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„Unser Wohlehrwürdige Herr Vater.“
En Hærr æes sénjes Amtes Rniöcht.
Ein Herr (Beamter) ist seines Amtes Knecht.
Sächsischer Volksspruch.
So nennt der sächsische Bauer auch heute noch seinen Pfarrer
und „Tugendsame Frau Mutter“ seine Pfarrerin. — Wie viel Ehre
und Würde, wie viel Rang und Herrscherrecht, wie viel Pietät und
Auctorität steckt in jener uralten Bezeichnung! Der stolzeste „Hoch⸗
geborne“ und die herablassendste „Gnädige“ müssten den Pfarrer und
die Pfarrerin um diese Titel beneiden.
Und sie sind zu beneiden, wo es ihnen gelingt, jene hauspriester—
liche Würde in der Gemeinde mit Ehren zu bekleiden, die beiden in
jener ehrenvollen Anrede eingeräumt und zugestanden ist.
Es gibt aber, gottlob, noch zahlreiche Gemeinden im alten Sachsen—
land, wo das noch möglich ist, wo das Pfarrhaus als Vaterhaus, die
Gemeinde als erweiterte Familie angesehen und behandelt wird, wo
auf dem Boden dankbar und willig anerkannter Liebe und Zucht jene
Auctorität noch erwächst, ohne die keine Gemeinschaft, keine wahrhaft
fördernde Lebensmacht gedeiht. Gewiss, das ist noch möglich in der
sächfischen Bauerngemeinde. In unseren Städten und Halbstädten ist's
auch in dieser Beziehung anders geworden. Der „Hochehrwürdige Herr“
oder der „Pfarrer,“ dem die Bezeichnung „Vater“ in der Ansprache
versagt wird, findet hier eine veränderte, schwerere, weniger dankbare
Aufgabe.