Genie und Talent . 301 möglich sein , welche ein volleres , objectiveres Leben zum Stoffe habe , als die unserer verstorbenen großen Dichter . Zur Naturgeschichte des Genies gehöre jedenfalls die Bemerkung , dass die Glanzperioden der Völker geheimnisvoll productiv seien in Hervorbringung phantasievoller Menschen ; ein Blick auf die Griechen , auf Deutschland gegen den Schluss , auf Italien am Schluss des Mittelalters , auf Spanien nach der Gründung seiner absoluten Monarchie , auf England am Ende des sechzehnten , Belgien und Holland im siebzehnten hundert , auf die deutsche Dichterwelt am Ende des zehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts bezeuge dies . Die erhöhte Stimmung der Zeit scheine in die geheime Stätte der Zeugung zu wirken . Dazu komme noch , dass dann das bloße Talent , das in anderen Zeiten von Wissenschaft , von praktischen Sphären absorbirt werde , in diesen Festzeiten der Völker , vom Genie angezogen , großenteils der Kunst falle und den Wald großer Namen vermehre . So viel Beachtenswertes und Wahres gewiss auch diese Betrachtungen Vi s chers enthalten , ganz zutreffend scheinen sie mir nicht zu sein . Die Naturgeschichte der Genies darf so ausschließlich nicht vom Kunstgenie reden und was für dieses allenfalls gelten mag , gilt darum gewiss noch nicht allgemein . Aber auch für Kunstgenies trifft die Behauptung nicht zu , dass Zeiten des Kampfes für ihr Auftreten unergiebig sind . Nicht bloß der verklärende Rückblick auf vergangene Zeiten vermag die Phantasie des Künstlers zu begeistern , es gibt immer auch Dichter und Maler , die aus ihrer Zeit für die Zeit dichten und malen ; die Sänger des Kampfes , viele Romandichter , Schlachten - und Geschichts - Maler tun dies so^ar in der Regel . So wenig gerechtfertigt es ist mit HeiVetius die Zeiten aufstrebenden Despotismus als zeiten der Genies zu preisen , ebenso wenig treffend ist es allgemein die Friedenszeiten nach dem Kampfe als solche Zeiten anzusehen . Die Häuptsache scheint mir nur zu sein , dass in einer Zeit und in einem Volke überhaupt ein regsames Leben pulsirt , gleichviel ob Großes erstrebt wird oder errungen ist . Zeitschrift für Völkerpsycli . und Sprachw . Bd . XI . 3 . <%\