Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
Ulli)
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
von
Prof. vi-. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Sechster Band.
• n; 77
Berlin,
Ferd. Dümmler's Verlagsbuchhandlllng.
Harrwitz und Goßmann.
1869.
LA WM
Jnhattsverzeichniß.
Seite
Erstes Heft.
Zur Moralstatistik. Der Einfluß der Wohnung auf
das Betragen von vi-. Etienne Laspeyres.......1—112
Einleitung: §.1. Die Wohnungsreform von ihrer ethischen
und wirthschaftlichen Seite 1—3.
I. Das statistische verarlieitungsmaterial: §. 2. Untersuchung
der Handelskammer von Paris im Jahre 1849, 3. §. 3. im
Jahre 1860, 7.
II. Die aus dem statistischen Material gewonnenen Resultate:
§. 4. Einfluß der Güte und der Schlechtigkeit der Wohnung 10.
§. 5. Das Wohnen in eigenen Möbeln oder in Chambregarnie
oder beim Meister 15. §. 6. Die Gewerbe 26. §. 7. Gewerbe
und Wohnungsarten 29. §. 8. Jndirecte Ermittelung des Be-
tragens 32. §. 9. Zutreffen der gefundenen Procentsätze für die
einzelnen Gewerbe 41. §. 10. Vergleichung der Jahre 1860
und 1847, 45.
III. Die Gründe für den Cinstus; der Wohnung aus das
Betragen: §. 11. Abweisung des Zufalls 49.
1) §. 12. Gründe für den guten Einfluß des Wohnens in
eigenen Möbeln 52. 2) Gründe für den schlimmen Einfluß des
WohnenS in Chambregarnie 58.
A. Auf beide Geschlechter: §. 13. Das Beisammenwohnen
vieler Chambregarnisten in demselben Stadttheil 59, im Verhält-
uiß zum Flächenraum 62, zur gesammteu Einwohnerzahl eines
Stadttheils 68, zur Bevölkerungsdichtigkeit 69. §. 14. Das Zu-
sammenwohnen vieler Chambregarnisten in einem Hanse 71.
B. Auf die Frauen: §. 15. Der Einfluß ist schlimmer auf
die Frauen als auf die Männer 74.
3) Gründe für den guten Einfluß des Wohnens beim Meister
8. 16. 81.
IV. Einstus; des Betragens aus die Wahl der Wohnung
8. 17. 86.
V. Anmerkungen: Ueber eine genaue Darstellung von Durch-
schuittszahlen 91. Die historisch-physiologische Methode steht der
statistischen nach 95. Beweis, daß die in eigenen Möbeln woh-
IV
nenden Pariser Arbeiterinnen zu einem großen Theile ledig sind
102. Einfluß der Einnahmequellen des Arbeiters auf das Be-
tragen und des Betragens auf die Einnahmequellen 104. Ein-
kommen aus Arbeit 105, aus Almosen 106, aus Prostitution
107, aus unbekannten Quellen 108, aus Credit 108.
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele,
psychologisch entwickelt von Hermann Cohen, Dr. phil.
I. s. Band V. S. 396—434.
II. Apperception der Menschenzeugung als Feuer-
bereitung und die Vorstellung Seele........113—131
Die Zeugung eine Feuerbereitung, der Feuergott Menschen-
schöpfe?, der Mensch blitzgeboren, bei Indern, Griechen, Ger-
manen und Semiten 113. Der Mensch als Feuergeburt stammt
vom Holze oder Baume 115. Die Seele ein Fenerathem, daö
Leben ein Licht 117. Die Seele ein Vogel 121. Die Seele
Baum und Blume 122. Die Seelen in Wnotans Heer 123. 125.
Der Stab des Hermes Psychopompos, Ueberfahrt der Seelen, Ver«
brennen der Leichname 124. Der Unsterblichkeitstrank 126, Schluß 131.
Das russische Volksepos von W. Bistrom.....132—162
Zweiter Artikel. (Erster Artikel s. Band V. S. 180.)
Der Hanpt-Held Jl'ja Mnrometz ans dem Bauernstande 132.
Seine Abfahrt und Abenteuer ans dem Wege 133. Ankunft in
Kiew 136. Kampf mit seinem Sohne 137, mit den Tataren
und Ungeheuern 138. Seine Begegnung mit Swjatogor, sein
Tod 140.
Der Held Dobrinja 142. Al'oscha und andere Helden in Kiew
144. Die Helden von Nowgorod 150. Noch ältere Helden 152.
Schluß: Die russische Epik bewegt sich in isolirender Form
154. In wie fern Ztige der Einheit in ihr nachweisbar 155.
Anzeige von Adolf Tobler Pr. Dr.........163—172
Otto Höld er, Grammatik der französischen Sprache, und
Bernhard Schmitz, französische Grammatik. 2. Aufl.
Unsicherheit in den Grenzen wie in der Betrachtungsweise
der Grammatik 163. Vergleichende Charakteristik der beiden an-
gezeigten Grammatiken 164. (Die Lautlehre 165. Formenlehre
166.) Die Stellung des Adjectivs 167. Noch Einiges aus der
Syntax 171.
Zweites Heft.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des
Bewußtseins von Hermann Cohen, Dr. phil.......171—263
Was der richtigen Erfassung der Aufgabe im Wege
stand? 173. Die mythische Ansicht von der Poesie 175. Das
V
Gedächtniß: Simonides und Plato 176. Wie unsere Aesthetik
die mythische Ansicht umgestaltet hat 177. Die Phantasie (nach
Bischer und nach Drobisch) 179. Buckle über Wesen und Ur-
sprnng der Dichtung 183. Bacon's Ansicht 191. Plato 194.
Ergänzung seiner Ansicht 195. (Ein Gedicht Heinrich Heine's und
eine Aeußerung Wilhelm's von Humboldt über Dichtung) Bischer;
Schelling 197. — Die Fragestellung 198. (Dichtung und
Hallucination 203.)
Stoff der Dichtung 206. Er ist dem Mythos entlehnt
(z. B. Hamlet) 207. Die Phantasie in Mythos und Sprache
208. wird zurückgewiesen 211. Ursprung der Poesie 215.
(Das Drama aus dem religiösen Cultus 217.) Der Fortbestand
der Poesie 219. Gefühl und Vorstellung 220. Das inhaltige
und das formale Element der Vorstellung 225. Das letztere ist
dem Mythos nnd der Poesie gemeinsam 226. Die Plastik und
das Erhabene 229. Die Dichtkunst 230.
Wie kann der bildende Künstler eine Göttergestalt bilden?
231. Wie kann der Dichter dichten? 232. Wie fügt sich ihm die
Sprache? 233. Hat er noch Mythen bildende Kraft? 237.
Rhythmus, Metrum und Harmonie 241. Die Sprache der
Mathematik und Philosophie 242. Die Phantasie Newton's
und Shakespeare's 243. Wissenschaftliche Dichtung 244. Kunst
der Darstellung 245. Ob die Poesie in der Menschheit ersterben
wird? 247. Der Dichter und der objective Geist 248. (Ber-
dichtung uud Vertretung der Vorstellungen 251.) Z. B. Göthe
253. Die griechische Poesie 255. Nachahmung 256. Genialität
257. Einfluß der alten Prototypen 261. Schluß 263.
Anzeigen von Steinthal . -...........264—280
1) Ludwig Tobler, Ueber die Wortzusammensetzung.
Einleitung 264. Unterschied zwischen Znsammensetzung und
Ableitung 266. Die Dvandva-Composita 270. Höhere und nie-
dere Eompositionssormen 274. Der Accent der Composita 275.
Psychologische Betrachtung des Brs.s 276. Deren Mangel 278.
Drei Arten der Composita 279.
2) Michel Breal, Les idees latentes du langage . . .281—284
Einiges über den heutigen Zustand der Psychologie 281.
Wie viel im Worte nicht ausgedrückt ist 283.
Drittes und viertes Heft.
Poesie und Prosa von H. Steinthal....... 285—352
Einleitung 285.
I. Dan Kunst und Schönheit überhaupt 286—301:
Körperliche und geistige Gefühle 286. Kunst und Schönheit
Vi
289. Drei Grundtriebe des menschlichen Wesens zu künstlerischer
Darstellung 290. Reiner Schein 295. Die besondern Künste
297. Inwiefern die Wirklichkeit schön ist 298. Werth der Kunst
299 (vergl. 349).
II. Mythos und Poesie 301—314.
Wesen der Phantasie 301 (vgl. 297—323). Das psycholo-
gische Problem der Dichtung 304. Ihr Ursprung aus dem My-
thos und der Grund ihres Fortbestandes 305. Gegensatz der
Poesie zum Mythos 310.
III. Die Facto reu der Poesie 314-317.
Material, Gegenstand, Stimmung oder Idee, Forin der
Kunst und Poesie 314. Wichtigkeit des Materials und des Ge-
geustandes 315.
IV. Poesie und Prosa nach ihren Zwecken und Stoffen 318—323
Prosa nicht Roth- und Verkehrs-Sprache 318. Beredsam-
keit und Darstellung der Wissenschaft 319. Prosa ist bloß an-
hängende Kunst (Praxis, Knnst und Wissenschaft unterschieden) 320.
V. Poesie und Prosa in ihren psychologischen Formen und
Processen 323—339.
Die Producte •. Anschauung, Idee, Begriff und dagegen Bild,
Ideal; Verstand, Phantasie 323. Die Processe- Verschiedenheit
des Sehens 325. Vier verschiedene Weisen, die Natur poetisch
zu appercipiren 328. Das geistige Leben als Gegenstand der
Poesie 329. Poesie und Geschichtswissenschaft 332.
VI. Dichtung in Prosa.
Romane und Novellen eine wesentliche Form der Poesie 340—343
VII. Anhängende Schönheit der Nedewerke 343—348.
Inwiefern sich auch in der Wissenschaft Elemente der Schön-
heit geltend machen können 343. Inwiefern Darstellung der
Wissenschaft wesentlich 344. Was anhängende Schönheit über-
Haupt und besonders in der wissenschaftlichen Darstellung ist 345.
Die Bewegung der Begriffe eine Quelle von Gefühlen 346.
Warum die rhetorische Prosa niedriger steht als die Wissenschaft-
«che 348.
VIII. Schönheit in der Uatnr und im Leben.
Die Wirklichkeit ans dem Gesichtspunkte des Schönen be-
trachtet 348-352. Schluß 352.
Zur Theorie der Geberdensprache von vr. Kleinpaul . 353—375
I. Entwicklungsfähigkeit und Umfang der Geberdensprache
353. II. Zeichen zur Erweckung der Aufmerksamkeit 357. III. Ge-
berdensprache verschieden von bloßer Bewegung und Handlung 359.
IV. Bewegungen und Haltung des Kopfes; Verbeugung; Abnehmen
und Tragen des Hutes; sonstige Formen von Bewegung und Haltung
VII
des Körpers 362. V. Die Hand, Umarmung und Kuß, Streicheln
u. A. 367. VI. Absichtliche Verwendung der Reflexbewegungen 369.
VII. Zeichen der Verachtung 370. VIII. Der Zeigefinger; Zeichen
des Kutschers 372. IX. Rübchen schaben 373.
Ideen zu einer vergleichenden Syntax. Wort- und Satz-
stellung. Von Georg von der Gabelentz........ 376—384
§. 1—3. Vorbemerkung und Einleitung 376. §. 4. Ein-
fachste Form der Mittheilung 378. §. 5. Subject und Prädicat
in psychologischer und grammatischer Rücksicht 378. §. 6. Stel-
lung beider das. §. 7. Wort und Satz das. §. 8. Die Be
staudtheile des Satzes haben psychologisch nicht immer den Werth,
welchen sie grammatisch haben: Stellung der Adverbien 380.
§• 9. Das Prädicat vor dem Subject 381. (Die Personal-
enduug 382.) §. 10. Nebenprädicate (Attribute) 382. §. 11.
Das Object 383. §. 12. Es kauu psychologisches Subject
sein 384.
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch von
L. Tobler..................385—428
Eingang: Bestimmung der vorliegenden Erscheinung 385 bis
389. (Der Sprachgebrauch klassischer Schriftsteller abhängig von
objektiven Verhältnissen 387.)
In ästhetischer Rücksicht Pferd und seine Synonyme 389.
Thräne uud Zähre 390. Athem und Odem; Kopf und Syno-
nyme 391. Andre Theile des Leibes 392. Jnngfrau 392. Frau
und Weib 393. Heirath 394.
Edel und gemein 395.
In ethischer Rücksicht 406. Mähre, frech, engl. weeds, saufen
408, stinken, Wampe, elend, böse, engl, wretch, altd. Recke, frz.
chetif, frivol, eitel, Sucht, feig 409, fluchen, arg, engl, wanton,
harlot, lecher, vogue, Laster uud lästern, Knecht, Magd, Bube
410. Kerl, Bauer, Volk u. a. 411, trügen 416. — fromm u. a.
417, it. vezzo von lat. vitium lt. a. 418. Muth u. a. 419.
Erklärung dieser Erscheinung: gegen den Pessimismus 420.
Erklärung aus dem Wesen der Sprache 423. Verhalten der
Fremdwörter 424. Euphemismus 425. Allgemeines Schicksal
des Wortes das. — Die Ableitungssilben 427. Flexions-
formen 428.
Beurtheilungen.
B. Vico. Studii critici e comparativi di Carlo Can-
toni. 1767. Besprochen von Dr. Gustav Eberty.....429—464
§. 1. Göthe. und Gaus über Bieo 429. §. 2. Cantoni
430. §. Z. Mco's Leben 431. §. 4. Seine philosophische Be-
deutuug 434. §. 5. Seine Methode nnd Maximen das. Z. 6.
trt:rrv ~
VIII
Seine Rechtsphilosophie 436. §. 7. Seine historisch-philologischen
Untersuchungen, besonders in Bezug ans Jurisprudenz 442.
Metaphysisches 444. Vico's Geschichtsphilosophie 446. §. 8.
Die Methode und der psychologische Kanon der Geschichtsphilosophie
Vico'L 448. §. 9. Seine Principien der Civilisatiou 449.
§. 10. Seine Principien der Sprachwissenschaft 453. §. 11.
Ursprung der Poesie und Mythologie (Urgeschichte Roms) 454.
§. 12. Pico über Homer 456. §. 13. Kritik der inneren rö-
mischen Geschichte 457. ß. 14. Rückschritte und Fortschritte in
der Geschichte 460. §. 15. Cantoni's Urtheil über Vico 461.
§. 16. Urtheil über Cantoni's Werk 462.
L. Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen
Sprache nnd Vernunft. Erster Band. Besprochen von H. Stein-
thal.................... 465-481
Verhältnis; des ersteil Bandes zum ganzen Werkes 465.
Des Vrf.s Befähigung zu seiner Aufgabe 466.
Bestimmung der Aufgabe: Die Vernunft ist geworden 467.
Ihre Verbindung mit der Sprache 468. Wesen der Sprache 469.
Ursprung der Begriffe und der Sprache 470. Mangel an Psy-
chologie 472. Laut und Begriff 473. Ursprung der Sprache
475. Entwicklung derselben 476. Alldeutigkeit der Laute und
Wirksamkeit des Zufalls 478. Vom Zufall überhaupt 479. Worin
die Sprachen mit einander übereinstimmen und worin sie ab-
weichen 480. Schluß 481.
Westphal, philofophifch-historische Grammatik der deutschen
Sprache, besprochen von L. Tobler..........482—488
Westphal und Scherer 483. Die Entstehung der Flexion
483. Das Pronomen der 1. Person 486. Die Personal-En-
düngen des Verbum 487. Einzelnes 488.
Dr. Georgius Autenrieth. Terminus in quem. Syn-
taxis comparativae particula, besprochen von Dr. Holzmann . .488-492
Methode des Vrf.s 488. Grundbedeutung des Casus 489.
Uebersicht 490.
Zur Moralstatistik.
Der Einfluß der Wohnung auf das Betragen.
Von
Dr. Etienne Laspeyres.
§• 1.
Einleitung.
Unter den vielfachen Bemühungen unserer Zeit, die Lage der
unteren Volksklassen zu verbessern, steht bei denen, welche nicht
Hirngespinnsten nachjagen und nicht politische Zwecke verfolgen,
mit Recht in einer der ersten Reihen die Agitation für Woh-
nungsreform. Sie ist auch obenan zu stellen, weil hier
schon mehr als in anderen Versuchen die unteren Volksklassen
zu heben der richtige Gedanke durchgedrungen ist, daß das Haupt-
übel, an dem die unteren, nur nicht die alleruntersten Schichten
der Bevölkerung kranken, nicht der mangelnde Erwerb, sondern
der verkehrte Consum ist.
Seueka sagt: Si quem volueris esse divitem, non est,
quod augeas divitias, sed minuas cupiditates. Wir halten
weder den von Seneka bekämpften, noch den von ihm auf-
gestellten Satz für unbedingt richtig, das Wichtigste ist weder
Vermehrung der Reichthümer, noch Verringerung der Bedürf-
nisse, sondern Steigerung gewisser Bedürfnisse, nämlich der
vom sittlichen Standpunkte wünschenswertesten. Unter diesen
zu steigernden Bedürfnissen steht das Wohnnngsbedürfniß
obenan oder unter den zu weckenden Bedürfnissen das nach
guter Wohnung, denn eine angenehme Häuslichkeit ist die
Mutter aller häuslichen und öffentlichen Tugenden.
Ztitschr. für Völkerpsych. u. Sprach«. Bd. VI. \
2 „ Laspeyres
Ganz richtig erstrebt die Humanität unserer Tage nicht,
den untersten Volksklassen eine Wohnung, wie dieselben bisher
hatten, nur für einen billigeren Preis zu verschaffen, damit
wäre wenig gewonnen, sondern sie bemüht sich, ihnen Lust an
Wohnungen zu verschaffen, welche zwar theurer sind als die
bisherigen, aber in weit höherem Grade besser sind, als sie
mehr kosten. Die erzielte Ersparniß liegt darin, daß eine gute
Wohnung die Bewohner von einer Menge Ausgaben außerhalb
des Hauses zurückhält, zu denen bisher die Unbehaglichkeit des
eignen, kaum den Namen verdienenden „Daheim" trieb.
Darum kann auch die Wohnungsreform nicht da ihre
Hebel ansetzen, wo es am wichtigsten wäre, bei den allernntersten
Schichten der Bevölkerung, sondern muß auf einer etwas höheren
Stufe beginnen. Auf der untersten Stufe fühlen die Menschen
das Bedürfniß nach einer Wohnung, die über ein Obdach gegen
Kälte und Nässe hinausgeht, nicht, fast möchte man sagen Gott
sei Dank, denn wenn sie es sühlten, fehlten ihnen doch die
Mittel, dasselbe zu befriedigen, die Nahrungssorgen und Nah-
rnngsansgaben überwuchern Alles. Bei den Ständen, welche
ihre Bedürfnisse mancherlei Art schon reichlicher befriedigen
können, muß die Bemühung, das Wohnungsbedürfniß auf
Kosten der anderen Bedürfnisse zu erweitern, angreifen, die Be-
friedigung anderer dringender und wünschenswerther Bedürfnisse
wird darunter nicht lange, wenn überhaupt leiden, denn den
schädlichen Bedürfnissen des Lebens, deren Befriedigung man
in der Kneipe oder in schlimmeren Häusern sucht, wird dadurch
Abbruch gethan. Meiner innersten, auch wirtschaftlichen Ueber-
zeugung nach tritt aber diese ethische Seite der Bemühungen
für die unteren Klaffen nicht nur bei der Wohnungsreform in
den Vordergrund, sondern bei allen Bemühungen, die sich an
den Namen des großen Volksfreundes Schulze-Delitzsch
knüpfen. Hebung der Sittlichkeit steht mir bei allen Associationen,
mögen sie Rohstoffvereine, Consumvereine, Volksbanken oder
wie immer heißen, in erster Linie. Damit verglichen sind die
freilich auch nicht zu unterschätzenden wirthschaftlichen Vortheile
gering und werden immer geringer werden, je mehr die Asso-
ciation durch ihre Concurrenz die anderen Geschäfte treibt, den
Zur Moralstatistik. 3
ärmeren Klassen ebenso günstige Kaufs- und Verkaussbedin-
gungen zu stellen, als die Association ihnen gewährt. Dadurch
schafft die Association sich selbst wieder Concurrenz, um, nach-
dem sie vielleicht Jahrzehnte lang ihre guten Dienste geleistet
hat, sich selbst überflüssig zu machen. Auch diese Associationen
sind bisher vorzugsweise noch nicht für die allerunterste Klasse,
die sog. Arbeiterklasse berechnet, oder selbst wo sie es sind, wie
die Consnmvereine, werden doch die von ihnen gebotenen Vor-
theile noch mehr von den oberen Klassen des Arbeiterstandes,
sowie von dem Handwerker- und kleinen Beamtenstande benutzt.
Sittliche Hebung des Volkes steht mir, wenn es auch der
weiteste Weg zum Ziele scheint, am höchsten, der Weg ist jeden-
falls der sicherste. Sittliche Hebung erreicht man meiner Ueber-
zeugung nach jedoch selten durch bloßes Moralpredigen, sondern
durch äußere Vortheile, und ein solcher äußerer Vortheil, durch
den man einen inneren anstreben soll, ist die Beschaffung
menschenwürdiger Wohnungen.
Ist denn aber, so könnte man fragen, der Einfluß der
Wohnung auf die Sittlichkeit wirklich so sicher, als diejenigen
annehmen, welche für die Wohnungsverbesserung allerwärts so
sehr agitiren? Zur Beantwortung dieser Vorfrage der Woh-
nungsfrage will ich in Folgendem einen kleinen statistischen
Beitrag liefern.
I. Theil.
Das statistische Verarbeitungsmaterial.
§. 2.
Im Jahre 1849 wurde zu Paris in Folge der großen
Noth unter den Arbeitern von der Handelskammer eine En-
quete veranstaltet über die Chambres garnies, in welchen viele
der Pariser Arbeiter und zwar zum überwiegenden Theil die
der untersten Schichten lebten. Die Untersuchung erstreckte sich
einmal auf die Güte der Wohnungen und wurde hier nach
folgenden Gesichtspunkten unterschieden: „Man kann unter den
Leuten, welche an Arbeiter möblirte Wohnungen vermischen,
^ei Hauptklassen unterscheiden. Die erste ist die der Unter-
1*
4
Laspeyres
nehmer oder Arbeiter, welche einen Theil ihrer Wohnung in
Aftermiethe an Arbeiter desselben Gewerbes geben, und diese
Aftermiether auch zuweilen selbst beschäftigen. Die zweite
Hauptklasse ist die der Gargotiers und der Marchands de
vin. Die dritte Hauptklasse ist zusammengesetzt aus Individuen,
deren einziger oder Haupterwerb im Vermietheu von möblirten
Wohnungen besteht. Die von den Unternehmern und Arbeitern
vermietheten Wohnungen sind gewöhnlich die am besten gehaltenen,
daraus solgen die der Marchands de vin und in dritter Linie
die der Vermiether von Profession. Um die Wohnungen nach
ihrer Güte beurtheilen zu können, hat man die 2360 Woh-
nungen dieser Art in 4 Kategorien getheilt. Die erste „gute"
vereinigt die ordentlich gehaltenen Zimmer, reinlich, gesund, von
guter Luft, das uöthige Mobiliar in gutem Stand. Ihre Zahl
beträgt 922. Die zweite Kategorie „passabel" umfaßt die,
welche zu wünschen übrig lassen nach Seite der Reinlichkeit,
Gesundheit und Möblirung, aber welche nichtsdestoweniger in
Rücksicht auf Lebensstellung und Gewohnheiten ihrer Bewohner
in erträglicher Verfassung sind. Ihre Zahl beträgt 958.
Die dritte Kategorie „schlecht" enthält schlecht gelüftete, schlecht
erleuchtete, schlecht gereinigte, mit wurmstichigen Meubeln oder
Lumpen ausgestattete Wohnungen. Es sind ihrer 230. Die
vierte Kategorie endlich „sehr schlecht" ist zusammengesetzt
aus wahren Löchern, zuweilen allen Lichtes und aller Lust be-
raubt, voll Schmutz und Ungeziefer, mit keinem anderen Mo-
biliar als Fetzen und Lumpen, und mit einem pestartigen,
erstickenden Gestank, den nur eine lange Uebung ertragen lehrt.
Die Zahl dieser ist 250." *) Außerdem wurde in derselben
*) Statistique de l'industrie a Paris resultant de l'Enquete faite par
la Chambre de commerce pour les annees 1847 et 1848. Seite 980.
Tableau No. 11.
Für alle nachfolgenden statistischen Angaben, namentlich für die Ta-
bellen sei bemerkt, daß eine auf die Ziffer genaue Uebereinstimmnng der
Zahlen in den verschiedenen Tabellen nicht zu erreichen war. In den Ta-
bellen über den Einfluß des Wohnens in Chambregarnie, beim Meister und
in eigenen Meubeln nicht, da, um die Zahl der Gewerbe auf die runde
Zahl 270 für die Männer und 230 für die Frauen zu bringen, jedesmal
einige unbedeutende Industrien ausgelassen werden mußten und zwar nicht
Zur Moralstatistik.
5
Enquete erhoben, wie das Betragen der in diesen möblirten
Wohnungen sich aufhaltenden männlichen und weiblichen Be-
völkerung war. Die Gesichtspunkte für die Klassifikation des Be-
tragens sind die folgenden: „Man hat 4 Klassen gemacht. Die erste
enthält die Arbeiter, die in ihrer Aufführung regelmäßig sind, ar-
beitsam, sparsam, nüchtern und sich selten von ihrer Arbeit ab-
ziehen lassen. In der zweiten Kategorie hat man zusammen-
gefaßt die Individuen, deren Betragen, ohne besonders regel-
mäßig zu sein, doch nicht eingewurzelte lasterhafte Gewohnheiten
und sehr häufige Unordnungen zeigt, z. B. Arbeiter, welche zu-
weilen feiern, um sich zu vergnügen (aller ä la barriere), die
Frauen, welche, ohne in ihren Sitten tadellos zu sein, doch
nicht Anstoß erregen und zu arbeiten pslegen. Die dritte Ka-
tegorie umfaßt die Individuen, welche sich häufig der Faulheit,
Trunkenheit und Ausschweifung überlassen, die Frauen, welche
offen von Prostitution, Schuldenmachen und Betrügereien leben.
Die vierte Kategorie endlich umfaßt den gesnnkensten, verwor-
fensten nnd gefährlichsten Theil der Chambregarnisten, die In-
dividuen, welche von schändlichen oder unbekannten Mitteln
leben, welche offenbar sast niemals arbeiten und die größte
Zeit verbringen mit Trinken, Zanken, Raufen, mit einem Wort,
Individuen, deren Leben nichts als eine Reihe von Schlechtig-
keiten und Excessen aller Art ist."") Die Enquete enthält
jedesmal dieselben. In den Tabellen, die aus der Chambregarnieenquete des
Jahres 1847 berechnet wurden, stimmt das Endresultat nicht immer genau,
da einige dieser Tabellen berechnet und verarbeitet waren, ehe die mangelnde
Uebereiustimmung in den Hauptsummen bei verschiedener Berechnung mich
eine Reihe von Druckfehlern in dem französischen Werk finden ließ. Außer«
dem mögen noch andere, nicht so bedeutende Druckfehler existiren, welche
die Uebereinstimmung nicht zuließen. Die wichtigsten Druckfehler, die ich
finden konnte, sind:
Seite 952. 12. Arrd. Quartier St. Jacques lies 1360 statt 1260.
* « « « «de l'Observatoire - 99 - 199.
* « * « «de l'Observatoire - 212 - 312.
Seite 954. 13. Arrd. Quartier St. Jacques - 1556 - 556.
' 18 « « «de l'Observatoire - 85 « 185.
Seite 958 unten dritte Spalte lies 1317 statt 1319.
*) Am angeführten Orte S. 979 zu Tabellen 7 und 8.
6 Laspeyres
NUN in Tabellen den Antheil jeder Wohnuugs- und Betragens-
Kategorie in jedem der 12 Arrondissements, welche Paris bis
zum Jahre 1860 umfaßte, leider ist aber nicht pnblicirt, wie
jede der vier Betragenskategorien sich auf die vier Wohnungs-
arten vertheilt. Wir wissen also nicht, wie viel betrugen sich
gut, passabel, schlecht, sehr schlecht in guter Wohnung, wie
viele gut, passabel, schlecht, sehr schlecht in passabler Wohnung,
in schlechter Wohnung, in sehr schlechter Wohnung. Den Ein-
fluß der Wohnung auf das Betragen können wir nur dadurch
ermitteln, daß wir gegenüber stellen die Arrondissements mit
vielen Wohnungen einer Gattung und wenigen, und damit ver-
gleichen, wie viele Arbeiter jeder Betragensart auf jedes dieser
Arrondissements kommen. Haben z. B. die Arrondissements
mit den meisten guten Wohnungen auch die meisten sich gut
ausführenden Arbeiter und die Arrondissements mit den meisten
schlechten Wohnungen die meisten Arbeiter schlechten Betragens?
Wäre das Material in der von uns oben gewünschten Art
publicirt, dann würden die Aufschlüsse frappant sein, denn sie
sind schon interessant genug bei der so ungenauen Vergleichung,
welche das Material in seiner jetzigen Gestalt erlaubt (Tabelle I).
Das Material wird noch werthvoller dadurch, daß sür jedes
der 12 Arrondissements und mit der einzigen Ausnahme leider
gerade der Wohnungsqualität auch sür die 48 kleineren Pariser
Bezirke, die Quartiers, ermittelt ist, ob die Miether nur auf
Tage resp. Nächte mietheten oder auf länger, ob sie dem Ver-
miether die Miethe schuldig waren oder nicht, ob sie verheirathet
waren oder nicht, ob sie augenblicklich Beschäftigung hatten oder
nicht, ob sie von ihrer Arbeit, von öffentlicher Unterstützung,
von Prostitution, von Darlehen ihrer Vermiether, von Bettel
und Diebstahl lebten, und endlich welchen Gewerben dieselben
angehörten, alles Umstände, welche auf das Betragen Einfluß
üben oder ihrerseits vom Betragen beeinflußt werden, ja welche
vielfach indirect Aufschluß darüber geben, wie die Wohnung
auf das Betragen wirkt.
Zur Moralstatistik.
7
§• 3.
Für unsere Untersuchung liegt außer dem eben beschriebenen
Material noch ein anderes quantitativ zwar überreichliches vor,
das sich über fast 400,000 Menschen erstreckt, welches aber qua-
litativ noch Vieles zu wünschen übrig läßt. Wenn es nun im
Folgenden gelingt, mit diesem wenig brauchbaren Material die
interessantesten Aufschlüsse zu erhalten, wie viel schöner müssen
die Resultate dermaleinst bei brauchbarerem Material zu Tage
treten. Diese Arbeit kann, wie die meisten der jetzigen sta-
tistischen Arbeiten auf ethischem Gebiet, nur andeuten, wie sehr
die statistische Untersuchungsmethode gerade auf diejenigen Seiten
des Menschen angewendet werden kann, welche der Fassung in
Zahlen, also der quantitativen Messung am meisten zu spotten
scheinen. Sehen wir uns auch das weitere Material an, mit
dem wir zu arbeiten haben. In einer zweiten Enquete, welche
die Pariser Handelskammer im Jahre 1860 über die Pariser
Industrie anstellte, sind von den Fabrikherren, Handwerksmeistern
und sonstigen Arbeitsgebern aus industriellem Gebiet unter vielem
anderen auch darüber Angaben gemacht worden, wie viele der
von ihnen beschäftigten Arbeiter in Chambregarnie wohnen,
wie viele in eignen Menbeln, wie viele bei ihrem Arbeitgeber.
Diese drei Kategorien von Arbeitern muß ich im Folgenden,
so ungeschickt zwei der drei Namen sind, bezeichnen als Chambre-
garnisten, Eigenmeubler und Meisterwohner. In dem schönen
statistischen Werk, das 1864 über die genannte Enquete er-
schien, Statistique de l'Industrie ä Paris resultant de l'En-
quete faite par la chambre de commerce pour l'annee 1860,
sind leider nur für jedes der 274 Gewerbe, in welche die In-
dustrie für die Enquete getheilt wurde, die Resultate zusammen-
gestellt. Z. B. von den 3355 Bäckergesellen, welche von den
930 Bäckermeistern beschäftigt wurden, wohnten 1234 beim
Meister, 2056 in eignen Meubeln, 65 in fremden Meubeln.
Die detaillirten Angaben der einzelnen Meister sind nicht pn-
blicirt.
Neben diesen Angaben jedes Arbeitgebers über die Woh-
nung ihrer Arbeiter sind Angaben gemacht über das Betragen
nach den drei Kategorien „gut", „zweifelhaft", „schlecht".
Auch diese Angaben sind für jedes Gewerbe publicirt; z. 23.
unter den 3355 Bäckergesellen hatten 2909 ein gutes, 375
ein zweifelhaftes und 71 ein schlechtes Betragen. Eben solche
Angaben liegen getrennt vor für die weiblichen Arbeiter.
Dieses quantitativ so reiche Material ist für die Frage
nach dem Einfluß der Wohnung auf die Sittlichkeit aus meh-
reren Gründen mangelhaft. Wir wissen von jedem Gewerbe
nur, wie viele auf jede der angegebenen Arten wohnen und da-
neben ganz unabhängig davon, wie viele in jedem Gewerbe
sich gut, zweifelhaft oder schlecht benahmen, wir wissen aber
nicht, wie viele von den Chambregarnisten betrugen sich gut,
zweifelhaft oder schlecht, wie viele der Eigenmeubler und wie viele
der Meisterwohner. Das erschwert die Untersuchung ganz wesent-
lich, und wir können nur auf Umwegen (s. S. 32—41) für alle Ge-
werbe zusammen ermitteln, wie innerhalb jeder Wohnungsart das
Betragen procentweise sich vertheilt. Die obigen dürftigen An-
gaben sind nicht einmal tabellarisch zusammengestellt, sondern
finden sich über das ganze Werk zerstreut in den Noten zu den
274 Tabellen, ebenso sind dieselben nirgends in Procenten be-
rechnet, wie überhaupt das ganze schöne Werk fast gar keine
Procentberechnung enthält, wodurch die weitere Verarbeitung
durch den Privatstatistiker wesentlich erschwert wird. Darum
habe ich die absoluten Zahlen und die berechneten Procente in
der großen Tabelle 1 zusammengestellt für die männlichen und
weiblichen Arbeiter jedes Gewerbes. Wo die Reihe ausfällt,
sind entweder keine Männer oder keine Frauen in dem Gewerbe
beschäftigt. Diese Tabelle ist geordnet nach den 15 Haupt-
gruppen, in welche die 275 Gewerbe durch die Enquete ver-
einigt sind. (Siehe die große Tabelle IIa. b.)
Selbst wenn wir aber das Material so detaillirt hätten,
daß wir die Wohnungsart und das Betragen jedes einzelnen
Arbeiters kennten, so bliebe das Material für eine moral-
statistische Untersuchung doch noch ungenau. Einmal ist die
Güte der Wohnung gar nicht immer charakterisirt durch die
Bezeichnungen, die uns vorliegen, ein Chambregarnie kann
sehr gut, eine Wohnung, in der man seine eigenen Meubel
aufstellt, sehr schlecht sein, ebenso besagt, daß Jemand beim
Zur Moralstatistik,
9
Meister wohnt, noch gar nicht, ob die Wohnung gut oder
schlecht ist. Welche Qualität jede der drei Wohnungsarten
durchschnittlich hat, müssen wir auch indirect ermitteln. Ein
Vorzug dieser Angaben ist wenigstens, daß nicht jeder Arbeit-
geber unter den drei Wohnungsarten etwas Verschiedenes ver-
stehen konnte. Dieser Vorwurf, daß mit ungleichem Maßstabe
gemessen wurde, trifft in jedem einzelnen Fall die Angabe über
das Betragen. Die Benrtheiluug des Betragens ist eine an-
dere je nach der Snbjectivität desjenigen, der darüber sein Ur-
theil abzugeben hat. An einem Arbeiter, dessen Betragen der
eine Fabrikant lobt, findet ein anderer Vieles auszusetzen, ja
derselbe Fabrikant hätte an einem anderen Tage, an dem er
anders gestimmt war, sein Urtheil vielleicht wesentlich anders
gefällt. Die AnHaltepunkte für Bestimmung des Betragens,
welche der Fragebogen an die Hand gab, sind sehr unvoll-
kommen. Es heißt in den auszufüllenden Bulletins wörtlich
nur: On demandera s'ils sont economes ou depenseurs —
ranges ou dissipes, tranquilles ou turbulents, laborieux ou
non laborieux, combien ils travaillent de jours par semaine,
et si leurs chömages sont volontaires ou liabituels.*)
Nach welchem Maßstabe dann die Beurtheilung in die
drei Ausdrücke bon, douteux und mauvais coneentrirt ist,
stndet sich nirgends gesagt, ja ich bin mir nicht einmal darüber
klar, ob dieses Resume des Urtheils von dem Arbeitgeber oder
von der Handelskammer gemacht wurde. Aber wir stoßen noch
aus weitere Schwierigkeiten: das Betragen wird ganz anders
beurtheilt werden und benrtheilt werden müffen nach den ver-
schiedenen Gewerben. Ein Betragen, das bei einem gewissen
Handwerk als schlecht gilt, kann in einem anderen Gewerbe,
das eine gewisse Rohheit naturgemäß erzeugt, noch als leidlich
oder gar als gut gelten. Ein unregelmäßiger Arbeiter aus
Arbeitsunlust ist weniger zu tadeln bei Gewerben, in welchen
periodische oder zufällige Unterbrechungen gegen den Willen der
Arbeiter oft vorkommen, denn der Arbeiter muß dadurch liederlich
werden. Das Betragen der weiblichen Arbeiter muß ganz an-
ders benrtheilt werden als das der männlichen.
*) Statistique de l'Industrie 1860 S. XIV.
10
Laspeyres
Allein trotz allen diesen Schiefheiten in der Beurtheilung
müssen wir doch immer die moralische Stellung eines Arbeiters
nach Angabe „gut", „zweifelhaft" und „schlecht" zu beurtheilen
für leichter halten als die Güte der Wohnung nach den obigen
drei Angaben, besonders da die Benrtheilung des Betragens,
welche in einer Reihe von Fällen zu streng ist, durch die zu
milde auf der anderen Seite bei der großen Anzahl von circa
120,000 ausgefüllten Bulletins über fast eine halbe Million
Menschen aufgewogen wird.
II. Theil.
Die aus dem statistischen Material gewonnenen Resultate.
§. 4.
Hauptresultat der Tabelle Ia.*)
Betragen.
Männer. Frauen.
Stadttheile. <Ä "5 t3 Ä- <g 2 pCt. "Z| PCt. <g g w© PCt. «• ^ S-> pCt.
Die 6 Arrortdifsements mit den wenigsten guten Logis........ Die 6 Arrondissements mit den meisten guten Logis........ 35 44,5 46 50 10 2,5 20,4 21,7 19 14
Alle 12 Arrondissements...... 39 48 6,4 21 16,6
Die obigen Zahlen im Verhältniß zu ganz Paris — 100. 89 114 96 104 156 39 97 103 114 86
100 100 100 100 100
*) Die ausführlichen Tabellen finden sich alle im Anhang; in den
Text sind immer nur die Hauptresultate aufgenommen und zwar meist zu
Anfang eines Abschnittes. Nur, wenn ein solches „Hauptresultat" durch den
Seitenschluß hätte abgebrochen werden müssen, ist die kleine Tabelle auf den
Anfang der nächsten Seite hinübergenommen worden.
Zur Moralstatistik.
Die Untersuchungen an den Daten, welche die Chambre-
garnieenquete des Jahres 1849 zur Beurtheilung unserer Frage
darbietet, ergaben folgendes Resultat: Auf Tabelle Ia. sind die
12 Pariser Arrondissements in einer Reihe geordnet, von dem
XII. Arrondissement mit dem geringsten Antheil guter Chambre-
garnies, 98 oder 30 pCt. aller 325 Chambregarnies bis zu
dem VI. Arrondissement mit dem größten Antheil 117 oder
49 pCt. aller 239 Chambregarnies dieses VI. Arrondissements.
Zu dieser in der Reihe wachsenden Procentzahl ist gestellt der
Antheil der männlichen Chambregarnisten, welche in jedem Ar-
rondissement sich gut aufführen und derer, welche sich sehr schlecht
betragen; ebenso der Antheil der weiblichen Einwohner solcher
Wohnungen. Genau dieselbe Anordnung ist auf Tabelle Id.
gemacht nach der tiefsten Stufe der „sehr sch lechten" Chambre-
garnies. Endlich ist Tabelle Ic. zusammengestellt nach der pro-
centalen Menge von guten und mittelmäßigen Wohnungen,
und dazu die Männer und Frauen, welche sich gut und mittel-
mäßig aufführen. Diese letzte Tabelle zeigt durch Subtraction
von der Gesammtzahl zugleich die Zahl der schlechten und sehr
schlechten Logis mit der Zahl der schlecht und sehr schlecht sich
betragenden Männer wie Frauen.
Die Tabellen lehren uns Folgendes:
1) Zu Tabelle Ia. Je mehr in jedem Arrondissement die
guten Wohnungen mehr Procente aller ausmachen, als im Durch-
schnitt von ganz Paris, um so öfter oder wenn das nicht, in
um so höherem Grade ist auch der Procentsatz der Männer
und Frauen, die sich gut betragen, über dem Durchschnitt, je
weniger Procent die guten Wohnungen ausmachen, um so öfter
oder um so mehr ist das gute Betragen unter dem Durchschnitt.
Auch der Procentsatz derer, welche sich sehr schlecht betragen,
steht im Verhältniß zur Güte der Wohnung aber im nmge-
kehrten: Je mehr gute Wohnungen, um so seltener oder um so
weniger stark ist das sehr schlechte Betragen über dem Durch-
schnitt; je weniger gute Wohnungen, um so mehr oder um so
stärker ist das sehr schlechte Betragen über dem Durchschnitt.
2) Zu Tabelle Id.
12 Laspeyres
Hauptresultat der Tabelle Id.
Betragen.
Männer. Frauen.
«•
Stadttheile. so- tr IT
A
OS C35 «3
pCt. pCt. pCt. PCt. pCt.
Die 6 Arondissements mit den meisten
sehr schlechten Logis...... 13,6 9 45 20,2 21,3
Die 6 Arrondissements mit den wenigsten
sehr schlechten Logis...... 6 2,2 52 11,7 21
Alle 12 Arrondissements...... 11 6,4 48 16,6 21
Die obigen Zahlen im Verhältniß zu ganz 124 141 94 122 101
© © II S- 55 34 108 70 100
100 100 100 100 100
Hauptresultat der Tabelle Ic.
Betragen.
Man ner. Fra neu.
Stadttheile. s KZ- e«- IT^T e*T "5~"Z
<33 H L § §
pCt. pCt. pCt. pCt. PCt.
6 Arrondissements mit den wenigsten guten und erträglichen Logis..... 75 70 30 50 50
6 Arrondissements mit den meisten guten und erträglichen Logis..... 86 81 19 58 42
Alle 12 Arrondissements . 80 74,5 25,5 53 47
Die obigen Zahlen im Verhältniß zu 94 94 118 96 106
ganz Paris — 100. 107 109 71 109 91
100 100 100 100 100
Zur Moralstatistik. 13
Je mehr die Zahl der sehr schlechten Wohnungen über
dem Durchschnitt ist, um so öfter oder in um so höherem Grade
ist das sehr schlechte Betragen über und das gute unter dem
Durchschnitt und umgekehrt.
3) Zu Tabelle Ic.
Je mehr die guten und passabeln Wohnungen über dem
Durchschnitt von ganz Paris stehen, um so öfter oder in um
so höherem Grade stehen auch die Arbeiter, welche sich gut und
erträglich aufführen, darüber, und natürlich der Rest, d. h. die sich
schlecht und sehr schlecht betragen, darunter. Diese Erscheinung
dürfen wir nun nicht so ausdrücken, daß in demselben Verhält-
niß, in welchem die Wohnungen eines Arrondissements besser
sind, auch das Betragen besser ist, und je schlechter die Woh-
nungen, in demselben Verhältniß das Betragen schlechter, denn
wir finden eine Reihe von Fällen, in denen ein Arrondissement,
das in Güte der Wohnung über dem Durchschnitt steht, in der
Güte des Betragens dahinter zurückbleibt. Der Grund ist der:
Auf das Betragen wirken so viele Umstände ein, daß das bessernde
Moment, welches in einer guten Wohnung liegt, durch ein oder
mehrere Momente, welche schlecht darauf influiren, aufgewogen
oder sogar überwogen werden kann. Trotzdem übt die Woh-
nung, wie manches andere Moment, ihren Einstuß aus, ohne
in dem Endresultat jedes einzelnen Falles in Zahlen hervorzu-
treten; in der Mechanik sieht man ja auch im Endeffect manche
Kraft, welche nachweislich neben anderen parallelen oder ent-
gegen wirkenden Kräften mitgewirkt hat, nicht direct.
Um den Einfluß eines Momentes rein zu finden, giebt es
an sich mehrere Wege. Einmal könnte man die Fälle heraus-
suchen, in denen nachweislich nur eine Ursache thätig gewesen
ist, also hier die Fälle, in welchen nur die Beschaffenheit der
Wohnung auf das Betragen wirkte. Das ist aber bei socialen,
namentlich bei ethisch-socialen Erscheinungen nicht möglich, da
fast niemals nur eine Ursache wirkt, und ganz unmöglich wird
es in uuserm Fall bei qualitativ wie quantitativ unzureichendem
Material. Ein anderer Weg ist der, so viele Fälle complexer
Wirkung zusammenzunehmen, daß nach der Größe nur der einen
Ursache geordnet, alle anderen selbstständigen Ursachen in sehr
14 Laspeyres
großen Gruppen von Fällen einander aufheben. Das können
wir hier thun. Zu dem Behuf find weiter unten auf den Ta-
bellen Ia. b. c. die Wohnungsgattungen von immer 3 Arron-
diffements zusammengenommen und dazu die Betragensgattungen
eben dieser drei Arrondifsements gestellt. Da zeigt sich schon
eine gewisse Uebereinstimmung in dem Betragen und der Wohnung.
Endlich sind wieder je 2 dieser 4 Gruppen vereinigt, also
6 Arrondissements mit den wenigsten guten Wohnungen den
6 mit den meisten gegenüber gestellt, ebenso sür die sehr schlechten
Wohnungen und endlich sür die guten und passabel« Wohnungen
zusammen. Die Aufschlüsse dieser kleinen Tabellen sind sehr
charakteristisch, sowohl was die Wirkung der guten und schlechten
Logis aus das Betragen aller Einsassen betrifft, als was die
Verschiedenheit der Wirkung bei Männern und Frauen angeht.
Gute Wohnung bewirkt unter sonst gleichen Umständen gute
Aufführung und zwar bei den Männern etwas mehr als bei
den Frauen. Ein weiterer Effect ist, daß die gute Wohnung
das sehr schlechte Betragen bedeutend verringert, aber bei den
Männern wieder mehr als bei den Frauen, und zwar in un-
gleich höherem Maße, als es die gute Ausführung bei Man-
nern vermehrt. Die Verschiedenheit der Wohnung ruft nur in
geringem Grade gutes Betragen (96 :104 bei Männern, 97 :103
bei Frauen) hervor, denn die 6 Arrondissements mit den meisten
guten Logis differiren nur wenig von den 6 Arrondissements
mit den wenigsten guten Wohnungen, 89 gegen 114. Größer
ist die Differenz der Wohnungen in Bezug aus die sehr schlechten
Wohnungen, 55:124, wenn man hier überhaupt noch von
„Wohnen" reden kann. Sehr schlechte Wohnung wirkt sehr
schlecht aus das Betragen, aber bei Männern in viel höherem
Maße (34 :141) als bei Frauen (70 :122). Betrachten wir
nun aber auch umgekehrt die indirecte oder negative Wir-
kung der Wohnung, das will sagen, wie gute Wohnung sehr
schlechtes Betragen und sehr schlechte Wohnung gutes Betragen
verhindert, so finden wir den negativen Einfluß der guten
Wohnung sehr bedeutend, bei den Männern Differenz 156 : 39,
bei den Frauen 114:86. Der negative Einfluß der sehr
schlechten Wohnung ist unbedeutend, die Männer mit gutem
Zur Moralstatistik. 15
Betragen bei viel und bei wenigen sehr schlechten Wohnungen
verhalten sich wie 94:108, bei den Frauen gar ist kein im-
peditiver Einfluß bemerkbar, das gute Betragen ist bei vielen
schlechten Wohnungen sogar um 1 pEt. über dem Durchschnitt
(101:100).
Wir nehmen endlich nicht die beiden Extreme von Woh-
nnng, gut und sehr schlecht, sondern gut und passabel gegen
schlecht und sehr schlecht. Dann haben die besseren Woh-
nungen (94:107) aus Männer fast den gleichen Effect im
guten Sinne (94:109), wie auf Frauen (96:109) und ist er
bei beiden Geschlechtern stärker ausgeprägt, ein Zeichen, daß
auch die passabeln Wohnungen, welche einen sehr großen Bruch-
theil aller Wohnungen ausmachen, noch wohlthätig auf den
Menschen wirken. Dahingegen ist der Effect der schlechten und
sehr schlechten Wohnungen nicht so bedeutend, als der Effect
nur der allerschlechtesten, ein Jndicium, daß die dritte Kategorie
der Wohnungen „schlecht" auf das Betragen wenig inflnirt,
die vierte Kategorie „sehr schlecht" aber um so mehr. Der
Effect der schlechten und sehr schlechten Wohnungen ist bei den
Männern wieder größer, 71: 118, als bei den Frauen, 91:106.
Die Gründe dieser zunächst auffallenden Ungleichheiten be-
trachten wir erst weiter unten.
Schon der Umstand, daß gute Wohnung weniger stark im
guten Sinn auf das Betragen wirkt, als schlechte Wohnung im
schlechten Sinn, führt uns auf den Gedanken, daß außer der
Güte der Wohnung noch etwas Besonderes aus das Betragen
einwirkt, oder daß schon in dem Chambregarniewohnen etwas
liegt, was die Güte der Wohnung nicht so stark auf das Be-
tragen wirken läßt, als die Mangelhaftigkeit derselben. Zur
Ermittelung dieses besonderen Etwas ziehen wir anderes Ma-
terial in Betracht, das Wohnen in eignen Menbeln und
in fremden Meubeln, das Letztere als Ehambregarnist oder
verbunden mit Leben auch in fremder Kost, beim Meister.
§. 5.
Die Industrie - Enquete des Jahres 1860 unterscheidet
15 Hauptgruppen der Industrie (Tabelle EL).
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Hauptresultat der Tabelle III.
Männer. Frauen. Männer. Frauen. Männer. Frauen.
"£ s= JO § 2 4 « § g s § g -S CO 5 <3 3 s-> ü H § ,n Ä s
Gewerbe. 2= HS | jTS? 1 iE® 2 2 g 2
B teT "S ßg 1 s |[g; S vir |i; S vir Es! « A «5 _g A
pCt. PCt. PCt. PCt. PCt. pCt. PCt. p®t.! PCt. PCt. pCt. PCt.
5 Hauptgruppen . . . 11 7 3 4 39 6 13 7 51 91 66 89
5 Hauptgruppen . . . 17 11 6 9 1 10 1 13 76 92 89 92
5 Hauptgruppen . . . 27 10 10 12 0,4 11 0,5 7 84,6 89 96 94
15 Hauptgruppen von ganz Paris..... 20 9 7 9 10 9 9 9 70 91 84 91
Verhältniß gegen den Durchschnitt von ganz Paris - --- 100
5 Hauptgruppen . . . 55 78 44 45 390 67 141 79 73 100 79 99
5 Hauptgruppen . . . 85 122 88 101 10 111 12 146 109 101 107 102
5 Hauptgruppen . . . 135 111 147 135 4 122 5 79 121 98 115 104
15 Hauptgruppen v. ganz Paris 100 100 100 100 100 100 100 100 100 O o 100 100
Zur Moralstatistik. 17
führen, bei 17 pCt. Ehambregarni'sten aber 11 pCt., ülso^je
mehr Ehambregarnisten, um so schlechter das Betragen. Zn
den dritten 5 Hauptgruppen mit noch mehr Ehambregarnisten,
nämlich 27 pCt., ist eine fernere Verschlechterung des Betra-
gens nicht zu finden, sondern eine unbedeutende Verbesserung
von 11 pCt. auf 10 pCt. Hiernach scheint das Betragen nicht
stark von dem Wohnen in Chambregarnie beeinflußt zu sein.
Stärker scheint sich der Einfluß bei den Frauen zu erweisen.
Bei 3 pCt., 6 pC., 10 pCt. weiblicher Chambregarnisten be-
trug sich schlecht und zweifelhaft 4 pCt., 9 pCt., 12 pCt., also
beide Reihen sind ziemlich gleich steigend.
Gerade umgekehrt findet sich ein Zusammenhang zwischen
dem Betragen und dem Wohnen beim Meister unter den männ-
lichen Arbeitern, nicht aber unter den weiblichen. Bei 39 pCt.,
1 pCt., 0,4 pCt. beim Meister wohnender männlicher Arbeiter
betrugen sich 6 pCt., 10 pCt., 11 pCt. schlecht und zweifel-
Haft, also mit abnehmender Zahl der Meisterwohner steigendes
schlechtes und zweifelhaftes Betragen. Bei den Frauen steigert
die abnehmende Procentzahl Meisterwohner 13 pCt., 1 pCt.,
0,5 pCt. das schlechte Betragen nicht, denn bei 13 pCt. ist es
7, bei 1 pCt. 13 und bei 0,5 pCt. wieder 7. Für die dritte,
die Hauptart der Wohnung in eigenen Meubelu, dreht sich das
Verhältniß wieder um. Ein Zusammenhang zwischen dieser
Wohnungsart und dem Betragen zeigt sich bei den Männern
nicht, denn bei 51 pC., 76 pCt., 84 pCt. Eigenmeubler sind
gute Aufführung 91 pCt., 92 pCt., 89 pCt. Bei den Frauen
hingegen steigt mit der Wohnung in eignen Meubeln 66 pCt.,
89 pCt., 96 pCt. das gute Betragen mit 89 pC., 92 pCt.,
94 pCt.
Der Einfluß dieser drei Wohnungsarten könnte hiernach
für die beiden Geschlechter ein verschiedener erscheinen, das
Wohnen in fremden Meubeln von Einfluß auf das Betragen
der Frauen, ohne Einfluß auf das der Männer, das Wohnen
in fremden Meubeln und fremder Kost von Einfluß auf das
Betragen der Männer, ohne Einfluß auf das der Frauen, end-
lich das Wohnen in eignen Meubeln von Einfluß auf das Be-
Zcitschr. für Völkervsych. u. Sprachw. Bd. VI. o
18
Laspeyres
tragen der Frauen, ohne Einfluß auf das der Männer. Allein
diese Unterschiede oder Gegensätze existiren in der Wirklichkeit
nicht, die gleiche Wohnungsart wirkt bei beiden Geschlechtern
in der Art gleich, nur ungleich in der Stärke. Einzig und
allein die Grnppirung der Industrie in die 15 Abtheilungen
macht es unmöglich, den Zusammenhang klar zu legen. In
jeder dieser 15 Abtheilungen, welche nach rein äußerlichen, weder
wirtschaftlichen noch ethischen Gründen zusammengestellt sind,
finden sich Gewerbe mit zu verschiedener Wohnungsart und
Leute mit zu viel verschiedenem durchschnittlichem Betragen zu-
sammen, so daß das zahlreiche Wohnen einer Art in dem einen
Gewerbe durch ebenso zahlreiche Wohnungen anderer Art in
den andern Gewerben ausgeglichen wird. Dieselbe Vermischung
findet statt im Betragen. Nur bei den in fremder Wohnung
und Kost befindlichen Leuten weichen die drei Hauptgruppen
überhaupt bedeutend von einander ab, weil solche Wohnungsart
fast nur bei Gruppe I. Alimentation und den Industries
non groupees vorkommt. Wir müssen die 15 Hauptindustrie-
gruppeu wieder auflösen, müssen alle 275 Gewerbe einzeln
nehmen und diese alle nach den verschiedenen Gesichtspunkten
ordnen.*)
*) Ganz ähnlich erscheint auch, worüber Roscher im I.Bande seiner
Nationalökonomie, auf die Löhne nach der Enquete von 1847 Bezug nehmend,
sich wundert, der Lohn für die verschiedenen Gewerbe nicht bedeutend ver-
schieden, wenn wir, wie Roscher thut, nur den Durchschnittslohn dieser
Hauptgruppen mit einander vergleichen. Der niedrigste der durchschnittlichen
Löhne unter den 15 Hauptklassen war (mit Weglassung der zum großen Theil
in natura ausgelöhnten Gruppen Alimentation und Industries non groupees)
im Jahre 1860 für die Männer 3,70 Frs. in der Gruppe Brosserie,
Vannerie, Boisellerie, der höchste 5,-31 Frs. in der Gruppe Instruments de
precision, de musique etc. Die Abweichung vom mittleren Lohn —
4,21 Fr. betrug also 12 pCt. nach unten und 26 pCt. nach oben; bei den
Frauen Minimum 1,61 Fr. Gruppe Peaux et Cuirs, Maximum 2,51 Fr.
Gruppe Metanx precieux, Or, argent, platine etc. Abweichung vom Mittel
— 2,02 Fr., 20 pCt. nach nnten, 25 pCt. nach oben. Ganz anders die Diffe-
reuzeu, wenn man alle 274 Gewerbe einzeln nimmt. Bei den Männern
wieder mit Auslassung der theilweise in natura bezahlten Gewerbe Minimum
2,14 Alurnettes, Maximum 5,87 Eventails (und zwar nach Auslassung der
noch höher bezahlten, aber schon in das Bereich der Kunst fallenden Graveurs
Zur Moralstatistik. 19
I. In Chamvregarnie.
1. Männer.
Hauptresultat der Tabelle IVa.
Männer.
Chambre- garnie. Zweifel- haft und schlecht Betragen.
pCt. pCt.
90 Gewerbe...... 5 3
90 Gewerbe...... 14 9
90 Gewerbe...... 28 12
270 Gewerbe...... 20 9
Verhältniß gegen alle 270 Gewerbe — 100.
90 Gewerbe...... 25 13
90 Gewerbe...... 70 100
90 Gewerbe...... 140 133
270 Gewerbe...... 100 100
Wir stellen alle 275 Gewerbe zusammen, anfangend mit
den meisten Procenten Chambregarnisten und endigend mit den
wenigsten. Bei solcher Gruppirung zeigt sich für die Männer,
daß mit dem Fallen dieser Reihe die Procente des zweifel-
haften und schlechten Betragens im Großen und Ganzen sich
mindern, allein auch bei wenigen Chambregarnisten kommt viel
und bei viel Chambregarnisten wenig schlechtes Betragen nicht
Sur bois 7,44, Graveurs de camees 6,67, Lapidaires 6,39 nnd Dessinateurs
industriels 6 Fr.). Das ist eine Abweichung vom Mittel — 4,21 Fr.,
49 pCt. nach unten, 40 pCt. nach oben Für die 231 Gewerbe mit Weib-
lichet Arbeit war das Minimum 1,02 Fr. Fabricants de peaux, das Maxi-
mum ^ (nach Weglassung der künstlerischen Gewerbe und der drei sehr
exceptionellen Preparatrices d'animaux mit 5 Fr.) 3,15 Fr. Doreurs sur bois
Abweichung vom Durchschnitt = 2,02 Fr., 50 pCt. nach unten, 56 pCt.
nach oben. Also ganz gewaltige Differenzen in den wahren Durchschnitts-
löhnen (die Summe aller täglich gezahlten Löhne dividirt durch die Zahl
der täglich ausgelöhnten Arbeiter), nicht einzelner Arbeiter, sondern aller
Arbeiter in einem Gewerbe.
2*
20 Laöpeyres
selten vor. Selbst in Linien statt in Zahlen ausgedrückt war
der Zusammenhang nur einem sehr geübten Auge sichtbar.
Wir lassen der Raumersparniß halber diese Gruppirung fort.
Viel deutlicher wird der Zusammenhang schon, wenn wir in
dieser Anordnung immer 10 Gewerbe zu einer kleinen Gruppe
zusammenfassen. Die 275 Gewerbe sind zu dem Zwecke auf
270 reducirt. Es fallen fort: 1) die Maurer, weil für diese
als zu schwankend in der Beschäftigung die Ermittelungen von
Wohnung und Betragen unterblieben; 2) die kalten Bäder
gleichfalls, weil die Angaben fehlen; 3) die Weißzeugunter-
Unternehmer, Sous-Entrepreneurs de linge, weil diese nur
durch das schönere Geschlecht vertreten sind; 4) und 5) zwei
bewerbe mit keinen Chambregarnisten, welche durch das Loos
ausgeschieden wurden. Die übrig bleibenden 270 Gewerbe
finden sich in 27 Gruppen auf Tabelle IVa.
Das Aufsteigen der Zahlen des Betragens ist bei dieser
Zusammenstellung schon viel gleichmäßiger, allein sie ist noch
immer keine constant aufsteigende, die störenden Ursachen neben
dem Einfluß der Wohnung heben in den verschiedenen Gruppen
einander noch nicht völlig auf, denn die Gruppen sind noch zu
klein. Die Ausgleichung findet erst statt, wenn man diese
Gruppen in eine noch geringere Zahl concentrirt. In Tabelle V.
ist die Zusammenstellung gemacht in Gruppen von je 30, 40,
60, 80 und endlich 90 Gewerben. Je mehr Gewerbe zusammen-
gefaßt sind, um so gleichmäßiger steigt die Zahlenreihe oder die
Linie des Betragens auf mit der Chambregarniezahl.
2) Frauen.*)
Wie gestaltet sich das Verhältniß des Betragens zur Woh-
nung bei den Frauen? Frauen beschäftigt die Pariser Industrie
nur in 231 Gewerben, und auch in diesen 231 Gewerben ar-
betten meistens neben sehr vielen Männern sehr wenig Frauen
oder es sind neben sehr wenigen Männern sehr viele Frauen
augestellt, doch ist die Zahl dieser Gewerbe nicht groß. Diese
231 Gewerbe wurden nach Auslosung eines wie oben in
23 Gruppen zu je 10 Gewerben getheilt (Tabelle IV b.). Der
*) Vergleiche auch die ausführliche Anmerkung 1 und 2 im Anhang.
Zur Moralstatistik. 21
Hauptresultat der Tabelle IVb.
Frauen.
Gewerbe. Chambre- garnie. zweifel- haftes und schlechtes Betragen.
pCt. pCt.
110 Gewerbe .... — 3
60 Gewerbe .... 4 6
60 Gewerbe .... 14 15
Alle 230 Gewerbe .... 7 9
Berhältniß gegen den Durchschnitt aller 230 Gewerbe
---- 100.
110 Gewerbe .... 0 33
60 Gewerbe .... 59 68
60 Gewerbe .... 206 169
Alle 230 Gewerbe .... 100 100
Zusammenhang zwischen den beiden beobachteten Erscheinungen
ist hier noch kein sehr leicht erkennbarer. Für eine weitere
Concentrirung der Tabelle sind die ersten 11 Gruppen, welche
gar keine Chambregarnisten aufweisen, also 110 Gewerbe zu-
sammengesaßt, die andern 12 Gruppen aber in 4 Hauptgruppen
zu je 30 Gewerben (Tabelle V.). Schon bei diesen sehr kleinen
Gruppen zeigt sich neben der constant aufsteigenden Reihe der
Chambregarnisten mit 0, 2,5, 5, 9,5, 22 pCt. die Reihe des
Betragens gleichfalls ununterbrochen steigend mit 2,?, 5,5, 6,5,
10, 26 pCt., während bei den Männern erst Gruppen von je
90 Gewerben diese Erscheinung rein zeigen. In drei Haupt-
gruppen von 110, 60 und wieder 60 Gewerben ist der Zu-
sammenhang viel enger als bei den Männern in drei Haupt-
gruppen.
II. Beim Meister.
1) Männer.
Tabelle Via. enthält wieder die 270 Gewerbe mit Männer-
mBmr
22 Laspeyres
Hauptresultat der Tabelle Via.
Männer.
Gewerbe. beim Meister. pCt. zweifel- haftes und schlechtes Betragen. PCt.
120 Gewerbe .... 80 Gewerbe .... 70 Gewerbe .... 0,7 51 14 8,6 5
Alle 270 Gewerbe .... 10 9
Verhältniß gegen alle 270 Gewerbe — 100.
120 Gewerbe .... 80 Gewerbe .... 70 Gewerbe .... 7 510 156 95 56
Alle 270 Gewerbe .... 100 100
arbeit in Gruppen von je 10. Dieselbe zeigt schon hier den
günstigen Einfluß dieser Wohnungsart, eine bedeutende Aus-
nähme macht nur die 23. Gruppe, welche bei 7 pCt. Meister-
wohnern, d. h. einer überdurchschnittlichen Zahl, 24 pCt.
zweifelhaftes und schlechtes Betragen constatirt, also ein sehr
bedeutend überdurchschnittliches. Charakteristisch ist ferner, daß
die Gewerbe, nach Gruppen von 10 geordnet, noch so gewaltige
Differenzen in der Wohnungsart zeigen: 120 Gewerbe haben
gar keine Meisterwohner, weitere 80 Gewerbe nur 0,7 pCt.
durchschnittlich, die letzten 70 Gewerbe aber 51 pCt. Solche
Unterschiede existiren bei keiner anderen Wohnungsart der
Pariser Arbeiter, das Wohnen beim Meister ist eben in Paris
wie in allen großen Städten die Ausnahme und kommt in
größerem Maße fast nur bei den Gewerben vor, welche für
den menschlichen Magen im gesunden und kranken Zustande
sorgen, sei es, daß sie über die Straße verkaufen, sei es, daß
sie bei sich verzehren lassen. Da der Magen nur ein paar
Nachtstunden nicht Nachfrage hält, müssen die Verkäufer immer
parat sein, und da in vielen Fällen das Product jeden Tag
d
Zur Moralstatistik.
23
ein oder viele Male neu gemacht sein will, auch die Arbeiter
immer an Ort und Stelle sein. Diese Gewerbe sind außer
in der Gruppe Alimentation unter den Industries non
groupees die Hotels, Bals et Concert u. s. W. und die Apo-
theker. Bei diesen den Gewerben eigentümlichen großen Diffe-
renzen in der Wohnungsart fallen die großen Differenzen in
dem Betragen auch nicht auf, der Einfluß dieser Wohnungsart
auf das Betragen ist ein großer bei den Männern
0, 0,7, 51 pCt. beim Meister,
14, 8,e, 5 pCt. zweifelhaft und schlecht Betragen.
2) Frauen.
Hauptresultat der Tabelle VIb.
Frauen.
Gewerbe. beim Meister. pCt. zweifelhaft und schlecht Betragen. PCt.
130 Gewerbe .... 50 Gewerbe .... 50 Gewerbe .... ^ 1 o ^ 1 9,5 9,5 6
Alle 230 Gewerbe .... 10 9
Verhältniß gegen alle 230 Gewerbe — 100.
130 Gewerbe .... 50 Gewerbe .... 50 Gewerbe .... 17 435 107 107 67
Alle 230 Gewerbe .... 100 100
Das Wohnen beim Meister hat auch hier einen guten Ein-
fluß, denn je mehr bei anderen Leuten Kost und Wohnung
nehmen, um so besser ist das Betragen (Tabelle VIb.), aber der
Einfluß ist nicht so groß als beim männlichen Geschlecht, denn
gleiche Unterschiede in den Procenten der Meisterwohner bei
verschiedenen Gewerben bewirken in der Aufführung einen ge-
ringeren Unterschied als bei den Männern.
24 Laspeyres
Bei 0, 1,6, 40 pCt. weiblichen Meisterwohnern
ist das Betragen 9,s, 9,s, 6 pCt. zweifelhaft und schlecht.
Bei der überwiegenden Zahl von Gewerben, nämlich bei
130, sind gar keine wirklichen Kost- und Logisgänger vorhanden,
so daß auf die erste Hauptgruppe diese 130 Gewerbe und auf
jede der beiden anderen nur 50 kommen. Bei einem viel
größeren Wohnungsunterschiede zwischen der ersten und zweiten
Gruppe als oben bei den Männern ist hier ein Betragens-
unterschied noch nicht ersichtlich, sondern erst bei der sehr großen
Zahl von 40 pCt. Meisterwohnerinnen.
III. In eigenen Meubeln.
1) Männer.
Hauptresultat der Tabelle Vlla.
Männer.
Gewerbe- in eigenen gut
Meubeln. Betragen.
pCt. PCt.
90 Gewerbe...... 56 91
90 Gewerbe...... 80 88
90 Gewerbe ...... 90 93
270 Gewerbe...... 70 91
Verhältniß gegen alle 270 Gewerbe — 100.
90 Gewerbe...... 80 100
90 Gewerbe...... 114 97
90 Gewerbe...... 129 102
270 Gewerbe...... 100 100
Die Männer in 27 Gruppen geordnet zeigen wenige Aus-
nahmen von der Parallelität des guten Betragens und dieser
Wohnungsart, eine auffallende Ausnahme ist in der 13. Gruppe
bemerkbar: obwohl mehr als durchschnittlich, nämlich 80 pCt-,
in eigenen Meubeln wohnen, ist doch weit unter dem Durch-
schnitt das gute Betragen mit nur 62 pCt. Das schlechte Be-
Zur Moralstatistik. 25
tragen dieser ganzen Gruppe kommt ausschließlich auf ein Ge-
werbe, die Tapetenfabrikation. Von den 2685 Tapetenarbeitern
haben nur 26 pCt. gutes Betragen, obwohl 79 pCt. in eigenen
Menbeln und 21 pCt. Chambregarnie wohnen. Mit diesen
2685 Tapetenarbeitern sind 9 Gewerbe von zusammen nur
4366 Arbeiter in Gruppe 13 vereinigt, so daß die Tapeten-
arbeiter den Grundton dieser Gruppe bestimmen. Außerdem
weichen aber auch die beiden ersten Gruppen sehr ab. Bei
nur 54, resp. 18 pCt. Eigeumeubleru in der 1. und 2. Gruppe
ist das Betragen brillant, beide Mal 98 pCt. gut Betragen.
Diese Erscheinung erklärt sich einzig daraus, daß, wo so wenig
Eigenmeubler find, noch viel weniger Chambregarnisten existiren,
nämlich 1 resp. 9 pCt., und fast alle beim Meister wohnen,
94 pCt. in der ersten und 73 pCt. in der zweiten Gruppe.
Also nicht, weil so wenig in eigenen Meubeln wohnen, ist das
Betragen gut, sondern weil so sehr viel beim Meister und
so sehr wenig in Chambregarnie wohnen. Dieser gute Ein-
fluß des Wohnens beim Meister ist so bedeutend, daß selbst,
wenn wir nur 3 Hauptgruppen von je 90 Gewerben machen,
neben der aufsteigenden Reihe des Wohnens in eigenen Meubeln
das Betragen noch nicht sich bessert. Erst wenn in nur zwei
Hauptgruppen unterschieden wird, „viel" und „wenig"
Eigenmeubler, dann ist das Betragen um so besser, je
größer die Zahl der Eigenmeubler ist.
2) Frauen.
Bei der Grnppirnng nach je 10 Gewerben haben wir die-
selbe Erscheinung wie bei den Männern- Die erste Gruppe
von 10 Gewerben hat bei nur 7 pCt. in eigenen Meubeln
95 pCt. gutes Betragen, die zweite bei nur 16 pCt. sogar
99 pCt. gutes Betragen, dafür sind aber auch wieder in der
ersten Gruppe 93 pCt. beim Meister, keine in Chambregarnie,
in der zweiten Gruppe 80 pCt. beim Meister und nur 4 pCt.
Chambregarnie. In der dritten Gruppe ist bei nur 59 pCt.
Eigenmeubler das Betragen schon recht schlecht, denn die Zahl
der Meisterwohner mit 28 pCt. tritt sehr entschieden gegen die
der Eigenmeubler (59 pCt.) und Chambregarnisten (13 pCt.)
26 Laspeyres
H auptresultat der Tabelle Vllb.
Frauen.
in eigenen gut
Meubeln. Betragen.
pCt. PCt.
80 Gewerbe .... 69,5 87,5
80 Gewerbe .... 94,2 94
70 Gewerbe .... 100 97
Alle 230 Gewerbe .... 84 91
Verhältniß gegen alle 230 Gewerbe — 100.
80 Gewerbe .... 83 96
80 Gewerbe .... 112 103
70 Gewerbe .... 119 107
Alle 230 Gewerbe .... 100 100
zurück. Abgesehen von der Abweichung in den beiden ersten
Gruppen stimmt übrigens die Reihe des Betragens merkwürdig
genau mit der des Wohnens in eigenem Mobiliar. Hier ge-
nügt auch die Theilung in drei Gruppen vollständig, um die
Parallelität zu zeigen, da der Einfluß des Wohnens beim
Meister für die Frauen nicht so ausgesprochen günstig ist, als
für die Männer, und außerdem der Einfluß des Wohnens in
eigenen Meubeln auf das weibliche Geschlecht stärker wirkt, als
auf das männliche.
§. 6.
Zutreffen der Erscheinung in einzelnen Fällen.
(Tabelle Villa, und VHIb.)
In dem Obigen sind für jede Wohnungsart und für jedes
Geschlecht die gesammten Gewerbe in drei Hauptgruppen zu-
sammengelegt. Bei diesen zeigt sich mit der einzigen unbe-
deutenden Ausnahme der Männer in eigenen Meubeln (wo erst
die Trennung in nur zwei Hauptgruppen genügt), daß mit der
Zunahme der Procente, welche auf eine bestimmte Wohnungs-
Zur Moralstatistik. 27
art kommen, auch das Betragen in einer bestimmten Richtung
ab- oder zunimmt. Bei Zunahme der Chambregarnisten Ab-
nähme des guten Betragens, bei Zunahme der Eigenmeubler
und Meisterwohner Zunahme des guten Betragens! Für jedes
einzelne Gewerbe stimmt verhältnißmäßig selten das Betragen
mit der Wohnungsart, weil außer der Wohnung noch zu viel
andere Momente das Betragen beeinslnssen. Es wäre nun zu
weitläustig, für alle einzelnen Gewerbe zu untersuchen, wie viel
oder wie wenig das Betragen in jedem Gewerbe bei einem be-
stimmten Verhältniß der Chambregarnisten von dem durch-
schnittlichen Betragen bei solchem Chambregarnistenverhältnisse
abweicht. Wir wollen darum nur untersuchen, in wie vielen
Gewerben das Betragen mit der Wohnung übereinstimmt, in
wie vielen das Betragen vom Durchschnitt nach oben abweicht
und in wie vielen nach unten. Aus der Tabelle Villa, sind
die Wohnungsarten für beide Geschlechter nach den drei Haupt-
gruppen der Tabellen IVa. b., Via. b., VIIa. b. der Art ge-
ordnet, daß z. B. für die Männer die erste Abtheilung gebildet
ist aus allen Gewerben unter 5 pCt. Chambregarnisten, die
zweite Abtheilung von 5 bis 28 pCt. Chambregarnisten, die
dritte über 28 pCt. Chambregarnisten. Diesen drei Abtheilungen
entsprechen nach den obigen Tabellen die Betragenseategorieen
unter 3 pCt., 3 bis 12 pCt., über 12 pCt. schlechtes Betragen.
Dazu ist gestellt, bei wie viel Gewerben, die unter 5 pCt.
Chambregarnisten haben, auch das durchschnittliche Betragen von
weniger als 3 pCt. schlecht eingehalten wird. Da sinden wir,
daß in den 33 Gewerben mit noch nicht 5 pCt. Chambre-
garnisten in 26 Fällen das Betragen stimmt, nur in 7 nicht,
in denen das schlechte Betragen mehr als 3 pCt. ausmacht.
Die Abweichung des Betragens nach unten existirt hier natür-
lich nicht, also existirt eine Abweichung nach oben nicht bei den
Gewerben mit mehr als 28 pCt. Chambregarnisten, bei denen
unter 35 Handwerkern 14 im Betragen den Durchschnitt von
mehr als 12 pCt. schlechtes Betragen erreichen, 21 aber da-
hinter zurückbleiben. Endlich in der mittleren Abtheilung durch-
schnittlich 5 bis 28 pCt. Chambregarnisten stimmen von 202 Ge-
werben 77 mit dem durchschnittlichen Betragen von 3 bis 12 pCt.
28 Laspeyres
„ schle cht" überein, während 49 die 12 pCt. überschreiten und
76 hinter den 3 pCt. zurückbleiben. In allen drei Abtheilungen
stimmen 117 Gewerbe mit dem Durchschnitt der Hauptgruppe
überein, 56 sind zu hoch im schlechten Betragen und 97 zu
niedrig. Diese so für die beiden Geschlechter in allen drei
Wohnungsarten gemachte Tabelle Villa, giebt viel Stoff zur
Ueberlegung, eine Erforschung der Gründe, ans denen bald
das Mittel, bald die Abweichung nach oben oder unten stark
vertreten ist, würde aber hier zu weit sichren; es sei daher
neben der Empfehlung dieser Tabelle nur auf das eine Resultat
aufmerksam gemacht, wie für die beiden Geschlechter Ueberein-
stimmung und Abweichung des Betragens mit der Wohnung
sich vertheilt.
M än n e r.
Richtig. Zu viel. I Zu wenig. ,
Chambregarnie .... 117 56 97
Eigene Meubel .... 97 108 65
Beim Meister .... 99 37 134
Summa 313 201 296
Verhältniß: ---39pCt. — 25 pCt. — 36 PCt. —100pCt.
F r a u e n.
Richtig. Zu viel. Zu wenig.
Chambregarnie .... 138 34 58
Eigene Meubel .... 120 76 34
Beim Meister .... 43 24 163
Summa 301 134 255
Verhältniß: ---- 44 pCt. --19 PCt. — 37 PCt. ---lOOpCt
Zur Moralstatistik.
29
§• 7.
Vertheitung der sich gut, zweifelhaft und schlecht Betragenden
auf die drei verschiedenen Wohnungsarten.
Hauptresultat der Tabelle IX a. b.
Männer.
Gewerbe. Beim Meister. pCt. In eigenen Meubelu. PCt. In Chambre- garnie. PCt. Gutes Betragen. PCt. Zweifel- Haftes und schlechtes Betragen. PCt.
90 Gewerbe 90 Gewerbe 90 Gewerbe 1 13 28 74 68 61 25 19 11 82 95 100 18 5
3tlle 270 Gewerbe 10 70 20 91 9
Verhältnis gegen den Durchschnitt aller Gewerbe — 100.
90 Gewerbe 90 Gewerbe 90 Gewerbe 10 130 280 106 97 87 125 95 55 90 104 110 200 56
9llle 270 Gewerbe 100 100 100 100 100
Frauen.
Gewerbe. Beim Meister. PCt. In eigenen Menbeln. PCt. In Chambre- garnie. PCt. Gutes Betragen. PCt. Zweifel- Haftes und schlechtes Betragen. PCt.
50 Gewerbe 50 Gewerbe 130 Gewerbe 3,3 13,7 13,2 86,2 82 83,7 10,5 4,3 3,1 83,7 95,7 100 16,3 4,3
Alle 230 Gewerbe 9 ! 84 7 91 9
Verhältniß gegen den Durchschnitt aller Gewerbe = 100.
50 Gewerbe 50 Gewerbe 130 Gewerbe 37 149 143 103 98 100 154 63 46 93 106 III 183 48
Alle 230 Gewerbe 100 100 100 100 100
30 Laspeyres
Statt am Ende dieses Abschnittes die drei Wohnungs-
arten für Männer und dann für die Frauen übersichtlich zu-
sammenznstellen, nachdem wir soeben jede Wohnungsart für sich
betrachtet haben, wählen wir einen anderen Weg, der uns diese
Uebersicht an einer Gegenprobe giebt. Bei jeder Wohnungsart
sahen wir, daß zwar in vielen Fällen eine bestimmte Wohnungs-
art mit einer bestimmten Betragensstufe nicht stimmt, dafür
aber in den anderen Fällen um so besser. Da liegt der Ge-
danke nahe, zu forschen, wie vertheilen sich umgekehrt die Ar-
beiter des männlichen und weiblichen Geschlechtes auf die ver-
schiedenen Wohnungsarten, wenn wir die 270 resp. 230 Ge-
werbe nach dem Betragen ordnen, anfangend mit dem, welches
am wenigsten ordentliche Arbeiter hat, bis zu demjenigen, das
sich der meisten erfreut? Für die Männer zeigt das die Ta-
belle IXa.
Von den Arbeitern, die sich gut aufführen, kommen die
Meisten auf die beim Meister wohnenden, Verhältniß 280 :100
als Durchschnitt, die wenigsten auf die Chambregarnisten,
55 : 100 als Durchschnitt. Von den mit schlechtem und zwei-
felhaftem Betragen kommen die Meisten auf die Chambre-
garnisten, Verhältniß wie 125:100, die Wenigsten auf die
Meisterwohner, 10:100, also genau dasselbe, was oben ge-
funden wurde. Endlich zeigt sich die Uebereinstimmung auch
darin, daß von den sich gut Betragenden nicht viele auf die
in eigenen Meubelu zu kommen scheinen, sondern nur wenig,
87 : 100, und von den sich schlecht Betragenden scheinbar viel,
106:100. Dieser Schein darf uns jedoch auch hier nicht
irre führen; die Zahlen zeigen weder, daß von den sich gut
Betragenden wenig in eigenen Meubeln wohnen, sondern nur,
daß ungeheuer Viele beim Meister Kost und Logis haben, noch
beweisen sie, daß von den sich schlecht Betragenden viele Eigen-
menbler sind, sondern nur, daß wenig Meisterwohner darunter
sind. Aehnlich, wenn auch in geringerem Maße, tragen die
Chambregarnisten Schuld an diesem Schein; die Resultate für
das weibliche Geschlecht werden sogleich für diese Behauptung
eine Stütze bieten. Von den Arbeiterinnen schlechter'Aufführung
fallen nach Tabelle IXb. sehr viel, 154:100 als Durchschnitt,
Zur Moralstatistik. 31
auf die Chambregarmsten, also, wohl zu beachten, in stärkerem
Grade, als bei den Männern (nur 125:100), ebenso fallen
sehr wenig auf die Meisterwohner, 37:100, also, wohl zu be-
achten, ist die Abweichung geringer als bei den Männern
(10:100). Den größeren guten Einfluß des Wohnens beim
Meister auf die Männer und den größeren schlechten Einfluß
des Wohnens in Chambregarnie auf die Frauen sahen wir
oben schon. Andererseits sind unter den Weibern guten Be-
tragens wenig Chambregarmsten, 46:100, d. h. ungefähr so
viel als bei den Männern (55 : 100) und viele Meisterwohner
(143 :100), aber viel schwächer als bei den Männern (280 :100).
Der Zusammenhang zwischen gutem Betragen und dem Wohnen
in eigenen Meubeln tritt bei dieser Gegenprobe für die Frauen
zwar eben so wenig hervor als bei den Männern, er wird aber
doch wenigstens nicht scheinbar in das Gegentheil verkehrt wie
bei den Männern, aus dem doppelten Grunde, daß überhaupt
etwas weniger Weiber beim Meister wohnen, 9 pCt. gegen
10 pCt. Männer, und daß das Betragen dieser weiblichen Meister-
wohner nicht in dem Grade vor dem der anders Wohnenden
sich auszeichnet, als es bei den Männern der Fall ist, der Ein-
flnß dieser einen Erscheinung tritt also nicht so dominirend in
den Vordergrund bei den Weibern als bei den Männern. Bei
sehr verschiedenem Betragen der drei Hauptgruppen mit 16,3,
4,3 und 0 pCt. schlechten Betragens sind in der ersten Gruppe
von 130 Gewerben bei 0 pCt. schlechten Betragens genau die
gleiche Menge in eigenen Meubeln, als im Durchschnitt aller
230 Gewerbe, die 50 Gewerbe mit 16,3 pCt. schlechter Auf-
führung haben nur 3 pCt. Eigenmeubler über dem Durchschnitt
und die letzten 50 Gewerbe mit 4,3 pCt. schlechter Aufführung
nur 2 pCt. Eigenmeubler unter dem Durchschnitt, man kann also
wohl sagen, daß hier die Wohnungsart in eigenen Meubeln in
allen drei Betragensstusen gleich vertreten ist, d. h. nicht schein-
bar wie bei den Männern auf die vielen sich gut Betragenden
wenig Eigenmeubler kommen.
Welchem der Leser hier die Frage aufstoßen sollte, ob die
soeben geschilderten Arten zu wohnen nicht etwa die Wirkung
32 Laspeyres
des Betragens waren, den müssen wir auf das Ende dieses
Aufsatzes verweisen, wo dieser Punkt behandelt werden wird.
§. 8.
Indirecte Ermittelung der sich gut, zweifelhaft und schlecht
betragenden Meifterwohner, Eigenmeubler und
Chambregarnisten.
Nach Vorführung und Verarbeitung dieses Materials han-
delt es sich' nun vor Allem um Beantwortung der Frage:
Können wir aus den ziffermäßigen Angaben, daß bei bestimmten
Proeenten einer Wohnungsart bestimmte Proeente guten oder
schlechten Betragens sich zeigen, auf irgend eine Art ermitteln,
wie viele der Chambregarnisten sich gut oder schlecht aufführen,
wie viele der Meifterwohner und wie viele der Eigenmeubler?
Ein wichtiges Hülssmittel für diese Forschung scheint die zuerst
besprochene Wohnungsenquete des Jahres 1849 über die
Chambregarnies zu bieten, um eine der drei „Unbekannten",
nämlich das Betragen der Chambregarnisten, durch eine Bekannte
zu ersetzen und so leichter die beiden anderen Unbekannten zu
finden. Diese Chambregarnies-Enqnete hatte ergeben, daß von
den 21,567 männlichen Arbeitern, welche in den untersuchten
Chambregarnies wohnten, 48 pCt. gutes, dagegen 52 pCt.
passables, schlechtes und sehr schlechtes Betragen hatten. Ebenso
waren von den Frauen nur 21 pCt. in der Aufführung zu
loben. Leider können wir die Angabe, daß 52 pCt. dieser
männlichen Chambregarnisten kein gutes Betragen hatten, nicht
in der Art auf die Zahlen unseres Jahres 1860 anwenden, daß
wir auf die 50,369 männlichen Chambregarnisten 52 pCt. nicht
gutes Betragen, d. h. 26,192 rechnen, denn nach der Enquete
des Jahres 1860 hatten von allen männlichen Arbeitern nicht
einmal so viel schlechtes Betragen, sondern nur 24,439. Auf
die 175,438 Männer in eigenen Meubeln und die 26,171 beim
Meister müßten dann 1753 weniger als gar keine sich schlecht
ausführen. Das ist ein Unding, ganz abgesehen davon, daß allein
die Charcutiers, Cremiers, Boyaudiers und Vanniers 62
Leute schlechten Betragens haben, während gar keiner Chambre-
garnie wohnt, und in andern 33 Gewerben also zusammen in
Zur Moralftatistik.
33
37 Gewerben, d. h. im siebenten Theil aller Gewerbe 7567
Arbeiter schlechtes Betragen haben, von denen nur 4496 Chambre-
garnie wohnen. In diesen 37 Gewerben kommen also min-
destens 3133 mit schlechtem Betragen auf Arbeiter beim Meister
und in eigenen Meubeln. Aus diesen Zahlen darf man mit
Fug und Recht schließen, was auch aus anderen Gründen ein-
leuchtet, daß in den anderen Gewerben unter den Arbeitern
schlechter Aufführung sich ebenfalls Mancher befindet, der beim
Meister oder in eigenen Meubeln wohnt. Aus dem Obigen
ergiebt sich jedenfalls, daß auch nicht entfernt 52 pCt. der
männlichen und 79 pCt. der weiblichen Chambregarniften
schlechte Aufführung vorzuwerfen ist. Die Angabe der Enquete
von 1849 können wir nicht einmal brauchen, wenn wir von ihren
vier Betragenscategorieen No. II. „passabel" mit zu gut
rechnen wollten, wo dann in den beiden Categorieen schlecht
und sehr schlecht die Deckung für zweifelhaftes und schlechtes
Betragen der Enquete von 1860 gesucht werden müßte, während
aller Wahrscheinlichkeit nach die Eategorie „passabel" mehr
mit der Eategorie „zweifelhaft" übereinstimmen wird. Selbst
wenn aber passabel gleich gut wäre, würden schlecht und sehr
schlecht 25,5 pCt. der Chambregarniften sich betragen müssen,
während wir auf anderem, sogleich zu bezeichnendem Wege nur
13 pEt. schlecht und sehr schlecht finden. Die 52 pCt. Chambre-
garnisten mit nicht gutem Betragen könnten darum für 1849
und für die Wohnungen, welche untersucht wurden, doch richtig
sein, entweder wenn damals das Betragen durchschnittlich schlechter
gewesen wäre, oder wenn unter „gutem" Betragen damals
etwas Anderes verstanden wäre, als 1860, oder endlich, wenn
die der Enquete unterworfenen Chambregarnies, da es nicht
alle waren, gerade die schlimmsten, d. h. diejenigen, welche
Chambregarniften in Menge professionsmäßig aufnehmen, ge-
Wesen wären, während die vielen einzeln in Chambregarnies
wohnenden Leute nicht ermittelt worden sind. Daß der letzt-
genannte Umstand die Differenz mit 1860 hauptsächlich erklärt,
laßt sich z. 23. daraus abnehmen, daß die Jndnstrieenquete des
Lahres 1847—1848 unter | der gesammten Pariser Arbeiter-
Bevölkerung 34,311 männliche Chambregarniften ergab, was
Zcitschr. für Bölkerpiych. u. Sprachw. qiLd. Vi. Z
34 Laspeyres
auf die ganze Arbeiterbevölkerung circa 46,000 ausmachen
würde, während die Chambregarnie-Enquete Anfangs 1849
nur 21,567 ermittelte, unter denen noch manche nicht der Zn-
dustrie Angehörige sich befanden. Im Januar 1849 war nun
allerdings durch die allgemeine Geschästsstockung die Zahl der
Chambregarnisten kleiner als im Jahre 1848 am 5. Januar,
also vor der Revolution, nämlich 21,567 gegen 27,665, d. h.
nur um 6098, welche Arbeiterzahl von 1848 ein Unbedeutendes
die des Jahres 1847 übertroffen haben mag. Also von den
46,000 Chambregarnisten des Jahres 1847 resp. 1848 mögen
nach demselben Verhältuiß (27,665 : 21,567) noch circa 36,000
in Paris Beschäftigung gefunden haben, während die Enquete
in den von ihr durchforschten Chambregarnies nur 21,567 fand.
14—15,000 Chambregarnisten sind der Enquete nicht unter-
worfen worden, folglich auch nicht ihre Wohnungen. Die-
jenigen 14—15,000 Chambregarnisten oder Arbeiter nun, welche
nicht in den Höhlen wohnten, welche die Wohnungsenquete uns
beschreibt, sind aller Wahrscheinlichkeit nach die besseren, welche
derartige meist spelunkenähnliche Aufenthaltsorte fliehen, ebenso
wie die nicht untersuchten Chambregarnies auch die besseren sein
mögen. Es sind die große Anzahl von Wohnungen für ledige
Leute, welche durch Astervermiethung überflüssiger Wohnnngs-
räume erster Miethe überall zu finden sind. Mögen die-
selben auch oft recht schlecht sein, aus gleicher Stufe mit den
der Enquete unterworfenen Wohnungen können sie durch-
schnittlich nicht stehen; diese Chambregarnies sind sämmtlich von
der Enquete eximirt, denn sie fallen unter keine der drei Cate-
gorieen Garnis speciaux, Garnis au mois, Garnis a la nuit,*)
sie können auch kaum in einer solchen Enquete Raum finden.
Die Bewohner dieser einzelnen meublirten Zimmer gehören
unstreitig zu den besseren Arbeitern, das kann man aus der
Zahl gewisser Arten von Menschen ableiten, welche die Garnis
speciaux, au mois und ä la nuit sliehen. Es sind das die-
jenigen Chambregarnisten, deren Betragen mit dem Maßstab
des Vermiethers bemessen, Ausnahmen zugestanden, zu dem
*) Statistique de l'Industrie a Paris 1849, S. 980—982.
Zur Moralstatistik.
35
besseren gehört, nämlich die Chambregarnisten, welche zwar auf
mehrere Monate oder Jahre, aber doch vorübergehend in Paris
sich aufhalten, oder welche niemals Heirathen wollen, alte Jungge-
sellen, oder noch nicht Heirathen können, natürliche Junggesellen.
Zu diesen Leuten sind in großer Anzahl sür Paris zu rechnen die
Employes et Gömmis, die Militaires (Mobiles, Ex-militaires, Of-
ficiers), die Professions liberales diverses, die Rentiers et Pro-
prietaires und vor Allem die Etudiants aller Art, Juristen, Me-
dichter, Techniker, Künstler n. s. w. Von solchen Leuten müssen
doch eine gewaltige Zahl in Chambregarnies wohnen, allein in
den untersuchten Chambregarnies sinden sich nur wenig Leute
der Art, z. B. Commis 866, Militaires 538, Professions libe-
rales 267, Rentiers et Proprietaires 208 und gar Etudiants
aller Art nur 207.*)
Das Bild, welches uns die Enquete des Jahres 1849
entwirft, ist aus all' diesen Gründen, Gott sei Dank, nur
richtig für 21,567 Chambregarnisten, nicht auch für die an-
deren circa 14—15,000 Chambregarnisten aus den sog. ar-
beitenden Klassen.
Desgleichen dürfen wir auch bei den Frauen nicht darauf
rechnen, aus der Wohnungsenquete des Jahres 1849, welche
79 pCt. aller weiblichen Chambregarnisten als nicht guter Aus-
führuug ergab, zu sinden, daß von den 7145 Chambregar-
nistinnen auch 79 pCt., d. h. 5644 sich nicht gut aufführten,
denn dann verblieben von den gesammten 9276 sich schlecht
Betragenden nur 3632, d. h. 3,7 pCt. der 97,781 beim Meister
und in eigenen Meubeln Wohnenden. Das wäre, wie wir so-
gleich sehen werden, viel zu wenig. Wollte man meinen, daß
die übrigbleibenden 3632 sich hauptsächlich auf die beim Meister
Wohnenden vertheilen, indem unter den in eigenen Meubeln
Wohnenden keine oder nur sehr wenige sich schlecht betrugen,
so kann das aus der Tabelle Xa. widerlegt werden. In acht
Gewerben nämlich, welche unter 659 Arbeiterinnen nur Eigen-
menbler haben, sind 83 oder 13 pCt., d. h. mehr als im Durch-
schnitt von nicht gutem Betragen. Ebenso sind in ferneren
*) Statistique de l'Industrie ä Paris 1849, S. 959—975.
3*
36 Laspetzres
27 Gewerben (Tabelle Xc.)( welche zusammen nur 602 beim
Meister und 2253 Chambregarnisten haben, 4058 von nicht
gutem Betragen, folglich sind in den 25 Gewerben 1276 Frauen
schlechten Betragens in eigenen Menbeln, was schon 4,3 pCt. aus-
macht, wenn man von der unhaltbaren Annahme ausginge, daß in
diesen 27 Gewerben alle Chambregarnisten und alle Meister-
wohner sich schlecht betragen. Wir hätten alsdann schlechtes Be-
tragen bei sämmtlichen 2855 Chambregarnisten und Meister-
wohnern der 35 Gewerbe, außerdem 3810, d. h. 79pCt. der übrig-
bleibenden 4892 Chambregarnisten, Summa 6665 Chambregar-
nisten in allen Gewerben und Meisterwohner in den genannten 35
Gewerben, für alle 93,579 Meisterwohner und Eigenmeubler in
den übrigen 199 Gewerben blieben also nur 2611 oder 2,8 pCt.,
schlechten Betragens, was allein schon durch die genannten
35 Gewerbe widerlegt wird, in denen mindestens noch einmal so
viel Procent der Eigenmeubler sich schlecht ausführen, selbst
wenn alle Chambregarnisten und Eigenmeubler ausnahmslos
schlechtes Betragen hätten.
Die Enquete über das Betragen einer Anzahl Chambre-
garnisten im Jahre 1849 kann uns nach dem Vorausgehenden
direct zur Erforschung des Betragens aller Chambregarnisten
im Jahre 1860 nicht verhelfen, indirect können aber einige
Daten aushelfen bei einem anderen Wege, den wir zur Er-
forschung des Betragens aller drei Wohnungsarten einschlagen.
Wir lernten soeben 35 Gewerbe kennen (Tabelle Xa. und
d.), welche zusammen 4131 Frauen nicht guten Betragens haben,
während in Chambregarnie und beim Meister nur 2855 wohnen,
ein namhafter Theil muß also auf die Eigenmeubler fallen,
selbst wenn wir annehmen, daß in diesen 32 Gewerben alle
Chambregarnisten und Meisterwohner sich schlecht aufführen.
Diese letztere Annahme ist selbstredend falsch. Nehmen wir an,
daß z oder 33 pCt. der Chambregarnisten und Z oder .12,5 pCt.
der Meisterwohner sich schlecht aufführen, so find das 750
Chambregarnisten und 75 Meisterwohner, zusammen 825. Diese
gehen ab von den 4131 mit schlechtem Betragen und bleiben
3306 auf 29,441 Eigenmeubler, d. h. 11 pCt. Diese An-
nahmen stimmen nicht übel mit unserer obigen Zahlenreihe, daß
Zur Moralstatistik.
37
je mehr Chambregarnisten, um so schlechter das Betragen, und
zwar in hohem Grade, daß je mehr beim Meister und in
eigenen Meubeln wohnen, das Betragen um so besser ist, und
zwar bei den Eigenmenblern in etwas höherem Grade als bei
den Meisterwohnern, was ungefähr heißen würde: die Eigen-
meubler sind etwas unter dem Durchschnitt schlecht, die Chambre-
garnisten bedeutend über dem Durchschnitt schlecht und die
Meisterwohner weder unter, noch über dem Durchschnitt.
Chambregarnie . 33 pCt. \
In eigenen Meubeln 11 - / schlechtes und zweifel*
Beim Meister . 12,5 - / Haftes Betragen.
Durchschnitt Aller 11,8 pCt. /
Mit diesen Zahlen gehen wir an die anderen Gewerbe.
Nach Tabelle Xe. haben wir fernere 29 Gewerbe, in denen
2455 schlecht sich aufführen, d. h. 830 mehr als Chambre-
garnie wohnen (1625), es fallen also wieder Viele auf die
beim Meister und in eigenen Meubeln. Wir vertheilen das
schlechte Betragen wieder in dem Verhältnis^ wie oben, nur
müssen wir alle Procente gleichmäßig kürzen, denn das durch-
schnittlich schlechte Betragen der ersten 35 Gewerbe war 12,8
und in den letzten 29 Gewerben nur 8,5, also sind alle Pro-
centsätze auf circa f zu kürzen.
Das giebt für
Chambregarnisten 22 pCt., d. h. 358 von 1625,
Meisterwohner 8,3 - - 521 - 6284,
Summa 879 von 8909.
Diese 879 gehen ab von den 2455 schlechten Betragens
und bleiben 1576, welche auf die 20,932 in eigenen Meubeln
fallen. Auch das ist fast genau ß des obigen Procentsatzes von
11 pCt., nämlich 7,5 (statt genauer 7,3). Nun bleiben noch
übrig 167 Gewerbe, in denen nicht mehr Leute sich schlecht
aufführen, als Chambregarnisten sind. In diesen 167 Ge-
werben ist das schlechte Betragen durchschnittlich nur halb so
groß als bei den ersten 32 Gewerben, nämlich 6,1 pCt. statt
12,8 pCt. Alle Procentsätze sind darnach zu reduciren auf
38
Laspeyres
Das giebt
für Chambregarnisten 16,5 pCt. von 3267 — 530
- Meisterwohner . 6,3 - - 2899 — 182
- Eigenmenbler 5,5 - - 37,421 — 2058
Summa 6,1 Mt. von 43,587 — 2770.
Dazu aus den ersten
35 Gewerben Summa 12,8 - - 32,296 — 4131
Dazu aus den zweiten
29 Gewerben Summa 8,5 - - 29,043 — 2455
Summa 8,8 pCt. von 104,926 — 9356.
Die wirkliche Zahl aller sich schlecht Betragenden stimmt
damit fast genau, es sind nach Tabelle IXb. 9276 statt der
berechneten 9356. Im Gesammtresultat erhalten wir:
Beim Meister. pCt. In eigenen Meubeln. PCt. In Chambre- garnie. PCt. Summa. pCt.
Erste 35 Gewerbe Zweite 29 Gewerbe Drittel 67 Gewerbe 12,5— 75 8,3= 521 6,3= 182 11 =3575 6,7 = 1402 5,5 = 2058 33 = 765 22 ----- 358 16,5= 530 12,8 = 4415 8,5 = 2281 6,1 = 2770
S. 231 Gewerbe 7,9= 778 7,6 = 7033 22,7 = 1653 8,8 = 9466
Hiernach kämen 9466 mit zweifelhaftem und schlechtem
Betragen heraus, in Wahrheit sind es, wie gesagt, 9276, es
stimmt also die Zahl bis auf circa 1,2 pCt.
Bei den Männern können wir füglich nicht auf dieselbe
Weise berechnen, wie viele der sich schlecht Betragenden aus
jede Wohnungsart fallen, denn während wir bei den Frauen
unter nur 231 Gewerben 64, also 28 pCt. hatten, in denen
die Chambregarnisten von den Weibern schlechter Aufführung
übertroffen wurden, haben wir bei 274 Gewerben nach Ta-
belle XId. nur 39, d. h. nur 14 pCt., in denen dasselbe statt-
findet, und von diesen 39 Gewerben sind es sogar nur 10,
d. h. noch nicht 3 pCt. aller, in denen die sich schlecht Be-
tragenden mehr sind als Chambregarnisten und Meisterwohner
zusammen, bei den Frauen betrugen diese Gewerbe aber 32,
h. h. 14 pCt. Aller.
Zur Moralstaiistik.
39
Von den 39 Gewerben, welche nur 14 pCt. aller 274
ausmachen, oder von den 34,851 Arbeitern, welche gleichfalls
genau 14 pCt. aller 251,119 betragen, dürfen wir nicht auf
die übrigen 86 pCt. mit derselben Sicherheit schließen, wie von
28 pCt. auf 72. Für die Berechnung der Männer haben wir
andere Anhalte.
1) Wir wissen aus Tabelle IXa., daß die Männer, welche
beim Patron wohnen, sich besonders gut aufführen, denn das
schlechte Betragen stimmt sehr genau mit der geringen Anzahl
Meisterwohner und umgekehrt.
2) Aus der Wohnungsenquete von 1849 wissen wir, daß
das Betragen der Männer in den Chambregarnies sehr viel
besser ist als das der Weiber.
Männer mit gutem Betragen 48 pCt.,
Weiber - - - 21 pCt.
Allein so groß dürfen wir denn doch nicht den Gegensatz
für alle Chambregarnisten annehmen, da die Wohnungsenquete
4 Stufen des Betragens hat, bon, passable, mauvais, tres
mauvais. Von denen, die passable genannt sind, werden
manche fein, die in der Dreitheilung des Jahres 1860 bon,
douteux, mauvais unter „bon" fallen.
Das Betragen der Männer war 1849 in den Chambre-
garnies 48 pCt. bon, 26,5 pCt. passable, Summa 74,5 pCt.
Das Betragen der Frauen war 1849 in den Chambre-
garnies 21 pCt. bon, 32 pCt. passable, Summa 53 pCt.
Das gute und passable Betragen der Männer verhält sich
zu dem der Frauen wie 74,5:53 oder wie 100:71, oder das
schlechte und sehr schlechte Betragen der Männer zu Frauen
= 25,5 : 47 = 54 : 100. Nach unserer obigen Berechnung
fanden wir, daß im Jahre 1860 von allen den Frauen in
Chambregarnies 22,7 pCt. sich schlecht betrugen, darnach würde
unter den Männern in Chambregarnies 12,5 pCt. (genau:
12,3 pCt.) sich schlecht aufführen 100 : 54 = 22,7 :12,3. Von
den 48,769 Chambregarnisten wären mit 12 pCt. 6096 schlechter
Aufführung, dann blieben von den gesammten sich schlecht Be-
tragenden 23,439 Männer, für die 202,350 in eigenen Meu-
öeln und die 17,343 beim Meister Wohnenden. Wie viel sollen
40
Laspeyres
wir davon auf die beim Meister Wohnenden rechnen? Jeden-
falls nur ein paar Procent, denn nach allen obigen Ansfüh-
rungen betragen sich die beim Meister wohnenden Arbeiter
männlichen Geschlechts ganz besonders gut. Nehmen wir nur
2 pCt. an, so sind das 518, es bleiben also für die in eigenen
Menbeln 16,825 oder 9,5 pCt. der 176,438, nehmen wir aber
4 pCt. auf die Meisterwohner, so bleiben für die in eigenen
Meubeln Wohnenden 16,307 oder 9,2 pCt. Ob wir die sich
schlecht aufführenden Meisterwohner hoch oder niedrig annehmen,
macht hiernach für die Eigenmeubler wenig aus, da ja die Zahl
der letzteren siebenmal so groß ist als die der ersteren. Selbst
gesetzt, wir wollten die sich schlecht betragenden Meisterwohner
so hoch nehmen als bei den Frauen, mit 7,9 pCt., so wären
das 2070 und blieben für die Eigenmeubler 15,273 oder
8,7 pCt., allein so hoch dürfen wir das schlechte Betragen der
männlichen Meisterwohner nicht taxiren als das der Weiber,
da nach Tabelle Via. b. die Unterschiede im Betragen mit den
Unterschieden dieser Wohnungsart bei den Männern bedeutender
als bei den Frauen wachsen.
Bleiben wir bei 4 pCt. sich schlecht betragender Meister-
wohner stehen, so finden wir den Antheil der schlechten Eigen-
menbler bei den Männern höher als bei den Frauen (nämlich
9,2 gegen 7,6 pCt'.), was vortrefflich mit dem anderen oben
gefundenen Resultate stimmt, daß mit Zunahme des Wohneno
in eigenen Meubeln das gute Betragen nicht so schnell wächst
als bei den Frauen, es mnß ja auch, was im Betragen der
männlichen Chambregarnisten und Meisterwohner besser ist als
in dem der Frauen bei gleichem Durchschnittsbetragen beider
Geschlechter, im Betragen der Eigenmeubler schlechter sein, na-
türlich nur um wenige Proeente, da die vielen Eigenmeubler
mit geringem Unterschiede im Betragen den großen Unter-
schieden der wenigen Chambregarnisten und Meisterwohner
leicht die Stange halten.
Das Gesammtresnltat für beide Geschlechter wäre:
Zur Moralstatistik.
41
Es haben zweifelhaftes und schlechtes Betragen:
Männer: Frauen:
Beim Meister . - 4 pCt. 7,9 pCt.
In eigenen Meubeln 9,2 - 7,6 -
In fremden Meubeln 13 - 22,7 - ^
Daß dieses Resultat ganz genau mit der Wirklichkeit
stimmt, wage ich nicht zu behaupten, aber sehr groß können die
Abweichungen meiner Meinung nach nicht sein, wenigstens nicht
für die Eigenmeubler, denn eine geringe Aenderung des Procent-
satzes macht hier schon enorm viel aus in den Zahlen, welche
dann für die Meisterwohner, welche an Güte im männlichen
Geschlecht viel, im weiblichen etwas über dem Durchschnitts-
betragen, und für die Chambregarnisten, welche im männlichen
Geschlecht viel, im weiblichen sehr viel unter der Durchschnitts-
gute stehen.
§. 9.
Zutreffen der gefundenen Procentsätze für die einzelnen Gewerbe.
Mit dem gefundenen Resultate können wir setzt eine wei-
tere Vergleichuug anstellen, nämlich untersuchen, in wie vielen
Gewerben das Betragen über dem Durchschnitt stimmt mit der
Wohnungsart über dem Durchschnitt, desgleichen wie es unter
dem Durchschnitt steht (Tabelle XII a. und b.) Fasten wir
zuerst beide Fälle zusammen und fragen, wie steht über- und
unterdurchschnittlich schlechtes Betragen zu jeder Wohnungsart,
so finden wir, daß bei den Männern Betragen und Wohnen
in Chambregarnie stimmt in 188 von 270 Fällen, d. h. in
70 pCt., nicht stimmt in 82 Fällen oder 30 pCt. Bei den
Frauen ist das Verhältniß stimmend in 172 von 230 Fällen
— 75 pCt., nicht stimmend in 58 Fällen — 25 pCt. Be-
tragen und beim Meister Wohnen stimmt für die Männer in
156 von 270 Fällen, stimmt nicht in 114 Fällen, Verhältniß
wie 58 pCt. zu 42 pCt. bei den Frauen, stimmend in 183
von 230 Fällen, nicht stimmend in 47, Verhältniß 80 pCt. zu
20 pCt. Endlich geht in eigenen Meubeln Wohnen und Be-
tragen parallel bei den Männern in 166 von 270 Fällen, und
nicht in 104 Fällen — 61 pCt. zu 39 pCt., bei den Frauen
™rror!TöB5TnnnmiSBZZifiHzaF
42 Laspeyres
parallel in 153 von 230 Fällen, nicht parallel in 77 Fällen,
Verhältniß — 67 pCt. zu 33 pCt. Ueberall ist es die weit
überwiegende Zahl, in welcher Übereinstimmung herrscht, als
in denen sie nicht herrscht, was jedenfalls mehr als genügt, um
den notwendigen, nicht zufälligen Zusammenhang beider Er-
scheinungen zu beweisen. Die Zahl der übereinstimmenden
Fälle müßte übrigens hier noch eine viel colossalere sein, wenn
wir, wie öfters erwähnt, die einzelnen Arbeiter nach diesen zwei
Seiten der Wohnung und des Betragens vergleichen könnten.
Noch viel auffallender als in den oben genannten Zahlen zeigt
sich die Uebereinstimmung speciell für die Fälle, in denen die
Wohnungsart unterdurchschnittlich ist. In diesen Fällen beträgt
auch das unterdurchschnittliche Betragen:
Bei Männern: Bei Frauen:
Chambregarnie . . 86 pCt. 98 pCt.
Beim Meister . . 61 - 79 -
In eigenen Menbeln 32 - 35 -
Bei dem überdurchschnittlichen Wohnen irgend einer Art
herrscht hingegen vielfach keine Uebereinstimmung mit dem Be-
tragen. Ist die Wohnungsart über dem Durchschnitt, so ist
auch das Betragen über dem Durchschnitt nur
bei Männern: bei Frauen:
36 pCt. 21 pCt. Chambregarnie,
40 - 81 - beim Meister,
69 - 80 - in eigenen Meubeln
der Fall.
Doch ist diese Erscheinung bei näherer Einsicht nicht auf-
fallend. Fast alle Fälle der Wohnungsart, in Chambregarnie
und beim Meister, über dem Durchschnitt sind exceptionelle, es
sind nur wenige Gewerbe, in denen eine dieser beiden Woh'
nuugsarten über dem Durchschnitt steht, dann aber auch oft-
mals sehr bedeutend. Unter dem Durchschnitt jeder Wohnungs-
art stehen von allen Gewerben nur
bei den Männern: bei den Frauen:
33 pCt. 27 pCt. Chambregarnie,
16 - 16 - beim Meister,
19 - 11 - in eigenen Meubeln.
Zur Moralstatistik. 40
Diese wenigen Fälle großer Abweichungen ergeben mit
den vielen Fällen geringer Abweichung den Durchschnitt.
Daß in so exceptionellen Fällen der Wohnung das Be-
tragen öfter nicht stimmt als es stimmt, darf uns nicht wun-
dern, die stark vertretene Art einer Wohnung rührt immer aus
speciellen, diesem Gewerbe eigenthi'unlichen Gründen her, welche
auf das Betragen ohne Einfluß sind, oder das stark vertretene
Betragen irgend einer Art rührt von Gründen her, welche im
dem Gewerbe, nicht aber mit der Wohnung zusammenhängen.
Diese Ausnahmsfälle geben enorm viel zu denken sür die-
jenigen, welche praktisch mit der Hebung des Arbeiterstandes
sich besassen.
In der Beschaffenheit des von uns benutzten statistischen
Materials liegt der Grund, warum der Zusammenhang zwischen
Wohnung und Betragen nicht so deutlich hervortritt, als er in
Wahrheit ist, selbst wenn wir aber, wie wünschenswerth ist,
von jedem einzelnen Arbeiter Wohnungsart und Betragen NN-
trüglich genau kennten, so würde doch nicht immer schlechtes
Betragen mit einer bestimmten Wohnungsart zusammenfallen,
was ja die letzte Untersuchung genügend erhärtet hat. Die
Wohnung ist nur einer der vielen Factoren, welche auf das Be-
tragen des Menschen Einfluß üben. Unter diesen vielen Fac-
toren nenne ich hier die Höhe des Lohnes, die Stetigkeit der
Beschäftigung, also den Wegfall von regelmäßigen und nnregel-
mäßigen in der Natur des Geschäftes liegenden arbeitslosen
Zeiten, ferner die Anwendung des Stücklohnes, die Annehm-
lichkeit oder Unannehmlichkeit der Arbeit, die Localität der Ar-
beit, ob der Arbeiter in seiner Wohnung bei seiner Familie
arbeitet oder mit wenigen zusammen in der Werkstatt des
Meisters oder mit vielen zusammen in großen Fabrikräumen.
Diesen Punkt kann man noch erweitern, ob in demselben Ge-
schäft Frauen und Männer beschäftigt sind, ob das Geschäft
viele oder wenige Arbeiter jeder Art beschäftigt, in welchem
Stadttheil das Geschäft liegt. Endlich erwähne ich hier den
Grad der Bildung, die jeder Arbeiter besitzt. Ich nenne nur
diese Factoren, da wir den Einfluß aller dieser genannten Mo-
mente genau auf dieselbe Art feststellen könntenr als den der
44
Laspeyres
Wohnung, denn ans der Jndustrieenquete können wir gleich-
falls berechnen, wie viel Procente in jedem Gewerbe Männer
und Frauen jede bestimmte Lohnhöhe erreichen, wie viel Mo-
nate im Jahr die Arbeit ganz oder theilweise eingestellt wird,
wie viele Procente der Arbeiter ständig, wie viele unständig in
Paris sind, wir können weiter ausrechnen, wie viel Procent
Stücklohn statt Taglohn haben, welcher Art die Arbeit ist, ob
harter Natur, ob geisttödtend, gesundheitsgefährlich u. s. w.,
wir können nach der Enquete berechnen, wie viel Procent ar-
bettelt ä l'atelier, en ville, en chambre, welches das Verhält-
niß der beschäftigten Männer, Frauen und Kinder ist, ob das
Geschäft höchstens einen oder keinen Gehülfen beschäftigt, ob
zwischen 2 und 10, ob mehr als 10, endlich das Wichtigste,
wie ihre Bildung beschaffen ist, benrtheilt nach den Procenten,
welche lesen und schreiben oder nur schreiben können. Den
Einfluß all' dieser Momente aus der so wunderbar reichen
Jndustrieenquete zu ermitteln, würde über die Grenzen des mir
hier gestatteten Raumes und meiner augenblicklichen Arbeitszeit
hinausgehen, dies muß einer größeren, schon in Angriff ge-
nommenen statistischen Untersuchung über die beiden Pariser
Jndustrieeuqueten vorbehalten bleiben. Nur das eine hierfür
schon berechnete Resultat sei erwähnt, daß je höher die Bil-
duug in den Gewerben steht, um so höher der Lohn und um
so besser das Betragen der männlichen Arbeiter ist. *) Den
Einfluß dieser Momente auf die Weiber habe ich noch nicht
analysiren können.
Unsere Aufgabe ist hier nur, den Einfluß der Wohnung
auf das Betragen zu behandeln, nicht den aller Umstände,
deren complexe Wirkung das Betragen des Menschen ist; wollten
wir das Betragen analysiren, dann müßten wir eine große
Fülle anderer Einflüsse noch mit in Betracht ziehen, welche wir
quantitativ meßbar in der Enquete nicht finden, von denen sich
aber auch noch viele in Zahlen bringen ließen, während noch
*) Einige Schlußresultate hieraus in Laspeyres, Ueber die Bil-
dung des Kaufmanns und das Studium der Nationalökonomie. Baltische
Monatsschrift 1868, Januarheft, S. 39. 4t).
Zur MoralstatW.
45
andere allerdings vorläufig der statistischen Verarbeitung sich
entziehen. Wie viele solcher Momente die Statistik ersassen
kann, zeigen die schönen, leider zu wenig beachteten, weil wissen-
schaftlich statistischen Arbeiten von Ducpetiaux*) und le
Play.**) Aus diesem Material, das allerdings nur Roh-
Material war, hat Engels) die interessantesten Schlüsse ge-
ä^gen, hat aber noch genug Fragen für Andere übrig gelassen.
2n einem späteren Hefte dieser Zeitschrift wollen wir gleichfalls
^eses Rohmaterial noch weiter verarbeiten für die Lehre von
der Consumtiou; es sind sehr reiche Fundgruben für inductiv
statistische Forschungen.
§. 10.
Rückschlüsse von den für das Jahr 1860 gewonnenen Resultaten
aus das Jahr 1847 und somit aus Veränderung in der Moralität
der Pariser Bevölkerung.
Sehr zu bedauern ist, daß wir diese Wohnungsfrage nur
aus dem Material herausarbeiten können, welches für eine
^tadt in einem Zeitpunkt erhoben ist. Für andere Städte ist
uns ähnliches Material nicht bekannt, und leider hat anch die
erste große Pariser Jndustrieenquöte des Jahres 1849, welche
sonst fast ^nau dieselben Erhebungen gemacht hat, das Be-
lagen noch nicht in den Kreis ihrer Umfragen gezogen, we-
nigstens nicht statistisch brauchbar, quantitativ, analysirt. Die
Angaben darüber lauten immer ganz allgemein: „Im Ganzen
ist das Betragen gut, oder im Ganzen nicht gut, oder ein
^heil der Arbeiter beträgt sich schlecht, oder ein Theil macht
blauen Montag, viele sind dem Trunk ergeben." Mit der-
artigen Angaben ist so wenig anzufangen, als mit ähnlichen
allgemeinen Aeußerungen in Handelskammerberichten: „Im
Ganzen hat sich die Prodnetion gegen das Vorjahr in Ge-
*) Ducpetiaux, Budgets economiques des classes ouvrieres en
Belgique. Bruxelles 1855. 4o.
**) Le Play, Les Ouvriers Europeens. Paris 1855- in folio und
Les Ouvriers des deux mondes. 4 Bände 8o. Paris 1857—1863.
t) Engel, Die vorherrschenden Gewerbszweige im Königreich Sachsen,
Zeitschrift des sächs. stat. Bureaus 1857, p. 153 ff.
46 Laspeyres
spinnsten gehoben." Sieht man dann in den vorjährigen Be-
richt hinein, so steht dort die gleiche oder umgekehrte Nichts
sagende Phrase, erhebliche Vergrößernng oder nicht bedeutende
Verringerung.
Quantitativ wie für das Jahr 1860 das Betragen auch
für 1847 zu bestimmen, ist höchstens möglich durch Rückschluß
aus den quantitativen Angaben über die Wohnung, welche schon
1847 wie später für 1860 gemacht sind; leider ist jedoch ein
solcher Rückschluß aus vielen Gründen zu gewagt, um denselben
im Einzelnen als Grundlage für weitere Forschungen zu be-
nutzen: Die socialen und moralischen Verhältnisse sind für Paris
vor und nach der Revolution vielleicht nicht ganz vergleichbar,
außerdem erstreckten 1847 sich selbst die Wohnungsermittelungen
nicht über alle in einem Gewerbe beschäftigten Arbeiter, sondern
bei größeren Abweichungen im Einzelnen, nur über durchschnitt-
lich ° der Männer und ß der Frauen. Darum mußten wir es
unterlassen, die Wohnungsangaben für die einzelnen Gewerbe
aus den die Tabellen begleitenden Noten zu sammeln und auf
Procente zu berechnen, die Vergleichuug mit dem Jahre 1860
wäre schon darum äußerst schwierig, weil die Eintheiluug der
gesammteu Industrie in einzelne Gewerbe für beide Jahre
nicht genau dieselbe ist. Wir geben in Tabelle XHIa. und b.
nur die Zusammenstellung nach den Hauptgruppen, wobei
übrigens auch zwei Hauptgruppen des Jahres 1860, VI. acier,
fer, cuivre und XI. Instruments zusammengeworfen werden
mußten, um mit der Gruppe IX. Travail des metaux,
mecanique etc. des Jahres 1847 einigermaßen vergleichbar
zu sein.
Nach diesen Tabellen sind die Veränderungen in den Woh-
nungsverhältnissen während der 13 Jahre für die beiden Ge-
schlechter wesentlich verschieden gewesen. Die Zahl derer, welche
in eigenen Meubeln wohnen, hat leider für beide Geschlechter
abgenommen, d. h. bei den Männern um 5,3 pCt., nämlich
von 75 auf 71 pCt., bei den Frauen um 6 pCt., nämlich von
91 auf 85,5 pCt. Bei den Männern ist also die Verschlechte-
rung nach dieser Richtung hin etwas geringer als bei den
Frauen. Das Wohnen Chambregarnie hat abgenommen bei
Zur Moralstatistik. 47
den Männern um circa 5'5, nämlich von 21 pCt. Chambre-
garnisten auf 20 pCt., bei den Frauen zugenommen um
d. h. von 6 auf 7 pCt. Das ist alfo auch ein schlimmes
Zeichen für die Frauen, wo die Veränderung so groß und
der Einfluß dieser Wohnungsart so viel schlimmer ist. Endlich
hat, was die Hauptsache ist, das Wohnen beim Meister
sich vermehrt bei den Männern auf mehr als das Doppelte
von 4 pCt. auf 9 pCt., bei den Frauen gleichfalls vermehrt
auf das 2^fache, nämlich von 3 pCt. auf 7,5 pCt. Ein Blick
auf diese Zahlen ist wie ein Blick in einen tiefen Abgrund.
Wir wiffen, daß in eigenen Menbeln Wohnen so viel heißt
als gute Aufführung, die gute Aufführung könnten wir also
durch Rückschluß finden. Es wäre ein Rückschritt gemacht durch
den Rückschritt in dieser Wohnungsart, und zwar ein größerer
Rückschritt bei den Frauen als bei den Männern. Ein Wohnen
in Chambregarnie bedeutet für beide Geschlechter ein schlechtes
Betragen, die gefundene Abnahme der männlichen Chambre-
garnisten bedeutet darnach moralische Verbesserung. Die be-
deutende Zunahme bei den Frauen, wo Ehambregarniewohnen
viel schlimmere Folgen als bei den Männern hat, ein tiefes fitt-
liches Versinken. Endlich ist das Wohnen beim Meister der
Moral günstig, aber bedeutend mehr bei den Männern als bei
den Frauen, die große Steigerung der männlichen Chambre-
garnisten ist also moralische Hebung, ein Lichtblick, aber nur ein
kleiner, die bedeutende Zunahme der weiblichen Meisterwohner tritt
stark zurück gegen die Abnahme der Eigenmeubler und Zunahme
der Chambregarnisten, da die Zahl der Meisterwohner über-
Haupt nur eine geringe ist, eine Steigerung um viele Proceute
lange nicht so viel guten Effect hat, als eine Ver-
ringernng der Chambregarnisten oder gar als eine Stei-
gerung der Eigenmeubler um sehr wenige Procente. Der
Gang der Sittlichkeit ist in Paris, so weit man aus der
Wohnung auf das Betragen schließen darf, für das männliche
Geschlecht ein aufwärts, für das weibliche ein abwärts strebender,
denn wenn man nach unseren obigen Sätzen berechnet, wie viel
w jeder Wohnungsart sich schlecht ausführen, findet man für
das Jahr 1847:
48
Laspeyres
4 pCt. der 5661 männlichen Meistern)ohner . — 226
9,2 - - 122,922 - Eigenmeubler ..=11,308
13 - - 34,311 - Chambregarnisten ----- 4460
Summa 15,994
----- 9,8 pCt. der 162,894 Meisterwohner, Eigenmeubler
und Chambregarnisten.
7,9 pCt. der 2214 weiblichen Meisterwohner . . = 174
7,6 - - 68,691 - Eigenmeubler . . . = 5221
22,7 - - 4158 - Chambregarnisten. = 944
Summa 6339
— 8,5 pCt. der 75,063 weiblichen Meisterwohner, Eigen-
meubler und Chambregarnisten.
Das schlechte und zweifelhafte Betragen der 9,8 pCt.
Männer gegen 9,3 pCt. im Jahre 1860 und der 8,5 pCt.
gegen 8,9 pCt. der Weiber im Jahre 1860 ist uns ein Finger-
zeig, wie viel wichtiger, wenn man von politischen Motiven
absieht, für Paris die Arbeiterinnen- als die Arbeiter-
frage ist, und welche Wichtigkeit den Bestrebungen unserer
Zeit sich in erster Linie der weiblichen Arbeiterbevölkerung
anzunehmen, beigelegt werden muß. Ist der von 1847 bis
1860 eingeschlagene Weg der moralischen Hebung im mann-
lichen Geschlecht (von 9,8 pCt. aus 9,3 pCt. schlechten Be-
tragens) in derselben Richtung weiter gegangen und ebenso der
des moralischen Verfalls der Frauen (von 8,5 pCt. auf 8,9 pCt.
schlechten Betragens), so muß schon jetzt der Punkt erreicht sein,
da das weibliche Geschlecht nicht mehr als das moralisch höher
stehende betrachtet werden darf. Hoffentlich sind unsere Be-
rechnuugen der Betragensprocente für 1860 und unsere Rück-
schlüsse auf 1847 so ungenau, daß die Verhältnisse nicht so
schlimm find als sie scheinen, denn sonst würde bei gleichmäßig
fortschreitender Verschlechterung im 22. Jahrhundert in Paris
kein Frauenzimmer mehr sich ordentlich ausführen. Allein
nehmen wir getrost an, daß die Verschlimmerung so groß ist,
als sie nach unserer Berechnung scheiut, um die Wohnuugs-
srage und die ganze Arbeiterfrage der sorgfältigsten Beachtung
werth zu halten.
Zur Moralstatistik.
49
III. Theil.
Die Gründe für den Einfluß der Wohnung auf das Betragen.
§. II-
Die gewonnenen Resultate Kein Spiel des Zufalls.
In dem Bisherigen haben wir nur betrachtet, daß die
gleichen Arten der Wohnung bei beiden Geschlechtern dieselbe
Wirkung haben, mit bloß quantitativen Unterschieden. Wir
haben nun den Gründen dieser Erscheinungen nachzuspüren.
Zunächst ist hier eine Vorfrage zu berühren, welche ihre
Erledigung freilich erst durch die ganze folgende Deduction finden
kann. Ist es nicht Zufall, könnte Mancher fragen, daß in den
bewerben das Betragen um so schlechter ist, je mehr wir unter
den Arbeitern dieser Gewerbe Chambregarnisten und je weniger
wir Eigenmeubler und Meisterwohner finden? Ich glaube
kaum, denn wie sollte dieses Spiel des Zufalls sich 6mal wie-
derholen für die drei Wohnungsarten in beiden Geschlechtern!
Zudem kann man auch die Probe machen. Ordnet man näm-
kich die Hauptgruppen von je 90 Gewerben nicht nach den Pro-
centen einer Wohnungsart, sondern überläßt die Gruppiruug
ganz dem Zufall, so daß in diesen drei Hauptgruppen nahezu
gleiche Antheile an einer bestimmten Wohnungsart vorkommen,
findet man, daß auch das Betragen in allen drei Haupt-
gruppen nahezu gleich ist. Zu dem Zweck habe ich die 27 je
10 Gewerbe umfassenden Gruppen der Männer nicht geordnet
wie in Tabelle IV a. nach den Procenten der Chambregarnisten,
sondern diese 27 Gruppen beliebig durcheinander gemengt und
dann in drei Hauptgruppen von je 90 Gewerben getheilt. In
diesem Falle finden wir nahezu gleiche Procente Chambre-
garnisten und nahezu gleiche Procente zweifelhaftes und
schlechtes Betragen. Ja, wo in der dritten Hauptgruppe zu-
fällig besonders wenig Chambregarnisten znsammengeloost sind,
da sind auch besonders wenig mit schlechtem Betragen zu-
sammeugekommen.
Zeitichr. für Vülkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. 4
50
Laspeyres
Nr. der Gruppen von Männer.
je 10 Gewerben,welche dieselben in Tabelle IV a. haben, nach der Menge Chambregar- nisten geordnet. Alle Arbeiter. Chambre- garnisten. Zweifel- Haftes und schlechtes Betragen. ^ C±. S jl g pCt. Zwei- felhaf- tes nnd schlech- tes Be- tragen. pCt.
I. 7. 18. 1. 27. 19. 24. 9. 10. 16. 75,864 17,349 8241 22,8 10,9
II. 26. 13. 3. 6. 17. 5. 25. 15. 20. . 80,341 17,497 8068 21,8 10,1
III. 2. 12. 4. 21. 8. 23. 14. 22. 11. 95,921 15,923 7130 16,6 7,4
Alle 270 Gewerbe 252,126 50,769 23,439 20,1 9,3
Noch einmal durcheinander gemischt und ausgeloost, er- hielten wir Folgendes:
I. 3. 27. 6. 13. 15. 25. 9. 1. 7. . 63,17! 14,307 5854 22,6 9,3
II. 10. 20. 11. 4. 14. 17. 18. 8. 26. . 84,547 15,043 7760 17,8 9,1
in. 23. 12. 19. 21. 22. 5. 2. 16. 24. . 104,408 21,419 9825 20,5 9,4
| Alle 270 Gewerbe 252,126 50,769 23,439 20,1 9,3
Wie anders sehen dagegen die Procente des schlechten Be-
tragens aus in Tabelle IVa.:
Chambregarnie 5 pCt., 14 pCt., 28 pCt.,
Betragen . . 3 - 9 - 12 -
Ueberall haben wir: Wo gleiche Procente Chambregar-
nisten sind, ist das Betragen gleich, wo ungleiche, ungleich.
Endlich finden wir dasselbe wieder, wo die 27 Gruppen in
einer bestimmten Regelmäßigkeit durcheinandergemengt sind, in-
dem von je drei nächstverwandten der Tabelle IVa. immer
eine in jede der drei Hauptgruppen gebracht werden, wie folgt:
Zur Moralstatistik.
51
I (5) &
> Nr. der Gruppen in Tabelle IV a. Alle Arbeiter. Chambre- garnie. I Betragen.^ ~ 3 S* ? PCt. £ 3 pCt.
I. 1. 4. 7. 10. 13. Iß. 19. 22. 25. . 83,885 15,697 1 7981 18,7 9,5
II. 2- 5. 8. 11. 14. 17- 20. 23. 26. . 96,478 19,210 8646 19,9 9
III 3. 6. 9. 12. 15. 18. 21. 24. 27. . 71,763 15,862 6812 22,1 9,5
Alle 270 Gewerbe | 252,126 50,769 | 23,439 Ii 20,1 1 9,3
Alle diese drei Tabellen sprechen deutlich genug ohne Er-
läuterung und verlangen nicht, daß auch durch die anderen
Wohnungsarten hindurch dasselbe Experiment gemacht wird, nur
für die Frauen möge hier dieselbe Rechnung noch Raum sinden.
Bei den Frauen müssen dabei die 11 Gruppen von zusammen
110 Gewerben fortfallen, in denen keine Chambregarnisten vor-
kommen, denn diese sind laut Tabelle IV b. nicht einzeln, son-
dern nur zusammen berechnet. Vertheilen wir die 120 Ge-
werbe in 12 Gruppen so, wie zuletzt die Männer, indem die
ungraden und die graden Gruppen zusammengenommen werden,
so^ ergiebt sich:
Nr. der Gruppen 1 Alle Chambre- Schlechtes 11 Ö3® 5.-8J c§ -3*
in Tabelle lVb. Frauen. garnie. Betragen. PCt. PCt.
I. 12. 14. 16. 18.20.22. 47,217 3285 3624 7 7,7
II. 13. 15.17. 19.21.23. 49,548 3856 5426 7,8 10,9
Alle 120 Gewerbe 96,765 7141 9050 i 7.4 I 9,3
D. h. da die Unterschiede in der Chambregarnistenzahl unbe-
deutender sind als in Tabelle IVb., so ist auch der Betragens-
unterschied ein geringerer (in Tabelle IVb. bei 4 pCt. Chambre-
garnisten 6 pCt. schlecht Betragen, bei 14 pCt. Chambregar-
nisten 15 pCt. schlecht Betragen.)
Nach dem Loos geordnet ergiebt eine Berechnung:
4*
52
Laspeyreö
Nr. der Gruppen in Tabelle IV b. Alle Frauen. Chambre- garnie. Schlechtes Betragen. --.Z |3 pCt. 03® 2 - » -8< PCt.
I. 15. 21.20.22.17.12. 43,607 3733 4259 8,6 9,8
II. 16. 18. 13. 23.19.14. 53,158 3408 4791 6,2 9,0
Alle 120 Gewerbe 96,765 7141 9050 7,4 9,3
Eine andere Ausloosuug endlich ergab noch geringere Differenzen im Antheil der Chambregarnisten, aber etwas grö- ßere im Betragen:
cs H PCt.
Nr. der Gruppen in Alle Chambre- Schlechtes 2 ° 3 3
Tabelle IVb. Frauen. garnie. Betragen. PCt.
I. 22. 21. 15. 19.18.12. 37,695 2932 3958 7,8 10,5
Ii. 23. 20. 14. 17.13.16. 59,070 4209 5092 7,1 8,6
Alle 120 Gewerbe 96,765 7141 9050 7,4 9,3
I. Abschnitt.
Gründe für den guten Einfluß des Wohnens in eigenen Meubeln.
§-12.
Nach diesen Andeutungen, welche sich systematisch erweitern
ließen, treten wir zur Erforschung der Gründe für die im vo-
rigen Theil gefundenen Ergebnisse auf die Frage ein: Was
heißt in Ehambregarnie, in eigenen Meubeln, beim
Meister wohnen? Jede dieser drei Wohnungsarten ist der
scheinbar einfache Ausdruck für complexe Verhältnisse. In
„ eigenen Meubeln wohnen" heißt selbstverständlich immer
Eigenthum und zwar an Mobiliar haben, in „Chambre-
garnie" und „beim Meister wohnen" selbstverständlich zum
Theil fremdes Mobiliar benutzen, also nicht alles Mobiliar selbst
zu Eigen haben. Die in eigenen Meubeln Wohnenden gehören
Zur Moralstatistik. 53
forum freilich noch nicht nothwendig durchweg zu den Wohl-
Habenderen, denn die in fremden Meubeln und vielleicht außer-
dem in fremder Kost Lebenden können leicht größeres Eigen-
thum in anderer Gestalt haben. Die in eigenen Meubeln
Wohnenden sind zugleich in überwiegender Zahl die Verhei-
ratheten, während die beim Meister Wohnenden wohl fast aus-
nahmslos, die in fremden Meubeln wenigstens zum weitaus
größeren Theil ledig sind. Im ersteren Falle muß der Lohn
des Mannes mit den geringeren Zuschüssen aus der Einnahme
von Frau und Kindern meistens eine ganze Familie ernähren,
lm letzteren Falle braucht der hohe Lohn des ledigen Mannes,
a^er auch der geringe Lohn der ledigen Frau nur für eine
^>erfort zu reichen. Das Verhältniß, in welchem der Lohn des
. annes, der Frau, der Kinder, und die sonstigen Einnahmen
aus eigenem besitz oder aus Almosen zu eiuauder stehen, ist
ungefähr das folgende:
Belgische Arbeiter.*)
Von je 100 Fr. Einnahme rühren her
aus Arbeit von
Mann.
Frau.
Kin-
dern.
er e §
g g rt
O S
TO ST §
48 Familien mit 565 Fr. Ausg.
51 - 797 -
54 - 1198 -
S. 153 - 866 -
+) 47 ü - 929 -
56,1
54,1
50,7
11,9
10,5
8,1
20,9 j 87,8
23.5 I 88,2
23.6 | 82,4
52,9
58,5
9,4 23
8,3 14,9
85,3
80,5
12,2
11,8
17.6
14.7
19,5
Französische Art>exter.**)
18 Familien mit 870 Fr. Ausg.
19
- 2045
52,9 i 12,9 21,9
66,4 1 15,1 6,9
86,8 | 13,2
88,4 ! 11,6
*) Berechnet von Engel nach Ducpetiaux, Zeitschrift des Königl.
sächsischen statistischen Bureau's 1857, S. 168.
**) Berechnet von mir nach den 37 sranzösischen Arbeiterbudgets in
I.o Play, Les Ouvriers Europeens und den 4 Bänden Les Ouvriers des
deux mondes.
t) Berechnet von mir nach den 47 Budgets von Ducpetiaux,
54
Lespeyres
Darnach steht sich der kräftige, unverheirathete Arbeiter
materiell unbedingt am besten, die unverheirathete Arbeiterin
am schlechtesten. Vergleicht man mit diesen Angaben die Höhe
des Lohnes, z. B. in Paris, welche nach Anm. auf S. 18 für
Männer durchschnittlich 4,21, für Frauen 2,02 Fr. beträgt,
dann sieht man leicht, daß die beim Meister und in Chambre-
garnie wohnenden Junggesellen am wohlhabendsten sein könnten,
nicht aber, daß sie es sind, und daß die beim Meister und
in Chambregarnie wohnenden ledigen Frauen am ärmsten sein
müssen. Einen sicheren Schluß auf die Wohlhabenheit können
wir aus der Wohnungsart nicht ziehen, außer den ungünstigen
für die weiblichen Chambregarnisten und Meisterwohuer, und
den anderen günstigen, daß die in eigenen Meubeln wohnenden
Arbeiter nicht zu den Aermeren gehören können. Zweitens heißt
in eigenen Meubeln Wohnen in den meisten Fällen anständig
wohnen, denn wer eigene Meubel hat, miethet schwerlich mo-
nateweis und gewiß nicht auf Wochen oder gar nur auf Tage,
sondern auf länger, und kann darum für das gleiche Geld eine
bessere Wohnung bekommen. Leider können wir keinen stati-
stischen Blick thun in die unmeublirt vermieteten Wohnungen
der arbeitenden Klassen, wie in die schauerlichen Chambregarnies,
welche die Enquete des Jahres 1849 uns aufgeschlossen hat,
allein nach den Schilderungen ist es undenkbar, daß die Woh--
nungen derer, welche eigene Meubel haben, so schlecht sind als
die Chambregarnies.
Weiter heißt, wie schon angedeutet, in eigenen Meubeln
wohnen meistens verheirathet sein. Wie stimmen damit unsere
Zahlen? Daß unter den in eigenen Meubeln Wohnenden fast
nur Verheirathete sich befinden, zeigt die Bevölkerungsstatistik
von Paris, verglichen mit der geringen Anzahl verheiratheter
Chambregarnisten. Von den Männern über 15 Jahre alt ver-
halten sich die Verheiratheten zu den Ledigen wie 58,3 :41,7.
Von den 251,119 Arbeitern sind also 146,402 verheirathet
und 104,717 ledig. Die 25,912 beim Meister Wohnenden
welche nicht unter die drei oberen Kategorieen einbegriffen waren und von
Engel unberücksichtigt gelassen wurden.
M
Zur Moralstatistik.
55
sind fast ausnahmslos ledig, von den 48,769 in fremden Meu-
beln sind nach den Ermittelungen der Chambregarnieenquete
berechnet 97 pCt. oder 47,306 ledig. Summa der ledigen
Meisterwohner und Chambregarnisten männlichen Geschlechts
73,218, es bleiben also von den 104,717 Ledigen 31,499 für
die in eigenen Meubeln Wohnenden, d. h. auf 176,438 Eigen-
menbler nur 18 pCt. Eine wie große Nolle in dem guten
Betragen, welches aus dem Wohnen in eigenen Meubeln fließt,
das Verheirathet sein spielt, spiegelt sich darin, daß sogar unter
den Chambregarnisten das Betragen in den verschiedenen Stadt-
theilen von Paris um so besser ist, je mehr Procente der
Chambregarnisten verheirathet sind. Das zeigen die beiden
Tabellen XIIIa.b., in denen die 47 Quartiere und die 12 Ar-
rondissements von Paris geordnet sind nach der procentalen
Menge der Chambregarnisten, welche verheirathet sind, wozu
dann die Procente gutes Betragen jedes Quartiers und jedes
Arrondissements gesetzt sind. In Gruppen von 24 resp. 23
Quartieren geordnet haben die Quartiere ein um so besseres
Betragen, je mehr Procente verheirathet sind.
Hauptresultat der Tabelle XHIa. und b.
C Man I pCt. ledig. ^hambreg uer. pCt. gut Betragen. arnisten- Frai pCt. ledig. im. pCt. gut Betragen.
24 Stadtquartiere . . 23 98,5 91,5 46,5 51,5 95,6 85,5 19,5 1 23,8
47 - | 96 i 48 CD *0 K>
Verhältniß gegen den Durchschnitt aller 47 Stadtquartiere — 100.
24 Stadtquartiere . . 102 97 104 93
23 95 107 93 113
47 100 100 100 100
Bei durchschnittlich 98,5 pCt. ledigen männlichen Chambre-
garnisten haben nur 46,5 gutes Betragen, bei 91,5 pCt. ledigen
56 Laspeyres
aber 51,5 pCt. Also wo die Zahl der Ledigen um 7 pCt.
größer ist, da ist das gute Betragen um 9 pCt. geringer. Bei
durchschnittlich 95,6 pCt. weiblichen ledigen Chambregarnisten
ist das Betragen von 19,5 pCt. gut, bei 85,5 pCt. ledigen
aber 23,8 pCt. gut Betragen, d. h. wo die Zahl der Ledigen
um 12 pCt. größer ist, da ist das gute Betragen um 20 pCt.
geringer. Die Procentzahlen der Ledigen differiren von Quartier
zu Quartier stärker bei den Frauen, folglich auch die Procent-
zahlen des guten Betragens, allein die letzteren differiren noch
etwas stärker. Gleichheit wäre, wenn das gute Betragen der
Frauen in den Quartieren mit 95,6 pCt. ledigen um 15 pCt.
geringer wäre, nach der Proportion 4- 7 : — 9 = -j- 12 : — 15.
Darnach wäre vielleicht der Einfluß der Ehe auf die Frauen
eine Kleinigkeit größer als bei den Männern. Ich sage viel-
leicht, denn, wenn wir nicht nach Quartieren, sondern nach
ganzen Arrondissements ordnen, erscheint umgekehrt der Einfluß
der Ehe bei den Männern größer.
In 6 Arrondissements
mit 98 pCt. ledigen Männern 42,5 pCt. gutes Betragen,
- 94,3 - - - 56 - -
- 95,5 - - Frauen 19,6 - - -
- 87,6 - - - 23,3 -
d. h. wo 4pEt. mehr ledige Männer sind, sind 24 pCt. weniger
gutes Betragen, wo aber 9 pCt. mehr ledige Frauen sind, sind
16 pCt. weniger gutes Betragen. Ein gleiches Verhältniß
wäre, wenn im letzten Falle statt 16 pCt. weniger 54 pCt. we-
Niger sich gut aufführten nach der Proportion H- 4: — 24 =
-f- 9 : — 54. Beide Rechnungen nach Quartieren und nach
Arrondissements geben in der Richtung dasselbe Resultat, aber
mit quantitativem Unterschiede. Welche Berechnung mag die
richtigere sein? Ich bin im Zweifelsfatle für die mit Quar-
tiereu, da in je 24 Quartieren nicht so Ungleichartiges vereinigt
ist, als in je 6 Arrondissements. In letzteren hat der Zufall
mehr Spielraum. Ohne großen Fehler dürfen wir den Einfluß
der Ehe auf das Betragen gleich hoch ansetzen.
Damit ist jedoch nicht gesagt, daß auch das Wohnen in
eigenen Meubeln, dessen eine Ursache nur neben vielen anderen
Zur Moralstatistik.
57
das Verheirathetsein ist, bei den Männern gleichen Einfluß hat
als bei den Weibern. Die Zahlen der Tabelle IV a. b. zeigen
sogar für Männer einen viel stärkeren Einfluß als bei den
Frauen. Während nämlich die 140 Gewerbe mit den meisten
männlichen Eigenmenblern (87,5 pCt.) und die 130 Gewerbe
mit den wenigsten (64,9 pCt.) zum Gesammtdurchschnitt 72,5
pCt. ---- 100 gesetzt sich verhalten wie 120,8 : 89,6, stehen die
Frauen im Verhältniß zum Durchschnitt wie 114,5 : 92, da die
120 Gewerbe mit den meisten Eigenmenblern 96 pE-, die 110
mit den wenigsten 77,1 pCt. enthalten gegen den Durchschnitt
von 83,8 pCt. Bei dieser größeren Wohnungsdifferenz der
Männer differirt umgekehrt das Betragen mehr bei den Frauen.
Die 140 Gewerbe mit den meisten Männern in eigenen Meu-
beln haben 91,8 pCt. gutes Betragen, die 130 mit den we-
nigsten 89,5, sie verhalten sich zum Durchschnitt von 90,4 — 100
wie 101,5 : 99. Dagegen steht das weibliche Geschlecht gegen den
Durchschnitt gleich 100 gesetzt wie 104:97,7, d. h. die 120
Gewerbe haben 95 pCt. gutes Betragen, die anderen nur
89 pCt., alle zusammen 91,2. Der Zusammenhang zwischen
Wohnung in eigenen Meubeln und dem Betragen ist also
stärker bei den Frauen bei gleichem Einfluß der Ehe. Woher
kommt das? In Paris zum Theil gewiß daher, daß unter
den weiblichen Arbeitern, die in eigenen Meubeln wohnen,
wahrscheinlich mehr unverheirathet sind als unter den Männern,
da die weibliche Arbeiterbevölkerung von Paris ungleich seß-
hafter ist als die männliche. In Paris kommen nach Ta-
belle XIV. von den 10,789 nicht seßhaften Arbeitern nur 26
aus das weibliche Geschlecht. Von den unverheirateten Frauen
kommt also gewiß ein größerer Theil als von den uuverhei-
ratheten Männern aus die Eigenmeubler. Wir schließen das
aus dem Verhältniß der Männer und Weiber unter den Ehambre-
garnisten, die nur 4 pCt. verheirathete Männer, aber 8 pCt.
verheirathete Frauen aufweisen. Von der großen Menge lediger
Frauenzimmer in Paris, von denen die 92 pCt. der Ehambre-
garnie Wohnenden mit 6573 und etwa die sämmtlichen 9785
beim Meister Wohnenden zusammen nur 16,358 hinwegnehmen
würden, müssen notwendigerweise viele in eigenen Meubeln
__L_L
58 Laspeyres
wohnen. Das Nähere hierüber enthält die ausführliche An-
merkung 3 S. 102 ff. Unabhängig vom Verheirathetsein wirkt
das Wohnen in eigenen Meubdn, also wohl das Mobiliar-
eigenthum auf das Betragen günstig ein, denn der Einfluß des
Wohnens in eigenen Meubeln ist bei den Frauen, obwohl viele
weibliche Eigenmeubler uuverheirathet sind, doch stärker als bei
den meistens verheiratheten männlichen Eigenmeublern. Oder
ist bei den Frauen der Einfluß der Ehe auf die Sittlichkeit,
abweichend von den obigen ja nur für die Chambregar-
nisten gefundenen Resultaten, so groß, daß trotz den vielen
unverheirateten Eigenmeublern weiblichen Geschlechts das Be-
tragen dennoch Keffer wäre als das der männlichen, unter denen
wenige Unverheiratete sich befinden? Müßte man diese Frage
bejahen, so würde damit die von gebildeten Frauen so oft be-
strittene Theorie der durch Nichtheirathen verfehlten Existenz
des weiblichen Geschlechts wenigstens in den unteren Klassen
eine Bestätigung finden. Es würde das vom ethischen Stand-
punkte aus in hohem Grade gegen die Bemühungen derjenigen
sprechen, welche die Frauen wirtschaftlich nicht nur so weit
emancipiren wollen, daß sie eine anständige Existenz sich
schaffen können, salls sie nicht zum Heirathen kommen, son-
dern so weit, daß dieselben vom Heirathen durch den besseren
eigenen Erwerb geradezu abgehalten werden. Das Letztere
wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn man nachweisen könnte,
daß der eigene größere Erwerb der ledigen Frau einen min-
destens ebenso großen moralischen Aufschwung gäbe, als das
Heirathen in einen dürftigen Hausstand. Hier liegen noch viele
schöne Probleme ungelöst, aber meiner Ansicht nach der in-
ductiven Lösung durch statistische Berechnung fähig.
II. Abschnitt.
Gründe für den schlimmen Einfluß des Wohnens in
Chambregarnie.
Der Einfluß des Wohnens in Chambregarnie kann am
tiefsten ergründet werden, da wir für diese Wohnungsart auch
die speeielle Chambregarnieenquete des Jahres 1849 verwerthen
Zur Moralstatistik. 59
können. Dieselbe bietet uns zugleich Stoff, noch einige andere
Momente mit in den Kreis unserer Betrachtung zu ziehen,
welche entweder direct ein gewisses Betragen zur Folge haben
oder nur indireet, indem sie die Wohnungsart und damit das
Betragen bestimmen.
A- Der schichte Einfluß des Wohnens in Chambregarnie auf
beide Geschlechter.
Dafür, daß das Betragen der Chambregarnisten schlechter
ist als das der Eigenmeubler, lassen sich die Gründe unschwer
finden. Sie sind im Ganzen die den Gründen für das gute
Betragen der Eigenmeubler entgegengesetzten, kein Mobiliar-
eigenthum, Ehelosigkeit, unbehagliche^ Wohnung.
Der Mangel an Mobiliareigenthum liegt schon in den Korten
"in fremden Meubeln"; des Factums der Ehelosigkeit
haben wir schon oben gedacht, nur 8 pCt. der in Chambre-
garnie wohnenden Frauen und gar nur 4 pCt. der Männer
sind verheirathet, das Maximum eines Quartiers ist 33 pCt.
der Frauen und 14 pCt. der Männer. Was die Güte der
Wohnungen angeht, verweisen wir auf den ersten Theil, der
deutlich zeigt, wie die gute oder schlechte Beschaffenheit der
Wohnung wirkt, weil fie den Aufenthalt in derselben angenehm
oder unerträglich macht.
Einfluß den das Beisammemvohnen vieler Chambregarnisten
in demselben Stadttheil äußert.
§. 13.
In Tabelle XVa. und XVb. ist verglichen die absolute
Zahl der Chambregarnisten in jedem der 47 Quartiere von
Paris mit der Zahl derer, welche gutes Betragen haben. Aus
der coneentrirtesten Form dieser Tabelle sieht man, daß in den
23 Stadttheilen mit zusammen 4668 männlichen Chambregar-
nisten 2454 oder 52,5 pCt. sich gut betragen, in den 24 Qnar-
tieren mit zusammen fast 4mal so viel Chambregarnisten nur
7884 oder 46,6 pCt. sich gut aufführen. Bei den Frauen
stehen sich gegenüber 1238 mit 316 guten Betragens und
5024 mit 1001 guten Betragens, d. h. 25 pCt. gegen 19,9 pCt.
60 Laspeyres
Hauptresultat der Tabellen XVa.d.
Zahl der Stadttheile. C h Mai 1-g-I •SJ'I ambre Itter. pCt. gutes Betragen. g a r n i st Fra o ~ ~ ö 05 .8* e n. uen. pCt. gutes Betragen.
24 Quartiere . . . 24 - ... 194 704 52.5 46.6 52 209 25,5 19,9
48 - ... Verhältniß g 24 Quartiere . . . 24 - ... 449 egen alle 4 43 157 48 8 Quartier 109 97 130 e — 100. 40 161 21 121 95
48 - ... 100 | 100 100 100
Zahl der Chambre-
garnisten.
Minimum: Maximum-
Männer 4468 16.899 --- 100 - 377
Frauen 1238 5024 = 100 : 407
Procent
gut Betragen.
Maximum-. Minimum:
52,5 46,6 = 100 : 89
25,5 19,9 = 100 : 78
In Worten: Da die Differenz zwischen der Menge weib-
licher Chambregarnisten größer ist als die der männlichen, ist
auch die Differenz im Betragen umgekehrt größer. Ehe wir
nach dem Grund dieses Zusammenhanges forschen, müssen wir
zusehen, ob derselbe auch bleibt, wenn wir die Zahl der Chambre-
garnisten in jedem Stadttheil reduciren auf die Bevölkerungs-
dichtigkeit? Die Beantwortung dieser Frage können wir leider
nicht bis zu den kleinen Stadttheilen der 48 Quartiere durch-
führen, sondern müssen uns, da wir die Bevölkerungsdichtigkeit
der 48 Quartiere für das Jahr 1849 nicht kennen, mit den
12 Arrondissements begnügen. Zur Begleichung machen wir
die vorstehende Berechnung nach Quartieren auch nach Arron-
dissements. Für die 6 Arrondissements mit den wenigsten und
die 6 mit den meisten Chambregarnisten finden wir für die
24 resp. 23 Quartiere, als Resultat nach Tabelle XVIa.b.
Zur Moralstatistik.
Hauptresultat der Tabelle XVI a. b.
Zahl der Stadttheile. Chambregarniste Männer. ! 8™ | pCt. gutes "f? i Betragen, j 1 AZA. n r-j- j rs «-j ^ | <j> V | | ? ? n. uen. pCt. gutes Betragen.
6 Arrondissements 6 | 1062 2533 49,8 47,3 j 343 j 70 t ' 17,9 22,6
12 - 1797 | 48 | 522
Verhältniß gegen alle 12 Arrondissements — 100.
6 Arrondissements ! 59 1 104 1 66 85
6 1 141 1 99 1 134 108
12 - .| 100 i 100 100 1 100
Zahl der Chambre- Procent gutes
garnisten. Betragen.
Minimum: Maximum: ! Maximum: Minimum:
Männer 6372 : 15,195 — 100 : 238 | 49,8 : 47,3 --- 100 : 95
Frauen 205ö : 4206 = 100 : 205 | 22,6 : 17,9 — 100 : 79
Hier haben wir ein in sofern vom vorigen verschiedenes
Ergebniß, als in der kleinen Tabelle das Maximum und Mi-
nimum des guten Betragens und der Wohnung viel weniger
differirt als oben. Sehr erklärlich! Bei ganzen Arrondisse-
ments sind zu ungleichartige Quartiere in Eins zusammengefaßt,
so daß das Minimum und Maximum der Chambregarnisten in
der einen Hälfte und in der anderen Hälfte von Paris bei Äe-
rechnung nach kleineren Stadttheilen sich wie 100:377 für
Männer und 100:407 bei Frauen verhält, hingegen bei Be-
rechnung nach größeren in sich große Ungleichheiten bergenden
Stadttheilen nur wie 100:238 bei Männern und gar wie
100 : 205 bei Frauen.
Für den Flächenraum und die Bevölkerung von Paris
haben wir die nöthigen Angaben auf der Karte, welche der En-
quöte von 1847 beigelegt ist (Tabelle XVII.). Daraus finden
62 Laspeyres
wir die Dichtigkeit der Bevölkerung in jedem Arrondissement.
Die Tafel giebt Stoff zu den Vergleichnngen zwischen dem
Betragen und der Zahl der Chambregarnisten.
1) Ist das Betragen um so besser oder um so schlechter,
je mehr Chambregarnisten auf einem bestimmten Flächenraume
wohnen?
2) Ist das Betragen um so besser oder um so schlechter,
je mehr Chambregarnisten auf eine bestimmte Einwohnerzahl
kommen?
3) Ist das Betragen um so besser oder um so schlechter,
je mehr Chambregarnisten aus eine bestimmte Einwohnerzahl
gleichen Flächenraums, d. h. aus eine bestimmte Bevölkerungs-
dichtigkeit kommen?
ad 1) Das Betragen im Verhältnis? zur Chambregar-
nistenzahl auf einem bestimmten Flächenraum.
Hauptresultat der Tabelle XVIIIa. b.
Stadttheile. c Män Chambre- garnisten per Quadrat- Kilometer. ^hambreg ner. pCt. gutes Betragen. a r n i st e n. Frai Chambre- garnistinnen per Quadrat- Kilometer. len. pCt. gutes Betragen.
6 Arrondissements 6 413 2160 40 53,6 138 528 16,8 24,4
12 Verhältniß 6 Arrondissements 6 627 zum Durchschn | 66 344 48 itt aller 12 A 83 112 182 crondissements 76 290 21 --- 100. 80 116
12 - 100 Auf Tabelle XYIIIa. 100 b. sind die 100 | 100 Arrondissements danach
geordnet, wie viel Chambregarnisten auf einem Quadratkilometer
wohnen und dazu das Betragen gestellt. Die 6 Arrondisse-
ments mit den wenigsten Chambregarnisten auf gleichem Flächen-
Zur Moralstatistik.
63
räum, durchschnittlich 413 Männer und 138 Frauen, sind zu
40 resp. 16,8 pCt. guten Betragens. Die 6 Arrondissements
mit den meisten Chambregarnisten, 2160 Männer und 528
Frauen, haben 53,6 resp. 24,4 pCt. gute Aufführung. An-
ders ausgedrückt: Wo bei den Männern der Unterschied der
Chambregarnisten auf gleichem Flächenraum — 100 : 523 ist,
stellt sich der Unterschied im Betragen — 100:134. Hingegen
giebt bei den Frauen ein Dichtigkeitsverhältniß von 100: 383,
ein Betragensverhältniß von 100 : 145. Bei beiden Geschlechtern
ist qualitativ dieselbe Wirkung, quantitativ eine verschiedene,
und zwar eine höhere Wirkung auf das Betragen bei den
Frauen trotz geringerer Unterschiede in der Zahl von Chambre-
garnisten per Quadratkilometer. Sollte die Wirkung bei den
Männern gleich sein wie bei den Frauen, so mnßte das Be-
tragen zu einander statt 100: 134 sich verhalten wie 100: 198.
^äßt man den quantitativen Unterschied bei Seite und fragt
uur nach den Gründen der Wirkung überhaupt, so ist an sich
Vichts zu finden, was eine directe Wirkung der „viel Chambre-
garnisten per Quadratkilometer" auf das Betragen her-
vorrufen könnte. Die Sache scheint vielmehr so zu sein: Die
größere Dichtigkeit der Chambregarnie wohnenden Arbeiter-
Bevölkerung und das damit parallel gehende bessere Betragen
sind beide die Wirkung eines dritten Umstandes, nämlich des
industriellen Fleißes gewisser Stadttheile. Ein Blick aus den
Plan von Paris zeigt, daß die Quartiere mit dem guten Be-
tragen und den vielen Chambregarnisten per Quadratkilometer
einen Paris im Mittelpunkt durchschneidenden Streifen von
Nordosten nach Südwesten einnehmen auf der kleinen Axe der
Ellipse, welche Paris bildet. Die Quartiere sind aber gerade
kle industriellsten, am meisten Arbeiter beschäftigenden Stadt-
%tle von Paris.*) Zwar in absoluten Zahlen ist, wie Ta-
belle XVIII. Spalte 6 nnd 6 zeigt, die Menge der männ-
^chen Arbeiter in den 6 Arrondissements mit der dichtesten
. ^ ') Vergleiche Laspeyres, Die Gruppirung der Bevölkerung und
er Industrie in den verschiedenen Stadttheilen von Paris, im Berliner
' emeindekalender für das Jahr 1869.
64
Laspeyrös
Chambregarnie-Bevölkerung fast genau die gleiche, wie in den
6 mit wenigsten Chambregarnisten, nämlich durchschnittlich 16,332
gegen 16,532 Arbeiter per Arrondissement, und auch bei den
Frauen ist der Unterschied nur 11070 in den dicht und 7744
in den düun besetzten Arrondissements. Ganz anders, da die
Arroudissements in dem mittleren Streifen von Paris die klei-
neren sind, wenn wir, wie in Spalte 6 und 6 geschehen ist,
auch die Zahl der in einem Arrondissement beschäftigten Ar-
beiter nicht per Arrondissement, sondern per Quadratkilometer
berechnen. Dann finden wir: In den 6 Arrondissements mit
nur 5187 männlichen Arbeitern per Quadratkilometer ist die
Chambregarnistenzahl 413 und das Betragen zu 40 pCt. gut,
iu den 6 Arrondissements mit 13,685 durchschnittlich per Qua-
dratkilometer beschäftigten Arbeitern, wohnen 2160 Chambre-
garnie und haben 53,6 pCt. gutes Betragen.
Für die Frauen find die Zahlen:
Bei 3091 Arbeiterinnen per Quadratkilometer 138 Chambre-
garnisten und 16,8 pCt. gutes Betragen.
Bei 9728 Arbeiterinnen per Quadratkilometer 528 Chambre-
garnisten und 24,4 pCt. gutes Betragen.
Setzen wir bei beiden Geschlechtern die Reihe der gerin-
geren Beschästigungsdichtigkeit — 100, so finden wir:
Beschäftigungs- dichtigkeit. Chambregarnisten- dichtigkeit. PCt. gutes Betragen.
Minimum: Maximum. Minimum - Maximum. Minimum - Maximum.
Männer 100 : 264 100 : 523 100 : 134
Frauen 100 : 315 100 : 383 100 : 145
Jetzt erklärt sich das gute Betragen bei großen Mengen
Chambregarnisten auf bestimmtem Flächenraum sehr leicht. In
die Quartiere, in welchen die Industrie viele Arbeiter beschäf-
tigt, ziehen die wirklich Arbeitenden der unteren Klassen, hin-
gegen in die anderen Quartiere die Faulen. Da die Be-
schäftignngsdichtigkeit bei den Frauen in den einzelnen Stadt-
Zur Moralstatistik.
65
theilen mehr variirt als bei den Männern, gestaltet sich auch
das Betragen noch günstiger.
Der Grund des guten Betragens gewisser Stadttheile liegt
also zum Theil nicht in der Wohnungsbeschaffenheit, sondern
auch in dem Fleiße*), sowie umgekehrt auch das gute Betragen
wieder die Ursache des Fleißes ist. Die höheren Mietpreise
in den dicht bevölkerten Stadttheilen tragen mit dazu bei, daß
nur die Fleißigen dort wohnen können, weil diese allein mit
ihrem größeren Erwerb die hohe Miethe bestreiten können.
Unbeschäftigtsein sührt den Mann zu schlechter Aufführung und
zum Laster, die Frau aber nach unseren Zahlen noch viel mehr,
denn dem Manne verursacht eins der größten aus Faulheit ent-
stehenden Laster, der geschlechtliche Umgang, Kosten, den Frauen
wird das Laster zeitweilig die ergiebigste aller Erwerbsquellen.
Hätten wir uns nicht daraus beschränkt, den Einfluß der Woh-
nung auf das Betragen zu charakterisiren, so ließe sich die hier
angedeutete Betrachtung leicht weiter sichren, indem man unter-
sucht, ob die Arrondissements mit gutem Betragen auch gerade
die sind, in denen solche Industrien betrieben werden, welche den
Arbeitern die höchsten Löhne zahlen. Dazu müßten wir aber
fchon in die Details der Jndustrieenquete eindringen, vor-
*) Der Zusammenhang zwischen Jndnstriedichtigkeit und Chambre-
garnistenzahl der Arrondissements ist sogar ein so enger, daß nicht nur bei
Zusammenfassung von 6 Arrondissements die Zahlenreihen gleichmäßig
steigen, sondern schon bei je dreien, ja für die Männer sogar schon bei je
Zweien.
Auf 1 Quadratkilometer: Männer. 1 Frauen.
3 Arrondissements 3 * 3 ^ äWeiter: garmsten: 4213 = 100 213= 100 6493 = 154 614= 288 11423 = 272 1397= 656 15950 = 380 2857 = 1340 Arbeiter: Chambre- garmsten: 2362 = 100 86 = 100 3820 = 162 190 = 221 7220 = 306 417 = 485 12260 = 520 635 = 739
Das Betragen stimmt bei so kleinen Gruppen noch nicht, auf das Be-
tragen wirken eben außer dem Fleiße noch sehr viel mehr andere Sachen
ein, als auf die Wohnungswahl. r
Aeitschr. für Bölkerpsych. u. Sprachw. Br. VI.
66
Laspeyres
läufig haben wir den Gang unserer Arbeit nur so weit über
den Wohnungseinfluß hinaus erweitert, daß wir diejenigen Ein-
flüfse, welche speciell aus der Ehambregarnieenquete zu er-
Mitteln sind, mit in Betracht ziehen. In der ausführlichen An-
merkung 4, welche hier den Text zu lange unterbrechen würde, findet
sich am Ende der Abhandlung S. 104 der Einfluß charakterisirt,
den die Art der Einnahme unabhängig von der Höhe auf das
Betragen ausübt, als Arbeit resp. Ersparnis aus früherer Ar-
beit, öffentliche Unterstützung, Credit, Prostitution, Diebstahl.
Mit dem hier berührten Einfluß des Fleißes auf das Be-
tragen der Ehambregarnisten scheint in unlöslichem Widerspruch
zu stehen, daß nach Tabelle XIa. b. das Betragen der Ehambre-
garnisten um so besser war, je mehr der Ehambregarnisten zur
Zeit unbeschäftigt waren.
Hauptresultat der Tabelle XXa. b.
Ehambregarnisten.
Stadttheile. Männer und Frauen. pCt. unbeschäftigt. Männer. pCt. gut Betragen. Frauen. PCt. gut Betragen.
24 Quartiere . . 54,4 52 23,1
23 - 34,2 41,6 18,1
47 - 47 48 21
Verhältniß zum Durchschnitt aller 47 Quartiere — 100.
24 Quartiere . . 113 111 110
c2 73 89 86
47 100 100 100
In den 24 Quartieren mit durchschnittlich 54,4 pEt. Un-
beschäftigten war das Betragen von 52 pEt. der Männer und
23.1 pEt. der Frauen gut, in den 23 Quartieren mit nur
34.2 pEt. unbeschäftigte Ehambregarnisten hingegen 41,6 pEt.
Männer und 18,1 pEt. Franen gut. Wiederum nicht so bei
Betrachtung ganzer Arrondissements, wo die mehr nnbeschäf-
tigten Männer ein Minus des guten Betragens ergaben.
Zur Moralstatistik.
67
Stadttheile. Männer und Frauen unbeschäftigt. pCt. Männer gut Betragen. pCt. Frauen gut Betragen. pCt.
In 6 Arrondissements In 6 Arrondissements . 50,8 = 100 38,8= 76 47,8 = 100 49 = 102 22,6 = 100 18,1= 80
Die Einteilung in Arrondissements ist wieder keine ge-
nügende, wir halten uns an die bessere, weil subtilere Einthei-
lung in 48 Quartiere, wonach das Unbeschäftigtsein Vieler mit
gutem Betragen beider Geschlechter Hand in Hand geht. Der
scheinbare Widerspruch mit der obigen Parallelität des Fleißes
und des guten Betragens löst sich leicht, da die Quartiere mit
den vielen im Jahre 1849 unbeschäftigten Chambregarnisten
gerade diejenigen sind, welche nach Tabelle XX. als Haupt-
sitz der Pariser Industrie in guten Zeiten viele Arbeiter be-
schäftigen und eben deshalb in schlechten Zeiten viele Arbeiter
außer Thätigkeit setzen müssen. Der Zeitpunkt der Wohnungs-
enquöte war nun der einer sast allgemeinen Geschäftsstockung,
wie in der ganzen Welt, so besonders in Paris, welches Haupt-
sächlich Luxusartikel sabricirt, und wohl ganz besonders in
kem Stadttheile des Streisens aus der kleinen Axe von Nordost
nach Südwest, welcher gerade die sog. Pariser Industrie (Ar-
ticles de Paris) in sich beherbergt. *) Das Unbeschäftigtsein
so vieler Chambregarnisten rührte also nicht her von Arbeits-
Unlust, sondern von Arbeitsmangel. Die vielen Unbeschäftigten
und dennoch sich gut Aufführenden würden so zu deuten sein:
Obwohl in den industriellen Districteu von Paris sehr viele
Arbeiter im Ansang des Jahres 1849 unbeschäftigt waren, so
war ihr Betragen doch ein gutes, die gezwungene Arbeits-
losigkeit hat ihnen den moralischen Halt nicht rauben können.
Än den Gegenden, welche immer viele unbeschäftigte Chambre-
garnisten aufweisen, konnte eine plötzliche Geschäftsstockung in
der Procentzahl der Unbeschäftigten nicht so viel ändern, als in
den arbeitsamen Stadtgegenden, aber die moralische Deroute
*) Vergleiche Laspeyres, Die Gruppirung der Pariser Industrie,
a. a. O.
5*
68 Laspeyres
wurde allgemein. Darum die ohne solche Erklärung auffällige
Erscheinung guten Betragens mit Mangel an Beschäftigung.
ad 2) Das Betragen im Verhältniß der Chambregar-
nisten zur gestimmten Einwohnerzahl eines Stadt-
theils.
Hauptresultat der Tabelle XIXa. b.
C h a m b r e g a r n i st e n.
Männern Frauen.
Stadttheile. » fö-EL-» pCt. gut (3-tr 5.^ Z' (^"5! 2 3 ~ § 2 pCt. gut
er «-i ^ " 3 Betragen. s cS 3 n 2' 8 Betragen.
6 Arrondissements 1,18 47,4 0,42 18,8
6 3,10 48,3 0,67 23,5
12 1 2,04 48 0,59 21
Verhältniß zum Durchschnitt aller 12 Arrondissements = 100.
6 Arrondissements . 58 101 71 89
6 - 152 99 113 112
12 100 100 100 100
Auf Tabelle XIXa. b. findet sich die Berechnung, wie
viel die in Chambregarnie wohnenden Arbeiter in jedem Arron-
disfement Procente der Einwohner ausmachen, unabhängig von
der Größe des Arrondissements. Dazu ist das Betragen ge-
setzt. Leider fehlt uns die Gruppirung nach Quartieren auch
hier, vielleicht ist das der Grund dafür, daß ein bedentnugs-
voller Zusammenhang hier nicht ersichtlich ist, während er bei
48 Quartieren mehr in die Augen fallen würde. Unter den
Männern ist das Betragen der Ehambregarnisten nur um ein
weniges, 48,3 gegen 47,4 pCt., besser, je weniger Procente
aller Einwohner Chambregarnie wohnen, 1,18 gegen 3,10 pCt.,
bei den Frauen ist das Betragen um einen etwas größeren Be-
trag, 23,5 pCt. gegen 18,8 pCt. gut Betragen bei 0,42 p Ct.
Zur Moralstatistik. 69
gegen 0,67 pCt. weiblicher Chambregarnisten. Also bei einem
größeren Unterschiede in dem Antheil der männlichen Chambre-
garnisten an der Gesammtbevölkernng 1,18 : 3,10 — 100 : 263
als in dem Antheil der weiblichen Chambregarnisten 0,42 : 0,67
100: 160 ist der Unterschied im Betragen der Männer sehr
gering 47,4 : 48,3 -----100 : 102, in dem der Frauen nicht nnbe-
trächtlich 18,8:23,5 = 100:125. Ist hier der quantitative
Unterschied groß genug, um eine Notwendigkeit in der Pa-
rallelität beider Erscheinungen anzunehmen und nach der Ur-
sache zu forschen? Für die Frauen möchte ich das bejahen.
Bei diesen ist es nicht unmöglich, daß das Betragen um so
schlechter ist, auf je weniger ledige in Chambregarnie wohnende
Frauen sich die Verführung des ganzen Stadttheils concentrirt
oder je mehr Verführer auf je eine Chambregarnistin kommen,
oder je leichter eine Jede der intensiveren Verführung unterliegt.
Hiermit stimmt auch vortrefflich, daß speciell auf viel weibliche
Chambregarnistinnen der unteren Klaffen auch viel Chambre-
garnisten der unteren Klaffen fallen, denn die weiblichen Chambre-
garnisten machen in den Stadttheilen mit wenig gutem Be-
tragen einen geringern Procentsatz der ganzen männlichen Ar-
beiterbevölkerung aus, als in den Stadttheilen mit viel gutem
Betragen. In den elfteren find die weiblichen Chambregarnisten
nach derselben Tabelle XIXa.b. nur 2,5 pCt., in den letzteren
3,2 pCt. Daß bei den Männern trotz dem größeren Unterschiede
ln dem Proeentantheil der Chambregarnisten das Betragen
keine Unterschiede aufweist, zeigt gleichfalls, daß eine besondere
nur bei den Frauen wirkende Ursache hier das Betragen mit
bestimmt.
ad 3) Das Betragen im Verhältniß der Chambregarnisten
zur Bevölkeruugsdichtigkeit.
In Tabelle XX a. b. finden wir endlich die 12 Arron-
dissernents darnach rangirt, ob viel Chambregarnisten bei großer
oder bei kleiner Bevölkerungsdichtigkeit des Arrondiffements
wohnen. Eine hohe Zahl in der Colonne der Chambregarnisten
bedeutet, daß auch die Chambregarnisten dicht wohnen, eine
niedrige das Gegentheil.' Das Resultat ist bei den Männern:
70 Laspeyres
Hauptresultat der Tabelle XXa. b.
C h a m b r e a r n i st e n.
Männer. Frauen.
S t a d t t h e i l e. ^©2.03 "" 5 <3^ « CT o: 2 -S- S'PS S&«:« 5.!? cS s 2f. P s 5 3> „c» » gr
9-" 3 £ 5- 5-' § lä » n" pCt. gut Betragen. pCt. gut Betragen.
■Is » 05 t—r *—*' a S.» 3 » 53 <T" rt- 2
6 Arrondissements . . . 508 53 1781 209
6 - ... 152 44,7 449 21,1
12 - ... | 179 43 613 21
Verhältniß zum Durchschnitt aller 12 Arrondissements — 100.
6 Arrondissements . . . 282 110 290 99
K - ... 85 93 73 101
12 - ... 100 100 100 100
Je dichter die Chambregarnisten mit anderen Leuten zusammen-
gedrängt leben, 152 gegen 508 oder 100 gegen 334, um so
besser ist das Betragen, 44,7 gegen 53 oder 100:119. Bei
den Frauen: Je dichter die weiblichen Chambregarnisten mit
anderen Leuten zusammengedrängt leben, 449 : 1781 oder
100:396, um so weniger gut ist das Betragen, 21,1 :'20,9
oder 100 : 98. Der Unterschied im Betragen ist bei den Frauen
kaum erwähnenswerth. Dieses Resultat ließ sich qualitativ
wenigstens aus Nr. 1 und 2 zum Voraus berechnen. Wenn
auf viel Einwohner ein männlicher Chambregarnist kommt, wo-
durch das Betragen kaum asfieirt wird, und wenn auf weniger
Flächenraum ein Chambregarnist kommt, was das Betragen
sehr verbessert, kommt ein Chambregarnist auf eine große Dich-
tigkeit der Bevölkerung und bewirkt ein gutes Betragen, wenn
auf viel Einwohner aber ein weiblicher Chambregarnist kommt,
was das Betragen sehr verschlechtert, und auf wenig Flächen-
räum, was das Betragen sehr verbessert, kommt eine Chambre-
garnistin auf eine große Dichtigkeit der Bevölkerung und wird
Zur Moralstatistik.
71
das Betragen nicht davon ctfftctrt, da das sehr gute Betragen
aus dem einen Grunde durch das sehr schlechte Betragen aus
dem andern Grunde aufgewogen wird.
Einfluß des Zusammennwhnens vieler Chambregarnisten in einem
Hause. (Miethcaserne oder Einzelwohnung?)
§. 14.
Hauptresultat der Tabelle XXIa. b.
Stadttheile.
Chambregarnisten.
Männer. Frauen.
CS:
3 _g
«-i rs"
g a c*
—. <-s
3. 2 cS
pCt. gut
Betragen.
' 5
pCt. gut
Betragen.
23 Quartiere
24
6,9
10,8
44,9
1,67
3,80
23
20
47
23 Quartiere
24
9,1
2,7
Verhältnis gegen alle 47 Quartiere — 100.
76
119
113
93
62
141
21
110
95
47
100
100
100
100
Ueber das Zusammenwohnen vieler Chambregarnisten in
einem Hause und seine Wirkungen geben die Tabellen XXI a.d.
für beide Geschlechter Aufschluß, in denen die Zahl der Ver-
nnether, der Miether uud der sich gut betragenden Miether
verzeichnet sind, geordnet nach der Zahl Miether, die auf jeden
Vermiether kommen. In den 23 Quartieren mit je 6,9 mann-
lichen und 1,67 pCt. weiblichen Chambregarnisten per Vermiether
find 54,4 resp. 23 pCt. im Betragen zu loben, in den an-
deren 24 Quartieren mit 10,8 männlichen und 3,8 weiblichen
Chambregarnisten hingegen nur 44,9 pCt. resp. 20 pCt. zu
loben.
72
LaSpeyres
■ Männer Frauen
auf 1 Ver- pCt. gut auf 1 Ver- pCt. gut
miether. Betragen. miether. Betragen.
23 Quartiere 6,9=100 54,4=100 1,67=100 23=100
24 Quartiere 10,8=156 4^ II 00 56 3,8 —227 20= 87
Bei einem sehr viel geringeren Unterschiede in der Woh-
nungsdichtigkeit der Männer (10V: 156) als der Frauen
(100:227) ist der Unterschied im Betragen bei den Männern
größer (100:82) als bei den Frauen (100:87). Jedenfalls
ist aber in beiden Geschlechtern der Einfluß des Zusammen-
wohnens Vieler in demselben Hause ein ungünstiger. Bemer-
kenswerth ist dabei, wie tief unter dem Durchschnittsbetragen
die 4 Stadtquartiere stehen, welche die allermeisten Chambre-
garnisten auf einen Vermiether aufweisen.
Bei 13,8, 14,3, 14,5, 21,1 pCt. Chambregarnisten be-
tragen sich gut nur:
16, 36, 22, 31 -
d. h. 34, 77, 47, 66 - im Verhältuiß zum
Durchschnitt ----- 100.
Gleich vor diesen 4 Quartieren steht freilich eins mit
12,8 pCt. Miethern und 73 pCt. gutem Betragen, d. h. gegen
den Durchschnitt von 47 pCt. =- 100 wie 155.
Warum sind nun die Wirkungen des Zusammenlebens
vieler weiblicher Chambregarnisten in einem Hause nicht so groß
nach unseren Zahlen, als bei den Männern, während man ge-
rade erwarten sollte, daß das Zusammenleben Vieler hier schäd-
licher wäre als bei den Männern?
Die Antwort ist die: Eben nur nach unseren Zahlen ist
der Einfluß auf die Weiber nicht größer, denn die Statistik
der Jndustrieenquete giebt uns hier, abgesehen von dem immer
für beide Geschlechter undeutlichem Bilde, speciell für die
Frauen das Bild noch undeutlicher. Wir erfahren nur, wie viel
männliche und weibliche Chambregarnisten zusammengenommen
in jedem Stadtquartier sich befinden. Daraus können wir nur
berechnen, wie viel Männer und Frauen zusammen durchschnitt-
lich auf einen Vermiether kommen, wenn wir annehmen, daß
Zur Moralstaüstik. 73
jeder Vermiether Männer und Weiber beherbergt. Daß nun
fast alle 2360 Vermiether von den 21,567 Männern einige in
ihrem Logiö annehmen, ist allerdings wahrscheinlich, allein es
ist doch sehr fraglich, ob die 6262 Frauen so zerstreut wohnen,
daß jeder der 2360 Vermiether einige davon im Hause habe,
was durchschnittlich noch nicht 3 ergeben würde. Die obige
Durchschnittsberechnung müßte eigentlich durch eine genauere
ersetzt werden, in welcher wir die wenigen Vermiether, welche
keine Männer, und die vermutlich vielen Vermiether, welche
keine Frauen logiren, ausschließen, Dann würden wir sicher
finden, daß, wo viele Weiber auf einen Vermiether kommen,
der zugleich auch fast immer Männer logirt, das Betragen bei
den Frauen noch schlimmer afficirt wird als bei den Männern.
Daß sehr viele Vermiether nur an Männer vermiethen und
dagegen fast niemals nur an Frauen, kann man mit einiger
Sicherheit schon daraus schließen, daß unter den 81 Garnies,
welche speciell geschildert sind, keins ausdrücklich als nur von
Frauen, aber 15 als nur von Männern bewohnt genannt
werden. Von den 81 Logis machen diese 15 Logis 19 pCt.
aus, wobei übrigens unter den 81 Logis noch eine große Menge
sich befinden, von welchen gar nicht angegeben, ob Männer und
Weiber oder nur Männer darin wohnen. Unsere Behauptung,
viele Vermiether vermietheten nur an Männer, wird noch da-
durch bestätigt, daß es eine ganze Kategorie von Logis nach
der Enquete giebt, welche nur an Männer vermiethet werden;
es sind dies die oben in der Einleitung S. 3 und S. 77
erwähnten 500 Garnis speciaux, welche circa 5000 Männer
beherbergen, meistens Maurer aus dem Limousin.
Darnach kann es keinem begründeten Zweifel unterliegen,
daß, wenn wir eine detaillirtere Statistik hätten, der Einfluß
des Zusammenlebens auch vieler Weiber im Kasernensystem
deutlich in die Augen springen müßte. Am interessantesten wäre,
wenn wir das Betragen beider Geschlechter ermitteln könnten,
je nachdem, ob in demselben Hanse viele Männer und Frauen
zusammenwohnen; dafür fehlt uns aber in dem zu Gebote
stehenden Material leider jeder, auch der indirecteste Anhalt.
Der Statistiker steht hier wieder vor einem verschlossenen Räume,
74 Laspeyres
dessen Besichtigung ihm die interessantesten Aufschlüsse geben
würde. Jedenfalls genügen aber die obigen Zahlen schon, das
wirthschaftlich allerdings zweckmäßigere Kasernensystem für
Arbeiterwohnungen aus moralischen Gründen zu verwerfen.
B. Die Gründe für den bei den Iranen schlimmeren Einfluß
des Wohnens in Chambregarnie.
§. 15.
Wir fanden oben, daß von den Männern in Chambre-
garnie circa 13 pCt., von den Frauen hingegen circa 23 pCt.
zweifelhaftes und schlechtes Betragen haben. Mit dieser indirect
ermittelten directen Angabe stimmt das direct gefundene indirect
beweisende Factum, daß bei mehr Chambregarnisten in einem
Gewerbe auch das schlimme Betragen steigt.
Ge- Männer pCt. Ge- Franen pCt.
werbe. Chambre- schlecht werbe. Chambre- schlecht
garme. Betragen. g arme. Betragen.
130 7,4=100 5/1=100 110 0= 100 2 =100
140 25 =338 11 =216 120 10=1000*) 11,7=585
Woher der große Unterschied im Betragen? Unter den
Chambregarnisten sind vorweg zwei Kategorien scharf zu unter-
scheiden, diejenigen, welche mehr oder minder freiwillig diese
Art zu wohnen wählen, und die, welche dazu durch äußere Um-
stände gezwungen sind. Die ersteren sind größtenteils die in
Paris ansässigen Arbeiter, welche nicht den Willen haben, zu
Heirathen und in eigenen Meubeln zu wohnen, oder beim
Meister sich in Kost und Logis zu geben. Daß dieses eine
niedrigere Stufe der Pariser Arbeiterbevölkerung ist, leuchtet
ein, ebenso ist leicht ersichtlich, daß dieser Theil der Arbeiter
unter dem weiblichen Geschlecht verhältnißmäßig viel schlimmere
Repräsentanten aufzuweisen haben wird als unter dem männ-
lichen. Von einem weiblichen Wesen der unteren Klassen we-
*) Statt 0 pCt. 1 pCt. genommen, sonst wäre das Verhältniß
100 : cx>.
Zur Moralstatistik.
75
nigstens, das entweder- nicht Heirathen will oder nicht Heirathen
kann und das, aus einem dieser zwei Gründe ledig bleibend,
beim Arbeitgeber Aufnahme in Kost und Logis entweder nicht
finden will oder nicht finden kann und darum Chambregarnie
wohnt, ist moralisch meistens wenig zu erwarten. Anders viel-
fach bei den Männern. Der Unabhängigkeitsfinn, der es ver-
schmäht, beim Meister Wohnung und Nahrung zu suchen und
dadurch auch sonst der Hausordnung sich zu fügen, ist beim
Manne ungleich berechtigter als bei der Frau, desgleichen ist
das Nichtheirathen bei ihm mehr die Aeußerung eigenen freien
Entschlusses und ist endlich bei dem durchschnittlich in späterem
Lebensalter Heirathenden Manne die natürliche Junggesellenzeit
vom 16ten Lebensjahre an eine längere als beim weiblichen
Geschlecht. Nehmen wir aber selbst an, daß vermöge der viel-
leicht besseren Natur des Weibes die in Paris ansässigen
Chambregarnisteu beider Geschlechter auf gleicher sittlicher Stufe
ständen, so muß unter den sämmtlichen männlichen Chambre-
garnisten dennoch ein größerer Theil sich gut aufführen als
unter den weiblichen, denn zu den ansässigen Chambregarnisten
treten für das weibliche Geschlecht fast gar keine, für das mann-
liche aber eine sehr beträchtliche Anzahl nicht ansässiger,
sondern nur zeitweilig, oft nur bestimmte Jahreszeiten sich in
Paris aufhaltende Arbeiter hinzu. Nach der Jndustrieenqnete
können unter 7145 weiblichen Chambregarnisten höchstens 26,
d. h. 0,4 pCt. nicht ansässig sein, denn mehr finden in Paris
nicht Beschäftigung; unter den 48,769 männlichen Chambre-
garnisten aber werden die meisten der 3553 nicht ansässigen
Arbeiter sich befinden, d. h. 7,3 pCt. Daß solche nicht an-
sässigen Arbeiter nicht in eigenen Meubelu wohnen werden, ist
selbstverständlich, aber auch daß der Arbeitgeber dieselben nicht
leicht in seine Wohnung aufnimmt, wird Niemand verwundern,
denn der Arbeitgeber wird, schon um den in Paris mit so
hohem Miethzius zu bezahlenden Raum gehörig auszunutzen,
ständige Hauseinwohner den unständigen vorziehen. Die un-
ständigen Arbeiter sind also fast ausnahmslos (Kandidaten für
die möblirt zu vermietheudeu Wohnungen. Zu den männlichen
und weiblichen sittlich vielleicht, aber sehr unwahrscheinlich
76 Laspeyres
gleich hoch stehenden ständigen Chambregarnisten treten noch
hinzu eine große Anzahl unständiger männlicher Arbeiter,
aber keine weiblichen. Sollten diese unständigen männlichen
Arbeiter in hohem Grade moralisch nichtsnutzig sein, dann
müßte die Summe aller männlichen Arbeiter in Chambregarnie
einen höheren Procentsatz schlechter Leute aufweisen, sind sie
aber ordentliche Menschen, so erhöht sich dadurch der Procent-
satz derer von guter Ausführung. Daß die fluetuirende Pariser
Arbeiterbevölkerung nun allerdings nicht so hoch in moralischer
Beziehung steht, wie die ansässige, beim Meister oder in eigenen
Meubelu wohnende, mag vielleicht zuzugeben sein, dagegen
sprechen aber auch sehr viele Gründe dafür, daß sie bedeutend
über der untersten Klasse der ansässigen Pariser Bevölkerung,
welche die Chambregarnies bevölkert, steht, und darauf kommt
es für unsere Frage an. Ein statistisches Jndieium hierfür
liegt in Folgendem: Nach den obigen Tabellen haben 56 pCt. der
Chambregarnisten gutes Betragen in den drei Arrondifsements
VII., IX., X., in denen die Maurer den größten Procent-
antheil ausmachen, nämlich durchschnittlich 23 pCt. Nur in
2 Arrondifsements, dem V. und XI., ist das Betragen bei nur
4 pCt. Maurer besser, nämlich 62 pCt. gut, in allen anderen
7 Arrondifsements aber bei durchschnittlich 3 pCt. Maureru
nur 43 pCt. gut. Das V. Arrondifsement ist im Betragen so
gut, weil dasselbe überhaupt eines der industriellsten ist und
weil die Zimmerleute, von denen über 28 pCt. nothgedrnngen
als fluctuirend in die Chambregarnie ziehen, im V. Arron-
dissemeut fast 9 pCt. aller Chambregarnisten ausmachen. Der
zweiten Ausnahme-des XI. Arrondissemeuts läßt sich auch leicht
auf die Spur kommen. Das XI. Arrondifsement hat die ver-
hältnißmäßig anständigsten meublirteu Wohnungen, denn 246
der 988 Chambregarnisten, d. h. 25 pCt. derselben, sind nicht
Arbeiter, sondern es sind 102 Studenten — 10 pCt., 60 Em-
ployes et Commis — 6 pCt., 41 aus Professions diverses
liberales — 4 pCt., 33 Militaires (mobiles Exmilitaires Of-
ficiers) = 3 pCt., 20 Rentiers et Proprietaires — 2 pCt.
Das sind aber unstreitig zum überwiegenden Theil solche Leute,
deren Betragen, mit dem Maßstabe eines Hauswirths gemessen,
Zur Moralstatistik.
77
im Vergleich mit den meisten Arbeitern sich günstig stellen wird.
Von allen in solchen Chambregarnies wohnenden Studenten
sind fast 50 pCt. allein im XI. Arrondissement, von den Ren-
tiers 9 pCt., von den Militaires 6 pCt., von den Employes
7 pCt., von den ?rofes8ions diverses 15 pCt., in Summa
12 pCt. aller dieser Gewerbe in dem einzigen XI. Arrondisse-
ment, während eine gleichmäßige Verkeilung dieser Professionen
auf jedes Arrondissement nur 8 pCt. ergeben würde. Wo
solche Leute einen großen Theil der Chambregarnisten bilden,
kann es nicht auffallen, daß das durchschnittliche Betragen be-
sonders gut ist. Auch im V. Arrondissement, dem der Zimmer-
teute, sind außerdem die Employes et Commis mit 131 von
866, d. h. mit 15 pCt. vertreten. Alle die genannten Leute
sind natürliche Chambregarnisten aus den oben allegirten Gründen,
daß aber speciell die Bevölkerung, welche nur zu bestimmten
Zeiten in Paris beschäftigt, fluctuiren muß, die Elite für die
Chambregarnies abgeben, zeigen die Aussprüche der Enquete
vom Jahre 1849 gerade wieder über die Maurer. Unter den
Maurern waren 1849 48 pCt. nicht ansässig, 1860 allerdings
nur 23 pCt. Diese mobileu Maurer betrugen 1849 51 pCt.,
1860 67 pCt. aller mobilen Arbeiter überhaupt. Von den
männlichen Chambregarnisten machten sie allein 8 pCt. aus.
Diese Art von mobilen Arbeitern existirt unter dem weiblichen
Geschlechte nicht. Ueber diese Maurer nun sagt die Enquete
^es Jahres 1849 S. 980 f.: „Garnis speciaux. Es sind im
Allgemeinen die am anständigste« gehaltenen. Die Erhebung um-
saßt ungefähr 500, welche gegen 3000 Arbeiter von meist guter
Aufführung beherbergen. Die meisten dieser Art von Logis
sind für die Maurer aus dem Limousin bestimmt, nämlich 191,
und von diesen wieder mehr als die Hälfte im IX. Arron-
dissement. Diefe Wohnungen enthalten meistens 2 bis 6 Ar-
weiter, welche oft aus derselben Gemeinde sind, auch ist es
nichts Seltenes, daß der Vermiether gleichfalls Maurer aus
demselben Orte ist. Diese Arbeiter kehren alle Jahre oder alle
Zwei Jahre einmal nach Hause zurück. Viele unter ihnen, welche
1848 Paris verlassen hatten, waren 1849 nicht zurückgekehrt, und
gerade auf diese und die anderen mobilen Bauhandwerker fällt
78
Laspeyres
die große Abnahme in der Bevölkerung der meublirteu Woh-
nungen. Das Betragen dieser ist im Allgemeinen ansge-
zeichnet, sie sind ordentlich, ruhig, fleißig und besonders sehr
sparsam. Die Meisten arbeiten viel und verbrauchen möglichst
wenig, um einige Ersparnisse mit nach Hause zu nehmen, auch
siud sie häufig als sehr geizig verschrieen, was bei Arbeitern
dieser Klasse jedenfalls ein Lob ist. Fast alle kommen fast nie-
mals spät nach Hause. Die meisten gehen gar nicht in die
Kneipen und find jedenfalls niemals trunksüchtig; sie bezahlen
ihre Betten, welche je zwei mit einander theilen, mit 5 bis
8 Fr. monatlich. Für diesen Preis haben sie auch Anspruch
aus eine Abendsuppe und die Wäsche von einem Hemde
wöchentlich. Ihre Wohnungen siud ziemlich häusig in schlech-
tem Stande, und es giebt einige, welche man in die unterste
Stufe (tres-rnauvais) klassisiciren mußte, was mehr der Gleich-
gültigkeit gegen Bequemlichkeit und Reinlichkeit zugeschrieben
werden muß, als dem mangelhaften Erwerbe und der über-
mäßigen Sparsamkeit, denn es giebt mehrere Beispiele von
Wohnungen für Maurer, die man als gut und reinlich gehalten
schildert, ohne daß ihr Preis höher wäre als derjenige der
als schlecht gehalten, verpestet und ungesund geschilderten.
Diese Angabe über das Betragen der Maurer finden zum Theil
auch Anwendung auf die Steinschneider." Gerade diese Stein-
schneider sind im VII. Arrondissement am zahlreichsten vertreten,
160 oder 46 pCt. Aller. In diesem VII. Arrondissement, das
nur dem V. der Zimmerleute und dem XI. der freien Pro-
fessionen nachsteht, ist das Betragen das beste unter den drei
Maurer - Arrondissements, 58 pCt. gut, obwohl die Zahl der
Maurer in diesem Arrondissement nicht die erste Stelle ein-
nimmt; die nach der Enquete gleichfalls tüchtigen Steinschneider
füllen diese Lücke in demselben Sinne aus. Endlich sei erwähnt,
daß gerade diese Arrondissements V., XI., VII., IX., X. nach
der Enquete von 1849 diejenigen sind, welche die geringste
Anzahl schlechter und sehr schlechter Wohnungen haben, noch
nicht ganz 17 pCt. gegen 23 pCt. in den 7 übrigen Arron-
difsements.
Nach all' diesen mit einander übereinstimmenden Daten
Zur Moralstatistik.
79
War ich nicht wenig erstaunt, auf einer anderen Tabelle der
Enquete von 1849 zu finden, daß kein scharfer Unterschied im
Betragen zwischen den Gegenden mit vielen passants und wenig
sedentaires und den Gegenden mit wenig passants und viel
sedentaires als Chambregarnisten existirt. (Tabelle XXIIa. b.)
H anptresultat der Tabelle XXIIa. b.
Chambregarnisten.
Stadttheile Männer nnd Frauen Passanten pCt. Männer pCt. gut Be- tragen. Frauen pCt. gut Be- tragen.
24 Quartiere..... 4,9 47,6 20,1
24 - ..... 22,9 48,3 21,9
48 - ..... 14 48 21
Verhältniß gegen alle 48 Quartiere — 100.
24 Quartiere..... 35 99 96
24 164 101 104
48 100 100 100
Wenn es nun auch natürlich scheint, daß bei vielen Pas-
santen, wie der obige Auszug aus der Enquete sie schildert,
das Betragen der Frauen besser ist, so dürfte es um so mehr
auffallen, daß ein so großer Unterschied in der Zahl der Pas-
santen auf die Männer nicht einwirken soll, allein der ganze
Widerspruch existirt gar nicht, denn wie eine Anmerkung zu der
Tabelle über die Passanten und Seßhaften ergab, war hier
etwas ganz Anderes verstanden unter sedentaires und passants,
als in der Jndustrieenquete unter sedentaires und mobiles.
Em Passant ist nicht, der nur vorübergehend in Paris sich auf-
hält, sondern der nur vorübergehend, d. h. eine Nacht in dem
betreffenden Logirhause sich aufhält. Diese ganze Tabelle hat
also mit dem Obigen der fluctnirenden und seßhaften Bevölke-
^ung gar Nichts zu thuu, ein Widerspruch mit der obigen Be-
)auptung, daß die fluetuirende Pariser Arbeiterbevölkerung,
80
Laspeyreö
welche in die Chambregarnies ziehen muß, bessere Elemente
enthält, als die seßhafte, welche es mehr oder minder freiwillig
thut, liegt nicht vor. *)
Die Tabelle, welche wir an die Spitze unserer Unter-
suchung gestellt haben, zeigt, daß nicht nur bestimmte Katego-
rien von männlichen Arbeitern mit Vorliebe die guten Chambre-
garnies aufsuchen, sondern überhaupt die Männer mehr als die
Frauen. Nach dieser Tabelle findet man, daß die guten
Chambregarnies auf die Männer einen guten Einfluß üben:
( 35 pCt. gut Logis — 48 pCt. gut Betragen)
j 45 = ===== 51 = - j
und die schlechten Logis einen schlechten Einfluß:
^ 15 pCt. schlechte und sehr schlechte Logis = 50pCt. gutBetragen^
)26 - - - --46 - - - \
Bei den Frauen sind die guten Logis für das Betragen
indifferent:
l 35 pCt. gute Wohnungen — 20,7 pCt. gutes Betragen )
^ 45 - - = 20,5 - )
die schlechten aber nicht:
^ 15 pCt. schlechte und sehr schlechte Logis — 19pCt. gut Betragen'.
|26 = - - - - - =22 = = !
Wir dürfen aus diesen Zahlen nicht schließen, daß schlechte
Wohnung gut auf die Frauen wirkt, denn sonst müßte auch
gute Wohnung schlecht wirken, während unsere Zahlen hier gar
keine Wirkung nach einer bestimmten Richtung zeigen. Das
viele gute Betragen 22 pCt. bei den vielen schlechten und sehr
*) Die Tabelle XXII3. d. bedeutet demnach: In denjenigen Logis, in
denen viele Eintagsfliegen oder richtiger Einnachtfliegen verkehren, ist das
Betragen der Männer weder besser noch schlechter, als in denen mit länger
bleibenden Einwohnern, bei den Frauen hingegen sind die Quartiere mehr
zu loben, in denen viele Passanten sich finden. Dies könnte darin seine Er-
klärnug finden, daß, wo die Bevölkerung viel wechselt, die eine Art der
Versuchung an die dort wohnenden Frauen weniger herantritt, als wenn die
Bevölkerung eines solchen Hauses länger mit einander verkehrt, allein der
auch so nicht bedeutende Unterschied im Betragen kann ein zufälliger sein
oder andere Gründe haben, z. B. daß viele Wohnungen mit regelmäßigen
Einwohnern Diebsherbergen und Stätten der Prostitution sind mit dem
daraus folgende,? schlechten Betragen.
Zur Moralstatistik.
81
schlechten Wohnungen 26 pCt. kann nur ein zufälliges sein, da
die Gegenprobe, an den guten Wohnungen gemacht, nicht stimmt.
Für uns liegt bei zufälliger einmaliger Uebereinstimmung in dem
durch die nicht stimmende Gegenprobe bewiesenen Mangel eines
causalen Zusammenhanges nur ein Anzeichen, daß die Frauen
in den Chambregarnies von dem Mehr oder Minder der guten
oder schlechten Wohnungen nicht beeinflußt werden können, da
sie fast alle nur auf die schlechten Logis angewiesen sind. Für
diese Behauptung haben wir außer allgemeinen Anzeichen einen
speciellen statistischen Beweis. Von den im Jahre 1849 über-
Haupt in Chambregarnie wohnenden 6262 Frauen sind in den
erträglicheren der Logis, welche auf Seite 983—993 der
Enquete geschildert werden, nur 89, d. h. circa 1 pCt., in den
schlechten Logis aber 424 oder 7 pCt., zusammen in den spe-
ciell geschilderten Wohnungen 513 oder 8 pCt. aller. Von den
21,567 männlichen Chambregarnisten sind nun zwar fast die
gleiche Procentzahl in den genannten speciell untersuchten Logis,
d. h. 1518 oder 7 pCt., aber sie vertheilen sich viel günstiger,
in den besseren befinden sich 472 oder 2 pCt. und in den
schlechten nur 5 pCt. Also ein Unterschied von 1 : 7 gegen
2:5 in dem Antheil der Männer und Frauen zu den besseren
und schlechteren Logirstätten. Von der besten der Kategorieen,
den Garnis speciaux, wissen wir außerdem, daß sie sast nur
von Männern bewohnt werden, namentlich den natürlichen, nicht
Paris angehörigen Chambregarnisten.*)
III. Abschnitt.
Gründe für den guten Einstich des Wohnens beim Meister.
§. 16.
So ausführlich wir bei dem Wohnen in fremden Menbeln
sein konnten, so kurz müssen wir bei dem Wohnen in fremden
Meubeln und fremder Kost sein, da wir für diese Art des
Wohnens keinerlei Anhalt außer den Daten der Enquete von
*) Leider sind nicht einmal in diesen speciell geschilderten Logis alle
Zugaben in Zahlen gemacht, so daß die obige Berechnung nur aus 44 der
SO speciell geschilderten Logis gemacht werden konnte.
Zeitschr. für Völkerpspch. u. Sprachw. 33t VI. 6
82 Laspeyres
1860 besitzen. Diese Daten zeigten uns den wohlthätigen Ein-
fluß dieser Lebensweise auf das Betragen, welcher Einfluß bei
den Männern freilich ein bedeutenderer ist als bei den Frauen.
Von den männlichen Meisterwohnern sollen nur 4 Mt., von
den weiblichen 7,9 pCt. sich schlecht und zweifelhaft benehmen.
Damit stimmt auch, daß bei den Männern die Betragens-
differenz zwischen den Gewerben ohne Meisterwohner zu denen
mit circa 50 pCt. Meisterwohner ist — 86 : 95, bei den Frauen
nur wie 90,5 : 94. Bei beiden Geschlechtern ist das Betragen
der beim Meister Wohnenden besser als im Durchschnitt aller
Arbeiter, welches bei Männern 9 pCt., bei Frauen 8,9 pEt.
schlecht und zweifelhaft ist.
Der gute Einfluß ist nicht verwundersam, diese Logis
werden jedenfalls besser sein als die oben geschilderten Chambre-
garnies, denn wenn auch vielleicht nicht für ein ordentliches
Ameublement, so doch mindestens für eine erträgliche Reinlich-
fett wird der Kost- nnd Logisherr in seinem eigenen Interesse
sorgen, und zwar, indem er seine ihm untergeordneten Hans-
genossen dazu anhält, was nur gut wirken kann. Wer Chambre-
garnies vermischet, hat das Interesse der Reinlichkeit wohl
auch, aber nicht immer die Macht, dieselbe von seinem Miether
zu erwirken, den er auch nicht jederzeit beliebig vor die Thür
setzen mag, da er in vielen Fällen mit der Miethe im Rück-
stand ist.*)
Die Güte der Wohnung kann jedoch nicht ausschließlich
der Grund des guten Betragens sein, denn sonst könnte unbe-
dingt das Betragen der weiblichen Kost- und Logisgänger dem
der männlichen nicht so bedeutend nachstehen, und dieser Unter-
schied findet seine Erledigung auch nicht in dem anderen ge-
meinsamen Grunde guten Betragens, der Beaufsichtigung durch
den Herru Meister und die Frau Meisterin. Ein besonderer
Grund läßt diese Einwirkung des Meisters auf das männliche
Geschlecht wirksamer sein als auf das weibliche. Die beim
Meister wohnenden männlichen Arbeiter sind durchschnittlich
*) Vergleiche die ausführliche Anmerkung 4 Seite III über „ns de-
yant rien au logeur."
Zur Moralstatistik.
83
jünger als die weiblichen, sie sind also bildungsfähiger in mo-
ralischer Beziehung, der gezwungene und oft lästig empfundene
Umgang mit dem Meister und dessen Familie kann noch ein-
wirken auf das jugendliche Gemüth des männlichen Gehülfen.
Die weiblichen Gehülfen, welche schon älter sind, widerstreben den
Erziehungsversuchen, wenn nicht gar der Meister seine weiblichen,
von ihm abhängigen Gehülfen mißbraucht. Daß aber beim
Meister mehr jugendliche männliche als weibliche Arbeiter wohnen,
zeigt eine besondere Rubrik in der reichen Jndustrieenquete des
Jahres 1860. Unter der Gesammtzahl der Arbeiter sür jedes
Geschlecht sind besonders verzeichnet die Kinder unter 16 Iahren
und unter diesen wieder die sog. Lehrlinge, welche unbedingt in
erster Reihe in Kost und Wohnung des Meisters sich befinden.
In allen Gewerben zusammen entspricht nun allerdings die Zahl
der Kinder jeden Geschlechtes den Erwachsenen.
Erwachsene: Kinder: Lehrlinge:
Männliche Arbeiter: 271,700, 19,059, 14,161,
93 pCt., 7 pCt., 4,9 pCt.
Weibliche Arbeiter! 99,829, 6481, 5581,
94 pCt., 6 pCt., 5,3 pCt.
Das gäbe ein sast gleiches Verhältniß des jugendlichen
Alters und der Lehrlinge sür beide Geschlechter, allein die
Gleichheit existirt nur bei allen Gewerben zusammen; in den
Gewerben jedoch, welche für uns in Betracht kommen, übertrifft
der Procentsatz der jugendlichen männlichen Arbeiter weit den
der weiblichen. Namhafte Mengen von Gehülfen im Hause
des Meisters kommen ja nach Tabelle lila, und Illb. fast
nur in den Nahrungsgewerben vor, und in diesen Nahrungs-
gewerben giebt es viele Knaben unter 16 Jahren und viele
Lehrlinge, aber wenige Mädchen. In der I. Hauptgruppe
„Alimentation" sind
Erwachsene: Knaben: Lehrlinge:
männliche Arbeiter: 28,659, 1372, 1181,
95,5 pCt., 4,5 pEi, 3,9 pCt.,
Erwachsene: Mädchen: Lehrlinge:
weibliche Arbeiter: 7601 35 9
99,5 pCt. 0,5 pCt. 0,1 pCt.
6*
V4
Laspeyres
In der Gruppe Alimentation wohnen beim Meister
18,682 Männer und 7610 Frauen, d. h. fast genau gleich viel
Procente, 63 pCt. gegen 62 pCt. Die 1372 Knaben unter
16 Jahren betragen 7,3 pCt. aller 18,682 männlichen Arbeiter,
die beim Meister wohnen, die 35 Mädchen unter 16 Jahren
betragen nur 0,8 pCt. aller 4705 weiblichen Arbeiter, die beim
Meister wohnen, es wird also auf viel mehr jugendliche Knaben-
seelen eingewirkt, als auf Mädchenseelen. Daß also ein größerer
Procentsatz der ersteren sich gut beträgt, darf uns nicht Wunder
nehmen. Wohnen in eigenen Meubeln giebt Erziehung des
einen Gatten durch den anderen, Wohnen in fremden Meubeln
giebt keine Erziehung, Wohnen in fremden Meubeln und fremder
Kost giebt Erziehung durch Andere, wo nicht durch das Wohnen
in fremden Meubeln oder sonst die Erziehung verfuscht ist.
Finden wir nach dem Vorstehenden, daß das Zusammen-
leben von Meistern und Gesellen resp. Lehrlingen wohlthätig
auf das heranwachsende Geschlecht wirkt, so spricht das aller-
dings sehr für den früheren handwerksmäßig-patriarchalischen
Gewerbebetrieb uud gegen das Fabriksystem unserer Zeit.*)
*) Ebenso spricht unsere Jndustrieenquete noch an einer anderen Stelle
zu Gunsten der kleinen, unbedeutenden Industrien, auch wenn die Arbeiter
nicht im Hause dessen, bei dem sie Arbeit nehmen, zugleich Kost und Logis
haben. Auf Tabelle XXIII. habe ich nämlich die Gewerbe nach der Zahl
von Arbeiterinnen, welche ans jedes Gewerbe kommen, geordnet. Da ergiebt
sich denn, daß, je mehr Arbeiterinnen ein Gewerbe beschäftigt, um so un-
günstiger das Betragen sich gestaltet, und zwar unabhängig davon, ob viele
der Arbeiterinnen in Chambregarnie oder beim Meister wohnen.
Hauptresultat der Tabelle XXIII.
Summa pCt. Zweifel-
aller Haftes und
beschäftigten schlechtes
Arbeiterinnen. Betragen.
80 Gewerbe . . . 1170 2,9
80 - ... 9014 5,6
70 - ... 93,841 9,3
230 - ... 104,025 9
Zur Moralstatistik.
85
Dennoch darf uns das nicht bestimmen, alle Vortheile der
Großindustrie aufzugeben, um diesen einen Vortheil der Klein-
industrie uns zu wahren, wohl aber sei es eine Mahnung, den
arbeitenden Klassen auf andere Weise diesen aufgegebenen Vor-
theil wieder zu ersetzen. Die Mittel seien die neuerdings mehr
und mehr dem Arbeiterstande gebotenen, ein verbesserter allge-
meiner Unterricht, wie ihn unsere Volksschulen und die Fort-
bildungs-Anstalten bieten, anständige Vergnügungen, wie sie
unsere Gewerbevereine, Handwerkerbildungsvereine, Arbeiterver-
eine u. s. w. anstreben, und —--wiederum bessere Woh-
nung, welche dem Manne und der Frau das Haus und da-
mit die Kinder so lieb macht, daß man sich derselben nicht so
früh als möglich durch Beschäftigung in Fabriken entledigt,
und welche bessere Wohnung den Eltern so viele unnütze Aus-
gaben erspart, daß sie auf die ohnehin unbedeutende Einnahme
aus der Arbeit ihrer Kinder verzichten können. Endlich liegt
in dem Vorstehenden zu allem früher Gesagten noch ein neuer
Fingerzeig, daß die Sorge für die weibliche Arbeiterbevölkerung,
welche bisher unrechter Weise hintangesetzt war, über der für
die männlichen Arbeiter stehen muß.
Theilt man die Gewerbe in 3 Gruppen mit durchschnittlich
15 j 7,9 pCt. )
112 \ Arbeiterinnen per Gewerbe mit 16 - > beim Meister und
1341 ) 9 - )
6,4 PCt. )
6 - > in Chambregarnie, d. h. bei keiner aufsteigenden Zahl der
7 - )
Chambregarnisten und keiner absteigenden Zahl der Meisterwohner, so macht
2,9 )
das schlechte und zweifelhafte Betragen ans: 5,6 > pCt. Also je be-
9,3 )
deutender die Gewerbe in einem Orte sind, um so schlechter scheint das 23e*
tragen zu sein, weil sich eine sog. Proletarierbevölkerung bildet. Doch das
hier nur nebenbei. Auch dafür giebt die Jndustrieenquvte noch Rohmaterial,
das der Verarbeitung harrt, wie die Beschäftigung Vieler oder Weniger
durch je einen Meister auf das Betragen wirkt.
86
Laspeyres
IV. Theil.
Einfluß des Betragens auf die Wahl der Wohnung.
§. 17.
Bei Vorführung der Thatsachen haben wir oben die Ar-
beiterbevölkerung gruppirt nach ihrem Betragen und geforscht,
in welchem Verhältniß zu jeder Betragenskategorie die einzelnen
Wohnungsarten stehen, worin wir eine schöne Gegenprobe für
den Einfluß der Wohnung auf das Betragen fanden.*) Hieran
anknüpfend stößt uns die Frage auf: kann nicht die Wahl der
Wohnung die Folge eines bestimmten Betragens sein, so daß
wir sagen müssen, je schlechter das Betragen ist, um so mehr
neigt der Arbeiter dazu, Chambregarnie zu wohnen, um so we-
niger, sich selbst zu meubliren, und noch weniger, beim Meister
sich in Kost und Logis zu geben, und zwar Alles in stärkerem
Grade bei den Weibern. Dieser Gedanke hat viel für sich,
und gewiß ist nicht zu leugnen, daß ordentliche Leute auch
ordentliche Wohnungen suchen, ein Einfluß des Betragens auf
die Wohnungswahl existirt also ganz gewiß. Allein trotzdem
glaube ich, daß eine gute Wohnung mit den von uns charakte-
risirten Nebenerscheinungen den Menschen mehr zum guten Be-
tragen treibt, als ein gutes Betragen ihn zu einer guten Woh-
nuug führt. Das Verhältniß, in welchem die Leute guten und
schlechten Betragens auf die verschiedenen Wohnungsarten sich
vertheilen, ist folgendes:
Wenn von den
26.171 Männern beim Meister 4 pCt. oder 1047,
175,438 - in eigenen Meubeln 9,1 - - 15,964,
50,369 - in Chambregarnie 13 - - 6584
sich schlecht betragen, dann sallen von den 23,595 sich schlecht
Betragenden
1047 oder 4 pCt. auf die beim Meister,
15,964 - 68 - - - in eigenen Meubeln,
6548 - 28 - - - in Chambregarnie,
und fallen von den 228,641 sich gut Betragenden
*) Siehe oben Seite 30.
Zur Moralstatistik.
87
11 pCt. oder 25,124 auf die beim Meister,
70 - - 159,474. - - in eigenen Meubeln,
19 - - 43,785 - - in Chambregarnie.
° Wenn von den
9785 Frauen beim Meister 7,9 pCt. oder 773,
87,996 - in eigenen Meubeln 7,6 - - 6687,
7145 - in Chambregarnie 22,7 - - 1616
sich schlecht betragen, dann fallen von den 9076 sich schlecht
betragenden Frauen
773 oder 8 pCt. auf die beim Meister,
6687 - 74 - - - in eigenen Meubeln,
1616- 18- - - in Chambregarnie
und fallen von den 95,650 sich gut betragenden Frauen
9012 oder 9 pCt. auf die beim Meister,
81,309 - 85 - - - in eigenen Meubeln,
5529 - 6 - - - in Chambregarnie.
Hiernach stellen die Schlechten allerdings ein größeres
Contingent, als die Guten zu der schlechtesten Wohnungsart in
Chambregarnie, aber ein geringeres Contingent zu den besseren
Wohnungsarten in eigenen Meubeln und der noch besseren
beim Meister. Allein, wenn die Aufführung die Wohnungsart
sehr beeinflußte, woher kämen dann die großen Unterschiede
in der Wohnungswahl der beiden Geschlechter, welche doch sast
in denselben Procenten gut und schlecht sich betragen? Warum
wählen 28 pCt. der Männer, die sich schlecht aufführen, die
Wohnung in meublirten Zimmern und nur 18 pCt. der sich
schlecht betragenden Frauen? Warum ist namentlich der Unter-
schied gegen die sich gut Betragenden bei den Männern so ge-
ring, 28 pCt. gegen 19 pCt., und bei den Frauen so groß,
18 pCt. gegen 6 pCt.? Nach allem Obigen ist hier von einer
freien Wahl der Wohnung bei den Männern zu einem großen
Theil aber nicht die Rede, sie sind als Passanten gezwungen
zum Chambregarnie, da sie die Meubel nicht mitschleppen und
für die kurze Zeit nicht kaufen können, und da die Meister sie
aus kurze Zeit nicht bei sich aufnehmen können, wenn sie sich
auch noch so gut benehmen. Bei den Frauen fällt dieser Grund
der gezwungenen Wohnung fort, es bleibt vor Allem der der
Armuth in eigenen Menbeln und der Unlust, beim Arbeitgeber zu
wohnen. Warum sind ferner, wenn das Betragen die Wohnnngs-
wähl entschiede, von den schlechten Männern 4 pCt. beim Meister in
Wohnung und von den Frauen 8 pCt., gegen 11 pCt. der guten
Männer und 9 pCt. der guten Frauen? Ein Grund dafür liegt
nicht vor. Aber könnte man etwa einwenden, eine Wohnungs-
wähl stnde von Seiten der Arbeiter hier gar nicht statt, sondern
von Seiten der Arbeitgeber, und daß die beim Meister in Kost
und Logis befindlichen sich gut betragen, sei weder die Folge
der Wohnung, noch das Wohnen beim Meister die Folge der
guten Aufführung, sondern der Meister nehme einfach keine
Arbeiter in's Haus, welche sich schlecht betragen, oder wenn er
sie aufgenommen habe, setze er sie so schnell als möglich wieder
an die Luft! Allein gemach, beides thäte er wohl gern, aber
im Voraus kann er das Betragen selten beurtheilen, und wenn
er einmal sich darin geirrt hat, kann er die Arbeiter oft nur
wegen schwerer Vergehen wieder los werden, wenigstens die
männlichen Individuen, da diese meistens Lehrlinge sind, welche
beim Meister contractlich zu längerer Lehrzeit eintreten. Selbst
gesetzt aber, die Meister hätten aus obigen Gründen so wenig
sich schlecht ausführende Hausgenossen, warum haben sie nicht
ebenso wenig schlechte weibliche Miteinwohner als männliche?
Die Vermuthung spräche doch leichter dafür, daß beim Meister
viel mehr unnütze Arbeiter als Arbeiterinnen wohnen, denn
gerade die, welche man, durch längere Lehrzeit gebunden, trotz
dem schlechten Betragen nur schwer wieder los werden kann, sind
bei den Nahrungsgewerben, die hier in Betracht kommen, ge-
rade die männlichen und nicht die weiblichen Gehülfen. Ge-
rade die Knaben betragen sich aber in der Wohnung des
Meisters besser als die Mädchen, weil sie im jugendlichen Alter
längere Zeit der Zucht des Meisters sich sügen müssen. End-
lich aber müssen wir fragen: Warum, wenn das Betragen die
Wohnungswahl bestimmte, entschließen sich fast eben so viele
schlechte Männer, 68 pCt., wie gute Männer, 70 pCt., in
eigenen Meubelu zu wohnen, während von den schlechten Wei-
bern nur 74 pCt., von den guten aber 85 pCt. sich dazu be-
stimmen lassen?
Zur Moralstatistik. 89
Alle diese Fragen und viele andere bleiben ungelöst, wenn
man das gute Betragen als Folge irgend welcher anderen Ein-
slüsse zu einer gewichtigen Ursache der Wohnungswahl
stempeln will. Dabei sind wir jedoch weit entfernt, jeden Ein-
fluß des Betragens auf die Wohnungswahl leugnen zu wollen,
denn ein solcher Einfluß stimmt mit unserer Ansicht von der
ethischen Bedeutung der Wohnung ganz vortrefflich. Durch
Wechselwirkung von Betragen auf Wohnung und von Woh-
nung auf Betragen ist der Fortschritt in dieser Richtung stark
bedingt: ein ordentlicher Mensch sucht sich ordentliche Wohnung,
durch diese ordentliche Wohnung wird er noch ordentlicher, noch
ordentlicher geworden, sucht er eine noch ordentlichere Wohnung
u. s. f. Oder durch irgend eine auch scheinbar zufällige Ein-
Wirkung kommt ein nicht sehr ordentlicher Mensch in eine gute
Wohnung, er kann sich dem Einfluß derselben nicht entziehen,
er wird ordentlicher, sucht als solcher noch eine bessere Woh-
nung u. s. f.
Dafür, daß der Einfluß des Betragens auf die Wahl der
Wohnung nicht sehr groß sein kann, will ich zum Schluß nur
noch ein Argument vorbringen. Auf die Wahl der Wohnung hat
bei den arbeitenden Klassen ein gleicher Umstand überhaupt
selten eine ausgeprägt gleiche Wirkung. Ein Umstand, der für
die nach dem Preise bemessene Güte der gewählten Wohnung
doch unbedingt am meisten Einfluß üben müßte, sind die Aus-
gaben, welche von einer Familie für alle Bedürfnisse gemacht
werden können. Bei verschieden hohen Gesammtausgaben
Mehrerer Familien differiren die Ausgaben für Wohnung viel
bedeutender als die Ausgaben für Nahrung und auch etwas
Mehr als die für Kleidung und für Heizung und Beleuchtung.
35Hr kennen die Ausgabebudgets von 48 belgischen Arbeiter-
Familien mit durchschnittlich 130 Fr. Ausgaben per Kopf der
Familie von Mann, Frau und drei Kindern. Die Wohnungs-
ausgaben der Familien unter diesen 48, welche mehr als 130 Fr.
und derer, welche weniger als 130 Fr. per Kopf ausgeben,
Wichen durchschnittlich vom Mittel bedeutend mehr ab, als die
Ausgaben für 1) Nahrung, 2) Kleidung, 3) Heizung und Be-
achtung.
90 Laspeyres
Die Abweichung vom Mittel aller 48 Familien beträgt in
dieser ersten Arbeiterkategorie:
für Nahrung nach oben 8,1 pCt., nach unten 8,4 pCt.,
- Kleidung - - 35,9 - - - 35,5 -
- Heizung und
Beleuchtung - - 31,9 - - - 34,1 -
- Wohnung - - 39,3 - - - 32,3 -
In einer zweiten Arbeiterkategorie von 51 Familien mit
durchschnittlich 169 Fr. Ausgaben per Kopf beträgt die Ab-
weichung:
für Nahrung nach oben 8,2 pCt., nach unten 8,1 pCt.,
-- Kleidung - - 31,6 - - - 31 -
- Heizung und
Beleuchtung - - 32,7 - - - 28 -
- Wohnung - - 37,7 - - - 40,5 -
In einer dritten Arbeiterkategorie von 54 Familien mit
durchschnittlich 243 Fr. per Kopf beträgt die Abweichung:
für Nahrung nach oben 11,4 pCt., nach unten 11,9 pCt.,
- Kleidung - - 40,5 - - - 24 -
- Heizung und
Beleuchtung - - 35,9 - - - 36 -
- Wohnung - - 37,7 - - - 38,5 -
In weiteren 47 Arbeiterfamilien, welche in keine der drei
obigen Kategorieen eingereiht sind, betragen die Abweichungen:
für Nahrung nach oben 10 pCt., nach unten 18 pCt.,
- Kleidung - - 29 - - - 27,7 -
- Heizung und
Beleuchtung - - 40 - - - 27 -
- Wohnung - - 30 - - - 29 -
Für alle 200 Familien beträgt die Abweichung (das Mittel
aus den jedesmaligen 4 Abweichungen genommen, z. B. Nahrung
31+M+iM^ = 3|7=9(4v6t);
für Nahrung nach oben 9,4 pCt., nach unten 11,4 pCt.,
- Kleidung - - 34,2 - - - 29,5 -
- Heizung und
Beleuchtung - - 35,1 - - - 31,3 -
? Wohnung - - 36 - - ? 35,1 -
Zur Moralstatistik. 91
Zu diesen interessanten Resultaten, welche Ausschluß über
die mehr oder minder typischen Erscheinungen in der Lebens-
weise der unteren Volksklassen geben, bin ich durch eine Rech-
nung gelangt, welche ich hier nicht näher darlegen kann, sie
wird einer späteren Arbeit über die typischen Erscheinungen
der Consnmtion vorbehalten. Hier genüge das Resultat, daß
eine innerhalb gewisser Grenzen höhere materielle Lage keinen
wesentlichen Einfluß aus die Wahl der Wohnung übt. Die
Abweichungen innerhalb einer Kategorie nach oben und unten
in jeder einzelnen Familie siud so groß, daß sie im Durchschnitt
aller über oder aller unter dem Durchschnitt stehenden noch
ungefähr 30—40 pCt. betragen, während für Nahrung keine
größere Abweichung als circa 10 pCt. nach beiden Richtungen
sich ergiebt. Wenn hiernach aus die Wohnung der unteren
Klassen der materielle Punkt der Kosten so wenig Einfluß hat,
kann dann der eine immaterielle Punkt, das Betragen, be-
deutend mitspielen? Ganz zu leugnen ist der Einfluß freilich
nicht. Wenn hiernach die Eongruenz zwischen Betragen und
Wohnungsart zum Theil aus einer Einwirkung des Betragens
auf die Wohnungswahl herzuleiten ist, dann wird allerdings
die Wirkung der Wohnung auf das Betragen um ebenso viel
geringer, allein dieselbe bleibt auch dann noch immer beachtens-
Werth genug. Bei der Frage nach der ethischen Bildung des
Menschen ist in unserer Zeit der vorzugsweise materiellen Fort-
bildung auch der geringfügigste Umstand beachtenswert!), zumal
wenn man, wie in der Wohnungsfrage, mit verhältnißmäßig
geringen Mitteln die bösen Elemente zu fesseln und die guten
zu entfesseln vermag.
V. Theil.
Erläuterungen und Anmerkungen.
Anmerkung 1 zu Seite 16.
Ueber eine genaue Darstellung von Durchschnitts-
zahlen.
Die richtigste Methode, die Parallelität zweier Erschei-
nungen statistisch zu zeigen, ist nicht die von uns in der ganzen
Arbeit angewendete, je 10 oder mehr Gewerbe zusammenzufassen und diese Gruppen nebeneinander zu stellen,
denn dann wird die aufsteigende oder absteigende Reihe durch Ausnahmen gar zu oft unterbrochen. Das
Richtige ist, die Gruppen so zu bilden, daß jede Gruppe nicht nur einmal, sondern 10 Mal oder zu Anfang
und zu Ende wenigstens so oft als möglich wiederkehrt.
Hauptgruppe: Enthält die Gruppen
I. . 1 2. 3 4 5. 6. 7. 8. 9. 10.
II. . 2. 3 4 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11
III. . . 3 4 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11 12.
IV. . 4 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11 12. 13.
V. . 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11 12. 13. 14.
VI 6. 7 11 12. 13. 14. 15.
VII , . 7. 8. 9. 10. 11 12. 13. 14. 15. 16.
VIII > 8. 9. 10. 11 12. 13. 14. 15. 16. 17.
IX. . 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
X .
XI. . 11 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.
XII. . 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.
XIII. . . 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22.
XIV. . . . 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23.
XV. . . . . 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24.
XVI. . . . . . . .16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25.
XVII. . ..... 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.
XVIII. . ....... 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26.
Die so geordneten
Gruppen geben folgende Resultate
in in Betragen £§ S" e» Z Betragen.
Haupt- Gruppe. Alle beim eigenen Chambre- Zweifel- hast. #3 S 2. rf® Ii CO Z
gruppe. Arbeiter. Meister. Meubeln. garnie. gut. schlecht. a g -5. 2. %
pCt. PCt. PCt. PCt. PCt. pSt.
I I— X 54,485 21,294 29,834 3358 52,795 1127 555 39 55 6 97 2,0 1
II II— XI 66,198 21,628 39,698 4874 63,190 1659 1341 32 60 7 96 2,5 2
III III— XII 71,203 14,811 49,894 6500 67,013 2488 1694 21 70 9 94 3,5 3,8 2,3
IV IV — XIII 71,089 9801 54,134 7166 66,613 2631 1847 14 76 10 94 2,5
V V — XIV 69,746 6071 55,977 7708 64,778 2892 2076 9 80 11 93 4,1 2,9
VI VI — XV 73,033 6209 58,294 8540 67,772 2978 2283 9 80 12 93 4 3
VII VII — XVI 75,738 7296 59,021 9431 70,227 3130 2381 10 78 12 93 4 3
VIII VIII — XVII 73,784 7503 56,671 9800 67,862 3678 2254 10 77 13 92 5 3
IX IX — XVIII 76,494 7523 58,243 10,932 69,492 4288 2728 10 76 14 91 5,6 3,5 4,8
X X — XIX 88,927 7561 67,642 13,824 79,190 5501 4246 9 76 16 89 6,2
XI XI — XX 94,062 3933 74,277 15,843 83,536 5997 4530 4 79 17 89 6,4 4,8
XII XII — XXI 87,350 3092 68, <>04 15,645 77,578 5758 4016 4 79 18 89 6,5 4,5
XIII XIII — XXII 85,344 2290 66,300 16,755 76,162 5197 3937 3 78 20 89 6,4 4,5
XIV XIV — XXIII 105,013 2518 79,689 22,797 93,923 5707 5325 2 76 22 89 5,4 5,2
XV XV — XXIV 114,131 2573 85,455 26,094 102,087 6657 5329 2 75 23 89 5,8 4,8
XVI XVI — XXV 128,373 2404 95,003 30,957 113,958 7125 7232 2 74 24 89 5,5 5,8
XVII XVII— XXVI 137,825 1377 101,353 35,086 121,624 8029 8114 1 74 25 88 5,8 5,9
XVIII XVIII — XXVII 141,500 1345 100,777 39,369 124,850 8364 8228 1 71 28 88 5,9 5,8
94
Laspeyres
Durch eine solche Darstellung wird jede Abweichung von
der Regel unter eine Menge anderer Fälle gestellt, welche der
Regel folgen. Um den Zusammenhang zwischen zwei Erschei-
nungen graphisch zu zeigen, ist diese umständliche Rechnung
besonders zu empfehlen, z. B. um die allmählige von den zeit-
weiligen Schwankungen unabhängige Preissteigerung des Ge-
treides durch Vermehrung der Produetiouskosten zur Anschauung
zu bringen, muß man die Getreidepreise berechnen für
1801 1802 1803 1804 1805 1806 1807 1808 1809 1810
1802 1803 1804 1805 1806 1807 1808 1809 1810 1811
1803 1804 1805 1806 1807 1808 1809 1810 1811 1812
tt. s. w.
Noch anschaulicher wird der Zusammenhang zwischen den
verschiedenen Wohnungsarten und dem Betragen, wenn man
die Procente jeder Hauptgruppe von 10 Gruppen in ihrem
Verhältniß zum Procentantheil aller 270 Gewerbe setzt. Diese
sind bei den Männern:
beim in eigenen in Chambre- Betragen:
Meister: Meubeln: garnie: gut: zweifelhaft: schlecht:
10 pCt. 70 pCt. 20 pCt. 91 pCt. 5 pCt. 4 pCt.
Mit diesen Durchschnittsantheilen — 100 gesetzt, wird jede
der obigen Gruppen verglichen in der folgenden Tabelle:
Haupt- grnppen. Gruppen. W "f s )hnun * 3 g- s 3 ~ 5T CO SS B etr o -er 3 gen: Z %
I I— X 392 78 30 106 40 23 32
II II— XI 320 86 39 105 50 46 48
III III— XII 208 100 46 103 70 53 61
IV IV — XIII 138 109 50 103 80 58 69
V V — XIV 87 115 55 102 80 67 74
VI VI — XV 85 114 57 102 80 70 75
VII VII — XVI 96 111 62 102 80 70 75
VIII VIII — XVII 102 110 65 101 100 70 85
IX IX — XVIII 97 109 71 99 114 81 98
X X — XIX 85 109 77 98 124 112 118
XI XI — XX 42 113 84 97 128 112 120
XII XII — XXI 35 112 88 98 130 105 113
XIII XIII — XXII 27 111 98 98 122 105 114
XIV XIV — XXIII 24 108 109 98 108 121 115
XV XV — XXIV 22 107 114 98 116 112 114
XVI XVI — XXV 1 18 106 121 97 110 135 122
XVII i XVII — XXVI 10 105 127 97 116 137 126
XVIII XVIII —XX VII 1 9 i 102 | 139 97 118 135 127
I—XVIII II I- XXVII II 100 | 100 I 100 | 100 | 100 | 100 | 100
Zur Moralstatistik.
95
Anm erkung 2 zu Seite 19. (Hierzu Tabelle XXIV.)
Beitrag zum Beweis, daß die sog. historisch-phy-
siologische Methode in der Nationalökonomie
und in anderen Geisteswissenschaften der sta-
tistischen Methode durch systematische Massen-
und Reihenbeobachtungen nicht typischer Er-
scheinungen nachsteht.
Um die Tabelle IVa. zu bilden, haben wir die 270 Ge-
werbe geordnet nach der Reihenfolge der Procente, welche in
jedem einzelnen Handwerke auf die Chambregarnisten kommen,
also haben wir angefangen mit den Gewerben, in denen gar
Niemand Chambregarnie wohnt, dann die mit 1 pCt. Chambre-
garniften genommen, mit 2, 3, 4, 5 pCt. u. s. f. In dieser
Reihenfolge wurden sie dann, von 0 pCt. anfangend, in Gruppen
von je 10 vereinigt. Nun sind aber eine ganze Menge von
Gewerben, welche gleich viel Procente Chambregaruisten haben.
Innerhalb der Gewerbe, welche gleich viel Procente Chambregar-
nisten enthalten, z. B. 1 pCt., wurde von uns die Stellung der
Gewerbe demZufall überlassen. Das ist für uuparteiischeForschung
durchaus nöthig, denn ohne daß die Durchschnittsproceute der
Chambregarnisten sich ändern in den 27 Gruppen und ohne
daß, um diese Gruppe zu erhalten, die Reihe der einzelnen
Gewerbe nach 0 pCt., 1 pCt., 2 pCt., 3 pCt. u. s. w. geän-
dert wird, kann man für die Reihe des Betragens ganz ver-
schiedene Resultate bekommen, je nachdem man innerhalb aller
Gewerbe mit gleichen Procenten, Chambregarnisten, aber un-
gleichen Betragensprocenten die einzelnen Gewerbe grnppirt.
Tn der Tabelle XXIV. habe ich zusammengestellt, wie bei der
gleichen continuirlich aufsteigenden Reihe der Chambregarnisten
Und den daraus gebildeten Gruppen die Reihe des Betragens
differiren kann, je nachdem man unbefangen und unparteiisch
an die Frage herantritt oder ob man einen Zusammenhang
Zwischen der Wohnungsart und dem Betragen leugnen will,
Und endlich, ob man denselben recht stark betonen will.
Hierbei sei noch bemerkt, daß die Procente des Betragens
in den 27 Gruppen auf Tab. XXIV. der Einfachheit halber nur das
96 Laspeyres
arithmetische Mittel der Procente jedes einzelnen Gewerbes
sind, was für den hier beabsichtigten Zweck vollständig genügt.
Mit einer verschiedenen Gruppirung der Zahlen kann man
sehr verschiedene Dinge scheinbar beweisen; interessant ist nun
aber, daß die oben gezeigten verschiedenen Gruppirungen gar
keinen Einfluß üben können, wenn wir aus den aus die ge-
nannten drei Arten gefundene Gruppen von je 10 Gewerben
solche von je 40 Gewerben zusammenfügen. Dann zeigt sich
der Einfluß der Wohnung auf das Betragen qualitativ ganz
gleich, mit nur ganz geringen quantitativen Unterschieden, wie
die folgende kleine Tabelle zeigt:
Zahl
der
Chambre-
Zweifelhaftes und schlechtes
Betragen, geordnet
vereinigten Gewerbe. garnie. pCt. nnpar- teiisch. PCt. s|§a- j 1 ~ s ?Ct." S ®!s s 3 CO ? vT PCt.
50 3 1,8 2,1 1,4
40 8 4,8 3,8 3,4
40 12 7,5 5,3 5,9
40 17 8,2 7,4 8
40 21 10 9,1 9,2
60 33 12,5 11,8 12,7
Die Schlüsse nun, welche man aus der vollständigen oder
theilweisen Benutzung der Tabelle XXIV. ziehen kann, sind
ein recht deutlicher Beweis für die von Adolph Wagner
(Artikel Statistik im Staatswörterbuch von Bluntschli und
Brater) aufgestellte Behauptung, daß die sog. historisch-
physiolog/sche Methode in der Nationalökonomie, aber auch in an-
deren Wissenschaften eine unvollkommene Vorstufe der statistischen
Methode, d. h. der inductiven Forschung durch Massenbeob-
achtung sei. Wenn man nämlich nur eine Zahl von einzelnen
Zur Moralstatistik.
97
Fällen aus unseren obigen Tabellen herausnimmt, so kann man
mit vielen Beispielen belegen, daß das Wohnen in Chambre-
garnie nachtheilig auf das Betragen wirkt, ja man kann sich
eine Reihe bilden, welche dieses Factum noch viel besser zu be-
weisen scheint, als wir nach Kenntniß aller Daten annehmen
dürfen.
Z. B. aus der Tabelle, welche zusammengestellt ist, um
den Zusammenhang zwischen den beiden genannten Erscheinungen
zu leugnen, läßt sich mit einigen Auslassungen Folgendes heraus-
lesen:
10 Gewerbe mit
1 pCt. Chambregarnie haben 0,4 pCt. schlechtes Betragen,
3 - - - 2,6 -
4 - - - 4,9 -
7 - - - 5 - -
8 - - 6,8 -
10 - - - 9.3 -
12 - - - 11,3 -
13 - - - 11,6 -
26 - - - 13,6 -
30 - - - 14,5 -
57 - - - 16,2 -
Ebenso gut ist das möglich nach der Tabelle, welche ganz
unparteiisch zusammengestellt ist:
10 Gewerbe mit
0 pCt. Chambregarnie haben 2 pCt. schlechtes Betragen,
6 - - - 3 - -
8- - -- 5 - - -
11 - - - 6 - -
12 - - - 8 - -
18 - - - 11 - -
19 - - - 14 - -
28 - * - 15 - - -
37 - - - 17 -
Noch viel ausführlicher wird endlich die Reihe, wenn man
kie Tabelle nimmt, welche so gruppirt ist, daß der Zusammen-
fyang möglichst grell hervortreten soll:
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. 7
98
Laspeyres
10 Gewerbe mit
0 pCt. Chambregarnie haben 0,9 pCt. schlechtes Betragen,
4 - - - 1,3 - - -
6 - - - 1,4 - - -
7 - 8 - - 3,4 - 3,9 -
9 - - 5,8 - - -
10 - - 5,9 - - -
11 - - - 6,2 - - -
12 - - - 6,4 - - -
15 - - - 7,1 - - -
18 - - - 10,5 - - -
23 - - - 11,4 - - -
26 - - - 12,7 - - -
32 - - - 13,5 - - -
57 - - - 16,2 - . - -
Giebt man statt dieser einzelnen Zahlen die ganze Reihe
der Daten ohne Auslassung, so ist der Zusammenhang kein so
enger als er hier zu sein scheint, denn neben der constant aus-
steigenden Linie der Wohnung geht die des Betragens im
Ganzen freilich auch bergaus, aber im Einzelnen mit großen
Schwankungen nach unten, oder anders ausgedrückt, die Linie
des Betragens geht ausnahmslos erst bergauf, wenn man die
Gewerbe in Gruppen von je 40 — 60 Gewerben zusammen-
begreift, in welchen größeren Gruppen die Ausnahmen der
kleinen durch die Regel verdeckt werden.
Nimmt man nur einzelne Zahlen heraus aus der ganzen
Reihe, so kann man auch das Gegeutheil unserer bisherigen
Behauptung plausibel machen, daß das Wohnen in Chambre-
garuie einen guten Einfluß auf den Charakter ausübt; z. B.
kann man aus Tabelle XXIV. folgende Reihe bilden:
10 Gewerbe mit
18 pCt. Chambregarnie haben 17,4 pCt. schlechtes Betragen,
19 - - - 9,1 - -
22 - - - 6,9 -
25 - - 4,7 -
Oder auch die folgende:
Zur Moralstatistik. 99
10 Gewerbe mit
pCt. Chambregarnie haben 11,6 pCt. schlechtes Betragen,
18 - - - 10,8 -
19 - - - 9,1 - -
28 - - - 8,3 - -
Ebenso läßt sich aus der Tabelle, welche unparteiisch ver-
fährt, folgende Reihe bilden:
10 Gewerbe mit
12 pCt. Chambregarnie haben 10 pCt. schlechtes Betragen,
13 - - - 8 -
18 - - - 7 -
25 - - - 6 -
Endlich auch kann die Tabelle XXIV., welche den Zu-
sammenhang besonders zeigen will, dazu herhalten:
10 Gewerbe mit
19 pCt. Chambregarnie haben 15,9 pCt. schlechtes Betragen,
22 - - - 12,9 -
23 - - - 11,4 -
28 - - - 9,9 - -
Ja, mit unserer Tabelle kann man durch Herausreißen
einzelner Daten noch ganz andere Dinge beweisen. Ich will
nur noch Eins ausführen: Man kann plausibel machen, daß
bis zu einer gewissen Grenze das schlechte Betragen mit dem
Wohnen in Chambregarnie wächst, jenseits jener Grenze aber
wieder abnimmt.
10 Gewerbe mit
1 pCt. Chambregarnie haben 0,4 pCt. schlechtes Betragen,
3 - - 2,6 -
10 - - - 9,3 - -
12 - - - 11,3 -
13 - - - 11,6 -
18 - - - 10,8 -
22 - - - 6,9 - -
25 - - - 4,7 - -
Oder nach Tabelle XXIV., die unparteiisch gruppirt:
7*
100
Laspeyres
10 Gewerbe mit
1 pCt. Chambregarnie haben 2 pCt. schlechtes Betragen,
3 - - - Z - -
7 - - - 5 - -
10 - - - 8 - -
12 - - - 11 - -
12 - - - 10 - -
15 - - - 9 - -
22 - - - 8 - -
25 - - - 6 - -
Oder endlich nach der Tabelle XXIV., welche den Zu-
sammenhang urgirt:
10 Gewerbe mit
0 pCt. Chambregarnie haben 0,9 pCt. schlechtes Betragen,
4 - - - 1,3 - - -
6 - - - 1,4 - - -
7 - 8 - - 3,4 - 3,9 - -
9 - - - 5,8 - - -
10 - - - 5,9 - - -
11 - - - 6,2 - - -
12 - - - 6,4 - - -
15 - - - 7,1 - - s
CO - - 10,5 - - -
19 - - - 15,9 - - 5
21 - - - 15,6 - - s
22 - - - 12,9 - - s
23 - - - 11,4 - -
28 - - - 9.9 - C 5
Endlich kann man auch noch gerade das Gegentheil von
dem eben Ausgeführten aus der Tabelle zeigen, nämlich, daß
bis zu einer gewissen Grenze allerdings mit zunehmender Zahl
der Chambregarnisten das Betragen sich bessert, darüber hinaus
aber wieder schlechter wird.
Z. 'B. nach der unparteiischen Tabelle:
Zur Moralstatistik.
101
10 Gewerbe mit
12 pCt. Chambregarnie haben 11 pCt. schlechtes Betragen,
15 - - - 9 - -
18 - - - 7 - -
25 - - - 6 - -
26 - - - 9 - -
28 - - - 10 - -
32 - - 14 -
oder nach der Tabelle XXIV., welche den Zusammenhang gering
erachtet:
10 Gewerbe mit
12 pCt. Chambregarnie haben 11,3 pCt. schlechtes Betragen,
16 - - - 10,8 -
19 - - - 9,1 -
22 - - - 6,9 -
25 - - - 4,7 -
28 - - 8,3 -
32 - - - 13,5 -
57 - - - 16,2 -
endlich nach der letzten Tabelle, welche den Zusammenhang
nicht hervorzuheben bemüht ist:
10 Gewerbe mit
16 pCt. Chambregarnie haben 12,3 pCt. schlechtes Betragen,
18 - - - 10,5 -
25 - - - 9,5 -
28 - - - 9,9 -
32 - - - 13,5 -
57 - - - 16,2 -
Kurzum, ein Jeder, der das Material ganz kennt, kann
daraus einem Andern, dem er verheimlicht, was nicht zu seinen
Zwecken paßt, so ziemlich Alles beweisen. Ebenso kann aber
auch durch einzelne statistische Notizen der völlig unpar-
teiische Forscher irre geführt werden; Nichts hat der Statistik
und der Wissenschaft, welche bisher vorzugsweise, um nicht rein
deductiv zu verfahren, mit solchen statistischen Einzeldaten ar-
beitete, der Nationalökonomie, also in der sog. historisch-phy-
siologischen Richtung mehr geschadet, auch in den Augen derer,
102
Laspeyres
welche dieser Wissenschaft wohlgesinnt sich zeigen, als gerade
der Umstand, daß, wenn der Eine mit einigen Notizen etwas
bewiesen zu haben meint, ein Anderer mit ebenso richtigen
Notizen auftrat, welche genau das Gegentheil zu beweisen
schienen. Je mehr man an die Stelle solcher statistischen No-
tizen vollständige statistische Reihen setzt, um so sicherer entgeht
man Jrrthümern.
Anmerkung 3. Zu Seite 58.
Beweis, daß die in eigenen Meubeln wohnenden
Pariser Arbeiterinnen zu einem großen Theil
ledig sind.
Von der über 15 Jahre alten männlichen Bevölkerung
sind ungefähr 41,7 pCt. nicht verheirathet (nach den Sterbe-
listen des Jahres 1866; andere Daten standen mir nicht zu
Gebote). Das giebt auf unsere 251,119 männliche Arbeiter
104,717 Ledige. Davon sind, wenn wir Alle in fremden
Meubeln, sowie in fremden Meubeln und fremder Kost als
ledig betrachten, 73,218 nicht in eigenen Meubeln, also sind
von den 176,438 männlichen Arbeitern in eigenen Meubeln
nicht verheirathet 104,717 — 73,218 — 31,499, d.h. 18 pCt.
Verheirathet in eigenen Meubeln sind 82 pCt. — 144,939.
Zu diesen gehören ebensoviel Frauen; da es nun aber nach der
Enquete nur 87,996 Frauen in eigenen Meubeln giebt, so ar-
beiten jedenfalls von den Frauen der beschäftigten Arbeiter nicht
144,939 — 87,996 — 56,943. Allein es sind noch viel mehr,
welche nicht arbeiten in der genannten Industrie, denn von den
87,996 Frauen sind viele nicht die Gattinnen der Mannet, von
denen die Jndustrieeuquste redet. Das läßt sich folgendermaßen
beweisen: Der Tagelohn der männlichen Pariser Arbeiter für
den wirklichen Arbeitstag betrug 1860 im wahren Durchschnitt,
Summe aller Löhne 1,223,063 Fr. ^
^ 9* Summe aller Arbeiter 290,759 =4,21 dt* Der-
214,664 Fr.
jenige der Frauen —iöß^lö™ = 2,02 ^r* ®er Durchschnitts-
lohn ist bei Männern ungefähr das Doppelte des Frauenlohnes.
Zur Moralstatistil. 103
Anders verhält sich aber der Lohn des Ehemanns und der Ehe-
frcm zu einander, wenn wir den Verdienst vergleichen, den beide
täglich erwerben. Aus den öfters angeführten Einnahmebudgets
von 200 Arbeitern, welche Ducpetiaux in Belgien ermittelt
hat, verdiente auf 880,63 Fr. Jahresverdienst der Mann
477,53 Fr., die Frau nur 80,85 Fr., d. h. 54,2 pCt. der
Mann, 9,2 pCt. die Frau. Der Mann erwirbt darnach das
Sechsfache wie seine Frau. Dieselbe Berechnung ergab mir
für 38 französische Arbeiterfamilien nach den Budgets, welche
Le Play gesammelt hat, Jahreslohn des Mannes (Salaire et
benefice) 1013 Fr., der Frau 245, d. h. 52 pCt. resp. 12,6
pCt. einer Jahreseinnahme von 1951 Fr. per Familie. Hier-
nach verdient der Mann das 4fache des Frauenerwerbs. Aus
mehrfachen Gründen, deren Auseinandersetzung hier zu weit
führen würde, muß ich das Verhältniß, wie es aus den 200
belgischen Budgets sich ergiebt, vorziehen, will aber der Sicher-
heit halber den französischen Budgets, unter denen auch 9 gerade
aus der Stadt Paris sich befinden, Rechnung tragen und das
Verhältniß der Mannseinnahme zur Fraueneinnahme nicht wie
fast 6 :1, sondern wie 5 :1 setzen. Ich glaube nun so schließen
zu dürfen: Wenn die verheiratheten Frauen nur z von dem
erwerben, was der Ehemann verdient, so müssen, da die sämmt-
lichen weiblichen Arbeiterinnen in Paris durchschnittlich halb so
viel verdienen wie die männlichen Arbeiter, nur sehr wenige
Frauen der 144,939 verheiratheten männlichen Eigenmeubler
auch in der Pariser Industrie mit arbeiten. Von den 87,996
M eigenen Meubeln wohnenden Frauen sind darum gewiß viele
nicht an das Haus gebunden durch den Haushalt für Mann
und Kind, sonst könnte für Paris Mannslohn zu Frauen-
lohn nicht stehen wie 2:1. Oder machen wir eine andere
Rechnung. Der Lohn eines verheiratheten und eines unver-
heiratheten Mannes ist ziemlich der gleiche, da beide den ganzen
Tag vom Hause fern auf Arbeit sein können, höchstens ist der
des Ehemannes ein wenig höher, da derselbe sich mehr an-
strengen muß, um außer für sich auch für Frau und Kinder
zu erwerben. Auf die 144,939 verheiratheten Eigenmeubler
a 4,21 Fr. Lohn fallen 608,744 Fr., die 144,939 Frauen
104
Laspeyres
dieser Männer verdienen circa ein Fünftel von dem Mannslohn,
608 744 Fr.
-'—g—-— — 121,749 Fr. Alle Pariser Arbeiterinnen ver-
dienen 214,664 Fr. laut Angaben der Enquete, es verbleiben
also, wenn wir keine weiblichen ledigen Eigenmenbler annehmen
wollten, sondern alle als Frauen der 144,939 Männer rechnen,
welche l von dem verdienen, was die Männer erwerben,
214,664 Fr. — 121,749 Fr. = 92,915 Fr. auf die 9785
Meisterwohnerinnen und die 7145 Chambregarnistinnen, d. h.
aus zusammen 16,930 Frauen nicht in eigenen Meubeln käme
ein Gesammtlohn von 92,934 Fr. oder fast 5,50 Fr. auf den
Kopf. Daß die ledigen Frauen 5z Fr. verdienen sollten,
während die Männer nur 4^ verdienen, ist undenkbar, folglich
muß unter den weiblichen Eigenmenblern eine sehr bedeutende
Anzahl Lediger sein, welche mehr als £ des Mannslohns, d. h.
4 21 Fr
mehr als —' ----- 84 Ctm. verdienen. Wie groß die
Zahl der ledigen weiblichen Eigenmenbler sein mag, wage ich
in Anbetracht des unzulänglichen, der Berechnung zu Grunde
liegenden Materials nicht zu schätzen, aber bedeutend groß muß
sie sein.
Anmerkung 4 zu Seite 62. (Hierzu Tabellen XXV—XXXI.)
Statistische Winke über den Einfluß der Ein-
nahmequellen des Arbeiters auf das Betragen
und den Einfluß des Betragens auf die Ein-
nahmequellen.
Speeiell für die Ehambregarnisten giebt die Wohnungs-
enquöte des Jahres 1849 uns noch über einige andere Be-
stimmungsgründe des Betragens Aufschluß, ebenso aber auch
umgekehrt über das Betragen als Grund dieser Erscheinungen.
Das Wichtigste in dieser Beziehung sind die Erwerbsquellen.
Wie wirkt der Erwerb aus Arbeit gegenwärtiger wie früherer
(Ersparniß), wie öffentliche Unterstützung, wie Privatunter-
stützung, wie endlich das Einkommen aus dem Laster, Pro-
stitution und Diebstahl?
Zur Moralstatistik. 105
1) Einkommen aus Arbeit.
Hauptresultat der Tabelle XXV.
Chambregar nisten.
Stadttheile. Männer. •P®. leben ^Ct. gutes »etwa«!. Arbeit, j Frauen. PCt. leben IpCt. gutes von ihreri^ , or r \ Betragen. Arbeit, j
24 Quartiere..... 37 42 18 17,2
23 - ..... 63 56 48 24,5
47 46 48 i 31 21
Verhältniß gegen alle 47 Quartiere = = 100.
24 - ..... 80 88 1 58 82
23 - ..... 137 117 1 155 117
47 - ..... 100 100 100 100
Daß Arbeit den Menschen veredelt, bedarf wohl kaum der
statistischen Bestätigung; es trifft bei den Männern und Frauen
nach der Chambregarnieenquete zu. In den 24 Quartieren
mit nur 37 pCt. von ihrer Arbeit lebenden Männern haben
42 pCt. gutes Betragen gegen 56 pCt. gute Ausführung bei
63 pCt. von ihrer Arbeit Lebenden in den anderen 23 Quar-
tieren. Bei den Frauen divergiren die 24 arbeitsamsten Quar-
tiere von den nicht arbeitsamen mehr, nämlich 48 pCt. gegen
18 pCt., folglich ist auch die Differenz im guten Betragen eine
größere, 24,5 pCt. gegen 17,2 pCt.
Dieser gute Einfluß des Einkommens aus Arbeit könnte
Uur in sofern aufsallen, als wir oben Seite 66 gesehen haben,
daß das Betragen um so besser ist, je mehr Arbeiter ohne
Beschäftigung find, allein von der Arbeit leben und unbeschäftigt
fein, sind nicht immer, wie es auf den ersten Anblick scheint,
Gegensätze, sondern sehr oft decken sich Unbeschäftigtsein mit
^onarbeitleben, wenn man bei temporärem Arbeitsmangel von
dem ersparten Ertrage früherer Arbeit lebt. Die Industrie-
statistik bemerkt ausdrücklich, daß unter dem „Vonarbeit-
leben" mit begriffen ist das Zehren von früheren Ersparnissen.
106
Laspeyres
In vielen Fällen freilich heißt Unbeschäftigtsein auch etwas An-
deres als von Ersparnissen leben, darum ist auch die Differenz
im Betragen nach der Menge, die von Arbeit und Ersparniß
leben, größer (Männer 56 gegen 42,5, Frauen 24,5 gegen 17,2)
als nach der Menge, die unbeschäftigt sind (Männer 50 : 46,
Frauen 24 : 17).
2) Einkommen aus Almosen.
Hauptresultat der Tabelle XXVI.
I Stadttheile. Chambregarnisten.
Mär pCt. leben von Almosen. mer. pCt. gutes Betragen. Fra PCt. leben von Almosen. uen. pCt. gutes Betragen.
24 Quartiere .... 23 - .... 15 49 51,6 45,6 14 56 21.3 19.4
47 - .... Verhältniß gegen 24 - .... 23 - .... 35 alle 47 £ 43 140 48 Quartiere -- 107 95 39 - 100. 36 144 I 21 102 92
47 - .... 100 100 | 100 100
Die Tabelle zeigt uns ferner, daß eine andere Art von
Einnahmen bei den Frauen nicht so schlechten Einfluß übt als
bei den Männern, nämlich die öffentliche Unterstützung (secours
public). In den 24 Quartieren, in denen 14 pCt. der Frauen
von Almosen lebten, betrugen 21,3 pCt. sich gut gegen 19,4 pCt.
in den 23 Quartieren mit 56 pCt. öffentlicher Unterstützung.
Bei den Männern ist die Differenz im Betragen etwas größer,
obwohl die Differenz im Procentsatz der Almosenempfänger
geringer ist, in beiden Fällen aber ist der Einfluß der öffent-
lichen Unterstützung ein ungünstiger. Oder sollten etwa gar im
Winter 1849 die Zustände in Paris der Art schlimm gewesen
Zur Moralstatistik.
107
sein, daß man die Arbeiter mit schlechtem Betragen unterstützte,
nur um sie zu bändigen, während man die bescheidenen Ar-
beiter hungern ließ? Die statistischen Taseln regen eine Menge
Fragen an, ohne bisher eine bestimmte Antwort daraus zu
geben.
3) Einkommen aus Prostitution.
Hauptresultat der Tabelle XXVII.
Stadttheile. Chambregarnisten.
Mär pCt. leben von Pro- stitntion. mer. pCt. gutes Betragen. Fra PCt. leben von Pro- stitution. nen. pCt. gutes Betragen.
24 Quartiere .... 23 ..... 3,9 55,6 42,1 6 40 22,9 19
47 - .... 2 ! 48 21 21
Berhältniß gegen alle 47 Quartiere — 100.
24 0 117 29 109
23 .... 195 88 190 90
47 100 100 100 100
Weiter können wir aus unserer Tabelle sehen, einen wie
schlimmen Einfluß aus das ganze Betragen das Laster ausübt,
einmal in der Gestalt der Prostitution und zwar der niedrigsten
Art. Wo nur 6 pCt. der Frauen notorisch von Prostitution
^ben, betragen sich 22,9 pCt. gut, gegen nur 19 pCt., wo
40 pCt. sich gegen Geld preisgeben. Ausfallend kann hier
höchstens sein, daß die Unterschiede im Betragen nicht greller
sind. Viel gewaltiger sind die Unterschiede, wo sogar die
Männer eingestandenermaßen von der Prostitution ihrer eigenen
grauen und Kinder leben, was in 20 Quartieren von Paris vor-
kommt bei durchschnittlich sast 4pCt. aller Chambregarnisten. In
diesen 20 Quartieren hier betragen nur 42,1 pCt. sich gut gegen
^5,6 pCt. in den 24 Quartieren, in denen dieses Laster
wenigstens unbekannt ist oder doch nicht eingestanden wurde.
108 Laspeyres
4) Einkommen aus unbekannten Quellen.
Hauptresultat der Tabelle XXIX.
StadtthMe. Chambregarnisten.
Mäl er -tr 3" H » tner. pCt. gutes Betragen. Fra ^ IT« ^ 3 53 3 & S g_2. ^ nett. pCt. gutes Betragen.
24 Quartiere .... 23 - .... 7 43 48,4 9 22,4 19,3
47 - .... 4 48 4 21
Berhältniß gegen den Durchschnitt aller 47 Quartiere ---- 100.
24 Quartiere .... 0 90 0 107
23 - .... 175 101 225 94
47 - .... 100 100 100 100
Eine eigene Rubrik in der Tabelle XXIX. heißt Ein-
nahmeqnellen unbekannter Natur. Wo in 24 Quartieren diese
unbekannten Einnahmequellen gar nicht vorkommen, da waren
43 pEt. Männer und 22,4 pCt. Frauen gut angeschrieben, wo
hingegen bei den Männern durchschnittlich 7 pCt. so geheimniß-
voll sich ernährten, war das Betragen von 48,4 pCt. gut, hin-
gegen wo 9 pCt. der Frauen ihre Erwerbsquelle nicht ange-
geben hatten, war das Betragen nur bei 19,8 pCt. zu loben.
Darnach möchte es scheinen, daß eine nicht zu ermittelnde
Erwerbsquelle bei den Männern nicht so sicher aus etwas Ver-
wersliches schließen läßt, als bei den Frauen.
5) Einkommen aus Credit.
Endlich ist noch eine fünfte Unterhaltsquelle der Chambre-
garnisten angeführt, der augenblickliche Credit, den der Ver-
miether gewährt. Bei den Männern ist die Wirkung dieser
Einnahme oder gestundeten Ausgabe bedeutend. Auf eine
Zur Moralstatistik. 109
Hauptresultat der Tabelle XXVIII.
C h a m b r e g a r n i st e n.
Stadtth eile.
Mär pCt. lebeu vom Borg. mer. pCt. gutes Betragen. Fra PCt. leben vom Borg. uen. pCt. gutes Betragen.
24 Quartiere .... 23 - .... 7 20 45,8 30,6 0,7 13 19,9 22,6
47 - .... 13 48 5 12
Berhältniß zum Durchschnitt aller 47 Quartiere — 100.
24 Quartiere .... 54 95 14 95
23 - .... 154 105 260 108
47 - .... 100 100 100 100
Differenz von 7 pCt. gegen 20 pCt. ist der Unterschied im
Betragen 45,8 pCt. gegen 50,6 pCt. guter Aufführung, noch
etwas größer ist er bei allerdings auch größerem Unterschiede
in Benutzung dieser Lebensquelle bei den Frauen. Bei durch-
schnittlich 0,7 pCt. gegen 13 pCt. so auf Borg lebender Weiber
ist die Differenz im Betragen 19,9 gegen 22,6 pCt. Bemerkens-
toertfy ist, wie viel weniger den Frauen dieses Hnlfsmittel offen
steht, als den Männern. Das führt mich auf den Gedanken,
daß besonders hier das Betragen nicht die Folge des Borgens
*st, sondern das Geborgtbekommen die Folge des guten Be-
Wagens, denn warum sollte die Benutzung des Credits guten
Effect haben? Erklärlich wird Alles, wenn wir das Geliehen-
bekommen als die Wirkung des guten Betragens auffassen.
Die Stadtgegenden unterscheiden sich dem Betragen der Männer
^ach wenig, 46,5 pCt. gegen 65 pCt. gut Betragen, und zwar
*st überhaupt die Hälfte aller Chambregarnisten zu loben. Bei
ken Frauen, die in viel geringerem Grade ordentliche Chambre-
öarniften stellen, sind die Unterschiede der 24 gegen 23 Quar-
^ere bedeutender, nämlich 9,7 gegen 33 pCt. Unter solchen
Umständen darf es nicht auffallen, wenn bei den Männern die
110
Laspeyres
Creditwürdigen 11,8 und 13,7 pCt., bei den Frauen nur
3,2 pCt. und 6,6 pCt. ausmachen. In größerem Maßstabe
Hauptresultat der Tabelle XXIX.
Stadttheile. Chambregarnisten.
Mär PCt. gutes Be- tragen. ner. PCt. leben vom Borg. Frauen. pCt. pCt. gutes Be- ! leben vom tragen. Borg.
24 Quartiere..... 23 - ..... 46,5 65 11,8 13,7 9,7 33 3,2 6,6
47 - ..... Verhältniß gegen den Du 24 Quartiere..... 23 - ..... 55,7 12,7 rchschnitt aller 47 Qu 84 93 117 j 108 21,3 artiere — 45 155 4,9 100. 65 135
47 - ..... 100 100 100 100
bekommen beim Vermiether überhaupt nur Credit die als sicher
bekannten, regelmäßig jedes Jahr wiederkehrenden, von uns
natürliche Chambregarnisten genannten NichtPariser, namentlich
die Bauhandwerker, da macht es denn auch in der Creditwür-
digkeit nicht viel aus, ob die Leute zu 46 oder 65 pCt. sich
durch ihr Betragen vorteilhaft auszeichnen. Anders bei den
Frauen, welche als sast durchweg schlechte Chambregarnisten
überhaupt nur in Ausnahmsfällen Credit haben. Hier muß das
Betragen schon zu 33 pCt. gut sein, damit 6,6 pCt. vom Ver-
miether unterstützt werden gegen sogar nur 3,2 pCt., wo nnr,
10 pCt. sich gut betragen. Daß das Betragen nicht Wirkung
sondern Voraussetzung des Credits ist, ergiebt die Überein-
stimmung mit einer anderen Art des Credits, der im be-
schränkteren Umfange gewährt wird, dafür aber mehr Leuten zu
Statten kommt, nämlich nicht das directe Empfangen von Geld,
sondern das Stunden von schuldigen Zahlungen.
Zur Moralstatistik.
111
Eine eigene Abtheilung ist auf Tabelle XXX. noch ge-
macht für Leute (Männer und Frauen zusammen), welche ent-
weder dem Vermiether gegenüber im Rückstände sind (Arrieres
vis-ä-vis du logeur) oder nicht (ne devant rien au logeur).
Ich glaube das im Gegensatz zu dem obigen „Vivant du cre-
dit momentane du logeur" als bloße Mieths stund UN g auf-
fassen zu müssen.
Hauptresultat der Tabelle XXX.
Chambrej zarnisteu.
Stadttheile. Männer und Frauen. pCt. schulden Nichts dem Vermiether. Männer Frauen gutes Betragen in pCt. aller Männer und Frauen.
24 Quartiere .... 70 CO
23 , .... 44,5 42 5
47 - .... 56 42
Verhältnis; gegen den Durchschnitt aller 47 Quartiere — 100.
24 Quartiere .... 125 76 10
23 ..... 80 100 12
47 . .... 100 100
Hier zeigt sich nun: Je mehr Männer und Frauen die
Miethe regelmäßig zahlen (ne devant rien), 70 gegen 44,5 pCt.,
Um so weniger Männer betragen sich gut, 32 gegen 42 pCt.,
und auch um so weniger Frauen, 4,4 pCt. gegen 5 pCt. (Hier
ist in beiden Fällen die Procentzahl des Betragens auf Männer
und Frauen zusammen berechnet.) Hier kann wiederum nicht
wahr sein, daß regelmäßiger Haushalt auf das Betragen schlecht
wirkt, sondern es muß nach Tabelle XXXI. wieder heißen:
mehr Männer sich gut aufführen, 65 gegen 46,5 pCt.,
um so weniger Männer und Frauen schulden Nichts, 50 gegen
62 pCt., d. h. um so mehr haben eben wegen ihres guten
112
LaspeyreS: Zur Moralstatistik.
Hauptresultat der Tabelle XXXI.
C hambreg a r u i st e u.
Stadtth eile. 's. ff! Pö -»S »-• §8 « cd 2 er S £ <59 i~i S B « r Z. 3 ' ir-S »: . , CT ro §3 « CT t* Sg g.
24 Quartiere..... 23 - ..... 46,5 65 62 | 50 9,7 33 61 52
47 - ..... 55,7 56 21,3 56
Verhältniß gegen dm Durchschnitt aller 47 Quartiere — 100.
24 Quartiere..... 84 111 46 109
23 - ..... 117 89 155 93
47 - ..... 100 100 100 100
Betragens die Miethe gestundet bekommen, und ebenso bei den
Frauen, 33 pCt. gegen 9,7 pCt. gutes Betragen 61 gegen
52 pCt. mit Stundung der Miethe. Hätten wir auch hier
die Angabe des „ne devant rien au logeur" für Männer und
Weiber getrennt, dann wäre auch die Uebereiustimmung wohl
noch deutlicher. Also immer dasselbe Lied tönt uns entgegen:
Besseres Material giebt bessere Schlüsse.
An m. Wie sehr wir uns auch verpflichtet glaubten, die vorstehende, ver-
dienstliche Arbeit für unsere Zeitschrift zu gewinnen, um die statistischen Unter-
suchungen wie Resultate der Theilnahme unseres Leserkreises nahe zu bringen:
so schien es doch angemessen, die graphischen Darstellungen, welche dazu ge-
hören, aber nur dem eigentlichen Statistiker völlig zu Gute kommen, einem
besonderen Abdruck zu überlassen. Zumal da die Verlagshandlung die
Güte gehabt hat, jedem Abonnenten die Gelegenheit zu bieten, die graphischen
Tabellen besonders um ein Billiges zu erwerben. D. Red.
Cohen: Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele.
113
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele
psychologisch entwickelt von
Hermann Cohen, Dr. phil.
II.
Apperception der Menschenzeugung als Feuerbereitung und die
Vorstellung Seele.
Es scheint poetische Erfindung, wenn der Dichter
singt:
„Golden waren die arani, mit denen die
göttlichen Apvinen den Funken hervorquirlten.
DiesenKeim lege ich indich, daß du ihn gebärest
im zehnten Mond. Wie die Erde mit Agni, wie
die Himmelsluft mit Indra schwanger ist, wie
Väju der Himmelsgegenden Kind ist, so lege ich
einen Keim in dich." *)
Man wird jetzt nicht mehr daran zweifeln, daß die poetische
Apperception auf einer zuversichtlichen Verbindung von Vor-
stellungen beruht, die im Bewußtsein sich an einander drängen.
So poetisch es uns jetzt scheinen mag, d. h. so willkürlich, so
Phantastisch, die Menschenzeugung als eine Fenererzeugnng auf-
Zufassen; so ist doch diese Apperception durchaus natürlich, der
regelmäßigen Wirksamkeit des psychologischen Mechanismus ge-
mäß. Darum hat sie auch als eine ernste Sache in den
rechtlichen Institutionen ihre Anwendung gefunden.
Ueber den Fluch, den der Brahmane gegen denjenigen aus-
sprechen soll, der verbotenen Umgang mit seiner Frau hat, lesen
wir: „Wenn nun Eines Frau einen Buhlen hat, den er haßt,
*) Kuhn S. 74 ff.
Zeitschr. für Vvlkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI, 8
114
so lege er Feuer in eine Schale von ungebranntem Thon, be-
reite verkehrt eine Streu von Pfeilgras und opfere die drei
Pfeilgrasspitzen verkehrt, nachdem er sie mit Butter gesalbt,
in jenem mit den Worten: „Du hast in meinem Feuer
geopfert, dein Hoffen und Erwarten nehme ich dir, N. N."
und so nennt er den Namen (S. 76.). Auf dieser Apperception
beruht nun der Mythos, daß der Feuergott (Agni oder als
Pramathyus — Prometheus) zugleich der Menschenschöpfer
sei, daß die ersten Menschen, das sind in den Sagen die ältesten
Könige, vom Himmel stammen, blitz geboren. Yama, der
erste Mensch, ist im Blitze geboren, und Cyaväna, der vom
Himmel Gefallene — Hephaestos ist der Sohn Bliregu's, des
Blitzers.
Diese Vorstellung findet sich aber nicht allein bei den
Indern; sie tritt uns ebenso bei Griechen und Germanen ent-
gegen. So wird Apollo im Gewitter geboren und Dionysos
(Aixvit7]?), der Gott in der Wiege oder im Holze, wird von
der Semele geboren, indem Zeus auf ihre Bitte unter Donner
und Blitz erscheint.*) Daher heißt er Trupi-fevVjs. Prometheus
hat nicht bloß in der Narthex, d. i. dem Pramantha das
Feuer vom Himmel geholt, er hat auch den Menschen aus
Erde geschaffen. Die Erde aber, die er dazu gebrauchte, wurde
bei Pauopeus in Phocis gezeigt; Panopeus aber ist der Sitz
der Phlegyer, die wir als identisch mit den Bhregu erkannt
haben (S. .18 — 20.). In einem schweizerischen Gebrauche
wird der Teufel entmannt (de tüfel häla), indem man ein
spitzes Holz von einer Schnur umschlungen, in einem Holz-
grübchen schnell dreht, so daß es Feuer fängt. Dies spitze
Holz ist der Penis. Auch wird der Gotl der Johannisfeuer
Fro, der nordische Freyr, ingenti priapo dargestellt. Viele
Gebräuche bei den I oh an nis feuern beziehen sich auf Liebe
und Ehegemeinschaft, wohin Kuhn die Sitte rechnet, daß
der Sprung über das Feuer paarweise vollzogen wird
(S. 100 ff.). Es mag hier noch bemerkt werden, daß auf
diese Anschauung des Zengungsactes als des Bohrens mit einem
Prell er, Gr. Mythologie I. S. 521.
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 115
Stabe in einer runden Höhlung auch die hebräische Etymologie
Zurückzuführen sein möchte, nach der das Männliche der Bohrer
""Dl — ipi und das Weibliche die Höhlung rQpH heißt.
War nun aber die Menschenzeugung als eine Feuerreibung
appercipirt worden, so wurde die weitere Vorstellung durch die
Neprodnction gegeben, die zugleich geweckt wurde, daß der
Mensch als Feuergeburt von demjenigen abstamme, aus dem
das Feuer selbst gerieben wird, dem Holze, dem Baume,
und daraus wieder, daß die Feuerreibung selbst ein Vermäh-
lungs- und Zengungsact sei, da ja aus den bei derselben ange-
wendeten Stoffen und durch die Berührung derselben die
Menschen entstehen. Die erstere, nächste Apperceptionsstuse soll
zuerst in Betracht gezogen werden.
Bei Hesiod wird das dritte, eherne Geschlecht aus den
Eschen geschassen. Zeo? 3s TraxTjp xpixov aXko [ASpoirtov
^V&paciituv /ataceiov tc017]<3' — ex |i.sXiav (E. 142. 59. Kuhn
S. 24.). Ebenso ist nach der pelopounesischen Sage Phoroneus
= Bhuranyu, der Blitz, Sohn der Melia, der Esche; Er habe,
nicht Prometheus, den Menschen das Feuer gegeben. Nach der
Edda stammen die Menschen von zwei Bäumen, Askr und
Embla. *) In der römischen Sage ist Picus, der Specht,
der feuerbringende Vogel (wie Phoroneus in der peloponnesischen)
und als solcher der erste König Latiums/*) Als ältester König
aber, d. h. als erster Mensch, ist er auch neben seinem Bruder
Pilumnus (von pilum — Geschoß, Donner, Keule oder Blitz)
der Gott der Kindbetterinnen und der kleinen Kinder, „der den
Neugeborenen Kindern den himmlischen Funken der Seele
brachte." Wie der Specht in der römischen, so ist in unseren
germanischen Sagen der Storch der Kinderbringer. Der
Teich oder Brunnen, aus dem er sie holt, ist die Wolke.
Störche sind verwandelte Menschen, wie Pieus Mensch und
Vogel zugleich ist. Der Storch ist besonders geeignet zum
Vogel der Gewitter, weil er mit diesen geht und kommt; über-
dies bringt ihn die rothe Farbe seiner Beine, wie ähnliche
*) Grimm, Deutsche Myth. 2. Ausg. S. 527.
**) Ib. S. 925; vergl. Kuhn S. 214.
8*
116
Eigenschaften bei anderen Thieren (Schwalben, Rothkehlchen
N wegen der rochen Brust, Eichhörnchen, Fuchs wegen des Felles)
in leichte Beziehung zum Feuer (S. 106.). Daher führt Kuhn
sogar den „dunkeln Beinamen" des Storches odebar, odebero
auf ein dem ahd. atum, nhd. Athem, Odem nahestehendes
adhi zurück und macht ihn so zum Seelen-, nicht zum
Kinderbringer, „wozu ihn nur die naive, kindliche Auffassung
umgestalten konnte." Bezeichnend ist hierfür die Beziehung,
in die der Specht zu der Wünschelruthe tritt, in der wir
den Blitz erkannt haben (S. 214.). Grimm hatte bereits
nachgewiesen, daß der Hermesstab die Wünschelruthe ist. Da
nun die Wünschelruthe nach Kuhn der Blitz ist, so ist der
Hermesstab der Drehstab des Feuerzeuges, des Blitzes. Da-
her die Flügel am Hermes, weil der Blitz zugleich Vogel ist.
So wird auch die phallische Natur des Hermes klar.
(S. 239, 240.)
Der Prozeß, in dem sich diese Mythen entwickelt haben,
ist nun in Kurzem folgender. Die Menschenzeugung wurde als
Feuerbohrung appercipirt. Da nun aber Feuer aus dem Holze
gerieben wird und zugleich auf einer späteren Apperceptionsstufe
der Ursprung alles irdischen Feuers in den Himmel versetzt
wurde, von dem es der Blitzvogel auf einen Baum herabbringe,
aus welchem die Menschen es wieder hervorreiben können: so
mußte auch die Menschenzeugung ihren letzten wahren Ursprung
in dem himmlischen Feuerzeug haben. Aus den Wolken, den
Wetterbäumen, den Eschen werden sie vom Feuergotte gezeugt
und als Blitz kommen die Erstgeborenen zur Erde herab.
Kommen sie herab? Ist das nach dem Apperceptionsprozesse
möglich? Wird nicht vielmehr das Feuer herabgebracht vom
Blitzvogel? So wird auch der Feuermensch vom Blitz- und
Gewittervogel, dem Specht oder dem Storch, von der Melia,
der Weltesche, nach der germanischen Mythe von Yggdrasill
herabgebracht. Es ist der ganze Mensch, den der Storch
herabbringt, nach dem uralten Glauben jener Menschen, deren
Gedanken wir hier entfalten, nach dem „naiven Kinderglauben".
Wenn Kuhn in dem Etymon des Storch-Beinamens dessen
Charakter als Seelen- und nicht als Kinderbringer nachweist,
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 117
so ist das nicht so aufzufassen, als hätte die mythische An-
schauung des indogermanischen Urvolkes zwischen Seele und
Mensch ursprünglich geschieden. Wir werden vielmehr diesen
Beinamen auf eine spätere Apperceptionsstufe hinaufrücken
müffen. Der Urmensch sah durchaus nichts Wunderliches darin,
daß die Menschen, die ersten Menschen aus dem himmlischen
Feuerzeuge, der Weltesche, die der Blitzstab durchbohrt, geboren
und durch den Blitzvogel auf die Erde oder genauer, auf den
irdischen Baum herabgetragen worden seien. Denn die Vor-
stellung der Feuererzeugung mußte nothwendig bei dem Ueber-
gewicht der gleichen Merkmale in beiden Vorstellungen das
appercipirende Organ für die Vorstellung der Menschenzeugung
werden. Zuerst also wurde die gesammte erste Vorstellung
Feuer mit allen ihren verschiedenen Complicationen, über die
Bereitung, die Erscheinung als Blitz n. s. f. durch die Vor-
stellung Menschenzeugung angeeignet, in den Vordergrund des
Bewußtseins gezogen. Nachdem aber das ursprüngliche Be-
wußtsein, in dem beide verschmolzen wann, überwunden war,
als die Anzahl der ungleichen Merkmale in beiden Vorstellungs-
gruppen eine Hemmung bewirkte, — hier Fleisch, dort Holz;
hier Flamme, dort Mensch — da konnten nicht mehr alle Ele-
mente jener alten Apperception in frischer Wirksamkeit bleiben:
die abgeschwächtesten wurden ausgeschieden oder gingen mit
anderen Elementen andere Verbände ein. Aber jene alte An-
schauung, die wegen der ersten Verschmelzung zu einer Total-
kraft angewachsen war, wurzelte doch so tief im Bewußtsein
und hatte in demselben noch immer so vielseitigen Raum für
eine ungehemmte Apperceptionsfähigkeit, daß sie auch von der
Neuen Vorstellung, durch welche ein Unterschied gesetzt war, nicht
ganz verdrängt wurde, daß sie vielmehr in dieselbe mit-
gestaltend eintreten konnte. Wenn der Mensch nicht
wehr gleich der Flamme aus dem Holze gerieben werden kann,
soll, so ist doch noch immer der Feuerathem in ihm. Dieser
Athem muß aus dem Himmelsfeuer stammen, ihn bringen die
Blitzvögel herab, und wenn der Mensch stirbt, so fliegt seine
Seele, d. i. sein Athem, zum Himmel zurück. (Vgl. Grimm,
Deutsche Myth. 2. Ausg. S. 788.)
118 Cohen
Diese Vorstellung aber, daß das Feuer das Lebendige
im Menschen sei, sehen wir in vielen Mythen unter verschie-
denen Völkern mit durchsichtiger Bestimmtheit auftreten. Nicht
daß man hätte fragen müssen: Was ist denn das Lebendige,
das Lebensprincip im lebendigen Menschen? So ist dieser
Gedankenvorgang nicht zu fassen. Die Begattung wurde, wie
wir gesehen haben, ursprünglich und nach einem unausweichlichen
Antriebe als Pslanzenverbindung zum Zwecke der Feuer-
reibung appercipirt. Wie nun bei der Holzbegattung ein Funke
entsteht, so muß doch wohl auch bei der Menschenbegattung
ein Funke entstehen; das Merkmal Funke in der Complexion
Feuererzeugung fordert und bewirkt die Reproduction dieses
Merkmals in der neuen appercipirten Complexion Menschen-
begattung als Holzfeuerverbindung. Dieser Funke ist nun das
eigentlich Lebendige, weil das eigentlich Geborene; der Erst-
geborene ist ein Feuerfunke, ein Blitz, der sich schnell in
einen Menschenleib wandelt. Das glaubte, das dachte man, so
lange die ursprüngliche Apperception im Bewußtsein keine Hem-
mung erlitt. Als dieselbe aber durch den Gedanken abgeschwächt
wurde, daß der Mensch doch immerhin kein Funke sei: da ent-
stand durch die ebenso sich darbietende Anschauung, daß der
Mensch, wie er entsteht, auch vergeht, diejenige Vorstellung,
nach der das Lebendige, die Kraft des Lebens, welche Kraft
nicht etwa als Abstraction, sondern als immanent dem Stoffe
gefaßt wurde, man könnte eben so gut sagen: der Stoff des
Lebens Feuer sei, als Feuerfunke entstehe und vergehe. Man
erwäge nur, daß die Hemmung, welche die Apperception durch
die Anschauung des Sterbens erfuhr, als eines Ausgehens
des Athems, jene Apperception nur stärken konnte. So oft
nun die Vorstellung des Lebendigen als des Feuer athems
appercipirt wurde, mußte sie eine um so größere Kraft erlangen,
als zugleich die Vorstellung von dem Aufhören desselben im
Tode, im Sterben mit in's Bewußtsein trat. Die Negation
bestätigte die Position, verstärkte also ihre Wirkungskraft.
Man darf aber nicht einwenden, daß diese Vorstellung eine
Abstraction sei; denn der Urmensch mußte als das Leben Be-
dingende den Athem erkennen, weil mit dessen Aufhören, das
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 119
er bemerken konnte, auch das Leben aufhört. Dieser Athem
aber ist der Dampf, der aus dem inneren Feuer aufsteigt:
darum ist das Lebenmachende das Feuer, dessen leicht merkliches
Symptom der Athem ist. „Die lebenskraft", sagt
Grimm*), war gebunden an ein licht, eine kerze, ein
scheit, mit deren verzehren der tod erfolgt." Atropos be-
stimmt dem Meleager so lange zu leben, als das auf dem
Heerde brennende Scheit nicht verbrannt sei. Althaea, seine
Mutter, zieht es aus dem Feuer (S. 386.). Ebenso kommen
die Völvur, das sind die Nornen, die Schicksalsgöttinnen,
zu Nornagest's Vater, das Kind lag in der Wiege, über ihm
brannten zwei Kerzen. Die dritte, jüngste Norn rief: „ich
schaffe" (das ist der eigentliche Ausdruck für bestimmen, nr-
theilen), „daß das Kind nicht länger leben soll, als die neben
ihm brennende Kerze brennt" (S. 380.). Ein Märchen von
Gevatter Tod stellt eine unterirdische Höhle dar, worin tausend
und tausend Lichter in unübersehbarer Reihe brennen. „Das
sind die Leben der Menschen, einige noch in großen Kerzen
leuchtend, andere schon zu kleinen Endchen heruntergebrannt:
aber auch eine lange Kerze kann umsallen oder umgestülpt
werden." Daher sagen die alten Dichter: der Tod hat ihm
das Licht ausgeblasen (S. 812.).
Will man alle Elemente, so weit dies hier möglich ist,
zusammenfassen, aus deren allmählicher Verbindung die Vor-
stellung „Seele" hervorgegangen ist, so scheint es zweckmäßig,
nicht bloß diejenigen Figuren zu beachten, welche die Mythologie
als Seelen oder als deren Repräsentanten bezeichnet, sondern
auch alle anderen Wesen des Volksglaubens wie der Specula-
tion, die zu jener Vorstellung in Beziehung stehen, auf den
Grad ihrer Beziehung zu prüfen. Man kann sich einer ge-
mischten Empfindung nicht erwehren, wenn man den Stand-
Punkt Grimm's zur principiellen Theorie kennen lernt:
hier stehe ein Beispiel einer naiven Betrachtung derselben Dinge,
*) Grimm, Deutsche Mythologie S. 812. Ich citire auf den nächsten
Blättern durch die bloße Angabe der Seitenzahl immer Grimm's Mytho-
l°gte in der zweiten Auflage.
120
Cohen
die er mit umfassendem Scharfsinn und künstlerischer Anschaulich-
keit gestaltet hat. „Auch in unserem dentschen Volksglauben",
sagt er, „läßt sich der Übergang der seelen in gntmüthige
Hausgeister oder kobolde nachweisen" (S. 865.). Sollten
nicht vielmehr die gutmüthigen Hausgeister eine Uebergangsstuse
in der Entwickelung der Vorstellung „Seele" bilden? Denn
woher diese Vorstellung? Sie ist Poesie, Phantasie,
wie jede andere, welche nicht unmittelbar in einen Act des
Empfindens sich auflösen, als ein Product der Wahrnehmung
sich darlegen läßt. Wenn sie aber Poesie ist, so werden wir
erwarten dürfen, daß sich nach den Bedingungen des psycholo-
gischen Mechanismus ihre Apperceptlousglieder auffinden lassen.
Zunächst steht so viel nach den verschiedenen Mythen fest, daß
die gestorbenen Menschen im Volksglauben als Kobolde
fortleben. Da ist es denn nun wichtig zu sehen, daß in den
Kobolden dasjenige fortlebt, was sich uns als das Leben Be-
dingende für den Urmenschen ergeben hat: das Feuer, nämlich
der Feuerathem. Die altnordischen draugar, d. i. die Trug-
gestalten, werden von Feuer umgeben dargestellt. Solche Spuk-
Erscheinungen heißen Jrlicht oder Jrwisch, von der Aehn-
lichkeit brennender Strohwische; österreichisch: feuriger Mann
(S. 869.). Grimm führt selbst an, daß Kuhn (Vorrede zu
den Märkischen Sagen IX) alle Kobolde ursprünglich für
Feuergottheiten hält.
Haben wir nun aus diesen Anführungen erkannt, daß das
Leben im Feuer gesehen wurde, so wollen wir den Ausgangs-
punkt nicht vergessen, dem zufolge die Apperception des Ur-
menschen die bezeichnete Richtung genommen hat, welche es in
dem sich darbietenden Momente des Athemdampfes festhielt.
Der Mensch war also eine Feuergeburt und er blieb es, selbst
nachdem die alte Apperception vor der neuen Hemmung nicht
Stich halten zu können schien, weil in dem Athem das Feuer-
element kenntlich war. Nun bedenke man aber, daß von dem
ursprünglichen Apperceptionsprozesse die Wendung im Bewußt-
sein geblieben war: der Feuer- oder Blitz-Mensch wird durch
den Blitzvogel von der Weltesche auf einen Baum herabgebracht.
Dieser Blitzvogel wurde, wie wir beim Picus gesehen haben,
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 121
als erster Mensch appercipirt, ganz so wie im heutigen Kinder-
glauben der Storch die Kinder bringt. Der Mensch selbst,
der ganze Mensch in seiner fleischlichen Erscheinung, kann
aber nun nicht mehr als Blitzvogel gedacht werden, die Kinder
selbst kann der Storch nicht mehr bringen: aber das, was den
Menschen lebendig macht, ist der Vogel, oder, wie es später
und noch jetzt heißt, bringt der Storch. Der Athem ist
also ein Vogel, der Storch ist väedero, der Odem bringer-
Da nun aber ferner der Vogel den Blitzmenschen von der
Weltesche auf einen Baum bringt, in welchem der Blitz ver-
körpert gedacht wurde, so muß auch der Vogel das Leben
auf einen Baum bringen, in dem es ruhet, in den es
eingesenkt wird, daß es von ihm wieder aussprieße, wenn es
erblühen will.
Grimm führt in seiner Mythologie (S. 786—789) für
beide Apperceptionsstufen, für die Auffassung der Seele sowohl
als Baum und Blume, wie als Vogel aus dem deutschen
und griechischen Sagenschatze Mythen herbei. In den alten
Grabsteinen findet man häufig Tauben eingehauen. Ein
Schiff versinkt, vom Meeresufer gewahrt man weiße Tauben
zum Himmel steigen. In der Unterwelt fliegen versengte
Vögel. Finnen und Litthauer nennen die Milchstraße den
Weg der Vögel. Die Araber vor Mohamed glaubten, aus
dem Blute eines Gemordeten werde ein klagender Vogel, der
Um das Grab fliegt, bis die Rache genommen ist. „Hans
Sachs denkt nicht an irlichter, wenn er sich mehrmals der
formet bedient: mit im schirmen (fechten) dasz die seel in
dem gras umbhupfen; er will nichts sagen, als daß ihm die
!eele ausfährt, daß er stirbt." Wir haben gesehen, daß die
Ärlichter selbst Seelen sind, und deshalb gerade als Seelen
gedacht werden, weil sie wie Feuervögel herumhüpfen.
Aus der griechischen Mythologie darf nur an das durch
plastische Kunst wie die mythisirende Philosophie lieb-
bekannte Bild des Eros und der Psyche erinnert werden. Die
ist nach Hesychins Tn>eujj.a xal Co>u<pwv ttxvjvov. „Im
höheren Alterthum wurde sie unter dem Bilde eines kleinen
geflügelten Wesens, später unter dem eines Schmetterlings
122
oder eines zarten Mädchens mit Schmetterlingsflngeln
vergegenwärtigt.*) Wurden nun so die Vögel als das Feuer-
Lebens-Element des Menschen appercipirt, so werden wir die
Bäume in gleicher Weise ausgefaßt sehen.
Bei den soeben angeführten Mythen, in denen die Seele
ein Vogel war, mit Ausnahme des Eros-Psyche-Mythos, muß
es aufgefallen sein, daß in ihnen der Vogel immer nur die
abgeschiedene Seele bedeutet. Dies wird noch auffälliger
bei den Mythen, in denen die Seele als Baum erscheint. Ein
Kind trägt eine Knospe heim: als die Rose erblüht, ist das
Kind todt. Die Rosenknospe ist in einem anderen Mythus
die Seele des gestorbenen Jünglings. Aus den Leichen der
Heiden wächst ein Schwarzdorn, neben dem Haupt gefallener
Christen eine weiße Blume. Ein serbisches Volkslied läßt aus
dem Leichnam des Jünglings einen grünen Tannenbaum, aus
dem der Jungfrau eine rothe Rose wachsen, „so daß sich auch
in den blnmen das geschlecht forterhält; um den tannenbaum
windet sich die rose, wie um den strauß die seide" (S. 787.).
Die Dryaden empfinden jede Verletzung der Aeste und Zweige
als Wunden, und gewaltsames Umhanen macht ihnen plötzlich
ein Ende (S. 614.). Haut Einer die Erle, so blutet und
weint sie und hebt zu reden an (S. 619.). Aus den Hügeln
Liebender winden sich Blumensträuche, deren Aeste sich verflechten
(S. 787.). Besonders interessant und für unsere Entwicklung
erweisend sind solche Mythen, in denen die Blumenknospe sich
entbindet, die Hülle des Baumes gelöst wird, und
Vögel entfliegen, zurückverwandelte Menschen gehen
daraus hervor. Man vergleiche Grimm, Frauennamen
aus Blumen, Kl. Schriften II. S. 370. Hier sind beide
Apperceptionsstufen aneinandergerückt, die eine führt zur andern
hinauf.
Wenden wir uns nun, nachdem wir die Enden dieser
Gedankenverknüpfungen in's Auge gefaßt haben, wiederum zum
Ausgangspunkte zurück, so wissen wir, daß derselbe für diese
späteren Apperceptiouen in demjenigen Elemente der Ursprung-
*) Preller, Gr. Mythologie I. S. 396.
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 123
lichen Vorstellung gelegen war, welches sich als das tertium
comparationis zwischen dem Holzfeuer und dem Menschen in
dem feurigen, dampfenden Athem forterkennen ließ. Diesen
Athem haben die Vögel vom himmlischen Baume herabgebracht
und mit ihm wird das Leben gegeben. Wenn nun das Leben
endet, der Athem stockt, — wir haben gesehen, daß diese Wahr-
nehmung die Kraft der ursprünglichen Apperception verstärkt —
muß er nicht wieder entfliegen, wie er zugeflogen kam?
Was kaun sterben anders heißen als zurückfliegen. Die
Mythen bestätigen diese methodische Vermuthuug. Im deutschen
Alterthum heißt sterben: zu Wuotan gehen, zu Odhin fahren.
Ursprünglich sind es wirklich Vögel, die zu Wuotan auffliegen.
Wuotan aber ist (von ahd. waten, altn. vada — vadere)
„das alldurchdringende Wesen qui omnia permeat, wie Lncan
vom Jupiter sagt" (S. 120.). Dieser seiner Bedeutung ent-
spricht sein Beiname Biflindi (bif ----- motus, lindi — lenis),
der die leise Bewegung der Luft bezeichnet (S. 135.). Wie
nun so Wuotan der Gott der Lustbewegungen ist, so beherrscht
er auch die heftigeren Bewegungen derselben und ist Gott der
Stürme. Die Stürme aber — da zu Wuotan, d. i. zur
Luft die Seelen, die letzten Athemdämpfe der sterbenden Menschen
aufsteigen — was können sie anderes sein, als die Seelen selbst?
In dem Wütenden Heer, das ist Wnotan's Heer, rauschen
die abgeschiedenen Feuergeister in Haufen durch die Luft (S. 871.).
Die Seele ist der Etymologie nach „die wogende, flutende
Kraft" (goth. säivala, verwandt mit saivs (mare), das ist das
Wolkenmeer.)
Die Apperception verbreitet sich immer weiter. Man be-
kenke nur ja, daß wir hier keinen fertigen Begriff und auch
keine verdichtete Vorstellung vor uns haben; wir stehen inner-
halb eines Gedankenkreises, der seine Peripherie aus dem Cen-
trum der Vorstellung von der Feuerbohrung in homogenem
Fortschritt beschreibt. Ist die Menschenzeugung eine Feuerer-
Zeugung, so mußte der Mensch wie das Feuer von der Esche
stammen, vom Blitzvogel herabgebracht werden. So lange
^ese Apperception ungehemmt wirken kann, ist die Vorstellung
eme vollkommene, weil vollkommen bedingte Wahrheit. Sobald
124
aber die Apperceptionsglieder durchbrochen werden, sobald von
einer Seite eine fremde, in einem anderen Prozesse entstandene,
einer anderen Complexion angehörige Vorstellung sich einzu-
schieben strebt, wird der ursprüngliche Apperceptionsprozeß ge-
stört: aus der alten Complexion bilden sich neue Verbände, in
denen diejenigen Glieder der alten Kette, die nicht völlig ver-
drängt, entwerthet sind, von Neuem wirksam werden. Der
Mensch kann kein Feuerfunke sein, also kann er nicht, so wie
er ist, vom Baume und ebenso wenig von der Weltesche kommen,
diese Kette wird gelöst, die alte Verschmelzung aufgehoben.
Aber der Mensch hat doch den dampfenden Athem. Mit
dieser Vorstellung werden die alten, eben zerstreuten Merkmale
wieder zu neuen Complexionen gesammelt, nachdem das volle
Jdentitätszeichen eben gestrichen war. Nun wird dieser Athem
vom Himmel gebracht und zwar vom Blitzvogel und auf den
Blitzbaum. Und wenn der Mensch stirbt, dann fliegt der Athem
wieder zu Wuotan zurück.
Ist denn aber diese Wahrnehmung des Todes so neu, daß
wir ihre Auffassung erst in diese Apperceptionsstufe versetzen?
Mußte sie nicht schon in der ersten Form austreten, nach der
der ganze Mensch von der Esche stammt? In der That haben
wir Belege für diese Complexion. Wie der Mensch durch den
Blitzstab aus dem Wolkenbaume gebohrt wird, so führt ihn
der Blitzstab durch das Wolkenmeer zurück. Der Stab des
Hermes Psychopompos ist, wie schon Grimm nachgewiesen
hat, die Wünschelruthe Wuotan's, oder richtiger die Ruthe
des Gottes Wunsch, der mit Wuotan identisch ist (S. 390.
und 800.). Die Wünschelruthe aber ist, wie Kuhn lehrt, der
Blitzstab und so ist der Stab, mit dem Hermes die
Menschen zum Hades geleitet, derselbe Blitz, durch
den die Menschen geboren werden. Die Schiffer, die
in den alten deutschen Sagen die Seelen überfahren,
fühlen, daß der Nachen gedrängt voll geladen ist, so daß
der Rand kaum fingerbreit über dem Wasser steht (S. 792.).
Die wirklichen Leiber also, die Leichname, werden übergeschifft,
werden dahin zurückgebracht, woher sie gekommen waren. Wie
unter dem „Ocean" der Mythen sehr oft das himmlische
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 125
Luftmeer gemeint ist, so muß wohl auch unter dem Wasser,
über das Sharon oder in der deutschen Sage ein beliebiger
Schiffer die Leichname setzen muß, das Luftmeer verstanden
werden, zu dem die Menschen wieder zurückgebracht werden.
Dieser Vorstellungsweise, daß der ganze Mensch aus dem
Feuer stamme, dem er darum wieder zurückgegeben werden müsse,
entspricht auch die nach Grimm's Forschungen zweite Cultur-
sorm in der Behandlung der Leichen, das Verbrennen der-
selben. „Wie das grab den irdischen stoff der erde, erstattete
die brnnst den seinen dem element des seuers, von welchem
alle lebenswärme ausgezogen war. Man glaubte die
seelen der abgeschiedenen zu beruhigen und begütigen, wenn
man sie des ihnen gebührenden seuers theilhast werden
ließ." Ttopos |j.eiXic>öEfXBV 31. 7,410*. Tiüpo? ^aptCea&at. *)
Jetzt kehren wir zur zweiten Apperceptionsstufe zurück. Der
Unterschied in der Auffassung des Todes wird demjenigen in der
Ausfassung der Geburt völlig entsprechend sein. Wird nur der
Athem herabgebracht, so kann auch nur der Athem zurückkehren.
Dieser Athem ist die Luft, ist Wuotan, und aus Athemhausen
bläst er sein Heer, das Wütende Heer, zusammen. Dieselbe
Anschauungsweise finden wir in der indischen Mythe. Aus
ihrem Fluge zum Himmel muß die Seele den Luftstrom,
die Wolkengewässer durchwandern, welche die Menschenwelt von
^em glanzvollen Reiche der Pitri's, der Seligen, trennt. Der
Bind muß sie da begleiten in Gestalt des Hundes. Und
diese Vorstellung war so fest im Bewußtsein, daß man ihr zu-
Mge in Persien und Baktrien die Todten den Hunden vorwarf.
Bei den Persern in Bombay wird den Sterbenden im Augen-
ölick des Todes ein Hund vorgehalten, so daß derselbe sein
Äuge auf ihn richtet; einer schwangeren Frau, welche im Sterben
*iegt, werden zwei Hunde vorgehalten.'^) Die schnellen Hunde
ftud nämlich ein Bild der eilenden Winde, oder richtiger, die
^Üinde werden wegen der Schnelligkeit ihres Zuges als Hunde
^ppercipirt. Von anderer Seite aber werden die heftigen Winde
als die Schaaren der Abgeschiedenen gedacht, nach einem Pro-
*) Ueber das Verbrennen der Leichen, Kl. Schriften II., S. 215.
**) Mannhardt, Götterwelt I. @.52.
126 Cohen
geffe, den wir kennen gelernt haben; wie in der germanischen
Sage die Seelen in der wilden Jagd durch die Lüfte ziehen.
Die Schaar der Marut's, der Geister der Winde, besteht aus
den Seelen abgeschiedener Menschen. Ebenso die Ribhus,
welche mit sausendem Stnrmlied die Bäume und Felsen
in wildem Tanze mit sich fortreißen und ursprünglich Arbhus
heißend, das indogermanische Urbild des griechischen Orpheus
sind. Der stürmende, singende Wind heißt aber in den Veden
der Athem des Varuna, des Bedeckenden, des Himmels,
des Uranos, wie die Sonne sein Auge ist. Bei Varuna wohnen
unter dem Schatten eines schönbelaubten Baumes die Pitri's
mit ihrem Könige Yama, dem Versammler der Menschheit,
welcher zuerst die unentreißbare Heimath gefunden. Unter
diesem Baume, apvatha, dem unvergänglichen Feigenbaume,
weilen die herabgestiegenen Menschen und die wieder empor-
gestiegenen Seelen nicht thatenlos, sondern sie genießen dort
den Unsterblichkeitstrank, das Amrita, das von dem
Baume herniederträufelt.
Was ist Amrita? Wir treffen hier auf denselben Prozeß,
den wir bei den Vorstellungen von der Erzeugung des Feuers
sich entwickeln sahen. Die Inder haben einen Trank, mit
Namen Sorna, der identisch ist mit dem Haoma des Zend-
Volkes. „Wie bei den Indern der soma als gott erscheint, so
ist der haoma im Zend-avesta nicht allein die pflanze, sondern
auch ein vergötterter genius, hier wie dort spielen die begriffe
des trankes und der pflanze vielfältig in einander, wenn auch
im veda schon ausdrücklich der himmlische und irdische soma
geschieden werden.--beide verleihen kraft und un-
sterblichkeit und erscheinen als der zeugung waltende
genien." (Kuhn S. 119.) Woher kommt diesem Tranke,
den die Menschen selbst bereitet, diese hohe Kraft? Vielleicht
gerade aus der Bereitungsweise. In der That ist dieselbe das
bewegende Moment. „Der soma wird aus dem safte der
asclepias acida durch quirlung mit milch oder gerftensast
gemischt." (S. 160.) Der Soma ist völlig gleich dem Meth.
Er wird in den Veden madhu genannt. (S. 158.) „Dem
Indra geben die Kühe die Milch, dem Donnerer den süßen
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 127
Meth." Dieses macüiu haben nun fast alle indogermanischen
Sprachen „mit seltener Einhelligkeit." Man denke an das
griechische piöu, [liibj, [asOuoj. Für alle diese von Kuhn
(S. 159) angeführten Formen nimmt derselbe als Urform mathu
tot, welche derselben Wurzel angehört, die wir schon bei der
Feuererzeugung kennen gelernt haben, „so daß mathu ursprüng-
lich ein durch quirlung gemischtes geträuk bezeichnete." Die
spätere Bedeutung der Süßigkeit beweist nur, daß bei allen
Tndogermanen dieser Mischtrank tritt Honig versetzt wurde.
Steht dies nun tatsächlich fest, daß die Jndogermanen
ihren berauschenden Trank auf dieselbe Weise bereitet haben,
wie das Feuer, so ist zu vermutheu, daß die vielfachen Apper-
Optionen, die wir bei der Erzeugung des Feuers sich bilden
Iahen, auch dieser Eomplexion sich bemächtigt haben werden.
Wie das Feuer den sichtlichsten Einfluß auf die Gestaltung des
Gebens übte, so zeigte sich der Segen dieses Trankes an der
Erquickung, die er brachte. Zudem kam die wunderbare Ge-
walt, die er über die Menschen besaß, daß er die Sinne fassen,
den kräftigen Mann in unzeitigen Schlaf einrauschen konnte.
Auch wird Honig, ein Hauptbestandteil des Meth, bei Indern,
kriechen und Germanen den neugeborenen Kindern ge-
Zeicht (S. 137.). Dabei erhält das Kind seinen Namen. Auch
Zeus Ammen sind die Bienen (fiiXiaoat) und mit der
^cilch der Amaltheia empfängt er Honig als die erste Nahrung,
^iese Ammen werden aber auch [xsXiai genvnnt, die Eschen,
^nn von der Esche fließt der Honig herab. Man weiß jetzt,
hie Esche die Weltesche ist, die Yggdrasill der Edda. Die
^lveige dieser Esche treiben durch die ganze Welt und reichen
Uber die Erde hinaus; unter jeder der drei Wurzeln quillt ein
Hunnen. Jeden Morgen schöpfen die Noruen aus demselben,
ubergießen damit der Eschen Aeste, davon kommt der Than,
er in die Thäler fällt, diesen Than nennt man Honig-
^l und davon nähren sich die Bienen (Kuhn S. 129.).
. . *tt ker griech. Etymologie ist die nahe Verwandt-
'^aft zwischen Esche und Honig gegeben. jjiXi ist Einer Wurzel
^ 1-i.eXia, piXoc, (jiXsi jxoi u. s. w. (Kuhn erweist dies aus-
Ehrlich S. 136.) Auch die Griechen haben die Vorstellung
128 Cohen
gehabt, daß von der himmlischen Esche Honig herabträufle
(aepop-eXt.). Darum heißen die Ammen des Zeus bald MsXi'ai,
bald MsXtaaat, bald die Nymphen der Esche, bald die Bienen,
denn beide spenden den Honig, der mit der Milch die erste
Nahrung des Gottes ist. In dem dodonäischen Sagenkreise
jedoch sind die Ammen des Zeus die Hyaden, die den Regen
bringen und eine besondere Beziehung zu unserer Mythengruppe
haben, insofern sie den kleinen Dionysos gepflegt haben sollen.*)
Worauf beruht jene Verschiedenheit der Sagen? oder liegt etwa
beiden Versionen derselbe Gedanke zu Grunde? Welchen Be-
zug hat der Meth auf den Regen?
Der Meth ist der Regen. Die Weltesche, von deren
Zweigen er herabträufelt, ist die Wolke, und die Vögel, die in
den Aesten des Baumes nisten, sind die Blitzträger, die auch
den Soma bringen. Kuhn hat dies durch den Nachweis der
Identität des eddischen Mythus vom Raube des Odhroerir
mit dem indischen von Jndra, der als Falke, nachdem er im
Schoß der Wolke gefesselt war, das Soma raubt, überzeugend
dargethan und bis auf die Einzelnheiten der Erzählung den
innigen Zusammenhang der Achthen vom Göttertranke mit denen
vom Blitze und vom Feuer aufgefunden. Nach unserer bis-
herigen Entwickelung muß dies von vornherein einleuchtend sein.
Die indogermanischen Völker haben alle in gleicher Weise einen
Mischtrank bereitet, nämlich durch Bohren und Quirlen. Durch
Bohren aber erzeugten sie Feuer. Und dieses Feuer stammte
in seinem letzten Grunde von dem Weltbaume, in den der Blitz-
stab bohrt. Der Blitz heißt ja aber auch der „tropfende
Funke" (Bd. V. S. 415): sollte nicht auch der gebohrte, gequirlte
Trank von jenem Tranke stammen, der sich beim Gewitter aus
dem vom Blitz durchbrochenen Wolkenbaume ergießt? So wird
ohne poetischen Zwang, sondern ganz nach dem mechanischen
Gesetz, nach dem sich Vorstellungen mit gleichen Merkmalen ver-
binden müssen, der irdische Sorna zum himmlischen Homa und
göttlichen Amrita.
Der Wein, der Meth, das Bier und das Oel der Menschen
*) Preller, Griech. Mythologie I. S. 367.
Mythologische Vorstellungen von Gott und seele. 129
stammen von Ambrosia und Nektar. Alle diese Tränke sind der
himmlische Regen, von dem die Fruchtbarkeit des Bodens ab-
hängt, wie alles Leben der Menschen von dem Meth, dem
Honig, den man den Neugeborenen giebt. Erst wenn das Kind
den Honig genossen, ist es Mensch, hat es die Rechte einer
juristischen Person erlangt. Menschliche Kinder dürfen nur
ausgesetzt werden, ehe Milch und Honig ihre Lippen benetzt hat.*)
Zeus reicht dem Sohne der Leto, da er ihn zum ersten Male
in der Götterversammlung empfängt, aus goldener Schale Nektar,
„er erkannte ihn dadurch als sein Kind." Kaum hatte
Thenns dem neugeborenen Apoll Nektar und Ambrosia gereicht,
so sprang er alsbald aus den Windeln hervor. So fallen
also der Athem, der tropfende Funke und der erbohrte,
erquirlte Meth in Eins zusammen. Sie bezeichnen das
Leben. Wenn nun das Leben endet, so sahen wir, daß der
Athem zu dem Gotte mit dem Blitzstab, der ihn gebracht, zu
Wuotan mit der Wünschelruthe oder Hermes mit dem die
Seelen geleitenden Stabe zurückkehrt. Wuotan aber ist die
Luft, die Wolke, in der die Winde, die Athembewegungen, von
denen Wuotan Biflindi heißt, brausen oder singen.
Aus der Wolke aber, aus den Lüften wird der Regen ge-
bohrt. Und in der Wolke, in den Lüften sind doch die Athem,
oder wie es später hieß, die Seelen. Wie nun die Götter in
dem Wolkensitze diesen Trank trinken, so trinken ihn auch die
Seelen bei Yama auf dem Feigenbaume, der Weltesche. Und
wie die Götter gleich den Menschen, die durch ihn leben, durch
diesen Trank unsterblich sind, so leben auch die Seelen durch
ihn von Neuem auf, sie werden unsterblich. Der eigentliche
Sinn ist folgender. Durch den Regen lebt die Erde, durch
den Meth lebt das Kind, also leben durch den Meth auch oie
Götter. Da die Götter von den Menschen durch ihre Verhält-
Nisse, durch die Quantität der Bestimmungen unterschieden werden,
so leben sie unsterblich, d. h. der Trank der Götter ist ein Amrita.,
ein Unsterblichkeitstrank. „Es ist klar", sagt Grimm,
»die götter waren nicht ihrem Wesen nach unsterblich, sie
*) Grimm, Deutsche Myth. S. 295.
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprach«? Vd. VI, . A
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130 Coh?n
erwarben und sicherten sich diese eigenschaft erst durch enthalt-
samkeit von speise und trank der menschen und den gennß himm-
lischer nahrung." sS. 294.) Wie konnte aber diese Bestimmung
des Götterlebens auf das menschliche Dasein übertragen werden?
Die Congruenz beider Bestimmungen war unvermeidlich. Da
jener Unsterblichkeitstrank der Regen ist, der in den Wolken ge-
quirlt wird, in den Wolken aber zugleich die Athemwinde der
gestorbenen Menschen „fliegen", „jagen", „singen", so müssen
auch diese des in ihnen enthaltenen Trankes theilhastig werden
— — sie sind unsterblich. Durch diesen Apperceptions-
Übergang von dem Lustathem zu dem Regentrank wird die Vor-
stellung vermittelt, daß die Seelen fortleben. Da aber in dem
ursprünglichen Denken ebensowenig aus Etwas Nichts werden
kann, als aus Nichts Etwas, so muß der Athem, wenn er den
lebendigen Menschen verläßt, in Etwas übergehen. Als dieses
Etwas bietet sich am natürlichsten die Luft dar, deren Bewegungen
denen des Athems ähnlich sind und aus der der Feuerathem
gekommen war. Wenn nun aber der Athem in die Luft strömt,
in den Wuotan Biflindi, so ist er an der Quelle des Soma-
Regens, an dem die Götter sich unsterblich trinken. Wie
könnten wohl die Seelen, die Athemwinde, im heimathlichen
Regenhause weilen, aus dem sie lebendig geworden sind, ohne
wieder des Trankes zu genießen? Wie könnte der Athemtrank
lebendig machen, wenn er nicht selbst aus diesem Regenschatze
geflossen wäre? Beide Vorstellungen von der Natur des Trankes
und des Funken gehen zusammen, wie diejenigen von der Ent-
stehung beider dieselben sind. Kommt nun der Athem, nachdem
er bereits ein Lebendiges bewegt hat, in seinen alten Göttersitz
zurück, so muß er von Neuem trinken; ja, da er immerwährend
in dem Wolkenberge weilt, bis er wieder zur Erde steigt,
immerwährend trinken. Und wie durch den Trank allein die
Götter dauernd leben, so werden durch ihn auch die
Athemwinde, die Seelen, unsterblich.
Dies sind einige von den, wie man zu glauben berechtigt
ist, ursprünglichen Elementen jener mächtigen Vorstellung
„Seele". Aus so einfachen Bedürfnissen des Geistes, in so
nothwendiger Gedankensolge ist diese Vorstellung erwachsen;
Mythologische Vorstellungen von Gott und Seele. 131
und dennoch, wie schief sind alle Wendungen, die der so ge-
rechte Gedankengang genommen hat. Wie sicher und in welcher
logischen Gebundenheit sind alle die Glieder aneinander gekettet,
Nur demjenigen löslich und nur für denjenigen lose, dem der
erste Stoß des apperceptiven Mechanismus ein anderer geworden
ist. Hiermit ist an sich Nichts über den metaphysischen
Werth des Begriffes Seele in der neueren Wissenschaft
ausgesagt. Für diese ist der Ort des gedanklichen Bedürfnisses
anderswohin gelegt. Aber ganz abgesehen von der metaphysischen
Frage hat die Psychologie, sofern es für sie keinen angeborenen
Begriff giebt, überall eine jede in der Wissenschaft wie im
naiven Geiste gegebene Vorstellung in ihre Elemente zu zerlegen;
auch bei dem ehrwürdigsten Begriffe — wenn man mit Begriff
diese Eigenschaft verbinden kann — ist es ihres Amtes zu fragen:
wodurch, woraus und wie ist er entstanden? Was Wunder,
wenn man so von der stolzen Krone des Baumes menschlicher
Erkenntniß in die bodenwüchsigeu Wurzeln hineinblickt, daß die
ursprüngliche Heimath auch über den wahren Charakter des in
andere Denkgebiete ausgewanderten Schößlings Manches zu
erzählen weiß! Aber die Grenzbestimmungen dieser Abhängig-
keit erfordern eine eigene Untersuchung, in der man die Ansätze
Und Verzweigungen verfolgen muß, welche die mythische Form
oft in der späten Wissenschaft noch gefunden hat. Für die Vor-
ftelluug „Seele" kann eine vollständige Analyse nur durch die
Hinzuziehung der einschlägigen Begriffe aus der Zeit des Para-
eelsus gegeben werden. Archaeus und Spiritus Rector haben
eine offenbare Beziehung zur Vorstellung Seele, wie Sub-
stantia und xb irpokov xivouv zur Vorstellung Gott.
9
132
Das russische Volksepos
von
W. Bistrom.
Zweiter Artikel.')
Die Stellung des am meisten besungenen, des volksthüm-
lichsten Helden nimmt in dem russischen Volksepos Jl'ja Mu-
rometz (aus der Stadt Murom) ein, uud diese Stellung, die
er wohl inneren, uns unbekannten Gründen verdankt, macht
leicht begreiflich, daß auch die gegenwärtige Fassung der Ge-
sänge ihn aus dem Bauernstande hervorgehen läßt. Seine
Eltern sind Bauern des dicht bei Murom gelegenen Dorfes Ko-
ratscharowo, in dem auch Jl'ja die ersten 30 Jahre seines Le-
bens verbringt, ohne Bewegung, stets aus einem Flecke, auf
dem Ofen der väterlichen Hütte verweilend 2). Diese Regungs-
losigkeit, die als eine Art Beinlähmung von einzelnen Volks-
fangern3) erklärt wird, heben vorbeikommende fromme Pilger")
auf, die den Jl'ja Meth trinken lassen, wodurch er eine Riesen-
kraft bekommt, welche er folgendermaßen bestimmt: „Gäbe es
eine von der Erde bis zum Himmel reichende Säule, und wäre
oben an der Säule ein Ring angebracht, so wollte ich den Ring
ergreifen und das ganze heilige Rußland umdrehen" 5). Die Pil-
ger vermindern seine Kraft bis auf die Hälfte. Jl'ja geht auf's
Feld und macht ein Stück Land urbar, ganze Bäume mit den
Wurzeln herausreißend"). Er sucht sich ein Pferd; aber alle
J) Siehe Band V. S. 180.
2) Kirijevski I. Lieferung p. 1. IV. p. 1. Rjbnikov Band I. Lied 8.
Band II. Lied 2.
3) Kir. I. 1.
4) Kir. I. 1. IV. 1. Rib. I. 8. II. 2.
5) Kir. I. 1. R;b. I. 8.
6) Kir. IV. 1. Rib. I. 8. II. 2. Diese erste Kraftprobe von Jl'ja wird
auch folgendermaßen variirt, er bringt nach Kir. I V. 2 ein ungeheueres Bier-
Das russische Volksepos.
133
stolpern, sobald er seine Hand auf ihren Rücken legt, diö auf
ein ganz schlicht aussehendes Füllen. Jl'ja kauft es, wälzt es
drei Tage und drei Nächte in dem Thau x), und erzielt ein Hel-
denroß, dessen Beschreibung wir im ersten Artikel S. 200 an-
geführt haben. Nachdem er sich auch die Waffen geschmiedet
hat^), läßt er sich von den Eltern den Segen geben 3) und
schwört, niemand ohne Herausforderung zu beschädigen und kein
christliches Blut zu vergießen 4).
Jetzt beginnen die Abenteuer Jl'ja's. Er nimmt sich bei
seiner Abfahrt aus dem väterlichen Hause vor, nach Kiev zum
Fürsten Wladimir zu gehen, und in gewaltigen Sprüngen eilt
sein Pferd. Wo es austritt, entstehen Brunnen °). Bald trifft
er einen Wegweiser, aus dem drei Wege verzeichnet sind; auf
dem ersten stirbt man, auf dem zweiten heirathet man, auf dem
dritten wird man reich ß). Er wählt den ersten und findet Ran-
ber, die ihn anfallen wollen, aber ein Pfeil von Jl'ja, nach
einer Eiche geschossen, welcher diese in kleine Stücke zersplittert,
jagt den Räubern solchen Schrecken ein, daß sie ihn bitten, ihr
Anführer zu werden. Er lehnt es ab 7) und begiebt sich auf
den zweiten Weg, auf dem er einen prachtvollen von einer schö-
nen Königin bewohnten Palast erblickt. Die Königin empfängt
ihn auf das glänzendste, sie zechen zusammen; allein als sie
schlafen gehen, gebraucht Jl'ja die List, die Königin zuerst auf
das Bett zu legen, und siehe sie versinkt in die unterirdischen
Räume des Palastes. Jl'ja befreit alle Helden, die von der
Königin auf diese Weise gesangen waren, und tödtet die Kö-
nigin^). Nun fährt er ans den dritten Weg und findet einen
saß aus dem Keller in die Gemächer; und nach Kir. I. XXXIII soll er einen
Hügel am Ufer der Oka bei Mnrom heruntergeschoben und dadurch den
Lauf der Oka verändert haben. Das alte Flußbett wird noch heute gezeigt
') Kir. I. 25. M. I. 8. II. 2.
2) Kir. I. V. XXXII.
3) Kir. I. 21. 25. 34. 41. 77. IV. 2. R;b. I. 8.
*) Kir. I. 34. 41.
5) Kir. I. 35.
6) Kir. I. 3.17.19. 21. 26. 32. 86. M. I. 9. 11. II. 62. 63.
7) Kir. 1.15. 16. 17. 18. 19. 21. 23. 26. 32. 40. 86. R. 1.11. H. 62.
°) Kir. I. 86. M. 1.11. II. 62.
134
Bistrom
Schatz unter einem Steine liegend. Er wälzt den ungeheuren
Stein zur Seite, bemächtigt sich des Schatzes und verwendet
ihn, Kirchen zu bauen, ohne sich selbst zu bereichern^). So
vermeidet Jl'ja alle drei Wahrsagungen des Wegweisers.
Gewöhnlich erscheint auf dem ersten Wege statt der Räu-
ber eine ungeheure tatarische Armee, welche die Stadt Cerni-
gov belagert. Jl'ja allein bewältigt die ganze Armee und be-
freit die Bürger von Cernigov, die ihn aus Dankbarkeit für
diese eine Wohlthat zu ihrem Fürsten ernennen wollen, was
von Jl'ja abgelehnt wird 2). Dies ist, so zu sagen, nur eine
Variation der Gefahr, der Jl'ja auf dem ersten Wege ansge-
setzt ist, und wir sinden daher auch Lieder, welche diese beiden
Abenteuer als auf einander folgend besingen 3). Ja vielleicht ist
es nicht zu weit gegangen, wenn wir behaupten, daß diese bei-
den Abenteuer nur Variationen des Kampfes Jl'ja's mit dem
Räuber Solovej (Nachtigall) sind, den Jl'ja aus dem Wege
nach Kiev besteht, und welcher das bekannteste und den Jl'ja
am meisten charakterisirende Abenteuer bildet; denn nur wenige
Lieder enthalten es nicht, und selbst in diesen finden sich immer
noch Anspielungen auf dasselbe.
Von dem Räuber Solovej erzählen die Lieder, daß er schon
30 Jahres auf dem directen Wege zwischen Murom und Kiev in
den riesigen Murom'schen Wäldern als ein Ungeheuer Hause, das
sein Nest^) auf 7 oder 9") in einander verwachsenden Eichen
hat, und alles vorübergehende, vorüberfahrende, vorüberfliegende
durch sein Geschrei, das dem Schlangengezisch und dem Thier-
') K. 1.86. R. 11.62. Nach einer anderen Version R.I.II muß
Jsja, ehe er den Schatz bekommt, einen Riesen tödten.
2) K. I. 26. 35. 79. IV. 4. R. I. 9. 10. II. 3. 63.
3) K. I. 26.
4) K. I. 30. 36. 41. 45. 77. II. 63. Jl'ja sitzt auf seinem Ofen auch
3t) Jahre, und diese Analogie zwischen der Zeitdauer der Bewegungölosig-
keit Jl'ja's und der der Verwüstungen, die von Solovej angerichtet werden,
deutet offenbar auf einen eigenen Zusammenhang beider, von dem aber in
den Volksliedern jede Spur bis auf diese untergegangen ist.
ü) K. I. 4t. 79. R.II. 63.
®) 7 Eichen werden angeführt bei K. I. 41. R. I. 9. II. 63. 9 bei K.
I. 42. IV. 3. bei K. I. 30 werden 3 und bei K. I. 37 sogar 3v.
Das russische Volksepos.
135
gebrüll ähnlich ist, tobtet1). Dieses Ungeheuer zu bezwingen
unternimmt Jl'ja, nicht achtend, daß der Weg zu jenem durch
ungeheure Moräste und Urwälder^), ja sogar durch den breiten
und reißenden Fluß Smorodina^) erschwert wird. Er bahnt
sich den Weg, in einer Hand sein Roß führend, mit der an-
deren die Eichen entwurzelnd und mit ihnen die Moräste über-
brückend 4). Auf seinem Pferd springt er über den Fluß Smo-
rodina^), hier ertönt das Geschrei des Solovej, Jl'ja's Roß
stürzt vor Schreck auf die Knie'''), er schießt seinen Bogen ab
und trifft den Solovej in das rechte Auge. Wie ein Haufen
Heu stürzt das Ungeheuer von seinen Bäumen^), es ist noch
am Leben und Jl'ja schmiedet es fest an seinen Sattel^). So
kommt Jl'ja zu den Gehöften des Solovej, welche als nnge-
heuer groß und prachtvoll geschildert") und von den Kindern
und Verwandten des Solovej bewohnt werden. Seine älteste
Tochter erkennt was für eine Beute Jl'ja am Sattel führt, er-
greift eine ungeheure eiserne Stange und schlägt auf ihn los,
er aber weicht dem Schlage aus und tödtet sie durch einen ge-
waltigen Stoß 10). Die Kinder des Solovej wollen nun ihren
Vater mit ungeheueren Schätzen loskaufen, Jlja aber befiehlt
ihnen nach Kiev zu kommen, um vielleicht den Vater zu be-
freien ").
Mit dem Solovej am Sattel kommt Jl'ja nach Kiev zum
Hofe Wladimirs, des Fürsten von Kiev, der rothen Sonne, wie
*) K. I. 28. 31. 33. 36. 41. 78. IV. 3. R. I. 9. 10. II. 3. 63.
2) K. I. 29. 33. 36. 41. 42. 81. R. I. 9. II. 63.
3) K. I. 36. 81. R. I. 10. II. 63.
4) K. I. 81. R. I. 9. II. 63.
5) K. I. 29. R. II. 63.
6) K. I. 28. 36. 41. 42. 78. R. I. 9. 10. II. 3. 63.
7) K. I. 33. 42. R. II. 63.
8) K. I. 28. 33. 37. 42. 83. IV. 3. R. I. 9. 10. II. 2. 3. 63.
9) K. I. 43. IV. 3. R. I. 9. 10. II. 3.
'") K. I. 29. 81. R. I. 9. II. 3. 63.
1J) R. II. 63. Uebrigens tödtet Jl'ja nach anderen Variationen K. 1.43.
XXXIII die Kinder des Solovej, weil diese ihn als ungeheuere pechschwarze
Raben mit eisernen Schnäbeln anfallen und nach K. I. 37 weil diese Kinder
von Solovej unter einander verheirathet worden sind.
136
Bistrom
er in den Liedern genannt wird. Die Aufnahme, welche ihm
hier zu Theil wird, ist keine besondere, man weist ihm den
niedrigsten Platz in der langen Reihe der erprobten Helden
Wladimirs an, und als er darüber seinen Unwillen äußert, be-
stehlt Wladimir seinen Helden, ihn herauszuführen, aber um-
sonst. Jl'ja wirft sie alle nieder, verläßt erbost den Hof, er-
greift seinen Bogen, schießt die goldenen Kreuze von den Kir-
chen herunter, versammelt den Stadtpöbel um sich, und vertrinkt
mit ihm die Kreuze mit der festen Abficht, den nächsten Tag
selbst Fürst von Kiev zu werden. Wladimir darüber erschrocken
schickt einen anderen Helden, den jungen Dobrjnja, um Jl'ja
zu besänftigen. Dies gelingt ihm') nur, nachdem Wladimir
versprechen muß, in den Schenken von ganz Rußland drei Tage
lang umsonst Bier und Meth verschenken zu lasfen, damit alle
wissen, daß Jl'ja Murometz nach Kiev gekommen sei2). Jl'ja
kommt nun wieder zum Hofe und erzählt seine Abenteuer und
den Fang des Solovej. Als man ihm nicht Glauben schenken
will, bringt er den bis dahin von seinem Pferde bewachten 3)
Solovej und befiehlt ihm zu pfeifen. Die Wirkungen dieses
Pfeifens oder Gebrülles des Solovej sind die eines Sturmes^):
die Häuser werden erschüttert und fallen, die Dächer abgerissen,
die Helden stürzen zu Boden, der Fürst mit der Fürstin bleiben
am Leben, nur weil Jl'ja sie unter seine mächtigen Arme ge-
stellt hat. Darauf tödtete Jl'ja den Solovej, indem er ihn in
die Höhe warf und an der Erde zerschmettern Keß*). Den
Kindern des Solovej, die ihre Reichthümer nach Kiev brachten,
wollte Wladimir dieselben rauben, Jl'ja aber ließ es nicht zu
und sandte sie mit denselben zurück").
Jl'ja tritt nun in Wladimirs Dienste ein, und vollzieht
meistens den Grenzdienst mit anderen Helden 7). Hierher setzen
l) R. I. 18.
3) R. II. 63.
3) R. II. p. 333.
4) K. I. 30. 34. 39. 45. 84. IV. 6. R. I. 9.10. II. 3. 63.
5) K. I. 39. 84.
6) R. II. 63.
7) K. I. 7. 46. 52. IV. 7. 13. R. I. 12. 13. 14. II. 64 u. häufiger.
Das russische Volksepos.
137
die Lieder Jl'ja's Kampf mit seinem Sohne, der gewöhnlich
Sokol'nikov ') (von Sokol der Falke) heißt, der dessen Tod zur
Folge hat. Nur einige Lieder kennen auch einen glücklichen Aus-
gang, aber diese sind selbst unvollendet und mangelhaft. Schon
Orestes Müller hat auf die Identität dieser Episode mit dem
Hildebrandslied und dem Kampfe Rustem's mit seinem Sohne
hingewiesen ^). Merkwürdig ist es, daß in allen Liedern dieser
Kampf in zwei Theile zerlegt wird. In dem ersten ist immer
der Sohn siegreich, und Jl'ja, seinem Untergange nahe, sammelt
seine letzten Kräfte, bewältigt den Sohn, erzwingt von ihm seinen
Namen nach einer dreimal wiederholten Anrede, und erfahrend,
daß es sein unehelicher Sohn ist, entläßt er ihn 3). Der Sohn
kehrt zu seiner Mutter, die in den meisten Liedern Latsgorka ')
heißt, zurück, erfährt von ihr die Wahrheit der Aussage Jl'ja's,
und will nun an ihm seine und der Mutter Schande rächen.
Er greift den Jl'ja im Schlafe an und versetzt dem Schlasen-
den einen Hieb auf die Brust. Jl'ja's goldenes Kreuz, das er,
wie jeder Russe, an der Brust trägt, rettet ihn"'). Erwacht,
ergreift Jl'ja den Sokol'nikov, wirft ihn in die Höhe und läßt
ihn an der Erde zerschmettern R). Die Rolle eines Sohnes
vertritt auch eine Tochter des Jl'ja 7), und es giebt sogar ein
Lied, wo Jl'ja beim Tode des Sohnes wehklagend ausruft:
„Zwei Kinder habe ich geboren und mußte selbst sie beide tobten"8).
') Häufig wird noch der Name Jäger hinzugefügt. K. I. 54. IV. 17.
R. 1.13. II. 64. Er heißt auch Fürst Boris aus Litthauen K. I. 6. 9. 13.
R. I. 12. und Solovnikov von Solovej (Nachtigall) R. 1.14.
2) Herrig Archiv für das Studium der neueren Sprachen Bd..XXIII.
Heft 1.
3) K. I. 10. 13. 51. 54. IV. 11. 17. R. I. 12. 13. 14. II. 64.
4) K. IV. 17. Was lati heißt, ist uns unklar, gor-ka ist Berg, also
Bergfrau, was durch ihren anderen Namen Gorjn-canka R. I. 13 bestätigt.
Dasselbe bedeutet auch wohl ihr dritter Name Latj-mirka R. I. 11. mirka
focht von mir Welt, Region. Wo sie als Fürstin von Litthauen erscheint,
führt sie nicht diese offenbar mythische Namen, sondern wird einfach mit ir-
gend einem weiblichen Frauennamen benannt.
5) K. I. 4. 6. 55. IV. 17. R. I. 12.13. 14. II. 64.
°) K. I. 6. 52. 56. 94. IV. 12. 17. R. I. 12. 13. 14. II. 64.
7) R. 1.12. und K. I. 92 ist es sogar seine Schwester.
s) Die Lieder von Jl'ja. Volksansgabe. Moskau 1867. p. 60. v. 1920.
138
Bistrom
Mehrere Male muß Jl'ja im Dienst von Wladimir die
Stadt Kiev vor den tatarischen Horden retten. Das erste Mal
ist es Bahj, der die Tataren anführt. Jl'jas Roß sällt gleich
im Anfange des Kampfes in einen Graben und er selbst wird
gefangen. Bat;j befiehlt, den Jl'ja hinzurichten, allein noch
vordem sammelt dieser seine Kräfte, zerreißt die Ketten, ergreift
einen Tataren an den Füßen und, sich seiner als Waffe bedie-
nend, vernichtet er die ganze tatarische Armee. *) Jl'ja erscheint
im Anfange dieses Liedes als ein Pilger, dem Wladimir seine
Roth klagt, giebt sich dann zu erkennen, läßt aber den Wladimir
lange bitten, bevor er den Kampf mit den Tataren unternimmt.')
Dieses sonderbare Verhältniß Jl'jas zu Wladimir tritt noch
deutlicher in einem anderen Liede hervor. Bei einem Gelage
wirft die Frau Wladimirs ihm vor, daß er, während er andere
Helden reichlich belohnt, den Jl'ja mit Nichts beschenkt habe.
Wladimir schenkt darauf dem Jl'ja einen prachtvollen Zobelpelz.
Jl'ja verschmäht das Geschenk und wirft den Pelz auf den Boden.
Wladimir befiehlt, den Jl'ja lebendig einzumauern, worin sich
dieser auch fügt. Die Fürstin macht einen unterirdischen Gang
und ernährt den Jl'ja auf diese Weise drei volle Jahre. Da
kommen Tataren unter Kalin und belagern Kiev. Wladimir-
weiß sich gar nicht zu Helsen, geräth in die größte Roth und
bereut bitterlich sein Verfahren gegen Jlja. Die Fürstin giebt
ihm den Rath, nachzuforschen, ob Jl'ja noch am Leben sei;
Wladimir befiehlt ihn zu entmauern und man findet ihn noch
lebend/) Jlja unternimmt die Befreiung der Stadt, begiebt
sich als Bote zu Kalin, wird aber gefangen und beschimpft.
Erbost, bewältigt er das Heer von Kalin auf dieselbe Weise
wie das des Batjj/) Er befreit Kiev noch ein drittes Mal
und zwar wieder von den Tataren unter Mamaj, der übrigens
mit Kalin verwechselt wird. Er will den Kampf nicht allein
unternehmen und begiebt sich nach dem Grenzposten, um die
*) K. IV. 38 ff.
-) K. IV. 42.
3) K. 1. 66 ff.
4) K. I. 66. 70 ff.
Das russische Volksepos.
139
anderen Helden zu holen, betrinkt sich aber da. Wladimir
schickt, um ihn zu holen, seinen Neffen, den jungen Iermak.
Auch dieser wird von den Helden auf dem Grenzposten zum
Zechen eingeladen; er schlägt es ihnen ab und wirft sich allein
auf die Tataren. Zwölf Tage und zwölf Nächte kämpft er mit
ihnen, kann sie aber nicht bewältigen. Als er ganz erschöpft
und dem Tode nahe ist, kommt endlich Jl'ja und vernichtet die
Tatarenmacht gänzlich.') Gewöhnlich begegnen Jl'ja und Jer-
mak nach diesem Siege einer Riesin, und Iermak unternimmt
wiederum, dieselbe allein zu bezwingen. Nach zwölftägigem
Kampfe ist er wieder seinem Untergange nahe und ruft den
Jl'ja zur Hülfe, der auch mit einem Stoß die Riesin tobtet.2)
Derselben Riesin begegnen wir in einem anderen Liede, wo sie
aber den Namen der Mutter des unehelichen Sohnes Jl'ja's
Gor;neanka führt und wo die Stelle des Iermak Dobrsnja
vertritt. Im Uebrigen ist das Lied mit dem vorigen ganz
identisch.
Eine andere Heldenthat Jl'ja's ist die Befreiung Wladi-
mir's und seiner Frau von einem Ungeheuer, das in den Liedern
einfach Jdoliöe, d. h. Götze genannt wird. Jl'ja erfährt auf
einer Wanderung von einem riesigen Pilger, daß dieser Jdoliöe
in Kiev sich gelagert hat, die ganze Stadt in Angst versetzt
und mit der Fürstin Unzucht treibt. Jl'ja wechselt mit dem
Pilger die Kleider, erscheint so in Kiev und erschlägt den Jdoliöe
beim Gastmahl mit seiner Mütze, die er mit Erde angefüllt
hat. 4) Andere Lieder, die den kirchlichen Einfluß deutlich ver-
ratheu, versetzen diese That nach Constantinopel und lassen den
Jl'ja den Constantin und seine Frau Elene von dem Jdoliöe
Befreien.5)
In der Befreiung Kiev's von einem tatarischen Anführer
Tugarin, der sonst als Bergdrache auftritt6), erscheint nicht Jlja,
') K. I. 58. R. I. 19. 20. 21.
3) K. 1. 58.
3) K. I. 14.
4) K. IY. 18 ff. R. I. 15. 16.
°) K. IV. 22 ff. R. I. 17.
Vergleiche unten unter Dobrjnja und Al'osa.
140
Bistrom
sondern seine Frau, die hier SaviZna heißt, obgleich sonst die
Lieder von einer Verheiratung Jl'ja's nichts wissen und nur,
wie wir gesehen haben, seiner unehelichen Kinder erwähnen.
Dieser Tugarin greift Kiev an, als Zl'ja aus der Jagd ist.
Wladimir schickt nach ihm. Savisna zieht die Rüstung ihres
Mannes an, begiebt sich nach Kiew und besiegt den Tugarin.')
Wir hätten nun noch die Erzählung von Jl'ja's Tod
wiederzugeben, wir wollen jedoch zuvor hier eine bis jetzt nur
in einem Siebe erzählte Episode aus Jl'jas Leben mittheilen.
Es ist die Begegnung Jl'ja's mit dem Riesen Swjato-gor,
heiliger Berg, die von dem Siebe gleich nach Jl'ja's Ausritt
aus dem väterlichen Hause gesetzt wird. Jl'ja findet ein unge-
heures Zelt, das er auch, um auszuruhen, benutzt. Bald aber
vernimmt sein Pferd ein ungeheures Getöse, von dem die Erde
erzittert und die Flüsse aus ihren Usern treten. Das Roh
weckt den Jl'ja und sagt ihm, es nahe der Held Swjatogor.
Jl'ja versteckt sich auf einer Eiche und sieht den ungeheuren,
bis in die Wolken hinaufragenden Helden sich nahen. Der Held
trägt einen Cristallkasten auf seinen Schultern. Beim Zelte
angelangt, öffnet er den Kasten mit einem goldenen Schlüssel
und bringt eine schöne Heldenfrau aus ihm hervor. Swjatogor
legt sich nun zur Ruhe, seine Frau aber bemerkt den Jl'ja,
zwingt diesen, mit ihr zu minnen und verbirgt ihn in der Tasche
ihres Mannes. Swjatogor erwacht, packt seine Frau in den
Kasten und fährt weiter. Sein Roß kann die drei Helden
nicht tragen und verräth dadurch die Gegenwart Jsja's. Swja-
togor zieht nun diesen aus der Tasche, erfährt von ihm die
Wahrheit, tödtet seine Frau und verbrüdert sich mit Jl'ja. Sie
setzen die Fahrt, aus der Swjatogor dem Jsja die Kunstgriffe
der Helden im Kampfe mittheilt, fort, bis sie auf einen unge-
Heuren Sarg stoßen. Jl'ja legt sich in den Sarg, er ist aber
viel zu groß für ihn. Nun legt sich Swjatogor hinein und
der Sarg paßt ihm. Er sagt dem Jlja, er solle ihn mit dem
Deckel zudecken, was dieser auf wiederholtes Bitten auch aus-
führt. Als Swjatogor nun aufstehen will, hat er nicht die
i) K. I. 58 ff.
Das russische Volksepos.
141
Kraft, den Deckel aufzuheben. Er befiehlt dem Jlja, den Sarg
mit seinem Schwerte zu zerhauen. Jlja ist aber nicht im
Stande, Swjatogor's Schwert aufzuheben. Swjatogor haucht
dem Jlja durch einen Riß im Sarge einen Theil seiner Kraft
ein und Jlja versetzt nun dem Sarge mehrere gewaltige Schläge,
aber vergebens: bei jedem Schlage bildet sich um den Sarg
ein neuer eiserner Neif. Swjatogor sieht seinen Tod kommen,
schenkt dem Jlja fein Schwert und befiehlt ihm, sein Roß an
den Sarg zu binden.^)
Ebenso wird auch Jl'ja's Tod erzählt, nur mit dem Unter-
schiede, daß Jlja die Stelle des Swjatogor und der Held
Al'osa die des Jlja vertritt.*) Sonst wird sein Tod auch fol-
gendermaßen, mit dem der anderen Helden zusammen dargestellt.
Alle Helden von Wladimir hatten eine ungeheure Tatarenmacht
geschlagen und wurden so übermüthig, daß sie prahlten, auch
eine himmlische Macht schlagen zu können. Da erschienen zwei
Helden und forderten sie zum Kampfe auf. Jlja zerhieb sie
mit einem Schlage, aber statt zwei wurden vier und so weiter.
Jlja erschrak mit den Helden und floh, um sich in den Berg-
höhlen zu verbergen, allein so bald sie sich den Bergen nahten,
wurden sie zu Steinend)
Im Dienste des Wladimir kommt Jlja mit verschiedenen
anderen Helden in Berührung, namentlich mit Dobr;nja, des
Nikitas (Nicetas) Sohne und Alosa Popoviö (Pfaffensohn).
In seinem Kampfe mit dem Sohne schickt Jlja zuerst den
Dobrjnja oder den Silos« oder alle beide, den Sohn zu be-
wältigen^) und erst, als diese geschlagen zurückkehren, unternimmt
er selbst den Kampf. Besonders intim ist das Verhältniß Jl'ja's
zu Dobrjnja, nicht bloß sind sie verbrüdert^), sondern der letzte
heißt geradezu Jlja's jüngerer leiblicher Bruder.")
') R. I. 8.
2) K. I. XXXIV.
3) K. I. 89. R. I. 22.
4) Den Al'osa-K-1. 7. Den Dobrjnja K. I. 47. IV. 8. 13. R. I. 13.
II. 64. Die beiden R. I. 12. «
5) K. II. 3. 17.
6) K. II. 2.
142
Bistrom
Bei Dobr;nja's Geburt geschehen räthselhafte, für uns
unerklärliche Dinge. „Angelaufen kam eine Heerde von Schlangen
und Thieren, vorne lief das wunderbare Thier Skimen. Am
Fluß angekommen brüllte dieser, pfiff wie eine Nachtigall, zischte
wie eine Schlange. Die Sandufer senkten sich vor diesem Ge-
brüll, die Erde zitterte, die Wälder sanken zur Erde, das Waffer
im Fluß Dnepr stieg in die Höhe, das Gras wurde trocken.
Da wurde in Rjasan Dobrhchi geboren."*) Seine Mutter
ließ ihn sorgsam erziehen, er mußte schreiben und lesen lernen.^)
Von früher Jugend an begann er auf einen Berg zu reiten und
dort die Drachenbrut des Tugarin, die viele Russen gefangen
nahm, zu zertreten. Als er einmal, trotz der Warnungen
seiner Mutter, in dem furchtbar reißenden Flnffe Pueaj badete,
kam der Bergdrache Tugarin^) feuerspeiend angeflogen, um sich
für den Tod seiner Kinder zu rächen. Dobr;nja eilte ans Ufer,
füllte seine Mütze mit Sand und blendete damit dem Drachen
die Augen. Tugarin fiel ins Wasser; Dobr^nja wollte ihn tödten,
dieser aber bat um Gnade und wurde von Dobr;nja freigelassen,
nachdem er geschworen hatte, niemals wieder Russen zu fangen. ^)
Mit diesem Tugarin hat Dobr;nja auch im Dienste des
Wladimir viel zu schaffen. In Kiev verliebt sich Dobr;nja in
eine Zauberin Marinka (Maria) und begegnet bei ihr ihrem
Geliebten, dem Tugarin, der aus Angst vor Dobr^nja sie ver-
laffen will. Marinka darüber wütheud, verwandelt den Dobrjwja
in einen Ochsen, wie sie es schon mit mehreren anderen Helden
gethan hat. Dobrhya's Schwester sucht, als sie es erfährt,
die Marinka in eine Hündin zu verwandeln. Diese ist nun ge-
zwungen, Dobr;nja der Ochsengestalt zu entbinden und will ihn
Heirathen, er aber tobtet sie.6) Tugarin raubt darauf dem
1) K. iL l. 2. 9. 11.
2) K. II. 49. R. II. 9.
3) K. II. 24. 52. R. I. 24.
*) K. II. 41. 48. 70. R. II. 4 V. 33. 7 V. 21.
5) K. II. 25. 41 51. R. I. 23. 24. II. 5. 6. Nach einigen Va-
riationen tödtet er den Tugarin gleich. K. II. 51. R- II. 6.
6) K. II. 41. 42. 45 ff. 48. 54 ff. R. I. 28. II. 4. Wahrscheinlich
ist das Abenteuer, das ein Held Iwan Godinov besteht, als eine Variation
Das russische Volksepos. 143
Wladimir seine Enkelin Sapawa (wohl Freude, Lust — sa-
bawa) und Dobr^nja unternimmt diese zu retten. Nach drei-
tägigem Kampfe erlegt er den Bergdrachen und befreit die
Sapawa nebst allen anderen von Tugarin gefangen gehaltenen.^)
Auf der Rückfahrt begegnet er einer Riesin, die er gar nicht
bewältigen kann, er gefällt ihr aber und sie Heirathen sich.^)
Wladimir schickt auch den Dobr;nja mit dem Helden Wassilij
(Basilius), Kasimir's Sohn°), einem Tatarenkhan Tribut zu be-
zahlen. Zum Khan angekommen, befiehlt dieser ihnen, sich ver-
schiedenen Prüfungen zu unterziehen, um sie auf diese Weise zu
tödteu. Erst spielt er mit Dobr;nja Schach, dann läßt er ihn
mit einem riesenhaft schweren Bogen schießen, dann verschiedene
Einzelkämpfe bestehen. Dobrinja geht aus allen diesen Prü-
fungeu siegreich hervor. Nun läßt der Khan die beiden Helden
von seiner ganzen Macht anfallen, aber nach einem angestrengten
Kampfe besiegen die Helden diese Tatarenmacht. Der Khan
ergiebt sich, zahlt selbst dem Wladimir Tribut und entläßt die
Helden mit Ehrend) Dobrinja hatte, dieses Abenteuer unter-
nehmend, seiner Frau zwölf volle Jahre auf ihn zu warten be-
fohlen und dann Jeden, nur nicht den Mosa zu heirathen er-
laubt. Kaum sind sechs Jahre um, so bringt Mosa die falsche
Nachricht von Dobr;nja's Tod und freit um desfen Frau. Diese
davon anzusehen. Er will Maria, die Tochter eines Kaufmanns, heirathen,
dieser aber hat sie bereits mit dem König Kosöej verlobt. Iwan entreißt
die Maria und flieht mit ihr nach Kiev, wird aber von Kosöej eingeholt.
Es entsteht ein Kampf. Koseej ist seinem Untergänge nahe, Maria aber
Hilst ihm und sie Beide binden den Iwan an eine Eiche. Kosvej will ihn
oder nach anderen Liedern die Tauben, die Jwan's Unglück in Kiev melden
Zollen, erschießen. Der Pfeil fällt aber zurück und tödtet ihn selbst. Maria
bittet nun den Iwan, sie zu heirathen. Er aber weist es zurück und tödtet
ziemlich wie Dobrjnja die Marinka. K. III. 9 ff. 20 ff. R. I. 33. 34.
Ü- 13. 14.
') K. II. 25 ff. 52. R. I. 23. 24.
2) K. II. 29. R. I. 94. II. 8.
3) Diesem Wassilij wird wie dem Jlja die Befreiung Kiev's von
kftt Tataren unter Batjj zugeschrieben, wenn auch unter etwas verschiedenen
Details. K. II. 93. R. I. 29. II. 10. 11. 65.
*) K. II. 84 ff. 88. R. I. 27. .
144 Bistrom
weist ihn ab und wartet noch sechs Jahre, dann heirathet sie
aber den Al'o«a. Gerade am Hochzeitstage kehrt Dobr;nja
von den Tataren zurück, seine Frau erkennt ihn und verläßt den
Al'osa^), der für die falschen Nachrichten von Dobrj^nja getödtet
wäre, wenn nicht Jl'ja ihn geschützt hättet) Dobrjnja starb
zusammen mit 31'ja3); nach anderen Liedern soll er dem Tode
selbst in Gestalt eines Helden begegnet und ihm unterlegen sein.4)
Von Al'osa werden streng genommen keine besondere Aben-
teuer erwähnt; er erscheint nur als Geliebter bei den Frauen
anderer Helden und wird überhaupt als ein Don Juan ge-
schildert. Ein Lied läßt jedoch auch ihn den Bergdrachen
Tngarin tödten. Vor dem Kampfe mit ihm fleht Al'osa den
Himmel um Regen. Es entsteht ein Regen, Tugarin kann
seine durchnäßten Flügel nicht gebrauchen, ist gezwungen, mit
Al'osa auf der Erde zu kämpfen und wird von diesem getödtet.
Tugarin erscheint hier als Liebhaber der Frau Wladimir's und
diese wird über den Tod des Tugarin auf Al'osa wüthend.fi)
Nicht in so naher Beziehung zu einander, wenn auch im
Dienst des Wladimir, stehen die Helden Dunaj (Donau), Potok
(wahrscheinlich — Fluß), Stawr Godinov, Danilo (Daniel),
Lovöanin (vermuthlich von lovit' — fangen) und Su^man oder
Su^an.
Vou Dunaj Jwanowiö (Jwan's Sohn), der übrigens auch
Don heißt^), wird erzählt, daß er viele Jahre in Littauen im
Dienste des dortigen Fürsten, welcher zwei Töchter hatte, zu-
trachte8) und die Liebe der einen genoß. Als er damit prahlte,
befahl der Fürst, ihn aufzuhängen. Seine Geliebte rettete ihn^)
-) K. II. 3. 5 ff. 11 ff. 14 ff. 17. 19 ff. 30 ff. R. I. 25. 26 27.
II. 67.
2) R- I. 26.
3) Oben unter Jl'ja.
4) R- II. 9. Er soll übrigens auch ertrunken sein im Fluß Smoro-
dina. K. II. 61 ff.
5) K- II. 64. 66. 67.
6) K. II. 70 ff.
7) R- I. 32.
8) K. HI. 54. 63. 71. R. I. 30.
9) K. III. 59. • -
Das russische Volksepos.
145
und er begab sich nach Kiev, wo Wladimir gerade Lust hatte
sich zu verheirathen. Dunaj erbot sich, ihm eine passende Frau
zu finden'), begab sich wieder zum Fürsten von Littauen und
freite um dessen andere Tochter für Wladimir. Der Fürst wollte
es nicht zugeben. Dunaj erzwang jedoch seine Einwilligung.^)
Nach Kiev zurückkehrend, begegnete er einer Riesin, die er be-
zwang und in der er seine Geliebte wieder erkannte, welche er
in Kiev auch heirathete.^) Bei dem Hochzeitsgelage, das die
beiden Neuvermählten Wladimir und Dunaj feierten, prahlte
der letzte mit seiner Kunst des Bogenschießens. Seine neuver-
mahlte Frau, die Dnepra genannt wird, behauptete, sie schieße
besser. Man machte die Probe. Dnepra schoß zuerst und traf
einen Ring, den Dunaj hielt, gerade durch die Mitte. Nun
schoß Dunaj und traf statt des Ringes seine Frau, die in Folge
des Schusses starb. Dunaj schnitt aus ihrem Bauche ein
wunderbares Kind heraus, das die Beine bis zu den Knien
aus Silber, die Hände bis zum Ellenbogen aus Gold, in den
Schläfen die Sterne, auf der Stirne die Sonne, im Hinter-
köpf den Mond hatte. Aus Gram über den Tod seiner Frau
tödtete sich Dunaj und es entsprang aus seinem Blute der Fluß
Dunaj, während aus dem Blute der Dnepra der Fluß Dnepra
(wohl Dnepr) entsprang.")
Von Michajlo (Michael) Jwanowiö (Jwan's Sohn) Potok
wird erzählt, daß er einmal von Wladimir auf die Jagd ge-
schickt, einen weißen Schwan erblickte, der sich, als er ihn tödten
wollte, in ein schönes Mädchen verwandelte.^) Diese heirathete
Potok, wobei sie die Bedingung machten, daß bei dem Tode
des einen von ihnen der andere mitbegraben werden sollte.
Seine Frau, die Awdotja Lichowid'jewna (Böses sehend, so
heißt auch die Mutter des unehelichen Sohnes Jl'ja's) genannt
wird, starb zuerst und Potok ließ sich mit ihr in voller Rüstung
lebendig begraben. Um Mitternacht erschien ein großer Drache,
*) K. III. 54. 63. R. I. 30. 31. II. 12.
-) K. III. 65. 73. R. I. 30. 31. II. 12.
3) K. III. 67. 77. R. I. 30. 31. II. 12.
*) K. III. 55. 58. 69. 80. R. I. 30. 31. 32. II. 12.
a) K. IV. 52. R. I. 35. 36. 37. II. 15.
Zrttschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bv. VI, JQ
146
Bistrom
der den Potok verbrennen wollte; dieser tödtete ihn und belebte
mit dessen Blute seine Frau. Sie wurden darauf ausgegraben
und lebten eine Zeitlang glücklich.') Bei einer der vielen Ab-
Wesenheiten von Potok kommt ein litauischer Fürst nach Kiev
und entführt Potok's Frau. Potok zurückgekehrt zieht sich wie
ein Pilger an und kommt so zum Hofe des litauischen Fürsten.
Seine Frau erkennt ihn, täuscht ihn mit erheuchelter Liebe und
verwandelt ihn in einen Stein. Jl'ja mit den anderen Helden
fahren aus, um ihn zu suchen; der heilige Nicolaus zeigt ihnen
den Stein, in den Potok verwandelt worden ist und giebt diesem
seine frühere Gestalt zurück. Potok kommt wieder zu seiner
Frau, wird abermals von ihr getäuscht und an eine Wand an-
genagelt. Die Tochter des litauischen Fürsten, Anna, verliebt
sich in ihn und befreit ihn. Er tödtet darauf seine frühere
Frau und heirathet diese Anna.^)
Potok erscheint auch als Anführer einiger bettelnder Pilger,
die nach Constantinopel oder nach dem heiligen Lande wandern.
In Kiev kehren sie bei Wladimir ein, dessen Frau, die Fürstin
Apraxejewna, sich in den Potok verliebt. Dieser verschmäht
ihre Liebe und aus Rache läßt sie durch Al'osa einen goldenen
Becher in Potok's Reisetasche verstecken. Als die Pilger weiter
gehen, werden sie eingeholt, ihre Taschen durchsucht und der
Becher bei Potok gefunden. Die Pilger, empört, daß ihr An-
führer einen Diebstahl begangen hat, begraben ihn lebendig.^)
Bei ihrer Rückfahrt finden sie den Potok noch am Leben, über-
zengen sich von seiner Unschuld und nehmen ihn wieder zu ihrem
Anführer. ^) Offenbar ist diese Erzählung eine Zusammen-
slechtnng der Geschichte Joseph's und der Potifar (Genesis
Cap. 39) mit der List Joseph's, um Benjamin in Aegypten
zurück zu halten (Genesis 44. 45) und gehört daher nicht mehr
dem eigentlichen Heldenepos, sondern den Kirchenliedern an.
Der dritte von den oben erwähnten Helden, Su^man oder
!) K. IV. 52 ff. R- I. 36. 37. II. 15.
2) R. I. 37. 38. II. 15. 16. 17.
3) R. I. 36. 37. 38. II. 15. 16. 17.
4) K. III. 81 ff. 84 ff. 90 ff. R. I. 39. 40. II. 18.
5) K. III. 84 ff. 90 ff. R. I. 40. II. 18.
Das russische Volksepoö.
147
Su^an, prahlt bei einem Gelage, daß er dem Wladimir einen
lebendigen weißen Schwan bringen werde und macht sich auf
den Weg. Nachdem er lange einen Schwan vergebens gesucht
hat, kommt er zum Fluß Dnepr und sieht, daß dessen Wasser
furchtbar trübe ist. Er fragt den Dnepr, woher das komme
und erfährt, daß eine ungeheure Tatarenmacht nach Kiev geht
und den Dnepr zu überbrücken versucht, was er aber bis jetzt
immer vereitelt hat. Su^an zieht gegen die Tataren und
vernichtet sie mit einer ausgerissenen Eiche. Drei Tataren
entfliehen, verstecken sich in einem Hinterhalt und schießen auf
den zurückkehrenden Su^an. Er tödtet sie zwar, wird aber
selbst verwundet. So kommt er zu Wladimir, der aufgebracht,
daß er den Schwan nicht gebracht hat, seiner Heldenthat nicht
Glauben schenkt und ihn einsperren läßt, bis Dobrinja, den er
ausschickt, um die Wahrheit der Erzählung Sn/an's zu prüfen,
zurückgekehrt sei. Als Dobrjuja mit der Bestätigung von Su^an's
Thaten zurückkehrt, läßt Wladimir den Su^an befreien. Dieser
aber, die ihm angethane Schmach nicht überleben wollend, reißt
den Verband von seiner Wunde und verblutet, aus seinem Blute
aber entsteht der Fluß Su^an. l)
Von Stawr Godinov wird nun Folgendes erzählt. Bei
einem Gelage rühmt er sich, im Besitze einer Frau zu sein, die
den Wladimir zum Narren halten wird. Wladimir, darüber
erbost, läßt ihn in's Gefängniß werfen. Die Frau des Stawr,
als sie dies gehört hat, kleidet sich wie ein Held, kommt nach
Kiev und freit um Wladimir's Tochter. Diese sagt dem Vater,
es sei eine Frau, die um sie freie; aber alles, was dieser unter-
Nimmt, um die Heldin zu entlarven, schlägt fehl, und zuletzt,
als sie alle seine Helden besiegt, muß er ihr seine Tochter geben.
Beim Hochzeitsschmanse verlangt sie den gefangenen Stawr zum
Sänger, giebt sich als seine Frau kund und kehrt mit ihm nach
Hause zurück.*)
Auch in der Episode vom Danilo Loveanin spielt dessen
Frau die Hauptrolle. Wladimir will sich verheirathen und man
*) R. L 6.
a) K. IV. 59. R. I. 41. 42. II. 19. 20. 21.
10*
148
Bistrom
macht ihn auf die Frau des Danilo aufmerksam. Als dieser
jagen geht, sendet Wladimir seine Helden aus, um Danilo zu
tödten. Dieser aber, um dem Kampfe mit russischen Helden
zu entgehen, tobtet sich selbst. Wladimir will nun Danilo's
Frau heirathen, diese erbittet sich noch Zeit, um dem Leichnam
ihres Mannes das letzte Lebewohl zu sagen und tödtet sich
gleichfalls über demselben.') Wladimir muß aber noch bitteren
Hohn von Jl'ja anhören. ^)
Hier mag auch die Episode von Choten Blndowie Platz
finden. Seine Mutter will ihn mit der Tochter einer Kauf-
mannsfran verheirathen. Diese aber schmäht auf einem Gelage
bei Wladimir Choten's Mutter. Choten tödtet aus Rache ihre
9 Söhne und zwingt sie, in seine Heirath mit ihrer Tochter
einzuwilligen/) Darauf weiß er einen Raben zu fangen, der
ihm lebendiges Waffer bringt, mit dem er die Söhne seiner
Schwiegermutter belebt, damit sie ihren Gram vergesse/)
Neben den bisher erwähnten Helden, die alle eingeborene
Russen sind, kennen die Volkslieder noch fremde, aus der Ferne
zu Wladimir gekommene Helden. Es ist der Solovej Budi-
mirowiö und Dük Stepanowiö (Stephan's Sohn). Der erste
kommt mit seiner Mutter auf dreißig Schiffen, ungeheure Reich-
thümer bei sich führend, nach Kiev. Er erbittet sich von Wla-
dimir einen Platz im Garten seiner Tochter Sapava, um dort
einen Palast zu bauen, was er auch in drei Tagen mit seinen
Gefährten ausführt. Die Sapava kann ihre Neugierde nicht
zähmen, kommt in den Palast, verliebt sich in ihn und bietet sich
ihm zur Frau an/) Solovej macht ihr zwar Vorwürfe wegen
einer solchen Verletzung der Schamhaftigkeit, verlobt sich aber
mit ihr. Die Hochzeit wird auf ein Jahr verschoben, da So-
lovej seine Reise, die kaufmännische Zwecke hat, weiter fortsetzen
null. In semer Abwesenheit bringt ein gewisser Dawid Popov
dem Wladimir die Kunde, daß Solovej wegen Betrug in's
1) K. III. 28. 32 ff.
2) K. III. 34.
») R. I. 43. 44. II. 22. K. IV. 68 ff. 72.
4) K. IV. 76.
5) K. IV. 99 ff. R. I. 54.
Das russische Volksepos.
149
Gefängniß geworfen sei und freit selbst um die Sapara. Noch
zeitig kommt Solovej zurück, jagt den Popov mit Schande
hinaus') und reist mit der Sapava in seine Heimath zurück.
Offenbar ist der hier erwähnte Popov mit dem Al'oZa Popowiö
identisch, der ja dasselbe und mit demselben Erfolg mit Dobrjnja
gemacht hat. Einige Varianten erzählen übrigens, daß Solovej,
empört durch die Bitte der Sapava, sie zur Frau zu nehmen,
ihre Liebe verschmähte und unverheiratet zurückkehrtet)
Noch großartiger tritt Dük Stepauowiö aus dem reichen
Indien aus. Er tritt in den Liedern meist mit dem russischen
Helden, dem Curilo Plenkowiö, zusammen auf. Der Curilo hat
einen selbständigen Hof in der Nähe von Kiev, wo er mit
seinem Vater wohnt. Wladimir hört von seinem Reichthum,
besucht ihn und ladet ihn nach Kiev in seinen Dienst eint)
Curilo solgt ihm und wird zum Kämmerer ernannt, allein die
Fürstin verliebt sich in ihn und er muß das Heroldamt ver-
tretend) Da begiebt sich auch Dük nach Kiev; auf dem Wege
begegnet er dem Jl'ja, der sich mit ihm verbrüdert und ihm
verspricht, ihn in Kiev zu schützen. Nach einigen Varianten
soll sogar Jl'js mit Dük sein oben erwähntes Abenteuer mit
Jdoliöe bestanden haben5) und der Dük soll auch den Berg-
drachen Tngarin getödtet haben. ^) In Kiev angekommen, ver-
höhnt Dük das ganze Wesen und Treiben am Hofe Wladimir's
als armselig und rühmt das seiner Mnttert) Wladimir wird
so neugierig, daß er einige von seinen Helden schickt, um den
Reichthum Dük's zu schätzen. Diese kommen mit der Nachricht
zurück, Wladimir möge Kiev verkaufen, um nur Papier genug
zu bekommen, Dük's Reichthümer zu beschreiben-^)
Trotzdem geht Curilo eine Wette mit Dük ein, während
i) K. IV. 99 ff.
-) R. I. 53. II. 31.
3) K- IV. 78 ff. R. I. 45.
«) K. IV. 86. R. I. 45.
') R. I. 47. II. 27. 23. 29.
°) R. I. 49.
7) K. III. 101 ff. R- I. 47. 48. 50. II. 28. 29. 30.
8) R> I. 47. 48. 49. 50. II. 28- 30.
150
Bistrom
drei Jahren täglich in neuen und prachtvolleren Kleidern zu
erscheinen. Dük's Kleider sind schöner und Curilo verliert die
Wette'), schlägt aber eine andere vor, wer von ihnen beiden
aus den Pferden über den Dnepr springen werde. Dük springt
über, Curilo aber fällt mitten in den Fluß; Dük springt zum
zweiten Mal und rettet den Curilo aus den Fluthen.^) Der
Einsatz bei diesen Wetten war der Kopf eines der beiden Helden;
Dük läßt aber den Curilo auf die Bitte der Fürstin und der
anderen Frauen von Kiev am Lebens) Curilo, der überhaupt
viel Ähnlichkeit mit dem AloZa hat und ebenfalls ein Galan
ist, fand seinen Tod in einer Liebesgeschichte. Beauftragt, einen
Bojaren Bermjata zum fürstlichen Gelage einzuladen, benutzte
er diese Gelegenheit, um mit dessen Frau zu buhlen, wurde
aber vom Manne ertappt und getödtet/) Dük fand seinen Tod
in einem Abenteuer, das er mit dem Riesen Sark zu bestehen
hatte, in dem übrigens nach anderen Varianten der Riese fiel.5)
Alle die Helden, welche wir bisher genannt haben, stehen
in irgend welcher Beziehung zu Kiev und dessen Fürsten Wla-
dimir. Neben Kiev bildete im alten Rußland die Republik
Nowgorod ein anderes Centrum des geistigen Lebens und wir
finden daher Lieder, welche die Helden von Nowgorod besingen.
Es ist der Kaufmann Sadko und Wassilij (Basilius) Buslaewiö.
Obgleich ein Lied von Sadko dem deutschen Publikum aus dem
Magazin sür die Literatur des Auslandes 1864 p. 541 bekannt
sein mag, wollen wir doch des Zusammenhanges wegen den
Inhalt dieser Lieder auch hier anführen.
Sadko ist ein armer Gusli- (Psalter-) Sänger in Nowgorod,
der sein Brod bei den Gelagen der reichen Kaufleute durch das
Spielen verdient. Eine Zeit lang fehlt ihm jede Einladung.
Traurig darüber geht er an den See und spielt am Ufer. Den
Seekönig entzückt sein Spielen und er giebt ihm den Rath,
beim ersten Gelage, zu dem er eingeladen sein wird, eine Wette
') R. I. 48. 49. 50. II. 26. 28. 29. 30.
K. I. 48. 49. 50. H. 26. 28. 30.
3) R- I. 48. 49. 50. II. 28. 30.
4) K. IV. 84. 87 ff. R. I. 45. 46. II. 23. 24.
5) R. I. 51.
Das russische Volksepos.
151
einzugehen, daß es goldene Fische im See gäbe. Sadko befolgt
diesen Rath. Die Wette findet statt, er setzt seinen Kopf,
mehrere Kaufleute ihre ganze Habe ein. Sadko fängt wirklich
einen goldenen Fisch, gewinnt die Wette und vermehrt durch
geschickten Handel das auf diese Weise gewonnene Vermögen.')
Er wird schließlich so reich, daß er eine andere Wette eingeht,
er wolle alle Waaren Nowgorods aufkaufen. Während drei
Tagen bringt er es zu Stande, aber es kommen immer neue
Waaren an, so daß er endlich die Notwendigkeit einsieht, sich
für besiegt zu erklären.
Nun unternimmt er eine große Meerfahrt. Auf der Rück-
kehr entsteht ein Sturm, der seine Schiffe auf einem Ort zurück-
hält. Sadko schreibt es dem Meerkönig zu, dem er nie ein
Opfer gebracht hat, er läßt daher zuerst eine Tonne mit Silber,
dann eine mit Gold hinuntersenken, und als das auch nicht
helfen will, glaubt er, daß der Meerkönig einen von seinen Ge-
fährten als Opfer haben will. Er läßt mehrere Male ver-
schiedene Loose werfen und jedesmal trifft ihn das Loos. Sadko
bindet sich auf ein Brett, nimmt seine Gusli und wird in das
Meer hineingesenkt. Auf dem Gusli spielend schläft er ein und
erwacht erst auf dem Grund des Meeres im Palast des Meer-
königs. Der Meerkönig befiehlt dem Sadko zu spielen. Sadko
spielt und der Meerkönig beginnt zu tanzen. Drei Tage spielt
Sadko und immer tanzt der Meerkönig, von dessen Tanzen ein
ungeheurer Sturm entsteht, -in dem viele Schiffe zertrümmert
werden. Die Seeleute beten zum heiligen Nicolaus und dieser
befiehlt dem Sadko die Saiten seiner Gusli zu zerreißen, um
nicht weiter spielen zu können. So hört das Tanzen des Kö-
nigs und auch der Sturm auf. Der Meerkönig, erfreut über
Sadko's Spiel, will ihn verheirathen und läßt den Sadko sich
eine Frau wählen. Nach dem Rath des heiligen Nicolaus läßt
dieser die ersten und die zweiten 300 Mädchen vorbeigehen und
wählt sich erst aus dem vorbeigehenden dritten Dreihundert die
Letzte, welche den Namen eines bei Nowgorod mündenden Fluffes
') R. I. 64.
2) R. I. 61. 63. 64.
152
Bistrom
Cernava führt. Ebenfalls nach dem Rath des heiligen Nieolaus
berührt er in der Brautnacht seine Frau nicht und findet sich
am Morgen nach Nowgorod versetzt, wohin auch seine Schiffe
glücklich gekommen sind. Er baut dem heiligen Nicolaus
eine prächtige Kirche und beendet glücklich seine Tage in Now-
gorod.')
Der andere Nowgoroder Held Wassilis, Sohn des Buslaj,
auch ein Kaufmannssohn, zeichnet fich durch ungeheure Körper-
kräfte aus. Er rühmt sich bei einem Gelage, über die Wolchov-
Brücke zu gehen, wenn auch alle Bürger von Nowgorod ihn
daran hindern wollten. Seine Mutter will ihm die Ausführung
einer solchen Wette nicht gestatten und sperrt ihn ein. Seine
Gefährten unternehmen ohne ihn über die Brücke zu gehen,
werden aber geschlagen. Eine Magd meldet ihre Niederlage
dem Wassilis und befreit ihn. Er eilt, mit einer Wagenachse
bewaffnet, auf die Brücke. Es entsteht ein ungeheurer Kampf,
die Bürger rufen den Taufvater des Wassilis zu Hülfe, welcher
eine ungeheure Kraft besitzt. Wassilis schleudert auch ihn in die
Fluthen des Wolchovs. Nun wenden sich die Bürger an seine
Mutter und nur diese kann seine Wuth besänftigen. 2) Wassilis
unternimmt später eine Fahrt nach dem heiligen Lande und
findet auf dem Rückwege einen weißen Stein, will mit seinem
Pferde hinüberspringen, fällt aber herab und stirbt.
Zum Schluß wollen wir diejenigen Helden erwähnen, die
in den Liedern offenbar als die ältesten dargestellt werden und
die gewissermaßen die gemeinschaftliche Basis für die Kiever
und Nowgoroder Helden bilden. Wenn wir mit ihnen nicht
angefangen haben, geschah es, weil wir nur spärliche Ueber-
reste von ihren Thaten und dazu in einer geringen Anzahl von
Liedern haben. Es sind außer dem oben erwähnten Swjatogor
die Helden Wol'ga und Mikula Sel'janinowiö. Die Geburt
Wol'ga's, der das Patronymicon Swjatoslawiö*) führt und
1) R. I. 61. 62. 63. 64.
2) R. I. 55. 56. 57. 58. II. 32. 33.
3) R. I. 59. 60. II. 33.
4) R. I. 3. 4.
Das russische VolksepoS.
153
von den russischen Erklärern für den Fürsten Oleg^) gehalten
wird, geschieht ganz ähnlich der des Dobrinja's^), nur ein Lied
erwähnt, daß seine Mutter von einer Schlange schwanger ge-
worden ist.3) Wol'ga besitzt die Eigenschaft, sich in alle Thier-
arten zu verwandeln, wodurch es ihm leicht wird, alle seine
Gefährten in Jagd und Fischerei zu übertreffen.*) Dieser
Eigenschaft bedient er sich auch, um einen Tataren- oder
Türkenkönig zu besiegen und dessen Hauptstadt einzunehmen.^)
Auf einer seiner Fahrten, um von den ihm unterworfenen
Städten Tribut einzutreiben"), begegnet er dem Mikula (Ni-
colaus) Sel'janinowiö (Sel'o — Dorf, Sel'janin — Dorfbe-
wohner) beschäftigt, ein Feld zu pflügen. Er fordert ihn auf,
mit ihm zu fahren, kann aber auf seinem Helden-Roß nur
mit Noth dem Bauernpferde des Mikula nachkommend) Mi-
kula erinnert sich, daß er seinen Pflug, der nach einigen Liedern
aus Gold ist"), aus der Erde herauszuziehen vergessen hat.
Wol'ga schickt einige und dann alle seine Gefährten, den Pflug
herauszuziehen. Sie alle haben dazu nicht Kraft genug.
Wol'ga versucht es selbst, vermag aber auch nicht, den Pflug
herauszuheben. Mikula saßt nun den Pflug mit einer Hand
und wirft ihn hinter einen Buscht)
Von Swjatogor's Tod haben wir unter Jl'ja die eine
Version mitgetheilt, es giebt aber noch eine andere.'") Swja-
togor rühmt sich, daß, wenn er den Schwerpunkt der Erde
fände, er im Stande fein würde, die Erde selbst aufzuheben.
Er findet darauf einen kleinen Sack, den er mit der Lanze
aufzuheben versucht. Als dies ihm nicht gelingen will, springt
') K. IV. CXXXY.
s) R. I. 1.
3) R. I. p. 11. 12.
4) R. I. 1. 2.
s) R. I. 1. 2.
6) R. I. 3.
7) R. I. 3. 4. 5.
') R. I. 4.
°) R. I. 3. 4. 5. II. 1. 60.
' °) R. I. 7.
iaUH«UlV»KIM1ll(\UlVIIMiHVfXI]
154 Bistrom
er vom Pferde, ergreift den Sack mit beiden Händen, hebt
ihn bis zu den Knien und sinkt selbst bis zu den Knien in die
Erde ein. Vor Anstrengung fließen nicht Thränen, aber Blut
auf feinem Gesichte. Je höher er den Sack aufhebt, je tiefer
sinkt er in die Erde ein; endlich ereilt ihn der Tod.
Wir ersehen, daß dieser in aller Kürze von uns mitge-
theilte Inhalt der Lieder aus einer Menge einzelner Helden-
thaten besteht, die von einzelnen Liedern besungen werden.
Diese Thaten sind ihrem Wesen nach von einander verschieden,
für sich abgeschlossen. Diejenigen Abenteuer, die demselben
Helden beigelegt werden, haben augenscheinlich nur das gemein-
schaftlich, daß sie eben von demselben Helden ausgeführt werden,
im Uebrigen sind sie auch für sich abgeschlossen. Die erzählten
Thaten haben nicht einmal viel Ähnlichkeit unter sich, die-
jenigen ausgenommen, die auf die Kämpfe mit den Tataren
sich beziehen, deren jede dennoch ein besonderes Gepräge trägt.
Auf diese wirre Masse von Helden mit ihren Abenteuern passen
so sehr die Worte des Herrn Steinthal, die er zur De-
finition der ersten der drei von ihm aufgestellten Eposformen
gebraucht, daß wir für zweckmäßig halten, sie hier zu wieder-
holen. „In der ersten Form werden lauter vereinzelte Lieder
„gesungen, jedes Lied verherrlicht eine abgeschlossene That,
„einen Mythos und bildet ein für sich bestehendes Ganzes."
(Diese Zeitschr. Bd. V. p. 11.) Doch unwillkürlich drängt
sich bei dieser Definition uns die Frage aus, ob dem dich-
tenden Volksgeist, aus den es ja vor allem ankommt, der
ganze Inhalt seiner Lieder so durcheinander, so unverbnnden
erscheint, wie uns. Ist das Volksbewußtsein im Stande, den
großen sich ihr zur Epik bietenden Inhalt in einer Masse von
vereinzelten, für sich abgeschlossenen Thaten getrennt zu erhalten?
Müssen nicht vielmehr unter diesen einzelnen Thatsachen gewisse
Beziehungen entstehen, die dieselben verbinden; bilden sich nicht
unter ihnen gewisse Verhältnisse, die, wenn auch nicht stark
genug sind, um aus dem großen Chaos eine organische Ein-
Das russische Volksepos.
155
heit hervorgehen zu lassen, doch ausreichen, um unter den ein-
zelnen Thatsachen eine Verbindung herzustellen. Und wenn die
Nothwendigkeit einer solchen Verbindung, eines geistigen Ban-
des, das das ganze Material der epischen Dichtung zusammen-
hält, von vorn herein klar ist, so ist es einleuchtend, daß wenn
etwas Aehnliches nicht schon in der Natur der Lieder selbst ge-
legen wäre, der dichtende Volksgeist eine derartige Verbindung
hätte schaffen müssen.
Sehen wir uns nach solchen Verbindungen im russischen
Volksepos um, so fällt uns vor allem die Stellung Wladi-
mir's in die Augen. Das Volk stellt den Wladimir gar nicht
als Helden dar, bei jeder Gefahr verliert er die Geistesgegen-
wart, verkriecht sich in seinen Pelz und ist bereit, Habe und
Frau abzugeben, um nur der Gesahr zu entrinnen.') Sein
Reichthum steht dem des Dük und des Sadko nach. Er ist
jähzornig, ungerecht, lüstern nach Frauen, man denke nur an
Danilo, den er tödten läßt, um sich seiner Frau zu bemäch-
tigen, gierig nach fremdem Eigenthum, man erinnere sich der
Kinder des Solovej, die er berauben will, und man zwingt
ihn mit Gewalt, das in einer Wette verlorene Geld zu be-
zahlen. ') Die Helden, die um ihn versammelt sind, leisten
ihm nur selten persönliche Dienste: sie verschaffen ihm die Braut
und gehen auf Jagd für die fürstliche Tafel^), die aber auch
die ihrige ist. Ihre Hauptheldenthaten verrichten sie selbst
meistentheils ohne Wissen des Fürsten. Häufig kommen sie
nach Kiev, wenn sie schon berühmt geworden sind, verlangen
„ohne Höflichkeit und Art" einen Platz im Gelage und drohen
sogar, wie Jl'ja, wenn ihnen der Platz nicht gewährt wird
oder nicht gefällt, den Wladimir selbst zu tödten.'') Wladimir
Muß sie förmlich um einen Dienst anflehen ^) und überläßt den
Helden, denjenigen zu wählen, der den Dienst ausführt.")
-) R. I. 20.
-) K. II. 8.
3) R. I. 6.
4) R. I. 99. K. I. 29.
5) K. I. 60. 61.
6) K. If 146,
156
Bistrom
Wenn wir aber neben solcher Schilderung von Wladimir
doch finden, daß beinahe alle von uns erwähnten Helden sich
zu ihm nach Kiev begeben, daß dies Versetzen der Helden nach
Kiev so stark ist, daß selbst Helden wie Wassilij, in dessen Er-
scheinung wir auf jedem Schritte specifischen, die Freistadt
Nowgorod charakterisirenden Zügen begegnen, doch zuweilen
nach Kiev versetzt werden, so können wir dies Zusammenreihen
der Helden um Wladimir weder aus seinen oben geschil-
derten Eigenschaften, noch aus solgenden Stellen der Lieder
(R. I. 271.):
Bei der Ankunft der muthigen Recken
Richtet der Fürst einen prachtvollen Schmaus an,
Bei der Abfahrt beschenkt er sie reichlich,
Giebt ihnen gar unermeßlich viel Gold.
allein erklären. Wir müssen vielmehr annehmen, daß diese
Stellung Wladimir's nur aus dem oben erwähnten Bedürfniß
der Volksdichter, einen Anknüpfungspunkt für ihre Lieder zu
haben, hervorgegangen ist. Aus diesem Grunde fangen die
Dichter ihre Lieder am liebsten mit der Beschreibung der Tafel
von Wladimir an. Daß aber der Volksdichter gerade Wla-
dimir wählte, geschah, weil der Name des geschichtlichen Wla-
dimir, der durch seine Bekehrung der Russen zum Christen-
thum wohl am meisten im Volke bekannt war, auf diejenige
mythische Gestalt übertragen wurde, die früher, als die Helden
noch rein mythisch waren, ihren Mittelpunkt bildete. Dieser
mythische Wladimir hat auch in dem jetzigen reichliche Spuren
hinterlassen. Noch immer wird er die rothe Sonne genannt
und unzweifelhaft tritt diese Gleichstellung in folgenden Versen
hervor:
Früh am Morgen stand sie auf,
Vor der Sonne, vor dem Fürsten Wladimir.')
Noch bedeutsamer ist das Liebesverhältniß von Wladimir's
') K. II. 99.
Das russische Volksepos.
157
Frau zum Bergdrachen Tugarin und der Raub seiner Nichte
durch diesen. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir hier
und in dem Umstand, daß so vielen Helden, dem Jl'ja, dem
Dobr;nja, dem Mosa, dem Dük die Tödtung des Tugarin
zugeschrieben wird, einen Wink auf das frühere Verhältniß der
Helden zum mythischen Wladimir erblicken. Das Mythische
dieses Vorgängers des jetzigen Wladimir war so stark, daß der
an seine Stelle gesetzte geschichtliche Wladimir den hervor-
ragendsten Zug, die Bekehrung der Russen zum Christenthum,
— sie wird nirgends in den Liedern erwähnt — verlieren
mußte und überhaupt nur wenige geschichtliche Züge behielt.
Es fand hier sogar gewissermaßen eine Verschmelzung der
beiden in der russischen Geschichte hervorragenden Wladimir
statt. Wir sehen nämlich in dem Wladimir der Lieder außer
den Zügen, die Wladimir dem I., dem Apostelgleichen, 980 bis
1015, angehören, wie seine Liebhaberei zu den Frauen^), seine
Liebe zu seiner Umgebung, für die er silberne Löffel anfertigen
ließ und achttägige Schmäuse gab^), auch die Züge des Wla-
dimir Monomachos, 1053—1125. Wenigstens wird von diesem
erzählt, daß er den Stawr aus Nowgorod in das Gefängniß
Wersen ließ.13) Es ist eben nicht ein bestimmter Fürst, sondern
der ganz allgemeine Typus eines Fürsten mit den zur Epoche
der Theilsürsten, 1054—1230, gehörenden Eigentümlichkeiten.
Das hervorragendste Motiv in der Geschichte dieser beiden
Fürsten bildet ihr Verhältniß zur Stadt Kiev. Kiev hat erst
durch diese beiden Fürsten seine Bedeutung für Rußland voll-
ständig erhalten, in Kiev fand auch die Bekehrung der Russen
zum Christenthum statt; Kiev war die Hauptstadt Rußlands
bis zum Emporkommen von Moskau. So wurde der Name
der Wladimir im Munde des Volkes auf das Innigste mit
Kiev verbunden. Gerade in diesem Verhältniß der Wladimir
zu Kiev liegt auch der zweite Grund zu Wladimir's Stellung
') Solowiev, Russische Geschichte B. I. p. 171.
2) Solowiev, B. I. 206.
3) Solowiev, B. II. p. 110. Kostomarov, Die Republiken von Nord-
Rußland B. I. p. 53.
158
Bistrom
als Mittelpunkt der Helden. Kiev war das erste Centrum des
geistigen Lebens des russischen Volkes, wie diese Stadt auch
jetzt noch durch ihre Heiligthümer den Mittelpunkt des kirch-
lichen Lebens, das beim Volke mit dem geistigen zusammen-
fällt, sür Gebildete und Ungebildete von ganz Rußland bildet.
Nach dieser Stätte lassen nun die Lieder die Helden ziehen,
um die dortigen Heiligthümer anzubeten und dann erst um
Wladimir zu sehen oder bei ihm zu dienen. Wladimir ist
demnach zum Mittelpunkt der Helden geworden, erstlich dadurch,
daß die Geschichte seinen Namen mit der Stadt Kiev ver-
bnnden hatte, und zweitens, weil Kiev als Centrum des gei-
stigen Volkslebens Einfluß aus die Volksdichter haben mußte.
Eine andere Verbindung wird dadurch geschaffen, daß den
Helden gemeinschaftliche Ziele zugeschrieben werden. Im All-
gemeinen lagen den Helden folgende Ziele, Aufgaben ob: die
Vertheidigung der christlichen Religion^), die Vertheidigung
von ganz Rußland und speciell der Stadt Kiev gegen jeglichen
Feinds, das Ausrotten der Tataren überhaupt"), der Schutz
der verwaisten Kinder und der Wittwen^) und die Vergrößerung
von Rußlands) Man sieht schon aus der Natur dieser Ziele
selbst, daß sie nicht ursprüngliche sein können und daß sie den
Helden, als die älteren Ziele vergessen waren, untergeschoben
wurden, um die Helden näher zu verknüpfen.
Als eine dritte Verbindung kann außer der Verbrüderung
die Verwandtschaft der Helden untereinander angesehen werden.
So ist Wol'ga der Neffe von Wladimir^), ebenso wie Jermak,
der übrigens auch Neffe des Jl'ja genannt wird.®) Die Ge-
stalt des Mikula, die ihrem Wesen nach ganz abgesondert er-
scheint und mit den übrigen Helden gar nichts Gemeinsames
') R. II. 132. 135. K. I. 34. IV. 92.
2) K. I. 34. 54. III. 49. IY. 92. R. I. 94.
3) K. I. 25. 28. 34. 38. III. 40. 43. 47.
4) K. I. 8. 38. R. I. 29.
-) K. IV. 16. 48.
°) R. I. 213.
7) R. I. 22.
») R. I. 104. K. I. 61. 65,
Das russische Volksepos.
159
hat, — er ist ja kein Held, sondern ein Bauer — wurde doch
mit den übrigen Helden verbunden, indem der dichtende Volks-
geist die Töchter des Mikula') sich mit den Helden verheirathen
läßt: Dobrjuja's, Stawr's, Danilo's Frauen sind die drei
Töchter Mikula's.
Nachdem wir nun gesehen haben, wie durch diese Ver-
biudungen die Helden aneinander geknüpft und so miteinander
verbunden werden, daß sie nur einzelne Glieder des großen
Ganzen bilden, wollen wir untersuchen, ob sich nicht ein ahn-
licher Prozeß auch unter den einzelnen Abenteuern der einzelnen
Helden nachweisen läßt. Hier stehen an erster Stelle die
Charakterschilderungen der Helden, denen wir ziemlich häufig
begegnen. Der gegebene Charakter eines Helden beeinflußt die
von ihm unternommenen und ausgeführten Heldenthaten. Am
deutlichsten sieht man dies bei Dobr;nja. Ueberall, wo es nur
angeht, wird Dobrjnja's Höflichkeit, Redefertigkeit und Art,
mit den Menschen umzugehen, hervorgehoben. R. I. 195
heißt es:
Niemand kann an Art und Redekunst
Sich mit Dobr^nja dem jungen messen;
Dessen Worte sind gar zuvorkommend,
Seine Reden sind gar verführerisch,
Der kann Einen bereden — anlocken.
Und K. II. 95:
Dobr^nja ist guter Eltern Sohn,
Dobrjnja ist gesitteter Leute Kind,
Es versteht Dobrjuja gar schön zu reden,
Zeitig verbeugt er sich, zeitig rühmt er sich.
Wir finden daher den Dobrjnja, dem „die Höflichkeit an-
geboren und anerzogen ist"2), als Gesandten verwendet. Selbst
toenn Wladimir geneigt wäre, einen Anderen als Gesandten zu
1). 1. p. 22.
2) K. III. 95
160
BistroM
schicken, würde er von den anderen Helden davon abgebracht
werden, denn das ist ein Geschäft, das speciell dem Dobr;nja
obliegt.') Nur der stille, ruhige Dunaj kann sich darin mit
Dobr;nja messen: „er hat viele Länder kennen gelernt uud ist
gar sehr des Sprechens mächtig." ') Ebenso hervortretend sind
die Charaktere des Al'osa und des Curilo. Während Dobr;nja
und Dunaj bescheiden, ruhig überlegend auftreten, tritt Mosa
tollkühn, voreilig auf. Er ist stolz und prahlerisch. °) Er
glaubt mit Schimpfen alles gethan zu haben.') Schon ehe
er den Feind trifft, vergeudet er übermüthig seine Kräfte/)
Höflichkeit und Art waren ihm immer fremd fi); außerdem liebt
Mosa:
Sich unter fremden Frauen zu bewegen,
Unter jungen Wittwen, schönen Jungfern/)
Er heißt daher vorzüglich „Franenbelnstiger"/) Diese
letzte Eigenschaft besitzt in noch höherem Maße der seine, zier-
lich sich bewegende Curilo/') Wenn er durch die Straßen
geht, laufen ihm alle Frauen nach.lü) Er ist ebenso Prahler
wie Mosa"), aber ihm sehlt gänzlich die Kühnheit, die den
Mosa nie verläßt'*), daher wird Curilo einfach aus der Ge-
sellschast der Helden vertrieben:
Geh, treibe dich unter den Frauen und Mägden,
Misch dich nicht unter uns, starke Helden.'^)
') K. I. 48.
») R. I. 88.
3) K. IV. 13.
4) R. II. 27.
5) R. I. 76.
6) K. III. 94.
7) K. II. 3. 17.
8) K. I. 5. II. 5. 12. R. I. 153 IC.
9) K. II. 31. R. I. 130. II. 174.
">) R. I. 195.
ii) R. II. 158.
»-) K. II. 31. 32. III. 65. R. I. 120. 130. 150. 184. 293.
13) N. II. 184.
Das russische ^>olksepoö.
161
Es kennen ihn nicht die mächtigen Helden,
Es kennen ihn nur Frauen und Mägde. ^)
Nicht so ausgeführt wie diese sind die Typen der übrigen
Helden. Jl'ja zeichnet sich durch Riesenkraft und Statur aus52),
der Tod kann ihn im Kampfe nicht erreichen und deshalb wird
sein Schicksal als beneidenswerth dargestellt.^) Von Wol'ga
wird gesagt, daß, wenn er etwas nicht mit Kraft erreichen
kann, er es durch List und Klugheit zu Stande bringe.*)
Den Mikula liebt die feuchte Mutter Erde.*) Bei Dük und
Sadko wird der Reichthum hervorgehoben"), bei Potok die
Schönheit ^), bei Wladimir das Glückt)
Das Eigentümliche bei diesen Charakterschilderungen ist,
daß meist mehrere von ihnen zusammen angeführt werden.
Als Jl'ja von den Pilgern die Kraft bekommt, sagen sie ihm:
Du wirst gewaltig und viel gepriesen sein,
Denn der Tod erreicht im Kampf dich nicht;
Kämpfe aber nicht mit Swjatogor,
Ihn trägt die Erde nur mit Noth,
Kämpfe nicht mit Mikula dem Bauer,
Ihn liebt die feuchte Mutter Erde,
Kämpfe nicht mit Wol'ga Seslaw's Sohn,
Nicht mit der Kraft siegt er, mit der List,
Mit der List, mit der Klugheit.")
Noch einschlagender ist eine folgende Stelle. Dunaj
prahlt mit seiner Kunst zu schießen auf einem Gelage von
Wladimir, seine Frau sagt ihm aber:
J) R. II. 150.
2) R. I. 130. 195. K. II. 31.
3) R. II. 174. K. III. 35. R. I. 120.
4) R. I. 135.
5) R. I. 35.
°) R. I. 193. II. 14.
7) R. I. 195.
8) R. I. 120. II. 16.
°) R. I. 8.
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. ^j[
162
Bistrom: Das russische Volksepos.
Nicht lange weile ich in Kiev,
Habe aber alles in Kiev erfahren.
Niemand übertrifft den Wladimir an Glück,
Niemand den Jl'ja an Riesenkraft,
Niemand den Al'osa an Tollkühnheit,
Niemand den Potok an Schönheit,
Niemand den Dobrsnja an Höflichkeit,
Niemand den Dunaj an Redekunst,
Niemand den Dük an Neichthum,
Niemand den Curilo an Zierlichkeit,
Geht er durch die Straßen, laufen ihm die Frauen
nach,
Niemand schießt aber so gut wie ich.*)
Diese und viele ähnliche Stellen beweisen wohl hinreichend,
wie der Sänger erstlich die vielen einzelnen Abenteuer durch
den feststehenden Charakter der Helden mit einander verbindet
und wie er zweitens die Helden selbst auf dem oben ange-
führten Wege aneinander reiht, so daß ihm stets der ganze
zur Epik sich bietende Inhalt, wenn auch nicht als eine poetische
Einheit, doch als ein Ganzes vor Augen schwebt. Darauf
wollten wir noch zum Schluß hinweisen.
R. I. 18t. 195. 120. 130.
Berlin, 10. Oetober 1868.
W. Bistrom.
Tobler: Beurtheilung.
163
Otto Holder, Grammatik der französischen Sprache.
Stuttgart 1865. (490 S. gr. 8.)
Bernhard Schmitz, Französische Grammatik. Zweite
Auflage, neue Bearbeitung. Berlin 1867. (365 S. 8.)
So lange es auch her ist, daß man die Sprache zum
Gegenstande der Betrachtung macht, so viel Fleiß man auf das
Verzeichnen und Ordnen der Erscheinungen gewandt hat, die
in ihrer Gesammtheit die Sprache, und derjenigen, welche je
eine Sprache ausmachen — wie viel Unsicherheit herrscht doch
noch überall hinsichtlich dessen, was zugleich Ausgangspunkt
und Ziel der wissenschaftlichen Forschung sein, was für die
Sammlung und Sichtung der Erscheinungen den Rahmen und
die Fächer bieten sollte und zugleich durch die Ergebnisse der
Sammlung als der Natur der Erscheinungen entsprechend sich
erweisen müßte, hinsichtlich der grammatischen Grundbegriffe.
Nicht nur ist noch immer die Linie nicht gezogen, die das, was
die Grammatik ihr Gebiet nennen darf, schiede von dem, was
der Logik anheimfällt, oder kommt es doch unaufhörlich zu
unberechtigten Uebergriffen, sondern auch innerhalb der Grenzen,
wo das Schalten der Elfteren als einzig zu Rechte bestehend
anerkannt ist, vermißt man noch immer in hohem Grade eine
strenge Beachtung der Gliederung zweiten Grades, welche be-
stimmt, wie viel jeder einzelnen grammatischen Diseiplin zu
überweisen ist. Es kommt als weiterer Grund der Unsicher-
heit das hinzu, daß man noch immer nicht frei ist von der
Neigung, die Erscheinungen Einer Sprache als etwas ins Auge
zu fassen, was diejenigen einer anderen bis zu einem gewissen
Grade zu decken hätte, eine Sprache als Mittel zur Ueber-
setzung aus einer zweiten, eine Betrachtungsweise, deren Zweck-
Mäßigkeit beim praktischen Sprachunterrichte nicht geläuguet
werden soll, die aber nur zu sehr auch bei der wissenschaftlichen
Behandlung des Gegenstandes sich geltend macht.
11*
164 Tobler
Nur aus dieser Unsicherheit erklärt sich auch, daß zwei
Bücher (um bei zweien stehen zu bleiben), welche den nämlichen
Gegenstand für so ziemlich die nämliche Klasse von Lesern be-
handeln, abgesehen von dem Unterschiede, den der ungleiche
Umfang mit sich brachte, auf so sehr verschiedenem Wege die
gemeinsame Aufgabe zu lösen sich bemühen, und daß beide so
viel bieten, was mancher gar nicht darin suchen wird und
lieber nicht darin fände, von anderem schweigen, was mancher
zu den betrachtenswerthesten Seiten des Gegenstandes rechnet.
Sollte nicht gerade eine erneuerte Untersuchung über den Um-
fang und die Gliederung des Gegenstandes einer französischen
Grammatik eine Aufgabe sein, deren vorurteilsfreie Lösung
von der Wissenschaft und von der Schule in noch höherem
Grade willkommen geheißen werden müßte, als noch so verdienst-
liche Bearbeitungen des Gegenstandes in bisheriger Weise? —
Den beiden oben namhaft gemachten Werken gebührt nun
wirklich die Bezeichnung verdienstlich, jedoch um ganz ver-
schiedener Vorzüge willen: dem von Holder als einer nach
Vollständigkeit strebenden und wirklich sehr reichen, wenn auch
nicht eben gut geordneten Sammlung derjenigen Erscheinungen,
welche in einer Formenlehre und Syntax des Neufranzösischen
zur Besprechung kommen müssen, dem von Schmitz als einer
mit viel Geschick und großer Kenntniß der Bedürfnisse der
Schule und des Lebens getroffenen Auswahl des Wichtigsten,
was man neben dem Wörterbuche braucht, um das Französische
zu sprechen und zu verstehen. Neben dem Wörterbuche! Da
wäre nun freilich der Anlaß, auf die Grenzen zwischen Gram-
matik und Lexikon zu kommen, zu erörtern, ob denn gewisse
Fragen dieses oder jene zu beantworten habe, ob z. B. die
Thatsache, daß flatter ein transitives Verbum ist, von der
Grammatik erwähnt werden solle, ob die Grammatik versuchen
solle, Gesetze zu ermitteln, nach denen die Substantiva diesem
oder jenem Geschlechte zugehören, ob sie es namentlich im Fran-
zösischen solle, wo die Verhältnisse, welche den Ausschlag geben,
so ganz verschiedener Art sind.
Schmitz beginnt mit einer „Lautlehre" (— Holder setzt
das hieher zu ziehende voraus —) und führt in diesem Ab-
Beurtheilung.
165
schnitte mit guter Wahl die wichtigsten Dinge auf, die der
Fremde (Deutsche) wissen muß, um richtig zu lesen, woran sich
eine gar zu gedrängte und leider auch innerhalb ihrer engen
Grenzen nicht befriedigende Nebersicht der Verschiedenheiten des
Lautbestandes reiht, die zwischen den lateinischen Wörtern und
ihren französischen Nachbildungen bestehen. Die geschriebene
Sprache bildet den Ausgangspunkt; Manches erschiene wohl in
richtigerem Lichte, wenn die Darstellung den Laut zum Aus-
gangspunkte nähme, die Buchstaben als Zeichen für Laute, nicht
die Laute als etwas sich ans gewissen Buchstaben ergebendes
ins Auge faßte; vielleicht dürfte man wohl auch einmal den
Versuch wagen, die Aussprache, wie sie im Falle der „Bindung"
sich gestaltet, als die reguläre darzustellen. In der angeführten
Uebersicht fehlt es vielfach an der richtigen Auffassung der Er-
scheinungen (in ancetres hat keineswegs Versetzung der Laute
t und c stattgefunden, sondern „Erweiterung des Wortes"; in
trahir ist von Erweiterung des Wortes nicht zu sprechen, da
h nur graphische Bedeutung hat; in nuit ist Diphthongirung
des Vocals nicht anzuerkennen oder doch in ganz anderem Sinne
als in dien u. s. w.), an der wünschbaren Sonderung des nur
äußerlich Analogen und an der Berücksichtigung der altfran-
zösischen Zwischenstufe, die hier in vielen Fällen nicht ohne
Gefahr irrthümlicher Auffassung sich überspringen ließ; über-
hanpt ist ein wirklicher Gewinn für den Leser (Schüler) von
einer dermaßen eingeschränkten Herstellung des Zusammenhanges
zwischen Latein und Französisch kaum zu erwarten. Auch was
unter der Neberschrift „Nebersicht der allgemeinen Buchstaben-
Veränderungen" geboten wird, wird durch allzu große Knapp-
heit der Darstellung, durch Vermengung sehr verschiedenartiger
Dinge und durch Beschränkung auf Beispiele, die ganz uner-
örtert bleiben, der Tragweite des Gegenstandes nicht gerecht. —
Die Lautlehre betreffend, so erscheint bei beiden Verfassern
Verschiedenes in die Formenlehre des Französischen hineingezogen,
was diese Stellung nur dem Umstände verdanken kann, daß
damit Erscheinungen des Lateinischen oder des Deutschen, welche
in der That in den Bereich der Formenlehre fallen, eine ge-
Wisse scheinbare Congrnenz zeigen. Beide sprechen von einem
166 Tobler
Eomparativ und gar von einem Superlativ der Adjectiva, von
Nominativ, Genitiv, Dativ, Accusativ (der Ablativ ist wohl
nur darum aufgegeben, weil man ihn im Deutschen nicht findet),
die jedoch nur in ganz vereinzelten Erscheinungen einigermaßen
erkennbar vorliegen, dem Sprachbewußtsein völlig abhanden ge-
kommen sind.
Es ist freilich nicht eben leicht, was in dieser Richtung
erstrebenswerth scheint, und manche Bedenken werden wach
werden, wann" es gelten wird auszusondern, was aus der latei-
nischen oder aus der deutschen Grammatik oder aus der Logik
in die französische Grammatik hineingetragen ist, wann man
sich z. B. fragen wird, inwiefern hinter der im Laufe der Zeit
eingetretenen Identität der Form noch eine Verschiedenheit der
Bedeutung stehen oder mit andern Worten die Anschauung des
mit der Sprache operirenden Geistes reicher sein kann als das
ihm zn Gebote stehende Material. Aber unmöglich ist doch
wohl die Lösung der Aufgabe nicht. Liegt nicht, um noch ein-
mal auf die besondere Frage nach der Berechtigung der An-
nähme eines französischen Genitivs und Dativs zu kommen,
gerade in dem, was Schmitz „pronominalen Gebrauch der
Localadverbien" en, y, oü (auch dont) nennt, eine Mahnung,
die Präpositionen de und a überall voll als solche zu er-
kennen, auch da, wo man immer noch Genitive und Dative zu
sehen meint?
Die Syntax nimmt in beiden Büchern den meisten Raum
ein; bei Hölder ist sie ja überhaupt der eigentliche Gegenstand
der Darstellung und nimmt die Formenlehre nur parenthetisch
und sehr mangelhaft in sich auf. Wir müssen uns hier
versagen, im Einzelnen nachzuweisen, in wie viel Fällen Schmitz
Erscheinungen zum ersten Male in's richtige Licht stellt, die
von seinen Vorgängern entweder ganz übergangen oder nicht
in den Zusammenhang gebracht waren, in den sie gehörten, so-
wie andererseits die Erscheinungen aufzuzählen, um welche
Hölders aufmerksamer Blick sein Buch anderen Werken gegen-
über bereichert hat. Dagegen verweilen wir gerne bei einigen
Einzelheiten aus beiden Büchern, Einzelheiten, die uns neben
manchen anderen einer nochmaligen Prüfung bedürftig scheinen.
Beurtheilung.
167
Zu den Punkten, welche den Grammatikern besondere Schwie-
rigkeit bereiten, weil vielfach die Betrachtung in ganz äußer-
lichen Dingen das Maßgebende zu finden glaubt und daher
auf schwer zu erklärende Ausnahmen stößt, gehört die Stellung
des aduomiualen Adjeetivs; dieser Gegenstand wird von Hölder
in wenig befriedigender Weise behandelt: „Gewohnheit, Rhythmus
und Wohllaut" behaupten bei ihm in dieser Sache einen Ein-
fluß, der ihnen in Wirklichkeit nicht zukommt. Was spricht
auch eine Darstellung des französischen Sprachgebrauches sich
selbst für ein Urtheil, wenn sie dem, was sie eben als ein „zur
Ehre der französischen Sprache" anzuerkennendes Gesetz hinge-
stellt hat, durch das Zugeständniß einer das Gesetz mißachtenden
„Gewohnheit" alle Bedeutung nimmt. In dem wohlmeinenden
Eifer, eine allerdings werthvolle Freiheit ja nicht geringfügig
erscheinen zu lassen, stellt man leicht die Sache so dar, als
könne der Sprechende durch Vor- oder Nachstellen des Adjeetivs
an der Bedeutung desselben nicht viel weniger als Wunder
wirken. Zweierlei ist dabei namentlich im Auge zu behalten:
bevor man die von den Grammatikern behaupteten „Bedeutungs-
Wechsel je nach der Stellung" als feststehende Thatsachen gelten
läßt, untersuche man auf's Neue, ob der Sprachgebrauch guter
Schriftsteller zu jenen Satzungen stimmt, und: für die unum-
stößlich bleibenden Thatsachen suche man einen in der Natur
der Sprache liegenden Grund. Was den ersten Punkt betrifft,
so ist die verständige Behandlung, welche Schmitz dem Gegen-
stände zu Theil werden läßt, zwar schon sehr geeignet, den
Glauben an die Zuverlässigkeit seiner meisten Vorgänger mächtig
zu erschüttern, auch Hölder zeigt eine rühmliche Vorsicht; und
doch bleibt bei ihnen beiden noch manche oft wiederholte Be-
hauptung unangefochten, die neu geprüft werden müßte. Honnete
vorangestellt soll „ehrlich", nachgestellt „höflich" heißen, und in
der That sagt H. de Balzac: Les procureurs du roi ne sont
pas seulement d'honnetes gens; ce sont encore des gens
fort honnetes; leur correspondance est civile lt. s. w. Besser
kann man nicht beweisen, daß man ein aufmerksamer Schüler
eines nicht eben einsichtigen und umsichtigen Lehrers gewesen
ist. Aber wie stimmt denn dazu: „La plus vive jouissance
168
Tobler
d'une courtisane est, saus contredit, le plaisir qu'elle
eprouve ä humilier une femme honnete'', ober „avec un
coeur pur et des inclinations honnetes", ober „le
temoignage de Julie contre l'orgueil humain et son im-
puissance, meme dans les am es honnetes, pour operer
le retour ä la vertu"? Man sollte auch nicht versäumen, in
solchem Falle zu untersuchen, was bas Abjectiv bann bebeutet,
wenn es Weber vor noch nach dem Substantiv steht, sondern
prädieativ oder substantivisch gebraucht ist, wie z. B. „ce n'est
pas honnete peut-etre de laisser nos restes dans le panier"
sagt ein Gaukler, dem man in einem Korbe Nahrungsmittel
Zugeschickt hat, „je n'aper^us rien que d'obligeant et d'hon-
nete dans la curiosite dont j'etais l'objet" ober „mon coeur
est trop sensible, mais il est toujours honnete" u. bgl.
Es scheint sich baraus zu ergeben, baß bas Wort Weber durch
„ehrbar" ober „ehrlich", noch burch „höflich" gebeckt wirb,
wohl aber etwa burch „anständig", baß es von Personen ober
von Handlungen gebraucht wird, denen Achtung gezollt wird,
weil sie den Anforderungen der Sitte oder denen der Sittlich-
fett entsprechen. Zm siebzehnten Jahrhundert schienen ber guten
Gesellschaft in Frankreich bie Ersteren vor allem wichtig, unb
so konnte St. Evremond sagen: Honnete homme et de bonnes
moeurs sont incompatibles (Guizot, Corneille S. 200) unb
Moliere's Misanthrop giebt bem, welcher allzu große Bereit-
Willigkeit zeigt, selbstgemachte Verse in Gesellschaft vorzutragen,
den Rath: — N allez point quitter, de quoi que Ton vous
somme, Le nom que dans la cour vous avez d'honnete
homme. Aehnliche Bebenken erheben sich gegen bie Auf-
stelluugen ber meisten Grammatiker, wenn man beim Lesen auf
die Stellung unb die Bebeutung von propre achtet; vorange-
stellt soll es „eigen" unb nachgestellt „reinlich" unb „geeignet"
heißen (Schmitz 151, vgl. bamit Hölber's Beispielsätze 160 im
Text); aber man liest boch bei guten Schriftstellern: „lejuda'isme
est comme l'oeuf oü la religion nouvelle se forma et se
nourrit d'abord, avant de vivre de sa vie propre", ober
„Roger de Collerye a introduit son caractere propre dans
les prineipes de son ecole, et c'est lä toute son oeuvre
Beurtheilung.
169
litteraire", oder „Nous n'avons pas toujours tenu assez de
compte du caractere propre et des conditions speciales de
la societe franpaise", wo propre wenn nicht mit „eigen" doch
mit „eigentümlich" übersetzt werden müßte. Es genügt nun
natürlich nicht, Zweifel an den Aufstellungen der Grammatik
zu erregen oder deren UnHaltbarkeit aus dem Sprachgebrauche
guter Schriftsteller zu erweisen. Worauf es ankommt, das ist,
das Wesen der Erscheinung darzuthun, für das scheinbar Zu-
fällige und Willkürliche einen einleuchtenden Grund zu finden,
freilich erst, nachdem für die Untersuchung ein fester Boden ge-
Wonnen ist. An diesem Boden, d. h. an einer hinlänglichen
Zahl sicherer Beobachtungsergebuisse, fehlt es mir in diesem
Augenblicke; gleichwohl mag hier der Versuch gemacht werden,
der Erscheinung auf den Grund zu gehen; ein ersprießliches
Beobachten wird ja hinwieder nur möglich, wo der Blick sich
auf das Wesentliche zu richten durch eine leitende Anschauung
bestimmt wird. Daß Vinet's Urtheile „l'esprit place Fepithete
apres le substantif, et l'äme la. place plus volontiers de-
vant" eine richtige Beobachtung zu Grunde liege, wird sich aus
dem Folgenden ergeben; es leuchtet aber ein, daß es bei seiner
Orakelhastigkeit weder dem praktischen, noch dem theoretischen
Bedürfnisfe genügen kann.
Zwei Vorstellungen, die eines Gegenstandes und die einer
Eigenschaft, treten im Falle der Voranstellung wie in dem der
Nachstellung des Adjectivs in Verbindung unter sich. Tritt
die Vorstellung der Eigenschaft zuerst ins Bewußtsein, so wird
ihr mehr Freiheit, eine geringere Bestimmtheit ihrer Elemente
zukommen als im umgekehrten Falle; kein Element ist ausge-
schlössen, keines tritt in den Vordergrund; mit ihrem Eintreten
erwacht aber zugleich der Drang nach der Vorstellung des Ge-
genstandes, mit dem sie sich verbinde, da sie an sich einen be-
friedigenden Inhalt nicht bietet; diese zweite Vorstellung nun
nimmt unter ihre Bestandteile jene bereits ins Bewußtsein
getretenen mit auf und zwar in innigster Einverleibung und er-
fährt dadurch vielfach wesentliche Modifieationen, indem ihre
Elemente den bereits ins Bewußtsein getretenen sich anbequemen
müssen, Unverträgliches, das sich darunter befinden sollte, aus-
170
Tobler
geschlossen, Alles gleichsam in dem Lichte angeschaut wird, das
von der ersten Vorstellung ausstrahlt. Wenn gesagt wird un
mechant vaisseau, so tritt zuerst die sehr wenig bestimmte
Vorstellung des Untauglichen, Nichtsnutzigen, Mangelhaften ins
Bewußtsein, und die nachfolgende Vorstellung des Schiffes
wird nun jedenfalls von den Elementen, die sie sonst umfaßt,
einige aufgeben, das Schiff wird nun das rasch und sicher
tragende, das saubere, das schlanke, leichte nicht mehr sein;
sage ich vollends: un soi-disant, un pretendu poete, so bleibt
von den Elementen der Vorstellung von einem Dichter nur das
eine eines Wesens, das unter Umständen poete genannt
wird; man sieht, daß un poete pretendu nimmer bedeuten
kann was un pretendu poete; es würde bei Anwendung der
erstereu Ausdrucksweise eine Vorstellung ins Bewußtsein ge-
rufen und nachher gleichsam wieder hinausgetrieben.
Ist die Vorstellung vom Gegen stände zuerst im Be-
wußtsein, so fällt einmalx jenes Drängen nach der zweiten
meistens weg, da die erste eher ein befriedigender Inhalt ist;
diese entfaltet die ganze Fülle ihrer Elemente ungehemmt, und
tritt nun die zweite hinzu, so gesellt sich zu dem bereits Vor-
haudenen etwas Neues, doch nichts, was nicht in mehr äußer-
licher Weise die erste Vorstellung bestimmte, nichts, was das
eigentliche Wesen derselben umgestaltend ergriffe; des vers me-
chants find etwas, dem Niemand den Namen vers streitig
machen kann, während de mechants vers etwas sind, was
man vers gar nicht nennen sollte. Umgekehrt werden im Falle
der Nachstellung des Adjectivs von den Elementen der Eigen-
schastsvorstellung einige in den Hintergrund treten und nur
diejenigen übrig bleiben, welche sich mit denen der Gegenstands-
Vorstellung vertragen. Der mechant musicien ist möglicher
Weise ein guter Mensch, aber ein schlechter, d. h. kaum eiu
Musikant; des musicien mechant Recht auf den Namen eines
Musikanten kann ich nicht anfechten, wenn ich selbst ihn ohne
Einschränkung so nenne; ich werde also mechant jetzt anders
nehmen; es ist jetzt nicht mehr „das, was billigen Anforde-
rungen nicht entspricht", sondern enger „das, was gewissen,
besondern Anforderungen nicht entspricht, die noch übrig bleiben,
Beurtheilung.
171
nachdem den an den Musikanten gestellten genügt ist", z. B.
denen nicht, welchen der Vater oder der Mensch im Verkehr
oder der Christ nachkommen soll, also vielleicht „hart" oder
„boshaft" oder „böse". Damit scheint mir auf das Wichtigste
von dem hingewiesen zu sein, was bei der Stellung des Ad-
jectivs, geschehe sie mit oder ohne Bewußtsein, den Ausschlag
giebt; erklärt zu sein, warum die phantasievolle, die dichterisch
anschauende Auffassung der Dinge die Voranstellung des Ad-
jectivs bevorzugt, die verstandgemäße, abstrahlende, scheidende
die Nachstellung, und in wiefern ein Wechsel der Bedeutung
je nach der Stellung beim Adjectiv eintreten kann. Dagegen
behaupte ich nicht, daß nicht andere als die berührten Ver-
Hältnisse (nur vor dem Wohllaut sei gewarnt!) bestimmend ein-
wirken können oder daß nun auch bereits jedes einzelne Vor-
kommen von Bedeutuugsmodificatron erklärt sei. Noch Manches
wird in Betracht zu ziehen sein, zu dessen Erörterung es mir
hier an Raum uud theilweise an gesammeltem Material fehlt.
Auch der sogenannte Theilnngsartikel oder partitive Ge-
nitiv (in de fautes soll der „Genitiv des Theilungsartikels"
vorliegen, während darin weder Genitiv noch Artikel irgend zu
bemerken ist; in de grosses fautes ist de Theilungsartikel;
Schmitz ist übrigens das Bedenkliche des Namens nicht ent-
gangen) dürfte wohl eine von außen, vom Standpunkte anderer
Sprachen in die französische hineingetragene Sache und eher
bei Besprechung der Präpositionen zu behandeln sein.
Die in „il a les yeux bleus" vorliegende Construetion
ist wieder genau genommen eher lexikalischer als grammatischer
Natur; nicht die Anwendung des bestimmten Artikels, nicht die
Nachstellung des Adjeetivs ist das Eigenthümliche und für den
Deutschen Bemerkenswerthe daran, sondern die Construetion
don avoir mit dem Aceusativ eines „vorausgesetzten" Objeets
und einem Adjectiv, das dessen Beschaffenheit bezeichnet und
wit jenem congruirt. Sätze wie der angeführte sind zusammen
ZU behandeln mit solchen wie: Pom- de l'esprit, eile n'en
•ttanque pas; eile l'a meme assez eultive, Gilblas
IV. 6, il a le genie d'une si vaste etendue, ebenda
X.I. 2' il eut son cheval tue sous lui lt. dgl.
172
Tobler^ Beurtheilung.
Manche Einzelheiten könnten noch mit Lob und mit Tadel
hervorgehoben werden; Tadel verdient z. B. bei Schmitz S. 133
die Wahl der Beispiele zu der Regel, daß das von einem In-
ftnitive regierte tonlose Fürwort zu den jenen Infinitiv regie-
renden Verben fair, laisser, voir, entendre. statt zum Infinitive
tritt; denn in „je l'ai fait venir, je l'ai vu partir, je le sentis
venir de loin" ist das Pronomen eben nicht vom Infinitiv
regiert; passende Beispiele würden sein: je lui ai fait annon-
cer, le hasard nie l'a fait rencontrer; dabei war übrigens
zu bemerken, daß das Zusammentreffen zweier tonlosen Für-
Wörter vor jenen Verben vermieden wird, wenn nicht wenigstens
das eine derselben sich entweder als Dativ oder Aeeusativ durch
seine Form zu erkennen gibt, so daß über den Casus des an-
deren kein Zweifel möglich ist; neben das obige „me Ta fait
rencontrer", wo le nur Aeeusativ sein kann, für me also nur
Dativb^deutuug bleibt, stellt sich: „le hasard qui m'a fait
vous rencontrer" A. de Musset, Comedies I. 403 oder
„quel dessein vous fait me demander", Polyeucte IV. 3,
wo bei der Nebeneinanderstellung von vous und me sich
Zweifel über das Casusverhältniß jedes der beiden Fürwörter
erheben könnten.
Berlin, Mai 1868.
Adolf Tobler.
Die dichterische Phantasie
und
der Mechanismus des Bewußtseins.
Von
Hermann Cohen, Dr. phil.
"Eaxi yap cpüasi 7ionrjTixr) ^ ^ujjiTiaaa a{v[Y(/.aTU)8r]c
Plato, Alcib. II. p. 147. B.
Die Frage nach dem Ursprung der Poesie gehört zu den
anziehendsten im Bereiche der Culturgeschichte, aber, wie
jede Frage nach dem Ursprung, zu den schwierigsten. Die
Keime der dichtenden Productiou, die Anfänge der dichterischen
Form der Vorstellungen sind, wie alle Elementarbildungen,
schwer aufzufinden, schwer als solche zu erkennen; und wer ein-
mal auf den Proceß der Zerlegung eingegangen ist, der wird
schwerlich bei irgend welchen einfachsten Formen stehen bleiben.
Zu diesen gemeinsamen Schwierigkeiten einer jeden Entwicke-
lungsgeschichte tritt für die Frage nach dem Ursprung der
Dichtung eine neue, dieser eigenthümliche.
Nicht nur auf den Gemeinplätzen der modernen Bildung,
auch innerhalb der gelehrten Fachgenossenschaft hat sich die
energische Einsicht noch nicht befestigt, daß in keinem Denk-
processe, welches Ansehen er immer habe und wie dunkel
auch sein Ursprung sei, eine Schöpfung gegeben sein könne.
Man glaubt noch immer, — zwar nicht in mythischer
Naivetät, sondern wie es der gebildete Geist vermag, in
allerlei Vertretungen und Verhüllungen, — es könne eine Weis-
heit mit Einem Schwünge gewappnet aus dem Haupte springen,
während doch ein jedes Erzeugniß des Geistes, sofern es durch
einen Proceß im Bewußtsein entsteht, gegründet sein muß
in früheren Vorstellungen, die in unaufhörlichen Anziehungen
Ztitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bv. VI. ^
174
und Abstoßungen wirken. Ja, was noch schlimmer ist, man
hält den Zweifel an der Gunst des Augenblicks, an dem
Götterschooß des Genius für ebenso barbarisch als unfrucht-
bar, und läßt sich an dem schönen Satze genügen: „das genie
sprudelt wie ein brünnlein an verborgener stelle, und seine nieder-
gange und steige weiß doch niemand."*) Weil man aber
an die Schöpfung des Genius in unkritischer Weise glaubt,
darum ist man in der Erforschung des Wesens wie des Ur-
sprungs der Dichtung bei der ästhetischen Kritik stehen geblieben,
über die schon Göthe, der von ihr Gefeierte, in den „Maximen"
unbefriedigt abgeurtheilt hat: „Das Was des Kunstwerks",
sagt er, „interessirt die Menschen mehr als das Wie; jenes
können sie einzeln ergreifen, dieses im Ganzen nicht fassen.
Daher kommt das Herausheben von Stellen, wobei
zuletzt, wenn man wohl aufmerkt, die Wirkung der Totalität
auch nicht ausbleibt, aber jedem unbewußt. Die Frage,
woher hat's der Dichter? geht auch nur auf's Was,
vom Wie erfährt dabei Niemand Etwas."
Wie wird aber und wirkt die Totalität der Dichtung
für das psychologische Bewußtsein, und wie erfolgt der psy-
chische Proceß des Dichtens? Diese Fragen sind in princip-
strenger Fassung nicht gestellt, geschweige gelöst. Inzwischen
ist es verdienstlich zu sammeln und zu sichten, wie das Was
der Dichtung, das Material, sich Stein an Stein gefügt: aber
diese verdienstlichen Bestrebungen erschöpfen die Aufgabe der
Kritik nicht, sondern können sie nur von außen fördern. Die
Quelle des Jrrthums über den wahren Ursprung der Dich-
tung wird durch diese Art der Kritik dessen, was an der lite-
rarischen Oberfläche liegt, nicht vergraben.
Wenn man an die Mythen denkt, unter denen man früher
das Räthsel genialer Gedankenbildungen formulirt hat, so könnte
man meinen, diese Zeiten seien längst überwunden; aber bei
schärferer Beobachtung will es scheinen, als ob in Wahrheit
nur die Schlagwörter, die Formen der Näthselausgabe ge-
wechselt seien. In den glückseligen Zeiten, da der Mythos
*) Grimm, Kl. Schriften II., S. 240.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 175
blühte, galt die Poesie als ein Geschenk der Götter, bald
von Natur und für immer gegeben, bald im Momente der Be-
geisterung empfangen. Bei allen alten Völkern ist der Dichter
Sänger und Weissager und die Dichtung ist eine göttliche
Gabe, bei Homer wie bei den Angelsachsen. Woher dieser
Glaube? Buckle meint, er habe seinen Ursprung in der That-
sache, daß „die Dichter zugleich Priester waren". Dies ist
nun zwar nicht durchgehend nachweisbar, aber doch in soweit
richtig, als der Sänger (vates) zugleich Weissager und Weis-
sager auch der Priester war. Nun war auch die Dichtung ein
heiliges Geschäft, das die großen Ereignisse des Lebens, die
ernsten wie die frohen, feiern mußte. Diese Umstände mögen
wohl den Heiligenschein für den Dichter mitgewoben haben;
aber sie können, allein genommen, ihn nicht erklären. Der
Grund liegt tiefer.
Man versetze sich nur in das Bewußtsein des Rhapsoden,
wenn er eine lange Reihe von Versen sang. Wie mußte er
sich zu diesem Besitze gelangt glauben? Er hat das Epos von
keinem Einzelnen empfangen, sondern vom Volke; die Tra-
dition ist eine fließende, nicht an bestimmte Geber anknüpsbare.
Anders verhält sich das Kind, dem wir eine Geschichte erzählen:
hier ist die Mutter, der Vater dem unmittelbaren Bewußtsein
des Kindes als Erzähler gegenwärtig; am Munde des Erzählers
hängt das mitempfindende Kind und kennt so die Quelle, den
verantwortlichen Urheber der Geschichte. Nur so und nur des-
halb kann das Kind den Erzähler bitten, unter Thränen bitten,
das Schicksal der Prinzessin zu ändern, wenn es ihm in der
für sein Bewußtsein von der Vorsehung, der Weisheit und
Güte des Erzählers abhängigen Form wehe thnt.
Aehnlich und doch anders bei dem alten Dichter. Der
Mische Sänger steht anders zu seinem Sange: er kennt den
^uell nicht, aus dem ihm das Lied zugeströmt ist, und wie er
XXt seinem Geiste ein ganzes Gedicht umfassen und einzeln ent-
r°ttert könne, das er doch nicht uugetheilt überschauen
kann — das ist und bleibt ihm unbegreiflich. Und es muß
jhftt unbegreiflich bleiben, denn jeder größere Zusammen-
hang von Gedanken wird nur dann nach seiner inneren
12*
176
Möglichkeit begreifbar, wenn man ganz allgemein von einer
sogenannten Kraft Ahnung hat, vermöge welcher dieser wunder-
bare Zusammenhang hergestellt wird. So lange man aber die
psychologische Kategorie Gedächtniß in ihrer rohesten Form
nicht kannte, war keine Möglichkeit gegeben, eine Combination
von Gedanken aus dem Menschen selbst erklären zu können: es
mußte wie alles Große, Unbegreifliche von den Göttern stammen.
Ist doch dieser Ausdruck nur die positive Scheinform
für das inhaltig negative Urtheil: nicht aus dem
Menschen.
Man kann nun fragen, ob es wirklich Zeiten gegeben habe,
denen die Kenntniß von einer seelischen „Kraft", welche die
einzelnen Vorstellungen bindet und festhält, vollständig gemangelt
habe. Diese für den Psychologen gar nicht auffällige Thatsache
wird uns in den ältesten Mythen unzweifelhaft erwiesen. Ein
Dichter sieht sich in seinem Ei gen thum gefährdet, weil sich
das Gedächtniß eines Andern seiner Lieder bemächtigt hatte.
(Grimm, Deutsche Mythologie S. 863.) Daß durch das
Gedächtniß diese legitime Aufnahme fremder Vorstellungen mög-
lich sei, diese Erkenntniß ist dem ältesten Dichter durchaus ver-
schlössen.
In die griechische Welt wird die Vorstellung des Ge-
dächtnisses erst von Simonides eingeführt. Nach ihm hat
Plato die als diejenige Thätigkeitsform der Seele ent-
wickelt, welche den Proceß der Sinneswahrnehmungen allererst
zu einem psychischen macht; sie „rettet" nach Plato's
glücklichem Ausdruck im Philebus, die vielen Wahrnehmungen
für das einheitliche Bewußtsein. Darum nennt er sie Rettung
der Wahrnehmung (aojT-yjpi'a So lange
aber die Kenntniß dieser Kategorie gar nicht vorhanden war,
mußte jene wunderbare Reihe wohlgefügter Sätze, in der schon
die ersten Dichtungen vorgetragen wurden, als außerhalb der
menschlichen Möglichkeit liegend, als ein Geschenk der Götter
angesehen werden.
Wie weit glaubt man in unseren erleuchteten Zeiten jene
Naivetät überholt zuhaben! Nun freilich, göttliche Inspiration
in unfigürlichem Sinne nennt man die „Schöpfung" des Dichters
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 177
nicht mehr; der Dichter ruft auch nicht mehr in religiösem
Ernste die Muse an, daß sie das Werk mit ihrem Geiste an-
hauche; aber die mythische Vorstellungsweise hat sich doch nur
in nicht minder dunkle Kategorieen versteckt, sie hat eine andere
Form angenommen, ist auf eine dem Namen nach andere Sub-
stanz übertragen worden. Aus dem Gotte ist der Genius
geworden, und aus der Muse — das wird sich sogleich zeigen.
Die Vorstelluug der Schöpfung, der Ausdruck Wissenschaft-
licher Rathlosigkeit, ist geblieben. Nun kann das freilich
gar nicht Wunder nehmen! Empfinden wir doch Alle unver-
weidlich das Werk des Meisters in so energischer Realität, wie
irgend ein wirkliches Ding, eine Person, die unter uns lebt.
Äa, welchen Menschen kennen wir so genau, so durchaus er-
schloffen, wie den Hamlet oder den Faust? Die Charaktere
der Dichter tragen, wie Göthe von Shakespeare sagt, ihr
Herz in der Hand, sie gleichen Uhren, deren durchsichtiges
Zifferblatt das ganze Triebwerk sehen läßt. Wenn je das All-
gemeine in dem Besonderen durchsichtig erscheinen kann, so ist
es in dem Werke des Künstlers, in der Gestalt des dichterischen
Helden. Denn noch mehr als in dem physikalischen Versuche
Dörnten in dem Werke der Kunst alle Bedingungen abgeschieden
werden, welche die Entwickelung eines besonders darzustellenden
------ rrr ^v?nv«. ^ ______ ______„„J
Wirksamkeit einer isolirten Kraft, d. h. einer scharf be-
grenzten Gruppe von Erscheinungen nicht leicht darstellen:
herrscht immer das Gesetz der vielen Ursachen. Wegen
dieser Abstraction des Künstlers aber auf eine begrenzte Reihe
von Erscheinungen wird das Kunstwerk fest umrissen, allseitig
^nschaubar, und dieser eindringliche Schein verleitet wieder zu
dem Vorurtheile, daß die Dichtung eine Schöpfung sei, die
%en Grund in eigenen poeto-logischen Gesetzen habe.
Sind somit die Ansichten der genießenden Kunstempfänger
^ner gefährlichen Verwirrung ausgesetzt, so wird dieselbe durch
die ebenso natürlichen Anschauungen der Dichter selbst von dem
Wesen ihres Schaffens noch erhöht. Befindet sich doch der
178
Cohen
moderne Dichter fast in der gleichen Lage wie der alte Rhapsode;
auch er weiß nicht, wie es zugeht, daß er dichte; auch erkennt
den psychischen Proceß nicht, in dem er dichtet: er muß des-
halb den im Grunde gleichen Mythos hegen und für eine wo-
möglich wissenschaftliche Erklärung halten. Man höre Schil-
ler's eigene Worte: „Dem Genie ist es gegeben, außerhalb
des Bekannten noch immer zu Hause zu sein und die Natur
zu erweitern, ohne über sie hinauszugehen .... es verfährt
nicht nach erkannten Principien, sondern nach Einfällen
und Gefühlen; aber seine Einfälle sind Eingebungen eines
Gottes (Alles, was die gesunde Natur thut, ist göttlich),
seine Gefühle sind Gesetze für alle Zeiten und alle
Geschlechter der Menschen." Alles, was die gesunde Na-
tur thut, ist göttlich! Also siud die Einfälle des Genies, als
Eingebungen eines Gottes, Eingebungen der gesunden Natur.
Was ist aber die „gesunde Natur"? Sollen wir bei der
Physiologie die Antwort suchen? Was jedoch den Schlußsatz
von dem Gesetzeswerthe der Gefühle des Genies betrifft, so'
weiß man: jede unklare Erkenntniß hat ihren Kanon
und ihr Dogma.
Es hat wohl einiges Interesse zu beobachten, wie Schiller
unter der Hand den Ursprung der genialen Entdeckung verschiebt.
„Die verwickeltsten Aufgaben", sagt er an ebenderselben Stelle,
„muß das Genie mit anspruchloser Simplicität und Leichtigkeit
lösen; das Ei des Columbus gilt von jeder genialischen Ent-
scheidung." Nun ist aber gerade das Ei des Columbus ein
Exemplum gegen diejenigen, welche die Schwierigkeit einer
„genialischen Entscheidung" unterschätzen und die „Leichtigkeit"
derselben behaupten!
So sehr nun aber die Dichtung selbst ihrer äußeren
Erscheinung und ästhetischen Wirkung nach den Dichter wie den
Hörer zu dem Glauben an ihre eigenartige Natur verleitet, so
wäre dieser Glaube doch längst zerstört, wie er längst erschüttert
ist, wenn man ihn nicht durch eine unbezweifelte psycholo-
gische Kategorie legitimirt hätte. Mangelhafte Psychologie
ist es in den neueren Zeiten wie in den alten, die das Wesen
der Dichtung verkennen ließ. Dort fehlte das Gedächtniß,
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 179
hier wird jenes große Gebiet des Vorstellens, das wir die
Kunst nennen, vertreten durch — die Phantasie.
Nun sind alle Fragen nach der Möglichkeit der Dich-
tung mit Einem Zuge abgeschnitten. Die Muse Phantasie
löst alle diese Räthsel, wie nur irgend eine psychologische Ka-
tegorie einen psychischen Vorgang erklärt. Hier liegt der
Grund des Nebels. Es ist nicht die Absicht, auf diese Frage,
welche in die tiefsten Probleme der Psychologie eingreift, an
diesem Punkte mit der Ausführlichkeit einzugehen, welche die
Wichtigkeit der Sache fordert: der Leser werde nur daran ge-
mahnt, daß er über das Wesen eines psychischen Processes
Nichts weiß, wenn er eine Substanz erfunden, von welcher
dieser nach wie vor unbekannte Proceß ausgehen soll.
Damit man aber den klaren, wissenschaftlichen Werth dieser
bisher uubezweifelten Kategorie in eine strengere Erwägung zu
ziehen sich gewöhne, will ich hier, ohne der eingehenden Unter-
suchung dieses Problems vorgreifen zu wollen, eine kleine Muste-
rung über einige neuere Ansichten vom Wesen und Wirken der
Phantasie halten. Vischer's Aesthetik führe den Reigen.
Doch zuvor wenige Worte. Ich bin mir wohl bewußt, daß
ich gegenüber den anderweitigen großen Verdiensten, die die bis-
herige Aesthetik sich erworben hat' in der Kritik derselben an
dieser Stelle einseitig vorgehe; daß besonders das Werk F. Vi-
scher's eine in die Tiefe des Standpunktes eindringende Wür-
digung fordert: aber ich glaube unter der ausdrücklichen Ein-
schränkung, nicht das ganze Werk benrtheilen zu wollen, vom
Standpunkte der psychologischen Analytik aus an einem ein-
leuchtenden Beispiele zeigen zu dürfen, was wir von jener
„Wissenschaft des Schönen" an psychologischer Klä-
rung empfangen.
Nur durch die rückhaltlose Kennzeichnung des Wissenschaft-
lichen Standes einer Frage kann die Kritik zunächst ihr Recht
geltend machen: so lange der Nothstand nicht unwiderleglich
veranschaulicht und allseitig zugestanden ist, weist man die Kritik
*ttit der Substanz der gegebenen Verhältnisse ab.
Darum muß man zunächst und allererst die Halbheit, die Lücken-
haftigkeit jener sogenannten Substanz darlegen und die Unzu-
180
Cohen
friedenheit mit dem gegebenen Zustande des Wissens auf-
reizen. So lange die Ungeduld nicht rege geworden ist und
das Gefühl, daß es anders werden muß, geweckt hat, bleibt
jeder Versuch erfolglos, die gelehrten Verdichtungen aufzulockern;
der Kritik wird die Spitze abgebrochen und die Wissenschaft
schleicht ungefördert in den alten Gleisen.
Man höre Bischer über die Phantasie: „Das Schöne
kann nunmehr bestimmt werden als eine Vorausnahme des
vollkommenen Lebens, oder des höchsten Guts durch den Schein.
In der Anmerkung braucht, da kein Grund ist, hier zu
spannen und zu überraschen, wie in einem Roman
(wie verrätherisch für die wissenschaftliche Stimmung sind diese
Worte!), nicht verschwiegen zu werden, daß dieser Act die That
der Phantasie ist. Sie sistirt den unendlichen Fluß und
drängt ihn auf Einen Punkt, bannt ihn in die Einzelheit und
vollzieht so die große Anticipation, durch welche je auf einem
bestimmten Punkte vollendet erscheint, was nie und immer,
nirgends und überall sich vollendet."*)
Heißt das nicht Phantasie mit Phantasie erklären? Eine
dunkle Gruppe von Vorstellungen wird herangewälzt, die sich
an die ästhetischen Gefühlshüllen unserer Gedankenkreise an-
schmiegt, — — um in Jener Sprache zu reden; aber wo ist
da eine Spur von ernstem Streben nach Einsicht und Ver-
ständniß, von unbefangenem Eingehen in die Schwierigkeit der
Sache nach der theoretischen, der erkenntniß-theoretischen Seite?
Und das sagt man in einer Metaphysik des Schönen! Da-
bei nennt Bischer selbst die Phantasie ein Räthsel und er-
kennt die Notwendigkeit, sie metaphysisch zu entwickeln. „Al-
lein das Räthsel der Phantasie kann nicht gefunden werden,
wenn nicht zuerst metaphysisch entwickelt ist, wie hinter
ihrem Schein eine Wahrheit liegt, wie im großen Ganzen sich
allerdings verwirklicht, was sie als Einzelnes vorzaubert, —
oder: das Urbild kann durch die Phantasie nicht in Eins zu-
sammengezogen werden, wenn es nicht außer ihr im unendlichen
Ganzen wirklich ist und zwischen den Dingen schwebend sich
*) Aesthetik I. S. 145.!
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 181
unabsehlich hindurchzieht. Die Phantasie schaut diesen
schwebenden Geist, wie ein geistreicher Leser zwischen
den Linien liest. Dieser objeetive Grund der Möglichkeit
der Phantasie ist nun, nachdem §. 10 und 13 als Thesis aus-
gestellt war, entwickelt" u. s. f.*) Man sieht, daß das Räthsel
der Phantasie bei den Absolntisten der Idee nur in der
allgemeinen Form der gedanklichen Selbstbewegung auftaucht,
um sofort in dem „objectiven Grunde der Erscheinung", in dem
„Urbilde" seine „metaphysische" Lösung abzufinden.
Wenn wir jedoch eine psychologische Lösung dieses
Räthsels wünschen, so ist zu sagen, daß in der Psychologie
selbst, sogar bei den Herbartianern, diese Kategorie nicht abge-
than, nicht aufgelöst ist. Zwar weiß man, daß die Phantasie
nur eine Form der Association der Vorstellungen ist,
aber sie gilt doch immer als eine besondere „Fähigkeit der
Seele". Und wenn wir auch diesen Ausdruck nicht drängen
wollen, so gilt sie doch immerhin als ein brauchbarer, ja unent-
behrlicher Gattungsbegriff.
Aber für die Arten, welche nach der seit Jahrhunderten
üblichen Klassification in der Phantasie zusammengehen, ist diese
auch kein guter Gattungsbegriff. Es gilt eine vollständige
Auflösung dieses Culturgebietes in die ursprünglichen psychischen
Proeesse, die in ihm krystallisirt sind; nur so wird eine heil-
same Ausscheidung der fremdartigen und eine förderliche Zu-
sammenordnung der verwandten Proeesse möglich. So lange
dies nicht geschehen, erscheint die Phantasie, so sehr man sich
in den principiellen Erörterungen dagegen wehrt, nichtsdesto-
weniger in den Detailentwickelungen als eine starre Potenz
der Seele, von welcher gelegentlich auch wohl durchaus ver-
schiedene Proeesse auslaufen.
Ich will hierfür aus Drobisch's empirischer Psy-
chologie einen Beleg anführen. Nach Drobisch ist die
Phantasie „die Fähigkeit der Seele, den Vorstellungen die
sreieste Beweglichkeit zu ertheilen, sie hierdurch in die mannig-
fachsten Berührungen zu bringen und durch diese neue Ver-
*) Ib. S. 146,
182
Cohen
binduugen zu vermitteln."*) Ich kann die Sache jetzt
nicht zum vollen theoretischen Austrag bringen, darum will ich
nur auf die Anschauungsweise aufmerksam machen, nach welcher
die Phantasie im Vertrieb der Vorstellungen gleichsam das be-
sondere Amt hat, „neue Verbindungen zu vermitteln." Man
wird die Deutung zur Hand haben, daß mit dieser Annahme
der Phantasie als einer so bewandten Fähigkeit der Seele,
nichts Anderes gemeint sei, als die Subsumtion gewisser zu
erklärender Erscheinungen unter eine allgemeine Kategorie. Aber
um diesen Punkt gerade dreht sich aller Streit:
daß die Erklärung psychischer Erscheinungen nicht
gesucht werde in der Subsumtion derselben unter
das bequeme Dach eines Gattungsbegriffes, son-
dern daß die psychischen Processe selbst aufgelöst
werden in ihre elementarsten Formen, in die ein-
fachsten Vorgänge des Bewußtseins.
Wenn die Phantasie jene psychische Erscheinung erklären
soll, welche sich in der mannigfaltigen Eomplication der Vor-
stellungen darbietet — dies wäre doch die nachgiebigste Den-
tung der angeführten Bestimmungen — : dann, ja dann er-
klärt die Phantasie Nichts; denn neue Verbindungen
und mannichfaltige Berührungen zeigen sich in den Vor-
stellungen aller Art, nicht nur in den phantasiehaften. Dann
überdacht die Phantasie die Mathematik nicht minder als
die Poesie. Insofern sie aber beide erklärt, erklärt sie nicht
die Poesie, die Kunst. Und doch soll sie ein „ particnläres
Talent" sein, worauf allein ihr Anspruch beruht, als psycho-
logische Kategorie gelten zu dürfen. Wie formalistisch übrigens
Drobisch auch dieses „particuläre Talent" substantialisirt, das
ersehe man aus folgender Stelle: „Die Phantasie eines Dichters
kann die glänzendste sein da, wo es gilt, menschliche Zustände
zu schildern, aber es kann ihm dabei ganz und gar an
musikalischer Phantasie gebrechen."**)
Dies ist aber durchaus nicht befremdend; das Gegentheil
*) S. 288.
**) Ib. S. 102—103.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus dcs Bewußtseins. 183
müßte auffallen. Sind doch die musikalischen Bewußtseins-
formen andere als die dichterischen Vorstellungen: wie sollte
die Form der Bewegung in jenen beiden verschiedenen Gat-
tungen von Formen des Bewußtseins die gleiche und in beiden
Individuen nothwendiger Weise anzutreffende sein?
Diese falsche Substanz, diese untergeschobene psychologische
Kategorie trägt den schwersten Theil der Schuld an der argen
Verwirrung, welche noch jetzt über die psychologische Natur der
Dichtung im Schwange ist. Diese leicht fertige Substanz hat
die Frage im Keime erstickt, welche vom Standpunkte des psy-
chologischen Mechanismus aus gegen die „Schöpfung des
Genius" gestellt werden muß und so natürlich sich erhebt.
Und doch war es bereits Herbart selbst, der in klaren, ein-
dringlichen Worten vor der falschen Verallgemeinerung gewarnt
hat. „Ueberall", sagt Herbart, „werden die obersten Gat-
tnngsbegriffe mit der größten Dreistigkeit hingestellt; allein
überall fehlt die Achtsamkeit auf das Specielle und
die genaue Beschreibung des Einzelnen; und doch ist
es eben dies, woraus in einer empirischen Wissen-
schaft Alles ankommt! Oder hat schon Jemand vollstem-
dig nachgewiesen, wie sich die Einbildungskraft verschie-
dentlich in Dichtern, in Gelehrten, in Denkern, in Staats-
männern, in Feldherren äußere? Was den Verstand der Frauen,
der Künstler und der Logiker unterscheide?"
Ehe ich nun dazu übergehe, dieser Mahnung folgend, auf
die Einzelerscheinung der Phantasie in der Dichtung zu achten
und ihren Ursprung nach der Methode des psychologischen
Mechanismus zu entwickeln, scheint es gerathen, die Ansicht
eines Mannes über diese Frage zu beleuchten, der trotz der ge-
wichtigsten Einsprache in unverhohlenem Ansehen steht: Henry
Thomas Buckle.
Das Buckle'sche Werk „Die Geschichte der Civi-
lisation in England" hat auch in Deutschland das allge-
meinste Aufsehen erregt; und obwohl der Uebersetzer, Herr Ar-
nold Rüge, die deutsche Gelehrtenwelt darauf gefaßt gemacht
hat, daß Buckle mit der nachkantischen Entwicklung der
deutschen Philosophie durchaus unbekannt geblieben sei, so
184 Cohen
hat dennoch selbst der erste Theil des Werkes, welcher die all-
gemeine Einleitung und die Prineipienlehre einer neuen Cnltur-
geschichte enthält, sogar manches kritischere Auge durch die impo-
nirende Masse des ordnungsvoll zusammengeschichteten Materials
und den Freimuth der sittlichen Forschungsziele geblendet. Es
ist meine Absicht nicht, eine theoretische Untersuchung über die
Bedeutung der Buckle'schen Priucipien, über das, was seine
„socialen Naturgesetze" für Jemand zu bedeuten haben, der sich
nach einer ächten Kulturgeschichte sehnt, bei dieser Gelegenheit
anzustellen: vielleicht führt es bequemer zu dem sicherlich nicht
ungerechten Ziele, die bis jetzt fast nur bewundernde Leserwelt
in eine verständig wachsame Leetüre dieses überaus anregenden
Werkes einkehren zu lassen, wenn die Prüfung der Methode
Buckle's an einzelnen Ergebnissen seiner Forschung voll-
zogen wird.
Was nun seine Ansicht vom Wesen und dem Ursprung
der Dichtung betrifft, so sehen wir ihn nur theilweise in den
Jrrthümern befangen, welche ich als die gefährliche Disposition
zu der allgemein herrschenden unkritischen Betrachtungsweise
gekennzeichnet habe. Von einem ästhetischen Cnltus des
Genius ist er srei, und durch die ganze Richtung seines
Geistes und seiner Studien mehr geneigt, auf die realistische
Forschung die geistige und sittliche Förderung der Menschheit
zurückzuführen, als auf die beliebte moralische Wirkung der
Werke der Phantasie. Wir erkennen in diesem Punkte eine
auffallende Aehnlichkeit Buckle's mit seinem großen Lands-
manne Bacon. Ich werde auf diese interessante Aehnlichkeit
zurückkommen. Buckle's Grundgedanke, die Schicksale wie
die Thaten des Individuums seien in ein allgemeines, allbe-
fassendes Gesetz einzuordnen, hat ihn vor einer dithyrambischen
Feier des Genius als einer eigenartigen Natur glücklich geschützt.
Wenn wir bei unseren großen Dichtern eine schiefe Auffassung
von dem Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit gewahren,
so sehen wir Buckle dagegen nur zu sehr geneigt, den Spiel-
räum des Individuums, des größten wie des geringsten, gegen-
über den allgemeinen Bedingungen der historischen
Oekonomie bis zum Verschwinden zu verengen. Unseren
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 185
souveränen Plastikern, denen es gegeben dünkte, „die Natur zu
erweitern", deren „Gefühle" „Gesetze" schienen „für alle Zeiten
und für alle Geschlechter der Menschen", — war Eines nicht
gegeben: die Einsicht in den Grad der Abhängigkeit des
Einzelnen von der Gesammtheit, der individuellen Gefühle von
den Gesetzen der Zeiten und Geschlechter. Daher der Glaube,
daß „der Geist der Zeiten der Herren eigner Geist sei, in dem
die Zeiten sich bespiegeln." Ist denn aber jener Herren „eigner
Geist" ein so glatter Spiegel, daß man nur in ihn zu blicken
hätte, um jene grundgelehrte Verdichtung, die Göthe in dem
„Geist der Zeiten" mit Recht verspottet, in ihr strahlendes
Nichts aufgelöst zu sehen? Bleibt doch immer das „Buch mit
sieben Siegeln", dort auf der Seite der Zeiten, hier auf der
Seite der Herren. Oder stehen etwa die Herren außerhalb
der Zeit oder sind sie allein die Zeit, und ist es nicht vielmehr
ausnahmslos die Zeit, die Alles zeitigt, das Große, das wir
bewundern, wie das Kleine, das wir bewundern sollten?
Von diesen prächtigen Jrrthümern, welche die theoretischen
Säulen der modernen Aesthetik bilden, ist allerdings bei Buckle
wenig Erhebliches zu vermerken. Denn, wie gesagt, gerade der
Grundgedanke seines ganzen Unternehmens ist der bis in's
Extrem getriebene Gegensatz gegen diese hergebrachte Art der
literargeschichtlichen Anschauungsweise. Aber trotzdem ist er in
Folge einer mangelhaften, einer gänzlich fehlenden Einsicht in
das Wesen der psychischen Processe gar nicht an das
Problem herangetreten, welches sich uns in derjenigen Verbin-
dnng von Vorstellungen entgegenstellt, die wir Poesie nennen.
Da er nun überdies von der Methode einer jungen Disnplin,
welche vorzugsweise in Deutschlaud gepflegt wird, wo sie er-
wachsen ist, keine Kenntniß gehabt zu haben scheint, so darf
es uns nicht Wunder nehmen, daß er in dieser Frage die aben-
teuerlichsteu Ansichten zu Tage gefördert hat.
Bei Buckle sind Phantasie und Intelligenz zwei
entgegengesetzte Kräfte im menschlichen Geiste, die aber getrennt
von einander bei verschiedenen Völkern ausgebildet werden
können. Demnach theilt er die Naturerscheinungen, insofern sie
den Geist beeinflussen, in zwei Klassen ein: „1) die, welche
186
Cohen
vornehmlich auf die Phantasie wirken, und 2) die sich an den
Verstand wenden, an die rein logischen Operationen der In-
telligenz." (I. S. 103.) Wir wollen zunächst alle Fragen
gegen diese veraltete Klassification zurückdrängen und, indem
wir verstehen wollen, was Phantasie sei, zugeben, daß ohne
den bewältigenden Einfluß der Natur auch die Phantasie, die
Poesie nicht möglich gewesen wäre.
Weshalb hat aber gerade die besondere Art des Klima's
diejenige Phantasie erzeugt, welche wir ausschließlich die dich-
terische zu nennen gewohnt sind? Buckle bemerkt selbst gegen
den Biographen Newton's, daß nach seiner Ansicht „kein
Dichter außer Dante und Shakespeare eine erhabenere
und kühnere Phantasie gehabt habe als Newton."
Wie unterscheidet sich nun die Newton'sche Phantasie, die
nicht durch erschreckende Naturerscheinungen ausgeregt worden
ist, von der indischen, oder von der Phantasie derjenigen Länder,
in denen, wie in Italien und auf der pyrenäischen Halbinsel,
Erdbeben und vulkanische Ausbrüche häufig gewesen sind? Wie
unterscheidet sie sich ferner von der Sh akespeare'schen? Denn
man wird wahrlich nicht einen nur gradweisen Unterschied in
beiden annehmen wollen.
An solchen Fragen nimmt Buckle keinen Anstoß.
Während also Bückte bei dem von ihm so genannten
„allgemeinen Gesetz" sich beruhigt, dem zusolge die Unter-
schiede in der Geistesbildung der Völker wie der Individuen
von den Naturerscheinungen abhängig sind, so daß erschreckende
Naturerscheinungen die Phantasie aufregen und eine poetische
Literatur erzeugen; müssen wir hingegen nach der Möglichkeit
der besonderen Arten dieser Literatur fragen, welche wir
als eine Form der Gedankenerzeugung fassen und nach
den Gesetzen derselben erklärt sehen wollen. Die Naturerschei-
nungen sind sicherlich von Einfluß auf die Gedanken; aber wie
wird aus den Naturerscheinungen der Unterschied in der Ge-
dankenbildung eines Shakespeare und eines Newton erklär-
bar? Oder ist etwa Shakespeare in England eine „Aus-
nähme, die gegen das allgemeine Gesetz Nichts beweisen könne"?
Gäbe es in den Ländern der gemäßigteren Natureinflüsse nur
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins- 187
Einen Shakespeare, so würde diese Eine negative In-
stanz die ganze sogenannte Theorie umstoßen. Tritt nun gar
noch die Frage hinzu: wie kann Buckle ein Gesetz formuliren,
nach welchem gewisse Wirkungen auf eine Erscheinung geübt
werden, welche Erscheinung selbst gar nicht in isolirter Ob-
jectivität erkannt ist, deren Existenz gar nicht naturwissen-
schaftlich festgestellt ist, es sei denn auf Grund der rohesten
Vorstellungen? — so sieht man wohl, daß Buckle das eigent-
liche Problem gar nicht berührt, sondern eine — Trivialität als
ein sociales Naturgesetz ausgegeben hat. Solche „Naturgesetze"
führen nuu aber in ihrer nüchternen Flachheit und bequemen
Anschaulichkeit die große Gefahr mit sich, daß sie flüchtigen
Köpfen den Schein der Befriedigung gewähren, während sie
das Problem in seiner Strenge umgehen. Eine Anwendung
dieser Kenntnißnahme auf den Gesammtcharakter der Buckle-
schen „Gesetze" soll hier nicht unternommen werden; der Leser
sei durch dieses Beispiel aber insgesammt zur Vorsicht gemahnt.
So schief die Methode Buckle's ist, so verfehlt ist das
Ergebniß, welches er durch dieselbe für die Frage nach dem
Ursprung der Poesie erreicht hat. Buckle hält die
Balladen für die ursprünglichste Poesie! „In sehr
früher Eultnrperiode und ehe ein Volk mit dem Gebrauch der
Buchstaben bekannt ist, fühlt es das Bedürfniß nach Etwas,
womit es im Frieden seine Muße erheitern und im Kriege
seinen Muth anspornen könne. Dies Bedürfniß wird
durch die Erfindung (!) von Balladen befriedigt. Sie
bilden die Grundlage aller historischen Kenntniß und
in einer oder der anderen Form finden sie sich selbst bei manchem
der rohesten Volksstämme" (I. S. 252.) „Die Wißbegierde
nach vergangenen Begebenheiten ist in der That so natürlich,
daß es wenig Völker giebt, denen diese Barden oder Sänger
Unbekannt sind." Auf die Natürlichkeit der Wißbegierde
führt also Buckle die Thatsache zurück, daß bei allen Völkern
Menschen vorhanden sind, welche diese Begierde befriedigen;
als ob in der Begierde schon von Natur die Befrie-
digung eingeschlossen läge! Wie ist es denn aber diesen
Herren Barden beim besten Willen möglich, die Wißbegierde
188
ihrer geschichtsforschenden Zeitgenossen zu befriedigen? Wie ist
ihnen die „Erfindung" von Balladen möglich? Daß sie die
Wahrheit sagen sollen, verlangen wir nicht, und daß sie sie
nicht sagen können, steht überdies fest. Das haben wir ja
Alle von Voltaire schon gelernt, und Buckle selbst rechnet
diesem die Lehre zum hohen Verdienste an (I., 2. Abtheilung,
S. 282.), daß kein Volk über die Anfänge seiner Geschichte
Wahres wissen könne, daher alle ersten Urkunden Mythen-
sammlungen seien. Aber, wenn es auch nicht wahr ist, was
die Barden in ihren „Balladen, den Grundlagen der hi-
storischen Kenntniß" den wißbegierigen Völkern vorsingen:
woher nehmen sie diese Balladen? Glaubte Buckle
wirklich, daß die Wißbegierde, insofern sie natürlich sei, die
Befriedigung einschließe? Oder hat die „Grundlage der histo-
rischen Kenntniß" das Privilegium, ein angeborener Besitz des
menschlichen Geistes zu sein? Wenn aber, wie Buckle nach
Voltaire zugeben muß, jene „Grundlagen" falsch sind, Mythen
im alten Sinne, so ist dieses Privilegium des Geistes von sehr
zweifelhaftem Werths: es bereichert uns mit Unwahrheiten.
Und der alte Satz: Es giebt keinen Geschichtsschreiber, der nicht
in Etwas gelogen habe (neminem scriptorum, quantum ad
historiam pertinet non aliquid esse mentitum) gewänne den
Charakter einer Notwendigkeit, eines „socialen Natur-
gesetzes"!
Aus diese Fragen „nach der Methode der Metaphysiker"
geht aber der exacte Buckle gar nicht ein, und darum belehrt
er uns auch von Grund aus anders. „Diese Balladen sind
natürlich nach den Sitten und dem Charakter der verschiedenen
Nationen und nach dem Klima, in dem sie leben, verschieden
____aber bei diesen Verschiedenheiten haben alle ihre Erzeug-
nisse einen gemeinschaftlichen Zug: sie gründen sich nicht
blos auf Wahrheit, sondern sind auch bis auf die
poetische Färbung alle vollkommen wahr." Werseinen
Augen nicht traut, der überzeuge sich, indem er die ganze Stelle
auf S. 255 nachliest; er wird dort noch mehr des Ergötzlichen
finden. Einiges muß ich jedoch noch hierhersetzen.
„Unter einem Volke, ganz ohne Schrift, sind die Balladen-
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseiiis. 189
sänger, wie wir schon gesehen haben, die einzigen Bewahrer
der historischen Thatsachen." (S. 256.) Aber nachdem
die Schreibkunst bekannt ist, ändert sich diese Sicherheit der
historischen Kenntniß, weil das Ansehen der Bardensänger ge-
schwächt wird, die durch ihre Tüchtigkeit die Treue der Tra-
dition verbürgten. „So sehen wir, daß obgleich ohne Buch-
stabeu keine recht (!) bedeutende Wissenschaft entstehen kann,
es dennoch wahr ist, daß ihre Einführung der historischen
Ueberlieferuug auf doppelte Weise entschieden nachtheilig ist.
Erstlich, indem sie die Ueberlieseruugeu schwächt, und zweitens,
indem sie die Menschenklasse, deren Geschäft in ihrer Aufbe-
Wahrung bestand, herunterbringt. Aber dies ist nicht Alles";
(diese zwei Dinge sind aber nur Eins. Denn für die Abnahme
der Barden-Autorität wird sich doch Buckle nur soweit inter-
essirt haben, als mit derselben die Ueberlieferuug geschwächt
wird!) „Die Schreibekuust vermindert nicht nur die Zahl der
überlieferten Wahrheiten, sie ermuthigt auch geradezu zur Ver-
breitung von Unwahrheiten! Dies geschieht durch ein Princip,
welches wir das der Anhäufung nennen können, dem alle
Glaubenssysteme tief verpflichtet sind. In alten Zeiten z. B.
wurde der Name Herkules mehreren großen Räubern ge-
geben, die eine öffentliche Geißel der Menschheit waren und
die, wenn sie in ihren Verbrechen ebenso glücklich als abscheulich
waren, nach ihrem Tode sicher als Heroen verehrt wurden."
^Dabei eitirt er mehrere Bücher über den Zusammenhang von
Herkules und Melearth, wie er oben für die durchgehende Wahr-
fynt der Balladen Niebuhr's Römische Geschichte citirt hat?)
„Rie diese Benennung entstand, ist ungewiß. Wahrscheinlich
war es zuerst der Name eines einzelnen Mannes und wurde
lodann denen beigelegt, die ihm in ihrem Charakter und in
%en Thaten glichen . . Sobald diese Ueberlieferungen in ge-
^chriebener Sprache festgehalten wurden, sammelte man diese
^streuten Thatsachen, und durch den nämlichen Namen be-
^ogen, schrieb man einem einzelnen Manne alle diese Thaten
und erniedrigte die Geschichte zu einer Mytho-
^gie voller Wunder." (S. 257.)
Man kann es bedauern, daß einem Manne von Buckle's
Äeitschr. für Völkerp sych. u. Sprachw. Bd. VI.
190
Cohen
Forschungseifer ein so tiefes Mißgeschick in demselben Kapitel
begegnet, in dem er über den kläglichen Zustand der historischen
Literatur im Mittelalter so ergötzliche Beispiele vorführt. Wenn
wir aber dieses Schauspiel einer völligen Umgestaltung des na-
türlichen Ganges der menschlichen Bildung und Denkthätigkeit
nicht bloß bedauern, sondern erklären wollen, so genügt es nicht,
darauf hinzuweisen, daß Buckle von der vergleichenden
Mythologie keine genaue Kenntniß hatte. Denn bei deutschen
Forschern, denen diese junge Wissenschaft ebenfalls unbekannt
geblieben und bevor sie überhaupt bekannt geworden, finden
wir doch eine so völlige Umkehrung des wahren Sachverhaltes
nicht. Warum glauben nun diese nicht, daß die Geschichte die
ursprüngliche Geistesthätigkeit der Menschen gewesen und daß
sie in Folge gesellschaftlicher Verhältnisse zu einer „Mythologie
voller Wunder erniedrigt" worden sei?
Der Grund dieser Buckle'schen Ansicht liegt tiefer, in der
Natur des B uckle'schen Denkens überhaupt. Wenn die Deutschen
die „Schöpfungen des Genins", die Werke der Phantasie in
maßloser, unkritischer Weise bewundern, so werden sie durch die
Einsicht verleitet, die sie über den Unterschied derselben von
den gewöhnlichenVorstellungscomplexen gewonnen haben: Buckle
aber hat kein Auge für die feinen Abartnngen, in denen sich
die „unbegreiflich hohen Werke" von der allgemeinen Art ab-
schnüren und allmählich eine neue Varietät bilden. Buckle
hat kein Auge für die Einzelnheiten der Cnlturleistungen,
für die Thaten und Schicksale des Individuums nach ihren
kleinen mikroskopischen Abweichungen von dem gemeinen Typus,
ihm verschwindet jede feinere Nnanee vor den groben descriptiven
Umrissen, die er um das gesammte Culturleben ziehen will.
So verfallen auch die Dichtungen dem gemeinen Zwange der
Natureinflüsse und der socialen Bedingungen. Da ist nichts
Eigenartiges und nichts Eigenes: Alles Produet der allgemeinen
Verhältnisse, der „allgemeinen Gesetze, denen die besonderen Ge-
setzein ihrer Gesammtthätigkeit gehorchen müssen, denen sie unter-
worfen sind." Daher jener nüchterne falsche Realismus, daß
die Dichtung Geschichte sei und daß durch eine Corrnption der
Geschichte die Dichtuug entstanden sei.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 191
Wie weit man bei einer so tiefen Unkenntniß der psychischen
Processe, in welchen sich das Cultnrleben vollzieht und aufbaut,
bei der Unkenntniß jenes Urprocesses, in welchem der Mensch
dichtend zu denken, die ihn umgebende Natnr zu verstehen,
sich verständlich zn machen beginnt, wie weit man bei
einer so beschaffenen Psychologie den prunkvollen Anspruch er-
heben kann, die Anfänge einer Cnltnrgeschichte geliefert zu haben,
das wird nach dieser Probe jeder irgend Urtheilssähige selbst
abmessen können.
Ein Engländer war es, welcher zuerst den Mangel und
die Forderung einer Cnltnrgeschichte gefühlt und ausgesprochen
hat: Bacon. Buckle wollte diesem Mangel als der Erste
abhelfen. Aber so wenig als Bacon hat auch Buckle nur
verstanden, welche Probleme eine wahre Cnltnrgeschichte sich zu
stellen hat. Die dichtende Thätigkeit des Geistes voll-
ständig zu ignoriren, dieser National-Charakterzug ist Beiden
gemeinsam, bei Buckle, dem Manne des gereinigteren indnctiven
Wissens, nur noch schroffer ausgeprägt. Es wird vielleicht eine
lehrsame Parallele sein, wenn ich hier in wenigen Worten die
Ansicht Bacon's von dem Wesen der Dichtkunst mit-
theile.
Bacon läßt von der Dichtung nur die allegorische
gelten. Die lyrische Poesie ist für ihn nicht vorhanden. Die
Poesie muß Weltabbildung sein, obzwar phantasiegemäße.
In den Gleichnissen ruht ihre Kraft. „Wie die Hieroglyphen
älter sind als die Buchstaben, so siud die Parabeln älter als
die Beweise." Darum steht ihm unter den nach ihm möglichen
Dichtungsarten, der epischen, der dramatischen und der para-
bvtischen, die letztere am höchsten. Die parabolische Poesie
nämlich leitet uns durch ihre kräftigen Bilder am wirksamsten
in die Wissenschast ein, in welcher die Wirkung des Gleichnisses
Noch „heute" erhabener sei, da der wissenschaftliche Beweis nicht
so durchsichtig, die Analogie nicht so anpassend sein könne; und
Uur soweit die Poesie der Wissenschaft dient, erkennt
ihr Bacon Werth und Lebensfähigkeit zu.
Man sieht, es ist dies eine nüchterne Auffassung der heiligen
Dichtung, der die B nckle'sche Auffassung der historischen Bal-
13*
192 Cohen
laden-Poesie sehr stammverwandt erscheinen muß. Und von einem
Zeitgenossen Shakespeare's könnte sie uns vielleicht nicht weniger
Wunder nehmen. Aber obwohl Bacon der Poesie unumwunden
den prosaischen Zweck setzt, daß sie die reale Welt nach den Ansor-
derungen der Wahrheit abbilde, wenn auch mit Berücksichtigung
der Wünsche des menschlichen Gemüthes, so entzieht er doch
der Phantasie nicht jeden Boden, und anstatt das Gleichniß,
dessen „erhabenere" Kraft doch nur darin liegt, daß es auf
dunkleren Vorstellungen beruht, zu verbannen, erkennt er dem-
selben auch heute noch eine tieser gehende Wirkung zu als dem
Beweise, der aus klaren, geordneten Vorstellungen sich aufbaut
und deshalb klare Schlußvorstellungen weckt. Freilich ist es
nicht eine strenge wissenschaftliche That, wenn Bacon neben
dem theoretischen Geiste, dem die Weltbeschreibung und die
Welterklärung zufällt, die Phantasie insoweit in ihrem alten
Rechte beläßt, als sie sich in ihrer Art der Weltabbildung der
Wissenschaft nähert. Man begreift vielmehr, daß die Phan-
tasie als Grundvermögen der Seele*) nur angenommen
wird, weil die phantasiegemäße Weltabbildung in der Literatur
vorhanden ist. Aber es läßt sich doch wenigstens das versteckte
Bedürfniß erkennen, den bis heute unerklärten Proceß des
Dichtens nach seiner großen Bedeutung für die psychologische
Erkenntniß zu würdigen und ihn nicht leichtes Sinnes mit der
„Wißbegierde nach vergangenen Begebenheiten" in Einen Topf
zu werfen. Hier gilt doch die Poesie, zwar ethisch abgeschätzt
und verkleinert, immer noch als eine normale, andauernde
Thätigkeit des menschlichen Geistes und ist noch nicht zu einem
aller psychologischen Besonderheit entkleideten Mittel verflacht,
„im Frieden die Muße zu erheitern und im Kriege den Muth
anzuspornen". In dem Einen kommen Beide überein, daß die
ältesten Dichtungen Wahrheit enthalten, bei Bacon eine ver-
schiedenartige, bei Buckle nur eine, die geschichtliche. Bacon
hält die Sage vom Pan für ein kosmisches Sinnbild, die vom
*) Bei Gelegenheit dieses Ausdrucks will ich anmerken, daß Herr
M. Carriöre „die Phantasie neben der Intelligenz und dem Willen
als dritte Grundkraft und Grundrichtung der Seele anerkennt."
Wissenschaftliche Vorträge, Bieweg, 1858, S. 203.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 193
Perseus für ein politisches und die vom Dionysos für ein
moralisches. Bei Buckle ist Herkules der Name eines Räu-
bers, der einen Genossen gleiches Namens in benachbarten Pro-
vinzen hatte!
Wie konnten es sich aber die Menschen beikommen lassen,
ihre Weisheit in Bildern zu verstecken, so daß sie viele Jahr-
hunderte unerkannt blieben, bis man endlich durch die Bilder
hindurch den wahren Hintergrund sieht? Diese Frage fühlte
Bacon nicht, so wenig als wir Buckle von der nicht minder
natürlichen Frage berührt sehen, woher die Barden beim besten
Willen zum „Erfinden" ihre historischen Urkunden nehmen
konnten. Buckle begnügt sich mit dem Bewußtsein, daß das
„Bedürsniß" nach einer wohlanständigen Beschäftigung im Frieden
und einer Ermuthiguug im Kriege „durch die Erfindung von
Balladen befriedigt" werde und daß „die Wißbegierde nach
vergangenen Begebenheiten natürlich" sei. Nun könnte aber
noch Einer von dem Aberglauben befangen sein, daß innerhalb
der großen Wellensysteme der Geschichte eine vereinzelte
Welle eine eigene, fremdgestaltete Bildung für eine Weile be-
haupteu könne, daß es innerhalb der umfassenden „socialen
Naturgesetze" einzelne Erscheinungen gebe, welche für unsere
Mittel der Unterjochung der Thatsachen unter die Macht unseres
Verständnisses eine gewisse Autonomie starr bewahren: für
einen solchermaßen veralteten „Zunfthistoriker" wird flugs der
kühne Satz hinzugefügt: „alle diese Erzeugnisse haben einen
gemeinschaftlichen Zug: sie gründen sich nicht bloß auf Wahr-
heit, sondern sind auch bis aus die poetische Färbung alle
vollkommen wahr"! Es ist also reine Geschichte, keine beson-
dere, „besonderen Gesetzen" etwa unterworfene Production des
Geistes, welche sich in der ältesten poetischen Literatur darlegt,
^un ist jeder Zweifel gehoben: die alten Mythen sind ursprüng-
tfch Geschichte, und durch die „Anhäufung", eine Folge der
gesellschaftlichen Berührung benachbarter Provinzen, „in My-
ihologie erniedrigt" worden!
Es war nicht des kritischen Behagens wegen, daß wir
diese Buckle'sche Ansicht so genau durchmustert haben: sie
^eht in einem innerlichen Gegensatz zu der weltläufigen Mei-
194
Cohen
uung, welche wir vorher geprüft hatten. Die allegorische
Geschichte der Balladensänger ist das straffe Gegenstück zur
schafsenden Phantasie des Genius, und es ist lehrsam,
jene beiden Extreme scharf in's Auge zu fassen. Wenn es
glückt, so trifft der Blick auf seiner Bahn vom einem zum an-
dern auf den Springpunkt der Dichtung. Welche Anficht
diesem Punkte näher liegt, ist schwer zu bemesfen; aber, wenn
einmal gewählt werden soll, so will es scheinen, als ob die
nüchterne Ansicht, welche für die Dichtung einen gemeinsamen
Ursprung mit allen anderen Culturgattuugen vermuthet, trotz
ihrer Jrrthümer die methodisch geradere sei. In der Geschichte
der Meinungen wenigstens hat sie sich als die förderlichste er-
wiesen.
Dieser Gedanke, daß Ein gemeinsames Gesetz für alle
Gedankenbildungen der Menschen vorhanden sein müsse, von
dem unmittelbarsten Ausdruck der natürlichen Empfindung des
Idioten bis zur hochentwickelten Darstellung der tiefsten Ge-
danken bei Denkern und Dichtern, — dieser Gedanke hat als
Ahnung zu allen Zeiten die Menschen gestreift, und von ihm
aus hat sich schon früh im griechischen Alterthum die Meinung
gebildet, die von Plato ausgeht und von Aristoteles durchge-
führt worden ist: die Poesie sei Nachahmung ([jap]sie).
Von besonderem Werth für die psychologische Erkenntniß scheint
mir vornehmlich die platonische Ansicht zu seiu, insofern sie auf
die gleiche Natur der Kunst als einer Gedankenthätigkeit
mit allen anderen Arten des Denkens nachdrücklich hinweist.
Wenngleich manchmal von ethischen Rücksichten aus das Wesen
und die Bedeutung der Kunst bei Plato verkleinert, weil ein-
feitig gewürdigt erscheint, so hat dies erstens seine tiefe sittliche
Wahrheit, die wir noch hente gut thun würden, nach ihren
innerlichen Motiven und ihrer ungeschwächten Tragweite uns zu
Gemüthe zu führen; dann aber auch schmälert diese Einseitigkeit,
die in manchen Wendungen, wie nicht geleugnet werden soll, die
objeetive Benrtheilung krümmt, das hohe Verdienst nicht, das
Plato durch die Einordnung der Kunst unter die allgemeinen
Gedankenbildungen sich erworben hat. Nur gradweise ist bei
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 195
ihm die „bilderschaffende Kunst" von der „ideenschaf-
senden Philosophie" verschieden.
Der ruhigen Beobachtung mußte sich diese Wahrnehmung
schon im Beginn der Reflexionen über das Wesen der Kunst
darbieten. So fest und vollkräftig die Helden des Liedes, die
Kämpfer des Drama's gestaltet waren: sie waren doch sämmt-
lich der Volks sage entnommen,' die in Aller Munde lebte,
oder Gedanken, die in der Zeit lagen, oft sogar als Parteiworte
das gesammte Volk bewegten (Areopag — Eumeniden!); Hand-
lungen, die entweder nach der allbekannten Sage in der my-
thischen Vorzeit geschehen sein sollten, oder nach treuem Be-
richte, wohl auch nach eigener Erfahrung von den Vätern, den
Zeitgenossen selbst gethan worden waren, wurden jenen Helden
angedichtet: der Zusammenhang der Dichtung mit dem gemein-
samen Boden des Vaterlandes und seiner Geschichte war zu
offenbar gelegt, als daß die Meinung sich nicht hätte bilden
müssen, der Dichter ahme die Wirklichkeit nach. Die Nr-
bilder waren zu sehr bekannt, als daß sich die Lehre von der
künstlerischen generatio spontanea ohne Widerspruch
hätte erhalten können. Es bedarf wohl aber nicht ausführlicher
Auseinandersetzungen, daß für die hier angeregte Kritik von
Seiten des Gedankens der Nachahmung in der platonischen
jupjöis nur Andeutungen gefunden werden.
Ein Fortschritt läßt sich sonach in dieser Fassung der
Kunst unter dem Charakter der Nachahmung gegenüber der
verbreiteten Ansicht von der Urzeugung des Künstlers nicht ver-
kennen; aber auch diese Auffassung bietet keinen aufklärenden
Einblick in das Wesen der Dichtung. Ist es denn eine Nach-
ahmung, wenn der Dichter sagt:
„Ein Fichtenbaum steht einsam
Im Norden auf kahler Höh'.
Ihn schläfert, mit weißer Decke
Umhüllen ihn Eis und Schnee.
Er träumt von einer Palme,
Die fern im Morgenland
Einsam und schweigend trauert
Auf brennender Felsenwand."
196
Cohen
Giebt Heine hier eine nachahmende Beschreibung von den
geographischen und physiologischen Bedingungen, nach denen
der Fichteubaum im Norden wächst und im Winter von der
Schneedecke in seiner natürlichen Wärme geschützt wird, der
Palmenbaum aber in der Sonnenhitze des Südens gedeiht?
Oder giebt der Dichter eine nachahmende Beschreibung von
einem wirklichen Vorgange, wenn er sagt, daß es den Fichten-
bäum schläfert, daß er träumt, und daß die Palme schweigend
trauert? Mögen jedoch diese Einzelfragen vorerst noch auf sich
beruhen; wie steht es im Allgemeinen um den Charakter der
Nachahmung?
Wäre — das ist der allernächstliegende Einwand — durch
das Moment der Nachahmung das Wesen der Dichtung er-
schöpft: nun, so wäre die Dichtung um so vollkommener, je
treuer, je unselbständiger die Nachahmung ist. Und doch sagt
Aristoteles, der das Verdienst hat, die Dichtung unter diesen
Gesichtspunkt in strenger, systematischer Form gebracht zu haben:
Wäre es nicht dieser gemeinsame Zug, der das Wesen der
Dichtung ausmacht, „so hätten wir keinen gemeinsamen
Namen für die platonischen Dialoge und die anderen
Epen." Er nennt nicht den Herodot, oder gar die Logo-
graphen Ependichter, die doch viel treulichere Nachahmer der
wirklichen Dinge und der Geschichte waren. Wissen wir doch
im geraden Widerspruch hierzu, daß das Bewußtsein der
Nachahmung den ästhetischen Genuß aufhebt. Man vergleiche
Kant's Kritik der Urtheilskraft, das Kapitel vom intellec-
tuellen Interesse am Schönen, und Schiller über naive und
sentimentalische Dichtung (zu Anfang).
Es muß demnach in dem Begriff der Nachahmung neben
dem positiven Moment des Aehnlich-machens noch das nega-
tive des Nicht-gleich-machens liegen. Dieses Moment, negativ
für die nachzuahmenden Dinge, muß an sich betrachtet positiv
sein, eine eigene, volle Bestimmung enthalten; sonst könnte es
nicht gewisse Arten der Nachahmung ausschließen. Welches ist
dieses letztlich differenzirende poetische Moment? Wilhelm
von Humboldt beschreibt es. „Die Dichtkunst vermag uns
in einen Mittelpunkt zu stellen, von welchem nach allen
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 197
Seiten hin Strahlen in's Unendliche ausgehen."*) Ich kann
mich nicht enthalten, die schönen Worte hierher zu setzen, in
denen Bischer**) den Humboldt'schen Gedanken anschaulich
macht: „Ueber Homer's, Shakespeare's, Göthe's Gestaltungen
Meint mau ein wunderbares Zittern mystischer Luftwellen wahr-
zunehmen, Zauberfäden, die von dem klar Begrenzten in das
Unendliche hinauslaufen, es ist eine Aussicht, wie von einem
festen Punkte auf das Meer; es fcheiut alles Große, ewig
Wahre herzuschweben, um sich in den geschlossenen Kreis des
Gedichts zu fangen und wieder hiuauszurinnen in alle Weite."
Auch in dem angezogenen Gedichte Heinrich Heine's
ist diese Forderung erfüllt. Der begrenzte Kreis des Baumes
ist zur unendlichen Sphäre fühlender Wesen erweitert. Der
Baum ist, wie Heine anderwärts sagt, „von seinem Pflanzen-
thum erlöst, zur Seele emporgeküßt."
So gehen von der begrenzten Erscheinuug einer Pflanzen-
Individualität Strahlen in's Unendliche lebender Wesen. Ein
unsagbares Gefühl wird in ein Individuum gelegt, von dem
es in die ganze Welt ausströmt, weil es von der ganzen Welt
als ihr innerstes Geheimniß angezogen, eingesogen wird.
Man sieht, wir sind zu einer tieferen Fassung des Problems
gekommen, aber nicht zu einer helleren Klärung, geschweige zu
einer bündigen Lösung. Die Frage nach dem Was der Dich-/ ^
tung ist tiefer gedrungen, sie hat sich aber noch nicht zum?
psychologischen Wie zugespitzt. Wir fühlen es weiter und
voller, begreifen es aber nicht deutlicher, worin das Wesen /,
der Dichtung liegt, was ihre Natur im Innersten ausmacht.
Daß die klassische Periode der deutschen Dichtung unfähig
toar, dieses Wesen klar zu legen, haben wir bereits gesehen,
toie auch, daß es der ästhetischen Kritik, die sich an die großen
dichter anschloß, ebensowenig gelungen ist. Die Philosophie
des Schönen, die von einer absoluten Idee ausgeht, kann
eg nur zu einer sogenannten logischen Entwickelung der endlichen
!chönen Erscheinungen aus der absoluten Idee des Schönen
*) Aesthetische Versuche S. 30.
**) Aesthetik Bd. V. S. 1170.
198
Cohen
bringen. Woher ist aber diese absolute Idee des Schönen ge-
kommen? Das darf man nicht fragen: Niemand kennet ihre
Spur. Doch Einer: der MetaPhysiker! Woher hat aber der
sie? — Ja, das hat der Aesthetiker nicht zu untersuchen! Das
sagt auch Bischer: Die absolute Idee ist auch seiner Aesthetik
Voraussetzung, welche in der Metaphysik ihre Begründung
findet. „Die Aesthetik lehnt sich an die Metaphysik
und setzt als durch diese begriffen die absolute Idee
voraus."*) Bei dieser Anlehnung kam man aber über den
Dualismus von Kunst und Wissenschaft, soweit man
ihn empfand, nicht hinaus. Und man empfand ihn. Aber wie
suchte man ihn zu überwinden? Wenn Schiller sagte: „Der
Philosoph sei nur ein halber, der Dichter der ganze Mensch",
— so sagte Schelling: „Die Philosophie, so wie sie in der
Kindheit der Wissenschaft von der Poesie geboren ist, wird
nach ihrer Vollendung in den Ocean der Poesie zurückfließen."
Eine schöne Aussicht für eine Wissenschaft, die nach Klarheit
der Begriffe ringt, im Meere der Gefühle nach jahrtausende-
langen Kämpfen zu ertrinken! Der Spinozist Schölling
sucht im Pankalon die Vereinigung jener großen Gegensätze,
die nur dann aufgehoben werden können, wenn sie bis in ihre
letzten Conseqnenzen ausgezogen werden.
Wie ich nun die Frage nach dem Wie der Dichtung in
Folgendem fassen werde, wird die Kluft in's Unvergrößerbare
erweitert, und darum, wie ich hoffe, zugleich geschlossen werden.
Der durchgreifendste Unterschied nämlich zwischen der poetischen
Gedankenbildung und jeder anderen Combination ist dieser,
daß der Dichter Dinge und Verhältnisse denkt, die nicht vor-
Händen sind, oder wenigstens in der Weise nicht vorhanden find,
in der sie der Dichter denkt. Der Dichter selbst ist sich der Un-
I realität seiner Dinge bewußt, er macht aber nicht nur nicht den
Anspruch an sich , adäquate Vorstellungen von den Dingen zu
bilden, sondern er geht gerade darauf aus, zu erfinden: dich-
ten ist erdichten. Wie ist diese Getheiltheit des Be-
*) Aesthetik I. S. 4?,
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 199
Wußtseins nach unseren psychologischen Annahmen
möglich?
Während für alleGedaukeueombiuationeu jener oberste Grund-
satz gilt, daß die Vorstellungen den Dingen entsprechen müssen,
auf welche als die ursprünglichen Reizquellen sie sich beziehen,
machen wir von diesem obersten Princip für die Poesie eine
Ausnahme. Mit welchem Rechte? Man mißverstehe doch ja
die Frage nicht, die nicht vom Standpunkte der formalen Logik
gestellt wird und nicht dahin geht, den alten Streit zwischen
Wahrheit und Dichtung, zwischen Philosophie und Kunst zu
Gunsten der einen von beiden zu schlichten. Die Frage ist
rein psychologischer Natur, d. h. sie steht auf der Hypothese
von der Einheit des Bewußtseins.
Mag das Gleichniß von erhabenerer Kraft sein als der
wissenschaftliche Beweis, mag die Poesie eine tiefere Wahrheit
bieten als die gescunmte Metaphysik; vielleicht ist in der That
die Kunst eine höhere Offenbarung der Humanitätsidee, eine
tiefere Durchdringung des Sinnlichen durch das Uebersinnliche,
eine befriedigendere Auflösung der realen Mißklänge in eine ewige
ideale Harmonie, — — trotz alledem halte ich die Frage nach
dem Was der Dichtung, die sich sogleich in die Frage nach
dem Wie verschärfen wird, von dem Standpunkte aus aufrecht,
demgemäß alle unsere Vorstellungen nach mechanischen Ge*
fetzen gebildet werden.
Wenn wir einen Tisch sehen und sofort als solchen er-
kennen, so hat dies darin seinen Grund, daß sich die bereits
in unserem Bewußtsein vorhandene Vorstellung von einem Tische
wit der neuen Vorstellung verbindet, die die momentane Ge-
fichtsempfindung der einzelnen Theile, die sich zur Vorstellung
Tisch sammeln, im Bewußtsein weckt. Die alte, schon vorhan-
dene Vorstellung war aus denselben Elementen zusammenge-
gangen, die wir jetzt von Neuem aufnehmen. Indem sich nun
die neuen Reize in der Einheit des Bewußtseins zur Borstel-
^ng eonsolidiren, verschmilzt dieselbe mit der bereits vorhandenen.
Diese alte Vorstellung ist das apriorische Element, d.h. das
psychologisch frühere; und die neue Vorstellung ist das
aposteriorische Element, d. h. das psychologisch spätere,
200
Cohen
aus deren beider Zusammenwirkung die neue Vorstellung wird.
Diesen Act der Vorstellungsbildung nennen wir die Upper-
ception. Wer mit dem Wesen derselben noch nicht hin-
reichend vertraut sein sollte, den verweise ich ein für alle Mal
auf den Artikel „Geist uud Sprache" in Lazarus' Leben
der Seele. Zur schnelleren Verständigung sei in Kurzem Fol-
gendes in Erinnerung gebracht.
Die alte Vorstellung muh die neue an sich ziehen, wenn
sie in das Bewußtsein eintreten soll. Kann aber wegen der
Ungleichheit mehrerer Elemente eine völlige Verschmelzung nicht
erfolgen, so entsteht die Appereeption unter verschiedenen Formen,
durchaus nach Maßgabe des Verhältnisses zwischen den gleichen
und ungleichen Elementen, welche letzteren die Zusammenbewe-
gung hemmen. Einzelne Vorstellungselemente, die gleichen,
werden in den Verband gezogen, andere, hemmende bleiben aus-
geschieden und bilden eigene Eomplexionen. So entstehen Ver-
flechtungen. Habe ich z. B. in einem Zimmer einen runden
Tisch gesehen und sehe nun einen viereckigen, so werden diese
Vorstellungen nicht ganz verschmelzen, weil die ungleichen Ele-
mente, welche die Gestalt dieser Complexe betreffen, die völlige
Vereinigung hemmen; aber eine Appereeption ist dennoch wegen
der überwiegenden Anzahl der gleichen Elemente in beiden Vor-
stellungen möglich, ja nothwendig: darum nenne ich den vier-
eckigen Tisch, sobald ich ihn sehe: Tisch; die neue Vorstellung
wird von der alten angeeignet, appercipirt. Es kommt hierbei
wesentlich auf die Festigkeit und Dauer an, welche die alte Vor-
stellung selbst im Bewußtsein gewonnen. Die Festigkeit der
alten Vorstellung compensirt das Verhältniß der Elemente in
beiden Vorstellungen, der appereipirenden wie der zu apper-
cipirenden. Je oberflächlicher eine Vorstellung im Bewußtsein
sitzt, desto geringer ist ihre Apperceptionskraft; desto größer
muß demnach die Zahl der gleichen Elemente sein, die zur Ver-
schmelzung drängen. Hat aber eine apriorische Vorstellung alten,
festen Stammsitz im Bewußtsein, so ist sie im Stande, neu
sich bildende Vorstellungen, selbst bei geringer Gleichheit der
einzelnen verschmelzbaren Elemente, schnell und kräftig anzuziehen.
Die große Menge mannichfaltiger Apperceptionen,
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 201
die auf eine Substanz übertragen werden, findet in
diesem Umstände ihre Erklärung. Ebenso aber beruht
hierauf die Möglichkeit der vielen unzähligen Verstechtungen.
Die Vorstellungen werden demnach nicht etwa, wie es der
kurzsichtigen Meinung dünkt, willkürlich gebildet: nach einem
in seinen Grundformen bestimmbaren Mechanismus werden
sie hervorgezogen und zurückgedrängt. Sehe ich einen Baum,
so muß ich ihn als Baum erkennen, ich mag wollen oder nicht.
Sehe ich einen Gegenstand hingegen zum ersten Male, so frage
ich unwillkürlich — die Frage kann schweigend im Bewußtsein
gestellt werden: Was ist das? Die Antwort ist: — die
Appereeption. Diese Antwort wird nun unbedingt nach Maß--
gäbe der im Bewußtsein vorhandenen apriorischen Bedingungen
erfolgen müssen, die je nach der Gleichheit ihrer Elemente mit
den neu andringenden diese letzteren anziehen. Die adäquate
Auffassung, die normale Gedankenerzeugung ist also nicht früher
ein logisches Gesetz, als eine psychologische Roth wen-
digkeit. Wir müssen uns zwingen, den Baum einen Mann
zu nennen; und indem wir es thun, fühlen wir die Wirkung
der psychischen Hemmung in der unvermeidlichen Vorstellung
der Jnadäqnatheit. Wenn uns die Wahrheit gar nicht am
Herzen läge, wenn wir gar kein Interesse an der logischen
Adäquatheit der Vorstellungen mit den Dingen hätten, so
würden uud müßten wir dennoch den beständigen Antrieb fühlen,
Vorstellungen von den Dingen zu bilden, die denselben gemäß
find, deren Elemente den apriorischen Elementen entsprechen und
^on ihnen angezogen werden, um eine neue Vorstellung zu er-
Zeugen. Das ist das allgemeine psychologische Gesetz, das für
afte Vorstellungen gelten muß.
Von den Dingen Vorstellungen bilden, die den Dingen
nc*ch unserem eigenen Bewußtsein nicht entsprechen, ist
^arum von Natur unmöglich, kann nur mit bewußter Absicht
^chehen. In Wahrheit geschieht es gar nicht. Die nach
Maßgabe unseres Bewußtseins adäquaten Vorstellungen werden
ln der That von den betreffenden Dingen gebildet; dann aber
werden andere anderen Dingen adäquate Vorstellungen erzeugt
^d diese letzteren Vorstellungen werden auf jene ersteren Dinge
202
Coben
übertragen. Nun glaubt man, wir hätten willkürlich inadä-
quate Vorstellungen gebildet, während, was man willkürlich
nennt, nur ans die Uebertragung einen Bezug hat. Diese
Möglichkeit der Uebertragung, wie sie in der Lüge wirklich
wird, streitet in keiner Weise gegen unsere psychologische Grund-
annähme, welche so weit entfernt ist, die Consolidirungssähigkeit
einer Vorstellung zu leugnen, daß sie dieselbe vielmehr erweist.
Ist aber eine Vorstellung vollständig consolidirbar, so wird sie
für das Bewußtsein bei ihrer geschlossenen Haltung gleichsam
zu einem äußeren Dinge, sie wird eine selbständig snbsistirende
Vorstellung, eine innerlich anschaubare Substanz. Und wie
man ein Ding von seinem rechten Platze auf einen ungehörigen
setzen kann, so kann man eine Vorstellung auf ein inadäquates
Ding beziehen. Eine solche absichtlich salsche Beziehung ist
— die Lüge.
Wenn man mit dem Gedanken sich vertraut machen kann,
daß das Ding in seinem letzten Grunde auf einen flüssigen
Complex von kleinsten Reizen zurückgeht, so wird das
Folgende sich, ohne Anstoß zu erregen, in den Zusammenhang
einfügen. Wenn die Dinge nur die relativen Reizquellen
sind für die wechselnden Vorstellungen, so ist es leicht verstand-
lich, daß wir Vorstellungen von Dingen bilden können, die den
sogenannten Dingen nicht entsprechen, weil wir eben diejenigen
Dinge, als welche sie nach besserer, gediegenerer Appereeption
zusammentreten, nicht erkennen, nicht appereipiren, sondern sie
gemäß denjenigen Bedingungen aufnehmen, die in unserem Be-
wußtsein appereipiren können, gemäß den apriorischen Borstel-
lungen, die in unserem Bewußtsein gelagert sind. So sehen
wir Alle ein Blatt, empfangen die Gesichtsempfinduug von jeder
einzelnen Faser desselben, jedem Einschnitt und jeder Biegung:
warum haben wir dennoch von dem Blatte jene volle, detaillirte
Vorstellung nicht, die der Botaniker hat? Weil nur im Be-
wußtsein des Botanikers die apriorischen Elemente leben, welche
geeignet sind, die neuen Gesichtsempfindungen des Blattes zu
appereipiren. Daß aber ein Blatt ein Blatt und kein Fächer
ist, das wissen wir alle, obwohl beide wehen; wir müssen es
als solches erkennen, weil auf die Auffassung der allgemeinsten
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins- 203
Verhältnisse des Blattes die appercipirenden Elemente vorbe-
reitet sind. Ebenso kennen wir den Unterschied zwischen Baum
und Mensch. Wir reprodnciren mit der Vorstellung Baum auf
der Stelle die Vorstellungen: wachsen, blühen, welken u. s. s.
An die Vorstellung Mensch sind gebunden die Vorstellungen:
empfinden, gehen, denken, träumen u. s. s.
Wie ist es aber möglich, daß der Dichter mit der Vor-
stellung Baum die Vorstellung des Träumens verbinden kann?
Wie kann sich der Dichter den Baum als suhlend denken?
Wie kann Heine von dem Fichtenbaume sagen, er träumt
von einer Palme, die schweigend trauert? Wie kann er den
psychischen Proceß der Sehnsucht aus Dinge übertragen, denen,
wie er selbst mit vollem Bewußtsein erkennt, jene Vor-
stellnngen inadäquat sind?
Oder sollte er nicht mit vollem Bewußtsein die falschen
Apperceptionen vollziehen? Sollten die dichterischen Upper-
eeptionen etwa gar Hallucinationen, Erzeugungen snb-
jectiver Sinnesbilder sein, welche ohne unmittelbaren Reiz
von Außen nach Außen projieirt werden, oder vielleicht
nur Illusionen, salsche Deutungen äußerer Objeete,
wirklich vorhandener Reizquellen? Die Thatsache der Hallu-
cination würde noch keineswegs die des Irreseins einschließen.
„Die vielfältigsten Erfahrungen zeigen vielmehr, daß ge-
rade im Leben geistig hochstehender und ausgezeichneter
Renschen von verschiedenster Geistesrichtung und Gemüths-
tot, namentlich aber von sinnlich warmer und kräf-
tiger Phantasie, Ereignisse der erwähnten Art sich finden,
^asso, der in Man so's Gegenwart jenes lange Zwiegespräch
Nlit seinem Schutzgeist führte, Göthe's bekannte (hechtgraue)
^elbstvision und seine phantastisch sprossenden idealen
Blumen, Walter Scott's Erscheinung, die ihm seinen ver-
Torbenen Freund Byron in den Falten eines Vorhangs vor-
führte, Jean Paul's zum Fenster herabsehender kindlicher
^cädchenkopf, Benvenuto Cellini's Sonnenvision mögen
Beispiele aus dem Leben von Künstlern gelten. Spinoza,
Pascal hatten Hallueiuationen, Van-Helmont sah seine
^gene Seele als ein Licht mit menschlichem Gesicht, Andral
204
Cohen
erzählt von sich selbst ein Gesichts-, Leuret aus eigener Er-
fahrung ein Gehörsphantasma." *)
Ich kann hier nicht auf das Capitel der Hallueinationen
in Betreff ihrer psychologischen Natur näher eingehen: nur
soviel will ich sagen, daß unsere Frage dnrch diese Erscheinungen
nicht erledigt wird. Denn jene erwähnten Hallueinationen
kamen nur vereinzelt in Folge besonderer psychischer Anlässe
vor: die dichterische Appereeption ist eine beständige, durch-
gehende. Oftmals wiederkehrende, andauernde Hallueinationen
aber sind nicht blos Veranlassungen künftiger, sondern Symptome
bereits vorhandener krankhafter Gehirnreizungen. Wenn nun
schon die dichterischen Apperceptionen, von dieser Conseqnenz
ganz abgesehen, Hallueinationen nicht genannt werden dürften,
weil der Dichter nicht an die Realität derselben glaubt, so ist
es wohl auch kaum eine Illusion zu nennen, eine falsche
Deutung objectiver, d. h. für seine thatsächliche Upper-
eeption objectiver Verhältnisse, wenn der Dichter das ein-
same Wachsen des Fichtenbaumes und der Palme in ein ge-
schlechtliches Sehusuchtsverhältuiß umdeutet, während er die
normale, richtige Appereeption ganz entschieden gleichzeitig ap-
percipirt, sich also der Jnadäquatheit der dichterischen durchaus
bewußt ist. Mau könnte geneigt sein, diese ganze Abwehr für
eine überflüssige zu halten, weil der Unterschied zwischen der
dichterischen Appereeption und der geisteskranken Illusion spe-
cisisch sei. Man wird darüber anders denken, wenn man sol-
gende Meinung Griesinger's hört: „Es fragt sich, ist diese
Differenz eben darum eine speeisische oder nur eine gradweise?
Im ersten Falle würde bei der Hallncination ein besonderer
Act mitwirken, der bei der genannten Phantasieerregung fehlte.
— Zch halte die Annahme einer blos gradweisen
Differenz für richtiger, denn wir sehen aus der genauen
Beschreibung der Hallueinationen, wie uns die Geisteskranken
solche geben, daß sie doch von der allerblassesten und schatten-
haftesten Erscheinung bis zur größten sinnlichen Lebendigkeit
*) Griesinger, Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten
S. 92.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 205
gehen können, nnd es dürfte die künstlerische Phantasie-
erregnng nicht besonders selten bis zur, wenn auch
leisen und blassen sinnlichen Erscheinung gehen."*)
Dieser Annahme gegenüber halte ich meine Frage nach
dem Wie der Dichtung, das wir nun in seiner ganzen Schroff-
heit aus dem Was heraus entwickelt haben, dennoch aufrecht:
auf gradweise Differenzen läuft eben Alles auseinander. Spe-
cifische Scheidungen dürften überall in der Natur bestritten
werden können. Wenn wir nun sehen, daß in der Mehrzahl
der Fälle krankhafte Veränderungen der betreffenden Sinnes-
Werkzeuge oder anderer Organe als die Veranlassungen oder
wenigstens die begleitenden Umstände jener pathologischen Er-
scheinungen constatirt werden können, während bei den dichte-
rischen Apperceptionen weder jene krankhafte Reizung, noch jene
krankhafte Veränderung der Organe nachgewiesen ist, so macht
dies einen Unterschied. Daß er gradweise sei, schwächt seine
Bedeutung nicht. Denn gradweise nur ist Alles verschieden,
von den großen Naturreichen herab bis in die engsten Verhält-
nisse der Functionen einzelner Individuen und ihrer Organe.
Aber nach jenen gradweisen Unterschieden eben forschen wir.
Die echte Forschung bleibt nicht stehen, wenn sie die zu erken-
nenden Dinge bis auf eine kleine Strecke einander genähert
hat: weshalb und wodurch in jener kleinen Strecke die Macht
liegt, jene Dinge in scheinbar so ferne Culturgebiete, so aus-
einander liegende psychische Erscheinungen zu spalten, — das
ist das tiefere Interesse der psychologischen Wissenschaft. In
diesem Sinne also frage ich: da die dichterische Apperception
von der Halluciuation gradweise verschieden ist, wie ist sie als
Psychischer Proceß möglich, als welcher sie den Gesetzen des
Psychologischen Mechanismus unterworfen ist, denen die Hallu-
cination ihrerseits nicht oder nur mit pathologischer Beschrän-
kung unterliegt? Wenn der Dichter nicht gleich dem Halluci-
nanten in dem Fichtenbaum einen Mann sieht, wie ist es bei
dem Zwang des psychischen Mechanismus, bei der Ein-
heit des Bewußtseins möglich, daß er dem Fichtenbaume,
*) Griesinger S. 91.
3eitschr. für Vülkerpsych. u. Sprachw. B?. VI.
14
206
mit dessen Apperceptiou er die Vorstellung wachsen reproducirt,
die des sehnenden Traumes, der geschlechtlichen Liebe andichtet?
Wo sind für diese Apperception die apriorischen Elemente?
Nach so ernsten Erörterungen kann nur der Aufheiterung
wegen eines Göthe'fchen Satzes Erwähnung geschehen, in
dem die beregte Schwierigkeit in munterer Weise abgeschüttelt
wird. In den „Maximen und Reflexionen" in denen Göthe
tief Gedachtes neben leichten Einfällen gesammelt hat, sagt er:
„Alles Lyrische muß im Ganzen sehr vernünftig, im Ein-
zelnen ein bischen unvernünftig fein."*) Aber dieses
Muß bedarf denn doch anderer Begründung, als welche ein
Punkt leisten kann. Zudem glaube man nicht, daß meine Frage
nur die lyrische Dichtung treffe: sie fragt ebenso bedrohlich
bei der dramatischen an. Wie ist die dramatische Form
überhaupt möglich, muß nicht auch sie ihre aprio-
rische Bedingung haben? Wenn man ganz von dem In-
halt der Dichtung absieht, wie konnte man auf den Gedanken
kommen, in dramatischer Form eine Idee gestalten zu wollen?
! Man wird doch nicht mit dem Nachahmungstrieb die
\ Sache zu erklären glauben wollen? Und nun gar der Inhalt!
Für diesen gilt freilich, was über die Lyrik gefagt ist, nicht
allein wegen der im Drama enthaltenen lyrischen Elemente,
fondern in Bezug auf die Jnadäqnatheit des dramatischen
Inhalts selbst.
Woher hat Shakespeare den Stoff zu seinem Hamlet
genommen? Wenn der Kriminalist in feinen Annalen von
einem Brudermorde berichtet, an dem die Gattin des Gemor-
deten Theil genommen, um alsdann des Mörders Weib zu
werden, so kann dieser Bericht eine Verschlingung der unge-
wohnlichsten Seelenzustände aufzeigen: wir werden dennoch nicht
staunend fragen: woher hat ihn der Criminalist genommen?
denn wir wissen, daß er die Acten eopirt hat. Diese sind die
apriorischen Bedingungen seines Berichtes. Warum aber fragen
wir bei Shakespeare, woher er den Stoff zu seinem Hamlet
genommen habe? Weil Shakespeare Vorstellungen erzeugt
*) S. W. Bd. III. S- 173. Cotta 1855.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 207
oder combinirt, die nicht wirklichen Verhältnissen, wenigstens
nicht in der von ihm geschilderten Weise entsprechen, weil also
hier die apriorischen Bedingungen zu fehlen scheinen.
Ich gehe nunmehr an die positive Lösung des ersten
Theiles des hier gestellten Problems, indem ich an die zuletzt
gestellte Frage anknüpfe.
Ueber den Ursprung der Hamlet-Fabel giebt die dä-
Nische Mythologie Auskunft. Orvandill, König von
Jütland, erlegt im Zweikampf den Kollr von Norwegen im
frühlingsgrünen Gehölze. Er heirathet die schöne Ge-
*utha, die ihm den Hamlet gebar. Da tödtet ihn sein
Bruder Feugo und nimmt die Wittwe des Erschlagenen zum
Weibe. Hamlet aber rächt den Tod des Vaters.
Die Frage nach dem Was der Hamlet-Dichtung scheint
gelöst, aber sie ist in Wahrheit nur verschoben. Beruht denn
— so müssen wir nun fragen — jene dänische Mythe auf
einem geschichtlichen Vorgange, so daß man nicht weiter forschen
dürfte, woher sie selbst gekommen sei? Die Wissenschaft — man
dars sagen — unserer Tage hat den tiefen Jrrthnm einer solchen
Auffassung bis auf den Grund aufgedeckt, indem sie die All-
gegenwärtigkeit und die Gleichartigkeit der Mythen in
ihren Hauptzügen dargelegt hat. Sollten dieselben Ereignisse
allerwärts eingetreten sein? Und doch kann nur der gleiche
Anlaß die gleiche Wirkung hervorgerufen haben? Den gleichen
Anlaß hat nun die vergleichende Sprachforschung, der
^ir diese folgenschwere Erkenntniß verdanken, gefunden in dem
Naturvorgang, denn dieser ist in den verschiedenen Ländern
Unter geringen Abweichungen der gleiche; darum darf er als
^er gemeinsame Grund jener vielen in den Hauptpunkten über-
Anstimmenden Mythen gelten. Auch in der Hamlet-Mythe
ist der Inhalt ein Naturvorgang. Orvandill heißt der Strahl,
^erutha die Grünende und Kollr der Kalte. Auf Grund
dieser Etymologie führt die eomparative Mythologie durch die
^ergleichuug der denselben Vorgang erzählenden Mythen bei
den verschiedenen Völkern zu der Auffassung, daß in unserer
dänischen Mythe der Kampf des Frühlings mit dem
Linter dargestellt werde. Orvandill, der Strahl des Früh-
14*
208
Cohen
lingsgewitters, tobtet Kollr, den kalten Winter, der aus Nor-
wegen kommt, und führt Gerutha, die grünende Saat, als
Braut heim.*)
Nun wissen wir, was jene Mythe bedeutet; aber haben
wir mehr als eine Deutung gewonnen? Ist die Frage nach
dem Was der Mythe durch die Herausdeutung des Naturvor-
ganges etwa erschöpft? Bei einiger Ueberlegung wird die Ant-
wort nur noch fraglicher, die Frage nach dem Was noch dring-
licher erscheinen. Ist es denn die Folge eines natürlichen,
unmittelbaren Eindrucks, die Naturerscheinung des Früh-
lings als einen Kampf des als Person gedachten Sonnen-
strahls mit dem als Person gedachten Winter aufzufassen?
Man dürfte meinen, dies verrathe schon tiefschauende dichterische
Sinnigkeit — eine fruchtbare Phantasie! Es kann we-
nigstens nicht vermuthet werden, daß die Auffassung des Ueber-
ganges vom Winter in den Frühling als eines Kampfes zwischen
zwei Personen durch die regelrechte Apperception adäquater Vor-
stelwngen zu Stande komme. Ist aber der Mythos selbst schon
dichterisch und nicht unvermittelte Wiedergabe der empfundenen
Naturerscheinung, so ist die Frage: woher ist der Mythos ent-
standen? weniger als je gelöst, und die ursprüngliche Frage:
woher hat's der Dichter genommen? nur weiter in's Dunkle
zurückgeschoben.
Aber die Lösung ist dennoch in dem Mythos gelegen; man
muß sie nur herauszulesen wissen. Unser herrlicher Grimm
kämpft noch mit der Frage, wenn er auch meint, sie einfach ge-
hoben zu haben durch — die Phantasie. Wenige An-
führuugeu mögen dies erhärten. Die Jahreszeiten werden
als Gottheiten gedacht, der Wechsel derselben als ein Kampf,
den man in Volksspielen nachahmte. Ein vermummter Sommer
und Winter, jener in Ephen, dieser in Stroh oder Moos ge-
kleidet, kämpfen so lange mit einander, bis derjenige siegt, dem
die nahende Jahreszeit gehört.**) Wie ist diese Personifieirung
*) Die Götterwelt der deutschen und nordischen Völker, von Wilh-
Mannhardt, I., S. 260.
**) Grimm, Deutsche Mythologie, 2. Ausg., S. 727.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 209
zeitlicher Verhältnisse möglich? „Poesie und Fabel" — so
antwortet Grimm*) — „beginnen nun zu personi-
ficiren, d. h. göttern, geistern und menschen allein zu-
kommende persönlichkeit aus thiere, pflanzen, sachen oder zu-
stände, denen die spräche genus verleiht, zu erstrecken."
Die mythische Prosopopöie ist eine That der — Phantasie.
Aus einer größeren Blnmenlese nur noch einen Beleg.
Grimm berichtet in der Abhandlung über „Frauennamen
aus Blumen"**) von einem heiligen Brauche der Hindu.
Wer einen Mangohain pflanzt, dars dessen Früchte nicht eher
essen, bis er einen der Mangobäume mit einem andern in der
Nähe des Waldes wachsenden Baume, meist einer Tamarinde,
feierlich vermählt hat. Sakuntala begrüßt die schmachtende
^laädavi-Pflanze, die den geliebten Amra-Banm umrankt. Wie
war es möglich, den Pflanzen menschliche Verhältnisse anzu-
dichten? „Obschon" — antwortet Grimms) — den pflanzen
kein getrenntes geschlecht zusteht, die Phantasie der spräche
hat nicht unterlassen, ja kaum unterlassen können, ihnen
ein solches beizulegen, und scheint immer davon ausgegangen
zu sein, daß die großen, starken pflanzen als männlich, die
schlanken, zierlichen, zumal ihre Blumen, als weiblich, die ent-
springende srucht als das neutrum angesehen wurden." Die
Sprache phantasirt; wie würdig und sinnig ist das nicht vom
Menschengeiste gedacht, wenn man ihm die holde Anmuth einer
so gemüthvollen Symbolik zugleich mit der Sprache in die
Wiege legt! In der That! Wenn es der „Phantasie der
Sprache" gegeben ist, das grammatische Geschlecht zu
bilden, so ist damit der Grund zu allen weiteren Thaten der
Phantasie gesichert. Nun werden jene Phantasieen, ursprünglich
bei den Dichtern, Institutionen des Rechts und der Sitte,
welche ties in dem alten Glauben wurzeln. Wer dars jetzt
noch fragen, wie Jean Paul die Frauen „beseelte Blumen"
Nennen könne, oder wie unsere mittelalterlichen Dichter die ge-
*) Grimm, Deutsche Mythologie, 2. AuSg., S. 835. Vgl. S- 613.
"götter und menschen verwandelten sich in bäume" u. s. w-
**) Kl. Schriften II. S. 376.
t) Ib. S. 373.
210 Cohen
heiligten Bäume mit „Frau" anreden. Unsere Volkslieder
führen Gespräche mit „Frau Hasel."*) Dies Alles, die Sitte
der Hindu, wie der durch eine ganze Literaturperiode geläufige
Ausdruck, kommt von der Phantasie der Sprache, die in den
Bäumen menschliches Geschlecht sieht und die in der dichtenden
Menschheit nicht erstirbt!
Das Andere ließe sich alles folgeweise begreifen, wenn
wir nur erst wüßten, wie es der Sprache möglich wird, in
den Bäumen das Geschlecht zu erkennen, das grammatische
Geschlecht zu bilden. Ist ja doch das grammatische Geschlecht
„eine im frühesten zustande der spräche schon vorgegangene
anwendung oder Übertragung des natürlichen auf alle und
jede nomina." **) Wie ist aber jene „Übertragung" möglich?
Das grammatische Geschlecht ist offenbar eine poetische
That! Wie viel fehlt denn noch zu dem Gedanken, daß der
Fichtenbaum sich nach der Palme sehnt, wenn der Fichtenbaum
durch das grammatische Geschlecht schon als Mann gedacht
wird, und die Palme als Weib? Man beachte, daß Heine
— ob mit Absicht? Die Unwillkürlichkeit zeugt um so zwiu-
gender für die Natürlichkeit jenes psychologischen Vorganges —
sagt: der Fichten bäum, weil die Fichte im Deutschen
weiblich ist. Wie ist nun diese poetische That in den frühesten
Anfängen der Sprachentwickelung möglich? Ich will hierbei
erwähnen, daß die Sprachforscher jetzt allgemein die Ursprung-
lichkeit der Scheidung in mase. und femin. annehmen, und
aus diesen beiden später das neutrum durch Loslösung desselben
vom masc. hervorgehen lassen, -j-) Man könnte jedoch meinen,
daß der Grund dieser Erscheinung eine — wenn auch falsche —
naturwissenschaftliche Beobachtung gewesen sei. Dem
widerspricht nun Grimm auf das Bestimmteste. „In dem
asch (fraxinus), in der buche (fagus) ist an sich weder ein männ-
*) Grimm, Deutsche Myth. S. 617.
**) Deutsche Grammatik III., S. 317.
f) Vgl. Steinthal's Beurtheilung des Artikels „Geschlecht" in
Ersch und Gruber's Encyklopädie von Pott (Kuhn und Schleicher,
Beiträge I., S. 292).
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins, 211
liches, noch ein weibliches princip zu spüren, und wenn dem
Wurm männl., der fliege weibliches geschlecht beigelegt wird, so
kann sich das nicht auf beobachtung des natürlichen
gründen____ Noch mehr, sie hat das nämliche nicht blos
bei allen lebenden, werdenden und wachsenden Wesen gethan,
sondern auch bei den todten, unsinnlichen gegenständen. Der
arm ist uns männlich, die znnge weiblich, das herz neutral;
der sinn männlich, die seele weiblich, das wort neutral; der
wind männlich, die erde weiblich, das Wasser neutral. Woher
diese kühne anwendnng eines in der natur offen und ge-
heim waltenden Unterschieds auf andere dinge und Vorstellungen?
Es muß ein tiefes bedürfniß dagewesen sein, weil
wir die anwendnng auf alle nomina der meisten und edelsten
sprachen, je früher, desto fester und regelmäßiger gemacht sehen
und weil in den Hauptzügen solcher positiven geschlechtsverthei-
lung urverwandte sprachen augenscheinlich zusammenstimmen.
Ein geistreicher schriftsteller (Wilh. von Humboldt) hat
den grnnd dieser erscheinnng vortrefflich aus dem einbil-
dungsvermögen der spräche erklärt."*) Dieser „vor-
trefflichen" Erklärung schließt sich Grimm an, indem er weiter-
hin**) sagt: „das grammatische genus ist demnach eine in der
Phantasie der menschlichen spräche entsprungene ausdeh-
nung des natürlichen auf alle und jede gegenstände. Durch
diese wunderbare Operation" u. s. w. u. s. w. Dabei lehrt
gerade Grimm, daß es neben diesen „aus der Phantasie ent-
sprungenen" Wörtern eine Reihe anderer giebt, die „sich nicht
nach einer allgemeinen Phantasie, sondern nach einer wirk-
lichen personification bestimmen lassen." (S. 348.)
Hier ist nun der Punkt, an dem sich das dunkle Wesen
des Mythos und aus diesem das der Poesie erschließt. Nicht
eine „wunderbare Fähigkeit oder Operation der Seele" hat die
bunte Götterwelt erstehen lassen, und die gesammte Natur nach
dem Ebenbild des Menschen belebt, sondern im ganz normalen
Proceß der Vorstellungen find all' diese Anschauungen erwachsen.
*) Deutsche Grammatik S. 346.
**) Ib. S. 346.
212 Cohen
Wenn die alten Germanen der Sonne weibliches, dem Mond
männliches Geschlecht beilegten, so haben sie die Sonne als wirk-
liches Weib, den Mond als wirklichen Mann gedacht. Und
dieser Gedanke hat nichts Wunderbares, sondern ist so natür-
lich, daß er nothwendig ist. Der Urmensch mußte die Licht-
erscheinuug als eine Feuerentzündung, von Personen ausgeführt,
sich vorstellen, weil die Vorstellung der Feuerentzündung das
apriorische Element war, mit dem er jene neue Lichterscheinung
appereipirte, auf sie überhaupt aufmerksam werden konnte. Eine
falsche Abstraction ist es auch hier, welche den so gesetzmäßigen
Proceß der mythischen Apperception verkennen läßt. Wir, die
wir physikalische Vorstellungen haben, mögen uns nicht denken,
daß diese bei dem Urmenschen nicht vorhanden gewesen seien
und statt ihrer Vorstellungen von persönlichen Handlungen das
Bewußtsein erfüllt haben. Ein Unterschied zwischen einer phy-
sikalischen Vorstellung und einer mythischen besteht demnach
psychologisch nicht; der Unterschied ist rein logisch. Der
mythisirende Urmensch selbst hält seine Vorstellungen, seine un-
willkürlichen Apperceptionen für durchaus wahr und richtig; es
haucht ihn kein Zweifel an der Adäquatheit derselben mit den
vorgestellten Dingen und Verhältnissen an.
Für diesen Gedanken verweise ich auf meine in den letzten
Heften dieser Zeitschrift erschienene Abhandlung: Mytholo-
gische Vorstellungen von Gott und Seele (Bd. V.
S. 396—434, VI. S. 113—131). In den dort gegebenen
Entwicklungen erschien die Vorstellung von der irdischen Feuer-
reibuug als das appercipirende Element für die Vorstellung von
der Entstehung des himmlischen Feuers und sodann für die
Vorstellung von der Menschenzeugung. Ich werde diese Ent-
Wickelung für die hier gestellte Frage nunmehr weiter führen.
War einmal die Menschenzeugung als eine Feuerreibung
appercipirt worden, so entstand daraus wieder die Rückapper-
ception, daß die Feuerreibung selbst ein Vermählungs- und
Zengungsaet sei. Ich setze hier die Kenntniß der jene
letztere Apperception sehr fördernden Mittelstufe voraus, auf
der der Mensch als Feuergeburt von demjenigen abstammend
gedacht wurde, aus dem das Feuer selbst gerieben wird, dem
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 213
Holze, dem Baume, der Esche. Die Vorstellung des Feuers
und seiner Bereitung war das apriorische Element im Bewußt-
sein; mit dieser als Organ wurde die der Menschenzeugung
appercipirt. Nun verschlingen sich aber diese Appereeptionen
dnrch vielfache Complicationen ihrer einzelnen Merkmale. Die
Vorstellung von der Feuerbereitung sei a, die von der Menschen-
Zeugung sei b, so ist b = a. Daraus folgt aber für den Me-
chanismus des Bewußtseins, daß auch a — b ist. Also ist
auch die Feuerbereitung eine Menschenzeugnng. Das
untergelegte Holz wird als das Weib gedacht, der Bohrer als
der Mann nnd der Funke als das Kind. Das ist keine Ueber-
tragung, sondern die gleichmäßige Wirkung derselben Ursprung-
^chen Apperception. Wie die Vorstellung der Menschenzeugung,
die auf der Anschauung desselben Processes beruht, in ihrer
Complexion die Merkmale Mann und Weib hat, so müssen diese
Merkmale auch in die in allen Merkmalen übereinstimmende
Complexion von der Feuerbereitung eintreten. Da kann von
keiner Phantasie die Rede sein: das ist strenger, psychologischer
Mechanismus. Wenn das Weib eine tabula, ecr^apa ist und
der Mann ein xpuTravov,, so ist auch die tabula ein Weib und
der Drehstab ein Mann. Im Mechanismus der Vorstellungen
sind Subiect und Prädicat wandelbar, gemäß der Reihenfolae
der Vorstellungen.
Mag auch diese „Phantasie" sich psychologisch aufklären
an einem Liede, mit welchem der Vedensänger die Feuerzeugung
begleitet:*)
„Das ist das Drehholz, der Zeuger ist bereitet,
^ring die Herrin des Stammes herbei, den Agni
laßt uns quirlen nach altem Brauch. In den beiden
Hölzern liegt der jätavedas, wie in den Schwangeren die
^vohlbewahrte Leibesfrucht; tagtäglich ist Agni zu preisen von
den sorgesamen, opferspendenden Menschen. In die Dahin-
gestreckte laß hinein den Stab, der du deß kundig
^ist; sogleich empfängt sie, hat den befruchtenden
geboren; mit röthlicher Spitze, leuchtend seine Bahn, ward
") Kuh», Heradknuft des Feuers, S. 70.
214
Cohen
der IIa Sohn in dem trefflichen Holze geboren.... Das ist
dein Schooß, wie ihn der Brauch verlangt, aus dem geboren
du aufleuchtetest."
So wird den beiden arani, den zur Feuerbereitung be-
nutzten Hölzern, eine vollständige Körpergestalt beigelegt und
nach genauem Maß die Stelle bezeichnet, aus welcher Agni
seinen Ursprung nehmen muß. Ebenso hat die Wünschel-
ruthe, die, wie Kuhn erwiesen, der Blitzstab ist, oft eine
menschliche Gestalt, und der — Hermesstab den Phallus.*)
Mögen diese Anführungen zum Zweck des Nachweises ge-
nügen, daß die dichterische Phantasie von der Liebe, die Blumen
und Bäume zu einander haben, bei den Hindu, bei den mittel-
alterlichen Dichtern, an welche das schöne Heine'sche Gedicht,
das ich angezogen habe, so wunderbar anklingt, auf einem
Mechanismus beruht, der uns im Mythos offen gelegt wird.
Erst nachdem die Feuerbereitung als Menschenzeugung apper-
cipirt ist, gilt dem Menschen die Beobachtung, daß gewisse
Pflanzen sich umranken, als ein Zeichen der Liebe und Nei-
gnng im übertragenen Sinne.
Hiermit ist nun die erste Frage nach den apriori-
schen Bedingungen der Dichtung gelöst. So inadäquat
und schöpferisch die dichterische Phantasie erscheint, so ist sie
dennoch aus dem Mythos geschöpft, durch die apriorischen Be-
dingungen des Mythos appercipirt. Und der Mythos selbst
stammt ebensowenig von einer „schaffenden Phantasie", son-
dern baut sich aus einer Gruppe von Apperceptionen zusammen.
So ist nun die Einheit des Bewußtseins in dem ersten
Dichter, dem mythendichtenden Volke, dargethan. Wenn der
Mythos den Blitz den „feurigen, goldgeflügelten Vogel"
nennt,**) so ist das der volle Ernst des Urmenschen, mit der-
selben Energie und demselben ungetheilten Bewußtsein gedacht,
mit dem man heute den physikalischen Proeeß erklärt. Die
mythische Auffassung des Blitzes als eines Vogels ist nicht eine
*) Matha heißt der bohrende Stab und der psuis, das untere,
gehöhlte Holz und die weibliche Schaam.
**) Kuhn, Herabkunft des Feuers und des Göttertranks, S. 28.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 215
poetische, sondern eine psychologische. Der Mechanismus
des Bewußtseins ist dabei in voller Einheit.
Findet nun dasselbe Verhältniß bei der Kunst-
Poesie statt?
Ich will zunächst an den Proceß erinnern, in welchem sie
entstanden ist. Nachdem ein Volk in einer langen Reihe my-
thenbildender Generationen die Natur der Dinge mit den je-
weiligen Apperceptionsmitteln erfaßt hat, kommt es endlich zu
einer Culturperiode, in der alle jene mythischen Apperceptionen
als salsch enthüllt werden. Dieser Punkt in der Geschichte
eines Volkes, oder, da er bei jedem Volke einmal eintritt, der
Menschheit, ist der springende Punkt der Kunstpoesie.
Es erwachen neue Apperceptionen, neue ganze Gebiete von
Vorstellungen; im Hintergrunde des Bewußtseins liegen aber
noch lebendig wirksam die alten Apperceptionen aufgeschichtet,
die von den neuen Gedankengeschlechtern widerlegt werden: wie
sollen sich jene Vorstellnngsweisen anders ausgleichen, als durch
den Begattungsproceß, den sie eingehen? Denn von einem
Vernichten der alten, eingenisteten Vorstellungen durch die neuen
kann füglich nicht die Rede sein, dazu sind die neuen Gedanken
ZU jung und die alten haben zu fest und weit verschlungene
Verbindungen mit dem gesammten Inhalt des Bewußtseins
angeknüpft, als daß sie so leicht aus dem Felde geschlagen
werden könnten. Es ist darum nichts Anderes möglich als eine
Neue Apperception, aus jener ersten neuen und der alten ge-
bildet. Diese neueste Apperception ist die —- Poesie. Die
Beziehung zweier oder mehrerer Vorstellungen, die sich im
Mythos in Form der Gleichung darlegte, spricht sich nun,
Nachdem ungleiche Elemente sich eingeschoben, in Form der
^ergleichnng aus. So behalten die Vorstellungen ihre
psychologischen Beziehungen zu einander, und nur der Werth
^selben für die Logik wird anders bestimmt, d. h. die Be-
^Hungen der Vorstellungen werden durch neu eintretende Vor-
Ölungen für das Gesammtbewußtsein anders gerichtet: es
llden sich neue Beziehungen. Diese neuen Beziehungen bieten
aber von allen Seiten; einmal von Seiten der streng
kretischen Apperceptionen selbst, sodann von Seiten der ethischen
216
Cohen
Wünsche und Strebungen. Davon werde ich später noch reden.
Hier will ich nur an die Periode der kosmogonischen
Dichtungen bei den Griechen erinnern, welche den Uebergang
aus der Epik, der Naturpoesie, in die Wissenschaft und die mit
derselben sich erhebende bewußte Kunstpoesie bilden. Zuerst
wird die Welt als durch wirkliche geschlechtliche Zeugung ent-
standen gedacht; nachdem aber physikalische Ahnungen ausge-
stiegen waren, konnte die Welt nicht mehr gezeugt worden sein;
dennoch oder deshalb heißt es: Eros war im Anfang der
Dinge. So geht die Mythologie über in eine poetische
^ Kosmogo nie. Und dieses Verhältniß bleibt bei einem großen
Theile der vorsokratischen Philosophen bestehen.
Neben den naturwissenschaftlichen Anregungen, welche Ari-
stoteles bei Thales für dessen Princip vermuthet, ist unzweisel-
Haft die mythische Tradition des Göttervaters Okeanos und
der Göttermutter Thetis für denselben ein appereipirendes Ele-
ment gewesen. Darum sehen wir auch, wie bei den späteren,
entwickelteren Philosophemen die mythisch-poetische Gewandung
nicht abgestreift wird. Empedokles nennt seine verbindende Kraft
geradezu 'A<ppo8farj, Kuirpis.
Die Poesie entsteht demnach aus dem Bedürfniß, einander
j widerstrebende Apperceptionen zu neuer Apperceptionsbildung
I zusammenzuführen, und sie ist zugleich möglich, weil dieses
Bedürsniß leicht befriedigt werden kann, insofern jene wider-
strebenden Apperceptionen nur schwach anstoßend sich berühren,
nicht schroff gegeneinander treiben. Schroffheit hat die neue
Apperzeption bei ihrem Aussteigen nicht, erst die Eonsequenzen
geben ihr diese. Darum können jene Apperceptionen in Form
der Begleichung im Bewußtsein zusammentreten. Früher hieß
es: der Blitz ist ein Vogel, oder richtiger: der Blitz ist nichts
Besonderes, Getrenntes vom Vogel, sondern beide Erscheinungen
sind Eins, wie zwei Vögel Eins find für das nach Gattungen
unterscheidende Bewußtsein, denn die Merkmale beider Com-
plexionen waren die gleichen. Nachdem aber beide Vorstellun-
gen verschiedene Merkmale aufnehmen mußten, war es um die
Einheit geschehen: nun ist der Blitz wie ein Vogel. Diese
Begleichung muß aber eintreten, weil jene alte Appereeption
Die dichterische Phantasie und der ''Mechanismus des Bewußtseins. 217
zu tief im Bewußtsein wurzelt, als daß sie vernichtet werden
könnte; und doch kann sie nicht mehr eine Thatsache ausdrücken:
so wird sie ein Vergleich. Die poetische Vergleichuug ist
der Vergleich, den die neue Apperceptiou mit der alten ein-
geht. So entsteht also die Poesie durch eine rein psychologische
Nöthigung in einem Proceß der Vorstellungen, welcher in der
Natur derselben begründet ist. Die hemmenden Merkmale der
Complexionen können nicht die Vernichtung einer derselben be-
wirken, aber sie verändern den Lauf der Vorstellungen, die
Beziehungen derselben untereinander, und so wird aus der
mythischen Apperception, welche sich im Vollbewußtsein der
Wahrheit fühlt, eine ihrer Jnadäquatheit bewußte poetische
Bergleichungs apperception.
Ob sich Göthe diesen psychischen Proceß gedacht hat,
welcher in einer neuen Zeitwende entstehen und die Poesie nach
psychologischen Gesetzen erzeugen muß, — das will ich nicht
entscheiden; aber bemerkenswerth ist sein Ausspruch: „Poesie
wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seien nun ganz
roh, halbcultivirt, oder bei Abänderung einer Cultur,
beim Gewahrwerden einer fremden Cultur, so daß man wohl
sagen kann, die Wirkung der Neuheit findet statt."
Die Poesie im Anfang der Zustände ist Mythos; bei Abände-
rung der Cultur, — besonders aber zu beachten, „beim Ge-
wahrwerden einer fremden Cultur" — beim Auftreten neuer
Apperceptionen wird der Mythos — Poesie.
Diese Entwicklung der Poesie bezieht sich nicht allein auf
die Lyrik, sondern ebenso sehr aus das Drama. Die Form des
Drama's, nach deren Möglichkeit wir ebenfalls gefragt hatten,
ist in dem Mythos gleicher Weise gegeben. Die ältesten dra-
^uatischen Dichtungen der Griechen behandeln mythologische
Stoffe, oder richtiger ausgedrückt: was das Epos erzählt, wird
iw Drama als lebendes Bild vorgeführt. Und der Zweck,
also das Motiv dieser Aufführung, war keine müßige Ersin-
kung und keine Schöpfung, sondern aus dem srommen Bedürf-
^iß entstanden, die Geschichte der göttlichen Begebenheiten
äußerlich dem Auge gegenwärtig zu machen, wie sie dem innern
blicke offenbar war. Aus den dionysischen Festscenen geht das
218
griechische Drama hervor, wie das deutsche aus den Passions-
spielen. Grimm verfolgt das deutsche Schauspiel sogar noch
weiter zurück in das germanische Heidenthum. Ich habe an-
geführt, daß der Uebergang des Sommers in den Winter und
umgekehrt als ein Kampf zwischen Jünglingen und Jungfrauen
dargestellt wird, bei dem die verschiedenen Parteien die Sym-
bole der betreffenden Jahreszeiten tragen. In diesen Volks-
spielen reden die Wettkämpfenden einander an. Da macht nun
Grimm die Bemerkung, dieses Einkleiden der beiden Vor-
kämpfer und ihre Wechselreden seien „die ersten rohen behelfe
dramatischer kunst und von solchen anfzügen mußte die
geschichte des deutschen schauspiels beginnen."*) Man sehe in
dem Kuhn'schen Buche die Sage von Puruvavas und Ur-
vapi, in der das Phänomen des Tagesanbruchs behandelt ist.
Aehnlich den Elbinnen, die nicht nackt gesehen sein wollen, will
Urvapi nur so lange bei dem Geliebten weilen, als sie ihn
nicht nackt erblickt hat. Sie verschwindet „wie die erste der
Morgenröthen". Diese lyrische Legende hat Kalidasa zu
einem seiner schönsten Dramen den Stoff gegeben.**)
Aber abgesehen vom Stoff liegt es mir hauptsächlich an,
darauf hinzuweisen, daß die Form nicht geschaffen, sondern
aus dem religiösen Cultus herübergenommen und selbst-
ständig ausgestaltet worden ist. Auch in neuerer Zeit ist das
Drama wie die Oper aus der Kirche hervorgegangen.
Hier ist aber noch ein anderes Moment zu beachten. Das
Drama erhebt sich, wie die Poesie überhaupt, immer an einer
Zeitwende, bei einer neuen Gestaltung des Bewußtseins „beim
Gewahrwerden einer fremden Cultur". So in Griechenland mit
der Entwickelung der Demokratie. Ganz instinctiv richtig hat
darum Solon die dramatische Aufführung verboten, weil er sagte,
„es werde nicht lange dauern und man werde diese Sprache
auch in den Volksversammlungen hören." Die Volksversamm-
lungen waren eben das neue Element, das man mit dem über-
kommenen Inhalt des Mythos und der überkommenen Form
*) Grimm, deutsche Myth. S. 744. Vgl. S. 727.
**) Kuhn S. 78.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtsein?. 219
der dionysischen Aufführungen und des Satyrspiels zur neuen
Appereeption des Drama's verband.
Ist nun auf diese Weise die Entstehung der Poesie in
ihren Hauptformen durch das Gewahrwerden neuer Upper-
Optionen erklärt, so komme ich nunmehr auf die Frage zurück:
Wie ist der Fortbestand der Poesie in denjenigen Cultur-
Perioden möglich, in welchen jenes Gewahrwerden zu einem
offenbaren Bruch des Bewußtseins sich verschärft hat?
Wie ist es nach den Voraussetzungen des psychologischen
Mechanismus möglich, daß der Dichter zwei Vorstellungen, die,
weil einander widerstrebend, zu einem einheitlichen Bewußtsein
nicht zusammengehen können, nebeneinander nährt und ausge-
staltet? Wie ist es ferner möglich, daß derselbe Dichter, der,
obwohl er sich der Znadäquatheit seiner Vorstellungen bewußt
ist, diese dennoch festhält und ausbaut, zugleich nach strenger,
Philosophischer Erkenntniß ringt, umfassenden Naturwissenschaft-
lichen Studien obliegt, also das unverkennbare Streben hat,
solche Vorstellungen zu erzeugen, welche den Dingen in Wahr-
heit entsprechen? Diese Frage wird noch dringlicher, wenn man
bedenkt, daß sich die dichterische Appereeption selbst mit
der Logik ausrüstet, beim Ausspinnen poetischer Beziehungen
die logische Cultur adäquater Vorstellungen zu Hülfe nimmt.
Die ganze Menschengeschichte drängt in ihren geheimsten
trieben nach jener Harmonie des Bewußtseins, die man
das psychologische Ideal nennen könnte. Aber es giebt in
der gesammten Menschengeschichte keine Erfahrung, welche so
Gewußter Weise jenem Ideal widerstrebte, wie die durch alle
Zeitalter gehende Cnlturerscheinung der Dichtung. Diese wun-
Urbare Thatsache muß ihren tiefen Grund h.abeu, einen Grund,
^ zugleich in der Natur des Bewußtseins liegen muß.
In Bezug auf diesen prineipiellen Grund jedoch sei es
^ir gestattet, mich auf die in der bereits angezogenen AbHand-
(b. Zeitschr. Bd. V. S. 419—422) von mir gegebenen
Andeutungen zu beziehen, welche in Folgendem auf die Bestim-
?ung der poetischen Vorstellungen Anwendung finden sollen.
,^t wenigen ergänzenden Bemerkungen jedoch glaube ich an
Erörterungen erinnern zu müssen.
220
Die Zusammengehörigkeit von Gefühl und Vor-
istellung ist schon von Herbart bemerkt worden. „Indem
wir fühlen, wird irgend etwas, wenn auch noch so vielfältiges
und verwirrtes, als ein Vorgestelltes im Bewußtsein vor-
handen sein, so daß dieses bestimmte Vorstellen in
diesem bestimmten Fühlen eingeschlossen Hegt."*)
Indessen bei derartigen Andeutungen ist Herbart in Bezug
aus die mit voller Consequenz zu stellende Frage nach dem
psychologischen Verhältniß jener beiden Formen des Bewußt-
seins stehen geblieben. Aber auch nach Herbart hat man
sich nicht höher verstiegen, als das Zusammentreffen, das Neben-
einanderhergehen der Vorstellungen und der Gefühle anzuer-
kennen. Bei L o tz e finden wir diesen Satz folgendermaßen aus-
^gedrückt: „Auch der Gedankenlauf, selbst der abstracteste,
! ist von Gefühlen beständig durchzogen. Nicht einmal den
trockenen Satz der Identität oder den rein logischen Begriff
der Verschiedenheit oder des Widerspruchs sind wir zudenken
im Stande (?), ohne jenen mit einem wohlthnenden Gefühl
der Einheit zu begleiten, in diesen dagegen eine Spur von der
Bitterkeit des Hasses und des Widerstrebens zweier Elemente
hineinzulegen."**) Wenn dies zwar von dem „abstractesten
Gedankenlaus" keineswegs gelten kann, so wird man doch aus
dieser Anführung der Thatsache erkennen, daß das Phänomen
des Jneinanderfließens von Gesühl und Vorstellung bei den
Psychologen wohl bekannt ist. Aber diese Kenntniß hat nur
dann Werth und Bedeutung, wenn sie zu der Erkenntniß von
der Gleichartigkeit der nach jenen Kategorieen benannten
psychischen Processe sich vertieft. Nachdem einmal die besonderen
Seelenvermögen vernichtet sind, wird mit der Aufhebung
der verschiedenen psychischen Functionen als beson-
derer Qualitäten nichts Unerhörtes vollzogen. Was wäre
denn am letzten Ende damit gewonnen, daß man nicht mehr
an seelische Sonderkräfte glaubt, wenn man doch nach wie
vor seelische Sonderwirkungen, Sondererscheinungen an-
*) Sämmtl. Werke ed. Hartenstein VI., 70—71.
**) Medizin. Psychologie S. 254.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 221
nimmt? Wären die letzteren vorhanden, so wäre es im Gegen-
theil methodischer, die angeblich verschiedenen Wirkungen auf
verschiedene Ursachen zurückzuführen.
Von diesem Gedanken aus habe ich die nach den Kate-
gorieen Gefühl, Empfindung, Vorstellung benannten psy-
chischen Proceffe in Formen des Bewußtseins aufgelöst,
um dieselben von dieser gleichen Stufe aus nach ihren Ver-
schiedenheiten zu erkennen. Zn der angezogenen Abhandlung
habe ich die Stufenfolge jener Formen des Bewußtseins an
der Temperatur-Empfindung andeutungsweise darzulegen
versucht: auch die folgenden ergänzenden Bemerkungen sollen
von derselben ausgehen.
In der Temperatur-Empfindung werden zugleich die äußeren
unsere Tastorgane berührenden Objecte angeschaut. Wie ist
dies möglich? Durch die Bewegung sowohl der die Empfin-
dung erregenden Objecte, wie unserer Tastorgane. Was ist denn
aber diese Bewegung im Bewußtsein? Eine Empfindung.
Durch die Verbindung also dieser beiden Empfindungen,
welche mit anderen zugehörigen Empfindungen complicirt wird,
entsteht die Anschauung des äußeren Objectes, und zwar
sehr allmählich. Ebenso verhält es sich mit anderen Sinnes-
empfindungen.
Um nun Vorstellung werden zu können, muß die Empfin-
dung einen Eindruck im Bewußtsein zurückgelassen haben, da-
Nut sie sich mit einer anderen Empfindung verbinden kann,
fte muß deshalb intensiv genug sein, um im Bewußtsem eine
Nachwirkende Empfindung, oder zunächst, um in der Nerven-
!ubstanz, im Eentralorgan eine nachwirkende Bewegung
der Moleküle zu erzeugen. Intensive Lichterscheinungen sehen
*vir noch, wenn die Bewegungen bereits vorüber sind. Wir
fehen beim Blitz eine Gegend, lesen beim elektrischen Funken
einige Buchstaben, obwohl beide nur momentan sind. Die
^angelnde Intensität kann aber ersetzt werden durch mehrfache
Wiederholung, bei der sich die an sich schwachen Eindrücke
Bewußtsein complementiren. Aufmerksamkeit, d. h. die
^pperceptionslauer, das Bestreben, ausnehmen zu wollen,
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprach«. Bd. VI. ^
222
und die Richtung aufnehmen zu können, begünstigt die Aufnahme
der Empfindung.
Der qualitative Unterschied zwischen Empfindung und Vor-
stellung ist demnach völlig aufgehoben. Man kann ebensowenig
in Wahrheit von einer „reinen" Empfindung reden, als von
einer „einfachen" Vorstellung. Denn eine Vorstellung kann
niemals das Resultat eiuer einfachen Erregung eines Nerven
oder gar einer Primitivfaser sein, sondern kann allein durch die
Verbindung mehrerer Empfindungen entstehen. Die
Empfindung der Muskelbewegung unserer Tastorgane berührt
sich mit der Tastempfindung selbst, daraus entsteht die An-
schauung eines die Tastnerven berührenden Gegenstandes. Die
Empfindung unserer Bewegung zu den Wärmequellen hin ver-
bindet sich mit der Empfindung der Wärme selbst; so entsteht
die Anschauung des wärmenden Gegenstandes und bei wieder-
Holter Erfahrung die in ihre Bestandteile, d. h. in einzelne
Anschauungen zerlegte Anschauung. Je mehr sich nun die ein-
zelnen Merkmale von einander absondern und beliebig in ver-
schiedenen Verbindungen sich reproducireu, desto eher wird die
Abstractiou des Gegenstandes, als eines warmen, möglich.
So sondert sich das Merkmal des Gegenstandes als eines
warmen von anderen Merkmalen, die ihm anhaften, und indem
sich dieser Proceß bei anderen mit noch anderen Merkmalen
versehenen wärmenden Gegenständen wiederholt, bildet sich im
weiteren Verlaufe der Ausbildung des Geistes die Vorstellung
der Wärme. Wo sich zwei Empfindungen nicht assoeiiren
können, da können sie zu keiner Totalanschauung und zu keiner
Einzelvorstellung zusammengehen. Auf die näheren Bedin-
gungen bei den verschiedenen Arten der Associationen, auf die
Verhältnisse bei theilweiser Hemmung gehe ich hier nicht näher
ein, wo es mir vornehmlich um die Bestimmung des mit an-
deren Formen des Bewußtseins ursprünglich Gleichartigen im,
Charakter der Vorstellungen zu thuu ist.
Fassen wir nun das Erörterte von einer anderen Seite her
kurz zusammen. Die molecnlaren Nervenerregungen bringen,
wie bei dem Temperatursinn ein Temperatur-Gefühl, so bei
jedem Sinne eine gewisse Constanz der Nervenbewegungen her-
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 223
vor, die ich mit dem Worte Gefühl bezeichnen möchte. Dieses
Gefühl ist die allgemeinste Form des Bewußt-seins, ohne Sub-
ject und ohne Object; es ist das leere sich gegeben-sein. So-
bald diese unter geringen Schwankungen sich bewegende Nerven-
excursion durch einen differenten, über das Normalniveau
heraus tretenden Eindruck gestört wird, dann haben wir eine
Empfindung, die als solche nur eine Veränderung in dem
sogenannten Zustande des Bewußtseins bedeutet. Werden
diese so veränderten Nervenbewegnngen selbst continuirlich, so
bilden sie ebenfalls eine Constanz in dem Zustande des Bewußt-
seins und werden so selbst zum Gefühl, bis eine differenzirende
Bewegung eintritt. Tritt dieselbe ein, so können sich die meh-
reren Empfindungen miteinander verbinden, alsdann wird die
ursprünglich innere Znstands-Empfindung objectivirt und
es entstehen Anschauung und Vorstellung.
Beides muß nun festgehalten werden. Einmal dies. Da
die differente Empfindung selbst eine Zeit lang unter geringen
Schwankungen sich erhalten kann, so wird auch sie einen ge-
wissermaßen constanten Zustand, d. h. eine unter unbeträcht-
lichen Erhöhungen oder Erniedrigungen über oder unter dem
gleichwelligen Niveau sich vollziehende Bewegung des Bewußt-
seins hervorbringen und so wiederum selbst zum Gefühl werden.
Zugleich aber wird sich aus der Verbindung solcher diffe-
renter Empfindungen, die eine Zeit lang sich selbst überlassen,
einen relativen Nullpunkt herstellen können, der theoretische
Proeeß der Anschauungen und Vorstellungen entwickeln, der bei
der theoretischen Differenzirung doch keineswegs den Aus-
gleich des Empfindungszustandes, der bloßen Form
des Bewußtseins verhindern kann. Beides scheint gleichzeitig
ZU sein, und daher ist der Jrrthum gekommen, daß die Gefühle
die Vorstellungen begleiten; aber das Gefühl ist die
Vorstellung selbst, nur auf einer früheren Stufe
des Bewußtseins. Das nächste Resultat der Verbindung
von Empfindungen ist der Ausgleich im Empfindungs-
Zustande und die Herstellung einerneuen Form des Bewußt-
seins. Diese Herstellung wird in leichtem Uebergange oder in
jäher Veränderung erfolgen, je nach dem die Empfindungen oder
15*
224 Cohen
die dieselben bewirkenden Nervenbewegungen verschieden sind
oder unvermittelt an einander drängen. Aber in rascher Aufein-
andersolge, so daß der Zwischenraum unmerklich ist, vollzieht
sich zugleich die theoretische Verbindung beider Empfindungen
zur Bildung von, d. h. zum Uebergang in Anschauung und
Vorstellung.
Nun bedenke man Folgendes. Soweit sich auch die Vor-
stellungen in der Reihe der Objeetivirnngsproeesse, in denen
sich die einzelnen Empfindungen je nach ihrer Verbindung mit
anderen als Merkmale eines Gegenstandes, als Eigenschaften,
nach Gruppen im Bewußtsein ordnen, soweit sich, sage ich, die
Vorstellungen von dem Empfindungs-Ursprunge entfernen und
zu höheren Verbindungen entfalten und vereinigen; so bleibt
ihnen doch, wenn auch mehrfach modificirt, der Empfin-
dungszustand, von dem aus ihre Objeetivirung sich plötzlich
vollzogen hat, die allgemeine Form der Nervenbewegungen, in
der das Bewußtwerden des Afferenten Gefühls, die Entstehung
einer ueuen Empfindung — wenn man von dem objectivirenden
Inhalt derselben absieht — auftaucht. Dies ist besonders da
der Fall, wo die Empfindung unter intensiveren Erregungen
der Nerven und demzufolge unter stärkeren, plötzlicheren Aende-
rungen der constant gewordenen Nervenbewegungen, kurz, des
Gefühls hervortritt. In der Verbindung von solchen Empfin-
düngen und dem Bewußtwerden der relativen Zusammengehörig-
keit derselben wird zwar der bloße Empfindungszustand bedeu-
tend gemildert, die scharfe, durchdringende Objeetivirung ver-
scheucht das Bewußtwerden des Gefühls; aber immerhin bleibt,
besonders in den ersten Perioden eines solchen psychischen Pro-
eesses, diese Nervenbewegung noch in chemischer Wirksamkeit.
Erst allmählich, wenn das snbjeetive Bewußtsein, das Gefühl,
sich mehr abgeschwächt hat, wird die Vorstellung von diesen
Schwankungen des Empfindungszustandes befreit. Man hat
alsdann die Vorstellung ohne das Bewußtsein des Gefühls,
welches bei dem Zusammengehen der dieselben bewirkenden Em-
pfindungen eingetreten war. Doch dies ist eine sehr späte Pe-
riode in der Entwicklung der Vorstellungen. Die Borstel-
lung des nicht abstraeten Denkens haftet an dem so
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 225
gefaßten Gefühl. Dieses Schicksal der Vorstellung, ein
Erbtheil ihrer Blutsgemeinschaft mit der Empfindung, giebt
der Vorstellung ein nnablengbares Familienmal. Während die
Vorstellungen oder in ursprünglicherer Form die Anschauungen
eine nach Außen setzende, objeetivirende Kraft haben, find sie
dennoch an innere, subjeetive Empfindungsznstände gebunden,
die beständig wechselnden Producte der beständig fluctuirenden
Molecularen Bewegungen der Nerven.
Diesem Ursprung und diesem Charakter der Vorstellung
entspricht die Theilung derselben in zwei Elemente, die man
unterscheiden muß, aber nicht in selbständige Qualitäten scheiden
darf. In soweit die Vorstellung an den Empfindungszustand,
an die molecularen Bewegungsvorgänge der Nerven gebunden
ist, ist sie mit einem Elemente behaftet, welches die bloße
Form des Bewußt-seins ausdrückt und welches ich deshalb
das formale Element der Vorstellungen nenne. Sofern '
aber die Vorstellung in einer objectivirenden Thätigkeit
besteht, welche die Empfindung der inneren Veränderung nach j
außen verlegt, die Form des Bewußt-seins in den Inhalt'
eines Bewußten aufhebt, hat sie ein Element, welches ihr den
theoretischen Inhalt giebt und welches ich demgemäß das in-
haltige nenne.
Das formale Element „begleitet" demnach nicht in seiner
Eigenschaft als das übliche Gefühl die Vorstellung, den „ab-
stractesten" Gedankenlauf, sondern es ist die Vorstellung selbst,
Uüt dem einzigen Unterschiede, daß es eine frühere Stufe in
demselben Proceß des Bewußtseins bezeichnet, welchem die Vor-
ftellmtg als inhaltiges Element angehört. Den „abstractesten
^edankenlaus" muß jedoch keineswegs das formale Element
Durchziehen", es kann durch weitgeführte Objectivirungen so
!chr abgeschwächt werden, daß das inhaltige Element allein im
Bewußtsein verbleibt. Aber dies ist eben nur in den wissen-
gastlichen Abstractionen und auch da nicht durchaus bei allen
Fall. Gemeinhin wogen beide Elemente im Bewußtsein
durcheinander, aber nicht immer sind die zu einander gehörigen
Elemente bei einander: oft ist das inhaltige Element einer Vor-
Geltung, deren formales entweder ganz ausgetilgt oder für den
226 Cohen
Moment zurückgedrängtist, mit dem formalen Elemente einer
anderen Vorstellung innig verbunden, deren inhaltiges Element
nicht in die Apperc<ption eingetreten ist. In solchem Falle
werden wir die versteckte Apperception der formalen Elemente
gewahren, wenn auch das eine derselben ausgefallen ist und
für dasselbe das zu ihm gehörige inhaltige Element sich in den
Vordergrund des Bewußtseins gehoben hat. Es werden, um
dies zu wiederholen, die Vorstellungen nicht von Gefühlen be*
gleitet, sondern Vorstellungen verbinden sich mit einander, deren
formale Elemente bald in voller Thätigkeit, bald ganz uuwirk-
sam sind.
Auf diesem Verhältniß der Verbindung verschiedener Vor-
stellungeu nach verschiedenen Elementen derselben beruht die
Möglichkeit der Poesie. Dies wollen wir nun eingehend
untersuchen.
Obwohl die Poesie über die Mythenperiode hinausliegt,
obwohl sie unter dem Charakter reflectirender Snbjeetivität aus-
tritt, so hat sie doch Ein Moment ganz besonders mit dem
Mythos gemein: das formale Element der Vorstellungen,
das wir in den Mythen nachzittern sehen. Sind die Borstel-
lnngen die Effecte der als innere Reize rückwirkenden, im
Bewußtsein residuirendeu Empfindungen von Veränderungen in
den Bewegungsverhältnissen der eigenen Nerven, so werden zu-
gleich mit jenen Vorstellungen je nach der Intensität des Reizes,
von dem alle Empfindung anfänglich ausgegangen war, oder
der Kraft des neuen Anstoßes, welcher sie wieder an die Schwelle
des Bewußtseins hebt, jene Empfindungen der eigenen inneren
Veränderungen miterzeugt werden. Während also nach viel-
fachen Verbindungen zusammengehöriger Reize, deren Residuen
sich im Bewußtsein zu coordinirter Retrosensation gruppiren,
endlich die reine Objectivirung sich ergiebt, so ist doch immer-
hin die Empfindung der veränderten Form des Bewußtseins
nicht zu verwischen; es sei denn, daß die Objectivirung durch
die Wiederholung so abstract wird, daß die Vorstellung zum
bloßen Wortbilde sinkt, so daß die ursprüngliche Empfindung
ganz schwindet. Denn das ist ja klar: bei jeder Objectivirung
wird der Empfindungszustand abgeschwächt, das formale Element
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins, 227
verdrängt. In der wissenschaftlichen Abstraction wird die völlige
Befreiung von dem Empfindnngselemente angestrebt. Die phy-
sikalische Vorstellung des Blitzes ist eine vollkommen inhaltige,
aber sie ist auch aus ganz anderen Elementen zusammengesetzt,
als welche in der Vorstellung des Urmenschen vom Blitze, oder
sogar beim plötzlichen Anblick des Blitzes noch in uns erzeugt
werden. Wir Alle objectiviren sosort das inhaltige Element
des Feuers; aber der Reiz, der die Empfindung der veränderten
Aufnahme der Aetherwellen durch den Blitz in uns hervorruft,
ist so intensiv, die Bewegnngsexcursionen des Nerven sind so
verschieden von den gewöhnlichen, daß die Wirkung jenes Reizes
trotz der sofortigen Objectivirung nachempfunden wird, welche
Objectivirung eine Folge der öfter wiederholten Combinirung
mit anderen Reizen, deren Empfindungen und Residuen ist.
Diese bloße Form des Bewußt-seins bleibt nun als sor-
Males Element an der Vorstellung haften.
Das formale Element ist offenbar viel schwächer bei einer
durch das Aufleuchten eines Streichholzes erzeugten Vorstellung
vom Feuer, weil dabei der Reiz schwächer ist; aber das in-
haltige Element beider Vorstellungen ist völlig gleich. Woher
kommt es nun, daß mit der Vorstellung „Blitzfeuer" die Vor-
stellung der Größe, Macht, Gefahr verbunden wird, während
die Vorstellung des Streichholzseuers, dem Inhalte der Objec-
tivirung nach ganz dieselbe, mit der Vorstellung des Kleinen,
Alltäglichen, Unbedeutenden verbunden ist, und zwar desto mehr,
je gewohnter die Empfindung wird? Dieser Unterschied in der
Schätzung der Erscheinungen beruht lediglich auf dem for-
Malen Elemente, das durch den heftigeren Reiz intensiver em-
Pfunden wird. Ich kann hier nur von der Beziehung dieses
Elementes der Vorstellungen auf die Kategorie der Qualität
Andeutung geben. Ursprünglich wird ja das Ganze einer Er-
Meinung mit seiner Umgebung appereipirt, allmählich ordnen
Und appercipiren sich sodann die zusammengehörigen Eomplexe.
^ird nnn die Objectivirung so lange sortgesetzt, bis sich aller
Empfindungsinhalt aufzehrt, dann gelangen wir zur wissen-
gastlichen Abstraction, in der die inhaltigen Elemente der
228
Cohen
Vorstellungen von ganz anderen Anstößen aus erzeugt werden,
als von den ursprünglichen Empfindungsreizen.
In der Poesie aber, wie im Mythos, ist diese Objecti-
virung der Empfindungen in so geringem Maße nur vollzogen,
daß man nicht über die Personification hinauskam:
da müssen die formalen Empfindungselemente noch stark wirk-
sam den Vorstellungen einwohnen. Ich werde später in Be-
tracht ziehen, welchen Einfluß die Ausbildung der Objectivirung
auch auf die Poesie hat; zunächst erkennen wir darin den Cha-
rakter der Poesie, daß in ihr das formale Element vor-
wiegt. Hierauf beruht auch der Unterschied des Schönen
nach seiner allgemeinsten psychologischen Bestimmung von
dem Wahren, der ästhetischen Vorstellungen im engeren
Sinne von den adäquaten logischen. In dem letzteren müssen
die inhaltigen Elemente der neuen, zu appercipirenden Vor-
stellungen mit den inhaltigen Elementen der apriorischen, be-
reits im Bewußtsein vorhandenen und appercipirenden Vor-
stellungen übereinstimmen, während in der ästhetischen Apper-
ception die inhaltigen Elemente nur in gewissem Maße, aber
die formalen Elemente schlechterdings zusammenstimmen müssen.
In der ästhetischen Vorstellung appercipiren die for-
malen Elemente einander.
Weiterhin wird dieser Gedanke noch eine andere Einschrän-
kuug erfahren. Die Gattungen der Kunst, welche den Ausdruck
von Vorstellungen wesentlich zur Aufgabe haben, erreichen
das Ideal des Schönen, wenn sie alle formalen Elemente der
darzustellenden Vorstellungen den inhaltigen vollkommen ent-
sprechend wachzurufen vermögen. Je höher entwickelt darum
die Vorstellung ist, desto schwieriger ist die Kunst, sie darzu-
stellen. Denn je höher eine Vorstellung entwickelt ist, desto
reicher sind ihre inhaltigen Elemente. Nun kann aber sehr wohl
jedes inhaltige Element einer Vorstellung ein formales haben.
Die Vorstellung „Gott" z. B. hat unter vielen anderen die
Jnhaltselemente der Liebe und der strafenden Gerechtigkeit.
Diese beiden inhaltigen Elemente haben je ein formales. Soll
nun die Vorstellung nach ihrem ganzen reichen Inhalte darge-
stellt werden, so muß der Künstler dieselben so zu ordnen wissen,
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 229
daß die formalen Elemente, ohne bis zum Extrem hinausgeführt
ZU werden, einander nicht widerstreben, sondern harmonisch zu-
sammengehen. Dies ist die höchste Anforderung, die wir au
den Künstler stellen. Freilich giebt es aber hierfür in der
Kunst selbst eine Grenze. Die Plastik konnte eben nur an
die polytheistische Vorstellung „Gott" herantreten, die mono-
theistische hingegen ist plastisch nicht darstellbar.
Das sollten endlich alle diejenigen einsehen, welche noch immer
gegen die künstlerische Unfruchtbarkeit des Semitismus eisern.
In der reichen, mit einer großen Anzahl abftracter, rein in-
haltiger Vorstellungselemente begabten Ausbildung der mono-
th eistischen Gottesvorstellung liegt der wahre Grund der
Unmöglichkeit, dieselbe künstlerisch zu gestalten. Die schwarz-
blauen Augenbrauen, mit denen ein Gott nickt, kann man ab-
bilden, und auch die ambrosischen Locken, die ihm vom Haupte
herabwallen; aber die abstracten Vorstellungen von einem
Schöpfer aus dem Nichts, vou anfangsloser Einzigkeit und
körperlicher Unveränderlichkeit, von unfaßbarer Größe und Milde,
heiliger Gerechtigkeit und Liebe: diese Vorstellungen lassen sich
plastisch nicht gestalten, weil die formalen Elemente ohne Be-
einträchtigung der inhaltigen sich nicht gesondert abheben
und so zum plastischen Ausdruck bringen lassen, daß durch
dieselben zugleich die inhaltigen Elemente geweckt würden.
Denn werden diese nicht erreicht, so werden auch die formalen
uicht erzeugt. Wie klein mußte einem strengen Monotheisten
der Zeus des Phidias erscheinen! Was den Griechen erhaben
dünkte, daß sein Zeus so groß schien, daß er, wenn er sich er-
^be, die Wölbung einstoßen würde: wie eng mußte der Mono-
%ift diese Vorstellung finden. Unsere Erwartungen müssen
ubertroffen, unsere Vorstellungen müssen mit Einem Plötz-
wichen Blick weit über ihr gewöhnliches Maß hinausgedehnt
werden, wenn wir den Eindruck des Erhabenen empfangen
^llen. Den gewöhnlichen Anblick durchmessen wir bald, aber
dem Erhabenen läuft der Blick empor, ohne daß er es in
^ gewöhnlichen Apperceptionsdaner erfassen kann. Weder
Mitte, noch die Spitze der Pyramide ist erhaben, sagt
^au Paul, sondern die Bahn des Blicks. Darum kann
230
Cohen
der plastische Gott dem Monotheisten niemals erhaben erscheinen,
denn seine inhaltigen Vorstellungen laufen weiter als das Bild-
werk reicht, und so können auch die formalen Elemente nicht
erzeugt werden.
Diese Bedingung gilt nun in erhöhtem Maße von der
Dichtkunst. Die Dichtkunst, die dnrch Worte, durch Borstel-
lungen Empfindungen zu erregen hat, soll und muß auch aus
die inhaltigen Elemente der darzustellenden Vorstellungen ihre
Rücksicht lenken; denn nur mit dem inhaltigen kann das sor-
male Element erzeugt werden. Diese Rücksicht aus die Inhalts-
Vorstellungen soll nun nicht so weit gehen, daß dieselben nach
der logischen Ordnung gefügt werden müßten; die formalen
Elemente derselben sind Maß und Princip der ästhetischen Com-
bination. Dies beruht darauf, daß viele verschiedene inhaltige
Elemente ein uud dasselbe sormale Element haben können. Das
formale Element der Vorstellung Liebe kann durch viele inhal-
tige Elemente erzeugt werden. In soweit nun, als sie noch
immer dasselbe formale Element haben, müssen die inhaltigen nicht
durchaus übereinstimmen. Wir verlangen nicht, daß Don
Carlos oder König Philipp des Drama den inhaltigen Ele-
menten unserer geschichtlichen Vorstellungen von diesen beiden
Figuren entsprechen, wohl aber, daß — und sei es auch auf
Kosten jener inhaltigen Elemente (bis zu einem gewissen Grade) —
daß die formalen Elemente, die jene dramatischen Personen er-
zeugen, mit den sormalen Elementen der Vorstellungen Held,
Unglück, Liebe u. s. f. zusammenstimmen.
Auch das Häßliche, sagt Lessing, ist im Schönen zu-
lässig, wenn es furchtbar ist. Dann ist es eben nicht mehr
häßlich. Wenn in Vorstellungen die formalen Elemente des
Häßlichen und des Furchtbaren zusammengehen, so ist das letztere
im Stande, das erstere aus dem Bewußtsein zu verdrängen;
darum kann die ästhetische Apperception von Statten gehen.
Die inhaltigen Elemente, vermöge deren die Vorstellung
Apollo, Maria wnnderthätige, verehrte Bilder schuf, sind längst
aus unserem Bewußtsein geschwunden, aber noch immer ver-
binden sich die sormalen Elemente jener Vorstellungen mit den
formalen Elementen unserer Vorstellungen von schöner Jugend-
Die dichterische Phantasie uud der Mechanismus dcs Bewußtseins. 231
kraft, oder von dem unsäglichen Gefühl der innigsten Mutter-
liebe: dieser Zusammenstimmung der formalen Elemente ver-
danken wir noch immer den Genuß des Schönen an diesen
Werken. Ursprünglich aber hat man die Götterbilder für
Götter angesehen. Viele Gnadenbilder lassen in den Sagen
einen Ring vom Finger, einen Schuh vom Fuße fallen, damit
ihn der arme Mann oder die arme Frau, die zu dem Götter-
bilde beten, aufnehmen. Die Realität der Kunstgebilde wird
überall geglaubt im Alterthum, im germanischen wie bei den
Indern und Griechen.*) Erst die monotheistische Polemik
spottet der Werke von Menschenhänden, die einen Mund haben
und nicht reden, Ohren und nicht hören — wie sie selbst sind
ihre Bildner. Das ist mit Bezug auf den Ursprung der
Kunst in der That psychologisch richtig: wie die Kunstwerke
sind die Kunstwerker. Man hätte nie Götterbilder gemacht,
wenn man nicht die Götterbilder selbst für die Götter gehalten
hätte. Aus dem Bedürfniß und zur Befriedigung des Cultus
sind die Werke der Plastik ursprünglich hervorgegangen. Es
ist psychologisch unmöglich, daß man Dinge schaffe, von deren
Inadäquatheit und Unrealität man von vornherein überzeugt ist.
3>n dem Bewußtsein des Künstlers lebt der Glaube an die ge-
diegene Wahrheit seines Werkes. Erst nachdem die Kunst
bereits Werke aus diesem Geiste heraus geschassen hat, ist es
Möglich, in anderem Geiste, in anders gerichtetem Geiste
Uachzuschaffen. Dann wird die ursprüngliche Tendenz durch
eine andere, gleich würdige ersetzt. Das erste Urbild aber ist
Gottesidee selbst, die den Künstler zur Schöpfung antreibt;
!odann ist diese Schöpfung für jeden nachfolgenden Künstler
eine objective Idee, die er in sich nacherzeugt uud die er
in sich nacherzeugen kann, weil dieselben Bedingungen, dieselben
Elemente sich in seinem Bewußtsein regen, ohne daß das an-
Angliche Motiv des ersten Künstlers in ihm noch wirksam sein
^üßte. Die inhaltigen Elemente können ganz andere geworden
^in; der erste Künstler sah in dem Werke den Gott selber,
spätere Nachbildner, der dabei eine viel tiesere, gewaltigere
*) Grimm, deutsche Mythologie S. 103,
232 Cohen
Originalität des Schauens haben kann, hat nur dasselbe
formale Element noch: das Werk erzengt in ihm die Em-
pfindnng des Großen, Ehrwürdigen. Sobald die formalen
Elemente zusammenstimmen, wird das Werk vom Künstler ge-
schaffen und vom Beschauer genossen.
Wir wenden diese Betrachtungen nun auf die Poesie an.
Aus dem Mythos, d. i. aus eiuer für das Bewußtsein voll-
kommen adäquaten Auffassung der Dinge hervorgegangen,
unterscheidet sie sich jetzt von der normalen Gedankencombination
in dem wesentlichen Punkte, daß sie nur die Verschmelzung der
formalen Elemente anstrebt, während die inhaltigen einander
bis zu einem gewissen Grade ausschließen können. Und dieser
Grad wird nur bestimmt durch das formale Element selbst.
Der Baum kann sich nicht nach einem andern Baume sehnen;
das inhaltige Element der wissenschaftlichen Vorstellung Baum
ist demjenigen inhaltigen Elemente geradezu entgegengesetzt, das
die poetische Vorstellung Baum enthält. Wir finden dennoch
das Gedicht schön, weil die formalen Elemente der poetischen
Vorstellung Baum zusammenstimmen mit den formalen Ele-
menten der in dem Gedichte zum Ausdruck gebrachten Borstel-
lungen der Liebe, der Sehnsucht u. s. f. Wir vergessen ganz,
daß die Vorstellung Baum auch ein inhaltiges Element hat,
mit Einem Worte: die poetische Vorstellung Baum und die
wissenschaftliche sind nur dem Worte nach dieselbe, der Sache
nach aber verschieden. Sie haben noch dasselbe Wort, weil sie
noch mehrere gleiche Jnhaltselemente haben, aber die überwie-
gende Zahl der inhaltigen Elemente ist verschieden, dasselbe
Wort hat zwei innere Sprachformen, bezeichnet zwei Borstel-
lungen. Der Dichter hält sich nun an die poetische Vorstellung
und so allein erfüllt er seine Aufgabe. Er soll uns nach Hum-
boldt in einen Mittelpunkt stellen, von dem aus nach allen
Seiten Strahlen ins Unendliche gehen. Er darf uns also nicht
bei der abstracten, streng begrenzten wissenschaftlichen Borstel-
lung festhalten, sondern er muß eine Vorstellung vorführen, die
unbegrenzt ist. Dieser Bedingung entspricht das formale
Element, denn es ist dasselbe bei dem Fichtenbaume, sofern der-
selbe von einer Palme träumen kann, wie bei der Jngeborg,
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 233
die sich nach dem fernen Frithjof sehnt. In beiden Vor-
Stellungen wird das formale Element des Mitleids geweckt, weil
toir in beiden durch das gleiche formale Element die Vorstellung
der Liebe empfangen.
Jnhaltig also ist die poetische Vorstellung Baum durchaus
eine andere als die botanische, aber appercipirt wird im Ge-
dichte vermöge der formalen Elemente. Dahingegen können
uchaltig gleiche Vorstellungen in der poetischen Apperception
nicht benutzt werden, wenn die formalen Elemente nicht zusam-
Nienstimmen. Die abstracte Vorstellung vom Blitzsener hat
dieselben inhaltigen Elemente wie die vom Streichholzfeuer,
^ei der späteren Objectivirnng wird mit der abgeschwächten,
wo nicht ganz vertilgten Empfindung zugleich die Reizquelle,
also die Ursache des formalen Elementes im Bewußtsein
Zernichtet und so werden beide Vorstellungen, als den gleichen
Physikalischen Proceß darstellend, identificirt. Aber für die
poetische Apperception kann die eine Vorstellung keineswegs die
andere vertreten. Wo wir im Gedicht ein Blitzfeuer erwarten,
wird das Streichholzfeuer nur eine komische Wirkung haben.
^ Der Dichter braucht das Wort in der alten, mythischen
sprach form. Daneben aber hat sich die aus den einzelnen
lnhaltigen Elementen bestehende Vorstellung immer mehr zur
Allgemeinheit ausgebildet, die wir Begriff nennen: wie ist
Nun bei der vollkommenen Gewöhnung an den wohlverstandenen
begriff die ursprüngliche mythische Apperception haltbar?
^ie kann der Dichter in dem Worte noch den alten Inhalt
denken, während er den neuen kennt? Wie kann er die for-
^alen Elemente durch Vorstellungen erzeugen lassen, die inhaltig
^cht mehr adäquat sind?
Um diese Frage, in der das alte Wie schärfer bestimmt
Jfy befriedigend lösen zu können, müssen wir auf den innigen
^sammenhang hinweisen, in dem die Vorstellung mit der"
Sprache steht. Durch das Wort erst vollzieht sich die An-^
lchauung der Anschauung, die Vorstellung; denn in dem Worte
^ kein wird die Anschauung als ein Aeußeres gesetzt, und durch
lese Veräußerung der Anschauung entsteht die Vorstellung, die
't(-9 von dem Objecte und der Anschauung desselben als eigene
234
Anschauung von dieser Anschauung dargiebt. Wer mit diesen
Bestimmungen nicht vertraut ist, den verweise ich auf „Gram-
matik, Logik und Psychologie" von Steinthal, S. 295—320,
und „Leben der Seele" von Lazarus, das Kapitel „Geist und
Sprache". Ich setze dies hier voraus, daß die Bildung der
Vorstellung im prägnanten Sinne, nicht wie wir bisher von
Vorstellung im Gegensatze zur Empfindung geredet haben, die
That der Sprache ist: iu den Stufen der Spracheutwicke-
lung wird man die Entwickelung des Bewußtseins beobachten
können.
In der pathognomischen Stufe sehen wir den nie-
drigsten Grad der psychischen Action; die Jnterjectionen, die
auf derselben ausgestoßen werden, find die unmittelbaren Re-
flexe der äußeren Reize, also der Empfindungen innerer Ver-
änderungen. Freilich wird auch auf dieser Stufe schon objecti-
virt, der Schmerz wird in die Hand verlegt; aber der Cha-
rakter der Sprachäußerung dieser Empfindung, der Charakter
des pathognomischen Reflexes in der Sprache, verräth
noch nichts von der höheren Objeetivirnng, sondern steht noch,
wenn nicht ausschließlich, so doch zum großen Theil, unter der
Herrschaft der Empfindung, die in dem Laute reflectirt wird.
Aber wir haben doch schon den Anfang einer Objeetivirung
einer inneren Sprachform, einer Anschauung des Lautes behufs
der Begleichung zwischen Laut und Bedeutung, wenn wir ge-
ringschätzig pah! sagen. Mit einer solchen Jnterjection stehen
wir schon auf der Grenze zur onomatopoetischen Stufe.
In dieser reflectirt das Wort nicht unmittelbar die Empfin-
dnng von den durch das Ding hervorgebrachten Veränderungen
der eigenen Nervenbewegung, und so enthält sie schon den
Anfang eines inhaltigen Elementes, während der pa-
thognomische Ausdruck von der allerdings aufsteigenden Vor-
ftellnng nur das formale Element reflectirt. So viele inhaltige
Elemente die Vorstellung „essen" haben mag, durch die onomato-
poetische Wurzel pa, pappen, wird doch nur die Empfindung
der bei jener Thätigkeit vollzogenen Lippenbewegung reflectirt-
Es wird also nur das formale Element der Objeetivirung, die
Empfindung der Veränderungen der eigenen Organe im Worte
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 235
fimt. Wir sehen hier schon die Anschauung einer Bewegung
ausgedrückt, aber doch nur nach Maßgabe der eigenen Empfin-
dung des formalen Elementes der Vorstellung, zu welcher die
Empfindung objectivirt ist. In der onomatopoetischen Stufe
erkennen wir immer nur den Eindruck, den ein Ding auf
den Menschen, auf des Menschen Empsindnngsznstand macht;
daher die onomatopoetischen Worte bei den verschiedenen Völ-
kern so schwer zu erkennen sind.
Eine klare, freie Jnhaltsanschauung neben dem formalen
Elemente entfaltet sich erst auf der charakterisirenden Stufe.
Hier werden äußere Erscheinungen nach Merkmalen aufgefaßt,
welche nicht die unmittelbaren Effecte der Reize und der durch
sie bewirkten Empfindungen, und auch nicht die ersten Objecti-
viruugen, die Total-Anschauungen resleetiren, fondern aus dem
betriebe des psychischen Mechanismus hervorgehen, auf
Associationen und Uppercept.ionen beruhen, welche ur-
sprünglich auf Empfinduugszustände zurückgehen, aber durch ihre
weite Ausbreitung und vielfache Verschlingung dem Ausdruck
derselben entfremdet find. Und wo das formale Element
noch in der Wurzel, in dem Worte haftet, da ist doch die
Mnere Sprachform eine dergestalt veränderte geworden, daß
dasselbe mit dieser Vorstellung nicht mehr verbunden ist. Die
wnere Sprachform des Wortes Tugend ist nicht mehr das
laugende, das formale Element ist wohl auch in dem Worte
freund nicht mehr ganz dasselbe, als was es durch seine Be-
^ehung zu freuen gewesen sein muß. Die inneren Sprach-
fernen wechseln so tief, daß von der ursprünglichen Vorstellung
Vichts erhalten bleibt, aber man sieht doch, daß selbst auf der
charakterisirenden Stufe die Anfänge von den Reflexen der for-
Ulalen Vorstelluugselemente gemacht werden.
In der ausgebildeten Sprache bleiben aber nun nicht
^vß Reste dieser drei Stufen zurück, sondern sie werden in
Entwickelungsstadien des Menschen von Neuem gebildet,
^athognomische Wörter werden von den Kindern gesprochen,
onomatopoetische absichtlich von den Dichtern gebildet. Und
allein von den Dichtern, auch der logische Denker bemüht
Um anschauliche Darstellung seiner Gedanken; darum greift
236
er zur onomatopoetischen Gestaltung nicht so sehr der Dinge,
als der eigenen Empfindungen, welche die Dinge in ihm er-
zeugen. Der Fortschritt des Denkens besteht in der richtigen
Eharakterisirung, in der Verbindung adäquater Vorstellungen,
der Appereeption von Gegenständen nach ihren inhaltigen Ele-
menten mittels der inhaltigen Elemente bereits vorhandener,
mehr oder weniger gleichartiger Vorstellungen. Nun sind aber
die Empfindungen oft noch so wirksam im Bewußtsein wegen
des durch die intensiveren Reize bewirkten größeren Aus-
schlages in den normalen Beweguugsexcursionen des Nerven,
daß sich in die Bildung adäquater Vorstellungen vermöge der
Appereeption der inhaltigen Elemente das formale Element oder
die Verbindung mehrerer derselben, einschiebt und deshalb eine
schiefe Vorstellung, ein falsch charakterisirendes Wort hervor-
bringt. Wo nun die Eharakterisirung gemäß den inhaltigen
Elementen fortschreitet, da ändert sich allmählich die innere
Sprachform des Wortes, aber das Wort bleibt so lange, bis
die Gemeinsamkeit der inhaltigen Elemente vollständig aufgehört
hat. Je schärfer der Begriff des Organischen und unter diesem
der des Pflanzenreiches gefaßt wird, desto klarer entfalten sich die
inhaltigen Elemente dieser Vorstellung und desto schärfer scheidet
sich die innere Sprachform des Wortes von der früheren, nach
der die Wurzel des Baumes als ein Fuß betrachtet wurde,
mit dem der Baum trinkt. Im Sanskrit bedeutet das Wort
„Pflanze", „Baum" mit dem Fuße trinkend. Da diese Schei-
dung nun bei einer großen Anzahl von Wörtern erfolgt, so ist
bei allen diesen die innere Sprachform verändert und wir sind
eigentlich Alle Dichter, denn wir sprechen in dem Worte eine
andere Vorstellung aus, als welche in demselben liegt. „Wenn
wir heute sprechen, sagen wir immer ein Doppeltes oder das-
selbe in doppelter Auffassung." (Steinthal.)
Ist nun in einem Worte die innere Sprachform deutlich und
als geschwunden erkennbar, so stirbt das Wort langsam aus und av
seine Stelle tritt ein anderes. Dieser Proceß vollzieht sich aber
nur sehr allmählich, und obwohl das Eopernikanische Sonnensystem
in den Dorfschulen gelehrt wird, sagen wir doch: die Sonne geht
unter. Wir sagen aber nicht mehr: in den Ozean, weil diese
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 237
Vorstellung vollkommen geschwunden ist. Daß die Sonne aber
untergeht, das kann man deutlich jeden Abend sehen, dagegen
hilft kein physikalischer Unterricht. Die Anschauung ist so
deutlich, so eindringlich, daß sie im Bewußtsein nicht vertilgt,
wenngleich durch eine wissenschaftliche Vorstellung verdrängt
werden kann. Weil nun aber so viele solcher durch die Wissen-
lchast überwundener mythischer Anschauungen durch die tägliche
Beobachtung sich erhalten, so ist hierin die erste Möglichkeit
der Poesie auch in unserer Zeit gegeben.
Die mythische Kraft ist in dem modernen Menschen nicht
erloschen, weil die mythologische Vorstellung nicht qualitativ
von der wissenschaftlichen unterschieden ist, sondern nur in der
Kombination der Anschauungen. Die Anschauungen wieder-
holen sich aber, also auch die Vorstellungen. Selbst wenn es
der wissenschaftlichen Durchbildung im späteren Alter gelingt,
die frühere mythische Anschauungsweise zu verdrängen, so wird
doch in dem Mechanismus der Vorstellungen von dem Kinde
auf den Mann so viel vererbt, daß diese Vorstellungsweise
nicht bis aus die letzte Spur vertilgt werden kann. Es ist
eine Frage von der höchsten Bedeutung für alle Zweige der
Erkenntniß, für die Ethik ebenso wie für die Pädagogik, ob es
Möglich sein wird, die mythischen Vorstellungen vollständig
durch die wissenschaftlichen zu unterdrücken. Ein gründlicher
Fortschritt kann nur aus diesem Wege erreicht werden. Die
Mythischen Vorstellungen sind die Producte ganz natürlicher,
K der allein natürlichen Apperceptionen. Daß an Stelle dieser
Mythischen solche Vorstellungen als Apperceptionsorgane ein-
Zücken, welche der wahren Natur der Dinge entsprechen, das ist
Ausgabe aller Erziehung und aller Bildung, die um so
schwieriger ist, je natürlicher die mythischen Apperceptionen sind.
Ich will hier ein paar Fälle anführen, an denen man, da die
^ache bereits mehrfach abgehandelt ist, von Neuem erkennen mag,
unsere Kinder noch heute Mythendichter sind, wie die kindliche
Menschheit vor zwei- und dreitausend Jahren. Ein Knabe von nicht
3^nz Jahren, der im Sommer mit seiner Mutter aus Afrika
nach Deutschland gekommen war, sah im vergangenen Winter
gNm ersten Male schneien. „Mama", rief er, „die Schmetter-
für u. ©pvactji». Bv. VI. ]_6
238
linge haschen sich in der Lust." So hat er den Schnee als
Schmetterling appereipirt. Ein anderes Kind sah den Schnee
zum ersten Male und hielt ihn für Zucker. Solcherlei Apper-
ceptiouen gelten bei einem Volke, das ohne wissenschaftliche
Bildung die Naturerscheinungen anstaunt, als richtig und wahr.
Erst nachdem in Anschauungen, die sich in Worten fixirt haben,
andere Vorstellungen, andere inhaltige Elemente sich eingebildet
haben, durch welche der Unterschied zwischen Schmetterling und
Schnee erkannt wird, oder zwischen dem Baume, dessen Wurzel
aus der Erde seine Nahrung zieht und einem animalischen Wesen,
das mit dem Fuße Wasser schöpft; erst nachdem dieser Unter-
schied in's Bewußtsein eingedrungen ist, bildet sich eine Span-
nung zwischen der früheren Combination und der neuen; beide
Vorstellungen congruiren nicht mehr, und so ändert sich, je
mehr sich die Anzahl der ungleichen inhaltigen Elemente ver-
mehrt, die innere Sprachform des Wortes.
Für den modernen Dichter nun verlieren die Mythen ihre
inhaltigen Elemente fast gänzlich, sie werden Worte, die ihre
inneren Sprachsormen wandeln und vor neugebildeten Worten
den Vorzug voraus haben, daß sie die formalen Elemente zur
entschiedeneren Anregung bringen. Das alte Wort war viel-
leicht onomatopoetisch; jetzt aber charakterisirt es nicht mehr die
alten in ihm verdichteten Vorstellungen, deren formale Elemente
es dennoch weiter trägt. Oft ist die neue innere Sprachform
der alten sogar entgegengesetzt, wie wenn wir die Selbstauf-
opferungsfähigkeit mit dem Worte Tugend bezeichnen, welches
das Taugliche, Nützliche bedeutet. Der Fortbestand des Wortes
und seine Anwendbarkeit auch aus die neuen Vorstellungen hat
zwar oftmals keinen anderen Grund als den des allmählichen
Ueberganges in eine im Vergleich zu der nächst voraufgehenden
Stufe nur geringe Abart in der Entwickelnng der inneren
Sprachform: oft hingegen läßt sich dieses Hasten der neuen
Appereeption am alten Worte durch andere Motive begründen.
Das Wort bezeichnet nämlich nicht allein die Bedeutung der
Vorstellung als eines logischen Inhalts, sondern zugleich den
gesammten Stand des Bewußtseins unter der durch das Wort
auszudrückenden Vorstellung. Im Worte sind die formalen
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 239
Elemente eben so sehr verdichtet wie die inhaltigen. Die Durch-
dringung der inhaltigen Vorstellungselemente durch die for-
Malen, die Sensuation der Abstractionen, das ist das
Geheimniß der Kunst, der neuen wie der alten Dichtersamilien.
Darum sucht sie das alte Wort, in dem die ursprüngliche Per-
sonification noch ungeschwächt erhalten ist, zu conserviren; darum
sucht sie das Widerspruchsvolle in dem Mythos, wenn der ein-
zelne Dichter es hier und da dunkel suhlen sollte, vom Instinkt
ihres Lebensbedürfnisses geleitet, zu verwischen. Denn in der
Erhaltung der formalen Elemente, welche im mythischen Worte
voller ausgebreitet entfaltet sind, liegt das wichtigste Mittel für
die dichterische Darstellung.
Das alte Wort scheidet manchmal gänzlich aus der Um- s
gangs spräche; dann lebt es in der Sprache der Götter, denn
die Menschen verstehen es nicht mehr. Dieses Schwinden eines
Wortes aus der Umgangssprache und sein alleiniger Gebrauch
in der Sprache der Dichtung ist der Grund für die auffallende
Erscheinung, die uns bei den Griechen und Deutschen entgegen-
tritt, daß die Götter eine besondere Sprache haben. Wo der
Dichter zwei Benennungen findet, legt er die ältere den Göt-
tern, die jüngere, gebräuchlichere den Menschen bei. *) In spä-
tren Zeiten wurden alte Wörter, wie sie ja schon früher, ob-
wohl zur Sprache der Götter gehörig, von dem Dichter vor-
Uehmlich gebraucht wurden, ausschließlich in den feierlichen
Wieden der Dichtung angewendet. Denn das alte, feierliche
^ort weckt besondere formale Elemente, das Wort der Um-
Tangssprache kann nur dann die Werktagsstimmung heben, wenn
mit ungewohnter Betonung gesprochen wird. Was nun
für die Worte gilt, das gilt ebenso für die Wort-Verbindungen
^ud Stellungen, für ganze Sätze. Darum werden bereits aus-
gegebene, überwundene Apperceptionen von dem Dichter gern
Nachgebildet, weil durch sie abnorme formale Elemente der Vor-
^llung erzeugt werden. Zudem sind die mythischen Apper-
Optionen meist plastisch; Naturereignisse werden als Thaten
^stimmter Personen gefaßt. Je concreter, je persönlicher eine
*) Grimm, deutsche Mythologie S. 309, 310.
16*
240 Cohen
Handlung dargestellt wird, desto entschiedener wirkt sie auf die
formalen Elemente der Vorstellungen. Was soll der Dichter
mit einem willenlosen physikalischen Proceß anfangen, der Ge-
setzen folgt, welche kein eigenes Dasein führen, sondern nur in
den Processen lebendig sind? Von Anfang in die individuali-
tätslosen Beziehungen der großen Wechselwirkung der Dinge
gestellt, kann es ihm mit seinen Mitteln nicht mehr gelingen,
einen Mittelpunkt zu schaffen, von dem er in ein weiteres Un-
endliches Strahlen ausgehen lasse. Nur von den begrenzten
Wirksamkeiten der Einzeldinge aus läßt sich die poetische Un-
endlichkeit erfassen. Dieses Begrenzte, Persönliche nimmt die
Appereeptionen der Kinder gefangen, denen die causalen Bezie-
Hungen immer nur in direeten Bewirtungen offen liegen. Diese
ursprünglichen Appereeptionen nun bleiben im Bewußtsein wegen
ihrer Natürlichkeit sowohl als auch wegen des früheren und un-
gestört lange andauernden Eindrucks für das ganze Leben und
legen den Grund für jene Gattung der Appereeptionen, welche
wir der Phantasie zuschreiben und welche nichts Anderes sind,
als Vorstellungen mit ausgeprägten formalen Elementen, deren
gegenseitige Appereeption diejenige der inhaltigen Elemente vertritt.
Der erste Grund für die Möglichkeit der modernen Dich-
tung ist demnach ein doppelter. Die mythischen Appereeptionen
werden erstens von dem Kinde, also auch von dem Dichter in
seiner Kindheit geübt und bleiben wegen ihrer Eindringlichkeit
in das noch leere, also empfänglichere Bewußtsein fest in den-
selben eingeprägt; dann aber kann sie auch der Mann nur
schwer abweisen, weil sie sich in deutlichen Erscheinungen, wie
bei dem Phänomen des Sonnenunterganges, darbieten.
Ist hiermit der erste Grund für die Möglichkeit unserer
Poesie gewonnen, so müssen wir hier, ehe wir weitere Gründe
aufsuchen, zugleich eine Betrachtung anstellen, durch die es klar
werden soll, daß in dem Träger der Vorstellungen zugleich ein
Anlaß liegt, der das Wachsthum der Phantasie, ihre Erhaltung
und Ausbreitung im psychischen Mechanismus begünstigt. Jede
Vorstellung hat ihr sormales Element. Aus der pathognomischen
und zum Theil noch auf der onomatopoetischen Stufe kommt
nur dieses zum reflectorischeu Ausdruck: erst auf der charakte-
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 241
risirenden sollen reine Objectivirungen durch Worte dargestellt
werden. Nichtsdestoweniger sind aber in den Vorstellungen die
Ursprünglichen Empfindungen immanent und fortwirkend.
Werden nun die abstracten Vorstellungen ausgedrückt, so drängen
die formalen Elemente derselben nicht minder auf einen re-
flectorischen Ausdruck: sind sie es ja doch, die sehr wesentlich
auf die Gestaltung der inhaltigen Elemente selbst einwirken.
Diese Darstellung der formalen Elemente der Vorstellungen,
welche in den Worten nicht zum gleichgewichtigen Ausdruck
kommen können, sehen wir in der Poesie, oder genauer, in dem
Rhythmus, dem Metrum und der Harmonie, die sich
frühzeitig mit der Poesie verbinden. Denn der Ausdruck der
formalen Elemente gehört der Musik ihrem ganzen Charakter
Nach an. Ohne inhaltige Elemente an sich wachzurufen, regt
die Musik die harmonische Verbindung formaler Elemente an.
Wo aber nun, wie in der Poesie, auch inhaltige Elemente zum
Ausdruck kommen, da besteht der Unterschied dieses Ausdrucks
vom prosaischen, vom wissenschaftlichen, darin, daß die formalen
Elemente in Rhythmus und Metrum, im dichterischen Satzbau
und in der ganzen Form des Styls reflectirt werden. So
werden also nach einem unabweislichen psychischen Impulse
vornehmlich durch diese musikalischen Elemente die mythischen
Äpperceptionen unterstützt, um auch die formalen Vorstellungs-
demente in der Poesie zum Ausdruck zu bringen.
Dies ist das Unsagbare, von dem Lazarus (Lebender
Seele, II. S. 96) geredet hat. „Der Urmensch ist im hohen
Drange der erwachenden Seelennatur reich an Barren des Ge-
Wankens, und er müht sich, sie zu prägen, um ihnen bestimmten
und erkennbaren Werth zu geben. Eben deshalb sind
vielleicht Gesang und Poesie nicht viel jünger als
kte Sprache selbst." Auch bei den Kindern hat man be-
fachtet, daß viele, wenn nicht alle (Sigismund) früher nach-
^ngen als nachsprechen." Dieses Naturbedürsniß, auch in den
abstracten Vorstellungen das Gefühlselement zum Ausdruck zu
^ringen, hat die Poesie in ihrer musikalischen Form, in Rhythmus
^Ud Metrum, und von der Harmonie begleitet, hervorgebracht
Uud es bildet noch heute einen wesentlichen Hebel zum Fort-
242
Cohen
bestand der Dichtung. Die ältesten Dichtungen finden wir in
geschlossenen Metren, und bei den Deutschen gewahren wir in
früher Zeit die einfachste Form eines rhythmischen Verhältnisses
in dem Reim. Der Reim findet sich bei den asiatischen Völ-
kern ebenso wie bei den europäischen. Rhythmus und Metrum
sind ganz mit der Poesie verwachsen, sie bestimmen den Cha-
rakter derselben, insofern sie die adäquate Combination der in-
haltigen Elemente hemmen. Der Zwang des Metrum giebt
dem Gedanken oft eine ganz andere Wendung und der anders
gewendete Gedanke ist ein anderer geworden. Auf dem Ver-
hältniß aber, welches zwischen beiden Elementen der Vorstellung
obwaltet, beruht im letzten Grunde der Unterschied unter den
verschiedenen Arten der Gedankenverbindung. Je abstracter eine
Vorstellung ist, je objectivirter die Empfindungen sind, desto
adäquater kann die Gedankencombinatiou erfolgen. Je mehr
aber in die Eomplexion der inhaltigen die formalen Elemente
zum gleichzeitigen Ausdruck sich eindrängen, desto weniger wird
sie von Gefühlen gereinigt sein.
Diese Schwierigkeit, die Vorstellung gänzlich von formalen
Elementen zu entmischen, liegt überhaupt im Wesen des Wortes.
Das Wort ist ein Klangbild, und die Klangvorstellungen
sind im Gegensatz zu den deutlicheren Gesichtsvorstellungen uu-
bestimmt.*) Man weiß, wie sehr das Sprechen vom Verstehen
abhängt; wenn nun das Wort nur eine unbestimmte Borstel-
lung (seiner psychologischen Natur nach) schaffen kann, so ist es
an sich nur ein Mittel für eine ebenso unklare neue Apper-
ception, und so ist jedes Wort, auch das abstracteste, ein
poetisches Mittel. Die völlige Auflösung der Sprache in
abstraete Formeln, wie sie in der Mathematik geschieht, ist
das einzige Mittel, zum adäquaten Ausdruck rein objectivirter
Vorstellungen zu gelangen. Ob die Menschheit dies wünschen
dürfe und erstreben solle — das ist eine andere Frage: wie
auch immer darüber die Entscheidung falle, die Unzulänglichkeit
und den Grund der MißHelligkeiten, der für die abstraete For-
schuug in der Sprache liegt, soll man sich auf jeden Fall neben
*) Griesinger, psychische Krankheiten S. 27.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 243
dem Gewinn, den die Cnltnr des Geistes aus derselben zieht,
eingestehen.
Die Philosophie hat dieses gemeine Schicksal der Borstel-
Zungen am schwersten zu beklagen. In den rein theoretischen
Bestimmungen fließen nicht nur die formalen Elemente unter
Und streben zum Ausdruck hervor: die theoretischen Vorstellungen
selbst sind so lange einer völligen Durchführung durch alle ihre
möglichen Apperceptionsproceffe unfähig, als sie mit den for-
Malen Elementen anderer Vorstellungsreihen sich immer unwill-
kürlich verbinden. Und was das Schlimmste und doch das
Natürlichste ist, es sind gerade die principiellen Punkte, in
denen man deswegen so schwer zu einer freien Abstraction ge-
langen kann, weil in diesen die verschiedensten Vorstellungen aus
den verschiedensten Reihen zusammenlausen, die mehr oder we-
Niger von formalen Elementen erfüllt sind. Rein metaphysische
Fragen — um nur Ein Beispiel anzuführen — werden mit
beständiger Rücksichtnahme auf die Ethik behandelt.
Die Poesie hat die Bedingung ihrer Existenz in diesem
Verhältniß des Ausdrucks zwischen den beiden Elementen der
Vorstellung. Die Phantasie New ton's unterscheidet sich also
von der Phantasie Shakespeare's aus eine psychologisch
bestimmbare Weise. Ein schwaches Merkmal einer Com-
^exion, die in Newton's Mechanismus einmal eingetreten
toar, war im Stande, eine andere Reihe anzuziehen, in der
jenes Merkmal ebenfalls sich fand. Darin besteht die große,
toie man wohl sagt, phantasiehaste Kombination eines Denkers,
tote Newton war, daß die Reihen schon durch wenige an sich
schwache Merkmale reproducirt werden, und das nennt man
Phantasie. Aber Newton hatte nicht auf die formalen Ele-
toente dieser Vorstellungen zu achten, sondern er mußte die-
^lben, wo sie sich eindrängten, außer Rechnung lassen; bei der
Hebung, welche der logische Ablaus der Vorstellungen erlangt,
toird diese Schwierigkeit immer geringer. Shakespeare jedoch
touß die Gedanken zugleich so sügen und die Worte so setzen,
die Vorstellungen in ihrer Gesammtheit mit beiden
Dementen wachgerufen werden. Je höher nun ein Dichter
>eine Vorstellungen wählt, desto schwieriger wird die Aufgabe,
244
Cohen
sie zugleich auch formal zu bewältigen, im gleichzeitigen Aus-
druck beide Elemente zu gestalten. An der Wahl der Gattung
der Vorstellungen und an dem Grade ihrer Gestaltung nach
ihren beiden Elementen ist die Kunstrichtung und die Kunst-
leistung zu beurtheilen. Wo die Unmöglichkeit eintritt, sei es
in dem inhaltigen, sei es in dem sormalen Elemente, einen
gleichstimmigen Ausdruck zu erreichen, da ist die Grenze des
Schönen.
Die erhabensten Philosophen des Alterthums haben ver-
sucht, ihre Theorieen in Dichtungen darzulegen, aber sie haben
dadurch nur ihre Theorieen, die streng vermittelten Verbindungen
adäquater Vorstellungen, geschädigt, ohne daß sie uberall den
vollen Ausdruck der formalen Elemente erreichen konnten. Denn
die sormalen Elemente reflectiren zwar in dem Metrum, dem
Rhythmus, aber sie kommen nicht allein in diesen zum Ausdruck.
Die Jnhaltselemente der Vorstellungen dürsen nicht ganz ab-
stract, aller individueller Beziehungen enthoben sein. Diese Be-
dingung ist nun freilich bei den alten Dichterphilosophen erfüllt,
ihre Kräfte, Haß und Liebe, geberden sich wie persönliche
Wesen, aber dadurch ist die Abstraction verblümt; und in so-
weit wieder diese die Eonception beherrscht, das formale Element
verblaßt. „Dasjenige Gedicht", sagt Schillers, „worin der
Gedanke selbst poetisch wäre und es auch bliebe, ist
noch zu erwarten.
Aber selbst da, wo die Vorstellungen aus den höheren
Gebieten des Denkens gezogen werden, da beeinträchtigt die
poetische Rücksicht die klare begriffliche Gestaltung. Ich denke
hier nicht an die irrigen Versuche, die man zu allen Zeiten
unternommen hat, abstraete Gegenstände poetisch zu behandeln,
wie noch im 13. Jahrhundert eine mathematische AbHand-
lung in Versen geschrieben sein soll**); in solchen virtuosen
Nachahmungen sehen wir den Charakter der Poesie offenbar
verkannt. Aber selbst in denjenigen Dichtungen, in welchen ein
*) Naive und sentiment. Dichtung. Cotta, 1825, Bd. 18. S. 270.
**) Montucla, Hist. des mathematiques I, 506. Bgl. Buckle
I. 254.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 245
Wahrer Dichtergeist rein gedankliche Reihen geformt hat, sehen
wir doch das eine oder das andere Element abwechselnd ge-
schwächt, so sehr es dem Dichter gelungen sein mag, beide zu
einem möglichst kräftigen Ausdruck zu bringen. Davon ganz
zu geschweigen, daß die Entwickelung eines wissenschaftlichen
Gedankens die nüchterne, sachliche Verbindung erheischt, während
die Dichtung die Ursachen zu Urpersonen umbildet. In
der skeptischen Anschauung des Dichters erscheint die Theorie
grau, und der realistische Gedanke in seinen verschiedenen
Formen, als hedonischer oder nur als antispeculativer,
wird im Haupte des Dichters zum goldenen Lebensbaum,
der doch zugleich grün sein kann, weil die formalen Elemente
dieser Vorstellungen einander sehr wohl appercipiren.
Es ist anziehend, die Form, die ein wissenschaftlicher Ge-
danke bei dem Dichter annimmt, mit der logischen Fassung
desselben zu vergleichen.
Man würde sich jedoch sehr täuschen, wenn man glauben
wollte, daß diese phantastische Verbindung der Vorstellungen
allein der Poesie eigen sei; sie ist in der Poesie allerdings
regelrechter Styl und wird durch Rhythmus und Metrum aus-
Nehmend gefordert. Während die Vorstellungen in der wissen-
schaftlichen Productiou nach den logischen Beziehungen der
adäquaten inneren Sprachformen abfolgen muffen, gelangen in
der poetischen Conception mit Beihülse der musikalischen Fac-
ioren die formalen Elemente besonders zum reflectorischen Aus-
druck. Aber da alle unsere Vorstellungen in Worten geboren
werden, die Worte selbst aber die den Vorstellungen zu Grunde
legenden Empfindungen wecken, so ist es schwer zu vermeiden,
daß auch in der wissenschaftlichen Construction die formalen
Elemente sich hervordrängen. Die Kunst des Styls beruht
aus der Fähigkeit, die Vorstellungsreihen in Reinheit von ein-
^nder zu sondern und sie nicht buut durchmischt abzuwickeln.
großer Theil unserer abstracten Vorstellungen hat in sinn-
^chen Worten Ausdruck gefunden. Wir bezeichnen die Begriffe
scharf und stumpf, Gedanken als hell und frei. Sogar die
^eit wird durch den Raum vorgestellt, indem wir von einem
^iträum reden. Bischer hat ein lehrreiches Beispiel für
246
Cohen
die Verbindung des Raumsinnes mit der Zeit aus Shakespeare
angeführt: „der alte Glöckner Zeit, der kahle Küster." Hier
ist kahl durch alt reprodncirt worden; immerhin ist aber die
Verbindung beider und besonders des letzteren Wortes mit der
Zeit, die dadurch sehr plastisch als eine im leeren Raum hin-
gestreckte Oede, d. h. als eine Snccession ohne Ende gezeichnet
wird, nur durch den weiteren Schematismus der Vorstellungen
erklärbar, der die abstraetesteu Vorstellungen für den äußeren
Sinn räumlich gestaltet.
Diese enge Verbindung beider Anschauungen ist auch in
der Etymologie gegeben. „Unsere spräche giebt mehrfache über-
gänge aus dem begriffe der zeit in den des raumes an die
Hand."*) Wir sehen auch hier die Entwicklung an dem Gän-
gelbande aller Vorstellungen, dem Mythos, vorschreiten. Zeit
und Raum, Zeit und Welt sind Erscheinungsformen der Götter-
Wie sich aus den Göttern der Zeiten, der Jahreszeiten wie der
Zeitalter, an der Hand der räumlichen Objectivirungen, denen
znsolge der Fortgang der Zeit (tempus) als ein Vorrücken der
himmlischen Deichsel (temo)**) gedacht wurde, allmählich die
Abstractionen von Raum und Zeit gebildet haben, das hängt
mit der mythischen Uranschanuug von der Sonne als einem
Rade zusammen, aus dem später ein Wagen wurde, dem zu-
letzt Sonnenrosse beigegeben wurden. Wir sehen auch hier,
wie aus dem Mythos in mannigfacher Vermittelung die Poesie
und in manchen Wendungen die noch heute übliche Sprechweise
hervorgegangen ist.
Bisher haben wir für unsere Frage nach der Möglichkeit
der Poesie in unseren Tagen hauptsächlich nur die Antwort
gegeben, daß die mythische Vorstellungsweise auch in uns noch
lebendig ist, weil sie bei dem allmählichen Fortschritt der
Bildung vom Kinde auf den Mann in unmerklichen Abstufungen
übertragen wird, theils aber auch, weil die Naturerscheinungen
in ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen so schwer zu begreifen,
besonders so schwer zu überschauen sind, daß die mythische
*) Grimm, deutsche Mythologie S. 750.
**) Ib. S. 687.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 247
Äpperception, welche mit dem Menschen heranwächst, nur durch
die eindringendste Einsicht in den wahren Verhalt der Dinge
^>is aus die letzte Spur ausgetilgt werden kann. Von der
Möglichkeit dieser Ueberwindnng der mythischen Appereeption
durch die streng wissenschaftliche würde also zunächst die Zu-
kunst der Dichtung abhängen. Das klingt freilich für
poetische Naturen minder tröstlich, als die Zuversicht, die
Schiller in seiner „naiven und sentimentalen Dichtung" aus-
spricht: „Der dichterische Geist ist unsterblich und unverlierbar
der Menschheit; er kann nicht anders als zugleich mit der-
selben und mit der Anlage zu ihr sich verlieren." Wie
eraet Schiller diese seine Betheuerung ausdrückt: „und mit
der Anlage zu ihr", der Menschheit, als ob er in den Em-
öryonalzellen, ja, noch tiefer zurück in den geologischen Bedin-
Jungen für das Wachsthum des genus homo die unverwüstliche
Anlage sür den dichterischen Weist entdeckt hätte!
Jndeß, wenn man den Schiller'schen Gedanken tiefer
untersucht, wird man einen ganz anderen Grund desselben und
mit diesem eine ganz andere Bedeutung des dichterischen Geistes
— vielleicht nicht ohne großes Erstaunen — entdecken. Den
Grund der Unsterblichkeit des dichterischen Geistes sieht nämlich
Schiller dort in dem innigen Zusammenhange desselben mit
dem „moralischen Triebe". Nur aus dieser „engsten Verwandt-
schaft des dichterischen mit dem moralischen Triebe" folgert er,
daß „der Begriff der Dichtung mit der Idee der Menschheit
^ Eins zusammentrifft". Hier sehen wir ganz andere Vor-
s^ellungsmotive wirksam, als welche in den stereotypen Dithy-
^mben des dichterischen Genius merkbar werden. Wäre
Schiller auf die psychologische Untersuchung von der Verbin-
^ung und Einwirkung dieser verschiedenartigen psychischen Pro-
Ceffe mit- und aufeinander eingegangen, dann würde er zur
Klarheit über das psychologische Wesen des dichterischen Geistes
^kommen sein und nicht in einem unbefangenen Zwischensatz
gewichtige Definition eingestreut haben: „Wendet man nun,
Begriff der Poesie, der kein anderer ist, als der
Keuschheit ihren möglichst vollständigen Ausdruck zu
^öen" u. f. f. So aber sagt Schiller: „Es ist hier der
248
Cohen
Ort nicht, diesen Gedanken, den nur eine eigene Ausführung
in sein volles Licht setzen kann, weiter zu verfolgen." Wenn
nicht hier, wo der Unterschied zwischen der naiven und senti-
mentalen Dichtung im Urwesen der Poesie begründet werden
soll — wo dann?
Ob eine psychologische Complication, wie der sogenannte
dichterische Geist ist, unsterblich ist oder nicht, das wird die
Psychologie nicht rundweg entscheiden wollen: so viel steht fest,
daß sie wandelbar ist. Das naive Wahrheitsbewußtsein des
Mythendichters hat sich in der Poesie zu einem Doppel-Gewissen
gespalten, und aus der mythischen Thatsache ist der poetische
Vergleich geworden. Aus diesem Vergleich aber ist die
wissenschaftliche Analogie hervorgegangen, wie aus dem my-
thischen Vorzeichen der Gedanke von der Geltung der Cau-
salität. Die Analogie aber ist das Werkzeug der Wissenschaft-
lichen Jnductiou, und so hat M) der mythische Impuls zu
einer physikalischen Hypothese im fortschreitenden Mechanismus
der Geister umgesetzt. Dies ist ein weites Thema; in Andeu-
tungen werde ich auf dasselbe zurückkommen. Denn streng ge-
hört es nicht zu meiner Aufgabe, da es die Entwicklung der
Wissenschaft aus dem Mythos betrifft.
Jetzt scheint es vielmehr geboten, einem Einwände zu be-
gegueu, dessen der Leser sicherlich schon seit lange sich nicht
entschlagen kann. Bei dem ungeheuren Unterschiede der my-
thischen von der wissenschaftlichen Apperception scheint es kaum
begreiflich, daß der moderne Dichter, durchdrungen von dem
naturwissenschaftlichen Zeitbewußtsein, deshalb zu dichten fort-
fahre, weil er als Kind ein Mythendichter gewesen und weil
ihm auch später noch bisweilen eine mythische Hallucination
begegnet, die er sofort berichtigt, — wenn nicht noch andere
treibende Mächte außer diesem dem moderneu Dichter mit den
epischen Völkern gemeinsamen Momente die Ausbildung einer
dichterischen Conception ermöglichen und zur dichterischen Pro-
dnction anreizen. Die Darlegung dieses Momentes führt mich
auf die Betrachtung des Verhältnisses, in dem der subjective
Geist zum objectiveu steht.
Ich habe an der platonischen Jdeenlehre, als einer
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 249
Metaphysischen Entdeckung zu zeigen versucht*), wie diese
Icheinbar originalste aller snbjeetiven Schöpfungen dennoch im
^ntwickeluugsgauge des gesammteu griechischen Cnltnrlebens
vorgebildet war. Das Originale in einer Gedankenschöpfung
beschränkt sich bei genauer psychologischer Analyse auf eiuen
kurzen Schritt, der oft nur durch seine Wucht im schwerfälligen
$ange der Ideen, oder durch die unerhörte Richtung, die er
nimmt, die Kraft erlangt, weithin das Reich des Wissens neu
Zu gestalten. In der Aufdeckung dieser Beziehungen des snb-
jeetiveu Denkens zu dem in der Literatur und im Leben ob-
jectiv gewordenen Geiste besteht die Arbeit des psychologischen
Historikers aus allen Gebieten geschichtlicher Forschung. Die
platonische Idee hat das Merkwort für den gesammten bis-
herigen Zug der Erkeuutuiß gegeben; darum darf sie als Typus
objectiveu Geistes gelten. Nicht nur alle Freude des ästhe-
tischen Genusses wie alle Zuversicht des sittlichen Pflichtgefühls,
fondern auch alle Ueberzeugung von der dauernden Wahrheit
des letzten, tiefsten Denkinhalts hat bis zu unseren Tagen auf
diesen Grund der platonischen Idee sich gestützt. So oft man sich
durch den theoretischen Zweifel in eine von sittlicher und künst-
irischer Idealität verlassene Welt verschlagen glaubte, ist man
sU der Idee zurückgeeilt. Man hat dieser Ketten zwar ge-
Mottet, indem man die Idee, wie Plato sie gedacht haben
^llte, als eine hypostasirte Göttin verschrie, von der man bloß
U°ch den Namen behalten habe. Wie es sich damit verhält,
gehört nicht hierher, ebensowenig aber die Untersuchung,
^'ie es möglich sei, eine objective Idee zu denken, da doch nur
^rch hie Zusammenfassung aller fubjectiven Ideen und ihrer
^'ingfügigsteu Ansätze eine solche möglich scheine. Die syste-
^atische Untersuchung dieses Problems gehört in die Meta-
^Ysik; für die Psychologie kann es offenbar substantielle Ideen
geben, wären dieselben selbst als ethische Postulate noth-
^'Ndig und unentbehrlich. Die Notwendigkeit bedeutet in
*eiem Falle nicht eine logische, denn sie macht das Gegentheil
unmöglich, und für die unbefangene psychologische Analyse
") Diese Ztschr. Bd. IV. S. 403—464.
250
gilt sie — wünschenswerth. Es ist, wie gesagt, der Ort nicht,
diese Betrachtungen zu ihren systematischen Consequenzen hin-
auszuführen: indem ich von dem Verhältniß des fnbjeetiven zu
dem objectiveu Geiste rede, liegt es mir nur an, vom psycho-
logischen Standpunkte gegen die Auffassung des objectiven
Geistes als eines außer den Subjecten denkbaren, mich im Vor-
aus zu erklären.
Kann aber nun nach der psychologischen Methode der ob-
jective Geist nur die Abstraction einer größeren Anzahl zur
theoretischen Einstimmigkeit vereinigter Geister sein: wie bildet
sich jene Einstimmung und wie das Verhältniß des Einzelnen
zu der Gesammtheit? Diese Frage soll uns nunmehr be-
schäftigen.
Wer sich mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, daß die
menschlichen Vorstellungen unter dem Zwange eines Mechanis-
mus stehen, dem wird die Thatsache geläufig sein, daß zwischen
Gedanken einer zu einer irgendwie beschaffenen Gemeinsamkeit
verbundenen Anzahl von Menschen eine Wechselwirkung der
Apperceptionen stattfinden muß. Jenachdem bei dem Einzel-
nen die apriorischen Elemente vorhanden sind, wird er den Ge-
danken eines Anderen appercipiren, den derselbe vermöge ge-
sammelterer Energie literarisch oder in irgend einem der gesell-
schaftlichen Sammelplätze niedergelegt hat. Sind die apriorischen
Elemente nur wenig vorbereitet, so werden dieselben erst all-
mählich anwachsen müssen und der Proceß wird sich in kaum
merklichen Umbildungen vollziehen; bei hinreichender Vorarbeit
hingegen stoßen die wahlverwandten Elemente aneinander und
erzeugen eine geschichtliche Epoche. Aber wie die großar-
tigste Bewegung, so übt auch die alltägliche Erfahrung auf das
Bewußtsein jedes Appercipireuden, des Schärfsten wie des
Kurzsinnigsten — wenn der Appereeptionsproeeß überhaupt bei
diesem möglich ist — feilte unausbleibliche Wirkung; der Grad
derselben hängt von der Verschiedenheit der appereipirenden
Elemente in den einzelnen Personen ab; außerhalb und ober-
halb der allgemeinen Wechselwirkung steht Niemand. Für Ro-
senk ranz und Güldenstern ist Dänemark freilich kein Ge-
sängniß, weil sie „anders darüber denken" als Hamlet, der,
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtsems. 251
Wie ein Schüler Spiuoza's — bevor dessen Philosophie in
Wittenberg gelehrt werden konnte — sagt: „An sich ist Nichts
Weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu." Der
Schein des „an sich" setzt sich aus den Strahlen zusammen,
die von einer größeren Zahl gleich appercipirender Geister aus-
gesendet werden. Hat sich irgend eine mythische Auffassung,
die Anschauung des Feuers als einer Reibung sich begattender
Pflanzen, durch das allmähliche Zusammenwirken von Genera-
tfonen appercipirender Menschen fortgesetzt erhalten, so wird sie
zuvörderst eine verdichtete Thatsache, unter welcher mehrere
analoge Erfahrungen als einer allgemeinen Form dieser Er-
fchemnngen zusammengefaßt werden. Zm weiteren Fortschritt
dieser Processe aber, die sich in der Geschichte der Ideen kennt-
^ich machen, werden die ursprünglichen Anschauungen, nachdem
fte in ihrer Anwendbarkeit vielfach erschüttert sind, zu so tief-
innerlichen Voraussetzungen des Denkens, daß sie dennoch bei
allen späteren Operationen die latenten Motoren sind, die im
Dunkeln des Mechanismus wirkend, neue, aber ähnliche Vor-
stellungsmassen als Vertretungen einschieben. Ich verweise
hier auf Lazarus' „Ideen in der Geschichte" (d. Zeitschr.
^d. III. S. 404 ff.). Hier ist die Wirksamkeit der apperci-
Brenden Elemente am schwersten erkennbar; und doch ist gerade
^er eine zureichende Erkenntniß dringlich. Denn in diesen Ver-
Hungen operirt nicht bloß der Historiker, sondern der Denker
^rhcmpt, und man darf sagen, daß es keinen großen Gedanken
3^bt, dem nicht, nachdem er eine lange Zeit verdichtet im Vor-
Ergründe des gedanklichen Ausdrucks gewirkt hatte, das Schick-
M geworden wäre, längere Zeit in Vertretungen als verborgenes
^pperceptions-Werkzeug fortzuarbeiten. Das Verhältniß des
^^igiösen zu dem sittlichen Bewußtsein beruht nicht zum ge-
^gsten Theil aus einer solchen Vertretung. Wo die specifisch
^igiösen Elemente abgeschwächt sind, da fahren sie dennoch
tm Bewußtsein zu wirken, weil sie durch homogene sitt-
Vorstellungsreihen vertreten werden.
. _ Nicht anders ist das Verhältniß in den einzelnen Wissen-
^ften. Dies wird besonders aus den Beziehungen entfernterer
^l^nschaften zu einander deutlich. Die Kant'sche Kritik hat
252
auf die Naturwissenschaft mächtig eingewirkt. Dieser Einfluß
ist bis auf die neueste Zeit nachweisbar, nachdem der Ursprung-
liche Kant'sche Gedanke vielfach umgeformt ist. In den phy-
siologischen Forschungen aus dem Gebiet der Siunessuuctiouen
ist er die methodische Voraussetzung für die Subjectivitctt
aller Wahrnehmungen, obwohl er hier durch andere Vor-
stelluugen vertreten wird, denn der volle Gedanke in seiner po-
sitiven Wendung ist in die Naturwissenschaft nur spärlich ein-
getreten. Aber noch unzweideutiger erkennt man die Vertre-
tungen au den systematischen Haltpunkten der Forschung.
Da ist es anziehend zu sehen, wie mannigfache Vertretungen
sich prodnciren. Die alte Lehre von der Scheidung des Or-
ganischen vom Anorganischen wird von der Zellentheorie ver-
treten, und wer bereits die Kant'sche Definition vom Orga-
nismus aufgegeben, weil doch füglich die pathologischen Theile
nicht gut des physiologischen Ganzen wegen da sein können
und dafür die ältere, der zufolge der Organismus eine Maschine
ist, eingetauscht oder wenigstens derselben in der Einzel-Forschung
sich hingegeben hat, der läßt sich doch den „edleren" Kant'-
schen Gedanken durch den Begriff der Zelle vertreten, in der
das Kant'sche Ideal eines Organismus erfüllt sein soll. Die
psychologische Erforschung der Geschichte der Wissenschaften wird
bei derartigen Untersuchungen auf die interessantesten Ergebnisse
geleitet werden. Hier wollen wir durch diese Betrachtung nur
eine Analogie geschaffen haben zum umfassenderen Verständniß
unseres speciellen Problems, indem wir nunmehr zur Bestim-
muug des Verhältnisses übergehen, in welchem der einzelne
Dichter zur objeetiv gewordenen Dichtung steht.
Sehen wir die Sache vorerst rein historisch an, so ist
schon aus den geschichtlichen Darstellungen der EntWickelung
unserer modernen Dichter hinlänglich bekannt, daß das Lesen
der Dichtungen den jugendlichen, ja, den kindlichen Dichter zuw
Nachdichten anreizt. Besonders lehrreich ist für diesen Punkt
die Jugendgeschichte Göthe's, der ja selbst seine eigene Ori-
ginalität durch den Hinweis auf die angeerbten Eigenschaften
geschmälert hat: von der Mutter die Lust zu sabulireu, vorn
Vater des Lebens ernstes Führen, den Hedonismus vom M
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 253
ahnherrn, der der Schönsten hold, und von der Urahnfrau die
Liebe zu Schmuck und Gold. Nach Art der Dichter hat er
das psychologische Problem gefällig formulirt: „Sind nun
die Elemente nicht Aus dem Eomplex zu trennen,
Was ist dann an dem ganzen Wicht Original zu nennen?"
Die Elemente sind aber aus dem Complex zu trennen, ich
Meine nicht die physiologischen, sondern die in der objectiven
Dichtung für den originalen Dichter gelegenen.
Göthe's Mutter berichtet selbst, wie sie den kleinen
Wolfgang zum Dichter herangebildet. Man lese dies indem
„Leben Göthe's" von Lewes nach. „Ich konnte nicht müde
werden zu erzählen, so wie er nicht ermüdete zuzuhören. Luft,
Feuer, Wasser und Erde stellte ich ihm unter schönen
Prinzessinnen vor, und Alles, was in der Natur vorging,
dem ergab sich eine Bedeutung, an die ich bald fester
glaubte als meine Zuhörer." (I. S. 23.) Die Mutter
hat also des Knaben Apperceptionsbahnen zuerst in die my-
thischen Geleise gelenkt, so daß es ihm möglich war, den nr-
sächlichen Vorgängen in der Natur die Bedeutung einer per-
sönlichen Wirkung unterzuschieben, zu welcher Auffassung, wie
wir erkannt haben, die eigene Natur des Kindes hinstrebt.
Denn es will ja alle diese Erscheinungen fassen, die auf seinen
^eist eindringen; es muß die Wolke, das Wasser, die Lust
^ach den apriorischen Bedingungen seines Mechanismus sich
Zueignen. Dieses Bedürfniß nach der mythischen Apperception,
^eil für physikalische Vorstellungen im Bewußtsein keine Ele-
^ente vorgebildet sind, wird zugleich durch die Art der Ent-
ftehmrg und des Ablaufs der Vorstellungen vollauf befriedigt.
Die Apperception geschieht in der scheinbar willkürlichsten Ver-
Endung von kaum objectivirten Empfindungen: aber in dieser
Willkür liegt das Gesetz des Mechanismus, denn die Willkür
^ nur eine reiche, aber gesetzmäßige Mannigfaltigkeit
Reproductionen und Apperceptionen. Der Knabe sieht eine
^eiße Wolke, nachdem er früher eine große Dame aus der
Nachbarschaft mit einem weißen Kleide gesehen hatte. Die so
^en von Neuem objeetivirte Empfindung des Weißen repro-
ducirt in ihm die frühere Objeetivirung der durch den Anblick
Zeitschr. für VölkerpsVch-u. Sprachw. Bd. VI. 17
254
Cohen
der weißen Dame erzeugten Empfindung. Da aber auf den
Stufen der Objectivirnng das Weiße als Farbe allein gar nicht
appereipirt werden kann, sondern immer nur der weiße Negen-
stand in seiner Totalität, so hat sich im Bewußtsein bei dem
Anblick der weißen Dame die ganze Empfindung dieser Er-
scheinung objeetiviren müssen — die Dame an sich ist in dieser
anfänglichen Complexion nur ein Merkmal — uud so besitzt
das Kind die schwache Objectiviruug des Empfindungszustandes,
in den es durch den Anblick der weißen Dame versetzt wurde.
Sieht das Kind nun eine weiße Wolke, so wird es nicht allein
das Weiße als die bereits bekannte Farbe wiedererkennen,
sondern da die langgestreckte Figur der Wolke die hohe Gestalt
der Dame reproducirt, die weiße Wolke als die weiße Dame
appereipiren.
Wie diese Appereeptionen, weit entfernt Unnatur zu sein,
nach den Naturgesetzen des psychologischen Mechanismus sich
vollziehen, so kann dem Menschengeiste in seiner jugendlichen
Entwicklung eine derartige Auffassungsweise durch Ueberlieferung
bereits vorhandener — sei es in großen Dichtungen, sei es in den
lebendigen Märchen des im Zwielicht erzählenden Volkes ob-
jectiv gewordener — Mythen eindringlich zugeführt werden. In
diesem Sinne kann man wohl von der mythischen Ueberlieferung
als einer höheren reden, wie dies Göthe in dem Satze thnt:
„Das Abwesende wirkt auf uns durch Ueberlieferung. Die ge-
wohnliche ist historisch zu nennen; eine höhere, der Ein-
bildungskraft verwandte, ist mythisch."*)
Sie mag eine höhere heißen, weil sie der „Einbilduugs-
kraft" d. h. dem Mechanismus unserer appercipirenden Natur
verwandt ist, denn sie ist zugleich und in prägnanterem Sinne
als die gewöhnliche historische, ein Selbstergreifen des Ueber-
lieferten, indem die mythische Apperception den neu eintretenden
Erscheinungen auf halbem Wege entgegenkommt, weil du'
apriorischen Elemente für diese Art der Auffassung in zu-
reichender Anzahl gegeben sind. So läßt sich das Kind sehr
leicht die mythische Auffassung der Luft als einer schönen Priw
*) Maximen und Reflexionen Bd. III. S. 165.
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins- 255
Hessin „überliefern", weil es selbst nahe daran war, die weiße
^Üolke als die weiße Dame zu appercipiren. Schwer ist es
^er, dem Kinde die physikalische Vorstellung der Luft- und
^olkenbilduug begreiflich, ihm die „historische Ueberlieferuug"
zugänglich zu machen, weil diese nicht das Ergebniß Ursprung-
'icher, einfacher Apperceptionen ist, sondern erst auf dem Wege
deiner Objectivirungen, in denen die formalen Elemente der
Vorstellungen sich völlig ablösen, gewonnen wird. Und so
W auch Göthe, so hat jeder Dichter die mythische Apper-
^eptionsweise früher geübt, als die wissenschaftliche, und das
der eigenen Snbjectioität als der schärferen Ausprägung des
ursprünglich Menschlichen Verwandte in den ersten Proeessen
Mechanismus zur nachhaltigen Ausbildung gebracht. Der
Widerspruch des Subjectiveu und Objectiven hebt sich, wie wir
^hen, auf, denn das Objective selbst entspricht der eigensten
innersten Subjectivität. Was in jedem Kinde von Natur sub-
jectiv lebt, das ist in der Dichtung objeetiv ausgestaltet.
Dieses Verhältniß des subjectiven Dichters zur objectiv
gewordenen Dichtung erkennen wir aber nicht nur in der Ge-
Ichichte der einzelnen Dichter: es zeigt sich offenbar an der
^'ntwickelung der Dichtung. Ueberall, wo sich aus einem
strebenden Volksleben eine Literatur hervorarbeitet, da wird sie
denjenigen Mächten groß gezogen, die schon im Volke ein
Ausgebreitetes, wirkungsfähiges Dasein führen. Die Dichtung,
«us dem Kreise der religiösen Feier hervorgegangen, bleibt in
Griechenland bis in die späte Zeit unter dem Einfluß des del-
Mischen Priesterthums stehen. Wie die ältesten Sänger Hymnen-
Achter beim Orakeldienst des Apollo gewesen waren, so erhielt
ftch in den verschiedenen Gebieten der Kunst, in der Baukunst
**ud Plastik Wie in der Poesie — denn der Tempeldienst for-
mte und nutzte zu seiner würdigen Ausschmückung alle Gat-
^Ugen künstlerischen Schaffens — die Einwirkung des Priester-
^ums, dessen Hauptsitz Delphi der Mittelpunkt wurde, zu dem
^je in gleicher Richtung ihre Strahlen sendeten. Und diese
Einwirkung des hieratischen Elementes blieb so mächtig, daß
^ch in der späteren Entwicklung der Dichtung der Einfluß
er verschiedenen Perioden in der religiösen Anschauung sich
256
Coben
ausprägt. Die hesiodische Poesie ist von der homerischen durch
den inzwischen entwickelten Apollo-Cultus wesentlich geschieden,
uud auch in der Lyrik bildet sich gegenüber der Jndividualitäts-
dichtung der Sappho der delphische Charakter des strengen do-
rischen Chorgesanges, bei dem der Dichter widerrufen mußte,
wenn der Priester die Beleidigung eines Gottes oder nur einer
Halbgöttin in dem Gedichte gefunden haben wollte. (Stesichoros
und Helena!) Ueberall aber und unter den wechselnden Ein-
flüssen bilden sich Dichterschulen, wie bei den Israeliten der
Richterzeit Prophetenschulen, in denen der objective Geist der
lebendigen Dichtung vertreten ist, gleichwie derjenige der abge-
schiedenen Dichter in den literarischen Denkmalen fortdauert.
So haben wir denn den zweiten Hauptgrund für du'
Möglichkeit der Dichtung selbst in solchen Zeiten gefunden, in
denen die wissenschaftliche Appereeption unbestreitbar das Be-
wußtsein auch der dichtenden Menschen ergriffen hat. Wie kann
die mythische Appereeption auf das Gebiet dieser besonderen
abnormen Thätigkeit bewußtvoll zurückgedrängt und in dem-
selben erhalten werden? Mit den alten Philosophen erkennen
wir, wenngleich in wesentlich verschiedenem Sinne, in der Nach-
ahmung den Grund dieser Möglichkeit. Die Nachbildung der
in gewaltigen Schöpfungen objeetiv gewordenen Leistungen
Einzelner, welche in ihrem letzten Vorbilde, in ihren ersten An-
sängen ihre volle psychologische Begründung haben in dem ml)*
thischen Bewußtsein jener frühen Cnlturepochen — diese Nach-
bildung mit den der Menschen - Natur so innig verwandten
Mitteln ursprünglicher Appereeption ist bis in die spätesten
Zeiten der Hebel dichterischer Production geblieben. Man
empfand zu lebhaft, wie in den Saiten des eigenen Gemüthes
die Töne nachklingen, die aus dem Dichtersaal alter und jitw
gerer Zeiten herüberrauschten: was war da natürlicher, als das
man selbst mächtig in jene Saiten griff und neue Lieder an'
schlug, die harmonisch und ebenwürdig zu den alten Sängen
stimmten. Denn wahrlich! gleiche Kraft, wenn nicht eine gro'
ßere ist für den Dichter in solchen Zeiten erforderlich, wo dtf
1 mythische Appereeption durch alle Mittel wissenschaftlicher
Ziehung in der frühen Kindheit gehemmt wird, wenn er eiu
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 257
plastisches Werk im alten klassischen Sinne schaffen will: er
Muß an Ebenwerthigkeit der Kraft ersetzen, was ihm seine
^ulturperiode an Ebenbürtigkeit entzieht.
Hiermit will ich denn von vornherein den Vorwurf abge-
schnitten haben, als sei nach dieser Auffassung der Natur der
Poesie als einer zum Theil nachahmenden Thätigkeit der Cha-
rakter der Genialität verkannt. Was ist Genialität? Die
uberschwängliche Preisung dieser eigentümlichen Art psychischer
Thätigkeit hat die psychologische Schätzung immer erschwert;
karum wird ein bündiger Ausdruck dessen, was man unter ge-
Maler Productiou verstehen darf, auch für uusere Untersuchung
*^n klärendem Einfluß sein.
Alles menschliche Thun läßt sich in zwei Stellungen be-
Zeichnen, die wir zur Natur einnehmen: der Vorstellung und
^er Darstellung. Vorstellung heißt die Auffassung äußerer
^inge oder Verhältnisse im Gedanken, und Darstellung die
verschieden richtbare Thätigkeit des Geistes, dem Gedanken
durch eigene That eine außerhalb des Geistes räumliche Realität
Zu geben, sei es durch das Wort oder an einem greifbaren
Stoffe. Dieser Dualismus der Thätigkeit hat zu einer Anti-
^omie der menschlichen Fähigkeiten Anlaß gegeben, der zufolge
Man von dem Verhältnisse, das zwischen diesen beiden Fähig-
^iten bestehe, viel geredet und den Ausgleich dieser beiden als
^tgegengesetzt gedachten Fähigkeiten gefordert hat, wenn anders
„geniales" Kunstwerk erstehen soll. Aber bei der Bestim-
mung dieses Verhältnisses ging man, weil beide Glieder der
Proportion antinomisch gefaßt wurden, begreiflicher Weise weit
Auseinander. Die Einen sagten, die Kraft des Genies beruhe
M dem Ueberwiegen der darstellenden Fähigkeit, während die
^stellende ganz normal bleibe. Die Andern hingegen setzten
^en Grund der Genialität ausschließlich in die vorstellende
^ast und meinten, alle Darstellung sei das bloße Werk der
^chnik, die ein Jeder, auch der Ungeweihte, erwerben könne.
erstere Ansicht ist die flachere, denn woher, so muß man
^%n, soll jene Kraft der Darstellung stammen, wenn nicht
aus ^r Vorstellung? Wenn der Künstler die Fähigkeit hat,
Cltt Menschliches Gesicht mit allen seinen Regungen, in den
258
Cohen
feinen Linien, in denen Bildung und Gesittung sich markiren,
aus seinem Kopfe heraus auf die Leinwand zu setzen: foüte
dann der Unterschied des Genies vom gewöhnlichen Buchstaben-
maler, dem Schreiber, bei dem derselbe darstellende Proceß
statthat, in dieser Fähigkeit allein gelegen sein, wenn doch auch
dieser als Kind erst allmählich die Fertigkeit anüben muß?
Sollte man da nicht fragen müssen: Wie ist aber der Eindruck
dieses großen, in tausend und abertausend Gesichtswahrnehmungen
zerlegbaren Bildes in den Kopf des Künstlers getreten, aus
dem er es wieder darstellt? Hat der normale Beobachter
die Fähigkeit, alle Nuancen des Blickes auch nur zu sehen,
dauernd zu sehen und das Gesicht festzuhalten?
Wahrlich, diese Unterscheidungsweise ist nicht fern von der
mythischen, nach der das Genie von dem Himmel fallen muß,
aus der Götter Schooß, nach der es ein Geschenk der Musen
ist, die den Dichter bei der Geburt anlächeln, ihm den Honig
reichen, aus dem selbst die Götter dichterische Begeisterung
schöpfen.
Aber auch die andere Erklärungsweise ist unzureichend-
Wenn die Darstellung bei dem Genie die gleiche sein und nur
die Kraft der Vorstellung den Unterschied bedingen soll, so
bleibt die Verschiedenheit der Technik unerklärt. Wenn ein
handlich oder — was die Dichtkunst betrifft — sprachlich voll-
kommen ausgebildeter Mensch, dennoch bei gleicher Uebung nichi
die Fähigkeit der gleichen Darstellungsleistung gewinnt, sollte
dann nicht in der Speeialität der Darstellung zugleich der Un- '
terschied mitbegründet sein? Ist nicht auch die Technik ein
Product der inneren Arbeit der Vorstellungen, des Processi
ihrer Jneinanderwirkuug zu coordinirten Reflexen? Aber dies?
Zusammengehörigkeit der verschiedenen Arten psychischer Thätig^
keit hat man übersehen und einen antinomischen Widerstreit er- j
dichtet, der in der Natur des geistigen Wirkens durchaus niA
besteht. Eine instructive Form hat dieser Gedanke in dem ftf' •
kannten Lessing'schen Worte in Emilia Galotti gesunden, naä)
dem Raphael auch ohne Hände ein Raphael hätte werden können-
Abgesehen von der empirischen Leerheit dieses in der dram^
tischen Convention wohl statthaften Blitzwortes, insofern ^
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 259
ja keinen Maler gegeben hat und geben kann, der nicht ein
Malender wäre, also Hände hätte; abgesehen von diesem Cha-
rakter des Gedankens, der sich nur vermöge der antithetischen
Form, in der er durch den Kopf schwirrt, im Bewußtsein er-
hält, ist auch das Halbwahre, das in ihm, wie in jedem geist-
reichen Worte ausgedrückt ist, schief gefaßt. Schief nenne ich
es, daß Lessing den halbwahren Gedanken, die Kraft der Dar-
stellung beruhe allein in der der Vorstellung, so daß alle künst-
lerische Genialität von der Technik unabhängig sei, so ausdrückt,
daß die Möglichkeit der Darstellung ganz und gar gestrichen
wird. Ohne alle Darstellung sei der Künstler einzig und allein
als Vorstellender ein Genie, ein Raphael! Das ist ja aber
auch keineswegs gemeint, sondern das Halbwahre sollte nur
scharf ausgedrückt werden, und in dieser brillanten Form wird
Alles auf den Kopf gestellt. Es ist eine falsche Pietät, solche
Stellen aus den Werken unserer großen Dichter, vor deren
hohem Geiste späte Geschlechter noch den Sinn beugen werden,
nicht zu beachten und zu kennzeichnen, damit ihre fernere Nach-
ahmung nicht weiteren Schaden stifte. In der Literatur soll
eine jede einzelne Production auf ihren Werth für die Gestal-
tung der künftigen Cultur geprüft werden, ohüe daß man
fürchten müßte, der sich auf das Einzelne beschränkende Tadel
könnte maßlos über die Grenze seines Bezuges hinausgedehnt
werden.
Der Hauptfehler in der Benrtheilung des Wesens der
Genialität liegt also darin, daß man von der Antinomie aus-
gegangen und zu einer extremen Ausbildung derselben fortge-
schritten ist, während jede Antinomie nur durch die richtige Ver-
öindnng ihrer beiden Glieder vermöge der Aufhebung ihrer
eonträren Stellungen geschlichtet werden kann. Wie die Sprache
zu dem Geiste, so verhält sich die Darstellung überhaupt zur
Borstellung. Wie durch das Wort die Entwicklung des Geistes
gefördert, ja bedingt wird, so ist jede Art der Darstellung
mitwirkend bei der Ausbildung der Vorstellung. Die Darstel-
lung ist der Reflex der Vorstellung, mithin wie jeder Reflex in
dem Grade seiner Schärfe und Schnelligkeit an die sensorielle
Function gebunden. Aber einerseits hebt der Reflex nun die
260
Cohen
vorstellende Thätigkeit; andererseits setzt er selbst eine Eoordi-
Nation der reflectirenden Nerven- und Muskelgruppen voraus
und ist so in dem natürlichen Verhältnisse des Organismus vor-
angelegt. Wie aber die Reflexion durch die Hebung gesteigert
wird, so wird auch die Vorstellung, die Wirksamkeit des Geistes
erhöht durch die Hebung, durch die Bildung und Verbindung
vieler und neuer Apperzeptionen und deren reflectorischer Dar-
stellnngen. Beide Elemente also, Vorstellung wie Darstellung,
sind in gleicher Weise — wie man sagt — angeboren und
müssen in gleicher Weise angeübt werden. Das Wesen des
Genie besteht in der proportionirten Verbindung beider, schein-
bar antinomischer, im Grunde aber einander ergänzender Thä-
tigkeitssormen, die gleich angeboren sein und gleich an geübt
werden müssen.
Faßt man den Charakter des Genies in dieser Weise, so
kann es nicht befremden, wenn wir das Princip der Nachahmung
auch für das dichterische Genie gelten lassen wollen. Die nach-
zuahmenden Dinge werden von den apriorischen Vorstellungen
des Dichters appercipirt und treten in seinem Geiste mit den
alten Vorstellungsreihen in Verbindung. Dadurch bilden sich
neue Verflechtungen, je nachdem die Vorstellungen mehr oder
weniger übereinstimmen. Die zu appercipirenden Elemente
treten in den gelesenen Dichtwerken aber als dargestellte Vor-
stellnngen entgegen und erregen so den ohnehin schon im Be-
wußtsein vorhandenen Trieb zur reflectorischen Darstellung der
neuen Ergebnisse des Apperceptionsprocesses an. Wenn dem
dichterischen Genius ein Gedicht, eine dichterische Vorstellung,
eine mythische Apperception geboten wird, so tritt dieselbe schnell
in neue Verbände mit den im Bewußtsein des Dichters apriori-
schen Vorstellungen und reizt ihn, insofern die Elemente nicht
verschmelzen, zu eigener Darstellung auf. Wie er die Vor-
stellung im poetischen Worte, im Ton, im Bild empfangen hat,
so reflectirt er sie wieder in derselben Form der Darstellung.
Zu diesem Motiv für die dichterische Production, das den
psychologischen Mechanismus des Individuums zwingt, kommt
nun noch ein anderes, völkerpsychologisches. Alles Bestehende,
lange Bestehende wird für das Bewußtsein der Menschen ein
Die dichterische Phauta'!e und der Mechanismus des Bewußtseins. 261
Beständiges; obzwar es nur seine subjective Begründung
hat, erlangt es einen objectiven Grund. Das zeigt sich in
allen Fragen der Erkenntniß, der rein theoretischen, wie der
ethisch-praktischen. Dieses Bewußtsein bildet und stärkt zu allen
Zeiten den historischen Widerstand gegen das neu Andringende,
Zur Umgestaltung Strebende, und wie in dem Staatsleben ist es
in dem Entwicklungsgänge der Wissenschaften dasselbe Hemm-
niß mit dem gleichen Erkennungszeichen. Wo der Entwickelungs-
gang ein stetiger ist, wo nicht neue umwälzende Ideen gähren,
lvie man denn^in der ästhetischen Anschauung der Völker nicht
erhebliche, unerhörte Neuerungen bemerken kann*), da lebt der
objective Geist, der Glaube der Einzelnen an die Objectivität
ker geschichtlichen Gestalten, ohne merklichen Kamps bestehen zu
müssen. Es genügt sich Alles in dem Neubilden nach den
alten Prototypen. Ist ja doch der alte Geist noch immer le-
öendig, die alte Cultur nicht ausgetilgt; noch immer riunt das
mythische Blut in den Adern naturforschender Spätgeborener,
die Plastik der Sprache vermag beide in ihren Principien so
getrennte Vorstellungsweisen in Verbindung zu setzen: warum
sollte der Dichter, wenn er, wie er muß, alle die schönen und
guten Gedanken, die schon die Ahnen, die großen Dichter der
Vorzeit, die dichtenden Völker gedacht und gesungen haben,
Noch einmal neu denken und singen will — wie sollte er sie
^icht in derselben Form nachdenken wollen, in der die Wahrheit
^ Gewände der Schönheit alle Herzen zwingt? Sagt doch
^öthe selbst: „Alles Gescheidte ist schon einmal gedacht wor-
^n, es kommt nur daraus an, es noch einmal zu denken."
^ud wenn die Individualität des Homer verleugnet wird, so
es doch schön, „der letzte der Homeriden zu sein."
kommt der Dichter gar nicht zu der Frage nach der Mög-
^chkeit, so inadäquate Vorstellungen zu bilden, und wenn die
Skepsis ihn beschleicht, wird sie alsobald durch das Bewußtsein
^'scheucht: diese Vorstellungsweise ist ja in der mehrtausend-
)%igen Geschichte objeetiv geworden. Wie nun der Dichter
j *) Die Gleichheit der poetischen Stoffe in den verschiedensten Zeiten
hlerdei zu beachten. Faust und die mittelalterliche Faustsage.
262
Cohen
während semer Jugend, bevor er zur wissenschaftlichen Combi-
nation gereift ist, diese ursprünglichen mythischen Apperzeptionen
selbständig erzeugt, so geheu sie im späteren Leben als histo-
rische Tradition neben den Wissenschaften einher, da sie in der
Geschichte der Dichtung ein objectives Dasein gewonnen haben.
Nun beginnt das Spiel der Vertretungen. Die Kunst wird
die Jdealisirung der gemeinen Wirklichkeit, die Schaubühne
die „beste moralische Anstalt", die Dichtung die „Offen-
barung der Humanitätsidee". So wird jeder Zweifel an
der Richtigkeit des Unternehmens im Keime erstickt.
Spuren indessen von diesem Zweifel an der ferneren An-
wendbarkeit der alten mythischen Apperceptionen wird man
öfters in der Geschichte der Dichtung finden. Innerhalb der
productivsten Literatur gerade sind solche Bestrebungen hervor-
getreten, die veralteten Vorstellungsweisen durch andere der
Gesammtbildung entweder mehr entsprechende oder mehr förder-
liche zu ersetzen. Hierbei können sich Jrrthümer geltend machen,
wie wenn Klopstock die altnordische Mythologie einführen uud
zugleich die biblischen Figuren zu Appereeptionsorganen der
Dichtung machen wollte. Aber man erkennt doch aus solchen
Bestrebungen, daß das Rütteln an den hergebrachten Einrich-
tnngen möglich war; die Erfolglosigkeit desselben beweist um
so mehr die Wichtigkeit der betrachteten Momente für das Be-
wußtsein der dichtenden Menschheit.
Aenderuugen solcher Art werden jedoch immer nur für ein-
zelne Gestalten des allgemeinen poetischen Typus erstrebt; an
der allgemeinen Vorstellungsform der Dichtung wird kein er-
heblicher Anstoß genommen. Der Dichter selbst befindet sich
im reinsten Einklang mit der gesammten Culturbewegung-
Wenn die Dichtung auch — so weist er sein theoretisches Gewissen
zurecht — auf die Combination adäquater Vorstellungen keinen
Anspruch erheben dürfte, so ist sie gerade um desto werthvoller
für die Menschen, deren Ideen in Antinomieen schweben-
Die Dichtung löst die ängstlichen Fragen des Gemüthes, indew
sie jene mystische Verbindung herstellt zwischen dem Subjecte,
das sich uneins fühlt mit der Welt, und jenem System de*
Kräfte, das in der allbesassenden Natur der Objecte kreiset!
Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins. 263
Ob nun wirklich von der Dichtung dieses „Unbeschreib-
liche gethan" wird, ob sie die gesteigerte Cultur des Geistes
mit den Naturforderungen des Gemüthes — nicht zu be-
schwichtigen, sondern auszusöhnen vermag, ob sie den wahren,
allein wahren Genuß der Naturschönheit gewähren kann,
in dem ein mit dem Culturgehalt seiner Zeit ausgerüsteter
Denker — nach Kant's tiefem Ausdruck — „gleichsam Wol-
lust für seinen Geist in einem Gedankengange findet", ob
sie jene Erhabenheit des Gefühls erregen kann, welche wir bei
der Offenbarung der Naturgeheimnisse empfinden, wie sie die
Wissenschaft der gegenwärtigen Geschichtsperiode,
die Wissenschast der Natur, enthüllt?
Diese Fragen, so heftig sie sich zndrängen, streben über
die Grenzen dieser Abhandlung hinaus. Ihre Lösung bleibt
der Ethik vorbehalten, die aus dem Kerne der sittlichen Er-
ziehnngslehre des Individuums zur Ethik des Staates, der
Völker, der Menschheit reifen wird.
Welche Richtung aber der dichterische Geist der künftigen
Tage nehmen, mit welchem Inhalt er sich erfüllen wird, das
dürfte sich erst bei dem unzweideutigeren „Gewahrwerden einer
fremden Cultur" mit Sicherheit bestimmen lassen. Der psy-
chologischen Untersuchung muß es genügen, die Uebereinstim-
Mnng methodisch zu erforschen, welche zwischen ihrer Hypothese
von der Einheit des Bewußtseins und dem psychischen
Proceß der bisherigen Dichtung besteht.
264
Steinthal
Ludwig .Tolilcr, Dr. Prof. an der Hochschule in Bern,
Heber die Wortzusammensetzung, nebst einem Anhang
über die verstärkenden Zusammensetzungen. Ein Bei-
trag zur philosophischen und vergleichenden Sprach-
Wissenschaft. Berlin 1868.
Der Verf. ist durch manchen sprachwissenschaftlichen Auf-
satz in dieser wie in andern Zeitschriften schon längst vortheil-
Haft bekannt. In der vorliegenden ausgeführten Monographie
tritt der Charakter seiner Bestrebungen noch deutlicher hervor,
als dies schon in den kleineren Arbeiten der Fall war. Der
Kreis von Thatsachen, innerhalb dessen er sich mit Freiheit be-
wegt, ist verhältnißmäßig (d. h. etwa mit Pott oder Gabe-
lentz verglichen) nicht allzugroß; er umfaßt die klassischen, die
germanischen und die romanischen Sprachen; diese aber beherrscht
er bis in die Einzelheiten. Dabei ist er mit den Arbeiten über
den asiatischen Zweig des indogermanischen Stammes, wie mit
der ganzen, auch die fernstliegenden Sprachen einschließenden,
sprachwissenschaftlichen Literatur wohl vertraut. Indessen, wie
sorgfältig er auch um die relative Vollständigkeit, noch mehr
um die richtige und genaue Darstellung der Thatsachen bemüht
ist: nicht hier liegt der eigenthümliche Werth seiner Bestrebungen.
Der ist vielmehr in der begrifflichen und idealen Durchdringung
und Verknüpfung des Bestandes der Thatsachen zu erkennen.
Das zeigt schon der Gegenstand, den diesmal der Verf. gewählt
hat. Die Zusammensetzung der Wörter ist ja schon mehrfach
vortrefflich bearbeitet. Zu Grimm's reichhaltigem Kapitel der
deutschen Sprachen gesellt sich das gleichartige der romanischen
Grammatik von Diez; Justi aber hat die Zusammensetzung
durch den ganzen indogermanischen Stamm verfolgt, während
auch Bopp derselben in seiner vergleichenden Grammatik an-
gemessenen Raum widmete. Daß Schleicher in seinem Com-
pendium sich darauf beschränkt, der Zusammensetzung eben nur
Veurtheilung.
265
lhren Platz anzuweisen, auf eine nähere Betrachtung aber nicht
eingeht, wird vielleicht von Manchem bedauert, sollte aber viel-
mehr die Frage veranlassen, ob dazu nicht ein objeetiver, in
der Sache selbst liegender Grund Veranlassung gab. Von den
speeielleren Arbeiten neuester Zeit mag nur Richard Rödiger
(De priorum membrorum in nominibus Graecis compositis
conformatione finali) erwähnt werden. Wie reich und geist-
voll nun aber auch diese Arbeiten sind, sie bilden doch ihrer
eigentlichen Aufgabe nach nur die Grundlage für des Verf.s
Bestrebungen. Sie sind sämmtlich ihrem Wesen nach etymo-
logisch; dem Verf. ist es um „die philosophische Ergründnng"
zu thnn; er wollte einen Beitrag „zu einer immer leben-
digeren Wechselwirkung zwischen Philosophie und Einzelwissen-
schasten" liefern, in welcher er „das höchste Ziel und einzige
Heil beider erblickt".
Sprechen wir erstlich nach der einen Seite hin, nämlich
nach Seiten der Kenntniß und Ausnahme der Thatsachen kurz
und schlechthin unsere Anerkennung aus, und prüfen wir nun
nach der anderen Seite hin, inwiefern ihm die höhere Syn-
thesis, nach der Ueberschau auch die Durchschau der Thatsachen
gelungen ist.
Ungern vermissen wir ein besonderes Kapitel über den
Begriff uud das Wesen der Zusammensetzung an sich; und zwar
hätte dieses an der Spitze des Ganzen stehen müssen. Der
Bers. scheint zu meinen, daß der Begriff der Zusammensetzung
eben Gegenstand des ganzen Buches sei und aus den Theilen
desselben seine Merkmale gewinne. So ist es auch. Das heißt
über, der Verf. giebt uns seine Arbeit statt das Ergebniß der-
selben. Das ist mindestens ein stylistischer Fehler, durch den
kie Verständlichkeit verloren hat, vielleicht auch der Inhalt selbst,
^enn nämlich der Verf. im ersten Abschnitte die „Unterschiede
^ Zusammensetzung von scheinbar ähnlichen Wortbildungen"
Erlegt, dann im zweiten von den „inneren Unterschieden der
Zusammensetzung; von echter und unechter, eigentlicher und
Uneigentlicher Zusammensetzung, von Trennbarkeit und Stellung
e* Glieder, von der Wortart des Ganzen" handelt, so muß
freilich wohl hieraus der Begriff und die Lautform der
266
Steinthal
Zusammensetzung nach allen Momenten allmählich heraus ent-
wickeln; und durch die im dritten Abschnitte gegebene logische
und psychologische Betrachtung muß sich das Wesen der Zu-
sammensetzuug enthüllen: das ist aber eben der Gang, den die
Arbeit des Verf.s genommen hat, und indem er diesen dar-
stellt, läßt er uns suchen, statt uns seinen Fund zu geben. Aus
der Vergleichung z. B. von Ableitung und Zusammensetzung
miteinander hellt sich gewiß der Begriff beider auf. Wäre uns
aber ein Begriff der Zusammensetzung durch eine Betrachtung
der unzweifelhaft unter diese Kategorie fallenden Thatsachen an
sich schon gegeben, so würde die Vergleichung derselben mit
andern sprachlichen Gestaltungen gewiß leichter, vielleicht auch
fruchtbarer. Wenn ferner über die Echtheit und das rechte
Maß der Composition und das Gegentheil ein sicheres Urtheil
gewonnen werden sollte, so hätte der Verf. sogleich im ersten
Kapitel nach Feststellung des Begriffs und der lautlichen For-
mung des Compositions-Proceffes und aus dem Inhalte dieses
Begriffes heraus die Stellung der Composition als eines eigen-
thümlichen Bildungsmittels in der Technik der Sprache, den
Ort ihrer Verwendung und damit ihre Bedeutung für den
Organismus der Sprache zu entwickeln gehabt. Wie will
man ein Abweichen vom Gesetz, ein Ueberschreiten des Maßes
constatiren, wenn nicht zuvor ein solches Maß und Gesetz ge-
geben ist? — Nehmen wir indessen den Verf., wie er sich uns
giebt, und fragen wir mit ihm zuerst: wie unterscheidet sich die
Zusammensetzung von Flexion und Ableitung?
Der Verf. antwortet (S. 1), Zusammensetzung finde Statt,
wenn „Wörter, d. h. selbständige und bereits geformte Sprach-
demente, durch förmliche Verbindung mit einander ein neues
Wort erzeugen"; und er fährt fort: „Ein principieller Unter-
schied der Zusammensetzung von der Ableitung und Abwandlung
besteht also darin, daß die Prodncte der beiden letzteren zwar
theoretisch in Bestandtheile zerlegt, aber nicht wirklich aus
solchen zusammengesetzt werden können, weil höchstens der eine
von diesen sich als selbständiges Sprachelement ausweist, das
überdies eher Stamm als Wort zu nennen sein wird." Da
aber der Verf. nicht leugnet (S. 2), „daß auch die Derivations-
Bcnrtheilung, 267
und Flexionssylben, wenigstens zum Theil, einst selbständiges
Dasein und eigene Bedeutung nach Art von Wörtern mögen
besessen haben", so würde der eben ausgesprochene Unterschied
koch keine prineipielle Bedeutung .haben. Die abgeleiteten und
abgewandelten Wortformen wären bloß allmählich erstarrte Zu-
sammensetzungen ältester Zeit; erstarrt sind sie, weil die schlie-
ßenden Elemente ihre Selbständigkeit als besondere Wörter-
verloren haben. Ja, ich meine, es sei nicht schwer, den Ge-
sichtspunkt zu finden, von dem aus die Wertformen noch nicht
einmal als erstarrt und die Flexionssylben nicht als unselbständig
erscheinen; wie andererseits auch die Composita in einem Lichte
betrachtet werden können, wo sie sich als Gebilde zeigen, die
nicht zerlegt und nicht mehr „wirklich" aus ihren Bestandtheilen
Zusammengesetzt werden können; — und so würde das Gesagte
ganz in sich zusammenfallen. Daher fügt der Verf. hinzu
(das.): „Dieser Unterschied beruht auf der für alle Sprachbil-
dung entscheidenden Thatsache, daß gerade bei den geistig be-
gabtesten Völkern der Urzeit ein Theil der Sprachelemente
scheinbar degradirt, in der That aber zu dem ausgezeichneten
Und den ganzen Sprachbau erhöhenden Dienste bestimmt wurde,
wit Verzicht auf eigene stoffliche Bedeutung nur dem Ausdruck
formeller Beziehungen, also insbesondere jener allgemeinen Denk-
farmen zu leben, die man grammatische Kategorien zu nennen
pflegt." Dieser Gedanke, den der Verf. fast nur wie gelegent-
ttch herbeizieht, wäre vielmehr an die Spitze zu stellen und
Ausführlich zu begründen gewesen; von ihm aus hätte der Verf.
^as Wesen der Composition wie der Wortformung in ihrem
Gegensätze darzulegen gehabt. Statt nun diesen Gedanken,
Uachdem er auf ihn gekommen ist, weiter auszuführen, springt
^er Verf. ab und kehrt zu seinem Ausgangspunkte zurück. Nun
^rmulirt er den Gegensatz so, „daß die Flexion Wörter eben
schafft, während die Composition solche bereits voraussetzt",
^amit aber kämen wir nur dahin, daß die Flexion die ursprüng-
. 7e Zusammensetzung, die Composition eine auf Grundlage
Mer ersten Zusammensetzung weiter fortgesetzte Zusammen-
Atzung ist.
Das ist nun freilich nicht des Verf.s Meinung. Er spricht
268
Steinthal
vielmehr entschieden aus (S. 3): „Unstatthaft ist es jedenfalls,
die Flexion sowie die Derivation förmlich als bloße Arten
von Composition aufzufassen, indem man den engeren festen
Begriff von Composition, wie wir ihn gleich Anfangs aus dem
Sprachgebrauch entnommen haben, zu der vagen Allgemeinheit
von irgend welcher Aneinanderfügung irgend welcher Sprach-
demente erweitert." Ganz richtig; völlig unstatthaft ist das.
Erwiesen aber wird diese Uustatthaftigkeit nur, wenn auf den
vom Verf. nicht genug hervorgehobenen Kerngedanken zurück-
gegangen wird, nicht aber, wenn man sich auf den Sprachge-
brauch beruft, den unsere Gegner gerade umstoßen wollen.
Der Verf. kennt sie schlecht, unsere Gegner. Flexion und De-
rivation und Composition sind ihnen nicht einmal verschiedene
„Arten" der Zusammensetzung, sondern sie sind ihnen Zusammen-
setzung schlechthin, höchstens unwesentlich, etwa chronologisch
verschiedene Varietäten derselben Art, im Grunde gleichgültige
Modisieationen derselben vagen Allgemeinheit.
„Dieser verdorbene Begriff", sagt der Verf. sehr richtig,
„wird auch nicht etwa verbessert dadurch, daß man die drei
Bildungsweisen als eben so viele Grade von Innigkeit oder
Festigkeit jener Fügung unterscheidet, denn dieselben liegen über-
Haupt nicht aus einer Linie als bloß quantitative Stationen,
sondern sie sind qualitativ verschieden, trotz äußerer Aehn-
lichkeit der Formen ihrer Producte, weil sie ganz verschiedenett
Bedürfnissen und Zwecken dienen." Das ist dreimal wahr!
Aber der Verf. hat uns noch gar nichts von diesen Bedürfe
nissen und Zwecken der Composition gesagt.
So dürfte wohl eine Ergänzung zu des Verf.s Darlegung
angemessen sein. Man gestatte mir ein grobes Gleichniß. Ein
Stuhl ist etwas Zusammengesetztes; er besteht aus Sessel,
Lehne und Fuß, von welchen Bestandteilen jeder wieder aus
mehreren Stücken zusammengefügt sein kann: so ist ein Com-
positum aus zwei oder mehreren Stücken gebildet. Diese Stücke
sind Stoff, und die Composition ist also eine Vereinigung votf
Stoffen. Der Stuhl aber sei von Birkenholz und belegt rn#
Mahagoni-Plättchen: so ist auch dies eine Zusammensetzung,
aber offenbar eine Zusammensetzung, die zwar nur eben so durä)
Veurtheilung.
269
Neimen bewirkt ist, wie die jener Stucke, die aber doch einen
ganz anderen Sinn hat, — einen formalen, möchte ich sagen;
und in der Wortform entspricht dem Birkenholz die Wurzel,
den Mahagoni-Platten die Suffixe. Diese Platten, so ver-
Werth et, zum bloßen Schmuck, zur Form des Stuhls, siud frei-
ttch, bevor sie auf das Birkenholz geleimt sind, ein Stoff an
sich, und sie könnten z. B. zu Linealen verwendet werden und
blieben dann besondere Stoffe: so siud auch die Elemente, welche
Zu Suffixen geworden sind, bevor sie dies sind, und an sich
genommen, ein Stoff, und es können daraus auch besondere
Stoffwörter gebildet werden; nun aber einmal als Suffixe ver-
werthet, dienen sie zur Formung der Wurzel. Das wird hos-
fentlich deutlich sein.
Aber auch der Lantproeeß, durch welchen Composita ent-
stehen, hätte vor allen weiteren Unterscheidungen hingestellt
werden müssen. Hierbei möchte ich nur den wesentlichsten Punkt
herausheben. Es muß, meine ich, scharf ausgesprochen werden:
eine Flexionsform besteht aus einem Stamme mit einem Suffix;
ein Compositum aus zwei Stämmen, denen als Einheit ge-
uommen ein Susfix zukommt. So ist der Unterschied Hand-
greiflich.
Wir übergehen, was der Verf. in den vier folgenden Ka-
piteln des ersten Abschnittes über die Unterscheidung der Zu-
!ammensetzung von Rednplication und andern Erscheinungen
i^gt, welche in den niedriger organisirten Sprachen vorkommen
Uud mehr oder weniger unserer Zusammensetzung ähnlich er-
seinen. Wir begnügen uns, hier des Verfs. Umsicht und
vorsichtige Veurtheilung gebührend anzuerkennen. Besonders
Muß ich, mit Absehung von allen Einzelheiten, dem «streben
^ Verf.s überhaupt, das auch hier wieder entschieden hervor-
^'itt, meine volle Uebereinstimmuug zusichern, dem Streben näm-
die vagen, unterschiedslosen Allgemeinheiten zu verbannen
die bestimmten Charaktere der Sprach-Erscheinnngen auf-
fassen.
Wir kommen zum zweiten Abschnitt; und sehen wir zu-
erft wie echte und unechte Zusammensetzung unterschieden wird.
Der Vers, knüpft hier an die von den indischen Grammatikern
für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. 18
270
Steinthal
so genannten Dvandva-(Sompoftta an, d. h. an die paarende
Zusammensetzung, dem: Glieder, wenn wir sie auflösen, durch
„und" verbunden werden, z. B. Vater-Mntter für Vater und
Mutter. Während bei den sonstigen Composita ein Glied dem
andern untergeordnet ist, herrscht in jenen vielmehr Beiordnung
der Glieder. Schon Justi hat, indem er eine Stufenfolge
von Compofitionsweisen aufstellt, die Dvandva an die unterste
Stelle gesetzt. Der Verf. bemerkt (S. 35): „Ungenügend wäre
es jedenfalls, mit einseitiger Rücksicht auf die äußere Form und
abgesehen von ihrem inneren Werthe, die Dvandva-Composita
mit den übrigen einfach darum gleich zu stellen, weil sie factisch
allerdings eine Vereinigung zweier Wörter so gut wie die au-
deru darbieten". Aber warum wäre denn das ungenügend?
oder welchen Mangel ihres inneren Werthes hat der Vrf. ihnen
vorzuwerfen? Wo ist gesagt, daß die Glieder der Zusammen-
setzung unter einander nothwendig in einem Verhältnisse der
Unterordnung stehen müssen? Will man aber dem Dvandva
eine niedrigere Stufe anweisen, so mag das vielleicht nicht mit
Unrecht geschehen; der Verf. jedoch will dasselbe nicht einmal
als echte Composition ansehn — warum nicht? (S. 38):
„Was solche Verbindung von echter Zusammensetzung noch
scheidet, ist eben gerade dieses rein eopnlative, mehr additionelle
als multiplicative Wesen, und je mehr die Verbindung dem
letzten Charakter sich nähert, um so mehr tritt an die Stelle
des Scheines das Wesen und der Werth der Zusammensetzung".
Wenn man auf solche Streitfragen und solche Entscheidungen
stößt, so wird denn doch wohl deutlich, daß es nicht ein bloßer
logischer Tick ist, wenn nach der alten logischen Regel gefor-
dert wird, der Schriftsteller solle vor Allem sagen, was das
ist, wovon er spricht. Wie will man sich ohne festen Begriff
in dem wirren Reiche der Thatsachen zurecht finden? Mag es
immerhin sein, daß sich die Thatsachen tausendfältig zu dem
Begriffskreise excentrisch verhalten und daß sie sich nicht in
regelmäßiger Kreisform bewegen; an Winkeleisen und Cirkel
muß doch alles gemessen werden.
Noch ein anderer Punkt kommt hier in Betracht. Unans-
rottbar scheint die Neigung zu sitzen, das Vollkommenere als
Beurtheilung.
271
«us dem Unvollkommeneren entwickelt anzusehen. Hiermit ver-
schmilzt noch etwas. Die Neberschätzung des Sanskrit, die
freilich im Allgemeinen jetzt als überwunden angesehen werden
darf, tritt hier in dem besondern Falle in einem eigenthümlichen
versteck auf. Das Sanskrit soll uns in seiner Alterthümlich-
fttt mit dem Dvandva einen Rest niedrigerer Bildungsform
aufbewahrt haben, welche die europäischen Sprachen gänzlich
von sich abgestreift hätten. — Hiergegen will ich nun nicht ge-
rade in starrer Einseitigkeit behaupten, daß überall das Ur-
fprüugliche das Vollkommenere sei; aber so viel steht fest nnd
wird allgemein und auch vom Vrf. und namentlich in Bezug
aus die Komposition zugestanden, daß das Sanskrit „in orien-
talisch überschwenglicher Entwicklung des echten Triebes der-
selben" (S. 34) vielfach von der maßvollen, gesetzmäßigen Ver-
Sendung abgewichen ist. Und nnr den indischen Mißbrauch
des Dvandva scheint man im Auge zu haben, wenn man diese
Compositionssorm als unecht verdammt.
Ich ha^e das Dvandva für eine echte Composition und
tadle den Mißbrauch desselben. Sehr zweifelhaft scheint mir
des Vrf.s Behauptung (S. 38), daß „auf italischem so wie
aus griechischem Boden keine Spur von Dvandvabildnng mehr
begegnet". Daß die Volkssprache der Hellenen viele Komposita
dieser Art besaß, ist mir schon durch das Neugriechische gewiß,
wo z. B. folgende Fälle begegnen: to dvSpofuvov das Ehepaar;
~K ^DvaixoTTcaSa Frauen und Kinder, ia [Aa^aiponspva Messer
Und Gabeln, xa ■yiSoTcpoßaxa Ziegen und Schafe, xÄ^nsXv^cup«^«
die Weinberge und die Aecker, ja sogar eine Composition aus
werben Ttyj'yai.vosp^oji.at ich komme und gehe (s. Mullach,
^r. d. griech. Vulgarspr. S. 148 f. Roß, Reisen auf d. gr.
Inseln II. S. 109). Aus dem Alterthum überliefert ist, ab-
gesehen von Z7jvo7roasi8a>v Zeus und Poseidon*), ßaxpor/o-jxuo-
*) Beim Athenaeus H 337 c. Zu erwägen bleibt nicht sowohl dies,
uns der Name in einer scherzhaften Anekdote überliefert ist, denn der
^miker hat ihn nicht erfunden; es muß einen Tempel Z7)vono<yet§wvos in
wirklich gegeben haben. Auch lehrt der Zusammenhang, daß der
e so zu verstehen ist: Zens und Poseidon. Es wird nämlich erzählt,
af3 ein Musiker in Mylasa in keinem Gasthause Unterkommen fand. Als
18 *
272 Steinthal
{xa^ia der Frösche' und Mäuse Krieg, su-ovi-taur-ilia (Opfer)
von Schwein, Schaf und Stier, Xsuxo-jjiXas weiß und schwarz,
vu/Or^spov Nacht und Tag (Bopp). Daß die beiden erstge-
nannten Wörter nicht bloße Dvandva sind, thut nichts zur
Sache. Ebenso das von Heerdegen aus Aristophanes (Ran.
966) angeführte aaXTrrffo-Xoy^-uTr/jvaoai tubas hastasque bar-
basque habentes.
Solche Beispiele lehren doch wohl, daß das Dvandva der
alten Volkssprache nicht fremd war. Der Vrf. selbst bemerkt
(S. 40): „daß die Dvandva - Verbindungen von Götternamen
im Sanskrit nicht so ganz beliebig sind, sondern auf eine wirk-
liche innere Zusammengehörigkeit derselben gegründet, eine Dna-
lität des Wesens, wie W. v. Humboldt sie für den Begriff
des Dualis selbst, als grammatischer Form, zu Grunde legt."
Es liegen, wie der Vrf. bemerkt (S. 41), im Dvandva „Paa-
rungen oder Gegensätze, welche einander mit Naturnothwendig-
keit ergänzen, wie Tag und Nacht, Himmel und Erde, Götter
und Menschen." Wenn also der Vrf. später lS. 80) seine
Ansicht beschränkend sagt: „Die Dvandva-Komposita müssen
von echter Zusammensetzung wenigstens dann ausgeschlossen
werden, wenn sie nur eine äußerliche Gesellung, nicht eine in-
nere Durchdringung bedeuten, eine Summe statt eines Pro-
duetes", so meineich, daß diejenigen Dvandva, welche hiernach
er sich nun deshalb vor einem Tempel niederließ und erfuhr, daß dies ein
Tempel des Zens und Poseidon sei, bemerkte er, es sei kein Wunder, wenn
man in einer Stadt kein Unterkommen finden könne, wo es so eng ist, daß
selbst die Götter paarweise (a6v8uo) wohnen. So würde jener Name eine
Bildungsweise bekunden, die ganz genau den Zusammensetzungen indischer
Götternamen entspricht. Indessen ans der Anekdote ergiebt sich zugleich,
daß dieser Fall, daß ein Tempel zweien Göttern gehöre, einzig gewesen
sein müsse. Ja, diese Auffassung scheint falsch gewesen zu sein, und viel-
leicht beruht das Lächerliche zum besten Theil auf der dem Erzähler be-
wußten falschen Erklärung. Denn jener karische Tempel war ungriechisch',
mau übersetzte bloß den fremden Gottesnamen, da er theils dem ZeuS,
theils dem Poseidon entsprach, mit Zenoposeidon und verstand darunter
einen Poseidon, der von der Natur des Zeus an sich trägt (vergl. Welcker
gr. Götterl. I. S. 641). Nur jener Musiker gab absichtlich eine andere
Deutung des Namens.
Beurtheilung.
273
unechte Zusammensetzungen sind, eben auch unechte Dvandva
sind. Solch ein Compositum wie (hrsita + srag)4-(ragan-i-
Wa), zu deutsch etwa: Blumen-bekränzt (und) Stanb-los, ist die
abgeschmackteste und niedrigste Redeweise, die aus indogerma-
nischem Gebiete vorkommen mag.
Kurz, wenn ich irgend weiß und fühle, was eine Zusam-
^Umsetzung ist, so kann ich das echte Dvandva nur als durch-
aus echte Zusammensetzung ansehen, als die sinnlichste, am meisten
Poetische, also kräftigste Form derselben. Gerade darum geht
sie, wie der Dual, mit der Entwickelnng des abstrakteren Ver-
fremdes verloren oder wird sinnlos gemißbraucht oder erhält
ftch nur im niedrigen Volk und in der Komik. Und wie dem
^inne nach, so ist sie auch der Lautform nach die entschiedenste
Gestaltung; das Wortpaar erhält eine Endung, durch welche es
entweder als Paar (durch die Dualform) oder als Einheit (durch
das Neutrum Singul.) bezeichnet wird. Und am lautesten redet
!ür die einheitliche Natur des Dvandva die unter dem Namen
eka^esa begriffene Erscheinung, daß nämlich nur ein Wort
?tatt des Wörterpaares gesetzt wird und zwar im Dual, rödasi
die beiden Himmel, für Himmel und Erde. Gelegentlich ver-
frehen wir die ergreifende Macht des Dvandva noch ganz un-
mittelbar. Was es mit dem neugr. Tlapova^a, Paros und
^axos, auf sich hat, weiß ich nicht; aber das deutsche Volk
W es doch wahrlich mächtig gefühlt, was „Schleswigholstein"
Und ein „Schleswigholsteiner" war. Nur das Dvandva konnte
^er ausdrücken, was wir meinten.
Uebrigens wird die Dvandva-Eomposition vom Vrf. im
Einzelnen mit vieler Feinheit behandelt. Nur, welcher Unter-
^ied zwischen echter und unechter Eomposition besteht, das ist
*nü- aus des Vrf.s Darlegung nicht klar geworden. Den Un-
^schied eigentlicher und nneigentlicher Eomposition aber, den
et innerhalb der echten Zusammensetzung als eine untergeordnete
^esonderung sindet, läßt der Vrf. nur unter dem Zugeständnisse
dieler Mittel- und Mischformen gelten. Hier zeigt sich nament-
oft der Widerspruch zwischen Lautform und innerer Bedeu-
Ich möchte vorschlagen, diese Unterschiede von echt und
llnecht, eigentlich und uneigentlich auszugeben. Denn wenn man
274
Steinthal
so erst eine Zweitheilung vollzieht nnd dann den einen Theil
wieder theilt, so geräth man mit solcher Division und Sub- i
division nothwendig in die Brüche. Dabei muß ich gestehen,
daß mir nicht einmal klar geworden ist, wie sich in des Vrs.s
Einteilung der von ihm auch erwähnte Unterschied zwischen
Zusammensetzung und Zusammenfügung einpaßt. Umschließt
letztere nur die unechte oder auch die uneigentliche Zusammen-
setznng? Ich meine also, man sollte zuerst alles, was sich als
Zusammensetzung darbietet, auch als solche anerkennen, und dann
zwischen besseren und schlechteren, schöneren und häßlicheren,
vollkommneren und unvollkommneren unterscheiden. Man hat
nämlich zuerst die Forderungen auszusprechen, welche von be-
grifflicher und lautlicher Seite aus an ein Compositum zu
stellen sind, und dann zuzusehen, wie die wirklich gebildeten
Composita dieselben mehr oder weniger erfüllen, indem sie bald
in diesem, bald in jenem Punkte nicht genügen. Diese For-
derungen sind nicht a priori zu constrniren, aber wohl aus den
Bestrebungen der Sprache selbst, die sie in ihren gelungenen
Erzeugnissen auch erreicht hat, zu erschließen. Darum sind es
nicht Forderungen, welche der subjective Sprachforscher aussinnt,
sondern welche die objeetive Sprache (oder der Volksgeist) an
sich selbst stellt.
So kämen wir denn zu einer Stufenleiter von Compo-
sitionsformen, wobei es immerhin mehrfach unentschieden bleiben
könnte, welche von zwei Formen höher oder niedriger steht;
denn nicht in der Stufenfolge soll der Vortheil liegen, sondern
darin, daß wir statt der unbestimmten Kategorieen „echt und
unecht u. s. w." zu festeren, faßlichen Bestimmungen der Eigen-
thümlichkeiteu gelangen und nicht bloß zu zwei oder vier Ab-
theilungen, welche in einander fließen, sondern zu mehr Klassen,
welche noch dazu fest stehen.
Das Capitel „Trennbarkeit der Zusammensetzung" berührt
wiederum tiefe Probleme. Doch ich eile weiter. Zu den beiden
Capiteln „Stellung der Glieder in der Zusammensetzung" und
„Wortart des Ganzen" will ich nur eine Bemerkung machen,
den Accent betreffend. Man vergleiche dsosioVj?, fkoeixsXos,
Ueos/Upoc, ja sogar Osoivo? mit unserm göttgleich, gött-
Veurtheilung.
275
ähnlich, göttverhaßt. Was der Verf. hierüber sagt, wird
richtig sein und ist fein gefühlt. Ich muß aber Folgendes hin-
gufügert. Der hier über den griechischen Wörtern bezeichnete
Accent und der deutsche sind gar nicht dasselbe Wesen; das für
beide Sprachen angewandte Zeichen hat hier einen ganz anderen
Werth als dort. Man macht bekanntlich einen Unterschied
zwischen dem Wortaccent, welcher die Einheit des Wortes her-
stellt, und dem grammatischen oder Satzaeeent, der Wörter zu
Satzverhältnissen nnd Sätzen zusammenbindet. Vom rhetorischen
Accent können wir absehen, da er nur gelegentlich vom gram-
watischen abweicht; und auch der Fuß- und Vers-Aecent oder
der rhythmische kommt hier, wo es sich nicht um Verse han-
delt, nicht in Betracht. Nun unterscheidet sich das Compositum
vom Simplex dadurch, daß es, obwohl es wie dieses nur einen
Wortaccent hat, doch auch schon einen Satzaeeent hat, den das
Simplex an sich nicht kennt. In den Satzverhältnissen hat
allemal das bestimmende Element den Hochton, und ebenso ist
es im Compositum; und das gilt, wie ich a priori behaupte,
für das Griechische wie für das Deutsche. Wenn wir nun den
Vorzug, welchen in den deutschen Wörtern das Element „Gott"
vor dem darauf folgenden hat, d. h. den grammatischen Hochton,
bezeichnen: gottähnlich u. s. w>, so müßten wir die grie-
chischen so schreiben: frsosiSr^. Die griechischen Wörter stimmen
w dem, was der wagerechte Strich bezeichnen soll, mit den
Zutschen überein, haben aber noch etwas Besonderes, was durch
den Acut angedeutet wird: dies ist der Wortaccent. Das
deutsche Compositnm unterscheidet sich vom griechischen dadurch,
daß der grammatische Accent den Wortaccent aufgesogen hat.
Allerdings ist auch für den Wortaccent das Verhältniß der
Glieder der Compositum zu einander nicht immer gleichgültig,
^vie bekannt.
Doch kommen wir endlich zum dritten Abschnitt. Hier
es sich theils um eine Classification der Thatsachen, theils
"Um die tiefer liegenden Fragen nach dem psychologischen Ur-
Sprung und Werth der Zusammensetzung im Ganzen und in
^ren Hauptarten" handeln.
Logisch genommen stehen die beiden Glieder der Zusammen-
276
Steinthal
setzung entweder in dem Verhältnisse der Beiordnung oder in
dem der Unterordnung; der allergrößte Theil der Fälle gehört
in die zweite Klasse. Die Unterabtheilungen derselben werden
nach grammatischen Rücksichten gewonnen. Ja wenn ich be-
denke, daß Bei- und Unterordnung doch auch in der Grammatik
ihre Rolle spielen, so möchte ich schon die Haupteintheilung
nicht logisch, sondern grammatisch nennen. Das bestimmende
Wort kann attributiv oder objectiv sein. Noch speciellere Ver-
Hältnisse, wie der Redetheil der Glieder an sich, machen noch
weitere Unterklassen.
Schließlich die Frage (S. 90), „ob sich irgend welche
psychologische Begriffe darbieten, mit deren Hülse wir tiefer in das
Wesen der Zusammensetzung eindringen können." Der Vrs. geht
hierbei von folgendem Grundgedanken aus: „Da die Zusam-
mensetzung im Allgemeinen eine Verbindung zweier Vorstellungen
zu irgend einem Grade von Einheit ist, so werden wir auf das
Gebiet der sog. Associationen hingewiesen, und es wird sich
darum handeln, ob sich die verschiedenen Arten von Zusammen-
setzung in Hinsicht auf Motive und Resultat der in ihnen ent-
haltenen Verbindung von Vorstellungen auf allgemeine Arten
von Association zurückführen lassen." Und was ist das Er-
gebniß, zu dem der Vrf. gelangt? Er stellt ein psychologisches,
ein logisches und ein grammatisches Schema neben einander,
aber (S. 92) „nicht als ob zwischen den psychologischen Cate-
gorien einerseits und den logisch-grammatischen andererseits ir-
gend eine unmittelbare Äquivalenz oder Abhängigkeit statthaben
könnte, sondern nur in dem Sinne, daß den sprachlichen That-
sachen und Wertheu psychologische entsprechen, welche ungefähr
in den angegebenen Richtungen den erstern allerdings zu Grunde
liegen"; und jenem dreifachen Scheina fügt er einen meta-
physischen Gesichtspunkt hinzu. Das heißt allerdings einge-
stehen, daß der erste Versuch, der Lehre vou den Zusammen-
setzungen eine psychologische Grundlage zu unterbreiten (und
der Versuch des Vrf.s ist der erste), mißglückt ist, wie anregend
und geistvoll auch alle hier vom Vrf. gemachten Bemerkungen
in der That sind. Man vermißt das einheitliche Band für die
gesondert verfolgten Gesichtspunkte.
Beurtheilung.
277
Unsere Aufgabe ist zuzusehen, woran der Vers, gescheitert
lst. Wir finden die Ursache hiervon ganz wo anders, als wo
sie der Referent für das Literarische Centralblatt (1868 Nr. 49)
zu erkennen glaubt. Er meint, beim Vrs. trete die historische
Betrachtungsweise zu sehr zurück; historisch, so belehrt er diesen,
würde mau finden, daß die Composition älter als die Flexion
sei. Aus dem, was der Vrf. im ersten Abschnitte über schein-
bare Composition der formlosen Sprachen bemerkt, hätte viel-
Mehr der Ref. lernen sollen, daß die Composition unmöglich
älter sein kann als die Flexion, daß also sein historischer Fund
Mindestens noch zweifelhaft sei. — Auch Hr. Gerland in der
Zeitschrift für deutsche Philologie 1. S. 357 ff. hat des Vrf.s
Deuk-Motive nicht verstanden. Ihm nämlich fällt nicht bloß
„ein Mangel an Material störend auf", sondern er wirst dem
^rf. auch für die philosophische Seite Dilettantismus vor.
Derselbe sei nirgends in der Philosophie, am allerwenigsten in
der Psychologie sicher zu Haus. Hr. Gerlaud nämlich hat
sich, wie es scheint, in der Psychologie gemüthlich eingerichtet
mit dem alten Hausrath der Complication, Verschmelzung und
Association; und da nun Tobler an diesem Hausrath etwas
gerührt und gerückt und denselben in sanftester Form für wenig
brauchbar erklärt hat, so versteht Hr. Gerland seine bescheidene
Kritik nicht und ruft hinter ihm her die Scheltworte Dilet-
^antismns und Anderes. — Auch positive Belehrung giebt
Hr. Gerland: „Wollte also der Vrf. die Wortzusammen-
letzung philosophisch erklären, so mußte er den Proceß auf-
decken, durch welchen z. B. in den indogermanischen Sprachen
^ so heterogene Elemente wie Haus und Frau, lachien) und
^aube u. s. w. zusammentreten und eine neue Worteinheit er-
Zeugen konnten. Diese Bildungen werden, nach allen von
^usti aufgestellten, wohl zu Staude gekommen sein (um ein-
^ml kühn vorzugehen), daß man zuerst Vorstellungen, die man
äußerlich zusammengehörig fand, auch äußerlich zusammenstellte,
dann nach langem Gebranch dem Sprachgeist die Idee auf-
frMg, daß manche von diesen Zusammenstellungen selbst wieder
'inen einheitlichen, neuen Begriff darstellten, welche Erkenntniß
l*ch in der nun entstehenden neuen Wortformation reflectirte."
278
Steinthal
Ich weiß nicht, ob man diesen „kühnen" Satz einer Kritik
unterwerfen darf. Darum nur so viel: wie zwei äußerlich
zusammengehörig gefundene und äußerlich zusammengestellte Vor-
stellnngen jemals sollen als einen einheitlichen, neuen Begriff
darstellend erkannt werden können, ist unerfindlich. Die äußer-
lich zusammengestellten Vorstellungen Haus und Frau bleiben
ewig zwei äußerlich zusammengestellte Vorstellungen, und wie
soll die ?dee aufgehen, daß sie einen neuen Begriff darstellen?
Kurz, ich fürchte, der Dilettant wird Hrn. Gerland wenig
für Belehrung zu danken haben. — Nein, des Vrf.s Mangel
liegt ganz anderswo. Daß er die Unzulänglichkeit der bis-
herigen psychologischen Kategorien erkannt hat, gereicht seiner
gewissenhaften Kritik, die sich nicht einbildet, erklärt zu haben,
wo nichts erklärt ist, zur Ehre. Worin er aber seht gegriffen
hat, scheint mir Folgendes.
Wer einen organischen Stoff, Eiweiß, Roggenmehl u. s. w.
nur nach den Gesichtspunkten der unorganischen Chemie be-
trachtete, der würde zu Ergebnissen gelangen, die wohl ganz
denen ähnlich wären, mit denen der Vrf. abschließen mußte.
Nichts was in der Seele vorgeht, ist ohne Anwendung der Ka-
tegorie der Association zu begreifen; aber mit dieser Kategorie
und allen ihren näheren Bestimmungen allein wird kaum irgend
etwas begriffen. Weder das Urtheil oder der Satz, noch ein
Satzverhältniß wird als Association genügend begriffen; und
auch nicht ein Compositum, denn auch dieses ist mehr als eine
Association.
Und wie denn mehr? Mit den Namen Association und
Complication bezeichnen wir Verhältnisse der psychischen Me-
chanik. Denken, Erkennen ist ohne und gegen diese Mechanik
nicht möglich, ist aber dennoch mehr als sie, ist Apperception,
und an die Verhältnisse der Apperception hätte sich der Vrf.
wenden müssen. In ihr hätte er die Einheit für den logischen,
grammatischen, psychologischen und metaphysischen Gesichtspunkt
gefunden und zwar innerhalb der Psychologie. Denn apperci-
piren ist denken, insofern dieses eine psychische Thätigkeit ist;
im Denken aber ist Metaphysisches, Logisches und Sprachliches
Benrth eilung.
279
Vereinigt, also ist alles dies, vereinigt mit Psychologischem, in
der Apperception psychologisch zusammengefaßt.
Wie jedes Wort ist anch das Compositum ein Organ, um
ein Object zu appercipiren, aber ein zusammengesetztes Organ,
und unter den Gliedern desselben besteht wiederum (abgesehen
vom Dvandva) ein App ereeptions - Verhältniß.
Bei dieser Andeutung muß es hier seiu Bewenden haben.
Ja noch mehr, es muß dahingestellt bleiben, wie weit bei der
jetzigen Lage der Appereeptionslehre die gestellte Aufgabe gelöst
werden kann. Nur in Betreff der Aufgabe selbst ist noch Fol-
gendes zu beachten.
Zu Grunde gelegt muß die rein grammatische Anordnung
der Composita werden. Da wir es mit einem sprachlichen
Object zu thuu haben, so muß von dem grammatischen Ge-
sichtspunkt der Ausgang genommen werden. Dieser ist zunächst
in aller Reinheit festzuhalten, und es darf nichts Fremdes in
die Betrachtung hineingetragen werden. Es muß erst das
grammatische Objeet für die psychologische Forschung gewonnen
werden. Für den Grammatiker aber ist ausschließlich die Laut-
form maßgebend, wenn diese nicht etwa zerstört ist.
Nun sehe ich nicht ein, wie der Grammatiker, wenn er
nur die Form der Composita in's Auge faßt, wie er muß,
wehr als folgende drei Unterschiede finden kann: erstlich die
Paarenden oder eopnlativen Composita, welche einen Gegensatz
Zu allen übrigen bilden, in denen entweder das erste Glied das
Zweite bestimmt — attributive Composita, oder das erste Glied
das zweite regiert — objective Composita. Die Klasse der
attributiven Composita umfaßt nicht nur die Determinativa,
3- B. Weißbrod, Abglanz, natürlich mit Einschluß der sehr be-
schränkten eolleetiven Composita, z. B. dreimal, Dreischlag,
Viergespann, sondern auch sämmtliche sogenannte Abhängigkeit-
Komposita, z. B. Himmelsheer, himmelaufjauchzend, pslicht-
kundig, geldgierig, racheschnaubend, gottähnlich; denn Abhängig-
^t wird hier durch die Form nicht ausgedrückt und findet hier
cbe" gar nicht statt. In allen diesen Compositen der zweiten
blasse, und die deutsche Sprache kennt kaum andere, ist das
^?te Glied nähere Bestimmung des zweiten ohne jeden näheren
280
Steinthal:
Unterschied. Nur die dritte Klasse enthält wahre Abhängigkeits-
Composita, nämlich solche, wo das erste Glied ein Berdum,
auch Adjeetivum oder eine Partikel (Präposition oder Adverbium)
ist und das zweite ein davon regiertes Nomen. In diese
Klasse gehört cpiXoXo-fos und cptXaXvjö-y]? (aber nicht wahrheits-
liebend; i'aoftsoc, aber nicht OsoeixeXos) unser Taugenichts, Störe-
sried, Haberecht (nicht Rechthaber). Hier wird nicht bloß, wie
von der zweiten Klasse gilt, bei der Auflösung das zweite Glied
vom ersten regiert, sondern die Form des Compositum selbst
deutet auf ein anderes Verhältniß der Glieder durch das ein-
zige Mittel, über welches die Compositum verfügt, nämlich die
Stellung. Die sogenannten Possessiv-Composita umfassen Fälle
aller Klassen; es sind Ableitungen, bei denen es sich um den
Uebertritt in einen andern Redetheil handelt.
Dies ist der grammatische Boden, auf den wir uns zu
stellen haben. Bon hier aus ist weiter vorzuschreiten in die
Psychologie; der Grammatiker muß es, muß es sogar als
Grammatiker, so gut wie bei aller Bedeutungslehre. Wenn es
ihm nicht genügen kann, bloß die etymologische Grundbedeutung
eines Wortes oder eines Casus zu bestimmen, die weitere Ent-
Wickelung der Bedeutung aber im Sprachgebrauche unbeachtet
zn lassen, so liegt es ihm auch ob, zu fragen, was es damit
auf sich habe, wenn z. B. Wasser-Mühle und Oel-Mühle trotz
der gleichen Form Verschiedenes bedeuten; d. h. psychologisch:
wie wird mit Gleichem Verschiedenes appereipirt. Dabei ist
denn freilich zuvörderst festzustellen, was alles mit derselben
Form appereipirt wird.
Es läßt sich wohl voraussehen, daß in einer Anordnung
der Composita nach den Kategorieen der Apperception alle die
mannigfachen Klassen, welche der Vrs. aufstellt, sich wiederfinden
werden, und vielleicht nur diese, aber unter einen einheitlichen
Gesichtspunkt gerückt. Wir würden wohl zu denselben Ergeb-
nissen aus anderem Wege gelangen.
Wer die angedeutete Aufgabe übernehmen wollte, würde
in des Bf.s Buch eine vortreffliche Grundlage finden.
H. Steiuthal.
Veurtheilung.
281
Micliel Breal. prof., Les idees latentes du lan-
gage. Le^oii faite au College de France pour
la reouverture du cours de grammaire com-
paree le 7 Decembre 1868. Paris 1868.
Arbeiten wie die hier angezeigte liebe ich sehr. Ich will
sagen warum.
Es kann keine Wissenschaft zu vollem Gedeihen und Wachs-
%tm gelangen ohne die allgemeine Theilnahme der gebildeten
Welt. Es genügt nicht, daß einige wenige Männer irgend ein
Gebiet der Forschung mit Erfolg anbauen; nein, es muß das
Bewußtsein von dem Bedürfniß ihrer Bemühungen, von der
Natur und dem Umfange ihrer Aufgaben, von den Mitteln und
der Methode der Lösung wenigstens in allgemeiner Weise weit
verbreitet sein, muß zum geistigen Inhalt der Bildung gehören.
To weit sind wir mit der Psychologie, der jüngsten aller Wissen-
Ichasten, noch nicht. Noch nicht einmal durchgängig die Philo-
!ophen, denen doch wohl zunächst der allseitige Anbau derselben
Anliegt, wissen, was sie zu leisten hat; ja, ob die Philosophen
der That es sind, denen sie "anheimgegeben werden soll, wird
^ute nicht durchweg bejaht — die Physiologen sollen sie schaffen,
gleichviel wem die Ausgabe zugeschrieben wird; das Schlimme
jfy man kennt die Aufgabe selbst gar wenig. Kurz, es herrscht
^ber die Sache noch vielfach eine Verwirrung in den Geistern,
^ter denen dieselbe leiden muß.
Die Sache muß wohl recht schwierig sein! — Ja, was
schwierig? was ist leicht? Unter Umständen ist das Schwie-
^gste leicht und unter andern Umständen das Leichteste nnmög-
Lachen muß ich, wenn ich sehe, wie ein Philosoph, wenn
ö°n Psychologie die Rede ist, in Zorn erglüht gegen diejenigen,
Welche ^n besonderes seelisches Princip annehmen; lachen muß
nicht über seinen Feuereifer selbst gegen die Seele: dieser
282 Steinthal
ist vielleicht ganz gerecht, wenn er am rechten Orte losbräche,
in der Metaphysik, in der Religionsphilosophie; was will er
aber in der Psychologie? Jener Philosoph beweist damit eben
nur, daß er nicht weiß, was die letztere Wissenschast zu leisten
hat. Ist diese die Lehre von dem Mechanismus der seelischen
Erscheinungen, so kann kein Satz derselben, auch nicht der
Psychophysik oder Physiopsychologie, anders lauten, mag die
Seele ein besonderes Prineip sein oder Function des Gehirns
mit Zubehör. Begreiflich aber ist, wie die Impotenz, welche
ein Vorurtheil abgeschüttelt und gegen die Wahrheit eingetauscht
zu haben glaubt, möge diese noch so inhaltsleer sein, sich
Wunder was dünkt, wenn sie nur diese neue Wahrheit geltend
macht. Wenn nun dieser Philosoph, der auch National-
Oekonom ist und Mathematik liebt, von der Entwicklung der
Psychologie nach „der Breite" und nach „der Tiefe" spricht:
so weiß er sich bei ersterer nichts weiter zu denken, als die
Breite der Erde; nnd so werden wir wenig begierig nach
seiner Tiefe.
Das also bleibt zunächst zu wünschen: das Bewußtsein
von der wirklichen Breite der Aufgabe der Psychologie. Es
thut heute meisteutheils noch noth, daß erst einmal der Anfang
des Anfangs gemacht werde, daß man vor den seelischen Er-
scheinungen, vor dem Zusammenwirken der mannigfachen ver-
wickelten seelischen Factoren zur Erzeugung geistiger Erfolge,
gestaunt habe; daß das forschende Auge nur erst einmal die
Festigkeit erlangt habe, in dem Gewirre des Seelenlebens ein
Object anzuschauen. Zur Bildung solcher Kraft aber scheint
vorzüglich die Sprachwissenschaft geeignet. Nnd weil die an-
gezeigte Vorlesung gerade nach dieser Richtung hin besonders
wirksam sein muß, darum liebe ich sie.
Der Gedanke, den sie ausführlich entwickelt, ist nicht neu;
er findet sich nicht nur bei Wilhelm v. Humboldt, sondern
auch bei Pott, bei G. Curtius. Es genügt aber nicht,
daß Gedanken gelegentlich ausgesprochen werden, sie müssen
durch die Breite der Thatsacheu hindurchgeführt werdeu. Dies
thut Hr. Breal. Es handelt sich aber einfach darum. Der
Sinn eines Wortes läßt sich nicht als bloße Summe dessen
Beurth eilung.
283
auffassen, was in der Wurzel und in den Affixen wirklich aus-
gedrückt ist; es tritt überall eine Bestimmung hinzu, die aber
uur im Gedanken hinzugefügt wird, ohne im Laute Ausdruck
ZU finden. Der Vrf. bespricht folgende Fälle.
Das französische Ableitungs - Suffix ier (vom lat. aris,
a*~e; arius, arium) bedeutet in pommier von pomme den
^zeugenden Gegenstand, aber in enerier den Behälter svon
^-inte), in prisonnier das Enthaltene, in geölier den Hüter,
Und wieder Anderes in chevalier, bouvier, levrier. Voi-
turier und dagegen carossier, dazu wieder cuirassier und
armurier. Der Stoiker Chrysippos kommt durch solche Be-
Pachtung zu Ehren. Das Suffix o bedeutet in dq-6s Führer
tatt Agens, in 36^.0? Haus das Actum, in Zittern die
Äetion; tokos bedeutet beides, das Gebären und das Geborene.
Ebenso lassen die Composita die Beziehung ihrer Glieder auf
einander ohne Ausdruck. ist Adjectivum, ohne daß
es sich lautlich von bu^oc unterschiede; ebenso poSoSaVcuXos.
In £ö-ti is-t haben wir den Begriff des Seins und einer
Person, in sl-at geh-t das Gehen und eine Person; aber was
bindet beide zusammen? Dieselben Elemente liegen im lat.
a®a-t lieb-t, und in ama-t(u-m) (ge-)lieb-t, in letzterem Falle
ledvch ganz anders combinirt. Sämmtliche Substantiva siud
Ursprünglich Adjectiva; z. B. la terre, terra ist die „dürre";
Und die Verbalstämme sind eigentlich Nominalstämme. Das
Ädverbium ist eine Casusform eines Nomen oder Pronomen
^nd wird wiederum benutzt theils zur Präposition, theils zur
^onjunetion. Kurz, jede grammatische Form enthält etwas
Uicht im Laute Ausgedrücktes: uns idee latente, durch welche
fte erst ihren eigentlichen sprachlichen Werth erhält.
Also: I^a pensee est im acte spontane de notre
^telligence, qu'aucun effort venant du dehors ne peut
lettre en mouvement d'une maniere directe et imme diäte.
Vt ce que vous pouvez faire, c'est de provoquer ma
Pensee. — C'est notre esprit qui anime le verbo d'une
^°rce transitive, enchaine et subordonne les propositions,
depouille certains mots de leur signification propre,
P°Ur les faire servir comme les articulations et comme les
284 Steinthal: Veurtheilung
^ointures du discours. L'unite de la proposition et de 1»
phrase, non moins que celle du inot, est le fait de l'in-
telligence.
Die Folgen dieser Thatsache für Sprachwissenschaft und
Psychologie hat der Vrs. in den letzten Sätzen seiner Vor-
lesung kaum angedeutet. Wir gelangen hier zu den feinsten
und schwierigsten Untersuchungen. Mit Recht bemerkt der Vrf.:
L'esprit penetre la matiere du langage et en reinplit
jusqu'aux vides et aux interstices. En n'admettant cliez
uu peuple d'autres idees que Celles qui sont formellement
representees, nous nous exposerions ä negliger peut etre
ce que son intelligence a de plus vivant et de plus ori-
ginal. Puisque les idiomes ne sont point d'accord en ce
qu'ils expriment, ils peuvent differer aussi par ce qu'ils
sous-entendent. Wie soll man aber Letzteres erkennen? Wie
sollen wir die Denkoperationen des Polynesiers erforschen,
wenn sie von den nnsrigen abweichen und doch nicht ausge-
drückt sind?*) Wo hat das Hineindeuten seine Grenzen?
Ja, wie soll nur der Deutsche den Franzosen und umge-
kehrt verstehen, da sie beide nicht alles sagen, was sie denken?
Bedeutet z. B. de l'homme und hominis dasselbe? — Doch
zuerst nur einmal gestaunt! Wie wenig sagt der Laut und
wie viel giebt er uns zu verstehen!
*) Wie solche Aufgaben anzugreifen sind, habe ich in meinen „Wände-
Neger-Sprachen" zu zeigen versucht.
H. Steinthal.
Poesie und Prosa.
Von
•£>♦ Steinthal.
In einem früheren Aufsatzes habe ich das Verhältniß zwischen
Stoff und Form der Rede näher zu bestimmen gesucht. Ich war
aber mit der Analyse der betreffenden, so mannichfach in ein-
ander verschlungenen Elemente dort nicht zu Ende gelangt. Das
damals gegebene Versprechen, den fallen gelassenen Faden des
Knäuels von Bestimmungen, welche das Wesen des Styls be-
Bingen, wieder aufzunehmen, will ich heute einlösen: wie sehr
ich auch fürchte, daß ich mit der Abwickelung nicht weit gelangen
werde.
Es wird doch wohl zugestanden, daß wir uns auf dem
Gebiete der Aesthetik bewegen. Wir streifen es nicht bloß;
nein, wir bearbeiten hier ein Stück desselben. Nun bilde ich
wir nicht ein, daß ich alles, was für diese Wissenschaft bisher
schon geleistet ist, völlig überschaute, und daß ich die wider-
streitenden Ansichten betreffs der in ihr aufgetauchten Probleme
vollständig und bestimmt erfaßt hätte. Ich fürchte jedoch keinen
Widerspruch, wenn ich voraussetze, daß es kaum eine andere
Wissenschaft giebt, deren ganzer Grund noch so schwankend ist,
lvie der der Aesthetik. Dieser Sachlage entnehme ich das Recht,
hier meine Ansicht vorzutragen, ohne Rücksicht darauf, ob sie
^eues bietet.
Wir haben es hier mit der Redekunst zu thun. Nun wäre
es geboten oder rathsam, vor allem die unerläßlichen Grund-
begriffe zu bestimmen. Bevor gesagt werden kann, was Rede-
funst ist, wäre zu erörtern, was Kunst überhaupt ist; und be-
dor die Gründe der Schönheit der Rede eingesehen werden
^nnen, müßte man wissen, was das Schöne im Allgemeinen
*) „Zur Stylistik", diese Zeitschr. Bd. IV. S. 465—480.
Zeitschx. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. J9
286
Steinthal
ist. Ich will in der That, wie ich muß, zuerst diese allge-
meineren Begriffe zu erörtern versuchen, aber nur soweit es
zur Verständigung nöthig ist. Ich werde auch nur aussprechen,
was mir nach Vielem, was ich früher darüber gelesen habe,
scheinen will, und wobei ich mich vorläufig beruhigen zu können
meine. Ich verzichte auf eine weitere Begründung der von mir
vertretenen Gedanken, wie auch auf die Kritik anderer Ansichten.
Ich wäre dazu jetzt nicht im Stande und weiß nicht einmal,
wem und wie weit ich jedem zu Danke verpflichtet bin. Dies
bitte ich zu verzeihen.
I.
Von Kunst und Schönheit überhaupt.
Jedes besondere sinnliche Gefühl ist ein eigentümlicher
Eingriff in unser Lebens- oder Gemein-Gefühl und ist eine
locale Abänderung desselben. Es zieht daher unsere Aufmerk-
samkeit auf sich oder auf den angegriffenen Punkt unseres Leibes
und ist immer eine locale Erhöhung des Lebensgefühls. Wird
durch diesen Eingriff unser Wohl erhöht (wenn auch nur vor-
übergehend und local, wie z. B. durch süßes Gift), so nennen
wir das Gefühl angenehm; wird im Gegentheil unser Wohl
dadurch verringert (wenn auch die Nachwirkung und ander-
weitiger Einfluß nützlich ist, wie z. B. die bittere und ekelhafte
Medicin), so nennen wir das Gefühl unangenehm. — Ist
aber ein besonders wichtiges Organ ergriffen, so zeigt sich die
Wirkung unmittelbar als Erhöhung oder Niederdrückung des
allgemeinen Lebensgefühls, z. B. wenn der Rhythmus des
Herzschlages oder des Athems abgeändert ist, oder wenn das
Central-Organ leidet.
Wie uns der Gesammtzustand der vitalen Functionen un-
seres ganzen Leibes ein Gemein- oder Lebens-Gefühl giebt, so
giebt uns der jeweilige Gesammtzustand unseres Bewußtseins
eine Stimmung. Zu dieser trägt natürlich unser Gemeingefühl
sehr viel bei; denn theils ist es ja selbst unmittelbar ein Mo-
ment unseres Bewußtseins, und zwar ein sehr mächtiges, theils
wirkt es als hebende Macht für gewisse verwandte Vorstellungs-
kreise und unterdrückt andere, ihm widerstreitende. Das Gefühl
Poesie und Prosa. 287
leiblicher Kräftigkeit und Gesundheit hebt die Vorstellung un-
serer geistigen Macht und Fähigkeit; leibliche Schwäche, De-
Pression der Nerven fördert zugleich den Gedanken unserer
geistigen Ohnmacht. Erinnert muß noch werden, daß Vor-
stellungen in einem gewissen Zustande in unser Bewußtsein
hinein wirken und also die Stimmung beeinflussen können, ohne
sich im Bewußtsein zu befinden. Irgend ein großer Verlust
z. B. wird nicht ohne Unterbrechung gedacht, während er doch
dauernd auf die Stimmung mächtig einwirkt.
Jeder Gedanke nun, welcher machtvoll in den Zustand
unseres Bewußtseins eingreift, sei es daß er durch eine Wahr-
nehmung von außen veranlaßt ist, oder daß er nach dem me-
chanischen Ablauf unserer Vorstellungen erinnert ist, jede An-
schauung und jeder Gedanke also, welcher im Bewußtsein mächtig
verdrängend oder herbeiziehend oder die Ordnung und die Ver-
Hältnisse der Vorstellungen umgestaltend wirkt, welcher einer
verfolgten Gedankenreihe den gesuchten Abschluß und Ruhepunkt
giebt oder abschneidet, erregt ein geistiges Gefühl, das zu-
nächst unsere Stimmung abändert, dann aber auch auf das
leibliche Gemeingefühl wirkt. Es ist wiederum angenehm oder
unangenehm, je nachdem unser Ich dabei gefördert oder geschä-
digt erscheint. So entsteht ein angenehmes Gefühl durch einen
Gedanken, der uns eine Thatsache darstellt, durch welche unser
Ich irgendwie bereichert wird, der uns z. B. eine Erkenntniß giebt,
Nach welcher wir strebten. Es durchzuckt uns freudig, wenn,
wie man sich ausdrückt, uns plötzlich ein Licht aufgeht, und
zwar eben so entschieden, als wenn sich unserm leiblichen Auge
eine verschränkte Aussicht plötzlich erweitert.
Sowohl der Leib als das Bewußtsein ist als eine Ge-
sammtheit ununterbrochener geordneter Bewegungen zu denken.
Äeder Eingriff ist also als Abänderung der stattfindenden Be-
wegnng anzusehen, mag er nun eine neue Bewegung erzeugen
oder die stattfindende fördern oder auch dieselbe hemmen. Ge-
!chieht nun diese neue oder die abgeänderte Bewegung so, wie
fte nach der Organisation unseres Leibes und unseres Geistes
vorgebildet ist, der Fähigkeit, Gewohnheit und Neigung ent-
Zegenkommend, dadurch auch andere Bewegungen fördernd: so
19*
288 Steinthal
erzeugt sie ein angenehmes Gefühl, im Gegentheil ein unange-
nehmes. Irgend eine Form oder eine Combination von Klängen
ist angenehm, weil sie unsere Sinne zu einer Form der Thä-
tigkeit veranlassen, für welche sie vorzugsweise organisirt sind.
Die lebhaftesten Gefühle aber müssen entstehen, wenn der Ein-
griff in das Gemeingefühl oder in die Stimmung in continuir-
licher Veränderung vor sich geht. Demnach werden wir sagen:
Einzelne Empfindungen und zusammengesetzte Anschauungen,
wie auch leibliche Bewegungen, Vorstellungs- und Denkthätig-
leiten jeder Art (wenn unsere Empfänglichkeit dafür nicht schon
abgestumpft ist und wir gleichgültig dagegen geworden sind)
erregen in uns nach Maßgabe der durch sie bewirkten Abände-
rung des leiblichen und seelischen Gesammtzustaudes ein ange-
nehmes oder unangenehmes Gesühl; sie machen uns Freude,
Vergnügen oder das Gegentheil. Von Schönheit aber ist hier
noch gar nicht die Rede. Nicht nur ein warmes Bad oder
Schlittschuhlaufen und Wohlgeschmack und Wohlgeruch sind
bloß angenehm und nicht schön; sondern auch die Färbung der
Dinge, die wir sehen, mag sie die natürliche oder eine künstlich
erzeugte sein, der Schwung einer Linie, die so oder so erzeugten
Schälle und Klänge, und auch die Harmonieen oder Disharmo-
nieen der Farben und der Töne, die Symmetrie der Linien sind
angenehm oder unangenehm, aber nicht schön oder häßlich;
und dem Rechner ist je nach seiner Uebung und Neigung die
Lösung eines Exempels (wenn er nicht gleichgültig dagegen ge-
worden ist) angenehm oder unangenehm, macht ihm Vergnügen
oder Verdruß. Schönheit sehe ich hier noch nirgends hervor-
treten. *)
Demnach findet in der ganzen Natur als solcher, wie im
gesammten praktischen, religiösen und wissenschaftlichen Leben
der Menschheit an sich genommen, die Schönheit keine Stätte.
Zunächst wenigstens müssen wir festhalten, daß weder ein Natur-
Gegenstand, noch eine wissenschaftliche Wahrheit, noch auch eine
sittliche That an sich schön sein könne.
*) Auch Sittlichkeit noch nicht. Bloß beiläufig jedoch will ich von
ihr nicht reden und zu weiterer Ausführung ist hier nicht die Gelegenheit-
Poesie und Prosa. 289
Vielmehr scheint es mir gewiß: wie im All nichts weiter
gut oder böse ist, als des Menschen Wollen, Gesinnung, That,
so ist auch nichts weiter schön oder häßlich als die Kunst.
Kunst aber oder Schönheit ist reine Darstellung des In-
nern durch angenehmes Sinnliche. Wenn irgend etwas See-
lisches in einer Anschauung ausgedrückt ist, die uns angenehm
berührt: so ist diese schön. — Es kann sogleich hier hinzugefügt
werden: das Häßliche, insofern es in der Kunst berechtigt, an
seinem Platze, und also schön ist, ist reine Darstellung eines
Innern durch unangenehmes Sinnliche, welches das Angenehme
der Gesammtwirkuug verstärkt.
Da als bekannt vorausgesetzt werden darf, was sinnlich
ist, und da wir schon bemerkt haben, was angenehm und sein
Gegentheil ist: so bleibt nur näher zu bestimmen, was Dar-
stelluug und was das Innere ist.
Darstellen heißt ein sinnliches Object in der Absicht und
in der Art gestalten, daß der dasselbe Wahrnehmende es nicht
bloß als das erfasse, was es, rein sinnlich genommen, ist, d. h.
daß er es (anschauend) erkenne; sondern daß er daraus zu-
gleich ein bestimmtes Innere, einen gewissen geistigen Inhalt,
den der Darstellende in sich trug, erfasse, d. h. daß der Wahr-
Nehmende das Object oder vielmehr den Darsteller verstehe.
Demnach ist Darstellung scharf und bestimmt geschieden
von Handlung, und man hat auf die Frage, ob die Kunst
theoretisch oder praktisch ist, weder herumschweifend zu ant-
Worten: sowohl das eine als auch das andere, noch durch-
schlüpfend: weder das eine noch das andere. Vielmehr ist die
Kunst ganz eigentlich und genau theoretisch und nicht praktisch.
Die praktische Thätigkeit, die Handlung, die sich auf ein Object
erstreckt, will dem Objecte eine Gestalt geben, welche es fähig
Mache, den menschlichen Bedürfnissen zu dienen. Der Praktiker
Gearbeitet ein wirkliches Ding, damit es nicht so sei, wie es
von Natur ist und wie es ihm nichts nützt, sondern damit es
anders werde, auf daß es so sei, wie es seinen anderweitigen
Zwecken und Absichten entspreche. Der Baumstamm z. B. wird
Zersägt und gespalten, damit er in kleinen Stücken leichter brenne,
^er er wird zum viereckigen Balken behauen, damit er in
290
Steinthal
irgend ein Gezimmer eingefügt werden könne, n. s. w. Wer
nun solch ein bearbeitetes Ding wahrnimmt, der erkennt es; er
sieht, aus welchem Stoffe es bereitet ist, und sieht entweder
geradezu, wie es verwendet ist, oder wenigstens, wozu es be-
stimmt ist, welche Absicht der Mensch damit hat. — Der
Künstler dagegen, der Poet, verhält sich theoretisch, wie sehr
er sich auch am Objecte müht; denn das Ding, den materiellen
Stoff, den er bearbeitet, will er nicht zu irgend welchem nütz-
lichen Gebrauche gestalten, sondern er will ihn zum Ausdruck
seines Innern, zum Zeichen machen, er will damit etwas Gei-
stiges wahrnehmbar machen, darstellen, so daß der Beschauer
wisse, was in ihm, dem Künstler, geistig geschaffen war, und
daß er ihn verstehe, d. h. daß die geistige Schöpfung aus dem
Geiste des Künstlers übergehe in den des Beschauers, in diesem
nachgeschaffen werde.
Ist nun aber die Kunst nicht praktisch, sondern theoretisch,
so ist sie doch andererseits an sich wenigstens auch nicht Er-
kenntniß, obwohl sie immerhin Darstellung von Erkanntem sein
kann, da ja unser theoretisches Innere, welches die Kunst dar-
stellt, nur entweder Gefühltes oder Erkanntes enthält.
Um aber das Wesen der Darstellung und das Verhältniß
des Innern zum darstellenden Stoffe tiefer zu begreifen, scheinen
mir noch folgende Betrachtungen wesentlich.
Die Kunst als Darstellung des Innern beruht auf den
zwei folgenden Grundtrieben oder Einrichtungen des mensch-
lichen Wesens.
Erstlich: Das Innere giebt sich naturgemäß und noth-
wendig durch gewisse Wirkungen nach außen hin kund. Ich
deute hiermit auf den ganzen Kreis der Reflexbewegungen.
Lachen und Weinen mit den Ausrufungen der Freude und des
Schmerzes äußern, was innerlich vorgeht; Liebe und Haß,
Wohlwollen und Neid, Zorn und Gleichmuth u. s. w. spiegeln sich
ab auf der Oberfläche und in der Haltung des Leibes; und
der Wille wird zur That.
Diese im Mechanismus des menschlichen Wesens begründete
Einrichtung der Aeußerung alles Innern ermöglicht das gegen-
seitige Verständniß menschlicher und thierischer Geister und er-
Poesie und Prosa.
291
zeugt im Menschen unbewußt, aber unwiderstehlich, die Ge-
wohnheit, alles Aeußere als Erscheinung eines Innern zu be-
trachten und auch umgekehrt das Innere so aufzufassen, wie es
erscheint.
Was heißt denn aber das: Inneres erscheint im Aeußern?
Heißt das weiter nichts als: Inneres ist die Ursache des
Aeußern? Nein; es muß hier noch mehr vorliegen. Das
Aeußere, welches uns etwas Inneres darstellt, ist doch für
uns eben nur durch Wahrnehmung vorhanden, also als eine
Wahrnehmung und folglich als Inneres; und schließlich also
wird uns das Innere doch nur durch Inneres dargestellt.
Denn alles Aeußere ist für uns nur insofern da, als es uns
zu einem Innern wird. Das äußere Darstellungsmittel, wie
gegenständlich es auch sein mag, kann uns nichts mittheilen,
wenn es nicht zunächst von unserm Innern erfaßt ist — erfaßt
als das, was es als Gegenstand an sich ist. Zwischen dem
darstellenden Gegenstande aber, der nun ein innerer geworden
ist, und demjenigen Innern oder geistigen Inhalte, welcher uns
dargestellt werden soll, muß eine gewisse Verwandtschaft be-
stehen, vermittelst deren es möglich ist, daß für uns jener Ge-
genstand den Werth habe, diesen Inhalt zu vertreten — Ver-
wandtschaft sage ich, d. h. eine gewisse Gleichheit und Ueber-
einstimmung. Diese kann ja nun eine logische Grundlage,
einen logischen Gehalt haben; ja sie kann gänzlich sehlen und
durch Convention ersetzt sein: man ist etwa übereingekommen,
dieser Gegenstand solle dieses oder jenes darstellen. In solchen
Fällen aber sagt man vielmehr, ein Gegenstand bedeute etwas,
Und dann handelt es sich entweder um Erkenntniß oder um
Mittheilung. Die Quecksilbersäule z. B. kann uns den Grad
der Wärme der Luft darstellen in Folge wissenschaftlicher Deu-
tung und Convention; und die so über die Wärme gewonnene
Erkenntniß kann durch ein Zeichen einem Andern mitgetheilt
werden. Sache der Kunst aber ist weder Erkenntniß noch Mit-
Heilung, und ihre Werke sollen nicht irgend etwas bedeuten.") <
*) Hier liegt der Unterschied zwischen Kunst und Sprache, welche beide
unter den Gattungsbegriff Darstellung fallen.
292 Steinthal
Die Verwandtschaft zwischen dem Darstellenden und dem
Dargestellten beruht also nicht auf einer Gleichheit zweier Mo-
mente in Bezug auf ihren Erkenntnißinhalt, sondern auf einer
Gleichheit der mit ihnen gegebenen Gefühlsbestimmungen. Nicht
darum stellt eine Bildsäule der Venus das Weib dar, weil
diese Bildsäule nach ihrer Form oder Gestalt unter dieselbe
Art fällt wie die Frauen (das wäre die logische, inhaltliche
Beziehung); sondern weil sie die Stimmung erweckt, welche auch
der Gedanke des Weibes erregt. Diese gleiche Stimmung ist
nicht nur das Band zwischen dem Inhalt und dem Darstellenden,
sondern ist auch die schöpferische Kraft für die Aeußerung der
Darstellung selbst.
Zweitens: Da jede in uns eintretende Erkenntniß, sei es
eine Wahrnehmung, sei es ein Gedanke, den Zustand unserer
Empfindungen und Vorstellungen abändert, so erzeugt sie auch
ein Gefühl, und zwar wird nicht etwa bloß die Abänderung
im Allgemeinen gefühlt; sondern wie der ältere, so giebt sich
auch der neuere innere Zustand als eigenthümliche Seelen-Lage
durch ein eigenthümliches Gefühl kuud. Um dieses Gefühl, das
mit der Wahrnehmung jedes Dinges verbunden ist, nicht für
zu geringfügig zu halten, als daß man daraus irgend eine
wesentliche Wirksamkeit erklären könnte, muß man nur bedenken,
daß solche Wahrnehmung nicht bloß eine bestimmte Erregtheit
der Nerven ist, die uns in bestimmter Form angenehm oder
unangenehm berührt, sondern daß sie auch mit vielen Erinne-
ruugen verknüpft ist. Solches Ding, es sei lebend oder selbst
leblos, hat uns schon oft in mehrfacher Weise genützt oder ge-
schadet, hat uns erfreut oder geschmerzt. Das Ding hat ferner
in der Anwendung, die wir von ihm machten, und auch sonst
sich bewegt uud hat durch seine Bewegungsformen unsere
Nerven sehr lebhaft berührt. Diese Gefühlswirkung wird jetzt
bei dem Anblick des Dinges zugleich mitreproducirt. Die
Kugel und das Rad mag jetzt ruhen; wir sehen sie dennoch
rollend und sich drehend in der Erinnerung. Ja das Ding
selbst mag uns bisher noch niemals begegnet sein; aber durch
die Ähnlichkeit mit anderen, uns vertrauten Dingen erweckt es
die Gefühle, die mit diesen zusammenhängen. Wir leben wie
Poesie und Prosa.
293
mit den Personen, so mit den Dingen; alles was in unserer
Umgebung liegt, was wir brauchen und was wir wahrnehmen,
gehört näher oder ferner zu unserem Leben, hat einen Werth
oder eine Gemüthsbeziehuug zu uns. Denn auch wenn es
solchen Werth an sich nicht hat, so steht es in Beziehung zu
andern Dingen theils an und durch sich selbst objectiv, theils
durch unsere selbstthätige Combination oder auch durch bloße
Vergleichung.
Die Dinge oder Wesen der Natur zeigen sich der unmittel-
baren Wahrnehmung als in Verkehr mit einander stehend. Wir
sehen sie drückend und gedrückt, einander stoßend und ziehend,
sich manuichfach zu einander hin bewegend oder sich trennend.
Wir beurtheileu an ihnen verschiedene Grade der Stärke und
der Schwäche, Sieg, Niederlage und Untergang, Zerstörung und
Entstehung. Durch all dies erregen sie unsere Sympathie.
Wir meinen zu fühlen, wie ihnen zu Muthe sein müsse, näm-
lich so wie uns zu Muthe wäre, wenn wir Gleiches erführen.
Darum meinen wir auch, daß ihren Bewegungen solche Motive
zu Grunde liegen, wie diejenigen, welche uns zu solchen Be-
wegnngen veranlaßten. Annäherung scheint uns aus Liebe zu
folgen und ein Suchen zu sein, Entfernung dagegen Flucht aus
Abneigung oder Scheiden mit Schmerz. Das Männchen und
das Weibchen scheinen uns auch Mann und Weib nach Cha-
tcikter und Gefühlsweise; und alles, was in seiner Form und
Bewegung, seiner Härte und Starrheit oder seiner Weichheit
Und Schmiegsamkeit, in seiner Lage und Umgebung, kurz nach
^gend welcher Seite seines Verhaltens männliche oder weibliche
Stimmung in uns erweckt, erscheint uns auch als Mann oder
Weib. Und wie diese objeetiven Bewegungen und Verhältnisse
w der Natur, so fühlen wir auch die logische» Verhältnisse
Zwischen den Begriffen und Gedanken. Auch diese scheinen uns
lästig und schwach, sich anziehend und abstoßend, kämpfend
"der ausgeglichen. Kurz, das unmittelbar zu Bewußtsein ge-
Engende Leben und Treiben in der menschlichen Gesellschaft ist
ker Maßstab, wonach alle rein natürlichen oder rein geistigen
Bewegungen beurtheilt, geschätzt werden. Wir schaffen eine
Hierarchie der Natur und des Geistes, in der jedes individuelle
294 Steinthal
Element eine bestimmte Stelle und Bedeutung erhält je nach
seinem Werthe. Dieser Werth aber giebt sich ebenso unmittel-
bar in unserem Gefühle kund, wie Licht und Schall in unsern
Empfindungen.
Nun verlangen wir aber drittens, in Vereinigung der
beiden dargelegten Grundtriebe, daß jedes Ding äußerlich so
erscheine, d. h. uns sinnlich so berühre, wie es uns seinem
Wesen nach berührt; daß sein Aeußeres für unser Gefühl den-
selben Werth habe, welchen sein Inneres, sein Begriff und seine
Wirksamkeit, sein Dasein hat: so gilt uns sein Aeußeres als
Darstellung oder Ausdruck seines Innern. Wir wollen aus
der Sinnlichkeit das Innere lesen, welches nach menschlicher
Ansicht die Dinge bewegt und treibt. Diese nach der Eigen-
thümlichkeit des menschlichen Geistes geforderte Uebereinstimmung
zwischen Erscheinung und Inhalt wird in der natürlichen Ge-
stalt der Dinge nicht immer, ja sogar selten gefunden (in ge-
wissem Sinne sogar niemals); und so befriedigt sich der Geist
durch eigenes Gestalten, d. h. durch die Kunst. Der Me-
chanismus der Natur und der Seele wirkt bei der Hervorbrin-
gung oder Gestaltung der Wesen niemals gerade nur mit der
Auswahl von Kräften und den Maßen an Kraft, so ganz un-
gestört von nicht dazu Gehörigem, wie uöthig wäre, um solche
Gestalten zu erzeugen, die vollständig und makellos das Innere
des betreffenden Wesens erscheinen ließen. Mancher Mensch
sieht im Zorn oder im Schmerz so aus, daß er Lachen erregt.
Der Künstler nun zeigt uns, wie ein menschliches Antlitz aus-
sieht, wenn es durch gerechten, heiligen Zorn Furcht und Ent-
setzen erweckt, aber doch nicht Grausen; und wie der Schmerz
der Mutter aussieht, die ihre Kinder verloren; und wie Furcht
vor dem Untergange aussieht; und er läßt uns in solchem An-
blick solche Gefühle in Reinheit schmecken. Er zeigt das Pferd,
wie es den Sieger trägt, den Adler als König der Vögel, und
so jedes Wesen, den Stier, das Lamm, die Eiche, die Rose
u. s. w. in der Gestalt, in welcher uns die Stellung desselben
in der Schöpfung klar wird.
So tritt die Kunst ein, um das Wesen der Dinge als
erscheinendes darzustellen. Sie stellt die Dinge nicht durch den
Poesie und Prosa. 295
Mechanismus dar, durch welchen ihre Wirklichkeit gebildet ist,
Und schafft daher auch nichts Wirkliches; sie bringt nur den
schein der Dinge hervor, läßt ihre Gestalten und Bewe-
jungen erscheinen ohne ihr wirkliches Sein. Das eben heißt
darstellen: ein Ding dadurch zeigen, daß nur sein Schein, aber
uicht es selbst producirt wird. Diese Scheiuproduction geschieht
Uicht mit dem natürlichen Mechanismus, sondern nach eigener
künstlerischer Causalität.
Nur der von der Kunst zum BeHufe der Darstellung der
Dinge geschaffene Schein ist schön. Was in diesem Schein
erscheint, ist der Inhalt. Der Mechanismus, der diesen Schein
frcigt oder bewirkt, ist der Stoff des Kunstwerks. Der Schein
ist die Form, die diesem Stoffe künstlich angebildet ist, Gestalt,
Bewegung, Verhältniß, welche unsere Gefühle erwecken, und
welche zwar an sich nur unter die Kategorieen des Angenehmen
Und Unangenehmen fallen würden, dadurch aber schön werden,
daß sie uns an diesen'Gefühlen den Werth des Dinges, dem
der Schein gehört oder gebührt, rein und vollständig fühlen
lassen.
Das Kunstwerk ist reiner Schein oder reine Darstellung,
reine Form, weil an ihm eben nur diese Function, einen In-
Wl scheinen zu lassen, in Wirksamkeit tritt, der Stoff aber
an sich, insofern er nicht etwa schon durch sich selbst zum Schein
beiträgt (wie z. B. schöner Marmor), gar nicht in Betracht
^Mmt. Wenn ich durch ein sorgfältig gearbeitetes stereoskopisches
^ild den Anblick einer Venus vor mir habe, so ist das der-
selbe Kunstgenuß und hat also denselben Kunstwerth, wie der
Anblick der Marmor-Säule selbst.
Es handelt sich in der Kunst nur um Form, Gestalt,
verhältniß, nur um Linie und Oberfläche ohne Raumerfüllung,
^ie zeigt uns strengste Notwendigkeit, reinste Causalität, näm-
kich einen ganz und gar und lediglich vom Zwecke beherrschten
Uud in ihm aufgehenden ursächlichen Zusammenhang formaler
Verhältnisse. Nicht die Cansalitäts-Verhältnisse der wirklichen
Dinge kann sie auftreten lassen, nicht eine Notwendigkeit der
^toff-Wirkungen bringt sie zur Geltung, sondern nur einen
Zusammenhang der Formen. Nicht wie das Blut des Zornigen
296 Steinthal
rollt und sich in der Stirnader ansammelt, nicht wie sich der
Muskel zusammenzieht, zeigt die Bildsäule; aber sie zeigt, wie
dieses materielle Leben äußerlich, auf der Oberfläche erscheint.
Die Form des organischen Körpers ist nothwendig, d. h. ab-
hängig von den vegetativen Processen. Diese Notwendigkeit
ist kein Moment der Kunst, sondern was hier in Betracht
kommt, ist nur erstlich die nothwendige Uebereinstimmnng der
Lage der Glieder mit der eben sich vollziehenden Bewegung
oder mit der Lage des Körpers und die Wechselwirkung der
Glieder unter einander. Dieses Glied muß so gespannt oder
so gedrückt erscheinen, weil jenes in solcher Lage ist, und beide
müssen so sein, weil die Situation des Ganzen gerade diese
ist, und zugleich muß das durch solche nothwendige gegenseitige
Lage erzeugte Linien-Verhältniß angenehm sein. Daher bedingt
zweitens auch das eine Glied als bloße Linie das andere Glied
ebenfalls als Linie, insosern beide zusammengenommen dem Auge
angenehm sein sollen. Daher der Aufdruck, es scheine ein
Glied aus dem andern zu wachsen.
Die Kunst ahmt die Wirklichkeit nach, aber bloß im Scheine,
zum Scheine. Und was stellt sie also dar? Nicht eigentlich
die Wirklichkeit, sondern nur wie wir das Wirkliche in unserw
Gefühl tragen. Nicht das Weib, nicht den Zürnenden inhaltlich
stellt sie dar, und sie erweckt auch in uns nicht inhaltlich die
Liebe zum Weibe; nicht den wirklichen Zorn oder irgend eine
Leidenschast, einen Affect, ein Gefühl erregt sie in uns; sondern
sie läßt uns nur den Werth fühlen, den die sinnliche oder die
geistige Neigung zum Weibe, den irgend eine Gemüths-Erregung
für unser menschliches Leben hat. Sie stellt dar, was das
und jedes Ding und Wesen im All, und also auch, was der
Mensch in seiner vielfältigen Thätigkeit und Erregtheit, mit den
Formen seines sittlichen Lebens und seiner Schicksale dein
Menschen gilt, und zwar stellt sie dies für das Gefühl dar durch
scheinbare Nachahmung der Wirklichkeit. Weil sie aber den
Inhalt des nachgeahmten Dinges darstellt, so kann man auch
kurz sagen, sie stelle dieses Ding dar. Festzuhalten ist jedoch,
daß die Kunst nicht kindischer Nachahmungstrieb, nicht Copie
der Wirklichkeit ist. Denn der Künstler schaut, was nicht da ist-
Poesie und Prosa. 297
übersetzt Gefühl in Gestalt, welche er rein innerlich schafft
und in Stoff legt. Der Beschauer geht den umgekehrten Weg;
et' nimmt die Gestalt auf und diese setzt sich in Gefühl um.
^ie Gestalt ist nicht ein Abbild eines Wirklichen, aber wohl
ein Bild oder ein Ideal. Diese Bilder oder Ideale schaffende
Tätigkeit verstehen wir unter Phantasie.
Das hier' über das Wesen der Kunst und der Schönheit
gemerkte kann zunächst wohl für unsern Zweck genügen. Es
lft vorzugsweise von den bildenden Künsten abstrahirt, und die
Anwendung auf die Dichtung soll ja ausführlich dargelegt
werden, wobei auch Gelegenheit zu näheren Bestimmungen sich
bieten wird. Zur größeren Bestätigung wird aber vielleicht ein
^ort über Baukunst und Musik hinzuzufügen sein. Die bil-
^nden Künste stellen uns Gegenstände der Natur und den
Renschen dar. Was in ihren Darstellungen erscheint, ist klar:
^as Wesen der Gattung, wie sie als Idee in uns lebt; das
^ild ist der Typus, die ideale Form des dargestellten Gegen-
ftandes. Unsere Idee vom Weibe in ihren Jndividnalisirungen
erscheint in den Gestalten der Juno, Venus u. s. w. Ebenso
Unsere Idee vom Pferde, Löwen u.s.w. Aber was erscheint denn in
Werke der Baukunst und in dem der Musik? Die letztere
doch wohl die wunderbarste Kunst. Sie gebietet entschieden
über die reichsten Mittel. Während die Poesie in der Zeitfolge
^läuft, die bildenden Künste ein ruhendes Nebeneinander bieten,
^irkt die Musik durch ein Nacheinander und auch durch ein
Zugleich sehr vieler Mittel (man denke an ein vollständig be-
^htes Orchester). Und ihr Mittel ist schon an sich das er-
^eifendste: der Ton, und ist der mannichfaltigsten Gegensätze
Lösungen fähig. Und was erscheint in ihr? Nichts Be-
Grumtes, nicht dieses oder jenes Object, dieser oder jener Ge-
. ^uke, sondern unmittelbar eine geistige Stimmung selbst in
^rer objectlosen Beschaffenheit, das Gemüth an sich ohne an-
baulichen oder gedanklichen Inhalt. Hierin stimmt sie (so be-
fuhren sich auch hier die Gegensätze) mit der materiellsten Kunst,
fr Baukunst, die schon an der Grenze der Kunst dem Leben
^nt. Auch der Tempel, das Haus drückt nur Stimmung aus,
*^d zwar viel beschränkter als die Musik, nur wenige Stim-
298 Steinthal
mungen: der Tempel — die Andacht; das Haus — das Wohn-
liche, das Gemächliche, das Prächtige, das Geschäftsgefühl-
Weil diese beiden Künste unmittelbar auf die Stimmung schlecht-
hin wirken, so ahmen sie auch nicht nach. Sie wirken durch
Linien- und Ton-Verhältnisse, ohne uns ein Ding der Natur
vorzuführen.
Wenn es oben hieß, nur das Kunstwerk, nur der Schein
sei schön: sollen wir denn nun in Wahrheit niemals sagen
dürfen, dieser Mensch, dieser Baum u. s. w. sei schön? O gewiß !
insofern wir nämlich das Object der Wirklichkeit nur von Seiten
des Scheines benrtheilen, d. h. insofern wir das Wirkliche so
ansehen, als wäre es bloßer Schein, reine Gestalt; und die
Kunst soll uns dahin führen, die Natur auch als schön zu ge-!
nießen. Die reinigende Kraft der Kunst beruht darauf, daß
sie nicht die wirkliche Leidenschaft in uns entzündet, wirkliche
Affecte weckt, sondern durch Spiegelbilder derselben, welche sie
uns vorhält, uns ihre Bedeutung fühlen läßt. So sollen wir
nun lernen, auch das Wirkliche so zu betrachten, daß es uns
nicht in leidentliche Zustände versetzt, sondern daß es nach seinetN
idealen Werthe gefühlt werde. Beim Anblick von Dingen, z"
denen wir nach unserer Lebensweise und Gewöhnung überhaupt
nicht leicht in utilistische Beziehung treten, von denen wir keinen
sinnlichen Genuß haben, wird es leicht, die Anschauung nicht
nach der subjectiven und einseitigen Beziehung des Dinges zU
uns, sondern nach dessen objectivem und allseitigen Werthe für
das All auf uns wirken zu lassen, z. B. wenn wir eine Eiche,
eine Landschaft u. s. w. sehen. Diese Dinge wecken in utfb
kein Verlangen, und so können sie unter Erfüllung gewiss
Bedingungen ganz ebenso wie ein Bild als schön genösse
werden. Nicht leicht ebenso ein völlig nacktes lebendes Weib-
Dieses mit gleicher Freiheit anzusehen wie das Bild des Weibe"
vermöchte wohl nur Jemand, dessen plastischer Sinn die vollst
Herrschaft über das Gemüth gewonnen hat.
Hiermit ist schon der Werth des Schönen berührt. D^'
er häufig und namentlich in Deutschland in der klassischen lv^'
in der romantischen Zeit unserer Dichtung überschätzt worde"
ist, braucht jetzt nicht mehr erinnert zu werden. Sollte es viel'
Poesie und Prosa. 299
^cht gar an der Zeit sein, die Kunst, den reinen Schein, in
Schutz nehmen zu müssen? Ja, in der That, können wir über-
^hen, daß der Schein, welch' hohe Ideen in ihm auch erscheinen
^ögen, doch immer ein leerer Schein ist, ein unerfüllter? Ge-
^eint seine bloße Oberfläche dem Ernste unseres menschlichen
Trebens? Zeigt er seinen Inhalt in einer Weise, die sich mit
Unserer sonstigen Auffassung des Wirklichen, wie des Wahren
^ud Guten, verträgt? Gehört vielleicht die ganze Betrachtuugs-
^eise, auf welcher die Kunst ruht, einem Niedern Standpunkte
Listiger Entwicklung an, den wir heute überwunden zu haben
freuen dürfen? Dürfte vielleicht Lotze (Geschichte der
Ästhetik in Deutschland, S. 190) zu schnell über diesen Punkt
Angegangen sein, den er an der Stelle berührt, wo er von
Hegel mittheilt: „Ihm ist die Kunst weder der Form noch dem
Inhalte nach die höchste Weise, dem Geiste seine wahrhaften
Interessen zum Bewußtsein zu bringen .... „„Es giebt eine
^efere Fassung der Wahrheit, in welcher sie nicht mehr dem
sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um von diesem Ma-
^rial in angemessener Weise aufgenommen und ausgedrückt zu
werden. Der Geist unserer heutigen Welt, unserer Religion
Und Vernunftbildung erscheint als über die Stufe hinaus, auf
welcher die Kunst (wie bei den Griechen der Fall war) die
Ochste Weise ausmacht, sich des Absoluten bewußt zu sein.
Jüch der Seite ihrer höchsten Bestimmung bleibt die Kunst
c uns ein Vergangenes; was durch Kunstwerke jetzt in uns
^egt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser
^heil, in dem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des
Kunstwerks und die Angemessenheit beider unserer denkenden
^etrachtung unterwerfen. Die Wissenschaft der Kunst ist uns
%r mehr Bedürfniß als die Kunst selbst; nicht Kunst
. ieder hervorzurufen trachten wir, sondern, was Kunst
zu verstehen."" Lotze geht wohl darum zu leicht über
^lefe Herabsetzung der Kunst hinweg, weil- er zu voll ist von
et Verehrung des Schönen. Hegel ist nicht der einzige
s ^stverächter; er hat die edelsten Vorgänger unter den Griechen
300
Steinthal
Wir haben uns also zugleich vor Ueber- und vor Unter-
schätznng zu hüten. Nun möchte ich drei Gesichtspunkte geltend
machen.
Erstlich: Die Kunst ist doch nicht etwa eine Göttin, welche
aus zweibeinigen Bestien Menschen macht, indem sie denselben
Gefühl für Schönheit ins Herz gießt, oder welche diese Aufgabe
hätte und erfüllt oder nicht erfüllt. Also spreche man auch nicht
so von ihr, daß man fragt: was hat sie geleistet, uns vom
Aberglauben zu befreien, die Menschheit glücklich, gebildet zu
machen? Sie ist ein Erzengniß einer gewissen geistigen Be-
wegnng und fördert diese Bewegung — weiter nichts. Sie
entsteht aus künstlerischem Sinne und schafft oder weckt künst-
krischen Sinn — zunächst wenigstens: weiter nichts. Es ver-
steht sich allerdings von selbst, daß sie als ein bestimmtes Mo-
ment der geistigen Bildung mit allen andern Momenten derselben
in Wechselwirkung steht, und daß sie von gewissen Grundtrieben,
welche die ganze Gestaltung des geistigen Lebens bedingen, mit
geleitet wird. So ist sie denn anch bei der Beurtheiluug irgend
eines Zeitgeistes, einer Culturgestaltuug, mit in Betracht zu
ziehen als ein Moment derselben nach ihrer Bedeutung für die
andern geistigen Momente und für den ganzen Geist, wie auch
umgekehrt nach ihrer Abhängigkeit vom Ganzen und dessen ein'
zelnen Momenten.
Zweitens scheint mir: Man begreift doch nur, was mal'
in sich erlebt hat. Nun srage ich: haben wir etwa die wah^
und volle Wirksamkeit der Kunst erlebt? Nur ein Jahrhundel'
hat es gegeben, wo die Kunst das im Leben war, was f1'
ihrem Leben nach sein soll: das Jahrhundert des Perikles, d- \
des Aeschylus und Phidias. Seitdem war sie zu keiner
mehr als das Genußspiel einer Coterie, einer engern o^
weitern, oder gar Moment des privaten Luxus, der persönlich^
Eitelkeit — mit wenigen und doch auch wieder nur bedingt
Ausnahmen, wie unser Schiller. Unsere Erfahrung an dieses
Dichter reicht wohl hin, um uns klar zu machen, was e^
Kunst bedeuten würde, die mitten in einem kräftigen Leb^'
stünde und selbst ein kräftiges Moment in diesem Leben
die nicht aus Kennerthum und Liebhaberei, sondern unmittelb^
Poesie und Prosa. 301
aus dem Gesammtgeiste der Nation hervorgegangen, der Nation
ken Ausdruck und die Verkörperung ihres Geistes böte, ihren
geistigen Inhalt zum Genüsse brächte. Daß man also die
Sünden des Alexandrinerthums und des Romanticismns nicht
tar echten Kunst aufbürde! Die wirkliche Kunst ist das Na-
^onal-Fest.
Drittens: Der Ausdruck ist dem Inhalt nicht eine Hülle,
von dem dieser in seinem Wesen unberührt bliebe, und dem-
gemäß ist auch die Wahrheit, welche im Gewände der Kunst
^scheint, nur bedingt und keineswegs die höchste Schöpfung des
Menschlichen Geistes. Aber durch unvertilgbare Grundtriebe der
Menschlichen Natur hervorgebracht und sich der fortschreitenden
^ntwickelnng derselben anschließend, dürfen wir sie (ohne Pro-
Theten zu spielen) so unvergänglich wie das Menschengeschlecht
kennen. Die niedere Phase schwindet vor der höheren; aber
die niedere Offenbarungs- und Thätigkeitsform des Geistes bleibt
XX[ ihrem bedingten Rechte neben der höheren bestehen: so die
Kunst neben der Wissenschaft. Diese mag ihren Flug nehmen
tote sie mag, sie bewege den Geist und auch das Gemüth mit
aller Macht: sie kann der Kunst ihren Raum nicht bestreiten,
was sie ihr von einer Seite etwa nimmt, dafür giebt sie
aus der anderen vollen Ersatz.
II.
Mythos und Poesie.
Der erste Theil dieser Abhandlung war schon niederge-
Grieben, als mir die im vorigen Hefte dieser Zeitschrift abge-
^Uckte Arbeit unseres jungen Freundes „Die dichterische Phan-
j|fte und der Mechanismus des Bewußtseins" mitgetheilt ward.
^ will nun diesen zweiten Theil so bearbeiten, daß ich dabei
^gleich die Verschiedenheit meiner Ansicht gegen die seiniae
darlege.
Der Vrs. wendet sich zunächst gegen das Vorurtheil, „daß
*e Dichtung eine Schöpfung sei". Wenn hierunter eine
^vpsung aus Nichts verstanden wird, so müssen wir ihm
gedingt zugestehen, daß derartiges im menschlichen Geiste
l<$t vorkommt. Ob es Jemand in strengem Ernste behauptet
^kitschx. fjjx Völkerpsvch. u. Sprachw. Bd. VI. 20
302
Steinthal
hat, bleibe dahingestellt; gewiß ist, daß mancher, der es aus-
gesprochen hat, sogleich hinzufügte, der Dichter müsse das
menschliche Leben, das er darstellen wolle, in sich erfahren haben.
Die dichterische Schöpfung, meinte man also, bedürfe des Ma-
terials der Erfahrung. Und so würde ich als Psychologe auch
ganz zufrieden sein, wenn man zugesteht, daß es „poetologische"
Gesetze gebe; schlimm wäre nur, wenn man dies leugnete und
dagegen behauptete, das poetische Schaffen sei gesetzlos.
Nun geht der Vrf. gegen die Phantasie. Sie sei „kein
guter Gattungsbegriff". Das heißt doch wohl nur, daß man
bis jetzt diesen Begriff noch nicht gut deftnirt habe. Der Vrf-
citirt (S. 183) billigend Herbart's Ausspruch: „Oder hat
schon jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Gmbildungs-
kraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten, in Denkern, in
Staatsmännern, in Feldherren äußere? Was den Verstand der
Frauen, der Künstler und der Logiker unterscheide?" Verstehe
ich nun unter Einbildungskraft, was man nach dem Sprach-
gebrauche darunter zu verstehen pflegt, so muß ich die erste
Frage ganz abweisen; denn weder der Gelehrte, noch der Denker,
noch der Staatsmann, noch der Feldherr hat Einbildungskraft;
die hat ausschließlich der Dichter. Es könnte sich ircft ' 1
der Staatsmann Kleon auch ein Dichter wäre - 1 s!
Sophokles auch ein Feldherr: wie ein Sch' ' . a • in
Schuster sein kann. Die Schuhe aber macht r
nicht wie die Schneider, sondern wie die Schu^ " ch
ferner Verstand nach der Definition von He^..:i, muß
ich auch die andere Frage ablehnen; denn weder der Künstler j
noch der Logiker als solcher hat Verstand: den hat nur de* *
Realist.
Dies könnte nun freilich beweisen, der Vrf. habe Rech^
wenn er meint, die üblichen psychologischen Gattungsbegriffe
seien nicht genügend begrenzt. Wer möchte dies auch bestreiten?
Er selbst scheint im Folgenden die Ver
griffs ganz übersehen zu haben. Wen. \uv.
die Dichtung aus etwas ganz Besond • , • 1
schaffenden Phantasie des Genius", c . v - v \
Balladen erzählten Geschichte, so will es dem 33rf. scheinet ,
Poesie und Prosa. 303
„als ob die (letztere) nüchterne Ansicht, welche für die Dichtung
einen gemeinsamen Ursprung mit allen andern Culturgattungen
vernmthet, trotz ihrer Jrrthümer die methodisch geradere sei.
Tn der Geschichte der Meinungen wenigstens hat sie sich als
kie förderlichste erwiesen." Ich meine umgekehrt, die nüchterne
Ansicht sei die methodisch krumme. Wenn der Vrf. mit Recht
tfifthnt, die Einzelerscheinungen des Bewußtseins aufzufassen,
^ie schief muß die Erklärung werden, welche die Dichtung aus
einem Grunde ableiten will, der nicht der Dichtung, sondern
^er Erscheinung x zu Grunde liegt. Ist dieser Grund aber so
^gemein, daß er nicht bloß das x und die Dichtung und „alle
änderen Culturgattungen" zu erklären vermag, so erklärt er
^ewiß nichts. Hat die erste Ansicht wenigstens das Verdienst,
ewe Einzelerscheinung, wenn auch undeutlich in sich und mit
verworrenen Grenzen, wie ein unbewaffnetes Auge sie sieht, als
Einzelnes hinzustellen und so den Anfang einer Unterschei-
^Ung zu machen: so läßt die andere Ansicht jeden Unterschied
verschwinden. Hier kommt man dann zu dem einzigen psycho-
logischen Gattungsbegriff „Culturgattung" oder „Gedankenbil-
^ung"; und das ist sicherlich kein guter Gattungsbegriff. —
Joch weniger kann ich zugestehen, daß die nüchterne Ansicht in
er Geschichte der Meinungen über die Dichtung die förderlichere
gewesen sei. Es war dies eben die Ansicht der Alexandriner und
ec alexandrinischen Köpfe des 18. Jahrhunderts, in denen kein
^Unke dichterischen Verständnisses war. Dieses beginnt womit?
^it der Behauptung der Schöpferkraft des Dichters, wie sie
den Männern unserer goldenen Literatur ausging.
Das war sogar ein unermeßlicher Fortschritt, alle Nach-
^Mung und sonstige nüchterne Principien, d. h. alle Jrrthümer
^igstens einmal von sich gestoßen zu haben. Nun war doch
*Wa rasa gemacht und es ließ sich etwas bauen. Und selbst
Wenige, der in aller Strenge behauptete: Die Dichtung ist
l^lut Schöpfung aus sich selbst: der hat die festzuhaltende
~ %heit erfaßt, daß die Dichtung etwas ist, was auf eigenem
. ^Unde steht. Daran war nur dies salsch, daß man nicht sah,
^ überhaupt jedes Ding auf sich steht. Aber dieser Jrrthum
^ sogar bald überwunden. Denn bald behauptete man auch
20*
304 Steinthal
von der Sprache, von dem Mythos, von der Philosophie, von
der sittlichen Lebenseinrichtung, von allem voll Menschlichen,
daß es aus unerreichbarer Tiefe des Gemüths quelle. Kurz:
die nüchterne, von den Griechen überlieferte Ansicht war grund-
falsch und verkehrt; die neuere, überschwengliche, deutsche hatte
in Wahrheit den Sinn, die Dichtung sei unerklärlich. Und
dies war insofern wahr, als sie nicht nur für unerklärt gehalten
werden mußte, sondern aus jenen nüchternen Gründen wirklich
unerklärlich ist. Man war zum Wissen des Nichtwissens ge-
langt und irrte nur darin, daß man das Nichtwissen für die
unüberschreitbare Schranke erklärte.
Der Vrf. war ungerecht gegen die letztere Ansicht; aber
das Eingehen auf die erstere veranlaßt ihn sogleich zu einer
Correctur seines Urtheils über beide. Die Behauptung, die
Dichtung sei Nachahmung, wird nun kurzweg geleugnet, indem
er beispielsweise auf Heinrich Heine's Gedicht vom Fichten-
bäume und der Palme hinweist. Es ist offenbar nicht Nach-
ahmung, wenn der Dichter von einem einsamen Fichtenbaume
im Norden sagt, es schläfre ihn, und er träume von einer
Palme im Morgenlande, welche einsam und schweigend trauert.
Nun citirt der Vrf. Wilhelms v. Humboldt Ansicht mit
Vischer's Commentar — aber nur, um danach das absonder-
liche Wesen der Dichtung auf's schroffste hinzustellen und sich
damit das Problem vollständig vorzuhalten (S. 198): „Der
durchgreifendste Unterschied zwischen der poetischen Gedanken-
bildung und jeder andern Combination ist dieser, daß der
Dichter Dinge und Verhältnisse denkt, die nicht vorhanden sind
oder wenigstens in der Weise nicht vorhanden sind, in welcher
sie der Dichter denkt. Der Dichter selbst ist sich der Unrealität
seiner Dinge bewußt; er macht aber nicht nur nicht den An-
spruch an sich, adäquate Vorstellungen von den Dingen zu
bilden, sondern er geht gerade darauf aus, zu erfinden-
dichten ist erdichten." Wie ist dies psychologisch möglich-
fragt der Vrf. „Sehe ich einen Baum, so muß ich ihn al6
Baum erkennen, ich mag wollen oder nicht" — nach psycho'
logischer Notwendigkeit. „Wir müssen uns zwingen, den Bauw
einen Mann zu nennen, und indem wir es thun, fühlen wir
Poesie und Prosa. 305
die Wirkung der psychischen Hemmung in der unvermeidlichen
Vorstellung der Jnadäquatheit." Nichtsdestoweniger nennt der
Dichter einen Baum Mann, muthet uns zu, dasselbe zu thuu,
und wir thun es. „Wie ist diese Getheiltheit des Bewußtseins
Nach unseren psychologischen Annahmen (nach der Hypothese
von der Einheit des Bewußtseins) möglich? Ist Dichtung etwa
Hallucination, Illusion?" Ein berühmter Arzt hat es halb be-
jaht. Der Vrs. ist dagegen.
Die Erinnerung an das Drama, das eben so wenig wie
die Lyrik, und, wie wir hinzufügen müssen, eben so wenig wie
das Epos, wirklichen Verhältnissen entspricht, führt den Vrf.
zum Mythos, als der Grundlage der Dichtung. Nun zeigt er,
daß die mythischen Anschauungen und Erzählungen ursprünglich
als die adäquaten Ausfassungen der Natur galten und als solche
ganz der psychologischen Causalität gemäß entstanden sind; und
damit ist „in dem mythendichtenden Volke, dem ersten Dichter,
die Einheit des Bewußtseins dargethan". Die dichterische
Phantasie nun appercipirt in allen folgenden Zeiten vermittelst
des Mythos. Wie aber erhebt sich Poesie in Verschiedenheit
vom Mythos? Vortrefflich, wie mich dünkt, weist der Vrf.
Uach (@. 215—217), wie „aus der mythischen Apperception,
welche sich im Vollbewußtsein der Wahrheit fühlt, eine ihrer
Jnadäquatheit bewußte poetische Vergleichungsapperception wird",
indem die mythische Anschauung des Dinges zum Bilde, zum
vergleiche umgestaltet wird.
Danach fragt es sich weiter vom Fortbestande der Poesie
den Perioden immer höher entwickelter wissenschaftlicher Be-
Hebungen. Wie kann derselbe Mann dichten und nach philo-
sophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntniß ringen? Um
dies zu erklären, unterscheidet der Vrf. in der Vorstellung ein
faltiges und ein formales (Gefühls-) Element. Letzteres wird
durch die mannichfachen Combinationen und Abstractionen,
durch Objectivirung, immer mehr geschwächt und soll im reinen
Denken vernichtet sein; in der Poesie wiegt es vor. In bteser
^ppercipiren die formalen Elemente der Vorstellungen einander
und vollständig, während dies von den inhaltigen Elementen
**Ur in gewissem Maße gilt. Maß und Princip der ästhetischen
306 Steinthal
Combination der Vorstellungen sind die formalen Elemente.
Daß aber die Apperception je nach der geistigen Richtung ent-
weder nach den inhaltigen oder nach den formalen Elementen
vollzogen werden kann, ohne daß die eine mit der andern con-
gruent sein müßte, dies beruht darauf, daß viele verschiedene
inhaltige Elemente ein und dasselbe formale Element haben können.
Das formale Element der Vorstellung Liebe kann durch viele
inhaltige Elemente erzeugt werden. „Insoweit nun, als sie noch
immer dasselbe formale Element haben, müssen die inhaltigen
nicht durchaus übereinstimmen. Wir verlangen nicht, daß Don
Carlos oder König Philipp des Drama den inhaltigen Elementen
unserer geschichtlichen Vorstellungen von diesen beiden Figuren
entsprechen, wohl aber, daß — und sei es auch auf Kosten
jener inhaltigen Elemente (bis zu einem gewissen Grade) —
daß die formalen Elemente, die jene dramatischen Personen er-
zeugen, mit den formalen Elementen der Vorstellungen Held,
Unglück, Liebe u. s. f. zusammenstimmen." — „Die inhaltigen
Elemente, vermöge deren die Vorstellung Apollo, Maria wun-
derthätige, verehrte Bilder schus, sind längst aus unserm Be-
wußtsein geschwunden, aber noch immer verbinden sich die for-
malen Elemente jener Vorstellungen mit den formalen Elementen
unserer Vorstellungen von schöner Jugendkraft, oder von dem
unsäglichen Gefühl der innigsten Mutterliebe: dieser Zusammen-
stimmung der formalen Elemente verdanken wir noch immer den
Genuß des Schönen an diesen Werken."
Endlich aber fragt der Vrf. (S. 233): Wie kann der
Dichter, indem er vom Baume spricht, der doch für uns nur
einen bstanischen Begriff bildet, formale Elemente in uns er-
zeugen, wie Liebe, Sehnsucht u. s. w., die wohl der mythi-
scheu Betrachtung einwohnten, unserm Begriffe aber gar nicht
anhängen können? Hierauf antwortet der Vrf. Folgendes:
Erstlich erneuern sich täglich trotz der wissenschaftlichen Er-
kenntniß die mythischen Anschauungen. Auch der Astronom
sieht die Sonne untergehen. Ferner sind die mythischen Ge-
bilde, welche der Geist jedes Kindes schafft, im Manne nicht
bis auf die letzte Erinnerung ausgetilgt. Ganz ebenso ist es
mit dem Volksgeiste: die Wörter der Sprache bewahren die
Poesie und Prosa. 307
ursprünglichen formalen Elemente älterer Zeit bis auf uns.
Insofern aber diese aus der Wortbedeutung schwinden, geben
sie sich doch noch durch den Laut kund, nämlich durch Rhythmus
und Harmonie (S. 241).
Wenn dieser erste Grund uns zeigt, wie man bis heute
noch dichten konnte, so ist noch zu zeigen, warum man es immer
noch wollte. Was reizt zur dichterischen Production? Dies
erklärt sich aus der Beziehung des subjectiven Geistes zum ob-
jectiven (S. 248), aus der Macht der gewaltigen Schöpfungen
der vorhandenen, objectiv gewordenen Dichtung, welche, da die
Anlage zu solchen Productiouen noch nicht geschwunden ist,
diese zur Wirksamkeit, zur Nachahmung, Nacheiferung anspornt.
„Man empfand zu lebhaft, wie in den Saiten des eigenen Ge-
müthes die Töne nachklingen, die aus dem Dichtersaal alter
und jüngerer Zeiten herüberrauschten: was war da natürlicher,
als daß man selbst mächtig in jene Saiten griff und neue
Lieder anschlug, die harmonisch und ebenbürtig zu den alten
Sängen stimmten" (S. 256). „Ist ja doch der alte Geist noch
immer lebendig, die alte Cultur nicht ausgetilgt; noch immer
rinnt das mythische Blut in den Adern naturfor-
schender Spätgeborener, die Plastik der Sprache vermag
beide in ihren Principien so getrennte Vorstellungsweisen in
Verbindung zu setzen: warum sollte der Dichter, wenn er, wie
er muß, alle die schönen und guten Gedanken, die
schon die Ahnen, die großen Dichter der Vorzeit, die dichtenden
Völker gedacht und gesungen haben, noch einmal neu denken
und singen will ■— wie sollte er sie nicht in derselben Form
Nachdenken wollen, in der die Wahrheit im Gewände der Schön-
heit alle Herzen zwingt?"
Daß uns in des Vrf.s Darlegung eine offenbare Ungunst
gegen die Poesie entgegentritt, darf uns nicht irren, da er die
Frage über den eigentlichen Werth der Poesie noch durchaus
offen gelassen hat. Vergessen wir nicht, daß er nur eine pfy-
chologische Frage aufwirft, die Frage von der psychologischen
Möglichkeit poetischer Apperceptionen. Es genügt nicht zu
sagen, die Poesie, wie die Kunst überhaupt, biete das Unendliche
M Symbol, in der Anschauung, und was man sonst noch zur
M
308 Steinthal
Verherrlichung des Dichters rühmen mag: die Frage bleibt
immer, wie kommt der Dichter zu solchen Anschauungen, die
der Wirklichkeit widersprechen und psychologisch unmöglich er-
scheinen müssen.
Gestehen wir nun einerseits zu, daß der Vrs. zur Lösung
dieser psychologischen Ausgabe einen werthvollen Beitrag ge-
liefert hat, so will uns doch scheinen, als habe die ungünstige
Ansicht, die der Vrs. von der Poesie hat, sich nicht nur über-
Haupt, obwohl unausgesprochen offenbart, sondern auch auf die
rein psychologische Seite einen schädlichen Einfluß geübt. Man
sucht eben andere Gründe für vorübergehende, pathologische und
andere für ewige Erscheinungen.
Daß der Vrf. so großes Gewicht auf den Rest mythischer
Erinnerung legt, der in der Sprache ausbewahrt wird, wie auf
die im Manne noch nicht ausgelöschten mythischen Anschauungen
aus der Kindheit, versteht Jemand, der in der Kunst etwas ab-
solut Humanes sieht, so wenig, daß es ihm lächerlich erscheinen
muß. Also weil sich Göthe in der Kindheit die Lust, das
Feuer und das Wasser als eine schöne Prinzessin dachte, so
konnte er als Mann die Iphigenie, Tasso, Faust dichten!
( Allerdings der objective Geist kam hinzu. Wäre aber der ob-
jective Geist weiter nichts gewesen, als läppisches, kindisches
- Zeug, so hätte er ebensowenig zur Erzeugung jener Kunstwerke
beitragen können. Der Vrf. hat den Kern seiner Entwickelung
nur kurz zum Schlüsse angedeutet und zwar in offenbar ver-
spottendem Tone (S. 262): „Nun beginnt das Spiel der Ver-
tretungen. Die Kunst wird die Jdealisirung der gemeinen
Wirklichkeit, die Schaubühne die „„beste moralische Anstalt"",
die Dichtung die „„Offenbarung der Humanitätsidee"". So
wird jeder Zweifel an der Richtigkeit des Unternehmens (näm-
lich- dichten zu wollen) im Keime erstickt." Wer hat wohl je
aus Schiller's oder Goethe's ästhetischen Betrachtungen den
Eindruck gewonnen, als handle es sich darin nur darum, den
erwachten oder erwachenden Zweifel an der Berechtigung des
Dichtens niederzukämpfen? Und sind diese Abhandlungen so
kurz, so leichtfertig, daß man sähe, es sei dem Gegner nicht
volle Gelegenheit gegeben, seine Kraft geltend zu machen. Der
Poesie und Prosa. 309
historische Proceß, der uns in Schiller n. s. w. entgegentritt,
mag immerhin eine Vertretung sein. Aber auf solchen Ver-
tretungen beruht ja, wie der Vrs. selbst erwähnt (@. 251 f.),
der Fortschritt in der Geschichte. Wenn die Dichtung das ist,
wozu sie, die Anfangs Mythos war, durch Vertretnngsprocesse
! umgestaltet ward, nämlich Schöpfung von Idealen, Lehrerin der
' Sittlichkeit und Humanität: so fällt des Vrf.s pathologische
Frage weg. Dagegen wäre dies die Frage geworden, wie solche
Vertretungen sich vollzogen haben, wodurch sie bedingt, geför-
dert wurden. Es hat eben zu keiner Zeit ein Dichter an der
Berechtigung der Poesie gezweifelt: so mächtig war in ihm der
Vertretuugsproceß, d. h. so mächtig war in ihm der Drang
zur Poesie. Glaubt der Vrf. wirklich mit seinen kleinlichen
Gründen dies erklärt zu haben! Aeschylus und Pindar hätten
darum gedichtet, hätten darum dichten gekonnt und gewollt, weil
das Kind in ihnen noch nicht erstorben war, weil sie noch
kindlich zu fühlen verstanden, vielleicht gar, weil sie eifersüchtig
auf den Ruhm, ich weiß nicht wessen, waren?
Der Vrf. hat sich selbst widerlegt. Denn er beginnt frei-
lich mit dem Problem, das ihm seine Dialektik stellte, die Poesie
sei eine abnorme Vorstellungsweise. Im Verlaufe seiner Dar-
Regung aber macht er klar, daß sie ganz und gar nicht abnorm
sei, sondern ganz normal. Daß sie zwar abnorm scheine,
wenn man die inhaltigen Elemente beachtet; daß sie aber eben
eine Upperception unter den formalen Elementen ist und als
solche ganz normal, in gleichem Grade normal, als sie auch
Poesie und schön ist. Wovon jeder Dichter und jeder poetisch
gestimmte Geist unmittelbar überzeugt war, so überzeugt, daß
ihm der Zweifel seltsam erscheint, das hat des Vrf.s Dialektik
Und Psychologie klar dargelegt.
Die Verschiedenheit der Ansicht des Vrf.s gegen die in
Deutschland herrschende, der ich mich anschließe, besteht also
^urz darin. Der Vrf. geht von der Voraussetzung aus, das
Dichten habe seine „besondern" Gründe; denn es trage keine
Notwendigkeit in sich, die aus der gesetzmäßigen Construction
des Bewußtseins erfolgte, sondern es sei ein Nebenproduct, das
ätoar nothwendig sei, weil die Verhältnisse nun einmal so liegen,
310 Steinthal
das aber in Wahrheit zufällig sei, insofern es nicht zur eigent-
lichen Sache, zum Wesen der Entwicklung des Bewußtseins ge-
höre. Nothwendig sei die Schöpfung des Mythos; die Tradition
des Mythos dagegen, auf der die Poesie beruht, habe nicht die
gleiche Notwendigkeit, sei nur Product des Trägheitsgesetzes.
Der Vrf. mußte also dieses Verhältniß darlegen, um die Mög-
lichkeit der Poesie zu erklären. — Wir aber meinen: der Dichter
dichtet nicht aus besonderem Grunde, sondern nur weil er
Mensch ist; und der Mensch dichtet, weil er Dichter ist. Das
veranlaßt eine andere Betrachtung auch für den Mechanismus
der dichterischen Phantasie.
Wenn der Vrf. zugesteht (S. 238): „Für die modernen
Dichter nun verlieren die Mythen ihre inhaltigen Elemente fast
gänzlich, sie werden Worte, die ihre inneren Sprachformen
wandeln und vor neugebildeten Worten den Vorzug voraus
haben, daß sie die formalen Elemente zur entschiedneren An-
regung bringen", so sehe ich gar nicht mehr ein, wie er ein
so großes Gewicht auf den noch in uns lebenden Mythos legen
kann. Denn dieser tritt ja gar nicht als solcher in die Poesie
ein, sondern erst in Folge einer Wandlung ihrer inneren Form,
zu dem Zwecke, etwas zu vertreten, was unmittelbar gar nicht
in ihm liegt. Auf dem vom Vrf. verhöhnten Vertretungspro-
ceß beruht die Poesie, und ihn mußte man darlegen, wenn
man den Mechanismus der Phantasie analysiren wollte. In
dem Heine'schen Gedichte, von dem der Vrf. ausging, han-
delt es sich ganz und gar nicht von Fichte und Palme; nur
grammatisch (buchstäblich) genommen ist hier „ein Fichtenbaum"
Subject, mit dem das Prädicat „er träumt" verbunden ist, zu
welchem „von einer Palme" als Object gehört. Dargestellt ist
in diesem Mythos, diesem Gramma, diesem Logos oder Epos,
etwas ganz Anderes. Kargestellt, d. h. vertreten. Ja, wem
jenes Gedicht nicht das zu erwecken vermag, was es darstellt,
der hat es nicht verstanden. Also ist nicht das die Frage (we-
nigstens nicht bloß das): wie kann man Fichte als träumend
appercipiren, sondern wie sind solche Vertretungen möglich.
Die Dichtung ist nicht Fortsetzung des Mythos, sondern
Aufhebung desselben. So lange er wirklich Mythos ist, kann
Poesie und Prosa.
311
von Poesie im eigentlichen Sinne noch nicht die Rede sein.
Eine Proeession, eine Liturgie, mag sie noch so dramatisch sein
ist kein Drama. Unzählige Völker hatten dramatisch gefeierte
Feste, aber kein Drama. Der Mythos thut's nicht. Also
kann auch der Knabe, der in Delphi den Gott Apollo agirte,
nicht Ursache des Drama's in Athen sein. Es muß wohl zum
Mythos etwas hinzukommen; was ist das? Das bleibt zu
zeigen.
Ist denn der Mythos wirklich so wesentlich für die Poesie,
wie der Vrf. stillschweigend voraussetzt? Was sollen wir denn
z. B. zu dem bekannten G o ethe'schen Gedichte sagen:
Ueber allen Gipfeln ist Ruh;
In allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde:
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Ist das schön? Und wo ist hier ein Mythos? Oder be-
ruht hier die Poesie lediglich auf Reim und Versmaß? Und
wie verhält es sich mit der Novelle und dem Roman in Prosa?
Geschichtlich, das ist richtig und ist oft ausgesprochen, hat
sich die Poesie und alle Kunst innerhalb der Religion entwickelt,
und zwar innerhalb der mythischen Religion oder des religiösen
Mythos. Ursprünglich ist sie nichts weiter als schlechthin die
erhabene, dem gemeinen Verkehr enthobene Rede, die Sprache,
mit welcher man sich an die Götter wendet, in welcher man
bei feierlicher Gelegenheit sich ausdruckt. Da ist sie religiös,
weil es uur religiöse Feier giebt; da ist sie reiner Mythos,
weil man nur mythisch denkt. Es sind die Epochen des mensch-
wichen Lebens, Geburt und Tod und der Eintritt in den Ehe-
bund, es sind nationale Ereignisse, wie der bevorstehende Kampf,
es sind Abschnitte in dem Naturlaufe, wie der Anbruch des
Morgens, des Frühlings, welche Opser und Feier der Götter
veranlassen und den dichterischen Ausbruch des bewegten Ge-
wüths hervorrufen. Das Dichterische liegt hier lediglich in
der edelu und rhythmischen Sprache. Das ist wohl kaum mehr
312 Steinthal
als Keim der Poesie, noch nicht sie selbst. So verhält es sich
am klarsten, wie mir scheint, in den altindischen Hymnen, den
Veden. Eigentliche Poesie erhebt sich allmählich mit der Ver-
weltlichung der Feste; es ist das fröhliche Nachspiel des Gottes-
dienstes, wobei der Frohsinn immer noch unter Festesglanz in
edlen Worten hervorbricht. Auch die Götter lachen und sreuen
sich des Daseins; es giebt neben dem erhabenen Mythos auch
einen heiteren. In dem Maße, wie der Mythos zur Sage
wird, verliert die Poesie den hieratischen Charakter und nähert
sich ihrem Wesen. So entwickelt sich das ursprüngliche Epos.
Dann bedient man sich wohl der Poesie auch zu weltlichen
Zwecken, zunächst zu den allgemeinen staatlichen, in Ermahnungen
zu Vaterlandsliebe und Tapferkeit in Zeiten der Gefahr, zu
Klagen in Zeiten allgemeiner Noth. So erhebt sich die Lyrik,
in welcher sich die Poesie immer mehr auch des individuellen
Gemüthslebens bemächtigt. Um diese Zeit entwickelt sich denn
auch schon die Prosa, welche den heilig gebliebenen Mythos
der Religion überläßt, die Sage aber als unwahr verurtheilt
und die Wahrheit sucht. In einem Gegensatze zur Prosa er-
steht nun die Poesie als sie selbst.
Zeigt sich also, daß der Mythos der Poesie nicht noth-
wendig ist; ist er nur ein mögliches Mittel für dieselbe; wird
er dies aber erst durch eine innere Verarbeitung: so muß man
vielmehr behaupten, daß Poesie und Mythos trotz einer ge-
wissen Verwandtschaft und trotz des historischen Zusammenhanges
dennoch wesentlich verschieden sind, eben so sehr, wie auch
Wissenschaft und Mythos. Wo Mythos als solcher erscheint,
da ist keine Poesie.
Wenn, wie der Vrf. bemerkt, der Mythos dem mythisch
denkenden Menschen als objective Auffassung der Dinge gilt,
Poesie aber eine Vergleichungs-Apperception ist, so ist die
Nabelschnur, welche die Poesie noch mit dem Mythos verband,
völlig durchschnitten; die Poesie ist ein Wesen mit eigenen Le-
bensbedingungen, und der Mythos ist in ihr untergegangen.
Der Vrf. bemerkt, wir können immer noch die Schönheit des
Apollo und der Madonna genießen, weil die formalen Elemente
dieser Vorstellungen auch in uns noch entsprechenden, apper-
Poesie und Prosa. 313
ceptionsfähigen Elementen begegnen; und er will damit nur be-
weisen, daß dasselbe formale Element durch verschiedene inhaltige
erzeugt werden könne. Wir benutzen diesen Fall, um daran
zu zeigen, wie völlig verschieden Kunst und Mythos ist. Der-
jenige, auf welchen eine Raphael'sche Madonna nur die Wir-
kung übt, welche jedes Heiligen-Bild, das am Wege steht, eben-
falls übt, der genießt das Kunstwerk Raphael's und dessen
Schönheit nicht; und derjenige, für welchen die Vorstellung
Apollo, Maria, ein wuuderthätiges Bild schaffen konnte, hat
nie ein Kunstwerk hervorgebracht. Ich habe von vielen wun-
derthätigen Bildern gehört, darunter aber war keins von einem
nennenswerthen Künstler. Die Bilder verlieren in demselben
Maße an Wunderkraft, als sie an Schönheit gewinnen. Wenn
Raphael die schönste Madonna hervorgebracht hat, so ist ihm
dies nicht darum gelungen, weil er am festesten an Maria ge-
glaubt, am inbrünstigsten zu ihr gebetet hätte, sondern weil er
der größte Maler war: sonst hätten ihn gewiß die Maler der
früheren Jahrhunderte weit übertroffen.
Umgekehrt muß man sagen, die Kunst sei Freiheit vom jj
Mythos. Wer ein schönes Bild von Maria und Jesus schaffen
wollte, mußte sich bewußt sein, kein Portrait zu liefern. Er
fühlte sich dem Mythos gegenüber so frei, wie gegenüber irgend
einer Thatsache, deren allgemein menschlicher, durch die Kunst
darstellbarer Inhalt herausgehoben werden mußte. Indem er
aber dies in Bezug auf Maria that, hat er den Mythos als ^
Alchen vernichtet. — Und hier hat die höhere Kritik dieser
Kunst anzuknüpfen. Werden wir immerfort meinen, Jungfrau-
!chaft und Mutterliebe auf demselben Gesichte zeigen zu können?
Und werden wir die Reinheit der Jungfrau nicht anders denken
können, als mit verhimmelnden Augen und auf der Brust ge-
halteten Händen?
Der Mythos ist an sich und ursprünglich, wie schon wie-
Erholt bemerkt ist, die vermeintlich objective Auffassung der
Naturerscheinungen, wird dann zu einer quasi-historischen Er-
Zählung, einer Sage, endlich zu einem Märchen; also ist er,
^enn er in der Poesie erscheint, etwas von ihr Ergriffenes,
ein Gegenstand: ebenso wie irgend eine geschichtliche Thatsache,
314
Steinthal
irgend eine Begebenheit im menschlichen Leben, irgend ein Ding
der Natur, Gegenstand der Poesie werden kann.
III.
Die Factoren der Poesie.
Wir haben in dem Eingangs citirten Aufsatze nur das
Verhältniß zwischen der Sprache und dem in ihr dargestellten
Inhalte an der Hand der beiden Kategorieen Stoff und Form
erörtert. Wir hatten gesehen, wie sich von verschiedenen Stand-
punkten aus sowohl die Sprache als der Inhalt je als Stoff
oder als Form ansehen lasse. Fassen wir die dort gewonnenen
Ergebnisse mit dem zusammen, was sich uns hier schon ergeben
hat, so gelangen wir zu einer mehrsältigen Unterscheidung und
einer bestimmteren Fassung der unterschiedenen Momente. Wir
haben nämlich erstlich dem Marmor des Bildwerkes parallel
ein Material der Poesie; dies ist die Sprache. Von dieser
nun abgesehen unterscheiden wir weiter an dem, was sie aus-
drückt, an ihrem Inhalte, drei Momente; nämlich erstlich einen
Gegenstand, welcher aus irgend einer Sphäre des Alls, ir-
gend einem Kreise der Natur oder des geistigen Lebens und
der geistigen Erzeugnisse gewählt sein kann. Wie uns der
Maler einen Baum oder eine Landschaft darstellen kann, so auch
der Dichter. So zeigt uns z. B. Freiligrath in einem
Doppelbilde „die Tanne", so giebt uns Goethe mehrere Mond-
landschasten („Lnna", „An den Mond"), und Heine in dem
oben erwähnten Gedichte zeichnet Pol und Aequator. Zweitens
aber ist es nicht um den Gegenstand als solchen zu thun, son-
dern um unser Gemüths- und geistiges Verhältniß zu ihm,
-um Stimmung oder Idee, um ein Inneres, welches an
jenem Gegenstande erweckt und dargestellt wird. Dies wird
erreicht drittens durch die künstlerische Formung oder Vor-
sührungsweise des Gegenstandes. Erst wenn wir diese Mo-
mente jedes einzeln näher dargelegt haben, können wir auch die
Sprache als Material der Poesie betrachten.
Der Gegenstand ist dem Wesen des Kunstwerkes fast noch
eben so äußerlich wie das Material. Auch dieses ist ja freilich
nicht gleichgültig für die Charakteristik des Künstlers und seines
Poesie und Prosa. 315
Werkes; es ist wesentlich, ob derselbe ein bildender oder redender
Künstler ist. Dies verhält sich aber doch nur darum so, weil
je nach der Eigentümlichkeit der Phantasie dieses oder jenes
Material der Darstellung das geeignetste ist. Der so oder so
individuell bestimmte künstlerische Genius arbeitet seine innern
Bilder nicht gleich vollkommen für Stein oder für Farbe aus,
und sein Bild läßt sich überhaupt nicht in gleich günstiger
Weise so oder so zur Aeußerung bringen. Kurz, wer innerlich
ein Bild entwirft, thut dies sogleich mit bestimmter Rücksicht
auf das Material, in welchem es ausgeführt werden soll,
z. B. der Maler mit Rücksicht daraus, ob es ein Wandgemälde
oder ein Oelbild sein soll, und welche Dimensionen es haben
soll. In gleicher Weise nun ist auch nicht jeder Gegenstand
geeignet, um aus ihm jede Idee strahlen zu lassen. So ist
allerdings die Geschichte der Gegenstände der Poesie, wie die
des Materials der Künste nicht bloß etwas Aeußerliches, aber
doch nur secundär wichtig, als Symptom, da das Primäre doch
immer die innere Thätigkeit bleibt. Dabei kommt auch noch
die Natur der Kunstart in Betracht. Die Geschichte der In-
strumente mag eine höhere Bedeutung für die Musik haben;
die der Farben für die Malerei nicht minder; ebenso die des
Materials sür die Bauwerke: während sie für die Plastik schon
gleichgültiger ist. Sehr wichtig dagegen ist anerkanntermaßen
die Natur der besondern Sprache für die Dichtung. Es ist
uur Folge des universellen, allumfassenden Charakters der Poesie,
daß der Gegenstand für sie weniger in's Gewicht fällt. In-
dessen ist auch hier mit Recht z. B. oft genug auf das Ver-
hältniß der Dichtung zur Natur hingewiesen, als auf einen
Punkt, in Bezug auf welchen sich Völker, Zeiten und Jndivi-
dualitäten unterscheiden. Daß die höfische Poesie des Mittel-
alters vorzugsweise den bretonischen, die nationale Poesie in
Deutschland zur selben Zeit den altgermanischen, in Frankreich
den karolingischen Sagenkreis bearbeitet, ist für das innerste
Wesen dieser Dichtungen bestimmend. Es ist auch gewiß
charakteristisch für Schiller, daß er für seine Dramen (abge-
sehen von der fremden Turandot oder etwa von der Braut von
^essina?) weder Novellen noch Sagen zur Grundlage wählte,
316 Steinthal
wie doch Goethe und Shakespeare thaten, und daß er für
seine erzählenden Gedichte (mit Ausnahme des Fischerknaben im
Anfange von Tell) nicht jene geheimnißvollen Mächte herbeizog,
welche in den berühmtesten Balladen wirken. Es ist hier nicht
der Ort, auf diesen Punkt näher einzugehen. Da es mir an
dieser Stelle nur darum zu thun ist, zu zeigen, daß einerseits
sich schon in der Wahl des Gegenstandes die Eigentümlichkeit
des dichterischen Genius klar herausstellen läßt, andererseits aber
doch dieselbe nur ein Symptom ist: so brauche ich, um dies
zu genügender Deutlichkeit zu bringen, nur auf die Gegenstände
hinzuweisen, welche Tieck im Gegensatze zu Schiller bear-
beitete. Denn einerseits zeigt sich so unmittelbar die ganze
Kluft, welche jenen Romanticisten von diesem „modernsten"
Dichter trennt, und doch ist damit noch gar nicht auf das
Wesen der beiderseitigen Bestrebungen und Weltanschauungen
eingegangen.
Hieraus ergiebt sich das richtige Maß der Wichtigkeit,
welches in der allgemeinen Literaturgeschichte jenen Untersuchungen
zukommt, die in neuester Zeit im Gefolge der vergleichenden
Sprach- und Mythenforschung mit umfassender Gelehrsamkeit
über die?Wanderungen der von der Dichtung ergriffenen Er-
Zählungen angestellt worden sind. Als bloße Betrachtung der
Gegenstände bleibt sie in der Vorhalle der Literatur; aber
nicht bloß ist von hier aus der Eintritt in das Innere nahe-
gelegt, sondern es tritt auch noch eine andere Rücksicht hinzu.
Jene Erzählungen (z. B. von zwei Liebenden aus feindlichen
Häusern, oder die durch einen Strom getrennt sind; von einer
Frau, die sich dem Manne überlegen dünkt und sich dennoch
von ihm überlisten läßt; von der Schönen, die durch Lösung
eines Räthsels zu gewinnen ist; vom sogenannten Urias-Briefe),
welche sich in mannichfacher Abwandlung über den Orient und
Occident verbreiten, bilden, noch abgesehen von der dichterischen
Bearbeitung, die sie erfahren, schon an sich Theil einer Art
bloß im Munde lebender -Volksliteratur. Wenn auch zuweilen
noch nicht in rhythmische Sprachform gebracht und insofern
noch außerhalb der Volkspoesie stehend, bilden sie so zu sagen
die prosaische Ergänzung zu letzteren. Solche Sagen, Erzäh-
Poesie und Prosa. 317
lungen, Märchen, Schwanke tragen wie die Mythen einen
poetischen Charakter und Keim in sich. Wir können in ihnen
selbst schon einen Gegenstand, eine Idee und eine Form unter-
scheiden, wie an jedem Kunstwerke. Sie sind die eigentliche
Urpoesie, Poesie in primärster Gestalt oder in erster Potenz;
und nun, von einem Dichter als Gegenstand ergriffen, werden
sie in zweiter Potenz in die wirkliche Poesie erhoben. Und
gern natürlich wendet sich der Dichter an sie, die selbst schon
Dichtung sind, wenn auch noch kein Gedicht; er wendet sich an
sie lieber als an einen unmittelbaren Gegenstand der Natur
oder des geistigen Lebens. Sie bieten ihm einen Stein, an
dem die erste Zubereitung schon vollzogen ist, den er nur der
feineren Bearbeitung zu unterWersen hat. Solche Erzählungen
haben an sich schon formalen, idealen Werth, und so treten sie,
wenn vom Dichter ergriffen, nur relativ als Gegenstand und
Stoff eines Kunstwerks auf, sind aber an sich schon Form
oder Idee. Wenn Schiller solche schon zubereitete poetische
Stoffe für seine Dramatik liegen ließ und sich unmittelbar aus
dem gesellschaftlichen Leben und der Geschichte den Stoff holte,
den er dichterisch formte, so zeigt dies die hohe Energie seines
Geistes, die aber sortan dem modernen Dichter nicht mehr zu
erlassen sein wird. Wenn wir darum in der ersten Zeit nur
Mangelhafte Dichtungen erhalten werden, so dürfen wir uns
wohl mit der Hoffnung trösten, daß diese Werke folgenden Ge-
fchlechtern die nothwendigen poetischen Vorarbeiten für Werke
^nes höheren poetischen Styles liefern werden.
Die Betrachtung der poetischen Idee und Formung würde
uns unmittelbar in die speciellere Aesthetik führen. Hier tritt
Uns nun aber der Hauptunterschied unter den Gattungen der
Redekunst entgegen, der vor allem zu erledigen ist, nämlich der
^on Poesie und Prosa; und zu diesem wenden wir uns jetzt,
^hn darzulegen war ja, wie die Ueberschrist ausspricht, der
3weck dieser Abhandlung.
Zeitsch^. fuv Vvlkerpsych- u. Sprachw. Bd. Vi.
21
318
Steinthal
IV.
Poesie und Prosa nach ihren Zwecken und Stoffen.
Wenn hier der Unterschied zwischen poetischer und pro-
saischer Redekunst dargelegt werden soll, so ist eben schon vor-
ausgesetzt, daß wir hier unter Prosa nicht die unkünstlerische
Rede verstehen, wie man das gewöhnlich thnt. Also nicht, wie
man die Prosa des Lebens und der Wirklichkeit der Poesie der
Ideale entgegenstellt, nicht in diesem Sinne reden wir hier von
Prosa. Wir müssen jedoch diesen Begriff bestimmter begrenzen,
indem wir genauer bezeichnen, was von ihm ausgeschlossen
bleibt und was nur mißbräuchlich mit jenem Worte bezeichnet
wird. Wir schließen aus die Umgangssprache, die mündliche
wie die schriftliche, also jeden Geschäftsstyl, Brief-, Canzlei-
und Gesetz-Styl, jede Formel-Sprache, wie wichtig sie auch
für die Wissenschaft sein mag. Dies alles ist nicht Prosa,
sondern Noth- und Verkehrs-Spräche." Solches Reden
ist Praxis, Kundgebung des Willens, der ausgeführt werden
soll, Mittheilung, Belehrung, Hülfsmittel für Erkenntniß. Was
hier erstrebt wird, ist genaue Bezeichnung dessen, was gemeint
wird, und unzweifelhaftes Verständniß. Aesthetische Rücksicht
darf in solche Rede gar nicht eintreten. Wenn wir nun auch
diesen ganzen Kreis der Geschäfts-Rede als völlig unkünstlerisch
von der Prosa ausscheiden, so können wir doch bemerken, daß
es auch hier nicht nur Unterschiede giebt, sondern auch größere
oder geringere Entfernungen von der Kunst. Eine Familien-
Anzeige in der Zeitung soll nicht den Anspruch auf wirkliche
Prosa erheben; wir finden es nicht gebildet, hier von „dem
unerforschlicheu Rathschlusse der Vorsehung" zu reden. In-
dessen wüßten wir kaum, wie es anders lauten könnte, wenn
Hr. N. N. anzeigt, seine Frau sei von einem Knaben entbunden,
ja ein Söhnchen oder Knablein wird seiner Vaterfreude gern
gestattet, und er kann auch drucken lassen: meine liebe Frau.
Die Polizei aber notirt: „geboren: ein Kind männlichen Ge-
schlechts". Daß es ein „gesunder, kräftiger Knabe" ist, meldet
die Anzeige ebenfalls; der Polizei ist das gleichgültig, sie hat
nicht für Arzt und Arzenei zu sorgen. Nur wenn der Knabe
Poesie und Prosa.
319
stirbt, ist der Tod zu melden, gleichviel, ob er sehr gelitten hat
oder nicht. Erst wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wo er
Soldat werden soll, geht seine Gesundheit den Staat an.
Die eigentliche Geschäftssprache also hat (mit der Beschrän-
kung, die später anzugeben sein wird) keinen ästhetischen Cha-
rakter. Denn für sie, wie für alle Praxis, ist als wesentlich
bezeichnend dies hervorzuheben, daß hier überall die Gegen-
Itäube in ihrer endlichen Erscheinung als Einzelheiten aufgefaßt
werden sollen, um mit ihnen oder auf sie praktisch zu wirken.
Wir bewegen uns hier im Gegensätze zu aller Kunst und Wissen-
Schaft, welche auf das Allgemeine gehen und rein theoretisch
find. Wie verschieden ist die Thätigkeit des Untersuchungs-
Richters von der des wissenschaftlichen Juristen! Jener hat
ben einzelnen Fall festzustellen mit allen seinen näheren Um-
ständen; er hat es mit dieser Person und dieser Sache zu
^)un, welche so aufzufassen ist, daß sie durchaus als diese und
leine andere ganz unverwechselbar hingestellt werden muß.
Unter Prosa als Redekunst wird also nur die Wissenschaft-
ttche Darstellung (abgesehen von aller formelhaften Ausdrucks-
weise) und die Beredsamkeit begriffen. Letztere wird gewöhnlich
^ viel höherem Grade als die erstere zu den Künsten gezählt,
^ud sie trägt vorzugsweise den Namen Redekunst. Und dies
wit allem Rechte, wie in die Augen springt, sobald man den
auf die Reden irgend welcher Art richtet und mit der
^sprechenden Wissenschaft vergleicht, die religiöse Rede mit der
^ogmatik und Ethik; die gerichtliche Rede mit der Sprache
e§ Gesetzbuches oder der Aktenstücke, überhaupt der Juris-
^udenz; die politische Rede mit der Geschichte und Politik,
^ welchen Wissenschaften sonst noch der Redner seine Ge-
^nken entnimmt. Dies scheint aber insofern abnorm zu sein,
die Wissenschaft mit der Kunst das Allgemeine und das
Theoretische gemeinsam hat, während die Beredsamkeit auf
ag Einzelne und Wirkliche und die Praxis geht und sich da-
Uvch eben so sehr von der Kunst entfernt, als sie sich dadurch
^,QnS auf Seiten des Verkehrs stellt. — Die Stellung der
^gentlich so genannten Reden gegen die Werke der Wissenschaft
aber allerdings eine bedeutend niedrigere, wie unmittelbar
21 *
320
Steinthal
einleuchtet, wenn man die tausend gerichtlichen Reden über Dieb-
stahl, Betrug u. s. w. und auch tausend Verhandlungen politischer
und gesetzgebender Corporatioueu in Betracht zieht. Dieselben
stehen so wenig auf dem Boden der Kunst, wie die Aktenstücke,
auf welche sie sich stützen. Nur wo der Gegenstand der Ver-
Handlung allgemeine und hohe sittliche Interessen berührt, wo
sich der Verkehr zu seiner vollen Höhe menschlicher Zwecke er-
hebt, da gewinnt die Rede einen künstlerischen Charakter, weil
die lebhaftesten Gefühle erweckt werden, und diese sind es, durch
welche die Beredsamkeit mit der Kuust verbunden ist.
Gehen wir nun näher auf das Wesen der Prosa und
Poesie ein, so wird sich zeigen, um das Ergebniß vorauszu-
schicken, daß nur die Poesie wahrhaft und ganz in die Reihe
der Künste gehört, die Prosa aber, selbst nur im engern und
höhern Sinne, doch bloß eine „anhängende Kunst" zeigt, we-
sentlich aber einem ganz anderen geistigen Gebiete angehört-
Sie stehen zwar beide in gleich scharfem Gegensatze zur Sprache
des Verkehrs, wie zu aller Praxis überhaupt; aber jede thut
dies in so verschiedener Weise, daß schon hier der unter ihnen
bestehende Gegensatz klar hervortritt.
Die Praxis ist ans das Einzelne gerichtet, um an ihm
irgend einen snbjeetiven Zweck zu objeetiviren. Dieser Zweck
ist etwas Allgemeines; und wenn irgend ein Stoff dazu bear-
bettet und geformt wird, um einem unserer Bedürfnisse zu ge-
nügen, um uusern Körper zu kleiden, nnsern Hunger oder Durst
zu stillen, uns durch deu Raum zu tragen oder um als Werk-
zeug und Mittel zur Beschaffung der Dinge zu dienen, durch
welche wir unsere Bedürfnisse irgend welcher Art befriedigen:
so wird immer einem begrenzten einzelnen Stoffe eine durch
das Subject bestimmte Form angebildet; es wird in das Ob
ject eine Allgemeinheit gesenkt, welche aus dem Gedanken und
den Verhältnissen des Snbjects stammt. So entsteht ein ein
zelnes Ding, das insofern einen allgemeinen Werth in sich
trägt, als es zum Ausdrucke eines bestimmten menschlichen Ge-
dankens geworden ist: ein Kleidungsstück, ein Messer. Del
Zweck, das Kleiden, das Schneiden, ist ein allgemeiner Gedankt
snbjectiver Art, d. h aus die Verhältnisse und Bedürfnisse des
Poesie und Prosa. 321
Menschen berechnet, aus denselben entsprungen, und dieser ist
dem Stoffe immanent gemacht worden, so daß nun das Kleid
eine Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit ist. — Das
Kunstwerk ist ebenfalls eine Einzelheit, ein gegebener Stoff,
dem etwas Allgemeines eingebildet ist; insofern steht es dem
verfertigten Dinge gleich. Es unterscheidet sich aber von diesem
dadurch, daß das Allgemeine nicht ein subjectiver Zweck ist,
sondern eine objective Idee. Eben darum ist das Kunstwerk
nicht nützlich, dienlich, sondern es stellt dar. — Die Wissenschaft
bietet Abstractionen, also nichts Einzelnes, sondern das objective
Allgemeine an sich. Sie steht also in dieser Rücksicht in dop-
pelseitigem Gegensatze zur Praxis, aber auch zur Kunst. Dem
Einzelnen abgewandt, welches jene beiden hervorbringen, ist sie
wie die Kunst auf das objectiv Allgemeine gerichtet, während
die Praxis auf die subjective Allgemeinheit geht. Das wissen-
schaftliche Allgemeine aber ist dennoch ganz anderer Art als
das künstlerische, wie sich im folgenden Paragraphen ergeben
wird.
Scheint hier die Wissenschaft der Praxis ferner zu stehn,
die Kunst, so zeigt sie sich in anderer Rücksicht derselben
näher als diese. Nämlich die Praxis ist auf die Wirklichkeit
nnd zwar auf die Beherrschung derselben gerichtet; die Wissen-
'chaft geht auch auf dieselbe, wenn auch zunächst nur aus ihre
^rkenntniß. Das Causalitätsverhältniß der Wirklichkeit, welches
Wissenschaft zu erkennen strebt, wird von der Praxis vor-
ausgesetzt; die Kunst will bloß den Schein — ein Unterschied,
°er schon oben erörtert ist (S. 295 f.), den wir aber hier noch
^Nmal mit der besondern Rücksicht auf den uns in diesem
Paragraphen beschäftigenden Punkt erläutern wollen.
Schien uns nämlich soeben die Wissenschaft der Praxis
serner zu stehen als die Kunst, weil sie mit dem Einzelnen als
!olchem gar nichts zu thun hat, sondern ausschließlich auf das
°%ctfoe Allgemeine geht, während die Kunst wie die Praxis
Einzelnes hervorbringt, so tritt sie damit zugleich auch der
^unst ferner als die Praxis. Und dies führt nun auf einen
^dern Unterschied.
Die Knnst ist ihrem eigentlichen Wesen nach Darstellung;
322
Steinthal
die Wissenschaft aber ist an sich bloßes Erkennen, und es ist
ihr genau genommen ganz äußerlich, mitgetheilt und darum
dargestellt zu werden.
Die Wissenschast will die Wahrheit des Seins erfassen,
> die Poesie will den wahrhaften Schein darstellen. Darum
also hat jene das Gewebe der mechanischen Kräfte nach den
mannichfachen Verschlingungen der Fäden zu verfolgen. Sie
hat die Dinge der Natur, wie geschichtliche Ereignisse oder
Thaten, als Wirkungen vorhandener Bedingungen nach objektiven
Gesetzen zu erklären. Und so steht sie eben der Praxis zur
Seite, welche dieselben Kräfte und Bedingungen für ihre Zwecke
zu verwerthen sucht. Die eine wie die andere bedarf des
Sinnes für die Wirklichkeit. Im Gegensatze zu beiden sucht
die Kunst nur die Notwendigkeit des Scheins festzuhalten,
-welcher subjeetiven Gesetzen unterworfen ist, weil er überhaupt
\ nur für die Snbjectivität des Beschauenden vorhanden ist. Die
Aufgabe des Historikers, zu zeigen, an welchen bestehenden
feindlichen Mächten und an welchen ihm und seinen Verhält-
niffen inwohnenden Schwächen ein Held zu Grunde gegangen
ist, muß sehr verschieden sein von der poetischen Gerechtigkeit
und der poetischen Notwendigkeit, wie ein Gedicht sie zu
bieten hat. Ja, es wäre vielleicht die unbeschränkte Behauptung
aufzustellen, daß es für die Geschichte keinen Helden giebt, daß
ein solcher nur für die gemeine Betrachtungsweise und für die
Poesie existirt, Denn die Geschichte als rationale Wissenschaft
muß selbst die Personen als bloße Mächte behandeln und er-
kennt in ihnen nur gewisse in persönlicher Erscheinung zusam-
mengebundeue Kräfte. Sie sind für die Wissenschaft Producte
von Bedingungen und Ursachen für Wirkungen. Ja meist er-
scheinen die vorwiegenden historischen Mächte nicht einmal als
Personen in individueller Lebendigkeit, sondern als Collectivnm,
als Institution, als Idee. Die Geschichte ist doch wahrlich
nicht die Geschichte von Personen, sondern (jenachdem man es
ansehen mag) von Völkern, oder die Entwicklung von Schöpsuu-
j gen der Cultnr und Civilisation. Die Poesie aber, da sie in
j Bildern arbeitet, bedarf der Helden, wollender, wirkender und
sich genießender Persönlichkeiten, in denen die geschichtliche Macht
Poesie und Prosa.
323
zu schöner Erscheinung kommt, unserm Gemüthe faßbar wird.
Die geschichtliche Person aber, wie sie in der That auftritt,
wirkt mit Mechanismen, mit Fremdem, für Andere; ja sie ist
selbst nur ein einheitlicher Mechanismus: der poetische Held
wirkt aus sich, zu seiner Genngthunng und fühlt das Glück
und das Unglück, und mit ihm wir, die Zuschauer.*)
Steht also die Wisseuschaft in so schroffem Gegensatze zur
Kunst, so fordert das Schönheits-Gesetz, welches verlangt, daß
jedes Wesen in seiner Eigenthümlichkeit erscheine — es fordert,
daß die Wissenschaft nicht poetisch dargestellt werde. Nur wie
jedes Geräth und alles Praktische eine „anhängende Kunst"
haben kann, so auch die Wissenschaft, was später näher zu be-
stimmen sein wird. Wir können daher schon vorläufig be-
Merken, daß, wie jedem Geräth, so auch der Sprache des
praktischen Verkehrs eine gewisse Kunst oder Schönheit anhangen
kann. Ja, wenn dies nicht wäre, so wäre Beredsamkeit uu-
denkbar, da diese nur die vollendetste Sprache des Verkehrs ist.
V.
Poesie und Prosa in ihren psychologischen Formen
und Processen.
Wir kommen endlich zu dem Cardiualpunkte. Hier muß
der Unterschied zwischen poetischer und prosaischer Rede nach
seiner eigentlichen Bethätignng und in seinem Ursprünge klar
werden. Nach dem aber, was schon bemerkt ist, wird es keiner
Leitern Erklärung darüber bedürfen, daß hier als Prosa nur
die Darstellung der Wissenschaft beachtet wird. Von der Be-
^edsamkeit später.
Die Wissenschaft will die Wirklichkeit erfassen. Das Er-
zeuguiß der geistigen Ausfassung eines Wirklichen nennt man
psychologisch eine Anschauung. Die gemeine, niedrige An-
schauung wird durch sinnliche Wahrnehmung erzeugt; die wissen-
*) Eine Vergleichung Scipio's, Hannibals nnd etwa noch Demosthenes
(oder Philopömens oder Alcibiades) in Bezng auf ihre geschichtliche Bedent-
sainkeit nnd ihr ästhetisches Interesse könnte vielseitig vorgenommen werden
und müßte dann lehrreich sein für den Unterschied zwischen Geschichte und
Poesie.
324
Steinthal
schaftliche Anschauung ist eine intellectuelle, d. h. nach der Natur
unserer Jntellectualität, eine durch Begriffe vermittelte. Darum
ist sie von Allgemeinheiten durchzogen, und wir nennen sie viel-
mehr gewöhnlich eine Idee. In Wahrheit, eine Idee ist einer
Anschauung sehr unähnlich. Wenn diese wesentlich auf der
Thätigkeit unserer Sinne beruht und nur ein einzelnes Ding
erfaßt: so fehlt zwar der Idee nicht die Sinnlichkeit, und zwar
liegt ihr eine sehr massenhafte und sehr sorgfältige zu Grunde;
aber sie ist ganz von Allgemeinem aufgesogen, in Allgemeines
umgesetzt (z. B. die Idee des Zoologen vom Thier und vom Hecht).
Die Wissenschaft producirt also Ideen, indem sie die (ge-
meine) Anschauung begrifflich bearbeitet. Alles Einzelne als
solches ist hier getilgt. Eine Kette von Begriffen constituirt
die Idee des Wirklichen. — Rechnen wir das Sittliche ohne
Weiteres zum Wirklichen, so gilt von dem Wissen desselben
auch eben nur das, was von dem des natürlichen Daseins ge-
sagt ist (vgl. den Kauf eines Hauses und das Erwerbungs-Recht).
Die Kunst dagegen soll uns durch Vorführung von Ge-
stalten und Bewegungen den Werth der Ideen fühlen lassen.
Sie wirkt also erstlich gar nicht auf die Jntellectualität, son-
dern auf das Gefühl; und sie wirkt zweitens nicht mit Begriffen
und Allgemeinheiten, sondern durch Bilder.; Ein Bild, welches
uns den Werth einer Idee erscheinen läßt und zu Gefühl bringt,
ist ein Ideal. Die Kunst producirt nicht Ideen oder Begriffe,
sondern Ideale. Begriffe erzeugen nennt der Psychologe Ver-
stand, Ideale erzeugen: Phantasie.
Alles was da ist, erklärt die Wissenschaft; sie zeigt die
Wirklichkeit von Seiten ihrer mechanischen oder causalen Noth-
wendigkeit: was alles, und wie und wodurch es ist. Auf die
Frage aber, wie dem Menschen bei all dem zu Muthe ist, ant-
wortet die Kunst. Die Wissenschaft giebt ihre Antworten in
Begriffen; denn nur das Allgemeine ist das Nothwendige: die
Kunst giebt die ihrigen in Gestalten, welche sie fo formt, daß
dieselben denjenigen Much wecken, den die Wirklichkeit theils
wirklich erweckt, theils erwecken würde, wenn sie überall voll-
endet wäre. Gestalten aber sind einzelne Bilder. Die psycho-
logische Auffassung solcher Bilder aber geschieht in derselben
Poesie und Prosa.
325
Form, wie die der wirklichen Einzelheiten, nämlich durch Wahr-
nehmung; jene wie diese fallen unter die Kategorie der An-
schauung.
Die Wissenschaft erhebt die Anschauungen durch Begriffe
zu Ideen; die Kunst erhebt die Anschauungen durch Bilder zu
Idealen. Jene stellt die Ideen hin, bietet sie an sich und nach
ihrem Gehalte dar; diese stellt den Schein der Ideen hin und
läßt uns dadurch suhlen, was sie uuserm Gemüthe gelten.
So berühren sich Wissenschast und Kunst niemals, uud
können darum nie in Widerspruch geratheu. Weuu uns der
Maler oder der Dichter eine Landschaft vorführt, so hat das
mit Geographie, Geologie, Botanik und Zoologie gar nichts
zu thun.
Dieser psychologischen Verschiedenheit der Producte gemäß
sind auch die erzeugenden Processe verschieden. Die wissen-
schaftliche und die künstlerische (prosaische und poetische) Apper-
ception werden mit andern geistigen Organen in andern Formen
vollzogen.
„Sehen!" ist eine Forderung, die wir in gleich unerläß-
licher Weise an den wissenschaftlichen Forscher wie an den
Künstler (und auch an den Praktiker) stellen. Nur daß jeder
von diesen ganz anders sieht. Das wissenschaftliche Sehen ist
Beobachten. Hier kommt es darauf an, die subjeetive Natur
unserer Empfindungen einmal zugestanden, die sinnlichen Qua-
Zitaten eines Gegenstandes so objeetiv und genau zu erfassen
toie möglich. Mit großer Energie macht fich der besonnen Be-
^achtende zum bloßeu Reflex des betrachteten Objects, also
chätig aufnehmend. Was die gemeine Anschauung obenhin,
deicht und schnell thut, das wird hier mit Besouueuheit, Sorg-
falt, Genauigkeit, in vielfältigen Beziehungen und also mit
sicherem Erfolge gethan.Das poetische Sehen ist ein Schauen,
beschaut aber wird mehr als gesehen. Es wird in das Objeet
hinein- und aus ihm herausgeschaut, was gar nicht in ihm
^gt. Es ist nicht ein passives Widerstrahlen, sondern ein
bilden. Das künstlerische Bild ist fern von den schwankenden
> mien und allem Unbestimmten der gemeinen Anschauung; es
hat mindestens die gleiche Schärfe der Umrisse als die wissen-
326
Steinthal
schaftliche Anschauung; aber diese Bestimmtheit der Form ist
nicht von außen her in das Bewußtsein genommen, sondern
innerlich geschaffen. Der Künstler sieht nicht oder nicht bloß
die Formen, welche die Natur wirklich hervorgebracht hat, sou-
dern welche sie bat hervorbringen wollen; er sieht den Urtypns,
nach welchem sie geschaffen hat. Auch die Wissenschaft bleibt
nicht dabei stehen, bloß einzelne Formen aufzunehmen; die
Morphologie zeichnet ebenfalls ewige Urtypen und bestimmt
das Gesetz der Gestalten (und unterscheidet sich dadurch von der
Praxis, der es um die Erfassung der Einzelheit als dieser be-
stimmten Form zu thuu ist). Das Gesetz aber, welches die
Wissenschaft construirt, bezeichnet ein Causalitätsverhältuiß im
«. Werden der Dinge; die Kunst zeigt vielmehr ein erstrebtes Ziel
. der Natur. Sie führt aus, was die Natur augelegt hat.
Wer gelernt hat, eine Linie als Fortsetzung einer andern
zu appercipiren und so den Begriff und die Anschauung der
Fortsetzung appercipirt hat, der kann hieraus auch die Fortsetzung
der Fortsetzung appercipiren, und das kann man eine rein
apriorische Apperception nennen, welche über das in der Er-
fahrung Gegebene hinausgeht. So ist das künstlerische Bilden
eine die Erfahrung überschreitende Fortsetzung der Natur, ein
apriorisches Gestalten, eine Vollendung der Tendenz der Natur.
\ Natürlich muß oder kann diese Tendenz nur der Natur selbst
%\ abgelauscht sein. Es wird eine Linie verlängert oder verkürzt,
mehr oder weniger gekrümmt; es wird die unterbrochene Linie
zusammenhängend gemacht. Für diese Correetur ist das Gefühl
der unmittelbare Maßstab.
Der Poet schafft, wie jeder bildende Künstler, Bilder aus
Natur-Anschauungen. Da er aber seine Gestalten nicht sinnlich
vorführen kann, so hat er die Aufgabe, durch einzelne Züge,
die sich durch das Wort bezeichnen lassen, die Phantasie (die
bildende Appereeptions- Thätigkeit) des Lesers zu veranlassen,
aus dem gegebenen Zuge eine Gestalt zu entwickeln. Ist er
insofern im Nachtheil gegen den Künstler, so hat er den Vor-
theil, den Gefühls-Eindruck, den die Gestalt hervorbringen soll,
unmittelbar auszusprechen und dem Leser mitzutheilen und ihn
zu veranlassen, eine Gestalt zu bilden oder zu denken, welche
Poesie und Prosa.
327
solchen Eindruck hervorzubringen vermag. Er malt nicht die
Landschaft; aber er läßt uns so .füfolen, als wenn wir sie sähen,
und aus diesem Gefühl heraus appercipiren wir sie, das heißt
schauen wir fie.
Demnach wirkt der Dichter in entgegengesetzter Reihenfolge
als der bildende Künstler; aber daraus dürfte kaum folgen, daß
in ihm der Gefühlseindruck mächtiger, in diesem die Anschauung
oder das Bild bestimmter sein müsse. Denn beides bedingt sich
gegenseitig. Aus dem Gefühlseindruck heraus idealisirt der }
Künstler die gegebene Gestalt, und aus der scharfen Auffassung *
der Gestalt bestimmt sich im Dichter das Gefühl. Jenes ob-
jective und dieses subjective Moment lehrt auch den Dichter
unmittelbar, welchen Zug er herauszugreifen hat, um mit einem
Schlage Gestalt und Eindruck dem Leser mitzutheilen.
Bei der Bildung der wissenschaftlichen Anschauung hat
jedes Gefühl zu schweigen; in der poetischen, überhaupt künst-
lerischen Apperception soll es zum Ausdruck kommen. Es wird
der Maßstab für die Fortsetzung und Eorrectnr des Gegebenen;
denn es gilt als Inhalt der Tendenz der Natur. Der Dichter
appercipirt also jedes Ding mit dem Gefühl, welches dasselbe
erweckt. Nicht nur geht der ganze Apperceptions-Proceß unter
Leitung dieses Gefühles vor sich, sondern dasselbe kann sich so
stark hervordrängen, daß es dem Objecte selbst zugeschrieben
wird, daß das Object ganz an Stelle unserer selbst als Snb-
ject auftritt. So wie der Dichter spricht: „Ein Fichtenbaum
steht einsam ?m Norden auf kahler Höh'. Ihn schläfert, mit
weißer Decke Umhüllen ihn Eis und Schnee": so stehen wir
plötzlich im eiskalten Norden und genießen dessen schauervolle
Schönheit; und so fühlen wir unmittelbar, wie uns dort zu
Äcuthe wäre. Und eben mit diesem Gefühle hat der Dichter
das nordische Bild appercipirt. Unmittelbar und unbewußt
verschmilzt durch die Macht des Gefühls unser Selbst mit der
angeschauten Fichte. Wir verschwinden vor uns selbst, und was
tn uns rege ist, wird dem selbst zugeschrieben, was uns so er-
te8t hat: denn wir sind ganz in das Bild versenkt. Wir
appercipiren uns in ihm, d. h. es als uns. — Aus
dem Gegensatze heraus appercipirt dann der Dichter die Palme;
328
Steinthal
aber er erfaßt auch zugleich den Gegensatz selbst und das zer-
störende Wesen extremer, exclusiver Zustände, und daher das
Bedürfniß der Ergänzung. Vereinsamt trauern beide, und
träumend sehnen sie sich nach einander, nach Ausgleichung ihrer
Naturen.
Liebe zur Natur ist die Ursache der poetischen Naturauf-
fassung und ihre Wirkung. Tausend Dinge, an denen wir mit
Wissenschast gleichgültig vorübergehen, tausend Bezüge, die wir
mit kaltem Verstände völlig übersehen, enthüllt uns der Dichter,
der sie gemüthvoll appercipirt hat und uns zeigt.
Läuft denn nicht Alles, was oben über das Wesen der
Kunst gesagt ist, darauf hinaus: Kunst ist, Alles mit Liebe
sehen und Jedes so erscheinen lassen, wie der es Liebende es
sieht? — Und ist Liebe etwas Anderes als Tausch der Ge-
müther? sich im Andern, also den Andern als sich appereipiren?
Und das ist Poesie.
Danach können wir aber vier Apperceptions-Verhältnisse
unterscheiden. Es kann erstlich der Dichter irgend eine Be-
ziehung zwischen Naturwesen in tiefer Symbolik, und insofern
ganz objectiv, und doch so darstellen, daß wir unmittelbar ein
großes Verhältnis^ anschauen und fühlen: wie dies in dem
Heine'schen Gedichte geschieht. — Oder es wird zweitens an
etwas Natürliches etwas Menschliches angeknüpft, angelehnt: eine
Apperception nach Analogie. In einem natürlichen Ereignisse
wird ein menschliches Schicksal erfaßt, oder umgekehrt. So
wenn uns Freiligrath zuerst die Tanne auf des Berges
Höhen vorführt und sie dann als starken Mast inmitten der
Fregatte zeigt. Der Dichter sührt uns das Schicksal des
Baumes vor und er verkündet, was dieser aus uns heraus
spricht, oder wir aus ihm, und er spricht aus, wie ihn oder
uns, unbefriedigt von allem was wir bei der Reise um die
Erde erfahren haben (wir im Banme), ein starker Zug nach
dem Heimathberge zieht. — Oder drittens es tritt ein bloßes
Spiel, ein Unterschieben ein. Doch Spiel gehört zur Liebe.
So schreibt man dem Baume oder der Bergspitze einen mensch-
lich gedachten Verkehr mit den Wolken zu und den Wurzeln
mit den Metallen und Edelsteinen. Das Mädchen, das durch
Poesie und Prosa.
839
Blumendüfte vergiftet wird, wird von den Geistern der abge-
schnittenen Blumen aus Rache getödtet. Dieses Spiel belebt
die Anschauung und behält darum als ein untergeordnetes Ele-
ment, als poetischer Schmuck, feine Berechtigung. Wir schmücken
gern den Gegenstand unserer Liebe; und obwohl wir wissen,
daß der Schmuck nicht zur Person der Geliebten gehört, hängen
wir ihr denselben dennoch um, weil er schön läßt. — Wenn
aber endlich viertens unmittelbar aus der Mythologie her die
Kräfte der Natur mit belebten und bewußten Wesen vertauscht
werden, wenn die Naturdinge mit den Augen des Märchens
angesehen werden, ohne daß dieses Märchen an sich einen be-
sondern Werth beanspruchen kann; wenn man meint, man könne
uns den Wald lieb und werth machen, wenn man ihn als
Zauberwald darstellt, Alles darin als verhext, die Natter als
ein Königskind u. s. w. u. s. w., so fragt man allerdings, wie
mir scheinen will, mit Recht, wie lange man wohl noch an
dergleichen Gefallen finden wird, oder wer wohl heute noch an
dergleichen Gefallen findet. Nur wenn wir uns dann mit be-
wußter Ironie in das kindliche Vorstellen zurückversetzen, kanu
diese Poesie genossen werden.
Ueberhaupt aber ist der wichtigere Gegenstand der Poesie
nicht die Natur, sondern das menschliche Leben. Dieses soll
uns die Dichtung in seiner Wahrheit vorführen. Der Natur
ist der ideale Inhalt von uns eingedichtet; dem Menschen-Leben
wohnen die Ideen ursprünglich inne. Die Dichtung, welche
kie Natur ergreift, versenkt den Geist in einen ihm nicht Homo-
genen Stoff, bewirkt eine Vermählung aus Leidenschaft. Weun
sie aber den idealen Gehalt der Beziehungen zwischen Mensch
Und Mensch oder das Verhältniß des Menschen zu sich selbst
und zum Schicksal in Ereignissen aus dem Menschen-Leben
Darlegt, so bewegt sie sich in einem Kreise, dessen sämmtliche
^actoren ihrem Wesen nach zu einander passen. Sie schreibt
freilich nicht die Wirklichkeit unmittelbar ab: Wahrheit ist nicht
Wirklichkeit — ist ihr aber doch nicht sremd. Die Dichtung
^nn, wie sie nicht Physik zu lehren versteht, auch nicht die
sHäthfel des Menschen-Schicksals lösen; aber sie giebt uns den
Werth alles wahrhaft Menschlichen zu fühlen. Sie ist weder
330
Steinthal
Geschichts-, noch Neligions- und Lebens-Philosophie; aber sie
läßt uns fühlen, wie wir in höchster Form Menschen sind.
Wie apperciZirt der Dichter das menschliche Treiben? Nicht
wie der Geschichtschreiber oder Ethiker, nicht wie der Statistiker,
nicht wie der Richter und Polizist. Die Letzteren, der Praxis
gewidmet, suchen irgend eine einzelne That in ihrer Vereinzelung
nach ihrem Verlaufe genau festzustelleu, und schließlich ist die
Frage: ist hierbei irgend ein Recht oder Gesetz verletzt oder
nicht? Es kommt darauf an, die Thatsache so zu appereipiren,
wie sie sich wirklich begeben hat. Der Statistiker will aus den
Summen gleichartiger Fälle von Ereignissen und Thaten aus
dem Menschen-Leben allgemeine Verhältnisse, wo möglich Ge-
setze bilden. Das liegt dem Dichter ganz sern. Er appercipirt
wohl gelegentlich einen Polizei- oder Eriminal-Fall, den er
entweder unmittelbar - erlebt, hat oder den er einer actenmäßigen
Darstellung entlehnt. Aber auch hier wird ihm die Anschauung
zum Bilde, die einzelne, halb oder ganz zufällige Geschichte
wird zum Bilde der menschlichen Natur. Der Appereeptions-
Proceß vollzieht sich hier ganz analog dem des bildenden
Künstlers bei der Auffassung der Gestalt des einzelnen Natur-
wesens. Namentlich aber hat er die Lücken der unterbrochenen
Linien auszufüllen und engen Zusammenhang herzustellen.
Der Künstler muß genau wissen, welche Lage jeder Theil
des Körpers bei irgend einer Bewegung annimmt; wie sich bei
jeder Haltung die Oberstäche gestaltet. Was dagegen unter
der Haut vorgeht, das braucht er eigentlich nicht zu wissen,
denn das ist der Mechanismus, mit dem er sich nicht beschäftigt.
Eine analoge Scheidung zwischen Oberfläche und Anschauung
einerseits und verdecktem Mechanismus andrerseits läßt sich auch
im geistigen Leben machen, wenn auch iu unräumlicher Weise.
Was ein bestimmter Mensch unter gewissen Umständen thun
wird, weiß Jeder aus Lebens-Erfahrung ohne Psychologie.
Was nun solche Erfahrung weiß, ist Oberfläche (obwohl sie
ins Innerste dringt); was die Psychologie hinznthnt, ist die
Analyse des Mechanismus. Wenn der Himmel eine gewisse
Färbung zeigt, so schließt Jeder auf Regen, aus Donner und
Blitz, auch wer nicht weiß, was jene Färbung eigentlich bedeutet
Poesie und Prosa.
331
und was Donner und Blitz und Regen wirklich ist. Wer be-
hauptet, er kenne den Charakter eines Menschen, was weiß er
wohl von ihm? Er hat bemerkt, wie sich dieser in zehn, in
hundert Fällen benommen hat, und er glaubt zu wissen, wie
er sich in jedem Falle, in den er gerathen sollte, benehmen
würde. Fordert man ihn ans, den Charakter dieses Mannes
zu bezeichnen, so gebraucht er vielleicht ein allgemeines Beiwort
wie „gut", oder, da ihm dies wohl uicht genügt, er erzählt,
wie sich derselbe einmal benommen hat; ja vielleicht sagt er,
der Mann sei so, daß er in einem solchen oder solchen Falle,
der als möglich gedacht werden könne, sich so oder so benehmen
würde. Er erdichtet einen Fall, um zu charakterisireu. —
Das Wissen, was ein Mensch im gegebenen Falle thun wird,
llt ein Schluß aus Analogie, auf einen Fall nach hundert ähn-
wichen Fällen. Das Erdichten eines Falles und des dabei zur
Erscheinung kommenden Benehmens ist eine schöpferische Apper-
zeption nach Analogie. Solch ein Erdichten schafft eine
Dichtung, wenn der Fall eine werthvolle Zdee des
geistigen Lebens verwirklicht.
Jeder Dichtung liegt doch mindestens so viel Wirklichkeit
zu Grunde, wie irgend einem Bilde. Wenn aber eine wirkliche
Gegebenheit zur poetischen Fabel gestaltet werden soll, so wird
sie derartig appercipirt, daß Anfang und Ende und alle Punkte
Miteinander nach den allgemein geltenden Erfahrungen über
Menschliche Charaktere und über Ursache und Folge im mensch-
^cheu Verkehr in Zusammenhang gesetzt, was in diesen nicht
^ßt, ausgesondert oder umgestaltet, was in demselben fehlt,
^Nzugedichtet werde. Was hierüber für viele Dichtwerke in
^hetisch - kritischer und dramaturgischer Beziehung bemerkt
forden ist, dürfte ein fruchtbarer Gegenstand für psychologische
^^rschuug werden.
y Die Dichter unterscheiden sich gewiß in der Rücksicht, ob
^ nothwendige, idealisirende Umgestaltung der gegebenen Ge-
'Richte unmittelbar, ohne Sinnen vorgenommen wird, fo daß
sowohl der Dichter am Vorliegenden ändert, als dieses
^lelmehr von selbst sich im Bewußtsein des Dichters unbewußt
gestaltet; oder ob das Ergänzen und Abändern stückweise
332 Steinthal
geschieht, wie auch die Lücken erst nach und nach gefunden
werden. Wichtiger aber ist jedenfalls, ob überhaupt die Umge-
staltung zum vollen Bilde glücklich ausgeführt ist.
Der Künstler hat nicht nur zu beachten, welche Form der
Arm bei solcher Haltung zeigen muß, sondern auch, ob es der
Arm einer Diana oder einer Venus ist; d. h. maßgebend für
alle Gestalt und alle Causalität ist die Idee. So ist auch für
die Gestaltung einer Thatsache in Bezug auf Bestimmung des
Charakters, wie auf den Ablauf der Ereignisse und Thaten die
Idee, mit welcher sich der Dichter dem Gegenstande naht, das
innerlichst und eutschieden maßgebende Moment. Das wird
besonders einleuchtend, wenn man vergleicht, wie derselbe My-
thos, dieselbe Sage, dieselbe geschichtliche Thatsache in ver-
schiedenen Tragödien behandelt worden ist. Denn die Idee
bestimmt zunächst den Ablauf des Ereignisses, dieser aber ist
in solcher Form nur unter Voraussetzung bestimmter Charaktere
möglich.
Kommen wir jetzt zur Vergleichung des Dichters mit dem
Prosaiker. Wir dürfen wohl die Philosophie und die rationale
empirische Wissenschaft, welche Begriffe, das abstract Allgemeine
oder Ideen in ihrer Abstractheit suchen und mit Begriffen
operiren, ohne weiteres hier ausscheiden; denn ihr wesentlicher
Unterschied liegt aus der Hand. Die Kunst zeigt die/Idee ini
Einzelnen, in einem Bilde; für jene Wissenschaften kommt das
Einzelne als solches gar nicht in Betracht. Anders ist es mit
der Geschichte.
„Die Geschichte hat es mit der Zusammenfassung zur Ge-
sammtheit, zum Ganzen zu thuu, aber nicht mit dem Allge-
meinen .... Die Wissenschaft arbeitet mit logisch allgemeinen
Begriffen, die Geschichte mit Verdichtungen und Vertretungen;
zwar wird auch in diesen ein Mannichsaltiges zusammengefaßt
und als Einheit gedacht, aber der concrete Inhalt soll darin
als dies Besondere erhalten bleiben. Die Wissenschast sucht
Gesetze, die Geschichte jedes einzelne Factum und die Gesammt
heit derselben; letztere hat es allemal mit diesen bestimmten
Personen, Thaten, Begebenheiten zu thun; ihre Aufgabe ist das
Einzelne als concrete Individualität, als individueller Proceß"
Poesie und Prosa.
333
(Lazarus, diese Zeitschr. III. S. 408). — Hiernach ist offen-
bar die Prosa der Wissenschaft einerseits der Poesie ebenso
entgegengesetzt, als sich andererseits die Geschichtschreibung mit
der Dichtkunst, fast sollte man meinen, identisicirt.
In der That, wenn ich lese, wie man zuweilen die Ge-
schichtschreibung der Poesie entgegenstellt, so muß ich vor Allem
leugnen, daß die behaupteten Unterschiede stattfinden, und schon
einmal habe ich (Geschichte der Sprachwissenschaft bei den
Griechen mit besonderer Rücksicht auf die Logik S. 267) be-
hauptet: „Die Geschichte ist nicht nur philosophischer, sondern
GUch poetischer als die Poesie." Dies ist freilich cum grano
SaHs zu nehmen. Daß es übrigens Kapitel der Geschichte
Hiebt, die uns unmittelbar wie Dichtung anmutheu, wird wohl
jemand leugnen. Doch sehen wir die Sache näher an.
Ausgehen müssen wir von dem Grundgedanken: Ist die
Geschichte Auffassung der Idee der Menschheit in ihrer realen
Entwicklung, so haben wir in ihr die höchste und umfassendste
Idee in wirklicher Gestalt. Und gilt dies von der Geschichte
als Ganzheit, so ist dies nothwendig auch wahr von jedem
Theile derselben je nach Verhältnih. Hierauf beruht in Wahr-
^eit die tiefe innere Verwandtschaft zwischen der Geschicht-
Schreibung und der Dichtung, wie Wilhelm von Humboldt
fie in seiner berühmten Abhandlung dargelegt hat. Bischer
Klaubt folgenden Unterschied hervorheben zu müssen (3,1208).
Durch Ausscheidung des störenden Zufalls vollbringe die Poesie
^e Versöhnung des Thatsächlichen mit der Idee „hier, auf
Lesern Punkte", während die Geschichte, welcher es um den
^toff als solchen zu thun sei, solche Ausscheidung nicht vor-
Pehmen dürfe, jene Versöhnung also nur durch den weiten Blick
^er die Zeiten und Ereignisse gewinne. Hiergegen muß gel-
gemacht werden, daß was man gewöhnlich Trübung der
^ee nennt, dies in Wahrheit nicht ist, sondern nur dem be-
Kränkten Blicke so erscheint; und dann läuft der Unterschied,
er noch verbleibt, auf ein rein quantitatives Verhältniß des
^on der Poesie und von der Geschichte eingenommenen Hori-
Zvntes hinaus. Die Geschichte verlangt einen weitern und tiefer
^dringenden Blick als die Poesie. Abgesehen nun davon, daß
für Völkerps^ch. u. Spracht». Bd. VI. ^2
334 Steinthal
sie die schwerere Mühe und Arbeit durch ein gediegneres Er-
gebniß vergütet, ist auch der quantitative Unterschied an sich
betrachtet gar nicht so groß, wie ihn Bischer hier hinstellt.
Von einer Aussöhnung, die hier, auf diesem Punkte vollzogen
werde, kann doch höchstens nur beim bildenden Künstler die
Rede sein. Sein Werk ist wesentlich zeitlos und nimmt eine
kleine Spanne des Raumes, ein Hier, ein. Diese Spanne ist
jedoch nicht so klein, daß nicht auch hier das Auge eine dis-
cnrsive Arbeit zu vollziehen hätte. Lassen wir nun einmal das
lyrische Werk unberührt, so gilt jenes „Hier" gewiß nicht vom
dramatischen, noch weniger vom epischen Gedicht. Dem letztern
ist es wahrlich nicht um schleunige Erfüllung zu thun, und
auch dem Dramatiker nicht, Shakespeare und Schiller noch
weniger als Aeschylus, der übrigens nicht nach den einzelnen
Stücken, sondern nach seinen Trilogieen beurtheilt werden muß.
Kann man also wohl beim Drama von einem „Hier und diesem
Punkte" reden? Muß man nun vielmehr auch hier die epito-
mireude (verdichtende) Kraft des Geistes in Anspruch nehmen,
so kommt es nur darauf an, wie geübt, wie stark diese Kraft
ist. In der Geschichte giebt es allerdings noch mehr retardirende
Momente als im Epos; aber für uns ist ein Jahrhundert und
ein Jahrtausend ein „Hier", ein „dieser Punkt".
Wesentlich ist der andere Punkt, den ich kurz so ausdrücken
möchte: der Dichter motivirt, der Historiker causirt. Was ich
meine, wird aus früher mehrfach Wiederholtem klar. Der Ge-
schichte kommt es auf die Ursachen an, wie sie im Getriebe der
wirklichen Verhältnisse gegeben sind. Ihr erscheint alles als
Ereigniß, wenn auch als geistiges, weniger aber als individuelle
That, wie sie sich im Scheine darstellt.
Kurz: die Geschichte im objeetiven Sinne mögen wir
immerhin ein Kunstwerk nennen, das unendliche Drama. Der
Historiker aber verhält sich zu diesem Drama nicht als Dichter;
weder dichtet er es, noch dichtet er darüber; sondern sein Ver-
halten zur wirklichen Begebenheit ist eher das des Kritikers,
der eine Kunstrede nach Inhalt und Form darlegt, zum tiefsten
Verständniß bringt. — Mit gleichem Rechte ließe sich sagen,
der Dichter sei der Interpret der Geschichte, d. h. mit gleichem
Poesie und Prosa. 335
Unrechte. Was er thut, ist etwa Folgendes. Vor unfern Augen
ist ein Blatt mit unzähligen sich nach allen Richtungen durch-
schneidenden Linien bezogen. Unter diesen giebt es einige,
welche eine schöne Figur bilden. Aus dem Linien-Gewirre aber
findet das gemeine Auge diese Figur nicht heraus. Der
Künstler nun ist es, der uns dieselbe zeigt, ihre Umrisse mit
dem Stabe verfolgend oder durch Färbung in das Gesicht
fallen lassend.
Das ist ein Gleichniß. Die Sache in ihrem psychologischen
Wesen ist diese. Der Historiker erkennt in den Thatsachen die
Idee; er umsaßt sie als Mann der Wissenschaft nach ihrem
abstracten Inhalte durch Begriffe und vermittelt sie durch Ab-
straction und verständige Thätigkeit mit den einzelnen Begeben-
heiten, wie er auch diese für sich nach Gesetzen unter einander
zusammenhängend erkennt. So mag immerhin das Ergebniß,
wenn es vollständig gelungen ist, für den Historiker eine große
Geschichts-Anschauung sein, die wiederum wie die Geschichte
selbst als ein Kunstwerk gelten kann: das historische Werk aber,
die Thätigkeit des Urhebers wie des Lesers, ist doch nur ver-
mittelnd und hat die Erzeugung jener Geschichts-Anschauung
Zum Ziele, ohne dieselbe darzustellen. Der Dichter hingegen
erfaßt die Idee und stellt sie dar unmittelbar in der Thatsache,
ohne sie von dieser getrennt noch besonders auszusprechen, ohne
sie überhaupt anders zu haben als in diesen. Er braucht
es weder, noch könnte er seinem Werke ein haec fabula docet
beifügen.
Wenn also auch die Geschichte im objectiven Sinne ein
Kunstwerk sein mag, so ist doch die Geschichts-Anschauung nur
ln dem Sinne schön, wie die Anschauung eines schönen Natur-
^bjeets. Außerdem tritt noch folgender Unterschied hinzu.
Die ästhetischen Gefühle, welche die Natnr-Anschauung erweckt,
fwd von der naturwissenschaftlichen Erkenntniß ganz unabhängig.
mir unser Zimmer mit Blumen schmücken, ob wir uns des
unten Wiesenteppichs freuen, ob wir uns an Berg und Wald
uud Vogel, an Sonnenschein und Luft ergötzen: das hat gar
nichts mit Botanik, Geologie u. s. w. gemein, wird dadurch
Ulcht gestört, vielleicht erhöht. Wenn nun aber der Botaniker
22*
336 Steiuthal
den Baum ästhetisch genießen kann, ohne sich dabei seiner
Wissenschaft als solcher zu erinnern, so ist der Historiker gegen-
über der Geschichte nicht in gleicher Lage. Er hat die Ge-
schichte immer nur als wissenschaftliches Ergebniß in sich.
Dieses aber besteht wesentlich, neben anschaulichen Thatsachen,
aus abstracten Vermittelungen derselben, die nichts Aesthetisches
an sich tragen.
Wenn man, wie man doch sollte, unter Anschauung nur
die Auffassung oder Reproduction von sinnlich Wahrnehmbarem
versteht, so sollte man gar nicht von wissenschaftlicher und auch
nicht von Geschichts-Anschauung reden, da ja der wesentliche
Inhalt dessen, was hierunter verstanden wird, nichts Anschau-
bares, sondern etwas Begriffliches und Abstraetes ist. Man
würde auch nie von dergleichen gesprochen haben, wenn nicht
folgender Gedanke zu Grunde gelegen hätte, der eine wesent-
liche Verwandtschaft zwischen der sinnlichen und der so zu
sagen geistigen oder allgemeinen Anschauung zu begründen schien.
Der Anschauung eigentümlich ist, gegenüber dem discnr-
siven Denken, die Gleichzeitigkeit der das Ganze ausmachenden
Theile, im Unterschiede gegen deren Aufeinanderfolge im Ur-
theilen und Folgern. In so weit es nun gelingt, lange und
mit einander verflochtene Gedanken-Reihen gleichzeitig im Be-
wußtsein gegenwärtig zu haben, entsteht die Meinung, dies be-
wirke ebenfalls eine Anschauung, und zwar höherer Art. Daß
die Gleichzeitigkeit hier doch nicht ganz vollständig ist, wird
wenig in Anschlag gebracht; denn sie ist es bei der Anschauung
eines auch nur einigermaßen großen und reichen Bildes auch
nicht. Genug daß, wie hier der sinnliche Blick, so dort der
innere Sinn nur wenig Bewegungen auszuführen hat, die sich
leicht dem Bewußtsein entziehen. Ferner legen wir leicht einem
Gedanken-Schema (wie schon dieses Wort besagt) räumliche
Gestaltung unter. Indem so ein Schein der Anschauung ent-
steht, meint man auch in ihr ästhetische Elemente zu haben.
Genauere psychologische Betrachtung aber lehrt, daß jenes
gleichzeitige Ueberschauen großer Gedanken-Gewebe durch ein
Mittel erreicht ist, welches der ästhetischen Anschauung sehr fern
Poesie und Prosa. 337
steht, nämlich durch Verdichtung oder gar bloß Vertretung.'")
Wenn Jemand die Parteien, welche in der ersten französischen
Revolution nach einander zur Herrschaft gelangten, jede mit
einem treffenden Beinamen bezeichnet, welcher die Bestrebungen
derselben ausdrückt, so kann dies eine Verdichtung sein, und die
Vergegenwärtigung dieser Beinamen kann die ganze Geschichte der
Revolution so vertreten, daß man dieselbe anzuschauen meint.
Jene Epitheta aber, aus welchen dieser ganze Proceß beruht,
sind Vorstellungen ohne wesentlich anschauliches Element, viel-
leicht allgemeine Begriffe, die selbst schon nicht sowohl Ver-
dichtungen, als vielmehr ziemlich inhaltsleere, jedenfalls ganz
abstracte Vertretungen sind.
Solche Verdichtungen und Vertretungen aber sind aller-
dings dem Geschichtsforscher unentbehrlich, gehören der Ge-
schichtsbetrachtung wesentlich an, und zwar derartig, daß zuerst
die Einzelheiten einer Begebenheit in solchen verdichtenden oder
stellvertretenden Gebilden des Geistes zusammengefaßt, dann
aber die so gebildeten Verdichtungen von neuem verdichtet oder
vertreten werden, und so fort in immer umfassenderer Weise,
bis zu den letzten Zusammenfassungen, wie sie uns in „Alter-
thum, Mittel-Alter, Neue Zeit" geläufig sind. So kann, mehr
als bloß scheinbar, der Historiker die ganze Menschen-Geschichte
im Bewußtsein gegenwärtig haben.
Die Poesie arbeitet ebenfalls mit gewissen Verdichtungen
und Vertretungen. Dichtung ist ja schon ihrem eigentlichen
Wesen nach nichts Anderes als Verdichtung von vielen That-
fachen zum Ausdruck einer Idee, zu einem idealen Bilde. Aber
abgesehen davon bedarf sie der Vertretungen, wie der dichtende
Volksmythos, zum BeHufe der Motiviruug; indessen die Form,
in welcher sie hierbei vorgeht, ist von der des Historikers ver-
schieden, ergiebt doch wieder nur ein anschauliches Bild. Ein Held
ist in Wirklichkeit durch Jntriguen der Höflinge untergegangen.
*) Ich bitte den Leser, hierbei und für diesen ganzen Abschnitt über
beschichte sich das zu vergegenwärtigen, was Lazarus in dieser Zeitschr.
Bd. in. S. 402—406 bemerkt hat.
338 Steinthal
Diese vielen kleinen, gemeinen Geschichtchen erlangen eine den
Helden vernichtende Macht. Indessen sind sie ganz und gar
unpoetisch. Der Historiker kann sich, wenn der Charakter der
maßgebenden Persönlichkeiten dargestellt ist, damit begnügen,
alle jene Geschichtchen durch den Begriff „Jntrigne" vertreten
sein zu lassen. Der Dichter muß ebenfalls eine Vertretung
schaffen, aber durch eine vielleicht ganz fingirte Geschichte, welche
den Charakter der wirklichen zeichnet und die Wirkung derselben
haben kann. Denn seine Motivirnng, der Zusammenhang, den
er zwischen den Ereignissen und Thaten ausdeckt, muß unmittel-
bar faßlich, anschaulich sein.*)
*) Es würde zu weit in die Technik der Poesie, namentlich des Dramas
führen, wollten wir das oben über die poetische Verdichtung Bemerkte
weiter ausführen. Das Gesagte wird genügen, um unfern Gedankeu klar
auszudrücken. Nur folgende zwei Punkte hinzuzufügen kann ich mir nicht
versagen.
Daß den nenern Dichtern das historische Drama noch nicht recht hat
gelingen wollen, scheint mir hauptsächlich daran zu liegen, daß sie nicht ge-
nug verdichtet haben. Diese Arbeit an dem geschichtlichen Stoffe ist unum-
gänglich, kann freilich nnr auf Kosten der Treue gegen den geschichtlichen
Buchstaben vollzogen werden, findet aber volle Freisprechung, wenn dadurch
die Treue gegen den geschichtlichen Geist gewinnt. Und nach unserer Ansicht
ist der /geschichtliche Geist der höchst poetische. Es gehört aber eine viel
mächtigere Gestaltungskraft dazu, die Geschichte, als de« Mythos dichterisch
zu bearbeiten.
Das Zweite soll dies sein. Ohne Verdichtung wird kaum ein Drama
bestehen können, und dies oder die Natur solcher Verdichtungen scheint mir
die Kritik des Realisten zuweilen verkannt zu haben. Die Forderung kann
freilich gestellt werden, daß irgend ein thatsächlicher Zng, der in der Absicht
der Verdichtung erfunden ist, nicht nur seinem Inhalte nach diesen Dienst
leiste, viele oder mehrere Thatsachen gleicher Art vertrete und so zur Dar-
stellung bringe, sondern daß er auch allem und für sich (da er eben nur
allein erscheint) die Kraft habe, das hinlänglich zu leisten, was jene Masse
leistet, welche er vertritt. Eine erfundene Jutrigue z. B. müsse, so läßt sich
fordern, die Wirkung haben können, welche die hundert in Wirklichkeit an-
gesponnenen Jntriguen, welche von jener vertreten werden, gehabt haben.
Nur scheint mir, mit dieser Forderung dürfe nicht voller Ernst gemacht
werden; es giebt (und muß geben) eine gewisse, möchte ich sagen, poetische
Convention. Die Oper ist ohne Anerkennung solcher Convention undenkbar.
Wollten wir dem Dichter ohne diese Bereitwilligkeit entgegentreten, so
Poesie und Prosa.
339
Fassen wir nun die Unterschiede zwischen Geschichte und
Dichtung zusammen.
Zu dem Hauptunterschiede, daß
1) der Dichter die Idee unmittelbar in einem Vorgange,
in einer That, zur Erscheinung bringt, während der Historiker
durch mühsame wissenschaftliche Denkprocesse aus Thatsachen
Ideen entwickelt, wobei immer Thatsachen und Ideen, eben
weil sie erst vermittelt werden, auch aus einander gehalten
werden — tritt
2) in Bezug aus die Vermittlung der Thatsachen unter
sich der andere, nicht minder wesentliche Unterschied hinzu, den
wir oben mit den Worten bezeichnet haben: „der Historiker
causirt. der Dichter motivirt", und welcher solaende Sätze
in sich schließt:
a) Der Historiker vermittelt die einzelnen Momente einer
Begebenheit und Begebenheiten mit einander cansaliter durch
Nachweis einer gesetzlichen Wirkung und Folge, der Dichter
durch anschauliche Momente, deren Zusammenhang unmittelbar
einleuchtet.
b) Der Historiker schafft Verdichtungen und operirt mit
Hülfe von Vertretungen; der Dichter kann Vertretungen, weil
sie des anschaulichen Inhaltes entbehren, gar nicht in Anwen-
dung bringen, und die Verdichtungen, welche auch er schaffen
muß, sind anderer psychologischer Art. Der Historiker verdichtet
große Massen von Einzelheiten in gehaltvollen höheren Begriffen,
ker Dichter wiederum nur so, daß in einer anschaulichen That-
sache der Sinn und Werth sehr vieler Thatsachen mit einem
Schlage geboten wird.
würden die größten Tragödien dem vernichtenden Tadel um so weniger ent-
gehen, als es sich meist gerade um die Motivirnng des tragischen Zusam-
^enstoßes oder des Ausganges handelt. Nur unter der Voraussetzung,
daß eine Scene etwas bedeuten könne, was sie eben nur andeutet, nicht
wirklich hinstellt, ist der Anfang des Lear, der Räuber, ist die Scene mit
dem Tuche in Othello, mit dem Briefe in Kabale und Liebe, mit der unter-
^rochenen Post in Romeo und Julie gerechtfertigt.
340 Stemthal
VI.
Dichtung in Prosa.
Kein Zug unterscheidet die schöne Litteratur der neuern
Völker gegen die der alten so augenscheinlich als die Novellen
und Romane in Prosa. Sie sind für uns von so großer
Wichtigkeit, daß nicht nur der Literarhistoriker ihnen einen
weiten Platz einräumen muß, sondern auch der Aesthetiker nicht
umhin kann, ihnen in seinem Systeme eine Stelle anzuweisen.
So bedeutend sie nun auch für das geistige Leben der letzten
Jahrhunderte gewesen sind, und obwohl sie heute eine ganz
hervorragende Rolle spielen, so scheinen doch die Aesthetiker
über ihren Werth noch zweifelhaft, ja oft genug wird diese
Gattung als zwitterhaft verurtheilt.
Bedenkt man, wie groß der Reiz der Verse ist, und wie
wenig Mühe unsern Dichtern die Verse machen, so kann schon
die Bereitwilligkeit, mit welcher Schriftsteller und Leser auf
diesen Schmuck verzichten, den genügenden Beweis liesern, daß
jene Dichtungen nicht zufälligen Ursachen ihr Dasein verdanken
und nicht Erzeugnisse mangelhafter Schöpfungskraft sind. Sie
müssen vielmehr als eine nothwendige Entwicklungsstufe der
Poesie angesehen werden.
In Poesie und Philosophie begann das staunende mensch-
liche Auge, welches die Welt erfassen sollte, mit dem Himmel
und senkte sich allmählich zur Erde, begann mit dem Fernsten
und dem Fernen und kam immer mehr zum Nahen und Nächsten.
So ist die älteste Poesie Götter- und Heroen-Dichtung und
steigt allmählich in das menschliche Getriebe hinein. Die No-
Vellen und Romane (wie auch das bürgerliche Drama) ver-
lassen die höheren Lebensbethätignngen der menschlichen Gesell-
schast und greifen in das sociale, das Familien- und das indi-
viduelle Leben. Will man leugnen, daß es hier eine unerschöpf-
liche Fülle von Gegenständen giebt, welche unser reinstes und
höchstes Mitgefühl erwecken, Ideen, welche die idealste Gestal-
tung zulassen? Jener unendliche Kreis von Gemüthsbewegnn-
gen, welcher nicht unmittelbar in die Geschichte gehört, aber
den Zustand des Nationalgeistes ausmacht, das Einzelne, in
Poesie und Prosa. 341
Welchem der Gesammtgeist, die Institution, die Cultur und
Civilisation einer Zeit sich bethätigt, muß wohl einen allgemein
menschlichen Gehalt haben und poetischer Jdealisiruug fähig
sein. Ja, hier hat die Poesie ihre größte Aufgabe, nämlich
die, im Verkehr, wie Bedürfniß und Notwendigkeit ihn be-
dingt, also in der eigentlichen, gemeinen Prosa des Lebens die
Poesie, die Idealität, zu enthüllen.
Weil es nun darauf ankommt, den rein prosaischen Stoff
zum poetischen Bilde zu gestalten, so kann hier auch der Me-
chanismus des menschlichen Handelns und Treibens, auch alles,
was wie Staatsformen und Einrichtungen und Gesetze und
Convention von umfassenderer und beschränkterer Geltung den
Menschen unfrei macht, ihn treibt und drängt, so kann der
ganze Niederschlag der Geschichte, der, an sich tobt, der fort-
währenden Belebung durch geistige Bethätigung bedarf, so kann
nichts, was zur nackten Wirklichkeit gehört, aus dieser Art der
Dichtung ausgeschlossen werden. Nicht nur die Bosheit, auch
die Rohheit sindet hier Zugang.
Wo ist denn nun die Grenze zwischen solcher Dichtung
und — ich sage nicht der Geschichte, sondern den Criminal-
Erzählungen und den alltäglichen Lebenserfahrungen?
Diese Frage zu beantworten, kann schwer sein. Daß aber
ein Unterschied besteht, und zwar ein schneidender, sagt uns
das Gefühl, mit welchem wir eine große Anzahl von Novellen
Und Romanen lesen.
Wesentlich mag Folgendes sein. Wenn uns gerichtliche
Aktenstücke und Begegnungen oder Ersahrungen zeigen, wie ge-
wein, wie schwach und unfrei der Mensch ist, so soll die Dich-
wng zeigen, wie im Gegentheil der freie Mensch gegen die
schranken, in welche er gezwängt ist, machtvoll ankämpft, um
zu durchbrechen oder daran zu Grunde zu gehen. Auch
hier herrscht die ganze Tragik mit allen ihren Gesetzen und in
voller Strenge und Macht, nicht anders als bei Aeschylus; der
einzige tragische Held, Prometheus (der einzige, obwohl höchst
vielgestaltige Held) tritt auch in jedem Roman und in jeder
Lovelle auf: der Mensch im Kampfe mit seinem Schicksal,
proteusartig der Mensch, so vielgestaltig ist auch der Gott
342
Steinthal
ober das Schicksal, gegen welches er anzukämpfen hat, und
welches wesentlich selbst ein menschliches, ja des Helden eigenes
Werk ist. Zwischen dem Helden des Romans und dem des
Dramas ist kein so wesentlicher Unterschied; nur der Widerstand,
welcher ihm entgegentritt, ist hier und dort ein anderer, und dem-
gemäß ist dann auch die Weise der Vermittelungen eine andre.
Der Glanz des idealen Scheines ist gedämpft; nur stellenweise
bricht er ungehemmt hervor. Viele Einzelheiten sind an sich
ganz unpoetisch, ganz und geradezu der Wirklichkeit entnommen;
nur der größere Zusammenhang, in welchen sie verwoben sind,
. die weiteren Umrisse des poetischen Bildes, innerhalb deren sie
gestellt sind, nehmen ihnen die Stumpfheit und Starrheit, ver-
leihen ihnen Glanz und schöne Beweglichkeit.
Realismus ist der Grundzug der Novellen und Romane,
und man möchte behaupten, daß das Maß ihres Werthes nicht
so sehr von der Erfüllung aller dichterischen Forderungen ab-
hänge, als davon, wie sehr der Kreis von Charakteren, Ver-
Hältnissen und Ereignissen, innerhalb dessen uns ein poetisches
Bild aufgerollt wird, der Wirklichkeit gleich kommt. Wie in
der Baukunst alle Pfeiler, Säulen und Balken und Wände,
indem sie in schönen Verhältnissen zu einander stehen und ein
schönes Ganzes bilden, doch auch einen realen Dienst leisten
nach mechanischer Gesetzmäßigkeit, und zwar nicht versteckt, son-
dern ganz offenbar den Dienst, den sie leisten, zur Schau
stellend, so mögen auch im Roman alle Theile nach den Ge-
setzen und Formen der Wirklichkeit zusammenhängen und müssen
doch als Ganzes und darum in diesem Ganzen auch an sich
I als schön erscheinen.
Wie der Roman vermag, was das Drama nicht würde,
gemeine Bausteine zu verwenden und einen poetischen Bau hin-
zustellen, das würde sich nur zeigen lassen, wenn auf die ver-
schiedene Technik beider genauer eingegangen würde, was an
diesem Orte nicht geschehen kann. Nur an den Grund-Unter-
schied werde erinnert. Das Drama führt vor die äußern
Sinne, der Roman nur vor den innern Sinn. Darum wird
der Geist vom Roman theils in schwächerer Abhängigkeit ge-
halten, theils zu größerer Selbstthätigkeit angeregt. Alle Kunst
Poesie und Prosa.
343
des Romans besteht nun darin, das Gemeine so hinzustellen,
daß es sich dem Geiste so wenig fühlbar wie möglich macht,
das Ideale dagegen fortwährend in wirksam erregender Kraft
zu erhalten, so daß das Gemeine vom Idealen ununterbrochen
Zerschmolzen wird.
Von der Geschichte aber bleibt der Roman gerade so fern,
als er einerseits mitten in der Poesie steht, andrerseits aber
das persönliche Leben der Individuen auffaßt. Was ist denn
aber ein historischer Roman? Der Roman hat ja nothwendig
immer eben so wohl die allgemein menschlichen Gefühle und
Beziehungen zum Gegenstande, als er auch gewisse historische
Zustände nothwendig voraussetzt. Wir nennen aber einen
historischen Roman einen solchen, der uns den Einfluß großer
geschichtlicher Ereignisse auf ein Familien- und persönliches
^eben, ihren Eingriff in dieses darstellt, wobei auch wohl die
geschichtlichen Persönlichkeiten in ihren persönlichen Beziehungen
Und Gefühlen vorgeführt werden. Auch hier bleiben wir der
eigentlichen Geschichte fern, welche nur den Hintergrund des
Gemäldes liefert.
Es ist schon angedeutet, was doch noch ausdrücklich gesagt
werden mag, daß Alles, was hier von Roman und Novelle
gesagt ist, auch für das prosaische Drama gilt. Der Unterschied
^egt nur in der specielleren dichterischen Form.
VII.
Anhängende Schönheit der Rede werke.
Wir haben in den frühern Paragraphen die Wissenschaft-
Scheit Werke allseitig von der Kunst abzusondern gesucht. Es
'ei hier noch einmal daran erinnert, daß dies aus den zwei
Hauptgründen geschehen ist: erstlich, daß die Wissenschaft das
^ahre und nicht das Schöne will, und zweitens, daß sie an
H gar nicht die Aufgabe hat, darzustellen, während Darstel-
gerade Sache der Kunst ist. Hier liegt es uns ob, nach-
zuweisen, inwiefern dennoch Elemente der Schönheit sich auch
m der Wissenschaft geltend machen können.
Freilich nicht im Wissen an sich. Aber nicht bloß foll
^ Gewußte auch mitgetheilt werden, was nur durch Darstel-
344 Steinthal
lung geschehen kann; sondern nach der Natur unseres Bewußt"
seins, welches ja nicht ohne Unterbrechung den gesammten In-
halt unseres Geistes gegenwärtig haben kann, wird es für den
Wissenden selbst unerläßlich, so oft er sich selbst seine Wissen-
schast vergegenwärtigen will, sich dieselbe darzustellen, wobei er
gerade so zu verfahren hat, als ob er einem Andern mittheilen,
also darstellen wollte. Nicht zum Besitze der Wissenschaft, aber
zur Energie des Wissens (um in diesem Augenblick etwas zu
wissen) gehört also nothwendig Darstellung.
Jeder, auch der kleinere Kreis wissenschaftlicher Bestim-
mnngen oder Erkenntnisse ist ein aus maunichfaltigen Borstel-
lnngs-Geweben zusammengesetzter Organismus. Da ist immer
ein Central-Kreis, um den sich nach vielen Richtungen hin an-
dere Kreise lagern, die unter sich und mit dem Centrum in
mannichsacher Beziehung stehn. Klar und deutlich denken, das
heißt jene vielen Vorstellungen, welche ein Erkenntniß-Ganzes
bilden, mit ihren vielen gegenseitigen Beziehungen in scharfer
Sonderung und fester Fügung dem Bewußtsein vorführen.
Hierbei möchte man eine wissenschaftliche Phantasie anerkennen,
welche der eigentlich so genannten Thätigkeit, der Schöpfung
von Bildern, insofern analog ist, als es sich auch hier um An-
ordnung (verschieden von Zusammenfassung, überhaupt von der
denkenden Thätigkeit) von Theilen zu einem Ganzen handelt,
welches erst im Geleite dieser Anordnung von dem auffassenden
Denken ergriffen werden kann. Im producireudeu Geiste erzeugt
eben das Denken zugleich die Anordnung, im receptiven Geiste
ermöglicht die Anordnung das Verständniß.
Wie nicht ohne Phantasie der Hergang einer Schlacht gut
beschrieben werden, ja, nicht ein Zimmer mit seiner Einrichtung
oder ein noch einfacherer Gegenstand in Worten dargestellt werden
kann, so erfordert es in gleicher Weise Darstellungs-Kunst, ein
Gedanken-Gewebe oder einen begrifflichen Organismus in Sprache
auszudrücken. Es ist dies zwar nur eine anhängende Kunst,
da sie nicht den Inhalt des Wissens berührt; aber sie berührt
auss innigste die Thätigkeit des Bewußtseins.
Anhängende Schönheit wollen wir destniren als eW
Form, welche, indem sie den Sinnen wohlthut und angenehm
Poesie und Prosa. 345
ist, nur den ntilistischen Zweck des Gegenstandes, an welchem
sie erscheint, zur Erscheinung bringt. Die Form der Vase z. B.
ist schön, wenn die Schwingung der umschreibenden Linie dem
Auge gefällig ist und zugleich die Bestimmung der Vase offen-
bart, etwas aufzunehmen, in sich zu fassen.
Demnach wäre eine schöne wissenschaftliche Darstellung eine
wiche, welche einerseits die auffassende Thätigkeit begünstigt, er-
leichtert (die zur Apperception geeigneten Vorstellungsmassen mit
Bestimmtheit in Bewegung setzt und Organe der Apperception
heraushebt, welche die Vermittlung zwischen jenen Vorstellungen
Und dem zu appercipireuden Stoff sichern und beschleunigen),
andererseits die objective Gliederung des wissenschaftlichen Ge-
Banken-Inhalts rein und klar hervortreten läßt.
Die letztere Beziehung ist allerdings die wesentlichere. Eine
stumpfe Darstellung, in welcher der Gegensatz, der Fortschritt
in seinen Krümmungen wie in seiner geraden Richtung, die
: Sonderung und die Zusammenfassung, die Heber- und Unter-
ordnung, das größere uud geringere Gewicht der Momente
u. s. w. nicht ihren scharf geprägten Ausdruck finden, ist ohne
I Weiteres unschön. Diesen Forderungen könnte indessen derartig
- genügt werden, daß die Auffassung immer noch eine schwierige,
: anstrengende Arbeit wäre. So muß denn, wenn die Darstellung
, schön werden soll, zur objectiven noch die andere, subjective
l Rücksicht auf den Empfänger hinzutreten,
t Wo Schönheit anerkannt werden soll, muß Genuß sein.
i Der Genuß aber, den die wissenschaftliche Darstellung gewähren
wll, kann nur ein solcher sein, der aus der Thätigkeit des auf-
t Essenden Verstandes erfolgt. Daß auch der theoretischen Ver-
j standes-Thätigkeit ein Genuß inwohnen kann, beweist der Witz.
i Denn, ohne daß wir nöthig hätten klar einzusehen, worauf die
i Freude am Witz beruht, ist so viel gewiß, daß derselbe gefällt
e **ud eine Bewegung des verständigen Bewußtseins in sich schließt,
^uch ist schon im ersten Paragraphen daraus hingewiesen, daß,
wie jede leibliche Bewegung, so auch jede des Bewußtseins ein
^genehmes oder unangenehmes Gefühl erweckt. Der gute
e wissenschaftliche Darsteller versteht es, so zu reden, daß alles
r> was er bietet, mit allem was sich im Leser vorfindet, sich leicht
346 Steinthal
vereinigt, daß er überhaupt Appereeptions-Processe, Gedanken-
Bewegungen einleitet, welche der Organisation des Bewußtseins
zusagen. Er besitzt den Zauberstab, durch dessen Berührung
der Kopf des Lesers productiv, Gedanken-schaffend wird. Der
Genuß der Zeugung würde aber verkümmert, wenn vielmehr
die Ermüdung der Arbeit gefühlt wird. An der Hand des
Autors soll der Leser auf ebenem, ununterbrochenem Wege ge-
führt werden und muß nicht jeden Augenblick genöthigt sein,
über Gedanken-Klüfte und Gedanken-Berge zu springen. Er
will auch nicht durch jedes seichte Gewässer waten und über
jeden losen Sand- und Maulwurfs-Haufen schreiten, sondern
vom Autor schnell hinübergehoben sein (was durch geschickte
Verdichtungen und Vertretungen ermöglicht wird).
Doch jene doppelte Beziehung erschöpft (vielleicht die Güte,
aber gewiß) die Schönheit der Prosa noch nicht. Eine weite
Strecke mit geebneten und strenge Figuren zeichnenden Wegen
zu durchwandeln ist noch kein schöner Spaziergang, wenn die
weite Strecke öde ist. Das bloße Gefühl angemessener Bewe*
gung und frischer, stärkender Luft wird dankbar genossen, aber
nicht schön genannt. Das Gemüth verlangt noch besondere
Anregung. Auch diese gewährt die schöne Prosa.
Wer's nicht fühlt, dem kann man's nicht geben. Ich aber
meine: die Gedanken leben und erscheinen wie Personen, han-
delnd und fühlend. Wenn uns schon die leblosen Dinge ein
Gefühl der Theilnahme abzwingen, um wie viel mehr müssen
es die Gedanken! Wie leicht müssen sie uns als Persönlich-
keiten gelten, in denen wir unsere eigene Persönlichkeit besitzen,
in denen wir uns als diese individuelle Wesen fühlen. Was
einem unserer Gedanken begegnet, trifft ein Glied unseres
Geistes.
Wer's nicht in sich erfahren hat, mag es und muß es für
Phantasterei halten: Unser Bewußtsein ist eine Bühne, auf der
Gedanken ihre Tragödie und ihre Komödie (auch der Irrungen)
agiren, und dieses Schauspiel ist unser Ich. Das ist aber
auch für uns gar nichts Wunderbares; denn die Helden des
Dramas, gelesenen oder aufgeführten — gleichviel, sind sie für
uns anders als eben so, daß sie unsere Gedanken sind? Ist die
Poesie und Prosa.
347
Bühne für uns nicht dadurch vor uns, daß sie in uns ist?
Spielt also doch in Wahrheit jedes Drama nur in uuserm
Bewußtsein, so mag auch unser Bewußtsein immer eine Bühne
sein. Wir fühlen die Gedanken-Schritte, wir fühlen die Ge-
danken-Schicksale, wie sie gegen einander stoßen, sich an ein-
ander zerreiben, sich freundlich einander anziehen u. s. w. Wer
noch nicht gefühlt hat, wie eine Kritik eine gute (obwohl un-
dramatische) Tragödie sein kann, der weiß nicht, was eine gute
Kritik ist; und ein Begriff ist ein Charakter, der im Fortgange
der Abhandlung seinen Charakter entfaltet. Es fehlt auch nicht
an Peripetieen und Katastrophen.
Hierin also liegt die Schönheit der Prosa, abgesehen von
ihrer objectiven und subjectiveu Angemessenheit, daß wir das
zu fühlen bekommen, was den Gedanken widerfährt. Der Styl
aber ist verschieden. Anders wirkt Iphigenie, anders Richard III
und Hamlet. Der Gang ist langsamer und schneller; der Schluß
ist von Anfang an sichtbar oder tritt überraschend auf; das an-
fänglich Gegebene scheint arm und schwach, und wächst zusehends
von innen heraus an Kraft, und erweist sich als reich und
stark, oder es erhält aus der Ferne Hülfe, welche aber, obwohl
fern, mit Notwendigkeit heranzieht, durch innere Verwandt-
schaft getrieben. Ein schmaler Bach schwillt an zum mächtigen
Strome. — Fragen setzen in Affect, laug unterhaltener Zweifel
erregt Bangigkeit; man geräth an einen Abgrund, und da heißt
es: verzweifeln oder entsagen; plötzlich öffnet sich eine lichte
Aussicht vor uns, die sich doch vielleicht bald wieder schließt
oder auch glücklich erweitert. Ein Fund, gesucht oder unerwartet
gefunden, wird allseitig betrachtet. Man schreitet in gerader
^inie vorwärts oder kehrt in immer reizvollen Windungen un-
geahnt zu demselben Mittelpunkte zurück, von dem man sich zu
entfernen schien.
Kurz, es giebt Gedanken-Rhythmen und Gedanken-Melodieen
Und eine Gedanken-Plastik.
^ Fern aber bleibe, hier wie in aller Kunst, das pathologische
Interesse. Wem nur gefällt, was Waffer auf seine Mühle ist,
weil es dies ist, wird nie die Schönheit der Wissenschaft-
lchen Prosa fühlen. Reinheit der Gesinnung, frei von Egoismus
348
Steinthal
und Hingebung an die Sache, Güte, ist erste Bedingung für
Aufnahme der Schönheit wie der Wahrheit.
Darum kann ich die rhetorische Prosa so hoch nicht stellen,
wie die wissenschaftliche. Ihr ausgesprochener Zweck ist es,
den Hörer in Affect zu setzen, pathologisch zu berühren. In
allem was sie der Wissenschaft und der Geschichte entlehnt,
sollte sie zwar diesen gleich stehn; und durch das was sie außer-
dem noch hat, erweist sie sich als Dichtung in Prosa; sie son-
dert sich jedoch von allen diesen durch die Absicht. Das ge-
staltet sich aber freilich, wenn wir Demosthenes und Cicero
lesen, für uns ganz anders. Für uns sind diese Staatsmänner
nicht verschieden von dramatischen Helden; wir genießen ihre
Reden wie die des Thukydides als Kunstwerke, und zwar (weil
hier alle Gefühlsmomente aufs entschiedenste aus den Gedanken
hervorbrechen, und darunter gerade die höchsten und mächtigsten:
Patriotismus, Liebe zur Freiheit und zum Recht, und weil
alle erzählten Thatsachen zum Bilde gestaltet sind, das unsere
Phantasie und unser Gemüth auss lebhafteste ergreift) als die
vollendetsten Redewerke in Prosa. Ich sage nicht, daß uns
darum Demosthenes größer erscheint, als er wirklich war; aber
er wirkt auf uns anders, als er wollte und als er auf seine
Hörer wirkte; nämlich für uns ist er, der Staatsmann war,
reiner Künstler, oder vielmehr reine Poesie. Darum ist der
Wettkampf eines lebenden Redners mit ihm ein völlig ungleicher,
eigentlich ein unmöglicher, undenkbarer.
VIII.
Schönheit in der Natur und im Leben.
Wenn auch schön im eigentlichsten Sinne nur die Kunst
heißen kann, so muß doch schon aus den letzten Paragraphen
klar geworden sein, inwiefern auch in der körperlichen und gei-
stigen Wirklichkeit Schönes genossen wird und anerkannt werden
muß. Dichtung in Prosa und schöne Prosa wäre unmöglich,
wenn uns nicht häufig das Wirkliche unmittelbar wie ein Kunst-
werk als schön anmuthete. Der Hauptpunkt ist schon ausge-
sprechen. Das Wirkliche ist an sich häufig sehr vollkommen,
gesund, wahr, gut. Wir können es aber auch unter dem Ge-
Poesie und Prosa. 349
sichtspunkte der Kunst betrachten, und es kann dann schön er-
scheinen: ein Kunstwerk der Natur und des menschlichen Lebens.
Es ist zunächst nur rein ästhetische Bildung, Empfänglich-
fett für Formen und Verständniß für ihren Sinn, was uns
auch in der Wirklichkeit Schönes genießen läßt und sie schön
zu gestalten treibt. So viel scheint nun damit gewonnen, daß
durch die ästhetische Bildung die gemeine Genußsucht, welche
egoistisch ist und das Objeet zerstört, überwunden wäre. Der
niedrige Genuß ist materiell; denn er geht auf die Wirklichkeit,
auf das, wodurch das Dasein des Gegenstandes bedingt wird;
er ist chemischer und physiologischer Natur und besteht in der
Mischung von Stoff mit Stoff. Das gilt auch mit geringer
Abänderung von der unkörperlichen Befriedigung der Leiden-
schaft, die immer auf das Wohlergehn gerichtet ist. Das
ästhetische Interesse dagegen wird durch die formalen Verhältnisse
befriedigt. Schlimm freilich, wenn die formale Befriedigung
nur dazu dient, den materiellen Genuß um so heißer ersehnen
zu lassen*); schlimm, wenn selbst der geistige Genuß seinen Ab-
schluß erst (wie Mephistopheles meint) in der Befriedigung
sinnlicher Lust finden soll. — Ein andrer, ebenso großer Uebel-
stand und mit dem soeben angedeuteten oft verbunden ist der,
daß die Gewöhnung, das Schöne zu suchen und zu genießen,
eine Gleichgültigkeit gegen Inhalt und Wirklichkeit erzeugt,
welche der Wahrheit und Sittlichkeit gefährlich wird. Doch
krankhaft kann alles werden; und jener einseitige und feige
Aestheticismus, den wir in manchen Zeiten zu beklagen finden,
ist nur Symptom und Folge einer Geistes-Krankheit, die ihren
Heerd ganz wo anders hat.
Doch hiervon war schon die Rede (in § I Schluß), und
an dieser Stelle ist die Frage nicht sowohl, wie entwickelter
Schönheitssinn im Leben wirkt, auch nicht wie sich die Schön-
heit mitten innerhalb der Praxis ihr Reich gründet, wie sie
jedes Werkzeug und Geräth, Haus und Hausrath und Klei-
*) Die Fabel: „Wie schön schlägt die Nachtigall! — wie schön muß
bie schmecken!" begegnet leider gar häufig und in viel roheren, verdammungs-
würdigeren Formen, als Lessing andeutet.
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bv. VI. 23
350 Steinthal
duttg, Haltung und Bewegung des eigenen Leibes und den
ganzen geselligen Verkehr, Betragen und Unterredung gestaltet,
als vielmehr, wie, unter welchen Bedingungen das Wirkliche
an sich als schön erscheint. Jenes bildet das Reich der dem
Leben anhängenden Schönheit; hier handelt es sich von der-
jenigen Schönheit, welche der Natur und der Sittlichkeit an
sich, nach ihrem eigensten Wesen, zukommen kann.
Ein unabsehbares Fruchtfeld ist nicht schön. Wenn in-
dessen der Wind darüber hinfährt und die starken kornreichen
Halme sich neigend Wellen bilden, so gewinnt es schon einen
gewissen Reiz. Wenn wir früh durch solche Felder einen Spa-
ziergang machen, — dcr Himmel blau, die Luft rein, kühl und
stärkend, in Thautropfen glitzert die noch niedrige Sonne, die
Lerche steigt mit ihrem Tirili, so sagen wir: ein schöner Morgen.
Was ist hier schön? es ist ja nicht einmal eine einheitliche An-
schauung gegeben! Das Snbject, das gar nicht vorhanden ist,
wird vertreten durch die Zeitbestimmung. Genauer hieße es:
uns ist schön zu Muthe. Wir genießen das Erwachen. —
Oder ein Abend-Spaziergang; die Sonne ist unter, der Voll-
mond geht auf, die Nachtigall schlägt u. s. w. und wir sagen:
ein schöner Abend. Wir genießen die Ruhe nach dem Tage-
werk. Was wir in uns fühlen, wird uns von der Natur dar-
gestellt, und so nennen wir die Wahrnehmung schön.
So ist überhaupt die Natur schön, insofern sie nicht bloß
da ist, sondern uns etwas aus unserm Gemüthsleben darstellt,
uns uns selbst entgegenbringt, so daß wir uns in ihr genießen.
Thiere sind schön, wenn sie mit gefälligen Umrissen irgend
einen Charakterzug darstellen, wie das Pferd, der Löwe, der
Hund (Muth, Kraft, Treue).
Der Verkehr der Menschen, ihr Treiben und Handeln,
verhält sich zur Schönheit wie die Natur; nur insofern er uns
etwas Gemüthvolles darstellt, ist er schön. Wie das Räder-
werk einer Maschine höchstens nur anhängende Schönheit haben
kann, so hat auch alles Geschäftsmäßige höchstens die Schön-
heit des äußern Anstands, äußern Schmuckes. Alles berufs-
mäßige Arbeiten, alle Erfüllung seiner Pflicht und Schuldigkeit,
jede Abhängigkeit und Unterwürfigkeit ist bei aller Ehrlichkeit
Poesie und Prosa.
351
und Treue, mit Erfolg und Entsagung, wie sittlich auch immer,
doch nicht schön. Schöne, sittsame Hausfrauen, welche pünkt-
lich die Wirtbschaft führen und Kinder gebären, während der
Mann Schätze sammelt, schöne Nähterinnen, die sich häßlich
nähen, um sich zu ernähren, sind nicht schön. — Wirklich nicht?
unter allen Umständen nicht? Nicht bloß hundert Romane be-
weisen das Gegentheil, nicht bloß Schillers didaktische Poesie,
sondern anch die Tragik Fansts, der in Gretchens Zimmer tritt.
Es kommt auf das Auge an, d. h. auf den innern Sinn, mit
dem man alles dies ansieht.
Wie ein bewegtes Kornfeld schon einen gewissen Reiz hat,
so kann niemand stumpf bleiben bei dem Anblick von Tausenden
sich hin und her bewegender Arbeiter in einer großen Ma-
schinen-Fabrik. Es tritt uns hier die Größe der Kraft des
Menschen, seine Herrschaft über die Natur entgegen. Neben dem
was unsere Augen sehen, erhält unser Gemüth noch eine Erhe-
bung durch das was sich dort darstellt.
Jede übliche Thätigkeit, die wir beobachten, läßt uns kalt,
wie sehr wir sie auch loben. Die Beobachtung einer besondern
Geschicklichkeit und Kraft aber schon, selbst des Gauners, der
Mnth eines Mörders gewinnt uns Theilnahme ab. Aber wo
die Erfüllung der Pflicht besonders erschwert war und beson-
ders hohe Sittlichkeit voraussetzt, wo Schnelligkeit des Ent-
schlufses und unmittelbares, kühnes Erfassen des rechten Mittels
in besonders schwieriger Lage Rettung brachte, wo Großes
vollzogen ward, das nicht zu fordern oder nicht zu erwarten
stand, wo Muth sich zu Edelmuth erhob, hohe Kraft in hoher
Güte wirkte, da sagen wir mit Recht nicht bloß: das war gut,
sondern: das war schön. Hier ward uns dargestellt, was der
Mensch ist.
Und nun endlich der erwähnte, stille Lauf des Lebens, die
Frau in der gemeinen Prosa des Hauses, der Mann im Ge-
schäft, wie wird hier Schönheit verspürt? Wenn nur erstlich
dafür gesorgt ist, daß das absolut Häßliche, der Schmutz, der
sich allem Wirklichen ansetzt, weggeschafft ist, daß man das
^ieine sieht, nicht die Reinigung, und wenn dann das Aller-
gewöhnlichste so gezeigt wird, wie es unmittelbar als Energie
23*
352 Steinthal: Poesie und Prosa.
dem Innern der Persönlichkeit entquillt, und wie es darum
Zeichen des Charakters ist: so sind wir mit ganzem Gemüthe
dabei, sind ästhetisch bewegt; man hat uns den Menschen
enthüllt.
Oder vielmehr: wer in der Thätigkeit das Innere sieht,
das sich darin verkörpert, der hat den offenbarenden Blick des
Dichters, dem ist das Menschen-Leben schön.
Wer aber so handelt, daß er in jede That das erzeugende
Innere so greisbar legt, daß jeder für Poesie empfängliche
Mensch es mit erfaßt, der ist poetisch handelnd, Dichter in That,
eine schöne Seele.
Mit dem vorstehenden Aufsatze sollten begriffliche Bestim-
mungen und Unterscheidungen geboten werden, welche als Aus-
gaugspunkte für die Literaturgeschichte dienen und Kategorien
zur Bestimmung der Style liefern könnten. Nach oben hin
müßte das Gesagte (abgesehen von dessen UnVollkommenheit an
sich) durch das ergänzt werden, was ich in dieser Zeitschr. II.
S. 279—283 formelhaft ausgesprochen habe und später aus-
zuführen gedenke; nach unten hin wäre die Untersuchung mit
Rücksicht auf die Verschiedenheit der Dichtungs-Gattungen fort-
zuführen, wobei sich auch über das hier schon Berührte Ge-
naueres ergeben würde. Dann erst wäre schließlich die pro-
saische und dichterische Sprache in Betracht zu ziehen.
Steinthal.
Zur Theorie der Geberdensprnche.
Von
Dr. Kleinpaul.
Tot linguae quot membra viro.
I.
Kruse, der taubstumme Lehrer taubstummer Schüler, er-
zählt folgende merkwürdige Geschichte, welche sich zu Anfang
dieses Jahrhunderts zugetragen hat: Ein taubstummer Knabe,
welcher ohne allen Unterricht geblieben war, wurde während
seines Herumlaufens in Prag von der Polizei ausgegriffen;
man konnte nichts aus ihm herausbringen und schickte ihn in
eine für Unglückliche seiner Art bestimmte Anstalt, damit er
seine Geschichte erzählen lerne. Nachdem er hier einigen Un-
terricht genossen, war er im Stande, zu verstehen zu geben,
daß sein Vater eine Mühle habe; und von dieser Mühle, der
Ausstattung des Hauses und dem Lande rings um dieselbe machte
er eine genaue Schilderung. Er gab einen umständlichen Be-
richt über sein dortiges Leben: seine Mutter und seine Schwester
seien gestorben, sein Vater habe wieder geheirathet, seine Stief-
Mutter ihn mißhandelt und er sei davon gelaufen. Er kannte
seinen Namen nicht und ebensowenig den der Mühle, aber er
wußte, daß sie von Prag aus gegen Morgen lag. Auf ge-
schehene Nachforschung sand sich die Angabe des Knaben be-
stätigt. Die Polizei fand seine Heimath, gab ihm seinen
Namen und sicherte ihm seine Erbschaft (Chambers Journal).
354
Kleinpaul
In der That ist für den Sprachphilosophen nichts inter-
essanter und belehrender, als einen Blick in ein Taubstummen-
iustitut zu thun und die Mittel zu beobachten, mit welchen
diese Unglücklichen einen nicht minder bewnndernswerthen Zeichen-
organismns entwickelt haben, als die vorzugsweise Redenden.
Er wird dann gewahr, daß er hier vor einem oft ebenso ge-
heimnißreichen Gewebe von Beziehungen und Ausdrucksweisen
steht, als wenn er im Auslande fremde Zungen reden hört:
hnndertängig nnd tansendarmig erhebt sich die Geberde und die
stummen Glieder beginnen eine Sprache, die mit wunderbarer
Geläufigkeit blitzesschnell den schenen Gedanken sichtbar werden
läßt. Ja, wenn man bedenkt, daß z. B. im Berliner Taub-
stummen-Jnstitnt 5000 Zeichen in Anwendung kommen, während
die Engländer ihren Znngenvorrath doch nur auf 20mal mehr,
d. h. auf 100,000 Stück schätzen und nach Max Müller's
Berechnung sich ein gewöhnlicher englischer Bauer oder Feld-
arbeiter etwa 300 (genau so viel hat ein Geistlicher von einem
friesischen Eilande bei einem Tagelöhner seines Kirchspiels ge-
zählt), ein Mann, der eine Durchschnittsbildung hat, 3000 bis
4000, ein großer Redner höchstens 10,000 verschiedener Wörter
im täglichen Verkehr bedient; daß nach einer Notiz des Athe-
näums in Manchester Shakespeares Henry IV. in Patterson's
Zurichtung von Taubstummenzöglingen in Gegenwart ihrer taub-
stummen Mitschüler und einer hierfür sich interessirenden Anzahl
Zuschauer — man kann nicht wohl sagen Zuhörer — aufge-
führt wurde, indem sie den Text durch ihre Zeichensprache ver-
sinnlichten, welcher das Publicum leicht folgen konnte: so er-
scheint es fast als ein Zufall, daß die Lautsprache bei uus eine
so ausschließliche Geltung gewonnen hat, da es gar nicht zu
bezweifeln steht, die Geberdensprache, wäre sie wie die Laut-
spräche Jahrhunderte lang durch den Verkehr von Millionen
ausgebildet worden, sie würde ihr an Vollkommenheit, Bequem-
lichkeit, Mannichfaltigkeit kaum nachzusetzen sein.
In der That aber ist auch die Geltung der Lautsprache
keine so ausschließliche. Es ist bekannt, daß die Geberden-
spräche bei allen Südländern, namentlich bei den Neapolitanern
und Sicilianern, so scharf ausgeprägt ist, daß sie fast beständig
Zur Theorie der Geberdensprache. 355
in zwei Sprachen sprechen, indem sie jeden Satz zugleich durch
Worte und durch Gesten versinnlichen (A. de Ferio, La
mimica degli an ticin investigata nel gestire Neapolitaner
Neapel 1832); bekannt, daß besonders alle wilden Völker,
denen es schwer wird, sich in Worten auszudrücken, sich sast
mehr durch Geberden als durch Laute verständigen. Daher
kommt es denn, daß, wie man in Chambers Journal und im
Ausland 1865, Nov. 18., lesen kann, den nordamerikanischen
Indianern so viele Zeichen mit den Taubstummen gemein sind,
wobei ich dahingestellt lassen will, ob die Uebereinstimmung
allein auf der Natürlichkeit des Zeichens beruht oder ob die
Lehrer es nicht vielleicht geradezu von den Indianern entlehnt
haben, denn es wäre gewiß eine ganz richtige Praxis, die
Taubstummen eine Sprache zu lehren, welche instinctmäßig und
unbewußt erfunden worden ist, also jedenfalls den Vortheil der
psychologischen Möglichkeit für sich hat. Beide also bezeichnen
z. B. das Feuer aus dieselbe Weise, indem sie mit den Fingern
Flammen nachahmen, beide den Regen, indem sie die Finger-
spitzen der theilweis geschlossenen Hand abwärts biegen, beide
drücken den Begriff des Sehens dadurch aus, daß sie die ersten
zwei Finger getrennt gleich dem Buchstaben V halten und sie
dann von den Augen abstoßen. Daß diese Uebereinstimmung
aber sich nicht bloß auf einzelne Zeichen erstreckt, beweisen die
eben daselbst erwähnten Fälle, wo z. B. ein Eingeborener von
Hawai, in ein amerikanisches Institut gebracht, sogleich mit den
Kindern in Zeichen zu sprechen anfängt, ihnen seine Reise be-
schreibt und das Land nennt, aus dem er kam; oder wo ein
taubstummer Knabe Namens Collins zu einigen Lapländ^rn
mitgenommen wird, die man sehen ließ und diese dann, wäh-
rend sie sich um andere Menschen nicht im geringsten kümmerten,
doch sogleich mit ihm über Rennthiere und Elche zu sprechen
beginnen und „lächelten ihm viel zu".
Es ist wahr, man braucht nicht erst in ein Taubstummen-
Institut zu gehen, auch nicht erst nach Neapel und Sizilien zu
reisen, um die Geberdensprache zu studiren: schon bei uns auf
Markt und Straße, im Wirthshaus und im Gesellschaftssalon,
allüberall wo Menschen sind, ja wo nur ein Lebendiges existirt,
356
Kleinpaul
bieten sich dem Beobachter die merkwürdigsten Belege dar, wie
alle Wesen die ihnen zu Gebote stehenden Organe ausbeuten,
um sich ihre guten oder schlechten Gedanken zu verdolmetschen.
Allerdings muß man namentlich die Bewegungen lebhafter
Menschen, die ausdrucksvollen Geberden der Käufer und Ver-
käuferinnen, der Markthelfer und Köchinnen ins Auge fassen,
aber jeder gebildete Mann ist alltäglich ein Mimiker, so sehr,
daß er sich ohne das kaum getraute, den Ruf seiner Bildung
zu bewahren; uns Allen sind gewisse Geberden zur Gewohnheit
geworden, wir machen sie unzählige Male, ohne nur im Min-
desten ein Bewußtsein davon zu haben, daß wir sie machen
und warum wir sie machen, es ist eben wie mit der Sprache
überhaupt. Wollte uns nun Jemand daran erinnern, so er-
schienen sie uns vielleicht zu unbedeutend und der Betrachtung
UNwerth. Quid mihi cum nngis istis?
Aber das ist das Kennzeichen der wahren Philosophie,
daß sie auch das Triviale interessant finden und in dem Aller-
geringsten wissenschaftliche Probleme entdecken kann. Dem Phi-
losophen ist nichts unbedeutend, ihm ist der Gassenjunge, welcher
vor seinem Kameraden in bedeutsamer Symbolik die Zunge
herausstreckt, ebenso merkwürdig wie der griechische Redner, der
in der vollendetsten aller Sprachen Leuchtkugeln des Witzes und
des Spottes steigen läßt; der Subalternbeamte, welcher seinen
Vorgesetzten durch Hutabnehmen grüßt, ebenso der Erklärung
bedürftig wie der Lictor, welcher vor dem Consul die fasces
herträgt. Manche Leute denken eben immer, andere nur zu ge-
setzten Zeiten.
Wir haben die Mimik des Lebens, diese Sprache des
ganzen Menschengeschlechtes, die Sprache, mit deren Hülse
Eskimo's und Mohren, Hottentotten und Tataren conversiren,
die Sprache, welche es dem Handwerksburschen, welcher kaum
sein Deutsch ordentlich versteht, möglich macht, mit fremden
Nationen zu verkehren, wir haben diese eigentliche Weltsprache
ebenso wissenschaftlich zu classificiren, wie es mit den Typen
des Sprachbau's, mit den isolirenden und slectirenden Sprachen
geschehen ist. Es sei uns vergönnt, im Folgenden einige Ge-
sichtspunkte flüchtig zu bezeichnen und in zwangloser Weise
wmmi
Zur Theorie der Geberdensprache.
357
etliche der geläufigsten Geberden dabei zu deuten: nihil humani
a me alienum puto.
Es könnte fraglich sein, ob die Leitrufe der Fuhrleute an
das Zugvieh: hü! Hüft! hott! u. s. w. eine gewisse symbolische
Bedeutung haben, die beiden letzten sollen wohl rechts und links
bedeuten. Mir scheinen sie doch an sich bedeutungslose Laute
zu sein, nur dadurch fignifieativ, daß sich der Fuhrmann ver-
mittelst ihrer seinen Pferden bemerklich macht. Denn es ist die
einfachste Form der Geberdensprache, daß man, ohne irgend
etwas ausdrücken zu wollen, einen sinnlichen Eindruck auf einen
Andern hervorbringt, nur um dessen Aufmerksamkeit zu erregen,
die ja nach Nain de Biron die Bedingung jeder Wahrnehmung
ist. Der, welcher aufmerksam gemacht wird, bekommt dann
entweder die Mittheilung, weshalb es geschehen ist, oder er
muß sich den Grund davon selbst hinzudenken.
Einen sinnlichen Eindruck, denn kein Sinn wird geschont,
sondern, wo der Andere nur zu fassen ist, da packt man ihn'
um sich ihm aufzudrängen. Nichts ist gewöhnlicher, als daß
man in Gesellschaft Einen, dem man etwas sagen will, am
Rocke zupft oder ihm auf die Schultern klopft:
aliquis cubito stantem prope tangens inquiet
Hör. sat. 2, 5, 42;
es hat ganz dasselbe zu bedeuten, als wenn man ihn bei seinem
Namen oder wenn man he! rnsen würde; man will eben nur
seine Aufmerksamkeit rege machen, denn ohne diese hörte er uns
nicht. Eben dazu dienen ja auch die Alarmvorrichtung beim
Nadel-, der Weckapparat beim chemischen Drucktelegraphen,
während bei den Morse'schen Telegraphen ein besonderer Wecker-
apparat nicht nöthig ist: das Aufschlagen des Schreibstiftes
bringt ein solches Geräusch hervor, daß dasselbe zur Erweckung
der Aufmerksamkeit auf der entfernten Station ausreicht. Will
der Telegraphist eine Depesche geben, so ruft er die betreffende
Station durch wiederholtes Anschlagen des Schreibstiftes; der
gerufene Telegraphist antwortet: „Ich bin bereit" und läßt das
II.
358
Klempau!
Uhrwerk seines Apparates los, und nun beginnt die Cor-
respondenz.
Bei den Römern scheint besonders das Ohrläppchen die
Zielscheibe eines derartigen Angriffs gewesen zu sein, ohne den
selbst der Gott Apoll nicht auskommen kann:
cum canerem reges et proelia, Cynthius aurem
vellit et admonuit Virg. ecl. 6, 3.
Aber nicht bloß Menschen und Götter, sondern auch die
Thiere kennen diese Art der Geberdensprache. Wenn z. B.
mein Lieblingshund beim Essen neben mir sitzt, so kommt es
nicht selten vor, daß er mit seiner Nase an meinen Arm stößt,
damit ich seiner nicht vergesse. Die Ameisen, Bienen u. s. w.
machen sich dnrch ihre vielgestaltigen Fühler, die Spinnen durch
ihre Fußspitzen untereinander bemerklich; gerade so wie Nestor
den Diomedes (II. x, 158), oder Telemachos den Peisistratos
(06. o, 45) durch einen Stoß mit der Ferse aus dem Schlafe
weckt. Wir klatschen in die Hände, wenn wir uns verirrt
haben, wir seuern in der Wüste eine Pistole oder auf Schiffen
Kanonen ab, damit Andere es vernehmen und uns aus der
Noch helfen; Andere nur unsere bloße Existenz errathen zu
lassen, das ist das Einzige, was uns übrig bleibt, es sieht recht
aus wie wollen und nicht können. Odysseus pfeift dem Dio-
medes, nachdem er die Rosse des Rhesos weggetrieben hat, wo
ausdrücklich das Pfeifen als ein Reden bezeichnet wird:
poiCirjaev 8'dpa mcpauaxwv Aio|i7j§£i' 8up II. x, 502.
Verschiedene Insekten entwickeln Licht, um ihr Nahen oder
ihre Gegenwart anzuzeigen; Vögel sträuben die Federn, Menschen
erheben die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken:
kurz alle Sinne, die den Anderen mit der Außenwelt in Ver-
bindnng setzen, werden erregt, um ihm anzuzeigen, daß er sie
gebrauchen solle.
Sehr oft macht man die Leute aufmerksam, um sie zu
warnen, um sie von irgend etwas zurückzuhalten. In großen
Gesellschaften, wo man viele Dinge nicht laut sagen kann, zupft
Zur Theorie der Geberderisprache.
35A
Wohl eine feine Mutter ihr Kind und giebt ihm dann durch
einen Blick zu verstehen, daß irgend etwas am Anzüge nicht in
der Ordnung ist. Es genügt aber auch hier oft, deu Be-
treffenden eben überhaupt aufmerksam zu machen, damit er sein
eigenes Thun bedenke und die Gefahr oder Unziemlichkeit des-
selben selbst errathe. Nun hierher gehört die Gemsenvorhut in
Schiller's Tell 1, 1:
Die spitzt das Ohr und warnt
mit Heller Pfeife, wenn der Jäger nah't.
Oder wenn die Studenten im Colleg wegen des zu schnellen
Dictats nicht nachkommen können, wenn sie ein Wort nicht ver-
standen haben, so fangen sie mit den Füßen an zu scharren,
wie mir scheint, nicht um etwa symbolisch eine gehinderte Be-
wegnng anzudeuten, sondern rein, um sich dem Professor be-
merklich zu machen; dieser merkt dann selbst leicht, woran es
fehlt, ebenso wie der Kellner, wenn die Gäste mit den Deckeln
an dem Bierglas klappern, oder wie der Regisseur, wenn das
Publikum vor Beginn des Stückes ungeduldig mit den Füßen
pocht. Schon etwas Conventionelles liegt darin, wenn in
Neworleans jeder Nachtwächter, sobald er an die Ecke gekommen
ist, seinen Stock dreimal fallen läßt, zum Zeichen, daß er da sei.
Wenn bei dieser ersten Form der Geberdensprache das
Gewicht daraus zu legen war, daß alle Mittheilung hier durch-
aus nur in der Nöthignng zur Aufmerksamkeit auf eine Mit-
theilnng bestand, daß der Betreffende wie dort Diomedes und
Peisistratos gleichsam immer nur aus dem Schlafe geweckt
wurde, von welchem sein Bewußtsein besangen war: so folgt
nun naturgemäß die eigentlich mittheilende Geberde, wo wirk-
lich ein reales Verhältniß ausgedrückt und bezeichnet wird. Es
gehört hier oft ebensoviel Combinationsgabe dazu, das mimische
Zeichen zu erfinden, als die Bedeutung desselben zu verstehen.
Um es zu erfinden und es dieses erste Mal zu verstehen.
Denn freilich, nachdem es einmal erfunden ist, wird es con-
360 Kleinpaul
ventionell, und der Sprechende gebraucht's, der Angesprochene
versteht's, ohne den ursprünglichen Zusammenhang zwischen
Zeichen und Bezeichnetem zu ahnen. Dieser aber ist es, auf
den es uns ankommt: wir sind Etymologen der Geberdensprache.
Freilich giebt es Fälle genug, wo kein solcher Ursprung-
licher Zusammenhang vorhanden, das Zeichen also von Anfang
an conventionell gewesen ist. Wir sind ja oft genug dabei,
wenn solche Zeichen vielleicht nur für eine kurze Frist eingesetzt
werden. In einer Versammlung sagt der Präsident: Jeder,
welcher für den Vorschlag stimmt, erhebe sich, hebe die Hand
in die Höhe, nehme die Mütze ab u. dgl. In der Schulstube
streckt der, welcher es weiß, die Hand empor. Ein Kanonen-
schuß verkündete in Jeddo, daß ein Todesurtheil vollstreckt sei.
Schiffe, die in Häfen einlaufen oder sich einander begegnen,
grüßen durch mehrere blinde Kanonenschüsse, welche das begrüßte
Schiff mit einer geringeren Anzahl von Schüssen erwidert.
Auch Forts werden von Schiffen, die in deren Häfen einfahren,
salntirt und antworten. Dergleichen Zeichen haben nun, nach-
dem sie bekannt geworden, dieselbe expressive Kraft wie die
naturwüchsigen, aber es fehlt ihnen ganz der sinnige Reiz der
letzteren, man erkennt so deutlich die nichtssagende Willkür gegen-
über der stillen Naturnotwendigkeit; es muß ein recht lächer-
licher Mann gewesen sein und er muß ein recht großes Bedürf-
niß gehabt haben, sich geltend zu machen, der seinen Selaven
'AXXafATjv nannte.
Indessen hiervon abgesehen, wird man wohl behaupten
können, daß erst diese expressive oder signisicative Geberden-
spräche den Namen einer Sprache überhaupt verdiene, denn
diese setzt eben voraus, daß wirklich ein Gedanke ausgedrückt
und verdeutlicht wird. Es ist z. B. eine große Verwirrung
der Begriffe, Jnterjectionen zu der Sprachmaterie zu rechnen,
denn diese sind ja ganz unwillkürliche, ich möchte sagen Reflex-
bewegnngen der Kehle, wobei an eine absichtliche Mittheilung
nicht im Entferntesten zu denken ist. Klopfe ich ferner meinem
Kameraden auf die Schulter, um ihm etwas ins Ohr zu sagen,
so ist zwar die Absichtlichkeit des Klopfens nicht zu leugnen,
wohl aber die Mittheilung, denn diese soll eben erst folgen: es
Zur Theorie der Geberdensprache. 361
ist nur die Vorbereitung auf eine Mittheilung, nicht selbst eine
Mittheilung, also auch streng genommen keine Sprache, denn
diese ist die Offenbarung des Gedankens, die im Urtheil voll-
zogen wird.
Da wir nun unter Urtheil die Verbindung von Subject
und Prädieat durch die Copula verstehen und zwar eine Ver-
bindung, daß, was hier subjectiv in Subject und Prädieat ge-
schieden ist, als objectiv identisch, mithin in der Wirklichkeit
das Prädieat längst im Subject vorhanden gedacht wird: so
entsteht nun die Aufgabe, zu zeigen, wie mit Hülfe der Ge-
berde Subject und Prädieat versinnlicht und dem Angesprochenen
durch eine Aussage eine wirkliche Erweiterung des Wissens ge-
boten wird. Es kommt alles darauf an, die objective Jden-
tität von Subject und Prädieat zu fassen: hier liegt das Ge-
heimniß des Denkens wie der Sprache.
Wenn ich meine Faust balle, aus Jemanden losgehe und
drohend den Arm erhebe, so ist das eine sehr naive Sprache,
die der Andere wohl versteht. Und doch ist hier kein Urtheil,
sondern die noch nicht in Subject und Prädicat zerlegte ob-
jective Identität selbst gegeben; man kann eben die ganze Welt
als ein Urtheil implicite auffassen. Ich zeige mich dem An-
dern, wie ich im Begriffe bin zu schlagen: ich selbst erscheine
ihm als ein solcher, objectiv, realiter: seine Gedanken erst
werden mich in Subject und Prädicat Zerfällen und die von
mir repräsentirte Wirklichkeit verstehen. Bin ich selbst das
Subject, mit dem das Prädicat in der Vorstellung identificirt
werden soll, so ist es eben das Einfachste, diese Identität gleich
in mir selbst leibhastig darzustellen; was wir in der Lautsprache
erst zertheilen müssen, um es zu verbinden, erscheint hier schon
verbunden von Anfang an.
Was ist es aber, höre ich fragen, wenn hier bloß die
reine, an sich unbegriffene und eben erst zu begreifende Wirk-
lichkeit gegeben wird, was diese Darstellung der Wirklichkeit
zur Sprache macht? Ist denn nicht die ganze Wirklichkeit des
Universums eine Sprache, ein Buch, wie man sie oft bezeichnet
fyflt? Ich sehe einen gereizten Buben wüthend einem andern
Buben nachlaufen, schon die Hand zum Schlag erhoben. Auch
362
Kleinpaus
dieser Bube sagt mir, er ist im Begriff zu schlagen. Wodurch
unterscheidet sich nun dieser Fall von dem vorigen? Thut der
etwas mehr, der sich drohend vor mich hinstellt, wenn ich mich
an seinem Eigenthum vergreife? Ja, er thut etwas mehr,
denn er will, daß ich ihn verstehen soll, während Jener viel-
leicht gar nichts davon weiß, daß ich ihn verstehe; die Absicht
der Mittheilung ist es, welche die eine Geberde von der andern
unterscheidet, während sie vielleicht an sich ganz gleich sind.
Die Sterne, welche in ihren Sphären tanzen, sprechen auch
eine Sprache und keiner der Philologen mag sie ergründen,
aber sie tanzen und kümmern sich nicht darum, was wohl das
Auge, welches andächtig und ahnungsvoll hinaufschaut, in ihnen
lesen mag.
IV.
Durch die vorstehenden Betrachtungen werden wir nun
einen tieferen Blick in das Wesen der Geberdensprache gewonnen
haben und die Gesten, mit denen wir so oder so unsere eigenen
Zustände bezeichnen, als implicite gegebene Prädicate verstehen
können.
Als Zeus der Thetis mit Worten versprochen hatte, ihre
Bitte zu erfüllen, da neigte er zur Bekräftigung seiner Rede
das unsterbliche Haupt Jl. a, 528, denn das bleibt nicht un-
erfüllt, was Zeus durch Kopfnicken bestätigt hat (daraus, daß,
während die Geberde sich offenbar auf das ganze Haupt bezieht,
v. 528 nur die Augenbrauen genannt sind, sieht man, um mit
Lessing zu reden, quanta pars animi sich in ihnen zeige, cf.
Laokoon 22.) Während also bei den Türken das Kopfschütteln
Bejahung, Nicken Verneinung bedeuten soll, galt das Kopf-
nicken dem Griechen, wie noch uns, für den Ausdruck des Bei-
falls, der Zusage, der Beistimmung, daher xaxavsusiv und
sitiveoeiv geradezu sür versprechen, versichern gebraucht werden.
Umgekehrt heißt avaveueiv soviel wie versagen, verbieten, z. B.
Jl. 71, 251, x» 205' 317' 671; Od. i, 468 u. s. w. In-
dem man den Kopf in die Höhe, zurückwarf, drückte man also
aus, daß man nicht beistimmte. Wir werfen in diesem Falle
Zur Theorie der Geberdensprache.
363
den Kopf weniger zurück, sondern wir schütteln ihn. Wie
kommen wir dazu?
Der König von Preußen schenkte einst dem Kaiser, wenn
ich nicht irre von Japan, einen Galawagen, und der Ehr-
würdige ließ den Bock niedriger machen, weil er es für unan-
gemessen hielt, daß sein Kutscher höher sitze als er. So lächer-
lich uns dies vielleicht erscheinen mag, so handeln wir doch
alle tagtäglich nach der Maxime dieses Kaisers. Sitzt nicht
auch bei uns der König oder Präsident auf erhöhtem Throne?
Denn allen Rang und alle Macht bemißt man nach der Höhe
und unter dem Bilde einer Scala denken wir uns die ganze
Welt. Höhe und Niedrigkeit haben für uns eine moralische
Bedeutung gewonnen, was wahrscheinlich mit der größeren
Freiheit des Blicks und der durch die Höhe gegebenen natür-
lichen Ueberlegenheit zusammenhängt: man betrachtet den Besseren
als höher stehend, man steht unter ihm und ist ihm daher
unterwürfig. Der Sclav beugt sich vor seinem Herrn, vor
seinem hochgeborneu Herrn; Hoheit, Celsitudo, Altesse sind
ja geradezu Fürstentitel. Man neigt sich daher bei einem Gruß
aus Höflichkeit, wie sich vor Josephs Garbe seiner Brüder
Garben, und wiederum vor Joseph Sonne, Mond und Sterne
neigten, Mos. I., 37, 7. In der Türkei kreuzt man beim Gruß
die Hände auf der Brust und beugt sich mit dem Kopse gegen
den, welchen man grüßt, denn die Höflichkeit besteht eben darin,
daß man Jemanden zu erkennen giebt, man betrachte ihn als
vornehmer und vortrefflicher als sich, so daß man einen Diener-
Macht; wie z. B. der Urbane Chinese sich selbst Schimpfnamen
im Gespräche beilegt und statt: „ich habe" sagt: „Diener hat,
Knecht hat, Dieb hat, Dummkopf hat." Daher bringt sogar
I. Grimm den Stamm tu mit einer Wurzel zusammen, die
groß sein, wachsen bedeute, so daß du eigentlich „Größe" wäre,
wie wenn man sagt: Euer Gnaden, your honour.
Ueberall werfen sich die Niederen vor den Höheren auf
die Erde; padam do nog, falle zu Füßen, Herr, sagt der pol-
Nische Bauer zu dem Edelmann, oder er umfaßt bei der Be-
grüßung wirklich die Kniee und küßt die Schulter. In Asien
stufen sich die Begrüßungen nach dem Range des zu Grüßenden
364
Kleinpanl
ab und bestehen wie bei den Hindn's in Berührung der Stirne
und Beugen des Kopfes bis auf die Erde, oder wie in China
im Nicken mit dem Kopfe, Uebereinanderschlcigen der Hände
und allerhand freundlichen Worten, oder wie in Sumatra und
andern ostindischen Inseln im Niederwerfen auf die Erde und
darin, daß man den Fuß des zu Grüßenden auf die Brust,
den Kops, das Knie des Grüßenden setzt. Ja, dieselbe Höf-
lichkeit beobachtet der Mensch auch gegen seinen Gott: der Böhme
macht seine Reverenz vor einem am Wege stehenden Christusbilde
und der Christ liegt im Gotteshause voll Andacht auf den Knieen.
Nicht umsonst steht der Czar von Rußland, wenn das ganze Heer
zum Gebete niederkniest, allein aufrecht als Herr der Kirche.
Auch das Hutabnehmen findet nur so seine Erklärung.
Seit dem 17. Jahrhundert ist das Entblößen des Hauptes
zum Zeichen des Grußes ziemlich allgemein geworden; es
kommt, wie alte Bildwerke zeigen, bereits im 15. Jahr-
hundert vor, wurde aber im Anfange nur von Niederen gegen
Höhere beobachtet. Die Mitglieder des Bürgervereins und des
großen Clubs in Braunschweig haben kürzlich einen bereits vor
20 Jahren gefaßten Beschluß erneuert, sich des Hutabnehmens
auf der Straße zu enthalten und bitten das Publikum in einer
Anzeige, eine Berührung des Hutes oder eine grüßende Be-
weguug mit der Hand als Ausdruck der Achtung anzunehmen;
also ähnlich wie man bei Militairs den guten Willen für die
That gelten läßt, wenn sie den Hut, Czako oder Helm mit der
rechten Hand nur anfassen. In England neigt man sich auch
vor dem respectabelsten Mann nur mit dem Kopf, ohne den
Hut abzunehmen; vor Damen dagegen zieht man ihn, darf sie
aber nicht zuerst grüßen. Die Franzosen sind in der That die
galanteste von allen Nationen, wie sie überhaupt die höflichste
sind. Zu jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung begleitete
Louis XIV die Damen seines vertrauten Umgangs entblößten
Hauptes zum Wagen vor dem Palast und der galante König
hat zahllose Vorbilder und Nachahmer. Kein Franzose der ge-
bildeten Klasse spricht anders als den Hut in der Hand mit
einer Dame, wo er ihr auch begegnen mag.
Nun, daß ich mir selber meinen Kopf kühle, das macht
Zur Theorie der Geberdensprache.
365
die Höflichkeit nicht aus, sondern wenn, wie Lotze in seinem
Mikrokosmus treffend bemerkt, der Hut, vor allem der maje-
statische Cylinder eine Verlängerung unserer Existenz, also eine
Erhabenheit über andere Subjecte mit sich bringt, so folgt nach
dem Obigen von selbst, wie ehrend es für den Anderen sein
muß, wenn ich durch Ziehen des Hutes meine Existenz wiederum
vor ihm verkleinere, gleichsam vor ihm den Kopf niedriger trage
als gewöhnlich. Vielleicht hängt es hiermit zusammen, daß
der Hut, den in Griechenland nur kränkliche Leute und Prole-
tarier trugen, von den Römern zum Symbol der Freiheit
erhoben wurde, weshalb auch die Sclaven bei ihrer Freilassung
einen Hut erhielten; nach Eäsar's Ermordung setzte man den
Hut als Zeichen der Freiheit zwischen zwei Schwertern auf die
Mützen, was später die Republik der vereinigten Niederlande
nach der Abwerfung des spanischen Joches nachahmte. Wer
kennt nicht den reichen güldenen Kelch mit dem böhmischen
Wappen:
Die stolze Amazone da zu Pferd,
Die über'n Krummstab setzt und Bischofsmützen,
Auf einer Stange trägt sie einen Hut
Nebst einer Fahn', worauf ein Kelch zu sehn.
Könnt Ihr mir sagen, was dies all' bedeutet? —
Die Weibsperson, die Ihr da seht zu Roß,
Das ist die Wahlfreiheit der böhm'schen Krön'.
Das wird bedeutet durch den runden Hut
Und durch das wilde Roß, auf dem sie reitet.
Des Menschen Zierrath ist der Hut, denn wer
Den Hut nicht sitzen lassen darf vor Kaisern
Und Königen, der ist kein Mann der Freiheit.
Schiller: Piccolomini 4, 5.
Sehe man sich doch einen Schmeichler an, einen recht
kriechenden Schmeichler. Er kriecht in der That gleichsam unter
die Erhabenheit seines Gegenstandes: er möchte es wenigstens.
Denn woraus zielt jene duckende Bewegung seines Kopses, in-
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. 24
366
Kleinpaul
dem er bei seiner Antwort mit demselben gewöhnlich von links
nach rechts einen Halbkreis nach unten zu beschreibt,
stans capite obstipo multum similis metuenti
Hör. sat. 2, 5, 92?
Darauf, sich als einen Unterworfenen, einen Gefangenen
der Autorität, einen der Ueberlegenheit sich willig Fügenden
zu charakterisiren, ein Sclave zu sein und sich einen Selaven
zu nennen:
ou ttots SouXsiy] xecpaXrj ifreia itscpoxev,
dlX aiei (3xoXi7j xau^sva Xo£ov
Theogn. 547 f. cf. Pers. 3, 80.
In gleicher Weise sagt also der nickende Zeus zur Thetis,
daß er sich ihr in diesem Punkte fügen wolle; er will ihr bei-
stimmen und da Beistimmung eine Unterordnung ist, so stellt
er sich wenigstens der Intention nach unter sie. Nur ist na-
türlich die Unterordnung des Zeus ein majestätisches Gewähren;
der überlegene Götterkönig weiß, daß sein Nachgeben im höchsten
Grade freiwillig ist, und daher erbeben doch selbst bei dieser
Demuth des Herrschers die Höhen des Olympos.
Die gerade entgegengesetzte Geberde ist das trotzige Zurück-
werfen des Hauptes; sie drückt demnach die Negation der Unter-
thänigkeit aus, ohne daß, wie mir scheint, durch das Zurück-
werfen ein Verwerfen symbolisch ausgedrückt werden sollte.
Beim Kopfschütteln dagegen schüttelt man recht eigentlich die
Sache von sich ab, gerade so wie viele Menschen mit der aus-
gestreckten rechten Hand in der Luft herumvagireu, als wollten
sie etwas daran Haftendes abfallen machen, indem sie sagen:
damit ist nichts. Wollen sie umgekehrt Jemanden aufmuntern,
so klopfen sie ihm auf die Schultern, wie man ungefähr seinem
Pferde auf die Seiten klatscht, um es anzufeuern. Das Achsel-
zucken wird wohl bedeuten, daß man ein Ding auf der einen
Seite annimmt, auf der andern Seite fallen läßt, was freilich
nur auf das allerdings auch gewöhnliche einseitige Achselzucken
paßt. Endlich mit den Augen zwinkern heißt bejahen im Sinne
von zugestehen, nicht sehen wollen, ein Auge zudrücken wollen.
Zur Theorie der Geberdensprache.
367
Wenn ein Cardinal in Rom mit einer Dame spricht, so
muß sie aufstehen und wäre es die Fürstin Borghese. Es
sind nicht die häßlichsten, denen diese Gunst widerfährt und fo
sah man einst eine der schönsten Frauen während eines ganzen
Abends unter dem Abonnement aller anwesenden Cardinäle zu
permanentem Stehen verurtheilt. Hier besteht die Höflichkeit
wohl darin, daß man es sich vor der Respectsperson weniger
bequem macht, sich vielmehr vor ihr zusammennimmt; geradeso
wie man Höhergestellten gegenüber die Wörter nicht so nach-
lässig wie im gewöhnlichen Gespräch verkürzt, „wünsche guten
Morgen" sagt statt bloß „guten Morgen", Monseigneur statt
Monsieur :c.
Noch sei hier der Austandsregel erwähnt, daß man Damen,
überhaupt Personen, denen man Achtung schuldig ist, rechts von
sich gehen läßt (comes exterior Hör. sat. 2, 5, 71. latus le-
gere ib. 18. Eutrop. 7, 13 verglichen mit Suet. Claud. 24.
latus claudere luven. 3, 131). Das Gehen zur Linken ist
ein Beweis der Ehrerbietung, weil die Linke wie eine des
Schutzes bedürftigere Außenseite betrachtet wird, cf. Xen.
Cyrop. 8, 4, 3, wo Cyrns den Gast, welchen er am meisten
ehren will, zu seiner Linken sitzen läßt.
V.
Der Posaunenvirtuos Stabstrompeter Böhme aus Dresden
wurde in Paris durch Hervorruf beehrt. Als er im Gefühle
der Dankbarkeit, aber des ihm mangelnden Sprachidioms die
rechte Hand auf die linke Brust legte, da wollte der Beifall
kein Ende nehmen, denn diese Herzenssprache gefiel den Fran-
zosen erst recht.
Händedruck, Umarmung und Kuß gelten als Ausdruck
freundschaftlicher Gesinnungen. In England giebt man einer
Dame, der man vorgestellt wird, sogleich die Hand; wenn wir
recht herzlich unsere Freunde grüßen wollen, so fassen wir sie
mit beiden Händen. Bei den Juden pflegten sich Personen,
die genauer miteinander bekannt waren, wechselsweise die Hand,
das Haupt und die Schulter zu küssen. Während aber bei
24*
368
Klempau!
Franzosen, Deutschen und andern Völkern Männer sich küssen,
so halten das die Engländer nur unter den nächsten Verwandten
für anständig. In den meisten deutschen und andern Ländern
hielt man es sonst und hält man es in Oesterreich wie in
höheren Cirkeln noch jetzt für eine unerläßliche Pflicht des An-
standes, den Frauen die Hand zu küssen, während dies in Italien
für ein Zeichen der Vertrautheit gilt, die sich nur die nächsten
Verwandten erlauben dürfen. In den höchsten Kreisen der
russischen Aristokratie streift die Frau mit ihren Lippen die
Wange des Mannes, welcher ihr die Hand küßt; sonst lassen
sich in Nußland die Frauen nicht die Hand, sondern die Stirn,
in Polen auf die Schultern küssen. Unter den slawischen Völ-
kern, namentlich bei den Russen ist das Küssen der Kleider und
Schuhe dessen, dm man seine Ehrfurcht bezeugen will, Sitte.
„Schön willkommen, küss' nnterthänigst die Hand", sagt der
böhmische Wirth. Der niedere Araber ruft den ihm Begegnenden:
seläm aleikuin! d. i. Friede sei mit Euch! zu und legt dabei
die linke Hand auf die Brust. Der Begrüßte entgegnet in
gleicher Stellung: aleikum es-seläm! d. i. mit Euch sei Friede!
Die vornehmen Araber dagegen umarmen sich beim Gruß mehr-
mals, küssen sich die Wangen und dann die eigene Hand. Die
Neuseeländer, Lappen, Otaheiter drücken sich ihre Nasen, was
vielleicht einigermaßen erklärt, daß diese so flach find; die Neger
an der Guineaküste grüßen sich durch Knacken der Finger. In
Ostafrika schütteln einige Stämme die Hände, drücken aber da-
bei nach Moslimart die Daumen gegeneinander, also ähnlich
dem bekannten freimaurerischen Fingerdruck. Die uordameri-
kanischen Indianer reiben einander Arme und Brust wie ihre
eigenen.
Der Sinn aller dieser Geberden ist offenbar, daß man die
geliebte Person festhalten will, daß man sie an sein Herz
schließen will, weil man sie in das Herz geschlossen hat, daß
man überhaupt die innige Vereinigung und Unzertrennlichkeit
symbolisiren will. Darum giebt man sich auch die rechte Hand
(xepos Tctativ ap^cuav Soph. O. C. 1632): 8s£nß ^aTtaCovxo
diteaai xe IL x, 542.
Ob die Sitte der Adaman-Jnfulaner, sich zum Gruße in
Zur Theorie der Geberdensprache.
369
die Hände, oder die von Charleroix erwähnte, eines Indianer-
stammes am Meerbusen von Mexico, sich in die Ohren zu
blasen, auf ein ähnliches Princip zurückgeht, möchte ich nicht
entscheiden. Wenn man sich dagegen in Polynesien das Gesicht
mit der Hand oder dem Fuß des Andern streichelt, so ist das
ein Ausdruck der Liebe, die man mit der sanften, vielleicht auch
besänftigenden Berührung des Streichelns von jeher bewiesen
hat; man denke nur an den häufigen Vers im Homer:
Ts jxtv xaxepe^ev £7io? x ecpax' Ix x ovofjbaCev.
Eine beschwichtigende Geberde ist auch die, welche man
auf dem Caliari'schen Bilde: die Ehebrecherin vor Christus
in der Pinakothek zu München beobachten kann; Christus hält
die rechte Hand so, als ob er etwas vor sich Stehendes nieder-
drücken will, offenbar auf die Gemütsbewegung angewandt.
Ein recht drastischer und charakteristischer Gruß ist der der
Beduinen, welcher darin besteht, daß sie aus den Fremden los-
jagen und dicht bei ihm das Gewehr abfeuern.
VI.
Die Fidschi-Insulaner riechen und schnüffeln an einander
als Zeichen der Begrüßung. Dieser echt hundemäßige Gruß
war ursprünglich ein Act, den sie aus Jnstinct und zwar aus
einem für solche Kannibalen sehr richtigen Jnstinct, bei jeder
Zusammenkunft verrichteten; nun haben sie ihn zur Regel ge-
macht, gleichsam, um damit ihre Zusammenkunft zu bezeichnen.
Ein derartiges Erheben instinctiver Acte zu bewußten Aus-
drucksmitteln oder physiologischer Reflexbewegungen zu Prädi-
caten der Geberdensprache ist sehr häufig. So lächelt man
unwillkürlich, wenn man fröhlich ist, das vergnügte Gesicht be-
steht eben darin; macht man aber einem vornehmen Herrn seine
Aufwartung und bietet er Einem einen Stuhl zum Sitzen an,
so lächelt man auch und macht auch ein freundliches Gesicht,
diesmal aber, um ihm ausdrücklich damit zu sagen, daß man
sich sehr freue. Ebenso pflegen wir vor Lust in die Hände zu
klatschen, ursprünglich ganz unbewußt, und dies ist im Theater
370 Kleinpaul
das conventionelle Zeichen der Befriedigung geworden; plaudite
schloß schon im alten Rom die Komödie. Hieraus ist auch das
Ausspeien zum Zeichen der Verachtung zu erklären. Bei den
Gefühlen des Ekels und des Abschen's sammelt sich nämlich
zunächst ganz unwillkürlich Speichel im Munde, welcher von
den Drüsen abgesondert wird: und es ist dann durchaus natür-
lich, denselben zu entfernen. Indem man sich nun diese phy-
siologische Folge merkte, that man später dasselbe, auch wo sie
vielleicht noch nicht eingetreten war, um den Anderen aus der
Folge die Ursache errathen zu lasseu. Auf einem ähnlichen
Princip beruht wohl der Fall, den mir der Director des Leip-
ziger Taubstummen-Instituts erzählte: Als 1849 ein Anschlag an
den Straßenecken klebte, wo von „verrotteter Gottesgnaden-
wirthschaft" die Rede war, griff ein Taubstummer, der es ge-
lesen hatte, unwillkürlich wie schuäuzend an die Nase und schien
etwas wegzuwerfen; darauf ging er fort.
VII.
Ein anderes Zeichen der Verachtung giebt sich der Gassen-
bube oder Proletarier durch das Herausstrecken der Zunge,
häufig eombinirt mit dem s. g. Nasendrehen, wie es im Kladde-
radatsch vom 17. März 1867 der Sachse hinterm Rücken des
Preußen macht. Diese höchst merkwürdige Geberde, welche na-
türlich von der eben erwähnten völlig verschieden ist, lehrt uns
zugleich, wenn die nachfolgende Erklärung richtig ist, eine neue
Form der ausdrückenden Geberdensprache kennen, wo man sich
nämlich nicht selbst, sondern andere Menschen.oder Dinge dar-
stellen will, also das Subjeet des Urtheils nicht wie bisher die
eigene Person, sondern eine fremde ist. Denn ein geistreicher
Mann interpretirte sie so: Nichts ist gewöhnlicher, als dem
Anderen seine Dummheit dadurch plastisch zu veranschaulichen,
daß man selbst ein sehr dummes Gesicht macht. Nun scheint
es das Zeichen thierischer Dummheit zu sein, die Zunge heraus-
zustreckeu, denn man sagt: er ist so dumm, daß er bläkt. Man
würde also dem Betreffenden durch das Herausstrecken der Zunge
Zur Theorie der Geberdensprache. 371
das Prädicat thierischer Dummheit octroyiren; denn daß man
sich nicht selbst als Subjeet hinzudenkt, ist wohl sehr begreiflich.
Mir will das nicht recht einleuchten, daß das Heraus-
strecken der Zunge ein Zeichen von Dummheit sein solle; man
denke sich z. B. einen Jagdhund mit herabhängender Zunge.
Ich will daher versuchen, eine andere Erklärung aufzustellen.
Man erinnere sich daran, wofür es in W. Menzel's Ge-
schichte der Deutschen mindestens drei Belege giebt, daß selbst
Prinzessinnen es nicht verschmähten, durch Entblößung und Zu-
Wendung eines anderen Theiles Hofleuten ihre Verachtung zu
bezeigen. Sie wollten damit sagen, daß ihr schnödester und
niederster Theil für solches Pack gehöre, daß sie sich vor ihm
auch ihrer gemeinsten Stellen nicht schämten. Nun mag ich
zwar nicht behaupten, daß dem Menschen in Bezug auf sein
geistiges Zeugungsglied nach Analogie eine gewisse Schamhaftig-
keit innewohne, jedenfalls aber hat er das Gefühl von der Un-
ziemlichkeit, ein Glied, das wir nicht erst durch Kleider be-
decken, sondern das unser Körper selbst bedeckt, zur Schau zu
stellen, abgesehen von der Häßlichkeit der Erscheinung. Man
würde also dann dem Anderen sagen, daß man sich vor ihm
selbst der unziemlichsten Handlung nicht schäme, daß man ihm
das zeige, was man vor jedem anständigen Menschen ver-
berge --
Indessen täusche ich mich über die Unzureichendheit dieser
zweiten Deutung nicht. Man wird doch wohl zu der ersten
zurückkehren müssen, indem man vielleicht noch hinzufügt, daß
in der That das Aufsperren des Mundes überall ein Zeichen
von gaffender Stupidität ist, daß das Herabhängen der Unter-
.lippe Gutmütigkeit, aber auch die oft damit verbundene Ein-
falt bekundet, daß aber das Herabhängen der Zuugx, welches
man sogar gradweise beobachten kann, nur eine Fortsetzung
dieser Akte und somit der Ausdruck geistiger Schlaffheit und
Energielosigkeit, also Dummheit ist, den man dann in absieht-
licher Nachahmung wiedergiebt. — Das zur Zeit des Rabe-
lais gewöhnliche spöttische Fixiren (taking a sight?), das
Schnippchen schlagen u. s. w. übergehe ich hier.
372
Kleiiipaul
VIII.
Eine anständigere und besonders in dem s. g. Vogelsteller
höchst anmuthige Geberde ist die des drohend erhobenen Zeige-
fingers. Man versteht dieselbe sofort, wenn man sich einen
Menschen denkt, der mit einem Stocke zuschlagen will: der
Zeigesinger ist nichts Anderes als ein etwas abgekürzter Stock.
Der Zeigefinger dient aber nicht bloß dazu, Stöcke, son-
dern auch dazu, ganze Menschen zu vertreten. Dies geschieht
nämlich beim Heranwinken, wo wir den Zeigefinger in der
Richtung nach uns bewegen, während der Italiener gerade um-
gekehrt die Hand mit dem Rücken an die Brust legt und nun
die Finger nach dem zu spielen läßt, der herankommen soll.
Freilich wird man schwerlich im ersten Falle sagen können, der
Finger sei gleichsam ein Vorbild sür den Herangerufenen, der
dieselbe Bewegung im Großen machen solle, wie er im Kleinen,
denn die Hauptsache ist doch wohl nur, daß die Richtung und
das Ziel bezeichnet wird, im zweiten Falle dagegen nur die
Richtung. Gerade so deutet man mit dem Kopf, der Hand,
dem Stocke dahin, wohin man Jemand haben will; Achilles
weist den Patroklos durch ein bloßes Zucken der Augenbrauen
an, dem Phönix ein Lager zu bereiten:
■}] xat IlaTpoxKq) o*/ iiz öcppuafi vsucs critoiq]
Ootvixi OTOpsaat tcuxivov "kzyoq
II. t, 620.
Der Kutscher, der knallt, giebt ein Warnungszeichen der
oben beschriebenen Art; zeigt er mit der Peitsche auf die Seite,
so sagt er, man solle aus dem Wege gehen; und steht Jemand
unten, der mit seiner Hand wiederholt schnell vorwärts deutet,
so versteht er, daß er schnell weiterfahren soll.
Eine vorzugsweise sprechende Geberde ist die, die geöffnete
rechte Hand vor sich zu halten, gleich als ob es offen vor
Augen liege, was man suche; man sieht sie z. B. an dem h.
Zacharias von H.Wagner in der Münchener Pinakothek. Den
Begriff des Schließens drücken die Taubstummen aus, indem
sie mit dem rechten Zeigefinger erst den Daumen, dann den
Zur Theorie der Geberdensprache.
373
Zeigefinger der linken Hand berühren. Es folgt! Aehnlich
zählt man ja auch an den Fingern die Gründe her, wie z. B.
in außerordentlich charakteristischer Weise Sokrates auf Rafael's
Schule von Athen.
Noch Eins vom Zeigefinger, was sogar für Reisende eine
gewisse praktische Bedeutung hat. Will man in Neapel die
zudringlichen Bettler los werden, so erhebe man den Zeigefinger
und den kleinen Finger der linken Hand bis zum Ohr, indem
man die übrigen Finger einbiegt und dabei hastig mit den
Achseln zuckt: Sofort reißen sie aus, denn der Jettature-
Aberglaube knüpft sich an diese Geberde.
IX.
Wenn Menschen sich untereinander auslachen, besonders
Kinder und schalkhafte Damen, so legen sie den Zeigefinger der
rechten Hand auf den Zeigefinger der erhobenen linken Hand
und fitscheln darauf hin und her, gewöhnlich mit den Worten:
ätsch! ätsch! oder auch: Schimpf! Schimpf! (Braunschweig.)
Es ist dies eine sehr sonderbare Geberde, die in Nord- und
Süddeutschland gewöhnlich ist. Man glaubt ihrem Ursprünge
auf die Spur zu kommen, wenn man hört, daß sie Rübchen-
schaben genannt wird (schieb, schieb Möhrchen!); der linke
Zeigefinger wird also jedenfalls als eine Rübe betrachtet, die
man schabt. Aber wie ist das zusammen zu reimen? Soll es
heißen, der Verspottete müsse mit dem Abschabsel zufrieden sein,
eine Erklärung, die ich in Körte, Sprichwörter der Deutschen
(Leipzig, 1862) gefunden habe? Oder ist es etwa ein inten-
sives Zeigen? Aber wie kommt man auf die Rübe?
Umsonst sucht mau in Grimm's Mythologie — oft sind
solche Sachen Geheimnisse der Mythologen —, umsonst in
alten Wörterbüchern, welche zuweilen seltsame Repertorien für
allerlei Weisheit bilden, nach Aufklärung über diese sonderbare
Sitte; sie ist ihnen jedoch nicht unbekannt. Adelung, Wörter-
buch der hochdeutschen Mundart, Leipzig 1777, sagt: Jemanden
ein Rübchen schaben, eine im gemeinen Leben, besonders unter
Kindern gewöhnliche Art, seine Schadenfreude an den Tag zu
374
Kleinpaul
legen, da man den Zeigefinger der linken Hand mit dem Zeige-
finger der rechten Hand so streicht, als wenn man eine Rübe
schabet. Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache (Braun-
schweig 1809): Einem ein Rübchen schaben, im gemeinen Leben,
besonders bei Kindern, seine Schadenfreude an den Tag zu
legen, oder Einen necken und beschämen dadurch, daß man mit
dem Zeigefinger der rechten Hand wiederholt über den der linken
Hand so hinstreicht, als wenn man eine Rübe schabte. Endlich
Sanders, Wörterbuch der deutschen Sprache (Leipzig 1863):
„Einem ein Rübchen schaben", ihn neckend höhnen, indem man
wiederholt mit dem Zeigefinger der rechten Hand über den der
linken streicht (wie Rübchen schabend); auch „ein Schabe-
rübchen machen" (ätsch! ein mildhöhnender Ausruf, manchmal
allein, manchmal mit der Geberde des Rübleinschabens).
Schauen wir einmal um, ob wir nicht irgendwo einen
Volksglauben entdecken, wo die Rüben eine Rolle spielen. Nun
ich denke, es fällt Jedem sogleich jener berufene Berggeist ein,
der im Riesengebirge sein Wesen treibt und „voll zwergischer
und koboldischer Laune" die Bewohner neckt (in Mähren läuft
die Sage von dem Seehirten, einem schadenfrohen Geist, der
in Gestalt eines Hirten, die Peitsche in der Hand, Reisende in
einen Moorbruch verlockt; Sagen aus der Vorzeit Mährens,
Brünn 1817, p. 136 —171 — giebt wohl keinen Anhalt).
Lassen wir uns also von Musäus einmal die alte Geschichte
wieder erzählen. Als Rübezahl die schöne Prinzessin Emma
in sein Schattenreich entführt hatte und sie sich aus Mangel
an Gesellschaft einsam sühlte, da zog er auf einem Acker ein
Dutzend Rüben aus, welche Emma nur mit einem kleinen Stabe
zu berühren brauchte, um ihnen jede beliebige Gestalt zu geben.
Als aber die Rübengesellschaft welk und alt geworden war,
säete Rübezahl neue Rüben, mit denen die Prinzessin ihr Spiel
wieder beginnen konnte. Sie aber verwandelte 'die Rüben jetzt
in Bienen, Grillen, Elstern u. s. w., welche sie als Liebesboten
zu ihrem früheren Geliebten, Fürst Ratibor, entsendete, und
bereitete sich vor zu entfliehen. Einst sagte sie zu Rübezahl,
er habe ihr Herz besiegt und sie fordere nur noch als Probe
seiner Treue, daß -er die Rüben auf dem Acker alle zählen solle.
Zur Theorie der Geberdensprache. 375
Während nun der Gnome zählte, sich verzählte und wieder
zählte, metamorphosirte Emma eine in Bereitschaft gehaltene
saftvolle Rübe in ein Roß, auf welchem sie in's Marienthal zu
Ratibor entfloh.
Was ich nun hinzuzusetzen habe, ist dies: Man lacht
Jemanden aus, wenn man ihn überlistet hat; dafür ist jenes
Rübchenschaben der eigentliche Ausdruck. Die Prinzessin über-
listete ihren Paladin in der That dadurch, daß sie mit ihrem
Stäbchen die Rüben bestrich und sie so verwandelte; jedenfalls
versteht man unter dem Schaben diesen Akt; Rübchenschaben
und überlisten ist also Eins. Die Dame, welche demnach
einem Herrn Rübchen schabt, lacht ihn aus, weil sie ihn wie
Emma überlistet hat; und daß diese Sitte so allgemein ge-
worden, daß jetzt jeder Vogel, welcher dem Buben aus dem
Käsig geflogen ist, demselben Rübchen schabt, beweist, wie viel
Anklang die Schlesierin in der gesammten deutschen Frauenwelt
gefunden hat.
Ideen zu einer vergleichenden Syntax.
— Wort- und Satzstellung. —
Von
Georg von der Gabelentz.
1.
Vor allem ein paar Worte pro domo. Ideen habe ich
den Inhalt der folgenden Seiten genannt, nicht eine Skizze;
denn eine Skizze soll ein Ganzes in seinen Umrissen geben,
während, was ich dem Leser biete, seinem Umsange nach frag-
mentarisch und in seiner Ausführung leider nur skizzenhaft sein
wird. Was ich gebe und was ich vorläufig nur geben kann,
sind Beobachtungen, welche ich beim Studium einiger Sprachen
der indogermanischen, finnotatarischen, indochinesischen, malaiisch-
polynesischen Stämme und des Japanischen gemacht, Analogieen
und Verschiedenheiten der Erscheinungen, die ich zu ordnen, zu
erklären versucht habe; und wenn ich die Ergebnisse für meine
Ideen ausgebe, so geschieht dies wahrlich nicht mit der Prä-
tension, erster Entdecker zu sein, hieße dies doch die vielen
scharfen und feinen Bemerkungen übersehen, welche sich nament-
lich in den Werken des Herrn Prof. Steinthal zerstreut
finden. Auch bin ich mir des Preeären meiner Ansichten und
der Mangelhaftigkeit der von mir gebrauchten Terminologie wohl
bewußt, und ich fühle nur zu tief, wie sehr meine Arbeit der
Nachsicht bedarf, welche man Erstlingen nicht leicht versagt.
2.
Die Frage, die ich mir gestellt habe, lautet: Auf welchen
allgemeinen Principien beruhen die Wort- und Sa^
G. v. d. Gabelentz-. Jdcen z>> einer vergleichenden Syntax. 377
stellungs gesetz e der einzelnen Sprachen? Welche Be-
deutung hat nun diese Frage für die Wissenschaft? Der leider zu früh
verstorbene Schleich er hat seiner Zeit die Grundsätze, nach welchen
sich die Wortbestandtheile zum Worte zusammensetzen, in einer
„Morphologie der Sprache" geordnet, er hat dargethan, wie
constant diese Grundsätze innerhalb der einzelnen Sprachstämme
sind, welch' hervorragenden Einfluß sie anf die Bestimmung
der Sprachverwandtschaft ausüben. Und unser Thema? Ver-
gleiche man einen lateinischen Satz mit einem französischen, und
welch himmelweiter Unterschied! Hier werden wir das: „le
style c'est Fhomme" analog wiederfinden: wie ein Volk seine
Begriffe, seine Gedanken ordnet, so ordnet es seine Sätze: die
Stellungsgesetze können innerhalb eines Stammes beständig
sein, und sie sind es in vielen mehr oder weniger, z. B. im
Ural-altaischen, im Malaiischen, aber sie sind es nicht in allen,
weil Richtung, Methode, ja Fähigkeit des Denkens bei sprach-
lich sehr nahe verwandten Völkern sehr verschieden sein können.
Mit anderen Worten: Der Werth unserer Aufgabe ist in erster
Reihe völkerpsychologischer, nur in zweiter Reihe sprachgenealo-
gischer Natur.
3.
In der Wahl meiner Erkenntnißquellen, der Beispiele,
welche ich beizubringen gedenke, werden mich, abgesehen von
den Schranken, die mir mein positives Wissen setzt, die Grenzen
bestimmen, welche ich meiner Arbeit vorgezeichnet habe. Von
ihr soll alles, was der rhetorischen Wort- und Satzgruppiruug
angehört, ja vorläufig selbst die Inversionen des Relativ-, des
Befehls- und des Fragsatzes ausgeschlossen bleiben. Umstellun-
gen z. B., wie wir sie zu machen gewöhnt sind, wenn uns
der Angeredete nicht verstanden hat und wir den gesprochenen
Satz noch einmal wiederholen müssen, lassen wir für diesmal
Unberücksichtigt, und je weniger sest innerhalb einer Sprache
die Regeln über die Anordnung der Satzbestandtheile sind, desto
Weniger taugt diese Sprache für unsern Zweck. Sprachgeschicht-
^ch werthvoll werden wir die Composita finden, denn in ihnen
Zeigen sich alte Wortstellungsgesetze so zu sagen in krystallinischer
378
G. v. d. Gabelentz
Form. Hier mag nur darauf hingewiesen werden, daß eine
Sprache um so mehr an feste Stellungsgesetze gebunden ist,
je weniger Mittel sie besitzt, die Beziehungen der Worte zu
einander, ihre Functionen im Satze zum lautlichen Ausdrucke
zu bringen.
4.
Die einfachste Mittheilung durch die Sprachorgane geschieht
durch Laute, welche nur eine Erscheinung, eine Wahrnehmung,
Empfindung zum Ausdrucke bringen, ohne kund zu geben, an
wem oder was der Redende (wenn man das ein Reden nennen
will) wahrnehme u. s. w. Z. B. der Ruf: Plautz! erweckt in
dem Hörenden nur die Vorstellung eines gewissen Geräusches,
dessen Ursache, Ursprungsort u. dgl. er unbestimmt läßt. Der-
artige Lautgesten, um mit Heyse zu reden, mögen in einem
früheren, naiveren Stadium der Sprachentwickelung eine hervor-
ragendere Rolle gespielt haben, sind es doch bei uns Kinder und
Ungebildete, die sich ihrer am häufigsten bedienen: für unseren
Zweck sind sie werthlos; sie sind Satzsurrogate, nicht Sätze, ja
ihrem Wesen nach oft nicht einmal Satztheile.
5.
Was bezweckt man nun, indem man zu einem Andern
etwas spricht? Man will dadurch einen Gedanken in ihm er-
wecken. Ich glaube, hierzu gehört ein Doppeltes: erstens, daß
man des Andern Aufmerksamkeit (sein Denken) auf etwas hin-
leite, zweitens, daß man ihn über dieses Etwas das und das
denken lasse; und ich nenne das, woran, worüber ich den An-
geredeten denken lassen will, das psychologische Subjeet,
das, was er darüber denken soll, das psychologische Prä-
dieat. In der Folge wird es sich zeigen, wie verschieden oft
diese Kategorieen von ihren grammatischen Seitenstücken sind.
Von der Copula sehe ich ab, denn ein selbständiger, von dem
Prädicate getrennter Ausdruck derselben gehört nicht zu den
sprachlichen Notwendigkeiten.
Um einen Vorgeschmack für das Folgende zu geben, anzu-
deuten, wie verschiedene Dinge fähig sind, Subjecte eines Satzes
Ideen zu einer vergleichenden Syntax.
379
zu werden, erinnere ich gleich an dieser Stelle an die phi-
lippinischen Sprachen. Diese haben außer der activen Rede-
weise noch eine dreifache passive, durch welche bald das nr-
sprüngliche Object, bald das Werkzeug, bald der Ort der
Handlung zum Subjecte erhoben werden können.
6.
Die Stellung jener beiden psychologischen Hanpttheile
des Satzes ist nun meines Erachtens naturgemäß die, daß das
Subject zuerst, das Prädicat zu zweit steht. Diese Anordnung
bildet hinsichtlich der entsprechenden grammatischen Kategorieen
in allen mir bekannten Sprachen die Regel, für die psycholo-
gischen ist sie ein Gesetz, das, wie mir scheint, keine Ausnahme
zuläßt. Man muß uns eben den Gegenstand zeigen, wenn wir
ihn betrachten, das Werkzeug in die Hand geben, wenn wir
es benutzen, uns an den Ort führen, wenn wir uns daselbst
umschauen sollen. Nur wenn wir den Gegenstand bereits im
Auge, das Werkzeug in der Hand haben oder wenn wir uns
schon an Ort und Stelle befinden, bedarf es dieser Vorberei-
tnng nicht. Hieraus erklären sich die in manchen Sprachen,
z. B. im Chinesischen, dem Mandschu, dem Japanischen, so
häufigen Ellipsen des Subjectes, eine Redewendung, die be-
kauntlich auch uns nicht fremd ist; z. B.: „Was! schon wieder
da?" „Ja, und alles besorgt", wo: „du bist" und „ich habe"
sich von selbst verstehen.
7.
Bemerkt mag werden, daß es für unsern Zweck keinen Un-
terschied macht, ob der betreffende Satztheil aus einem oder
aus mehreren Wörtern oder aus einem ganzen Satze (Vorder-,
Neben-, Zwischen-, Nachsatz) bestehen. Ausdrücke wie: gestern
vor einigen Jahren, nachdem dies geschehen war, sind Adverbien;
w dem Satze: er fragte, ob ich kommen würde, sind die vier
ätzten Worte Object u. s. w.
8.
Ich sagte nun, in dem Satze nehme stets das psychologische
Subject die erste, das psychologische Prädicat die zweite (letzte)
380 G. v. d. Gabelentz
Stelle ein. Ist dies richtig, so springt ins Auge, wie ver-
schiedene Rollen oft die grammatischen Satzbestandtheile und
ihre psychologischen Seitenstücke spielen.
In allen mir bekannten Sprachen kommen die Adverbien
in doppelter Stellung vor: bald treten sie unmittelbar zu dem
Verb, vor oder nach dasselbe je nach den Regeln der einzelnen
Sprachen, bald beginnen sie den Satz. Nun ist es gewiß im
Erfolge ein und dasselbe, ob ich sage: Napoleon wurde bei
Leipzig geschlagen, oder: bei Leipzig wurde Napoleon geschlagen;
durch den einen Satz erfährt der Hörer nicht mehr und nicht
weniger als durch den andern. Psychologisch aber besteht ein
tiefer Unterschied: in dem einen Falle ist es Napoleon, in dem
andern die Gegend bei Leipzig, von der ich reden, auf die ich
den Gedanken des Angeredeten hinlenken will, also mein psy-
chologisches Snbject. Letzteres könnte man mit den Worten:
Leipzig ist die Stadt, bei welcher (oder: die Umgegend von L.
ist es, wo) N. geschlagen wurde, umschreiben, Ersteres nimmer-
mehr. Beispiele wie: gestern war Sonntag, und: Sonntag
war gestern, sind vielleicht noch prägnanter; Ersteres läßt sich
ohne Weiteres in: der gestrige Tag war ein Sonntag, Letzteres
in: der Sonntag siel ans den gestrigen Tag übertragen, dort
ist das Adverb psychologisches Subject, hier Theil des Prä-
dicates. Wenn er kommt, soll es mir angenehm sein, ist gleich:
sein Kommen soll mir u. s. w.
Der Gedanke läge nahe, jene Adverbien und Adverbial-
sätze, insoweit sie den Satz beginnen, lediglich als dessen Attri-
bute (s. u.) anzusehen. Mir scheint dies aus zwei Gründen
bedenklich: einmal finden sich derartige satzbeginnende Adverbien
auch in Sprachen, in welchen das Attribut stets hinter das ?
näher zu bestimmende Wort oder doch das Adverb stets hinter
das durch dasselbe zu bestimmende Verbum zu treten hat
(Ersteres in den malaiischen Sprachen, Letzteres im Französischen),
und dann scheinen die Inversionen, deren sich manche Sprachen
nach satzeröffnenden Adverbien bedienen, z. B. das Deutsche,
das Französische in: demain sera mon jour de fete, daraus
hinzudeuten, daß man den folgenden Satz als ein in sich abge-
schlossenes Ganze auffassen müsse.
i Ii myjxmiiiiiiiif i li
\IMÜ
Ideen zu einer vergleichenden Syntax. 381
9.
Beschränkteren Gebrauches ist die Stellung des gramma-
tischen Prädicates oder eines Theiles desselben vor dem Snbjecte.
Hierher gehören:
a) unsere Personalendungen in der Conjugation, ein Ge-
meingut der indogermanischen, semitischen, finnischen und noch
mancher anderen Sprachstämme; z. B. sanskrit: svapi-mi, ich
schlafe, ungarisch: tud-om, ich weiß;
b) die Stellung gewisser, namentlich intransitiver (also
auch passiver) Verben zu Anfange des Satzes, z. B. sanskrit:
asin. Madreschu dharmätmä räjä es - war zu - Madras ein
- tugendsamer König; lateinisch: incipit über de...; deutsch
dialeetisch: kommt ein Vogel geflogen, statt: es kommt u. s. w.
In der Sprache der Alisurus von Amnrang (Nord-Celebes),
welche ich aus einer Übersetzung des Matthäus-Evangeliums
erlernt habe, find derartige Inversionen bei intransitiven Activ-
Verben und bei der sehr häufigen passiven Ausdrucksweise ge-
stattet, z. B. weaweanem anwiitu tou essa war daselbst Mensch
ein — es war dort ein Mensch, kepakaanakkem si Jezus
nachdem - geboren - worden der Jesus, aitiaam watu essa
geworfen - wurde Stein einer. Manche Sprachen entbehren
dieser Inversion gänzlich, so die mongolische und mandschuische;
andere, deren Satzbau in mittheilender (nicht fragender, be-
fehlender) Rede die Stellung des Verbums zu Anfange des
Satzes nicht gestattet, helfen sich mit Surrogaten, lassen vor
das Verbnm das unpersönliche Fürwort oder ein Adverb treten,
z. B. deutsch: es, franz.: il, dagegen ital.: ci und engl.: tbere.
Ich glaube, psychologisch ist hier das Prädicat Subject und
das grammatische Subject Prädicat. Z. B. A. hinkt, B. fragt
ihn: Was fehlt dir? Die Antwort lautet: Es drückt mich
(oder mich drückt) der Stiefel. Aber A. giebt dem Schuhmacher
den Stiefel zurück mit den Worten: Der Stiefel drückt mich.
B. wollte wissen, was dem A. fehlte, der Schuhmacher sollte
erfahren, was der Fehler des Stiefels sei. Mich blendet das
Licht, werde ich sagen, um zu erklären, warum ich blinzele; das
Zeitschr. für Völkerpspch. u. Sprachw. 'öd- vi. 25
382
G. v. d. Gabelentz
Licht blendet mich, sage ich, um über das Licht zu nrtheilen.
Dort ist es die Erscheinung, von welcher ich die Ursache (das
Subject), hier der Gegenstand, von welchem ich die Erscheinung,
die Wirkung dem Angeredeten zu wissen thue. Ebenso mit
Subjectssätzen: Meine Sorge war, er möchte behindert sein;
daß er noch gekommen ist, war mein Glück. Hier spreche ich
im ersten Satze von meinem Zustande, der Sorge, diese ist mir
Subject, von ihr sage ich aus, woraus sie sich bezogen habe;
im zweiten Satze rede ich von seiner Ankunft, deren Wirkung
aus mich ist Gegenstand des Prädicates.
Die allgemeine Anwendung der Personalendungen (vgl.
unter a) erklärt sich, wenn man annimmt, daß Lautgesten (vgl. 4)
die primitivsten Sprachbehelse gebildet haben, mit andern
Worten, daß man sich in der Kindheit der Sprache begnügt,
den Anderen auf die Erscheinungen, Empfindungen an sich auf-
merksam zu machen und ihm erst in zweiter Reihe das gram-
matische Subject (den Urheber, Leidenden, Empfindenden) ge-
nannt habe.
10.
Die zwei ursprünglichen Satztheile treten vielfach in zu-
sammengesetzter Form auf. Insbesondere sind es zwei Erwei-
ternngen, die wir hier in's Auge sassen:
a) Nebenprädicate. Es können einzelne Sahtheile
(namentlich auch das psychologische Subject außer dem Haupt-
prädicate) noch mit besonderen Prädicaten versehen werden; der
Redende will den Hörenden wissen lassen, wie er sich das Sub-
ject, wie er sich das Hauptprädicat des Näheren vorzustellen
habe. Was er ihm dabei mittheilt, sind beiläufige Prädicate,
nähere Bestimmungen (Genitive, Possessive, Adverbien, Ad-
jective, Participien u. dgl.). Die Stellung derselben kann eine
doppelte sein:
aa) hinter dem näher zu bestimmenden Worte; so in den
malaiischen, polyuefischen, melanesischen Sprachen, im Annami-
tischen, Siamesischen. Z. B. Alisuru: ton sakit essa Mensch
krank ein — ein kranker Mensch, ranu anggor Wasser Wein
= Weinwasser, Most, watu apo Stein Vorsahr ----- Urgestein,
Ideen zu einer vergleichenden Syntax.
383
Fels, si amang-amu si andarem in sorga der Vater - euer
der im - Innern n. gen. Himmel.
bb) vor dem näher zu bestimmenden Worte. So in den
finnotatarischen Sprachen, dem Chinesischen, Japanischen; z. B.
chinesisch: jin sin des Menschen Herz, min tse lai Volk Kind
kommt — das Volk kommt wie ein Kind; japanisch: tami ko-
no gotokn kitaru Volk Kindes ähnlich kommt; mandschu:
nmsei emu sain sargan jni bi unser ein gut Weib Kind ist
— es existirt ein uns angehöriges hübsches Mädchen; ungarisch:
jo bor guter Wein. Daß diese Wortstellung in den indoger-
manischen die ursprüngliche gewesen sei, dafür sprechen die Com-
Posita: mahäräjä — Großkönig, YXaüxam? — blauäugig. Hier
scheint mir erst der parenthetische Werth derartiger Prädicate
recht zum Bewußtsein gekommen zu sein; mit ihrer Stellung
vor dem zu bestimmenden Worte haben sie ihre Prädicatseigen-
schast verloren und den Charakter eines neuartigen Satztheiles
angenommen. Dort dagegen sind sie im Wesentlichen Prädicate
geblieben, und höchstens Conjugationsbildungen, Artikel (Demon-
strativwörter), oder Copulasurrogate deuten, wo sie sich finden,
den Unterschied zwischen Haupt- und Nebenprädicat an.
11.
b) Das Object; ich sasse hierunter das directe und das
indirecte zusammen. Die Verwandtschaft desselben mit dem Ad-
verb ist leicht begreiflich und hat in den Sprachen mehrfach
Ausdruck gefunden; indem das Object die Richtung der Verbal-
Handlung bezeichnet, bestimmt es diese näher. Dornum eo
übersetzen wir durch: ich gehe nach Hause, also adverbial; im
Sanskrit werden Adverbien durch den Accusativ neutr. des Ad-
jectivs gebildet, und im Chinesischen kann das directe Object,
das sonst hinter das Verbum zu treten hat, mit vorgesetzter
Partikel l — mit, benutzend, also adverbial vor das Verbum
treten, z. B. ! thian-hia iü jin benutzend Reich geben Menschen
= das Reich einem Menschen geben, ihn damit beleihen.
Es wurde eben angedeutet, daß die Wortstelluugsgesetze
des Chinesischen einen Unterschied zwischen Adverb und Object
Machen: jenes tritt vor, dieses hinter das Verbum, und dasselbe
25*
384 G. v. d. Gabelentz: Ideen zu einer vergleichenden Syntax.
Gesetz gilt u. A. auch im Ungarischen, während die tatarischen
Sprachen und das Japanische, ebenso wie die malaiisch-poly-
nesischen Sprachen der Stellung nach keinen wesentlichen Unter-
schied zwischen beiden machen: beide treten dort vor, hier hinter
das Verbum. Aehnlich im Deutschen: er sagte dem Freunde
schnell Lebewohl, und: nachdem er dem Freunde schnell Lebewohl
gesagt. Unterscheidungen aber, wie sie das Chinesische macht,
nöthigen zu der Annahme, daß doch das Sprachgefühl we-
nigstens einzelner Völker einen erheblichen Abstand zwischen
beiden kennt. Worin beruht dieser? Ich glaube darin, daß
diese Völker in dem Verbum transitivurn den Vermittler zwischen
Subject und Object erblicken, etwa den Weg, auf welchem jenes zu
diesem gelangt, und daß sie dieses Verhältuiß versinnlichen müssen.
12.
Es ist klar, daß, wie wir es unter 8. bezüglich der Ad-
verdien gesehen haben, so auch directe und indirecte Objecte zu
psychologischen Snbjeeten des Satzes werden können, sobald nur
die Sprachgesetze die Stellung des Objectes zu Anfang des
Satzes zulassen. Wo sie dies nicht gestatten, da treten, wie im
Deutschen beim Verbum (vgl. unter 9.), Surrogate ein. Wir
sahen, wie sich das Chinesische mit der Partikel i behilft (11.),
Andere erheben das Object zum grammatischen Subjeete durch
Anwendung des Passivums, und unter 5. ist darauf hingewiesen
worden, wie weit es eine kleine Sprachengruppe darin gebracht
hat; das Französische liebt Umschreibungen durch Demonstrativ-
und Relativsätze: e'est a vous, que je parle, c'est toi queje
regarde. Das Mandschn, dessen Gesetze in der Regel Stel-
lnng des Objectes zwischen Subject und Verbum verlangen,
kann vermöge seiner Casuszeichen ebensogut wie das Lateinische,
Griechische, Sanskrit n. s. w., ohne Weiteres invertiren: age-i
ferguwecuke gönin be bi wacihiyarne saha des - Herren
ausgezeichnete Gedanken nota acc. ich vollkommen habe - ver-
standen — Ihre Ansicht ist mir wohlbekannt. —
Hiermit schließe ich diesen Versuch, dessen Zweck es mehr
war anzudeuten als auszuführen.
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch.
Indem die Sprache dem Geist, oder vielmehr der Geist
selbst sich mittelst der Sprache, Ausdrücke für seine gesammte
Vorstellungswelt geschaffen hat, sind darunter auch Bezeichnungen
ästhetischer und ethischer Dinge inbegriffen, deren Besitz ja zum
Wesen des Geistes im Unterschied von bloßer Naturseele vor-
züglich gehört. Alle Bezeichnungen für geistige Dinge sind aber
durch stufenweise Vergeistigung von Bezeichnungen natürlicher
Dinge auf dem Wege der Metapher u. s. w. entstanden und
so auch die Bezeichnungen ästhetisch-ethischer Dinge, wenn sie
nicht von bereits geistigen hergenommen sind. Der Sprachgeist
als solcher ist weder ästhetisch noch ethisch, sondern kennt nur
einen logischen Werth der Wörter, so wie das Sprechen ur-
sprünglich ein organisch-psychisches, nicht ein ästhetisches oder
ethisches Thun ist. Aber im Verlauf der Cultur und Geschichte
scheint die Sprache doch ästhetischen und ethischen Einflüssen
noch in einem engern Sinne unterworfen zu werden als bloß
so, daß sie eben für alle aufkommenden ästhetischen und ethischen
Vorstellungen irgendwie aus ihrem Vorrath Bezeichnungen her-
schaffe und mit sich führe, ohne dadurch aus ihrer sonstigen
Indifferenz gegen Werthbestimmungen jener Art herauszutreten,
sondern so, daß gleichsam innerhalb der Sprache selbst
ästhetische und ethische Unterschiede auftauchen und sich festsetzen,
indem nicht nur Bezeichnungen aller möglichen sittlichen Zu-
stände, Thätigkeiten und Werth stufen in den Wortschatz ein-
dringen, sondern auch Benennungen von an sich indifferenten
Dingen einen Anflug ästhetisch - ethischen Werthes gewinnen.
Dies ist zunächst Folge davon, daß immer mehr Gegenstände
386
Tobler
in den Kreis ethischer und ästhetischer Cnltur oder wenigstens
Betrachtung gezogen werden; aber dies gilt eben anch von der
Sprache selbst.
Wie alles Natürliche, kann auch das Sprechen mit der
Zeit veredelt werden; es entwickelt sich eine Sprache der höheren
Stände in ihrem amtlichen und geselligen Verkehr, sodann eine
wirkliche Kunst der Rede, ein rhetorischer und poetischer Stil;
je mehr öffentliches, zum Theil feierliches Reden im Dienste
sittlicher Zwecke des geselligen Lebens aufkommt, um so mehr
werden Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Sprache in
dieser Richtung erhoben und erhöht. Was die Sprache darin
wirklich zu leisten vermag, ist ein wesentliches Element dessen,
was wir im Unterschied von natürlicher Sprache und Sprach-
entwicklnng deu gebildeten Sprachgebrauch nennen, worunter
wir also nicht den Gebranch verstehen, den irgend ein Snbjeet
von der Sprache mit mehr oder weniger Willkür und Geschick
macht und für den es selbst ästhetische und ethische Benrthei-
lung erfährt, sondern eine objeetive, einigermaßen constante und
obligatorische Auswahl von Gebrauchsweisen, die zunächst Ge-
genstand der Sprachwissenschaft siud, obwohl wir nicht Alles,
was der Geist aus uns mit der Sprache macht, ihr selbst zu-
rechneu können.
Daß nun an Wörter, welche nicht unmittelbar ethische oder
ästhetische Dinge bezeichnen, dennoch Werthbestimmungen dieser
Art sich ansetzen können, muß freilich logisch vermittelt sein,
wie alles Sprachliche, aber es wird eben darum nicht schwerer
zu erklären sein als die Entstehung geistiger und ethischer Be-
griffe überhaupt auf der Grundlage sinnlicher Anschauungen,
zumal da es sich hier nicht um wirklichen materiellen Ueber-
gang der Bedeutung aus einer Begriffssphäre in eine andere
handelt, sondern mehr um eine nur dem Gefühle vorschwebende
formelle Modification der Gebrauchsweise je nach dem Znsam-
menhang der Rede. Auch eine solche ästhetische Bedeutuugs-
sphäre kann sich doch nur aus der logischen entwickeln, nach
denselben Motiven und Gesetzen wie die Bedeutungsänderungen
überhaupt; gerade in dieser Richtung ist der Sprachgebrauch
weniger „Tyrann" als vielleicht in manchen Wort- und Satz-
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 387
formen, obwohl auch dort das sog. Tyrannische eben nur etwas
noch nicht Erklärtes betrifft. Es müssen also in der logischen
Bedeutungssphäre irgend welche besondere Elemente oder Mo-
mente gegeben sein, welche das betreffende Wort bei gewissen
Gelegenheiten zu einem spezifischen Gebrauche von der fraglichen
Art nicht bloß befähigen, sondern fast nothwendig erscheinen
lassen.
Solche Beschaffenheit einzelner Wörter kann nicht leicht
bloß Resultat „natürlicher Auswahl" sein; dieses Princip, das
nach Darwin den jeweiligen Bestand der Spezies in der or-
ganischen Natur beherrscht, erklärt in so allgemeiner Fassung
nur den materiellen Bestand an Wörtern und Bedeutungen in
der Sprache, nicht spezifische Gebrauchsweisen; es müssen der
Wirksamkeit eines allgemeinen Prinzips sür die einzelnen Fälle
ja doch immer wieder besondere Bedingungen zu Hülfe kommen,
welche sich freilich nicht immer nachweisen lassen. Ein solcher
Factor ist sür die Bedeutungsgeschichte einzelner Wörter un-
streitig der Sprachgebrauch hervorragender Schriftsteller, welcher
nicht bloß als Folge, sondern zugleich auch selbst mit als
Grund der fraglichen Erscheinung zu betrachten ist. Classisch
werden ja gewisse Schriftsteller, abgesehen von dem reinen Ge-
dankengehalt ihrer Werke, wesentlich auch durch ein formell
künstlerisches und zwar individuell schöpferisches Ver-
fahren, womit sie den überkommenen Sprachgebrauch zwar
nirgends umstürzen, aber vielfach umbilden. Die von ihnen
getroffene Auswahl muß zwar selber wieder Gründe haben in
vorgefundenen Beschaffenheiten des Wortmaterials und findet
einen solchen z. B. darin, daß durch den Gang des allgemeinen
volkstümlichen Sprachgebrauchs nach dem Princip natürlicher
Auswahl einzelne Wörter, besonders ältere, selten geworden
sind und nur einen engen Kreis von Anwendung beibehalten
haben. Indem nun ein vielgelesener genialer Schriftsteller solche
Wörter hervorzieht und ihre Spezialität benutzt, um neue An-
schauungen darein zu kleiden (damit zu appercipiren), kommen
sie neuerdings in Enrs, jedoch mit diesem aufgefrischten Gepräge,
welches nun, wie es glücklich getroffen erscheint, eine Zeit lang
haften bleibt. Nicht selten wird die dichterische Auswahl davon
388
Tobler
geleitet, daß ein echt volkstümlicher, einheimischer, natürlicher
Ausdruck neben einem sachlich gleichbedeutenden fremden, künstlich
entlehnten und nationalisirten, den Vorzug größerer Kraft oder
Gemächlichkeit besitzt. Ein anderer Factor, der Wörtern einen
eigentümlichen Charakter verschaffen kann, sind Umstimmungen
der öffentlichen Meinung über gewisse Dinge, nicht durch Ein-
fluß der Litteratur, sondern in Folge allgemeinen Bildungs-
ganges, herangereift im Schooße des Volkes selbst und vielleicht
verstärkt durch besondere Ereignisse in der Politik oder Cnltnr-
geschichte. Auf diesem Wege entstehen z. B. sprüchwörtliche
Redensarten, vergleichbar den Citaten ans Schriftstellern, und
Wörter, welche in solchem Zusammenhang üblich sind, erhalten
davon eine spezifische Färbung, wodurch sie auch wieder zu
besonderer Farben gebung geeignet werden.
Die Thatsache, deren weitere Besprechung wir mit diesen
Erklärungen zunächst einleiten wollten, ist der Unterschied eines
edleren und gemeineren Sprachgebrauchs, in dem Sinne,
daß die Sprache unter den sog. Synonymen solche besitzt,
welche sich als edlere und gemeinere Bezeichnung scheinbar des-
selben Dinges unterscheiden. Daß dieser Unterschied ästhe-
tisch er Art ist, liegt auf der Hand; daß er auf logischen
Verschiedenheiten (Verengerung oder Erweiterung der Begriffs-
sphäre, Abschwächung oder Steigerung der Bedeutungsintensität
u. dgl.) beruhen muß, ist oben voraus bemerkt worden; es
wird also, wie bei den andern Synonymen, der Satz gelten,
daß das verschieden benannte Ding im Grunde — eben selbst
ein verschiedenes sei, nur daß dieser Grund hier durch einen
geradezu ästhetisch gewordenen Charakter des einen Wortes
verhüllt wird. Was hier „ästhetisch" und vorher „edler" ge-
-nannt wurde, wird in uusern Wörterbüchern meist als „dich-
terisch" vom gewöhnlichen Sprachgebrauch unterschieden, und
wir können uns, nach den obigen Bemerkungen über die künst-
lerische Ausbildung des Sprachgebrauchs und den Einfluß
classischer Schriftsteller auf denselben, diese Bezeichnung wohl
gefallen lassen; nur wird jenes „Edlere", nachdem es vielleicht
zunächst von Dichtern aufgebracht worden ist, auch von Rednern
uud überhaupt von Jedem beobachtet, der auf den sprachlichen
Aesthetisches und Ethisches iiu Sprachgebrauch. 389
Ausdruck zu besondern Zwecken einige Sorgfalt verwendet; es
kann daher auch zur Sprache des höhern geselligen Anstandes
gehören, der nichts Poetisches an sich hat und hinwieder vom
Dichter, sowie auch vom Redner, im Interesse der Naturwahr-
heit ausnahmsweise kann bei Seite gesetzt werden. Ferner soll
die Bezeichnung „edler" nicht den Sinn haben, daß der andere
Ausdruck darum etwas „Gemeines" in tadelhaftem Sinne an
sich trage; wir wählen eben darum die Form des Compara-
tivs für beide Prädicate, um die Relativität des Werthunter-
schiedes anzudeuten, und behalten uns eine Erörterung des
Positivs beider Begriffe noch vor; der „edlere" Ausdruck
unterscheidet sich zunächst nur vom „gewöhnlichen", der ganz
unverfänglich und makellos sein kann; also indem er ein positiv
neues Element hinzubringt, nicht negativ ein wirklich gemeines
ausschließt. Endlich schicken wir den folgenden Beispielen auch
noch die Bemerkung voraus, daß wir uns mit denselben aus-
schließlich auf den Boden der herrschenden Schriftsprache stellen,
da in der Volkssprache nach Dialekten und Mundarten zum
Theil wieder andere Spezialwerthe gelten, wenn sie überhaupt
jenen Unterschied und dieselben Ausdrücke wie die Schriftsprache
kennt.
Die Beispiele selbst nun machen natürlich auf Vollständig-
keit keinen Anspruch und sind nicht aus systematischer Durch-
sorschung des Wortschatzes zusammengebracht; dennoch werden
sie so ziemlich die Hauptgebiete vertreten, auf welchen die frag-
liche Spracherscheinung vorkommen kann.
Wir beginnen mit dem Namen eines Hausthiers, welches
von je her als edel und geradezu als das edelste anerkannt
wurde und dem als solchem wenigstens die deutsche Sprache
auch einen edleren Namen neben dem gewöhnlichen zugeeignet
hat, während freilich für die Zufälligkeit sprachlicher Anschauungen
das nengriech. aXo-pv als Benennung desselben Thieres (auch
in der Poesie) einen Beleg liefert. Unser Wort Pferd, ahd.
pferfrit, aus mittellat. paraveredus, bezeichnet etymologisch
eine Art von leichten Wagenpferden, also das Thier nicht wie
es aus der Hand der Natur hervor, sondern wie es bereits
durch die Hände menschlicher Dressur gegangen ist, und konnte
390 Tobler
also leicht zur stehenden Bezeichnung des Hausthieres im prak-
tischen Leben und am Ende auch zur naturwissenschaftlichen
Benennung der Gattung werden; aber die Poesie versagt es
sich, wenigstens wo diese mit dem bloßen Namen ohne aus-
drückliche Attribute gerade diejenigen Eigenschaften des Thieres
hervorheben will, die es vorzugsweise edel und menschenähnlich
seelenhaft erscheinen lassen. Es ist wie wenn der zwitterhafte
und darum doppelt fremde Ursprung des Wortes (aus griech.
Tcapa und dem lat. kelt. veredus) das deutsche Sprachgefühl
abgehalten hätte, dasselbe ohne Weiteres im edeln Sinne zu
gebrauchen. Aus romanischem Boden, sranz. palefroi, ital.
palafreno, mochte das Wort immerhin in den Rang eines
vornehmen. Paradereitpferdes (auch für Damen, gleich uuserm
ebenfalls fremden Zelter, aus mittellat. tolutarius (von Paß-
gang) aufsteigen, es haftet ihm immer etwas Unfreies, künstlich
Abgerichtetes an; der natürlich edle Stolz,. Muth und Schwung
des Thieres, wodurch es Göttern heilig und Helden vertraut
werden konnte, liegt in dem altdeutschen Worte Roß (hros),
welches freilich im Englischen (horse) allgemeinere Bedeutung
angenommen hat und im franz. rosse (Schindmähre) vollends
degradirt worden ist, wahrscheinlich zur Vergeltung dafür, daß
wir dem romanischen Pferd nicht größere Ehre angethan
haben, — ein bemerkenswerther, obwohl nicht eben erfreulicher
Zug internationaler Sprachbeziehungen! Alles was die epische
Dichtung der Völker von unserm Thiere Rühmliches und Rüh-
rendes erzählt, kann im Deutschen nur dem Roß zugeschrieben
werden, obwohl nicht zu leugnen ist, daß diesem Worte zuweilen
auch ein Zug natürlicher Wildheit und Rohheit nachgeht,
wodurch es sich von dem zahmeren Pferde weniger günstig
unterscheidet; aber in der Poesie nehmen sich ja auf diesem
Naturgrunde die daraus hervorbrechenden Züge edleren Wesens
nur um so lebhafter aus, z. B. das Weinen der Roste des
Achilles.
Es ließe sich vielleicht die Frage aufwerfen, ob diesen
Rossen Thränen oder Zähren zuzuschreiben seien; doch treten
wir mit diesem Beispiel bestimmter auf menschliches Gebiet
über. Zähre, eigtl. Plural des althochd. zahir (= oaxpu,
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 391
laor^-ina), wie Thräne von trahen, Tropfen, hat ursprüng-
lich mit diesem auch diese Bedeutung gemein, wie noch Theer
(niederd. tär), von tropfendem Harze, und das Compositum
Zährtiegel = Schmelztiegel zeigen; auch werden beide land-
schaftlich von Tropfen edeln Weines gebraucht (vgl. lacrimae
Christi, der Wein am Vesuv). In der besondern Anwendung
auf das Naß der menschlichen Augen hat aber Thräne, ob-
wohl es den Ausfluß der edelsten Empfindungen bezeichnen
kann, eine allgemeinere Bedeutung behalten, da es auch von
der Wirkung bloß physischen Reizes (durch Schärfe, Kitzel)
gesagt werden kann, was bei Zähre nie der Fall ist. Dieses
Wort hat sich im Gebrauch ausschließlich eingeschränkt auf
Kundgebung der zartesten Rührungen des Herzens und ist
eben dadurch edler geworden.
Aehnlich hat sich die ursprüngliche Identität von Athem
und Odem (niederd. Form) gespalten, indem letzteres nicht mehr
von Menschen, sondern nur noch vom Wehen göttlichen Geistes
in der Natur gebraucht wird, wodurch freilich die Synonymie
nahezu aufgehoben ist.
Der edelste Theil des menschlichen Leibes selbst nun heißt
als solcher nicht Kopf, sondern Haupt. Kopf kann zwar
metonymisch auch als Sitz des Verstandes diesen selbst, beson-
ders als Kraft der Erfindung, bezeichnen, aber die eigentliche
Würde des menschlichen Geistes und Gemüthes liegt in Haupt,
und nur landschaftlich zählt man Vieh nach Häuptern (engl,
cattle, aus capital) wie Menschen nach Köpfen. Haupt
ist eben auch das alte und echt deutsche Wort und als solches
bevorzugt wie Roß vor Pferd (s. oben) und Leib vor Kör-
per, während Kopf, entlehnt ans dem romanischen coppa,
cuppa (vgl. Kuppe von Bergen) ursprünglich nur die gefäß-
ähnliche runde Höhlung der Hirnschaale bezeichnet; daher noch
mhd. und landschaftlich Kopf — Becher (nicht von der alten
Sitte, aus den Schädeln erlegter Feinde zu trinken) vgl. franz.
tete aus testa, Scherbe. Aehnlich'wie Haupt zu Kopf ver-
hält sich griech. xapa, xap7]vov (letzteres auch von edeln Thieren
und Bergen) zu xscpa)^; das lat. caput, obwohl mit Haupt
ebenso nahe als mit cuppa verwandt, hat, besonders auf ro-
392
Tobler
manischem Boden, eine Menge Bedeutungen entwickelt, welche
nicht alle so geistig sind wie die bildliche von Haupt (frz. chef).
Zu den „edeln" Theilen des Leibes gehört neben dem
Haupte wenigstens noch die Brust mit dem Herzen, als Sitz
des tiefsten Lebensgefühls, in welchem Sinne auch der gleich
edle Ausdruck Bus en gilt. Für die übrigen, niedrigeren Funk-
tionen dienenden, Theile giebt es meist nur Einen Ausdruck, der
dann auch ästhetisch indifferent ist, ausgenommen etwa Bauch,
wofür die feinere Sprache Leib (im engern Sinne) verlangt,
und die Beine, an welche sich, sowie an das betreffende Klei-
dnngsstück, etwas Komisches angehängt hat, so daß im höhern
Stil nur die Füße genannt werden dürfen. Für die andern
Theile dieser Sphäre besteht der edlere Sprachgebrauch darin,
daß sie überhaupt gar nicht genannt werden, ausgenommen
wo Rohheit und Gemeinheit absichtlich dargestellt werden soll,
obwohl auch dann eine Schranke des Anstandes nicht über-
schritten werden darf. Nur sollte dieser Anstand nicht so weit
gehen, auch ganz unschuldige Wörter verpöuen zu wollen, wie
etwa Schweiß, dessen bildliche Bedeutung (— Mühe) durch
bekannte Stellen der Bibel und unserer Dichter durchaus edel
ist. Feinere Unterscheidungen beginnen wieder, wo sich auf der
Grundlage des Unterschiedes der Geschlechter die unerschöpflich
tiefen und reichen Berührungen derselben zu Liebe und Ehe
gestalten. Am besten spiegelt sich die sprachliche Auffassung
dieser Verhältnisse in der ästhetisch-ethischen Rangordnung der
Namen für weibliche Personen als Gegenstand männlicher Ver-
ehrung und Werbung.
Das Wort Jungsrau trägt den reinen edeln Charakter
der weiblichen Blüthe, die es bezeichnet, während die verkürzte
Form Jnngser entweder dienenden Stand oder nur leibliche
Unversehrtheit („Jungfernschaft" verschieden von „Jungfräulich-
keit") bedeutet und dadurch vom höhern Stil ausgeschlossen ist.
Speciell für das germanische Alterthum und Mittelalter gilt
das dichterische Wort Maid (aus maget), während Magd
zur Bezeichnung einer Dienerin herabgesunken ist, wenn es
nicht durch begleitende Adjectiva wie rein, hold, z. B. in
Anwendung auf die h. Jungfrau, [einen altern Werth bewahrt.
........ IUI II l —---------------- —■
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 393
Die diminutive Form desselben Stammes, Mädchen, hat zwar
nichts Unedles, aber so allgemeine Bedeutung erlangt, daß sie
auch das weibliche Kind, vor der Geschlechtsreise, und an-
dererseits auch wieder den dienenden Stand bezeichnet, und die
edlere Bedeutung — Jungfrau durch besondere Attribute her-
vorgehoben werden muß. Dirne (ahd. diorna, Ableitung von
dem einfachen diu, Dienerin) bezeichnete allerdings schon ur-
sprünglich eine dienende Person, aber ohne den Übeln Neben-
begriff, den es in neuerer Zeit meist mit sich führt, wenn er
nicht durch ausdrückliche Attribute fern gehalten wird; auch dann
aber ist es aus Personen niedrigeren Standes eingeschränkt und
bezeichnet nicht zarte, sondern derbe, wenn auch gesunde und
unverdorbene und insofern nicht unedle Natur.
Ueber den Rang der Benennungen Frau und Weib
stritten schon die Minnesänger, und die Etymologie und Ge-
schichte der beiden Namen würde uns zu weit führen. Auch
im heutigen Sprachgebrauch halten sie einander noch so ziemlich
die Waage; keiner von beiden ist ausschließlich edel, aber beide
können es je nach dem Zusammenhang werden. Weib be-
zeichnet den ausgereiften Geschlechtscharakter als solchen, Frau
die erfüllte Bestimmung desselben durch eheliche Verbindung
mit dem Manne und häuslichen Beruf. Insofern Weib die
natürliche Ausstattung des Geschlechtes bezeichnet, welche in
den socialen Verhältnissen leider nicht immer zur Geltung kommt,
könnte es edler als Frau scheinen, aber auffallend bleibt das
sächliche Geschlecht des Wortes, welches doch vielleicht eine ur-
sprünglich weniger als später hohe Schätzung des weiblichen
Geschlechts auch bei den Germanen verräth (es wäre denn,
daß Weib, ursprünglich collectiv wie Frauenzimmer, den
Inbegriff aller Personen dieses Geschlechtes von jedem Alter
bedeutet hätte, und zwar als zu dienenden Functionen bestimmt)
durch die sonst auffallende Thatsache des Sprachgebrauchs, daß
der Plural Weiber, mit seiner offenbar neutralen und ur-
sprünglich collectiven Bildungssylbe, gemeiner ist als der Sin-
gular, und in der edeln Sprache durch Frauen ersetzt werden
muß, welches Wort ursprünglich und wesentlich die Herrin (des
Hauses) bezeichnet. Da aber im Mittelalter Frauen gerade
394
Tobter
der höheren Stände auch Liebesverhältnisse mit andern Man-
nern pflegen durften (wenigstens in der höfischen Poesie), so
konnte dieses Wort sreilich auch überhaupt weibliche Personen
mehr nach der geschlechtlichen Seite bezeichnen. (Im älteren
Nhd. bedeutet Frauenhaus sogar Bordell.) So wurden im
Mittelhochdeutschen mit vrouwe anch adeliche Jungfrauen an-
geredet und mit vröuwelin auch Bauernmädchen, während
Fräulein jetzt wieder vornehmer, aber dadurch nicht edler
geworden ist, ungefähr wie Dame, dessen fremde Herkunft
(zunächst aus dem Französischen, zuletzt aus dem lat. domina,
ital., spart, donna) eben auch mehr bloße Höflichkeit als wahre
Verehrung mit sich führt. So ist ja auch das deutsche Frau
in England (wo doch der Franencultus reiner als bei den Ro-
manen blüht) herabgesunken zu frow, Schlampe, nur weil das
Wort in dieser Gestalt eben erst später aus Niederdeutschland
eindrang. Daß umgekehrt alt einheimische Wörter solcher Ver-
schlechterung eher widerstehen, sehen wir an Buhle, welches,
verschieden von Bnhlerin und den übrigen Gliedern derselben
Wortfamilie, die alle einen Übeln Sinn angenommen haben,
wenigstens noch den edleren Zug mit der Leidenschaft verbuu-
dener Treue zu bewahren vermocht hat. Unverfänglich sind
die Bezeichnungen Lieb, Liebchen, Liebste; Geliebte ist
etwas höher, ernster und tiefer; volksthümlich, mit einfach viel-
sagendem Bild und immer noch edel, ist Schatz, Schätzchen
durch die Diminution etwas leichter wiegend. Wo die Nei-
gung tief, aber mehr geistig und nicht gerade auf den Besitz
gerichtet ist, kann ihr Gegenstand würdig und schön auch
Freundin genannt werden.
Schließen wir aber diese Auszählung mit dem, was im
natürlichen Verlauf Ziel und Krone der Liebe ist. Die Ehe
hat freilich auch ihre prosaische, geschäftliche Seite und die
Sprache besitzt keinen Ueberfluß an Ausdrücken, welche diese
wichtige Handlung bezeichnen, ohne ihr den poetischen Duft der
Liebe mehr oder weniger abzustreifen. Heirath, heirathen
ist terminiis medius, Ehe und besonders ehlichen erinnern
schon mehr an rechtliche Bedingungen und Formen; am schönsten
ist unstreitig freien, weil es ursprünglich lieben, dann
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 395
werben bedeutet, also mehr den innern Grund und den freien
Trieb zu der Verbindung als die äußere Gestalt ihrer Ver-
wirklichuug. Verlobung ist edler als Versprechen, weil
dieses daneben viel allgemeineren Sinn hat; Vermählung
bezeichnet zwar ursprünglich eine rechtliche Verhandlung, aber
eine feierliche, und ist nicht bloß edel, sondern zugleich vornehm.
Hochzeit dedeutet ursprünglich Fest überhaupt. Einfach und
bei einiger Derbheit, doch nicht gemein sind die landschaftlichen
Ausdrücke (z. B. in der Schweiz) weiben und mannen, ein
Weib, einen Mann nehmen. Gatte und Gattin ist freilich
edler, weil specieller, als bloß Mann und Frau oder Weib,
und sogar die Franzosen (!) haben ja mari und epouse, aber
bezeichnend ist für die romanischen Sprachen das Zusammen-
fallen von Mann und Mensch m homo; es liegt darin offen-
bar eine Degradation des Weibes, auf welche sa auch die von
diesen Nationen ausgegangene Galanterie, trotz allen Scheines
des Gegentheils, schließlich immer hinausläuft. Fast das Um-
gekehrte liegt vor im engl, woman, aus wif-man, weil man
ursprünglich Mensch, nicht Mann bedeutete, daher im Angel-
sächsischen auch mägden man, virgo üblich war.
Aber wir können uns hier nicht auf vergleichende Sy-
nonymik dieser Art einlassen, so lehrreich und nothwendig sie
sonst wäre, sondern die nächste Aufgabe ist nun, an den Be-
griffen edel und gemein selbst, welche wir bisher brauchen
mußten, ohne sie vorerst genauer desiuirt zu haben, diese Arbeit
vorzunehmen. Dadurch werden wir dann auch von selbst zum
zweiten Theil unserer Abhandlung hinübergeführt, indem der
Sprachgebrauch von edel und gemein zugleich ein Beispiel
einer andern Spracherscheinung ist, welche auch im Bisherigen
schon da und dort auftauchte, aber einen viel weiteren Um-
fang hat.
Die Ausdrücke edel und gemein sind auf die Sprache
übertragen aus der ästhetischen und ethischen Sphäre. Fragen
wir aber, welchen Begriff sie dort mit sich führen, so suchen
wir vergeblich eine feststehende Bestimmung desselben und sinden
Uns hineingezogen in gerade gegenwärtig schwebende Streitfragen
betreffend die Grenze zwischen Ethischem und Aesthetischem und
396 Tobler
das Verhältniß zwischen Stoff und Form innerhalb des letztern.
Der Begriff des Edeln kommt dabei gelegentlich auch vor, aber
er wird nicht ausdrücklich in Behandlung gezogen, sondern als
bekannt vorausgesetzt, während doch der wirkliche Gebrauch des
Wortes Differenzen und Schwankungen genug zeigt. Nur dar-
über scheint man einverstanden, daß edel in correlatem Gegen-
satz zu gemein stehe, so daß der eine Begriff wesentlich in
Negation des andern seinen Inhalt finde. Es ist aber noch
die Frage, ob diese Voraussetzung ganz richtig sei, auch würde
sie ja zu keiner positiven Festsetzung führen. Es muß also
wenigstens der Versuch gemacht werden, beide Begriffe zunächst
unabhängig von einander zu bestimmen, und dies scheint mit
dem des Gemeinen fast noch eher möglich, als mit dem des
Edeln, weil jenem Wort daneben noch ein allgemeinerer, in-
differenter Sinn beiwohnt, aus welchem sich der Gegensatz zu
edel erst herausgebildet hat.
Das „Gemeine" ist doch ursprünglich und zunächst noch
unverfänglich das Gemeinsame, Allgemeine innerhalb gewisser
Gesammtheiten. In diesem Sinne sprechen wir von: gemeiner
Schuldigkeit, gemeinem Recht, gemeinem Menschenverstand (com-
mon sense), auch von gemeinem Sprachgebrauch. „Gemeines
Verbrechen" ist zwar nicht ein allgemein verbreitetes, aber ein
häufig in einer gewissen Gestalt, ohne ausnahmsweise Erschwe-
rungen vorkommendes. Das Compositum „Gemeingeist" oder
„Gemeinsinn" zeigt eine eben durch die Composition veredelte
Bedeutuug des ersten Wortes und bezeichnet bereits ein sittliches
Gut von unzweifelhaftem Werthe, ein der Gesellschaft und Ein-
zelnen als besonders lebendigen Gliedern derselben inwohnendes
Bewußtsein der eigenthümlichen hohen Aufgaben der Gemein-
schaft. Für sich allein konnte das „Gemeine" zunächst nur
einen Mittlern Durchschnitt sittlicher Zustände (Kräfte und Lei-
stungen) bezeichnen, das relativ unter den Menschen am
meisten Gemeinsame. Da nun aber der Mensch, trotz seiner
Bestimmung zur Geselligkeit, seine höchste Bestimmung nur in
individueller Ausbildung findet, für welche die Geselligkeit
bloß als Mittel dienen soll, und jene Bestimmung bei Weitem
nicht allen Menschen bewußt, leider auch noch lange nicht gleich-
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 397
mäßig erreichbar ist, so ist das „relativ Gemeinsamste" unter
den Menschen zugleich gerade das, was sie auch noch mit den
Thieren am meisten „gemein" haben, welche ja ebenfalls
manche Anlagen und Ansänge von Geselligkeit besitzen, ohne
daß sie in gleichem Maße seelisch oder geistig höher ständen.
Es läßt sich nun glücklicher Weise nicht behaupten, daß Alles,
was der Mensch noch mit dem Thiere gemein hat, und gerade
das „gemein" im engern und schlimmen Sinne sei (so wie um-
gekehrt manche menschliche „Gemeinheit" bei Thieren keine
Analogie findet), auch nicht daß „Gemeinheit" in jenem Sinne
verhältnißmäßig das Gemeinsamste unter den Menschen sei;
aber daß größere Anlage zu solcher Gemeinheit in jenem
Durchschnitt der Menschennatur liege, als zum Edeln, wird
sich kaum bestreiten lassen. Das Edle bildet zwar auch Ge-
meinschaft und beruht, wie wir bald sehen werden, ursprünglich
auch auf Naturanlage; aber in dem ethischen Sinne, in welchem
wir es heute dem Gemeinen entgegensetzen, ist seine Gemeinschaft
weit verbreitet eben nur, indem sie zugleich weit zerstreut
ist, und es selbst ist mehr Errungenschaft als Erbschaft; d. h.
edel sind Einzelne, Wenige, die durch innere Durchbildung sich
selbst zum Dienste des Allgemeinen erhoben haben, und das
Gemeine ist im Gegentheil vor Allem der Eigennutz, der die
Bedeutung der gemeinsamen Interessen für das wohlverstandene
eigene gar nicht kennt oder wissentlich mißachtet.
Wir wollen nun zunächst die Frage erheben, ob der Be-
griff edel dem ästhetischen und ethischen Gebiete gleichmäßig
und gleich ursprünglich angehöre, oder ob er vom einen auf
das andere erst übertragen sei.
Auf dem Gebiete der Aesthetik finde ich einzig bei Zei-
sing (Aesthetische Forschungen S. 225—228) eine förmliche
Begriffsbestimmung des Edeln ohne ausdrückliche Entlehnung
ethischer Merkmale. Das Edle wird dort bestimmt als eine
Art des Schönen, welche von der Anmuth das Leichte, Ge-
fällige, von Würde eine immerhin maßvolle Haltung aufge-
nommen hat. Edle Formen kommen am nächsten den rein
schönen, durch Abwesenheit aller Absicht auf besondere Effecte
wie Reiz, Bewunderung u. dgl. Das Edle stellt sich ganz dar
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Äd. vi. 26
398
Tobler
und giebt sich hin, ohne doch in Nachlässigkeit oder Leidenschaft
sich gehen zu lassen. Ebenmaß und Ungezwungenheit sind seine
Hauptfactoren, und wenn es nach ethischer Seite einen unver-
kennbaren Zug zum Guten zeigt, so grenzt es andrerseits durch
seine verhältnismäßige Einfachheit und Klarheit eben so nahe
an das Wahre und erhält dadurch eine centrale Stellung inner-
halb der höchsten Geistessphären. — Jenen Zug des Edeln zum
Guten hatte schon Kant bemerkt, und obwohl er dasselbe mit
ästhetischen Begriffen nahe zusammenstellt, schreibt er ihm we-
sentlich ethische Natur zu. In seinen „Beobachtungen über das
Gefühl des Schönen und Erhabenen" (Sämmtl. Werke, Ausg.
v. Hartenstein, Bd. 7, S. 379) stellt er das Edle in eine
gewisse Mitte zwischen jene beiden im Titel genannten Begriffe
und giebt manche treffliche Bemerkung über einzelne Erschei-
nnngen desselben, ohne jedoch seiner eigenthümlichen Doppelnatur
auf den Grund zu geheu. Edel nennt Kant die echte Tu-
gend, welche aus Gesinnung und Grundsätzen, nicht bloß aus
eiuem guten Herzen fließt, und welche dnrch Beherrschung der
schwankenden Triebe auch den edeln Anstand erzeuge, der die
Schönheit der Tugend sei. Weiterhin stellt er aber dem Weib-
lichen Geschlecht als dem schönen das männliche als das edle
gegenüber, natürlich nur im Sinne relativen Vorwiegens, so,
daß die weibliche Tugend vorzugsweise schön, die männliche
edel sei, indem jene weniger auf dem strengen Sollen, als auf
natürlicher Neigung beruhe, auf Wohlgefallen am Guten als
einem Schönen. Doch nennt er auch wieder weibliche Beschei-
denheit eine Art edler Einfalt und zugleich edeln Selbstver-
trauens.
Diese von dem Vater aller modernen Philosophie, insbe-
sondere auch der Ethik und Aesthetik, gemachten Bemerkungen
(welche nachher in eine merkwürdige Charakteristik der europäi-
schen Nationen nach sittlichen Temperamenten auslaufen), zeigen,
daß er schon, trotz aller Neigung zu scharfen Begriffsbestim-
mungen, mit dem Sprachgebrauch von „edel" nicht ganz ins
Reine kam; aber sie sind darum nicht ohne Folge geblieben,
sondern Nachklänge davon oder Anklänge daran ziehen sich durch
die ganze Litteratur der elassischen Zeit hindurch. Goethe, ob-
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 399
wohl nicht unmittelbar aus Kant schöpfend, schuf sein Bild
der „schönen Seele" aus Ingredienzien, welche in jenen Bemer-
kungen Kant's großentheils enthalten sind. W. v. Hum-
boldt behandelt in seinen Abhandlungen über männliche und
weibliche Form und über den Geschlechtsunterschied die von
Kant aufgestellte Polarität dieses Gegensatzes zwar nur nach
der natürlichen und ästhetischen Seite, und ohne ausdrückliche
Hervorhebung des Edeln, aber doch so, daß die Anwendung
auf das sittliche Gebiet nahe liegt. Am gründlichsten und
offenbarsten hat Schiller die Kant'schen Anregungen verar-
beitet und ausdrücklich weiter geführt; die von ihm mit bewun-
dernswürdiger Feinheit und Tiefe aufgefaßten Gegensätze von
Anmnth und Würde, Naivetät und Sentimentalität sind Va-
Nationen desselben Thema's. Dem Begriff des Edeln, um
den es uns doch hier eigentlich allein zu thun ist, hat er in
den Briefen über ästhetische Erziehung (Bd. 18, S. 122—125)
eine ausführliche Note gewidmet.
Das Edle erscheint dort als eine nothwendige Vorstufe
und Vorübung des Guten, eine Vermittlung des letztern mit
dem Schönen; es bezeichnet eine Beherrschung der sinnlichen
Natur des Menschen auf sittlich noch indifferentem Gebiete;
„eine geistreiche und ästhetisch freie Behandlung gemeiner Wirk-
lichkeit ist das Kennzeichen einer edeln Seele. Edel ist über-
Haupt ein Gemüth zu nennen, welches die Gabe besitzt, auch
das beschränkteste Geschäft und den kleinlichsten Gegenstand durch
die BeHandlungsweise in ein Unendliches zu verwandeln. Edel
heißt jede Form, welche dem, was seiner Natur nach bloßes
Mittel ist, das Gepräge der Selbstständigkeit aufdrückt. Ein
edler Geist begnügt sich nicht damit, selbst frei zu sein; er muß
alles Andere um sich her, auch das Leblose, in Freiheit setzen.
Schönheit ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der
Erscheinung ... Der Mensch muß vor Allem lernen, edler
begehren, damit er nicht nöthig habe, erhaben zu wollen."
In der Abhandlung „über Anmuth und Würde", welche 1793
(zwei Jahre vor den Briefen über ästhet. Erziehung) erschien,
bestimmt Schiller (Bd. 17, 235) das Edle als Annäherung
26 *
I
ü
400
Tobler
der Würde an Anmuth und Schönheit. Was er aber in dem
Distichon (Gedichte 1807, 1, 304):
Adel ist auch in der sittlichen Welt; gemeine Naturen
Zahlen mit dem, was sie thun, edle mit dem, was sie
sind.
„edle Natur" nennt, wird 17, 222 (vgl. 234) mit wesentlich
denselben Prädikaten als „schöne Seele" beschrieben. Dieses
letztere Ideal scheint Schiller noch vor Goethe erfaßt zu
haben, der das sechste Buch von W. Meisters Lehrjahren, die
„Bekenntnisse einer schönen Seele" enthaltend, erst gegen Ende
des Jahres 1795 schrieb, nachdem seine persönliche Bekannt-
schast mit Schiller in der zweiten Hälfte des Jahres vorher
begonnen hatte. Aber Jahrzahlen beweisen in solchen Dingen
noch weniger als bei wissenschaftlichen Entdeckungen Priorität,
und die Hauptsache bleibt, daß Schiller und Goethe wesent-
lich übereinstimmend dasselbe Ideal einer zur Natur gewordenen
Sittlichkeit „schöne Seele" nannten. Daß Goethe eine solche
unter Einfluß herrenhutischer Frömmigkeit entstanden darstellt,
ist für den Begriff nicht wesentlich; wichtiger ist, daß auch
Schiller (17, 224 ff.) die schöne Seele mehr dem weiblichen
Geschlechte zutheilt, obwohl er (18, 255) auch die spottende
Satyre aus einem „schönen Herzen" fließen läßt. Was übri-
gens das Edle anbetrifft, so ist der von Schiller in der zu-
erst angeführten Stelle aufgestellte Begriff desselben zwar fein
ausgedacht und erklärt, aber er deckt offenbar den so gewöhn-
lichen Sprachgebrauch des Wortes edel nicht und ist auch von
dem srühern (17, 253) etwas verschieden. Goethe, der sich
persönlich und künstlerisch offenbar mehr dem weiblich Schönen
als dem männlich Edeln zuneigte, spricht sich auch über den
Begriff des letztern, so viel mir bekannt, nirgends näher aus;
in Wilh. Meisters Lehrjahren (5. Buch, Eap. 16) wird nur
gegenüber dem vornehmen der edle Mensch dadurch unter-
schieden, daß er gelegentlich sich vernachlässigen, d. h. wohl
seine edeln Affecte aus der sonstigen Haltung hervorbrechen
lassen dürfe.
Eine ganz klare und genügende Bestimmung dieses schwie-
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 401
rigen Begriffs finden wir also auch bei unfern Classikern nicht,
welche doch am ehesten dazu fähig waren und in ihrer schrift-
stellerischen Praxis allerdings in Sprache und Charakterdar-
stellung die herrlichsten Beispiele des Edeln geschaffen haben.
Wir müssen also, möglichst in ihrem Sinne und an der Hand
des durch sie mitbestimmten allgemeinen Sprachgebrauchs, das
Fehlende selber aufsuchen. Das Edle nimmt eine eigenthümliche
Mittelstellung zwischen dem Guten und Schönen ein, und wenn
irgend ein Begriff zur Vermittlung dieser beiden dienen kann,
so wird es der des Edelu^sein. Das Edle ist das Gute, so-
weit dieses in schöne Erscheinung durchdringen und darin auf-
gehen kann; das Edle ist das Schöne, so weit dieses das Gute
durchscheinen läßt. Das Gute und Schöne, im tiefsten Grunde
und in letzter Instanz identisch, sind in idealer Auffassung die
wahre, zweite Natur des Menschen, d. h. sie sollen in Wirk-
lichkeit dazu werden, und in dieser Entwicklung bezeichnet das
Edle eine Stufe, wo auf Grund specifischer Anlage oder ge-
wonnener Ausbildung die Bestimmung zum Guten die Natur
des Menschen in Gestalt beharrlicher Neigung ergriffen hat.
Das Edle ist eher eine Art des Guten als des Schönen, aber
diejenige, welche zugleich besondere Fähigkeit zum Guten aller
Art in sich trägt, und eben dieses Streben nach einer Totalität,
einem lebendigen Ganzen ist ein Zug zum Schönen. Wenn
wir daher Affecten oder Leidenschaften wie Ehrgeiz, Rache,
Zorn das Beiwort edel ertheilen, so wird dadurch das Un-
schöne und Ungute, was denselben sonst anhaftet, oder ihr sonst
indifferenter Naturcharakter, aufgehoben; edler Zorn ist ein ge-
rechter, heiliger; edle Rache ist keine mehr. Nicht höhere
Pflichten anerkennt und übt der Edle, auch geht er nicht (wie
Schiller meint) über das Gebiet der Pflicht überhaupt hin-
aus, sondern sein persönliches Verhalten zum Umfang und
Inhalt der Pflichten ist ein höheres; die Pflicht selber existirt
für ihn nicht als eine äußere Forderung, sondern als eingeborene
freiwillige Neigung; sie findet ihn wenigstens ihren Anforde-
rungen immer aus eigenem Antriebe entgegenkommend. Daß
es ihm darum auch immer gelinge, ihr vollständig nachzukom-
men, liegt gar nicht im Begriff; der Edle ist als solcher noch
402
Tobler
lange nicht der vollkommene Mensch; es können ihm sogar
ganz bestimmte und offenbare Schwachheiten anhaften; aber
so weit ihm sein Streben gelingt, ist dies nicht Resultat
schweren Kampfes, mühsamer Selbstüberwindung, sondern ein
freier, leichter Zug und Schwung der Seele. Der Sprachge-
brauch kennt allerdings nicht bloß edle Triebe, die vielleicht
auf halbem Wege stehen bleiben, sondern anch edle Handlungen
und Thaten, und zwar in dem Sinne, daß damit das ge-
wohnliche Maß des Guten übertroffen, etwas unter Umständen
besonders Schweres geleistet worden sei, z. B. Verzeihung
und Wohlthun gegenüber einem Feinde. Aber in allen solchen
Fällen ist das Prädikat edel auf die Handlung erst über-
tragen von dem handelnden Snbjecte, dem es eigentlich allein
zukommt; wir nennen die Handlung so, weil wir finden, sie
setze einen Menschen voraus, welcher auch anderer solcher
Handlungen fähig sei, und nicht im Gedanken an ihn, sondern
an Andere finden wir sie schwer. Wir können uns dabei im
einzelnen Falle täuschen, aber wenn wir wüßten oder erführen,
daß der Betreffende dabei ausnahmsweise über sein sonstiges
Vermögen hinausging, so würden wir nicht bloß ihn selbst,
sondern auch seine Handlung nicht mehr edel nennen. Wenn
wir endlich sagen, große Aufgaben seien „des Schweißes der
Edeln Werth", also die Edeln mit Schwierigkeiten kämpfen
lassen, so liegen auch in diesem Falle die Schwierigkeiten nicht
in den Personen, sondern es handelt sich um Unternehmungen,
welche die Kräfte jedes Einzelnen übersteigen, aber dennoch
nur solchen können zugetraut werden, welche ihrer Natur nach
an manchem Aehnlichen sich schon versucht haben.
Die Anwendung von edel auf seelenlose, also auch keiner
sittlichen Werthbestimmung fähige Gegenstände der Natur und
Kunst, z. B. Farben, Töne, und auch aus Stilformen der ein-
zelnen Künste ist entweder erst spätere Übertragung von den
ästhetischen Stimmungen, in welche wir durch jene Gegenstände
versetzt werden und die wir dann leicht ihnen selbst unterlegen,
oder sie fließt unmittelbar aus der sogleich anzugebenden nr-
sprünglichen Bedeutung des Wortes.
Als wesentliches Merkmal des Edeln ergab sich der Charakter
lUf/ifif 11 uiMi Iii raii nia\v#aisftt^
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 403
einer angeborenen oder zur Natur gewordenen Art (des Schönen
oder Guten), und damit stimmt auch Etymologie und Geschichte des
Wortes. Edel ist ursprünglich Adjectiv zu Adel, dieses aber be-
deutet zunächst natürliche Abstammung, Geschlecht, Herkunft über-
Haupt, dann xax' vornehmes, ausgezeichnetes Geschlecht,
und denjenigen socialen Stand, der auf solchem Geschlechtscharakter
und dessen Ausrechthaltung wesentlich beruht. Edel ist also
urspr. — adellich (nicht adelig), und denselben Grundbegriff
haben nobilis, gentilis, generosus (in den rom. Sprachen);
söyevVjs, yevvouos, laO-Mc;, nur daß adellich (vgl. den Titel
„wohlgeboren") aus leiblichen Adel beschränkt geblieben ist,
edel aber, so wie jene Synonymen aus den verwandten
Sprachen, mit dem fortschreitenden Geist der Zeiten zur Be-
zeichnung innerer Vortrefflichkeit vorgedrungen ist, so daß es
dann mit vornehm sogar in schneidenden Gegensatz treten
kann. Da der Adel als Stand zunächst an körperlichen
Eigenschaften, Schönheit und Stärke, kenntlich war, so konnte
edel auch von Thieren, Pflanzen und selbst von Mineralien
gebraucht werden; in Edelstein und Edelmann Haidas erste
Wort ganz dieselbe Bedeutung, soweit sie nicht durch das zweite
modificirt wird. Später machte sich, je mehr der Adel seine
frühere Bedeutung vergaß und verlor, das Schiller'sche Wort
geltend: „Adel ist auch in der sittlichen Welt" (s. o.), vom
Edelmann schied sich der edle Mann auch im Bürger- und
Bauernstand mit persönlichem Werthe und Bewußtsein: es bil-
dete sich der Seelenadel, der über die Schranken der Stände,
Orte und Zeiten hinweg freie Geister unsichtbar verbindet
durch Edelsinn, Edelmuth und Edelthaten.
Aber diese Entwicklung des Wortbegriffs schließt sich doch
zunächst an die Eigenschaften an, welche der Adel kraft seiner
geschichtlichen Stellung besaß oder erwarb, so daß hier ein
völkerpsychologisches Interesse mit einem sprachwissenschaftlichen
zusammentrifft. Der Adel mußte ein natürliches Interesse und
eine Art von Verpflichtung fühlen, jene zunächst mehr leiblichen
Vorzüge, durch die er sich von Geburt auszeichnete, auch zu
bewahren und seine Ansprüche auf vorzugsweise Geltung im
Volke durch entsprechende Leistungen zu bewähren: Schönheit
404 Tobler
verlangt zu ihrer Erhaltung Reinheit, Stärke verpflichtet zu
Tapferkeit. Neben diesen Fundamentaltugenden des Adels ent-
wickelten sich im Umgang seiner Glieder unter sich und im
Gegensatz zum übrigen Volk allmählich in Kleidung, Haltung,
Benehmen und Sprache alle jene Formen gemessenen Anstandes
und zugleich feiner Gewandtheit, welche noch heute zum Begriff
des ästhetisch Edeln gehören. Aber gleichzeitig keimte auch
das ethisch Edle in Gestalt von Ehrgefühl, Aufopferung,
Freigebigkeit, Milde, Großmuth und Gerechtigkeit, alles Tu-
genden, welche dem Adel gewissermaßen zur Pflicht wurden,
wenn er seine centrale Stellung im Fortschritt der Zeiten be-
haupten wollte, und welche abermals noch heute im Begriff des
ethisch Edeln enthalten sind. Wie nun diese Lebensverfassung,
— wo Sittlichkeit noch nicht viel Anderes bedeuten konnte
als Halten der großentheils im Adel (mit Einschluß der
Priesterschaft) verkörperten Sitte, — wie diese ganz naive
Weltordnung allmählich durchbrochen, Sittlichkeit zu freier Selbst-
bestimmung jedes Einzelnen aus seinem Innern vertieft und
auch die Bildung „Gemeingut" wurde, dies auszuführen gehört
nicht hierher, wohl aber einige Bemerkungen darüber, wie im
Zusammenhang dieser Bewegung der Begriff des Gemeinen
als Gegensatz des Edeln sich entwickeln konnte.
So lange der Adel in unangefochtenem Besitz der politi-
schen Macht stand, konnte zwar eine Bezeichnung des Gegen-
theils oder Mangels seiner „edeln" Eigenschaften nicht wohl
ausbleiben, aber sie konnte nicht von derselben Anschauung aus-
gehen wie der heutige Begriff des „Gemeinen". So lange es
kein „Gemeinwesen" gleichberechtigter freier Bürger gab, in
welchem auch der Adel auf- und unterging und aus welchem
fortan jeder Einzelne nur durch persönliche Tüchtigkeit sich
Hervorthun konnte, mochte der Adel für die Eigenschaften der
untern Stände irgend welche speeielle Bezeichnungen gebrauchen,
entweder rein negative wie unedel u. dgl. oder positive wie
lat. plebejus, vulgaris, gregarius, griech. dy£Xaio<;, cpopxtxo?,
(pauXo?; im Altdeutschen entspricht am ehesten das Wort laz
(f. Grimm, Rechtsalterth. 1, 308). Im spätem Griechisch
galt allerdings auch schon xoivo? im Sinne unseres heutigen
;f-iWHm Ii ttitJnYi i miwif i ji
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch.
405
gemein, dagegen hat sich am lat. communis nur der gün-
stigere Begriff von „leutselig" entwickelt, sowie auch „gemein"
landschaftlich von einem Höherstehenden gesagt wird, der sich
zum „gemeinen Manne" herabläßt, und „niederträchtig" ur-
sprünglich, wie noch mundartlich, eben dieselbe Bedeutung zeigt.
Der heutige Begriff von gemein konnte sich also aus dem des
Gemeinsamen erst herausbilden, als die socialen und politischen
Abstände einer früheren Zeit sich einigermaßen ausgeglichen
hatten, so daß an der ziemlich gleichförmigen Masse eben jetzt
erst das gemeinsame rein Menschliche, und zwar nach der
schwachen Seite, ins Auge fiel. In der That setzt gemein
auch vorgerückte Zustände sittlicher Bildung voraus und unter-
scheidet sich dadurch von roh, sowie denn dieses meistens (was
bemerkenswerth ist) von Zuständen der ganzen Gesellschaft gilt,
gemein hingegen nur von den Eigenschaften Einzelner. Ge-
mein ist nicht, wer naiv der Masse gleich ist und thut, son-
dern wer mit Bewußtsein den Maßstab der Masse zum
seinigen macy und hinter bereits vorhandenen, auch ihm be-
kannten, höhern Anforderungen freiwillig und wiffentlich zurück-
bleibt. Wenn endlich schon in rohen Sittenzuständen einzelne
Regungen edler Gefühle auftauchen können, weil das Edle
wesentlich (reine) menschliche Natur ist, so mögen freilich auch
umgekehrt einzelne Menschen aus längst herrschenden Bildungs-
zuständen in partielle Rohheit zurücksinken; dennoch können wir
uns eher ein allmählich völliges Verschwinden der Rohheit
denken, als der Gemeinheit; denn eine Gleichung zwischen Fort-
schritten intellectneller und moralischer Cultur ist leider immer
noch nicht gefunden. So bleibt denn auch der Nachweis, ob
und wie viel Zusammenhang insbesondere zwischen Fortschritten
ästhetischer und moralischer Bildung stattfinde (resp. geschicht-
lich stattgefunden habe), noch eine Aufgabe der Zukunft; so
lange sie aber nicht gelöst ist, kann auch der Begriff des Edeln
nicht endgültig bestimmt werden. Wir haben gesehen, daß er
auf natürlichem Gebiet erwachsen und von da ziemlich gleich-
zeitig und gleichmäßig auf das ästhetische und ethische übertragen
worden, ja vielleicht die Grundlage beider gewesen ist. Aus
beiden hat er sich dann gehoben und verfeinert, und zahlreiche
I
i
406
Tobler
Uebertragungen zwischen beiden sind uns fast so geläufig ge-
worden, wie etwa die metaphorischen Bezeichnungen „Farben-
töne" und „Klangfarben", so daß wir nns höhere Unterschei-
düngen im Ethischen fast nur mit ästhetischen Hülfsvorstellungen
klar machen können, und umgekehrt, wie Wahrnehmungen des
Gesichts und Gehörs durch einander auf dem niedrigeren Ge-
biete der Sinne. Immerhin glauben wir, um die lange Unter-
suchung nicht ganz ohne Ergebniß auslaufen zu lassen, als
solches die Anficht aussprechen zu dürfen, daß in neuerer Zeit,
d. h. im heutigen Sprachgebrauch, von dem wir ja ausgegangen
sind und auf den wir hiemit zurücklenken müssen, das Edle
mehr ethische als ästhetische Färbung angenommen habe, also
auch im ästhetischen Sinne des Wortes ethische Elemente vor-
wiegen, als deren Analogon oder Symbol wir uns das ästhetisch
Edle denken.
Dieses Ergebniß, wenn es eines ist, stimmt mit einem
andern, welches weniger zweifelhaft, übrigens wieder rein sprach-
wissenschaftlicher Art ist und uns jedenfalls»einen Schritt
weiter, zum dritten und letzten Theil unserer Aufgabe führt.
Wenn wir nämlich die geschichtlich entstandene Bedeutung der
Wörter edel und gemein selbst, mit welchen wir im ersten
Theil ästhetische Unterschiede im Sprachgebrauch bezeichneten,
ins Auge faffen, so zeigen sie eine Veränderung ihres Begriffs,
welche nicht selbst ästhetischer, sondern ethischer Art zu sein
scheint, insofern nämlich „edel" von seiner ursprünglichen Bedeu-
tung aus an ethischem Werth gestiegen, „gemein" gesunken
ist. Aehnliche Erscheinungen lassen sich an vielen andern Wör-
tern beobachten; aber vor allen Versuchen von Erklärungen
dieser Thatsache muß die Wirklichkeit derselben etwas genauer
festgestellt werden.
Von den im ersten Theil behandelten ästhetischen Er-
scheinungen im Sprachgebrauch würden sich diese ethischen rein
sprachlich dadurch unterscheiden, daß wir dort verschiedene
Wörter zu gleicher Zeit für (scheinbar) dasselbe Ding fanden,
hier umgekehrt dasselbe Wort zu verschiedenen Zeiten Ver-
schiedenes bedeutet haben soll. Dagegen bestände eine Ver-
wandtschaft beider Erscheinungen darin, daß der Gegensatz von
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 407
edel und gemein mit dem von gut und schlecht, nach den
Erörterungen des zweiten Theils, eine Parallele, wo nicht gar
einen innern Causalzusammenhang bildet, also beide Erschei-
nungen sich an einander spiegeln und erklären könnten. Ge-
mein haben sie serner das, daß es sich beidemal zunächst um
einen logischen Proceß handelt; aber dies gilt hier noch in
höherem Maße als dort, da der ästhetische Gehalt, den ein
Wort auf den oben angegebenen Wegen gewinnen kann, sich
von dem logischen ablösen und als selbständig ausfassen läßt,
während von ethischem Werth eines Wortes eigentlich nur in
dem Sinne die Rede sein kann, daß die ganze Begriffssphäre
desselben auf ethischem Gebiet liege, womit seine Bedentnngs-
kraft nicht aufhört eine rein logische zu sein. Stetten wir uns
übrigens auf rein ethischen Boden, so muß jede Versetzung
eines vorher indifferenten Begriffs in diese Sphäre so ipso
in günstigem Lichte erscheinen, weil dadurch eine Abnahme
ethischer Indifferenz, Zunahme ethischen Interesses bezeugt wird,
auch wenn der Begriff, einmal auf ethisches Gebiet versetzt,
nach der schlimmen Seite ausgeschlagen hat, wie gerade bei
gemein der Fall ist. Dies muß um so mehr hervorgehoben
werden, da bisher nur „ein pessimistischer Zug in der Ent-
Wicklung der Wortbedeutungen" beobachtet worden ist, zuerst
von Neinhold Bechstein in Pfeiffer's „Germania" VIII,
330—354, und unter demselben Titel von Eduard Müller
„Zur englischen Etymologie" S. 23—35. Neuestens ist auch
in dieser Zeitschr. V, 332—338 ein Blick aus die fragliche Er-
scheinung gefallen und hat uns in dem Vorsatz bestärkt, eine
erledigende Behandlung derselben zu versuchen. Im Folgenden
soll aber nicht der ganze Stoff, den die angeführten BeHand-
lungen beigebracht haben, zusammengetragen und noch einmal
aufgestapelt werden, sondern wir müssen der Kürze wegen, be-
sonders was die genauen Angaben über die einzelnen Wörter
betrifft, auf jene Citate verweisen; für uns handelt es sich um
übersichtliche Gruppirung der Erscheinungen mit kurzer Anfüh-
rung einiger Beispiele; nur wo wir für bereits bekannte Gruppen
neue Beispiele, oder wo wir neue Gruppen selber aufzustellen
haben, werden auch die Details näher angegeben werden müssen.
408
Tobler
Ueberblicken wir unsere Stoffmasse und zwar zunächst in
Hinsicht aus die vorliegenden That fachen, noch ohne Rücksicht
auf Ursachen, so wiegt allerdings das Phänomen eines gewissen
„Pessimismus" in der Entwicklung der Wortbedeutungen vor,
aber es gewinnt sogleich einen milderen Anschein, wenn wir
gewisse Unterschiede ins Auge fassen, die ebenso klar wie der
Gesammteindrnck sich geltend machen. Lassen wir uns allge-
meine Ausdrücke wie „pessimistischer Zug", „deterioristische Nei-
guug" oder ähnliche gefallen, so müssen wir doch sogleich fragen,
ob dabei an moralische Verschlechterung des Charakters
der Menschen im Einzelnen oder in der Gesellschaft zu denken
sei, oder bloß an Zunahme physischen und socialen Uebels
in der äußern Welt, wovon die innern Qualitäten nicht noch-
wendig angesteckt werden und wovon sie auch nicht der
Grund sein müssen. Es finden sich nun in der That sprach-
liche Beispiele von beidem neben einander, aber eben darum
muß es auseinander gehalten werden, wenn nicht der Thatbe-
stand von vornherein verfälscht und schlimmer als er wirklich ist,
dargestellt werden soll; denn daß physisches und auch sociales
Uebel mit moralischer Schuld in keinem unmittelbaren Zusam-
menhang stehe, lesen wir schon im Alten Testament und lehrt
uns noch jeder Tag, sowie das Umgekehrte, daß große Fort-
schritte auf physischem und socialem Gebiet als solche nicht
auch schon eine Verbesserung der Moralität bedeuten und mit
sich führen. Wenn also z. B. das Wort Mähre, welches
ursprünglich das weibliche Pferd überhaupt bezeichnet, heut-
zutage meist nur von abgenutzten Pferden gebraucht wird,
und wenn auch daraus (was aber aus andern Gründen gar
nicht angeht) auf eine Degeneration der Pferdezucht geschlossen
werden dürfte: so wäre eine solche Verschlechterung doch nicht
in gleiche Linie zu stellen etwa mit derjenigen, welche das Wort
frech zu bezeugen scheint, das im Mittelhochdeutschen nur
frischen Muth bedeutete, nun aber diese unschuldige Bedeutung
ganz verloren hat. Es ist allerdings bemerkenswert^ daß eine
scheinbare Verschlimmerung der Bedeutung auch an Wörtern
für Natürliches vorkommt, wie engl, weeäs, Unkraut, von ags.
veöd, welches herba überhaupt bezeichnete; sausen, welches
Ii iiifitmi fliuvAi# m raiiiaiA%ua£«si:
Aesthctisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 409
z. B. im Angelsächs. auch von Menschen nicht unedel galt (vgl.
Suppe, frz. souper); stinken, welches jetzt nur noch übel
riechen bedeutet, in der alten Sprache aber ebenso gut oder
mehr von Wohlgerüchen gebraucht wurde; Wampe, welches
einst den Mntterschooß der Jungfrau Maria bezeichnen durfte,
jetzt nur noch Hals und Bauch der Thiere (von Menschen nur
Wanst, zunächst aus Wams, wambes, Bekleidung dieses
Körpertheils); aber solche Beispiele (von denen übrigens saufen
und Wampe mehr ästhetische Unterschiede zwischen Mensch
und Thier betreffen) können doch nicht auf eine allgemeine Cor-
ruption deuten, deren ja die Natur nie in gleichem Sinne wie
der Geist fähig wäre. — Elend bedeutet bekanntlich etymolo-
gisch „fremd, heimatlos"; daher dann „arm, jämmerlich" und
zuletzt auch „schlecht, nichtswürdig"; aber man muß doch diese
moralische Verkommenheit von jener socialen unterscheiden, durch
welche sie so oft veranlaßt und einigermaßen entschuldigt wird.
Dieser Fall führt uns zu der Bemerkung, daß auch sonst mehr-
fach die Bedeutung moralischer Schlechtigkeit erst aus derjenigen
von schwächlicher Natur oder unglücklichem Schicksal erwachsen
ist und dadurch, wenn nicht milder, doch erklärlicher wird. Die /
älteste Bedeutung von böse ist nicht Verderbtheit des Willens, 1
sondern äußere Mangelhaftigkeit, welche dann so leicht in innere
Verbitterung und positive Bosheit ausschlägt. Dem elend
am nächsten kommt das engl, wretch, lautlich identisch mit dem
altdeutschen recke, welches urspr. einen Verbannten bezeichnet,
der sich zu Heldenthum aufraffen, aber auch als Abenteurer
verkommen kann. Daran schließt sich engl, caitiff, welches von
der milderen Bedeutung des franz. chetif (ärmlich) bis zu der
von „Schurke" fortgeschritten ist, aber mit jenem auf lat.
captivus zurückgeht; vergl. auch erbärmlich — elend im
schlimmern Sinne. Das Fremdwort frivol bedeutete im La-
teinischen auch nur „armselig"; eitel geht aus innerer Leerheit
(in letzter Quelle vielleicht von bloß äußerem Glanz); auch
Sucht ist urspr. leibliche Krankheit (zu siech). Die heute
einzige Bedeutung von feig erklärt sich nicht aus der im MHd.
vorherrschenden: dem Tode verfallen, unselig, verwünscht, son-
^rn mit dieser zugleich aus der Grundbedeutung: schwach,
410 Tobler
morsch, wonach es auch von Gestein und Holzwerk gebraucht
wurde, noch im ältern Nhd., s. Grimm, Wörterb. So läßt
sich auch fluchen aus goth. flekan oder flokan, lautlich und
begrifflich — lat. plangere, griech. TtX^aasiv, leicht erklären,
da Klage oft in Verwünschung übergeht und im griech.
dpaojxai, lat. precari, hebr. berekh durch ursprüngliche Polarität
des Begriffs sogar beten und segnen mit fluchen unmittel-
bar verknüpft sind. Noch begreiflicher ist es, wenn auf Grund-
läge einer bereits moralisch schlechten Bedeutung sich eine
eben solche höheren Grades entwickelt hat. Der Urbegriff von
arg war „feig", dann „geizig"; daraus konnte sich die heutige
durch Allgemeinheit gesteigerte Bedeutung ergeben. Das engl,
wanton ist von der unschuldigeren Bedeutung „lose" zu der
von „wollüstig" gestiegen, ebenso die Substantiv« harlot und
lecher (altfrz. lecheor auch schon von rasfinirter Wollust) von
„Leckerei" und Schlemmerei ausgegangen; rogue, Schelm (frei-
lich auch in milderem Sinne üblich wie das deutsche Wort) von
frz. rogue, übermüthig, altnord. hrökr, anmaßend. Hieher
gehört auch Laster, obwShl dessen ältere Bedeutung „Schmach,
Schimpf", noch in lästern fortlebend, durch die objective
Fassung des Begriffs (Gegenstand gerechten Vorwurfs)
gewissermaßen auch wieder gehoben wurde. Wichtiger ist aber
eine andere Einschränkung, die der Pessimismus erleidet und
die ihn zugleich auch da, wo er wirklich eingetreten ist, erklären
hilft. Er hat nämlich von einer großen Anzahl Wörter gar
nicht ausschließlich Besitz genommen, sondern dieselben gleich-
sam erst zur Hälfte angesteckt, so daß sie neben einem allerdings
oft merklich Übeln Beigeschmack in andern Fällen noch einen
ethisch indifferenten, harmlosen Grundbegriff bewahren und
höchstens eine Zweideutigkeit mit sich führen, die durch den
Zusammenhang und Ton der Rede oder besondere Attribute
nach der einen oder andern Seite entschieden wird. Hierher
gehören Wörter wie: Knecht, Jungfer, Magd, die nur insofern
gesunken find, als sie ursprünglich nicht dienenden Stand be-
zeichneten (engl, knight, buchstäblich — Knecht, konnte daher
eben so gut zu „Ritter" emporsteigen), aber gar nichts Unehren-
Haftes mit sich führen. Bube neigt sich in der heutigen
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch.
411
Schriftsprache allerdings zu vorherrschend übler Bedeutung, aber
Kerl, obwohl es an socialem Rang ebenfalls verloren hat, da
es in der alten Sprache zwar den gemeinen Mann, aber
immer noch als Herrn seines Hauses und Weibes bedeutete),
läßt doch ein Attribut wie brav noch immer zu; nur das engl,
churl bezeichnet kaum noch Anderes als den bäurischen Tölpel.
Was das Wort Bauer anbetrifft, so sind die Zeiten vorbei,
wo es den Begriff der Rohheit mit sich führte; die moderne
Cultur und Litteratnr (der Dorfgeschichten) hat diesen Stand
und Namen vollständig (etwa ausgenommen das in letzter Zeit
aufgekommene „verbauern") in seine alten Ehren wieder einge-
setzt; in England, wo die Landwirthschaft mit freiem Grund-
besitz mehr in den Händen des Adels ruht, haben boor, clown
(aus colonus), villain (frz. vilain, aus villanus) ungünstigere
Bedeutung angenommen. Was von Bauer, gilt auch von Volk
im Sinne von ländlicher Bevölkerung, welcher das früher fest-
stehende und tautologische Attribut gemein kaum mehr zuläßt;
nur dem Fremdworte Pöbel (aus dem frz. peuple, lat. po-
pulus) bleibt mit dem Sitz in den Hauptstädten seine verdorbene
Bedeutung. Die Volksschule hat sich ja bereits so gehoben
und verbreitet, daß der an sich sehr ehrende Titel „Schul-
Meister" dem vornehmeren „Schul lehr er" weichen mußte,
"ur weil er Erinnerungen an gewisse nun abgethane Methoden
von Unterricht und Zucht mit sich sührte.
Daß ein Wort wie Mnthwille, welches in der alten
Sprache noch indifferent, rein psychologisch, Regung und Uebung
des freien Willens bezeichnet, zu dem zweideutigen Sinne ge-
langen konnte, wonach es (übrigens schon im Mittelhochdeutschen)
eine nicht mehr unschuldige Ueberschreitung der natürlichen Frei-
Heitslust mit bewußter Verletzung ethischer Interessen bedeuten
kann, ist nicht zu verwundern, es ist ein Gleiten auf schiefer
Ebene; aber von anderer Art und bedeutsamer scheint die That-
sache, daß Wörter, welche moralische Güte oder wenigstens Un-
schuld bezeichneten, zu Bezeichnungen für Mangel an Jntelli-
genz geworden sind. Bekannt genug ist die abgeschwächte
Bedeutung von gut, durch das Medium von „gntmüthig"
bis zur Meinung von „einfältig", welches letztere Adjectiv be-
412 Tobler
reits fast nur Schwäche des Verstandes besagt, während das
Substantiv Einfalt doch auch noch von kindlicher Unschuld des
Herzens verstanden werden kann, allerdings mit Beziehung auf
die dümit verbundene Unerfahrenheit; vgl. frz. niais aus plattlat.
nidax, Nestling. Aehnlich hat sich im englischen silly aus dem
Begriff von selig durch Vermittlung von harmlos, arglos
der von einfältig (übrigens neben dem von einfach, schlicht)
entwickelt, und ebenso das deutsche alber(n) aus altem ala-wäri.,
für welches übrigens wahrscheinlich nicht der Begriff „ganz
wahrhaft", sondern „freundlich, wohlwollend, gutmüthig" anzu-
nehmen ist (ahd. mandawäri, mitiwäri, mhd. waere sWalt.
v. Vogelw. 76, 22: vil «üe^e waere minne?j, altn. vaer).
Eine Parallele in umgekehrter Richtung, daher eher ein Beispiel
von Milderung des Begriffs, bietet das mhd. tumb (dumm)
mit der häufigen Bedeutung „jung".
Eine letzte Gruppe bilden Wörter, die zwar im Vergleich
mit ihrer ursprünglichen Bedeutung eine Abschwächuug erfahren
haben, ohne jedoch etwas Uebles oder Böses zu enthalten.
Hieher gehören besonders manche durch Euphemismus und Höf-
lichkeit entstandene Bezeichnungen für bloße äußere Ehrbarkeit,
Anstand in Kleidung und Benehmen, während die betreffenden
Wörter ursprünglich eine höhere, innerlich sittliche Qualität be-
deuteten. Das lateinische honestus war doch mehr als das
franz. honnete, welches je nach seiner Stellung vor oder nach
dem Substantiv in sehr bedenklicher Weise zwischen „recht-
schaffen, anständig, höflich, gefällig" hin und her schwankt; vgl.
z. B. une excuse honnete, eine annehmbare, aber doch nur
scheinbare Entschuldigung; un honnete debauche, ein Schwelger
mit Maß (!). Auch das ital. garbo (aus ahd. garwi, Rüstung,
Schmuck) schwebt in einer unsicher» Mitte zwischen Recht-
schaffenheit und Anstand, nur daß das letztere hier der Grund-
begriff ist und insofern eher eine Vertiefung stattgefunden hat,
die aber noch wenig zuverlässig ist und sich ebenfalls mit dem
bloßen Schein begnügen kann. Das engl, respectable bezog
sich ursprünglich auf innern Werth des Charakters, wird aber
jetzt Jedem beigelegt, der eine leidliche Existenz und Stellung
in der Gesellschaft besitzt. Daß man mit dem Titel gentleman
ebenso freigebig geworden ist, wäre wohl erfreulich, wenn damit,
eine zunehmende Verbreitung innern Adels bezeugt würde.
Das Adjectiv derrmr6 soll aus der franz. Phrase de müre
conduite entstanden sein; es vereinigt aber mit der Bedeutung
„ehrbar" die von „spröde, zimpferlich", worin doch auch eine
innere Unwahrheit oder eine Uebertreibung enthalten ist, wie
frz. prüde aus prudus, providus. So hat sich auch an
quainfc, welches urspr. „zierlich" in gutem Sinne von „an-
muthig" bedeutete (aus altfranz. eointe, lat. eognitus, vielleicht
vermengt mit comtus) der Nebenbegriff des Gezierten, Ge-
suchten und durch Sonderbarkeit eher Abstoßenden als An-
ziehenden entwickelt.
Man sieht also, daß ungünstige Nebenbegriffe sich nur
allzuleicht allenthalben anhängen, aber auch Wörter wie Gift
und List unter diesen Gesichtspunkt zu stellen ist doch nicht
nöthig, zumal da in Mitgift die unschuldige Bedeutung des
alten gift — Gabe (Dosis) noch fortlebt und List nicht immer
Mißbrauch von Kunst und Kenutniß (dies die alte Bedeutung
des Ii st ? von lesen) zu sein braucht, was auch von den engl.
Wörtern craft und cimning gilt. Wenn endlich Wohlstand
noch im vorigen Jahrhundert dasselbe bedeutete, was heute
Anstand, so ist es sehr zweifelhaft, ob darin dieselbe Ab-
schwächung des Begriffs vorliege, wie in den kurz vorher an-
geführten und allerdings sinnverwandten Fällen; denn es können
sich an einem Worte im Lauf der Zeit oder sogar gleichzeitig
zwei oder noch mehr Bedeutungen entwickeln, ohne daß die
eine aus der andern hervorgeht, sondern von einander unab-
hängig aus einer mehrfachen Grundbedeutung. Dies findet
besonders statt bei Zusammensetzungen mit oft vieldeutigen
Partikeln. Im Mittelhochd. vereinigt das Verbnm versprechen
die Bedeutungen: vertheidigen und schelten; versprechen
(in dem heute einzig fortlebenden Sinne von „zusagen") und
ablehnen, und von diesen Bedeutungen ist keine aus einer
von den andern, sondern es sind alle vier aus der Ursprung-
lichen Vielseitigkeit der Partikel ver- erwachsen. Wenn der-
gleichen möglich war, so konnte um so leichter im Laufe eines
halben Jahrhunderts aus verschiedener Anwendung der Phrase
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. vi. 27
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch.
413
I
m
414
Nobler
„wohl stehen" die veränderte Bedeutung von Wohlstand her-
vorgehen.
Erst nach allen diesen Einschränkungen wären nun die
allerdings nicht seltenen Fälle auszuzählen, wo aus einer unver-
fänglichen Bedeutung sich eine ausschließlich und wirklich
moralisch schlechte entwickelt hat. Aber da eine genügende
und wohl ziemlich erschöpfende Anzahl von Beispielen aus dem
Deutschen und Englischen in den Anfangs dtirten Abhandlungen
von Bech stein und Müller zu finden sind, so können wir
uns auf wenige Nachträge dazu beschränken.
Karg enthält, von Personen gebraucht, den tadelnden Be-
griff übertriebener Sparsamkeit, gegen sich selbst und Andere;
die ältere Bedeutung war nur „klug, schlau, listig", also noch
indifferent; aber ans dem Begriffe „auf seinen Vortheil bedacht
sein, ängstlich sorgen" (mitteldeutsch kargen, von ahd. cliara,
Sorge, Klage, charac, traurig, ags. cearig, ängstlich besorgt
und vorsichtig) konnte sich der heutige leicht entwickeln. Geiz
(mhb. und noch schweiz. git) hatte immer die üble Bedeutung
des heutigen Gier (welches dagegen in der ältern Sprache auch
in edlerem Sinne gebraucht wurde, als etwa heute noch in
Neugier); wenn schweiz. gitig auch „haushälterisch" bezeichnen
kann, so ist dies schwerlich ein Rest einer ältern noch uuschul-
digen Bedeutung, sondern eher eines der jedenfalls seltenen
Beispiele, wo sich eine bereits schlecht gewordene Bedeutung
wieder milderte und zu ursprünglicher Indifferenz zurückwandte.
Da wir mit dieser Bemerkung die sonst innegehaltenen Schran-
ken der Schriftsprache überschritten haben, so wird dies noch
eher erlaubt sein bei einem Worte, dessen Gebrauch in der
heutigen Schriftsprache sich wirklich nur aus älteren, landschaft-
lich erhaltenen Bedeutungen erklärt. Das Wort niederträchtig,
das wegen seiner Sinnverwandtschaft mit gemein bereits oben
einmal angeführt wurde, zeigt in der That merkwürdige Ver-
schiedenheit von Bedeutungen, und es erneuert sich an ihm die
vorhin bei Wohlstand erhobene, für unsere ganze Untersuchung
wichtige Frage, ob dieselben alle aus einander sich entwickelt
haben oder nicht; denn im letztern Fall verliert die Annahme
einer Verschlechterung der Bedeutungen noch mehr Gewicht, als
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 415
ihr bereits bisher entzogen wurde. Das mhd. niäertrel^tio
bedeutete: „gering geschätzt, niedergeschlagen, gedrückt im Gemüth",
ursprünglich aber wohl in der Haltung vom „nieder Tragen des
Hauptes", im Gegensatz zu „hochtragend (alt. nhd. hoch-
trächtig — stolz), -trabend oder -fahrend (hosfährtig)". Gleich
alt oder noch älter sein muß die im ältern Neuhochd. und in
Mundarten vorkommende Bedeutung „unansehnlich, klein von
Gestalt, niedrig", z. B. von Schafen und Stühlen mit kurzen
Beinen oder auch von einem nur wenig hervorragenden Fels.
Dann folgt die Bedeutung: von gemeiner Herkunft und (darum
vielleicht) demüthig; doch unterscheidet Gellert: „Man kann
seinen geringen Werth fühlen, weil man zu trag ist, sich Ver-
dienste zu erwerben; dies ist Niederträchtigkeit und nicht „De-
mnth". Andererseits hieß gerade der Vornehme, wenn er
nämlich sich herabließ, „niederträchtig", und so auch ein ge-
mein faßlich (populär) geschriebenes Buch. Aus welcher von
diesen Bedeutungen nun die heutige abzuleiten sei, wonach das
Wort uicht bloß gemeine Gesinnung, sondern zugleich die
Absicht bezeichnet, Andern heimtückisch zn schaden, vermögen wir
nicht zu entscheiden; da jene andern Bedeutungen erloschen sind,
deuten wir das Wort leicht vom „Trachten" nach Niedrigem,
aber es wird doch am ehesten auf die Bedeutung „von gemeiner
Herkunft" zurückgehen, indem solche Menschen, in der Gesell-
schaft mißachtet und zu einer gedrückten Haltung genöthigt, aus
Verzweiflung und Ingrimm darüber jenes Verhalten zu ihrer
Lebensregel machen.
Bemerkenswerth ist die doppelte Bedeutung des Wortes
tiefsinnig, welches auch — schwermüthig gilt, nur daß
diese beiden Bedeutungen das moralische Gebiet nicht berühren,
so wie auch Wahn, welches früher neben der heutigen Beden-
tung auch die günstigere von „Hoffnung, Erwartung, Meinung,
Absicht" besaß. Als Beispiel eines Verbums möchten wir
zum Schlüsse uicht lügen anführen, dessen schon im Althoch-
deutscheu feststehende Bedeutung mentiri natürlich nicht am
gothischen liugan, nubere, sondern nur au der auch diesem
zu Grunde liegenden Urbedeutung „verhüllen" zu messen ist,
wohl aber das sinnverwandte trügen, verglichen mit goth.
27*
41G Tobler
driugan, Kriegsdienst thuu (draulit, Heer, Volk, Gefolge, ahd.
trulitio, Führer, Herr), obwohl auch hier nicht das Gothische
die Grundbedeutung zeigt, sondern das Angelsächsische. Hier
bedeutet nämlich dreögan: 1) ertragen, leiden, uud auch 2) aus-
üben, thun. Aus der letztern Bedeutung, besonders aus Ver-
biudungeu wie: gevin dreogan, Krieg sichren, eilen dreogan,
Krastthaten thun, sidas dreogan, Wege machen, reisen, erklärt
sich zunächst das goth. driugan, durch eine Einschränkung des
Begriffs, ähnlich wie in der Schweiz „Dienst" schlechthin für
„Kriegsdienst" gesagt wird, oder griech. epSco, psC<o, urspr.
„thun" überhaupt, speciell für saora taeere, opfern uud beten;
vgl. auch wirken, von weiblicher Arbeit xax' =
sticken, u. a. Der Begriff „trügen" aber, der wie „lügen"
schon im Ahd. der einzige ist, läßt sich schwerlich aus dreogan
1) welches überdies selbst erst aus 2) abzuleiten ist (Mittel-
begriff „durchmachen") etwa wieder dnrch die Betrachtung er-
klären, daß das „Leiden" in dienendem Stande oder unterge-
ordneter Stellung leicht jenen Hang zu Verstellung n. s. w.
erzeuge, wovon bei niederträchtig die Rede war; sondern
da dreogan auch intrans. — thätig, „geschäftig sein" vorkommt,
so wird sich wahrscheinlich aus dem Begriff gesteigerter Thä-
tigkeit und Geschäftigkeit, verbunden mit Gewandtheit und
Schnelligkeit, wie dgl. gerade bei Absicht auf Täuschung leicht
stattfindet, die Bedeutung des „Truges" vorzugsweise entfaltet
haben und dann, wie in den vorigen Beispielen und insbesondere
wie militari im goth. dringan, allein herrschend geblieben sein.
Im altnord. driugr finden wir die Bedeutung „ausdauernd"
auch bis zu „trotzig" gesteigert. Das begriffliche Zusammen-
treffen nnsers Wortes Trug mit sanskr. drogka ist ausfallend,
und die von Kuhn (Zeitschr. I, 179 ff.) angenommene Jden-
tität mit demselben ist möglich, dagegen hat die weitergehende
mit lügen und mit griech. d-tpsxVj?, TsX^iv (deren
Bedeutung wohl stimmen würde) lautliche Bedenken gegen sich.
Nunmehr kommen wir zum positiven Theil unserer
Aufgabe, d. h. zu dem Nachweis, daß Bedeutungen auch nach
der guten Seite hin sich geändert, also eine aussteigende
Entwickluug eingeschlagen haben, allerdings nicht von schUmmer,
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebranch.
417
sondern nur von indifferenter Grundlage aus. Hieher ge-
hören mehrere Adjectiva, welche von Bezeichnung bloßer Brauch-
barkeit oder Leistungskraft überhaupt sich zur Bedeutung sitt-
licher Tugend erhoben oder vertieft haben. Fromm, dessen
ältere Bedeutung noch im Verbum fro mmen — helfen, nützen,
und in der Formel „zu Nutz und Frommen" fortlebt, hat seine
jetzt vorherrschende Beziehung auf den religiösen Grund sitt-
licher Tüchtigkeit durch das Moment des Sanften, Willigen
angenommen, wonach es auch von zahmen Thieren gebraucht
werden kann. Bieder, heute von gradem, ehrlichem Charakter,
bezeichnet in seiner älteren Form biäerde (urspr. mit Accent
ans der zweiten Silbe, zu darben, verderben) nur „brauch-
bar", wie yprßioz von xpaojxai. Wacker ist urspr. nur:
wachsam, aufgeweckt, munter, rührig. Tapfer — slav. dobr
honus, geht aus vom Begriff gravis, auch von Körperschwere,
dann „gewichtig, ernst", welcher Begriff sich im altnord. dapr
sogar zu „trübe, traurig" verwandelt hat. Weise wurde früher
selten absolut gebraucht und bezeichnete auch nicht Kenntniß der
höchsten sittlichen Weltordnung, sondern galt überhaupt = kun-
dig irgend welcher Dinge. — Das engl, nice vom altfranz.
nisce, lat. nescius, ist von der sogar ungünstigen Bedeutung
„unwissend, thöricht, albern" durch den Mittelbegriff „achtsam
auf Kleinigkeiten, peinlich genau" zu der günstigen Bedeutung
„sorgfältig, zierlich" aufgestiegen. Das adjectivische Particip
trunken brauchen wir heute, im Unterschied von betrunken,
nur noch von edler Begeisterung. Bescheiden, urspr. eben-
falls Partieip, bedeutete im Mhd. nur „verständig", dann wohl
auch „billig und mäßig in Anforderungen". Das Substantiv
Fleiß hat nur in der Verbindung „mit Fleiß" — mit Absicht,
seine frühere indifferente Bedeutung behalten, sonst bezeichnet es
absolut und prägnant „Eifer in Gutem, im Beruf." Ver-
geben hieß früher „schenken" überhaupt, dann auch „vergiften"
(wie noch mundartlich), ist nun aber — verzeihen geworden,
welches mhd. ebenfalls noch allgemein „entsagen" (auch ver-
sagen) bedeutete.
Eine zweite Gruppe dieser Reihe bilden Wörter, welche
zwar nicht zu einer wirklich guten Bedeutung gelangt sind, aber
418 Tobler
eine ursprünglich ungünstige merklich gemildert haben. Aus
dem lat. calumnia entstand altfrg. chalonge, welches nicht mehr
„Schmähung, Verleumdung", sondern nur Bestreitung eines
gegnerischen Anspruchs bedeutet und im engl, ch allenge auch
positiv „Anspruch, Herausforderung, Wettstreit". Aus lat.
Vagus entwickelte sich im itcil. vago die Bedeutung „reizend"
und sogar die substantivische „Liebhaber", wobei freilich nicht
Treue das wesentliche Merkmal sein kann. Vitium milderte
sich im ital. vezzo successiv zu den Bedeutungen „Unart, Ge-
wohnheit, Lust"; awezzare heißt „gewöhnen", vezzoso „rei-
zend", wohl mit dem Hintergrund „verführerisch"; im Spa-
nischen bedeutet vicio auch „üppiges Wachsthum der Pflanzen"
(sowie umgekehrt üppig, im Deutschen auch von Menschen
gebraucht, Neigung zu geschlechtlicher Ausschweifung bezeichnet).
Moralisch, nicht logisch betrachtet kann freilich die Milderung
des Begriffs „Laster" zu dem von „Gewohnheit" und „Lust"
nur als eine Beschönigung und insofern als Verschlimmerung
erscheinen und ist bezeichnend für die laxere Auffassung der sitt-
lichen Verhältnisse, besonders der geschlechtlichen, bei den Ro-
manen. Ital. meschino, frz. mesquin haben ihre setzige Be-
deutung aus der des Grundwortes, arab. meskin, arm, elend,
entwickelt; aber im Altfranz, hieß meschin auch „schwach, zart,
jung" und wurde als Subst. zur Bezeichnung dienender Knaben
und Mädchen gebraucht. - Auf deutschem Boden finden wir
die Bedeutung des Wortes Schalk in neuerer Zeit insofern
gemildert, als es wie „Schelm" auch bloßen Muthwillen ohne
böse Absicht bezeichnen kann, während im Mhd. aus der unver-
fäuglicheu Bedeutung „Knecht" sich die eines knechtischen, heim-
tückisch treulosen Sinnes entwickelt hatte. (In der Schweiz
bedeutet Schalk einen übellaunischen, eigensinnigen, im Umgang
unartigen Menschen.) Ahd. vreidi bedeutete „abtrünnig (aus
ver-eidi, per jurus?) flüchtig". Daraus entwickelten sich im
Mhd. vreide, vreidec die Bedeutungen „verwegen, kühn, trotzig,
übermüthig, keck, leichtsinnig, wohlgemuth, muthig". Auf ro-
manischem Boden sin den wir das Wort in Übeln Sinn über-
gegangen und festgehalten; provenzal. fraiditz, fraidel, afrz.
fradous, elend, gottlos, mit derselben Begriffsentwickelung wie
AesthetischeS und Ethisches im Sprachgebrauch. 419
zwischen altdeutsch recke und engl, wretcli. Am auffallendsten
haben die Bedeutungen auf und ab geschwankt bei dem eben-
falls nur der alten Sprache angehörigen Worte gemeit.
Im Goth. bezeichnete gamaids körperliche Gebrechlichkeit; cihd.
gameit ist „stumpfsinnig, thöricht, eitel" ebenso ags. gemad,
arnens, engl, mad, toll; im Mhd. aber erhebt sich der Begriff
zu „fröhlich, stattlich, tüchtig". Goth. dvals ist „thöricht",
ags. dval, dvol, dol ziemlich dasselbe, eitgl. dull etwas milder
„träge, stumpf, langweilig", deutsch toll völlig geisteskrank oder
wenigstens bis an Wahnsinn streifend; (in der Schweiz freilich
ist das Wort durch den Mittelbegriff ausgelassener Lustigkeit zu
„lustig, hübsch, üppig gesund" aufgestiegen, so wie steif im
Kanton Bern „stattlich, sauber, hübsch" bedeutet). Gemilderte
Bedeutung zeigt auch noch verlegen, welches nach heutigem
Sprachgebrauch nicht nothwendig irgend eine Verschuldung vor-
aussetzt, während im Mhd. das Moment einer Versäumuiß
(zu lange liegen geblieben sein und dadurch einen Termin
verfehlen) wesentlich ist. Endlich führen wir hier noch an häß-
lich, welches amhd. subjectiv „voll Haß, feindselig" bedeutet,
dann objectiv „hassenswerth, verhaßt", nun aber sich gemildert
hat, insofern ästhetische Mängel (an die wir setzt bei dem
Worte denken, auch wenn es zugleich moralisch verstanden wird)
einen persönlichen Vorwurf begründen wie ethische.
Bei einer dritten Gruppe besteht die Erhöhung des Be-
griffs nur darin, daß er überhaupt enger, geistiger, d. h. dann
aber oft eben geradezu und ausschließlich sittlich, gefaßt wird.
Hieher gehören die zum Theil in der Zeitschr. V, 334—5 an-
geführten Wörter: Muth, jetzt nur noch in Zusammensetzungen:
Demnth, Wehmuth u. s. w. — Sinn, Gemüth überhaupt, sonst
= sranz. courage; Tugend, früher — Brauchbarkeit, Tüch-
tigkeit (zu taugen), Kraft, auch von Dingen, von Menschen
höchstens — Schicklichkeit, Lebensart; Liebe, früher objectiv
Freude, Lust; Reue — Betrübniß, Trauer überhaupt, ethisch
höchstens----Mitleid; Gewissen, früher — Wisfen, Bewußt-
sein überhaupt, ähnlich wie Witz aus der Bedeutung „Verstand"
sich verengt hat; Schuld und Buße, beide auch noch von
rechtlichen Verhältnissen, daneben aber von rein moralischen.
420
Tobler
Pflicht war im Mhd. ein sehr vielseitiges Wort; es konnte
bedeuten: Fürsorge, Dienst, Theiluahme für Personen, Verkehr
mit ihnen, dann aber auch persönlicher Besitz, Gewohnheit,
Lebensweise, alles entsprechend den Bedeutungen des Verbums
pflegen, der heutige Begriff von Pflicht war inbegriffen in
dem des mhd. reht; Ehe, ahd. ewa, war nrspr. Zeit (—lat.
aevum), dann: durch die Zeit geheiligtes Gesetz, rechtliches
Institut oder Verhältuiß (so noch in manchen landschaftlichen
Zusammensetzungen, wie: Ehefaden, Ehegraben). Ehrlich, einst
— ehrenwerth, ehrenhaft, ehrenvoll, wie etwa noch heute: ehr-
liches Begräbniß; nun aber hat sich der Begriff ungefähr ebenso
viel verinnerlicht wie honestus, in frz. honnete n. s. w. (s. o.)
veräußerlicht. Redlich galt in der alten Sprache — verständig,
ordentlich, redewerth; aus den auch dort schon vorkommenden
Bedeutungen „gebührlich" und „echt" konnte die heutige er-
wachsen.
Als letzter Theil unserer Aufgabe bleibt nun noch die
Erklärung aller dieser Erscheinungen, so weit sie überhaupt
noch und in ausdrücklicher Form gegeben zu werden braucht,
nachdem sie durch die Anordnung der Thatsachen selbst und
manche eingestreute Bemerkung bereits theilweise anticipirt worden
ist. Am meisten scheint natürlich der sogen. Pessimismus eine
Erklärung zu verlangen, aber er ist ja mehrfach eingeschränkt
und zwar nicht aufgehoben, aber aufgewogen worden durch
das entgegengesetzte Phänomen, das eine Erklärung, wenn
sie überhaupt noch nöthig ist, im Grunde eben so sehr erheischt.
Wahrscheinlich werden die Ursachen beider Erscheinungen, welche
ja in einzelnen Fällen, je nach dem Standpunkte der Betrach-
tnng, sast in einander zu verfließen schienen, theilweise dieselben
sein; da aber immerhin die pessimistischen der Zahl nach
überwiegen mögen, so wollen wir zunächst fragen, ob sich
irgend welche besondere Gründe für diese Neigung denken
und nachweisen lassen. Vorher wollen wir nur noch bemerken,
daß das Aufkommen von Benennungen für schlimme Erschei-
nungen, wenn diese einmal da sind, wenigstens insofern auch
ein gutes Zeichen ist, als dadurch ein unerloschenes, vielleicht
----------------irrarmii
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 421
sogar geschärftes moralisches Bewußtsein immerhin bezeugt
wird.
Die einfachste Erklärung, welche aber kaum diesen Namen
verdienen würde, wäre die dem gewöhnlichen Sinne von „Pessi-
mismus" entsprechende Annahme, daß die Zunahme schlimmer
Färbung der Wortbedeutungen eine Folge zunehmender Ver-
schlimmerung der wirklichen Zustände in der menschlichen Welt
sei, welche in der Sprache einen mehr oder weniger unmittel-
baren und unvermeidlichen Abdruck finden. Abgesehen nun da-
von, daß die fortschreitende Verschlechterung der Welt selber
ebenso wenig bewiesen ist wie das Gegentheil, also auch nicht
etwas Anderes erklären kann, darf der zum Behuf der Erklä-
rung als selbstverständlich angenommene Einklang und Causal-
Zusammenhang zwischen Welt und Sprache ebensowenig znge-
geben werden. Vom Ursprung der Sprache an, durch ihre ganze
Geschichte hindurch gilt der schon in Platons Kratylos ansge-
sprochene Satz, daß die Sprache nicht eine Offenbarung der
objektiven Welt sei, sondern als eine eigenen Gesetzen folgende
Welt zunächst innerhalb des menschlichen Geistes selbst und
dann zwischen ihm und der äußern Welt sich festgesetzt habe.
Es ist nun zwar kein Zweifel, daß die in der Sprache selbst
geschaffene Objektivität des denkenden Geistes nnt der wirklichen,
sachlichen in irgend einem gesetzlichen Zusammenhang stehe, ja
auch daß sie den Veränderungen der letztern irgendwie nachrücke,
aber die Weite des Abstandes und das Tempo der nachrückenden
Bewegung hat noch Niemand ermessen. Bevor also dieses
Mittelgebiet abgesteckt und eingetheilt ist, müssen Schlüsse von
sprachlichen Bedeutungen auf wirkliches Geschehen oder umge-
kehrt abgewiesen werden. Ausnahmsweise kann es wohl vor-
kommen, daß eiuzelne Wörter ziemlich rasch in Folge von Ver-
ändernngen, welche mit den betreffenden Dingen durch be-
stimmte Ereignisse vorgegangen sind, in ihrer Bedeutung steigen
oder sinken. Aber solcher Wechsel trifft ja selten die Grund-
begriffe der sittlichen Welt, sondern meist nur einzelne Produkte
der äußern Cultnr. — Auch die subjektivere Erklärung, welche
Bechstein (a. a. O. 331) giebt, daß nämlich das Sinken der
Bedentnngen eine Folge der Unzufriedenheit und mißtrauischen
422 Tvbler
Vorsicht sei, womit jede spätere Zeit, wie der einzelne Mensch
im reiferen Alter, ihre Weltansicht strenger und kälter als in
der Jugend gestalte — auch diese Erklärung ist unhaltbar,
schon weil die ganze Parallele zwischen geschichtlichen und in-
dividuellen Lebensperioden haltlos ist, indem sie selber schon
auf optischer Täuschung und pessimistischer Neigung beruht.
Ohue Zweifel hat sich die dem Alter eigentümliche Bedenklich-
keit und Unbehaglichkeit schon bei den Greisen des höchsten
Alterthums eingestellt; auch die Sagen vom geschwundenen gol-
denen Zeitalter sind uralt und so finden sich auch Spuren von
gesunkener Wortbedeutung schon in den ältesten Sprachdenk-
malern; oder wo in späterer Zeit sollte denn das Altern und
die Trübung der Lebensansicht erst begonnen haben? Jeden-
falls müßte, bevor von diesem Gesichtspunkte aus eiu Zeitalter
als schlechter denn das vorherige erklärt werden dürfte, der
Wortschatz auch des letztern nach der schlimmen Seite hin mög-
lichst vollständig erwogen werden. Eine fernere Ansicht wäre,
durch den bloßen langen und häufigen Gebrauch selbst
schleifen sich Wörter wie Münzen ab und es hänge sich an sie
aus dem alltäglichen Verkehr allerlei Unreines, sobald ihre Be-
dentung auch nur den kleinsten Raum dasür lasse. Aber dazu
müssen doch besondere sachliche Gründe hinzukommen. Man
kann die tröstliche Ansicht hegen, daß im großen Ganzen der
Weltgeschichte das Gute dem Bösen stets die Waage gehalten
habe und sogar, daß es bestimmt sei, nach altpersischer und
christlicher Ansicht das Böse immer mehr, schließlich vielleicht
ganz zu überwiegen, so wird man doch immerhin dem Bösen
den Vorzug (wenn es einer ist) vor dem Guten einräumen
müssen, daß es in der sichtbaren Welt einen breitern Raum
einnehme, eine größere Mannichsaltigkeit von Erscheinungsweisen,
gleichsam Spielarten, erzeuge, also wohl auch mehr „von sich
reden" mache und darum einen größern Auswand von sprach-
lichen Bezeichnungsweisen erfordere. Das Gute ist im Ver-
gleich mit dem Böseu das Einfachere, das reine ungebrochene
Licht; die vielfarbigen Ausstrahlungen, in denen auch es sich
darzustellen scheint, rühren eben von Mischung mit Elementen
her, die sonst ebenso sehr oder noch mehr dem Bösen dienen,
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 423
dessen Gefahr wesentlich in der Vielgestaltigkeit liegt, womit es
uns allenthalben umgiebt und anzieht. Das Böse ist ja leider
auch immer das Leichtere, also in zweifelhaften Fällen das
Wahrscheinlichere; die Nebergänge zu ihm sind ebenso zahlreich
wie seine eigenen Nuancen. Diese Auffassung mag mehr oder
weniger richtig sein, — sie soll nicht Alles erklären, sondern
wir müssen nun das Wesen der Sprache selbst hinzunehmen,
in welcher sich ja diese Weltordnung irgendwie reslectiren soll,
wenn auch durch mehrfache Medien hindurch. Die Sprache
hat von Haus aus den Drang und eigentlichen Beruf, mög-
lichft anschaulich und individuell abzubilden, was in der Vor-
stellung Physisches und Ethisches lebt. Sie greift also in die
Erscheinungswelt frisch hinein, sie nimmt das bunte Leben, wie
es sich lebendiger Phantasie darbietet, sie ist nicht ängstlich in
der Wahl der Mittel, um die vom Geist an sie gestellten For-
derungen von Symbolen oder Stützpunkten seines Denkens zu
befriedigen, und sie darf es um so weniger sein, je mehr der
Geist, selber fortschreitend, jene Forderungen steigert. So mitten
in jenes wirre Treiben der Welt hineingestellt und von diesen
Ansprüchen gedrängt — ist es da zu verwundern, wenn sie
hie und da vor lauter Dienstwilligkeit fehlgreift, wenn sie, mit
fortgerissen von den trügerisch wechselnden Erscheinungen, am
Guten einen nachhinkenden oder vorauseilenden Schatten des
Schlechten erhascht und schnell verwendet, öfter als umgekehrt,
weil das Gute überhaupt weniger Schatten wirft? Daß dann
das Böse, einmal in die Namengebung eingeschlichen, meistens
haften bleibt, fortwirkt, sich selbst vermehrt und nächste Umge-
buugeu ansteckt, auch das begreift sich ans dem Weltlaus. Auf
der Sprache nahe liegenden oder wirklich angehörenden Ge-
bieten beobachten wir Aehnliches: Charaktere der deutschen Hel-
densage, welche von Anfang etwas zweideutig angelegt waren,
neigen sich in der dichterischen Behandlung folgender Zeiten
immer entschiedener dem Schlechten zu; Citate aus Classikern
werden zu „schlechten Witzen" parodirt (f. d. Zeitschr. IV, 491),
und Wackernagel (Pfeiffer, Germania 5, 317—354) hat
nachgewiesen, daß sogar Eigennamen von Personen, diese un-
lebendigsten Bestandtheile des Wortschatzes, nachdem einmal
424 Tvbler
durch Häufigkeit ihres Gebrauchs innerhalb der untern Stände
ein appellativer Sinn (Bezeichnung stehender Charakterzüge aus
jener Sphäre) in ihnen wieder auferweckt worden, denselben
durchgängig nach der schlimmern oder gemeineren Seite weiter
entwickeln (vgl. Groß-Hans, Janhagel, Furcht-Gret, Heinzel,
Namen von Thieren und Gerätheu, wie engl. Jack, Struwel-
peter, Saumichel, Pumpernickel; Metze, Verkürzung von Mech-
tild, Mathilde).
Als ein besonderes Moment, welches den Ausschlag nach
der schlimmern Seite geben kann, führen wir hier noch einmal
die fremde Herkunft an, die manchen Wörtern, auch wenn
sie oder gerade wenn sie nationalisirt find, eine besondere
Neigung zu ungünstiger Bedeutung aufprägt. Beispiele davon
haben wir gelegentlich da und dort bemerkt; es werde hier nur
noch nachgetragen: franz. bouquin, Scharteke, zunächst aus
dem niederländ. boekin, Diminutiv von Buch; Libell, Schmäh-
schrift, engl, censure, Tadel; franz. here, Tropf, ans dem
Deutschen Herr. Daß aber auch die Romanen gegen ein-
ander unartig sein können, zeigt das franz. habler, prahlen;
aus spau. hablar, sprechen (lat. fabulari), was die Spanier
mit parlador, Schwätzer, vergolten haben. — Wenn die
Italiener das Vorzügliche leicht pellegrino (peregrinus,
fremd) nennen, so ist das Ausfluß eines auch andern Nationen
eigenen Hanges zu Überschätzung des Fremden und findet über-
dies in strano (frz. etrange, lat. extraneus) sein Gegengewicht,
welches nicht bloß „seltsam, wunderlich", sondern anch „grob,
trotzig, zornig" bedentet. Merkwürdig ist auch noch das Wort
brav, welches vielleicht ursprünglich deutsch (ahd. hraw, das
heutige roh), aber erst im siebzehnten Jahrhundert ans dem
Französischen neu herübergekommen, die Bedeutung ungestümer
Tapferkeit (ital. span. bravo, wild, unbändig, auch von
Thieren und Pflanzen) bedeutend veredelt und zu der von
Rechtschaffenheit erweitert hat, während freilich daneben die
von Leistungsfähigkeit überhaupt, z. B. in Künsten (bravo!
hat's brav gemacht! als Beifallsruf) und in der Volkssprache
(der Schweiz) auch die von rein körperlicher Stärke und Ge-
sundheit fortdauert. — Beispiel eines wirklichen Fremdworts
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch.
425
mit zunehmend verschlechterter Bedeutung ist Idiot, was
bei den Griechen doch noch lange keinen Blödsinnigen be-
zeichnete.
Ein anderes Specialmotiv von nicht ganz nur sprachlich
formaler Art, für Verschlechterung der Bedeutung, ist Euphe-
mismus, aus der Scham in natürlichen und geschlechtlichen
Dingen, aus Schonung und Vorsicht in Nennung schweren
Unglücks, aus Scheu vor Entweihung heiliger Namen in schwur-
artigen Betheuerungen. Wenn nämlich der Euphemismus nicht
einfach bei umgehendem Verschweigen unanständiger („un-
höfischer" im Mittelalter, s. Pfeiffer, Freie Forschung S. 354)
Wörter stehen bleibt, sondern nothgedrungen irgend einen Ersatz
bieten will, so wird er leicht veranlaßt, ein sonst ganz nnschnl-
diges und möglichst allgemeines Wort wie etwa Ding durch
solchen stellvertretenden Gebrauch mit einem Anflug der Qua-
lität des Verschwiegenen zu beHaften oder geradezu die gegen-
theilige Benennung anzuwenden, wie z. B. im Mhd. saelec
auch — unsaellec im Sinne von „verwünscht" gebraucht
wurde. Es kann sich dazu Umdentung und Umformung ge-
seilen, wie im schweiz. „Gutschlag" (Gehirnlähmung, Apoplexie),
wenn es nicht aus frz. goutte, Gicht, sondern ans dem mhd.
gotes slac entstanden ist, in der Meinung, daß solche Zufälle
unmittelbar von Gott kommen (oft als wirkliche Wohlthaten,
z. B. in kränklichem Alter oder bei schwerem Unglück), sowie
Wahnsinn und Blödsinn nach der Ansicht des Alterthums und
Mittelalters unter besonderer göttlicher Obhut standen.
Doch find das Alles Nebendinge und Ausnahmen: für
den ganzen Rest, d. h. die überwiegende Mehrzahl von Be-
deutungsänderuugeu, welche das ethische Gebiet auf seinen
Grenzen oder in seiner Mitte berühren und nicht besondere
sachliche oder sprachliche Gründe obiger Art haben, dürfen
wir nur dieselben rein sprachlichen, logisch-psychologischen Mo-
tive annehmen, welche den Bedeutungswandel überhaupt,
auch aus indifferentem Gebiete, zur Folge haben. Das
Wunderbare — wenn ein solches hier vorliegt — ist eigentlich
gar nicht der Wechsel zwischen höherem und niederem
ethischen Werthgehalt mancher Wörter, sondern daß überhaupt
426
Tobler
Wörter von ethischem Inhalt vorhanden sind; sind sie ein-
mal da, so verfallen sie, zunächst als rein logische Größen,
von selber dem Spiel aller möglichen Associationen, Anziehungen
und Abstoßungen, Verdichtungen und Wiederauflösungen, welche
den uatürlichen Verlauf und Zusammenhang unserer Gedanken
ausmachen; nur an gewissen Knotenpunkten des allgemeinen
Jdeenverbandes fiudet die freie Bewegung ihre ebenso natür-
liche Schranke und empfängt bestimmte Richtung durch den
Einfluß herrschender Vorstellungsmassen, welche herrschenden
Strömungen des wirklichen Lebens entsprechen. Im Uebrigen
dürfen wir nie vergessen, daß die Auflösung der Sprache iu
einzelne Wörter eine künstliche Abstraction ist; die Wörter leben
ja mit allen ihren Bedeutungen nicht in den Spalten und Ru-
briken des Wörterbuches, sondern am Ende doch nur im Zu-
sammenhang der lebeudigen Rede, und dieser sorgt jederzeit
dafür, daß auch kühne Uebertragnngen nicht mißverstanden
werden. Dadurch, daß die Formel „schlecht und recht", wo
schlecht noch seine alte Bedeutung — schlicht hat, heute noch
fortlebt, wird das Bewußtsein über den sonstigen Gegensatz
von schlecht und recht nicht verwirrt, weil hundert andere
Verbindungen ihm zu Hülfe kommen. Umgekehrt erklärt sich
manche ans den ersten Blick seltsame Bedeutungsänderung eben
nur daraus, daß das betreffende Wort zu einer Zeit, wo seine
Bedeutung noch weniger entschieden ausgeprägt war, häufig
mit gewissen andern verbunden vorkam, welche ihm allmählich
etwas von ihrem bestimmteren Sinne mittheilten und so seine
eigene Bedeutung in engere Kreise bannten. Diese letztere Folge
konnte auch eintreten, wenn ironischer Gebrauch gewisser
Wörter, im Sinne ihres Gegentheils, irgendwie veranlaßt und
üblich geworden war und man sich dann mit Recht scheute,
das einmal so anrüchig gewordene Wort auch wieder in seinem
früheren, unschuldigen Sinne anzuwenden. Gleichmäßig fort-
schreitende Verengerung und Erweiterung des Begriffs
ist überhaupt der allgemeinste und fruchtbarste Trieb in der
Entwicklung der Wortbedeutungen; denn jede Erweiterung wird
doch nur mit Verengerung auf einer andern Seite erkauft; neue
Verbindungen machen ältere auf die Länge unmöglich. Auf
Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch. 427
diesem Wege kann es geschehen, daß Wortbegriffe bloß durch
schärfere Fassung aus ursprünglicher Indifferenz heraus in eine
neue Sphäre, z. B. die geistige uud speciell die ethische, gerückt
werden uud hier sofort nach der guten oder schlimmen Seite
sich entscheiden müssen; quantitative Veränderungen haben also
auch hier qualitative zur Folge. Ein Begriff, auf die äußerste
Grenze seines Umfangs getrieben, kann in sein Gegentheil um-
schlagen, wie ja die Extreme auch in der Wirklichkeit sich be-
rühren; er kann aber auch, seine bisherige Sphäre überschreitend,
disparat, heterogen werden, indem er in eine niedrigere zurück-
sinkt oder in eine höhere aufsteigt. Beispiele sind gerade die
Centralbegriffe unserer ganzen Untersuchung: gut und schlecht,
edel und gemein; andere zu wiederholen und neue anzuhäufen
ist hier nicht mehr der Ort.
Dagegen wollen wir zum Schluß zweier Thatsacheu ge-
denken, welche zunächst die Möglichkeit rein sprachlicher Ursachen
von Begriffsunterschieden bestätigen, anderseits auch die Parallele
zwischen ethischen und ästhetischen Erscheinungen im Sprachge-
brauch noch einmal hervortreten lassen.
Bechstein hat richtig bemerkt, daß nicht nur an selbst-
ständigen, ganzen Wörtern, sondern auch an Ableitungs-
sylben eine Neigung zu übler Bedeutung sich kund gebe. Dies
gilt vor allem von der Bilduugssylbe -isch an Adjectiven
welche im Mhd. noch keine specisische Färbung hatte, während
im Neuhochdeutschen „kindisch, weibisch, herrisch, höfisch" von
den mit -lich aus deuselbeu Substantiven gebildeten Adjectiven
fühlbar ungünstig abstehen („Heimisch" im Vergleich mit „heim-
lich" bildet dazu keinen Gegensatz). Zufällige Analogie mag
hier mitgewirkt haben; doch könnte ein tieferer Grund darin
gelegen sein, daß schon in der alten Sprache mit -isk Adjectiva
von Völkernamen gebildet wurden, also der Begriff von etwas
Ausländischem, Fremdem sich daran hängte, was dann mit der
Übeln Bedeutung von Fremdwörtern stimmen würde. Aehnliches
3ilt von der Sylbe -ei, mit welcher weibliche Substantiv«
gebildet werden und welche selber romanischen Ursprungs ist
(franz. -je, ital. lat. griech. -ia, mhd. -ie). Auch - liug hat
an Benennungen von Personen etwas Zweideutiges, zum Theil
428 Tobler: Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauch.
vielleicht noch herrührend von der ursprünglichen Bedeutung der
Elemente -l- (Verkleinerung) und -ing (Abkunft), so daß in
einzelnen Fällen der Begriff von Verkümmerung und Zwitter-
haftigkeit dadurch angedeutet werden konnte.
Nun giebt es aber, ganz ohne materiellen Bedeutuugs-
unterschied, auch Formen der Flexion, welche, rein ästhetisch,
mehr oder weniger edel im Gebrauche sind. Manche Verkür-
znng von Endungen durch Ausstoßung oder Abstreifung des
touloseu -e- sind nur in der gemeineren Sprache erlaubt und
gangbar, sie stehen ihr auch recht gnt, während die edlere die
vollen Formen verlangt, vollends kein 's für es, 'nen für
einen u. dgl. zuläßt. Besonders gehören hieher einzelne
Präterita der starken Conjngation, welche etwas veraltet und
in der gewöhnlichen Sprache meistens durch schwache Formen
verdrängt, im edlern Stil aber, der überall das alte begünstigt,
noch immer wohl angesehen sind. Z.B. roch, gerochen für
rächte, gerächt (letzteres einigermaßen gerechtfertigt durch das
Zusammentreffen mit riechen); erscholl, -en, neben er-
schallt, -e; gemolken und molk; schnob — geschnoben,
von schnauben; geheischen; auch ward ist edler (überdies
richtiger) als wurde (urspr. Conjnnctiv). In der Deelination
verhalten sich ähnlich einzelne Formen wie: Thale, Lande zu
den umlautenden Formen mit =erf nur daß hier die Spaltung
der Formen auch feine Modisicationen der Bedeutung mit sich
führt. —
L. Tobler.
G. B. Vico. Studii critici e comparativi di Carlo
Cantoni. (Torino, Civelli 1867.)
1. Göthe und Gans über Vico.
Göthe erzählt in seiner „Jtaliänischen Reise" in einem
Briefe vom 5. März 1787:
Filangieri, der berühmte Rechtsgelehrte, habe ihn mit
einem alten Schriftsteller bekannt gemacht,
„an dessen unergründlicher Tiefe sich iuese neueren Jtaliänischen
Gesetzfreunde höchlich erquicken und erbauen, er heißt Johann
Baptista Vico; sie ziehen ihn dem Montesquieu vor.
Bei einem flüchtigen Ueberblick des Buchs, das sie mir wie
ein Heiligthum mittheilten, wollte mir scheinen, hier seien
Sibyllinische Vorahnungen des Guten und Rechten, das einst
kommen soll oder sollte, gegründet auf ernste Betrachtungen
bes Ueberlieferten und des Lebens. Es ist gar schön, wenn
ein Volk solch einen Aeltervater besitzt."
Der flüchtige Blick hatte Göthe nicht irre geleitet.
Gans stimmt mit ihm überein. In seiner Vorrede zn
Hegel's Philosophie der Geschichte sagt er: Die Philosophie
der Geschichte ist der am spätesten angefangene und zugleich
dürftigsten bekannte Theil der sogenannten praktischen Phi-
losophie.
„Erst mit dem Anfange des achtzehnten Jahr-
Kunderts beginnt in Vico das Bestreben, der bis dahin
%tl§ als eine Aufeinanderfolge zufälliger Begebenheiten, theils
ein geglaubtes, aber unerkanntes Werk Gottes betrachteten
beschichte, den Gedanken ursprünglicher Gesetze und einer Ver-
nunft unterzulegen, der die Freiheit des Menschengeschlechts so
Zcitschr. für Vvlkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. 90
430
weit entfernt ist zn widersprechen, daß sie vielmehr den Boden
ausmacht, ans dem jene sich erst hervorthnn kann "
Er sagt dann weiter:
„Vico's Leben nnd schriftstellerische Arbeiten fallen in
eine Zeit, wo die alten Philosophien von der eartesianischen
verdrängt wnrden." „Wenn er in der Lcisn^a nuova die
Principien der Geschichte answeisen möchte, kann (er) dieß nur
an der Hand des Alterthums, nur durch die klassischen Philo-
sopheme der Vorzeit, er wird daher in seinen Untersuchungen
mehr an die alten Vorgänge als an die neuen gewiesen sein;
die Feudalität und ihre Geschichte ist mehr eine Beilage zu der
Entwicklung Griechenlands und Roms."
„Dann aber hat er sich noch mit den Grundlagen des
menschlichen Geistes, mit der Sprache, mit der Dichtkunst, mit
Homer zu beschäftigen, er hat als Jurist in die Tiefen des
Römischen Rechts zu steigen und diese zu betrachten, und alles
dieses, Urgedanke, Episode, Ausführung und Zurückkommen auf
das Prineip, ist mit einer Lust zu Etymologieen und zu Wort-
erklärnugen verbrämt, die sich oft mehr hemmend als störend
den schwierigsten EntWickelungen entgegensetzen. Die Meisten
werden so durch Aenßerlichkeiten vor Tiefen abgehalten,
weil sie nicht reinlich genug auf der Oberfläche ausgelegt sind,
und die Golderze werden mit den Schlacken wegge-
worfen, die sie umhüllen."
2. Eantoni.
Dies zu verhüten ist Eantoni's Werk wohl geeignet.
Der Verfasser, jetzt Professor am Liceo Parini und an der
Academia Scientifica letteraria in Mailand, giebt nach einer
geharnischten Vorrede, in welcher er seinen Standpunkt dem
au der Turiner Universität vorwiegenden theologischen nnd
philosophischen Dogmatismus gegenüber rechtfertigt, eine Lebens-
Skizze Vico's.
Veurtheilung.
431
3. Vico's Leben (im Anschluß an seine
Autobiographie).
Am 23. Januar 1668 ist Vico von armen Eltern zu
Neapel geboren.
Sein Vater, ein geringer Buchhändler, hinterließ ihm
nichts als einen guten Namen. In seinem zehnten Jahre be-
gann er das Studium der Logik, dann das der Metaphysik,
dann begeisterte er sich für die abstracten und allgemeinen
Grundsätze der Billigkeit in der Jurisprudenz und für die
Macht der Worte und Formeln des Römischen Rechts.
Dies war die Art, in der er es unternahm, theoretische
und praktische Vernunft zu studiren. Schon in seinem 16. Jahre
trat er öffentlich als Jurist auf, und gewann einen Prozeß für
seinen Vater. Neun Jahre verlebte er dann auf Jschia, auf
dem Schlöffe des Bischofs, dessen Neffen er in der Jurisprudenz
unterrichtete.
Dies war die fruchtbringende Zeit seines Lebens. In der
herrlichen Lust der Insel konnte er in ungestörter Einsamkeit,
sorgenfrei, die reichhaltige Bibliothek des Bischofs zu seinen
Studien benutzen; Augustinus, Plato, Aristoteles las er wohl
drei Mal durch. Er dankt jenen Wäldern, in denen lnstwan-
delnd er sich erholte, die Befestigung in seinen Principien der
antiken Philosophie, Geschichte und Jurisprudenz, mit denen er
später den Vorurtheilen der wissenschaftlichen Welt entgegentrat.
Zurückgekehrt nach seiner Vaterstadt Neapel, fühlte er sich da
fremd, und blieb es auch sein ganzes Leben hindurch.
Der Zustand der Literatur und Wissenschaft war tief ge-
funken. Nachdem er sich vergeblich um eine seinen Lebens-
unterhalt sichernde Stellung längere Zeit bemüht, wurde er dort
in seinem 29. Jahre Professor der Rhetorik mit einem Gehalt
von jährlich 100 Sendi. Nach zwei Jahren heirathete er die
Tochter eines Schreibers, welche aber selbst ihren Heirathscon-
tract nur unterkreuzen konnte.
Sie war von reinen und edlen Sitten, aber sonst sogar
derjenigen Fähigkeiten entbehrend, welche man von einer
Mittelmäßigen Hausfrau erwartet. Seine Söhne schlugen aus
28*
482
Eberty
der Art; der Eine wurde liederlich, und kam in das Gefängniß;
der Andere folgte ihm zwar später auf das Katheder der Be-
redsamkeit, aber ohne Auszeichnung. Aber seine Töchter waren
sein Trost. In ihrer Gesellschaft erholte er sich von seinen
schweren, anstrengenden Arbeiten. Müssen doch große Männer
einige Stunden ihres Lebens wiederum ein Kind werden. Eine
dieser Töchter unterrichtete er in der Dichtkunst; ihre Gedichte
wurden gedruckt.
Als Lehrer der Universität der Einsamkeit entrückt, war
Vico gezwungen, sich Anderen mitzutheilen; seine Ideen stießen
auf entgegengesetzte; sie mußten sich klären und befestigen.
Glücklicher Weise war er keiner der trägen Geister, welche sich
in irgend eine Nische der Wissenschaft zurückziehen, und dort
sich bis zu ihrem Tode behaglich fühlen. Vielmehr war sein
Geist in beständiger Bewegung und immerwährender Umbil-
dung. Bei jeder Lektüre, bei jeder Unterhaltung, erweiterten
sich seine Ansichten; so wurde ihm Baco von Verulam's
Werk de augmentis scientiarum zu einer neuen Quelle der
Philosophie, aber regte zugleich ihn an, sich zu einem höheren,
alle Zeiten und alle Nationen umfassenden, Standpunkt zu er-
heben. In Hugo Grotius bewunderte er einen Anlauf hierzu.
Sein eigenes Ziel war fortan eine Versöhnung der platonischen
(nach ihm, der christlichen Religion untergeordneten) mit
einer wahrhaft wissenschaftlichen, die Geschichte der Sprache
und der Dinge umfassenden Philosophie. Im Jahre 1708
schrieb er die Werke äs ratione studiorum, 1710 de anti-
quissima Italoruni sapientia, 1720 de universi iuris uno
principio et fine uno, 1721 folgte darauf sein Werk de con-
stantia iuris prudentis, welches wiederum in die zwei Theile:
über die Beständigkeit der Philosophie und die der Philologie,
zerfällt, und mit dem 1720 erschienenen, de universi iuris
principio, die beiden Bücher „del diritto universale" bildete.
Nach dem Erscheinen dieses Werks bewarb er sich ver-
geblich nm den Lehrstuhl der Jurisprudenz mit 600 Dueaten
Gehalt; ein unbedeutender Mann, den die Geschichte nicht mehr
kennt, wurde ihm vorgezogen. Man verzieh es ihm nicht, daß
er ak> ein zu kühner Neuerer aufgetreten war.
* IWBmf»I ilTTiJiFill I\ü¥5« fü rü iwvx\l«vT
Beurtheilung. 433
Wenige Jahre zuvor scheiterte Leibnitz an einer Deutschen
Universität, aber er erhielt reichlichen Ersatz durch andere Er-
folge; nicht so Vico, dem das Geschick nie wieder lächelte,
der der Mittel zur Erhaltung seiner Familie und zu erfolg-
reicher Mittheilung stets entbehrte. Doch grollte er deswegen
seinem Vaterlande nicht, sondern freute sich, daß er selbst we-
nigstens Anderen habe helfen können.
Nun ließ er von Bewerbungen um eine Professur ab,
schrieb aber 1725 seine scienza nuova, voll Dank für die
Universität, die ihn auf die eigenen schriftstellerischen Kräfte
zurückgewiesen. Als er 1730 in erster Ausgabe auch die an-
deren Theile der scienza nuova veröffentlichte, mußte er einen
Ring verkaufen, um die Druckkosten bestreiten zu können, indem
der Cardinal Corsini, später Papst Clemens XI., der sie
zu übernehmen versprochen hatte, sein Wort brach.
Nach fünf Jahren publicirte Vico feine neue Ausgabe
der scienza nuova, eine gänzliche Umarbeitung der ersten. Bis
an das Ende seines Lebens, in welchem die letzte Ausgabe
dieses seines Lieblingswerkes erschien, lieferte er lehrreiche Ver-
befferungeu und Zusätze hierzu.
Kurz vor seinem Tode hatte ihn der Bourbon Carl III.
zum Historiographen des Königreichs Neapel mit 100 Dukaten
Gehalt ernannt, eine Wohlthat, die er nicht lange genoß. Zu-
letzt verließ ihn das Gedächtniß, kaum konnte er seine Kinder
wieder erkennen. Er starb krank und schwach am 20. Januar 1744.
Dies das einförmige Leben eines Mannes, den Göthe
zuerst in Deutschland verkündigt, um dessen Besitz er Italien
glücklich preist, den Gans als den Begründer der Philosophie
der Geschichte bezeichnet.
Doch wurde er selbst in Italien vorzüglich erst seit An-
fang dieses Jahrhunderts studirt; mit den neu erwachenden so-
cialen und politischen Reformbestrebungen stieg und verbreitete
sich seine Bedeutung; seitdem giebt es wohl keinen Gelehrten,
keinen Dichter Italiens, der nicht Vico bewundert. Giuseppe
Giusti, der noch zu wenig gekannte Beranger der Jtaliäner,
preist ihn 1836 in einem schönen Sonett.
I
434
Eberty
4. Vico's Bedeutung, als des Begründers der
Geschichtsphilosophie.
Woher stammt, so fragen wir mit Cantoni, die hohe
Bedeutung dieses Mannes? Cantoni sagt mit Recht: Die
abstraete Philosophie war nicht der Boden, aus dem Vico
seine Kräfte sog, sondern die gelehrte und tiefsinnige Begrün-
dung der Geschichte und Philosophie. An diese unbefangen
heranzutreten, aus ihrem Zusammenhange den Geist zu er-
kennen und seine Bahnen vorauszuschauen, das war seine Aufgabe.
Dahingegen war, wie Cantoni überzeugend ausführt,
die speculative Philosophie keineswegs Vico's Stärke.
Er zog 1709 in seiner Schrift 6s ratione studiorum
und in seinem Briefe al Solla gegen die damals an der
neapolitanischen Universität herrschende cartesianische Philosophie
gegen das „cogito ergo sum" zu Felde.
5. Seine Methode nnd Maximen im Allgemeinen.
Seine Methode, im Gegensatze hierzu, nennt Vico die
topische: die Kunst, in jedem Dinge das zu finden, was darin
ist. Doch verfällt er in seinem libro metafisico de antiquissima
sapientia in Abstractionen, denen ähnlich, welche er Cartesins
gegenüber bekämpft. Aus den sprachlichen und architektonischen
Monumenten der Urbewohner Italiens, der Jonier und Etrnsker,
glaubte er eiue Urphilosophie herstellen zu können, welche er
auf die Idee des Wahren, der Thatsache, gründet. Der Mensch
sei keines Dinges Ursache, ihm erübrige allein die Abstraction.
Die Cartefianer hätten das cogito ergo sum aufgestellt,
weil man von dem Denken und daher von dem Sein ein
unbestreitbares Bewußtsein habe. Aber wäre der Gedauke die
Ursache des Seins, so müßte er nicht blos die Ursache des
Geistes, sondern auch des Körpers sein. Doch die Körper
dächten nicht, auch nicht die reinen Geister.
„Ich denke daher, weil ich aus Körper und Geist zusammen-
geseht bin, nicht weil der Gedanke die Ursache des Einen oder
des Andern ist."
^mmSSBmuA i IiÜf/iPJlF aiiWiJi mim* vi
Beurtheilung. 435
Cantoni bemerkt hiergegen wohl mit Recht, daß es sich
in jenem cartesianischen Satze nicht um das Wissen als Nr-
fache des Seins, sondern um das Princip des Wissens,
um die Gewißheit der Wahrheit handle.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß Vico, als er jenes Werk
verfaßte, von der Monadologie Leibnitz'ens Kunde erhalten
hatte.
Er stimmt mit Leibnitz darin überein, daß das Wesen
und die Substanz der Dinge nicht in der Ausdehnung bestehen,
sondern in metaphysischen Punkten, Monaden, welche, ohne ans-
gedehnt zu sein, die Eigenschaft der Ausdehnung (virtti d'esten-
sione) haben.
Diese Punkte sind die wirkenden Ursachen (efficacia), durch
welche die Dinge sind; die Substanz, welche ihre Grundlage
bildet und sie erhält, nntheilbar in sich, gesondert von den
Dingen, die sie ausmachen (clivisa dalle cose, che sostiene
di esse), ist eigentlich der Conat (natura conando coepit
incipere).
Dieser Conat, das Unternehmen, steht zwischen der Bewe-
gnng nnd den Körpern mitten inne.
Er nennt diese eminente Kraft zugleich die That Gottes
(1a qual virtü eminente e atto di Dio).
Zuletzt lehnte er die ans diesen Sätzen gegen ihn gezogene
Folgerung des Pantheismus in einer feierlichen Erklärung ab,
in welcher er sich zur Schöpfungstheorie, daß Gott der Schöpfer
aller Dinge sei, bekennt.
Nachdem Cantoni so die Conseqnenzen und Jneonseqnenzen
Nico's übersichtlich geschildert, fährt er fort:
Das Gesagte reicht hin, um zu sehen, welches der meta-
physische Werth des Vico sei.
Was er von dem Wahren und der Thatsache sagt und
von seinen Punkten, wird von Vielen für eine Geheimlehre
ausgegeben, in der man eine Fundgrube der Philosophie ent-
deckt. Ein neapolitanischer Professor kam zu dem Ausspruch:
die ganze wunderbare Entwicklung der deutschen Philosophie
sei aus mißverstandenen Ideen Vico's entstanden. Unseres
Italianissimo ungeachtet muß man solcher Ungereimtheiten sich
436 Eberty
schämen. Die Deutschen könnten statt dessen mit mehr Grund
sich rühmen, daß Vico die allermeisten seiner kosmologischen
Ideen dem Leibnitz entlehnt, wenn Vico's kosmologisches
System überhaupt ein solches wäre, dessen irgend eine Nation
sich rühmen könnte. Es ist schon zu viel, es ein System zu
nennen, so groß sind die Mißverständnisse, die Widersprüche,
das Zusammenhangslose, denen man bei jedem Schritt begegnet.
Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß, was die
metaphysischen Dinge anbetrifft, Vico selbst wenig von dem
verstand, was er schrieb.
Erst zehn Jahre später kehrte Vico von philosophischen
Abwegen zu seiner eigentlichen Bahn, der philosophischen Ge-
schichtssorschung, in seinem Buche
de uno universi iuris principio
zurück; er sucht das Problem des Verhältnisses des Wahren
zu der Thatsache, der Vernunft zu der Autorität, der Philo-
sophie zur Philologie hier praktisch zu lösen.
Alle die Gedanken über die Wichtigkeit der historischen
Studien, welche jetzt ein Gemeingut geworden, in Beziehung
auf die Art und den Sinn, in welchen man den Lauf der
menschlichen Ereignisse prüfen muß, über das Band, welches
alle diese Dinge miteinander verknüpft [Ecmtom S. 61], über
die neue Auslegung, welche man für alle menschlichen Gedanken
und Thaten daher ableitet, — alle diese Ideen waren vor Vico
gänzlich unbekannt, und blieben es auch noch viele Jahre nach
seinem Tode, vorzüglich bei den Jtaliänern.
Mit diesen einleitenden Worten ^Eantoni S. 62] geht
Eantoni im 4. Capitel zu Vico's Rechtsphilosophie über,
und entwickelt dessen Standpunkt.
6. Vico's Rechtsphilosophie in ihrem Zusammen-
hange mit der Entwickelung des Naturrechts.
Im 17. Jahrhundert nahm die juristische Bewegung der
philosophischen gegenüber anfangs eine Sonderstellung ein.
Dem Hugo Grotius standen Selden, Hobbes,
Milton, Pusfeudorf gegenüber.
Beurtheilmig.
437
Bald aber reihten die Philosophen Spinoza, Leibnitz,
Locke die Nechtsidee in ihre Systeme ein, während man in
Italien die Jurisprudenz in organische Verbindung mit der
Philologie zu bringen trachtete. Vico kannte Grotins und
Puffendorf, aber wohl nur die allgemeinen Principien von
Selden und Hobbes.
Grotius war es, der der Philosophie des Rechts und
der Moral eine von der des Alterthums und Mittelalters ver-
schiedene Richtung gab [(Scmtoni S. 63]. Den Griechen fehlten
die Fundamentalbegriffe des Naturrechts. Kamen doch Plato
und Aristoteles darin uberein, daß das Individuum im
Staate sein größtes Glück finden müsse, indem es nur für den
Staat lebe und ihm diene. Der Schutz der schon vor dem
Staat existirenden, der Menschen-Rechte, war ihnen nicht Zweck des
Staats. Sie verkannten die allgemeine, natürliche Gleichheit
der Menschen. Bei den Römern war das Gefühl der Ge-
rechtigkeit, die man jedem Bürger schuldet, schon viel stärker
als bei den Griechen. Aber es sehlte ihnen der speenlative,
verallgemeinernde Sinn sCantoni S. 64]. Ihre juristischen
Aphorismen waren nicht das Prodnet wissenschaftlicher Werk-
thätigkeit (lavorio), sondern ihres Verstandes (senno), ihres
tiefen Sinnes für das juristische Recht und der eigentümlichen
Fähigkeit praktischer Geister: Gegenstände in alle ihre klein-
lichen Windungen (minutezze) und Unterschiede zn verfolgen,
und darüber, nicht nach allgemeinen Principien, sondern ver-
möge der Idee, welche aus solcher Analyse sich ergiebt, zu
urtheilen.
So entwickelte sich das Römische Recht in einem dem
wissenschaftlichen entgegengesetzten Proceß. Schon deshalb war
es diesem Volke sehr schwer, sich zum Naturrecht zu erheben.
Es sehlte ihm der Sinn für die wesentlich gleichartige
Natur und Rechtsgleichheit der Menschen.
Nur Sklaven, wie Terentins, hatten das homo sum,
nihil humani a nie alienum puto gelernt, aber auch bitter
empfunden.
Auch die Römer saßten das Recht nur als eine Schöpfung
des Staates auf.
438
Eberty
Als das Christenthum sich bei den Völkern der Erde be-
festigt hatte, mußten natürlich Moral und Recht sich ties um-
wandeln. Wie es ein neues göttliches Reich den Menschen
verkündete, dessen Bild auf Erden die Kirche war, und das
Ziel des Menschen nicht hienieden, sondern in dem anderen
Leben suchte, so wandte es sich natürlich auch auf das Jndi-
viduum und zerstörte den Begriff der Unterordnung desselben
unter den Staat, unterwarf Politik und Moral der Religion
[Cantoni S. 65], in welcher sich die wahre Politik und die
wahre Moral finden sollten.
Man unterschied nicht die Moral von der geoffenbarten
Religion, wenngleich man zugab, daß es in uns ein natürliches
Gesetz gebe, welches Antheil an dem ewigen Gesetz Gottes habe,
doch durch die Erbsünde verdunkelt sei.
[66] Uebrigens hielten die Juristen während der Herrschaft
der Scholastik an dem untrügbaren corpus iuris, wie die
Gläubigen am Evangelium, die Philosophen an Aristoteles fest.
In Grotius sieht man die menschliche Natur zuerst als
Quelle des Rechts anerkannt und aus der gesellschaftlichen Na-
tnr des Menschen das Recht weiter abgeleitet. Gründen sich
aber Moral und Recht auf Gesellschaftlichkeit, so sind sie von
dem Dogma des Daseins Gottes unabhängig, und dies wagt
Grotius schon in seinen Prolegomenis auszusprechen, die hier
zur Unterstützung der Cantoni'schen Behauptung ihre Stelle
finden mögen:
Inter haec autem quae hominis sunt propria est ap-
petitus societatis, id est communitatis, non qualiscunque,
sed tranquillae et pro sui intellectus modo ordinatae,
cum his, qui sui sunt generis.
und weiter:
Haec vero, quam rudi modo iam expressimus socie-
tatis custodia humano intellectui conveniens, fons est
eius iuris, quod proprie tali nomine appellatur.
und ferner:
Et haec quidem, quae iam diximus, locum aliquein
haberent, etiam si diceremus, quod sine summo scelere
dari nequit,
Beurtheilung.
439
non esse deum aut non curari ab eo negotia hu-
mana.
Cantoni 68.] In jenen Zeiten, als nach dem dreißig-
jährigen Kriege Alles der Allgewalt des Papstes oder des Kaisers
unterworfen war und die Religion Alles entscheiden sollte, rief
H. Grotius, wie Cantoni geistreich ausführt, den Völkern
oder vielmehr den Königen Europa's zu: Halt, wenn ihr auch
jeder Pflicht und wechselseitiger Rechte los wäret, wenn ihr
Gott so oder so anbetet, so würdet ihr deswegen doch noch
nicht solcher Pflichten los sein. Wenn ihr auch gar keinen
Gott anbetetet, ihr würdet immer Rechte und Pflichten haben;
denn diese gründen sich auf unsere intelligente Natur, welche
fest und gleichförmig ist in allen Menschen, insofern sie sich in
der gemeinschaftlichen Tendenz zur Gesellschaft mauifestirt.
[68] Aber nach Grotius giebt es nicht blos unter den
Individuen, sondern auch unter den Völkern, unter welchen nicht
der Zustand des Krieges, sondern des Friedens der natürliche
ist, Naturrechte.
Außerdem läßt Grotius als natürliches Recht im wei-
teren Sinn die Moral gelten, welche das strenge und positive
Naturrecht begrenzt und mildert.
Cantoni schildert dann, wie wenig philosophisch und wie
geschmacklos Grotius seine Theorieen durchgeführt, und stellt
damit die Theorie Selden's zusammen, nach dem das Natur-
recht [74] sich auf den Willen Gottes, der ihm geoffenbart ist,
nicht auf die menschliche Natur gründet.
Hobbes hingegen (1647. 1670.) giebt auch zu, daß das
Naturrecht sich auf die menschliche Natur gründe, aber diese
sei nicht die Gesellschastlichkeit, sondern das eigene, Parti-
cnlare Wohlbefinden, die ursprüngliche wesentliche Tendenz
des Menschen [75] sei deswegen der Egoismus. Daraus
entspringt der Krieg Aller gegen Alle, weil Jeder gleiches Recht
auf alle Dinge hat.
Aus dem Triebe der Selb st er Haltung heraus hätten
die Menschen Staaten und die menschliche Gesellschaft gegründet;
so haben Recht, Politik und Tugend zu ihrem letzten Grunde
nur das eigene Interesse.
440
Eberty
Der Staat setzt zweierlei Vereinigungen voraus: die eine
eines Jeden mit einem Jeden [76], die andere eines Jeden
mit dem Herrscher; in Kraft der letzteren muß man voraus-
setzen, daß Jeder auf alle seine Rechte zu Gunsten des
Souveräns verzichtet hat, mit Aufgebung jedes
Rechts des Widerstandes.
Der Souverän ist absoluter Herr seiner Nnterthanen, ver-
fügt frei über sie und ihre Güter, ist einzige Quelle der Moral
wie der Gesetze, die er giebt, und hat die Macht, den Cultus
und die christlichen Glaubensbekenntnisse zu regulireu, wie es
ihm gefällt.
Die vorzüglichsten Gegner des Hobbes waren, im An-
schluß an Grotius, — Cumberland, Puffend orf und
Locke.
Cantoni beschäftigt sich nur mit Puffendorf, als noth-
wendig zu einer gerechten Würdigung Vico's. Puffend orf
unterscheidet drei Quellen des Rechts:
das Naturrecht, gegründet auf die menschliche Vernunft,
das (Zivilrecht, gegründet auf die Civilgesetze,
und
die moralische Theologie, gegründet auf göttliche Offenbarung,
und spricht nicht
von der Moralphilosophie, welche er,
verschieden von Grotius,
mit dem Naturrecht zusammenwirft.
Er beginnt auch, wie Hobbes, mit dem Naturzustande,
hält aber einen solchen, in welchem Jeder nur isolirt lebt oder
nur in zufälliger Verbindung mit Anderen, für eine reine Hy-
pothese.
Er versteht darunter nur den Zustand der Menschheit vor
der Gründung der Staaten und der Festsetzung der Civilgesetze.
Da sind aber die Menschen nicht in ewigem Kriegs-
zustande mit einander, sondern es gilt unter ihnen das
Naturrecht, und die Triebe des Wohlwollens und der Men-
schenliebe machen sich weniger geltend, als die des Uebelwollens
[77] und der Mißgunst (awersione).
Der Mensch liebt sich selbst in der That mehr als alle
» |, II UlWif I Jll
Beurtheilung.
Anderen, aber er thnt dies in vernünftiger Weise, d. h. er
liebt sich mit Seinesgleichen; die Eigenliebe und die
der Anderen müssen sich in solcher Weise mäßigen,
daß daraus die Liebe zum Gemeinwohl (l'amore
commune) entspringt, worauf das Naturrecht sich
gründet.
[77] Nach Puffendorf ist es das Princip der eigenen
Erhaltung, was uns zur Gesellschaft treibt.
Er beschreibt, was der Mensch wäre, wenn er vereinsamt
in die Welt geworfen würde, und zeigt, wie er hülfsbedürftig
geboren wird, wie es nichts Unglücklicheres gebe, als einen sich
selbst überlassenen Menschen, und wie alles Gemach und alle
Güter des Lebens von der Gesellschaft kommen; sie sind um so
größer, je mehr die Gesellschaft geordnet ist. Die Staaten
gründen sich also gewissermaßen in freier Uebereinkunft.
Der Staat ist die höchste Macht, die den allgemeinen
Willen repräsentirt und sich der Güter und der Kraft eines Jeden
znr Sicherheit und zum socialen Frieden bedienen darf. Die
Souveränetät ist absolut, aber sie ist begrenzt durch den ge-
meinschastlichen Zweck und das Nationalrecht: sie muß in ihren
Anordnungen auf das Wohl Aller abzielen [78]; aber es hat
dies nur theoretische Bedeutung, denn Puffendorf nimmt den
Untergebenen das Recht des Widerstandes. Er nimmt auch an,
daß der Souverän, weil selbst das Gesetz, von den Gesetzen
gelöst ist.
Während Puffendorf einerseits das Recht auf die mensch-
liche Natur gründet, giebt er ihm andererseits [79] Gott zum
Fundamente. Gott ist, nach Puffendorf, der Urheber des
Naturrechts, aus dem die Souveränetät der den einzelnen
Staaten Vorgesetzten abgeleitet wird.
Doch ist der Gedanke Gottes, kein übernatürlicher Glaube,
ihm die Quelle des Rechts; er macht die Anerkennung des Rechts
unabhängig von der Offenbarung, es hört bei ihm jedes Ver-
hältniß des Rechts zum Glauben auf.
Puffendorf hatte keinen geringen Einfluß auf Vico.
Bis auf ihn, den Vico, blieb die ganze juristisch-philo-
442
sophische Bewegung Italien fremd; es war ganz unter der
Herrschaft ultramontaner Theorieen.
Die politische Sklaverei hatte alle Quellen der Moral-
Wissenschaft ausgetrocknet. Die letzten Repräsentanten der großen
philosophischen Bewegung des sechszehnten Jahrhunderts, Va-
nini und Campanella, starben der Eine auf dem Scheiter-
Haufen, der Andere in Verbannung.
Italien schien sich wegen seines politischen und philoso-
phischen Verfalls durch die mathematischen, physikalischen und
medicinischen Studien zu entschädigen, in welchen es den Vor-
rang bewahrte, wie in den schönen Künsten, in welchen eine
neue, eine große Entwicklung in dieser Zeit begann, nämlich
die der Musik.
7. Die historisch-philologischeu Untersuchungen
Vico's.
Aber Vico knüpft nicht bloß an die philosophisch-juristische
Bewegung seiner Zeit an, sondern auch an historisch-philologische
Untersuchungen über das Alterthum. Im Zusammenhange mit
diesen sotten seine Systeme und seine Forschungen nach Can-
toni hier geschildert werden.
Ueber die philologischen ist viel weniger zu sagen als über
die juristischen. Die Philologie hatte noch nicht ihren wahren
Weg gefunden; sie konnte sich noch nicht eine wahre Wissen-
schast nennen.
Die Geschichte des Alterthums sammelte nur die That-
sachen, wie sie überliefert waren.
Die Kritik und Auslegung der Quellen, jede abgesondert,
ohne vergleichendes Studium, war das einzige Tagewerk, welches
sich damals die Philologie vornahm, und statt daß sie der Ge-
lehrsamkeit und der Geschichtskunde hätte dienen sollen, dienten
Gelehrsamkeit und Geschichte vielmehr jener aller wahren Prin-
cipien entbehrenden Kritik.
Auch in diesen Studien blieb Italien, einst Lehrmeisterin
der anderen Nationen, zurück. Sie gingen nach Frankreich
hinüber, dann nach Holland und England, dann nach Deutsch-
Beurtheilimg.
443
land [81], wo sie ihren Sitz aufschlugen und noch das Feld
behaupten, eine Schule für ganz Europa.
Fruchtbarer waren die Studien aber der römischen Juris-
prudenz. Darin gab Italien, die Mutter dieser Studien, auch
schon in damaliger Zeit keiner anderen Nation nach. Neapel
war das Centrum derselben und lieferte eine sehr große Zahl
Gebauer des römischen Rechts, deren große Fruchtbarkeit in
den gleichzeitigen Revüen erwähnt ward, in der Leipziger von
1732 mit dem Beisatze:
sie seien mehr dazu geeignet, die Ideen zu verwirren,
als aufzuklären,
so die von Gravina und Vieo.
Ein sehr ungerechtes Urtheil!
[82] Der Mittelstand in Neapel bestand damals bloß aus
Advocaten. Sie waren stolz, habgierig, geschwätzig und streit-
süchtig; aber doch erwarben sie sich eine merkwürdige Schärfe
und Fertigkeit in der Auslegung und Kenntniß der unzähligen
Gesetzgebungen, welche damals im Königreiche galten.
Anfangs war es ein einfacher Empirismus von Menschen,
welche in Prozessen geboren waren und darin aufgingen; aber
dann erhoben Einzelne auserwählten Geistes diesen Empi-
rismns zu Wissenschaftlichkeit, und es entstand eine Schule tüch-
tiger Juristen in Neapel, die man zu den wenigen Ueberbleibseln
des Ruhms rechnen muß, welcher das Land unter der vice-
königlichen Herrschaft erleuchtete. Am Ende des siebenzehnten
Jahrhunderts traten in der That in Neapel ungeheuere Rechts-
compilationen an das Licht, große Abhandlungen, in welchen
schon die historische Auslegung zu blühen begann; aber es waren
mehr Beweise der Geduld und Ausdauer als des Geistes; sie
sammelten kostbare Materialien für die Wissenschaft.
Es entstand indeß, angeregt durch einen charaktervollen
Mann, Francesco d'Andrea, ein Wetteifer der Studien
und des wissenschaftlichen Lebens.
Bei seinem Tode verließ die Wissenschaft das Forum und
bestieg das Katheder; es bildete sich von da an eine edle Schule
wahrer Wissenschaft.
[83] Gleichzeitig gingen aus dieser Schule
444
Eberty
Marians, Aulisio, Cupasso, Gravina und
Vic o
hervor.
Gravina (1664 — .1718), später Professor in Rom,
schrieb ein berühmtes Werk:
de origine iuris.
[84] Er ging von der Forschung nach dem höchsten Gute
aus, und fand es in der Tugend, verbunden mit dem Glück,
und erworben durch die Wissenschast, darin den eklektischen
Epikuräern folgend. Die Vernunft, wie sie uns, unserer wahren
Natur nach, handeln läßt, führt uns auch zur Verbindung
unter den Menschen, und wie sie im Individuum herrscht, so
[85] muß sie es auch in der Familie, im Staate, in der Mensch-
heit; darauf gründet sich die Gerechtigkeit.
Diese verschafft den Menschen in der Gesellschaft Nutzen
und Vortheil, und um sie zu sichern, bedarf es einer höchsten
Autorität, welche ihren Grund in dem Volkswillen hat.
Er war ein erbitterter Gegner der Jesuiten und der Ka-
suistik.
[86] „Das Volk hat das Recht, sich gegen den zu er-
heben, der die Freiheit unterdrückt, welche ein göttlich Ding ist."
Aber das vorzügliche Verdienst Gravina's ist seine histo-
rische und doctrinelle Auslegung des Römischen Rechts. Hierin
war er der Vorläufer Vico's, [87] der seinen Spuren folgte.
Vorzüglich beseelt schon Jenen das Princip, daß das Römische
Recht unabhängig [88] vom Griechischen und eine Entwicklung
der natürlichen Vernunft fei. Die Römer seien das gerechteste
Volk der Welt gewesen, und hätten deswegen den anderen
Völkern ihr Recht, ihre Sprache, ihre Civilisation gegeben.
[89] Vico's, seines Nachfolgers, moralische und juristische
Philosophie ist in dem Buche
del diritto universale
enthalten.
Es beginnt mit Hülfssätzen:
es giebt zwei Arten des Seins, Geist und Materie,
der Mensch ist aus beiden zusammengesetzt, von dem einen ent-
lehnt er die Vernunft, von der anderen die Sinnlichkeit.
Beurtheilung. 445
[90] Jede klare Idee eines Gegenstandes muß sich in ihm
finden.
Hierin acceptirt der Gegner des Cartesius offenbar seine
Principien.
Die höchsten, ewigen, absoluten Ideen der Vernunft sind
es, welche die Menschen vereinigen, welche alle ihre Grundlage
in der Idee
der Ordnung
haben; es muß dies die Idee einer ewigen Ordnung sein,
wie die Principien es sind, [91] welche sich daraus gründen.
Diese kommt von Gott, dem Urheber der ewigen Wahrheit.
Alles dieses ist offenbar cartesianisch.
Gott ist:
Posse, Nosse et Velle Infinitum;
der Mensch:
nosse, velle, posse Finitum, quod tendit ad in-
finitum.
[92] Cantoni nennt dies Phrasen, womit man
Mythen und Zweideutigkeiten
in den philosophischen Wissenschaften aufrecht erhält. Denn es
kommt darauf an, festzustellen, welches die Kriterien des Wahren,
des Gerechten seien.
Vico definirt zwar das Wahre, als mentis cum rerum
ordine confirmatio,
aber die Ordnung der Dinge ist von Gott festgesetzt,
und Alles läuft also darauf hinaus, sich diesem göttlichen Willen
zu cousormiren.
[93] Ein großer Fehler der Vico'schen Doetrin ist, daß
er das Recht von der Moral nicht zu trennen weiß. Aber er
hat ein folgenreiches Princip der menschlichen Gesellschaft [94]
aufgestellt, indem er davon ausgeht, daß die Grundlage der
Einigung unter den Menschen das Wahre und die Vernunft
seien, welchen die Verbindung um des Nutzens willen uuterge-
ordnet ist.
[95] Durch diese Unterordnung der Nützlichkeit unterscheidet
er sich von Grotius.
[95] Aus den Principien des Wahren und des Nutzens
Zeitschr. für Vülkcl'psych. u. Spracht«. Bd. VI. JA
446
Eberty
entstehen ihm alle die Gesellschaft regelnden Vorschriften. Aber
er vermischt hierbei auch das Recht mit der Moral, deren
Sanction er allein in der Scham (pudore) findet.
Der zweite Theil des Cantoni'schen Werks behandelt
Vico's Geschichtsphilosophie, wie sie sich aus jenen
abstracten Principien entwickelt hat.
[104] Die Philosophie und die Philologie umfassen, nach
Vico, alles menschliche Wissen unter zwei verschiedenen Formen,
die eine ist die Wissenschaft des Absoluten, Unveränderlichen,
die Wissenschaft des Wahren; die andere die des Veränderlichen,
Relativen, des menschlich Gewissen.
Die erste betrachtet die Ideen, welche der Gegenstand der
Vernunft sind, die andere die Thatsachen, [104] welche das
Prodnet menschlicher Willkür sind.
Die Thatsachen, sährt Vico dann fort, d. h. die Gesetze
und die eivilen nnd moralischen Gewohnheiten des Menschen,
können nicht eine Anwendung der philosophischen Idee sein,
[105] da sie nicht von den Menschen erfunden sind.
Denn nach dem Sündenfall verwilderte der Mensch, und
es blieb ihm nur eine eingeborne Fähigkeit, auf natürlichem
Wege von Neuem zur Humanität zu gelangen.
Diese ist für ihn der Ausgangspunkt für die historische
und allmähliche Entwickelnng der Civilisation, in welcher sich
die Menschen immer mehr [106] in ihren Thaten den absoluten
Ideen, ihren eigenen Naturgesetzen, nähern. Sie kommen so
dazu, ihre sociale Natur zu verherrlichen (celebrare la loro
natura sociale). Hierin findet sich ein Gegensatz zu den Sy-
stemen seiner Zeit und den späteren Rousseau's; für Vico
ist gerade der Zustand unnatürlich, den sie den Naturzustand
nennen, und gerade die Civilisation natürlich.
Die Menschen, sagt Vico, sind natürlich von dem, was
sie sind, zu dem geführt, was sie leiten soll. [108] Cantoni
vergleicht hier diese Theorie mit der Bossnets, nach der, wie
nach der absoluten Vernunft Hegels, die großen Eroberer
nur bloße Werkzeuge in Gottes Hand sind, und diese seine
Vorherbestimmung muß der eifersüchtige Gott Bossnets auch
noch durch Wunder der [109] Menschheit vorherverkündigen.
Veurtheilung.
447
Die Laster der Heiden seien eine nothwendige Durchgangs-
stufe, damit die Menschen das Bedürfniß der Erlösung erkannten.
[110] Bei Vieo hingegen sind wir vom Mysterium zu
der Wisseuschaft gelaugt, von einem Gott, der despotisch die
Menschen beherrscht, zu einem, der sie auf natürlichen Wegen
zum Guten zieht.
Vieo sagt:
er wolle die Vorsehung in der Welt der Natioueu
betrachten, wie seine Vorgänger
in der Welt der Natur.
Die Vorsehung wirkt deswegen, nach Vico, nur durch
seeundäre Ursachen ein, und diese hat Gott selbst nach ihrer
eigenen Natur und nach ihren eigenen Gesetzen erschaffen, läßt
sie folgerecht nach diesen wirken und sich entwickeln, seine Pro-
videnz besteht gerade darin, sie fortwährend in ihrem eigenen
Wesen zu erhalten.
[111] Die Metaphysik und das natürliche Gefühl müssen
uns nicht weiter gehen heißen, sie müssen in diesem, in allge-
meinen Grenzen sich bewegenden Dogma die Befriedigung ihrer
Bedürfnisse finden.
[111] Die Vorsehung steht nicht am Anfang, sondern am
Ende der Natur und der Geschichte; sollen wir mit jener die
einzelnen Thatsachen erklären, so zerstören wir sie; nur in den
Thatsachen, wie sie sich natürlich entwickeln, können wir sie
wieder erkennen.
Vico sagt: Gott regiert die Welt in der einfachsten Weise,
weil er ihr nur eine Richtung giebt, in der leichtesten, weil er
jedes Ding über sich nach eigenem Impulse verfügen läßt, in
der besten, weil er in jedes Ding die Fähigkeit legt, sich vor
der Zerstörung zu behüten, woraus natürlich die Erhaltung
entspringt.
Er hat so verfügt und so die Dinge geordnet, daß die
Menschen um ihres eigenen Nutzens, um ihrer natürlichen
Bedürfnisse und Triebe willen, ohne daß sie es wollten, sich
den bürgerlichen Anordnungen wie Anordnungen der Gerechtigkeit
fügen.
[112] Gott ist niemals unmittelbar die Ursache der mensch-
29*
448
Eberty
lichen Handlungen; wir sind es, als secundäre Ursachen; das
andere Princip Nico's ist nämlich die menschliche Willens-
thätigkeit.
Ist die Vorsehung die Baumeisterin der Nationen, so ist
das freie Ermessen ihr Werkführer (fabbro).
[113] Aber Vico's Vorsehung, sagt Cantoni mit Recht,
läßt sich mit dem freien Willen (arditrio) vereinigen; man muß
jedoch, nach Cantoni's eigener Ansicht, sich damit begnügen,
den Zufall, das Verhängniß als in den natürlichen Zusammen-
hang [113] der Dinge eingreifend zu erkennen, während Vieo
und die religiösen Gemüther darin einen höheren Willen finden,
der präventiv das Ganze regelt.
[114] 8. Die Methode und der psychologische
Kanon der Geschichtsphilosophie Vico's
(Cap. VII.)
geht, dem Princip desselben entsprechend, daß es darauf an-
kommt, die Willensthätigkeit mit den Principien der Vorsehung
zu versöhnen, davon aus, daß die bürgerliche Welt vou den
Menschen gemacht ist, woraus folgt, daß ihre Principien sich
in der menschlichen Vernunft finden müssen, uud dies muß man
um so mehr auf die älteste Geschichte auwenden, da sie, bei dem
Mangel durch die Philologie beigebrachter bestimmter Nach-
richten, gewissermaßen res nullius ist, in Beziehung auf welche
die Vernunftregel gilt, daß sie
occupanti conceduntur.
[115] Man könnte hieraus schließen, daß er einer Geschichts-
Philosophie a priori huldige. [119] Seine Methode ist aber
vielmehr wesentlich der Erfahrung Rechnung tragend (espe-
rimentale).
Seine psychologisch - socialen Principien sind theils wohl
die Frucht seiner freien psychologischen Beobachtung, theils aber
auch seiner tiefen Studien über das Alterthum und seines großen
Sinnes für historische Realität.
Weber, der 1822 die Scienza nuova übersetzte, hat sich
die wahrhaft deutsche Mühe gegeben, alle Belagstellen Vico's
Beurtheilung.
449
nachzuschlagen und hat sie größtentheils genau und richtig ge-
fuuden.
[121] Vico kam zu einer Völkerpsychologie. Seine scienza
nuova sollte sich aber mit den Thatsachen beschäftigen und
diese sollten ihm sagen, welches die Meinungen der verschiedenen
Völker seien, um aufzusteigen zu dem, was sie Gemeinsames
hätten.
Aber er wollte auch sehen, wie diese verschiedenen Mei-
nunaen, aus denen das Gemeinbewußtsein sich componirt, die
Empfindungen, Gesetze, Einrichtungen und Sitten, welche da-
von abhängen, entstanden seien, wie sie sich entwickelt, welche
Grundlage, welche Ursache sie hätten, welche Winke und Normen
man befolgen müsse, um die Wahrheit zu erkennen, und dieses
mußte ihm von den Thatsachen gegeben sein. Daher entnahm
er die Elemente seiner scienza nuova.
[123] Als der fruchtbarste dieser Elementarsätze erscheint der:
daß die gewöhnlichen Ueberlieserungen im öffentlichen
Leben gegebene (pubblici) Motive des Wahren gehabt
haben müssen, woher sie entstanden und bei ganzen
Völkern durch lange Zeiträume sich erhielten.
(Cap. VII.)
[126] 9. Vico's Prineipien der Civilisation und
der politisch-juristischen Entwicklung der
Menschheit
[127] schließen sich in der Ausfassung des Naturzustandes an
Hobbes an; die Menschen wälzen sich in moralischem und
äußerlichem Schmutz.
[128] Erschreckt durch den Blitz kommen sie zur Mono-
gamie, zum Begraben ihrer Tobten, humare, und so zur Hu-
manität.
Die Scham wird ihnen zur Quelle der Religion, der
Ehrlichkeit.
[130] Familie, Religion, Tugend sollen sich zuletzt, nach
Vico, aus den Glauben an Gott stützen, als auf die ewige
und unendliche Vernunft, welche alle Geister der Menschen
durchdringt, allwissend und allmächtig ist.
450
Eberty
[131] Die Winke dieser Gottheit zu erkennen dient die
Wahrsagung, die Prophezeiung, divinazione, welche eine große
Rolle in der Geschichtsphilosophie Vico's spielt.
Sehr verschieden, und zu ihrem Nachtheile verschieden, sind
diese Principien von den bei Beurtheilung der Zustände der
ältesten Zeiten von Vico angewandten.
Er vermischt jetzt die Principien allgemeiner geschichtlicher
Betrachtung mit denen der Erforschung der primitiven Zustände
der Römer, zum großen Nachtheile beider.
Einer der Gegenstände, denen er hier vorzüglich seine Auf-
merksamkeit zuwendete, war das Verhältniß der Patricier zu
den Plebejern und den Clientelen.
Er fand, daß alle Nationen Patricier und Plebs, Patrone
und Elieuteu hatten, [134] und suchte dasProblem im mensch-
lichen Sinne zu lösen.
Die aus dem Subjectiousverhältuiß der Schwachen unter
die Starken entstandenen Staaten sind nicht Monarchien, son-
dern Aristokratieen, und König ist nur primus inter pares;
die höchste Macht bleibt den verbundenen Vätern, welche, ihre
Familiengewalt zusammenfügend, der bürgerlichen Macht den
Ursprung geben, indem sie der Privatgewalt entsagen, die höchste
Herrschaft begründen, indem sie ihre Güter und ihr Vermögen
dem Staatsbedürfniß unterwerfen, das eminente Recht erschaffen
und das öffentliche Vermögen begründen.
Diesen Complex öffentlicher Angelegenheiten nennen sie
Vaterland, res patrum.
Jetzt kommt es darauf an: die Ordnungen der Religion,
die Familie und das Recht aufrecht zu erhalten. In Bezie-
hnng auf die Ordnungen haben die Patricier allein die Regie-
rung, sie haben die Auspicien, die Gerichte, die feierlichen Hei-
rathen. In Beziehung auf die Familie sollte die Gewalt des
Hausvaters mit derselben Strenge erhalten werden, und in der
Religion nichts ohne Befragung der Götter geschehen.
Da nach dem Wahren die Menschen sich noch nicht re-
gieren konnten, [136] wurden sie durch strenge Formeln ge-
bnnden, welche den Willen Gottes ausdrücken sollten, und die
Beurtheilung.
451
Strafen sollten die härtesten sein, um ein Exempel zu geben
und Schrecken einzuflößen.
[137] Aber die Edlen konnten nicht für immer der immer
wachsenden Macht der Clienten, I"amuli oder Socii, widerstehen,
die angewiesen waren, die Ländereien der Edlen zu bebauen;
diese verlangten den Besitz der Ländereien, der ihnen gegen
einen Tribut gewährt wurde; so entstand das erste agrarische
Gesetz des Servius Tullius.
Dieser Besitz war jedoch anfangs nur precär, die Plebejer
beruhigten sich dabei nicht, sie verlangten das Eigenthum; doch
konnten sie dies nicht aus ihre Erben übertragen, dazu fehlte
ihnen:
die Mittheilung der Anspielen,
das Connubium,
die politischen Rechte.
Als sie dies erlangt hatten, endete das heroische Zeit-
alter, es fing das der Menschen an, die populäre und
bürgerlich-monarchische (Bürger-König?) Regierung; die Auf-
rechthaltung der Staudesunterschiede, die Formular-Jurisprudenz
hörte auf; es begann die Geltung der natürlichen Billigkeit,
das gemeine Recht der als gleich anerkannten Menschen, [138}
das Reich der Gesetze und der den verschiedenen Zufälligkeiten
des Lebens angepaßten und diesen gemäß von der Gerechtigkeit,
welche sich auf die Natur und Vernunft der Menschen gründet,
abgeänderten Gewohnheiten.
So entwickelt Vico im Gegensatz zu Macchiavelli und
Montesquieu die Regierungsformen nicht nach einem gewissen
Typus, den die Vernunft ersonnen, und der willkürlich bei den
Menschen sich realisirt, sondern er sucht den Charakter, die Na-
tur und die Phänomene aus, welche uns unter denselben Um-
ständen, unter welchen bestimmte Regierungsformen hervortreten,
erscheinen.
Er entwickelt in seinem principio unico del diritto einen
Vorläufer der scienza nuova, wie die Staatsformen sich dem
Charakter der Nationen anschmiegen, [139} wie die weichlichen
Asiaten dem Despotismus versallen, wie die Staatssormen bei
den starken und scharfsinnigen Griechen sich auf Gesetze und
452
Eberty
Demokratie gründen, wie die starken, aber nicht so feinen
Römer länger unter der ursprünglichen Aristokratie bleiben.
Jede Form der Regierung könnte nach Vico das Wohl-
befinden und Glück einer Nation befördern, wenn die Sitten-
Verderbnis; (corruzione) sich nicht einstellte.
Die Aristokratie könnte sich lange erhalten, weil in ihr
sich eine große Vaterlandsliebe entwickelt, indem das Interesse
am Staate den Wenigen näher liegt. Die Aristokraten ver-
säumen es aber, die socialen Interessen der unteren Klassen
genugsam zu berücksichtigen. Gelangen diese in der Volksherr-
schast zu Macht, so verliert sich das Interesse am Staate, weil
so Viele daran Theil nehmen; eben deswegen machen sich aber
Alle zu Beförderern des Rechts, der Gleichheit und des Ge-
meinwohls, man will, daß der Nutzen gleich vertheilt sei.
Aber sich den Privatinteressen ergebend, [140] lassen sie
Ehrgeizige emporsteigen, welche, indem sie ihrer Macht die
Volksfreiheit unterwerfen, Zwietracht, Factionen, Bürgerkrieg
erregen, Alles dem Nutergange zuführen.
Ermüdet flüchtet sich das Volk unter die Herrschaft eines
Einzigen, [1401 der, über Allen stehend und nichts mehr zu
wünschen habend an Herrschaft und Reichthümern, natürlich mit
Gerechtigkeit und volksthümlich zu regieren sucht, zuerst mit
den Gesetzen, durch welche die Monarchen alle Unterthanen gleich
stellen wollen, dann durch Erniedrigung der Mächtigen, um die
Menge von der Unterdrückung zu befreien, dann durch Befrie-
diguug der Mittel des Unterhalts und der natürlichen Freiheit;
dann durch Privilegien, die sie Freiheiten nennen, welche sie
ganzen Ordnungen, Klassen (ordini), ertheilen, und dann, in-
dem sie einzelne Personen von außerordentlichem Verdienst zu
bürgerlichen Ehren erheben.
Vico schließt hieraus, daß die Monarchie die angemessenste
Regierungsform für die Menschheit bei entwickelter Vernunft sei.
[141] Er nennt dies civile Monarchie, womit er meint,
daß sie zum Nutzen der Mehrzahl (dei piü) die Regierung
führen müsse.
Es ist nicht zu verkennen, sagt Eantoni, daß Vico
hierbei in historischen Dogmatismus verfällt, indem er, was
- tilyinimfümiii. in, f iTTf riTfIi(Vuviiiii rmi*J\\l
B cur th eilung. 453
sich in der Wirklichkeit herausgestellt, als das wahre Wesen
für alle Ewigkeit betrachtet. Auch hatte er nur die Rechtsge-
schichte vor Augen.
Recht und Politik sind aber nicht die einzigen Elemente
der (Zivilisation, so fährt Cantoni fort, sie sind eng verknüpft
mit der Sprache, mit den religiösen Begriffen und Vorstellun-
gen, der Literatur, den Künsten.
10. Vico's Prineipien der Sprachwissenschaft.
Nico faßt dies zusammen unter den Begriff der Prin-
eipien der Wissenschaft rücksichtlich der Sprache.
Er nimmt an, daß Recht, Sprache, Religion, Kunst innere
Beziehungen zu einander haben.
[143J Die Sprachen sind nach ihm kein künstliches oder
conventionelles Product eines Volkes, sondern sie entwickeln sich
natürlich nach den Eindrücken des Volksgeistes.
Er glaubte, man könnte ein Universal-Etymologikon machen,
welches nach der Wortbezeichnung darstellte, wie dieselbe Sache
von den verschiedenen Völkern verschieden angeschaut ward.
Der Aufstellung seiner drei Zeitalter gemäß nimmt er an, daß
es eine göttliche, heroische und menschliche Sprache gebe.
[144] Doch bestehen sie gleichzeitig neben einander fort,
Eine mehr articulirt als die andere.
Er nimmt an, alle Wurzeln seien einsilbig und eonstruirt
dauach eine [145] Weltgrammatik.
[147] Die linguistischen Probleme selbst, sagt Cantoni^
waren ihm völlig unbekannt.
Eigenthümlich ist ihm die Vorstellung, daß jedes Volk
sich abgesondert entwickelt habe, und daß die Uebereinstimmung
nur aus der Gleichheit der menschlichen Natur zu erklären sei.
11. Vico's Ursprung der Poesie und Mythologie,
insbesondere auch in Beziehung aus die Urgeschichte
Roms.
[149] Glücklicher ist Vico in der Darstellung des Ur-
sprungs der Poesie und Mythologie.
454
Eberty
Er entwickelt diese in seinem Werke de constantia phi-
lologiae.
Die Poesie ist ihm die primitive Sprache der Menschheit.
Man muß [3 50] darunter nicht sowohl die Form, als die Na-
tur und den Charakter ihrer Sprache verstehen.
Vieo stellt uns diese Menschen wie geniale Kinder vor,
mit wenig entwickelter Vernunft und Reflexion, ganz den
sinnlichen Dingen, nach der Eigenthümlichkeit der menschlichen
Gesellschaft, in der sie sich bewegten, zngekehrt, auf ihre
Verteidigung und auf die Erhaltung ihres Lebens bedacht,
wodurch sie scharfe Sinne erlangten, Beobachtungsgabe, eine
kühne Phantasie, welche Alles in ihren Augen vergrößerte, eine
natürliche Tendenz den unbelebten und thierischen Dingen Be-
wegnng und Vernuuft, überhaupt allen Wesen — unsere eigene
Natur beizumessen.
Dies, sagt Vieo, ist das größte und eigenthümlichste Werk
der Poesie.
Daher die Metapher, die Komparation, die Metonymie,
die Synekdoche und die poetischen Metamorphosen.
[153] Den Mythus bezeichnete er als den natürlichen
Ausdruck der ursprünglichen Begriffe der Menschen, vorzüglich
seiner religiösen Begriffe, [154] welche zuerst und am meisten
spontan in der Menschheit entstehen.
Dann ist ihm der Mythus nur der Effect der Armuth
der Sprache, des Mangels an Reflexion und Abstraction, aber
auch der poetischen Fähigkeit, mit der die ersten Menschen Leben,
Sinn und Verstand allen Dingen verleihen.
Er versteht darunter den poetischen Charakter, der sich unter
dem Impulse der religiösen Empfindung bildet.
[150] Zuerst waren nach Vieo die mythologischen Begriffe
naturalistisch:
Jupiter, der Himmel,
Diana, das perennirende Wasser,
Neptnn, das Meer;
in der zweiten Periode symbolisiren die Götter die menschlichen
Dinge:
Beurtheilung.
455
Vulcan, das Feuer im Gebrauch der Menschen,
Ceres, das Getreide;
in der dritten drücken sie die bürgerlichen Verhältnisse aus:
Jupiter, der König der Götter und Menschen,
Minerva, der Rath der bewaffneten Helden,
Mercur, der erste Agrargesetzgeber;
in der vierten fangen die Menschen an, ihre Dinge gewisser-
maßen unabhängig von den Göttern herzustellen, machen aus
den Göttern Menschen, lassen sie auf die Erde niedersteigen, mit
ihnen sich unterhalten: das sind die Homerischen Götter.
Vico that, wie Cantoni ausführt, wohl daran, diese
Entwickelnngsstufen [157] als sich eine aus der anderen ent-
wickelnd, nicht als bloße Corruption der früheren, hinzustellen.
[159] Er zieht die Folgerung, daß die Mythologie die
älteste Geschichte der Völker enthält.
[160] Es fehlte ihm die vergleichende Sprachforschung,
um sein Werk zu vollenden.
[163] Er versetzt zu Unrecht viele historische Charaktere in
die Mythologie, so den Solon, doch diesen nicht unbedingt.
Er erklärt ihn nur für einen Derjenigen, welche die Plebs auf-
stachelten, sich von der Unterdrückung des Adels zu befreien.
[163] Er sei wegen des Nosce te ipsmn als Begründer der
demokratischen Republik angesehen worden.
So bezweifelt er auch nicht schlechthin die Existenz der
Römischen Könige.
Er erachtet nur den Charakter und den Lebenslauf, den
ihnen die Tradition giebt, für mythenhaft.
So werden dem Romulus alle Gesetze über die Staudes-
unterschiede, Nnma über die Religion, Tnllus Hostilius die
Militaireinrichtungen, Servius der Census und alle Gesetze über
die bürgerliche Freiheit, Tarqninius Priscus die Fahnen und
Feldzeichen zugeschrieben.
Die Existenz des Draco und Aesop leugnet er schlechthin,
der Eine ist ihm die Charaktermaske für die Optimateu, der
Andere für die Clienten.
Mythisch ist ihm die Pontussahrt um des goldenen Vließes
willen, der Trojanerkrieg, [164] dem entspricht der Albanische
456
Eberty
Krieg und die Belagerung von Veji, ebenso die Irrfahrten der
Heroen, [165] welche nach ihm nur unterdrückte Erhebungen
der Plebs und ihrer Führer bedeuten.
Er nimmt an, daß die Thaten Nieler häufig einem my-
thologischen Heros zugeschrieben würden, so die Thaten des
Horatius Codes, der Fabier.
Zum Theil ließ er sich hierbei Uebertreibungen zu Schulden
kommen, aber ihm gebührt das Verdienst, zuerst den that-
sächlichen Kern von dem mythologischen Nebel zu sondern ver-
sucht, [166] insbesondere aber zuerst über die Entstehung der
Homerischen Dichtungen Licht verbreitet zu haben.
Die leitenden Begriffe sind ihm bei dieser Untersuchung die
sapienza volgare o poetica
und
sapienza riposta o filosofica.
Die erste entsteht von selbst und unbewußt in dem Men-
schen und in den Völkern, ist phantastisch und imaginair; die
andere ist das Werk der Reflexion und des Raisonnements,
daher nennt Vico die Dichter den Sinn, die Philosophen den
Geist (l'intelletto) der Menschheit.
Die sapienza volgare herrscht in den beiden ersten Zeit-
altern (dem der Götter und Heroen), die Philosophie im letzten
(dem der Menschen).
Die sapienza poetica hat ihre vollständige Mythologie
so gut wie die sapienza riposta.
Alles menschliche Wissen empfing von jener die Veran-
lassung, die Anregung und die nothwendigen Principien.
[174] Die antike römische Geschichte ist ihm nur eine
historische Mythologie von eben so vielen griechischen Fabeln.
12. Die Entstehung der Homerischen Rhapsodieen
nach Vico.
Die römische und griechische Geschichte vereint find ihm
die Geschichte der ganzen Menschheit. Die Gedichte Homers
sind ihm das wichtigste Document der griechischen, wie die
12 Tafeln der römischen Geschichte. Beide werden die beiden
größten Schätze des Naturrechts der Völker.
iiiii&iii I MtiUi im wmt Kn*\*
Beurtheilung. 457
[179] Er findet, daß die Odyssee dem occidentalischen,
die Jlias dem orientalischen Griechenland angehört, und die
erste viel später als die zweite, etwa 460 Jahre nach der Zer-
störung Troja's [179], im Zeitalter des Numa, geschrieben sei.
Er fand dann aber auch weiter, daß die verschiedenen Gesänge
in verschiedenen Zeitaltern und von verschiedenen Händen aus-
gearbeitet und zu Ende geführt seien. Die Homerischen Cha-
raktere sind nicht die Schöpfungen eines Individuums, sondern
des Gemeinsinns (senso commune) eines ganzen Volkes.
[181] Die Tradition selbst berichtet von Rhapsoden, der
Eine den einen, der Andere den andern der Homerischen Ge-
sänge singend; aber sie erhielten als cyklische Poeten in ihren
Gesängen die ganze fabelhafte Geschichte Griechenlands nach
dem allgemeinen Gebrauch primitiver Völker. Homer selbst
wird uns als ein solcher Rhapsode geschildert.
[181] Er ist blind, wie alle Sänger bei den Gastmälern
der Großen, indem es die Eigentümlichkeit der menschlichen
Natur ist, daß die Blinden viel durch ihr Gedächtniß vermögen.
Er hinterließ seine Gedichte nicht schriftlich, welche daher auch
nicht von den Pisistratiden eingetheilt werden konnten, weil da-
mals die Kunde der Schrift noch nicht allgemein verbreitet war.
So haben wir denn Vico als den wahren Schöpfer der
Homerischen Frage zu verehren, wie sie jetzt studirt wird, und
die Wolf unsterblichen Ruhm verlieh.
13. Kritik der inneren römischen Geschichte.
Gleicher Ruhm gebührt Vico in Beziehung auf die Kritik
der römischen Geschichte.
Als die wichtigste Thatsache der römischen Geschichte er-
kannte er, wie schon angedeutet, das Verhältniß der Patricier
zu den Plebejern.
Hat man den Ursprung und das Verhältniß dieser beiden
Volksklassen erklärt, so hat man den Schlüssel zu der inneren
und äußeren Geschichte Roms.
[188] Vico tritt hier in Übereinstimmung mit den spä-
teren deutschen Forschungen der Begründung Roms von Grie-
chenland entgegen.
458
Der Ursprung Roms muß iu Italien gesucht werden.
Die Ramnes, Tities (Sabiner) und Luceres (Lateiner)
bildeten Anfangs drei gesonderte Gemeinschaften, welche später
in eine Gesammtgemeinde zusammenflössen, in der das lateinische
Element überwog.
Cantoni liefert hier eine vortreffliche Vergleichnng der
Forschungen Vico's mit denen Niebuhrs, Schlegels,
Schweglers und Mommsens und vindicirt mit Vico Rom
und den Jtaliänern, den deutschen Forschungen gegenüber, die
Unabhängigkeit von Griechenland.
Aber die naturwüchsige Bedeutung der Geschlechter für
die Ausbildung des aristokratischen Elements in Rom [194] hat
vor Mommsen zuerst Vico an das Licht gestellt; sie bildeten
gleichsam einen Staat im Staate. [195J Die Identität der
Plebs mit den Klienten ist eine der anderen Ideen, denen Vico
schon vor Mommsen Ausdruck verliehen. Ebenso war es
Vico's geniale Intuition, [196] daß die Plebs vorzugsweise
der ackerbauende Stand, worin er mit Mommsen überein-
stimmt. Hieran knüpft Vico die ganze Entwicklung des Kampfs
mit den Patriciern an. [197] Doch verhehlt Cantoni nicht
die Bedenklichkeit dieser Auffassung. Die Plebejer erhielten
Eigenthum gegen Zins an die Patricier; daher die große
Schuldenlast der Plebejer. Statt des Precarium erhielten die
Plebejer durch die 12 Tafeln quiritarisches Eigenthum. Um
dies auf die Erben zu trausmittiren, bedurften sie des connubii
patrum. Diese erlangten sie durch die lex canuleja.
Durch die publilischeu Gesetze erlangten sie dann die Gleich-
heit, mit dem Vordringen der tribunicischen Gewalt: das Ueber-
gewicht. Dies ist Vico's Darstellung des Entwicklungsganges
des Parteikampfes in Rom.
Mommsen, dem Cantoni beipflichtet, nimmt an, daß
den ursprünglich armen Elementen der Plebs sich reiche Kauf-
leute beimischten, die sich unter das Patrocininm der Patricier
stellten, daß aber auch die Plebejer zum Theil in Armnth ver-
sanken und Proletarier wurden.
Dies ist eine Verbesserung des Vico'schen Standpunktes.
[200] In Beziehung auf die militairifche Bedeutung der
Beurtheilung.
459
Servianischen Constitution, wonach dieselbe eine vorzugsweise
militairische und eine die Pflichten, aber nicht die Rechte der
Plebs erhöhende war, findet wiederum eine merkwürdige Ueber-
einstimmung der Vico'schen mit den Mo mmsen'schen Ansichten
Statt; durch die Centnrien wurden die Plebejer, welche Anfangs
militairfrei waren, zum Dienste und zur Entrichtung des Censns
herangezogen; nur mittelbar gelangten die Plebejer dadurch zu
einem Uebergewicht an Macht, [201] nach Vico sowohl wie
nach Mommsen.
Beide stimmen darin wiederum überein, daß die Vertrei-
bung der Könige nur im Adelsinteresse erfolgte.
In Beziehung auf die Agrargesetzgebung hat Vico über-
sehen, daß sich dieselbe vorzugsweise aus den ager publicus,
[208] das eroberte Land, die Staatsdomänen bezog, was die
deutsche Schule hervorgehoben hat; die Culturländereien wurden
zum Besten des Aerars verkauft, [209] die unbebauten den Pa-
triciern gegen Zins verliehen.
Vico hingegen knüpft die ganze Entwickelung der Partei-
kämpfe an das Bestreben der Plebs, den Patriciern die diesen
gehörigen Ländereien abzunehmen.
Als der Kriegsdienst der Plebejer mit der Centurialver-
sassung des Servius eingeführt wurde, verlangten die Plebejer
Antheil an dm eroberten Ländern, dem sich die Patricier wi-
dersetzten.
Dieser Streit wurde keineswegs, wie Vico annimmt,
durch die 12 Tafeln gelöst.
[209] Wäre dies der Fall, so hätte es nicht noch der lex
Poetelia (428 — 444) bedurft, durch welche die Schuldhaft auf-
gehoben ward.
Nach der Vertreibung der Könige wollten die dadurch
mächtiger gewordenen Patricier nicht bloß den Plebejern Antheil
an der Ackervertheiluug versagen, sondern selbst keinen Zins
von den ihnen zngetheilten Aeckern nachzahlen.
Vico erkennt dann mit der deutschen Schule die Versuche
der Patricier Spurius Cassius, Manlius und Maelius [210]
Zur Herstellung des Rechts der Plebs an Ackervertheiluug und
Erleichterung seiner Lasten an. Aber er dringt nicht so in die
460
Verschiedenheit der Elemente, aus denen die Plebs zusammen-
gesetzt war, ein.
Sehr übersichtlich entwickelt Cantoni an der Hand
deutscher Forschung die rasch ans einander folgende Machtent-
faltnng der Plebejer, namentlich auch [211] in Bezug auf die
Plebiscite und die politischen Vereine.
Es ist ein Triumph für die deutsche Wissenschaft, daß ihre
Errungenschaften so in Italien sich verbreiten.
[214] Die erste kritische Behandlung der römischen Staats-
einrichtungen ist aber von Vico ausgegangen.
[210] Gegen Saviguy hat Niebuhr des Vico erwähnt.
1822 war er schon übersetzt. Doch ignorirt ihn Niebuhr
vollständig, Mommsen nimmt wenig Rücksicht auf ihn, [220]
Schwegler nur in sehr unvollkommener Weise.
Das ist das Loos des unglücklichen Italiens; es wird
ausgebeutet von Anderen, und seine Schönheit und Originalität
in den Hintergrund gedrängt.
14. Die rückläufige und die fortschreitende Bewe-
gung in der Geschichte.
Die fortschreitenden und die rückläufigen Bewegungen in
der Geschichte der Völker hervorzuheben, gehört zu den origi-
nairen Ideen der Vico'schen Philosophie und Geschichte.
Cantoni bezeichnet sie aber mit Recht als einen Jrrthum,
[232] als einen Haufen von Phantasieen und Sophismen.
Aber Cantoni bezeichnet auch das Gesetz des ewigen
Fortschritts [235J mit Recht als ein noch zu erweisendes.
Er glaubt vielmehr an die Fortdauer des Kampfes des
Guten mit dem Bösen.
Pflicht des Menschen und jeder Nation ist es, gegen das
Uebel und das Böse anzukämpfen.
Daß beide jemals gänzlich verschwinden werden, hält er
für einen Traum.
15. Cantoni's Schlußkritik Vico's.
Im 13. Capitel faßt Cantoni seine Kritik dahin zu-
sammen,
Venrtheilung.
461
daß Vico der Schöpfer der Philosophie der Geschichte war,
indem er sie auf die richtige Grundlage,
die menschliche Natur,
stellte, und auf das Studium derselben das unerläßliche Werkzeug,
die Kritik,
anwendete.
Er lieferte eine psychologische Geschichte des menschlichen
Geschlechts, kritisch geordnet und mit den positiven Thatsachen
ausgeglichen.
Vico, seit einem Jahrhundert tobt, nimmt keinen Rang
mehr in den modernen Studien ein.
Italien versteht Vico durch die Deutschen, die ihn über-
flügelt haben.
Der italiänischen Bildung selbst ist er noch voraus. In
die Schulen, auf die Straßen fiud seine großen Ideen in Italien
leider noch nicht gedrungen.
Es fehlte aber dem Vico die Kenntniß der orientalischen
Welt, er hatte deswegen nicht den Schlüssel zu vielen großen
griechischen und römischen Dingen, da ihm die vergleichende
Forschung nicht zur Seite stand. [242] Daher kannte er nicht
den Einfluß einer Nation auf die andere. Es fehlte ihm eben
deswegen auch die Kritik der Quellen. Ihm fehlte außerdem
die Selbstkritik.
[245] Die Jtaliäner haben in ihm den Enthusiasmus der
Freude an neuen Gedanken zu suchen.
[245] Diese Poesie der großen Denker erweckt die Ge-
müther und kräftigt die Geister.
[248] Er hat zuerst die freie Willensthätigkeit der Menschen
in der Geschichte in Einklang mit den Gesetzen der Natur zu
bringen gewußt; deswegen ist er einer der ersten Meister in
der Wissenschaft.
Er tritt der Eonfusion Derjenigen entgegen, welche mit dem
Alterthum vom Zufall und vom Schicksal (destino) sprechen,
so wie denen, welche eine mysteriöse Vernunft als unmittelbare
Werkmeisterin der menschlichen Handlungen, die nach Belieben
die Gesetze der Natur bricht, hinstellen, sowie den Systemen
einer Notwendigkeit der Dinge, einer absoluten Vernunft,
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. 30
462
Cberty
welche sich verhängnißvoll in jeder menschlichen Handlung ma-
nifestirt, sowie den Ideen, welche wie ein logisches Fatum
das Gemüth, die Handlung und Einrichtungen der Menschen
beherrschen.
Während in den beiden ersten Theilen seines Werkes Can-
tont die Methode und das geschichtsphilosophische System
Vieo's behandelt, wendet er sich in dem dritten seinem Ver-
halten zu seinen Zeitgenossen und Nachfolgern zu.
Dieser Theil des Cautoui'scheu Werks hat vorzüglich
eine literarhistorische, aber nicht minder große Bedeutung als
die beiden ersten.
Doch wird hier nur Einzelnes, aus Mangel an Zeit,
Raum und Kräften, hervorgehoben werden können.
16. Kritik des Cantoni'schen Werks.
Bewunderung erregt die Gelehrsamkeit, mit der Cantoni
Alles, was über die Entstehung der Staaten in neuerer Zeit
erdacht worden ist, mit Vieo's Ideen vergleicht. Es entgeht
ihm hier nichts aus der deutschen, französischen und italiänischen
Literatur.
Das Buch Eantoni's ist eine merkwürdige Erscheinung.
Wie es das größte Verdienst Felix Mendelssohns war, die
großen Werke Bachs wieder in das Bewußtsein der Gegen-
wart zurückgerufen, zum Gemeingut gemacht zu haben, wie
dadurch ein neues musikalisches Leben in Deutschland entstand,
wie aber der Geist Mendelssohns sich darüber entzündete,
und sich zu Schöpfungen, würdig des Meisters, den er wach ge-
rufen, erhob, wie Mendelssohn gerade anf diesem Wege die
musikalische Verbindung unter den verschiedenen Ständen, ja
unter den verschiedenen Nationen herstellte, so hat Cantoni
durch seine Wiederbelebung Vieo's sich selbst zu einem philo-
sophischen Geiste herangebildet, und eine Brücke zur Verbindung
italiänischer und deutscher Cnltnr geschlagen, welcher wir zur
Stärkung unseres wissenschaftlichen Geistes nicht minder be-
dürfen, als zur Verinnerlichung des Völkerbundes, der von jetzt
ab, soll die Menschheit nicht in Kriegswirren untergehen, Italien
und Deutschland mit England verbinden muß. Vorzüglich ver-
Beurtheilimg.
463
dient aus dieser Literaturgeschichte hervorgehoben zu werden,
daß Vico beinahe ein Zeitgenosse Montesqnieu's war.
Er lebte von 1668—1744, Montesquieu von 1689
bis 1755.
Doch hatten sie keinen Einfluß auf einander. Italien war
dnrch seine üble Regierung damals zu sehr von der Gelehrten-
republik ausgeschlossen,
[273] Die Juristen aber hielten Vico hoch, so Filan-
giert, der seiner gegen Göthe erwähnte.
[285] Das System Vieo's, im Gegensatz zu dem seiner
Zeitgenossen und denen der Gegenwart, auch zu dem antiken
Staatsbegriff, ist das des Individualismus.
Der Staat ist ihm nur ein Mittel für das Individuum;
[285] das Ziel ist die Einwirkung des Individuums an die
Stelle der des Staats selbst zu setzen; er sucht nach einer
moralischen und wirtschaftlichen Harmonie der Menschheit im
Gegensatz zum Staatsmechanismus, gegründet auf freie Ver-
einigung, auf inniges und gegenseitiges Wohlwollen [286] der
Mehrzahl.
Das Individuum ist nicht mehr bloß das Ziel der bürger-
lichen Gesellschaft, es wird der Hanptwerkmeister der Civilisation.
Man betrachtet nicht mehr die tiefen und edlen Geistesregungen
der Menschen als Mittel, die Zwecke des Staats zu fördern;
— die Entwickelung dieser Tendenzen, die Erziehung dieser
[286] Geistesregungen ist vielmehr das wesentliche Ziel des Le-
bens der Menschen geworden.
[288] Dies ist auch das Ziel Vico's, der tiefe und
wahre Sinn seiner Lehre.
[412] Lerminier nennt Vico den Vorläufer von Wolf,
Niebuhr und Hegel.
Nachschrift. In einem Artikel der „Perseveranza" vom
28. August v. I. wird Eautoni's Werk das beste, das bis
jetzt über Vico geschrieben worden, genannt; gewiß, so sagt der
Recensent, kein kleines Lob, aber kein übertriebenes, wenn man
erwägt, daß die früheren über Vico erschienenen Werke sehr
unvollständig und phantastisch waren, wovon auch die berühm-
30*
464
Eberty-ZBeurtheilung.
testen, von Ferrari und Tommaseo, nicht freizusprechen;
beide gänzlich ungeeignet zu einem vollständigen, natürlichen
und umfassenden Verständniß des Gegenstandes, den sie be-
handeln, so wie zu einer wahren und ruhigen Auseinander-
setzuug desselben, ohne ihn in die Farben ihres eigenen Geistes
zu tauchen. Cantoni hingegen stellt uns einen wahren Vico
dar und reproducirt ihn, so wie er war (aus dem Studium
seiner Werke).
Cantoni hat auch in dieses Studium und in die Kri-
terien des Vico etwas ihm Eigenes, zugleich Gutes und Neues,
dadurch hineingetragen, daß er den Culminationspunkt des Vico-
schen Geistes nicht in der angeblichen (presunta) Entdeckung des
notwendigen Verlaufs der menschlichen Dinge, sondern in der
neuen Methode selbst, welche Vico auf die Geschichtswissenschaft
anwandte, indem er sie aus eiuer Erzählung von Begebenheiten
in die Wissenschaft von der Entwickelung des Menschen um-
wandelte, — und in den scharfsinnigen und genialen Gesichts-
punkten (intentioni) fand, durch welche Vico so viel und so
neues Licht über alle Theile dieses großen Feldes des Wissens
verbreitete, in dessen Bereich er zuerst den bis dahin so beschei-
denen (nmile) (dann aber darin verbleibenden) Namen der
Philologie hineinschrieb.
Der Nec. rühmt sodann die umfassende Kunde und das
gewiegte Urtheil Cantoni's über die verwandten Studien der
Deutschen. Nur eine einzige Lücke entdeckt der Rec. in der
Literaturgeschichte Cantoni's über Vico, nämlich, daß er die
Uebersetzung der scienza nuova (erudizione) von der Prinzeß
von Belgiojoso, welche 1844 in Paris erschien, nicht an-
geführt.
Doch tadelt der Rec. Cantoni's Stil und wirft ihm
grammatische Schnitzer vor; darüber erlauben wir uns k?in
Urtheil. Der Rec. schließt mit der Betrachtung, daß Vico
näher dem Anfange als dem Ende seines Ruhmes sei, und daß
das Bewußtsein seiner zukünftigen Größe den unglücklichen
Dulder getröstet.
Dr. Gustav Eberty.
laumt«v™i %N*, /V"
L. Geiger, Ursprung und Entwicklung der menschlichen
Sprache und Vernunft. Stuttgart, Cotta 186b.
486 u. XXVIII S. 8vo.
Es scheint Pflicht der Kritik, sowohl dem Vrs. als den
Lesern gegenüber, über einen so stattlichen Band, wie der vor-
liegende, Bericht zu erstatten, obwohl mit demselben das Werk
noch unvollendet ist. Indessen dürfen wir doch in diesem Falle
unsere Ansicht über Ziel und Leistung nur unter dem entschie-
denen Vorbehalt äußern, nach Erscheinen der folgenden Theile
vielleicht alles oder einen Theil dessen, was wir gesagt haben,
zurückzunehmen, wenigstens zu modisiciren. Denn so stattlich
der Band ist, den wir jetzt schon haben, so enthält er doch vom
Ganzen noch so wenig, daß man sich vom Gang und Charakter
des Werkes durchaus noch keine Vorstellung machen kann; er
ist wesentlich Einleitung, und zwar in anderem Sinne, als uns
der Vrs. in der Vorrede zu glauben veranlassen will. Der
Band giebt nämlich eine Einleitung (S. 3 —90) und dann das
erste Buch in neun Abschnitten nebst vielen excursartigen An-
merkungen. Wie viel Bücher folgen sollen, wird kaum äuge-
deutet (S. IX); es müssen aber mindestens noch drei sein, ver-
mnthlich werden es mehr. Die Einleitung nun sollte (S. VIII)
„einen Ueberblick über die Resultate im Allgemeinen" vor der
Einzeldarstellung bieten. Ich sehe aber kaum, wie sie das hätte
leisten können, noch auch, daß sie das geleistet hat. Vielmehr
hat der Vrs. selbst (S. 82) ausgedrückt, daß er von diesem
Abschnitte eine andere Ansicht hatte; derselbe sollte nämlich die
Entwickeluugsgeschichte der Form der Vernunft enthalten, im
Gegensatze zu Buch II u. ff., welche den geschichtlichen Ursprung
und Fortgang des Inhalts der Vernunft zum Gegenstande
haben sollen. Ich kann aber auch dieses Verhältniß nicht her-
466
Steinthal
ausfinden; mir scheint vielmehr, daß des Vrf.s Einleitung und
erstes Buch die prineipiellen Voraussetzungen zu den folgenden
historischen Untersuchungen darstellen, insofern jene das Verhält-
niß der Sprache zur Vernunft im Ganzen oder das Wesen
der Sprache überhaupt, dieses specieller das Verhältniß zwischen
Laut und Bedeutung bespricht. Mit der Feststellung dieser
Punkte aber, wie sie hier vorgenommen ist, wird noch nicht
einmal eine wirkliche Grundlage, eine positive Vorbereitung,
eine Ausrüstung für die in Angriff zu nehmende Arbeit ge-
Wonnen, sondern bloß die Einsicht in die Natur dieser Aufgabe
eröffnet. Prüfen wir nun, so gut es sich wird thun lassen,
was uns für jetzt dargeboten ist.
Der Vrs. tritt zum ersten Male als Schriftsteller auf, aber
nicht mit einer Zugend-Arbeit, sondern eher mit einem Lebens-
Werk. Er besitzt eine so umfassende und dabei gründliche
Sprachkenntniß wie nur wenige Sprachforscher; übertreffen wird
ihn in dieser Beziehung wohl Niemand. Ja, ich bin geneigt,
ihn den gelehrtesten Sprachforscher unserer Zeit zu ueunen.
Und eine Dialektik begegnet uns in ihm von einer Gewalt und
Selbständigkeit, wie wir sie seit Wilhelm von Humboldt
nirgends angetroffen haben.") Von der Naturwissenschaft zeigt
er so viel Kenntniß, wie vielleicht der Hochgebildete haben muß,
wie aber tatsächlich nur Wenige, die nicht Naturforscher sind,
sich erworben haben; vielleicht, ich kann es nicht bestimmt sagen,
reicht sein Wissen auch hier sogar noch weiter an das des Fach-
mannes heran.
Und so muß ich erklären, daß ich nicht den geringsten
Zweifel daran hegen kann, der Vrf. werde in den folgenden
Büchern seines Werkes eine Leistung zu Stande bringen, welche
den vielversprechenden Titel „Ursprung und Entwicklung der
menschlichen Sprache und Vernunft" vollständig rechtfertigen
und wohl verdienen wird. Dagegen kann ich die Befürchtung
nicht unterdrücken, die prineipielle Grundlage, welche der Vrf.
seiner Darlegung in dem vorliegenden Bande theils unterbreitet,
*) Zu seiner Dialektik steht der bauschige Styl des Vrf.s in Miß-
verhältniß.
Beurtheilung. 467
theils stillschweigend voraussetzt, werde sich als. viel zu schmal
und zu schwach erweisen.
Man darf mit Niemand darüber rechten, daß von ihm
diese und jene litterarische Erscheinung, welche ihn wohl ange-
gangen hätte, uubeachtet geblieben ist; mit Manchem aber soll
man selbst darüber nicht rechten, daß er eine Erscheinung unbe-
rücksichtigt gelassen, die für epochemachend gilt. So will ich
nun dem Vrf. keinen Vorwurf daraus machen, daß für ihn
alles das, was von Lazarus und mir geleistet ist, nicht vor-
Händen ist; aber mir muh aus diesem Grunde seine Grundlage
ungenügend erscheinen. Ich würde aus bloß innern Gründen
behaupten, der Band sei vor dem Jahre 1855 geschrieben; der
Vrf. berichtet (S. IX), daß die Einleitung „im Entwurf 1852
beendet war" und daß „Theile des ersten und zweiten Bandes
sich Anfangs 1859 in den Händen der Verlagshandlung be-
fanden". Der Vrf. äußert bei derselben Gelegenheit in einer
für mich ganz mysteriösen Weise: „Mich beruhigt einigermaßen
der Gedanke, daß die hier ausgesprochenen Anschauungen wäh-
rend der langen Reihe von Jahren (ich darf fast sagen: Jahr-
zehnten), in denen ihre Ausbildung und Durchführung mich be-
schäftigt hat, zum Theil von einer ganz andern Seite
ihre unabhängige Bestätigung gefunden und in den Ueberzen-
gnngen der Gegenwart Wurzel zu schlagen angefangen haben"
— von welcher Seite? das wüßte ich im mindesten nicht zu
sagen. Wenn aber solch ein Wink seitens des Schriftstellers,
wie hier gegeben ist, von einem Leser nicht verstanden wird,
so beweist dies, daß zwischen beiden eine Kluft besteht und zwar
eine verdeckt gebliebene.
Sehen wir zunächst, wie der Vrf. ganz im Allgemeinen
seine Aufgabe bestimmt. Er sagt (S. V.): „Ueberall auf
Erden, wo der Mensch erscheint, ist die Vernunft seine unter-
scheidende und gemeinsame Eigenthümlichkeit. . . Die Menschen
sind nirgends ohne Anfänge der Cnltnr, der Staatenbildung
und Sitte, und ohne eine gewisse Kunst und Industrie gefunden
worden." Dies bestätigen auch die unterirdischen Funde von
Geräthen und Werkzeugen einer uralten Menschheit. „Es steht
also fest: so weit nnsre Beobachtung reicht, ist der Mensch ver-
468
Steinthal
nünftig. — Und dennoch ist es nicht immer so gewesen. Die
Vernunft ist nicht von ewig her; denn das organische Leben
und die Erde selbst sind nicht von ewig. Die Vernunft hat,
wie alles aus Erden, einen Ursprung, einen Anfang in der
Zeit. Sie ist aber, wie die Gattungen des Lebendigen, nicht
plötzlich, nicht in aller ihrer Vollkommenheit sofort fertig, gleich-
sam durch eine Art von Katastrophe entstanden, sondern sie hat
eine Entwicklung. Dies einzusehen haben wir in der Sprache
ein unschätzbares, aber auch ein unentbehrliches Mittel." Denn
wie sehr uns auch das Denken ans der unendlich wunderbaren
Erscheinung lebendiger Mechanismen als das Wunderbarste und
Vollkommenste entgegentritt und unbegreiflich erscheint (S. 1—6),
so hat doch „die Gedankenthätigkeit von einem gewissen Punkte
an eine nachweisbare Geschichte, mit welcher ihre Entstehung
selbst der Empirie verfällt und aufhört, etwas zu sein, worauf
die Wissenschaft als auf etwas Jenseitiges und Versagtes, Me-
taphysisches und für die Einzelerscheinung Gleichgültiges ver-
zichten müßte oder dürfte" (S. 7.). Sonderbar! Alles was
nicht der Empirie verfällt, ist der Wissenschaft versagt! Und
dabei fällt zugleich eine Definition des Metaphysischen ab, da-
hin gehend, metaphysisch sei das eingebildete Wissen von dem,
was der Wissenschaft, weil es nicht der Empirie verfällt, ver-
sagt ist.
Und wo liegt jener Punkt, von dem an die Gedanken-
thätigkeit der Empirie verfällt? „Es ist dies der Punkt, wo
das Denken mit der Sprache zuerst eine Beziehung eingeht:
eine Thatsache, die eben so gewiß geschichtlich ist, wie das erste
Auftreten des Menschengeschlechts auf der Erde" (das.). Dies
ist ungenau ausgedrückt. Denn wenn es hiernach scheint, als
nähme der Vrf. an, das Denken habe zunächst für sich be-
standen, einige Entwickelnngsstuseu ohne Sprache durchlaufen
und sei dann erst in eine Beziehung zu .derselben getreten: so
ist vielmehr die Ansicht des Vrf.s die, „daß der Sprachlaut,
gemäß seinen aus der Sprachgeschichte empirisch für ihn nach-
weisbaren Eigenschaften, vollkommen befähigt ist, Begriffsbil-
dung, Denkthätigkeit und Selbstbewußtsein zu erzeugen" (S. 29).
Also der Sprachlaut gilt dem Vrf. in causaler Betrachtung als
Beurtheilung.
469
das Prius gegen Vernunft und Denken, und hierunter sind
nicht nur die höhern Formen der Geistesthätigkeit zu verstehen,
wie die eben citirte Stelle zu besagen scheint; sondern sogar
das „einfachste Urelement des Geistigen", d. h. „die Borstel-
lung, das ist die Erinnerung der Empfindung" (S. 30. Denn
die Empfindung ist, als bewußtlos, von der Grenze des eigent-
lich Geistigen noch ausgeschlossen; das.) „tritt erst durch die
Sprache vollständig und regelmäßig ein; denn durch sie erst
wird, worin ihm kein Thier gleicht, der Mensch in ausgedehn-
terem Maße auch zu Gesichtsvorstellungen fähig" (S. 37.).
Genauer wird wohl des Vrf.s Ansicht so ausgedrückt werden
müssen, daß der Laut zuerst die Empfindung vergeistigt, ver-
menschlicht; er entwickelt sich dann, „erleidet aber inmitten dieses
Fortschrittes eine noch bedeutsamere Umbildung seiner Natur
dadurch, daß er, anstatt aus Eindrücken der Sinne zu ent-
springen und an Wahrnehmung zu erinnern, nun fähig wird,
Begriffe auszudrücken und Dinge zu bezeichnen, oder was das
Nämliche ist: er selbst wird Sprache, sein Inhalt Vernunft"
(S. 29.).
Die Sprache ihrerseits erscheint nicht minder wunderbar
als die Vernunft (S. 7—9.). Obwohl höchst zweckmäßig und
kunstvoll, kann doch in ihrer Anwendung wie in ihrer Schöpfung
nur eine instinetive Thätigkeit gesehen werden, die sich mit einer
organischen vergleichen läßt, wie die Sprache selbst einigermaßen
mit einem Organe oder Organismus. Wenn hier der Vrs.
der bekannten Becker'schen Ansicht nur „einigermaßen" bei-
pflichtet, so kommt doch auch er, wie schon aus dem bisher
Angeführten hervorgeht, nicht über den Fehler hinaus, den ich
vor zwei Jahrzehnten zu bekämpfen begonnen habe und deni
ich heute nicht mehr begegnen zu können meinte, nämlich: „unser
heutiges Denken sei nichts als leises Sprechen"; die Sprache
habe das Denken durchdrungen und sei eine innige Verbindung
aller ihrer Theile mit ihm eingegangen (S. 12.). Kurz, beim
Vrf. zeigt sich die salsche Identität von Denken und Sprechen,
wobei die Sprache an sich zum gedankenlosen Laute werden
muß. Wie sich der Vrf. etwa dagegen wehrt, wehren kann,
zeigt folgender Satz (S. 13): „Fassen wir die Sprache in Be-
470
Steinthal
treff dieser ihrer Beziehung zur Vernunft ins Auge, so finden
wir, daß von ihren Theilen, den Worten, jeder schon zugleich
als Laut einen Sprachtheil und als Begriff einen Theil der
Vernunft enthält" (S. 13.). So finden wir! So meine ich,
man sollte vielmehr von Sprache und Vernunft gar nicht
reden. Sprechen ist ja Denken, soll es nach dieser Ansicht sein;
wie kann also von Sprechen noch außerhalb des Denkens die
Rede sein? ebensowenig wie von Denken außerhalb der Sprache.
Der Vrs. ist in der Dialektik stecken geblieben.
Die Frage vom Verhältniß zwischen Laut und Begriff,
wie kann sie erledigt werden ohne Beachtung der innern Sprach-
form? So erscheint denn der Vrs. im ersten Buche, wo diese
Frage behandelt wird, wie ein Heros, der mit Proteus ringt,
aber von der Eidothea uubelehrt.
Die Begriffe, meint der Vrf., wie sie sich in den Sprachen
aller Völker und Zeiten finden und in denen die Dinge nach
Ähnlichkeiten und Gattungen geordnet sind, haben, wie zweck-
mäßig sie auch in Wahrheit sind, ganz irrthümlich die Bewun-
derung der Philosophen und Sprachforscher erregt; sie stammen
nämlich nicht aus der menschlichen Weisheit, sondern aus der
Unfähigkeit der Unterscheidung in den Urgeschlechtern der Mensch-
heit, wie „in der Geschichte aller Erkenntnis; stets die Wahrheit
aus dem Zrrthnm entspringt, und Unterscheidung aus Ver-
wechslnng" (S. 91—94.). — So lautet, möchte man sagen,
die neue Auflage von Tiedemann (vergl. meine Schrift: der
Ursprung der Sprache, 2. Ausgabe, S. 10). Solche Sätze,
wie der, daß die Wahrheit stets aus dem Jrrthum entspringe,
können freilich nicht an jeder Stelle, wo man sich auf sie be-
zieht, bewiesen werden; sie können aber auch nicht überall, wo
sie, wie hier von mir, zurückgewiesen werden, widerlegt zu
werden beanspruchen. Ich bemerke darum nur wieder: wo sich
der Schriftsteller auf einen Satz als allgemein anerkannte, des
Beweises überhaupt nicht oder nicht mehr bedürftige Wahrheit
beruft, in welchem dagegen der Leser seinerseits vielmehr Un-
Wahrheit sieht, da muß eine Kluft zwischen beiden vorhanden
sein. — Hören wir den Vrf. vollständiger.
Er sagt (S. 93 f.): „Das Zweckmäßigste, was ein leben-
Beurtheilung.
471
diges Wesen überhaupt zu thuu vermag, ist stets nur Verwen-
dung der ihm von Natur verliehenen Organe, mit welcher die
Anwendung der Sprache selbst auf gleicher Höhe steht, indeß
ihre Erschaffung (als ob ein Thier sich selber Hände schaffen
sollte!) auch unter Voraussetzung der höchsten menschlichen Na-
turbegabung ganz unglaublich wäre... Keinem Geschöpf kann
ein Bedürfniß nach dem ihm völlig Unbekannten, über seinen
Zustand hinausliegenden zugeschrieben werden. Das Thier fühlt
kein Bedürfniß nach Kleidung; der sprachlose Mensch würde
eines Bedürfnisses nach sprachlicher Mittheilung nicht fähig ge-
Wesen sein. Schon dies, sowie die Undenkbarkeit, die darin
liegt, daß die Sprache, dieses Mittel der Mittheilung, selbst
mitgetheilt worden sei, ferner ihr ganzer Inhalt und ihre ganze
Natur machen es unmöglich, sie als Erfindung zu betrachten
und das Zweckmäßigste in ihr auf weise Berechnung zurückzu-
führen. Wir müssen daher von dem entgegengesetzten Wege
ansgehn und auch" die Begriffsbildung der Sprache, „die Be-
schränkung der Benennung auf Arten und Gattungen nicht als
Fähigkeit der Vergleichung, sondern als Unfähigkeit der Unter-
scheidung in den Urgeschlechtern der Menschheit auffassen". Ist
das eine richtige Folgerung? Also, da das Thier z. B. sich
sein Auge nicht schaffen konnte, so muß dieses aus der Blind-
heit und dem Nichtsehen entspringen? Und warum nicht lieber
so: da das sprachlose Geschöpf nicht einmal ein Bedürfniß nach
Sprache haben kann, so muß die Sprache ein dem Menschen
von Natur verliehenes Organ sein, welches er bloß anwendet.
Ferner: wenn irgend eine Erkenntniß, die noch nicht gebildet
war, jetzt entstanden ist, ist sie durch Mangel an Erkenntniß
geschaffen? Wird etwas aus nichts? Der Vrf. aber wieder-
holt (S. 250), Vernunft und Sprache seien aus Unvernunft
und Sprachlosem hervorgegangen. Er scheint unbeachtet ge-
lassen zu haben, daß ein Thier nicht bloß kein Bedürfniß nach
Kleidung und Sprache hat, sondern daß es darum auch völlig
außer Stande ist, sich Kleidung und Sprache, wenn man sie
ihm darbietet, sich anzueignen, weil sie nämlich völlig „über
seinen Zustand hinausliegen". Wenn also nur der Mensch zu
Vernunft und Sprache gelangt, so müssen diese nur innerhalb
472
Steinthal
seines Zustandes liegen; und kann man nun diesen Zustand
kurzweg, eben so wie man den thierischen mit vollem Rechte
bezeichnet, Unvernunft und Sprachlosigkeit nennen? Wer spricht,
macht Anwendung von der Sprachfähigkeit; also muß die
Sprachfähigkeit vor der Wirklichkeit des Sprechens da sein:
dies gilt vom heutigen Menschen wie von dem Urgeschlecht.
Dieses kann nicht in dem Sinne stumm und unvernünftig ge-
Wesen sein, wie das Thier bis heute es zu allen Zeiten war.
Daß die sprachlichen Begriffe, wie sie in den Wörtern
liegen, unserer heutigen Wissenschaft völlig ungenügend erscheinen
(S. 99), ist richtig. Aber unterscheidet die Wissenschaft nicht
mehr zwischen Pferd und Esel, Hund und Katze, Rose und
Lilie? Und wenn die Spaltungen, welche die Sprache vollzieht,
unter unsern Händen zerrinnen (das.), wieso sind denn diese
Unterscheidungen, welche sie gemacht hat, aus Verwechslungen
hervorgegangen? Bekunden die Begriffe Groß und Klein,
Viel und Wenig, Laut und Leise, Berg und Thal (das.), wie
relativ sie sein mögen, nicht eine Fähigkeit der Vergleichnng?
So habe ich durchweg den Eindruck, als sei der Vrf.
noch so sehr in der Dialektik stecken geblieben, daß er einer
genetischen Erkeuutniß sich kaum annähert, wenigstens nicht das
entschieden ausgesprochene Bedürfniß nach ihr hat. Seine
Weise, mit den Kategorieen Wahrnehmung, Vorstellung, Begriff
umzugehen muß dem Psychologen ganz laienhaft erscheinen.
So hätte der Vrf. in seiner „Einleitung" die Entwicklung der
Denkfähigkeit zu zeigen gehabt. Es sollte dort gezeigt werden,
wie zu den mannichfachen Zielen, welche der Vernunft gesteckt
sind, überall in der Sprache ein unentbehrliches Erforderniß,
ja die eigentlich treibende Ursache vorliege. Man könnte dem
Vrf. unbedingt alles was er bemerkt zngestehn; nur von einer
Entwicklungsgeschichte ist weiter nichts gegeben als der Umriß,
der aber ganz unausgeführt bleibt. Wie etwas, irgend eine
Form der Vernunft und der Sprache wird, davon ist nicht die
Rede. Der Unterschied zwischen den menschlichen und den
thierischen Seelen-Aeußernngen wird ausführlich, sein und tref-
fend bezeichnet; aber eben nur bezeichnet, und darauf wird hin-
zugefügt, die Sprache habe ihn bewirkt. Wie die Sprache dies
I
k
Benrtheilung.
473
gemacht habe, davon kein Wort. Und warum hat das Thier
keine Sprache? Das ist nicht mit Stillschweigen übergangen
(S. 37 — 39), aber keineswegs wirklich erörtert. Nur dies
muß ich hier noch hervorheben, daß der Vrf. so sehr den Un-
terschied zwischen Menschen und Thier bloß aus der Sprache
ableitet, daß er z. B. von der Hand gar nicht redet. Auch
gilt ihm der Tastsinn als völlig untergeordnet.
Wie die Sprache ihre große Aufgabe, Vernunft, Bewußt-
sein zu erzeugen, solle lösen können, wird um so weniger be-
greiflich, als nach des Vrf.s Ansicht Laut und Begriff nur
zufällig zusammengerathen, ein notwendiger Zusammenhang
aber zwischen beiden gar nicht stattfindet. Der Laut entwickelt
sich für sich, der Begriff entwickelt sich abermals für sich an
der Seite der Laute, jeder unberührt vom andern. Wie sich
der Vrf. dies denkt, ist mir völlig unklar, und ich kann darum
nur die betreffenden Stellen eitiren, welche zugleich die Ansicht
des Vrf.s vom Ursprünge der Sprache enthalten.
Die Sprache, sagt der Vrf. (S. 13), stellt nicht „die
sinnlichen Gegenstände dar, sondern Gedankendinge, Bestand-
theile einer schon durch das Denken hindurchgegangenen und
in Gedankenstoff verwandelten Welt." Dagegen „kommt das
einzige eigentlich und ausschließlich sinnliche Element der Außen-
Welt, nämlich die Empfindung in der Sprache nicht zum Vor-
schein" (S. 15). Da nun das Wort nicht aus denkender Be-
rechnung und willkürlicher Wahl hervorgegangen sein kann, so
muß es einem außerhalb des Bewußtseins liegenden Natur-
dränge, einer in dem Begriffe selbst liegenden Notwendigkeit,
laut zu werden, entsprungen sein; „und die Sprache würde
demnach, gleichsam als ein Organ der Vernunft, zwar in ihr
noch ihre Ursache haben, aber doch so, daß sie dabei nicht als
vernünftige, sondern als blinde Ursache, nicht als denkendes
Motiv, sondern als physiologischer Reiz wirksam wäre: es
würde die Vernunft die Sprache nicht erschaffen, sondern diese
nur aus ihr durch Nöthigung des Organismus bewirkt und
hervorgerufen werden, und das Wort sich zu dem Begriffe
gewissermaßen so verhalten, wie der Schrei sich zur Empfin-
dung verhält. Die Begriffe bestimmter Zahlen z. B., oder
i
474
Steinthal
der Verneinung und des Ich, sowie das Verhältniß der Hin-
Weisung und Rückbezüglichkeit, der Zeiten und sonstigen Be-
Ziehungen des Zeitwortes, müßten einer solchen Auffassung zu
Folge nur stark genug zum Bewußtsein kommen, um sofort die
entsprechenden Laute und Formen aus sich zu erzeugen und sich
gegenüber zn stellen, etwa vermöge eines dichterischen Triebes,
wie derjenige, welcher die erregten Gesühle sich auszusprechen
drängt" (S. 16.).
Wer meine Ansicht vom Ursprünge der Sprache kennt,
kann sich selbst sagen, wie ich die soeben angeführte Stelle be-
urtheilen muß. Der Vrf. staud am Anfange derselben der
richtigen Erkenntniß ganz nahe; weil er aber von dem Wesen
der Vorstellung, wie sie sich in der innern Sprachform ent-
wickelt, gar nichts weiß, so hat er sich augenblicklich vom rich-
tigen Wege völlig abgewandt. Er meint, es sei nicht zu be-
greifen, wie „etwas an sich vielfach Freies, wie der Begriff,
einen organisch nothwendigen Ausdruck zur Seite haben sollte",
(bat) wäre ja wirklich unbegreiflich; aber handelt es sich denn
um den Begriff?) „vollends da dieser Ausdruck tausendfältig
verschieden gefunden wird, nämlich als verschiedene Sprache.
Sollte z. B. dem Begriffe gehen oder brüllen ein Ausdruck
naturuothwendig entsprechen und dennoch einem Deutschen auf
diese, einem Franzosen auf eine andere Weise naturnothwendig
sein?" Solchen Einwand erhebt ein Mann, dem nicht nur
die neue Sprachwissenschaft vertraut ist, sondern der ein Werk
unternimmt, welches voraussetzt und nachweisen soll, daß unser
heutiger geistiger Besitz nicht in sich selbst, sondern in der Ver-
gangenheit, in der er geworden ist, seine Notwendigkeit hat!
Also, meint der Vrf. (S. 19), nicht die Vernunft in ihren
begrifflichen Elementen hat die Worte hervorgebracht. Und nun
folgt eine Stelle (S.. 19—21), welche die Vermnthung erregt,
der Vrf. wolle wieder auf den rechten Weg einlenken. Aber
unglücklicherweise geräth er auf Schallnachahmung, und diese
verwirft er mit Recht. Aber wie? „Der Begriff geht stets
aus einem andern Begriffe, der Laut aus einem andern Laute I
hervor" (welch ein logischer und grammatischer Formalismus
ist das!) „und beide, Begriff und Laut, verbleiben dabei immer
und überall innerhalb der Sprache und der ihr eigenthümlichen
Gesetze . . . Der Begriff entspringt erfahrungsgemäß niemals
aus eiuem Objeet" (das wäre ja auch wunderbar!), sondern
immer aus einem andern Begriffe. „So scheint freilich noth-
wendig zuletzt eine Anzahl von Urbegriffen oder ein einziger
übrig bleiben zu müssen. Allein es ist nicht so; denn während
dieser Entwicklung, welche die jüngern Begriffe aus den altern
entstehen läßt, verändert und gestaltet sich das eigentliche Wesen
des Begriffes selbst zugleich so sehr, daß wenn wir diesen ganzen
Proceß rückwärts verfolgen, wir an dessen Anfang nach einer
beständigen Abnahme zuletzt etwas der begrifflichen Natur voll-
kommen Entkleidetes gewahren" (S. 21.). Hieran kann nichts
weiter überraschen als die Emphase, mit welcher der Nrf. es
ausspricht. Ihm zu allermeist muß es ja auf der Hand zu
liegen scheinen, daß der Begriff aus etwas, was nicht Begriff
ist, entsprungen sein muß. Und nun stehn wir wirklich vor-
dem Ursprünge der Sprache nach des Nrf.s Ansicht.
Er fährt nämlich fort (S. 22): „Die Sprache ist in diesem
ihrem Anfange ein thierischer Schrei, jedoch ein solcher, der
auf einen Eindruck des Gesichtssinns erfolgt"; aber nicht auf
jede Gesichtswahrnehmung, „sondern eine einzige bestimmte".
Also hört! hört! Es giebt im ganzen Kreise menschlicher Ge-
sichtseindrücke einen einzigen, der den Anfang zum Ausdruck
überhaupt bot. Der Vrf. meint, bloße Speculation wäre wohl
schwerlich geneigt gewesen, gerade diesen aus der Gesammtmasse
alles Ausdrückbaren als Quell der Sprache auszusondern. Ich
weiß nicht, ob der Leser begierig ist, diese merkwürdige Gesichts-
Wahrnehmung zu kennen. Nicht ohne Schmerz habe ich hier
zu bemerken, wie ein Mann von dem Geiste des Vrf.s, von !
solcher Keuntniß, solcher Energie uud Schärfe des Geistes, aus
der Dialektik in die Schrulle versinkt. Wie das möglich ist?
Dazu wirkt gewiß vieles; die Hauptsache aber ist: es fehlt dem
Vrf. die Psychologie. Ich citire (S. 24): „Der Sprachschrei
erfolgt ursprünglich nur auf den Eindruck, den der Anblick eines
in krampfhafter Zuckung oder gewaltiger wirbelnder Bewegung
befindlichen thierischen oder menschlichen Körpers, eines heftigen
Zappelns mit Füßen oder Händen, der Verzerrung eines mensch-
I
476
Steinthal
lichen ober thierischen Gesichts, insbesondere des Verziehens des
Mundes und der Wimperbewegung der Augen macht" ....
(S. 24): „Das Ergebniß, welches das Object des ersten
Sprachlautes betrifft, ist übrigens ganz unabhängig von der
Vorstellung, die man sich von der Art machen mag, wie dieses
Object den Sprachlaut bewirkt; es selbst, und besonders seine
vorwiegende Sichtbarkeit, ist nicht im Mindesten hypothetisch,
sondern vielmehr völlig durch die chatsächliche Erfahrung fest-
zustellen" (S. 26).
Uebrigeus erfordert nicht nur die Gerechtigkeit gegen den
Vrf., sondern auch die Sache selbst, daß ich erwähne, wie ge-
rade bei dieser Gelegenheit der Vrf. über den Sprachlaut, die
Bedeutsamkeit und das Verständniß desselben treffende Bemer-
kuugen macht, die sich meiner Ansicht ganz anschließen. Un-
mittelbar daran knüpft aber der Vrf. Folgendes (S. 27): „Auf
diese Weise wird der Sprachlaut nicht nur wie der Schrei
sympathetisch, sondern auch erinnernd wirken; und daß dies in
der That seine eigentliche Wirkungsart ist, zeigt seine Verän-
derlichkeit oder Entwicklungsfähigkeit und sein ganzes Verhalten
während seiner derartigen Veränderung. Denn wenn er in
seinem Ursprung noch einigermaßen für naturnothwendig und
mit seinem Objecte in irgend einem, dem menschlichen Orga-
nismns entspringenden, Zusammenhange befindlich gelten könnte,
so machen nunmehr beide, der Sprachlaut uud sein Object,
für sich gesondert einen eigenen Entwicklungsgang durch, und
die zwischen beiden herrschende Verbindung bleibt in ihrer Be-
sonderheit für jeden einzelnen Fall nur ein Werk der Gesetze
des Zufalls. Der Laut vervielfältigt und verwandelt sich; sein
Inhalt vermehrt sich und spaltet sich zugleich in Gruppen, die
sich auf die vervielfältigten Lante vertheilen... Er schreitet
über die wälzende und tummelnde Bewegung des Thieres zur
sichtbaren heftigen Bewegung auch anderer Dinge vor, sosern
diese von der thierischen nicht unterschieden und ein rollender
Steinblock keineswegs sofort als unbelebt erkannt, sondern viel-
mehr ganz mit denselben Augen wie ein laufendes oder sich
wälzendes Thier betrachtet wird; er geht von den mächtigeren
Eindrücken zu den schwächeren, von dem Sichtbaren zu Gegen-
-«uAliim/WIIJUlWUMHi
Benrtheilung. 477
ständen der andern Sinne über, zunächst diese mit dem Sicht-
baren, das mit ihnen verbunden ist, zusammenbezeichnend, dann
aber dasselbe verlassend; er verbreitet sich ausgleiche Weise von
der die Empfindung bergenden und verrathenden Bewegung
aus auf die Empfindung selbst und die gesammte unsinnliche
Welt des Geistes, erleidet aber inmitten dieses Fortschrittes eine
noch bedeutsamere Umbildung seiner Natur dadurch, daß er
anstatt aus Eindrücken der Sinne zu entspringen*) und an
Wahrnehmungen zu erinnern, nun fähig wird, Begriffe auszu-
drücken und Dinge zu bezeichnen, oder was das Nämliche ist:
er selbst wird Sprache, sein Inhalt Vernunft."
Wie das aber geschehen soll, woher sich der Laut ver-
mehren, wie der Inhalt fortschreiten und sich umbilden soll,
das bleibt unerörtert. Ausdrücklich lehnt (S. 182) es der Vrf.
ab, wenigstens in dem vorliegenden Bande — oder bloß in
diesem Abschnitte? — den Ursprung des Sprachlautes auszu-
suchen und stellt nur die Behauptung hin, „daß Entstehung des
Lautes, soweit sie sich beobachten oder wahrscheinlich machen
läßt, niemals wirkliche Neubildung, sondern stets Umbildung
vorhandener Laute ist; daß diese stets durch lautliche Nothwen-
digkeit und gewissermaßen mechanisch, niemals frei und aus
Absicht oder Trieb der Bezeichnung erfolgt; daß die letzte Ur-
sache seiner Nothwendigkeit ... Zusammensetzung ist". Damit
aber Zusammensetzung stattfinden könne, muß es doch minde-
stens zwei Urlaute gegeben haben; nach dem Vrf. könnte aber
doch immer nur von einem einzigen die Rede sein. Er nimmt
aber (mit welchem Rechte?) eine beschränkte Zahl von einfachen
Urlauten an (S. 183), denen er aber eine große Vieldeutigkeit
zuschreibt, so daß der Kreis der Begriffe ursprünglich viel
*) „Aus Eindrücken der Sinne entspringen"! Das kann der Vrf.
doch nur mit völligem Vergessen des eben Behaupteten sagen. Nach ihm
entspringt ja nur ein einziger Laut aus einem einzigen Gesichtseindrucke, der
sich dann lediglich aus sich vervielfältigt, und dessen nene Gestalten sich dann
zufällig mit irgend etwas von dem gleichfalls vermehrten Inhalt verbindet.
Aber auch schon vorher ist von einer „Vermehrung der Ursachen des Sprach-
lautes" die Rede und auch S. 52 wird der Sprachlaut eiue „Wirkung der
Empfindung" genannt, als könnte jede Empfindung einen Laut bewirken.
Zeitschr. für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. VI. 32
*
478 Steinthal
größer war als der der Laute. Von diesen sind die Wurzeln
noch verschieden. Die Wurzeln entstehen zwar durch Verbin-
dung von Lauten; aber diese Verbindung ist nicht Zusammen-
setznng, d. h. nicht sinnvolle Verbindung dereinst selbständiger
Begriffsbestaudtheile (S. 185), sondern erfolgt ganz unabhängig
von der Begriffsentwicklung (S. 188). Also waren die Wnr-
zeln im Anfange nur verschiedene lautlich bereicherte Ausdrücke
eben desselben Begriffsinhaltes wie die Urlaute, aus denen sie
gebildet wurden (das.). Der Vrf. behauptet (S. 189). „daß
die Sprache niemals eine bestimmte Begriffssphäre an einen
bestimmten Laut gebunden, sondern, dem Principe nach, All-
dentigkeit zu ihrem Grundgesetze erkoren habe." Also jeder
der Urlaute, wie der Urwurzeln bedeutete Alles. Hier nun
(S. 191) „treten uns die gewichtigen, das größte aller Räthsel
des Geistes betreffenden Fragen entgegen: wie ward der Laut
erzeugt? wie wirkte er? wie drang Begriff in etwas an sich
dem Geiste nicht Entsprechendes? und vor Allem, welche Aus-
fünft erklärt uns die Möglichkeit des Verständnisses bei so großer
Vieldeutigkeit?" Und endlich müssen wir uns fragen (S. 192),
„wie und auf welchem Wege es gekommen sei, daß Vieldeutig-
keit und Unbestimmtheit des Lautes in der Folge in bestimmte,
dem Zwecke des Verständnisses entsprechende Bedeutung über-
ging?" Für jetzt aber sagt uns der Vrf. von all dem nichts.
Nun die Kehrseite, die Begriffswandlung. Sie geschah
gauz ohne Rücksicht auf den Laut; und also ist es ganz ange-
messen, daß sie sich an einem einzigen Laute vollzieht (S. 219).
Die Entfaltung des Begriffs geschieht nach eigenen nnveränder-
liehen Gesetzen „in den Lauten und dennoch von den Lauten
unabhängig" (das.). „Dem Sprachlaute ist eine zufällige und
unentwickelte Wirkung eigen, vermöge deren er nicht sowohl
naturgemäß ergreift, als gleichsam durch künstliche Verbindung
an seinen Gegenstand erinnert" (S. 229). Erinnerung ist das
Band zwischen Laut und Begriff, und zwar eine Erinnerung,
welche „in einem zufälligen Zusammenauftreten dessen, was er-
innert, mit ihrem Gegenstande ihren Grund hat".
Diese Ansicht von der zufälligen Entwicklung der Sprache
wird verdeutlicht durch Hinweis auf unsere Synonyme Magd
^HBS5RnTR33™m5SEBS3
Beurtheilung. 479
und Maid, Roß und Pferd und Mähre, Odem und Athem,
Haut, Fell und Balg (S. 231 f.), und erhält dann ihre tiefste
Begründung durch eine metaphysische Betrachtung des Zufalls
(S. 232—250). Jener Hinweis enthält viel Richtiges und
Schönes, und dieser metaphysische Abschnitt ist ausgezeichnet;
aber ich sehe nicht, daß sie leisten, was der Vrf. beabsichtigt.
Daß für die Sprachgestaltung der Zufall nicht auszuschließen
ist, wird Niemand leugnen; jeder nach seiner Ansicht von dem-
selben wird ihm einen Raum anweisen. Nur die Anwendung,
welche der Vrf. von seiner Theorie vom Zufall für die Sprache
macht, kann ich nicht begreifen. Daß sich gerade hier und jetzt
Sauerstoff und Wasserstoff begegnen, mag Zufall heißen; aber
daß, da sie sich nun einmal begegnet sind, sie sich zu Wasser
verbinden, während Sauerstoff und Stickstoff immerhin zusammen
sein können, ohne daß daraus eine chemische Verbindung ent-
stände: das ist doch causal uothwendig. Wie vieles begegnet
sich im Bewußtsein, ohne sich zu verbinden! wie vieles, was
hier verbunden war, wird von einander wieder gelöst. Wie
kommt es nun, daß sich eine gewisse Laut- und Gedauken-Ent-
Wicklung so innig vereinen, daß sie untrennbar werden? Und
wenn es geschehen kann, daß sich zwei Elemente des Bewußt-
seius verbinden, ohne daß es zu ihrem Wesen gehörte, solche
Verbindung einzugehen, so ist doch damit nicht bewiesen, daß
es im Laute und im Begriffe nicht ihrer eigensten Natur nach
gegeben sei, sich zu vereinen. Der Vrf. hat nur diese Natur,
so fürchtet man, nicht begriffen, hat den Mechanismus, den die
Sprache schafft, weder „erklärt" noch „eingesehen" (S. 246).
Er hat nirgends gesagt, was Sprache ist, noch auch was
Begriff ist. Nur gelegentliche Aenßernngen lassen wohl eine
Definition entnehmen. So wäre etwa S. 49. 268 zu ersehen,
was nach dem Vrf. der Begriff ist. Solche nur zufällige Er-
klärungen aber werden kaum völlig und sicher verstanden oder
erregen bloß Verwunderung.
Es ist Zufall, daß ein Mensch gerade in dem Augenblicke
an der Stelle sich befindet, wo ein Stein vom Dache fallend
ihn treffen muß und tobtet: das Zusammentreffen dieses Falles
mit der Stellung des Mannes ist Zufall; aber nicht nur ist der
31*
k
480 Steinthal
Fall an sich, wie die Stellung an sich von einer cansalen Reihe
bedingt, sondern auch die durch das Zusammentreffen beider
Reihen bedingte Tödtung des Menschen ist ebenfalls bedingt
von seiner und des Steines Natur. Wäre der herabfallende
Ziegelstein auf einen Granitblock gefallen, so wäre das gerade
eben so sehr Zufall, aber jener wäre zersplittert, ohne diesen in
der Cohäsion seiner Theile zu verändern; und wenn andrerseits
nicht ein Stein, sondern eine Schneeflocke gegen unser Auge
getrieben wird, so schadet uns das nicht. So zufällig der Zu-
sammenstoß sein mag, der Erfolg ist es insofern nicht, als er
von der Natur der zusammenstoßenden Dinge abhängt. Was
durch das Zusammentreten von Laut und Begriff werden kann,
wie zufällig auch der Zusammentritt selbst sein mag, hängt von
der Natur seiner Factoren ab.
Erinnerung, und bloß diese, meint der Vrf., bindet Laut
und Begriff zusammen. Hat sich der Vrf. klar gemacht, was
Erinnerung heißt? Es will mir nicht so scheinen. Ist Er-
innerung bloßes Zusammensein zweier Elemente des Bewußtseins
ohue innere Beziehung des Inhalts derselben? Von dieser Be-
ziehung finde ich beim Vrf. nichts.
Alle Mängel aber, die ich hervorgehoben habe, zusammen-
genommen erklären mir doch folgende Aeußerung des Vrf.s
nicht (S. 269): „Die Sprachen treffen in vier Punkten alle
nahezu überein und verdanken ihre Abweichung von einander
nur einem einzigen fünften. Sie gleichen sich mit geringen
Schwankungen: im Umfange der Lautckittel; in den Begriffen;
in den Gesetzen der Lautentwicklung; und endlich in der Ver-
wandtschast der Begriffe, welche einem jeden derselben einen
bestimmten andern zum Ursprünge anweist: und sie weichen be-
deutend nur in dem Punkte von einander ab, in welchem dem
Zufall Spielraum verstattet ist, in dem Zusammentreffen des
Lautes mit dem Begriffe". Als ich meine „Typen des Sprach-
baues" ausarbeitete, hätte ich nicht geglaubt, daß ich noch neun
Jahre später einen Satz wie den vorstehenden zu lesen bekommen
würde. Nun finde ich ihn bei einem Schriftsteller, der selbst
daran erinnert (ich weiß die Stelle nicht wiederzufinden), daß
die homerische Sprache kein Wort für Thier hat, das spätere
Beurtheilung. 481
C«iov aber insofern unfern Begriff Thier überschreitet, als es
den Menschen mit einschließt (weswegen sich das berühmte Lied
„Mensch und Thiere schliefen feste" nicht in das Griechische
übersetzen ließe: während der Vrf. behauptet, es lasse sich alles
aus jeder Sprache in jede übertragen), daß das Hebräische da-
gegen neben dem allgemeinen und den Art-Begriffen den mittlem
Begriff sön für Schafe und Ziegen zusammengefaßt besitzt.
Nach all dem aber muß ich schließlich bemerken, daß der
Vrf. nicht nur fast durchweg anregend und vielfach belehrend
ist, sondern daß er auch die Aufgabe seines Werkes tief erfaßt
und klar ausgesprochen hat, und zwar ganz in Uebereinstimmuug
mit der Weise, wie unser Mitarbeiter dieselbe bezeichnet hat in
dieser Zeitschr. V., S. 398. Freilich bin ich nach Vorstehendem
nicht sicher, inwieweit das, was der Vrf. „empirische Kritik der
menschlichen Vernunft" (S. 101) nennt, dasselbe sein mag, was
dort „historisch-psychologische Analyse als nothwendige Ergän-
znng der deduetiveu Kritik der Begriffe" genannt wird. Was
mich zweifeln macht, ist gerade der Umstand, den ich noch zum
Ruhme des Vrf.s erwähnen muß, daß sein Begriff einer Ent-
Wicklungsgeschichte der Vernunft in großartigem Zusammen-
hange mit seiner Theorie vom Zufall überhaupt steht.
Von dem Reichthum und der Gediegenheit der historischen
Einzelbemerkungen in dem vorliegenden Bande ist es nicht
möglich, an diesem Orte eine volle Vorstellung zu geben. So
nehmen wir für diesmal Abschied vom Vrf. in der Hoffnung,
ihm bald wieder zu begegnen, und dann mit nicht geringerer
Freundlichkeit als Hochachtung.
Steinthal.
R Westphal. Philosophisch-historische Grammatik der
deutschen Sprache. Jena J8(>9.
Im Vorwort erklärt der Verfasser, in seiner Schrift sei
das eigentlich Grammatische mit dem Sprachphilosophischen zu
einem einheitlichen Ganzen verwebt; das Sprachphilosophische
sollte nicht bloß als Einleitung zu den einzelnen Abschnitten
der Grammatik dienen, sondern beide Bestandteile eine gleich-
berechtigte Stellung einnehmen, sowie überhaupt die Lehre von
der Genesis der grammatischen Formen mit der systematischen
Verzeichnung und Vergleichung derselben zusammengefaßt erst
den Begriff der Grammatik erfülle. Es ist nun klar, daß eine
Schrift, die solche Forderungen stellt, auch wenn sie ihnen nicht
ganz genügt, von hohem Interesse für diejenige Richtung der
Sprachwissenschaft sein muß, welche in unserer Zeitschrift ver-
treten ist; und wenn wir das, was in diesem Buche für die
germanische Grammatik im Einzelnen geleistet ist, den
Specialzeitschriften dieses Faches zur Beurtheiluug überlassen
müssen, so werden wir um so mehr auf das allgemein Sprach-
wissenschaftliche und Methodische einzugehen haben. Glück wün-
schen darf sich jedenfalls die germanische Philologie, in kurzer
Zeit nach einander zwei so bedeutende Werke empfangen zu
haben, wie das von Scherer „Zur Geschichte der deutschen
Sprache" und nun diese Grammatik von Westphal; und da
auch das erstere in dieser Zeitschrift besprochen worden ist, so
dürfen wir wohl einige vergleichende Bemerkungen vorausschicken.
Gemeinsam ist beiden Werken, neben der historisch-vergleichenden
Methode, die Zuthat von Philosophie; doch erscheint diese bei
Scher er nur stellenweise, gelegentlich, während sie bei West-
phal ausdrücklich in die Anlage des Ganzen aufgenommen ist.
Auch ist dieses letztere Buch, trotz geringerem Umfang und ob-
wol es nur ein erster Theil sein will, vollständiger, zusammen-
hängender und mehr in sich geschlossen als die Untersuchungen
von Scherer, welche zwar im Einzelnen viel weiter in das
Tobler: Beurtheilung. 483
historische Material eindringen, aber als Ganzes nur äußerlich
an Einem Faden aufgereiht sind. Einstimmig sind beide wieder
in der Hervorhebung des eigenthümlich nationalen, den ganzen
Sprachbau durchdringenden Prineips der Betonung, welches
nach W. den germanischen Wurzeln eine durchsichtige Treue,
Festigkeit und Lebenssrische bewahrte, durch welche auch unsere
Reimpoesie im Vergleich mit der romanischen vertieft wurde
(S. VI.—VIII.). Eigentümlich charakteristisch findet Hr. W.
ferner (S. IX. X.) den auch von Sch. vielfach bemerkten Sub-
jeetivismus der altdeutschen Schriftsprache, d. h. die freie Ver-
Wendung aller lebendigen Dialekte zu litterarischem Gebrauch,
gegenüber der größeren Stetigkeit der antiken Schriftsprachen.
Hr. W. findet aber auch in den germanischen Flexions-
formen, obwol diese im Ganzen eben zum Vortheil der Wur-
zeln stark abgeschliffen wurden, einzelne Reste von hoher Alter-
thümlichkeit, welche jedoch nur durch eine von der Herr-
schenden Methode abweichende Grundansicht von
Sprachbildung können bloß gelegt werden, und in diesen
Nachweis scheint der Vrs. selbst das hauptsächliche Verdienst
seiner Arbeit zu setzen, für welche ihm übrigens die Vorlesungen
von Gildemeister über vergleichende Grammatik wesentlich
maßgebend gewesen seien (S. XIII.). In der That handelt
es sich hier um eine principielle Verschiedenheit der Ansichten
über Entstehung der Sprachformen, und es ist sehr zeitgemäß,
daß diese Streitfrage neu erhoben wird, auch wenn das Ger-
manische zur Entscheidung derselben weniger beitragen kann,
als Hr. W. anzunehmen geneigt scheint. Er formulirt schon
S. XI ff. einen Gegensatz zwischen der von Bopp ausge-
brachten Agglutinationstheorie, wonach die Flexionen entstanden
durch Verbindung der Wurzel mit einem vorher selbständig
gewesenen pronominalen Element, und der durch Becker und
Gildemeister vertretenen Ansicht, daß die Pronomina erst
aus Bestandtheilen der Flexion sich zu nachherigem selbständigen
Dasein abgelöst haben. Agglutination kommt nach W. in den
indogermanischen Sprachen erst später vor, und auch in den
semitischen läßt sich der ältere Bestand der Flexionen nicht auf
Pronominalwurzeln zurückführen; sondern zu Grunde liegen
484 Tobler
ihnen an sich bedeutungslose Laute, welche eine bestimmtere
Bedeutung erst mittelbar in ihrer successiven Anwendung erlangen.
Diese Grundansicht wird nun im Verlauf des Buches an
verschiedenen Stellen ausführlicher und nicht ohne polemische
Lebhaftigkeit vorgetragen (vgl. besonders S. 92 ff., 114, 126 ff.,
160 ff., 178 ff., 192 ff.) und macht, wie uns dünkt, so ziem-
lich den philosophischen Gehalt ans, der dem Werke beigemischt
ist; denn was sonst noch einigermaßen Philosophisches vorkommt,
als Einleitung zu den einzelnen Kapiteln der Formenlehre, scheint
uns mehr nur eine logische Zurechtlegung der in der Sprache
vorgefundenen Kategorien als eine psychologische Erklärung der-
selben, obwol die historisch-genetische Grundansicht nirgends zu
verkennen ist und zerstreut manche einzelne Ansicht philosophischen
Blick verräth. Jene Hauptansicht aber ist in der That bedeut-
sam, daß wir noch etwas näher auf sie eingehen müssen. Sie
tritt zwar nur als Hypothese auf, aber mehr ist auch die ent-
gegenstehende nicht, wie ja die höchsten Probleme überhaupt,
auch in der Naturwissenschaft, nur auf diesem Wege zugänglich
gemacht werden können. Als Hypothese aber scheint uns die
Westphal'sche Theorie wenigstens ebenso annehmbar wie die
Bopp'sche, welche allerdings bisher praktisch zur Analyse der
Sprachformen treffliche Dienste geleistet, aber die Grundfrage
nach dem eigentlichen Hergang der Agglutination und nach der
ursprünglichen Bedeutung der Suffixe nicht beantwortet hat,
woraus denn auch die Schwierigkeiten und theilweisen Wider-
sprüche sich erklären, in welche z. B. Scherer in den betres-
fenden Partieen seines Werkes sich verwickelt hat. Wenn ver-
hältnißmäßige Einfachheit ein untrügliches Merkmal der Wahr-
heit oder wenigstens Wahrscheinlichkeit wäre, so hätte die West-
phal'sche Theorie von dieser Seite ein günstiges Vorurtheil
für sich, obwol auch sie uns schwerlich alle Räthsel lösen wird.
Der Vrs. selbst nennt seine Ansicht idealistisch oder sogar snpra-
naturalistisch gegenüber einer mechanisch-materialistischen, und
schildert die Sprachschöpfung stellenweise in platonischem Stil;
aber wenn er sie mehrfach mit den Processen der Krystallifation
oder mit den instinctiven Trieben der Ernährung und Zeugung
vergleicht, so daß der menschliche Geist allerdings nur unbewußt
Beurtheiluug. 485
dabei thätig ist, weil eben die Alles durchdringende göttliche
Lebenskraft in ihm wirkt, so werden ihm die meisten heutigen
Sprachforscher beistimmen. Nicht hier also liegt der Differenz-
Punkt, sondern in der Ansicht von den bestimmten, constitutiveu
Elementen der vorliegenden oder vorauszusetzenden ältesten
Flexionsformen, zunächst des Verbums. Westphal denkt sich
(S. 96—97) ein bewegliches System von verhältnißmäßig we-
nigen Urlauten (die Vokale a, i, u, die Nasale m und n, die
Dentale t, welche leicht in th und s übergeht), die physiologisch
ihre bestimmte Stelle im gesammten Sprachorgan und gegen
einander einnehmen und demgemäß nun auch berufen siud, ent-
sprechende psychologische Funktionen zur Andeutung der elemen-
tarsten Kategorieen des Sprachdenkens zu übernehmen. Die
jedesmalige Auswahl eines jener Laute für einen bestimmten
Zweck richtet sich danach, ob derselbe einerseits physiologisch
dem Sprachorgan näher oder ferner liegt (zur Hervorbringung
leichter oder schwerer fällt), andrerseits ob die betreffende Kate-
gorie psychologisch näher oder ferner liegt (ein mehr oder
weniger dringendes Bedürfniß des sich an der Sprache ent-
wickelnden Denkens ausmacht). Von der letztern, der psycho-
logischen Seite geht natürlich der Anstoß aus; dem psychologisch
nächst liegenden Bedürfniß entspricht der physiologisch ebenso
nahe liegende Laut, und diese Korrespondenz erleidet eine aus-
nahmsweise Verschiebung nur dadurch, daß im Verlauf der
Sprachforschung die bereits zu irgend einem Zweck verbrauchten
Laute nicht sogleich wieder einem andern dienen können, sondern
dann der Reihe nach durch die in zweiter Linie n. s. f. nächst
liegenden ersetzt werden. So wird z. B. S. 102—103 ange-
nommen, die Vokale a, i, u seien darum nicht als Personal-
suffixe verwendbar gewesen, weil sie bereits zur Bildung voka-
lisch auslautender Wurzeln oder Nominalstämme gedient hatten.
Diese Ansicht ist im Ganzen gewiß plausibel und gelegent-
lich auch schon von Andern benutzt worden; sie ist auch ohne
Zweifel die einzige, welche eine rationelle Erklärung der in der
Wurzelbildung selbst waltenden Lautsymbolik möglich macht;
das Eigenthümliche besteht also nur darin, daß W. dieselbe
principiett und ausdrücklich auch für die Suffixe aufstellt.
486
Tobler
Auch hiefür mag er übrigens noch Beistimmung der Meisten
finden; der Widerstand wird aber beginnen, wo er (S. 126)
es undenkbar findet, daß selbständige Pronominalstämme ma,
tu, ta die Personalendungen des Verbums ergeben haben, viel-
mehr umgekehrt behauptet, die erstem haben sich erst aus den
letztern verselbständigt. Hier können auch wir ihm nicht ganz
beistimmen (zumal da er von S. 115 an eine ganze Reihe von
„Pronominalstämmen" aufzählt, welche er nirgends alle als erst
aus Flexionen abgelöst bezeichnet); aber die Controverse gewinnt
hier ein specifisch psychologisches Interesse und schon darum
müssen wir sie noch einen Schritt weit verfolgen. Es handelt
sich nämlich besonders um das Pronomen der ersten Person,
dessen Bedeutsamkeit für die Entwicklung des Selbstbewußtseins
bekannt ist. Mit Recht behauptet Hr. W., die ältesten Menschen
seien mit dem „Ich" ebenso wenig wie unsere Kinder gleich
bei der Hand gewesen, und dem Ich als Subjeetseasus seien
die Casus obliqui vorausgegangen. Aber auch für diese gab
es ursprünglich keine selbständigen Formen, sondern das mir
und mich wurden (S. 127) abstrahirt aus dem Suffix des
Mediums (m-a), wie auch die Stämme der beiden andern
Personen (was doch schon für die zweite Person ziemlich uu-
wahrscheinlich ist, und noch mehr für die dritte, auch wenn man
ihn für sich gelten läßt). Hr. W. findet aber ein besonderes
Zeugniß für seine Auffassung in dem Umstände, daß auch wirk-
lich nur die Casus obliqui der drei persönlichen Pronomina
mit den entsprechenden Verbalendungen identisch seien. Wie er
dies für die zweite und dritte Person beweisen will, ist mir
nicht klar; für die erste ist allerdings der Abstand der mit m
anlautenden Formen von den guttural inlautenden aham, sywv
n. s. w. auffallend und bemerkenswerth, obwol auch der nasale
Auslaut jener Formen nicht zu übersehen ist. Immerhin wird
es seine Richtigkeit haben, daß das Ich eine spätere, ja die
späteste Pronominalform war, aber die von W. (S. 129) ver-
suchte Erklärung derselben aus einem ganzen parenthetischen
Satz von der Bedeutung „sag-ich" ist schwerlich richtig (es
wäre etwa an die Wurzel von lat. ajo, agio zu denken), und
im Uebrigen ist es doch psychologisch noch die Frage, allerdings
'"VI»
Beurtheilung. 487
eine interessante, ob die Casus odli^ui von Ich, also auch das
entsprechende Pronomen possessivum, dem Snbjectscasns lange
vorausgegangen sein oder überhaupt ohne denselben (wenigstens
ohne daß er bereits im Hintergrund vorhanden war) haben ge-
dacht werden können. Interessant wäre auch die Frage, ob das
Wir als wirklicher Plural von Ich gedacht worden sei, also
dieses voraussetze, was gar nicht selbstverständlich, aber hier
nicht weiter zu erörtern ist.
Am meisten direct und ausdrücklich gegen Bopp wendet
sich W. (S. 177 ff.) mit seiner Grundansicht einer Triplieität
der ursprünglichen Verbalendungen (auf a, i, u) gegenüber der
herrschenden Annahme eines Dualismus vou primären und
secnndären Endungen, welche letztern aus den erster» sollen ab-
gestumpft sein. W. findet solche Abstumpfung, insbesondere
eines ursprünglich auslautenden a sämmtlicher Verbalformen in
i, den Lautgesetzen durchaus widersprechend, und die Endungen
aus u, welche sich gerade im Germanischen am deutlichste« er-
halten haben, von Bopp nicht gewürdigt. Er selbst thut nun
sein Möglichstes, um diese letztern in ihren wahren Werth ein-
zusetzen, indem er die Annahme, daß das -au der ersten Person
Sing, des gothischeu Conjunctiv (einen solchen findet der
Vrf. wirklich neben dem Optativ des Präteritums auf -j-au,
S. 188. 228) aus -amu entstanden sei mit Ausfall des m,
durch eine ähnliche Erscheinung im Medium des Sanskrit zu
rechtfertigen sucht, was zwar etwas gewagt, aber immerhin nicht
unerlaubter scheint, als die gewöhnliche Erklärung des -au aus
-am und -aim.
Doch wir können dem Vrs. in das Einzelne der germa-
nischen Formen und anch mancher entsprechender des Lateini-
schen und Griechischen hier nicht mehr folgen und begnügen
uns, nur in Kürze noch einige bemerkenswerthe Auslassungen
über verschiedene Punkte zu notiren.
In der Note zu S. 28 verwirft Hr. W. die herkömmliche
Theorie von doppelter Steigerung des Wurzelvokals und
nimmt einfacher nur doppelte Gestalt (lang vokalische und
diphthongische) des gesteigerten Lautes an (vgl. übrigens auch
Scherer S. 19). — S. 37 ff. giebt er eine sorgfältige Ver-
k
488
Tobler
gleichung der Vokalschwächung (auf die er den Namen „Ab-
laut" beschränkt) im Germanischen und Griechischen, wobei er
findet, daß s und o zum Theil schwerer als a gelten. — In
der Anmerkung zu S. 242 weist er nach, daß von den beiden
Formen der 3. P. Pl. des lateinischen Perfectnms die auf -ere
die ältere sei (tutudere — skr. tutudus(i), -er-unt eine para-
gogische Erweiterung. — Im lateinischen Impf. Ind. nimmt
er (S. 108) den ersten Theil nicht als bloßen Verbalstamm,
in der dritten Coujugation mit Bindevokal nach falscher Ana-
legte der schwachen Verba, sondern als alten Infinitiv auf -e
— griech. (a)-ai im I Aorist; das -rem des Impf. Conj. —
griech. -aatp,(i) des Optativs (S. 113). Schwerlich richtig ist
die Meinung (S. 112), die Formen legeris, legetur, legentur
haben pleonastisch noch das Medialsuffix r (s) angenommen, da
fie aus legera, legeto, legeuto — X2^v^(cz)o,
entsprungen bereits das o (a) als Zeichen des Mediums hatten
(S. 164). Hier muß man doch die Analogie der Medialbil-
duug im Ganzen gelten lassen und das passive Futurum auch
in den ältesten Verben schon direet aus dem activeu durch Re-
flexbildnng entstehen lassen. Hr. W. ist freilich dem Princip
der Analogie überhaupt weniger günstig als Hr. Scherer.
(Vgl. S. 109.)
Doch solche Erörterungen gehören mehr in die Zeitschrift
für vergleichende Sprachforschung, und wir schließen hier mit
dem Wunsche, daß der Vrf. bald seinen zweiten Theil folgen
lasse, der seine Principien auch in der Nominalflexion durch-
führen und uns in Stand setzen wird, die Tragweite derselben
noch vollständiger zu schätzen.
Bern, März 1869.
Ludwig Tobler.
Dr. Georgiiis Autenrieth. Terminus in quem
syntaxis comparativae particula. Erlangae
1868. Sumptibus Deichertianis. 54 p.
Der Vrf. schlägt auf dem Gebiete der vergleichenden Syn-
tax einen andern Weg ein als seine wenigen Vorgänger. Sind
Beurteilung. 489
diese von der grammatischen Form der einzelnen Casus ansge-
gangen, deren Gebrauch in den indogermanischen Sprachen sie
verfolgten, so geht er von dem Begriffe ans und fragt, welche
Casus zum Ausdruck einer bestimmten Begriffssphäre, nämlich
des terminus in quem gedient haben. Wir würden wol nicht
irren, wenn wir hierauf im Allgemeinen erwiderten, was zu
wiederholten Malen Steinthal besonders in dieser Zeitschrift
über eine solche Untersuchungsweise erörtert hat, die den Aus-
druck von Vorstellungen und Vorstellungsformen sucht, deren
Existenz selber noch nicht erwiesen ist. Denn die Vorstelluugs-
form des terminus in quem mag lateinisch, mag griechisch,
mag germanisch sein, ist damit bewiesen, daß sie indogermanisch
ist? Doch hiervon abgesehen, scheint uns jene Weise der Be-
Handlung noch nicht an der Zeit zu sein. Denn sie hat die
Erkenntniß der Gründe und mancher anderen Bedeutung der
Casus, die aus jener sich entwickelt hat, zu ihrer Voraussetzung.
Sind jene erkannt, dann und nur dann läßt sich zwischen der
einen nnd der anderen eine Grenze ziehen, die eine dieser, die
andere jener allgemeineren Vorstellungsform zuweisen; bis da-
hin aber muß man wissenschaftlich wenigstens mit der Erfor-
schnng und Kenntniß der einzelnen Bedeutungen sich begnügen.
Nun steht aber über der Grundbedeutung der Casus im Jndo-
germanischen durchaus nichts fest. Der heftige Kampf zwischen
den Localisten und ihren Gegnern hat zwar, wie der Vrf. (S. 6)
bemerkt, aufgehört, aber ein rechter Friede unter festen Bedin-
gungen ist nicht geschlossen; hat er bestanden, so bestand er nur
vor der Verbreitung der vergleichenden und historischen Erfor-
schnng der Sprache. Ihre Resultate haben ihn wider gestört
und an seine Stelle und an Stelle der mit ihm verbundenen
Behaglichkeit des Wissens zwar nicht den Kampf, aber Unge-
wißheit und Unsicherheit gesetzt. Das lehren am besten die De-
Batten, die Curtius, Lange und Steinthal in der Philo-
logenversammlung zu Meißen 1863 über die ursprüngliche Be-
dentung der Casus geführt haben. Seitdem aber sind wir,
wenn man von der Anregung absieht, die jene Verhandlungen
durch die Klarstellung dessen, was wir nicht wissen, geboten
haben, nicht weiter gekommen. Der Vrf. freilich scheint über
490
Holzman
die Grundbedeutung der Casus im Klaren und zwar scheint ihm
dieselbe localer Art zu sein. Scheint, denn entschieden spricht
er sich hierüber nur beim Locativ aus cuius primariam signi-
ficationera fuisse eam, ut locum universe describeret sive
quo quid fieret sive qui peteretur (!) iam paene affirmat
(@. 23 u. 24). Vom Accusativ sagt er (S. 11): qui ut
actionis ipsum obiectum ita motionis quasi propositum et
petitum finem significat; Über die ursprüugliche Bedeutung
des Genetiv, Ablativ und Dativ findet sich keine bestimmte Be-
merkung. Denn was (S. 20 u. 30) über den Ablativ und
Genetiv gesagt wird, läßt zwar über des Verf.s Ansicht nicht
im Unklaren, ist aber doch keine entschiedene Aeußerung der-
selben. Oder benimmt der in der Einleitung (S. 6) hinge-
stellte Satz: at ne quis opinetur me id agere, ut e locali
usu casuum ceteros omnes fluxisse evincam: procul
absum a ratione Hartungi etc. jeden Zweifel daran, daß dem
Vrf. der localis usus wenn auch nicht der Ursprung aller an-
deren Bedeutungen, so doch der älteste gewesen ist?
Gehen wir nun zu einer kurzen Darlegung des Inhalts
der Abhandlung über, so zerfällt dieselbe in zwei Theile, deren
erster den Casus, die zur Bezeichnung des terminus in quem
—- dieser sei räumlicher oder zeitlicher Art — dienen, deren
zweiter den Präpositionen von gleicher Bedeutung gewidmet ist.
In dem ersten Theil lehrt der Vrf. und belegt mit einer mehr
oder miuder reichen Zahl von Beispielen zumeist aus den Veden,
dem Baktrischen, Griechischen und Lateinischen, daß außer dem
Accusativ auch der Dativ und Locativ, der Instrumentalis, end-
lich der Genetiv und Ablativ zur Bezeichnung jenes terminus
verwendet worden sind. Er beschränkt sich hierbei nicht auf
die mit Verba verbundenen Casus, sondern geht auch ausführ-
lich auf die den einzelnen Casus augehörigeu Adverbia ein, von
denen er einige etymologisch zu erklären sucht.
Daß er beint Accusativ die Grenzen des terminus in quem
nicht streng innehält, daß er nicht blos die auf die Fragen quo?
quorsum? quoad? sondern auch auf in quantum spatium?
quam altus? quam longus? u. s. w. (denn von solchen Fragen,
als auf die der Accusativ antwortet, geht der Verf. bei diesem
Beurtheilnng.
491
Casus aus) antwortenden Adverbia und mit Verba verbundenen
Accusative anführt, gereicht -- auch vom allgemeinen Stand-
Punkt des Verf.s aus beurtheilt — der Untersuchung nicht zum
Vortheil. Denn wir stimmen dem Vrf. nicht bei, wenn er in
Betreff jener zwei Arten von Fragen (S. 11) bemerkt: quae
quamquam diversae videntur, tarnen ratione magis quam
rerum veritate sunt disiunctae. Auch wenn wir nicht, was
er mit Recht vermieden wissen will, aus der Reihe der Bei-
spiele eins herausnehmen, sondern mehrere nebeneinander be-
trachten, durste sich das Falsche jener Bemerkung erweisen. Oder
lassen sich — wenn man von des Vrf.s oben erwähnter Er-
klärung des Accusativ: ut actionis ipsum obiectum ita mo-
tionis quasi propositum et petitum finem significat ausgeht
— die (S. 16) von ihm neben einander gestellten Sätze rtam
yati Saramä gä avindat: rectä incedens (via) S. invenit
boves und madhupeyam yätam: ad dulcem potum venite
beide der zweiten, muß man nicht vielmehr jenen der ersten,
diese der letzteren Bedeutung zuweisen? und verhalten sich nicht
TYjv xa/i'axr|V, [Jiaxpav, xrjV op&rjv, ^povov, r^ap 8Vjv, primum,
iterum (vielleicht auch protinam) in gleicher Weise zu ax[xr;v,
avxyjv, rus, foras (vgl. S. 12 u. 13)?
Thut hier die Vermischung von nicht Zusammengehörendem
Eintrag, so ist andrerseits die Weise der Sonderung der ein-
zelnen Casus in Betreff des terminus in quem über's Ziel hin-
ausgehend : So soll der Acc. locum qui peteretur, der Locat.
eum ad quem perveniretur (weiter unten (S. 24) gilt, wie
schon erwähnt, auch vom Loeat. ut locum universe describeret,
sive quo quid fieret sive qui peteretur), der Ablativ directio-
nis finem, unde penderet ipsa directio (S. 20) bezeichnen.
Das letztere scheint der Vrf. selbst einer gesunden Anschauung
zuwider gefunden zu haben, denn als wollte er Seltsames mit
Seltsamerem erklären, fährt er fort: quid quod vel geneti-
vus idoneus visus est, qui iungeretur cum iis verbis, quae
eminus vel animo magis aliquid appeti significant (ebend.).
Die besondere Aufmerksamkeit, die der Vrf. dm (S. 8 u. 9)
Adverbien zuwendet, begründet er damit, daß sie die ursprüug-
liche Bedeutung der Casus am besten kennen lehren; sie als
492
Holzman: Veurtheilung.
Reste einer Verbindung können auf eine ältere Zeit zurückweisen
als die in lebendiger Verbindung gebrauchten Nomina. Ist
hingegen nicht zu bedenken, daß grade weil sie Reste sind, ihre
eigene nrspr. Bedeutung nicht so leicht zu finden und bei deren
Ergründung der Willkür Thür und Thor geöffnet ist? Viel-
leicht meint dies der Vrs., wenn er von einem error spricht,
dem er durch Zusammentragen vieler gleichartiger Beispiele vor-
znbeugen empfiehlt. Uns freilich scheint dies Mittel nicht aus-
reichend, so lange nicht die Grundbedeutung der Casus auf an-
dere Weise ermittelt ist.
Im zweiten Theile seiner Abhandlung bespricht der Vrf.,
wie schon bemerkt, die zu Präpositionen gewordenen Adverbia,
welche den terminus in quem bezeichnen, sie mögen noch als
solche eine selbständige Stellung im Satze einnehmen oder mit
Verba verbunden sein oder als Präpositionen vor bestimmten
Casus stehen. Die (hier auch aus dem Gothischen) reichlich
beigebrachten Beispiele ergeben, daß der Accusativ mit unver-
hältnißmäßig mehr Präpositionen dieser Art verbunden sein wird
als die übrigen Casus. Dies erklärt der Vrf. (S. 54) so:
antiquissimo quidem tempore singuli casus quos in priore
capite enumeravit auctor paullatim adhibiti sunt ad termi-
nales locutiones; postquam autem adverbiorum illa oppositio
inventa est, iam multo minus egebant ceteris easibus itaque
accusativus novis viribus sumptis ceteros casus paene op-
pressit, qui non modo ipsi sed multo magis iuncti prae-
positionibus inde ex illo tempore exolescebant. Dies stimmt
jedoch nicht völlig zu dem S. 21 erörterten, wonach die Ad-
verbia den einzelnen Casus, also dem Locativ und Genitiv nicht
minder denn dem Accusativ, als Stützen beigegeben wurden,
nm mit ihnen die Casusfunktionen zu verrichten. Denn danach
hätten auch die anderen Casus frische Kraft erlangen müssen,
um ihre specielle von der Bedeutung des Accusativ doch ver-
schiedene Nüauce des terminus in quem zu bezeichnen.
Dr. Holzman.
A. SB. Schade'S Buchdruckerei (L. Schade) in Berlin, Stallschreiberstr.47.
Universitätsbibliothek der HU Berlin
00001100257855
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Siii Hl Iii III III
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2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
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