318
0 . Flügel ,
Aber selbst da , wo die Religion Wohltätigkeit zur Pflicht machte , und in der Tat auch bewirkte , dass im großartigen Maßstab mit bewundernswerter Opferfreudigkeit dem lichen Leiden gesteuert wurde , wurde die eigentliche sinnung der Geber oft durch ausschließliches Geltendmachen religiöser Motive verdorben . Man gab den Armen , aber nicht , um ihnen zu helfen , sondern nur um ein Opfer zu bringen . Die Spenden bekamen eine sühnende Kraft nicht um der Hülfe willen , die dem Notleidenden zu Teil ward , sondern um der Entbehrung willen , welche der Geber sich auferlegte . Es entstand jene interessirte Wohltätigkeit , bei welcher der Mensch nur sein eigenes Seelenheil im Auge hat , während ihm das Wohl und Wehe des andern völlig kalt lässt . Ich gebe kein Almosen , sagt sogar ein protestantischer Schriftsteller , um den Hunger meines Bruders zu stillen , sondern um den Willen und Befehl meines Gottes zu ziehen * ) .
Nachdem nun der schädliche Einfluss gewisser religiöser Vorstellungen auf das Sittliche angedeutet ist , möge auch der heilsame Einfluss ins Licht gesetzt werden .
B . Heilsamer Einfluss .
Als ein Unterschied zwischen Mensch und Tier pflegt der Umstand angesehen zu werden , dass letzteres nur den Impulsen des Augenblicks folgt , also in gerader Linie zu den Objecten der Begierden hingezogen wird , der Mensch gegen vor dem Handeln überlegt , Rücksicht auf die Folgen und auf mancherlei anderes nimmt . Dies ist im Allgemeinen auch richtig . Doch schon die höhern Tiere erheben sich einigermaßen über jene Stufe der Rohheit . Sie lernen an sich halten , sich verstellen , auf Umwegen das Gewünschte erlangen , ja einen heftigen Schmerz ertragen um ihr Ziel zu erreichen . In noch ganz anderer Weise lernt der Mensch auch auf den niedrigsten Culturstufen zu überlegen . Und ist auch nur träge Ruhe , Stillung der sinnlichen Bedürfnisse ,
* ) S . bei Lecky a . a . O . II , 74 .