen, ohne
‚zugleich sein Brausen zu hören.“ .
„In allen Formen akuter Geistesstörung tritt das
sexuelle Element beim Weibe deutlicher hervor als
beim Manne, was übrigens nicht weiter. wunderbar ist,
wenn man daran denkt, dass das Fortpflanzungsgeschäft
im Leben des Weibes die wichtigste Rolle spielt und
dass deshalb ihr ganzes Leben mehr oder weniger deut-
lich durchzogen ist von dem Gedanken an die Mutter-
schaft.“ Das relativ häufige Auftreten geschlechtlicher
Erregung in einem anderen abnormen Hirnzustande, dem
der Narkose (s. S. 277 ff), ist ein weiterer Beweis
für die beim Weibe vorherrschende Sexualität, SHAW
deutet ferner noch an, wie die übliche weibliche Er-
ziehung die organische Triebhaftigkeit und Emotivität
des Weibes steigert: „Frauen sind in akuten Geistes-
störungen boshaft, lästersüchtig, blindwütig, impulsıv;
unanständig und mürrisch in einem bei Männern ganz
unerhörten Masse, einfach weil sie den Bedingungen
entsprechen, unter denen sie unter gewöhnlichen Um-
ständen dahinleben dürfen. Die Männer nehmen bel
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES. 401
einem Weibe boshaftes Verhalten mit Gleichmut hin
und die Frauen meinen, das müsse immer So sein,
Wenn sie, ohne irre zu Sein, in einem Wutanfall Möbel
Zerschlagen oder unanständig geschimpft haben und da-
für ausgelacht worden sind, ist es alsdann nicht natürlich,
dass sie auch unter veränderten Umständen auf Straf-
losigkeit rechnen? Wenn sie ihren Willen durch Maulen
und Schmollen durchzusetzen gewohnt sind, so tuen sie
Natürlich dergleichen auch dann noch, wenn ihre Krank-
heit sie unter Fremde gebracht hat. Frauen sind bisher
ähnlich behandelt worden wie Tiere, man hat sie gelieb-
kost oder geprügelt je nach der momentanen Laune,
und da die Männer es bequemer gefunden haben, sie
reden zu lassen, als ihnen zu widersprechen oder sie zu
Widerlegen, glauben die Frauen nun ihren Willen da-
durch zu erreichen, dass sie sich immer a 6vidence halten,
ein Ja oder ein Nein nie als eine Entscheidung be-
trachten, kurz dem Manne so lange zusetzen, bis sie doch
ihren Willen erreichen.“ Trotz alledem müssen Frauen
Selbst noch als Geisteskranke einen gewissen Charme
auf diejenigen ausüben, die dann für sie zu sorgen haben,
und Dr. SyAw schliesst damit, in den Irrenanstalten wie
im gewöhnlichen Leben gelte der Spruch „das ewig
Weihliche zieht uns hinan“.
In diesem Zusammenhange möchte ich auf die
ausserordentliche Steigerung exaltierter. Erregung, in
Welcher Obszönität und Grausamkeit verschmelzen, hin-
Weisen, welche Frauen in Zeiten heftiger Erregung der
Volksmassen an den Tag gelegt haben. Schon DIDEROT
und Derspıne haben darauf hingewiesen und in ZoLAS
Germinal ist das meisterhaft geschildert. Die Behaup-
tung, dass in dem Busen jeden Weibes eine Petroleuse
Schlummere, hat ihre physiologischen Gründe. LOMBROSO
hat ausgeführt, dass Frauen wenig an Revolutionen, da-
gegen zahlreich an Revolten teilnehmen *).
Ss 1) Lomsroso und FErrREro, Das Weib als Verbrecherin,
. 68—80.
Ellis. Mann u. Weib. 2. Aufl
JG
102
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
Das bisher beigebrachte Material wird die in dem
Kapitel über die Sinne aufgestellte Behauptung erläutern,
dass eine schnelle Reaktion der vasomotorischen und
motorischen Muskeln 'auf Reize (Irritabilität) absolut
nichts zu tun hat mit der Feinheit und Schärfe der
Reizaufnahme durch die Sinne (Sensibilität). Wir
haben noch auszuführen, dass die soeben dargelegten
Resultate mit den Ergebnissen der Untersuchung anderer
Erscheinungsgruppen übereinstimmen.
In dem Kapitel über Bewegung habe ich erwähnt,
dass, nach RıccAarpi, Frauen beim Zusammendrücken
des Dynamometers häufig beim ersten Druck die kräf-
tigste Leistung produzieren, während Männer erst beim
zweiten oder dritten Mal ihr Maximum erreichen; diese
Beobachtung hat eine unverkennbare Bedeutung für die
weibliche Affektabilität. Frauen besitzen, nach einem
Ausdruck FEr£s einen höheren Grad angeborener Er-
schöpfbarkeit und ihre Bewegungen und Gemütsbewe-
gungen sind wie bei Kindern, Wilden und nervösen
Personen durch etwas stossweises und kurzes charakte-
risiert, das sie blossen Reflexen nahe bringt!). In ge-
wissem Umfange ist die Emotivität nichts als eine
Tendenz zur Ermüdung; in dieser Beziehung sind
Untersuchungen von GALTON von Interesse, die er über
die Symptome der Ermüdung mit Hilfe englischer
Lehrer angestellt hat, Auf Grund der Angaben von
116 Lehrern ermittelte er, dass sich geistige Ermüdung
hauptsächlich in Muskelzuckungen des Gesichts, der
Finger usw., in Grimassen, Stirnrunzeln, Zusammen-
pressen der Lippen, Neigung zu nervösem Lachen und
allgemeiner Muskelunruhe äussert ; ferner kommen vaso-
motorische Erscheinungen vor, wie Erblassen, fliegende
Röte, Anderungen in der Farbe des Gesichtes und der
Ohren, ferner Depression und Hyperästhesie der Sinne.
Dies sind nach Angabe der Lehrer wohl die gewöhn-
lichsten Zeichen beginnender, geistiger Ermüdung und
ı) F£re, Pathologie des emotions, 1892 pp. 308, 480. Dr. M.
JAcosı macht eine ähnliche Bemerkung: „Question of Rest“ etc-
P. 204.
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
403
alle sind Symptome der Irritabilität ”). Mangel an
Nachhaltigkeit ist der gewöhnliche Ausdruck der neuro-
muskulären Erschöpfbarkeit des Weibes, und diese
Eigentümlichkeit charakterisiert, wie wir sahen (p. 183),
überall die Arbeit weiblicher Bureaubeamten in den
Postanstalten usw.; unter gewöhnlichen Umständen
ist das Weib dem Manne gleich, aber es kann nicht
unter Hochdruck arbeiten. Eine andere oft genannte
Eigentümlichkeit der Frauenarbeit ist vielleicht weniger
konstant; Frauen sollen nämlich leichter von ihrer Arbeit
abzuziehen sein; so sagt der Chef eines bedeutenden
Photographischen Instituts in einer Bekanntmachung an
Seine Arbeiter :, „Ein Mann kann gleichzeitig arbeiten und
Sprechen, wenn aber ein Mädchen plaudert, so lässt
sie die Arbeit ruhen“). Sollte diese Beobachtung
Ychtig sein, so müssen wir die Tatsache auf die ange-
borene grössere Erschöpfbarkeit des Weibes zurück-
führen. Es ist dabei zu bemerken, dass diese früher
eintretende Erschöpfbarkeit nicht auf die modernen
Lebensverhältnisse zurückzuführen ist, sondern dass wir
sie auch unter Naturvölkern finden. So bemerkte
LAnvor unter den Ainos, dass die meiste schwere Arbeit
von den Frauen getan wird, die den Männern an
Muskelstärke überlegen sind, jedenfalls aber bei ma-
Mueller Arbeit an Ausdauer, Zugleich fand er aber,
dass sie bei einer Arbeit, die zu schwerer, andauernder,
ermüdender Anstrengung führt, den Männern nicht
gleichkommen; im Gehen und Laufen war ein Weib
einen Tag lang so tüchtig wie ein Mann; aber nicht
bei grösseren Entfernungen.
.. Derselbe Unterschied, wie zwischen Mann und Weib
bei Naturvölkern, besteht bei den Männern der Natur-
Völker, verglichen mit den Europäern; SO schreibt der
Missions-Geistliche W. Grey, der selbst an manuelle
Arbeit gewöhnt ist. von den Eingeborenen von Tanna:
p v7) F. GaALTON, Mental fatigue. (Journ. Anthrop. Inst 1889
2) „Photograßhic News“, 17. Febr. 1893-
64
404
- DIE EMOTIVITÄT. DES WEIBES.
„In anhaltender Haken- und Spaten-Arbeit konnten
die Eingeborenen am ersten Tage mehr leisten als ich.
Am zweiten Tage waren wir ziemlich gleich, und am
dritten blieben sie weit hinter mir zurück *).
Es möchte scheinen, als wäre diese Eigentümlichkeit
der weiblichen Muskel- und Nervenenergie ein absoluter
Nachteil; das ist jedoch durchaus nicht der Fall, denn
sie bedingt nicht nur die grössere Promptheit des Weibes,
sondern hat die Bedeutung eines wertvollen Sicherheits-
ventils. Männer sind imstande, weit anhaltendere und
intensivere Anstrengungen zu ertragen als Frauen, aber
sie erkaufen diese Fähigkeit teuer, denn die schliesslich
eintretende Erschöpfung‘ ist schwerer und nicht so leicht
zu überwinden. Frauen erliegen der ersten Überan-
spannung, aber gerade deshalb erholen sie sich schneller.
Energische Frauen, die die physiologischen Sturmsignale
nicht beachten, kollabieren deshalb in schlimmerem
Grade als Männer. In der Regel schützt die Affekta-
bilität des Weibes dasselbe vor den gefährlichen Ex-
zessen in Arbeit oder Genuss, welchen Männer ausgesetzt
sind. So erklärt sich im wesentlichen die Häufigkeit
und relative Unerheblichkeit der nervösen Erscheinungen
beim Weibe, ihr grösserer Ernst und fatalerer V erlauf
beim Manne. Dass die meisten Infektionskrankheiten
häufiger bei Frauen vorkommen, aber bei ihnen seltener
einen tödlichen Ausgang. haben, scheint in dieselbe
Kategorie von Erscheinungen zu gehören.
In gewissem Grade ist die Erschöpfbarkeit des
Weibes zweitellos abhängig von dem grösseren Wasser-
gehalt des weiblichen Blutes; ein leichter Grad von
Anämie muss beim Weibe, jedenfalls beim Weibe
unserer Zeit, als physiologisch betrachtet werden*®).
Anämie ‚steigert die Irritabilität, ein leichter Reiz
oder eine unbedeutende Anstrengung ruft bei einem
anämischen Weibe eine bedeutende Reaktion hervor: um
1) Journ. Anthropol. Instit., August u. Nov. 1898, p. 128.
2) Dass die Symptome der Anämie nur eine Steigerung
gewisser weiblicher Eigentümlichkeiten überhaupt sind, hat
r. Stephen Mackenzie in seinen Vorlesungen über Anämie gezeigt.
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
105
Ohne störende Krankheitserscheinungen leben zu können,
muss eine solche Patientin nur sehr geringen Anforde-
rungen .und diesen nur langsam zu genügen haben,
ber die Gefahr, welche plötzliche vorübergehende
Anstrengungen für anämische Personen im Gefolge
haben, sagt Dr. FoxwEeLL: „Beständige geistige oder
körperliche schwere Arbeit ist für den anämischen
Patienten eine Unmöglichkeit, aber Anämiker, die
ihren Platz im Leben ausfüllen wollen, erfahren, dass
die gesunden Menschen um sie her ein gewisses Mass
vonGeschwindigkeitundNachhaltigkeitihnen aufzwingen.
Dieses Mass suchen sie zu erreichen; sie beginnen ihre
Arbeit mit der Kraft eines Gesunden, ihre schwachen
Muskeln und Nervenzellen halten sie aber bald auf und
sie müssen ausruhen, um nach ein paar Minuten von
neuem mit mehr als durchschnittlicher Anstrengung
einzusetzen, um die verlorene Zeit wieder einzubringen,
jedoch nur, um desto früher durch hilflose Schwäche
wieder aufgehalten zu werden. Sie tuen somit ihre
Arbeit nur ruckweise und die Anstrengung während
der einzelnen Absätze geht weit über ihre Kraft. Sie
könnten vielleicht im ganzen eben so viel leisten, ohne
sich zu schaden, wenn sie ihre Arbeit von Anfang bis
zu Ende nach einem gleichmässigen, langsamen, ihrer
Stärke entspr@henden Masse täten; aber ihr. Nach-
ahmungs- und Nacheiferungstrieb ist zu ‚stark und
sie bleiben dabei, mit subnormalen Körpern normale
Energie zu produzieren. Aber auch bei vollkommener
Selbstbeherrschung könnten sie. plötzliche Anstren-
gungen unter Hochdruck nicht vermeiden. Wenn ein
bleichsüchtiges Schulmädchen in der Klasse aufgerufen
Wird, so hat sie ihr Gehirn anzuspornen, Wenn die Frage
des Lehrers schnell die Reihe herunterpassiert; das
Stubenmädchen muss schnell die Treppe heraufspringen,
Wenn ihre Hausfrau klingelt uud dabei volle Tabletts oder
Kohlenkästen tragen. Die Geschwindigkeit der Fragen,
die Grösse der Tabletts und der Kästen sind für nor-
male Personen berechnet, aber für die Chlorotische be-
deuten sie atemlose und erschöpfende Arbeit, Wenn
406
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
chlorotische Personen über ihrer. Arbeit zaudern, SO
würden sie nicht rechtzeitig fertig werden und den
Ansprüchen nicht genügen. Es ist ein Glück für die
Welt und ein Unglück für sie, dass ihnen nur unter-
geordnete Rollen im Leben zufallen und dass sie mit
dem zufrieden sein, müssen, was sich für sie findet“*).
Es bleibt nun noch zu untersuchen, inwieweit die
Emotivität des Weibes ursprünglich und organisch und
inwieweit sie das blosse Nebenprodukt äusserer Um-
stände und ob sie eine unzerstörbare, unausrottbare
Eigenschaft ist. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die
Affekt-Disposition innerhalb weiter Grenzen einer Ver-
änderung zugänglich ıst. Mypnotische Phänomene, die
unter Naturvölkern Dei Deiden Geschlechtern etwa gleich
häufig sind, sind bei zivilisierten Männern selten; der
Mann von heute ist nicht so leicht in Affekt zu bringen
wie der des dreizehnten Jahrhunderts; der moderne
Gentleman in England spricht und beträgt sich nicht
wie die Gentlemen, die THoMAs A BECKETT getötet haben.
Auch das moderne Weib ist nicht so leicht affizierbar
als ihre Urgrossmutter vor hundert Jahren; sie fällt
nicht so leicht wie diese, bei Kleinigkeiten in Ohnmacht
oder in „vapeurs‘“, Schon die Konstatierung der zwischen
Frauen verschiedener gesellschaftlicher Stellung vor-
handenen enormen Differenz der Em@ivität (die ver-
schwindet, wenn die der geistigen Gesundheit eigene Selbst-
beherrschung verschwunden ist), deutet an, dass die
Sphäre der Affekte, oder doch ihre gröberen Ausdrucks-
formen, in höchstem Masse dem Einflusse der Erziehung
unterliegen. . Die moderne Tendenz, Mädchen auch
körperlich zu trainieren, wird sicher eine Stärkung
und Förderung des neuromuskulären Systems herbei-
führen, Mit demselben Rechte, mit dem wir annehmen,
dass die Sensibilität durch Übung verfeinert werden
kann, dürfen wir erwarten, dass die Reizbarkeit der
Emotivität durch Erziehung verringert werden wird.
1) A, FoxweLL, Ingleby-Lectures on Condition of the Vascular
System in Anaemic Debility. (Brit. Med. Journ. 16. Apr. 1892)-
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES, 407
Dass ein Ausgleich der emotiven Unterschiede zwischen
beiden Geschlechtern seine Grenze hat, ist jedoch sehr
Wahrscheinlich. Die Geschlechtssphäre und die visceralen
Funktionen überhaupt haben beim Weibe eine grössere
Ausdehnung — die Pubertät verleiht, wie CAMPBELL
Sagt, dem Weibe eine neue Klaviatur und eine Reihe
neuer Saiten — es besteht eine physiologische Tendenz
zur Blutarmut, mit Unvermeidlichkeit unterliegt von
da an das ganze physische Leben des Weibes einer
periodischen Veränderung; so viele Faktoren wirken
zusammen, dem Spiel der Affekte eine Basis zu geben,
deren grössere Breite keine Änderung des Milieus und
der Sitten beseitigen kann. Die Emotivität des Weibes
kann auf feinere und zartere Nüancen reduziert, aber
sie kann nicht auf das Niveau des männlichen Geschlechts
gebracht werden. -
Und das ist durchaus nicht zu bedauern, Die
Emotivität des Weibes.-bedingt gewisse handgreifliche
Vorteile und schützt 4, Wieewir sehen, gegen Übel,
unter denen der Mann schr zu leiden hat. Ständen
hiervon abgesehen, Adıpn und Weib in ihrem A-ffektleben
einander näher, Ss ürdemi” 3 einander viel weniger
behilflich sein können un t irden sicherlich auch viel
von dem Reize einbüssen, den sie für einander besitzen.
Ein Mann mit labilem Gemüt macht auf ein Weib nur
wenig Eindruck; ein Weib mit dürftiger Emotivität
lässt den Mann kalt. ‚So lange das so bleibt, dürfen
Wir ziemlich sicher sein, dass Mann und Weib einander
niemals an Emotivität gleich sein werden, selbst wenn
die grössere Reizbarkeit des Weibes weniger tief in
ihrer Organisation wurzelte. Er
Die Emotivität des Weibes bedingt, wie wir bisher
mehrfach ausgeführt haben, wahrhaft diabolische Er-
Scheinungen der weiblichen Naar Taf ist:
Quelle" dessem was Beim Weibe am meisten engelhaft ist:
ihrer Impulse der Zärtlichkeit, ihres Mitleids, ihrer gött-
lichen Kindlichkeit. Die Dichter haben sich das Gehirn
Zzermartert, um diese Mischung von Himmel und Hölle
Zu schildern und verständlich zu machen. Der Schlüssel
AS
I8_-
iC
DIE EMOTIVITÄT DES WEIBES.
ist in Wirklichkeit sehr leicht zu finden; sowohl der
Himmel wie die Hölle im Weibe sind nur die ver-
schiedenen Seiten derselben physiologischen Reizbar-
keit. Die würdigen Herrschaften, die durchaus dem
Teufel den Schwanz abschneiden wollen, könnten des-
halb leicht finden, dass sie zugleich damit dem Engel
seine Flügel‘ abgeschoren haben. Die Emotivität des
Weibes muss künftig‘ bis zu einem gewissen Punkte
hin abnehmen; einen Trost für diesen Verlust wird
mancher darin finden, dass er nur sehr allmählich zu
Stande kommen wird.
XIV. Kapitel.
Die künstlerische Begabung.
Das Gewerbe ist weiblichen, die Kunst männlichen Ursprungs. —
des Töpferei, — Tättowierung. — Malerei. — Musik. — Gründe
Me geringen weiblichen Erfolge in der Musik. — Metaphysik. —
Eee tizismus. — Poesie. — Der Roman. — Gründe des weiblichen
N Olges ‚im Romane. — Die grössere schauspielerische Begabung
es Weibes. — Der stärkere künstlerische Impuls des Mannes
und seine Ursachen.
| In der Urzeit lag die ganze Technik und folglich
‘agen auch die rudimentären Anfänge der meisten Künste
den Händen der Frauen; wenn jedoch die Entwicklung
Der steigt, so verändert sich die Lage der Dinge und
als finden schliesslich die vollständig differenzierte Kunst
Ss fast ausschliessliches Monopol des männlichen Ge-
Schlechts.
in Die Töpferei ist eine Industrie, die fast unmerklich
Kunst übergeht und die unter primitiven Verhältnissen
etez oder doch fast ganz der Frau oblag. So lange
wizteres der Fall war, hat diese Industrie stets VOr-
legend einen praktischen Charakter gezeigt. Es wird
Scnügen, auf die Erfahrungen eines Beobachters hinzu-
Ku der mit den niedrigsten Stadien primitıver
s ultur ganz besonders vertraut ist; MıgLUCHO-MACLAY
agt von der papuanischen Kunst im Nordosten Guineas:
»-Auffallend war der absolute Mangel jeden Ornaments
ei ihren Töpferwaren, um so mehr, als der dazu ver-
Wendete Ton sich Ausserst leicht bearbeiten lässt.
410 u {DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
Dieser Mangel an Ornamentierung ist auf die Tatsache
zurückzuführen, dass die Töpferei ausschliesslich dem
weiblichen Geschlecht überlassen bleibt, das von Natur
nicht besonders künstlerisch veranlagt ist. Diese tref-
fende alte Beobachtung habe ich auch bei den Papu@
frauen wieder bestätigt gefunden. Ich kann’bezeugeN;
dass ich von Frauen nie den geringsten Versuch zur
Dekoration habe machen sehen. Während meines
Aufenthalts auf der Insel Bibi-Bibi, wo die Töpferwar®
für alle umliegenden Dorfschaften hergestellt wird, sah
ich wohl ein Dutzend junger Frauen und Mädchen bel
der Töpferarbeit beschäftigt, während einige ander®
dabei sassen und nichts taten. Da eine ganze Reihe
von Töpfen ohne jede Spur eines Ornaments neben
ihnen stand, so fragte ich sie, warum sie denn gar keine
Verzierungen an denselben anbrächten; ‚Wozu? das ist
ja unnötig‘, erhielt ich zur Antwort, Ein paar Knaben
liessen sich jedoch nicht dadurch beirren, sondern fanden
ihre Freude daran, in einige der Gefässe mit ihren
Nägeln oder mit spitzen Stöckchen eine Art von Ver-
zierung einzuritzen“*).
In vielen Ländern wird das Tättowieren grösstenteils
von Frauen besorgt; so gehört es z. B. bei den Nog85
von Assam zu den Vorrechten bestimmter, zu dem
Haushalt des Häuptlings gehöriger alter Frauen ?). Auch
bei den Ainos liegt die Technik des Tättowierens ganz
in den Händen der Frauen und nur Frauen werden heut
zutage bei ihnen noch tättowiert®. Ebenso liegt b&
den Songisch- oder Lkungen-Indianern in Canada da$
Tättowieren den Weibern ob, die zu dem Zwecke mittels
einer horizontal gehaltenen Nadel Holzkohle unter die
Haut bringen‘). Wir dürfen aber nicht vergessen, da$$
das Tättowieren keineswegs ' der Ausfluss eines rein
1) Bull. Soc. d’Anthrop. 19. Dec. 1878.
2) PzAL, On the Morong. (Journ. Anthroß. Inst. Febr. 3893-
pP. 247).
3) MAc Rırchie, Internationales Archiv f. Ethnologie Bd. IV 1892-
4) Brit. Ass. Rep. on the North-Western Tribes of Canada,
by Dr. Boas. 1890.
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
411
künstlerischen Impulses ist, sondern. es ist ein sozialer
und religiöser Ritus von traditioneller Bedeutung.
Solche halb rituelle Kunst wird sowohl von Männern
als Weibern ausgeübt. So werden bei den Papuanern
(nach S. J. Hıckson) die Zeichnungen auf Häusern, welche
die Sturmgeister abhalten sollen, von alten Männern
Oder Priestern des Dorfes ausgeführt.
Wenn wir die rein künstlerische Tätigkeit höherer
Kulturstadien ins Auge fassen, so finden wir in der
Malerei ein unzweifelhaftes Uberwiegen des männlichen
Geschlechts über das weibliche. Es hat tausende von
Malenden Frauen gegeben, aber zu einem berühmten
Namen haben es nur Männer gebracht und es wäre
Ungalant, eine Liste berühmter Malerinnen aufstellen zu
Wollen. Selbst die grosse zentrale Tatsache des Christen-
tums, wie des ganzen Lebens überhaupt; die Beziehung
Zwischen Mutter und Kind, die so stark an das weib-
liche Herz appelliert, ist durch weibliche Hand niemals
In denkwürdiıger Weise zeichnerisch verewigt worden.
Auch in der Skulptur gehören, wie kaum erwähnt zu
Werden braucht, die berühmten Namen ausschliesslich
Männern an, von Pumias bis DonATELLO, von MiCcHEL
ANGELO bis Ropın. Dass es 2 oder 3 F rauen ‘gibt, die
Sich in der Skulptur ruhmvoll ausgezeichnet haben, ist
das Äusserste, was gesagt werden kann.
Auch in der Entwicklung der Musik haben die
Frauen eine sehr geringe Rolle gespielt; es scheint,
dass auch nicht ein einziges der bekannten Musikinstru-
Mente von Frauen erfunden worden ist, sowie es auch
kein Instrument ‚gibt; das die Frauen mit ‘besonderer
Vorliebe spielen. Bei den Eingeborenen Amerikas
fand Pror. Ortıs Mason. dass Frauen niemals eigentliche
Musik machten, dagegen häufig auf den verschiedensten
Gegenständen Takt schlugen, die Knarre: drehten oder
bei bestimmten Stellen des Gesanges im Chore ein-
fielen n,
\) Woman’s place in primitive culture, Kap. VII.
+
2A
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
Henry BaLrouR (University Museum, Oxford) be-
richtet über einige Ausnahmen von dieser allgemeine?
Regel bei den Südsee-Insulanern. „Auf den Südsee
Inseln wird die ‚Nasen-Flöte‘ gewöhnlich, wenn auch
nicht ausschliesslich, von Frauen gespielt. In dem Reise
bericht der Kapitäne Cook und Kıne sehen wir die
Abbildung eines Weibes von den Tonga-Inseln, die vor
einer Hütte sitzt und die Nasenflöte bläst. Eine ähn-
liche weibliche Figur, die dasselbe Instrument spielt,
sehen wir auf Tafel 28 in LAsıLLADılRES Voyage de 4
Perouse auf der Darstellung eines Tonganischen
Doppelkanoes. MeLviiLE (Four Months’ Residence
ihe Margquisas Islands) spricht auch von der ‚Nasen-
flöte‘, die die Frauen mit Vorliebe in ihren Musse-
stunden blasen und Wıxes (U. SS. Exploring Expe
dıtion IIL. p. 190) gibt eine Beschreibung dieses Instru-
ments, wie es die Fidji-Insulaner gebrauchen, und sagt‘
‚Die Frauen spielten die Nasenflöte als Begleitung zum
Gesange, jedoch kein anderes Instrument‘. |
„Wenn wir uns nun einer anderen Katogore prim!-
tiver Musikinstrumente zuwenden, z. B. dem ‚Bogen‘,
so finden wir in Blanche Bay (Neu Britannien) eine
ganz besondere Lokalform desselben, das ‚Pangolo‘,
von dem sich in Berlin und Wien Exemplare befinden;
Dies Instrument, wird wie Dr. O. Fısscn (Ann. des KB.
K. Natur hist. Hofmuseums, Suppl. Ba. IT, I. Teil S. 11 1)
sagt, ausschliesslich von Frauen gespielt. Auch GuPPY
fand, dass die Frauen der Treasury-Inseln ein den alten
jüdischen Harfen ähnliches, zierlich gebautes Instrument
spielen, das ungefähr 1ı5 Zoll lang und mit feinen
Saiten bespannt ist und dem sie eine angenehme, sanfte
Musik entlocken.«
»Man kann wahrscheinlich nicht behaupten, dasS
die Frauen ein einziges dieser Instrumente erfunden
haben und ebenso besteht kein Zweifel, dass bei wilden
Rassen’ Frauen im allgemeinen nur sehr selten Musik-
instrumente spielen, es wäre gewiss von Interesse, alle
hierauf bezüglichen Beispiele zu sammeln.“ (Nature
17. Nov. 180902).
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG. .
413
_ Unter barbarischen und zivilisierten Rassen in allen
Teilen der Welt haben sich Frauen ‚stets in ausge-
dehntem Masse mit dem Spielen der verschiedensten
Instrumente beschäftigt, aber im wesentlichen hat sich
unter dem Einflusse der Kultur das Verhältnis der
Geschlechter in dieser Beziehung kaum’ verändert.
Musik ist sehr oft von Frauen vorgetragen aber fast
ausschliesslich von Männern geschaffen worden. Ab-
8esehen von vielleicht zwei oder drei Frauen unserer
Zeit, die ihren Ruf wohl zum Teil dem Umstande ver-
danken, dass sie eben Frauen sind, ‚ist es schwierig,
Selbst unter Komponisten dritten Ranges weibliche
Namen ausfindig zu machen,
Über diesen Punkt kann wohl kaum eine MeinungS-
Verschiedenheit bestehen. G. P. UpTon macht in seinem
einsichtsvollen und sympathischen kleinen Werk Woman
in Music (Chicago 1886) den Versuch, die Rolle der
Frauen in der Musik als bedeutender hinzustellen,
Muss jedoch zugeben, dass sich unter den wahren
Meistern in der Musik kein weiblicher Name befindet,
und wenn er auch eine Liste von nicht weniger als 48
weiblichen Musikern aufzählt, die im ı7ten, ı8ten und
Ioten Jahrhundert gelebt und Kompositionen hinter-
lassen haben, so muss er bekennen, dass keine darunter
Sich über das Mittelmässige hinaus erhoben. Wie ver-
Schwindend diese Zahl bekannter weiblicher Kompo-
Nisten ist, wird uns erst klar, wenn wir bedenken, —
Worauf LomBroso in seinem Uomo di-Genio avf-
Merksam macht — dass Italien allein. nicht weniger als
1210 Musiker von mehr oder. weniger hervorragender
Bedeutung aufzuweisen hat. Uprton macht in, wie mir
Scheint, sehr treffender Weise auf die Hauptursache auf-
Merksam, weshalb die Frauen sich nicht in der Musik
ausgezeichnet haben, obschon sie keine weniger günstige
Gelegenheit für musikalische Schulung besitzen als die
Männer. „Wenn man bedenkt, dass die Musik den
höchsten Ausdruck des Gemütslebens bedeutet, So
liegt vielleicht eine Beantwortung der Frage nach der
Zeringen schöpferischen . Betätigung des Weibes auf
414
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
diesem Gebiet darin, dass die Frauen von Natur und
Temperament zu emotiv sind, um einen Ausdruck dafür
finden zu können, ebensowenig wie für viele andere
mysteriöse und tiefverborgene Seiten ihrer Natur. Das
Gefühl ist der grösste Teil ihres Selbst und ihnen
so natürlich wie das Atmen. Sie leben in Emotionen
und ‚handeln aus Emotionen, während der Mann sein®
Gefühle beherrscht ud ihnen deshalb einen Ausdruck
zu geben vermag, /Beim Weibe bildet das Gefühlsleben
das herrschende‘ Element, und so lange es das ist, ab-
sorbiert es die Musik. Grosse Schauspielerinnen können
Gefühle ausdrücken, weil sie dadurch ihrer eigenen
Natur Ausdruck geben, aber um die Gefühle systema-
tisch zu behandeln, wie mathematische Probleme, um sie
zu messen und zu fesseln und in die strengen Formen
der Harmonielehre und des Kontrapunktes zu zwängern,
dazu gehört eine Kaltblütigkeit, deren nur die festere,
härtere Natur des Mannes fähig ist.“ Er fügt ferner
als eine interessante Tatsache hinzu, dass, während ein
Mann, der einmal ein Instrument zu spielen gelernt hat,
selten aufhört, Freude daran zu finden, die Vorliebe
der Frauen für Musik mit dem Alter nachlässt, was
nicht auf ästhetische, sondern emotive Faktoren zu-
rückzuführen ist. KRUuBIinstEInN gibt.in seinem Buch
Die Musik und ihre Merster einige interessante Beob-
achtungen, welche die von UpTton ergänzen, wenn sie
aucht nicht so präzise formuliert sind. „Die Zunahme
des weiblichen Kontingents an Musikern, sowohl an
Virtuosen als Komponisten (wobei ich das Gebiet des
Gesanges ausnehme, in dem die Frauen sich von
jeher ausgezeichnet haben), beginnt erst mit der zweiten
Hälfte dieses Jahrhunderts; ich betrachte sie als ein
Symptom musikalischer Decadence. Es fehlt den Frauen
an zwei Eigenschaften, die für die musikalische Schöp-
fung durchaus erforderlich sind: Subjekrtivität und Initia-
tive. In der Praxis kommen sie nie über Objektivität
(Nachahmung) heraus, es fehlt ihnen an Kraft der
Überzeugung, um sich zur Subjektivität zu erheben.
Es fehlt ihnen für die musikalische Schöpfung an Ab-
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG. 415
Sorption, Konzentration, Gedankenkraft, Weite des emo-
tiven Horizonts etc., etc. Es ist ein Geheimnis, warum
Zerade die Musik, dieses edelste, schönste, am meisten
Verfeinerte, vergeistigtste und gemütvollste Erzeugnis des
Menschlichen Geistes, den Frauen so unzugänglich
ist, obschon im Weibe alle diese Eigenschaften ver-
Schmelzen, und obschon sie in anderen Künsten, ja
Selbst in den Wissenschaften, manches Grosse geleistet
haben. Die beiden, speziell dem Weibe eigenen Ge-
fühle: Liebe zum Manne und Zärtlichkeit für ihr Kind,
haben von seiten des weiblichen Geschlechts keinen
Ausdruck in der Musik gefunden, Ich kenne kein von
Frauen komponiertes Liebesduett oder Wiegenlied; ich
Sage nicht: es gibt keine, aber keines von denen, die
eine Frau komponiert hat, hat eine klassische Bedeutung
erlanort.“
Die Musik ist‘ zugleich die emotionellste und die
am strengsten abstrakte von allen Künsten. Es gibt
keine Kunst, von der sich die Frauen stärker angezogen
fühlen und zugleich keine, in der sie sich unselbstän-
diger gezeigt haben.
Die Literatur kann nicht zu den Künsten gezählt
Werden, sie ist lediglich eine Methode, sehr verschiedene
Formen psychischer Regungen und künstlerischer Be-
dürfnisse darzustellen. Ich will hier nur vier Arten
derselben erörtern: Metaphysik, Mystik, Dichtkunst und
Erzählung.
Es ist bemerkenswert, dass, obschon sich die
Frauen in so hohem Masse zur Religion hingezogen
fühlen, sie nichts dazu beigetragen haben, dem Mysti-
Zismus, dem Kern aller Religionen, klassischen Aus-
druck zu geben. Die grossen Andachtswerke, welche
So viele tausend Seelen genährt haben, und die alle
Mit geringen formellen‘ Unterschieden dasselbe sagen,
— das Buch LaorTses, die Meditationen MARC AURELS,
das Zncheiridion EPICcTETS, das Evangelium Fohannis,
die Briefe Paulı, die Nachfolge Christi, die Deutsch
T, heologie und viele von SCHOPENHAUERS Schriften, —
alle haben Männer zu Autoren, obschon sich unter
416
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
ihren Lesern zum mindesten ebensoviele Frauen als
Männer befinden. Die heilige Theresia ist, soviel ich
weiss, die einzige Frau, die in dieser Beziehung aß
erster Stelle zu nennen ist, aber wir dürfen nicht ver”
gessen, dass sich in ihren Werken ein zweifellos patho-
logisches Element offenbart, das keinen der andern
grossen Mystiker, die ich soeben genannt habe, nicht
einmal St. PAvuL oder SCHOPENHAUER auszeichnet. MAP-
Guyon könnte an dieser Stelle erwähnt werden, aber
sie gehört zu den Mystikern dritten Ranges, deren das
männliche Geschlecht ganze Scharen aufweist.
Das Gebiet der Metaphysik gehört fast ausschliesS“
lich dem Manne, und selbst unter Metaphysikern dritten
Ranges lassen sich keine weiblichen Namen ausfindig
machen. Die Kunst der Metaphysik besteht in der
Schöpfung einer ideellen, begrifflichen Welt, auf der
Basis des eigenen Ichs. Mehr als in allen andern
Formen des Kunstschaffens sind in ihr die Gefühle ver“
geistigt, ihr Material ist am weitesten entfernt von
allem Praktischen und Konkreten. Ob das Fehlen von
weiblichen Metaphysikern uns veranlassen soll, von der
Metaphysik oder von den Frauen gering zu denken,
das mag dahingestellt bleiben und mag jeder je nach
seinem Temperament entscheiden.
In der Dichtkunst haben die Frauen mehr geleistet
als in Mystik und Metaphysik. Die starke, gemüts-
tiefe, poetische Kraft, wie sie in England am besten
von ELISABETH BROWNING repräsentiert wird, hat in vielen
Ländern weibliche Vertreter gefunden, obschon sich
bei ihnen allen immer eine gewisse Neigung zur Ver-
wässerung, Weitschweifigkeit und Formlosigkeit gezeigt
hat. In der grossen lyrischen Kunst, die einen hohen
Grad von Kühnheit und zugleich gedankenvolle Re-
flexion und Besonnenheit erfordert, gibt es nur sehr
wenig weibliche Namen. Ausser SArrPHOo und CHRISTINA
RoseTrTi, den Vertreterinnen der. beiden grossen poetl-
schen Nationen Europas, ist es schwierig, ich will nicht
sagen unmöglich, wirkliche Dichterinnen ausfindig ZU
machen, die Einbildungskraft, Stilgefühl und architek-
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
417
tonische Gestaltungskraft in demjenigen Masse be-
Sassen, welches zur Poesie grossen Stils durchaus erfor-
derlich ist.
Über die Stelle, welche Frauen in der poetischen
Weltliteratur einnehmen, macht EpyM. GossE wertvolle
Bemerkungen. „Es ist in der Tat sonderbar, dass
SHAKESPEARE nicht einen einzigen weiblichen Rivalen
aufzuweisen hat, dass in einer Zeit der schönsten Blüte
von Musik und Poesie, wo Hunderte von Dichtern auf-
tauchten, nicht eine einzige authentische Dichterin, wenn
auch fünften Ranges, zu nennen ist. Die Tatsache ist
eben so einzig als. sonderbar, denn wenn Frauen auch
nicht oft eine höhe Stelle auf dem Parnass ein-
genommen haben, so haben sie sich doch selten so
absolut von ihm fern gehalten wie damals. Selbst in
dem eisernen’ Zeitalter Roms, dessen Muse nur männ-
liche Kinder hervorzubringen schien, finden wir unter
Namen wie JuvzenarL und PERSIUS den der Su1ipıcıa, für
deren Genie leider nur ein einziges Zeugnis übrig ge-
blieben ist, ein Gedicht von 70 Zeilen, das einer
edelen Entrüstung über die Brutalität DOMITIANS Aus-
druck gibt.“
. „Es ist ein bekannter Satz, dass das Weib, wenn
es in der Dichtkunst Erfolge haben will, kurz, subjektiv
und konzentriert sein muss; das war schon den griechi-
schen Kritikern bekannt. In dem entzückenden Kranze
von Dichternamen, den MELEAGER flocht, um ihn vor dem
Tor des Hesperidengartens aufzuhängen, sind aus allen
Epochen der Dichtkunst nur zwei weibliche Poeten-
namen zu finden; SarrmHo finden wir hier, denn ‚wenn
ihrer Blumen auch nur wenige sind, so sind es doch
alle Rosen‘ und, fast kaum bemerkbar, eine zarte
Krokusblüte, die den Namen Erınna trägt. Das ist alles,
Was das Weib des Altertums von echter, die Zeiten
überdauernder Poesie aufzuweisen hat. Ein Kritiker
Schreibt soo Jahre nach ihrem Tode: ‚Das vergäng-
liche Geschwätz der Stümper übertönt noch immer der
Schwanengesang Enınnas, die 300 Hexameter, die das
19jährige junge Mädchen so schön gesungen hat, wie
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl. 27
418
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
vor ihr nur Homer.“ Die Werke, die Ernya hinterlassen
hat, könnten auf eine Zeitungsspalte gedruckt werden;
und auch SaprHos Gedichte würden heutzutage nicht
mehr. Raum einnehmen, aber ihr Name lebt fort, SI®
ist wenigstens berühmt genug,. um über ihre geniale
Inspiration keinen Zweifel übrig zu lassen. Sie ist der
Typus der Dichterin, deren Name bleibt, nicht auf
Grund der Mannigfaltigkeit und Zahl ihrer Werke,
In der erzählenden Kunst nehmen die Frauen an”
erkanntermassen einen viel höheren Rang ein als in
irgend einer andern Form der schönen Literatur, 50
besitzt England in JANE AUSTEN, CHARLOTTE und EMILY
BRonTE und GEORGE ELLOT vier Erzählerinnen, die, jede
in ihrer eigenen Weise, unsern besten männlichen Er-
zählern an künstlerischer Fähigkeit und Kraft, wenn
auch vielleicht nicht an Quantität und Vielseitigkeit
ihrer Leistungen, nichts nachgeben. In Frankreich aller-
dings, wo der Roman den höchsten Grad der Vollen-
dung erreicht hat, haben die Frauen aus manigfachen
Gründen in der Erzählerkunst nur wenig künstlerisch
Bedeutendes geleistet, aber in vielen Ländern Europas,
im Norden wie im Süden, gibt es eine oder zwei Frauen;
die Werke ersten Ranges geschaffen haben. Nur wenn;
wie bei FLAUBERT, der Roman fast zum Gedicht wird
und grosse Gestaltungskraft, ernste Hingabe an den
Stil und feinste Abwägung erfordert, können weibliche
Erzähler nicht in Konkurrenz mit den männlichen
treten. Aber die erzählende Kunst im eigentlichen
Sinne stellt viel weniger ernste künstlerische Antorde-
rungen als die Dichtkunst, insofern sie nichts weiter
als. ein etwas idealisierter Abklatsch des Lebens ist,
dem sie in allen seinen feinen Bewegungen folgt. Was
sie erfordert, ist die schnelle Auffassung menschlicher
Charaktere ‚und sozialer Lebensverhältnisse auf einem
mehr oder weniger intensiven Gefühlshintergrunde-
Eine lebhafte Auffassung sozialer Erscheinungen —. SO
der Wechselwirkung zwischen Mann und Weib, der
Basis aller Erzählerkunst: — ist etwas Natürliches für
alle Frauen, die in gewissem Sinne diesen sozialen Tat-
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG: 419
sachen näher stehen als der Mann; ausserdem sind
Frauen empfänglicher für Einzelheiten und haben ein
besseres Gedächtnis für sie. In den ärmsten, unge-
bildetsten Klassen besteht die Unterhaltung von Frauen
zum grossen Teil aus rudimentären Noveletten, in
denen „sagt er“ und „sagt sie,“ eine Hauptrolle spielt.
Jede Kunst, könnte man sagen, hat ihr intellektuelles
und ihr Gemüts-Element, und wenn Frauen sich in der
Kunst des Erzählens hervortun, so liegt es daran, dass
sie gewissermassen organisch dazu veranlagt sind; in
ihr besitzen sie eine Möglichkeit, sich selbst zum Aus-
drucke zu bringen, zu der ihre künstlerische Veran-
lagung völlig ausreicht.
Man kann jedoch, auch wenn man die Erzählungs-
literatur mit einschliesst, im ganzen nicht, sagen, dass
Frauen den Gipfel literarischer Leistungen erreicht
haben, wenn auch die literarische Tätigkeit dasjenige
Gebiet darstellt, das ihnen am leichtesten zugänglich ge-
wesen ist. Dafür gibt es gewiss viele Ursachen, die
allerdings einer exakten Untersuchung schwer zugäng-
lich gewesen sind. Kine Ursache ist vielleicht darin
zu sehen, dass die Frau leicht affiziert und leicht er-
schöpft ist, und das muss sich bei der Entwicklung und
Verausgabung psychischer Energie zum Zwecke der
literarischen Produktion geltend machen. Gileichviel
in welcher Richtung das Weib seine Kräfte verwendet,
sie führt sie schnell alle ins Treffen und verfügt bald
nicht mehr über Reserven, Die Qualitäten von APHRA
Bean und Emmy Brote sind nie in ‚einem weiblichen
Autor vereinigt gewesen. Aber der hohe Reiz fast
aller grossen literarischen Meisterwerke beruht auf der
Fähigkeit, zugleich heiter und tief zu sein, einer Ver-
einigung von Elementen, die SHAKESPEARE besonders
deutlich repräsentiert. Frauen haben vollen _Erfolg...2ls
Priefschreiberinnen „gefunden ünd- und StR
Liebesbrief angeht, an erster Stelle“), denn hier werden
- tar a
1) „Tausende von Frauenbriefen“ sagt MANTEGAZZA, „die in
den Schubfächern von Männern liegen, würden, wären Sie ver-
öffentlicht, mit denen der Frau DE SgEvıiGNE invalisieren können.
7%
420
. DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
ihre besonderen Eigenheiten zu entscheidenden Vor-
zügen; aber sie haben kein auf dieser Grundlage ruhen-
des literarisches Meisterwerk ersten Ranges geschaffen.
Wir finden in MonTAIGnNeE einen grossen Schriftsteller,
der die literarische Methode des Weibes angewandt
hat: Spontaneität, Achtlosigkeit für die Form, eine sehr
persönliche, intime Aufrichtigkeit, aber wir können uns
nicht einmal einen weiblichen MONTAIGNE denken.
“E# gibt wenigstens eine Künst, mn der die Frauen
nicht nur erfolgreich mit. den Männern konkurrieren,
sondern ihnen sogar entschieden überlegen sind, das ist
die Schauspielkunst. In einer Umgebung und in einer
Zeit, die viele schauspielerische Talente hervorgebracht
haben, schrieb BAcHAUMoNT in seinen Memoiren (1762)
dass vielleicht keiner der grossen Schauspieler so tief
in ihrer Kunst gewesen wären, wie die vier berühmten
zeitgenössischen Schauspielerinnen, die CLAIRON, DUMESNIL,
Gaussın und DanezviLLe. Fünfzig Jahre später schrieb
RovsseL, es gäbe mehr gute Schauspielerinnen als gut®
Schauspieler.!) Dasselbe gilt auch von der Gegenwart;
vor kurzem wenigstens hatten SARAH BERNBARDT und
EL:onorA Duse keine männlichen Rivalen.
Dasselbe kann noch für die heutige Zeit gelten,
wenigstens kann sich Frankreich keines Schauspielers
rühmen, der ein würdiger Rivale von SARAH BERNHARDT
wäre, und wenn wir die Geschichte der Bühne während
der letzten zwei Jahre überblicken, so kommen auf
jeden berühmten Schauspieler, dessen Name uns gt”
Jäufig ist, sicherlich mehrere berühmte Schäuspielerinnen-
Mit den hervorragenden’ Leistungen der Frauen in der
Bühnenkunst hängen auch ihre unzweifelhaften Erfolge
als Sängerinnen zusammen, da der Opern-Gesang weiter
nichts als vokalisierte dramatische Kunst ist. Es ist
nicht schwer, die organische Basis der Erfolge des
weiblichen Geschlechts in der Schauspielkunst aufzu-
decken. Bei Frauen wickeln sich geistige ProzesSs®
schneller ab als bei Männern, sie besitzen auch eine
ı) P. RousseL, Systöme de la femme, P. I, chap. IV.
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG. 421
grössere Explosivität der Leidenschaften und können
dieselben leichter wachrufen, während zu gleicher Zeit
die Bedingungen des weiblichen Lebens einen hohen
Grad von Schmiegsamkeit nnd Anpassungsfähigkeit ent-
Wickelt haben. Ferner sind ‘sie mehr darin geübt, den
richtigen stimmlichen Ausdruck zu finden, sowohl für
die Gefühle, die sie wirklich haben, als für die, welche
Zu haben sie sich verpflichtet fühlen. Frauen befinden
sich daher von Natur und in Folge sozialer Umstände
öfter als Männer in der Lage von Schauspielern; schliess-
lich kommt noch dazu, dass Frauen wahrscheinlich
mehr als Männer für den Reiz der Bewunderung und des
Applauses, wie ihn ein grosses Publikum gewährt,
empfänglich sind.
Es ist eine interessante Tatsache, — die wahr-
scheinlich mit der entschiedenen Überlegenheit der
Frauen in der Schauspielkunst zusammenhängt — dass,
verschiedenen Beobachtungen nach, Frauen besser vor-
lesen als Männer. So bemerkt Bryce in einem Bericht
über Unterrichtsverhältnisse in Lancashire: „Vorlesen
ist eines der wenigen Dinge, in denen Mädchenschulen
einen höheren Rang einnehmen als Knabenschulen“.
Da man nicht annehmen kann, dass in diesem Punkte
das eine Geschlecht mehr geschult wird als das andere,
So muss man vermuten, dass die Mädchen den Knaben
darum überlegen sind, weil sie Gelesenes schneller
auffassen, den Sinn schneller begreifen, dass überhaupt
zwischen ihrer Intelligenz und dem Ausdruck in Stimme,
Gesichtszügen und Gesten eine grössere Harmonie be-
steht. Auch da, wo gar keine besondere Schulung
besteht, lesen Mädchen fliessender vor, ohne die Un-
beholfenheit und Mühseligkeit, die das Vorlesen der
Knaben charakterisiert, und in einigen Stunden, in
denen die Lehrerin ihre Schülerinnen an lautes Lesen
gewöhnt und dabei jede Neigung zur Affektion energisch
unterdrückt hatte, liess das Vorlesen der Mädchen an
Anmut und Mannigfaltigkeit des Ausdrucks nichts zu
wünschen übrig. Auch FEARON spricht in seinen Be-
richten über die Schulen der Ost-Küste Nordamerikas
12
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
von der Überlegenheit der Mädchen im Vorlesen, was
selbst in den Schulen für beide Geschlechter deutlich
hervortrat. (D. BeaAıe, Reports issued by the ‚Schools
Inqguiry CommtssSton, pp. 55, 136).
LEGcouv£, der lange in nahen Beziehungen zum
Theater stand, gibt in seinem interessanten und fes-
selnden, wenn auch nicht wissenschaftlichen Werke
Histoire morale de la Femme (6. Aufl. 1874 p. 345)
einige treffende Bemerkungen über die Erfolge der
Frauen in der Schauspielkunst. „Was der interpretierende
Künstler, gleichviel ob Schauspieler oder Sänger, nötig
hat, ist das Talent zum Auffassen von Einzelheiten, die
Fähigkeit, den Bewegungen des Gedankens mit dem
Körper unmittelbar zu folgen und vor allem jene be-
wegliche, intensive und vielseitige Eindruckfähigkeit,
die dem Gefühle und seinem Ausdrucke eine fast un-
erschöpfliche Fülle von Nüancen gibt. Aus diesem
Grunde findet man angeborene dramatische Befähigung
häufiger bei Frauen als bei Männern. Alle grossen
Sängerinnen erreichen bekanntermassen die grösste
Höhe ihres Könnens vor dem 20. Jahre, d. h. nach
4jährigem Studium, während bei einem Manne 8 Jahre
zur Ausbildung ‚erforderlich sind. Wir alle haben
gewiss eine Schauspielerin gesehen, die nocht nicht
ganz ıo Jahre alt war, und ein ähnliches Wunder haben
wir heutzutage vor uns in Gestalt des jungen Mädchens,
das innerhalb weniger Monate eine Höhe dramatischen
Könnens erreicht hat, zu der TALMA, LEKAIN und BARON
erst in reiferem. Alter und nach langem mühevollen
Studium gelangten“. (S.;auch das Kapitel über das
Weib als Interpretin der Musik in UprTton’s Werk
Woman in Music.)
') Der Herausgeber möchte hier bemerken, dass das Weib
mehr als der Mann Sprach-Künstler ist; daher ihr drama-
tisches, ihr Vorlese-, ihr Plauder-, ihr Briefschreibe-Talent. Sie
behandelt, einer primitiveren Stufe der geistigen Entwicklung
entsprechend (s. HERDER, Von den Lebensaltern einer Sprache,
S. 137) die Sprache als Kunst, als art dour Part, und nicht als
Instrument der Forschung, der gelehrten Mitteilung, des Geschäfts
und der politischen Verhandlung, als welches der Mann die Sprache
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG. > ;
423
Wenn wir indessen von den interpretierenden
Künsten absehen, so finden wir, dass der künstlerische
Trieb beim männlichen Geschlecht unvergleichlich
Stärker, spontaner und zugleich häufiger ist als beim
weiblichen Geschlecht. Es liegt also eine gewisse Be-
Techtigung vor, wenn ScHOPENHAUER die_Frauen_als_das
„unästhetische Geschlecht“ bezeichnet. Selbst in der
„Kochkunst sehen wır, wie sehr alles, was Kunst heisst,
nact. Männerhänden verlangt. Das Kochen ist in der
ganzen Welt Sache der Frau, aber überall da, wo. es
sich von blosser Routine zu dem Range einer Art von
Kunst erhebt, sehen wir, dass ein Mann der Urheber
dieser Erscheinung ist.
behandelt. Sprechen an sich, um eben zu Ss rechen, ist ihr ein
heiteres Vergnügen. In diesem Sinne sagt GoETuE, der so oft
feminin fühlt:
‚Was wir hatten, wo ist’s hin?
Und was ist's denn, was wir haben?
Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehen
Haschen wir des Lebens Gaben.“
So beurteilt denn auch die Sprachkünstlerin Frau‘ v. STAFL-
Ho1_stEn ihre Muttersprache wie folgt: „Elle n’est pas seulement
un moyen de communiquer ses idees, ses sentiments et Ses affaires,
mais un instrument donf 0% aime & se jouer; et qui ranıme les
esprits omme la musique chez quelques peuples et les liqueurs
fortes chez quelques autres. (S. übr. auch ARISTOTELES, Poefica,
cap. XXI.) ;
Die Er sere Redebegabung des Weibes ergibt sich auch
dem Beofachter der Sprachentwicklung beim Kinde; sämtliche
moderne Forscher auf diesem Gebiete (PREYER, TOISCHER, A}
W. ie sim darin. Oberen, des Mädchen En und’
chneller sirechen lernen als Knaben, STERN Die Kindersprache, | |
1907, DL eiprg Ss Sm0y führt das tes Alf die n weiblichen Ge- |
Schlechte üderhaupt beschleunigt verlaufende Entwicklung zurück,
teils auf di: grössere Rezeptivität der Mädchen, infolge deren
sie sich Eindrücken mehr hingeben, imitativ stärker veranlagt sind
und so auch früh.korrekter und konventioneller sprechen..als.die
gleichalterigen Knaben. .
Die ästhetische Seite der Sache, die ich an dieser Stelle
besonders betone, erwähnen diese Kinderpsychologen nicht.
Nach meiner eigenen Erfahrung neigen Mädchen entschieden
mehr als Knaben zu metaphorischen Wortschöpfungen, besonders
bei Zısammensetzungen.
{21
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
Suchen wir festzustellen, wie viel Frauen im Ver-
hältnis zur Zahl berühmter Männer einen auch nır
mässigen Grad von Ruhm oder Ruf. erlangen, so sind
es bis auf den heutigen Tag sehr wenige. Bezüglich
der literarischen Erfolge hat MAnTEGAzzA das Drzionart0
biografico degli Scrittori Contemporanei daraufhin durch-
gesehen und gefunden, dass von 4500 darin aufgeführ-
ten Literaten nur 4,1%o Frauen waren. In menner
Schrift über das Genie in England von den frühesten
Zeiten bis zum neunzehnten Jahrhundert, bei der ich
das Dictionary of National Biography benutzt habe,
fand ich, dass unter den 1030 hervorragendsten Briten
auf allen Gebieten nur 5,3 °%o Frauen waren, wobei zuU-
gegeben werden muss, dass ein geringerer Grad von
Begabung genügt, um einer Frau den Zutritt in diesen
Kreis zu eröffnen).
Bei einer Untersuchung an ungefähr 900 Individuen
fand GALTON künstlerische Geschmacksrichtung, d. h.
Vorliebe für Musik, Zeichnen, Modellieren etc. bei 28° 0
der Männer und 33°%o der Frauen, woraus hervorgeht,
dass, obschon bei uns die Erziehung alles Mögliche tut,
um eine künstlerische Geschmacksrichtung bei den "rauen
besonders zu entwickeln, die beiden Geschlechter doch
in dieser Hinsicht fast gleich stehen?). Wenn wir auf
die primitivsten Zeiten zurückgehen, so könısen wir
sicher sein, dass die rohen Darstellungen von Menschen,
Tieren oder anderen Gegenständen aus der Nıtur, die
sich auf Felsen oder Gebrauchsgegenständen eingeritzt
finden, das Werk von Männern sind. Auch in unserer
Zeit ist die Neigung zu schnitzeln, zu zeichnen und
alles zu bekritzeln, — worin wir den künstlerischen
Trieb in seiner primitivsten Form erblicken müssen —
bei Knaben und Männern viel intensiver als bei Mäd-
chen und Frauen; sowohl in Schulen als in Gefäng-
nissen macht sich in dieser Hinsicht ein bedeutender
Unterschied geltend.
ı) HAveLock ELus, 4 Study of British Genius, Kap. 1.
2?) Natural Inheritance, chap. z.
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG. 425
Man darf demnach wohl sagen, dass Frauen weniger
Phantasie besitzen, als Männer. In einer Untersuchung
über Angstvorstellungen bei Rindern fand K. FACKENTHAL,
dass Knaben viel mehr Originalität zeigten, als Mäd-
chen und dass die Gegenstände ihrer Befürchtungen
häufiger rein imaginär waren, obgleich im übrigen in
diesem frühen Alter die Geschlechtsunterschiede gering
waren!). Wenn es sich dabei um einen konstanten
Unterschied handelt, so wäre das nicht ohne Bedeutung,
denn die Kunst wächst aus den Wünschen und Be-
fürchtungen der Menschen heraus, Die Geistesstörungen,
welche die elementarsten menschlichen Impulse in so
Schrecklicher Klarheit zu Tage bringen, offenbaren beim
Weibe eine merkwürdige Armut der Phantasie. TOvLOUSE,
ein psychologisch scharfblickender Psychiater, bemerkt
in dieser Hinsicht, dass die bei geisteskranken Frauen
anzutreffenden Wahnideen wenig zahlreich und einfach
Nach ihrem Inhalt sind; „das geisteskranke Weib be-
sitzt sehr wenig Erfindungsgabe bei der Konzeption
von Wahnideen; sie zeigt nichts von der, verschwende-
Tischen Extravaganz, die_man_ bei Männern, findet“).
Die Der Mannern so häufigen “Charakteristischen Grössen-
ideen sim bei Frauen selten und dann immer
Schwach und hausbacken; sie beziehen sich meist. auf
Schöne Kleider, viele Kinder und eine geheimnisvolle
Erbschaft, -
_ Die Auffassung von Mögıus, wonach die künstle-
fische Begabung die Bedeutung eines sekundären männ-
lichen Geschlechtsmerkmals besitzt, ganz wie der Bart,
kann nicht ohne ‚starke Einschränkung akzeptiert
Werden, aber sie kommt der Wahrheit nahe*).
___ Fegrarero hat die unbedeutende Rolle, die die Frauen”
In der Kunst spielen, und ihren geringeren Sinn für rein
ästhetische Schönheit durch ihre weniger intensiven
1) Pedagogical Seminary, x895, Oktober, pP. 322. |
2) S. Archives d’ anthropol. crimin., Febr. 1903, PD. 122,
3) P. J. Mögıus, Stachyologie, 1901.
126
DIE KÜNSTLERISCHE BEGABUNG.
sexuellen Gefühle zu erklären gesucht!) Ohne Zweifel
ist dies ein wichtiger Faktor. Die sexuelle Sphäre ist
beim Weibe massiver und ausgedehnter als beim Mann®e,
aber weniger energisch in ihren Äusserungen. Beim
Manne bildet der Geschlechtstrieb eine stete Quelle
von Energie, die sich in alle Arten von Kanälen er”
giesst. Die Seltenheit weiblicher Künstler ersten Ranges
ist jedoch wahrscheinlich noch einer anderen, weiterhin
zu erörternden Ursache zuzuschreiben, nämlich der
grösseren Variabilität des männlichen Geschlechts,
Nov.
Fa FERRERO, Woman’s Sphere in Art. (New Review;
1893.
XV. Kapitel.
Die Psychopathischen Erscheinungen.
Der Selbstmord. — Faktoren der Selbstmordziffer der Ge-
Schlechter in Europa. — Einfluss des Alters, — Ursachen des
Selbstmordes. — Methoden des Selbstmordes. — Der Mann be-
Vorzugt aktive, das Weib passive Methoden. — Bedeutung der
. Rasse für sexuelle Unterschiede des_Selbstmordes,
Die Geistesstörungen. — Statistik. — Ätiologie. — Formen
der Geistesstörung. — Zunahme des Alkoholismus und der. pro-
gressiven Paralyse beim weiblichen Geschlecht. — Die progressive
Paralyse als typisch männliche Psychose. — Geistesstörung und
| Zivilisation.
Kriminalität. — Schwierigkeiten einer Kriminologie. — Gründe
der geringen weiblichen Kriminalität. — Dle besonderen Formen
der weiblichen Kriminalität. — Kriminalität und Zivilisation.
Der Selbstmord.
Der Selbstmordtrieb ist nicht unter allen Um-
ständen etwas Pathologisches, wenn es auch ohne
allen Zweifel richtig ist, dass in. der Mehrzahl der
Fälle der Selbstmord einen beträchtlichen. Grad pSJY-
Chischer Abnormität voraussetzt, einen Defekt des
geistigen Gleichgewichts, der sich entweder auf eine
Plötzliche Erschütterung zurückführen lässt oder nur
das Endstadium eines langsamen Zersetzungsprozesses
darstellt. Nur ‚selten ist der Selbstmord das Re-
Sultat einer wohlüberlegten Abwägung der Tatsachen,
bei der sich ergibt, dass, wie MARC AnrTon sich aus-
drückt, „das Haus rauchig ist und man ausziehen muss,“
Die Philosophen, welche diesen Rat erteilen, haben
428 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
nur selten ihr eignes Haus rauchig gefunden. Die Er-
gebnisse der Totenschau in, England zeigen, dass e$
sich bei einer sehr grossen Zahl von Selbstmorden um
exzentrische oder perverse, überspannte oder geistig
nicht genügend agquilibrierte Individuen handelt, dıe
— unter Umständen, welche vielleicht Jedem den Ge-
danken an Selbstmord nahelegen — sich nicht g&,
nügend geistige Klarheit bewahrt haben, um einzusehen,
dass sich trotz aller Qual das Leben doch noch er-
tragen Jässt. Die pathologische Natur des Selbstmord$s
in der Form, die er bei uns gewöhnlich annimmt, geht
schon aus seinem eigentümlichen Parallelismus mit der
Erscheinungen des Irreseins hervor”).
Es :ist eine bekannte Tatsache, dass viele kos-
mische, soziale und Rassen-Einflüsse die Häufigkeit des
Selbstmords beeinflussen; so finden wir das Maximum
der Selbstmordfälle, sowie der an Geistesstörung, in
den ersten heissen Sommermonaten. Bei Europäern
kommt öfter Selbstmord vor als bei Negern und
andern tief stehenden Völkern, und in Europa selbst
häufiger bei den germanischen als bei den lateinischen
Rassen. Auch in Amerika machen sich diese Rassen-
unterschiede in hohem Masse geltend. Es gibt mehr
Selbstmorde in der Stadt als auf dem Lande, in Industrie-
Zentren mehr als in Gegenden, wo nur Ackerbau ge-
trieben wird, und unter Soldaten und Matrosen mehr
als unter Zivilisten. Ein ‚starkes Kontingent zu der
1) Die englische Jury nimmt bei fast jedem Selbstmord ein
pls Moment an und spricht in einer althergebrachten
ormel von „temporärem Irresein“, was sich jedoch durchaus
nicht immer rechtfertigen lässt, Das englische Gesetz bleibt mit
jenem ihm eigentümlichen Konservatismus, der es zu einem SO
interessanten Gegenstand für Archäologen macht, dabei, selbst 19
den neuesten Reformentwürfen, den Selbstmord als Verbrechen
zu betrachten. Der Mann, welcher. mit Erfolg zum Selbstmord
schreitet, ist unschuldig, der, welcher es nur bis zum Selbstmord-
versuche bringt, gilt als Verbrecher. Sir FREDERICK POLLACK sagt
dazu mit Recht („Oxford-Lectures“): „Bei unseren heutigen poli-
tischen Systemen findet man die modernsten Finessen entwickelter
Gesetzgebungskunst neben Reliquien einer Jurisprudenz, die etwa
so primitiv sind, wie die der Zwölf-Tafel-Gesetze des alten RomS -
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 429
Selbstmordziffer, ja verhältnismässig ein stärkeres als alle
andern, liefern die gelehrten Berufsarten, dıe in dieser
Hinsicht nur von der Klasse der Beschäftigungslosen
noch übertroffen werden!). Unverheiratete beiderlei Ge-
Schlechts begehen häufiger Selbstmord als Verheiratete,
Was ganz besonders für die‘ Fälle gilt, wo Kinder vor-
handen sind. Junge Witwer und Witwen begehen
doppelt so häufig Selbstmord als gleichalterige Ver-
heiratete, und im Alter ist die Tendenz zum Selbst-
mord bei Verwitweten beiderlei Geschlechts noch stärker
ausgesprochen. Bejahrte Leute begehen überhaupt öfter
Selbstmord als junge.
In Europa kommt der Selbstmord bei Männern 3—4
mal häufiger vor als bei Frauen, eine Beobachtung, die
Zuerst vor ungefähr 50 Jahren von dem berühmten
Irrenarzt EsqQuiroL gemacht wurde, Folgende Tabelle
gibt die Hauptschwankungen der Selbstmordziffer in
den verschiedenen Ländern an, wobei die Verteilung
von je 100 Selbstmorden auf die beiden Geschlechter
angegeben ist ?).
') WESTERGAARD weist nach, dass der ökonomische Faktor
des Selbstmords in England und Wales ganz besonders deutlich
zu Tage tritt, indem die Selbstmordziffer steigt, sobald der Export
oder der Import sinkt ( „Grundzüge der T heorie der Statistik“.
Jena 1890 S. 14.)
2) Diese Tabelle ist aus der „Statistique de la France“ von
MaAvurıce BLocH und dem Art. „Suicide“ (in dem Dict eneycl.
des Sci. Med.) von LEGOYT zusammengestellt und mit zahlreichen
eigenen Zusätzen versehen. Nach der Zusammenstellung der
oben gegebenen Daten ist eine wichtige Schrift über die Bedeu-
tung des Selbstmords vom soziologischen Standpunkte aus €r-
Schienen, die DURKHEIM zum Verfasser hat. (Le ‚Suicide, Parıs
1897); die Frage des Unterschieds im Verhalten beider Ge-
(Sr echter in dieser Beziehung wird darin eingehend erörtert.
. PP. 38, 185, 189, 231, 389, 442.) .
Ich habe es "hicht für nötig gehalten, die oben gegebenen
Zahlen durch solche aus der Statistik des letzten Jahrzehnts zu
ersetzen, da die Verhältnisse sich nicht geändert haben. (Bemerkt
Sei noch; dass in der Zeit von 1881 bis 1898 Russland eine
Ständige erhebliche Zunahme, Schottland eine ständige noch
grössere Abnahme, und Schweden ganz zuletzt eine erhebliche
Zunahme der Weiberbeteiligung am Selbstmorde zeigt. — K.)
... Betrachtet man sehr grosSe Völkermassen von ziemlich ein-
heitlicher Rassen- und Klassen-Zusammensetzung, so verschwinden
430 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Deutsches Reich (1881—90)
Preussen (1881—90) .
Bayern (1881—90) .
Sachsen (1881—90) .
Hamburg (1881—90) .
Elsass-Lothringen (1881—901)
Frankreich (1827—80)
(1849—54)
(1870)
(1886)
„. (1890)
Paris (1849—54) .
London (1858—59)
we (1891). .
England (1858—59)!)
(1861—88)
” (1891) .
Irland (1874—83) . .
Schottland (1877—81ı)
Verein. Staaten (1860)
Connecticut (1878 — 82)
New-VYork (1870—72)
M. Fr.
747 253
74:8 25,2
76,3 237
73,1 26,9
67,0 330
79,6 20:4
77 23
80 20
81 19
79 21
78 22
68 32
69 31
76 24
73 25
74 26
75 75:2
73 27
79 39
70 21
79 39
78 22
die Unterschiede fast ganz. Das ergibt sich deutlich aus den
Tabellen von F. L. HorFFMANNn; er verglich 10000 Fälle von Selbst-
mord aus verschiedenen nordamerikanischen Staaten mit 400000 in
Europa vorgekommenen Selbstmordfällen, und fand den Prozent:
satz der Selbstmörderinnen in beiden Weltteilen völlig gleich,
nämlich 21,6°%,. (The rex relation in suicide, Publ. of American
Statist. Assoc., März— Juni 1894.) Auf geringeren miteinander
verglichenen Gebieten macht sich ein starker Einfluss von Rasse
und Religion geltend; in Kanada z. B. hat OnTArıo eine weibliche
Selbstmord-Frequenz von 21,8%, während sie in der katholischen
Provinz Quebei nur 12,5% beträgt.
1) Nach OcLE war in dem Zeitraum von 1858—1883, nach
Reduzierung auf gleiche Bevölkerungsziffer, auch in den einzelnen
Altersstufen das Verhältnis der männlichen Selbstmord-Rate zur
weiblichen wie 104:39 oder 267:100. Die jährlichen Zahlen der
auf 1000000 Individuen (im Zeitraum von 1861—1888) kommenden
Selbstmorde finden sich in dem interessanten Artikel „Suicide
von HaAcKg Tuxge, im „Diction. Psych. Medic.“ Diese Zahl ist für
Männer von 100 auf 124, für Frauen von 35 auf 29 gestiegen.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 431
Viktoria (1865—970)
Österreich (1876—77)
Ungarn (1851—54)
Schweiz (1876—83) -
Canton Genf (1838—855)
Belgien (1865—83) .
Holland (1875—70)
” (1880 —82)
Dänemark (1835—56)
„ (1861—86)
Copenhagen (1835—356)
Norwegen (1866—73) .
„ (1876—82)
Schweden (1856—82)
Finnland (1876—83)
Russland (1870—74)
Italien (1867) .
„ (1874—883)
Spanien ©. .
M. Fr.
82 18
83 17
72° 28
86 14
82 18
84 16
78 22
81 19
75 25
78... 22
70 30
76 ° 24
79 21
78 22
81 19
SO 20
81 19
80 20
71 29
In Spanien ist demnach die Neigung der Frauen zum
Selbstmord grösser als in irgend einem anderen Lande
(mit alleiniger Ausnahme von England (seit 1891), Schott-
land!) und Ungarn, wo die Zahlen sich fast ebenso ver-
halten), indem immer ein weiblicher Selbstmord auf
2,5 männliche kommt. MonrseLLI führt diese grössere Selbst-
Mmordtendenz der spanischen Frauen auf „die grössere
Intensität ihrer Leidenschaften zurück,- die sie dem
männlichen Geschlecht näher bringen.“ In der Schweiz
dagegen ist die Zahl der weiblichen Selbstmorde geringer
als in irgend einem anderen Lande (nach MORSELLIS An-
1) Es ist eine interessante Tatsache, dass im Anfang dieses
J ahrhunderts, wo Geistesstörung fast überall bei Männern häufiger
auftrat als bei Frauen, Spanien (nach EsqQuıroL)_ und Schottland
die einzigen Länder.waren, in denen weibliche Irre bei weitem
an Zahl überwogen. Übrigens stellt sich neuerdings die Weiber-
beteiligung am Selbstmorde in Schottland folgendermassen;
Auf t00 männliche Selbstmorde trafen weibliche:
In den Jahren 1881/85 1886/90 1891/93 1894/98
471,2 49,4 393 372.
a
432 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
gaben .10°0 gegen 28°%o in Spanien). Im ganzen scheint
das weibliche Geschlecht stärkere Schwankungen der
Selbstmordrate aufzuweisen als das männliche; zugleich
finden. wir in den weiblichen Selbstmordziffern eine aus-
gesprochene Tendenz zur Abnahme, oder, mit anderen
Worten, Frauen nehmen an der modernen Entwicklung
des Selbstmords geringeren Anteil als Männer!). Dies
gilt für Frankreich, England und. Norwegen, jedoch
nicht für Preusen, wo der Selbstmord im allgemeinen
im Verhältnis zur Bevölkerung abnimmt, während der
Anteil, den Frauen an Selbstmord und Kriminalität
haben, in langsamer Zunahme begriffen ist. Im ganzen
jedoch ist das Verhältnis zwischen männlichen und
weiblichen Selbstmorden ein viel konstanteres als das
zwischen der Bevölkerung und den Selbstmorden im
allgemeinen. So kamen in Sachsen sowohl im Jahre
1867 als 1877 18 weibliche Selbstmorde auf 82 männ-
liche, während in-diesen Jahren die Zahl der Selbst-
morde im allgemeinen von 3ı2 bis zu 394 auf eine
Million stieg. In Italien kamen im Jahre 1877 nur 41
Selbstmorde auf eine Million Einwohner, während das
Geschlechtsverhältnis dasselbe war wie in Sachsen,
nämlich 80:20. Dies scheint für alle europäischen Länder
durchweg zu gelten?®).
Der Selbstmordtrieb scheint beim Weibe überall
frühzeitiger aufzutreten als beim Manne. In England
ist die Zahl weiblicher Selbstmorde im Verhältnis zu
der der männlichen bei ıojährigen Kindern ausser-
ordentlich hoch; im Alter von ı5 und 20 Jahren sind
die Zahlen für beide Geschlechter fast gleich, mit
einem leichten Überwiegen des weiblichen Geschlechts;
dann sinkt die weibliche Rate mehrere Jahre hindurch,
um erst wieder gegen das 45te Jahr anzusteigen. Im
Greisenalter findet sich ein viel stärkerer Selbstmord-
trieh bei Männern als bei Frauen. Das geht aus
ı) Diese: Beobachtung ist schon vor mehreren Jahren von
LEcoyT (Ann. Med. Psych. März 1870 p. 325) gemacht worden.
2) HARALD WESTERGAARD, Die Grundzüge der Theorie der
Statistik, Jena, 1890 p. 13.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 433
folgender, von OeLE aufgestellter Tabelle hervor, welche
die männliche und weibliche Selbstmordzahl (letztere
als 100 angenommen) in den verschiedenen Alters-
klassen angibt ?):
Altersklasse:
ıo Jahr —
Frauen
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
15
20
25
35
15
35
65
85
95 +ö
133
87
182
236
282
263
333
349
360
49I
Bezüglich des ausgesprochenen Überwiegens weib-
licher Selbstmorde über die männlichen im Alter
zwischen ı5 und 20 Jahren bemerkt OcLE, dass „dies
auch, den Standes-Amts-Berichten zufolge, .die einzige
Periode ist, in der die weiblichen Todesfälle im all-
gemeinen zahlreicher sind als die männlichen und in
der auch, wie aus der Zählung von 1881 hervorgeht,
Erkrankungen an Geistesstörung (mit Ausnahme von
Idiotie und Imbecillität) beim weiblichen Geschlecht
ausserordentlich viel häufiger vorkommen als beim
Männlichen.“
In Frankreich ist in dem Alter von 7 bis 16
Jahren der Selbstmord auf beide Geschlechter gleich
verteilt, aber von 100 Frauen, die in: Frankreich
(in den Jahren 1876-80) Selbstmord begingen, hatten
9 noch nicht ihr z2ıtes Jahr erreicht, während von
100 männlichen Selbstmördern nur 4 jünger als 21
Jahre waren?). In Prag werden nach‘ MORSELLI 6/10
aller weiblichen Selbstmorde von Frauen unter 30 Jahren
begangen. Interessant ist auch die verhältnismässige
1) W. OcLe, On Suicide in Relation to Age, Sex etc. (Journ.
Statist. Society. 1886.) N | | ,
z) S. Lecoyr, Art. „Suicide“ im Dict. encych des Sciences Med.
Ellis, Mann u. Weib. 2 Aufl.
29
434 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Häufigkeit der Selbstmorde bei ı5jährigen Mädchen,
eine Tatsache, die ohne Zweifel mit der Anspannung
in Beziehung zu bringen ist, welche die gerade 1n
diesem Alter sich vollziehende, frühe physische Ent-
wicklung des Weibes bedingt. Ein häufiger, verborgener
Faktor zahlreicher weiblicher Selbstmorde ist wahr-
scheinlich auch Scham vor der bevorstehenden Mutter-
schaft, In Frankreich werden die meisten männlichen
Selbstmorde im Alter zwischen 40 und 50, die meisten
weiblichen zwischen ı5 und 30 Jahren begangen; dann
tritt für das weibliche Geschlecht eine Zeit verhältnis-
mässiger Ruhe ein, vom 3osten zum 35sten Jahre und
später noch einmal zwischen 65 und 75, nachdem die
Klippe des Klimakteriums glücklich umschifft ist. In
England hat sich in den letzten 50 Jahren eine allge-
meine Zunahme der Selbstmorde in allen Altersstufen
geltend gemacht, mit alleiniger Ausnahme der Frauen
über 65 Jahre. Die neueste preussische Selbstmord-
Statistik zeigt für: 1898 folgendes Ergebnis:
Alter
Unter 10 Jahren
10—15
15—20
20—25
25—-30
30—40
40—50
50—b60
60—70
70—80
über 8So
Zahl der Selbstmorde
männliche weibliche
3
53
283
454
327
847
1004
960
662
323
zo
14
145
162
108
215
198
192
159
82
292
Es wäre von Interesse, die sexuelle Verteilung der
Selbstmorde .in Europa mit der aüussereuropäischer
Länder und niederer Rassen zu vergleichen, indessen
ist es nicht leicht, statistische Mitteilungen. hierüber ZU
erhalten. In Indien scheint das gewöhnliche Verhältnis
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN, 435
europäischer Selbstmorde beinahe umgekehrt zu sein,
indem 5,5 männliche Selbstmorde auf 8 weibliche kommen;
und Stabsarzt Dr. M’Leop, der das Verhältnis männlicher
Selbstmorde zu weiblichen in Indien in runden Zahlen als
100: 150 angibt, meint, dass in Wirklichkeit die Zahl
der weiblichen Selbstmorde eine noch viel grössere wäre.
»Die Sitte des ‚Sati‘ (Witwenverbrennung), die noch im
ganzen Lande ziemlich verbreitet ist, die niedere soziale
Stellung der Frauen, ihre Unwissenheit und mangelhafte
Erziehung bewirken, dass sie mehr als die Männer zum
Selbstmord geeignet sind«,
_ Die Ursachen des Selbstmordes decken sich in
ihrer Verteilung auf die beiden Geschlechter fast genau
mit den Ursachen der Geistesstörung. Gemütsbewegungen,
Leidenschaften und häusliche Sorgen sind die beim
weiblichen, Überanstrengung und finanzielle Nöte die
beim männlichen Geschlecht häufigeren Selbstmord-
motive, während körperliche Krankheit bei beiden Ge-
schlechtern gleich häufig die Ursache bildet, (S. Mor-
SELLI, ‚Suzcide p. 309—10; ferner LOMBROSO und FERRERO,
Das Weib als Verbrecherin IV. Teil Kap. 7.) Wenn wir
uns der preussischen Statistik zuwenden, SO finden wir,
dass „Leidenschaften“ als Selbstmordmotiv angegeben
wurden: im Jahre 1883 bei 19°%0 der Männer und 6;4 % 0
derFrauen, i. J. 1887 bei 2,5°0o der Männer und 6,5 °%/o
der Frauen; Scham und Gewissensbisse werden in
der preussischen Statistik des Jahres 1883 für 7,6% der
männlichen und 09,2 °%0o der weiblichen Selbstmorde ver-
antwortlich gemacht, indessen ist einer offiziellen
Statistik über die Ursachen der Selbstmorde kein all-
Zugrosses Gewicht beizulegen.
Die mannigfachen Methoden des Selbstmords werfen
ein eigentümliches Licht auf die Psychologie der Ge-
Schlechter und sind ausserdem besser zum Studium ge-
eignet als offizielle - Berichte über Selbstmordursachen,
Im allgemeinen gilt für ganz Europa ein Gesetz, das
in seiner plumpsten Fassung heisst: Männer erhängen
Sich, Frauen ertränken. sich, obschon natürlich in den
98*
135 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
einzelnen Fällen. die Geschlechter nicht selten die Me-
thoden vertauschenl.
Diese Regel gilt wohl für die ganze Welt, wenn
auch mit einigen Modifikationen; so zeigen in Indien
beide Geschlechter eine ausgesprochene Vorliebe für
das Ertränken; nach CuEvers suchen in Indien von 7
Selbstmörderinnen immer 6 den Tod im Wasser, während
bei Männern in diesem Lande der Selbstmord eben SO
häufig durch Ertränken als durch Erhängen gesucht
wird. In Europa sucht die grosse Mehrzahl der Knaben,
die Selbstmord begehen, den Tod durch Erhängen, die
Mädchen grösstenteils im Wasser, In England tritt
der grösste Unterschied zwischen beiden Geschlechtern
im Gebrauch von Gift und Waffen hervor, indem
ersteres von den Frauen, letztere von Männern bevor-
zugt werden. Doppelt soviel Frauen als Männer stürzen
sich, um ihrem Leben ein Ende zu machen, von irgend
einer Höhe herunter, während sehr viel mehr Männer
als Frauen sich auf die Schienen, einem Eisenbahnzuge
entgegenwerfen,
In folgender Tabelle gibt OcLE an, wie viel
0/00 auf die verschiedenen Formen des Selbstmordes
kommen:
Methode des Selbstmordes
Erhängen und Erdrosseln
Ertränken . . 0. 0...
Sıich- und Schnittwunden
Vergiften . . .
Erschiessen . . 0.0.0...
Herabspringen von einer Höhe .
Stürzen auf die Schienen. . .
Sonstige Methoden. .
Männer
417
152
207
79
67
21
24
323
Frauen
240
264
129
140
2
36
8
176
Der Herausgeber hat bezüglich der Selbmordmittel
aus der neuesten deutschen Literatur folgendes ermittelt:
1) In Dänemark z. B. begingen von den Männern 82,9 °/,
von den Frauen 56% durch Erhängen Selbstmord. (In der Zeit
von 1861-—-1886). )
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. . 437
HELLER !) THOoMSEN?)
(Kiel) (Holstein)
90 90 oo 90
Frhängen 550 36 660 _20
Erschiessen 240 30 170 40
Ertränken 100 410 130 640
Vergiften 60 210 40 100
Varia 50 70 — —
STELZNER ®)
(Berlin)
M. W.
"oo
200
20
395
170
305%)
Im allgemeinen kann man sagen, dass Männer beim
Selbstmord aktive Methoden bevorzugen, die grössere
Entschlossenheit verlangen und zugleich gewöhnlich
etwas Abschreckendes haben, Frauen dagegen zu den
mehr passiven Methoden, welche den äusseren Anstand
nicht verletzen und dabei weniger entschlossene Vor-
bereitungen erfordern, ihre Zuflucht nehmen. Die einzige
Ausnahme hiervon bildet das Überfahrenlassen vom
Eisenbahnzuge, bei welcher Methode drei männliche
Selbstmorde auf einen weiblichen kommen. Der Grund
hierfür ist wahrscheinlich der, dass diese anscheinend
Passive Methode des Selbstmords doch einen beträcht-
lichen Grad von Kühnheit erfordert und den Sinn des
Weibes für Wohlanständigkeit sowie ihren Horror ‚vor
allem, was öffentlich Aufsehen erregt, verletzt. Wenn sich
eine einfache Methode des Selbstmords ausfindig machen
liesse, bei der der Körper ganz vom Erdboden Ver-
Schwände, so würde dieselbe wahrscheinlich von denFrauen
Stark bevorzugt werden. Bei einer Summierung der Fälle
treten die Geschlechtsunterschiede bezüglich der aktiven
(Erhängen. Erschiessen und Kehle - durchschneiden)
Mü 1) HELLER, Zur Lehre von Selbstmord nach 300 Sektionen.
Ünch,. Med. Wochenschrift, 1900, Nr. 48, 5. 1654-
f 2) J. THomsen, Beobachtungen über den Selbstmord, Arch.
. Psychiatrie, XXI, S. 121. ,
S 83) H. STELZNER, Analyse von 200 Selbstmordfällen, Berlin,
. KARGER, 1906. .
m 4) In Berlin mit seinen zahllosen mehrstöckigen Häusern
pachten ‚von 295 Selbstmörderinnen 19 einen Sprung aus dem
enster, in Kiel tat das von 70 nur eine Frau.
138 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
und passiven (Ertränken, Vergiften, Herunterstürzen und
vom Eisenbahnzuge überfahren lassen) Methoden des
Selbstmords ganz besonders deutlich hervor. Nehmen
wir z. B. Preussen (1888), ein Land, in dem das weib-
liche Geschlecht eine besondere Vorliebe für den Selbst-
mord durch Erhängen und durch schneidende Instrumente
zeigt. In diesem Jahr wendeten von den männlichen
Selbstmördern 89°%o aktive und nur 11°%o passive
Methoden an, während sich von den Selbstmörderinnen
57 °l0 passiver und nur 43 °o aktiver Methoden bedienten.
Die Anschauungen über die besten: Methoden des
Selbstmoörds wechseln innerhalb einer Gegend beständig
und zwar, in England wenigstens, mit überraschender
Schnelligkeit. Folgende Tabelle erhält die Resultate
eines Vergleichs der beiden Jahre 1859 und 1891
— der frühesten und spätesten Zeitpunkte, zwischen
denen sich mit einigem Erfolg ein Vergleich anstellen
lässt — wobei ausschliesslich die vier Hauptmethoden
des Selbstmords berücksichtigt worden sind.
Waffen und Werkzeuge
Erhängen
Ertränken
Vergiften
Männer
858 1801
27,9 35:4
52,4 | 33:8
12,2 ' 20,4
7,5 | 10,4
Il
Frauen
1858 1891
19,0
36,0
28,2
1648
25,5
31,8
26,8
25,9
Die Neigung‘ zur Veränderung bezüglich des Ge-
brauchs von Waffen ist eine Anomalie; diese ausge-
sprochen männliche Methode des Selbstmords kommt
beim weiblichen Geschlecht selten und mit der Zeit
immer seltener vor, während sie bei Männern häufiger
wird. In der Entwicklung der. drei anderen Methoden
des Selbstmords zeigt sich eine gemeinsame Tendenz;
nämlich eine steigende Abneigung gegen den Tod durch
Erhängen und eine zunehmende Vorliebe für die
Methoden des Ertränkens und Vergiftens. Mit andern
Worten, die Frauen zeigen sich in ihrer Bevorzugung
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUN GEN. 439
passiver Selbstmordmethoden immer mehr spezifisch
weiblich, während die Männer allmählich von den
spezifisch männlichen Methoden zurückkommen und in
der Wahl der Selbstmordmethoden sozusagen weiblicher
werden, indem i. J. 1891 — trotz der wechselnden
Vorliebe für Feuerwaffen — nur 69,2 0/s der männlichen
Selbstmörder zu aktiven Methoden gegriffen haben,
gegen 80,3°%o i. J. 1858. Diese Zahlen lassen sich un-
möglich als reine Zufälligkeiten betrachten, vielmehr
besitzen sie, meiner Ansicht nach, eine gewisse Be-
deutung für die Richtung der Zivilisation.
Es gibt noch einen Faktor, der bei Besprechung
der verschiedenen Selbstmordmethoden nicht übersehen
werden darf, nämlich die Rassenverschiedenheiten; ich
selbst bin nicht imstande, diese Fragen erschöpfend
zu beantworten, indessen finden wir bei MORSELLI
interessante Bemerkungen über diesen Gegenstand.
„Die Nationen, bei welchen männliche Selbstmörder
eineausgesprochene Vorliebe für den Tod durch Erhängen
an den Tag legen, sind: Dänen, Russen, Österreicher,
Württemberger; bei Slavo-Kroaten, Magyaren, Skandi-
naviern und Russen zeigt sich eine Vorliebe für den
Strang beim weiblichen Geschlecht (bei den Russen in
gleichem Masse bei beiden Geschlechtern). Hieraus
ergibt sich eine ausgesprochene Tendenz slavischer
Selbstmörderinnen für den Tod durch Erhängen, während
dagegen bei den kelto-romanischen Rassen, Franzosen,
Italienern, Belgiern, sowie bei Schweden und Schweizern
der Selbstmord durch Ertränken , besonders bevorzugt
wird. In allen Ländern mit slavischen Elementen suchen
die Selbstmörder verhältnismässig sehr selten den Tod
im Wasser. Die grösste Zahl der Selbstmorde mit
Feuerwaffen finden wir bei der kroatischen Grenzbe-
völkerung und zwar bei Frauen verhältnismässıg noch
häufiger als bei Männern. Der Tod durch :Vergiften
wird ganz besonders von schwedischen und Öster-
reichischen Frauen bevorzugt. In Frankreich; kommen
auf 1000 Selbstmörderinnen nur 6, die sich der Feuer-
waffe bedienen, in Italien 35. Diese ausgesprochene
140 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Vorliebe der italienischen Frauen für Messer oder Pistole,
die in schroffem Gegensatz zu der Abneigung franzö-
sischer Selbstmörderinnen gegen den Gebrauch von
Waffen steht, finden wir wunderbarerweise bei englischen
und amerikanischen Frauen wieder, obschon im allge-
meinen die angelsächsischen Lebensgewohnheiten SO
sehr von den italienischen abweichen.“
Die Frage, ob die verhältnismässige Immunität des
weiblichen Geschlechts gegen Selbstmord-Impulse etwas
Tatsächliches oder nur Anscheinendes ist, ist vielfach
erhoben worden. Es scheint, dass diejenigen Beschäfti-
gungen, welche die Frauen „durch körperliche und
geistige Gewohnheiten den Männern nähern“, die Selbst-
mordquote beim weiblichen Geschlecht beträchtlich er-
höhen‘), ebenso wie sie die weibliche Kriminalität und das
weibliche Irresein steigern. Es liegt auf der Hand, dass
die Frauen sich in ihren Handlungen dem männlichen
Geschlecht immer mehr nähern, je mehr ihre Lebens-
bedingungen denen der Männer ähnlich werden. Diese
Tatsache sagt uns indessen nichts über die spezielle
Psychologie des Weibes: sicherlich ist sie nicht der
einzige in Rede stehende Faktor, denn während die
weibliche Arbeit heutzutage der. des Mannes bei
weitem näher steht, als es vor 50 Jahren der Fall war,
haben wir gesehen, dass die Selbstmordneigung beim
weiblichen Geschlecht im Vergleich mit‘ der des Mannes
im Abnehmen begriffen ist. Das Überwiegen männ-
licher Selbstmorde ist vielfach dadurch ‚erklärt worden,
dass Frauen im Kampf ums Dasein eine mehr geschützte
Stelle einnahmen, sowie dadurch, dass sie anpassungs-
fähiger, selbstaufopfernder und resignierter sind, sich
mehr von religiösen Skrupeln und von der öffentlichen
Meinung beeinflussen lassen, und dass bei ihnen der
Alkoholismus nicht die verhängnisvolle Rolle spielt
wie beim Manne. Ein Autor sagt bei der Erörterung
dieser Frage, dass der Geschlechtsunterschied hinsichtlich
der Selbstmorde nicht, so gross sein würde, wenn man
1) Journ. of Ment. Science, Bd. XXXI p. 95.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEIN UNGEN. 441
alle die, welche an Selbstmord denken, die also ge-
Wissermassen selbstmörderisch veranlagt sind, mit hinein.
ziehen wollte. „Viel mehr Frauen als Männer wünschen
den Selbstmord oder glauben doch, ihn zu wünschen,
haben aber nicht den Mut, ihrem Leben ein Ende zu
machen !). Auch HARRY CAMPBELL meint, dass der Gedanke
an Selbstmord Frauen häufiger kommen mag als
Männern, weil sie öfter als diese an den leichten Formen
der Melancholie erkranken; indessen glaubt er nicht,
dass es den Frauen an Mut fehlt, sondern schiebt die
geringe Zahl weiblicher Selbstmorde auf die grössere
Resignation der Frauen und ihr stärkeres Pflichtgefühl.
Nach seiner Ansicht ist der suxuelle Unterschied in
der Selbstmordziffer grösstenteils auf äussere Umstände
zurückzuführen. ?)
Meiner Meinung nach haben äussere Umstände auf
die Verteilung der Selbstmorde nach dem Geschlechte
nur einen sehr beschränkten Einfluss und nur in ganz
allgemeiner Weise, was auch durch die geringen Unter-
Schiede, die alle Länder Europas in dieser Hinsicht
aufweisen, sehr wahrscheinlich gemacht wird. Dass
Frauen sehr häufig an Selbstmord denken, ist wahr-
Scheinlich und dazu kommt noch, dass Frauen sehr
häufig erfolglose Selbstmordversuche machen, die, wenn
man sie mitrechnete, die Zahl der weiblichen Selbst-
Morde beträchtlich steigern würden, Die passiven Me-
thoden der Selbstvernichtung sind nicht immer anwendbar
und sind eher von Misserfolgen begleitet; wenn aber
ein Weib eine energischere Methode des Selbstmordes
wählt, so ist es sehr leicht möglich, dass sie ihren
Zweck verfehlt, weil sie mit gewaltsamen Massnahmen
Weniger vertraut ist als der Mann.
Diese Umstände tragen ohne Zweifel das ihrige
dazu bei, dem Einfluss melancholischer Depression, dem
die Frauen oft unterworfen sind, entgegenzuwirken,
i) Journ. of Ment. Science, Juli 1885 Bd. XXXL p. 218.
pp 2) H. CAMPEEHLG Nervous Organisation of Man and Woman.
. 217—218,
142 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Im ganzen indessen haben wir allen Grund anzunehmen,
dass der Trieb zum Selbstmords — jedenfalls unter
den europäischen Rassen — beim Manne stärker ist
als beim Weibe.
Geistesstörung. ;
ARETAEUS, ein griechischer Arzt des ersten Jahr-
hunderts, und CogLIus AURELIANUS, ein angeblicher nu-
midischer Arzt aus dem 5ten Jahrhundert n. Chr., lehren,
dass Geistesstörung beim Manne häufiger vorkommt,
als beim Weibe, EsovmoL, der der Erste gewesen zu
sein scheint, welcher diese F rage auf statistischem Wege
zu lösen suchte, kam nach mühevoller Arbeit zu dem
Resultat, dass Geistesstörungen beim weiblichen Ge-
schlecht häufiger seien als beim männlichen (38 Frauen
gegen 37 Männer!), eine Behauptung, die von GEORGET,
HasıAMm u. a. bestätigt wurde. Schon vor EsqQuiroL
hatte Burrows die Behauptung aufgestellt, dass in
grossen Städten Irresein häufiger bei Frauen aufträte
als bei Männern, was jedoch auf dem Lande nicht der
Fall wäre. PARcHAPPE tat einen grossen Schritt vorwärts,
indem er nachwies, dass wir, um zu einer präzisen Be-
stimmung der Häufigkeit des Irreseins bei beiden Ge-
schlechtern zu gelangen, uns an die Aufnahmen in
Irrenanstalten halten müssten, nicht an die Zahl ihrer
Insassen, da letztere durch die verschiedenen Sterblich-
keits- und Genesungsquoten beider Geschlechter stark
modifiziert würde, Er untersuchte die Aufnahmen in
verschiedenen grossen Irrenanstalten (Bethlem, Bicätre,
Salpötriere, Charenton, Turin etc.) und fand, dass mit
einer sehr deutlichen Ausnahme von Bic&tre und der
Salpetriere die Aufnahmen von Männern zahlreicher
waren als die von Frauen, für welche Erscheinung sich
seiner Meinung nach keine befriedigende Erklärung
geben lässt?) Einige Jahre später machte THuRNAM
i) „Maladies Mentales“ 1838, | .
2) „Recherches statistiques sur les Causes de PAlienation
Mentale“. Rouen 1839.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 443
eingehendere und exaktere Untersuchungen über diesen
Gegenstand als irgend einer seiner Vorgänger!), Er
wies nach, dass die Wahrscheinlichkeit der Genesung
beim weiblichen Geschlecht grösser sei als beim männ-
lichen, indem die Zahl der geheilten Frauen die der
geheilten Männer um 4—28 % überträfe. Einen noch
grösseren Unterschied wies er in der Sterblichkeitsziffer
nach, die beim männlichen Geschlecht 50, ja oft 90%
grösser, mithin fast doppelt so gross ist als beim weib-
lichen Geschlecht. Im Jahre 1844 gab es in England
und Wales 9053 männliche und 9701 weibliche Irren-
anstaltsinsassen, in London waren im Gegensatz ZU
ländlichen Bezirken die weiblichen Aufnahmen weit
zahlreicher als die männlichen. In 24 von 32 Irren-
anstalten (mit einer Totalsumme von 71800 Aufnahmen)
fand THURNAM ein entschiedenes Überwiegen männlicher
Aufnahmen über weibliche, nämlich um 13,7 0/0. In
einer‘ grossen Zahl britischer Irrenhäuser (mit 67,376
Aufnahmen) kamen ı12 Männer auf 100 Frauen. Die
Aufnahmen in den Londoner Irrenanstalten zeigten hin-
gegen kein derartiges Überwiegen der männlichen Auf-
nahmeziffer. THURNAM machte auch die Beobachtung,
dass in den unteren Volksklassen verhältnismässig mehr
Frauen geisteskrank werden, als in den höheren sozialen
Schichten. Er schliesst, dass „Frauen hinsichtlich der
Geistesstörung in allen Punkten günstiger gestellt sind
als Männer, denn einmal scheinen sie überhaupt weniger
zur Geistesstörung zu neigen, wenn sie aber einmal er-
krankt sind. so ist die Aussicht auf Heilung im ganzen
grösser, die Wahrscheinlichkeit eines Todesfalls geringer
als bei Männern. Andererseits allerdings ist aber die Ge-
fahr eines Rückfalls in die Krankheit bei Frauen etwas
grösser als bei Männern. Einige Jahre später kam
JArvısnach eingehenden Untersuchungen des statistischen
Materials englischer, irischer, französischer, belgischer
und amerikanischer Anstalten zu einem ähnlichen
1.0 , ee .
London Ob serwalien and Essays on the Statistics of Insanity“.
444 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Resultat, nämlich, dass Männer etwas mehr zu Geistes-
störungen neigen als Frauen )).
Wenn wir einen Blick auf die Zahl der Geistes-
kranken im allgemeinen werfen, so finden wir, dass in
unserem Jahrhundert in Europa irre Frauen zahlreicher
sind als irre Männer, was schon EsqumoL behauptet
hatte. Indessen gibt es Ausnahmen von dieser Regel.
In Deutschland, Dänemark, Norwegen und Russland ist
die Zahl der männlichen Irren grösser als die der
weiblichen. In Italien gab es i J. 1888 11895 männ-
liche und 10529 weibliche Irre; es kommen also 78,1
Männer und 70,1 Frauen auf 100000 Individuen der
allgemeinen Bevölkerung. In Italien ist auch die Zu-
nahme der Geistesstörungen beim männlichen Geschlechte
grösser als beim weiblichen, jedoch nur in ganz geringem
Grade, Im ganzen sind also in diesem Lande, und man
kann wohl mit Bestimmtheit sagen, auch überall sonst,
Männer bisher Geistesstörungen mehr unterworfen ge-
wesen als Frauen und jedes anscheinende Überwiegen
des weiblichen Geschlechts beruht auf Irrtum. Das ist
jedoch in England wenigstens nicht mehr der Fall.
Seit mehreren Jahren ist in den englischen Anstalten
nicht nur die Zahl weiblicher Anstaltsinsassen eine
grössere, sondern auch die Zahl weiblicher Aufnahmen
übersteigt die der männlichen; das ist von ärztlichen
Statistikern bestätigt worden ?).
Die Staatskommission gibt diese Anderung in den
Zahlen zu, und bemerkt dabei, dass dieser Unter-
schied nicht auf einem Fehler in der Zählung beruhen
kann. Wir haben also Grund zu der Annahme,
dass in England beim männlichen Geschlecht keine
stärkere Disposition zum Irresein besteht als beim
weihlichen.
') „On the comparative Liability of Males and Females to
Insanity“, 1850. ,
?) S. z. B. einen Artikel des Verfassers dieses Buches in der
Pall-Mall-Gazette (21. Mai 1892) „The Increase of Insanity among
Women“ u, den Art. „Sex, Influence of, in Insanity“ im‘ Dick, of
Psych. Med. 1892. — Beide Artikel sind in diesem Kapitel ausS-
giebig benutzt worden. ;
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 445
Die grössere Disposition des weiblichen Geschlechts
zur Geistesstörung ist überdies nichts Zufälliges; sie ist
das Resultat allmählicher Veränderungen, die sich in
England über ein Jahrhundert weit zurück verfolgen
lassen. Während der letzten Hälfte dieses Jahrhunderts
machte sich ein augenscheinlicher Überschuss der
männlichen Irren über die weiblichen geltend, aber
dieser Überschuss begann allmählich abzunehmen. Um
die Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts fand es
Tuunnam notwendig, die Zahlen sorgfältig zu analy-
sieren, um die grössere Disposition: der Männer für
Geistesstörungen. zu beweisen. Vor ungefähr 30 Jahren
war die Zunahme der Geistesstörung im Verhältnis Zur
Bevölkerung bei den Männern grösser als bei den Frauen,
wie NozL Hvumpurers nachgewiesen hat. Allmählich
stieg jedoch die Zahl weiblicher Geisteskranker und
während der Jahre 1878—87 betrug die Gesamtsumme
weiblicher Aufnahmen in öffentliche und private Irren-
anstalten Englands und Wales 69560 Personen gegen
66918 männliche Aufnahmen. Wir sehen hier einen
offenbaren Überschuss von Frauen; wenn wir jedoch
das Überwiegen des weiblichen Geschlechts in der all-
gemeinen Bevölkerung in Betracht ziehen, so scheint
die Disposition für Geistesstörung bei beiden Geschlech-
tern ungefähr gleich gross zu sein. In den letzten
Jahren nun sehen wir dagegen einen ganz entschiedenen,
wenn auch geringen Überschuss weiblicher Irrer, selbst
wenn wir das Verhältnis der Geschlechter in der all-
gemeinen. Bevölkerung in Betracht ziehen. Im Jahre
1890 wurden in öffentliche und Privatanstalten von
England und Wales 10025 weibliche und nur 9108
männliche Irre aufgenommen. Folgende Tabelle gibt
genau die Zahl der Aufnahmen auf 10000 Individuen
der allgemeinen Bevölkerung während der Jahre
1888— 18090 anl):
Psy C Mi Mr „Statistics of Insanity“ in HACK TUKE’s Dic £. of
‘6
DIE PSYCHOTATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Männer
Frauen
7888 5,23 5,24
1889 521 . 5:37
1890 5,55 5,71
Dieses Überwiegen weiblicher Aufnahmen gilt
übrigens für ‚alle Arten von Irrenanstalten und es sind
nicht die ärmeren Klassen allein, in denen das Irresein
zunimmt.
In den Verein, Staaten und den englischen Kolo-
nien (wie im Auslande überhaupt) sind männliche Irre
bedeutend in der Mehrzahl, Die Statistik ist in den
Verein. Staaten noch sehr unvollkommen, in Pennsyl-
vanien jedoch, wo mehr Wert auf dieselbe gelegt wird,
tritt dieses Überwiegen des männlichen Geschlechts
deutlich hervor; so zeigt das Jahr 1889, ein Durch-
schnittsjahr, 1017 männliche gegen 836 weibliche Auf-
nahmen, In Neu-Süd-Wales gab es nach einem offiziellen
Bericht gegen Ende des Jahres 1890: 1906 männliche
und 1196 weibliche Geisteskranke,' In der Kapkolonie
gab es um dieselbe Zeit an europäischen und ausser-
europäischen Anstaltsinsassen 335 Männer und 240
Frauen, wobei das Überwiegen des männlichen Ge-
schlechts bei der weissen Bevölkerung ebenso ausge-
sprochen war wie bei der farbigen,
Die Untersuchung der sexuellen Unterschiede in
den Ursachen der Geistesstörung liefert sehr unbefrie-
digende Resultate. Alkoholismus (der indessen näherer
Erforschung bedarf), wird in England und Frankreich
gewöhnlich als die Hauptursache der Geistesstörungen
bei Männern angegeben, nächstdem kommen sexuelle
Ausschweifungen und Nahrungssorgen. Beim weiblichen
Geschlecht gelten Liebesangelegenheiten, Nahrung5-
sorgen, häuslicher Kummer, religiöse Skrupel und
Eifersucht als die hauptsächlichen Ursachen geistiger
Erkrankung, |
Marro hat in der städtischen Irrenanstalt in Turin
von 1886—1895 Beobachtungen über das Lebensalter
gesammelt, in welches die erste geistige Erkrankung
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 447
je nach dem Geschlechte fällt!).. Er .berücksichtigte
nur solche Fälle, bei denen der Zeitpunkt des Krank-
heitsbeginns sicher anzugeben war. Vor dem Auf-
treten der Pubertät gibt es nur selten geistige Er-
krankungen, und dann beruhen sie meist auf einer Ent-
wicklungshemmung (Idiotie, Imbezillität, Kretinismus,
Mord, Insanity). In der Pubertät beginnt ein schnelles
Ansteigen der Erkrankungsziffer, das bei Mädchen
früher auftritt und länger anhält. In reiferen Jahren
sind Männer mehr zu Psychosen disponiert, aber in den
kritischen Jahren werden Frauen wieder mehr gefährdet,
während im. Alter kein Unterschied der Geschlechter
besteht.
Zwischen 1878—1887 wurden in alle Arten von
Irrenanstalten in England und Wales 136478 Personen
(66918 Männer und 69560 Frauen) aufgenommen. Wenn
wir die Ursachen der Geistesstörung betrachten, So sind
dieselben während des ıojährigen Zeitraums mit folgen-
den Prozentsätzen an der Gesamtzahl beteiligt:
M. F.
Alkoholismus . + 2. 00000000004 19,8 1.72
Verschiedene körperliche Leiden und
Anomalien . . . 0.0000 + „
Häuslicher Kummer (einschliesslich des
Verlustes von Freunden und Bekannten
Widerwärtige Verhältnisse (inkl. Geschäfts-
sorgen und Geldnöte). . + -
Geburt und Wochenbett .. ..-. +
Angst, Sorge und Überanstrengung .
Untälle oder Verletzungen . .
Religiöse Erregung . + ++ 4
Liebesangelegenheiten (und Verführung)
Nervöser Shock und Schreck . ;
Sexuelle Ausschweifungen
Luetische Erkrankungen
Masturbation . .
11,1 10,5
432 9,7
3:7
6,7
5:5
1.0.
2,09
2,5
1,9
0,6
0,2
0,2
1) Pa Lubertä, p. 233:
1448 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Überanstrengung
Sonnenstich .
Schwangerschaft
Laktation . oo. 0000000000000...
Krankheiten des Uterus und der Ovarien
Pubertät: . . - Va
Wechsel der Lebensbedingungen
Fiberhafte Erkrankungen
Entbehrungen und Hunger
Hohes Alter. .. .. 2
Andere Ursachen wurden ermittelt in
Die Ursachen waren unbekannt in. . .
Vorhergehende Anfälle der Krankheit
liessen sich nachweisen in. . .. 14,3 18,9
Erliche Belastung bestand in. ... 19,0 22,1
Angeborener Schwachsinn . 5,1 35
Im allgemeinen lässt sich hieraus der Schluss
ziehen, dass beim Manne Ursachen häufiger sind, die
das intellektuelle, bei Frauen solche, die das moralische
und Gemütsleben berühren. Man kann im ganzen sagen,
dass Momente, die auf das Hirngewebe einwirken,
häufiger bei Männern, moralische und emotive Elemente
häufiger bei Frauen Geistesstörung hervorrufen; Exzesse
sowohl im Genuss wie in geistiger Arbeit kommen bei
Männern häufiger in Betracht.
Die Verschiedenheit im Vorkommen bestimmter
Krankheitformen bei beiden Geschlechtern ergibt einige
interessante Resultate, stösst jedoch auf die Schwierig-
keiten einer ungleichmässigen Nomenklatur. Die eng-
lische Statistik ergibt für das Jahr 1889 folgendes Bild
der Verteilung der verschiedenen Krankheitsformen be}?
beiden Geschlechtern.
M. F.
0,7 0,4
2,3 0,2
1,0
2,2
2,3
0,2 0,6
— 4,0
0,7 9,5
1,7 2,1
3:8 46
2,3 1,0
21,3 20,1
M. W.
9 %%
46,1 52,1
21,1 28,0
13,9 8,3
4,7 3:4
Manie . . . .
Melancholie. . . .
gewöhnliche ,
Demenz } senile . .
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 449
Angebornes Irresein (mit Einschluss der
Idiotie und anderer von Kindheit an
bestehender geistiger Defekte) ... .
Andere Formen . . .
6,3 4:2
7:9 3:4
M.
F.
_ GARNIER gibt in seinem Buche über das Irresein
in Paris!) eine Darstellung seiner Erfahrungen über die
relative Häufigkeit der verschiedenen Psychosenformen
nach den Erfahrungen, die er 1886—1888 an 8130 Auf-
nahmen Geisteskranker auf der Pariser Polizeipräfektur
gemacht hat. Er hat die Klassifikation MaAcnans dabei
zugrunde gelegt und ich gebe seine Zahlen unter Re-
Auktion auf %. Bei der Vergleichung seiner Angaben
Mit denen der englischen Statistik muss man berück-
Sichtigen, dass es sich hier um eine Stadtbevölkerung
handelt.
M., W.
9/0 9
Alkoholismus (akuter, subakuter, chroni-
Poychiache Degeneration (Idiotie, Im-
becillität, Schwachsinn, erbliche De-
generation). . . . -
Allgemeine Paralyse PEN
Erworbener Schwachsinn (infolge von
organischen Hirnerkrankungen)
Melancholie „0
Manie. . .
Epilepsie ‘
Seniler Blödsinn... ...... +
Progressive systematisierte Wahnbildung
(Paranoia)...
3775 11,4
17,0 19,5
14,8 8,7
11,3 13,3
3:7 15:4
4:3 9:7
6,17 . Sl
3,1 8,7
2.2
8,2
Fxaltative Zustände gehören im’ allgemeinen Sinne
des Wortes der Jugend an; exaltative Erregung 1st, wie
CLiovstox bemerkt, in der Kindheit völlig natürlich; sie
St in der Tat der physiologische Zustand des Gehirns
') „La folie & Paris“ 1890.
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
DQ
450... DIE .PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.‘
in dieser Lebenszeit; Zustände von Depression charakte-
risieren ein vorgeschrittenes Lebensalter, in dem mania-
kalische Zustände ausserordentlich selten sind; manla-
kalische Krankheitsformen sind auch bei den Negern
sehr viel häufiger als alle anderen Psychosen und Manie
ist, wie allgemein zugegeben wird und wie auch die
oben angegebenen Tabellen zeigen, bei Frauen häufiger
als bei Männern !). MEnoeEL fand unter 800 Geisteskranken
5,2%0 der Männer und 9,6%0o der Weiber maniakalisch *).
Die heftigsten Formen der Manie, die akute maniakalische
Verwirrtheit ist bei Frauen bedeutend häufiger und er-
gibt bei ihnen eine bessere Prognose?®).
Es ist bemerkenswert, dass während die Manie die
Geistesstörung der Jugend und unzivilisierter Völker
ist, Melancholie bei Erwachsenen und Zivilisierten vor-
wiegt. Nach CuLiovsron gehört zu dem vollständigen
Typus der Melancholie ein hochgebildetes Gehirn.
Unter der gebildeten Bevölkerung sind nach CLovsToN
Melancholie, . Monomanie, Folie circulaire und Grübel-
sucht häufiger, d. h. alle diejenigen Formen, die auch
bei Frauen häufiger zu sein pflegen. Das grössere Vor-
wiegen von Melancholie und systematisierter Wahnbil-
dung (die man früher als Monomanie, heute als Para-
noia bezeichnet), ergibt sich schon aus den oben
stehenden Tabellen; auch die eigentümlichen Willens-
krankheiten, deren wichtigste Form als »Folie du doute«
bekannt ist, findet sich häufiger bei Frauen, und die in
einem beständigen Wechsel von Manie und ängst-
licher Deprimiertheit verlaufenden zirkulären Psychosen
') Nach meinen eigenen Erfahrungen, die sich vorzugsweise
auf die polnische Bevölkerung Preussens und die slavisch-deutsche
Mischrasse des östlichen Deutschlands beziehen, ist die einfach©,
heitere Exaltiertheit die typische Krankheitsform der unter 30 Jahre
alten weiblichen Bevölkerung dieses Ursprunges, während bei der
zumeist niederdeutschen Bevölkerung der preussischen Osts6£“
provinzen auch bei Frauen und Mädchen die depressiven Former”
vorwiegen. — K. .
2) MEenDEL, Die Manie, Wien 1881 S. 141.
3) R. Percy SmiTH, Art. „Acute delirious Mania“ Dict. Of
Psych. Med.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 451
Sind bei Frauen 4—5 mal häufiger als bei Männern.
Andererseits sind die schwereren, zumeist unheilbaren
Formen von Geistesstörung, die bei der armen Bevöl-
kerung vorwiegen, so. das epileptische Irresein, unter
Männern häufiger, indessen darf man aus diesen Tat-
Sachen keine zu hastigen Schlüsse ziehen.
Diejenigen Formen von Geistesstörung, welche
Neuerdings rapide beim weiblichen Geschlechte - zu-
Nehmen, sind dieselben, welche früher vorwiegend bei
Männern vorkamen, die Alkoholpsychosen und die allge-
Meine Paralyse. Trunksucht ist, wie jetzt glücklicherweise
allmählich anerkannt wird, etwas mehr als der blosse Ge-
Schmack an geistigen Getränken; sie ist in zahlreichen
Fällen das Zeichen einer tief wurzelnden Störung der Ner-
ventätigkeit. Die Zahl der infolge von Trunksucht geistig
Srkrankenden Frauen nimmt nicht nur erheblich Zu,
Sondern, dieselbe ist zugleich die Ursache der zu-
lehmenden Rückfälligkeit bei Verbrecherinnen in vielen
Ländern. In Paris hat nach GArnıer die Zahl der
Alkoholpsychosen bei Frauen noch stärker zugenommen
als bei Männern, sie ist seit 15 Jahren auf das Doppelte
Sestiegen.
.. Die progressive Paralyse ist als „maladie du
Slecle“ bezeichnet worden. Sie ist die Krankheit, die auf
Übertriebene Exzesse, Laster und fortgesetzte Plackerei
folgt, sie ist besonders die Krankheit gewisser städtischer
Zentren von dem Typus, den Newcastle oder Cardiff
"epräsentieren!). Sie ist selten Norwegen, auch bei den
TA 1) S. die interessanten Mitteilungen von R. S. STEWART,
a ncrease of General Paralysis (Journ. of Ment. Science, Oct,
K8696). GREIDENBERG, ein südrussischer Psychiater, hat auch die
fesonders grosse Zunahme der Paralyse in blühenden See-Häfen
stgestellt, Ich will übrigens die fundamentale Rolle, welche die
N Philis als ätiologisches Moment dieser Krankheit und verwandter
Bor venleiden (z. 5 der Tabes dorsalis) spielt, nicht anzweifeln.
ROM BRAMWELL konstatiert (Brit. Med, Journ, 1902, Dec., P-
92), dass Syphilis in mindestens 75% die Ursache beider
Ma nkheiten isf, und diese Schätzung ist wahrscheinlich zutreffend,
pn darf aber nicht vergessen, dass keineswegs alle Syphilitischen
aralytiker sind: hier findet eine Auslese statt, und nur bestimmte
90*
452 DIE .PSYCHOPATHISCHEN. ERSCHEINUNGEN.
sesshaften Arabern und meist bei den niederen Menschen-
rassen ist sie selten; sehr selten ist sie bei Mönchen
und Priestern, auch bei Quäkern. Sie war früher auch
bei Frauen selten. Jetzt findet sich in allen grossen
Zivilisationszentren Englands (nach den Nachweisungen
von MicKıe) ein Fall von Paralyse beim Weibe auf vier
beim Manne.
Ihre allgemeine Zunahme in England und ihre
relativ noch grössere Zunahme beim weiblichen Ge-
schlecht ist von vielen Beobachtern bemerkt worden;
Savacı gibt an, dass die Krankheit besonders die Frauen
der mittleren Stände befällt, die in dieser Beziehung an
Stelle der Männer zu treten schienen. In Deutschland
ist die Zunahme der „weiblichen Paralyse“ von SANDER
und MeEnxDdEL betont worden; früher kam eine weibliche
Paralyse auf fünf männliche, heute eine auf drei männliche.
In der Irrenabteilung der Berliner Charite konnte SıEMER-
LING zwar keine relative Zunahme der Paralyse bel
Frauen konstatieren, wohl aber eine Zunahme der Er-
krankung überhaupt; er findet bei Frauen ein etwas
abweichendes Symptomenbild, ein milderes Auftreten
unter Wahnideen aus der Sphäre des Geschlechtslebens-
In Frankreich ist die Zunahme der Paralyse bei beiden Ge-
schlechtern sicher festgestellt; LunıerR und DumesnıL fanden
schon im Zeitraum zwischen 1864 und 1874 eine
steigende Frequenz weiblicher Paralysen, GARNIER fand
in Paris, dass die Krankheit in den letzten ı5 Jahren
bei Männern um das Doppelte, bei Frauen noch mehr
zugenommen hat, so dass jetzt auf 5 paralytische Männer
2 Frauen kommen, In schottischen Irrenanstalten kam
vor 20 Jahren auf 7—8 Aufnahmen männlicher Paraly-
tiker ı Frau, jetzt stehen beide Geschlechter in dieser
Typen SyphiScher „Personen bekommen Paralyse. (In den
Berliner Irrenanstalten ist die Häufigkeit der Fälle von Dementia
paralytica mindestens viermal so gross als in der Provinz. — K.)-
Das Mitwirken einer ererbten Veranlagung ergibt sich aus
den Untersuchungen von NAECKE (Allg. Zeitschr. f; Psychiatri&
Bd. 58, 1902) über das Vorkommen von Änomalien und Belastung®
zeichen bei Paralytikern.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. ° . 453
Beziehung im Verhältnis von ı:3 bis 4, die männ-
lichen Paralysen haben sich hier um 33°%o, die weib-
lichen um 300%, vermehrt. D. F. Eu1kıns!) bemerkt
jedoch bei der Erörterung dieser Tatsache, dass die
Zunahme der weiblichen Paralyse nur eine scheinbare
Wäre und dass der Irrtum dadurch zustande käme,
dass die bei Frauen häufigeren juvenilen Formen erst
neuerdings hierher gerechnet würden, dass ferner jetzt
auch leichtere Fälle, wie sie bei Frauen vorwiegern, Auf-
nahme in Irrenanstalten fänden, und dass schliesslich
heute bessere und sorgfältigere Diagnosen gemacht
werden. ÖGREIDENBERG kommt auf Grund des gesamten
publizierten Materials zu dem Schlusse, dass die Para-
lyse bei Frauen zugenommen hat, und zwar in relativ
grösserem Umfange als beim männlichen Geschlechte.
Er ist der Meinung, dass bei beiden Geschlechtern der
Kampf ums Dasein die allgemeinste Prädisposition tür
diese Krankheit. schafft und erst den -Boden für die
Wirkung der spezifischen Ursachen empfänglich macht.
(Progressive Paralyse bei Frauen, „Comptes-Rendus,
XII. Congr. Intern. Medical“, Moskau 1897, Bd. IV,
u. T,, p. 136.)
Die allgemeine Paralyse kann als die Psychose des
Männlichen Geschlechts par excellence gelten und eine
etwas nähere Charakteristik der Krankheit ist somit an
dieser Stelle von Interesse. Sie ist ihrem Wesen nach
Sine Störung und Lähmung der feineren Bewegungen der
Willkürlichen Muskulatur und zugleich eine Abstumpfung
der Sinne, die anfangs ganz unmerklich ist und sich
nur dem geschulten Beobachter durch ganz feine Ab-
Weichungen verrät. Die Krankheit erinnert anfangs an
die ersten Stadien des Rausches. Neben den leichten
Lähmungserscheinungen bestehen zugleich eben so ge-
Mngfügige Störungen der Stimmung und Intelligenz;
Gedanken, Gefühle und das ganze Benehmen bekommen
Stwas eigentümlich Grobkörniges und UÜbertriebenes,
entsprechend einem Verlorengehen der feineren Nüan-
a
ı) LAncerT, 16. Juni 1804.
454 ; DIE PSYCHOPATHISCHEN: ERSCHEINUNGEN.
zierung in Empfindung und Bewegung; anfangs besteht
oft ein ‚gesteigerter Tätigkeitsdrang, der durch man-
gelnde Selbstbeherrschung bedingt und charakterisiert ist.
Sehr häufig besteht Grössenwahn, und die Muse BAUDE-
LAIRES, wie SWINBURNE Sie mit. „deep division of prodi-
gious breasts“ schildert, ist so recht die Göttin des
Paralytikers,
Die Anlage zu dieser unheilbaren Geistesstörung
zeigt sich schon in gesunden Tagen durch bestimmte
Charakterzüge, welche neuerdings von Dr. G. WiLsoN
ausgezeichnet dargestellt worden sind!). Wıison schliesst
seine eingehende Schilderung durch folgende Zusammen-
fassung: „Als Ganzes betrachtet ist der Typus ebenso
sehr durch. das, was ihm fehlt, als durch das, was er
besitzt, charakterisiert. Intelligenz und gemeiner Men-
schenverstand, Ehrgeiz und Betriebsamkeit, Geselligkeit
und Genussfähigkeit, ein starkes Selbstvertrauen und
eine Vorliebe: für schöne Frauen — diese Merkmale
des künftigen. Paralytikers sind nach unseren heutigen
Anschauungen etwas ganz Gesundes, andererseits fehlen
manche vorteilhafte Eigenschaften, Eigenschaften, die
notwendig sind, um die Neigung zu Exzessen, Egoismu5
und die Rastlosigkeit beherrschen. zu. können. Ein von
STEVENSON ausgezeichnet geschilderter Charakter ‚Will
of the Mill‘. bietet einen typischen Kontrast zu der
Rastlosigkeit des Paralysekandidaten, von dem er
manche Charakterzüge besitzt, zu denen jedoch andere
kommen, welche dem Paralytiker offenbar fehlen“. Diese
typisch männliche Psychose fordert. zu einem Vergleich
mit der oben beschriebenen Neurasthenie heraus, . die
als typisch‘ weibliche Störung gelten darf,
Ich verzichte darauf, ausführlich die Unterschied®
im Auftreten und Verlauf der Hirn- und Rückenmark$-
krankheiten bei beiden Geschlechtern zu schildern, da
die: Bedeutung der dabei hervortretenden Unterschiede
vielfach zweifelhaft ist. Im ganzen sind die ernste
mehr grob anatomischen Krankheiten des Nervensystems
1) Journ. of Ment. Syience, Jan. 1892.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 455
bei Männern häufiger, die leichteren, meist als funktionell
bezeichneten, bei Frauen. Deshalb sind‘ Geistes-: und
Nervenkrankheiten :'bei Männern gewöhnlich verderb-
licher, während Frauen leichter gesund werden, aber
mehr zu Rückfällen neigen. Diese Tatsachen: hängen
mit tiefgreifenden Unterschieden der Geschlechter zu-
sammen, denen wir schon wiederholt begegnet sind.
Tine Krankheit, die das Nervensystem mitergreift,
obgleich sie. selbst nicht primär einen nervösen Charakter
hat, und die interessante sexuelle Unterschiede erkennen
lässt, ist die Gicht. Sie ist zwar bei Frauen nicht sehr
ungewöhnlich, aber doch eine im wesentlichen männliche
Krankheit und kommt. beim männlichen Geschlecht in
ihrer ausgesprochensten Form bei solchen Individuen
vor, die in Typus und Lebensgewohnheiten am meisten
ein männliches Gepräge tragen; deshalb ist sie‘ wohl
auch in ihrer akuten‘ Form gegenwärtig in England
seltener als in der Zeit, wo England . „das klassische
Land der Gicht‘ hiess. Spencer WeLLsS (Practical Ob-
Servations on Gout, 1854, p 156) bemerkt, dass sie: in
ihrer ausgeprägten. Form bei maskulinen Frauen vor-
kommt, und dass in Süd-Europa, wo die Männer: femi-
niner sind, „echte akute Gicht fast so selten ist, wie
bei Frauen in England“, während unterdrückte Gicht
bei Engländerinnen und südeuropäischen Männern recht
gewöhnlich ist.
Es hat sich nun ergeben, dass Männer mehr zu
Geistesstörungen disponiert sind, ‘dass Frauen ihnen
aber in dieser Beziehung. gleichzukommen streben und
sie in England gegenwärtig sogar überholt : haben.
Irresein und Verbrechertum zeigen sich ‚darin ana-
log, beide gehen miteinander .parallel und’ streben
nach einem Maximum in den :ruhelosen industri-
ellen Zentren. Irresein. und Verbrechertum schwimmen
Im Kielwasser des Fortschrittes und Wohlstandes, dabei
ist wahrscheinlich das Irresein ein sichereres und deut-
licheres Zeichen der Spannkräfte der ‘Zivilisation, In
Frankreich sind beide. Erscheinungen im Zunehmen be-
griffen, jedoch. ist ihre . aufsteigende Tendenz :. in den
456 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
Jetzten Jahren weniger deutlich. In Italien; wo die
Zahl der Verbrecherinnen so gering ist, überwiegen die
Geistesstörungen erheblich beim männlichen Geschlecht.
In England bewirkten schon vor einem Jahrhundert die
Faktoren des grossstädtischen Lebens eine Zunahme der
Geistesstörung bei Frauen. Die zunehmende Tendenz
zu Verbrechen und Wahnsinn ist eine gegenwärtig
ungebührlich schwere Steuer, welche das Weib für die
Teilnahme an der modernen Kultur zahlt. Wenn die
Frauen Englands von Geistesstörungen ebenso frei
bleiben wollen wie die Frauen Italiens und. von Ver-
brechen wie die Griechenlands, so müssen sie sich dazu
bequemen, hinter der‘ fortschreitenden Entwicklung
zurück zu bleiben. Wenn das weibliche Geschlecht
augenblicklich besonders stark benachteiligt wird durch
Übel der Zivilisation, so liegt das an Widerständen,
die wohl bald verschwinden werden. Die Frauen leiden
gegenwärtig ‚darunter, dass sie zu ihrem Anteil an der
Last der Arbeit nicht zugleich eine Teilnahme an der
Organisation und Überwachung der Arbeit und der
Arbeitsbedingungen erhalten haben. Sie müssen unter
Bedingungen . arbeiten, die von Männern für Männer
festgesetzt worden sind oder, was wenig besser ist, von
Männern für Frauen; deshalb sind sie über Gebühr in
Anspruch genommen. Was wir eben kennen gelernt
haben, ist nicht die Folge der Einwirkung der Arbeit auf
die Frauen, sondern der Einwirkung des Arbeitens unter
ungesunden und unnatürlichen Bedingungen, die sie
selbst nicht kontrolliert haben. Es ist oft genug gezeigt
worden, dass die vier schlimmsten Missstände, unter
denen die Arbeiter heute leiden: lange Arbeitszeit,
niedriger Arbeitslohn, Unsicherheit der Arbeitsgelegen-
heit und ungesunde Lebensbedingungen, in jedem Falle
schwerer auf dem Weibe lasten, ganz abgesehen davon,
dass Frauen als Gebärerinnen von vornherein in der
Konkurrenz benachteiligt sind.
Es ist deshalb nicht nötig, die Angaben des Baro-
meters der Irrenstatistik mit übermässigem Entsetzen
zu registrieren, denn dieselben beweisen nichts als eine
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. 457
ungenügende Anpassung an neue Bedingungen und
zeigen, dass eine gewisse Adjustierung notwendig ist,
Die Kriminalität.
Ich kann an dieser Stelle nicht mehr als ein Streif-
licht zur Beleuchtung der Geschlechtsunterschiede in
der Kriminalität geben; auch habe ich diese Frage
anderweitig ausführlich behandelt !).
Ferner ist neuerdings in verschiedenen Ländern
die Bedeutung des Geschlechtes für das Verbrechertum
So gründlich und von So vielen verschiedenen Stand-
punkten aus untersucht worden ?), dass es kaum möglich
ist, neue Beiträge zu dem Thema zu liefern oder es
klarer darzustellen. Das Werk von LomsBroso und
FERrRrReERo Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte
ist der grösste und wichtigste Beitrag zu der Frage,
Obschon es sich mit der statistischen Seite derselben
Nicht besonders befasst. Es muss hervorgehoben werden,
dass die Frage nach der Bedeutung des Geschlechts-
unterschiedes für das Verbrechen äusserst kompliziert
und reich an Fehlerquellen ist und zwar in noch höherem
Grade als die Probleme des Selbstmordes und des
Irreseins, bei denen man wenigstens zugibt, dass sie
im Bereich wissenschaftlicher: Forschung‘ liegen. Die
Straf-Gesetze sind so sehr verschieden, die Strenge,
Mit der sie angewendet werden, ist eine so unbestimmte
Grösse, polizeiliche und gerichtliche Massnahmen sind
—)——
1) LomBroso und FERRERO, Das Weib als Verbrecherin und
Prostituierte (Hamburg 1894); D. Morrıson, Crime and its causes,
1891 (Cap. Sex, age and crime), Proaı, Le crime, et. la peine,
Paris 1892. Ferner das Kapitel „La criminalite feminine“ bei JoLy
y„Le crime“ 1888. NÄCKE, Verbrechen und Wahnsinn beim Weibe,
Wien, 1894. DE RyYcKErE, La criminalite feminine (Belgique
Iudiciaire 1891); Roncoront, Influenza del Sesso sulla criminalita
in Italia, und: La criminalita femminile all’ estero, Archivio de
Psich. Bd. XIV. Heft I, 2, 3. KureLLA Naturgeschichte des Ver-
brechers, Stuttgart 1894 S. 67 ff.. Besonders auch die wertvolle
Abhandlun von Huco HozeceL, Die Straffälligkeit des Weibes
(Archiv f. Kriminal-Anthropologie, Bd. V, 1900),
2) H. Eı1is, Verbrecher und Verbrechen, Leipzig 1894.
458 ‚ DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
so willkürlich und die polizeiliche Statistik so merk-
würdig, dass unsere Schlussfolgerungen fehlerhaft wären,
selbst wenn wir genau wüssten, dass der Angeklagte
immer der Schuldige und zwar der einzige Schuldige
ist. Dessen. ist man nun durchaus nicht immer sicher
und ohne Zweifel schützt unsere Unkenntnis oft ein
Weib, das, wenn auch im Hintergrunde, einen Teil
der Schuld an einem Verbrechen trägt oder an ihm
einen untergeordneten Anteil genommen hat.
Welche Schlüsse nun auch gezogen werden und
wie grosse Schwierigkeiten sich auch der Erreichung
eines genauen Ergebnisses entgegenstellen mögen, SO
lässt es sich: doch nicht bezweifeln, dass verbrecherische
und antisoziale Impulse beim Weibe weniger stark sind
als beim Manne. In Europa betragen nach den ein-
gehenden Untersuchungen Hausners die von Frauen be-
gangenen Verbrechen 16 °/o aller Verbrechen ; man würde
etwas Derartiges vermuten, auch wenn die Tatsachen
selbst nicht bekannt wären, allein aus der Kenntnis der
weiblichen Natur. Das Weib ist nicht nur Kraft seiner
Mutterschaft durch stärkere organische Bande an die
sozialen Verhältnisse gebunden, sondern seine Emotivität
macht es auch organisch unfähig für eine exzentrische
und antisoziale Lebensführung. Ihre physiologische
Zaghaftigkeit — denn, wie wir gesehen haben, beruht
die Furchtsamkeit des Weibes auf einer neuromuskulären
Basis — erschwert ihr den Antrieb zum Verbrechen
gerade durch die vasomotorische Störung, die derselbe
hervorruft. Der Impuls verpufft in Gemütswallungen,
bevor es noch zur Tat kommt. .Das abnorme Weib
zeigt eine viel. grössere Tendenz, Prostituierte ZU
werden, welches Metier auch nicht ganz so hart be-
urteilt wird, wie die Verbrecherlaufbahn, und wobel
es nur gelegentlich mit dem’ eigentlichen Verbrechen
in. Berührung kommt. Es zeigt sich auch hier, wIiC
bei vielen anderen Gelegenheiten, dass das Weib durch
einen‘ Vorzug beschützt wird, der auch wieder : sein®
Schattenseiten hat, er erschwert ihm das Verfallen 19
das .Verbrechertum, indem er-ihm auch die Erlangung
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNHEN. 459
von anderen Formen abnorm starker Energie, die höher
geschätzt werden, schwer zugänglich macht. Die-
jenigen Formen des Verbrechens, in welche Frauen am
leichtesten verfallen, sind die subtilsten (wie der Gift-
mord) und. zugleich diejenigen, welche am engsten mit
dem häuslichen Leben verknüpft sind. Mord, Raub-
anfall, Einbruch, Diebstahl, Verbrechen im geschäft-
lichen Leben und sogenannte politische Verbrechen
werden verhältnismässig selten von Frauen begangen;
in Italien kommen z. B. auf. 100 männliche Verbrecher,
die eins der obengenannten Vergehen begangen haben,
ein bis sechs weibliche. 2
Der Giftmord ist dagegen ein. spezifisch weib-
liches Verbrechen, Schon Eurırmes lässt Medea sagen,
dass der Giftmord das Verbrechen ist, in dem Frauen
hervorragen, und diese Tatsache gilt noch für heute‘),
In Frankreich kommen ungefähr 7 weibliche auf 3—4
männliche Giftmischer, so dass ungefähr zwei Drittel der
zur Entdeckung .kommenden Fälle von Giftmord von
Frauen begangen werden. In Italien verhalten sich diese
Zahlen bei beiden Geschlechtern wie 100 (Männer) zu
123 (Frauen). Kindesmord ist ein Verbrechen, welches
ebenfalls von Frauen ausgesprochen häufiger begangen
wird als von Männern; so kommen in Italien auf 100
Männer, die Kindesmord begangen haben, 477 Frauen
Das ist gar nicht anders möglich; ein ungeheurer SO-
zialer Druck ist es, der oft ein weibliches Wesen dazu
treibt, sein Kind zu töten oder zu verlassen, obschon
es seine natürlichen Instinkte vielmehr dazu treiben
Sollten, dasselbe zu lieben; wenn ein Mann ein solches
Verbrechen begeht, so tut er es gewöhnlich um eines
Weibes willen. Die Verbrechen der Frauen bewegen
Sich, wie QuETELET schon vor langer Zeit bemerkt hat,
fast immer in der Sphäre des häuslichen Lebens, was
einfach daran liegt, dass die Häuslichkeit einen so
breiten Raum in ihrem Leben einnimmt. Selbst gegen
Ü i i i ter: den Frauen
1 die Häufigkeit der Giftmorde un Fr
niederer Stande siehe EL ouBROSOo und FERRERO, Das Weib als
Verbrecherin.
Pe ——P
460 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
die eignen Kinder begehen, abgesehen vom Kindes-
mord, Mütter häufiger Verbrechen als Väter. So sind
z. B. von dem Verein zum Schutze der Kinder inner-
halb eines Jahres (1891) 347 verbrecherische Väter und
356 Mütter zur Anzeige gebracht worden. Die Ver-
brechen von Frauen zeichnen sich gewöhnlich durch
grössere Grausamkeit aus, als die Männer. Bosco hat
darauf hingewiesen, dass sich Frauen verhältnismässig
öfter des Mordes schuldig machen als des einfachen
Totschlags, eine Tatsache, die sich sowohl in England,
alsinItalien, Spanien, Deutschland, Frankreichund Ungarn
nachweisen lässt, DE RYcKERE sagt in seiner Studie
über die weibliche Kriminalität, dass die Verbrechen
der Frauen „einen mehr zynischen, grausamen, brutalen,
korrumpierten und fürchterlichen Charakter“ tragen als
die der Männer!). Wir dürfen nicht vergessen, dass
neben diesem Element‘ der Grausamkeit beim Weibe,
das vielleicht ebenso sehr auf geringerer Sensibilität als
auf gesteigerter Affektabilität basiert ist, das auf dem
mütterlichen Instinkt beruhende Element des Mitge-
fühls liegt.
In fast allen Beziehungen ist, wie wir gesehen
haben, das Weib frühreifer als der Mann, eine Aus-
nahme von dieser Regel bildet jedoch die Kriminalität-
Während beim Manne das Maximum der Kriminalität
ungefähr in das zoste Jahr oder etwas später fällt, er-
reichen es die Frauen gewöhnlich erst mit dem zosten
Jahre oder noch später. Dies erklärt zum Teil eine
Tatsache, auf welche öfters hingewiesen worden ist,
nämlich dass es unter den Verbrecherinnen mehr Ver-
heiratete gibt als unter den Verbrechern. Es wäre
interessant, die Ursachen dieser. Verspätung der weib-
lichen Kriminalität festzustellen, indessen. ist dies gegen-
wärtig keine leichte Aufgabe. Zum Teil beruht die
anscheinende Zunahme der weiblichen Kriminalität mıt
1) Bei LomBROoso und FERRERO (Das Weib als Verbrecherin)
iz sich ein interessantes Kapitel über die Grausamkeit beim
eibe.
DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN. - 461
den Jahren einfach auf dem Umstande, dass in vorge-
rücktem Lebensalter die Frauen entschieden die Majorität
der Bevölkerung bilden. Der Rückfall kommt übrigens
in den meisten Ländern bei Frauen seltner vor als bei
Männern. So waren 53%o der im Zeitraume von
1876—80 in Frankreich von Männern begangenen
Verbrechen Taten Rückfälliger, von den Straftaten
der Frauen nur 31°%o. Auch in Deutschland war vor
20 Jahren Rückfälligkeit bei männlichen Verbrechern
häufiger, das hat sich aber seitdem allmählich ge-
ändert; gegenwärtig ist die Rückfälligkeit der Ver-
brecherinnen ebenso gross, wie. die der Verbrecher.
Auch die Rückfälle in Trunksucht sind, wie Kerr nach-
weist, bei Weibern häufiger, und wahrscheinlich hängt
die Rückfälligkeit der Verbrecherinnen mit der. Zähig-
keit ihrer Neigung zum Trunke zusammen.
In Grossbritannien ist durch die Polizeiberichte aus Lon-
don, Glasgow und anderen grossen Städten eine Zunahme
der weiblichen Gewohnheitstrinker sicher festgestellt.
Soziale Faktoren kommen für das Zustandekommen
von Verbrechen noch in höherem Masse in Betracht
als beim Selbstmorde oder Irresein, und hier zeigt sich
ein erheblicher Unterschied zwischen Stadt- und Land-
Bevölkerung... Städte bedingen Modifikationen des Ver-
brechertums; so tritt an Stelle des auf dem Lande
üblichen Kindesmords in der Stadt die Abtreibung der
Frucht. Noch deutlicher tritt dieser Einfluss in der Krimi-
Nalitätsziffer hervor, besonders unter schlecht bezahlten,
iSoliert lebenden Fabrikarbeiterinnen: Gerade diesem
Bevölkerungselemente verdankt es Schottland, dass
©S (von einzelnen Bezirken in Süditalien und im deut-
Schen Reiche abgesehen) die grösste Kriminalitätsziffer
in Europa besitzt; Glasgow ist dafür besonders berüch-
tigt, seine weibliche Arbeiterschaft ist trotz der vorzüg-
lichen Kommunalverwaltung schlecht organisiert, die
Löhne sind kaum halb so hoch wie in Lancashire in
denselben Industriezweigen. Was die Vereinigten Staaten
betrifft, so hat der bedeutendste amerikanische Kriminal:
Statistiker, Dr. F. Wınss, neuerdings gezeigt, dass die
462 DIE PSYCHOPATHISCHEN ERSCHEINUNGEN.
weibliche Kriminalität in den Nordatlantischen Staaten
sehr erheblich grösser ist als in der übrigen Union.
Unter ausschliesslicher Berücksichtigung der weissen
Bevölkerung fand er, dass in den Staaten Connecticut,
New-Jersey, New-York und den Neu-England-Staaten
die weibliche Kriminalität 12%, in allen übrigen Staaten
4% 0 der Gesamt-Kriminalität beträgt. Die Ursache hierfür
liegt wahrscheinlich darin, dass in dem nordatlanti-
schen Winkel des Landes die Kultur das grösste Alter
und die höchste Entwicklung besitzt; hier ist der Sitz
der grossen Städte und einer Industrie, die ungeheure
Scharen von Arbeiterinnen beschäftigt, während in den
übrigen Städten die Frauen mehr im Hause leben,
In Europa ist die weibliche Kriminalität am bedeu-
tendsten in Schottland und Deutschland, sie ist aber
auch in England, Belgien, Holland, Dänemark und Nor-
wegen hoch, in. Irland, Frankreich, Italien und Öster-
reich etwas niedriger, sehr niedrig. in Spanien und
Russland und am niedrigsten wohl in Griechenland.
Offenbar stehen die energischen, unabhängigen und
betriebsamen germanischen Rassen bezüglich der weib-
lichen Kriminalitätsziffer an der Spitze und Belgien,
dessen Bevölkerung nicht: rein germanisch ist, steht
ihnen infolge seiner hochentwickelten Industrie am
nächsten. Andererseits sind Spanien und Russland
ausschliesslich Agrikultur-Länder und haben deshalb
auf diesem, wie auf. manchem anderen Gebiete vieles
gemeinsame; in Griechenland haben die Frauen fast
gar keine andere Tätigkeitssphäre als die häusliche.
Wir müssen also feststellen, dass die das moderne
Leben erfüllenden sozialen und ökonomischen Ten-
denzen die Kriminalität des Weibes zur Entwicklung
bringen, obgleich die organischen Tendenzen der weib-
lichen Natur das Weib von der Begehung von Ver-
brechen in hohem Masse. zurückhalten. Jedoch‘ wirken
diese Tendenzen des modernen Lebens nicht mit fata-
Jlistischer Notwendigkeit, vielmehr sind sie in weitem
Umfange einer planmässigen Kontrolle zugänglich.
XVII. Kapitel.
Die Variabilität bei den Geschlechtern.
Die meisten Anomalien sind beim Manne häufiger. — Der Einfluss
des Beckens wirkt Zn ‚der Mittelmässigkeit. — Totge-
borene Kinder. — Die äufigkeit angeborener Missbildungen bei
beiden Geschlechtern. — Die Muskelabnormitäten. — Das Ohr
und seine Anomalien. — Psychische Anomalien, Idiotie, Genie
und C. — Vieleicht sind die primitiveren Rassenelemente inner-
halb einer Bevölkerung durch die Frauen deutlicher vertreten. —
Frauen neigen mehr als Männer dazu, alte Gewohnheiten und
alte Denkweisen zu bewahren. — Der organische Konservatismus
der Frauen. — Die Variabilität und die PEArson’sche Biometrik.
— Vorteile dieser. sexuellen Differenzierung.
Es ist früher manchmal die Ansicht ausgesprochen
Worden, dass das weibliche Geschlecht mehr zu. Ab-
Weichungen vom Typus und zu angeborenen Missbil-
dungen neige, als das männliche. Zwar hat Jon Hunrer,
der diese Erscheinungen zuerst von einem biologischen
Standpunkte aus betrachtete, von ferne, angedeutet,
dass Männer variabler sind, als Frauen, MEckeL dagegen
kam auf Grund pathologischer Tatsachen zu dem Schlusse,
dass beim Menschen das weibliche Geschlecht einen
höheren Grad von Variabilität besitzt ; und da er der
Ansicht war, dass der Mann höher steht und dass
Variation ein Zeichen niederer Entwicklung ist, schien
Ihm dieser Schluss auch ausserhalb der pathologischen
Erscheinungen zwingend. 5
. Er schrieb vor go Jahren in. der Einleitung zu
Seinem Handbuche der deskriptiven und pathologischen
464 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
Anatomie, man könne das Prinzip aufstellen, dass
Anomalieen beim Weibe gewöhnlicher sind. Das er-
gäbe sich aus dem achten Entwicklungsgesetze (wonach
das Weib primitiver als der Mann ist), da die Organi-
sation des Weibes darauf beruhe, dass die Entwicklung
auf einer früheren Stufe zum Stillstand komme, Trotz
dieses allgemeinen Prinzips liess er Ausnahmen zu, be-
sonders bezüglich einer grösseren Variabilität des Herzens
und der Blase beim Manne.
Macke. war ein grosser Kenner anatomischer
Tatsachen, aber kein sehr erleuchteter Denker. Selbst
wenn wir das Gesetz einer primitiveren Organisation beim
Weibe anerkennen, folgt daraus keineswegs eine grössere
Häufigkeit von Anomalieen beim Weibe; der entgegen-
gesetzte Schluss aus dem Prinzip wäre vielmehr viel
plausibler. Einige Jahre nach MeEckeL hat BURDACH die
Frage in seiner Physiologie wieder aufgenommen.
Dieser grosse Biologe erhob das Problem von vorn-
herein auf ein höheres Niveau, erkannte seine grosse
Tragweite und beseitigte die der unbefangenen Beob-
achtung entgegenstehenden Vorurteile. Er konstatierte
in mancher Beziehung auch eine grössere Variabilität
beim. Weibe, führte aber, anders wie MECKEL, aus, dasS
das nichts für eine organische Inferiorität des Weibes
beweise. Er zeigte an den Statistiken der Königsberger
Anatomie, dass wir zwischen verschiedenen Kategorieen
abnormer Merkmale unterscheiden müssen. Er wies
ferner auf die Tatsachen hin, aus denen sich eine An-
nährung des Weibes an die kindlichen Merkmale er-
gibt, fügte aber hinzu, es wäre ein sehr häufiger aber
ein sehr grosser Irrtum, das Alter als Massstab der Voll-
kommenheit zu betrachten und das Kind im Vergleich
mit dem Erwachsenen als durchweg unvollkommen an-
zusehen. Nicht Unvollkommenheit, sondern gewisse
kindliche Merkmale erhielten. sich beim Weibe, und
erst im dekrepiden Alter erhielten die Frauen noch
Merkmale des‘ sogenannten überlegenen Geschlechts.
Sein Endergebnis war, dass die Organisation des
Mannes und die des Weibes beide ausgezeichnet sind
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 465
dass aber beim Manne weitergehende Abweichungen
vorkämen, mehr Genie und mehr Idiotie, mehr Tugend
und mehr Laster.
DaArwın hat wieder die Aufmerksamkeit auf die
grössere Variabilität des männlichen Geschlechts. ge-
lenkt und diese Tatsache für den Menschen und viele
Tiere ausführlich dargelegt und illustriert. . Er erörtert
u. a. die sexuellen Unterschiede der Körperbehaarung
beim Menschen und zeigt, dass die Verteilung und die
Masse der Haupt- und Körperhaare beim Weibe bei
den verschiedenen Rassen fast völlig gleichmässig ist,
Während die Entwicklung des Gesichtshaares beim
Manne nicht nur bei verschiedenen Rassen, sondern
auch bei verschiedenen Individuen die grössten Unter-
Schiede zeigt. DARwin hat ferner aus dem ganzen da-
Mals vorliegenden Material die grössere Häufigkeit von
Missbildungen und anatomischen Varietäten jeder Art
beim Manne gezeigt!). Seitdem hat ein bedeutendes
Material diesen Bericht nur bestätigt, die grössere Varia-
bilität des Mannes ist zweifellos festgestellt; allerdings
Sind alle Konsequenzen dieser Tatsache noch nicht voll-
Ständig durchgeführt.
Die Neigung des Mannes zu atypischem Verhalten
hat sehr früh mit einer mächtigen Gegenwirkung im
Sinne der Gleichheit und Mittelmässigkeit zu kämpfen,
Welche durch die Enge des mütterlichen Beckenraums
dargestellt wird. Der Beckenausgang lässt Mädchen
Meist Jeicht passieren, setzt aber oft der Geburt von
Knaben furchtbare Hindernisse entgegen; totgeborene
Kinder sind viel häufiger männlichen als weiblichen
Geschlechts und zwar in England im Verhältnis von 140
:üU 100. Ohne diesen nivellierenden Einfluss wären die
durch ungewöhnliche körperliche. und geistige Eigen-
;Chaften ausgezeichneten Männer bedeutend zahlreicher
Als sie es jetzt sind. So zeigen die Tabellen Bovps,
1) Er spricht in seinem Buche über die Abstammung des
Menschen vos der „grösseren allgemeinen Variabilität des männ-
Ichen Geschlechtes“ (IL. Teil, Kapitel 8).
Ellis, Mann und Weib 2. Aufl.
IN
466 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
dass das Hirngewicht totgeborener ausgetragener
Kinder bedeutender ist als das Neugeborener und dass,
während das Gehirn lebender männlicher Neugeborener
nur 45 g schwerer ist als das weiblicher, unter Tot-
geborenen das grösste Gehirn fast 210 g schwerer ist
als das grösste bekannte Gehirn einer weiblichen Neu-
geborenen, obgleich das kleinste der gewogenen Ge-
hirne totgeborener Knaben nur um 30 g schwerer ist
als das totgeborener Mädchen. Eine Statistik der British
Association zeigt ferner, dass die Körperlänge neuge-
borener Knaben eine Variationsbreite von.ıo, die neu-
geborener Mädchen eine von 8 Zoll hatte. Ungewöhn-
liches Körpergewicht wird häufiger bei neugeborenen
Knaben gefunden; so ergibt eine französische Statistik
Gewichte über 3500 g zamal bei Knaben und ıomal
bei Mädchen *).
Die selektive Wirkung des Beckens und die Ein-
flüsse des späteren Lebens, die auf die beiden Ge-
schlechter nicht in gleicher Weise wirken, berechtigen
uns, die Dimensionen des Körpers zu vernachlässigen
und die qualitativen Differenzen zu untersuchen, wenn
das Vorkommen von Variationen bei Männern und
Weibern erörtert werden ‚soll. Es liegen hinreichende
Gründe für die Annahme vor, dass bezüglich der Grössep-
dimensionen der Mann nicht variabler ist, als das
Weib, ja vielleicht weniger?). Das scheint das Ergeb-
nis einer Ungleichheit der während des Lebens wirken“
den selektiven Einflüsse- zu sein, und lässt nicht not-
wendigerweise auf die von vornherein gegebene Va-
riation. schliessen.
Anomalieen aller Art, die durch Entwicklungshem”“
mungen oder unbekannte pathologische Störungen in
frühen Stadien des embryonalen Daseins bedingt sind,
ı) DepauL; Art. „Nouveau n6“, Dict, Sci. Med.
2) K. PzArson, „Variation in Man and Woman“, Chance?
of death, Vol. I; GIUFFRIDA-RUGGERI, La maggiore wyariabilile
della donna dimostrata col metodo Camerano (Monit, Zoolog- Jtal-,
1903 Nr. 12); FRASSETO, La variabilita del cranio uUmanO0, (At
Soc. Rom. Antroop., I901, p. 155).
DIE VARIABILITÄT BEI DER GESCHLECHTERN. 467
sind immer häufiger bei männlichen als bei weiblichen
Individuen zu finden. Das lehrt die Geburts- und
Sterbefallsstatistik wie die Berichte 'chirurgischer Abtei-
lungen grösserer Krankenhäuser.
Unter 50000 Schulkindern fand Warner für die
Hauptgruppen der notierten Defekte 18,04 °%0 bei Knaben
und 14,71°%o bei Mädchen; an 1ı00o amerikanischen
Kindern konstatierte MAcDonALD, dass fast jede Kate-
gorie von Abnormitäten bei Knaben häufiger ist‘).
Auch Hapııcka fand bei einer eingehenden Enquete an
1000 Insassen des New Yorker Kinderasyls, dass so-
Wohl bei weissen wie bei Negerkindern Abnormitäten
häufiger an Knaben zu finden waren?). Unter einer
Million Todesfälle finden sich (nach der Statistik von
1884—1888) solche von angeborenen Missbildungen in
93,8 Fällen, wovon 49,6 auf Männer kamen?); die Er-
fahrung der Chirurgen ergibt ein ähnliches Verhältnis.
So wurde im St. Thomas-Hospital in den Jahren 1884 —87
die Operation der. Hasenscharte an 43 männlichen und
20 weiblichen Personen ausgeführt; Bryant operierte
sie 44 mal bei Knaben. und 20 mal bei Mädchen, MANLEY
27mal bei jenen, 6mal bei diesen‘). Doppelte Hasen-
Scharte findet sich fast ausschliesslich bei Männern,
Nach Bryant ı7mal bei letzteren, 4mal bei Frauen.
Gaumenspalte allein findet sich jedoch häufiger bei
Frauen (58 mal gegen 37 Fälle bei Männern im St.
Thomas-Hospital)l. Auch Spina bifida ist beim weib-
lichen Geschlechte etwas häufiger, nach Bryanıs Er-
fahrung (13 M., 17 W.), während im St. Thomas-Hospital
Mehr männliche Fälle beobachtet wurden. Fast alle
anderen Formen von Missbildungen finden sich häufiger
beim männlichen Geschlecht, so der zu den Entwick-
lungshemmungen gehörende Klumpfuss (talipes equino-
Varus) und andere Formen verwandter Fuss-Deformitäten
1) Education Report, 1897 — 98. |
2) Anthropol. Investigations of 1000 children, 1899.
p 3) H. CAmpseLL, Nervous Organisation of Man and Woman,
* 133. . . ;
4) International Medical Magaz., April 1893.
“n%
168 DIE VARIJABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
80 m., 33 w. im St. Thomas-Hospital). DuvaL gibt für
angeborenen Klumpfuss eine erheblichere Häufigkeit
bei Männern an (364 gegen 210 Frauen) und ein ähn-
liches Verhältnis bei den erworbenen Deformitäten.
Ferner sind beim männlichen Geschlechte häufiger:
Anomalie des Wurmfortsatzes, Meningocele, Atresia anl
und Blasen-Ektopie (letztere nach WooD zehnmal häu-
figer). Angeborener Mangel einer Niere, von welcher
Anomalieen man bisher etwa hundert Fälle kennt, ist
beim männlichen Geschlechte viermal häufiger. Ange-
borene Luxation der Hüfte bildet eine Ausnahme, da
sie bei Frauen: 4 bis 5mal häufiger ist, eine andere
Ausnahme ist die Backenspalte (macrostoma congenitum);
beide Bildungsfehler beruhen wahrscheinlich auf Ent-
wicklungshemmung. Augenblicklich lassen sich allge-
meine Sätze über die Häufigkeit jedes einzelnen Ent-
wicklungsdefektes ’bei beiden Geschlechtern noch nicht
aufstellen.
F. Warner fand unter 50000 englischen Schul-
kindern Entwicklungsfehler bei 13° 0 der Knaben und
bei 9% der Mädchen, während 20% der Knaben und
15% der Mädchen in irgend einer Art von der Norm
abwichen.
Überzählige Finger finden sich gleichfalls häufiger
bei männlichen Individuen und ebenso überzählige
Brustwarzen 1!) ; letztere fand M. Bruce bei einem grossen
Material unter 9,1% der Männer und 4,8 /o der Weiber.
Obgleich der Kropf bei Frauen viel häufiger ist
als bei Männern, ist es bemerkenswert, dass ang®e-
borener Kropf viel häufiger bei Knaben vorkommt.
Auch die meisten Fälle von verkehrter Lage der Ein-
geweide (wobei die Leber links, Herz und Magen rechts
liegen) kamen bei Männern vor. Die interessante Ano-
malie einer achten wahren Rippe fand CunnıneHAMm beim
männlichen Geschlecht doppelt so häufig als beim weib-
lichen. dieser Zustand ist bei niederen Affen und beim
1) Journ. of Anat., Bd. XII p. 432. Stryanow, L’Anthroß0-
logie, 1899, P- 544-
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 469
Schimpansen etwas Normales und kann deshalb als
atavistisch gelten‘).
Auch die meisten Muskelanomalieen finden sich bei
Männern, mit Ausnahme bestimmter Muskeln; nach
Testur besteht in dieser Beziehung kein Geschlechts-
unterschied.
Nach Mac AuIstER findet sich Spaltung und Ausfall
einiger Muskeln wegen des schwächeren Muskelsystems
des Weibes häufig bei letzterem, Verdoppelung, Ver-
wachsung und abweichender Verlauf häufiger beim Manne;
Muskel-Keime d. h. Muskeln, die sich sonst nur bei
Tieren finden, sind gleichfalls beim Manne häufiger;
Muskelspaltung und Ausfall beruhen auf schwachem
Wachstum, während Verschmelzung auf üppigem Wachs-
tum. beruht und auf Stärke deutet).
Als Beispiel der Schwierigkeit der Varietätenfrage
wähle ich hier die neuerdings viel untersuchten Ohr-
anomalieen. Nach Rasxze gilt das weibliche Ohr im all-
gemeinen als schöner modelliert und seltener abnorm.
Nach Scnärrer beruht das nur darauf, dass an dem
viel kleineren weiblichen Ohr Anomalieen weniger auf-
fallen. Nach ScHwaALBE steht das männliche Ohr dem
des Affen näher und es zeigt das Weib in dieser Be-
ziehung merkwürdigerweise nicht primitivere, sondern
vorgeschrittenere Formen, besonders. in dem Verhalten
des Darwinschen Knötchens, das er im Elsass bei 73°/o
der männlichen und 32,8°%0o der weiblichen Ohren fand.
Scnärrer fand diese Varietät abweichend entwickelt je
nach der Herkunft der Untersuchten; während sie im
ganzen bei 47 9% der Frauen vorkam, fand sie sich in
Schwaben und Oberbayern bei 22°%o, in England bei
55%, bei Jüdinnen selten. GrRapenco fand die meisten
Anomalieen häufiger bei Männern, ebenso Vaut, jedoch
mit Ausnahme des angewachsenen Ohrläppchens. Auch
Warner fand unter seinem ungeheuren Material. bei
——S
F 2) D. J. CunnıncHaMm (Occasional eighth true rib in man,,
Ourn of Anat. Oct. 1889). |
3) A Mac et 19 Proceed. Royal Irish Academy; 1867
Bd. X p. 1217.
470 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
Knaben mehr Anomalieen. Das Henkelohr ist nach allen
Beobachtern bei Männern häufiger, gewöhnlich in Ver-
bindung mit grossem Warzenfortsatz. Die Wildermuth-
sche Ohrform, bedingt durch ein starkes Vorspringen
der inneren Windung, ist bei Frauen häufig, ebenso
angewachsenes Ohrläppchen. Nach LAYcocg ist das Ohr-
Jäppchen und die äussere Ohrwindung bei Frauen und
weiblich gearteten Männer absolut und relativ klein; L.
betrachtet grosse Ohrläppchen als Zeichen aktiverer
Triebe. und Instinkte*).
Auch diejenigen angeborenen Varietäten, welche
eine nähere Beziehung zum geistigen Leben haben,
sind beim männlichen Geschlecht entschieden häufiger.
Zinkshändigkeit fand OecLE bei Männern doppelt SO
häufig wie bei Frauen. Zurbenblindheit, die wir in
einem früheren Kapitel erörtert haben, ist ein inter-
essantes Beispiel einer angeborenen Varietätenbildung,
die fast nur beim männlichen Geschlechte vorkommt.
Albinismus (angeborener Mangel an Haut- und Haar-
pigment) ist eine weitere typische Varietät, die überall
bei Männern häufiger vorkommt als bei Frauen; in
Europa kommen dabei 3 Männer auf 2 Frauen; bel
vielen Naturvölkern ist der Anteil der Frauen noch
geringer?). Es gibt überall mehr männliche als weibliche
Taubstumme, in Schottland 1195 gegen 930, in ‚GrosS-
britannien mit. Rücksicht auf die Verteilung. der Ge-
schlechter in der allgemeinen Bevölkerung noch häufiger
und am - häufigsten bei Juden. In Norwegen ist das
Verhältnis nach UCHERMANN wie ı00 zu 78. Idiotie und
Imbecillität, diese wichtigen — mit anderen, psychologisch
anscheinend völlig verschiedenen, Typen abweichender,
seelischer Organisation nahe verwandten — psychischen
Varietäten finden sich überall häufiger beim männlichen
Geschlecht. Nach MiırcneL kommen in Schottland
1) ScHwaLBE in der Festschrift für Rup. VircHow, Berlin 1891:
Laycock, Med. Times, 22. März 1862; SCHÄFFER, Uber Ohr"
entwickelung und Ohrformen (Arch. f. Anthrop. Bd. XXI 1892);
KUureLLA, Naturgeschichte des Verbrecherts, 1893, S. 75—84, 279
2) SELIGMANN, Lancef, 20. Sept. 1002, p. 804.
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 471
100 männliche auf 79 weibliche Idioten, in Preussen ist
das Verhältnis genau dasselbe, in Frankreich ist es wie
100 zu 76. LAnepDon Down fand vor einigen Jahren ein
Verhältnis von 100 zu 44 und dies entspricht der Ver-
teilung der Geschlechter in den englischen Idioten-
anstalten. Der endemische Kretinismus, eine besondere
Form der Idiotie mit Degeneration der Schilddrüse, ist
nach LunmerR ebenfalls bei Männern um 20° häufiger,
jedoch mit regionären Verschiedenheiten. Die Veran-
lagung zu Verbrechen, Geistesstörung und Selbstmord
habe ich schon oben besprochen, diese Dispositionen
bestehen in angeborenen psychischen Abnormitätern
und treten beim männlichen Geschlecht durchweg mehr
hervor. Die als „moral insanity“ bekannte konstutionelle
sittliche Schwäche, die ‘mit der angeborenen Vver-
brecherischen Veranlagung identisch ist, ist der Typus
einer angeborenen abnormen Anlage und bei Männern
viel häufiger. Ferner ist der Mattoide oder „crank“,
dessen ganzes Leben aus Exzentrizitäten und nichtigen
Bestrebungen besteht, ein von Geburt abnormes Wesen,
wenn seine Abnöormität manchmal auch spät hervortritt;
nun gibt es sehr wenige weibliche Mattoiden, — LOomBROSO,
der besondere Kenner dieser Zustände, weiss nur ein
weibliches Exemplar, die Kommunarde Lovıse MICHEL
zu nennen — bis auf die mildeste Erscheinung des
Martoidismus, die des „Faddists“!), die man vielleicht
ebenso oft bei Frauen findet. Die Differenz kommt
wohl auf Rechnung der als Sicherheits- Ventil dienenden;
grösseren Emotivität des Weibes.
Zu den etwas höher zu stellenden, jedoch unzweifel-
haft angeborenen Formen psychischer Anomalien ge-
hören die von ScrRiptuRE, BıseT und LomBroso sorgfältig
untersuchten „Rechenwunder*“?). Unter allen 22 alten
Und neuen Fällen dieser Art findet sich nur eine Person
1) Vielgeschäftiger, unfähiger Dilettant,
2) E. W. SCRIPTURE, ‘Arithmetical Prodigies. (dm. Journ. of
Psychology, April 1891.) Bıner, Revue des deux Mondes, Mai
1802. Lomeroso, Entartung und Genie, Leipzig. 1894, D. 143 ff.
472 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
weiblichen Geschlechts, LApy MansrıeLD. Die nach Ver-
öffentlichung der Arbeit ScrRipturREs aufgetretenen merk-
würdigen Rechenkünstler Inavpdı und DiamAnDI vermehren
die Zahl der Männer dieser Klasse. Einige hervor-
ragende Forscher, GAvuss und AwMpPire, sind Beispiele
dieser Varietät, die durchaus nicht mit dem Bildungs-
gange zusammenhängt und manchmal bei ungebildeten
und fast idiotischen Menschen vorgekommen ist. Auch
die von SCRIPTURE untersuchten Personen mit abnorm
leistungsfähigem Gedächtnis für Zahlen waren männ-
lichen Geschlechts. Von den Rechenkünstlern ist es
nur ein Schritt zu den interessantesten und wichtigsten
aller Formen psychischer Abnormität, die man gewöhn-
lich als Genie bezeichnet. Auf die ‘Beweise für die
unvermeidliche Auffassung der Genialität als eine der
angeborenen abnormen Varietäten des Seelenlebens
kann hier nicht eingegangen werden; jedenfalls ist sie
in allen ihren Erscheinungen bei Männern viel häufiger
als bei Frauen. Die Konstatierung dieser Tatsache
ist von den Frauen häufig als Nichtachtnng ihres Ge-
schlechts empfunden worden und die Sache selbst ist
von ihnen: durch den Mangel an Gelegenheit und ent-
sprechender Erziehung erklärt worden. Die Tatsache,
dass die Idiotie bei Männern. häufig ist, scheint von
den Frauen nicht ebenso lebhaft angefochten worden
zu sein und doch gehören diese beiden Behauptungen
zusammen. Der Häufigkeit des Genies beim Manne
liegen dieselben organischen Tendenzen zugrunde wie
der grösseren Häufigkeit der Idiotie. Beide Tatsachen
sind nur der zweifache Ausdruck eines zoologischen
Gesetzes, des der grösseren. Variabilität des Mannes?)
1) LomsBrRoso hat in der ‚sechsten Auflage seines „Uomo
di Genio“ die Frage der Seltenheit der Genialität beim Weibe
ziemlich eingehend und im wesentlichen in demselben Sinne
behandelt, wie der Autor dieses Buches (s.'d. LomBrosos „Ent-
artung und Genie“ S, 66—g0o). Die Analogie, die EiL1s zwischen
Genialität und Idiotie‘ findet, beruht auf einer Voraussetzung,
die ich besonders betonen möchte, dass es nämlich ausser“
halb des Gebietes der Pathologie, d. h. der erworbenen körper”
lichen Abnormitäten ein grosses Gebiet völlig: anders gearteter
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 473
Das Wort Goncourts „Es gibt keine genialen
Frauen, weibliche Genie sind alle Männer“, ist viel
häufiger zitiert worden, als es verdient. Es ist nur halb
wahr, da viele geniale Frauen eine entschieden weib-
liche Organisation gehabt haben, und insoweit es wahr
ist, hat es keine pointe, aus dem Grunde, dass, wenn
viele genialen Frauen maskuline Eigenschaften besessen
haben, viele geniale Männer feminin gewesen sind. Die
wirkliche Wahrheit liegt in dem umfassenderen Satze,
dass bei genialen Persönlichkeiten jeden Geschlechts
eine Tendenz besteht zu einer Koexistenz von Qualitäten
des Mannes, des Weibes und des Kindes innerhalb
einer Individualität. Es ist nicht schwer, einzusehen,
warum das so sein muss, denn das Genie gehört einer
Region an, wo die scharf differenzierten Merkmale der
Weiblichkeit und‘ Männlichkeit, die ihr Ziel in der
Fortpflanzung haben, ihre Bedeutung verlieren.
Die grössere Variabilität des Mannes in geistiger
Beziehung findet ihren anatomischen Ausdruck in der
Abnormitäten gibt, die nicht als krankhaft und nicht aus wissen-
schaftlichen, sondern nur aus praktischen Gründen als Abnormitäten
gelten dürfen; es ist dies das Reich der individuellen Eigentüm-
Kchkeiten. Dass die Menschen individuell verschieden sind, ist
eigentlich das Normale und die höheren Grade dieser positiven
dder negativen Abweichungen vom Durchschnitt, deren beide Ex-
treme Genialität und Idiotie darstellen, gehören streng. genommen
Nicht in das Gebiet der Abnormitäten, sondern der blossen ali-
täglichen Varietäten. Wenn man die auffallenderen Fälle ana-
tomischer und psychologischer Varietäten heute noch fast allgemein
zu den Abnormitäten rechnet und in das Gebiet des pathologischen
verweist, so lässt man sich dabei durch die allmählich. ins Wanken
kommende Hypothese leiten, dass derartige angeborene Ano-
Malieen bedingt sind durch die Vererbung erworbener, d. h. krank-
hafter Anomalieen der Ascendenten. Wenn man sich‘ nun die
Verschiedenen psychologischen Varietäten von der Idiotie an bis
hin zur Genialität in einer geraden Linie angeordnet denkt, kommt
ein scheinbarer Widerspruch zwischen der Auffassung dieser
extremen Formen als Varietäten und der zweifellosen Innern
Verwandtschaft zwischen angeborenem Schwachsinn und Genia-
lität zustande. Reiht man die tatsächlich vorhandenen Varietäten
Nicht auf einer geraden Linie, sondern auf einem Kreise als Basis
(Abscisse) auf, so berühren sich die Extreme In der Theorie wie
in der Wirklichkeit (Anm, d. Herausg.).
474 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
grösseren Variabilität des Schädels und des Gehirns.
Individuen mit sehr grossen Köpfen sind gewöhnlich
Männer, ebenso die sehr kleinköpfigen oder die Mikro-
zephalen. Nach WeıssBaAcH zeigt sich in jeder Beziehung,
dass der Männerschädel innerhalb weiterer Grenzen
varüert als der des Weibes (Arch. fi Anthropologie
1868, S. 66). Das ist vielfach bestätigt worden, daneben
hat man die verschiedenen anatomischen Varietäten
des Schädels und Gehirns häufiger bei Männern ge-
funden. Pror. MaArsyaLL betont, dass die Varietäten des
Gehirns auf rein individuellen Abweichungen beruhen,
unabhängig vom Geschlecht und jedem anderen Faktor.
Während der Geschlechtsunterschied im Gehirn-Gewichte
150 g, der Altersunterschied go g, der durch die Grösse
bedingte etwa 60 g‘ beträgt, betrug die Breite der
individuellen Variationen bei (26) Männern 580 g, bei
eben so viel Frauen 430 g. „Nicht nur in seinem absoluten
Gewicht, sondern auch in dem relativen, auf die Statur
bezogenen, variiert das männliche Gehirn innerhalb
weiterer Grenzen als das weibliche.“ MaARrsHALL kon-
statierte an den ı3 grössten und ı3 kleinsten Männer-
leichen und an zwei entsprechenden Gruppen von weib-
lichen Leichen, das „der Unterschied des Hirngewichts
bei den beiden Gruppen von Männern 72 g, der zwischen
den weiblichen Gruppen nur 55 g betrug, und da der
Unterschied der Staturen für beide Geschlechter der-
selbe, nämlich ı2,7 Zoll, war, so ist offenbar die
Variation zwischen grossen und kleinen Personen beim
männlichen Geschlecht grösser“ (J. MARSHALL, Weight
of the brain etc. Journ. of Anat. 1892).
Vom organischen Standpunkt aus repräsentiert
also der Mann in der Entwicklung die variabelere und
progressivere, das Weib die monotonere und konserv%”
tivere Hälfte der Menschheit. Dass das Weib ei
stabileres Gleichgewicht besitzt, ist buchstäblich und
bildlich wahr. Anthropologen haben vielfach beobachtet
dass. die primitiven Merkmale der Rassen deutlicher
von den Frauen repräsentiert werden; LAGNEAU be”
hauptet das z. B. von den sarazenischen, baskischeP
DIE VARIABILITÄT: BEI DEN GESCHLECHTERN. 475
und anderen ethnologischen Elementen der Bevölkerung
Frankreichs. Daıiıy macht eine ähnliche Bemerkung.
JAcoss fand bei Jüdinnen nur kleine Abweichungen vom
Typus und beobachtete bei ihnen das, was man Jü-
disches Aussehen nennt, gleichmässiger als bei Juden”).
Die männliche Bevölkerung von Arles zeigt einen sehr
gewöhnlichen Typus, die Frauen dagegen erinnern
durch ihre blassen Gesichter, ihr schwarzes Haar und
ihre edie Haltung an den italienischen Typus und
bewahren wahrscheinlich den römischen Typus der
Bevölkerung der Stadt zu ihrer Blütezeit”).
Ebenso findet man, wie Covcke bemerkt, in Belgien
Spuren der Beimischung spanischen Blutes in die flämi-
sche Bevölkerung während der spanischen Herrschaft im
16. Jahrhundert am deutlichsten an Haar, Augen, Teint
und Hüften der Frauen in der Gegend von Brügge.
Man kann im allgemeinen sagen, dass Spuren eines
primitiven mongoloiden Elements in der sogenannten
keltischen Rasse überall, wo letztere noch vertreten ist,
sich deutlicher ‘in den Gesichtern der Frauen als in
denen der Männer finden lassen; verschiedene Beob-
achter haben das in der Bretagne, in Morvan und an an-
deren Orten gefunden‘), ich selbst in Savoyen und
Cornwall: MaANnTEGAzzA bemerkt, dass in Cortona und
Chiusi die Frauen an die alten Etrusker erinnern, und
in Albano an die alten Römerinnen, viel mehr als die
Männer. Major Sykes sagt von den persischen Zigeunern,
dass die Männer sich nicht leicht von‘ der umwohnenden
Landbevölkerung unterscheiden lassen, während die
Gesichter ihrer Frauen nicht die von persischen Bäue-
rinnen sind*).
_ Die Giao-Chi, eine ausgestorbene Rasse, welche
die Anamiten als ihre. Vorfahren betrachten, hatten eine
1) J. Jacoss, On the racial characteristics of modern Jews,
(Journ. of Anthrop., Instit. 1885).
2) Elisee Reclus (La France, p. 507)-
8) L’Humanite Nouvelle, 1902, p. 83- |
_ 4) Syvges, Anthroß. notes on southern Persia, Journ, Anthrop.
Instit., 1902, DPD. 344.
476 . DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
merkwürdig bewegliche, fast in Oppositionstellung zu
bringende, grosse Zehe. Diese atavistische Eigentümlich-
keit findet sich trotz einer erheblichen Mischung mit
anderen Rassen noch heute im Tonkin-Delta und zwar
besonders bei Frauen!), Auch die gerngere Körpergrösse
des Weibes gegenüber der des Mannes steht mit der
Erhaltung primitiver Eigenschaften in Verbindung.
Die Zoologen nehmen an, dass die Ahnen einer Rasse
relativ klein waren und dass die Untersuchung kleiner
Individuen innerhalb einer gewissen Tiergruppe den
besten Aufschluss über ihre Phylogenie geben. Das
Weib nähert sich durch seine geringere Grösse der
wahrscheinlich kleineren Statur der Vorfahren des
Menschen.
Eine Neigung zum Bewahren des Alten in Lebens-
führung und Denkweise zeigt sich beim Weibe auch
in psychischer Beziehung. In_ Russland liegt die
Zauberei, wie andere primitive Methoden, schwierige
Fragen des Lebens zu lösen, in den Händen von
Frauen, die anerkanntermassen die Stelle von. Hexen
und Wahrsagerinnen einnehmen ?). In Sardinien und
Sizilien und in entlegenen Tälern Umbriens ist noch
mancher alte Aberglaube und Ritus aus der Heiden-
zeit, die oft selbst auf prähistorische Zustände zurück-
gehen, bei den Frauen erhalten?). Archäologen, welche
Ausgrabungen in entlegenen Distrikten des nördlichen
Schottlands ausführten, haben wiederholt gefunden,
dass die Männer von ihren noch durch heidnische
Traditionen beseelten Frauen abgehalten wurden, dabe!
zu helfen. In den Gegenden Frankreichs, wo die Sitte
der künstlichen Schädelformationen besteht, — in der
Normandie, Limousin und Languedoc — tragen
Knaben die dazu gebrauchten Bandagen nur kurze
1) DumouTier, Notes Ethnologiques sur les Giao-Chi. (L’An-
throp. 1890 Nov.) ;
2) G. KuPTScHANKO, Krankheitsbeschwörungen bei russischen
Bauern in der Bukowina. (Am Urquell, 1891 S._12.)
S 3) Lomsroso und Lascyr, Der politische Verbrecher 1892
„ 242.
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 477
Zeit, während Frauen und Mädchen sie lebenslang be-
halten !).
Religiöse Tättowierung ist bei den Frauen in Bos-
nien und der Herzegowina noch im Schwung, bei
Männern dieser Länder jedoch nur in sehr geringer
Ausdehnung (Korresp. f. Anthrop., März 1894).
Alle Arten von Astrologie werden noch haupt-
sächlich von Frauen konserviert während Astrologen
früher von beiden Geschlechtern gleich eifrig konsultiert
wurde; EnpeArR Leg, der fast 13 000 astrologische Fragen
beantwortet hat, fand, dass 70%o . der Fragesteller
Mädchen und Frauen waren, die erfahren wollten, ob
sie noch einen Mann bekommen würden und die meist
zu den mittleren und oberen Klassen gehörten. (E. LEE,
Astrology fin de silcle, Arena 1892). LoMBRoso und
FERrRERO haben zahlreiche Beispiele für die konservativen
und neuerungsfeindlichen Tendenzen der Frauen in
ihrem Werk über das Weib als Verbrecherin (S. 174 ff.)
gegeben.
Die Ringeltänze und Singspiele der Kinder, die
man als Reste ursprünglicher, einstmals nur von Männern
ausgeführter Zaubertänze betrachtet, werden jetzt allein
von kleinen Mädchen überliefert (Groos, Sprzele des
Menschen, S. 452; HADDonN erörtert diese Spiele sehr
interessant und ausführlich bezüglich ihrer primitiven
Eigenheit [Study of Man, chapt. XI—XV])
Dieselbe Tendenz zeigt sich in dem Konservatis-
mus der weiblichen Kleidung. Die Dalmatika, das be-
Sondere Gewand der Dechanten, war einmal die ge-
Wöhnliche Kleidung der dalmatischen Bauern, die später
ein Teil der römischen konsularischen und senatorischen
Tracht wurde; sie wird schon lange ausserhalb der
Kirche nicht mehr. von Männern getragen, findet sich
aber noch als Oberkleid bei den dalmatischen Frauen
von Clissa und in den Dörfern in der ‚Nähe von
Spalato. (T. M. Lınosar Good words, Juni 1898.)
& 1) DeLisLe, Sur les deformations artificielles des cränes, (Bull.
e la Soc. d’Anthrop. d. Paris, II. Serie Bd. 12.)
478 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
Von der weiblichen Tracht in Birma schreibt
E. D.. Cumne: „Sie ist so unvergänglich und dauernd,
wie die Pagode selbst. Andererseits sind die Männer
immer bereit, die neuesten grosskarrierten Stoffe zu
wählen, die die Mode bringt, und die europäischen
Händler beschäftigen birmanische Musterzeichner, um
die Fabriken in England mit neuen Mustern zu ver-
sehen. (In the shadow of the Pagoda, 1893.)
In diesem Zusammenhange verdient folgender Teil
aus einem Essay von Pror, PaTrıcK Beachtung: „Bei
den Frauen der zivilisierten Völker hat der Gedanke
an_ Kleidung den.an die rein dekorative Tracht ‚noch
ficht völlig verdrängt. Das fliessende und selbst das
schleppende Rleid hat sich noch immer erhalten. Das
Haar wird nicht geschnitten, sondern phantastisch mit
Stücken von Schildpatt und Metall arrangiert; an der
Kopfbedeckung werden noch Federn getragen, diese
selbsthat eine ausschliesslich dekorative Bedeutung, bietet
wenig oder keinen Schutz für den Kopf und wird bei
schlechtem Wetter ganz fortgelegt oder mit einem ein-
facheren Kopfschutze vertauscht. In europäischen Städten
sieht man am Morgen die Frauen vom Lande meist mit
blossem Kopfe und in Amerika besuchen Nachbarinnen
einander oft so, allerdings nie bei feierlichen Gelegen-
heiten. Im Winter tragen noch beide Geschlechter
Pelzwerk, die Frauen aber viel häufiger. Lebhafte
Farben, wie rot, gelb, grün, blau, werden noch häufig
von Frauen und Kindern getragen, aber viel seltener
an Männeranzügen, wo schwarz, grau und braun über-
wiegen. Das Überleben der ursprünglichen Tendenz,
einzelne Körperteile ganz unbedeckt zur Schau ZU
stellen, sieht man noch in der Abendtoilette der
Damen, und man erkennt daran, dass der Gedanke an
Effekt noch nicht durch den an Zweckmässigkeit ver“
drängt worden ist. Der Gebrauch seltener Metalle
und Steine als Schmuck für Knöchel, Handgelenk,
Finger, Ohren, Nasen, Lippen und Hals hat sich In
der weiblichen Toilette lange Zeit nach dem Ver-
schwinden dieser Ornamente aus der männlichen Tracht
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 479
erhalten. An das Tragen von Ohrringen durch Frauen
erinnern sich viele von uns noch und Ringe und Steine
an den Handgelenken und Fingern sind bei Frauen
heute noch sehr häufig. Ein Überleben des Hals-
schmucks zeigt sich noch in den verschiedenen Formen
von Broschen und Colliers, Die von Naturvölkern so
sehr gesuchten Glasperlen finden sich an der modernen
Frauentracht noch in der Form von Besatz. Der Ge-
brauch von Farbstoffen zur Dekorierung des eigenen
Körpers ist heute bei beiden Geschlechtern so gut wie
ausgestorben, aber als Mittel zur Dekoration des Ge-
sichts waren sie noch bis vor kurzem weit verbreitet.
Die Verwendung verschiedener Pulver und Riechstoffe
hat die Entwicklung noch nicht beseitigt und in einer
gewissen Ausdehnung sind sie noch bei den meisten
Frauen im Gebrauch. Verstümmelungen des Körpers
zu dekorativen Zwecken sind ganz verschwunden, aber
etwas an Verstümmelung grenzendes, wie Durchbohren
der Ohrläppchen, unnatürliches Zusammenschnüren der
Taille und Einpressen der Füsse hat sich bei Frauen
bis heute erhalten, In China ist letzterer Brauch nur
noch bei Frauen zu finden.
In manchen Kleinigkeiten erinnert die Frauentracht
noch an primitive Sitten. Die Kleidung des primitiven
Menschen hing lose um den Körper und wurde mit
Schnüren, Spangen und dann mit Fibeln befestigt.
Später wurden diese Fibeln in Hakenform gebogen und
so an den Kleidern dauernd befestigt. Frauen ver-
wenden aber noch heute metallene Stecknadeln und der
ursprüngliche Mangel einer dauernden Anpassung der
Form der Kleidungsstücke an die Form des Körpers
zeigt sich noch heute am Hute, der nicht zum Kopfe
Passt, sondern mit Schnüren oder Nadeln daran be-
festigt werden muss. Diese verspätete Entwicklung
und mangelnde Differenzierung der F rauentracht zeigt
Sich in sonderbarer Weise am Schuhwerke. Vor ein
paar Jahrzehnten wurden Mädchen- und Frauenschuhe
Zerade zugeschnitten und ohne Unterschied rechts oder
links getragen, während Männerschuhe stets für beide
Füsse besonders gearbeitet wurden.
180 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN,
Aber das auffallendste Beispiel verzögerter Ent-
wicklung in der Frauentracht ist die Erhaltung der
Auffassung, wonach die Kleidung nicht sowohl ein
Schutz für den Körper ist, als ein Symbol des Wohl-
standes ihrer Trägerinn oder des Wohlstandes des
Hauses, zu dem sie gehört.
Es soll nicht behauptet werden, dass die Männer-
kleidung vollkommen, oder ganz frei von Elementen
primitiver Herkunft sei, oder dass das dekorative Mo-
ment, das der Tracht des wilden und des modernen
Weibes gemeinsam ist, etwas Unwürdiges wäre, sondern
nur, dass in der Entwicklung der‘ Tracht eine aus-
geprägt progressive Bewegung von dem ursprünglichen
Zwecke des Schmucks und Aufwands zu dem modernen
Zwecke der Nützlichkeit und der Bequemlichkeit ist,
und dass in dieser Richtung die Frauentracht auf einem
primitiveren Stadium verweilt hat oder festgehalten
worden ist. (G. T. W. PaTrıcg, ZZe Psychology of woman,
Popular science monthly, Bd. 47, 1895.)
Auf dem Gebiete der Anwendung mathematischer
Verfahren auf biologische Daten hat Prof. KARL PErARSON
so bedeutende Resultate und einen so angesehenen
Namen erlangt, dass ich auf den wohl organisierten An-
griff, den er auf meine Lehre von der Variabilität beim
Manne und beim Weibe gerichtet hat, entgegen meiner
Abneigung vor Kontroversen, hier eingehen muss”).
Es kommen aber dabei noch umfassendere Fragen zur
Diskussion, als das interessante Problem, welche Ver-
schiedenheiten die Tendenz zur Variation beim Menschen
in seinen beiden Geschlechtern hat. PsARsons Aufsatz
regt zum Nachdenken über die exakte Anwendung
der Mathematik in der Biologie überhaupt an, und
über die noch wichtigere Frage, worin eigentlich der
Geist wissenschaftlicher Forschung besteht. Diese um:
fassenderen Fragen können hier nur gestreift werden.
!) Der Inhalt des hier folgenden Abschnittes ist bereits al
führlicher im Popular Science Monthly (Januar 1903) veröffentlic
worden.
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 481
In seiner lichtvollen Geschichte der griechischen
Denker, in der auf ihre wissenschaftliche Bedeutung
besonders eingegangen wird, macht GomMPERz_einige Be-
merkungen über die Psychologie es Mathematikers,
und über die fast unvermeidlichen Fehler seiner Vor-
züge, Bemerkungen, die gut auf den vorliegenden
Fall passen. G. betont die unvermeidliche Tendenz des
Mathematikers zu.dogmatischen Urteilen, die sich daraus
erklärt, dass seine Beweise entweder ültig oder nichtig
Sind, und das hm N üancen_ des Gedämkenn intellek-.
enes Raffnement und schmiegsame Empfänglichkei
ea aa Gegenüber OCT BE Tee enen Wahr-
Scheinlichkeiten hängt ‚seine Stellungnahme von den
Zufälligkeiten des Temperaments und des Bildungs-
vanges ab. — Soweit (JOMPERZ.
In den biologischen Disziplinen stehen wir einer
grossen Anzahl verschiedener Elemente gegenüber
und während wir allmählich lernen, einige davon genau
zu bemessen, reichen zur Anordnung der Elemente nach
ihren Beziehungen mathematische Verfahren nicht aus,
sondern es bedarf dazu einer ausgebreiteten Einsicht
in die Kompliziertheit dieser Erscheinungen, und zu-
gleich in hohem Masse des Takts, der Intuition und
des gesunden Urteils, die zur Behandlung der nicht-
Wissenschaftlichen Angelegenheiten des Lebens erfor-
derlich sind. Es kommt dabei darauf an, Beweismaterial
Von verschiedener Beweiskraft zu werten und zu sondern,
das überdies auch noch beim ersten Blicke widerspruchs-
Voll erscheint. Dabei kann der Mathematiker durch
Bestimmung des genauen Betrags einzelner Faktoren
Wertvolle Unterstützung leisten. Mathematische Me-
thoden und ihre Ergebnisse sind für den Biologen
brauchbar, aber die Biologie kann noch nicht der Mathe-
Mmatik als ein Zweig der angewandten Mechanik zum
Betriebe überlassen werden. Die Tendenz — und zu-
gleich die Haupttugend — des Mathematikers, sich aus-
Schliesslich auf die deduktive Betrachtung des ihm
augenblicklich gegebenen Faktors zu beschränken, kann
Ellis. Mann u. Weib. 2. Aufl.
21
482 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
ihn leicht dahin bringen, dass er „Mücken seiht und
Kamele verschluckt.“
Mit dem Hochmute des unfehlbar exakten Mathema-
tikers, der in der Biologie durchaus deplaziert ist, setzt
man ‚sich sehr erheblichen Korrekturen seitens seiner
wissenschaftlichen Gegner aus.
Ich habe oben die Frage der Tendenz zur Variation
eingehender erörtert, als es früher geschehen ist und
habe die Daten dafür auf einem viel weiteren Gebiete
gesammelt, ohne jedoch dabei Gründe zur Abweichung
von den Ergebnissen zu finden, zu denen. HUNTER,
BurdaAcH und Darwın gelangt sind.
Bezüglich des Menschen konnte ich nicht behaupten,
dass bei ihm die grössere Variabilität des männlichen
Geschlechts „allgemein“ sei, aber alle seit den. Tagen
Darwıns festgestellten Tatsachen deuteten darauf hin,
dass beim Manne eine grösser Variabilität für die Mehr-
zahl der untersuchten Tatsachengruppen besteht. Und
wenn ich diese organische Tendenz sich auch auf see-
lische Differenzen erstrecken liess — auf Genie, auf
Idiotie, und andere organisch begründete psychische
Anomalieen — so erschien mir diese grössere organische
Tendenz des Mannes zur Variation als eine Tatsache
von der grössten sozialen und praktischen Tragweite,
und von Bedeutung für die ganze hinter uns liegende
Kultur-Entwicklung. Obgleich diese grössere männ”
liche Variabilität ein Gegengewicht in dem gleich-
mässigeren Niveau des Frauenlebens findet, müssen wir
doch anerkennen, dass wir die Existenz der ausser”
ordentlichen Männer, : die im wesentlichen der Kultur-
entwicklung ihre Bahnen vorgezeichnet haben, einem
Naturgesetze. verdanken. Dieser Schluss scheint mir
noch unerschüttert zu bestehen. Indessen habe ich 12
meiner ursprünglichen Darstellung des Problems einen
wichtigen Punkt übergangen, auf den ich hier besoP”
ders hinweise. Ich habe wenig oder nichts von der
Variabilität des männlichen und des weiblichen Ge-
schlechts bezüglich der Grösse gesagt, sei es der Gröss®
von Statur und Gewicht, oder der einzelner. Teile deS
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 483
Körpers. Der Grund für diese Unterlassung ist an ver-
schiedenen Stellen des Buchs deutlich angegeben.
Nun publizierte Prof, KArL PEABSON 1807 einen
Band gesammelter Abhandlungen, der eine längere
Abhandlung: „Variation in Man and Woman“, enthielt.
Der Verfasser hebt mit dem Satze an, ich hätte in
Mann und Weib viel dazu beigetragen, „einige der
schlimmsten pseudo-wissenschaftlichen Vorurteile zu
stützen, namentlich das von der grösseren Variabilität
des männlichen Geschlechts (beim Menschenyrung” die
Aufgabe seines Essays sel diesen pseudo-wissenschaft-
lichen Aberglauben auszurotten. Er betont ‚wiederholt,
dass, ehe er dieses Feld (das einige der grössten Bio-
logen der Welt beherrscht haben) eingenommen hätte.
Alles „Dogma“, „Aberglauben“, „Parteilichkeit‘“, besten-
falls „ganz unbewiesen‘“ gewesen wäre,
PEARSON sagt, dass er bei der Auswahl des Materials
für seine Darlegung alle diejenige „Organe oder Merkmale
zu eliminieren gesucht hätte, die selbst für das Geschlecht
charakteristisch sind“, wozu seines Meinung nach Gicht
und Farbenblindheit gehören; er überging auch alle
Variationen, die er als „pathologisch“ betrachtete, auf
Grund der Annahme, dass derartige „pathologische“
Variationen eine ganz andere Verteilung auf die Ge-
schlechter gewinnen können, als „normale“ Variationen.
Er entschied dahin, dass Grösse das beste Kriterium
der Variabilität ist. Wie eine „Variation“ zu definieren
ist, darüber stellte er keine kritische Untersuchung an,
obgleich eine derartige Untersuchung seine Endergeb-
nisse sehr erheblich hätte modifizieren müssen. „Was
Wir zu tuen haben“, so stellt er fest, „ist gesunde nor-
male Volksmassen von Männern und Frauen zu nehmen
und an denselben die Grösse derjenigen Organe zu
messen, die nicht sekundäre Geschlechtsmerkmale zu
Sein scheinen, oder aus denen man das sexuelle Merk-
mal entfernen kann, indem man sich bloss. mit den
Verhältnissen beschäftigt.“ Verschiedene Arten von
Grössen werden demgemäss zur Prüfung ausgewählt,
wie die des Schädels, besonders bezüglich der Kapazi-
51*
FE
484 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
tät und des Längen - Breiten-Index, die Statur, die
Spannweite, der Brustumfang, das Gewicht des Körpers
und verschiedener innerer Organe. Eine sorgfältige
Behandlung des verfügbaren Materials — wobei der
sogenannte Variationscoeffizient als mögliches oder
wahrscheinliches Mass kennzeichnender Variation gilt —
soll dann zeigen, dass, soweit überhaupt ein Unterschied
besteht, die Frauen im ganzen etwas variabler sind,
als die Männer, Dann springt P. kühn zu dem Schlusse
über, dass „demgemäss das Prinzip, wonach der Mann
variabler wäre als das Weib, als ein pseudo-wissen-
schaftlicher Aberglauben anzusehen ist‘,
Da die ganze Frage bei mir nur als das Neben-
resultat der Sichtung fremder Forschungen auftritt und
an der Peripherie meines eigentlichen Arbeitsgebietes
liegt, so ging ich zunächst nicht auf die von P. eröffnete
Diskussion ein, sondern notierte das Thema für spätere
Zeit auf meine Agenda.
Auch schien der Aufsatz PzAarsons wenig Beachtung
zu finden, ausser in, einer von W. F. R. WeELDoON her-
rührenden Besprechung von: Z%e Chances of Death
(Natural Science). Prof. WELDon deutet darin wenigstens
auf eine Schwäche in der Argmentation PzArsons hin,
nämlich darauf, dass P. fordert, „Merkmale zu über-
gehen, die an sich für das Geschlecht charakteristisch
sind“, wie Gicht oder Farbenblindheit, da sie, „ohne
auf ein Geschlecht beschränkt zu sein“, doch bei einem
Geschlechte besonders häufig sind. So können also,
wie wir sehen, Merkmale, die nicht auf ein Geschlecht
beschränkt sind, doch charakteristisch für ein Geschlecht
sein, und wenn wir nachsehen welche Merkmale bel
dem einen Geschlechte häufiger sind, als bei dem andern,
müssen wir - sorgfältig ‚alle diejenigen Merkmale
bei Seite lassen, welche handgreiflich bei dem einen
Geschlecht häufiger sind als bei dem andern. PEARSON
beginnt also mit einer Unklarheit, die nie aufge-
klärt wird. Sein Ziel ist, wie er angibt, derartig®
Grade der Variabilität zu finden, welche. „sekundär€
Geschlechtsmerkmale: menschlicher Wesen sind‘, und
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN- 485
offenbar können die gesuchten Merkmale, wenn sie
auch nicht auf ein Geschlecht beschränkt sind, doch
bei einem Geschlechte besonders häufiger sein. Jedoch
werden gerade die Merkmale dieser Gruppe
von vornherein als nicht zulässig beiseite
geschoben! Nirgendwo wird irgend eine Definition
der sekundären Geschlechtsmerkmale gegeben, noch
könnte sie unter diesen Voraussetzungen gegeben
werden.
Prof. PrARson scheint anzunehmen, dass der Begriff
des sekundären Geschlechtsmerkmals zu offenkundig
ist, um eine Definition zu erfordern ; tatsächlich bestehen
aber darüber erhebliche Meinungsverschiedenheiten, ich
verweise in dieser auf das oben, S. 28 ff. gesagte, und
auf die S. 31 gegebene Einführung einer Gruppe ter-
tiärer Merkmale des Geschlechts !).
Prof. PzARson gerät hier mehrfach in Irrtümer und
Unklarheiten. Er will die grössere Häufigkeit männ-
licher Idioten nicht als ein Beispiel der grösseren Varia-
bilität beim Manne gelten lassen, wenn man nicht diesem
Faktum die grössere Häufigkeit des Irreseins beim Weibe
gegenüberstelle. Hier liegt ein doppelter Irrtum vor.
Abgesehen von England und Wales?) in der letzten
Zeit ist fast überall die Zahl der männlichen Geistes-
1) Professor WALDEYER, der in der Eröffnungsrede einer
der Jahresversammlungen der Deutschen Anthropologischen Ge-
sellschaft auf einige Hauptpunkte meines Buchs eingegangen ist,
neigt dazu, die Existenz einer klaren Grenzlinie zwischen sekun-
dären und tertiären Merkmalen anzuzweifeln. Das habe ich aber
selbst schon angedeutet, und es bedeutet nicht viel, wenn, man
bedenkt, dass auch die sekundären Merkmale ihrerseits mit den
primären verschmelzen. Es gibt, wie GALTON Sagt, viele natür-
liche Gruppen, die Kerne, aber keine Konturen besitzen. Neuer-
dings hat einen meiner Auffassung sehr nahe kommenden Be.
griff der tertiären Merkmale ein hervorragender französischer
Anthropologe, PAPILLAULT, aufgestellt („L’homme moyen 2 Paris“,
Bull. Soc. d’Anthrop., x902). rs
2) Zufällig war ich der-erste, der darauf hinwies, dass gegen
Ende des letzten (19.) Jahrhunderts die Zahl der weiblichen Auf-
nahmen in den Anstalten von England und Wales zum ersten Male
die Zahl der männlichen Aufnahmen überstieg („Influence‘“).
486 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
kranken grösser, selbst hierzulande ist (nach dem Be-
richte der Commissioners in Lunacy) im Verhältnis zur
männlichen Bevölkerung. die Zahl der erstaufgenom-
menen Männer in den Irrenanstalten, grösser. Prof.
PEARSON ist irregeführt durch die bekannte grössere
Anhäufung üunheilbarer weiblicher Geisteskranken (der
weiblichen Langlebigkeit entsprechend) in den An-
stalten.‘).
Aber selbst wenn die Tatsachen so wären, ‚wie
Professor PzARsSoN sie darstellt, wäre der daraus gezogene
Schluss noch falsch; die Idiotie ist vorwiegend ein an-
geborener Zustand und deshalb ein ziemlich gutes Bei-
spiel. der organischen Tendenz zur Variation; Geistes-
störungen sind, ‚obgleich sie oft eine erbliche Basis
haben, ausnahmslos erworbene Zustände, die von allen
möglichen Arten von Einflüssen des Milieus herrühren,
so dass sie nicht wohl in gleichem Masse als Beispiele
der Variabilitäts-Tendenz gelten können: Von der Farben-
blindheit sagf uns PEARSON, sie wäre eine besonders
männliche „Krankheit‘‘ und dürfe nicht als Beweismittel
für die grössere Variabilitäts-Tendenz gelten, ausser wenn
man auf der Gegenseite das Vorwiegen des Brustkrebs
beim Weibe in Rechnung stelle. Darin liegt wieder
ein zwiefacher Irrtum; nicht nur ist eine angeborene
Anomalie ungeeignet zum Vergleiche mit einer er-
worbenen Krankheit, sondern bei dieser Argumentation
wird auch eine Drüse, wie die Brust, die nur bei einem Ge-
schlechte funktioniert, zusammengestellt mit dem Auge,
das bei beiden Geschlechtern gleich funktionstüchtig
ist. Ebenso macht P. aus der Gicht beim Manne ein
Pendant der Hysterie beim Weibe. Hier liegt eine
noch grössere Konfusion vor, Nicht nur ist Gicht kein
eigentlich. kongenitaler Zustand, obgleich sie, wie das
!') Wie leicht man hier irre gehen. kann, sehe ich gerade
aus einem südamerikanischen medizinischen Organ, das mir zur
Hand kommt.- Darnach waren in der Irrenanstalt in Santlag°
(Chili) am ı. Januar 1907.560 Männer und 655 Frauen in Pflege,
während im Laufe des vorausgehenden Jahres 539 Männer, aber
nur 351 Frauen aufgenommen worden waren.
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 487
Irresein, häufig eine erbliche Grundlage hat, sondern
sie ist, wenn wir die Fälle von „unterdrückter‘‘ Gicht
nicht vernachlässigen, bei Männern durchaus nicht mehr
verbreitet als bei Frauen, und selbst wenn wir diese
Fälle bei Seite lassen, kann man sie. doch nicht mit
der Hysterie parallelisieren, da diese in manchen Ländern
und manchen Klassen (so bei den unteren Klassen in
Frankreich) vorwiegend bei Männern .. gefunden wird.
Vom Standpunkte der sexuellen Unterschiede be-
züglich der Tendenz zur Variation ist es nicht erforder-
lich, streng zwischen primären, sekundären und tertiären
Merkmalen zu unterscheiden, wenn man es vermeidet,
Organe oder Merkmale zu. vergleichen, die eigentlich
unvergleichbar sind. Selbst die auf ein Geschlecht be-
schränkten sekundären Sexualmerkmale können ein
gewisses Gewicht als Beweismaterial besitzen, besonders
wenn sie als die Fixierung kongenitaler Variationen
gelten müssen. Wenn also solche Merkmale in grösserer
Häufigkeit bei Männern ; vorkommen; So spricht das
gerade als ein Argument, das keineswegs ignoriert
werden kann, für eine grössere Variationstendenz beim
Manne. Es ist nicht entscheidend, aber es muss nach
seinem vollen Gewicht gewürdigt. werden, Mit Professor
Prarson anzunehmen, dass eine Variation keine variatio-
nelle Bedeutung hat, weil sie bei dem einen Geschlechte
häufig und bei dem anderen selten vorkommt; scheint
fast absurd!).
Wenn nun PsArsoxs Versuch, vom Standpunkte der
Tendenz zur Variation zwischen verschiedenen Kate-
Sorieen von sexuellen Merkmalen zu unterscheiden, un-
Zutreffend und unnötig ist, so verfällt er an einer anderen
Stelle in den entgegengesetzten Fehler, indem er näm-
lich dort nicht unterscheidet, wo eine Diskriminierung
von ausschlaggebender Bedeutung ist. Er beachtet
1) Bezüglich der gewöhnlichen Gicht, die PzARSON als den
Typus der aus der Betrachtung ausscheidenden Phänomene an-
sieht, gehen die Meinungen über ıhre Abhängigkeit vom Geschlecht
Sehr” auseinander; nach einer der führenden Autoritäten kommen
auf 86 Fälle beim Manne ı2 beim Weibe,
188 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
nicht, ob die Variationstendenz sich dokumentiert an
Variationen, die eine organische, kongenitale Basis
haben, oder an solchen, die lediglich auf während des
individuellen Lebens wirkende Milieu-Einflüsse zurück-
zuführen sind. Das sind für ihn alles gleichwertige
Dinge und die wichtigsten sind für ihn diejenigen, die
am leichtesten von den Maschen des mathematischen
Netzes festgehalten werden. Ja, er geht noch weiter.
Er entscheidet gerade zu ungunsten der mehr organi-
schen und fundamentalen Variationen. Es erscheint ihm
„irrig“, kongenitale Variationen irgendwelcher Art zu
berücksichtigen, wenn wir die relative Variabilität der
Geschlechter bestimmen wollen. Bei der Bestimmung
dieser Tendenz müssen wir nach ihm die meisten Varia-
tionen ausser acht lassen.
Der Grund, aus dem er Anomalieen ausscheidet, ist,
dass sie pathologisch sind und ’dass begreiflicherweise
die pathologische Variation bei demselben Geschlechte
grösser und die normale Varitation geringer sein könne.
Er glaubt, dass die geltende „medizinische Wissenschaft“
ihn berechtigt, das „Normale“ und das „Abnorme“ als
zwei durchaus verschiedene und möglicherweise ent-
gegengesetzte Gruppen von Phänomen zu betrachten.
Das ist nun nicht im entferntesten der Fall. Wenn Prof.
PEARSON meint, von seinem Hausarzte dahin informiert
worden zu sein, so will ich glauben, dass er in dieser
Auffassung bestärkt worden ist, denn bei der gewöhn-
lichen klinischen Tätigkeit macht der Arzt wirklich
solche Unterschiede. Aber die praktischen Bedürfnisse
des Arztes haben mit dem vorliegenden wissenschaft-
lichen Probleme nichts zu tun. Wir haben da eın
spezifisch pathologisches Problem vor uns und wir
müssen uns dasselbe vom Pathologen, nicht vom Prak-
tiker erläutern lassen, Ich zitiere den grössten Patho-
logen. unserer Zeit, VYırcnuw, der ausspricht, dass jede
Abweichung vom elterlichen Typus ihren Grund in
einem pathologischen Vorgange hat, eine Auffassung;
die: PEARSON (gestützt auf nichts als eine Wortspielerei)
als „sinnlos“ verwirft, Nach ihm sollten wir nicht vom
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 489
„elterlichen“ Typus reden, sondern von einem „zwischen
dem elterlichen und dem Rassentypus liegenden Typus“;
nun, tuen wir das, So bleibt der Satz doch substantiell
derselbe, soweit die uns hier beschäftigende Frage in
Betracht kommt !). Auch MaArTrTHas Duvar. hat nach-
drücklich erklärt, es wäre nicht daran zu denken, dass
die Missbildung eines Körperteils das Ergebnis einer
Krankheit dieses Teils sei®).
Wenn wir weiter zurückgehen, so finden wir, dass
sogar MzckeL, der manchmal als einer der Gründer der
Erforschung der Variationen betrachtet wird, deutlich
anerkannte, dass die einfachsten Varietäten und Ano-
malieen allmählich in Monstrositäten übergehen, und
dass dieselben Gesetze für beide gelten®).
Zu Beginn seiner fast epochemachenden Abhand-
lung „Bericht über einen ungewöhnlichen Phasan“ (in:
Descriplio monstrorum nonnullorum, 1826) schrieb er:
„Jede Abweichung kann nicht unzutreffend monströs
genannt werden; die Arten der Monstra sind fast un-
endlich!‘
1) VircHow hat den fraglichen Satz wiederholt betont und
keineswegs immer in der Form, die Professor PEARSON verwirft.
So äusserte er 1894 auf dem deutschen Anthropologen-Kongress,
dass jedesmal wenn „die bisher bestehende physiologische Norm
verändert wird“, wir einer Anomalie gegenüberstehen, und dass
in diesem Sinne jede Abweichung von der Norm eine patholo-
gische Tatsache ist, auch wenn sie keine Krankheit und harmlos,
ja vorteilhaft ist. In einer seiner letzten Arbeiten über diese Frage
(Zeitschr. f. Ethnologie, Bd. I, S. 213) wiederholte er, dass die Pa-
thologie ebenso wie die Physiologie ein wesentlicher Faktor In der
menschlichen Rassenentwicklung ist. Ich bin gewiss, dass Patho-
logen mit mir darin übereinstimmen werden, dass die Überzeugung
von der Wesenseinheit von Physiologie und Pathologie die Grund-
lage der von VircHow herbeigetührten Umwälzung der Patho-
logie bildet. ,
_ ?) BALLANTYNE geht selbst soweit, zu SagCh, dass „die nor-
male Geburt in ihren Wirkungen auf das Kind fast als ein patholo-
gischer Prozess betrachtet werden kann; €S ist sehr sicher, dass
derselbe Betrag der Verschiebung von Organteilchen, wenn er
in einer späteren Lebensperiode stattfände, pathologisch genannt
werden würde“. (Manual of Antenatal Pathology, 1902; P- 35.)
3) Handbuch der Batholog. Anatomie, 1812, Bd. 1, S. 9.
1490 - DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
Es ist die Tendenz der wissenschaftlichen Patho-
logie, zugleich die Grenzen des Normalen in die vom
Laien als krankhaft betrachteten Gebiete vorzuschieben,
und gleichzeitig wirklich krankhaften Vorgängen gegen-
über nicht zuzugeben, dass dabei irgend welche neuen
Gesetze zur Wirkung kommen. „Zwischen jeder Form
der Krankheit und Gesundheit“ -— so erklärte einer
der Begründer der modernen Pathologie vor mehr als
einem Vierte ahrhUNGerE SEID ES nur Gradunter-
schiede.‘“ Krankheit ist nie etwas anderes als eine
Übertreibung oder Disproportion oder Disharmonie
normaler Erscheinungen ?).
Wenn man mir einwendet, dass man bei einem
Mathematiker nicht Vertrautheit mit den. Prinzipien
der Pathologie voraussetzen könne, so ist zu erwidern,
dass Prof, Pearson ein Gebiet betreten hat, das an
die wesentlichsten Sphären. der Pathologie. grenzt,. und
dass das eigentliche. Prinzip so einfach und elementar.
ist, dass es fast schon Gemeingut aller Gebildeten ge-
worden ist. Man schlage Nıerzsches Wille zur Macht
auf. und lese, wie er sich über die Art der Unter-
scheidung‘ zwischen Gesundheit und Krankheit äussert.
Wir haben im ganzen keinen Grund, bei der Be-
trachtung der Variations- Tendenz beider Geschlechter
Abnormitäten aus der Erörterung auszuscheiden. Für
den mathematischen Geist — so lässt uns Prof.
PEARSOoN annehmen — ist es vorstellbar, dass die Ge-
setze der Pathologie die der Physiologie umkehren;
für den Biologen ist eine derartige Vorstellung absurd.
Vielmehr liefern uns die Anomalieen das zuverlässigste
Beweismaterial. Das Wort „Abnormität“ kann leicht
irre führen, und Prof. PEArson kann damit Laien leicht
für seine Auffassung einnehmen. Es ist kein wissen“
schaftlicher Fachausdruck; die sogenannte Anomalie
ist nicht abnorm im Sinne von etwas Krankhaftem ;
sie ist nur etwas Exzeptionelles. Es wird damit nur
der äusserste Punkt der Pendelschwingung bezeichnet,
“ 2) CLAUDE BErRnNarD, Legons sur la chaleur animale, Les
19, 1875;
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 491
deren Gebiet allgemein als normal gilt, Was gewöhn-
lich als „Anomalie“ bezeichnet wird, könnte ebensogut
als „Variation“ öar excellence bezeichnet werden.
Diese Bezeichnung würde durchaus dem Sprachg-
brauch der meisten Autoren entsprechen, welche den Stoff
bis auf heute durchforscht haben und der Gebrauch
lässt sich auch durchaus rechtfertigen. Wenn wir —
um beim Bilde vom Pendel zu bleiben — herausfinden
wollen, ob das weibliche oder das männliche Pendel am
weitestenschwingt,so müssen wir sie frei schwingen lassen.
Nun bedeuten die angeborenen „Anomalieen“ genau die
Art von Variation, die dem freien Schwingen des
Pendels am nächsten kommt. Zwar ist keine absolute
Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Energie
und den späteren modifizierenden Einflüssen möglich,
aber wenn wir die ursprünglichen Energien des männ-
lichen und des weiblichen Organismus messen und ver-
gleichen wollen, müssen wir nach Möglichkeit diejenigen
Merkmale beiseite lassen, welche sehr: erheblich durch
spätere, äussere Einflüsse bedingt sind.
Prof. PzrArson wählt dagegen als massgebendes
Vergleichsobjekt für die Ausprobung der Variations-
tendenz bei beiden Geschlechtern lediglich den Unter-
schied der Grösse, zumeist bei Erwachsenen, d. h. er
hat als Probierstein einen der hinfälligsten Unterschiede,
der lebenslang modifizierenden Einflüssen ausgesetzt ge-
Wesen ist, ausgewählt.
Selbst wenn wir — was nicht ohne weiteres
Möglich ist — zugeben, dass die bei der Geburt ge-
gebenen Dimensionen ein brauchbares Vergleichs-
Material darstellen, wird ‚die Variation hierin mit ZU-
nehmendem Alter immer mehr vom Milieu beeinflusst.
Da das Leben auf beide Geschlechter, verschieden
übend und affizierend einwirkt, während z. B. der Tod
Selektiv sehr verschieden wirkt, müssen beide grosse
Faktoren erheblich in Rechnung gestellt werden, wenn
dieses Material merklich berücksichtigt werden soll *).
1) Gewiss findet der Einfluss des Milieus wiederum seine
Grenze in der ererbten Veranlagung (Ss. Z. B. GaıTon, Hereditary
Genius, 2. ed., pp. 12-14, P: 40)-
a
492 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
Sonst beschäftigen wir uns nicht mit dem Auftreten
von Variationen, sondern mit einem ganz anderen
Stoffe, mit der Eliminierung der Variationen, Prof.
PEARSON ahnt hier und da im Laufe seiner Untersuchung,
wie es damit steht und äussert schliesslich sehr deut-
lich den Verdacht, dass die ein wenig grössere Varia-
bilität des Weibes, die seine Ergebnisse zeigen, haupt-
sächlich auf einen relativ weniger harten Kampf ums
Dasein zurückzuführen sei! Wahrscheinlich hat er
darin ganz recht, aber wenn dem So ist, wird seine
ganze Argumentierung hinfällig. Es bleibt dann die
Frage der organischen Tendenz beider Geschlechter
zur Variation ganz unberührt; wir finden uns statt
dessen dem Problem der Auslese gegenüber.
Die halbe Erkenntnis liegt aber, wie man hier wieder
einmal sieht, in der richtigen Fragestellung. Es mag
überflüssig erscheinen, den Ausführungen PEArsons noch
weiter zu folgen; sie haben, so wertvoll sie in anderer
Hinsicht sein mögen, keine entscheidende Bedeutung
für die Frage, die er beantworten will, und erschüttern
die Stellung des Autors nicht, die er angreift. Aber
es knüpft sich an eine gründliche Erörterung seines
Standpunkts ein besonderes Interesse.
Da Grössenunterschiede. wahrscheinlich durch die
Lebens- und Todes-Chancen in erheblicher Ausdehnung
beeinflusst werden, und die Eliminierung, soweit Sie
von der Grösse abhängt, bei beiden Geschlechtern sich
vielleicht verschieden gestaltet, so bilden sie keinen
verlässlichen Führer auf dem Gebiete der Variation der
Geschlechter in ihrer ursprünglichen Gestaltung-
Man könnte nun meinen, das beeinflusse diejenige?
Messungen nicht, welche sofort bei der Geburt ausge“
führt werden, und wir müssten deshalb diejenigen MeS-
sungen PzArsons gelten lassen, die das Kind bei der
Geburt betreffen. Hier aber treffen wir auf einen äusserst
wichtigen Faktor: Die Elimination der sich auf die
Grösse erstreckenden Variationen hat bereits während
der Geburt begonnen, und es gibt Gründe für die AP
nahme, dass diese Elimination die beiden Geschlechter
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 493
in verschiedenem Grade betrifft. Das war in meiner ur-
sprünglichen Darstellung entsprechend berücksichtigt
worden, aber in Prof. PsArsoxs langer Arbeit findet sich
kein Hinweis darauf. Er bestreitet diesen Einfluss nicht,
er Jässt aber auch nicht erkennen, dass, wenn er das
nicht tut, seine Schlüsse gegen die meinigen nicht zu
halten sind Pszarsons frühere statistische Arbeiten auf
dem Gebiete der Biologie bezogen sich hauptsächlich auf
Krabben; beim Übergange von den Krabben zu mensch-
lichen Wesen ist es ihm entgangen, dass diese unter
anderen. Verhältnissen auf die Welt kommen, als jene.
Dieses Übersehen — so verzeihlich es auch bei einem der
Geburtshilfe fremden Forscher ist — hat die Gültigkeit
seines Lieblingskriteriums der geschlechtlichen Variabilität
erheblich beeinflusst, insoweit er es gegen seine Vor-
gänger verwendet.
Hier ist nun folgendes zu bemerken.
Jedes Kind, das auf die Welt kommt, wird auf
eine ernste Festigkeitsprobe gestellt, dank der geringen
Elastizität des knöchernen Beckenrings, durch welchen
es hindurchtreten muss. Wahrscheinlich infolge dieser
Probe geht ein gewisser Anteil von Lebenskandidaten
zugrunde, während sie in die Welt treten, oder sehr
kurze Zeit darauf. Unter diesen so eliminierten Kindern
ist ein sehr grosser Teil der grössten Neugeborenen.
Zweifellos deshalb, weil Knaben die Tendenz haben,
Zrösser zu sein, als Mädchen, leiden Knaben am meisten
bei und kurz nach der Geburt. Das scheint überall die
Regel zu sein?)
_ Soviel mir bekannt ist, war. der erste Versuch,
diese Erscheinung wissenschaftlich zu erklären, der von
CLARKE, welcher 1786 Arzt an der Entbindungsanstalt in
Dublin war?. Durch Messen und Wägen von 120 Neu-
ana
li 1) Für das genaue Verhältnis der Zahl männlicher zu der weib-
cher geborener Kinder s Pıoss, cit. W., 6. Aufl., 1901, Bd. I. 5. 336.
o 2) Joser CLARKE, Observations on Some Causes of the excess
f the‘ mortality of Males above that of Females, Philos. Trans-
Ackions, 1786. Es sei dazu bemerkt, dass der erste Versuch, Neu-
Beborene zu messen und zu wägen, erst kurze Zeit vor CLARKE,
Mm Jahre 1753, von ROzDERER gemacht worden ist.
494 DIE. VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
geborenen stellte er fest, dass die Knaben ausgesprochen
grösser waren, als die Mädchen. „Darin zeigt sich“,
wie er das Verhalten charakterisiert, „die gnädige Für-
sorge der Vorsehung für das weibliche Geschlecht, denn
wenn Abweichungen vom Durchschnitte vorkommen, SO
liegen sie merkwürdigerweise viel häufiger. unter als
über dem Durchschnitte.“ Er führte die viel grössere
Sterblichkeit der Knaben bei und unmittelbar nach der
Geburt zumeist auf die Geburtsläsionen des Kopfes
zurück, aber auch darauf, dass, da die Knaben grösser
sind und daher grössere Ansprüche an die Ernährung
durch den mütterlichen Körper stellen, sie mehr Chancen
haben, unter jedem Mangel der Mutter auf diesem Ge-
biete zu leiden. Das Problem und seine möglichen und
wahrscheinlichen Lösungen sind also vor mehr als einem
Jahrhundert klar hingestellt worden.
Wie es Pionieren oft geht, fand CLARKE mit seiner
kleinen Abhandlung keine Beachtung und während
eines halben Jahrhunderts brachten mehrere Beobachter
zwar umfangreiches Material zu dieser Frage zusammen;
ihre Stellungnahme war aber oft unlogisch und ein-
seitig und der wissenschaftliche Fortschritt war nicht
gross, 1844 publizierte‘ SIMPSON eine wohl bekannte
Arbeit, deren reiches Material sich‘ mehr oder weniger
auf die hier behandelte Frage bezog*).
Er zeigte, dass bei Knabengeburten sowohl Mutter
wie Kind erheblich leiden, er bestritt, dass die grösser
Mortalität der Knaben bei und unmittelbar nach der
Geburt eine andere Ursache haben könne, als die all-
gemein. anerkannte bedeutendere Grösse des Kopfe$s
bei Knaben (hauptsächlich aus dem Grunde, weil fötale
Todesfälle vor der Geburt auf beide Geschlechter ziem“
lich gleich verteilt sind?), und er schloss daraus, dass
die erheblichere Grösse des männlichen‘ Kopfes die
N J. Y. Sımpsön, On the sex of the child as a cause ‚of
diffieulty and danger in human parturition. Obstetric memotr5
Vol. I, pp. 394 SI... .
2?) Anders urteilt hierüber RAUBER, Der Überschuss an Knabew
geburten und seine biologische Bedeutung, 1900, S. 140—144-
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 495
Ursache einer erheblichen jährlichen Sterblichkeit ist.
Mehrere spätere geburtshilfliche Beobachter haben
weitere Beiträge zu der Frage geliefert, sind aber nicht
alle der Meinung gewesen, dass eine so grosse Sterb-
lichkeit auf einen Grössenunterschied zurückzuführen
wäre, der so klein zu sein schien!). Eine Autorität er-
klärte rund heraus, die Annahme einer erheblicheren
Grösse des Knäbenkopfes wäre lediglich „ein populäres
Vorurteil“, das führte zu neuen Messungen und nun wur-
den StaptreLD (Kopenhagen) Verdienste beigemessen, die
tatsächlich CLARKE, dem alten Dubliner Arzte, zukamen,
Var zeigte, dass selbst bei gleichem Gewichte während
der Geburt mehr Knaben als Mädchen sterben, aber dass
andererseits, nach PrAnnKucHs Messungen, auch bei
gleichem Gewichte neugeborene Knaben grössere Köpfe
haben, als Mädchen®). Jedenfalls wurde es höchst
Wahrscheinlich, dass die Grösse des Knabenkopfes ein
wichtiger Faktor der Mortalität ist, und als die Frage
Schliesslich die Aufmerksamkeit statistisch geschulter
Anthropologen erweckte, wurde dieser Schluss bestätigt.
Fraancıs GALTON kam so zu dem .‚Schlusse (1883),
„dass anscheinend die physischen und höchstwahr-
scheinlich auch die geistigen Proportionen einer Rasse
ünd ihre Einheitlichkeit innerhalb gewisser Grenzen
Wesentlich von der Grösse des weiblichen Beckens
abhängen, welches als Sieb wirkt, und die grössten
Kinder, besonders aber die mit grossen Köpfen und
Wahrscheinlich mehr Intelligenz, ausrottet, indem sie
dieselben nicht die Geburt überleben lässt“ ®).
___ 1) Man hat sich vielfach auf Durchschnittswerte berufen, die
hier wenig Bedeutung haben. So mass OLSHAUSEN den Durch-
Messer von 1000 Schädeln und fand den Durchschnitt bei Knaben
nur wenig grösser. Das war ja zu erwarten, wenn das männliche
Geschlecht variabler ist, als das weibliche; was wir aber wissen
Müssen, ist die Zahl der Fälle für jede Ginzeine Grössenstufe.
?) Archiv f. Gynäkologie, Bd. IV, 5. 297:
. 3) Der Tal AUSSOHEHN wirkende Einfluss, des Becken-
Mngs scheint andererseits die männliche Variabilität in bezug auf
Nervöse und psychische Merkmale für die ganze Dauer des Lebens
Zu steigern. 8 z. B. Sir J. CricHToN-BRowNE, West Riding
Asylum Reports, I, 1871.
—_—_
196 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
Um die Sachlage völlig aufzuklären, müsste man
die reifen männlichen und weiblichen Totgeburten mit
den Neugeborenen vergleichen, die innerhalb einer
Woche nach der Geburt sterben, oder besser noch mit
der Mortalität der ersten Lebenswochen überhaupt.
Schädelmessungen bei diesen Gruppen von Todeställen
sind mir in der biologischen Literatur nicht. vorge-
kommen; höchstens findet man Durchschnittswerte, die
für die vorliegende Frage wertlos sind!. Ich habe
mich deshalb brieflich an anatomische und geburtshilf-
liche Autoritäten verschiedener Länder gewandt und
eine Anzahl interessanter Antworten und Daten er-
halten, einschliesslich Auszügen aus Entbindungsanstalts-
Registern. Aber keines dieser so erhaltenen Verzeich-
nisse enthält Angaben über eine genügende Anzahl von
Neugeborenen. Das Material spricht lediglich für die
Anschauung, dass besonders die grossen Kinder durch
die Geburt auslesend eliminiert werden. Das umfas-
sendste Verzeichnis (über 60 totgeborene Knaben und
50 totgeborene Mädchen), das ich aus der Bostoner
Entbindungsanstalt von Dr. C. M. Green erhalten habe,
zeigt, dass bei diesem Materiale die Variationsbreite
grösser ist als unter den Überlebenden jeden Geschlechts,
da nicht nur die Kurve der Variationsbreite mehr Span-
nung zeigt, sondern auch ihre beiden Endkolonnen
höher getürmt sind. Es ergibt sich, nicht vollkommen
deutlich, eine grössere Mortalität der grössten Knaben,
als der grössten Mädchen, wenn wir die Totgeborenen
mit den Lebendgeborenen von gleicher Grösse und Ge“
wicht vergleichen, Eine andere, mehr durchgearbeitete,
aber an Zahl kleinere Serie von Fällen, die ich Prof
WummeDe: WıLLuns (John Hopkins Hospital) verdanke,
führt zu einem auch nicht völlig abschliessenden Urteile”)
') BoypD’s Tabellen (Philosoph. Transact., 1861) zeigen, das
der totgeborene Knabe erheblich mehr das totgeborene Mädchen
an Grösse übertrifft, als die überlebenden Knaben die überlebenden
Mädchen übertreffen. Die Geburtshindernisse wirken stärke
reduzierend auf die Grösse der Knaben als auf die der Mädche?:
2) Ich will auf diesen Punkt hier nicht ausführlicher eingehe
weil das für meine Abwehr des PzArson’schen Angriffs gar nic
nötig ist.
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN, 497
Es gibt aber noch ein anderes Kriterium, das zwar
keineswegs mit dem Anspruche auf statistische Gültig-
keit auftreten kann, jedoch eine erhebliche Bedeutung
auf diesem Gebiete hat. Gerade wie in psychischer
Beziehung in der Welt gewisse, sehr seltene Individuen
erscheinen, deren intellektuelle Fähigkeit enorm die
ihrer Mitmenschen überragt, so finden wir, dem „Genie‘“
entsprechend, auf somatischem Gebiete gewisse gleich
seltene Individuen, die bei der Geburt die anderen
enorm in ihrer Körpergrösse überragen, dabei aber
normal und wohl proportioniert sind.
Man muss nun fragen, ob diese gewissermassen
angeborene somatische „Genialität‘““ mit dem psychischen
Genie zusammenhängt, das so sehr viel häufiger männ-
lich als weiblich ist. Die gewöhnliche Statistik versagt hier,
denn solche Fälle sind im ganzen so selten, dass sie
auch in den grossen Zahlenreihen nicht zum Vorscheine
kommen: SwMELLıE fand ein über ı3z Pfund wiegendes
Kind in 8000 Fällen; in Frankreich fand sich ein
ı2 Pfund schweres Kind unter 20000 Neugeborenen).
Da schon ein neunpfündiger Neugeborener für gross
gilt, kommen wir im Gebiete über 13 Pfund an einen
Punkt, wo der Durchschnittsunterschied zwischen Knaben
und Mädchen unerheblich wird, so dass beide Ge-
Schlechter ungefähr gleiche Chancen haben, extrem hohe
Gewichte zu erreichen. Es blieb mir nun nichts übrig,
als die weit verstreuten Berichte über die einzelnen
Fälle zu sammeln. Ich habe so ziemlich alles Material
der letzten 50 Jahre zusammengebracht. Dabei bin ich
auf eine ganz unerwartete Schwierigkeit gestossen. In
vielen Fällen, selbst in solchen, wo zahlreiche Messun-
gen gemacht worden sind, ist das Geschlecht der Kinder
Nicht erwähnt worden. Diesen Teil des Materials musste
ich natürlich vernachlässigen, ich halte es aber für sehr
Wahrscheinlich, dass die meisten, wenn rlicht alle solche
Fälle Knaben waren; so war es in dem einzigen Falle,
Wo der Berichterstatter noch lebte und ich mich un-
mittelbar nach Erscheinen der Publikation bei ihm er-
kundigen konnte. So schmolz die Zahl meiner hrauch-
Ellis Mann u. Weib, 2. Aufl.
39
498 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
baren Fälle auf 21 zusammen. Davon waren 3 Mäd-
chen und ı8 Knaben. Die Mädchen starben alle bei
der Geburt, und ebenso die Hälfte der Knaben.
So primitiv diese Methode der Behandlung der
Frage sein mag, so unwahrscheinlich ist es, dass eine
systematischere künftige Enquete über ungewöhnlich
grosse Neugeborene etwas Anderes als das Vorwiegen
der Knaben ans Licht bringen sollte 1).
Das: vorläufige Resultat bestätigt den Satz, dass
Knaben auch hinsichtlich der Dimensionen des Körpers
eine grössere variationelle Tendenz haben, aber es be-
weist nicht absolut die Wirksamkeit einer Selektion
bei der Geburt, deren Wirkung entweder zur Vernich-
tung‘ der grössten Knaben im Zeitpunkte der Geburt
oder in den darauf folgenden Tagen und Wochen führe,
so wahrscheinlich die Tatsachen auch eine solche Se-
lektion machen. Der darüber noch mögliche Zweifel
stärkt aber keineswegs die Stellung PraArsons mir
gegenüber. Es genügt, dass während mehr als eines
Jahrhunderts Beweismaterial dafür angesammelt worden
ist dafür, dass die von PrARson einzig und allein als
Material verwerteten Daten durch einen Faktor modi-
fiziert werden, der das Material völlig entwertet.
PEARSoN würde entweder zu zeigen haben, dass
Knaben bei der Geburt nicht grösser als Mädchen sind,
oder aber, dass grosse Kinder nicht mehr als kleinere
beim Passieren des mütterlichen Beckens leiden. Dass
PEARSON die Notwendigkeit dieses vorläufigen Nachweises
nicht bemerkt hat, beweist, dass er für die Aufgabe,
die er sich gestellt. hat, nicht genügend ausgerüstet
gewesen ist.
1) Ich finde soeben eine Erörterung des Gegenstandes vom
geburtshilflichen Standpunkte aus (H. Dusois, Les Zr0s enfanl
au point de vue* obstetrical, These de Paris 1897), worin mein
Resultate in selbständiger Weise, bestätigt werden. Beig Knaben
und 3 Mädchen fand Dusors Gewichte über 7 Kilogramm. Unter
den mässig grossen Neugeborenen wogen die Knaben nicht in 5
starkem N Verböltnisse vor, aber unter den drei schwersten Kindern
war nur ein Mädchen, und zwar war dieses das leichteste dies“
vier Neugeborenen.
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 499
Ich wende mich nun zu einem PzARrson ganz fremden
Punkte. Die Auslese zu ungunsten der grösseren
männlichen Kinder ist, wie wir sahen, nicht absolut
bewiesen. Nehmen wir aber an, sie sei bewiesen, was
müssten wir dann bei den Überlebenden bezüglich der
Grösse zu finden erwarten? Offenbar eine mehr oder
weniger verminderte Differenz der Geschlechter bei
den Überlebenden, mit einem Maximum sexueller Dif-
ferenzen unmittelbar nach der Geburt!). Nun ist das
gerade dasjenige, was PEARson gefunden hat!
„Wenn wir unsere Schlüsse bezüglich des Körper-
gewichts zusammenfassen — bemerkt er — so möchte
es scheinen, dass das männliche Geschlecht nicht varia-
bler ist, als das weibliche, ausser bei der Geburt.“
Dass diese Ausnahme seine Angriffe gegen die
hier vertretene Auffassung entkräftet, das hat Prof. PEAR-
Son offenbar nicht gesehen. Immerhin hat ihn die Aus-
nahme frappiert. Er hat z. T. sehr umfangreiche
Reihen von Daten über diesen Gegenstand gesammelt,
Aber seine Stellungsnahme hat er deshalb nicht ge-
ändert. Es liefert aber ahnungslos Material zur Be-
gründung gerade derjenigen Anschauung, die er be-
kämpfen will 29.
1) Bei vielen Kindern, die die Geburt überleben, tritt bald
der Tod infolge der Geburtshindernisse ein. Durch Geburtser-
Schwerungen . veranlasste Blutungen innerer Organe sind nicht
immer absolut tötlich. Bekanntlich ist die Säuglingssterblichkeit
Sehr gross, und beträgt in England und Wales ein Fünftel: aller
Todesfälle. In den drei ersten Lebensmonaten haben die Knaben
eine um 26% höhere Sterblichkeit, (Statistik von 1896.) In Italien
Sterben fast 17°% der Neugeborenen innerhalb des ersten Lebens-
Monats. Bezüglich der unverhältnismässig grossen Beteiligung
der Knaben an dieser Mortalität vgl. die oben zitierte Schrift von
Rauser, S. I53f6.. ©
.. ?) Auch der hervorragende deutsche Anatom SCHWALBE, der
Sich höchst eingehend mit der Erforschung der menschlichen Varia-
bilität beschäftigt hat, sagt bei der Zusammenfassung dieser seiner
Untersuchungen: „Ich komme im Allgemeinen mit HAVELOCK ELLIS
Zu dem Ergebnis, dass Frauen innerhalb engerer Grenzen vari-
leren, als Männer“. Man wird kaum eine Autorität finden können,
die zu irgend einem anderen Resultate kommt. (S. Verh. d. Deutsch.
Analom. Ges., 1898.)
——
LO
500 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
PrArson hätte sich also auf Grund seines Resultates
der von mir auf breiter Basis bestätigten DaArwıinschen
These anschliessen können, oder sich darauf beschränken
können, einfach die von ihm gesammelten Zahlen zu
geben, als einen Beitrag zur Lehre von der natürlichen
Auslese, Statt dessen hat er sich in allerlei Missver-
ständnisse und Irrtümer verwickelt.
Deshalb soll noch einmal der Hauptinhalt unserer
an PEARSON anknüpfenden Erörterung zusammengefasst
werden.
ı. Im Gegensatze zu der Lehre Darwiıns, die ich
in diesem Buche näher ausgeführt habe, wonach die
Tendenz zur Variation im ganzen beim Manne stärker
ausgeprägt ist als beim Weibe, beabsichtigte Prof.
PEARSON zu zeigen, dass das ein „sehr arger pseudo-
wissenschaftlicher Aberglauben ist“.
2. Er hat es aber versäumt, eine Definition seines
Begriffes der Variation zu geben, oder iestzustellen,
was die von ihm angegriffenen Autoren darunter ver-
standen. n
Eine kurze Überlegung zeigt, dass eine Variation
im klassischen Sinne ein angeborenes organisches Merk-
mal ist, auf welches die Auslese wirkt, . während für
PEARSON offenbar eine Variation ein irgendwann erwor-
benes, durch die Auslese hervorgebrachtes Merk-
mal ist. Er sagt in einer seiner neueren Schriften:
„Für den Biometriker ist Variation eine Quantität,
welche durch die Klasse oder Gruppe. ohne Rücksicht
auf die Ahnenreihe bedingt ist“. D, h., sie braucht
nicht organisch oder angeboren zu sein, und sie musS
in der Regel durch das Milieu modifiziert und manch-
mal dadurch absolut bedingt sein. Diese Definition
mag besser sein, als der klassische Begriff der Varia-
tion. Aber der Begriff ist ein ganz anderer. Was
sich vom einen Begriff ermitteln lässt, lässt sich für
den anderen nicht erschliessen.
3. Nach dieser unausgesprochenen Definition einer
Variation untersucht nun Prof. Prarson weiterhin, welche
„verschiedenen Grade der Variabilität sekundäre Merk-
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 501
male des Geschlechts sind“, und nicht „Charakteristika.
die an sich charakteristisch für das Geschlecht sind“.
Das führt ihn zu allerlei exzentrischen Behauptungen,
die wir hier nicht noch einmal anführen wollen. „Se-
kundäre Geschlechtsmerkmale“ bleiben in seiner Welt,
ganz wie Variationen, undefiniert,
4. Alle „Abnormitäten‘“ kommen zum verworfenen
Material, als „pathologisch“. Das ist, wie wir sahen,
unhaltbar. Anomalieen sind nicht pathologisch, ausser
im Sinne Vincnows, der die Pathologie einfach als die
Lehre von den Anomalieen betrachtete. Sowohl krank-
hafte wie normale Erscheinungen liefern bei verständi-
ger Behandlung brauchbares Material für das Varla-
tionsproblem.
5. PzARson erklärt Grössenunterschiede für die
besten Kriterien der Variabilität der Geschlechter. Da-
bei ignoriert er ein seit einem Jahrhundert angesam-
meltes, anders zu deutendes Material.
6. Trotzdem sind seine Resultate derart, wie wir
sie erwarten müssten, wenn die Auffassung, die er an-
greift, die richtige wäre. D. h. bei der Geburt, ehe
die selektive Wirkung des Beckens schon vollkommen
erkennbar hervorgetreten ist, besteht auch in Beziehung
auf Grösse eine erheblichere Variabilität der männ-
lichen Kinder, während später, nachdem die Auslese
stattgefunden hat, eine Tendenz zu geringerer Ungleich-
heit der Variabilität besteht,
7. Das Ergebnis der PrArsonschen Untersuchung
ist also gerade eine Bestätigung der Lehre von der
grösseren Variationstendenz beim männlichen Geschlecht,
während seine Absicht war, zu beweisen, dass diese
Lehre „entweder ein Dogma oder ein Aberglaube ist“.
Schliesslich habe ich nichts behauptet, was die
„biometrischen‘“ Methoden der fortschreitenden Biologie
diskreditieren soll, deren glänzendster und bekanntester
Vertreter Prof. Pr£ksox augenblicklich ist. Ich bin kein
kompetenter Richter der mathematischen Gültigkeit
dieser Methoden; soweit ich mich aber in sie hinein-
denken kann, erkenne ich gerne an, dass dieselben ein
302 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
sehr wertvolles Werkzeug für den Fortschritt der bio-
logischen Forschung bedeuten. Ich habe gegen dieses
Werkzeug nichts, einzuwenden; ich betone nur, dass
die damit erreichten Resultate falsch von PEARson ge-
deutet worden sind.
Wir müssen also anerkennen, dass beim Manne,
wie beim männlichen Geschlecht überhaupt, eine or-
ganische Tendenz zur Varietätenbildung und damit zur
Differenzierung und zum Fortschritt vorhanden ist; beim
Weibe dagegen, wie beim weiblichen Geschlecht im
ganzen Tierreich, eine Tendenz zur Stabilität und zum
Beharren, die eine geringere Individualisierung und
Variabilität einschliesst, trotz aller Neigung zur Unbe-
ständigkeit im individuellen Leben!). Männer zeigen,
ihrer grösseren Variabilität wegen, auch eine stärkere
Ausprägung pathologischer Charaktere; ich erinnere
daran, dass ViRcHow behauptet, jede Abweichung vom
Typus der Aszendenten müsse ihren Grund in einem
pathologischen Faktor haben; übrigens will ich bei der
Betonung der Variabilität des Mannes und der Monotonie
des Weibes den politischen Gesichtspunkt ausgeschlossen
wissen und nichts darüber präjudizieren, was bei der
Verleihung des politischen Stimmrechts an die Frauen
herauskommen könnte. So unzweifelhaft dieser Ge-
schlechtsunterschied ist, biologische Tatsachen lassen
sich nicht leicht in den engen umd schwankenden Kreis
der Politik einreihen. RB logischer, Konseryatismus kann
sehr leicht politischen Radikalismus einschliessen. Sozia-
liSmus und "Nihilismus werden wohl gewöhnlich von
Politikern nicht als konservative Bewegungen betrachtet,
können jedoch vom organischen Standpunkte aus wohl
als primitiv gelten, und diese Bewegungen haben be-
kanntlich die Frauenwelt mächtig ergriffen. Die Frauen
*) BurDacH_ hat schon angedeutet, dass wenn Frauen aus
der Art Schlägen, sind” darin weitergehen Als Männer. Aueh
Ri: BarnänDo sagt AUf"Gründ Seiner langen Erfahrung, dass in
vererbrten “Gewohnheiten und” Pisterfichen Reden Mädchen immer
SCHE Ed AS Kuabems-z1ch Bahe 30.012 VerWmferheitz wie
bei“ Mädchen nıe Dei Knaben gefunden.“ Ähnliches bemerkt KERR
bezugNich der Irunksucht bei beiden” Geschlechtern,
aa ra
DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN. 503
haben zwar der französischen Revolution Opposition
gyemacht!), andererseits ist aber die Einführung und Be-
festigung‘ des Christentums, der revolutionärsten Bewe-
gung, die Europa je gesehen hat, sehr beträchtlich von
Frauen gefördert worden. Es ist nicht zulässig, von
biologischen Tatsachen Schlüsse auf Tatsachen anderer
Ordnung, die von Zeit und Ort abhängen, zu machen.
Ein derartiger Fehler wird jedoch oft gemacht, und ich
halte es deshalb für angebracht, hier vor übereilten
Anwendungen EEE Gef C
Ein grosser Teil _des, Gefallens, welches die Ge-
schlechter aneinander haben, beruht Auf dem verschie-
denen Grade der Varlabilität bei ihnen. Die “DrOgTeS-
Siven Kräfte des Mannes wecken und befriedigen den
weiblichen Instinkt, einen Führer anzunehmen und ihm
zu folgen, und den verwandten Instinkt, ein wildes und
verirrtes Kind mit Zärtlichkeit zu überhäufen, Tendenzen,
die oft wunderbar gemischt sind. Im Weibe findet der
Mann ein Wesen, das sich nicht so weit wie er selbst
von dem allgemeinen Typus der irdischen Schöpfung
entfernt hat; das Weib ist für den Mann die mensch-
liche Verkörperung der ruhevollen Empfänglichkeit. der
Natur. Für_jeden ‚Mann st „wie-MOCHLE „sagt, das
Weib das, was die Erde für ihren mythischen Sehr war,
} wa EEE
er braucht “sich nür nıederzubeugen und sie zu De-
rühren, um wieder stark zu werden. Das Weib ist mehr
in Harmonie mit der Natur als der Mann, wie BuURDACH
Sagt, und es bringt ihn in Harmonie mit ihr. Diese
in Form, Funktion und Instinkt organisch - primitive
Natur des Weibes hat immer etwas Beruhigendes für
den von schweifenden Begierden gefolterten Mann;
Mit sympathischer Befriedigung sagt en er. zarte und fein-
fühlige Dıozror von den Frauen: „Sie_sind innerlich
Wahre Naturkinder“. Gerade deshalb hässen die Aske-
tiker, diese vermrrten und abnormen Produkte der männ-
lichen Variabilität, das Weib mit einem so bitteren und
Ä ie Existenz
1) „Wenn die Frauen wicht, „ören ent unter
der Republik gesichert“, so versi cn
dem Direktorium,
nn ——
504 DIE VARIABILITÄT BEI DEN GESCHLECHTERN.
"heftigen Hasse, das keine Worte stark genug waren,
um ihren Abscheu auszudrücken. Sie wussten, dass
jeder natürliche Impuls des Weibes eine Verdammung
der Askese ist. Alle Männer, die das Künstliche und
Perverse aus innerstem Drange lieben, finden das Weib
widerwärtig. „Ras Weib. ist_natürlich“, steht unter _den
Aussprüchen BAUDELAIRES geschrieben, „das heisst abo-
minable‘, "Aber für die” meisten Männer und Frauen
hat dieser Geschlechtsunterschied den Wert des Lebens
gesteigert; er hat auch die nie ruhenden Aufgaben des
Lebens erschwert.
XVII Kapitel.
Natalität und Mortalität.
Die Geburtlichkeit der Knaben ist höher als die der Mädchen. —
Ihre Sterblichkeit ist noch grösser, — Ursachen der grösseren
männlichen Sterblichkeit. — Die Widerstandsfähigkeit der Frauen
gegen Krankheiten. — Mortalität von Scharlachfieber, Pocken,
Influenza u. a. — Der moderne Rückgang der Sterblichkeit ist
vorwiegend den Frauen zugute gekommen. — Die grössere Lang-
lebigkeit der Frauen. — Die charakteristischen Zeichen des hohen
Alters sind bei Frauen weniger ausgeprägt. — Die grössere Ten-
denz zum plötzlichen Tode beim Manne, — Die Zähigkeit des
Weibchens als zoologische Tatsache.
Wenden wir uns den Geburts- und Sterbetafeln
zu, um zu sehen, welches Licht dieselben etwa auf die
Organisation von Mann und Weib werfen mögen, so
betreten wir das Gebiet der Demographie. Nur ein
Sehr geübter Statistiker kann hier gesicherte Resultate
erreichen, und ich beabsichtige, diesen Stoff nur leicht
zu berühren. Die zuverlässigten Ermittelungen über
Geschlechts-Unterschiede auf dem Gebiete der Natalität
und Mortalität haben immerhin zu bestimmten Resultaten
geführt, die eine sehr ausgesprochene Bedeutung für
die Erscheinungen haben, mit denen wir uns bei unseren
Untersuchungen beschäftigen. Es ist deshalb notwendig,
diese Beziehungen, wenn: auch in aller Kürze. hervor-
Zuheben.
Bekanntlich besteht zwar in England, wie in fast
allen Ländern alter Kultur, ein Frauen-UÜberschuss in
A
Ä
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
der erwachsenen Bevölkerung, aber die Geburtsziffer
ergibt fast überall einen Knabenüberschuss!). Es werden
mehr Knaben als Mädchen geboren bei den Deutschen,
Franzosen, Engländern und den meisten anderen zivili-
sierten europäischen Nationen; ein Knabenüberschuss
bei der Geburt ergibt sich auch bei den Veddah auf
Ceylon, einer der niedrigsten menschlichen Rassen ”).
Nach Bopnıo’s Ermittelungen ergibt sich für die
neueste Zeit (meist sind die Zahlen eines zwischen 1881
und 1891 liegenden Jahrfünfts zugrunde gelegt) bei den
Lebendgeborenen folgende Zahl der Knaben auf 100
Mädchen:
Russisch-Polen 101 Niederlande 105,5
England 103,6 Belgien 1045
Irland 105,5 Dänemark 104,8
Frankreich 104,6 Schweden 105,0
Württemberg 104,1 Norwegen 105,8
Preussen 105:4 Europ. Russland 105,4
Bayern 105,4 Massachusetts 104,6
Sachsen 104,7 Rhode-Island 104,9
Deutsches Reich 105,2 Buenos-Aires. 104,4
Österreich 105,8 Italien 105,8
Ungarn 105,0‘ Rumänien 107,7
Schweiz 104,5 Spanien 108,3
Griechenland 118.
Bemerkenswert ist der grosse Knabenüberschuss
in Griechenland, wobei zu beachten ist, dass Griechen-
land vielleicht das einzige europäische Land ist, wo ein
Männerüberschuss auch in der erwachsenen Bevölkerung
besteht, nämlich von 107,6 (auf 100 weibliche Personen)
nach der Volkszählung von 1889. Aber selbst in
!) Die demographischen Daten über ausser-europäische Völker
die wir besitzen, sprechen auch für einen Knabenüberschuss (S-
Range, Korresp. Bl. Deutsche Anthr. Ges. 1898, November). wir
sind auch zu der Annahme berechtigt, dass ein Überschuss män?”
licher Lebendgeborener bei den meisten Säugetieren vorherrscht
(s. DARWIN, Abstammung des Menschen, T. fi Kap. 8).
2) Popolazione, Confronti internazionali, Roma 1894, pP- 12 fl.
NATALITÄT UND MORTALITÄT. 507
Griechenland erscheint nach dem 85. Lebensjahre ein
immer grösserer Frauenüberschuss. Bei den russischen
Juden scheint der Geburten-Überschuss der Knaben
nicht weniger als 29% zu betragen, wie unter allen
Juden überall der männliche Geburtenüberschuss grösser
ist, als bei Christen. Es ist ferner bemerkenswert, dass
der Anteil der männlichen Geburten in England ab-
nimmt; während vor 50 Jahren auf ı0o Mädchen-
Geburten 105,3 Knaben- Geburten kamen, betragen
diese jetzt 103,6.
Im ganzen sind die Unterschiede der Geburts-
ziffern von einem Jahre zum andern nicht gross, wie
die folgende Tabelle, die die Zahl der Knaben unter
1000 Geburten abgibt, deutlich zeigt‘):
Italien Schottland Irland Sachsen Rhode-Island
1878 516 511 513 519
1879 516 516 514 511
1880 515 515 514 511
1881 515 515 509 517
1882 514 514 512 514
1882 515 514 512 504
__ In den meisten Ländern ist der männliche Geburten-
Überschuss bei unehelichen Geburten um ı1—2°% ge-
tinger als bei ehelichen, obgleich (nach BERTILLON)
das erste Kind viel häufiger ein Knabe als ein Mädchen
ist (Art.: „Natalit& in Dick encycl. d. Sciences Med.)
. In England variiert der Knabenüberschuss in den
&inzelnen Grafschaften, nach dem Berichte des Registrar-
General, für die Jahre von 1861—1890, zwischen 103,2
(auf ı00 Mädchen) und 105,8. Der zitierte Bericht
deutet an, dass diesen Differenzen vielleicht Rassen-
Unterschiede zugrunde liegen. ;
„Es ist bemerkenswert, dass die Grafschaften mit
dem höchsten Knabenüberschusse Cumberland; Cornwall
und Nord-Wales sind, während Süd-Wales zwar nicht
an der nächsten Stelle steht, aber etwas weiter abwärts
bei der hohen Ziffer von 104,6 (auf 100 Mädchen) zu
1) WEs TERGAARD, Theorie der Statistik, S. 11.
508
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
finden ist, also beträchtlich oberhalb des Durchschnitts
für das ganze Land. Der keltische Volkscharakter der
oben mit dem höchsten Knabenüberschuss erwähnten
Gebiete legt den Gedanken nahe, dass die Rasse auf
diesem Gebiete möglicherweise einen Einfluss hat; diese
Vermutung ist wohl vereinbar mit der Tatsache, dass die
Verhältniszahlen ständig sowohl in Irland wie in Schott-
land viel höher sind, als in England.“ Es ist nur frag-
lich, ob diese Vermutung einer eingehenden Prüfung
standhalten wird.
Wenden wir uns der erwachsenen Bevölkerung
zu, so finden wir gewöhnlich, wenn auch in sehr wech-
selndem Grade, ‚einen Weiberüberschuss. Er besteht
unabhängig von Wanderungs-Vorgängen, und während
er, wie die folgende Tabelle zeigt, in den meisten
europäischen Ländern, besonders in Grossbritannien,
Norwegen und Schweden sehr erheblich ist, existiert er
in Ländern neuer Kultur gewöhnlich überhaupt nicht.
Auf ı100&#männliche Personen kommen weibliche:
Länder Zählungs-Jahr Weibliche
Deutsches Reich 1890
Österreich
Ungarn
Bosnien
Schweiz
Dänemark
Schweden
Norwegen
Grossbritannien
Frankreich
Spanien
Italien
Griechenland
Rumänien
Nord-Amerika:
Nord- Atlant. Staaten
Wes!tl. Staaten „
West- Australien 1891
NATALITÄT UND MORTALITÄT. ;
509
___ Wie ist diese Discrepanz des geburtlichen Knaben-
Überschusses und des sonst allgemeinen Weiberüber-
schusses zu erklären?
Man nahm früher an, dass der Krieg und die Ge-
fährdung‘ des Mannes durch die das Leben bedrohende
Berufsarbeit allein hinreichten, um die grössere Sterb-
lichkeit der Männer zu erklären. Dass sie wichtige
Faktoren sind, lässt sich nicht bezweifeln; eine genaue
Analyse erlaubt uns aber nicht den Schluss, dass sie
die einzigen Faktoren sind.
Krieg und Beruf kommen nur’ für die Sterblichkeit
in der Jugend und im Mannesalter in Frage;. dasselbe
gilt im ganzen von der Neigung des männlichen Ge-
Schlechtes, Exzesse zu begehen !), die manchmal hierbei
als ein Faktor aufgestellt wird, obgleich es sich dabei
wahrscheinlich mehr um organische als um rein soziale
Einflüsse handelt. In der ersten und der letzten Lebens-
periode ist die grössere männliche Mortalität am klarsten
ausgesprochen ?). BERTILLON zeigte vor vielen Jahren,
dass während bei Lebendgeborenen ı05 Knaben auf
100 Mädchen kommen, die Proportionen der Knaben
zu den Mädchen bei allen, lebenden und toten, Geburten
zusammen 106,6 zu 100 ist; das Verhältnis der Knaben
zu den Mädchen unter Totgeborenen war id. J.
1861—65 in Belgien nicht geringer als 136 zu 100,
So dass totgeborene Kinder viel häufiger männlichen
Geschlechts sind als Lebendgeborene*!). Mädchen haben
infolge ihrer geringeren Grösse zu Beginn bessere Chancen,
lebendig auf die Welt zu kommen. Folgende Tabelle
Zeigt die allgemeine Verbreitung dieses Gesetzes, soweit
die Statietik reicht.
U 1) Ich lege dem keine wesentliche Bedeutung bei, da diesen
G Mständen die Schädigungen gegenüberstehen, denen das weib-
iche Geschlecht. durch deprimierende Einflüsse, Mangel an Luft,
ausreichender Ernährung, Bewegung im Freien etc., ausgesetzt ist.
fi 2) Eine grössere Sterblichkeit _ der neugeborenen Knaben
jun det sich in allen Ländern, die eine Statistik besitzen. In manchen
dem, z. B. in Schweden, aber nicht in England, ist die männliche
Acrtalität auf allen Altersstufen grösser, als die weibliche (BERTILLON.
rt. „Mortalite“, im Dict. encycl. d. Sciences Med.).
3) BerRTtunLoNn, 1. c., Art.: „Mort.ne“,
Pf
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
Länder
Auf 100 totgeborene Mädchen treffen
Knaben (i. d. J. 1887—91)
I. Nord-Europa.
Norwegen
Schweden
Dänemark
II. Mittel-Europa.
Deutsches Reich
Preussen
Bayern
Sachsen
Württemberg
Österreich
Ungarn
Niederlande
IL Südwest-Europa.
Frankreich
Italien
Amerika.
Massachusetts
Connecticut
124,6
135,0
133,2
128,3
128,0
127,4
132,1
130,5
132,1
130,0
127,7
142,2
131,1
146,1
145,1.
Während kurzer Zeit nach der Geburt ist derselbe
Faktor wirksam. CouL1Lins fand in der Dubliner Ent-
bindungsanstalt, dass in der ersten halben Stunde nach
der Geburt nur ein Mädchen auf ı6 Knaben starb;
innerhalb der ersten vollen Stunde nur 2 Mädchen auf
ı9 Knaben, und innerhalb der ersten 6 Stunden nur
7 Mädchen auf 29 Knaben‘).
Die bedeutendere Grösse des männlichen Kopfes
kann aber nur bei der Geburt und kurze Zeit nachher
als Faktor der Sterblichkeit wirken; aber auch später
besteht noch eine grössere männliche Mortalität;
Knaben unter ı Jahr haben eine hohe Mortalität, und
diese Tatsache allein genügt, wie Sır G. HuMpurY 1P
seinem Werke über das Alter (Old Age) bemerkt, um
) S. BraxTon Hıcks, „Croonian Lectures on the different
between the sexes in regard to the Aspect and Treatment of Diseas“
(Brit. Med. Journ., 1887).
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
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3
512 NATALITÄT UND MORTALITÄT.
wahrscheinlich zu machen, dass die geringere Sterb-
lichkeit des weiblichen Geschlechts nicht auf seiner ge-
ringeren äusseren Lebensgefährdung und grösseren
Mässigkeit beruht. ;
Auch G. B. LonestTAarF kommt zu dem Ergebnisse, dass
die höhere Mortalität der Knaben im ersten Lebensjahre
von „irgend einem konstitutionellen Unterschiede ab-
hängen“ muss.
Während der ersten Dentition neigen Knaben viel
mehr dazu, an Nervenkrankheiten zu sterben, als
Mädchen.
Vom dritten bis zum fünfunddreissigsten Jahre
scheint keine sehr grosse Differenz in der Mortalität
bei beiden Geschlechtern zu bestehen; das kommt ge-
wiss von der hohen Mortalität der Knaben im Lebens“
beginn, da von ihnen nur die robusteren zur Konkurrenz
mit den kleineren aber zäheren Mädchen übrig geblieben
sind. Nach der Entwicklung der Pubertät, vom 15
bis zum 20. Jahre, ist die weibliche Mortalität gewöhn-
lich grösser, als die männliche; diese Periode bedroht
das weibliche Geschlecht speziell. Vom 30. oder 35
Jahre ab beginnt eine Differenz zugunsten des weib-
lichen Geschlechts, die ständig wächst. Vier F ünftel
des Frauenüberschusses in Grossbritannien bestehe?
aus Witwen *).
Die folgende Tabelle von SunpBäre?) zeigt für West-
europa im wesentlichen dieselben Verhältnisse, wie die
Arbeit von LonestAarr für Grossbritannien.
Altersklassen Sterbeziffern Männliche Mortalität
m. W. in %o der weibliche?
94,82 83,52
8,83 2,84
4,40 4,85
0—5
6—10
10—15
1) LonGsTArr, Studies in Statistics, p. 8. Das umstehend“
Diagramm, das dieser Schrift entnommen ist, zeigt graphisch die
Unterschiede der Mortalität bei Mann und Weib, aus allen Ur
sachen, in England und Wales i. d. J. 1871—1880. 1m
° 2 G.Sunpsäre, Grunddragen af Befolkningsläran, Stockho
1004, * 26.
NATALITÄT UND MORTALITAT. 513
Altersklassen
16—20
21—25
26—930
31—35
36—40
41—45
46—850
51—955
56— 60
61—65
66—70
71—75
76—80
81 und mehr
Sterbeziffern
m. W.
5,87 6,12
9,10 7,63
9,21 9,17
0,97 10,14
11,61 11,24
13:93 11,99
16,93 13,47
21,82 17,29
28,67 23,99
40,23 35,68
5921 54,79
91,20 85,17
136,33 127,45
222,33 214,71
Männliche Mortalität
in % der weiblichen
96
LI9
100
98
103
116
126
126
120
113
108
107
107
[03
Je mehr wir uns dem äussersten Grenzgebiete des
Lebens nähern, desto mehr kommen alle anderen als
die konstanten grundlegenden Faktoren der Lebens-
dauer zum Verschwinden und um so grösser wird das
Vorwiegen des weiblichen Geschlechts. Sır G. HUMPHRY
konnte seinem Buche über das Alter detaillierte Er-
mittelungen über 46 hundertjährige und noch ältere Frauen
und über nur ı6 Männer des entsprechenden Alters zu-
grunde legen. Die moderne englische Statistik (Regi-
strar General’s Reports) zeigt, dass von dem bei ihrem
Tode angeblich über 100 Jahre alten Personen nur
eine kleine Zahl Männer sind!). Im Jahre 1891 war
die Zahl der im Alter von 85 Tahren und mehr ver-
"
ı) Wahrscheinlich bilden Frauen unter den mehr als hundert
Jahr alten Personen nicht nur die Mehrheit, sondern es kommen
auch die absolut ältesten Personen nur unter Frauen vor. Die
bekannten Fälle THOMAS PARR und HENrY Jenkins werden heute
als mythisch angesehen, aber sicher gestellt ist der Fall der
Mrs, HANnsury, die 1793 geboren war und 1901 gestorben ist,
also mit 108 Jahren, während T. E, Young (Centennarians 1899)
15 gesicherte Fälle von lebenden Frauen anführt, die zwischen
100 und 106 Jahren alt, zur Zeit der Ausgabe seiner Schrift lebten,
dagegen nur 7 Männer derselben Altersklasse.
Ellis, Mann vu. Weib. 2. Aufl,
&M4
514
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
storbenen Personen weiblichen Geschlechts 8291, die
der Männer dieser Altersklasse nur 5320, In der
Altersklasse zwischen 75 und 85 ist der Frauenüber-
schuss keineswegs entsprechend gross, was sehr zu be-
achten ist (24 506 Männer gegen 28785 Frauen). Die letzte
Volkszählung zeigt unter den in England und Wales
über 90 Jahre alten Personen mehr als doppelt soviel
Frauen als Männer. In Frankreich war zwischen 1866
und 1885 die durchschnittliche jährliche Sterbeziffer von
hundertjährigen und älteren Personen 27 Männer gegen
46 Weiber *).
Über Völker von primitiverer Kultur ist ‚es nicht
leicht, brauchbare statistische Angaben zu erhalten,
wahrscheinlich herrschen hier aber dieselben Verhält-
nisse wie in Europa; so sind auf den Nikobaren nach
Man unter denen, die über 60 Jahre alt werden, 2/3
Weiber?). Vom zoologischen Standpunkte aus scheint
sich ein umfassenderes ähnliches Gesetz gewinnen zu
lassen.
Die Sterblichkeit an den einzelnen Krankheiten
bestätigt im ganzen den Eindruck grösserer. weiblicher
Lebenszähigkeit, den man beim Durchmustern der Sterbe-
tafeln hat. Bei den infektiösen Kinderkrankheiten finden
wir fast immer den Vorteil auf der Seite der Mädchen.
Nur Keuchhusten und Diphtherie ergeben eine höhere
Sterblichkeit bei Mädchen, was man auf die geringere
Grösse ihres Kehlkopfes, auf ihre Gewohnheit, einander
oft zu küssen, Süssigkeiten miteinander zu teilen usW.,
zurückgeführt hat. Aber auch da, wo die Statistik
eine häufigere Infektion der Frauen erkennen lässt, ist
die Sterblichkeit noch geringer.
So zeigt die Statistik der unter dem Metropolitan
Hospital Board in London vereinigten Krankenhäuser
für die Zeit von 1871 bis 1890 folgendes :?3)
1) TUurRQUAN, Statistique des centenaires, Rev. Scient., ı. SeP”
tember 1888.
?) Journ. Anthrop. Instit, Mai 1889, p. 885. .
3) WEHITELEGGE, „Milroy Lectures on changes of type in €P*
demic disease“, Brit. Med, Journ. ı8. März 1803.
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
515
Krankheitsnamen Geschlecht Zahl d. Fälle Todesfälle in °%
Scharlachfieber M. 19887 2051 10,3
„ W. 22224 1982 8,9
Abdominaltyphus M. 4041 676 16,7
”» W. 3674 662 17,3
Flecktyphus M. 964 216 22,4
” W. 1175 217 18,5
Diphtherie M. 1360 478 35:2
(1888—01) W. 1715 555 324
Wir finden also bei den wichtigsten Infektions-
krankheiten, mit Ausnahme des Abdominaltyphus, eine
grössere Krankheitsziffer' und eine geringere Sterbe-
ziffer beim weiblichen Geschlechte. Diese grössere Zähig-
keit bei gleichzeitiger grösserer Anfälligkeit finden wir
auch ausgeprägt bei den Krankheiten des Gehirns;
Nervenleiden von geringer Schwere und nicht tödlichem
Verlaufe wiegen bei Frauen erheblich vor; Nerven-
krankheiten schwerer Art sind relativ selten. Hier
handelt es sich wahrscheinlich wieder um eine andere
Seite der grösseren Affizierbarkeit der Frauen, ;
Auch eine genauere Untersuchung der Art, wie
eine der wichtigsten Infektionskrankheiten, der Schar-
lach, auftritt, bringt charakteristische Unterschiede
zwischen den Geschlechtern zum Vorschein, Die offizielle
Statistik für die Zeit von 1859—85 ergibt, dass diese
Krankheit ihre grösste Mortalität bei beiden Geschlech-
tern im dritten Lebensjahre hat. Dann nimmt sie von
Jahr zu Jahr ab. Bis zum ıo. Jahre ist die Mortalität
der Knaben erheblich grösser als die der Mädchen,
aber von da an ist das Gegenteil der Fall, d. h., das
weibliche Geschlecht verhält sich ähnlich dem Kinde.
Im ganzen ist die Tendenz zum tödlichen Ausgange
dieser Krankheit beim männlichen Geschlechte ent-
Schieden grösser. Trotzdem sind Personen weiblichen
Geschlechts in ihrem ganzen Leben, das erste Jahr
ausgenommen, mehr zur Erkrankung an Scharlach
disponiert, als solche männlichen Geschlechts *).
1) S. „Sanitary record“, 16. Januar 1888.
——
&
a
516
= NATALITÄT UND MORTALITÄT.
Pocken sind ausser in den Jahren zwischen ıo0 und
ı5 für männliche Kranke stets gefährlicher als für
weibliche, Die Cholera erfasst Frauen häufiger als
Männer, aber sie verläuft bei jenen seltener tödlich.
In der Epidemie von 1ı854 war die Sterblichkeit bei
Männern 8,02, bei Frauen 7,78. Die Influenza befällt
nach den meisten Beobachtern Frauen häufiger als
Männer, aber die Mortalität der letzeren ist zweimal
so gross wie die der Frauen; Kinder werden seltener
befallen und erkranken meist nur leicht. Es wäre
leicht, auch an anderen Krankheitsgruppen, wie den
infektiösen, zu zeigen, dass Frauen zwar empfänglicher
oder anfälliger sind, Männer aber schwerer erkranken.
Es ist eine interessante, von LonesTArF hervorge-
hobene Tatsache, dass der in letzter Zeit nachweisbare
Rückgang der Sterblichkeit im ganzen mehr den
Frauen zugute gekommen ist ?).
Diese wichtige Tatsache sei durch folgende Zahlen
illustriert.
In Preussen lässt sich für die Periode von 1894
bis 1897 gegenüber der Periode 1859—64 eine Sterb-
lichkeit konstatieren, die fürs männliche Geschlecht
um 1ı2,2°%o, fürs weibliche Geschlecht um 14,5°%o zu-
rückgegangen ist.
In England ist von 1838—1890 die Sterblichkeit
ständig gesunken, und zwar war die Sterblichkeit für
das letzte Jahrzehnt dieser Periode bei den Männern
um 8,44 Vo, bei den Frauen um ı1,2%o geringer als im
Durchschnitt der Jahre 1838—54.
In Frankreich ergibt sich, dass in der Zeit vor
1861 — 1892 die Sterblichkeit für beide Geschlechter
beständig sinkt, und zwar für das männliche Geschlecht
um 6,3%, für das weibliche um 09,3 %0?), wenn man die
Lustren 1861—1865 und 1888—1892 vergleicht.
) G. B. LoncGsTArr, Studies in Statistics, pp. 248—25I-
2) ALBERT ABEL, Der Rückgang der Sterblichkeit in den
(ein so Jahren. (Allgem. Statist. Archiv, 1904, Bd. VI, besonder
. 182—210).
NATALITÄT UND MORTALITÄT. 517
In der Kindheit und Jugend wird das weibliche
Geschlecht mehr von Phthise, Keuchhusten, Diphtherie
und Herzleiden befallen, als Knaben, aber die Sterb-
lichkeit an diesen Leiden ist ständig im Rückgange.
Andererseits leiden Knaben häufiger als Mädchen. an
Nierenkrankheiten, Hirnleiden, allen anderen Lungen-
krankheiten, und auch mehr, wenngleich die Differenz
hier nicht so gross ist, an Darmleiden, Pocken, Masern
und Skarlatina. Von diesen Krankheiten zeigen die
der Lunge und der Nieren eine zunehmende Schwere,
die übrigen eine abnehmende; das schliessliche Ergeb-
nis ist, dass die Mädchen im Verhältnis von 7 zu 6
mehr gewinnen als die Knaben.
Im reifen Alter ist der Krebs die einzige Krank-
heit, die bei Frauen eine ungünstigere Bedeutung hat,
als bei Männern — die ‚Sterblichkeit ist bei ihnen
doppelt so gross —, aber die Steigerungsrate dieser
Krankheit ist bei Männern grösser als bei Frauen.
Das Gesamtergebnis ist, dass bei Frauen ein stärkerer
Rückgang im Verhältnis von 7 zu 3 vorliegt.
Ähnlich liegt es auch im hohen Alter; beide Ge-
schlechter zeigen im Alter eine zunehmende Mortalität,
aber die Zunahme vollzieht sich bei alten Männern
dreimal so schnell wie bei alten Frauen, LONGSTAFF
kommt zu folgendem Schlusse: „Es ist ganz klar, dass
der neuere Rückgang‘ der Mortalität die Anhäufung
eines Frauenüberschusses begünstigt, und sollte die
Sterblichkeit sich in derselben Richtung verändern, SO
wird die Zunahmerate für das weibliche Geschlecht
sich steigern !).“ . .
Die grössere Lebenszähigkeit der Frauen und ihre
grössere konstitutionelle Jugendlichkeit zeigt sich auch
darin, dass sie weniger häufig als Männer die charak-
teristischen Merkmale des Greisenalters bekommen.
Kahlheit ist bei Frauen seltener, auch bei denen der
Naturvölker, z. B. auf den Nikobaren, wo kahlköpfige
Männer nicht selten sind. Degenerative Erkrankung der
1) 1. C., D. 248—251.
518
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
Arterien ist bei alten Frauen seltener als bei alten
Männern. Sir G. Humpnry fand bei seinen Hundert-
Jährigen, dass die vom Zustande der Rippenknorpeln
abhängige KElastizität des Brustkastens und seine Er-
weiterung bei der Inspiration bei den Frauen besser
erhalten waren, als bei den Männern. Er fand auch
(was wohl als die Regel angesehen werden kann‘),
dass der Arcus senilis in der Hornhaut des Auges,
ein sehr charakteristisches Zeichen höheren Alters bei
Männern, bei alten Frauen weniger ausgeprägt war.
Das spezifische Gewicht des Blutes ist nach den Ermit-
telungen von LLovyp Jonzs bei alten Frauen auch grösser
als bei alten Männern, Ferner sind die senilen Geistes-
störungen bei alten Männern gewöhnlicher: so fand sie
WILLE bei 10°%o der Männer, bei 6%0o der Frauen. An-
scheinend ist auch die. Altersschrumpfung des Hirn-
gewebes bei Frauen geringer als bei Männern.
Eine andere Tatsache, in der sich die grössere
Sterbensintensität des männlichen Geschlechts ausspricht,
ist noch anzuführen, Die Mehrzahl der durch patho-
logische Ursachen hervorgebrachten plötzlichen Todes-
fälle kommt bei Männern vor. Das zeigt ganz beson-
ders die französische Statistik. DEvErcıe teilt 39 Fälle
bei Männern gegen 5 bei Frauen mit, so dass also auf
Männer 88,7% 0 kommen: Tovrpes fand unter 88 Fällen
59 Männer, also 67,3% o; LAcAssaAGnE stellte an den Re-
gistern der Morgue in Lyon fest, dass in den von 1854
bis 1880 vorgekommenen 459 Fällen auf. die Männer
365 kamen, also 79,8% 0. Unter 82 von ihm selbst unter-
suchten Fällen waren 41 — 66,1% Männer. Es sind also
im ganzen drei viertel der plötzlich Verstorbenen Männer.
Diese Todesart ist bei Kindern selten und am häufigsten
im Alter zwischen 50 und 60o Jahren?). Dazu ist zu
bemerken, dass eine grössere Tendenz zu plötzlichem
Tode zugleich als Zeichen häufigerer Degeneration der
Arterien zu betrachten ist.
ı) L. Wi1z, Art. „Old age and its psychoses“, Dict. of
Psych. Medicine.
2) PAUL BERNARD, Arch. de Panthroß. crimin., 15. März 1890-
NATALITÄT UND MORTALITÄT.
319
Alles Material, das in diesem Kapitel zusammen-
gebracht oder zitiert worden ist, deutet mit mehr oder
weniger Sicherheit auf dieselbe Schlussfolgerung —
die grössere physische Gebrechlichkeit des männlichen
Geschlechts, die grössere Lebenszähigkeit des weib-
lichen. Wir dürfen nun nicht ohne weiteres annehmen,
dass dieses Ergebnis definitiv ist und sich jeder Analyse
entzieht; aber wir dürfen uns vorläufig daran halten, Dieser
Schluss stimmt zwar mit den landläufigen Vorstellungen
gar nicht überein, wohl aber mit anderen Gruppen von
Tatsachen, von denen einige an anderen Stellen dieses
Buches behandelt worden sind. Er harmoniert auch
mit dem Eindrucke, den wir aus der Betrachtung der
Tierwelt gewinnen. Das Weibchen ist die Mutter der
neuen Generation und hat eine engere und bleibendere
Verknüpfung mit der Sorge für die Jungen; es ist also
vom Standpunkte der Natur aus von grösserer Wichtig-
keit als das Männchen. Wir finden also, dass das
Weibchen, trotz seiner grösseren Affizierbarkeit durch
schwächere Reize, gegen schwerere Schädlichkeiten
widerstandsfähiger, und durchgehends langlebiger ist
als das Männchen.
X VIIL Kapitel.
Zufammenfassung und Schluss.
Tragweite der gewonnenen Resultate. — Kindlichkeit der weib-
lichen Organisation. — Das Weib ist nicht nur ein unentwickelter
Mann. — Das Kind repräsentiert einen höheren Entwicklungs-
grad als der Erwachsene. — Der menschliche Fortschritt ist eine
ntwickelung im Sinne der Jugendlichkeit. — In mancher Be-
An ıunE ist er eine Annäherung an den weiblichen Typus. — Die
Absurdität der sogenannten Superiorität eines Geschlechts. —
Die Geschlechter halten einander vollkommen das Gleichgewicht.
— Notwendigkeit sozialer Ausgleiche, Wir dürfen diesem Aus-
gleiche mit Ruhe entgegensehen.
Wir haben nun Mann und Weib so genau wie mög-
lich von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet
und wenden uns zum Schluss den wenigen allgemeinen
Betrachtungen zu, welche durch diese manigfachen Tat-
sachen nahe gelegt werden.
Da ist es nun zunächst evident, dass wir das am
Anfang gesteckte Ziel nicht erreicht haben. Die funda-
mentalen und wesentlichen Merkmale von Mann und
Weib, wie sie vor allem Einfluss äusserer Umstände
bestehen, haben wir nicht mit Sicherheit bestimmen
können. Manchmal, wie in der Frage der angeblichen
Geschlechtsunterschiede der Atmungsformen, genügt
eine hinreichend umfassende Induktion, um zu zeigen;
was ursprünglich und was künstlich ist: an anderen
Punkten, so bei dem Unterschiede in der BerührungSs-
empfindlichkeit, werden die Probleme um so verwickelter
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS. 321
und unfassbarer, je umfassender die Untersuchung aus-
fällt. Unsere gegenwärtige Kenntnis von den beiden
Geschlechtern lehrt uns nicht, was sie sein könnten
oder sein sollten, sondern was sie in unserer heutigen
Zivilisation tatsächlich sind. Die Einsicht, dass Mann
und Weib unter wechselnden Bedingungen innerhalb
weiter Grenzen unbegrenzt veränderungsfähig sind,
erlaubt uns nicht, starre Dogmen über die besondere
Sphäre des einen oder anderen, Geschlechts aufzustellen.
In Einzelfragen wird uns hier schliesslich nur die Er-
fahrung leiten können.
Dieses Resultat ist allerdings nicht dasselbe, wel-
ches wir im Auge hatten, als wir unsere Untersuchung
begannen. Immerhin ist es aber ein Resultat von be-
trächtlicher Bedeutung. Es legt die Axt an die Wurzel
vieler pseudowissenschaftlicher Vorurteile und macht
den Boden frei von vielen fruchtlosen Diskussionen
und nutzlosem Geschwätz, so dass die wirklich wesent-
lichen Punkte deutlich hervortreten. Die kleine Gruppe
von Frauen, welche eine absolute Inferiorität des männ-
lichen Geschlechts beweisen wollen, die zahlreichere
Klasse von Männern, welche die Frauen in enge un-
durchbrechbare Schranken bannen wollen, müssen beide
vor dem Richterstuhl dieser Erkenntnis abgewiesen
werden. Ebensowenig haben wir auf die vermeintlich
wissenschaftlichen Dogmatiker zu hören, die a priori,
auf Grund einer einzelnen, oft sehr fragwürdigen ana-
tomischen Tatsache allgemeine Gesetze für die ganze
Menschheit aufstellen wollen; schon die fadenscheinigen
Thesen übereilter und arroganter Hirnanatomen früherer
Zeit sollten zur Vorsicht mahnen, Die Tatsachen selbst
Sind viel zu kompliziert, um sofort zu Schlüssen zu
führen, die auf praktische Anwendung drängen, Sie sind
ferner so zahlreich, dass, wenn die praktische Tragweite
der einen festgestellt ist, andere vorliegen können,
Welche uns in die entgegengesetzte Richtung drängen.
Ferner sind so viele Tatsachen unter wechselnden Lebens-
bedingungen wandelbar, dass wir ‚ohne vorausgehende
Experimente. über das Verhalten des. männlichen und
522 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS.
weiblichen Organismus unter verschiedenen Bedingungen
nichts Bestimmtes aussagen können. Es gibt nur ein
Tribunal, dessen Entscheidung keine Appellation zulässt
und definitiv ist — nur die Natur kann entscheiden,
ob soziale Veränderungen legitim sind. Ihr Spruch kann
Tod oder Sterilität sein, aber kein anderes Tribunal,
kein Appell an den gesunden Menschenverstand kann
an die Stelle dieser Instanz treten.
Jedoch gibt es gewisse allgemeine Ergebnisse, die
sich immer wieder der Betrachtung aufdrängen, selbst
bei den verschiedensten Erscheinungen des physischen
und‘ psychischen Lebens. Eines derselben ist die
grössere Variabilität des Mannes; sie gilt für das ganze,
von uns untersuchte Gebiet und hat die weittragend-
sten praktisch sozialen Konsequenzen. Unsere ganze
Zivilisation wäre etwas ganz anderes, hätte das männ-
liche Geschlecht nicht in weit zurückliegenden Perioden
unserer Ahnenreihe eine grössere Tendenz zur Varie-
fätenbildung erworben. Ein anderes, allgemeines’ Er-
gebnis von gleicher Tragweite ist die Frühreife des
Weibes, welche eine grössere Geschwindigkeit und ein
früheres Aufhören der Entwicklung bedingt. Ein Resultat
derselben ist, dass Frauen im allgemeinen Merkmale
kleiner Männer und teilweise auch die von Kindern
besitzen; schon allein aus diesem Grunde ist der ganze
Organismus des Durchschnittsweibes physisch und psy-
chisch fundamental von dem des Durchschnittsmannes
verschieden, Der Unterschied mag oft sehr delikater
Natur sein, er ist aber deshalb nicht weniger wirklich und
erstreckt sich auf die kleinsten Einzelheiten der Organi-
sation. Wir haben an all den Punkten, wo das Weib
vom Manne verschieden ist, gefunden, dass es der Mann
ist, auf dessen Seite die Abweichung liegt, während
das Weib dem ursprünglichen kindlichen Typus näher
bleibt. Das frühere Aufhören der Entwicklung beim
Weibe entspricht also durchaus der Variabilität des
Mannes. Alle diese Geschlechtsunterschiede haben wahr”
scheinlich ihren Ursprung darin, dass das Weib soviel
inniger mit dem Leben des Kindes verbunden ist.
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS. 523
Weiteres Material für den Nachweis der infantilen
Konstitution des Weibes ergibt sich aus der Morbi-
ditätsstatistik. Es ist schwer, Krankheiten zu finden,
welche bei Männern und Kindern häufig, bei Frauen
Selten, und noch schwerer solche; die bei Männern und
Kindern selten und bei Frauen häufig wären. Anderer-
seits finden sich sehr viel Krankheiten, die bei Kindern
und Frauen häufig, bei Männern selten, und solche;
Welche bei Kindern und Frauen selten und bei Männern
häufig sind.
(Ein Beispiel einer bei Frauen seltenen, bei Kindern
und Männern ‚häufigen Krankheit ist das Asthma; in
England ist es zweimal, in Frankreich und Deutschland
6 mal häufiger bei Männern als bei Frauen, Typhlitis
(oder Appendicitis) ist bei Männern und Kindern gleichfalls
häufiger als bei Frauen. Angina pectoris ist äusserst
Selten bei Frauen und bei Kindern nur in sehr wenigen
Fällen beschrieben worden. Diabetes, eine Krankheit
des reifen Alters, ist bei Männern sehr viel häufiger,
So dass in England die Statistik bei Männern doppelt
Soviel Todesfälle an dieser Krankheit ergibt, als bei
Frauen. OpPoLzeR fand 4mal, LEcoRCHE fast 3mal soviel
Männer als Frauen. Diabetes ist eine Krankheit der
Kultur und der Städtebevölkerung, findet sich sehr
häufig bei Juden und bei den höheren (nicht fleisch-
essenden) Klassen Indiens, sehr selten bei der mon-
Solischen und der Negerrasse, Zu den bei Frauen
Seltenen Krankheiten gehört die Dupuytrensche Finger-
kontraktur; sie ist eine vorzugsweise erbliche Krank-
heit des reiferen Alters, . findet sich fast nie bei Kindern,
und bei Frauen nur in einem Sechstel der Fälle. Es ist
ein zweifellos wesentlich erbliches Leiden; unter 800
Kindern. fand ANnDERsSoN keinen Fall, unter 203 000 Sol-
daten im Alter von 17 und 35 Jahren kamen nur 3 Fälle
davon zur Beobachtung; es ist ein Leiden des reiferen
Alters, und kommt auch dann nur mit einem Fünftel
der Fälle bei Frauen vor (W. AnDERsoNn, Zancet, 4. Juni
1891). Eine bei Frauen seltene, bei Kindern noch selte-
nere Krankheit des reiferen Alters ist die Brightsche
524 ZUSAMMENFASSUNG UND SBHLUSS.
Nierenschrumpfung. Dasselbe gilt von der Ischias,
welche Gısson unter 1000 Fällen 884 mal bei Männern
fand. Aneurysmen finden sich vorwiegend bei Männern
und sehr selten bei Kindern, mit Ausnahme des der
Carotis, das sich bei beiden Geschlechtern gleich oft
und häufig im jugendlichen Alter findet. Manche be!
Männern häufige, bei den beiden anderen Kategorieen
seltene Krankeiten hängen mit Schädlichkeiten zusammen;
denen Männer mehr ausgesetzt sind; die vorwiegend männ-
lichen Krankheiten finden sich oft bei hoher geistiger
und körperlicher Entwicklung, sie werden durch die
Kultur und das Stadtleben begünstigt und sind in der
Zunahme begriffen.
Vorzugsweise bei Kindern und Frauen finden sich
Scharlachfieber, subunguale Exostosen und Sclerodermie-
Herpes Zoster ist bei Kindern über 2 Jahren ebens®0
häufig als bei Erwachsenen und bei Frauen viel häufiger
als bei Männern, Mundaphten, eine eigentliche Kinder“
krankheit, findet sich unter erwachsenen Personen fast
nur bei Frauen, Von den hauptsächlichsten Klappen“
fehlern des Herzens finden sich die der Aorta häufiger
bei Männern (3 mal), die der Mitralis häufiger bei Frauen.
Letztere sind auch bei Kindern relativ häufig, die der
Aorta dagegen selten.
Derartige pathologische Unterschiede zwischen den
Geschlechtern beruhen nicht ausschliesslich auf funda-
mentalen Unterschieden in der Organisation.)
Die allgemeine Eigentümlichkeit der weibliche?
Organisation ist schon seit längerer Zeit!), ihre Be
deutung dagegen durchaus nicht völlig erkannt worde?‘
Wenn man mit H, Spencer und vielen Anderen annehme?
wollte, das Weib wäre ein unentwickelter Mann, S°
}
') So deutet TorınAarD an, dass das Weib ihrer Strukt!”
nach zwischen dem Kinde und dem erwachsenen Manne steht
H. CAMPBELL (I. c. Kap. 8 und.9) gibt eine interessante Darstellur?
der Frage, GIUFFRIDA-RUGGERI spricht sich bei einer Kritik dies“,
meiner Auffassung (Monit. Zool. Ital., 1003, Nr. z2) dahin aus, dr
die infantilen Merkmale beim Weibe „Coincidenzien“ sind. A N
solche kann man sie betrachten, aber dieses Zusammentreffe
weiblicher und infantiler Merkmale ist sehr bezeichnend.
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS. 525
wäre das eine durchaus missverständliche Formulierung
der Tatsachen. Dass der erwachsene Mann viel weiter
von dem kindlichen Typus divergiert als das erwachsene
Weib, ist im allgemeinen sicher festgestellt — obgleich
as nicht ebenso für die primären geschlechtlichen Organe
und Funktionen gilt — und soweit es wahr ist, gilt es
nicht nur für das menschliche Leben, sondern für das
animalische Leben überhaupt. Darüber hinaus zu be-
haupten, das Weib wäre ein in der Entwicklung stehen-
gebliebener Mann, ist nur insoweit wahr, wie die Behaup-
tung, dass der Mann ein in der Entwicklung stehenge-
bliebenes Weib ist; bei jedem Geschlechte gibt es
unentwickelte Organe und Funktionen, die bei dem
anderen Geschlechte entwickelt sind. Um die Bedeutung
der nahen Beziehungen der weiblichen Organisation zu
der des Kindes richtig zu würdigen, müssen wir uns eine
klare Vorstellung von der Stellung bilden, welche das
Kind beim Menschen und den verwandten Tierarten ein-
nimmt. Im zweiten Kapitel ist auf die merkwürdige Tat-
sache hingewiesen worden, dass die anthropoiden Affen
im Säuglingsalter dem Menschen viel näher stehen als im
erwachsenen Alter, d. h. der Affensäugling steht auf
der Skala der Entwicklung höher als erwachsene
Affen, und die Äffin, dank ihrer Annäherung an den
infantilen Typus, etwas höher als der erwachsene Affe,
Der menschliche Säugling nimmt in seiner Spezies
venau dieselbe Stellung ein, wie der saugende Affe zu
Seinen Artgenossen, woraus sich ergibt, dass der neu-
geborene Mensch auch eine entsprechende Stellung in
der Richtung der fortschreitenden Entwicklung seiner
Rasse einnimmt !).
Der menschliche Säugling zeigt die wesentlichen
uünterscheidenden Merkmale der menschlichen Spezies
in übertriebener Form: den grossen Kopf mit grossem
Gehirn, das kleine Gesicht, die haarlose Haut, das
zarte Knochensystem. Wir übersehen das gewöhnlich
1) Die Annahme, dass die anthropoiden Affen von einer dem
Menschen näher als sie selbst stehenden Affenart abstammen, ist
unbegründet.
a
326 . ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS.
infolge einer Verwirrung der Begriffe und nehmen an,
dass der erwachsene Körper höher entwickelt ist als
der kindliche!). Vom Standpunkte der Anpassung aus
ist es zweifellos richtig, dass der massive, haarige,
grobknochige und hirnarme Gorilla besser für das
Fortkommen in seiner Umgebung passt als sein zarter
Sprössling; vom morphologischen Standpunkt aus be-
deutet er aber nichts weniger als einen Fortschritt. Beim
Menschen bedeutet etwa vom dritten Jahre an weiteres
Wachstum in gewisser Beziehung ein Hineinwachsen in
Degradation und Senilität; er kommt dabei nicht
in gleiche Tiefen wie der Affe und die Richtung zur
Senilität ist bei höheren Rassen nicht so ausgebildet
wie bei niederen. Bei vielen afrikanischen Rassen
sind die Kinder geistig nicht weniger, ja vielleicht mehr
regsam, als europäische Kinder, aber während der Afrikaner
im weiteren Wachstum nur stumpf und stupid und sein
Leben zu einer zähen Routine wird, behält der Europäer
viel von seiner kindlichen Lebendigkeit. Wenden wif
uns aber der Betrachtung der höchsten menschlichen
Typen zu — wofür ja die genialen Menschen gelten
— So finden wir eine überraschende Annäherung an den
kindlichen Typus. Geniale Männer sind gewöhnlich
von kleiner Statur und massigem Gehirn; das sind
auch die beiden Hauptmerkmale des Kindes, und ihr
allgemeiner Gesichtsausdruck, wie ihr Temperament er
innern an das Kind?. „Ihr Griechen bleibt immef
Kinder“, das wär der Eindruck, den dasjenige Volk
auf die Römer machte, welches wir als die höchst“
stehende Rasse zu betrachten gewohnt sind, die .die
Welt. bisher hervorgebracht hat. Nach dem Spruch®
eines alten Mystikers machte das Reich des Vaters dem
des Sohnes Platz und diesem soll die Herrschaft de®
heiligen Geistes folgen. Man könnte sagen, dass dies®
ı) Darauf deutet schon BurDAcH, wenn er sagt: „Es ist eil
grober Irrtum anzunehmen, dass die Zunahme an Jahren ein
unahme an Vollkommenheit bedeutet“ (A. c. IS. 383). n
2) Ich hoffe auf die Merkmale genialer Menschen, auf die 1°“
Pier nicht näher eingehen kann, später anderweitig zurückz“
ommen.
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS. 527
Formel einer biologischen Wahrheit entspricht: Die”
Entwicklung unserer Rasse ist ein Fortschritt in der
Richtung zum Typus des Jugendlichen !).
Nachdem wir die Stellung des Kindes in der Ent-
wicklung gekennzeichnet haben, gewinnen wir einen
klareren Blick für die natürliche Stellung des Weibes,
Sie trägt die charakteristischen Zeichen des Menschen-
tums in deutlicherer Gestalt als der Mann und steht
z. B. an der Spitze der Entwicklung bezüglich der
Körperbehaarung, einfach weil sie dem Kinde näher
steht. (Das hat DARWIN, der darin BurRDAcCH folgt, ange-
deutet.) Ihre konservative Tendenz wird also dadurch
gerechtfertigt und zugleich kompensiert, dass sie dem
Typus, dem die menschliche Entwicklung zustrebt,
am nächsten steht. Dies gilt von den körperlichen
Merkmalen: der moderne gebildete Städter mit seinem
grossen Kopf, zartem Gesichte und zarten Knochen
Steht dem weiblichen Typus viel näher als der Wilde.
Der Schädel des modernen Weibes ist ausgesprochener
feminin als der einer Wilden und der des modernen
Mannes nähert sich jenem; das Becken des . modernen
Weibes ist gleichfalls in allen Merkmalen viel weiblicher,
als bei den Weibern eines Naturvolkes, und das Becken
des modernen Mannes wird allmählich dem des Weibes
Ähnlicher.
Es ist noch zu bemerken, dass nach den Ergeb-
nissen viele Forscher der, Gelehrte, dessen Typus der
Moderne Mann sich sehr nähert, sowohl physisch wie
Keistig eine Mittelstellung zwischen der des Weibes
ünd der des Durschnittsmannes einnimmt. Im ganzen
Verlauf der Kulturentwicklung sehen wir, wie der
Mann dem Weibe näher kommt und mit mehr Energie,
Mehr Gründlichkeit und oft grösserer Exzentrizität
ihre Tätigkeitssphäre occupiert. Wilde und barbarische
Völker sind gewöhnlich vorwiegend kriegerisch, d. h.
Männlich in ihrem Charakter, während die moderne
dr
_ 1) Von diesem Standpunkte aus sind die Daten über den
Schädelindex. in Kapitel V von Interesse.
398
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS.
Zivilisation_ihrem Wesen nach industriell, d. h. weib-
lich ist, denn die Gewerbe gehören eigentlich und ur-
N en glich dem Weibe“ünd haben die- Tendenz, den
ann dem WeiDe gleich zu machen, Selbst in neuester
Zeit und in vielen Einzelheiten des täglichen Lebens
kann man den beobachten,
obgleich, wie wir dem Leser kaum nahezulegen brauchen,
es sich hier nur um eine einzelne Tendenz in unserer
komplizierten modernen Kultur handelt. Oben ist an-
gedeutet, dass neuerdings Männer die weiblichen Metho-
den des Selbstmords anzunehmen pflegen. Vergleicht
man die vielfache Verbesserung unserer Strassen, un-
seres Verkehrswesens mit den Zuständen in grossen
Städten vor ı00 oder auch nur vor ıo Jahren, SO
zeigt sich ein Fortschritt in der Richtung, Frauen die-
selben Erleichterungen zu gewähren wie Männern, und
dadurch beiden Geschlechtern das Leben bequemer zu
machen.
Der heilige Clemens von Alexandria sprach sich
dafür aus, „man sollte den Frauen erlauben, Schuhe zu
tragen, denn es wäre nicht schicklich, dass ihre Füsse
sich nackt zeigten; ausserdem wäre das Weib ein zartes
leicht verletzbares Wesen, Aber für einen Mann seieß
nackte Füsse ganz .in der Ordnung!)“. Heute ist auch
der Mann ein „zartes Wesen“ und die Neigung, der“
artige Unterschiede anzuerkennen, wird immer geringer’
Ich könnte, wenn es nicht zu weit führte, noch manche
Gebiete nennen, auf denen Frauen die Entwicklung
führen. Die Schlussworte des GoeTmeschen Faust ent
halten eine biologische Wahrheit, welche von deneh
die sie zitieren, gewöhnlich nicht geahnt wird.
Jeder Leser, der in diesem Buche Tatsachen und
Argumente für die ‚beständige Diskussion über di£
These von der Inferiorität des_ Weibes gesucht hat und
mir bis hierher gefolgt ist, wırd bereits die natürlich®
Schlussfolgerung gezogen haben, vor der wir an diese!
Stelle stehen. Wir haben alle solche Diskussionen als
ara
iı) PAzDacocvs, Lib. II, Kap. XI
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS.
529
absolut unnütz und töricht zu betrachten. Wenn es =
sich darum handelt, die Existenz oder die Bedeutung
eines einzelnen, die Geschlechter unterscheidenden Merk-
mals zu bestimmen, SO ist ein Schlussresultat nicht un-
möglich; aber jede umfassende Darlegung der Tat-
sachen zeigt, dass eine allgemeine Beantwortung uUn-
möglich ist. Hier und da stösst man auf Tatsachen,
die sich eindeutig gruppieren lassen, weiterhin aber
finden sich andere, gleich wichtige Tatsachen, die sich
eben so leicht im entgegengesetzten Sinne interpretieren
lassen. Schliesslich heben die Argumente einander auf.
Qo wird die besondere Neigung des Weibes, durch
kleine Wellenbewegungen des Lebensprozesses umge-
stimmt zu werden, aufgehoben durch ihre grössere
Widerstandsfähigkeit gegen ernsthaftere Oscillationen:
gegenüber der ’Affektabilität des Weibes steht ihre
Disvulnerabilität. Auf der anderen Seite bedingt die
grössere Variabilität des Mannes eine Quelle vieler
überraschender und glänzender Erscheinungen, zugleich
aber eine grössere Zahl wertloser und selbst schädlicher
Abweichungen, und das reduziert schliesslich die Männer-
welt ungefähr auf das mehr gleichmässige Niveau des
Weibes. Auf intellektuellem Gebiete zeigt der Mann
eine höhere Fähigkeit zur Behandlung der entfernteren
und abstrakteren Probleme des Lebens; das Weib hat
dagegen mindestens die gleiche Begabung für die un-
mittelbaren praktischen Lebensfragen. Zwar bleiben
Frauen einer kindlichen Entwicklungsstufe näher als
Männer, andererseits nähert sich der Mann mehr pithe-
koiden oder senilen Zuständen. Je klarer und um-
fassender unser Blick wird, um So deutlicher wird diese
Kompensation. Es könnte auch kaum anders sein. Eine
Spezies, in der die der Mutterschaft vorstehende Hälfte
einer allgemeinen Inferiorität der Lebensfunktionen an-
heimfiele, könnte sich kaum erhalten, noch weniger
würde sie die besondere und eigenartige Stellung er-
reichen können, die, SO unparteiisch man auch urteilen
mag, der Menschheit kaum bestritten werden kann.
Aus ganzen Gruppen von Tatsachen kann man
Ellis Mann u. Weib. 2. Aufl.
24.
5330 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS.
schliessen, dass die Welt, wie sie einmal ist, für daS
Weib eine bessere Welt ist als für den Mann. Die Natur
hat, wie HuMBoLDT sagt, das Weib unter ihren besonderen
Schutz genommen; das ist nicht nur eine Tatsache aus
der Naturgeschichte des Menschen, sondern aus der
Zoologie überhaupt. Das Weibchen der ganzen Tierwelt
wird stärker und länger als der Mann durch das Fortpflan-
zungsgeschäft in Anspruch genommen, das das wichtigste
Ziel der Natur ist. Das ist aber noch mehr als eine zoolo-
gische, es ist eine biologische Tatsache; bei den Pflanzen
bleibt das Pistill bestehen, nachdem die Staubfäden längst
abgefallen sind. Das weibliche Geschlecht bleibt jugend-
lich der möglichen Nachkommenschaft zu Liebe; wir alle
existieren um unserer Nachkommenschaft willen, aber
dieser Zweck des Individuums ist deutlicher in der Or-
ganisation des Weibes ausgeprägt !). Die Interessen des
Weibes stehen also mit den Interessen der Natur mehr
in Einklang. Die Natur hat das Weib mehr dem Kinde
gleich gemacht, damit es mehr Verständnis und Fürsorg®
für das Kind hat, und mit den Kindern hat die Natur
dem Weibe ein Geschenk gemacht, das eine substantielle
und dauernde Lust gewährt, für die es im Leben des
Mannes nichts Entsprechendes gibt. Die Natur hat ihr
Bestes getan, das Weib gesund und ‚froh zu machen
und hat sich im ganzen damit begnügt, den Mann $9
ziemlich seinem Schicksal zu überlassen.
Der Mann hat sich nun an der Natur und ihrem
Schützling schadlos gehalten. Während das Weib stark
absorbiert worden ist von der Sphäre des Geschlechts”
lebens, die auch die der Natur ist, hat der Mann die Erde
durchschweift und seine Fähigkeiten und Kräfte im be“
_ ') Die Schlüsse bezüglich der Gleichheit und der Unter”
schiede unter den Geschlechtern, zu denen wir hier gekommen?
sind, sind schon. vor fast einem Jahrhundert in einem merk“
würdigen Buche des Vre. J. A. DE SEGUR angedeutet worden-
(Les femmes, leur conditions et leur influence dans Pordre social
Paris 1803, 4 Bde.). Er sagt (Bd. I, S: XXIII) „es ist zu beweisen,
dass die beiden Geschlechter gleich sind, obschon verschieden;
dass eine vollkommene Kompensation besteht, und dass, wen»?
ein Geschlecht wesentliche Vorzüge besitzt, die dem andern zu fehlen
scheinen, wir dem andern nicht die Anerkennung versagen könne
dass es nicht weniger wertvolle ihm eigentümliche Vorzüge hat
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS. . 531
ständigen Kampf mit der Natur gesteigert. So ist es dazu
gekommen, dass die Dienstbarmachung der Natur durch
den Mann tatsächlich die körperliche und geistige Unter-
jochung des Weibes eingeschlossen hat. Die Zeiten,
in denen die menschliche Gesellschaft für das Weib
günstig beschaffen war, scheinen nach dem Zeugnis der
Geschichte primitive Perioden zu sein, in denen kriegeri-
sche Tendenzen nicht stark ausgeprägtsind. Sehr krie geri-
sche Zeiten und die sogenannten vorgeschrittenen Perio-
den, in denen die verzwickten und künstlichen Produkte
der männlichen Variabilität hauptsächlich geschätzt
werden, sind ‚der Freiheit des Weibes und der Aus-
dehnung ihrer Sphäre nicht günstig, Griechenland und
Rom, die bewunderten Typen der Zivilisation, zeigen
uns ausgesprochen männliche Zustände der Gesittung.
Die Lust an Macht und Wissen, das Ringen nach künst-
lerischer Vollendung sind gewöhnlich männliche Eigen-
schaften, und noch ausgesprochener männlich ist die
Unterdrückung des natürlichen Gefühls und die Ernie-
drigung und Verachtung des Geschlechtslebens und der
Mutterschaft, MoreAn hat bemerkt, dass der Untergang
der klassischen Zivilisation ihrer Unfähigkeit, das Weib
zu entwickeln, zuzuschreiben sei; ohne die tiefgreifendste
Umgestaltung hätte das Weib niemals mit der alten
Kultur in Einklang gebracht werden können. Tatsache
ist, dass, als das Christentum und die Barbaren das
Weib zur Geltung brachten, die klassische Kultur ver-
schwand und mit ihr für lange Zeit das männliche Ele-
ment des Lebens, um in den Klöstern wieder zu Eer-
scheinen und in ihnen seine eigenartigsten Verirrungen
zu entwickeln.
Was die Menschheit von der Kultur der Zukunft
zu hoffen hat, ist die Entwicklung einer gleichen Frei-
heit für beide Elemente des Lebens, das männliche und
das weibliche. Der breitere und reichere Charakter der
modernen Zivilisation wird das vermutlich eher möglich
Machen, als es bei der schmalen Basis möglich war, auf
der die Gesittung des Altertums beruhte, und viele Er-
scheinungen in der uns umgebenden Welt deuten darauf
DA%
532 ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS.
hin, dass eine Bewegung in dieser Richtung im Fort-
gange ist. Aber noch sind sehr wichtige Fortschritte
zu machen. So lange unter bestimmten Umständen
die Mutterschaft als ein Vergehen gilt, kann man noch
nicht sagen, dass das weibliche Element seinen ge-
bührenden Platz im Leben erhalten hat. ; ,
__ Es zeigt sich, dass eine umfassende und einheitliche
Überschau über die sekundären Geschlechtsmerkmale
beim Menschen uns schliesslich zu einer sehr beschei-
denen konservativen Haltung gegenüber den natürlichen
Tatsachen bringt. Und es kann auch kaum anderS
sein; die innere und äussere Anpassung der Geschlechter
ist das Ergebnis einer so langen Entwicklung, selbst
wenn man nur den Menschen und seine unmittelbaren
Ahnen in Betracht zieht, dass ein fast vollendetes Gleich-
gewicht der Organisation von Mann und Weib erreicht
worden und jeder weniger entwickelten Fähigkeit
eine kompensierende Anpassung zugesellt ist, soweit
jene nicht etwa, wie es an einzelnen Punkten der Fall
ist, geradezu die Bedeutung einer vorteilhaften Eigen
schaft gewonnen hat. Eine unbefangene, mit offene?
Augen erworbene Anschauung der natürlichen Tatsache?
des Lebens kann uns nur zu einer ehrfurchtsvollen An“
erkennung‘ derselben führen, |
Eine solche Stellungnahme darf jedoch nicht dahl®
misverstanden werden, dass die in ihr enthaltene A1-
erkennung der konservierenden Mächte des Universum®
eine konservative Haltung in sozialen Fragen mit sich
bringe. Die menschliche Weisheit, wie sie seit ein paas
Jahrhunderten in dem einen oder anderen Winkel der
Erde wirkt, entspricht durchaus nicht notwendig der Wels
heit der Natur, ja sie kann ihr aufs schärfste wide!”
sprechen, besonders da, wo menschliche Weisheit nicht®
anderes bedeutet als die unter ganz anderen BediP”
gungen erworbene Routine unserer Vorfahren oder g?*
nur die Anschauung einer Klasse oder eines Geschlecht®
Wir haben kein Recht, im gesellschaftlichen Leben
feste, die Geschlechter sondernde Schranken zu errichte?”
Inwieweit das eine oder das andere Geschlecht für
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS. 533
irgend eine Art von Arbeit oder irgend ein Vorrecht
besonders qualifiziert ist, darüber kann nur eine auf un-
beschränktem Experimentieren beruhende Erfahrung
entscheiden, und da die Bedingungen für derartige Ex-
perimente in jedem einzelnen Versuche besondere sind,
so darf eine einzelne Erfahrung nie ein für allemal ent-
scheiden. Ergibt ein derartiges Experiment ein günstiges
Resultat, um so besser für die Menschheit; ist es un-
günstig, so leidet darunter die Minorität, die ein Durch-
brechen der natürlichen Gesetze verlangt hat. Es ist
durchaus unnötig, übereifrig von einer Versündigung
gegen die Natur zu warnen; die Welt ist nicht so leicht
umzustürzen und wir‘ können mit völligem Gleichmut
den Versuchen sozialer Neubildungen und Anpassungen
zuschauen. Derartige Bestrebungen sind entweder Be-
tätigungen eines gesunden natürlichen Instinkts, und
dann kann der soziale Körper durch sie nur gewinnen,
oder sie werden; wenn sie es nicht sind, das organische
Leben der Menschheit nicht konstitutionell beeinflussen.
Unsere Untersuchung zeigt uns also, in welcher
intellektuellen Haltung wir dem ganzen Problem gegen-
überzutreten haben; freilich hat sie uns nicht die defini-
tive Lösung abgegrenzter Einzel- Probleme gebracht.
Deshalb ist sie aber nicht fruchtlos geblieben. Es ist schon
eine wertvolle Errungenschaft, das Gestrüpp von Vorur-
teil und von Aberglauben beseitigt zu haben, soweit das
überhaupt möglich ist, das nirgends so üppig gewuchert
hat, als in dem Gebiet, das wir soeben durchstreift haben.
Es ist schon etwas, eine richtige Frage zu stellen und
auf den rechten Weg gewiesen zu sein; €S ist auch
von Wert, sicher zu sein, dass wir die Behauptungen
und selbst die Beweismittel derer ausser Acht lassen
dürfen, die nicht alle die Schwierigkeiten ins Auge ge-
fasst haben, welche uns hier entgegentreten.
Zum mindesten ist es wohl unmöglich, den Weg,
den wir nun durchmessen haben, ZU gehen, ohne ein
lebendigeres und toleranteres Verständnis für die für
uns interessantesten Wesen der Welt zu gewinnen —
für Mann und Weib.
Verzeichnis der zitierten Autoren.
Aars 175.
Abel 516.
Ackermann 34.
Adami 274.
Aeby 86.
Agnesi 245.
d’Albertis
Albrecht 117.
Alderson 286,
M Alister s. Macalister.
Allbutt, Cl. 289.
Allin 391. ;
Allison 2.
Ammon 83.
Ampere 472.
Anderson, W. 75.
Andral 265.
Anstie 378.
Aretaeus 442.
Armstrong 344.
Aranzadi 97.
Aristipp 242.
Aristoteles 314, 423.
Arndt 2357 f.
Arnold 263.
Austen 418.
Anrelianus 442.
RB.
Bachaumont 420.
Bachimont 469.
Backhouse 2.
Bacon, R. 242.
Baetz 274.
Bailey 154 ff, 173 ff.
Bain 383.
Baker 81 f.
Balandin 78.
Balfour 366.
Ball 289, 298.
Ballantyne 266.
Balzac 241, 444.
nero I.
ang 289.
Barbour 310.
Barnardo 502.
Barnes, C. 233.
Barnes, E. 174, 231.
Barnes, F. 321.
Barnes, R. 324, 327, 388.
Baron 4a, 6
artels, M. 7, 12, 19, 66 .
Bartels, P. 8 f., Lob 6 9937
Bastanzi 339.
Bastian 338.
Baudelaire 454, 504.
Baudouin 153 f.
Beach 302.
Beale 422.
Beales 246.
Bear 266.
Beard 221.
Beaunis 281, 352.
Beclard 261, 306.
Becquerel 254, 281.
Beddoe 2092 f.
VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
535
Beevor 277.
Behier 262.
Beigel 282.
Bell 303.
Bellei 230.
Zenedikt 92, 97, ff, 103, I59°-
Beneke 280, 307.
Bergh 297-
Berillon 335;
Berlioz 281.
Bernard 518.
Bernhard 420.
Bernheim 336.
Bertillon 507.
Bertin 385-
Besant 240.
Bianchi 90.
Bibra 191.
Bichat 87.
Bickerton 176.
Billroth 152,
Binet 471.
Birmingham 69.
Bischoff 98, 118 ff, 128 ff. 137
Bishop 7-
Blake 178, 184.
Bleuler 180.
Bloch 429.
Blosfeld 310.
30as 0.
Boccalosi 382.
Bodenstein 364-
Bodinus 336 £.
Bodio 506.
Boerhave 266.
Boismont, Br. de 327.
Bolk 83.
Bolton 185.
Le Bon 111.
Booth 181.
Bordier 170.
Born 393.
Borrow 360.
Bosco 404.
Bouchet 131.
Bouchut 357.
Bourignon 247-
Bourke 75.
Bowditch 209, 46.
Boyd 118 ff, 128 ff. 136 f.
Boyer 214. ‘ .
Bradford 194-
Bramwell 259, 451-
Braune 56.
Brehan 248. .
Breughel 368.
Brierre 2327.
Brinningham 179.
Briquet 364.
Broadbent 289, 357:
Broca P 89, 02 ff, 97, 112 ff,
118 f., 128 ., 140-
Bronte, Ch. u. E. 418 f.
Brown, Lennox 269.
Brillat-Savarin 309.
Browne, Crichton R. 204.
Brown, L. 287, 324.
Browning, El. 416.
Bruce 468.
Brücke 53, 55 ff, 59, 72
Brunton 285.
Bryan 185, 189 f.
Bryant, T. 467.
Bryant, Urs, 467.
Bryce 421.
Buccola 188.
Buchan 247.
Buckle 229.
Buckley ı2.
Bucknill 355.
Buffon 306.
Bunge 255.
Burdach” 34, 241, 251, 265, 308.
Burdon-Sanderson 171.
Burk, F. 34.
Burrows 390.
Buschan 63, 303-
Buxton' 347.
CC
Cadet 255-
Calkins 182 f.
Calor1 93, TV 99.
Campbell, Hl. 34; 153, 225 389.
Camper 104.‘
de Candolle 259.
Carman 148.
936 VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
Carr 95.
Carrara 62,
Carter 166.
Casanova N
Catarina, Hlg. 250.
Catell 189.
Zatullus 302.
Chambers 336.
Chambrelent 283.
Chantre 297.
Charcot 194, 360, 364.
Charpy 54, 789, 268.
Chateaubriand 25.
Chatelet 245.
Chauncey 370.
Chervin 199.
Clevers 435-
Child 34 >
Christopher 43.
Clairon 420.
Clapham 94 ff., 97 ff., 126, 131 ff,
Clarke
Clavel 95.
Cleland 73, 92 ff.
Clemens, St. 159.
Clendinning. 105
Clouston 2324 ff, 373.
Cobbe 318.
Codrington 14.
Cohn, S. 322.
Coelius Aurelianus 217.
Coleridge 184.
Coles 107.
Colin 261.
Collet 209.
Collins 510,
Combe 41.
Collignon 293, 297.
Cook 315.
Cornevin 285, 289.
Coste 213.
Coucke 475.
Cox 284.
Crichton-Browne 119 ff., 130,
134 ff.
Crocker, R. 285-
Cruveilhier 310.
Cullen 32z.
Cuming 478.
Cunningham 52, 74, 77, 78, 90,
I31, 133.
Curr Il.
Cuvier 136.
D.
Daffner 63, 295.
Dally 475.
Dangeville 420.
Danielli 98.
Daniels 378.
Darwin 23, 34, 303, 306, 315, 388,
465 ff., 527.
Dalquen 262,
Davis, B. 88, 92, 95, ı12 ff.
Dehn 143.
Delaunay 33, 73 f, 97, 190, 230,
235, 261.
Delisle 477.
Demme 256.
Demokrit 302.
Den 142, 164.
Deniker 2, 28, 95.
Depaul 261, 466.
Depout 412.
Descartes 245.
Deschamps 258, 429.
Despine 143.
Devergie 518.
Dexter 352 f.
Diderot 339.
Diehl 203.
Domitian 417.
Donders 170.
Down, L. 471.
Donaldson 140.
Dorsey 187.
Dressler 146.
Dubois, H. 261, 498.
Duchenne 76.
Duchastelet 311.
Dumesnil 420.
Dumoutier 476.
Duncanson 164.
Dupuytren 523.
Durand de Gros 97.
Dureau 88.
Dürer, A. 28.
VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
537
Dürkheim 353.
Duse 420.
Duval, Matth. 65, 468.
Dwight 53.
Flaubert 418.
Flechsig 132f.
Flournoy 224.
Flower 95, 106, 108, 112
Fonssagrives 285. .
Fothergill 315, 317-
Fox 178. ;
Foxwell
Francotte 389.
Frankenhausen 261.
Frankland 214.
Franklin 178.
Frantz 212.
Frasseto 466.
Freund 302.
Friedjung 255.
Fritsch 72.
Fullerton 189.
Furbini 122.
EB.
Earle 180.
Eberstaller 131.
Ecker 92.
Edelmann 149.
Eiselsberg, V. 153.
Ehrmann 255.
Eliot 243, 418.
Elkind 296.
Elkins 453.
Ellis, H. 83, 175, 314.
Eng han 196ft., 314.ff., 319 ff,
320 ff.
Epictet 246.
Erinna 417.
d’Espine 164.
Esquirol 327.
Eulenburg 364.
Euripides 459-
€
Gälen 273.
Galiani 317.
Galilei 242.
Galippe 108.
Gall 88f., 136. .
Galton 47, 143f.; 165, 168£, 181,
184, 186, 232.
Garbini 158f£, 174.
Gambetta 134.
Garland 201, 239.
Garnier 449.
Garson 66, 71.
Gaston 310.
Gauss 472.
Gaussin 420.
Gavarret 265, 280, 352-
Gegenbaur 53, 69, 308.
Geissler 39, 42.
Gelle 164. .
Genouville 3101f.
Georget 442.
Germain 246.
Gibb 305.
Gibson .
Gilbert 148, 175 ff., 188, 191, 198ff.
Giles 321.
FF.
Fackenthal 425.
Falk 273.
Favre 176, 178.
Fawcett 318,
Fearon 421.
Fechner 182.
Fehling 67.
Felkin 146,
Felsenreich 74.
Fere 57, 385.
Fenwick 65, 151.
Ferrero 34, 153 ff,
Ferrier 137, 377:
Fiaschi 195.
Filippi 217.
Finsch 91.
Finkelstein 322.
Fischberg 296.
Fisher 326.
Fison ı, 12.
Fitz 274.
183, 226, 326.
538 VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
Gilles de la Tourette 361, 363,
364-
Giraldas 74.
Girard 261.
Giuffrida-Ruggeri 466.
Gmelin 374.
Gocke 310.
Goethe 423.
Gomperz 242.
Goncourt 473.
Gönner 99.
Goodell 393.
Goodman 319.
Gorham 106.
Gosse, E. 417.
Gowers 386f.
Gradenigo 469.
Grasset 385.
Gray 294.
Green, C. 496.
Green, E. 171.
Greenfield 303.
Gregoire 370.
Greidenberg 451.
Griffing 149.
Grimm, W. 337.
Groos 477.
Gross 177.
Gruber 158.
Grünbaum 115.
Guest 208.
Gunn 349.
Guppy 217.
Een 119.
uy 261, 313.
Guyon, Mad. 340.
H.
de Haan 170.
Hache, M. 394.
Haddon 4, 204.
Hagemann 283.
Haig 280, 323.
Hale ı2, 13. |
Hall, Marshall 385.
Hall, Stanley 221 f£,.240ff., 279,
391:
Halıburton 204, 262.
Hammond 357, 395-
clamy 94.
Hardy 262,
Harless 50.
Harmon 201.
Harrison ı1, 61, 318.
Hart 310.
Hartwell 43, 45-
Haslam 442.
Hausner 405.
Hayem 254.
Heape 314.
Hearne 4.
Hecker 369 ff.
Heerwagen 343f.
Heidenreich 302.
ein 6.
Heitzmann 310.
Heller 327, 437.
Hepburn 187.
Hercourt, d’ 95.
Herder 422.
Herodot 74f.
Hermann 289.
Herve 421.
Herrschel 246.
Herzen 188, 223.
Hesiod 66.
Hickson 366.
Hill 274.
Hippokrates 273, 357.
Hirsch 275.
His 95. .
er 132 ff.
Hix Braxton 275, 510.
Hoegel 457.
Hofmann 310.
Hoffmann 420.
Hölder 92.
Holmgren 176.
Hondius 368.
Horsley 179, 301.
Hough 244, 279.
Houg-Guldberg 289.
Hrdlicka 467.
Houssaye 306.
Houston 212.
Houze 95.
Howiltt 1, 12.
VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
539
Huchard 362.
Hughson 370.
Hultkrantz 271.
Humboldt 217
Humphreys 445.
Humphry 58, 298, 510, 513.
Hunter 410.
Huschke 95, 113, 118, 130.
Hutchinson 110, 266, 277, 291.
Hyades 2, 292.
Hypatia 242.
Kellor 415.
M’Kendrick 204 ff., 255.
Kerr 41, 168.
Key, Axel 39, 43, 44; 45, 46, 167.
Xey, Ellen V.
"haouzine 95.
„laatsch 109.
Alopstock 340.
tocher 67, 277.
Koganei 113.
Kollmann .101.
Kopernicki 113.
Kowalewskaja 246.
Kozhewnikow 376.
Krabbes 15.
Krafft Ebing, v. 378.
Krause 95.
Krohn 146, 180.
Kupfer ı12f.
Kuptschanko 476.
Kurgelstein 303.
Kurella 184, 226, 352, 384, 457,
470.
T
Ibsen 242.
[card 324.
Im Thurn 3, 6, 182.
J-
Jacobaens 87.
acobs 114, 177f.
Jacobi, M. 256, 259, 297, 298,
306, 369.
Jacobs 169, 475-
Jacoby 280, 321.
James, W. 383f.
Janet 361.
arvis 237.
Jastrow, J. 143, 165, 169, 189,
212, 21516 343-
Jastrow, „337.
Jefferies 176.
Jennings 206 ff.
Jeo, Burney 268.
John, St. 351.
Johnstone 4.
Jones, L. 256 ff,
Jones, R. 134, 135-
Ousset 237.
uvenal 417.
udson 142.
ung 345-
Jürgens 68.
L
Laache 255.
Labilladiere
Labrousse 249f.
Labruyere 244.
Lacassagne 518.
Lacey 370.
Laertius, Diog. 75.
Lafitte 244.
Lagneau 77.
Lagrange 184.
Lalande 245.
Laloy 95.
Lancereaux 289.
Landois 281.
Landor 370-
Lange, C. 383f.
Langer 59.
Lapouge 47.
Laschi 249.
Laulanie 283.
De Launay s. Delaunay.
Laurie I15L.
Laycock 280.
K.
Katharina, H. 250.
Kellogg 193f., 271.
540 VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
Lecanu 254.
Lecläre 231.
Lecois 188.
Lecorche 522.
Leo 204, 477-
Leadley 247.
Lees 367.
Loffingswell 355-
Legouest 151.
Legouve 422.
Legoyt 432.
Legrand du Saulle 326.
Lehmann 301.
Leichtenstern 255.
Lekain 422.
Lepante . 245-
at ng IL.
evillain 357.
Levinge z
Lewen 245. *
Lewis, Bevan 46, 288,
Liebault 312.
Lindsay 477-
Lionardo 38.
Lissauer 117.
Lobsien 220.
Loewenfeld 364.
Longstoff 110.
Lombroso 34, 62, 147, 152 ff,
183, 226 ff, 326, 303.
Londe 1Q4-
Longstoff 110, 511 f.
Lovett 194.
Lubbock 11.
Ludwig, K. 56.
Lullies 426.
Lunier 452.
Luschka 78.
M.
Macalister 99 ff., 469.
Macdonald 3, 6, 145 ff., 231. 341-
Mac Kenzie 303.
M’Cormac 151.
Ve IL.
’Leod 435-
Macphail 255.
Mac Ritchie 376.
Macedo 116.
Magitot 107.
Magnan 449-
Malgaigne 151.
Malling-Hansen 356.
Man 6
Manley 467.
Manning 249-
Manouvrier 52, 87, 95, 100, 112 ff,
115 118, 123, 186.
Mansfield 316.
Mantegazza 56, 87 ff., 95, 08 ff.,
292 f., 419.
Marage 88.
Marcanton 427. .
Marc Aurel 116.
re 66. ;
arro 35, 145, 158 ff., 234.
Marshall 124, 136, 474: >
Martial 273.
Martin 135, 152.
Martins 280.
Nee ni 306.
ason 5, 7, 12, 13.
Massick 266.
Matiegka 95.
di Mattei 143, 158 ff, 163.
Maupassant
Mays 269 f.
Maximilla 360.
Meckel 30 , 462 ff.
Meige 194.
Meleager 417-
Meinert 275.
Melville 317.
Mendel 357, 364-
Mentz 341.
Merkel 37.
Meyer 74.
Meynert 129 f., 134, 137.
Michaelis 70.
Michelet 317.
Mickle 452.
Mierzejewski 322.
Mies 129ff., 139.
Miclucho-Maclay 375-
Mill, John St. 251.
Mignot 279.
Milinger 337-
VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
541
Milton 340.
Minot 222 f.
Moebius, P. J. 35, 89, 357:
Moeli 393.
Mondi&re 95.
Monod 285.
Monroe 307.
Monro 385.
Montanus 366.
Montaigne 241, 420.
Moreau 327.
Morrison 457.
Morselli 105 ff., 354.
Mosher 274, 322, 321, 325, 331, 332
Mosler 281. .
Mosso 108, 301, 383 f.
Motais 171.
Mott 134.
Muffang 41.
Müller, Joh. 1x1.
Munk 132.
Murrog, G. R. 301.
Myers 234.
Palma 55-
Panichi 88.
Papillault 61, 73££
Parchappe 121.
Parish 345-
Parke 4.
Parkes 280, 281.
Parreidt 106.
Partridge 390.
Passet
Paterson 80.
Patrick 478f£.
Peacock 137.
Deal 376,
Pearce 375-
Pearey 315-
Pearson 294, 466 ff.
Pellacani 311, 393-
Perrin 348.
Persius 417.
Petersen 366.
BE 266.
Pfaff 291.
Pfister 138.
Pfitzner 56 ff., 87 ff., 97 £, 101, 294.
Philomene
Pidoux 284.
Pilcz 327.
Pirogow I51.
Pitres 335, 337, 364, 371, 395-
Pizzocco 116.
Plato 219.
Plicques 326.
Plinius 338.
Ploss 19, 34, 72, 338.
Poirier 9off.
Politzer 164.
Pollack 428.
Pollard 269.
Pontard 25L.
Popow 113-
Porter B
Potter, P. 59-
Sukh 327.
reyer 255, 423.
Priseilla 366.
Proal 457:
Pruner Bey 17.
Pye 51.
N.
Naden 242f£. nd
Naecke 397. Ah 430
Neophytos 95.
Newton 172.
Nichols 154 ff., 172, 180.
Norman 262, 378.
Notowitsch 217.
0.
Ogle 279, 430.
Oliver 286, 288.
Oppolzer. 454-
Orschansky 105.
Osterloh 313.
v. Ott 319.
Otto 255.
Ottofy 108f.
Ottolenghi 62, 143, 157ff.
FB
Paget 219. °
Pagliani 239, 45, 46, 191.
>
42
VERZEICHNIS DER, ZITIERTEN AUTOREN.
r)
Rubinstein 428. ;
Ruedinger 127, 130, 134.
de Ryckere 457.
Quatrefages 93.
Quetelet 31, 39, S 48, 50, 53,
56, 58, 124, 2601., 459-
Quintilia 2366.
S.
Sambon 249f.
Sanford 224.
Sansom 286.
Sappey 74, 951, 310.
Sappho 417.
Sargent 39, 48, 54, 58, 274-
del Sarto 55.
Savage 274.
Savarin 309.
de Savignac 285.
Schaaffhausen 5, 891f., 106, 100.
Schäfer 417.
Schäffer 469.
Schellong 5, 178.
Schimmer 298. -
Schmidt, E. 39, 106.
Schmidt, W., 205.
Schopenhauer 246.
Schr der 282.
chüle 327, 357-
Schulze, 0. 35.
Schultze-Naumburg V. 276.
Schwalbe 57, 6o, 113f., 295.
Seripture 471.
See 285.
Segur, de 530.
Seligmann 470.
Sereges 150.
Sergi 67, 150ff.,. 186, 266.
Sevigne, de 419.
Sewall 269.
Shakespeare 4109.
Shaw, Clay 230, 397-
Sherrington 132.
Shoemaker 140,
Sibson 265.
Sidgwick 345.
Siegel 255.
Siemerling 500.
Silk 347.
Skae 126.
Skow 08.
Smellie 497.
5x
Ranke 28, 30, 50, 55, 56, 113ff.
Raseri 208.
Rauber 499. ;
Ravenel 78.
m 385.
Rebentisch 87ff., 106.
Reclus 475
Reid 120{f., 137.
Reinl 319.
Rembrand 3094.
Renan 83, 246.
Retzius 95f., 139f.
Rey 136.
Reyburn 150.
Richet 265.
Riccardi 50, 185, 187f£., 233.
Richardson 389.
Rifley 2096.
Rios 178.
Rivers 172.
Roberts 58.
Robin 255.
Robinson, L. 273
Robinson, B. 389f.
Rodier 254, 281.
Roger 279.
Rollestone 111.
Rollet 48.
Romanes 224.
Romiti 68.
Roncoroni- 165, 457.
Rosenberg 79.
Rosenthal 385.
Ross 208.
Rossetti 417.
Rossi 249.
Roth, B. 104.
Rousseau 230.
Roussel 233, 420.
Roy 257, 274.
VERZEICHNIS DER .ZITIERTEN AUTOREN
543
Solowjew 374-
Smith, P. 103, 385, 450-
Smith, W. 267 ff.
Snellen 168, 170.
Solis-Cohen 385.
Somerville 246.
Soemmering 34.
Sommier 293.
Soularue 79 f£
Southcott 248.
Spencer, H. 243.
Spanton 108.
Spielmann 114, 169, 177 f.
Squire 280.
Ssikorsky 230.
v. Sta&l 245, 423.
Starbuck 376, 378.
Starling 280.
v. d. Steinen 334.
Steiner 298.
Stelzner 437.
Stengel 15.
Stephenson 221.
Stern, A. 143-
Stern, L. W. 210, 423.
Sternberg 389.
Stevenson 2394-
Stewart, Ch. 25.
Stirling 281.
Stopford 370.
Stratz 7off., 108, 198, 276, 297, 391
Strauss, D. Fr. 83.
Suidas 223.
Sulpicia 417-
Sundbärg 512 £
Swinburne 454.
Sydenham 360, 365.
Sykes 475-
Tarnowskoja 145-
Taylor 6, 260.
Terenz 397-
Tertullian 19, 366.
Testut #2:
Theresa, Sta. 250 f.
Thomas 17, 231.
Thomson, A. 68, 95, 112 f.
Thomsen 437:
Thompson, H. 145, 164:
Thorpe 320.
{m Thum 3, 411 ff
Thurnam 88, 92, 442 f.
Tiedemann 112 f., 120.
Tigges 119, 124, £, 134, 137-
Tilt 313.
Tocher 294.
Toischer 423.
Tokarsky
Tomes 16.
Tonnini 365. ;
Topinard 48,5, 56, 58, 70, 94 f£.,
104, 112 ff., 119.
Toulouse 158, 164, 425-
Tourdes 518.
Traina 301.
Tregear 75.
Trelat 298.
Triplett 397.
Tröltsch 164.
Trousseau 284-
Tsakni 374 f.
Tuchmann 336.
Tuke, Hack. 180, 336, 355-
Turner 89, 95, 108.
Turquan 514.
Tylor 377.
U.
T
Uchermäann 470-
Ulitzsch 39, 42:
Umpfenbach 2685.
Upton 422.
Urbantschitsch 164.
Taguchi 306.
Tait 302.
Talma 422.
Talbot 107 ff.
Tanquerel 287.
Tappeiner 96.
Tarenecki 95.
Tarnier 202.
V.
Vali 469.
Vallee 310.
544 VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN.
de‘ Varigny 45.
Vaschide Fe
Verga 289.
Verneau 66 ff.
Vidal 425.
Vierordt 121, 307.
Virchow 86 ff, 96 f., ı12 f.
Vogt 203.
Voisin 285, 287.
Voit 122.
AT
Wagner, Rud. 118 ff.
Wagner Richard 242.
Wahl 331.
Waldeyer 72, 138, 105, 2091.
Waller 122, 280.
van Walsem 126.
Walshe 266.
Wardley 367.
Warner 168, 391.
Wateff 206.
Webb, Sidney 235, 239.
Webb, Mrs. 209 ff
Webster 178.
Weil 164.
Weismann 26.
Weissbachg2ff., 112f£., 1371.,474-
Weissenberg 57, 62.
Welcker 92 £, 103.
Wells, Sp. 455.
Wernicke :76.
West 99 ff.
Westcott 327.
Westergaard 429, 5097.
Whitehead 313.
Whitelegge 514.
Wiedersheim 79, 86 ff.
Wiesener 309.
Wilde 164.
Wilkinson 248.
Wilks 116.
Wille, L. 518.
Williams 406.
Wilson 178, 455-
Wiltshire 314.
Winckel 310.
Wines 461.
Wintrich 53.
Wissler 189.
Woeber 095.
Wolseley 231.
Wood 468.
Wretlind 356.
Wunderlich 279.
Würzburg. 277.
7
Yatsuti 288.
de Yta 74.
Yvon 281.
Yoüng 513.
Zaufal 164.
Zeiler 102.
Zola 401.
Zuccarelli 285.
Zwaardemaker 159, 165.
Sachregister.
A
Abdominale Atmung 266 ff., 269 ff.
Abstraktes Denken 240.
Ackerbau 9.
Ackerbau, primitiver, Beruf der
Frau 3. ;
Accomodationsanstrengung
beim Weibe 167.
Asthesiometrie 144 ff., 213.
Affektabilität beim Weibe 182,
184, 380ff.
— der Geschlechter 154.
2 Aa beim Weibe
4 .
Affekttheorie 383f.
Affekte, viszerale Phänomene
311.
Affen, anthropoide 27. .
Affizierbarkeit des Weibes 579.
Afrikaner, Becken der 65.,
Agoraphobie 359.
Akrobaten, weibliche 192.
Albinismus, sexuelle Frequenz-
differenz 298.
Algometrie 148 ff.
Alkohol, Wirkung bei den Ge-
schlechtern 289.
Alkoholismus 449-
— bei Weibern 289.
Anästhetika, Wirkung 347.
Anamiten 475.
Anomalieen, kongenitale beim
Weibe 467.
— und Variationen 488.
Ellis, Mann u. Weib. 2. Aufl.
Anstrengung, plötzliche Folgen
beim Weibe 405.
Antimon 285.
Antipyrin 285.
Anthropoiden, Wirbelsäule der
of.
Aphten 524.
Appendicitis 523.
Arbeit, weibliche, Unregel-
mässigkeit 236.
Arbeiterinnen, Organisation der
259.
Arbeitsleistung, Steigerung der
beim Weibe 403.
weibliche unter erschweren-
den Umständen. 237.
— Versagen der 238.
Arbeitsquantum von Salinenar-
beiterinnen 210.
Arbeitsteilung, sexuelle 1, 14.
Arcus, senilis 518.
Arm, Messung des 54, 55:
Armenier 297.
Arsenik 284. |
Assoziationstypen_ bei den Ge-
schlechtern 216 f.
Atembewegungen, Geschlechts-
unterschiede 263, 273.
Atmungstypus 266.
Atropin 285.
Audition coloree 187f.
Auffassung, Schnellere, beim
Weibe 144
Augenfärbung beim Weibe
dunkler 202f., 295.
5
546
SACHREGISTER.
Augenhöhle ı102f.
Australier 5, II, 12
— Schädel 115.
Blase, Geschlechtsdifferenz 310,
— psychische Reaktion beim
Welibe. 393 f. .
Biei-Industrie, Arbeiterinnen 287,
Bleivergiftung 287. Sa
Blut, SRSzSChET Gewicht bei
den Geschlechtern 256ff.
— Verhalten bei den Geschlech.
tern 254.
— Wassergehalt 258. ,
Blutdruck bei der Menstruation
321.
Blutkörperchen, rote, Zahl bei
den Geschlechtern 254, 255.
Blutverlust bei der Menstruation
313.
Blutzusammensetzung 254.
Böser Blick 338.
Bourignonisten 247.
Brachycephalie 93 ff.
Breaking out 397.
Briefschreiben der Frauen 245,
I9.
Brichtsche Krankheit 520.
Brompräparate 285.
Brunst 314.
Brüste 52, 53. . .
Brustatmung , sexuelle Anzie-
hung durch 274. ,
Brustkasten, sexuelle Form-
differenz 268.
Brustkorb 53f. |
Brustmuskeln, weibliche sind
schwächer 193.
Brustumfang 38.
Brustwarzenschrunden 299.
Buchanisten 247.
Bulgaren 111,
Bumroll 273.
R
Bartwuchs 291.
Basedowsche Krankheit 303.
Basken 77.
Bauch, Formentwicklung beim
Weibe 311.
— Proportionen des 52.
Bauchtraumen 153f.
— muskeln, beim Weibe 108.
Becken 64 ff.
Beckeneingang 68ff., 73, 76f.
Beckengrösse 83.
Beckenindex 70.
Beckenöffnung 67.
Becken,Geschlechtsunterschiede
am 81ıf.
selektive Wirkung 4095-
— und Totgeburten 465{.
Begabung, praktische, der
Weiber 229.
technische, der Geschlechter
235.
wirtschaftliche, der Ge-
schlechter 235.
Behaarung 30.
Bein, Proportionen des 57.
Beinlänge 50.
Bekehrungen 378f.
Bekleidung 480 ff.
Belladonna 285.
Berufsbildung des Weibes,
höhere 21.
Besessenheit 364.
Betragen in der Pubertät 234.
Betrügerinnen, hysterische 263.
Beweglichkeit, geistige, beim
Weibe 226, 229. .
Bewegungsfunktionen 185 ff.
Bewegungstempo bei den Ge:
schlechtern 199.
Bewusstsein, kindliches (Inhalt)
221. ;
Binnenfelder des Grosshirns 133.
Biometrie 48ı ff. -
CC.
Camisarden 369, 376.
Canada-Indianer 410 f.
Carotis interna 135.
Chloroform, Wirkung beim
Weibe 286.
Chlorose 258f.. ,
— und Schnüren 275.
SACHREGISTER.
5347
Chlysti 272.
Chorea. 395.
Christentum, Anteil der Frauen
am 249.
Claustrophobie 3509.
Ensellure 77.
Entwicklungshemmung 63.
Ergographie 201.
Erhängen, Wiederbelebung nach
266.
Erholung, sexuelle Differenz 190.
Ernährungszustand und Pubertät
45- .
Ermüdung beim Weibe 202, 402,
404-
Erotismus in der Narkose 350.
Erröten 388. .
Erschöpfung, sexuelle Differenz
190.
Erwerbstätigkeit, weibliche, Zu-
nahme in Nordamerika 235.
Erzählertalent 419f.
Erziehung, körperliche der Mäd-
chen 279.
Eskimo 2, 9. .
Frühreife bei 231.
D.
Dammrisse 2099.
Darmbein 66.
Darwinismus 500.
Deduktive Tendenz beim Weibe
229.
Degenerationszeichen 467.
Delirium tremens 289.
Demenz 448 f.
Dementia paralytica 451.
Denken, abstraktes 214 f.
Dextrocardie 469.
Diabetes 523.
Dichterinnen 417.
Diphterie 511, 517.
Diplomaten, Frauen als ı1.
Diplomatie, weibliche 252,
Dolichocephalie 93f., 96.
Donaria 249.
Dreschen 8.
Drucksinn 145, 212.
Druckereien, weibliche Arbeiter
in 235.
Dynamometrie 186.
— beim Weibe 402.
F.
Fanti, Frühreife bei 231.
Faradimeter 149.
Farben, Lieblingsfarben der Ge-
schlechter 174.
Farbenblindheit 470, 480.
Farbenempfindung 172. f.
Farbensinn 1975 f. ;
Feldarbeit 4, 14.
Feminismus der Genies 473.
Fettgewebe, Masse der 49.
Fettmasse des Weibes ı22 f.
Feuerländer 2097.
Finger, Proportionen des 56 f.
— überzählige 468.
Fingerkontraktur 523. E
Finnen 6.
Fortpflanzung 26.
Frau als Arztin 7.
— ursprünglich Hausarbeiterin 3.
Frauen, literarisch berühmte 424.
Frauenberufe, spezifische 2097.
Frauenkleidung 478 f.
Frauen-Überschuß 508,
— — Anhäufung 5717.
Frauenarbeit und Industrie 21
DE*
FE.
Eingeweide 300 ff.
Eisen, Aufspeicherung vor der
Konzeption 255.
Ekstase 336.
Elektrosensibilität 147.
Ellbogen 59. '
Elsässer, Schädel der 97.
Epilepsie 449.
— Hirngewicht bei 125.
Vorkommen bei den Ge-
Schlechtern 386 f:
Emmetropie 166.
Emotivität des Weibes 380 ff.
Encephalopathia saturnina 288.
545
SACHREGISTER.
Froschgehirn, Geschlechtsunter-
schiede 140.
Frühgeburt 82.
Frühreife 63; beim Weibe 230.
wc der Mädchen 244.
— Nachteile 232.
Furcht 383.
Fuss, Proportionen 6o f.
Geschlechtsmerkmale, sekun-
däre 22; ihre Bedeutung 532;
als Variation 483 f.; (S. auch:
Sexualmerkmale). ,
Geschlechtsgefühl, Maximum
beim Weibe 321. se
Geschlechtsorgane , weibliche
Sekretion) 258.
Geschlechtsteile 34.
Geschlechtstrieb und Becken 83.
Geschmacksempfindungen, Se-
xuelle Differenzierung, 164.
Geschmacksschärfe 163 f.
Gechmackssinn 159 f.; bei In-
dianern 161.
Gesicht, Proportionen 100.
Gesichtsfeld während der Men-
struation 322.
Gesichts-Index 101.
Gesichtssinn 166 ff.
Gesichtswinkel 103 f.
Gestalt, männliche Normal- 36 f.
Gestalt, weibliche Normal- 36 f.
Gewerbliche Leistungen der
Frauen 207 ff.
Gewicht des Körpers, seine Zu-
nahme beim achstum 40,
42, 44 ; .
Gewichtszunahme, Einfluss der
Kr oszeiten auf die — bei
indern 357.
DE 475:
icht 455, 484, 487.
Giftmore beim Weibe 459 f.
Giftwirkungen, sexuelle Dif-
ferenzen 283 ff.
Glabella 90 f.
Gleichmässigkeit der Arbeits-
leistung bei den Geschlechtern
276, 405-
Gorilla 28. ; ;
Grausamkeit des Weibes 460.
Graves’ disease 303.
Greiffuss 62.
e
Gärungstechnik 6.
Gallensteine, Häufigkeit b. d. Ge-
schlechtern 275.
Gambetta, Hirnwindungen 135,
Gang 59.
Gastroptose durch enge Kleider
275-
Geburt bei sporttreibenden
Frauen 197.
Geburt u. Becken 81.
Geburtsmechanismus 489.
Geburtshindernisse 82.
Gedächtnis, sexuelle Unter-
schiede im 231; — bei Schul-
kindern 218 f.
Gefässe, (Ton-), Herstellung
durch die Frauen 5.
Gefässinnervation 285.
Gefässnerven 388 f.
Gehirn s. Hirn.
Gehörfeld 165,
Gehörschärfe 165.
Gehörs-Sinn 164 ff
Geisteskrankheiten 442 f; — und
Jahreszeit 355 f.
Geistiges Leben, Geschlechts-
unterschiede im, 215.
Gelbe Rassen 30.
Gelenke, ihre Stärke beim
Weibe 187 f. ;
Gemütsbewegungen, Wesen der
381.
Genialität 497; beim Weibe 472 f.
Gerberei 5. 7.
Geruchssinn 154 ff.
Geschlechtsunterschiede 34 f.
Gschlechtsmerkmale am Schädel
H.
Haarwuchs,
schiede 2091I.
sexuelle Unter:
SACHREGISTER.
549
Haarfärbung, sexuelle Unter-
schiede 291 ff., 295.
Hämoglobinmenge bei den Ge-
schlechtern 255.
Haida ı1.
Halluzinationen Gesunder 345;
sexuelle Unterschiede der —;
346.
Haltung 59 f%
Hand-Proportionen f.
Handschrift, Geschlechtsmerk-
male 203. -:
Harnmenge 281 f.
Harnstoffausscheidung 282,
Harnstoff b. d. Menstruation 323.
Harnsäure b. d. Menstruation 323.
Hasenscharte 48T:
Hausindustrie-Arbeiterinnen 207.
Haustiere, Zähmung, als Auf-
gabe der Frau 6.
Hautfärbung 290 ff 295 f.
Heimarbeit 14.
Herpes zoster 524
Herz, Grösse u. Gewicht 307 f.
Hexentum 337 f. - ;
Hinterhauptslappen des Gehirns
134 f.
Hirn, Blutversorgung, 135;
— Geschlechtsunterschiede 117£,
ı29 f.
(nach Retzius) 139. ;
— schweres 126.
Hirn-Ernährung 121,
— furchen ı31 f.
-Funktionen, Lokalisation der
132.
Hirngewicht 32, 118;
— beim Weibe (absolutes) 119f,,
— relatives 120 ff.
Geschlechtsunterschiede des
123, 474 f
— Irrer 119.
— der Affen 28.
Hirnmasse beim Weibe 129;
— und Geist 126,
Hirnwägung 127.
Hirnwachstum 121 f., 128 f.
Holländer, Schädel der 16.
Höckerbildung am Schädel gı.
Höhenklima, Verhalten der Frau
im 265.
Hörigkeit der Frau 251.
Hüften 65; — -Umfang 65 f.
Hundertjährige Personen, Ge-
schlecht der, 513 f.
Hyperdaktylie 4, 68.
Hypermetropie 165.
Hypnose, Tine on zur 335 £.
NS Che hänomene beim
eibe 333 ff.
Mysterie (Allgemeines) 357, 360f£.,
95 1. .
——orkommen bei Mann und
Weib 364 f,
Wesen der —, 263, 385.
I.
Ideal, Frauen-, im Mittelalter 20.
Idiotie 449, 471.
Ikota 375. ;
eg men » Atmungstypus
Industriearbeit, weibliche (Aus-
dehnung in Deutschland) 207.
Industrialisierung der Frauen-
arbeit 21.
Tnfank/tat Ar we blicher "Typus
29, 64 f., 525 f.
nt Higehr. weibliche 214 ff.
Irrenanstalts- Bevölkerung 443.
Irrenschädel 94, 99. |
[rrenstatistik, Interpretation der
6.
erebein 442 f.; Unterschied der
Geschlechter beim, 398 ff.;
— Ursachen 447 f.; Zunahme
444. £. en 2
Irritabilität und geistige Arbeit
207.
Jagd 2, 10.
James-Langesche Affekttheorie
381 ff.
Japaner 297.
=50
SACHREGISTER.
Taden ar 288, ;
uden, Anthropologie 475.
Jüdinnen, Sehschärfe 169
Kopfgrösse und Geburt 82 f.
— und Statur 5of.
— und Totgeburten 510.
Kopf, Sexual-Unterschiede am
4 3. Bo
Ko&dukation, anfänglicher Vor-
sprung.
Körperbehaarung 465.
Körperhaltung 72 f.
— aufrechte 81 ff.
— und Becken 66f.
Körperlänge 41 £, 478.
— beim Manne 232.
— und Hirngewicht 124 f.
Korpsgeist der Arbeiterinnen
239.
Korsett und Atmung 267 f£., 273.
— verringert die Vitalkapazität
al |
— -.Hygiene 276.
Kostal-Atmung 266 ff.
Kraftanspannung beim Weibe
03.
Kraniofemoral-Index 112.
Kraniometrie 97 ff.
Kreuzbein 66,
-Breite 70.
-Grübchen 70 f.
— -Wirbel 79. En
Kriminalität und kapitalistische
Entwicklung 462.
— weibliche 457 ff
Kropf 302f.
Kultur und Weiblichkeit 531.
Kunst, Ursprung 4009. .
Künstlerische Begabung beim
Weibe 425 f.
Kunsttalente bei den Geschlech-
tern 409 ff.
Kunsttrieb, primitiver 424.
Kurden 297.
Kurnai z.
%
Kambodschaner 231.
Kapazität, vitale 263 ff.
Kapitalismus, Entwicklung und
sein Einfluss auf die Frauen-
arbeit 16, 21.
Kapriziosität des Weibes 317 f.
Karzinom 110, 486.
Katalepsie 336. '
Kaufmännische Angestellte,
Frauen als 235.
Kehlkopf 24, 304 ff.
Kelten 2.
— Weiber der 475.
Keuchhusten 514, 517:
Keuschheit und Religion 378f.
Kind, anthropol. Typus des 27.
Kinder-Schädel, eschlechts-
merkmale am 88.
Selbstmorde 394.
Spiele 477.
— -Sprache 423.
Kitzlichkeit beim Weibe 389.
Klavierspiel 55.
Klavierstimmen als Männerbe-
ruf 166 f.
Kleidung des Weibes, ihr Ein-
fluss auf die Atmung 271.
Kleinhirn; Gewicht 136 f.; Funk-
tion 137.
Klumpfuss 467.
Knabengeburten 494; Knaben-
Totgeburten 465 ff.
Knabenüberschuss der Geburt-
lichkeit 506 ff.
Kochkunst 423. “U
— primitive 8.
Kohlensäure - Ausscheidung bei
den Geschlechtern 265.
Kohlenzechen-Arbeiterinnen,
englische 195f.
Komponistinnen 413.
Konventionelle Tendenz des
Weibes 241.
I.
Lachen 390.
Lachgas-Narkose 347. |
Ladendiebstähle menstrulerter
Frauen 226.
SACHREGISTER.
551
Langlebigkeit und Teint 298.
Lappen 297.
Lastentragen als Weiberarbeit
4, 185f., 195.
Latah 376.
Lebenszähigkeit, weibliche 517,
519.
Leber, Grösse und Gewicht 309.
„Leichte Hand“ bei Männern
häufiger 209.
Lendenwirbel-Säule, Krümmung
der 78f.
— Proportionen der 78.
Lese söchwindigkeit bei Frauen
224 f. ;
Lidschlag 390.
Linkshändigkeit 470.
List, weibliche 226.
Literarische Begabung beim
Weibe 415.
Lohn der Industrie - Arbeite-
rinnen 208 f.
Luftbedürfnis beim Weibe 265.
Lügen, Kinder- 240.
Lumbo- vertebraler Index 77f.
Lunge, Gewicht 208 f.
Mes abkerinnen, berühmte
245 f.
Medizin der Naturvölker 6, 7.
Melancholie 448 ff.
Melanesier 14.
Menstruation 18 ff., 313 ff.
erste (Alter bei) 316.
Beschwerden während der-
selben bei Arbeiterinnen und
Studentinnen E
Blut, spezif. Gewicht des, bei
der 258.
Dauer 213. ,
und Erwerbsarbeit 328 f.
Gesichtsfeld in der 322.
Harnstoffausscheidung in der
323.
— Harnsäure 323. .
— Körpertemperatur 280.
Krankhafte Phänomene bei
der 32a
und Magie 338.
Psyche bei der 324 f.
und Schilddrüse 302.
Selbstmord während der 326f.
Ursprung der 314 f.
Merjatschenije 376.
Mesaticephalie 99.
Meteorische Sensibilität 351-
Milchzähne 108.
Milz, Grösse und Gewicht 309f.
Mittelalter, Stellung der Frau im
I5.
— Komische Literatur im, und
die Frauen 15.
Mongolenauge 30.
Mongoloide Typen 475:
Mortalität der Geschlechter 515 ff.
Tafel der 512 f.
— in England 511.
Morzine, religiöse Epidemie in
‘371.
Vendhöhle 107 f.
Musik, Frauen-Einfluss auf ihre
Entwicklung 411 f.
Muskel-Ansätze am Schädel 9gı.
— -Defekte, kongenitale 469.
— ‚Entwicklung bei Weibern der
Naturvölker 195.
X
Mädchen, Schulleistungen 220.
Magie und Menstruation 338 f.
— -Phänomene beim Weibe 337.
Makrodontie 108.
Makrostomie 468.
Malerei, Talent 411.
Manie 448 f.
— hysterische 262.
Mann, Superiorität des 33.
— Variabilität 527.
— Totgeburten 465.
— und Weib, fundamentale
Unterschiede 520 ff.
Manuelle Geschicklichkeit beim
Weibe 203, 206.
Massenpsychologie, weibliche
401. N /
Mathematik, weibliche Begabung
für 239.
5x0
SACHREGISTER.
— Kraft beider Geschlechter 185.
Muskulatur des Armes 55.
— des Rückens 76f., 193.
— unwillkürliche 197.
Mundregion, Anomalien der 110.
Mutterschaft 530.
— und Körperhaltung 80,
Myopie 166 f,
Mysticismus, Tendenz zum 248,
— und Feminismus 389 f.
Myxoedem.
Widerstandsfähigkeit gegen —
153 f..
Opium 284. es
Ornamentik in der primitiven
Technik 409.
P.
Pangolo 412.
Papuas 4, 409 f. .
Paralyse, progressive beim
Weibe 451 ff.
— — Disposition zur 454-
Paranoia 449.
Parfüm, CLrauch bei Frauen
159.
Partstalbein 89, 91.
Pelvimetrie 66 ff
Periodizität beim Weibe 313 ff.
: (s.auch: Wellenbewegung).
Phantasie, weibliche 425.
Philadelphianer 247. Sn
Philosophen, von Frauen be-
vorzugte 246.
Philosophinnen 242 ff., 246.
Physiognomik, sexuelle 3091.
Pigmentierung und Vitalität 297f.,
— Funktion der — 208,
Pigmentablagerung, menstruelle
323.
Pithekoide Merkmale 525.
Pocken 516.
Poeten, weibliche 416.
Postbeamte, weibliche 236 f.
Profil, Gesichts-, 104.
Prognathie 103.
Projektionsfelder (des Gehirns)
133.
Proportionen 36 ff.
Prostituierte 34. ,
Psychopathische Erscheinungen
27 f£.
Psychosen und Menstrualwelle
327 f.
Pubertät 43, 45-
— und Irresein 447.
— — Sehschärfe 171.
— Betragen in der 234; Ein-
fluss auf die intellektuelle Ent-
wicklung 234.
N.
Nabel 51.
Nachtwandeln 334.
Nahrungsbedürfnis der Ge-
schlechter 309. -
Narkose, Verlauf bei den Ge-
schlechtern 347.
Träume bei 349.
— erotische Träume bei 350.
Nasenflöte 412. _
Natalität der Geschlechter‘sos ff.
Natürlichkeit beim Weibe 503f.
Navajos 13.
Neger 209.
Negerschädel 92.
Nervenreaktion bei Neurasthenie
59-
Ne enshack, Nachwirkung 304.
Neurasthenie 352 ff,, 360 f.
Neuritis alcoholica 289.
Nieren, Grösse 310.
— Lage beim Weibe 310.
Normalgestalt der Geschlechter
48 ff.
Nostalgie 306.
Nyktophobie 359.
0.
Oberarm 55.
Oberschenkel-Umfang 58 f.
‚Muskeln, beim Weibe kräf-
tiger 194.
Ohr-Deformitäten 469 f.
Olfaktometrie 158 f.
Operationen, chirurgische, am
Bauche 153; ;
SACHREGISTER.
RB}
BR}
Pubertätsalter, Mortalität im —
bei den Geschlechtern 505.
— -Entwicklung 39.
Pulsfrequenz, Geschlechtsunter-
schied 260 ff.
Puls in der Menstruation 321.
Putz, weiblicher 478.
Samoaner 13.
Russen, mystische Anlage 371 f.
Ss
Sattelrücken 76.
Sattlerarbeit, weibliche 13.
Sängerinnen, Ausbildungszeit
422.
Säuglingstypus als progressiver
Typus 525.
Schädel, is Affen, 28.
— Altersdifferenzen am 86 f.
— sthnologische Varietäten des,
92 £. ;
- Geschlechtsunterschiede am,
85 des Kindes 85.
uskelansatzstellen am 9ı.
‚breite 93.
decke 92. .
‚durchmesser 88 ff. -
entwicklung, Tendenz 98.
-‚grösse Totgeborener 496 f.
index 08 ff.
‚inhalt 111.
inhaltund Körpergrösse 114;
Kapazıtät 111.
— -maasse, Variation 484.
Schamanen 374.
Scharlachfieber, Disposition der
Geschlechter zu 515 ffi, 524.
Schauspielkunst, weibliches Ta-
lent zur 414, 420 f.
Scheitelbein 133.
Scheitellappen des Hirns 134 f.
Schilddrüse 25, 301 f.; (Ss. auch:
Basedowsche Krankheit).
Schmerzempfindlichkeit, . Ge-
schlechtsdifferenz, 146 ff.‘
Schmollen, Ausdruck des —
s. beim Weibe 391.
Schneidezähne, beim Weibe
breiter 109.
Schneiderabeit, ursprünglich
Sache des Mannes 3, 5.
Schnüren, enges, und Castro-
ptose 275.
Schreck 3094,
— und Epilepsie 286.
Q.
Quecksilber 285.
Quintiliana 366.
R.
Radius-Vorderarm- Reflex 389.
Rassenschädel 94 ff.
Raumsinn, Geschlechtsunter-
schiede beim 212.
Raynaudsche Krankheit 385.
Reaktionszeit 188 f, 223.
Receptivität, weibliche 244.
Rechentalente 471 f.
Rechtsbegriffe bei Mädchen 241.
Rechtshändigkeit 190.
Regentinnen 251.
Reife, Alter der 47.
Reizbarkeit 324 f.
Selatiität des Hirngewichts
119 f.
Religionsgründer, weibliche 246f.
Religion u. hypnotische Erschei-
nungen 366 f.
Reservestoffe , Accumulierung
beim Weibe 257.
Revivals 377.
Revolution, französische, Anteil
der Frauen 250.
Romanschriftstellerinnen 418 f
Rückenmuskeln beim Weibe
76 £., 193.
Rückenmark, Länge b. d. Ge-
schlechtern 139. |
—, Masse b. d.” Geschlechtern
138 ff
Rumpf-Form 65.
— Länge 20.
— Proportionen 50, 54-
Rückfall, krimineller beim Weibe
461.
Rupophobie 350.
554
SACHREGISTER.
Schrecksymptome 303.
Schulleistungen, bei Knaben und
Mädchen 233.
Schultern, "Formdifferenz, sexu-
elle‘ 54.
Schwangerschaft und Schild-
drüse 302.
Sehschärfe 168 ff‘, Entwicklung
bei den Geschlechtern nach
Bordier 170 f., — und Hirn-
wachstum 171; — bei Knaben
und Mädchen 168 f.
Sekretion, —Geschlechtsunter-
schiede 280. '
Selbstanfpp/erung Jöhigkeit,
weibliche 240 f.
Selbstmord 427.
— bei der Menstruaktion 326 f.
— Ekonomische Faktoren des 44.
— und Jahreszeit 353 f.
Selbstmordmethoden 434 ff., 528.
— und Rassen 439 f.
Selbstmordtrieb, Zeit des Auf-
tretens beim Weibe 432.
Selbstmordziffer der Geschlech-
ter 429 ff.; 433 f.
Selbstmörderinnen, Altersklas-
sen der 434 f.
Selection durch das weibliche
Becken 466 f.
Senilität und Mannes-Typus 29.
Sensibilität, der Verbrecherinnen
Sinnlichkeit 83.
Sklerodermie 524.
Skoliose bei Mädchen 194.
Skopzen, Sekte der 373£
Sommersprossen 299.
Somnal 285. |
Somnambulismus beim Weibe
334:
Southcottianer, Sekte der 247.
Spanierinnen, Selbstmordfre-
quenz 43I.
Spina bifida 467.
Sprache als Kunst 422 f.
Sprachstörung im Traum 344.
Sport und Mutterschaft 197.
un Muskelkraft bei Mädchen
106.
Steissbein 66.
Sterbensintensität 518.
Sterbeziffer der Geschlechter
503. .
Sterblichkeitsabnahme, moderne
04.
Stketoffausscheidung 283.
Stimme 24, RX
Stimmritze, Abbildung der männ-
'ichen und der weiblichen 305.
Stimmunterschied, sexueller 306.
Stirnbein 155 f.
Stirnform, sexuelle 92 f.
Stirnhöhlen 90 f.
Stirnhirn 32, ı130f.
— Funktion ı32ff.
Stoffwechsel - Unterschiede,
sexuelle 193, 253 ff.
Stottern 45.
Häufigkeit nach dem Ge-
schlechte 230. 3
Strikes, geringe Tendenz der In-
dustriearbeiterinnen ZU 329,
Studentinnen in naturwissen-
schaftlichen Laboratorien 203,
205 f.
Stumpfheit, sensorisehe des
Weibes ı152f. ,
Suggestibilität beim Weibe 365,
390.
Sulfonal 285.
Synästhesieen 181 f.
145 f.
-— beim Weibe 143 ff.
Sexualmerkmale, Klassifikation
25
— Deutung 3L.
— primäre 24.
— sekundäre (Allgemeines da-
rüber) 23 ff.
Sexualität im Irresein 400 f.
Sexuelle Erregung im Rausch
9.
Shakers, Sekte der 367.
Sinnes- Empfindungen, Ge-
schlechtsunterschiede 142 f.
— «Physiologie, Differenzen bez.
des Geschlechts 183.
— -Täuschnng s. Halluzination.
SACHREGISTER.
555
T.
Tabakarbeiterinnen 209.
Tabakrauchen 163.
Taille 273 f.
Takt, weiblicher 392.
Tanz, Ursprung 2, 3.
— als weibliche Gymnastik 198.
— ‚wut 368 f.
Tartaren 297.
Tasmanier 2.
Tastsinn 142 ff., 146.
Tättowieren beim Weibe 150 f,
410 f.
Taubheit 164 f.
Technik, Ursprung 4009.
Telegraphistinnen,wassieleisten
201.
Temperatur, Körper- 2797.
Tempo der Bewegung 191 f.
Textil-Heimarbeiterinnen 209.
Theosophen, Sekte der 367.
Thorax 53f.
respiratorische Bewegung
bei den Geschlechtern (gra-
phische Darstellung) 267.
Traum 341.
— Srotischer bei Hysterischen
304.
Geschlechtsunterschiede der
344- .
Tonga-Insulanerinnen 412 f.
Tournüre 273.
Totgeborene, Gewicht 498.
Totgeburten 493.
— bei beiden Geschlechtern 404.
— Geschlecht der 509 f.
— männliche re
Tuberkulose, ortalität und
Morbidität 277 ff,
Typhus 515.
—, Schädel- 116 f.
Unentschlossenheit des Weibes
bei der Industriearbeit 206.
Unreinheit, rituelle, des Weibes
19.
Unterarm 55.
Unterkiefer 105 f.
Unterschieds-Schätzung 210 f.
Urinieren, Haltung der Ge-
schlechter beim — 44 f.
V.
Variabilität der Geschlechter
463 ff, — des Mannes 527
Variation, Begriff 500; mathema-
tische Behandlung der 501;
Tendenz, männliche 507.
Veddah ı13 f. e
Verbrecherinnen 34 f.
Vererbung 76. .
Versagen weiblicher Arbeits-
kraft 238.
Verstümmelung, künstliche 479.
Verzückung 336.
Viktimianer 247.
Virtuosinnen, Musik- 414:
Viszerale Affektsymptome 301I f.
Vitalkapazität 263 f.
Vorlesen, weibliches Talent 421.
Vulnerabilität 151.
AT
Wachstum 36 f., 44-
— und Morbidität 46 £
Warzenfortsatz 9I.
Wassergehalt der Gewebe bei
den Geschlechtern 191.
Weib als Herrscherin 251.
Weib, Beurteilung im Mittel-
alter 17.
— Brachycephalie des 100;
Hörigkeit des 251. .
Infantilität des 63.
kapriziöses Wesen des 317.
-— cyklischer Lebensverlauf
313 ft.
Superiorität des a3.
13.
Überlegenheit, spätere intellek-
tuelle bei Knaben 233.
Ulu 5, 13. . .
Umfang verschiedener Körper-
teile 49 f.
556
SACHREGISTER.
Weib, Unterjochung des 10 ff.
Weiberschädel 87 ff., 527.
Weibliche Religiosität 246 fl.‘
Mathematiker 239, 245 ff.
Künstler 417.
Literaten 419.
Metaphysiker 421.
Religionsstifter 247 f.
— Athleten 198.
Wellenbewegung des weiblichen
Lebens 318, 529 f.
menstruale, Kurve der 320.
Weinen 390.
Weisheitszähne 107 f.
Wetterveränderung, Reaktion
der Geschlechter auf 353.
Wetterempfindlichkeit 351.
Wilhelmianer 247.
Wirbel, Zahl der 79 f,
Wirbelsäule 77.
— Entwicklung der 80.
Wirtschaftsgeschichte, Rolle des
Weibes in der 6.
Wochenbett 12.
7.
Zahlenphantasmen 181 f.
Zähne 106.
Zahnindex 108.
Zauberei 16, 337 f.
Zauberlieder 6.
Zehen, Messung 60 f.
Zeigefinger, Messung 61 f.
Zentrifugale Bewegungen 190 f,
Zerstörungstrieb weibl. Irren
397 1.
Zigarrenarbeiterinnen 207.
Zigeuner 475. |
Zornmütigkeit beim Weibe 397,
Zuchthausknall 361, 397 f.
Zungenreden 275. ;
Curt Kabitzsch (A. Stubers Verlag) in Würzburg.
Der menschliche Körper
in Sage, Brauch und Sprichwort
von Professor Karl Knortz.
+ z5 Bogen. Preis Mh. 3.20. =m.
Inhalt: Der Kopf. — Kopf und Barthaar, — Das Gesicht. — Das Auge, — Das
Ohr. — Die Nase, — Mund, Zunge, Zähne. — Arm, Hand und Fuss, — Rücken, Bauch
and Fuss. — Dıe Knochen. — Das Blut und Aussatz.
Die dankbare Aufgabe, die Beziehungen der Sage und des Sprichworts zum
menschichen Körper darzustellen, ist hier aufs glücklichste gelöst. Das Buch ist
furchalus nicht mit wissenschaftlichem Ballast vollgepropft, es liest sich fast wie eine
desselnde Plauderet. General-Anzeiger, Nürnberg.
u. DAS WEIB =22
in anthropologischer Betrachtung
von Dr. Oskar Sehultze, Professor der Anatomie
an der Universität Würzburg.
Mit 11 Abbildungen. m Preis Mk. 2,20.
Angesichts des. stetig wachsenden Wettbewerbs der Geschlechter ist es von höchstem
[nteresse, einmal über die Leistungen des einen wie des andern Geschlechts ein objektiv
abwägendes Urteil eines berufenen Vertreters der Wissenschaft zu hören. In der Körper-
Ausrüstung, welche die Natur dem Weibe wie dem Manne in verschiedener Gestalt
verliehen hat, und über deren Geltung niemals hinweggeschritten werden kann, ist die
einzig richtige Grundlage für die Würdigung und Bewertung der Geschlechter gegeben.
Vorträge, die der Verfasser über das gleiche Thema gehalten hat, fanden stürmischen
Beifall, er wird auch für dieses mit tadellosen Illustrationen vornehm ausge-
stattete. populär geschriebene Werkchen nicht ausbleiben.
Mann und Weib.
Zwei grundlegende Naturprinzipien.
Eine sexualphilosophische Untersuchung von Dr. L. v. Szöllösy.
Preis broschiert Mk. 2.—.
INHALT:
1. Der Mensch und die Natur, ' 4, Der Mann und die Frau, Analyse
der Elternliebe.
2. Differenzierung des qualitativen und
Juantitativen Evolutionsprinzips.
3. Qualitative und quantitative Ent-
Wickelung in Korrelation mit Männ-
lichkeit und Weiblichkeit.
Anhang:
Sexualität und ästhetisches Gefühl,
Das qualitative Prinzip für die Art,
Rätsel des Ewigweiblichen.,
6. Die Frauenfrage. .
K
Verfasser betrachtet den Mann als den Träger des nach Vervollkommnung streben-
len Naturprinzips, das Weib dagegen stellt das nach Vermehrung strebende dar, Die
Frauenbewegung hält er für eine Reaktion gegen das soziale Elend, sie bekämpft die
Übervölkerung und zwingt zugleich den Mann, sich zu vervollkommnen, indem er gegen
lie weiblichen Konkurrenten ankämpfen muss.
„Zeitschrift für Medizinalbeamte‘
Curt Kabitzsch (A. Stubers Verlag) in Würzburg,
Deroleichende Psychologie der Geschlechter,
Experimentelle Untersuchungen der normalen Geistesfähigkeit bei
Mann und Weib
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anstalt Friedrichsberg in Hamburg. 8222
—' Preis Mk. 2.50. ©
Verfasser will mit diesem Buch Aufklärung über die Geistes-
krankheit schaffen, deren Wesen Berufs- u, Laienrichtern
oft recht unklar ist, trotzdem sie in der Rechtspflege heute
eine bedeutende Rolle spielen. Auch sonst kann vielem Un-
heil durch rechtzeitiges Erkennen vorgebeugt werden, deshalb
sollten insbesondere im Lehrfach tätige Personen über
die Symptome des Schwachsinns ausreichend unterrichtet seın,
und auch die Eltern wenigstens in den gebildeten‘ Ständen
sollten sich im Interesse einer guten Erziehung ihrer Kinder
mit den Grundbeeriffen der Psychiatrie vertraut machen.
Das „Korrespondenzblatt der Ärztl. Vereine Sachsens‘ schreibt über das Buch:
‚„„Eın prächtiges Büchlein, dem man nicht nur in den Kreisen der Laien, sondern
> auch in denen der Ärzte Verbreitung wünschen möchte. Unter Anführung
zahlreicher, meist recht gut gewählter Beispiele werden in leicht verständlicher
Weise die Hauptformen der geistigen Störungen, namentlich die in forensischer
Beziehung so wichtigen Schwachsinnsformen (‚‚Der kleine Unverstand‘‘) be-
sprochen etc. etc.‘
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‚ausgezeichnetes Buch geschaffen. Ärzte und Studierende können viel daraus lernen.
„Wärtt. ärztl. Korrespondenzblatt‘“: Tatsächlich gab es bisher eine unübersehbare
Menge von zerstreuten Abhandlungen, aber kein Werk, das dem Praktiker die Therapie
__ allein in gedrängter Kürze, aber mit den Grundlagen ihrer Ausübung darstellt.
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Der Tripper. Die Syphilis.
Laienverständlich dargestellt Laienverständlich dargestellt
von Dr. Orlowski, von Dr. Orlowski,
5Spezialarzt in Berlin, Spezialarzt in Berlin.
7m Preis brosch. 90 Pfg. ss ms Preis brosch. 90 Pfg, wa
.... wert, eine seiner Güte ent- Das Büchlein wird zu einer Quelle
sprechende Verbreitung zu erfahren, vor der Belehrung und Beruhigung für den von
allen Dingen durch Empfehlung der Ärzte mannigfachen Sorgen gequälten Patienten
Innerhalb ihıer Klientel. and kann zur Entlastung seines Arztes
. Therap. Monatshefte“. beitragen. „„Therap. Monatshefte‘“,
Di t % Laienverständlich dargestellt
18 eSC e6 SSC Wal 8. von Dr.Orlowski, Spezialarzt
_= in Berlin. Preis brosch, 90 Pfg.
Der Zweck, Aufklärung über das Erreichbare in Laienkreisen zu schaffen und vor
Yfuscherischer Behandlung zu warnen, wird wohl erreicht. ‚Medizinische Klinik“,
Di e | te d M es Für Ärzte dargestellt
mMmDO NZ es ann = von Dr. Orlowski,
Spezialarzt in Berlin. Preis Mk. 1.80. ;
‚ ..2,Dem klinischen Studium dieser ernst zu nehmenden Angelegenheit stehen unüber-
Windliche Schwierigkeiten entgegen, der Arzt ist daher darauf angewiesen, seine einschlägigen
Kenntuisse. aus Büchern zu erlangen. Das vorstehende Werkchen enthält in dieser Be-
Ziehung eine Fülle von Winken usw.“ © „Prager med. Wochenschrift‘.
Ist der Inhalt der anregend geschriebenen Betrachtungen mehr für den Urologen
VOm Fach berechnet, so wird dessen ungeachtet auch der Praktiker, ebenso der Nerven-
arzt die Darstellung nicht ohne Gewinn aus der Hand legen.
‚Korresp.-Blatt der ärztl. Vereine Sachsens“
Curt Kabitzsch (A. Stubers Verlag) in Würzburg.
z zn 3 Für Ärzte und gebildete: Laien von
Die Schönheitspfle ©, Dr. Orlowski, Spezialarzt in Berlin,
2. erweiterte Auflage. — Mit 25 Illustrationen. Preis brosch. Mk, 2.50.
Das Büchlein, welches Damen ganz besonders. interessieren wird, enthält eine Fülle
wertvoller Ratschläge und Anweisungen zur Behandlung vieler kleiner Beschwerden,
. .. „Zentralblatt für innere Medizin“,
Kann für Laien wie Arzte”gleich sehr empfohlen werden,
besonders auch für den letzteren, da es den Gesamtniederschlag der ganzen modernen
Gesundheitspflege und aller dermotherapeutischen Behandlungsmethoden bringt,
„Therap. Monatshefte,“
© nn 1 Von Dr. 8. Jessner in Königs-
Kosmeti sche _Hautleiden, berg i. Pr. Zweite Auflage. Elegant
gebd. M. 2.50.
Aus dem Inhalt: Muttermal. — Mitesser, — Krankhafte Gesichtsröte. — Schweiss-
fuss, — Sommersprossen. — Hühneraugen. — Warzen. — Haarfärbemittel. — Über-
mässige Behaarung. — Haarschwund u. v. a.
Das leichtverständliche Büchlein ist vielleicht das Kürzeste und Beste, was über
kosmetische Hautleiden erschienen ist, „„Bayr. Ärztl. Korrespondenzblatt““,
Vademecum der weiblichen Gesundheits-
pfile e Ausgewählte Kapitel in Einzel-Darstellungen von Sanitätsrat Dr, L,
ege. Fürst. in Berlin, 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Ge-
schmackvoll kartoniert M. 1.90.
ES Neben Winken und Ratschlägen, was die Frau zu tun hat, um gesund
zu Bleiben, weist Fürst darauf hin, was ste vermeiden muss und wann ste ärzt.
Lichen Beistand einholen soll. Wir können das Buch bestens empfehlen.
„Allg, Wiener med. Zeitung“,
Ärztliche Belehrungen für Nervenkranke und Nerven-
Gesunde Nerv en, schwache von Dr. med. Otto Dornbiüth,
Nervenarzt in Wiesbaden. Vierte vermehrte und verbesserte Auflage. Preis brosch.
M. 2., gebd. M. 2.50.
„Zeitschrift für Psychiatrie‘: Dornblüth erteilt in gemeinverständlicher Sprache Be-
lehrung darüber, wie durch vernünftige Lebensweise gesunde Nerven zu
gewinnen sind.
Diätvorschriiten für Gesunde und Kranke
von Dr. J. Borntraeger, Regierungs- und Medizinalrat.
1e der _ Ar t Fünfte verbesserte und erweiterte Auflage. Perforierter
Block in Brieftaschenformat. Preis M. 2.50. .
Für den vielbeschäftigten Arzt, dem die Abgabe einer gedruckten Anweisung auns-
führliche Auseinandersetzungen erspart. Wir können dieses sehr bequeme Hilfsmittel
angelegen:lichst empfehlen. „..Ärztl. Korresp-Bl Niedersachsens“,
ia 7 von Dr. Otto Dornblüth. Zweite,
Diätetisches Kochbuch %o: Dr. 0tt0 Dorak lb nie
Auflage. Preis gebunden M, 5,40, LO
Die Sprache des Kindes u. ihre Störungen.
Von Dr. Paul Maas, Spezialarzt für Nasen-, Halsleiden und Sprachstörungen.
Mit 16 Abbildungen. Preis brosch. Mk. ®.8 0. geb. Mk, 3.50.
Eine Schrift, die sich. an Laien wendet und deren Interesse für die Sprache der
Kinder und ihre Störungen zu erwecken sucht. Im übrigen werden auch Arzte daraus
manches Neue und Wissenswerte erfahren. Sie sei daher allerseits
bestens empfohlen. . ‚„Mediz: Blätter‘,
Die Ursachen und die Verhütung der hohen
Säuglingssterblichkeit und die Ernährung
W501; 5 Von Dr. med, Kurt
und Pflege der Säuglinge. Yester, Kinderarzt in
Königsberg i. Pr. 5 Bogen. Broschiert Mkı., 1.50,
Na In erster Linie für Medizinalbehörden, Amtsärzte, Sozialpolitiker, Frauen-
vereine und gebildete Laien bestimmt, vermittelt die Schrift aber auch dem vielbe-
schäftigten praktischen Arzt die neuesten Forschungsergebnisse.
„So manches kann auch der Erfahrene lernen, woran er bisher nicht gedacht hat“
„„Arztl. Centralzeitung‘‘, Wien.
Curt Kabitzsch (A. Stuber’s Verlag) in Würzburg.
“ Dr. Je--ner’s / en
Dermatologische Vorträge
— für Praktiker. ——
Heft 1. Des Flnnre ch WENGS Ursachen und Behandlung, 5. verbesserte Auf-
age, Mk. —.80. . _
Heft 2. Die Acne (A. vulgaris, A. rosacea etc.) und ihre Behandlung.
. „3. Auflage. Mk. —.70,
Heft 3/4. Juckende Hautleiden. Allgemeine und spez. Pathologie und Therapie des
Hautjuckens. Pruritus simplex, Urticaria. Prurigo Hebrae. Scabies,
., Pediculosis etc. 3. Auflage. Mk. 2.—. .
Heft 5. Die innere Behandlung von Hautleiden. 2. Auflage, Mk. —.75,:
Heft 6. Die Kosmeliche Ha therapeutische Bedeutung der Seife. 2. Auf
lage, ‘Mk. —.90, i
Heft 7. Die ambulante Behandlung chronischer Unterschenkelgeschwüre.
‘3. Auflage. Mk. —.90. ."- ;
Heft 8. Dermatolozische Heilmittel. 2. Auflage. Mk. 1,50,
Heft 9. Die Hautleiden kleiner Kinder. 2. Auflage. Mk. -—.90,
Heft 10. Bartflechten und Flechten im Bart. 2. Auflage. Mkı —.70.
Heft 11/12. Diagnose und Therapie der Syphilide. Mk. 2.50. ;
Heft 13. Die Schuppenflechte (Psoriasis vulgaris.) 2. Auflage. Mk. —.70.
Heft 14 u. 16. Diagnose und Therapie des Ekzems. 2. Auflage. Mk. 2.50.
Heft 15. Salben und Pasten mit besonderer Berücksichtigung des Mitin, Mk, -—.60.
Heft 17. Kosmetische Hautleiden (Hautverfärbungen, Warzen, Hyperidrosis etci).
2. Auflage. Mk. 2.—, geb. Mk. 2.50.
Heft 18. Kokkogene Hautleiden (Furunkel, Erysipel etc.) Mk. 1,80,
Heft 19/20, Diagnose und Therapie der Gonorrhoe beim Manne. Mk. 3.—.
Heft 21. Hauttuberkulose (Lupus vulgaris) einschliesslich Tuberkulide und
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