fJSS?
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Sechzehnter Band.
^ - te~7
Berlin,
Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung.
Harrwitz & Gossmann.
1886.
-? afi C1
WEIMAR. — HOF- BUCHDRUCKEREJ.
■ii/?oA~ <Cì~ìW
Inhalts - Verzeichnis.
Erstes und zweites Heft.
Seite
Das Verhältnis von »Leib und Seele«. Von H. Siebeck . . 1—34
Ueber das Princip der Sittlichkeit. (Bemerkungen zu Herrn
Zellers Schrift : »Ueber Begriff und Begründung der sitt-
lichen Gesetze«.) Von M. Hamburger................35—76
Die Temporalformen in den Bantusprachen. VonC. G. Büttner 76—117
Verschiedene Bezeichnung des Perfects in einigen Sprachen,
und Lautsymbolik. Von A. F. Pott. (Schluss) .... 117—138
Der Piatonismus Michelangelos. Von Victor Kaiser.
II. Michelangelos Jonas...............138—187
Beurteilungen.
1) Leopold Schmidt, Die Ethik der alten Griechen.
Von Guggenheim................188—195
2) O. Sutermeister, Schwizer-Dütsch. Von J. Babad . 195—208
Drittes Heft.
Der Piatonismus Michelangelos. Von Victor Kaiser.
III. Michelangelos Mediceer..........................209—249
Subjectlose Sätze. (Mit besonderer Bücksicht auf Miklosichs
»Subjectlose Sätze«.) Von Wilhelm Schuppe. . . . 249—297
Who are the Chinese? By Herbert Bay ne s............297—308
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie. Von K. Bruchmann 308—321
Beurteilungen.
1) A. Bastian, Zur naturwissenschaftlichen Behand-
lungsweise der Psychologie durch und für die
Völkerkunde. Von K. Bruchmann................321—327
2) R. Hochegger, Die geschichtliche Entwickelang des
Farbensinnes. Von K. Bruchmann..............327—336
IV
Seit«
3) Gustav Gerber, Die Sprache und das Erkennen.
Von Ludwig Tobler............................336—339
4) Zur Unterrichtsfrage.
1. Friedrich Paulsen, Geschichte des gelehrten
Unterrichts. Von K. Bruchmann..............340—356
2. Adolf Lichtenheld, Das Studium der Spra-
chen. Von Steinthal..........................356—361
5) Maybaum, Die Entwicklung des altisraelitischen
Priestertums.
6) —„—, Die Entwicklung des israelitischen Propheten-
tums. Von Steinthal............................361—367
7) Maximilian Schwengberg, Das Spies'sche Faust-
buch. Von Steinthal............................368
Viertes Heft.
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern.
Von I. Goldziher................. 369—386
Ueber die Bedeutung des possessivischen Pronomen für die
Ausdrucksweise des substantivischen Attributes. Von
Em. Kovár............-....... 386—394
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. Von
A. Klein...................... 394—413
Beurteilungen.
1) Heinrich Winkler, Uralaltaische Völker und
Sprachen. Von Franz Misteli..........414—456
2) Franz Kern, Die deutsche Satzlehre. Von C. Th.
Michaëlis................... 456—467
3) W. Schwartz, Indogermanischer Volksglaube. Von
Gloatz..................... 467—478
4) Elard Hugo Meyer, Indogermanische Mythen. I.
Von Gloatz.................. 478—484
Das Verhältnis von „Leib und Seele".
Von H. Sie beck.
I.
Die nachfolgenden Erörterungen zur psychologischen
Grundfrage stehen von vornherein auf zwei Voraussetzungen,
die der gegenwärtigen Psychologie hauptsächlich durch den
Einfluss der Philosophie Kants näher gerückt worden sind.
Die eine von beiden behauptet die Notwendigkeit, für die
Grundlage der psychologischen Untersuchung die meta-
physische Anschauung von der Seele als Substanz bei
Seite zu setzen; die andere besteht in der Ueberzeugung
von dem phänomenalen Charakter auch der inneren
Zustände.
Von diesen beiden Anschauungen ist der psychologischen
Forschung gegenwärtig die erstgenannte allem Anscheine nach
geläufiger als die zweite. Einen deutlichen Sinn hat der
Substanzbegriff im Grunde lediglich dann, wenn er in einer
Weise gefasst wird, die ihn für metaphysische wie für
empirisch-wissenschaftliche Untersuchungen gleich unfrucht-
bar macht, in der Bedeutung nämlich eines in sich selbst
ruhenden und für sich abgeschlossenen Seienden. Sobald
man aus ihm Wirkungen, Beziehungen, überhaupt Ergebnisse
irgend welcher Art zu entwickeln sucht, geht er aus der
Eigentümlichkeit des ruhenden Seins über in die des Ge-
schehens, der wirkenden Kraft und ähnliche, vor denen er
selbst alsbald so gut wie ganz verschwindet. Dies gilt selbst
in den Fällen, wo der Substanzbegriff, wie in einigen Gebieten
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprache. Bd- XVI t \
2
H. Siebeck,
der Naturwissenschaften, noch in der Vorstellung des Atomes
seine Stelle behauptet hat. Denn auch der Atombegriff hat
immer, sobald er über das Bedürfnis der unmittelbar fach-
wissenschaftlichen (rechnungsmäßigen) Hypothesen hinaus
analysirt worden ist, die Tendenz gezeigt, sich in den eines
bloßen Kraftpunktes u. dgl. zu verwandeln.1 Es entsteht
aber, wie Sigwart2 die Sache formulirt, immer die Frage,
ob wir nicht den Grund der Veränderung, statt ihn in jedem
Dinge für sich zu suchen, in ihrem Verhältnisse zu ein-
ander zu suchen haben; womit dann aber schließlich der
Begriff des »Dinges für sich« für dasjenige, worauf es in der
Untersuchung ankommt, gleichgültig, und der Begriff des
»Verhältnisses«, zu dem der Kraft oder des Wirkens gleich-
sam verdichtet, allein maßgebend wird.
Gegeben im psychologischen Gebiete ist nicht die
Seelensubstanz, sondern eine Vielheit eigentümlicher »innerer«
Zustände, die unter Umständen von dem Bewusstsein ihrer
Eigenartigkeit und ihrer nach bestimmten Gesetzen geregelten
Zusammengehörigkeit begleitet sind; Vorgänge eines wech-
selnden Geschehens, eines Gehens und Kommens, Verbunden-
und Getrenntwerdens von Zuständen, welche sich in be-
stimmter Weise von denen eines anderen Gebietes, den
leiblichen nämlich, und weiter von denen der Außenwelt
abheben und unterscheiden, so jedoch, dass sie mit denselben
zugleich in bestimmten Beziehungen des Auftretens und über-
haupt des Zusammenhanges stehen. Der Ausdruck, diese
Vorgänge seien Eigenschaften einer »Substanz«, (der Seele),
sagt im Grunde nichts anderes, als was die entsprechende
Anschauung der physikalischen Vorgänge bedeutet, sofern
man diese gleichfalls als Zustände einer Substanz, der Materie,
aufzufassen pflegt: er ist ein von der Metaphysik herüber-
genommener Ausdruck für die Tatsache ihrer eigentümlichen
Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit, sowie der Unter-
schiedenheit von den Vorgängen der andern Gebiete. Dies
ist unverfänglich, solange mit dem Begriffe der Substanz
1 Vgl. A. Lange, Gesch. d. Materialism. 2. Aufl. II, S. 181 ff.
« Logik II, S. 124.
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
3
nicht der Anspruch erhoben wird, den Grund für diese
Eigenartigkeit und Unterschiedenheit bezeichnet zu haben.
Denn in diesem Falle hat man es mit einer in hohem Grade
problematischen und auch logisch anfechtbaren Meinung zu
tun, die außerdem zunächst die Folge hat, dass sie die
Untersuchung von der Analyse des Gegebenen sofort ablenkt
auf das Gebiet des Transcendenten. Von besonderem Gewicht
ist hierzu noch die Einsicht, die neuerdings mit besonderem
Nachdruck von Wundt begründet worden ist, dass die An-
wendung des Substanzbegriffes als Grundbegriff der Psycho-
logie auf einer Verwechselung zweier Standpunkte beruht,
die methodisch wohl auseinander zu halten sind, des psycho-
logischen nämlich, »für welchen die Vorstellungen lediglich
als geistige Tätigkeiten Bedeutung haben«, und desjenigen
der äußeren Weltbetrachtung. Für den letzteren ist es
richtig, dass unserer Anschauung sich zunächst Dinge dar-
stellen, an welchen Handlungen oder Wirkungen zu haften
scheinen ; für den ersteren aber gilt ebenso erfahrungsmäßig,
dass als Gegebenes nichts anderes vorliegt als innere Ge-
schehnisse, Handlungen, Vorstellungen. Diese werden von
uns auf ein ihnen zu Grunde liegendes Substanzielles be-
zogen, jedoch ursprünglich aus keiner anderen Veranlassung
als dadurch, dass die stetige Betrachtung der Außenwelt
uns einmal daran gewöhnt hat, Vorgänge irgend welcher
Art niemals ohne ein »Ding«, von welchem sie ausgehen,
denken zu können. In Wirklichkeit aber steht es so, dass,
während im physikalischen Gebiete erscheinungsmäßig jede
Handlung von einem als handelnd oder wirkend wahr-
genommenen Objecte ausgeht, in dem des Psychischen »die
Vorstellung des Objects immer erst aus der Handlung des
Vorstellens entspringt«.1 Die Anwendung des Substanz-
begriffs als Grundlage der Psychologie erweist sich sonach
1 Wundt, Logik II, 506f. Auch der Zusammenhang des Selbst-
bewusstseins beruht, wie dort gezeigt ist, nicht auf der Beharrlichkeit
des inneren Seins, sondern auf der Stetigkeit seiner Veränderungen,
insbesondere auf der bei allem Wechsel der Vorstellungen gleichförmig
wiederkehrenden Tätigkeit der Apperception.
1*
4
H. Siebeck,
nicht nur als methodologisch unfruchtbar, sondern auch als
logisch ungerechtfertigt.
Unter der mehr oder weniger deutlichen Wirkung dieser
und verwandter Einsichten hat denn auch gegenwärtig für
die wissenschaftlich - psychologischen Untersuchungen der
metaphysische Substanzbegriff, wenigstens hinsichtlich des
Ausgangspunktes der Erörterung, zurücktreten müssen hinter
den der unmittelbaren Erfahrung entnommenen Begriff des
Bewusstseins.
Das Bewusstsein ist die Form, in welcher die Dinge und
Vorgänge der Außen- und Innenwelt als Erscheinungen uns
gegenständlich werden. Gegeben sind uns die Bestände der
beiden genannten Gebiete als Bewusstseinsinhalte und sonach
in der Art, wie sie auf Grund der Eigentümlichkeit des
Bewusstseins uns objectiv werden müssen. Was sie ab-
gesehen davon sind, liegt hier (und vielleicht überhaupt)
außer Frage. Dies gilt, wie schon die obige Definition des
Bewusstseins behauptet, von den Gegenständen des »innern«
so gut wie des »äußern Sinnes«, d. h. von den psychischen
Zuständen, die wir in uns selbst wahrnehmen, ebenso wie
von den Dingen der Außenwelt. Nicht nur die Empfmdungs-
qualitäten der »Dinge« sind in diesem Sinne phänomenal,
sondern alles was auf Grund ihres Bewusstwerdens für uns über
ihre Formen, Verhältnisse und Beziehungen sich herausstellt.
Es giebt keinen Unterschied von »primären« und »secun-
dären« Qualitäten. Der psychologischen Forschung selbst hat
sich dies immer deutlicher herausgestellt, namentlich in den
Untersuchungen über die Eigentümlichkeit unserer Erkenntnis
des Bäumlichen und Zeitlichen. Wir wissen, dass der Baum
uns auch erst auf Grund bestimmter Bewusstseinsacte ent-
springt, als eine Art und Form, wie die Empfindungen in
bestimmter Ordnung für uns gegeben sind, oder besser, wie
die Vielheit derselben sich im Bewusstsein und für das Be-
wusstsein ihre gegenseitige Ordnung anweist. Aehnliches gilt
von der Form des Zeitlichen. Und im consequenten Denken
gilt der Begriff der Phänomenalität auch für dasjenige Gebiet,
welches in der Begel am sichersten und unbefangensten als
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
5
die Welt des unmittelbar an sich selbst Daseienden, als die-
jenigen Erkenntnisobjecte, die sich uns realiter als das was
sie an sich sind kundgeben, betrachtet zu werden pflegt:
die im engeren Sinne sogenannten seelischen Zustände, die
Bewusstseinsacte, welche nicht in der Form von sinnlichen
Dingen uns vor Augen stehen. Was ich als diese bestimmte
(»innere«) Vorstellung, dieses Gefühl, Verlangen u. dgl. in mir
empfinde, ist so, wie es mir im Bewusstsein hervortritt, Er-
scheinung. Denn diese Zustände sind so gut wie die »Dinge«
Objecte meines Erkennens, gegebene Inhalte des Be-
wusstseins, und Gegebensein, Object für ein Subject sein
heißt eben nichts anderes als die Form des Bewusstseins
oder diejenige Form des Wesens annehmen, welche die Mög-
lichkeit des Erkanntwerdens in sich schließt. Das Gegebene
sowohl der äußern wie der innern »Natur« giebt sich uns
als objectiver Erkenntnisinhalt immer sub forma conscientiae.
Auch die innern Zustände, sofern sie als solche objectiv da
sind, sind gegeben als Object für das sie erkennende Subject,
somit die Art, wie sie sich im Erkennen darstellen, zugleich
subjectiv (eben durch die Form des Bewusstseins) bedingt.1
II.
Wenden wir uns auf der Grundlage dieser Anschauungen
zur Betrachtung des Verhältnisses von »Leib und Seele«, um
zuerst zu fragen, was uns in dieser Beziehung als Ge-
gebenes vorliegt, so entfalten sich dem beobachtenden
1 »Für ein erkennendes Bewusstsein, wie immer solches auch
beschaffen sein möge, kann es daher stets nur Erscheinungen geben.
Dies wird selbst dadurch nicht ganz beseitigt, dass mein eigenes Wesen
das Erkannte ist: denn sofern es in mein erkennendes Bewusstsein
fällt, ist es schon ein Reflex meines Wesens, ein von diesem selbst
Verschiedenes, also schon in gewissem Grad Erscheinung. Sofern ich
also ein Erkennendes bin, habe ich selbst an meinem eigenen Wesen
eigentlich nur eine Erscheinung; sofern ich dagegen dieses Wesen selbst
unmittelbar bin, bin ich nicht erkennend.« Schopenhauer, d. W. a. W.
u. V. 4. Aufl. II, S. 566. In den angezogenen Worten ist nur die Re-
striction zu entfernen, die in den Ausdrücken: »nicht ganz«, »in gewissem
Grade«, »eigentlich« vorliegt. Vgl. Kant, Prolegom. § 49.
6
H. Siebeck,
Blicke vor allem drei Gebiete von Erscheinungen, d. h. von
objectiven Vorgängen, welche sich charakteristisch von ein-
ander abheben: der Leib, das Nervensystem, das Seelische.
Man hat außerdem Veranlassung, die bezeichnete Reihe nach
oben wie nach unten um ein Glied zu verlängern. Wie der
Leib auf das Nervensystem, dieses aber auf die mit ihm
verknüpften seelischen Vorgänge, so weisen letztere wieder
noch weiter auf das Ichbewusstsein ; und wie das Seelische
gleichsam nach außen auf Gehirn und Nerven, diese aber
in derselben Richtung auf den Leib, dessen Teil sie aus-
machen, so weist der Leib seinerseits hinaus auf das Gebiet
der Außendinge. So erhalten wir fünf Reihen, oder, wenn
man will, Kreise von Phänomenen, deren jedes von dem
andern in eigentümlicher Weise sich unterscheidet und welche
zugleich der Reihe nach einer auf den andern hinaus- oder
zurückweisen: Außenwelt, Leib, Nervensystem, Seelisches,
Ich. Das Verhältnis, welches zwischen ihnen in Wirklichkeit
besteht, soll nun zunächst im Folgenden an der Hand der
Tatsachen näher untersucht werden. Dabei erscheint es
wegen der Durchsichtigkeit der Darstellung geboten, mit der
Erörterung desjenigen zu beginnen, in welchem das Seelische
und das Nervensystem sich zu einander befinden.
III.
Hinsichtlich des letzteren stehen in der Hauptsache
zwei Grundansichten einander gegenüber. Die eine von
ihnen nimmt die Seele als eine immaterielle Substanz, die
in Wechselwirkung stehe mit den (materiellen) Teilen des
Gehirnes. Sie erhält von diesen Reize zugeführt, die ihr
Veranlassung werden, aus ihrer eigenen Natur heraus mit
inneren Reactionen zu antworten, wobei die letzteren sowohl
durch die Beschaffenheit des durch das Gehirn vermittelten
Reizes als auch durch die innere Natur der Seele bedingt
sind. Aus dem Schatze der in ihr angehäuften Erfahrungen,
Vorstellungen u. s. w. kann sie auch spontane Erregungen
nach außen veranlassen und die Mitwirkung des Nerven-
systems frei von sich aus zu willkürlichen Handlungen in
Anspruch nehmen.
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
7
Diese Anschauung ist, auch abgesehen von der An-
wendung, die sie von dem Substanzbegriffe macht, durch
die empirischen Ergebnisse von Seiten der psychophysischen
Forschung sehr ins Gedränge gekommen. Sie bedingt diesen
gegenüber die Annahme, dass die an sich unbewussten
physiologischen Vorgänge erst dann psychische Wirkungen
und Begleiterscheinungen haben, wenn sie durch den Grad
ihrer Intensität und Dauer gleichsam bis an die Seelen-
substanz heran- oder hineinreichen, welche letztere dann
diesen Anregungen mit ihren eigenen Zuständen entspricht.
Die seelischen Fähigkeiten sind hiernach in der Seele als
solcher von Haus aus vorhanden und es fragt sich nur, ob
sie durch die Anregungen von Seiten des Gehirnes Gelegen-
heit erhalten, sich zu äußern. Wenn nun die physiologische
Beobachtung zeigt, dass mit dem Wegfall oder der Verletzung
gewisser Hirnteile bestimmte Seiten des seelischen Lebens in
Wegfall kommen, (wenn z. B. der Hund, dem ein bestimmtes
Gebiet der Rinde exstirpirt worden ist, zwar die Gegenstände
noch sieht, aber die Erinnerungsbilder derselben verloren
hat und auch mit den bekanntesten nichts mehr anzufangen
weiß),1 so könnte das auf der Grundlage jener Ansicht nur
so aufgefasst werden, dass diese Fähigkeiten (z. B. die betr.
Erinnerungen) zwar in der Seele noch vorhanden, aber nicht
mehr in der Lage sind zu wirken. Aehnliches würde gelten
für die Erscheinung, dass bei einer Art von Aphasie zwar
einzelne Laute oder Schriftzeichen noch verstanden und
nachgesprochen, bezw. geschrieben werden, die lautlichen
oder graphischen Wortbilder aber als solche nicht mehr ins
Bewusstsein treten. Man muss hier innerhalb der Seele
selbst gleichsam eine Schwelle setzen, unterhalb deren alle
unbewusst gewordenen Inhalte sich befinden, während, was
von ihnen wieder ins Bewusstsein tritt, dasjenige ist, was
davon über dieselbe hinaufragt. Solange man nun das
Entschwinden und Wiederauftauchen der innern Zustände,
wie es z. B. Herbart tat, ganz und gar von einer rein
1 H. Münk, Ueber die Functionen der Großhirnrinde. Beri. 1881.
8
H. Siebeck,
psychologisch gehaltenen Statik und Mechanik der Vor-
stellungen abhängig macht, reicht diese Annahme aus. Sie
wird aber, wie die ganze in Rede stehende Ansicht, sogleich
unzulänglich, sobald man genötigt ist, die Vorgänge der Re-
production und der Hemmung seelischer Zustände in gesetz-
mäßige Verbindung mit Vorgängen des Nervensystems zu
bringen. Man muss dann auf die alte Vorstellung des in-
fluxus physicus zurückgreifen und vermag auch so nichts
weiter zu behaupten, als dass eben die Nervenvorgänge auf
irgend eine unbegreifliche Weise in das Innere der Seelen-
substanz, das Materielle in das Immaterielle, hineinreichen.
Angesichts der Tatsachen aber, wie sie die Untersuchungen
über die Functionen der Großhirnrinde, über Aphasie u. dgl.
festgestellt haben, führt dies zu der wenig vernünftigen An-
nahme, dass unter Umständen die Seele einen Vorrat von
inneren Zuständen besitze, die sie doch nie zu gebrauchen
in der Lage ist, obwohl ihr andere mit jenen im nächsten
Zusammenhange befindliche noch zur Disposition stehen.
Z. B. bei Verletzung des Gehirnteiles a verliert sich im Innern
der Seele die Fähigkeit, Wortbilder vorzustellen, während
die dazu gehörigen Inhaltsvorstellungen noch wirken; bei
Verletzung des Teiles ß hört die Möglichkeit auf, Vor-
stellungen zu reproduciren, während die Wortbilder ohne
Inhalt erhalten bleiben; bei Verletzung von y kann das
Wortbild, obschon es im Bewusstsein vorhanden ist, nicht
ausgesprochen werden; bei der Störung in ô leidet die
Coordination der Wortbilder mit den Schriftbildern, bei der
in s die Coordination der Vorstellungen selbst u. s. f. So
verhält sich schließlich das ganze Innere der Seelensubstanz
zu den Nervenprocessen etwa wie das des Klaviers zu den
Fingern, welche die Tasten treffen; von Spontaneität der
Seele bleibt wenig übrig. Wenn aber dies der Fall ist, so
wird damit der Zweck überhaupt, zu welchem die Annahme
einer »Seele als Substanz« ursprünglich gemacht worden
war, hinfällig.
Die entgegengesetzte Grundansicht geht dahin, dass
Seelisches und Nervöses beide nichts anderes sind als zwei
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
9
verschiedene Seitenansichten Eines und Desselben. Sie hat
ihre Begründung in der neueren Philosophie besonders von
Spinoza her gefunden, bei welchem sie ebenfalls mit dem
Substanzbegriffe verknüpft ist. Wie die absolute Substanz,
»von außen« gesehen als räumlich Ausgedehntes, von »innen«
aber als Denken sich darstellt, so bildet auch in dem Menschen
als einem Modus der Substanz die äußere Seitenansicht seine
Körperlichkeit mit Einschluss des Gehirns, dessen Zuständen
in der Innenansicht die Mannichfaltigkeit der seelischen Vor-
gänge entspricht. Die Festhaltung des Substanzbegriffes ist
für diese Auffassung in psychologischer Hinsicht allerdings
leicht entbehrlich. Sich lediglich eine Reihe successiv und
simultan ablaufender Vorgänge zu denken, die von der einen
Seite als leiblich-materielle Bewegungen, von der andern
aber als seelische Processe erscheinen, macht im Grunde
nicht mehr und nicht weniger Schwierigkeit, als die Vor-
stellung einer Substanz, die als solche zwei analoge Er-
scheinungsweisen darbietet. In jedem Falle aber hat diese
Anschauung die wesentliche Gonsequenz, dass sie die directe
Wechselwirkung zwischen Seele und Gehirn aufhebt.
Denn der seelische Vorgang ist ja hiernach nicht ein Ver-
schiedenes neben dem Cerebralen, der als solches auf diesen
einwirken und seinerseits von ihm beeinflusst werden könnte ;
sondern er ist real-identisch mit ihm. Es kann sonach unter
dieser Voraussetzung wohl ein cerebraler Vorgang als solcher
einen andern derartigen Vorgang hervorrufen oder zu dem-
selben sich leidend verhalten, womit dann zugleich, von
innen gesehen, zwei psychische Vorgänge gegeben sein
müssen, oder es kann ein psychischer Vorgang sich in ana-
loger Weise zu einem andern psychischen verhalten, was in
der »Außenwelt« sich als das Verhalten zweier cerebraler
darstellen würde; — aber es kann nicht ein psychischer als
solcher einen cerebralen als solchen oder umgekehrt hervor-
rufen, so wenig wie zwischen der convexen Seite einer Curve
und der concaven Wechselwirkung stattfinden kann. Nur
insofern, als ein psychischer Zustand (a) als solcher zugleich
cerebral (a) ist und der cerebrale (a) einen andern cerebralen
10
H. Siebeck,
(ß) bedingt, kann man davon reden, dass der psychische
Zustand (a) einen cerebralen (ß) bedinge. Analog im ent-
gegengesetzten Falle. Dies aber ist nicht wirkliche sondern
nur scheinbare Wechselwirkung, entsprechend dem Umstände,
dass nach der hier besprochenen Ansicht das Seelische und
das Leibliche nicht in Wirklichkeit, sondern nur scheinbar
(je nach der Seite, von der aus sie zur Ansicht gelangen)
verschieden sind. Der Geist kann nicht auf den Leib, dieser
nicht auf jenen wirken, weil die Bedingung für ein Causal-
verhältnis zwischen beiden überhaupt fehlt.
So die abstráete Consequenz dieser Ansicht. Ob sie
den Tatsachen der Beobachtung entspricht oder nicht, ist
schwer zu entscheiden, weil im Einzelnen eine eindeutige
Auffassung der Tatsachen kaum zu erreichen ist. Wenn ein
Psychisches, ein Entschluss z. B., bestimmte Körperbewegungen
hervorruft, so kann man immer darüber streiten, ob ein mit
dem Cerebralen Identisches oder ein bloß mit ihm eng Ver-
knüpftes den Anstoß dazu gegeben habe. Immerhin lässt
sich hier folgende Reflexion zur Sache beibringen.
Die cerebralen Vorgänge als solche sind physikalisch und
stehen unter dem Gesetze der causalen Naturnotwendigkeit;
sie haben als physikalische keinen logischen Charakter. Als
geistige aber folgen sie im normalen Zustande den Gesetzen
der Logik. Der Vorstellungsverbindung aber, welche in
logischer Ordnung vor sich geht, muss nach der hier zu
Grunde liegenden Anschauung die Eigentümlichkeit zu-
geschrieben werden, dass sie auch für die mit ihr »iden-
tischen« cerebralen Vorgänge diejenige Aufeinanderfolge be-
dingt, welche der logischen Ordnung der gedachten Inhalte
entspricht.1 Sind nun Gehirn und Seele Eines, so wäre
das Gehirn, obgleich Naturproduct und als solches unter
dem rein mechanischen Naturgeschehen stehend, doch zu-
gleich ein logisches Organ. Das Physikalische erschiene
also auf der Stufe, wo es Gehirn wird, zugleich als logisch.
1 Vgl. 0. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit (Straßburg 1880)
S. 542 ff.
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
11
Und doch verfehlt es nicht, auch hier aller Orten seine dem
Logischen entgegengesetzte, rein »mechanische« Beschaffen-
heit zu zeigen ! z. B. in den unpassenden Einschiebseln, die
durch das Hineinspielen nebenhergehender cerebraler Pro-
cesse als beiläufige Associationen in den logischen Gedanken-
lauf wohl hineingeraten oder wenigstens erst durch eine
besondere Bemühung des Denkens auf die Seite geworfen
werden. In den Zuständen des Traumes ferner (um von
den eigentlichen pathologischen Zuständen gar nicht zu
reden) arbeitet der Hirnmechanismus vielfach doch eben
rein »mechanisch«, und dann ist bekanntlich auch das her-
vortretende Psychische (die Traumbilder) unlogisch. Wenn
man also nicht das Wunder statuiren will, dass das von
Haus aus rein mechanisch arbeitende Gehirn bei dem Ein-
treten einer gewissen Intensität seiner mechanischen Action
logisch wird, so bleibt nur übrig, das Cerebrale als in realer
Wechselwirkung mit einem andern Principe stehend zu
betrachten, dem es seinerseits u. U. Hemmungen und Wider-
stände bereiten kann, das aber eben als ein die logische
Ordnung der inneren Zustände Bedingendes nicht mit ihm
identisch ist.
Bein. Die hier besprochene monistische Grundanschauung über
das Verhältnis von Gehirn und Seele pflegt bei ihren gegenwärtigen
Vertretern mit der Tatsache, dass es unbewusste Vorstellungen giebt,
die auch als solche wirken, in eine unmittelbare Beziehung gebracht
zu werden, indem man annimmt, das Verhältnis des Seelischen und des
Physischen sei oberhalb und unterhalb der Schwelle des Bewusstseins
als dasselbe zu setzen. Das X, welches sich unserer bewussten Wahr-
nehmung von innen als Seelisches, von außen als Cerebrales darstelle,
sei eben auch außerhalb der Beleuchtung von Seiten des Bewusstseins
dieses zweiseitige Etwas, denn das Bestehen von cerebrospinalen Pro-
cessen »bedinge« danach sowohl ober- als unterhalb jener Schwelle
auch das Bestehen von psychischen.1 Ich kann im Gegenteil nicht
umhin zu finden, dass bei einer genaueren Analyse desjenigen, was mit
der in Bede stehenden principiellen Anschauung eigentlich gesagt ist,
beide Ansichten sich geradezu ausschließen.
Wenn nämlich ein psychophysischer Vorgang immer nur entweder
seelisch oder physisch erscheint, je nach der Seite von der aus er
1 Vgl. z. B. Taine, De l'intelligence, Par. 1883, 1. Bd. IV, 2, 4
(S. 327 ff.).
12
H. Siebeck,
gesehen wird, so kann man sich den Sachverhalt (schematisch) folgender-
maßen veranschaulichen: Das »Sehen von innen« heiße S, das »von
außen« P; das seinem An-sich nach unbekannte Object, welches ent-
weder von S oder von P aus gesehen wird, sei X. Dieses X erscheint
von S aus als xp (psychisches Phänomen); von P aus als <j> (physio-
logischer Vorgang).
S —> V — X — (p •*— P
Außerdem kommt in Betracht, ob die Vorgänge in X von dem-
selben Individuum (E) wahrgenommen werden, in welchem sie sich
abspielen, oder von außen her von einem fremden (F). Genau ge-
nommen erscheint nun hiernach X als xp oder if> immer nur dann, wenn
es in ein Bewusstsein fällt; allenfalls auch noch dann, wenn es nach
Analogie der S- oder der P-Wahrnehmung vom Bewusstsein vorge-
stellt wird. Das eigene X eines jeden Individuum (E) kann sich immer
nur als i/> wahrnehmen; niemand* kann ja seine eigene Netzhaut oder sein
eigenes Gehirn als solches sehen. Die gewöhnliche Ansicht nun sagt:
Wenn ich (E) vermittelst des »innern Sinnes« (S) jenes X als ein be-
stimmtes xp (als diese oder jene Vorstellung) wahrnehme, so ist dies
dadurch bedingt, dass bestimmte Nervenvorgänge im Gehirn entstehen.
Hierbei liegt aber m. E. eine erhebliche Unklarheit der Begriffe zu
Grunde. Neben X — xp existirt nämlich dann nicht noch ein <f>, welches
dieses X—xp »bedingen« könnte; das Bedingende vielmehr ist X, und
X bedingt in diesem Falle nichts anderes als xp. Wenn gleichzeitig ein
anderes Individuum (F) mit seinen Augen dieses X wahrnehmen könnte,
würde es X = wahrnehmen. Schließt nun aber .F daraus: deswegen
sei dieses die Bedingung von xp, so ist das nach der hier zu Grunde
liegenden (monistischen) Voraussetzung einfach ein Fehlschluss; denn
nach derselben ist weder </> die Bedingung von xp, noch xp die von <f;
vielmehr X die Bedingung sowohl für das eine wie für das andere,
oder genauer: nicht eigentlich X an sich, sondern S und P sind die
Bedingungen dafür, dass X als xp oder als y erscheint.
Bei Vorgängen unterhalb des Bewusstseins liegt die Sache so: Als
psychisch (von S aus) werden sie überhaupt nicht wahrgenommen,
weder von E noch von F. Von P aus nimmt E sie auch nicht wahr
(niemand kann seine unbewussten Nervenvorgänge in sich wahrnehmen);
F dagegen kann unter Umständen (etwa bei Vivisectionen an Tieren)
X von P aus wahrnehmen und vermittelst gewisser logischer Anhalts-
punkte darauf schließen, dass das so erscheinende X = <fi von 8 aus
gesehen sich als X = xp' darstellen würde. Da aber das Sehen von S
aus hier nach der Voraussetzung (dass es unbewusste Vorgänge sein
sollen), ausgeschlossen ist, so ist X — xp hier überhaupt nicht statuir-
bar; X erscheint also in diesem Falle für E überhaupt nicht und für
F nur als <f>. Unter der hier zu Grunde liegenden Voraussetzung nun,
dass an sich nur X ist und dieses als xp oder eben nur erscheint,
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
13
je nachdem es von S oder P angeschaut wird, fällt für ip sowohl wie
für <f> ihr Existiren als xp oder <f> mit ihrem (von S oder P aus) Ge-
sehenwerden zusammen. In dem Falle sonach, (der bei unbewussten
Vorstellungen vorliegt), dass X überhaupt nicht in der Lage ist, als ip
gesehen zu werden, existirt \p überhaupt nicht. Das heißt aber
nichts anderes als: Man kann auf dem Boden der hier behandelten Grund-
ansicht überhaupt nicht (wie doch deren Vertreter zu tun pflegen), davon
reden, dass die Vorstellungen als unbewusste mit und neben den eben-
falls unterhalb des Bewusstseins vorhandenen Nervenvorgängen noch
mit bestehen.
Sind tp und (f> lediglich verschiedene »Seitenansichten« desselben X,
so steht zunächst tatsächlich fest, dass sie beide niemals zugleich neben
einander wirklich gesehen werden; sondern X erscheint im gegebenen
Falle immer entweder als xp oder als und auch dies nur bei Ge-
legenheit sozusagen der Beleuchtung des X durch das Licht des Bewusst-
seins. Das Bewusstsein ist es, welches die »Seitenansicht« als xp oder
qj aus sich und für sich an dem X hervorbringt. Sobald ip oder <f aus
dem »Lichte des Bewusstseins« rücken, verschwindet mit demselben
auch das durch dessen Eigentümlichkeit bedingte Gegebensein als ip
oder cf. Dass also z. B. die Vorstellungen auch außerhalb des Bewusst-
seins noch als solche fortbestehen und wirken, würde soviel heißen
wie: sie seien auch im unbewussten Zustande noch unter der Beleuch-
tung von Seiten des Bewusstseins vorhanden: das dunkle Zimmer soll
als dunkles sich noch ebenso verhalten, wie bei der Beleuchtung.
Muss man daher tatsächlich das Vorhandensein und Nebenher-
gehen von psychischen Zuständen neben den physischen auch unterhalb
des Bewusstseins annehmen (und daran ist, wie sich auch weiter unten
ergeben wird, nicht zu zweifeln), so muss man diese Tatsache von einer
andern Voraussetzung aus begreifen als die hier behandelte »monistische«
ist. Es muss eine psychologische Grundanschauung aufgesucht werden,
innerhalb deren es möglich ist, die beiden Gebiete als parallel gehende
und eigentümlich verknüpfte, aber trotzdem selbständig neben einander
bestehende Reihen von Vorgängen zu fassen. Wo die Vertreter jenes
»Monismus« das Verhältnis von unbewussten Vorstellungen zu cerebro-
spinalen Vorgängen behandeln, kommt es auch in der Regel darauf
hinaus, dass sie den strengen Sinn der Grundanschauung in Begriffe
und Ausdrücke umsetzen, deren Bedeutung sich von der eben an-
gedeuteten andern Ansicht kaum noch unterscheiden lässt.
IV.
Nachdem die vorstehenden Erwägungen den Versuch
gemacht haben zu zeigen, dass jede von den bisher einander
entgegengesetzten Grundansichten über das Verhältnis von
14
H. Siebeck,
Leib und Seele erheblichen logischen wie auch erfahrungs-
mäßigen Bedenken unterliegt, haben die nachfolgenden die
Aufgabe, an der Hand einiger bezeichnender Tatsachen einen
anderen Weg durch das noch ziemlich im Dunkel liegende
Gebiet der Forschung anzudeuten.
Was man Gedächtnis nennt, ist bekanntlich, in der
herkömmlichen Redeweise ausgedrückt, eine Eigenschaft
nicht bloß der Seele sondern auch der organisirten Materie,
wenigstens der Nervensubstanz. Das Gedächtnis als Eigen-
heit des unbewussten Nervenlebens zeigt sich am deutlichsten
an den erworbenen Reflexen, die ohne Beteiligung des Be-
wusstseins vor sich gehen. Bestimmte primitive Reflexe sind
in ihnen auf eine bestimmte Weise mit einander verbunden.
Diese Verbindungen werden langsam und oft mühsam (z. B.
beim Schreiben) erlernt, wobei zugleich unzweckmäßige
reflectorische Mitbewegungen unterdrückt werden müssen;
auch die richtige Abmessung der Intensität der Bewegungen
muss erst gelernt werden. Das Resultat kommt darauf
hinaus, dass eine bestimmte Aufeinanderfolge von Nerven-
impulsen sich ausbildet, von denen die entsprechende richtige
Ordnung der Muskelbewegungen abhängt. Wirklich erlernt
sonach sind diese Bewegungen, wenn sich in den betreffen-
den motorischen Nervenpartien bestimmte Associationen von
Erregungen, oder vielmehr die Anlagen, Spuren von solchen,
gleichsam eingewohnt haben, die bewirken, dass, wenn die
eine erfolgt ist, die andere sich einstellt, gleichviel, ob das
Bewusstsein dabei auf die entsprechende Bewegung gerichtet
ist oder nicht. Analoge Verhältnisse und Vorgänge im Nerven-
system haben wir da vorauszusetzen, wo eine Reihe von Vor-
stellungen gedächtnismäßig erworben und dann wieder zum
Ablauf gebracht wird. Und sowie dieser dann mit Bewusst-
sein erfolgt, so kann auch eine angelernte Reihe von Be-
wegungen, die oft unbewusst (indem an etwas ganz anderes
dabei gedacht wird, oder auch im Zustande des Schlafes u.dgl.)
erfolgt, u. U. so von statten gehen, dass jeder Act derselben
mit Bewusstsein vollzogen wird, sodass die Reihenfolge
der Bewegungen als solche Gegenstand der Vorstellung
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
15
ist und andere Bewusstseinsinhalte ausgeschlossen sind. Mag
nun der Ablauf einer solchen Reihe von Bewusstsein be-
gleitet sein oder nicht, die physiologischen Processe, welche
denselben bedingen, sind allem Anschein nach in jedem
Falle dieselben; nur kommt im erst eren (dem der Bewusst-
heit) noch das hinzu, was man Apperception nennt: der
nervöse Process, der die Bewegungen auslöst, ist dann be-
gleitet von dazu gehörigen Bewegungsvorstellungen, die als
solche zum Bewusstsein kommen. Auch dieser Umstand, die
Apperception nämlich, hat als Begleiter einen physiologischen
Zustand, einen gewissen Process in den Hemisphären des
Gehirns, der in dem Falle, wo die Bewegungen außerhalb
der Aufmerksamkeit, d. h. des Bewusstseins, erfolgen, eben
fehlt. Zu seinem Eintreten ist erforderlich, dass die Nerven-
processe, welche die Bewegungen auslösen, mit einem höheren
Grade von Intensität und Beharrung sich vollziehen ; es giebt
ein bestimmtes, wenn auch vielleicht individuell verschiedenes
Niveau für ihre Stärke und Dauer, eine »Schwelle«, bei
deren Ueberschreiten der physiologische Process als Vor-
stellung zum Bewusstsein kommt, d. h. nicht der Nerven-
process selbst (die Veränderungen im Nerven) wird Gegen-
stand des Bewusstseins, sondern die mit demselben ver-
knüpften Bewegungsvorstellungen.
Man könnte hiernach versucht sein, den gesammten Ver-
lauf dieses Processes in zwei Stadien einzuteilen, welche durch
die erwähnte Schwelle unterschieden werden: ein unteres,
welches lediglich Gehirnprocess ist, und ein oberes, bei
welchem zu letzterem noch der Charakter als Bewusstseins-
inhalt, d. h. die Vorstellung, hinzukommt. Der nervöse
Vorgang wäre demzufolge zugleich Vorstellung erst dann,
wenn er über die Schwelle hinaus intensiv würde, das
Psychische wäre ein Neues, was zu ihm hinzuträte, oder
zu welchem er erst vermittelst der Apperception sich ge-
staltete. Diese Ansicht würde die andere voraussetzen,
dass psychische Zustände (Vorstellungen u. dgl. ) nur als
bewusste existiren könnten und außerhalb des Bewusstseins
eben nichts anderes wären als physiologische Erregungen.
16
H. Siebeck,
Allein dagegen erheben sich gewichtige Bedenken. Wir
wissen zunächst, dass für eine Vorstellung auch im Zustande
der Bewusstheit der Grad dieser Bewusstheit stufenweise zu-
und abnehmen kann: die Aufmerksamkeit, mit der wir sie
festhalten, kann steigen und sinken, ohne dass die Vor-
stellung im letzteren Falle unter die Schwelle des Bewusst-
seins hinabsänke. Setzen wir nun, wie wir doch wohl müssen,
mit diesem Steigen und Sinken der Bewusstheit oberhalb der
Schwelle ein Steigen und Sinken des betreffenden cerebralen
Processes parallel, so besteht die nächstliegende Consequenz
dieses Gedankens darin, dass nicht bloß der cerebrale Pro-
cess, sondern auch die Vorstellung als Psychisches im ge-
gebenen Falle wieder unter die Schwelle des Bewusstseins
herabsinkt und unterhalb derselben fortbesteht. Auf Grund
der früheren Erwägungen nun, welche uns zeigten, dass die
Annahme eines Fortbestehens des Psychischen neben dem
Physiologischen unterhalb der Schwelle des Bewusstseins im
Sinne einer bloßen »Seitenansicht« des letzteren nicht statt-
haft ist, müssten wir behaupten, dass die Vorstellung auch
unterhalb dieser Schwelle noch etwas Eigenartiges, für sich
Bestehendes in oder neben dem Nervenprocesse ausmacht.
Die Disposition zum Wiederauftauchen der Vorstellung im
Bewusstsein, die nach ihrem vom Bewusstsein begleiteten Auf-
treten zurückbleibt, muss hiernach nicht lediglich als physio-
logisch vorhandener Molecularzustand betrachtet werden,
sondern als eine auch unterhalb der Schwelle neben dem-
selben bestehende psychische Disposition, über deren eigen-
tümliches Wesen wir freilich nichts wissen und erforschen
können.1
Gegen diese Auffasssung der Sache scheint sich freilich
eine Einwendung darzubieten: Wenn der Gehirnprocess ober-
halb der Schwelle zufolge der Apperception als Vorstellung
erscheint, so muss ja wohl mit seinem Steigen und Sinken
auch der Apperceptionsgrad für die Vorstellung auf- und
abschwanken, während letzteres (das Sinken und Steigen als
1 Vgl. Wundt, Grundziige der physiol. Psychol. 2. Aufl. II, S. 205.
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
17
(Vorstellung) von selbst aufhören muss, sobald der physio-
logische Vorgang sich lediglich unterhalb der Schwelle bewegt.
Allein, dass die hier vertretene Auffassung nicht bloß
logisch sondern auch sachlich die berechtigte ist, beweist
eine Anzahl von psychologischen Tatsachen, aus denen deut-
lich hervorgeht, dass das Psychische oder Vorstellungsmäßige
als solches auch dann noch dem Nervenprocesse zur Seite
geht, wenn es nicht im Bewusstsein hervortritt. Ich entnehme
einige derselben, deren Zahl sich noch vermehren ließe, der
präcisen Darstellung Steinthals:
»Unbewusst über unser Tan richten wir die Bewegung anders ein,
je nachdem wir auf ebenem Boden oder aufwärts oder abwärts steigen.
— Wir heben eine Wasserflasche. Wir hielten sie für voll; sie ist aber
leer. Welch ein eigentümliches Gefühl haben wir dann im Arm! Das
Gefühl einer unnötig und unnütz aufgewendeten Kraft. Wir hatten
also beim bewussten Anblick der Wasserflasche, gemäß der bewussten
Absicht, sie zu heben, unbewusst die Kraft abgemessen, die wir zum
Heben aufwenden miissten. Diese unbewusste Bemessung der Kraft
war richtig ; aber das Bewusstsein mit der Voraussetzung, dass eine
volle Flasche vor uns stehe, war irrig. So lehrt uns dieser Irrtum
dass durchweg das Heben eines Dinges von einer unbewussten Schätzung
des Gewichts des zu hebenden Dinges und einer unbewussten Messung
der aufzuwendenden Kraft begleitet ist, welche Schätzung und Messung
nicht zum Bewusstsein kommt, wenn sie übereinstimmt, die aber be-
wusst wird, wenn der Erfolg die Disharmonie zeigt .... Unbewusst
fügt sich die Hand dem Zwecke der Schrift.....Mancher vermag
es, sich des Abends hinzulegen, ruhig zu schlafen und genau um 4 Uhr,
oder wann er sich eben vorgenommen, aufzuwachen. Viele werden
dies nicht so präcis können; sie werden unruhig schlafen, oft auf-
wachen. Immerhin zeigt diese Tatsache, dass die Absicht, um 4 Uhr
aufzustehen, unbewusst im Schlafe wirkt und den Schlaf stört« 1 u. s. w.
In manchen dieser Fälle erscheint die unbewusste Wirk-
samkeit der Vorstellungen mehr als Ausnahme innerhalb des
seelischen Geschehens;2 es bedarf aber nur einer Besinnung
auf die Hergänge des psychologischen Mechanismus, wie er
1 Steinthal, Abriss der Sprachwissenschaft (Beri. 1871) S. 1G4 f.
Zu dem Folgenden vgl. ebd. § 263 ff.
2 Hierher gehören auch die nicht allzuseltenen Fälle, wo der Traum
(also das Seelenleben teils unterhalb des Bewusstseins, teils an der Grenze
desselben) aus bewusst gewesenen Vorstellungen und Eindrücken das
Facit zieht, welches dann mitunter auch zutrifft. Vgl. Volkmann, Lehrb.
Zeitschrift für Völkerpsycli. und Sprachw. Bd. XVI. 1. 2
18
M. Siebeck,
auch das gewöhnliche Denken bestimmt, um dieselbe als regel-
mäßiges und unumgängliches Moment der geistigen Tätigkeit
zu erkennen. Zum Verständnisse eines Satzes, eines Kapitels,
eines Abschnittes gesprochener Rede gehört, dass das Vor-
hergehende beständig mit dem Folgenden sich verbindet und
in Zusammenhang hält. Nun ist aber in jedem Augenblicke
bekanntlich immer nur eine sehr kleine Anzahl dieser Vor-
stellungen im Bewusstsein selbst; während der Nachsatz ge-
lesen oder gehört wird, sind die Vorstellungen des Vorder-
satzes bereits im Sinken, die des vorigen Satzes aber schon
unter der Schwelle. Und doch ist die Tatsache des vor-
handenen Verständnisses die Bürgschaft dafür, dass der
Zusammenhang des Folgenden mit dem Vorhergehenden
beständig festgehalten wurde. Die unbewusst gewordenen
Vorstellungen treten noch beständig in Beziehung mit den
vorübergehenden bewussten. Die Vorstellungen bestehen so-
nach unterhalb der Schwelle nicht lediglich als Nervenpro-
cesse fort, sondern als geistige Inhalte. Und da sich uns
oben die Einsicht ergab, dass es keinen Sinn hat, das unter-
halb der Schwelle mit dem Cerebralen befindliche Psychische
lediglich als »Seitenansicht« des Physiologischen aufzufassen,
so müssen wir auch von der Betrachtung dieser Tatsachen
aus das Vorstellungsmäßige im Unbewusstsein als etwas mit
dem Physiologischen überall eng Verbundenes, aber dennoch
neben demselben für sich Bestehendes betrachten.
Bern. Eine Auffassung der Sache, welche der hier entwickelten
am nächsten kommt, finde ich in der bekannten Schrift von Kussmaul
über die Störungen der Sprache (2. Aufl. S. 103 f.). Ohne zu der meta-
physischen Frage principiell Stellang zu nehmen formulirt der Verf.
seine Ansicht über das tatsächliche Verhältnis dahin, dass mechanische
und seelische Kraftäußerungen zusammen aus der erregten Nerven-
substanz entspringen, die aus den allgemeinen Quellen der lebendigen
Kraft des Weltalls gespeist werden. Er macht hierauf einen Unter-
schied der Begriffe zwischen Bewusstheit und Bewusstsein und be-
trachtet letzteres als eine speciellere Form der ersteren; »es ist das helle
Licht im Blickfelde des Ich, durch welches Empfindungen und Urteile
in linearer Reihen- und momentaner Zeitfolge sich bewegen.« Unter-
d. Psychol. I, S. 411 f. Spitta, die Schlaf- und Traumzustände der
menschl. Seele (Tübingen 1882) S. 309 f.
Das Verhältnis von »Leib und Seele«. 19
halb dieser Schwelle vollziehen sich, wie er weiter ausführt, beständig
Empfindungen und Urteile als Inhalte eines »latenten Bewusstseins«,
welches erst in jenem Blickfelde »zur offenbaren Erscheinung« wird.
»Was wir unbewusstes Empfinden und Urteilen nennen, sind somit nur
relativ unbewusste seelische Vorgänge, die von den bewussten sich
dadurch unterscheiden, dass sie unbemerkt vom Ich sich vollziehen, sei's,
weil dasselbe nicht darauf merkt, sei's weil sie überhaupt seinem Blick-
felde entzogen bleiben.« Somit stehe (105) der Annahme, dass die spinalen
Beflexe auch in dem vom Gehirn getrennten Bückenmarke mit Empfindung
und Bewusstsein sich vollziehen, nichts im Wege und Pflüger habe
Beeilt, wenn er auf Grund der bekannten Versuche an niederen Wirbel-
tieren auch dem Bückenmarke Seele zuerkenne. Wenn dem gegenüber
von anderer Seite auf experimentellem Wege der Nachweis erbracht
worden sei, dass auch die anscheinend klügsten spinalen Beflexe sich
hinreichend aus einer zweckmäßig eingerichteten organischen Mechanik
des Bückenmarkes erklären lassen, so sei damit keineswegs auch er-
wiesen, dass überhaupt Urteile im Bückenmark nicht gebildet würden.
S. 108: »Die Sache verhält sich demnach nicht so, dass erst im Groß-
hirn oder in der Binde seelische Tätigkeit begänne und tiefer unten
nur Mechanismus bestände, sondern das gesammte Nervensystem bis
zu seinem obersten Abschluss in der Binde ist mechanischer Apparat
und Seelenorgan zugleich.«
Das Psychische, wie sich aus alledem ergibt reicht so-
weit als die Nervenvorgänge reichen; seinem wahren Verhält-
nisse zu demselben wird indes die monistische Ansicht nicht
in vollem Maße gerecht. Das Seelische ist ein integrirender
»innerer« Teil des Cerebrospinalen. Dieser Ausdruck dürfte
trotz seiner geringen Bestimmtheit noch die entsprechendste
Bezeichnung eines Sachverhältnisses sein, dessen ganze Eigen-
artigkeit unsre gewohnten populären sowohl wie wissen-
schaftlichen Vorstellungsweisen und mit ihnen die Sprache
bis jetzt eben nur annähernd zu treffen vermögen. Es soll
damit nicht gesagt sein, das Psychische sei ein Teil der
Nervensubstanz; denn wir reden hier schon entfernt nicht
mehr von »Substanzen« sondern lediglich von Vorgängen:
Unsere äußere und innere Wahrnehmung vermittelt uns die
(im Kantischen Sinne) phänomenale Kenntnis zweier Reihen
von Vorgängen, der cerebrospinalen und der seelischen, von
denen sich die letzteren als ein integrirender Teil der ersteren
darstellen, während sie dabei specifisch von ihnen verschic-
2*
20
Ë. Sieibeck,
den sind. Zwischen beiden Reihen findet Wechselwirkung
statt, außerdem aber die Tatsache, dass der seelische Vor-
gang als solcher für den betreffenden cerebralen Begleitvor-
gang das mehr nach »innen«, d. h. nach dem Selbstbewusst-
sein hin gelegene Gentrum desselben ausmacht. Die cerebro-
spinalen Acte haben in ihrer Aufeinanderfolge und in ihrem
Zusammenwirken Einfluss auf das Hervortreten und den
Ablauf der seelischen ; andrerseits aber hat der Zusammen-
hang mit dem Bewusstsein und Selbstbewusstsein (dem Ich)
für die seelischen Vorgänge als solche bestimmte Konsequenzen
in Bezug auf ihre gegenseitige Verbindung, Verschmelzung,
Aufeinanderfolge, Apperception u. s. w. als specifisch seelischer,
und diese in psychologischen Gesetzen bestehenden Causal-
zusammenhänge wirken ihrerseits wieder auf das allem
Psychischen parallel gehende Nervöse. In diesem Sinne also,
unter der eben bezeichneten Reserve hinsichtlich der Adäquat-
heit des Ausdruckes mag zugleich im Interesse desjenigen,
was die nachfolgenden Erörterungen zu erhärten suchen,
der Satz gelten: die seelischen Vorgänge bilden den mehr
nach innen zu gelegenen integrirenden Teil der cerebro-
spinalen. Zu einem eingehenderen Verständnisse desselben
werden wir gelangen, wenn wir ihn nunmehr im Licht der
in § 2 angedeuteten Anschaungsweise betrachten.
V.
Die Art und Weise, wie uns der beseelte Organismus
zwischen der Außenwelt einerseits und dem Ichbewusstsein
andrerseits als Erscheinung gegeben ist, lässt sich an der
der Hand der vorliegenden Tatsachen etwa folgendermaßen
bezeichnen.
Die Vermittelung zwischen der seelischen Innen- und der
materiellen Außenwelt ist hergestellt durch den Leib, d. h.
(nach dem in § 1 bezeichneten Standpunkte) durch die
Summe derjenigen physikalischen, physiologischen und bio-
logischen Vorgänge, deren Gesammtheit wir nach der über-
lieferten, durch den Substanzbegriff beherschten Anschauung,
mit diesem Aasdruck zu bezeichnen uns gewöhnt haben.
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
21
Obgleich er seinen physikalischen Eigenschaften nach zur
äußeren Natur gehört, unterscheidet er sich von den Dingen
derselben doch hauptsächlich in zwei Beziehungen. Zunächst
ist sein Verhalten zum seelischen Innern vielfach ein anderes
als das der äußern Objecte, und außerdem steht er, eben
infolge davon, innerhalb der umgebenden Welt nicht bloß
als Ding unter den Dingen, sondern er ist vielmehr, sofern
er nicht bloß äußere Eindrücke nach dem Innern, sondern
auch seelische Impulse nach außen vermittelt, ein dieselben
in gewissem Grade Beherschendes, nicht bloß Teil, sondern
(was freilich auch nur ein annähernd zutreffender Ausdruck
ist) Gentrum.
In derselben Weise nun, wie der Leib zur äußeren Welt
einerseits und andrerseits zur Seele, steht zwischen ihm und
dem Gebiete der eigentlichen seelischen Phänomene das
Nervensystem mit dem Gehirn. Wie jener inmitten der
Außendinge, so steht dieses innerhalb des Leibes selbst
wieder zur »Seele« in einer engeren Beziehung und ist auf
Grund dessen in ihm selbst nicht bloß Teil sondern Gentrum
und als solches in einer beherschenden Stellung. Die seelischen
Vorgänge ferner erkannten wir oben als eigenartige innere
Begleiterscheinungen der nervösen, als deren integrirende
Teile. Wir dürfen nunmehr darauf hinweisen, dass ihr Ver-
hältnis zu denselben im wesentlichen demjenigen analog ist,
in welchem das Nervensystem zum Leibe sich befindet. Wie
letzteres innerhalb des Leibes, so stehen die seelischen Phä-
nomene als Teilereignisse innerhalb der cerebralen in einer
näheren Beziehung zu dem innersten Centraipunkte unseres
Wesens, zum Selbstbewusstsein. Wie daher die Nerven-
functionen im Verhältnisse zum Leibe, so stellen die seelischen
im Verhältnisse zu den cerebrospinalen sich dar als ein
centraleres und in gewissem Sinne (bes. bei Willensimpulsen)
beherschendes Gebiet.
Nach alledem dürfen wir dem Gebiete der seelischen
Zustände eine analoge Stellung zwischen dem Ich und dem
Nervensystem zusprechen, wie letzterem selbst zwischen ihnen
und dem Leibe und wie weiter dem Leibe zwischen dem
22
H. Siebeck,
Gehirn und der Außenwelt. Der bezeichnete regressus nun
von den Außendingen zum Leibe, von diesem zum Gehirn,
vom Gehirn zum Seelischen findet sein Ende und den letzten
Punkt seines Fortschrittes in dem Phänomene des Ichbewusst-
seins, welches als Centrum und in gewissem Grade als
Herscher innerhalb der seelischen Vorgänge sich darstellt,
ohne dabei auf ein weiter rückwärts gelegenes Moment hin-
zudeuten als eben auf sich selbst.1
Wir erhalten somit an Stelle der bisherigen Teilung des
beseelten Organismus nach den beiden Gebieten des Materiellen
und des Seelischen fünf eigentümlich unterschiedene Kreise
von Phänomenen, welche in der bezeichneten Weise aufein-
ander zurückweisen und miteinander in dem angegebenen
Zusammenhange stehen.
Bein. Was die seelischen Zustände »an sich« sind, wissen wir,
nach dem Bisherigen sowenig wie das Ansich des Leibes und des Ge-
hirnes. Als Phänomen betrachtet sind aber die ersteren so gut inte-
grirende Verhältnisse oder Teile des Nervensystems, wie dieses ein
solcher Teil des Leibes und der Leib ein Teil der Natur. Ein Unter-
schied besteht freilich, scheinbar wenigstens hinsichtlich der Art dieser
Phänomenalität. Den Leib nehmen wir unmittelbar sowohl als Teil
der Außenwelt wie auch als ein auf unsere Innenwelt Bezogenes wahr.
Dass das Seelische aber in dem analogen Verhältnisse zum Nerven-
systeme steht, diese Erkenntnis ist erst ein Resultat wissenschaftlicher
Forschung und dem Bewusstsein somit nicht seinem unmittelbaren und
allgemein (bei allen Menschen) gegebenen Inhalte nach eigentümlich.
Jene Erkenntnis ei'scheint sonach als unmittelbar, diese als vermittelt.
Allein dieser Unterschied ist für unsere Frage ohne Erheblichkeit.
Denn erstens die Erkenntnis, welche sich auf das Verhältnis von Leib und
Außenwelt bezieht, ist auch nur scheinbar so unmittelbar; sie ist so gut
erst erworben als die andere, welche vermittelt erscheint: jeder Mensch
erwirbt die bezeichnete Anschauung des Verhältnisses von Leib und
Außenwelt erst allmählich; das Kind in der ersten Zeit seines Daseins
weiß von seinem Leibe im Unterschiede von den Außendingen so wenig
1 Es ist hier natürlich, um mich der Kantischen Unterscheidungen
zu bedienen, von dem Ich als Gegenstand des inneren Sinnes die Rede,
durch welches »die Beziehung der innern Erscheinungen auf das un-
bekannte Subject derselben« uns selbst als innere Erscheinung gegen-
ständlich wird, nicht aber von dem transcendentalen Subject der Ge-
danken selbst, welches als solches überhaupt nicht gegenständlich werden
kann. (Vgl. Kant, Krit. d. r. V. S. 676. Khrb. Prolegom. § 46.) Auf
letzteres werden wir erst weiter unten Bezug zu nehmen haben.
Das Verhältnis von »Leib und Seele<
23
etwas, wie von dessen Bezogenheit auf dieselben; es gelangt zu der
betreffenden Erkenntnis erst mit der allmählichen Ausbildung des Be-
wusstseins und an der Hand der Erfahrung. Da nun die wissenschaft-
liche Erfahrung doch auch Erfahrung ist und erst auf einer gewissen
Stufe der Bewusstseinsentwicklung möglich wird, so verdanken wir die
Erkenntnis des zwischen dem Seelischen und dein Nervensysteme sowie
zwischen diesem und dem übrigen Leibe bestehenden Verhältnisses im
Grunde denselben Factoren, die uns das Verhältnis von Leib und Außen-
welt erschließen. Das Bewusslsein hat von den betreffenden Verhält-
nissen auf allen hier in Betracht kommenden Stufen von Haus keine
Kenntnis; es hat sie alle erst kennen lernen müssen und nur die
Methode der Erlernung ist unten und oben eine verschiedene.
Ein anderer Einwand gegen unsere Anschauungsweise könnte ent-
nommen werden aus dem Umstände, dass das Cerebrospinalsystem als
Teil des Leibes auch äußerlich in demselben enthalten und von dem-
selben umschlossen ist, während von räumlicher Beziehung zwischen
seelischen Vorgängen und den Nerven nicht mehr die Bede sein könne.
Letzteres dürfte freilich schon von den Physiologen, deren Untersuchungen
auf »Localisirung« der seelischen Functionen innerhalb des Gehirnes,
bedacht sind, nicht einmal für zutreffend erachtet werden.1 Aber auch
abgesehen hiervon, hat dieser Einwand einen Schein von Bedeutung
nur für denjenigen, welcher sich von der Vorstellung der Substanziali-
tät, für die hier vorliegenden Verhältnisse nicht befreien und außer-
dem mit der Anerkennung des phänomenalen Charakters der Dinge
nicht Ernst machen kann. Wer dies aber vermag, für den bildet die
Eigenschaft der räumlich-sichtbaren Einschließung kein wesentlich unter-
scheidendes Merkmal innerhalb der hier bezeichneten Stufenfolge von
Erscheinungen, gegenüber den gemeinsam durch alle Stufen hindurch-
gehenden, die wir durch die Ausdrücke »Teil« und »Centrum« zu be-
zeichnen versucht haben. Für unsern in § 1 gekennzeichneten Stand-
punkt reducirt sich der mit diesem Einwände gemeinte Unterschied
darauf, dass Leib und Nerven Gegenstand der äußern, das Seelische
dagegen Gegenstand der innern Wahrnehmung ist. Dieser Unterschied
aber wird für unsere Zwecke gleichfalls unerheblich angesichts der Tat-
sache, dass die zwei unterschiedenen Arten von Wahrnehmung nichts
anderes sind als Unterschiede in der Art der Phänomen alitât der
betreffenden Objecte.
VI.
In schematischer Betrachtung könnte man das Verhält-
nis der fünf Gebiete durch eine Anzahl concentrischer Kreise
veranschaulichen, von denen der äußerste die Außenwelt dar-
1 Vgl. auch Brentano, Emp. Psychol. S. Iii ff.
24
H. Siebeck,
stellt, der zunächst nach innen gelegene den Leib, der dritte
das Nervensystem und der vierte das Seelische, während
das Ichbewusstsein die Stelle des Centrums einnehmen würde.
Die bisher entwickelte Auffassung des Verhältnisses ist
nun diejenige Ansicht, welche der beseelte Organismus dar-
bietet, wenn und sofern er, im Sinne des Schema gesprochen,
von der Peripherie aus gesehen wird. Ihr zur Seite geht
nun aber eine andere, die wir demselben Bilde folgend als
die Ansicht vom Centrum aus bezeichnen können. Sie ent-
springt ohne weiteres bei der Besinnung darauf, dass die
Vorgänge des Seelischen sowohl wie des Leiblichen und über-
haupt des »Materiellen« Erkenntnisobjecte sind, sonach
phänomenal, d. h. Erscheinungen für das erkennende Selbst-
bewusstsein. Als solche aber sind sie, wie wir namentlich
von Kant her wissen, nicht bloß Inhalte sondern zugleich
Product e der synthetischen Tätigkeit des Bewusstseins, be-
züglich des Selbstbewusstseins oder (Fichtisch gesprochen)
des »Ich.«1 Von diesem als dem Centrum aus gesehen er-
scheinen das Seelische wie das Leibliche mit Einschluss des
Cerebralen und weiter die eigentlichen »Außendinge« in der
Art und Inhaltlichkeit, mit der sie uns gegeben sind, als
»Setzungen« der betreffenden Inhalte von Seiten des erkennen-
den (Selbst-)Bewusstseins. Die synthetische Tätigkeit, das
»Ich«2 hat, setzt, producirt die seelischen Vorgänge (mit Ein-
schluss des Ich als Vorstellung des innern Sinnes) sowie die
Inhalte der übrigen Gebiete als die ihm gegebenen Objecte.
Auch ihre gegenseitige Beziehung und die Art ihres Zu-
sammenhangs ist für das erkennende Bewusstsein vorhanden
auf Grund der Art, wie seine synthetische Tätigkeit ihm die
betreffenden Inhalte als Gegebenes gegenständlich macht.
Wenn es hierbei sich selbst3 gleichsam als den höchsten
Punkt und die Spitze des natürlichen organischen Entwick-
lungsprocesses erblickt, so wächst ihm dies Verhältnis doch
1 Der Begriff hier im Sinne des transcendentalen Subjects ge-
nommen, s. ob. S. 22 Anm. 1.
2 in dem eben angegebenen Sinne.
3 unter der Form des Ich als Vorstellung.
Das Verhältnis von »Leib und Seele^
25
nicht als ein von außen aufgedrungenes Schicksal zu, sondern
ist der aus seinem Wesen heraus ihm notwendige Inhalt der
Erkenntnis, der ihm gegeben ist auf Grund der ihm imma-
nenten Betätigung seiner synthetischen Function. Während
sonach der »natürliche Entwicklungsprocess« als letztes und
höchstes Resultat seines Verlaufes die Ichvorstellung bedingt,
um vermittelst derselben für sich selbst erst die Möglichkeit
des Bewusst- und Erkanntwerdens zu schaffen, erscheint er
zugleich hinsichtlich desjenigen, als was er sich auf seinen
verschiedenen Stufen dieser Erkenntnis inhaltlich darstellt,
als »Gegebenes«, als Realität im Sinne der Phänomenalität,
somit als seinerseits bedingt durch die Art, wie die im Wesen
des Bewusstseins liegende Synthesis nicht umhin kann, In-
halte der Erkenntnis als Objecte zu haben. Das Ich andrer-
seits, indem es sich dieser seiner Inhalte mehr und mehr
hinsichtlich ihres Wesens und ihrer gegenseitigen Beziehungen
bewusst wird, erkennt in dieser seiner Setzung zugleich den
bedingenden Untergrund für die Herausbildung seines sich
selbst Gegebenseins 1 und für die Art, wie seine synthetische
Function die hier in Rede stehenden »Dinge und Verhältnisse«
als Gegenstände zu haben, d. h. vorzustellen nicht umhin kann.
Die metaphysischen Folgerungen, welche die Philosophie
des Idealismus aus diesem eigentümlichen Verhältnisse der
beiden Betrachtungsweisen gezogen hat oder noch ziehen
könnte, sollen hier nicht weiter erörtert werden. Unsere Auf-
gabe besteht lediglich darin, die Tatsächlichkeit desselben zu
einer abschließenden Bestimmung über das Wesen und das
gegenseitige Verhältnis von Leib und Seele zu benutzen.
Wir lassen zu diesem Zwecke, eben weil es sich hier nicht
um metaphysische Erörterungen handelt, von nun an den
äußeren Kreis unseres Schema (das Gebiet der Außendinge) bei
Seite, um uns auf die Betrachtung der den beseelten Organis-
mus als solchen constituirenden Vorgänge zu beschränken.
1 Sich selbst als Gegebenes findet das »transcendentale« Ich in dem
Ich als Vorstellung von Seiten des inneren Sinnes. Den psychologischen
Ausdruck dieser Tatsache haben wir in dem Begriffe des Selbst-
bewusstseins.
26
H. Siebeck,
VII.
Nachdem wir den gesammten Umfang derselben als auf
dem gemeinsamen Boden der Phänomenalität befindlich er-
kannt haben, erblicken wir innerhalb desselben das Gebiet
der seelischen Zustände (Vorstellungen, Begehr ungen, Ge-
fühle) als das Mittelglied zwischen dem Selbstbewusstsein und
der Leiblichkeit. Der Organismus, der es zum Ichbewusst-
sein bringt, lässt dasselbe aus oder in sich hervortreten auf
Grund einer Entwicklung vom Leiblichen aufwärts durch das
Seelische hindurch und zugleich vermittelst desselben. Denn
das Ichbewusstsein ist, wie die psychogenetische Beobachtung
beweist, das höchste Ergebnis der organischen Entwicklung
und wird, sofern es mit der Ausbildung des Charakters selbst
immer noch zunimmt, auch zeitlich erst am spätesten sozu-
sagen fertig. Das Verhältnis aber des Seelischen und Leib-
lichen zum Ich besteht darin, dass jene beiden zusammen
den concreten Inhalt abgeben, in und mit welchem das Ich
sich selbst vorfindet, ausgestaltet findet, dasjenige, ohne welches
es erfahrungsmäßig sich überhaupt nicht hat und betätigt.
Leib und Seele sind die erfahrungsmäßig unzertrennlichen
Erscheinungsformen des Ich für das Ich. Nachdem der Natur-
process im Ich zum Selbstbewusstsein gekommen ist, letzteres
aber nicht bloß einen abstract formalen, sondern auch einen
concreten Inhalt besitzt, findet es denselben in einer Fülle
von Beziehungen in und zwischen dem Seelischen und dem
Leiblichen. Die seelischen Vorgänge sind auf Grund dessen
ebensogut organische Functionen, wie die Zustände des Leibes.
Beide Arten von Vorgängen sind Resultate des Lebens-
processes, und der nämliche organische Fortgang der Lebens-
entwicklung führt vom Hervortreten des Leiblichen zu dem
dem des Seelischen; jenes ist die Bedingung und Unterlage
für das Auftreten von diesem. Das Ich somit findet sich
nicht bloß inhaltlich bestimmt als jenes eigentümliche Zu-
sammen von Seelischem und Leiblichem, sondern es erkennt
auch diese seine Inhalte in der Form einer Stufenfolge der
Entwicklung. Für diese Stufenfolge aber lässt sich noch
eine eingehendere Bestimmung herstellen, sobald wir das
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
27
Leibliche sowohl wie das Seelische auf das Verhältnis hin
ansehen, in welchem das eine wie das andere zum Hervor-
treten des Bewusstseins steht. Als Antwort auf diese
Frage nämlich lautet das bisher erhaltene Resultat unserer
'Untersuchung dahin, dass der Lebensprocess sich darstelle
als einen Fortgang der Entwicklung, der (von unten nach
oben) sich von unbewussten Lebenserscheinungen zu solchen
erhebt, mit welchen das Auftreten des Bewusstseins und, auf
der obersten Stufe, des Selbstbewusstseins stattfindet. Die
Bewusstheit des Lebensprocesses nimmt zu in demselben Maße
wie (vom Fötalzustande an gerechnet) im und am Leiblichen
die seelischen Erscheinungen auftreten. Dabei fällt jedoch das
physiologische Leben keineswegs ohne Rest mit dem Leibes-
leben als solchem zusammen, sondern betätigt sich auch,
wie bekannt, in dem Entstehen unbewusster seelischer Vor-
gänge, die gegeben sind mit der Entwicklung des Nerven-
systems. Zwischen dem Dasein des unbewussten und dem
Auftreten des bewussten Lebens besteht daher keine scharfe
Grenze, sondern ein Uebergang.
Man kann in Anbetracht dessen den Versuch machen,
die Stadien des ansteigenden Lebensprocesses an der Hand
des Begriffes der Bewusstheit zu verzeichnen. Wir erhalten
auf diese Weise vier Stufen, welche den oben bezeichneten
vier Stufen innerhalb des aufsteigenden organischen Lebens-
processes entsprechen. Die leiblichen Vorgänge, als Tatsachen
an sich betrachtet und noch abgesehen von dem Umstände,
dass sie vom Bewusstsein erkannt, und zu Objecten eines
auf sie gerichteten Vorstellens gemacht werden können, fallen
in den Bereich der unbewussten Lebensvorgänge. Sie kenn-
zeichnen sich als solche durch ihr unbewusstes Functioniren
im Schlafe, in gewissen innerorganischen Vorgängen, die sich
höchstens bei krankhafter Affection dem Bewusstsein (als
Gefühle) verkünden, sowie in der Tatsache, dass sie über-
haupt als organische Processe auch da sind und functioniren,
wenn das Bewusstsein sich auf sie gar nicht richtet. Mit
dem Bewusstsein in engerer Verbindung stehen die Functionen
des Nervensystems als solchen; sie sind die unmittelbaren Be-
28
H. Siebeck,
dingungen des Hervortretens für die eigentlichen seelischen
Zustände selbst. Sie vermitteln nicht nur den Zusammen-
hang zwischen unbewusst leiblichen und bewusst seelischen
Vorgängen, sondern sie zeigen sich zugleich als die »materielle«,
d. h. dem unbewussten Lebensprocesse zugewendete Begleit-'
erscheinung der seelischen Vorgänge selbst. Insofern weisen
sie unsere Betrachtung weiter zunächst hin auf diejenigen
seelischen Processe, die als unbewusste da sind und wirken.
Noch einen Schritt weiter nach oben und wir stehen in dem
Gebiete der von Bewusstheit begleiteten psychischen Phäno-
mene, und dieses endlich weist innerhalb seiner selbst zurück
auf jenen Mittelpunkt des geistigen Lebens, in welchem das
Bewusstsein gar nicht mehr einen bestimmten Vorstellungs-
inhalt zu seinem Gegenstande hat, der mit andern unter-
scheidbaren und unterschiedenen Inhalten abwechselte, son-
dern lediglich sich selbst: dasjenige Moment, wobei dem er-
kennenden Bewusstsein außer der Tatsache, dass es Inhalte
hat, auch das zum Bewusstsein kommt, dass es selbst neben
oder über diesen Inhalten etwas für sich ist: das lchbe-
wusstsein.
Eine Vergleichung dieser Stufenfolge mit der früher
durchgeführten ergibt folgenden Parallelismus:
A. B.
Leib..............Unbewusstsein ^
Nervensystem \ t # Uebergang zum i Lebens-
c , Í a. unterhalb der Schwellei Bewusstsein |
Seelisches , , „ „ , . process
( b. oberhalb » » . . Bewusstsein J
Ichbewusstsein
Diese beiden Reihen zeigen sich im Lichte der vorstehen-
den Betrachtungen als verschiedene Seitenansichten derselben
Sache. Die Reihe A gibt den ansteigenden Entwicklungs-
process des Lebens unter der Form der Phänomene, als deren
Summe oder System das Ich auf dem Höhepunkte dieser
Entwicklung sich selbst objectiv ausgestaltet erblickt, während
die Reihe B die Entwicklung des Ichlebens auf seinen ver-
schiedenen Stufen nach der subjectiven Seite zum Ausdruck
bringt. Indem das ' Ich durch die verschiedenen Stufen seines
Das Verhältnis von »Leib und Seele«. 29
Entwicklungsprozesses hindurch zum Bewusstsein seiner selbst
gelangt, setzt es, (stellt es vor, bedingt es) damit zugleich die-
jenige Art und Weise, in welcher die Naturbedingtheit jeder
dieser Stufen sich ihm darstellt, sobald es auf der Höhe des
ganzen Processes angelangt seine Entwicklungsformen nicht
bloß darlebt, sondern zugleich erkennt. Denn das Ich (der
Geist) ist nicht bloß Sein, sondern Erkennen und diese Identi-
tät findet auf die angezeigte Weise zugleich in den ver-
schiedenen Stufen des Lebensprocesses ihren Ausdruck.
VIII.
Aus alledem ergibt sich nun eine Anzahl nicht uner-
heblicher Consequenzen für die Grundlage einer wissenschaft-
lichen Ausgestaltung der Psychologie.
Zunächst eine neue Bestätigung der Einsicht, dass der
alte Gegensatz von Materie und Geist, der ja auch nur auf
der Grundlage des alten Substanzbegriffes sich ausgebildet
hat, unhaltbar ist. Die Materie (im Organismus: der Leib)
ist nur die Art und Weise, wie der Lebensprocess auf einer
bestimmten Stufe seiner Entwicklung sich darstellt, oder,
anders ausgedrückt, wie das Ich im bewussten Anschauen
seiner eigenen Entwicklungsformen an einer bestimmten
Stelle derselben sich vorfindet; dasselbe gilt von der seelischen,
bez. geistigen, Darstellungsform desselben. Man erkennt das
ohne weiteres, sobald man die Berechtigung, die Stufen der
Reihe A in die entsprechenden der B-Rfcihe zu übersetzen,
eingesehen hat. Damit sind wir ferner bereits über die
Standpunkte sowohl des Materialismus wie des dualistischen
Spiritualismus hinaus. Denn jene Stufenfolge sagt uns mit
anschaulicher Deutlichkeit, dass, wie der Leib noch etwas
von der Außenwelt Verschiedenes ist, und ebenso das Nerven-
system zum Leib sich verhält, so auch das Seelische im Ver-
hältnisse zum Nervensystem sich darstellt als ein mit dem-
selben zusammenhängendes und gleichsam zusammengewachse-
nes, zugleich aber neben ihm oder über ihm bestehendes
Eigenartiges. Andrerseits aber lesen wir ebendort die Ansicht
ab: Wie der Leib doch in gewissen Beziehungen der Außen-
30
H. Siebeck,
welt und das Nervensystem dem Leibe wesensgleich ist, so
tritt auch das Seelische dem Cerebralen nicht im Sinne eines
dualistischen Gegensatzes gegenüber, sondern es steht ihm
in gleicher oder wenigstens analoger Weise zugleich fern und
nahe, wie nach unten das Nervensystem dem Leibe und von
oben her das Ich dem Seelischen selbst. Die im Vorstehen-
den begründete Aufweisung einer Art von lex continui inner-
halb der phänomenalen Hauptstufen des organischen Pro-
cesses führt für die Psychologie über die Einseitigkeit der
spiritualistiscben Grundansicht so gut wie über die der
materialistischen hinaus.
Die Antwort auf die Frage: Was ist die »Seele«? lautet
hiernach dahin, dass sie die Uebergangstufe ausmacht, die
im ansteigenden Lebensentwicklungsprocesse der Organismus
zwischen dem bloß leiblichen Dasein und dem geistig-persön-
lichen Leben, oder das Ich zwischen der Unbewußtheit und
dem Selbstbewusstein zu überschreiten hat.
Unter den Consequenzen dieser Anschauung steht in
erster Linie das Hin wegfallen der Forschung nach einem
»Sitze« der Seele innerhalb des Leibes oder des Gehirnes,
die mit dem Aufgeben des Substanzbegriffes für das psycho-
physische Grund Verhältnis von selbst gegenstandslos wird.
Eine andere Einsicht, die an dieser Stelle hervortritt, bildet
eine Ergänzung zu demjenigen, was sich uns oben (§ III) zu
der Frage von der Möglichkeit einer Wechselwirkung zwischen
Cerebralem und Sèelischem herausgestellt hatte. Wir haben
gesehen, dass der leibliche Organismus mit der Außenwelt
als Teil derselben zusammenhängt und doch durch seine
»centrale« Eigentümlichkeit aus derselben heraus nach einer
andern Seite hin übergreift. Wir sehen ferner, dass dem
ganz analog das Nervensystem, obgleich ein Teil des Leibes,
doch von diesem hinwegdeutend einen Zusammenhang mit
einem andersartigen Gebiete von Erscheinungen, mit dem
Seelischen nämlich, aufzuweisen hat. Das Seelische selbst
erscheint hiernach mit dem Nervenleben ebensowenig wirk-
lich identisch, wie der Leib mit den Dingen der Außenwelt
oder das Cerebrospinalsystem als solches mit dem Gesammt-
í)as Verhältnis von »Leib und Seele«.
31
leibe. Für jedes dieser Gebiete besteht vielmehr zu dem
vorhergehenden eine teilweise Gemeinsamkeit zugleich mit
einem eigentümlichen Hinausgewachsensein des je folgenden
aus dem, in welchem es zunächst wurzelt. Der Analogie-
schluss, zu welchem uns dieses Verhältnis berechtigt, ergibt
Folgendes: Wie auf Grund jenes Zusammenhanges von Leib
und Außenwelt, der als solcher doch zugleich als Nichtidentität
beider Gebiete sich darstellt, eben Wechselwirkung zwischen
ihnen als verwandten aber doch verschiedenen Erscheinungen
möglich ist, und wie dasselbe von dem Verhältnisse zwischen
Gehirn und Leib gilt, so sind auch die seelischen Phänomene
wegen ihrer analogen Stellung zu den cerebralen als ein
Gebiet von Lebenserscheinungen zu betrachten, die zu den
Nervenvorgängen in dem Verhältnisse der Wechselwirkung
stehen. Sowenig Leib und Außenwelt oder Gehirn und
Organismus in der Art wie bei Spinoza Seelisches und Leib-
liches der Substanz nach identisch sind, so wenig können es
seelisches Leben und Nervenleben sein.
Für den Aufbau selbst, welchen die Psychologie auf der
hier bezeichneten Grundlage zu erhalten hätte, würde sich
von vorn herein der folgende Gesichtspunkt zur Geltung
bringen.
Wenn das Seelische innerhalb des ansteigenden Lebens-
processes sich als denjenigen Teil desselben ausweist, ver-
mittelst dessen er sich vom Unbewusstsein aufwärts zum
Selbstbewusstsein emporarbeitet, so ist dadurch unmittelbar
der Versuch nahegelegt, diesen aufsteigenden Gang inner-
halb der Mannigfaltigkeit von seelischen Zuständen selbst
wiederzufinden. Als die Grenzen, zwischen denen er sich
vollzieht, sind dann nach unten die Nervenvorgänge und die
unbewussten psychischen Acte, nach oben das Ichbewusst-
sein zu bezeichnen. So erwächst der wissenschaftlichen
Psychologie die Aufgabe, die verschiedenen psychischen Phä-
nomene (Empfinden, Anschauen, Denken, Fühlen, Begehren
Wollen u. a.) zunächst darauf hin anzusehen, welche Stufe
innerhalb dieser Grenzen jedes von ihnen bezeichnet. Ganz
unten dürfte die Empfindung zu stehen kommen, als der
32
H. Siebeck,
eigentliche kritische Punkt des Ueberganges vom somatischen
Nervenleben zum Bewusstsein ; dem oberen Ende am nächsten
hätten dann diejenigen Zustände zu treten, in welchen das
Charakteristische des Selbstbewusstseins mehr und mehr zur
Ausprägung gelangt, d. h. die Zustände des Wollens, ins-
besondere der ausgebildete persönliche Charakter. Das Gefühl
ferner würde auf Grund dieser Anschauung die Tatsache be-
zeichnen, dass die Beziehung auf das Selbstbewusstsein in
allen diesen Vorgängen schon von der bewussten Empfindung
an in verschiedenem Grade mitgesetzt ist, eine Auffassung,
in der zugleich die anderweitige Erkenntnis gegeben ist, dass
die drei Momente des Vorstellungsmäßigen, des Strebens oder
Wollens, und des Fühlens sich, nur eben in verschiedenen
Graden des Vorwiegens, an jedem psychischen Zustande
müssen aufweisen lassen. Jeder seelische Zustand ist im
Grunde der Sache Vorstellen, Streben und Fühlen zugleich,
und seine bestimmte Zuteilung zu einer von den drei Klassen
geschieht auf Grund einer Benennung a potiori. Damit in
Uebereinstimmung findet sich die andere Tatsache, dass es
außer denjenigen innern Erscheinungen, welche den ausge-
prägt vorwiegenden Charakter einer der drei Classen an sich
tragen, eine Anzahl von solchen gibt, die einer derartigen
bestimmten Zuteilung sich entziehen und als Uebergangs-
formen zwischen je zweien derselben sich darstellen. So
stehen diejenigen Zustände, welche ich anderwärts1 als Ver-
hältnis- oder Exponentialvorstellungen charakterisirt habe,
zwischen Vorstellen und Fühlen, der Zustand der Erwartung
zwischen Vorstellen und Wollen, der des Interesse zwischen
Gefühl und Wollen u. dgl.
Bern. Die im Vorstehenden behauptete Ansicht, dass zwischen den
cerebralen und den seelischen Vorgängen nicht lediglich Gorrelation
sondern Wechselwirkung bestehe, scheint eine erhebliche Einwendung
zu erfahren an dem Umstände, dass unter dieser Voraussetzung das
Gesetz der Erhaltung der Energie von dem physischen auf das psychi-
sche Gebiet übergreifen müsste, während andrerseits eine Umwandlung
von nervöser Kraft in psychische sich erfahrungsmäßig weder messen
1 in der Schrift über das Wesen der ästhetischen Anschauung
(Beri. 1875) S. 42 ff.
Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
33
noch überhaupt exact nachweisen, ja vielleicht nicht einmal wahrschein-
sich machen lässt. Bewegungen, welche innerhalb des Nervensubstrates
entstehen, zeigen, wie es scheint, in den Wandlungen, denen sie unter-
liegen, an keiner Stelle eine Lücke, »die nur durch das, was wir psycho-
logische Erscheinung zu nennen pflegen, ausgefüllt würde« (siehe Stein-
thal, Abriss der Sprachwissenschaft I, S. 94), sondern vollenden die
Kette derselben innerhalb des Gebietes selbst, in welchem sie entspringen.
Es bleibt dabei ein Problem, wie man sich unter diesen Umständen
die Möglichkeit und die Art der Wechselwirkung zu denken habe, in
der sie zu den geistigen Vorgängen stehen, die neben ihnen ein Gebiet
für sich ausmachen. Zunächst ist hierbei zu bemerken, dass auch die
monistische Anschauung der Sache, welche nach Beseitigung des alten
Dualismus scheinbar allein möglich bleibt (vergi. Dubois-Beymond,
Ueber die Grenzen des Naturerkennens etc. Leipzig 1882. S. 28 ff.), die
Schwierigkeit nicht löst, welche aus der Berücksichtigung jenes Ge-
setzes für dieses Gebiet sich herausstellt. Die Nervenvorgänge bilden
eine physikalische Kette von Wandlungen der Energie, die an keinem
Punkte sich in eine ausschließlich seelische umsetzt, sondern von Anfang
bis zu Ende als eine Folge von Zuständen bezw. Bewegungen der
Nervenelemente abläuft. Parallel damit aber geht nach dieser An-
schauung eine Folge von seelischen Zuständen (und zwar teils bewussten,
teils unbewussten), über deren specifisches Verhältnis zu diesen physi-
schen sich zunächst nichts Bestimmteres sagen lässt, als dass sie eben
an dieselben »gebunden« sind. Von der Art des Ablaufs in der physi-
schen Kette ist nun unter dieser Voraussetzung die des psychischen
Verlaufs abhängig, d. h. es besteht nach dieser Ansicht ein Verhältnis
der Gausali tat zwischen Nerven Vorgängen und seelischen Zuständen,
welches in derjenigen Leistung, die die physische Kette nach dem Ge-
setz der Erhaltung der Energie zu vollziehen hat, nicht mit inbegriffen ist.
Fassen wir nun aber diese Tatsache näher ins Auge: dass wir es
hier mit einer Art von Causalität zu tun haben, welche der rein physi-
kalischen nicht gleichartig ist, so zeigt sich an dieser Stelle ein neues
Problem hinsichtlich des Begriffs der Causalität, dem die philosophische
Untersuchung erst gerecht zu werden hätte, ehe das letzte Wort über
das Verhältnis von »Leib und Seele« gesprochen wird, ich meine die
Frage von den verschiedenen Arten der Causalität, eine Unter-
suchung von großer Schwierigkeit, über die ich hier zur Kennzeichnung
des Problems, um das es sich handelt, in Kürze nur Folgendes zu
sagen habe.
Das Wort Causalität bezeichnet einen Gattungsbegriff, dessen wesent-
liche Merkmale sich als das Verhältnis eines Bedingenden zu einem
Bedingten, oder eines Grundes zu einer Folge bezeichnen lassen, und
der nun auf Grund dieses gemeinsamen Inhalts eine Anzahl von Arten
unter sich hat. Diese verschiedenen Arten der Causalität sind, bis jetzt
Zeitschrift, für Völkerpsycli. und Sprachw. Bd. XVI. 1. 3
34 H. Siebeck, Das Verhältnis von »Leib und Seele«.
wenigstens, noch in sehr ungleicher Weise zur Beachtung und nähern
Untersuchung gekommen. Am meisten ins Auge gefasst hat man die
Causalität innerhalb der Naturvorgänge, wie sie sich in den Natur-
gesetzen als gemeinsame Eigentümlichkeit derselben zu Tage legt, als
den mechanischen Zusammenhang nämlich von Ursache und Wirkung.
Daneben aber stehen als andre Arten der Causalität z. B. das mathe-
matische Verhältnis der Function, ferner das der begrifflichen Ab-
hängigkeit gedachter (logischer) Inhalte, außerdem das Verhältnis,
welches in dem Begriffe der Kraft ausgedrückt ist, sofern dabei noch
etwas anderes als die hervortretende sichtbare Wirkung gemeint wird.
Weiter gehört hierher das ethisch-causale Verhältnis der Verpflichtung,
ferner das metaphysisch-causale der Objectivirung, d. h. dasjenige,
wobei ein metaphysischer oder überhaupt ein empirisch nicht näher
bestimmbarer Grund als sich in bestimmter Weise objectiv manifestirend
erkannt wird.
In diese Aufzählung (die nicht den Anspruch macht, eine er-
schöpfende zu sein) gehört denn auch als eine besondere von den andern
unterschiedene und nicht mit ihnen zu verwechselnde Gausalitätsart
das Verhältnis der seelischen Zustände zu denen innerhalb des Nerven-
lebens. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie bezeichnet nun die
wesentliche Eigentümlichkeit einer unter diesen verschiedenen Arten,
nämlich der mechanischen Natur-Causalität. Ob nun sie oder etwas
Analoges davon auch in den übrigen zu finden ist, und ob in einigen
oder allen derselben nach etwas derartigem gesucht werden muss, und
als was es sich dann in jeder derselben herausstellt, das alles sind
Fragen, aufweiche die philosophische Untersuchung bis jetzt noch nicht
von fern gestoßen ist. Wenn aber die Sache so liegt, so kann aus dem
Umstände, dass der Begriff der Wechselwirkung zwischen seelischen und
nervösen Vorgängen der Anwendung des Gesetzes von der Erhaltung
der Energie keine nachweisbare Stätte bietet, noch kein Schluss auf
die Unstatthaftigkeit einer derartigen Wechselwirkung in dem oben (§ III)
begründeten Sinne derselben gemacht werden.
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
Yon M. Hamburger.
Bemerkungen zu Herrn Zellers Schrift: »Ueber Begriff und Begründung
der sittlichen Gesetze« (Abh. der Beri. Akad. der Wissensch. Dec. 1882).
Die Uneinigkeit, welche zu allen Zeiten unter den Philo-
sophen in der Frage nach dem Wesen des Sittlichen ge-
herscht hat, dauert noch heute unvermindert fort, da nun
bald ein Jahrhundert seit dem Erscheinen der epochemachen-
den »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« verstrichen
sein wird, jenes unsterblichen Werkes Kants, in welchem
zum ersten Male der echte Gehalt der Moral von der sie
verhüllenden Glückseligkeitslehre losgelöst in seiner Reinheit
und in seinem ureignen Glänze enthüllt wurde. Man hätte
denken sollen, dass damit ein fester Boden für die weiteren
Untersuchungen auf dem Gebiete des Sittlichen gewonnen
sei, und dass es nur noch einer Zergliederung der Begriffe,
in denen die Vernunft sich moralisch gesetzgebend erweist,
bedürfe, um vielleicht in naher Zeit zum Abschluss dieser
Frage zu gelangen, wenn man mit Kant als zugestanden
annimmt, dass die Aufsuchung des obersten Princips der
Moral keiner Eröffnung von der Erfahrung, etwa betreffs des
Wesens der menschlichen Natur, bedarf, ja jede empirische
Beimischung als der Aufgabe gänzlich zuwider von sich zu
weisen hat. Dies aber, wird man einwenden, bildet eben
den wesentlichsten Streitpunkt in dieser Frage. Unter den
Philosophen gewiss, wie man aus den nachfolgenden Moral-
systemen erkennt; ob aber auch bei dem nach dem prakti-
schen Gebrauch im Moralischen urteilenden Publikum — jene
Philosophen, wenn sie nicht gerade ihr System im Auge
haben, mit inbegriffen — möchten wir billig bezweifeln. Viel-
mehr ist uns der laute Nachhall, den die neue Grundlegung
durch die ungeahnte Erhabenheit ihres Standpunkts in der
öffentlichen Meinung geweckt hat, ein Zeugnis dafür, dass
die Loslösung des den sittlichen Werturteilen zu Grunde
liegenden Princips von allen empirischen Zweckbetrachtungen
als eine bleibende Errungenschaft für die Erkenntnis der
3*
36
M. Hamburger,
Natur des Sittlichen angesehen wird. Ist denn, fragen wir
weiter, wirklich ein triftiger Grund vorhanden, bei der Be-
gründung der moralischen Gesetze von dem rein apriorischen
Standpunkte Kants abzugehen, um, wie es meist geschehen
ist, in die früheren »synkretistischen Systeme« zu verfallen,
mit welchem Namen Kant die Moralsysteme treffend be-
zeichnet, in denen rationale und empirische Principien nach
»ihnen ganz unbekannten Verhältnissen gemischt« vorgetragen
werden ? Man muss sich hierbei vor allem klar machen, dass,
wenn die Normen für unsere sittlichen Urteile nicht a priori,
d. h. unabhängig von allen empirischen Bestimmungsgründen
aufgestellt werden können, dann von einer unbedingten All-
gemeingültigkeit derselben nicht die Rede sein kann. Denn
was auch Erfahrung und Wissenschaft über die Natur und
Strebungen des Menschen ergeben möchten, so liefern sie
uns doch nichts über die absoluten Werte der Strebungen,
wenn wir nicht im voraus den Maßstab für die Abgabe
solcher Werturteile festgesetzt haben. Relative Wertbestim-
mungen der verschiedenen Gesinnungen und Handlungsweisen
gibt allerdings die Erfahrung in Menge an die Hand, weil
zu ihnen nur die Kenntnis der Beziehungen zwischen Mittel
und Zweck erfordert wird, und diese Einsicht mit der Ent-
wicklung der Erfahrungswissenschaften über den Menschen
an Umfang und Tiefe fortschreitet. Die Zwecke können nun
das Individuum, die Gesellschaft nach ihren mannigfaltigen
Interessengemeinschaften, endlich die gesammte Menschheit
betreffen, so setzen uns die Ergebnisse jener Wissenschaft
wohl in den Stand, den Wert gegebener Willensäußerungen
als Mittel zur Beförderung dieser verschiedenen Zwecke
richtiger abzuschätzen. Aber unangesehen aller dieser Zwecke,
wie hoch manche derselben von dem und jenem, ja von
allen, oder wenigstens von den Einsichtigen gestellt werden
möchten, bleibt immer noch eine Frage, die gänzlich ver-
schieden ist von der Frage nach der Tauglichkeit des Mittels
zu den fraglichen Zwecken: nämlich die, ob der Willens-
handlung, die als Mittel dienen soll, für sich und unabhängig
von dem beabsichtigten Zweck nach einem absolut gültigen
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
37
Maßstab ein Wert oder Unwert zukommt. Die Frage, so
gefasst, verstattet offenbar keine Beantwortung aus der Er-
fahrung, sondern verlangt Principien. Der Verzicht aber auf
die gesuchte apriorische Bestimmung des den sittlichen Ur-
teilen zu Grunde liegenden Princips bedeutet nichts weniger
als die Verzweiflung an der Lösung des ethischen Problems
überhaupt. Es sei in dieser Beziehung noch darauf hin-
gewiesen, dass ohne eine solche von allen Zwecken unab-
hängige Wertbestimmung unserer Willensäußerungen der
übelberufene Satz : »der Zweck heiligt die Mittel« eine ent-
scheidende Widerlegung nicht erfahren kann. Ja, wird man
entgegnen, dieser iible Ruf stammt nur aus dem verab-
scheuungswerten Missbrauch dieses Grundsatzes zur Verfolgung
von in Wahrheit unsittlichen Zwecken. Wie aber, wenn der
Zweck ein nach vernünftigen Begriffen sittlicher ist, hat da
nicht der Satz seine Berechtigung? Darauf haben wTir die
Antwort: Es gibt keine sittlichen Zwecke. Die Sittlichkeit
hat es nur mit der Beschaffenheit der Mittel zu tun, die
Zwecke sind ihr fremd, es sei denn, dass man die Sittlich-
keit selbst als Zweck ansieht, was denn auf die Tautologie:
die Sittlichkeit ist auf Sittlichkeit gerichtet, hinauskommen
würde. Die Erfüllung der sittlichen Anforderungen, deren
absoluter Wert erkannt ist, sich zum Zwecke vorsetzen, ist
eben etwas ganz anderes als die Meinung, dass die sittlichen
Wertbestimmungen selbst auf Zweckbetrachtungen beruhen.
Es wird nach den vorausgeschickten Bemerkungen natür-
lich genug erscheinen, dass wir mit lebhaftem Interesse eine
Schrift zur Hand nahmen, in der von neuem die Frage nach
dem Begriff und der Begründung der reinen Moral auf-
genommen worden ist. Durch die Beschränkung der Aufgabe
auf den principiellen Teil der Ethik, womit der beherzigens-
werten Forderung Kants, auch in der Behandlung philo-
sophischer Fragen eine Teilung der Arbeit eintreten zu lassen,
Genüge getan ist, treten die wesentlichen Punkte, auf die
es hier ankommt, der Reihe nach und in ihrem Zusammen-
hang klar hervor, zumal wenn der Gedankengang sich in
so präciser und lichtvoller Darlegung vollzieht, wie sie die
38
M. Hamburger,
vorliegende Schrift auszeichnet. Da nun der Verfasser in
seinen Folgerungen zu einem der kantischen Grundanschauung
von der Notwendigkeit einer apriorischen Feststellung der
sittlichen Normen entgegengesetzten Schluss gelangt, wodurch,
wenn er begründet wäre, die sittlichen Werturteile in eine
Reihe mit den unzähligen von der Erfahrung gelieferten
Wertabschätzungen unserer Willensäußerungen gestellt und
somit ihres specifischen Charakters entkleidet würden: so
lag für denjenigen, der mit Kant das entscheidende Merkmal
einer echten Moral in der unbedingten, d. h. von aller Er-
fahrung unabhängigen und absoluten, d. h. von aller Zweck-
beziehung absehenden Gültigkeit der von ihr aufgestellten
Normen sieht, ein dringender Anlass vor, die in der vor-
liegenden Schrift für die Abweisung des apriorischen Charakters
des Sittlichen vorgebrachten Argumente auf ihre Stichhaltig-
keit zu prüfen!
Das Folgende enthält einen dahin gerichteten Versuch
und im Anschluss daran eine Andeutung darüber, wie die
von Kant in seiner Darlegung des ethischen Princips unserer
Meinung nach gelassene Lücke auszufüllen sein möchte.
Wir lassen zunächst eine Analyse desjenigen Teiles der
Zellerschen Schrift folgen, der für die vorliegende Frage in
Betracht kommt.
Herr Zeller beginnt mit dem historischen Nachweis der
Erweiterung, welche der Begriff des Gesetzes im Sprach-
gebrauch erfahren hat. Ursprünglich bedeutete es nur die
Norm des Handelns, und in diesem Sinne sprach man von
menschlichen oder göttlichen Gesetzen, die Naturordnung
aber, die wir nach dem heutigen Sprachgebrauch mit »Natur-
gesetz« bezeichnen, wurde noch von Demokrit, der die Not-
wendigkeit alles Geschehens anerkennt, dem »Gesetz« ent-
gegengestellt. Der Stifter der stoischen Schule war der erste,
der die Naturordnung mit »Naturgesetz« bezeichnet. Er sah
darin den Willen der weltschöpferischen Vernunft, und so
erscheint das Naturgesetz seiner Form nach nicht von einer
positiven Gesetzgebung durch einen göttlichen Willen ver-
schieden. Dem Inhalte nach fließen Natur- und Sittengesetz
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
39
in Eins zusammen, das Sittengesetz ist ein Naturgesetz des
menschlichen Handelns. Die Unklarheit, die hierin liegt,
erhielt sich im Altertum und Mittelalter; allgemein war die
Vorstellung herschend, dass die Naturgesetze positive Anord-
nungen eines göttlichen Willens seien, die derselbe auch
außer Kraft setzen könne. Erst seit dem 16. und 17. Jahr-
hundert wird als unterscheidendes Merkmal der Naturgesetze
ihre ausnahmslose Geltung erkannt.
Nunmehr geht der Verfasser dazu über, den Unterschied
der sittlichen Gesetze einerseits von dem Naturgesetz, andrer-
seits von den bürgerlichen Gesetzen zu präcisiren. Von den
letzteren unterscheiden sie sich darin, dass sie, ebensowenig
wie die Naturgesetze positive von den Menschen gegebene
Vorschriften sind, sondern durch sich selbst gelten, indem
sie aus der Natur dessen hervorgehen, worauf sie sich be-
ziehen. Von den Naturgesetzen sind die sittlichen Gesetze
darin verschieden, dass sie, gleich den bürgerlichen Gesetzen,
nicht Beschreibungen eines notwendigen Geschehens sind^
sondern nur das begründen, was geschehen soll, wie Kant
zuerst hervorgehoben hat. Die Begriffe nun, durch die der
Wille nach den sittlichen Gesetzen bestimmt wird, entspringen
nach Kant nicht aus der sinnlichen Natur des Menschen,
sondern aus seiner Vernunft und beziehen sich nicht auf die
Befriedigung seiner natürlichen Triebe, sondern lediglich auf
die Erfüllung einer Vernunftforderung. Gegen diese Unter-
scheidung des Sittengesetzes vom Naturgesetz ist von Schleier-
macher Einsprache erhoben worden. Bei ihm ist das Sitten-
gesetz nur eine Naturbeschreibung des sittlichen Lebens.
Was den Unterschied beider Gesetze in der Hinsicht anlange,
dass den Naturgesetzen unter allen Umständen, den Sitten-
gesetzen hingegen nicht immer, teilweise vielleicht niemals
Folge geleistet würde, so sei einerseits kein Sittengesetz als
solches anzuerkennen, dem niemand gehorchte, andererseits
komme auch den Naturgesetzen keine ausnahmslose Geltung
zu, wie die »Störungen« im Laufe der Natur, insbesondere
die pathologischen Störungen im Organischen beweisen. Zu
diesem bei einem Philosophen recht verwunderlichen Räsonne-
40 M. Hamburger,
ment bemerkt Herr Zeller treffend, dass die^hier behauptete
Gleichstellung des Sittengesetzes mit dem Naturgesetze nur
daher entspringe, dass die Begriffe beider nicht scharf ge-
fasst würden ; eine Abweichung der Einzelndinge von ihrem
Gattungsbegriff ist keine Abweichung von den Naturgesetzen
und ist nicht mit der Abweichung des Willens vom Sitten-
gesetz auf eine Linie zu stellen.
Indess meint Herr Zeller, dass Kant selbst eine Hand-
habe der Kritik geboten habe durch die Behauptung, dass
das Sittengesetz etwas als notwendig vorstelle, »was vielleicht
niemals geschieht«. Die Unterscheidung zwischen objectiver
und subjectiver Notwendigkeit, mit der sich Kant hier helfe,
sei nicht haltbar, denn die objective Notwendigkeit der sitt-
lichen Anforderung sei ja gerade auf die Willenstätigkeit
gerichtet und schließe insofern die subjective in sich. Hier-
gegen sei nur bemerkt, dass Kant dies gar wohl im Auge
hatte, wenn er auch beim Willen die Unterscheidung zwischen
reinem und empirischem Willen einführte.
Um für den fraglichen Unterschied zwischen Natur- und
Sittengesetz eine »haltbarere« Bestimmung als die kantische
zu gewinnen, weist zunächst Herr Zeller darauf hin, wie die
scheinbare Antinomie, dass Gesetzen, die mit dem Anspruch
auf Allgemeingültigkeit auftreten, die tatsächliche Wirklich-
keit in zahlreichen Fällen nicht entspricht, sich auf allen
Gebieten der menschlichen Tätigkeit wiederfinde. Die logi-
schen, mathematischen, technischen, ästhetischen Gesetze
werden nicht immer befolgt, und doch führen sie Notwendig-
keit bei sich. Hier habe man auf den verschiedenen Sinn, der
mit dem Ausdruck »Notwendigkeit« verbunden wird, zu achten.
Einmal werde er von Wirkungen gebraucht, die unter ge-
wissen Bedingungen ausnahmslos eintreten müssen, das andre
Mal von Mitteln, die angewandt werden müssen, wenn ein
gewisser Zweck erreicht werden soll. Im ersteren Falle seien
mit den Ursachen ihre Wirkungen immer und notwendig
gegeben, und daher haben die Naturgesetze stets tatsächliche
Geltung; durch eine Zwecksetzung hingegen sei die Aus-
führung dessen, wovon die Erreichung des Zwecks abhängt,
lieber das Princip der Sittlichkeit.
41
nicht verbürgt, werde über die tatsächliche Anwendung
jener Mittel nichts bestimmt, und diese Unsicherheit mache
die Notwendigkeit der praktischen Gesetze zu einem Sollen.
Ehe wir den weiteren Ausführungen des Verfassers folgen,
haben wir eine für die fernere Behandlung der Frage ent-
scheidende Bemerkung zu machen.
Mit Recht hat hier Herr Zeller auf den verschiedenen
Sinn, der mit dem Worte Notwendigkeit verbunden wird,
die Aufmerksamkeit gelenkt und damit einen Punkt berührt,
der schon viel Verwirrung angerichtet hat. Nur finden wir
die im Vorstehenden gemachte Unterscheidung nicht er-
schöpfend, da eines gewissen sehr wesentlichen Gebrauchs
des Ausdrucks Notwendigkeit, der auf allen Gebieten des
exacten Wissens seine eigentliche Stätte hat, gar nicht ge-
dacht ist. Herr Zeller geht von der Ansicht aus, dass alle
Notwendigkeit, die den Sätzen der verschiedenen Wissen-
schaften zu Grunde liege, in einer Zweckbeziehung bestehe,
da in ihnen gewisse Gesetze vorgeschrieben seien, die zu
befolgen wären, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen.
Nun enthält wohl jeder vollständige Lehrgang einer Wissen-
schaft neben dem theoretischen auch einen praktischen Teil,
in dem gewisse Regeln für die Anwendung gegeben werden,
und hier ist allerdings die Zweckbeziehung maßgebend, aber
dies gilt keineswegs für den theoretischen Teil, und die
Notwendigkeit, die man den in diesem Teile vorgetragenen
Sätzen zuschreibt, bedeutet eine Allgemeingültigkeit, die von
der Naturnotwendigkeit und jener andern durch die Rück-
sicht auf einen zu verwirklichenden Zweck entspringenden
Notwendigkeit gleich sehr verschieden ist, sie heißt Richtig-
keit, eine Bezeichnung, die der Verfasser bei Gelegenheit
der logischen Gesetze auch gebraucht, jedoch nur, um sie
der Naturnotwendigkeit gegenüberzustellen, während ihr
ebenso wesentlich jede Zweckbeziehung fremd ist. Es ist
verwirrend, wenn die Erforschung der Wahrheit mit den
auf ein bestimmtes Ergebnis gerichteten Tätigkeiten in eine
Linie gestellt wird, als würde in beiden Fällen von einem
bestimmten Zweckbegriff ausgegangen. Ist es doch eine
42
M. Hamburger,
bekannte Vorbedingung für die Erkenntnis des Wahren, beim
Forschen von jeder bestimmten Zweckvorstellung zu ab-
strahlen. Es ist gerade charakteristisch für das Wahre,
dass es als gesuchtes noch unbekannt ist, dass wenn eine
Vermutung oder ein Wunsch uns für ein bestimmtes Er-
gebnis geneigt machen sollte, diese vorgefasste Parteinahme
von jedem Einfluss auf die Untersuchung fern zu halten ist,
damit die Wahrheit lediglich nach objectiv gültigen Erkennt-
nisgründen entschieden werde. Allerdings lässt sich sehr oft
ein bestimmter Zweck angeben, der uns die Anstellung einer
Untersuchung auf einem gewissen Gebiete zur Aufgabe macht,
es handle sich nun um einen äußeren Gegenstand, z. B. um
die bestimmte Verwendung eines Stoffs, wozu die Prüfung
seiner chemischen Bestandteile erforderlich ist, oder es gelte
die Bestätigung einer Vermutung in irgend einer Frage ; dann
wird aber der Zweck, der die Untersuchung nach einer ge-
wissen Richtung veranlasst hat, nicht auch das Resultat
derselben beeinflussen dürfen, sondern hier muss ohne Rück-
sicht auf den vorschwebenden oder irgend welche andere
Zwecke aus dem Object der Untersuchung selbst, sei es durch
Anwendung richtiger Schlüsse oder durch neue zutreffende
Combinationen die Wahrheit gewonnen werden. Will man
nun die erlangte Erkenntnis der Wahrheit mit Herrn Zeller
als Zweck der Untersuchung bezeichnen, so ist das dem
Sprachgebrauch unstreitig gemäß, aber zur Verhütung jeder
begrifflichen Verwirrung möchten wir den als ein bekanntes
Ziel uns vorschwebenden Zweck allein mit diesem Namen
bezeichnen. Demnach würde die vor der Kenntnis der
Wahrheit angebbare Veranlassung der Untersuchung
Zweck derselben heißen, die Erkenntnis der Wahrheit aber
ihr Erfolg, der, wenn es mit der Forschung ehrlich zugegangen
ist, dem Zwecke, um dessentwillen sie unternommen ist, je
nach den Umständen, wohl oder übel entsprechen mag. Im
Falle, dass ein solcher vorhergehender Zweck nicht angebbar
ist, sondern die Untersuchung lediglich um der Wahrheit
willen angestellt ist, würde dieselbe überhaupt des Zwecks
— in dem eben fixirten Sinne des angebbaren Zieles —
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
43
entbehren. Entlehnt so die Notwendigkeit, die zur Erkenntnis
der Wahrheit führt, nichts von einer Zweckbeziehung, so
setzen wir sie nichtsdestoweniger ebenso entschieden — darin
mit Herrn Zeller übereinstimmend — der Naturnotwendigkeit
— der notwendigen Wirkung aus bestimmten Ursachen —
entgegen. Die notwendige Beziehung, die auf (^em Gebiete
der Erkenntnis waltet und unbedingte Geltung beansprucht,
ist die zwischen Erkenntnisgrund und Folge. Der charak-
teristische Gegensatz zwischen diesem Verhältnisse und dem
Gausalzusammenhange, wie wir ihn in der Naturordnung
voraussetzen, besteht darin, dass die richtige Folgerung gegen-
über der falschen durch kein zwingendes Gesetz tatsächlich
geschützt ist, sondern die Allgemeingültigkeit der ersteren
auf der freien Anerkennung der vernünftigen Wesen beruht,
denen es um die Wahrheit allein zu tun ist. Zwar stehen
alle geistigen Acte des Menschen, als eines Gliedes der
Naturordnung, unter dem Einflüsse von Naturgesetzen, aber
die Berufung auf diese entscheidet nichts über die ob-
jective Gültigkeit dieser Acte. Nach Naturgesetzen werden
aus denselben Voraussetzungen richtige und falsche Schlüsse
gemacht, aus denselben Daüs der Erfahrung durch ver-
schiedene Combinationen falsche und richtige Ergebnisse ge-
wonnen, je nach der psychologischen Beschaffenheit des diese
Acte vollziehenden Subjects und den tatsächlichen Beding-
ungen, unter denen diese Tätigkeit vor sich geht. Es ist
nämlich keineswegs, wie fälschlich angenommen wird, beim
natürlichen Gedankenprocess sowie bei der Beurteilung eigner
oder fremder Gedankenproducte nach dem natürlichen Lauf
der Vorstellungen auf objectiv gültige oder wahre Fest-
stellungen abgesehen, sondern es handelt sich dabei nur um
einen Act, der eine Strebung des vernünftigen Subjects zum
Ausdruck bringt, und dessen Product festgehalten oder ver-
worfen wird, je nachdem es dem Subjecte zusagt oder miss-
fällig ist. Die weitere Prüfung über dieses subjective Moment
hinaus nach seinem absoluten Gehalt, welcher in der objectiven
Wahrheit oder Unwahrheit desselben besteht, enthüllt ein
in dem Gedanken als Naturerzeugnis nicht enthaltenes neues
44
M. Hamburger,
Moment, das, da es über seine Naturbestimmung hinausweist,
sein ideales heißen möge. In diesem Betracht und in der
ferneren Erwägung, dass das Kriterium für die Richtigkeit
einer Gedankenverknüpfung auch aus keinerlei Interesse des
denkenden Subjects oder aus irgend einem fremden Interesse,
es möge sich als gesellschaftliches oder humanitäres auf-
dringen, entnommen werden kann, sondern allein aus der
Qualität des Gedachten sich ergeben muss, statuiren wir
die Autonomie des richtigen Gedankens in dem Sinne,
dass er seine Gültigkeit durch sich selbst verbürgt, sein
Kriterium und damit das Gesetz seiner Competenz und Trag-
weite in sich selbst trägt. Ja die Naturgesetze selbst, die
an der Hand der Erfahrung zwar, aber doch nur durch eine
richtige Deutung derselben ergründet werden, erhalten den
Stempel ihrer Gültigkeit erst durch die Autonomie der rich-
tigen Gedanken. Wir erinnern hierbei an die auch von
Lotze gemachte Bemerkung, dass die Gewissheit der allge-
meinen Geltung eines Satzes, der Inhalt mag eine einzelne
Tatsache oder allgemeine Zusammenhänge betreifen, nicht
vom Ursprung der Erkenntnis, ob und inwieweit derselbe
empirisch sei, abhänge, so dass diese erkenntnistheoretischen
Fragen hier unberührt bleiben können.
Die Forderung nun, das Wahre vom Falschen zu unter-
scheiden und bei der Ermittelung oder Beurteilung einer
Wahrheit objectiv zu verfahren, mithin jede Rücksicht auf
irgend welche Interessen oder Zwecke bei Seite zu lassen,
tritt eben dadurch nicht als Forderung notwendiger Mittel
zu irgend einem Zwecke, sondern an und für sich auf, und
da sie, als eine ideale, durch den causalen Zusammenhang
der natürlichen Vorgänge keine Gewähr für ihre tatsächliche
Erfüllung erhält, so trägt die Notwendigkeit, die wir für die
Anerkennung des Wahren beanspruchen, den Charakter eines
Sollens ohne jede Zweckbeziehung. Wie wir uns
erinnern, hat hingegen Herr Zeller die Notwendigkeit alles
Sollens, darunter auch die unbedingte Gültigkeit bean-
spruchenden logischen und mathematischen Gesetze lediglich
aus der Beziehung zu einem Zwecke hervorgehen lassen und
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
45
also diese Gesetze in eine Linie mit den praktischen Vor-
schriften gestellt, die in der Tat die Mittel zar Erreichung
bestimmter Zwecke angeben.
»Diesen Charakter des Sollens«,1 sagt Herr Zeller weiter,
»teilen nun die sittlichen Gesetze mit den übrigen praktischen
Gesetzen. Auch bei ihnen muss daher die Notwendigkeit*
welche sie in dieser Form ausdrücken, in einer Zweckbe-
ziehung bestehen.« . . . »Kant räumt dies allerdings nicht
ein : Das Sittengesetz soll sich, wie er sagt, von allen anderen
praktischen Gesetzen gerade dadurch unterscheiden, dass es
unmittelbar ohne Beziehung auf den durch unser Verhalten
zu erreichenden Erfolg, als kategorischer Imperativ gebiete,
während jene die Tätigkeiten, die sie fordern, nur als Mittel
zur Glückseligkeit oder sonst einem außer ihnen selbst
liegenden Zweck verlangen, nur »hypothetische Imperative«
seien.« In der Tat sind wir hier an dem Gardinalpunkt der
Frage angelangt. Weil die sittlichen Gesetze mit den übrigen
praktischen Gesetzen den Charakter des Sollens gemeinsam
haben, daraus allein folgt eben noch nicht, wie Herr Zeller
behauptet, dass auch die ersteren wie die letzteren auf einer
Zweckbeziehung beruhen, dass also die sittlichen Gesetze eine
bestimmte Richtung des Wollens und Handelns nur deshalb
verlangen, weil »die Erreichung gewisser in der Natur des
Menschen begründeter Zwecke durch dieselbe bedingt ist«.
Haben wir doch im Vorigen eine Art des Sollens kennbar
gemacht, deren unbestrittener Anspruch auf Gültigkeit auf
keinerlei Beziehung zu irgend einem Zweck gegründet ist ! —
Der Ausschließung jedes Zwecks vom Moralprincip seitens
Kants tritt Herr Zeller noch mit folgendem Einwand entgegen:
»Aber irgend einen Zweck hat doch jedes Handeln, denn
Handeln heißt eben: eine Tätigkeit ausüben, durch welche
ein Zweck verwirklicht werden soll. Die Vorstellung dieses
Zwecks bildet das Motiv, die aus denselben sich ergebenden
Hegeln bilden das Gesetz des Handelns.«
Dass jedes Handeln einen Zweck habe, ist eine unbe-
1 S. 20
46
M. Hamburger,
streitbare psychologische Tatsache. Ohne irgend ein Interesse
könnte, wie weiterhin Herr Zeller sehr einleuchtend ausführt,
unser Wille nicht in Bewegung gesetzt werden, und dieses
Interesse bestimmt die Richtung des Handelns. Aber die Frage
ist, ob die Regeln, die sich aus dem vorgestellten Zweck für
das Handeln als geeignete Mittel zu demselben ergeben, das
alleinige Gesetz des Handelns bilden sollen, wie Herr Zeller
erklärt, oder ob nicht noch ein anderes Moment — das sitt-
liche — sich geltend macht, vermöge dessen, unangesehen des
Zwecks, das unsern Willen in Bewegung setzt, nach einem
eigenen Princip an die Beschaffenheit des Handelns un-
bedingte Anforderungen erhoben werden, dergestalt, dass
durch sie die Wahl der Mittel auf die Angemessenheit zu
diesem Princip eingeschränkt wird.
Kant fasst bekanntlich das Moralprincip in der Forderung
zusammen, so zu handeln, dass die Maxime unseres Willens
jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne. Herr Zeller sucht nun zu zeigen, dass hier-
durch gleichwohl nicht die Abhängigkeit der sittlichen Ge-
setze von den Zwecken beseitigt werde, denn jene Forderung
gründe sich doch nur auf die Erwägung, dass wir als Ver-
nunftwesen nach keinem andern Princip handeln können,
es werde uns also vorgeschrieben, das durch unsere ver-
nünftige Natur geforderte Handeln uns zum Zwecke zu setzen.
Man wird aber zugeben, dass »nach einem Princip handeln«
und »mit Rücksicht auf einen näheren oder entfernteren
Zweck handeln« doch nicht einerlei Dinge sind und dass
»die Erfüllung einer Forderung sich zum Zweck setzen«
wiederum etwas anderes bedeutet, als dass die Forderung
selbst ihre Gültigkeit auf irgend einen zu erreichenden Zweck
gründe. Wenn Herr Zeller endlich sich darauf beruft, dass
Kant selbst sein Princip in dem Sinne der Zweckbeziehung
erläutere, da er ihm auch den Ausdruck gibt : jedes vernünftige
Wesen müsse so handeln, als ob es durch seine Maximen
ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reich der Zwecke
wäre — so ist darauf zu erwidern, dass nach dem ganzen
Zusammenhange, in dem von diesem fingirten Reich der
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
47
Zwecke die Rede ist, der Zweck so wenig auf ein Object
des Willens deutet, dass vielmehr, wie wiederholt und nach-
drücklich hervorgehoben wird, unter Zweck hier gar nichts
anderes als das vernünftige Wesen selbst als Subject des
Sittengesetzes verstanden werden soll. Dieses wird als Zweck
an sich bezeichnet, gerade um alle erdenklichen Zwecke
auszuschließen, für die als Objecte des Wollens »das Subject
der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst, niemals bloß
als Mittel«1 soll gebraucht werden. Man wird diese W endung
mit Recht paradox finden und Kant selbst fasst seine Er-
örterungen des angeführten zweiten Ausdrucks für sein
Princip in den Worten zusammen:
»Und hierin liegt eben das Paradoxon: . . . dass
gerade in dieser Unabhängigkeit der Maxime von allen
solchen Triebfedern ... die Würdigkeit eines jeden ver-
nünftigen Subjects bestehe, ein gesetzgebendes Glied im Reiche
der Zwecke zu sein.«2
Wir bemerken übrigens, dass Kant in der später er-
schienenen Kritik der praktischen Vernunft von dem ge-
nannten zur Erläuterung der Sache nicht eben glücklich ge-
wählten anderen Ausdruck für die Formulirung des Moral-
princips keinen Gebrauch gemacht hat.
Herr Zeller ist nun im Gegensatz zu Kant der Meinung,
dass die Aufgabe nicht darin bestehe, einen Ausdruck für
das Sittengesetz zu finden, durch welchen die für unser
Handeln vorgeschriebenen Bedingungen von keinerlei Zweck-
vorstellung abgeleitet werden, sondern dass es sich bei der
Frage nach den Gründen und dem Inhalt der sittlichen Ver-
pflichtung gerade um die Bestimmung der Zwecke, auf die
sich unser Wille zu richten habe, an erster Stelle handle.
Das Merkmal, welches Kant für die sittliche Anforderung
aufs nachdrücklichste betont hat, dass sie nämlich ihrem
allgemeinen Princip nach für alle Vernunftwesen überhaupt
gelte, erkennt auch Herr Zeller als richtig an, nur habe sich
Kant »durch dessen augenfällige Wichtigkeit« zu dem ver-
1 S. 68. Kants Werke, Rosenkranzsche Ausg. Bd. VIII.
2 S. 69 ib.
48
M. Hamburger,
fehlten Versuche verlocken lassen, den ganzen Inhalt des
Sittengesetzes aus ihm abzuleiten. Denn um für den Menschen
zu gelten, müssten noch die näheren Bestimmungen hinzu-
treten, welche dieses Princip unter den besonderen Be-
dingungen der menschlichen Natur erhalte. Die Forderung,
dass alle unter den gleichen Umständen die gleiche Willens-
richtung einschlagen, sei nur dann gerechtfertigt, wenn es
Zwecke gebe, deren Verfolgung in der menschlichen Natur
als solcher begründet sei. Die Frage sei daher: Was für
Zwecke sind es, die durch die Natur des Menschen in der
Weise vorgezeichnet sind, dass deren Erreichung für alle
Menschen ohne Ausnahme von Wert ist?1
Lassen wir es einstweilen dahingestellt, ob die Frage nach
der Existenz und Beschaffenheit der durch die Natur des
Menschen vorgezeichneten für alle Menschen ohne Ausnahme
gültigen Zwecke eine jeden Widerspruch ausschließende Be-
antwortung zulasse, und halten wir uns zunächst an das Zu-
geständnis des Herrn Zeller, dass die Gültigkeit des sittlichen
Princips für alle Vernunftwesen überhaupt ein Merkmal des-
selben und zwar ein solches von augenfälliger Wichtigkeit
sei: war es da nicht eine der Nachforschung höchst würdige
und für die Klärung des Gegenstandes höchst nötige Aufgabe,
zu versuchen, wieviel sich aus diesem Merkmal allein schließen
lasse? Durfte man nicht aus dieser Betrachtung, wenn sie
zu einem Ergebnis führte, die wertvollsten Aufschlüsse über
die Natur des Sittlichen erwarten?
Wie nun, wenn sich Kant gerade diese Aufgabe gestellt
hätte? Es mag mit unserer Einsicht in die durch die Ein-
richtung der menschlichen Natur vorgeschriebenen Zwecke
die Bewandnis haben welche sie wolle; von den Zwecken
aller vernünftigen Wesen überhaupt durfte sich wohl nie-
mand getrauen, auch nur das mindeste Wissen zu besitzen.
Musste daher nicht bei der Bestimmung einer für alle Ver-
nunftwesen gültigen Norm von vorn herein jede Rücksicht
auf irgend einen Zweck ausgeschlossen werden? Was lag
1 S. 22.
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
49
nun näher als die so fruchtbare Einteilung der Principien
in autonome und heteronome, von denen die ersteren den
Werturteilen zu Grunde liegen, die ohne Beimischung von
Zweckbetrachtungen über unsere Willenshandlungen gefällt
werden, letztere solchen Urtheilen, die den Wert der Hand-
lungen nach ihrer Tauglichkeit zu gewissen Zwecken be-
messen? War es dann nicht für die Präcisirung des sittlichen
Begriffs ein nicht hoch genug anzuschlagender Gewinn, die
ersteren Principien allein als die rein sittlichen zu bezeichnen
und die übrigen unbeschadet ihrer Berechtigung für Wert-
schätzungen in anderem Betracht in eine besondere Klasse
unter dem Namen der Güter- oder Glückseligkeitslehre zu
verweisen? Dies entsprach denn auch auf das glücklichste
dem tatsächlichen Gebrauch in unseren sittlichen Wert-
urteilen, die sich stets auf dasjenige in den Handlungen
beziehen, was einer unmittelbaren Evidenz fähig ist, und
das sind nicht die letzten Zwecke, auf die es der Handelnde
abgesehen haben will, oder die der Urteilende im Auge hat
— der Streit darüber kann unaufgelöst bleiben. Wohl aber
haben die Voraussetzungen und Umstände, unter denen die
Handlung erfolgt, die Gewissheit einer Tatsache; und was
aus der Erwägung der ihren Inhalt bildenden Gedanken mit
Absehen von persönlichen Interessen aller Art unmittelbar
nach reinen Erkenntnisgründen für die Beurteilung der
Handlung resultirt, dem allein schreiben wir für alle Ver-
nunftwesen Gültigkeit zu, darüber allein rechten wir mit dem
Handelnden. Ein Beispiel möge dies erläutern.
Es handele sich um die Beurteilung einer Eigentums-
verletzung in einem Gemeinwesen. Dass der nächste Zweck,
der daraus erwartete Gewinn, oder worin auch das subjektive
Motiv bestehen mag, hier nicht in Betracht kommt, darüber
herscht kein Zweifel, aber auch die Frage, ob nach der
Einrichtung der menschlichen Natur die Verletzung des Eigen-
tums mit dem Wohle der Menschheit, mit den durch die
Natur des Menschen vorgezeichneten Zwecken verträglich ist
oder nicht, kann hier unentschieden bleiben. Allein gewiss
ist, dass der Schulz des Eigentums die Voraussetzung des
Zeitschrift für Völkerpsycli. und Sprachw, Bd. XVf. 1. 4
60
M. Hamburger,
Gemeinwesens bildet, in dem sich der Handelnde befindet.
Gleichviel welcher Ansicht er über die sociale Frage des
Eigentums huldigen mag, und die er bei Aufrichtung eines
neuen Gemeinwesens zu verwirklichen streben möchte —
durch sein Verbleiben in der Gesellschaft erkennt er die
Vereinbarung über den gegenseitigen Schutz des Eigentums
tatsächlich an. In dieser Anerkennung ist wie der besondere
Fall im allgemeinen die Unzulässigkeit dieser bestimmten Ver-
letzung des Eigentums enthalten. Die Evidenz, die hierin
liegt, kann in den Augen des Handelnden durch das persön-
liche Interesse, das ihn beherscht, verdunkelt werden, das
sittliche Urteil aber wird grundsätzlich mit Absehen von
jedem persönlichen Interesse gefällt. Bei dieser Abstraction
aber tritt die Evidenz zu Tage. Tritt diese Abstraction bei
dem Handelnden selbst nach der Tat ein, so stimmt er selbst
dem Urteile zu, und das ist dann der Ausspruch seines Ge-
wissens. Selbst in dem besondern Falle, dass er für sich
geltend machen wollte, er hätte z. B. bei Entwendung von
Büchern das im Auge gehabt, was Herr Zeller als letzten
Zweck für den Menschen bezeichnet, nämlich die Ausbildung
und Betätigung seiner geistigen Kräfte, so würde dies an der
Verwerflichkeit der Handlung nichts ändern, da diese eben
nicht aus den Zwecken, sondern aus den gegebenen Be-
dingungen begründet wird. Der Anspruch auf die Gültigkeit
des verwerfenden Urteils erstreckt sich hier in der Tat auf
alle Vernunftwesen. Ob bei den anders wie wir gearteten
Vernunftwesen so etwas wie Eigentum überhaupt einen Sinn
habe, darüber können wir natürlich nichts ausmachen. Aber
gewiss ist, dass wo irgend bei ihnen dieselben Voraussetzungen
gelten, wie sie hier angenommen sind, und der nämliche
Fall vorliegt, das gleiche Urteil erfolgen muss. Es sei hier
erlaubt, auf ein analoges Verhältnis in einem andern Gebiete
hinzuweisen. Ob alle Vernunftwesen eine Raumvorstellung
überhaupt haben und, wenn das der Fall ist, der Raum bei
ihnen die Eigenschaften hat, die für unseren Raum die tat-
sächlichen Grundvoraussetzungen bilden, wird billig be-
zweifelt; aber die Gültigkeit unserer geometrischen Lehrsätze,
Üeber das Princip der Sittlichkeit.
51
wie etwa des pythagoräischen, unter diesen Voraus-
setzungen ist eine uneingeschränkte für alle Vernunftwesen.
Hier ist auch wohl gerade der schickliche Ort, genau
die Stelle anzuweisen, die denjenigen, nach Kant heteronomen,
Principien gebührt, die trotz der eindringlichsten Warnung
Kants1 doch beharrlich vor wie nachher in den Moralsystemen
auftreten. Die sittlichen Anforderungen sind dadurch aus-
gezeichnet, dass sie bei jeder einzelnen Handlung mit dem
Anspruch auf unbedingte Gültigkeit auftreten, dagegen ent-
halten sie keine positive Bestimmung über die Voraussetzungen
selbst, aus denen die sittlichen Consequenzen fließen, da
nämlich aus einem sittlich gleichgültigen Dinge, wie es z. B.
ein Vertrag seiner Existenz und im allgemeinen seinem In-
halte nach ist, sittliche Verhältnisse geschaffen werden.
Daher liefern sie auch nicht die Principien für die positiven,
geschriebenen und ungeschriebenen, Gesetze, die eine be-
stimmte Willensrichtung vorschreiben und damit die Data
schaffen, an denen sich die sittlichen Grundsätze wirksam
erweisen können.
Heben wir nun von diesen Gesetzen diejenigen allein
heraus, die für jeden Menschen als solchen gelten sollen, so
wird man Herrn Zeller darin beistimmen, dass die Principien
hierzu von den Zwecken entnommen werden müssen, deren
1 Es geschieht dies an vielen Stellen, die Hauptstelle sei hier an-
geführt:
Bei der Absicht, dazu (zur Auffindung des sittlichen Imperativs) zu
gelangen, ist es von der äußersten Wichtigkeit, sich dieses zur Warnung
dienen zu lassen, dass man es sich ja nicht in den Sinn kommen lasse,
die Realität dieses Princips aus der besonderen Eigenschaft der
menschlichen Natur ableiten zu wollen. Denn Pflicht soll prak-
tisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein; sie muss also für
alle vernünftige Wesen und allein darum auch für allen menschlichen
Willen ein Gesetz sein. Was dagegen aus der besonderen Naturanlage
der Menschheit, was aus gewissen Gefühlen und Hange, ja sogar, wo
möglich, aus einer besonderen Richtung, die der menschlichen Vernunft
eigen wäre, und nicht notwendig für den Willen eines jeden vernünftigen
Wesens gelten müsste, abgeleitet wird, das kann zwar eine Maxime für
uns, aber kein Gesetz abgeben . . S. 52 a. a. 0.
4*
52
M. Hamburger,
Verfolgung in der menschlichen Natur begründet sind. Da
es hier sich um die Bewirkung des höchst möglichen Gutes
für die Menschen handelt, so ist es die eigentliche Aufgabe
der bezüglichen Doctrin, die verschiedenen Werte der durch
die menschliche Natur bedingten Bedürfnisse, leiblichen und
geistigen, vorübergehenden und dauernden gegeneinander
abzuwägen, um ihr richtiges Verhältnis zu einander zu be-
stimmen und demgemäß für die fraglichen praktischen Vor-
schriften die Principien festzusetzen. Diese sind denn nichts
anderes als die wissenschaftliche Form, in der wir die tat-
sächlichen Wertschätzungen, wie sie sich auf Grund der ge-
machten Erfahrungen erkennen lassen, zusammenfassen, also
wesentlich die Beschreibung eines Geschehens und daher
zugleich ein Merkzeichen für den erreichten Culturstandpunkt.
Sie sind einer stetigen Berichtigung bedürftig, die auf dem
Boden der Erfahrung zu erfolgen hat, wobei gerade die
sittlichen Consequenzen, welche die aus jenen Principien her-
vorgegangenen Gesetze in jedem einzelnen Falle nach sich
ziehen, die triftigste Veranlassung geben, im Hinblick auf die
dabei gewonnenen neuen Erfahrungen die früheren Wert-
abschätzungen menschlicher Zwecke einer erneuten Prüfung
zu unterziehen und danach eventuell die Principien, die den
Gesetzen zu Grunde gelegt wurden, zu modificiren.
Wenn nämlich vorhin gesagt wurde, dass die sittlichen
Grundsätze keine positive Bestimmung für die Principien
zur Gesetzgebung liefern, so sollte hiermit nur dem sittlichen
Princip ein schöpferischer Einfluss auf unseren Willen abge-
sprochen werden, der schon dadurch ausgeschlossen ist, dass
es im Sittlichen auf keinerlei zu verwirklichende Zwecke
abgesehen ist. Wohl aber wird in den sittlichen Anfor-
derungen eine negative Bestimmung für die in Rede stehenden
Principien enthalten sein, die ihren disciplinirenden Ein-
fluss ausdrückt, nämlich die Bedingung, dass die Güter, auf
deren Erreichung die letzteren mittelst der Gesetze unseren
Willen hinzulenken beabsichtigen, nur und gerade unter der
Voraussetzung unseres sittlichen Verhaltens, also als eine
sittliche Gonsequenz derselben sich ergeben. So wird vom
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
53
sittlichen Standpunkte eine der vornehmlichsten Bestimmungen
dahin ergehen, dass, da die Principien, die nach den ver-
schiedensten Gesichtspunkten aus dem unendlichen Bereiche
der menschlichen Lebenszwecke entnommen sind, von vorn
herein keine durchgängige Einhelligkeit erwarten lassen, die
Vorschriften, in denen sie ihren Ausdruck finden, keinen
offenbaren oder versteckten Widerstreit miteinander enthalten,
was die Calamität sittlicher Gonflicte zur Folge haben würde,
so dass nur mit Bedrängung des sittlichen Gewissens das
erstrebte Gut erreicht werden könnte. Einer der Lebens-
zwecke ist natürlich auch die sittliche Bildung selbst; aber
es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch für dieses ge-
wiss in erster Linie stehende Gut, insofern seine Erlangung
die Gunst von Zeit und Umständen erfordert, die Wahl der
Mittel hierzu, wie bei jedem anderen Gut, auf die Bedingung
der Einstimmung mit dem sittlichen Gesetz eingeschränkt ist,
das eben für jede vorliegende Handlung ausnahmslose Geltung
mit ernstlichem Absehen von jedem Zwecke beansprucht.1
Einen Gewinn der Absonderung der reinen Moral, die
es mit unbedingt gültigen, für sich evidenten Principien zu
tun hat, von der Güterlehre, deren Aufgabe es ist, die in
der Natur des Menschen begründeten Zwecke und deren
relative Werte nach Anleitung der Erfahrung auf Principien
zu bringen, mag man schon darin erkennen, dass sie ge-
stattet, einen beliebten Einwand bündig zu widerlegen, welcher
gegen die Allgemeingültigkeit sittlicher Gesetze überhaupt
1 Kant hat dafür das schöne Wort von der moralischen Würdig-
keit, als Bedingung zur Erlangung der höchsten Glückseligkeit. Auch
gehört hierher der Göthesche Vers voll köstlicher Ironie:
Ihr edlen Deutschen wisst noch nicht,
Was eines treuen Lehrers Pflicht
Für euch weiß zu bestehen;
Zu zeigen, was moralisch sei,
Erlauben wir uns frank und frei
Ein Falsum zu begehen.
Hierzu haben wir Recht und Titel,
Der Zweck heiligt die Mittel.
54
M. Hamburger,
daraus entnommen wird, dass die Moral zu verschiedenen
Zeiten und bei den verschiedenen Völkern so bedeutende
Abweichungen aufweise, die teilweise bis zum diametralen
Gegensatz sich erweitern. Hiergegen ist daran zu erinnern,
dass zu allen Zeiteil und aller Orten der Bruch eines gültigen
Vertrages verwerflich erschienen ist, dass die Forderung, die
Ablegung eines Zeugnisses solle auf Wahrheit beruhen, die
Verwaltung eines Amts solle ohne Ansehen der Person nur
nach Maßgabe der sachlichen Erfordernisse in Ueberein-
stimmung mit den geltenden Gesetzen geführt werden, so
wenig wie die Zuwiderhandlungen gegen diese sittlichen
Vorschriften auf eine Nation oder ein Zeitalter beschränkt
gewesen sind. Die Evidenz dieser Pflichten erhellt nämlich
unmittelbar mit der Einsicht dessen, was ein Vertrag, ein
Zeugnis, die Pflege eines Amts überhaupt bedeute. Wenn
trotzdem die Moral unter den verschiedenen Culturbeding-
ungen in den Sitten und Gesetzen ein so auffallend verschie-
denes Ansehen zeigt, so erkennt man leicht, dass die Ab-
weichungen zumeist auf einer verschiedenen Auffassung von
den Gütern des Lebens beruhen. Bei der hergebrachten
Principlosigkeit, mit der die Gesammtheit der hieraus ent-
springenden Vorschriften ohne Unterschied zur Moral ge-
rechnet wurde, geriet die auf evidenten Principien beruhende
Lehre der reinen Moral in Ansehung ihrer Gültigkeit in den
gleichen Ruf des Unsicheren und Transitorischen mit den
andern der Rücksicht auf irgend welche Zwecke entstammenden
Vorschriften, und so hatten die Leugner einer Moral von
absoluter Geltung mit der Verteidigung ihres Standpunktes
leichtes Spiel. Hält man aber an der hier vorgenommenen
principiellen Scheidung fest, so sind die Lehren der durch
diese Läuterung hergestellten reinen Moral von unveränder-
licher Geltung und haben von einer fortschreitenden Einsicht
keine Correctur, wenn auch Erweiterung, zu gewärtigen.
Was auf dem Wege begrifflicher Entwicklung einmal als
Verbindlichkeit zur Evidenz gebracht ist, bleibt gültig für
alle Zeiten. Die reine Moral ist hierin in gleichem Falle mit
der Mathematik, da auf jeder Stufe der Erkenntnis allgemein-
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
55
gültige, als die Gewissheit in sich selbst tragende, Sätze zu
erwerben sind; und der Fortschritt besteht nicht in der Um-
stoßung der alten Sätze in Folge vermeinter besserer Er-
fahrung, sondern in der Erweiterung der Erkenntnis, die mit
der Entwicklung der Wissenschaft auf methodischem Wege
gewonnen wird. In den oben herangezogenen Beispielen ist
der begriffliche Zusammenhang zwischen den Voraussetzungen,
unter denen der Handelnde steht, und der geforderten Hand-
lung für den elementarsten intellectuellen Standpunkt ein-
leuchtend und die dahin gehörigen Pflichten machen sich
daher überall geltend, soweit nur die Spuren der Intelligenz
reichen. Mit der fortschreitenden Einsicht aber werden immer
tiefer liegende Gedankenzusammenhänge erkennbar und der
größeren Schärfe des sittlichen Urteils entspricht die Steigerung
der sittlichen Anforderungen, ohne dass das Gewicht der auf
einer früheren Stufe erkannten sittlichen Grundsätze gemindert
wird. Anders mit der Güterlehre. Diese, als eine Erfahrungs-
wissenschaft, ist fortwährender Berichtigung unterworfen und
hat ein veränderliches Gepräge je nach der Zeit und den
Umständen. Die Sitten und Gesetze, die die Principien dieser
Disciplin zum Ausdruck bringen und zugleich die geeigneten
Mittel für die Erlangung der als wertvoll geltenden Zwecke
festsetzen, sind einesteils ein Maß der erreichten Culturstufe,
andererseits das Product der geschichtlichen und örtlichen
Verhältnisse der Nation, für die sie gelten.
Die Auffindung der Formel für den kategorischen Im-
perativ, in der Kant der Unabhängigkeit der sittlichen
Forderungen von empirischen Bestimmungsgründen und
heterogenen Zwecken aller Art einen allgemeinen Ausdruck
gegeben hat und damit die jedem sittlichen Urteile zu Grande
liegende Vorstellung von der Reinheit und Würde der Moralität
zur Klarheit des Begriffes erhob, ist sicherlich der größte Schritt,
der auf dem Felde der moralischen Erkenntnis getan worden
ist, seitdem Sokrates zuerst die Ethik auf begriffliche Entwick-
lungen gegründet und dadurch in die Reihe der Wissenschaften
eingeführt hatte. Obwohl nun aber die Vorschrift, so zu
handeln, dass die Maxime unseres Willens sich zum Princip
56
M. Hamburger,
einer allgemeinen Gesetzgebung eigne, unserem sittlichen
Bewusstsein in der Hinsicht gerecht wird, dass sie in ihrer
Gültigkeit keiner einschränkenden Bedingung unterworfen ist
und sich bei dem Gebrauche in sittlichen Beurteilungen als
trefflicher Prüfstein bewährt : so können wir doch die Lösung
des ethischen Problems, soweit es das oberste Princip aller
sittlichen Werturteile betrifft, noch nicht als abgeschlossen
betrachten. Es bleibt zu unserer völligen Befriedigung noch
aufzuklären, was den Wert einer jener Vorschrift gemäßen
Handlungsweise ausmacht. Der Umstand allein, dass der
Bestimmungsgrund in ihr von allen subjectiven Antrieben
unabhängig ist, und dass die reine Vernunft sich hier gesetz-
gebend erweise, worauf Kant sich in allen seinen Erläuterungen
zu Gunsten seines Princips beruft, ist zur Ueberzeugung von
seinem Werte nicht hinreichend. Denn einerseits sind die
aus empirischen Zweckbetrachtungen abgeleiteten Werte nicht
darum etwa Unwerte ; wir verwerfen sie nur als zur Grund-
lage streng sittlicher Werturteile ungeeignet, weil sie hetero-
nomen Ursprungs und von relativer Geltung sind, und wir
als sittliche Normen Werte auf autonomer Grundlage und
von absoluter Geltung suchen. Vor allen Dingen aber müssen
diese als Werte überhaupt einleuchten. Andrerseits hat
uns Kant selbst im Theoretischen gegen die reine Vernunft
so misstrauisch gemacht und im Praktischen sollen wir ihr
mit einem Male so blindlings vertrauen, dass wir ihren
Aussprüchen kritiklos unsere unbedingte Achtung entgegen-
bringen? Das gestehen wir im voraus zu: wo sie Achtung
verdienen, kann dieselbe nur unbedingt sein, da mit der
Abtrennung von allem Empirischen alle einschränkenden Be-
dingungen wegfallen, aber ob der Anspruch auf Achtung
begründet ist, das muss im Praktischen wie im Theoretischen
der Kritik vorbehalten bleiben. Wir müssen durchaus den
Wert des sittlichen (kategorischen) Imperativs einsehen.
In dem Kapitel:1 »Von dem Interesse, welches den Ideen
der Sittlichkeit anhängt«, fragt Kant selbst: Warum aber
1 S. 82 ib.
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
57
soll ich mich denn diesem Princip unterwerfen, und zwar
als vernünftiges Wesen überhaupt, mithin auch dadurch alle
anderen mit Vernunft begabten Wesen? Ich will einräumen,
dass mich hierzu kein Interesse treibt, denn das würde
keinen kategorischen Imperativ geben, aber ich muss doch
hieran notwendig ein Interesse nehmen und einsehen, wie
das zugeht.« Und weiterhin erklärt er, dass wir durch die
Aufstellung seines Moralprincips zwar soviel gewonnen hätten,
dass das echte Princip durch die autonome Grundlage ge-
nauer bestimmt sei, aber in Ansehung seiner Gültigkeit um
nichts weiter gekommen wäre; »denn wir könnten dem, der
uns fragte, warum denn die Allgemeingültigkeit unserer
Maxime, als eines Gesetzes, die einschränkende Bedingung
unserer Handlungen sein müsse, und worauf wir den Wert
gründen, den wir dieser Art zu handeln beilegen, der so
groß sein soll, dass es überall kein höheres Interesse geben
kann . . . keine genugtuende Antwort geben.« Wie wenig
auch noch zu tun war, um diesen Wert zur Evidenz zu
bringen, Kant hat diesen letzten Schritt nicht getan. Ja
vermöge einer eigentümlichen Ansicht von dem Wesen des
Sittlichen, wonach die Möglichkeit des kategorischen Impera-
tivs uns durch die Idee der Freiheit zur intelligiblen Welt
und damit zur Grenze aller Nachforschung hinleite, hat er
sich selbst den Weg zur Lösung der gestellten Frage ver-
sperrt. Gegen den Schluss des Kapitels: »Von der äußersten
Grenze aller praktischen Philosophie« heißt es:1 » . . so ist
die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der
Maxime des Gesetzes, mithin die Sittlichkeit interessire, uns
Menschen gänzlich unmöglich« . . . »es ist ebendasselbe,
als ob ich zu ergründen suchte, wie Freiheit selbst als Gausalität
eines Willens möglich sei.« In der »Schlussanmerkung«2
endlich resümirt er sich dahin: »Es ist also kein Tadel für
unsere Deduction des obersten Princips der Moralität, sondern
ein Vorwurf, den man der menschlichen Vernunft überhaupt
1 S. 96 u. 98 ib.
2 S. 99 u. 100.
58
M. Hamburger,
machen müsste, dass sie ein unbedingt praktisches Gesetz
(dergl. der kategorische Imperativ sein muss) seiner absoluten
Notwendigkeit nach nicht begreiflich machen kann .... Und so
begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte Notwendig-
keit des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine
Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von
einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Ver-
nunft in Principien strebt, gefordert werden kann.«
So scheinen wir denn in einer nicht etwa transscendenten
Frage, wrie nach dem Ursprung des Weltalls, sondern in der
ganz immanenten Frage, worauf der Wert einer den sittlichen
Anforderungen gemäßen Handlung an und für sich, d. h. mit
Absehen von ihrer Tauglichkeit zu irgend welchen Zwecken
beruhe, dazu verurteilt, »müßig und bewundernd« stillzu-
stehen. Ermutigender klingt folgende Stelle im Beschluss
der Kritik der praktischen Vernunft: »Diesen Weg (der metho-
dischen Nachforschung) nun in Behandlung der moralischen
Anlagen unserer Natur gleichfalls einzuschlagen, kann uns
jenes Beispiel (aus dem Fortgange unserer Erkenntnis vom
Weltbau) anrätig sein und Hoffnung zu ähnlichem guten
Erfolg geben. Wir haben doch die Beispiele der moralisch
urteilenden Vernunft bei der Hand. Diese nun in ihre Ele-
mentarbegriffe zu zergliedern, in Ermangelung der Mathe-
matik ein der Chemie ähnliches Verfahren, der Scheidung
des Empirischen vom Rationalen, das sich in ihnen vorfinden
möchte, in wiederholten Versuchen am gemeinen Menscheri-
verstande vorzunehmen, kann uns beides rein und was
jedes für sich allein leisten könne, mit Gewissheit kennbar
machen. —«
Wir sind in der günstigen Lage, dass der schwierigste
Teil der Aufgabe, die Scheidung des Empirischen vom Ratio-
nalen in den praktischen Anforderungen bereits von Kant
selbst mit glücklichem Griffe erfasst und mit fester Hand
der Lösung zugeführt ist. Es wird sich nur noch darum
handeln, für den rationalen Teil eine Fassung zu finden, in
welcher der fragliche absolute Wert in unmittelbare Evi-
denz tritt.
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
59
Kant ging von vorn herein darauf aus, ein Gesetz zu
suchen, das für den Willen jedes vernünftigen Wesens als
gültig erkannt wird, und da mit der Absonderung aller
empirischen Bestimmungsgründe alle Materie des Gesetzes
wegfiel, so blieb nichts übrig als die bloße Form einer all-
gemeinen Gesetzgebung. Die Maxime einer sittlichen Hand-
lung, war dann der Schluss, müsse demnach so beschaffen
sein, dass ihre Form sich zur allgemeinen Gesetzgebung
schicke. Wir meinen aber, dass der Wert, den wir suchen,
sich an der einzelnen der sittlichen Beurteilung vorliegenden
Handlung für sich muss nachweisen lassen; und insofern er
des Charakters ist, dass ihm die Anerkennung jedes ver-
nünftigen Wesens als solchen gewiss ist, folgt die Tauglich-
keit der darauf gegründeten Maxime zur allgemeinen (d. h. für
alle vernünftigen Wesen gültigen) Gesetzgebung von selbst.
Nun hatten wir schon bei einer früheren Gelegenheit (S. 49)
bemerkt, dass bei der sittlichen Beurteilung von Handlungen,
nachdem wir von der Erwägung des ihnen zu Grunde liegen-
den Gedankeninhalts alle Interessen, sei es des Handelnden
oder fremde, ausgeschlossen haben, noch dasjenige übrig
bleibt, was aus den tatsächlichen Voraussetzungen1 unter den
gegebenen Umständen lediglich nach Erkenntnisgründen sich
bestimmen lässt.
Eine solche Handlung, die, begrifflich betrachtet, als
eine richtige Folge aus zugestandenen Prämissen sich dar-
stellt, ist sittlich von Wert; eine Handlung hingegen, deren
Gedankeninhalt bei einer bloß nach Erkenntnisprincipien
(also objectiv) angestellten Betrachtung einen Widerspruch
involvirt, sodass die Handlung unerklärlich schiene, wenn
nicht der Einfluss subjectiver Stimmungen oder Interessen
mit erwogen würde, ist sittlich verwerflich. Eine Handlung
endlich, bei der, wenn man von den genannten subjectiven
1 Interessen und Zwecke, die in den Voraussetzungen der zu
prüfenden Handlung enthalten sind, gehören eben deshalb gleichfalls
in die sittliche Betrachtung wie z. B. bei den aus der Uebernahme
einer Vormundschaft erwachsenden Verpflichtungen die Interessen des
Mündels.
60
M. Hamburger,
Beweggründen absieht, kein Gedankeninhalt übrig bleibt, der
auf objective Gültigkeit oder Ungültigkeit zu prüfen ist, ist sitt-
lich gleichgültig. Das Letztere tritt ein, wenn es sich am die
Befriedigung eines Begehrens handelt, bei dem wir annehmen,
dass außer dem persönlichen Interesse keine Data zur ob-
jectiven Bestimmung der zu erfolgenden Handlung vorhanden
sind. Ich sage: wenn wir dies annehmen; die größere sitt-
liche Strenge wird sich darin zeigen, dass man gründlicher
nachforscht, ob nicht der zu beurteilende Fall mit entfern-
teren Voraussetzungen einen objectiven Zusammenhang hat,
wodurch auch hier ein bestimmtes Verhalten von rein sitt-
lichem Standpunkt vorgezeichnet ist.
Hiernach würden wir das Princip alles sittlichen Ver-
haltens etwa wie folgt formuliren : Handle so, dass die deinen
Willensäußerungen zu Grunde liegenden Gedanken, lediglich
nach den objectiven Kriterien der Wahrheit betrachtet, als
ein richtiges Resultat der mit ihnen in begrifflichem Connex
stehenden tatsächlichen Voraussetzungen erscheinen. In dieser
Fassung des Moralprincips tritt der Wert der sittlichen Hand-
lungsweise als solcher klar zu Tage; es ist der — auf dem
Gebiete der Erkenntnis unbestrittene — Wert der Wahrheit, ein
Wert, der ihr erteilt wird ohne Rücksicht auf irgend welchen
Erfolg, auf die Begünstigung irgendwelcher beliebter Meinungen
oder Interessen. Ebensowenig aber wie von unseren indivi-
duellen Bedürfnissen und Wünschen hängt Gültigkeit und
Wert einer Wahrheit von den Gefühlen des Gefallens oder
Missfallens ab, die nach Herbart mit der Auffassung gewisser
ästhetischer Verhältnisse für alle Menschen in gleicher Weise
durch die Natur ihrer Vorstellungen verknüpft sein sollen,
und auf die dieser Philosoph bekanntlich ein eigentümliches
Moralsystem gegründet hat. Die Wahrheit schneidet in alle
Arten von Gefühlen tief ein. Wie es bittere Wahrheiten
gibt, so gibt es auch solche, die aller ästhetischen — sinn-
lichen wie geistigen — Harmonie durchaus entgegengesetzt
sind; und wenn wir demungeachtet der objectiven Wahrheit
einen Wert zuerkennen und die entgegenstehenden Irrtümer,
sie mögen unseren Gefühlen der Lust oder des ästhetischen
tJeber das Princip der Sittlichkeit.
61
Wohlgefallens noch so sehr entgegenkommen, für verwerflich
erachten: so beweist das, dass dem richtigen Gedanken ein
absoluter Wert zukommt, dessen Geltung über den Be-
reich der möglichen Erfahrung hinaus auf alle Vernunftwesen
sich erstreckt, oder genauer ausgedrückt auf alle Wesen, für
welche die Forderung einer freien, d. h. nur aus dem ob-
jectiven Gehalt der Gedanken selbst erfolgenden Unter-
scheidung zwischen Wahrheit und Irrtum einen Sinn hat.
Von diesem absoluten W^erte sind eben auch die sittlichen
Handlungen getragen, die nach unserem Princip der Ausdruck
wahrer Gedanken sind.
Wegen der Allgemeingültigkeit der Wahrheit ergibt sich
die kantische Regel, dass die der sittlichen Handlung zu
Grunde liegende Maxime sich als Princip zur allgemeinen
Gesetzgebung eigne, als unmittelbare Folgerung aus unserem
Princip, und die Achtung vor dem Sittengesetz, die Kant als
Bewegungsgrund des reinen (sittlichen) Willens fordert, ohne
jedoch das Wesen dieser Achtung, die er mit Recht als einen
moralischen Vorgang allen andern in der menschlichen Natur
gegründeten Gefühlen gegenübergestellt, näher bestimmen zu
können, ist nach unserer Darlegung nichts anderes als die
Achtung vor dem Werte der Wahrheit. Zugleich leuchtet
hierin das oberste Princip hervor, das den theoretischen
und praktischen Gebrauch der reinen Vernunft zu einer Ein-
heit verbindet, einer Einheit, deren Existenz Kant als sicher
galt, aber ihrer Beschaffenheit nach für ihn ein unauf-
gelöstes Problem blieb.1 Wie im Gebiete der Erkenntnis die
Forderung an der Spitze steht, die Wahrheit allein zum
1 Im Kapitel: »Kritische Beleuchtung der Analytik der reinen
praktischen Vernunft« S. 220 a. a. 0. sagt er: »Denn sie (die Ver-
gleichungen zwischen der Analytik der reinen theoretischen und prakti-
schen Vernunft) veranlassen mit Recht die Erwartung, es vielleicht der-
einst bis zur Einsicht des ganzen reinen Vernunftvermögens — des theo-
retischen sowohl als des praktischen — bringen und alles aus einem
Princip ableiten zu können, welches das unvermeidliche Bedürfnis der
menschlichen Vernunft ist, die nur in einer vollständigen systematischen
Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheit findet.«
62
M. Hamburger,
Gegenstand der Forschung zu machen, so im Sittlichen das
Gebot, dass die Willensäußerungen das Gepräge eines wahren
objectiv gültigen Gedankeninhalts an sich tragen. Das
sittlich Verwerfliche ist in der Tat überall die Verletzung
der Wahrheit zu Gunsten irgend welcher Interessen, es mag
in der Missachtung logischer Consequenzen bestehen, wie bei
einem Vertragsbruch oder in Fälschung von Thatsachen bei
der Zeugnisablegung oder im Missbrauch der Wissenschaft,
da mittelst Scheingründe Resultate gefolgert werden, die
gewissen Absichten dienen sollen, objectiv aber unhaltbar
sind. Man bemerkt übrigens leicht, dass in den von Kant
zur Erläuterung seines Princips herangezogenen Beispielen es
der Widerspruch ist, durch den die Verwerflichkeit der be-
treffenden Handlungen evident wird.
So bildet die auf Wahrheit gerichtete Forderung das
einheitliche Princip des ganzen reinen Vernunftvermögens,
oder wie wir es vorziehen uns auszudrücken, der spontanen
Tätigkeit in uns, und die Erforschung und Betätigung der
Wahrheit gehen daraus wie zwei Stämme aus einer Wurzel
hervor. Es lässt sich übrigens der Punkt genau bezeichnen,
der Kant die Einsicht in diese Einheit des Princips für die
theoretische und praktische Philosophie verfehlen ließ. Kant
hatte mit Recht die Unterscheidung zwischen dem Sollen
einerseits und Sein oder Geschehen andrerseits und inner-
halb der praktischen Vorschriften zwischen den durch ein
Interesse bedingten (hypothetischen) und unbedingten (kate-
gorischen) Geboten zum Ausgangspunkt seiner ethischen Be-
trachtungen gemacht. Ein unmittelbarer Gewinn hieraus
war die folgenreiche Loslösung der Moral von den eudä-
monistischen Principien. Allein zugleich ward hierdurch
zwischen den beiden Gebieten: der Erkenntnis und der
Moral, von denen die erstere es mit dem, was ist oder ge-
schieht, die letztere mit dem, was geschehen soll, zu tun
hat, eine, wie es schien, unüberbrückbare Kluft aufgedeckt,
die, da die Principien beider doch derselben Vernunft ent-
stammen sollten, eine Kant selbst, wie aus der angeführten
Stelle zu ersehen, nicht eben willkommene Zugabe war.
üeber das Prîncip der Sittlichkeit.
Die hier bezeichnete Schwierigkeit schwindet indes völlig,
wenn man bedenkt, dass zwar der Gegenstand des Erkennens
das Sein oder Geschehen ist, vom Erkennen selbst aber,
soweit es sich um das Erkennen des Richtigen handelt, ganz
dasselbe wie vom sittlichen Handeln gilt, dass es nämlich
nicht etwas ist, was jederzeit geschieht, sondern was ge-
schehen soll, obwohl es oft nicht geschieht. Und auch hier
unterscheidet sich die auf wahre Erkenntnisse gerichtete
Forderung durch ihre unbedingte (für alle Vernunftwesen
zutreffende) Gültigkeit von den Vorschriften zur Aufnahme
von Lehrmeinungen, die zu einer objectiven Evidenz nicht
gebracht, oder deren nicht fähig sind, aber als den Zwecken
des Individuums oder der menschlichen Gesellschaft dienlich
erachtet werden, deren Gültigkeit daher nur höchstens sub-
jectiv allgemein, jedenfalls hypothetisch ist. Der unbedingte
Imperativ trennt also nicht die praktische Vernunft von der
theoretischen, sondern innerhalb beider Gebiete, sowohl der
Erkenntnis, wie des praktischen Verhaltens die Richtung auf
Wahrheit von den Rücksichten auf heteronome Zwecke.
Der Autonomie der objectiv gültigen Gedanken erteilen wir
das Primat in der theoretischen wie in der praktischen Ver-
nunft, statt dass Kant der letzteren das Primat vor der ersteren
zuerkannte. Bedenken wir ferner, dass die Autonomie der
objectiv gültigen Gedanken in einer doppelten Unabhängigkeit
sich kundgibt, indem sie weder von dem mechanischen Ab-
lauf der Vorstellungen nach psychologischen Gesetzen, also
durch keine Naturnotwendigkeit ihrem Ursprung nach, noch
von der durch irgend welche Zwecke gesetzten Bestimmung,
also auch von keiner Zwecknötigung nach der Seite ihres
Erfolgs bedingt sind, so erkennen wir, dass für den Bestand
der Wahrheit genau das zutrifft, was Kant von dem eigen-
tümlichen Standpunkt der Moralphilosophie bemerkt:1 »Hier
sehen wir nun die Philosophie in der Tat auf einen miss-
lichen Standpunkt gestellt, der fest sein soll, ungeachtet er
weder im Himmel noch auf der Erde an etwas gehängt oder
i a. a. 0. S. 53.
64
M. Hamburger,
woran gestützt wird.« In der Tat hat bereits Kant ange-
merkt, dass es für die objective Wahrheit kein allgemeines
Kriterium gibt, ja dass das Verlangen danach schon einen
Widerspruch involvire.1 Desgleichen kann in Anbetracht
der Unabhängigkeit ihres Wertes von Interessen jeder Art
die berühmte Apostrophe Kants an die Pflicht fast wörtlich
auf die Wahrheit übertragen worden. — Wir stellen sie zum
Vergleich hierher:2 »Pflicht! Du erhabener großer Name der
du nichts Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in
dir fassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auch nichts
drohest, was natürliche Abneigung im Gemüte erregte und
schreckte, um den Willen zu bewegen, sondern bloß ein
Gesetz aufstellst,3 welches von selbst im Gemüte Eingang
findet und doch sich selbst wider Willen Verehrung (wenn
gleich nicht immer Befolgung) erwirbt, vor dem alle Neigungen
verstummen, wenn sie gleich im Geheimen ihm entgegen-
wirken. .« — Wenn nun Kant weiter die Frage aufwirft:
»Welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet
man die Wurzel Deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandt-
schaft mit Neigungen stolz ausschlägt?« so haben wir darauf
nach dem Vorhergehenden die Antwort: In der Autorität der
objectiven Wahrheit allein ist die Abstammung der echten
Pflicht zu suchen, in der Autonomie der richtigen Erkennt-
nisse der Grund ihres über allen Neigungen erhabenen Stand-
punktes. Die Frage also, warum uns Sittlichkeit interessire,
wiewohl sie sich unseren Neigungen entgegensetzt, deren Be-
antwortung Kant für unmöglich hielt, so dass er beinahe
geneigt war, der menschlichen Vernunft deshalb einen Vor-
wurf zu machen, ist völlig einerlei mit der Frage, warum
uns Wahrheit interessire, die in dem gleichen Falle ist, öfters
unseren Wünschen Abbruch zu tun. Die Erklärung aber für
den Wert, den wir der Wahrheit an sich beilegen, führt
durchaus nicht in die dunkle Region des Unbegreiflichen,
1 Kritik d. reinen Vernunft. Hartensteinsehe Ausg. S. 86.
2 Kr. d. pr. Vern. S, 214. Rosenkranzsche Ausg.
3 Bei der Wahrheit würden wir diesen Passus etwa dahin ändern:
sondern dir selbst das Gesetz gibst.
Üeber das frincip der Sittlichkeit.
65
sondern gerade mitten in das Licht der Klarheit, denn das
Evidente ist das völlig Begriffene und Erklärte und den Wert
des evident Wahren vor dem Irrtum noch begründen wollen
wäre ein Verlangen, das Licht zu beleuchten.1 So findet
sich im Sittlichen die Erhabenheit mit der Klarheit vermählt.
Freilich ist die Klarheit der Erkenntnis eine steile Höhe, bei
deren Erklimmung, wie eben bei der Erfüllung einer sittlichen
Forderung die Trägheit unserer receptiven Natur, worunter
wir den empfindenden und begehrenden Teil unseres Wesens
begreifen, zu überwinden ist. In einer früheren Betrachtung
(S. 44) nannten wir die objective Wahrheit eines Gedanken-
inhalts das ideale Moment desselben, das zu seiner Bedeutung
als einem Naturerzeugnisse und seiner subjectiven Beziehung
zu gewissen Affecten hinzukommt. Wir werden nunmehr
dieses Moment näher als sein sittliches Moment bezeichnen.
Es ist hierbei darauf Gewicht zu legen, dass demjenigen, der
sich darin gefällt, die Existenz, von objectiven Wahrheiten
zu läugnen, der Beweis dafür nicht zu erbringen ist, einfach
aus dem Grunde, dass ein solcher Beweis schon die An-
erkennung eines objectiven Unterschieds zwischen wahren
und irrtümlichen Feststellungen voraussetzen würde. Diese
Anerkennung ist vielmehr eine sittliche Forderung. Der
oberste Grundsatz aller wahren Erkenntnis, dass von zwei
einander ausschließenden Behauptungen der einen und nur
der einen die Wahrheit zukomme, sollte nicht als eine Tat-
sache, die ein Sein oder Geschehen darstellt, sondern als
eine Forderung, die unserem erkennenden Verhalten vor-
geschrieben ist, hingestellt werden. Sie wird in Wirklichkeit
überall sofort übertreten, wo lediglich das subjective Interesse
maßgebend ist, sei es dass dieses selbst oder die Wege zur
Befriedigung desselben mit den Umständen wechseln. Es
wird dann entweder plötzlich als falsch ausgegeben, was
ehedem wahr sein sollte, oder was vielfach beobachtet werden
1 Wer die Frage stellt, worauf sich der Wert des Wahren gründe,
verlangt den wahren Grund zu wissen, einen solchen, den er dafür
nicht anerkennte, würde er verwerfen; und so bezeugt er schon durch
die Frage selbst, dass er das Wahre dem Falschen vorzieht.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. X. 0
60 M. Hamburger,
kann, man geht jeder objectiven Untersuchung überhaupt
aus dem Wege, indem man erklärt, dass in der streitigen
Frage, wiewohl sie ganz und gar nicht transscendente Dinge
betrifft, nichts absolut wahr und nichts absolut falsch ist.
Die Bestreitung der Existenz unbedingt gültiger Wahrheiten
und die Leugnung eines absolut gültigen Maßstabes sittlicher
Werturteile gingen von jeher Hand in Hand. Die Sophisten,
die zuerst principiell die objective Gültigkeit sittlicher Grund-
sätze in Frage stellten, begannen damit, die bloße Meinung
an Stelle der Gewissheit über jede Sache zu setzen, und
Protagoras behauptete bekanntlich: der Mensch sei das Maß
aller Dinge; da jeder Behauptung eine andere entgegengesetzt
werden könne, so sei es Torheit, über eine Sache zu streiten,
und Widerlegung sei vollends unmöglich. Diese Unmöglich-
keit haben wir oben bereits anerkannt und den Grund da-
für angegeben. Die Ergründung der Wahrheit in jeder Sache
gehört eben zur sittlichen Disciplin. Der Skeptiker, der allen
seinen Scharfsinn aufwendet, um den Satz, dass zwei mal
zwei vier ist, anzufechten, wird vielleicht ein anderes Mal
ganz und gar nicht skeptisch dem Wunderbaren und Ueber-
natürlichen sich zuwenden, wo die natürliche Erklärung aller-
dings mit einiger Mühe und Wahrheitsliebe zu finden wäre.
Es ist der gleiche Mangel an sittlicher Disciplin des Geistes,
der in dem einen wie in dem anderen Falle zu Tage tritt.
Diese nämliche Trägheit in Erforschung des wahren Sach-
verhalts verschuldet oft auch ein unrechtes Handeln, wie
Nathan der Recha vorwirft, die es versäumt hat, nach dem
Verbleib des Tempelherrn sich zu erkunden, und sich lieber
in dem Wahn gefällt, ihre Rettung einem Engel zu verdanken.
».....Begreifst Du aber,
Wie viel andächtig schwärmen leichter, als
Gut handeln ist? wie gern der schlaffste Mensch
Andächtig schwärmt, um nur — ist er zu Zeiten
Sich schon der Absicht deutlich nicht bewusst —
Um nur gut handeln nicht zu dürfen?«
(Lessings Nathan Act 1, Sc. 2.)
Wie nun zur endgültigen Feststellung einer Wahrheit
Üeber das Princip der Sittlichkeit.
67
sittliche Handlungsweise, die in der Wahrheit beruht, an dem
Lichte der freien Kritik sich zu bewähren; und der Streit
der Meinungen, vor dem besonders Herbart die ethischen
Verhältnisse ängstlich zu bewahren suchte, dass er deshalb
zu ihrer Beurteilung die erkennende Vernunft für incompetent
erklärte, um sie einem unverantwortlichen Gerichtshofe rein
ästhetischer Observanz zu überweisen — dieser Streit ist gerade
von Nöten, um der objectiven Beurteilung der Sachlage, um
die es sich handelt, Eingang zu verschaffen, und den Streit
der Interessen zu schlichten.
Denn nicht die Reflexion als solche wirkt, wie die be-
liebte Ausdrucksweise lautet, »zersetzend« auf die sittliche
Gesinnung, sondern nur, wenn sie im Dienst gewisser
Neigungen und Interessen steht und nicht auf den Gewinn
objectiv gültiger Ergebnisse gerichtet ist. Merkwürdig ist,
dass Kant, der die Diskussion über sittliche Gegenstände, als
zur Förderung der Sittlichkeit geeignet, angelegentlichst
empfiehlt, durch die Art, wie er den kategorischen Imperativ
als unbedingte Autorität von unbegreiflichem Ursprung ein-
geführt hat, gerade der so verbreiteten Ansicht von dunklen
sittlichen Mächten, vor denen jede Kritik verstummen müsse,
Vorschub geleistet hat. Dunkel sind auf dem praktischen
Gebiete die Instinkte und die auf ihnen beruhenden Be-
gehrungen resp. Verabscheuungen, wie im theoretischen
Felde die Sinne und die von ihnen stammenden Eindrücke,
überhaupt der receptive Teil unseres Wesens. Andrerseits ist
aber die Sinnlichkeit eine Quelle der Erkenntnis, da durch sie
uns allein Gegenstände gegeben werden; nur sind Wahrheit
und Irrtum nicht in den Eindrücken der Sinne, sondern
im Urteile, also unserem spontanen Verhalten zum Gegen-
stande zu suchen, wie Kant zuerst es klar hervorgehoben.
»In den Sinnen ist gar kein Urteil, weder ein wahres noch
ein falsches«.1 Ganz ebenso sind die Begehrungen und Ver-
abscheuungen — Liebe und Hass — die Quelle aller unserer
Tätigkeit und in ihnen selbst ist weder Sittlichkeit noch
1 Krit. d. r. V. Hartenst. Ausg. S. 245.
68
M. Hamburger,
Unsittlichkeit anzutreffen, die Verschuldung liegt allein in
den spontanen Entschließungen, für die die motorischen wie
die sensitiven Anlässe der menschlichen Natur das Material,
aber nicht das Werkzeug zu den sittlich maßgebenden Ur-
teilen zu liefern haben, nach denen die Entschlüsse sich
formiren, der Wille in Kraft treten soll. Die Norm für
diese Urteile haben wir in dem Grundsatz gefunden, dass
die Handlung nach bloßen Principien der wahren Erkenntnis
betrachtet unangesehen der persönlichen Zwecke als evidente
Folge der gegebenen Voraussetzungen unter den gegebenen
Umständen erscheine. Wenn wir bereits früher bemerkten,
dass das sittliche Princip nicht in unmittelbar schöpferischer
Weise die Handlungen eingibt, sondern nur disciplinirend
wirkt, so findet dies ebenfalls seine Analogie in der theo-
retischen Erkenntnis, da das bloße Princip der Richtung auf
Wahrheit im Forschen uns keinen einzigen wahren Satz
verschafft, wenn nicht das Material hierfür anderweitig
gegeben ist, wohl aber uns leitet, in jedem Gebiete nach
einem eigenen und hier autonomen Richtmaß das objectiv
Gültige von der subjectiven Meinung zu unterscheiden. Im
praktischen Gebiete sind die durch eigene und fremde Tätig-
keit sowie durch die geltenden Gesetze geschaffenen Ver-
hältnisse die Voraussetzungen, aus welchen mittelst der
Fackel der Wahrheit die dem Sachverhalt objectiv ent-
sprechende Handlung als die allein sittliche zu finden ist.
Hierbei unterliegen die Voraussetzungen selbst der Kritik,
wie an der angeführten Stelle erörtert ist. Ist die Voraus-
setzung, auf die die Handlung angewiesen ist, selbst sitt-
lich ungültig, wie es bei einem Gesetze der Fall ist, das
in Widerspruch mit allgemeineren Gesetzen zu Stande ge-
kommen ist, oder bei einem Vertrage, der anderen vorher-
gehenden Verträgen oder einem geltenden Gesetze wider-
streitet, dann entsteht der sittliche Conflict. Hier macht sich
nun zwischen der erkennenden und praktischen Tätigkeit ein
Unterschied bemerkbar, der im Interesse der Erhaltung der
Moralität angesichts der Beschaffenheit der menschlichen
Natur zu einer Forderung führt, die unter dem Namen der
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
69
Billigkeit eine so wichtige Rolle spielt. Solange wir im
Theoretischen verweilen, können wir einen Irrtum, der durch
die Folgerung aus einer falschen Voraussetzung entstanden
ist, jederzeit wieder bérichtigen, indem wir die Prämissen
richtig stellen. Im Praktischen hingegen lassen die falschen
Voraussetzungen, die hier in der Form unsittlicher Verhält-
nisse erscheinen, sich nicht eigenmächtig von demjenigen
ändern, dem aus denselben evidente Verpflichtungen erwachsen
sind. Dagegen ist derjenige, dem daraus die entsprechenden
Rechte zustehen, allgemein zu reden,1 sittlich nicht gehalten,
dieselben geltend zu machen. Der berechtigte Teil sei eine
Person, wie z. B. bei einem unhaltbaren Vertrage, oder der
Staat — falls das Gesetz in seiner Gonsequenz auf den vor-
liegenden Fall mit den als göltig anerkannten Principien
des Gemeinwohls als unvereinbar und daher unsittlich sich
erweist — so ergeht, meinen wir, an den Berechtigten
im sittlichen Interesse unter dem Namen der Billigkeit die
Forderung, von den aus solchen Voraussetzungen begründe-
ten Rechten abzustehen und so die Wirksamkeit sittlich
irriger Prämissen zu zerstören.2 Hiermit haben wir be-
reits einen Punkt berührt, der die Anwendung des sitt-
lichen Princips auf die Natur der menschlichen Verhält-
nisse betrifft, und daher außerhalb des Rahmens dieser der
Grundlegung der Moral gewidmeten Untersuchungen gelegen
ist. Es erschien uns jedoch angezeigt, den Uebergang von
dem obersten Princip zu den näheren Bestimmungen des-
selben unter den besonderen Bedingungen der menschlichen
Natur wenigstens anzudeuten. In dieser Rücksicht sei es
uns noch gestattet, die Stelle zu bezeichnen, welche der Idee
des Wohlwollens, soweit sie sich nicht bloß auf das natürliche
Mitgefühl gründet, sondern eine sittliche Forderung aufstellt,
1 In besonderen Fällen können diese Rechte mit anderen Ver-
pflichtungen in unaufbebbarem Zusammenhange stehen, wodurch der
sittliche Conflict verschärft, aber nicht unlösbar ist, insofern diese Ver-
pflichtungen durch einen weiteren Regress an den Teil, welchem Rechte
aus ihnen wiederum erwachsen, gelöst werden können.
2 Das »flat justitia, pereat mundus« bedeutet eine Mahnung an den
Verpflichteten, nicht eine Ermutigung für den Berechtigten.
70
M. Hamburger,
vom Standpunkte des Princips, das die Wahrheit an die
Spitze alles moralischen Verhaltens stellt, anzuweisen ist.
Nach der Beschaffenheit des Menschen ist zur Erkenntnis
der Wahrheit und, insbesondere zur Verhütung des Irrtums
das Zusammenwirken aller erforderlich, da allein der Bestand
gegen die freie Kritik eine Gewähr für die objective Gültig-
keit eines Gedankens bietet. Die Kritik ist aber nur dann
eine freie, wenn niemand, der das Wahre vom Falschen
und somit nach unserem Princip das Gute vom Bösen im
Moralischen zu unterscheiden fähig ist, davon ausgeschlossen
ist. Im sittlichen Interesse liegt daher die Sorge nicht nur für
die eigene Erleuchtung in Ansehung des Wahren und Falschen,
des Rechts und des Unrechts auf allen Gebieten, sondern nicht
minder für die aller Mitmenschen, die, insofern sie für ihre
Handlungen verantwortlich sein sollen, das Recht und die
Pflicht haben, es in dem, was ihnen zu tun und zu lassen ob-
liegt, zu einer gegründeten Ueberzeugung zu bringen. In dieser
Ermöglichung der Mitwirkung aller Menschen an den sitt-
lichen Aufgaben besteht das Wohlwollen im rein moralischen
Sinne (nach Kant das praktische Wohlwollen). Es gründet
sich nicht, wie man sieht, auf die Voraussetzung einer gleichen
psychischen und geistigen Natur aller Menschen, sondern
lediglich auf die Spontaneität ihres Wesens, mit der sie das
Wahre erwählen können. Die Bedürfnisse und Wünsche
mögen nach Stand und Geschlecht, Nation und Rasse noch
so verschiedenartig sein, die Welt sich in diesem Kopfe ganz
anders malen als in jenem; die Wahrheit in jedem Falle ist
die eine und gleiche für jedermann. Damit ist zugleich die
Gleichheit aller Menschen im sittlichen Sinne ausgesprochen,
wonach alle Menschen vermöge der Spontaneität ihres Wesens
die gleiche Würde — nicht etwa haben, sondern sich geben
können, indem sie im Erkennen und Handeln die Wahrheit
zur obersten Richtschnur nehmen.1 Die Möglichkeit hierzu
1 Es sei bei dieser Gelegenheit bemerkt, dass die Vernunft und
zwar sie allein, wie schon hervorgehoben, der Sitz ebensowohl der
Wahrheit als des Irrtums ist, von ihr allein daher für das mit ihr be-
gabte Wesen Wörde und Unwürde ausgeht, und nicht etwa, wie meist
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
71
hat endlich die bürgerliche Freiheit zur Voraussetzung,
worunter wir die Freiheit verstehen, seine Pflicht zu tun.
Diese Freiheit wird nicht durch eine nach Vertrag oder Gesetz
vorgeschriebene Dienstbarkeit aufgehoben, wohl aber durch
einen derartigen Zwang, der wenigstens dem Principe nach
sämmtliche Handlungen eines Menschen wie durch den
Mechanismus eines Naturgesetzes bedingt erfolgen lässt. In
der Verweigerung der Möglichkeit für einen Teil der Menschen,
durch Selbstbestimmung ihrer Handlungen nach objectiv
gültigem Maßstab sich einen sittlichen Wert zu geben, liegt
die Unsittlichkeit der Institution der Sklaverei.
Mit Erstarkung des sittlichen Bewusstseins, d. h. der
Achtung vor der Wahrheit breitet sich die Anerkennung
dieser eben erwähnten Principien aus, welche sich auf die
Möglichkeit eines Verhaltens nach sittlichen Normen unter
den Menschen beziehen. Wo die Gesetze eines Staates sich
mit diesen Principien in offenem oder verstecktem Wider-
spruch befinden, da entstehen jene oben als falsche Voraus-
setzungen charakterisirten unsittlichen Verhältnisse, deren
Consequenzen die sittlichen Conflicte sind, die dauernd nur
durch die Aenderung der Gesetze selbst beseitigt werden
können.
Eine Darstellung des obersten Princips der Moral dürfte
vielleicht nicht für vollständig gelten, wenn nicht seine
Stellung zum Problem der Freiheitsidee erwähnt würde,
was hier mit einigen Worten geschehen mag. Unter Frei-
heit verstehen wir hier nicht etwa die bestimmungslose,
sondern die sittliche (nach Kantischem Ausdruck praktische)
Freiheit, d. h. die Unabhängigkeit des nach der sittlichen
Norm sich bestimmenden Willens von der Causalität nach
Naturgesetzen, bei welcher Causalität es nicht darauf an-
kommt, ob die Naturnotwendigkeit sich in äußeren oder
inneren Bestimmungsgründen kundgibt, d. h. ob ein materieller
oder psychischer Mechanismus die bewegende Kraft ist. Die
Frage ist : ob die in dem vorhergehenden Zustande enthaltenen
geschieht, der Vernunft die Würde, der Sinnlichkeit die Unwürde zu-
zuschreiben ist; letzterer kommt weder das eine noch das andere zu.
n
M. Hamburger,
Bedingungen nach einer unabänderlichen Regel der Natur-
ordnung die folgende Handlung wie eine natürliche Begeben-
heit derart notwendig machen, dass für eine spontane Be-
stimmung nach den sittlichen Anforderungen kein Raum bleibt.
Für unsere Betrachtung steht diese Frage mit der folgen-
den in Zusammenhang: Ist die Erkenntnis und Beurteilung
irgend einer Wahrheit möglich, wiewohl dieselbe nur durch
eine vom Naturzwang freie Anwendung der hierfür erforder-
lichen objectiven Kriterien ermittelt werden kann, deren
Gültigkeit nach der Autonomie der ihre Gensur in sich selbst
enthaltenden Gedankenverknüpfung bestimmt wird? Müsste
nicht durch den natürlichen Ablauf der Vorstellungen nach
psychologischen Gesetzen, mit denen die Kriterien der Rich-
tigkeit eines Gedankens nichts zu tun haben, sei es dass
die Association der Vorstellungen oder Zweck Vorstellungen
ihre Herschaft geltend machen, das Resultat der Forschung
oder Beurteilung in einer jede Wahl ausschließenden Weise
bedingt sein?
Wie wir bereits mehrfach Anlass hatten, hervorzuheben,
ist die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum überall
nicht als ein notwendiges Geschehen, d. h. als ein Schluss-
glied in einer Kette von naturnotwendigen Begebenheiten
aufzufassen, sondern als die Erfüllung einer Forderung, die
Gedankenproducte, abgesehen von ihrem subjectiven Werte,
der ihnen als einem Naturvorgang eigen ist, auf ihren objec-
tiven Gehalt nach allgemeingültigen Erkenntniskriterien zu
prüfen und demgemäß ihnen entweder weitere (theoretische
oder praktische) Folge zu geben oder sie zu verwerfen.1 Zur
1 Herbart ist unseres Wissens der erste Philosoph, der es klar aus-
gesprochen hat, dass die Logik uns nicht lehrt, wie das Denken ge-
schieht, sondern wie es geschehen soll. Dasselbe gilt aber ganz all-
gemein, wo es Erkenntnis der Wahrheit gilt. Die Auffassung einer
einzelnen Begebenheit erhebt dieselbe zur Gewissheit einer Tatsache
erst dann, wenn diese Auffassung so geschieht, wie sie geschehen soll,
nämlich in objectiv gültiger Verknüpfung der Warnehmungen, nur dass
die Kriterien hier nicht wie in der Logik in allgemeiner Fassung an-
gebbar sind.
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
73
Ueberzeugung aber von der Wahrheit ist die Freiheit vom
Naturzwang wesentliche Voraussetzung; wir müssen neben
der Wahrheit auch das Gegenteil derselben annehmen können,
um in freier Wahl zu der Wahrheit zurückzukehren.1 Führte
die Naturordnung bei den Denkprocessen uns unabänderlich
zur Wahrheit, so dass wir den Irrtum auch nicht einmal
vorstellen könnten, so würden wir die Wahrheit als solche
gar nicht erkennen, und ihren Wert auch nicht einsehen. Die
Gausalität, mit welcher die sittliche Freiheit bei Anerkennung
der Wahrheit im theoretischen und bei Betätigung derselben
im praktischen Verhalten in Wirksamkeit tritt, ist die Achtung
vor der Wahrheit, die als ein neues Motiv zu den nach den
Naturgesetzen erfolgenden Bestimmungen hinzukommt und,
unbeschadet der Wirkung dieser letzteren in Ansehung des
Zweckes, den wir unserer inneren und äußeren Tätigkeit
setzen, ihrerseits dazu führt, die Wahl der zum Ziele führen-
den Mittel auf die Angemessenheit zum Princip der Wahrheit
einzuschränken (nämlich der objectiven Gültigkeit der Ge-
dankenverknüpfung, wenn man die den Willensäußerungen
zu Grunde liegenden Gedanken im Zusammenhang mit den
zu ihnen in Beziehung stehenden als gültig anerkannten
Voraussetzungen betrachtet).
Höchst bemerkenswert ist nun, dass die Betätigung der
sittlichen Freiheit nicht anders als in dem Vertrauen auf die
in der Natur waltende Notwendigkeit sich entfalten kann.
Denn die absolut gültigen Wahrheiten, von denen hier überall
die Rede ist, bestehen nur unter den Voraussetzungen, aus
denen sie entwickelt sind. Woher entnehmen wir aber die
Voraussetzungen, als aus dem natürlichen Verlauf der Be-
1 In dieser Rücksicht ist z. B. der indirecte oder apagogische Be-
weis in der mathematischen Disciplin, der allgemein mit ungünstigen
Augen angesehen wird, gerade zur Ueberzeugung von der Wahrheit
allein entscheidend; denn erst die Erkenntnis, dass das Gegenteil absurd
ist, benimmt uns den letzten Zweifel an der Richtigkeit des behaupteten
Satzes. In der Tat enthält jeder directe Beweis, der an sich methodisch
für die Erkenntnis des Zusammenhanges der Sätze und zur Vorbereitung
für die Auffindung neuer Sätze von hohem Werte ist, unausgesprochen
noch einen indirecten Schluss zur Widerlegung etwaiger Einwendungen.
74
M. Hamburger,
gebenheiten außer oder in uns? Wenn diese nun nicht nach
einer unabänderlichen Regel erfolgten, welche Unsicherheit
würde daraus für alle darauf basirteli Wahrheiten entstehen?
Die tatsächlichen Grundlagen unserer Raumesvorstellung mögen
in unserer Sinnlichkeit oder in der Empirie gefunden werden,
waltete nicht die Zuversicht in ihrer Unveränderlichkeit, so
würde das Lehrgebäude der Geometrie zwar absolute Geltung,
aber nur ephemere Anwendung haben. Dasselbe gilt im
verstärkten Maße für alle empirischen Wahrheiten, die auf
die ausnahmlose Geltung der Naturgesetze gegründet sind.1
Was insbesondere das sittliche Moment in den Hand-
lungen betrifft, wie könnte jemand seine Pflicht erfüllen,
also z. B. das tun, was er als seine Aufgabe übernommen,
wenn er nicht sicher wäre, dass seine Handlungen die Folgen
haben würden, die er nach den erkannten Naturgesetzen
erwarten dürfte, und demgemäß seine Maßregeln treffen
könnte?2 Im Interesse des Sittlichen sind daher Wunder
in der Naturordnung nicht zuzulassen, und will man die
Freiheit selbst mitten in dem Lauf der Naturbegebenheiten
als ein Wunder3 betrachten, — wie wir uns denn keineswegs
1 Hierdurch wird es begreiflich, dass mit dem Wachstum an wahrer
Einsicht also mit dem größeren Gebrauch der geistigen Freiheit gerade
die Zuversicht in das ausnahmlose Walten der Naturgesetze sich immer
ausschließlicher geltend macht. Mit dem Wegfall der Notwendigkeit
verschwände aller Vorzug der Wissenden vor den Nichtwissenden.
2 Selbstverständlich findet diese Rechnung auf die notwendige Ver-
knüpfung der Begebenheiten nach dem Naturgesetze da ihre Grenze,
wo die Mitwirkung freier Wesen also solcher, die nach der auf Wahr-
heit gerichteten Verknüpfung der Gedanken ihre Handlungen einzu-
richten vermögen, ins Auge gefasst ist.
3 Jede Unterbrechung der Naturordnung kann als ein Wunder be-
zeichnet werden, hier geschieht dieser Einbruch aber nicht durch ein
blindes Ungefähr, sondern dadurch dass an die Stelle der Naturgesetze
andere Gesetze, z. B. die logischen treten, die nicht als Gonsequenz der
Naturgesetze betrachtet werden können, vielmehr selbst erst die Ein-
sicht in die Naturordnung ermöglichen. Wie diese Ablösung erfolgt,
davon sehen wir soviel ein, dass die in der Freiheit erzeugte Achtung
vor der Wahrheit selbst eine Naturkraft ist, die als solche nach dem
Maß ihrer Intensität mit den anderen Naturkräften in gesetzmäßige
Ueber das Princip der Sittlichkeit.
75
anmaßen, dieses Problern, »an dessen Auflösung Jahrtausende
vergeblich gearbeitet haben«, gelöst zu haben, sondern uns
bescheiden, den Zusammenhang desselben mit der Möglich-
keit der Erkenntnis der Wahrheit darzulegen — so begnüge
man sich mit diesem alltäglichen Wunder, um alle anderen
Wunder im Zusammenhang der Naturbegebenheiten zu ver-
abschieden.
Hält man mit diesem Aufbau der Freiheit auf dem
Grunde der Notwendigkeit die Bemerkung zusammen, dass
die Erkenntnis der Gesetze der Naturordnung nach ihrer
wahren Beschaffenheit selbst nach autonomen Kriterien er-
folgt, die von eben dieser Naturnotwendigkeit frei sind, und
daher nur freien Wesen möglich ist, so können wir die Art,
wie sittliche Freiheit und Notwendigkeit einander fordern,
in folgender These zusammenfassen:
Ohne die Existenz einer Naturordnung keine Möglichkeit
der Betätigung der (sittlichen) Freiheit, ohne Freiheit keine
Möglichkeit der Erkenntnis der Gesetze der Naturordnung.
Es sei noch bemerkt, dass in den Einrichtungen der
menschlichen Gesellschaft, je höher der Grad ihrer Gultur
ist, um so mehr natürliche Anreize — durch Hoffnung und
Furcht — zu Handlungen gegeben sind, die den sittlichen
Anforderungen entsprechen. Hierdurch geschieht es wohl,
dass auch die sittlichen Handlungen des Individuums lediglich
als eine notwendige Folge aus Naturursachen berechnet werden
können ; dies gilt aber jedenfalls nicht für die sittliche Ge-
sinnung, die allein in der freien Achtung vor dem sittlichen
Princip ihren causalen Ursprung hat. Die Unterstützung, die
die letztere Gausalität in der Bewirkung sittlicher Handlungen
von den nach Naturgesetzen sich entwickelnden Motiven er-
hält, da dieselben Handlungen auch von dem »wohlverstan-
denen Interesse« diktirt sein können, hat am meisten zu der
Verkennung des wahren Wesens der Sittlichkeit, wie sie in
den eudämonistischen Lehrmeinungen hervortritt, beigetragen.
Auf früheren Culturstufen, da die natürlichen Bedingungen
Goncurrenz treten kann. Hiermit ist indes die Schwierigkeit des
Problems keineswegs gehoben, sondern nur näher bezeichnet.
76 M. Hamburger, Ueber das Prineip der Sittlichkeit.
der Gesellschaft der Entwickelung der sittlichen Willens-
äußerungen weniger günstig waren, trat die Abstammung
der sittlichen Anforderungen von einem höheren in der
Naturordnung nicht enthaltenen Prineip mit größerer Evidenz
zu Tage, die sittlichen Offenbarungen erschienen als göttliche
Gebote. Mit dem Fortschritt der socialen Institutionen schienen
immer mehr natürliche und sittliche Bestimmungen für das
handelnde Individuum zusammenzufallen. Indes betrifft der
Gewinn, der in diesem sicherlich sehr erwünschten Fort-
schritt zum Bessern liegt, mit Kant zu reden, nur die
Legalität in den Handlungen, nicht die Moralität in der
Gesinnung, welche letztere nicht auf dem Wege der Natur
oder der Geschichte dem Individuum zufließt, sondern durch
einen Act der Freiheit jeden Augenblick von neuem errungen
werden muss.
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
Von G. G. Büttner.
Die Bantusprachen sind erst neuerdings Gegenstand be-
sonderen Studiums geworden, seitdem immer zahlreichere
Missionare unter den Bantunegern arbeiten. So ist denn
auch noch die Grammatik dieser Sprachen wenig durch-
forscht, und noch wenig über die allgemeinen Probleme,
welche diese Sprachen darbieten, aufgeklärt worden; und
obwohl bereits 168 Bantusprachen mit 55 Dialecten (vergi.
Gust. Modern languages of Africa) durch Vocabulare nach-
gewiesen sind, sind es doch nur sehr wenige, von deren
Grammatik wir mehr als das Allernotdürftigste wissen. Zum
Unglück für die wissenschaftliche Forschung ist davon wieder
nur wenig publicirt, das meiste nur im Manuscript an Orten,
die dem europäischen Forscher unzugänglich sind, verborgen.
Bleek, welchem als Bibliothekar der Sir George Grey library-
in Gapstadt sehr viel handschriftliches Material vorlag, machte
G. G. Büttner, Die Temporalformen in den Èantusprachen. 77
einen Anfang für das vergleichende Studium der Baniusprachen
(sowie der hottentottischen Dialecte) in seiner Comparative
grammar of south african languages, aber er hat sein Werk
nicht weiter als bis zur Vergleichung der Nominalpraefixe
gefördert, weil ihn die besondere Gelegenheit, die Busch-
mannsprachen zu studiren, welche sich ihm plötzlich darbot,
von seinen früheren Arbeiten abzog.
Ich versuche nun, als wie in Fortsetzung der Arbeit
Bleeks, im folgenden die Temporalformen in den Bantu-
sprachen zusammenzustellen, freilich nur soweit sich mir das
beschränkte Material darbot. Nur von einzelnen Sprachen
sind bereits ausgeführtem Grammatiken vorhanden, von
andern lag nur höchst wenig vor, und man hat da ähn-
lich wie ein Geolog zu verfahren, welcher aus wenigen
Knochen den Habitus und die Lebensweise eines urweltlichen
Thieres construirt. Indessen habe ich, wie sich im folgenden
zeigen wird, mich nur sehr wenig mit Hypothesen ab-
gegeben, sondern nur immer auf die Lücken hingewiesen,
welche fernere Forschung noch auszufüllen haben wird.
Immerhin hoffe ich durch diese Arbeit denjenigen Forschern,
welche sich daran abmühen, die Gesetze dieser fremden
Sprachen aus dem Munde geschwätziger Barbaren abzu-
lauschen, einige Winke zu geben, worauf sie bei ihrer
Arbeit zu achten haben.
Die Hülfsmittel, welche mir zu Gebote standen, sind
folgende:
Clarke, Specimens of Dialects in Africa. London, B. L. Green.
1879.
Koelle, Polyglotta Africana. London, Church Missionary
House. 1854.
Bleek, Comparative grammar. London, Trübner and Co. 1869.
Boyce, Grammar of the Kaffir language. London, John
Mason. 1863.
Grout, The Isizulu. Pietermaritzburg, May and Davis. 1869.
J. W. Davis, A Grammar of the Kaffir language. London,
Wesleyan Miss. Society. 1872.
78
G. G. Büttnei1,
Colenso, First Steps in Zulu. Pietermaritzburg, P. Davis
and Sons. 1871.
Endemann, Grammatik des Sotho. Berlin, W. Herz. 1875.
G. H. Hahn, Grammatik des Herero. Berlin, W. Herz. 1857.
Krapf, Elements of the Kisuaheli language. Tübingen, Friedr.
Fues. 1850.
E. Steere, Handbook of the Swahili language. London, George
Bell and Sons. 1875.
Le Berre, Grammaire de la langue Pongouée. Paris, Mai-
sonneuve et Cie. 1873.
L. Makey, Grammar of the Benga language. New York,
Presbyt. Miss. House. 1855.
Steere, Handbook of' the Shambala language. Zanzibar. 1867.
Steere, Handbook of the Nyamwezi language. London, Soc.
for prom, christ, knowledge. 1871.
Steere, Handbook of the Yao language. London, Soc. for
prom, christ, knowledge. 1871.
Steere, Handbook of the Makonde language. Zanzibar. 1876.
Steere, Short Specimes of Gindo, Zaramo, Angazidja. London,
Gh. Gull. 1869.
Mapler, Handbook of the Makua language. London, Society
for prom. Christ, knowledge.
Wie man sieht, sind hier Specimina von Bantusprachen
aus den verschiedensten Gegenden, die ganze Ostküste von
Afrika entlang, von den Swahilis in Zanzibar an bis zu den
Kaffern und Betschuanen im Süden, und ebenso auf der
Westküste von den Herero in Damaraland an bis zu den
Benga auf der Insel Coriseo. Die Sprachen sind ganz aufs
gerathewohl herausgegriffen und man kann wohl hoffen,
schon durch ihr Studium einen ungefähren Durchschnitt der
Formen zu erhalten, welche den Bantusprachen eigentümlich
sind. Wie wir sehen werden, ist die Uebereinstimmung in
sehr vielen Punkten höchst überraschend, und manchmal
möchte man geneigt sein, alle Bantusprachen überhaupt nur
für Dialecte eines einzigen Idioms zu halten.
Ich schicke einige allgemeine Bemerkungen über das
Verbum der Bantusprachen voraus (vergi, meinen Aufsatz
Die Temporalformen in den Bantusprachen, 79
über die Bantusprachen in der Zeitschrift der Gesellschaft
für Erdkunde. Berlin. Band XVI).
Der Verbalstamm bei den Bantus besteht ursprünglich
überall aus zwei Consonan ten mit einem Vocal in der Mitte.
Zum Schluss wird dann noch fast immer ein indifferentes a
hinzugefügt, weil die Bantu, wie es scheint, keine geschlossene
Silbe dulden. Wo einsilbige Verbalstämme vorzukommen schei-
nen, liegen, wie die verwanten Sprachen lehren, immer
Contractionen vor; der zweite Consonant war etwa ein j
oder V, welches sich zum Vocal erweichte. Aehnlich wie
bei den Semiten gibt es bei den Bantus eine Grundform und
abgeleitete Conjugationen, durch welche besonders Verhält-
nisse ausgedrückt werden, für deren Bezeichnung wir Prä-
positionen anwenden. Es existirt Activ und Passiv, letzteres
wird fast immer dadurch gebildet, dass an die Stelle des a
in der Endung des Activ ein ua tritt. Das Verbum wird
in den einzelnen Formen dadurch fleetirt, dass die Prono-
minalpräfire vor den Stamm resp. die Hülfssilben treten.
Und zwar richten sich die Verbalformen immer genau nach
dem Genus des Subjects, wobei allerdings festzuhalten ist,
dass man unter Genus in der Bantugrammatik etwas anderes
versteht als in den indogermanischen und semitischen Sprachen.
Empirisch könnte man die Regel so ausdrücken, dass das
Pronominalpräfix des Verbums immer genau dem Präfix des
Subjects entspricht.
In der Schreibung der angeführten Beispiele aus den
verschiedenen Sprachen habe ich ein einheitliches System
durchzuführen gesucht; bei der Auswahl der Beispiele sind
Laute, wTelche unserm Idiome ferner liegen, möglichst ver-
mieden. Im allgemeinen werden die Buchstaben so wie im
Deutschen gelesen. Zu bemerken wäre nur, dass
s immer scharf zu sprechen, wie im französischen soir,
z immer weich, wie ein französisches z.
Beide Laute werden zuweilen von den Bantu gelispelt,
besonders von denjenigen Stämmen, welche sich die Zähne
verunstalten.
sh und ch sind die englischen Laute wie in shilling und churcli.
80
C. G. Büttner,
X ist der deutsche Laut ch.
y ist ein Halb vocal; wird auch gebraucht, um den vorher-
gehenden Gonsonanten zu erweichen.
V wird lateinisch gelesen — w.
u ist vor einem Vocal eigentlich als uv zu lesen, ähnlich
dem englischen w.
Ich führe zunächst die Formen jeder einzelnen Sprache
für sich auf, indem ich mit den bekanntesten beginne und
dann zu jenen fortschreite, von denen weniger oder nur
lückenhaftes Material vorliegt. Zum Schlüsse werde ich dann
die einzelnen herausgefundenen Resultate resumiren.
I. Kaffir.
Die verschiedenen Kaffirdialecte differiren in den Punkten,
welche uns hier interessiren, nur wenig und können daher
auf einmal behandelt werden.
Als Grundform für alle übrigen können wir das parti-
cipiale Präsens annehmen, welches dadurch gebildet
wird, dass das nackte Pronominalpräfix vor den reinen
Stamm tritt: ngi tanda ich bin am Lieben. Davon werden
zunächst zwei andere Grundformen abgeleitet: ein Per-
fect um ngi tand-ile ich habe geliebt und ein Aorist ng-a
tanda ich liebte. In der Perfectform sind Gontractionen beim
schnellen Sprechen häufig, statt ngi tand-ile — ngi tand-e.
Um ein Beispiel zu geben, wie diese Formen durch alle
Personen durchflectirt werden, gebe ich hier das Präsens
und den Aorist vollständig. In allen übrigen temporibus
bleibt die Flexion der Pronominalformen dieselbe.
Präsens. Aorist.
ngi tanda ich liebe ng-a tanda ich liebte
u tanda du liebst u-a tanda du liebtest
si tanda wir lieben s-a tanda wir liebten
ni tanda ihr liebt n-a tanda ihr liebtet
1. u-mu-ntu der Mensch u (è) tanda liebt u-a tanda liebte
2. a-ba-ntu die Menschen ba (be) tanda lieben b-a tanda liebten
3. u-mu-ti der Baum u tanda u-a tanda
4. i-mi-ti die Bäume i tanda y-a tanda
5. i-li-zui das Wort Ii tanda l-a tanda
Die Temporalfovmen in den Bantusprachen.
81
Präsens. Aorist.
6. a-ma-zui die Worte a (e) tanda a tanda
7. i-si-fuba die Brust si tanda s-a tanda
9. i-mvu das Schaf i tanda y-a tanda
10. i-zi-mvu die Schafe zi tanda s-a tanda
11. u-lu-ti der Stock lu tanda lu-a tanda
14. u-bu-suku die Nacht bn tanda bu-a tanda
15. u-ku-ona das Sündigen ku tanda ku-a tanda.
Die Genera der Substantive sind hier und in den andern
Sprachen nach Bleeks System geordnet und numerirt: Genus
8, 12, 13, 16—18 fehlt den Kaffirsprachen.
Im Perfect verändert sich das Pronomen genau wie im
Präsens:
ngi tand-ile ich habe geliebt
u tand-ile du hast geliebt
si tand-ile wir haben geliebt
ni tand-ile ihr habt geliebt u. s. w.
Die Bedeutung des Präsens scheint zunächst einen bleiben-
den Zustand zu bezeichnen : ngi tanda ich bin am Lieben
amans sum. Doch meinen die Kaffirgrammatiker, dass diese
Form auch ganz unserm Präsens gleich gebraucht werden
könne.
Neben der einfachen Form des Präsens kommt auch
noch eine »emphatische« (Grout, Colenso) Form vor.
Diese entsteht, wenn an das Subjectspronomen die Hülfssilbe
ya angehängt wird: ngiya tanda ich liebe wirklich, uya tanda
du liebst wirklich u. s. w. Die Bedeutung dieser Form scheint
darin zu liegen, dass die Tatsächlichkeit der Handlung mehr
betont wird.
Der Aorist wird, wie wir gesehen, dadurch gebildet,
dass an das Personalpronomen ein a herantritt, vor welchem
der ursprüngliche Vocal des Pronomens meist elidirt wird.
Diese Form wird gebraucht, wenn von der Vergangenheit
schlechtweg die Rede ist, als erzählendes Tempus, wie von
oft wiederholten Handlungen.
Das Perfectum wird regelmäßiger Weise durch An-
hängung von - ile an den Stamm gebildet, doch kommen
hier viele Unregelmäßigkeiten der Endung besonders in den
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 1. fi
82
G. G. Büttner,
abgeleiteten Conjugation en vor. Schon hier will ich be-
merken, dass dies die einzige Form ist, bei welcher sich in
sehr vielen Bantusprachen derartige Unregelmäßigkeiten vor-
finden. Ich gehe hier über die Einzelnheiten hinweg, weil
dieselben für den vorliegenden Zweck gleichgültig sind.
Das Perfectum wird im Kaffir gebraucht, um eine jetzt
vollendete Handlung zu bezeichnen. Ngitandile ich habe
geliebt und jetzt ist es aus.
Von diesen drei Grundformen werden nun alle übrigen
Tempora durch Hülfspartikeln gebildet, welche von den
Grammatikern der Zulusprache für Hiilfsverba gehalten
werden.
Zunächst das Futurum: ngi ya ku-tanda ich gehe zu
lieben, gebildet durch das Präsens von ya gehen mit dem
jnfmitiv ¡cu-tanda zu lieben. Eine stärkere emphatische
des Futurs ist ngi za ku-tanda, mit dem Präsens von za
kommen; ngi za ku-tanda gleich: ich komme zu lieben.
Letztere Form bedeutet, dass der Beginn der zukünftigen
Handlung dicht bevorsteht. Beim schnellen Sprechen wird
auch das k fortgelassen: Ngi y a u tanda, und dann wohl
auch contrahirt ngo tanda u. s. w. Aber dies sind keine
besondern Formen, sondern auch nach dem Volksbewusstsein
nur durch nachlässige, schnelle Aussprache entstanden.
Von dem Präsens, Perfect, Futurum werden nun weitere
Formen abgeleitet, indem man das Perfect und den Aorist
des Verbums ha vorsetzt: ngi be (hier wird immer die con-
rahirte Form gebraucht) ich bin gewesen und nga ba ich war.
Es bildet sich also nun vom
Präsens ngi tanda das Imperfect 1. ngi be ngi tanda ich
liebte, vom
Perfect ngi tandile das Plusquamperfect 1. ngi be ngi tandile
ich hatte geliebt
Futur ngi y a ku tanda das Futur exact. 1. ngi be ngi y a ku
tanda ich werde geliebt haben
und wiederum vom
Präsens ngi tanda das Imperfect 2. nga ba ngi tanda
Perfect ngi tandile das Plusquamperfect 2. nga ba ngi tandile
Die Temporaiformen in den Bantusprachen. 83
Futur ngi ya kii tanda das Futur exact. 2.
Im tanda.
Es ist selbstverständlich, dass in allen
beide Pronomina weiter flectirt werden, als
ngi be ngi tanda ich liebte
u be u tanda du liebtest
si be si tanda wir liebten
ni be ni tanda ihr liebtet
u. s. w.;
im Imperfect 2.
nga ba nga tanda ich liebte
ua ba ua tanda du liebtest
sa ba sa tanda wir liebten
na ba na tanda ihr liebtet
Beim eiligen Sprechen werden die Formen oft abgekürzt,
z. B. für ngi be ngi tanda — bengitanda
u be u tanda — ubutanda
u. s. w.
oder auch für nga ba ngi tanda — ngangitanda
ua ba u tanda — uautanda
u. s. w.
Der Unterschied in der Bedeutung der Tempora beruht
auf dem Unterschiede des Perfects und des Aorists überhaupt.
Wir haben also nun bereits zehn Tempora, abgesehen
von den emphatischen Formen :
Präsens, Aorist, Perfect, Futur,
Imperfect 1. Plusquamperfect 1. Futur exact. 1.
Imperfect 2. Plusquamperfect 2. Futur exact. 2.
Von allen diesen Formen können nun wieder durch
Hinzufügung neuer bedeutungsvoller Hülfssilben und Hülfs-
verba neue Formen gebildet werden, und zwar (nach der
Nomenclatur von Grout):
a) die continuirende Form
b) die definitive Form
c) die indefinite Form
d) die correlative Form.
6*
nga ba ngi ya
diesen Formen
im Imperfect 1#
84
C. G. Büttner,
Bei der continui renden Form tritt hinter das Pronomen
mit seinen Affixen die Silbe sa dicht vor den Verbalstamm.
Die Bedeutung ist, dass die Handlung bereits vor der durch
das Tempus bezeichneten Zeit begonnen hatte und dann
noch fortdauert. Es wird also gebildet, vom
Präsens ngi tanda — ngi sa tanda ich liebte und liebe
noch
Aorist nga tanda — nga sa tanda ich liebte früher und
auch damals noch
Perfect ngi tandile — ngi sa tandile
Futur ngi ya ku tanda — ngi sa ya kutanda ich liebe
und werde auch dann noch lieben
Imperfect ngi be ngi tanda — ngi be ngi sa tanda
Plusquamp. ngi be ngi tandile — ngi be ngi sa tandile
u. s. w.
Die definitive Form wird gebildet, indem die Silbe se
vor das Subjectspronomen gesetzt wird. Die Bedeutung der-
selhen wird so angegeben, dass die ausgesagte Handlung
zwar früher nicht zu Gange gewesen, nun aber wirklich be-
gonnen habe und daher auch wohl fortgesetzt werden werde,
natürlich immer in dem durch das Tempus selbst bezeichneten
Zeitpunkt. Man bildet also z. B.
vom Präsens ngi tanda — se ngi tanda, zwar früher
liebte ich nicht, aber jetzt liebe ich und
werde daher auch noch ferner lieben
Perfect ngi tandile — se ngi tandile
Futur ngi ya ku tanda — se ngi ya kit tanda
Imperfect 1. ngi mbe ngi tanda — ngi mbe se ngi tanda
Plusquamp. 1. ngi mbe ngi tandile — ngi mbe se ngi
tandile
Futur exact. 1. ngi ya ku ba ngi tandile — se ngi ya
ku ba ngi tandile.
Die indefinite Form wird gebildet durch EinSchiebung
der Silbe ka vor das Subjectspronomen, welches zuweilen
vor dem ke noch einmal wiederholt wird. Dabei wird im
Präsens und Futur der Endvocal des Verbums in e ver-
wandelt, während in den übrigen Formen das a bleibt.
Die Temporalformen in den Bantusprachen. 85
Diese Form bedeutet, dass die angegebene Handlung eine
nicht immerwährendeist, sondern dass nur zuweilen, dann
und wann, dasjenige geschieht, was das Verbum aussagt.
Es wird also gebildet z. B.
vom Präsens ngi tanda — (ngi) he ngi lande
Aorist nga tanda — (nga) he nga tanda
Perfect ngi tandile — (ngi) he ngi tandile
Futur ngi ya ku tanda — ngi ya hu he ngi tanda
Imperf. 1. ngi mbe ngi tanda — (ngi) mbe ngi he
ngi tande
Plusquamp. 1. ngi mbe ngi tandile — (ngi) mbe ngi he
ngi tandile
Fut. exact. 1. ngi ya hu be ngi tandile — ngi ya hu he
ngi be ngi tandile
u. s. w. u. s. w.
Die correlative Form wird gebildet mit dem Hülfs-
zeitwort za kommen, das Hülfszeitwort steht dann beim
Präsens und den davon abgeleiteten Formen im Präsens,
beim Aorist u. s. w. im Aorist, beim Perfectum u. s. w. im
Perfect. Wenn das Verbum diese Form annimmt, dann
muss immer noch ein Satz vorausgehen, auf welchen sich
die correlative Form beziehen kann. Die Handlung wird
dann als in unmittelbarer Beziehung mit dem voraufgehen-
den gedacht. Es wird hier bei der Uebersetzung ins Deutsche
ein »bis« oder »während« eingeschoben werden müssen.
Z. B. ngi ya hu hamba ngi ze ngi fihe ich werde gehen, bis
ich ankommen werde.
Die Formen werden im einzelnen in folgender Weise
gebildet, z. B.
vom Präsens ngi tanda — ngi za ngi tanda
Aorist nga tanda — ngi za nga tanda
Perfect ngi tandile — ngi ze ngi tandile
Futur ngi ya hu tanda — ngi ze ngi ya hu tanda
u. s. w.
Wir haben also im Kaffir im ganzen 10 X 6 Formen,
10 Tempora, von denen die Grundform, die emphatische,
86
G. G. Büttner,
die coütinuirende, definitive, indefinite, correlative Form (in
der Theorie) gebildet werden können, eine überwältigende
Fülle, zumal wenn man noch die vielen Nebenformen hinzu-
nimmt, welche beim schnellen und nachlässigen Sprechen
entstehen. Es ist hier die Möglichkeit, durch die gewählte
Form auf das allergenaueste die Zeit und die Dauer der
Handlung sowohl absolut, wie im Verhältnis zu den be-
gleitenden Umständen auszudrücken. Dabei ist das Princip,
nach welchem diese vielen, fast unübersehbaren Formen ge-
bildet werden, das denkbar einfachste. Wer einmal das
Rätsel der Formenbildung kennt, kann leicht mit dem Schema
hantiren, und im Munde der Eingeborenen kommen auch
die längsten und vollsten Formen öfter vor, als man denkt.
Der Europäer ist freilich entwöhnt, sich die Umstände, von
denen er spricht, so genau und so plastisch deutlich vorzu-
stellen, wie der Kaffir, und erst ganz allmählich lernt er alle
Formen wirklich anwenden.
II. Sotho.
Obwohl das Sotho (oder die Sprache der Betschuanen)
von dem Kaffir sehr verschieden erscheint, wenn man die
Wörterbücher beider Sprachen vergleicht, so ist doch die
Art und Weise, wie hier und dort die Temporalformen ge-
bildet werden, eine überraschend ähnliche. Die Flexions-
gesetze sind offenbar dieselben und die Flexionssilben in
vielen Fällen nur dialectisch verschieden.
Auch im Sotho liegt allen übrigen eine Urform zu
Grunde, welche durch bloße Nebeneinanderstellung des Sub-
jectpronomens mit dem Verbalstamme gebildet wird. Ich
führe hier ein Beispiel durchconjugirt vor.
lie lira ich tue
o lira du tust
re lira wir tun
le lira ihr tut
1. nio-thu1 der Mensch o lira er tut
2. ba-thi die Menschen va lira sie tun
1 tli ist ein dem Sotho eigentümlicher Laterallaut.
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
3. mo-tse der Kraal ó lira1
4. me-tse die Kraale e lira
5. le-ru die Wolke le lira
6. ma-ru die Wolken a lira
7. se-liuba die Brust se lira
8. li-huba die Brüste li lira
9. —nhu das Schaf é lira1
10. li-nhu die Schafe li lira
14. vo-noa die Trinkstätte vo lira
15. yo-rata das Lieben yo lira
Die Bedeutung dieser Grundform stellt die Handlung als
in der wirklichen oder gedachten Gegenwart geschehend vor,
ohne Beziehung auf vorhergegangene oder nachfolgende Acte.
Daher wird es auch gebraucht für Handlungen, die zu allen
Zeiten gegenwärtig sind, z. B. für solche, die einem gewohn-
heitsmäßig geworden sind, u. ähnl.
Von dieser Grundform werden zunächst abgeleitet
ein futurales Präsens he a lira
ein Perfect he lir-ile
ein Futur he tla lira.
Diese Formen entsprechen durchaus denen im Kaffir,
nur dass die Bedeutung der ersten Form dort eine aoristische,
auf die Vergangenheit bezügliche ist, während sie im Sotho
eine gegenwärtige noch im Gange befindliche Handlung be-
zeichnet, welche über den gegenwärtigen Augenblick noch
in die Zukunft hinausreicht. (Endemann nennt diese Form
Imperfectes Präsens.) Beim Perfect ist die Ueber-
einstimmung der Form eine völlige, die Bedeutung ist sehr
ähnlich, sie stellt im Sotho die Handlung als in der Gegen-
wart vollendet seiend dar.
Das Futurum ist auch hier durch ein Hülfszeitwort, tla,
gebildet, allerdings scheint hier das Zeichen des Infinitivs zu
fehlen, doch haben einzelne Dialecte des Sotho statt he tla
lira — he tlo lira, welche letztere Form als aus he tla %o
lira entstanden anzusehen ist, j£0 lira aber ist der Infinitiv
1 Der Accent drückt die besondere Betonung des Vocals aus.
88
C. G. Büttner,
(die Silbe x° Sotho ist von der Silbe hu im Kaffir nur
dialectisch verschieden), so dass damit auch hier die Bildung
eine vollkommen gleiche wäre.
Von den genannten vier Formen werden nun durch den
Hinzutritt des Hülfsverbum va sein resp. in den Dialecten
na und la im Präsens, Perfect und Futur neue Formen ge-
bildet. Also vom
Präsens he lira — he ve he lira, he ila ve he lira,
Fut. Präsens hea lira — he vile hea lira,
Perfect he lirile — he ve he lirile, he vile he lirile, he
tla ve he lirile,
Futur he tla lira — he ve he tla lira, he vile he tla lira
u. s. w.
Durch den Hinzutritt der Hülfsverba wird nun die Zeit
der Handlung genauer bestimmt. Es würde zu weit führen,
alle Einzelnheiten, wie sie Endemann angibt, hier wiederzu-
geben. Einige Beispiele mögen genügen : Bei he vile hea lira
(= ich bin gewesen, ich bin am Tun) denkt man, dass die
Handlung in der vollendeten Zeit bereits begonnen und in
der gegenwärtigen noch im Gange ist. Bei he vile he lirile
(= ich bin gewesen, ich habe getan) wird die Handlung
als vollendet dargestellt und zwar so, dass zwischen dieser
Vollendung und der Gegenwart schon wieder eine Zeit voll-
endet ist, u. s. w.
Vor die einfach zusammengesetzten Tempora können
nun (mit geringen, im Sinne begründeten Ausnahmen) noch
einmal die verschiedenen Formen des Hiilfszeitworts treten.
Es ergeben sich dann Formen wie
he ve he ve he lira
he ve he vile he lira
he ve he vile he tla lira u.s.w. u.s.w.
Die Bedeutung dieser Formen bezeichnet den Moment
und die Dauer der Handlung nun noch genauer und noch
mehr den Umständen angemessen.
Im ganzen werden im Sotho neben den 4 Grundformen
11 einfach zusammengesetzte und 22 doppelt zusammengesetzte
Formen aufgestellt.
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
89
III. Herero.
Im Herero ist der Gebrauch von Hülfszeitwörtern nicht
erkennbar.
Dagegen erhält man auch hier durch die bloße Zu-
sammenstellung des Subjectpronomens mit dem Verbalstamm
eine Grundform: ndyi oder mbi suta ich bin am Bezahlen.
In der Bedeutung dieser Form wiegt das participiale Moment
vor, eine eigentliche Zeitbestimmung scheint mit diesem
Tempus weniger beabsichtigt. Hahn nennt deshalb diese
Form participialer Aorist.
Von dieser Grundform wird nun zunächst ein Präsens,
ein Präteritum und ein H ist or i eu m gebildet, und zwar
das Präsens, indem vor das Pronomen ma gesetzt wird,
das Präteritum, indem hinter das Pronomen a tritt
(wie im Aorist des Kaffir),
das Historicum, indem vor das Pronomen a tritt.
Außerdem wird in diesen Formen bei den Stammverben
(nicht in den abgeleiteten Gonjugationen) die Vocalharmonie
durchgeführt. Es tritt nämlich in die zweite Silbe des Stammes,
statt des neutralen a, derselbe Vocal wie in der ersten Silbe.
Man bildet also z. B.
von oku-vara zählen me vara ich zähle,
oJcu-vera krank sein me vere ich bin krank,
oku-rira weinen me riri ich weine,
oku-rora versuchen me roro ich versuche,
oku-suta bezahlen me sutu ich bezahle.
NB. Das Infinitivpräfix oku im Herero entspricht dem
hu, im Ivaffir, dem yjo im Sotho.
Um auch hier ein Bild zu geben, wie sich die Prono-
minalformen für die einzelnen Personen und Genera ver-
ändern, gebe ich die folgenden Formen schematisch durch-
conjugirt.
Grundform. Präsens. Präteritum. Historicum.
1. Pers. Sing, mbi suta ich bezahle me sutu mb-a sutu e sutu
2. Pers. Sing, u suta m-o sutu u-a sutu o sutu
1. Pers. Plur. tu suta ma-tusutu tu-asutu a-tusutu
90
G. G. Büttner,
Grundform. Präsens. Präteritum. Historicum.
2. Pers. Plur. mu suta ma-mu sutu mu-a sutu a-mu sutu
1. o-mu-ndu der Mensch u suta m-a sutu u-a sutu a sutu
2. o-va-ndu die Menschen ve suta ma-ve sutu v-a sutu a-ve sutu
3. o-mu-ti der Baum u suta ma-u sutu u-a sutu a-u sutu
4. o-mi-ti die Bäume vi suta ma-vi sutu vi-a sutu a-vi sutu
5. e-mbo das Wort ri suta ma-ri sutu r-a sutu a-ri sutu
6. o-ma-mbo die Worte e suta ma-e sutu u-a sutu a-e sutu
7. o-tyi-na das Ding tyi suta ma-tyi sutu tij-a sutu a-tyi sutu
8. o-vi-na die Dinge vi suta ma-vi sutu vi-a sutu a-vi sutu
9. o-ndu das Schaf i suta ma-i sutu y-a sutu a-i sutu
10. o-zo-ndu die Schafe ze suta ma-se sutu z-a sutu a-ze sutu
11. 0-1 •u-veze der Ort ru suta ma-ru sutu ru-a sutu a-ru sutu
12. o-tu-veze die Orte tu suta ma-tu sutu tu-a sutu a-tu sutu
13. o-ka-ti der Stock Ice suta ma-Jce sutu k-a sutu a-lce sutu
14. o-u-ti die Stöcke u suta ma-u sutu u-a sutu a-u sutu
15. o-ku-tyita das Tun ku suta ma-ku sutu ku-a sutu a-ku sutu
16. o-po-na die Stelle da 1 pe suta ma-pe sutu p-a sutu a-pe sutu
17. o-ko-na die Stelle dort1 ku suta ma-ku sutu ku-a sutu a-ku sutu
18. o-mo-na die Stelle hier1 mu suta ma-mu sutu mu-a sutu a-mu sutu
Das Präsens bezeichnet eine Handlung als gegenwärtig,
doch so, dass sie als auch in der nächsten Zukunft gedacht
wird; das Präteritum bezeichnet, dass die Handlung in der
Vergangenheit begonnen, das Historicum ist einfach er-
zählendes Tempus.
Von dem Präsens kann das Futurum abgeleitet gedacht
werden; es wird bei dem letzteren zwischen der Vorsilbe
ma und dem Pronomen noch ein a eingeschaltet. In der
ersten und zweiten Person Singularis ist das Bildungsprincip
durch vocalharmonische Einflüsse verwischt, dagegen tritt es
in den übrigen Formen deutlich hervor.
Präsens. Futur.
me sutu ich bezahle mee sutu ich werde bezahlen
mo sutu du bezahlst moo sutu du wirst bezahlen
ma-tu sutu wir bezahlen ma-a-tu sutu wir werden bezahlen
ma-mu sutu ihr bezahlt ma-a-mu sutu ihr werdet bezahlen
1 Die Worte opona, okona, omona, welche eine Stelle bezeichnen,
werden häufig im Herero gebraucht, wo wir im Deutschen einfach un-
persönlich reden. Der Herero stellt sich aber alles local vor.
Die Temporalformen in den Bantusprachen. 91
Präsens. Futur.
ma sutu er bezahlt ma-a sutu er wird bezahlen
ma-ve sutu sie bezahlen ma-a-ve sutu sie werden bezahlen
u. s. w.
Neben das Präteritum tritt noch ein Aorist und ein
Perfectum. Alle drei Tempora haben gleiche Pronominal-
formen, dagegen tritt im Aorist in die zweite Silbe wieder
das a (sodass diese Form durchaus dem Aorist im Kaffir
und dem Muralen Präsens im Sotho gleich gebildet er-
scheint). Im Perfectum tritt die Endung ire, resp. ene, ine,
ene an den Stamm. Also auch hier dieselbe Silbe, wie im
Kaffir und im Sotho, da das Herero kein l kennt und dafür
immer r gebraucht. Nur tritt im Herero vor diese Form
nicht das nackte Pronomen, sondern dasselbe ist hier durch
das aoristische a erweitert.
Der Aorist bezeichnet eine dauernde, der Vergangenheit
angehörige Handlung, das Perfect eine vollendete Handlung,
meist mit dem Nebenbegriff, dass die Sache schon lange her
ist. Also
Historicum: ua sutu er bezahlte (seiner Zeit),
Aorist: ua suta er bezahlte (wenn Gelegenheit war),1
Perfect: ua sutire er hat bezahlt.
Allen angeführten Formen kann man durch Vorsetzung
eines a eine participiale Bedeutung geben. Im Deutschen
würde diese Form (welche in Hahns Grammatik noch nicht
aufgeführt ist) etwa mit indem, weil, zu übersetzen sein.
Diese Form kann nicht selbstständig gebraucht werden,
sondern sie verlangt, dass ein anderes Verbum, welches die
Haupthandlung angibt, vorausgeht.
Es wird also gebildet
von der Grundform mbi suta — a mbi suta
Präsens me sutu — a-me sutu
Futur mee sutu — a-mee sutu
Präteritum mba sutu — a-mba sutu
u. s. w.
1 Vergleiche auch über diese Form die Bemerkung in der Be-
sprechung des Yao,
92
C. 6. Büttner,
Wenn die Partikel ka zwischen das Pronomen und den
Verbalstamm tritt, so wird damit ausgedrückt, dass die im
Tempus angedeutete Handlung in der nächsten Zeit beginnen
soll: me ka tona ich werde sogleich schlagen.. In den mit
lia zusammengesetzten Formen wird die Vocalharriionie nicht
beachtet.
Eigentliche Hülfszeitwörter wie im Kaffir und Sotho
kommen im Herero nicht vor. Was in Hahns Grammatik
als Hülfszeitwort aufgeführt ist, ngunda und ngara, ist- so
aufzufassen wie etwa im Griechischen durch Tvy%avoo und
Xavüúvto adverbiale Begriffe durch ein Verbum finitura aus-
gedrückt werden.
IV. Suaheli.
Im Suaheli kommt eine solche Grundform, wie wir sie
bisher aufgefunden haben, eine bloße Zusammenstellung
des Subjectspronomens mit dem Verbalstamm, nur in Ver-
bindung mit dem Relativpronomen vor, welches im Suaheli
der Verbalform angehängt wird. Ich führe diese Form
durch alle Formen durch, weil auch hier von dieser, nach
Wegstreichung des Relativpronomens alle übrigen Tempora
abgeleitet werden können.
1. Pers. Sing, ni penda ye ich, der ich liebe
2. Pers. Sing, u penda ye du, der du liebst
1. Pers. Plur. tu penda o wir, die wir lieben
2. Pers. Plur. mu penda o ihr, die ihr liebt
1. mu-ana a penda ye das Kind, welches liebt
2. va-ana ua penda o die Kinder, welche lieben
3. mu-ili der Leib u penda o
4. mi-ili die Leiber i penda yo
ò.ji-cho das Auge li penda lo
6. ma-cìio die Augen ya penda yo
7. ki-tu das Ding ki penda elio
8. vi-tu die Dinge vi penda vio
9. -ndyumba das Haus i penda yo
10. -ndyumba die Häuser zi penda so
11.(14.) u-imbo der Gesang u penda o
15. u-ku-londa das Verlangen ku penda ko
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
93
16. p anguJca po wo es fällt
17. ku anguka ko wo es fällt.
Die letzte Silbe ist die Bezeichnung des Relatives, welches
sich ebenfalls, wie man sieht, nach dem Genus des Subjects
richtet.
Das Suaheli bildet nun von der Grundform die übrigen
Tempora dadurch, dass dem Subjectspronomen Silben ange-
hängt werden.
-a für ein indefinites Präsens n-a penda,
-na für den Aorist ni na penda,
-me für das präsentische Perfect ni me penda,
-ali für das Präperfect n-ali penda,
-ka für das Historicum ni-ka penda (dieses ka wird oft
wie ki gesprochen),
-ta für das Futurum ni-ta penda.
Ueber die Bedeutung dieser Tempora sagt Steere: Das
- indefinite Präsens entspricht unserm gewöhnlichen eng-
lischen Präsens. Der Aorist, welchen Steere »Present Im-
perfect« nennt, bezeichnet einen dauernden Zustand: ni na
penda ich bin am Lieben. Das präsentische Perfect be-
zeichnet eine jetzt vollendete Handlung: ni me penda ich
habe jetzt geliebt. Das Präperfect bezeichnet die Handlung
als in der Vergangenheit vollendet n-ali penda ich habe einst
geliebt, die Bedeutung dieser Form kommt der eines Plus-
quamperfects in der Praxis ziemlich nahe. Das Historicum
wird in der Erzählung gebraucht, doch muss sich ein Verbum
in dieser Form immer an einen vorhergehenden Satz an-
schließen; wir würden also bei der Uebersetzung immer noch
ein »und« hinzufügen. Das Futurum scheint ganz dem
Futurum der europäischen Sprachen zu entsprechen.
Durch Vorsetzung der Formen von ua sein vor das
präsentische Perfect und das Historicum wird die längere
Dauer in participialer Weise ausgedrückt.
V. Sliainlbala.
Ueber die Verbalformen dieser Sprache liegt nur wenig
Material vor. Eine Grundform, bestehend aus bloßem Pro-
nomen und Verbalstamm, führt Steere nicht auf.
94 C. G- BÛttner,
Wir wollen eine solche supponiren, um uns die Bildung
der übrigen Formen zu verdeutlichen:
1. Pers. Sing, ni kunda (ich liebe)
2. Pers. Sing, u kunda
1. Pers. Plur. ti kunda
2. Pers. Plur. mu kunda
1. mu-ntu der Mensch a kunda
2. ua-ntu die Menschen ua kunda
3. mu-ti der Baum u hunda
4. mi-ti die Bäume vi kunda
5. -dna der Name yi kunda
6. ma-zina die Namen ya kunda
7. ki-ntu das Ding ki kunda
8. vi-ntu die Dinge vi kunda
9. -ngombe der Ochs i kunda
10. -ngombe die Ochsen zi kunda
11. lu-ayo die Spur lu kunda
13. ka-yßshi der Jüngling ka kunda
14. u-ila der Gesang u kunda
15. ku-fa das Sterben ku kunda
17. ha-ntu die Stelle ha kunda.
Von dieser (zu supponirenden) Form wird gebildet
ein Präsens durch Hinzufügung eines a zum Pronomen
n-a kunda,
ein Perfect durch Hinzufügung eines za zum Pronomen
ni za kunda,
ein Narrativ durch Hinzufügung eines ka zum Pronomen
ni ka kunda.
Wie man sieht, hat man in der ersten Form die aus
dem Kaffir, Sotho, Herero bekannte Form, die ja im Sotho
auch präsentische Bedeutung hat.
Beim Futur wird dem Pronomen ein na vorgesetzt,
und dabei der Schlussvocal in e verwandelt: na ni künde.
Vom Perfect wird durch Vorsetzung von ne vor das
Präfix ein Präperfect gebildet: ne ni za hunda.
Ueber die Bedeutung dieser Formen gibt Steere nur
Andeutungen. Präsens und Futurum entsprechen etwa dem
Die Tempòralforttien in den Bantusprachett.
95
indogermanischen. Das Perfect wird gebraucht von einer
jetzt vollendeten Handlung, das Präperfect von einer schon
früher abgeschlossenen. Das Narrativum schießt sich wie
im Suaheli an einen vorhergehenden Satz an.
Es muss noch eine offene Frage bleiben, ob sich nicht
später im Shambala noch eine größere Fülle von Formen
finden wird.
VI. Nyamuezi.
Auch hier liegt nur geringes Material vor.
Wir supponiren auch hier eine Grundform (Pronomen
mit Stamm) von dem alles übrige abgeleitet gedacht werden
kann.
1. Pers. Sing, n-tula (ich schlage)
2. Pers. Sing, u tula
1. Pers. Plur. tu tula
2. Pers. Plur. mu tula
1. mu-rihu der Mensch a tula
2. ua-nhu die Menschen ua tula
3. mu-ti der Baum gu tula
4. mi-ti die Bäume i tula
5. i-gi das Ei li tula
6. ma-gi die Eier ga tula
7. ki-nhu das Ding M tula
8. fi-nhu die Dinge fi tula
9. -nuniba das Haus i tula
10. -numba die Häuser zi tula
11. lu-kui das Holz lu tula
12. tu-saJco die Kämme tu tula
13. Tca-saho der Kamm lia tula
14. u-u-ganga das Gift u tula
15. hu-fa das Sterben hu tula
17. ha-nze der Platz Jia tula.
Steere führt folgende Formen an:
1. ein Präsens, bei welchem Ii an das Pronomen an-
gehängt wird:
di tula ich schlage (contrahirt)
u li tula du schlägst
96
C. G. Büttner,
tu li tula wir schlagen
mu li tula ihr schlagt ii. s. w.
2. ein Narrativ, bei welchem dem Pronomen ein a
angehängt wird :
n-a tula ich schlug
u-a tula du schlugst
tu-a tula wir schlugen u. s. w.
Wir haben hier wieder genau jene Form, welche wir
schon so oft gefunden haben.
Von dem Narrativ wird ein Perfect abgeleitet, indem
dem Stamme ein ga angehängt wird: na tula ga ich habe
geschlagen. Ich mache schon hier darauf aufmerksam, dass
wir ähnlich gebildete Tempora noch in andern Sprachen,
im Pongwe, Benga u. s. w., finden werden.
3. ein Präperfect, indem dem Stamme ein ile oder
ize angehängt wird:
ni tul-ile ich habe (einst) geschlagen.
Auch diese Form ist uns aus dem Kaffir, Sotho, Herero
wohlbekannt.
4. ein Futurum, indem dem Verbalstamme ein ku
vorgesetzt wird:
n Jeu tula (contrahirt) ich werde schlagen
u hu tula
tu hu tula
mu hu tula.
Nach der Uebereinstimmung, welche wir bisher gefunden
haben, werden wir geneigt sein, auch diese Form nach
Analogie des Kaffir zu erklären, indem wir das hu für das
Infinitivpräfix halten: tu hu tula = ich zu schlagen, dabei
könnte man möglicherweise meinen, dass das Hülfsverbum
ausgefallen ist.
Ueber die Bedeutung von Präsens und Futur hat Steere
keine Bemerkung, es muss ihm also dabei noch nichts Auf-
fälliges vorgekommen sein. Der Narrativ setzt, wie im Suaheli
und Shambala die bereits angefangene Erzählung fort, man
müsste also im Deutschen noch ein »und« hinzusetzen. Das
Perfect erzählt vergangene Dinge. Das Präperfect kommt
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
97
nach Steere nur selten vor und scheint sich nur auf voll-
kommen abgeschlossene Zustände zu beziehen.
VII. Yao.
Auch hier supponimi wir eine Grundform.
1. Pers. Sing, n tenda (ich tue)
2. Pers. Sing, u tenda
1. Pers. Plur. tu tenda
2. Pers. Plur. m tenda
1. mu-ndu der Mensch a tenda
2. va-ndu die Menschen a tenda
3. m-tela der Baum u tenda
4. mi tela die Bäume yi tenda
5. li-uago die Axt li tenda
6. ma-uago die Aexte ga tenda
7. cJii-ndu das Ding cid tenda
8. i-ndu die Dinge i tenda
9. -nyumba das Haus yi tenda
10. -nyumba die Häuser si tenda
11. lu-saso das Holz lu tenda
12. tu-anache die Kinder tu tenda
*
13. ka-anaclie das Kind Ica tenda
15. Jcu-uua das Sterben Jeu tenda
16. pa-ndze die Stelle pa. tenda.
Von dieser (supponirten) Grundform werden zwei Prä-
sentia abgeleitet, indem die beiden Localpartikeln ku und
pa zwischen Pronomen und Verbum treten:
mu-ndu a ku tenda
mu-ndu a pa tenda.
Während die erste nur einfach eine gegenwärtige Hand-
lung zu bezeichnen scheint, bedeutet die zweite, dass es in der
Natur des Subjects liege, so zu tun wie das Verbum aussagt:
a ku guluka er fliegt (tatsächlich), etwa wie ein Fallender
herabfliegt.
a pa guluka er fliegt, etwa wie ein Vogel.
Ferner wird von der Grundform ein Perfect um ab-
geleitet durch Anhängung von ile oder ele. Wir haben also
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 1. 7
98
C. 6. Büttner,
hier wieder die uns aus dem Kaffir, Sotho u. s. w. wohl-
bekannte Perfectform. Wie in den andern Sprachen gibt
diese Form auch im Yaso zu vielfachen Contractionen und
Assimilationen Anlass, so dass die Bildung derselben in der
Praxis sehr unregelmäßig erscheint z. B. von tenda — n-desile
ich habe getan.
Eine einfache narrativische Form, in welcher das Pro-
nomen durch ein a verstärkt ist, wie wir dieselbe in andern
Sprachen gefunden, ist noch nicht nachgewiesen, dagegen
können wir uns von einer solchen (zu supponirenden) Form
folgende Formen abgeleitet denken:
1) Ein Präperfect durch Anhängung von ile, so dass
wir hier eine dem Herero völlig analoge Form, wo auch das
a an das Pronomen angehängt, und die Endung ire in einer
Form finden:
n-a tes-üe (contrahirt aus tend-ile) ich habe (einst) getan.
2) Ein Imperfect durch Anhängung von ga an den
Verbalstamm, ähnlich wie das Perfect im Nyamuezi und das
Narrativ im Shambala (vergi, auch den Gebrauch derselben
Silbe im Suaheli).
n-a tenda ga ich war beschäftigt.
Ich möchte annehmen, dass von dieser Form einiges
Licht auf die Bildung des Aorist im Herero fallen könnte.
Wir hatten dort neben
dem Historicum mba sutu
den Aorist mba suta\
man könnte meinen, dass hier etwa eine Contraction aus
suta ga oder sutu ga vorliege.
Futura werden im Yao drei nachgewiesen. Allen
dreien ist gemeinschaftlich, dass ein ti vor das Pronomen tritt.
Bei der ersten einfachsten Form, welche bloß die Zu-
kunft ausdrückt, genügt dieses vorgesetzte ti, nur wird der
Endvocal des Verbalstamms in e verändert:
ti n-dende ich werde tun.
Eine zweite Form, welche man etwa Inceptiv nennen
könnte und welche ausdrückt, dass die Handlung des Verbum
sofort eintritt, wird von der vorgehenden gebildet, indem
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
99
man noch ha hinter das Subjectspronomen einschiebt, also
auch hier eine Silbe mit ähnlicher Bedeutung wie im Herero:
ti-n-ga tende ich bin daran zu tun
ti-u-Jca tende du bist daran zu tun
ti-tu-Jca tende wir sind daran zu tun
ti-m-ka tende ihr seid daran zu tun
u. s. w.
Ein drittes Futurum, welches man Postfuturum
nennen könnte, bezeichnet, dass die Handlung erst in ferner
Zukunft eintritt, und wird gebildet, indem vor das Pronomen
die Silbe ti, hinter dasselbe chi tritt. Am Schlüsse bleibt in
dieser Form das a, z. B.
ti-n-yi tenda ich werde einst tun
ti-u-chi tenda du wirst einst tun
tu-tu-cìii tenda wir werden einst tun
ti-m-chi tenda ihr werdet einst tun
u. s. w.
VIII. Makua.
Die (zu supponirende) Grundform würde hier lauten:
1. Pers. Sing. Ici panga ich tue
2. Pers. Sing, u panga
1. Pers. Plur. ni panga
2. Pers. Plur. m panga
1. m-t'U der Mensch a panga
2." a-tu die Menschen y a panga
3. mu-iri der Baum u panga
4. mi-iri die Bäume i panga
5. ni-hute die Wolke ni panga
6. ma-hute die Wolken a panga
7. clio-lia die Nahrungsmittel chi panga
8. yo-lia das Nahrungsmittel i panga
9. i-nupa das Haus i panga
10. i-nupa die Häuser i panga
14. va-chitu der Platz va panga
15. u-panga das Tun u panga
18, m-chitu die Plätze m panga
100
C. G. Büttner,
Von dieser (supponirten) Grundform wird gebildet:
1. ein futur ales Präsens durch Einschiebung von no
vor den Stamm
ki no panga ich tue und werde tun
2. ein Perfect durch Einschiebung von ho vor den Stamm
ki ho panga ich habe getan, und bin nun fertig.
Eine Form, in welcher das Pronomen durch ein a ver-
stärkt ist, ist nicht nachgewiesen, dagegen werden von einer
solchen (zu supponirenden) Form durch Einschiebung von
no und ho gebildet:
1. ein »Past Imperfect« (Maples)
k-a no panga
2. ein »Past Perfect« (Maples)
k-a ho panga.
Die Bedeutung beider Formen ist nicht näher angegeben.
Von dem Muralen Präsens wird durch Anhängung von
ka an den Verbalstamm eine neue Form gebildet, welche
bezeichnet, dass die Handlung eine dauernde ist; Maples
nennt die Form »Present Imperfect«; z. B.
ki no panga ka ich bin am Tun,
Ein Futurum wird ähnlich wie im Kaffir durch ein
Hülfszeitwort gebildet, indem das Präsens von kala sein vor
den Infinitiv tritt, z. B.
ki no kala u-panga — ich werde sein zu tun.
Weiteres ist für Makua noch nicht nachgewiesen.
Beiläufig wollte ich hier erwähnen, dass im Makua in
höflicher Redeweise, wenn nicht gerade zu einem Unter-
gebenen gesprochen wird, in zweiter und dritter Person
immer der Plural statt des Singular gebraucht wird.
IX. Makonde.
Auch hier supponiren wir eine Grundform.
1. Pers. Sing, n y opa (ich fürchte)
2. Pers. Sing, u yopa
1. Pers. Plur. tu yopa
2. Pers. Plur. mu yopa
1. niu-nu der Mensch u yopa
Die Temporalformen in den Bantusprachen. 101
2. va-nu die Menschen va yopa
3. m-nandi der Baum u yopa
4. mi-landi die Bäume i yopa
5. li-chinya der Hiigel Ii yopa
6. ma-chinya die Hügel ma yopa
7. chi-nu das Ding chi yopa
8. vi-nu die Dinge vi yopa
9. -ngande das Haus i yopa
10. li-ngande die Häuser Ii yopa
11. lii-idi die Thüre lu yopa
12. tu-uedo die Aexte tu yopa
13. ka-uedo die Axt ha yopa
14. u-vimbo das Haar u yopa
15. ku-tu das Ohr ku yopa
16. pa-Jiali der Platz pa yopa.
Von Verbalformen sind vorläufig nur wenige nachgewiesen.
Ein futur al e s Präsens wird gebildet durch na,
welches vor den Stamm tritt (vgl. das no im Makua) z. B.
m-tue u-na-pueteka Der Kopf tut mir weh, und wird
mir wehtun.
Eine aoristische Form wird gebildet, indem ni vor
den Stamm tritt:
mtue u-ni-pueteka Der Kopf tat mir weh.
Ein Prä perfect wird auch im Makonde durch die
Endung ile oder ine gebildet, und auch hier werden durch
Contractionen und Assimilationen viele Unregelmäßigkeiten
verursacht, z. B.:
a yop-ile er fürchtete einst.
X. Giudo.
Von dieser Sprache liegen in Steeres Publication nur
einige Redensarten vor.
Wir erkennen in den Formen
u-a lieka du lachst,
tu-a lomba wir beten,
v-a lema sie verweigern,
102
C. G. Bültner,
unschwer den präs en tischen Aorist, dem wir schon so
oft begegnet sind.
XI. Zaramo.
Auch hier liegen nur wenige Redensarten vor, welche
ich nach dem bereits Bekannten zu deuten versuche.
Wir erkennen die Grundform
ni huta ich bin satt,
Im sola du hast genommen.
Die Grundform hat also auch hier die präsentische Be-
deutung.
Ferner erkennen wir
ein aoristisches Präsens n-a loncia ich liebe,
ein präs en tisch es Futur n-o longa ich werde sagen,
n-o loncia ich brauche,
ein Prä perfect ua s-ile Jcuahi wo hast du geschlafen,
ku lav-ile du hast gebracht.
Letztere Form mit der bekannten Endung -ile, und auch
hier kommen offenbar Gontractionen vor.
XII. Pongue.
Wir besitzen über diese Sprache die ziemlich umfangreiche
Grammatik von Le Berre. Leider aber hat der Verfasser
offenbar von den Eigentümlichkeiten der Bantusprachen nur
wenig oder gar keine Einsicht gehabt und die ganze Gram-
matik des Pongue so behandelt, als wenn er das Französische
vor sich hätte. Nicht einmal auf die verschiedenen Glassen
der Substantive ist im Paradigma des Zeitworts Rücksicht
genommen und für die dritten Personen sind nur die Pro-
nomina der ersten und zweiten Glasse angeführt. Glück-
licherweise können wir diesen Mangel etwas aus den alten
Sammlungen Clarkes ausfüllen. Zu entschuldigen ist dieses
grobe Versehen nur dadurch, dass im Pongue allerdings die
Substantivpräßxe durch Gontractionen und Elisionen sehr
verwischt sind.
Ferner hat Le Berre unterlassen, die Bedeutung der
einzelnen Formen zu fixiren. So schön systematisirt seine
Die Temporalformen in den Bantusprachen. 103
Darstellung auf den ersten Blick erscheint, so erhält man
doch nur schwer eine klare Vorstellung über den eigent-
lichen Zusammenhang der Formen. Ich versuche nun im
Folgenden, die von Le Berre angeführten Formen wirklich
nach dem natürlichen System der Bantusprachen zu ordnen.
Offenbar liegt im Pongue ein wie im Zulukaffir und Sotho
reich und regelmäßig entwickeltes Verbalsystem zu Grunde,
und ich denke, wenn jemand mit wirklich geschultem Blick
an eine neue Durchforschung des Pongue selbst herangehen
wird, wird er noch viel mehr Formen antreffen als Le Berre
angegeben hat und aus deren Labyrinth er sich nicht heraus-
zufinden weiss.
Wir finden im Pongue zunächst unsere altbekannte
Grundform :
1. Pers. Sing, mi dyena ich sehe
2. Pers. Sing, o dyena du siehst
1. Pers. Plur. ame dyena wir sehen
2. Pers. Plur. anue dyena ihr sehet.
1. o-m-anto die Frau e dyena
2. a-nto die Frauen a dyena
3. o-ramba die Wurzel ui dyena
4. i-ramba die Wurzeln yi dyena
5. i-dambe das Schaf nyi dyena
6. a-dambe die Schafe a dyena
7. ez-ango das Buch zi dyena
8. y-ango die Bücher y i dyena
9. -mpogo die Maus yi dyena
10. si-mpogo die Mäuse si dyena
u. s. w.
Dieser Form legt Le Berre präsentische Bedeutung bei,
hinterher führt er ganz dieselbe Form noch einmal als
Futur an. Wir haben es also hier mit einem futuralen
Präsens, wenn nicht gar am Ende mit einem participialen
Präsens wie im Kaffir, Sotho und Herero zu tun, welches
einen in allen Zeiten dauernden Zustand ausdrückt.
Vergangenheitsformen hat das Pongue mehrere.
104
C. G. Büttner,
In drei Formen ist dem Pronomen das a, welches wir
aus den andern Sprachen bereits kennen, angehängt:
1. mi a dyeni (Passé indéfini. Le Berre),
2. mi a dyena ga (Imparfait. Le Berre),
3. mi a clyena gi (Imparfait. Le Berre).
Bei der ersten Form möchte man geneigt sein, zu meinen,
sie sei aus der Perfect-Endung ile, ine contrahirt, wie die-
selbe im Kaffir zu e contrahirt wird. Die zweite Form mit
der Endung ha entspricht den Narrativformen, welche wir
sonst gefunden.
Ferner finden wir als eine dritte Form des »Passé
indéfini« von Le Berre angegeben : mi are dyena pa.
Unschwer erkennt man hier in dem are dieselbe Silbe,
welche im Suaheli das Präperfect bildet. Ob die Endsilbe
pa hier eine ähnliche Bedeutungsnuance angibt wie im Yao,
muss vorläufig dahingestellt bleiben.
Eine Form: mi-e dyena pa, welche Le Berre als »Passé
antérieur« gibt, möchte ich nur für eine Contraction der
obigen halten.
Das Futurum wird von der Grundform durch Ein-
schiebung der Silbe be vor den Stamm gebildet. (Ein ähn-
licher Stamm wird ja auch im Kaffir als Hiilfszeitwort ge-
braucht.) Z. B. mi be dyena ich werde sehen.
Von diesen Formen werden nun ähnlich wie im Kaffir,
und Sotho neue durch Hülfszeitwörter gebildet.
Mit Benutzung des Hülfszeitwortes dito wird
durch dessen Aorist mi a duo abgeleitet
von der Grundform mi dyena ein »Imparfait« mi a
duo mi dyena,
vom Aorist mi a dyeni ein »Plusqueparfait« mi a
duo mi dyena;
durch dessen Futur mi be duo
vom Aorist mia dyeni ein »Futur antérieur« mi be
duo mi a dyeni,
vom Präperfect mi are dyena pa ein »Futur an-
térieur II« mi be duo mi are dyena pa.
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
105
In diesen zusammengesetzten Formen werden selbstver-
ständlich beide Pronomina durchflectirt, z. B.
mi be duo mia dyeni ich werde gesehen haben,
o be duo om a dyeni du wirst gesehen haben,
azoue be duo ame a dyeni wir werden gesehen haben,
arme be duo anue a dyeni ihr werdet gesehen haben
u. s. w.
Ferner werden zwei (vom emphatischen Präsens?) mit
dem Stamme vi oder hi gebildete Formen angeführt:
mie bie dyena ich sah,
mie via ni dyena ich hatte gesehen.
Eine Eigentümlichkeit, wodurch sich das Pongue von
allen übrigen Sprachen unterscheidet, welche wir bisher
untersucht haben, ist, dass hier das Subject auch hinter
den Verbalstamm treten kann. In den mit dem Hülfszeit-
wort duo gebildeten Formen tritt aber, soweit sich die
Sprache aus Le Berres Angaben übersehen lässt, nur beim
Hülfszeitwort das Subject hinter den Stamm, während es
bei dem regierten Verbum seinen Platz behauptet.
XIII. Benga.
Für das Benga liegt mir nur die kleine und bereits ältere
Arbeit von Mackey vor, welche ebenfalls die Verbalformen
offenbar mangelhaft angibt. Der Verfasser ist schon dadurch
irre geleitet, dass er die Hilfssilbe ha mit zum Stamme
rechnet, und er ist bei seinen Aufstellungen so ungenau, dass
er in seinem Paradigma gerade einfache Formen, welche der
Grundform und dem einfachen Aorist der übrigen Bantu-
sprachen entsprechen nicht aufführt, obwohl dieselben sogar
in den kurzen Sprachproben, welche er mit Interlinearversion
am Schlüsse seines Büchleins anführt, deutlich für den Kun-
digen erkennbar sind. Auch hat er es ebenso wie Le Berre
versäumt, im Paradigma darauf hinzuweisen, dass sich die
dritten Personen immer nach dem Genus des Subjectes richten.
Wir supponiren auch hier eine einfache Grundform,
von welcher wir uns die übrigen Formen abgeleitet denken,
welche aber sehr wahrscheinlich wirklich im Benga noch
gebraucht wird.
lOß G. G. Büttner,
1. Pers. Sing, mbi hala (ich spreche)
2. Pers. Sing, o Itala
1. Pers. Plur. ho hala
2. Pers. Plur. o hala ni (!)
1. mo-to der Mensch a hala
2. va-to die Menschen ha hala
3. u-bahi die Axt u hala
4. me-baki die Aexte me hala
5. di-he das Ei i hala
6. ma-he die Eier ma hala
7. vi-anga das Salz vi hala
8. be-poholo die Hüte be hala
9. - ndabo das Haus e hala
10. - ndabo die Häuser i hala
11. li-tua die Herzen lo hala
13. e-poholo der Hut e hala
14. bo-ho die Stirn bo hala
Von dieser Grundform wird, indem zugleich ndi an den
Stamm angehängt wird, durch Einschiebung von ma hinter
das Pronomen ein »Immediate Past«, durch Einschiebung
von ha hinter das Pronomen ein »First Futur« gebildet,
z. B. mbi ma hala ndi ich habe jetzt eben gesprochen
mbi ha hala ndi ich werde sprechen.
Ferner durch Anhängung von ha ndi an die Grundform ein
Präsens:
mbi hala bandi ich spreche.
Außerdem gibt Mackey an:
das Perfect mbi halindi ich habe gesprochen,
das Präperfect mbi halahindi ich habe einst gesprochen.
Man möchte meinen, dass hier zwei Formen, mbi hali und
mbi halahi zu Grunde liegen, welche aus der Contraction
von mbi hal-ire und mbi hala h-ire entstanden sein möchten.
Auch finden wir in Mackeys Angaben Spuren von dem
Gebrauch eines Hülfszeitwortes di, dessen »Immediate Past«
und »Futur« vor einen analog dem in den übrigen Sprachen
gebräuchlichen Aorist gesetzt werden:
Die Temporalformen in den Bantasprachen. 107
mbi ma di mba kala ich hatte gesprochen
mbi ka di mba kala ich werde gesprochen haben.
Auch im Benga werden natürlich an beiden Stellen die Pro-
nomina flectirt, z. B.
mbi ma di mba kala ich hatte gesprochen
o ma di ua kala du hattest gesprochen
ho ma di uìia kala wir hatten gesprochen
u. s. w.
Diese Formen sind von Mackey angegeben, möglicher-
weise finden sich noch viel mehr im Benga.
Vergleichung der Formen in den untersuchten Sprachen.
ich stelle zunächst die Pronominalpräfixe, wie wir sie
in den teils wirklich bereits nachgewiesenen oder doch überall
zu supponirenden Grundformen gefunden haben auf Seite 108
übersichtlich zusammen und bemerke noch einmal, class ich
bei der Zählung der Genera der Substantive Bleeks Schema
folge.
In der nachstehenden Tabelle ergibt sich auf den ersten
Blick eine staunenswerte Uebereinstimmung in den Formen
in den meisten Fällen, welche, wie schon oben gesagt, desto
auffälliger sein muss, als ja die behandelten Sprachen durch-
aus nicht nach Willkür ausgewählt sind, sondern wir haben
eben alle diejenigen, welche uns überhaupt erreichbar waren,
unserer Untersuchung unterzogen. Und doch diese Ueber-
einstimmung! Deshalb können wir wohl sagen, dass so ziem-
lich allen Bantusprachen diese selbigen Verbalpronomina
eigentümlich sein müssen, und dass man an ihren Formen
noch eher als an den oft abgeschliffenen Substantivpräfixen
die Zugehörigkeit einer Sprache zu den Bantu erkennen
möchte. Und ich kann daher nicht umhin, auch an dieser
Stelle alle diejenigen Forscher, welche Vocabularien im
Sudan und in Centraiafrika sammeln, aufs dring-
lichste zu bitten, wenigstens ein völlig durch-
conjugirtes Tempus aufzuzeichnen. Leider wird dies
nur zu oft versäumt. Kölle hat z. B. in der Polyglotta africana
mit aller Umständlichkeit die Zahlen von mehr als 200 Sprachen
Kaffir Sotho Herero Suaheli
Pers. Sing. ngi (ndi) ke mbi(ndyi) ni
Pers. Sing. u 0 u u
Pers. Plur. si re tu tu
Pers. Plur. ni le mu mu
1. u 0 u u
2. ~ba va ve uà
3. u ó u u
4. i e vi i
5. li le ri li
6. a a e y
7. si se tyi ki
8. — li vi vi
9. i é i i
10. zi li ze zi
11. lu — ru —
12. — — tu —
13. — — ke —.
14. Im vo u u
15. Jeu W ku ku
16. — — pe P
17. — — kit ku
18. — — mu —
Sham-
bala
ni
u
ti
mu
u
ua
u
vi
yi
ya
ki
vi
i
zi
lu
ka
u
ku
ha
Nyamuezi Yao Makua Gindo Zaramo Pongue Benga
n n ki 2 ni mi mbi
u H u u ku 0 0
tu tu ni tu — azue ho
mu m m 2 — anue 0
a a a 2 — e a
ua a y va — a ba
gu u u ui u
i) yi i yi me
li li ni ï g nyi i
ga 9a a 5 rid o rQ a S rS Cû rTÎ c a ma
ki fi chi i chi i zi yi vi be
i yi i s si e
zi si i w ~^n 2 i
lu lu — " 1 2 lo
tu tu — 03 .fco O be 2
ka ka — -S Xì 2 e
u — va O 2 bo
ku ku u w cS in aj 2
— 2>a — a Q 2
ìia — —
— — m
Die Temporalformen in den Bantusprachen. 109
zusammengestellt, aber an die einfachen Pronomina: ich, du,
er, wir, ihr, sie, hat er nicht gedacht!
Ganz beiläufig möchte ich auf das auffällige Ergebnis
aufmerksam machen, dass bei den Bantu in den Formen
der ersten Person Pluralis das t, in denen der zweiten das
m vorherseht, während es bei den Indogermanen gerade
umgekehrt erscheint, z. B. ama-wus, ama-iis; tvtcto-psr,
TVTITS-TS.
Manches was in der Tabelle als Verschiedenheit er-
scheint, möchte sich übrigens meiner Meinung nach noch
sehr ausgleichen, wenn überall die Laute von einem Ohre
aufgefasst werden könnten. Es spiegelt sich in diesen ver-
schiedenen Schreibweisen nicht bloß die verschiedene Sprech-
weise der Eingeborenen, sondern meines Erachtens noch
vielmehr die verschiedene Auffassung der Hörer. So finden
wir in der 2. Classe, die Formen ha, ua, a, va. Offenbar
ist es immer ein und dieselbe Form, nur dass der zwischen
u und b schwebende Laut hier und dort bald mehr bald
weniger hart ausgesprochen wird. Aehnlich in Glasse 4,
wo die Formen zwischen ji, i und vi schweben, oder in
Glasse 6, wo bald ri bald Ii erscheint, da r und l für ein
Bantugehör fast nicht zu unterscheiden sind, so auch in
Glasse 11 ru und lu.
Wenn wir nun an die Betrachtung der einzelnen Tempo-
ralformen gehen, so fanden wir, dass in allen untersuchten
Sprachen eine gleichmäßig gebildete einfache Form allen
übrigen zu Grunde liegt, welche durch bloße Zusammen-
stellung des Pronomens mit dem Verbalstamm entstand. In
einigen Sprachen wie im Kaffir, Sotho, Suaheli, Pongue,
wahrscheinlich auch im Benga ist diese Form nachweislich
im Gebrauch, in den übrigen Sprachen ist sie noch nicht
nachgewiesen. Aber gerade in diesen liegen auch noch keine
tiefer gehenden Forschungen vor, und es ist die Möglichkeit
noch nicht ausgeschlossen, dass sie sich doch noch auch im
Nyamueze, Shambala, Makonde u. s. w. vorfindet. Die Be-
deutung dieser Form scheint ursprünglich die eines parti-
cip ialen Präsens zu sein.
lio
C. G. Büttner,
2. Fast überall fanden wir eine weitere Form dadurch
gebildet, dass an das Pronomen ein a angehängt wurde:
Im Kaffir ng-a tanda
» Sotho ~ke-a lira
» Herero mb-a sutn
» Suaheli n-a penda
» Shambala n-a hunda
» Nyamuezi n-a tula
» Pongue mi-a dyena
» Gin do u-a heka
» Zaramo n-a tonda.
Im Makua, Yao und Benga mussten wir diese Form
supponiren, um andere durch Hülfsmittel davon abgeleitete
zu erklären. Nur im Makonde fanden wir keine Andeutung
dieser Form, eine Tatsache, welche sich leicht durch das
hier nur in geringem Maßstabe vorliegende Material er-
klären ließe.
Die Bedeutung dieser Form wird im Kaffir und Pongue
als Aorist, im Nyamuezi als Narrativ, im Suaheli als inde-
finites, im Sotho als imperfectes Präsens, im Shambala eben-
falls als Präsens bezeichnet. Im Herero, wo die Untersuchungen
über diese Form sehr genau geführt sind, bezeichnet dieselbe
eine Handlung, welche zwar in der Vergangenheit be-
gonnen hat, aber in der Gegenwart noch fortdauert.
Die Möglichkeit wäre nicht ausgeschlossen, class bei genauerem
Zusehen diese Form überall bei den Bantus einerlei Be-
deutung hat.
3. In vielen Sprachen fanden wir eine weitere Form
durch die Anhängimg der Silbe ile oder ire an den Verbal-
stamm gebildet.
Im Kaffir ngi tclnd-ile
» Sotho he lir-ile
» Herero mba sut-ire
» Nyamuezi ni tul-ile
» Yao na tes-ile und ndes-ilc
» Makonde a yop-ile
» Zaramo Jeu lav-ile.
Die Temporalformen in den Bantusprachen. Hl
Wir fanden im Pongue clie Form mia dyen-i, welche
wir als Contraction dieser Form auffassen konnten.
In einigen Sprachen, in denen wir diese Endung -ile
nicht fanden, wurde eine ähnliche Silbe mit ähnlicher Be-
deutung vor den Verbalstamm eingefügt.
Im Suaheli na li penda
» Pongue mi a re dyena pa.
Im Yao fanden wir beide Formen na tes-ile und n-li-
tula. Freilich muss dahingestellt bleiben, ob beide male die
Silbe demselben Stamme angehört. Im Benga fanden wir
die Silbe ndi in ähnlicher Weise gebraucht, möglicherweise
ist dieselbe nur dialectisch von dem ile der übrigen Sprachen
verschieden, da auch bei dem Präfix der 5. Classe im Benga
di an die Stelle des Ii oder ri der übrigen Bantusprachen
tritt.
Diese Form versetzt die Handlung meist in die Ver-
gangenheit, meist mit dem Nebenbegriff, dass die Sache
längst vergangen ist, und deshalb haben wir diese Form
in vielen Sprachen ein Präperfect nennen dürfen.
Es stellt sich somit als erstes Resultat unserer Unter-
suchung heraus, dass auch in der Bildung dieser
G rundformen die Bantusprachen fast völlige Ueber-
einstimmung zeigen. Mit ziemlicher Gewissheit können
wir annehmen, dass die angegebenen Bildungen der Urform
der Bantusprachen angehören, und derjenige Forscher, welchem
eine unbekannte Bantusprache begegnet, hätte also zunächst
zu versuchen, ob die in der angegebenen Weise gebildeten
Formen den Eingeborenen verständlich sind. Es erklärt sich
nun auch, warum die Bantuvölker sich so leicht unterein-
ander verständigen können.
Für die übrigen Formen stellt sich nun aber Verschie-
denheit in der Bildung heraus. Im Kaffir, Sotho, Pongue
und auch wohl im Benga können wir das System, nach
welchem durch Hülfszeitwörter neue Tempora gebildet werden,
deutlich erkennen. In den übrigen Sprachen finden wir
mannigfache Hiilfssilben verwandt. Es läge nahe, in den-
selben Ueberreste von Hülfszeitwörtern zu sehen, wie ja auch
112
C. C. Büttner,
im Ivaffir die Formen in der Praxis vielfach abgekürzt sind.
Aber vorläufig ist das vorliegende Material noch zu gering.
Ich muss mich daher für jetzt dahin bescheiden, nur das-
jenige zusammenzustellen, was bis jetzt gefunden ist.
1. So finden wir denn durch die Silbe ga oder ka,
welche bald vor bald hinter den Stamm tritt, Narrativformen
gebildet :
Im Suaheli ni-ka penda
» Shambala ni ka hunda
» Nyanmezi na tula ga
» Yao na tenda ga
» Pongue mia dyena ga
» Benga mbi hala ka ndi.
Wir vermuteten, dass dasselbe Suffix der Hereroform mba
suta zu Grunde liegen mochte. Möglicherweise ist die Hiilfs-
silbe ho im Makua in: ni ho panga ich habe getan, nur
dialectisch verschieden. Es läge nahe, hier an das Hülfs-
zeitwort ka zu denken, durch welches im Kaffir und Sotho
so viele Tempora gebildet werden.
2. Durch die Silbe ku, vielleicht das Infinitivpräfix, wird
bald ein Futurum bald ein Präsens gebildet, im Kaffir mit
Hinzunahme eines Hülfszeitworts, bei den übrigen ist dasselbe
vielleicht ausgefallen.
Im Kaffir ngi ya ku tanda
» Nyamuezi n ku tula
» Yao a ku guluka.
Möglicherweise ist es dieselbe Form, durch welche im
Benga das Futur mbi ka käla ndi gebildet wird.
3. Die Silbe ma (im Herero und Benga) oder me (im
Suaheli) wird im Suaheli und Benga hinter das Pronomen,
im Herero vor das Pronomen gestellt. Bald bedeutet sie
ein präsentisches Perfect, bald ein Murales Präsens.
4. Den Stamm ha oder pa finden wir im Kaffir und
Pongue als Hülfszeitwort verwant. Hängt es damit zusam-
men, wenn im Yao ein Präsens a-pa-galuka, im Pongue ein
Perfect mi are dyena pa gebildet wird?
5. Im Shambala wird eine Perfectform ni sa hunda
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
113
angeführt; ist hier Verwantschaft mit der correlativen Form
im Kaffir ngi m ncji hunda?
6. Die Silbe ni wird im Shambala und Makonde dort
zur Bezeichnung des futuralen Präsens, hier des Aorist, na
im Makonde zur Bezeichnung des futuralen Präsens, im
Suaheli des Aorist gebraucht; möglicherweise wäre davon die
Hülfssilbe no, durch welche im Makua das Präsens gebildet
wird, nur dialectisch verschieden.
In Dialecten des Sotho wird na als Hülfsverbum ge-
braucht, ist es vielleicht auch im Shambala, Makonde, Suaheli
dasselbe Wort? Sodass dann die Form ni als Ueberrest eines
contrahirten Perfects aufzufassen wäre.
7. Der Stamm ta und die davon abgeleitete Form ti
wird im Suaheli: ni ta pe-nda und im Makonde: ti-ndende
zur Bildung eines Futurs gebraucht.
Weiteres lässt sich noch nicht feststellen. Als besondere
Eigentümlichkeiten, welche wir bis jetzt nur bei einer Sprache
vorgefunden haben, erwähne ich nochmals die Vocalharmonie
im Herero und den Gebrauch des Pongue, das Subjects-
pronomen nach Belieben auch hinter den Verbalstamm zu
stellen.
Umschau
über einige nur sehr wenig bekannte Bantusprachen.
Nachdem wir nun einen Einblick erhalten haben, wie
regelmäßig die Bantusprachen im allgemeinen die Verbal-
formen bilden, möchte ich noch kurz einen Blick auf die-
jenigen Verbalformen werfen, welche uns Koelle in seiner
Polyglotta africana anführt. Bei dieser Untersuchung be-
gegnen wir freilich den allergrößten Schwierigkeiten. Es ist
zunächst fraglich, ob die aus dem Gentrum Africas resp. aus
dem Sudan nach Sierra Leone verschlagenen Sclaven, aus
deren Munde Koelle seine Sammlungen aufzeichnete, die
Sprache ihrer Heimat noch richtig und unverfälscht in der
Fremde bewart hatten; es ist fraglich, ob sie ihn richtig
verstanden, ob sie ihm auch immer genau die Form ange-
geben haben, welche er wünschte. Koelle hat immer nach
der ersten Person Präsentis gefragt. Wir wissen jetzt, dass
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. X. 8
114
C. G. Büttner,
die Bantusprachen mannigfache Präsentia haben, participiale,
aoristische, futurische, und gerade in der ersten Person haben
wir so oft den Tempuscharacter durch Gontractionen u. ähnl.
verwischt gefunden.
Wir wissen also, dass wir bei der Besprechung der
Koelleschen Aufzeichnungen wie im Nebel tappen, und es
würde ein vergebliches Bemühen sein, aus seinen Angaben
Schlüsse zu ziehen, wenn wir nicht schon etwas vom Verbal-
system der Bantu wüssten. Deshalb beschränke ich mich
auch nur darauf, in den Formen, welche Koelle anführt,
die großen Züge der Bantugrammatik wiederzufinden. Was
bei ihm nur selten und unregelmäßiger auftritt, muss ich
mich bescheiden vorläufig unerklärt zu lassen, zumal die
Möglichkeit nahe liegt, dass sich da irgendwie Fehler einge-
schlichen haben. Auf diejenigen Sprachen, welche wir bereits
besprochen haben, und welche auch bei Koelle angeführt
sind, lassen wir uns nun nicht mehr ein.
Wenn wir nun die Verbalformen, welche Koelle aus dem
Nso, Mbe, Mfut, Nkele, Ndob, Bute, Penin, Nyambane, Meto,
Marawi, Kisama, Songo, Runda anführt, durchmustern, so
bemerken wir in den Präfixen zunächst fast überall die
Buchstaben n und m, resp. nd und ng. Wir könnten hier-
aus schließen, dass, weil das Pronomen der ersten Person
mit Formen der übrigen Bantusprachen übereinstimmt, auch
wohl die übrigen Pronomina ähnlich gebildet sein werden.
Nur im Meto herscht unter den Präfixen das u resp. gu vor.
Man könnte nach unsern bisherigen Erfahrungen annehmen,
dass hier Koelle aus dem Munde seines Gewährsmannes
immer die zweite Person statt der ersten aufgezeichnet hat.
Im Nkele, Ndob, Bute, Penin finden wir also in der
ersten Person Präsentis das Präfix me resp. mi z. B.:
Nkele Ndob Bute Penin
me kiame mi kama me gise mi nuru
me dima mi lima me luse mi nasa
me salara me kuri me dusada me nondu.
Es muss natürlich dahingestellt bleiben, ob wir hier die
Die Temporalformen in den Bantusprachen. 115
Grundform wie im Pongue vor uns haben, oder ein beson-
deres präsentisches Präfix wie im Herero.
Im Mbe steht in allen angeführten Formen das Präfix
ma, z. B.:
ma %a
ma ye
ma non u. s. w.
Möglicherweise ist hier das Präfix der dritten Person
gegeben in einer dem futuralen Präsens im Herero ähn-
lichen Form.
Im Nyambane ist durchgehends das Präfix ne und wir
finden hier in vielen Formen die wohlbekannte Endung
ile, z. B.:
ne famb-ile ich gehe,
ne em-ile ich stehe still,
ne sek-ile ich lache,
ne kok-ile ich sterbe.
Es verwundert uns nicht, hier öfters statt der Endung
ile andere Formen zu finden, z. B. -ele, -ote, -ate und wir
erinnern uns, wie diese Endung überall vielgestaltig erscheint.
Nur dass diese Form hier präsentische Bedeutung haben
soll. Eine ähnliche Form möchte man im Runda annehmen.
Hier ist das Präfix bald na, bald ni oder ne. Unentschieden
muss es bleiben, ob hier wirklich verschiedene Formen an-
gedeutet sind. Eine Reihe von Formen endigt auf kal oder
gal, z. B. :
na ya-kal1 ich gehe,
ne si-kal ich komme,
ni man-kal ich stehe still,
ne se-kal ich lege mich,
ne pem-gal ich atme.
Hier möchte die Perfectendung -ile mit der Narrativ-
silbe ga oder ka verbunden erscheinen, und wir hätten dann
eine Form vor uns, welche mit dem Historicum im Benga:
mbi kala-k-indi parallel sein möchte.
1 Kölle lässt wunderlicher Weise den Endvocal der Bantuwörter
sehr häufig weg.
8*
116 C. G. Büttner,
Eine eigentümliche Form, die uns bisher noch nicht
vorgekommen, treffen wir im Kisama:
nga la mu lenka ich laufe,
nga la mu nyoka ich atme,
nga la mu seJca ich lache.
Aehnlich im Songon:
na la mgu tugama ich atme,
na la gu kohon ich huste,
nga la mu dila ich weine.
Ich möchte geneigt sein, diese Formen durch ein Hülfs-
zeitwort zu erklären, mit welchem der Verbalstamm durch
eine Localpartikel mu oder ku verbunden ist.
Im Maravi finden wir fast in allen Formen das Präfix
nda, z. B. :
nda ima ich stehe still,
nda kala ich setze mich.
Wir hätten also hier nach der sonstigen Analogie einen
präsentischen Aorist zu vermuten.
Ferner möchte es mir scheinen, als ob im Mfut und im
Penin Spuren von Vocalharmonie vorliegen. Zwar ist das
vorliegende Material sehr gering, aber ich möchte doch
wenigstens die Aufmerksamkeit fernerer Forscher auf diesen
Punkt richten.
Die Formen, welche mir nach den Gesetzen der Vocal-
harmonie gebildet zu sein scheinen, sind folgende:
Im Mfut: n-nono ich lege mich,
ma-ngono ich atme,
n-dere ich spreche,
n-go%o ich wasche,
n-tsama ich niese.
Im Penin: mi nwru ich gehe,
me nasa ich komme,
me noko ich höre,
me nondu (me nundu?) ich kaufe.
Im Maravi wird einmal die Form nda gono angeführt,
welche möglicherweise auch vocalharmonisch ist.
Die Temporalformen in den Bantusprachen.
117
Schlussresultat
I. Die Bantusprachen flectiren die Tempora, indem die
Verbalpronomina sich nach dem Genus des Subjects
richten. Die Formen für die einzelnen Classen stimmen
in den verschiedensten Sprachen fast immer überein.
II. Allen Formen liegt eine Urform zu Grunde, welche
gebildet wird, indem das nackte Pronomen vor den
Verbalstamm tritt. Diese Form ist in vielen Sprachen
noch heute gebräuchlich. Sie bezeichnet die Handlung
des Verbi, ohne einen bestimmten Zeitmoment zu fixiren.
III. Von dieser Form wird ein Aorist gebildet, indem an
das Pronomen ein a angehängt wird, ferner ein Perfect,
welches die frühere Vergangenheit bezeichnet durch die
Endung -ile, welche an den Verbalstamm tritt.
IV. Weitere sehr mannichfaltige Nuancen des Zeitmoments,
in welchem die angegebene Handlung gedacht wird,
werden durch ein complicirtes aber meist sehr regel-
mäßiges System von Hülfszeitwörtern, welche in vielen
Sprachen zu blossen Hülfssilben abgeschliffen scheinen,
näher gekennzeichnet.
Verschiedene Bezeichnung des Perfects
in einigen Sprachen, und Lautsymbolik.
Von A. F. Pott.
(Schluss.)
Wie schon oben secoya uns vorkam, findet sich gleich-
falls hinter Liqq. noch eine Zahl von Beispielen mit «, als
gewissermaßen gesteigertem o als Ablaut. So exgayov, aber,
jedoch im Präs., xgwyco. Dazu wohl àxxáqayog oder auch
mit X- Dann mit abgekürztem ano, dessen n sich dem x
A. F. Pott,
assimilirte. Vgl. anoxQuyijua, xçcàÇavov. — Der Gothe hai
thragjan, d. h. mit a als Urlaut, für xqsxsiv, xçô/og, Lauf;
aber, gewissermaßen mit größerem Nachdruck auf den tätigen
Vollzieher des Laufes, oxytonirt xqo%òg, wozu dann ein ep.
tqmxccco. Mithin in Uebereinstimmung mit xQumciw, aber
xqottsm von xqstzu), xq(x7l(0, aor. tqcc71sïv, xqattslôç. trepü,
vertit. Fest. Ferner óxQcoífáco, vtopw, xloandofiat (vilênxcû)
von xlcoip, wie xlonsvg, und daher xlonsvw. Das Medium
als gls. sich zum Diebe woran machen, wie furor (obschon
mit Acc. rem) aus fur, was eig. Wegträger, wenn ywQ. Ocoçàco
dem Diebstahle nachspüren. — Ferner dçcoyr/, dgcoyog aus
dqrjyco. Also ähnlich wie ijyayov, awayonyr/ oder uaiàaycayóg.
Etwa als succurrere von ccyoo mit etwaigem ar-, wie in arcesso.
Vgl. ßoij-&0g, auf den Hülferuf (ßorj) herbei laufend (&sm,
woher &oóg). "Oqcuqs, öqwqexai zu oqvviiv; ôq(ûqé%axai
(x statt y in ÔQsyco), wesshalb auch ogyvia und oçôyvia,
eig. WWB. IV, 690, Part. Perf., und mit i ÔQtyvàofiai).
*oqwqv%(x. "Oloala. Und so auch ödcoda, weil vorn mit w.
Ohne Nähe einer Liq. So sdcodrj, Perf. sòtjòcóg, èòrjòofiai
und selbst mit o in 3. sdtjdoxai; xaxéâtjôa, und durch
Mischung schwacher mit starker Bildung sâqôoxa. S. Perf.
âda, Lat. êdi. — IIküögw und nxw% machen den Eindruck,
als gingen sie von nxóa, Scheu, xaxanxoéco, Lat. paveo aus,
dessen o aus gunirtem v entstanden scheint. Allein sollten
nicht nxrjööco, ènxâxévat, Aor. snxaxov? zu ní-nx-(ú, gis.
versteckenshalber sich ducken, platt niederfallen wie ein
Hase (Lett.plakt), gehören? KaxanxcoGöoo, aber xaxánxcaxog
xaxánxcofia u. s. w. JlxaÇ und nxaxoagsw, gis. sich scheu
umsehen, wahren, vgl. dcogécù. — Lautet doch das Perf.
zu ninxco, mit co: nénxcoxa vgl. noxfiog, aber das Part.
nsnxeoog nsnxoog, nsrcxrjvla. "Oncona, nqogcanov, coifj, allein
auch oxfj, énónxr¡g u. s. w. Nicht, wie onxáco, braten, nó-
navov, zu Wz. neu, S. pac, Lat. coquere auch mit o. Noch
auch oip, vox. In beiden nämlich ging auch ein Labial
vorauf. Eïco&a, wie S. svadhä 1. Gewohnheit, s&og, vgl.
suesco von suus. 2. Heimat, rj&og. Im Got. uz-on (exspiravit),
S. äna. Und so auch trotz a in yéyqatpa in Gl. VII. graba
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
119
(fodio), gröf gröbum, grabans. So auch nach VI. flëka (piango,
womit, vom Nasal abgesehen, jenes vergleichbar), redupl.
faiflök, faiflokum, flekans. Auch in V. Ja, auch nach V.
vaia (fio), vaivö, vaivöum, vaians, wie Skr. vavau, 3. PI.
u-v-us, Präs. vâyati. — ^Aqs&ovGa (sc. nr¡yr¡) als Name von
Quellen enthält ohne Zweifel das Primitiv zu $o#oç, èniQQÔd-êoo,
und trüge demnach vom Rauschen den Namen, wie 1dXiQQÓ&iog
(vom Meer umwogt) ein Sohn des Poseidon und der Nymphe
Euryte (Schönströmerin). In dem kurzen a vorn würde ich
unter Berücksichtigung von <xvcoqqo&ícc, áva()qo&éco unbedenk-
lich verstümmeltes am (vgl. ö-öTadav statt ávéüxv¡<Sav.
Ahrens I. 77) suchen, wäre das q ein doppeltes. Soll man
aber in dem Worte ein stilles, also »nicht rauschendes«
Wasser vermuten ? Got. un-rodjans älalog, xwyóg, von rodjan,
unser reden fügte sich alsdann recht wohl dazu. —
Geht man nun aber die, von Joh. Schmidt KZ. 1881.
S. 2 Agg. aus Brugman in Curtius Studien IX, 361 wieder-
holten 7 Beispiele, womit jener Gleichheit von o an Stelle
eines Indischen a beweisen will, durch, so zeigt sich an allen,
sie sind durchaus nicht stichhaltig. Von ysyova, : jajana;
7166a : pädam war schon weiter zurück die Rede. Es ist da-
bei die im Sskr. so wichtige Entgegensetzung von Formen
mittelst Vocal-Verlängerung übersehen, welche in solcher
Weise dem Griechen entweder abgeht oder in anderer Weise
bewerkstelligt worden. Wenn ferner der Inder die 1. Person
aller Numeri von den übrigen durch et als Bindevocal aus-
zeichnet, so ist hiervon einzig in 1. Sg., z. B. epsgeo, fero —
S. bharâmi die Erinnerung geblieben, dagegen in (psgofiev,
ferimus, wenn je Länge wie in bharämas vorhanden, gänz-
lich verschwunden; nicht jedoch durch willkürliche Kürzung,
sondern unter Anschluss des Bindevocals an den sonstigen
Brauch. Desgleichen will der Wechsel zwischen far und târ
{t mit r-Voc.) als Suff, für Nomm. ag. nicht viel be-
deuten. Wer heißt uns, z. B. deôzoça mit S. dätaram —
Lat. dätörem gleichzustellen, da letzterem augenscheinlich
vielmehr ôori]ça mit gleicher Tonstelle entspricht? Der
Lateiner hat durchweg die starke Form mit ö (im Nom. tör
120
A. F. Pott,
gekürzt wie pater), während im Griechischen entweder nur
das dem schwachformigen tar entsprechende xoq (im Nom.
tcoQ mit to nur durch Wegfall des Nominativ-Zeichens g)
gewählt worden oder starkes tr¡q. S. janitdr, Fem. jánitrí,
welchen yevert¡Q, Fem. y evèrsila (statt xsq-ià) und (mit
anderm Acc.) ysvéxcoQ, toqoç, Lat. genitor, töris, genitrix ent-
sprechen. Von Wechsel zwischen starker und schwacher
Bildung je nach verschiedenen Casus, wie im Sskr. bei den
Nomm. ag. und Verwandtschaftswörtern, Whitney § 373,
kann jedoch im Griechischen, selbst nicht eigentlich bei
letzteren, rücksichtlich Verbleibens oder Ausstoßens von s die
Rede sein. Voraus hat jedoch das Griechische einen Ablaut
(o statt s) in Compp. wie, entsprechend dem Sskr. abhrätar,
bruderlos (von Jungfrauen gesagt), atpQ^xcoQ, ohne Verbindung
mit der menschlichen Gesellschaft, ungesellig. Doch wohl
als Poss. eig. keine Genossen (pgarogsg (aber auch (pQatijQeg)
habend, welche beide letztere also, weil nicht auf eigentliche
fratres bezüglich, auch dieselbe Behandlung wie Nomm. ag.
erfuhren. keine Mutter habend, aber (mi}zî]q àfiijrcoQ,
unmütterlich, d. h. die keine Mutter ist. ^Î7rarwç, vaterlos.
^Anuxovqia, tee dagegen, an welchen die Bürger ihre Söhne
einschreiben ließen, ohne Zweifel mit a- — S. sa-, Also
das Fest der »Väter-Zusammenkunft«, obschon mit etwas
auffälligem ov. Vieil, der vielen Kürzen wegen. Meier, gent.
Att. p. 9. 11. Aber ófionccxQiog, o^ónaxqog und ófionáxtoQ von
demselben Vater, wie ¿fio^tjxQiog, ö^ofxijxcüQ. Sumätar eine
gute oder schöne Mutter, aber poss. eine solche habend. —
EvnátwQ von gutem Vater, von edlem Geschlecht. Vgl. Zd.
hufedliri, vanhufedhri mit Aspir., welche vom r erzeugt, und
sonderbarer Weise auch f statt p. Im Acc. fedhrô (patres).
Vgl. Pers. afder (patruus). — Auch Zd. hunara, Tugend, svav-
ôqîcl, aber auch svr¡voqía. (¡>i^r¡vooQ. Eign. KlsávwQ. Als Fem.
SV7Tccregeia, das wohl nach Analogie von Isqsia von Isqsvc,
nsQösfpoveia dgl., gebildet. — Nicht anders Compp. mit (pQtjv,
wie svipqmv, aber svçqkîvw, sv&v(pqwv: guxçqwv u. a. In diesem
Laut Wechsel hat man nun ein ähnliches Verhältnis zu erblicken,
wie z. B. die Compp. auf ijg, ég (S. as, as) aus Neutr. auf
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
121
oc = S. as, auch mit Accentumstellung. So auch in Poss.
auf' is irn Lat. wie imbellis, biennis dgl.
Nichts beweisen sodann weiter für Deckung eines o mit
S. ä ôoQv neben Sskr. däru, Zd. däuru mit Diphth. durch
Assimilation, wie öovqaxa in Folge von Transposition des v.
Kommt doch ein dru rnn. daneben vor, ebenso wie yóvv
nicht eigentlich dem S. jänu gleicht, sondern einer auch
wegen abhijñu, 7zqó%vv, yvvnsvóg vorauszusetzenden Form
mit kurzem a.
Wenn nun Vertretung von indischem a durch o bloß
in dem Sinne gut geheißer) werden kann, dass nicht etwa
letzteres aus ä entstand, sondern im Griech. gelegentlich
als Ablaut eine ähnliche Function übernahm: so hat es
mit der Priorität von s einem ä voraus noch große Bedenken.
Selbst schon Ahrens, dial. Dor. p. 117. 119 (vgl. Schubert,
Oesterr. Sitz. 1878. S. 518) nimmt einigen Anstand, das a
in ráfiVM, XQanco, rgcctpcij (ÇàTQcupa statt ÇàxQOcpov, vgl.
^atQ€(f f¡g), (íTQÚqoi), rç>à%w ohne weiteres für in Folge einer
rudior pronuntiatio aus voraufgegangenem s zu erklären.
Und so lässt er denn, namentlich beim Mangel von «, o im
Sskr., die Möglichkeit offen. Welch Wunder aber, wenn,
was doch nichts Seltenes (z. B. Niederd. wat, was; ek wait,
Ich weiß), ein untergeordneter Dialekt hier und dort getreuer
an einem früheren Zustande festhält als der üblichere?
Stimmt man Webers Vermutung, von S. tark, vermuten, es
sei torqueo, als Drehen, zu, was an sich nicht übel aussieht,
dann wäre damit die Erklärung von àtQsxrjç, àrçexéojç ge-
funden. Es bezögen sich diese Wörter auf die volle Wahr-
heit als solche, »an welcher sich nicht drehen und deuteln
lässt«. Wirklich heißt ja S.tarku die Spindel, wie ätgccxrog,
dessen Vorschlag jedoch nicht das privative « sein könnte,
sondern höchstens als Zusammen, = S. sa. "Arganóc, drag-
TToç, auch (XTctQmiôç wie áfia^-iióg (von Wagen befahren)
hat schwerlich, wie Passow will, ein euphonisches, mithin
rein müßiges «• Es ist also wohl ein, der Hauptstraße, zu-
gewendeter, mit ihr sich vereinigender Pfad. Oder als
Richtweg nicht in die Irre führend? Ahd. kitrahit (tortuosa),
m
A. F. Pott,
drahsil Drechsler, tornarius, lassen auch für drajan (tornare,
torquere), drat Drath, glossirt spacus (Ital. spago, Bindfaden)
Ausfall von h vermuten.
Für Ursprünglichkeit von a und nicht s zeugt doch aller
Wahrscheinlichkeit nach ferner nicht nur èòàqijv und âaçxôç,
ôàqôiç (vgl. S. dfti f. Schlauch aus Leder, Balg), sondern
auch ôaÎQco mit eingesprungenem i neben ôsîqco. JéôaQxa
ôéôoqa, òóqcc. Jsqqm entsprang aus qí durch Assim., wie
Mhd. zerre, zerre, aus Ahd. zerju, Mhd. zer-zorn zerrissen;
zar, das Zerren, der Riss. Auch wohl zorn (ira) als heftiger
Ausbruch des Unwillens, wo die Geduld reißt. Got. distairan,
zerreißen, Qrjöösiv; verderben, òoAovv; gataura Riss, tf/io/ia.
S. dfnati Gl. IX., Perf. dadära, 2 p. vidadaritha (mit Kürze,
wie in didoça) bersten, zerfahren, zerfallen. 2. bersten machen,
sprengen, zerreißen, zerpflücken. Pass, dlryate sich spalten.
Part, dima — vidarita; Ahd. gizerrit (scissus). Bara Loch
in der Erde. Barl Riss, Schrunde. Davon zu trennen ist
nun kaum Got. nach Gl. XI. gataira, gatar, gatërum, gataurans,
Xveiv, xata^vsiv, xcc&cciqsïv, in Gemäßheit mit der Präp.
verm. als Zusammenbrechen gedacht. Auch zehren (s. Mhd.
zern) als schw. Verbum gehört wahrscheinlich dazu mit Be-
rücksichtigung davon, dass dies stückweise, wie durch Ab-
brechen, geschieht. Auch öoqtiov von ôqstkjo. — Tero, trîtus,
terebra, rsíqoo, Fut. xsqm mit «, und im Sinne des Bohrens,
durch Umstellung redupl. xnqáw, xgijöto, xqjjxoç, xqíjfia.
Auch Aor. 2. sxoqov neben sonst schwachformigem xoqsoì,
xoqtjxôç, welche doch unstreitig ihr o dem xoqoç, einer Ab-
leitung von xsíqco, verdanken. Möglich, dass nun wieder aus
xoqsco abermals mit Metathesis und mit Sinnesabbeugung
(verwunden) xixqcógxco , xçcoxôç entspringt. tgcöfia, wo-
gegen xQcivfjKx eher mit xqvoo in Beziehung scheint. — Got.
thairsa (arefio), thars, thaursum, thaursans spiegelt sich in
xsQöofjbcii, woher xaçôôç, assim. xaggóg Darre, Flechtwerk
zum Dörren, xccqömx, xqaúiá, xsqGiá. Im Sskr. mit r-Vocal
tfshyati, wofür u in unserm er durstet. Part, trshita, durstig,
dem Lat. tos-tus mit Verlust von r vor s entspricht. Das o
in torreo (rr aus rs), wie auch bei andern Conss. moneo, doceo,
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
123
während e dem Subst. terra, der trockene Continent gegen
das Meer, verblieb. — Strnämi, Lat. sterno, wozu stratus,
strâmen, Gr. ötgärog, Aeol. arçotog, Feldlager, aber otqcotôç
ausgebreitet. Im Sskr. neben stima auch als Part, stfta
a. bestreut, b. niedergeworfen. SroQévvvfu, ötqióvvv[xi vvie
S. stf-nö-mi. Auch wohl Lat. storea, wegen des o. Got. straujan,
streuen, mit w-Laut, auch Stroh, Got. stravi, Streu. — S.
varíate (vertitur). Lat. vavárta, auch mit a in der Redupi.,
Lat. verti. Vrt-ta wird Lat. versus (t vor t zu s geworden,
und s-t, Assim. zu s-s hindurch zu s hinter r vereinfacht),
auch mit o, wie öfters hinter v. Vertumnus (der sich
Wandelnde, als Wechsel der Jahreszeiten), S. vartamana
Part. Pass, im Präs. Da vart nicht bloß: sich drehen, rollen
(dies von rotula, wie rotare), sondern auch: vor sich gehen,
einen Verlauf nehmen dgl. bedeutet, kann nicht zweifelhaft
sein, dass auch unser »Werden«, als Wandel gedacht, mit
ihm wurzelgleich ist. Dieses bildet aber vairtha, varth (ward),
vaurthum (wir wurden), vaurthans (geworden). Ahd. wirdu
(ño), wart, vurtumês (vertimus, durch Aufgeben der Redupi.
äußerlich dem Präs. gleich geworden), wortanër. — Ahd.
vlihtu, Lat. plecto, vlaht (jetzt: flocht), vlâhtumës, vlohtanër.
Durch Mangel des t unterscheidet sich davon nUxco, nlóxavov
auch mit /, nXoxpóç wie nXóxa^oq. Desgl. nsxoo von pedo;
Alecto von S. nah. — In dieserlei Verben zeigt sich nun die
von Grimm so geheißene Brechung. Nämlich ai und au als
Kürzen, wie es scheint, etwa wie s, o lautend, vor r und h
da, wo das Ahd. an den entsprechenden Stellen i und o
(Got. u) zeigt. Got. vair hat sich gegenüber Lat. vir, S. mit
langem i: vira. Erscheint doch ein quantitativer Wechsel
mit seltenen Ausnahmen, wie vöhs, wuchs, kraust (stridi),
erklärlich genug, nur außer Position, während der quali-
tative gerade in dieser vorzugsweise gesucht ist, wie z. B. im
PI. von XII. u, während ë, z. B. stëlum, stehlen, in XI.
Soviel dürfte genügen zur Rechtfertigung meines Glaubens:
einmal, im Ablaut überhaupt liegt eine gar wichtige gram-
matische Function und Bedeutsamkeit vor. Ich zweifle
nämlich keinen Augenblick daran, in dieser Art, d. h. dy-
124
A. F. Pott,
na mischen, Lautwechsels, verschieden von anderen, welche
lediglich oraler, d. i. mechanischer Art sind, offenbartsich
ein, wenn schon unbewusster, doch instinctiv wirksamer Trieb
nach, mittelst Lautsymbolik herzustellender, Unterscheidung
und somit auch: logisch-psychischer Bedeutsamkeit. Mit
anderen Worten: wir haben in dieserlei Vocalwandel einen,
der auch in den Vocal gelegten inneren Flexion bei den
Semi ten ähnlichen Vorgang anzuerkennen, nur von weitaus
bescheidenerem Umfange. Oder wie doch, wenn nicht so,
will man den bunten Wechsel in den Vocalen deuten, z. B.
bei der, das band, PI. bande und bänder; der, das bund,
bündel; die binde u. s. w.? Sodann zweitens: während im
Sskr. der Ablaut nur über quantitative Lautsteigerung
verfügt, d. h. entweder bloße Geminirung ci, ï, ü, oder eine
zweilautige in zweifacher Abstufung, nämlich ë, ai aus i
(vgl. seinen Zwillingsbruder palatalen Ursprungs Jot) unter
Beimischung von a, a, oder 5, au in entsprechender Weise
aus labialem u als Grundlaute, dazu ar, ar neben r-Vocal,
haben Germanisch und Griechisch, und zwar erst später!
den Ablaut dahin erweitert, dass kurzes a dort in i oder u,
aber auch im Got. vor r und h in ai, aú als vermutlich
Kürzen, dagegen im Griech. in «, o umsprang. Im Latein
haben sich diese Verhältnisse teilweise von vornherein gar
nicht oder nur unvollkommen herausgebildet, und andern-
teils bis zur Unkenntlichkeit verdunkelt. So, wie (von mir
in KZ.) gezeigt worden, wegen fast völligen Aufgebens von
Diphthongen, und sodann durch Hereinfluten von i und u
an Stelle von älterem e und o in Stellen, wo auch das
Griech. s, o hat, während doch das Griechische i und v
(dies als ü, wie im Frz. verdünnt statt u) nur selten secun-
dären Charakter, will sagen für s, o = S. ä, an sich trägt.
— Zu dritt: an ein erst späteres Zusammenfließen von «, o
zu eintönigem kurzen a im Sskr. glaube ich nicht.
Wie sich in abgeleiteten Nomina vielfach Casusverhält-
nisse wiederholen, so desgleichen in den abgeleiteten Verbal-
formen besondere Kategorien. Dem gemäß entspricht das
Causale dem Imperativ (Jubeo aedificari, lasse bauen) mit
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
125
seiner Bewirkung, dass etwas geschehe; ferner das Desidera-
ti vu m dem Precativ oder Optativ; und das Intensivum der
Gradsteigerung beim Adjectiv, oder auch den Ampliativen.
Keine natürlichere Symbolik aber, als dass die drei genannten
Verbalbildungen im Sskr., sei es durch Reduplikation oder
durch Vocalsteigerung, ihr Wesen auch äußerlich nach-
drucksvoller gestalten. Ueber Accent auf der Endung ây
bei indischen Gausativen und die Lautverschiebung in germ.
Gauss. Verner KZ. III. S. 120. In solcher Weise denn
täpay, jvälay, indes auch jvalay (uro) von tap, jval (flagro)
wie Got. gdbrannjan, verbrennen (transit.), xaísiv, von brinnan,
xaíeó&ui. Vëday (facere ut aliquis sciat, zu wissen tun), wie
got. kannja (notificare, kund tun), was kaum, so wenig wie
andere der Art, — denn warum doch? — vom Prät. stammt,
sondern nur an dem ursprünglichen, noch nicht verflachten
Wurzel vocal festhielt. Bödhay (docere) von budh (scire). So
ferner Got. satjan (erst durch Umlaut mit e: setzen, wie fällen
aus fallen dgl.) aus sita {sedeo, S. sad), S. sädayati, wie Lat.
sedare, gis. zum Sitzen bringen. Lagjan legen, ligan liegen.
Rinnan, tqs%siv, urranjan, aufgehen lassen, avaxsllsiv.
Sagqvjan, senken, von sigqvan, sinken. JBivinda (circumdo),
aber vandjan, wenden (vertere). DragJcjan, tränken, von
drighan, trinken. Daddjan, ihjXd^siv. Ganisan, ôwÇecriïai,
nasjan awÇsiv, nasjands, Heiland. Vgl. nähren. — Ur-reisan,
Engl, to rise, aufstehen, aber mit erhöhetem, wie im Prät. Sg.
vriddhirtem, Vocal urraisjan, aufstehen machen. So ferner
hneivan, sich neigen; sinken, aber hnaivjan 1. neigen, beugen,
2. erniedrigen; und mit u als Wurzelvocal Got. Mugan, Ahd.
piucan, biegen, woher dann z. B. er bougte (beugte) den
himel. Desgl. im Sskr. namayati, oder auch bloß mit ä:
namayati], sich beugen machen, von namati, sich beugen.
Leisan, erfahren, lernen, lais, ich weiß, aber trans, laisjan,
lehren. Röcayati im S. Er lässt leuchten, aber rôcatê (lucet,
medial: leuchtet). Im Got. nicht nur liuhtjan (iu = S.5
als Guña), aber galiuhtjan, erleuchten, (pwtiÇeiv,
sondern auch mit Vriddhi (wie in S. räukma, golden) lauhat jan,
uGTQumsiv, nach Gonj. II. Sliupan, schlüpfen, svòvvsw,
126
A. F. Pott,
wogegen afslaupjan sis medial: ànevdvsa&cti. — Die im
Lat. bei moneo, doceo, torreo beliebte Weise haben wir be-
reits besprochen.
Lassen wir nun aber noch ein Beispiel, welches einem
völlig anderen Sprachgebiete angehört, reden zum weiteren
Beweise von der grammatischen Wichtigkeit innerer durch
Vocal Wechsel vollzogener Flexion, als auch Sinnes -Um-
beugung. Für das Koptische wird (Schwartze, Kopt.
Gramm. II, § 143) als Grundtempus das Perfect angegeben,
welches aber zugleich den Ausdruck des Präsens mit ein-
schließe. Dessen Temporal-Charakter a jedoch habe sich
(§ 145) zu e abgeschwächt, welches selbst für das empha-
tische Präsens eingetreten sei. »Das e des Präs. trat nun in
Gegensatz gegen das a des Perf. und verhielt sich zu dem-
selben wie das schwächere, das Nähere bezeichnende
Demonstrativ zu dem stärkeren, auf das Fernere hin-
weisenden Demonstrative.« § 145. Also z. B. im Memph. a-f
er, a-s sie, im Perf., und reduplicirt in einer jüngeren Form
à-af, á-as; während im Präs. e-f, e-s. Hierin kann auch ich
meinerseits nur das Streben der Sprache erblicken, das zeit-
lich Nähere durch helleren Laut hervorzuheben vor dem
zeitlich bereits ferner gerückten und so gleichsam im Be-
wusstsein mehr Verdunkelten. Und nun halte man da-
gegen, außer einer großen Anzahl anderer von mir in
DMZ. XXX, S. 5 fgg. beigebrachter Belege für eine auch
zwischen örtlicher Nähe und Ferne beobachtete lautsym-
bolische Unterscheidung, z. B. im Ganaresischen (Weigle,
DMZ. II, 267) die gar tief wie in der Sache so in der
menschlichen Natur begründete Verwendung von a oder i,
je nachdem auf das Entferntere oder, im zweiten Falle, auf
das Nahe hingewiesen werden soll. Vgl. in gewissem Sinne
Gic. Rep. 6, 18: Natura fert, ut extrema ex altera parte
graviter, ex altera autem acute sonent. Oder: »Während
die Sirene vom tiefen Haha bis zum hohen Hihi lacht,
geht die Türe auf und die Generalin steht im Zimmer.«
Spitzer, Wiener Spaziergang III, S. 41. Gewiss wird man
doch einräumen, dass auf der natürlichen Tonleiter der
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
127
Vocale vom u als tiefstem durch o zu a als mittlerem, und
dann weiter durch e zu i als höchstem aufgestiegen wird.
Vgl. in Grimms Wb. unter dem Art. Jcichern, xt^UÇo), xay%cí£co,
xa%aÇ(a, cachinnor (hinten an hinnire erinnernd), S. kakh,
aber auch has, Got. hlahjan, lachen.
Nehme man demnach einmal aus der Bar ea-Sprache bei
Reinisch S. 51—53, Anm. 2 das Schema der Verbalflexion
vor Augen. Zufolge dessen bilden die Vocale i, a, u, und,
sicherlich nur mit leichter Abänderung des ursprünglichen
Verhältnisses: e, e, o als Endungen den Unterschied zwischen
den Personen 1. 2. 3. des Sg., während davon im Plur.
durch Vorschieben von k (hier auch gemildert zu g), als ent-
nommen dem Pluralsuffixe -ka, z. B. deregem-ka, Löwen,
die Dreiheit in dem Grundverhältnisse von ki, ka, ku u. s. w.
sich abhebt. Man sagt z. B. 1. ne Ich bin. 2. na Du bist.
3. nu, no Er, sie, es ist. Im PI. (hier etwas abweichend)
1. nek, 2. nege; und 3. nege (oder gekürzt ni) Sie sind. Sollte
es nun möglich sein, man verschließe seine Augen dagegen,
es sei mit untragbarer Naturwahrheit in jener Stufenfolge
von i durch a zum u herabwärts auf das Ich als sich selbst
Nächstes durch den hellsten der Vocale, auf das dritte Object
mittelst des dumpfen, und somit größere Ferne andeutenden u,
endlich auf das angeredete Subject-Object durch den zwischen
i und u in der Mitte liegenden Laut hingewiesen? Zig. ádá
dieser, odá jener (v. Wlislocki S. 41). Bei Lepsius, Nuba-
sprache S. LVIII im Bari: lo dieser, Fem. na, diese; allein
mit dumpferem Vocal lu jener, Fem. nu, jene. Also auch
mit einem gewissen geschlechtlichen Gegensatze. Im O i gob
Artikel ol (ori)-, o-, l-, der; Plur. mit erhöhet em Vocal als
diesenfalls Symbol der Mehrheit: il-, i- (vgl. elle er). Im
Fem. eng-, en (vor d), em (vor &, also vermöge Assim.); PI.
wieder mit i: ing-, i-. El vor Collectivnamen ohne PI. El-e
dieser, en-a diese; aber el-de jener, Fern, en-da. Es findet
weiter — nicht minder bedeutsam — eine Unterscheidung
des Geschlechts statt je nach größerer oder minderer Stärke.
So S. LXIII ol-gume große stattliche Nase, allein en-gume
kleine breite platte Nase. Gls. eine Sie- oder weibliche N., als
128
A. F. Pott,
würde man für letztere im Lat. nasa setzen. Nicht anders in
sehr erklärlichem Gegensatze mittelst stärkerer und schwächerer
Vocale im Mandschu z. B. ganggan (esprit fort), während
genggen (esprit faible). Desgl. wasime (descendere) mit dem
gewichtigeren, das Herabsinken anzeigenden a, gegenüber
dem e in wesime (ascendere), wo es auf Grund seiner größeren
Leichtigkeit das Aufwärts, so zu sagen, unseren Sinnen vor-
malt. Dass ich mir aber dies nicht bloß einbilde, erhellet
zuvörderst schon aus dem Mandschu selbst, welches (s. Kaulen,
Inst. p. 6) mehr solche Entgegenstellungen liebt, wie Ithakiia
(vir), ama (pater), während das schwächere und mit feinerer
Stimme begabte Geschlecht z. B. in hhehhe (mulier), eme
(mater) mit dem dünneren e sich begnügen muss. Aehnlich
Hoffmann, Gramm. Mancese 1883 p. 19: pi ich, mini mein,
aber im PL pe, wir (excl.), meni unser (also mit e gegen
leichteres i im Sg.); si du, sini dein, suive ihr, suweni euer.
I, egli, ella, ini, di lui, eli lei, suo, wogegen im Pl. cce, eglino,
elleno, cceni, di loro, loro. Bei letzterem darf man vielleicht
an das Suffix cci denken, das zufolge § 77 dem Ablativo di
allontamento entspricht. — Es kann auch zu weiterer Bewahr-
heitung, dächte ich, ein anderer Fall dienen, ungeachtet er
auf einer entgegengese tz ten Anschauungsweise beruht.
Nämlich in Dialecten des Persischen (— Petersb. Bull. T. XXV,
S. 270) und zwar in dem semnanischen heißt: oben jor,
unten jër (j wie im Frz.) und im Maz., Gil. dschur (dschor):
dschïr (dscher). Dann lautet aber in der erstgenannten Mund-
art (S. 269) an (Gas. obi. ant), dieser; anderseits mit dumpferem
Vocal un (um), jener. Kann man hierbei in Zweifel darüber
stehen, im gegebenen Fall sei das Unten, weil der Boden,
auf welchem des Menschen Fuß ruht, als das jenem Nähere,
hingegen das Oben in die Luft hinein als ihm Ferneres auf-
gefasst? Wer übrigens dem Vocalunterschiede zwischen ä-rü,
heute und ïn-rï, gestern, S. 271, einen Einwand gegen obige
Auffassung zu entnehmen gedächte, dem gebe ich Folgendes
zu bedenken. Das a im ersten Comp, rührt vom Pron. an,
dieser (vgl. (ho-die) her, %n aber im zweiten von ïnï, anderer.
Dessen vorderes « entsprang doch aller Wahrscheinlichkeit
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
129
nach der im Zd. bei S. anya vollzogenen Assimilation. Zd.
idhatca ainidhatca, hier und anderwärts. Man vgl. auch
Oss. inni, Slav, in, Armen, mit l statt n : ayl, Kyprisch
aïloç aus àlloç = alius, liü ist Tag, verstümmelt aus
Pers. ros, woher im-röz (hodie) wie im-sal (hoc anno). Merk-
würdig genug übrigens: das selbst erst durch assimilirenden
Einfluss entstandene ïnï hat dann in ïn-rï (eig. andern Tags)
seinerseits aufs neue das eig. in der zweiten Silbe geforderte ü
(S. röcis Licht, Glanz) durch Attraction seinen Vocalen an-
gepasst. Vgl. S. imatha wie hier, wie jetzt, aber amutha
auf jene Weise; amutas, von dort, im Gegens. von itas, von
hier. — Bloß in den Cons. gelegt sehen wir den wichtigen
Unterschied zwischen Ich und Du bei den Noánama Indians
in Südamerika. Im Journ. of the Anthrop. Inst, of Great
Brit, and Irei. 1884 p. 256 mû (I am), bü (Thou), und p. 254.
Mu uida [woman] My wife. Beim Hervorbringen von m
schließen sich die Lippen, während sie bei b sich öffnen.
Daher kann es nicht Wunder nehmen, wenn m in mehreren
Sprachkreisen als gleichsam vom Sprecher eingefangen auf
diesen wie reflexiv zurückweist und ihn bezeichnen hilft.
Vgl. die Endungen fit : gi, und Lat. me : te, Nom. tu mit
dumpfem Voc.
Für nichts weniger als gleichgültig darf man übrigens
den schon EF. I.1 S. 44. 63. hervorgehobenen Umstand be-
trachten, dass von dem im griech. Perf. Act. üblichen Ab-
laut, wie o, oder auch o¿, im Perf. Pass, keine Rede ist, und
demnach beide füglich nicht in formellem Zusammenhange
stehen. Den Grund hiervon hat man jedoch vermutlich eher
in einem zeitlichen Unterschiede des beiderseitigen Entstehens
zu suchen, als in der größeren Schwere der Passiv-Endungen.
Keinesweges aber stimmt der Wurzelvocal im Perf. Med.
oder Pass, immer zu dem des Präs.; ja hat allem Anschein
nach zum öftern vor diesem größere Ursprünglichkeit vor-
aus. Bei Bevorzugung von a in einigen Tempp. dürfte Ver-
meidung einer matten Vocalisation bei zu rascher Wiederkehr
eines s hinter dem s in Augm. und Redupi. daran die Schuld
tragen. Der Ind. im sog. Aor. 2 zog auch die übrigen Modi
Zeitschrift für Völkerpsych. un<l Sprachw. Bd. XVI. 1 u. 2. 9
130
A. F. Pott,
leicht erklärlicher Weise nach sich. Téxsy^ai zu ttsxov (ti-
xxm st. x i[xe]xx(ti), schon zum Unterschiede von xéx ay fica-.
Ausnahmsweise zwar fjtstuog^svog wie tfi[xogs, aber mit a
fj eînaqfjbêvrj sc. [aoïqcc (d. h. wohl nicht als Ablaut von si-
in iisÍQOfxai, sondern wie dieses durch Transpos. von «);
Sfj,¡SQafjiévij aber mit Einschub von ß-, wie in fisarj^ßgia.
vE(p&oQcc, aber tcp&aQfxai, unter näherem Anschluss an dor.
(f&cÚQw, wogegen mit s tcp&sQxu. Ferner tctxaXfiai, taxaXxcc.
"EsX^cci trotz èóXrjxo, aXrjvai. 'Eüuoqu, allein tanagliai,
dessen a sich an das in spargo anlehnt. ^Ayrjysgaxo zu
ayetQw; aber neben medialem sygt/yoga act. êyrjysgxa mit
pass. syr/ysQfMxi. 'Eaneití¡jt>(u von tinèvôoi. Téxgafipcu, taxgafi-
ficci wie von den mundartlichen xgánto, axgárpaj. Tsd-gccfipai,
Ts&QSfifica ; also das eine mal nach xgvyw, andernfalls nach
TQs<fw sich richtend. Auch xéxXsfjfxai, Att. mit a, wie
éxXdnr¡v. Sodann mit a unter Fortbleiben des Nasals:
xêxccxa, xêia^at (S. tan, woher aber ta-tá, xa-xóg). THxfà-
xai, (paxóg, ^Agsícpaxog zu Zns-cpvov, (fóvoc. "Exxufiai neben
aor. xxá-[xev, ion. Fut. xvavw, S. kslian, JcsJia-tá. — Téyaa
neben yêyova (s. früher), ysyacog, S. Part, ohne Nasal jâ-tâ,
geboren (Lat. gna-tus). Vgl. dazu yí¡ als genetrix und die
riyctvTsg, der Etymologie nach wegen des kurzen i kaum
als yrjysvsTç zu rechtfertigen, eher aus kürzerer Wz. gi-gnentes
als rohe umgestaltende Naturgewalten. Vgl. xrjXv-ysxog (in
ferner Zeit geboren?), vr¡yáxsog, und im S. auch anu-ja,
dgl. ohne n. *Axá(iag, aôàf/aç (unbezwinglich, also pass.). —
Mit Umstellung xé&vapev, xsd-vecóc und xs&vi¡eóg neben
XS&V1jxa, Böot. xé&vsixa wie xsfhixct zu xí&r¡(xi,. AéXaa¡Á,ai
bei Horn, von der kurzen Wurzelform, aber XéXijdficci unter
Anlehnung an Xr¡üoo. So Ion. mit natürlich kurzem a an
Stelle von r¡ auch in si'Xijfjifjicci, XsXrjupai, Xrjfifia, Xrjxpig. —
Und so auch XêXsififiai gegen ot in XsXoma, sowie dXr¡-
Xt{j[icit, wie áXr¡Xi(pa, aber auch tfXoMpa. nênsiGiiai, nénoiSct.
'Eönsvöpsvog von önevÖM, das keine Form mit v neben sich
hat. JJs(fvy[xévoç, zw. mit sv. "EÇsvyfxai mit Diphth., aber
ntovtifMu, wie im Aor. nv&êô&ai. So auch im Sskr. bu-
buähe gegenüber dem Perf. Act. bubôdha. Téxvyfiar während
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
131
rersviarai verm. um des % willen dem tèrsila sich an-
schließt.
Kann man nun nach diesem allen die große Zuversicht
aufrecht erhalten, mit welcher man meint, der namentlich
im Gothischen und Griechischen so tief bedeutsame quali-
tative Ablaut habe sich im Sskr. gänzlich verwischt, oder
sei höchstens hinter einem dreifach lautenden«, den man
fein säuberlich mit Strichen oder Zahlen zu unterscheiden
weiss, versteckt? Und meint man, auch das ä müsse bald
«, bald r¡ oder m gelautet haben, und also in stha, dha und
da verschieden?
Wir haben jetzt noch das erst später aufgetauchte se-
sundäre Per f. im Griech., welches in solcher Form nur
diese Sprache kennt, ein wenig näher ins Auge zu fassen.
S. Brugman, Der Ursprung des griech. schwachen Per-
fects in KZ, Bd. XXV. 1881. S. 212—224. Es läuft aber
als Endergebnis seiner Argumentation darauf hinaus, sämmt-
liche Perfectst. mit * seien dem mit Sskr. aadâça sich deckenden
ôéâwxa nachgebildet. Das wäre in der That eine seltsame
Anziehungskraft, welche dies eine Beispiel über so viele
andere, doch nichts weniger als w zeigende Formen müsste
ausgeübt haben. Ueberdies stände noch in Frage, ob nur
S. dâç, welches höchstens im Sinne unseres »jemandem etwas
(als Gabe) verehren«, dicare, gebraucht worden, in irgend
welcher etymologischer Beziehung steht zu dem allgemeineren
Ausdrucke für geben. S. dâ, Perf. dadâu, in 2. Pers. Sg.
Zd. fradadâthâ (dedisti), und auch Lat. dedi. So aber auch
Zd. 3. Pers. Sg. dadliâ, dadha von da, machen, schaffen, S. dhât
Gr. fhj, und als Part. Perf. da-dli-vâo, Schöpfer. Dass aber
öiöaifji sollte sein Perf. einem Verbum schlechthin fremder
Art abgeborgt haben, ist doch auch nicht allzu glaublich.
Augenscheinlich hat sich das Bedürfnis nach der Form mit
X zunächst bei vokalisch auslautenden Wurzeln fühlbar
gemacht, weil da die Bildung, wenigstens im Sg., der Hiaten
wegen Schwierigkeit machte, weshalb die x-Form denn
auch durchweg bei den schwachformigen Verbalstämmen
willkommenen Eingang fand. Wenn aber im Part. Perf.
9*
132
A. F. Pott,
Act. häufig die ursprüngliche, des x ermangelnde Form sich
zeigt, z. B. ttfraóxsg wie '¿özccfisv, so ist hierbei zu berück-
sichtigen: das Suff, des Part, im S. vat, bildete von vorn-
herein keinen Hiatus, und hat den Ton auf sich, wie im
Sskr. die schweren Verbalsuffixe (im Griech. freilich ein er-
loschener Gebrauch, z. B. in '¿arafisv, '¿Granai) desgleichen.
flscfvcöxsg. Demgemäß erschiene es am natürlichsten, in dem
x einen verbalen Hinzutritt, wie im Lat. -ui, vi (st. fui) oder
von Gegenstücken zu S. dadhâu, 1. Pl. dadhimá im schwachen
germ. Prät,., auch wie e&ijv (als: »lag«, wie sartjv, pass, ge-
dacht), S. dhâm, im Aor. Pass, zu suchen.
Aus diesem Grunde halte ich meine EF. 11. S. 743 folg.
ausgesprochene Vermutung, in derlei Perfecten stecke i¡y.a
(veni), auch heute nicht für weniger glaubhaft, als die von
anderen vorgebrachten. Ist auch r¡/.a nur erst aus späterer
Zeit nachweisbar, so folgt daraus nicht, es habe nicht schon
früher oder im Volksmund Verwendung gefunden neben dem
schon gewissermaßen als Perf. (ich bin gekommen, also nun
da) gebrauchten Präs. fato. Begrifflich ließe sich alsdann
z. B. nenoír¡z,a dem Frz. je suis venu de faire, davon ab-
gesehen, dass letzterer Sprechweise der Nebenbegriff eines
davon Herkommens, soeben erst Vollbrachten beiwohnt, so
ziemlich gleichstellen. Mit Part. Fut. bezeichnet ico frei-
lich wie sQxofiat etwas Zukunftliches; z. B. tfnco (pQÙaœv
Ich bin im Begriff zu melden. Aber, warum sollte in usnoitjxa
u. s. w. das Kommen nicht auch als Vergangenes vorgestellt
worden sein, wie etwa in: Und als er kam zu sterben; es
kam zum Prügeln dgl., zumal bei Präteritalform? Was mich
indes von voller Sicherheit solcher Annahme zurückhält, ist
der Umstand, dass ich tjxca wie ïxm nicht mit zweifelfreier
Ueberzeugung zu deuten weiß. Yaç, kommen, im Zd. Justi,
S. 244 oder S. yâ gehen (ïs^ai) und â-yâ, kommen, ließen
sich vielleicht in Aussicht nehmen, jedoch letzteres auch nur
unter Voraussetzung eines hinzugetretenen x, etwa wie in
òXéxùì. ^Enscpvxov wohl umgekehrt aus uécpvxa, wie èoQrijç
évs6T(¿ai¡q mit Einbiegung ins Präs.
Landvoigt (Merseburger Osterprogramm 1831 § 35) hat
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
133
den jedenfalls scharfsinnigen und von ihm gut unterstützten
Gedanken aufgebracht, das asp ir i rte Griech. Perf., aber
auch das mit x seien durch Verbindung mit el%a entstanden.
Ich bin ihm (EF. I1 44) nicht beigetreten. Eigentlich aber
nur aus Scheu vor, wie mir scheint, lautlicher Unverein-
barkeit. Zumal bei Berücksichtigung, es sei ¿'/w == S. sah,
dessen a noch in ï-ayco (s. früher) verblieb. ^Aytjoya neben
3\ya ist offenbar reduplichi, wie ijyayov, hat jedoch eines
der beiden y vor -o%a, wégen sonst zu großer Häufung von
Gutt., aufgegeben, was durch inschriftliches Gvvayayóxetcc
(Matth. Gr. S. 331) bewiesen wird. So schlechthin unmöglich
wäre demnach Rückführung des Schlusses auf ein abgeläutetes
Perf. von e%œ (vgl. z. B. ¿'ïo^oç) mit nichten, obwohl man
vermutlich nicht vor einer dreimaligen Wiederholung des
Wurzelkörpers (vgl. das aus tcqó mit clysiv gebildete nknqäya
oder sMya neben swya mit % aus y) zurückzuschrecken brauchte.
3Edr¡doyua böte, freilich abgesehen von unaspirirtem x, eine
engere Analogie. Uebrigens Ion. âéxoficct statt ôé%o[Mxt würde
ich auch nicht zu Unterstützung der Meinung geltend machen,
das X im Perf. habe die Aspiration von s%co aufgegeben.
Ein bei Weitem wichtigeres Argument ließe sich der Um-
schreibung des Perf. und Plsqpf. mit el%a im Ngr. ent-
nehmen. Mullach, Gramm, der Griech. Vulgarsprache S. 236,
hat unter den »Zusammengesetzten Zeiten« z. B. als Fut.
lïshca Ich werde ehren ; aber als Perf. sï%a yvœçiôei
Ich hatte gekannt, slya laßsi u. s. w. Dass die Infinitive
ihr V verlieren und z. B. aus dem des Aor. ygáipai ygáijjsi,
aus laßsTv mit Umstellung des Accents Xaßst wird, S. 237,
scheint gewiss. Liegt nun in solchen Verbindungen wirklich
ein elya mit Inf. vor, da stimmte die vorliegende mit unserem
»Ich habe — getan« bloß zur Hälfte. Der Inf. müsste dann
gleichsam als fertige Handlung, als Tat (Nom. Act.) gelten:
Ich hatte das Kennen (gleichsam als Abgetanes hinter mir).
Mull ach scheint jedoch anderer Meinung. Elyov yQÚxpai Ich
hatte zu schreiben, sei im Munde des Volkes zu slyra yçccipsi
[richtiger sl%a rQccipy als Conj.?] geworden*. Vgl. noch
oza&fj ich war gewesen, mit Inf. zum Aor. sGrá&rjv (mit
134
A. F. Pott,
Eintreten von stare für das Sein, wie in romanischen
Sprachen), vulgar (mit Perf.-Endung, wie altgr. e&ijxa) ¿axá-
&/¡xcc oder auch ohne Augm.: Ich war, oder bin gewesen.
Man vgl. Frz. j'ai été auch eig. Ich habe gestanden (steti),
aber Ngr. Ich hatte gestanden sein.
In Frage käme zuletzt noch die Seltsamkeit, wenn sich
im Griech. der Schluss-Gons. dés Perf. Act. bei starken
Verben mehrfach aspirirt zeigt. Dass dies jedoch weitaus
in der Minderzahl der Fall sei, und es an Aberwitz grenze,
eine Unzahl von Hirngespinnsten solcher Art zu schaffen,
lediglich um daraus zwangsweise das Perf. Pass, herzuleiten,
hierauf wurde bereits EF. 11 S. 42 fg. besonderes Gewicht
gelegt, und überdem nach dem Grunde solcher lautlichen
Umgestaltung geforscht. Seitdem äußert sich z. B. Stier
(Ztschr. f. d. Gymnasialwesen Beri. 1869 S. 126) dahin:
»Festzuhalten ist, dass die aspirirten Perff. erst nach Homer
(wo nur -axai mit Aspir. davor, ohne dass der Grund deut-
lich wäre) allmählich eindringen; dass sich überhaupt nur
26 nachweisen lassen, ein großer Teil erst bei Polybios«,
mit weiterem Hinweis auf Curtius, Erläut. S. 107. Z. B. doch
ein ànixaxai neben ly^cu, ohne Aspiration. Eine erneuete
Untersuchung hat Joh. Schmidt dem Gegenstande ge-
widmet in KZ. 1883: »Die Entstehung der griechischen
aspirirten Perfecta« S. 309—314. Das a in arai beruht
wohl auf gleichem Grunde, wie im Perf. Act., wo ja dieses
als Tempus vocal (s. ob.) vorherseht. Der zu erwartende
Nasal, wie in ovtai, konnte leicht der Reduplikation zum
Opfer fallen, wie ja im Sskr. in 3. Pers. Med. einzelne ate
neben ante (nur nicht im Perf., welches andere Endungen
hat) hergehen. So sehe man z. B. bei Whitney S. 237 Ubharti
(fert), bibhrati (auch schon ohne n: ferunt (psQovai) und
bibhrate (feruntur). In èrsóg, S. sat-ya fehlt gleichfalls der Nasal
von sant, und ist nicht, wie in ovrwç, durch ihn o verlangt.
Ohnedies haben ja Verba mit cons. Schluss in der Wz. einen
intermediären Vocal für Perf. und Plsq. z. B. u. s. w.
für überflüssig gehalten, wesshalb dann in 3. PI. bei Ansatz
von eig. gefordertem -vrai-, vxo (gegen eXsixpa-vxo) durch
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
135
unaussprechbare C.onsonantenhäufung ein Misstand eintrat,
welcher zumeist durch Umschreibung mit Participien gehoben
wurde. Die Aspiration stellte sich mir damals, und davon
möchte ich auch heute nicht gern lassen, als die umgekehrte Er-
scheinung von derjenigen dar, welche beim sog. Aor. 2. Pass,
auf- r¡v vorkommt. Nämlich, wie hier Erweichungen von %
zu y sich einstellen, also z. B. ipvyrjvat neben ipv%oo • aTir¡XXáyrjv,
svalXctyij, neben allayov ; oQvyfjvai neben ÒQv^oiev u. dgl. m.
(Buttm. § 92 Anm. 11), so verstärkte sich das Perf. zu-
weilen durch Wandlungen von y in xs n> ß in y; aber
keine solche im Kreise der Dentale. Allein für einen rein
lautlichen Vorgang möchte ich beiderlei Wechsel jetzt nicht
mehr, wie früher, halten, da ihnen eine gewisse Absichtlich-
keit dürfte zugesprochen werden müssen, welches erstere
vielleicht anzunehmen, z. B. in c^ijyco, hfiayov neben réfxa-
%oc, vgl. TfMjrôç, und Grsvá%(a. Desgl. syw, S. ah-am (eig.
Sprecher, vgl. âha, Lat. ait, r¡, mit Verlust von h). stappava),
S. labìi; arsfißco, acs^cpvlov, stampfen. Hiegegen ersieht
man ja deutlich genug, die aspirirten Perff. haben sich erst
später den oft daneben herlaufenden ohne Aspiration als
Abzweigungen davon beigesellt, und zwar um verschiedenen
Sinnes willen. Bekanntlich haben die unaspirirten Perff.
häufig intransitive Bedeutung, wie z. B. nénrjya, fest
werden; nénoitta, sich worauf verlassen, vertrauen. So
avsMxe Eröffnete, machte auf, aber avsooys Es stand auf.
Und in gleicher Weise z. B. sv oder xaxolg néngáya sich so
od. so befinden, als Zustand, während nsnQäxu Tätigkeit.
Ts&vjnu, Tcttpcov staunen, allein rs&ays [is (ohne Scheu vor
zwiefacher Asp., vgl. rayoç, d-dfißog) Es verwundert mich.
Jsôiôaxa (docui) sogar mit zwiefacher Redupi. des Perf. und
Präs. Eine Differenziirung ist in derlei Fällen offenbar, wenn-
schon mehr nach unbewusstem Instinct, gesucht, wie in den
späteren setzte, schmelzte, verderbte gegen intr. sass, schmolz,
verdarb u. s. w. — Vielleicht zeiht mich nun mancher der
Spitzfindigkeit, wenn ich in der Aspiration ein nicht unpassen-
des Symbol der Unterscheidung wittere. Zur Behauchung
des ursprünglich hauchlosen Schlussradikals bedarf es eines
136
A. F. Pott,
größern Kraftaufwandes der Sprachwerkzeuge ; und wie doch,
wenn wir im fernen Osten demselben Mittel begegnen zur
Unterscheidung des Gausativums von seinem Primitiv?
Eine »dérivation« wagt Schleiermacher l'Influence p. 147
nicht zu nennen, die im Barmanischen im Anlaut vor-
kommende Zwiespältigkeit zwischen activen Wurzeln einer-
und passiven oder neutralen anderseits, wenn die activen
mit einem aspirirten Consonanten beginnen, während in
den entgegengesetzten der Anlaut ohne Aspiration bleibt.
Z. B. kh{ja Jeter, aber h'ja Tomber. PJirí Remplir, prî être
rempli. Nasale und Halbvocale schieben in Ermangelung
eines entsprechenden Gegenparts mit Hauch statt dessen Ii
ein, wie z. B. lût frei sein, dagegen Thüt in Freiheit setzen,
befreien. Und ñap pass, zwischen zwei Körper gepresst
werden, aber nhap zwischen zwei K. pressen, und daher
auch schneiden, scheeren. Vermag man hierin etwas anderes
als eine sinnreiche und sinnentsprechende Symbolik zu er-
blicken, indem sonach bei derartigen Begriffpaaren das kraft-
erheischende Tun in einer größeren Energie des Lautes, der
jedoch mehr leidend und schlaffer sich verhaltende Zustand
in einer geringeren Stärke seinen Ausdruck findet? Dann
erwiese sich auch vermutlich der im griech. aspir. Perf. be-
obachtete Gegensatz zu der im Aor. Pass, auf -r¡v (doch wohl
r,v, eram, also etwa wie iv oQyîj dgl. sívai) vorkommenden Er-
weichung als nicht ganz zufällig. Teils wegen der leiden-
den Form im letzteren Falle, allein ferner wohl, weil der
primitive, d. h. asigmatische Aorist überhaupt in Einver-
ständnis mit der flüchtigeren, weil auf das Momentane ge-
richteten Natur einer kürzeren Wurzelform zuneigt. In
Widerspruch jedoch mit der von uns beanspruchten An-
nahme der oftmals bedeutsamen Unterscheidung von aspi-
rirten Perff. und solchen ohne Aspiration zeigt sich, und
zwar schon bei Homer gerade im Perf. Pass., wenngleich
nur in der 3. Pl., dergleichen Behauchung. Hat indes
Joh. Schmidt a. a. O. S. 311 recht gesehen, dann läge hiefür
der Grund in einem fast nur lautlichen Verhältnis. Er meint
nämlich: »Zuerst wurde die z. B. in rézax&e, szétax&e laut-
Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
137
gesetzlich entstandene Aspiration nun auf Terá%azai, irstá^ccTo,
die einzigen Formen des Ind. Med. Pass., welche vocalisch
anlautende Endungen hatten, übertragen. Für diese aber
wurde sie sogar fast Gesetz« u. s. w. Allein, ob es mit dem
weiteren Verfolg, den Schmidt annimmt, seine Richtigkeit
habe, will mich doch nicht so ohne allen berechtigten Zweifel
bedünken. Er fährt nämlich fort: »Im Epos blieb die Ueber-
tragung der Aspiration noch auf die 3. PL Med. beschränkt.
Von Tsxàyaxai schlug sie auf die übrigen Formen, in welchen
dem Wurzellaut ein a folgte, hinüber, d. h. auf den ganzen
Ind. des Activs« u. s. w.
Zum Schluss noch ein anderes Beispiel von Lautsymbolik,
welches wegzuläugnen auch dem Ungläubigsten schwer fallen
dürfte. Ich meine die weichmütige und gleichsam kinder-
hafte Natur, welche dem l innewohnt, gegenüber seinem
schroffen und ernsteren Zwillingsbruder r. So etwa in mur-
murare, verstärkt durch das dumpfe u. Querqueras. Gingrire.
Fciqyccqí'Cm. Knarren, knurren, murren, aber murmeln. Man
nehme namentlich in der Verdoppelung: ÀaAstr. Deutsch
(s. Grimm Wb.) lallen, Lat. lallare. Nutricis inter lemmata
Lallique somníferos modos. Aber lullen 1. saugen, wie ein
Kind an der Brust, 2. ein Kind einlullen, 3. in der Kinder-
sprache Harn lassen. Lulle, lulle Narr, Dummkopf; Voll, Völle
Tor, Maulaffe. Im Sskr. lai tändeln, scherzen, spielen.
Lalallä onomatop. vom Laute eines Lallenden. Von der Un-
sicherheit der Zunge beim Sprechen übertragen das Intens.
lelayati schwanken, schaukeln, zittern, und lui, sich hin und
her bewegen. Auch lila Spiel, Scherz, Belustigung u. s. w.
Lässt dies Behaben einen Zweifel daran zu, l gebe sich in
ungesuchtester Weise zu charakteristischer Bildung von Ver-
kleinerungsformen, sei es im Nomen oder Verbum, her?
Der Belege kennt jeder im Latein oder Deutschen die Hülle
und Fülle. Es werde nur erinnert etwa an lustwandeln
gegen wandern. Anfachen und fächeln; Lat. ventilare. S. vane
unser wanken wie ivacJceln; und Lat. vacillare. Zischen,
in die Ohren zischeln. Sticheln, streicheln, lächeln u. s. w.
Lat. cantillare, conscribillare, catillare, focillare. Cavillavi von
138 A. F. Pott, Verschiedene Bezeichnung des Perfects etc.
cavilla (gis. cava, leere, nichtige Rede). Ustulare, vgl. etwa
qüerulus. Auch postulare wohl zu poscitum, mit Unterdrückung
des c, wie in pas-tus, mis-tus. — Dagegen räuspern, Mhd.
riuster; knattern, knistern, wiehern (S. Jiresli), schnattern u. s. f.
Februar 1884. Pott.
Der Piatonismus Michelangelos.
Von Victor Kaiser.
II. Michelangelos Jouas.
Die Propheten und Sibyllen Michelangelos umschlingen
wie ein Kranz von plastisch gedachten Einzelgestalten die
Deckengemälde der Sistina. Ueber dem Altar der Gapelle
nimmt die Reihe der Mittelbilder ihren Anfang mit der
Weltschöpfung und folgt dann der Längenachse des Ge-
wölbes sowie der zeitlichen Succession der dargestellten Hand-
lungen und Begebenheiten, sie hat ihren Mittelpunkt in der
Erschaffung der Stammeltern und dem Sündenfall und endigt
mit der Sintflut und der Rettung des frommen Noah und
seiner Söhne Sem, Ham und Japhet. An derselben Stelle,
wo diese mittlere Entwickelungsreihe aufhört, beginnt der
sie umschließende Kreis der Propheten und Sibyllen den
Gegenlauf seiner Entwickelung, er hat den Ausgangspunkt
über dem Haupteingang der Gapelle und schreitet dann an
beiden Langseiten vorwärts. Die Richtung dieses Fortschritts
wird durch die Haltung der lesenden und forschenden Einzel-
gestalten bezeichnet, nur die vordere Hälfte der vom Ein-
gang aus links liegenden Langseite zeigt eine rückläufige Be-
wegung, die gegenübersitzenden Figuren aber wenden sich
sämmtlich in derselben Richtung vorwärts. Auf der vordem
Schmalseite des Gewölbes, an der Stelle, wo die mittlere
Bilderreihe beginnt, findet diese fortschreitende Gegenströmung
ihren Abschluss und die ganze Figurenkette ihren Mittelpunkt.
Diese Hauptstelle des Gyklus hat der Prophet Jonas: er ist
die Perle in dem Kranz der über den geheimnisvollen Zu-
sammenhang der Gottheit, der Welt und des Menschen forschen-
Victor Kaiser, Der Piatonismus Michelangelos. 139
den, weisen Frauen und Männer, der Propheten und Sibyllen,
wie auch der von dem Auge und der Hand des Schöpfers
beseelte Adam schon äußerlich als Hauptglied der mittleren
Bilderreihe ausgezeichnet ist, und er glänzt ebenfalls hervor
durch seinen Gedankengehalt wie durch Michelangelos voll-
endete Technik der Verkürzungen: er allein hat den Propheten-
mantel, die Schriftrollen und Bücher abgelegt, wendet in
kühner Haltung und Bewegung das Haupt empor zu dem
Schöpfer der Welt und der Menschen und richtet an ihn die
inhaltschwere Frage: Warum stirbt, was da lebt? Diese her-
vorragende Stellung verdankt jedoch Michelangelos Jonas
nicht allein der eigenen Bedeutsamkeit, er ist nicht das Juwel,
das bloß durch sich selbst glänzt, sondern er empfängt auch
seinen Wert durch den großen cyklischen Zusammenhang,
der ihn zur höchsten Stelle erhebt.
Um diesen der Composition zu Grunde liegenden Zu-
sammenhang zu erkennen, ist die Hauptfrage zu untersuchen :
Welche Gedankenformen entsprechen jenen Formgedanken
einer in der ganzen Kette der Propheten und Sibyllen fort-
schreitenden, aber teilweise rückwärtsgehenden Bewegung,
und wie verbinden sich diese verschiedenen Bewegungen auf
den Seiten mit der einen Hauptströmung auf der Höhe des
Gewölbes und deren eigentümlichen Gedankenformen oder
Ideen?1 Zur Lösung dieser Aufgabe dient die dreifache Be-
ziehung, welche die Gestalt des Jonas der Untersuchung dar-
bietet, zu den Engeln, den Sibyllen und den andern Propheten,
und alle diese Beziehungen beherscht das gemeinsame Verhält-
nis zu den drei Hauptmomenten der mittleren Bilderreihe,
der Welt- und Menschenschöpfung, dem Sündenfalle und
dem Schicksale Noahs.
1.
Michelangelo hat seine markigen, stilvollen Kolossal-
gestalten der Propheten und Sibyllen auf den breiten histori-
schen Boden gestellt, der weit über die Grenzen des jüdischen
1 Von der Bedeutung der Formgedanken in der Kunst handelt des
Verf. Vortrag: Cornelius und Kaulbach in ihren Lieblingswerken. Basel
1877. Oeffentl. Vorträge IV. Bd. 6. Heft.
140
Victor Kaiser,
Altertums hinausreicht, auf welchem vielmehr dieses mit dem
Hellenismus der Griechen und Römer und durch ihn so-
gar mit dem nationalhellenischen Altertum sich berührt.
Schon die Namen der Sibyllen: die Delphica, Cumäa und
Libyca, die Erythräa und Persica umspannen die hellenische
und hellenistische, die alexandrinische und römische Cultur.
Auch die Engelpaare, die er den Einzelgestalten sowohl
der Sibyllen als der Propheten beigesellt, weichen von der
jüdisch-christlichen Tradition ab: sie sind in der Sistina
durchgehends ungeflügelt gebildet, während Michelangelo
anderwärts an der herkömmlichen Form festhielt. Sie ähneln
der Gestalt, in welcher bisweilen die altitalischen Genien
dargestellt wurden und folgen dem Geiste der ältesten griechi-
schen Kunst und Poesie, welche noch keine Flügelvvesen
kannten. Durch künstlerische Idealbildung der menschlichen
Gestalt ersetzt Michelangelo jenen künstlich symbolischen
Notbehelf, der erst aus dem Orient auch in die griechische
Kunst eingedrungen war.1
Die Engel denkt der Künstler im Einklang mit der Ueber-
lieferung wesentlich als Licht- und Luftgebilde.2 Daher er-
scheinen sie zuerst, im Geleit des Weltschöpfers wie dieser
freischwebend, als er die festen Lichtkörper, das Tages- und
Nachtgestirn erschafft und auf der Erde die ersten Lebe-
wesen, die Pflanzen zum Lichte aufkeimen lässt. Dagegen
fehlt das Geleit der Engel im Anbeginn, wo der Schöpfer
erst die Lichtmassen von der Finsternis ausscheidet, und
ebenso nachher, wo er die Hände segnend über die Wasser-
welt ausbreitet. Auch in dem Bilde der Menschenschöpfung
schweben sie mit Jehovah aus ihrer Licht- und Luftregion
zur Erde heran, auf welcher die Krone der Lebewesen, die
vollendete Mannesgestalt des Adam ruht. Bewunderung und
1 Langbehn, Flügelgestalten der ältesten griechischen Kunst.
München 1881.
2 Augustinus, Giv. Dei XI, 9 lässt die Engel am ersten Schöpfungs-
tage zugleich mit dem Lichte erschaffen werden. Tatianos' Rede an
die Hellenen c. 15: Jfd/xovsg núvrtg nuoxiou ;iiv ov y.éxrr¡vtca, 7ivtvfj.aTiy.rj
dé íGtiv uviol g r¡ Gv(xnr¡%ig, tag nvoòg, wg (ttQog.
Der Piatonismus Michelangelos.
141
Staunen erfüllt die Engel, wie die Gottähnlichkeit aus Blick
und Antlitz des vernünftig beseelten Menschen hervorleuchtet,
und das eigene Denken und Wollen des ersten Menschen
zum Urbilde der Vollkommenheit aufstrebt.1 Das Licht des
Geistes, das in der vollkommenen Menschengestalt durch-
bricht, scheint auch die Lichtvvesen des Himmels zur Be-
wunderung hinzureißen. Aber in den unreifen Knaben-
gestalten der Engel selbst verrät sich kein andrer Gedanke
und Wille als der des Herrn und Schöpfers, sie sind nichts
andres als die Creaturen, die Diener und Boten Gottes.
Dieser augustinische Gegensatz von Mensch und Engel
beherscht auch die zweite Hälfte der mittlem Bilderreihe.
Selbstbewusst und eigenwillig weicht das erste Menschen-
paar ab von der Autorität des göttlichen Gebotes, und der
Engel vollstreckt an ihm das Strafurteil des Herrn mit dem
Schwerte der Gerechtigkeit. Nach dem Sündenfall sich selbst
überlassen, verfällt das Menschengeschlecht dem Tode, nur
Noah, der dem Einen Gotte opfert, entrinnt aus der Sintflut,
und seine pietätvollen Söhne Sem und Japhet werden die
Stammväter eines neuen Geschlechts und der höhern Cultur,
während die Abkömmlinge des pietätlosen Ham in tierischer
Rohheit versinken. Ohne den göttlichen Beistand der Engel
aus eigenem Streben durch eigene Arbeit schafft Noah die
Grundlage der menschlichen Cultur: er pflegt den Acker,
und unter seinen Nachkommen werden die Träger seines
väterlichen Segens, die Semiten und Japhetiten, auch die
Träger und Förderer der geistigen Cultur. Erst bei den
Völkern semitischer und japhetitischer Abstammung ent-
falten sich jene »Keime eines allartigen Lebens«, die nach
den Worten Picos in dem Prototyp der menschlichen Cultur,
in Adam vorgebildet waren, und erweitern sich in der Fülle
geschichtlicher Gestaltung zum Cultursystem der Menschheit.
1 Clemens von Alex, beschränkt die Gottähnlichkeit des Menschen
auf die vernünftige Natur und deren seelenvolle Erscheinung im An-
gesicht. Strom. II, 19. p. 483: To y.ctr* tìxóva xctt öiiotwßtv ov t¿ x«rà
(¡<3¡uu urjvvtrai' ov yccQ ttéiuç &vi¡tov cld-civciTM ¿¿.oitoiotG&ca" dl).' r¡ xará
vovv y.aì Xoyt/ßfxöv. V, 14. p. 703: Hsv/r¡v fi¡v loyixr¡v uvM&fv
¿¡UTlVfVO&rjvCtl vrcù TOV &£0V fïç 7lQÓ<J(O7l0V.
142
Victor Kaiser,
Die Propheten Michelangelos sind semitischen, die
Sibyllen japhetitischen Ursprungs. Aber alle haben das Ge-
präge desselben Geistes, den der Künstler seiner Gestalt des
Stammvaters Adam eingehaucht hat: es ist der Stempel der
Gottähnlichkeit, den sie auf ihrem von der Arbeit des eigenen
vernünftigen Denkens durchleuchteten Angesicht tragen.
Auch hier dient der Gegensatz der Engel dazu, diesen Ge-
danken in das volle Licht zu setzen. Sie sind »die dienst-
baren Geister, ausgesandt«, wie es in dem gewöhnlich dem
Apostel Paulas beigelegten Hebräerbrief heißt, »zum Dienste
der Menschen, die ererben sollen die Seligkeit«. Fast spielend
leisten sie diesen Dienst den Propheten und Sibyllen Michel-
angelos. Mit dem Rücken stützt der Engel das Buch, das
der Prophet Daniel im Eifer, seine eigenen plötzlich auf-
tauchenden Gedanken niederzuschreiben, aus den Händen
herabgleiten lässt. Ein andrer entzündet die Lampe der
lesenden erythräischen Sibylle. Hinter dem Rücken des
greisen Joel, der in seine Schriftrolle vertieft ihres Dienstes
nicht bedarf, treiben die Engel unter sich ihr neckisches
Spiel. Andere blicken mit knabenhafter Neugier über die
Schulter des ehrwürdigen Zacharias, der in seinem Buche
blättert. Mehrere lesen mit dem Nachahmungstriebe der
Kinder, und voll Mitgefühl trauern die Engel mit dem
klagenden Jeremias.
An zwei Stellen — es sind die beiden Hauptstellen auf
den Langseiten des Gyklus — liegt ein tiefer Sinn im kindi-
schen Spiel. In der Mitte der linken Seite deutet ein Engel
eifrig mit beiden Händen nach der Höhe des Gewölbes und
verweist den erstaunten Propheten Ezechiel auf das Bild
vom Sündenfall, und in der Diagonale desselben Mittelbildes
will ein andrer Engel auf der gegenüberstehenden Langseite
den Jesaias mit einer ähnlichen Handbewegung auf die Schuld
und Bestrafung der Stammeltern aufmerksam machen. Den
von Gott nicht abgefallenen Engeln erregt jener Ungehorsam
der ersten Menschen gegen das göttliche Gebot den größten
Anstoß, aber den dadurch bedingten göttlichen Ratschluss
der Erlösung vermögen sie nicht zu begreifen : die Engel ver-
Der Piatonismus Michelangelos.
143
langen nur, nach den Worten des Apostels Petrus, das Ge-
heimnis der Erlösung denkend zu durchdringen. Was den
Engeln versagt ist zu begreifen, bildet das Endziel derer, die
nach jenem Schriftworte »ererben sollen die Seligkeit«, und
naiv unbewusst, fast spielend sind sie »die dienstbaren
Geister«, welche den Propheten in dem ernsten Heilsstreben,
in ihrer Arbeit des Denkens und Begreifens dienen und sie
auf die notwendigen Bedingungen der Erlösung, die Erschaffung
und den Sündenfall der Protoplasten hinweisen.
In dem Hauptbilde des prophetischen Kreises, im Propheten
Jonas gelangt der Gegensatz von Mensch und Engel auf die
höchste Spitze. Die Engel erschrecken über die Frage des
Propheten nach dem Warum, den Vernunftgründen des Todes,
sie sind geblendet von dem geistigen Lichte, das in dieser Frage
aus der vernünftigen Menschenseele hervorbricht, wie sie im
Bilde der Weltschöpfung, von dem physischen Lichte ge-
blendet, vor den Sonnenstrahlen des jungen Tages zurück-
schrecken. Beide Engel sind zu dem Wallfisch, dem Retter
des Jonas geflohen, der eine wendet sich mit abwehrender
Geberde gegen den mit dem Schöpfer rechtenden Menschen,
der andere beugt sich betroffen und betrübt zu dem Wunder-
fische herab. Es war eine liebevolle Fügung der göttlichen
Vorsehung, wodurch Jonas aus dem Verderben wunderbar ge-
rettet worden war. Es war auch dieselbe göttliche Liebe, die
den Menschen erschuf, und die ihn sogar in die Sünde und das
Verderben führte, um ihn zu erretten und zu erlösen;1 denn
die göttliche Liebe will nicht den Tod des Sünders, sondern
dass er lebe, im Geist und in der Wahrheit lebe, d. h. dass
er sich bekehre: sie will die Wiedergeburt und Befreiung
der Seele. Dieses Geheimnis der Erlösung begreift der
fragende Jonas, der vor dem Tribunal der Vernunft den
Schöpfer zur Rechenschaft zieht über den Tod des Lebendigen
und in seiner Frage die Antwort schon vorgebildet hat, da die
1 Irenaens III, 20, 1 vergleicht den Sündenfall als eine großmütige
Fürsorge der Gottheit mit der wunderbaren Rettung des Propheten
Jonas: Magnanimus fuit Deus deficiente homine, earn quae per verbum
esset victoriam reddendam ei providens.
144
Victor Kaiser,
Frage selbst das Dasein des vernünftigen Geistes voraussetzt,
sein Streben nach Selbsterkenntnis, Befreiung und Wieder-
geburt einschließt und fordert. Die Engel begreifen zwar
nicht dieses Geheimnis, diese Frage der menschlichen Ver-
nunft; wenn sie aber in den Schutz des Wunderfisches ge-
flohen sind und den Propheten an das Werk der göttlichen
Liebe, die Errettung seines sinnlichen Lebens mahnen, so
verraten auch sie in ihrer Kindereinfalt denselben Gedanken,
den jener in entgegengesetzter Weise in seiner männlich
selbstbewussten Frage äußert als das Streben nach Befreiung
und Erlösung des geistigen Menschen, als das wahre Leben
des Geistes, das den Tod des Lebendigen überwindet. In
dem naiven Kinderglauben der Engel an den errettenden
Wunderfisch ist also die augustinische Lehre von der erlösen-
den Liebe, der platonische Eros aber in dem fragenden Jonas
ausgeprägt, und beide Elemente verschmelzen sich in Michel-
angelos Idee der geistigen Wiedergeburt. Diese bildet den
Höhepunkt in der gesammten Entwickelung des vorchrist-
lichen Heilsstrebens und offenbart sich an der Hauptstelle des
ganzen Gemäldecyklus in dem augustinischen Gegensatz der
Engel und des Menschen Jonas.
Mit demselben augustinischen Gegensatz des Menschen
Faust und der Engel eröffnet und schließt Goethe seine
große dramatische Dichtung. Während die Erzengel das
Lob der Schöpfung singen und ihre »unbegreiflich hohen
Werke« bewundern, aber nicht begreifen, urteilt der Herr
über Faust: Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange
ist sich des rechten Weges wohl bewusst. Und wenn Faust,
in diesem dunkeln Drange abweicht von dem Wege »der
Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchster
Kraft«, und durch eine vermeintlich höhere Erkenntnis,
durch »die Blend- und Zauberwerke« der Magie Gott und
die Natur erfassen zu können glaubt, so wird er durch
den Erdgeist selbst bedeutet: »Du gleichst dem Geist, den
du begreifst, nicht mir.« Goethe stellte seinen Faust auf
den historischen Boden, aus welchem die Faustsage er-
wachsen war. Das Reformationszeitalter barg in sich einen
Der Piatonismus Michelangelos.
145
Rest des mittelalterlichen Aberglaubens, in dem auch die
edelsten Geister befangen waren, die jüdische Cabbalah.
Dieser mystischen Richtung der Naturerkenntnis huldigte
nicht bloß »das Auge Deutschlands«, Reuchlin, sondern auch
das Auge Italiens, Pico von Mirandola, das philosophische
Haupt der Florentiner Akademie. Aber aus einer reineren
Quelle desselben Zeitalters schöpfte Michelangelo den Geist,
womit er das Erlösungsstreben nicht bloß der jüdischen
sondern der ganzen vorchristlichen Menschheit erfasste und
die Zeugen desselben, seine Kolossalgestalten der Propheten
und Sibyllen entwarf. Sie sind das Werk eines christ-
lichen Glaubens, der das Recht der Vernunft und Wissen-
schaft in einer Weise anerkennt, welche sowohl die Grund-
anschauung des eigentlichen Mittelalters weit hinter sich
zuriicklässt, als auch die religiösen Anschauungen seines Zeit-
alters, sogar der nächsten Zeit- und Geistesgenossen, eines
Marsiglio Ficino, selbst eines Pico von Mirandola um Jahr-
hunderte überragt.1 Sie atmen den edelsten Geist des wieder-
erwachten classischen Altertums, den Geist der platonischen
Philosophie.
2.
Die Sibyllen Michelangelos vertreten den Hellenismus
des macedonischen und des römischen Reiches in allen drei
Weltteilen des Altertums, die erythräische und persische
Sibylle den Orient, die delphische und cumanische Griechen-
land und Rom und die libysche Alexandrien an der afrikani-
schen Völkerbrücke zwischen Orient und Occident, jene
Millionenstadt des Altertums, welche von Alexander d. Gr.
zur Vermittelung des Morgen- und Abendlandes gegründet,
unter den Ptolemäern in den drei letzten vorchristlichen
Jahrhunderten zum Herd und Mittelpunkt der Bildung in
1 Michelangelos Jonas vertritt das Princip der freien Untersuchung
gegenüber der alttestamentlichen Autorität des Welt- und Menschen-
schöpfers mit dem gleichen philosophischen Ernste wie Kant gegen-
über »dem Heiligen des Evangeliums«, wenn er sagt: Selbst der Heilige
des Evangeliums müsse es sich gefallen lassen, mit unserm Urteil der
Vortrefflichkeit verglichen zu werden, damit wir ihn als den Heiligen
erkennen.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 1 u. 2. 10
146
Victor Kaiser,
allen Weltteilen erhoben wurde. Hier entstanden die ältesten
Reste der sibyllinischen Bücher, die sich uns erhalten haben,
aus der Verschmelzung jüdischer Ueberlieferungen mit helle-
nischer Sprache und Geistesbildung. Wie der Hellenismus
die engen Grenzen des nationalen Hellenentums überschritt,
den Gegensatz von Hellenen und Barbaren auflöste und die
großen Errungenschaften des hellenischen Geistes zur all-
gemein-menschlichen Bildung erweiterte, so sprengte er auch
die particularistischen Schranken des Judentums, mäßigte
die starrgläubige Abschließung des auserwählten Volkes vom
Heidentum und ebnete die Bahn der allgemein-menschlichen
Gottesverehrung des Christentums. Apologetische Kirchen-
väter liebten es daher, im Kampfe mit heidnischen Religions-
ansichten sich auf die Sibylle zu berufen als auf eine Christen
und Juden, Griechen und Römern gemeinsame Autorität, und
in den drei ersten christlichen Jahrhunderten wurden specifisch
christliche Elemente mit der Zwittergestalt der Sibyllinen so
innig vermischt, dass die Christen sich mit Vorsicht jener
Waffe bedienen mussten, um nicht von den Gegnern der
Fälschung ihrer heiligen Bücher geziehen zu werden.1
Die Grundform der Sibyllinen sind Monologe, welche
aus der Tiefe des gottbegeisterten Gemüts mit unmittel-
barer Gewalt hervorbrechen und von den verschiedenen
Sibyllendichtern des alexandrinisch - römischen Hellenismus
während sechs Jahrhunderten, nämlich drei Jahrhunderte
vor und nach Christus, übereinstimmend der Sibylle in
den Mund gelegt worden sind.2 In ältern und jüngern
Dichtungen der uns erhaltenen Sammlung enthüllt sich die
Sibylle selbst als die Schwiegertochter Noahs,3 von ihm
wird sie belehrt über die Zukunft und die drei Glaubens-
tatsachen ihrer Vergangenheit: die Schöpfung, den Sünden-
fall und die Sintflut.4 Was Noah als »der Herold der Ge-
1 Origines c. Gelsum VII, 32. Lactantius IV, 15. 26.
2 Ewald, Entstehung, Inhalt und Wert der sibylJischen Bûcher.
Göttingen 1858.
3 Or. Sibyll. III, 826. I, 287—290.
* Sibyll. ìli, 818-828. Vgl. Ewald, S. 26 Anmerkung 1.
Der Piatonismus Michelangelos.
147
reehtigkeit« 1 vergeblich den Völkern predigte: Reue und
Buße, übt sie streng an sich selbst, sie bekennt ihre Schuld
und findet sich bereit, ihr Leben zu opfern, um Vergebung
und Gnade vor dem Herrn zu erlangen.2 Was der Sibyllen-
dichter aus Sage und Geschichte als Bilder der Vergangen-
heitkennt: die Reiche der Titanen und Giganten, der Aegypter
und Meder, der Perser und Assyrer, der Macedonier und
Römer,3 das gleitet an dem prophetisch-visionären Blick der
Sibylle vorüber als Traumgebilde der Zukunft, der Ver-
gänglichkeit alles irdischen Glanzes, wie eine Sintflut und ein
Weltgericht der Geschichte, das mit der messianischen Weis-
sagung »des kommenden Feuers«, d. h. des Weltuntergangs
und des jüngsten Gerichts endigt. Aber aus der schaurigen
Trümmerwelt der irdischen Größe und Herrlichkeit tauchen
vor der Seele der Sibylle einige Lichtpunkte auf, wie die
Arche der Gerechten aus der Sintflut: es ist das Leben der
drei jüdischen Patriarchen, das die Sibylle mit den Farben
Hesiods als das goldene Zeitalter des Kronos beschreibt, es
ist ferner die göttliche Sendung des Volkes Israel, das sie
als das gottbeschützte Friedensvolk inmitten der Ungerechtig-
keit der streitenden Weltmächte, als den Führer auf dem
rechten Pfade des Lebens preist.4 Von Osten herüber aus
der Stadt Assurs, Babylon, kommt daher die Sibylle zu den
Hellenen, unbeirrt durch die Furcht, als Lügenprophetin von
Erythrä oder als italische Sibylle von ihnen verkannt und
verachtet zu werden, warnt sie und droht, ermahnt und
hofft, Hellas werde freiwillig seine Götter stürzen als Ge-
bilde der Menschenhand, und sie selbst dann erkennen als
die wahre Prophetin des wahren Gottes.3 Sie wendet sich
auch an Isis und nennt sie ihre ägyptische Freundin und
Schwester, erfüllt von tiefer Trauer und Teilnahme, weil
sie ihr als gotterfüllte Seherin Unheil und Verderben ver-
1 Petr. II, 2, 5. Sibyll. I, 128 f.
2 Sibyll. VII, 151 ff. II, 340 ff.
3 Sibyll. III, 110—161. 199—210. I, 290—400.
4 Sibyll. I, 283—306. III, 194 f. 218—247.
5 Sibyll. III, 808—817. 702-731.
10*
148
Victor Kaiser,
künden muss. Sie weissagt : die ägyptischen Priester werden
selbst das alte Landesgesetz aufheben, welches auf dem
Boden Aegyptens fremde Heiligtümer zu errichten verbot,
auch sie werden dem wahren ewigen Gotte opfern und ihm
einen erhabenen und heiligen Tempel bauen.1
Die Sibyllen Michelangelos sind in der Einsamkeit ihres
auf das Ewige gerichteten Geistes tief sinnende Einzelgestalten,
welche der Künstler zum Teil im Einklang mit den Spruch-
reden der alexandrinisch-jüdischen Sibyllendichter gebildet
hat. Die Schriften und Bücher weisen in ihren Händen auf
die Vergangenheit und die Ueberlieferung hin, auf deren
Kunde gestützt ihr prophetischer Geist den Schleier der Zu-
kunft lüften will. Der Entwicklungsgang der cyklischen
Composition knüpft zunächst an den Endpunkt der Mittel-
bilder, an Noah und die Noachiden den Kreis der Sibyllen
und Propheten, wie auch jene Dichter die Sibylle als Gattin
eines der beiden den Vater ehrenden Noachiden, des Japhet
oder des Sem betrachten und als deren Vergangenheit genau
dieselben drei Hauptmomente der alttestamentlichen Tradition
voraussetzen, die der Künstler in den drei Hauptabteilungen
der neun Mittelbilder entfaltet, nämlich die Schöpfung, den
Sündenfall und die Sintflut. Insoweit stimmt er also mit
den hellenisirenden Sibyllendichtern überein. Aber die Figuren
Michelangelos verraten keine Spur der specifisch christlichen
Metanoia, des Gefühls der Reue und Buße, das der jüngere
Dichter seiner Sibylle in den Mund gelegt hat. Auch der
Noah Michelangelos ist im letzten Bilde der mittlem Reihe
nicht der ehrwürdige Lehrmeister der Sibylle, von welchem
der ältere Dichter ihre prophetische Weisheit, die Kunde der
Vergangenheit und Zukunft herleitet, er ist vielmehr nur der
vom Weingenuss überwältigte Winzer, und um ihn als den
Urheber des Landbaus zu kennzeichnen, zeigt ihn der Künstler
im gleichen Bilde von der Rückseite, wie derselbe im Freien
den Spaten in der Hand das Erdreich bearbeitet. Michel-
angelos Noah veranschaulicht die erste Stufe der Gultur, die
1 Sibyll. V, 52—112. 484—503.
Der Piatonismus Michelangelos.
149
Agricultur, und erscheint somit als der historische, wie Adam
als der typische Gründer der menschlichen Bildung. Sein
Denken und Wirken geht jedoch nur auf die sinnlichen
Zwecke des Wohlseins, und dass er selbst ganz darin auf-
geht, verrät sein unwürdiger Zustand. Auch das Opfer, das
er in einem vorhergehenden Bilde dem Einen Gotte dar-
gebracht hat, ist in diesem Zusammenhange mehr eine äußer-
liche Handlung des Cultus als die Aeußerung religiöser Ge-
sinnung. Seine intelligente Arbeit beherscht zwar die äußere
Natur, bewegt sich aber in den engen Grenzen des am Niedern
und Aeußerlichen haftenden, bloß Mittel und Zweck klug be-
rechnenden Denkens und beweist hierin die Mängel und die
Einseitigkeit der untersten Gulturstufe. Seine semitische und
japhetitische Nachkommenschaft aber, die Sibyllen und
Propheten Michelangelos verraten die höchste Energie des
vernünftigen Geistes, das den Selbstzweck der Wahrheit an-
strebende Denken und Forschen. Diese Idee konnte Michel-
angelo nicht aus den Sibyllinen schöpfen, sie stammt nicht
aus dem alexandrinisch-jüdischen, sondern aus dem helleni-
schen Altertum. Das ist die Hauptquelle, auf welche vor
allen besonders seine Delphica hinweist: sie schließt sich
unter den Sibyllen zunächst an das letzte Bild der Mittel-
reihe, an Noah und insbesondere an die Noachiden, an und
vermittelt diese mit dem ganzen prophetischen Figurenkranz,
der von da aus auf beiden Langseiten des Gewölbes sich ent-
wickelt und in seinem Hauptgliede, dem Jonas zusammen-
schließt. Die delphische ist nun die einzige unter den fünf
Sibyllen Michelangelos, die von den hellenisirenden Sibyllen-
dichtern nicht erwähnt wird, während die erythräische und
cumanische in den sibyllinischen Büchern ausdrücklich ge-
nannt werden, und die Libyca und Persica der in den
Sibyllinen vorkommenden ägyptischen und babylonischen
Sibylle verwant sind.1 Der von der Delphica eröffnete
Sibyllenkreis Michelangelos hat also seinen Ursprung nicht
bloß in der jüdisch-christlichen Sibyllendichtung des alexandri-
1 Erythraea Or. Sibyll. III, 813. Cumaea V, 308. Persica III, 808.
Libyca V, 53. Vgl. Ewald, S. 58 Anm. 3.
150
Victor Kaiser,
nischen Hellenismus, sondern wesentlich in dem Mittelpunkte
von Hellas selbst und auf der Höhe der echthellenischen
Cultur.
Das älteste Zeugnis von der ursprünglichen, hellenischen
Sibylle geben uns die Philosophen Heraklit und Piaton.
Die Sibylle, berichtet jener in einem Fragment,1 reicht mit
ihrer Stimme durch tausend Jahre vermöge göttlicher Kraft
und verkündet mit begeistertem Munde freudlose, schmuck-
lose, glanzlose Schicksale. Der dunkle ephesische Philosoph,
wie Heraklit im Altertum genannt wurde, scheint auf eine
Eigentümlichkeit der hellenischen Sibyllendichtung hinzu-
weisen , die wir auch in der uns allein noch erhaltenen
Sammlung der hellenisirenden Sibyllendichter wiederfinden.
Diese legen ihre eigene Vergangenheit, ihre Kenntnis der
historischen und mythischen Ueberlieferungen in den Mund
der Sibylle, so dass diese in deren prophetisch-visionärem
Geiste als Ahnungen der Zukunft erscheinen, wobei sie
freilich nicht umhin können, bisweilen in den Ton der Er-
zählung d. h. in die Form der Vergangenheit abzugleiten.2
Daran schließen sie dann die Mahn- und Drohworte, die
Warnrufe und Hoffnungen für ihre Gegenwart und die
Ahnungen ihrer Zukunft, so dass auch hier das Wort
Heraklits sich bewährt : durch Jahrtausende reicht die Sibylle
mit ihrer prophetischen Stimme. Auch die freudlosen,
schmuck- und glanzlosen Schicksale, welche nach den Worten
des dunklen Ephesiers die hellenische Sibylle den Sterblichen
verkündet, geben uns kaum ein weniger düsteres Bild von der
Vergänglichkeit irdischer Größe und glänzender Herrlichkeit,
von der Sintflut der Weltgeschichte, als es die jüdisch-christ-
liche Gattin des Noachiden vor unsern Augen entrollt. Diesem
Bilde entspricht aber keineswegs der schöne, heitere Ernst,
der aus dem edlen Antlitz und der Gestalt der Delphica
hervorstrahlt, wie sie Michelangelo gebildet hat.
Piaton schreibt der Sibylle die wahrhafte, gotterfüllte
1 Schleiermacher, Herakleitos der dunkle, 9. Fragm. Werke 3. Abt.
2. Bd. S. 14.
2 Ewald S. 27 f.
Der Piatonismus Michelangelos.
151
Begeisterung sv&eoç [iavTixr¡ oder ¡lavía zu und scheint darin
mit Heraklit übereinzustimmen. Ihre Bedeutung entwickelt er
im Phädros, einem Dialog, dessen Inhalt Michelangelo nicht
bloß bekannt, sondern, wie es seine Sonette beweisen, ganz
in die eigene Denk- und Anschauungsweise des Dichter-
Künstlers eingedrungen war. Piaton unterscheidet vier Arten
und Stufen der Begeisterung, Mania: die mantische oder
wahrsagerische, die religiöse, die poetische und die philo-
sophische Begeisterung.1 Die Mantik verknüpft er schon nach
dem Wortlaute mit der Begeisterung, Mania, und hebt die
Sibylle als die wahrhafte, gottbegeisterte Prophetin hervor
neben der priesterlichen Mantik der Seherinnen von Delphi
und Dodona. Er will auch nur die öffentliche Meinung der
Hellenen aussprechen, wenn er von der Mantik sagt, sie
habe durch ihre Offenbarung des Zukünftigen den Staaten und
Einzelnen vielfachen Nutzen und Vorlheil gebracht. Ferner
habe die religiöse Begeisterung durch Sühnungen und Reini-
gungen, Weihen und Gebete gewissen Geschlechtern, die von
Alters her durch ein göttliches Strafgericht mit Leiden und
Drangsalen beladen waren, Erlösung von den alten Uebeln
verschafft und sie für die Gegenwart und Zukunft gefeit.
Die dritte Art der Begeisterung, welche in einer empfäng-
lichen und weihevollen Seele durch die Musen erregt, in
Liedern oder einer andern Art der Dichtung ausströme und
die Taten der Vorfahren verherrliche, diene zur Erziehung
und Bildung der Nachwelt. Wer aber, ohne von den Musen
ergriffen und begeistert zu sein, zu den Pforten der Poesie
gelange, in der Meinung, durch Technik ein gediegener Dichter
werden zu können, der werde selbst nicht die Vollendung
erreichen und seine Dichtung als das Werk einer nüchternen
Seele von den Erzeugnissen der begeisterten Dichter in
Schatten gestellt werden.
Als die vierte und höchste Form der prophetischen Be-
geisterung oder Mania hebt Piaton hervor die begeisterte
Liebe oder den philosophischen Trieb, Eros. Die philo-
1 Plat. Phaedr. p. 244 a—245 a. 249 d f.
152
Victor Kaiser,
sophische Vertiefung dieses Wahrheitsstrebens steht der ideen-
losen Denkweise des gemeinen Verstandes nicht minder ent-
gegen als jene begeisterungslose Technik oder Routine dem
genialen Aufschwung der Poesie, und in diesem von Piaton
stark betonten Gegensatz offenbart sie die Verwantschaft des
platonischen Eros mit der wahrhaft prophetischen oder
sibyllinischen Begeisterung. Der philosophische Geist be-
trachtet das Einzelne im Zusammenhange des Ganzen, das
Besondere im Lichte des Allgemeinen. Das Ganze und All-
gemeine ist ihm daher das Eigentliche und Ursprüngliche
der Erkenntnis, das Besondere und Einzelne aber das davon
Abgeleitete und Abhängige, während der praktische Verstand
von dem nächsten Eindruck der Sinne ausgeht und das
Ganze und Allgemeine nur als Folge der sinnlichen Einzel-
auffassungen anschaut. Darum hat die Philosophie jederzeit
das Denken die frühere, die Sinne die spätere Erkenntnis-
quelle genannt, wenn auch die gewöhnliche Denkweise dieses
Verhältnis umkehrt. In ähnlicher Weise ist für den Sibyllen-
dichter das wahre Prius weder seine eigene Vergangenheit
noch Gegenwart, beide sind dies nur für unsere Erklärung
dieser seltsamen Dichtungsart; für jenen selbst aber ist das
eigentliche Prius lediglich der prophetische Geist der Sibylle,
welcher die ganze Zeitreihe des Vorher, Jetzt und Nachher
umspannt und die eigene Vergangenheit und Gegenwart des
Dichters als ein Späteres, Zukünftiges erscheinen lässt. In
diesem Sinne hatte wahrscheinlich schon Heraklit die Stimme
der Sibylle eine durch tausend Jahre vernehmbare genannt,
und hieß auch noch das römische Altertum die Sibylle selbst
die langlebige Jungfrau, longaeva virgo.1 Die Sibylle schaute
alles Geschehen aus dem Gesichtspunkte des Ewigen, vor
welchem die endlichen Unterschiede und Momente der Zeit-
reihe verschwinden, und wie noch der neuere Philosoph
Spinoza alle Dinge aus demselben Gesichtspunkte, sub specie
aeterni betrachtet wissen will, so konnte auch Piaton der
gemeinen Welt- und Lebensansicht als die höchste Stufe der
1 Verg. Aen. VI, 321.
Der Piatonismus Michelangelos.
153
wahrhaft gotterfüllten, der sibyllinischen Begeisterung seine
Lehre von dem philosophischen Trieb oder Eros entgegen-
setzen, und durch den begeisterten Mund des Alkibiades im
Gastmahl den weisen Sokrates, die geniale Hauptgestalt der
platonischen Dialoge preisen als den vollendeten Erotiker.
Im Phädros verkörpert der platonische Sokrates nicht
bloß die höchste, die philosophische, sondern auch die drei
andern Stufen der Begeisterung in seiner Person. Da er
jedoch die erste Art, die gottbegeisterte, sibyllinische Mantik
oder Mania, auf allen Stufen der Religion, der Poesie und
Wissenschaft vertritt und an sich selbst bewährt, so stellt
er hier diese erste Art nur von ihrer Kehrseite dar. Die
gemeine, begeisterungslose Wahrsagekunst, die Mantik ohne
Mania, wird von Piaton die Oionistik genannt. Sie sucht
aus dem Vogelflug oder aus andern Vorzeichen durch Schärfe
der Beobachtung und verständige Klarheit des berechnenden
Denkens Mutmaßungen über die Zukunft zu gewinnen und
dadurch den Menschen Nutzen und Vorteil für das Leben
zu verschaffen. Es ist dieselbe Art der Mantik, welche die
Sibylle noch in der schönen Schilderung des ältesten helleni-
sirenden Dichters entgegensetzte dem Leben der Gerechten,
von welcher auch Solon sagte, dass sie wie ein Gewerbe von
jedem zu seinem Lebensunterhalt betrieben werden könne,
und von welcher Piaton bemerkt, sie diene zur Besonnenheit
des Lebens, aber nicht zu der göttlichen Sophrosyne, sondern
zu der sterblichen, weihelosen Art der Besonnenheit, die nur
Sterbliches und Spärliches spende.1 Zum Lobe dieser ge-
meinen Besonnenheit oder Klugheit des Lebens lässt sich
nun im Anfang des Dialogs auch Sokrates verführen durch
die Rede des Lysias, die sein Mitunterredner Phädros zur
Verherrlichung der Liebe vorgetragen hat, und welche
Sokrates, auf den Standpunkt jenes Rhetors selbst eingehend,
mit einer ähnlichen Rede dadurch überbieten will, dass er
eine niedere Art der Liebe schildert, die nicht wie die pla-
tonische selbstlos ihren Gegenstand intellectuell und sittlich
2 PI. Phaedr. p. 256 e Or. Sibyll. III, 221-228.
154
Victor Kaiser,
zu veredeln and zu erziehen bestrebt ist, sondern ihn herab-
würdigt, um ihn um so sicherer ihren klug berechneten,
eigennützigen Zwecken dienstbar zu machen. Auf diese
Weise wird auch der wahre Erotiker Sokrates auf der
niedrigsten, der oionistischen Stufe der Mantik untreu der
Mania oder der göttlichen, sibyllinischen Begeisterung.1
Allein die eigene prophetische Stimme, das sokratische
Dämonion hatte ihn bereits gewarnt, und nun erkennt und
bekennt er seine Schuld. Denn, sagt er, die Seele ist ihrer
Natur nach eine Prophetin.2 Sie ist die Sibylle, die auch
das Vergangene und Gegenwärtige im Lichte der Zukunft
schaut und nach demselben Maßstabe beurteilt, der nicht
bloß einer Zeit, sondern allen Zeiten gemäß ist, während da-
gegen die oionistische Klugheit des gemeinen Lebens durch
die Erfahrungen der Vergangenheit gewitzigt wird und in
der Gegenwart den künftigen Erfolg berechnet. Diese Stimme,
fährt Sokrates weiter, glaubte ich hier aus nächster Nähe zu
vernehmen, sie lässt mich jetzt von hier nicht weggehen,
bevor ich mich werde entsühnt haben, da ich vorhin gegen
die Gottheit, gegen Eros mich verging. Jetzt erkenne ich
das Vergehen, und schon während meines Vortrags erfüllte
mich vorhin eine Unruhe und die Besorgnis, ich werde nach
dem Worte des Dichters Ibykos nur Ehre bei den Menschen
erkaufen, während ich mich doch gegen die Götter verfehle.
Hiermit betritt Sokrates die zweite, die religiöse Stufe der
gotterfüllten Begeisterung. Unter der Sühne und Läuterung,
die er von sich selbst fordert, versteht er aber nicht äußere
Handlungen des hellenischen Cultus, nicht die Sühnopfer,
Weihen und Reinigungen des priesterlichen Ceremonien-
dienstes, sondern die innere Katharsis, den Läuterungsprocess
und die Wiedergeburt der Seele, welche allein Piaton als
gottgefällig bezeichnet.3 Dieses Schuldbewusstsein des platoni-
schen Sokrates, die selbststrafende Vergeltung und innere
Umwandlung des selbstbegangenen Fehls ist echtsibyllinisch
1 PI. Phaedr. p. 237—241.
2 PI. Phaedr. p. 242b e : fiuutixóv yé ri xaì r¡ rpv/r¡.
3 Pl. Legg. p. 716 d. Phaedo p. 69 b.
Der Piatonismus Michelangelos.
155
und streift sogar die christliche Metanoia, welche der helleni-
sirende Sibyllendichter in den noch vorhandenen Ueber-
resten der sibyllinischen Bücher seiner Sibylle in den Mund
legt. Die innere Umkehr des Sokrates äußert sich nun in
dem freiwilligen Widerruf seiner Lobrede auf jene sterbliche
Art der Besonnenheit und Liebe, in dieser Palinodie verfolgt
er den Stufengang der göttlichen Begeisterung bis zu seiner
Vollendung in der begeisterten Liebe, dem platonischen
Eros, und entfaltet zuletzt den auf das Ewige gerichteten,
sibyllinisch-prophetischen Gehalt der Seele.
Der Ort, von woher Sokrates die dämonische Stimme
zu vernehmen glaubte, ist die gemeinsame Quelle, woraus
er sowohl jene religiös-sibyllinische Vertiefung als auch die
dritte Art der echten Mania, die dichterische Erhebung des
Geistes, die poetische Begeisterung schöpft, und diese prägt
sich gleichfalls in ihm typisch aus. Die Scene des Dialogs
ist weder der Markt der Stadt, noch sind es die Ringschulen
Athens mit ihren Hallen. Dort war er gewohnt, im Ver-
kehr der Menschen seinem philosophischen Streben, dem von
Apollon in der Aufschrift des delphischen Tempels ihm zu-
teilgewordenen Berufe der Selbsterkenntnis zu genügen, aber
dort begegnete ihm auch im Gewühl der Menschen die be-
geisterungslose Alltäglichkeit, die gemeine Klugheit des Lebens.
Hier im Phädros Piatons hat sich nun Sokrates gegen seine
Gewohnheit mit seinem Gefährten in die Einsamkeit der
freien Natur zurückgezogen, er entwirft von der Stätte des
Gesprächs eines der schönsten Naturbilder, die sich aus dem
Altertum erhalten haben,1 er preist die Blütenfülle und den
würzigen Duft der Kräuter, die kühlen Lüfte und den hellen,
sommerlichen Chor der Cicaden, den dichten Rasen, der die
Wanderer am sanften Abhang zum Ruhen einladet, zu
Häupten die hochbelaubte Platane mit ihrem tiefen Schatten,
zu Füßen die hervorsprudelnde Quelle frischen Wassers.
Es ist ein gottgeweihter, den Quellnymphen und den Musen
heiliger Ort, von woher Sokrates die prophetische, dämonische
1 PI. Phaedr. p. 230b.
156
Victor Kaiser,
Stimme zu vernehmen glaubte, von daher glaubte er auch
jetzt seine poetische Begeisterung, den Rededrang und den
dichterischen Schwung seiner Worte als göttliche Einwirkung
zu empfangen. Wie ein Dichter ruft er im Anfang seiner
Rede die Musen der Quellgrotte (Museion) an und fühlt sich
in ihrem Verlauf durch eine Nymphenverzückung fortgerissen
im dithyrambisch ungebundenen Redestrom, bis er in der
dichterisch gebundenen Form des Hexameters seine Rede
schließt.1 Der Hexameter ist zwar die rhythmische Grund-
form des griechischen Epos, aber auch der sibyllinischen
Dichtung, und noch die hellenisirende Sibylle tadelt den Homer
als ihren Nachahmer und nimmt das epische Versmaß als
ihr Eigentum in Anspruch, das ihr, der uralten Sibylle der
epische Dichter Homer entwendet habe.2 In ihrem mythi-
schen Ursprung sind sich die Musen und Sibyllen verwant:
sie sind Gottheiten und Dämonen des Quellwassers, Quell-
nymphen. Die Musen haben die Stätten ihres Gultus an
Quellen und in Quellgrotten, vom Wälzen der Wogen führen
sie auch den Beinamen Heilissiaden, vom Bespülen der Ufer
heißen sie Leibetrien.3 Ebenso haben die Sibyllen ihren
Wohnsitz am quellenden Wasser und in einsamen Höhlen,
so die delphische Sibylle am kastalischen Quell,4 die Cumäa
in der Höhle von Gumä nahe am Golf von Neapel. Wie
die Musen mit Apollon als ihrem Anführer oder Musageten,
stehen auch die Sibyllen in enger Verbindung mit Apollon
und apollinischen Gülten, die Delphica mit den delphischen
Heiligtümern, die Cumäa mit dem Apollotempel in Gumä.5
Die Sibylle heißt sogar die Tochter des delphischen Gottes
oder geistig mit ihm verschwistert und vermählt,6 wird aber
nie mit den delphischen Priesterinnen oder der Pythia und
den Seherinnen von Dodona verwechselt. Sie ist ein halb-
1 PI. Phaedr. p. 237 a. 238 c. 278 b. 241 d.
2 Sibyll. III, 4-19—432.
3 Pausan. I, 16, 6. IX, 34, 3.
4 Klausen, Aeneas und die Penaten 1839. 1. Bd. S. 217 f.
3 Vergil. Aen. VI, 9 f.
6 Pausan. X, 12, 2.
Der Piatonismus Michelangelos.
157
göttliches dämonisches Wesen, von welchem im Altertum
die Sage ging, sie sei, ähnlich wie Pallas Athena, in voll-
endeter geistiger Reife dem Mutterleibe entsprungen und
habe gleich nach ihrer Geburt über die Ordnung des Welt-
alls philosophirt.1
Alle vier Stufen der wahren, göttlichen Begeisterung,
die Piaton im Phädros unterscheidet und beschreibt, die
mantische, religiöse, poetische und philosophische Erhebung
des Geistes, sind von sibyllinischer Art, und der platonische
Sokrates ist nicht bloß der wahre Erotiker und Philosoph,
sondern sein prophetisches Dämonion erweitert sich zur
echten sibyllinischen Begeisterung und umfasst mit der Tiefe
des sittlich religiösen Geistes auch die Schönheit der Kunst
und Poesie. Diese sibyllinisch-prophetische Begeisterung,
welche sämmtliche vier höhern Gebiete der menschlichen
Cultur, Wissenschaft und Kunst, Religion und praktisches
Leben mit den ewigen Ideen der Wahrheit und Schönheit,
der Frömmigkeit und Tugend krönt und durch ihre ideale
Richtung auf das Ewige die reine Menschenwürde, die
Humanität, vollendet — sie ist von dem edlen, weihevollen
Ernste getragen, welcher die hellenische Sibylle Michelangelos,
seine Delphica und den von ihr eröffneten Kranz der Sibyllen
und Propheten beseelt. Sein Noah aber und die Noachiden
sind zwar die nächsten Gestalten der mittlem Bilderreihe,
die mit der Delphica und durch sie mit der Kette der Sibyllen
und Propheten sich berühren, und er ist wohl auch im
Gyklus Michelangelos wie im Sinne der hellenisirenden Sibyllen-
dichter der Schwiegervater der Sibylle; jedoch ist er hier
nicht wie dort in den Sibyllinen auch ihr prophetischer Lehr-
meister. Denn was dieser Noah als das patriarchalische
Haupt seine Familie und Sippe lehren kann, das ist nur die
Ueberlieferung jener drei ältesten Offenbarungstatsachen des
jüdischen Glaubens, und diese bewahren die Sibyllen und
Propheten in ihren Büchern und Schriftrollen auf. Aber
die geistige Durchdringung und Verarbeitung der religiösen
1 Klausen, Aeneas 1. Bd. S. 213 Anm. 340. S. 224 f,
158
Victor Kaiser,
Tradition, welche in den erhabenen Gestalten Michelangelos
klar und lebendig vor Augen tritt, schöpfen diese ebenso-
wenig aus ihren Büchern und Schriftrollen, als sie Michel-
angelo aus der hellenisirenden Sibyllendichtung schöpfen
konnte. Was fernerhin Michelangelos Noah seine Familie
und Sippe, die Sibyllen und Propheten lehren kann, ist bloß
die berechnende Besonnenheit des Lebens, die niedere Gultur
oder im Sinne des platonischen Sokrates die niedere Mantik,
die Oionistik, und deren Mangel an menschlicher Würde
straft sich selbst in der Gestalt des trunkenen Noah. Allein
die Sibyllen und Propheten Michelangelos atmen die edle
Hingebung des platonischen Sokrates für die höchsten Inter-
essen des vernünftigen Geistes, sie haben zu ihrem wahren
Lehrmeister den vollendeten Typus der sibyllinisch-propheti-
schen Mania, jenen weisen Lehrmeister Piatons, und ihre
wahre Quelle ist nicht die hellenisirende Sibyllendichtung,
sondern — die platonische Philosophie.
3.
Mit den fünf Sibyllen des heidnischen Altertums hat
Michelangelo sieben jüdische Propheten des alten Bundes zu
einem enggeschlossenen, wohlgegliederten Kranze von zwölf
sitzenden Kolossalfiguren verbunden. In schönem Wechsel
folgen sich fünf Paare von Propheten und Sibyllen in der
Längenachse der Sistina, sowohl wenn die Einzelgestalten quer
über das Gewölbe zu einander bezogen, als auch auf jeder
der beiden Langseiten alternirend verfolgt werden. Auf der
rechten Seite des Eintretenden gehören drei Sibyllen und
zwei Propheten zusammen, nämlich die Delphica, Cumäa
und Libyca und die Propheten Jesaias und Daniel, umgekehrt
links drei Propheten und zwei Sibyllen, nämlich Jeremias,
Ezechiel und Joel und die erythräische und persische Sibylle.
Auf den beiden Schmalseiten der Gapelle schließt sich der
Kranz mit zwei Propheten: vorn sitzt Jonas, hinten Zacharias.
Wie durch die künstlerische Disposition sind diese zwölf
Kolossalgestalten auch innerlich durch ihre Bedeutung eng
verbunden.
Der Piatonismus Michelangelos.
159
Was die jüdischen Propheten mit den heidnischen Sibyllen
gemein haben, ist zunächst ihre visionäre Natur: auch sie
schauen die historische und sagenhafte Ueberlieferung, ihre
Vergangenheit und Gegenwart als eine Vision der Zukunft.
Unter den vier sogenannten großen Propheten tritt dieser
Charakter am schärfsten bei dem jüngsten, bei Daniel hervor.
Seine intuitive Begeisterung umspannt vier geschichtliche
Weltmonarchien, das assyrische Reich Nebukadnezars, das
medische unter Darius, das persische unter Gyrus und das
macedonische Reich Alexanders d. Gr. Schon in den beiden
ersten Weltreichen der Assyrer und Meder bringt der jüdische
Prophet Daniel den Nebukadnezar und Darius zur Aner-
kennung des alleinigen Gottes durch Wunder und Weis-
sagungen, erwirbt sich am Hofe beider Weitherscher An-
sehen und Macht und wird vor den Nachstellungen seiner
Neider wunderbar aus der Löwengrube errettet. Belsazar,
dem sagenhaften Sohne Nebukadnezars verkündet er den
Untergang des Reiches durch die Auslegung der drei ver-
hängnisvollen Worte: »gezählt« seien die Tage seiner Regie-
rung; »gewogen«, werde seine Herschaft wertlos gefunden;
»und geteilt« werde sein Reich von den Medern und Persern.
Noch in dem dritten Weltreiche des Gyrus wird demselben
Propheten Daniel von Engeln die Zukunft des Volkes Israel
geoffenbart. Das vierte Weltreich endlich verfolgt er durch
zehn Herscher von Alexander d. Gr. bis auf die Gewalt-
herschaft des Seleuciden Antiochos Epiphanes mit so leb-
hafter Teilnahme wie für selbsterlebte Ereignisse und Zu-
stände aus der nächsten Vergangenheit und Gegenwart des
Propheten; dem am Glauben der Väter treu festhaltenden
Volke Gottes aber verheißt er die zukünftige Erlösung von
den halbtausendjährigen Leiden und Drangsalen.
Alle diese vier historischen Weltmächte der Vergangen-
heit und Gegenwart erscheinen vor dem prophetischen Auge
Daniels als eine Vision der Zukunft. Seine Stimme und so-
gar sein persönliches Wirken und Leben reichen also un-
gefähr durch ein halbes Jahrtausend in derselben Weise,
wie die dämonische Stimme der heraklitischen Sibylle durch
160
Victor Kaiser,
ein ganzes Jahrtausend sich vernehmen lässt, unci wie die
hellenisirende Sibylle, die auch in den ältesten Teilen ihrer
Dichtung noch etwas jünger ist als Daniel, gleichfalls auf jene
Weltmonarchien zurückgeht und den historischen noch die
mythischen Reiche Hesiods, das Reich des Kronos, der Titanen
und Giganten bis auf Noah vorausschickt. Auch darin ähnelt
der jüngste unter den jüdischen Propheten der uralten Sibylle,
dass beide, wenn sie auch das Vergangene als ein Zukünftiges
darstellen, doch nicht vermeiden können, bisweilen aus der
Redeform der Zukunft herauszufallen und erzählend in die
Form der Vergangenheit abzugleiten. Michelangelo hat jenen
eigentümlich prophetischen, visionären Zug als Hauptmotiv
gerade in der Gestalt des Daniel am ausdrucksvollsten zur
Erscheinung gebracht. Von dem Buche, woraus der Prophet
seine Kunde der Vergangenheit, die Ueberlieferung schöpfte,
hat er soeben seinen Blick abgewant, aber die rechte Hand
folgt mit ihrer Bewegung des Schreibens einer andern
Führung als der natürlichen Richtung der Augenachse: sie
gehorcht dem innern prophetischen Drange, der die Zukunft
schaut.
Außer dem visionären Elemente haben die jüdischen
Propheten und die Sibyllen gemeinschaftlich zwar keinen
priesterlichen, aber einen theologischen und poetischen
Charakter. Die prophetische Poesie der Juden erreichte be-
sonders in dem ältesten der vier großen Propheten, in Jesaias
den höchsten Schwung durch Adel und Erhabenheit der
Gesinnung und maßvolle Würde und Schönheit der Sprache.
Gleich dem platonischen Sokrates gründete sie ihre religiöse
und dichterische Weihe auf göttliche Einwirkung oder In-
spiration und unterschied, wie jene, die reine gottbegeisterte
Hingebung an das Ewige oder die sibyllinische Mania,
von der falschen lügenhaften Prophétie, als der wohlberech-
neten Menschengefälligkeit, die das Göttliche preisgibt, um
Ehre vor den Menschen zu erkaufen, oder von der niedern
Mantik des platonischen Sokrates. Der Aeußerlichkeit des
levitischen Tempeldienstes und den steinernen Gesetzestafeln
setzte sie entgegen die Gottinnigkeit und die innere Wärme
Der Piatonismus Michelangelos.
161
des Herzens, dem priesterlichen Hochmut des Eigentums-
volkes oder Klerus Jehovahs die erhabene Idee des all-
gemeinen Völkerfriedens und Gottesreiches, worin auch die
Heiden im Lichte Jehovahs wandeln sollten. Auch die ge-
sammte griechische Poesie — und dazu müssen die helle-
nistischen sowohl als die hellenischen Sibyllendichter ge-
rechnet werden — hat in ihren ernsteren Teilen ein ent-
schieden theologisches, aber durchaus kein priesterliches
Gepräge; nur die vorgeschichtliche orphische Poesie, wovon
uns keine echten Ueberreste erhalten sind, war Priester-
poesie. Die epischen Dichter Homer und Hesiod gestalteten
zuerst die Götterideale des hellenischen Volksglaubens, und
die Lyriker und Dramatiker gestalteten sie um und ver-
edelten sie im sittlichen Geiste. Mit derselben Schärfe, wie
der Prophet Jesaias dem Anthropomorphismus der Volks-
religion entgegenwirkte, betonte auch der elegische Dichter
und eleatische Philosoph Xenophanes die Würde und Erhaben-
heit, die Einheit und rein geistige Natur der Gottheit.1 Die
griechischen Dichter sind also wie die jüdischen Propheten
die Reformatoren ihrer Volksreligion, sie sind die Weisen
der Nation (aocpoí), wie sie selbst sich auch genannt haben.2
Aber die jüdischen Propheten waren noch mehr als bloß
Dichter und Theologen, sie waren alle, gleich dem Propheten
Daniel, nicht nur die Weisen, sondern auch die Helden der
Nation. Sei es als Führer des Volks oder als Berater der
Könige, hatten sie zur Zeit des Verfalls der Pieiche Juda und
Israel einen tiefgreifenden Einfluss auf die Geschicke der
Nation und des Staates. Diese politische Bedeutung der
jüdischen Propheten kannte Michelangelo und verwirklichte
sie anderwärts in seinem Moses, da er diesen nicht als den
theologischen Führer und Weisen vom Sinai concipirte, sondern
als den theokratischen Volksführer und Nationalhelden der
Juden, der gegen sein dem Nationalgotte untreu gewordenes
Volk im heiligen Zorn entbrennt. Aber keine einzige von den
sieben kolossalen Einzelgestalten der Sistina zeigt eine An-
1 Xenophanes fr. 15—19. Brandis, Commentt. Eleat. p. 66—71.
2 Pindar. Ol. 1, 15. 2, 155. Bacchyl. fr. 14.
Zeitschrift für Vülkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 1 U. 2. ^
162
Victor Kaiser,
deutung von der politischen Wirksamkeit der jüdischen Pro-
pheten, so stark auch die historische Ueberlieferung gerade
diese Eigenschaft der jüdischen Propheten hervorhebt: da ist
keine tatbereite Willenskraft, keine leidenschaftliche Aufwal-
lung des Begehrens, wie in dem Moses Michelangelos, sondern
lediglich stille Einkehr und Vertiefung des Geistes, einsames
Dichten und Denken, Fragen und Forschen. Darin offenbart
sich derselbe gottbegeisterte Eros, den der platonische Sokrates
als die höchste Stufe der echten sibyllinischen Begeisterung
hervorhob und an sich selbst nach allen Seiten des Geistes-
lebens vollendet darstellte, dieselbe Contemplation und Specu-
lation, die Piaton, wie Aristoteles, als die höchste Energie des
Geistes schätzte und sorgfältig ausschied von dem prakti-
schen Denken des Staatsmanns und Feldherrn.1 Auf ihr
theologisches und philosophisches Streben'eingeschränkt, ver-
raten also unverkennbar die, Propheten Michelangelos ihre
geistige Verwantschaft mit der hellenischen Sibylle, der Delphica
und mit den hellenistischen Sibyllen. Diese durch die pla-
tonische Philosophie, besonders durch die Begriffe der
sibyllinischen Mania und des Eros vermittelte Intention des
Künstlers erklärt es, warum er in der Gestaltung seiner Pro-
pheten von der historischen Tradition abwich und ein von
ihr dargebotenes, aber seinem künstlerischen Plan wider-
streitendes Motiv absichtlich fallen ließ. Auf solche Weise
konnte er die Einzelgestalten der jüdischen Propheten mit
denen der Sibyllen, besonders mit ihrem Haupt und Urbilde,
der hellenischen, vom platonischen Geiste beseelten Sibylle,
wie Edelsteine zu einem übereinstimmenden Ganzen, zum
schöngeformten sibyllinisch-prophetischen Kranze zusammen-
fügen.
Was ist nun der gemeinsame Gegenstand, worauf das
Streben der eng miteinander verbundenen, geistig verwanten
Propheten und Sibyllen gerichtet ist ? Was ist der gemein-
same Inhalt ihrer gottbegeisterten Liebe, ihres wissenschaft-
lichen Denkens und Forschens? Diese Fragen gehen wesent-
1 Plat. Políticas p. 259 c. 292b.
Die Platoiiismus Michelangelos.
163
lieh nicht mehr auf die Einzelgestalten weder der Propheten
noch der Sibyllen, sie treffen ihren cyklischen Zusammenhang,
die rhythmische Gliederung der Propheten - und Sibyllen-
paare und können nicht anders entschieden werden als durch
die Untersuchung der künstlerischen Formgedanken und ihrer
entsprechenden Gedankenformen.
4.
So eng sich auch der Kranz der Propheten und Sibyllen
zusammenschließt, zerlegt er sich doch in zwei durch eigen-
tümliche Formgedanken gesonderte Hälften. Ihre Trennungs-
punkte liegen in den diagonal gegenüberstehenden Winkeln
des länglichen Rechtecks, das die Grundform des Gewölbes
bildet, und fallen rechts hinten zwischen die delphische Sibylle
und den Propheten Zacharias, und links vorn zwischen die
beiden Propheten Jonas und Jeremias. Diese Stellen sind
dadurch markirt, dass die genannten beiden Figurenpaare
im prophetischen Cyklus die einzigen sind, deren Glieder sich
von einander abwenden und der Bewegung der ihnen zu-
gehörigen Kranzhälfte zuwenden. Dieser Formgedanke einer
Hauptbewegung, die allen Figuren derselben Hälfte gemein-
sam ist, wird in den einzelnen sitzenden Gestalten unbe-
schadet der Freiheit und Lebendigkeit ihrer besondern Be-
wegung ausgedrückt durch die Gleichheit ihrer Haltung und
Richtung auf ein gemeinschaftliches Ziel. Aber in jeder
Kranzhälfte ist der Zielpunkt der Bewegung ein anderer: in
der rechten Hälfte liegt er am vordem Ende, im Propheten
Jonas, und die fünf übrigen Figuren, woraus sie besteht,
kehren sich wie ihr Endglied mit Kopf und Oberleib auf ihre
rechte Seite ; für die linke hingegen liegt er in der Mitte der
Langseite, und nur die vordem drei Figuren kehren sich
rechts, die hintern aber nach ihrer linken Seite. Das Mittel-
glied der linken Langseite, das den gemeinschaftlichen An-
ziehungspunkt für die fünf andern Gestalten derselben Kranz-
hälfte bildet, ist der Prophet Ezechiel.
Hastig wendet sich dieser zur rechten Seite, von woher
der Ruf des Engels von ihm vernommen wird, seine Miene
11 *
164
Victor Kaiser,
drückt den Eifer, seine geöffnete Linke die Willfährigkeit aus,
womit der Prophet der göttlichen Weisung sich unterwirft.
Auch auf der gegenüberstehenden rechten Langseite vernimmt
Jesaias eine ähnliche Botschaft des Engels, aber nur das
Aufhorchen, nicht das Gehorchen spricht sich in seiner Miene
und Geberde aus, seinen eigenen Gedankengang sucht er
trotz dem Rufe des Engels festzuhalten. Den Inhalt ihrer
Botschaft deuten auf beiden Langseiten die Handbewegungen
der Engel an, sie weisen von entgegengesetzten Seiten auf
das quer über das Gewölbe zwischen ihnen ausgespannte
Bild vom Sündenfalle hin. Zieht man nun von den gegen-
überliegenden Winkeln des länglich rechteckigen Bildes, auf
welche die Engel hindeuten, eine Diagonallinie, welche das
Doppelbild vom Sündenfall in der Mitte durchschneidet, so
fällt die eine Hälfte desselben, das paradiesische Dasein des
ersten Menschenpaars auf die Seite Ezechiels, die andere mit
den aus dem Paradies vertriebenen, aber durch die eigene
Arbeit des Denkens und Wollens der Erde sich bemächtigen-
den Stammeltern auf die Seite des Jesaias: dort gehört der Vor-
rang der Autorität des göttlichen Gebots, hier hat die wahre
Priorität die Vernunft. Und die Botschaft, die dort der
Engel dem Propheten Ezechiel bringt, verheißt die Wieder-
herstellung des durch die Sünde verlornen Paradieses ver-
mittelst gläubiger Unterwerfung unter die Offenbarungstat-
sachen der Religion und Theologie. Das Evangelium aber,
das hier der Engel dem Propheten Jesaias verkündet, ohne
selbst es zu begreifen, verheißt die Wiedergewinnung der
ewigen Wahrheit aus den Erfahrungstatsachen des mensch-
lichen Wissens und der Philosophie.
Um die Gestalt des Ezechiel sammelt sich von beiden
Seiten die linke, theologische Hälfte der Propheten und
Sibyllen, insgesammt ältere Männer und Frauen asiatischen
Ursprungs. Die andere, philosophische Hälfte aber hat nicht
die Form der Concentration, sondern der stetigen Entwickelung,
des gleichmäßigen Wechsels in den Gegensätzen der drei
Propheten- und Sibyllenpaare, sie besteht aus den jugendlich
schönen Gestalten der delphischen und libyschen Sibylle,
Der Piatonismus Michelangelos.
165
den männlich rüstigen drei Propheten Jesaias, Daniel und
Jonas und aus der langlebigen und männlich gearteten Cumäa.
Ihre Entwickelungsreihe beginnt mit der delphischen Sibylle,
und ohne durch den vom Engel gerufenen, aber in seinem
eigenen Gedankenprocess nicht gestörten Jesaias aufgehalten
und unterbrochen zu werden, setzt sie stetig ihren Ent-
wiekelungsgang fort, bis sie ihr Endziel erreicht in der Haupt-
gestalt dieser Reihe und des ganzen Cyklus, in dem Propheten
Jonas. Er schließt die ganze horizontale Bewegung des
sibyllinisch-prophetischen Kreises, welche im Vergleich mit
der zeitlich fortschreitenden Entwickelung der Mittelbilder
als eine wesentlich rückläufige Bewegung erscheint, ebenso
ab, wie die delphische Sibylle sie auf der rechten Langseite
beginnt.
Auch abgesehen von dem dargelegten Zusammenhang
der künstlerischen Formgedanken springt dem Beschauer un-
willkürlich die hervorragende Stellung dieses Propheten in
die Augen: schreitet er vom Eingang der Sistina zum Altar
fort und erhebt seinen Blick zu den Deckengemälden, so tritt
ihm über dem Hochaltar in derselben Hauptrichtung mit
der Reihe der Mittelbilder, die auf der Höhe des Gewölbes
sich entfaltet, an der vordem Schmalseite desselben vor allen
Propheten und Sibyllen zuerst die Kolossalgestalt des Jonas
entgegen und wird von allen Seiten als Schlussglied des
Cyklus hervorgehoben.
Woher kommt dieser Vorrang? Stammt er aus der
biblischen Ueberlieferung ? Unter den 16 Propheten des
alten Bundes zählt Jonas zu den sogenannten kleinen Pro-
pheten, und während die vier großen sämmtlich unter den
Propheten Michelangelos sich finden, nämlich Jesaias und
Daniel auf der rechten, Ezechiel und Jeremias auf der linken
Langseite, so hat der Künstler von den zwölf kleinen neben
Joel und Zacharias den Jonas ausgewählt und ihm den Vor-
zug vor den großen Propheten gegeben. Auch gegenüber
dem Inhalt der biblischen Erzählung vom Propheten Jonas
hat Michelangelo seine künstlerische Freiheit bewahrt. In
dem sinnreichen Apolog der Bibel ist Jehovah im edelsten
166
Victor Kaiser,
Geiste des jüdischen Prophetentums aufgefasst: er zeigt sich
voll Schonung und Gnade für die heidnische Weltstadt des
assyrischen Reiches, Ninive, nachdem durch die von ihm
anbefohlene Bußpredigt des Jonas die Bußfertigkeit der
Niniviten erweckt und die göttliche Absicht erreicht ist.
Der Prophet Jonas hingegen erscheint als der particularistisch
gesinnte Jude, der dem Jehovah zürnt ob der gegen die
Heiden geübten Milde und Barmherzigkeit. Allein Jehovah
lässt in einer Nacht den Wunderbaum Kakajon emporwachsen,
damit er zum schützenden Dache sich wölbe, und der Prophet
in seinem Schatten sich ausruhe; jedoch lässt er den Baum
wieder in einer Nacht verderben durch den an seinen Wurzeln
nagenden Wurm, denn er will den zürnenden Propheten
durch den über diesen Verlust empfundenen Schmerz be-
lehren, wie viel mehr es ihn betrüben solle, die Weltstadt
der Heiden mit mehr als zwölf Myriaden Menschen dem
Untergange zu weihen. Passt nun dieser Jonas, der eng-
herzige Jude der biblischen Ueberlieferung, zu dem erhabenen
Kreis der Propheten und Sibyllen in der Sistina? Der Jonas
der Bibel ist offenbar nicht der Jonas Michelangelos. Dieser
bricht nicht wie jener vor den sengenden Strahlen der Sonne
ohnmächtig zusammen und wünscht sich den Tod, sondern in
voller Manneskraft und selbstbewusster Haltung lehnt er sich
zurück, um den Schöpfer alles Lebens zu fragen. Und warum
er fragt, ist nicht der selbstische Grund, der Verlust des
schattigen Baumes, den der biblische Jonas beklagt, sondern
es ist der Weltschmerz um den Tod des Lebendigen. Nicht
ihn fragt Jehovah, wie es in der Bibel heißt: »Ist es recht,
dass du zürnst um des Wunderbaumes willen?« Er selbst
fragt vielmehr den Jehovah: Ist es recht, dass stirbt, was
da lebt?
Es ist kein Zug an der geist- und kraftsprühenden Ge-
stalt des Jonas, der diese Frage nicht ausspricht. Kraftvoll
lehnt er den Oberleib zurück und stemmt den rechten Ellen-
bogen auf die Sitzbank, er richtet den Blick und das Haupt
aufwärts, nicht um zu klagen über die kahle Baumkrone.
In rascher Bewegung nimmt er die linke Schulter vor und
Der Piatonismus Michelangelos.
167
deutet mit beiden Iiänden abwärts zu den absterbenden
Wurzeln des Baumes. Alles verkürzt sich an dieser Farben-
gestalt: die Oberschenkel und Unterarme mit den beiden
Händen, der zurückgebeugte Oberleib und der zurückgeworfene
Kopf mit dem geöffneten Munde. Jede Fiber spannt sich
in der Vollkraft des Lebens, um zu fragen: Warum stirbt,
was da lebt? Die Kunst der Verkürzungen erscheint hier
auf der Flöhe der Vollendung, aber sie ist keine geistesleere,
nüchterne Technik und Virtuosität, hier decken sich voll-
kommen Geist und Körper, Formgedanke und Gedankenform.
Der Geist aber, der dieses vollendete Gebilde der Kunst be-
seelt, stammt nicht aus der biblischen Tradition.
Er stammt noch weniger aus der empirischen Wissen-
schaft. Eine Tatsache der Erfahrung ist allerdings der Tod
des Lebendigen. Aber nicht nach den empirischen Be-
dingungen des Todes forscht Jonas: er gräbt nicht nach dem
nagenden Wurm, untersucht nicht die Art des Wurmes und
die Werkzeuge seines Nagens. Nicht über die Organe des
organisirten Naturkörpers befragt Jonas die Gottheit, nicht
nach dem Wodurch des Todes, seinen Naturbedingungen
fragt er, sondern nach dem Warum des Todes, nach seinen
Vernunftgründen. Der Geist, der in dem Jonas Michelangelos
lebt, ist also nicht der Geist der Naturforschung, sondern
er ist der Geist der platonischen Philosophie , und wie die
delphische Sibylle an der Spitze der rechten Kranzhälfte be-
reits auf diese Quelle hinwies, so auch an ihrem Schluss-
punkte, der zugleich der Mittel- und Schwerpunkt der ganzen
sibyllinisch-prophetischen Bewegung ist, vertritt die Flaupt-
gestalt des Propheten Jonas — das Wesen der platonischen
Philosophie.
Die Verwunderung ist nach Piaton der wahre Anfang
der Philosophie.1 Sie findet Rätsel und Schwierigkeiten,
Fragen und Zweifel da, wo die gewohnte Vorstellungsweise
bewusstlos festhält an dem erfahrungsmäßig Gegebenen,
gläubig Ueberlieferten. Sie beruhigt sich nicht bei dem her-
1 Plat. Theaet. p. 155c. Phaedr. p. 250a.
168
Victor Kaiser,
kömmlich Bestehenden, allgemein Geltenden, aber nicht immer
Allgemeingültigen: sie fragt nach dem Rechte zu sein und
zu gelten, nach dem Zwecke des Bestehenden. Die Ver-
wunderung, meint auch Aristoteles, ist anfänglich ein Nicht-
wissen, ein Zweifeln, gelangt aber am Ende zum Gegenteil,
zum Wissen und zum Bessern.1 Der Weg aber, worauf sie
vom Nichtwissen fortschreitet zum Wissen und zum Bessern
gelangt, ist das Denken. Und das Denken nennt Piaton ein
lautloses Fragen und Antworten, eine stille Zwiesprache der
Seele mit sich selbst,2 also ein sibyllinisch- prophetisches
Selbstgespräch, und die Grundwissenschaft der Philosophie,
die Dialektik ist ihm eine dialogische Kunst der Seele, wo-
durch richtige Gedanken aus der Erfahrung aber nicht
durch die Erfahrung gebildet und wahre Begriffe und Er-
kenntnisse von den Dingen erworben werden.3 Ein Nach-
klang dieser Verknüpfung von Fragen und Wissen, deren
sich die großen Denker des Altertums klar bewusst waren,
hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten in den National-
sprachen der meisten antiken und modernen Culturvölker.
Fragen und Forschen sind zwei Begriffe, welche die Griechen
in demselben Worte Çqtsîv zusammenfassten4 und »zetetisch«
nannte noch Kant im Gegensatz zum Dogmatismus seiner
Zeit die ursprüngliche Gestalt seiner »Kritik der Vernunft«.5
Ebenso drückten die Römer durch das Wort quaestio so-
wohl Frage als Untersuchung aus, und die romanischen
Sprachen sind hierin ihrer gemeinsamen Mutter gefolgt, so-
gar die germanische Weltsprache der Engländer hat mit den
romanischen Elementen ihres reichen Sprachschatzes das
Wort question in demselben Gepräge, das ihm schon die
philosophische Bildung des Altertums verliehen, aufgenommen
und gegenwärtig in allen fünf Weltteilen verbreitet. In der
1 Aristot. Metaph. I, % 8 u. 11 u. 12.
2 Plat. Soph. p. 363e.
3 Plat. Resp. VII, p. 534e. VI, p. 5111».
4 Aristot. Analyt. post. II, 1.
s Kant, Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im
Winterhalbjahre 1765/66.
Der Piatonismus Michelangelos.
169
Universalsprache der Kunst stellt Michelangelo diesen ver-
nunftkritischen Zusammenhang von Fragen und Forschen
in seiner Hauptgestalt des Jonas, als des verwunderten
Fragers und Forschers, ebenso lebendig und anschaulich dar,
als die antike Philosophie mit ihrer Klarheit des selbst-
bewussten Denkens.
Was den Philosophen des Altertums die größte Ver-
wunderung erregte, war das alltägliche Schauspiel der Ver-
änderung. Die Natur selbst, wie sie erfahrungsgemäß vor
unsern Augen liegt, dieses endlose Werden, Entstehen und
Vergehen war das große Rätsel, worüber sie nie ermüdeten,
zu fragen und zu forschen. Alles Lebendige nährt sich und
wächst durch Fremdes und Entgegengesetztes : es wird sich
selbst ungleich. Aber alles Fremde nimmt es auf und ver-
arbeitet es in seine eigene Lebensform, und diese beharrt
während der ganzen Lebenszeit: es bleibt also auch sich
selbst gleich in allen äußern und innern Umwandlungen.
Allein die innere Lebensform erlischt im Tode und löst sich
auf in ihre Elemente, das Lebendige wird untreu der innigsten
Durchdringung seiner materiellen Bestandteile: es wird also
wieder sich selbst ungleich und vollendet so den Kreislauf
seines Werdens. Was sich nun selbst widerspricht, indem
es sich selbst gleich und ungleich, treu und untreu wird, das
kann nicht das Wahre sein, sondern scheint es nur zu sein.
Was ist denn aber eigentlich, wenn alles nur scheint zu sein?
Was ist das Wahre und Eigentliche der Dinge? Das ist die
große Frage, welche die Philosophie beschäftigt bis auf den
heutigen Tag. Schon die vorsokratische Philosophie gab
darauf zwei entgegengesetzte Antworten, und Piaton ist der
erste Denker, welcher diese vereinzelt aufgestellten Philo-
sopheme zu combiniren und zum System der Philosophie zu
entwickeln und abzurunden versuchte. Die Urheber derselben
sind Heraklit mit dem Beinamen der Dunkle und Parmenides,
von Piaton der Große genannt. Jenem gilt das Werden
selbst, das Entstehen und Vergehen als das Eigentliche, ihr
relatives Beharren aber als ein Schein, der unsern Sinnen
vorgespiegelt wird. Nicht der Grund, woher es kommt, nicht
170
VicLor Kaiser,
das Ziel, wohin es geht, nicht die festbestimmten Gegensätze,
woraus es hervorgeht, sind die Bedingungen des Werdens;
nach Heraklit ist das Werden selbst unbedingt, grundlos und
zwecklos, und die Gegensätze und Bedingungen des Werdens
sind selbst fließend: Ruhe und Bewegung, Leben und Tod,
alles fließt und verwandelt sich in sein Gegenteil. In den-
selben Fluss, sagt daher Heraklit, können wir nicht zum
zweitenmal eintauchen, wie die Welle kommt, so geht sie,
wie sie steigt, so sinkt sie auch, und eine neue folgt, und
so fort ins Unendliche.1 Nur die gesetzmäßige Form dieses
Werdens, die unverbrüchliche Notwendigkeit des Geschehens,
das ewige Schicksal, die Heimarmene, beherscht die Sintflut
des Werdens in der äußern Natur und im menschlichen
Leben.2 Dem Eleaten Parmenides aber gilt das Werden als
undenkbar und widersprechend, nicht bloß als scheinbar,
sondern als nichtig — »ein trügerischer Schmuk der Rede«.3
Lediglich in den Begriff des Seienden vertieft er sich mit
der Vollkraft des speculativen Denkens. Er bestimmt es als
unwandelbar und sich selbst gleich, weder entstanden noch
vergehend, in sich selbst abgeschlossen und keines andern
bedürftig, mit keinen inneren Gegensätzen und Verneinungen
behaftet.4 Es hat keine räumliche Gestalt und Größe, aber
die Form des Geistes trägt es an sich: es ist allein denkbar
und widerspruchslos, es ist der Gegenstand des wahren Denkens,
und das Denken ist von der gleichen Art mit diesem seinem
Gegenstande.5 Parmenides rettete also die Gesetzmäßigkeit
des Denkens aus dem Strome des Werdens, aber gab die
Erfahrung preis; umgekehrt behauptete Heraklit die Tat-
sache der Veränderung, die Natura, aber opferte ihr das
Grundgesetz der Vernunft.
Piaton hatte seinen nächsten Ausgangspunkt in dem
sokratischen Streben nach Selbsterkenntnis, in der innern
1 Schleiermacher, Herakleitos. Fragm. 20 u. 21.
2 Schleiermachers Werke 3. Abt. 2. Bd. S. 76.
3 Brandis, Commentait. Eleaticae v. 111 ff. 28 ff.
4 Parmenid. v. 58 ff. 83 ff
5 Parmenid. v. 95: jctvròv cT ieri votïv rs xcù ovvtxtv ißn vór¡[¿a.
Der Platonisrnus Michelangelos. 171
Objectivität, welche das denkende Subject in der logischen
Wahrheit, in der richtigen Bildung des Inhalts und Umfangs
der Begriffe findet, und in den vernünftigen Normen des
sittlichen Wollens und Lebens erkennt und anerkennt. Aber
wie er gegen die theoretische und praktische Einseitigkeit
und Haltungslosigkeit der sophistischen Subjectivität seiner-
zeit die neue logische und ethische Einsicht des Sokrates
verteidigte, so erkannte er auch die einseitigen Uebertreibungen
der vorsokratischen Metaphysik in den Gegensätzen Heraklits
und der Eleaten, ohne das Recht der Erfahrung in dem
Werden Heraklits und das Recht des speculativen Denkens
in dem Seienden des Parmenides zu verkennen. Der Sophist
Protagoras hatte die sinnliche Empfindung als das einzige
Wissen und das empfindende Subject als das Maß aller
Dinge erklärt, und ohne davon die objective Empfindung der
Sinne und hiermit die Grundlage des empirischen Wissens
'zu unterscheiden, alles menschliche Wissen in subjectiven
Schein und willkürliches Belieben verkehrt.1 Piaton prüft
nun den Satz des Protagoras in dem Dialog Theätetos und
gewinnt aus der Widerlegung des Sophisten die Grundlegung
seiner eigenen Philosophie. Das durch die Objectivität der
Sinnesempfindung Gegebene und unmittelbar Gewisse wie die
Realität des empfindenden Subjects lässt er von seiner Kritik
unberührt2 und anerkennt gleich Aristoteles einfache Ele-
mente des Wissens im Gebiete der sinnlichen Erfahrung wie
im reinen Denken.3 Aber den sophistischen Satz, die Sinnes-
empfindung sei das wahre Wissen, bestreitet er, indem er
ihn auf den heraklitischen Grundbegriff des absoluten Werdens
zurückführt4 und nachweist: In der sinnlichen Sphäre ist
alles bedingt, es gibt keine wahre Empfindung, ohne dass
sie die Empfindung eines Objects (xivòq) wäre, und es gibt
kein Object der Empfindung, ohne dass es einem empfinden-
den Subjecte (rivi) zukäme. Subject und Object der Em-
1 PI. Theaet. p. 152 a.
2 A. a. 0. p. 179 c. 160 c.
3 A. a. 0. p. 206b. Aristot. de anima 3, 6.
4 Pl. Theaet. p. 152b —153 d.
172
Victor Kaiser,
pfmdung, Tätiges und Leidendes, Wirkendes und Bewirktes,
alles ist in stetiger Bewegung, im Flusse des Werdens und
Uebergehens begriffen, nichts ist hier für sich, nirgends ein
Seiendes und Unbedingtes, alles nur Erscheinung und be-
dingt.1 In der durchgängigen Bedingtheit des Werdens findet
also Piaton keinen wahren Ausdruck des Seienden, und in
dem Flusse des angeblich unbedingten Werdens einen wider-
sprechenden Begriff, der sich innerlich verneint und in keiner
festbestimmten Gedankenform, kaum in einem Worte sich
adäquat ausdrücken lässt.2 Das Ergebnis der platonischen
Kritik lautet daher: die Welt des unendlichen Werdens, die
Natura ist nicht das Wahre, wie Heraklit behauptete; sie
ist aber auch nicht nichts, wofür sie Parmenides erklärt
hatte, sondern alles, was da wird, ist nur Erscheinung, und
die alte Frage kehrt wieder: Was ist denn wahrhaft, wenn
alles nur scheint zu sein?
In der geistigen Welt der Ideen suchte Piaton das Seiende,
das er in dem sinnlichen Schein des Werdens nicht finden
konnte. Die reine Mathematik, welche die mustergültige
Evidenz ihres Wissens allein der Deutlichkeit und Folge-
richtigkeit der Begriffe verdankte, hatte ihm schon längst
den Weg gebahnt. Thaies, der Vater der Philosophie, der
auch die wissenschaftliche Geometrie begründete, da ihm die
Lehre von den Dreiecken zugeschrieben wird, musste, um
die einfachsten Sätze demonstriren zu können, bereits vor
mehr als dritthalb tausend Jahren den Allgemeinbegriff des
Dreiecks in der logischen Klarheit seiner Elemente und der
Notwendigkeit seiner Verhältnisse genau so erfasst haben,
wie er noch heute dem Geiste eines jeden Mathematikers
vorschwebt, der diesen Begriff richtig denkt. Er ist ein Ideal
des Denkens, dem ein wirkliches, in den Sand oder auf die
Tafel gezeichnetes Dreieck niemals entspricht, dem auch das
wirkliche Denken des Mathematikers nur annäherungsweise
entspricht. Denn jene Idee des Dreiecks schließt in der All-
gemeinheit ihres logischen Inhalts alle Differenzen und Con-
1 A. a. 0. p. 153 e —157 d.
2 A. a. 0. p. 179d—183c.
Der Piatonismus Michelangelos.
173
traste ihres Umfangs aus, welche durch die Größe der Seiten
und die Art der Winkel gebildet werden und in jedem wirk-
lichen Dreiecke vorkommen. Diese ideale Reinheit des logi-
schen Inhalts fordert jede Wissenschaft von ihren Begriffen
als die logische Bedingung ihrer Wahrheit, und Piaton hat
das Verdienst, nachdem Sokrates das logische Denken im
Verhältnis von Inhalt und Umfang der Begriffe vorzugsweise
geübt und dieses Verfahren seinen Schülern empfohlen hatte,
jene Grundform der Logik zuerst erkannt und das Grund-
gesetz derselben, die widerspruchslose Bildung, die Allgemein-
gültigkeit und Notwendigkeit der Begriffe reiner ausgesprochen
zu haben als selbst der Vollender der Logik, Aristoteles.
Diese logische Entdeckung, wornach die Gegensätze des Ge-
dachten wohl unter einander, aber niemals sich selbst ent-
gegengesetzt sind, machte Piaton im Zusammenhange seiner
Untersuchung über die physischen Gegensätze, die alles Leben
und dessen Wandlungen bedingen,1 und verwendete sie da-
her für die Lösung jener metaphysischen Grundfrage, welche
bereits die vorsokratisehen Denker beschäftigt hatte: Was
ist eigentlich, wenn alles nur erscheint? Parmenides hatte
ihn schon auf diese Spur geleitet mit seinem Satze: Das-
selbe ist das Denken und sein Gegenstand, das Seiende.2
Die Antwort, die Piaton auf jene Frage fand, lautete nun:
Das logische Wesen der Allgemeinbegriffe, das Unwandelbare
ihres Gedankengehalts ist auch das Unwandelbare des Seien-
den. Die platonischen Ideen sind demnach die letzten Gründe
alles wahren Wissens und Seins, sie sind der feste Pol in
der Flucht der Erscheinungen, das Ewige, Unbedingte, das
selbst wandellos über allen Wandelungen, Negationen und
1 Pl. Phaedo p. 103c. fxr¡áénoxs tvavxíov iavrcS xò tvavxíov taxív.
Aristot. Metaph. III, 3, 8.
2 Die platonische Ideenlehre wird auf Parmenides v. 95 zurück-
geführt in Plotinos' Y. Enneade I, 3. p. 490 f. : IToÁ.ía/ov dt xò lív
xòv vovv, xr\v iòta v Átyti (o Jlkáxiov)^ wart Jlkäxtava tiâtvat tx /utv
ï àya&ov tòv vovv, xr¡v ïâéav, tx àè xov vov, xr¡v xpv/ijv. tjnxtxo [¿tv oli>
Ilatjutviôrjç TiQÓxtQov xr¡g xoucvxr/g âôÇijç, x.a&ó<sov tìg xavxò Gvvtjytv
"v x«ì vovv. xaì to ôv ovx tv xoïg aiß&rjxoig txí&sxo' xò yàç avrò votìv toxi
ft y.itt tìi'fu Àéyiùv, xuì cixívr¡xov fit lêyf-t xovxo.
174
Victor Kaiser,
Gegensätzen der sinnlichen Erscheinungen schwebt, wie der
logische Begriffsinhalt als reines Urbild des Gedankens von
allen Differenzen und Contrasten des Begriffsumfangs selbst
unberührt, die Gesammtheit der Arten, Unterarten und In-
dividuen beherscht.
In der concreten Fülle des Umfangs und seinem logi-
schen Verhältnis zum abstracten Inhalt der Allgemeinbegriffe
öffnete sich für Piaton die Aussicht, das Band zwischen der
Sinnenwelt und den Ideen zu schlingen, das vor den Augen
des Parmenides zerrissen war, die Brücke wieder aufzubauen,
welche der einseitige Eleatismus zwischen der wandelbaren
Erscheinungswelt und dem reinen Seienden abgebrochen hatte.1
Allein er vermied bewusstvoll diesen Weg, den nach ihm
Aristoteles betrat; er wollte nicht durch Nachgiebigkeit gegen
die Erfahrung den metaphysischen Gehalt der Ideenlehre
trüben und abschwächen, sondern mit einer dem großen
Parmenides verwanten Energie des speculativen Denkens hielt
er fest an dem Kern und Nerv derselben: die reinen, un-
wandelbaren Gedankenformen der Vernunft und Wissen-
schaft sind die ewigen Urbilder des Seienden. Hingegen er-
öffnete sich ihm in der teleologischen Natur der Ideen ein
Reich der Vernunft, dem das Reich der Natur sich dienstbar
erwies, und zur Vermittlung zwischen dem parmenideischen
Sein und dem heraklitischen Werden taugte dieser auch dem
künstlerischen Geiste Piatons entsprechende Charakter der
Ideen besser als ihre logisch-metaphysische Natur. Die Ideen
sind die urbildlichen Zweckbegriffe, und die organisirte wie
die unorganische Natur bietet den bildsamen Stoff und die
Organe oder die Mittel und Werkzeuge dar, welche zu
ihrer Verwirklichung dienen. Piaton nennt sie daher die
Zweckursachen, wozu, die Vernunftgründe, warum alles
geschieht; die Naturursachen aber erscheinen ihm als die
Nebenursachen oder die mitwirkenden Bedingungen und
Organe, wodurch alles geschieht.2 Demgemäß unterscheidet
er auch in Bezug auf die Erkenntnis der Dinge zwei Classen
1 Pl. Parm. p. 129—135.
2 Pl. Phaedo p. 99a. Tim. 46d. Polit, p. 281 ce. 287h.
Der Piatonismus Michelangelos.
175
von Bedingungen: die sinnlichen Organe, wodurch wir
wahrnehmen, und das Denken, womit wir wahrnehmen
(òi ov und m aíGÜavófis&a). Jene haben ihren einheit-
lichen Träger in der Lebensform des organischen Natur-
körpers, dieses aber in der davon unabhängigen Lebensform
des vernünftigen Geistes — in der Psyche.1
5.
Der die platonische Philosophie beherschende Gegensatz
zwischen den idealen und den materiellen Bedingungen, den
Natur- und Zweckursachen des Werdens tritt als das Haupt-
motiv in der künstlerischen Gestaltung des Jonas, und zwar
in den beiden entgegengesetzten Richtungen seiner Be-
wegung, Geberde und Haltung zu Tage, und die Art wie
jener Hauptgegensatz in der platonischen Philosophie ent-
wickelt wird, die Dialektik als das Selbstfragen und -ant-
worten des vernünftigen Geistes äußert sich hier an der Ge-
stalt des einsamen Denkers und Forschers in der sie be-
seelenden Verwunderung und in der Frage: Warum stirbt,
was da lebt? Diese Frage offenbart zugleich in ihrem Ge-
halt und ihrer Form den sibyllinisch-prophetischen Geist des
platonischen Sokrates, der im Phädros dem durchaus Wandel-
baren und Vergänglichen, dem Alltäglichen und Gemeinen
in allen Sphären des Culturlebens entgegengesetzt wird: ihre
Form ist das einsame Selbstgespräch, der Monolog der Sibylle,
ihr Gehalt das Ewige, worauf der sibyllinisch-prophetische
Blick emporgerichtet ist.
Die Bewegung der künstlerischen Gestalt geht nach
zwei entgegengesetzten Seiten hin: die Hände des Propheten
weisen nach unten, Kopf und Herz aber wenden sich fragend
nach oben. Dort unten liegen die Naturbedingungen und
Naturursachen des Todes, der nagende Wurm und die zer-
1 PI. Theaet. p. 184b—186d. ìqwx¿¿g . .. chcixívog tmv tov aiá/ucnog
TV '*PV X>ì crfß&uvouifta. — ctvrrj t)V avrijç r¡ ipv/rj t« y.oivú uoi tf>aít>niu
ttfQi núvTOtv tmc'/.oTitîv. — waivtrai gol t« y.tv airr¡ *)V i'.virjg rt ipv%i]
*m>ôxo7itïv, rit ôè dux t wV r ov oo'îuuxoç âvv c'c/MMis. Vergi. Phaedo
P- 79 b. 80 a.
176
Victor Kaiser,
nagten Wurzeln des Wimderbaumes, und von dorther tönt
die Stimme des Verhängnisses, der heraklitischen Heimarmene,
so rauh, wie auch die tausendjährige Stimme der herakliti-
schen Sibylle nur Freudloses, Glanz- und Zierloses den Ge-
schlechtern der Menschen verkündet: Alles, was da lebt,
muss sterben, heißt der unabänderliche Schicksalsspruch.
Allein der Prophet beruhigt sich nicht bei dem Dass und
Wodurch, bei der Tatsache und den Naturursachen des
Todes, sondern unbefriedigt richtet er entschieden seine Frage
nach oben, nicht mit dem trüben Ernste des dunkeln Philo-
sophen, sondern mit dem feierlichen, gedankenvollen Ernste
des großen Parmenides, der zuerst, seinen Blick auf das
wandellos Seiende geheftet, die Wahrheit in der idealistischen
Einheit des Seins mit den unwandelbaren Normen des ver-
nünftigen Geistes erfasste. Sein Augenmerk ist vor allem
zunächst auf der Höhe des Gewölbes der ewige Schöpfer der
Welt und des Menschen: fünf Mal schwebt dort rechts das
Bild der Gottheit dem fragenden Blick und Mund seiner
nach der linken Seite mächtig zurückgelehnten Gestalt gerade
gegenüber. Die Blicklinie des Jonas gleitet übereck nach der
rechten Seite über das ganze Gewölbe hin und bildet eine
ideale, die Mittelbilder und die Seiten des Gewölbes in seiner
ganzen Länge halbierende Diagonallinie. Sie beginnt in der
linken Ecke über dem Haupte des Jonas mit dem ersten
Mittelbilde, der Ausscheidung des Lichtes von der Finsternis,
und dieser erste Schöpfungsact selbst vollzieht sich bereits
übereck nach der rechten Seite hin; sie reicht sodann bis
zu der rechten Hälfte des sechsten Mittelbildes, des Doppel-
bildes vom Sündenfall und sondert die Ausstoßung des ersten
Menschenpaars aus dem Paradies auf diese Seite aus; von
da setzt sie sich fort, indem sie in gleicher Richtung die
Reihe der Mittelbilder verlässt, und endet in der rechten
Ecke über dem Haupt der Delphica, dem Anfangsgliede der
rechten prophetischen Kranzhälfte, die mit dem Propheten
Jonas ihren Abschluss findet.
Das Gesichtsfeld des Jonas umspannt die ganze rechte,
durch jene Diagonale gesonderte Hälfte der Deckengemälde
Der Piatonismus Michelangelos.
177
auf der Höhe und an der entsprechenden Seite des Gewölbes,
es wird durch die fragende Haltung des auf seinen rechten
Ellenbogen zurückgeneigten Propheten motivirt und bildet
den Springpunkt der ganzen cyklischen Composition; denn
es entwickelt die große Frage des Propheten erschöpfend in
den drei Gesichtspunkten oder Momenten, in welche sie sich
logisch zerlegt: Wer und Von wem und Was gefragt wird.
Es bildet somit die vollständige künstlerische Dialektik der
prophetischen Frage, und in seinen Formgedanken, d. h. in
der vom Auge des Propheten über das Gewölbe an- und
zur Delphica absteigenden Curvenbewegung jener diagonalen
Blicklinie offenbart es die entsprechenden drei Gedanken-
formen oder Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.
Die Gottheit ist es, die gefragt wird, ihre schöpferische
Tätigkeit entfaltet sich gerade gegenüber dem fragenden
Blicke des Jonas in der rechten Hälfte der von jener idealen
Diagonallinie durchschnittenen Mittelbilder, sei es dass sie
zuerst das Licht von der Finsternis scheidet, oder dann unter
den Lebewesen die Pflanzen auf dem Erdboden zum Lichte
aufsprießen oder die Tiere in den Gewässern sich vermehren
lässt, oder endlich den vernunftbegabten Adam und die an-
betend niedergesunkene Eva zu ihrem göttlichen Urbilde
erhebt. Von wem aber die Gottheit gefragt wird — das
ist die menschliche Vernunft: zuerst sind es die Stammeltern
des Menschengeschlechts, welche unmittelbar nach den fünf
Bildern des Welt- und Menschenschöpfers in der Blicklinie
des Jonas erscheinen, wie sie, aus dem Paradiese verjagt,
zum ersten Mal die Freiheit des vernünftigen Denkens und
Wollens betätigen, sodann ihre Nachkommen, insofern ihr
höchstes auf die Erkenntnis der Wahrheit gerichtetes Streben
in der rechten Kranzhälfte der forschenden Sibyllen und
Propheten sich entwickelt und in der großen Frage des
Propheten Jonas vollendet. Er ist die einzige Gestalt des
ganzen prophetischen Piings, welcher Auge und Stimme un-
mittelbar zum Schöpfer des Himmels und der Erde, alles
Lebendigen und Beseelten erhebt und zum Entsetzen der
Engel und im Gegensatz zur linken Kranzhälfte selbst im
Zeitschrift, für Vülkerpsych. und Spracliw. Bd. XVI. X u. 2. 12
178
Victor Kaiser,
Angesichte des Höchsten das Recht der freien Prüfung und
Forschung anspricht. Das Fragen und Gefragtwerden schließt
sich also in der Gesichtslinie des Jonas mit sich selbst zu-
sammen, indem es in fortschreitender Bewegung von der
Hauptgestalt des prophetischen Kreises ausgeht und von der
Delphica an rückwärts strömend, dahin zurückkehrt.
Aehnlich verhält es sich mit dem dritten Gesichtspunkt,
unter welchem die Frage des Propheten sich der Betrachtung
darbietet; denn er birgt in sich nicht bloß das Was der
prophetischen Frage, sondern ebenso, gleichsam als ihre
Gegenströmung, zugleich deren Beantwortung. Der Inhalt
und Gegenstand der Frage ist der Grund und Zweck, das
Warum und Wozu des Todes als des gemeinsamen Looses,
dem das erste wie das letzte der lebendigen Geschöpfe
Gottes, der vernünftig beseelte Mensch so gut als die Pflanze
und das Tier unterworfen sind. Wie lautet aber die Ant-
wort, die der Prophet auf seine Frage vernimmt? Von der
erhabenen Stelle, wohin er sich gewendet, vernimmt er nicht
die rauhe Stimme der heraklitischen, sondern den göttlichen
Anhauch der platonischen Sibylle, und da schon die Frage
selbst auf platonischem Boden erwachsen ist, kann ihre
dialektische Entwicklung auch nur in der platonischen Dia-
lektik ihre Beantwortung finden. Antworten sei leichter als
fragen, meint der Dichter und Denker Jean Paul. Nichts ist
schwerer, sagt er, als fragen, d. h. im Ocean zu angeln ; nichts
leichter als zu antworten, weil die Frage die Antwort umkränzt.
Wenn nun der Prophet Jonas bei dem Dass oder der nackten
Tatsache, dem blinden Verhängnis des Todes nicht sich be-
ruhigt, sondern nach dem Warum des Todes fragt, und diese
Frage die Antwort selbst umkränzt, so lautet diese im Geiste
der platonischen Dialektik: Die vernünftige Seele, die nach
dem Warum und Wozu, dem Urgrund und Endzweck der
Dinge, welcher wahrhaft ist und nicht bloß scheint, fragt
und forscht, ist von andrer Art und Beschaffenheit als die
Organe und der Organismus, wodurch sie das Bedingte
und dessen erscheinende Bedingungen erkennt. Dieser lebt
nur durch das andere, nährt, sich, wächst — und stirbt: er
Der Platonismus Michelangelos.
179
folgt dem Naturgesetze des heraklitischen Werdens. Die
fragende und forschende, die vernünftige Seele aber ist das
selbstlebige, das gottähnliche Wesen, worin die göttliche
Vernunft, die Wahrheit des Seins und Denkens selbst sich
offenbart : sie folgt dem unwandelbaren Idealgesetze der
eigenen Vernunft.1 Ihre Zwecktätigkeit besteht nicht bloß
darin, dass die Tätigkeit zum Zwecke hingeht als zu ihrem
realen Ziele, sondern dass sie vom Zwecke ausgeht, d. h.
von der Idee.
Die Gestalt des Jonas hat zwar den Ausgangspunkt ihres
Forschens in der Welt des vergänglichen Scheines, nimmt
aber fragend von da ihren Aufschwung zur idealen Welt
des Seienden und veranschaulicht in der entgegengesetzten
Richtung ihrer Bewegung die eigentümliche Selbsttätigkeit
und zwecksetzende Idealität der Vernunft. Die vernünftige
Ordnung der Welt und ihr Urgrund, die göttliche Vernunft,
der Schöpfer des Lichtes und des Lebens, der Natur und
des Geistes, ferner die Freiheit der menschlichen Vernunft,
auf welche allein die Stammeltern außerhalb des Paradieses,
als auf die Leiterin und Führerin ihres Lebens angewiesen
sind — das ist der Ideengehalt, welcher in der Tiefe der
gottverwanten menschlichen Seele schlummert und durch die
Frage des Propheten nach dem Vernunftgrund und Zwecke
des Todes zur Klarheit des Bewusstseins — zur Selbster-
kenntnis erweckt wird. Die Ideen der Gottheit und Freiheit
treten zwar in den lebensvollen Bildern und Gestalten, die
auf der Höhe des Gewölbes dem Blicke des Propheten gegen-
überstehen, nach einander vor seine gegenständliche An-
schauung, aber sein das Ewige schauendes Auge erfasst sie
zugleich in der Idealität des Bildes, in der Bildnatur der
Seele: sie erscheinen also seinem fragenden Geiste auch als
die Abbilder des Vorgangs in seiner eigenen Seele, als die
Urbilder der eigenen Vernunft. Sie veranschaulichen nicht
bloß die Gegenstände seines Schauens, sondern auch sein
Schauen dieser Gegenstände, sie sind die Bilder zum Bilde
1 Plat. Phaedr. p. 245c. Iiesp. p. fili ab.
12*
180
Victor Kaiser,
des das Ewige schauenden Propheten und verhalten sich
ähnlich wie das Schauspiel i m Schauspiele, das dem Hamlet
die verbrecherische Seele, das Gewissen des Königs enthüllt:
sie enthüllen dem Beschauer die Urbilder des Ewigen, die
in der Tiefe der prophetischen Seele schlummern und durch
die Frage des Propheten zum Lichte des Bewusstseins er-
wachen. Michelangelos Jonas bildet im Schauen des Ewigen
gerade ebenso mehr sich selbst ab als die abgebildeten
Gegenstände seines Schauens, wie Michelangelo vom Schaffen
des Künstlers überzeugt war, dieser bilde in seinem Werke
mehr sich selbst ab als den Gegenstand seines Bildes. Darin
äußert sich gleichmäßig die objective Idealität des Künstlers
und des Propheten.1 Die prophetische Natur der Seele ist
die dritte Idee, in welcher die prophetische Frage sich ent-
wickelt, und in ihr vereinigen sich die aus den beiden ersten
Momenten der Frage hervorgegangenen Ideen der Gottheit
und Freiheit: sie sind die Spiegelbilder der Seele, diese selbst
aber ist der wandellose einheitliche Träger jener Spiegelbilder
des Ewigen, und ihre Unsterblichkeit bildet die Selbstbeant-
wortung der prophetischen Frage nach dem Warum und
Wozu des Todes, ist gleichsam das sibyllinische Echo, welches
das Ewige in jenen beiden gegenständlich geschauten und
dialektisch zerlegten Urbildern der eigenen Seele harmonisch
widerhallt und beantwortet. Frage und Antwort des Pro-
pheten sind also ein Selbstfragen und -antworten, eine Dia-
lektik der Seele, worin Idee und Realität, was gedacht wird
und was ist, einander idealistisch entsprechen. Michelangelo
erreicht hier den vollständigen Ausdruck einer so tiefgründigen
Gedankenform, wie der Idee der Seele, der Psyche, durch
die einfache Blicklinie des Jonas, d. h. durch den künstlerischen
1 Die objective Idealität Michelangelos darf nicht mit dem snbjectiven
Idealismus der Gegenwart verwechselt werden; denn es ist ebensowenig
die Meinung Michelangelos, dass der Künstler bloß sich selbst in seinem
Werke darstelle, als dass sein Jonas das Ewige bloß als den subjectiven
Schein seines Auges und seiner Seele ohne die innere Objectivität der
Gegenstände seines Schauens auffasse und darstelle. Vgl. über die Be-
deutung des subjectiven Scheines in der Kunst des Verf. Vortrag:
Cornelius und Kaulbach. Basel 1877. S. 40—49.
Der Piatonismus Michelangelos.
181
Formgedanken oder den subjectiven Schein der vorn Auge
des Propheten schräg über das Gewölbe hingehenden Be-
wegung, ohne sich irgend des künstlichen Notbehelfs der
Allegorie und Symbolik zu bedienen. Uebrigens kommt die
unbedingte Selbständigkeit, das Fürsichsein der Seele in der
beziehungsreichen Gestalt des Jonas nicht allein durch sein
Schauen des Ewigen sondern auch dadurch zur Erscheinung,
dass er im Gegensatz zu allen übrigen Genossen des pro-
phetischen Kreises fragend und forschend weder des Bei-
standes der Engel noch der äußern Hilfe der Ueberlieferung
und des in ihren Büchern und Schriftrollen geoffenbarten
Wortes bedarf, sondern in sich selbst seine Hilfe sucht und
in der eigenen Vernunft sie findet — die Antwort vernimmt.
Die vernünftige Seele, der ideale Vernunftgehalt der mensch-
lichen Seele ist also die von der Frage des Propheten umkränzte
Antwort.
Die Frage des Jonas entfaltet sich in der stummbe-
redten Sprache der Kunst zu einem objectiven Idealis-
mus, worin die künstlerische Dialektik Michelangelos sich
deckt mit der philosophischen Dialektik Piatons: sie ist das
gleiche Selbstfragen und -antworten der vernünftigen Seele
derselbe lautlose Dialog der Seele mit sich selbst, wodurch
Piaton das Wesen der Dialektik bestimmt. Als ihre Auf-
gabe betrachtet Piaton die innere Befreiung und Läuterung
der Seele, deren Erlösung und Wiedergeburt und legt ihr
daher auch eine sibyllinisch-prophetische Natur bei. Wenn
der platonische Sokrates, jener verkörperte Typus der ge-
sammten sibyllinischen Bildung, die Seele in dem Urquell
ihres eigenartigen Lebens bezeichnen will — und er tut dies
im Phädros in demselben Zusammenhang, in welchem er
das Wesen der platonischen Sibylle und die höchste Stufe
des sibyllinischen Strebens auseinander gesetzt hat — so
nennt er die Psyche selbst die Seherin, welche die Dinge
dieser Welt im Lichte des Ewigen schaut, sub specie aeterni,
wie es auch bei Spinoza heißt. Aber ihr Besitztum des
Ewigen lässt er nicht aus dieser Welt herstammen, sondern
schildert den in der Tiefe der Seele geborgenen sibyllinisch-
182
Victor Kaiser,
prophetischen Ideengehalt als einen jenseits aller Erfahrung
gewonnenen Sehatz der Bildung.1 Nicht in philosophischer Ge-
dankenentwickelung, sondern im dichterischen Gewände des
Mythos schreibt er daher im Phädros der Seele als ihren ur-
sprünglichen Zustand die Präexistenz zu, worin sie die ewigen
Ideen der Wahrheit und des Schönen-Guten in ihrer Reinheit
schaute, bevor sie dann in den irdischen Leib eingekerkert ward
und jetzt darin wie ein Schaltier lebt.2 Die Wiedergeburt und
Erlösung der Seele aus ihrem gegenwärtigen unfreien Zustande
beschreibt er sodann im Gastmahl als das Werk des philo-
sophischen Triebes oder des Eros, welcher die Seele aus der
Gefangenschaft der Sinne befreit. Einerseits erhebt sie dieser
auf dem Stufengange des abstrahlenden Denkens zur lichten
Höhe des Allgemeinen, zur Wahrheit der logischen Idee; andrer-
seits strebt er, auf dem metaphysischen Wege des Fragens
und Forschens abwärts steigend, von der Abhängigkeit und
Zufälligkeit der Erscheinungswelt durch alle mittlem Be-
dingungen und Ursachen zur verborgenen Tiefe des wahrhaft
Seienden und Unbedingten zu gelangen, und hinwiederum
gemäß seiner idealistischen Grundvoraussetzung auf beiden
entgegengesetzten Bahnen den Einklang der ewigen Wahrheit
zu erkennen.3 Diese Präexistenz, diese Wiedergeburt und
Läuterung der Seele ist der Grundton, der in den Gedichten
Michelangelos an alle Saiten seiner platonisch gestimmten
Lyra harmonisch anklingt. Sie ist auch der Grundgedanke,
welcher an die prophetisch und platonisch gestimmte Seele
des Jonas so anklingt , dass seine an die Gottheit gerichtete
Frage nach dem Vernunftgrunde des Todes bereits die
Antwort umkränzt — selbst wenn auch die Tatsache des
Todes die Vernunftform der Weltordnung zu stören scheint.
Die Vergänglichkeit alles organischen Daseins, der Tod alles
Lebendigen, worauf die Hände des Propheten hinweisen,
überhaupt das Weltübel ist nach platonischer Denkweise
1 Plat. Phaedr. p.. M9e. f;'- nùeà, (ih äv&gwnov ipv/tf ti>v<sn Tt&éurcti
\ v ' • ' '
tu opra.
2 L. 1. p. 245 c —256 e.
3 Pl. Syrnp. p.-206e — 212c. Resp. 611 e.
Der Piatonismus Michelangelos. 183
weder etwas für sieh noch auch nichts, sondern ein Mittleres
für das Wahrheitsstreben des Eros, es ist das Mittel, wo-
durch der fragende und forschende Geist, vom Reiche des
Bedingten ausgehend und durch die mittleren Bedingungen
fortschreitend zu dem Unbedingten und Ewigen vorzudringen,
oder von den Schranken des Endlichen zu dem Ganzen und
Allgemeinen aufzusteigen getrieben wird. Es ist der notwendige
Gegensatz, die Schatten weit, die Michelangelos Schöpfer im
Anbeginn seines Werkes vom Lichte scheidet, die nährende
Erde, worauf das erste Lebewesen unter den segnenden
Händen des Schöpfers zum Lichte emporstrebt, der erste
Mensch zweckbewusst den Fuß aufstemmt und sein geist-
beseeltes Auge zu dem Urquell des Lichtes, zur Gottheit er-
hebt. Der Zweck selbst aber, wozu das Mittel und Werk-
zeug, das Organ und der Organismus dienen, wozu der
Prophet Auge und Mund emporrichtet, ist weder die opti-
mistische Leugnung noch die pessimistische Uebertreibung
des Weltübels, weder die indische Büßung noch die mittel-
alterliche Abtödtung des Fleisches, sondern diejenige Welt-
flucht, welche Piaton positiv bestimmt als die Annäherung
an das Göttliche, die Verähnlichung des Göttlichen durch
das vernünftige Denken und Wollen des Menschen:1 er ist
die menschliche Vollkommenheit — die Erlösung und Wieder-
geburt der sibyllinisch-prophetischen Seele.
Was in der Beseelung des ersten Menschen, in Michel-
angelos Adam bloß Anlage geblieben war, die Befreiung der
Seele im Kampfe mit der Naturgewalt niederer Antriebe und
gewohnter, bloß überlieferter Vorstellungen, verwirklicht und
vollendet sich in der Frage des Propheten Jonas. Sie ist der
Silberblick des vernünftigen Geistes, worin auf einmal das Edel-
metall der platonischen Ideen hervorglänzt, geläutert von den
Schlacken des materiellen Daseins und Werdens, auf welche
die Hände des Propheten abwärts weisen, und rein erfasst
von den Augen, die sich aufwärts und unmittelbar der
platonischen Sonne unter den Ideen, der Idee des Guten oder
1 Plat. Theaet. p. 176a. vnsvaviiov u rip âyci&to ««« ùvea (ìuciyxt]
• • . ifivyij ó'è o/uoíiotíig /.istà n>Qovr¡<st(og. Resp. p. 608e—610e.
184
Victor Kaiser,
der Gottheit zuwenden. Die Bewegung und Bedeutung der
Hände und Augen gleicht im Bilde des Jonas derjenigen des
vom Schöpfer beseelten Adam. Während dort das Auge
allein als das Organ der Vernunft unentwegt auf die Gott-
heit gerichtet ist, das Willensorgan, die Hand jedoch davon
abgelenkt werden kann, weisen beide Hände des Jonas zweck-
und zielbewusst auf das Niedere als das materielle Mittel
und Werkzeug, als das Reich der dienenden und mittelbaren
Zwecke des Nutzens und Wohlseins; sein fragendes und
forschendes Auge aber erfasst das Göttliche mit der Weite
seines über die ganze rechte Hälfte des Gewölbes schweifen-
den Blickes in der gotterfüllten Natur und Menschenwelt
wie auch in der Tiefe des eigenen vernünftigen Geistes.
Beide Gestalten umschließen in ihrer gemeinsamen Richtung
auf das Ideale, Göttliche den Entwickelungsgang der mensch-
lichen Cultur, Adam in seiner Vernunftanlage, Jonas in deren
Vollendung. Während jener zwar nicht wie Noah am Niedern
hängt und klebt, sondern zwischen dem Niedern und Höhern
schwankt und sich humaner Cultur ebenso empfänglich als
bedürftig erweist, nimmt Jonas den Aufschwung des Geistes
vom Niedern zum Höhern und Höchsten: sein selbstbe-
wusstes sibyllinisch-prophetisches Streben sucht nach dem
Vorbilde des platonischen Sokrates das Ewige in allen Sphären
der menschlichen Cultur zu erkennen und findet die letzte
Antwort auf seine Fragen, wie dieser — in der Selbst-
erkenntnis der Vernunft. Michelangelos Adam ist also der
Ausgangspunkt, sein Jonas das Ziel in der Entwickelung und
Vervollkommnung des vernünftigen Menschengeistes, der
wahren Humanität: er ist der wahre Mensch im Sinne des
Humanisten Pico von Mirandola — »sein eigener freier
Bildner und Ueberwinder«.
Wie die Freiheit des eigenen Denkens und Wollens in
der Frage des Jonas vollendet erscheint, ebenso offenbart
sie sich in ihrem Anfange schon im ersten Menschenpaare,
sobald es, aus dem Paradiese vertrieben und auf eigene Füße
gestellt, von der weiten Erde Besitz ergreift, und diese Dar-
stellung wird von dem übereck nach der rechten Seite des Ge-
Der Piatonismus Michelangelos.
185
vvölbes gewendeten Blicke des Jonas zuletzt noch in der rechten
Hälfte des sechsten Bildes gestreift, während die linke Hälfte
des Doppelbildes, das Paradies mit dem Baume der Erkenntnis,
jenseits der diagonalen Grenzlinie seines Sehfeldes liegt. Der
religiöse Autoritätsglaube hat in jener linken Hälfte des
Doppelbildes vom Sündenfall seinen Ausgangspunkt, und in
der linken prophetischen Kranzhälfte in der mit jenem
Mittelbilde verbundenen Hauptgestalt des Ezechiel seinen
Endpunkt. Die Selbständigkeit des vernünftigen Denkens
aber, die von den Protoplasten zuerst in der rechten Hälfte
des Doppelbildes betätigt wird, steigert sich auch auf der
rechten Seite in dem stillen Verkehr mit sich selbst, in dem
einsamen Forschen des prophetischen Rings. Dieses beginnt
mit der delphischen Sibylle genau an der Stelle, wo jene
übereck das Gewölbe halbirende Sehfeldgrenze, nachdem
sie das Doppelbild vom Sündenfall durchschnitten, in gerader
Richtung die rechte hintere Ecke erreicht und den propheti-
schen Kranz gleichfalls in zwei Hälften teilt. Die edle
Delphica, Michelangelos Abbild der platonischen Sibylle,
schließt sich in der nach der rechten Seite hin schräg über
das Gewölbe fortgeglittenen Blicklinie ebenso unmittelbar
an die rechte Hälfte des sechsten Mittelbildes mit den aus
dem Paradiese verstoßenen, auf sich selbst gestellten Stamm-
eltern an, wie vorher die fünf Bilder des Welt- und Menschen-
schöpfers successiv dem Auge des Propheten Jonas entgegen-
getreten waren: sein Blick neigt sich rechts in derselben
Gurvenbewegung zur delphischen Sibylle herab, wie er zu-
erst zum Gewölbe emporgestiegen war und knüpft in dem
Anfangs- und Endpunkt seiner Bewegung, d. h. in Jonas
und der Delphica die fortschreitende Reihe der Mittelbilder
zusammen mit dem horizontalen Gegenlaufe des sibyllinisch-
prophetischen Rings.
Die Formgedanken dieser combinirten Bewegungen be-
dingen die Einheit der Composition in aller Mannigfaltigkeit
der einzelnen Gestalten und Bilder, sie sind die den Gyklus
beherschenden Compositionslinien und bilden die Leitmotive
der cyklischen Gedankenformen, die gleich Krystallen an die
186
Victor Kaiser,
Grundgestalt des Jonas von allen Seiten anschießen. Sein
Augenmerk umfasst auf der Höhe und an der rechten Seite
des Gewölbes das ganze Werk der göttlichen Vernunft, die
gesammte vernünftige Ordnung der Natur und des Geistes
und stellt in den sechs ersten Mittelbildern die von der Frage
des Propheten umkränzte Antwort gegenständlich vor Augen
als den Reflex der eigenen prophetischen Seele, welche die
Urbilder des Ewigen in sich trägt — die Vernunftideen des
Unbedingten: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Es sind
die drei Angelsterne, um die sich nach Kant das Interesse
aller Vernunfterkenntnis bewegt. Die fragende Gestalt des
Jonas selbst aber erscheint an dem Zielpunkte der von der
Delphica eröffneten Reihe der Sibyllen und Propheten als
das Ebenbild der göttlichen in der menschlichen Vernunft,
als die höchste Form der Freiheit in der Arbeit des eigenen
Denkens und veranschaulicht die lautlose Zwiesprache der
Seele mit sich selbst in ihrer Vollendung, d. h. jenen sibylli-
nisch-prophetischen Kerngedanken des platonischen Sokrates,
denselben, welchen auch der historische Sokrates in der
Nähe der delphischen Sibylle vom Tempel des delphischen
Gottes entlehnte — Erkenne dich selbst!
Das gerade Gegenteil zu dieser Lichtseite, das Kehrbild
des Propheten Jonas ist Noah. Er fällt in den drei letzten
Bildern der mittlem Reihe ganz — während das Doppelbild
vom Sündenfall nur halb — auf die linke, die Schattenseite
der Vernunft und veranschaulicht die Beschränktheit eines
religiösen Autoritätsglaubens und Geremoniendienstes, dem
es an vernünftiger Einsicht und innerer Würde gebricht.
Er ist der einseitige Träger der niedern Cultur, der nicht-
sibyllinischen, oionistischen Denkungsart.
Wie in jener schräg über das ganze Gewölbe an- und ab-
steigenden Curvenlinie, ist der Prophet Jonas die Perle, das
Haupt- und Schlussglied auch in dem Gegenlaufe der andern,
horizontalen Bewegung desCyklus, in der großen enggeschlosse-
nen Kette der Sibyllen und Propheten, er wirft mit der tief-
bedeutsamen Frage, die in seiner sibyllinisch-prophetischen
Seele aufleuchtet, ein Schlaglicht zurück auf die forschenden
Der Piatonismus Michelangelos.
187
Gestalten des ganzen Kreises: sie umkränzen sämmtlich im
schönen Verein die ewige Wahrheit, nach der sie forschen
und fragen, die auf der Höhe des Gewölbes aus der Sint-
flut des Werdens auftaucht und in der vernünftigen Be-
seelung und dem Sündenfalle der Protoplasten gipfelt. Sie
streben alle nach der Einheit der Wahrheit, aber auf zwie-
fachem Wege. Die Propheten und Sibyllen der linken,
theologischen Kranzhälfte, in deren Mitte Ezechiel hervor-
ragt, glauben an die göttliche Autorität, welche dem durch
die Sünde verdunkelten Bewusstsein den ewigen Willen
offenbart, sie hoffen durch die Wiedergeburt des Glaubens
das Paradies wiederzugewinnen, nachdem es durch den Un-
gehorsam der Protoplasten verloren ward, und ihnen helfen
am eifrigsten die Engel, die nach dem biblischen Worte
abgesandt sind, denen zu dienen, welche die Seligkeit er-
erben sollen. Die andern aber schöpfen mit dem Pro-
pheten Jonas die Wiedergeburt des Wissens aus dem Born
ihrer gottverwanten Seele, der eigenen Vernunft, und suchen
auf der weiten Erde, wohin das erste Menschenpaar aus
dem Paradiese verstoßen ward, in der sinnlichen Erfahrung,
in den Tatsachen der Natur und des Geistes, die zerstreuten
Spuren und den zerstückten Abglanz der ewigen Wahrheit.
Was sie aus dem verlornen Paradiese gerettet und von den
Stammeltern ererbt haben, die befreiende Macht der Seele
ist das Prhis des Denkens, die wahre Priorität der Vernunft,
kein todt überliefertes Erbgut, kein paradiesischer Genuss und
Gewinn, sondern der ernste Kampf und die Arbeit des Geistes,
das selbstlose Streben nach Wahrheit — die Philosophie.
Solothurn, April 1883.
Beurteilungen.
Die Ethik der alten Griechen dargestellt von Leopold Schmidt.
In zwei Bänden. Berlin, Verlag von Wilhelm Hertz
(Bessersche Buchhandlung). 1882.
Das Werk zerfällt in zwei Bücher, von denen je eines
einen Band füllt, nur der erste Band enthält noch als Ein-
leitung eine hübsch geschriebene Betrachtung über die Er-
giebigkeit der verschiedenen Zweige der gesammten Litteratur
für die Lösung der gestellten Aufgabe: »Die Fundgruben der
Ethik der alten Griechen« (I p. 1—44).
Dem ersten Buche gibt der Verfasser den Titel: »Die
allgemeinen ethischen Begriffe der alten Griechen «, dem
zweiten: »Die einzelnen Pflichtenkreise nach altgriechischer
Auffassung«. Schon aus den Titeln ergibt sich, dass somit
das erste Buch mehr die formale Seite des Gegenstandes,
das zweite die realen Verhältnisse behandelt. Das zweite
Buch lehnt sich an altübliche Einteilung an (die einzelnen
Capitel behandeln das Verhältnis des Menschen zu den
Göttern, zur Naturumgebung, zu den Verstorbenen, zur
Familie, zum Staate, zu den Mitmenschen, das Verhältnis der
Gastfreundschaft, Freundschaft und Feindschaft, »der Mensch
und sein Besitz«, »das Verhältnis des Menschen zu sich selbst«)
und berührt sich selbstverständlich im Inhalte mehrfach mit
den Lehrbüchern der griechischen Altertümer. Ganz eigen-
artig ist das grundlegende erste Buch. Hier finden wir im
ausgedehntesten Maße Beoabachtungen, welche in frühern
Werken mit gleich umfassender Aufgabe wie z. B. bei Lim-
burg-Brouwer, Histoire de la civilisation religieuse et morale
des Grecs, fast gar nicht vertreten sind. Der Verfasser ver-
steht es nämlich mit besonderm Glücke und feinem Tacte
dem Sprachgeiste nachzugehen, alle Wörtlein, welche für das
ethische Empfinden und Denken charakteristisch sind, überall
aufzusuchen, ihre Geschichte durch die ganze Litteratur zu
verfolgen. In diesem Punkte gewährt uns der Verfasser den
Guggenheim, Beurteilungen.
189
höchsten Genuss, da man, z. B. bei der Leetüre der mit
der Ausführlichkeit einer besondern Monographie durch-
geführten Betrachtung über Aidos und Aischyne1 (p. 168 bis
184) die feinsinnige Würdigung des jeweiligen Zusammen-
hanges zugleich mit der für die besondere Stelle verwerteten
Kenntnis der Gesammtlitteratur zu beobachten Gelegenheit
hat. Die einzelnen Capitel sind betitelt: »Die religiösen
Voraussetzungen der Sittlichkeit«, »die Motive des sittlich
Guten«, »die Ursachen der Abweichung vom Guten«, »die
Terminologie des Guten und Schlechten«.
Aus dem ersten Capitel sei hier namentlich die hübsche
Auseinandersetzung über den Schicksalsbegriff (53—GO) her-
vorgehoben. Die Göttin Tyche tritt uns zunächst als Re-
präsentation des Segens von oben entgegen. Im Laufe der
Zeit wird aber hierfür sv%v%ia üblich, und das Wort Tyche
nimmt einen umfassenderen Inhalt an, es kann das blinde
Ungefähr bezeichnen. Mit der Bedeutung »blindes Ungefähr«
ist nun aber eng verflochten der Gedanke einer bewussten
Lenkung der menschlichen Erlebnisse. Obschon nun für den
Zufall im engern Sinne des Wortes der Ausdruck xo avid-
f.ictxov besonders reservirt blieb, so haftete an dem Begriffe
Tyche doch eine Doppelseitigkeit. Diese Doppelseitigkeit
war geeignet, atheistische Denkweise zu vermitteln, indem
man die Tyche von dem Gedanken an die göttliche Vor-
sehung loslöste, und sie zunächst zum Range einer Gegen-
göttin erhob, von welcher man gelegentlich annimmt, dass
sie mächtiger sei als alle Götter. Diese Weltauffassung ist
für die nachklassische Zeit charakteristisch. »Vor dem
Untergange der griechischen Freiheit sprach man zuweilen
vom Zufall, nach demselben glaubte man an ihn.« Freilich
lag dabei »der Gegensatz der Tyche gegen das Wollen des
Menschen durchweg sehr viel schärfer im Bewusstsein als der
1 Es ist vielleicht nicht uninteressant, dass der von Plato beeinflusste
Dio Chrysost. Or. XIII. T. I. p. 421 R. nach Anführung eines Orakel-
spruches bemerkt zu den Worten ¡ur¡áy cd&tï<s9-ai xctxòu fivcaì. »dr¡).ovÓTi
ctìtfiJ vvt> âvti tijç nifíxvi>r¡$ 0P0f.iàÇ(t)y, wßis f&oç ¿fírt toïç noit]Tct7ç?
TÓ YA'.Y.ÒV tlvttl KVJÌ TÎjç TlUQit TOlÇ Tiohhoïç.«
190
Guggenheim,
gegen die göttliche Vorsehung«. Mit dieser Bemerkung leitet
der Verfasser zu einer Besprechung des Begriffes der Tyche
bei Polybios über, und damit zu einer in neuerer Zeit auf-
geworfenen Streitfrage. Verschieden gefärbte Ausdrücke für
Schicksal und Weltleitung finden sich nämlich auch in den
Schriften Diodors in der Erzählung der Diadochengeschichte.
Unger glaubte daraus auf verschiedenartige Weltanschauungen,
somit auf verschiedenartige Quellen schließen zu können, der
Verfasser hält es für wahrscheinlicher, dass Diodor hierin
dem Polybios gefolgt sei, der die Tyche als Lenkerin der
menschlichen Geschicke auffasst, welche Pläne und Hoffnungen
der Menschen durchkreuzt, launenhaft und unberechenbar
ist, anderseits aber auch als bewusste Leiterin einer plan-
vollen Weltregierung der Römerherschaft die Wege bahnt.
Wie der Verfasser ausführt (S. 60—91, 133 ff.), war es
weniger der Polytheismus als der Anthropomorphismus der
Tradition, welcher zugleich mit der den frühem Pteligions-
anschauungen anhaftenden Roheit und Aeußerlichkeit den
Widersprach herausforderte und »zu einer Opposition des
Verstandes und einer noch wirkungsreichern des Gemütes«
führte. Diese religiöse Reformbewegung, welche hauptsäch-
lich von den Kreisen der apollinischen Gottesverehrung,
namentlich der delphischen Priesterschaft ausging, schildert
der Verfasser p. 133 ff.1
1 Sehr beachtenswert sind auch die Bemerkungen I p. 200 ff. über
vôjxoç und ffrog. »Für die Verschiedenheit der Vorstellungsweise der
klassischen und der nachklassischen Zeit aber ist weniges so bezeich-
nend als dass Polybios (6, 47, 1) Sitten — trhj — und Gesetze — vó/uoi —
als zwei nebeneinander stehende Grundlagen des Staatslebens begriff-
lich sondert.« Eine Specialuntersuchung, welche die Geschichte dieser
Begriffe unter Beiziehung der verwanten, vor allem des Begriffes %0-og,
und ihr gegenseitiges Verhältnis verfolgte, würde gewiss Ergebnisse
haben. Alle drei Begriffe finde ich nebeneinander Philostrat. Vit.
Apoll. I, 2. vnèç» d-íoSv vtiìq è&o5i> vníg rj&ùiv vnìq vófxmv. Herodot ge-
braucht im Sinne von s&oç durchweg r¡Oos II c. 30 u. 35. IV 95 u. 106.
VIII 144. cfr. Stein zu II 35. Die Theoretiker mit moralischer Tendenz
stellten zunächst den vótuoi als etwas Aeußerlichem die Bildung sitt-
licher Charaktere — ijfh} — entgegen cfr. Isoer. Areop. 4t âtïv âè tovç
ôoltojç nokiTSvoùépovç .... tv toïç ipv%uig rò díxctiovi ov yuç toïç
Beurteilungen.
191
Man liest hie und da die Bemerkung, welche gewiss
von völkerpsychologischem Interesse ist, dass bei den Griechen
der Intellect einseitig auf Kosten des Willens entwickelt ge-
wesen sei. So äußert sich z. B. Hildenbrand, Gesch. u.
Syst. der Rechts- und Staatsphìlos. I (1860) in den ein-
leitenden Bemerkungen des Abschnittes über die Römer da-
hin, dass bei den Griechen mehr der Intellect, bei den
Römern der praktische Wille entwickelt gewesen sei. Hilden-
brand glaubt die Ausartung der griechischen Rechtsanschauung
im sophistischen Zeitalter, und anderseits die praktisch organi-
satorische Arbeit, welche sich in dem römischen Rechte
kundgibt, auf diese Weise erklären zu können. Etwas Aehn-
liches findet sich nun auch bei Schmidt. Auch Schmidt
schreibt in dem Capitel über »die Motive des sittlich Guten«
den Griechen zu, dass sie »geneigt waren, den Willen und
xpriyíc/uccatv cilici Tolç r¡0~f.a xakdSg oiy.Hß'hn iàç nohiç. Früher hatte
man dem positiven Rechte, den vó/lioi, die ciyqctyob i>buov gegenüber-
gestellt. Demgemäß spricht auch Aristoteles Nie. Eth. VIII. cap. 15.
1162 b. 20 von einem öiztov díy.cnoi>, to {.dv uygeu/jov-, to (it xetret vó¡uov.
Das erstere ist ihm î}fhY.ôv, dieses Wort erinnert an unser »sittlich«,
ist aber nicht aus dem Volksleben hervorgegangen noch in dasselbe
eingedrungen. Damit hängt zusammen, dass der griechische Ausdruck
nicht wie der deutsche vom Stamme ë&og, Sitte, sondern von r¡9og ge-
bildet ist. Die Philosophie hatte auf das r¡dog als das Innere hinge-
wiesen. Demgemäß schuf sich Plato sogar ein yO-og nófowg, dessen
Aeußerungen Recht und Sitte sind. Bei Aristoteles, der den Zusammen-
hang zwischen Einzelseele und nóhg im platonischen Sinne aufgibt,
liegt das Interesse mehr dort, wo es gilt, Sitte und Sittlichkeit vom
Recht zu trennen, als dort,, wo Sitten und Gesetze von der Sittlichkeit
zu trennen waren. Sein jj^koV nähert sich einem t&r/.óv, und bereitet
so dem moralis (Gic. de fato, init.) und der morcüitas den Weg, die
von einem wärmern, besonders auch weil religiös gefärbten, Gefühlston
begleitet, in unseren »sittlich« und »Sittlichkeit« wiedererscheinen.
Dio Chrysostomos widmet seine 75. Rede dem vótuog, die 76. der
Unterscheidung von vó/uog ('èyyçayog) und èd-og, das als v6f.iog ctyqayog
aufgefasst., auch mit avvtj&tia nóÀmg bezeichnet wird. Die Unter-
scheidung ist nicht ohne Geschick durchgeführt, der rhetorische Eifer
veranlasst die Behauptung, dass wir die s&tj im Gegensatze zu den
vófAoi haben ¿y rcùg ^utitqccig \pv/atg. Die völkerrechtliche Unverletz-
lichkeit der Herolde wird in der 76. P>. dem ró/uog gutgeschrieben, in
der 77. als üdog bezeichnet.
192
Guggenheim,
die Einsicht als so unlösbar verbunden anzusehen, dass sie
die Läuterung jenes von der Verbesserung dieser im Ge-
danken gar nicht zu trennen vermochten« (p. 157 cfr. p. 368).
Er verweist auf die Zusammengehörigkeit der Worte, welche
im Griechischen das Wollen und das Ueberlegen bezeichnen.
Er verweist darauf, dass yvcofirj sowohl »Meinung« wie »Ge-
sinnung« bedeutet, »indem die Richtung des Denkens und die
des Wollens darin ganz gleichmäßig ihren Ausdruck findet«.
Ebenso verhalte es sich mit Ausdrücken wie ev (pqoveïv.
Daraus ergebe sich eine »Mischung des Intellectuellen mit
dem Moralischen« (cfr. p. 247. 253), obschon sich ander-
seits auch leicht zeigen lasse, dass nicht »Verstandesverkehrt-
heit und Schlechtigkeit ohne weiteres als gleichartig und
gleichwertig angesehen wurden« (251). Man wird in der
Tat kaum fehlgehen können, wenn man annimmt, dass den
Griechen wie die sittlich - religiöse Zucht so auch die Tiefe
des Gemütes gemangelt habe, welche zu der Annahme eines
an sich guten oder schlechten »Willens« führt. Damit hängt
es zusammen, wenn unter den Motiven des sittlich Guten
eine besondere Rolle spielt »die Rücksicht auf das öffentliche
Urteil«. Hierüber handelt der Verfasser eingehend in der
genannten Betrachtung über Aidos und Aischyne sowie in
den darauffolgenden Partien. Dieser Grundzug im Charakter
der Hellenen konnte sogar zu Consequenzen führen wie der
von der Helena bei Euripides ausgesprochenen (v .270—272)
»nicht schlecht zu sein und dennoch im schlechten Rufe zu
stehen sei ein größeres Uebel als ihn mit Recht zu haben«
(p. 186). p. 190: »Im ganzen konnte der Grieche von der
Vorstellung nicht lassen, dass das Streben nach Geltung und
Ehre das menschenwürdigste sei, das es gebe, und zu den
höchsten Leistungen in jeder Art von Tätigkeit befähige.«
»Dazu trug im hohen Maße ein eigentümlich nationaler Zug
bei, der alle Lebensgebiete durchdrang, die Neigung, den
Wetteifer zu spornen und das Uebertreffen anderer als Ziel
hinzustellen.« »Immer sich auszuzeichnen und den andern
überlegen zu sein, ist der Grundsatz, welchen Hippolochos
in der Ilias seinem nach Troja ausziehenden Sohne Glaukos
Beurteilungen.
193
einschärft (6, 208).« Es folgt nun auf 8 Seiten eine Würdi-
gung der griechischen Agonistik im weitesten Sinne des
Wortes. An diese Ausführungen erinnern wir uns wieder
im letzten Capitel über »die Terminologie des Guten und
Schlechten« bei Gelegenheit des Begriffes Arete. Für die
Untersuchung über die Wandlung ethischer Begriffe hat be-
kanntlich von philosophischer Seite gute Beispiele gegeben
Strümpell in seiner Geschichte der praktischen Philosophie
der Griechen; so über xalóv S. 226 — 240, über ccyaüóv
S. 241 — 263. Auf philologischer Seite musste namentlich
die Leetüre des Theognis zu derartigen Betrachtungen führen.
In der Tat hat auch Welcker in seiner Ausgabe die nach-
haltigsten Anregungen gegeben. Mit Recht macht der Ver-
fasser darauf aufmerksam, dass erst durch die ethische Philo-
sophie das Wort Arete wirklich Ausdruck für einen reinen
Tugendbegriff geworden ist, p. 295. »Geleitet durch die An-
wendung, welche die ethische Philosophie der Griechen dem-
selben gegeben hat, haben wir uns gewöhnt, es durch »Tugend«
zu übersetzen und dadurch seine Bedeutung für unsere Vor-
stellung verdunkelt, denn eigentlich wird dadurch alles be-
zeichnet, was einer Person oder einem Dinge vorzügliche
Geltung verschafft, sei es praktischer, sittlicher, intellectueller
oder körperlicher Art.« So sehr es für das nationale Em-
pfinden charakteristisch ist, dass als Hauptbedingung der
Arete die »Geltung« erscheint, ebenso ist es für die mit der
Sokratik auftretende Vertiefung der nationalen Ethik charakte-
ristisch, dass die Arete als ein rein sittlicher, innerlicher
Wert bestimmt wird. (Ueber die Gegenüberstellung von
»Schein« und »Wesen« der Tugend bei Sokrates vgl. auch
p. 186.) Erst durch diese Vertiefung der nationalen Ethik
wurden rein moralische Begriffe geschaffen, vorher war das
ethische Empfinden noch vielfach verflochten mit indifferenten,
ja sogar unmoralischen Motiven. Es ist doch sehr bedeut-
sam, dass es eine Zeit gab, wo man in Griechenland gerade
ini Interesse der Moral vor dem Streben nach Arete warnen
konnte. Dies geschieht bei Theognis. »Theognis wendet
das Wort gewöhnlich zur Bezeichnung des mit gesellschaft-
Zeitschrift für Völkerpsych. lind Sprachw. Bd. XVI. 1 u. 2. 1¿>
194
Guggenheim,
licher Geltung verbundenen Wohlgefallens an. Darum wider-
rät er, dass man durch ungerechte Handlungen Ehre, Arete
oder Reichtum zu erlangen suche (39) oder dass man an
Arete und Reichtum über andere hervorzuragen sich wünsche
(129), macht darauf aufmerksam, wie häufig ein auf Arete
ausgehender und nach Gewinn strebender Mann durch die
Gottheit in schweres Unheil geworfen werde (402), klagt,
dass für die Masse der Menschen die einzige Arete in dem
Reichtum bestehe (699).« Hierher gehört auch ein Fragment
(10 bei Bergk) des Phocylides, das der Verfasser nicht an-
führt, aber schon von Plato Rep. III 407 A notirt ist:
ôi'Çrja&ai ßiorrjv, ccQSTrjv orctv r¡ ßiog i¡dr¡. Auch bei Hesiod
»Werke und Tage« hat açevij, wie der Verfasser zeigt, die
Bedeutung »Ansehen«. Besonders interessant scheint mir
aber v. 311 ff. Hier wird die Arbeit um des Reichtums willen
empfohlen, der Reichtum aber wegen der ccqsti¡: jiIovtm
ärgert/ xaì xvôoç ônijâsl. Hesiod und der megarensische
Aristokrat stimmen in der Auffassung der agsTtj als »An-
sehen« überein; aber ersterer empfiehlt es, durch Arbeit sich
Reichtum zu erwerben, woraus sich die Arete von selbst er-
gebe; letzterer bedauert es namentlich, dass Arete auch durch
Reichtum vermittelt wird, und diesen zur Bedingung hat.
Hesiod kann unsere Gedanken auch auf ein verwantes
Gebiet überleiten, auf das Verhältnis von Arbeit und Arete.
Solange Arete noch nicht rein moralischer Begriff ist, kann
die Arbeit auch nicht in einem durch bloses Moralgesetz be-
dingten Verhältnis zur Arete stehen. Hesiod empfiehlt die
Arbeit um des Reichtums und Ansehens willen. Eine rein
ethische Würdigung der Arbeit, eine Auffassung der Arbeit
als Schuld des Daseins, als Darstellung innerlicher Tugend,
regt die Sokratik an und wird von Plato in der Republik
meisterhaft durchgeführt. Ueber die fortschreitende ethische
Würdigung der Arbeit bringt der Verfasser vieles bei im
2. Bande, im Capitel über: »der Mensch und sein Besitz«,
dann im letzten Capitel p. 428 ff. 434 ff.
Zum Schlüsse wollen wir noch auf einen Punkt auf-
merksam machen, in Bezug auf welchen der Verf. I p. 276 ff.
Beurteilungen.
195
zusammengetroffen ist mit Wildauer (Piatons Lehre vom
Willen p. 206 ff., Sokrates' Lehre vom Willen p. 84 ff.), und
zwar, wie es scheint, unabhängig von letzterem, da, soviel
ich sehe, derselbe in den (jedem Bande beigegebenen) An-
merkungen nicht citirt ist. Es betrifft dieser Punkt das
Problem von den Ursachen des Bösen. Mit Recht consta-
tiren die genannten Gelehrten, dass vom Phädros ab das
Verfehlen gegen besseres Wissen in gewissem Sinne einen
Platz gewinnt im platonischen Moralsysteme, und damit im
Zusammenhange, die Lehre vom angeborenen Bösen. Diese
Beobachtung dürfte namentlich im Zusammenhange mit
andern Untersuchungen, wie der von Schultess über Phädon
und Phädros von großer Bedeutung sein für die Einsicht
in die Entwickelang der platonischen Lehre. Es genüge hier
darauf hinzuweisen, dass so wieder eine Beobachtung mehr
gemacht ist, welche verhindert, den Phädros unter die
frühesten Dialoge einzureihen.
Schwizer-Dütsch, gesammelt und herausgegeben von Prof.
0. Sutermeister. Verlag von Orell Fiißli u. Co.
Man darf wohl ohne Uebertreibung behaupten, dass
kein Erzeugnis menschlichen Geistes in gleich hohem Maße
den Sprachforscher wie den Völkerpsychologen zu interessiren
vermag, wie die Dialectologie. Wie einerseits alte Sprach-
formen erhalten, unbequeme Lautverbindungen eliminirt,
suffixale Endungen entweder ganz oder teilweise abgeworfen
werden, sprachliche Processe, die bei aller scheinbarer
Willkür, doch nach bestimmten, nachweisbaren Gesetzen er-
folgen, — ich erinnere an das, in der Mundart eine Haupt-
rolle spielende, Gesetz der Analogie —wie andererseits die
Masse wie das Individuum von der umgebenden Natur ab-
hängig sind — Goethe nennt das in der bekannten Recension
von Hebels alemannischen Gedichten (Werke XX 418 ff.)
mit umgekehrtem Bilde: »das Universum verbauern« —,
Guggenhei m.
13*
196
J. Babad,
wie sie ihrem Denken, Fühlen und Trachten ungeschminkt
und zwanglos, jeder Rücksicht auf »Wohlanständigkeit« ent-
hoben, Ausdruck verleihen, aber auch welch eine Fülle von
Gemüt uud Treuherzigkeit im Volke steckt, kurz, um es mit
einem Worte zu sagen, die ganze Psyche des Volkes —
alles das, meine ich, vermag einzig und allein die Mundart,
ich möchte sagen, fast spielend, uns vor die Seele zu
zaubern.
Freilich wird eine größere mundartliche Litteratur nur
da uns entgegentreten, wo die Gebildeten des Volkes die
Mundart nicht ausschließlich als Sprache des gemeinen Mannes
betrachten und nur insoweit von ihr Notiz nehmen, als im
Verkehr mit jenem unumgänglich notwendig ist, sie also nicht,
wie man zu sagen pflegt, als salonfähig erachten. Wo dies
aber der Fall ist, wie vielfach in Norddeutschland, wie z. B.
in Neuvorpommern und Mecklenburg u. z. Th. in Westphalen,
und fast durchweg in der deutschen Schweiz, begegnen wir
auch einer umfangreicheren Dialectlitteratur.
Kaum irgendwo anders als in den genannten deutschen
Sprachgebieten dürften sich Gebildete finden, die das so-
genannte Schriftdeutsch wie eine fremde Sprache haben er-
lernen müssen, und deren eigentliche Muttersprache der
Dialect ist, wie es der Schweizer Winteler (»Kerenzer Mundart,
Leipzig und Heidelberg 1876« V) und der Westphale Osthoff
(»Schriftsprache und Volksmundart« in Virchow und Holtzen-
dorffs Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vor-
träge Ser. XVIII Hft. 411 S. 33) bezeugen.
Nun sind die Schwierigkeiten, eine fremde Mundart ganz
zu verstehen, und somit ihre Vorzüge voll und ganz würdigen
und genießen zu können, nicht unbeträchtlich; außerdem
sind die litterarischen Erzeugnisse in derselben vielfach ver-
steckt in Tages- und Unterhaltungsblättern der engeren
Heimat des Dialectes, und daher in weiter Ferne kaum zu-
gänglich. Wir erachten es daher für ein glückliches Unter-
nehmen der bekannten Verlagsbuchhandlung Orell Füssliu.Go.
in Zürich, unter der Redaction des um die Schweizer Litteratur
auch sonst verdienten Prof. Sutermeister die oben genannte
Beurteilungen.
197
Sammlung deutsch-schweizerischer Dialect-Litteratur heraus-
zugeben.
Das Unternehmen ist auf zwei Serien berechnet, von
denen jede ca. 20 Hefte umfassen soll; am Schlüsse der
ersten soll eins folgen unter dem Titel: »Schlüssl zum
Schwizer-Diitsch«, in dem der Herausgeber seine Grundsätze
in Betreff der Auswahl der Dialectproben und der Schreib-
art auseinandersetzen, sowie das unumgänglich notwendige
Glossar geben will.
Es liegen bis jetzt 16 Hefte vor, und zwar Bern (2),
Basel (3), Aargau (1), St. Gallen und Appenzell (zusammen 1),
Zürich (4), Uri, Schwyz, Unterwaiden (zusammen 1), Glarus
(1), Luzern (1), Schaffhausen (1) und Solothurn (l).1 Die
Anordnung ist so getroffen, dass für jeden Kanton I. Kunst-
producte in Poesie und Prosa und II. Volksüberlieferungen
mitgeteilt sind. Was nun die ersteren betrifft, so muss man
geradezu staunen über die Menge derer, die in der deutschen
Schweiz im Dialect schreiben und dichten. Männer und
Frauen, und unter den ersteren sind sämmtliche Stände ver-
treten: Geistliche, Lehrer, Professoren aller Facultäten,
Richter, Aerzte, Bibliothecare, Offiziere, Litteraten, Seiler-
und Färbermeister etc. etc. Man kann daraus ersehen, wie
die Lust im heimischen Dialect »zu fabuliren« weit größer
in der Schweiz ist als in Deutschland, und zwar, wie mir
scheint, aus dem oben angeführten Grunde. — Was nun
die Sammlung selbst angeht, so muss man nur rühmend an-
erkennen, dass der Herausgeber bei der Auswahl mit großem
Tact und Feingefühl verfahren ist, der Form sowohl wie
dem Inhalte nach. Es findet sich nämlich in der ganzen
Sammlung (soweit sie bis jetzt vorliegt) nichts, was irgend
wie gegen den Anstand und die gute Sitte verstieße, was
man ja bekanntlich nicht immer von der Dialectlitteratur
behaupten kann, indem daselbst neben ^zartem und sinnigem
1 Dem Ref. lagen nur 16 Hefte vor. Bis jetzt aber sind auch die
Hefte 17 — 25 erschienen, über welche, wie über die von L. Tobler
herausgegebenen »Schweizer Volkslieder« nächstens berichtet werden
soll. D. Red.
198
J. Babad,
das derbe und selbst frivole keinen geringen Platz einnimmt;
und was die Form anlangt, so finden sich in den poetischen
Stücken neben den gereimten jambischen (vier- und fünf-
füßigen) Versen, in denen die Reime sich durch den Vorteil
der »Abbreviationen, Contractionen« (wie Goethe in der oben
angeführten Recension sagt) sich fast von selbst ergeben, und
die in der Schriftsprache vielfach unmöglich wären — neben
jenen, sage ich, finden sich gut gebaute Hexameter, und ein
Gedicht sogar in sapphischer Strophe (Basel III, 43). — Es
versteht sich von selbst, dass, da die mitgeteilten Dialect-
proben sowohl poetischen als prosaischen Inhalts nur der
Unterhaltung dienen und sich als leichte Leetüre geben, an
sie ein streng wissenschaftlicher Maßstab weder hinsichtlich
der Schreibart der verschiedenen Nuancen der Schweizer
Mundart, worauf wir weiter unten noch zurückkommen
werden, noch seitens einer streng ästhetischen Kritik angelegt
werden darf; dass aber manches trotz oder richtiger wegen
der Naivetät in Ton und Farbe, wenn ich so sagen darf,
einer strengen Kritik Stand hält, soll nicht in Abrede ge-
stellt werden.
Wie allerliebst ist z. B. das kleine Genrebild, das uns
das »mein Apfelbaum« überschriebene Gedicht (Bern I 46 ff.)
entrollt, oder das (Bern II, 2 ff.): »Was heimelig syg (sei)«
betitelte, in denen aus jeder Zeile die volle Freude an der
Natur uns entgegentritt, wie sie nur ein Schweizer haben
kann, dem kein fremdes Land, sei es noch so schön, die
Heimat ersetzen kann: »Syg es schön i frömde Lande, doch
es Heimet wird es nie«, wie es in dem Gedichte »Schiviser
Heiiveh« heisst (ebda. S. 6 ff.); ein Gedanke, der sich in
den folgenden: »Sehnsucht nach der Heimat», »des Huggis-
Mädchens Heimweh« und »e Gruess us dr Heimet« (ebda.
S. 7 ff.) hindurchzieht; ja, keine noch so lange und ausführ-
liche Schilderung in Prosa vermag uns, meiner Ansicht nach,
so in das Leben und Weben der Aelpler zu versetzen, als
die Gedichte (ebda. S. 17 if.) »Kühreihen« etc., »Küher-Leben«,
»Geiss-Reihen«, »Kühreihen zur Abfahrt von der Alp«, oder
das Volkslied: »Kühreien der Oberländer«, oder endlich
Beurteilungen.
199
» der Hirt of den Alpen « (Appenzell I, 12). In gleichem
Tone und gleich anheimelnd durch die Schilderung von Land
und Leuten sind die Gedichte: »der Früelig« und »der Abend«
(St. Gallen I S. 10 u. 18 ff.) oder »Es Wätter im Wald«
(Zürich II, 7).
Wie allerliebst klingt ferner das in der Rubrik »aus der
Kinderstube« überschriebene Gedicht: »De Hannopeli-Chly«
(der kleine Hannoppel [Johann Nepomuk]?) (Zürich I, 49):
Wie das kleine »Büebli« das erste Mal in die Schule gehen
soll, sich aber vor dem Lehrer fürchtet, weil ihm ein anderer
Knabe gesagt hat, jener sei streng, dagegen aber wie um-
gewandelt ist, als es aus der Schule kommt, »springt uf die
Mueter sue«., jauchzt und lacht, und sagt ihr, der Lehrer sei
ein lieber Mann, spaße wie der Vater, und sie bittet: »gäll,
Mueterli, de chochist gly (kochst gleich), am Eis (um Eins)
muess ich im Scliuelliuus sy (sein).« — Mehr culturhistorisch
interessant ist das in demselben Heft (Zürich I, 57) mit-
geteilte Volkslied: »De Joggeli (Der Jockel) mit dem Anfang:
»Joggeli sott (sollte) go (gehen) Birreli (Birnen) schüttle« u. s.w. ;
es ist der bekannte überall in Deutschland verbreitete Kinder-
reim vom Jäckel, den der Bauer ausschickt, Hafer zu schneiden,
oder Birnen zu schütteln, der nach der gewöhnlichen An-
nahme aus dem jüdischen Osterabendliede: »chad gadja,
chad gadja«, »ein Zicklein, ein Zicklein, das hat gekauft mein
Väterlein«, von Heine im Fragment : »der Rabbi von Bacher ach«
übersetzt, in die gesammte Litteratur des Abendlandes (denn
das Lied findet sich auch außer in Deutschland noch in
Frankreich, England, Schottland, Ungarn und Griechenland)
übergegangen sein soll. (Vgl. R. Köhler in Pfeiffers Ger-
mania V, 464 und Orient und Occident II, 558, und von
einem Ungenannten in Frommanns Ztschrft. für deutsche
Mundarten VI, 225.) Bedenkt man aber, dass das eben an-
geführte jüdische Osterlied in der Hagada zu Passah nach
deutschem Ritus, nicht aber, soviel mir bekannt, in der
nach spanischem, und selbst dort erst seit dem XV. Jahr-
hundert sich findet, so scheint mir die Annahme von Zunz,
200
J. Babad,
»gottesdienstliche Vorträge« S. 126% jenes sei »einem deutschen
Volksliede nachgeahmt« weit plausibler.1
Wie der Dialect überhaupt und vor allem der Schweizer
in Naturschilderungen seine Stärke hat, so nicht minder im
Ausmalen des Zuständlichen, wie in einem Bilde von Knaus
oder Vautier, im Genre, in der Kleinmalerei; und zwar ge-
schieht dies mit einer gewissen geschwätzigen, behaglichen
Breite. Man sieht die Menschen, die der Dialectdichter uns
schildert, fast greifbar vor sich. Wie meisterlich versteht es
z. B. der bekannte Corrodi mit wahrhaft köstlichem Humor
bald den Vikar und die Pfarrerstöchter mit ihren Freiern
(Zürich II, 12 ff.), bald einen alten Herrn » in den besten
Jahren« uns leibhaftig vorzuführen (Zürich I, 1 ff.), der für
eine Dorfschöne in Flammen gerät, und sie dann nach
mancherlei Leiden glücklich heimführt; oder ein anderer
Dichter, Stutz, ein Landmädchen zu schildern, das in der
Stadt beim Gotte (Pathe) zu Besuch war, »i der Stadt inne
dDorf gsy« (gewesen) ist (Zürich III, 1 ff.). Wie fein ist
ferner, um nur noch eins anzuführen, ein Schweizerbub' mit
ganz kurzen Worten charakterisirt in dem Gedicht: »Sonnen-
aufgang auf dem Bigi« (Glarus I, 56): Allerlei gebildete
Leute erwarten auf dem Berge den Sonnenaufgang, span-
nungsvoll, endlich erscheint die Sonne, bei deren Anblick
der eine durch ein biblisches, der andere durch ein classi-
sches Gitat seiner Bewunderung Ausdruck verleiht. Da
wendet sich der classische zu dem Schweizerbub' mit der
Frage, was er zu jenem Anblick meine, worauf er erwidert,
es käme ihm vor, wenn die Sonne so hinter den Bergen
1 Auch ich zweifle nicht, dass der jüdische Dichter des Liedes vom
Zicklein ein weit verbreitetes Volkslied, das ihm in irgend einer Form
gegeben war, benutzt hat. Nur kann nicht verkannt werden, dass er
einen ganz andern und unleugbar viel tiefern Gedanken in die vor-
liegende Form hineintrug, weswegen er auch den Anfang und das Ende
eigentümlich umgestalten musste. Er stellte den Kampf ums Dasein
dar, wie allemal der Stärkere den Schwächern verzehrt, bis der Tod
alles Leben verschlingt und damit sich selbst vernichtet, da er nichts
mehr zu töten hat, sodass Gott der Ewige allein der wahrhafte Seiende
bleibt. St.
Beurteilungen.
201
emporsteige, »wie ne Senn (Hirt), ass (wenn) d'Hempermel
(Hemdärmel) hindere strupft (streift), und e mächtige Chäs
(Käse) ussem Ghessi (Kessel) lupft (hebt)«. — Dass nach dem
Vorgange von Hebe], in dem bekannten Gedichte »die Wiese«
in unserer Sammlung die Personificirung der leblosen Natur
nicht fehlt, ist beinah selbstverständlich, wenn man bedenkt,
dass gerade der Dialect vermöge des Trauten und An-
heimelnden, und zugleich Urwüchsigen, das in ihm liegt,
sich am besten zur Vermenschlichung, wenn ich so sagen
darf, der leblosen Natur eignet. Wie hübsch klingt z. B.
das Gedicht »D'Frau Sonn« (St. Gallen u. Appenzell I, 16)
oder »der Abend« (ebda. 18 ff.)!
Endlich sei noch zum Schluss der inhaltlichen Besprechung
hervorgehoben, dass dem einen und dem anderen Gedichte
auch das haec fabula docet, »das moralische Schwänzchen«,
wie es Scherer in den »deutschen Studien« nennt, nicht fehlt,
so z. B. in dem bereits in Frommanns Zeitschrift (V. 397 ff.)
als Dialectprobe mitgeteilten Gedicht »das Steckenpferd«
(Schaffhausen I, 50 ff.), oder, mit fast gleicher Tendenz, in
dem Gedichte »der Zopf « (Basel III, 23) von dem bekannten
Philologen Jak. Mähly.
Und so ließe sich noch das eine und das andere, sei es
Gedicht oder prosaische Erzählung, anführen, das zur Em-
pfehlung unserer »Sammlung« diente für alle diejenigen, die
für das individuelle, ich möchte sagen, landschaftliche Ge-
präge, die der Dialect einer Dichtung verleiht, Sinn und
Interesse haben.
Es ist bereits oben hervorgehoben worden, dass unsere
»Sammlung« auf Wissenschaftlichkeit keinen Anspruch er-
hebt, sondern nur der Unterhaltung dienen will; man darf
daher nicht den Vorwurf erheben, der so oft schon und mit
Hecht, aber leider erfolglos, allen Dialectproben gegenüber
gemacht worden ist, dass aus ihrer, der nhd. Schriftsprache
entlehnten Orthographie der Sprachwissenschaft, sowohl
Grammatik als Wortschatz, für welche beide gerade aus dem
Dialecte wahre Schätze zu heben wären, nur ein sehr ge-
ringer Nutzen erwachse. Wohl aber.ist es zu tadeln, dass
m
J. Babad,
der Herausgeber in Bezug auf die Orthographie nicht die
geringste Einheitlichkeit walten lässt, nicht bloß in der
Mundart verschiedener Gegenden der Schweiz, sondern auch
ein und derselben Landschaft. So findet sich, um nur ein
Beispiel von vielen anzuführen, in ein und derselben Er-
zählung »ein Wespenstich« (Zürich I, ff.) auf S. 5: »Bapyr«
geschrieben, auf S. 17 »Papyr«, und auf derselben Seite (26)
bald »nid«, bald »nüd«. Wir sind begierig zu hören, ob
der Herausgeber, Prof. Sutermeister, in dem versprochenen
»Schlüssel sum Sclmizer - Dütsch«, wo er sich gerade über
die Schreibung auslassen will, überhaupt irgend welche
Grundsätze im Puñete der Orthographie beobachtete, oder
aber, was mir wahrscheinlicher ist, die Proben in der
Schreibung mitteilte, in der er sie gedruckt oder geschrieben
vorgefunden hat.
Dennoch bietet »das Schwizer - Dütsch« so viel, sowohl
was Grammatik als was Lexicon betrifft, des Interessanten,
dass ich den einer Besprechung zugemessenen Raum weit
überschreiten müsste, wollte ich alles in dieser Hinsicht
Erwähnenswerte hier anführen. Ich will mich daher auf
weniges beschränken. So z. B. was den Vocalismus betrifft,
findet sich namentlich in der Mundart von Schaffhausen:
a statt mhd. und nhd. ei, das zuerst zu ai geworden ist,
woraus jenes a durch Zurücktreten des zweiten und Hervor-
treten des ersten Bestandteiles des Diphtongs entstanden ist.
(Vgl. gr. xáyw, xa¡jué aus xai sytó, xai ¿fié, oder *A&i¡va ==
*ari&rjvácc aus *A$r¡vaía etc.) So Schaffhausen S. 6: klaader-
pracht, S. 8: haaßt, S. 31: kani = keine, S. 32: i man —
meine, ebda.: gmand — gemeinde u. s. w. Vgl. hierüber
Stickelberger, Lautlehre der lebenden Mundart der Stadt
Schaffhausen. Lpzger. Dissert. 1881 S. 34 ff.
Wie in vielen anderen deutschen Dialecten mhd. à zu o,
und ae zu oe sich verdunkelte, so auch im Schweizer, so finden
wir: Obig = Abend (Zürich III, 32); Strohl (Schaffhausen 39);
erklären (ebda. 37), gnödig, ströflichem (ebda. 47) etc. Vgl.
Stickelberger a. a. O. S. 29 ff. und Weinhold, alem. Gramm.
S. 44 ff.
Beurteilungen.
203
Interessant ist ferner der in Uri sich findende Ueber-
gang von nhd. au — mhd. ou zu ai; vgl. Uri S. 8: Laige —
Lauge, ebda.: ai = au(ch), ebda.: gnai = genau, Aige-
blick u. s. w.; ein Lautwandel, der sich nur so erklären lässt,
dass au zu â, (wie so häufig z. B. in mitteldeutschen Dialecten,
s. Weinhold, a. a. 0. S. 35) und dieses wiederum zu ai
geworden ist, vgl. Weinhold a. a. 0. S. 49. — Ganz wie im
Mhd. sind gebildet: sät — saget (Schaffhausen S. 36) und:
traat — traget (ebda. S. I i) vgl. Weinhold mhd. Gramm.2 35.
Endlich sei noch aus der Mundart von St. Gallen der
Uebergang von gemeindeutschem i in e und u m o erwähnt ;
so St. Gallen, S. 7 u. 8: Wenter, Schrett, met; und S. 10:
lostig, Loft, Brost etc. Vgl. Weinhold, alem. Gramm. 18 u. 26.
(Vgl. auch plattdeutsch: hen = hin und: Bost = Brust).
Dass trotz den gerügten Mängeln in der Schreibweise
der Mundarten der Consonantismus verhältnismäßig besser
fortkommt als der Vocalismus, ergibt sich schon daraus, dass
das Alemannische als hochdeutscher Dialect weit weniger im
Consonantismus von der Schriftsprache abweicht als irgend
ein niederdeutscher.
Vor allem ist natürlich anzuführen der Reibelaut »ch«
an Stelle des gemeindeutschen k, d. h. die Fricativa statt der
gutturalen tenuis, und der Uebergang von gutturalem k in
die media g. (Vgl. Weinhold a. a. 0. S. 185 ff. u. S. 175 ff.)
So finden sich in unserer Sammlung auf jeder Seite zahl-
reiche Belege für die genannten Lautübergänge; so: Chopf,
chly (klein), Chile = Kirche, Chind, chuum = kaum, Werchtig
~ Werktag (Zürich I, 30) starch etc.; und Glöggli, der Unggle
== Onkel, piggant, giggele = gucken (Basel I, 35) u. s. w.
Merkwürdiger noch ist der Wandel eines gemeindeutschen
l in w, wie er sich in Sternberg, einem Flecken im Ganton
Zürich findet, durch die Mittelstufe u, wie französisch autre —
lat. alter niederl. woud = nhd. ivald, und kret. avxáv — áXxáv,
bei Hesychius, zeigen; vgl. Weinhold, a. a. 0. S. 130 und
Winteler, Kerenz. Mundart S. 38 ff. So finden wir (Zürich
IV, 42) : Sauwz = Salz, auwes = alles, Gmvdi — Gulden u. a. —
Eine Erscheinung, die uns schon im Mhd. begegnet, nämlich
204
J. Babad,
die Neigung einen Nasal -j- Dental in Nasal -f Guttural zu
verwandeln (Weinhold, mhd. Gramm.2 218), kehrt auch im
Alemannischen wieder; so heißt es (Bern I, 1): Ching —
Kind, angers — anders, hinger; (Bern II, 25): stieng —
stünde, oder Solothurn I, 1 : Stung — Stunde (s. Weinhold,
alem. Gramm. 144). Damit als gewissermaßen verwant er-
scheint der Uebergang der Lautgruppe md in nd, wie schon
im Mhd. amt : ant, emt : ent gereimt werden (Weinhold,
mhd. Gramm.2 S. 214). So findet sich: Basel I, 7: hunnt
= kommt, Zürich III, 23 : unverschant = unverschämt, ebda.
S. 33: frönd — fremd u. a. (vgl. noch Winteler, a. a. 0.
S. 138).
Ueberhaupt bietet der Nasal manches lautlich Inter-
essante : Er wird nämlich in der Mundart häufig zum Nasal-
vocal, und ist daher graphisch schwer wiederzugeben, oder
er bewirkt die Dehnung des vorhergehenden Vocals — die
sogenannte Ersatzdehnung —, oder er fällt ganz aus. Zur
ersten Reihe gehören Wortbildungen wie sauft = sanft
(Bern II, 14), und Rouft = Ranft (Aargau I, 43), schwäb.
Ränftle, (schles. Ränftel) Brodrand; zur zweiten: die für ge-
meindeutsches »Fenster« im »Schwizer-Dütsch« sich finden-
den Formen wie: Faister in: Rothusfaister, Rathausfenster
(Basel II, 53); Ffeister (St. Gallen 20); Feester in: Feester-
schybe (Appenzell 25), und Fistren (St. Gallen 6); ausführ-
lich handelt über diesen lautlichen Vorgang in der Schweizer-
Mundart Staub in Frommanns Zeitschrift Bd. VII N. F. I
S. 18 ff. Zur dritten Reihe endlich, Ausfall des Nasals, ge-
hört z. B. das Nominalsuffix ig — ing = ung in: Rechnige
(Basel III, 14); (Zürich III, 38): Ohnig statt Ornig = Ord-
nung u. a. dgl. (Vgl. Weinhold, alem. Gramm. S. 169.)
Zum Schluss der Besprechung der consonantischen laut-
lichen Veränderungen in der Mundart sei noch einer Er-
scheinung erwähnt, die sich fast in allen Sprachen findet,
ich meine das in der Sskt.-Grammatik sogenannte Sandhi, und
zwar sowohl das Zusammentreffen zweier Gonsonanten im
Aus- und Anlaut zweier Wörter, als auch innerhalb ein und
desselben Wortes — in den sogenannten unechten Compositis —
und die dadurch bewirkte Assimilation. So finden wir (Basel
Beurteilungen.
205
III, 15): wäm mer oder wem mer (Luzern I, 31) — werden
wir; ferner: »sem mer« (Appenzell S. 13) oder: »sim mer«
(Luzern I, 35) — sind wir; endlich gim mer (ebda. I, 9) =
gib mir, ham mer (ebda. I, 23) = haben wir, und ähnliches.
Dieselbe Assimilation und dieselben Formen, wie die
eben erwähnten, finden sich übrigens, nebenbei bemerkt,
auch im Judendeutschen, wie es noch heute in Russisch-
Polen, in Galizien und Ungarn von den Juden gesprochen
wird; eine Mundart (der Name Jargon wäre hier sehr übel
angebracht), die sowohl grammatisch wie lexikalisch dem
Bairisch-Oesterreichischen und Alemannischen1 weit näher
steht als irgend einem anderen deutschen Dialecte, und die
sprachlich von hohem Interesse ist, was ich mir nächstens
ausführlicher zu begründen erlauben werde.
Wie schon oben hervorgehoben wurde, spielt die Ana-
logie in der Mundart keine geringe Rolle. Dahin zähle ich,
um nur einiges wenige anzuführen, Bildungen wie »Fleischt«
in der Verbindung von »Fleischt und Bluet « (Zürich III, 31),
oder auch allein (ebda. S. 27); offenbar ist das auslautende
t in »Fleischt« zuerst nach Analogie von »Blut« in der eben-
genannten Verbindung gebildet worden; ferner findet sich
(Zürich IV, 58): freine — feine, nach frei geformt; oder die
Plurale: Oerter (auch judendeutsch), und Jöcher = Joch
(Schaffhausen S. 11), bei denen offenbar die Analogie anderer
auf —er gebildeter Neutra maßgebend war. (Ort ist mhd.
auch Neutr. wie noch heute z. T. in Schlesien.) Auf ver-
balem Gebiete gehört hierher der Uebergang schwacher Verba
in die Flexion der starken; so Zürich III, 19: miech —
machte (s. Weinhold alem. Gramm. 389), sowie umgekehrt:
3. sing. präs. »weisst« (Zürich IV, 46) oder »waßt« (Schaff-
hausen 34) nach Analogie der schwachen Verba gebildet
ist (s. Weinhold a. a. 0. 403).
Endlich seien noch, was Wortbildung anbetrifft, zwei
interessante Erscheinungen hervorgehoben, und zwar erstens
die Verkürzung von Wörtern und volltönigen Silben in halb-
tönige und tonlose Silben, und zweitens die häufigen Demi-
nuti vbildungen bei Verben. So finden wir z. B. Wümmet
= Wonnemond (Zürich II, 6); Läbtig — Lebtag (Zürich
IV, 13); Simndig (Zürich I, 33) ; Melctig,= Mittwoch (Appen-
zell 12); über diese seltsame Form vgl. Schmeller, bayr.
Wörterbch. II2, 836; ferner Landme (Glarus I, 41) = Land-
mann ; Nochber (Zürlich IV, 48) — vgl. schles. Nupper und
gemeindeutsch Nachbar für Nachbauer = der nahe woh-
1 Die Juden der slavischen Länder stammen meist vom Ober-Rhein,
206
J. Babad,
nende —; Arfel — Armvoll (Luzern I, 22); Bauwell —
Baumwolle (Schaffhausen 43), judendeutsch Bäwel; wohlfel
— wohlfeil (Solothurn 23), judendeutsch wolwel; oder end-
lich Hampfel = Handvoll (Basel I, 4), ebenso judendeutsch.
Vgl. nhd. : Uriel, Jungfer, Junker, Achtel eie. S. Frommanns
Zeitschrift VI, 468.
An verbalen Deminutivbildungen, die in der Schrift-
sprache nicht sehr häufig sind (vgl. klingeln, lächeln, spöt-
teln etc.), im Dialect aber, der überhaupt die Deminutiva
beim Nomen sowohl wie beim Verbum liebt (im Platt-
deutschen wird das verkleinernde Suffix »ing« selbst an: »wat,«
»ja«, jawol«, »Nacht« etc. angehängt), bietet unsere Samm-
lung zahlreiche Belege, von denen ich nur einige hier an-
führen will. So Basel I, 14: schnarchtet — schnarcht us-
brietlet = ausbrütet (ebda. S. 27); fröglen und forschte =
fragen und forschen (Zürich II, 12); tubäcTäen (Zürich III, 17)
oder noch kürzer : backten (Appenzell S. 4) = Taback rauchen ;
füregüggelet (Solothurn I, 3) = hervorguckt; tänzelet (ebda.
S. 5); obele (Solothurn 23) = Abend werden u. s. w.
Doch bei weitem mehr weicht das Alemannische oder
das »Schwiser-Dütsch« von der Schriftsprache darin ab, dass
es sowohl alte Nominal- wie Verbalflexionen, als auch ganze
Wörter aus früheren Perioden der hochdeutschen Sprache
bewahrt hat. So findet sich der ältere Plural von »Kind«
die Chinde (Zürich II, 11); der Imperai, gang = geh (Wein-
hold, mhd. Gramm.2 373); 1. Pers. sing, präs.: 1 gibe (Schaff-
hausen, 23) = mhd. gibe (s. Weinhold a. a. O. 39); gänd =
gebt (Glarus I, 48). S. Weinhold a. a. O. S. 42 u. alem.
Gr. 39; dem ahd. gleich sind Formen, wie gen. plur. iru
und dat. sing, imu (Bern II, 26), oder mu (ebda. S. 24 u. o.).
»Es sind Alprosen, die unten nicht sprießen,« wie es bei
Grimm heisst (Gesch. der deutsch. Spr.4 S. 583.) Ueber
die altertümlichen Conjunctive präs. heig — habe, heigen =
haben (aus heije etc.) (Bern I, 24 u. o.), oder syg = sei, und
präter. sötte = sollte, wetti == wollte, Formen, die un-
zähligemal vorkommen, vgl. Weinhold, alem. Gramm. 351.
386. 394. u. 406.
Von altertümlichen Wörtern endlich sei hier aus der
übergroßen Zahl, die sich in unserer »Sammlung« findet,
nur weniges angeführt. So z. B. wirser (Bern II, 11) adv.
schlechter, ebenso mhd. (eigentlich ein Comparativ aus dem
Comparativ luirs gebildet, wie »mehr-ere« und lat. magis-
ter, und minis-ter); Lische (Bern II, 68), grobes Gras, =
mhd. liesche; lätz, verkehrt (Basel II, 36) = mhd. letze;
Beurteilungen.
207
ruuch (Aargau I, 40) rauh — mhd. rûch; milach (Appen-
zell S. 3) = ahd. miluh und mileh (judendeutsch Milech);
Gliger (Bern II, 18) — mhd. geliger stn. Lager (jaden-
deutsch geleger); Beech = mhd. rêch (Zürich II, 16) nhd.
Reh; luegen und losen (Zürich III, 4) — mhd. luogen und
losen, sehen und hören; Gölte (ebda. S. 5) ebenso mhd. Pathe;
Anke ebenso mhd. = Butter (ebda. S. 18 u. o.); Gade =
mhd. gadem und gaden stn. Kammer (ebda. S. 19); grynen
— mhd. grînen, den Mund verziehen, weinen (ebda. 44);
sä gaumed (Zürich IV, 28) = sei behütet, von mhd. goumen,
Acht geben, bewachen; feiße Chäs, fetter Käse (Uri S. 8)
= mhd. fei%; Schwäher und Schwiger (Schaffhausen 7) =
mhd. sw'êher und swiger; Zändweh (Luzern I, 46), Zahnweh
= mhd. zant gen. zandes; marmelstein, Marmor (Schaff-
liausen 10) ebso. mhd., auch judendeutsch; zeig (ebda.) =
mhd. zeich stm. Zweig; Zystig (Zürich IV, 51) Dienstag mhd.
zîstac aus Ziuwes tac (s. Grimm, deutsche Mythol.4 102) etc.
Und so könnte ich noch manches Interessante anführen,
fürchtete ich nicht, den einer derartigen Besprechung zu-
gemessenen Raum schon weit überschritten zu haben, so:
wie die Mundart sich scheut, bei Beteuerungen und Ver-
wünschungen einerseits den Namen Gottes oder sonst Heiliges,
andererseits den Teufel oder andere böse Geister bei ihrem
eigentlichen Namen zu nennen, sondern sie absichtlich so
corrumpirt, dass sie kaum kenntlich sind, oder die heidnischen
Götter citirt, die längst zu Unholden geworden sind. So
heißt es unzählige Mal in unserer »Sammlung«: »bigost«
(bei Gott), »bigottlig«, »bigopplig«, egoppel (= wahrlich vgl.
Schmeller, a. a. O. I, 961 und Tobler, Appenzell. Sprach-
schatz S. 229); ferner: bim Düxel (Teufel), Hackermänt
(Sacrament), bim Hackermänge, potz Hund, bim Hund
(s. Grimm a. a. 0. 832); bim Dummer (euphemistisch ent-
stellt statt b. Donar, oder auch bim dummer Hammer (= bei
Donars Hammer Grimm a. a. 0. 151), oder endlich bim
Dunn, bim Dunnstig, bim fide Dunnstig etc. (Vgl. noch
Stöber in Frommanns Ztschrft. II, 501 ff.) Eine interessante
Verwünschung ist endlich: Himmel und Surchrut (Sauerkraut)
Uri, S. 15, statt Himmel u. Kreuz .. ., wie Stöber (a. a. 0.)
aus dem Elsass einen Fluch erwähnt: »Botz Kr . . . ûttsalat
unn Speck derzue.«
Und nun zum Schluss noch seien hier zwei merkwürdige
grammatische Erscheinungen hervorgehoben, die sich kaum
anderwärts finden dürften, ich meine nämlich erstens die
Bezeichnung des höchsten Grades, des Superlativs ; und zwar
208
J. Babad, Beurteilungen.
geschieht dies im »Schwizer-Dütsch« sehr häufig entsprechend
dem schriftdeutschen »sehr«, das ja ursprünglich »schmerz-
lich«, »gewaltig« bedeutet, durch Hinzufügen des Adv. »grau-
sam« zum Positiv. So heißt es Zürich I, 46 : gruusam bravni
(plur.) = sehr br.; ebda. 48: grüseli billig; Zürich III, 14:
grusam lind; Unterwaiden I, 7: grysli wohl, oder grüseli
wohl (Solothurn I, 23); und demgemäß auch: es tuet mi
grysli Wunder näh (= nehmen) (Basel II, 62).
Zweitens die Verbindung transitiver Verba mit dem
Nominativ als Objectcasus. Es findet sich nämlich in unserer
»Sammlung« geradezu: »s'het blitzget dr ganz Namittag«
(Bern I, 18); »flie der Uebermut« (Bern II, 39); »sie trait
(trägt) der Stoff zue d'Papyr« (Basel III, 14); »schlummere
... der lang Todesschlaf« (Glarus I, 18); lobed und rüemed
(imperat.) der Herrgott (ebda. 51); vergiss dr Pfäffer
(Solothurn I, 48) u. a. dgl.
Wie diese Anomalie zu erklären sei, darüber möchte
ich mir eine Vermutung erlauben. Ich glaube nämlich nicht,
dass in den genannten und anderen derartigen Beispielen
wirkliche Nominative vorliegen, d. h. dass den Sprechenden
oder Schreibenden der Nominativ als Object zu dem, von
ihnen gebrauchten, transitiven Verbum im Geiste vorschwebt,
sondern, dass der bestimmte Artikel im Masc. in der Mund-
art im N. und Ac. »de« gelautet habe, wie ja noch in ver-
schiedenen Verbindungen (vgl. engl, the), das nun ganz all-
gemein unter dem Einfluss der Schriftsprache zu »der, dr«
geworden und so auch in den Accusât, gedrungen ist.
Es fehlt übrigens in unserer »Sammlung« auch nicht an
einem umgekehrten Fall, der Verbindung nämlich des verbum
substant. »sein« mit dem Accusât.: »ist en armen gemänen
Ma gsee« (gewesen) (Appenzell S. 4), wie es auch im Platt-
deutschen heißt: dat was en gauden Kirl. Vgl. darüber
G. H. Müller in dieser Ztschrft. XIII S. 63. Bekanntlich ist
dies die gewöhnliche Construction des verb, subst. (kâna)
»sein« im Arabischen.
J. Babad.
Der Platonismus Michelangelos.
Von Victor Kaiser.
III. Michelangelos Mediceer.
Seit einem Jahrzehnt hatte bereits Michelangelo in seinem
großen Gemäldecyklus der sistinischen Gapelle zu Rom als
Maler den Gipfelpunkt seines Ruhmes erstiegen, als ihm der
Mediceer-Papst Leo X. den Auftrag erteilte, zu Ehren der
letzten legitimen Sprösslinge seines erlauchten vom alten Cosimo
gegründeten Hauses, seines Bruders Giuliano und seines Neffen
Lorenzo in ihrer Vaterstadt Florenz eine Grabcapelle zu er-
richten und mit einem plastischen Bilderkreise zu schmücken.
Im Gebiete der Bildnerei wollte nun Michelangelo, wie es
überhaupt seiner Sinnesweise entsprach1 — sich selbst
übertreffen; denn sie schätzte er am höchsten unter den
bildenden Künsten, ihr legte er in seiner dichterischen An-
schauung2 vorzugsweise den göttlichen Beruf des Künstlers
bei, mit derselben Gewalt seines wuchtigen Hammers die
lebendige Idee des Bildwerks aus der rohen Umhüllung des
Marmor blocks zu befreien, wie der platonische Weltbildner
die ewigen Ideen in der widerstrebenden Materie nachbildet
und darnach den harmonischen Bau des Weltalls gestaltet.
Die von ihm selbst entworfene architektonische Anlage
und Gliederung der mediceischen Grabcapelle von San Lo-
renzo machte demnach Michelangelo ganz seinem bildnerischen
Hauptzwecke dienstbar: unter der hohen Kappel gleitet ein
reicher, ungebrochener Lichtstrom auf die Marmorgruppen
hernieder, erweckt hier das harmonische Spiel der feinsten
1 Michelangelo, Rime, ed. Ges. Guasti 1863. Madr. 81.
2 A. a. 0. Madr. 12.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spracliw. Bd. XVI. 3. 14
210
Victor Kaiser,
Gegensätze von Schatten- und Lichtwirkungen auf der freien
oder beschatteten Stirn, auf dem gehobenen oder gesenkten
Antlitz, auf den ruhenden oder mannigfach bewegten Glie-
dern der sitzenden und liegenden Gestalten und macht das
leiseste Anschwellen und Abschwellen der künstlerisch be-
seelten Körperformen dem Auge empfindbar. Das reich ge-
gliederte Kranzgesims, das über den beiden plastischen
Gruppen an den Wänden hinläuft und von den vier Eck-
pfeilern getragen wird, dient den Bildwerken als architek-
tonischer Rahmen, wodurch sie nach oben abgeschlossen
und unter sich zu einem cyklischen Ganzen zusammengefasst
werden. Die vor den Mittelnischen stehenden Sarkophage
endlich sind, wie die ornamentalen Formen der Wände ver-
hältnismäßig klein und spielend gebildet, damit die darauf
ruhenden Figurenpaare als Kolossalgestalten durch ihre stil-
volle Behandlung hervortreten. Die Freiheit, die dem
Künstler für die Lösung seiner Aufgabe eingeräumt war, hat
er also dazu benutzt, die Architektur seinem plastischen Zwecke
anzupassen.
Die größte Freiheit nahm sich aber Michelangelo in der
Conception seiner plastischen Ideen, indem er auch das histo-
risch Gegebene seiner künstlerischen Intention unterwarf.
Giuliano de' Medici, Herzog von Nemours, und Lorenzo
de' Medici, Herzog von Urbino, sind historisch gegebene Per-
sönlichkeiten. Allein Michelangelos Statuen der beiden Fürsten
sind so wenig historische Portraitfiguren, dass ein heutiger
Erklärer auf den Einfall kam, Vasari zu beschuldigen, er
habe ihre Namen verwechselt, das Grabdenkmal Lorenzos
sei das Giulianos und umgekehrt. Die fortschreitende Er-
kenntnis jedoch, die aus dem Born des wissenschaftlichen
Streites geschöpft wird, hat das Zeugnis jenes alten Ge-
schichtschreibers der italienischen Kunst bestätigt, aber auch
erwiesen, dass die vermeintlichen Bildnisstatuen lediglich
die idealen Schöpfungen des Künstlers sind. Allein wenn
sie auch der äußern Tatsächlichkeit entraten, entbehren
sie doch keineswegs der innern Wahrheit der Geschichte;
denn zu ihr gehören die historischen Ideen so notwendig,
Der Piatonismus Michelangelos.
211
dass ohne sie die historische Wahrheit verstümmelt ist.
Beide Statuen sind vielmehr die historischen Idealgestalten,
oder, wie sie mit Recht genannt worden sind, die Heroen
der Renaissance, nicht bloß in dem engern Sinne der jenem
Zeitalter eigentümlichen Kunstform und Kunstvollendung,
sondern so, dass in dem Gegensatz der beiden plastischen
Einzelgestalten auch der geistige und sittliche Gehalt der
italienischen Renaissance und des in ihr neuemporgekommenen
und mit ihr in seiner Hauptlinie erlöschenden Fürsten-
geschlechts verkörpert ist.
Welche Ideen sind es nun, die sich in den Idealgestalten
der beiden Mediceer-Fürsten künstlerisch ausprägen? Oder
vielmehr fragt es sich zunächst: Welches sind die Form-
gedanken, in denen diese Gedankenformen oder die Ideen
des Kunstwerks sichtbar ausgeprägt sind?
1.
Um diese Fragen zu untersuchen, dürfen wir jene histo-
rischen Einzelgestalten nicht vereinzeln, sondern jede muss mit
dem Paare der allegorischen Figuren, das zu ihren Füßen
auf dem Sarkophag hingelagert ist, zu einer Gruppe vereinigt
werden. Die allegorischen Gestalten der Nacht und des
Tages verbinden sich mit Giuliano, der Abend und die
Morgendämmerung mit Lorenzo, sie bilden in jeder Beziehung
für jene die Grundlage und Voraussetzung, sind aber nicht
wie die Mediceer-Statuen als Einzelfiguren voneinander zu
trennen, sondern paarweise geordnet, zeigen sie im ganzen
und einzelnen Gegensätze, die einander fordern und sich ent-
sprechen, sei es in dem Wechsel des Geschlechts und der
Haltung und Wendung der Köpfe und Leiber, oder in dem
Vor- und Zurücktreten der Körperteile, dem Heben und
Senken, Einziehen und Ausstrecken der Glieder. Mögen auch
die Linien kühn sich verschieben, und die Standorte des
Beschauers beliebig wechseln, immer bietet sich dem Auge
ein harmonisches Entgegenstreben der plastischen Verhält-
nisse und Formgedanken dar. Dadurch wird jene stilvolle
Eurhythmie erzeugt, welche Piaton in dem Gegensatz der
14*
212
Victor Kaiser,
Strophe und Antistrophe der lyrischen und dramatischen
Chorgesänge bemerkte: er nannte sie daher ein anti-
strophisches Gleichgewicht der Gegensätze, und indem
er dies von ästhetischen auf sittliche Verhältnisse übertrug,
forderte er es als höchstes Ziel auch für die sittlichen und
die Bildungsgegensätze des Menschenlebens. An den allego-
rischen Figuren Michelangelos äußert es sich zunächst in
der Kunst der Linienführung, und diese Grundbedingung der
Bildnerei erscheint hier auf einer solchen Höhe der Vollen-
dung, dass dadurch Vasaris Urteil gerechtfertigt wird: Wenn
jemals die Kunst verloren gehen könnte, würden sie allein
genügen, diese zu ihrem alten Glänze zu erheben.
Was sind nun aber die Gedankenformen, die in jenen
künstlerisch vollendeten Formgedanken dem Auge sich dar-
stellen? Allerdings ist es der tägliche Umschwung des
Himmels in den kosmischen Verhältnissen der äußeren Natur,
was nach der traditionellen Vorstellung die vier Statuen
Nacht und Tag, Abend und Morgen bedeuten, und an der
Richtigkeit dieses allegorischen Sinns, den Vasari überliefert
hat, kann kein Zweifel aufkommen, hat doch Michelangelo
an und neben der Hauptgestalt die Symbole der Nacht ge-
häuft: Eule und Traummaske, den Büschel der Mohnköpfe
und die Sterne über dem Haupte der Nacht, und die al-
legorische Bedeutung der drei andern ergibt sich von selbst
aus ihren plastischen Gegensätzen und Verhältnissen zu der
Hauptfigur, der Nacht. Für unsere Naturanschauung sind
ferner die beiden Dämmerungen die Gleichgewichtspunkte,
Mittag und Mitternacht aber die entgegengesetzten Extreme
im Kreislaufe des steigenden und sinkenden Tages; ebenso
waltet in der Kunst Michelangelos bald der Gegensatz der
sich entsprechenden Figuren Tag und Nacht, bald das har-
monische Gleichgewicht der Gegensätze von Abend- und
Morgendämmerung vor. Allein die vier Statuen bedeuten
noch mehr als bloß die tägliche Achsendrehung der Erde
und deren kosmische Beziehungen, sie sind noch mehr als
bloß abstráete allegorische Figuren. Michelangelos Statuen-
eyklus ist gleich Dantes göttlicher Komödie ein vielsinniges
Der Piatonismus Michelangelos.
213
Werk, opus polysensuum, wie der Dichter selbst seine er-
erhabene Schöpfung in der Widmung des Paradiso an den
Scaliger von Verona genannt und den eigentlichen Sinn
neben der uneigentlich allegorischen Bedeutung der drei Be-
hausungen Hölle, Fegfeuer und Paradies bestimmt unter-
schieden hat. Die vier allegorischen Figuren Michelangelos
sind nicht bloß Sinnbilder des physischen Makrokosmos, son-
dern Menschengestalten, welche unmittelbar und eigentlich
den organischen und geistigen Mikrokosmos des Menschen-
lebens im Kreislaufe des Tages abbilden und in der knappen
und geisterfüllten Formensprache der plastischen Kunst, in
Haltung, Geberden und Mienen, im einfachen Linienzug klar
und deutlich erkennen lassen.
Michelangelos Statue der Morgendämmerung wird Aurora
genannt, ist aber nicht die heitere Göttin der erwachenden
Natur, die der ersten Lichtstrahlen des jungen Tages sich
freut, die rosenfingrige Eos Homers: sie ist die Menschen-
gestalt, die aus schweren Morgenträumen vom Lager auf-
schrickt, aber auch, vom Tageslichte geblendet, zurück-
schrickt und die halbgeöffneten Augen mit dem Gewände
schützen will. Der Abend (crepuscolo) ist eine edle Männer-
gestalt, die von des Tages Arbeit ausruht. Die ganze untere
Seite des hingelagerten Leibes ruht bereits ebenso, wie
sie an seinem Gegenstück, der Morgendämmerung noch
auf dem Lager ruht. Die obere Seite dagegen ist an beiden
Gestalten in einer gleichmäßigen Bewegung begriffen, die sich
an Haupt und Gliedern äußert; sie ist aber dort eine auf-
wärtssteigende, hier eine abwärts sinkende: dort steigt sie
bereits, hier sinkt sie noch. Die Gegensätze der Form-
gedanken verschieben sich also wie die Linien und erzeugen
das schönste antistrophische Ebenmaß, sozusagen ein Sich-
fragen - und - antworten — eine Dialektik der Kunst. Ihnen
entsprechen auch die Gedankenformen. Die innere Bewegung
ist in beiden Gestalten nicht frei, sondern gehemmt : sie ist ein
Streben. Wenn an der Statue der Morgendämmerung der auf-
gestemmte linke Fuß und der heraufgebogene Schenkel be-
reits der innern Bewegung des Traumlebens folgen, so wird
214
Victor Kaiser,
doch die Erwachende von außen gestört durch das auf-
gehende Licht des Tages. Dieselbe Erscheinung beobachten
wir an der Statue des Abends. Der ermüdete Organismus
folgt der eigenen Schwere, aber nur allmählich und langsam ;
denn der herabziehenden Trägheit der Materie wirkt eine
andre Kraft entgegen, wenn der übergeschlagene rechte Fuß
auf das Knie nicht gestützt, sondern bloß angelehnt ist, oder
wenn nur die rechte Hand auf dem Körper ruht, aber der
Arm, wagrecht ausgestreckt, frei über dem Körper schwebt.
Diese die Schwerkraft der Materie hemmende Macht ist je-
doch hier nicht wie dort eine physische Kraft, es ist die
innere Welt des Geistes und Gemüts, die erweckt wird durch
die Abendruhe oder durch die Abkehr von den Zerstreuungen
des Tages und die stille Einkehr in sich selbst, und die sich
sammelt auf der gedankenvoll vorgeneigten Stirn, so dass
auch die Glieder noch nicht sämmtlich und noch nicht ganz
zur Nachtruhe herabsinken. Das geistige Streben und Wider-
streben, das Gleichgewicht und die Bewegung des Geistes
sind die Gedankenformen, die in dem Figurenpaare der
Dämmerungen ebenso mit plastischer Unmittelbarkeit vor
Augen gestellt sind, wie die kosmischen Bewegungen und
Gegensätze, das Gleichgewicht und das allmähliche Steigen
und Sinken des Tages uneigentlich oder allegorisch darin
ausgedrückt werden.
In dem andern Figurenpaare springt der Gegensatz
zwischen den beiden Gestalten des Tages und der Nacht
scharf in die Augen, obgleich auch hier in den Umrissen und
Hauptlinien das ästhetische Gleichgewicht, fast das Gleichmaß
oder symmetrische Verhältnis beibehalten wird. Der Tag ist
ein sinnlich kräftiger Athlet, seine Bewegung ist entgegengesetzt
derjenigen des ersten Paares, sie geht weder auf- noch ab-
wärts, sondern seitwärts hin und her. In unruhig verschränkter
Haltung wälzt er sich auf dem Lager, gewaltsam hat er die
rechte Schulter links gewendet und presst mit dem rechten Arm
das übergeschlagene linke Bein auf die Seite, ohne in dieser
unfreien Haltung verharren zu können. Was den Tag auf
dem Lager festhält, scheint wie bei der Morgendämmerung
Der Piatonismus Michelangelos.
215
zunächst eine äußere Ursache zu sein: dort war es das
Morgenlicht, hier ist es die Mittagshitze. Auch ein inneres
Motiv ist in der Haltung und Bildung des Kopfes zu er-
kennen. Seine Bewegung ist nicht minder gewaltsam als
die des Oberleibes: er kehrt sich hastig rechts, wie dieser
links sich gewendet hat, und über den mächtigen, uns zu-
gekehrten Nacken und Rücken spähen uns zwei wilde, zorn-
mütige Augen entgegen. Gleich dem Krater eines ruhen-
den Vulkans umschließt die Marmorumhüllung der unvoll-
endeten Statue die kecke Stirn und die unheimlich glühenden
Augen. Es ist die leidenschaftliche Naturgewalt des männ-
lichen Willens, die hierin sich ausspricht, sie kann ihre her-
kulische Stärke sowohl hohen und edlen Zwecken widmen,
als dem Gemeinen und Niedrigen dienen. Bald ist sie der
Söldner dienst der Willkür, der durch keine Macht des Rechts
und Gesetzes gebunden, nur das Recht des Stärkern vertritt,
der rohe Eigennutz, der männische Egoismus, der den mate-
riellen Interessen der Lust und des Gewinnes fröhnt; bald ist
sie aber auch der erhabene Heroendienst eines Herakles, der
unter der Herschaft der Vernunft die Ungetüme der äußern
Natur und die räuberische Willkür der Menschen bezwingt
und straft, und durch solche Dienstbarkeit sich göttliche Ehren
erkämpft.
Im klaren Gegensatz zur Unruhe des Tages atmet die
großartige Gestalt der Nacht tiefe Ruhe; es ist aber nicht
die Grabesruhe, sondern jenes Gleichgewicht der psychischen
und organischen Bewegungen, welches alle Gewaltsamkeit
ausschließt: die Ruhe des mitternächtlichen Schlafes. Zwar
geht auch hier wie dort die Bewegung seitwärts, sie schwankt
aber nicht unstät hin und her. Auch hier ist die rechte
Schulter links gewendet, und der rechte Oberarm an die
Außenseite des linken Schenkels angepresst; aber dieser ist
nicht wie dort übergeschlagen und ' widerstandslos dem
schwankenden Seitendrucke des Oberkörpers ausgesetzt, son-
dern energisch herangezogen und mit dem Fuß auf den Boden
gestemmt, setzt er ihm einen festen Haltpunkt entgegen und
erzeugt das Gleichgewicht der mechanischen Gegensätze.
216
Victor Kaiser,
Mit der horizontalen Seitenbewegung des Oberkörpers com-
binili sich die entgegengesetzte, vertical steigende und sin-
kende Bewegung des im tiefen Schlafe liegenden Organis-
mus, und bedingt dadurch seine statische Ruhe, während in
den andern allegorischen Figuren die verschiedenen Be-
wegungsarten getrennt sind und ihren Gleichgewichtspunkt
nicht erreicht haben. In schön gewölbter Linie neigt sich
der Nacken und das edelgeformte Haupt, und daran legt
sich die rechte Hand, so dass der Arm, unten nicht fest
aufruhend, sondern seitwärts angelehnt, jeder leise sich
hebenden und senkenden Bewegung des Kopfes folgt und die
innere Ruhe und das psychische Gleichgewicht der Gedanken,
das leise Weben und Schweben, das tiefe Traumleben des
Geistes abbildet. Die verblassenden Erinnerungsbilder des
Tages weichen aus dem Angesichte der Träumenden und
lassen hier einen maskenartigen Ausdruck zurück; aber aus
der Tiefe der Seele steigen, vom Drucke der Materie befreit,
lichte Traumgestalten und schweben am Horizont des Be-
wusstseins, wie Sternbilder in dunkler Nacht, auf und nieder.
Es ist das innerste Leben und Weben der Seele, was Michel-
angelo nicht bloß abstract durch das Symbol der Traum-
maske andeutet, sondern durch die combinirten Bewegungen
der schlafenden und träumenden Frauengestalt sichtbar dar-
stellt. Die Sterne am Diadem der Nacht weisen symbolisch
auf die Angelsterne der Vernunft, auf die ewigen Vorbilder des
Schönen und Edlen als die lichten Traumbilder der Nacht hin.
In derselben psychologischen Färbung schildert Michelangelo
diese höchsten Ziele des menschlichen Strebens in einem So-
nett, das voll dichterischer Begeisterung die Nacht verherr-
licht : »0 Nacht, du süße, obwohl dunkle Zeit, du vernichtest
in der Seele jeden müden Gedanken, sobald dein feuchter
Schatten alles zur Ruhe bringt, und auf Traumesschwingen
hebst du meinen Geist von der Erde hinweg zu den höchsten
Sphären, wohin ich strebe. Du linderst jedes Herzeleid und
tilgst aus der Brust des Edlen allen Zorn und Ueberdruss.
Darum, wer dich preist und ehrt, hat verständigen Sinn.«1
1 Michelang. Rime. Son. 44.
Der Piatonismus Michelangelos.
217
Beide Gesichtspunkte, der allegorisch-physische und der
eigentlich-psychologische, dienen wohl dazu, die Bedeutung
der einzelnen vier Figuren zu verstehen, genügen aber nicht,
um die eigentümliche Gruppirung der Figurenpaare und deren
antistrophisches Gleichgewicht zu begreifen. Nach der phy-
sischen Regel der Zeitfolge gehören Morgen und Mittag, Abend
und Nacht, als die natürlichen Paare zusammen, nicht aber
Morgen und Abend, Mittag und Mitternacht, wiesie der Künstler
gruppirt hat. Ebenso psychologisch verknüpft sich das affect-
volle Erwachen aus den unruhigen Morgenträumen mit dem
aufregenden Getriebe, den Sorgen und Zerstreuungen des Tages,
die Abendstille und die Rückkehr der Seele aus der Welt
der Sinne mit der nächtlichen Einsamkeit und der Vertie-
fung in die ideale Welt des Geistes. Michelangelo hat also
nicht das natürlich und geistig Verwante gepaart, sondern
die Gegensätze vermittelst der äußern, künstlerisch vollen-
deten Formgedanken zu einem harmonischen Ganzen zu-
sammengefügt, ohne dass weder in ihrer allegorischen noch
psychologischen Bedeutung die entsprechenden innern Ge-
dankenformen zu erkennen wären. Die Sonette des Dichter-
Künstlers geben uns nun einen Fingerzeig über die Richtung, in
welcher wir die Lösung dieses Problems aufsuchen müssen.
Auch in seinen Sonetten spricht Michelangelo von den Haupt-
gegensätzen in den Zeitabschnitten des Tages, und zwar so-
wohl als Gegensätzen in der äußern Natur als auch in der
Welt des Geistes; von deren Ausgleichung aber gibt er nur
eine Andeutung. Er sagt: »Die Eine Zeit teilte der Schöpfer
zwiefach, in Tag und Nacht, und gab die Sonne dem einen,
der andern den Mond. Darnach trennte sich auch das
Schicksal der Menschen, als der Kinder des Tages und der
Nacht: mir ward die dunkle Zeit zuteil.«1 Der Nacht gibt
der Dichter den Vorrang vor dem Tag in einem andern So-
nett : »Das Saatfeld, das der Sonne offen liegt und von
tausendfältigen Pflanzenkeimen strotzt, bearbeitet der derbe
Landmann mit dem Pflug, aber die Nacht allein taugt dazu,
1 A. a. 0. Son. 41.
218
Victor Kaiser,
den Menschen zu pflanzen und zu pflegen (piantare). Um
wie viel höhern Wert also die Gultur des Menschen hat,
als die Früchte des Feldes, um so viel heiliger sind die
Nächte als die Tage.«1 Aehnlich urteilte Michelangelo über
die Pflege der Kunst in seinen Unterredungen mit Vittoria
Colonna und nach dem Berichte Vasaris: die Kunst be-
dürfe der Einsamkeit und Stille. »Die tiefen Gedanken des
Künstlers, seine stille Geistesarbeit, sagte er, verlangen den
ganzen Mann und lassen nicht den kleinsten Teil seiner
Seele frei für die Zerstreuungen des Tages, welche der ge-
sellschaftliche Umgang und die Sitte fordern.« Wenn aber
auch der Dichter meistens Tag und Nacht einander ent-
gegensetzt und diese über jenen erhebt, deutet er doch
schon in dem zuerst genannten Sonett die Verwantschaft
beider an, wenn er vor der Schöpfung von Tag und Nacht
beide Zeitabschnitte als Eins voraussetzt. Ferner erweitert
er in einem andern Sonett das Reich der Nacht, indem er
dazu auch die Schatten rechnet, die das Tageslicht erzeugt.
»Nur der Pöbel nennt es Nacht, wenn Phöbus mit seinen
leuchtenden Armen den kalten und feuchten Erdball nicht
umfängt; in Wahrheit ist wohl die Erde die Mutter der
Nacht, weil sie in ihrem Schooße den Schatten birgt; aber
Phöbus ist ihr Vater.« Den Grund dieser Genealogie findet
der Dichter darin, dass das Sonnenlicht die Sinnendinge
heiter umspielt und so Schatten erzeugt. Auch die Schatten-
welt, als notwendigen Gegensatz und Gefährtin des Tages-
lichts, rechnet er also zum Reiche der Nacht.2
Das Licht macht die Dinge schön durch die wechseln-
den Schatten, es erzeugt die schönen Gestalten der sicht-
baren Welt. Mit diesem Gedanken weist der Dichter Michel-
angelo hin auf die ästhetische Versöhnung der Gegensätze
von Nacht und Tag und trifft den Grundton seiner plato-
nisch gestimmten Lyra, der durch alle seine Dichtungen fort-
klingt: die Freude an den schönen Gestalten der sinnlichen
1 A. a. 0. Son. 42.
2 A. a. 0. Son. 43 und 42. Relativer Gegensatz von Schatten und
Licht gleich dem piaton. Gegensatz von Uebel und Gutem. II. Jonas S. 183.
Der Piatonismus Michelangelos.
219
Welt als die erste Stufe im Entwicklungsgang des philo-
sophischen Triebes oder des platonischen Eros.1 Auch in
den schönen Gestalten der allegorischen Figuren und ihrer
antistrophischen Gruppirung erscheint uns die sichtbare Har-
monie der Gegensätze von Nacht und Tag, Abend und
Morgendämmerung, aber lediglich in der äußern Kunstform
oder in den Formgedanken der Kunst. Soweit wir jedoch
in ihnen die entsprechenden Gedankenformen der Natur und
des Geistes bisher erkannt haben, vermissen wir darin die
Uebereinstimmung; denn weder die Zeitformen der Natur
noch die Entwickelungsstufen des Geistes rechtfertigen die
Gruppirung des Künstlers. Wir müssen also, um diesen
Mangel zu ergänzen, einen dritten Gesichtspunkt aufsuchen,
der weder in dem allegorisch-physischen noch in dem
psychologischen schon enthalten ist. Liegt er etwa in der-
selben Stufenreihe des philosophischen Triebs, wovon wir
die erste Stufe des platonischen Eros, die Freude an den
schönen Gestalten der sinnlichen Erscheinung, bereits in dem
antistrophischen Ebenmaß der allegorischen Figurenpaare
entdeckt haben? Was doch weder in der psychologischen
Natur des Geistes noch in der äußern sinnlichen Natur
gegeben ist, kann nichts andres sein als die sittliche Men-
schenwelt, das Vernunftreich der sittlichen Ideen, d. h.
etwas, das, wenn es nicht wäre, sein sollte. Der ethische
Gesichtspunkt muss also den ästhetischen Mangel ergänzen,
den wir in den schönen Gestalten und Gruppen der allego-
rischen Figuren gefunden haben. Und er taugt dazu ver-
möge der Verschwisterung des Guten mit dem Schönen oder
der Erweiterung des Schönen zum Guten, welche Piaton,
der Nationalphilosoph der hellenischen Kalokagathie, dialek-
tisch entfaltet und Michelangelo, der größte Bildner der Re-
naissance, in seine »tiefen Gedanken« und seine »stille
Geistesarbeit« aufgenommen und dichterisch2 und künstlerisch
verarbeitet hat, mit Einem Worte: vermöge des Platonis-
mus Michelangelos.
1 A. a. 0. Son. 53.
2 A. a. O. Ep. 5. Son. 28.
220
Victor Kaiser,
2.
Die Vertreter der sittlich strebenden Menschen welt sind
in dem Statueneyklus Michelangelos die historischen Gestalten
Giuliano und Lorenzo de' Medici. Sie erscheinen nicht in
ihrem Zeitcostiim, sondern in der Rüstung römischer Impe-
ratoren. Die großen Männer der italienischen Renaissance
glaubten in den Gebieten des Staates und der Wissenschaft,
der Poesie und Kunst das geistige Erbe der alten Römer
angetreten zu haben. Von der glänzenden Herrlichkeit des
alten Rom hatte Michelangelo selbst eine so hohe Meinung
gefasst, dass er gegen Vittoria Colonna sich äußerte, die
Kunst wäre überhaupt aus der Welt verschwunden, hätte
nicht Italien unter allen Ländern die deutlichsten Spuren des
römischen Imperiums aufbewahrt, und die italienische Re-
naissance mit der römischen auch die Bildung des alten
Griechenlands in sich aufgenommen; daher die Kunst seiner
Zeit von Michelangelo auch die Kunst des alten Griechen-
lands genannt wurde. Die beiden Mediceerstatuen ver-
setzen uns also auf den ersten Blick in den geistigen
Mittelpunkt der italienischen Renaissance, in die lebendige
Berührung dieses Zeitalters mit dem griechisch-römischen
Altertum. Mit den Insignien der Herschergewalt ausgerüstet,
gehören sie zu den höchsten Kreisen des gesellschaftlichen
Lebens unter die Fürsten und Führer, die männerbeherschen-
den Heroen: sie sind die Heroen der Renaissance. Die
Richtung, wohin beide Gestalten sich wenden, ist für den
Beschauer dieselbe; denn sie sitzen in den Nischen der
Grabcapelle an gegenüberliegenden Wänden. Das gemein-
same Ziel beider ist kein anderes als der Staat, den sie zu
leiten berufen sind. Und den Staat schätzten die Alten als
das Höchste im Menschenleben, er galt den griechischen
Denkern und Geschichtschreibern als der Inbegriff der sitt-
lichen Menschenwürde, und die Römer hatten für den Wert
des Bürgers, der ihn mit Gefahr seines Lebens schirmt, wie
für die persönliche Würde des Menschen, für die Tugend
und die Mannhaftigkeit, nur Ein Wort: Virtus. Wenn aber
auch beide plastischen Gestalten das gleiche Ziel ins Auge
Dei' Piatonismus Michelangelos.
221
fassen, verfolgen sie es doch auf entgegengésetztem Wege,
der Aeltere, Giuliano wendet sich nach seiner linken, der
Jüngere, Lorenzo nach seiner rechten Seite hin. Jener folgt
derselben Richtung, in welcher zu seinen Füßen die allego-
rische Figur des Tages hingelagert ist, und kehrt Haupt und
Auge entschieden ab von der schlafenden Nacht. Dieser
neigt sich dem rechts vor ihm ruhenden Abend zu und hin-
weg vom erwachenden Tage. Nach der poetischen Unter-
scheidung Michelangelos ist also der links gewendete Giuliano
das Kind des Tages, der rechts vorgebeugte Lorenzo das
Kind der Nacht.
Giuliano sitzt tatbereit und hält das Attribut seiner
Macht, den Feldherrnstab im Schooße zwischen den nervi-
gen Händen. Der linke Fuß ist eingezogen und wird leicht
den Schwerpunkt des Körpers finden. Der rechte ist vor-
gesetzt, und das kräftig geformte Knie wird rasch und ela-
stisch den Körper heben. Aehnlich hat Michelangelo die
untern Extremitäten seines Moses gebildet, nur ist dessen
linker Fuß weiter zurück und auswärts gesetzt, der rechte
heftig auf den Boden gestoßen, sodass das Gewand über
dem Knie sich aufgebauscht hat. Nicht bloß schnellkräftig
vom Sitze sich erheben, sondern aufspringen wird der Prophet
vom Sinai im heiligen Zorn, wie ein ergrimmter Löwe hat
er den mähnenartig herabwallenden Bart geschüttelt und
mit der Rechten gefasst, als er in rascher Bewegung das
Haupt links gewant, vom Sturm und Drang des Innern
blähen sich die Nüstern und Wangen, quellen die Augen ge-
waltsam hervor, wie sie den Frevel des auserwählten, des
Eigentumsvolkes des Einen Gottes gewahren. Ganz anders
entwickelt sich der tatbereite Wille in der fürstlichen Ge-
stalt Giulianos als in dem gottgesandten Volksführer der
Juden: er dient der klugen Berechnung des Staatsmanns.
Stramm aufgerichtet ist der muskelkräftige, schlanke Ober-
leib, lang aufgereckt der Hals, unter der kalt berechnen-
den Stirn lauern schlangenklug die weitausspähenden Augen,
keine innere Bewegung schwellt die glatten Wangen und die
straffangespannten Nasenflügel, der Atem scheint hier leise
m
Victor Kaiser,
eingezogen oder angehalten, während er dort stürmisch her-
vorbricht. Was List und Schlauheit vorbereitet, wird rasche
Gewalttat mit einem Schlag vollbringen. List und Gewalt
ist die Politik, welche dieser Heros der italienischen Re-
naissance vertritt.
Das classische Altertum kannte wohl diese Politik: die
Römer übten sie, die griechischen Sophisten lehrten sie. List
und Gewalt war die Politik des römischen Senats : weitaus-
sehende Pläne entwarf er und wartete zu, bis die Göttin
Gelegenheit herankam, die nach römischer Vorstellung mit
rascher Tat nur am Stirnhaar zu fassen war, nicht aber
am kahlen Hinterhaupt. List und Gewalt war auch das
Evangelium der Politik, das die Sophisten im Zeitalter Pia-
tons verkündeten und als Wanderlehrer vielgeschäftig und
redegewant in Griechenland verbreiteten. Nicht Vernunft
und Wissenschaft erzeuge das Recht und Gesetz, sondern
der Wille und die Praxis allein ; die Willkür der Machthaber
und Völker, was ihnen zweckdienlich erscheine, sei der In-
halt des Rechts, lehrte der Sophist Protagoras,1 und seine
Gesinnungsgenossen Thrasymaehos und Glaukon behaupteten,
auf dem Nutzen des Stärkeren gegenüber dem Schwachen
beruhe der Staat und die Politik2. In dem platonischen
Gespräche Gorgias3 will Kallikles das Recht der genialen
Willkür durch das Beispiel des größten Heroen begründen:
der gewaltige Herakles habe den Riesen Geryones wegen
der von ihm mit Menschenblut genährten Rinder nicht be-
straft, sondern diese schlechthin ihm geraubt, denn er habe
sie von ihm weder gekauft noch geschenkt erhalten. Nicht
das sei würdig und schön, die Begierden durch Vernunft zu
zügeln und zu beherschen, sondern nach dem Rechte der
Natur müssen Vernunft und Tatkraft den Begierden dienen,
um sie ins Unbegrenzte zu steigern. Diese Sophistik der Be-
gierden , dieses Vernünfteln der Leidenschaften vergleicht
Piaton mit den Gestalten der Gentauren und Satyrn und
1 Plat. Protag. p. 320 d — 328 d.
2 Pl. Resp. 1. I.
3 PL Gorg. p. 282 cff.
Der Piatonismus Michelangelos.
223
andrer Gebilde der griechischen Sage und Kunst; denn in
ihnen wird das Edle mit dem Gemeinen, der Adel der
Menschengestalt mit Tierleibern und tierischen Gliedern selt-
sam vermischt.1
Die sophistische Umkehr der sittlichen Grundkräfte, Ver-
nunft und Wille, die Vergewaltigung der Vernunft hat auch
Michelangelo in den Beziehungen Giulianos zu den allego-
rischen Figuren ausgedrückt: von der stillen Geistesarbeit der
Nacht wendet sich dieser hinweg zu der herkulischen Gestalt
des Tages. Auf der sonnigen Höhe der politischen Macht
verfolgt er die gleichen Interessen des materiellen Vorteils
und Wohlseins, wie der derbe Landmann in Michelangelos
Sonett (il fier bifolco), welcher mit harter Arbeit seinen
sonnig gelegenen Acker bestellt, aber die geistige Pflege des
Menschen nicht kennt. Wie diesen der Dichter, rechnet
also jenen der Künstler Michelangelo zu den Kindern des
Tages; und wie die Früchte des Tages, d. h. der niedern
Gultur, oder die Erzeugnisse des Ackerbaues, der Gewerbs-
tätigkeit und des Handels nur den sinnlichen Bedürfnissen
des Lebens dienen, so vergisst der Staatsmann seinen könig-
lichen Beruf und macht das Hohe dem Niedern dienstbar,
wenn er den Staat nach denselben Grundsätzen leitet, wie
der Landmann seinen Acker anbaut. Sich selbst entwürdigend
wie Noah, der seinen Weinberg bebauende Stammvater der
erhabenen Propheten und Sibyllen in der Sistina, sinkt er
auf die Stufe oionistischer Lebensklugheit hinab.2
Die Statue Lorenzos hingegen gehört zum Pieiche der
Nacht schon aus dem äußern Grunde, weil der Dichter
Michelangelo die Nacht als das Reich der Schatten beschreibt,
welche Phöbus erzeugt, wenn seine Strahlen die irdischen
Dinge mit ihrem Lichtglanz umspielen, und demnach den
längere Schatten werfenden Abend vorzugsweise zur Schatten-
welt der Nacht bezieht. So starke âchattenmassen aber
erzeugt das von oben herabströmende Licht an keinem an-
dern Bildwerke des Cyklus wie an der Statue des dem
1 PI. Politicus, p. 291a.
2 Vergi. II. Michelangelos Jonas. S. 149. 158. 186.
224
Victor Kaiser,
Abend zugekehrten Lorenzo: sein Antlitz und Hals sind
ganz beschattet durch das zurückgeschlagene Helmvisir,
auf die Brust fällt ein breiter Schatten von dem aufge-
stützten Arm und der Hand mit dem Tuche. Alle Körper-
teile ruhen an dieser edlen Gestalt wie an der schlafenden
Figur der Nacht, nur der Geist ist wach. Ein Fuß ist
über den andern gekreuzt, der linke Arm auf die Lehne des
Sessels gestützt, der Zeigefinger leicht an die Lippen gelegt,
die rechte Hand an den Schenkel gelehnt, das Haupt sanft
vorgeneigt. Aber ein tiefes inneres Leben liegt auf der ge-
senkten Stirn, in den weitgeöffneten Augen; der gedanken-
voll vorgebeugte Kopf und der rechte Arm sind hier ebenso-
wenig aufgestützt, sondern nur angelehnt, wie sie auch an
der allegorischen Figur der Nacht weniger der Schwerkraft
der Materie folgen als der freien Bewegung des Geistes, dort
den lichten Träumen des ruhigen mitternächtlichen Schlafes,
hier den wachen Combinationen der Phantasie, welche im
Kopfe des Staatsmanns ebenso gut die Umgestaltungen der
Staaten und Völker entwerfen, als sie im Geiste des Denkers
und Dichters die genialen Schöpfungen der Kunst und Wissen-
schaft vorbilden. Sie sind die edlen Geistesfrüchte, die der
Dichter Michelangelo preist als die Früchte der Nacht, in-
dem sie der Pflege des Menschen selbst, seinen höheren
Culturinteressen entspringen, nicht aber seinen materiellen
Zwecken der Lust und der Klugheit. Die Körperbildung
Lorenzos steht im Contrast mit derjenigen Giulianos, die
Formen sind nicht elastisch und sehnig, sondern weich und
fein, die Hände fleischig und sorgfältig gepflegt, die Haltung
verrät keine unruhige Spannung, keine tatbereite Ent-
schließung, sondern lediglich stilles Denken und Forschen.
Il pensiero, den Gedanken, nennen ihn daher die Italiener.
Er ist eine Hamlet-Gestalt — der Geistes-Heros der italie-
nischen Renaissance.
Michelangelos Lorenzo ist weder ein staatskluger Römer
noch ein klügelnder Sophist, er ähnelt vielmehr dem Philo-
sophen auf dem Throne der Cäsaren, dem edlen Kaiser
Marc Aurel, der als unumschränkter Gebieter über das rö-
Der Platonismos Michelangelos. 225
mische Weltreich doch kein tieferes Bedürfnis empfand, als
dem Ideal des stoischen Weisen nachzustreben, in sein ei-
genes Innere sich zurückzuziehen und seine Gedankenwelt
zu ordnen. Aber jener dämmernde Sohn der Nacht, der
vom erwachenden Tage sich abkehrt und dem Zwielichte
der Nacht sich zuwendet, wird er die Spannkraft des Willens
in sich finden, womit der römische Imperator über die Bar-
baren im Osten und Norden des Reiches siegte und zweimal
triumphirend in Rom einzog? Wird e r den Pflichten seiner
hohen Lebensstellung ebenso gerecht werden, wie dieser
große Römer, der trotz seiner stoischen Autarkie in den
Selbstgesprächen1 gesteht, er habe seinen Dämon als einen
solchen erkannt, der zu einem römischen und politischen
Leben, zum Leben eines Herschers bestimmt sei, aber zu-
gleich »sich nicht zu verkaisern« gelobt,2 und dem auch
der seltene Nachruhm gebührt, dass der Kaiser das übte,
was der Philosoph lehrte?3 Gleicht etwa Lorenzo besser
als jenem großen Stoiker auf dem römischen Kaiserthrone
dem Bilde, das Piaton überhaupt von dem Philosophen ent-
wirft , wenn er sagt :4 die Philosophen hätten sämmtlich
etwas vom Vater der Philosophie geerbt, von Thaies,
welchen eine thracische Magd verspottete, weil er, die Ge-
stirne betrachtend, die Blicke nach oben wandte, aber das
Zunächstliegende übersah, die Grube nämlich, die vor seinen
Füßen lag? Was der Mensch überhaupt sei, seine Würde
und Bestimmung, das wolle der Philosoph erkennen; aber
seinen nächsten Nachbar kenne er nicht, und so werde er
durch seine praktische Unbeholfenheit zum Gespötte der
Leute. Freilich belächle hinwiederum der Philosoph die Tor-
heit der Leute, wenn sie Geld und Gut, Adel der Geburt
und äußere Macht und Ehren verherlichen. Allein die Welt-
flucht des platonischen Weisen passt keineswegs zu dem Bilde
1 M. Antonin. III, 4 f.
2 A. a. O. VI, 30. ogee, /ut) anoxcciGctQcoO-yg. Cave, ne in mores
Caesareos degeneres. (Schulz.)
3 Ed. Zeller, Vorträge und Abhandlungen, 1. Bd.
4 Plat. Theätet. p. 173 c — 177c.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spracliw. Bd. XVI. 3. 15
m
Victor Kaiser,
des kriegerisch gerüsteten, mit dem Helme bedeckten Fürsten
und Staatsmanns, das Michelangelo in seiner Statue Lorenzos
wie in der Giulianos dargestellt hat.
Jedoch ist schon an jener Stelle des platonischen Dialogs
Theätet das leise Bedauern und Interesse für das Loos der
Fürsten und Machthaber auffallend, das durch Piatons Ver-
höhnung der Leute, welche ihrer Macht huldigen, hindurch-
blickt, während er seinem Spotte über den Geld- und Adelshoch-
mut ungehemmt den Zügel schießen lässt. Er sagt von dem
Philosophen : wenn dieser einen reichbegüterten Mann rühmen
höre, weil er 10000 Jucharten Landes besitze, so lächle er,
der auf die weite Erde seinen Blick zu richten gewohnt sei.
Preisen dann die Leute einen vornehmen Herrn wegen seiner
sieben Ahnen, so staune er über die Beschränktheit und
Roheit der Leute, die nicht wissen, dass jeder Mensch Tau-
sende von Stammvätern habe, unter denen wieder Tausende
von Reichen und Bettlern, Königen und Sklaven, Hellenen
und Barbaren sein können; und brüstet sich Einer, durch
25 Ahnen seinen Stammbaum auf den größten unter den
Heroen, auf Herakles zurückzuführen, so lasse ihn der
Dünkel seiner unverständigen Seele nicht bedenken, dass
etwa der 25. von Herakles' Vater Amphitruo aufwärts, und
von diesem wieder der 50. ein ganz ordinärer Mensch
gewesen sei. Loben sie aber einen König oder Gewalt-
herscher, so bedaure er fast einen solchen Völkerhirten;
denn dieser habe viel schwierigere und gefährlichere Ge-
schöpfe zu hüten als die Rinder- und Schafhirten, und wie
diese in ihren Hürden, müsste er auf schwer zugänglichen
Anhöhen und hinter festen Mauern wohnen, könne aber
nicht der freien und edlen Muße genießen und die Bildung
seines Geistes und Gemüts pflegen.
Sittliche und intellectuelle Bildung fordert Piaton von
dem Fürsten und Staatsmann, sittliches Wissen von dem
Philosophen. Er unterscheidet daher das männerbeherschende
Wissen des erstem von der erkennenden Wissenschaft des
letztern und versetzt jenen mitten in den Kampf des Lebens,
diesen in die Ruhe und Abgeschiedenheit seines Denkens
Der Piatonismus Michelangelos. 227
und Forschens.1 Denselben Unterschied macht auch Michel-
angelo, wenn sein Lorenzo, il pensiero, als kampfgerüsteter
Machthaber erscheint, seine Propheten aber im einsamen
Verkehr mit sich selbst die Geheimnisse der Ewigkeit er-
gründen.2 Den königlichen Beruf des Staatsmanns zu er-
kennen,3 hat nun Piaton zur Aufgabe seines »Der Staats-
mann« genannten Dialogs gemacht, und dieser ist die philo-
sophische Grundlage für die ganze cyklische Composition
Michelangelos in der Sacristei von San Lorenzo, sowohl
für die beiden Idealgestalten der Mediceer-Fürsten, wie für
die beiden Paare der allegorischen Figuren.
3.
Nicht die öde Praxis der Sophistik, nicht ihr selbstisches
Princip der Zweckdienlichkeit oder Nützlichkeit, sondern die
objektiven Zwecke des Schönen und Edlen, Vernunft und
Wissenschaft gelten dem Piaton überall in praktischen wie
in theoretischen Dingen als des Menschen höchste Kraft.
Auch die Politik ist ihm nicht ein System kalt berechnender
Schlauheit, sondern eine auf wahre Wissenschaft gegründete
Tätigkeit, sofern diese ein dem erkannten Vorbilde ent-
sprechendes Ganze hervorzubringen strebt. Sie ist ihm
daher eine Kunst, und zwar die königliche Kunst, welche
die concentrirteste Form der menschlichen Gesellung, den
Staat, ebenso nach den Grundsätzen edler Sittlichkeit leitet,
wie für den Einzelmenschen die Ethik die Kunst der sitt-
lichen Lebensführung ist. Von den idealen Endzwecken
des Staats- wie des Einzellebens unterscheidet aber Piaton
die realen Lebensverhältnisse und die Gegenstände der
menschlichen Tätigkeit, sie bilden einen tatsächlichen
Stoff, den die Ideen beherschen und durchdringen sollen,
aber nicht aus sich selbst schaffen und erzeugen können.
Er nennt sie daher die mittelbaren Zwecke und Ursachen
1 PI. Politicus p. 259d—260b. yvioanxt} und mncr/nxy ¿mßTij/uq,
Theätet. a. a. 0.
2 Vergi. II. Michelang. Jonas S. 161 f.
3 PI. Politicus p. 305e — 306a,
15*
228
Victor Kaiser,
oder die mitwirkenden Ursachen, die Mittel und Organe,
wodurch, die Ideen aber die Endzwecke und Endursachen,
womit der Staatsmann das Ganze leitet und regirt.1 Der
teleologische Grundzug der platonischen Philosophie erklärt
es, warum Piaton nicht ermüdet, mit der Schärfe dialek-
tischer Distinction diesen Hauptunterschied ins hellste Licht zu
setzen.2
Er macht ihn sogar anschaulich durch die Vergleichung
der Staatskunst mit der Wollweberei, welche durch alle
Hauptteile des Dialogs über den wahren Staatsmann sich
fortspinnt. Der Zweck der Weberei ist das Gewand, das
den Leib des Menschen sowohl gegen die Unbill der Witte-
rung schirmt, als auch schmückt. Zu den Mitteln, wo-
durch es zu Stande kommt, gehören aber nicht bloß die
Werkzeuge des Webers und Spinners, der Webstuhl und die
Spindel und alle die andern Werkzeuge der Wollarbeiter,
sondern auch ihre Arbeitsleistungen selbst, und zwar die
sondernden Tätigkeiten des Kremplers und Walkers, aber
auch die verbindende Arbeit des Spinners; denn werden
die Fäden des Gewebes zusammengedreht und gesponnen,
und so die Kette oder der Aufzug und der Zettel oder Ein-
schlag verfertigt, so ist dies Gespinnst noch nicht die eigent-
liche Arbeit des Webers, sondern wird als eine dienende,
mitwirkende Tätigkeit von ihr vorausgesetzt; sie selbst aber
ist wesentlich ein Zusammenflechten der Gegensätze, des
Festen und des Weichen, der Kette und des Zettels. Erst
in und mit dieser Tätigkeit entsteht das Gewand als ein
Ganzes, das in allen seinen Teilen durch sich selbst in sich
zusammengefügt und verbunden ist. Weil die Alten meist
ungenähte Kleider trugen, waren die Weber die Kleidermacher
des Altertums, und da für alle Zeiten der Satz seine banale
Wahrheit hat: Kleider machen Leute, d. h. äußerliche
Meuchen, so lag es dem Piaton, welcher der Politik den
königlichen Beruf zuteilte, den Menschen im Kreise der Ge-
sellschaft innerlich zu ergreifen und schön und edel zu ge-
1 A. a. 0. p. 287b. 281 e. ahia u. iwahia, vgl. Tim. p. 46 d.
2 Vergi. II. Michelang. Jonas S. 174 f. I. Adam S. 211 f.
Der Piatonismus Michelangelos.
2Ï29
stalten, nicht so gar ferne, diese königliche Kunst mit dem
ordinären Gewerbe der Wollweberei in Parallele zu bringen.
Um den Begriff der Staatskunst ebenso rein zu gewinnen,
wie er die Weberei von allen andern Wollarbeiten unter-
schied und als Endzweck heraushob, fasst Piaton den Um-
fang ihrer Organe im weitesten Sinne und scheidet ihn
streng vom Endzwecke des Staates aus. Er rechnet dazu
nicht bloß alle Werkzeuge der menschlichen Arbeit, sofern
dadurch materielle Werte erzeugt werden, und diese Arbeit
selbst, nämlich die Ackerbau-, Handel- und Gewerbetreiben-
den, die Künstler und Priester, sondern auch solche, die
selbst die wahren Herscher nnd Staatsmänner zu sein wähnen,
die Staatskünstler oder Sophisten und die Staatsredner, ja
sogar die eigentlichen Attributionen der souveränen Gewalt,
die richterliche und die executive des Heerführers gelten ihm
nur als Organe des wahren Herschers und Staatsmanns.
Nicht einmal im Gesetze des Staates findet Piaton den reinen
Ausdruck der Souveränetät, während doch die platonischen
Bücher von den Gesetzen1 in Uebereinstimmung mit der
Grundansicht des Altertums, mit Aristoteles2 und mit grie-
chischen Historikern3 und Dichtern4 das Gesetz allein als
den wahren Souverain, und die Machthaber nur als Diener
und Sklaven des Gesetzes betrachteten. Die Menschen und
ihre Handlungen, meint hier5 Piaton, seien ein so viel-
gestaltiger und wechselnder Stoff der Staatskunst, dass für
alle und für alle Zeiten im geschriebenen Buchstaben des
Gesetzes keine einfache Norm könne aufgestellt werden. Je-
doch für die wirklichen Staatsformen, die sämmtlich mehr
oder weniger unvollkommene Nachbildungen des Vernunft-
staates sind, lässt er das Gesetz als höchste Richtschnur des
praktischen Lebens gelten, und den Gewaltherscher, der
seine Willkür über das Gesetz erhebt, nennt er unter den
1 PI. Leges p. 715d.
s Aristot. Polit. III, 11, 3.
3 Herodot. VII, 204.
4 Pindar. Fragm. 48.
8 Pl. Politicus p. 294b.
230
Victor Kaiser,
sophistischen Staatskünstlern oder Gauklern geradezu den
ärgsten Gaukler, und seine Herschaft die schlechteste Staats-
form. Aber auch die gesetzliche Monarchie bietet ihm für die
Darstellung der Ideen ebensowenig Gewähr als die gesetzliche
Demokratie, weil er der Menge die nötige Wissenschaft und
Kunst nicht zutraut, und in Monarchieen nicht wie in Bienen-
stöcken der König von Geburt an alle an Seele und Leib über-
ragt. Der wahre Souverain des Staates endlich, welchem alle
besondern Kräfte und Tätigkeiten als Organe dienen, und wel-
cher sie insgesammt von der Gesetzgebung, Rechtsverwaltung
und Heerführung bis zur niedrigsten Culturtätigkeit des Land-
manns herab in ihren Sonderzwecken schirmt und regiert,
aber eigentlich alles am richtigsten zu Einem Gewebe zu-
sammenzuflechten hat, dieser wahrhaft königliche Beruf des
Staatsmanns ist — der sittlich freie Wille, welcher, an
keine äußerliche Norm, an keinen starren, geisttötenden Buch-
staben des Staatsgesetzes gebunden, der idealen Leitung und
Führung der Vernunft folgt.1
Die königliche W'ebekunst des wahren Staatsmanns ver-
flicht die sittlichen Gegensätze des starken Kettengespinnstes,
des tapferen Willens, und des weichen Zettelgespinnstes, der
besonnenen Einsicht, zur Einheit der Tugend. Die Natur-
anlage der rasch, kräftig und kühn Handelnden, sagt Piaton,
würde für sich allein in Uebermut und Tollkühnheit aus-
arten, den Staat aber in innern Hader und auswärtigen
Krieg verwickeln und dem Untergange entgegenführen ; an-
drerseits die ruhig, bedächtig und mild Gesinnten würden
für sich allein schlaff und feig werden und den Staat in
Weichlichkeit und Sklaverei versinken lassen. Mit sittlicher
Belehrung und Bildung aber stiftet die königliche Kunst ein
göttliches Band in beiderlei Seelen, indem sie nicht das Ver-
wante, sondern die Gegensätze, das Starke und das Zarte,
zu harmonischem Einklang verknüpft. Die starken, ketten-
artigen Seelen werden dadurch gesänftigt und zur Tugend
der Tapferkeit erzogen, die zarten, zettelartigen Seelen
1 Pl. Polit, p. 305e ff.
Der Piatonismus Michelangelos.
231
aber werden dadurch gestärkt und zur Tugend der Be-
sonnenheit herangebildet, sodass in beiden die Einheit
der Tugend, wenn auch in ihren verschiedenen Teilen oder
nach verschiedenen Seiten hin, sich darstellt.1) Im Staate
ist es die höchste Aufgabe der königlichen Webekunst, beiden
entgegengesetzen Gattungen eine und dieselbe Meinung über
das Schöne und Edle einzupflanzen, nie aber zu gestatten, dass
die besonnenen von den tapferen Gemütern sich trennen, son-
dern die Organe der höchsten Gewalt, die Gesetzgeber, die
Richter und Feldherren so zu wählen, dass, wenn Einer an
der Spitze steht, er die Tugenden der beiden Gattungen in sich
vereinige, wenn aber mehrere, beide Gattungen der Gegensätze
gleichmäßig vertreten seien. Denn die Sinnesweise der be-
sonnenen Machthaber ist zwar sehr behutsam, maßvoll und
gerecht, entbehrt aber der Klugheit und des raschen und
entschiedenen Handelns, der Sinn der Tapfern hingegen geht
weniger auf Gerechtigkeit und Vorsicht, zeichnet sich aber
durch rüstige Tatkraft im Handeln aus.
Michelangelo hat in seinem Mediceer-Fürsten Giuliano
das Bild eines solchen tapfern Machthabers, der rasch und
entschieden auf sein Ziel losgeht und Mittel und Zweck klug
berechnet, aber die Rücksichten des Rechts und Herkommens
keck bei Seite setzt, in plastisch ebenso scharfen Zügen vor
Augen gestellt, wie es Piaton am Schlüsse seines Staats-
manns entworfen hat. Auch sein Lorenzo entspricht der
platonischen Schilderung des besonnen abwägenden Re-
genten, der jedoch der raschen Entschließung und der schnei-
digen Tatkraft entbehrt. Als Sohn der Nacht vertritt er ge-
mäß der dichterischen und künstlerischen Conception Michel-
angelos die wissenschaftliche und ästhetische oder die musi-
sche Bildung, die Piaton als wesentliches Erziehungsmittel
für die Krieger und Wächter seines Idealstaates2) empfiehlt,
lässt aber das andre von Piaton gleichfalls geforderte Bil-
1 A. a. 0. p. 306 a. uvdQÍctv ol/uaí as yytïo&cii /uîqoç tv àçttijç r¡¡xlv
¿Irai, xal ¡xrjv aoxfiQotìvvtjv yt àv(Îqîccç ¡utv trtçov^ tv cF ovv xcù tovto /uoqiov
fjç xâxtïvo.
3 Pl. Resp. p. 398 c—412 b.
232
Victor Kaiser,
dungsmittel, die Gymnastik, vermissen. Diese repräsentirt
der muskelkräftige Sohn des Tages, Giuliano, jedoch in der-
selben entgegengesetzten Einseitigkeit, vor welcher Piaton
warnt, weil sie zwar anfangs den Mut und die Zuversicht
der Seele hebe, dann aber von der Liebe zu der Weisheit
und den Musen abziehe und zu gewaltsamem Handeln an-
treibe. Andrerseits veredle die musische Bildung das tat-
kräftige Element der Seele und mache es sittig, wie Feuer
das Eisen schmeidige; werde ihr aber zu viel Macht ein-
geräumt, so schmelze sie die Eisennatur des Wollens weg
und durchschneide der Seele die Sehnen. Ueberhaupt hält
es Piaton für unwesentlich, dass jene beiden Zweige der helle-
nischen Nationalbildung zum Wohl verhalten von Leib und
Seele dienen, er verlangt vielmehr, beide sollten zur Pflege
der Seele selbst verwendet werden. Ein Gott, meint er,
habe die Ringkunst und die Musenkünste den Menschen ver-
liehen, damit beide Grundkräfte der Seele, Wille und Ein-
sicht, in ein harmonisches Verhältnis gebracht würden, gleich
den Saiten der Kithara angespannt oder nachgelassen, bis
sie zueinander stimmten. Diesen harmonischen Wechsel nennt
er schließlich, alles in Einen Ausdruck zusammenfassend —
ein antistrophisches Verhältnis1 und gründet darauf
seinen Parallelismus der Pädagogik und Politik; denn das-
selbe antistrophische Verhältnis beherscht die pädagogischen
Gegensätze der Gymnastik und Musik als ethisch wirkende
Bildungselemente und die politischen Gegensätze der könig-
lichen Webekunst, welche das starke Kettengespinnst des
tapferen Willens mit dem zarten Zettelgespinnst der be-
sonnenen Einsicht zusammenflicht zum festen Gewebe des
Staatsvereins.
Politik und Pädagogik unterscheiden sich durch die
Größe des Schauplatzes, auf welchem sie das gemeinschaft-
liche Ideal des sittlichen Lebens zu realisiren suchen. In
dem großen Maßstabe des politischen Lebens verwandelt
es sich auch für Piaton in das reine Ideal der Vernunft, das
1 A. a. 0. p. 522 a.
Der Plafonismus Michelangelos.
233
in der Wirklichkeit mehr zu wünschen als zu hoffen ist, und
nur allmählich in der Zeitreihe der Entwicklung und in ent-
fernter Annäherung verwirklicht werden kann, aber gleich-
wohl für den Staat wie für das individuelle Streben als letzter
Grund und höchster Zweck von der Vernunft festgehalten
werden muss.1 Denn die sinnliche Erscheinungswelt ist
durchgängig behaftet mit den Größenverhältnissen des Mehr
und Minder, das Daseiende mit den Raumformen des Größeren
und Kleineren, der Wechsel der Dinge mit den Zeitformen
des Aelteren und Jüngeren. Das Jüngere ist dies aber nur,
verglichen mit den älteren Momenten, es ist hingegen selbst
ein Aelteres gegenüber den jüngeren Fortschritten der Zeit-
reihe. Ebenso ist das Größere ein solches nicht für sich,
sondern nur im Verhältnis zu dem umfassten Kleineren,
selbst aber ein Kleineres in Beziehung zu dem umfassenden
Größeren.2 In sich selbst haben also diese Quantitäts-
bestimmungen alles Gegebenen kein eigenes Maß, sie laufen
vielmehr nach den entgegengesetzten Richtungen des Großen
und Kleinen auf den widersprechenden Begriff des Unend-
lichen hinaus. Trägt aber auch die materielle Welt nicht
in sich selbst das Maß, so empfängt sie doch ein festes
Maß, das rechte Maß, wie es Piaton nennt, durch die
teleologischen Tatsachen der Schönheit in den kleinen Ver-
hältnissen der Natur und Kunst, der Regelmäßigkeit in den
großen kosmischen Dimensionen und Bewegungen des Natur-
laufs. Daher unterscheidet Piaton von der mathematischen
Messkunst oder der reinen Größenlehre die ästhetische Kunst
des rechten Maßes3 und rechnet zu dieser sowohl die Politik
als die Pädagogik, weil beide in dem empirischen Stoff der
1 A. a. 0. p. 592.
2 PI. Theätet. p. 151b — 155c. Politicus p. 283b — 284 e.
3 PI. Politicus p. 284 e. Jfjkov oxt chaiQoXfitv av tr¡v fAiXQt]xixr¡v
ravir) dí/ct xé/uuouxsç, tv luv xtO-évxtç tcvjtjç ¡xóqiov Çvunùoaç xé/vaç,
ònÓGui xòv <xqi&ixÒv xaì fi,t¡xi] xaì ßa&rj xaì nldrt] xaì 7ia%vTr¡Tag nçôç
XOVVVaVXÍOV ¡UtTQOVÓL, TO ài ÍT£(JOV, ¿TlÓdUl TIQOÇ TO UÍXQIOV XClì TO 7lQ¿7lOt>
xaì xòv xaiçôv xaì xò âéov xaì návíf onóea eis tò fiétiov dm¡)xí<s^r¡ roSv
¿tí/áxaív.
234
Victor Kaiser,
menschlichen Lebensverhältnisse den gemeinsamen sittlichen
Maßstab, das Ebenmaß der sittlichen Grundkräfte zu reali-
siren streben, und dabei die eine in den kleinen Verhält-
nissen des Einzellebens die innere Verwantschaft des Guten
mit der Schönheit der sinnlichen Einzeldinge darlegt, während
die andre in den großen Verhältnissen des Staats die Regel-
mäßigkeit des Kosmos abbildet.
Die erziehende Macht alles Schönen in Natur und Kunst
und Gewerbe gründet sich auf die Verschwisterung des Schönen
mit dem Guten, auf die Kalokagathie. In allen Künsten, sagt
Piaton, in Malerei und Baukunst, in der Webekunst und
Stickerei, in der innern Ausstattung der Wohnräume wie
auch am Leibe des Menschen und an der uns umgebenden
Natur, an Gewächsen und Bäumen findet sich eine Wohl-
gestalt und Harmonie, welche dem sittlichen Gemüte ver-
want ist und es darstellt, aber auch ihr Gegenteil; daher
darf das Formlose und Ausschweifende, das Unedle und Un-
verständige weder an den Nachbildungen lebender Wesen
noch an Gebäuden noch an andern Werken geduldet, und
solche Künstler müssen gesucht werden, welche die Gabe
besitzen, dem wahrhaft Schönen überall nachzuspüren, da-
mit den Jünglingen die Eindrücke desselben von allen Seiten
entgegenkommen. Wie an gesundem Orte wohnend soll ihre
Seele sich nähren an allen Werken, aus deren Schönheit
Auge oder Ohr etwas anweht wie die milde und gesunde Luft
einer heilsamen Gegend und sie gleich von Kindheit an
unvermerkt zur Aehnlichkeit und Freundschaft und Ueber-
einstimmung mit schönen Gesinnungen und mit der Ver-
nunft hinzieht.1
Im dichterischen Gewände des Mythos, nicht in wissen-
schaftlicher Darstellung verbindet Piaton die kosmische Regel-
mäßigkeit des Weltalls mit dem Kosmos des Staates als dem
großen Schauplatze der sittlich schönen Lebensführung.2 Im
Anfang des Dialogs: »Der Staatsmann« gelangt er durch dia-
lektische Ausscheidung von Begriffsgegensätzen zur Bestimmung
1 PI. Resp. p. 401a—e.
2 PI. Politicus p. 268 d — 275 c.
Der Piatonismus Michelangelos.
235
des Völkerhirten und setzt diesen dem wahren, auf Bildung
und Erziehung bedachten Staatsmanne auf ähnliche Weise
entgegen, wie er in der Schilderung des Philosophen den
Gewaltherscher als einen rohen, ungebildeten Völkerhirten
den Rinder- und Schafhirten an die Seite gestellt hatte.1
In mythischer Form schildert er nun das goldene Zeitalter
des Kronos als ein Reich der Unschuld, worin als Hüter und
Pfleger der Menschen oder als Menschenhirten die Götter re-
gierten, wo es weder Staaten noch geschriebene Gesetze,
weder Krieg noch Parteikämpfe, weder Ackerbau noch andre
der niedern Culturbestrebungen, nicht einmal Sorgen für
Kleidung und Nahrung gab, weil die Natur den Menschen
ohne ihre Arbeit alles darbot, was sie zur Notdurft ihres sinn-
lichen Daseins brauchten. Ob sie aber damals ihre reichliche
Mußezeit für ihre Geistesbildung verwanten, bezweifelt Piaton,
da jene Urzeit über den Verkehr der Menschen unter sich
und mit den Tieren uns nur Mythen überliefert hat, und
die Frage, ob dieser paradiesische Zustand ein wahrhaft glück-
licher gewesen, betrachtet er als eine offene Frage, die je-
doch leicht zu entscheiden wäre, wenn man wüsste, dass Ver-
nunft und Wissenschaft damals nicht gepflegt worden seien.
Allein durch eine Gräueltat in dem schuldbeladenen Hause
der Tantaliden wurden gewaltige Umwälzungen in der Natur
und Menschenwelt bewirkt. Auf die goldene Zeit der Un-
schuld folgte nun die gegenwärtige eiserne Zeit des freien
Denkens und Wollens, die Götter traten zurück von der Regie-
rung der Menschen und überließen sie sich selbst; jedoch
menschenfreundliche Gottheiten wie Hephästos, Prometheus,
Pallas verschafften ihnen die Mittel zu ihrer eigenen Aus-
bildung, den Pflug und das Feuer, die Spindel und den Web-
stuhl. Erst durch diese Revolution in der menschlichen Gesell-
schaft wurden der Staat und die Cultur gestiftet. Die poli-
tische war aber auch von einer großen kosmischen Umwälzung
begleitet : erst dadurch entstand die gegenwärtige Regelmäßig-
keit des Naturlaufs, der tägliche Umschwung des Himmels
1 PI. Theätet. p. 174d. Pol. p. 275 b c.
236
Victor Kaiser,
in der Zeitfolge des Morgens und Mittags, des Abends und
der Nacht; denn wie der Mythos lautet, die Gestirne bebten
vor jenem Frevel des Atreus zurück und verfolgten von diesem
Moment an die entgegengesetzte Bahn.1 »Die Sonne wendete
ihr Antlitz weg und ihren Wagen aus ihrem ew'gen Gleise.«
In der tiefsinnigen Bildersprache des Mythos verknüpft also
Piaton die sittliche Lebensordnung des Staates mit der Zeit-
ordnung des Universums, gleichwie der sittliche Gehalt der
platonischen Erziehungskunst mit der sinnlichen Schönheit
in dem Mikrokosmos der Natur und Kunst zusammenhängt.
In der vielsinnigen Formensprache der allegorischen
Figuren knüpft auch Michelangelo die sittlichen Gegensätze
des Menschenlebens, und zwar des Staatslebens an die kos-
mischen Gegensätze der Tageszeiten. Seine Gruppirung der
Figurenpaare durchbricht jedoch die reale Zeitfolge im Kreis-
laufe des Tages, die natürliche Regel der Verwantschaft,
nach welcher Morgen und Mittag, Abend und Nacht ein-
ander succediren, und setzt an deren Stelle das Idealgesetz
der antistrophisch vereinten Gegensätze von Nacht und Tag,
Abend und Morgen. Sie folgt darin ebenso der idealen Ver-
nunftforderung dessen, was, wenn es nicht wäre, sein
sollte, und verflicht die sittlichen Gegensätze zum harmo-
nischen Einklang der geistigen Gesundheit, wie nach dem
platonischen Mythos die Sonnenbahn, als sie die ideale Welt
des Kronos regelte, einer andern Richtung folgte, als im
gegenwärtigen eisernen Zeitalter der Zeusherschaft, das durch
menschliche Schuld eingeleitet ward. Dieses ist gemäß der
platonischen Staatslehre der organischen2 und psychischen3
Degeneration preisgegeben, wenn es in dem Mikrokosmos
des Menschenlebens frei und sich selbst überlassen, wie in
der realen Succession der Tageszeiten, dem ausschließenden
Gesetze der Verwantschaft folgt; Individuen, Generationen
und Völker entarten, lehrt Piaton, wenn ihre geistigen Grund-
kräfte, Vernunft und Wille, bloß ihrer eigenen Natur hin-
1 Pl. Polit, p. 269 a.
2 A. a. O. p. 310 b—d.
3 A. a. O. p. 307d—308a.
Der Piatonismus Michelangelos.
237
gegeben, Verwant.es mit Verwantem, Gleichartiges mit Gleich-
artigem verbinden, während die sittlichen Gegensätze anti-
strophisch vereint, einander wechelseitig ergänzen und ver-
edeln. Das allegorische Opus polysensuum Michelangelos
hat also neben dem physischen und psychologischen noch
einen platonischen, d. h. einen sittlichen und mythischen
Sinn.
Die auf der Erde ruhenden, nackten Gestalten repräsen-
tiren das mühelose Dasein der paradiesischen Urzeit und
gleichen dem vom Schöpfer beseelten Tonbilde des Adam in
der Sistina.1 In psychologischer Hinsicht bedeuten auch sie
geistige Anlagen und Potenzen, die schlummernd oder keim-
kräftig und durch den Druck der äußeren Natur gehemmt,
noch nicht zur freien Entwickelung und fortschreitenden
Bildung gelangt sind, sondern ganz und gar der göttlichen
Führung bedürfen. Wohl sind sie nach dem Gegensatz des
Geschlechtes, der Tag mit der Nacht, der Abend mit der
Morgendämmerung so gepaart, dass der platonischen Forde-
rung der königlichen Webekunst entsprochen und der or-
ganischen und psychischen Entartung vorgebeugt wird ; auch
in dem schönen Ebenmaß oder den antistrophischen Form-
gedanken der Kunst veranschaulichen zwar die beiden Paare
die reine sittliche Gedankenform, das antistrophische Ele-
mentarverhältnis der sittlichen Gegensätze — aber so äußer-
lich, wie es für ein seliges Dasein ohne Kampf und Arbeit,
für das naive Zeitalter der Unschuld und des ewigen Friedens
passt, von welchem Piaton zweifelt, ob es wahre Gedanken-
formen gepflegt und die ernste Geistesarbeit der Erkenntnis
und Bildung geübt habe.
Nur die von der Gottheit sich selbst überlassene, frei
denkende und frei wollende Menschenwelt erfasst tiefinnerlich
das sittliche Idealgesetz als das höchste Ziel ihres selbst-
bewussten Strebens. Allein die reine Harmonie, das anti-
strophische Ebenmaß von Vernunft und Wille ist durch-
brochen in der veränderten, jetzigen Zeitordnung der Zeus-
1 Vergi. I. Michelang. Adam S. 222. 233 ff. II. Jonas S. 183 ff.
938
Victor Kaiser,
herschaft. Die strebende Menschheit ist an die Größen-
verhältnisse des Mehr und Minder gebunden und kämpft mit
den realen Hemmnissen des eigenen Innern und der äußern
Natur. Die Bahn der Vervollkommnung, der Cultur öffnet
sich ihr in einer unendlichen Kette von geschichtlichen Fort-
schritten ; aber in jedem Momente der Zeitreihe müssen diese
im Kampfe mit drohenden Rückschritten behauptet werden.
Die kampfgerüsteten Mediceer-Fiirsten sind die Repräsentanten
dieser strebenden Menschenwelt : als bewusstvoll zwecktätige
Wächter und Schirmer der menschlichen Cultur, als Staats-
männer ragen sie hervor über die unerprobte Unschuld der
goldenen Zeit. Aber die Harmonie der intellectuellen und sitt-
lichen Bildung ist in beiden gestört. Der Sohn des Tages,
Giuliano, pflegt zwar das Saatfeld der materiellen Interessen
und erntet die Früchte der materiellen Arbeit, ist aber un-
empfänglich für die Blüten des Geistes in Wissenschaft,
Poesie und Kunst und im sittlichen Leben. Lorenzo, dem Sohne
der Nacht, hingegen leuchten wohl die Sterne des Wahren,
Schönen und Guten, aber auch ihm mangelt das anti-
strophische Ebenmaß der Bildung: für den Kampf des Lebens
ist hier die Eisennatur des Willens zu weich und biegsam,
wie sie dort in der Glühhitze des Tages spröd und hart ge-
worden. Die geistigen Interessen, einseitig gepflegt, gedeihen
daher im umgekehrten Verhältnis der materiellen Cultur,
und die einseitigen Fortschritte des materiellen Wohls sind
ebenso viele Rückschritte auf den idealen Gebieten der Cultur.
Das Cultursystem des Staates zerfällt also mit der ausschließen-
den Pflege der gleichartigen und verwanten Elemente. Wie
das Gleichgewicht des intellectuellen ist auch die Harmonie
des sittlichen Strebens in beiden Staatsmännern gestört.
Zwar winkt zur Rechten Giulianos und Lorenzos die abend-
ruhige und nachtstille Führerin Vernunft, auf ihrer linken
Seite harrt die morgenfrische und tagrüstige Tatkraft des
Willens. Allein es mangelt ihnen beiden die königliche
Webekunst. Frei und selbstbewusst, aber einseitig spinnt
der eine die starke Weberkette des Wollens, der andre den
zarten Einschlag des besonnenen Denkens und Prüfens, und
Der Piatonismus Michelangelos. 239
das Gewebe des ersten wird daher straff und hart, das des
andern locker und schlaff. Unter den Händen des einen
löst sich also das große Gewebe, der Kosmos des Staates
auf in Gewaltherschaft oder Tyrannis; unter der Herschaft
des andern geht er unter in innerer Parteiung und äußerer
Knechtschaft.1
Die cyklische Composition Michelangelos schließt mit
einer Dissonanz. Gegenüber der ungetrübten Harmonie, der
bewusstlosen Sitte der ungeschichtlichen mythischen Urzeit ist
das zweckbewusste, sittliche Streben bedroht von den Rück-
schritten oder dem Niedergange der Cultur. Denn die ele-
mentaren Gegensätze des sittlichen Lebens, Vernunft und
Wille, sind bewusstvoll entbunden in der geschichtlichen
Freiheit des vernünftigen Geistes; sie sollen hier in dem
Abbilde des Kosmos, dem Staate, wie im Mikrokosmos der
Seele, zum innerlich freien Einklang ebenso antistrophisch
verbunden sein, wie sie die äußere Regelmäßigkeit des
Tageslaufs im Makrokosmos der Natur allegorisch beseelen;
sie können aber nicht wie dort in unwandelbarer Harmonie
unfrei, äußerlich gebunden sein. Die Dissonanz löst sich
also auf in dem platonischen Ideal der wahren Humanität,
der zweckbewusst freien Harmonie aller Elemente und Kräfte
als dem höchsten Ziele in den unabsehbaren Wandelungen
und Fortschritten der menschlichen Cultur, sowohl in den
großen Verhältnissen des Staates, dem Abbilde des Universums,
wie in dem Urbilde der Einzelseele, der Psyche.
4.
Giuliano und Lorenzo de' Medici sind in Michelangelos
künstlerischem und poetischem Geiste verklärte Idealgestalten
der platonischen Philosophie und des philosophischen Huma-
nismus Picos von Mirandola ; sie sind aber auch Idealgestalten
der Menschengeschichte und bezeichnen einen höchst be-
deutenden und abschließenden historischen Moment in der
großen Spirallinie der menschlichen Culturentwickelung, die
1 PI. Politicus p. 307 b — 308 a.
240
Victor Kaiser,
sowohl in ihren vorwärts als rückwärts gehenden Windungen
stetig aufsteigt. Sie bedeuten den Niedergang des legitimen
Mediceerstammes, während Cosimo, der Aeltervater Giulianos,
von den Florentinern der Vater des Vaterlandes genannt,
den Aufgang, und Lorenzo il Magnifico, der Großvater des
jüngeren Lorenzo, die Mittagshöhe in der glänzenden Ent-
faltung des mediceischen Hauses bilden. Beide Statuen ent-
sprechen der historischen Wahrheit so genau, dass eine Ver-
wechselung unmöglich scheint, sowohl in Hinsicht des in
ihnen ausgedrückten Naturells als durch ihre äußere Er-
scheinung und die Stellung, die sie in der Geschichte ihrer
Vaterstadt einnehmen.
Nicht bloß hat der Künstler den Neffen Lorenzo jünger
gebildet, als den Oheim Giuliano, sondern der scharf beobach-
tende Naturforscher des Staates, Niccolo Machiavelli aus Florenz,
ein Zeitgenosse der beiden Mediceer entwirft in dem Fragment
eines wahrscheinlich an Francesco Vettori gerichteten Briefes
ein Bild des jungen Lorenzo, das vollkommen stimmt zu dem
gutartigen, maßvoll und besonnen angelegten Gemüte, welches
Piaton im »Staatsmann« der sittlichen Veredelung und Ent-
artung gleich fähig geschildert, und Michelangelo der Con-
ception seines Lorenzo zum Grunde gelegt hat. »Durch seine
Hoheit, sagt Machiavelli von Lorenzo, werden bei allen
glückliche Erinnerungen an seinen Großvater erweckt; denn
er ist fleißig bei den Geschäften, leutselig und verbindlich,
wenn er Audienz gibt, und im Antworten bedacht und ernst.
Seine Art. in der Unterhaltung ist so, dass er sich weder so
weit von den andern entfernt hält, dass ein Verdacht ver-
steckten Hochmuts entsteht, noch sich so sehr gemein macht,
dass die zu große Vertraulichkeit seinem Rufe schaden
könnte. Gegen Jünglinge seines Alters beobachtet er ein
solches Betragen, dass er sie weder zurückstößt, noch ihnen
Mut macht, sich jugendliche Ausgelassenheiten zu Schulden
kommen zu lassen. Kurz er macht, dass man ihn mehr
liebt und ehrt, als fürchtet. Seine Hausordnung ist so, dass
sie noch von Pracht und großem Sinne zeugt, während sie
doch ein bürgerliches Leben darstellt.« Die Hoffnungen,
Der Piatonismus Michelangelos. 241
welche Machiavelli auf den jungen Lorenzo setzte, waren
auch die der Florentiner; denn Machiavelli wendet sich an den
Empfänger seines Briefes mit den Worten: »Obwohl ich
weiß, dass ihr von vielen dasselbe erfahren werdet, schien
mir's doch gut, es euch zu beschreiben, damit ihr, durch
mein Zeugnis bewogen, euch so darüber freuen möchtet, wie
wir andern alle, die fortwährend dies Vergnügen empfinden«.1
»Die Erinnerungen an den Großvater«, Lorenzo den Präch-
tigen, die der gleichnamige Enkel erweckte, die Spuren
»der Pracht und des hohen Sinnes«, die Machiavelli »noch«
im mediceischen Hause wahrzunehmen glaubte, hat zwar
die Folgezeit als Täuschungen erwiesen, die Hoffnungen, die
der jüngere Lorenzo allgemein in Florenz erregte, sind zwar
nicht in Erfüllung gegangen; aber sie bezeichnen sämmtlich
die Art, wie Michelangelo die Richtung seines Strebens ver-
stand und in der historischen Idealgestalt des Lorenzo aus-
drückte. Die Pracht und die Herrlichkeit der Geistesbildung,
die Lorenzo, der Prächtige, in Florenz vollendet und Cosimo
gegründet hatte, ist die historische Idee, die Michelangelo
in dem dämmernden Sohne der Nacht und seinen cyklischen
Beziehungen zu den allegorischen Figuren des Abends und
der Nacht plastisch verwirklicht hat. In diesem historischen
Sinne der Wiederbelebung der Wissenschaft und Kunst im
Abendlande ist sein Lorenzo vorzugsweise der Geistes-Heros
der italienischen Renaissance.
Der geistige Mittelpunkt dieser Glanzperiode, dieses pe-
rikleischen Zeitalters der modernen Gultur war die plato-
nische Philosophie und deren Pflegerin, die platonische Aka-
demie in Florenz. Nach allen Richtungen der höheren
Gultur, der Wissenschaft und bildenden Kunst, der Poesie
und Politik strömten von da die Lichtstrahlen der geistigen
Bildung aus und regten den schöpferischen Geist der neueren
Völker weit über die Grenzen Italiens an. Durch seine Lehre
von der Menschenwürde ward Pico von Mirandola der Philo-
soph des Humanismus und das Haupt der platonischen Aka-
1 Leo, Machiavellis Briefe. S. 43 f.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 3.
16
242
Victor Kaiser,
demie. Seine vielseitige Strebsamkeit beseelte diesen freien
Verein von Gelehrten und Dichtern, Staatsmännern und
Künstlern, welche durch die Verehrung der platonischen
Philosophie und das Ansehen der Mediceer verbunden waren.
Schon Cosimo de' Medici hatte in seinem Hause einen glän-
zenden Kreis von Akademikern versammelt, an deren Spitze
Marsiglio Ficino stand. Er hatte in ganz Europa und den
mohamedanischen Reichen griechische Handschriften sammeln
und diesem zur Verfügung stellen lassen, damit er sie über-
setze und ihn in Mußestunden über die Gedanken der alten
Philosophen belehre. Die schönsten Zeiten sah die plato-
nische Akademie unter Lorenzo dem Prächtigen, als sie in
den Gärten der Gareggi und Rucellai oder im Kloster von
Camaldoli den Geburts- und Todestag Piatons feierte. Alle
Bildungselemente des Zeitalters zog sie zu sich heran. Ob-
wohl ihre Verehrung Piatons alles andere überwog, ließ sie
doch dem Aristoteles sein Recht widerfahren. Sie bekämpfte
die Astrologie und den Hexenglauben, verwarf aber mit
dem Aberglauben auch den Unglauben der Averroisten und
verband die Begeisterung für das classische Altertum mit
der christlichen Theologie. Sie sammelte nicht bloß die alten
Manuscripte und übersetzte und erklärte sie, sondern erweckte
an den classischen Mustern die Productivität des nationalen
Geistes in den Gebieten der Dichtung und der bildenden
Kunst. Ihr Geist ist es, der in den Sonetten Michelangelos
weht und die Werke seines Pinsels und Meißels beseelt. Auf
die weitesten Kreise wirkte sie durch den Glanz der Poesie,
mit dem sie sich umgab. Selbst eine durchaus künstlerisch
angelegte Persönlichkeit, war der Fürst Pico von Mirandola
nicht bloß der philosophische Begründer des Humanismus,
sondern auch als italienischer Lieder- und Tondichter schloss
er sich dem vielgestaltigen Streben seiner Genossen an. Auch
Lorenzo de' Medici, der einflussreichste Mann in Florenz und
Italien, verschmähte nicht, in seinen italienischen Gedichten
die erhabensten Lehren der platonischen Philosophie mit
ebenso viel Klarheit als Würde darzustellen, und andere
Akademiker wie Poliziano, Landino, Benivieni traten in seine
Der Piatonismus Michelangelos.
243
Fußstapfen, indem sie die platonische Liebe besangen oder
erklärten. Wie Lorenzos Politik durch Ueberlegenheit des
Geistes nicht bloß Florenz, sondern auch die Geschicke Italiens
lenkte und die nationalen Hoffnungen belebte, die Petrarca
prophetisch und Machiavellis klarer Geist in historischen und
Tendenzschriften verkündeten, so entfaltete sich erst durch
seinen Einfluss und seine Teilnahme die italienische Natio-
nallitteratur als ein Werk, das von Petrarca wie von Dante
begonnen, aber nicht beabsichtigt, nur durch die vielseitige
Wirksamkeit der platonischen Akademie seinem Ziele ent-
gegengeführt wurde. Ihre freiere Denkweise endlich ver-
drängte in Florenz und Italien die mittelalterliche Anschauuug
der Scholastik, die von Dante poetisch verklärt worden war,
und verbreitete sich im folgenden Jahrhundert über das ganze
gebildete Europa.1
Solche Erinnerungen an die geistige Größe und Herr-
lichkeit des mediceischen Hauses und der Vaterstadt Florenz
knüpfte Michelangelo, wie Machiavelli, an den Namen Lorenzo
de' Medici, und solche Hoffnungen waren es, die in Florenz
mit dem jüngern Lorenzo zu Grabe gingen. Wie diesen
historisch gegebenen Verhältnissen Michelangelo in seiner
Idealgestalt des Lorenzo einen Ausdruck geliehen hat, so ist
auch sein Giuliano weder bloß aus der künstlerischen Idee
entworfen noch eine Portraitstatue, sondern ebensogut als
jene eine historische Idealgestalt. Allein Erwartungen an-
derer Art waren es, welche die ilorentinischen Bürger mit
der historischen Persönlichkeit Giulianos, als mit derjenigen
Lorenzos de' Medici, verknüpften : dort waren es Hoffnungen,
hier aber Befürchtungen. Diese tatsächlichen Verhältnisse ver-
bürgt uns auch hier derselbe Gewährsmann Machiavelli.
Sein Hauptwerk, worin er Emporkömmlinge, neue Fürsten
belehrt, wie durch alle Mittel der List und Gewalt Fürsten-
tümer gegründet und behauptet werden, dieses vielgelesene
und vielgescholtene Buch vom Fürsten wollte Machiavelli
1 Sieveking, Geschichte der platonischen Akademie zu -Florenz.
Schriften der Akademie von Ham. Bd. 1. 1843.
16*
244
Victor Kaiser,
clem Giuliano de' Medici widmen, nachdem i. J. 1512 die
republikanische Ordnung in Florenz gestürzt und die Mediceer
zurückgekehrt waren. In einem Briefe vom 10. December
1513 eröffnete er diese Absicht seinem Freunde Vettori in
Rom mit den Worten: »Einem Fürsten, besonders einem
neuen Fürsten dürfte das Werkchen sehr angenehm sein;
deshalb will ich es Seiner Hoheit, dem Giuliano, zueignen.«1
Nachdem aber dieser der Regierung entsagt hatte, ließ
Machiavelli die ursprüngliche Absicht, die ihn bei der Ab-
fassung seiner Schrift geleitet hatte, fallen und dedicirte nun
diese i. J. 1515 dem Lorenzo, als dem einzigen Vertreter des
mediceischen Hauses. Ihn forderte er am Schlüsse seines
Buchs vom Fürsten in schwungvoller Sprache auf, die patrio-
tische Tendenz dieser Schrift zum Ziele der mediceischen
Hauspolitik zu machen.2 Und in der Tat ist zwischen der
Politik des Hauses Medici und Machiavellis Buch vom Fürsten
eine innere Wahlverwantschaft unverkennbar.
Ein machiavellistisches Element hat die mediceische
Politik auf ihrem Höhepunkte. Mit einer wohlangewanten
Grausamkeit, welche Machiavelli empfiehlt, begann Lorenzo
il Magnifico seine politische Laufbahn, als er die toscanische
Stadt Volterra vertragswidrig plündern und unterjochen und
dann die von ihm angeregte Gewalttat als seinen Sieg und
Triumph in Florenz lobpreisen ließ.3 Unter dem Scheine der
Freundschaft und mit glatter Schmeichelrede und Verstellung
hegte und nährte er das Mistrauen und die Eifersucht zwischen
den Hauptstaaten Italiens, um selbst die Mittlerrolle einer
neutralen Macht unter allen andern zu spielen, oder wie der
mailändische Gesandte Sagramoro schon früh (7. März 1472)
von ihm bemerkte, »um seine Füße in allen Schuhen zu
haben«. Durch diese klug berechnende Neutralitätspolitik
zügelte er die Ränkesucht des Herzogs von Mailand, Lodo-
1 Ad un principe, e massime ad un principe nuovo, dovrebbe
essere accetto; però io lo indirizzo alla magnificenza di Giuliano.
2 Pigli adunque la illustre casa vostra questo assunto.
3 Reumont, Lorenzo de' Medici. 1874. I. 337 ff.
Der Piatonismus Michelangelos.
245
vico il Moro, und die Ländergier Venedigs, die Gewaltsam-
keit und Verschlagenheit des Königs von Neapel, Ferrante
von Aragon, und die Schwäche des Papstes Innocenz VIII.,
der seinen Stützpunkt außerhalb Italiens suchte. Lorenzo
behauptete auf diesem Wege das von seinem Großvater ge-
gründete Gleichgewicht der italienischen Staaten und ver-
diente die Ehre, die ihm der umsichtige Historiker Guicciar-
dini zu teil werden ließ: die Wagschale Italiens zu heißen.
Durch wechselseitige Ueberwachung der Hauptstaaten schirmte
er sein Land und Volk vor der Gewaltherschaft eines Ein*-
zigen und nach außen vor fremder Einmischung, bis mit
seinem Tode die mediceische Politik erlosch und Italien wieder
den fremden Waffen, zunächst dem Heereszuge Karls VIII.
von Frankreich preisgegeben war. Die Mediceer verfolgten
mit ähnlichen Mitteln, aber auf verschiedenem Wege, dasselbe
Ziel der nationalen Selbständigkeit Italiens, wie Machiavelli,
welcher durch einen bewaffneten Reformator die Einheit und
Macht seines Vaterlandes errungen und mit absoluter Gewalt
gegen innere Erschütterungen und auswärtige Angriffe ge-
schützt wissen wollte. Machiavelli und Lorenzo sahen alle
Mittel, die schlechten wie die guten, als durch ihren natio-
nalen Zweck gleich gerechtfertigt an, wenn sie nur zum
Wohle des Ganzen dienten. Doch hatten auch beide aus
den Schriftwerken der Alten ideale Vorstellungen von dem
Menschen und Bürger geschöpft, erachteten sie aber für un-
ausführbar vermöge der überwiegenden Niedertracht der
Menschen. »Wären die Menschen alle gut, sagt Machiavelli,1
dann wäre die Lehre von der Nichterfüllung der Ver-
sprechungen nicht gut; da sie aber schlecht sind, so hast
du ihnen auch nicht Wort zu halten.« Aehnlich urteilte Lorenzo
über den Wert der Menschen, als er seinen Gesandten in
Neapel vor der Tücke und Verstellung Ferrantes und des
neapolitanischen Hofes warnte (15. Juni 1491): »Ihr habt
euch da nach der Vortrefflichkeit eurer Natur benommen,
und wie es sich unter edelgebildeten und wohlgesinnten Per-
1 Machiavelli, II principe. 18.
246
Victor Kaiser,
sonen geziemen würde; mit dergleichen Naturen aber soll
man nach meiner Ansicht nicht immer so umgehen, wie die
Vernunft will, sondern bedenken, dass sie hinterlistig sind und
eher bereit, zu nehmen als zu geben.«1
Die hervorragenden Geister der italienischen Renaissance
schwankten meist zwischen dem Eigennutze des Begehrens
und dem Glauben an wahren Menschenwert, zwischen der
selbstherrlichen Vernunft und dem Vernünfteln der Leiden-
schaften, zwischen Sophistik und Sokratik — Piatonismus und
Machiavellismus. Sie kannten die Schlangennatur der Men-
schen und verstanden es, die Schlangen als Schlangen zu
behandeln — hätten aber selbst nicht Schlangen werden sollen.
Sie kannten auch das Geheul der Wölfe — hätten aber selbst
nicht mitheulen sollen. Ihnen fehlte die feste sittliche Hal-
tung, die Harmonie in den Gegensätzen des sittlichen Lebens.
Es ist dieselbe Einseitigkeit, derselbe Mangel des antistrophi-
schen Gleichgewichts, welchen Michelangelos Giuliano und
seine cyklischen Beziehungen zu den allegorischen Figuren
des Tages und der Nacht zur Anschauung bringen. Diese
Statue repräsentirt die historische Idee, die nach dem Scheitern
der nationalen Politik des großen Lorenzo mit der Restau-
ration des medieeischen Principats i. J. 1512 im Ge-
biete der Möglichkeit lag, welche Giuliano de' Medici hätte
erreichen können, aber ebensowenig erreicht hat, als der
jüngere Lorenzo die von den Florentinern gehegten Hoffnungen
erfüllte: sie bedeutet die Gewaltherschaft über das kleine
Herzogtum Florenz, welche zwölf Jahre nach dem Erlöschen
des legitimen Mannesstamms des alten Cosimo (1518) an-
geblich ein natürlicher Sohn Lorenzo's, Alessandro de'
Medici mit auswärtiger Hilfe erwarb und nach der Me-
thode Machiavellis und der medieeischen Hauspolitik, aber
nicht nach ihrem Geiste, d. h. mit rücksichtloser Gewalt
und List — ohne den großen nationalen Gedanken be-
hauptete.
Das sind die historisch gegebenen Zeitverhältnisse,
1 B. Buser, Lorenzo de' Medici. 1879. Documente S. 196.
Der Piatonismus Michelangelos.
247
während deren Michelangelo die Grabdenkmäler der Mediceer
schuf, und die er in der Statue des Gewaltherschers Giu-
liano als einer historischen Idealfigur ausprägte- Er bildete
diesen Heros der Renaissance als den Sohn des Tages, ab-
gewant von der königlichen Gestalt der Nacht mit dem Sternen-
diadem der reinen Menschenwürde, und pries in den an
Giovanbattista Strozzi gerichteten Versen die Marmorstatue
der Nacht, weil sie schlafe, und noch mehr, weil sie von
Stein sei und nicht sehen und hören könne den Jammer und
die Schmach der Gegenwart. Hatte Michelangelo die ver-
eitelten Hoffnungen seiner Mitbürger in der Gestalt Lorenzos
niedergelegt, so verrät sein Giuliano ihre wohlbegründete
Furcht vor der mediceischen Tyrannis. Und diese ging bald
in Erfüllung, vier Jahre früher, als der Künstler die letzte
Hand an seinen Statueneyklus in der Grabcapelle von San
Lorenzo legte und dann i. J. 1534 seine Vaterstadt auf
immer verließ. Die allegorische Figur des Tages, d. h. der
Eigenmacht des Willens, jetzt da diese am hellen Tages-
lichte der Gegenwart dem Tyrannen Alessandro ihren
Schergendienst leistete, wollte er nicht mehr ganz von
ihrer Marmorumhüllung befreien — sie ließ er unvollendet
zurück.
Michelangelo war ein Republikaner von antiker Einfach-
heit und Größe, aber kein Parteigänger der florentinischen
Republik: er verwarf die Umtriebe der republikanischen Par-
teien wie den Principat der Mediceer. Den Consiglio grande,
den Rat der einsichtsvollsten Bürger, nannte er im Gegen-
satz zu den Factionen »einen höchst erlauchten und ehren-
vollen Verein« und empfahl ihn seinen Freunden als den
Schwerpunkt der Republik. Als Kaiser und Papst i. J. 1529
sich vereinigt hatten, um das erbliche Herzogtum Florenz
zu gründen unter Alessandro de' Medici, nahm Michel-
angelo als oberster Kriegsbaumeisterx an dem Todeskampfe
der Republik tätigen Anteil. Während der elfmonatlichen
Verteidigung seiner Vaterstadt gegen das Belagerungsheer
Karls V. leitete er am Tage die Befestigungsarbeiten, des
Nachts aber meißelte er an den Grabdenkmälern in der
248
Victor Kaiser,
Sacristei von San Lorenzo, nicht um die Mediceer zu ver-
herrlichen, wie von Vasari an bis auf unsre Tage behauptet
worden ist, aber ebensowenig um sie zu verdammen: un-
parteiisch sollten sie vor dem Richterstuhle der Vernunft ge-
würdigt werden. Selbst als der Tyrann Alessandro meuch-
lings gefallen war, billigte Michelangelo nicht den Mord, er
tadelte überhaupt die Ermordung jedes Fürsten, des un-
gerechten wie des gerechten, und nahm im Gespräch mit
Donato Giannotti, dem letzten Staatssecretär der Republik,
und andern von den Mediceern verbannten Florentinern in
Rom (1545) das Urteil Dantes in Schutz, welcher die Mörder
Casars, die Parteigänger der römischen Republik, Brutus
und Cassius, in die Giudecca Lucifers versetzt hatte.1
Der Dichter-Künstler Michelangelo huldigte nicht den
flüchtigen Interessen des Tages, sondern zählte sich selbst zu
den Kindern der Nacht2: in der »Einsamkeit und stillen
Geistesarbeit«, die er für den Künstler und von dem Künstler
verlangte, da leuchteten ihm die ewigen Ideen des Schönen
und Edlen, wie in stiller Nacht die Sternbilder am Himmel
erscheinen, aber für unser Auge verschwunden sind, wenn
die Mittagssonne schattenlos über unsern Häuptern strahlt.
Er stand auf einer höhern Warte als auf der Zinne der Partei,
als er in seinen Grabdenkmälern der Mediceer dem machia-
vellistischen Buche vom Fürsten die platonischen Ideen vom
königlichen Berufe des Staatsmanns entgegenhielt und sie in
der sinnreichen Universalsprache der Kunst ausgestaltete zu
einer wahren Divina Comedia der Renaissance. Es ist die
hohe Warte der platonischen Philosophie, von wo aus er,
ein Sterndeuter des Ewigen, den schwankenden Geistern seiner
Zeit den festen Pol in der Flucht des menschlichen Lebens
zeigte — das antistrophische Ebenmaß von Ver-
nunft und Wille, als die wahre Gesundheit des Geistes,
die Sophrosyne im weiteren Sinne — und von wo aus er den
innerlich zerrütteten Staaten und Völkern als den Urquell
1 W. Lang, Transalpin. Studien. 1875. I. 192.
2 Michelang. Rime. Son. 41.
Der Plalonismus Michelangelos.
249
des Rechts das ewige Sittengesetz verkündete, das ebenso,
in unwandelbarer Hoheit sich selbst gleich das Schicksal der
Menschen regiert, wie die Gestirne in ihren Bahnen kreisen
und die Ordnung der unendlichen Zeit, den Kreislauf des
Tages, im Kosmos der Natur und des Geistes regeln.
Subjectlose Sätze.
(Mit besonderer Rücksicht auf Miklosichs »Subjectlose Sätze«.
2. Aufl. Wien, Braumüller 1883.)
Von Wilhelm Schuppe.
Die »Erkenntnistheoretische Logik« sucht das Denken
unter völliger Loslösung von aller sprachlichen Einkleidung
zu erfassen und darzustellen. Gelingt dies, so ist natürlich
der Vorteil auf beiden Seiten. Nicht nur die logischen
Probleme müssen sich klären, sondern auch die Sprach-
wissenschaft muss gewinnen, wenn klar erkannt ist, welchen
Grundanforderungen des Gedankens die Sprache genügen
soll, resp. zuweilen nicht genügt. Hellt sich die trennende
Grenze auf, so wird auch der wirkliche Zusammenhang
um so klarer und interessanter.1 Ich konnte es mir des-
halb in der »Erk. Log.« auch nicht versagen, an mehreren
Stellen sprachwissenschaftlichen Fragen näher zu treten.
Absch. XII S. 352 ff. habe ich von den sog. Impersonalien
gehandelt, und habe nun den Wunsch, auch an dieser
Stelle meine Ansichten über diesen Gegenstand mit beson-
1 Ueber das Verhältnis des Denkens zum Sprechen, der Logik zur
Sprachwissenschaft handle ich in »die Normen des Denkens«, Viertel-
jahresschrift für wissenschaftliche Philosophie von Avenarius, VII 4.
S. 396. 397 und an mehreren Stellen der »Erkenntnistheoretischen
Logik«, so § 144 und vorher S. 98. 109. 520 f.
250
Wilhelm Schuppe,
derer Berücksichtigung der Schrift Miklosichs »Subjectlose
Sätze« in möglichster Kürze entwickeln zu dürfen. Als ich
jenes Kapitel schrieb, hatte ich Miklosichs Abhandlung, »die
verba impersonalia in den slavischen Sprachen«, von welcher
die genannte Schrift eine Umarbeitung ist, nicht gelesen,
und auch M. andererseits hat bei dieser Umarbeitung von
meinen Auffassungen keine Kenntnis gehabt. Ich habe aber
nicht nur aus diesem Grunde den Wunsch, ihm gegenüber
meinen Standpunkt geltend zu machen, sondern möchte auch
einige Unklarheiten, die meiner Darstellung in der »Erk. Logik«
anhaften, gut machen.
Meine Bedenken gegen Miklosichs Voraussetzungen seien
nur kurz angedeutet. Ich will weniger seinen Standpunkt
bekämpfen, als darauf aufmerksam machen, dass es doch
auch erlaubt sein muss, die Sache einmal vom logischen
Standpunkte aus anzusehen; und wenn ich auch weit ent-
fernt bin, diesen dem Sprachforscher aufdrängen zu wollen,
so meine ich doch, dass er jedenfalls seiner Kenntnisnahme
wert ist. Von ihm aus werden wir Subject und Prädikat
als Requisite des Gedankens ganz anders erklären, als Miklo-
sich, und dementsprechend die Meinung, dass »in pluit das
Subject nicht nur nicht ausgedrückt, sondern auch nicht
einmal gedacht werde«, nicht ohne weiteres unterschreiben.
Denn dass Denken stattfindet und lange stattfinden musste,
ohne selbst als solches ins Bewusstsein zu treten, dass also
von den unerlässlichen logischen Requisiten der Redende
resp. Denkende gewöhnlich gar nichts weiß, wie ja auch die
complicirtesten Schlüsse deductiver und inductiver Art ge-
zogen worden sind und werden ohne eine Ahnung von
demjenigen Vorgang, den die logische Reflexion als den Nerv
des Schlussverfahrens ans Licht gezogen hat, dies halte ich
für ganz festgestellt. In dem Bewusstsein der concreten
ganzen Gedanken brauchen die einzelnen logischen Momente
als solche nicht hervorzutreten, und doch lässt sich behaupten,
dass sie mitgedacht seien, in diesem Gedanken, der unge-
schieden Inhalt und Denkform ist, enthalten seien. Auch
was die Logik als das Wesen des Dingbegriffes erkennt,
Subjectlose Sätze.
251
auch davon haben die Milliarden, weiche von Dingen ge-
sprochen und sehr respectable Kenntnisse von ihnen gehabt
haben, sich nichts träumen lassen.
Der Mangel der Miklosichschen Voraussetzungen tritt
S. 2 auf das grellste hervor, wenn er sagt: »In allen solchen
Sätzen wird ein Vorgang ausgedrückt, ohne dass das wirkende
Subject genannt wird; das verbum tritt völlig subjectlos auf«.
Es fällt mir gar nicht ein, M. für diesen Irrtum und dieses
Schwanken verantwortlich zu machen; die genannten logischen
Meinungen hat er von andern übernommen, und so darf ich
mich gegen letztere richten, ohne ihm irgendwie zu nahe zu
treten. Sagt er kurz vorher, S. 1 unten, er fasse das Wort
Subject im grammatischen Sinne auf, in welchem es mit dem
Subject-Nominativ zusammenfalle, so muss ich einerseits be-
kennen, dass mir dieser Sinn unklar ist, und meine, dass er
es so lange bleiben muss, als nicht (zum Unterschied vom
grammatischen) der logische Begriff des Subjects klar heraus
gearbeitet ist, und meine ferner, dass es sich gar nicht damit
verträgt, S. 2, sofort ein sog. »wirkendes Subject« an seine
Stelle zu setzen. »Subject« ist noch keineswegs identisch
mit »wirkendes Subject«. Der Begriff des Ausübens, Voll-
bringens, Tuns, Wirkens und Bewirkens, und mit ihm das
»wirkende Subject« bedarf selbst einer eingehenden Unter-
suchung. Sehr mit Recht verwirft M. die Meinung, das
Subject der sog. Impersonalia sei unbestimmt, wie etwa
in den Ausdrücken, dicunt, putant. Diese Analogie trifft gar
nicht zu, aber damit ist noch lange nicht erwiesen, dass
nicht in irgend einem Sinne dieses vieldeutigen Wortes das
Subject dieser Verbalformen »unbestimmt« sei. Das begleitende
Pronomen »es« als Subject anzusehen, ist nur in dem be-
stimmten Sinne unmöglich, den Miklosich meint, aber gar nicht
von allen andern möglichen Sinnen unterschieden hat. Dass
kein bestimmtes Subject, wie Zeus zu "vsi, ergänzt werden
könne, gebe ich M. nicht nur zu, sondern halte es für völlig
selbstverständlich. Wenn M. fortfährt: »Lieber erläutere ich
die ganze Form aus dem Bereiche der Sprache selbst«, so
weiß ich nur nicht, warum die folgende »Erläuterung« : »Sie
252
Wilhelm Schuppe,
(die Sprache) bediente sich des dem Neutrum überhaupt
eingepflanzten Begriffes der Unbestimmtheit, um das nur
Andeutbare, Unbekannte oder Geheime zu bezeichnen. Der
Grund dessen, was unser Inneres bewegt, kann ebenso ver-
steckt liegen, als die Ursache einer äußeren Naturerscheinung,
darum sagt dafür ein leiser unpersönlicher Ausdruck zu, der
ganz unterbleiben könnte und in anderen Sprachen unter-
bleibt. In dem »es« ist kein leibhaftes Subject gelegen, nur
der Schein oder das Bild davon. Erlangt die Vorstellung
mehr Stärke und Festigkeit, so wird das Verbum persönlich,
und statt »»es regnet, es scheint«« heißt es dann »»die Wolke
regnet, die Sonne scheint««. — »»Es zwingt mich«« besagt
dasselbe wie »»die Not zwingt mich««, genau genommen liegt
im unpersönlichen Ausdruck etwas weniger«, warum, sage
ich, diese Erläuterung gerade als »aus dem Bereiche der
Sprache selbst« entnommen bezeichnet wird. Sie sagt genau
das, was auch ich mir stets bei diesem »es« gedacht, oder
was ich dabei gefühlt habe. Aber es ist mir zu unbestimmt ;
die logische Theorie hat es zu präcisiren, was freilich nicht
ohne einige Modificationen und Correcturen abgehen kann.
Im allgemeinen und in den Grundzügen bestätigt ihre Er-
klärung jenen Eindruck, und das ist es, was mich Ver-
ständigung für möglich halten lässt. Den Ausdruck Imper-
sonale oder impersonales Urteil halte auch ich nicht für
zutreffend, aber ich brauche ihn als terminus technicus.
Es ist unendlich wichtig, sich darüber klar zu werden,
dass, was eigentlich das Denken ist, durchaus nichts Selbst-
verständliches ist. In der Praxis werden freilich keine Ver-
wechselungen vorkommen, aber sobald die Theorie ihre
Aufstellungen beginnt, ist es geradezu von entscheidender
Bedeutung, diesen Grundbegriff auf das sorgfältigste geprüft
und fixirt zu haben, da ist es schon ein Gewinn, wenn klar be-
griffen worden ist, dass und warum eine eigentliche Definition
per genus proximum et differentiam specificam nicht möglich
ist. Wir haben also nur den eigentlichen einfachsten Ausdruck
zu suchen, auf welchen alle Ableitungen und alle verwanten
Begriffe hinweisen. Ich kann das nun hier nicht verfolgen.
Subjectlose Sätze.
Genug: mag jemandem auch — was man ja oft genug
hören kann — das Bewusstsein als eine höchst complicirte
Erscheinung gelten (ich weiß nur nicht, wem diese Erschei-
nung erscheint, wenn nicht schon Bewusstsein da ist), mag
er sein Entstehen aus vorhergehenden, noch jedes Bewusst-
seins baren, rein körperlichen Vorgängen behaupten, immer
wird doch das entstandene Bewusstsein, sich toto genere
von den es hervorbringenden Vorgängen als ein völlig Neues
unterscheiden, welches mit nichten jene Bestandteile, aus
denen es zusammengeronnen wäre, in sich erkennen lässt,
immer wird es doch, wie viel man es auch selbst analysirt,
nur abstráete Momente in sich unterscheiden lassen, welche
ohne ihre Beziehung auf das ergänzende andere nicht
denkbar sind (z. B. das Ich als Subject und das Ich als
Object), und immer wird endlich, ganz abgesehen von aller
realen Entstehung, von allen etwa damit verknüpfbaren
metaphysischen Fragen, dies als reine Erfahrungstatsache,
die jeder bei einiger Aufmerksamkeit und vorurteilslosem
Nachdenken in sich constatiren kann, feststehen, dass der
Begriff Bewusstsein, welches doch niemals als inhaltsloses
gedacht werden kann, sondern immer sich eines etwas, irgend
eines Inhaltes oder Objectes bewusst-sein ist, genau mit dem-
jenigen zusammenfällt, was im allgemeinen und im weitesten
Sinne Denken genannt wird. Aber dieser Allgemeinbegriff
des Denkens ist ein Abstractum; es gibt in concreto keinen
Denkact, der nicht ein Fixiren des Eindruckes in seiner
positiven Bestimmtheit und mit ihm ein Unterscheiden von
allem andern, worauf seine Wiedererkennbarkeit beruht, in
sich schlösse. Aber auch dieses Denken, welches eine
bloße Betätigung des Identitätsprincipes wäre, ist nicht
das concrete Denken, welches wir aus unserer Praxis
kennen.
So wTeit wir uns zurückerinnern und so weit historische
Forschung in die Urzeiten menschlicher Entwicklung zu
dringen vermag, finden wir mit der Wirksamkeit des Identi-
tätsprincipes auch die des sog. Causalitätsprincipes vereint,
immer schon Beziehungen innerer d. h. causaler Art unter
254
Wilhelm Schuppe,
den unterscheidbaren Erscheinungen gestiftet, durch welche
eine Anzahl solcher zu einer Einheit verbunden werden, sei
es als notwendig, sei es als möglich oder unmöglich mit
einander verbundene oder einander folgende. Dieses d. i.
das eigentliche Denken vollzieht sich also nur in Urteilen und
kann sich nur in Urteilen vollziehen, und es ist zugleich
evident, dass jeder Gedanke, jedes Urteil mindestens zwei
Bestandteile haben muss; zu allem Vergleichen, Unterscheiden
und Wiedererkennen und zu aller (causalen) Verbindung
gehören mindestens zwei. Wir teilen also zuerst die Urteile
ein (noch ganz abgesehen von jeder sprachlichen Form) in
reine Identificirungen (resp. Unterscheidungen) z. B a1 = a2
und Zusammengehörigkeitsurteile (affirmative und negative),
welche auch Eigenschaftsurteile genannt werden können,
z. B. der Berg ist hoch, der Hund bellt. Diese Unterscheidung
ist insofern keine absolute, als natürlich der ganze Ertrag
des Zusammengehörigkeit statuirenden Urteilens in den Be-
griffen von Dingen oder Ereignissen, von Eigenschaften
oder Tätigkeiten zusammengefasst, Gegenstand reiner Identi-
ficirung (resp. Unterscheidung) werden kann, z. B. der bei
diesem Schriftsteller hier genannte Lucius ist derselbe resp.
nicht derselbe, wie der bei jenem andern. Aber die Ver-
bindungsart, in welcher das Urteil besteht, unterscheidet sich
in beiden Fällen durchaus. Eigentlich ist nur im letzteren
Falle, dem der Gausalverbindung, Subject und Prädicat
logisch unterscheidbar, in ersterem, der reinen Identifìcirung,
wird die Unterscheidung schwieriger und ist, wenn auch
eine solche noch beschafft werden kann, handgreiflich andrer
Art. Wenn eines der beiden Verglichenen das Subject sein
muss, so kann es auf diesem Gebiete keine subjectlosen Urteile
geben, aber jedenfalls ist ein unvollständiger sprachlicher
Ausdruck des Identificirungsurteils möglich. Ich erwähne
ihn, weil er schon öfter mit mehr oder weniger Verständnis
seines Wesens als eine Art Analogon zu den eigentlich sub-
jectlosen Sätzen angeführt worden ist, und ferner, weil er
zu den Existentialsätzen in ebenso naher Beziehung steht,
wie diese.
Subjectlose Sätze.
255
Ich mache zunächst auf die bekannte Tatsache aufmerk-
sam, dass Kinder in der ersten Zeit des Sprechenlern ens beim
Anblick eines Dinges, dessen Name ihnen bereits bekannt ist,
den letzteren aussprechen, z. B. »Stuhl«. Der psychologische
Vorgang ist klar und einfach. Der Eindruck der Sache und
die Vorstellung des Lautes haben die bekannte Association
eingegangen; infolge jenes tritt diese hervor und das Aus-
sprechen erfolgt unwillkürlich. Das plötzliche Auftreten der
Lautvorstellung ist mächtig genug, um die Realisirung des
Lautes zu bewirken; bei der Enge des Seelenlebens eines
Kindes in dem gedachten Alter und der Dürftigkeit seines
Vorstellungsschatzes ist diese eben auftretende Vorstellung
Herscherin des Augenblicks, und es kennt kein Motiv, einiges
leise zu denken, und nur einiges Gedachte auszusprechen.
Mit dieser psychologischen Auffassung des Vorganges ist aber
die Sache noch nicht erschöpft. Wir fragen nicht: was will
das Kind mit dem bloßen Aussprechen des bezeichnenden
Wortes ausdrücken, denn wir haben zugestanden, dass es
gar keine bestimmte Absicht hat. Aber wenn auch das Kind
wirklich nichts ausdrücken will, so drückt doch der Vorgang
selbst etwas aas. Nicht nur dies, dass die psychologische Asso-
ciation von Eindruck und Lautvorstellung sich gefestigt hat,
sondern auch dies, dass der Eindruck des Dinges als identisch
mit den und den früheren Eindrücken, mit welchen die Laut-
vorstellung ihre Association einzugehen begann, wiedererkannt
ist. Deshalb darf dieses Aussprechen eines Wortes wohl als
— wenn auch unbeabsichtigter — Ausdruck eines Urteils
gelten, des Urteils, welches wir z.B. so ausdrücken: dieses
hier ist ein Stuhl. Dieser Satz ist nach meiner Interpretation
(cf. Erk. Log. § 85), die ich hier nicht wiederholen kann
(auch die Erklärung des »ist« kann ich hier nicht einschieben)
reine Identificirung. Der Laut »Stuhl« zeigt also die Sach-
vorstellung, mit welcher er associirt ist, und der eben er-
haltene Eindruck wird mit dieser Sachvorstellung als identisch
erkannt. Das ausgesprochene Wort wäre also das zweite
Glied der Gleichung, und wenn aus andern Gründen, nament-
lich aus Umständen, welche an sich zwar sehr wichtig, aber
256
Wilhelm Schuppe,
für cien Vorgang der Identifìcirung selbst nebensächlich sind,
das erste Glied der Gleichung als Subject und das zweite als
Prädicat angesehen werden kann, so hätten wir hier zwar
kein subjectloses Urteil, aber einen subjectlosen sprachlichen
Ausdruck eines Urteils. Vor allem dürfte es bei der philo-
sophischen Auffassung dieser und der verwanten Erscheinungen
darauf ankommen, der Verwirrung dadurch zu steuern, dass
man genau unterscheidet zwischen demjenigen, welches nach
Maßgabe der logischen Theorie als der einfachste zu Grund
liegende Denkvorgang aufgefasst werden muss, und dem-
jenigen, was infolge sachlicher Gonsequenz in ganz andern
Formen als gleichbedeutend dafür gesetzt werden kann. Jene
Identifìcirung ist factisch gleichwertig mit der Behauptung
der Anwesenheit oder der Existenz dessen, was das Prä-
dicat, das war das zweite Glied der Gleichung, nannte. Der
Grund ist einfach der, dass der Sinn des Subjectes schon
die Anwesenheit oder die Existenz einschließt. Erk. Log.
S. 505 unt, 506. »Dieses hier« ist selbstverständlich
Seiendes resp. Daseiendes, so selbstverständlich, dass die
Behauptung eines Wahrnehmenden und mit den Worten
»dieses hier« auf das Wahrgenommene Hinweisenden, dass
dieses hier sei oder existiré, sinnlos erscheinen würde. Den
Begriff des Seins, der bei dieser Gelegenheit freilich in Be-
tracht kommt, kann ich an dieser Stelle nicht erörtern, aber
was ich behauptet habe, kann auch ohne weitere Erörterung
als beachtenswert erscheinen. Es liegt also in der Voraus-
setzung, dass es sich um ein Sein handelt, und, wenn unter
dieser Voraussetzung nur der verständliche Name desselben
genannt wird, so begreifen wir, dass implicite freilich auch die
Existenz des so Benannten behauptet ist, dass aber doch die
Erteilung dieses Reflexionsprädicates, nämlich der Existenz,
welche zu ihrer Möglichkeit und ihrem Verständnis eine große
Zahl anderer Urteile voraussetzt, gewiss nicht die richtige Deu-
tung jenes einfachen ursprünglichen Vorganges ist. Die Be-
hauptung des Seins hat ihren Sinn immer nur in einer Veran-
lassung, welche erst nach erfolgter ausreichender Orientirung in
der umgebenden Welt und mannigfachen Reflexionen möglich
Subjectlose Sätze.
257
wird und ohne einen ganz bestimmten Sinn des Nichtseins,
welches ausgeschlossen werden soll, unmöglich ist.
Aber auch unter ganz anderen, als den oben voraus-
gesetzten Umständen kann ein einziges ausgesprochenes Wort
der Ausdruck eines Identiflcirungsurteils und, ganz wie es
gezeigt worden ist, eine Behauptung von Existenz sein.
Absicht kann hinzukommen, aber sie könnte nicht hinzu-
kommen resp. sie könnte auf diesem Wege nicht Realisirung
finden, wenn nicht auch ohne jede Absicht die bloße Nennung
des Namens davon Zeugnis ablegte, dass die Sachvorstellung,
welche er ausdrückt, im Bewusstsein des Sprechenden an-
wesend ist. Es kommt nur der eine für das Princip der
Erklärung nebensächliche Umstand hinzu, dass der Erwachsene
leise zu denken gelernt hat und dass es demnach selbstver-
ständliche Voraussetzung ist, dass niemand alle Vorstellungen,
welche ihm durch den Kopf schießen, laut ausruft, also eine
bestimmtere Veranlassung des Aussprechens vorhanden sein
muss. Diese kann die bloße Mächtigkeit resp. Wichtigkeit
eines unmittelbaren Sinneseindruckes sein, welcher den asso-
ciirten Sprachlaut unwillkürlich hervorbringen lässt, sie kann
auch die Absicht sein, den Hörer so schnell wie möglich,
ohne sich Zeit zur Construction eines Satzes zu lassen, auf
die auch für ihn wahrnehmbare Erscheinung aufmerksam
zu machen; aber im ersteren Falle ist der Hörer ganz wie
im letzteren von der Anwesenheit des genannten Dinges in
Kenntnis gesetzt. Z. B. dálaxtu üdlatt«, Land, der Feind,
Feuer, ein Hase! und ebensogut, Regen, ein Blitz. War in den
bisher beachteten Fällen ein eben gegenwärtiger Eindruck, also
ein Seiendes, dessen Name genannt wurde, die Voraussetzung,
so kann in andern Fällen auch eine andere Voraussetzung
gelten, die nämlich, dass die Vorstellung von einem nicht
gegenwärtigen aber dringend gewünschten Dinge das Be-
wusstsein erfülle, und dann wird ihr Ñame, sei es unwill-
kürlich infolge ihrer Lebhaftigkeit, sei es absichtlich, um andere
zum entsprechenden Handeln zu bestimmen, ausgesprochen,
z. B. Hülfe, Wasser, Platz, ein Pferd, ein Pferd!
Es scheint mir somit ganz klar, dass das Verständnis
Zeitschrift, fiir Völkerpsych. und Sprach«-. Bd. XVJ, 3. 17
258
Wilhelm Schuppe,
der Sachlage erst deuten muss, und dass eben deshalb, wenn
die Deutung im ersteren Falle erfolgt ist, das ausgesprochene
Wort zwar den Wert eines Existentialsatzes haben kann,
nicht aber eigentlich logisch-grammatisch als ein solcher be-
zeichnet werden kann. Ob man es überhaupt als einen Satz
bezeichnen will oder nicht, ist absolut gleichgültig. Genug,
wir haben eine Tatsache der Sprache vor uns und diese ist
zu erklären. Wenn die Subsumtion unter den Begriff Satz
der Discussion wert sein sollte, so müsste die Entscheidung
unsere Erkenntnis bereichern, aber dazu wäre in erster Linie
erforderlich, dass der Begriff des Satzes nicht willkürlich vom
Sprachgebrauch, sei es dem allgemeinen, oder dem irgend
eines Schriftstellers gemacht, sondern als ein Gesetz sprach-
licher Erscheinungen gewonnen würde, so dass an die Sub-
sumtion oder ihr Gegenteil sich noch weitere Prädicate als
Consequenzen anknüpften.
So kann auch natürlich von »Ellipse« keine Rede sein.
Diese Bezeichnung ist ja überhaupt wertlos, wenn nicht eine
grundlegende Untersuchung vorher festgestellt hat, was das-
jenige ist, was gesagt werden muss, woraus erst das Recht
erwächst, etwas Nichtgesagtes als »ausgelassen« zu bezeichnen,
und sodann, wie es denn eigentlich kommen kann, dass etwas
nicht gesagt wird, was gesagt werden müsste. Sonst kann
man die verhandelte bloße Namensnennung durch beliebige
gleichwertige Sätze interpretiren und so die beliebigsten und
wunderlichsten Ellipsen sehen, z. B. auch die des Prädicats ;
der Ausruf »ein Hase« soll heißen »ein Hase läuft dort«
und dann wäre das Prädicat ausgelassen. Doch gegen solchen
Unverstand brauche ich mich wohl an dieser Stelle nicht zu
ereifern. Tn unserm Falle kann von Ellipse um so weniger
die Rede sein, als sich leicht begreifen lässt, dass in einem
bestimmten sogleich zu nennenden Sinne und Grade das Sub-
ject d. i. hier das erste Glied der Gleichung gar nicht genannt
werden kann. Höchst belehrend ist der Vergleich mit allen
Ueber- und Aufschriften, »Sophoclis tragoediae« auf dem
Titelblatt eines Buches, »Joel propheta« unter einem Bilde
identificiren in derselben Weise. Ausführlich könnte da-
Subjéctlose Sätze.
259
stehen, »das in diesem Buche Enthaltene sind die Tragödien
des Sophocles«, »das auf diesem Bilde Dargestellte ist der
Prophet Joel«, oder bei mündlicher Ankündigung »das lebende
Bild, welches jetzt sogleich sich zeigen wird, soll das und
das darstellen« oder »das Stück, welches ich nun vorspielen
werde, ist eine Sonate von Beethoven, opus so und so viel«.
Aber es wäre Misverstand im größten Stile, zu meinen, diese
Ausführlichkeit wäre das eigentlich Richtige und Normale
und nur die Neigung zu einiger Zeit- und Raumersparnis
bewirke die Abkürzung. Jene Ausführlichkeit ist eben nur
möglich, etwa zur Belehrung von Kindern, aber sie kann
deshalb nicht als das ursprünglich Normale gelten, weil jedes
der erklärenden Worte zu seinem Verständnis dieselbe not-
wendig subjectlose Ausdrucksweise voraussetzt, welche in
den genannten Fällen zum Anstoß gereichte und durch die
Umschreibung, welche ein Subject hinzufügt, corrigirt werden
sollte. Alle Sprachbildung beruht auf ebensolchen Identi-
ficirungen, und ursprünglich gab es für die logische Function
des für identisch Erklärens gar keinen directen Ausdruck
und konnte keinen geben, weshalb auch in solchen Fällen,
in welchen das Subject oder das erste Glied der Gleichung
schon mit einem Worte bezeichnet werden kann, die bloße
Nebeneinanderstellung resp. das unmittelbare Nacheinander-
nennen ebenso genügt, wie die bloße Nennung des Namens,
wenn aus vorhandenen Zu- und Umständen klar ist, welches
Ding, welche Erscheinung mit ihm genannt werden soll.
Denken wir an die Entstehung der Sprache aus ursprüng-
licher Bildung von Associationen, so muss unzweifelhaft in
dem empfindenden Subjecte ein Bewusstsein davon vorhanden
sein, welcher Teil der umgebenden Welt, welcher Sinnes-
eindruck diejenige Erregung hervorbrachte resp. hervor-
zubringen pflegt, welche behufs Ausgleichung auf die
Respirationsorgane übergeht und einen Laut hervorbringen
lässt. Ohne ein solches Bewusstsein, wäre es auch noch so
dunkel und unklar, mehr gefühlsartig, müsste unbegreiflich
bleiben, wie die Association sich bilden könnte, welche ge-
meint wird, wenn man sagt: ein Wort, heiße, bedeute etwas,
17*
260
Wilhelm Schuppe,
ein Ding oder eine Erscheinung heiße so und so. Trenne
ich nun das Ding oder die Erscheinung oder den Eindruck,
welcher erst in der Bildung solcher Association seinen Namen
erhält, von diesem Namen, trenne ich ihn als etwas schon
vor der Namengebung Vorhandenes mir Bekanntes von dem
erst nachträglich erteilten Namen, so liegt doch auf der
flachen Hand, dass jener Eindruck eben namenlos ist und
absolut keinen sprachlichen Ausdruck finden kann, es sei
denn durch umschreibende Worte, deren Sinn und Be-
deutung aber auch nur durch die subjectlose Identificirung
zu Stande gekommen ist. Auch das Verständnis der Wörter
»dieses hier« geht wie das jedes Wortes in letzter Instanz
auf eine ursprünglich subjectlose Identificirung zurück. Denken
wir an das Erlernen der Muttersprache, so können die zahl-
losen unbewussten Inductions- und Analogieschlüsse, als
welche es dargestellt werden kann, doch immer nur unter
der Voraussetzung gedacht werden, dass dem Kinde schon
ein bestimmter Eindruck bekannt ist, der vielleicht das
mit dem gehörten Laute Genannte und Bezeichnete sein
kann und als solcher eben nicht wieder schon, etwa behufs
Identificirung mit ihm, einen Ausdruck' haben kann. Findet
sich dann das Verständnis für den gehörten Laut, so können
wir es nur als solche Identificirung darstellen, von welcher
nur das eine Glied genannt, das andere notwendig unge-
nannt ist.
Der bloße Ausruf »der Krähenberg« kann also freilich
durch den Satz : »dieser Berg da ist der Krähenberg« inter-
pretirt werden, aber diese Interpretation schafft die be-
sprochene Subjectlosigkeit nicht aus der Welt. Es ist über-
haupt ein interessantes Kapitel, wie viel gemeinhin von dem
Gemeinten ungesagt bleibt und bleiben muss. Es wird der
Erläuterung des schon Dargelegten dienen, wenn ich darauf
hinweise, dass dasselbe Verhältnis in den Zusammengehörig-
keits- oder Eigenschaftsurteilen sozusagen inwendig vorhanden
ist, wenn sie auch unbezweifelbar Subject so wol wie Prä-
dicat haben. Der Satz »die Rose ist rot« ist offenbar keine
Identificirung von Rose und rot. Das Beste dabei, was die
Siibjectlose Sätze.
261
logische Function des Urteilens feststellt, nämlich das Eigen-
schaftsein des rot an der Rose ist sprachlich gar nicht
besonders zum Ausdruck gebracht. Dass dies nicht die
Bedeutung des »ist« ist, setze ich als zugestanden voraus.
Unten wird es noch klarer werden. Höchstens in der Ueber-
einstimmung und sodann in der Substantivform und der
Adjectivform könnte vielleicht jemand etwas der Art finden
wollen. Aber es bedarf wahrlich noch keines besonderen
Scharfsinnes, um zu entdecken, dass die bloße Ueberein-
stimmung eben nur ein ganz allgemeines auf einander Bezogen
sein irgendwelcher Art in der äußerlichsten Weise symbolisirt,
ohne den logischen Kern des Gedankens: Ding und Eigen-
schaft, irgendwie auszudrücken, und dass die bloße Sub-
stantivform, oft ja auch von der des Adjectivs nicht unter-
scheidbar, erst recht nicht enthält, was als directer sprach-
licher Ausdruck jenes Gedankens angesehen werden könnte.
Was das eigentlich ist und wie das gemacht wird, eine
Eigenschaft an sich zu haben, ist direct gar nicht ausgedrückt ;
diese Kenntnis muss man hinzubringen und wissen, dass eine
und welche Eigenschaft oder welche Einzelheit in dem Com-
plex unterscheidbarer Eindrücke, welche das Dingwort als
zusammengehörige zusammenfasst, mit derPrädicatsvorstellung
identificirt wird. Erk. Log. S. 152 und 153. 510. Was an
dem Dinge das prädicirte rot oder rund oder weich oder
süß ist, muss man wissen und wird nicht gesagt. Die mög-
liche Umschreibung »seine Farbe ist die rote, seine Gestalt
ist die Rundheit, sein Geschmack der süße Geschmack«, hilft
nichts; denn diese Allgemeinbegriffe Farbe, Gestalt, Geschmack
sind nicht vor den specielleren rot, rund, süß vorhanden,
sondern erst aus ihnen abstrahirt, und was damit eigentlich
gemeint ist, muss man auch schon wissen. Diese Erkenntnis
wird namentlich bei den negativen Urteilen wertvoll. Es
gibt, den reinen Identificirungen entsprechend, reine Unter-
scheidungen, die nichts anderes besagen wollen, als a und b
sind nicht identisch, ganz dahingestellt sein lassend, was
jedes für sich ist und ob und wie viel Gemeinschaftliches
sie doch vielleicht haben. Außerdem aber gibt es auch
262
Wilhelm Schuppe,
negative Zusammengehörigkeitsurteile, welche von einer ge-
meinten aber nie genannten Eigenschaft des als Subject ge-
nannten Dinges aussagen, dass sie nicht x, sondern eine
andere als x sei. Das x wird also zunächst nur zu Gunsten
einer ganz bestimmten gemeinten aber nicht gesagten Eigen-
schaft ausgeschlossen, und es ist wiederum nur unsere Sach-
kenntnis, dass, wenn x überhaupt an diesem Dinge vorhanden
sein sollte, es an stelle dieser gemeinten sein müsste. Doch
das kann ich hier nicht verfolgen und verweise auf die Aus-
führungen der Erk. Logik; ich erwähnte es nur zur Vervoll-
ständigung der Theorie, welche uns die erste mögliche Art
von Subjectlosigkeit in einem sprachlichen Ausdruck, der
logisch als Ausdruck eines, wenn auch rudimentären, Urteils
gedeutet werden musste, erklären sollte.
Ist diese Erklärung annehmbar, so ist mit ihr viel ge-
wonnen. Denn nachdem wir begriffen haben, aus welchen
besonderen Gründen in diesem Falle das Subject, welches
die logische Lehre vom Urteil verlangt, nicht genannt werden
kann und nicht genannt zu werden braucht, sind auch unsere
Ansprüche an Erklärung verschärft und haben eine bestimmte
Richtung erhalten, und so ist es nicht mehr möglich, diese
Art von Subjectlosigkeit mit anderen zu einer vagen Ge-
sammtvorstellung verschwimmen zu lassen, und die andern
Fälle, in welchen jene bestimmten Gründe klärlich nicht vor-
handen sind, durch die Aehnlichkeit mit den ersteren (das
unmethodische Verfahren der bloßen Einsetzung anderer
sachlich gleichwertiger Redewendungen) dennoch für erklärt
resp. gesichert zu halten.
Wir stehen aufs neue vor der Frage: was ist Subject
und Prädicat? und zudem vor der andern: was ist der Sinn
der Verbalprädication? Wie ist es denn menschenmöglich,
das eigentliche Impersonale dadurch für erklärt zu halten,
dass durch dasselbe eben nur ein Eindruck oder eine Er-
scheinung zum Ausdruck gebracht werde, ohne die Eigen-
tümlichkeit dieses Ausdruckes zu erwägen? ohne
sich zu fragen, warum dieser Ausdruck eine Ver-
balform ist und wie er es sein kann! Also der Sinn
Subjectlose Sätze.
263
der Verbalprädication ist conditio sine qua non der Ent-
scheidung! Und dieser Sinn ist unzweifelhaft in erster Linie
für den gewöhnlichen und unbestritten als normal aufgefassten
Gebrauch festzustellen, unbekümmert darum, ob sich er-
klärungsbedürftige Ausnahmen finden und wie ihre Erklärung
wohl gelingen möchte. Denken wir also an den Sinn von
amo und amas. Schließt er nicht die Unterscheidung von
Subject und Prädicat ein? so ein, dass eben er selbst ver-
schwindet, wenn kein Subject vorhanden ist? Der bloße
Ausdruck des Eindruckes kann eben auch nur den Eindruck
als ein Ganzes fassen, mit welchem der und der Laut associirt
ist; dieser Laut braucht noch gar keine bestimmte Wortform
zu haben, kann aber auch Substantiv, kann Adjectiv, kann
ein Adverbium sein. Aber diese Erklärung ist unmöglich,
sobald er die Verbalform ist, deren ganzer Sinn darin be-
steht, dass sie ein Prädicat zu einem Subjecte fügt, also nicht
ohne weiteres das Ganze einer wargenommenen Erscheinung
ausdrücken kann, sondern dieses aus den unterschiedenen
Bestandteilen zusammensetzt. Oder richtiger: jene Erklärung
trifft das Problem nicht; was sie behauptet, ist ganz richtig;
eben dies muss der Sinn der sog. echten Impersonalien sein;
aber das Problem ist, wie es möglich ist, dass dieser Sinn
zum Ausdruck gelange durch eine Form, deren zugestandene
Bedeutung ihm direct widerspricht, indem sie etwas nur als
Prädicat eines Subjects ausdrücken kann. Ueber den Sinn
der Verbalprädication handelt die Erk. Log. § 110—118. Dort
ist die Personalendung nach älterer Lehre als Personalprono-
men gefasst. Diese Lehre ist bestritten und ich bin nicht Willens
und auch gar nicht in der Lage, darüber etwas zu behaupten.
Aber es ist auch für unsere Sache unerheblich ; welches auch
die ursprüngliche Bedeutung des Lautes sein mag, welcher
als Personalendung mit dem Stamme verschmilzt, irgendwie,
wär's auch auf den wunderlichsten Umwegen, muss es doch
tauglich geworden sein, dasjenige auszudrücken, was wir
unzweifelhaft in der Conjugation ausgedrückt sehen, nämlich
die Unterscheidung der Personen. Die Verschmelzung der
Personalendung mit dem Verbalstamm ist das Wesen der
264
Wilhelm Schuppe,
Sache; sie syinbolisirt die eigentümliche Enge und Innigkeit
der Verbindung zwischen der Person, ich du er, als Subject,
und der im Verbalstamm enthaltenen Erscheinung, als Eigen-
schaft oder Tätigkeit, als an diesem Subject haftend, ihm
zukommend, kurz als sein Prädicat. Dieses Wesen zeigt sich
deutlich als ein ganzes Urteil, ein ganzer Satz in einem
Worte, dessen Bestandteile verschiedene Momente ausdrücken,
die sich, sobald wir sie unterscheiden, nur als Subject und
Prädicat unterscheiden lassen. Bei amo und amas wird das
wohl niemand bestreiten. Wenn in neueren Sprachen die
Vorsetzung des Personalpronomens unentbehrlich geworden
ist, so ist das sicherlich kein Einwand gegen die principielle
Auffassung. Das Verhältnis zwischen der Verbalform und
dem zugefügten Personalpronomen, ich arbeite, du leidest,
er ruft dgl., ist doch wol über jeden Zweifel erhaben.
Das Fehlen der Personalendung in der 3. Sing, ist kein
Beweis gegen mich. Wir stehen vor der Alternative: ent-
weder ist der in diesem Falle erscheinende bloße Verbal-
stamm überhaupt nicht so, wie die 1. und 2. Person und wie
in den andern Fällen mit Endung auch die 3. Person, als
Verbalform mit ihrem specifìschen Sinn aufgefasst worden, —
und dann dürfen wir diesen Ausdruck ganz als die oben
schon abgehandelte eine Art der Subjectlosigkeit auffassen,
dann ist der Eindruck das erste Glied der Gleichung und
ein noch nicht mit Wortendung versehener Laut, welcher
sich mit jenem Eindruck associirt hat, ist das zweite allein
ausgesprochene Glied derselben — oder aber auch die endungs-
lose Form wird im Sinne und Gefühl des Sprechenden
als Verbalprädication aufgefasst; tertium non datur. Im
erster en Falle könnte solche Form niemals Prädicat zu einem
ausdrücklich genannten Subjecte werden, es sei denn bloß
im Sinne der Identificirung ; den eigentümlichen Sinn des
verbum finitum könnte sie niemals haben; im letzteren Falle
ist die factische Endungslosigkeit für die Interpretation ohne
alle Bedeutung. Die Formen der 3. Person ohne Endung
haben, wenn sie überhaupt Verbalbedeutung haben sollen,
denselben Sinn, wie die mit Personalendung, und die 3. Person
Subjectlose Sätze.
265
hat in Ansehung des Verhältnisses zwischen Subject und
Prädicat ganz denselben Sinn wie die 1. und 2. Welches
ist dieser nun ? Ich müsste nun eigentlich das ganze Capitel
»die Vollendung des Dingbegriffs und der Verbalbegriff« aus
der Erk. Logik hier einschieben. Da das nun aber nicht
geht, so muss ich den Leser, der für den Gegenstand und
die angedeuteten Auffassungen Interesse hat, bitten, sich
ebenda näher zu orientiren. Hier kann ich nur behaupten;
der Beweis ist das ganze System der Logik.
Ich muss zuerst die alles verwirrende Vorstellung abweisen,
dass in dem Verbalbegriff allein oder vorzugsweise Tätig-
keit im engeren Sinne resp. Geschehen zum Ausdruck komme.
Was Tätigkeit ist, ist keine Sache bloßer Sinnenerfahrung,
mitnichten also für jeden gesunden Beobachter offenbar, son-
dern ausschließlich eine Aufgabe der erkenntnistheoretisch-
Iogischen Analyse. Der Verbalbegriff muss weit genug gefasst
werden, um auch das Vorhandensein einer sog. ruhenden
Eigenschaft zu umfassen, auch das bloße Sein ; das Prädicats-
nomen wird nur deswegen mit der Verbalform der Copula
ausgesagt, um auch ihm dieselbe Enge und Innigkeit der
Verbindung mit dem Subjecte zukommen zu lassen, welche
die eigentliche Function der Verbalprädication ist. (Dass die
sog. Copula der bloße sprachliche Ausdruck der rein logischen
Function, der Zuerteilung des Prädicates, sei, ist eine ganz
unhaltbare Ansicht; ihre Unmöglichkeit ist 1. 1. mehrfach
erörtert.) Es ist also auch die Meinung abzuweisen, dass
das sog. Impersonale die ausgedrückte Erscheinung durchaus
als irgend jemandes Tat oder Tätigkeit darstellen wolle;
diese Meinung stammt aus dem besprochenen logischen Irrtum.
Subject im logischen Sinne ist eigentlich der Begriff des
Dinges, und so versteht sich von selbst, dass dieser und der
Begriff der Inhärenz, mag das Inhärirende nun eine sog.
Eigenschaft oder eine Tätigkeit im engeren Sinne sein,
Korrelatbegriffe sind, welche einander setzen und einer ohne
den andern nicht bestehen können. Die Selbständigkeit des
Dinges, im Gegensatz zu der Unselbständigkeit der Eigen-
schaft, welche eines Trägers bedarf, ist das logische Wesen
Wilhelm Schuppe,
des Subjectes. Die paraten Einwände kenne ich; sie sind
nur das Zeichen des ersten Schrittes, nach welchem Halt
gemacht wird; wer mit mir nach dem ersten auch noch den
zweiteil und dritten und so viel ihrer noch nötig sind, machen
will, wird ihre Nichtigkeit einsehen. Natürlich kann das
Dingwort auch Prädicat sein, aber die Erklärung dieses Ver-
hältnisses hat von je Schwierigkeiten gemacht; bekanntlich
hat schon Aristoteles daran Anstoß genommen, dass eine
Substanz von einer Substanz ausgesagt werden sollte, während
doch nur eine Inhärenz von dieser ausgesagt werden könne.
Meine Erklärung (Erk. Log. S. 382ff.) beseitigt diese Schwierig-
keiten und zugleich den Einwand, indem sie zwar den Sinn
behaupteter Zusammengehörigkeit anerkennend, als das Mittel
der Darstellung Identificirung zeigt. Ein Dingwort kann ferner
Object und kann auch genetivisches Attribut sein, und so
ist freilich bewiesen, dass die Begriffe Dingwort und Subject
sich nicht decken ; aber was ich behaupten musste, war auch
nur, dass das Wesen des Subjectes im Gegensatz zum
Prädicat und nur in diesem Gegensatze das des Ding-
begriffes in seinem Gegensatze zu dem Inhärirenden sei.
Das Ding steht durch den Gausalnexus mit andern Dingen
in Verbindung, und — das ist ja beweisend — diese Ver-
bindung kann auch immer umgekehrt ausgesprochen werden,
so dass, was vorher Object war, Subject, und was vorher Sub-
ject war, Object wird. Auch das genetivische Attribut zeigt
eine solche Verbindung von Ding mit Ding, und wenn das
Besessene dem Besitzer gehört, so gehört umgekehrt auch
der Besitzer dem Besessenen, freilich nicht in demselben,
sondern in einem weiteren Sinne des Gehörens resp. Zu-
sammengehörens. Auch Eigenschaften und Tätigkeiten endlich,
auch Verhältnisse können Subject eines Prädicates sein und
sind doch keine Dinge. Aber man muss wissen, was ein
Ding ist. Die bloße tastbare Ausgedehntheit macht es noch
nicht aus. Der Begriff des Dinges, als Gorrelats zu dem
Inhärirenden, ihm Zugehörenden, ist ein Complex von Er-
scheinungen resp. Erscheinungselementen oder abstracten
Momenten solcher, welche von sehr verschiedenen Gesichts-
Subjectlose Sätze.
267
punkten aus durch erkannten Gausalzusammenhang zu einer
Einheit zusammengefasst werden. Solche Einheit ist also re-
lativ ; was in einem Betracht ein Ganzes ist, kann in anderem
ein Stück oder ein Teil sein. Wenn diese Bestimmung nicht
zu genügen scheint, so ist gewiß meistens der Umstand daran
schuld, dass man die Menge der verschiedenen Causal-
zusammenhänge und Gesichtspunkte und somit der möglichen
Einheiten nicht kennt, und deshalb eine Zahl von Fällen für
nicht subsumirbar erachtet, welche es in Wahrheit doch sind.
Dies kann ich jedoch hier nicht verfolgen. Meine Ansicht
geht also dahin, dass allerdings auch Eigenschaften, Tätig-
keiten und bloße Verhältnisbegriffe Subject sein können, aber
doch immer nur Subject zu einem Prädicate, welches irgend
wie als Teil oder Bestandteil oder ein Moment in dem-
jenigen Ganzen erscheint, als welches die Eigenschaft oder
Tätigkeit oder das Verhältnis gedacht wird, wenn es Sub-
ject ist.
Ich kehre also zu der Behauptung zurück, dass das
Verhältnis zwischen Subject und Prädicat im Zusammen-
gehörigkeitsurteile dasjenige zwischen Ding und Inhärenz ist,
und somit wird die logische Einsicht entscheidend, was Ding
und Eigenschaft ist. Der geheimnisvolle Träger der Er-
scheinungen, der in metaphysischer Unzugänglichkeit hinter
ihnen subsistirt, ist eine Fiction, welche zwar natürlich und
aus der Menschennatur begreiflich, aber doch völlig fruchtlos
und somit zu beseitigen ist. Wie er trägt oder schafft oder
tut, ist bei seinem transscendenten Character ein ewiges
Rätsel. Es ist eine mystisch-mythische Vorstellung, welche
die Tatsache der Erscheinungswelt nur in ein metaphysisches
Jenseits zurückschiebt und dadurch für erklärt hält. Dieses
»Tragen« selbst oder »Machen« ist ja das Problem, und
so hilft es nichts, dass man uns versichert, der Ausüber
desselben sei eben etwas, was hinter den wahrnehmbaren
Erscheinungen sein unvorstellbares Dasein friste. Das Ding
ist das Ganze oder die Einheit, zu welcher eine Zahl von
Erscheinungen resp. von Einzelzügen unter solchen, als
causal zusammengehörige und einander bedingende, zu-
268
Wilhelm Schuppe,
sammengefasst werden, und Prädicat ist eins resp. eine
kleinere Gruppe von diesen Momenten, welches oder welche
als zu diesem Ganzen gehörig, es integrirend, es bedingend
und von ihm bedingt, behauptet wird. Ich muss, um allzu
schneller totaler Verurteilung, so weit möglich, vorzubeugen,
aufs neue erwähnen, dass der Abhängigkeiten und der Arten
des Bedingtseins und Bedingens verschiedene sind. Namentlich
sind es die sog. unwesentlichen Eigenschaften, die zufälligen
vorübergehenden Ereignisse und Zustände und Beschaffenheiten,
welche Bedenken erregen. Aber es fragt sich immer nur,
was denn als ihr Subject, als das Ganze, zu dem sie gehören,
anzusehen ist. Wer nicht an der Oberfläche haften bleibt,
wird sich zu der Unterscheidung und zu der Anerkennung
verstehen, dass vieles eben nur in gewissem Betracht wesent-
lich und in gewissem Betracht unwesentlich ist. Für den
Gattungs- und Artcharakter ist vieles unwesentlich, was für
das Individuum wesentlich ist. Aber freilich — was ist das
Individuum? Wir sehen nur wiederum, wie tief unsreFrage
in die Penetralien der Logik hinabreicht. Da ist notwendig
auf Grund »der ursprünglichen Tatsache« (ich muss hier
auf den ganzen Abschnitt X der Logik verweisen), was aus
dem Gesetz der in abstracto gedachten Qualitäten nicht not-
wendig ist, aber jene Notwendigkeit und diese ergänzen ein-
ander und, wer jene übersieht oder in ihrer Bedeutung nicht
würdigt, kann nie dazu kommen, das Chaos der tatsächlichen
Umstände und Vorkommnisse als ein Ganzes aufzufassen.
Was auch scheinbar noch so zufällig und gleichgültig auftritt
oder verschwindet oder so und so lange verharrt, hat seine
Stelle in diesem Ganzen und kommt und verharrt und geht
nach absoluter unabänderlicher Notwendigkeit, und kann
nur den Platz einnehmen, den ein anderes verlassen hat
und nur sich entfernen zu Gunsten eines andern, welches
wiederum seinen Platz einnimmt (cf. Erk. Log. § 117). Wäre
die Dauer eines Zustandes auch noch so gering und dieser
Zustand selbst auch noch so gleichgültig — gleichgültig ist
immer relativ, heisst immer nur »die und die und die Dinge
sind davon unabhängig« — so ist doch der Eintritt und
Subjectlose Sätze.
269
die Anwesenheit dieses Zustandes für diesen noch so kurz-
gedachten Zeitpunkt absolut aus dem Gesetz und Wesen
dieses Dinges notwendig, so dass, obgleich ein Individuum
dieser Art ohne denselben sehr gut denkbar ist — doch
factisch, wenn er jetzt hier nicht hätte eintreten sollen, eine
endlose Reihe von Vorbedingungen gleichfalls weggedacht
werden müssten, so dass dieses Ding hier und jetzt ohne
diesen Zustand als factisch unmöglich begriffen wird. So
lange also das Zusammen stattfindet, so lange ist es not-
wendig, so lange untrennbar, so lange ist eines ohne das
andere ganz unmöglich, ganz so wie die Bestandteile der
Verbalform, Verbalstamm und Personalendung zu dem Ganzen
eines einzigen Wortes verschmolzen, nicht getrennt werden
können. Die Gesichtspunkte, von welchen aus Einheit und
Notwendigkeit erblickt wird, sind in dem gedachten Falle
sog. unwesentlicher vorübergehender Zustände und Beschaffen-
heiten andere, als wenn dauernde Eigenschaften, die zum
Art- oder Gattungsbegriff gehören, ausgesagt werden, aber
die Enge und Innigkeit der Verbindung, sozusagen der Grad
der Notwendigkeit und gegenseitigen Abhängigkeit ist der-
selbe. Dies also ist der eigentliche Sinn der Verbalprädication,
im Gegensatz zur bloßen Identificirung.
Sollte jemand entgegnend auf den acc. c. inf. und den
historischen Infinitiv hinweisen, so könnte ich nur zugeben,
dass der Sinn der Verbalprädication auch auf diesem andern
Wege erreichbar gewesen sein muss, nicht aber, dass be-
wiesen sei, dass die Verschmelzung von Verbalstamm und
Personalendung nicht den dargelegten, sondern einen andern
Sinn habe. Der Infinitiv ist also gewiß kein entscheidender
Beweis gegen mich, namentlich solange der ursprüngliche
Sinn seiner Bestandteile noch so dunkel ist. So lange steht
auch der vorläufigen Annahme — die aber keine Behauptung
sein soll — nichts im Wege, dass die Infinitivendung ganz
allgemein nur die Vorstellung eines Subjectes oder Trägers,
welche zum Sinne des Verbums notwendig ist, andeute, so
allgemein, dass keine Unterscheidung von Personen Platz
hat, weshalb jede beliebige zur Determination hinzugefügt
'^=
==ü
270
Wilhelm Schuppe,
werden kann. Mit dieser Annahme würde sich der historische
Infinitiv und der Infinitiv, den kleine Kinder statt des modus
fmitus, und den auch zuweilen schwachsinnig gewordene Greise
brauchen, vertragen. Der Sprachgebrauch kann ja immer
auf den speciellen Ausdruck einer logischen Beziehung ver-
zichten (Erk. Log. S. 500), und diese Infinitive characterisiren
sich nur durch größere Vagheit und Unbestimmtheit; der Ver-
anlassungen, die logisch genauere Determination in der hierzu
bestimmten Form nicht vorzunehmen, können verschiedene
sein, geistige Schwäche, in andern Fällen Eile, wieder in
andern das Vorwiegen des überwältigenden Eindruckes der
Sache, Erregtheit. Gespart wird dabei nicht eigentlich Zeit
— die Infinitivform ist ja zuweilen länger als die des mod.
finit. — sondern logische Arbeit. Ebenso ist es mit dem
inf. statt des imperativ. Nicht ebenso ist es beim acc. c. inf.,
weil ja bei diesem die genauer bestimmte Form des mod.
fin. nicht statt des inf. eintreten kann. Aber so lange eine
klare Deutung desselben fehlt, ist er ein Problem, kein Ein-
wand, und es ist vorläufig nicht abzusehen, warum sich
nicht eine Deutung finden könnte, die sich mit jener Annahme
über den Sinn der Infinitivform vertrüge. Folgende z. B.
kann ich mir vorläufig wenigstens als möglich denken. In
der bestimmten Personalform wird das Subject gewiss als
Nominativ gedacht; ist nun die Andeutung des unentbehr-
lichen Subjects in der Infinitivform so allgemein, dass die
Unterscheidung der Personen fehlt, so kann sie auch so all-
gemein gedacht werden, dass die Unterscheidung der casus
fehlt, das Subject also nicht in dem scharfen Gegensatz des
Nominativs zu den andern casus gedacht wird. Setzen wir
eine Veranlassung voraus, das bestimmtere Subject solcher
Erscheinung in einen andern casus z. B. den acc. zu setzen,
so versteht sich nunmehr von selbst, dass keine bestimmte
Personalform, welche das Subject im Nominativ denken heißt,
sondern nur der Infinitiv, der in seiner Subjectsandeutung
noch gar keine Casus unterscheidet, hinzutreten kann. Und
ebenso versteht sich, dass, wenn eine Erscheinung mit, der
Andeutung ihres Subjectes (ohne welche sie nicht verbum
i
Subjectlose Sätze.
271
sein kann), Object in einem andern Satze werden soll, der
Infinitiv erforderlich, der modus finitus unmöglich ist, weil
in diesem das Subject im Nominativ gedacht ist, jener aber
keine Gasusbestimmtheit hat.
Ueber die Bedeutung der Verbalform wäre noch manches
zu sagen; hier kam es nur auf den Gegensatz zur reinen
Identificirung an, und für unser Thema scheint mir das
Gesagte ausreichend zu sein.
Die bloße Identificirung hat selbstverständlich überhaupt
keinen eigenen Ausdruck. Die Grundvoraussetzung des Denkens,
dass durchweg Zusammengehörigkeit stattfindet, welche zu
erkennen das Ziel aller Denkarbeit ist, beherscht den Aus-
druck, auch wenn von dieser Grundvoraussetzung und dem
Wesen der Zusammengehörigkeit noch nichts auf die Ober-
fläche des Bewusstseins gelangt ist (Erk. Log. S. 500. 501).
Der Begriff derselben und die Unterscheidung ihrer Arten ist
ja erst Sache der logischen Reflexion. Vielleicht hält man
entgegen, dass doch auch heut das Bedürfnis vorliegen kann,
ein rein tatsächliches Zusammen der Warnehmung und
reine Identificirung zum Ausdrucke zu bringen. Aber eine
Art von Notwendigkeit findet doch immer statt und ich kann
absolut kein Bedürfnis sehen, von jeder zu abstrahiren und
diese absichtliche Abstraction durch eine besondere sprachliche
Form auszudrücken. Dass die Identität und Gleichheit nicht
qua logische Function, sondern nur ganz in der Weise, wie ein
Wahrnehmungsinhalt als Eigenschaft zum Ausdruck gebracht
werden kann (Erk. Log. S. 149), kann niemanden Wunder
nehmen, der Denken und Sprechen, Logik und Grammatik
zu unterscheiden und die psychologische Natur des letzteren
zu erkennen gelernt hat. In der Tat kann auch die erkannte
Gleichheit als ein Verhältnis unter den verglichenen Dingen
und somit als eine Eigenschaft jedes derselben, welche im
Weltlaufe ihre Stelle hat und in dem ganzen System des
Seienden notwendig und unentbehrlich ist, dargestellt werden.
Was Tätigkeit im engeren Sinne genannt wird, ist.
durchaus nicht das eigentliche Wesen der Verbalprädication,
jenes ist vielmehr nur ein Specialfall eigentümlicher Causal-
272
Wilhelm Schuppe,
Verbindung. Um dieser Auffassung überhaupt nur Raum zu
verschaffen, ist es unerlässlich, den Irrtum aufzudecken, dass
die Tätigkeit als solche, im Gegensatz zum Erleiden, wahr-
genommen werden könnte. Die bloße Wahrnehmung der
äußeren Sinne zeigt höchstens Veränderung, das Bild eines
Ringkampfes nur Ortsveränderung, und entscheidet gar nicht
darüber, ob von der getroffenen Stelle eine tätige Kraft der
Anziehung ausging, welche der treffende Gegenstand erlitt,
oder ob umgekehrt letzterer aus sich die Bewegung voll-
brachte, u. dgl. Dies sind Gausalbeziehungen besonderer Art,
welche erst hinzuerkannt werden, so dass die Tätigkeit im
engeren Sinne allerdings auch ihren Ausdruck in der Verbal-
form findet, aber doch nicht die eigentliche Bedeutung der-
selben ausmacht. Ueber den Begriff der Tätigkeit handelt
Erk. Log. § 121.
Die ganze Auffassung des Sinnes der Verbalprädication
ruhte auf der Verschmelzung von Verbalstamm und Per-
sonalendung zu einem Worte, welche als Symbol für die
logische Einheit von Ding und Eigenschaft gelten sollte. 1st,
dies der Sinn, so wird es manchem vielleicht auffallen, dass
aus ihm die Mehrheit der Personen selbst nicht deducirt
werden kann; und wenn das Wesen der Conjugation grade
in der Unterscheidung der Personen beruht, so ist dieses
von meiner Erklärung nicht getroffen, weil diese ja in den
drei Personalformen ganz dieselbe ist, also die Unterscheidung
überflüssig macht. Allein (zudem vgl. was oben vom inf.
gesagt ist), was in meiner Erklärung das Wesen der Sache
ist, ist wirklich nur in einem Falle vollständig klar, und
musste in diesem einen zuerst zum Bewusstsein kommen,
so dass alle andern nach Analogie dieses einen gedacht
werden. Nur aus unserer eignen inneren Erfahrung kennen
wir zuerst das Verhältnis von Subject und Inhärenz (Eigen-
schaft oder Tätigkeit); nur wie Ich mich in einem Zustande
finde, mich tätig weiß, nur wie diese Inhärenzen eintreten
und vergehen, das zu Grunde liegende Ich sich aber doch
in allem Wechsel und Wandel als dasselbe eine weiß, nur
die Ganzheit und Einheit dieses Ich, welches so vieles in
Subjectlose Sätze.
273
in sich birgt, ohne deshalb selbst ein vielfaches zu werden, ist
von ursprünglicher und unmißverständlicher Klarheit, freilich
auch unbeschreiblich. Hier macht sich die Eigentümlichkeit
der Sache mit so unwiderstehlicher Gewalt geltend, dass das
abstráete Moment des Begriffes der Zusammengehörigkeit
und Einheit zunächst in dieser Gestalt gefunden werden
musste.
Demnach ist außer der ersten Person allerdings noch eine
andere Form nötig, welche das Inhärenzverhältnis in allen
anderen Fällen ausdrückt, aber doch nur eine. Die im
strengsten Sinne rein logischen Requisiten lassen eine Form
für die angeredete Person entbehrlich erscheinen ; aber wenn
die Sprache auch diesen genügen muss, so dient sie doch
auch noch anderen Aufgaben und Bedürfnissen. Die Aus-
prägung einer Form für die angeredete Person ist ein psycho-
logisches Bedürfnis, und so war natürlich noch eine 8. Form
für alle anderen Fälle erforderlich. Die große Zahl dieser
»anderen« Fälle positiv zu charakterisiren ist schwer. Nur
der grundlegende erkenntnistheoretische Standpunkt kann
Hat schaffen, welcher im eignen Bewusstsein selbst das Nicht-
Ich als Object, als seinen Inhalt finden lässt. Ist dieser Be-
griff des ursprünglichen Objects oder des Bewusstseinsinhaltes
auch nicht weiter definirbar, so ist er doch nicht leer und
nicht bloß durch eine Negation bestimmt. Wenn nun auch
von diesem großen Gebiete die 2. Person ausgesondert wird,
so bleibt doch für die 3. immer noch diejenige positive Be-
stimmtheit, welche sie mit der 2. gemeinsam hat und so ist
sie keineswegs bloß durch die Negation »weder ich noch
du« bestimmt.
Die 2. Person war natürlich ganz nach Analogie der
1. gedacht, und auch im Gebiete der 3. Person werden die-
jenigen Fälle leicht herauserkannt, in welchen gleichfalls ein
Ich, dem eignen gleich, erschlossen ist und als der identische
Träger und Inhaber seiner Bestimmtheiten in derselben Weise
gedacht wird, wie das eigne Ich sich als solchen weiß und
fühlt. Auch in allen anderen Fällen mag der Subject- und
Substanzbegriff trotz mangelnder Symptome wirklichen Ich-
Zeitschrift für Völkerpsyeh. und Sprachw, Bd. XVI. 3. 18
274
Wilhelm Schuppe,
seins nach derselben Analogie gedacht worden sein, aber
sicherlich nicht in klarer Durchführung, und sicherlich auch
ist diese Analogie nur psychologisch bedeutsam, nicht die
verlangte logische Erklärung. Um letzeres zu verstehen und
zu würdigen, wolle man doch recht sorgfältig überlegen und
beherzigen, dass in dem lückenlosen Neben- und Nachein-
ander der Erscheinungen die Grenzen, durch welche ein
solches Ding vom andern sich absondern muss, um nach
Analogie des Ich gedacht werden zu können, erst gefunden
werden müssen. Wie diese Grenzen gefunden werden
und mit ihnen die Einheit und Ganzheit des Dinges im Gegen-
satz zu seinen einzelnen Teilen und Bestandteilen, Eigen-
schaften und Zuständen, und im Gegensatz zu anderen Dingen,
ist der Inhalt der ganzen speciellen Logik. Je mehr Anhalt
zu solcher Grenzbestimmung sich ungesucht bot, desto leb-
hafter mag die Analogie des Ich gewirkt haben, da die klar
abgegrenzte Körperlichkeit des Dinges den Vergleich mit dem
eignen Körper gestattete, z.B. bei den Pflanzen; aber wie
vieles erfüllt den Raum, und mit seinen Veränderungen die
Zeit, was sich nicht so leicht in kleinere relative Ganze zer-
legen lässtÏ Je verschwimmender die Grenzen, je weniger
Gonstanz in den fliessenden Erscheinungen zu entdecken war,
desto weniger gelang die Zusammenfassung zur Vorstellung
eines Subjectes, welches als Träger derselben nach Analogie
des Ich gedacht werden konnte. Diese Analogie ist also ge-
wiss von unendlicher Wichtigkeit für die psychologische Er-
kenntnis von der Entwickelung des Denkens im Menschen-
geschlechte, aber vom logischen Standpunkte aus haben wir
festzustellen, dass die rein logische Arbeit der Abgrenzung
der Erscheinungscomplexe durch die Stiftung resp. Erkenntnis
der verschiedenen kausalen Beziehungen, welche aus der
Mehrheit unterscheidbarer Einzelheiten ein Ganzes macht,
für die Anwendung jener Analogie Vorbedingung ist; je un-
klarer und mehr instinctiv diese logische Arbeit geleistet
wurde, desto größer war das Bedürfnis, die Einheit durch
die Analogie des Ich vorstellbar zu machen; je gründlicher
sie geleistet wird und je klarer uns diese Functionen zum
Subjectlose Sätze.
275
Bewusstsein kommen, desto entbehrlicher wird jene Hiilfs-
vorstellung und desto mehr genügt die Einsicht, dass eben
das System entdeckter Causalzusammenhänge die Einheit und
Ganzheit des Dinges ausmacht, und nichts anderes als eben
sie der geheimnisvolle »Träger« ist (also eigentlich kein Trä-
ger), welcher jeden der Einzelziige als den seinigen, seinen
Teil oder Bestandteil hat.
Ist nun dies das Wesen und Ziel alles Denkens und Er-
kenntnisstrebens, alle wirklichen und möglichen Erscheinungen
in dem Gefüge aller ihrer inneren Zusammenhänge zu be-
greifen, so ist dies gleichbedeutend mit der unaufhörlichen
Bildung und Vervollkommnung von Ding- (resp. Ereignis-)
und Eigenschaftsbegriffen, und so ist es völlig begreiflich
und selbstverständlich, dass alles Denken und Sprechen sich
unaufhörlich in Urteilen der Zusammengehörigkeit, Ver-
knüpfungen eines Subjectes mit einem Prädicate bewegt.
In der 1. und % Person ist das Subject unmisverständlieb
und nur besondere Paicksichten lassen das Pronomen, ge-
wissermaßen appositionell zu dem in der Endung schon Ent-
haltenen, zuweilen noch extra hinzufügen. In der 3. Person
ist das Subject, wenn es nicht der Zusammenhang der Ge-
danken lehrt, völlig unbestimmt. Was die Endung enthält,
ist nur die allgemeine Vorstellung eines solchen, eines Ganzen,
zu dem die durch den Stamm bezeichnete Erscheinung in
der oben angedeuteten Weise als die seinige gehört, und so
muss, was für ein Ganzes, was für ein Ding dies ist, in der-
selben Weise, aber nun nicht mehr abundirend, sondern un-
entbehrlich im Nominativ hinzugefügt werden, wie in der
1. und 2. Person das Pronomen. Nun entscheidet sich die
angebliche Subjectlosigkeit mit leichter Mühe. Die verwirrende
Schwierigkeit war nur in dem Irrtum über den eigentlichen
Sinn der Verbalform und das logische Wesen des Subjectes.
Die 3. Person ist ohne besondere Hinzufügung eines Subjectes
durchaus nicht subjectlos. Steht ein nominales Subject dabei,
so ist durch dieses nur die Allgemeinheit und Unbestimmt-
heit der Subjectsvorstellung aufgehoben, steht keines dabei,
so ist doch die vage allgemeine Subjectsvorstellung noch
18*
276
Wilhelm Schuppe,
vorhanden. Ich sehe alle Einwendungen vorher. Man wird
zur größeren Deutlichkeit sich gern an das deutsche »es«
halten und dann an 100 Beispielen demonstriren, daß dieses
»es« nicht eigentlich Subject sein kann. Ich bin diese Art
von Beurteilung und Entgegnungen gewöhnt; man ignorirt
die vorhergeschickte Berichtigung der Begriffe der Voraus-
setzung und beurteilt die abschließende Behauptung von der-
jenigen Voraussetzung aus, welche ich eben bestritten habe.
Ich habe es in der Logik ja selbst ausgesprochen: das »es«
in »es wird getanzt«, oder »es wird gelacht« ist gewiss
nicht das Subject, welches die von einem andern ausgehende
Tätigkeit des Tanzens oder Lachens erlitte, und in »es regnet«
ist »es« gewiss nicht das Ding, welches das Regnen als eine
Tätigkeit im engeren Sinne ausübte. Tun und Leiden sind
ja besondere Arten causalen Zusammenhanges und der Sinn
der Verbalprädication war nach meiner Ansicht die Andeu-
tung solches Zusammenhanges im ganz allgemeinen. Der
Unterschied des Activs und Passivs hat also auf das »es«,
welches, wie ich und du, nur die in der Verbalform ent-
haltene Personalbestimmung hervorhebt, gar keine Anwen-
dung. Das Getanztwerden, sowie das Blitzen bedeutet nur
die warnehmbare Erscheinung, und nun handelt es sich
bloß darum, warum nicht der Name für dieselbe mit ihr,
der ungenannten, identificirt, sondern eine Verbalform zum
Ausdruck gewählt wird. Das ist genau dieselbe Frage, wie
die, was das »es« eigentlich bedeute. Nun haben wir aber
bei den ersten Fällen von Subjectlosigkeit, die ich als Identifi-
cirung darstellte, schon gehört, dass der beste Teil des Sinnes
dabei nicht zum directen Ausdruck kommt, sondern voraus-
gesetzt ist, dass nämlich das ausgesprochene Wort der Name
für eine eben gemachte räumlich und zeitlich gegenwärtige
Warnehmung ist. Der Name für sie, Blitz, Donner, Regen
u. dgl., ist AlJgemeinbegriff, aber es handelte sich um den
Ausdruck einer concreten Erscheinung. Auch der Sinn des
Verbalstammes ist Allgemeinbegriff und dies vor allem werden
wir zu suchen haben, wie dieser Allgemeinbegriff zum Aus-
druck der concret wirklichen Erscheinung hier und jetzt
Subjectlose Sätze.
277
kommt, und dies muss in der Bedeutung des Subjectes liegen,
welches die Verbalform enthält. So wie Ich und Du con-
crete Träger der im Verbalstamm enthaltenen Erscheinung
sind, welche somit als ebenso concret warnehmbar dar-
gestellt ist, wie es das Ich und Du ist, so muss auch die
3. Person concrete Wirklichkeit bezeichnen, an und in welcher
auch die Erscheinung, welche der Verbalstamm in abstracter
Allgemeinheit bedeutet, concret warnehmbare Existenz hat.
Also das concrete Stattfinden der Erscheinung kann nur
— wenn nicht die Identificirung durch bloßes Aussprechen
des Namens gewählt wird — dadurch zur Darstellung kom-
men, dass sie als Inhärenz von etwas bezeichnet wird, was
seinem Begriffe nach concrete Wirklichkeit einschließt.
Dass das in der Verbalform der 3. Person angedeutete
Subject die concrete Wirklichkeit sei, welche den Redenden
umgibt, wird man freilich nicht ohne weiteres zugeben, und
zwar schon deshalb, weil dieselbe Form der 3. Person ja
auch Prädicat von abstracten Allgemeinbegriffen werden
kann. Aber das wäre nur dann ein gültiger Einwand, wenn
ich meinte, dass das Wort oder der Laut, welcher als
Personalendung fungirt, ursprünglich zu seiner eigentlichen
Bedeutung den Begriff concrete Wirklichkeit gehabt habe.
Davon kann natürlich nicht die Rede sein. Er wird vermutlich
den Sinn der Demonstration gehabt haben, und es kommt
darauf an, zu erfahren, was das sein mag, worauf hinge-
gewiesen wird. Bewegt sich das Denken im Abstracten und
soll von einem abstracten Begriff ausgesagt werden, was zu
ihm gehört, so wird eben auch durch Hinzufügung dieses
bestimmten Subjectes die allgemeine Subjectsandeutung,
welche in der Endung der 3. Person liegt, determinirt. Wenn
aber kein bestimmtes Subject ihren Sinn einschränkt, so kann
naturgemäß nichts anderes als die .concrete Wirklichkeit
gemeint sein. Vielleicht meint auch jemand, dass »concrete
Wirklichkeit« allein nicht genug sei, um den Inhalt eines
Dingbegriffes auszumachen. Aber ich meine auch nicht, dass
dieses begriffliche Moment »concret wirklich« den Inhalt
dieses Subjectbegriffes ausmachte, sondern nur, dass es zum
278
Wilhelm Schuppe,
Begriffe dieses »es« sowie des »ich und du« gehört, dass es
als concret Wirkliches gedacht wird. Dass das nicht genug
ist, um ein wirkliches Ding zu sein, ist mir wohl bekannt.
Nicht mehr und nicht weniger gehört noch dazu, als eben
Eigenschaften und Beschaffenheiten, Sicht- und Tastbares,
welches in seiner Warnehmbarkeit sich eben als Concretes
zeigt. Diese andern noch dazu gehörigen Bestandteile wird
man also kennen lernen wollen. Aber wenn ich diese nennen
könnte, so würde sogleich ein bestimmtes Subject da sein,
kein impersonaler oder subjectloser Satz. Das Subject er-
klärten wir ja als das Ganze, bestehend aus vielen nennbaren
Teilen oder Eigenschaften, und eine von diesen, sei es dau-
ernd, sei es zeitweise hervortretend, nur unter gewissen Be-
dingungen möglich, war das Prädicat. Das Ding a ist x,
rot z. B. oder rund, heißt: diese Erscheinung oder vielmehr
dieses Erscheinungselement des Roten oder Runden ist einer
von den Bestandteilen des Dinges a, oder gehört mit allen
andern es ausmachenden Erscheinungen zusammen, mit
ihnen ein Ganzes, genannt a, und diese Erscheinungselemente,
rot und rund, sind absolut nicht im Stande, für sich allein
aufzutreten; sie müssen ja mindestens schon in dem not-
wendigen Verein der einander fordernden Elemente, von
dem Erk. Log., Absch. IX handelt, enthalten sein. Wenn
der Hund bellt, oder läuft dgl., so betone ich hier gar nicht
die in der activen Form dieser Verben enthaltene Vorstellung
einer ausgeübten Tätigkeit, welche natürlich einen Ausüber
oder einen Tuenden zu ihrem Subjecte verlangt, sondern ich
mache nur darauf aufmerksam, dass die Erscheinungen, die
wir Gebell nennen, oder die sichtbare Ortsveränderung, die
wir Laufen nennen, als ein völlig unselbständiges Moment
in einem Ganzen als etwas, was ohne die andern oder ihnen
ähnliche Momente, die einen Hund resp. ein bewegtes oder
sich bewegendes Ding ausmachen, unmöglich ist, erkannt
worden ist. Wenn im Falle der scheinbar subjeetlosen Sätze
»es blitzt, es ist kalt« solche zusammengehörige Erscheinungen
gewusst würden und nennbar wären, nun so wäre eben ein
bestimmtes Subject da.
Subjectlose Sätze.
279
Denken wir nun zuerst an diejenigen sogenannten
subjectlosen Sätze oder Impersonalien, welche zugestan-
denermaßen, wie »es blitzt«, eine Naturerscheinung zum
Ausdruck bringen, welche weder selbst den Anforderungen
eines Dingbegriffes genügen zu können schien, noch ihre
Inhärenz an einem bestimmten Dinge erkennen ließ. Zum
bestimmten Dinge gehören in erster Linie Stoffteile, welche
nach einem Entstehungsgesetz sich unter, wenn nicht ge-
wussten, so doch geahnten, vielleicht fälschlich angenommenen,
jedenfalls postulirten Bedingungen zu dem Ganzen dieses
Dinges vereinigen, welches nach dem Gesetze, welches sein
Wesen ausmacht, unter bestimmten Umständen bestimmte
Veränderungen erfährt resp. vergeht, sich wieder in bestimmte
Stoffteile auflöst. Der Blitz kann nur als Zeiterfüllung zu
den Dingen (den Zeitdingen) gerechnet werden und ist ein
Ereignis, aber an wem sich diese Veränderungen ereignen,
war unbekannt. So ist nicht etwa bloß ein Moment des
sichtbaren Ereignisses, etwa die Bewegung, etwa Richtung
oder Schnelligkeit derselben, etwa das bloße Eintreten der
Lichterscheinung, wobei aber Art, Größe und Gestalt der-
selben als feststehend vorausgesetzt und bekannt wäre, son-
dern das ganze wahrnehmbare Ereignis ist Inhalt des Verbal-
stammes. Aber — wie schon bemerkt — dieser Inhalt ist
Allgemeinbegriff; sein Stattfinden in concreto, hier oder dort,
jetzt oder vorhin, kann nur — wenn nicht die Identificirung
gewählt wird — dadurch zum Ausdrucke kommen, dass es
in der Verbalform als Inhärenz eines vorhandenen Concretums
dargestellt wird. Aber wenn wir auch diese Notwendigkeit
begreifen, so müssen wir doch noch wissen, wie es gemacht,
wie es ausgeführt werden kann. Und so stehen wir wieder
vor der ganzen Schwierigkeit: in welchem Sinne kann der
ganze Inhalt einer solchen Warnehmung als Inhärenz dar-
gestellt werden, wenn wir das Subject, Welchem sie inhäriren
soll, nicht kennen? Mag es einstens wie etwas Metaphysisches
gedacht worden sein — ich untersuche das nicht — jedenfalls
ließe es sich nur bei einigen Naturerscheinungen so denken,
und jedenfalls denken wir es heute nicht so. Dieses Subject
280
Wilhelm Schuppe,
ist weder ein gemeinter Bezirk warnehmbarer Erscheinungen,
wie Hund, Stein, Haus, welchen abzugrenzen nur noch nicht
gelungen ist, was aber als ein Postulat, eine künftig er-
füllbare Voraussetzung hinzuzudenken verlangt wird, noch
ist es ein mythisch-mystisches metaphysisches Wesen. Es
versteht sich nach Lage der Sache ganz von selbst, dass
der logischen Anforderung des Subjectes nur gewissermaßen
der Form nach Genüge geschehen kann, und dass der ganze
Inhalt des zu Denkenden ins Prädicat fällt, dass solches Urteil
Existenz resp. Stattfinden aussagt, aber dass letztere Deutung
oder, wenn man lieber will, Erkenntnis nicht die seltsame
Form erklärt, sondern dass vielmehr dies zu erklären ist,
wie diese Form Existenz auszudrücken im Stande sei. Ueber-
haupt ist die Behauptung, dass Existenz (das Stattfinden
rechne ich dazu) ausgesagt werde, in keinem Falle eine Er-
klärung, weil gerade diese Aussage selbst der Erklärung im
höchsten Grade bedarf. Es ist leicht gesagt, aber man über-
lege doch, ob das bloße Sein wirklich wie eine Eigenschaft
oder Tätigkeit, groß oder grün, singen oder springen, einem
Subjecte als Prädicat beigelegt werden kann. Also wie das
Sein prädicirt werden kann, ist selbst erst zu erklären.
Um dem zu präcisirenden Begriff näher zu kommen,
will ich vorbereitend auf die Aristotelischen yéi>r¡ xwv xazrjyo-
qioüv tov ovtoç hinweisen. Dass es yévr¡ sind, interessili
wohl hier nicht, wohl aber, dass es »arrjyoQiai, rov ovtoç
sind, Prädicate des Seienden. Was ist das für ein Sein?
Das Sein, welches als Subject von diesen seinen Prädicaten,
die ihm doch erst zuerkannt werden, unterschieden wird,
ist in dieser Unterscheidung doch erst noch ohne diese
Prädicate zu denken. Was ist es dann? Es ist nichts
anderes und kann nichts anderes sein, als die Allgemeinvor-
stellung von Seiendem, bei welcher von eben demjenigen, was
erst als Prädicat hinzugefügt werden soll, d. i. von aller
Determination abstrahirt ist, bei welcher aber die For-
derung des wirklichen Seins festgehalten wird, welches
eben in den yévrj seiner xazqyoQMàv in seiner Gliederung und
dem ganzen Inbegriff seiner Möglichkeiten ergriffen werden
SubjecUose Sätze.
281
soll. (In meiner Schrift, die Aristotelischen Kategorien,
Berlin 1871, S. 40—48 ist diese Auffassung zwar gelehrt
und das eigentlich von mir Gemeinte, aber in der Darstellung
iinden sich einige Inconsequenzen.) Dass dieses Sein deshalb
selbst ein rechter Gattungsbegriff wäre, wird mit nichten
behauptet; in ihm selbst ist behufs Gliederung kein prin-
cipium divisionis zu finden, aber eine Allgemeinvorstellung
— wär's auch noch Problem — bleibt es doch immer und
verlangt nur um so dringender seine ursprünglichen Ver-
schiedenheiten übersichtlich festgestellt zu sehen. Dieses öv
nun, nach Ausscheidung des Gebietes der 1. und 2.
Person und mit der aus dem Zusammenhang der Ge-
danken und der Dinge selbstverständlichen Einschränkung
auf dasjenige Stück, welches einzig und allein in Betracht
kommen und gemeint sein kann, ist auch das nicht weiter
durch Hinzufügung eines bestimmteren Subjectsbegriffs deter-
minirte Subject der 3. Person. Zur Erklärung dieses Be-
griffes sei auch noch auf den des Individuums hingewiesen.
Der Begriff »Individuum« ist ja auch ein Allgemeinbegriff,
unter welchen ich und du und Hinz und Kunz und dieses
Bild hier und dieser Tisch hier und dieses Stäubchen hier u. s. f.
subsumirt werden können. Er sieht von aller Determination
ab, lässt also, wie jenes ¿V, völlig unbestimmt, was da
äußerlich oder innerlich warnehmbar ist, und hält nur die
Bestimmung fest, dass es, was es auch sein möge, völlig
bestimmt sei, so, dass es wirklich hier und jetzt war-
genommen ist resp. werden kann, wenn nur ein war-
nehmungsfähiges Wesen vorhanden ist.
Nun aber die Inhärenz! Es handelt sich, kurz gesagt,
nur um die logische Einsicht, dass die specielleren jene
allgemeine Vorstellung individuellen Seins determinirenden
Bestimmungen mit jenem vagen Subjectsbegriff'e so verbunden
gedacht werden können, wie es der Sinn der Verbalprädication
ist. Dass die Aussage eines Prädicatsnomens mit der sog.
Copula — welche ja auch eine Verbalprädication ist — im
allgemeinen eben diesen Sinn hat und haben muss, ist oben
schon bemerkt worden. »Dieses Tier ist ein Vogel« setzt
282
Wilhelm Schuppe,
die specielleren Bestimmtheiten, welche das Vogelsein aus-
machen, in die vageren Umrisse des bloßen Tierseins, welches
mit der Bestimmung concreter Individualität hingestellt wurde,
hinein, und zwar mit eben jener Andeutung der Zusammen-
gehörigkeit, der Einheit und Ganzheit dieser und jener, der
gegenseitigen, wenn auch verschiedenen Abhängigkeit und
Bedingtheit, welche oben als der Sinn der Verbalprädication
behauptet wurde. Und nun haben wir bloß noch den einen
Punkt zu erledigen, der keine ernstlichen Schwierigkeiten mehr
machen kann, dass nämlich in unserem Falle nicht ein so be-
stimmter Subjectsbegriff, der noch dazu eigentlicher Gattungs-
begriff ist, wie der des Tieres, sondern ein allgemeinerer
vorliegt. Aber wie, wenn das Urteil lautete : »dieses hier ist
ein Tier« ? Ich habe solche Aussagen selbst als Identificirung
gedeutet (Erk. Log. S. 382 if.), aber ich habe auch ebenda
die gemischte Natur dieser Ausdrucksformen beachtet. Wir
müssen Identificirung der sowohl im Subject wie im Prädicat
enthaltenen Dingvorstellungen anerkennen, ebenso, dass jede
jedesmal mit einer andern Bestimmtheit gedacht wird, wes-
halb in der Consequenz der Sache die beiden Bestimmtheiten,
sowohl die, welche in der Subjects-, als auch die, welche
in der Prädicatsvorstellung liegt, als Bestimmtheiten eines
und desselben Dinges gedacht werden, welche Bestimmtheiten
nun auch so, wie eben verlangt wurde, als zusammengehörige
das Ganze eines Dinges ausmachende gedacht werden. Die
Verbalprädication des »ist« behält dabei den behaupteten
Sinn. Diese Sätze haben nur das Eigentümliche vor den zu
erklärenden voraus, dass sie in der Demonstration »dieses« die
schon vorhandene Warnehmung aller, auch der im Prädicat
erst auszusagenden Bestimmtheiten anzeigen. Aber ich habe
geltend zu machen, dass, wenn auch das unausgesprochen
Wargenommene oder die in dem »dieses« enthaltene War-
nehmung mit der im Prädicatsnomen enthaltenen Vorstellung
identificirt wird, doch letztere allgemein und erstere indivi-
duell bestimmt ist, dass es ja darauf ankam, concrete Wirk-
lichkeit auszusagen, und dass auch in dieser Identificirung
die Einheit und Ganzheit und Zusammengehörigkeit des als
Subjectlose Sätze.
283
Allgemeinvorstellung gedachten Warnehmungsinhaltes und
der vorhandenen räumlich und zeitlich individuellen Be-
stimmtheit behauptet wird. Enthält auch das »dieses« hier
schon die ganze Warnehmung, so wird doch in der Form
des Urteils geflissentlich unterschieden — es analysirt, um
die Bestandteile als zusammengehörige behaupten zu können —
und in dieser geflissentlichen Unterscheidung steht doch die
Warnehmung als Allgemein Vorstellung auf der einen Seite
und so bleibt für die andere nichts anderes übrig als die
räumlich-zeitlich individuelle Bestimmtheit, mit welcher jene
zusammen das eine vorhandene Ganze ausmacht. Also trotz
des nicht unerheblichen Unterschiedes zwischen diesen Ur-
teilen und den zu erklärenden »subjectlosen« Formen, dass
in jenen das anschaulich vorliegende Ganze mit dem De-
monstrativum gemeint wird, bleibt doch dies beiden gemein-
schaftlich, dass durch die Analyse des Urteils auch in der
vorliegenden Anschauung die räumlich-zeitliche Bestimmtheit
und der Warnehmungsinhalt, welcher unter Abstraction von
dieser natürlich eine Allgemeinvorstellung ist, unterschieden
werden, damit ihre Zusammengehörigkeit behauptet werden
kann, und dass in dieser Unterscheidung und Zusammengehörig-
keitsbehauptung die Vorstellung von dem concret Wirklichen,
welches vorhanden sei, die Rolle des Subjectes erhält und
die übrige warnehmbare Bestimmtheit als Prädicat ein- oder
zugefügt wird. Und darauf lege ich nun alles Gewicht.
Es steht somit — von dieser Seite — nichts im Wege,
dass auch ohne das Demonstrativum, welches schon auf ein
vorliegendes Concretum hinweist, eine solche wirkliche Er-
scheinung in die Allgemein Vorstellung des Warnehmungs-
inhaltes als Prädicat und die Vorstellung der räumlich-zeitlich
bestimmten Wirklichkeit, welche eben durch jenes erst
determinirt wird und ihren bestimmten Jnhalt erhält, als
Subject zerlegt wird. Diese Ausdrücke treten jenen mit
demonstrirtem Subject näher, wenn statt des »es« ein »das«
gebraucht wird, was zwar nicht gewöhnlich ist, aber unter
Umständen vorkommt und ebenso verständlich ist, »das blitzt
ja«, »Teufel! das ist kalt!« »Was blitzt denn, was ist kalt?«
284
Wilhelm Schuppe,
wird wiederum gefragt lind natürlich wiederum nur geant-
wortet: »nun eben das, was ich da sehe und fühle, oder
was da ist«; aber dieses Sein, Gefühlt- und Gesehenwerden
ist eben concret nur in der Determination, das Sein nur in
dem Gefühlt- oder Gesehenwerden, das Gefühlt- oder Gesehen-
werden nur in dem gefühlten »kalt« oder in der gesehenen
so und so beschaffenen Lichterscheinung. Fragt man also,
was dieses Seiende ist, so fragt man eben nach dem Prä-
dicate, welches es erhalten soll, und so kann es keine andere
Antwort geben, als die mehr oder weniger geschickt for-
mulirte, welche den Warnehmungsinhalt nennt. Erk. Log.
S. 562. 563. Nur die logische Reflexion kann auf den Unter-
schied dringen, aber dann ist auch anzuerkennen, dass in
dem ganz unphilosophischen-reflexionslosen Sprachbewusstsein
dasjenige nicht gefunden werden kann, was allein jene finden
kann. Und vor der logischen Reflexion scheint mir der
angegebene Unterschied bestehen zu können. Das gilt von
dem »es« gerade so, wie von dem »das«. Letzteres demon-
strirt ausdrücklich, ersteres enthält sich der ausdrücklichen
Hinweisung, meint aber auch nichts anderes, als die eben
gemachte also concrete räumlich zeitlich bestimmte Wahr-
nehmung, welche ebenso zerlegt wird. Die eben durch das
Prädicat zu determinirende Allgemeinvorstellung räumlich-
zeitlich concreter Wirklichkeit ist also das in der Verbalform
der 3. Person enthaltene resp. durch unser »es« noch be-
sonders hervorgehobene Subject. Immer wird das Ver-
ständnis des Gemeinten, wie es sich aus der Lage der Dinge
ergibt, vorausgesetzt, und wenn, wie verschieden auch die
räumlich-zeitlichen Bestimmtheiten sein können, doch jede
eben ein »das« ist, so ist in dem allgemeinen »es«, welches
jedes »das« sein kann, der Verzicht auf die Demonstration
verständlich. Bei dieser Auffassung der Sache ist nun auch
die Verwantschaft des sog. Impersonale mit dem Existential-
satz vollständig klar. Das eine ist eine Art Umkehrung des
andern. In dem einen Fall ist der Begriff räumlich-zeitlich
bestimmter Wirklichkeit als durch das Prädicat zu deter-
minirender das vorausgesetzte Subject, und die prädicirte
Subjectlose Sätze.
285
Determination stellt den ganzen Warnehmungsinhalt mit
einem male anschaulich hin, im andern ist der Allgemein-
begriff der Erscheinung Subject und der Begriff der Existenz,
der wirklichen Anwesenheit hier und jetzt wird ausgesagt
und soll den Sinn des einen Ganzen herstellen. Diese Zu-
sammensetzung aus Begriffsmomenten ist weniger anschaulich
wirksam als die erstere Darstellung, welche den Prädicats-
begriff sofort als greifbare Wirklichkeit vorstellen lässt, aber
jene ist gewiß am Platze, wenn die Reflexion grade logisch
genaue Gliederung und Hervorhebung der Begriffsmomente
als Hauptbedürfnis erkennen lässt. Jene Art, Existenz zu
behaupten — ich möchte sie die indirecte nennen —, ist
gewiß die ursprünglichere, naivere, und somit volkstümlichere,
diese die verstandesmäßigere, pointirtere, erst nach längerer
Uebung der Reflexion möglich. Ist das Wesen der Verbal-
prädication verstanden resp. ist meine Auffassung zugestanden,
und begreift sich auch die Vielseitigkeit des Seins, welches
irgendwie unterscheidbar zu determiniren ist, so ist auch die
ganze Fülle möglicher subjectloser Darstellungen begreiflich.
Die innerlichen Regungen weisen nur auf eine andere con-
crete Wirklichkeit, die der innern Welt, hin, und sind
sonst den subjectlosen Darstellungen äußerer Ereignisse ganz
gleichartig.
Wir sind bisher von der Voraussetzung ausgegangen,
dass es nicht geglückt war, gewisse Erscheinungen als ein
Glied in einem größeren Ganzen zusammengehöriger Einzel-
züge zu begreifen, dass also die Subjectlosigkeit des Ausdrucks
auf der Unfähigkeit, das Subject zu finden, beruhte. Nun
können wir diese Voraussetzung verlassen. Die Eigentümlich-
keit des Ausdrucks gestattet seine Anwendung auch dann,
wenn ein Subject der wargenommenen Erscheinungen wohl
bekannt ist. Die Erscheinung selbst mag > als völlig unselb-
ständige, nur den und den andern — die das Subject aus-
machen — anhängende bekannt sein, nichtsdestoweniger
kann sie allein in der Form der Inhärenz vor Augen geführt,
werden, indem nur die durch sie determinirte Allgemein-
vorstellung concreter Wirklichkeit als Subject und Träger
286
Wilhelm Schuppe,
angedeutet wird. Der Vorteil ist allemal der, dass obgleich
freilich der Form nach auch die Zusammensetzung zum
Ganzen stattfindet, welche das Wesen des Zusammengehörig-
keitsurteils ist, doch bei der Eigentümlichkeit des ersten
Gliedes, welches eigentlich nur die Voraussetzung, dass das
zu nennende zweite als concrete Wirklichkeit gedacht werde,
enthält, oder welches eigentlich nur bewirkt, dass das zweite
gleich so gedacht wird, eigentlich doch keine bewusste Zu-
sammensetzung unselbständiger Glieder stattfindet, also das
abstract logische Moment zu Gunsten lebendiger Anschau-
lichkeit zurücktritt. Und hiezu kommt noch, dass in den
gedachten Fällen die Phantasie freien Spielraum bekommt,
um mögliche Subjecte von selbst hinzuzufügen, ein Vorteil,
dessen Wert bekannt genug ist, um hier keiner weiteren
Erörterung zu bedürfen. Daraus begreift sich der massen-
hafte absichtliche und unabsichtliche Gebrauch des subject-
losen oder impersonalen Ausdrucks, auch in solchen Fällen,
in welchen ein bestimmtes Subject genannt werden könnte.
»Es wallet und siedet«, »da hebt es sich schwanenweiß«.
Das Beispiel, an welchem nach Miklosich alle bisherigen von
ihm zurückgewiesenen Erklärungen scheitern, »es fehlt mir
an Geld« hat für die vorgetragene Theorie gar keine Schwierig-
keit, also auch für die von ihm behauptete absolute Subject-
losigkeit keine Beweiskraft. Das Fehlen und Mangeln ist
doch wohl etwas Warnehmbares, Empfindbares und seine
concrete Wirklichkeit und spürbare Anwesenheit ist durch das
»es« resp. das in der Verbalform angedeutete Subject der
3. Person ebenso dargestellt, wie die des Blitzens und Regnens,
ebenso wie die des Wohl- oder Unwohlseins, »mir ist unwohl«.
In dem Beispiel »hier sitzt es sich gut«, wie in »es geht
sich, fährt sich, lebt sich gut oder schlecht« wird man die
eigentümliche Bedeutung des Reflexivs von der Erklärung
des »es« zu trennen haben. Diese reflexive Ausdrucksweise
findet sich ja auch bei bestimmtem Subjecte »das hört sich
gut an, der Wein trinkt sich gut, diese Stelle (eines Musik-
stückes) spielt sich schlecht« dgl., hat also mit der Un-
bestimmtheit. desselben nichts zu thun. Ihre Bedeutung ist
Subjectlose Sätze,
287
immer die einer warnehmbaren resp. fühlbaren Erscheinung,
zu welcher eben die Andeutung ihres Wertes für das Gefühl
gehört (gut oder schlecht). Sind wir aber so weit, so weiß
ich nicht, welche Schwierigkeiten das »es« oder die Un-
bestimmtheit des grammatischen Subjectes, welches eben die
durch die genannte Erscheinung determinirte concrete Wirk-
lichkeit ist, haben kann.
»Es« mit dem verb, substantivum und nachfolgendem
Nomen gestattet vielleicht verschiedene Beurteilung. Folgt das
Nomen im acc., so ist selbstverständlich im erörterten Sinne
ein subjectloser Satz da ; steht es im nom., so kann es fraglich
erscheinen, ob nicht dieser nom. das richtige Subject ist, auf
welches — nach älterer Auffassung — das vorgesetzte »es«
hinweist. Allein dieses »Hinweisen« bedarf für alle Fälle
noch der Erklärung.
Ich kann es zunächst in denjenigen Fällen verbaler Prä-
dication acceptiren, in welchen das Pronomen in demselben
Geschlecht und Numerus vorgesetzt ist, welches und welchen
das nachgenannte Subject hat, »sie kommen, sie kommen die
Himmlischen alle«. »Sie fahre hin, die garstige Brut«, »Sie
naht, des Mittags stolze Flotte«. Umgekehrt wird auch das
eigentliche Subject zuerst genannt, und dann doch das Pro-
nomen dem Verbum vorgesetzt, »Welle, sie schwankt heran«.
Die Wirkung ist offenbar. Ist das Pronomen durch das genus
bestimmt oder durch die Pluralform, so kann es unmöglich
die bloße allgemeine Vorstellung wirklichen Seins enthalten;
das männliche oder weibliche Geschlecht resp. die Plural-
form deutet zu viel an, aber grade das, was es an-
deutet, ist an sich, ich meine nach seinem Inhalte zu wenig,
um noch allein als Subject gelten zu können; denn die Dinge,
deren Ausdruck männliches, und die, deren Ausdruck weib-
liches Geschlecht hat, bilden nicht je ein Ganzes, Avelches
durch dieses Zeichen sich inhaltlich von dem andern unter-
schiede. Die Geschlechtsbezeichnung determinirt also inhalt-
lich die vage Vorstellung wirklichen Seins gar nicht und hat
andererseits doch diese Allgemeinvorstellung des wirklichen
Seins zu Gunsten genauerer Bestimmtheit aufgehoben, wes-
288
Wilhelm Schuppe,
halb das pron. der 3. Person im männlichen oder weiblichen
Geschlecht oder im Plural wirklich nur auf ein sei es vorher
oder nachher genanntes bestimmtes Subject hinweisen kann.
Die Lebhaftigkeit verführt zu dem »er« oder »sie«, als wenn
es etwas schon Bekanntes wäre, was es für den Leser und
Hörer doch noch nicht ist, wohl aber für den Redenden,
dem das Ganze eindringlich vorliegt, und zwar so ergreifend,
dass er sich zu der nüchterneren und umständlicheren
Nennung des Subjectes behufs regulärer Verknüpfung mit
dem Prädicate nicht die Zeit nimmt; die Sache will kürzer
erledigt sein. Aber wenn das Prädicat mit dem sehr unvoll-
ständigen Subjecte er oder sie verknüpft ist, so macht sich
doch der Mangel geltend, nun aber so, dass seine Beseitigung
aufs neue der rednerischen Wirkung dient. Denn der Hörer
und Leser sind gespannt auf das Subject, dessen Nennung
nun doch erfolgen muss; ihre Phantasie ist schon durch das
dem »er« oder »sie« erteilte Prädicat angeregt, und wenn das
Subject nun genannt wird, nicht mehr als unselbständiger
Satzteil, sondern für sich allein, so nimmt es auch ganz und
gar und mit um so größerer Wirkung die Phantasie ein.
Ganz ebenso wird auch ein Object mit dem Pronomen der
3. Person antecipirt und nachher erst appositionell genannt.
Dies die Bedeutung der Sache. Logisch hat das Pronomen
doch immer nur den Sinn einer wenn auch schwachen Hin-
weisung, und es kommt nur darauf an, worauf wir die
Hinweisung beziehen; ich habe sie auf das der Phantasie
des Redenden Gegenwärtige bezogen. Nur von »er« und
»sie« war die Rede, aber nur weil die Geschlechtsunter-
scheidung die Fälle zu unterscheiden zwang; aber nun ver-
steht sich auch von selbst, dass ein »es« auf ein nachgenanntes
sächliches Subject sich ganz in derselben Weise beziehen kann.
Welche Fälle das sind, kann allein der Sinn und Zusammen-
hang entscheiden; abtrennen müssen wir von ihnen die-
jenigen, welche gemeinhin als echte Impersonalien aufgefasst
werden. Zu jenen unechten rechne ich auch das »es«, wenn
ein inf. mit zu oder ein Satz mit dass folgt. Wenn auch
nicht, besondere Lebhaftigkeit oder das Bedeutsame des Ein-
Subjectlose Sätze.
druckes dazu treibt, sondern mehr stilistische Rücksichten,
so ist doch auch in diesen Fällen »es« eben das, was der
nachfolgende Satz resp. inf. nennt, was aber dem Redenden
schon vorschwebt, es ist gut, dass du kommst, es ist löb-
lich, so oder so zu handeln. Hörer oder Leser können freilich
in diesem »es« schon die Andeutung hören, oder aus ihm
entnehmen, dass das eigentliche Subject noch kommen wird;
aber hier so wenig wie oben kann ich mich zu der Annahme
entschließen, dass der Sprachgebrauch dieses Wörtchen aus-
schließlich zu dem Zwecke gewählt und in dasselbe allein
den Sinn gelegt habe, dass man daraus die tröstliche Ver-
sicherung entnehmen könne, dass der Redende uns nicht
ohne Subject lassen werde, als wollte er sagen, »glaub' etwa
nicht, dass dieses verb kein Subject habe; pass' nur auf, es
wird gleich kommen«. Das kann »er, sie, es« nicht heißen;
nur indirect geht auch dies daraus hervor, weil wir ver-
stehen, dass es direct aus sich auf ein im Gedanken des
Redenden schon Vorhandenes hinweist.
Nun haben wir aber ein »es« vor dem verbum, welchem
ein männliches oder weibliches Subject folgt oder ein Plural,
und natürlich auch in demselben Sinne ein sächliches, und
das Sprachgefühl unterscheidet diese Fälle sehr deutlich von
jenen und erlaubt nicht, das nachgenannte Subject, wie eine
richtige Apposition, von dem Verbum durch ein Komma zu
trennen. »Es kreiste so fröhlich der Becher, es ritten drei
Reiter zum Tore hinaus, es war einmal ein König« drgl.
Dieses »es« kann nun nicht mehr auf den schon in seiner
Bestimmtheit erfassten, im Gedanken des Redenden vorhan-
denen Gegenstand hinweisen, sondern kann nur den allge-
meinen Sinn concreter Wirklichkeit haben (wie in »es blitzt«),
aber sein Prädicat ist nicht eine ganze Erscheinung, wie der
niederzuckende Blitz, sondern eine von jenen Vorstellungen,
welche längst als nur anhängende, nur inhärente, an vielen
Subjecten mögliche bekannt sind. Deshalb ist es zwar immer
noch möglich, es wie ein echtes Impersonale ganz ohne
SubjectsUennung zu lassen, indem der Phantasie die Aus-
füllung der Lücke überlassen wird, wie in »es wallet«, aber
Zeltschrift für Völkerpsych. lind Sprache. Bd. XVI. 3. 19
É90
Wilhelm Schuppe,
es kann auch das Subject als Determination des vorgeschickten
»es« nachfolgen. Und nun muss ich natürlich fragen: wie
es, dieses zweite Subject, welches nicht im eigentlichen Sinne
Apposition ist, dem erstgenannten folgen kann. Finden
wir dafür eine annehmbare Erklärung, so ist die Hauptsache
geleistet; denn warum und in welchen Fällen von dieser
Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, macht keine Schwierig-
keiten. Das »es« mit dem verbum setzt, sowie alle richtigen
Impersonalien, die Erscheinung, welche sein Stamm bedeutet,
ohne Zusammensetzung mit einem Subjecte anzudeuten resp.
nur in der Zusammensetzung mit dem Subjecte: »concrete
Wirklichkeit«, welches dadurch determinirt wird, mit einem
male vor Augen, »es kreiste«; wenn nun doch nachträglich
noch ein bestimmteres Subject hinzugefügt wird, so schiebt
es sich in diese Gedankenconstruction ein, fügt sich der schon
begonnenen Darstellungsweise und so participirt diese Ver-
bindung von Prädicat mit nachgefügtem Subjecte an dem
Vorteil aller impersonalen Darstellung, der größeren Lebhaftig-
keit und Anschaulichkeit. »Es kreiste so fröhlich der Becher«
führt uns anschaulicher das Bild des kreisenden Bechers vor
die Augen, sowie »es zuckt ein Blitz hernieder« das Bild
des niederzuckenden Blitzes, so, wie das einfache »es blitzt«.
Dass solche Darstellungsweise sich auch dann zuweilen an-
gewendet findet, wenn nach der Deutung der Theorie keine
zureichende Veranlassung vorhanden ist, dass sie Manier
werden, dass sie auch ganz fremden und äußern Rücksichten
dienen kann, versteht sich wol von selbst. Hier handelt es
sich nur um die grammatisch-logische Möglichkeit solcher
Construction, und da muss ich meiner Vermutung die Be-
merkung vorherschicken, dass die Differenz zwischen den
Sprachforschern, wenigstens der größeren Zahl derselben,
und meiner Wenigkeit vor allem schon darin besteht, dass
für mich auch solches der Erklärung, der Rückführung auf
einfachere Elemente bedürftig ist, was in jenen Kreisen
schon für das Einfachste und ganz selbstverständlich gilt.
Durch diese Verschärfung nicht nur, sondern auch durch
die speciflsche Richtung der Ansprüche werden die Gesichts-
Subjectlose Satze.
291
punkte verschieden und mit ihnen natürlich die Gruppirung
der Erscheinungen, so dass für mich von einem bestimmten
Gesichtspunkte aus solches, was sonst weit voneinander ab-
zuliegen scheint, nahe zusammenrückt und umgekehrt. Dem
zufolge bitte ich dem Staunen resp. der schnellen Verwerfung
ein wenig Einhalt zu tun, wenn ich in der nachträglichen
Hinzufügung des bestimmten Subjects nach vorhergegangenem
»es« eigentlich dasselbe Problem sehe, wie in jedem einfachsten
Satze »der Hund bellt«, und ebenso wie in der Prädication
eines Nomens »terra rotunda est« und »der Hund ist ein Tier«.
Für mich sind auch diese der Erklärung bedürftig. Wenn man
nur zugibt, dass — gleichviel durch welche Vorgänge und auf
welchen Umwegen — doch factisch die Verbalform wesentlich
die Andeutung der Person enthält, und ferner, dass diese
angedeutete Person eben in der Verschmelzung mit dem
Verbalstamm nur den Sinn des Subjectes haben kann, so
sind in der 3. Person, wenn ein bestimmtes Subject genannt
ist, auch immer zwei Subjecte da, eins in der Personal-
endung, nur allgemein als 3. Person, und das andere das
zugesetzte Nomen. Die factische Reihenfolge ist ganz gleich-
gültig, in jedem Falle ist durch die bloße Zusammenstellung
resp. Uebereinstimmung in numerus und casus (nom.) an-
gedeutet (nicht eigentlich ausgedrückt), dass das Nomen nur
die Determination des in der Verbalform enthaltenen allge-
meineren Subjectes ist und ganz dasselbe Eine meint. Jenes
mit dem Verbalstamm verschmolzene, welche Verschmelzung
ja eben das Wesentliche ist, vertritt gewissermaßen das be-
stimmte nominale Subject bei dem Vermählungsacte, welches
mit jenem identificirt wird (letzteres natürlich nicht durch
einen besonderen Ausdruck). Die Gedoppeltheit der Sub-
jecte, welche logisch erst durch die Erkenntnis ihrer Identität
aufgehoben wird, verschwindet factisch für das Bewusstsein
durch die selbstverständliche Unentbehrlichkeit der Deter-
mination des allgemeinen Subjects der 3. Person, ohne welche
eben ein scheinbar subjectloser Satz, z. B. pluit, vorhanden
wäre. Hieraus ist auch klar, warum nicht durch dasselbe
Mittel der Hinzufügung in gleichem casus und numerus noch
19*
m
Wilhelm Schuppe,
mehrere Determinationen vorgenommen werden können (das
Tier kam der Löwe), es sei denn so, dass die zweite deutlich
als sog. Apposition gefühlt wird. Beachtung verlangt noch
die in mehreren Sprachen vorhandene Möglichkeit resp. Not-
wendigkeit der Zufügung des Personalpronomens, die durch
Abschwächung und Verblassung der Personalendung erklärt
werden kann. So bei den beiden ersten Personen, weniger
bei der zweiten, deren Endung bei uns noch charakteristischer
ist, bei welcher demgemäß auch das Personalpronomen
häufiger wegbleiben kann, als bei der ersten. In der dritten
Person ist die Zusetzung des Pronomens in einem der drei
Geschlechter und in dem Numerus der Verbalform nicht bloß
Heraussetzung desjenigen, was ursprünglich schon die Endung
andeutete, sondern es ist schon bestimmter, das Pronomen
fungirt also schon als die Determination, die sonst als Sub-
stantivum hinzutritt, und weist auf ein bestimmtes Vor-
gestelltes hin, sei es im Vorhergehenden schon gesagt, sei es
— was eben besprochen wurde — erst im Folgenden, als
Apposition, hinzukommend. Dagegen dürfen wir in dem
abundirenden »es«, wenn ein bestimmtes Subject in beliebigem
Genus und Numerus nachfolgt, welches eben deshalb nicht
als eigentliche Apposition gefühlt wird, wirklich nur die
Heraussetzung der in der Verbalform der 3. Person schon
enthaltenen Subjectsvorstellung sehen, welche Geschlechter
und Numerus nicht unterscheidet. Dieses »es« ist zwar
Neutrum und gewiss kann die Allgemeinheit, mit welcher
es die Vorstellung concreter Wirklichkeit, welche weder ich
noch du ist, andeutet, weder als männlich noch als weiblich
gedacht werden, sondern nur als sächlich; aber dieses Neu-
trum schließt nicht die bestimmten männlichen und weib-
lichen Dinge aus, sondern schließt sie in seiner Allgemeinheit
ein, ebenso wie dieses »es« auch nicht die Einzahl betont,
sondern ebensogut eine Mehrheit bestimmter Dinge unter sich
subsumiren lässt. Nun meine ich: ist dieses »es« eigentlich
nur die Heraussetzung der in der Verbalform der 3. Person
so wie so enthaltenen allgemeinen Subjectsvorstellung, nicht
schon eine Determination derselben, so dürfen wir es auch
Subjectlose Sätze.
293
dem Sinne nach ganz und gar mit jener zusammenfallend, also
nicht schon als ein zu dem in der Personalendung enthaltenen
Subject hinzugefügtes bestimmteres denken, und demnach steht
die Hinzufügung eines substantivischen Subjectes noch frei,
»es ritten drei Reiter etc., es bellen die Hunde, es rasseln
die Ketten«. Dass dieses Subject »es« nur möglich ist, wenn
das Verbum dem bestimmten Subjecte vorangeht, dass es
nur vor dem Verbum Platz haben kann, dass es unmöglich
nach dem bestimmten substantivischen Subjecte stehen kann
und dass es absolut keinen Sinn hätte, wenn ihm dieses so-
fort folgte und nicht durch das Verbum von ihm getrennt
wäre, scheint mir keiner weiteren Erklärung zu bedürfen,
dagegen kann es fraglich erscheinen, warum dieses »es« so-
gleich unmöglich wird, wenn ein anderer Satzteil an die
Spitze tritt, z. B. »fröhlich kreiste der Becher«. Aber solange
nichts Bestimmtes bewiesen ist, sehe ich nicht ein, warum
ich annehmen müsste, dass der Grund dieser Erscheinung,
der erst noch gefunden werden soll, sich mit meiner prin-
cipiellen Erklärung des »es« nicht vertragen könne. Wir
können hier davon absehen.
So wie dieses »es« also vor einem Verbum, dem als
eigentliches bestimmtes Subject noch ein Substantiv nach-
folgt, stehen kann (es ritten drei Reiter), ganz ebenso vor
Sein im Sinne von Existiren, Leben, sich Betätigen, z. B.
»es ist, existirt, lebt ein Gott, es war, lebte einmal ein
Mann« dgl. In den gedachten Fällen ist ja das Sein un-
zweifelhaft nicht die leere Abstraction des bloßen Seins,
sondern ist ein inhaltsvoller Begriff. Von ihm wird die große
Zahl der Fälle getrennt, in welchen das Sein den Dienst der
bloßen Copula verrichten soll, und in ihm erstände unser
altes Problem aufs neue. Sätze, wie »es ist Winter, es ist
eine entsetzliche Kälte, es ist Mondschein, es ist neun Uhr«,
können vielleicht so verstanden werden, wie auch ein Sub-
stantivum als Prädicat von einem bestimmten Subjecte aus-
gesagt wird. Wenn man auch das Sein des Winters, der
Kälte, des Mondscheins, der neunten Stunde als das in jenen
Sätzen Behauptete ansehen möchte, so ist doch andererseits
294
Wilhelm Schuppe,
der Unterschied von anderen Behauptungen der Existenz,
z. B. der Existenz Gottes allzu klar. Es wird nicht bloß das
Sein sondern das Jetzt- und Hiersein behauptet, und dass
dieses »ist« mit seinem Substantivurn auch den Sinn eines
Verbums hat, »es wintert« ist ja auch anerkannt. Aber ich
erkenne an, dass es sich auch nicht einschränkungslos der
sog Copula, wie in »die Erde ist rund, der Hund ist ein
Tier« gleichstellen lassen will. Von meinem Standpunkte
ist diese Mittelstellung ganz begreiflich, so zwar, dass wir
zugleich einsehen, warum wir gar nicht zu entscheiden
brauchen, ob das »ist« nun wirklich völlig gleich der bloßen
Copula sei oder aber den vollen Sinn behaupteter Existenz
habe. Es kommt natürlich auf den Begriff der Copula an,
worüber ich meine Ausführungen in der Erk. Log. zu ver-
gleichen bitten muss. Dass dieser Laut ausschließlich die
Verkörperung der logischen Beziehung sei, kann nur jemand
behaupten, der, was »logische Beziehung« ist, sich wenig klar
gemacht hat, oder sich darunter, wenn überhaupt etwas,
jedenfalls etwas ganz anderes denkt, als ich. Die logische
Beziehung kann nichts anderes sein als Identität resp. Unter-
scheidung und causaler Zusammenhang. Das »ist« sagt
direct weder das eine noch das andere aus. Es ist Schein,
der auf der Oberfläche liegt, dass das »ist« in den Worten
»das Ding ist rot« das »rot« mit dem Dinge verbände; er
verliert sich, sobald wir besser wissen, was das Verbinden
ist und wie es möglich ist, vor allem, wenn man erst zu
verstehen sich bemüht, was denn dieses Sein, welches den
Sinn der Copula ausmachen soll, sein mag. Wie kann der
Begriff des Seins copuliren? etwas als Eigenschaft einem
Dinge anhaften?
Ich sehe nur die Möglichkeit, dass das Sein in dem
volleren Sinne des warnehmbaren Daseins und Sichbetätigens,
Sichgeltend- und in seiner charakteristischen Art spürbar
machens als Inhalt des verbum substantivurn von dem Sub-
jecte ausgesagt wird, selbst natürlich der Verbindung be-
dürftig und sie findend in der Verbalform, und dass dann
die Determination dieses Allgemeineren, sei es als Adjectiv-
Subjectiose Sätze.
295
sei es als Substantivbegriff durch Uebereinstimmung mit dem
Subjecte direct auf dieses bezogen wird, so wie ursprünglich
gewiss die Identificirung, totale wie partielle, durch diese
bloße Nebeneinanderstellung und Uebereinstimmung zum
Ausdruck gebracht werden musste.
Den Prädicatsnominativ kann man mit dem Nominativ
in der Limitation »er zeigte, betätigte sich als ein guter
Dirigent« vergleichen, welcher grade so den Verbalbegriff
auf eine bestimmte Sphäre .einschränkt. »Das Ding ist rot«
will nicht ganz allgemein das Erscheinen und Wargenommen-
werden von dem Dinge aussagen, sondern nur in der be-
stimmten Determination als wargenommenes und erscheinendes
rot. Erst dadurch konnte die Bedeutung des verb subst.
sich zur sogenannten Copula abschwächen. Wenn ich
oben die Schwierigkeit in dem »es« mit nachfolgendem
bestimmtem Subjecte schon in der gewöhnlichen Verbal-
prädication und in der Copula mit einem Prädicatsnomen
fand, so sehen wir jetzt, dass auch in diesen Fällen ein
Satzteil von allgemeinstem Inhalt durch die einfache Hinzu-
fügung einer neuen Bestimmung determinirt wird, welche
mit der Geltung eben jenes Satzteiles auftritt und mit ihm
als derselbe aufgefasst wird; der Allgemeinvorstellung des
Subjectes der 3. Person, welche schon in der Verbalform ent-
halten ist, tritt determinirend hinzu, vor oder nach, ein be-
stimmteres Subject, und zu der Allgemeinvorstellung des
Seins im Sinne des Erscheinens und Wargenommenwerdens
als des Prädicates tritt ein bestimmteres Prädicat, welches
die Art der Warnehmbarkeit (rot, rund) enthält und mit
jenem als eines und dasselbe aufgefasst wird. Hier wie in
unzähligen andern Fällen muss das Verständnis der Sache
die Construction verstehen lassen. Ist ein bestimmtes Sub-
ject vorhanden und lehrt unsere Sachkenntnis, dass das
zugefügte Nomen eben wirklich eine Determination des
Daseins, Erscheinens und Wargenommenwerdens ist, und
dass es grade darauf ankam, sie zu nennen, so ist das Nomen
Prädicat und das verbum substantivum hat die abgeschwächte
Bedeutung der bloßen Copula, »die Erde ist rund«. Ist ein
296
Wilhelm Schuppe,
bestimmtes Subject mit verbalem Prädicat vorhanden, welches
einen bestimmten Inhalt hat, so versteht sich aus der Sache
von selbst, dass nicht leicht eine Bestimmung gefunden
werden kann, welche behufs Determination desselben noch
als nominales Prädicat hinzutreten und durch Ueberein-
stimmung mit dem Subjecte verbunden werden kann. Hier
tritt die Form des Adverbs ein. Im Griechischen und
Lateinischen findet sich, wo die Sache überhaupt eine solche
Bestimmung zulässt, auch neben inhaltsvollem Verbum ein
Nomen in Uebereinstimmung mit dem Subject, im Deutschen
durch das limitirende »als« verbunden.
Ist »es« das Subject, nicht hinweisend auf ein vorher
genanntes Ding oder ein der Phantasie des Redenden schon
vorschwebendes, sondern das Subject der 3. Person, die
Allgemeinvorstellung concreten Seins bedeutend, und hat es
zum Prädicat ein inhaltsvolles Verbum, so kann ein nach-
gefügtes Substantiv (es bellen die Hunde) nur dem Bedürf-
nisse der Subjectsbestimmung dienen; so zeigt eben die Sache
— worauf ich ja principiell alles Gewicht lege — dass dieses
Ding nur als Subject zu der Verbalform gedacht werden
kann. Ist nun aber das Verbum das sog. verbum substan-
tivum, so gestaltet sich die Sache notwendig etwas anders;
denn das Sein kann überhaupt in keiner Weise von dem
»es« ausgesagt werden. Der Unterschied, ob das nachfolgende
Nomen das Subject »es« oder das Prädicat des Seins deter-
minili, erscheint erheblich abgeschwächt, weil auch im letz-
teren Falle doch schließlich nichts anderes als das war-
nehmbare Dasein dessen, was das Prädicatsnomen besagt,
behauptet wird. Freilich ist in der Form der Darstellung
immer noch ein Unterschied vorhanden, aber was davon noch
vorhanden ist, entscheidet sich wieder ebenso, wie oben.
Ist die Vorstellung des Prädicatsnomens entschieden die
einer Inhärenz (es ist kalt), so werden wir auch den Verbal-
begriff zur Copula abgeschwächt denken und das Kaltsein
wie ein einziges Verbum (etwa »kältet«) dem Allgemein-
subject »es« als seine in diesem Falle charakteristische und
auffallende Betätigungsvveise inhäriren lassen. Ist das Prädi-
Subjectlose Sätze.
297
catsnomen seinem Begriffe nach selbst Subjéct und Träger
von Eigenschaften und Tätigkeiten (Gott), so Averden wir es
als Determination des Subjectes an seine Stelle setzen und
die wirkliche Existenz (im Gegensatze zu Irrtum und Fiction)
von ihm aussagen.
Ist das Prädicatsnomen ein Substantivum, welches selbst
nur eine Eigenschaft, eine Erscheinungsweise, einen Zustand
bedeutet (es ist eine große Kälte, es ist Winter, Mondschein,
neun Uhr), so ist gar nicht zu entscheiden. Sehr gut läßt
es sich als Inhärenz denken (es wintert), wie wenn ein be-
stimmtes Subject ein Substantivum zum Prädicat hat, aber
es lässt sich auch als das bestimmte Subject auffassen, dem
warnehmbare Existenz zugesprochen wird. Dass die Existenz
irn vorigen Falle (Gott) uneingeschränkt, in diesen Fällen
als Vorhandensein an bestimmtem Orte in bestimmter Zeit
gedacht wird, ist sprachlich picht zum Ausdruck gebracht.
Beispiele brauche ich nicht zu häufen, weil es mir nur
auf die logische Seite der Erklärung ankam, und weil sie
bei Miklosich in großer Fülle zu finden sind. Dass es für
die Individualität eines Volkes, für eine Zeit, für einen Schrift-
steller charakteristisch ist, wie oft und grade in welchen
Fällen der impersonale Ausdruck vorkommt, versteht sich
ganz von selbst.
Who are the Chinese?
By Herbert Baynes.
This is a question which would seem to involve a reference
to the very densest stratum of nebulous thought. It has
been said of Art that 'with a special tenacity she has wrapped
herself about in the grateful gloom of a mystic twilight',
and with equal truth it may be said of China. For, indeed,
in walking down a street in Hankow or Pekin, 'we survey
a living past and converse with fossil men'. Though known
298
Herbert Baynes,
amongst themselves as Pö Hsiñ, 'the Hundred Families',
we must not forget that the Chinese form a third part of
the whole human family. What is it that cements this
truly 'colossal agglomeration' of 420 millions of human
beings? It is the laws and customs of the Celestial Empire;
in a word, the tradition of the Elders. 'As in China', says
Mr. Gardner, 'the advance has been from the Gens, thence
to the community, and lastly, so that only recently (and
even now imperfectly), has the idea of the nation been
grasped; we may lay it down as an axiom, that law in
China is derived by evolution or by fictions from the neces-
sary authority of adults over their progeny. Mr. Parker
shows that the principle of Hsiao (which in its narrowest
sense means the subordination of children to their natural
parents) is undoubtedly the substratum of the Chinese social
and legal fabric. The Chinese say, Wan te hsiao wei hsien,
'Hsiao was the first of duties'. From about the 5th century
of our era the Chinese have not modified the mores majorum,
and so we have the establishment of Law by the consoli-
dation of Custom. The Chinese written Law consists of Lu
'Codes' and Li 'Constitutions'; the latter are compiled by
chínese jurisconsults (csi jê) from 'Rescripta' (Pi jü), 'Decreta'
(Tan tuan), and 'Edicta' (Jü csî), and are published as
authoritative by the Government. As far as one can com-
pare English with Chinese institutions, one may state that
the Lu is a codified form of Customs and Common Law,
whereof the memory of man goeth not to the contrary,
while the Li represents Statute Law'.
Notwithstanding the fact that we possess a vast litera-
ture on both the race and language of this wonderful country,
and despite all that has been set forth by Chinamen as to
the possession of an unbroken history, we cannot rest satisfied
that there is nothing more to be learnt about them. Are
we to believe that from time immemorial they have occupied
the same ethnic position? That for five thousand years they
have had an isolating language and a monotheistic faith?
We consult the first chapters of this venerable history and
Who are the Chinese.
299
find the representation of a small band of chínese immi-
grants settling down in what form the north-eastern pro-
vinces of the present empire, that is to say, in a territory
surrounded on all sides by autochthonic tribes. These
strangers are said to have been possessed of arts and sciences,
by means of which they were able to exercise lordship over
the more ignorant natives of the country. But then, we
at once ask: whence came these foreigners'? From whom
had they learnt astronomy, the art of writing and the science
of government?
Now, the only way of satisfactorily answering these
questions is by national and international linguistic analysis.
In dissecting words we are in reality writing the history of
civilisation.
Beginning with national analysis, we must bear in mind
the truth so well enunciated by Wilhelm von Humboldt
that the mental peculiarity of a people and the form of its
language stand to each other in such intimate relationship
that, the one being given, one should be able to completely
deduce the other from it. For, intellectuality and language
only admit and induce forms which are mutually correspon-
dent. Applying this to the Chinese, we are not surprised
to find that the principle which shows itself in their prac-
tical life, that, namely, of undifferentiated unity, is also the
principle of their speech. The inner form is lacking, having
become pure externality. Only by the external order of words
are the inner relations and interdependence of concepts ex-
pressed. It would seem that the richness of Chinese lin-
guistic phantasy has resolved itself into music. Position and
intonation decide the meaning of the sentence. But, what
is the origin of the 'sen or tones? Strange though it may
seem, it is to these csen that Chinese,owes its monosylla-
bism. This ingenious musical device has been brought
about solely by phonetic decay. It is a phaenomenon which
is found, though in a less degree, in many African dialects,
where it has produced the same result: 'To unterstand
their origin we must remember', says Prof. Douglas, 'that on
300
Herbert Baynes,
entering China the Chinese found the country occupied by
races more or less civilised, with whom they freely mixed
to a greater or less degree as circumstances determined. From
this inequality of intercourse between races speaking languages
with different morphological constructions, in which great
importance was attached to the quality and quantity of
vowels for the meaning of Words, there resulted a condition
of phonetic poverty owing to contractions and elisions of
the initial, medial, or final syllables of their words. By the
movements of the organs of speech, and the ordinary principle
of equilibrium, the place of these decayed articulations has
been supplied by differences of tone in the pronunciation
of the vowels, a system which, by the facility it gives for
the economy of language, has received a full development'.
The Chinese written language (Kjai-su) is a word-writing;
every sign represents a concept. But since the number of
the simple conceptual signs was limited, new concepts were
formed partly by reduplication and to a great extent by
addition. A calculation based on the Imperial Chinese Dic-
tionary shows that, at present, the Chinese language is re-
presented by about 50000 characters. Of these at least
13000 are utterly irrelevant and consist of signs which are
alike obsolete, incorrectly formed, and unexplained. In ordinary
literature we do not meet with more than 4000 signs. A
knowledge of only 2500 characters will enable one to unter-
stand the writings of Confucius and his disciples, in fact,
almost any Chinese work on history and philosophy.
Now, this form of writing, the Kjai-sû as it is called,
does not date further back than the 4th century of our era.
It is a modification of the more rounded and thicker writing
known as Li-su, i. e. official script, which is ascribed to
Kiñ-mo, rendered possible through the improvements in the
scribe's apparatus, namely, his paper and hair pencil. The
Chinese emperors have always considered it their special
function to uphold orthography, and have repeatedly tried
to fix by law the form of the written signs. Hence, since
the days of the Zin dynasty the Li-sû had been the
Who are the Chinese?
301
official text. It will easily be seen that, when once there
was a deviation from tradition and new forms were crea-
ted, there would arise the danger that, in the far-reaching
provinces of the Chinese empire, independent forms would
be developed and the highly-important unity of written lan-
guage be destroyed. The character composed of meagre and
monotonous strokes which had immediately preceded the
Li-Csu was the Siao-liwan which was written on a bamboo
with a stylus. But this, again, was an official modification
of the ancient mode of writing called Ta-tiwan, in which,
among the different States which had once been subject to
the dominion of the Jfc.au, many and great variations had
been developed. Formed by the historiographer cSö feu,
at the instigation of one of the greatest monarchs of the
Éâu dynasty, King Siin, the Ta-liwan was an undertaking
in which the written character was reconstructed as one of
hieroglyphics.
Having come thus far by an analysis of the Chinese
language itself, let us now, under the guidance of that
eminent philologist, Prof. Terrien de Lacouperie, apply our
second canon of research, namely, international linguistic
analysis.
The modern characters can be traced back through the
changes they have undergone, partly in obedience to political
necessities, in the fourth century and during the Zin (B. C. 255—
200) and the Éau (1122 B. C. — 255 B. C.) dynasties, to a time
when they were used to phonetically represent an agglu-
tinative or amalgamating language. 'We have multi-
farious proofs that the writing first known in China was
already an old one, partially decayed, but also much im-
proved since its primitive hieroglyphic stage. Although
many of them had kept their early pictographic and ideo-
graphic values, the characters, selected according to their
sense, were used phonetically, isolated and in groups, to
represent the monosyllabic and polysyllabic words as well
as the compounds of the spoken language. At that time
the writing of the Ku-wan was really the phonetic expression
m
Herbert Baynes,
of speech'. By an analysis of the old inscriptions and frag-
ments, and by the help of the native works on palaeography,
M. de Lacouperie has compiled a dictionary of this period.
With the results of Jañ Hjuñ's researches in 25 dialectic
regions, and by a comparison of the various idioms of modern
China with those of the aborigines, we are enabled to read
the characters as the subjects of the Zin dynasty read them.
The outcome of this process has then to be compared with
the rhymes of the 1Si-Kiñ or 'Book of Odes', and with the
languages of the offshoots from the ancient Chinese confe-
deration, such as the Siamese, the Burmese and the Anna-
mites, and even with those of remoter kinship.
We have already spoken of that characteristic of Chinese,
namely, the csen or tones. Now, a comparison of these tones
as they are developed in the speech of the Celestial Empire,
with the double initials in Burmese, Siamese and Sinico-
Annamite, and with the mute letters in Tibetan, completes
the evidence required to prove that they are the modern
representatives of decayed syllables. As an instance of the
transformation of ancient Chinese words we may mention
the equivalent for 'eye' which, as Prof. Douglas has pointed
out, from a combination of two words, mut and kan, becomes
multan, as it is at the present day among the Panicoochi
tribe of aborigines. As this word gradually became the
property of tribes some of whom laid greater stress on the
final and others oil the initial parts of their words, it was
succesively metamorphosed on the one hand to mang,
ngan, and the modern jen, and on the other hand to muk
and muh.
Thus, notwithstanding its excessive attenuation, and
disguised as it is by the influence of idioms belonging to a
different morphology and conceptology, the Chinese spoken
language is nevertheless an ancient member of that great
family of speech which is known as Ural-Altaic. And here
it may be well, as Prof. de Lacouperie suggests, to esta-
blish a third division of that family, which might appropriately
be called Amardian; a group in which the first division
Who are the Chinese.
embraces Akkadian and its dialect, and the second division
proto-medic, Susian, and Kossian.
The ideological characteristics of Chinese, coupled with
its peculiarities of phoneticism, place it as a link between
the Amardian division and the Ugro-Finnish group. It is
true that ancient Chinese shares certain very marked gram-
matical affinities with the Ugro-Finnish tongues, but its
phonetic degeneration, and its choice of certain articulations
more closely connect it. with the Akkadian and Susian
dialects. To quote but a few instances of this linguistic
relationship:
Akkadian Chinese English
lu li cow
umu mu mother
sik sik cloth
gan gun cloud
ka ko mouth.
Of the Akkadian hieroglyphics there have as yet been
deciphered rather more than 500, and it is very remarkable
that Chinese tradition fixes the number of the original
characters at 540.
'Results no less remarkable', says Prof. Douglas, 'are,
however, brought to light by a comparison of the social and
religious institutions of the two peoples. In the early legendary
records of China we find the first place in the list of the
five Sovereigns who bore rule at the dawn of history occupied
by Hwañ-ti, anciently Kon-ti, whose family name is said to
have been Nai or Nak. This ruler is credited with having
invented astronomy, music, medicine, and the other sciences,
as well as the arts which contribute to the comfort and
well-being of men. If we examine the old form of his name,
as preserved in the Kiven- so - wei and >the Lu-su-pun-hij,
we find it to be composed of one group of characters
to be read Nak-Kon-ti, a name which strangely coincides
with Nakcunta, or Nakcunte mentioned in the Susian texts
as the chief of the gods. This name was added to their
own by the oldest Susian Kings, as we find in the case of
304
Herbert Baynes,
Kudur-Nakcunta, who ravaged the country from Ur to Baby-
lon , and founded the dynasty called by Berosus Medic
(B. G. 2285). Again, tradition tells us that the inventor of
Chinese writing was Zañ Hie, or, as his name was pronounced
in old Chinese, Dum-Kit, who is said to have been an inde-
pendent chief, though by some writers he has been described
as reigning in succession to P'u-hi, and by others as a minister
of Hwañ-ti. The resemblance between his name, Dum-Kit,
and that of Dungi, King of Ur, who succeeded the famous
Likbagas, or Likbabi, on the throne, is curious, and the
interest in the comparison is heightened when we recognise
that the meaning of the Akkadian characters composing the
name Dungi is 'the man of the reed tablet'.
Turning now to the political institutions of the early
Chinese we find in the fragments of Susian history as yet
made known complete explanations on two points which
have hitherto baffled the investigation of scholars both native
and foreign. In the second chapter of the 'Book of History'
we are told that the Emperor cSan (B. B. 2255—2205) 'gave
daily audiences to all the pastors', who are understood to
have been the Princes of the various States; and, in another
passage, that 'he sacrificed specially, but with the ordinary
forms, to God, and with reverent purity, to the Six Honored
Ones.' The epithets 'pastors', as applied to Princes, and 'Six
Honoured Ones' have been much commented upon, but no satis-
factory explanation has been offered of them. Now, however,
that which has been a riddle to the people themselves for tens
of centuries is made plain to us by the Susian texts. There
we are told that the Princes of the second rank were
called 'pastors', and that in the Divine hierarchy there
were next in order to the principal god six deities of the
first rank'.
And here we must stop to notice what is, after all,
the most important work in the whole realm of Chinese
literature, namely, the Ji-Kiñ. It was of this book that
Confucius said that, if he had 50 more years to live, he
would devote them to the study of the original text, which
Who are the Chinese?
305
consists of short sentences arranged under certain diagrams,
formed by the combination of straight lines.
'As a matter of fact', says Prof. de Lacouperie, 'the
Ji-kiñ is the oldest of the Chinese books, not certainly as
it now stands, but as far as concerns the greatest part of
the documents which are compiled in it. Some of these
parts are most likely contemporary with the early leaders of
the Chinese Bak families (Pöh Sing). It has all the appea-
rance of being a series of notes, documents, and informations
collected by the early chiefs of the Chinese immigrants. It
looks like a repository of indications drawn up by the early
leaders of the Bak families, for the guidance of their officers
and successors, in the use of the characters of the writing,
by the native populations with whom the newly-arrived
people had to deal, for the customs, the produce of the soil,
the animal kingdom, etc.; and it is in this sense that the
Jí-Mñ is the most valuable of the Chinese classics, the one
in which, according to the non-interrupted and unconscious
feeling of the Chinese themselves, was embodied the wisdom
and Knowledge of the sages of yore'.
The work is attributed to the legendary Emperor £û Hî
(B. C. 2852) and seems to have been first arranged under
the Hia dynasty (2205—1766 B. C.). The fact that 1450
works on the Jî were selected for the library of Kien-Lañ
shows pretty clearly the inability of the successive early com-
mentators — Wan Wañ (B. C. 1150), kau Kuñ (B. C. 1120),
and Kun-pu-zö (B. C. 500) to understand the book. Native
and European scholars have alike supposed it to treat ex-
clusively of philosophy and divinatory lore, but the researches
of Prof. de Lacouperie and his collaborateur, Prof. Douglas,
prove that 'the original text consists to a great extent of
vocabularies in which important words and their characters
are explained in the (probably eight) different dialects spoken
within the limits of the Chinese supremacy, and in which
to other words are appended lists of their equivalents. Inter-
mingled with these vocabularies are important records of
Zeltschrift für Völkevpsycb. und Sprachw. Bd. XVI. 3. 20
306
Herbert Baynes,
unusual interest, such as ephemerides bearing on the ethnology
and history of the ancient East'.
Now, it would seem that these Chinese vocabularies
have been framed in obedience to the same principles, very
much with the same materials, and according to the tradition
of the old syllabaries of South-Western Asia. Both in Elam
and China we find not only the phonetic vocabularies, but
also the converse system, namely, lists of the words or
characters which have a common meaning. Thus we have
many proofs of a theory which has been held by Prof,
de Lacouperie for many years, that before their emigration
to the far East, the Chinese Bak families had borrowed the
pre-cuneiform writing and elements of their Knowledge and
institutions from a region connected with the old focus of
culture of Susiana. There is, however, evidence of a multi-
farious kind to show that the borrowing took place after the
Semitic influence had been brought to bear upon the Akka-
dians and Sumirians, and at a time when 'the cuneiform
strokes already introduced were not yet exclusively used to
draw the characters, straight and curved lines being still used
at the same time, and the introduction of the wedge-shaped
implement had not effaced the pictographical forms of
the signs'.
To historically determine this remarkable propagation
of culture, we must remember the following interesting and
important facts, which have been pointed out by M. de La-
couperie.
1. The writing was communicated with all its peculia-
rities and complexity of ideograms and phonetics, the latter
keeping their sounds, and the former receiving sometimes
new appellations in the language of the borrowers according
to their picture-meaning.
2. The characters were still in the plastic stage which
allows a certain range of alterations and occasional variations
for the facility of the compound characters. A comparative
analysis of the compounds in the early Cuneiform characters
discloses this parallel fact, and it is a feature of the so-called
Who are the Chinese?
307
Hittite characters, which on the inscriptions are modified
according to their position as opposed to the rigidity of the
Egyptian hieroglyphs more early crystallized.
3. Many characters were still pictographic, but a great
number had lost their original hieroglyphic shape and had
assumed apparently arbitrary forms.
4. The writing had not been drawn at first by an ob-
lique eyed people.
5. The facing process, upwards or downwards, of dra-
wing the pictographic characters, had been preferred as
often as possible to the profile process (Egyptian and Hittite),
probably to avoid the boustrophedon.
6. At the time of its propagation to the Chinese Bak
families, the pre-cuneiform writing was disposed in horizontal
lines, but it had been written previously horizontally and
vertically, according to the size of the characters as in
Egyptian and so-called Hittite hieroglyphs.
7. The borrowers, perhaps in imitation of the knotted
cords and notched rods previously used by them, disposed
the writing in vertical lines instead of horizontal, and for
that purpose had to put up the characters single a com-
pound not easy to disintegrate, which had too much width
for the regularity of the lines. The putting-up of the picto-
graphic characters was ruled by the figure of their subject.
8. In the script borrowed, the characters were used
phonetically in the formation of compounds, without neglec-
ting their ideographic values, which were taken into account
and ruled their selection; their reading was from left to
right or from top to bottom.
We have thus answered the question with which we
started. The early leaders of the Chinese borrowed their
culture from Elam, that confederation, of states of which
Susa was the chief town, and the Kussi the chief population.
'From a body of evidence', says M. de Lacouperie, 'it results
that they were at first settled south-east of the Caspian Sea;
and that, in order to escape a heavy yoke, they extended
°n the east, along the head-waters of the Oxus, following
20*
308
Herbert Baynes, Wo are the Chinese?
its main affluent, the Red Water (Kisil Su), and then passing
into Chinese Turkestan along the other Kisil Su, the head-
waters of the Kacsgar River (the Tarim), which conducted
them after a time to the Yellow River and 'The Flower Land',
of which the fame was without doubt already attractive
enough to make it a suitable place of colonisation'.
The same distinguished scholar suggests that the break
up which happened in those states and resulted in the con-
quest of Babylonia by the Elamite King, Kudur-Nakcunta,
in 2285 B. G. was also the cause of an Eastern conquest
and a settlement in Bactria, and that this would account
for the old focus of culture coeval with the earlier period
of Assyrian monarchy said to have existed in Central Asia.
Now, the two ethnic names which were those of the
future Chinese invaders, namely, Bak which is the ancient
form of Poh (Pöh Sin = Bak families), and Kutti or Kutta
(now Hia) are not foreign to these regions; nay, is it not
likely that the Chinese Kutti and the Kussi, the Chinese
Bak and BaJc (Bakc-di: Bactria) are the same?
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
Von K. Bruchmann.
Wir wenden uns hier der Frage vom Ursprung der
Sprache zu, mit der Absicht, dabei einen kritischen Seiten-
blick zu werfen auf eine vor nicht langer Zeit veröffentlichte
abermalige Behandlung dieses Problems1. Auch deswegen,
weil jetzt wieder mit steigendem Selbstvertrauen die soge-
nannte »Zufalls-Theorie« angepriesen wird — eine Theorie
von Lazar Geiger, welche, wie so mancher überzeugt ist,
1 Dr. Ludwig Gumplowicz, der Bassenkampf. Innsbruck. 1883.
376 S. 8.
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
309
keineswegs als das Hauptverdienst ihres gelehrten und scharf-
sinnigen Urhebers ausgegeben werden sollte. Statt der be-
liebten Lobpreisungen eines Princips oder ihres Urhebers,
zumal wenn er andere Leistungen aufzuweisen hat, welche
weniger oder gar nicht angezweifelt worden sind, hätten jene
Vertreter der Zufalls-Theorie uns eine Lösung derjenigen
Schwierigkeiten geben sollen, welche den Gegnern die An-
nahme der Zufalls-Theorie noch immer unmöglich machen.
Dass Schwierigkeiten bestehen, sollen die nachfolgenden
Zeilen darlegen. Lassen wir also zunächst demjenigen das
Wort, welcher es jetzt unternommen hat, uns eines bessern
zu belehren.
Je weiter zurück gegen den Ursprung des Menschen-
geschlechts, desto unabsehbar zahlreicher nehmen die selb-
ständigen und urwüchsigen Sprachen zu und einst stand
einer Unzahl von Menschenhorden eine Unzahl urwüchsiger
Sprachen zu Gebote. Unserm Verfasser ist es unbegreiflich,
dass so Viele den natürlichen Vorgang der Sprachenlstehung
als ein geheimnisvolles Schöpfungs-Rätsel betrachten. Da
die bisherigen Versuche, das Rätsel zu lösen, ungenügend sind
und sogar Geiger noch überboten werden muss, so stellt G. sich
einige Fragen, welche, wie er meint, nicht nur selbst einfach
sind, sondern auch ganz einfach beantwortet werden können.
Was veranlasste also die Menschen zum Gebrauch der
ersten Sprachlaute? Aus welcher natürlichen Veranlassung
entstanden sie? Zweitens:
Was befähigte die Menschen zur Hervorbringung der
ersten Sprachlaute? Wo, in welchem natürlichen Moment
ihres Wesens lag die Befähigung die Sprache hervorzubringen
und sie sodann weiter zu entwickeln? Drittens:
Wie verhielten sie sich passiv und activ während des
Actes dieser Hervorbringung; wie stellten sie es an, bewusst
oder unbewusst, dass sie die Sprache erzeugten?
Dass hier die zweite und dritte Frage sich logisch nicht
genau unterscheiden bedarf keiner Worte. Doch weiter.
Statt die Sprache Reflex- oder Ausdrucks-Bewegung zu
nennen und sie so zu subsumiren unter eine Kategorie uns
310
K. Bruchmann,
bekannter und bis zu einem gewissen Grade erforschter Vor-
gänge, braucht G. einen allgemeineren und darum weniger
bezeichnenden Ausdruck. Er sagt: das zunehmende Bedürf-
nis gegenseitiger Verständigung hat mit Naturnotwendigkeit
zur Laut- und Sprachbildung angetrieben. Das glaubt jeder;
aber das Wie der Erscheinung ist damit keineswegs deut-
licher geworden.
Wie steht es nun aber mit der Voraussetzung, als ob
die einzelnen Laute und Worte der menschlichen Sprache,
»den durch dieselben auszudrückenden Begriffen entsprechend,
ihnen adäquat wären«? Wie verhält sich Wort und Begriff,
Laut und Bedeutung? Falsch sei die Voraussetzung »einer
bestimmten notwendigen ideellen Beziehung der Sprachlaute
zu dem durch dieselben ausgedrückten Begriffe«. Das Zu-
sammentreffen des Lautes mit dem Begriffe ist Zufall. Ebenso
gut könnte derselbe Laut mit einem andern Begriff oder ein
beliebiger Begriff mit einem andern Laute zusammentreffen.
Derjenige irrt, welcher nur das glaubt, dass gewisse Laute
niemals gewissen Begriffen entsprechen könnten. Auch Geiger
sei noch weit davon entfernt gewesen sich den wirklichen
oder wenigstens wahrscheinlichsten Vorgang bei Entstehung
der Sprachen zu veranschaulichen.
Der Mensch ist seiner Natur, seinen Trieben und Be-
dürfnissen, seinen Fähigkeiten und geistigen Eigentümlich-
keiten nach kein anderer als im Urzustände. Er war nie
mehr Tier, als er es heute ist. Wir müssen an ihm »einen
solchen Grad von Vernunft« voraussetzen, welcher ihn zum
Zweck der Selbsterhaltung mit seines Gleichen durch Ge-
dankenmitteilung sich zu verständigen antreibt. Und nun? der
angeborene Trieb der Selbsterhaltung zwingt sie zu gegen-
seitiger Gedankenmitteilung, sie besitzen noch keine Sprache,
wol aber Sprachwerkzeuge und — sie stoßen beliebige Töne,
unartikulirte Laute aus . . . und beliebige, unverständliche (!)
Laute, die nichts enthalten, nichts besagen (!), sondern ledig-
lich dem Drange, sich verständlich zu machen, instinktmäßig
und versuchsweise (!) entspringen. »Der so Angeredete«
konnte natürlich den andern schwer verstehen. Dieser
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
311
Redende verlange z. B. einen Ast vom Baume — er stieß
Laute aus, wie sie ihn die Not des Augenblicks, der Drang
sich verständlich zu machen, eingab. Seine Stimmorgane
machen die ganze Skala ihm zu Gebote stehender Laute
durch ; er ruft z. B. na, da, ta, ko, le u. s. w. der »Ange-
rufene« greift nach einem Stein und merkt an der abwehrenden
Stimme des Rufenden, dass er seine Absicht nicht erraten.
Er reicht ihm nach der Reihe Dinge zu, die ihm zur Hand
sind; wieder folgt eine abwehrende Bewegung und neue Rufe
immer versuchsweise wechselnd oder auch beharrlich sich
wiederholend. Endlich bei einem beliebigen Laute z. B. ta,
errät der Angeredete zufälligerweise oder den Andeutungen
der begleitenden Gebärde folgend den Gedanken und reicht
ihm den Ast. Der Rufende kann sich nun den Laut zufällig
merken. Haben nun beide ein gutes Gedächtnis, so wird
in ihrem Verkehr ta den Ast bedeuten.
Haben sie kein gutes Gedächtnis, so werden sie sich
das nächste Mal ebenso schwer verständigen.
Vollzieht sich diese gegenseitige Verständigung über einen
Gegenstand oder einen Gedanken mittelst ein und desselben
Lautes zu wiederholten Malen, so hat der betreffende Begriff
aus der Unzahl der möglichen und außer der großen Zahl
der für ihn zu verschiedenen Malen gebrauchten Laute einen
erhalten, der nun in seinen dauernden Dienst tritt. Der Be-
griff hat sein Wort erhalten. Dauert nun die Bezeichnung
des Begriffes durch ein bestimmtes Wort Generationen hin-
durch, so verwebt sich in unserm (sie) Geist der Laut so
sehr mit dem Begriffe, dass es uns scheint, sie hätten mit-
einander irgend welche intimere geistige Verwantschaft und
dass sie in einer notwendigen Beziehung zu einander stehen.
Und das alles ist keine bloße Hypothese — denn die
Natur des Menschen bleibt sich immer gleich und liefert
uns genügende Beweise, dass bei der ersten Sprachbildung
nur dieser Vorgang möglich war.
Ueber das logische Gefüge dieser Darlegung braucht
wohl im allgemeinen nichts gesagt zu werden ; besonders da
wir uns sogleich den einzelnen Punkten zuwenden. So kommt
312
K. Bruchmann,
jetzt die erste Frage des Verfassers an die Reihe. Was be-
fähigte die Menschen zur Hervorbringung der ersten Sprachlaute ?
Wollen wir eine Verrichtung des Menschen begreifen,
so müssen wir sie aus seiner Natur oder seinem Wesen ab-
leiten. Welche Voraussetzung hat darüber der Verfasser?
Der Mensch ist nach seiner Natur, seinen Trieben und Be-
dürfnissen, seinen Fähigkeiten und geistigen Eigentümlich-
keiten jetzt kein anderer als im Urzustände. Er war nie
mehr Tier, als er es heute ist. Wir müssen an ihm einen
solchen Grad von Vernunft voraussetzen .... u. s. w.
Der Verfasser nimmt also doch auch an, dass der Mensch
einst ohne Sprache gewesen ist. Hierbei lässt sich sonst
(nicht im Sinne von G.) zweierlei denken. Entweder er
stammt von einem Tier ab und erlangt zugleich mit dem
Unterschiede der Organisation die Fähigkeit und den Besitz
der Sprache. Das wäre begreiflich, obwohl historisch nicht
nachweisbar. Oder aber, wie G. will, er stammt nicht vom
Tiere ab; dann muss er eine Weile als Mensch ohne Sprache
gelebt haben. Im ersten Falle wird mit dem Begriff des
Menschen die Sprache gesetzt; im zweiten unterscheiden wir
zwischen sprachlosen und sprachbegabten Menschen.
Ist der Mensch sprachlos — was logisch genommen wohl
nicht undenkbar ist — so kann er z. B. Gebärdensprache sehr
ausgiebig besessen haben. Auch darf man ihm die Fähig-
keit und Neigung, Laute von sich zu geben, noch weniger
absprechen, als wenn man ihn vom Tier abstammen lässt.
Gibt es also einen Menschen noch ohne Lautsprache, so muss
der Unterschied zwischen dieser Zeit und der späteren be-
griffen werden. Wir wollen einen Grund dafür wissen,
warum sich die sprachlose Epoche abschließt.
Dieser Grund kann nur in den geistigen Eigenschaften
des Menschen oder in seinen Lebensverhältnissen gesucht
werden. Entweder erstere ändern sich oder letztere. Dass
sich die Lebensverhältnisse ändern, ist richtig. Im allgemeinen
lässt sich sagen, dass sie reicher und verwickelter werden.
Will man aber das als Grund für den Ursprung der Sprache
anführen? Dazu wäre er viel zu allgemein; er würde gar
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
313
nichts erklären. Denn wo ist der Beweis oder auch nur
die Wahrscheinlichkeit, dass einfachere Verhältnisse nicht
zur Sprache nötigen oder nötigen können? Und selbst wenn
sich hier irgend etwas begründen ließe, so hat G. den Fehler-
begangen, es nicht begründet zu haben, weil er die vor-
liegende Schwierigkeit nicht bemerkt.
So bleibt als zweiter Grund der Erklärung übrig, dass
sich der Geist des Menschen geändert habe. Das wider-
spricht der Voraussetzung, welche G. hat über die Vernunft
und die Fähigkeiten des Urmenschen.
Mithin vermissen wir den Nachweis, wie es kommt, dass
der sprachlose Mensch sich in den sprechenden verwandelt.
Gerade dieser Nachweis aber ist die Hauptsache. Dass die
Sprache bei den Menschen entsprungen ist, wissen wir. Aber
wie es geschah, wollen wir begreifen. Der Verfasser hat
es uns aber nicht begreiflich gemacht. Dass der sprachlose
Mensch Laute ausgestoßen habe, welche nicht Sprache zu
nennen sind, wird G. wohl annehmen; Laute, welche in Zu-
ständen des Schmerzes, der Wut, der Freude unwillkürlich
gebildet werden. Diese Laute wurden gewiss oft gehört und
um so besser verstanden, weil sie höchst wahrscheinlich bei
vielen Individuen sehr ähnlich waren. Ein solcher Laut ist
Folge eines psychischen Ereignisses, der Schmerzempfin-
dung u. s. w. Auch jene andern Laute ka, lo, ta sind Folgen
psychischer Ereignisse. Wodurch unterscheiden sich diese
beiden Arten psychischer Ereignisse?
Man wird wohl annehmen, dass Laute letzterer Art später
sind, als die der ersten Glasse. So muss uns der Grund
davon gesagt werden. Dass der Urmensch unwillkürlich
Schmerz- und Freudenlaute ausstößt, muss man annehmen,
weil er es noch heute tut, zumal nach des Verfassers Vor-
aussetzung über die Gleichheit der menschlichen Natur. Auch
jene zweiten Laute ka, ta sind unwillkürlich entstanden,
aus überlegungs- und absichtslosem Drange. Überlegungslos
nämlich muss dieser Drang sein, denn der Mensch ohne
Sprache konnte doch nicht vorher wissen, sondern erst hinter-
her merken, dass die Sprache ein Werkzeug des Verkehrs ist.
314
K. Bruchmann,
Bei G. sieht die Sache so aus, als habe der Mensch gewit-
tert, dass »der Angeredete« auf sein ka, ta hören werde.
Diese Annahme ist nur dann gestattet, wenn man zugibt,
dass der Mensch bereits die Erfahrung besaß, dass auf Schreie
irgend welcher Art andere zu hören pflegten. Weiß er das
bereits, so kann er jetzt, wo er einen »anredet«, wo also
die Sprache entspringt, erwarten, dass seine Töne die Auf-
merksamkeit des andern erregen.
Dann aber hat G. mit Unrecht behauptet, dass der
Mensch Laute ausstößt, welche »nichts enthalten, nichts be-
sagen«. Denn sie enthalten und besagen bereits die Erfah-
rung, dass ein andrer auf Schreien hört, und den Wunsch,
dass er jetzt höre.
Diese Erfahrung vorauszusetzen hat nichts Unlogisches.
Aber sehen wir uns die seelischen Verhältnisse an. Wann
und wo hat der Mensch erfahren, dass sein Schreien Auf-
merksamkeit erregt? Sollen wir glauben, dass seine Lebens-
verhältnisse mannichfaltig genug waren, dass er zuweilen
geschrieen hat, um andere herbeizurufen, wie wir es auch
an Tieren beobachten ? Diese Möglichkeit muss man offenbar
gelten lassen. Alsdann kennt er bereits seine Fähigkeit,
Laute von sich zu geben, und den gelegentlichen Erfolg
davon, die Aufmerksamkeit andrer. Wird er angegriffen,
geschlagen : er schreit und andre kommen gelegentlich herbei.
Wodurch unterscheidet sich denn jetzt, wo Sprache erst
entstehen soll, ein Act des Lautgebens von solchem, wie wir
ihn eben beschrieben haben?
Nach G. ist die Sache die. Der Mensch besitzt Sprach-
werkzeuge und — so muss wohl die Harmonie der Dinge
vorher eingerichtet sein — braucht einen Ast, also sagt er
ta, ka u. s. w., bis er den Ast bekommt. Nach geschichtlicher
Betrachtung dagegen ist jetzt wie früher ein Vermögen Laute
auszustoßen vorhanden, dazu die Erfahrung, dass andere
auf Laute achtgaben. Außerdem die Erwartung und Absicht,
Aufmerksamkeit zu erregen. Das Ergebnis dieser wirksamen
Factoren ist nur darin gleich, dass ein Laut producirt wird :
ein gewaltiger Unterschied aber ist da. Vorher hatten wir
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
315
Schreie — nach G. menschliche Schreie — jetzt haben wir
einen articulirten Laut, wie ta. Vorher drängt sich das
geistige Geschehen zusammen in einen Schrei, jetzt wird
nicht geschrien, sondern gesprochen, ein articulirter Laut
wird ausgestoßen, welcher doch mehr bedeutet als »nichts«.
Zunächst nämlich bedeutet er eine Erregung des Gefühls,
zweitens die Aufforderung an einen andern, drittens der
Möglichkeit nach alle Dinge — oder Handlungen? Heißt
ta Ast oder Ast geben oder Ast haben wollen ? Doch davon
nachher.
Wenn also dieser Unterschied zwischen beiden Arten
sich lautlich zu äußern besteht, woher kommt er ? Dass der
Mensch jetzt mehr Bedürfnisse hat, wird G. kaum zugeben
können. So einfach immer wir uns menschliche Verhältnisse
denken mögen, so sind sie nie in dem Grade einfach, dass
sie nicht sollten Veranlassung gegeben haben, irgend welche
Vorgänge oder Gegenstände mit Namen zu belegen. Hat der
Mensch jetzt eine schärfere Anschauung, sodass er einzelne
Dinge unterscheidet, welche sich vorher nicht aus dem all-
gemeinen Rahmen seiner Weltanschauung hervorhoben?
Auch das wird G. nicht zugeben wollen. Seines Gleichen,
Nahrung, rohe Werkzeuge wie Stein und Knüttel, sind ihm,
sollte man meinen, da er »gleiche Vernunft und gleiche Be-
dürfnisse« hatte, schon Gegenstände gewesen. Dann müsste
man schließlich auf den Ausweg geraten zu behaupten, dass
die Neigung oder Fähigkeit, einzelne Dinge oder Vorgänge
durch articulirte Laute zu bezeichnen, sich plötzlich einge-
stellt habe. Doch gibt G. für beides keine Erklärung.
Der Verfasser sagt: der Mensch hatte Sprachwerkzeuge
und den Drang der Selbsterhaltung, also stieß er Laute aus.
Hierbei wird Grund und Folge angegeben, aber nicht real
erklärt, das Wie des Vorgangs bleibt Ungeschildert. Es ist
also unlogisch, dies für eine Erklärung des Ursprungs der
Sprache zu halten.
Eines erwähnt er gar nicht, dass nämlich nicht undenkbar
ist, dass der Mensch auch allein, ohne etwas zu wollen,
Laute ausstoßen konnte, wenn er etwas Neues sah, was ihn
316
K. Bruchmann,
lebhaft erregte. Man miisste ihn fragen, ob, diese Möglich-
keit vorausgesetzt, der dunkle Drang nach Selbsterhaltung
der Grund dafür ist. So »gedankenlos« trotz aller Weit-
schweifigkeit dem Verfasser viele der bisherigen Bemühungen,
die Sache zu begreifen, erscheinen, so muss man doch sagen,
dass jene Bemühungen mehr den Eindruck machen, die
Schwierigkeiten erkannt zu haben, als der Verfasser. Da
er keine sieht, kann man ihn auch nicht nach ihrer Lösung
befragen.
Seine erste Frage ist also nicht genügend beantwortet.
Er hätte vielmehr, wie alle Anderen sagen müssen, dass der
Mensch auf Grund seiner körperlichen und geistigen Eigen-
schaften Laute ausstößt, dass sich diese gewaltig unterscheiden
und dass er hinterher (nachdem die Laute ertönt waren)
die Erfahrung machte, dass sie auch die Aufmerksamkeit
andrer zu erregen geeignet waren. Dass in Folge dessen
der Mensch allmählich dazu kommt, sie willkürlich zu ver-
wenden, um Aufmerksamkeit zu erregen und Gegenstände
oder Vorgänge zu bezeichnen.
Ebenso steht es mit der zweiten Frage. Denn da er
einen sprachlosen Menschen denkt, so hätte er sagen müssen,
entweder wann und wodurch die Fähigkeit zur Sprache ent-
steht, oder woher es kommt, dass sie nicht benutzt wird,
obgleich sie vorhanden ist. Vom Mangel des Bedürfnisses
kann nicht die Rede sein, da Vernunft und Bedürfnisse stets
dieselben waren,
Die dritte Frage, wie sich die Menschen activ und passiv
dabei verhielten, wie sie es anstellten, bewusst oder unbe-
wusst die Sprache zu erzeugen, ist ebensowenig eindringend
beantwortet. Denn wir erfahren nicht den psychischen Grund
der Lautgebung, welche jetzt verschieden ist von der früheren.
Nehmen wir nun aber an, es habe einmal Laute wie
ka, ta u. s. w\ gegeben. Wie verhält sich Wort und Begriff,
Laut und Bedeutung?
Da wird vorausgesetzt, sagt G., dass die einzelnen Laute
»den durch sie auszudrückenden Begriffen entsprechend, ihnen
adäquat wären«. Was mag das heißen? Weiß es der Leser?
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
317
Denn da die Sprachen schon ihrem bloßen Lautbestande
nach so sehr verschieden sind, wer möchte glauben, dass
ein Laut einem durch ihn bezeichneten Begriffe adäquat sei ?
Das heißt doch wohl, dass dieser Begriff nur durch diesen
Laut überall auf der Erde bezeichnet werden konnte ? Außer-
dem ist es eine nicht zu billigende Ungenauigkeit des Aus-
drucks, wenn hier der Laut als Vertreter eines »Begriffs«
bezeichnet wird. Wo es sich um so primitive Regungen
des Geistes handelt, muss man besonders genau unterscheiden
zwischen Gefühl, Empfindung, Anschauung, Vorstellung, Be-
griff. Besonders in dem bewussten Ast-Beispiel. Wo ist der
Beweis, dass ta Ast bedeutet? Vielleicht heißt es geben
und die Geste bezeichnete den Ast. Jedenfalls wäre solches
ta nicht adäquat einem Begriffe oder auch nur einer An-
schauung Ast, sondern ein Laut, welcher zugleich bezeichnete
Erregung des Redenden, Wunsch und Gegenstand des
Wunsches. Die Frage also, wie solche Laute zu Symbolen
von Dingen werden, bedarf doch noch einer psychologischen
Untersuchung. Während es nach G. so aussehen soll, als
ob, ein gutes Gedächtnis jener Beiden vorausgesetzt, der
»Begriff« Ast geschaffen ist, sobald jener »Angeredete« bei
ta die Absicht des Redenden erraten hat.
Die Verständigung erfolgt nun also durch Zufall. A und
B haben sich behalten, das ta Ast bedeutet. G sieht und
hört nun einmal ta sagen und den Ast geben, also merkt
auch er es sich. Das wäre wohl glaublich. Und so lässt
sich denken, dass innerhalb einer Familie sich eine Zahl
von Namen bildet, welche naturgemäß allen Mitgliedern ge-
läufig sind. Dieser Familie steht eine andere gegenüber,
welcher es ähnlich geht. Auch hier lässt sich denken, dass
zwischen beiden, welche vielfach, zumal in jenen primitiven
Zeiten, gemeinsam leben, Austausch von Namen und einige
Gleichmäßigkeit sich entwickelt; dass also, den noch uner-
klärten Ursprung der Sprache vorausgesetzt, oder voraus-
gesetzt sie sei so, wie G. es schildert, entstanden, das Zu-
sammentreffen eines Lautes und einer gewissen Bedeutung
Sache des Zufalls ist.
318
K. Bruchmann,
Betrachten wir nun die Vorstellungen, welche das Wider-
spiel dieser Auffassung sind, zu dem Zweck, die Schwierig-
keiten zu erkennen, welche bisher darin gefunden worden
sind. Dann werden wir teils Einsicht erlangen in die Natur
der Verhältnisse, teils eine kritische Handhabe gegen die
Zufalls-Theorie im allgemeinen und gegen die Schilderungen
unseres Verfassers im besondern.
Als Rätsel hat bisher natürlich vor allem gegolten, wie
Verständnis und Verständigung möglich war, nicht wrie Laut-
production sich ereignen konnte. Wie kam es, frägt man,
dass A von B verstanden wurde, wenn A z. B. pa sagte.
Zur Erklärung beruft man sich auf die Einfachheit der
Situation, die Unterstützung durch die Gebärde. Dann wäre
noch zu fragen, warum A gerade pa gesagt hat. Gesetzt, B
errät ihn gleich, sobald A pa gesagt hat und gibt ihm z. B.
Wasser, so muss doch, wenn wir wirklich erklären wollen,
was vorgeht, mindestens dies Allgemeine gesagt werden, dass
in jenem Augenblick die Gefühlsregung von A, die Auffor-
derung an B und die Anschauung des Wassers, dies alles
zusammen, zum Laut pa getrieben hat. Dass er nun gerade
pa lautet, zu erklären wird selten oder nie möglich sein ;
wir wissen und erwarten hier nichts von »adäquat«. Trotz-
dem bedeutet er mehr als »nichts«.
Wird nun A von B gleich das erste mal erraten, so ist
das gewiß Zufall. Ist es nun auch Zufall, dass pa Wasser
oder Trinken bedeutet? Das ließe sich wohl nicht beweisen.
Wenigstens entspricht es nicht den allgemeinen Voraus-
setzungen, welche wir haben über das physiologische und
psychologische Geschehen. Demnach sind wir vielmehr an-
gewiesen zu glauben, dass eine gewisse Summe von Reizen
(in unserm Falle etwa drei) mit Notwendigkeit einen gewissen
Erfolg hat. Dieser Erfolg bestand hier in dem Ruf pa.
Zwei Möglichkeiten sind hier zu beachten, deren jede
wieder in zwei zerfällt. Erstens die, dass ein und dasselbe
Ereignis (ich will von dir Wasser) zu verschiedenen Zeiten
und bei verschiedenen Personen zu einem verschiedenen Er-
gebnis führt. Hierbei könnte 1. unser A bei einem zweiten
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
319
und dritten Fall, wenn sein Gedächtnis ihn nicht unterstützt,
ma oder la sagen ; % könnte G überhaupt ak oder wa sagen.
Zweitens die, dass A einmal, wenn er kein Wasser will
sondern etwas anderes, pa sagt, obgleich er das erste mal
Wasser mit pa verlangt hat; dass überhaupt jedes Ding zu
jeder beliebigen Zeit mit jedem beliebigen Laut bezeichnet
werden kann, sobald nicht das Gedächtnis diesen Laut bereits
für einen bestimmten Vorgang oder Gegenstand fixirt hat.
Wir kommen zum ersten Teil des ersten Falles. Hat
A das erste mal in der bezeichneten Situation pa gesagt, so
lässt sich nicht einsehen, warum er diesmal anders reden
sollte. Das erste mal muss nach causaler Betrachtungsweise
das Ergebnis gerade das gewesen sein, welches es war,
welches durch die Natur der wirksamen Factoren herbei-
geführt wurde. Wer sich also frei machen will von dieser
allgemeinen causalen und methodologischen Forderung, muss
glaublich machen, dass dieselben wirksamen Factoren das
zweite mal einen andern Erfolg haben als das erste mal.
Auch lässt sich nicht ohne weiteres einsehen, warum A,
wenn er den Ast haben will, nicht fortwährend ta wieder-
holen sollte, wenn ta der erste Laut von jenen war, welche
er ausstieß, »welche nichts besagen«. Warum sollte er nicht
tatatatata — sagen? Er konnte doch nicht wissen, dass
der »Angeredete« auf einen andern Laut besser reagiren
würde. Selbst der »dunkle Trieb der Selbsterhaltung« wird
hier vergeblich zu Hilfe gerufen; er kann nichts erklären.
Nun der zweite Teil. G sagt für »ich will Wasser«
nicht pa, sondern wa. Will man nicht an der Voraus-
setzung festhalten von einer gewissen Gleichmäßigkeit jener
Urmenschen in physiologischer und psychologischer Beziehung,
so muss diese Möglichkeit wohl zugestanden werden, dass
also innerhalb eines kleinen Sch warms'für die Dinge ver-
schiedene Namen entstanden. Zumal wenn man sich denkt,
dass etwa auf einer Wanderung etwas völlig Neues gleich-
zeitig die Aufmerksamkeit mehrerer Menschen erregte. Hier
ist ein Doppeltes denkbar. Entweder es wird ein neuer
Laut, oder mehrere, producirt; oder das neue Ding wird
320
K. Bruchmann,
mit einem der bereits vorhandenen Laute appercipirt. So
könnten mutatis mutandis Kartoffeln als Erdbirnen oder Erd-
äpfel benannt werden. Werden in diesem Fall neue Laute
geschaffen, so scheint allerdings die Auswahl eines derselben
Zufall d. h. es lässt sich nur sehr im allgemeinen bestimmen,
nicht genetisch beweisen, warum gerade ein Name und dieser
Gemeingut wird.
Wir kommen zur zweiten Möglichkeit. A sagt ein anderes
mal, wo er kein Wasser will, sondern etwas anderes, pa;
natürlich darf alsdann pa nicht bereits feste Bedeutung haben.
Die psychologische Voraussetzung ist dann die, dass die
wirksamen Factoren (Wasser) gar nicht mit Notwendigkeit
das psychische Ergebnis haben, dass pa gesagt wird; dass
die Erregung, wenn er einen Stein haben will, ebensogut
in pa ausbrechen kann. Hier steht Princip gegen Princip.
Jedoch lässt sich gegen G. der allgemeine logische Grundsatz
anführen, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen haben.
Will er das nicht gelten lassen, so muss èr entweder beweisen,
dass das im allgemeinen falsch ist, oder dass es im besondern
hier nicht zutrifft.
Oder kann, dies war unsere letzte Frage, überhaupt
jedes Ding zu jeder beliebigen Zeit mit jedem beliebigen
Laute bezeichnet werden ? Solange nämlich nicht Laute für
bestimmte Dinge durch das Gedächtnis festgestellt sind.
Hier erfordert »zu jeder beliebigen Zeit« eine genauere
Bestimmung. Ist nämlich der Mensch noch sprachlos, so
lässt sich nicht behaupten, dass er für Wasser pa, für den
Ast ta u. s. w. bilden wird ; eins ist so gut möglich wie das
andere. Hat er bereits einige Laute flxirt, so wird jene
Möglichkeit total verändert; denn dann handelt es sich nicht
um jedes beliebige Ding, sondern nur um viele, noch nicht
bezeichnete; nicht um jede beliebige Zeit, sondern um die
Zeit nach dem Ursprung der Sprache. Die Frage ist also
jetzt: welche Laute wählt er für neue, noch nicht benannte
Dinge ? Entweder — wir kommen hier auf bereits Erwähntes
zurück — er appercipirt die neuen Dinge mit alten Namen
oder er schafft neue Namen. Der Lautbestand dieser neuen
Eine neue Auflage der Zufalls-Theorie.
321
Namen lässt sich auch jetzt a priori nicht feststellen. Die
Frage ist aber dieselbe, wie schon oben : wie es zugeht, dass
für Dinge oder Vorgänge Namen geschaffen werden, sodass
hier nichts weiter darüber zu sagen ist. Und somit sind wir
mit dem Verfasser fertig.
Woher kommt es aber, wird man fragen, dass ein und
dasselbe Wort so vielerlei bezeichnet, dass ausserdem ein
Ding so viele Namen hat? Die erstere Tatsache — der
Homonymie — besonders gibt uns noch viele Rätsel auf.
Indessen der Verfasser hat sie nicht betont und so brauchen
sie hier nicht direct berücksichtigt zu werden. Andererseits
kann im allgemeinen gesagt werden, dass die Logik unsere
Parteinahme bestimmen, muss. Was nicht mit ihr stimmt,
was logisch noch nicht begreifbar ist, ist so lange noch
keine Tatsache der Wissenschaft: nur ein Rätsel, auf dessen
Lösung wir warten, indem wir es stets von neuem bearbeiten.
Endlich sind die ägyptischen Denkmäler, deren Homonyma
ich vorhin im Sinne hatte, zwar die ältesten uns bekannten,
aber natürlich sehr jung im Verhältnis zum Alter des Men-
schengeschlechts. Doch gehört die weitere Erörterung dieser
Dinge nicht hierher; obwohl sie keineswegs überflüssig ist.
Ueberflüssig aber wäre es wohl, noch ein Gesammt-Urteil aus-
zusprechen über die Leistung unseres Verfassers.
Beurteilungen.
Zur naturwissenschaftlichen Behandlungsweise der Psycho-
logie durch und für die Völkerkunde, einige Abhand-
lungen von A. Bastian. Berlin 1883. 230 S.
Außer einer Vorrede enthält diese Schrift sieben Ab-
handlungen 1. Die Psychologie als Naturwissenschaft auf
ethnischer Grundlage, 2. Gedichtetes und Gedachtes in natur-
wissenschaftlichen Gontroversen, 3. Die Andamanen, 4. Aus
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spi'achw. Bd. XVI. 3. 21
322
K. Bruchmann,
Polynesien, 5. Die Pubertätsweihe der Jünglinge, 6. Religiöses
und Rechtliches, 7. Ueber die Osterinsel.
Der gelehrte und rastlose Verfasser, welcher so reiches
und wertvolles Material für die Anthropologie überall auf
der Erde gesammelt hat, verfolgt auch hier seinen bekannten
Gedanken, dass wir die psychologische Entwicklung der
Menschen nur verstehen können, wenn wir die empirischen
Daten dieser Entwicklung zu Rate ziehen1, in möglichster
Vollständigkeit, ehe es zu spät ist d. h. ehe die alten Tra-
ditionen der Völker verloren gehen. Denn »allem voran
(XV) steht freilich die Forderung der Materialbeschaffung
(s. Anm. 28); denn dass, wer mit dem Gedankenbau nicht
zufrieden, einen substantielleren wünscht, zuvor der Bausteine
bedarf, wäre dem Thoren, der solches ABC noch nicht ge-
lernt, lehren zu wollen, thörichter noch«. Vgl. XVIII u.
S. 185. Soweit es mir gelungen ist, ihn zu verstehen, führe
ich dem Leser dieser Zeitschrift einige Details vor. Zunächst
lasse ich den Verfasser vielleicht am besten selbst sprechen.
»Demgemäß beginnen in den Wahlverwantschaften die
innewohnenden Gesetze sich zu manifestiren, und im psy-
chischen Bereiche auch haben wir jetzt Spannungsreihen der
Elementarstoffe vor uns, mit ihren höher graduirten Com-
binationen, und Beobachtungen gleichsam, wie sich die
Kristallisationsrichtungen, unter Ablenkungen im statu nascenti,
auf das Continuirliche der Zellwachstumsprocesse überzuleiten
beginnen. Jedenfalls sind wir berechtigt nicht nur, sondern
aus naturwissenschaftlich gestellten Anforderungen verpflichtet
selbst, die objective Behandlungsweise der Induction — für
die Entwicklung nach genetischer Methode sowohl, wie die
Relativabschätzungen der Analogien, im Gesammtüberblick
der Vergleichungen, — auch auf das Studium des Völker-
gedanken zu übertragen (in der Psychologie des Menschen,
als Gesellschaftswesen)« (VII).
»Für den Menschen als Gesellschaftswesen (VIII), ist das
theoretisch konstruirte Individuum ein Unding (betreffs des
1 Z. B. S. 3 u. 197.
Beurteilungen.
323
Anfangs; obwohl im Ziel der Entwicklung liegend), und wie
physisch schon die Geschlechter zusammengehören (Mann
und Frau im Androgynen), so ließe sich die Familie als erste
Einheit fassen (mit fernerer Erweiterung zu Stamm, Volk,
Nation), wenn nicht, — ohne die von der Blutsverwantschaft,
unter ófioyáhaxTsg des olxog, absehende Fiction, bei den
Glan-Verhältnissen in der (dadurch fictiven) Familie, — die
Vorbeugung des Breeding-in-and-in und seiner Folgen, durch
exogamische Ehen (s. Mc. Lennan), für die erste Einheit
schon jene Erweiterung verlangt hätte, wie sie, wenn Mann
und Frau verschiedènen Totems angehören, bei den Iro-
kesen z. B. in den Deanondaayoh sich ergeben (und den
entsprechenden Formen der Phratrie überall)«.
»In der Mutterlauge (IX) der primitiven Horde, wird
bei ihren kristallisirenden Vorstadien, alles Gleichartige
aggregiren, zunächst dass die Geschlechter selbst einander
gegenüberstehen bleiben (wie bei Kurnai), oder dass die
Altersklassen sich zusammenfinden (wie in den Banden der
Mönitarris u. a. m.), und wird nach dem Recht des Stärkeren
die Altersklasse der vollgewachsenen Männer selbstverständ-
lich dann die dominirende, weil stärkste, sein, die als Gegner
heranwachsenden Jüngeren in harten Prüfungen zermarternd,
und die dem verhängnisvoll klimacterischen Alter der Sexa-
genarii Verfallenden, ihrem harten Schicksal überlassend, in-
dem der allgemeine Notstand (bei Ernährungsklemme auf
Wanderungen) keine Mitleidsgefühle mit der Not der gebrech-
lichen Alten gestattet, bis (wie im kirgisischen Märchen) der
aus längerer Lebenserfahrung angehäufte Schatz des Wissens,
für nützliche Ratschläge verwertbar entdeckt wird, wodurch
dann die »Weißbärte« jene ehrenvolle Auszeichnung erhalten,
unter welcher sie als »Weise und Greise« die Herrschaft
führen, in einem Senatus (der Geronten). , So in der Friedens-
genossenschaft für den Frieden, während hier bei Kriegen
dann (wo der körperlich Untaugliche so wenig zum Vorkämpfer
oder Vortänzer passt., wie der Sklave in lupiters Geschmack)
die Natur der Sache den »dux ex virtute« hervorruft, bei
Germanen nicht nur, sondern bei Apachen und Navajos
21*
324
K. Bruchm'ann,
ebensowohl, wie sich auch für die Häuptlingswürde dann
die Probe der Körperkraft als Beweiskraft erhält, und ihm
(der bei seiner Trainirung als robuster Dreinschläger nicht
gerade die Weisheit auch mit Löffeln gegessen zu haben
braucht) tritt nun in dem Priester (dem Paje bei Macusis)
ein Ratschläger für die Verhandlungen mit unsichtbaren
Feinden (der Dämonenwelt) zur Seite, bis dann beide im
Priesterkönig zusammenwachsen, und dieser wieder, wenn
die vielleicht bis zum Feuertode selbst (wie bei Schweden u. s. w.)
steigerbaren Verpflichtungen unbequem werden, in seiner
weltlichen Hälfte selbständig sich ablöst, entweder mit Er-
gamenes Protest gegen hierarchische Autorität, oder (in der
Form der Hausmaier), neben dem Micado als Shiogun her-
vortretend, mit dem die Kirche schützendem Schwert des
Kaisers.«
Doch wird ja der Leser den Verfasser an der Quelle
studiren, welcher auch hier wieder vor vorschnellen Hypo-
thesen warnt, weil »erst allererst erst, schwache noch und
ferne Klänge (S. 127) beginnen allmählich kaum das Ohr zu
treffen, aus wunderbar neuer Welt herübertönend« u. s. w.
Vgl. S. 200.
Der Verfasser vertritt den Gedanken, dass die Menschen,
so verschieden sie sonst sein mögen nach geographischer
Lage, nach Ansehen und Gestalt, nach Schicksalen und -ge-
schichtlicher Wirksamkeit, doch sehr gleichartig sind in der
Entwicklung ihrer Gedanken, Sitten, religiösen Neigungen
und Meinungen, dass die Wachstumsgesetze primitiver Vor-
stellungen gleichartig sind (S. 104, 108, 147, 148); darum
seien die Analoga statistisch zu sammeln (23/24), um daraus
die psychologische Entwicklung der Menschen kennen zu
lernen.
Unter naturwissenschaftlicher Psychologie haben wir also
(was Bastians Lesern längst bekannt sein wird) nicht etwa
zu denken an eine Psychologie, welche mit Hilfe der Mathe-
matik oder Physik gefördert werden soll, sondern an die
Sammlung von Tatsachen aus der Entwicklungsgeschichte
der Vorstellungen aller Völker und Zeiten.
Beurteilungen.
325
Aus den Sammlungen, welche uns hier geboten werden,
will ich ein paar Beispiele anführen, welche mir geeignet
scheinen, mancherlei Vergleichung mit andern mythologischen
Vorstellungen zu bewirken.
Bei den Andamanesen ist die Sonne das Weib des
Mondes, und die Sterne, welche beiderlei Geschlechts sind,
sind ihre Kinder. Die letzteren (S. 58) schlafen während
des Tages. Die ganze Familie hält ihre Mahlzeiten bei
Pulugas Hause (dies ist das höchste Wesen, in einem Stein-
hause im Himmel wohnend mit einem von ihm selbst ge-
schaffenen Weibe), das sie aber nie betreten. Die Sonne
gleicht dem Feuer und ist mit Stacheln bedeckt, der Mond
ist von weißer Hautfarbe, hat zwei lange Hauer und einen
starken Bart.
Während ihres Laufs unterhalb der Erde (zu ihrem
Heim) sollen sie den unseligen Geistern in der Unterwelt den
Segen des Lichts gewähren.
Das zukünftige Leben (S. 61) wird nur eine Wieder-
holung des gegenwärtigen sein, aber Alles wird in einem
Lebensfrühling verharren, Krankheit und Tod werden un-
bekannt sein und niemand wird heiraten oder verheiratet
werden. Auch die Tiere, Vögel und Fische werden in der
neuen Welt in ihrer gegenwärtigen Gestalt wieder erscheinen.
Dieser selige Zustand wird durch ein großes Erdbeben ein-
geleitet werden.
Die sich fortwährend durch Absterben der Menschen
(S. 91) vermehrenden und meist übelwollend gestimmten
Seelen machen große Reinigungsfeste nötig (in Polynesien),
bei denen die Seelengespenster zwischen den Inseln oder
Dörfern hin- und hergejagt werden.
Die Andamanesen glauben, dass Pulula dem ersten Men-
schenpaar die Sprache gegeben habe. Dem ersten Mann
zeigte er verschiedene Obstbäume, verbot ihm aber von
einigen während der Regenzeit zu essen. Auch lehrte er
ihn die Bereitung des Feuers. Zwei Holzarten werden über-
einander geschichtet und die Sonne wird gebeten, sich darauf
zu setzen. Dann kehrte sie an den Himmel zurück.
326
K. Bruchmann,
In Polynesien (S. 79) bildete Tiki, ein Sohn Tus, bald
nach der Flut Menschen, indem er Lehm mit seinem eignen
Blute knetete; er formte ihn nach seinem Bilde, dann tanzte
er vor ihm, blies ihn an und es wurde ein lebendes Wesen.
Die Hawaier behaupten 40000 Götter zu haben (S. 192);
was die Bemerkung sagen soll----da bei den Römern
eigentlich Alles nur zusammengeweht ist aus oberer Luft
und unterer (Ju-p. oder Ju-no), verstehe ich nicht. Ebenso
die Anm. S. 194 »wie dem kopflosen Dionysius, auf der für
den Herrn Cardinal etwas langen Distanz von Montmartre
bis Saint-Denis (s. Quitard), und ein salto mortale mag dem
Sterblichen helfen, wie ein Deus ex machina (in der Tragödie)«.
Aus dem Vocabular der Rapanui-Sprache (Oster-Insel)
S. 233 fiel mir auf: Ton der Musik joro-jaro-joro; auf S. 227
gähnen e-kämä-kämä und sich freuen ëhëhihï.
Um mit etwas durchaus Erfreulichem zu schließen,
schreibe ich die schönen Verse ab S. 121 (Tonga), welche
umgeformt aus Byron (die Insel II, 1) und Chamisso (Ged.
ed. Hempel S. 441) bekannt sind.
Der Gesang wird sehr oft gesungen oder vielmehr von
beiden Geschlechtern in Recitativ gesprochen. Er hat in der
Tonga-Sprache weder Reime noch regelmäßiges Silbenmaß,
obgleich einige ihrer Gesänge beides besitzen. Es ist, meint
B., vielleicht ein bemerkenswerter Umstand, dass Liebe und
Krieg nur selten den Gegenstand ihrer poetischen Kompo-
sitionen ausmachen, sondern meist Landschaftsbilder und
moralische Betrachtungen.
Als in Wechselreden Vavaus wir gedachten
Stimmten jubelnd gleich die Mädchen ein
Gehn wir, lasst uns gehn zur stillen Waldesheimat,
In dem Angesicht der Sonne Pracht beim Niedergang,
Dort der Vöglein Sang zu lauschen, dem Gegirr der Tauben,
Dorten an den schroffen Klippen, in den Grotten
Werden sammeln wir der Blumen bunten Schmuck,
Dort erlaben wir uns im Genasch von Speis' und Trank,
In des Meeres Flut gebadet und gespült im Fluss,
Kränze, die gewunden eingeflochten in das Haar.
Und wenn schweigend droben auf der Höhe stehend,
Wenn der Bäume Wipfel wogen und vom Windsgesäusel
Beurteilungen.
327
Bald wohl süße Schwermut in das Herz sich senkt,
Bald auch wieder staunende Bewundrung uns ergreift,
Niederschauend in der Brandung Braus, in schäumendes Getös,
Hin auf wilden Kampf des Meeres und des Fels —
Dann, ach dann die Sehnsucht: Hier in ruhiger Stille,
In der Einsamkeit das Leben zu verträumen
Fern von jedes Tages neuer Müh' und Sorgen
Friedensruhig, ungestört von jedem Hader.--
K. Bruchmarin.
Die geschichtliche Entwicklung des Farbensinnes. Eine
psychologische Studie zur Entwicklungsgeschichte des
Menschen. Von Dr. phil. ß. Hocliegger. Innsbruck
1884. 134 S.
Diese kurze Besprechung wird denen vielleicht noch zu
lang erscheinen, welche in den Untersuchungen über den
Farbensinn heimisch sind, denn sie werden bereits eine feste
Ansicht von der Sache haben. Vielleicht indessen ist sie
den andern willkommen, welche nicht Zeit haben, die bereits
ungemein weitschichtige Litteratur zu verfolgen. Mir selbst
ist leider das Buch von Marty seiner Zeit entgangen (die
Frage nach der geschichtlichen Entwicklung des Farbensinnes,
Wien 1879), doch hat der Verfasser so viel, und zwar zu-
stimmend, aus Marty citirt, dass Martys Ansichten völlig
deutlich werden.
Seine eigene Schrift soll das bis zur Gegenwart Geleistete
vor Augen führen und die Einzelleistungen einheitlich ver-
arbeiten. Mir scheint anzuerkennen, dass der Verfasser seine
Aufgabe mit Sachkenntnis (die Sammlung der Litteratur ist
sehr erwünscht) und Besonnenheit bearbeitet hat. Er ist
Gegner von Gladstone, Geiger und Màgnus, wenige und
nicht sehr erhebliche Punkte ausgenommen.
Seine Schrift gliedert sich so, dass er nach einer Dar-
legung der Geschichte der Frage und der Begrenzung des
Problems zunächst den historisch-philologischen Beweis für
die Farbensinn-Entwicklung gibt und ihn kritisirt. Im zweiten
328
K. Bruchmann,
Kapitel folgen Beweisgründe hypothetischer Geltung gegen
eine qualitative Weiterbildung des Farbenempfindens. Der
erste Abschnitt handelt von der Theorie der Entwicklung
des Farbensinnes und der Descendenzlehre, der zweite Ab-
schnitt von den ethnologischen Untersuchungen des Farben-
sinnes. Der Nachtrag endlich S. 124 f. zieht die neueste
Litteratur herbei, besonders ein Buch von Vitus Graber
»Grundlinien zur Erforschung des Helligkeits- und Farben-
sinnes der Tiere«, welches ihm wertvoll für unsere Frage
erscheint.
Es ist ersichtlich, dass die ganze Frage eine psycholo-
gische ist und unter die Lehre von der Apperception ge-
hört, was Geiger und seine Anhänger nicht anerkannt haben,
dass wir es nicht sowohl mit verschiedener Fähigkeit Farben
zu unterscheiden zu thun haben, sondern mit einer verschie-
denen psychologischen Verwendung jener Farbenunterschei-
dungen und mit einer gewissen Apperceptionsweite, welchen
Ausdruck der Verfasser wohl annehmen würde.1
Es ist irrig zu glauben, die Sprachbildner hätten parallel
mit dem Empfmdungsinhalt sprachliche Zeichen ersinnen
müssen; man brauchte z. B. nicht weiß zu sagen, sondern
konnte dafür sagen wie Milch aussehend, nicht rot, sondern
wie Blut aussehend u. s. w. Aber über so nahe liegende
Vergleichungen hinaus zeigen dieSprachen, auch ganz moderne,
eine große Apperceptionsweite, welche nicht mit unvoll-
kommener Unterscheidung der Farben zu verwechseln ist.
Vgl. S. 68.
Um Irrtümern vorzubeugen, wendet sich der Verfasser
zunächst zu einer Begriffsbestimmung des Farbensinnes S. 17 f.,
wobei er auf Marty verweist.
Farbensinn kann bedeuten sowohl schlechthin die Fähig-
keit, Farben zu empfinden, als auch die Neigung, die Lust
und Unlust der angeborenen oder erworbenen Gefühlslage
gegenüber einer Farbenempfindung; endlich kann Farbensinn
von der intellectueilen Gewantheit, die durch unmittelbare
1 Rot und Gelb im Koptischen bei Abel, Kopt. Unters. S. 704.
Beurteilungen.
329
Warnehriiung oder frühere Erfahrung gegebenen Farbenem-
pfindungen ihrem Inhalte nach zu beurteilen, zu vergleichen
und zu classificiren gebraucht werden. Diese drei Unter-
schiede sind für den allgemeinen terminus Farbensinn zu
machen; besonders aber ist das Vermögen Farben zu em-
pfinden und zu unterscheiden zu trennen vom Farbengefühl.
Es fragt sich nun, ob der Farbensinn, so dreifach unter-
schieden wie er jetzt ist, eine Geschichte hat? Ob die Fähig-
keit, Farben zu unterscheiden, sich erst ausgebildet hat? Ob
das Farbengefühl nach Individuen, Völkern und Zeiten ver-
schieden ist, ob es reicher oder ärmer geworden ist?
Wir betrachten zunächst die Frage, ob die Fähigkeit,
Farben zu unterscheiden, eine Geschichte hat, d. h. ob wir
nachweisen können, dass in früheren Zeiten die Menschen
die Farben weniger genau unterschieden haben oder dass
einige gegenwärtig noch weniger genau unterscheiden als
andere.
Wenn man an die von Grant Allen (vergi, diese Ztschr.
XII, S. 472) geschilderte grüne Epoche denkt, jene Zeit, wo
die junge Welt in einförmiges Grün gekleidet war, wo nirgends
eine einzige Blüte leuchtend ihre roten Kronen oder ihre
goldenen Glocken entfaltete, nicht eine einzige Frucht rot
oder orange unter dem umgebenden Blattwerk schimmerte,
so wird man wohl ohne weiteres zugeben, dass die Augen
der lebenden Land-Wesen die Fähigkeit, Farben zu unter-
scheiden, ebenso allmählich, also auch der Mensch, entwickelt
haben, wie überhaupt die Fähigkeit Lichtwellen als Gesichts-
eindruck zu empfinden. Allen selbst nennt unsern Farben-
sinn hochentwickelt und verfeinert.
Nun fragt es sich weiter, ob der Mensch, falls er nach
Darwinistischer Anschauung sich aus einem Vierhänder her-
vorgebildet hat1, bei seiner Menschwerdung schon, wenn
nicht seinen heutigen, doch einen solchen Farbensinn be-
1 Vgl. darüber G. Gerland, Anthropologische Beiträge I (1875)
S. 172 f., ein gedankenreiches Buch, welches viel Anregendes hat, wenn
auch der hochgeschätzte Verfasser nicht mehr alle seine Behauptungen
aufrecht erhalten möchte.
330
K. Bruchmarin,
sessen hat, dass er die Farben qualitativ, nicht quantitativ
als Unterschied der Lichtstärke empfand. So behaupten
nämlich die Gegner der Anschauung, dass der tierische, und
menschliche Farbensinn gleichartig sei. Es habe sich, meinen
sie, die Farbenempfindung aus dem Stadium vollständiger
Latenz des Farbensinnes entwickelt, in einer vorhistorischen,
weit abliegenden Zeit habe der Mensch nur hell und dunkel,
nicht die Qualität des Lichts empfunden. Die ganze Netzhaut
sei damals so ähnlich gewesen, wie heute ihre peripheren
Teile. Der Farbensinn sei manifest geworden im Centrum.
Diejenige Farben-Empfindung, welche einen besonders leb-
haften Reiz ausübte, sei zuerst entstanden, nämlich Rot; es
habe ein Zeitalter gegeben, wo Rot, Hell und Dunkel das
Farbenspectrum des Menschen ausmachte, ein solches Drei-
klassen-System herrsche heute noch bei vielen Völkern.
Der Verfasser bekämpft diese Ansicht und wie mir
scheint mit Recht S. 103 f. Die meisten dieser Behauptungen
kranken an dem Irrtum, dass die Sprache mit Notwendig-
keit verschiedene Worte für die einzelnen wirklich unter-
schiedenen Farben müsse gebildet haben. Rot hat bekannt-
lich eine große Reizstärke, es besitzt die längste Welle und
die langsamste Vibration, es erregt demnach unter normalen
Bedingungen eine stärkere Empfindung als z. B. Blau. Wenn
nun die kurzwelligen Farben bei allen Menschen unter ge-
wöhnlichen Umständen weniger lebhaft und intensiv wirken,
folgt daraus, dass sie sie überhaupt nicht unterscheiden?
Es kommt aber bei der sprachlichen Ausprägung der Em-
pfindung oder Vorstellungen auf das Interesse an, d. h. es
ist eine Sache der Apperception.
So steht es mit der so oft behaupteten »Empfindungs-
Trägheit« für Grün und Blau (S. 82. 97). Die Tschuktschen
unterschieden Rot in schärfster Weise. Grün und Blau da-
gegen wurde oft zusammen gegeben und kein Unterschied
zwischen beiden Farben gemacht. So fehlen bei »Natur-
völkern« gelegentlich alle Bezeichnungen für die kurzwelligen
Farben, oder Grün und Blau werden durch einen Ausdruck
wiedergegeben.
Beurteilungen.
331
Aber hierbei ist eben nicht zu vergessen, dass es oft
nur an Ausdrücken für die Sache fehlt, dass die Unfähig-
keit, Blau und Grün zu unterscheiden, nicht bewiesen ist.
Wir sehen nur dies (S. 107), dass der Schwerpunkt der
Farbenkenntnis in der Kenntnis größerer Wellenlänge liegt.
Hier ist nicht sowohl von einer Empflndungs- als von einer
Urteilsträgheit zu reden. Es ist nur erwiesen, dass Blau einen
geringeren Erregungszustand bewirkt als Rot, nicht aber, dass
es Völker gibt, bei welchen die Fähigkeit, kurzwellige Farben
zu empfinden, weniger ausgebildet ist. Es soll nicht geleugnet
werden, dass die verschiedene lebendige Kraft der einzelnen
Farben auf die Ausbildung der Farbennamen von Einfluss
ist, dass die für die sogenannten warmen Farben besser und
allgemeiner ausgebildet sind als für die kalten. Das beweist
aber nichts gegen die Fähigkeit, die Farben selbst zu unter-
scheiden.
Wir kommen zu der andern Frage, ob das Farbengefühl
seine Geschichte hat. Die bejahende Antwort ist selbstver-
ständlich. Unser Interesse an Farben und Farben -Combi-
nationen ist nach Zeiten und Völkern ungemein verschieden,
ebenso wie die Combination der Töne. Die objectiven Ele-
mente der Apperception, die Farben, sind gleich, aber die
subjectiven sind verschieden. Bei manchen Völkern ist Weiß
die Trauerfarbe, bei uns Schwarz. Für uns Nordländer
(S. 62) hat das Blau einen größern natürlichen Reiz als für
den Südländer (vgl. Steinthal, Urspr. d. Spr. 3 S. 208): das
sind historische oder klimatische Gründe. Geradeso wechselt
das Interesse bei andern Naturobjecten. Oskar Peschel er-
zählt irgendwo, dass die Söhne der Wüste stundenlang vom
Brückengeländer herab in das Spiel des rauschenden Flusses
hinabsahen, — weil für sie der Anblick des reichen und
und lebendigen Wassers von unsäglichen Reiz war.
Der Verfasser behauptet sehr mit Recht (er citirt dabei
wiederum Marty), dass die Wandlungen der ästhetischen
Empfindung vorläufig allein zu erklären sind aus einer Um-
bildung des Urteils und des Gefühls. Für die Musik hat
das ja Helmholtz (wie Lotze sich ausdrückt, mit siegreicher
332
K. Bi'uchmann,
Klarheit) in seinen »Tonempfindungen« bewiesen; mit den
Farben wird es sich ähnlich verhalten: die Apperceptionen
ändern sich, der Gefühlsánteil ist historisch, ja individuell
verschieden, wie von Schiller erzählt wird, dass Violett ihn
angeregt habe.
Es ist selbstverständlich, dass wir berechtigt sind, von
einer Geschichte des menschlichen Empfindungs-Vermögens
(S. 72) za sprechen, weil die die Empfindung bedingenden
Factoren eine Veränderung und Entwickelung erleiden können.
»Erstens hat das Bewusstsein besonders in seinen höchsten
Functionen als appercipirende Vorstellungsthätigkeit seine Ge-
schichte. Die inhaltlich gleiche Empfindung und Empfindungs-
Vorstellung wird in anderem Maße von dem Gebildeten und
Ungebildeten, dem Kinde, dem Natur- und Culturmenschen
in das Bewusstsein eingeordnet. Zweitens haben sich unsere
Organe zum Teil vervollkommnet.«
So ändert sich auch das Farbengefühl und damit die
Apperception. Dass die Farbe also Gegenstand des Gefühls
wird, wenn sie es noch vorher nicht gewesen sein sollte, ist
z. B. daran bemerkt worden, dass (S. 67) Rot die Lieblings-
farbe der Dichter ist. Allen traf bei Swinburne 151 Be-
zeichnungen für Rot gegen 25 für Blau. Nächst Rot steht
Gelb oder Golden. Allen fand diese entschiedene Bevor-
zugung von Rot und Gelb auch bei Tennyson, Palgrave und
Gray bestätigt.
Farbe wird aber so sehr, gelegentlich, gefühlsmäßig
appercipirt, dass sie ihren Anschauungswert ganz zu ver-
lieren scheint. Aus einer Menge von Beispielen, die ich in
anderem Zusammenhange verwerten will, nehme ich hier
eins heraus, um zu zeigen, was ich meine.
Der Verfasser citirt (S. 68) aus Marty (S. 80): »wer so
an die poetische Sprache einen technischen Maßstab anlegt,
müsste ja Homer auch anklagen, wenn er Penelope (Od. 18,196)
weißer als Elfenbein nennt, denn auch das ist gegen die
Naturtreue und nicht minder, wenn andere Dichter im selben
Falle den frisch gefallenen Schnee und Milch und die Lilie
herbeiziehen«.
Beurteilungen.
333
Mein Beispiel betrifft die grüne Farbe. Bekannt sind
die beiden klassischen Farbenbeispiele: grün ist des Lebens
goldner Baum (Goethe) und: wem die Locken noch jugend-
lich grünen (Schiller). Ist hier grün eigentlich oder bildlich
gebraucht? Im ersten Falle könnte man zunächst an die
eigentliche Bedeutung glauben, weil der Gegensatz der grauen
Theorie vorangeht. Indessen ist ja die graue Theorie auch
nur metaphorisch zu verstehen, also auch das Grün des
goldenen 1 (köstlichen, unersetzlich wertvollen) Lebensbaumes.
Im zweiten Beispiel kann von der Anschauung grün auch
nicht die Rede sein, zumal das Verbum gebraucht wird.
Denn wir sagen zwar: der Tisch ist grün, nicht aber: der
Tisch grünt.
Hierbei muss ich aus dem »plastischen Goethe« noch
ein Beispiel anführen. Im West-0estlichen Divan heißt es,
Nachklang:
Von Wolken streifenhaft befangen
Versank zu Nacht des Himmels reinstes Blau;
Vermagert bleich sind meine Wangen
Und meine Herzensthränen grau.
Wir heutzutage haben nur eine üble Vorstellung von
grünem Fleische. Nicht so unsere mittelalterlichen Vorfahren.
Denn bei Lexer (mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Leipzig
I. 1872) heisst es:
mîn herze daz wirt grüene.
Sodann wird (Eracl.) grüenez vleisch erwähnt; es findet
sich die Redensart grüne als rohes fleisch. Grüne Fische
werden im Gegensatz zu eingesal?enen genannt (14./15. Iahrh.)
Guotiu were diu dà grüen waren vor dem zarten got ist
auch nicht anschaulich. Im Nibelungenlied und sonst findet
sich der Comparativ grüner. Sie wart vor schrecken noch
grüner danne ein gras. Nib. Lachm. 1721 ist die Rede
von einer Waffe Hagens, früher war sie im Besitze Sieg-
1 Sehr freigebig mit diesem ästhetisch anregenden Epitheton ist
Pindar; vgl. Ol. X, 13, XIII, 8. Pyth. X, 40. Nem. I, 17, V, 7. Isthm.
11,26, VII, 6.
334
K. Bruchmann,
frieds gewesen, welche mit einem schönen Jaspis geziert ist;
es heißt:
der übermöete Hagne leit über sîniu bein
ein vil liehtez wâfen, ûz des knophe schein
ein vil liehtez jaspis grüener danne ein gras,
wol erkand ez Kriemhilt daz ez Sîfrides was.
Die Comparative von Farben- und Metall Wörtern sind
überhaupt zu beachten. Zu dem griechischen Beispiel
Od. XVIII, 196
isvxotfqrjy <f àça f.uv d-rjxe 7iqmstov èkéyavioç
stellt sich aus dem deutschen Heldenepos (Kudrun 1372 ed.
Bartsch)
dort sihe ich vanen einen der 'st vvìzer danne ein swan.
Doch breche ich hier damit ab; denn wenn das Beispiel
beweist, was es soll, so ist es für die sachliche Betrachtung
ausreichend und mehr würden nicht mehr beweisen. Ich
meine, Farbenbezeichnungen werden mit einem sehr verschie-
denen Gefühlsanteil appercipirt (die deutschen Romantiker
sind dafür besonders lehrreich); die Anschauung der Farbe
ist, wie wir kaum zweifeln werden, in derselben sinnlichen
Kraft und Schärfe vorhanden, aber die Farbe hat je nach
Zeiten (und Personen) andern psychischen Wert, welcher sich
in der sprachlichen Verwendung zeigt.
Wir kommen zu einer Schlussbemerkung. Wegen der
Subjectivität der Farbe haben manche Gelehrte (S. 75), wie
Brücke und Wallace, geltend gemacht, dass der Beweis für
die Gleichartigkeit des menschlichen und tierischen Farben-
sinnes unmöglich sei. Wallace bemerkt: »Die Tatsache, dass
die höheren Wirbeltiere und selbst einige Insecten das zu
unterscheiden vermögen, was wir unter Farbenverschieden-
heit verstehen, beweist keineswegs, dass ihre Farbenwar-
nehmung irgend eine Aehnlichkeit mit der unserigen habe.
Die Fähigkeit eines Insects, Rot von Blau oder Gelb zu unter-
scheiden, beruht möglicherweise (ja sogar warscheinlich) auf
Sinneseindrücken von ganz anderer Natur als bei uns«.
Auch Steinthal bemerkt (Zusätze zur ersten Auflage der Ein-
leitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft 1881)
S. 3 zu S. 344 »darum kann ich dem Darwinistischen Beweise
Beurteilungen.
335
für das Dasein des Farbensinnes bei den Insecten, Fischen
und anderen Tieren nur geringen Wert beilegen. Für die
Säugetiere mangelt der Nachweis des Farbensinnes fast
gänzlich. Soll man nun wirklich glauben, dass bei weit
niedriger organisirten Tieren ein Sinn sogar hoch entwickelt
sei, der den höchsten Tieren völlig fehlt? Ich meine, so
wenig der Stier das Rot sieht, wodurch er wild gemacht
wird (sieht, im theoretischen Sinne), so wenig sieht irgend
ein Tier Farbe, welches durch Farbe sein Leben erhält oder
sich schützt. Wie können wir wissen, wie die bunten .Blumen
dem Schmetterling erscheinen? Ich behaupte noch nicht,
dass er die Farben rieche (obwohl das noch nicht unsinnig
wäre, vgl. Gegenbaur, Grundriss der vergi. Anatomie § 198);
aber dieselben können auf das Insect in unsagbarer Weise
wirken.«
Der Verfasser erwähnt Allens Einwurf, dass man ohne
einen besondern Grund keinen Unterschied in der Empfin-
dung vorauszusetzen berechtigt sei, wo im Bau ein allgemeiner
Zusammenhang bestehe und derselbe äußere Reiz einwirke,
und fügt seinerseits einige Argumente für die Gleichartigkeit
S. 77 hinzu.
Die obengenannten Untersuchungen Grabers (S. 126)
ergaben: 1. gewisse augenlose resp. geblendete Tiere reagiren
nicht nur auf Helligkeits-sondern auch auf Farbendifferenzen
und diese Reactionen sind ebenso stark wie bei vielen Tieren,
welche vollkommene Augen besitzen. 2. Die untersuchten
geblendeten Tiere reagiren auf die ihnen zur Auswahl über-
lassenen Lichter ganz im Sinne der normalen, d. h. Lust-
und Unlustwirkung sind zum Teil an die gleichen Helligkeits-
und Farbenzustände gebunden. 3. Die Reactionen der
geblendeten Tiere sind aber wenigstens bezüglich gewisser
Lichtdifferenzen sehr bedeutend schwächer als die durch
Augen vermittelten. 4. Die relative Stärke der Reaction
für verschiedene Lichtdifferenzen scheint im allgemeinen bei
den geblendeten Tieren jener bei den normalen Tieren zu
entsprechen. Graber glaubt nun, dass wir es zuweilen mit
einer directen Lichtempfmdlichkeit der Haut zu tun haben
336
L. Tobler,
und dass die Hantlichtempfindlichkeit der höher entwickelten
Tiere, welche bereits ein eigenes Perceptionsorgan besitzen,
vom eigentlichen Sehen doch wesentlich verschieden sei,
während die Hautlichtempfindlichkeit niederer Tiere von
dem Sehen dieser Wesen nicht so wesentlich differire. Weitere
Details aus Graber möge der Leser S. 130 u. 132 nachlesen.
Gegen die skeptische Ansicht von Farbensinn der Tiere jedoch
(auch der Säugetiere) betont er, man dürfe nicht zweifeln,
dass wenigstens gewisse Tiere Farbenwarnehmung besitzen
und dass die Wellenlänge des Lichtes als solche einen spe-
cifischen Eindruck hervorbringe. Der Farbensinn habe jeden-
falls eine große Verbreitung in der Tierwelt, eine weitere,
als das in Reactionen sich kundgebende Farbengefühl. Er
scheint sich der Identität des menschlichen und tierischen
Farbensinnes zuzuneigen. Doch erwarten wir weitere Be-
lehrung durch das Experiment.
K. Bruchmann.
Die Sprache und das Erkennen. Von Gustav Gerber. Berlin,
Gärtner. 1884.
Vom Verfasser des vorliegenden Buches ist in den Jahren
1871—74 ein zweibändiges Werk »Die Sprache als Kunst«
herausgegeben worden, welches soeben auch in zweiter
Auflage erschienen ist. Im ersten Bande jenes Werkes
S. 262 hatte der Verfasser die Ansicht ausgesprochen, da
unsere Zeit abstracten Untersuchungen abhold geworden
sei und empirische Grundlagen fordere, so müsse Kants
Kritik der reinen Vernunft zu einer Kritik der unreinen Ver-
nunft d. h. der Sprache führen. Auf S. 36 des vorliegenden
Buches wird ein Ausspruch von F. H. Jacobi citirt: »Es
fehlte nur noch an einer Kritik der Sprache, die eine Meta-
kritik der Vernunft sein würde, um uns alle über Metaphysik
eines Sinnes werden zu lassen«, und der Verfasser selbst
sagt S. 163: »Philosophisches Erkennen ging von W^ortbe-
griffen aus und musste in Wortbegriffen zum Abschluss
Beurteilungen.
337
kommen; eine Kritik des Erkennens wird notwendig zur
Kritik der Sprache«. Ich kann jedoch nicht verhehlen, dass
ich mir den Inhalt des Buches etwas anders gedacht hatte.
Ich erwartete zunächst ein Stück Pathologie der Sprache
d. h. einen Nachweis nicht sowohl dessen was die Sprache
als Organ des Denkens leistet, sondern vermissen lässt
und schaden kann, durch Unklarheit ihrer Bezeichnungs-
weisen überhaupt oder durch Unvollständigkeit resp. Ungleich-
mäßigkeit ihrer Bezeichnungen für einzelne Gebiete des Er-
kennens im Vergleich mit denen für andere. Ich dachte
allerdings auch an den nahe liegenden und oft begangenen
Misbrauch, wissenschaftliche Begriffswörter uneingedenk ihres
subjectiven Ursprungs in mythologischer Weise als Substanzen
aufzufassen, wovor der Verfasser an mehreren Stellen (z. B.
S. 307) zu warnen sich veranlasst findet. Abgesehen von
solchen mehr negativ kritischen Betrachtungen erwartete ich
unter anderem ein (im frühern Werk fehlendes) Capitel über
Synonyme, ausgehend von philosophischer Bestimmung dieses
ziemlich schwierigen Begriffes; ferner eine Prüfung der sämmt-
lichen von der gewöhnlichen Grammatik aufgestellten Wortarten
mit Rücksicht auf die mannigfachen Uebergänge zwischen
denselben. Bei den einzelnen Wortarten wäre der von Mill
aufgestellte Begriff »mitbezeichnender« Namen (die unter dem
Namen einer Substanz ein Attribut einschließen) zu besprechen
gewesen. Bei den Verben verdienten die sogenannten un-
persönlichen (oder vielmehr der unpersönliche Gebrauch
einzelner, welcher S. 83 nur kurz berührt wird), ausführ-
lichere Behandlung (vgl. Marty in der Zeitschr. f. wiss. Philos.
Bd. VIII) und ebenso wichtig wären für die Theorie des
Selbstbewusstseins die verschiedenen Arten oder Grade der
Verba reflexiva und die Etymologie der Ausdrücke für selbst.
Für das Verhältnis von Denken und Sprechen überhaupt
hätten Schriften wie die von Egger, La parole intérieure,
Bréal, Les idées latentes du language, fruchtbare Anregungen
geboten.
Aber all dergleichen scheint diesmal nicht im Gesichts-
kreis oder wenigstens nicht in der Absicht des Verfassers
Zeitschrift für Völkerpsych, und Sprachw. Bd. XVI. 3. 22
338
Ludwig Tobler,,
gelegen zu haben und wir haben für die Beurteilung seines
Buches nicht von dem auszugehen, was er nach unserer
Ansicht etwa hätte geben können oder sollen, sondern
was er nun einmal hat geben wollen. Er legt den Nach-
druck mehr auf das Erkennen als auf die Sprache selbst
und bietet in der Tat eine ganze Erkenntnistheorie, haupt-
sächlich an Kritik der Kantischen geknüpft, wobei er zwar
nicht die ganze neuere Kantlitteratur, aber wenigstens z. B.
die betreffenden Abhandlungen von Zeller (im 2. und 3. Band
von dessen gesammelten kleinen Schriften) hätte berücksich-
tigen sollen. Uebrigens wäre zur Ueberwindung des starren
Kantianismus auch schon aus Herders »Metakritik« mehr
zu entnehmen, als gemeinhin anerkannt wird.
Was nun der Verfasser aus gründlichem Studium Kants
und seiner Nachfolger (unter denen Schopenhauer mehrfach,
dagegen Herbart gar nicht angeführt wird) geschöpft und
selbständig ausgestaltet hat, ist durchweg klar gedacht und
wird kaum ernstlichen Widerspruch finden; denn in der
Hauptsache ist es nichts anderes als was überhaupt in neuerer
Zeit von verschiedenen Seiten (ich erwähne nur noch Lotze)
angestrebt worden und auch bereits zum Durchbruch ge-
kommen ist: gegenüber dem Kantischen Idealismus, der sich
wesentlich auf angeblich apriorische Normen unsers Erkennens
stützt und auf irgend welche objective Correlate derselben
verzichtet, ein Realismus, der gerade in jenen uns allerdings
unvermeidlich, aber doch nur in Berührung mit einer Außen-
welt, gegebenen Normen des Denkens etwas Objectives an-
erkennt (vgl. S. 289), zumal da unser Geist schon durch den
mit ihm verbundenen Leib und dessen Sinnesorgane (denen
sich dann zunächst die Sprachorgane anschließen) in Gemein-
schaft mit dem Leben des Universums hineingestellt ist. Eigen-
tümlich ist nun allerdings dem Verfasser, dass er diesen
Sachverhalt zunächst und ausdrücklich an der Tatsache und
Bedeutung der Sprache nachweist, und zwar so, dass er schon
das Subject des Warnehmungssatzes, der dem auf Erkennen
gerichteten Urteil zu Grunde liegt, nach Analogie des Ich,
also gleichsam personificirt, gedacht sein lässt (vgl. besonders
Beurteilungen.
339
S. 68—69. 81—82. 85—86) und dass zuletzt (S. 274-275.
279—280. 297 unten) Wort, Ich und Ding (an sich) einander
ganz nahe gerückt werden, wobei die Sprache als ursprüngliche
und selbständige Mittelwelt zwischen dem Denken und den
Dingen ihre beherschende Stellung einnimmt. Der Verfasser
hätte jene allerdings noch nirgends so bestimmt ausgespro-
chene Grundansicht, die nun zerstreut immer wieder auf-
taucht (vgl. S. 149. 155. 171. 214. 228. 238. 263. 271. 275.
279. 302) irgendwo kürzer zusammenfassen sollen, da die
vielen Variationen und teilweise auch bloßen Wiederholungen
derselben eher ermüden als überzeugen; auch hätte er sich
manche kritische Erörterungen, besonders gegenüber Kant,
ersparen können, da dieselben von anderer Seite schon in
genügendem Maße erfolgt sind, und statt der antiken Philo-
sophen, bei denen man doch für die Hauptfragen der modernen
Erkenntnistheorie noch kein Verständnis findet, hätte er die
neuere Physiologie und Psychologie mehr herbeiziehen sollen.
Die religionsphilosophische Frage (S. 294 ff 311 ff.) hängt
allerdings, soweit sie die Persönlichkeit Gottes betrifft, mit
der Weltauffassung nach Analogie des Ich zusammen, geht
aber sonst über den Gegenstand des vorliegenden Werkes
hinaus. Von einzelnen Partien, die besonders gut gelungen
sind und näher zur Hauptfrage gehören, auch auf das frühere
Werk zurückgreifen, erwähne ich noch die Unterscheidung
des Bedeutungswandels der Wörter in der allgemeinen und in
der wissenschaftlichen Sprache S. 155. 160—162. 304—309.
Schließlich gönne ich dem Verfasser, der jedenfalls mit
edlem Eifer sich in die höchsten Fragen vertieft hat, dass
es ihm trotz mannigfacher Unterbrechungen, deren Spuren sich
auch in der Anlage dieses Buches verraten, gelungen ist,
seinem frühern Werke diesen Schlussstein anzufügen, mit
dem der Sprache allerdings noch eine höhere Würde als die
einer Kunst zuerkannt ist. (Vgl. meine Besprechung des ersten
Bandes jenes Werkes in dieser Zeitschr. Bd. VII, S. 418—447.)
Ludwig Tobler.
22*
340
K. Bruchmann,
Zur Unterrichtsfrage.
1. Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schu-
len und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur
Gegenwart. Mit besonderer Rücksicht auf den klassischen
Unterricht. Von Dr. Friedrich Paulsen, a. o. Professor
an der Universität zu Berlin. Leipzig, Veit & Comp. 1885.
Ich fordere den Leser auf zu einer kurzen Wanderung
durch das weite und mit stets abwechselndem Interesse
wirkende Gebiet der deutschen Gulturgeschichte, welches der
Verfasser vor uns aufgerollt hat.
Wir haben es hier mit einem sehr gediegenen und wirklich
historischen Werke zu thun. Obgleich das Buch 811 Seiten
umfasst, hätte der Verfasser gewiss noch ausführlicher sein
können, wenn er sein ganzes Material hätte verarbeiten
wollen. Ich glaube jedoch, dass das, was er gibt, vollständig
ausreicht, zumal er die Darstellung so eingerichtet hat, dass
er uns repräsentative Bilder zeichnet, welche den Geist der
Zeiten mit hinlänglicher Charakteristik wiedergeben.
Wir betrachten zuerst die Gliederung des Inhalts, dann
des Verfassers allgemeine historische Anschauung, endlich
ein paar Einzelheiten.
Jedes der drei Bücher zerfällt in zwei Abschnitte, die
wiederum in 29 Capitel zerfallen. Das erste Buch heißt:
Das Zeitalter des Humanismus und der Kirchenreformation
1500—1600. Erster Abschnitt : Die humanistische Reformation
des gelehrten Unterrichts 1500 —1520. Zweiter Abschnitt:
Das gelehrte Unterrichtswesen unter dem Einflüsse der Kir-
chenreformation 1520—1600. Das zweite Buch: Die Stellung
der klassischen Studien im Zeitalter des Rationalismus und
Pietismus 1600—1805. Erster Abschnitt: Aufgang eines neuen
Bildungsideals und inneres Absterben des althumanistischen
SchulbetriejDs 1600—1740. Zweiter Abschnitt: Das allmäh-
Cliehe Aufsteigen eines neuen Humanismus im Zeitalter der
Aufklärung 1740 —1805. Drittes Buch: Das Zeitalter des
/ neuen Humanismus. Erster Abschnitt: Der neue Humanis-
v mus und die Eroberung der Schulen und Universitäten durch
Beurteilungen.
341
denselben 1805—1840. Zweiter Abschnitt: Strebungen und
Gegenstrebungen der jüngsten Zeit 1840—1882.
Aus den Beilagen S. 795—804 hebe ich hervor I. Ver-
schwinden des Lateinischen als moderne Litteratursprache
nach Ausweis der Messkataloge. II. Aus der Universitäts-
statistik des XVI. Jahrhunderts. IV. Lectionsverzeichnis der
philosophischen Facultät zu Halle auf das Wintersemester
1715/16. Den Schluss bildet ein Personen- und Ortsregister.
In drei großen Flutwellen, sagt der Verfasser, haben
die Sprachen und Litteraturen, die Erkenntnisse und Ideen
des Altertums die germanische Welt überströmt.
Zuerst nämlich, etwa in der Zeit von 500—1450, setzte
sich in Deutschland mit dem Glauben der römischen Kirche
auch ihre Sprache fest, das Latein. In dieser Zeit kannte
man die Griechen, in deren Werken man wissenschaftliche
Belehrung suchte, fast nur in lateinischen Uebersetzungen.
Die zweite Welle überflutete Deutschland und das ge-
samte Abendland im 15. und 16. Jahrhundert. Sie führte
mit sich die griechische Sprache und Litteratur und die
naturalistische Weltanschauung des heidnischen Altertums.
Durch den Andrang dieser Flut wurde der Bau der Kirche
in dem Maße gelockert, dass er dem Anprall der unmittel-
bar nachfolgenden religiösen Revolution nicht zu widerstehen
vermochte. Als Niederschlag blieb das klassische Latein,
die Kenntnis der griechischen Sprache und der Same des
Naturalismus.
Die dritte Welle endlich hob sich langsam im Laufe
des 18. Jahrhunderts und erreichte gegen Ende dieses Jahr-
hunderts ihren höchsten Stand. Sie wirkte hauptsächlich im
protestantischen Deutschland und durchtränkte die ganze
deutsche Bildung mit hellenistischen Anschauungen und Ideen.
Als Niederschlag hat sie die klassische Philologie und den
klassischen Unterricht auf unsern Gymnasien zurückgelassen.
Hier ist nur von den beiden letzten Ueberflutungen die
Rede. In der ersten der hier dargestellten Perioden wurden
die alten Sprachen gelernt, um in ihnen litterarische Kunst-
werke hervorzubringen; die Meinung des älteren Humanismus
342
K. Bruchmann,
nämlich war es, die litterarische Production der Griechen
und Römer von neuem aufzunehmen und fortzusetzen.
In der zweiten Periode blieb der Schulbetrieb unver-
verändert; er kam aber allmählich in Verachtung, weil sich
der Geschmack von den neulateinischen und neugriechischen
Litteraturproducten abwendete und die Nachfrage danach
sich verminderte. In der dritten Periode wird für den Be-
trieb der klassischen Sprachen allmählich ein neuer Grund
wirksam : sie werden nicht mehr gelernt, um die Production
der Alten fortzusetzen, um lateinische und griechische Ge-
dichte und Reden anzufertigen, sondern um an den Mustern
der Darstellung (der Alten) Auffassung und Darstellung über-
haupt zu lernen; Bildung des Geschmackes und Urteils sei
die wesentliche Aufgabe des klassischen Unterrichts.
Diese Anschauung war maßgebend für die Einrichtung
des klassischen Unterrichts seit dem Anfang dieses Jahr-
hunderts. Erst seitdem wurde die Kenntnis der griechischen
Sprache eine Bedingung für die Zulassung zu gelehrten
Studien. Früher war das nie der Fall gewesen.
Vielleicht gibt es, meint der Verfasser, kein Einzelgebiet
historischer Forschung, welches in so engem Zusammenhang
steht mit der gesamten Cultur- Entwicklung unseres Volkes,
als die Geschichte des gelehrten Unterrichts. Die Geschichte
des geistigen Lebens, der Philosophie und der Wissenschaft,
der religiösen und der litterarischen Bewegungen, spiegelt
sich darin, freilich mit eigentümlicher Verkürzung. Die Ent-
wicklung der Gesellschaft stellt sich schwerlich an einem
Punkte greifbarer dar, als in der jedesmaligen Stellung der
gelehrten Schulen zu der Gliederung der Gesellschaft. Endlich
werden in der Organisation der Schul Verwaltung die Wand-
lungen in den großen Formen des öffentlichen Lebens sicht-
bar: das Wachstum des Staates auf Kosten der Kirche und
der Gemeinde.
Zwei Fragen sind es, welche man im einzelnen, außer der
praktischen Schlussfolgerung für die Zukunft, beantwortet
wissen will: worin bestand der gelehrte Unterricht? Welche
Zwecke sollte er erfüllen oder welchen Bedürfnissen sollte
er abhelfen?
Beurteilungen.
343
Am Anfang der Zeit, welche uns vorgeführt wird, sind
die Verhältnisse noch sehr einfach und natürlich. Latein
war die Sprache der Kirche. Demgemäß hatte die Kirche,
weil sie einen Nachwuchs von Klerikern brauchte, für den
Unterricht mindestens im Latein zu sorgen. Er bestand
in den sogenannten Septem artes liberales, nämlich Gram-
matik, Rhetorik, Dialektik; Arithmetik, Geometrie, Astronomie,
Musik.
Die seit der Mitte des 14. Jahrhunderts entstehenden
Universitäten bezweckten eine Ergänzung jener Stiftsschulen,
sodass sie den allgemeinen Zweck verfolgten, die Wissen-
schaften zu lehren. Theologie und Philosophie waren in
großen Systemen zusammengefasst worden. Auch das Recht
war Gegenstand der Wissenschaften geworden, endlich die
Medicin (Salerno). Die Immatriculation fand statt in einem
Alter von 15 —16 Jahren; die Kenntnis des Lateins war
nicht Voraussetzung der Immatriculation, sodass es auf der
Universität selbst vielfach eine besondere Lateinschule gab.
Die eigentliche Substanz des Unterrichts bildet die Philoso-
phie: Logik, Physik, Psychologie, Metaphysik, Ethik, Politik,
Astronomie, Geometrie. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts
kommen in dem offìciellen Cursus die lateinischen Klassiker
nicht vor. Das Latein, das man sprach und schrieb, war
eben nicht klassisches, sondern mittelalterliches.
Wie ist es denn nun zu erklären, dass die Ansicht vom
Wert des klassischen Lateins eine ganz entgegengesetztewurde?
Durch die Leetüre der wieder allmählich bekannt
werdenden Klassiker wurde der Sinn für die sprachliche
Form in eine andere Richtung gelenkt; es war nicht gut
möglich, sich gegen die Form der klassischen Sprache zu
verschließen. Die Humanisten waren auf ihre bessere Kennt-
nis des Lateins natürlich stolz und verachteten das »bar-
barische« Latein der andern, wie wir etwa nach Lotzes
Bemerkung eine kleine Verachtung gegen die Menschen hegen,
welchen unser Leibgericht gleichgiltig oder gar widerwärtig ist.
Dazu kam ein innerer Grund. Paulsen formulirt ihn
so, dass der moderne Geist nach einer ihm gemäßen Er-
344
K. Brachmann,
scheinungsform gedrängt habe. Die abendländischen Völker
wollten die supranaturalistische Religion loswerden; sie fanden
in der naturalistischen Bildung des vorchristlichen Altertums
ihre Lebensempfindung und Weltanschauung ausgedrückt.
Somit nahmen sie um des Inhalts der klassischen Litteratur
willen auch ihre Form an. Außerdem endlich hatte die
Schulphilosophie ihren Boden erschöpft — man sah sich nach
einem neuen Arbeitsfelde um.
Die Griechen wurden im M. A. so gut wie ausschließlich
in lateinischen Uebersetzungen gelesen. Agricola, Reuchlin
und Erasmus brachten in Deutschland den Betrieb des Grie-
chischen erst auf. Melanchthon hielt es schon für unentbehrlich.
Die Humanisten-Litteratur zerfällt in zwei große Gruppen.
Sie producirten Werke der Redekunst und Anleitungen, solche
Werke hervorzubringen. Zur ersten Klasse gehören die
Prunkreden, Briefe und Gedichte, von denen wir heutzutage
kaum begreifen, dass sie einstmals wirklich lebendig gewesen
sind. Zur zweiten Klasse gehören die Ausgaben, Erläute-
rungen und Uebersetzungen der lateinischen und griechischen
Klassiker. Endlich tritt die Gymnasialpädagogik auf, Rat-
geber für die Reform der gelehrten Bildung.
Der Zweck des humanistischen Unterrichts war also
auch ein sehr realer: Die Erlernung der alten Sprachen
sollte die Fähigkeit erzeugen, Werke der Poesie und Beredt-
samkeit in den alten Sprachen hervorzubringen; die litterarische
Production des Altertums sollte wieder aufgenommen werden.
Eloquenz und zwar zunächst in lateinischer Sprache war das
handgreifliche Ziel auch noch zu der Zeit, wo die eigentliche
Begeisterung für die Humanisten schon vorbei war. Die
Leetüre ist berechnet auf den unmittelbaren Gebrauch; aus
dem Schriftsteller soll gelernt werden, was und wie man
reden müsse.
Unter den Wirren des kirchlichen Kampfes gingen die
Schulen und Universitäten beinahe ein; das Hauptinteresse
beanspruchten die theologischen, kirchlichen und politischen
Fragen und Kämpfe. Im Jahre 1526 schien der Humanismus
tot zu sein.
Beurteilungen.
345
Die neue Ordnung der Dinge durch Melanchthon fasst
P. unter folgende Punkte zusammen. Das mittelalterliche
Latein ist verdrängt durch das klassische. Die griechische
Sprache ist notwendiger Bestandteil des Unterrichts geworden,
nicht am wenigsten deswegen, weil der Theologe das N. T.
im Original sollte lesen können. Der philosophische Unter-
richt geht auf die Texte zurück, besonders auf Aristoteles.
Die Kenntnis des Hebräischen ist notwendig zur Leetüre
des A. T. Die Universitäten werden vom Elementarunterricht
entlastet. Der Religionsunterricht wird in die Schule einge-
führt. So blieb es im 16. Jahrhundert1.
Dagegen erhob sich im 17. Jahrhundert von zwei Seiten
Opposition: eine christliche und eine modern-nationale. So
äußerte sich (von Luther abgesehen) ein Theologe dahin, dass
nach dem Satan die Kirche einen ärgeren Feind nicht gehabt
habe als die Vernunft und Weisheit des Fleisches. Konnte
man auch die klassischen Sprachen nicht für überflüssig er-
klären, so verwahrte man sich dagegen, dass jene Litteratur
um der heidnischen Weisheit willen gelesen werden sollte.
Der Betrieb sollte also nur geduldet werden mit Rücksicht
auf die Theologie. Kurz es fehlt nicht an Eiferern gegen
die »heidnischen« Gelehrtenschulen.
Ueber die modern-nationalen Bestrebungen (Opitz, Weck-
herlin u. s. w.) vgl. P. S. 304 f.
Außerdem waren in dieser Zeit die mathematisch-natur-
wissenschaftlichen Studien im Aufsteigen begriffen. Wenn
man auch fortfuhr, die alten Sprachen zu lernen — denn
sie waren noch notwendig —, so nahm doch die Beschäftigung
mit dem Altertum einen andern Charakter an (P. S. 307 f.).
Die pädagogischen Reformbestrebungen aus dem Anfang
des 17. Jahrhunderts sind bezeichnet durch Ratichius (1571
bis 1635) und die herrliche Persönlichkeit des Comenius
(1592—1671). Die Methode sollte verbessert werden. Man
solle nicht beginnen mit dem Auswendiglernen der gramma-
1 Dass es auch damals die Lernenden (und Lehrenden) nicht
von Tag zu Tage mehr an der Weisheit Brüsten gelüstete, ersehen wir
aus Melanchthons de miseriis paedagogorum (1526) Paulsen S. 246.
346
K. Bruchmann,
tischen Regeln, sondern mit dem Autor; die erste Unter-
richtssprache soll die Muttersprache sein, auch um an ihr sich
grammatisch zu bilden. Die alten Sprachen sollen nicht abge-
schafft werden, zumal sie vermutlich durch eine bessere Methode
besser gelernt werden würden. Die Sprachen werden gelernt
im Dienste des Christentums, nicht um die heidnische Bil-
dung zu genießen. R. wollte also den Bildungsweg abkürzen.
Gomenius wollte ebenfalls die Ghristenkinder von der
heidnischen Schulherschaft befreien und der deutschen Sprache
im Unterricht und in den Wissenschaften zu ihrem Rechte
verhelfen. Wem unter den Deutschen die lateinische Rede-
fertigkeit nütze, wenn er nicht im Schulstaub leben und
sterben wolle? In dieser Zeit wurde der Betrieb des Grie-
chischen, welches dem Latein stets in beträchtlichem Ab-
stände gefolgt war, noch beschränkter und richtete sich
lediglich nach den Bedürfnissen des theologischen Studiums.
Wir kommen zu der Zeit nach dem westfälischen Frieden.
P. unterscheidet in dem geistigen Leben der Zeit zwei
Richtungen, den Rationalismus und Pietismus; beide waren
den klassischen Studien nicht günstig. Während der Pietis-
mus (A. H. Francke), obgleich energisch bemüht, Propaganda
zu machen, mehr das innerlichste, private Leben angeht,
sucht der Rationalismus seine Wirksamkeit auf allen Gebieten
des öffentlichen Lebens zu befestigen. Diese Bewegung drang
von Westen herein, hatte an den Höfen und dem höfischen
Adel ihre Vertreter und setzte sich später als Aufklärung
fort. Ihre eigentümliche Kraft besteht darin, dass sie die
neue Naturwissenschaft und Staatsanschauung in sich auf-
genommen hat; ich erinnere an die Namen Kopernikus,
Kepler, Galilei, Des Cartes, Hobbes, Leibniz, Pufendorf, Tho-
masius, Wolff. Wenn die Pietisten mit Geringschätzung auf
den Inhalt der klassischen Litteraturen sehen, so hält der
Rationalismus die Erlernung der alten Sprachen für über-
flüssig. Zu dieser Zeit konnte die Naturwissenschaft von
den Griechen (und Römern) nichts mehr lernen1.
1 Ueber die Stellung der Mathematik in den gelehrten Schulen
am Anfang des 18. Jahrhunderts. S. 380 f.
Beurteilungen.
347
Wie erging es also unter diesen Umständen den klas-
sischen Studien?
Latein schreiben und Latein sprechen war noch immer
für jeden notwendig, welcher gelehrte Studien machen wollte;
weniger notwendig war das Griechische. In Franckes berühm-
tem Pädagogium (1702) nahm das Latein eine sehr wichtige
Stellung ein. Griechisch und Hebräisch diente fast nur zur
Vorbereitung für die künftigen Theologen. Demgemäß be-
gann man im Griechischen sofort mit der Leetüre des N. T.
Auch Französisch wurde gelehrt.
Der Rationalismus dringt nun mehr und mehr ins Volk,
wird zur Aufklärung und drängt den Pietismus zurück; wir
nähern uns dem Jahre 1740, in welchem Friedrich der Große
den Thron besteigt.
Nach dem bisherigen Gange der Ereignisse hätte man
wohl glauben können, dass das Griechische seine Haupt-
Function, nämlich den Theologen für die Leetüre des
N.T. vorzubereiten, behalten werde, dass das Latein desto
mehr absterben werde, je weniger es als Gelehrtensprache
ein allgemeineres Bedürfnis wurde. Statt dessen sehen wir
um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen leidenschaftlichen
Cultus des Griechischen und des Griechentums entbrennen,
welcher mit einem glänzenden und vermutlich einzigen Auf-
schwung unsrer Poesie, späterhin unsrer klassischen Philologie,
verbunden war. Woher kam diese Hochschätzung der
Griechen? Dieser Enthusiasmus von Winckelmann, Herder,
Lessing, Voss u. s. w.? Welche Veränderung des geistigen
Ernährungsbedürfnisses war eingetreten?
Paulsen sieht mit Recht ab von dem luftigen Erklärungs-
grund der Gongenialität der Griechen und der Deutschen.
Ueberhaupt ist seine historische Betrachtung gerade deswegen
anziehend und gründlich, weil er real erklärt, Personen und
Epochen nicht mit Schlagwörtern abtut, sondern das Detail
herbeizieht. Gerade dadurch erhalten wir ein wirkliches Bild
des Lebens, nicht diese glänzenden Nebelbilder, welche uns
vielfach in der Geschichte des geistigen Lebens geboten
werden. Wir wollen doch Farben sehen, nicht bloß Licht
348
K. Bruchmann,
und Finsternis. So führt er hier den Griechencultus auf
historisch-nationale Ursachen zurück, welche gerade zu dieser
bestimmten Zeit wirksam waren.
Die Engländer und Franzosen nämlich (S. 422) besaßen
am Anfang des 18. Jahrhunderts schon eine anerkannte
nationale Litteratur, die Deutschen nicht. Die höfischen Kreise
liebten ja nun das Französische ungemein; nicht so alle
andern des gesamten Volkes. Von den Franzosen zu lernen
war Vielen schimpflich; dagegen warum nicht von den
Griechen ? Besonders wirkte bekanntlich das Studium Homers
fast revolutionär in der deutschen Litteratur. Die Odyssee
war 1537 von I. Schaidenreisser, die Ilias von I. Sprenge 1610
übersetzt worden. Im 18. Jahrhundert erschienen Ueber-
setzungen der ersten Bücher der Ilias von Blohm 1751—54
und Gries 1752. 1754 erschien Ilias und Odyssee (Frankfurt
und Leipzig 2 Bde.): es ist die Ausgabe, welche Goethe zu-
erst in die Hand bekam. Außer anderen sind zu nennen
Leop. v. Stollbergs Uebersetzung der Ilias 1778 und endlich
die von Voss (Odyssee) 1781.
Freilich glaubte um die Mitte des 18. Jahrhunderts nie-
mand mehr an das althumanistische Ideal, an die lateinische
Poesie und Eloquenz, an die Fortsetzung der litterarischen
Production des Altertums. Es entsteht das neuhumanistische
Ideal von der Bedeutung und von dem Werte der Griechen,
welches uns allen aus der Geschichte des geistigen Lebens
der Deutschen seit Schiller und Goethe bekannt ist. Erst
seit dem Anfang unseres Jahrhunderts ist der Betrieb des
Griechischen so allgemein und obligatorisch wie wir ihn jetzt
haben.
Nach neuhumanistischer Anschauung1 sollen die Alten
gelesen werden, nicht um fortgesetzt, sondern um genossen
zu werden. Die Alten sollen Urteil, Geschmack, Geist und
Einsicht bilden und dadurch die allgemeine Fähigkeit geistiger
Production bei uns steigern. Die Alten repräsentiren die
schönste und freieste Entwicklung des Geistes; wer die Schriften
1 Ueber I. M. Gesner (1691—1761) s. S. 427 f.
Beurteilungen.
349
der alten auctores lese, der genießet des Umgangs der größten
Leute und edelsten Seelen, die jemals gewesen, und nimmt
dadurch auch selbst, wie es bei aller Conversation geschiehet,
schöne Gedanken und nachdrückliche Worte an. Hier ist der
Zweck ein rein innerlicher; ihm muss auch die Leetüre in-
sofern angepasst werden, als sie cursorisch sein muss, sodass
die Alten nicht buchstabirt, sondern wirklich gelesen werden.
Bis jetzt war von der formal-bildenden Kraft der alten
Sprachen noch nicht die Rede. Einer der ersten sprach
davon A. F. Bernhardi (1800)1 ein Schüler F. A. Wolfs und
Lehrer an der Schule des trefflichen Fr. Gedike (1754—1803).
Dieser letztere, ein ausgezeichneter Schulmann, dessen Schriften
zu lesen manchem besser wäre als über Pädagogik zu
schreiben, blieb diesem Gedanken auch nicht fern, da er
1802 »über den Begriff einer gelehrten Schule« ihn vertrat,
im Gegensatz zu seinen früheren Schriften. Doch haben
Männer wie Gesner, Heyne, Ernesti und Gedike zum Alter-
tum ein inneres Verhältnis; seine Bildung erscheint ihnen so
hoch und schön, dass wenigstens die Gelehrten damit in
dauerndem Verkehr stehen müssen. So war es eigentlich
auch mit den Philanthropinisten (485. 487). Darum, weil
lediglich der Inhalt der alten Litteratur als Bildungsmittel
geschätzt wurde, wird wiederholt der Gedanke geäußert,
dass die Erlernung der alten Sprachen ein notwendiges Uebel
auf dem Wege zur Gelehrsamkeit ist. Dies sagte auch Trapp
(1745—1818), welchen P. sehr mit Recht gegen die Angriffe
v. Raumers verteidigt. Die Zeit Schillers und Goethes ver-
trat den Gedanken, im Gegensatz gegen die mechanistisch-
nützliche Weltanschauung, dass es an sich wertvolle Dinge
gebe, ohne Rücksicht auf den sogen. Nutzen, wie etwa
Poesie und Kunst. Nicht darauf komme es an, durch das
Studium einen praktischen Nutzen zu erreichen, sondern es
sollte die Menschen an sich besser und schöner machen. Das
Ziel des Unterrichts sei die Bildung zur Humanität. In den
Griechen sei die Idee der Menschlichkeit am reichsten und
1 S. 462 f.
350
K. Bruchmann,
höchsten entfaltet, darum müsse man sie lesen. So wurde
die Gelehrtenschule gleichsam zum Tempel des Griechentums.
Fichte äußerte (1804), dass die Menschen nur zur lebendigen
Anschauung der Sache selbst gelangen könnten durch das
Studium derjenigen Sprachen, deren ganze Begriffsgestaltung
von der Modernität völlig abweicht1 und dadurch nötigt,
über alle Zeichen hinweg zu dem Begriff der Sache selbst
sich zu erheben.
Hegel (P. S. 529) betont den Inhalt des Griechentums,
erwähnt dabei aber auch, dass die Erlernung der alten
Sprachen an sich lohnend sei; das grammatische Studium
mache den Anfang der logischen Bildung, ja könne als
elementarische Philosophie angesehen werden. Dabei fange
der Verstand an selbst gelernt zu werden. »Die elenden
Gründe, sagt Schelling, aus welchen das Erlernen der alten
Sprachen im früheren Alter von der modernen Erziehungs-
kunst bestritten wird, bedürfen keiner Widerlegung. Sie
gelten nur für ebensoviel besondere Beweise der Gemeinheit
der Begriffe, welche dieser zu Grunde liegen.«
F. A. Wolf (S. 530 f.) glaubte zwar auch (ich hebe
nur diese eine Aeußerung hervor) wie der phantastisch-
schrullenhafte Jean Paul, dass die jetzige Menschheit uner-
gründlich tief sänke, wenn nicht die Jugend durch den
stillen Tempel der großen alten Zeiten und Menschen den
Durchgang zu dem Jahrmarkt des Lebens nähme; er verstand
es zwar sehr gut, vom Wert der alten Sprachen für die
formale Entwickelung der Geisteskräfte zu reden ; aber er war
weit entfernt von der Forderung, dass wo möglich alle, oder
ein möglichst großer Teil der Menschen durch die Schule
des Altertums gehen müsse. Vor allen Dingen sollen die-
jenigen die alten Sprachen nicht lernen, welche nicht studiren
wollen. Das Gymnasium2, wenigstens die beiden obern
1 Dies ist also dasselbe, was neuerdings auch Lichtenheld als den
Kernpunkt bezeichnet.
2 Die eigentliche Organisirung des Gymnasiums fand statt unter
der Regierung Friedrich Wilhelms III S. 568. 569. Das Abiturienten-
Examen datirt schon vom 23. December 1788.
Beurteilungen.
351
Klassen, wenn möglich auch die dritte, sollen nur den künftig
Studirenden offen stehn. Aber nicht einmal alle Studirende
bedürfen der alten Sprachen. Zumal das Griechische sei
nur für künftige Theologen und Lehrer erforderlich. Das
Studium des Griechischen auf der Schule solle vielmehr be-
willigt als aufgedrungen oder empfohlen werden. Wolf also
sah sehr wohl ein, dass sich nicht eines für Alle schicke,
dass die Begabung und Neigung verschieden ist.
Passow dagegen (S. 559) steht nicht an zu behaupten,
»dass er das Erlernen der Hellenensprache unserm ganzen
Volk, ohne Rücksicht auf Geburt, Stand und künftige Be-
stimmung — Rücksichten, die der wahre Jugendbildner nie
nehmen sollte — für notwendig hält«. So betrachtete dieser
Gelehrte — die deutsche Nationalerziehung!
Sehr zu beachten ist ein Wort H erb art s (S. 563) aus
dem Jahre 1818, welcher sich aufs schroffste gegen die
sogenannte formale Bildung ausspricht.
In unserem Jahrhundert also erst wurde aus der großen
Menge von Lateinschulen mit sehr verschiedener Leistungs-
fähigkeit eine kleine Anzahl ausgesondert, denen unter dem
Namen Gymnasium die Vorbereitung für das Universitäts-
studium in fest geregeltem Cursus ausschließlich vorbehalten
wurde. Die Gymnasien wurden aus der kirchlichen Verwal-
tung herausgelöst und als ein besonderes Gebiet der Staats-
verwaltung eingefügt.
Der Name der Realschule scheint zuerst (S. 483) im
Jahre 1706 in Halle vorzukommen. Dort nämlich hatte
Semler eine »mathematische und mechanische Realschule«
eingerichtet. Die Entwicklung der Realschule in Preußen
S. 745 f. Ueber das Lateinschreiben S. 693. 699. 700. 741 f.
Mir scheint, dass man dem Verfasser und allen andern Gegnern
des lateinischen Aufsatzes durchaus zustimmen muss. Der
lateinische Aufsatz muss abgeschafft werden. Auch scheint
mir vollkommen zu billigen, was er S. 745 über die päda-
gogische Vorbildung der Lehrer sagt. Es erscheint unzwei-
felhaft, dass die angehenden Lehrer (wie Bonitz im Jahre
1882 beantragte) systematisch, nicht sporadisch oder über-
352
K. Bruchmann,
haupt nicht, ausgebildet werden für den Unterricht und zwar
durch wirkliche Gymnasial-Seminare. »Mit der Möglichkeit,
die zur Leitung solcher Anstalten geeigneten Directoren oder
älteren Lehrer von der regelmäßigen Schularbeit in einigem
Umfang zu entlasten, möchte die wichtigste Bedingung einer
fruchtbaren Wirksamkeit dieser Einrichtung gegeben sein.«
Wir kommen zur Schlussbetrachtung des Verfassers
S. 755—784. Gerade hier aber muss ich der Versuchung
ausführlich zu werden widerstehen. Alles was sich über
die Sache sagen lässt, ist gesagt. Auch dem, was P. gesagt
hat, lässt sich in seinem Sinne nichts hinzufügen, gegen seine
Auffassung außer den üblichen Argumenten, soviel ich zu
urteilen vermag, nur wenig und dazu nicht Erhebliches an-
führen. Welches sind also die Aussichten für unsere Gym-
nasien und Realgymnasien in der Zukunft? Soll die Sache
so bleiben wie sie jetzt ist, soll sie anders werden?
Die seit 1870 den Realschulen (Realgymnasien) gewährte
Berechtigung zum Universitätsstudium der Mathematik und
der neueren Sprachen beschränkte zugleich die spätere An-
stellungsfähigkeit auf Realschulen, während den Gymnasial-
abiturienten auch die Realschulen offen stehn. Offenbar
spricht sich darin die Ansicht aus, dass mindestens für ge-
wisse Zweige des Studiums, wie für das Sprachstudium, der
Gymnasialcursus besser vorbereitet als die Realschule. Diese
Ungleichheit indessen wäre von wenig Belang. Dasjenige,
was uns mit dem Verfasser zu einer abermaligen Prüfung
dieser Verhältnisse auffordert, ist einmal die historische Be-
trachtung, andrerseits die Klagen der Gegenwart. Die histo-
rische Betrachtung hat an sich, als Abschnitt der deutschen
Culturgeschichte, ohne Rücksicht auf die Streitfrage der
Gegenwart, ihren Wert; sie lehrt aber zugleich, dass es früher
anders gegangen ist, als man jetzt gewöhnlich glaubt und als
man glaubt, dass es jetzt gehen müsse. Die Menschen sind
auch Menschen geworden ohne Griechisch. Die Klagen sind
früher zahlreich, dass auf den höhern Schulen nur Mittel-
mäßiges geleistet wird; die Rescripte, welche dem abhelfen
sollen, nehmen kein Ende; außerdem sind die Aufgaben des
Beurteilungen.
353
höheren Unterrichts sehr viel umfassender geworden, sodass
für alle Gegenstände die Zeit der Schulstunden nicht auszu-
reichen scheint. Dazu kommen die in der Gegenwart er-
schallenden Klagen. Wenn schon fast Alle zugeben, dass
das Lateinschreiben antiquirt ist, dass die Leetüre dadurch
schwer geschädigt wird, so ist Streit über das Griechische.
Hier ist freilich in höchst dankenswerter Weise viel gebessert
durch den Lehrplan vom 31. März 1882, welcher z. B. das
griechische Exercitium beseitigt: aber darum ist die Frage
nicht beseitigt, ob denn das Griechische überhaupt seinen
bisherigen Rang behalten solle oder nicht, ob sein Verhältnis
zu den Facultätsstudien auf der Universität dasselbe bleiben
soll, ob die ungesiebte Masse unsrer Gymnasiasten mit Nutzen
Griechisch lernt, ob wir überhaupt heutzutage für den ob-
ligatorischen Unterricht im Griechischen noch Zeit haben,
oder ob es ratsam erscheint, das Griechische nur facultativ
zu lehren; wie endlich, unter dieser Voraussetzung, die Grund-
gedanken zu formuliren wären, welche Wesen und Ziel
unseres höheren Unterrichts charakterisiren und bestimmen.
Dies endlose Thema zu behandeln, ist, wie gesagt, meine
Sache nicht, zumal ich an einer andern Stelle ein paar
Worte darüber gesagt habe, welche Andere zur Prüfung
dieser Verhältnisse auffordern sollten. Darum wiederhole ich
nur kurz die Ansicht des Verfassers, welchem ich allerdings
in der Hauptsache beistimme. Er scheint mir die Tendenz der
Gegenwart und das Bedürfnis der Zukunft richtig erkannt zu
haben; ich sage nicht: wie die Partei der Realschulmänner;
denn ich glaube, dass auch P. in unsern Realschulen das
erreichte Ideal des höheren Unterrichts nicht erblickt.
Er kommt zunächst auf die Frage der Ueberbürdung
(sie scheint mir nicht die Hauptfrage zu sein), welche nicht
erst seit 10 oder 20 Jahren lebendig geworden ist. Er er-
wähnt, dass es der Durschschnittsschüler in keinem Fache
zu einer wirklichen Fertigkeit bringt. Sollte dies auch eine
übertriebene Befürchtung sein, so scheint mir sicher, dass
es der Durchschnittsschüler in den meisten Fällen aller-
dings nicht zu einer ihn und den Lehrer befriedigenden
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 3. 23
354
K. Bruchmann,
Fertigkeit bringt. Paulsen frägt (S. 760): können sie wirk-
lich lateinisch lesen, etwa Cicero und Livius; so lesen, wie
man ein modernes Buch liest ? Können sie griechisch lesen,
den Sophokles, den Demosthenes? Er erwähnt den gespannten
und krankhaften Zustand des Gemüts (dies ist ein Ausdruck
Herbarts), welcher vielen jungen Leuten auf dem Gymnasium
eigentümlich sei. Er zieht den Schluss, dass die alten
Sprachen zu beschränken seien und damit doch sicherlich
auch das Pensum aus der griechischen und römischen Ge-
schichte. Lateinisch zu verstehen (S. 762) werde zwar un-
entbehrlich bleiben1), aber das, was man gegenwärtig klas-
sische Bildung nennt, werde einmal für die Mehrzahl unserer
Gelehrten aufhören, die Grundlage ihrer wissenschaftlichen
Bildung zu sein.
Die Disciplinen, welche nach einem Zurücktreten des
altsprachlichen Unterrichts 2 in erster Linie gewinnen müssten,
sind nach des Verfassers Meinung Deutsch und Philosophie;
das Nähere S. 763 f. Endlich wendet er sich gegen die Be-
fürchtung, dass bei der von ihm im Umriss gezeichneten
neuen Ordnung der »Idealismus« Schaden leiden könnte, dass
der Geist unserer Jugend eine Einbuße erleiden könnte, wenn
wir vom klassisch-humanistischen zum deutsch-humanistischen
Gymnasium übergehen. Wir müssten uns also entschließen,
die Misstände, welche in der Zeit liegen, welche durch die
historische Entwicklung mit Notwendigkeit geworden sind,
zu ändern.
Wer demnach den Gedanken vertritt, dass das Studium
der Griechen wünschenswert sei für die Ausbildung einer
geistigen Aristokratie unter uns, dem würde man (durchaus
zustimmend) mit Paulsen antworten können, dass gerade
deswegen, damit die Griechen wirksam werden, der bisherige
Betrieb geändert werden müsse. Das Griechische soll keines-
wegs radical beseitigt werden, sondern es soll so betrieben
werden, dass es innerlich zu wirken im Stande ist. Wirksam
wird Griechentum für die meisten Menschen nur dann, wenn
1 Vgl. S. 774
2 Doch erscheint auch ihm das Latein unentbehrlich.
Beurteilungen.
355
die griechische Litteratur in Uebersetzungen zugänglich ist.
Klassische Philologen und Theologen (obgleich letztere nicht
in erheblichem Grade) werden also Griechisch lernen müssen;
die Griechen zu lesen bleibt allgemeine Forderung wie bis-
her; dagegen ist nicht abzusehen, wozu es die Mediciner,
Juristen, Physiker u. s. w. lernen sollen. Entweder also
werden die Gymnasien entvölkert, sodass vor allen Dingen
diejenigen ausgeschlossen werden, welche nur das Zeugnis
für den einjährigen Dienst haben wollen; oder dieser Schule
wird eine discretionäre Gewalt beigelegt, diejenigen auszu-
scheiden, welche gerade für diese geistige Arbeit sich un-
brauchbar zeigen; oder aber das Griechische wird nur facul-
tativ gelehrt.
Ich habe die Anschauung, dass die Berechtigung zum
einjährigen Dienst überhaupt nicht auf Grund eines Schul-
zeugnisses verliehen werden, sondern nur auf Grund einer
Prüfung von der Militär-Behörde erteilt werden sollte.
Wir würden also etwa auf den Standpunkt von Fr. Aug.
Wolf kommen, während jetzt, wie P. sich ausdrückt, »sogar
die Baumeister und Postbeamten, die Ofñciere und Kaufleute,
die Chemiker und Zahnärzte« Griechisch lernen.
Dass eine Litteratur durch Uebersetzung verliert, ist
bekannt; ebenso aber ist bekannt, dass die Uebersetzungen
sehr beliebt, ja unentbehrlich sind. Dass auch die alten
Klassiker nicht dadurch ungenießbar werden, lehrt die Er-
fahrung. Es ist erstaunlich zu lesen, wie Friedrich der Große
die Alten tractirt hat (Gespräche Friedrichs des Großen mit
Henri de Gatt, Leipzig 1885). Lucrez las er am liebsten;
doch werden auch mehrere Schriften von Cicero erwähnt,
wie die Académica, de flnibus, de natura deorum, die Tus-
culanen, die Reden, die Briefe an Atticus; Lebensbeschrei-
bungen von Plutarch, Tacitus, Sallust, Nepos; Aristoteles'
Poetik und Rhetorik. Es lässt sich nicht zweifeln, dass der
König nur in französischen Uebersetzungen las1.
Von der Reichhaltigkeit des Inhalts des angezeigten
Buches konnte diese Anzeige keine annähernde Vorstellung
1 Vgl. Goethe-Eckermann I 133 f. (Reclam).
23*
356
Stein thai,
geben: dazu muss man das Buch selbst lesen. Namentlich
konnte ich auf das Detail der Universitätsgeschichte nicht
eingehen, welche hier zum ersten Mal mit aller erwünschten
Deutlichkeit geboten wird. Ich würde die Seitenüberschriften
abschreiben, wenn ich es nicht für überflüssig hielte: denn
wer der Sache einigermaßen nahesteht, wird nicht umhin
können, das Buch selbst zu lesen und wird sich reichlich
belohnt finden.
K. Bruchmann.
2. Liclitenheld, Adolf, Das Studium der Sprachen, besonders
der klassischen, und die intellectuelle Bildung. Auf
sprachphilosophischer Grundlage dargestellt. Wien 1882,
Alfred Holder.
Der Verfasser spricht für das Griechische; der Referent
stimmt ihm bei und bedauert, mit seinen Freunden Paulsen
und Bruchmann hierin nicht übereinzustimmen.
Der Kampf um das Studium des Griechischen ist wohl
so alt wie dieses Studium selbst. Nachdem die Freunde des-
selben in den ersten vier Decennien dieses Jahrhunderts
einen vollen Triumph gefeiert hatten, scheint sich in den
letzten vierzig Jahren die Lage völlig geändert zu haben.
Wir stehen jetzt vor der wunderlichen Ironie, dass man dem
Griechischen gern alles Gute nachsagt, nur dass es nicht zu
leisten ist. Unsre Gymnasiasten können kein Griechisch mehr
lernen; also — werde es gestrichen.
Die Kämpfer verstehen sich nicht mehr; ich wenigstens
kann die Einwendungen gegen das Griechisch-Lernen nur
mit verwundertem Achselzucken begleiten. Da wird mir
erzählt von einem »gespannten und krankhaften Zustand des
Gemüts der jungen Leute auf dem Gymnasium« und von den
Schrecken, welche noch dem Greise der griechische Schul-
meister in den Träumen bereitet: während ich jene Schul-
Beurteilungen.
357
stunden, in denen Thucydides und Demosthenes und Homer mit
mir gelesen ward, zu den angenehmsten Erinnerungen meiner
Jugend und meines Lebens zähle. — Man sieht es als etwas
Ungeheuerliches an, dass »Baumeister und Postbeamte, Officiere
und Kaufleute, Chemiker und Zahnärzte« Griechisch lernen.
Das ist zwar in dieser Allgemeinheit nichts weniger als richtig;
indessen wenn es nun so wäre, wäre das nicht schön?
W. v. Humboldt und andre hätten es gewünscht. — Passow
geht so weit, »dass er das Erlernen der Hellenensprache
unserm ganzen Volk, ohne Rücksicht auf Geburt, Stand und
künftige Bestimmung (Rücksichten, die der wahre Jugend-
bildner nie nehmen sollte) für notwendig hält«, und dazu
fügt mein Freund Bruchmann (oben S. 351) den Ausruf: »So
betrachtete dieser Gelehrte die deutsche Naturalerziehung !«
Ja, so betrachtete seine ganze Zeit die deutsche National-
erziehung, und so betrachte ich sie heute noch. Ich stehe nicht
an, zu behaupten: Deutscher Geist ist ohne Hellenismus un-
denkbar. — Ich rede von Demosthenes; der andere redet vom
einjährigen Dienst. Von letzterm und von allen Uebeln, die
daran hängen, mögt ihr dort reden, nein, sollt, müsst ihr
dort reden, wo es am Platze ist. In jedem Semester-Bericht
muss der Schul-Leitung von sämmtlichen Gymnasien Deutsch-
lands zugerufen werden: So geht's nicht! In jeder Nummer
der Gymnasialzeitungen müss gesagt werden : So geht's nicht.
Wer kein Griechisch lernen kann, werde vom Gymnasium
gewiesen ; und wer es nicht gelernt hat, kann die Universität
nicht besuchen. Das sind Axiome.
Sollte die Zeit wegen der Realien, denen jetzt auch auf
den Gymnasien mehr Stunden gewidmet werden müssen,
knapp werden: so streiche man ruhig das Latein.
Bei den Gegnern des Griechischen ist es feste Voraussetzung:
Das Latein ist unentbehrlich. Ich möchte >wissen, warum?
Was soll denn Latein nützen? Der Jurist, der es nötig
hätte, könnte es auf der Universität lernen. Ich glaube aber
nicht einmal, dass jeder Jurist, auch der einfache Praktiker,
Anwalt oder Richter, Latein zu wissen braucht. Der Theologe
braucht es auch nicht, und der Mediciner am wenigsten.
358
Steinthal,
Die Gegner des Griechischen wollen einen Ersatz dafür
in drei Dingen: Uebersetzungen der griechischen Schrift-
werke, Deutsch, Philosophie. Was die erstem betrifft, so
werden sie, fürchte ich, nur denen genießbar, verständlich
sein, welche ein griechisches Gymnasium besucht haben.
Wem Griechisch fremd ist, und wer vom antiken Wesen nur
das Latein der Realschule kennen gelernt hat, dürfte schwerlich
nach Uebersetzungen der griechischen Klassiker begierig, dürfte
schwerlich für sie vorbereitet sein1.
Für das Deutsche und die Philosophie dürften die Gründer
des »deutsch-humanistischen Gymnasiums« in große Ver-
legenheit geraten, nämlich: woher die Lehrer gewinnen?
Es ist ja zum Erschrecken, wie wenig Verständnis für Philo-
sophie und allgemeine Grammatik unsere heutigen Gymna-
sial-Lehrer haben.
Man fordert uns auf, die schönen Erfolge namhaft zu
machen, welche das Griechischwissen gehabt habe. Ich
will mit einer talmudischen Fuchsfabel antworten. Der Fuchs
ging eines Tages am Ufer eines Flusses. Da bemerkt er
unter den Fischen eine sehr große Aufregung ; höchst ängstlich
schwimmen sie hin und her und scheinen zu fliehen. »Was
habt ihr denn?« fragt er sie. »Wir suchen den Netzen zu
entgehen,« antworteten diese, »mit denen uns die Fischer
verfolgen.« »Ei,« sagte der Fuchs, »so lasst euch raten!
kommt zu uns aufs Land: da kann euch der Fischer mit
seinen Netzen nichts anhaben.« Darauf jene: »Wie, dich
nennt man das klügste der Tiere, und solchen Rat gibst
du? Wir sind nicht einmal in unserm eignen Elemente sicher,
und sollten in einem uns fremden und feindlichen Elemente
leben !«
Zu den angeführten beiden Axiomen füge ich als drittes,
das aber an die Spitze treten muss: Wir alle sind allzu-
mal Barbaren (und die Römer waren es nicht weniger
als wir), und zur Humanität führt nur ein Weg, der Weg
über Hellas (wie nur der Weg über Palästina zur Religion
1 Wie wenig Uebersetzungen nützen, hat unser Verfasser (S. 169 f.)
bei Gymnasiasten bemerkt.
Beurteilungen.
359
führt). Das war Humboldts Glaubensbekenntnis, und ist auch
das meinige.
Ob die Deutschen eine besondre Congenialität mit den
Hellenen besitzen, lasse ich dahingestellt; andere sagen, die
Deutschen besitzen eine Congenialität mit Israel-Juda. Viel-
leicht ist beides richtig. Hier ist nur von ersteren die Rede,
und da meine ich: je weniger wir den Hellenen congenial
sind, um so notwendiger ist das Studium der letztern. Damit
soll nicht gesagt sein, dass jeder Dummkopf Griechisch lernen
müsse; aber die Blüte des Volkes, diejenigen, welche Träger
des National-Geistes sein sollen, die obern Zehntausend, sagen
wir: Hunderttausend, müssen griechisch imprägnirt sein —
mehr und weniger natürlich.
Historische Experimente sind nicht erlaubt. Wie es
unter den Deutschen aussehen wird, wenn Griechisch schwindet,
wenn die Juristen, die Aerzte, die Theologen, die Natur-
forscher nicht mehr Griechisch gelernt haben, davon kann
sich niemand eine sichere und deutliche Vorstellung machen.
Ich glaube, dass wir in die vollste Unbildung geraten würden.
Die empirischen Naturforscher, welche gegen Philosophie
und lateinisch-griechische Grammatik predigen, wissen wahrlich
nicht, was sie thun; sie wissen nicht, was sie selbst dem
Gymnasium und der Philosophie zu danken haben, was sie
ohne diese beiden wären! Wenn die Physik und Chemie
in Deutschland auf gleicher Höhe wie in anderen Cultur-
ländern steht, wenn die deutsche Physiologie das Primat in
Europa einnimmt: so ist dies den deutschen Gymnasien und
der deutschen Philosophie zu verdanken.
Wenn ich nicht im Stande bin, positiv zu beweisen, wie
nützlich etwas ist, so sehe ich mich nach dessen Gegner um.
Erkenne ich in diesem meinen Feind, so schütze ich jenes
mit aller Kraft. Ich würde z. B. die Freimaurerei für eine
Lächerlichkeit erklären; sehe ich aber, wie dieselbe von
den Jesuiten angefeindet wird, so muss ich sie für ein höchst
edles Bestreben erklären. Und nun, wer waren die Feinde
des Griechischen von jeher ? Die Viri obscuri, die Pietisten,
die Utilitarier — sämmtlich meine Feinde.
360
Steinthal,
Es setzen sich in uns gewisse Vorstellungen fest und kri-
stallisiren zu widerstandsvollster Härte. Da kommen denn ge-
legentlich Einwände, welche auch diese angreifen. Der gute
Erfolg wäre der, auch solche eingetrocknete Vorstellungen
aufzuweichen, zu lockern und mit ihrem Grunde in allen
Einzelheiten bewusst zu machen. Warum verachten wir
denn das Küchenlatein des Mittelalters? Warum fordern wir
denn, dass der Deutsche correctes Deutsch schreibe? Was
liegt an der richtigen Scheidung von mir und mich? u. s. w.
Die Frage ist gestellt (oben S. 343): wir werden wohl die
Antwort suchen müssen.
So komme ich denn endlich zu unserm Verfasser. Er
hat, allerdings mit einer ermüdenden oder anstrengenden
Gründlichkeit gezeigt, wozu wir fremde Sprachen, besonders
aber die klassischen, lernen; aber er hat es gründlichst
getan und hat sich selbst am meisten angestrengt. Dem
Gymnasial-Lehrer, der sich in gleicher Gemütslage befindet
wie der Verfasser sich befunden hatte; wen, wie ihn jemals
»Zweifel an der Notwendigkeit seines Berufes marterten«:
dem empfehle ich das sorgfältige Studium seines Buches.
Hier ist nirgends Phrase; überall wird die psychologische
Tatsache aufgesucht: das war ein schweres Beginnen. Und
wenn ich bedenke, wie wenig Psychologie bis heute in unserer
Pädagogik ist: so muss ich wirklich des Verfassers Buch für
eine höchst bedeutsame Erscheinung halten.
Er spricht allerdings fast nur von den Erfolgen des
Sprach-Studiums an sich, und nicht von dem Einflüsse des
Inhalts der Klassiker. Doch über letztern ist vielfach so gut
gesprochen, dass es nicht nötig schien, auf denselben näher
einzugehen. Er widmet ihm S. 188—200.
Wir haben noch so wenig psychologische Mikrologie und
Mikroskopie, dass man dem Verfasser willig manches nach-
sehen muss. Dafür hat er aber mehr geleistet, als der Titel
verspricht. Er bietet eine Theorie der grammatischen Inter-
pretation, wie wir sie bis auf ihn im entferntesten noch
nicht hatten. Er gibt den ersten Versuch dazu, und wahrlich
keinen verunglückten. Obwohl durchweg theoretisirend,
Beurteilungen.
361
spricht er durchweg als praktischer Lehrer aus seiner reichen
Erfahrung heraus. Er bekennt offen, wie viel er der psycho-
logischen Grundlage verdankt, die ich ihm geboten habe.
Wenn das ein Erfolg meines Werkes war, so darf ich mir
dazu gratuliren, und, da die Gelegenheit es ungesucht und
unbeabsichtigt mit sich bringt, es auch offen aussprechen.
Der Verfasser behandelt nach der allgemein psycho-
logischen Grundlegung die Vocabeln und die Satzbildung
jedes besonders, und zwar jene noch ausführlicher als diese,
und betrachtet abermals gesondert das Uebersetzen aus der
Muttersprache und das in die Muttersprache.
Ich muss es mir hier versagen, näher auf das Gebotene
einzugehen. Auf ein Werk wie das vorliegende zurückzu-
kommen, wird sich oft genug Gelegenheit bieten.
Steinthal.
Maybaum, Dr., Die Entwicklung des altisraelitischen Priester-
tums. Ein Beitrag zur Kritik der mittleren Bücher des
Pentateuchs. 1880. Breslau, Koebner. 126 S.
Desselben, Die Entwicklung des israelitischen Prophetentums
1883. Berlin, Ferd. Dümmlers Verlag (Harrwitz & Goss-
mann). 162 S.
Zwei Schriften, deren geringer Umfang zu ihrer Bedeutung
in umgekehrtem Verhältnisse steht.
Priestertum und Prophetentum sind die wichtigsten, ich
möchte sagen: die einzig wichtigen, Erscheinungen in der
Geschichte Israel-Judas. Welche politische Rolle das Haus
Omri und das Haus Jehu neben dem Hause David gespielt
haben, welche Bedeutung diese Mittelmacht unter gleich großen
oder kleineren Mittelmächten zwischen der assyrischen und
der ägyptischen Großmacht zu gewinnen verstanden hat,
wie prächtig Salomons und Ahabs Lustschlösser gewesen
sein mögen — wenn es mich interessirt, dies genau zu
wissen, so ist es nur, weil dadurch Licht auf das Priestertum
362
SteinthaJ,
und Prophetentum Israel-Judas fällt oder fallen kann, und
lediglich darum.
Ich hatte nie geglaubt, dass man in Palästina, sei es
Jerusalem, sei es Samaria, althebräische Inschriften finden
werde; auch nachdem man die moabitische Inschrift des
Königs Mesa gefunden hatte, habe ich nie gefürchtet, dass
man ein ähnliches prahlerisches Denkmal der Eitelkeit in
Israel-Juda finden könnte. Nun hat uns dennoch das günstige
Geschick eine jüdische Inschrift aus der Zeit des Königs Ghiskija
erhalten; aber es freut mich ganz ungemein, dass es keine
offizielle Inschrift zum Ruhme der Kriegstaten eines soge-
nannten großen Königs und Völkerunterjochers ist, sondern
die eines Technikers, welcher seine Freude über das Gelingen
eines gebohrten oder gehauenen Tunnels zum Behufe einer
Wasserleitung ausspricht. Wie sollte ich mich, nach dritt-
halb Jahrtausenden, nicht heute noch mit dem vortrefflichen
Manne freuen! Hatte doch vermutlich der Prophet Jesaja
auch seine Freude dran; und was den anging, geht mich
auch an.
Es kommt mir vor, als hätte ich wünschen müssen, dass
der Verfasser der obengenannten Schriften beide zusammen
zu einem Buche verwebt hätte. Indessen hierüber lässt sich
mit einem vielbeschäftigten Manne im Amte (der Verfasser
ist jüdischer Geistlicher) nicht rechten. Er gibt nicht nur
was er kann, sondern dieses auch nur so, wie er gerade
kann.
Zuerst hat er das Priestertum besprochen, dann das
Prophetentum; denn dieses ist erst aus jenem hervorgegangen,
wie der Verfasser ausführlich nachweist. Die Darlegung dieses
Ablösungsprocesses der Propheten von den Priestern bildet den
Kern der beiden Schriften, woraus sich dann das gegenseitige
Verhältnis beider, wie es der Verfasser entwickelt, mit Not-
wendigkeit ergibt. Weil aber eben das eine ohne das andre
nicht gedacht werden kann, darum wäre es vielleicht besser
gewesen, sie beide in ihren Kämpfen und in ihrem endlichen
Friedensschlüsse einheitlich vorzuführen.
Beurteilungen.
363
I. Die vordeuteronomische
Zeit: Das alte Priestertum.
Die bloße Zusammenstellung der Kapitelüberschriften ist
schon lehrreich. Die Einleitungen lassen wir aus:
Priestertum. Prophetentum.
I. Die vorsamuelische Zeit:
Das Prophetentum innerhalb
des Priestertums.
II. Samuel und die Prophe-
tenschule: Auslösung des
Prophetentums aus dem Prie-
stertum.
III. Die Heldenzeit des Pro-
phetentums: Kampf gegen
Baal und reinere Auffassung
Jahwe's. Gegensatz zum
Priestertum.
IV. Die Zeit der wahren und
der falschen Propheten:
Volle Ausbildung der Jahwe-
Idee. Beginn der Auflösung
des Prophetentums.
V. Die Zeit der Auflösung
des Prophetentums: Das
Exil. Aussöhnung der Pro-
pheten mit den Priestern.
II. Das Deuteronomium:
Beform des Priestertums durch
die Propheten unter Ghiskija
und Josija.
III. Die theokratische Ord-
nung des Propheten E se-
it i el.
IV. Der Priestercodex: Die letzte
Entwicklung des Priestertums.
V. Die n achexilische Zeit: Be-
daction unsres Pentateuchs. Con-
solidirung des Hohenpriestertums
und Trennung der Priester von
den Leviten.
Hieran sei nur folgende Bemerkung geknüpft. Die
Kapitelüberschriften bezeichnen Perioden. Die Gestaltung
des Priestertums nun liegt in prähistorischer Zeit und ist so
fest und starr, dass sie den israelitischen Staat überlebt und
sich ohne Wandel fast bis zum babylonischen Exil erhält.
Das Prophetentum dagegen, da es ursprünglich innerhalb
des Priestertums steht, hat freilich ebenfalls seine prähistorische
Zeit, hat aber zwei Perioden durchlaufen, ehe sich am Priester-
tum etwas rührt. Nun gewinnen beide in Contact zwei neue
364
Steinthal,
Epochen ; in dieser Entwicklung aber ist das Priestertum das
passive Element, welches durch Aufnahme der Einwirkung
des Prophetentums umgestaltet wird, während dieses das
eigentliche Agens bildet. Dagegen scheint es nach dem
Untergange des letztern noch zwei (und nehmen wir die
talmudische Zeit nach der Auflösung der jüdischen Nationalität
hinzu, noch drei) Epochen zu erleben. Das sind aber nur
Epochen der Verhärtung des Priestertums, während das
Lebendige in demselben lediglich durch die ideelle Fort-
wirkung des Prophetentums bedingt ist.
Blicken wir auf die fünf Perioden des Prophetentums,
wie der Verfasser sie aufstellt und zeichnet, so kann einem
einfallen: das ist das Loos des Schönen, des Edlen auf der
Erde. Es ringt sich aus Gemeinem heraus, kämpft dann
gegen das Gemeine, und siegt auch endlich; wenn es sich
aber seines Sieges freuen will, so geht es unter, als wäre
ihm kein Genuss siegreichen Daseins gegönnt, und sein Gegner
vielmehr prahlt alleinherschend. Doch dies ist nur Schein:
der Sieg des Priestertums, das Schwinden des Prophetentums
vom Kampfplatz ist nur Schein. Das Priestertum, das durch
seinen Gegner umgestaltet ist, trägt diesen nun in sich selbst.
An den äußeren Institutionen, den Ceremonien ist nichts
geändert; aber der Gegensatz und Kampf und Sieg ist nun
in das Bewusstsein des Einzelnen gelegt. Durch den Priester
soll Jeder prophetisch werden. Diese Andeutung muss hier
genügen.
Stimme ich nun im allgemeinen in all dem mit dem
Verfasser überein, so gibt es freilich der Einzelheiten, wo ich
anders denke, genug.
So würde ich die beiden ersten Perioden des Propheten-
tums gänzlich streichen. Dieses hat keine prähistorische Zeit,
sondern steht durchaus innerhalb der Geschichte. Was der
Verfasser dessen »Heldenzeit« nennt, ist, nach meiner Auf-
fassung, dessen Geburt, und vorher war es gar nicht. Es
ist nicht bedeutungsloser Wortstreit, sondern, wie mir scheint,
Forderung der Klarheit, von der die richtige Erkenntnis der
Sache bedingt wird, wenn ich betone, dass nur Israel-Juda
Beurteilungen.
365
Nébi'im hatte, welche die anderen Völker alle nicht kennen,
und dass wir unrecht tun, dieses Wort durch »Propheten«
zu übersetzen. Wir können freilich nicht anders, weil das
Wort eben unübersetzbar ist; aber wir sollten es dann eben
auch nicht übersetzen, um nicht irre zu führen und irre zu
gehen. Der Verfasser sagt mit Recht (S. 1): »obgleich fast
jedes Volk des Altertums seine Propheten hatte, so darf man
dennoch sagen, dass in dem Wesen und in den Zielen des
israelitischen Prophetentums das Unterscheidende liegt zwischen
Israel und dem Heidentum«. So darf man nur darum sagen,
weil man vielmehr sagen muss, dass nur in Israel-Juda der
Nabi erstand, der eben kein Prophet war, wie letztern die
anderen Völker kannten. »Das Prophetentum in Israel ist
zu einer so durchaus unvergleichlichen Institution geworden«
(das.), »dass es sich« nicht »aus dem Heidentum entwickelt
haben« kann. Darum braucht es nicht vom Himmel gefallen
zu sein ; aber der Ursprung desselben ist schwer zu begreifen.
Der Verfasser glaubt für die Lösung dieser Aufgabe einen
festen Anhaltspunkt an Samuel gewonnen zu haben. Wer
mag wol der Urheber des Satzes gewesen sein (den ich
schon als Knabe gehört habe), dass Samuel der Gründer
der Prophetenschulen gewesen sei ? In der kurzen Geschichte
der Tora (Gesetz und Lehre) von Mose bis zur großen Synode
im Anfang der »Sprüche der Väter« werden merkwürdiger-
weise die Priester gar nicht, und zwar die Propheten, aber
nicht Samuel (freilich überhaupt kein einzelner Prophet)
genannt. Ich meine in der Tat, an eine von Samuel ge-
gründete (oder auch nur, wie der Verfasser meint, reformirte)
Schule ist weder zu denken, noch gibt dazu die Bibel irgend
einen Hinweis. Die Prophetenrotte, von der 1. Sam. c. 10
und c. 19 die Rede ist, zeigen ein Gebaren, das nicht sowol
das des Nabi ist, als vielmehr das jener umherziehenden
Kinädenbanden, von deren Treiben uns Apulejus ein lebendiges
Bild gibt. Es waren Bettelpriester, die mit entblößten Armen,
in wilder Musik von Klappern, Pfeifen, Cymbeln oder Tym-
panen sich wahnsinnig herumtummelten. Auch Saul ward,
wie so Viele, von dem tollen Wüten ergriffen, entkleidete
366
Steinthal,
sich und wälzte sich nackend auf dem Erdboden (das. 19, 24).
Das ist ganz und gar heidnisches Wesen — und Samuel ist
weder Monotheist, noch Nabi.
Was hätten denn die Propheten in den Prophetenschulen
lernen sollen? das Opferrituale? dann waren es eben Priester-
schulen. Und wenn daselbst Mantik, Musik, Poesie, Sage
und Geschichte gelehrt ward: das alles war eben Sache des
Priesters schlechtweg. Gewiss haben wir uns die alten Priester-
schaften »als den Sitz aller Intelligenz des Volkes zu denken«
(S. 42); aber von Prophetenschulen kann man nicht reden.
Jene Banden oder Rotten waren die niedrigsten Priester.
Samuel soll ein Prachtgewand getragen haben, wie die
Vornehmen trugen; Achia zur Zeit Salomos ein weites Ge-
wand schlechthin; Elia aber trug ein härenes Gewand mit
einem Ledergürtel, das wahrlich kein Prachtpelz war. So
hätten die Propheten immer schlechtere Gewänder getragen
(S. 43). Das kann kein historischer Bericht sein.
Noch nicht einmal Elia und Elisa standen auf der Höhe,
auf welcher der Verfasser schon Samuel vermutet; und dass
die Geschichte jener beiden »noch vor der assyrischen Periode
abgefasst« sei und in dieser Abfassung uns vorliege, wie
der Verfasser (S. 61) mit Wellhausen behauptet: das kann
ich nicht annehmen. Samuel, Nathan und Gad sollten schon
eine so reine Auffassung Jahwe's gehabt, und doch nicht er-
kannt haben, dass sich damit Wesenheit und Berechtigung
heidnischer Götter nicht vertrage! In Elias Zeit habe man
Jahwe immer noch bildlich dargestellt (woran ich nicht
zweifle), aber doch schon als »den Gott der gesammten
Schöpfung aufgefasst« ! Für mich ist diese ganze Stelle S. 66
ein unmöglicher Widerspruch.
Es tut mir leid, möchte ich fast sagen, dass der Ver-
fasser das schöne 19. c. des 1. Buches Könige zwar besser
als Ewald, Thenius und Wellhausen verstanden hat, die sich
an diesem Capitel versündigt haben, aber doch nicht das
Rechte getroffen hat. Ohne höhere Kritik ist freilich nicht
durchzukommen. Elija flüchtet vor Isebel, die seinem Leben
nachstellt. Durch deren Henker will der Prophet nicht fallen ;
Beurteilungen.
367
er flieht und bittet Gott um den Tod: nimm meine Seele.
Genau so sprach Dawid : durch Gottes Allmacht will ich fallen,
aber nicht durch Menschenhand. Als Antwort Gottes erhält
Elija durch einen Engel den Befehl, nach dem Horeb zu
wandern. Das war der heilige Berg, der Gottesberg. Dort
also sollte er den Bescheid Gottes erwarten. Er begibt sich
in eine Felsenhöhle, wo er übernachtet. Gott erscheint ihm
und fragt: »Was hast du denn?«1 dass du dir den Tod
wünschest? Und Elija antwortet: »Geeifert habe ich für dich
— umsonst«. Da heißt ihn Gott aus der Höhle treten, und
es erfolgt die wundervolle Offenbarung : Eifre nicht! im Sturm,
Erdbeben und Feuer wächst nichts, sondern im sanften Ge-
säusel (woltätiger Kräfte). Möglich, dass der Urheber dieses
Mythos es hierbei bewenden ließ; möglich auch, dass er
ausdrücklich hinzufügte, was Joel 2, 13 sagte und Mose (2. M.
34, 6) zu hören bekam, dass Gott gnädig und langmütig ist.
Der törichte Gompilator aber hat das Ende der Geschichte
Elijas nach diesem; Bericht weggelassen und dafür andere
Berichte hinzugefügt, welche zu jener Offenbarung »in klaffen-
dem Widerspruch« stehen, wie der Verfasser bemerkt. Nun
denn, ist der Widerspruch unläugbar, so kann er nur dem
Gompilator2 als Schuld angerechnet werden, nicht dem Ur-
heber. Dieser war von der Tatsache ergriffen, dass nach
Elija niemals wieder ein Prophet Götzenpriester geschlachtet
hat, und war überzeugt, dass solches Benehmen einem Diener
Jahwe's nicht anstehe.
Wenn wir nun dem Verfasser seinen Ausgangspunkt,
Samuel, streichen, so schwächen wir seine Entwicklung in
keinem Punkte, sondern ziehen sie nur in kürzere Zeit zu-
sammen und machen sie damit um so straffer.
Wir werden bei anderer Gelegenheit, hoffentlich bald, auf
des Verfassers Schriften zurückkommen. s Steinthal.
1 MS ist Fragepartikel, und bedeutet an dieser Stelle nicht »hier«.
Gott fragt nicht, warum Elija hier sei; er hat es ihm ja befohlen,
hierher zu gehen.
2 Wie konnte man nur von dem »deuteronomischen Ueberarbeiter«
der Bücher der Könige reden! Der Deuteronomiker und dieser elendeste
aller Gompilatoren !
368
Steinthal, Beurteilungen.
Maximilian Seh wengberg, Das Spies'sche Faustbuch und
seine Quelle. Berlin und Leipzig, Oscar Parrisius. 1885.
68 Seiten kl. 8°.
Im Herbst des Jahres 1587 erschien das erste Volks-
buch von Dr. Faust zu Frankfurt am Main im Druck und
Verlag von Johann Spies ohne Namen des Verfassers. Dieser,
ein frommer Protestant, schöpfte aus der Volksüberlieferung
und aus schriftlichen Berichten. Seine »Historia von D. Johann
Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwartzkünstler«
ist die Grundlage der gesammten Faust - Literatur. Herr
Schwengberg bemüht sich, dem mythischen Faust den histo-
rischen als Grundlage zu unterbreiten. Gesetzt, das sei ihm
gelungen, so hat er gezeigt, wie wenig damit für das Ver-
ständnis des mythischen Faust gewonnen ist: »Ein herum -
vagabondirender Abenteurer und Prahlhans, ein Magier und
Betrüger, ein Possenreißer und Preller; das ist der historische
Faust« (S. 45). Er hieß nicht Faust, nannte sich aber Faustus
iunior. Also nicht einmal den Namen hat er geschaffen; die
Frage bleibt immer noch: warum nannte er, der »Säbel«
oder »Savels« hieß, sich Faustus? — Der Verfasser aber hat
Gelehrsamkeit und Geist genug, um die breite historische
Grundlage für den Mythus des Faust im 16. Jahrhundert zu
erkennen, und so sind wir ihm für seine Gabe dankbar.
Steinthal.
Ueber Geberden- und Zeichensprache
bei den Arabern.
Von Dr. I. Goldziher in Budapest.
In den letzten Jahren ist über Geberden- und Zeichen-
sprache der Naturvölker mannigfach geschrieben worden1,
und viele haben auf den Nutzen hingewiesen, welcher aus
der Kenntnisnahme von dieser Art des Gedankenausdruckes
und der Bedeutung der verschiedenartigen Momente desselben
hinsichtlich vieler elementarer Fragen der Völkerpsychologie
erfolgt. Ich wurde dadurch veranlasst, einer kleinen, dieses
Kapitel betreffenden Materialiensammlung auf arabischem
Gebiete einige Bedeutung beizumessen.
I. Charakteristisch ist gleich der Sprachausdruck, mit
welchem im Arabischen die Tatsache, dass jemand einen Ge-
danken durch eine Geberde kund thut, bezeichnet wird. Man
sagt: er spricht mit seiner Hand, mit seinen Fingern, mitseinem
Stab u. s.w.2 In der Tat findenwir die Geberdensprache bei
dem arabischen Philologen Al-Gähiz (st. 869 Chr.) unter den
vier — an einer Stelle seines Werkes über Rhetorik sogar
fünf —3 Arten des Gedankenausdruckes aufgezählt und behan-
delt4. Mit Bezug auf moderne Zeiten wird in den Werken vieler
1 Ich nenne nur Mallery's Monographie in den Annual Report
of Ethnology (Smithsonian Institution 1879—80) und den Auszug
aus derselben in Techmer's Internat, Zeitschrift für aligera. Sprachw.
Heft I. p. 192—210.
2 Al-Tabarî. Annales I, p. 975, 11. II, p. 286, penult, und an
vielen der unten anzuführenden Stellen.
3 Kitâb al-bajân w'al-tabjîn (Petersburger Hschr.) Bl. 12*>.
* Kitâb al-hejwân (Wiener Hschr.) Bl. 6b.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 4. 24
370
I. Goldziher,
Orientreisenden auf die Bedeutung gewisser Geberden hin-
gewiesen; nirgends ausführlicher als bei H. Petermann:
»Bei der Begrüßung wie beim Ausdruck des Dankes fahren
sie mit der rechten Hand nach unten, gleichsam um Staub
von dem Boden zu nehmen, dann nach der Brust, dem
Mund und der Stirn, und die Untergebenen ergreifen die
Rechte des Höheren, küssen sie und legen sie dann zum
Zeichen der Unterwürfigkeit auf ihren Kopf. Um jemand
zu sich zu winken, machen sie fast dieselbe Bewegung mit
der Hand, welche wir machen, wenn wir ihn abweisen ;
wenn sie etwas bejahen wollen, so schütteln sie mit dem
Kopfe, wollen sie es verneinen, so werfen sie den Kopf in
die Höhe und schnalzen dabei mit der Zunge, was aber
auch unterbleiben kann; um anzudeuten, dass einer nichts
hat, setzen sie die Nagelspitze des rechten Daumens an die
oberen Zähne und ziehen sie dann ab ; wollen sie bemerklich
machen, dass sie keinen Anteil an einer Sache haben, so
greifen sie mit der rechten Hand an den oberen Hock-
zipfel und schütteln ihn« *. Besonders sind es die arabischen
Beduinen2, die sich durch die Anwendung von Geberden
und Zeichen hervorthun. Wir wollen hier nur eine be-
zeichnende Stelle aus dem Buche eines sehr feinen Beobachters
der Sitten in Syrien anführen. »We asked (the Sheykh of
Benî Misrâb) for our leader, but he only replied to our
query by elapsing both hands round each ankle in succes-
sion. Some minutes after another came in, who went through
1 Reisen im Orient I, p. 172.
2 Bei diesen Rittern der Wüste finden wir auch die Geheim-
sprache eingebürgert, welche wir auch von anderen Völkern auf
niederer Culturstufe bezeugt finden, z. B. vom Negervolk der Susu
(Waitz, Anthropologie der Naturvölker II, p. 136) und den
Dakota in Nordamerika (ibid. III, p. 213). Von den arabischen Be-
duinen in Palästina berichtet Conder: »The Bedawîn have, in addition
to their ordinary language, a kind of slang, which t.hey use among
themselves, and which we were quite unable to understand« (Tent
Works in Palestine II, p. 277). Eine Art Gaunersprache (lisân al-
cajjârîn) wird auch im Sejf-roman erwähnt (ed. Kairo XIV, p. 6, 17);
über Geheimsprachen der muhammedanischen Mystiker vgl. meine Ab-
handlung in der ZDMG. XXVI (1872), p. 764ff.
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern. 371
a little pantomime1 intended to convey to us the intelligence
that he had just cut off 'Amer's head'. He grasped his
sword, drew the blade quickly across his throat and then
clasped his hands to show that the work was finished.
The Arabs are frequently in the habit of commu-
nicating intelligence even to each other in this
way, signs they consider more impressive than
words«2. Der Wüstenroman des "Antar, den wir bereits
bei anderer Gelegenheit an dieser Stelle als Quelle für
beduinische Sitten benutzen konnten, bietet uns an einer
Stelle eine interessante Beleuchtung dieser von Porter be-
haupteten Vorliebe der Beduinen für die symbolische Sprache.
Im Lager der Banü "Abs erscheint ein Ritter von den Banû
Fazâra, ein stämmiger Mann, vollständig in seinen litäm
(Schleier) eingehüllt. Im Lager angekommen, steigt er
sprachlos und ohne selbst den üblichen Gruß auszusprechen
vom Kamel und wirft unter die Banu lAbs ein rohes Ober-
kleid, dessen Aermel in der Weise abgebunden waren, dass
sie zwei Beuteln ähnlich sahen. Hierauf schwang er sich
wieder aufs Kamel und galoppirte, ohne ein Wort zu
sprechen, in die weite Wüste hinaus. Als er sich entfernt
hatte, untersuchten die Banû cAbs das hingeworfene Kleid,
und fanden den einen Beutel mit gelbem Sand erfüllt, im
anderen waren lauter Dornenstachel ; außerdem fanden sie
in dem Kleide zehn gelbe Steinchen. Die cAbsiten merkten
gleich, dass dies eine geheime Andeutung vorstelle, deren
Sinn sie aber nicht herausfinden konnten. Schon waren
sie daran, dem geheimnisvollen Reiter nachzusetzen, um die
Lösung des Rätsels von ihm selbst zu erkunden, als der
Stammeskönig Kejs in ihrer Mitte erscheint und ihnen fol-
gende Aufklärung bietet: Mit dem Sand wollte er andeuten,
dass gegen euch ein Feind im Anzüge ist, so zahlreich wie
1 Der Befehl zur Tödtung wird durch Muhammed erteilt, indem
er »eine Hand auf die andere legt« bei Al-Balâdorî, Liber expug-
nationum ed. De Goeje p. 39.
2 J. L. Porter, Five years in Damascus, (2. Ausg. London
1870), p. 75.
24*
372
I. Goldziher,
der Wüstensand; mit den Dornenstacheln (shauk) will er
sagen, dass der Feind Kraft und Stärke (shauka) besitzt;
mit der gelben Farbe des Sandes will er sagen, dass der
Feind zu dem Volke der BanuM-Asfar (gelb heisst asfar)
gehöre ; die zehn Steinchen wollen besagen, dass der drohende
Feind in zehn Tagen in eurem Gebiet erscheinen werde1.
Wir besitzen Nachrichten über eine eigentümliche Zeichen-
sprache der vorislamischen Araber. Dieselbe wurde durch
die Anwendung von Stäben ausgeführt. Man klopfte oder
deutete mit einem Stabe in bestimmter Weise, oder aber
man stellte zwei Stäbe in eigentümlicher Weise zueinander;
aus diesem Klopfen und Deuten mit dem Stabe, oder aus
der besonderen Stellung, in welcher zwei Stäbe zueinander
gehalten wurden, konnte dann der vernünftige, scharfsinnige
Mensch auf die Intention desjenigen, der diese Zeichensprache
anwendete, folgern. Darauf bezieht man das alte Sprichwort2 :
3inn-al-lasâ kuri'at li-di-'l-hilmi3. »Nur verständige Leute
verstehen das Pochen des Stabes«, d. h. auf solche Zeichen
sich zu verstehen, ist nicht jedermanns Sache. Die ara-
bischen Philologen erzählen verschiedene Geschichten über
die erstmalige Anwendung dieser Art von Zeichensprache.
Die interessanteste Erzählung von der Anwendung derselben
knüpft sich an den wohlredenden Sa'd b. Mälik aus dem
Stamme der Kinäna, der das Leben seines Bruders cOmar
vor den Launen des Königs Nocmän dadurch errettet haben
soll, dass er, dem die mündliche Verständigung verboten
war, das Pochen mit dem Stabe als Verständigungsmittel
anwendete4. Diese Art der Verständigung wird mit dem
1 "Antar-roman (Kairoer Ausgabe) XII, p. 148.
2 Al-Mejdànî, Magma' al-amtâl (ed. Bûlâk) I, p. 32. Vgl. noch
das Sprichwort ibid. p. 11 »Jinna man là ja'rif al-wahja ahmaku« ==
»Wer sich nicht auf Andeutung versteht, ist blöde.«
3 Demnach muss man in der Galcuttaer Ausg. von Ibu Hagar's
Isâba I, p. 510, 7 v. u. »ladâ* 1 hukmi« in »li-di'l-hilmi« corrigiren.
* Die Details findet man weitläufig erzählt in Tebrîzî's Commen-
tar zur Hamâsa ed. Freytag I, p. 98 und bei Rückert I, p. 55.
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern. 373
terminus technicus karl-al 'asá bezeichnet, und in späterer
Zeit, als diese Zeichensprache gar nicht mehr in Anwendung
war, erhielt sich der Ausdruck als Metapher1 für den Begriff
der »geheimen Verständigung«. Der muhammedanische
Dichter Al-Sirrî b. cAbd al-Rahmân sagt zu seinen Genossen,
die im Geheimen dem durch das Gesetz verbotenen Wein-
genuss ergeben sind:
Amintu bi-idni-llâhi an tukra'a-l-'asâ u. s. w. »ich ver-
traue, mit Hilfe Gottes wird mit dem Stabe gepocht werden«
d. h. ich bin dessen gewiss, dass diejenigen, welche von
dieser gesetzwidrigen Lebensweise meiner Genossen nichts
wissen, durch geheime Andeutungen zur Kenntnis derselben
gelangen werden2. Damit ist nicht zu verwechseln der Aus-
druck kara'a bi-l-'asa, mit dem Stocke klopfen, in der
Bedeutung: mit dem Knüttel bestrafen, in Aussprüchen wie
in folgendem Epigramm des Dichters Chalîfat al-akta1:
»Der Sklave wird mit dem Stocke geprügelt, dem Freien
genügt die Rüge« 3 — es scheint, dass man sich nicht immer
hütete, die beiden Bedeutungen des in Rede stehenden Aus-
druckes miteinander zu verwechseln.
II. Wir wollen nun zur muhammedanischen Litteratur
übergehen und besonders die Sammlungen der Aussprüche
des Propheten in Betracht ziehen, welche die Art und Weise,
wie der Meister gesprochen, mit übertriebener Genauigkeit
festzuhalten pflegen4.
Wenn wir den Berichten der Tradition Glauben schenken
wollen, so waren die Reden des Propheten überhaupt von
1 Vgl. meinen Aufsatz in dieser Zeitschrift Bd. XIII, p. 250 ff.
1 Kitâb al-agânî XVIII, p. 66.
3 Al-Gâhiz, Kitáb al-hejwân, Bl. 369b. Im Agânî XV, P- 96,
22, wird dieser Vers von dem vorislam. Dichter Abû Duwâd al-Ijâdî
überliefert, mit dem Fehler, dass der Vers infolge der oben angedeuteten
Verwechslung, statt al-malâma (die Büge) mit al-makâla (dieBede)
schließt.
4 Wo nichts anderes bemerkt wird, sind die Anführungen aus
den Traditionssammlungen immer dem Buchârî'schen Werke ent-
nommen.
374
I. Goldziher,
den lebhaftesten Gesten begleitet1. In der Traditionssamm-
lung (musnad) des Imâm Ahmed wird dem Propheten eine
sehr erbauliche Legende über den Tod Davids in den Mund
gelegt, in welcher unter anderen erzählt wird, dass Salomo
einem Vogel befohlen habe, durch Ausbreitung der Flügel
den Leichnam des Königs zu beschatten und vor der Sonnen-
glut zu schützen, als es aber finster wurde, befahl der Prinz
dem Vogel, seine Flügel wieder zusammenzuziehen. Der
Prophet war nahe daran — so setzt der Tradent Abû Hurejra,
auf dessen Autorität diese Legende dem Propheten nach-
erzählt wird, hinzu — die Flügelbewegung des Vogels nach-
zuahmen 2. Bei der peinlichen Genauigkeit, mit welcher die
Tradenten sich bestreben, die Worte Muhammeds zu über-
liefern, wird bei vielen Aussprüchen die Geste miterzählt,
mit welcher der Prophet gewisse Aussprüche begleitete, und
so wie dann die Worte selbst Gegenstand genauer Ueber-
lieferung wurden, so wurde auch die begleitende Geberde
durch die weiteren Ueberlieferer festgehalten. Ein Beispiel
hierfür ist eine Stelle in dem Kapitel über das Ehegesetz3,
wo der Dritte in der Kette der Traditionsüberlieferung noch
die Geberde mitüberliefert, mit welcher der Prophet den
Befehl, dass jemand seine Milchschwester, die er ehelichte,
verlassen möge, begleitete: er streckte nämlich den Zeige-
finger und Mittelfinger aus. Zuweilen wird in ganz eigen-
tümlicher Weise die Mitteilung der Art der Geberde vorent-
halten ; der Erzähler hat sie allerdings vorgezeigt, aber nicht
durch besondere Erklärung fixirt. Dadurch ist uns z. B. die
Kenntnis der Abweisungsgeste entgangen. Mejmüna bint
Al-Hârît erzählt, dass sie dem Propheten nach vollzogener
Waschung ein Handtuch gereicht habe, »da sprach er mit
1 Wenn der Prophet seine Gläubigen vor dem Höllenfeuer warnte,
wendete er sein Antlitz weg (ashâha bi-waghihi), als wollte er seinen
Abscheu vor der Hölle ausdrücken. A dab nr. 33, Rikak nr. 49.
2 Al-Damîrî, Hajât al-hejwân II, p. 87.
3 Nikâh nr. 23. In der Parallelstelle Um nr. 2,7 ist die den
Befehl begleitende Geste nicht erwähnt,
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern. 375
seiner Hand so«1; wie? das hat sie wohl gezeigt, aber die
weiteren Tradenten haben es wörtlich nicht erklärt. — Die
Benützung des Zeige- und Mittelfingers kommt noch in einer
anderen Traditionsstelle vor, deren Erklärung den muham-
medanischen Theologen viel Kopfzerbrechens verursacht hat.
Es wird berichtet, dass Muhammed »mit seinen beiden
Fingern, dem Mittelfinger und dem Finger der neben dem-
selben ist, gezeigt habe und dabei sagte: ,Ich bin gesendet
worden mit der Stunde (des Weltgerichtes) wie diese beiden'2 ;
d. h. das Weltgericht folgt nach meinem Erscheinen in so
naher Zeit, wie diese beiden Finger nebeneinander stehen.
Aber die muhammedanischen Commentatoren knüpfen hieran
eine ganze Flut von Erklärungen, sowie auch der Text
der Tradition in fast einem Dutzend von Versionen über-
liefert ist.
Aber nicht immer ist für uns der Zusammenhang der
Geberde mit den Worten, welche sie begleiten, klar und
einleuchtend. »Der Prophet verbot das Tragen von seidenen
Kleidern, es sei denn solcher, und dabei deutete er mit den
beiden Fingern, welche neben dem Daumen sind«3, und die
muhammedanischen Ausleger wollen wissen, dass mit der
Bewegung dieser beiden Finger gestreifte Stoffe ange-
deutet werden sollten. — An einer anderen Stelle wird be-
richtet, dass der Prophet seinen Genossen die Mitteilung
machen wollte, dass sein Gebetausrufer, der Aethiope Biläl,
zum Frühgebet rufe, bevor noch der Morgen in Wirklichkeit
angebrochen, zurZeit des sogen, »lügenden« Morgengrauens.
Diese Mitteilung begleitete er mit einer Fingerbewegung ; er
führte dieselben nach oben und unmittelbar darauf nach
abwärts, um dieses falsche Morgengrauen, das eigentlich
noch zur Nacht gehört, anzudeuten. Die wirkliche Morgen-
röte bezeichnete er so, dass er die Zeigefinger seiner beiden
Hände übereinander setzte und mit ausgestreckter Hand
1 Gusl nr. 11.
2 Tafsîr nr 335 zu Sure LXXIX, 42 vgl. verschiedene Versionen
Rikak nr. 39.
3 Libâs nr. 25.
376
I. Goldziher,
erst nach rechts dann nach links bewegte1. Damit sollte
die Richtung der Lichtbewegung während der beiden zu
bezeichnenden Momente des Morgenanbruches angedeutet
werden.
An mehreren Stellen der Tradition werden Aussprüche
des Propheten mit der Bemerkung begleitet, dass er seine
Finger oder zwei Finger miteinander verflocht (shabbaka
bejna asäbi'ihi resp. isba'ejhi). Ein Paragraph des Buchârï
erhielt sogar eine Ueberschrift: »Vom Verflechten der Finger«2.
Diese Bewegung dient zum Ausdruck verschiedenartiger Ge-
danken; es ist wohl am besten, wenn ich einige Stellen
sprechen lasse: »Der Rechtgläubige ist dem Rechtgläubigen
wie ein Gebäude, einer stützt den andern; dann flocht er
seine Finger ineinander« (um dies Mit- und Zueinander-
gehören der Glieder der gläubigen Gemeinde anzudeuten)3.
Nachdem eine Anzahl Sünden aufgezählt worden, durch
deren Ver Übung man als aus der Gemeinschaft der Gläubigen
ausgestoßen betrachtet wird, »da sprach 'Ikrima zu Ibn
cAbbäs: Wie wird er (der Sünder) von der gläubigen Ge-
meinde ausgeschieden? Da sprach er: ,So' und dabei ver-
flocht er erst seine Finger und ließ dieselben dann vonein-
ander abspringen. »Bekehrt er sich aber, so kehrt er wieder
(in die Gemeinschaft) zurück — ,so' — und dabei verflocht
er wieder seine Finger4. Ein anderesmal verflocht der
Prophet seine Finger, indem er schilderte, wie das Grab,
welches den Frevler aufnimmt, sich enge zusammenzieht,
sodass die Rippen des Verstorbenen aneinander geraten5.
So wie durch das Zusammenflechten der Finger Eintracht
und Zusammenwirken angedeutet wird, so deutet der Pro-
phet durch das Auseinanderhalten der Finger an, dass unter
den Muslimin dereinst Zwist und Bürgerkrieg ausbrechen
1 Adán nr. 13.
2 Salât nr. 88.
3 Adab nr. 35 Mazâlim nr. 5.
* Muhâribûn nr. 6.
B Al-Tirmidì bei Al-Damîrî Hajàt al-hejwàn I, p. 206.
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern. 377
werde l. Mit dem Auseinanderhalten aller Finger der Hand
deutet Sufjân b. 'Ujejna das Uebereinanderstehen der Engel
an, welche von Gottes Ratschluss geheime Kunde erhaschen
wollen 2.
Eine merkwürdige Geberde ist die, mit welcher der Pro-
phet auf ein Versäumnis aufmerksam machen will. Er legte
seine rechte Hand auf den Kopf des Genossen und mit der
Linken drehte er am Ohrläppchen desselben3. Weniger auf-
fallend ist die Geberde, mit der man Schweigen gebietet:
man setzt seine Hand an den eigenen Mund (vgl. Hiob
40, 4)*.
III. Das Verhältnis gewisser Gesten zur Bejahung und
Verneinung hat seit jeher jeden, der den Orient besucht, in eine
gewisse Ueberraschung versetzt. Nichts zeigt mehr den Mangel
jedes inneren notwendigen Zusammenhanges zwischen Geste
und Bedeutung derselben, als der Umstand, dass die be-
jahende und verneinende Geberde im Orient fast das gerade
Gegenteil der Kopfbewegungen darstellt, die wir im Abend-
lande für diese Kategorien der Aussagen anwenden (vgl.
oben S. 370). — In der Litteratur der muhammedanischen
Tradition finden wir Berichte, wo von der bejahenden Kopf-
bewegung im allgemeinen die Rede ist; leider fehlt aber die
nähere Bezeichnung der Richtung der betreffenden Kopf-
bewegung. Asma1, die Tochter Abû Bekr's erzählt5: »Ich
kam zu "Âjisha (bei Gelegenheit einer Sonnenfinsternis),
während sie im Gebet begriffen war, und sprach zu ihr:
,Was ist's mit den Leuten (dass sie so bestürzt und entsetzt
sind')? Da deutete sie gen Himmel. Die Leute standen alle
zum Gebet versammelt; sie aber sagte (eben damals):
subhän allah; ich sprach: ,Ist's wohl ein Warzeichen
1 Ibn Hagar Isâba II, nr. 2780. Der Sprachausdruck ist hier:
châlafa bejna asâbicihi.
2 Tafsîr nr. 141 zu Sure XV v. 73.
3 Wudû' nr. 37 ed. Krehl (36).
4 Agânî XVI, p. 121, 11.
6 'Ilm nr. 25. Dieselbe Erzählung mit unwesentlichen Varianten
Talâk nr. 23.
378
I. Goldziher,
Gottes?' Da machte sie eine (bejahende) Kopfbewegung.«
Daraus werden wir nicht klug, welcher Art die Kopfbewegung
war. — Wohl nicht genau, aber einigermaßen dennoch
orientirend ist an einer anderen Stelle die Mitteilung, dass
r_âbit bei Gelegenheit einer Anfrage zum Ausdruck der be-
jahenden Antwort (tasdîk) seinen Kopf bewegt (fa-harraka)
habe1. Ganz bestimmte Angaben über die Art der be-
jahenden und verneinenden Bewegung enthält folgender Be-
richt2, in welchem für die Bejahung die Senkung des Kopfes
angewendet wird: »In Medina ging einmal ein Mädchen, das
mit Ohrgehängen geschmückt war, auf der Straße. Da warf
ein Jude einen Stein und traf das Mädchen tötlich. Man
brachte das Mädchen zum Propheten, als es noch athmen
konnte. Der Prophet sprach zu ihm: ,Hat dich etwa X.
getötet?' Da hob es den Kopf in die Höhe (Comment, um
eine Verneinung zu bezeichnen). Der Prophet wiederholte
die Frage mit Bezug auf einen andern Mann; wieder die-
selbe (verneinende) Bewegung. Auf eine dritte Frage be-
wegte sie den Kopf nach abwärts (chafadat d. h. sie bejahte).
Der Prophet fasste und vollzog auf Grund dieser Anklage
ein Todesurteil gegen den Menschen, auf welchen sich die
Bejahung bezog«3. Hier sei auch eine auf die jüdischen
Frauen in Aleppo bezügliche Notiz eingeschaltet, von welcher
zwar nur der letzte Satz in den gegenwärtigen Zusammen-
hang gehört, welche jedoch für das allgemeine Thema dieses
Aufsatzes im ganzen von Interesse ist: »Sie haben eine beson-
dere Art zu grüßen, welche die Kinder nachmachen, die
Männer aber gewöhnlich nicht, ausgenommen in ihren eigenen
Häusern. Statt die Hand auf die linke Brust zu legen, streckt
die Frau beide Hände an der Spitze der Hände miteinander
vereinigt dar, die andere berührt sie sanft, indem sie mit
ihren Fingern darüber hinfährt und dann bringen beide
_
1 Magâzî nr. 40.
2 Dîjât nr. 5 vgl. nr. 7. 12.
3 Ibn Bashkuwàl ed. Godera p. 25, 4 v. u. wird eine verneinende
Fingerbewegung (jushîr bi-isbacihi julasshlhâ) angedeutet, aber nicht
(erklärt.
k
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern. 379
durch eine leichte Bewegung ihre Hände an den Finger-
spitzen zusammengehalten nach ihren eigenen Lippen; sie
haben auch eine besondere Art, eine durchaus verneinende
Antwort zu geben, indem sie den Nagel an dem Daumen
der rechten Hand beißen und dann schnell die Hand vor-
wärts werfen.« Was Rüssel hier mit Bezug auf die Ver-
neinungsgeberde von den Jüdinnen in Aleppo sagt, kann
man in Damaskus an Leuten ohne Unterschied des Bekennt-
nisses alle Tage sehen1.
Eine energische Art der Verneinung, wodurch gleich-
zeitig angedeutet wird, dass die vorgebrachte Sache eitel
und dem Winde gleichzuachten sei, ist die, dass man
zwischen die Hände blässt2. — Zur Andeutung des Um-
standes, dass man irgend einer Sache völlig fremd sei und
an ihr nicht Teil haben wolle, schüttelt man seine Kleider.
Diese Bewegung3, welche, wie wir oben bei Petermann ge-
sehen, noch heute üblich ist, machten die Kurejshiten, als
ihnen Muhammed zu ihrem Entsetzen den Einen Gott ver-
kündete. — Um eine Zusage, die soeben unter der Pression
einer Gewalt, die nicht zurückgewiesen werden konnte, oder
aus purer Uebereilung geschah, zurückzuziehen, oder gleich-
sam als ungültig zu erklären, wird eine sonderbar scheinende,
wohl als symbolisch zu betrachtende Bewegung erwähnt.
Nachdem die Versammlung nach dem Tode Jezîd's I. ihre
Huldigung dem 'Ubejdallâh b. Zijäd darbrachte, wird er-
zählt, dass die Anwesenden beim Hinausgehen mit ihren
Händen an die Thür und Wände des Hauses strichen und
sagten: »Ibn Margâna irrt, wenn er glaubt, dass wir die
Regierung unserer Angelegenheit ihm anvertrauen4. Hiermit
sollte wohl der vorangegangene Handschlag (Zeichen der
Huldigung) ungültig gemacht werden.
Durch die letztere Mitteilung werden wir auf die Zeichen
1 Rüssel, Naturgeschichte von Aleppo (deutsche Uebers.
von Gmelin, Göttingen 1798), II, p- 124. *
2 Al-Makkarî ed. Leiden II, p. 46. 2.
3 Al-Tabarî, Annales I, p. 1177, 4.
4 Al-Tabarî II, p. 437, 12, vgl, 438, 13,
380
I. Goldziher,
der Huldigung geführt. Als ältestes Zeichen der Huldigung
wird wohl dies zu betrachten sein, dass derjenige, der die
Huldigung empfängt, seine Hand ausbreitet1, und die Hul-
digenden dieselbe entweder sanft streichen2, oder mit ihrer
Hand einschlagen3 (vgl. II. Ron. XI. 12). Um zu sagen:
»ich will dir formell huldigen«, konnte man sich demnach
des Ausdruckes bedienen: »Strecke deine Hand aus, damit
ich dir huldige«4. »Sie gaben ihm ihren Handschlag«
(wörtlich: den Schlag ihrer Rechten — safakât ajmânihim),
ist eine in der betreffenden Litteratur gäng und gäbe Rede-
wendung, die sowohl in der Geschichte des Propheten, als
auch der der älteren Chalifen unzähligemal vorkömmt.
Bemerkenswert ist, dass an einer Stelle angegeben wird,
dass Abû Sufjân, der ein Bündnis mit 'Ali erneuert, seine
Rechte in die Linke (des cAlî?) schlägt5. Diese Art des
Huldigungsactes konnte auch in stellvertretender Weise ab-
genommen werden. Dâwûd b. rIsâ, Statthalter von Mekka
und Medina, nimmt von den Bewohnern der heiligen Städte
die Huldigung für Ma'mün entgegen, indem er sich, nach
vollendetem Gebete, in der Nähe der Moschee niedersetzt
und die Leute reihenweise vor sich passiren lässt, die nach
Anhörung der Huldigungsurkunde seine Hand berühren6.
In späteren Zeiten wird diese Art der Huldigung auch Land-
pflegern und hohen Staatsbeamten gegenüber ausgeübt7.
In der späteren Volkslitteratur8 ist ein gewöhnlicher Aus-
1 Al-Tabarî I, 1222, 1.
2 ibid. III, 473. passim.
3 Ibn Hishâm ed. Wüstenfeld p. 306. Al-Tabarî III, p. 601,14;
663, 16.
4 Al-Tabâri II, 1, 2.
5 Al-Balâdori, Liber expugnationura ed. De Goeje p. 37, 9:
»fadaraba Abû Sufjân jamînahu 'ala shamâ lihi« kann beides bedeuten:
dass A. S. seine (eigenen) Hände ineinander schlug, oder dass er seine
Rechte in die Linke des 'Ali schlug.
8 Al-Tabarî III, p. 863, 2.
7 Ibn Chaldûn, Histoire des Berbères ed. G. de Slane I,
p. 381, 6.
8 'Antar-rornan ed. Kairo II, p. 136, 9. IV, p.75penult, p. 156,
15, vgl. IV, p. 193, 12; 238, 16. V, p. 29, 7.
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern. 381
druck: »er gab ihm die Hand darauf« (a'tahu jadahu 'ala
dälika) oder »er legte Hand in Hand« (hatta-l-jad fì-1-jad1
d. h. er versprach etwas in bindender unwiderruflicher
Weise2.
Dem Handschlag als Symbol der Huldigung können
jene symbolischen Handlungen entgegengesetzt werden, durch
welche die Entbindung von der geleisteten Huldigung, die
Absetzung eines Herschers angedeutet wurde. Dies geschah
in der Weise, dass man in feierlicher Versammlung ein
Kleidungsstück vom Körper abnahm und diesen Gegenstand
wegschleuderte. Als der Statthalter von Mekka, der schon
erwähnte Dâwûd b. lIsâ die Absetzung des Chalifen Amin
verkündete, da sprach er in seiner feierlichen Festrede
(chutba) von der Kanzel herab : »Ich rufe Euch als Zeugen
an, dass ich hiermit den Muhammed b. Hârûn von der
Chalifen würde absetze, sowie ich diese meine Mütze vom
Kopfe abnehme.« Da riss er — so erzählt unsere Quelle —
seine Mütze von seinem Haupte und warf sie einem unter
der Kanzel stehenden Sklaven zu3. Als der Statthalter von
Afrika cAbd al-Rahmân b. Habib den Thronantritt des Ge-
schlechtes der cAbbâsiden nicht anerkennen wollte, sagte er
in seiner öffentlichen Ansprache an die Gemeinde: »Ich habe
früher geglaubt, dass dieser Tyrann (Abü Ga'far al-Mansûr)
das Recht verficht, bis ich mich davon überzeugte, dass er
das Gegenteil davon anstrebt, wofür ich ihm gehuldigt habe.
So ist ihm denn hiermit seine Würde entzogen, so wie ich
diesen meinen Schuh ausziehe.« Hierauf warf er seinen
Schuh vom Fuße, entfernte die schwarzen Fahnen und ließ
1 ibid. IV, p. 238, 18. IX, p. 3, 9. XXVII, p. 10, 3 v. u. XXXI,
p. 4, 17.
2 In elliptischer Weise finden wir in der alten Sprache das verbum
actâ (IV.) = geben, für »die Hand, oder ein Versprechen (cahd) geben«
Al'-Buchârî, Agàrat nr. 10: ragul actâ bî tumma gadara = ein Mann,
der mir gegeben (die Hand, oder ein Versprechen), dann aber Treu-
losigkeit beging. Es braucht nicht bewiesen zu werden, das solche ellipt.
Gonstructionen im Arabischen (sowie im Hebräischen) zu den gewöhn-
lichen Erscheinungen des Sprachgebrauchs gehören.
a Al-Tabarî III, p. 862.
382
I. Goldziher,
dieselben verbrennen Aber ähnliche Handlungen wurden
auch dann geübt, wenn ein Herscher selbst seine Thron-
entsagung proclamirte. Als der Calidische Rivale des Ghalifen
Al-Ma'mün seinen Ansprüchen auf das Ghalifat feierlich
entsagte, bediente er sich der Worte: »Ich entziehe mich
denn nun dem Huldigungseide, den ihr mir geschworen, so
wie ich diesen Siegelring von meinem Finger ziehe«2. Und
diesem letztern Symbol entsprechend finden wir wieder bei
der Huldigung des cAmr b. al-fÂsî an Mu'äwija die Worte:
»M. ist denn nun gefestet, so wie dieser mein Siegelring an
meiner Hand befestigt ist«3.
Den Geberden und Symbolen zum Ausdruck der Ver-
neinung, Zurückweisung und des Protestes möge die Geberde
des Entsetzens und plötzlichen Erschreckens angereiht werden.
Sie besteht wie allenthalben in der Welt in dem Zusammen-
schlagen der Hände, und wird mit einem dem hebräischen
Ausdruck für dieselbe Handbewegung (säfak) verwandten
Worte (safak) bezeichnet 4. Für das eben bezeichnete Gefühl
haben aber die Orientalen noch einen anderen wortlosen
Ausdruck, auf welchen neuerdings Sachau aufmerksam
gemacht hat. »Der Name Sakal tutan (so heißt ein schmaler
Gebirgspass, durch welchen S. reiten musste,) hängt mit
einer dem Orient eigentümlichen Geberde zusammen. Sich
an den Bart fassen, ist die Geberde, welche plötzliches Er-
schrecken ausdrückt. Man nennt daher in türkischen Ländern
vielfach gefährliche Bergpässe ,sakal tutan', d. h. eine
Gegend, wo der Reisende aus Schrecken über den bevor-
stehenden Ritt sich an den Bart fasst« 5.
IV. Für die verschiedenartigen Bewegungen der Finger
zum Zwecke des Gedankenausdruckes haben wir im Arabischen
einen Ausdruck, der für diese Art von wortlosem Verkehr
1 Al-bajân al-mugrib ed. Dozy I, p. 55.
2 Al-Tabarî III, p. 994.
3 Al-Jackûbî, Historiae ed. Houtsma II, p. 222.
4 Die Beispiele sind viel zu häufig, als dass ich aus der Litteratur
Stellen anführen miisste.
8 Sachau, Reise in Syrien und Mesopotamien, p. 189.
Ueber Geberden- und Zeichensprache bei den Arabern. 383
zum terminus technicus geworden ist. Man gebraucht in
diesem Sinne das Wort *akd »binden«, in diesem Zusammen-
hange: »die verschiedenen Lagen und Verknüpfungen der
Finger zum Zwecke der Andeutung bestimmter Gedanken«1.
Besonders ist dieser Ausdruck gebräuchlich, wenn von der
Andeutung von Zahlen mittels der verschiedenartigen Stellung
der Finger die Rede ist2. Dass diese Art des Zahlenaus-
druckes im Orient gebräuchlich ist, hat E. Rödiger in einem
interessanten Aufsatz (»über die im Orient gebräuchliche
Fingersprache für den Ausdruck der Zahlen«), den er der
zweiten Versammlung deutscher Orientalisten (1845) in Darm-
stadt vorgelegt, nachgewiesen. Das dort aus persischen
Quellen vorgeführte System von Zahlenfiguren scheint jedoch
späteren Ursprunges, und wie auch bereits Rödiger, der die
Uebereinstimmung dieses orientalischen Systems mit den bei
Griechen und Römern üblichen nachweist, von außen her
entlehnt zu sein3. Wenigstens stimmt es nicht immer zu
jenen Angaben über figürliche Zahlenzeichen, die wir in der
Traditionslitteratur finden. Ich stelle hier aus der letzt-
genannten Litteratur diejenigen zusammen, die mir zur
Kenntnis gelangt sind.
Wie die Zahl eins bezeichnet wurde, ist uns durch die
eigentümliche Fassung eines Traditionssatzes entgangen. Der
Prophet sagte einst: Ich befehle euch vier Dinge und ver-
biete euch vier Dinge: »den Glauben an Gott und die Be-
zeugung, dass es keinen Gott gebe außer Alläh; dabei machte
er einen 'akd auf diese Weise« (es wird aber nicht erklärt,
welche Fingerbewegung er vollführte), um anzudeuten, dass
1 Rödiger, Zeitschrift d. DMG. Anhang zu I, p. 112, Anm.
2 Siehe mehrere Stellen in Dozy, Supplément II, 147b »compter
au moyen des jointures des doigts«. Jedoch ist, wie bereits Rödiger
betont, zwischen diesem terminus und den Fingergelenken keinerlei
Zusammenhang. Sowohl R. als auch D. beschränken mit Unrecht das
cakd auf die Zahlenfiguren.
3 Zu der dort angegebenen Litteratur kann das hierher gehörige
interessante Kapitel »Kunst mit Fingern und Händen die Gedanken
anzuzeigen, zu reden und zu rechnen« in den Neuen acerra philo-
logie a (Halle 1715) I, p. 25 hinzugefügt werden.
384
I. tëoldzihei",
diese zwei Punkte in der angekündigten Aufzählung als ein
Gebot zu rechnen seien. — Eine bestimmte Fingerstellung
wird uns mitgeteilt mit Bezug auf den Ausdruck der Zahl
zwei; nämlich die Aneinanderschließung zweier Finger1.
— Dass der muhammedanische Kirchenmonat aus 29 Tagen
bestehe, wird durch Muhammed gleichfalls vermittels einer
eigentümlichen Fingerbewegung ausgedrückt: er streckte
zweimal die Finger seiner beiden Hände aus (= 2 X 10),
ein drittesmal tat er dasselbe, mit dem Unterschiede, dass
er diesmal den Daumen der einen Hand anlegte (= 5 -j- 4).
Dies Umlegen des Daumens wird mit dem Verbum chañas
bezeichnet2. — Für den Ausdruck der Zahl dreiundfünfzig3
bietet sich eine Notiz in einer ziemlich unklar gehaltenen
Traditionsgruppe dar. Wenn der Prophet das am Schlüsse
jedes obligaten Gebetes vorgeschriebene stille Glaubens-
bekenntnis (tashahhud) sprach, legte er seine linke Hand an
die linke Hüfte, seine rechte Hand an die rechte Hüfte und
machte dabei das Fingerzeichen für die Zahl 53 und deutete
mit dem Zeigefinger * — was in einer Paralleltradition dahin
erweitert wird, dass er diesen Zeigefinger deutend austreckte,
dabei seinen Daumen an den Mittelfinger setzte, mit der
linken Hand aber (ohne irgend einen Finger derselben zu
bewegen) die linke Hüfte umgab5. — Auch für die Zahl
90 finden wir in der Tradition ein Fingerzeichen angeführt.
»Es giebt keinen Gott außer Allâh — rief einst der Prophet
aus — wehe den Arabern wegen des Unglücks, das herannaht,
heute wird von dem Walle der Jâgûg und Mägüg so viel
wie dies da erstürmt«; dabei bog er den Daumen und den
angrenzenden Finger kreisförmig ein6; in einer Parallelstelle
1 Adab nr. 89. Magâzî nr. 40.
2 Saum nr. 11, 13, vgl. Sprenger, Mohammad III, p. 59.
3 Rödiger a. a. 0. p. 128 teilt diese Tradition nach Mishkât mit;
dort wird 55 angegeben.
4 Das Erheben des Zeigefingers wird als symbolische Bezeichnung
der Einheit betrachtet. Ihn Hagar, Isâba IV, p. 255.
5 Al-Bagawî, Masâbîh al-sunna (ed. Bûlâk) I, p. 46.
6 Anbijâ nr. 8 (7).
Üeber Geberden- und Zeichensprache hei den Arabern. 385
wird statt der Darstellung dieser Fingerbewegung gesagt,
dass es die Zahl 90 oder 100 darstelle1. Es ist interessant,
zu beobachten, dass die Commentatoren zur letzteren Stelle
bereits Fingerbewegungen angeben, die jenen ähnlich sind,
welche den genannten Zahlen nach dem bei Rödiger ange-
führten System entsprechen2.
Bei einem späteren Autor finden wir auch das cakd für
die Zahl dreißig angegeben: das Einbiegen der vier Finger
in der Weise, dass neben denselben der freie Daumen auf-
recht bleibt3. Der persische Theolog Fachr al-dîn belehrt
uns darüber, dass dies Zeichen für die Zahl dreißig auch
als Zeichen des Beifalls gebraucht wird, und zwar so, dass
der Daumen nach jener Person gerichtet wird, welcher der
zu bezeigende Beifall gilt4.
Neben diesen Zeichen für bestimmte Zahlen möge
zum Schlüsse noch erwähnt werden, dass auch Zeichen für
den Begriff »wenig« angeführt werden. Der Prophet er-
wähnte einst des Freitags und sagte, dass es an diesem
Tage einen Moment gebe, in welchem Gott dem Recht-
gläubigen jede Bitte gewährt — und während dieses Aus-
spruches macht er die Fingerbewegung, welche den Begriff
der Wenigkeit bezeichnet, um anzudeuten, dass dies nur ein
kurzer flüchtiger Moment sei5. Welcher Art diese Bewegung
sei, wird in einer Paralleltradition6 so ausgedrückt, dass er
»die Fingerspitzen auf den inneren Teil des Mittel- und
kleinen Fingers« legte, was wohl schwer nachzuahmen wäre.
1 Fi tan nr. 4.
2 Al-Kastalnnî, Commentar zu Al-Buchâri X, p. 194; für die
Bezeichnung von 100 wird hier der kleine Finger der linken Hand,
nach dem bei R. mitgeteilten System der Zeigefinger derselben ver-
wendet.
3 Tâskôprûzâde in Flügel's Anmerkungen zum Fihrist II,
p. 10.
* Mafâtîh al-gejb (Kairoer Ausg.) II, p. 127. Dort wird der
Ausdruck zerrîn d. h. golden (mudahhab) hinzugefügt.
6 Gum'a nr. 35.
6 Talâk nr. 23.
Zeitschrift für Völkerpsycb. und Sprachw. Bd. XVI. 4. 25
386 I- Goldziher, Ueber Geberden- u. Zeichensprache bei den Arabern.
An einer anderen Stelle1 wird die Kleinheit eines Gefäßes
dadurch bezeichnet, dass der Redende drei Finger zusammen-
fasse eine Geberde, die man heutigen Tages in Syrien und
Aegypten anwendet, wenn man von einer Person oder Sache
sagen will, dass sie gut und nützlich sei.
Ueber die
Bedeutung des possessivischen Pronomen
für die Ausdrucksweise des substantivischen
Attributes.
Von Dr. Em. Kovár in Prag.
Wir wollen von der Wendung »dem Vater sein Garten«
anstatt der Garten des Vaters vom Standpunkte der Sprach-
forschung handeln und werden daher ohne Rücksicht auf
den ästhetischen Wert dieser Erscheinung bloß das Ver-
hältnis derselben zum syntaktischen Charakter der Sprache
ins Auge fassen.
1. Durch eine Spracherscheinung wie »dem Vater sein
Garten« wird eine andere, nämlich »der Garten des Vaters«,
also genitivus adnominalis, verdrängt. Die Abnahme des
genitivus adnominalis nehmen wir in allen indogermanischen
Sprachen wahr, die Anwendung desselben ist desto häufiger,
je älter die Denkmäler sind. Im Sanskrit zum Beispiel wird
zwar das substantivische Attribut außer dem Genitiv auch
durch andere Fälle ausgedrückt, aber, und dies ist charak-
teristisch, alle Arten desselben können mittels des Geni-
ti vs ausgedrückt werden (vgl. Scherzi, Sintaksis staroindij-
skago jazyka 255 — 275). Im Altbulgarischen war der
gen. adnom. in vielerlei Hinsicht anwendbar, wo er in
1 Libâs nr. 66.
Em. Kovár, Ueber die Bedeutung des possessivischen Pronomen etc. 387
lebendigen Mundarten unzulässig ist (so nizechozdenije
gory, kroplenije Jcnvi u. a., vgl. Miklosich, Vgl. Gram. IV,
470). In den romanischen Sprachen ist der Gen. bis auf
geringe Ueberreste wie Hôtel Dieu u. a. gänzlich verschwunden,
in den germanischen kommt er nach und nach nur mehr
ausnahmsweise vor wie im Englischen der sogen, sächsische
Genitiv.
Da nach den Resultaten der Sprachwissenschaft der
Genitiv ursprünglich der einzige Adnominalfall war, so war
in jener Phasis die Genitivform zugleich die Form des sub-
stantivischen Attributs. Die Abnahme des gen. adnom. ging
vor sich vermöge einer doppelten Strömung. Wir müssen
hierbei die syntaktische Funktion vom syntaktischen Ver-
hältnisse unterscheiden; zum Beispiel wir unterscheiden nicht
formell zwischen »Neigen gegen den Freund« und »die
Neigung gegen den Freund«, da wir nur das syntaktische
Verhältnis ausdrücken, in manchen Sprachen kann aber
sowohl das Verhältnis als die Funktion ausgedrückt werden,
so im Magyarischen das Ergänzungswort barát-hoz, dagegen
das Attribut barát-hoz-i (a baráthozi vonzalom) ; das Suffix
-hoz drückt das Verhältnis aus, welches dasselbe ist in jeder
Funktion, das adjective Suff, -i, womit die Funktion bezeichnet
wird, schließt sich an die fertige Form an.
Bei der Abnahme des gen. adnom. zeigen sich also in
den indogerm. Sprachen zwei sprachliche Tendenzen. Im
Osten strebt die Sprache nach dem Ausdruck der Funktion,
und da die Attributsfunktion am besten durch das Adjec-
tivum ausgedrückt wird, verwandelte sich auch der gen.
adnom. in das Adjectivum ; so in den neuindischen Sprachen
(ausgen. bangalï und assamï), z. B. im Hindu raza König,
gen. räzäka (masc. sg. n.), razäJä (fem. sg. n.), razähe (cas.
obi. sg. und plur.), râztikâ bèta, Königs Sohn, räzäkl betl
Königs Tochter u. s. w., im Marathi haben wir die Endungen
ca (m.), cï (f.), ca (neut.), cè (pl.), im Sindhi zö (m.), zl
(f.), za (pl. m.), zu (pl. f.), im Panjabi da (m.), dl (f.), de
(m. obi. und pl.), im Gujarati nô (m.), M (f.), nü (n.), na
(pl. m.), ni (pl. f.), na (pl. n.) (vgl. Novara linguist. Teil 141,
25*
388
Em. Kováí,
J. Beames, A comparative grammar of the modern aryan
languages of India 275—291, Kellogg, Grammar of the Hindi
language 71) und wie bekannt auch im Zigeunischen (vgl.
Miklosich, Vgl. Gram. IV, 450).
Dazu konstatiren wir, dass auch in den Dravidasprachen
der cas. adnom. wie ein Adjectivum behandelt wird (vgl.
Caldwell, A comparative grammar of the Dravidian languages
182—197).
In den westlichsten der indogermanischen Sprachen (in
den romanischen, in der englischen u. a.) verschwand der
Genitiv bis auf spärliche Reste, weil er anderen resp. Prä-
positionsfällen Platz machte. Diese drücken das attributive
Verhältnis klarer als der Genitiv aus, dagegen ist die Funktion
nicht deutlich genug gekennzeichnet. Es nimmt also die
Tendenz, das Attribut durch das Adjectivum auszudrücken,
gegen Osten, die Tendenz, dasselbe durch Präpositionsfälle
auszudrücken, gegen Westen zu. Für uns ist jedoch die
Hauptsache, dass wir zu konstatiren im Stande sind, dass
die Abnahme des gen. adnom. im Geiste der Sprachent-
wickelung liege, und dies wirft auf die Wendung »dem
Vater sein Garten« statt »der Garten des Vaters« ein neues
Licht.
2. Es handelt sich nun darum, wodurch der schwindende
gen. adnom. ersetzt wird. Im Deutschen, ebenso wie in den
übrigen europäischen Sprachen, durch indirekte, namentlich
Präpositionsfälle. Die von uns besprochene Erscheinung ist
also eine interessante Ausnahme, deren Analyse wir jetzt in
Angriff nehmen wollen.
In dem Ausdrucke »dem Vater sein Garten« ist einer-
seits das Possessivpronomen pleonastisch gesetzt, andererseits
sondert sich dadurch die Bezeichnung des Besitzers vom an-
deren Teile des Ausdruckes und des Satzes ab, so dass die-
selbe eine Art von Selbständigkeit erhält. Dass wir eine
solche selbständige Stellung der Satzglieder vorfinden, ist
bekannt, so z. B. im franz. le frère, je l'ai vu, im arab.
ümaru mäta abu-hu (Omar, gestorben ist sein Vater), u. a.
Namentlich werden in manchen Sprachen diejenigen Satz-
Ueber die Bedeutung des possessivischen Pronomen etc. 389
glieder selbstständig gestellt, die das Gentrum der Bedeutung
des Satzes bilden und die wir mit Gabelentz (vgl. dessen Ar-
tikel »Zur Vergi. Syntax« in Zeitschr. f. Völkerpsychologie VIII,
129 —165, 300—338) »psychologisches Subject« nennen
könnten. Die Selbständigkeit des Attributes ist z. B. im
Hottentotischen beliebt: augu di tarate (Männer — dieser
da Frauen, vgl. Fr. Müller, Grundriss der Sprachwiss. I,
2. Abt. 14). Die Selbständigkeit der Bezeichnung des Be-
sitzers in unserem Beispiele setzt voraus, dass dieselbe etwas
Charakteristisches im Sprachbewusstsein sein muss.
3. Es liegt in der Natur der Sprache, dass sich das
possessive Verhältnis am besten durch ein pronomen posses-
sivum ausdrücken lässt. Deswegen ist die deutsche Wendung
keine isolirte Erscheinung.
Auch mittels des Wortes, das possessio bezeichnet,
wird das Possessivverhältnis in der westafrikanischen Sprache
ewe umschrieben (vgl. J. B. Schlegel, Schlüssel zur Ewe-
Sprache 80), z. B. mawu we mo (Gottes Eigentum Angesicht).
eda we ta (der Schlange Eigentum Kopf); im Guarani (eine
amerikanische Sprache) hat der poss. gen. ein besonderes
Suffix — mbae, welches res, possessio bezeichnet (vgl. Fr.
Müller, Grundriss d. Sprachw. II. 1. Abt. 2 H. 383); endlich
bildet auch in den Dravidasprachen, wo casus adnominalis
regelmäßig ein Adjectivum ist, der gen. poss. eine Ausnahme
und hat ein besonderes Suffix — udei, welches possessio be-
deutet (vgl. Caldwell a. a. O. 197). Viel häufiger wird das
possess. Verhältnis durch ein pronomen possess, umschrieben
und zwar in vielen amerikanischen, in manchen malayischen
und ural-altaischen Sprachen, von den afrikanischen (so viel
ich weiß) im Tumala und im Hottentotischen, von den
semitischen im Chaldäischen, von unseren namentlich in den
germanischen, sporadisch in anderen Sprachen.
Von den amerikanischen Sprachen gehören hierher die
athapaskischen, algonkinischen, irokesischen, dakota, choç-
tawischen und matlatsinkischen so zwar, dass die Bezeichnung
des Besitzers der des Besessenen vorangestellt wird, und die
letztere ein possessives Präfix erhält (vgl. Fr. Müller, Der
390
Em. Kovár,
gram. Bau der Algonkmsprachen, Sitzungsber. der k. Akad.
d. Wiss. LVI. 142 ff., Riggs, Grammar and Dictionary of the
Dacota language § 69, dann Fr. Müller, Grundriss der Sprachw.
II. 1. Abt.), z. B.
athapask.: së-tJcha bê-bese (mein Vater sein Messer), së-la
bê-thha bë-dezë yë-Tcùê (mein Freund, sein Vater, seine
Schwester, ihr Haus = meines Freundes, seines Vaters,
seiner Schwester, ihr Haus = Haus der Schwester des
Vaters meines Freundes);
algonkin, odzïbwe: Dzön o-masinaigan (Johann sein Buch),
Tiri : ókimaw o-7cosisa (Häuptling sein Sohn), essewayoo
os-tanisa (das Weib seine Tochter),
Lenni-Lennape : ketanitowlt o-tahoaltoagan (Gott seine
Liebe);
irokes.: nioo ro-ieha (Gott sein Sohn), rakuï Ötat-enisteha
(die Königin ihre Mutter);
dakota: tatäka woyute-tawa (Büffel sein Futter), wicaétaya
tapi tipi-tawa (Häuptling sein Haus);
choctaw.: Can im-cuka (Johann sein Haus);
matlatsink.: Pedro weri-riwi (Peter sein Sohn).
Im Lules besteht dieselbe Wortfolge, statt des Präfix
wird jedoch ein Suffix angehängt (vgl. Fr. Müller, Grun-
driss etc. 409), was oft auch im Dakota stattfindet, z. B.
lules: Khuan pe-p (Johann Vater-sein),
dakota: David ta-äpecu (David Tag-sein).
In anderen amerikanischen Sprachen wird die Bezeich-
nung des Besessenen mit einem possess. Präfix der des
Besitzers vorangesetzt; so im Nahuatl, Totonak, Huaxteko,
Maya, im Caraibischen, in der Sprache der Moxos, Chiquitos
und anderen (vgl. Pimentel, Cuadro descriptivo y compara-
tivo de las lenguas indígenas de Mexico I. 18, II. 255,
III. 208, 232, 309, Steinthal, Charakteristik haupts. Typen
215), z. B.
nahuatl: i-tlaskal ókictli (sein Brod Mensch),
totonak: is-cilc Pedro (sein Haus Peter),
maya: u-poh Petto (sein Hut Peter),
goakhira: ni-con mareiwa (sein Sohn Gott),
Ueber die Bedeutung des possessivischen Pronomen etc. 391
cara ib.: la-hamisen rahö (sein Rock Sohn), ta-bulugu webo
(sein Gipfel Berg),
moxo: ma-muiria ehoiro (sein Kleid Mann),
chiquito: i-poo-stii tupas (sein Haus Gott).
Dieselbe Wortfolge, aber mit einem possess. Suffix, be-
sitzen diejenigen malayischen Sprachen, welche mittels des
besitzanweisenden Fürworts das Possessivverhältnis um-
schreiben, so das Malayische, Javanische, Mankasarische u. s.w.
(vgl Novara, ling. Teil 337), z. B.
m al a y is eh: anak-na rad'a (Kind-sein König),
javanisch: Jcarsa-nning ratu (Wille-sein Fürst),
mankasar.: ballä-na itüwang (Haus-sein Herr),
m al agi: trano-ni ni-saJcaiza-Tco (Haus-sein Freund-mein).
Von den uralaltaischen Sprachen tritt uns diese Erschei-
nung im Finnischen, Jakutischen, Tatarisch-Türkischen, Ma-
gyarischen etc. entgegen. Hier wird die Bezeichnung des
Besitzers der des Besessenen vorangestellt, welch letztere ein
possessives Suffix hat; doch wird oft außerdem die erst ere
im Finnischen und Türkischen in den Genitiv, im Magyarischen
in den Dativ gesetzt; z.B.
jakutisch: örüs bas-a (Fluss Kopf sein, vgl. Böhtlingk
»Ueber die Sprache der Jakuten« § 617 s. 243, § 646
bis 650 s. 252—254) ;
türkisch: allah bende-si (Gott Diener sein), aber auch allah-yn
bende-si (Gottes Diener sein), babanyn ew-i (des Vaters
Haus sein, vgl. Allg. Gram, der türkisch-tatarischen
Sprache von Mirza A. Kassembeg, übers, von J. Th.
Zenker § 58—67 s. 195-199);
im Magyarischen haben wir z. B. as atya ház-a (Vater
Haus sein), as emberek gyarlóság-a (die Menschen ihre Ge-
brechlichkeit), a virágok szin-e (die Blumen ihre Farbe); ist
aber das Besessene eine Postposition, so wird das erste Wort
mit dem Dativsuffixe als Richtungsanzeiger behaftet, z. B.
a Mz-nàk alatta (dem Hause sein Unteres, unter dem Hause,
vgl. Riedel, Magyarische Gram. § 57 s. 108, § 120 s. 232);
daneben hängt auch das possess. Suffix -ê mit dem Posses-
sivpronomen ja, je zusammen, so vgl. tevé-je (sein Kameel)
392
Em. Kovár,
und Péter-é (das Eigentum Peters), ez a Mz atyám-é (dieses
Haus ist das meines Vaters, vgl. Riedel a. a. O. § 37 s. 90).
Was das Semitische resp. Ghaldäische anbelangt, so
sind die vorkommenden Fälle zusammengestellt: Winer's
Ghaldäische Gram. III. Aufl. von B. Fischer 176, z. B. abühön
dï bene Ammön (ihr Vater der Söhne Animons).
Im Tumala haben wir z. B. (Ten urung-ra (Vater sein
Feld, vgl. Tutschek, Gel. Anzeig, der bayer. Akad. der Wiss.
XXV. 729); was das Hottentotische anbelangt, wolle man
John Appleyard, The Kafir language s. 19 einsehen: to ex-
press possession the nouns are simply placed in apposition,
as, man book, man son; or, when emphasis is required a
similar construction takes place to that which was formerly
used in English, as, man his book, man his son etc.
In den indogermanischen Sprachen kommt diese Um-
schreibung, das Germanische ausgenommen, nur sporadisch
vor. Wegen der Beispiele aus dem Lateinischen und Grie-
chischen wolle man Miklosich, Vergi. Gram. IV, 107 einsehen.
Im Germanischen (im Deutschen, Englischen, Nordischen) ist
der Fall bekannt. Im Deutschen kommt in dieser Wendung
die Bezeichnung des Besitzers nicht nur im Dativ, sondern
auch im Genitiv vor (der Dativ ist besonders im Ober-
deutschen beliebt). Die ersten Beispiele finden sich schon
im Mittelhochdeutschen wie auch im Mittelniederdeutschen
(vgl. Grimm, Deut. Gram. IV, 352).
4. Die von uns besprochene Erscheinung kommt überall
als Ausnahme von der gewöhnlichen Bezeichnung des Attri-
butivverhältnisses vor. Im Ewe, in den amerikanischen und
malayischen Sprachen wird die Kategorie der Adjectiva von
der der Substantiva nicht formell unterschieden, und die
Attributivfunktion wird durch bloße Nebeneinanderstellung
ausgedrückt. In den Dravidasprachen ist das Attribut eine
Adjectivform. In den uralaltaischen Sprachen finden wir
das Genitivsuffix, oder es fließt das Attribut mit seinem fol-
genden Nomen in eine Art von Compositum zusammen.
Dies ist der Fall auch im Tumale, im Hottentotischen und
Ueber die Bedeutung des possessivischen Pronomen etc. 393
im Chaldäischen, wo sich das noraen regens bekanntlich
im status constructus findet.
In den Sprachen mit einer geringen Entwickelung be-
gnügt man sich, anstatt die bestimmten Arten des Attributs-
verhältnisses auszudrücken, mit der bloßen Zusammengehörig-
keit zweier Nomina, es mag dies geschehen durch eine be-
sondere Formbildung (ein besonderes Affix), oder eine Art
von Compositen, oder, wie es in manchen Sprachen beliebt
ist, dadurch, dass das Attribut durch ein hinweisendes Für-
wort gekennzeichnet wird. Selbst in den semitischen Sprachen
kam eine weitere Fortbildung von stat. constr. nicht zu
Stande. In solchen Sprachen weist die Umschreibung durch
ein possessivisches Pronomen auf die Tendenz hin, das Pos-
sessivverhältnis bestimmter als eine bloße Zusammengehörig-
keit zu bezeichnen. Diese Tendenz beweist, dass dieses Ver-
hältnis dem Sprachbewustsein als sehr wichtig erscheint, was
sodann mit der selbständigen Stellung der Bezeichnung des
Besitzers zusammenhängt.
5. Da in dem Deutschen der possessivische Dativ als
Attribut nicht im Gebrauche steht, so besitzen wir auch in
dieser Wendung keinen Dativ possessi vus, sondern einen Dativ
des Bezuges. Die Vergleichung mit dem französischen dat.
possess, (z. B. la femme au prêtre) ist aus dem Grunde
falsch, weil im Französischen der possessivische Dativ in der
That beliebt ist, nicht aber im Deutschen. Der Dativ des
Bezuges kommt in vielen Sprachen vor.
In denjenigen Sprachen, in denen eine bestimmte Form
des substantivischen Attributs (ein Genitivsuffix oder eine
bestimmte Form des Compositum) durch das Possessivum
nicht geändert wird, müssen wir alles Gewicht auf den
pleonastischen Gebrauch des possessivischen Fürworts legen;
so im Finnischen, Türkischen, Niederdeutschen, wenn der
Genitiv gelassen wird, dann im Chaldäischen, wo das Attribut
mit seinem Nomen ein Compositum von bestimmter Form
(stat. constr.) bildet.
Wenn wir schon vom pleonastischen Gebrauche des Pos-
sessivums sprechen, so wollen wir auf das Slavische hinweisen,
394 Em.Kovár, Ueber die Bedeutung des possessiv. Pronomen etc.
wo das possessivische svoj sehr oft pleonastisch neben dem
possessivischen Genitiv oder Dativ steht, um größere Deut-
lichkeit zu gewinnen (vgl. Miklosich, Vergi. Gram. IV, 105).
6. Aus der vorliegenden Abhandlung können wir das
Bestreben der Sprache bemerken, die verschiedenen Attri-
butivverhältnisse in einer verschiedenen Form auszudrücken;
namentlich steht hierin das possessive Verhältnis obenan.
Dieser Wichtigkeit desselben entspricht auch eine besondere
Form, welche der Bezeichnung des Besitzers eine gewisse
Selbständigkeit verleiht. Diese Form ist die Umschreibung
mittelst des Possessivpronomen, welches natürlich dieses
Verhältnis am besten auszudrücken vermag. Eine Folge
dieser Tendenz ist auch die bekannte deutsche Wendung
»dem Vater sein Garten«.
Ueber Bedeutung der Etymologie
für die Jurisprudenz.
Eine Studie
von Dr. iur. utr. A. Klein in Jena.
»Wenn du dich lebenslang beschäftigest mit Wörtern,
Verachten dich mit Recht, die lieber Ding erörtern,
Wenn du dich wenigstens beschäftigest mit Worten,
Aus welchen aufgebaut sind der Begriffe Pforten.«
(Riickert, Weisheit 4, 222 etc.)
Eine treffende Verurteilung aller wortklaubenden und
silbenstechenden Juristen, zugleich auch eine stetige Mahnung
zu unablässigem Forschen in den Tiefen der Sprache für
Begriffsfeststellungen !
Aber wo beginnt für den Juristen dieses Studium, bis
wohin hat es sich zu erstrecken?
Soll er es anheben bei den Hypothesen über den Ur-
sprung der Sprache; soll er diesen Ursprung aus einem
A. Klein, Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 395
Walten der Schöpfung, aus einer Offenbarung als Grammatik
Gottes herleiten; soll er ihn als Umsetzung einer Geberden-
in eine Lautsprache annehmen; soll er ihn in Auffindung und
Lösung psychologischer, logischer, metaphysischer, historischer
Probleme suchen; soll er ihn endlich auf ein Vertragsver-
hältnis zwischen Sprecher und Hörer zurückführen, welches
irgend einen Gedanken durch Laute der menschlichen Stimme
in Verkehr brachte und diese Laute zum Ausdrucke jenes
Gedankens als Sprache festzuhalten gebot? —
Hierüber mögen die berufenen Sprachforscher, Raum
und Zeit überspringend, weiter miteinander streiten und »in
Gedanken am Ufer des Sprachursprungs« landend etwa noch
anderweite Vermutungen aufstellen, als sie bereits gethan.
Etwas anderes ist es um die Fortbildung der Sprache.
Hier hat die Tätigkeit des Juristen einzusetzen. Ihm
darf freilich nicht zugemutet werden, nach sprachlichen
Petrefacten Studienreisen zu unternehmen.
Die Erklärung von »Lautverwitterungen«, von »erstarrten
Zusammensetzungen« bleibt vielmehr Aufgabe der Etymologen,
ebenso die Untersuchung darüber, ob die Morphologie einer
Sprache mehr Präfix- als Suffixbildungen zeigt ; ob und in
welcher Weise sie sich etwa ausschließlich in Agglutinationen
von Lautgruppen bewegt, wie z. B. die Sprachen der ural-
taischen Völker.
Wie der Jurist indessen Gulturgeschichte, Philosophie,
Volkswirtschaftslehre, Rechtsgeschichte als Hülfwissenschaften
in den Bereich seiner Studien ziehen muss, so liegt ihm auch
ob, mit feststehenden etymologischen Errungen-
schaften sich bekannt und vertraut zu machen, um aus
der Entstehung, Fort- und Umbildung von Wörtern einen
richtigen Schluss auf den Wortsinn gewinnen, sprachlich
richtig denken, sprechen und schreiben zu lernen.
Demzufolge hat der Jurist unter anderem mit autori-
tativen Werken wie Wilhelm von Humboldts ȟber die
Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Ein-
fluss auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts«
thunlichst sich zu beschäftigen.
396
A. Klein,
Nur so wird ihm die Kenntnis der spracherzeugenden
und sprachfortbildenden Mittel, wie von deren Tragweite
und Unterschieden; nur so vermag er die etymologische
Biographie eines Wortes und dessen zeitweilig damit ver-
knüpfte Bedeutung zu verstehen.
Er wird dann erfahren und verwerten, dass die Sprach-
entwickelung desto reicher sich gestaltete, je mehr aus ur-
sprünglich sinnlichen Anschauungen die Abstractionen hervor-
traten; dass aus dem Gebiete erzählender Zeitworte die Sprache
zu Flexionsbildungen fortgeschritten; dass letzteren eine Fülle
scharf unterschiedener Partikeln und Pronomina sich zu-
gesellt.
Weiter wird ihm klar und er wird diese Kenntnis aus-
beuten, wie allmählich und weshalb die Suffixe, jene An-
bildungen oder Begrenzungszusätze, durch welche man nicht
zwei Begriffe zu einem dritten verbindet, sondern einen
Begriff in einer bestimmten Beziehung gedacht wissen will,
aus den Wort wurzeln hervorbrechen, um später mit der
Wurzel zu einem untrennbaren Ganzen so verschmolzen zu
sein, dass dem Sprecher, Hörer und Leser das Bewusstsein
von der Bedeutung dieser spracherweiternden Mittel verloren
gegangen ist.
Er wird ferner wissen, dass allmählich die früher klang-
vollen, poetischen Sprachformen verschwanden; dass sie in
der dritten Periode der Sprachzeugung einem »kühlen,
scharfen Zuge der Abstraction« und damit nüchternen, aber
begrifflich fein unterschiedenen Ausdrücken das Feld ge-
räumt.
Von selbst wird so der Jurist in Theorie und Praxis zu
correctem Gebrauche der Synonymen kommen müssen. Ist
solches aber der Fall? Leider nicht.
v. Savigny sprach unserer Zeit den Beruf zur Gesetz-
gebung ab.
Sollte er bei diesem ernsten Worte nicht auch an die
Ungenauigkeiten gedacht haben, welche bei Redaction von
Gesetzen teils aus Sprachunkenntnis, teils aus Ueberhastung
oder gar aus Nachlässigkeit mehr oder weniger zu Tage
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 397
gekommen und practisch fühlbar geworden sind? Ohne
Zweifel. Denn ihm konnte nicht entgangen sein, welch
wichtigen Factor das Wort in der Jurisprudenz abgiebt, und
wie wenig er in der modernen Legislatur sowohl hinsichtlich
einer sprachgerechten Anwendung der Wortbegriffe, wie
einer richtigen Schreibweise und einer scharfen Trennung
gleichlautender Wörter Beachtung erhalten1.
Man erinnere sich nur an den gar nicht genug zu
rügenden unterschiedslosen Gebrauch der Worte: Grund-
Stamm-Anlagekapital2; man sehe auf die verschiedenen
Schreibweisen: »Entwährung, Entwehrung, Ent-
werung« 3.
Welche ist hiervon, um von vielen ein Beispiel hervor-
zuheben, die richtige und welche vermittelt allein den cor-
recten Wortbegriff ?
Das lehrt nur die Etymologie.
»Entwährung« fußt auf dem Wurzelworte wërân ahd.,
wem mhd., historisch richtig ohne das Dehnungs-h »wären«,
heutzutage währen geschrieben = wierig d. i. langwierig.
Mit der ein Herausgehen aus einem Zustande bezeichnenden
Vorsilbe »ent« drückt Entwährung die Negation der Lang-
wierigkeit aus.
»Entwehrung« kommt von wem mhd., werian, werëan
(= sich wehren), verian, verigian, vergavi angels., wera alt-
fries., verja altnord., mit der Wurzel ver wantschaft wam¡ mhd.,
warôn ahd. = aufmerken, achten, beachten, be-
hüten, beschützen her und ist synonym mit Schutz-
losigkeit.
»Entwerung« leitet sich ab vom althochdeutschen
wer jan, goth. vasjan, sanskr. was (lat. vestire) = kleiden4
1 Siehe Son tag, Die Redactionsversehen des Gèsetzgebers insbe-
sondere auf strafrechtlichem Gebiete. Freiburg i. Breisgau 1874.
2 Förstemann, Das preußische Eisenbahnrecht. Berlin, A. Secco
Nchflgr. S. 12.
3 Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht, Bd. IXXX N. F.
S. 293. Bd. XIV. 1. und 2. Heft, Stuttg. 1883.
4 Grimm, Deutsche Bechtsaltertiimer S. 555 N. 2.
398
A. Klein,
(das r in Entwerung ist aus dem s entstanden) und kenn-
zeichnet den Zustand oder die Tatsache der Wegnahme von
Kleidungsstücken, überhaupt eine Entziehung von Besitz-
objecten, daher den Gegensatz von Besitzeinweisung, von
Investitur: das »disvestire«. Mithin ist Entwerung die Besitz-
entsetzung, die bekannte Eviction.
Einzig richtig erscheint demnach nur die Schreibweise
Entwerung, sobald von dem Rechtsbegriffe der Eviction die
Rede ist.
Weiter.
Bis auf den heutigen Tag sind die Rechtsbegriffe von
Erfindung und Entdeckung controvers l.
1 Gar eis, Das deutsche Patentgesetz vom 25. Mai 1877, S. 27:
»Erfindung ist Entdeckung einer vorher noch nicht bekannten
Tatsache, dass durch eine concrete technische Einwirkung auf einen
Stoff der Außenwelt (Natur) ein der Wiederholung an sich unterzieh-
barer Erfolg erzielt wird, oder: Entdeckung der vorher noch nicht be-
kannten Tatsache, dass durch eine concrete technische Verwendung
eines Naturstoffes oder Naturgesetzes ein an sich wiederholbarer Erfolg
erzielt wird.«
Rosenthal, Das deutsche Patentgesetz vom 25. Mai 1877, Er-
langen 1881, S. 42:
»Die Erfindung ist ein Geisteserzeugnis, welches entweder in einem
neuen Gegenstande des Gebrauches oder in einem neuen Hülfsmittel
zur Herstellung von Gebrauchsgegenständen besteht.«
Pieper, Der Schutz der Erfindungen im Deutschen Reich, S. 21:
»Die Erfindung wird oft fälschlich als unselbstständig, als unver-
meidliche Folge einer Entdeckung angesehen.--
Die Entdeckung und die Erfindung vermehren unser Wissen oder
bereichern unser Erkenntnisvermögen, soweit mit ihnen etwas Neues,
bisher nicht Bekanntes aufgefunden wird. Aber, die Entdeckung ent-
hält etwas bisher nicht wargenommenes Vorhandenes; die Erfindung
schafft etwas seinen wesentlichen Eigenschaften nach nicht Vor-
handenes.
Sonach kann eine Entdeckung ohne das Streben nach einem ge-
wissen Ziel, ohne die Absicht eines Menschen, also zufällig gemacht
werden. — Bei dem Wesen der Erfindung kann von einer Zufälligkeit
absolut nichts erwartet werden.--«
Klostermann, Das Patentgesetz für das Deutsche Reich S. 112:
»Erfindung ist ein Geisteserzeugnis, welches entweder in einem
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 399
So erklärt das österreichisch-ungarische Privilegien-
patent vom 15. August 1852 Entdeckungen und Erfindungen
als patentfähig, während das deutsche Patentgesetz nur
von Erfindungen spricht.
Nach ersterem Gesetze wird unter »Entdeckung« jede
Auffindung einer zwar schon in früheren Zeiten ausgeübten,
aber wieder ganz verloren gegangenen oder überhaupt einer
im Inlande unbekannten Verfahrungsweise, unter »Erfin-
dung jede Darstellung eines neuen Gegenstandes mit schon
bekannten Mitteln, oder eines schon bekannten Gegenstandes
mit anderen, als den bisher für denselben Gegenstand ange-
wendeten Mitteln« verstanden.
neuen Gegenstande des Gebrauchs oder in einem neuen Hülfsmittel
zur Herstellung von Gebrauchsgegenständen besteht.«
Landgraf, Das deutsche Reichsgesetz, betr. den Schutz von Er-
findungspatenten S. 2:
»Erfindung bildet den Gegensatz zu den traditionellen, bisher üb-
lichen Verfahren, Stoffen, Arbeitsmitteln, ist das Hervorbringen dessen,
was bisher noch nicht vorhanden war.«
Dam bach, Das Patentgesetz für das Deutsche Reich S. 2:
»Erfindung ist die Schaffung und Hervorbringung eines neuen
bisher nicht vorhanden gewesenen Gegenstandes oder Productionsmittels
zu materiellen Gebrauchszwecken.«
Kohler, Deutsches Patentrecht, I. Abt. S. 32:
»Erfindung ist eine auf einer neuen Combination der Naturkräfte
beruhende eigenartige Schöpfung des Menschengeistes zur Erreichung
eines bestimmten Resultates.«
Quenstedt, Patentblatt 1880 Nr. 11:
»Erfindung ist Ermittelung eines Verfahrens, wodurch die Her-
stellung eines Gebrauchsgegenstandes mit weniger oder anderer als der
bisher notwendigen Arbeit oder eines bisher ganz oder teilweise nicht
bekannten Gebrauchsgegenstandes ermöglicht wird.«
Hartig, Die Formulirung der »Ansprüche« in den deutschen
Patentschriften und der wesentliche Inhalt mechanisch-technischer Er-
findungen (Patentblatt 1881 Nr. 21): »--nicht diê Geistesarbeit des
Menschen allein gehört zum technischen Erfinden, auch die Arbeit der
Naturkräfte, und in dem von Menschen gewollten Zusammenwirken
der natürlichen Arbeitsorgane des Menschen, der motorischen Sub-
stanzen, der in den chemischen und physikalischen Agentien sich dar-
bietenden Werkzeuge mit den Maschinenwerkzeugen ist das eigentliche
Wesen technischer Erfindungen zu suchen.«
400
Á. Klein,
Im deutschen Patentgesetze ist eine Begriffsfestsetzung
des Wortes Erfindung nicht gegeben.
Die Rechtsprechung hat eben unter Absehen von Fixirung
einer Definition den Inhalt des Begriffs je nach den einzelnen
zur Entscheidung vorliegenden Fällen erläutert1.
Auf die etymologische Begriffsentwickelung ist man
in Doctrin und Praxis teils gar nicht, teils nicht ausreichend,
teils nicht zutreffend eingegangen, obschon eine Aufforderung
zur Benutzung auch dieses grundlegenden Hiilfsmittels in
den Motiven zu dem deutschen Patentgesetze2 unschwer er-
blickt werden darf.
Gar eis erklärt an der Hand von Weigands Wörterbuch
Erfindung als das durch Versuch Erkannte, das Hervor-
bringen von etwas Unbekanntem, ohne auf die Weigandsche
Etymologisirung des Wortes Entdeckung vergleichende
Rücksicht zu nehmen.
Nach Weigand ist Entdeckung von dem ahd. ant-ent-
inderhan — der Decke benehmen, aufdecken, bloßmachen
abzuleiten.
Hiernach würde die Entdeckung darin bestehen, dass
jemand ein an sich schon vorhandenes Object durch Ent-
fernung der dasselbe bislang verbergenden Hüllen oder Ver-
hältnisse der öffentlichen Kenntnisnahme zugänglich macht.
Erfinden dagegen wäre das Erzeugen eines vordem
nicht existirenden oder bekannt gewesenen Objects. Beiden
Wortbegriffen gemeinsam ist das Erfordernis der Neuheit
des betreffenden Gegenstandes i. w. S.; sie unterscheiden
sich jedoch durch die hervorgehobene voneinander ab-
weichende Art der Gewinnung des neuen Objects.
Wenn der Gesetzgeber die Patentfähigkeit nur auf solche
Erfindungen beschränkt, welche eine gewerbliche Ver-
1 Gar eis, Die patentamtlichen und gerichtlichen Entscheidungen
in Patentsachen, Bd. I. II.
Entscheidungen des Reichsgerichts in Civilsachen, Bd. V.
S. 106 flg.
2 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen
Reichstages, 3. Legislaturper. I. Sess. 1877. Bd. III. S. 17.
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz.
401
Wertung ermöglichen, so empfängt der Wortbegriff Erfindung
dadurch seine rechtliche Unterlage und Richtung und
bildet sich ganz von selbst zum Rechtsbegriffe im Sinne
des Gesetzes dahin, dass unter Erfindung das Erzengen,
Hervorbringen eines gewerblich verwertbaren, sei es neuen
Gegenstandes auf bekannte oder unbekannte Art oder eines
bekannten auf bisher unbekannt gewesene Weise ver-
standen werden muss.
Ob die zur Patentirung angemeldete Erfindung unter
diesen Rechtsbegriff paßt, ist bei der notwendig festzu-
haltenden Allgemeinheit desselben gegenüber der aller sicheren
Classificirung sich entziehenden Anzahl und Vielgestaltigkeit
gewerblicher Ausnutzungsobjecte jedesmal von Fall zu Fall
richterlicherseits zu bestimmen.
Unbedingt leistet aber die Etymologie schon um des-
willen ausgezeichnete Dienste, weil sie angesichts zweier
Wortbegriffe den einen davon, den der Entdeckung, bereits
dem Wortsinne nach aus dem Bereiche des in Frage kom-
menden Rechtsbegriffs ganz ausschließt.
Mag das österreichisch - ungarische Privilegiengesetz im
Gegensatze zu dem deutschen Patentgesetze auch »Ent-
deckungen« als privilegirbar anerkennen, so darf man sicher-
lich behaupten, dass diese Bestimmung offenbar aus einer
irrigen Wortdeutung und einer willkürlichen, dem Sprach-
geiste fremden Begriffsfestsetzung herrührt. Weil bei letzterer
Wort- und Rechtsbegriff statt, wie angänglich, sich zu decken,
beinahe in Gegensatz gebracht sind, deshalb erscheint die
besprochene Terminologie nicht glücklich gewählt.
In der Rechtssprache hat man, um ein weiteres Beispiel
anzuführen, den Ausdruck Leihbibliothek auch in den-
jenigen Fällen zugelassen, in welchen jemand aus der Bücher-
sammlung eines anderen gegen Entgelt und auf Zeit Bücher
mit dem Versprechen der Rückgabe nach gemachtem Ge-
brauche ausgeantwortet erhält.
Dass hier der Consensualvertrag der Miete, nicht
aber der keine Gegenleistung des Empfängers voraussetzende
Real contract der Leihe rechtlich angezeigt, dass eben
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spracliw. Bd. XVI. 4. 26
402
A. Klein,
bloß das Wort » Mietbibliothek« gerechtfertigt wäre,
wird jeder schon mit elementaren Begriffen operirende Jurist
ohne Weiteres einräumen.
In den bedauerlicher Weise so weiten Kreis falscher
Terminologien gehört auch das Wort Genossenschaft im
Vergleich mit den sinnverwandten Ausdrücken Gesellschaft
und Verein.
Weder in Wissenschaft noch in Gesetzgebung und Recht-
sprechung finden die Worte: »Verein«, »Gesellschaft«,
»Genossenschaft« eine begrifflich gleichmäßige, fest-
stehende Unterscheidung und Anwendung.
Thöl z. B. sagt, dass man bei dem Worte »Gesellschaft«
den engeren und weiteren Wortsinn ins Auge fassen und
letzteren auf die Actiengesellschaft dahin acceptiren
müsse, dass man darunter einen »Verein« begreife1.
Hierdurch ist der Springpunkt nicht getroffen. Lediglich
durch etymologische Arbeit gelangt man auch in diesem
Falle zur Feststellung der Wortbegriffe und ihrer Unter-
schiede.
Was zunächst das Wort Verein anlangt, so weiß man,
dass es sich aus der als Vorsilbe gebrauchten Partikel »ver«
und der Wurzel »ein« zusammensetzt.
»Ein«, got. ains bedeutet ursprünglich: ohne jedes
andere. Dies Wurzehvort ein kommt stets in Verbindung
mit Präfixen oder Suffixen vor. So »allein« d. i. Verstärkung
des Begriffs ein d. h. ganz ein, ausschließlich vor
andern, abgesondert von den andern; ferner einig
d. i. so zusammengehörig, dass es Eins ausmacht, von ihm
unzertrennlich ist, ein aus Uebereinstimmung entstandenes
Zusam mengehörigkeitsverhältnis 2.
1 Thöl, Handelsrecht.
Renaud, Das Recht der Actiengesellschaft, Aufl. II. §9 S. 134.
v. Hahn, Commentar zum allgemeinen deutschen Handelsgesetz-
buch, Aufl. III. S. 684. Art. 213. Anm. 4.
Endemann, Das deutsche Handelsrecht, Aufl. III. §56. S. 249.
2 Meyer, Handwörterhuch deutscher sinnverwandter Ausdrücke,
Aufl. V. S. 22. Nr. 78.
Weigand, Deutsches Wörterbuch, Aufl. IV. Bd. I. S. 426.
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 4Q3
Von der Vorsylbe »ver« got. fra, fair, ahd. far, fer,
fer, nhd. ver lehren die Etymologen, dass sie mehrere Par-
tikeln in sich schließt, auch zur größeren Betonung des Sinnes
des Wurzel Wortes dient.
Als Präfix der Wurzel ein verstärkt es deren eben
dargelegten Sinn, so dass das Wort Verein ganz allgemein
jeden aus Uebereinstimmung einer Anzahl Personen gebildeten
Verband bezeichnet.
Die Sprache verwendet dieses Wort bekanntlich zu
zahlreichen Agglutinationen: Gewerk-, Gesang-, Turn-,
Schieß-, Schifffahrts- etc. Verein.
Was diese Zusammensetzungen bedeuten, liegt auf der
Hand; sie bezeichnen Personenverbände im Interesse der Ge-
werke, des Gesanges, des Turnens, des Schießens, der Schiff-
fahrt etc. ; sie weisen durch das Vorwort auf die Sache hin,
deren Betreibung die Personenvereinigung bezweckt.
Ein durchaus anderes Ergebnis liefert die etymologische
Ableitung des sinn ver wanten Wortes Gesellschaft.
In ihm treffen wir auf das Präfix Ge, welches mit dem
Suffix schaft die Wurzel seil einschließt.
Ursprüglich hieß diese Wurzel sal, wohnen, mhd. selde
Wohnung, sal ebene Halle, got. salipwos, Herberge, saljan,
ussaljan einkehren, bleiben, ahd. gasello, mhd. geselle.
Geselle ist zuerst also Mitbewohner eines Hauses (con-
tubernalis) l.
Später begriff man darunter den mit anderen in einem
gemeinschaftlichen Räume Wirkenden, daher: Arbei ts-,
Nebengesell, noch später erweiterte man das Wort durch
das Suffix schaft2.
Schaft, got. slapjan schaffen, gasJcafts Schöpfung, ahd.
skafan, mhd. die -schaft, ahd. die -scaf, (pi. sceffi) erhält im
9. Jahrhundert die Form scaft altsächs. der seepi: eine Be-
schaffenheit, das -sTcepi ein Gesammtheit, mittelniederdeutsch
1 M e y er a. a. O. S. 184.
2 Ueber die Bedeutung des sinnverwandten Suffixes tum in Zu-
sammensetzungen mit Wörtern wie Burschen-, Bürger-, Juden-, Priester-,
Rittertum s. Whitney-Jolly a. a. O. S. 90.
26*
404
A. Klein,
-schap, vom althd. scafôn, scaffòn, d. i. gestalten, bilden, ein-
richten, anordnen, ahd. scafi Gestaltung, Beschaffenheit, ge-
setzliche Ordnung1. Dies zum Suffix abgeschwächte Sub-
stantiv deutet eine Gesammtheit, eine Gestaltung oder
eine Beschaffenheit an.
Als Ausdruck einer Gesammtheit, eines Collectiv-
begriffes erscheint es in Zusammensetzungen mit persönlichen
Substantiven z. B. in Brüder-, Burschen-, Juden-, Bürger-,
Diener-, Mann-, Priester-, Ritter-, Kaufmannschaft2; als Kri-
terium einer Beschaffenheit, zur Kennzeichnung eines
Wesens z. B. in Jungfern-, Freund-, Feindschaft3. Selten setzt
es sich mit Adjectiven zusammen, um die in der Natur
liegende Beschaffenheit, um einen Zustand zu charakterisiren,
wie in Baar-, Bereit-, Eigen-, Gemein-, Kund-, Lieb-, Buhl-
schaft, ebenso selten und zu gleichem Zwecke mit Participien
des Präsens: Wissenschaft, und des Präteritums in: Bekannt-,
Errungen-, Gefangen-, Hinterlassen-, Verlassen-, Verwant-
schaft4. Was endlich die Partikel G e betrifft, so stimmen
die Philologen darin überein, dass sie das Zusammengehören,
die Vereinigung, das Gollectivische, namentlich in substan-
tivischen Zusammensetzungen andeuten soll5.
In dem Worte Gesellschaft erhöht diese Partikel also
den im Suffix schaft enthaltenen Personen-Collectivbegriff und
bestimmt in Verbindung mit dem vorentwickelten Wurzel-
worte den Sinn des Gesammtwortes als die Vereinigung
einer Anzahl Personen, welche entweder demselben Stand e
angehören, oder welche sich zusammenthaten, um Ein ge-
1 Meyer a.a.O. S. xx. VII §75.
A. Fr. Pott, Etymologische Forschungen auf dem Gebiete der
indogermanischen Sprachen etc. Aufl. II. Bd. V. Wurzel - Wörterbuch
der indogermanischen Sprachen, S. 210 fg.
Lexer, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Bd. II.
2 Weigand a. a. 0. Bd. II S. 539 fg.
3 Tobi er, Aesthetisches und Ethisches im Sprachgebrauche
(Ztschr. für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. VI. S 385fg.).
4 Weigand a. a. 0. Bd. II. S.540.
8 Meyer a. a. 0. XV. § 32.
Weigand a. a. 0. Bd. I. S. 621.
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 405
meinsames Arbeitsziel, Ein gemeinschaftliches In-
teresse vereint zu verfolgen1. Gleich dem Worte Verein
empfängt es durch Zusammensetzungen2 seine jedesmalige
besondere Bedeutung, wie in Sänger-, Turner-, Schützen-,
Schiffergesellschaft.
Darf man nun aber wahllos z. B. statt Sängergesellschaft
auch Sing- oder Gesangverein sagen? Gewiss nicht.
Worin liegt der Unterschied?
Schon der äußerliche Umstand, dass dort Gesellschaft
mit einem persönlichen, hier Verein mit einem sachlichen
Substantivum verschmolzen ist, legt nahe, dass in Sänger-
gesellschaft der Accent auf das persönliche, in Sing- oder
Gesangverein auf das sachliche Element der bezeichneten
Vereine fällt.
Es erklärt sich demnach, dass eine Sängergesellschaft
eben nur solche Personen zu Einer Körperschaft heranziehen
wird, welche als ausübende Gesangeskundige entweder ge-
sellige oder Erwerbszwecke auf ihr Programm schreiben,
während Gesangvereine notorisch die Pflege der Gesanges-
kunst sei es zur Unterhaltung, sei es zur Ausbildung der
Sangesgenossen oder behufs Fortentwickelung der Kunst
(z. B. bei Kirchengesangvereinen) sich zur Aufgabe stellen
und den vorgesteckten Zweck, teils durch eigene Betätigung,
mittelst sog. aktiver Mitglieder, teils durch Beteiligung peku-
niärer Kräfte, sog. passiver Mitglieder, zu erreichen be-
strebt sind.
Man kann nach alledem den Schluss wagen: das Sub-
stantivum Verein verknüpft sich in der Regel mit einem
ein sachliches Ziel ausdrückenden Begriffs worte, das Haupt-
wort Gesellschaft dagegen schließt sich der Regel nach
1 von Amyra, NordgermanischesObligationenrecht, Leipzig, Veit &
O. 1882, Bd. I S. 690 §87 führt aus: »die Gesellschaft ist eine »Zu-
sammenläge« Mehrerer — viperlcceghi (Diminutivform von viverlagh, was
abgeleitet ist von viperliggia).--Durch Einlage von Gut wird die
Gesellschaft zur Gutsgesellschaft«. — bolaghl
2 Ueber die Bedeutung und Werth von Zusammensetzungen siehe
Whitney-Jolly a. a. 0. S. 98 fg.
406
A. Klein,
nur an persönliche Substantive zur Bezeichnung der Ge-
schlossenheit einer Anzahl Personen gleicher Art, gleichen
Standes, zur Ausübung einer allen gemeinsamen Tätigkeit.
Freilich gibt es von dieser Regel viele Abweichungen.
Bedenkenlos spricht man von Concertgesellschaft und Concert-
verein, von Tanz- und Musikgesellschaft nicht minder, als
von Tanz- und Musikverein. Allein auch hier gilt der Grund-
satz exceptio firmat regulam in der Modification aberratio
firmat regulam.
Die eben behandelten etymologischen Untersuchungen
dürften besser und richtiger als Thöls eben citirter Ausspruch
darthun, dass es sprachlich incorrect ist von Actien-
ges elise haften zu reden, dass als der einzig zutreffende
terminus technicus hierfür Act i en verein gelten muss.
Denn es ist dabei ein Rechtsinstitut in Frage, bei welchem
durch das in Actien aufgesammelte Capital eine Anzahl Per-
sonen zur Ausführung des Gegenstandes der Unternehmung
vereinigt werden. Das Wesen der Actie verleiht also einer
solchen Personenvereinigung den Stempel, es fällt der Ton
sonach auf die Art der Gapitalbeschaffung, auf die sachliche
Form der Personengemeinschaft.
Sprachlich unrichtig erscheint es ferner, von einer offe-
nen Handelsgesellschaft als einer Vereinigung von zwei
oder mehreren Personen zur Betreibung eines Handelsgewerbes
unter gemeinschaftlicher Firma ohne Beschränkung der Be-
teiligung der Interessenten auf Vermögenseinlagen (Art. 85
H. G. B.) zu reden. Vielmehr müsste es offener Handels-
yerein heißen.
Der Gesetzgeber dürfte diesen Sprachfehler wenigstens
instinetiv gefühlt haben; denn inconsequent genug spricht er
in Tit. II. Buch III. Art. 266fg. H.G.B, »von der Vereinigung
zu einzelnen Handelsgeschäften für gemeinschaftliche Rech-
nung«, welche der römische Jurist beiläufig bemerkt im Gegen-
satze zu societas mit dem Namen communio incidens belegt.
Hier wollte der Gesetzgeber doch deutlich das Persön-
liche solcher Gemeinschaften in den Vordergrund rücken,
deshalb braucht er eben das Wort Vereinigung.
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz.
407
Correct würde übrigens terminologisch dafür nicht das
zusammengesetzte Wort: Gel egenheitsgesellschaft ange-
wendet werden dürfen, wie dies von Seiten der Commen-
tatoren und von deren Jüngern geschieht, sondern im An-
schluss an die gesetzgeberische Diction hätte man etwa der
Wortzusammensetzung: gelegentliche Handelsvereini-
gung den Vorzug zu erteilen.
Weiter.
Jeder Jurist kennt den Rechtscharakter einer Gewerk-
schaft. Ist er sich aber auch bewusst, weshalb man die
modernen trades unions Gewerkvereiiie und nicht Gewerk-
schaften nennt? Auch hier dürfte die Etymologie die beste
Auskunft erteilen.
Nach Weigand bezeichnet das unverkürzte Wort das
Gewerke die Gesammtheit der einerlei Werkgeschäft Be-
treibenden , der Meister eines Gewerbes. Es entstand aus
mitteld. der gewerke = Handwerker, Zunftgenosse, Teilhaber
an einem Bergwerke.
Je nachdem aber Handwerker oder Teilhaber eines
Bergwerks in Frage, lautet die Pluralform von: »das
Gewerke« verschieden, nämlich die Gewerke für erstere,
die G e wer ken für letztere. Selbst der Volksmund folgt
dieser Sprachform. Man sagt : die Maurer-, Zimmer-, Tischler-
gewerke, wenn man von den Angehörigen der Zunft der
Maurer, Zimmerleute, Tischler redet, wogegen man die Eigen-
tümer einer Zeche, eines sog. Berggebäudes, mit dem Namen
die G e werk en z. B. des Berggebäudes Neue Fundgrube
belegt.
Das Suffix schaft in Gewerkschaft schließt sich
demnach an das persönliche Substantivum das Gewerke,
die Gewerken: Teilhaber an einem Bergwerk an, um die
Vereinigung solcher Miteigentümer eines Berggebäudes zu
kennzeichnen. Vollkommen richtig erscheint deshalb, wenn
der Rechtscharakter einer GeAverkschaft als Personi-
fication des Bergwerks, also als Subject gewerkschaft-
licher Rechte und Verpflichtungen bestimmt wird
1 v. d. Bercken in der Zeitschrift für Bergrecht Bd. I. S. 87 fg.
408
A. Klein,
Im Gegensatz hierzu hat man aus der Agglutination
Gewerkverein, also aus der Zusammensetzung des Begriffs-
wortes Verein mit dem sachlichen Substantivum Gewerk
als dem terminus technicus für die corporative Form von
Zunft-, Innungs-, Tätigkeitsgenossen, sprachlich nicht etwa
eine Personificirung der Maurer-, Zimmerleute-, Tischler- etc.
Zunft zu verstehen, sondern darunter eine Personengesammt-
heit zu begreifen, welche die Warnehmung der Arbeits-
interessen der betreffenden Zunftgefährten ins Auge fasst,
namentlich wegen Erlangung besserer Lohnbedingungen, wegen
sittlicher Hebung des Standes, wegen Unterstützung von dessen
Angehörigen in Fällen der Arbeitslosigkeit und Not.
Die Gewerkschaft, aber nicht der Gewerk verein ist
eine Gesellschaft von Erwerbsuchenden, welche den Bezug
sog. fructus industriales begehren. Sie darum jedoch Er-
werbsgesellscliaft zu nennen, wie dies fast allgemein ge-
schieht, darf als fehlerhaft gerügt werden. Der correcte
Sprachausdruck dafür wäre nur Er wer bs verein, wie aus
den vorgeführten Entwickelungen von selbst erhellt.
Es erübrigt nun noch die etymologische Begriffsfeststellung
des Wortes Genossenschaft und zwar im Unterschiede von
den Synonymen Gesellschaft und Verein.
Wortwurzel ist Nuz, germ, nut mit der Bedeutung »zum
Gebrauch sich etwas verschaffen«, etwas gébrauchen, ge-
nießen, den Nutzen wovon haben, lit. naudà »Nutzen, Ertrag«,
angels. Not: »Frucht« in den Zeitwortbildungen ahd. niuzan,
alts, niotan, nietan, niatan, holländ. gemetevi, angels, geniesenl.
Mit der Partikel Ge entstand das Substantivum ahd.
Ganos, holländ. Genieten, Genoot, angels. Geneat, Ganôs Ge-
nosse2. Es bezeichnet einen an irgend einem Fruchtbezuge
Teilnehmenden.
Allerdings bediente man sich des Wortes Genosse auch
für den, welcher dem anderen an Geburt und Stand gleich
1 Richthofen, Altfriesisches Wörterbuch S. 951.
Ziemann, Mittelhochdeutsches Wörterbuch S. 107.
Weigand a. a. O. S. 104.
2 Graff, Althochdeutscher Sprachschatz T.II. S. 118.
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 409
war, d. h. mit diesem gleicher Rechte sich erfreute, daher
»mín genos« im Sachsenspiegel I. 51. 4. 63. 50, 2. IL 72, 2. III.
29,1. 65, 2.
Im sächsischen Lehnrechte wird c. 80 § 2 vom
•»Genot ari me Jierscilde« gesprochen, um die verschiedenen
Gliederungen der durch Lehnverbindung erzeugten Stände-
verhältnisse zu charakterisiren: Heerschild des Königs und
Heerschild der Gemeinen. Das sind aber schon abgeleitete
Begriffe, bei welchen die Bedeutung des Wurzelwortes Nus,
nut höchstens reconstructiv, nicht intuitiv erkennbar.
Von diesem Wurzelworte direct ausgehend, steht fest,
dass in den frühesten und daher niedrigsten Culturstufen sich
dieses gemeinsame Genießen auf das Einsammeln, Gebrauchen,
Verzehren von Erzeugnissen des Waldes, Feldes, Meeres be-
schränkte.
Das geschah zu jenen Zeiten, in jenen »irdischen Para-
diesen, in welchen das Brot selbst nur als Frucht gepflückt«
ward (Byron).
Mit dem Fortschreiten der Cultur erstand und erstarkte
der Wunsch und das Streben nach Gewinnung künstlicher
Genussmittel.
Dem Begehren nach fructus naturales schloss sich das
Verlangen nach Bezug sog. fructus civiles resp. industriales an.
In dem Maaße als das Zeitalter individueller Occu-
pation der zur Fristung gewöhnlicher Lebensbedürfnisse
erforderlichen Naturproducte hinter die Perioden vorgesell-
schaftlicher Ausbeute von Erzeugnissen des Handels, des
Gewerbefleißes, der Großindustrie zurücktrat, in dem Maaße
als die einerseits enger gezogenen, andererseits weiter ge-
spannten Maschen der Verkehrsnetze im Einzelvolke, wie im
internationalen Völkerleben an die Tätigkeit der Einzelperson
nicht minder, als an corporative Verbindungen von Erwerbs-
oder Berufsclassen höhere Anforderungen stellten, in dem-
selben Verhältnisse dehnte sich der Sprachbegriff der Acker-,
Jagd-, Fischer-, Schiffgenossen als gemeinschaftlicher Nutz-
nießer des Bodens, Waldes, Flusses oder Meeres zur Bezeich-
nung einer Verbindung von Personen aus, deren Ziel auf
410
A. Klein,
Erringung und ratirliche Verteilung oder Verwertung der
durch gemeinsames Bemühen zu ziehenden Vorteile sich
richtet.
Kurz, mit zwingender Notwendigkeit trat die Tatsache
corporativ formirter Interessenten auf und mit dieser
Tatsache das Wort Genossenschaft als Genitivzusammen-
setzung von Genossenschaft mhd. die genôzschaft, ahd. die
ha-, hi-, ga-, ginôsscaf, ha-, hinôzscaf, ginosscapht, gnôscaft,
neu niederld. das genootschap.
Und deutlicher noch als in Gesellschaft spricht sich in
Genossenschaft der bereits erörterte Inhalt des Suffixes
schaft in seiner Zusammensetzung mit dem Pluralgenitiv
»Genossen« aus.
Beiden Worten gemeinsam ist der Begriff der Ver-
bindung oder Vereinigung einer Anzahl von Personen zur
Erreichung eines Zwecks. Dessen Richtung erscheint aber
eine verschiedene je nach dem Wurzelwort sal oder nut.
Gesellschaft wird stets auf der Grundlage des An-
einandergliederns, des Confinirens einer Anzahl Personen
in dem seinem Umfange nach begrenzten Piahmen eines
Personenverbandes behufs Erreichung des vorgesehenen Zwecks
entstehen und bei Lösung eines dieser Glieder aus der ge-
schlossenen Personenkette mindestens in Bezug auf den Aus-
scheidenden — Art. 127 H.G.B. — ihr Ende finden.
Treffend bemerkt Gerber a. a. O. S. 530 § 195 m 51, dass
»der Einigungsgrund immer das individuelle persön-
liche Interesse der Beteiligten ist«, dass ein Hauptmerkmal
der Gesellschaft in der »Festhaltung der individuellen
Geltung der Mitglieder in der vertragsmäßigen Einigung«
besteht.
Hier liegt schon eine Combinirung der Individualbetei-
ligung mit dem Zwecke der Corporation dergestalt vor, dass
letzterer in dem Vordergrunde steht; dass die für ihn ge-
schaffene Personenvereinigung jedoch keine Geschlossenheit
erfordert, sondern eine in stetem Fluss befindliche sein darf;
1 v. Gerber, Deutsches Privatr. 14. Aufl. S. 530 § 195 Nt. 5.
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 4H
dass mithin die Genossenschaft als solche so lange existirt,
als sie das Substrat ihrer Gründung, ihren Zweck und ihre
Vermögensbasis, nicht verloren hat.
Aus dem Wurzelworte nut lässt sich also schließen,
dass das in Aussicht genommene Nutzungsrecht des Mitbezugs
an den durch die Tätigkeit der Genossen zu erzielenden
Vorteilen deren Vereinigungspunkt, Anlass und Inhalt des
Genossenverbandes darbietet.
Dass im Gegenüber zu den Wortbegriffen Gesellschaft
und Genossenschaft das Wort Verein bloß generell auf dessen
Entstehungsursache hinweist, nämlich auf die Willens-
übereinstimmung einer Anzahl Personen hinsichtlich der
Bildung eines Bundes, ist oben bereits dargethan.
Von selbst ergibt sich aus alledem die sprachliche
Grundbedeutung und Gruppirung dieser drei Wortbegriffe
dahin, dass unter Verein überhaupt jede Personenverbindung,
unter Gesellschaft eine in ihrer Mitgliederzahl abgeschlossene,
unter Genossenschaft die speciell auf Nutzungen abzielende
zu verstehen ist. Daraus erhebt sich die unabweisbare For-
derung, jedes dieser Begriffsworte in Zusammensetzungen
scharf voneinander zu trennen.
Das deutsche Genossenschaftsgesetz verstößt gegen
vorstehend angedeutete Sprachregeln schon in seiner Ueber-
schrift, indem es von Erwerbs- und Wirtschaftsgenossen-
schaften spricht, während man correct nur Erwerbs- und
Wirtschaftsvereine sagen darf.
Geradezu eigentümlich wirkt auf das instinctive Sprach-
gefühl die Vergleichung dieser Ueberschrift mit dem § 1
dieses Gesetzes.
Darnach räumt man »Gesellschaften von nicht geschlos-
sener Mitgliederzahl« zur Förderung des Credits, Erwerbes
oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittelst gemeinschaft-
lichen Geschäftsbetriebes die gesetzlich vorgesehenen Rechte
einer eingetragenen Genossenschaft ein und bunt durch-
einander exemplificirt man dabei auf Vorschuss-, Credit-,
Rohstoff-, Magazin-, Konsumvereine und Productiv-
genossenschaften!
412
A. Klein,
Weshalb nicht Productivvereine, wie allein sprachlich
richtig ?
Jeder Verein überkommt ja die durch das Gesetz gewähr-
leisteten Rechte und Verbindlichkeiten, die Kriterien des
Rechtscharakters der Genossenschaft, sobald er sich unter
das Genossenschaftsgesetz stellt und die Bezeichnung »ein-
getragene Genossenschaft« in seine Firma aufnimmt
(§ 2 1. c.).
Warum nicht überhaupt hier statt »Gesellschaften«
vielmehr »Vereine« von nicht geschlossener Mitgliederzahl,
da erstere ihrer Etymologie nach im Gegensatz zu letzteren
die ursprünglich sogar auf einen Raum beschränkte Ge-
schlossenheit einer Personenverbindung charakterisiren und
in einem in stetem Flusse befindlichen Wechsel ihrer Mit-
glieder eben keines ihrer Lebenselemente finden sollen?
Würde man in allen den Fällen, in welchen die römische
Societät durch die Zulässigkeit des Ausscheidens und des
Eintritts von Socien ohne Auflösung des ganzen Geschäfts
modificirt ist, an Stelle der Wortübersetzung: Gesellschaft
den Wortbegriff »Verein« in der Rechts- und Gesetzessprache
wählen, so würde man mit weniger Mühe, aber mit mehr
Behagen und Sicherheit die römisch-rechtliche von der deutsch-
rechtlichen Societät terminologisch und inhaltlich in Theorie
und Praxis zu unterscheiden wissen.
Dann wären wohl die Gontroversen vermieden geblieben,
welche noch heute besonders hinsichtlich des Rechtscharakters
der einzelnen Personen- und Capitalassociationen unliebsam
genug sich geltend machen und gerade die Rechtsprechung
einer einheitlichen Gestaltung berauben. —
Ueber den Wert etymologischer Nutzanwendungen seitens
der Juristen sind übrigens die größten Autoritäten und neue-
sten Gesetzgebungen längst einig1.
1 Leist, Zur Geschichte der römischen Societas.
Salkowski, quaestiones de iure societatispraecipue publicanorum.
1. 63 § 10. D. pro socio XVII. 2.
Le may er in der allgemeinen österreichischen Gerichtszeitung 1869
Nr. 32 fg.
Ueber Bedeutung der Etymologie für die Jurisprudenz. 413
Behandelt man, wie Ih e ring den Rechtsorganismus von
der anatomischen, psychologischen und physiologischen Seite
— ähnlich wie Schaffte mit den Erscheinungen der tierischen
Socialwelt sich beschäftigt und z. B. die Ehe, Mutter- und
Vaterfamilie als »halb physiologische Fortpflanzungsgemein-
schaft« bezeichnet — so darf man sicher, ohne den Vorwurf
irrlichterirender Gedanken- oder Phantasiegebilde sich zuzu-
ziehen, auch die Benennungen der einzelnen Rechtsinstitute,
Rechtssätze, kurz die Juristensprache auf ihre philologische
Richtigkeit oder Fehlerhaftigkeit an der Hand des von an-
erkannten Etymologen gesammelten und gesichteten Materials
untersuchen, beurteilen und zur Richtigstellung nicht weniger,
als zur correcten Fortbildung wenigstens andeutend empfehlen.
Dies der Sinn und Zweck vorstehender Ausführungen
nach dem Ausspruche Grimms (Ueber den Ursprung der
Sprache, S. 3):
»Denn das ist eben wahres Zeichen der Wissenschaft,
dass sie ihr Netz auswerfe nach allseitigen Ergebnissen und
jede warnehmbare Einheit der Dinge hasche, hinstelle und
der zähesten Prüfung unterwerfe, gleichviel was zuletzt daraus
hervorgehe.--«
Pf a ff und Hofmann, Com. z. öster, allg. bürg. Ges.-Buch Bd. I. .
Abt. 1. S. 166 fg. (§6 d. b. G.B.).
Bürg. Ges. B. für das Königreich Sachsen, §22.
Windscheid, Lehrb. des Pandektenrechts 5. Aufl., Bd. I S. 55.
§ 21, Anm. 2.
Ihering, Geist d. röm. Rechts, Bd. I S.89fg.
414
Franz Misteli,
Beurteilungen.
Uralaltaische Völker und Sprachen von Dr. Heinrich
Winkler. Berlin, Ferdinand Dümmler, 1884. 480 S.
Inhalt: Ueber den indogerm. und uralalt. Dativ.
Ein merkwürdiges Buch! was erstaunliche Fülle des
Stoffes und was Formlosigkeit anlangt; den Zusammenhang
heben oft Ergänzungen, Berichtigungen, Nachträge auf;
häufige Verweisungen auf Ausführungen, die der Verfasser
»an anderem Orte« geben oder nur »vielleicht« geben wird,
erzeugen im Leser eine gewisse Unruhe; seitenlange gehalt-
reiche Anmerkungen erscheinen an mehr oder weniger zu-
fälliger Stelle und machen beim Mangel eines genauen Re-
gisters mühsames Nachschlagen notwendig u. dergl. Zu
diesen Nachteilen trug einiges das verdankenswerte Bestreben
des Verfassers bei, die zum Teil recht entlegene Litteratur,
selbst was noch während des Druckes erschien, möglichst
vollständig zu verwerten. Der Reichtum an Stoff und an
Gedanken überwiegt aber diese Mängel bei weitem und be-
lohnt genugsam die Anstrengung des ausdauernden Lesers;
das Buch verdient die ernstliche Würdigung der Sprach-
forscher. Von den drei Teilen, in die es zerfällt, vermögen
die beiden ersteren auch ein weiteres Publicum zu fesseln:
S. 1—-53 handeln über die uralaltaischen Völker vom anthro-
pologischen Standpunkte, S. 54—171 über die uralaltaischen
Sprachen, wozu der Verfasser auch das Japanesische zählt,
und die anderen morphologisch oder psychologisch ähnlichen
Sprachen; selbst das Chinesische schließt er unter den
letzteren nicht aus, sieh besonders S. 446 flg. Anm. Gerade
dieser Abschnitt enthält in knappster Form die interessantesten
Erörterungen, um nur einiges zu nennen: über die Erforder-
nisse sprachlicher Verwantschaft S. 147 Anm., die Bedeutung
von Ti m n t als flexivischer Elemente S. 86 flg., die Not-
Beurteilungen.
415
wendigkeit, möglichst scharf die Sprachtypen zu sondern
S. 132, 168 Anm., die gemeinsamen Merkmale asiatischer
Sprachen S. 148, die Charakteristik amerikanischer Sprachen
S. 163—166, die Unterschiede von Baskisch und Hamitisch
S. 149 — 155, die allgemeinen Merkmale uralaltaischer
Sprachen S. 92 flg. u. s. w. Wie kann man da recensiren,
ohne selbst ein Buch zu schreiben? Ich beschränke mich
daher auf den Hauptteil des Buches, S. 171—480, und ver-
mag auch diesen nur zum kleinsten Teil, was das Magyarische
und Finnische betrifft, zu besprechen. — Nach einem all-
gemeineren Abschnitte »indogermanische und uralaltaische
Casus« S. 171—184 und einem specielleren über den Dativ in
den beiden Sprachfamilien S. 184—207, woran sich S. 207
bis 210 ein kürzerer über »Possessiv und Genetiv« schließt,
behandelt der Verfasser der Reihe nach von S. 210—369 die
Glieder der finnischen (nach dem Sprachgebrauche des Ver-
fassers = ugrischen1) Abteilung, besonders ausführlich
S. 307—337 das Magyarische, dann nach einem zusammen-
fassenden Rückblick S. 369—373 wieder der Reihe nach die
samojedischen, die türkischen Sprachen S. 373—420, das
Mongolische, Tungusische und Mandschu S. 421—442, endlich
das vom Verfasser zum uralaltaischen Typus bezogene
Japanesische auf fast vierzig Seiten — um zu beweisen,
dass der uralaltaische Dativ mit dem indogermanischen
Dativ nichts zu schaffen habe, dagegen so ziemlich mit
dem indogermanischen Locativ sich decke, wie ihn M. Holz-
man in dieser Zeitschrift X S. 191 bestimmte, dass er
»ursprünglich immer ohne jegliche Beziehung auf Ruhe
und Bewegung, auf Wo und Wohin die Berührung
bezeichnete, diese mochte als von vornherein vorhanden
oder als durch eine Tätigkeit herbeigeführt werden«, oder
wie ihn, der Meinung Holzmans beipflichtend, nur mit ein-
facherem Ausdrucke, Delbrück fasst, dass er »nicht bloß
den Punkt, wo sich etwas befindet, sondern auch den Punkt,
1 Unter Ugriscli begreift der Verfasser nur Ostjakisch und Vo-
gatiseli.
416
Franz Misteli,
wo etwas eintrifft«, bezeichnete (die Grundlagen der griech.
Syntax S. 55). »Wenn man im Sanskrit sagt: rathe tisthati
»er steht auf dem Wagen« und dann von den Açvinen:
ruhatam rathe »steigt auf den Wagen«, so ist der Loc. rathe
beide male derselbe, und es ist nur Sache unserer Auf-
fassung, wenn wir aus den Verben der Bewegung einen
Teil der Bewegung auch auf den Loc. übertragen.« Diese
Worte Delbrücks stimmen inhaltlich mit denen des Ver-
fassers überein, dass beim uralaltaischen Dative, der sich
meist in der Form eines Allativs darstellt, die Idee der
Richtung nicht im Suffix liege, da dasselbe, sogar verstärkt,
auch der Ruhe diene, sondern lediglich der Ort bezeichnet
werde, und das Verbum die Richtung hinzufüge (S. 196).
Nach dem Verfasser bildet der uralalt. Dativ »den schärfsten«
(S. 181) ja »fast diametralen Gegensatz« (S. 189) zum gleichen
Casus des Indogermanischen, weil in diesem die »örtliche
Bedeutung fast ganz zurücktritt, im Uralalt. dagegen in der
Mehrzahl der Sprachen die der Beteiligung oder Zweck-
bewegung, so dass z. B. die reiche Wirkungssphäre des
indogerm. vorwiegend dativischen Infinitivs fast ganz fehlt.«
Umgekehrt hatte ich Bd. X S. 173 flg. dieser Zeitschrift, um
für die Abschwächung des Wohin zum Wofür und Wem
eine Parallele zu gewinnen, mich auf den Dativ des Ma-
gyarischen berufen, der diese Gebrauchsweisen nebeneinander
zeigt, und mich dabei der Ansicht der meisten, namentlich
auch magyarischen, Sprachforscher angeschlossen, dass der
Begriff der Richtung ihm zu Grunde liege; noch in der
3. Auflage seiner Grammatik1 (1883) leitet Simonyi S. 150 ob.
1 Der Titel lautet: magyar nyelv-tan fölsöbb osztályoknak (Un-
garische Sprachlehre für obere Klassen), in der 2. Auflage noch mit
dem Zusätze: és magán-használatra (und zum Selbstunterrichte). Hängt
mit dieser Titeländerung die Kürzung um ungefähr 30 Seiten zusammen?
Gerade die §§445—451, welche den Gebrauch der Ausdrücke für »innen,
außen, oben, unten« u. s. w. durch eine lehrreiche Beispielsammlung
veranschaulichten, die ich auch für diese Besprechung benutzt, schmolzen
in der 3. Auflage auf einige Zeilen herunter, die geringe Belehrung
gewähren. Ich hoffe, Prof. Simonyi habe den ungarischen Schulen
einen besseren Dienst erwiesen, als den Sprachforschern, die sein
Beurteilungen.
417
den objectiven vom örtlichen Gebrauche ab und interpretirt
Jcönyvet hoztak bátyámnah »(ein) Buch brachten sie meinem
Bruder« mit bátyámhoz hoztak Jcönyvet. An dieser An-
schauung halte ich auch dem bedeutenden Buche Winklers
gegenüber fest, obwohl meine sprachlichen Kenntnisse mich
allerdings nur befähigen, ihm auf das magyarische und
finnische Gebiet zu folgen; doch dürfte das hier gewonnene
Resultat auch für die anderen, wenigstens ugrischen, Sprachen
Geltung haben; zudem liegen bei vielen dieser Sprachen die
Verhältnisse nicht so deutlich vor, um einen Entscheid nach
dieser oder jener Seite zu gewähren — man vergleiche z. B.
beim Verfasser S. 291—307 den Abschnitt über das Ost-
jakische, der nichts weniger als ein einheitliches Bild des
Sprachgebrauches bietet.
Was zunächst den indogerm. Dativ angeht, so hat
man sich über dessen Grundbedeutung, ob Beteiligung, ob
Richtung, noch nicht einigen können, also auch nicht, ob
er zu den sogen, grammatischen oder räumlichen Casus ge-
höre. Obwohl die größere Zahl deutscher Gelehrten, z. B.
Gädicke »der Accusativ im1 Veda« (1880) S. 133—143, auch
Winkler S. 99, 185 und sonst der vorliegenden Schrift, von
Delbrück »die Gründl, der gr. Synt.« S. 53 und von Hübsch-
mann »zur Gasuslehre« abgesehen, der ersteren Meinung sich
zuneigt, so darf man die Frage doch nicht als erledigt be-
trachten, um den idealen Dativ der Indogermanen dem
sinnlichen Dativ-Ablativ des Ugrischen entgegenstellen zu
können. Gesteht doch auch unser Verfasser, dass im Ma-
gyarischen der Leichenrede (halotti beszéd, sermo super se-
pulchrum, XII. Jahrh.) schon »ein verhältnismäßig entwickelter
Dativ des Interesses« warzunehmen sei (S. 321), und wie
Lehrbuch zu Rate ziehen. — Auch in der kleinen Sprachlehre (kis
nyelv-tan, 4. Auflage 1882) führt er § 299 das Dativobject auf das
Wohin zurück und fasst nek (nah) mit hoz (hez) synonym. — Diese
trefflichen Lehrbücher werde ich im Verlaufe mit Sim. und Sim. kl.
bezeichnen.
1 Der Verfasser citirt S. 175, 186 und 187 Anm. unrichtig: »der
Accusativ im A ve sta«.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 4. 27
418
Franz Misteli,
sehr die Dative des Livischen und Lappischen »trotz der im
Grunde verschiedenen Auffassung an den indogermanischen
speciell germanischen Dativ erinnern« S. 262. Andererseits
kommen vereinzelte Dative der Richtung schon im alt-
indischen Epos vor; die Beispiele der späteren Litteratur wie
S. 115, 20 aus Böhtlingks Sanskrit-Ghrestomatie (1877):
mantriputras trjahe gate | padmavatjai punas tasjäi vrddhan
täm pragighäja sali1 »der Ministersohn schickte nach drei
Tagen wieder die Alte zur Padmavati« können den Begriff
der Richtung nicht als ursprünglich bezeugen; denn dass
schließlich das Wem und Wofür sich zu Wohin vergröbern
könne, muss man ja zugeben, vergi, frzsch. pour. Nun hatte
sich schon Bd. X S. 171 dieser Ztschr. aus beiläufig 2000
çloka's des Ramajana ein Dativ der Richtung gefunden; ich
mache hier noch eine Probe mit 1000 çloka's des IX. oder
çalja-Parvan des Mahabharata, weil eine Vermehrung des
bisherigen von Gädicke S. 141 zusammengestellten Materials
immerhin wünschenswert scheint; auf die persönlichen Dative
bei Jcsip »werfen« den Speer nach . . . 508, 734, 736, 904
lege ich natürlich kein Gewicht (sieh Gädicke S. 137);
Zweifel gestatten schon die Ausdrücke: in den Tod (dem
Tode?) senden: 417 çarâiK sampresajamàsuìi paralokdj a
»mit Pfeilen sandten in die andere Welt« im Wechsel mit
presajejur jamaksajam (419), 473 und 777 presajämäsa
mrtjave »sandte in den Tod«; räumlich scheinen mir 103 so
'ham vanan gamisjämi nirhandhur gnätisanksaje | na hi me
>njad Ijhavec chrejo vana ja gamanäd rte »ich da will in
den Wald gehen, ohne Verwante, beim Untergange der
Familie; denn es gibt doch nichts Besseres für mich, als
nach dem Walde zu gehen« und 445 tän nadïm pitrlokaja2
1 Hier wenigstens trifft nicht zu, was Gädicke S. 142 diesen Da-
tiven des klassischen Sanskrit zuschreibt: »die durch den Dativ ge-
gebene Oertlichkeit soll als dauernder Aufenthaltsort dienen«,
was allerdings für die meisten Fälle gilt.
2 Yergl. çl. 441 : sangagne ranabhümäu tu paralolcavahä nadï |
çonitodâ rathävartä dhvagavrlcsästhigarTcarä u. s. w. »es bildete sich
jedoch auf dem Kampfplatz ein in die andere Welt führender (fließender)
Beurteilungen.
419
vahantïm atibhäiraväm | terur vähananäubhis te çûraJi pari-
ghábohavah »über diesen gar furchtbaren, zur Väterwelt
fließenden Strom setzten, mit Gespannen als Schiffen, die
keulenarmigen Helden«.
Der Dativ beim Passiv an Stelle des activen Subjects
z. B. deväli sfavante (= stüjante) manusäja »der Mensch
preist die Götter« (Gäd. S. 134) macht gleiche Schwierig-
keiten, man mag wohin, wozu, wofür zu Grunde legen.
Das wichtigste ist wohl, dass der Dativ sich mit keinen Prä-
positionen verbindet und darin dem rein grammatischen
Genetiv gleichkommt; denn wenn im klassischen Sanskrit
auf upari gewöhnlich, dann auch auf aähas ati antar puras
der Genetiv folgt, so erkannte man darin eine Nachahmung
der substantivischen Präpositionen wie agre madhje hrte u. a.
Wir dürfen uns um so mehr wundern, als einige Präpo-
sitionen wie ä anu abili prati ved. achä oft genug Richtung,
Neigung bezeichnen, für die der Dativ bestimmt schien, und
daher zur Verdeutlichung ihm ebenso hätten zur Seite treten
können, wie neben andere Casus. Das wäre wohl auch
geschehen — z. B. in den Sätzen achä sumnäja vavrtïja devan
»her zum Wohle möchte ich mir die Götter wenden«, ä
däguse suvati bhüri vämam »dem Verehrer sendet er viel
Gutes« — wenn nicht der Accusativ als allgemeiner Er-
gänzungscasus gleichfalls für Bezeichnung von Ziel und
Richtung verwendet worden und, eben seiner Allgemeinheit
wegen, des Zusatzes von Präpositionen am bedürftigsten ge-
wesen wäre; das Richtungsadverb mit Accusativ unterschied
sich so wenig von der Verbindung mit dem Dative, dass letztere
in Wegfall kam. Dadurch wurde seine räumliche Verwendung
seltener und der Begriff der Beteiligung überwog, weil für
das Wohin ja noch immer der Locativ übrig blieb. So
denkt's sich wohl auch der Verfasser, wenn ich S. 187 flg.
recht verstehe; aber dann hatte er eben nicht nötig, dem
indogermanischen Dativ jede räumliche Grundlage zu ent-
Strom, dessen Wasser aus Blut, Strudel aus Wagenrädern, Geröll aus
Fahnenstangen und Knochen u. s. w. bestand«. In diesem Zusammen-
hange kann pitrlokäja nur als Ziel und Richtung verstanden werden.
27*
420
Franz Misteli,
ziehen und ihn als ätherisches Wesen dem rohen Dativ des
Uralaltaischen entgegenzustellen. Aehnlich wie beim Dativ
griff auf griechischem Boden der Accusativ bei Präpositionen
in das Gebiet des Locativs über, wenn es sich um das
Wohin handelte, bis er ihn fast ausschließlich auf die Be-
stimmung des Wo zurückgedrängt hatte; ich will nicht
wiederholen, was Holzman Bd. X 205—218 dieser Ztschr.
scharfsinnig und überzeugend auseinandersetzt. Auch sonst
versperrt der Accusativ dem Dativ den Platz: vac »reden«
nimmt häufiger den Accusativ der Person als den Dativ zu
sich, was sich wohl mit engl, he told me und he said to
me vergleichen lässt; pass. I am told — ukto '■smi. Aber
nun gerade dieses toi Wie kommt es doch, wenn der indo-
germanische Dativ rein grammatischer Natur ist, dass die
neueren indogermanischen Völker, um ihn neu zu bilden,
Richtungswörtchen : engl, to, deutsch zu, lat. ad, griech. sig,
verwenden? Man beruft sich sonst gerade auf neuere Sprach-
vorgänge, um die der Vorzeit zu verstehen. Im Griechischen
wenigstens begriffe man den Mischmasch von Dativ und
Locativ eher, wenn z. B. iïeoïdi ôs dvsdxov, das im
Locativ iïsoïai, den Nachfolger eines alten Dativ enthält,
bedeutete: zu den Göttern hin; dann brauchte der Locativ
nur das Moment der Berührung aufzugeben, um mit dem
Dative der Richtung und Neigung zusammenzufließen, und
der letztere den Zielpunkt nur nicht auszuschließen, um
locativisch zu werden. Der reine Wofür-Dativ und der Wo-
und Wohin-Locativ liegen zu weit auseinander, um sich zu
vermischen. Ich bin natürlich nicht blind gegen die geistigere
Natur des entwickelten indogermanischen Dativs, die be-
sonders im sogen, ethischen Dativ zu Tage tritt, der meines
Wissens auf ugrischem Gebiete nicht vorkommt; nur den
Ausgangspunkt, zu dem der Sprachsinn der neueren Völker
zurückkehrte, wollte ich nicht zu fern von dem des ural-
altaischen Dativs suchen, der seinem Ursprünge überhaupt
näher blieb. So muss man sich denn über späteres ge-
legentliches Zusammentreffen nicht wundern: die im späteren
Sanskrit geltenden Ersatzmittel des Dativs: agre eig. »an der
Beurteilungen.
421
Spitze« und puras1 (= nàgoç) »vor« stimmen zum magy.
elött »vor«, dem man so oft begegnet, dass zwei Beispiele
genügen: kulönösnek látssék elött ök az ilyen parancs »son-
derbar schien ihnen ein solcher Befehl«, a mi elötte szokat-
lannak tetssik vaia »was ihm ungewöhnlich vorkam«.
Sträubte ich mich seither, den indogermanischen Sprach-
sinn zu ideal aufzufassen, so denke ich hinwieder vom ur-
alaltaischen nicht so gering, dass ich mit dem Verfasser
S. 182 ob. ausrufen möchte: »Wir mögen nehmen, was wir
wollen, überall stoßen wir bei aller formellen, oft be-
deutenden Verschiedenheit auf rein sinnliche, in das Wesen
nicht dringende, nicht abstrahirende, im wesentlichen
gleichartige Auffassung gegenüber den vorwiegend abstract
operirenden indogermanischen Sprachen.« Ich denke bei-
spielsweise an den Partitiv- oder Infmitivcasus des Finnischen
— einen leuchtenden Beleg von Abstractionskraft, der freilich
dem Verfasser S. 174 in keiner Weise einleuchtet. Seine
Endung ta tä, deren t nach kurzem Vocale meist fällt, ist
schon längst mit ta tä des Ablativs auf Ita Itä und des
Elativs auf sta stä identificirt und als Bestimmung des Woher
aufgefasst worden; in der Tat erscheint ta tä für sich im
Elativ Sing, sitä (z. B. sitä ilosta aus dieser Freude), der
sich vom zugehörigen pluralen Partitiv nitä (z. B. alkoi nitä
näitä hästella (er) begann dies und das (zu) schwatzen) gar
nicht, und vom Partitiv Sing, sitä (z. B. puhua sitä tätä dies
und das schwatzen) unwesentlich unterscheidet. Auch mehrere
adverbiale Partitive wie koto(t)a »von Hause«, kauka(t)a
»von weitem«, taka(t)a »von hinten« u. s. w. bewahren die
1 Weil ich diesen Gebrauch nicht verzeichnet finde, so berufe ich
mich auf folgende Stellen des Dramas Ratnävall, in Böhtlingks Chrestom.
(1877): S. 302, 27 lcäminjä jad abhihitam puraH sakhïnâm »was die
Verliebte den Freundinnen antwortete«, S. 309, 8 gai ¡cassavi pur ado
paäsemi (Prakrit — jadi Jcasjäpi pur fat) añ prakâçajâmi) »wenn ich
(es) irgend jemandem offenbare«; halb präpositional S. 292, 14 parän
kotim adhir oliati pramodaH pur ah pauränäm »den Gipfelpunkt erreicht
die Freude bei den Bürgern«; und mehr als halb S. 291, 24 puraH
pauränäm uccarati carcarîdfivanifi »bei den Bürgern erschallt die
Tschartschari-Melodie«.
422
Franz Misteli,
Grundbedeutung, welche übrigens auch einige Gebrauchs-
weisen des gewöhnlichen Partitiv einzig erklärt. Näheres
sehe man bei Jahnsson S. 29 Anm. 2 und bei Donner S. 69
und 941 nach. Sein gewöhnlicher Gebrauch aber ähnelt
völlig dem »Teilungsartikel« des Französischen ; er bezeichnet
das unbestimmte oder partielle Subject und Object und alles,
wofür der partitive und quantitative Genetiv bestimmt ist,
und wir haben ein Recht zu vermuten, so wenig der Fran-
zose bei seinem du delà des an »von—herab« denkt, so wenig
der Finne an »von—her«. Man vergleiche: donnez-moi du
pain — antakatte minulle leipä(t)ä, des soldats sont venus =
sotamiehi(t)ä on tullut. Bei Verben der Bewegung wird ge-
rade das Ziel durch den Partitiv ausgedrückt : lähden asioita-ni
ich gehe meinen (-ni) Sachen nach, ~kaukaisi(t)a maita kulkë
nach fernen Ländern geht er, mene matka(t)a-si geh deines
Weges, läksi lüta(t)a er ging nach Besen u. s. w. — In
beiden Sprachgruppen gibt es einen Casus, der nur negativ
sich bestimmen lässt, d. h. der jeden Dienst versieht, welchen
nicht irgend ein anderer Casus verrichtet: im Indoger-
manischen den Accusativ (Verf. S. 173, Gädicke S. 25), im
Uralaltaischen die Grundform oder den sogen. Nominativ;
dort wird, vom Neutrum abgesehen, der Subjectsbegriff aus-
geschieden, hier umgekehrt der Objectsbegriff, dieses einer
verstandesmäßigen Anlage ebenso entsprechend, als jenes
einer künstlerisch phantasievollen. Unter gewissen Umständen
verwenden aber selbst Finnisch und Magyarisch, wenn nur
die Deutlichkeit nicht leidet, auch für das Object die Grund-
form. Der Unterschied ist handgreiflich: der uralaltaische
Accusativ verdeutlicht und beschränkt, der indogermanische
verknüpft ganz allgemein (Verf. S. 174). Dennoch darf man
1 Finska sprâkets satslära, för läroverkens behof utarbetad af
A. W. Jahnsson, Helsingfors 1871, VIII. 172. Diese sorgfältige Dar-
stellung der finnischen Syntax, die im Verlaufe noch oft benutzt
werden wird, bezeichne ich mit: Jahns. — Donner: Die gegenseitige
Verwantschaft der finnisch-ugrischen Sprachen, Abdruck aus den Acta
soc. scient, fennicae torn. XI, Helsingfors 1879, S. 158, Quart; höchst
wertvolle vergleichende Grammatik der Laute und Formen.
Beurteilungen.
423
den ersteren nicht mit Winkler »rein sinnlieh« schelten, der
ein Verb mit »einem einzelnen individuell zu fassenden Object«
verbinde und »meist nur dem einfachen Objectverhältnisse
diene« (S. 175). Als gründlicher Kenner des Magyarischen
hätte er nicht vergessen sollen, dass diese Sprache selbst
bei Intransitiven wie ottani »stehen«, ülni »sitzen« einen
Accusativ gestattet: losszút dilani (Rache stehen =) sich
rächen, utjdt dilani valakinek »einem seinen (-jdt) Weg ver-
treten«, ünnepet ülni »ein Fest feiern (= sitzen)«, tanácsot
ülni »Rat halten« u. dergl. Das zeigt schon eine freiere
Weise, die in Redensarten wie eleget (sokat, egy keveset)
aludni (pihenni) »genug (lange, ein bischen) schlafen (ruhen)«
bereits adverbial schillert und zu eigentlichen Accusativ-
adverbien führt, wie egy részt »zum Teil, einesteils, szemld-
tomdst »äugen (ssem)- scheinlich«, oldalvdst »seitwärts«u. s.w.
Ebenso findet sich der Accusativ des inneren Objectes (ein
Leben leben) nicht nur im Magyarischen und Finnischen,
sondern selbst im Jakutischen (§ 541 von Böhtlingks Gramm.)
der mir alles andere als »rein sinnliche, nur concret den
einzelnen Fall ins Auge fassende Auffassung« zu verraten
scheint. — Dass der finnische Genitiv auf -n ein Adessiv
ist, wie Winkler S. 207 flg. auseinandersetzt, halte ich für
sehr richtig; so erklärt sich am besten der dativische Ge-
brauch: miehen oli Jcorvat nïn aroiksi käynyt että . . . »am
(= dem) Manne waren die Ohren so empfindlich geworden,
dass . . .« und miehen korvat oli .. . »am Manne die (= des
Mannes) Ohren waren . . .«, minun on nälkä eig. »bei mir
ist Durst«, tekê minun hyvä »es tut (an) mir wohl«, isä antoi
lapsen süta »der Vater gab dem Kinde einen Kuss« (eig.
osculum) u. s. w. (Jahns. § 29 mit Anm. 2), der in der älteren
Sprache weiter gereicht zu haben scheint (Donner S. 65);
so ferner das lautliche Zusammenfallen mit dem Instructiv
— z. B. Kalew. II 1/2 nousi sltä Väinämöinen jalan kaliden
kankahalle »(es) stieg darauf W. mit beiden (kahte-) Füßen
(jalka-) an (-lie) den Strand« könnte jalan kahden formell
auch Genetiv sein —, weil eben beide identisch sind und
im Adessiv sich vereinen, der gerade in echt finnischer
424
Franz Misteli,
Weise auch Mittel und Werkzeug bezeichnet; so endlich das
lautliche Zusammenfallen der magyarischen Spuren eines
w-Genetivs (Sim.1 § 141. 147. 381. 506) mit den Formen des
Ortscasus (Superessiv) für »an, auf«, z. B. im alten erön
erövel »mit aller Kraft«, eig. mit der Kraft der Kraft (erö).
Um die Kette noch fester zu schließen, berühren sich dieser
magyarische Ortscasus und jener finnische Instructiv in ad-
verbialer Verwendung: durvân »roh«, szépen »schön«, paljon
»viel«, Jiyvin (Plur.) »gut«. So ist die Grundlage des finnischen
Genetivs als Adessiv bloßgelegt, der demnach auch in Redens-
arten wie kylän vireä kodin laiska »im Dorfe fleißig (auf
Besuch), zu Hause träg (bei der Arbeit)» (Jahns. S. 38 Anm. 6)
anerkannt werden muss. Trotzdem erhebt sich der Finne
hoch über diese sinnliche Grundlage in den Verbindungen
Heisingin kaupunki »die Stadt Helsingfors«, Elben virta »der
Fluss Elbe«, ystävän nimi »der Name: Freund« u. dergl.,
die man doch nicht auf »an H. die Stadt, an der E. der
Fluss, am Freund der Name« wird zurückführen wollen,
sowenig als frzsch.: la ville de Paris auf die Grundbedeutung
des lat. de. Dsutlich liegt der Fortschritt vor in Sätzen wie:
isä toi omenoita lasten syödä (resp. syötäväksi) »der Vater
brachte (toi von tuoda) den Kindern Aepfel (omena) zu
essen«, und dies bedeutet ursprünglich wohl auch der finnische
Satz; nach heutigem Sprachgefühle aber wird lasten, dieser
Genet.-Dat.-Adessiv-Plur. von lapse-, viel mehr als Subject
von syödä »essen«, denn als Object von toi »brachte« em-
pfunden: der Vater brachte Aepfel zum Essen der Kinder,
was auch seine Stellung anzeigt; dem deutschen Satze ent-
spricht dagegen genau das ebenfalls mögliche: isä toi lap-
sille-nsa omenoita syödä (-nsa »seinen«); sieh Jahns. S. 112.
Der Verfasser S. 217 ob. und Kockström2 S. 71 Anm. sehen
ganz richtig in solchen Sätzen den alten Adessiv-Dativ auf
1 In der dritten Auflage zeigen § 147 und 381 wieder unliebsame
Verkürzungen.
2 Kurze Grammatik der finnischen Sprache von V. R. Kockström.
Nach dem Schwedischen bearbeitet von K. Suomalainen. Helsingfors
1876, S. 80; die Syntax ist auf 30 Seiten genügend behandelt.
Beurteilungen. 425
-n bewahrt ; aber sie übersehen, dass ihn die heutige Sprache
nur als Subjectsgenetiv des folgenden Infinitivs fühlt und
daher auch da setzen kann, wo ein dativischer oder gar
adessivischer Anschluss an den Hauptsatz nicht möglich ist.
In Kalew. L 570 ajoi lapsen armottoman | tülipuolelle tupaa ¡
pohjaispuolelle kotia j viedä tülen turvatonta | Ahavaisen ar-
motonta »trieb das Kind das gunstlose | nach der Windseite
der Stube | nach der Nordseite der Wohnung, ¡ dass der
Wind nehme das schutzlose, | die Bise das Gunstlose« ist
der Infinitiv viedä ein freier Zusatz mit tülen und ahavaisen
als Subjectsgenetiven, mit den Partitiven turvatonta und
armotonta als Objecten. Vorangestellt findet sich auch der
Infinitiv dem Genetiv in III 575 myös on marjoja mäellä ....
poimia sinun poloisen »auch gibt es Beeren auf dem Hügel,
(die) du Unglückliche pflücken (kannst)«, für das prosaische:
sinun poloisen poimia, und erweist dadurch schon für das
Auge die Unabhängigkeit des Genetivs.
Das sind meines Erachtens unzweifelhafte Fälle, in denen
uralaltaische Sprachen von sinnlichen oder einzelnen Vor-
stellungen aus zu abstracteren und allgemeineren Operationen
vorschritten: der finn. Partitiv, der magyar. Accusativ, der
finn. Genetiv. Wenn ich hier für diese Sprachgruppe gegen
den Verfasser auftrete, Bd. XIII S. 127 flg. dieser Ztschr. zu
ihren Ungunsten aussagte, so stellt sie eben der Verfasser
im Verhältnis zu den indogermanischen zu tief, Badenz, auf
den sich die dortige Erörterung bezog, mit ihnen auf gleiche
Linie — die Folge des mittleren Standpunktes, den ich ein-
nehme, nicht einer inzwischen eingetretenen Meinungs-
änderung.
Nach diesem allgemeineren Abschnitte kehre ich zum
Dativ und zwar zum ugrischen Dativ zurück, indessen auch
hier nur, wie früher bemerkt, das Magyarische, und Finnische
berücksichtigend. Der Gebrauch beider Dative ist keineswegs
derselbe; der Verfasser äußert S. 309: »Namentlich fällt der
Gegensatz zum eigentlichen Ugrisch hier in die Augen, da
überall da, wo dort in örtlichem Sinne der Illativ-Dativ stand,
hier der Dativ nicht zulässig ist.« Obschon er unter Ugrisch
426
Franz Misteli,
nur Ostjakisch und Vogulisch versteht, nicht etwa den ganzen
Sprachstamm, den er finnisch heißt, so gilt der Gegensatz
doch ebenso gut für das Finnische: auch dem finnischen
Allativ-Dative, räumlich verstanden, entspricht nicht der
magyarische Dativ. Um dies statistisch zu veranschaulichen,
so trage ich aus Paul Hunfalvys finnischer Chrestomathie
alle Beispiele von -We-Allativ-Dativen mit den magyar. Ent-
sprechungen, die sich auf den ersten 93 Seiten1 finden, in
Rubriken geordnet zusammen und füge nur noch zum bessern
Verständnis hinzu, dass man in den beiden Sprachen für
das Wo einen Inessiv: finn, ssa ssä, magyar, ben ban und
Adessiv: f. Ila lia, m. nal nel, für das Woher einen Elativ:
f. sta stä, m. bòi bòi und Ablativ: f. Ita Ita, m. töl toi, für
das Wohin einen Illativ: f. sen und h-n2, m. be ba und
Allativ: f. Ile, m. hoz hez, außerdem im Magyarischen Su-
peressiv: -n on en, Delativ: rol rol, Sublativ: ra re, und
obendrein den Dativ: neJc nah und im Finnischen Essiv: na
nä (eigentlich für das Wo), Partitiv: (t)a (t)ä (Woher, sieh
oben) und Translativ: Tese- Jesi (Wohin) unterscheidet.
I. finn. Ile und magyar, nek nah: sanoi toverille-
hen3 = monda társának sprach zu seinem Gefährten, virkkä
toiselle — ssóla a mdsiknak sagte zum andern, und so noch
oft nach diesen und ähnlichen Verben: finn, jutella pulma,
magyar, beszélni beszélgetni berichten, plaudern, finn, hüta,
magyar, kiâltani rufen, finn, ilmaista oder ilImottä, magyar.
nyilvánitni offenbaren; teki Antille tuhannen kïtosta = ezer
köszönetet monda Antinak sagte dem Anti tausend Dank. —
Antoi hänelle rahâ — pénzt ada neki gab ihm Geld, und so
regelmäßig nach finn, antä, magyar, adni geben. — Oli
pistänyt koti-väelle-nsä käskyn — irta volt háza-népének a
paranesot hatte an sein (-nsä -é-) Hausvolk den Befehl er-
1 Diese bieten nämlich finnische Texte mit nicht zu freier magy-
arischer Uebertragung. Der Titel lautet: Chrestomathia fennica. Finn
olvasmányok a finn nyelvet tanulók számára, Pest 1861, S. 580.
2 h-n mit dem Vocal der vorausgehenden Silbe.
3 Dieses hen, d. i. h-n, ist Possessivsilbe und hat mit dem illativen
h-n nichts zu schaffen.
Beurteilungen.
427
lassen. — Hankki lapselle imettäjän = emtetöt szerze a
gyermeknek verschaffte dem Kinde eine Amme; siile raukálle
se mies hdki vapahduksen = ennek a szegénynek szabadságot
keresett az ember für diesen Armen suchte der Mann die
Freiheit; tämän armo-työn teitminulle = ezen irgalmat tetted
nekem diese Barmherzigkeit tatest du mir. — Se nyt kaup-
pialle Icävi luitten läpi = az most csontjain mene aitai a
kereskedönek das ging jetzt dem Kaufmann durchs Gebein.
— Ariti poijalle lahjaksi = ajándékul Antinak als Geschenk
für den (jungen) Anti.
II. finn. Ile und magyar, ra re: menivät yö-sialle-
nsa = fel-menének a haló-helyre gingen nach ihrem Nacht-
lager, levolle mennä — nyugalomra menni zur Ruhe gehen,
Ialiti asialle-hen = dolgdra indula machte sich für seine
Sache auf, yhdessä paikalle kävimme — együtt a helyre
menénk wir gingen zusammen an den Ort, laskeutui pïlosta-
han lättialle — le-ereszködek rejteh-Jielyérül a padlozatra ließ
sich aus seinem (-han, -é-) Versteck(ort hely) auf den Stuben-
boden herunter, pujahti ulos pihalle — ki-bujék az udvarra
entwischte zur Türe hinaus (ulos, ki), hyppa itse edeltä malle,
partälle — ugorjdl-ki magad elöre a szdrazra, a partra spring
selbst zuerst ans Land, ans Ufer, älä malle pasta = ne
ereszd-ki a szárazra lass (ihn) nicht ans Land, käntyen toiselle
kyljelle-nsä — másik oldalára fordulvdn sich auf seine (-nsä,
-&-) andere Seite drehend. — Nyt istui toinen Jieistä kivelle
= tehdt egyikök le-üle egy köre so setzte sich einer von ihnen
auf einen (egy) Stein, kävi lavitsalle istumahan — mene le-
ülni a loczára ging sich auf die Bank zu setzen. — Kävi
puheille (Plur.) = mene beszédekre kam zu Reden, meni
Antin puhëlle (Sing.) = mene Anti beszédére kam ins Ge-
spräch mit Anti. — Jaloille-hen päsi = lábaira szabadult
wurde auf seine (-hen, -ai-) Füße frei, edelle-nsä = elöre
vorwärts (-nsä Possessivsuffix der dritten Person), üdelle-lien
— újra aufs neue. — Mikä elämä-keino ihmiselle olisi onnellisin
= mely élet-mód volna leg-szerencsésebb az emberre (nézve)1
1 Nézve eigentlich rücksichtlich.
428
Franz Misteli,
welche Lebensweise wäre für den Menschen die glücklichste,
sillen-kin neuvoa kyseli = számára1 is tanácsot kért auch
(kin, is) für ihn fragte er um Rat.
III. finn. Ile und magyar, hoz hez: tuli vuoren
jürelle = Tiegy tövehez ère gelangte an den Fuß (eigentlich
Wurzel) des Berges, tuli sitte siile vuorelle taas = azután
megint azon hegyhez érkezék kam darauf wieder (taas, megint)
zu jenem Berge, lammen rannalle tulevat =' egy tó partjához
érnek gelangen zum Ufer ein(egy)es Sees, linnun pydyksille
pästän = madár-fogókhoz kiérnek man gelangt zu den Vogel-
fallen, kulkevat ârtehélle = mennek a kineshez sie gehen zum
Schatze, kulki hïpien ovelle — lopódzék az ajtóhoz schlich
sich zur Türe. — Mikä työ minulle on soveliain — milyen
munka volna leg-illendöbb hozzám welche Arbeit wäre am
passendsten für mich.
IV. finn. Ile = magyar, -n: tähän jätän rannalle —
itt iiagyom a parton hier (itt) lass ich es am Strande.
V. finn. Ile = magyar he ba: talo tuli näkyville =
egy Mz szembe tünt ein Haus kam in Sicht {szembe ins
Auge).
VI. finn. Ile adverbial: pani syvalle muistóho(n)-nsa
= jól rová emlékezetébe legte tief (schnitt es gut) in sein
(-nsa, -é-) Gedächtnis; vergi. Kalew. III 149 Sen on tiedän
selvälle-hen das weiß ich deutlich.
VII. magyar, nek nak — finn, ksi: az örökösenek
mondott gyermek = se perillisekse-nsä märätty lapsi das zu
seinem (-usti, -é-) Erben bestimmte Kind, fogadott-gyermekének
kéré = pysi hänen otto-lapsekse-nsa erbat ihn zu seinem
(nsa, -é-) Adoptivkind, nevezi vaia Antinak == nimitti hänen
Antiksi nannte ihn (hänen, -i) Anti, und so bei »nennen«
oft, minek kell nekem = miksi minun täyty warum muss
ich . . .
VIII. magyar, nek nak — finn. Ita Itä: a mi elötte
szokatlannak tetszik vaia = joka külui oudolta hänestä was
ihm ungewöhnlich vorkam.
1 Szám-á-ra eigentlich auf seine (-á-) Zahl, Rechnung.
Beurteilungen.
429
IX. magyar, neh nah = finn. (t)a (tä): mégis hü-
lönösneh látszélc elöttök — oli se ihäänhuin humma(t)a heistä
es kam ihnen das immerhin seltsam vor, hell segiteni egy-
másnah — täyty toista-han autella man muss einander helfen
— unterstützen, (egy-más-nah einer dem andern, toista-han
seinen -han andern).
X. magyar, neh nah — finn. Ila Ila: nehem fás-
hertem van = minulla on pü-tarha ich habe einen Baum-
garten, neh i fecsegö asssonya van = hänellä on puhelias ahha
er (-i, hän) hat eine geschwätzige Frau, und so regelmäßig
bei »haben« *.
XI. magyar, neh nah — finn, na nä: látta holtnah
a nyírfán = nähi huoliäna hoivussa sah ihn (-a) tot an der
Birke.
XII. magyar. Dativ = finn. Accus.: parancsolá
nehi — häshi hänen befahl (es) ihm = hieß ihn; ebenso
z. B. magyar, engedni, finn, lashea gestatten = lassen.
Also nur im gewöhnlichen objectiven Dative kommen
finn. Ile und magyar.2 neh zusammen, dem räumlichen Ile
entsprechen immer die entschiedenen Raumcasus des Magyar. :
die Allati ve ra und hos und der Illativ le, dem neh als
Prädicatsbestimmung antwortet der Translativ hsi und der
Essiv na u. s. w. Deswegen darf man aber noch nicht mit
dem Verfasser den Schluss ziehen, dass das magyar, neh nur
den Ort der Handlung bezeichne, der sich nach dem Zu-
sammenhange als Wo oder als Wohin bestimme, im Gegen-
satze zu ra hos le, denen das letztere zukomme; denn legen
wir dem neh die bloße Richtung ohne Berührung bei, die
es z. B. im Satze hat: Es helet felé viss, as nyugatnah »der
1 Sollte nicht die russische Umschreibung für haben: u menjá »ich
habe«, u tebjá »du hast«, eigentlich bei mir (ist), bei >dir (ist) u. s. w.
den benachbarten ugrischen Sprachen, finn, minulla on, sinulla on u. s. w.,
nachgemacht sein? Indogermanisch gedacht ist sie nicht und ganz was
anderes als lat. mihi est, tibi est.
2 Von nun citire ich nur eine der entgegengesetztvocaligen Suffix-
formen und zwar beim Magyar, die ursprüngliche, beim Finn, die tief-
vocalige.
430
Franz Misteli,
führt gegen Osten, jener nach Westen«, so begreift man
leicht, wie dem allativen lie des Finnischen, das zur Beant-
wortung des Wohin nur noch über den Ulativ auf h-n oder
sen verfügt (Jesi hat nur bei Adverbien räumlichen Sinn) die
sinnlicheren und genaueren Suffixe ra hoz be gegenübertreten,
und man sieht nicht ab, warum nicht auch einmal im räum-
lichen Sinne, dadurch dass finn. Ile auf die Berührung ver-
zichtet oder magyar, nek das Ziel einschliesst, die beiden
Suffixe sich begegnen könnten; sollte tüznek viznek menni
»aufs Feuer, aufs Wasser zugehen « unter keinen Umständen
einem mennä valJcealle vedette entsprechen dürfen? In mennä
metsälle »auf die Jagd gehen«, eigentlich nach dem Walde,
was mit mennä metsähän »in den Wald gehen«, nicht zu-
sammenfällt, nähert sich -Ile dem neh bedeutend. Aber
gerade diese Verwendung von neh, um die Richtung zu
bezeichnen, spricht der Verfasser S. 809 und 317 dem
Altmagyarischen ganz ab, so dass auch eine etwaige Ueber-
einstimmung mit Ile ebenso zufällig wäre als z. B. die
buchstäbliche des altslav. vêdçtï mit griech. ol'ââai. Die
betreffenden Texte liegen mir nun freilich nicht zur Hand;
immerhin ergeben sich einige Zweifel, ob in der alten
Sprache, wie er behauptet, das dativische nek nie für das
Nach—hin gebraucht wurde, sondern die Richtung nur den
Suffixen ra hoz be überlassen blieb. S. 329 steht : »Elközelit1
nektek mennyeknek orszdga, appropinquavit enim regnum
coelorum (auch der griechische Text ohne Personbezeichnung)«.
So allerdings Mtth. III 2, IV 17, X 7, auch Mk. I 15 gibt kein
Pronomen, sonst nur »Gottes« statt »Himmel«, aber Lk. X 9
jjyyixsv £(p* v(mxç r¡ ßaüilsia tov 0sov — elközelitett hozzátok
az Isten országa (Károli). Weil nun einmal das nektek ein
freier Zusatz ist, kann es dann nicht ebenso gut allativisch
»zu euch« wie in der Lukasstelle heißen, durch die Er-
innerung an sie hineingeflickt, als bloß »euch« dativisch?
S. 324 unten gibt der Verfasser tartozik vàia neki szdz pénzzel
»er schuldete ihm hundert Groschen« erklärend wieder mit:
1 So der Verfasser, als Präsens; ob nicht elközelitett?
Beurteilungen.
431
»er war im Rückstände (bei) ihm mit hundert Groschen«.
Auch hier könnte die Verbindung von tartozni mit -hoz »an-
oder zugehören« und mit ra »angehen, betreffen« dazu ver-
leiten, die mit nek aufzufassen als »mit hundert Groschen
im Verhältnis stehen zu einem«1, und so gibt es mehrere
Verben, bei denen -hoz -ra -be -nek in einer durch den
Sprachgebrauch geregelten, aber kaum sehr verschiedenen
Weise eintreten können: leányt férjliez acini »eine Tochter
verheiraten« eigentlich an einen Mann geben, valakire adni
a ruhát »einem das Kleid anlegen«, búnak adni magát »sich
dem Gram hingeben«; ferjhez menni »heiraten«2 (eigentlich
zum Manne gehen), nagyra menni »zu Würden (eigentlich
Großem) kommen«, falnak menni »auf die Mauer zugehen«;
illik hozzâm »es schickt sich für mich«, ez reám illik »das
passt auf mich«, nem illik leánynak »es geziemt sich einem
Mädchen nicht«, illik nekem »es steht mir gut« vom Kleide;
hozzá kezd a dalhoz, rá kezdi a notât, hele kezd az énekbe,
neki kezd az êneklêsnek »er fängt zu singen (den Gesang, das
Lied: dal nòta) an«; biztosabban kezdhetünk az élethez »ver-
trauensvoller können wir zu leben anfangen«, neki kezdünk
az êletnek »wir fangen zu leben an« (Sim. § 464 a); mire
neked az und minek neked az »wozu (wofür) hast du das
nötig?« Diese Parallelen, die man leicht vermehren könnte,
hinterlassen gar nicht den Eindruck, als unterscheide sich
die nek-Form anders als dass sie den Zielpunkt nicht aus-
drücklich einschließt und die bloße Richtung angibt, was
ihr seltenes Vorkommen im räumlichen Sinne hinreichend
entschuldigt.
Gegenüber dem negativen Momente, die Richtung sei
dem Suffixe nek in den altmagyarischen Denkmälern fremd
und erst in neueren Zeiten zugeteilt, das übrigens nicht über
die Möglichkeit hinauskommt nach dem eigenen Geständnisse
des Verfassers S. 329 Anm. »überall können wir Adessiv-
1 Vergi, das Grundverb tartani: a hegynek tartott »er hielt sich
gegen den Berg«; egyenesen BécsneJc tartott »ging geradezu auf
Wien los«.
• Finn, ebenso mennä miehelle, sieh den Verfasser S. 340.
432
Franz Mistelí,
sinn oder Beteiligung sehen«, verdient der positive Beweis
für die Adessivnatur des neh besondere Aufmerksamkeit;
derselbe gipfelt S. 316 in den Worten: »Das magyarische
Dativsuffix erscheint seit den ältesten verfolgbaren Phasen
bis heute mit Vorliebe als Genitiv- und als Possessivsuffix«,
und das ist eine unbezweifelbare Tatsache, nur dass, wie
ich glaube, zu Gunsten des Verfassers nichts daraus folgt.
Man erwartet zunächst schon dieselbe Lautform wie beim
finnischen Genet.-Dat.-Adessiv, nicht neh, sondern n, die ja,
wie wir oben sahen, dem Magyarischen erhalten blieb. Ein
anderes Suffix braucht nicht dieselbe Vorstellung in sich zu
bergen. Einen zweiten Umstand hebt der Verfasser nicht
hervor, dass nämlich ohne das Possessivsuffix, dessen das
Finnische nicht bedarf, weder eine genetivische noch eine
possessivische Verbindung zu Stande kommt; »der Schöpfer
der Welt« lautet magyar, a világnak teremtöje (= der Welt
ihr (-je) Schöpfer), finn, mailman luoja mit bloßer Genetiv-
endung n; »ich habe eine Uhr« magyar, nehem van órám
(— mir ist Uhr mein), finn, minulla on hello (= bei mir ist
eine Uhr). Wie beides im Magyarischen auf der Possessiv-
silbe beruht, springt dadurch in die Augen, dass man ohne
Schädigung des Sinnes den Dativ weglassen kann: a világ
teremtöje, van órám. Und das schon in der Leichenrede:
ig fa gimilce = egy fa gyümölcse »eines Baumes Frucht«,
worin -e das Possessivzeichen, gimilsnec heseruv vola vise —
gyümölcsneh heserû vaia ize »der Frucht war ein bitterer
Geschmack« (viz — iz) u. s. w. Wie der Verfasser sich aus-
drückt und oft1 citirt, wird jeder des Magyarischen unkundige
Leser meinen, das bloße Verbinden der neh-Y ovm mit einem
Nomen bewirke einen Genetiv, mit dem Verbum substantivum
einen possessiven Dativ (S. 317); bezüglich des letzteren be-
1 Es scheint ein Versehen, wenn der Verfasser S. 319 aus der
Leichenrede als »flexionslose« Genetive vienyi milost »himmlische Gnade«
und muncas vilag »mühvolle Welt« citirt, weil menyi und muncas Ad-
jective sind. So wird es sich wohl auch mit poganoknac segetseggel
(statt segítségével) weiter unten verhalten, und mit örök pokolban »in
des Teufels (statt: der ewigen) Hölle«.
Beurteilungen.
433
zeichnet er S. 331 das Possessivsuffix als »geradezu das
Gewöhnliche«, statt das Ausnahmslose und Unerlässliche.
Aber z. B. im Satze ennek a ssegényneh szabadságot keresett
as ember »für diesen Armen suchte der Mann die Freiheit«
können die we^-Formen nur dativisch1 mit dem Verb, nicht
genetivisch mit dem folgenden szabadság »Freiheit« ver-
bunden werden, was durchaus die possessive Verbindung
ennek a szegênyneh smbadságát erfordern würde, ohne freilich
des dativischen Sinnes ganz verlustig zu gehen: diesem Armen
seine (~á~) Freiheit. Die abweichende Endung und das un-
umgängliche Possessivsuffix verbietet jeden Vergleich mit der
finnischen w-Form. Kommt ein Drittes hinzu: hätte das
Magyarische auf den adessiven Charakter nicht verzichten
wollen, so stand ihm noch immer -nal -nel zur Verfügung,
das wenigstens für »haben« Ersatz geboten hätte, aber zu
selten dafür verwendet wird (Verfasser S. 320), um den
adessiven Charakter von -neh -nah erweisen zu können,
z. B. in embernél a rnunka, istennél as áldás »beim Menschen
die Arbeit, bei Gott der Segen« (Sim. § 448, 2. Aufl.). Was
ist denn nun dieses -nek des Genetivs und possessiven Dativs ?
dasselbe, was das nek des gewöhnlichen Dativobjectes;
wenigstens hat es keine Schwierigkeit, Wendungen wie »der
Welt ihr Schöpfer« genetivisch zu verstehen, und ein
Schwanken zwischen Genetiv und Dativ muss sich natürlich
auch so häufig einstellen. Deutschen Volksdialekten ist das
nicht nachgemacht, was der Verfasser S. 317 mit Recht
zurückweist, sondern eine völlig selbständige Umschreibung,
die um so näher lag, als schon in der Leichenrede der
Dativ des Interesses sich genügend herausgebildet hatte.
Ein Analogon beschränkteren Umfanges bietet die Sprache
der lateinischen Komiker: sua sibi pecunia, das dem ale-
mannischen »Im sis Gält« genau entspricht; vergi, zur Andria
958 und zum Trinummus 156 die Herausgeber. Diese bis
jetzt wohl allgemein geltende Auffassung durch den Hinweis
1 Vergi, das finn. Original : siile raukalle se mies haki vapahduksen;
der Genetiv wäre sen raukan.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 4. 28
434
Franz Misteli,
auf die erst zu erweisende »von jeher localruhende Bedeu-
tung des magyarischen Dativ oder Possessiv« (S. 317) be-
seitigen zu wollen — kann man dem Verfasser nicht ge-
statten.
Was Verbindungen wie fiának elötte »vor seinem (ihrem)
Sohne«, királynak ellene »gegen den König« S. 319 über den
ursprünglichen Sinn von -nek uns lehren sollen (übrigens
darf es auch fia elött und kiraly eilen heißen), gestehe ich
nicht zu erraten. Die possessive Verbindung hebt auch hier
einen Vergleich mit dem Finnischen, Livischen u. s. w. auf.
So gut eigentlich ellene »sein (ihr) gegen« und elötte »sein
(ihr) vor« bedeutet im Sinne von »gegen ihn (sie)« und
»vor ihm (ihr)« — ellene heißt auch »sein (ihr) Gegner«,
vergi, sein vis à vis, und zeigt die Richtigkeit dieser Auf-
fassung — : ganz so ist gewiss der Wortsinn der beiden an-
deren Beispiele eigentlich ebenfalls »seinem (ihrem) Sohne
sein vor = seines Sohnes vor« und »dem Könige sein gegen
= des Königs gegen«, was je nach dem Zusammenhange
entweder »des Königs Gegner« oder »gegen den König« er-
gibt. Die Analogie, auf die es der Verfasser absieht, kommt
auch ohne -neJc zu Stande. Er äußert nämlich S. 225:
»Namentlich deutlich erweist sich der Casus als bloß orts-
bezeichnender, wenn er bei Postpositionen (wie eben elött
und eilen) steht, wo von einem Dativ oder Allativ keine
Rede ist, sondern ganz dem Princip der uralaltaischen Sprachen
gemäß eine reine Localform in der Bedeutung der Ruhe
oder ein Genetiv anzuwenden ist« und meint Fügungen wie
finn, poydän alta »unter (al-) dem Tische hervor (-ta)«,
kävi metsän halJci »er ging durch (halki) den Wald«, joen
yli kuljettaessa »während (-ssa) man über (yli) den Fluss
setzte«, in denen der Leser pöydän metsän joen als den schon
besprochenen Genetiv-Adessiv von pöydä »Tisch«, metsä
»Wald«, joki »Fluss« erkennt. Dem entsprechen im Magyar.
az asztalon alul, az er dòn keresztûl ment, a folyamon aitai
mentében mit den Formen des früher erwähnten Ortscasus
auf -n (Superessivs): asstalon erdön folyamon »an (auf) dem
Tische, Walde, Flusse«. Die Identität ist nicht abzustreiten
Beurteilungen.
435
und der Vergleich mit den obigen -neh -Verbindungen auch
aus diesem Grunde hinfällig.
Meine mit der gewöhnlichen zusammenstimmende Er-
klärung des prädicativen neJc in Sätzen wie öh isten fainalc
hivattanak ziehe ich auch jetzt noch nicht zurück (sieh diese
Ztschr. X 174); warum sollte »sie werden nach (zu) Gottes-
söhnen genannt« nicht ebenso berechtigt sein als »sie werden
Gottessöhne genannt«? Ob's mehr oder weniger gut deutsch
klinge oder auch gar nicht nachgemacht werden kann, das
gibt doch nicht den Ausschlag. So übersetze und erkläre
ich Tiinék mondjâk emberék emberneJc fiât »nach wem (wonach)
nennen die Menschen den Menschensohn ?« igen komóly em-
berneJc látssik »er sieht nach einem gar ernsten Menschen
aus« ; selbst die bloße Apposition fügt sich : ily eljárás tréfának
nagyon isetlen, büntetésnek nagyon nevetséges »ein solches
Verfahren ist — zum Spaß sehr geschmacklos, zur Strafe
sehr lächerlich« (Jokai) \ und so wird man wohl auch das
berühmte ha neked (neJci) volnék »wenn ich nach dir (nach
ihm) wäre« verstehen dürfen, obwohl von den bis jetzt er-
wähnten Fällen aus, die zwischen Essiv und Translativ
schwanken, eine Uebertragung auf den entschiedenen Essiv
stattfinden konnte: találtaték terhesültnek »sie wurde schwanger
befunden«, magát vébJcesnek tudja »er weiß sich schuldig«.
Im Finnischen entspricht als Essiv na nä, als Translativ Jesi,
und doch erscheint auch dieser für uns essivisch : tällä eletän
Jierroiksi »hier lebt man als Herren« etwa: hier lebt man
sich in (die) Herren hinein, in das Herschaftliche hinein;
siehe unten. Wenn aber der Verfasser die entschieden
translativen Fälle wie popnak szentel(te)têk2 »er wurde zum
(Verfasser: als) Priester geweiht« essivisch versteht und über-
setzt, so geht er zu weit; er wagte nicht, kirälynalt valasz-
tottäk mit »man wählte ihn als (statt: zum) König« zu über-
setzen, sondern begnügte sich mit királynaJc Jciáltani »als
1 A magyar nemzet tôrténete, regényes rajzolíban. (Geschichte
der magyar. Nation, in romantischen Bildern.) Pest 1870, auf S. 228.
2 szentelteték wäre 3. Sing. Imperf. Pass., szentelték 3. Plur. Perf.
act. objectiver Conjugation, von szentelni »weihen«.
28*
436
Franz Misteli,
(ich: zum) König ausrufen«, und wie will er sich mit minclen
virágot koszorúnak fontak (Sim. § 467) »alle Blumen flochten
sie zum Kranze« abfinden? vergi, menték-e hírvirágot ssedni
gyöngyös koszorúba »geht ihr, Ruhmesblumen zu (in) einem
anmutigen Kranz zu pflücken?« Arany's Toldi 1. Simonyi
schreibt die Proportion an § 467 királyságra valasztotta
»wählte ihn zur Königs würde« : kiralynak valasztotta «wählte
ihn zum König« = boldogságban él »er lebt im Glücke«:
boldogul él »er lebt glücklich«, welche die oben erläuterte
Sinnesverwantschaft von ra und nek des weiteren bestätigt.
Dem Zwange dieser Proportion kann man sich nur so ent-
ziehen, dass man entweder die Zweifel, ob dem Suffix nek
der Begriff der Richtung ursprünglich zukomme, auch auf
-ra und damit auf -hos und -be ausdehnt und mit dem
Verfasser zum Satze sich versteigt, dass man im Gebiete der
uralaltaischen Sprachen »fast gar keine Suffixe mit wirklich
ausschließlicher ursprünglicher Richtungsbedeutung aner-
kennen« darf (S. 207), oder aber das prädicative -nek, weil
es bald Essiv bald Translativ ersetzt, als ungeeignet be-
trachtet, über die wahre Natur von -nek Aufschluss zu
geben. Ich bin so unparteiisch, die letztere Alternative zu
wählen (die erstere wird weiter unten zur Besprechung ge-
langen), und wende mich im Folgenden einigen andern
Punkten zu, die der Verfasser geltend macht, um -nek als
Ruhecasus zu erweisen.
S. 333 »Adessiv auch, wie in verwanten Sprachen, unter
Umständen der Gegenstand, bei dem, über den ein Gefühl
rege wird, z. B. örül mint madár a féregnek »er freut sich,
wie ein Vogel über den Wurm«. Ich füge bei, dass örülni
und örvendeni »sich freuen« in der Tat auch den Superessiv
und Inessiv gestatten, stimme aber mit Simonyi kl. Gr. § 297
überein, dass drei verschiedene Anschauungen vorliegen:
örvend a báránykáknak — seine Freude richtet sich auf
Lämmchen, wie man denn zur Not etwa sagen kann, einem
örultem a jó Jiirnek entsprechend : ich habe mich auf die
gute Nachricht hin gefreut; örül a mások kárán = er freut
sich am Schaden anderer ; a mások kárában gyönyörködik =
Beurteilungen.
437
im Schaden anderer findet er seine Freude (Uli or ömet).
Wie »sich freuen« mit dem Richtungsdativ, kann auch
szeretni »lieben« mit dem IlJativ verbunden werden: sich
verlieben in; also: Virgilius ólvasásába szeretett »er gewann
die Leetüre des Virgilius lieb«, sieh Töplers Gramm. (1871)
S. 216 ob.
Ein Versehen läuft S. 335 bei der Deutung des neki in
neki búsul »er wird traurig«, neki bolondul »er wird närrisch«,
neJci ered »er beginnt«, neki esik »er fällt« u. a. unter.
»Nach meiner Ansicht, sagt der Verfasser, heißt es, da búsúl
bolondul ered esik die bloßen suffixlosen Stämme sind: bei
ihm traurig werden, närrisch werden, anfangen, fallen (sc.
ist, findet statt).« Man findet aber nicht bloß die 3. Pers.
Sing., sondern jede andere ist möglich — mit unverändertem
neki, welches somit in obigen Wendungen gar nicht dem
»er« entspricht. So gibt Simonyi § 464 a) das Beispiel neki
bdtorodánk »wir wurden kühn«; im Infinitiv heißt es z. B.
neki indulni »drauf losgehen« wie útnak indulni »sich auf
den Weg machen«. Man darf dies neki nicht losreißen von
neki megy a falnak »er geht auf die Mauer los«, a vadkan
a tölgyfa gyokerének is neki vágja agyarát »der Eber haut
auch in die Wurzel der Eiche seinen Zahn« u. s. w., indem
schließlich neki als allgemeines Object stehen blieb, auch
wenn kein specielleres folgte, und Simonyi erklärt demgemäß
ganz richtig neki húsul mit neki kezd a búsulásnak »er macht
sich dran — an das Trauern«, neki bdtorodánk mit neki
indulánk a bátorsdgnak »wir machten uns dran — an die
Kühnheit«. Wenn ich Bd. XIII 445 dieser Ztschr. neki mit
frzsch. y und italien, ci und vi verglich, welche gleichfalls
oft pleonastisch stehen, so fällt das im wesentlichen mit
Simonyis Meinung, dessen Nyelvtan mir damals noch nicht
vorlag, zusammen. Bei den Verben der Bewegung ergibt
sich die Richtung für neki von selbst, und was die Verben
des Gemütszustandes anlangt, so findet der Richtungsdativ
an den Verben des Freuens einen Stützpunkt.
Dass -nek in der neueren Sprache bisweilen die reine
Richtung bezeichnet, z. B. viss nyugatnak »er führt gen
438
Franz Misteli,
Westen« und wohl auch schon trotz dem Verfasser in der
altern, wurde früher erwähnt. Es kommt mir zwecklos vor,
diesen heutigen Gebrauch so lange zu drehen und zu wenden,
S. 335flg., bis er adessivisch schillert: gen, nach Westen
ist nicht: an, beim Westen. Vergi, auch le a völgynek fei
a hegyre hinab zu Tal, hinauf zur Höh!
Dem Verfasser stimme ich bei, wenn er S. 318 der
Etymologie in solchen Fragen nicht das erste Wort ein-
räumen will; aber am Schlüsse darf sie sich in aller Be-
scheidenheit schon hören lassen. Donner stellt S. 65 das
magyar, neh mit finn, ne der Formen Jcunne, mirine, sinne,
tänne, tuonne »wohin, dahin, hierhin, dorthin« zusammen,
die der Savodialekt noch in der Gestalt z. B. tännek, tuonneJc
kenne; ja die ß-Formen finden sich sogar im Schriftfmnisch:
minneJc-Jcä matlcustat »wohin reisest du?« JamneJc-Jca . . .
pctstän »bis man . . . anlangt«. Jedenfalls ging hinten ein
Consonant verloren, weil e hätte entweder abfallen oder zu
i werden müssen.
Meine alte Ansicht, die Richtung mache den Grund-
begriff des magyar. Dativs auf -neic aus, halte ich fest und
gehe jetzt zum Allativ-Dativ des Finnischen über, den
der Verfasser gleichfalls in einen dem indogerm. Locativ
ähnlichen, gegen Wo und Wohin gleichgültigen Casus ver-
wandeln möchte.
Dies Unterfangen ist viel bedenklicher, als beim magyar.
Dativ; denn während dieser von den übrigen1 Raumcasus
sich merklich abscheidet durch den blassen Begriff der bloßen
Richtung, trägt der finnische Dativ mit dem Namen Allativ
ein sinnlicheres Wesen zur Schau und weist auf das Wohin
und Wozu als den Hauptbereich seiner Anwendung. Der
Verfasser legt aber darauf Gewicht, dass der Allativ auf lie
bei Ausdrücken des Handelns und der Bewegung, überhaupt
des Tuns und Geschehens auch dann eintritt, wenn wir
1 In Riedls Gramm, geht der Dativ den Raumcasus ganz abge-
trennt voran.
Beurteilungen.
439
unmöglich die Frage: wohin? stellen1 können: unhotin
lárjan pöydälle »ich vergaß das Buch auf dem Tische«, so
dass es dort liegen blieb, mûtamat seurastamme jäivät Helle
»einige aus (-sta) unserer (-mme) Gesellschaft blieben auf
dem Wege« liegen vor Erschöpfung — aus Jahns. S. 78;
minnep-pä hevosenne jätätte? täJcän jätän rannalle »wo lasset
ihr euer (-nne) Pferd? hier lass ich (es) am Ufer« — aus
Hunf. finn. Ghrest. S. 74. Das letztere Beispiel zeigt, dass
dieser Sprachgebrauch alle Richtungssuffixe betrifft, auch
das ne der Adverbien wie minne »wohin« und Illative wie
tähän »hieher«; vergleiche noch: lapsi jähi kotihin »das Kind
blieb zu Hause«, unhotin rahani puotihin »ich vergaß mein
Geld im Laden« u. s. w. Jahns. S. 56 flg. SU' alltoi . . .
mielin Jeasvaella | lehti pühun, ruoho mäh an, \ linnut pühun
laulamahan. . . kasvoi mähan marjan-varret, \ kukat Jcultaiset
Icedolle . . . »darauf begannen nach Wunsch zu wachsen
Blatt am Baume, Gras am Boden, Vögel am Baume zu
singen; es wuchsen am Boden Beerenstengel, goldene Blumen
auf dem Felde« Kalew. II 225 flg. Die gleiche Behandlung
von Allativ und Illativ folgt notwendig daraus, dass der
Unterschied des Innen und Außen flüssig ist und nur die
Praxis lehren kann, wo die äußern, wo die innern Raum-
casus Verwendung finden; man denke an mhd. an statt des
heutigen in : an der liant wäfen tragen, wäfen an die hant
geben, die frowe lac an ir lette, an da# bette gën (= zu
Bette) u. a. Eine Ausdehnung wie das Finnische gibt das
Magyarische den Bestimmungen des Wohin nicht, wie fol-
gende Zusammenstellung aus dem früher bezeichneten Ab-
schnitt von Paul Hunfalvys finn. Ghrestom. zeigt:
I. finn, h-n, sen, ne' = magyar, ben ban I, tt:
että kuolë-han se hänen perillise-nsä metsähän = hogy öröhöse
vesszen az erdöben dass (dieser se) sein (-nsä -e) Erbe im
Walde sterbe, mitä sihen oli Jcirjotettu — mi vaia abban
1 Vergi, lat. convenire in senatum, ad Caesarem im Senate, bei
Cäsar zusammenkommen; se abdere in silvas und in silvis sich in die
Wälder verbergen und: in den Wäldern.
440
Franz Misteli,
irva was darin geschrieben war, minnep-pä hevose-nne jätätte
= hol hagyja kend a lovât wo lassen Sie (-tte, Icend) Ihr
(-nne, -d-) Pferd, tcihän jätän = itt hagyom hier lass ich es
(zurück), sind jät sïhen = te itt maradsz du bleibst hier,
toinen jä-pi siaha(n)-si = a másik mar ad Jielyetted der andere
bleibt an deiner (-si -ed) Stelle. — Olm monesti-kin ndlkähän
näntymässä — gyakran is éìiség miatt epekedem oft schmachte
ich auch (kin, is) vor Hunger.
II. finn. Ji-n oder sen — magyar, be ba: kirjëse(n)-
nsd oli hdn pistänyt kdskyn — levelébe azon parancsot irta
volt in seinem Briefe hatte er den Befehl erteilt, sïhen toimi-
tuksehen olen nyt kyllästynyt = ezen foglalatossägba mar
belé-untam an diesem Geschäfte habe ich jetzt (nyt, mar)
genug (kyllä) bekommen, jätti portailla seisojan jumalan
haltuhun — isten óltalmába hagyá (ajánljd) a bürün állót er
ließ (empfahl) den am Eingang stehenden im (dem) Schutze
Gottes, pitä sidottoman nuora kaulahan — zsineget kell kötni
a nyakäba1 man muss ihm eine Schnur an den Hals binden
(am Hals anbinden).
III. finn, h-n magyar, ra: ja hirtettämän koivuhun
— és fel-akasztani a nyírfára und ihn an (in) die Buche
hängen (an der Buche aufhängen) — mit Vertauschung von
Innen und Außen.
Ein Schwanken, wie in den zwei letzten Sätzen das
Deutsche, charakterisirt das Magyarische bei der Wahl der
Wo- und Wohin-Formen im Gegensatz zur finnischen Con-
sequenz: die Verben des Packens und Angreifens verbinden
sich im eigentlichen Sinne mit dem -n des Superessivs, im
Sinn von anfangen mit be (ra nek): nyakon kapni »am Hals
packen«, aratdsba kapok »ich beginne die Ernte«, a gyermeket
kézen fogta »er ergriff den Knaben bei der Hand«, ki
sokba fog, kev eset végez »wer vieles angreift, bringt wenig
fertig« u. s. w., bei vágni ütni wechselt -n und -ra -be ohne
ersichtlichen Grund: pofon vdgni ütni »eine Ohrfeige geben«
1 Das Finnische eigentlich »er muss gebunden werden — Schnur
(Grundform) in den Hals«, das Magyarische »man muss eine Schnur
(Accus.) an (in) seinen (-á-) Hals (nyak) binden«.
Beurteilungen.
441
(pof Backe), hatha vágni »in den Rücken hauen«, valakinek
a ssájára ütni »einem aufs Maul schlagen«; ebenso bei
hágyni; sieh Riedl S. 240 unt., 246, Sim. § 443, 464.
Dieser im Magyarischen weniger ausgebildeten Eigen-
tümlichkeit, bei den Ausdrücken der Bewegung und des
Geschehens das Wo mit dem Wohin zu vertauschen, tritt
nun die andere, dem Magyarischen ganz unbekannte, zur
Seite, unter derselben Bedingung das Wo in das Woher zu
verwandeln, und das hebt jede Aehnlichkeit des ersteren
Verfahrens mit dem indogermanischen Locativ auf. Vor
allem ist es das finn. Verbum löyclä »finden«, welches den
Elativ statt des Inessivs erfordert: oli uJcJco hauen löytänyt
rysästä = a férj csukát talált volt a varsában der Mann hatte
einen Hecht (hauke-, csuka) in der Reuse gefangen, ukko
löysi arten mästa — a férj ìcincset lele a földben der Mann
fand einen Schatz im Boden, me löysimme metsästä arten =
mi leltünk as erdöben ìcincset wir fanden im Walde einen
Schatz, mistä-pä ärte(n)-nne löysitte? tuolta metsästä tuolta
= hol találtátok kincseteket? ott as erdöben ott wo fandet
ihr euren Schatz? dort im Walde dort, mun ukko-ni sen jo
iltasélla sieltä löysi — ast mar ott este leite volt fêrjem mein
Mann fand ihn (sen, ast) dort schon (jo, már) abends; aber:
minä metsässä löysin arten = én kineset leltem as erdöben
ich fand einen Schatz im Walde, während mästa metsästä
mistä eigentlich »aus dem Boden, aus dem Walde, woraus«
bedeuten. Denn hier wird wie beim Illativ und Allativ statt
Inessiv und Adessiv, die Ortsbestimmung mit dem Verbum
in enge Beziehung gesetzt und erfährt dessen Einwirkung,
so dass sich das Wo nach der Art der Handlung oder des
Geschehens zum Wohin oder Woher verschiebt; dagegen
metsässä »im Walde« tritt nur äußerlich als Ortsbestimmung
hinzu, ohne vom Verbum afficirt zu werden. Aoich der Ab-
lativ statt Adessiv tritt ein: hän löysi raha(n)-nsa lattialta
»er fand sein Geld auf dem Fußboden« gewissermaßen:
fand es auf dem und hob es von dem Fußboden auf.
Andere Verben: tyttö poiml marjoja metsästä, mäeltä »die
Tochter pflückt Beeren im Walde, am Hügel«, eigentlich aus
442
Franz Misteli,
dem Walde, vom Hügel; el-kà mästa syö-kö, syö-kä latvasta
»fresst nicht am Boden, fresst an der Spitze« sc. der Getreide-
halme (»denn was am Boden massa ist, gehört uns von vorn-
herein, aber die Spitzen latvat = Aehren nimmt man weg), olì
jo tavoUavina-han naista tukasta »er machte schon (jo) Miene,
die Frau (naise-) am Schöpfe (tuka) zu packen« l, während
der Magyar sagt: szerencsét üstökön kell ragadni »man muss
sein Glück am Schöpfe erfassen«, tyttö katseli ikkunasta
sivutse kulkevia sotamiehiä »die Tochter schaute am Fenster
die vorbei (sivutse) marschirenden Soldaten«, aber magyarisch
hieße es: a leány as aUakon nêzte . . . Anderes bei Jahns.
S. 48 Anm. 1 und S. 72 Anm. 2.
Der Verfasser muss zugestehen, dass sich diese Fälle
einer sonderbaren Woher-Bestimmung von den früheren des
Wohin unmöglich trennen lassen; da und dort veranlasst
ein Verb der Bewegung und des Geschehens, des Handelns
und des Tuns die Abweichung vom, wie es uns scheint,
natürlicheren Wo — es sind die zwei Hälften eines Sprach-
gebrauches. * Wenn die eine Hälfte dem Verfasser genügte,
um eine Vermischung oder mangelhafte Unterscheidung von
Richtung und Ruhe anzunehmen, so müsste ihn die andere,
freilich von ihm übersehene Hälfte zur Identification von
Ausgang und Ruhe führen; er müsste mit der Behauptung
enden, dass diese Sprachen trotz ihrer Fülle räumlicher Casus
eigentlich und uranfänglich nichts unterscheiden, weder wo
noch wohin noch woher, weder innen noch außen; denn
dass auch der letztere Gegensatz verfließt, wurde schon be-
merkt; solange z. B. der Magyar sagt: fejében van a kalay
»er hat den Hut im (statt: auf dem oder mindestens: am)
Kopfe«, kalapot tenni a fejêbe »den Hut in den (statt: auf
den oder doch: an den) Kopf setzen«, so muss man den
Versuch einer Unterscheidung a priori aufgeben2. Eine solche
1 Die beiden letzten Beispiele sind den Lesestücken der grammaire
finnoise d'après les principes d'Eurén et de Budenz suivie d'un recueil
de morceaux choisis par Gh. E. de Ujfalvy et Raphaël Hertzberg, Paris
1876 (S. 112), S. 88 und 90 entnommen.
2 Darf man etwa »den Hut ins Gesicht ziehen« vergleichen? aber
das Gesicht als Fläche gestattet natürlich ein »in«: ins Feld ziehen!
Beurteilungen.
443
Schlussfolge würde der Verfasser wohl alles Ernstes von sich
ablehnen; nichtsdestoweniger sehe ich nicht ein, wie er der-
selben entgehen könnte: entweder fällt das Woher so gut
als das Wohin mit dem Wo zusammen, oder wir müssen
Ausgang, Richtung und Ruhe als ursprüngliche Unter-
scheidungen gelten lassen und danach die Sprachanschauung
bestimmen, möge sie uns natürlich oder sonderbar scheinen,
zum deutschen Sprachgebrauch stimmen oder nicht. Wie
wenig der letztere maßgebend sein kann, zeigt Simonyi
§ 454 fin. (2. Aufl.) an Beispielen wie : auch Götter nahmen
Teil am trojanischen Kriege — magyar. istenek is részt
vettek a trójai háborúban, Perseus vertraute auf die Hilfe
der Götter = Perseus bîsott as istenek segítségében, sie
fürchteten sich vor dem Feinde, fêltek az éllenségtôl u.s.w.,
in denen entweder nal ra elött oder: in, in, von . . . weg
Uebereinstimmung bewirken würden. Der Satz finn, heräsivät
sydän-yön aikana lapsen itkuhun1 magyar, éj-fél-hor a gyerniek
sirástul fol-ébredének »um Mitternacht erwachten sie am
Weinen des Kindes« weist Bestimmungen des Wohin, Woher
und Wo auf: ins W., vom W., am W., alle drei verständlich;
der Illativ auf h-n insbesondere bezeichnet sehr auschaulich
das Andauern des Weinens auch nach dem Erwachen.
Wie willkürlich, diesen Illativ zu einem indifferenten Orts-
casus abzuschwächen, der magyarischen tul (toi)-Form die
Ablativkraft zu belassen, und doch treten beide Casus in
gleichen Gegensatz zu unserem am? Der Verfasser müsste
auch, wollte er consequent verfahren, nicht nur aus dem
Wo das Wohin, sondern auch aus dem Wohin das Wo
hervorgehen lassen, d. h. er käme auch in den Fall, die
Ruhe zur Richtung zu stärken, wie er rücksichtslos die
Richtung zur Ruhe abschwächt. Wenigstens finn, käydä
»gehen« verbindet sich häufig ebenso auffällig mit dem
Inessiv als z. B. löydä »finden« mit Elativ: kävin koidussa
kirkossa Saksassa »ich ging in die Schule, in die Kirche,
1 Sydän Genet, syäämen Herz, Mitte, yö Genet, yön Nacht, ailcana
Essiv von aika Zeit: um die Zeit der Mitternacht; cj Nacht, fcl Hälfte,
Tcor Zeit, um.
444
Franz Misteli,
nach Deutschland«; aus Hunf. finn.Chrestom. gehören hierher:
mökkiläisen luona ltäyää = menni a Tcunyhó lakosához zum
Hüttenbewohner gehen (luona als Essiv nur: in der Nähe,
bei), olivat monesti jo kauppiän Jcodissa käynet — már sokszor
tértek volt be a kereskedö házáhos sie waren schon (jo, már)
oft ins Haus (koti, ház) des Kaufmanns gekommen, ei tullut-
kän häneltä talossa käyneksi — nem is kellett már nehi a
házba mennie es schickte sich auch (han, is) nicht mehr für
sie, in das Haus zu gehen. Die Casus des Wohin, Illativ
und Allativ, schließt käydä nicht aus: oli metso käynyt
ritahan = erdei fajd a madár-fogóba akadt volt ein Wald-
huhn war in die Vogelfalle geraten, milloin-ka käy-pi rysähän
metso, tai ritahan hauki = mikor is kerül varsaba erdei fajd,
vagy madár-fogóba csuka wann käme auch ein Waldhuhn in
eine Reuse, oder ein Hecht in eine Vogelfalle? yhdessä paikalle
kävimme — együtt a helyre menénk wir gingen zusammen an
den Platz. Wenn man den sonderbaren Inessiv der ersten
Gruppe von Beispielen gelten lassen muss, was hilft es, den
sehr verständlichen III- resp. Allativ zu bemängeln? Diese
eigentümlichen Fälle des Woher und Wo berechtigen uns,
auch die eigentümlichen Fälle des Wohin als wahre Hl- resp.
Allative hinzunehmen und jede Analogie mit dem indo-
germanischen Locativ abzuweisen, der obendrein nicht, wie
die uralaltaischen Richtungscasus, eine deutliche und un-
zweifelhafte Wo-Form zur Seite hat, sondern Wo und Wohin
gleichmäßig entspricht.
Etwas Einzelnes ! S. 201 sagt der Verfasser: »Beide Male,
bei »sich stürzen in« und »umkommen in« der sogen. Illativ;
wirklicher Illativ ist aber im letzten Falle unmöglich« u. s.w.
Aber was Aristophanes V. 789 der Wolken sagen durfte ovx
sç xÔQccxaç anoqi&sQsï »pack dich doch zum Geier«, wo z. B.
Theod. Kock nachzusehen, das wird am Finnen und Magyaren
nicht Anstoß erregen: polka kuoli vetehen »der Knabe starb
im (eigentlich ins) Wasser«, und ebenso magyar, vizbe fúlni
halni vesmi »ertrinken« eigentlich ins Wasser ersticken,
sterben, untergehen. Ist wirklich die Annahme eines Illativs
»unmöglich« und diejenige einer indifferenten Ortsbestimmung
Beurteilungen.
445
das einzig Zulässige? Ist »verschwand im Wasser« und »ver-
schwand ins Wasser« dasselbe und wer verbietet die letztere
Construction bei »sterben« in anderen Sprachen? etwa der
deutsche Sprachgebrauch? Die Verse Kalew. V 141 flg. veden
halvosta hatosi | hiven hirjavan sisähän »verschwand von der
Oberfläche des Wassers | in einen bunten Stein hinein«
(sisä Innenseite) bieten ein Verbum, hatosi Infinitiv hadota,
dessen Bedeutung zwischen »sich stürzen« und »umkommen«
schwankt; hier würde auch der Verfasser den Illativ nicht
»unmöglich« finden. Aber auch bei den übrigen Verben
stimme ich Jahnsson bei, der S. 62 fortwährende und über-
wältigende Einwirkung als Sinn dieser Construction angibt;
huoli vedessä wäre: »starb im Wasser«, sodass das Wasser
nur als Ort, nicht als Ursache des Todes erschiene; huoli
vedestä »starb vom Wasser« würde zwar die Ursache be-
zeichnen, aber lange nicht mit der Anschaulichkeit und
Prägnanz, als das gewöhnliche veteiien »ins Wasser«. Danach
sind Kalew. I 47—50 variheni sanoihin sampo, hatoi1 Louhi
luottehisin, virsihin Vipunen huoli, Lemminhäinen leihhilöihin
»es wurde in Sagen Sampo alt, es schwand Louhi in Zauber-
formeln, in Liedern Vipunen, Lemminkäinen in Spielen« mit
vier Illativen, als »S. L. V. L. wurden zu Tode resp. gesagt,
recitirt, gesungen, gescherzt« zu verstehen sc. durch den Eifer
der Sänger und wegen der Fülle des Stoffes; es leuchtet ein,
dass ein Inessiv dies nicht ausdrücken könnte. Warum soll
hier der Illativ kein echter, ursprünglicher, dem Inessiv eben-
bürtiger Casus sein?
Ferner : Beispiele wie mille hänen üsi hartano-nsa näytt'ä
teista? Jiyvin haunïlle »wie finden Sie sein neues Haus ? sehr
hübsch», sollen den Allativ, mille haunïlle, als Essiv und
Ruhecasus erweisen S. 213. Warum nicht wörtlich: »Wor-
nach sieht sein neues (üsi) Haus aus — von .euch aus an-
gesehen? Nach (etwas) sehr Schönem?« Das ist nicht son-
derlich deutsch, aber der Gegensatz von mille haunïlle und
1 Imperi. Icatoi, Infinitiv Jcatoa, gehört mit dem obigen hatosi
hadota zusammen.
446
Franz Misteli,
teista, von Zielpunkt und Ausgangspunkt, unbestreitbar.
Zudem findet sich ganz ähnlich der Ablativ: tyttö näyttä
näppärältä »die Tochter scheint lebhaft« eigentlich die
Tochter erscheint von der lebhaften Seite; sogar Ablativ
und Elativ; minusta tuo näyttä hyvältä »mich dünkt es gut«
eigentlich von mir aus erscheint das von der guten Seite.
Wenn in gleicher Verwendung Casus des Wohin und Woher
nebeneinander treten, dürfen sie beanspruchen, entweder zu-
sammen in das Wo aufgelöst, oder in ihrem Gegensatze
erhalten zu werden. Man nehme z. B. omena maistü maJce-
alta »der Apfel schmeckt süß« eigentlich schmeckt von
Süßem, und hän löylcähtä vïnalle »er riecht nach Brannt-
wein« und gestehe, dass dasselbe bildlich von zwei ent-
gegengesetzten Punkten, ablativisch und allativisch, erfasst
wird; das eine ist so ursprünglich als das andere. Selbst
Kalew. XL 263 flg. Ei ilo Holle nousnut, soitto soitolle ylennyt
»nicht erhob sich Freude zu (wahrer) Freude, nicht erhöhte
sich Spiel zu (wahrem) Spiel«, 305 flg. Ei ilo Holle tunnu,
eiJcä soitto soitannalle »nicht wurde Freude nach (wahrer)
Freude, Spiel nach (wahrem) Spielen empfunden (aufgefasst,
verstanden)«, XLI 23 flg. Jo kävi ilo ilolle, riemu riemulle
remahti, tuntui soitto soitannalle, laulu laululle tehosi »nun
wurde Freude (erst recht) zu Freude, Jubel brach zu Jubel
aus, Spiel wurde nach Spielen aufgefasst, Gesang erstarkte
zu Gesang«, obwohl zum Teil »als« oder »wie« statt »nach«
oder »zu« den Sinn für Deutsche verständlicher machen würde,
enthält richtige, echte Allative, weil in ähnlichen Sätzen:
tämmoinen olo tuntü tusJcalliselta »eine solche Existenz wird
beschwerlich (als eine beschwerliche) empfunden« oder laulu
hülü Jcauntlta »der Gesang hört sich schön (als schöner) an«
(Jahns. S. 77) der Ablativ eintritt. Reicht das deutsche
»als, wie« aus, den Allativ zum Ruhecasus zu stempeln, wie
man nach S. 213 fast glauben muss, so wird vor diesen
Wörtchen auch der Ablativ auf sein ursprüngliches Woher
verzichten und mit dem Allativ im indifferenten Locativus
zusammenrinnen. Auch der adverbiale Gebrauch, zu dem
schon die letzten Beispiele neigten, hilft dem Verfasser nichts,
Beurteilungen.
447
weil er auch dem Woher nicht fremd ist: sen on tiedän
selvälle-hen »das weiß ich deutlich« wurde früher schon an-
geführt, aber auch: mies puhü lavealta asioista-han »der Mann
redet ausführlich von (-sta) seinen (-han) Sachen«. Gerade
bei sätJcälle(n) säthällä sätMssä »ordentlich« Allativ, Adessiv,
Inessiv von sätJcä »Reihe, Strecke, Ordnung, Zusammenhang«,
deren ersteres der Verfasser S. 213 anführt, zeigt sich der
Unterschied der drei Casus: sano sätJcälle-Jien sprich nach
(seiner) Ordnung, tulla sätkälle-hen in (seine) Ordnung kom-
men, mies on sätkällä-hän der Mann ist bei (seiner =) ge-
höriger Verfassung, hevonen ei ole oiJceassa scltJcässä-hän das
Pferd ist nicht in richtigem Zustande (nach Lönnrots Lexikon1).
Auch alle diese Einzelheiten können mich nicht bestimmen,
von der Ansicht der Ursprünglichkeit der allativen
und illativen Bedeutung abzugehen.
Vorstehende Erörterungen über das finn. Ile des Allativs
möge, wie diejenigen über magyar, nek, eine etymologische
Bemerkung abschließen: wie ssa des Inessivs aus sna, IIa
des Adessivs aus Ina, entstand Ile aus Ine, nur dass nun
nicht, wie na im Essiv für das eigentliche und übertragene
Wo, entsprechend ne für das Wohin und die Richtung ver-
wendet würde; vielmehr bezeichnet ne für sich den Gomitativ,
der sich sonst zu den Ruhecasus, namentlich zum Adessiv,
gesellt: isä poiJcine-hen »der Vater mit seinen Söhnen«. Dies
Moment zu Gunsten des Verfassers will ich nicht unter-
schätzen, obschon er nach dem, was er S. 214 ob., 318 und
sonst über Etymologie der Casussuffixe bemerkt, ihm selber
keine große Bedeutung beimessen möchte. Neben lie ist
auch llen üblich, das sein n wohl nur vom Illativ auf h-n
und sen bezog, um eine äußere Gleichmäßigkeit zwischen
ssa sen und lia llen herbeizuführen. Aehnlich lässt ja auch
der Verfasser S. 206 im Ehstnischen den Allatiy auf le einen
Illativ auf he se (de te) zeugen und so neben das Paar: l
und le für das Außen ein zweites: h s und he se für das
1 Finskt-svenskt lexicon af Elias Lönnrot, förra clelen 1874, p. VIII
1120, sednare delen 1880, p. 1083 — Helsingfors, finska litteratur-
sällskapets tryckeri. Siehe diese Ztschr. XIII 410 flg.
448
Franz Misteii,
Innen treten. Verdankt aber der finnische Allativ sein n
dem Illativ, so deutet das auf ein Vorwiegen der Kategorie
der Richtung, die nach lautlicher Gleichheit und möglichster
Unterscheidung von der Kategorie der Ruhe drängte. —
Wie schon früher angedeutet, blieb der Verfasser nicht
dabei stehen, den ugrischen Richtungs- resp. Allativ-Dativ
mit dem indogermanischen Locativ des Wo und Wohin zu
vergleichen, sondern sah sich gezwungen, weil der Allativ
nicht vom Illativ und diese nicht vom Translativ und Factitiv
getrennt werden konnten, den allgemeinen Satz aufzustellen,
dass die Richtung erst nachträglich und mehr scheinbar
bei Verben der Bewegung und des Geschehens einen Aus-
druck gefunden und kaum irgendwo sich reinlich vom Ruhe-
zustand losgelöst habe. Das nötigt auch mich, die bis jetzt
nicht näher betrachteten übrigen Richtungssuffixe zu be-
trachten, nämlich zunächst im Magyar, be des Illativs, ra
des Sublativs, lioz des Allativs, va vê des Translativs oder
Factitivs. Und da scheint es allerdings, als gerate be und
ben, Illativ und Inessiv, untereinander. So bemerkt schon
Riedl in seiner Grammatik S. 73, in der Volkssprache heiße
hdzba auch »im Hause« und Jcertbe »im Garten«; der Ver-
fasser illustrirt diese Verwechselung schon für die ältere
Litteratur, ohne doch die Sache ins Klare zu bringen; viel-
mehr äußert er S. 314 Anm.: »dass ein so starkes Schwanken
dialektisch möglich ist, bleibt beachtenswert, selbst wenn
wir, wohl mit Recht, annehmen, dass im allgemeinen auch
dialektisch be ben nicht unterschiedslos gebraucht wurden«
und S. 196 gar nur: »ich glaube, wovon später mehr, dass
dialektisch be noch heute ohne angefügtes n wie ben gebraucht
wird«. Beispiele wie hiszek istenben mindenható atyába »ich
glaube an Gott den allmächtigen Vater«, die jeder Ratio
entbehren, verwirren die Frage noch mehr. Ein Richtungs-
suffix beim Verbum »sein« zeigt der Satz: balra van a mi
házunk, nicht balón (Sim. § 443) »Links liegt unser Haus«.
Aber gerade hierin sähe der Verfasser einen Beweis, dass
auch ra ursprünglich nur die Ruhe bezeichnete, und ich ge-
stehe gern, dass das S. 322 Anm. beigebrachte as oltárra
Beurteilungen.
449
vaiò kenyereket »die auf dem Altar befindlichen Brote« (Accus.)
seinen Eindruck nicht verfehlte. Wenn er aber auch die
Construction der Verba des Schwörens: esküszik a templomra
»er schwört beim Tempel« (S. 311. 322) für diesen Zweck
benutzt, so beweist doch die deutsche Uebersetzung nichts;
als wenn sich nicht »auf. . . hin« denken ließe! So gestatte
ich mir, arra kért engem hogy ... als »er hat mich dahin
(= darum) gebeten, dass . . .«, becsületemre mondom als
»ich sage es euch auf meine Ehre hin« und balra magyarázni
als »nach der falschen (eigentlich linken) Seite auslegen« zu
verstehen (aus Töplers Gramm., 1871, S. 117 unt.). Nicht
einmal von hoz, dessen allative Kraft der Verfasser S. 315
sehr hervorhebt, möchte er S. 316 annehmen, dass es einen
»eigentlichen Richtungsexponenten darstelle«, wohl am meisten
wegen des ostjakischen hoza, das als »deutliche Ruhebezeich-
nung« S. 297 nachgewiesen wird ; denn aus dem magyarischen
Sprachgebrauch dürfte das für hos kaum möglich sein. Sogar
das sonst stets factitive vá verdächtigt der Verf. S. 331 da-
durch als »indifferent örtlich«, dass er odutta vola neki
paradisumut hazóá der Leichenrede mit »hatte ihm das Para-
dies als (warum nicht: zur?) Wohnung gegeben«, übersetzt,
während doch die Raumadverbien: hová oder hova »wohin«,
egyïivê oder együve »in eins, zusammen«, másuvá oder másuva
»anderswohin«, tova »dorthin, fern«, tétova (aus tevé-tová)
»dahin dorthin, hin und her, verlegen« den ursprünglichen
Sinn deutlich erkennen lassen, wenn auch einzelne wie messze
»fern« aus mesz-ve, össze »zusammen« aus ösz-ve ihn nicht
immer streng beibehalten. Ein Schwanken ist bei diesen,
so sehr vom Subjecte abhängigen Bestimmungen garnicht
auffällig und findet ebenso gut zwischen Wo und Woher,
als zwischen Wo und Wohin statt, was der Verfasser auch
hier wieder übersah. Unter den Gasussuffixen gibt l in böl
»von innen heraus«, toi »von — weg«, rol »von oben herab«
den Ausgangspunkt an, dagegen in nal »bei, in der Nähe«
und ul des Essivs die Ruhe; alul (alöl) »unten«, fölül (folöl)
»oben«, belül (belöl) »innen«, elül (elöl) »vornen« antworten
für sich auf die Frage: wo, und nach Stammformen auf die
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 4. 29
450
Franz Misteli,
Frage: woher (Sim. §443 2. Aufl.): alul marcici a vis »unten
bleibt das Wasser«, as ágyon alul eigentlich beim Bette
unten »unter dem Bette«, as ágy alól »unter dem Bette
hervor«, elül tüsbe, Mtul visbe »vornen ins Feuer, hinten ins
Wasser«, ssemök elöl »vor ihren Augen weg« u.s.w.; hol
»wo«, tul »jenseit«, távol »fern«, Mtul »hinten«, kivül
»draußen«, Jcörül »ringsum«, kösel »nahe«, kösül »zwischen«,
nélJcül »ohne«, útol »hinten« enthalten Ortsbestimmungen der
Ruhe, aitai »durch«, keresstül und kásul »quer« bezeichnen
eine Richtung: a Dunán aitai »durch die Donau«, eis erdön
keresstül »mitten durch den Wald«. Das ursprüngliche Woher
wird wieder durch Anhängen von rol böl aufgefrischt: alulról
»von unten«, belülröl »von innen«, elülröl »von vorne«,
fölülröl »von oben«, hátulról «von hinten«, kivülröl »von
außen«, távolból »aus der Ferne«. Weil der Verfasser nach
S. 225 und 319 den Casus bei Postpositionen für einen
Adessiv ansieht, so würde er nur consequent handeln, wenn
er in diesen ol (ül)- Formen zunächst die Ruhe ausge-
drückt fände und das Woher von der Einwirkung des be-
gleitenden Verbums ableitete. Oder dann müsste er sich zu
dem Schlüsse bekennen: wenn trotz einigem Schwanken die
Vorstellung des Woher ausgebildet war, so konnte es auch
die des Wohin sein; die Verhältnisse sind durchaus analog.
— Was die Bildung angeht, so zeigen sich be (= hele) ra
vá als bloße Stämme, was für das erste Suffix die zur Seite
befindlichen Formen -ben benn »innen«, -böl belöl »von
innen« besonders deutlich machen, wie ja auch föl »hinauf«,
ki »hinaus«, le »hinab« bloße Stämme sind — ob prono-
minaler oder substantivischer Art, bleibt gleichgültig. Fehler-
haft ist es, wenn der Verfasser S. 194 föl und bei »der Form
nach adessivisch« bezeichnet, während l hier zum Stamme
gehört und mit dem soeben besprochenen l nichts gemein 1
hat. Vielmehr ist es ganz in der Ordnung, dass Stamm-
1 Dass sich belöl als Suffix zu böl verkürzte, ist sicher; dann
konnte analogisch auch bele zu be und *belen *belent zu ben(n) bent
werden; so erweist fönn fönt neben föl noch keinen Stamm fö, so
wenig -Mnt einen Stamm ké(p) »Bild«.
Beurteilungen.
451
formen dem Ausdrucke der Richtung dienen, wie finn, haliti
quer durch, kohti gegen nach, lihi nahe—zu, luo zu, läpi
durch—hin, ohi neben—hin, poikki quer durch, sivu vorbei,
taha nach—hinten, tyhö zu, yli über—hin, ympäri um herum
(sieh diese Ztschr. XIV 299 flg. 364) dartun können. Nur
Uhi widerstrebt der Ruhe nicht: talo on Uhi hirhhoa »das
Haus ist bei der Kirche« und ist vielleicht mit magyar, balra
van, oltárra vaiò (sieh oben) zu vergleichen. Sonst werden
diese Stammformen so consequent und ausschließlich im
Sinne des Wohin verwendet, dass man sich schwerlich über-
redet, der Begriff der Richtung sei nicht ursprünglich und
genügend ausgebildet gewesen. Im Gegenteil kommt das Wo
und das Woher bei diesen finnischen Stämmen so zu Stande,
dass die Suffixe des Essivs und des Partitivs erst antreten:
luona tyhönä bei, luota tyhöä von—weg, luo tykö zu—hin,
für welches letztere auch luohsi und työlcsi, offenbar spätere
Bildungen, Ersatz leisten1. Oder wäre es glaublich, dass
der Stamm dieser Präpositionalsubstantive anfänglich allen
drei Bestimmungen genügt hätte — nicht etwa nur dem Wo
und Wohin —, bis durch Hinzufügen der Essiv- und Partitiv-
formen eine Beschränkung desselben auf die Richtung er-
folgte? Diese Anschauung gestatten auch die magyarischen
Stämme. Das finn, hse des Translativs endlich, das bei
Adverbien als s erscheint, d. i. in der vor Vocalen nach
Abfall des e entstandenen und verselbständigten Gestalt, ist
nichts weniger als »indifferent local« (S. 197), wenn auch
das eine oder andere Beispiel Zweifel erwecken kann, wie
das früher erwähnte tallä eletän herroihsi »hier lebt man
als Herren«. Indessen tritt hier der Translativ statt des
Essivs nach einem Verbum des Geschehens so ein, wie der
Illativ und Allafiv statt des Inessivs und Adessivs: einem
huolla nälhähän »vor Hunger (eigentlich in 'den Hunger)
sterben« entspricht età herroihsi »als Herren (eigentlich in
1 työ »zu—hin« ist analogische Mischung von tyTcö und työlcsi;
ebenso taa »zurück« von talca und taalcsi: jos Icäytteünin taalcsi »wenn
Ihr hinter den Ofen geht« und meni jo ûnin taa »er ging nun hinter
den Ofen« — aus Hunf. finn. Chrestom.
29*
Franz Misteli,
die Herren) leben«. Dahin gehören auch mehrere der S. 203
aus dem Ehstnischen citirten Beispiele: als etwas bleiben,
lassen; gerade diese Verben würden für Raumbestimmungen
die Wohin-Casus verlangen. Konnte uns dieser Sprach-
gebrauch nicht bewegen, dem Illativ und Allativ Gleich-
gültigkeit gegen Ruhe und Richtung zuzuschreiben, so werden
wir auch den Translativ in entsprechender Verwendung nicht
als essivisch gelten lassen. Uebrigens könnte sich im Ehst-
nischen der Translativ auch bei Verben der Ruhe, des
Seins, wie im Magyarischen neh, eingedrängt haben von
zweideutigen Beispielen aus, ohne dass uns das berechtigte,
sein Wesen als indifferent local anzusehen.
Damit machte ich einen schwachen Versuch, auf die
verwanten Dialekte einzugehen. Ich gebe aber, meinem Ver-
sprechen gemäß, mich auf das Magyarische und Finnische
zu beschränken, nur noch der Verwunderung Ausdruck, wie
zuversichtlich der Verfasser S. 200 über das syrjänische ön
en spricht: »Am deutlichsten sehen wir seine rein locale,
am öftesten ruhende, adessivische Bedeutung daraus, dass es
steht zur Ergänzung mancher Begriffswörter, besonders Ad-
jective, wie der griech. Genetiv oder Accusativ, wo die
deutsche Sprache meist verschiedene Präpositionen gebraucht,
wie: an mit von«. Wie wenig dieser Umstand allein ge-
nügte, um die Adessivnatur der betreffenden Formen sicher
zu stellen, zeigt das Finnische, das Adjective durch Elative,
Ablative, Allative näher bestimmt: poika on jaloista-nsa
kipeä, Icäsistä-nsä arka »der Knabe ist an seinen Füßen
krank, an seinen Händen empfindlich«, kaunis katsannoisilta-
nsa, aina joutusa jalalta »schön von Ansehen, immer hurtig
zu Fuße«, yksi on jouksulle jalompi, toinen raisu raJikehille
»das eine (Pferd) ist besser für das Laufen,'das andere rasch
für die Riemen« (Jahns. S. 56, 77, 80), und obendrein auch
durch den Genetiv-Adessiv, wofür schon das Beispiel kylän
vireä kodin laiska citirt wurde. Dagegen kann ich eine all-
gemeine, alle Dialekte betreffende Vorstellung nicht unerwähnt
lassen: es scheint für den Verfasser selbstverständlich, dass
da, wo die Casus des Wo und Wohin nicht geschieden sind,
Beurteilungen.
453
der ursprüngliche Zustand vorliegt, »über welchen sich alle
finn. (= ugr.), samojed., türkischen Sprachen durch den
anscheinend bedeutungslosen, aber folgenschweren Schritt
erhoben haben, dass sie beim Ausdruck der verweilenden
Ruhe an einem Orte, ohne dass sich an dem Orte eine
Tätigkeit äußert, diesen Ort durch ein stärkeres, bestimmteres,
oft mit dem sonst gebräuchlichen zusammengesetztes Element
stark hervorhoben, während dem einfacheren die Elemente
blieben, wo Handlung und Ort nicht so selbständig neben-
einander treten, sondern mehr eine Einheit bilden, also Be-
wegung nach, Beziehung, Handlung irgendwo. Die Scheidung
zwischen Inessiv und Illativ war da . . . weil bei einem
Verbum der Bewegung das locale Ziel zunächst als ein zu
tangirendes erscheint, also ein: Stadt-Ort gehen gleich ist
einem: in die Stadt gehen (Illativ), nicht: in der Richtung
der Stadt gehen« S. 192. »Ein weiterer Fortschritt war es,
wenn statt des bloßen leichten Hinweises auf den Gegenstand
als Basis der Handlung mittels eines indifferent localen Ele-
mentes angedeutet wurde, dass die Handlung an, bei dem
Gegenstande sich äußere, zunächst auch wieder weder Ruhe
noch Richtung, sondern je nach dem Verbum bald das eine,
bald das andere, aber mit der unverkennbaren Neigung zu
ruhender Auffassung, bei einem die Nähe bezeichnenden
Suffixe sehr erklärlich. Wieder waren hier mehrere Wege
möglich« . . . S. 193. Es folgt dann der curiose1 Satz:
»Wir werden allerdings bald sehen, dass möglicherweise
dieser im Uralaltaischen einzig dastehende Dativ mit der
Bedeutung einer Richtung schon von Hause aus diese
ebenfalls nur durch den Zusammenhang, die Bedeutung der
regierenden Verba, erhalten hat.« »Lediglich die westfmn.
(= westugr.) Sprachen, und auch diese nicht durchweg,
haben neben einem deutlich ausgeprägten Adessiv einen
1 Damit vergi. S. 185 »Der uralalt. sog. Dativ und andere ähnlich
gebrauchte Casus stellen solche Locative dar, mit fast durchweg nach-
weisbarer und ursprünglich fast wohl durchgängig indifferent localer
Bedeutung, mit derselben hie und da auftretenden Neigung, speciell die
Idee der Ruhe zu vertreten« u. s. w.
454
Franz Misteli,
eben solchen Allativ-Dativ, und auch hier ist allem Anschein
nach die Allativbedeutung secundär« S. 369. Der Gedanke
der Entwicklung ist für den Verfasser ein Axiom, dem er
gelegentlich selbst untreu wird. Vom Jakutischen, das in
seinem ga gä Ruhe und Richtung verschmilzt und dadurch
von den andern türkischen Sprachen sich unterscheidet,
gibt es der Verfasser S. 399 unt. nicht zu, dass es »den
ursprünglichen Zustand rein überliefert hat« und gesteht,
»dass Spuren der vorher signalisirten Zweiteilung nach
Richtung und Ruhe wahrscheinlich schon in den ältesten
Phasen türkischer Sonderentwicklung verfolgbar sein dürften«
S. 400 ob., ebenso wenig vom obdorskischen Dialecte des
Ostjakischen, der »Ruhe und Richtung, und zwar als In-
essiv, Illativ, AUativ unterschiedslos durch das vorwiegend
ruhende na« ausdrückt und so »eine Gestaltung zeigt, wie
wir sie als primitive bei allen finn. Sprachen voraussetzen
durften, die aber sonst von allen aufgegeben« wurde S. 299.
Hier wäre also der Verfasser geneigt, ein Verschmelzen des
anfänglich Getrennten anzunehmen, und wäre eine solche
Annahme für diejenigen ugr. Sprachen, welche keinen
eigenen Allativ-Dativ besitzen, unmöglich? Das Gesetz der
Vocalharmonie z. B., obwohl es mehrere Ausnahmen leidet,
wird doch von den meisten als Ureigentum wenigstens der
ugr. Sprachen anerkannt und nicht denjenigen Sprachen,
welche es nicht mehr oder trümmerhaft aufweisen, größere
Ursprünglichkeit zugeschrieben (Donner S. 9, besonders 11).
Auch darüber sind berechtigte Zweifel gestattet, ob das für
die finn. Sprachen so charakteristische Gesetz der Con-
sonantenschwächung erst innerhalb der einzelnen Gruppen
aufgekommen sei, oder als später vielfach gestörtes und hie
und da aufgehobenes Grundgesetz zu gelten habe (Donner
S. 31 flg.). Sollte für die Casus diese Alternative nicht be-
stehen? Sie brächte natürlich die ganze Betrachtung des
Verfassers ins Ungewisse und machte seine Resultate un-
sicher, am meisten die von diesem Gesichtspunkte aus ent-
worfene Gruppirung S. 373. Ich will aber lieber von diesem
allgemeinen Bedenken absehen und als Schluss meiner lang
Beurteilungen.
455
ausgesponnenen Besprechung das hinsetzen, was ich be-
wiesen zu haben glaube: Der magyar. Richtungsdativ und
der finn. Allativ-Dativ fallen mit dem örtlich indifferenten
Locativ des Indogermanischen nicht zusammen; denn ab-
gesehen davon, dass den ersteren noch eigentliche Locative
des ruhigen Wo zur Seite stehen, verlangen die Ausdrücke
der Bewegung und des Geschehens, auf die sich der Ver-
fasser stützt, nicht nur für uns auffällige Wohin-, sondern
auch Woher-Casus, was jede Aehnlichkeit aufhebt, und
lassen sich die sonstigen Richtungscasus nur aus der
deutschen Uebersetzungsart und nicht aus der Unmöglich-
keit ihrer Raumvorstellungen als ursprünglich indifferent
gegen Ruhe und Richtung erweisen. Vielmehr ist der Unter-
schied des Wo, Woher, Wohin ursprünglich, jedenfalls gehen
die beiden letzten einander parallel. Man kann daher
allerdings den magyar. Dativ, der die bloße Richtung be-
zeichnet, weniger den finn., der das Ziel einschließt, dafür
benutzen, die Entstehung des indogerm. Dativs aus einem
Casus der Richtung glaublich zu machen, ohne damit
Identität zu behaupten. Denn zwei Unterschiede stechen
hervor: 1. die uralalt. Sprachen scheinen keinen ethischen
Dativ zu kennen, die feinste Blüte des indogerm. Dativs,
°2. viele indogerm. Dativ-Verhältnisse, vor allem »haben«,
werden adessi visch wiedergegeben, weniger im Magyarischen
als im Finnischen. Der magyar. Dativ hat im Gegensatz
zum finn, das räumliche Element, in das sich die andern
gröbern Wohin-Casus teilten, zum großen Teil beschränkt
und dafür, freilich mit Unterstützung der Possessivsuffixe,
genetivischen und possessiven Gebrauch angenommen; dies
letztere unterscheidet ihn sowohl vom indogerman. als vom
finn. Dativ.
Einem so bedeutenden Buche gegenüber ^glaubte ich
meine abweichenden Ansichten ausführlich begründen zu
müssen, zugleich wenigstens teilweise ein Versprechen ein-
• lösend, das Bd. XIII S. 446 meiner Feder entschlüpft war.
Weniger unvorsichtig schließe ich hier ein anderes an, auf
einige sprachwissenschaftliche Fragen des wunderbar reichen
456
Franz Misteii, Beurteilungen.
Mittelstückes S. 54—171 bei Gelegenheit zurückkommen zu
wollen, wobei ich inzwischen dasselbe der Aufmerksamkeit
aller angelegentlich empfehle, die ihr Auge an der Mannig-
faltigkeit menschlicher Sprachbildung weiden wollen.
Basel, den 10. August 1885. Franz Misteii.
Anmerkung. Es wäre wohl passend gewesen, die vielen russi-
schen Lehnwörter in der Bibelübersetzung sibirischer Dialecte, die hier
dieselbe Rolle spielen wie die Sanskritwörter in den dravidischen :
gre/ü Sünde, du/ü Geist, pravednikü Gerechter, sudü Gericht, sudija
Richter, razbojnilcü Räuber, pustynja Wüste, vinogradnikü Weingarten,
igo Joch u. s. w. durch den Druck irgendwie auszuzeichnen; auch tür-
kische mögen mit unterlaufen.
Franz Kern, die deutsche Satzlehre, eine Untersuchung ihrer
Grundlagen. Berlin (Nicolai) 1883 etc.
Von Fr. Kern, Gymnasialdirector in Berlin, sind in den
letzten Jahren vier kleinere Schriften über die deutsche Satz-
lehre erschienen, die zum Teil pädagogischen Inhalts, zum
Teil sprachwissenschaftlichen Untersuchungen gewidmet, auch
die Leser dieser Zeitschrift interessiren dürften. Namentlich
die erste derselben, »Die deutsche Satzlehre«, wendet sich
auch an Sprachforscher und Philosophen. Wir beschränken
uns auf die fünf Hauptcapitel dieser einen Schrift, deren
Resultate, soweit sie praktisch zu verwerten sind, eine
präcise Formulirung in dem für Schüler bestimmten »Grund-
riss der deutschen Satzlehre« gefunden haben.
Kern gibt zunächst eine Definition des Satzes : Satz und
Urteil sind nicht identisch. Die Hineinmengung logischer
Abstractionen in die Grammatik hat der letzteren überhaupt
unsäglich geschadet. Das Urteil ist eine Subsumption; im
Urteil verbinden wir Art- und Gattungsbegriffe. Das Urteil
beruht auf der Trennung und Verbindung zweier durch ein
G. Th. Michaelis, Beurteilungen.
457
Substantiv ausdrückbarer Subsistenzb egriffe. Aber vom Satz
zu behaupten, wie es geschehen ist, dass er seinem Wesen
und Ursprung nach aus zwei Substantiven bestehe, die in
ein Verhältnis zu einander gesetzt sind, ist falsch und ab-
geschmackt. An ein Verhältnis von Art und Gattung wird
höchstens in einem sehr kleinen Teil, einer Art von Sätzen
gedacht. Durch einen Schluss (eine kategorale Verschiebung
der Hauptbegriffe) kann man aus einem Satz wie: »Der
Baum blüht« ein Subsumptionsurteil machen, aber dieser
Schluss wird tatsächlich nur selten gemacht, ist meist un-
zweckmäßig und wunderlich. Ein Subsumiren findet in der
Regel garnicht statt. Die Einteilung der Urteile vollends
nach Quantität, Qualität und Modalität entspricht nicht im
mindesten der Einteilung der Sätze, die die Grammatik
fordert. Aber auch von einer durch Denktätigkeit herge-
stellten fertigen Gedankenverbindung, wie sie z. B. durch ein
attributiv bestimmtes Substantiv ausgedrückt werden kann,
ist der Satz gänzlich zu unterscheiden. Der Satz ist nicht
schlechthin Ausdruck eines Gedankens. Gegenüber den
fertigen Gedankenproducten verrät er ein Leben und Werden
des Gedankens, eine Triebkraft, die der eines Aeste und
Zweige hervortreibenden Baumes entspricht. Hierin liegt
erst sein eigentümliches Wesen. Im Satze bildet, vollzieht
sich erst der Gedanke, zeigt die Denktätigkeit sich in Be-
wegung, übt ihre gestaltende Kraft aus. Nur eine einzige
von allen andern gänzlich verschiedene Sprachform aber,
nämlich das finite (nach Grimms Ausdruck »das stehende«)
Verbum, drückt dieses Werden und sich Entwickeln des
Gedankens aus. Kern definirt folgerichtig den Satz als einen
mit Hilfe eines finiten Verbums ausgedrückten Gedanken
oder Willen. Im finiten Verbum allein werden zwei Vor-
stellungen zu untrennbarer Einheit verbunden, eine Sub-
sistenz und ihr Zustand, jene durch diese bestimmt. Zwar
gibt es auch Worte, wie ja und nein, die unverbunden mit
einem Verbum ein im Augenblick des Sprechens sich voll-
ziehendes Denken oder Wollen ausdrücken; aber wollte man
sie auch schlechthin Sätze nennen, so würde ein bestimmter
458
C. Th. Michaelis,
Terminus gerade für die häufigste und wichtigste Art von
Sätzen fehlen. Kern nennt daher nur die Wortfügungen
einen Satz, in denen ein Verbum fmitum steht oder mit
zweifelloser Klarheit ergänzt wird; für jene satzartigen Worte
erklärt er dagegen keinen entsprechenden Namen zu kennen
oder vorschlagen zu wollen.
Das Verbum finitum unterscheidet sich vom Infinitivus
und Participium durch seine Personalendung. Drückt In-
finitivus und Participium den Verbalinhalt in der Form des
Substantivums und Adiectivums ohne jeden Zusatz aus, so
muss das Verbum finitum den Verbalinhalt in Verbindung
mit dem durch die Personalendung Bezeichneten darstellen.
Was ist dies letztere nun? Keineswegs eine bloße Beziehung
auf ein ausgedrücktes oder verschwiegenes Nomen. Wer das
behauptet, verkennt vielmehr das ganz eigentümliche Wesen
der flectirenden Sprachen und degradirt das Verbum finitum
zum Casus. Die Personalendung drückt immer eine Sub-
sistenz aus, an der der Verbalinhalt haftet. Dies gilt von
allen Personen, sogar der dritten Person der sogenannten
verba impersonalia. Bleibt auch diese Person dem Inhalt
nach ganz unbestimmt, so wird doch der Zustand durch die
Person einer vom Redenden und Angeredeten verschiedenen
Subsistenz zugewiesen, während im Infinitive jede derartige
Beziehung fortfällt. Gerade die Verba, die man unpersön-
liche nennt, haben die Eigentümlichkeit, immer ein und
demselben Subject treu zu bleiben. So liegt also in jeder
Person des Verbum finitum schon ein Subject, eine Sub-
sistenz, an der der Verbalinhalt haftet, wenn auch völlig
unbestimmt rücksichtlich ihrer Beschaffenheit; und um nicht
das Subject einmal in der Verbform selbst und das andere
mal im vorgesetzten Substantivum oder Pronomen zu suchen,
schlägt Kern für den der Verbform beigegebenen Subjects-
nominativ die Bezeichnung Subjectswort vor, während er
den Namen Subject für den in der Verbform liegenden Begriff
der Person allein verwendet wissen will. Damit ist die
Frage nach der Existenz subjectloser Sätze entschieden :
Subjectlose Sätze existiren nicht; Sätze ohne Subjectswort
i iHimmiwmmumi
Beurteilungen. 459
sind dagegen häufig: Imperativische Sätze z. B. oder Sätze
wie »Füllest wieder Busch und Thal etc.«, »bin weder
Fräulein, weder schön«, »Sangen's«, »Sprach's« entbehren
allerdings jedes Subjectswortes ; aber das Subject ist in ihnen
ebenso deutlich bestimmt, wie es durch den Zusatz eines
Fürwortes geschehen würde, und die Annahme einer Ellipse
völlig überflüssig. Das im Nominativ stehende Pronomen
oder Nomen ist eine Art appositioneller Hinzufügung zum
Subject, welche entweder die ungemein weite Sphäre der
dritten Verbalperson beschränkt, oder die schon im Verbum
finitum bezeichnete, aber bis zur Unkenntlichkeit verwischte
erste und zweite Person deutlicher zum Bewusstsein bringt.
Der Subjectsnominativ regiert nicht das finite Verbum, son-
dern er ist seine nächste Bestimmung. Person und Numerus
stimmen im Subjectsworte und im Verbum finitura überein;
aber eine Abhängigkeit des letzteren vom ersteren besteht
ebensowenig, als der Casus von der Präposition und der
Modus von der Conjunction abhängig ist. Will man den
Ausdruck Abhängigkeit überhaupt zulassen, so ist das Sub-
jectswort vielmehr vom Verbum finitum, dem Satz in nuce,
der Subject und Prädicat schon enthält, nicht anders als
alle Satzbestimmungen abhängig. Es empfiehlt sich jedoch,
das Subjectswort eine Bestimmung des Subjectes zu nennen.
Auf der unzerlegbaren Einheit des stehenden Verbums be-
ruht der ganze Satz; alle hinzukommenden Satzteile be-
stimmen Subject und Prädicat, und zwar das Subjectswort
die Person, der Prädicatsnominativ und die obliquen Casus
dagegen den Verbalinhalt. Uebrigens ist auch der Vocativ
bei Imperativen ein Subjectswort. Letzteres steht also nur
in indieativischen oder conjunctivischen Sätzen im Nominativ,
in Imperativischen im Vocativ, dort als Gegenstand der bloßen
Vorstellung, hier als Gegenstand des Willens.« Der Imperativ
ist der Ausdruck einer Willensregung; der Vocativ bezeichnet
ebenso den gewollten Gegenstand. Der Gedanke verlangt
Uebereinstimmung zwischen dem Subjectswort und dem
Verbum finitum: »Drückt einmal der Imperativ ein Wollen
J
¡J8
460
G. Th. Michaelis,
aus, so muss auch sein Subject etwas Gewolltes bezeichnen«.
Daher der Vocativ.
Kerns Satztheorie führt also zunächst zu einer Berich-
tigung des Subjectsbegriffes. Sie führt weiter zur Berichtigung
des Prädicatsbegriffes. In jedem Verbum finitum liegt der
Ausdruck eines Zustandes, einer Subsistenz und einer Ver-
bindung dieser beiden Elemente. Dieser letzte Begriff bedarf
in der Grammatik eigentlich keiner Benennung, da diese
Synthese sprachlich nicht vom Subjecte und Prädicat zu
trennen ist. Soll sie benannt werden, so kann sie füglich
Copula heißen. Nur die logische, keine grammatische Analyse
weist diese Copula als einen wesentlichen Bestandteil des
Verbum finitum nach. Ist nun das Subject stets im Verbum
finitum zu finden, selbst da, wo ein inhaltsvolles Subjectwort
das eigentliche Subject fast vergessen lässt, so ist auch das
Prädikat, mögen noch so inhaltsvolle und gewichtige Prädi-
catsbestimmungen hinzutreten, im Verbum finitum zu suchen.
Dieses selbst drückt wie die Person, so den Zustand ganz
allein aus. Nun kann der Vorstellungsinhalt eines Verbum
allerdings so sehr verblassen, dass das sinnlich anschauliche
Element desselben dem gewöhnlichen Bewusstsein verloren
geht, völlig verschwinden aber kann er nicht; und selbst
ein so inhaltsarmes Verbum wie Sein schließt doch stets
einen wenn auch dürftigen Verbalinhalt in sich. Es ist daher
falsch, »ist« als Copula ohne jeden Begriffsinhalt zu be-
zeichnen. »Ist« bezeichnet immer noch irgend eine Art der
Existenz, wirkliche, gedachte, unmögliche, wünschenswerte etc.
Und ebenso falsch ist es, den substantivischen oder adjec-
tivischen Begriff, der uns in Verbindung mit dem Verbum
Sein so oft begegnet, das Prädicat zu nennen. Es ist eben
nur ein den Verbalinhalt näher bestimmender Satzteil, der
mit den übrigen Prädicatsbestimmungen, Adverbium, Ob-
ject etc. auf gleicher Linie steht. Die gewöhnliche Lehre
von der Copula ist also aufzugeben. Was man Copula
nannte, ist das Prädicat und mehr als das, ist Subject und
Prädicat, ist eigentlich der ganze Satz.
Kerns Satzerklärung führt aber auch zur Beseitigung
Beurteilungen.
4G1
der Unterscheidung von nackten und bekleideten und zur
Verwerfung des Begriffes der verkürzten und zusammen-
gezogenen Sätze. Jene Unterscheidung ist zwar nicht weiler
irreführend, aber verschwimmend, müßig und geschmacklos.
Dagegen Wortverbindungen, die kein Verbum finitum ent-
halten, Sätze zu nennen, ist geradezu falsch. Die soge-
nannten verkürzten Sätze sind nicht Sätze, sondern nur
Satzbestimmungen. Vollends die gewöhnliche Erklärung zu-
sammengezogener Sätze ist unerträglich. Zusammengezogene
Sätze sind in Wahrheit da vorhanden, wo eine Ellipse des
finiteli Verbums stattfindet, aber Sätze mit coordinateli Satz-
teilen können nicht, wie es gewöhnlich geschieht, zusammen-
gezogene genannt werden. Man nimmt allgemein an, dass
die verschiedenartigsten Bestimmungen die Einheit des Satzes
nicht aufheben. Es ist nicht abzusehen, warum mehrere
gleichartige Bestandteile der Zusammenfassung zur Satzein-
heit hinderlicher sein sollten. Die ursprüngliche Synthese,
aus der der Satz hervorgeht, wird doch durch keine Ver-
doppelung eines Satzteiles geändert. Man nenne derartige
Sätze, dem Tatbestand entsprechend, Sätze mit verdoppeltem
Subjectsworte etc. Dass es Sätze mit verdoppeltem Prädi-
cate nicht geben kann, sondern dass zwei Prädicate auch
zwei Sätze bedingen, versteht sich nach Kerns Theorie von
selbst.
Kern räumt noch weiter mit dem lästigen Ballast der
Schulgrammatik auf. Er verwirft — es steht das freilich
nur in loser Verknüpfung mit dem Grundgedanken seiner
Schrift — die Annahme des Artikels als einer besonderen
Wortklasse. Der bestimmte Artikel ist nur ein schwach be-
tontes Demonstrativ und der unbestimmte ein schwach be-
tontes Zahlwort. Für jenen wählt er den Namen Zeiger,
für diesen Zähler. Jener verliert nie seine deiktische Kraft,
dieser nie seine Zahlbedeutung. Gerade die Identität des
Begriffsinhaltes des betonten und unbetonten Demonstrativums
»der« und des betonten und unbetonten Zahlwortes »ein« zu
erkennen, erklärt Kern für pädagogisch wertvoller, als sich
hier mit willkürlichen und oberflächlichen Unterscheidungen
462
C. Th. Michaëlis,
herumzuschlagen, die nur das Denken verwirren. Auch die
Unterscheidung von Hilfsverben und selbständigen Zeit-
wörtern erklärt Kern für nichtig. Höchstens will er Haben,
Sein und Werden als Hilfsverba gelten lassen. Jeder Begriff
ist vollständig oder jeder unvollständig und nur die An-
schauung vollständig; aber der ganze Ausdruck unvollständig
ist für die Grammatik wertlos. Schließlich dringt Kern
auch auf möglichste Beschränkung in der Aufstellung von
Präpositionen. Das Vernünftigste wäre, nur diejenigen ur-
sprünglich Raumverhältnisse bezeichnenden mit dem Casus
eines Nomens verbundenen Wörter als Präpositionen zuzu-
lassen, die zur Zusammensetzung gebraucht werden können.
Die Präpositionen mit dem Genetiv sollte man streichen. —
So weit unser Referat. Wir verweisen im übrigen auf
Kerns Schriften selber, namentlich auch auf die polemische
Schrift »Zur Reform des Unterrichtes in der deutschen
Satzlehre«.
Kerns Satzlehre erscheint wenn auch nicht in allen
Stücken neu, so doch wohlbegründet und im Hinblick auf
den Zustand, in dem sich der grammatische Unterricht in
der deutschen Sprache auf den Gymnasien oft befindet,
einem Bedürfnis abhelfend. Die Einheit und das Wesen des
Satzes im fmiten Verbum zu suchen, in diesem die lebendige
Kraft des Satzes zu weisen, scheint mir allerdings der einzige
Weg, über die nichtssagenden oder irrtümlichen Satzdefi-
nitionen grammatischer und logischer Werke hinwegzu-
kommen. Die Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit des
Satzes gegenüber anderen Vorstellungsverbindungen in Ver-
einigung mit der Bewegung des Gedankens von einer Vor-
stellung zur andern lässt sich allein im Verbum fmitum
nachweisen und begreifen. Was den grundlegenden Ge-
danken der Arbeiten Kerns betrifft, kann ich ihm also
lediglich beistimmen, und alle Consequenzen seiner Satzlehre
können nach meinem Urteil acceptirt werden. Trotzdem
glaube ich einige ganz kurze Bemerkungen über vielleicht
nur untergeordnete Punkte nicht zurückhalten zu dürfen.
Kern lehrt zwar vom Hauptsatze, er sei ein sich erst
Beurteilungen. . 4ß3
bildender Gedanke, aber vom Nebensatze, er drücke einen
bereits gebildeten Gedanken aus. Das letztere kann ich
nicht unbeschränkt zugeben. Ist einmal das stehende Verb
hier wie dort vorhanden und drückt dieses, wie Kern lehrt
(S. 20), eine sich eben vollziehende Denktätigkeit aus, so ist
dies Werden des Gedankens ebenso im Nebensatze wie im
Hauptsatze zu finden. Ich halte es übrigens für methodisch
falsch, bei einer Grunddefinition des Satzes den Nebensatz
überhaupt zu berücksichtigen. Wie es falsch ist, bei der
Erklärung des Zahlbegriffes an der Spitze der Arithmetik
verschiedene Zahlarten (positive, negative, ganze, ge-
brochene etc.) zu berücksichtigen, wie diese vielmehr erst
durch die einzelnen Operationen abgeleitet und eingeführt
werden können, so kann man den Nebensatz erst aus den
Satzbestimmungen entwickeln, unmöglich aber an der Spitze
der Satzlehre bereits defmiren wollen. Kern scheint übrigens
einer solchen Ansicht nicht ganz feindlich gegenüberzu-
stehen (vgl. S. 93). Ein einfacher selbständiger Satz sollte
freilich auch nie Hauptsatz genannt werden. Vom Haupt-
satze sollte man nur reden, wo ein Nebensatz ist. Wird
in einem Subjects- und Prädicatsbestimmungen in sich
schließenden selbständigen Satze eine Satzbestimmung der
Form nach zu einem Satz erweitert, mithin in die Form
eines werdenden Gedankens gebracht, ohne dadurch in Rück-
sicht auf den ursprünglichen Satz seinen Wert als Satz-
bestimmung zu verlieren, so heißt dieser Nebensatz, der
unveränderte Rest des ursprünglichen Satzes aber Hauptsatz.
Der selbständige Satz ist vollständig, der Hauptsatz unvoll-
ständig und immer einer Ergänzung durch den Nebensatz
bedürftig.
Den Ausdruck Zähler, den Kern für den unbestimmten
Artikel wählt, halte ich für unbrauchbar.1 Beim besten
Willen und Bemühen finde ich den Sinn einer Zählung nicht
in demselben. Der unbestimmte Artikel besagt doch nichts
weiter, als dass es unbestimmt bleibe, welches aus einer
Reihe gleichgearteter Wesen gemeint sei: Wähle selber!
Aber zu zählen habe ich doch nicht!
464
G. Th. Michaelis,
Verwunderlich ist mir aber auch Kerns Satz gewesen:
»Das Subjectswort steht in indicativischen und conjunctivischen
Sätzen im Nominativ, in imperativischen im Yocativ.« Den
Schluss: »Drückt einmal der Imperativ ein Wollen aus, so
muss auch sein Subject etwas Gewolltes bezeichnen; das ist
doch garnicht anders möglich«, halte ich für übereilt und
dadurch veranlasst, dass unser Imperativ unglücklicherweise
nur zweite Personen besitzt. Kern bezeichnet es einmal
(S. 76) als eine bedenkliche Methode, ähnliches bezeichnende
Wortverbindungen in andern Sprachen aufzusuchen, um zu
erkennen, was ein Wort bedeutet, wenn ein diesem ent-
sprechendes Wort im Deutschen nicht vorkommt. Aber
seine Erklärung, dass der Imperativ eine Willensregung aus-
drücke, gilt doch ebenso gut vom griechischen Imperativ
wie vom deutschen; sein Schluss könnte für das Griechische
nicht anders ausfallen als für das Deutsche; und nun frage
ich: ist z. B. in dem Satze des Euclid: "Earœ í¡ do&stöa
n£n£QuG[jbévr¡ r¡ AB das Subjectswort Vocativus? Doch wohl
nimmermehr, erstlich weil der Sinn, zweitens weil der Artikel
es verbietet. Und ist wirklich, wenn ein Wollen zum Aus-
druck gelangt, das Subject der Tätigkeit auch et-was Ge-
wolltes? keineswegs! oft im Gegenteil: »Erst bringe mir das
Geld und dann packe dich!« Merkwürdig, in dem Grundriss
sieht neben dem Falschen (§ 24) das Richtige (§ 25): »In
allen Sätzen, deren finites Verbum in zweiter Person steht,
ist das Subject eigentlich als Vocativ (als Casus der Anrede)
zu betrachten.« Gewiss und ohne allen Zweifel! Aber
»eigentlich« muss fortfallen und § 24 als falsch gestrichen
werden.
Ich überschaue zum Schluss noch einmal die Aufstellungen
Kerns: Er definirt den Satz als sprachlichen Ausdruck eines
Gedankens mit Hilfe eines finiteli Verbums. Er erklärt das
Wesen des finiten Verbs und gewinnt neue Begriffe des
Subjectes und des Prädicates, durch die diese von den zu
ihnen hinzutretenden Inhaltsbestimmungen geschieden werden,
er leitet aus der Satzdefinition die Unrichtigkeit der Bezeich-
nungen nackter und bekleideter, verkürzter und zusammen-
Beurteilungen.
465
gezogener Satz ab, er verwirft dazwischen auf Grund von
Begriffsanalysen gewisse verschwimmende Distinctionen, die,
wie es scheint, zunächst im Interesse der Formenlehre in die
Grammatik aufgenommen, aber syntaktisch nicht zu recht-
fertigen sind. Da macht mich der Eingang, sobald ich ihn
mit Inhalt und Methode von Kerns ganzer Schrift vergleiche,
stutzig. Die Verbannung logischer Abstractionen aus der
Grammatik, die Zurückweisung der Identität von Satz und
Urteil und vor allem die ausdrückliche Bezugnahme auf
Steinthal erwecken zuerst die Erwartung, dass Kern sich auf
psychologische Analysen stützen wolle. Und doch, soweit
philosophische Erörterungen stattfinden, entdecke ich nur
logische Arbeit in Kerns Schrift. Man täusche sich nicht
etwa durch die Definition des Satzes. Den Satz als einen
werdenden Gedanken erklären, heißt ihn logisch erklären;
die Erklärung desselben, »soweit Ursprung, Existenz und
Wirkung des Satzes im Geiste« zur Erkenntnis gebracht
werden sollte, würde auf psychologischem Wege gegeben
werden müssen. Nirgends zeigt sich vielleicht die immerhin
einseitige logische Methode und der Ausschluss aller psycho-
logischen Gesichtspunkte deutlicher als in dem IV. Capitel,
wo Kern Erkenntnis begrifflicher Identität über psychologische
Analyse stellt und gar behauptet, dass z. B. das Wort »haben«
in denSätzen: »ich habe viele Bücher« und: »ich habe viele
Bücher gelesen« für etwas Verschiedenes zu halten, eine
grammatisch unrichtige Vorstellung sei. Eine psychologische
Betrachtung würde hier ganz entschieden zur Anerkennung
dieser und vieler anderer Unterscheidungen führen, eben
auch die Tatsache begreiflich machen, dass in der Sprache
wie überall fließende und veränderliche Gestalten, Ueber-
gänge aus einer Wortklasse in die andere vorkommen und
auch wohl eine Abschwächung der Bedeutung' bis zu einem
infinitesimalen Rest möglich ist, über den hartnäckig zu
streiten sich nicht der Mühe verlohnt. Aber ich weise Kerns
logische Erklärungsart keineswegs allgemein zurück. Die
psychologische Erklärungsweise kann doch auch nur, soweit
Entstehen und Entwickelung, soweit der reiche Inhalt der
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVI. 4. 30
466
G. Tb. Michaëlis,
Sprache und seine Beziehungen zum menschlichen Geiste
zar Betrachtung gestellt sind, anwendbar sein; soweit es
sich um begriffliche Feststellung fertiger formaler Bezieh-
ungen in der Sprache handelt, behauptet die logische Er-
klärung ihr Feld. Mit Recht polemisirt nun Kern gegen
die Hineinziehung einzelner Anschauungen der Schullogik
in die Grammatik. Das ist Vergewaltigung der Gramma-
tik. Baut man die Logik auf die Unterscheidung von Art-
und Gattungsbegriffen und contradictorischen Gegensätzen
auf, so wird man gut tun, die Grammatik sorgsam vor
dem Eindringen dieser Pseudowissenschaft zu bewahren,
Aber diese Art Logik ist doch jetzt wissenschaftlich ganz
überwunden und behauptet höchstens noch eine Schein-r
existenz zum Vergnügen des Pedanten und zur Qual der
Jugend in Schulprimen oder am grünen Tische. Seitdem Kant
mit den Spitzfindigkeiten der scholastischen Logik aufzu-
räumen begann und seitdem er die Aufgabe stellte, die
mannigfaltigen Begriffsformen aufzusuchen, ist doch die Logik
in ein neues Entwickelungsstadium getreten. Ich bete keines-
wegs den Kantischen Kategorienolymp an. Im Gegenteil, ich
empfinde so etwas wie das Gegenteil von Ehrfurcht, so oft
ich ihm nahe. Und seine Reputation bei Grammatikern hat
vielleicht noch mehr geschadet als die Anerkennung der
bornirten scholastischen Logik. Aber in dem Gedanken
Kants, dass die Function, die die Einheit der Begriffe im
Urteil herstellt, alle begrifflichen Functionen in sich enthält,
schlummert in der Tat eine neue und ungleich reichere
Logik; und ganz ungelöst ist die von Kant gestellte Aufgabe
doch nicht geblieben. Gewiss, wir haben noch keine allge-
mein anerkannte Kategorientafel, aber namhafte Forscher,
wie Lotze, Siegwart, Wundt etc. haben doch einen ungleich
fruchtbareren und natürlicheren Inhalt in diese verschriene
Wissenschaft gebracht. Das Subsumptionsurteil gilt doch
heute nur als eine einzelne Form des Urteils, dem viele
andere Formen zur Seite stehen. Eine so rohe und em-
pörende Mishandlung des Gedankens wie die, in dem Urteil :
»Der Baum blüht« den Begriff des Blühens seiner eigentüra-
Ëeurteilungéîî.
467
lichen Form zu berauben und in die Uniform eines Sub-
stantivs zu stecken, könnte doch heutzutage kaum einem
Bootier in der Philosophie einfallen. Stellt man an Stelle
der scholastischen Logik die natürliche Dialektik und Er-
kenntnistheorie, so glaube ich, ist vor der Verwendung
logischen Materials in der Grammatik nicht zu warnen. Im
Gegenteil, es wire} ebensoviel nützen, als an der rechten
Stelle Psychologie der Sprachwissenschaft aufgeholfen hat.
Doch hierin bin ich wohl vollständig im Einverständnis mit
Kerns Methode und Zielen, keineswegs im Gegensatz.
Berlin. G. Th. Michaelis.
Indogermanischer Volksglaube. Ein Beitrag zur Religions-
geschichte der Urzeit. Von Dr. W. Schwartz, Professor
und Director des Königl. Luisen-Gymnasiums zu Berlin.
Berlin, Verlag von Oswald Seehagen, 1885.
Der auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Mythologie
als bedeutender Fachmann anerkannte Verfasser bringt zwar
in diesem Werke, wie schon aus den zahlreichen Hinweisungen
auf seine früheren Schriften erhellt, nicht neue Grundideen,
aber hat ein gutes Recht, an die Resultate seiner bisherigen
Forschungen anzuknüpfen ; diese erhalten durch seine gegen-
wärtigen Ausführungen vielfach neue Bestätigung und durch
die Betrachtung des indogermanischen Volksglaubens aus
ganz speciejlen Gesichtspunkten neue Beleuchtung, wenngleich
wir nicht allem beizupflichten vermögen.
Die Vorrede (S. V) bezeichnet dies Werk nur als den
Beginn von Untersuchungen, welche von dem noch jetzt
herschenden Volksglauben aus zu der uralten Mythologie
zurückführen sollen, die den arischen Stämmen vor ihrer
Trennung gemeinsam war. Hiernach dürfen wir von vorn-
herein annehmen, dass uns in den vorliegenden Special-
untersuchungen nicht etwas Abgerissenes, Vereinzeltes, will-
30*
468
Gloatz,
kürlich Ausgewähltes geboten werde, sondern vielmehr die
ersten Glieder einer Kette, die den ganzen Reichtum des
indogermanischen Sagenschatzes umspannen, nach bestimmten
Kategorien d. h. Grundformen mythologischer Anschauung
ordnen und begreiflich machen soll. So müssen aber auch
die .Specialuntersuchungen gerade dieses Bandes von prin-
cipieller Bedeutung sein. Dem entspricht der Gang der
Vorrede. Sie sucht (S. VI f.) einleitend, gewissermaßen
apriorisch, aber nicht sowohl metaphysisch, als vielmehr
psychologisch aus der Natur des Menschen und seiner geistigen
Entwicklang, Grundzüge für die prähistorische Mythen-
bildung aufzustellen und gewinnt als solche aus dem ele-
mentarsten Standpunkt einer unmittelbaren Welt-
anschauung unter dem Reflex des Augenblicks die
principielle Bedeutung einerseits des Lichtes für den Anfang
einer religiösen Naturmythik, das da noch ebensowenig an
die Sonne gebunden, als Himmel und Erde gesondert er-
scheine, anderseits der Traumbilder für den Glauben an
das Fortleben der in ihnen erscheinenden Verstorbenen; das
Geheimnisvolle, das sowohl dieses Fortwirken als der Wechsel
von Licht und Dunkel und der daran sich schließenden
Naturerscheinungen für den Naturmenschen hatte, führt dann
auf die Vorstellung einer Zaubermacht, die alles möglich
mache, auch dem forschenden Menschen sich erschließe
(S. VIII f.), das Bewusstsein der eignen Kraft und Tätigkeit
auf die Apperception aller Dinge und Vorgänge
nach der Analogie des menschlichen empfindenden
und handelnden Geistes (S. Xf.). Die Vorstellung von
Göttern hat sich nach Schwartz (S. XII ff., vgl. S. 141) erst
allmählich aus den geheimnisvollen tier- und menschen-
ähnlichen, zauberhaft die Gestalten wandelnden Naturwesen
entwickelt, von denen zunächst die furchterweckenden
und schädigenden dem Menschen relativ überlegen
schienen, während die himmlischen, leuchtenden erst später
als wohlwollende Herscher sich darstellen und die reli-
giöse Verehrung erst da begann, wo man sich Wesen
gegenüber dachte, die dauernd schaden oder nützen könnten.
Beurteilungen.
469
Es lässt sich freilich gegen diese psychologische Deduction
mancherlei einwenden, gegen ihre Allgemeingültigkeit, dass
Religion in Form des Ahnencults schon bei rohen Natur-
völkern vorhanden ist, denen noch eigentliche Mythologie
fehlt, sodann gegen die Auseinanderhaltung des augenblick-
lichen Eindrucks von der Erwägung des dauernd Nützenden
oder Schadenden, dass bei dem Gewitter, das auch nach
Schwartz eine Hauptrolle in der indogermanischen Mythologie
spielt, sich das Bewusstsein des für das Gedeihen der Früchte
Nützenden mit dem des momentan Gefährlichen, bezw. teil-
weise Schadenden von vornherein verbinden musste, so dass
die Gewitterdämonen keineswegs, wohin Schwartz
neigt, ursprünglich als böse gedacht zu werden brauchen;
vielmehr überwinden gerade die indogermanischen Gewitter-
götter die allerdings auch in Wolkendunst verhüllten bösen
Dämonen einerseits der verzehrenden Sonnenglut, anderseits
des erstarrenden Frostes. Dagegen hat Schwartz geschickt
in dem prähistorischen Ausgangspunkt der Mythologie eine
doppelte Richtung der Phantasie und des religiösen
Triebes aufgezeigt, die Richtung auf die Naturgeister und
auf die Geister der Verstorbenen; jene führt zum Natur-,
diese zum Ahnencult, welcher letztere sich aber bei den
Naturvölkern früher entwickelt, was bereits einen principiellen
Unterschied der Religionen begründet, wenngleich sie gemein-
sam in einen Himmelscult auslaufen, wie das Recensent
in seiner »Speculativen Theologie in Verbindung mit der
Religionsgeschichte« I, 102 if. klarzulegen versucht hat. Der
allen Völkergruppen nachweislich gemeinsame Himmelscult
aber berührt sich nahe genug mit der primären Bedeutung,
die Schwartz dem Licht für die Entwicklung der mytho-
logischen Anschauungen zuschreibt, das zunächst noch keines-
wegs das der Sonne sei ; freilich fließt in der Uranschauung
auch noch Himmel und Erde zusammen, und Schwartz selbst
hätte das in der Folge noch mehr festhalten können, wo er
einen Uebergang der Himmels- zur Erdgöttin (vgl.
Asmus, Indogermanische Religion I, 83 f., 93. 107 ff.) ablehnt
und ihr die Sonnengöttin substituirt; aber immer gilt der
470
Gloäti,
Himmel als das ersté und höhere Princip, dem gegenüber
die Erde nur das empfangende ist, Und hat diese Bedeutung
nicht bloß als der allumfassende Welteriraum, sondern auch
wesentlich durch das gestaltende und belebende Licht, das
von ihm ausgeht; dies allgemeine Himmelslicht Cöncentrirt
sich dann weiter den Semito-Hamiten in der Sonne, dem
Mond und den übrigen Gestirnerl, von denen die Planeten
auch um ihres regelmäßigen Laufes willeii als beseelt Und
göttlich erscheinen, während in der indogermanischen
Religionsentwicklung der urarische lichte Himmelsgott Dyaus
zunächst sich auflöst oder zeitweise zurücktritt hinter die
Götter des bewegten Himmels, des Windes, Gewölks, Blitz-
feuers ünd Regens, neben welchen nur teilweise sich Sonnen-
götter rein als solche behaupten, andere selbständige Ge-
stirngötter kaurri aufkommen oder erst später Eingang finden.
Wir heben diese Unterschiede um so mehr hervor, da
Schwartz mit Vorliebe das Gemeinsame in den mythologischen
Grundanschauungen der Verschiedeneri Völker betont. Der-
selbe knüpft nuh (S. XIV) den Gewitterm^thos an die priri-
cipielle Bedeutung, die das Himmelslicht auch für die Iridó-
germanen hatte, in der Weise, dass er Von der Vorstellung
eiries himmlischen Lichtbaumes ausgeht, an welchem im
Gewitter feurige Schmarotzerpflanzen aufblühen oder
im Blitz ein goldener Zweig áufleuchtet. An diese vegetabile
Auffassürig der HimmelsphäriOrnerie schließt er einerseits die
Vorstellung zauberhafter Himmelsfetische, anderseits
tier- und menschenähnliche Bilder, deh Dualismus
finsterer Stutmesmâchtë und lichter idealerer
Himmelswesen, welche letzteren, vori denen er besonders
die männlich und weiblich gedachte Sonne und deren Sohn
öder Tochter, die FrühlingssOnne, nerint, ursprünglich rilehr
leidend und bewältigt gedacht, erst Vorwiegend unter derii
heiteren griechischen Himmel als die dauernd Siegreichen
entwickelt Worden seien. An die finstern Dämonen der
Gewitternächt reiht Schwartz (S. XV) den arischen Ge-
spensterglauben, der von ihnen seine Formen empfange,
und findet auch den Aberglauben an den bösen schä-
Beurteilungen.
471
digenden Blick in der blitzenden Gewitterwolke begründet.
In der volkstümlichen Gestalt des wilden Jägers, des
alten Wodan sieht er das finstere, grimme Wesen des ur-
arischen Gewitterdämons noch erhalten. Hiermit ist eine
Uebersicht der Grandanschauungen gegeben, welche Schwartz
in den folgenden Abhandlungen durch den gesammten indo-
germanischen Sagenschatz mit zahlreichen Parallelen aus der
sonstigen Mythologie verfolgt. Eine Kritik dieser Grund-
anschauungen lässt sich nicht wohl zum voraus an jene
bloße Uebersicht der Vorrede knüpfen ohne Berücksichtigung
der weiteren Ausführungen.
Die erste Abhandlung (S. 1—63) hat zum speciellen
Thema »den himmlischen Lichtbaum der Indo-
germanen in Sage und Cultus«. Eine Eigentümlichkeit
des Verfassers tritt uns sogleich darin entgegen, das er den
Baum cult nicht mit Bötticher und Mannhardt unmittelbar
aus dem Waldleben der Urzeit ableitet, sondern von der Vor-
stellung eines wunderbaren Welt- und Himmelsbaumes, dessen
Abbilder nur gleichsam irdische Bäume seien (S. 2). Wir be-
merken hierzu vermittelnd, dass man in der Phantasie einen
Lichtbaum am Himmel nur sehen, die ganze Welt sich als
einen Baum nur vorstellen konnte, wenn der Baum bereits
für den Naturmenschen eine hervorragende Bedeutung hatte,
was doch wieder auf das Waldleben der Urzeit zurückweist.
Doch war der indogermanische Baum cult erst möglich durch
Verknüpfung mit dem Himmelsmythos, man müsste denn
mit Lippert auf einen früheren Ahnencult zurückgehen, der,
wie es bei Naturvölkern der Fall, die Bäume als Wohnsitze
und Behausungen abgeschiedner Geister verehrte, aber bei
den Indogermanen doch nur in rudimentärer Unterordnung
unter einen mythologisch entwickelten Himmelscult sich nach-
weisen lässt. Liegt nun auch die Vorstellung eines allum-
fassenden Himmelsbaumes völlig klar vor in der eddischen
Weltesche Yggdrasil, so geht doch Schwartz nach seiner in
der Vorrede angegebenen Methode von noch vorhandenen
volkstümlichen Anschauungen aus. Eine solche enthält der Aus-
druck Wetterbaum für gewisse Wolkenbildungen. Von dieser
472
Gloatz,
aus hat Schwartz früher nach Kuhns Vorgang die Weltesche
als Wolkenbaum gefasst, ist dann aber in seinem Aufsatz
über den Sonnenphallus (1874) dazu fortgegangen, einen
himmlischen Lichtbaum als Urvorstellung anzunehmen,
die auf der Anschauung des mit der Morgenröte sich in den
Wolken verzweigenden Lichtes beruhe. An diesem Lichtbaum
hält er auch jetzt noch fest mit Berufung auf Rückerts Vers
»Blüht der Sonne goldner Baum«, auf ein russisches Volks-
rätsel, auf den Sonnenbaum Udetaba einer indischen Sage,
auf analoge Bilder im Talmud, auf die Sonnensäulen ver-
schiedener Völker und die altdeutsche Irmensäule. Wenn
nun aber auch die Vorstellung eines solchen Lichtbaumes
vorhanden — ich erinnere noch an den Baal-tamar, den
Zeus Demarus des Phil. Bybl. — und weit verbreitet ist,
wenn auch weiter von verschiedenen Sagenforschern die
Auffassung der Gestirne als goldner Früchte des Weltbaums
anerkannt ist, so fragt sich doch, ob der bloße Lichtbaum
sich schon mit dem Weltbaum deckt; in diesem dürfte
vielmehr die Vorstellung dés Licht- und Wolken-
baums zusammenfließen. Schwartz selbst stellt die
Rauchsäule als Gegensatz zur Säule des aufsteigenden Lichtes
hin (S. 3), und doch steigt sie aus Feuer in die Wolken
empor und kann selbst zugleich eine Feuersäule sein, wie
die Säule, in welcher das Volk Israel das Zeichen göttlicher
Führung sah. Ebenso braucht der Wolkenbaum gar nicht
in Gegensatz zum Lichtbaum gesetzt zu werden; ein Bild
fließt in das andere über, und auch, wenn die Vorstellung
des Wolkenbaums für den Weltbaum überwiegt, enthält er
doch nach altarischer Anschauung das Blitz- und Sonnen-
feuer in sich, welches ihm durch Reibung entlockt wird.
Freilich macht Schwartz (S. 7) geltend, dass die Gewitter-
wolke als goldnes Vließ am Himmelsbaum hängt und dahin-
schwebende Wolken als Vögel sich auf demselben nieder-
lassen; aber das hindert nicht, dass auch Wolkenbildung
zum Himmelsbaum selbst gehört; denn die Bilder wechseln
eben; das Gewölk kann in einer Beziehung ebensogut als
Stamm oder Gezweig oder Laub gelten wie in der andern,
Beurteilungen.
473
sofern es neu hinzukommt, als Vließ oder Vogel; ebenso
gilt ja der Blitz bald als Zweig, bald als Schlange, bald als
Hirschgeweih, bald als springende Geiß (S. 8). Was noch
besonders nötigt, den Himmelsbaum zugleich als Wolkenbaum
zu denken, ist der Umstand, den Schwartz selbst weiter
(S. 12f.) anführt, dass zu diesem Baume der Regenquell
hinzutritt, Wolkenwasserfrauen auf, unter und bei dem
heiligen Baum erscheinen und der Baum selbst mit seinem
Quell gleichwie die Himmelsstimmen des Sturmes und Donners
weissagt. Wenn dann das Aufhängen von Fellen erlegter
Tiere an heiligen Bäumen wieder als Nachahmung des himm-
lischen Vorgangs erklärt wird (S. 30), so möchten wir darin
nur eine Zueignung an den Gott sehen, da sich solche Weihen
auch bei Naturvölkern z. B. Afrikas finden ohne nachweis-
bare analoge Himmelsmythologie; mit Recht wird dagegen
das Anzünden von Fackeln und Lichtern an Quellen und
Bäumen zum Zweck von Augurien, wie das sich noch zur
Wintersonnenwende in unserm Weihnachtsbaum erhalten,
als Nachahmung himmlischer Scenerie (S. 35) gefasst. Neben
den Wolkenwasserfrauen findet Schwartz (S. 12 ff.) auch
strahlende Sonn en wesen, männliche und weibliche, auf
dem Himmelsbaum; gewiss kommen solche vor; aber nicht
alle Gestalten, die Schwartz dahin deutet, gehören dahin;
unmöglich ist Hera die Sonne, ebensowenig Idhun (vgl. das
schon oben zur Vorrede Bemerkte); wenn die Schweig-
samkeit die Sonne charakterisiren soll (S. 44 f.), so setzt
doch das Verstummen Idhuns mit ihrem Herabsinken von
der Esche vielmehr ihr früheres Reden voraus. Mag aber
auch die Deutung auf die Sonne mehrfach verfehlt, diese
wenigstens zu isolirt gefassfc sein, so ist doch höchst beach-
tenswert, was weiter (S. 53 ff.) über die im Gewittersturm
unter dem Schutz des heiligen Baumes kreißende und ge-
bärende Göttin gesagt wird. An die aus dem Lichtbaum
stammenden Seelen wird darauf (S. 57 f.) sinnig die Vor-
stellung des Lebenslichts geknüpft; doch deckt sich auch
auch da Licht- und Wolkenbaum, wie der Storch zugleich
Blitz-, Wolken- und Wasservogel ist. Nach Analogie des
7
i
474 Gtóátz>
mit dem Licht- und Himmelscult zusammenhängenden indo-
germanischen Baum-, Quell- und Feuercults will Schwartz
(S. 61) schließlich auch den Fetischismus der Naturvölker
höher stellen , der freilich mehr im Ahnen- als in einem
mythologischen Himmelscult wurzelt und, wenn er auch
Ansätze zu diesem bei den Naturvölkern aller Erdteile findet
und in denselben gemeinsame Urvorstellüngen der
Menschheit annehmen zu können glaubt (S. 62 f.), so be-
darf das allerdings eines noch weit umfassenderen Nach-
weises mit strenger Fixirung auch des individuell Differenten
in der geschichtlichen Entwicklung der einzelnen Völker.
Die zweite Abhandlung (S. 64—168) behandelt »die
mythischen Schmarotzerpflanzen am himmlischen
Li cht bäum«, An den himmlischen Baum reiht der Ver-
fasser zuerst (S. 65) die Vorstellung himmlischer Auen, auf
denen die Wolken als Blumen erblühen; wie man noch
jetzt sage, ein Gewitter blühe auf, so sei die feurig leuchtende
Zauberblume der indogermanischen Mythen die Gewitter-
wolkenblume; der Blitz aber werde auch wieder unab-
hängig von diesem Bilde als goldner Zweig oder Rute
gefasst, bald isolirt für sich, bald in engstem Zusammenhang
mit jenem Himmelsbaum. Er öffnet in indischen und deut-
schen Sagen den dunkeln, schätzebergenden Wolkenberg,
aber auch das in der Gewitternacht sichtbar Werdende Toten-
reich, Wie namentlich an der Aeneassage dargetan wird
(S. 71 ff.). Befremden könnte es* dass die Gewitterblume als
Schmarotzerpflanze am Himmelsbaum bezeichnet wird. Dies
geschieht infolge ihrer Beziehung zu der von den Kelten und
Germanen für heilig gehaltenen Mistel (S. 74ff.); doch passt
der Ausdruck Schmarotzerpflanze nicht auf die sonstigen
entsprechenden Zauberkräuter (S. 79 ff.), höchstens noch
auf den Schlafdorn (S. 104ff.). Sehr interessant ist, wie
die einschläfernde Wirkung desselben bezw. der Zauberrute
durch die mannigfachsten Mythen verfolgt wird, obwohl sie
zunächst nur auf die Verdunkelung der Sonne im Gewitter,
nicht auf den Winterschlaf der Erde bezogen werden. An
die Vorstellung relativer Unverwundbarkeit der Son-
i
Beurteilungen.
475
hen- oder Gèwitterhelden wird das volkstümliche Fést-
m ach en, die Passauer Kunst geknüpft (S. 150), die Be-
ziehung des Nothemdes zur Wetterwolke durch Wodans
Wuhschmantfel und den von Athene gewobenen Chiton des
Zeus belegt. Freilich gehen die Gewitterhelden doch durch
irgend eineh Ünfall zu Grunde, was Schwartz nur auf das
Vorübergehen der Gewitter deutet (S. 154); hier kommt viel-
mehr der Jahreslauf der Sonne wesentlich mit in Betracht,
Wie Schwartz (S. 162) auch von dein ëddischen Baidur und
Sigurd zugesteht, dass sie ursprünglich mehr als Sorinenweseñ
erscheinen, die jedoch in den GeWittermythos eintreten; doch
darf die Sonne auch im indogermanischen Jahresmythos
(im Unterschied von denl semitisch-hamitischen) nicht isolirt
werden; jene Helden sind ebensowenig reine Sonnen-
ais reine Gewittergötter, sondern beides zusammen
als Frühlingsgötter; ist dies ihr principieller Charakter,
so schwindet auch die Unbestimmtheit, die nach Schwartz
(S. Í47) diesen doch sehr ausgeprägten Gestalten anhaftet.
In den dämonisch feindlichen Gestalten der Brunhild-,
Siegfried- und Baidursage hebt er mit Recht die UrVerwant-
schaft mit Vritras hervor, findet sie aber auch in der Ein-
äugigkeit Odhins, der die Hagens, die Blindheit Hödurs und
der Hei entsprach, angezeigt (S. 163 ff.), obgleich er die
Einäugigkeit Odhins doch selbst auf den Blitz deutet, durch
weichen Vritras in der vedischen Mythologié vielmehr über-
wunden wird von Ihdra, dem Odhin unzweifelhaft ebenso
oder noch näher verwant ist; auch Hei, anderwärts als
Gewittergöttin mit feurigen Augen gedacht, ist im altdeutschen
Volksglauben ebenso Lebensmutter wie Todesgöttin und, wenn
sie nur vornehmlich als letztere wie Odhin-Wodan als wilder
Jäger im christianisirten Volksbewusstsein bis heute fortspukt,
sb ist damit nicht der Urcharakter ihres Wesens aufbewart,
Wie Schwartz entsprechend seiner in der Vorrede aufgestellten
Theorie der mythologischen Entwicklung annimmt, sondern
aus dem umfassenden Wesen der männlichen und weiblichen
Urgottheit nur die finstere, verderbliche Seite festgehalten
und zur Vorstellung böser Dämonen corrumpirt, die allerdings
476
Gloatz,
auch dem Odhin anhaftete, wie er mit Donar und Loki sich
auch zur Trias zusammenschloß.
Die dritte Abhandlung (S. 169—219) betrifft speciell
»die einäugigen Gewitterwesen und den sog. bösen
Blick«. Schwartz leitet den bei den verschiedensten Völkern
sich findenden Aberglauben an den bösen Blick von der
Vorstellung her, dass im Blitz das Auge eines feindlichen
Dämons aufleuchte. Wir möchten vielmehr sagen, dass diese
Vorstellung schon jenen Aberglauben voraussetze und eine
Uebertragung des feindlichen Menschenblicks auf den Ge-
wittergott involvire, zumal da sich die Furcht vor dem bösen
Blick schon aus irdisch-menschlichen Verhältnissen erklärt
und auch bei Naturvölkern im Zusammenhang mit ihrem
an den Seelencult sich knüpfenden Zauberwesen findet; auch
die polynesische Auffassung des Auges als Sitzes der Seele
könnte dabei in Betracht kommen. Man könnte ferner bei
der Einäugigkeit eines Gottes an die Sonne denken, welche
auf Madagaskar das Auge des Tages heißt; doch führt
Schwartz gewiss zutreffend eine ganze Reihe ein- und
auch vieläugiger Gestalten der indogermanischen Mytho-
logie und des Volksaberglaubens auf das Blitzesflammen in
dem Gewitterdunkel zurück, unter Heranziehung auch wieder
des Totenreichs; eine Beziehung auf die Sonne aber scheint
er wenigstens in dem dritten Auge des Kyklopen, des Zeus
Triopas, des Rudra und Çiva Grohmann zuzugestehen
(S. 206 f.). Die Vermummungen der Gespenster und Götter,
Odhins Schlapphut und Mantel, der unsichtbar machende
Helm des Hades, die Tarnkappe, die Wandelbarkeit der
Gestalt werden mit Recht auf Wolken und Nebel gedeutet
(S. 215 ff.).
Die vierte Abhandlung (S. 220—254) enthält eine
»weitere Erörterung einzelner gewonnener Resul-
tate«. Scharfsinnig wird hier an den schräg aus den
Wolken hervorbrechenden Blitzstrahl der Mythos von der
Geburt des Dionysos aus dem Schenkel des Zeus geknüpft
mit Beifügung indischer Parallelen (S. 220 ff.). Eingehend
wird dann noch einmal über das Wesen des Sturmgottes
Beurteilungen.
477
Wodan-Odhin gehandelt, worüber wir uns bereits erklärt,
sowie über den Gespenster- und Hexenglauben, der
(S. 229) auf eine rohere und primitivere Auffassung der in
der Gewitternacht spukenden Wesen zurückgeführt wird,
selbst bei den Naturvölkern (S. 239 ff.), wo er doch aber
auch ganz unabhängig von einem Gewittermythos sich findet
und einfach nur im Ahnenculte wurzelt. Freilich verwertet
Schwartz (S. 243 ff.) die gewonnenen Resultate auch für die
Ansätze zu epischer Dichtung bei den Naturvölkern,
wo besonders der Wind als der Hauptheld erscheine; so der
indianische Manobozho, der aber teilweise in den Großen
Geist übergehe, der polynesische Maui (S. 246), den wir
übrigens auch für einen Gott des Blitz- und vulkanischen
Feuers halten, der kamtschadalische Balakitgh, eine merk-
würdige Parallele des Odysseus (S. 247 f.). Wir erkennen
gern hierin gemeinsame Grundanschauungen an, wagen aber
nicht, sie allen Naturvölkern als ursprüngliches Gemeingut
zuzuschreiben, höchstens nur in sehr flüssigen Umrissen, die
bei einem Teil dieser Völker sich fast verflüchtigt, bei anderen
sich zu sehr differenten Gestaltungen consolidili haben. Für
die arische Dichtung dagegen ist es völlig gesichert, wenn
Schwartz (S. 248 f.) einen gemeinsamen Hintergrund in den
großen epischen Gyklen der Odysseus-, Argonauten-, Aeneas-
und Nibelungensage voraussetzt, dessen Elemente in ihnen
nur in verschiedener Gruppirung und keineswegs immer voll-
zählig auftreten.
Den Wert des Buches erhöhen noch vier Anhänge,
die Erklärung keltischer Talismane, die in einem bretag-
nischen Liede genannt sind (S. 255 f.), der aus der Berliner
Ethnologischen Zeitschrift abgedruckte Aufsatz über den
Zauber des rückwärts Singens und Spielens, um etwas
rückgängig zu machen (S. 257 ff.), mit einem Nachtrag vom
Totenfährmann und der Schattenwelt (S.261 ff.), so-
dann eine gerechtfertigte Abweisung des von Bugge behaup-
teten Einflusses der Toledoth Jeschu auf die Bal-
durs age (S. 267 ff.), endlich ein Gedicht vom Mahre-Hans,
das die Verbindung von Totenspuk mit dem Gewittermythos
478
Gloatz,
bekundet (S. 272), sowie ein reicher Index (S. 273—280)
zum Nachschlagen.
Wir schließen die Besprechung des inhaltreichen Werkes
mit der Anerkennung, dass es einen neuen bedeutenden
Beitrag zur Klärung der Mythologie, insbesondere der indo-
germanischen, enthalte, wenngleich über manche Haupt- und
Nebenpunkte die Ansichten noch auseinandergehen, und
wünschen, dass es dem Verfasser vergönnt sein möge, seine
fruchtbringenden Untersuchungen in der in der Vorrede in
Aussicht gestellten Weise fortzuführen.
Dahme, Provinz Brandenburg. Gloatz.
Indogermanische Mythen. I. Gandharven-Kentauren. Von
Elard Hugo Meyer. Berlin, F. Dümmler, 1883 (243 S.).
Der Verfasser, welcher auch die neue Ausgabe von Jacob
Grimms deutscher Mythologie besorgt hat, eröffnet mit vor-
liegendem Buche eine Reihe vergleichender Mythenforschungen,
auf welche er gerade durch die Beschäftigung mit der deutschen
Mythologie geführt worden ist; er geht sogleich im Vorwort
davon aus, dass National- und vergleichende Mythologie auf
einander angewiesen sind und das Besondere und Eigen-
artige des einzelnen Volks erst rechtes Licht erhält, nachdem
das ihm mit andern Völkern Gemeinsame herauserkannt ist.
So richtig und wichtig diese allgemeine Verhältnisbestimmung
ist, so zeigt sich doch gleich an der in diesem ersten Bande
behandelten Streitfrage, ob die indischen Gandharven
mit den griechischen Kentauren identisch sind, was
zuerst Kuhn behauptet, aber andere Forscher beanstandet
haben, wie schwierig es im einzelnen sein kann, sicher das
Gemeinsame und das Individuelle abzugrenzen. Die Ent-
scheidung ist hier doppelt schwierig, formell, weil trotz des
Anklangs des indischen Worts an das griechische die Um-
Beurteilutìgén.
479
bildung in dieses nicht den Lautregeln zu entsprechen scheint,
inhaltlich, weil jedes sehon für sieh verschiedene etymologische
Erklärungen zulässt und deshalb die ursprüngliche Bedeutung
beider Worte und die damit bezeichnete Naturanschauung
ganz zweifelhaft scheinen kann. Kuhn selbst schwankte in
Bezug auf letztere, dachte zuerst (Zeitschr. f. vergi. Sprach
forschung I, 513 ff.) an die hinter Wolken und Nebeln ver-
borgene Sonne, später (Herabkunft des Feuers, S. 174) nur
an Wolkendämonen. Wie man nun auch über die von
Meyer versuchte Lösung des Problems urteilen möge, so wird
man doch anerkennen müssen, dass er eine richtige Methode
befolgt. Er mustert zuerst alles Einzelne, was wir von den
Gandharven, und dann ebenso, was wir von den Kentauren
wissen, am chronologischen Faden der Litteratur- und Kunst-
geschichte (S. 4—83); auf Grund dieser Detailforschung wird
dann ein allgemeiner Ueberblick über den Entwicklungsgang
eines jeden beider Sagenkreise gegeben (S. 84—135); daran
erst schließt sich die Deutung und damit zugleich Identic
ficirung der Gandharven und Kentauren (S, 136—209) und
endlich eine Eingliederung derselben in das Ganze der mytho-
logischen Entwicklung (S. 210—228). Recensent darf freilich
die Deutung Meyers dem exegetisch-kritischen Zeugenverhör
voranschicken, um sie mittels desselben sogleich beurteilen
zu können; Meyer gelangt (S. 138) zu dem Resultat,
dass die Ga ndharven^Kentauren Winddämonen
seien, die in Wolken einherstürmen, und erklärt in-?
folge dessen den indischen Namen etymologisch als die
im Dunst und Duft (gandhá) Wohnenden, wobei er
unentschieden lässt, ob das Wort aus gandhara sich ent-
wickelt, wie Grassmann annahm, oder ob es eine Zusammen-
setzung aus gandha und arva = riva »wandelnd« sei, wie
Gubernatis wollte (S. 161); in dem griechischen Namen
sei allerdings die Lautverwantschaft gelockert, eine Umbil-
dung des nicht mehr verstandenen ursprünglichen Wortes
zur Bedeutung »Luftstachler« erfolgt, die aber immer noch
die Beziehung dieser Wesen zur Luft ausdrücke (S. 165).
Wi r prüfen zuerst diese Etymologien, indem wir von
480
Gloatz,
dem griechischen Worte ausgehen. Die gewöhnliche An-
nahme einer Zusammensetzung von xsvrsoa und tccvqoç hat
die Schwierigkeit, dass der Bindevocal fehlt; auch die Re-
duction des Wortes auf xsvtwq mit paragogischer Endung
-uvqoç ist gewaltsam und lässt ein Object vermissen; dagegen
als Compositum mit avqa erklärt sich das Wort grammatisch
aufs einfachste und gibt einen guten Sinn, der die Windgötter
trefflich charakterisirt. Wie aber z. B. Prometheus, der Vor-
denkende nach griechischer Etymologie, die sogar den Gegen-
satz des Epimetheus veranlasste, als Feuerräuber auf Be-
deutungen der Wurzel manth zurückweist, die sich nur im
Indischen erhalten haben, ebenso kann man, wenn überhaupt
die Vorstellung der Kentauren mit der der Gandharven sach-
lich ver want ist, das griechische Wort, das überdies nur als
Bezeichnung dieser bestimmten mythischen Wesen vorkommt
und die nähere Beschaffenheit derselben noch unbestimmt
lässt, auf das jedenfalls ähnlich lautende indische zurückzu-
führen suchen. Das letztere bedeutet auch geradezu »Pferd«
(Wilson, Dictionary s. v.) und erklärt deshalb nach Kuhn
(Saranyu-Erinnys, S.453f.) die Rossnatur der Hippokentauren.
Doch hat die der Gandharven jedenfalls erst später zur Ueber-
tragung des Wortes auf eigentliche irdische Pferde geführt;
es fragt sich, was es etymologisch ursprünglich bedeutet,
und ob es dem griechischen Worte wirklich zu Grunde liegen
kann. Benfey (Glossar zum Sama-veda, S. 54) gesteht zwar,
eine sichere Etymologie von gandharvd nicht zu kennen,
hält jedoch für wahrscheinlich, dass g an für gam — ham;
dem Thema ha werde die Bedeutung »Wasser« und »Ton«
gegeben; er vergleicht gambhára eig. Wolke oder Wasser
bringend, beruft sich auf das eranische g für das sanskritische
h in gaetha — heta u. a. und registrirt auch das vedische
Wort hhd in der Bedeutung Luft, Wolke, Wasser (Sa-
mav. 1,4,1, 3, 3. II, 7, 1, 15, 3. Vend. 1,313, 4 hhâo). Hiernach
möchten wir nicht mit Meyer auf das Derivatum gandhd
zurückgehen, sondern auf die Urwurzel ga, hlna, ha, zu-
sammengesetzt mit der Wurzel dhr tragen, halten,
bringen, sodass der Name der Gandharven sie als Wolken¿
Beurteilungen.
481
wasser haltend oder bringend bezeichnet. Gerade im
Gutturalgebiet hat der Laut Wechsel viel Abnormes (Rapp,
Vergleichende Grammatik I, 38 f.), und wenn ein solcher
schon in der genannten Sanskritwurzel vorliegt, so
ist er im Griechischen um so weniger zu bean-
standen; auch hier dürfte sich allerdings neben der Tenuis
in Kentauros die Media in Ganymedes erhalten haben, der,
nach griechischer Etymologie als heiter gesinnt oder Herz-
erfreuer doch nur ungenügend erklärt, durch seine Ent-
führung vom Adler des Zeus als das Soma, das Wolken-
wasser gekennzeichnet wird und sich sprachlich als Compositum
aus ga und mad oder mid darstellt. Freilich macht auch die
zweite Tenuis in Kentauros Schwierigkeit; jedoch, wenn der
zweite Wortteil ursprünglich 9-uqj:oç lautete, konnte gerade
die äolische Aspiration der zweiten Silbe den Uebergang der
Aspirata zu Anfang der ersten Silbe in die Tenuis bewirken,
wie in syM, sich dies Gesetz auch auf den Spiritus asper
erstreckt und in svadov dieser durch das Digamma vertreten
wird. So ist es wohl kaum nötig, mit Meyer eine Umbildung
des indischen Wortes zu einem neuen verständlichen Namen
anzunehmen; aber seine Deutung der Gandharven-
Kentauren als Winddämonen ist im ganzen zu-
treffend, nur etwas zu eng, da die von Kuhn an-
genommene Beziehung auf Wolken und Sonne
durch die ursprüngliche Wortbedeutung keines-
wegs ausgeschlossen ist und durch bestimmte
Daten gefordert wird, sodass wir den Namen im
weiteren Sinn auf Luftwesen beziehen, die den
Regen entweder in sich zu bergen und zurückzu-
halten oder herbeizuführen und hervorzubringen
schienen. Diese allgemeine unbestimmte Fassung.entspricht
dem ursprünglichen Henotheismus, dem Verschwimmen der
Götter ineinander, weicht freilich allmählich bestimmteren
Vorstellungen. Dies ergibt sich uns aus einer Musterung
der einzelnen Zeugnisse als unabweisbares Resultat.
Meyer selbst findet in den Veden sehr verschiedene Auf-
fassungen des bezw. der Gandharven, und führt scharfsinnig
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spracliw. Bd. XVI. 4. 31
482
Gloatz,
diese Verschiedenheit auf verschiedene Richtungen in den
verschiedenen Sammlungen zurück (S. 5 ff.), ohne jedoch in
Erwägung zu ziehen, ob sie nicht zugleich eine in dem Worte
selbst liegende allgemeinere und unbestimmtere Vorstellung,
eine umfassendere, aber noch nicht allseitig begrenzte und
abgeschlossene Anschauung voraussetzt, die den gemeinsamen
Ausgangspunkt bildet für die verschiedenen Auffassungen,
engern Begrenzungen und concreterei! Ausgestaltungen des
mit dem Worte bezeichneten Inhalts. Wie sehr die Vor-
stellung selbst imRigveda noch im Fluss ist, erhellt
daraus, dass meist nur von einem Gandharva, bloß an
drei Stellen von mehreren gesprochen wird, wie auch
Meyer (S. 11) hervorhebt, ohne es weiter zu erklären. Die
Unbestimmtheit der Vorstellung erklärt auch das Fehlen
des Namens in den sechs einheitlichen Priester-
familienbüchern besser als die vonMeyer (S. 7) behauptete
Feindschaft gegen die Gandharven; denn diese hat
doch in den zwei Liedern des achten Buches (1, 11 und
66, 5 f.) nicht abgehalten, den Gandharven als besiegt von
Indra zu erwähnen; dieser entreißt ihm mittels des Blitz-
pfeils die Speise, den Regen, den er ja nach seiner Wort-
bedeutung bewart und hütet; hier lässt er sich auch weder
mit dem Sonnenross (Etaça), noch mit den Rossen des
Windes (Vita) identificiren, da diese im ersteren Liede von
ihm unterschieden werden und jedenfalls die Windrosse dem
Indra zugeeignet werden; im zweiten Liede aber wird der
Gandharva von Indra getroffen »im bodenlosen Raum der
Luft« (Grassmann) oder »in den bodenlosen Wassern« (Kuhn)
und ist hiernach ein das Wasser in sich bergender,
umfassender Luftgott. Als solcher, der das Wasser,
das Soma-amrita in sich zieht, aber auch im Besitz desselben
der all reiche (Vicvävasu) ist und dasselbe auch wieder
spendet, es dem Indra offenbart, wie den Menschen (sie
durch Regen begeisternd 1, 22, 4) die Wahrheit, wird er
eigens 10, 139, 4—6 angerufen; er heißt hier der himm-
lische, der die Luft durchwandert; da scheint der Luft-
gott zugleich als Wind gott gedacht und nicht sowohl als
Feind, wie als Genosse Indras; der Name selbst führt
auch zu dieser Auffassung; gandharva heißt ebenso Wasser-
bringer, wie Wasserhüter, und auch letzteres 9, 83, 4 in gutem
Sinne:
»Gandharva ist es, der des Sorna Ort bewacht,
Und unsichtbar der Götter Stämme hütend schützt.«
Dieselbe Verbindung von Luft und Wasser wird als
Ehe oder Liebesverhältnis des Gandharven und der
Beurteilungen,
483
Apia yosha(na), Apsaras oder Wasser fr au in Buch 10,
10, 4 und 11, 2, sowie 123, 5 dargestellt; die in Strophe 7
dieses Liedes genannten Waffen des Gandharven deutet
Meyer (S. 160) scharfsinnig auf den Regenbogen ; man kann
freilich nach 177, 2 auch an den Blitz denken, wie nach
eben dieser Stelle der Gandharve in der Wolke donnert.
Um so mehr wagen wir die Behauptung, da ss er, eigent-
lich ja nur ein Appellativum, ursprünglich nur
einer der vielen Namen des urarischen Himmels-
gottes, ein Doppelgänger Indras ist und wie der
altdeutsche Odhin-Wuotan noch eine besondere
Beziehung zum Winde hat. Als wilder Jäger zu Ross
mit Wind-Hunden verfolgt auch dieser die Meerfrau oder
wirbt um sie (Simrock, Deutsche Mythol., S. 204 f., 1874).
Wie aber dieser auch als Himmelsgott eine Beziehung
zur Sonne hat (Simrock, S. 184. 210ff.), so erklärt sich
auch die Beziehung des Gandharven zur Sonne, die Meyer
zwar anerkennt (S. 10 f.), wenn nicht in Rigv. 10, 123, 7
und 177, 2, so doch 1, 163, 2 (wo der Gandharve den Ziigél
des Sonnenrosses ergreift), aber dunkel findet und nicht zu
erklären weiß, und nun rechtfertigt sich auch die von Kuhn
(Z. V. S. T. 447 ff.) betonte Verwantschaft Yamas und Yamis
mit dem Gandharven und der Wasserfrau als ihren Eltern
Rigv. 10, 10, die Meyer in Anhang I (S. 229 ff.) durch An-
nahme späterer Speculation nur umgeht, nicht erklärt. Im
Yajurveda 7, 17. 32 und 9, 1, 11 heißt der Sonnengott
(Savitar) geradezu selbst Gandharve, und so bezeichnet auch
häufig noch in späterer indischer Auffassung dies Wort die
Sonne (Wilson s. v.; Colebr. As. Res. VII, 297; Benfey,
Glossar zum Samaveda, S. 54) ; ja auch nach Meyer selbst
(S. 12 f.) heißt Agni im Yajur 7, 17, 32 Gandharve, und
es werden 18, 38 ff. Agni, Surya, Candramäs, Vata, Yajna
und Manas neben den ihnen beigesellten Apsaras als Gandh-
arven angerufen. Nach Meyer erhält hier das Wort den
allgemeinen Begriff des Göttlichen; wir gestehen zu, dass
dieser in ihm nicht ursprünglich liegt, wohl aber in dem
mit dem Worte bezeichneten Luftwesen nach urarischer
Anschauung, wie denn auch die appellative Wortbedeutung
Regen bergend und bringend auf verschiedene Himmelsgötter
passt, die dem entsprechend ineinander übergehen. Die
spätere monistische Speculation vermittelt sich durch Re-
flexion eben auf den ursprünglichen vedischen Henotheismus.
Zwischen diesem Ausgangs- und jenem Endpunkt liegt aber
die Periode einer schärferen Unterscheidung der Götter von-
einander, die freilich eben damit auch um so mehr verend-
t
484 Gloatz, Beurteilungen..
licht und durch Teilung noch weiter vervielfältigt werden.
So führt die Unterscheidung des Gandharven von den andern
Göttern auch zu einer Vielheit von Gandharv.en, der
die Vervielfältigung der Apsaras entspricht. Diese Gandharven
haben nun den bestimmten Charakter von Windgöttern,
wie Meyer ganz richtig herausgefunden. Sie sind als solche
charakterisirt schon Rigv. 3, 38, 6 durch die windflatternden
Haare (Meyer, S. 7. 11), dann durch die ausdrückliche Er-
klärung Yajur 9, 7: »Wind oder Geist sind die 27 Gandharven«
(Meyer, S. 13) und durch ihre spätere Function als himm-
lischer Musiker (Wilson, s. v., Wollheim da Fonseca, Mythol.
des alten Indien, S. 135). Meyer (S. 14 ff.) findet gerade im
Atharvaveda die älteste volkstümlichste Auffassung der
Gandharven; auch dies kennt jedoch noch in den zwei Ein-
gangsliedern des 2. Buches den henotheistischen Luftgott
dieses Namens in der Einzahl als »einzig zu ehrenden Welt-
herrn«, der so wenig erst späteres Product »theologischer
Idealisirung« ist, dass gerade er in seiner Identität mit dem
ursprünglichen Himmelsgott als regenspender. befeuchtender
Luftgott, als Viçvâvasu auch zugleich Ehegott ist (Meyer,
S. 219) und den volkstümlichen Zug der Gandharven zur
lüsternen Einmischung in das menschliche Geschlechtsleben
erklärt, die man durch Zauberformeln verhüten oder doch
unschädlich machen will; allerdings findet sich die Vorstellung
derartiger Luftgeister, die auch zum Teil mit den Ahnenseelen
zusammenfließen, bei allen indogermanischen Völkern, ist
mithin älter als deren Trennung, aber weist doch überall
zurück auf den henotheistischen Himmelsmythos als ihren
Ausgangspunkt, nur teilweise auf einen immer schon mit
diesem verschmolzenen primitiven Ahnencult, der keineswegs
als eine so allgemeine Grundlage für die indogermanische
Mythengeschichte sich nachweisen lässt, als Meyer (S. 211 ff.)
annimmt. Für die Priorität des singularen Gandharven
spricht ferner, dass auch das Avesta nur einen Gan-
dhrawa nennt (Jescht der Ardviçura 10; Meyer, S. 35);
auch in dem griechischen Gheiron hat sich noch der ve-
dische mit dem Regen auch Weisheit spendende Viçvâvasu
erhalten, ebenso freilich die Mehrheit in einem zahlreichen
Kentaurenvolk, dessen wesentliche Uebereinstimmung mit
den Gandharven Meyer so eingehend bis in alle Einzelheiten
nachgewiesen hat, dass wir hier nichts weiter hinzuzufügen
brauchen. Gloatz.
Universitätsbibliothek der HU Berlin
00001100105220
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Sechzehnter Band.
Berlin,
o f"1
Ferd. Dümmlers Verlagsbuch— n —
Harrwitz & Gossmann.—
1886.
« in
3
I X
N
m
-n
O
JJ
(/)