Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sp räch Wissenschaft.
Herausgegeben
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Achtzehnter Band.
Leipzig,
Verlag von Wilhelm Friedrich,
K. R. Hofbuchhändler.
1888.
Is A
/; i// io,i% - Wbsi-
Inhalts - Yer zeichnis.
Erstes Heft.
Seite
lieber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. Von Carl
Haberland....... .......1—59
Kraft und Fülle der Nahrung. Hunger 7. Speise-
und Trankopfer 13. Nüchternheit 28. Fasten 26.
Fastenspeisen 47. Fasten aus Aberglauben 51.
Esstage 56.
Die Entstellung der einheitlichen Epen im allgemeinen.
Von Prof. J. Krohn in Helsingfors......59—68
Frühere Ansichten 59. Kalevala 60. Ueberlieferung
desselben 62. Diaskeuast 66.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie. Von Dr. Ign.
Goldziher...............69—82
Sammlung der Beispiele 69. Fremdwörter 70. „Vater"
als Steigerung im Arab. 73. Fremde Eigennamen
76. Wortspielmythus 79.
Die Mundart der ostpreussischen Zigeuner. Von R. v. Sowa 82—93
Quellen 83. Lautbestand 84. Tempora 63.
Beurt e ilungen.
1) HugoSchuchardt, Eomanisches und Keltisches.
Von G. Büchner.............94—99
Inhalt 95. Beim 97.
2) HeimbertLehmann, Der Bedeutungswandel im
Französischen. Von G. Büchner.......99—100
Absicht des Verfassers 99. Urteil über sein
Buch 100.
3) Joh. Flach, Der Hellenismus der Zukunft. Von
H. Müller...............100—101
IV
Seite
4) E. Lem ke, Volkstümliches in Ostpreussen. Von
K. Bruchmann.............102—109
Gliederung des Buches. Wirkung und Art
solcher Ueberlieferung. Aberglaube sinnlos
und zähe. Phantasie liebt Schauerliches und
Schönes. Humor. Der ostpreussische Dialekt.
1) Das Vaterunser. Hase im Korn. Mond.
Gespenstige Zeiten. Sturm. Versteinerung.
Gras wachsen hören. Brunnen mit Gold und
Silber. Totenklage. 2) Schlechte Logik.
Gefühl. Naivetät und Roheit. 3) Sprach-
liches. Tiernamen. Redensarten von Schwein
und Hund. Rabenvater. Kinderreime.
5) 0. Schräder, Ueber den Gedanken einer Cul-
turgeschichte der Indogermanen auf sprachwissen-
schaftlicher Grundlage. Von K. Bruchmann 109—112
Inhalt. Tönen und Hellsein. Aesch. Sept. 104.
Exod. 20, 18.
6) Aug. Blau, Bibliotheca philologica und
7) A. Müller, Orientalische Bibliographie. Von
H. Steinthal..........................112
Zweites Heft.
Der Spiritismus als sociale Erscheinung. Von Dr. Fr.
Krejci................
Vorbereitung des Spiritismus 114. Erkenntnis der
Welt 114. Moral 117. Die Ungebildeten 118.
Wesen des Spiritismus 121. Sociale Bedeutung
desselben 123.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. Von
Carl Haberland ............
Essen mit Andersgläubigen 128. Höflichkeit des
Wirtes 136. Verteilung der Speisen 139. Platz
am Tische 146. Vorkosten 147. Benutzung der
Geschirre 155. Reinlichkeit 160. Die Hand 164.
Andere Gebräuche 166.
Beurteilungen.
1) S ig wart, Die Impersonalien. Von H. Steinthal
Ergebnis von Sigwart 171. Miklosich 172.
Grundbedeutung des Impersonale 173. Sprache
und Logik 174. Brentano 175. Herbart 176.
Abweichung von Sigwart 177. Schiller's
Taucher 179.
114—127
128—170
170—180
y
Seite
2) Fr. Spiegel, Die arische Periode und ihre Zu-
stände, Yon K. Bruchmann.......180—199
Inhalt 181. Namen und Wohnsitz 182. Le-
bensbedürfnisse 184. Körper 184. Soma 185.
Metalle 187. Lebensordnung 187. Das Böse
in der Welt 188. Feuer 189. Deva 190.
AhuraMazda 191. Andere Götter 192. Wolken-
schlange 193. Bestattung 194. Eranier und
Semiten 196. Sintflut 197. Zahlen und Sprach-
formel 198.
3) Otto Gruppe, Die griechischen Culte und
Mythen in ihren Beziehungen zu den orientali-
schen Religionen. Von Gloatz...... 199—206
Polemik von Gruppe 200. Kritik daran 201.
Kuhn 204. Begiiff der Nationalität 205.
4) Th. Nöldecke, Die semitischen Sprachen.
Yon H. Steinthal........... 206—213
Ursemitisch 207. Urheimat 208. Gliederung
209. Babylonisch 210. Arabisch 211. Sa-
bäisch 212.
5) A. H. Say ce, Alte Denkmäler im Lichte neuer
Forschungen. Von H. Steinthal......213—219
Eberh. Schräder 213. Akkadisch-Sumerisch;
Schöpfung 214. Sabbath und Sintflut 215.
Die Noachiden 216. Aegypter 217, Mose
218. Cyrus 219.
6) H. Müller, Griechische Reisen und Studien.
Von H. Steinthal........... 219—224
Inhalt 219. Neugriechische Dichtung 220.
Die Neugriechen 222. Griechisch auf der
Schule 224.
Drittes Heft.
Ueber sagenhafte Yölker des Altertums nnd des Mittel-
alters. Von L. Tobler......... 225—254
Prähistorie 225. Geschichte und Sage 226. Chrono-
logie 228. 1) Mythische Völker: Kyklopen 230.
Lästrygonen, Pliäaken, Arimaspen, Pygmäen 231.
Amazonen 232. Aethiopen und Hyperboreer 233.
Phlegyer, Kerkopen 234. 2) Nicht mythische:
Lothophagen 235. Argippäer 236. Neurer 237.
Einbeinige und hundsköpfige Menschen u. s. w.
238. Riesen und Zwerge 241. Riesen- und Völker-
VI
Seite
namen 243, Hunnen 244. Tschuden 244. Antes,
Wilzen 245. Zwerge 246. Verbreitung des Eisens
249. Yenetianer und Yenediger 250. Walen und
wälsch 251. Die alten Yeneter 258.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. Yon
Carl Haberland............ 255—284
Behandlung der Speisen bei Tische 255. Unter-
brechung des Essens 257. Brechmittel 258. Nicht
reden beim Essen 261. Der Tisch 263. Tisch-
tuch 268. Anstand beim Essen 272. Lage des
Messers 274. Löffel 280.
Die indo-cliinesisclie Philologie. Von Herbert Baynes 284—289
Chinesen haben Entwicklung 284; ihre Litteratur
286. Einwanderung nach China 287. Die ugro-
altaischen Bak-Familien; Verbindung mit Baby-
lon 288. Ureinwohner Chinas 288. Sprachperi-
oden 289. Schema dafür 290. Sprachmischung
291. Wortstellung und Syntax 292. Die alten
Dialekte 294. China, Babylon und Syrien in Ver-
bindung 295. System der chinesischen Sprach-
kette 297. System des turanisch - skythischen
Sprachstammes 298.
B eur teilungen.
1) Andrew Lang, Custom and Myth. Von Dr.
P. Steinthal............. 299—311
Langs Methode 300. Cronus 301. Philologische
Methode 302. Mythen-Entlehnung 304. Totem
305. Gleiche Entwicklung verschiedener Völ-
ker 306. Amor und Psyche 307. Cronus 309.
Maori 310. The bull-roarer 311.
2) Folklore, Nachtrag zu vorstehender Besprech-
ung von H. Steinthal..........311—324
Folklore und Völkerpsychologie 312. Gleich-
heit und Verschiedenheit der Völker 313.
Wie zu erklären? 314. Richtungen der Mytho-
logie 315. Creuzer 316. Methode der Mythen-
forschnng 318. Deutsche Schule 322. Veden
323. Gaidoz 324.
3) Zur neuesten Philosophie. Von G. Glogau . . 325—356
A. Riehl, der philosophische Kriticismus 325.
Aug. Classen, Ueber den Einfluss Kants auf
die Theorie der Sinneswahrnehmung und die
Sicherheit ihrer Ergebnisse 382. Joli. Volkelt,
VII
Seite
Erfahrung und Denken 333. Carl Schulz, Der
Gottesgedanke 346. M. Guggenheim, Die
Lehre vom apriorische Wissen u. s. w. 352.
J. H. Witte, Das Wesen der Seele und die
Natur der geistigen Vorgänge im Lichte der
Philosophie seit Kant u. s. w. 354.
Viertes Heft.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. Von
Carl Haberland............ 357—394
Der Dreizehnte 357. Verschütten von Speise 359.
Messer und Gabel 360. Vom Wein 361. Reste
des Essens 363. Aftergäste 365. Reinen Tisch
machen 366. Beratung bei Tische 375. Ver-
brüderung dabei 377. Agapen 380. Hochzeits-
schmaus 385. Tierische Knochenreste 388.
Zwei Hexengescliicliten. Von W. Schwartz..... 395—419
Geschichte I und II. Hexenglaube 397. Hexen-
wetter 398, ihre Versammlungen 400. Das Ge-
witter 403. Hexentrug 406, ihr Rasen 408. Ver-
blendungsscenen 410. Pentheus 411. Hexen
kriegerisch 414. Blitz als Zaum 415. Wolken-
rosse 416.
Ausruf, Frage und Yerneinoug in den semitischen
Sprachen. Von R. Jensen........419—430
Frage = Ausruf Maleachi III, 2 u. s. w. Semitische
Sprachen 421. Derselbe Lautkomplex ai für An-
ruf, Frage, Verneinung 423. Lä 424. ma 425.
n 426. man 427. Indogormanisch men 428. Er-
weiterung des Problems 429.
Beurteilungen.
1) Höret ihr Himmel, merk auf Erde. Von II. Steinthal 431—450
Jes. I, 2 und V. Mos. 32, 1. Bund Gottes mit
Israel 432. Doppelter Sinn der Formel 433.
Jes. 55, 12 — 434. Ps. 18 — 435. Ps. 19 — 436.
Anreden des Propheten 437. Mikha 6,2 — 438.
Ethisirung der Natur 439. Die Gesamtheit
440. Poesie und Mythologie 441. Dichter
und Prophet 442. Wahrhafte Täuschung des
Propheten 445. Jesaja 447. HebräischeDicht-
ung im Mittelalter 448. Gebete der Juden449.
Mischung von prophetischer, dichterischer,
mythologischer Rede 450.
Vili
Seite
2) E. N. Setälä, Zur Geschichte der Tempus- und
Modusstammbildung in den finnisch - ugrischen
Sprachen. Von Fr. Misteli........ 451—454
Analogie und finnische Lautgesetze 451. 8
sing, praes. 451. 3 plur. praes. 452. Re-
flexivum 454. Consonantenschwächung 456.
Imperativ 458. Ostativ 459. Magyarisch 460.
Tempusstämme des Ugrischen Nominalst. 461.
Modussuffixe 462. Unterscheidung der Tem-
pora mangelhaft 463.
3) J. Qvigsto d und Sandb erg, Lappiske eventyr
og folkesagn. Yon Dr. P. Steinthal .... 464—474
Inhalt 465. Religion der Lappen 466, ihre
Märchen 467. Entlehnungen 468. Aschen-
brödel 470. Lappisches Nationalepos 472.*
Sterbliche in der Unterwelt 473. Ueberein-
stimmung verschiedener Völker 474.
4) A. Joannissiany, Armenische Bibliothek IV.
Märchen und Sagen. Von K. Bruchmann . . 474—475
Inhalt. Mythologie aus Anschauung. Sitz
der Sonne. Zahlen 7 und 40. Armenisches
Volksepos. Sprichwörter.
Zeitschrift
für
V ölkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
von
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Achtzehnter Band. Erstes Heft.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim
Essen. Von Carl Haberland.
Die Entstehung der einheitlichen Epen im
allgemeinen. Von Prof. J. Krohn.
Arabische Beitrüge zur \ olksetymologie. Von
Dr. Ign. Goldziher.
Die Mundart der ostpreussisclien Zigeuner.
Von R. von Sowa,
INHALT:
Beurteilungen:
IIugo Schuchardt, Romanisches und Kel-
tisches. Von Dr. G. Büchner.
Johannes Flach, Der Hellenismus der Zu-
kunft. Von Hans Müller.
E.Lemke, Volkstümliches in Ostpreussen*
Von K. Bruchmann.
Dr. O. Schräder, Ueber den Gedanken einer
Culturgeschichte der Indogermanen auf
sprachwissenschaftlicher Grundlage. Von
K. Bruchmann.
LEIPZIG
Verlag von Wilhelm Friedrich,
K. R. Hofbuchhändler.
1888.
Verlag von Ferdinand Enke in Stuttgart.
Soeben erschien:
Die Hügelgräber "Ä"
Geöffnet, untersucht und beschrieben von
Dr. Julius Naue.
Mit i Karte und ¡9 Tafeln Abbildungen, darunter 22 farbige Tafeln, gr. 4. geb. Preis 36 M
Herder'sche Verlagshandlung, Freiburg (Breisgau).
Soeben ist erschienen und durch alle Buchhandlungen zu beziehen:
Vosen, Dr. C. H.,Rudimenta linguae hebraicae
scholis publicis et domesticae disciplinae brevissime accommodata. Retractavit
auxit septimum emendatissima edidit Dr. Fr. Kaulen. 80. (IV u. 131 S.)
M. X.60; geb. in Halbleinwand mit Goldtitel M. 1.90.
Der Preis dieser Auflage ist von M. 1.80 auf M. 1.60 für das brosch. und
von M. 2.10 auf M, 1.90 für das geb. Exemplar ermässigt worden.
Im Verlage der K. R. Hofbuchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig
sind erschienen :
Einzelbeiträge zur Allgemeinen
und Vergleichenden Sprachwissenschaft.
Erstes Heft.
Allgemeine Sprachwissenschaft
und Carl Abels Aegyptische Sprachstudien
von Prof. Dr. Aug. Fr. Pott.
Gross-Lexikon-Oktav. Preis Mark 3.—
Es ist dies das letzte Werk aus der Feder des jüngstverstorbenen Altmeisters
der Vergleichenden Sprachwissenschaft. Pott unterzieht hier Dr. Abels Untersuchungen
auf dem Gebiete der psychologischen Philologie und vergleichenden Etymologie einer
höchst anerkennenden "Würdigung und erwartet weitere Fortschritte von der neuen
Richtung, deren schwierige Punkte gleichzeitig kritisch beleuchtet werden.
Zweites Heft.
Die arische Periode und ihre Zustände.
Von Dr. Fr. von Spiegel.
Gross-Oktav. Preis Mark 12.—
Der Zweck dieses neuesten Werkes des bekannten Gelehrten ist, das sprachliche
Material welches kulturgeschichtlich wichtig ist, möglichst vollständig zu sammeln und
die nähere Zusammengehörigkeit des indischen und éranischen Volkes in vorgeschicht-
licher Zeit zu erweisen. Der Verfasser hofft ein Bild der Zustände jener Periode zu
geben, welche der Trennung der beiden genannten Völker unmittelbar vorhergeht»
und auch für die immer noch nicht entschiedene Streitfrage nach der Urheimat der
Indogermanen dürfte dieses Werk von Bedeutung sein.
Durch jede Buchhandlung zu beziehen.
lieber Gebräuche und Aberglauben beim
Essen.
Yon Carl Haberland.
Fortsetzung aus Bd. XVII. Heft 4.
§ 6.
Frühzeitig musste sich dem Menschen die Erkenntnis
aufdrängen, dass nur durch die Nahrung seine Existenz
überhaupt ermöglicht, die Nahrung selbst daher heilig zu
halten und der Gottheit namentlich für sie zu danken ist.
„Niemand, wenn er nicht isst, vermag etwas", sagt bereits
der A vesta in richtiger Würdigung der Bedeutung der
Nahrung und diesem alten Satze entspricht genau die im
Eifellande gehende Redensart „Wer nicht isst, der arbeitet
auch nicht".1 „Das Brod erquicket des Menschen Herz" singt
der Psalmist,2 vom „heiligen Kerne des Mehles" Homer,3
heilig nennt Notker in seiner Psalmenübersetzung die Saat,
vom lieben Korn redet das deutsche Mittelalter.4 In einem
angelsächsischen Zaubersegen werden die Siegweiber ge-
beten, so eingedenk des Glückes des Kriegers zu sein, wie
jeder Mensch der Speise und der Heimat.5 Die oben an-
geführte Stelle des Avesta lautet vollständig:
„Niemand wenn er nicht isst, vermag etwas.
Nicht (vermag er) tüchtig zu sein in reinem Wandel.
Nicht tüchtig zu sein im Ackerbau.
Denn vom Essen lebt die ganze mit Körper begabte Welt,
ohne Essen stirbt sie."
1 Schmitz. Sitten etc. des Eifler Volkes. Trier 1856. S. 190.
2 Psalm 104, 15.
3 Hias 11, 631.
4 Gervasius von Tilbury. Otia imperialia. Herausgegeben von
Liebrecht. Hannover 1856. S. 57.
5 Mannhardt. Germanische Mythen. Berlin 1858. S. 673.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 1. 1
2
Haberland.
und zwar enthält dieses Manthra der Vendidad,1 welcher
im Ackerhau, im Reifen der Getreideähren das Mittel
sieht, die Daevas zu betrüben und sie zur Flucht zu nöti-
gen,2 wie er diese Geister der bösen Schöpfung selbst auch
als nichtessend sich vorgestellt zu haben scheint.3 Das
indische Sittengesetz verlangt, dass man die Nahrung in
vollständiger Sammlung des Geistes aufnimmt, dass man
sie ehrt und ohne Mäkeln und Ekel genießt; wenn man
sie sieht, soll man sich freuen, ist man im Schmerz, soll
ihr Anblick trösten. Ehrt man so die Nahrung, dann gibt
sie Muskelstärke und Manneskraft, sonst aber zersört sie
diese beiden.4 „Diese wolzubereitete Speise verschafft uns
Glanz, möge sie uns nimmer fehlen!" ist ein in den Aphoris-
men des Apastamba vorgeschriebenes Tischgebet,5 und ähn-
lich kehrt auch in anderen Tischandachten der Hindu dieser
Bezug auf die Heiligkeit der Nahrung wider; überschwäng-
lich behauptet daher auch dort das Lob der Freigebigkeit:
„Leben ist das größte der Güter, und da Nahrung es er-
hält, ist derjenige, welcher Nahrung gibt, in Wahrheit ein
Gott"6 und eine Secte soll sogar stets mit speisegefülltem
Munde beten.7 Bei den Samojeden steht der Fleck der
Thür gegenüber, wo die Nahrungsmittel aufgehäuft wer-
den, in einer Art religiöser Achtung und dürfen bei-
spielsweise Weiber nie über diesen Teil der Wohnung
schreiten.8
Nahrungsfülle ohne Arbeit ist das Ideal niedern Sinnes
und verkörpert finden wir es in den Erzählungen vom
Schlaraffenlande, dem andere Völker ähnliche glückliche
1 Farg 3, 112/5. a. a. 0. 1, 85.
2 Daselbst Vers 105/9. S. 85.
3 Daselbst Farg. 18, V. 72. S. 234.
4 Manu 2, 53/5. Gautama 9, 59.
5 Apastamba 2, 2, 3, 11.
6 Taylor 2, 757.
7 Colebrooke. Miscellanious Essays. London 1873. Vol. 1 p. 212..
8 Erman 1, 706.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
3
Zustände, welche sie meist an den Anfang ihres Daseins
setzen, an die Seite zu stellen haben. Die Chinesen hatten
beispielsweise diesen paradiesischen Zustand unter einem ihrer
mythischen Kaiser, während dessen Regierung sie fort-
während spazieren gingen, den Mund stets voll hatten und
sich den Bauch schlugen, als wenn es eine Trommel wäre1.
Gleicherweise führt diese Volksanschauung yon der Seligkeit
des Essens auf natürlichem Wege dazu, den Göttern und
mythischen Helden ein starkes übermenschliches Nahrungs-
bedürfnis zuzuschreiben, wohin auch schon ihre das Men-
schentum übersteigende Größe und Kraft leiten musste.
Als der starke Fresser der griechischen Mythologie er-
scheint entsprechend seiner Stärke der Herakles, worauf
schon seine Beinamen „der Stierschlächter", „der Ochsen-
fleischesser", „der Vielesser" genügend hinweisen,2 und
teilt er diese Eigenschaft namentlich mit den Sonnengöttern
und -heroen, (sei es, dass man die ausdörrende Kraft der
Sonne in Betracht zog3 — Erysichthon, welcher nach
Hellanikus seinen Beinamen Aethon (Glutmann) von seiner
unersättlichen Fresslust erhielt und zuletzt anfing sich
selbst zn verzehren, wird von Creuzer als die dörrende
Glutsonne gefasst4 — oder vom irdischen Feuer die all-
verzehrende Kraft auf das Himmlische übertrug5) den Ge-
wittergottheiten, sowie den Kraftgöttern und Riesen an-
derer Mythologien und Volkssagen. Des Sonnenprinzen
(d. h. der männlich gedachten Sonne) harrt im bulgari-
schen Liede die Mutter mit einer Kuh und sieben Broden
als seinem Abendessen;6 der starke Hans unserer Märchen,
der Eisenhans des siebenbürgischen, welcher nur seine
1 Livres sacrés de l'Orient 29.
2 Creuzer 1, 98.
3 Preller. Griechische Mythologie. Berlin 1872/5. Bd. 2 S. 266.
4 Creuzer 4, 275.
5 Krek. Ueber die Wichtigkeit der slavischen traditionellen
Literatur als Quelle der Mythologie. Wien 1869. S. 86.
6 Daselbst S. 82
1*
4
Haberland.
Peitsche aus dem Elternhause mitnimmt,1 der starke Knecht
„Dreizehn" des niederländischen, welcher ursprünglich ein
Schmiedegeselle war,2 isst Vater und Mutter arm und ver-
zehrt als Knecht seiner Arbeitskraft gemäß, ohne gesättigt
zu sein, das Essen aller seiner Mitknechte;3 der indische
Heilige Agastjas verschlingt, obgleich zwergartiger Natur,
ohne Yerdauungsbeschwerden zwei Dämonen, welche sich
in eine Ziege und ein Schaf verwandelt hatten, mit Haut
und Haar und trinkt, als ihn der Meergott beleidigt, den
ganzen Ocean aus.4 Bis zum halben Weltmeer bringt es
auch Thorr, als er bei Utgardloki sich aufhält, während er
bei Thrymr sich mit drei Kufen Met begnügt;5 ebenfalls
drei Kufen Soma genießt Indra zu seinem Male von 300
Stieren,6 sieben Ochsen genießt der hungrige Thorr und
wenn er dann noch nicht genug hat, das was er erreichen
kann, den Bauer samt dem Pflug, den Ritter und sein Ross,
den Junker und sein Schloss;7 seinem Bilde zu Lôar wur-
den nach dem Berichte der Olafs Helga Saga täglich vier
Brode nebst dem entsprechenden Fleische vorgesetzt.8 In
einem schwedischen Liede genießt der den Riesen besiegt
1 Haltrich. Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in
Siebenbürgen. Berlin 1856. S. 78.
2 Wolf. Deutsche Märchen und Sagen. Leipzig 1845. S. 105.
3 Durch das Gebet der h. Brigida erhielt nach der legenda
aurea ein Mann, welcher gleichfalls für zwölf Menschen arbeitete
und aß, den Hunger nur eines einfachen Menschen, trotzdem ihm
seine volle Kraft blieb. Wolf. Beiträge 1, 95. In einem dänischen
Märchen erhält ein Junge durch Genuss von dreimal zwölf Löffel
Grütze mit Butter die Kraft von 36 Männern. S vend Grundtvig.
Dänische Volksmärchen. Leipzig 1878/9. Bd. 2 S. 221.
4 Wollheim. Allgemeine vergleichende Mythologie. Berlin 1856.
Bd. 1 S. 154.
5 Mannhardt. Mythen 99.
6 Krek 86 n.
7 Ebendaselbst. Im Argauer Kinderreim frisst [der Fritze das
Kalb, die Kuh und, da er noch nicht genug hat, das Pferd mitsamt
den Eisen. Rochholz. Kinderlied S. 39.
8 Mannhardt. Mythen 100.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 5
habende Mönch 7 Ochsen, 15 Speckseiten, 300 Brode, 12
Tonnen Bier;1 Hans Meernixensohn im dänischen Märchen
nimmt, als er den alten Erich bekämpfen soll, als Imbiss
einen Backofen Brod, ein Viertel Butter, eine Tonne Bier
und einen Anker Branntwein mit;2 die Heldentaten des
Vielfressers in „Sechse kommen durch die ganze Welt",
werden dem Leser aus seiner Jugendlectüre gewiss noch be-
kannt sein. Die indischen Dämonen werden schon im Namen
als gefräßig geschildert; namentlich werden die Räkshasen
die Esser, die Gefräßigen genannt, wie ja auch der alt-
nordische und angelsächsische Name der Riesen, jötunn,
eoten, nach Grimms Deutung „der Esser" bedeutet.3 Starke
Esser sind gleichfalls die Götter der Fidschi-Insulaner, ihr
Hauptgott ruht in einer Höhle ohne jede Erregung, Leiden-
schaft oder Verlangen mit Ausnahme eines kräftigen, stets
wachen Hungers.4
Gegenüber dieser Verherrlichung des Fressens im
Volksglauben tritt natürlich das Sittengesetz mit der ent-
gegengesetzten Forderung der Mäßigkeit ein. Das indische
Nationalepos Mahabharata lässt, als die Pandusöhne am
Ende ihres Lebens nach dem Berge Meru wallfahrten, um
dort in den Himmel Indras einzugehen, den Bhima unter-
wegs kraftlos liegen bleiben, weil er zu viel auf seine
Muskelkraft vertraut und zu viel gegessen hat.5 Im Tempel
zu Delphi soll sich eine Säule befunden haben, in welche
Flüche gegen den König Meinis eingeschnitten waren, weil
er zuerst die Aegypter veranlasst hätte, von der alten
einfachen und dürftigen Nahrung abzugehen.6 Das ägyp-
tische Sittengesetz eiferte überhaupt stark gegen alle
Völlerei; ein uns erhaltener Papyrus sagt: „Elend ist,
1 Daselbst 99.
2 Svend Grundtvig. 2, 82.
3 Mannhardt. Mythen 162. 168/9.
4 Tylor 2, 391 nach Williams.
5 Duncker. Geschichte des Altertums. Leipzig 1874. Bd. 3 S. 73.
6 Plutarch. Isis und Osiris. Kap. 8.
6
Haberland.
wer seinem Bauche fröhnt oder wer verbringt seine Zeit
in Unbewusstheit, Dickleibigkeit herscht im Hause solcher."1
In parsischer Anschauung erscheint die Bedürfnislosigkeit
an Nahrung als ein Zeichen höherer Zustände. In Erân-vej,
dem irdischen Paradiese, genügt nach dem Minokhired ein
Brod zur Sättigung von zehn Männern, und wenn das Ende
der "Welt nahet und das Gesetz des Ahura Mazda seine
allgemeine Geltung erlangt, dann werden die Menschen
immer weniger und weniger essen, bis sie zuletzt einzig
an himmlischer Speise sich genügen lassen, wie sie auch
am Anfange der Welt keiner Speise bedürftig gewesen sind.2
So lieblich die Nahrung, so furchtbar erscheint der
Hunger dem Menschen und es braucht uns nicht zu wun-
dern, wenn wir ihn mehrfach als Dämon aufgefasst finden.
So gab es in Smyrna ein Heiligtum der Boubrostis d. h.
des Hungers in der Gestalt eines bösen Dämon, dein schwarze
Stiere geopfert und, nachdem sie zerstückt, samt der Haut
verbrannt wurden;3 in der Götterlehre des Avesta tödten
zwei der Amesha-çpentas den Hunger und Durst,4 wonach
sie also als lebend, als Dämonen gefasst sind, und der Wolf
im Magen, welchen uns englische Redensarten zeigen5, so
wie auch der deutsche Ausdruck „Wolfshunger" streifen an
die gleiche Auffassung. In dem andern Ausdrucke „Heiß-
hunger" berührt sich die deutsche Sprache mit der grie-
chischen, welche die Gefräßigkeit mit Worten, die vom
Feuer hergenommen sind, zu bezeichnen pflegte.6 Nach
böhmischem Volksglauben hat der Mensch einen schädlichen
Wurm im Leibe, welcher ihn an seiner Nahrung bestiehlt;
daher soll der Mensch auch nicht essen, was ihm beliebt,
1 Schwimmer. Die ersten Anfänge der Heilkunde und die
Medicin im alten Aegypten. Berlin 1876. S. 29.
2 Spiegel. Avesta 1, 61n. 34. 234n.
3 Preller 1, 638. Plutarch. Tischreden 6, 8, 1.
4 Spiegel. Eranische Altertumskunde 2, 40.
5 Liebrecht. Gervasius 171.
ß Creuzer 4, 275.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
7
da nicht er, sondern vielmehr dieser Wurm Gelüst danach
hat und dadurch wachsen könnte.1 Auch als Eidechse oder
Vogel im Magen fassen wilde Völkerschaften den Heiß-
hunger auf.'2
Ein Forttreiben dieses bösen Gastes, des Hungers,
kennt der irische Brauch und berührt sich darin eng mit
einem aus dem klassischen Altertum berichteten. Der Ir-
länder treibt am Abend des Dreikönigstages den Hunger
für ein Jahr aus, indem ein jedes Familienmitglied ein
Brod, welches später dann die Bettler erhalten, an die
Thür der Wohnung wirft, wobei gesungen wird:
„In Gottes Namen bannen wir den Hunger aus diesem Hause,
Heute Nacht und jede Nacht bis zur selben Nacht übers Jahr."3
und ebenso gab es in Chäronea ein althergebrachtes Opfer-
fest „die Austreibung des Heißhungers", welches sowol an
dem öffentlichen Altar durch den Archonten als in den
einzelnen Häusern vollbracht wurde, und bei dem ein
Sclave mit Weidenruten unter dem Rufe: „Fort mit dem
Heißhunger, herein aber den Reichtum und die Gesund-
heit!" zur Tür hinausgejagt wurde.4
Den Lehren indischer Physiologie zufolge entsteht der
Hunger dadurch, dass die genossene Nahrung vom Wasser
hinweggetragen d. h. verdaut wird, der Durst aber, indem
das innerliche Verdauungsfeuer das genossene Getränk hin-
wegträgt; Blut ist das Resultat beider Vorgänge und aus
dem Blute baut der Körper sich auf oder ersetzt er sich.5
Dem Vishnu-Purana nach wurde bei der Erschaffung der
Wesen aus einer mit der Eigenschaft der Unreinheit be-
gabten Form des Brahma der Hunger hervorgebracht und
1 Grohmann No. 1105.
2 Tylor 1, 386.
3 Ausland 160. S. 317.
4 Plutarch. Tischreden 6, 8, 1.
5 Chandogya Upanishad 6, 8, 3/5. in The Upanishads. Trans
lated by F. Max Müller. Oxford 1879. vol. I p. 99.
8
Haberland.
von diesem wieder der Zorn.1 Ein anderes theologisches
Werk lässt Hunger und Durst, als die Gottheiten in den
Menschen eingekehrt und in seinen Sinnen und Körper-
teilen als deren belebende Kräfte ihren Sitz erhalten haben,
die Weltseele auch um einen Platz bitten, und diese macht
sie zu Gefährten aller dieser Gottheiten und lässt sie bei
jedem Opfer, welches einer derselben gebracht wird, Teil-
nehmer sein;2 im gleichen Werke werden sie auch als eine
Art Verstand, welcher den Tieren gegeben sei, aufgefasst
im Gegensatze zu den höheren geistigen Kräften, welche
nur dem Menschen eigenen.3 In der Legende tritt IndraT
um den Dämonen Vritra zu vernichten, in Folge eines Ab-
kommens mit diesem in sein Inneres, dem Wortlaut des
Abkommens nach um ihm Genuss zu verschaffen, in Wirk-
lichkeit aber als Hunger, um ihn zu vernichten, wie auch
der Dämon bereits vorher gefürchtet ¡hatte, dass er ihn
verzehren würde, wenn er in ihn eingetreten wäre.4 Gleich-
falls des Hungers hatten sich auch nach dem Ramayana
in einem früheren Weltalter die Götter bedient, um sich
des Danavas, welchen er verzehren musste, zu entledigen.5
Nach parsischem Glauben verleiht der Genius der Luft,
Râma-qâçta, den Speisen den Geschmack,6 oder sind es die
beiden Amesha-çpentas (obere Genien) Haurvat und Amere-
tât, welche das Nützliche und Angenehme in die Speisen
legen;7 als ihre Feinde treten Taric und Zaric auf, welche
bereits im Yendidad als Geschöpfe des Ahriman genannt
sind.8 Der Fravashi des Menschen selbst sorgte nach
1 Vishnu Purana. Translated by H. H. Wilson.? London 1864,
vol. I p. 82.
2 Aitareya Aranyaka 2, 4, 2, 5 in Upanishads 1, 240.
3 Daselbst 2, 8, 2, 5 S. 222.
4 Muir. Original Sanscrit Texts. London 1873. Vol. IV p. 79
(nach Taittiriya Sanhita).
5 Muir 4, 470/1.
6 Spiegel Avesta 2, 6n. 34n. 3, XXXIV,
7 Zamyad Yast 96. Spiegel 3, 184. Spiegel 2, 36n. 3, XII.
8 Spiegel 3, XLVIII. Vendidad 10, 18, S. 176.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 9
späterem Glauben dafür, dass alle einzelnen Teile des
Körpers dem Bewusstsein Teil an der Nahrung zukommen
lassen, dass die schweren Teile ausgeschieden und das
Uebrige nützlich verwendet wird.1 Nach dem Ashi-yast
des Khorda-Avesta bat Yima die Ashis-vaguhi um die
Gunst Hunger und Durst von den Geschöpfen Mazdas
tausend Jahre hindurch hinwegbringen zu dürfen.2
Interessant sind auch die ausführlichen Erzählungen
des äthiopischen Adambuches, wie nach dem Verluste des
Paradieses zuerst sich Durst — wie ein Brennen und
Flammen im Innern — und Hunger beim ersten Menschen-
paare einstellten, wie sie beide diese Bedürfnisse nicht zu
befriedigen wagten, weil sie mit Recht ahnten, dass durch
den Genuss körperlicher Speise eine Aenderung des Organis-
mus und der Verlust der letzten ihnen noch gebliebenen
Gaben der Lichtwelt eintreten würde, bis endlich auf An-
ordnung Gottes, da der tierische Körper auf der Erde ohne
irdische Nahrung nicht bestehen könne, sie den Hunger erst
mit einer sich stets erneuernden Feige, dann mit Brod,
dessen Bereitung aus den Weizenkörnern dem Adam die
göttliche Weisheit lehrte, stillten, und nun der Schlaf und
das Bedürfnis der Auslehrung, welches sich ihnen als eine
schwere Krankheit darstellte, dessen Befriedigung aber
Gott durch ein schnelles Schaffen der nötigen Oeffnungen
entgegenkam, zuerst sich bei ihnen einstellten.3
Oft erscheint auch der Hunger als eine von den nah-
runggebenden Göttern ausgehende Strafe. Im alten Testa-
ment ist Jehova, wie er der Geber alles Lebensbedürfnisses
ist, so auch der Sender des Mangels und des Hungers:
„Denn Jehova rufet den Hunger herbei, und auch wird er
ins Land kommen sieben Jahre."4
1 Spiegel 2, 174n.
2 Spiegel 3, 165.
3 Das christliche Adambuch des Morgenlandes. Uebersetzt von
Dillmann. Göttingen 1858. S. 19. 36. 37. 56. 137.
4 2. Könige 8, 1.
10
Haberland.
„Du wirst essen und nicht satt werden, Heißhunger in
deinem Leibe."1
Dem altgriechischen Glauben zufolge kommt der Heiß-
hunger ebenso gut von der Göttin des Ackerbaues, der
Geberin des Getreides, der Hülsenfrüchte und des Honigs,
als sie andererseits die Urheberin der vollen und reinen
Sättigung ist;2 als ihren Fluch sendet sie dem frevelnden
Erysichthon nie zu stillenden Hunger und Abzehrung.3
Ganz ebenso wollen auch die Khonds von Orissa vom Boora
Pennu gleichzeitig das Bedürfnis des Hungers und das
Mittel zu seiner Befriedigung im Ackerbau erhalten haben;4
die Quiché und Mexikaner schrieben dem Schöpfer selbst
das Suchen eines das Menschengeschlecht erhaltenden Nah-
rungsmittels zu und lassen ihn den Mais als passendes fin-
den, um in das bereits geschaffene Fleisch als Blut ein-
treten zu können.5
Als Tischgott verehrte der Grieche den Herakles, der
Phönicier den ihm entsprechenden Melech;6 aber der Thalia
schrieben erstere die Reinigung des tierischen Triebes des
Essens und Trinkens zur heiteren Geselligkeit des Mahles
zu,7 so dass sie gewissermaßen den ergänzenden Gegensatz
zum Herakles bildete, dessen |tierische Fresserei die Ko-
mödiendichter so gern verspotten. Im römischen Volks-
glauben erscheint Anna Perenna als die gute speisende
Alte;8 bei den alten Preußen tritt Gorcho als Gott des
1 Micha 6, 14.
2 Preller 1, 688. „Da rief Ceres zuerst zu der besseren Nah-
rung die Menschen; Denn heilsamerer Kost wichen die Eicheln
durch sie." Ovid's Fasten 4, 401/2.
3 Creuzer 4, 274.
* Tylor 2, 370.
5 Brasseur de Bourbourg in Nouvelles Annales des Voyages
1857 p. 329.
6 Creuzer 1, 101. 2, 614.
7 Plutarch. Tischreden 9, 14, 7.
8 Klausen. Aeneas und die Penaten. Hamburg und Gotha 1839.
S. 725.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. H
Essens und Trinkens auf,1 er war wol wie der phönicische
Melech zugleich der Gott der Ernte ; von einigen sia vischen
Mythologen wird Koleda als ein slavischer Gott des Ver-
gnügens und der Gastmähler betrachtet.2
Um das tägliche Brod bittet nicht nur das Vaterunser,
wol selbst jeder wilde Stamm wendet sich an seine Götter
und Geister, um von ihrem Wolwollen die Nahrung zu er-
flehen oder ihrem Uebelwollen, welches sie ihm vorent-
halten könnte, zu begegnen, und ebenso legt er für die
erhaltene Nahrung seine Dankbarkeit durch Gebet und
Weihung eines Teiles derselben an den Tag, fürchtend
durch Unterlassung dieses Brauches die weitere Lieferung
in Frage zu stellen. Die Lappen beten vor und nach
Tische in kurzer Formel,3 die Tschuwaschen mit „Gott
gib Brod!" vor und mit „Gott verwirf mich nicht!" nach
Tische,4 und nachdem sie mit entblößtem Haupte das Ge-
bet nach Osten blickend vollendet, beißen sie erst ein
Stückchen Brod ab, werfen es gleichfalls nach Osten und
beginnen nun erst zu essen.5 Auf Samoa geschah vor dem
Abendessen in den Familien ein Gebet, bei den großen
Festen war es Sache der öffentlichen Redner den Dank
nach der Speiseverteilung mit den Worten „Dank Dir
hierfür, großer Tangaloa!" auszusprechen;6 auf Tanna
sprach beim Abendmahl das Dorfhaupt vor dem Trinken
ein Gebet an die Götter.7 Der Moslem soll vor Tische
und beim Reichen jeder neuen Speise „Im Namen Gottes!"
und nach Beendigung der Mahlzeit „Ruhm sei Gott!"
1 Tettau und Temme. Die Volkssagen Ostpreußens, Litthauens
und Westpreußens. Berlin 1837. S. 86.
2 Krek 71.
3 Beschreibung aller Nationen des russischen Reiches. Peters-
burg 1776 ff. B. 1 S. 9.
4 Daselbst S. 40.
5 Allgemeine Historie der Reisen 19, 558.
6 Turner 200. Waitz-Gerland 6, 240.
7 Turner 85.
12
Haberland.
ausrufen;1 ein sehr gebräuchliches etwas längeres Tisch-
gebet der Araber lautet: „Im Namen Gottes, o mein Gott,
segne das was du uns zu essen gibst, und bring es wieder
hervor, wenn es gegessen ist."2 Dem Parsen ist, sobald
das Essen auf dem Tisch erscheint, ein bestimmtes, an
die beiden Genien Haurvat und Ameretat gerichtetes Ge-
bet vorgeschrieben und erscheint das Unterlassen des Ess-
gebetes als eine Sünde in ihren Beicht- und Keuformeln.3
Der Kömer sollte nach altem Brauche die Mahlzeit mit
einem Gebete beginnen und endigen.1 Der Hindu hat,
wenn das Essen hereingebracht wird, sich vor ihm zu
neigen, indem er seine beiden Hände ehrerbietig zur Stirne
führt, und dann zu sagen „Möge dies stets unser sein!"
d. h. möge es uns nie an Nahrung mangeln. Hat er sich
gesetzt, dann hebt er die Speise mit der linken Hand em-
por und segnet sie mit den Worten „Du gibst die Kraft!"
oder wenn sie gereicht wird, sagt er „Der Himmel gebe
dich!" und indem er sie nimmt fügt er hinzu „Die Erde
nimmt dich an." Nächstdem folgt das Opfer von fünf
Bissen an Yama und ein gleichfalls fünffaches Opfer an
den Atein in seinen fünf Formen, worauf dann das Essen
selbst beginnen kann;5 dieses letztere Opfer kann auch in
den eigenen Mund gebracht werden, indem bei diesen fünf
Bissen je eine der fünf Formen des Atmens angerufen
wird.0 Die Juden haben außer dem allgemeinen Segen über
Brod und Wein beim Essen noch besondere für verschie-
dene Arten von Speisen, für bessere Weine, für solches
1 Tornau 232.
2 Ausland 1858, 41 nach General Daumas.
3 Spiegel Avesta 2, L. 3, 186. 225. Ein anderes den liebenden
Herrscher preisendes Tischgebet. Daselbst 3, 246. Der Chalif Omar
ließ durch seinen Statthalter in den östlichen Provinzen den Magiern
das Brummen vor^denT Essen verbieten. Sprenger 3, 376n.
4 Fustel de Coulanges 23.
5 Colebrooke 1, 208.
6 Apastamba 2, 1, 1, 2n. Dubois 1, 343.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 13
Obst, das am Baume, für solches, welches am Boden
wächst u. s. w. ; fällt dem Juden aber, nachdem der Segen
über etwas gesprochen, dieses aus der Hand, dann muss
er durch einen anderen Spruch die Sünde yon sich nehmen,
den Namen Gottes unnütz genannt zu haben.1
Gleich dem Dankgebet bei Tische ist auch die Weihung
eines Teiles von Speise und Trank vor Beginn des Mahles
eine der weitverbreitetsten Sitten, welche sich eigentlich nur
in der christlichen und mohammedanischen Cultur verloren
hat, obgleich auch hier sie im Volksbrauche noch vereinzelt
durchschimmert. In ganz Guinea wird für den Fetisch die
erste Handvoll Speise auf den Boden geworfen,2 in Angola
ihm stets etwas vorgesetzt und er höflich zum Essen ein-
geladen,3 auf der Sierraleoneküste setzt man vom geistigen
Getränk etwas in einer Tasse oder einem Scherben dem
Fetisch bei Seite, netzt auch wol den am Halse hängenden
damit.4 In Congo wird ihm weniger appetitlich der erste
gekaute Bissen angespien,5 wie ebenso die Idiyahs gleich
manchen anderen afrikanischen Stämmen den ersten Mund
voll jeden Getränkes als Anteil der Gottheit wieder aus-
speien.6 Die Araukaner werfen stets vor dem Essen ein
Speiseopfer auf die Erde, um den Übeln Geist zu versöhnen,7
die meisten anderen Indianerstämme werfen den ersten
Bissen aber in das Feuer,8 wie dies auch von den alten
Floridanern und Mexikanern berichtet wird;9 letztere legten
ihre Speise- und Trankgabe vor dem Genüsse auch wol
1 Buxtorf 292 ff.
2 Missionar Riis im Baseler Magazin 1840. Heft 3 S. 222.
3 Ausland 1863, 804.
4 Winterbottom. Nachrichten von der Sierra-Leona-Küste.
Weimar 1805. S. 286. 165.
5 Ausland 1859, 399.
6 Journal of the Ethnological Society of London. Edinburgh
and London 1848 ff. vol. 2 p. 110.
7 Musters 240.
s Waitz 3, 208.
9 Waitz 3, 207. Tylor 2, 279.
14
Haberland.
auf den Rand des Herdes oder des Hansaltars nieder1 und
berührten sich hierin mit den Römern, welche bei ihren
Familienmahlen gleichfalls einen Teil der Speisen den Laren
auf den Herd weiheten.2 Bei den turanischen Völker-
schaften findet sich die Opferung ins Feuer vor dem Essen
gleichfalls vor,3 und wenn die Kalmücken ihren Brannt-
wein aus Stutenmilch destillirt haben und die Blase öffnen,,
wird etwas davon in eine Schale gegossen und davon ein
Teil auf das Feuer, der Eest gegen das Rauchloch gespritzt.4
In Böhmen sagt man, dass man von jedem Gericht dem
Feuer geben solle,5 und auch in Mecklenburg warfen im
vorigen Jahrhundert noch etliche Köche etwas von der
Speise ins Feuer unter dem Vorwande, dass alsdann das
Fleisch eher mürbe würde,6 in Wahrheit aber in unbe-
wusster Fortsetzung des alten wendischen Opferbrauches;
die Dalmatiner und Montenegriner werfen gleichfalls einige
Bissen von jeder Speise auf den sogenannten Weihnachts-
klotz.7 Die heidnischen Esthen, ehe sie vom Frischge-
schlachteten im Hause aßen, weihten dem Altvater Taara
davon für die Todten und des Viehes Gedeihen,8 die christ-
lichen werfen noch jetzt beim Schlachten, Essen und Trinken
etwas als Opfer bei Seite;9 die Finnen opferten früher den
Maahinen, einer Art kleiner Natur- und Hausgeister, stets
die Erstlinge beim Brauen und Backen.10 Der ältere chine-
1 Waitz 4, 153.
2 Creuzer 3, 566. Fustel de Coulanges 23.
3 Tylor 2, 280.
4 Pallas 1, 246.
5 Grohmann No. 255.
6 Bartsch 2 No. 548.
7 Rajacsich. Das Leben, die Sitten und Gebräuche der im
Kaisertum Oesterreich lebenden Südslaven. Wien 1873. S. 132.
8 Kreutzwald und Neuss. Mythische und Magische Lieder der
Esthen. St. Petersburg 1854. S. 14.
9 Grimm. Ehstnischer Aberglaube No. 87. 97 in der ersten
Auflage seiner Mythologie.
10 Castrén. Vorlesungen über die finnische Mythologie. St. Peters-
burg 1853. S. 169.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 15
sische Brauch verlangte, dass man beim Essen und Trinken
von jedem Gerichte etwas den Manen der Voreltern opferte,1
die Billuarkaste in Lañara weiht diesen stets die erste
Portion,2 die Ostjaken opferten sie dem Bilde des Ver-
storbenen, welches während der ersten Jahre nach dem
Tode in seiner Hütte aufgestellt blieb, ehe es später be-
graben wurde.3 Der Hindu hebt von seinem Eeis ein
wenig mit den Fingern bis zur Höhe der Stirn empor, es
im Gedanken der Gottheit opfernd, oder er weiht, wenn
ein häusliches Idol vorhanden, diesem etwas vom Mahle;4
der Talein weiht seine Schüssel, ehe er davon genießt, dem
Nat, indem er sie emporhebt.5 Die Vaisvadeva-Ceremonie
des Brahmanen, welche von wenig eifrigen als Ersatz der
sämtlichen täglichen Sakramente vollführt wird, besteht
in einem Opfer aus der zubereiteten Nahrung an die Götter,
die Manen, alle Wesen und die um Gastfreundschaft bit-
tenden Gäste, welches dem Mahle vorangeht; viele füttern
auch eine Kuh, ehe sie das eigene Mahl beginnen.6 Der
Mongole legt von seiner Fleischspeise, wie er auch stets
von seinem Thee ein dazu bestimmtes Schälchen vor dem
Hausaltare füllt, an drei oder fünf Stellen einige Brocken
auf das Speisetischchen als Dank für die nahrungspendende
Vorsehung; sie werden nachher von den Dienern verzehrt.7
Die Kasias tauchen, ehe sie ein geistiges Getränk ge-
nießen, den Finger dreimal in dasselbe, werfen je einen
Tropfen über beide Schultern und lassen ihn auf der rechten
1 Schott. Ueber den Buddhismus in Hochasien und China.
Berlin 1846. S. 87n.
2 Missionar Greiner im Baseler Magazin. Bd. 40. Heft 3 S. 130.
3 Erman 1, 678.
4 Tylor 2, 396.
5 Wilson 1, 131.
6 Colebrooke 1, 203. 206. 207. Im Aargau muss jedesmal der
Hauskatze vom Kinderbrei etwas übrig gelassen werden; schnüffelt
sie hungrig an dem Pfännchen herum, dann bekommt das Kind den
Schnupfen. Kochholz. Kinderlied 291.
7 Klaproth 1, 237.
16
Haberland.
und linken Seite herablaufen;1 ein dreimaliges Eintauchen
der Fingerspitze und das Spritzen dreier Tropfen auf den
Boden findet sich gleichfalls in Tibet als Sitte.2 Der Pe-
ruaner tauchte die Spitze des Fingers in den Chichabecher,
ehe er trank, und schüttelte den Finger als Opfer der
Sonne, indem er gleichzeitig einige Küsse in die Luft
warf.3 Auch in Europa finden sich im Volksbrauche noch
Ueberreste yon Trankopfern: so gießt man in Franken
vor dem Trinken etwas auf die Erde, um Schaden abzu-
wenden,4 in einigen Gegenden Frankreichs vor Beginn der
Mahlzeit einen Löffel voll Milch oder Fleischbrühe auf den
Boden;5 so schüttet man in der Bretagne die letzten
Tropfen des Glases, welches man zu diesem Zwecke nie
ganz leer trinkt, auf die Erde als eine dem guten Engel
— dem Schutzgeiste — gebrachte Spende.6
Der Hindu darf neuen Reis oder neues Korn, auch
Fleisch, nicht essen, ehe nicht die Erstlinge der Ernte
oder ein Tier geopfert, denn die heiligen Feuer des Hauses
sind begierig danach und würden die Existenz des Frev-
lers, welcher dies unterließe, zu verzehren suchen.7 Ebenso
gebietet das hebräische Gesetz: „Und kein Brod, noch ge-
röstete, noch gestoßene Körner sollt ihr essen bis zu diesem
Tage, bis ihr die Opfergabe eures Gottes darbringt."8 Die
ersten Feldfrüchte gehören aber nicht nur hier der Gott-
heit, sondern civilisirte und uncultivirte Völker, welche die
ersten Stufen der Rohheit überschritten, teilen diesen Brauch
miteinander, wenn auch das Verbot des Genusses vor der
Weihe des Götteranteiles nicht überall gleich streng durch-
1 Dalton. a. a. 0. 5, 264.
2 Turner. Gesandtscliaftsreise an den Hof des Teshoo-Lama.
Hamburg 1801. S. 93.
3 Allg. Historie d. R. 15, 498.
4 Wuttke § 129.
5 Tylor 2, 409.
6 Ausland 1859, 1178.
7 Manu 4, 27/8.
« 3. Mos. 23, 14.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 17
geführt ist. In engem Zusammenhange hiermit steht dann
auch das Verbot vor einem bestimmten Kalendertage nicht
von gewissen Früchten zu essen. In Russland verzehrt
niemand vor dem Apfelfeste, welches auf den 6. August
fällt und an dem durch die Geistlichkeit die Aepfel ge-
segnet werden, einen solchen;1 in England geschah in den
katholischen Zeiten dieses Segnen der Aepfel am Jakobs-
tage (25. Juli), an welchem Tage man nach dem Volks-
glauben auch zuerst Austern essen soll. Noch jetzt sagt
man in Wiltshire und Sommersetshire, dass an diesem Tage
die Aepfel getauft würden, in einigen andern Gegenden
Englands fällt aber dieses Amt dem heiligen Sevithin
(15. Juli) zu; vor seinem Tage einen Apfel zu essen oder
zu pflücken, gilt dort als eine schwere Sünde.2 Im Eifel-
lande findet sich stellenweise noch der Brauch, dass die
Kinder nicht eher von den wilden Stachelbeerhecken pflücken
und essen dürfen, ehe diese nicht an einem gewissen Tage
von den Kindern mit den welken Johanniskränzen und
-Sträußen beräuchert worden sind und die Kinder selbst
von einem alten Mütterchen den Segen und einen leichten
Schlag — den Jesusknüpps — mit einem Stock erhalten
haben.3 In Böotien war der Genuss von Obst vor der
Herbstnachtgleiche gesetzlich verpönt;4 in merkwürdiger
Uebereinstimmnng hiermit setzt der jetzt gültige ägyp-
tische Kalender den 27. September als die Zeit fest, von
wo ab der Genuss frischer Früchte zu empfehlen ist.5 Im
Voigtlande müssen die ersten Kartoffeln zu Laurentius oder
zu Jakobi gegessen werden;6 zwischen den beiden Tagen
herscht in dieser Beziehung eine strenge landschaftliche
Sonderung. Ehe in Athen der neue Wein gekostet wurde,
1 Illustrate Welt 1864. S. 106.
2 Brand 1, 192. 190.
3 Schmitz 42.
4 Plutarch. Fragen über römische Gebräuche No. 40.
5 Klunzinger 127.
6 Köhler. Volksbrauch im Voigtlande. Leipzig 1867. S. 340. 177.
Zeitschrift für Yölkerpaych. und Sprachw. Bd. XVIII. 1. 2
18
Haberland.
goss man den Göttern einen Opfertrank davon aus mit
dem Gebete, dass der Genuss unschädlich und heilsam sein
möge;1 im alten Rom setzten die Priester ebenso wie den
Tag des Anfanges der Weinlese auch den fest, an welchem
man zuerst den neuen Wein trinken durfte.2
In der Rheinpfalz ist es neben dem „Gott wait's", womit
man das neugebackene Brod und andere neue Speisen ehrt,
auch Sitte, die Tischgenossen, besonders die jüngeren, an
Ohr oder Nase — an letzterer namentlich bei Bohnen —
zu zupfen oder auch wol ihnen eine Ohrfeige zu geben zur
nachdrücklichen Erinnerung an Gottes Woltat.3 Das erstere,
das Zupfen am Ohr, ist auch in der Provinz Sachsen beim
ersten Essen von neuen Gemüsen üblich;4 in Böhmen zwickt
man denjenigen, welcher einen neuen Rock anhat, gleich-
falls am Ohre,5 im Yoigtlande in den Aermel.6 In einigen
böhmischen Gegenden steckt man den ersten Bissen vom
Brode aus neuem Getreide nicht direkt, sondern indem
man die rechte Hand um den Kopf führt, in den Mund;
kann man dieses leicht bewerkstelligen, so wird das Korn
im Jahre billig sein, andernfalls aber Teuerung eintreten.7
Unter den Insel-Esthen beißen manche, ehe sie von dem aus
dem ersten Korn gebackenen Brode essen, vorher auf ein Stück
Eisen ;8 in Oesterreichisch-Schlesien soll man von solchem Brode
nicht viel essen, weil man sonst später nie recht satt wird.9
In Polynesien steht die Speise eines Jeden unter dem
besonderen Schutze seines Schutzgottes,10 wol jedenfalls in
1 Plutarch. Tischreden 3, 7, 1.
2 Fustel de Coulange 187.
3 Bavaria 42 881.
4 Mündliche Mitteilung.
5 Grohmann No. 1554,
e Köhler 431.
7 Grohmann No. 1068.
8 Holzmayer 108.
9 Peter. Volkstümliches aus Oesterreichisch-Schlesien. Troppau
1867. Bd. 2 S. 248.
10 Waitz-Gerland 6, 357.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 19
Würdigung der wichtigen Rolle, welche sie im Leben des
Betreffenden spielt; die hohe Heiligkeit, in welcher der
Kopf in ganz Polynesien steht, und durch diesen muss ja
doch die Speise gehen, sowie der Umstand, dass die Auf-
nahme der Speisen wol das schärfste Bild für ein Ein-
dringen des Schutzgeistes in den Körper bietet, auf welche
beiden Gründe Gerland1 aufmerksam gemacht hat, werden
die Ausbildung dieses Glaubens beeinflusst und ihm zu der
hohen Bedeutung für das Leben des Polynesiers verholfen
haben. Wie eng und sinnlich man sich dabei die Ver-
bindung zwischen Speise und Schutzgeist denkt, lehrt uns
die fernere Meinung, dass wenn man sich fremder Nahrung
bedient, der fremde Schutzgeist mit in den Körper ein-
fährt, und, wie er in dem seines Schützlings Gutes gewirkt
haben würde, nun erzürnt im fremden Uebeles geschafft.
Die auch sonst weitverbreitete Sitte des Speiserestmit-
nehmens, welche namentlich streng in Polynesien herscht,
erklärt sich für dort vielleicht auch aus diesem Glauben,
mag man nun annehmen, dass es aus Furcht vor dem Ent-
gehen des Schutzgeistes auf diesem Wege, oder aus Furcht,
dass dem dadurch verursachten Tabubruch, dass ein anderer
die Eeste isst, die Strafe für den Verursacher desselben
von den erzürnten Göttern folge. Die Berührung des
Kopfes als heiligsten Teiles des Körpers mit Speise oder
irgend einer Sache, welche zum Essen gehörte, seitens eines
anderen verunreinigte die Person und wurde daher als arge
Beleidigung aufgefasst;'2 um daher die Rache eines Todten
über einen Lebendigen herbeizuziehen, rieb man in Tahiti
den Schädel des Todten mit Speise des letzteren, ein der-
artiger Tabubruch hatte dann unvermeidlich Rache des
Geistes zur Folge.3 Auch die Hände, welche kurz vorher
das eigene Haar geschnitten oder gekämmt hatten, durften
1 Ebendaselbst.
2 Daselbst 6, 351.
3 Daselbst 6, 396.
2*
20
Haberland.
dort die Speise nicht berühren.1 Im indischen Ceremonial-
gesetz war es verboten, den Kopf nach dem Essen ohne
vorherige Ablution zu berühren;'2 der heiligste und reinste
Teil des Körpers aber war der Mund, da aus ihm Brahma
die Brahmanen hervorgehen ließ.3 Merkwürdig ist es, dass
auch der schwäbische Aberglaube das Halten des Kopfes
mit der Hand verbietet und mit Lahmheit der letzteren
bedroht.4
Schon etwas von jemand auszusagen, was sich auf eine
Speise auch nur bezog, galt in Neuseeland ebenfalls als so
arge Beleidigung, dass nur der Tod sie sühnen konnte,
und sorgfältig war man daher auch dort bedacht, Worte,
welche den Namen eines Häuptlings bildeten, sobald sie
irgendwie eine Speise oder dergleichen bezeichneten, aus
der Sprache auszumerzen,5 wie übrigens ja überhaupt
Worte aus Fürstennamen in Polynesien tabu waren und
daher aus der gewöhnlichen Sprache ausfielen;6 bei den
Howas auf Madagaskar gilt es für nicht anständig bei
Tische den Namen des Herschers in die Unterhaltung zu
mischen.7 Auch die alten Aegpter scheinen einen Aber-
glauben mit dem Reden von Speise verbunden zu haben,
denn eine ihrer Sittenregeln lautet: „Wenn jemand von
dem spricht, wovon man lebt, so wird es ihm an Nahrung
mangeln."8 Bei den Buddhisten gehört gleichfalls unter
die zweiunddreißig Gegenstände, über welche Priester sich
nicht unterhalten dürfen, mit die Nahrung.9
In Folge des auf ihnen ruhenden hohen Tabu war es
1 Daselbst 6, 351.
2 Manu 4, 82.
3 Manu 1, 92/3.
4 Birlinger. Aus Schwaben. Wiesbaden 1874. Bd. 1 S. 410.
5 Waitz-Gerland 6, 351.
6 Daselbst 6, 350.
7 Ausland 1859, 138 nach Ellis.
8 Brugsch. Hieroglyphische Grammatik. Leipzig 1872. S. 67.
9 Spence Hardy. Eastern Monachism. London 1860. p. 153.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 21
den vornehmsten Fürsten auf Tahiti1 und auch auf den
Fidschi-Inseln,2 auf diesen aber wol nur, wenn der Fürst
durch einen besonderen Vorfall tabu war, nicht gestattet,
die Speisen zu berühren und mit eigenen Händen zu essen,
sie würden dadurch die betreffende Gattung von Speise ganz
dem Gebrauche des Volkes entzogen haben, wie das z. B.
auch mit der Hütte, welche sie betraten, der Fall war,
und mussten sich daher füttern lassen. Dies war über-
haupt in Polynesien der Fall mit allen denjenigen, auf
welchen aus irgend einem Grunde ein Tabu ruhte, wie
z. B. während und kurz nach der^Tabuirung3 oder während
des Wochenbettes,4 es hätte denn eine Speise sein müssen,
welche im Marae gleichfalls tabuirt gewesen wäre.5 Wie
weitreichend ein derartiges Verbot, kann das Beispiel der
Insel Rapa zeigen, wo Moerenhout 1839 alle Männer im
Tabu fand und sie daher alle von den Weibern gefüttert
werden mussten;6 wie überaus unbequem aber, die strenge
Sitte, dass auf Tonga ein Tabuirter, wenn niemand zum
Füttern da war, auf allen Vieren seine Nahrung mit dem
Munde vom Boden aufnehmen musste.7 Earle berichtet,
dass er, wenn er auf Neuseeland zur Zeit der Abendmahl-
zeit herumstreifte, er den größten Teil der Eingeborenen
von Sklaven füttern oder auf dem Bauche liegend vom
Boden essend gesehen hätte.8 Hatte ein Tabuirter aber
dennoch mit den Händen gegessen und wollte er den übelen
Folgen dieser Handlung entgehen, so gab es nur ein Mittel :
er setzte sich vor einem Häuptlinge nieder, nahm dessen
1 Waitz-Gerland 6, 349.
2 Daselbst 6, 658. 579.
3 Daselbst 6, 347 (Neuseeland und Nukahiva).
4 Daselbst 6, 134 (Tahiti).
5 Daselbst 6, 353.
6 Daselbst 6, 348.
7 Mariner 148.
8 Earle in Journal für die neuesten Land- u. Seereisen. Bd. 75
S. 316.
22
Haberland.
Fuss und setzte ihn gegen seinen Unterleib, das höhere
Tabu des Häuptlings reinigte ihn dann.1 Auch auf Timor
war der durch Kopferbeuten pamali — der dem polynesi-
schen Tabu entsprechende javanische Ausdruck — gewor-
dene Krieger genötigt, sich füttern zu lassen, da er sich
nicht der Hände zum Essen bedienen durfte,2 in der Nähe
von Benares befand sich ein religiöser Orden der Hindus,
welche nie Gebrauch von ihrer Hand machten und sich
daher auch füttern lassen mussten.3 Hängt mit diesen
Ideen vielleicht auch die Sitte auf der Sclavenküste zu-
sammen, dass der den Lieblingen vom Könige in den Mund
geschobene Bissen nicht mit der Hand berührt werden
durfte?4 Bei den Mongolen darf der Vornehme namentlich
aber der Priester den Becher mit dem Getränk, wenigstens
vom Tisch nicht mit der eigenen Hand nehmen.5 Nach
Bruce galt es auch in Abyssinien für vornehm, nicht selbst
die Speise zu berühren, sondern sie sich zu mächtigen
Bissen geformt von den Weibern in den Mund stopfen zu
lassen.6 Die Parsen sollen gleichfalls vermeiden ihre Lip-
pen beim Essen mit den Händen, womit sie gewöhnlich
unter Ausschluss eines weiteren Gerätes essen, zu berühren.7
Die Bedeutung, welche der Nahrung beigelegt wird,
findet sich ferner namentlich deutlich ausgesprochen im
Glauben des Esthen hinsichtlich des Nüchternseins. Ein
nüchterner Mensch ist ihm den Anfechtungen von Seiten
der Geisterwelt viel mehr ausgesetzt als derjenige, welcher
schon etwas gegessen hat; daher isst der Esthe, wenn er
unter freiem Himmel geschlafen hat, und so lange der
1 Mariner 488.
2 Waitz-Gerland 6, 355.
3 Forster. Reise aus Bengalen nach England. Zürich 1796.
Bd. 1 S. 248 n.
4 Allg. Historie 4, 401.
5 Klaproth 1, 239.
6 Sprengel u. Forster 3, 196.
7 Spiegel, Avesta. Bd. 2, I.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 23
Kukuk schreit auch im Hause, sofort beim Erwachen ein
Stück Brod, es können dann die Nachteile, welche der Ge-
sang gewisser neckischer Unglück kündender Yögel, nament-
lich aber der des Kukuks, im Gefolge hat, ihm nichts an-
haben.1 Er hat hierfür sogar einen technischen Namen
Linnupete, welcher sich deutsch am besten durch „Vogel-
betrug" wiedergeben lässt, Auch andere Dinge, wie z. B.
das Fohlen, dürfen bei ihnen nicht nüchtern gesehen wer-
den, yon einem jungen Mädchen namentlich aber nicht ein
Schilf, dies würde bewirken, dass sie noch im selben Jahre
geschwängert würde.2 Auch dem Letten ist wie dem
Ehsten die Betörung oder der Betrug durch den Kukuk
verhängnisvoll, er darf dann namentlich das Vieh nicht
beschicken, wenn es im Herbst in den Stall geführt wird;3
der nüchterne Bissen, durch welchen er sieb schützt, heißt
„Kukuksmundvoll", bei den Insel-Schweden auf Nuckoe
„Vogelbissen",4 der Trunk, welcher die gleiche Kraft hat
wie der Bissen, in Schweden der „Vogelschluck", worunter
man dann gewöhnlich ein Glas Branntwein versteht.5 Dieser
Glaube, dass nüchtern einen Kukuk zu hören, wofür auch
das Sehen, namentlich das erste Sehen desselben eintritt,
Unheil bringt, ist aber nicht nur den Ehsten und Letten
eigen, er findet sich ferner im Preußischen, wo sein An-
blick Tod,6 in Schweden, wo er dasselbe, dann aber noch
Siechtum dem Alter, treulose Liebhaber dem Mädchen, einem
jeden aber verkündet, dass er in dem Jahre selten das
finden wird, was er sucht,7 in Frankreich, wo er das ganze
Jahr untüchtig zur Arbeit oder arbeitslos macht,8 in Deutsch-
1 Kalewipoeg. Uebersetzung. Dorpat 1861. S. 350 Anmerkung.
— Holzmayer 42 ff.
2 Holzmayer 44, 112.
3 Mannbardt in Wolf-Mannhardt 3, 243.
* 3, 403.
5 3, 279. 403.
6 3, 263.
t 3, 279.
s 3, 244.
24
Haberland.
land, wo er zum Hungern während eines Jahres verdammt.1
Dem Esthen prophezeit auch das nüchterne Hören von
Glocke oder Horn am Georgstage Tod oder Taubheit.2 Da-
gegen bedeutet das Hören des Kukuks im nüchternen Zu-
stande in der Normandie, vorausgesetzt dass man Geld in
der Tasche hat, genügend von diesem für das ganze Jahr;3
in Mecklenburg schützt es vor dem Biss toller Hunde.4
Nüchtern Geld finden, so kein Holz darunter war, bedeutete
früher im südlichen Deutschland ein Unglück.5
Der deutsche Aberglaube fordert ein Stückchen Brod
früh als erstes Nahrungsmittel,6 wol wegen der beschützen-
den Kraft des Brodes, und die böhmische Sage berichtet,
dass ein gefährlicher Wassermann denen nichts anhaben
konnte, welche am Morgen vor dem Ausgehen gebackene
Semmelschnitte verzehrt hatten.7 Die jüdische Sitte schreibt
vor, dass Schwangere früh nicht lange nüchtern bleiben,
sondern bald etwas Warmes zu sich nehmen sollen.8
Nüchtern einen Traum erzählen verbietet so wol der
deutsche als der französische Aberglaube als unglückbrin-
gend, und zwar trifft nach letzterem das Unglück sowol
Erzähler wie Anhörenden, wenn beide nüchtern sind.9
„Reiß nicht aus einen fruchtbaren Baum,
Erzähl keinen nüchternen Traum,
Back kein Freitagsbrod,
So hilft dir Gott aus aller Not!"
rief ein Holzfräulein als Warnung einer oberfränkischen
Bäuerin zu,10 und diese Warnung vor Traumerzählen und
1 3, 244.
2 3, 263.
3 Wolf. Beiträge 1, 232.
4 Bartsch No. 828.
6 Wolf-Mannhardt 8, 311 (vom Jahre 1612).
6 Grimm. Aberglaube No. 236.
7 Grohmann. Sagen aus Böhmen. Prag 1863. S. 163.
8 Buxtorf 160.
9 Panzer. Beitrag zur deutschen Mythologie. München 1848/56.
2, 161. Wolf. Beiträge 2, 252 No. 635.
10 Bavaria 3, 300.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 25
Freitagsbrodbacken kehrt in verschiedenen Gegenden in
den von gefangenen zauberhaften Wesen erpressten Weis-
heitssprüchen wieder. Im Voigtlande meint man, dass beim
nüchternen Erzählen die guten Träume nicht in Erfüllung
gingen;1 im Waldeckischen, dass alsdann das Geträumte
[wol jedenfalls nur das Schlechte] wahr werde;2 erzählt
man einen unheilvollen Traum vor Mittag nicht, so wendet
man nach niedersächsischem und schlesischem Glauben seine
Erfüllung ab.3
Andererseits wird oft Nüchternheit für gewisse Zwecke
gefordert. Namentlich ist sie bei Krankenheilung durch
Speichel für die handelnde Person vorgeschrieben; nach
altrömischem Glauben mussten beide Personen bei der
Heilung oder dem Vorbeugen von Aderkröpfen nüchtern
sein,4 nüchterner Weiberspeichel galt ihm als ein Heilmittel
für schlimme Augen,5 wie gleicherweise noch jetzt die
Aargauer Mutter das entzündete Auge des Kindes mit
ihrem Speichel heilt;6 beim Sammeln von Heilkräutern war
Nüchternheit gleichfalls gefordert.7 Nüchterner Speichel
galt im Mittelalter als ein Gift für die Schlangen;8 der
eigene Speichel nüchtern auf ¡die Flechten bei abnehmen-
dem Mond gespien und diese mit dem Messerrücken ge-
strichen heilt nach Mecklenburger Glauben dieselben;9
gegen Mundfäule des Kindes musste im Aargau der Vater
dreimal ihm nüchtern in den Mund hauchen;10 nüchtern
dem Hunde ins Maul spucken gewöhnt ihn fan seinen
1 Köhler 898.
2 Curtze. Volksüberlieferungen aus dem Fürstentum Waldeck.
Arolsen 1860. S. 386.
3 Wuttke § 97.
4 Plinius 30, 23.
5 28, 22.
6 Rochholz. Kinderlied 334.
7 Plinius 24, 63. 26, 58.
8 Brand 3, 230.
9 Bartsch No. 402.
10 Rochholz. Kinderlied 334.
26
Haberland.
Herrn.1 In Steiermark'2 muss das Kind bei der Taufe, unter
den Juden3 bei der Beschneidung, weil dann der Blutver-
lust geringer sein soll, nüchtern sein. Nach dem Glauben
der französischen Pyrenäen muss man sogar nüchtern
heiraten, wenn man nicht stumme Kinder bekommen will;4
in der Walachei erhalten gleichfalls Braut und Bräutigam
am Trauungstage nichts zu essen und erst am Abend einen
kleinen Imbiss.5 In Ostpreußen glaubt man, dass man durch
nüchternen! Genuss des Abendmahles von Krankheiten be-
freit bleibe; namentlich müssen die Eltern eines mit der
fallenden Sucht behafteten Kindes nüchtern zum Abend-
mahl gehen.6 Für das Gottesurteil ist in Indien Nüchtern-
heit des Angeschuldigten vorgeschrieben.7
§ 7-
Das Gegenbild zu der religiösen Heiligung der Nah-
rung, des Dankes an die Gottheit für die erhaltene Speise
bildet die Enthaltsamkeit, die Yerschmähung der Nahrung,
das Fasten, welches wir durchgehend bei fast allen Völkern
als einen der Gottheit wolgefälligen Akt und bei bestimm-
ten Gelegenheiten als religiöses Gebot finden. Schon früh
bildete sich in der Menschheit der Gedanke aus, dass die
freiwillige Aufsichnahme von dem Körper Schwerfallendem
ebenso wie die Entsagung von Genüssen der Gottheit wol-
gefällig, gewissermaßen ein ihr gebrachtes Opfer sei, wel-
ches sie günstig stimmte und ihren Beistand für gewisse
Unternehmungen gewann, ihren Zorn abwendete oder sühnte,
oder den Unreinen, welchen sie in seinem Zustande nicht
1 Wuttke § 317.
2 Duller. Das deutsche Volk. Leipzig 1857. S. 58.
3 Buxtorf 117.
4 Grimm. Mythologie. Französischer Aberglaube No. 31.
5 Schott. Walachische Märchen. Stuttgart u.Tübingen 1845. S. 77.
6 Wuttke § 425. '278.
7 Yajnavalkya 2, 59.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 27
ihres Blickes würdigen konnte, wieder in eine reine, der
Gottheit würdige Verfassung versetzte. Das Fasten ver-
einigte nun mit diesem allgemeinen Grunde für die Kastei-
ungen des Körpers noch den speciellen, dass der Natur-
mensch durch dasselbe eine Reinlichkeit des Körpers, wie
sie sein Gottesdienst äußerlich von ihm verlangte, auch
für sein Inneres, zunächst körperlich gefasst, dann aber
da vielfach das Innere des Körpers als der Sitz der Seele
angesehen wurde, auch für diese selbst hervorgebracht
glauben konnte. Am klarsten tritt uns diese Auffassung
bei den Indianern entgegen, denn hier erscheint, abgesehen
vom Fasten, auch noch eine fernere Kasteiung des Körpers
durch Brech- und Purgirmittel und zwar so, dass wir die
ursprüngliche Bedeutung dieser Handlung noch erkennen
können. So war es auf den Antillen bei gewissen Festen
Sitte, dass wer sich dem Heiligtume nahte, vorher seines
Mageninhaltes durch Erbrechen sich entledigte — es soll
dieses vor dem Hauptgötzen selbst geschehen und durch
Hineinstecken eines Stockes in den Hals bewirkt worden
sein1 — mit dem ausgesprochenen Zwecke, reinen Herzens
vor der Gottheit zu erscheinen;2 so geschah ein starkes
Purgiren auch unter den Kariben bei vielen religiöse Ge-
bräuche fordernden Gelegenheiten, wahrscheinlich gleich-
falls im Sinne von Reinigungen;3 so breitete sich nament-
lich auch der nordamerikanische Indianer auf den Krieg
durch die Kriegsmedicin vor, welche aus heftig wirkenden
Purgir- und Vomirmitteln, das schwarze Getränk, z. B.
aus dem Aufguss von getrockneten Cassineblättern bestand,
damit die Sünden weggewaschen würden und der große
Geist ihnen Tapferkeit verleihe4 — alles dies zeigt uns
wie materiell diese religiösen Reinigungen aufgefasst wur-
den, und berechtigt uns auch für das Fasten die gleiche
1 Müller. Urreligionen 185.
2 Waitz 4, 380.
3 3, 384.
* 3, 152. 208. 209.
28
Haberland.
ursprüngliche Idee, die Reinlichkeit des Innern, in Anspruch
zu nehmen.
In diesem doppelten Sinne der Reinigung und der Ge-
winnung des göttlichen Schutzes tritt uns denn auch das
Fasten bei allen wichtigen Gelegenheiten 'sehr ausgebreitet
bei den Indianern, sowol bei den culturlosen Stämmen als
auch in ihren alten Culturstaaten, entgegen; jedes bedeu-
tendere Unternehmen, jeder wichtige Vorfall forderte es.
Ehe im alten Peru der Priester sich der Gottheit nahte,
musste er sich durch mehrtägiges Fasten darauf vorbe-
reiten1 — ebenso musste bei den Chibchas gefastet wer-
den, ehe man die Gottheit um etwas bitten durfte2 — ehe
die Feldbestellung, die Goldminen arbeit, der Ausmarsch
zum Kriege erfolgte, trat ein fünf- bis sechstägiges Fasten
ein.3 In Mexiko waren viele harte und lange Fasten den
Priestern auferlegt, nur etwas Salz, Maisbrod und Wasser
war ihnen während des wichtigen achtzigtägigen gestattet;4
ereignete sich ein besonderer Unglücksfall für den Staat,
dann nahm der Oberpriester, indem er sich in die Einsam-
keit zurückzog, ein strenges Fasten auf sich, welches sich
bis auf neun und zehn Monate erstreckt haben soll.5 Aehn-
lich muss bei den Indianern am Urayali der Zauberpriester
vor einem Kriegszuge ein schweres Fasten in der Einsam-
keit durchmachen und ist er verantwortlich für den Aus-
gang des Feldzuges, welcher von seinen religiösen Uebungen
abhängig geglaubt wird; die beste Beute oder harte Strafe
und schlechteste Behandlung ist sein Loos.6 Den Kariben
galt ein Nüchterner als den Göttern angenehmer und war
ihnen daher häufiges Fasten empfohlen, sowie auch für
fast alle Lebenslagen vorgeschrieben.7 Im alten Yukatan
i Waitz 4, 459.
a 4, 363.
3 4, 462.
4 4, 153.
5 4, 161. Müller. Urreligionen 651.
6 Grandidier in Nouvelles annales des voyages 1861 4 78.
7 Waitz 3, 384. Möller. Urreligionen 214.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 29
erforderte die Wiedergeburt des Kindes, ein der Taufe
gleichstehender Act, welcher vom dritten bis zwölften Jahre
erteilt wurde, ein Fasten der Eltern für die drei vorher-
gehenden und die drei nachfolgenden Tage;1 bei manchen
Stämmen Guianas müssen sich auch vor der Geburt die
Eltern einem strengen Fasten unterziehen.2 Wird das
Mädchen mannbar, so hat sie vielfach in Guiana ein sehr
beschwerliches Fasten auszuhalten, während sie gleich-
zeitig noch unter dem Hüttendach einem dauernden Räuchern
ausgesetzt ist.3 Der Indianer Nordamerikas leitet jedes
wichtige Unternehmen mit einem Fasten ein4 und finden
wir bei ihm noch einen weiteren Zweck des Fastens her-
vorgehoben, die Einwirkung auf das Nervensystem, welche
den Menschen in einen für ^übernatürliche Einflüsse em-
pfänglicheren Zustand zu versetzen pflegt. Zu diesem
Zwecke geschieht das Fasten des jungen Indianers, wenn
er mannbar erklärt wird, bedeutungsvolle Träume zeigen
ihm dann das Tier, an welches sein ferneres Schicksal ge-
knüpft ist; daher das Fasten vor Jagdunternehmungen, um
zu erfahren, wo das meiste Wild anzutreffen ist,5 daher
das einst auf den Antillen gebräuchliche Fasten, um künftige
Ereignisse vorauszuerfahren.6 Dem Mandaner erscheint
nach längeren derartigen Fasten dann aber häufig der
Teufel und betrachten sie diese Erscheinung als ein Zeichen,
dass sie nicht mehr lange leben werden.7
Wie bei den Kariben war auch bei den Griechen das
Fasten zur Erzeugung prophetischer Träume und Visionen
1 Waitz 4, 307.
2 Schomburgk in Journal. Ethn. Soc. London 1, 268.
3 Daselbst 1, 269/70.
4 Waitz 3, 205.
5 Carver 247.
« Waitz 4, 330.
7 Catlin 365. Anmerkung nach Prinz von Neuwied. Man ver-
gleiche hierzu noch die Zusammenstellung der indianischen Fasten
bei Tylor 2, 412 u. folg.
30
Haberland.
stark in Gebranch;1 bei den Zulus bildet es eine der Haupt-
vorbereitungen für den Zauberer zur Entgegennahme der
Offenbarungen der Geister, und sprichwörtlich heißt es
daher bei ihnen: „Der fortwährend gefüllte Magen kann
keine geheimen Dinge sehen."2 Fühlt der Eingeweihte die
Annäherung der Zauberkraft, welche der entartete Buddhis-
mus gegen Opfer und magische Ceremonien dem Gläubigen
zu verleihen vorgibt, dann darf er vier oder zwei Tage
lang keine Speise zu sich nehmen, um nicht in diesem
wichtigen Momente unrein zu sein.3 Das Christentum
schrieb dem Fasten einen bedeutenden Einfluss auf das
Beten zu; das Gebet des Fastenden ist kräftiger und
stärker, es hat gleichsam Flügel und steigt gen Himmel;4
es dient das Fasten zum Anzünden des Feuers in der An-
dacht, wie ja auch ein trockenes Holz eher zum Feuerfangen
geeignet ist als ein feuchtes.5 Bei den frühen christlichen
Einsiedlern wurde das Fasten bis zur Ertragung des fast
Unmöglichen gesteigert und dadurch in Verbindung mit
den übrigen Kasteiungen ein Zustand hervorgebracht, wel-
cher sie für überirdische Einflüsse besonders empfänglich
machte, sie aber auch in nicht seltenen Fällen bis an den
Rand des Wahnsinnes führte; denn oft brachten Fasten
und Kasteiungen anstatt der ersehnten himmlischen Visionen
Besuche aus dem höllischen Reiche zuwege, versuchende
Dämonen bevölkerten die Einsamkeit des Eremiten, tolle
Ausgeburten der überreizten Einbildungskraft, des wider-
natürlich erregten Nervensystems quälten den Heiligen.
1 Tylor 2, 416.
2 Tylor 2, 415.
3 Wassiljew 213.
4 Haug. Die Altertümer der Christen. Stuttgart 1785. S. 482
nach Basilius, Chrysostomus, Augustinus.
5 Daselbst 476. Dürfen wir auf die heiligende Kraft des Fastens
auch den von Bayle (s. Brand 3, 336) überlieferten Volksglauben
beziehen, dass ein Fastender mehr wiegt als ein Mensch, welcher
Nahrung zu sich genommen hat?
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 31
Wenden wir uns nunmehr zu einer etwas näheren Be-
trachtung der wichtigen Stellung, welche das Fasten in
den Hauptreligionen der Menschheit einnimmt, so tritt uns
dasselbe in seiner größten Ausbreitung und in seiner bis
in das Kleinste, selbst bis in das Kindische getriebenen
vollen Ausbildung bei den Hindu entgegen. Der vierte,
dann auch der elfte Tag eines jeden Monats sind die
regelmäßigen Fasttage, welche von den meisten Hindu be-
obachtet werden; am erstgenannten soll während des Tages,
an letzterem während Tag und Nacht nicht gegessen wer-
den, wobei indess viele des Nachts wenigstens Süßigkeiten
genießen; nach der ganz strengen Vorschrift für dieses
Fasten ist sogar am zehnten Monatstage nur eine Mahl-
zeit ohne Salz und dann die nächste Mahlzeit erst am Nach-
mittage des zwölften wieder gestattet.1 Dann treten auch
die Neu- und Vollmondtage gleichfalls als Fasttage auf,
die Beschränkung auf die Morgenmahlzeit wird an diesen
Tagen aber als ein genügendes Fasten angesehen.2 Nächst
dem folgen die Fasten an gewissen Festtagen, beispiels-
weise an Krischnas Geburtstag wegen der Leiden seiner
Mutter bei der Geburt des Sohnes vom Aufgang der Sonne
bis Mitte der Nacht, zu welcher Zeit die Geburt vor sich
gegangen sein soll — nur in äußerstem Durste ist etwas
Gangeswasser erlaubt —, am Festtage des Ganesa, des
Gottes des Gewinnes, für welches Fasten gleichfalls eine
Legende eintritt, und an anderen Festen ihrer Götter; das
Heraufkommen des Mondes, welcher am Feste des Ganesa
in feierlicher Weise betrachtet wird, schließt meist die be-
treffenden Fasten. Außer diesen allgemeinen Fasten treten
nun aber zahlreiche Fasten als Reinigung und Buße für
die verschiedenartigen Vergehen gegen die Gebote des
religiösen und des Sittengesetzes ein. Das gewöhnliche
Bußfasten, welches man alljährlich, um sich von unwissent-
1 Dubois 2, 525. 529.
2 Apastamba 2, 1, 1, 4 ff. Dubois 1, 379.
32 Haberland.
lieh begangenen Esssünden zu reinigen, vornehmen soll,
•welches aber auch zuweilen über das ganze Jahr ausge-
dehnt wird, ist das zwölftägige Fasten; an diesem darf man
in den drei ersten Tagen einmal des Tages essen, in den
drei folgenden einmal des Nachts, in den folgenden drei
nur, wenn ungebeten jemand Nahrung reicht, in den drei
letzten endlich muss dass Essen gänzlich fortfallen.1 Das
einmalige Essen bei Nacht von unerbetener Nahrung ver-
bunden mit einem einmaligen Fasten wird die Viertelbuße
genannt.2 Von der Unzahl der anderen Bußfasten, welche
in Gebrauch sind, wollen wir hier nur einige aasheben.
Da ist zunächst das Essen nur an jedem dritten Abend
während der Dauer eines Jahres,3 an jedem zweiten wäh-
rend dreier Jahre;4 das Essen erst an jedem vierten Abend
wird als ein hochverdienstlicher Einsiedlerbrauch betrachtet.5
Bei unvorsätzlicher Tödtung einer Kuh und dieser gleich-
stehenden Verbrechen dürfen während der erforderlichen
dreimonatlichen Buße einen Monat lang nur in Wasser ge-
kochte Gerstenkörner verschluckt, die übrigen zwei Monate
hindurch nur jeden zweiten Abend wildwachsende Körner
in geringen Mengen genossen werden.7 Drei Tage lang
gekochte Gerstenkörner zu essen gilt als das geringste
Bußfasten, doch dehnt sich diese Buße bei größeren Ver-
gehen auch bis auf ein ganzes Jahr aus.8 Die „heiße
Buße" besteht darin, sich nacheinander je drei Tage nur
von heißem Wasser, heißer Milch, heißer geklärter Butter,
heißer Luft zu ernähren, oder nach einer anderen Ver-
ordnung je einen Tag heiße Milch, Butter, Wasser zu ge-
nießen und dann einen Tag zu fasten;8 die „schöne Buße"
1 Manu 5, 21. 11, 21. Apastamba 1, 9, 27, 7/8. Gautama 26, 4/5..
2 Yajnavalkya 3, 319.
3 Manu 11, 200.
4 Apastamba 1, 9, 25, 10.
5 Manu 6, 19.
6 Manu 11, 108/9.
7 Manu 11, 125. 198.
8 Manu 11, 214. Yajnavalkya 3, 318.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 33
verlangt die Beschränkung der Nahrung für je einen, in
verstärkter Form für je drei Tage, auf Oelkuchen, Schaum
von gekochtem Reis, Buttermilch, Wasser und gemahlenen
Reis, nächstdem ein eintägiges volles Fasten.1 Sehr beliebt
ist ferner die Tschândrâyana genannte Buße: bei dieser
beginnt man am Tage des Vollmondes mit 15 Mundvoll
Speise und geht jeden Tag um einen zurück, so dass man
am Neumond fastet und dann ebenso wieder emporsteigt,
oder aber man beginnt in umgekehrter Reihenfolge mit
einem Mundvoll am Neumondstage; erster es gleicht dem
Körper der Ameise, welcher am dünnsten, letzteres dem
Gerstenkorn, welches am dicksten in der Mitte ist; größer
als ein Pfauenei darf aber der Bissen nicht geformt wer-
den.'2 Auf eine andere Art vollführt man diese Buße auch
so, dass man einen ganzen Monat über nur 240 Bissen
genießt, nach Belieben verteilt.3 Die Versagung aller Nah-
rung mit Ausnahme des Wassers erscheint bis auf die
Dauer von 21 Tagen ausgedehnt.4 Die Bedeutung, welche
hierin dem Wasser in Aufrechterhaltung des Lebens zu-
geschrieben wird, erhält eine interessante Beleuchtung durch
die in einer der heiligen theologischen Abhandlungen (Upani-
schads) befindliche Erzählung, wie ein Weiser, um seinen
Sohn darüber zu belehren, dass von dem getrunkenen
Wasser der feinste Teil nach oben im Körper geht und
dort den den Körper belebenden Atem bildet, ihn, da der
Körper aus 16 Teilen bestehe, 15 Tage sich der Nahrung
enthalten lässt, aber ihm vorschreibt, Wasser dabei ganz
nach Bedürfnis zu trinken — es werde ihm dann der Atem,
da er im Wasser seinen Ursprung nehme, und mit ihm
das Leben nicht abgeschnitten werden. Der Sohn befolgt
diese Vorschrift, vermag aber nach 15 Tagen sich der ihm
geläufigen heiligen Texte nicht mehr zu erinnern. Sobald
1 Yajnavalkya 3, 322 8.
2 Manu 11, 216/7. Yajnavalkya 3, 334.
3 Manu 11, 220. Yajnavalkya 3, 325.
4 Yajnavalkya 3, 321. Gautama 26, 20.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 1.
34
Haberland.
er indess nun auf väterliche Anweisung wieder Nahrung
zu sich genommen hat, kommt ihm das Gedächtnis wieder
und er kann jegliche religiöse Frage des Vaters beant-
worten, welcher ihn nun belehrt, dass nur der eine, der
sechszehnte Teil seines Körpers ihm geblieben wäre, dieser
geringe Teil aber nicht mehr für diese geistige Anstrengung
genügt hätte; aber wie an einem auch nur wie eine Feuer-
fliege großen Stückchen Kohle durch Zuführung trockenen
Grases die Flamme sich neu entzünde, so habe auch an
diesem einen gebliebenen Teile des Körpers durch Zu-
führung von Nahrung seine körperliche und geistige Kraft
sich neu gebildet,1 Hat man aus Versehen verbotene Nah-
rung zu sich genommen und bemerkt es dann, so muss man
sofort sie wieder ausbrechen und sich auf der Stelle der
vorgeschriebenen Reinigung unterziehen, welche am ein-
fachsten im Genuss geklärter Butter besteht, oder aber
man muss so lange fasten, bis die Eingeweide wieder leer
sind, da so lange die Befleckung dauert; diese Zeit wird
verschieden, 3 oder 7 Tage, angenommen. -
Dem Schüler ist das tägliche Erbetteln der Nahrung
vorgeschrieben, er genießt sie, nachdem er sie dem Lehrer
gezeigt und die Erlaubnis des Essens von ihm erhalten
hat, das Essen selbst ehrend und nicht es tadelnd.3 Der
Bettlerasket soll einmal des Tages seine Nahrung erbetteln,
aber nicht mehr annehmen als zu seiner jeweiligen Not-
durft gehört, da ihm das Sammeln eines Vorrats verboten
ist, und zwar erst abends, „wenn man den Rauch der
Küche nicht mehr sieht, wenn die Mörserkeule ruht, die
Kohlen erloschen sind, die Leute sich gesättigt haben und
das Geschirr entfernt ist."4 Dem Einsiedler ist vorge-
schrieben, dass seine Nahrung nur in wildwachsenden
1 Chandogya Upanishad 6, 7, 1—6. 1. c. 1, 97.
2 Manu 11, 153. 160. Apastamba 1, 9, 27, 3/4. Gautama 28, 23/6.
3 Manu 2, 182. 51. Apastamba 1, 1, 3, 25. 31. Gautama 2, 39.
Yüjnavalkya 1, 31.
4 Manu 6, 55/6. Gautama 3, 15. 11.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 35
Körnern, Kräutern und Früchten bestehe; von diesen
Körnern darf er Vorrat einlegen, doch muss er den alten
Vorrat fortwerfen, wenn die Jahreszeit das frische Sam-
meln wieder gestattet; als Ausnahme sind ihm von er-
haltener Almosennahrung acht Mundvoll, aber nicht mehr
gestattet.1 Noch höhere Stufen von Verdienst erwirbt sich
aber der Einsiedler, wenn er nur zufällig erhaltene Nah-
rung genießt, wenn er nur von Wasser, von der Luft, vom
Aether lebt.'2 Trotz der hohen Verdienstlichkeit übertrie-
bener Fasten verbietet doch vernünftigerweise das religiöse
Gesetz, die Entbehrung so weit zu treiben, dass man da-
durch zur Erfüllung seiner Pflichten unfähig würde; nament-
lich darf aber für den Schüler, abgesehen von den gesetz-
mäßigen Fasten, die Nahrungsfülle durchaus nicht beschränkt
werden, denn nur dann vermag er seinen Pflichten genügend
nachzukommen, es gleicht darin dem Zugochsen, welcher
auch nur bei starker Ernährung leistungsfähig ist.3 Ganz
im gleichen Sinne gab der Tradition nach der weise Lokman
unter anderen Lebensregeln seinem Sohne auch diese :
„Faste in dem Maße deine Begierden zu dämpfen, aber
nicht in dem Maße, dass du nicht beten kannst; denn das
Gebet steht höher bei Gott als das Fasten."4
Im Gegensatz zum Hinduglauben und seiner über-
triebenen Hochhaltung des Fastens verbietet das Gesetz
des Zoroaster wie alles Selbstpeinigen so auch das Fasten;
denn so wenig verdienstlich das Quälen eines anderen
Wesens der guten Schöpfung sein kann, ebensowenig kann
es auch das Quälen des eigenen Körpers, welcher ihr ja
auch angehört, sein.5 In gleichem Widerspruche mit der
gebräuchlichen Hindulehre lehrte auch der Stifter der Sekte
der Vallabhacharis, einer weitverbreiteten Sekte der Vischnu-
1 Manu 6, 13 ff. Apastamba 2, 9, 22, 2. 24. Yajnavalkya 3, 54/5.
2 Apastamba 2, 9, 22, 2/5.
3 Apastamba 2, 4, 9, 13.
4 Sprenger 1, 96.
5 Spiegel. Avesta 2, LA'III.
3*
36
Haberland.
Verehrer, dass Entbehrung nicht heilige, im Gegenteil solle
man die Gottheit anstatt in Nacktheit und Hunger in kost-
barer Kleidung und gewählter Nahrung, anstatt in Ein-
samkeit und Askese in Gesellschaft und weltlicher Freude
verehren.1
Die Auffassung des Buddhismus stellt sich der des
Brahmanismus in Bezug auf die Fasten gleichfalls ent-
gegen. Nicht die möglichst weitgetriebene Versagung der
Speise, nicht die zeitlich weite Ausdehnung, nicht die ofte
Widerholung dieser Versagung ist ihm verdienstlich, son-
dern ihm liegt der Wert in der richtigen Betrachtung des
Essvorganges, in dem Fernbleiben der Idee des Genusses
bei demselben, in der Vermeidung übermäßiger Speiseauf-
nahme. Wol ist auch dem Fasten eine Stelle in der reli-
giösen Disciplin zugewiesen, aber diese Stelle ist nur eine
sehr bescheidene im Verhältnis zum Brahmanentume und
beschränkt sich auf ein Fasten an den Mondviertelstagen,
an deren zwei, dem Neu- und Vollmondstage die Vor-
lesung der Verhalt an gsregeln vor den Bettelmönchen (Bliik-
schus) und dereq allgemeine Beichte stattfindet.2 Dagegen
wendet der mehr auf die innere Heiligung gerichtete Sinn
dieser Glaubenslehre sich mit voller Schärfe gegen die von
den Brahmanen hochgehaltene Lehre von der hohen Ver-
dienstlichkeit des Fastens und von seinem Einfluss auf die
geistige Reinheit des Menschen:
„Mond auf Mond mit 'ner Halmspitze misst der Tor die Speise
ab (beim Tschândrâyana Fasten);
Dies ist nicht dem sechzehnten Teil der wolgepflegten Lehre wert.
Denn nicht wird bösgetane Tat plötzlich verändert gleich der
Milch."à3
1 Wilson 1, 125.
2 Duncker 3, 359. Clough. The ritual of the Buddhist priest-
hood. o. O. u. J. p. 21. Nach Klaproth (1, 198) wird an den monat-
lichen Bettagen der mongolischen Geistlichkeit zweimal und zwar
das eine Mal am Abend Fleischkost ausgeteilt.
3 Dhammapadam. Uebcrsetzt von Weber. Vers 70/2. S. 43.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
37
Das richtige Maß im Essen, das ist es, worauf es an-
kommt. Zuviel, aber ebenso zu wenig Nahrung lässt den
Geist nicht zur harmonischen Entwicklung kommen, be-
hindert ihn auf seinem Pfade zur Erkenntnis, zur Erlangung
der Vollkommenheit; zuviel und die Dünste steigen schnell
im Innern empor, der Körper schwillt, der Blutuinfluss
wird unregelmäßig und dadurch wird der Geist verdunkelt,
beschwert und unfähig der Kühe des Nachdenkens — zu
wenig und der Körper magert ab, das Herz verliert seinen
richtigen kräftigen Schlag, die Gedanken werden matt und
zusammenhanglos, so dass die gleiche Unmöglichkeit rich-
tiger Meditation eintritt; nur beim normalen Gange aller
körperlichen Functionen ist die richtige Entwicklung des
Geistes möglich.1 Die Begehung der fünf Todsünden ist
aber noch eine fernere Folge des Uebermaßes, die Befähigung
zur Erfüllung aller religiösen Vorschriften und Handlungen
die des richtigen Maßes.2 Im chinesischen Tsing-t'u-uen
wird namentlich in Bezug auf die bösen Folgen des Ueber-
maßes großes Gewicht darauf gelegt, dass der Fresstrieb
und der Geschlechtstrieb sich gegenseitig bedingen, dass
der durch Uebermaß an Speise und Trank erzeugte Ueber-
fluss an Blutgeist den geschlechtlichen Reiz weckt, und
durch Befriedigung dieses Reizes wieder der Blutgeist er-
schöpft wird und neue Aufnahme von Nahrung verlangt,
so dass beide Sünden in einem ununterbrochenen Kreise
laufen.3 Das Dhammapadam schildert drastisch den Zu-
stand desjenigen, welcher den Forderungen des Bauches zu
viel nachgibt, und gibt zugleich seine Strafe an mit den
Worten:
„Wenn jemand fett wird und zu viele Nahrung nimmt,
Zum Schlummer neigt, faul sich auf seinem Lager wälzt,
1 Beai. A Catena of Buddhist Scriptures. London, p. 268.
2 Hardy 94.
3 Schott. Ueber den Buddhaismus in Hochasien und China.
Berlin 1846. S. 105.
38
Haberland.
'nem großen Schwein gleich, das genährt von Abfällen,
Der Törichte immer aufs Neu' geboren wird."1
Ist gleich dem buddhistischen Mönche die Aufnahme
genügender Nahrung gestattet und selbst vorgeschrieben,
so darf er doch nicht essen des Wolgeschmackes und des
Vergnügens wegen, nicht seinen Körper pflegen, um ihn
stark zu machen wie die öifentlichen Ringer oder schön
wie die Tänzer; nein, wie man ein fallendes Haus stützt,
wie man einen zerbrochenen Wagen mit einem Stück Holz
flickt, so soll der Mönch essen, damit der Körper nicht hin-
fällig werde und vergehe; wie dem Hungertode nahe Eltern
in der Wüste das Fleisch des eigenen Kindes verzehren,
mit dem gleichen Ekel soll er seine Nahrung zu sich nehmen;
stets soll er sich im Geiste beim Essen gegenwärtig halten,
dass er nur aus Bedürfnis seiner Natur, nicht zur Be-
friedigung irgend eines sinnlichen Reizes isst. Die Be-
trachtung des Verdauungs- und Ausstoßungs Vorganges in
seiner ganzen Ekelliaftigkeit ist zu diesem Zwecke die ge-
eignetste Uebung; eine gewisse feierliche Gleichgültigkeit
gegen das Essen, ein gewisses Zeigen, dass man nur zögernd
der Notwendigkeit nachgibt, soll die Mahlzeit des Mönches
charakterisiren.2
Uebrigens ist aber, da eben eine absolute Gleichgültig-
keit gegen die Nahrung herschen soll, keine Speise als
eine zu luxuriöse verboten; schon vom Buddha selbst er-
zählen die Legenden, dass er und seine Schüler auf das
reichste und ausgesuchteste von seinen Verehrern bewirtet
seien und er nie diese Bewirtung ausgeschlagen habe,3 und
unter den Vorwürfen, welche seinen Mönchen von den
brahmanischen Asketen gemacht wurden, war nicht der ge-
ringste: „wie können die Söhne des Cakya (Titel der Mönche)
1 Dhammapadam V. 825. S. 74.
2 Hardy 96 ff. Bigandet. The life_ or legend of Gautama.
Rangoon 1866. p. 516 ff.
3 Bigandet 169. 161. 219. Sela Sutta in Sutta Nipata, trans-
lated by Coomára Swamy. London 1874. p. 121.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 39
die Meisterschaft über ihre Sinne erlangen, sie, welche so
große Mengen Fleisches und wol mit dicker Milch und
Butter zubereiteten Reises essen." 1 Einzige Notwendig-
keit ist nur, dass die Speisen völlig zubereitet gegeben
werden ; selbst das Hinzufügen von Salz oder Gewürz seitens
des Empfängers wurde vom zweiten Concil verboten.2
Auch ein Verbot hinsichtlich einzelner Speisen bestand
wenigstens im ursprünglichen Buddhismus nicht, gefordert
wird nur, dass die Nahrung erbettelt sei — außer Wasser
und Zahnreinigsniittel darf nur Almosen in den Mund des
Mönches kommen.3 Vorschrift ist eigentlich, dass nur solche
Nahrung vom Mönch genossen werde, welche er sich durch
die Anstrengung und Bewegung seiner Fußmuskeln ver-
schafft hat,4 aber diese Regel ist lange in Vergessenheit
geraten und die Gläubigen sorgen in den meisten Gegenden
schon dafür, dass die Klöster hinreichend und gut versorgt
werden, und die vorgeschriebene tägliche Almosenrunde5
wird dadurch vielfach nur zu einer leeren Ceremonie, der
Ertrag der Runden fällt meist den Hunden und Knaben
anheim.6
Die Mahlzeit selbst darf nur am Vormittage statt-
finden und sind an ihm wol auch zwei davon gestattet;7
1 Burnouf. Introduction à l'histoire du Buddhisme indien. Paris
1844. p. 415.
2 Bigandet 367.
3 Hardy 70.
4 Buchanan in Ehrmann. Neueste Beiträge zur Kunde von
Indien. Weimar 1806. Bd. 2 S. 179. In der birmanischen Buddha-
legende stellt allerdings gerade der Antagonist des Buddha, Deva-
datta, das Verlangen, dass nur in den Häusern erbettelte Speisen,
aber nicht die in den Wohnsitz der Mönche gelieferten, gesetzmäßig
sein sollten, und Buddha verweigert, dies zum Gesetz zu erheben
(Bigandet 251). indess hat dies ganz den Anschein, eine später zur
Rechtfertigung der laxeren Observanz erfundene Tatsache zu sein.
5 Buchanan a. a. O. 181n.
6 Bigandet 517.
7 Bigandet 516. Mahony bei Ehrmann a. a. O. 1, 131.
40
Haberland.
nachmittags soll eigentlich nichts außer Wasser genossen
werden; aber obgleich das zweite Concil bereits den Ge-
nuss von Milch und halbgegohrenen Wassern verbot, be-
trachtet man doch jetzt in Birma gewisse Flüssigkeiten
wie Kokosnusswasser, Zuckerrohrsaft und andere als er-
laubt, Betel kommt außerdem fast nie aus dem Munde der
Mönche.1 Eine Abendmahlzeit wird als eine den Körper
niederdrückende, die geistige Energie stumpfende, den Ver-
stand verdunkelnde betrachtet.2
Die ältere jüdische Geschichte ist reich an vielen
Fasten, welche bei besonderen Vorkommnissen verordnet
wurden; als allgemeinen Fasttag hat das jüdische Gesetz
den großen Versöhnungstag, an welchem das Fasten auf
24 Stunden ausgedehnt wird, und ferner noch vier jährliche
Fasttage, von denen jedoch nur der zur Erinnerung an die
Einnahme Jerusalems allgemeinere Gültigkeit hat.3 Fromme
Juden fasten nach talmudischem Br auche auch den Tag vor
jedem Neumonde,4 die Erstgeborenen haben, gleichfalls
nach talmudischer Vorschrift, am Ostervortage zu fasten
in Erinnerung an Jehovahs Beschützung' der Erstgeborenen
Israels vor dem würgenden Eu gel.5 Die Pharisäer pflegten
wöchentlich zweimal zu fasten, am Montag und Donners-
tag als dem Tage des Herauf- und Herabsteigens Mose bei
Gelegenheit des Gesetzempfanges.6 Daneben treten für die
Einzelnen Fasten ein am Jahrestage des Todes des Vaters
oder auch wol anderer geliebten Verstorbenen, ferner in
Folge von Gelübden, bei Abergläubischen zur Abwendung
böser Vorbedeutung wie schlechter Träume und dergleichen;7
1 Bigandet 367. 518.
2 Bigandet 516.
3 Riehm 424.
4 Buxtorf 524.
5 Buxtorf 452.
6 Haug 472.
7 Riehm 424 ff'. Buxtorf 616. In der christlichen Kirche kam
das Fasten für die Todten im achten Jahrhundert auf. Haug 573.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 41
auch bei Eintritt allgemeiner Calamitäten, wie z. B. bei
Verzögerung des Eintritts der Regenzeit wurden Fasten
vom Synedrium ausgeschrieben.1 Bei Mondfinsternissen
fasteten früher gleichfalls viele Juden.'2 Als Beispiel eines
lange fortgesetzten Fastens möge hier das des Rabbi Zadok
erwähnt sein, welcher dasselbe zur Entwaffnung des gött-
lichen Zorns gegen Jerusalem für 40 Jahre auf sich ge-
nommen haben soll, indem er nur an den Abenden und
Festtagen etwas genoss; zuletzt wurde er so mager, dass
er nur noch die Haut über den Knochen hatte und man
die Speise in die Eingeweide hinabgleiten sah3 — ein christ-
liches Gegenstück hierzu bildet das Fasten des Duns Skotus,
des berühmten Scholastikers, bekannt unter dem Namen des
doctor subtilis, welcher gelobt hatte, die heilige Schrift zu
übersetzen ohne Speise zu sich zu nehmen, damit ihn bei
diesem heiligen Geschäfte kein irdisches Bedürfnis störe;
er führte es der Legende nach auch aus, fiel aber, als er
eben den letzten Buchstaben niedergeschrieben hatte, tot
nieder.4 Indess wurden auch im Judentum einzelne Stim-
men laut, welche freiwillige Fasten, außer den durch das
Gesetz vorgeschriebenen, als eine Sünde wegen des Ent-
haltens von den göttlichen Gaben betrachteten,5 wenn
gleich die Allgemeinheit sie für etwas Gott Wolgefälliges
hielt. Uebrigens hat der Talmud in richtiger Erkenntnis,
dass das Fasten tief in die Rechtsverhältnisse eingreifen
kann, es dem gemieteten Tagelöhner untersagt, indem er
ausführt, dass wer seine Kräfte einem Andern vermietet,
nichts tun darf, was sie vermindern könnte, dieser Fall
aber gerade beim Fasten einträte;6 nach indischem Gesetz
1 Kiehm 426.
2 Buxtorf 525.
3 Seligmann 287.
4 Wolf. Deutsche Märchen und Sagen. Leipzig 1845. S. 280
(nach Delrio).
5 Seligmann 55/6.
6 Fassel. Tugend und Rechtslehre. Wien 1848. S. 41.
42
Habei'land.
darf der Sclave, welcher zu arbeiten hat, vom Herrn nicht
zum Fasten gezwungen werden.1
Der Islam hat einen ganzen Moiiat, den Ramazan, den
glücklichen Monat, in welchem der Koran vom Himmel her-
abgestiegen ist2 — nach Bochâry besuchte der Engel Gabriel
in diesem Monat jede Nacht den Propheten, damit dieser
ihm den Koran zur Vergleichung vortrüge3 —, dem Fasten,
welches außerdem auch in Folge von Gelübden und als
Buße in ihm auftritt,4 geweiht. In diesem Monat darf vom
Aufgange der Sonne bis zu ihrem Niedergange keinerlei
Speise genossen werden, keinerlei Flüssigkeit darf den
Mund berühren, selbst der Speichel soll nach dem Wort-
laute des Gesetzes nicht verschluckt werden,5 ebenso wenig
als die betreffenden Drüsen während der Zeit durch Ge-
brauch der Zahnbürsten zur Speichelabsonderung gereizt
werden dürfen;6 Strenggläubige wagen sogar nicht, sich
am Tage eine Flüssigkeit in die Augen träufeln zu lassen,
schon das Kribbeln im Ohr, das Betrachten im Spiegel gilt
ihnen als sündhaft.7 Verboten ist gleichfalls das Rauchen;8
manche entsagen auch dem Beischlafe während der Zeit.9
Das Fasten endet der Aufgang des Neumondes des folgen-
den Monats, des Schewwal, wie wir auch in Indien das
Heraufkommen des Mondes als Fastenschluss gefunden
haben, und zwar muss der wirkliche Aufgang durch zwei
Zeugen bekundet werden;10 sollte er also an dem Abende
nicht wirklich erblickt werden, dann kann die Fastenzeit
natürlich noch nicht als beendigt angesehen werden. Das
1 Apastamba 2, 4, 9, 13.
2 Koran Sure 2, 181.
3 Sprenger 2, 462.
4 Tornauw 189.
5 Tornauw 44.
6 Brehm 1, 185. 2, 101.
7 Klunzinger 170.
8 Tornauw 45.
9 Brehm 2, 101.
10 Tornauw 218.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 43
Gleiche ist auch für den Anfang des Fastens erforderlich
und können daher zwischen entlegeneren Orten wol Dif-
ferenzen hinsichtlich des Beginnes vorkommen, wie dieses
z. B. 1855 zwischen Damascus und Constantinopel der Fall
war.1 Die Secte der Baby setzte den Monat Ala, den
neunzehnten und letzten des Jahres als Fastenmonat und
das Fasten als ein obligatorisches nur in der Periode
zwischen dem elften und zweiundvierzigsten Jahre fest.2
Die heidnischen Araber scheinen während des Pilgerfestes
einen Tag dem Fasten gewidmet zu haben; Mohammed
schaffte dieses Fasten ab.3
Der mohammedanische Fastenmonat zeigt uns so recht
die Wirkung des Fastens auf das Nevensystem, wodurch
es in der Entwicklung der Religionen und in dem religiösen
Leben der verschiedenen Völker eine so große Rolle spielt:
denn nach dem Zeugnis aller Beobachter ist der Moslim
in diesem Monate besonders empfindlich, gereizt, heftig,
fanatisch und mürrisch,4 und er erkennt dieses auch selbst
an, indem er sprichwörtlich sagt, dass der Ramazan ein
Monat des Zankes und Streites seib und dass ein hungriger
Mann ein zorniger Mann sei.6 Neben der sonstigen Störung
des Organismus durch ein derartiges übermässiges Fasten,
welches namentlich durch die Yersagung von Getränk bei
großer Hitze verhängnisvolle Folgen haben kann, wie z.
B. der äussert schlechte Gesundheitszustand des Jahres
1877 in Kairo darin seine Ursache hatte, ist es namentlich
1 Sprenger 3, 531.
2 Gobineau. Les religions et les philosophies dans l'Asie cen-
trale. Paris 1866. p. 525.
3 Sprenger 3, 520.
4 Andrée 1, 11 (nach Burton). Höst. Nachrichten von Marokko
und Fes. Kopenhagen 1781. Aly Bey el Abassi. Reisen in Afrika
und Asien. Weimar 1816. Bd. 1, 108. Brugsch. Reise der preußi-
schen Gesandtschaft nach Persien. Leipzig 1862. Bd. 2 S. 338.
Church Missionary Intelligencer 1863, 235.
5 v. Maltzan. Reise nach Sübarabien. Braunschweig 1873. S. 68.
6 Baseler Missionsmagazin 1849 Heft 4 S. 41.
44
Haberland.
die nach dem Fasten naturgemäß folgende Ueberfüllung
des Magens, welche schlecht auf den Körper wirkt. Der
Mohammedaner entschädigt sich für das Fasten am Tage
durch ein größeres Quantum Nahrung in der Nacht und
legt dadurch erfahrungsgemäs den Grund zu mancherlei
Krankheiten,1 und von andern Völkern, beispielsweise den
Küssen, welche nach dem Aufhören der vierzigtägigen
Fasten fast durchgehends einen verdorbenen Magen haben,2
wird uns die gleiche Schadloshaltung für die vorangegangene
Entbehrung mit ihren schlechten Folgen berichtet. Auch
dieJren entschädigen sich für die Fastenentbehrungen durch
ein nach eines Jeden Verhältnissen möglichst splendid ein-
gerichtetes Mittagsmahl,3 und die Nestorianer eröffnen und
beschließen ihre vielen religiösen Fasten stets durch große
Schmausefeste, so dass das ganze Jahr in Abwechslung
zwischen Entbehrung und Völlerei hingeht.4 Bei den Natur-
völkern wird das häufige durch Nahrungsmangel bedingte
Fasten gleichfalls, wenn Nahrungsfülle wieder vorhanden,
durch ein übertriebenes Fressen kompensirt und finden
auch hier vielfache Krankheiten darin ihren Grund. „Iss
dich satt, dass du fasten kannst, wenn die Hungertage
kommen" sagt das kleinrussische Sprichwort,5 und in Ueber-
einstimmung damit mahnt in den größeren Städten des
Islam zwei Stunden vor Sonnenaufgang die Bewohner ein
Kanonenschuss zur ordentlichen Versorgung des Magens
für den folgenden Tag,6 anderwärts gehen Leute mit Stöcken
herum, um zu gleichem Zwecke an die Türen zu schlagen.7
Im Christentum entwickelte sich aus unbedeutenden
1 Brugsch 1, 150.
2 Brugsch 2, 410.
3 Ausland 1860, 314.
4 Baseler Missionsmagazin 1847 Heft 2 S. 20.
5 Altmann. Sprichwörter der Kleinrussen in Ermans Archiv.
Bd. 13 S. 221.
6 Brehm 2, 103.
7 el Abassi 1, 109.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 45
Anfängen der Fastenbrauch zu einer das gesammte religiöse
Leben durchziehenden und das bürgerliche stark beein-
flussenden Institution, welche namentlich in den orientalischen
Kirchen zu einem die gesammte Entwicklung des gesell-
schaftlichen Leben und der Kultur hemmenden Uebermaß
emporgeschraubt ist. Aus dem ersten Jahrhundert wird
uns noch nichts von einer Fastenzeit berichtet, erst im
zweiten Jahrhundert kam ein Fasten, jedoch nur freiwilliger
Natur, vor Ostern auf, welches sich anfangs auf vierzig
Stunden erstreckte, dann im Laufe der Jahrhunderte an-
wuchs — aus dem fünften Jahrhundert werden je nach
den Kirchen verschieden 15, 18, 28, 30, 36 — in Rom 24
— Tage als Fastendauer genannt — bis es im sechsten
Jahrhundert seine, später im achten Jahrhundert gesetzlich
festgesetzte Dauer von vierzig Tagen in Nachahmung des
Wüstenaufenthaltes und des Fastens Christi erhielt;1 die
Kapitularien Karls des Großen ordnen das Halten der drei
vierzigtägigen Fasten vor Ostern, Pfingsten und Weihnachten
an'2. Die Einnahme von Frühstück und Abendmahlzeit
während der vierzigtägigen Fasten wurde auch erst gegen
Ende des achten Jahrhunderts zum Gesetz erhoben.3 Die
ersten Jahrhunderte sahen überhaupt eine große Willkür
in den Fastenzeiten und -bräuclien herschen und waren die
Meinungen darüber, da, wie selbst Augustin zugibt, die
Zahl der Fasttage durch kein apostolisches Gebot bestimmt
waren, sehr geteilt, ohne dass indessen die Einheit der
Kirche dadurch gelitten hätte;4 erst Leo der Große hob
die vielen Freiheiten, die hinsichtlich der Fasten walteten,
1 Haug 111/2, 478 if. Hagenbach 172. Papst Gregor erreichte
diese vierzig Tage, indem er zu der ursprünglicheren Fastenzeit von
sechs Wochen, welche abzüglich der Sonntage 36 Fasttage ergaben
noch die Tage vom Aschermittwoch bis zum ersten Fastensonntag'
hinzunahm. Brand 1, 54.
2 Cortei 92.
3 Haug 112.
4 Haug 481. Cortet 91.
46
Haberland.
auf und strebte nach einer gleichförmigen Handhabung
derselben.1 Auch gegen Uebertreibungen des Fastens trat
die Kirche zeitig auf, wie sie z. B. an der großen Fasten-
strenge der Montanisten, anstatt ihre Verdienstlichkeit
anzuerkennen, einen starken Anstoß nahm;2 in einer Vi-
sion des Attalus, eines Märtyrers von Lyon, wird ein Mit-
gefangener desselben, welcher lange Zeit nur von Wasser
und Brod gelebt hatte, scharf getadelt, dass er nicht einen
freieren Gebrauch von dem von Gott GeschaiFenen gemacht
und so der Kirche Aergernis gegeben habe.3 Die Kopten.
Maroniten, Abyssinier haben vier große Fasten, welche
sich bei den ersteren auf 28, 55, 31 und 15 Tage er-
strecken ;4 nächstdem treten aber bei ihnen ebenso wie bei
den Griechen noch die Mittwoch und Freitage als mehr
oder minder strenge Fasttage hinzu,5 so dass die Zahl der
Tage im Jahre, an denen keine Beschränkung hinsichtlich
der Nahrung bestellt, nur eine geringe und es keine Ueber-
treibung ist, wenn behauptet wird, dass in den orienta-
lischen Kirchen fast zwei Drittel des Jahres Fastengebote
her sehen.6 Bei den Kopten erstrecken sich die Fasten ia-
dess nur von nachts zwei Uhr bis zur Beendigung des Nach-
mittagsgottesdienstes um drei Uhr und wie im mohamme-
danischen Ramazanfasten folgt bei den Reichen vielfach
eine starke Entschädigung im Nachtmahle;7 bei den Abys-
sin iern darf man an den Fasttagen von Sonnenuntergang
bis Mitternacht essen.8 Als Kuriosität mag erwähnt werden,
1 Haug 483.
2 Milman 1, 353. Hagenbach. Kirchengeschichte. Leipzig 1869.
Bd. 1 S. 172.
3 Milman 1, 353 n.
4 Paulus 3, 85; nach 4, 248 aber 55, 30 (für Laien 13), 14, 43
(für Laien 23) Tage ; 2, 230. Lettres édifiantes et curieuses. Bru-
selles 1843. p. 190.
5 Paulus 3, 85. 4, 250. 2, 230. Lettres 190.
6 Lettres 59 (für Armenien).
7 Paulus 3, 85. 4, 248. 5, 23. 120.
8 Lettres 190.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
47
dass das dreitägige Verweilen des Jonas im Bauche des
Fisches den Kopten ein dreitägiges Fasten zur Erinnerung
an das unfreiwillige des Jonas auferlegt hat.1 Die abys-
sinische Kirche kennt auch ein hartes, schwer durchzufüh-
rendes Fasten, die Kenona, bei welchem drei Tage lang gar
nichts gegessen werden darf, und nur im äußersten Not-
falle der Genuss einer Citrone gestattet ist. -
Von den jetzt gebräuchlichen Fastenspeisen waren im
Mittelalter verschiedene nicht gestattet. Erst gegen Ende
des fünfzehnten Jahrhunderts wurden in Deutschland Milch-
und Butterspeisen freigegeben wegen der Ungesundheit
des gewöhnlichen Oeles und Nichtwachsens des Olivenbaums
im Norden, Eier sogar erst im sechzehnten Jahrhundert.3
Für die Diöcese Paris wurde sogar erst in den dreißiger
Jahren des sechszehnten Jahrhunderts der Genuss von
Milch und Butter während der Fasten gestattet, während
z. B. noch Karl V. von Frankreich eines speciellen Zeug-
nisses seines Arztes und seines Beichtvaters bedurfte, um
einen Dispens des Papstes für Milch- und Buttergenuss zu
erhalten.4 Gesetzlich festgestellt war dieses Verbot der
Eier und Milchproducte für die Fasten gegen Ende des
achten Jahrhunderts;5 vereinzelt will man sogar den Ge-
brauch des Ostereierschenkens auf das Eierverbot zurück-
führen, indem man seinen Ursprung aus der großen An-
sammlung von Eiern während der Fasten und dem Be-
streben, sich möglichst schnell auf eine gute Art davon
los zu machen, erklärt.6 Die orientalischen Kirchen ver-
1 Paulus 4, 249.
2 Krapf im Baseler Magazin 1850. Heft 1 S. 58.
3 Larnmert 40. 41.
4 Cortet 92. Nach der dänischen Hofordnung vom Jahre 1515
erhielt überhaupt nur an den Fischtagen der Hof frische Butter,
während sie an den übrigen Tagen einzig der königlichen Familie
vorbehalten war. Scheible 737.
5 Haug 112.
6 Cortet 124.
48
Haberland.
bieten noch jetzt den Genuss von Milch, Butter und Käse
ebenso wie den der Eier an den Fasttagen, auch das Oel
wird mehrfach unter die verbotenen Genüsse gestellt.1
Die Mönche auf dem Berge Athos dürfen nur Sonntag,
Dienstag, Donnerstag und Sonnabend — natürlich auch
nur, wenn diese Tage nicht in eine Fastenzeit fallen —
Eier, Butter, Käse und Fisch essen uud zwar nur mittags,
während sie abends mit einem Stückchen Brod vorlieb nehmen
müssen;- die Mönche des ägyptischen Klosters des heiligen
Antonius unterbrechen gar nur Sonnabend und Sonntag
und die Osterzeit ihr Fasten.3 Selbst der Fisch ist nach
griechischem und koptischem Fastenbrauch verboten4 und
auch den Abyssiniern ist er in neuerer Zeit durch eine
Verordnung ihres Abun untersagt.5 Ein Verbot des
Fleischgenusses auch an den Nichtfasttagen findet sich für
viele Klöster des Orients ; die Mönche auf dem Berge Athos,
welchen es selbst in schweren Krankheiten verboten ist,
gestatten es sich indess auf Reisen unter dem Vor wände,
dass ihr Stifter — sie folgen der Regel des heil. Basilius
— ihnen das Fleischessen außerhalb des Klosters nicht
untersagt habe.0
Schwer geahndet wurde in der mittelalterlichen Ge-
setzgebung der Fleischgenuss zur Fastenzeit. Ein Gesetz
Karls des Großen und ebenso ein späteres sächsisches be-
drohte ihn mit dem Tode, wenn nicht ein Priester die un-
umgängliche Notwendigkeit bescheinigen konnte, in Polen
wurden die sündigen Zähne ausgerissen und noch 1539
wurde in Angers ein Mann zum Feuertode, welcher indess
1 Paulus 3, 85. Lettres 59. 190. Ebers. Durch Gosen zum
Sinai. Leipzig 1872. S. 264. In Belgien sind Eier und Milch,
Butter und Käse am Char frei tag gleichfalls untersagt. Wolf. Ni In-
ländische Sagen. Leipzig 1843. S. 685.
2 Paulus 5, 327.
3 Paulus 3, 301.
4 el Abassi 2, 43. Paulus 4, 248.
5 Heuglin. Reise nach Abyssinen etc. Jena 1868. S. 290.
6 Ebers 264. Paulus 5, 137. 327. 301.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 49
wegen gezeigter Reue in Hängen gemildert wurde, verur-
teilt, weil er an einem Freitage Fleisch gegessen hatte,1
selbst 1629 noch in Paris ein armer Mensch, welcher aus
Hunger in den Fasten Pferdefleisch von der Schinderei
gegessen hatte, enthauptet. Körperliche Züchtigung war
zu Paris im sechzehnten Jahrhundert für Fastenvergehen
noch sehr im Schwange ; Fleischer, welche Fleisch verkauft
hatten, wurden an den Pranger gestellt und ihnen ein
Kalbsgekröse um den Hals gehängt, ertappte Sünder und
Sünderinnen wol mit dem Lammviertel am Spieß über der
Schulter oder den Schinken am Halse hängend durch die
Stadt geführt. Im achtzehnten Jahrhundert sogar war
die Ueberwachung noch eine derartige, dass selbst der
Herzogin von Berry im Jahre 1746 in ihrem Palaste sämmt-
liche für die Fasten bestimmten nicht geringen Fleisch-
vorräte beschlagnahmt wurden.2
Die ältere christliche Kirche machte vor Erteilung
von Taufe und Sakrament — ein Nahrungsversagen voi-
der ersten der drei täglichen G-ebetstunden (9 Uhr Vor-
mittag) hatte sich überhaupt sehr zeitig in dem Urchristen-
tum als Brauch festgesetzt3 — ein gänzliches Enthalten
vom Essen zur Pflicht, und waren beispielsweise unter den
Vorwürfen, welche dem heil. Chrysostomos von seinen
Feinden gemacht wurden, mit die schwersten, dass er ge-
tauft, nachdem er gegessen, und dass er das Sakrament
an solche ausgeteilt habe, welche ebenso ihr Fasten ge-
brochen hätten;4 nach der Festsetzung des dritten kartha-
ginensischen Concils (397 n. Chr.) war aber hiervon das
Abendmahl am grünen Donnerstag, welches wirklich als
ein Abendmahl gefeiert wurde, ausgenommen.5 Die abys-
1 Lecky. Sittengeschichte Europas von Augustus bis Karl den
Großen. Leipzig und Heidelberg 1870. Bd. 2 S. 196.
2 Cortet 93 ff.
3 ßiehm 426. Apostelgeschichte 2, 15.
4 Milman 2, 214.
5 Hagenbach 404.
Zeitschrift für VölkerpByoh. und Sprachw. Bd. XVIII. 1 4
50
Haberland.
sinisehe Kirche schreibt für den Tag- des Abendmahls durch
den Glauben an die Transsubstantiation bewogen ein völ-
liges Fasten vor und verbietet nach geschehenem Genüsse
sogar das Sprechen und namentlich das Ausspeien;1 nach
griechischem Ritus darf der Priester nach dem Gebete am
Vorabend vor jeder Sakramentsausteilung nichts mehr ge-
nießen, weder Speise noch Trank.2 Auch in der römisch-
katholischen Kirche findet sich vereinzelt als Volksbrauch
die Versagung von Fleischnahrung am Communionstage,
z. B. im Canton Waadt.3 In der orientalischen Kirche
bildete sich der Brauch, während der Adventszeit den Ge-
nuss von Fleisch- und Milchspeisen zu unterlassen, ohne
dass indess diese Zeit als eine wirkliche Fastenzeit gegolten
hätte;4 der Serbe im Banat beobachtet am Weihnachts-
vortag ein strenges Fasten,'' was sich auch in Nieder-
österreich wiederfindet,(i und isst bis zum Abend gar nichts;
im Unterinntal fasten noch manche alte Leute am Char-
freitage gänzlich bis zum Aufgange der Sterne;7 in ein-
zelnen irischen Distrikten ist es unter den niedrigen Klassen
Brauch, am Charfreitag von Mitternacht zu Mitternacht
den Kindern, selbst die Säuglinge nicht ausgeschlossen, jede
Nahrung zu entziehen.8 Auch in anderen Religionen findet
sich die Vorbereitung auf den Gottesdienst durch das Fasten,
wofür wir Beispiele aus den Gebräuchen der amerikanischen
Urbevölkerung bereits angeführt haben; so pflegten nach
Porphyrius die Pythagoräer vor dem Gottesdienste zu fasten,!)
so sind die hohen chinesischen Staatsbeamten vor dem
1 Heuglin 261.
2 Paulus 5, 297.
3 Illustrate Welt 1864, 259.
4 Haug 101.
5 Rajacsich 118.
6 Vernaleken. Mythen und Bräuche des Volkes in Oesterreich.
Wien 1859. S. 289.
7 Zingerle No. 1273.
8 Ausland 1860. S. 314.
9 Haug 472 n.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen, 51
großen Opfer zur Enthaltung1 von allen scharfen Sachen
und vom Weine für die Dauer von 3 Tagen verpflichtet,1
so legt sogar in Akem religiöse Vorschrift den Priestern
der großen Fetische ein Fasten vor der Opferdarbrin-
gung auf.'2
Im deutschen Volke lierschen nun aber neben den
kirchlichen Fasten noch vielfach Fasten, welche durch den
Aberglauben diktirt sind und gegen welche die Kirche
selbst bereits frühzeitig genötigt war einzuschreiten. Das
kirchliche Gebot, Festtag und Sonntag durch eine heitere
Stimmung und eine gewisse Fülle in Speise und Trank zu
feiern, trat vielfach in Gegensatz zur Volksansicht, welche
gerade an den hohen Festen, Ostern, Pfingsten, Weilmachten,
sei es nun als Fortleben älterer heidnischer Anschauung
oder weil sie gerade am Festtage die Entsagung trotz
des kirchlichen Widerspruches für besonders verdienstlich
hält, das Fasten in verschiedenen Fällen empfiehlt. Das
Provinzialconcil von Rheims des Jahres 1583, ebenso wie
das von Toulouse des Jahres 1590 sahen sich genötigt die
Gewohnheit zu verdammen, Ostern kein Fleisch oder Ei
zu essen, um dadurch dem Fieber vorzubeugen,3 und ebenso
tadelt ein Edikt des Herzogs Maximilian von Bayern vom
Jahre 1611 streng, dass Ostern und Weihnachten viele
sich aus abergläubischen Gründen, namentlich auch wieder
des Fieberschutzes wegen, des Fleisches enthielten, was
doch ein sehr großes Unrecht an so freudigen Tagen
wäre;4 Vintler in seinem Lehrgedichte „Die Blume der
Tugend" (1411) kennt auch den Glauben, dass Fasten am
Sonntage von abergläubischen Leuten für verdienstlich
gehalten werde, dass Gott einem dann Fastenden keine
Bitte versage, wie er auch das Fasten bis zum Aufgang
1 Globus 31, 179. Timkowsky. Reise nach China. Leipzig
1825. Bd. 2 S. 37 n.
2 Globus 30, 174.
3 Thiers No. 195. Brand 1, 94 n.
4 Panzer 2, 283.
4*
52
Haberlaad.
der Sterne als Sitte Einiger erwähnt.1 Derartige aber-
gläubische Fasten sind nun auch in Deutschland noch viel-
fach im Schwange. In Bayern herscht stellenweise eine
abergläubische Furcht in den Zwölften, also der Weihnachts-
zeit, Fleisch zu essen,- wodurch man sogar den Tod des
besten Tieres im Stalle verursachen kann;3 auch beim
Erntemahl nach der Buchweizenernte ist der Fleischgenuss
streng verpönt.3 Im Oberpfälzer Walde wagen sogar am
Hochzeitstage die Neuvermählten an einzelnen Orten kein
Fleisch zu essen, damit der Viehstand des neuen Haushaltes
nicht gefährdet sei;4 auch im Banate war früher dieses
den Neuvermählten untersagt.5 Das Vieh selbst muss in der
Bheinpfalz am Dreikönigstage, vereinzelt auch am Peterstage
fasten, damit es das Jahr hindurch vor Krankheiten be-
wahrt sei.6 Das Fasten am griinen Donnerstage oder an
drei auf einander folgenden Freitagen, als eines Fieber-
schutzes oder einer Befreiung von dieser Krankheit, wird
als ein Aberglaube des vorigen Jahrhunderts berichtet;7
noch jetzt schützt vor Zahnweh nach rheinischem G-lauben
das Fasten am grünen Donnerstage,8 nach oldenburgischem
Fleischenthaltung am ersten Ostertage.9 Der Mecklenburger
bewahrt sicli durch Fleischenthaltung am Charfreitage vor
den Mückenstichen des kommenden Sommers.10 Eüglischem
Glauben zufolge kann man, wenn man am Johannesvor-
abende gefastet hat, mitternachts in der Kirchtüre stehend
diejenigen, welche im Jahre sterben werden, kommen und
1 Zingerle 292.
2 Panzer 1, 264. Bavaria 2, 312.
3 Fischer. Das Buch vom Aberglauben. Leipzig 1791. S. 333.
4 Schönwerth. Aus der Oberpfalz. Augsburg 1869. 1, 98.
5 Rajacsich 181.
6 Bavaria 4 2 393.
7 Fischer 214.
« Wuttke § 22.
9 Strackerjan 1, 64.
lu Bartsch No 1351.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 53
an die Kirchtüre klopfen sehen,1 und ebenso befähigt dieses
Fasten das liebesbedürftige Mädchen ihren künftigen
Gatten mitternachts eintreten und sich an den für ihn ge-
deckten Tisch setzen zu sehen.2 In Böhmen geht man am
Tage Adam und Eva früh zur Beichte und Communion
und fastet alsdann bis Mitternacht, dann sieht man, wenn
man sich auf einen Kreuzweg stellt, die wilde Jagd vorüber-
ziehen und erhält von demLetzten des Zuges den stets zurück-
kehrenden Wechseltaler.3 Wer am Christtag sich der
Speisen bis zum Abend enthält, dem kommt nach thürin-
gischem Glauben das goldene Ferkel zu Gesicht und ver-
heißt ihm kommendes Glück;4 nach schlesischem kann er
das goldene Lämmlein am Himmel sehen;5 nach böhmischem
zeigt ihm die Paruchta (Perchta) das goldene Schweinchen,
während sie den Kindern, welche nicht gefastet haben, den
Bauch aufschneidet.6 Sehr ausgedehnt sind abergläubische
Fasten bei demEhsten; bei allen wichtigen Gelegenheiten,
wie bei Neubauten und dergleichen, fastet er, um dadurch
Gunst für das Unternehmen zu erlangen;7 namentlich ist
ihm aber das Fasten am Allerseelentage von Wichtigkeit,
da von ihm das Gedeihen des Bind- und Schafviehes ab-
hängt.8
Dem Freitag als dem Fastentag der Woche steht der
Donnerstag als bevorzugter Fleischtag überall in den ka-
tholischen Gegenden gegenüber, und war er ein solcher
auch bereits im frühen Mittelalter, wie denn sogar der
fromme Kaiser Otto der Dritte sein oft wochenlanges
Fasten, doch stets an diesem Tage aussetzte;9 schon früh
1 Brand 1, 185.
2 Ebendaselbst.
3 Grohmann No. 24.
4 Simrock. Deutsche Mythologie. Bonn 1874. S. 328.
5 Peter 274.
6 Grohmann No. 4.
7 Kalewipoeg 15, 603.
8 Holzmayer 66.
ö Rochholz. Glaube 2, 46. Thietmar von Merseburg 4, 30.
I
54 Haberland.
hatte die Kirche die Donnerstage der Fastenzeit aus den
Fasttagen ausgestrichen wegen der an diesem Tage ge-
schehenen Himmelfahrt und Einsetzung des Abendmahles,
wodurch dem Tage selbst der Charakter eines Freudentages
aufgedrückt sein sollte.1 In den wohlhabenden Gegenden
der Oberpfalz ist der Donnerstag und stellenweise daneben
noch der Montag oder Dienstag der Fleischtag,2 auf der
Hochebene des Odenwaldes neben demselben noch der Sonn-
tag und der Dienstag die gebräuchlichsten Fleischtage,3
welche drei Tage auch in der Schweiz gebräuchlich, und
Rochholz bereits für das deutsche Mittelalter nachweist.4
In der Rheinpfalz sind die Fleischtage nach der Oertlich-
keit verschieden,5 in Mecklenburg sind es Donnerstag und
Sonntag;0 an diesen Tagen erhielten auch im sechzehnten
Jahrhundert in England nach Tusser's Husbandry die
Pflüger gebraten Fleisch zur Abendmahlzeit.7
Gegenüber den strengen Fastgeboten sah andererseits
die Kirche aher auch bereits frühzeitig darauf, dass die
hohen Festtage, für welche die festliche Stimmung nach
jeder Richtung hin gewart werden sollte, nicht des Ge-
nusses in Speise und Trank entbehrten, sondern auch im
möglichst reich besetzten Mahle die frohe Stimmung der
Gläubigen widerspiegelten. Selbst die Mönche des kop-
tischen St. Antoniusklosters, welche sonst nur Wasser ge-
nießen, dürfen an hohen Festtagen von den Weinen, welche
ihnen ihre beiden kleinen Weinberge liefern, trinken,s und
ähnliche Ausnahmen von der spärlichen Nahrungsweise der
Mönche an den Festtagen weisen auch die andern orien-
talischen Klöster auf. Das Fastenverbot für die Sonntage
1 Hang 116.
2 Bavaria 2, 326.
3 Bavaria 4-' 274.
4 Rochliolz, Glaube 2, 61 ff.
5 Bavaria 42 413.
6 Bartsch No. 628.
7 Brand 1, 45.
» Paulus 3, 298. m. 5, 136.
A
lieber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 55
begegnet gleichfalls schon früh in der christlichen Kirche1
— namentlich scheinen aber die Arianer diese Tage durch
Wolleben in Speise und Trank gefeiert zu haben- — und
auch die Sonnabende waren als festliche Tage vom Fasten
befreit; nur der Sonnabend der Charwoche, der große Sab-
bath, machte eine Ausnahme, an ihm fasteten die griechische
sowie einige abendländische Kirchen bis zum nächsten
Hahnenschrei, um welche Zeit die Auferstehung geschehen
sein sollte.3 Die Griechen und Kopten begehen diesen
iSonnabend als den Anbetungstag des Begräbnisses noch
jetzt mit Fasten.4 Schon um sich von den Irrgläubigen
zu unterscheiden, welche sich den Fleischgenuss am Sabbath
untersagt hatten, war es für die Christen der frühen Jahr-
hunderte notwendig, sich ängstlich vor dem Fasten an
Sonnabend oder Sonntag zu hüten."' Die Zeit zwischen
Ostern und Pfingsten begann gleichfalls als eine ununter-
brochene Festzeit angesehen zu werden, welche kein Fasten
auch an den gewöhnlichen wöchentlichen Fasttagen ge-
stattete/5 ebenso wie sich dieses auch für die festliche Zeit
zwischen Weihnachten und dem Dreikönigstage verbot.7
üebrigens scheint, wenigstens für einen Fall, die frühere
christliche Kirche eine Eeinigang|von den Fasten gefordert
zu haben; sie ordnete an, dass am Palmensonntage, welcher
davon auch Dominica Capitilavii hieß, den Täuflingen der
Kopf gewaschen wurde, auf dass sie nicht von der Beobach-
tung der Fasten besudelt zur Salbung kämen.s
1 Haug 104. Hagenbach 399. Die Bewohner von Amiens pro-
testirten (im zwölften Jahrhundert) gegen das bischöfliche Gebot,
an den Sonntagen der Osterfasten kein Fleisch zu essen, als Ver-
letzung eines alten Brauches und taten es trotz des Verbotes. Cortet 93.
2 Haug 370.
3 Haug 125.
4 Paulus 4. 251.
5 Haug 477. 4
Cortet 184.
7 Wuttke § 13.
5 Haug 122.
56
Haberland.
Gleich der Kirclie hat wieder auch der Volksglaube
neben seinen Fasttagen seine Tage, für welche ein tüch-
tiges Essen oder Trinken Forderung ist. Der Glaube der
ersten christlichen Jahrhunderte, dass man durch recht
starke Schmausereien am Neujahrstage, gegen deren Ueber-
maß die Kirche häufig einzutreten genötigt war, sich ein
gutes Jahr, da man es wie an diesem Tage so das ganze
Jahr haben würde, verschaffen könne,1 findet sich noch im
Brauche des Voigtlandes, streng darauf zu achten, dass an
den drei heiligen Abenden der Weihnachtszeit — 24. De-
cember, 31. December, 5. Januar — sich Mensch und Vieh
ganz satt esse, und daher für diese Zeit sehr reichlich zu
kochen;2 in der Rheinpfalz muss am Donnerstag vor Fast-
nacht,dem „fetten Donnerstag", in jedem HauseFleisch gekocht
werden,3 in Westfalen muss Thomasnacht tüchtig gegessen
und getrunken werden, damit man sich nicht todt hungere.4
Der Ire ist verpflichtet der Sitte nach, Allerheiligen durch
die besten Fleischspeisen, welche er sich verschaffen kann,
zu feiern.5 In Schweden trinkt man sich in der Walpurgis-
nacht Mark in die Knochen,6 im Welzheimer Walde
(Schwaben) trinken sich am Pfingstmontage alle ledigen
Leute die „Schöne" im Wirtshause, was auch in Stockach
am Bodensee seitens aller Weiber, selbst der ältesten, am
Sonntag Lätare geschieht;7 ähnlich pflegt man in der Ober-
pfalz beim Hochzeitmahl mit der ersten Gesundheit scherzend
der Braut die Stärke zuzutrinken.8 Das Fest ihres Schutz-
patrons, des heiligen Patrick, welcher bei seinem Tode der
Tradition nach von seinen Freunden verlangte, dass sie
1 Hang 108.
* Köhler 361.
3 Bavaria 4 2 398.
4 Kuhn. Westfalen. 2, 100.
5 Ausland 1860, 316.
c Globus 3, 375.
7 Meier 402/3.
8 Schönwerth 1, 97.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
57
sich freuen und jeder einen Schluck trinken sollte, feiern
die Iren streng nach dieser Vorschrift, sei es durch Whisky
oder Bier, den sogenannten Patrick's pot, und vor noch
nicht langer Zeit erhielt in Dublin den letzteren jeder Gast
unentgeltlich vom Wirte.1 Selbst bei den Römern soll in
Folge einer sibyllinischen Vorschrift an den Kaienden des
Januar ungemischter Wein zur Bewarung der Gesundheit
für das folgende Jahr getrunken sein.2
Gleich dem Christentum sah auch das klassische Alter-
tum darauf hin, dass die richtige Feststimmung, die ge-
hobene Fröhlichkeit an den religiösen Festen herschte,3 for-
derte auch das Zoroastersche Gesetz streng die Zubereitung
der vorgeschriebenen Festmahle,4 alle Bekenntnisse aber
übertrifft das Judentum mit seinen Vorschriften für die
festliche Begehung des Sabbathes und der Festtage : „Freue
Dich vor Jehovah an Deinen Festen mit deiner Familie
und deinem Gesinde" ist ein im alten Testamente häufig
wiederkehrendes Gebot für Sabbath und andere Feiertage;5
„Gehet hin, esset Fettes und trinket Süßes und sendet
Gerichte denen, welchen nichts zubereitet ist; denn heilig
ist dieser Tag unserem Herrn!" ruft Nehemia dem Volke
am Laubhüttenfeste zu,6 und in Uebereinstimmung hiermit
ist denn auch die Feier der jüdischen Feste. Das Haus
soll sich am Sabbath soviel als möglich geschmückt dar-
stellen, wozu unbedingt eine eigene für diesen Tag be-
stimmte Lampe und ein weißes Tischtuch gehören,7 der
Tisch soll tragen, was Küche und Vermögensumstände nur
liefern können, gesittete Freude soll das Mahl zieren; für
das Gebot der drei Sabbath-Mahlzeiten wird neben den
1 Ausland 1860, 313.
2 Klausen 275.
3 Fustel de Coulanges 188.
4 Spiegel. Avesta 3, 216.
5 5. Mos. 16, 11. 14.
6 Nehemia 8, 10.
7 Seligmann 271.
58
Haberland.
symbolischen Gründen sogar auch der praktische angeführt,
dass bei nur einer Mahlzeit des Guten auf Kosten des
Wohlbefindens zuviel gethan werden würde.1 Das Fasten
am Sabbath ist ebenso wie auch an den Feiertagen unter-
sagt,2 selbst das Verbot des Fleisch- und Weingenusses für
die nächsten Leidtragenden während der ersten sieben
Tage3 und dasWittwentrauerfasten4 muss gebrochen werden,
nur das Fasten zur Abwehr der Erfüllung böser Träume
ist am Sabbath — nicht an Feiertagen — gestattet, in-
dess muss, wer überhaupt am Sabbath fastet, auch den fol-
genden Tag als Strafe mitfasten.5 Laute Festfreude gilt
als Gott wohlgefällig und verdienstlich;6 für Purim, dem
Gedenkfeste der Befreiung der Juden aus den Händen Ha-
mans durch Esther, ist geradezu vorgeschrieben sich zu
berauschen und zwar dergestalt, dass man nicht mehr
zwischen „Gesegnet sei Mardochai" und „Verflucht sei
Hainan" zu unterscheiden vermag." Selbst Plutarch kannte
dieses Gebot der kräftigen jüdischen Sabbathfeier und teilt
in seinen Tischreden mit, dass sie einander am Sabbath
fleißig ermahnten sich im Weine zu betrinken, welcher
Brauch ihn, beziehentlich den Redenden, dazu verleitet, im
Jehovahkult einen bacchischen Dienst zu sehen.8
Auch der Islam hält darauf, dass seine Feste nicht
der festlichen Speise ermangeln und auch der Arme, wie
bei den Juden, durch Fürsorge des reichen Glaubensgenossen
sein Teil habe; namentlich gilt dies für das große Beiram,
wo das Verzehren von Opferfleisch zum Andenken an das
Opfer Abrahams stattfindet und als dem Fastenschluss aus-
1 Buxtorf 338.
2 Riehm 426.
3 Buxtorf 684.
* Judith 8, 6.
5 Buxtorf 384. 480.
6 Riehm 426, Buxtorf 358.
7 Abodah Sarah 133 n.
8 Plutarch. Tischreden 4, 6. 2.
Dio Entstehung der einheitlichen Epen im Allgemeinen. 59
gelassene Freude, Schmaus und Festlichkeit lierschen1
Der Gründer der Sekte der Baby hat seinen Gläubigen,
welche sonst nur ein einziges Gericht als Mahlzeit genießen,
am Neujahrstage, dem Tage Gottes, als Nachtessen 19 bis
2001 Schüsseln vorgeschrieben, glücklicherweise mit seiner
gewöhnlichen Formel „aber betrübt euch nicht, wenn ihr
außer Stande seid es zu tun".2 Die jüdische Anschauung,
dass Festesjubel Gott wolgefällig sei, tritt im Islam
gleichfalls auf.3
(Fortsetzung folgt.)
Die Entstehung der einheitlichen Epen im
allgemeinen.
Von Prof. J. Krohn in Helsingfors.
Nachdem Wolf 1795 seinen kühnen Fehdehandschuh der
bis dahin alleinherschenden Ansicht über die griechischen Epen
hingeworfen, hat der Streit über die Entstehung derselben
und der übrigen ähnlichen literarischen Denkmäler ununter-
brochen fortgewährt. Die wichtigste Diversion in demselben,
an Folgenschwere noch der Wolfschen Hypothese überlegen,
ist ohne Zweifel der Essay von Prof. Steinthal in seiner Zeit-
schrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft BandV.
In demselben hebt er den wichtigen Umstand hervor, dass
auch die einheitlichen Epen Volkslieder sind und sucht auf
Grund der Natur des Volksliedes ihre Entstehung und ihr
Fortleben im Munde des Volkes zu erklären. Aber so bahn-
1 Klunzinger 119. 174. Arabisch heißt dieses Fest Id fits, Fest
des Fastenbuches oder nur Id, das Fest. Garcin de Tassy, Memoire
sur quelques particularités de la religion musulmane dans l'Inde.
Paris 1849. p. 69.
2 Gobineau 507.
3 Garcin de Tassy 69. „Feste sind nur der Wiederschein innerer
Feste" bemerkt treffend Brand (2, 12).
60
Krohn.
brechend auch dieser Aufsatz im Ganzen ist, hat er doch
nicht alle Umstände in dieser Entstehung und diesem Fort-
leben klar machen können, aus dem einfachen Grunde, das»
dem Verfasser keine größere Masse von Varianten eines
einheitlichen Epos zu Gebote stand (die paar Varianten
des Nibelungenliedes und des Rolandsliedes waren keines-
wegs hinreichend). Daher ist noch manches apriorisch
construirt und ganz anders dargestellt als es in der Wirk-
lichkeit sich zeigt. Möge es mir daher erlaubt sein, eine
Darstellung meiner auf Studium der unendlich reichen
Variant en Sammlung der Finnischen Literat urgesellschaft
und auf Kenntnis der Art, wie die Kalevalalieder ge-
sungen werden, sich stützenden Ansicht über die Entste-
hung der einheitlichen Epen überhaupt hinzuzufügen.
Erstens ist Prof. Steinthal vollkommen im Irrtum, wenn
er glaubt, dass die Kalevala ohne bestimmte Liederabteilung-
gesungen wird, so dass z. B. der Sänger heute vom Punkte
a anfängt und bis zu cl singt und morgen wieder, wenn
es ihm einfällt, von c—f. Auch unser einheitliches Epos
besteht aus streng bestimmten Liedern, welche an einem
gegebenen Orte und zu einer gegebenen Zeitperiode immer
vom selben Anfange bis zum selben Ende fortgeführt werden,
obgleich sie freilich, beim Uebergehn an andere Orte und
im Laufe der Zeit auch in ihrem, so zu sagen, Gerippe
wesentliche Veränderungen erleiden.
Ebenso ist es vollkommen falsch, dass kleine Lieder
eben so wenig zu einem größern organischen Ganzen zu-
sammen zu schmelzen vermögen, wie aus Strohhalmen
Fleisch werden kann. Die einfachsten Embryos der Kale-
vala sind alle „kleine Lieder", welche gerade auf die beiden
von Steinthal als unmöglich bezeichneten Weisen sich zu
größern verwandelt haben. Die im Anfange sehr kurzen
werden länger, dadurch, dass der Sänger aus andern ihm
bekannten Liedern kleinere Stückchen, sogar ganze Episoden,
höchst selten etwas ganz neues Selbstgedichtetes hinzufügt.
Oder auch er verschmelzt zwei ganze isolirte Lieder zu
Die Entstehung der einheitlichen Epen im Allgemeinen. 61
Einem. Auf diese Art, das kann deutlich nachgewiesen
werden, sind alle jetzt gesungenen größern, eine ganze
Episode der Kalevala behandelnden Lieder entstanden. Diese
können dann noch unter sich und mit Hinzuziehung von
kleinern Liedern ein kleineres einheitliches Epos bilden.
Der erste Schritt ist gewöhnlich der, dass durch Assimili-
rung der Namen mehrere einander früher ganz fremde
Lieder einen gemeinschaftlichen Helden bekommen; meistens
folgt die materielle Zusammenfügung der Lieder, d. h. das
Singen derselben in einem Zusammenhange, erst später.
Zuweilen aber ist die Assimilirung der Namen erst ' eine
Folge von der bloß rein mechanischen Aneinanderfügung
der Lieder. So ist z. B. in dem Liede von Lemminkäinens
zweiter Fahrt nach Pohjola (26—29 Gesang) der ursprüngliche
Held, Kauko, in späteren Varianten in manchen Gegenden
ganz von Lemminkäinen verdrängt worden, welcher anfangs
nur in dem Liede auftrat, welches seinen ersten Zug nach
Pohjola, seinen Tod und seine Wiederbelebung zum Ge-
genstandhat (Teile des 12—15 Gesanges). Manche Sänger
haben darauf beide Lieder vollkommen mit einander ver-
schmolzen. Auch diese kleinern einheitlichen Epen können
noch weiter mit andern solchen sich zu einem größern
Ganzen verbinden, jedoch meistens so, dass sie nicht in
einem mechanischen Zusammenhange gesungen werden.
Geschieht dieses doch, so verlieren sie viel von ihrem ur-
sprünglichen Umfange durch Weglassung oder Abkürzung
von Episoden; denn wenigstens die finnischen Sänger schei-
nen nicht mehr wie eine ziemlich beschränkte Anzahl von
Versen in einem äußerlichen Zusammenhange im Gedächtnis
behalten zu können. Die Zusammenschmelzuiig zu einem
Gesammt-Epos geschieht daher, mit Beibehaltung von be-
sondern Liedern, nur dadurch, dass erstens die Namen der
auftretenden Personen sich in entsprechender Weise assi-
miliren und, was noch mehr zur Einheit beiträgt, Hinwei-
sungen aus einem Liede aufs andere entstehen, so dass
sie einander voraussetzen. So wird z. B. das selbst aus
62
Krohn.
mehreren kleinen Liedern entstandene Sonder-Epos vom
Kullervo in einigen Varianten zu dem Hauptbestandteile
der Kalevala, dem Liede vom Sampo, hinzugezogen dadurch,
dass die böse Frau des Schmiedes, an der sich Kullervo-
rächt, den Namen Ilmarinens Wirtin erhält. In einer Va-
riante des Liedes von der Wettfreierei des Wäinämöinen
und Ilmarinen haben sich ebenso ein paar Verse einge-
schlichen, worin die Pohjola-Tochter erklärt, sie wolle dem
als Weib folgen, der den Sampo geschmiedet. Hier wird
also das Sampolied vorausgesetzt, obgleich beide nur selten
in einem äußern Zusammenhange gesungen werden. Viele
solche Beispiele könnten angeführt werden, wenn ich nicht
fürchten würde, die mit der Kalevala wenig bekannten
Leser zu ermüden.
Was die Kraft betrifft, die in den oben geschilderten
Entwicklungen und Verschmelzungen der Lieder wirkt,
möchte ich noch mehr wie Prof. Steinthal Gewicht auf das
überwiegend Unbewusste und Unpersönliche in diesem
Processe legen. Meistens haben die finnischen Ehapsoden
auch nicht die kleinste poetische Gabe. Einer der besten
jetzt lebenden Sänger erhielt vor ein par Jahren eine kleine
Pension aus Helsingfors und verfasste ein kleines Dankge-
dicht; doch dieses war sowol seinem Inhalt wie sogar der
Form nach im höchsten Grade miserabel.
Das Gedächtnis scheint bei der Entwicklung wie
bei der Bewarung der alten Lieder eine sehr große Polle
zu spielen -— ein treues macht das Fortleben selbst von
größern Liedern möglich, ein weniger gutes hingegen ist
ein wichtiger Factor bei der weiteren Ausbildung. Im
Allgemeinen bestrebt sich der Sänger das Lied so treu
wie möglich wiederzugeben; kaum jemals verändert er et-
was mit Absicht. Aber in seinem Kopfe können sich die
gehörten Lieder vermischen und er verlegt einen Zug aus
dem Einen in ein Anderes. Dieser Zug kann, im Fall das
Lied mehrere Male in dieser neuen Weise gesungen wurde,
darin festhaften und so ist der Grund zu einer neuen Ent-
Die Entstehung der einheitlichen Epen im Allgemeinen. (j3
wicklung gelegt worden. So geschieht es am öftesten, wenn
das Lied, woraus der Zug entlehnt wird, an dem Orte weniger
bekannt ist. Natürlich ist die Ueberführung von Details
in einem neuen Zusammenhange am allerleichtesten, wenn
die Entlehnung aus einem ganz fremden Mythen- oder
Sagenkreise stattgefunden hat.
Beinahe ebenso mechanisch wirkt auch oft der As.si-
milationstrieb, der in besonders hohem Grade das Zu-
sammenschmelzen von Liedern fördert. Wenn irgend ein
Held vor andern dem Volke lieb wird, gruppiren sich ganz
von selbst um seinen Namen allerlei ursprünglich ihm
fremde Begebenheiten. Da er so viel getan hat, denkt
wol der Sänger, wird er wol auch Anderes getan haben.
Ebenso, wenn eine besungene Begebenheit einen besonders
starken Eindruck auf die Einbildungskraft des Volkes ge-
macht hat, verschmelzt der Sänger damit gern alles in
seinem Hauptcharakter oder auch nur in einem hervor-
stehenden Zuge Aehnliche. So hat z. B. das Lied von dem
Päivölä-gastmahl nach und nach Züge aus einer Menge
skandinavischer und russischer Lieder, worin ein Gastmahl
vorkommt, ja selbst aus der Bibel das Gleichnis von der
Hochzeit, zu der allerlei Gäste von der Straße kamen, in
sich aufgenommen.
Nahe verwandt mit dem Ebengenannten ist der Fort-
setzungstrieb. Wenn in ein Lied ein recht ansprechender
Zug gekommen ist, will der Sänger gerne die Wirkung
desselben durch Hinzufügung von ein paar ähnlichen ver-
mehren. In dem Wettfreiereiliede, in dem Zwiegespräch mit
Anni (18. Gesang) z. B. gab Wäinämöinen, wie es scheint,
ursprünglich nur vor, dass er auf den Fischfang fahre.
Aber ex analogia schlössen sich später an manchen
Orten auch noch die Gansjagd, an andern der Kriegs-
zug an. Eine Variante hievon ist der logische Fort-
setzungstrieb. Der in der urfinnischen Schöpfungssage
schon als des Schöpfers Gehülfe vorkommende Vogel machte
das Entlehnen der Welteisage von den Littauern beinahe
64
Krohii.
zu einer Naturnotwendigkeit; wo einmal ein Vogel war,
musste er doch Eier legen.
Prof. Steinthal setzt als unumgängliche Bedingung für
die Entstehung eines einheitlichen Epos einen großen Reich-
tum an Sagen und eine mächtige Einwirkung des singenden
Volkes auf die Geschichte voraus. Dem ersteren vollständig
beistimmend, möchte ich doch auf die nicht zu leugnende
Tatsache hinweisen, dass das finnische Volk, obgleich in
der äußern Geschichte höchst passiv, doch eins der schönsten
einheitlichen Epen geschaffen hat. Meiner Ueberzeugung
nach ist die Ursache der Entstehung eines einheitlichen Epos
eine ganz andere. Die Hauptursache ist, dass unter der
Menge der Stoffe sich einer hervorhebt, welcher bedeutend
genug ist um die Einbildungskraft des Volkes vor allen
andern zu erfüllen. Dieser Stoff wird dann gleichsam zu
einem Wirbel, welcher alles in die Nähe kommende an sich
zieht. Eine solche Kraft in unsrer Volksdichtung hat die
Sage von dem Kaube des Sampo gehabt. In den russischen
epischen Liedern ist auch eine Art Mittelpunkt darin, dass
die meisten von ihnen ihren Schauplatz oder wenigstens
den Ausgangs- oder Schlusspunkt der geschilderten Be-
gebenheit an den Hof des Großfürsten Wladimir des Großen
und in den Trinksaal desselben verlegen. Das dort immer
gefeierte Trinkgelage war aber nicht wichtig genug, um
zu einem wirklichen Mittelpunkte zu werden, welcher alle
anderen Begebenheiten organisch um sich gruppirt hätte.
Daher sind die Bussen ohne ein einheitliches Epos geblieben,
obgleich sie geschichtlich ohne Vergleich handlungskräftiger
gewesen sind als wir Finnen.
Um aber den ersten Impuls zu einer epischen Dichtung
zu erhalten, muss wol das Volk, wie Prof. Steinthal richtig
voraussetzt, durch irgend welche wichtige geschichtliche Um-
wälzung in eine gehobene Gemiitsstimmung versetzt werden.
Wie wir sahen, können die jetzigen Rhapsoden nicht ei-
gentlich selbst neuen Stoff dichten, nur ihn ausbilden.
Aber es muss doch eine Zeit gegeben haben, wo die Stoffe
Die Entstehung der einheitlichen Epen im allgemeinen.
65
gedichtet worden sind und wo die Volksdichtung also selb-
ständiger zu Wege ging. Meiner Ansicht nach muss das
finnische Volk beim Einwandern in sein jetziges Land, wo
es wol frühere Einwohner vor sich her trieb und wobei es
zugleich durch seine skandinavischen Nachbarn eine Unzahl
neuer Kulturelemente, unter andern, wenn meine Beweise
stichhalten, eine Menge Mythen erhielt, einen solchen Um-
und Aufschwung erhalten haben, der die nötige Geisteskraft
zur Ausbildung einer so reichen Poesie geben konnte.
In gewisser Hinsicht kann man übrigens nicht leugnen,
dass auch später noch wirkliche poetische Gabe sich hat
geltend machen können, nicht mehr als stoffschaffend, aber
doch noch als formbildend. Unbewusst muss wol freilich
die Umkleidung auch entlehnter Stoffe mit ethnographischen
und Natur-Schilderungen, die mit den Landes- und Volks-
eigentümlichkeiten des Sängers übereinstimmen, vor sich
gehn. Zum Teil kann man auch noch die Charakterbildung
der Helden nach im Volke selbst anzutreffenden Mustern
auf diese Weise erklären. Diese Entwicklung der Charak-
tere, welche erst nach und nach sich geltend macht, ist
sehr interessant zu studiren. In den Zauberliedern, im Liede
vom Sampo und in der Schöpfungssage tritt z. B. der alte
Wäinämöinen nur als weiser, biederer Seher auf. In andern,
sichtlich spätem Liedern modifiziert sich die Weisheit oft
zur Schlauheit und List. So auch entwickelt sich erst
nach und nach der ihn oft lächerlich machende Hang zu
Liebeleien. Aber in der einen wie in der andern Hinsicht
muss man schon auch einer individuellen Begabung des
Sängers einigen Raum lassen. Noch mehr ist dieses not-
wendig, wenn wir hie und da einzelne Züge von großer
poetischer Schönheit vorfinden, die niemand sonst als dieser
einzelne Sänger kennt. So ist es z. B. mit der tief rührenden
Antwort der Fall, welche Kullervos Mutter ihrem verzwei-
felnden Sohne gibt (Gesang 36 v. 133—148), und mit der
schelmischen Erklärung der Pohjola-Jungfrau bei der Wett-
ireierei: sie sehe mehr auf den Glanz der Stirn als
Zeitschrift für Yölkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 1. 5
6 tí
Krolin.
auf den Glanz des Goldes des Freiers (Gesang 18 v.
635—642).
Aber auch hierin zeigt sich wider die Unbewusstheit
und Zufälligkeit des Volksliedes, dass durchaus nicht ge-
sagt ist, dass die poetisch schöneren Fassungen sich besser
festsetzen und mehr verbreiten als die weniger gelungenen.
Die Volksdichtung ist in ihrem Schaffen meiner Ansicht
nach sehr der Natur ähnlich. Diese Berge, dieser See und
dieser Laubwald können zu einem bezaubernden Land-
schaftsbilde sich zusammenfügen, aber die Zusammenstel-
lung derselben Elemente kann auch etwas bloß ganz Ge-
wöhnliches hervorbringen. Ebenso entstehen oft Verschmel-
zungen von Liedern, welche gar zu heterogen sind um eine
wirkliche Einheit zu bilden, eine wirkliche Schönheit zu
schaffen. Man trifft im Gegenteil nicht selten Neubildungen,
welche alles andere wie schön, sogar völlig alles vernünf-
tigen Sinnes baar sind. In wie vielen Varianten haben sich
nicht Züge eingeschlichen, welche mit dem typischen Cha-
rakter des Helden im größten Gegensatze stehn; wenn z.
B. der Repräsentant der reinen Prosa, der Schmied Ilma-
rinen, zuweilen anstatt Wäinämöinen die Harfe schmiedet
und mit ihren Tönen die ganze Natur bezaubert. Schließ-
lich entwickelt sich wol auch das organische, einheitliche
Epos im Volksmunde nirgends zu vollkommen künstlerischer
Einheit.
Aller dieser Zufälligkeit und Un Vollkommenheit wegen
bedarf auch das am meisten ausgebildete Volksepos zuletzt
notwendig einer auswählenden, ordnenden und zusammen-
fügenden Hand. Kein Diaskeuast eines Volksepos kann freilich
isolirte Volkslieder zu einer organischen Einheit verbinden;
das sieht man aus Macphersons Machwerk, das beweist
auch Avenarius' Versuch die russischen epischen Lieder zu
einem Epos zu verschmelzen; ebenso ist auch Kreutzwalds
Versuch mit den Abenteuern des estnischen Kalevipoeg
gänzlich verunglückt. Aber wo schon das Volk das Seinige
dazu getan hat, so weit es in seinem Bereiche liegt, da
Die Entstehung der einheitlichen Epen im allgemeinen. (57
kann ein geschickter Zusammensetzer die letzte Feilung
geben. Für die Erhaltung des ursprünglichen Volkscha-
rakters ist es hiebei notwendig, dass diese letzte Feilung
in so vorsichtiger, leichter Weise wie nur möglich geschieht,
und ist es ein glücklicher Umstand, wenn der Diaskeuast
selbst in der Art seiner Begabung den Volkssängern so
nahe wie möglich steht. Man kann ja nicht leugnen, dass
unser Lönnrot an manchen Stellen die ziemlich lose Einheit
fester gemacht hat, ja dass er in den Rahmen des Epos
manche Lieder hineingezogen hat, welche das Volk noch
außerhalb gelassen hatte. Er hat auch eine Menge Inter-
polationen aus andern Liedern zur Vervollständigung der
Schilderung eingefügt, und die Gesänge in einer solchen
Folge an einander gereiht, dass die innere Einheit klarer
hervortritt. Aber in allem diesem ist er doch meistens
nur den schon im Volksliede vorliegenden, wenn auch zu-
weilen etwas undeutlichen Andeutungen gefolgt, und in
jedem Falle ganz so mit den Liedern umgegangen, wie
auch die Volkssänger es tun. Selbst hat er auch sein
Verfahren mit den treffenden Worten verteidigt: „Da ich
mir bewusst war, dass kein einziger Runensänger mir, was
die Kenntnis der Lieder betrifft, überlegen war, gebrauchte
ich mein Recht, welches auch jeder Rhapsode sich zulegt,
die Lieder so zusammenzufügen, wie sie am besten passten."
Und ein Beweis des feinen, durch und durch nationalen
Ohres, welches Lönnrot für die Volksdichtung hatte, be-
weist auf überraschende Weise das Factum, dass das Volk
später ein paar Details in derselben Weise weiter ausge-
führt hat wie Lönnrot. Eine Einwirkung der gedruckten
Kalevala ist ganz unmöglich, da die griechisch-katholische
Bevölkerung in Russisch Karelien und Ingermanland, wo
die hier berührten Lieder gefunden worden sind, keine
Ahnung von der Kunst des Lesens hat, welche freilich in-
nerhalb der Grenzen Finnlands ganz allgemein ist.1 Ein
1 ich benutze diese Gelegenheit um einen Irrtum aufzuklären,
den man bisweilen in ausländischen, die Kalevala betreffenden
68
Krohn.
Glück können wir es auch nennen, dass Lönnrot selbst
nicht die geringste praktische poetische Begabung hatte.
Die wenigen Gedichte, welche er geschrieben hat, sind ganz
erbärmlich. Dadurch wurde ein gar zu großer persönlicher
Einfluss auf' die Ausbildung des Kalevala-Epos verhindert;
sein Zutun dabei ist beinahe ebenso unbewusst gewesen,
wie das der Volks-Rhapsoden, nur freilich war sein Ge-
schmack durch klassische Bildung mehr geläutert.
In vieler Hinsicht anders scheinen die Diaskeuasten
der griechischen Epen und des Nibelungenliedes gewesen
zu sein. Sie haben das Volkslied sichtlich durch und durch
umgeschmolzen und in eine der Kunstpoesie gemäßere, viel
einheitlichere Form umgegossen. Beim Nibelungenliede,
wenn man es mit den entsprechenden Liedern der Edda
vergleicht, ist zugleich die Einfachheit und Naivetät des
Volksliedes völlig verloren gegangen, und hat einer, ganz
andern Sphären angehörenden, oft affectirten und unsäglich
breiten Stilart Platz gemacht.1 Nur das Großartige der
zu Grunde liegenden Handlung und der Charaktere ist ge-
blieben. Ohne Zweifel hing dieses auch mit der Anwen-
dung eines neuen, die Breite sehr begünstigenden Versmaßes
zusammen.
Schriften sieht. Lönnrot hat nicht als Kind die Lieder der Kalevala
gehört und später nach dem Gedächtnis aufgeschrieben. In seiner
Geburtsgegend sind sie schon längst verklungen; sie waren ihm
ganz unbekannt, bis er als Jüngling eine kleine Sammlung von To-
pelius in die Hand bekam, welche ihn selbst zum Sammeln anregte.
1 Man vergleiche z. B. die Schilderung von Kriemhilds Trauer
mit Gudruns einfacher, aber tief ins Herz dringender Klage in der
Edda.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie.
69
Arabische Beiträge zur Volksetymologie.
Von Dr. lgn. Groldzihei*.
Die Klage, welche 0. Weise (in dieser Zeitschr. Bd.
XII, S. 203) hinsichtlich des Sammeins von volksetymolo-
gischem Material auf verschiedenen Gebieten der Sprach-
wissenschaft vorgebracht hat, gilt noch vorwiegend mit
Bezug auf die morgenländischen Sprachen. Die volle Be-
rechtigung jener Klage für diesen Sprachenkreis ist aber
um so auffallender, wenn wir in Betracht ziehen, dass eben
einige morgenländische Sprachen, wie die arabische und
türkische, infolge des geschichtlichen Lebens der Völker,
welche diese Sprachen redeten und reden, als besonders
geeignet erscheinen müssen, die Aufmerksamkeit der Sammler
und Bearbeiter volksetymologischer Erscheinungen auf sich
zu ziehen. Diese Sprachen haben sich ja durch die großen
Eroberungen jener Völker, deren Muttersprachen sie sind,
auf großen Gebieten festgesetzt, in welchen andere Sprachen
vorhersehen und so kamen die erobernden Völker in die
Lage, fremdes Sprachmaterial (wir wollen vorläufig nur an
geographische und sonstige Eigennamen denken) für ihre
eigenen Sprachen anzueignen. So kommen denn auch auf
diesen Gebieten sehr häufig jene Spracherscheinungen zu-
tage, welche wir im Allgemeinen auf volksetymologische
Vorgänge zurückzuführen pflegen. Die volksetymologische
Aneignung fremden Sprachgutes in älteren Zeiten gewinnt
für denjenigen, der ihren Spuren in der Literatur nachgeht
die rechte Beleuchtung, wenn man beobachtet, wie leicht
Araber und Türken, die mit europäischen Sprachausdrücken
in Berührung kommen, die Verarbeitung derselben im Sinne
ihrer eigenen Muttersprachen vollziehen. Dafür bot mil-
der Verkehr mit Orientalen, die auf ihren Reisen durch
meinen Wohnort zogen, manches Beispiel. Ein Türke legte
sich das ungarische Wort für Kreuzer: Krajczár als kara,
hisâr — freilich bedeutet dies: schwarze Burg — zurecht; ein
70
Goldziher.
anderer, der von der Agence der Donaudampfschiffahrts-
gesellschaft sprach, nannte mir dieses Amt ständig ginsijje
u. s. w. So hört man ambassadeur in Bascliador verändern ;
die Beförderung des Gesandten zum Pascha wird durch
die Volksetymologie besorgt.1 Aber dies sind Tatsachen
individueller Findigkeit im Kampf gegen unverstandene
Worte.
Nicht mit dem Anspruch, eine systematisch geordnete
Darstellung zu bieten, sondern mit der Absicht, das fach-
mäßige Sammeln auf dem weiten Gebiete dieser Sprach-
kreise anzuregen, sollen in den hier folgenden Blättern
einige zumeist aus der Literatur geschöpfte Beobachtungen
über Volksetymologie in der arabischen Sprache in völlig:
aphoristischer Weise an einander gereiht werden.
I.
Sehr häufig sind Beispiele dafür, dass die Araber fremdes
Sprachgut mit den Bildungsformen ihrer eigenen Sprache
appercipiren. Die Türken haben den Namen, womit sie
den Piaster benennen, gurush (s. v. a. Groschen ung. gara»
u. s. w.) aus fremden Sprachen entlehnt. Die ägyptischen
Araber haben diesen Münznamen mit der Türkenherschaft
bei sich einbürgern müssen ; aber für sie wurde gurush ein
sogen, innerer Plural (pluralis fractus) und einen Piaster
nennen sie kirsh, oder mit der gewöhnlichen Verplattung
des k: 'irsh. Hier wurde also ein Fremdwort mit einer
grammatischen Kategorie der Muttersprache appercipirt.
Als arabische Diminutivform wurde Poseidion, der Name
einer Stadt in der Nähe der Mündung des Orontes ange-
eignet, und daraus ohne an eine bestimmte Bedeutung des.
neuen Wortes zu denken Iia's Busejt gebildet.2
1 Ein Beispiel dafür ans Marokko s, in De Sacy, C h re s to-
rn a t li i e arabe I. p. 419, 2.
2 Ritters Erdkunde XV. I. p. 99.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie.
71
Fremdwörter, die mit der Silbe AI oder El beginnen,
"boten sich ungesucht dar, um in jener Silbe den arabischen
Artikel fühlen zu lassen. Bekanntlich haben die Araber den
Namen Alexanders d. Gr. in ihrer Sprache als Iskender
eingebürgert. AI wurde als Artikel verstanden und auf
dies arabische Iskender gehen dann alle jene Formen des
Alexander-Namens zurück, dessen Stammvater im Wege
unmittelbarer oder mittelbarer Beeinflussung jene arabische
Gestalt des Eigennamens ist (südslav. Skander, ung. Sándor
u. s. w.)1 Ebenso ist in Eleazar das anlautende El als
arabischer Artikel gefühlt worden und als eigentlicher
Name bloß cAzar geblieben, mit Präposition sagt man: lil-
Àxar2. Dasselbe war auch mit dem Namen des Elîshac
der Fall; der Koran hat ihn als Al-jasdu übernommen
(6:86, 38:48), das wortbeginnende AI ist der Artikel.3
Hingegen ist bei Êlijjâhu (Elias) dieser Vorgang nicht in An-
wendung gekommen. Die arabische Form dieses Propheten-
namens geht auf das gräcisirte Elias zurück: lijas (Koran
(6:85. 37:123). Dafür scheint aber derNameElias bei anderer
Gelegenheit Gegenstand volksetymologischer Apperception
gewesen zu sein. In der Stammtafel der nördlichen Araber
finden wir als Sohn des Modar einen Al-jâs. Es braucht
für Eingeweihte nicht erst bewiesen zu werden, dass die
Namen, denen wir in den genealogischen Listen der Araber
als den der Stammväter der Nation begegnen, namentlich
in den höheren Reihen, keinen Anspruch auf Authentie
machen können. Viele von ihnen sind allerdings der alten
arabischenNationaliiberlieferung entnommen ; ihr e Zusammen-
fügung aber in jener genealogischen Systematik, in welcher
sie uns in den Stammbäumen entgegentreten, ist das Werk
der Genealogen der nachmuhammedanischen Zeit. Andere
1 Magyar Nyelvör XIII. p. 153 vgl. ZDMG. XLI p. 879.
, 2 Jâfcût I. p. 862, 12.
3 Eine Variante dieses Eigennamens ist Al-lrjsau, (AI Bqjädui
31. p. 189, 18.)
72
Goldziher.
Namen, welche in der alten Tradition nicht gelebt haben,
sind Producte jener Werkstätten, in welchen die Stamm-,
tafeln gezimmert wurden, erfunden, um die Lücken des
Schematismus auszufüllen, den die Genealogen schufen. Ein
solcher Name ist auch Al-jâs; er scheint dem biblischen
Elias nachgeahmt und in derselben Weise angeeignet zu
sein, wie dies mit Al-jasd geschehen war, El wurde in
der Bildung des Namens als arabischer Artikel verarbeitet.
Die Volkssage that dann das Uebrige, indem sie auch den
zweiten Bestandteil des Namens (jâs) mit arabischer Be-
deutung erfasste. Der Mann, der diesen Namen trug, soll
ein Phthysiker (jas bedeutet: Hoffnungslosigkeit, Verzweif-
lung) gewesen sein, er litt an dem dà' al-ja's — Verzweif-
lungskrankheit, Phthysis.1
Aelmliche Erscheinungen bietet auch die geographische
Nomenclatur. Aus Aáqiaaa (vulg. Aáqca) wird Äl-anshá)
aus Laribus ist Al-urbus entstanden,3) das anlautende l ist in
beiden Fällen zum arab. Artikel geworden, wie aber auch
umgekehrt der arabische Artikel auf seinem Wege in eu-
ropäische Sprachen der Volksetymologie zum Opfer fiel.4
IL
Im Arabischen wird das WTort abu (Vater) in der Be-
nennung von Personen nicht nur in der sogen. Kunja ge-
braucht, wo hinter aim der Name des Kindes folgt. Auch
um zu bezeichnen, dass jemandem ein Attribut eigen ist
oder mindestens zugeeignet wird, Avird die Bezeichnung
dieses Attributs in eine Wortkette mit abu gesetzt. „Vater
der Vorzüglichkeit" abu-l-faäl d. h. der Vorzügliche. Dieser
1 Jâtût I. p. 146, 2.
2 Th. Hyde, Syntagma dissertationum p. 65.
3 Wüstenfeld, Geschichte der Fatimiden p. 19 Anm. 3.
4 Cap Lindlès ist ursprünglich Ra's al-andalus (Trumelet, Les
Saints du Tell p. 229). Ein bekanntes Beispiel ist Laute aus
arab. al-Ma.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie.
73
Sprachgebrauch wird mit dem Fortschreiten der Entwick-
lung' der arabischen Sprache immer häufiger ; am häufigsten
im sogen. Vulgärarabischen von heute. Man sagt da abû
anf Nasenvater von jemandem, der eine lange Nase hat;
âbû bumcta „Vater des Hutes" nennt die an Turban und
Tarbusch gewöhnte Gesellschaft den Europäer, der im
Bazar mit europäischer Kopfbedeckung erscheint u. s. w.
Eine Cigarette von grossem dickem Format nennt der
Tabakhändler in Kairo abû sigâra: Cigarrenvater d. h. sie
kann sich als richtige Cigarre sehen lassen. Der Verkäufer
ruft den Preis seiner Waare so aus: abû chamsin bi-arbaîn:
den Vater von fünfzig für vierzig d. h. was fünfzig Piaster
wert ist, gebe ich für vierzig. Viele Beispiele kann man
in jedem Lehrbuche der heutigen arabischen Sprache finden.
Auch in älteren Sprachstufen des Arabischen findet man
Beispiele für diesen Sprachgebrauch,1 dessen Anwendung
aber erst in den späteren Sprachstufen immer reichlicher
wird. Das Volk schaltet frei, unbeengt durch die festen
Traditionen des Lexicons in der Schöpfung solcher mit aim
gebildeter Ausdrücke. Man wendet'sie mit merkwürdiger
Erfindungsgabe auf Personen2 und Sachen an und bereichert
durch dieselben die naturhistorische Terminologie in ganz
schrankenloser Weise. Man sehe nur die neun Spalten an,
mit welchen Dozy den auch schon bishin reichlichen Be-
fund des arab. Lexicons bezüglich der Zusammensetzungen
mit abu ergänzen konnte; und damit ist der Schatz der
Volkssprache bei weitem nicht erschöpft. Den balaeniceps
rex nennen die Araber wegen seines grossen Schnabels
1 vgl. Zeitschr. d. deutschen mg!. Ges. VIII. p. 58 ff.
2 Man nennt einen Heiligen, der während seines Lebens und
nach seinem Tode viele Wunder gewirkt hat, abû-1-makârim : Vater
der Gnadengaben (mein Culte desSaints chez les Musulmans
p. 17); einMarabut, dessen Grab in der Nähe von Algier liegt, heißt
beim Volk Ziegenvater (abu maza), weil bei seinem Grabe einmal
ein Ziegendieb entlarvt wurde (Voyage d'Al-Ajâshî ed. Berbrugger
p. 96.).
;74
Goldzili er.
abû markûb: Schuhvater (1. h. sein Schnabel ist wie ein
Schuh1, den Feldmohn (als Symbol der Ungerechtigkeit)
abû Fir mm d. h. Pharaovater2 u. s. w. Diese Eigentüm-
lichkeit der arabischen Sprache, welche jüngst, Jos. Halévy
auch auf hebräischem und sonstigen semitischen Gebieten
nachzuweisen suchte,3 hat uns hier nur deswegen ausführ-
licher beschäftigt, weil sie dem Volke auch in solchen
Fällen vorschwebt, wo sie tatsächlich nicht zur Erschei-
nung kömmt, also nur volksetymologisch gebildet wird.
Einen Vogel Namens bulsûs (plur. balansâ) nennt das Volk:
cibii lasts Diebesvater;4 der amyris opobolsamus, aus welchem
man mit Vorliebe die Zahnstocher anfertigt-, heißt basharn;
das wurzelhaft anlautende b in diesem Worte hat die
Volkssprache mit abû appercipirt und daraus abu-l-shamm
Vater des Geruchs d. h. das Wohlriechende gemacht.5
Noch häufiger ist das volksetymologische Eintreten
eines solchen abû gelegentlich der arabischen Umlautung
von Fremdwörtern, insbesondere Eigennamen.6 So wird
aus dem Ortsnamen Abotis in Aegypten (wo die Araber
der römischen Macht eine Niederlage beibrachten) im
Munde der Araber Abu-tidsch; aus dem koptischen Namen
Ponmonros haben die Araber Äbu-l-Numros gemacht, woraus
bei europäischen Reisenden Abu Numerus geworden ist;7
1 Felkin, Uganda II, p. 63.
2 Gabr. Cli a ria e s in Revue des deux mondes 1886, juin
p. 867.
3 Revue des études juives X. p. 4.
4 Al-Damîrî I. p. 196, auch andere mit abû zusammengesetzte
Namen mögen der Volksetymologie ihren Ursprung verdanken.
5 Forskäl, Flora Aegpt, arab. CX und 80.
fi Zwar nicht zur eigentlichen "Volksetymologie gehörig, aber
in diesem Zusammenhange dennoch erwähnenswert ist der Umstand,
dass arabische Abschreiber in der ersten Silbe von Boux.stpaXoc gleich-
sam arab. Abu zu finden geneigt sind; s. den Apparat zu Al-Tabarî
L p. 699, a, auch das persische asp Pferd hat man hineingelesen,
so dass aus dem Namen dieses Pferdes abû kafr asp werden konnte.
7 Journal asiatique 1887 I. p. 128.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie. 75
(1er Name der ina lab arischen Stadt Barcelore wird im
arabischen Munde zu abu samr.1 Aus einer griechischen
Benennung- des Aetites, welchem der Volksglaube die Eigen-
schaft zuschreibt, das Gebären zu erleichtern, nämlich aus
dem Worte svxomov hat, wie M. Grünbaum vermutet, die
arabische Volksetymologie ihr abû tâkijûn gebildet.2 Noch
häufiger kommt es vor, dass die Araber dies alni fanden in
griechischen Wörtern, welche mit ano, vno, oder inno be-
ginnen (ähnlich wie sie aus dem ersten Teil des Namens Ein-
pedokles — Emp — gewöhnlich ihn machen). Das bekannteste
Beispiel dafür ist Bûkalamûn — bu ist eine gewöhnliche Ab-
kürzung von abu- und Abû-kaiamûn (Chamaeleon), worin
zuerst Fleischer eine volksetymologische Umlautung des
mittelgriechischen vnoxcdáfiov (ein Zeug, das verschiedene
Farben spielt) erkannt hat3, ebeuso wie vnoâictTiovoç zu
Abu dijâkîn wurde.4 Gleicherweise wird der Name des
Meisters der griechischen Heilkunde Hippokrates zu
Bukrat und Abukrat. Die arabische Hschr. No. XXII der
Bibliothek des ungarischen Nationalmuseums enthält ein
iu volkstümlicher Sprache abgefasstes Martyrologium des heil.
Victor, Sohnes des Romanus. In dieser Märtyrerlegende
wird oft der Heidengötter gedacht, denen der zum Christen-
tume bekehrte römische Heilige den Rücken kehrte; unter
anderen auch Abû-sejdûn, dieser ist kein anderer als Poseidon.
Dass in diesem Falle abû als arabisches Wort vorschwebt,
ersieht man daraus, dass es im Accusativ in der Form aba
Sejdûn angewendet wird.5
1 Ibn Ba^û^a, Voyages IV. p. 77.
2 ZDMG. XXXI. p. 329.
3 vgl. Frankel, Aramäische Fremdwörter im Arabi-
schen p. 51.
* ZDMG. VI. p. 59. Anm.
5 Die obenerwähnte Hschr. Bl. 51a „und sie schmähten den
Romanus und sprachen: dies Licht betrifft niemand als Artemis und
Poseidon (wa aba Sejdûn)".
76
Goldziher.
in.
In allen Sprachgebieten sincl es die fremden Eigen-
namen, welche der Volksetymologie am leichtesten anheim-
fallen. Ein fremdes Volk siedelt sich an Orten an, dem
frühere Bewohner einen Namen gegeben; dieser alte Name
wird durch die neuen Ansiedler in volksetymologischer
Weise angeeignet. Im Mittelalter heißt Ephesos Alto luogo
oder alto loco, was man mit Cap Hypsele identificiren wollte;
diese Beziehung ist jedoch unrichtig, denn jener mittel-
alterliche Name der alten Stadt Diana's ist, wie Hey d nach-
gewiesen hat, aus Zlyioç dsolóyog (nach dem dort befind-
lichen Grabe des Evangelisten Johannes) verderbt. „Aber
im Mittelalter wussten dies die wenigsten; man hielt sich
an die nächstliegende Bedeutung Hochort, welche insofern
treffend erschien, als das mittelalterliche Ephesos aller-
dings nicht wie das antike in der Ebene des Kaystros, son-
dern auf dem Berge lag."1 Die Türken machten aus dem
Theologen das Wort Soltek (Aja soluk), welches „Ath-
mung" bedeutet. Aus dem Sangarius in der Nähe von
Nicaea machten die Türken sakarijja, nicht ohne dabei an
einen der Namen des Höllenfeuers sakar zu denken.2 Es
lässt sich leicht verstehen, dass die südosteuropäische und
kleinasiatische Nomenclatur im Munde der erobernden
Türken in volksetymologischer Weise verändert wurde..
Aus Euripos wird Egri-boz (egri = krumm) aus Rasgrad wurde
liezâr (pers. tausend), Naupak to s wurde zu Jenibâgcse (Neu-
garten) oder gar Ajine bachti. Bekanntlich hat die türkische
Lautung des Namens von Konstantinopel; Istanbul3 sich an
die volksetymologische Aneignung des Namens (isten bul-.
suchend finde) angelehnt, vielleicht ist dies aber nur lite-
1 Levantehandel im Mittelalter I. p. 591.
2 Ibn Bat'û^a II. p. 325.
3 The geographical Works of Sádik Isfahani(London
1832) p. 7 Anm.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie.
77
rarische Spitzfindigkeit;1 wirkliche Volksetymologie sehen
wir aber darin, dass das religiöse Gefühl, bekanntlich ein
mächtiger Factor der Volksetymologie, daraus in weiterer
Folge Islâmbol gemacht hat. Dafür mussten sich aber auch
türkische Namen ähnliche Entfremdungen zu Gunsten euro-
päischer Völker gefallen lassen. Einem solchen Vorgang
verdankt der heilige Jacobus seine Versetzung auf muham-
medanisches Gebiet. Aus einem S and s cha k in der Nähe
von Tunis wurde in neuester Zeit im Munde der Franzosen
ein Fort St. Jacques, was aus dem Volksmunde auch in die
Kartographie seinen Weg gefunden hat.'2
Auch die arabische Nomenclatur bietet uns eine Fülle
von Beispielen für die unbewusst wirkende Tendenz, sich
Fremdartiges sprachlich zu assimiliren und das unverständ-
liche Fremde in einer Form anzueignen, die ihm Bürger-
recht innerhalb des urwüchsig Einheimischen verleiht. Wir
haben auch schon oben einige Beispiele für die volksety-
mologische Wandlung von fremden Eigennamen im Munde
der Araber beobachten können; hier sollen weitere Bei-
spiele folgen. So wurde das chinesische Thsa-thoung zu
arab. xejtun, was Olivenbaum bedeutet3. Der Orontes heißt
bei den Arabern AI- äst d. h. der Widerspänstige, wie man
sagt, wegen seines unregelmäßigen Laufes.4 Dies ist aber
nachträglich hineingetragene gelehrte Begründung des auf-
fallenden Namens. Es ist die Ansicht ausgesprochen wor-
den, über deren Triftigkeit wir uns kein Urteil erlauben,
dass die arabische Benennung eine volksetymologische
Aneignung des Namens 'sllioç darzubieten scheint, den die
Griechen dem Orontes gaben. In Aegypten haben die
Araber zuweilen die alten koptischen Namen nach ihrer
1 Wir begegnen der Form Stambul bereits im IV. Ihd. der
Higra bei arabischen Autoren (De Sacy, Chrestomathie arab-
ili. p. 356).
2 Hesse-Wartegg, Tunis p. 149.
3 Tbn Batuta I. p. 28 vgl. p. 80.
4 Jâ^ût III. p. 588, 10.
78
Goldziher.
appellativen Bedeutung ins Arabische übersetzt. Qu at re-
mère hat in seinen Mémoires über die Geographie des
alten Aegypten den heutigen Namen von Kairo (al-kähira)
als Uebersetzung des koptischen Keshrdmi erkannt; ein
anderes Beispiel ist der koptische Ortsname Phanidj oit (le
village aux oliviers), den die Araber in wörtlicher Ueber-
setzung al-xejtun nennen.1 Es werden aber auch Beispiele
für bloß volksetymologische Wandlung der koptischen Be-
nennungen erwähnt. Eine Befestigung an der Stelle des
heutigen FospM hieß kasr al-sham : Castell der Fackel. Ha-
maker hat darin eine volksetymologische Aneignung kop-
tischer Namen (Khme oder Khemi) finden wollen ;2 in der Tat
entspricht dem koptischen % sehr oft arabisches sh.'á Es
steht uns darüber kein Urteil zu, ob die Combination R.
Burton's richtig sei, dass das Athar al-nabî (Fußspur des
Propheten) in der Nähe Kairos ursprünglich aus dem alt-
beidnischen Namen Athor verdreht sei.4 Wenn diese Com-
bination stichhaltig ist, so böte sie ein schönes Beispiel
für die auch in anderen Kreisen so häufige volkstümliche
Umbildung und Anpassung heidnischer Namen. Die reli-
giöse Voreingenommenheit des Volkes bietet ja, wie 0.
Weise in dem eingangs erwähnten Aufsatze hervorgehoben
hat, eine ergiebige Quelle der Volksetymologie. Ein steiler
Bergkegel nördlich vom Van-see, den zuerst Brant, eng-
lischer Consul von Erzerum, erklommen hat, heißt in der
Sprache der Kurden Sipan-dtigh, das muhammedanische Ge-
fühl hat daraus Subhân-dagh gemacht und an diesen Namen
hat sich dann leicht die Legende ansetzen können, dass als
die Barke Noah's an diesen Berg anstieß, der Prophet vor
Schreck den Ruf Subhún allait! ausgestossen habe."'
1 Journal asiatique 1887 I. p. 128.
2 Pseudo-Wakidaei Liber de expugn. Memphidis
(Lugd. Batav. 1825) p. 92.
" 3 Nöldeke in ZDMG XXXVIII. p. 154.
4 The Land of M idi an (London 1879) II. p. 83.
5 Layard, Niniveli und Babylon (deutsche Uebers.) p. 13.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie.
79
IV.
Zahlreich sind die Beispiele dafür, dass die Volksety-
mologie, gleichsam als ob sie die Wortgebilde, die sie schafft,
motiviren wollte, von Legenden und Fabeln begleitet wird,
welche die Bedeutung und den historischen Grund der durch
Volksetymologie entstandenen Wörter nahezuführen berufen
sind. Max Müller hat dieser Gruppe von Volkslegenden
den Namen Wort s pi elm y thus gegeben.1
Die in den letzten dreißig Jahren emsig fortgesetzten
geographischen und topographischen Forschungen haben in
zahlreichen Fällen die bereits durch Eduard Robinson2
hervorgehobene Tatsache erwiesen, dass das heutige Fellah-
volk im heil. Lande und den angrenzenden Gebieten, sowie
es auch andere Ueberlieferungen der Vorzeit aufbewahrt
hat, durch alle historischen und religiösen Umwälzungen hin-
durch, welche die Ortsnamen mannigfachen Veränderungen
unterzogen, vieles aus der alten biblischen Nomenclatur Palä-
stinas für uns autbewahrt hat; ein Umstand, welcher be-
kanntlich sehr viel zur Ermöglichung der Identificirung der
alten biblischen Ortsnamen beigetragen hat. Es lässt sich
erwarten, dass die volksetymologische Aneignung der alten
Namen ein Mittel wurde, dieselben vor völligem Untergange
zu erretten. Der aus der Geschichte David's bekannte Orts-
name c Adullam lebt noch heutigen Tages — nach Ch. Cler-
mont Ganneau's Nachweis — unter der arabischen Benen-
nung cEd el-mîjje fort.3 Dieser Name bedeutet: „das Fest
der Hundert" und dies Gebilde der Volksetymologie wird
durch eine Volkssage bekräftigt. Zwischen den einander
feindlich gesinnten Bewohnern dieses Ortes soll einmal am
Tage des großen Festes (cId) hier eine gewaltige Balgerei
stattgefunden haben, welche hunderten Menschen das
Leben kostete. Dies Beispiel ist um so interessanter, als
1 Essays III1, p. 273.
2 Palaestina und die südlich angrenzenden Länder
II. p. 510.
Revue archéologique (1875) XXX. p. 231.
80
Goldziher.
es eine Parallele findet an der völlig gleichen Art, wie
sich das arabische Volk den Namen der Stadt Salanija
in Syrien zurecht legte. Der Historiker Al- Balâdhorî
(st. 279 d. H.) berichtet,1 dass ihm ein alter Mann aus
Emessa hierüber folgende Legende erzählt habe: In der
Nähe dieses Ortes befand sich vor Zeiten eine Stadt,
Namens „al - mu'tafika" d. h. die Umgekehrte — man
hat behanntlich die Sodomlegenden vielfach nach Syrien
verlegt —2 welche Gott vollends zerstörte; nur hundert
Menschen durften sich retten, diese erbauten hundert Häuser
und nannten ihre Ansiedelung Silm-mVa d. h. „Rettung der
Hundert", daraus wurde Salamia. — Der alte Name des
späteren E1 e u t h e r o p o 1 i s in Palästina : Bêth Gubhrîn wurde
durch die Volksetymologie mit dem Erzengel Gabriel in
Verbindung gebracht (aus Gubhrin wurde Gibrîn) und die
mit dieser Wandlung zusammenhängende Volkslegende
ging auch in christliche Kreise über; die Kreuzfahrer er-
richteten daselbst eine Kirche zu Ehren des Erzengels,
von welcher noch heute wenige Reste vorhanden sind.
Zuweilen sind die zur Stütze der Volksetymologie dienen-
den Erzählungen nicht im Volksbewusstsein entstanden, son-
dern sie tragen das Gepräge gelehrter Fabrikation untrüglich
auf der Stirne. Es ist schwer, in dieser Hinsicht zwischen
Volkssage und auf literarischem Wege entstandenen Le-
genden zu unterscheiden; es fehlt uns für eine solche Be-
urteilung ein sicher leitendes Kriterium und wir sind in
der Entscheidung der Frage zumeist auf den subjectiven
Eindruck angewiesen, den die Erzählungen auf uns üben.
Die geographischen Werke der arabischen Literatur bieten
uns zu hunderten solche künstlich fabricirte, in den Studier-
stuben müßiger Grübler entstandene etymologische Fabeln,
die wir aber vollends aus dem Rahmen dieses Versuchs aus-
1 ed. de Go eje p. 134.
2 vgl. mein Mythos bei den Hebräern p. 312. Ausland
1884 No. 17 c. 330.
Arabische Beiträge zur Volksetymologie.
81
schließen möchten. In näherer Beziehung- zu dem Gegen-
stände derselben stehen etymologise]]e Legenden der volks-
tümlichen — also nicht gelehrten — Literatur. Der
ägyptische Ortsname Sebennytis wurde von den Arabern in
Semmmud verändert, ein Name, dem in der arabischen
Sprache keine appellative Bedeutung eigen ist. Eine Volks-
erzählung aber findet darin sema Nut, den Himmel des
(Zauberers) Nut. Hier befand sich das magische Glasdach
des Zauberers, welches durch Talismane und magische
Künste im Gleichgewicht erhalten wurde.1 Den heutigen
Namen des uralten Plthôm (.Al-Fajjûm) hat man desgleichen
durch einen „Wortspielmythus" dem Verständnis näher ge-
bracht. An der Stelle dieser Ortschaft, so erzählt man,
hat der biblische Joseph auf Befehl seines Pharao im Laufe
von siebzig Tagen einen Kanal zustande gebracht, von dem
man sagte, dass ein solches Werk für seine Herstellung
mindestens tausend Tage (alf jôm) beanspruchen müsse.2
Viele diesei- etymologischen Sagen verraten durch ihren
Inhalt und die Richtung, in welcher sie sich bewegen, die
theologische Werkstätte, der sie ihr Dasein verdanken.
Dies gilt zumeist von einer besondern Gruppe dieser Sagen.
So wie es den zum Islam bekehrten heidnischen Völkern
darum zu tun war, ihren Stammbaum dem der Araber
anzunähern, so mochte es ihnen auch wichtig scheinen, in
ihren Volks- und Landesbenennungen religiöse Anklänge
im Sinne des Islam zu finden. Bornû wird nun als Barr
Näh, Land des Noah dargessellt,3 in Kamm soll hinter dem
einheimischen Praefixum ka das arab. nur (Licht) enthalten
sein „zur Bezeichnung derer, die das Licht des Islam in
die Nacht des Heidentums trugen".4 Auch der Volksname
Bagirmi wurde einer arabischen, wenn auch nicht eben reli-
1 Roman des Sejf b. dhî Jazan XI. p. 56.
2 Bulletin de l'Institut égyptien Ilème série No. 7(1886
p. 104 f.
3 Nacbtigal, Sahara und Sudan il. p. 401.
4 Ibid. p. 417.
Zeitschrift für Völkerpuych. und Sprachw. Bd. XVIII. l 6
82
Sowa.
giösen Etymologie teilhaftig, welche sich an die in Borau
geläufige Aussprache des Namens als Bagarini anknüpft.
Darnach bedeute dieser Name s. v. a. Bakar mía d. h.
hundert Rinder, „weil die ersten Machthaber des Staates
den verschiedenen Einwohnergruppen eine regelmäßige
Abgabe von hundert Stück Rindvieh auferlegten".1 Aehn-
liche arabische Etymologien afrikanischer Namen sind über-
aus häufig. G adames wird in Begleitung einer entsprechenden
Sage aus gada 'ams (er hat gestern dinirt) abgeleitet2 und
in Nifzawa hat man tausend Mönchszellen (xâmja) ge-
funden 3 u. v. a. m. Doch solche Erzählungen können nicht
mehr für die Volksetymologie beansprucht werden.
Die Mundart der ostpreussischen Zigeuner.
Von R. von Sowa.
Quelle für die Kenntnis dieser Mundart sind die von
Kraus in Königsberg und Zippel in Niebudzen um 1784
gesammelten Materialien, über deren Zustandekommen, Um-
fang und Zustand Pott (Die Zigeuner in Europa und Asien
I. 17 ff.) berichtet. Gelegentlich einer kürzlich unter-
nommenen Reise durch Ostpreußen wurde es mir durch
das wolwollende Entgegenkommen der königl. Behörden
ermöglicht mit im Insterburger Kreise ansässigen Zigeunern
in Verkehr zu treten und so die in Rede stehende Mund-
art durch eigenes Hören kennen zu lernen. Meine Auf-
zeichnungen über dieselbe habe ich in Kl. Rekeitschen
(n. w. von Insterburg) gemacht; leider gelang es mir nicht,
Original-Erzählungen zu erhalten, welche eine Revision
1 Ibid. p. 667.
2 Daumas, Le Sahara algérien
3 Al 'Ajâshî übers, von Berbrugger p. 72.
Die Mundart der ostpreußischen Zigeuner.
83
und Ergänzung der Grammatik und Syntax ermöglicht
haben würden. So muss ich mieli darauf beschränken,
das Material, welches seiner Zeit Pott vorlag, in phone-
tischer Hinsicht zu ergänzen, und nur hier und da etwas
zur Formenlehre zu bemerken.
Ich schicke meinen Ausführungen auf amtliche Quellen
zurückgehende Daten liber Aufenthalt und Anzahl der in
Ostpreußen ansässigen Zigeuner voraus:
Reg.-Bezirk.
I. Königsberg.
IL Gumbinnen.
Wohnort. Anzahl.
Alexen 6
Friedrichsdorf 7
Luschninken 4
Minchenwalde 11
Schenkendorf 6
Widrinnen 7
ßialygrund 13
Conraden 9
Rudzisken 16
Alt-Suchoross 19
Sa. 98
Schuiken 16
Erdmannen 6
Kl. Rekeitschen 22
Neu-Warkau 3
Matheninken 9
Patimbern 2 L
Pr. Franzdorf 6
Obelischken 14
Schernupchen 5
Skungirren 13
Niederung 57
Antmirehlen 16
Bärenfang 8
Belsen 7
Latus 203
6*
84
Sowa.
Reg.-Bezirk. Wohnort. Anzahl.
Transport 203
II. Gumbinnen. Bühlen 2
Erubischken 7
Gr. Rudszen 11
Schmilgen 10
Bambe 6
Kl. Kümmeln 4
Laugalleu 5
Neudorf 6
Reisterbruch 13
Karklienen 27
Podzsohnen 12
Schilleningken 2
Alt-Weynothen 2
_Sa. 310
Gesammtsumme 408.
Ich stelle nun die Lautbezeichnung Zippeis mit dem
von mir gefundenen Lautbestande zusammen, wobei ich
bloß die Verschiedenheiten hervorhebe; da zwischen Zippeis
und meinen Aufzeichnungen ein Zeitraum von circa hun-
dert Jahren liegt, dürften diese Verschiedenheiten nicht
bloß in abweichender Auffassung seitens der Aufzeiclmer
ihren Grund haben, sondern zum Teil wirkliche Aenderungen
in der Aussprache erweisen. Zippel bezeichnet (wie sich
aus seinen Texten bei Pott ergibt) die Vocale und Diph-
thonge in folgender Weise:1
a) kurze Vocale: a, e, i, o, u;
b) lange Vocale: ä (a, aa, ää), ë (ee, ëë, eh), y, oh (ôô), ù\
c) Diphthonge: ai, cm, eí, oe, ui.
Die Kürze des Vocals wird oft durch Verdopplung
1 Vgl. noch die Anmerkung Heisters bezüglich des Vocalismus
der ostpreußischen Zigeuner-Mundart bei Pott I. 83. „Die Vocale
haben ganz eigentümliche Betonung und bilden schwer nachzu-
sprechende Diphthonge."
Die Mundart der ostpreußischen Zigeuner.
85
des folgenden Consonante!! bezeichnet; z. B. rakkerav, rik-
kervav, dschinnav, ketteny etc.
Mit Bezug auf c bemerkt Zippel, dass es oft in der
Aussprache von i kaum zu unterscheiden sei, namentlich
in der Declination des Plurals als tschave für tschavi; cleien
für deiin (a. a. 0.); in den angeführten Beispielen kann je-
doch nur kurzes e gemeint sei.
Ob y wirklich (nach lithauischer Orthographie) das
lange i bezeichnet, oder aber eine Varietät des i (in welchem
Falle die Länge des i überhaupt unbezeichnet bliebe), ist
zweifelhaft; Zippel schreibt wolpyri, dschyben (neben dschiben),
dschydinge — wo wir langes i erwarten müssen, — aber
apry, avry, ketteny, in welchen Wörtern doch wol keine Länge
desi anzunehmen ist. Ei in grei, dei, rei (rhei), theissa etc.,
ebenso wie in deutschen Lehnwörtern hat, wie ich glaube,
überall die Geltung von ei (ej), wie das deutsche ei in Ost-
preußen. Welchen Laut Zippeis oe ausdrücken soll, —
einen Diphthong oder eine Varietät, von e? — bleibt mir
unerfindlich; es kommt bei Zippel nur in der Endung der
2. Person Sing, des Verbums im Präsens Indicativ und
Conjunctiv vor.
Meine Beobachtungen ergeben für die Mundart der
ostpreußischen Zigeuner folgende Vocale:1
a) kurze Vocale: a, e, e, i, i, o, u, e.
b) lange Vocale: ä, ë, î, ö, ü.
c) Diphthonge: ei, (oi), ui, (au), uo.
a) a entspricht Zippeis ä in dad (Vater)—Zippel's däd
(neben dad).
Dessen e in bars (Jahr.), afta (sieben) — Zippeis !>ersch
(vgl. barsch bei Liebich-Graifunder, Pott II. 491) èfta; ba-
Ivle (Abends)—vgl. Zippeis belvel (Abend); so hörte ich auch
ta (und) neben te, ma (ich) neben me, Jiardán (ihr habt ge-
macht) neben kérdom (ich habe gemacht), falda (Feld — aus
dem Deutschen) neben felda; so schreibt Zippel rakardjas
1 Bezeichnung nach Lepsius' Standard Alphabet.
86
Sowa.
(Pott II. 490) von rakkerav — derselbe Wechsel, wie er auch
in der ostpreußisch en Aussprache des Deutschen in ein-
zelnen Wörtern wahrzunehmen ist.
e entspricht Zippeis ë, ee z. B. in debe/ (Gott) — Zippeis
déwel, keraf (ich thue) — Zippeis keerav; dessen i; so im obi.
Thema der Substantive z. B. cäven (Kinder) — vgl. Zippeis
dewlin neben tschaawen; ebenso bietet Zippel dewlis etc. (von
mir wurde kein Obi. sing, notiert)-, im Comparativ-Suffix
des Adjectivs: phüreder, kleineder— vgl. Zippeis xigidir, bachte-
lidir; dessen oe in der Personal-Endung der 2. Person Sing
Präsens des Verbums z. B, dêenes, diene' (du weißt) — Zippeis
dschinnoes, dschinnoeha.
e entspricht Zippeis i in goslren (Ring) — Zippeis gustërin,
gustirrin; vorden (Wagen) —Zippeis tv or din.
i vertritt das deutsche ü z. B. in friteisera (morgens),
worin das deutsche „früh" steckt.
o entspricht Zippeis u in gostren (Ring) — Zippeis gustërin,
tome (ihr) — Zippeis tume. Mitunter wird durch nachlässige
Aussprache o aus a, — so hörte ich: Me no homes këre, ich
war nicht (na) zu hause. Hoske märdas lo? warum hat er
sie geschlagen?
u entspricht Zippeis oh in kun (Superiativpartikel) —
Zippeis kohno.
e (sehr flüchtiges e) vertritt einen volleren Vocal der
Zippeischen Schreibung; so d2enaf (ich weiß) — Zippeis
dschinnav, romçnes (zigeunerisch adv.) — Zippel? (vgl. römänes
Lieb).
Unbetontes Auslaut-e wird vor anlautendem ver-
schiedenem Vocal (oder Ii) oft zu ?, z. B. Me 'om rom, Ich
bin ein Zigeuner. Unbetontes e kann auch ganz ausfallen,
z. B. keine (zusammen) — Zippeis ketteny. Dies geschieht in
der Personal-Endung der 2., 3. Person Plur. Präsens (Conj.)
des Verbums vor dem Anlaut-Vocal des folgenden Wortes,
z. B. Ho kam o cäve, Was machen (keren) die Kinder?; so
hat auch Zippel danderla (er beißt) für danderela, danderëla.
Die Mundart der ostpreußiso.hen Zigeuner.
87
b) ä entspricht Zippeis a in räkraf (ich spreche) —
Zippeis rafckerav, cävo — Zippeis tschavo (Knabe) neben tschaavo.
Zippeis e in tärno (jung) — Zippeis terno; vände (im
Winter) — vgl. Zippeis wend (Winter).
ü entspricht Zippeis u in phüro (alt) — Zippeis puro,
dessen o in curerò (arm) — Zippeis tschoro.
c) ei entspricht Zippeis ai in cei (Mädchen). — Zippeis
tschai.
uo entspricht Zippeis o in luove (Geld) — Zippeis love.
Zippeis oh in muol (Wein) — Zippeis mohl.
Die oben in Klammern gestellten Diphthonge oi, ui, au
habe ich zufällig nicht gehört, ihr Vorkommen unterliegt
aber keinem Zweifel.
Die Consonante il schreibt Zippel wie fofgt: k, kh?,
g, ch, ng, h, tsch, dsch, j, seh, sh, z, ds, tj, dj, nj, t, th, d, n,
r, l, ss, s, p, ph, h, f7 m, v, w. Bezüglich der Geltung dieser
Lautzeichen sagt Pott I. 84 ff. ng sei der gutturale Nasal
im Sinne des französischen Nasals in langue ; nj habe die
Aussprache des französischen gn, z. B. in champagne; ss be-
zeichne „gewöhnlich" das scharfe s, s das weiche, welches
dei' Aussprache nach dem französischen « gleichkomme.
Zippeis sh finde ich in sharo, shaaro ; vermutlich be-
zeichnet es wie sch den Laut s\ % ist fe; ob tj, dj mouil-
lirte Laute, oder bloße Zusammenstellungen der Dentale
mit j bezeichnen sollen, ist zweifelhaft, doch vermute ich
das letztere, sch ist zweifelhaft (s. unten), th, pli auf wenige
Wörter beschränkt. Für r schreibt Zippel rh anlautend in
rhei (Herr), v und w sind ganz gleichbedeutend (vgl. dëwel
— devici,-uno, tschaawo — tschavo etc.), wo nicht v in deutschen
Lehnwörtern die Geltung des deutschen v hat, z. B. in
ver achter vav, versprechervav; im letztangeführten Worte wie in
sperlingo (Sperling) etc. hat s ohne Zweifel die Geltung von
s wie im Deutschen; sonst bezeichnet Zippel diesen Laut
mit sch, auch wo die deutsche Orthographie s bietet z. B.
schtundinsa (Instr.) vom deutschen „Stunde". Auf gewisse
Wunderlichkeiten wie dhad (Pott II. 489) neben dad u. s. w.
88
Sowa.
ist natürlich weiter kein Gewicht zu legen, auch das j in
pjiav, bjida etc. wird wol nichts zu bedeuten haben.
Mir ergab sich folgender Consonanten-Bestand: k, (kh),
Je, g, oh, ñ, h, c, dz, j, s (is), dz, (bezüglich der mouillirten
s. unten), /, th, d, n, r, l, s, z, p, ph, b, /', m, v.
Ehe ich auf die Differenzen zwischen Zippeis und
meiner Auffassung der einzelnen Laute übergehe, möchte
ich das Vorkommen der Aspiraten und mouillirten Den-
talen in der Mundart erörtern.
Zippel schreibt consequent mit der Apirata, so viel
ich aus Pott entnehmen konnte, nur thauava (ich wasche),
thud (Milch), thuvjëli (Tabakspfeife), phordenno (dampfig),
phiirnb (Eiter), phu, phûh (Erde), schwankt dagegen in der
Schreibung bei kämm, kham (Sonne), pabbui, phabui (Apfel),
und schreibt sonst alle Wörter, welche im ungarischen
und böhmischen Dialect (der griechische ist bezüglich der
Aspiraten inconsequent) und in den lebenden indischen
Sprachen die Aspirata haben, mit der Tennis, z. B. kellava
(ich spiele, tanze), tan (Tuch), tem (Leute?), paggava, pag-
gervava (ich breche), pennawa (ich spreche) — vgl. die Ent-
sprechungen in den anderen Dialecten bei Miklosicli (Bei-
träge zur Kenntnis der Zigeuner-Mundarten II.).
Ich hörte die Aspirata in Wörtern, welche Zippel mit
der Tenuis schreibt, z. B, in phüro (alt) — Zippeis puro.
Die Aspiration fand ich nicht besonders energisch, aber
immerhin deutlich vernehmbar.
Das Schwanken in der Auffassung der Aspiraten tindet
in allen in Deutschland gemachten Aufzeichnungen von
Zigeuner Wörtern statt und erklärt sich aus dem Umstände,
dass der Deutsche sein k, t, p in den meisten Stellungen
mit einer gewissen Aspiration spricht, demnach die zigeuneri-
sche Aspiration nicht leicht als fremden Laut empfindet,
vielmehr mit seinem k, t, p wieder zu geben geneigt ist,
während die zigeunerische Tenuis ihm, woferne er den
leichten Unterschied zwischen ihr und seinem k, t, p wirk-
lich auffasst, leicht als Media erscheint, mit der sie doch
Die Mundart der ostpreußischen Zigeuner.
89
nur die Hauchlosigkeit gemein hat, — hierfür bieten u. a.
Liebiclis Aufzeichnungen zahlreiche Belege.
Ich glaube, dass die Mundart der ostpreußischen
Zigeuner im Gebrauch der Aspiraten im Ganzen nicht
vom böhm.-mähr. Zigeuner-Dialect abweicht.
Das Vorkommen mouillirter Dentale in der Mundart
der ostpreußischen Zigeuner, möchte ich nach meinen Be-
obachtungen verneinen.
Ob die oben mitgeteilte Bemerkung bezüglich des nj
von Zippel selbst herrührt, oder bloß Pott glaubte, dessen
nj mit Puchmayers ñ zusammenstellen zu müssen, weiß ich
nicht; tj findet sich bei Zippel in einigen Pluralen, z. B.
katja Plur. von kailin (Scheere); dj neben j in den Perfecten
z. B. kerdjum, kerdjal, kerdjas etc. Ich habe nj nur in romnja
(Accus. Sing, von romin) gehört, und möchte es nicht für
ñ, sondern nur für n 4- j halten; von Perfecten habe ich
aufgezeichnet kerdom (1. Sing.), kardan (2. Plur.) von keraf\
hattom (1. Sing.), hattav (3. Sing.) vgl. Zippeis haddava,
chalom (1. Sing.) von chaf mär dm1 (3. Sing.) von märaf,
sämmtlich ohne j wie ohne Mouillirung.
Es fäl]t schwer das eben Gesagte mit Zippeis Auf-
zeichnungen zu vereinbaren; vielleicht darf ich aus dieser
Differenz wenigstens die Folgerung ziehen, dass Zippel
seiner Zeit d -j- j im Perfectsuffix gehört habe, nicht aber
d', welch letzteres heutzutage schwerlich als d erscheinen
würde. Ins Consonanten-Schema glaube ich nach dem Ge-
sagten die mouillirten Dentale nicht aufnehmen zu dürfen.
Im Einzelnen entspricht:
k dem k in Zippeis Aufzeichnungen; mitunter ist sein
Laut sehr flüchtig, so in jek (ein) vor folgendem consonan-
tischen Anlaut (vgl. Pott I. 280 f. bezüglich anderer Mimd-
1 An einer Stelle meiner Aufzeichnungen finde ich märdja
(3. Sing.); ich glaube, gewöhnt an das Hören der mähr, und slov.
Zigeunermundart, welche d'as in dieser Person bieten, das Wort
irrig verzeichnet zu haben.
90
Sowa.
arten), ferner in der Gruppe skr, z. B. in lesivo (sein) —
Zippeis leskero, was oft wie lesro lautet.
K entspricht in einigen Wörtern Zippeis k\ k hat die-
selbe palatale und aspirirte Aussprache, welche dem deut-
schen k vor e, i in Ostpreußen gegeben wird. Ich notirte
lie (zu) — Zippel Ice, Tiardan (ihr habt gemacht). — Zippel
kerdjan, neben Ice, leer dorn (ich habe gemacht); in anderen
Wörtern fand sich k vor e, i ebenso wol wie vor anderen
Vocalen.
h ist immer tönend, seine Aussprache schwach, nament-
lich im Verbum substantivum; so hörte ich z. B. 0 cavo cs
(lies) buts godzvero, der Knabe war sehr klug, h entspricht
Zippeis s, ss in ho (was), hoske (warum) — Zippeis ssoh,
ssoske; doch hörte auch ich einmal soske in: Mena drenava,
soske manias lo, Ich weiß nicht warum er sie geschlagen hat.
Für t schreibt Zippel ih in theissa, gewiss irrig.
b entspricht Zippeis w in dehel (Gott) — Zippeis dewel;
es wechselt mit p in der Präposition ab, ap (auf).
f entspricht Zippeis v im Auslaute z. B. jof (er) —
Zippeis jdv: so durchweg in der 1. Person Sing, der Verba
im Conjunctiv, z. B. d2enaf (ich weiß) — Zippel dschinnav etc.
I ist das gewöhnliche deutsche l, r das linguale r der
Ostpreußen.
Ueber die Betonung, welche Zippel von seinen Zigeu-
nern hörte, findet sich bei Pott bloß I, 84 die Andeutung:
„maarä mit dem Tone auf ultima" ; in der Tat ist die Be-
tonung der Endsilbe in dieser Mundart Regel, wobei
freilich ein starkes Schwanken des Accents — wie in
einigen anderen Mundarten — und einige tatsächliche Aus-
nahmen constatili werden müssen. Man hört also debèl,
marò, cuvé, vordèn, amè, tome, dZenàf, rôdèl etc. Deutsche
Lehnwörter dagegen scheinen ihren Ton auf der Stammsilbe
gern zu bewahren, z. B. gasa (Gasse), fèlda, falda (Feld), vênich
(wenig). Auch sonst hat die vorletzte Silbe mitunter den
Ton, so namentlich wenn sie geschlossen ist, oder einen
langen Vocal oder Diphthong enthält; so spricht man:
Die Mundart der ostpreußischen Zigeuner.
91
ròmni, bàlvle, triànda, leètne; nàne, Itère, fòro; aber auch dives,
dadives (heute), kòter, miro; dreisilbige Wörter haben meist
einen starken Nebenton auf der Anlautsilbe, z. B. gòdzveró,
kìèinedér, phûredér.
Nicht betont werden die Casussuffixe des Nomens (aus-
genommen das e des Locativs) z. B. hòske (warum), Dativ
von ho (was). Die vorletzte Silbe betonen die 1. 3. Person
Sing, die 2. 3. Plur. des Präsens, z. B. váva, dSenáva (dSenáva),
déla, véla, pièna. Die Betonung schwankt in den Perfect-
Formen des Verbums; ich notirte: kèrdom, pìjom, hàttòm;
mârdàs, hattàs; Hardàn. Eine genügende Darstellung der
Accent-Lehre dieser Mundart wäre natürlich nur auf Grund
eines weit reicheren Materials, als das mir zu Gebote
stehende ist, möglich.
In grammatischer und syntaktischer Hinsicht
bieten meine Aufzeichnungen kaum etwas Neues.
Im Sinne eines Superlativs findet sich der Comparativ
gebraucht in Les hes stär cäve; o phüreder cavo hes buts
godzvero, o kleineder hes kun bangleder; kun kleineder cavo hattas
a!) i gasa je gostren. Er hatte vier Kinder; der älteste
Knabe war sehr klug, der kleinste war der dümmste.1
Der kleinste Knabe fand auf der Straße einen Eing.
Ganz der gleiche Gebrauch ließ sich in der mährischen
Mundart des Dialects der böhm.-mähr. Zigeuner belegen.
Der unbestimmte Artikel fehlt — wie auch mitunter
bei Zippel — in: En je gäf hes curerò rom, In einem Dorfe
war ein armer Mann.
Die Form des Verbums anlangend fand sich in der
2. Person Sing, des Präsens der Ausgang e — Zippeis oeha,
z. B. ve — Zippeis woeha in: Tu ve Heme, Du wirst zu mir
kommen. Hosice tu na räkre romenes? warum sprichst du
nicht zigeunerisch?
1 Das Wort bangio findet sich weder in Potts noch in Liebichs
Wörterbuch; es etwa mit bengwülo (teuflisch) Liebichs zusammen zu
stellen, verbietet die Bedeutung.
92
Sowa.
Bei den a-Stämmen geht diese Form auf ä aus, also
dlä, chä — Zippel dschaha, chaha, z. B. Tu d2ä ap i büti,
I)u wirst auf Arbeit gehen.
In der 1. Person Plur. derselben Zeit wird ä für
Zippeis aha gesprochen; also dlä, kamä, manga etc. — Zippeis
dschaiia, kamaha, mang aha, z. B. Kater dèa 'me teisa? wohin
werden wir morgen gehen? Das e der Endung en der
2. 3. Person Plur. fällt wenigstens hinter r aus, wenn das
folgende Wort vocalisch anlautet, so: Ho Harn o cäve ap i
felda? Was tun die Kinder auf dem Feld? Auch in den
Präsens-Formen auf eia, ena fällt e hinter r aus; auch
Zippel bietet merla (er stirbt) neben kamela (er will).
Schema:
Conjunctiv. Präsens.
düenaf dSaf drenava dîava
dîenes dlav diene dîâ
dlenel dial dlenela diala
dlenas días dêenâ dia
dienen dlan dìenena dïan
dienen dlan. dlenena dlan.
Die Bildung des Perfects auf dorn etc. abweichend von
Zippeis Schema wurde schon besprochen.
Für „müssen" — bei Zippel hom (te) — fand ich mo
(te) in ausschließlichem. Gebrauch, z. B. Ame mo te días t,e
rödel, wir müssen arbeiten gehn. In syntaktischer Hinsicht
ist der Gebrauch der von Zippel als Präsens und Conjunctiv
bezeichneten Verbal-Formen interessant. Pott bemerkt 1.
355. „Es ist sonderbar, dass einzelne Verba sich für den
Indicativ des Conjunctivs zu bedienen scheinen." Auch im
griechischen Dialect der Zigeunersprache bestehen neben
den consonantisch auslautenden Formen solche auf a, welche
von den ersteren in der Bedeutung nicht verschieden sind
(Miklosich, Mundarten und Wanderungen XI. 97). Der
ungarische und der böhm.-mähr. Dialect verwenden die
Formen auf a als Futura, die consonantisch auslautenden
im Sinne des Präsens. Für den deutschen Dialect führen
Die Mundart der ostpreußischen Zigeuner.
93
Graffimder und Liebich nur Formen auf a an; dass auch in
der von Erster ein aufgezeichneten Mundart die consonan-
tisch auslautenden bestehen (vgl. Pott I. 363), ergibt sich
aus dem von ihm (Zigeuner 17) aufgezeichneten Satze:
Me gamabes di wab. Die richtige Auffassung der Form wab
musste Graffunder bei dem Mangel anderer Belege ent-
gehen. In der ostpreußischen Mundart nun findet sich in
m einen Aufzeichnungen :
a) das deutsche Futurum stets durch die Formen
auf a vertreten; ein Hilfswort (vgl. Zippel bei Pott I. 361)
wird nicht angewendet; z. B. O dad vela here balvle, der
Vater wird Abends nach Haus kommen. Ma vava he tu,
tu ve He me, ich werde zu dir kommen, du wirst zu mir
kommen. Kater d3ä 3me teisa? wohin werden wir morgen
gehn? Manga mene je hoter märo, te tu dzä ap i büti, wir
werden uns ein Stück Brot erbetteln, und du wirst auf
Arbeit gehn.
b) Das deutsche Präsens nach dei- Conjunction te stets
durch die consonantisch auslautende Form widergegeben:
Ame mo te dïas te rôdel, wir müssen arbeiten gehn. Ame
kamä muol te piel, wir wünschen Wein zu trinken.
c) Das deutsche Präsens in jedem anderen Falle durch
die eine wie durch die andere Form ohne Unterschied
übertragen, z. B. I dei delà maro [e?] cäven, die Mutter
gibt den Kindern Brot. Hoshe tu na räkre romenes? warum
spricht du nicht zigeunerisch ? Me na dSenava, hoske märdas
lo, me no homes hère, me na dîenaf, ich weiß nicht warum
er sie geschlagen hat, icli war nicht zu Haus, ich weiß
(es) nicht. O dad na dUenel, he les(k)re cäve hi, der Vater
weiß nicht, wo seine Kinder sind, cave piena that, Kinder
trinken Milch. Ho chan o cäve friteisera ? was essen die
Kinder morgens?
Aus diesem Gebrauche ergibt sich wol der Schluss,
dass keine der beiden Formen modale ¡Geltung hat, son-
dern wie in anderen Dialecten die kürzere Form das Prä-
sens, die erweiterte ursprünglich das Futurum bezeichnet.
94
Büchner.
Beurteilungen.
Hugo Schuchardt: Romanisches und Keltisches. Ge-
sammelte Aufsätze. Berlin 1886. R. Oppenheim.
Romanisches und Keltisches! Wer diesen gewichtigen
Titel liest, wird der festen Ueberzeugung sein, dahinter
verberge sich ein wissenschaftliches, nur für den Fachge-
lehrten geschriebenes und auch nur für diesen verdauliches
Werk. Wagt er es jedoch, nur einen Blick in das Buch
selbst zu werfen, so wird er sich angenehm enttäuscht
finden. Schon das Inhaltsverzeichnis wird ihn belehren,
dass es sich durchaus nicht um so schrecklich wissenschaft-
liche Gegenstände handelt. An dem Zusatz „Keltisches"
im Titel ist zum Beispiel nur ein Aufsatz, „Keltische
Briefe" betitelt, schuld. Alles Uebrige gehört in das Ge-
biet des Romanischen. Es werden in buntem Wechsel
Gegenstände aus der französischen, italienischen, spanischen
wie portugiesischen Literatur behandelt, sowie manches
Andere, das näher oder entfernter damit zusammenhängt.
Die Leetüre dieser Aufsätze selbst ist eine im höchsten
Grade genussreiche und namentlich anregende. Schon die
leichte, spielende Art der Darstellung lässt uns sofort em-
pfinden, dass wir uns liier nicht in dem hochragenden, an
so manchen Stellen unheimlich dunkeln, ja unerforschlichen
Walde der Wissenschaft befinden, sondern in einem an
dessen Rande gelegenen und auf seinem fruchtbaren Boden
erstandenen Gebüsch, wo der Flieder duftet und muntrer
Vögel Sang erklingt, in dem sich Jedermann mühelos ergehen
kann. Die fortwährenden Ausblicke in den geheimnisvoll
tiefgründigen Wald werden aber auch so Manchen auf
schwierigere Pfade und zu eigner Forschung führen. —
Die zum Teil noch in den siebenziger Jahren entstandenen
Aufsätze waren ursprünglich in Zeitschriften wie die „All-
gemeine Zeitung", „Im neuen Reich" etc. erschienen, wo
sie sich ja von vornherein an das große Publikum wen-
Beurteilungen.
95
deten. Sie haben alle weniger die Tendenz wissenschaft-
licher Belehrung als wissenschaftlicher Anregung, und
diese Tendenz erfüllen sie in vollstem Maße. Schuchardt
versteht es meisterhaft, durch die warme Beredsamkeit
seines Stils, durch seine geistreiche, fesselnde Art zu er-
zählen, seinen Lesern die Begeisterung, welche ihn selbst
bei fast allen den hier behandelten Gegenständen er-
füllt, mitzuteilen. Jedes Wort verrät uns den glühen-
den Verehrer des Romanentums, vor allem romanischer
Literatur und Sprache. Allerdings wird diese Verehrung
von einer etwas übertriebenen Abneigung gegen England
und englisches Wesen begleitet, was besonders aus dem
Aufsatz, „Französisch und Englisch", sowie namentlich auch
aus den keltischen Briefen hervorgeht. Doch rechten wir
darüber nicht mit ihm, denn so Manches, was uns dieses
Buch ganz besonders lieb und wert macht, verdankt der
Verfasser gerade seiner Vorliebe für das Romanische; wir
meinen hier die Formvollendung und Glätte seines Stils,
den Wollaut der Sprache, die oft südliche Wärme der
Darstellung und nicht zuletzt die den Franzosen abge-
lauschte Lust an launigen, geistreichen Einfällen, mit denen
alle Aufsäze gewürzt sind.
Es sei uns gestattet etwas genauer auf die einzelnen
behandelten Gegenstände einzugehen. Den Anfang bildet
eine „Pompeji und seine Wandinschriften" betitelte, über-
sichtliche Darstellung der Inschriftenforschung im Allge-
meinen und speciell in Pompeji. Sie gewährt dem Laien
einen interessanten Einblick in diesen ihm gewöhnlich etwas
fern liegenden Zweig der Wissenschaft. Auch beleuchtet
sie die practische Bedeutung dieser Forschungen und ihrer
Resultate, wie sie von Zangemeister im vierten Bande des
„Corpus incriptionum latinarum" niedergelegt sind. Wir
erhalten einen Begriff davon, welche unendlichen Schwierig-
keiten sich der wissenschaftlichen Forschung gerade auf
diesem Gebiete entgegentürmen.
Es folgen nun einige kleinere Aufsätze, zunächst über
96
Büchner.
die interessante Stellung, welche der christianisirte und
heilig gesprochne Virgil im Mittelalter und in der neapoli-
tanischen Volksüberlieferung eingenommen, im Anschluss
an das gelehrte Werk des Italieners Comparetti: Virgilio
nel medio aevo; sodann ein köstliches Essay über Boccaccio
und die Verhältnisse, unter welchen seine Novellensamm-
lung entstanden ist; schließlich, angeregt durch Toblers
Herausgabe: Li dis dou vrai aniel, eine kurze Uebersicht
über die verschiedenen Fassungen, in welchen diese be-
rühmte Fabel von den drei Ringen in den verschiedenen
Literaturen behandelt worden ist.
Die Aufsätze über Ariost, Camoens (Festschrift) und
Calderón (zu C.'s Jubelfeier) sind begeisterte, zum Teil
hochpoetische Würdigungen dieser drei Sterne romanischer
Literatur. An Ariost bewundert er die vollendete Form,
die in seinem „Rasenden Roland" geradezu sich selbst ge-
nüge, ohne dass dadurch das Kunstwerk verliere. Er
wendet sich damit namentlich gegen die in Deutschland
übliche Beurteilung oder besser Verurteilung besonders
der Werke romanischer Poesie, eine Beurteilung, welche
stets mehr nach dem Zweck als nach dem Mittel, mehr
nach dem Was als nach dem Wie frage. Dass es uns
in der Tat nichts schaden kann, manchmal etwas mehr
als wir gewohnt sind nach dem Wie zu fragen, uns ein
Beispiel an romanischer Formvollendung zu nehmen, das
beweist Schuchardt practisch selbst aufs Glänzendste. —
Geradezu schwärmerische Verehrung atmet die Festschrift
über Camoens und in dem Aufsatz zu Calderón s Jubelfeier
verweist er mit warmen Worten unsre Schauspielleitungen
auf diesen Dramatiker, dessen Bedeutung in der Tat auch
heute von unsren Bühnen noch nicht genug gewürdigt wird.
— Unter dem Titel „Goethe und Calderón" schließt sich
die Besprechung einer gleichnamigen Schrift von E. Dorer
an, welche ebenfalls zur Jubelfeier des Dichters erschienen
war. Im Anschluss an diese, welche jedoch nicht sonder-
lich Gnade vor seinen Augen findet, gibt er eine kurze
Beurteilungen.
97
Darstellung des Einflusses, den Calderón auf Goethe aus-
geübt habe. Seiner Ansicht nach sei Goethe besonders
durch die Vorliebe Oalderons für das Symbolische ange-
zogen worden, eine Ansicht, die er durch manche interes-
sante Belege begründet.
Die Aufsätze über den römischen Satiriker und Volks-
dichter G. Gr. Belli, über den Bolognesen Stecchetti, sowie
über die portugisische Dorfgeschichte des Julio Diniz: As
pupillas do snr. reitor machen uns darauf aufmerksam,
wie manche köstlichen, oft nur von wenig Auserwählten
gekannten Schätze namentlich auch die neuere romanische
Literatur enthält. Man wird dieselben nicht leicht lesen,
ohne durch sie zu genauerer Kenntnisnahme der betreffen-
den Dichtungen angeregt und bestimmt zu werden.
In der Arbeit über den Reim und Rhythmus im Deut-
schen und Romanischen, veranlasst durch einen Aufsatz
von Delbrück liber den deutschen Reim, bekämpft er zu-
nächst die in demselben vertretene, in Deutschland wie
auch in Frankreich zur Regel gewordene Ansicht, dass
stets die bedeutendsten und für den Sinn wichtigsten Worte
im Reime stehen müssten und tut dar, dass die südlichen
Romanen, unabhängig von jener Regel, den Reim viel
leichter und freier behandeln, ohne dass es der Form zum
Schaden gereicht. Auch wendet er sich energisch gegen
die gang und gäbe Behauptung, dass die romanische Me-
trik eine bewusst silbenzählende sei und gegen die mit
diesem Wort meist verbundene irrige Vorstellung, als ent-
scheide die Silbenzahl allein. Er erkennt der romanischen
Metrik eine weit größere Leichtigkeit, Beweglichkeit und
namentlich Anschmiegsamkeit an den sprachlichen Stoff
zu, als der deutschen. Und er schließt mit der eindring-
lichen Mahnung, uns von spöttischer Ueberhebung frei zu
halten und die Romanen in Sachen der Form als unsere
Lehrmeister zu betrachten.
Viele schöne, geistvolle Gedanken sind in dem Capitel
über die Liebesmetaphern enthalten, welches durch ein
Zeitchrift für Völkerpsyh. und Sprachw. Bd. XVIII. 1. 7
98
Büchner.
AVerk von Brinkmann über die Tierbilder der Sprache
veranlasst worden ist. — Der Aufsatz: „Das Französische
im neuen Deutschen Reich", bietet französische Dialect-
studien, besonders aus den Gegenden, welche durch den
großen Krieg ihrem alten Vaterlande wider zurückgegeben
worden sind. Er enthält neben viel wissenschaftlich In-
teressantem, köstliche, amüsante Schilderungen der in diesen
Bezirken oft herschenden Sprachverwirrung. Namentlich
möchten wir auf die goldenen Schlussworte hinweisen, die
gerade in unsren Tagen, wo die Gegensätze zwischen
Deutschland und Frankreich sich täglich verschärfen, ge-
lesen und beherzigt zu werden verdienen, Worte des Friedens
und der Versöhnung, wie sie zu allererst die ihr einigendes
Band um die Menschheit schlingende Wissenschaft zu sprechen
berufen ist. Mit ernsten Worten warnt er uns vor Un-
duldsamkeit und Ueberhebung, und wir können diese War-
nung auch heute noch beherzigen, wo uns allerdings manch-
mal etwas viel von unseren westlichen Nachbarn zugemutet
wird. Denn sollte das furchtbare Unglück eines europäischen
Krieges abermals eintreten, so wollen wir wenigstens frei
dastehen von jeder Schuld, von jedem Vorwurf. — Von
denselben Gedanken ist auch der folgende Mahnruf: „Eine
Diezstiftung" betitelt, durchdrungen, wo Schuchardt lebhaft
dafür eintritt, dass eine zu Ehren des großen Begründers
der romanischen Philologie zu gründende Stiftung einen
durchaus internationalen Character tragen müsse. — Ueber
die in dem Aufsatz: „Französisch und Englisch" niederge-
legten Ansichten, lässt sich streiten. Des Verfassers un-
bedingte Vorliebe für das Romanische bedingt eine etwas
einseitige Behandlung der wichtigen Frage. Jedoch ent-
hält er viel Beherzigenswertes, namentlich bezüglich der
praktischen Behandlung der betreifenden Fächer auf unsern
Universitäten.
Den Schluss des Buches bilden Reisebriefe aus Wales,
„Keltische Briefe" betitelt. Sie geben recht interessante
Schilderungen des Lebens und Treibens der kymrischen
Beurteilungen.
99
Bewohner dieses Landes, besonders auch der Art und
Weise, wie sie ihre Sprache pflegen. Humor und Laune
verlassen den liebenswürdigen Verfasser selbst hier im
dichtesten Regenwetter nicht und würzen aufs Beste die
hie und da etwas einförmigen Schilderungen.
So wollen wir denn, um nun auch unsrerseits zum
Schluss zu kommen, das Buch aufs wärmste zur Leetüre
empfehlen. Wir sind überzeugt, dass es Niemand unbe-
friedigt bei Seite legen wird.
])r. Heimbert Lehmann: Der Bedeutungswandel im
Französischen. (Erlangen 1884.)
Es ist die Absicht des Verfassers, unter Zugrunde-
legung der gesammten, dieser Schrift vorausgehenden ety-
mologischen Forschungen auf dem Gebiet der französischen
Sprache, nun auch die hauptsächlichsten Gesetze zu finden,
nach denen sich im Lauf der Zeit der Wandel in der
Bedeutung einzelner Wörter vollzogen hat. Er teilt die
hierher gehörigen Wörter in drei große Gruppen. Die
erste Gruppe umfasst diejenigen, deren Bedeutung dieselbe
Begriflfssphäre nicht verlässt, indem sie entweder eine Ver-
wechslung mit verwanten Wörtern erfahren oder indem
die zu Grunde liegende Vorstellung, sei es beschränkt oder
verallgemeinert, veredelt oder verschlechtert wird. Inter-
essant ist die schon oft gemachte Beobachtung, dass das
Letztere, die Verschlechterung weit häufiger vorkommt, als
die Veredlung. Hierin mit dem Verfasser einen pessimisti-
schen Zug der Sprache zu erkennen, kann nur als ein Ein-
fall gelten, der bei psychologischem Einblick verschwindet.
Die zweite Gruppe bilden diejenigen Wörter, deren Bedeu-
tung in eine ganz neue Sphäre übertritt, sei es auf dem
Wege der Metapher, der Metonymie oder dadurch, dass ein
die Vorstellung einer Eigenschaft bezeichnendes Wort füi-
das von ihr gewöhnlich begleitete Ding gebraucht wird.
Hier ließen sich namentlich auf dem Gebiete des meta-
100
Müller.
phorischen Bedeutungswandels, wo die Uebergänge von
concreten zu abstracten Begriffen und umgekehrt besonders
interessant erscheinen, durch Vergleichung der Sprachen
untereinander die schätzbarsten Resultate erzielen, welche
die Lehmannsche Arbeit nur andeutet. — Die letzte Gruppe
umfasst Wörter, welche sich von Namen historischer Persön-
lichkeiten oder Orte herleiten, die auf in irgend einem
Zusammenhang mit ihnen befindliche Dinge übertragen
worden sind.
Die Arbeit bahnt somit dieses dankbare Gebiet zum
ersten Male systematisch an. Sie basirt auf genauer
Kenntnis und gründlichem Studium aller vorausgegangenen
Werke, welche hier nutzbar gemacht werden konnten.
Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, gibt
sie doch für das Gebiet des Französischen alles Wichtigere
und bietet so ein äußerst schätzenswertes und wolgeord-
netes Material, das manchen Baustein liefern wird zu dem
Aufbau der Lehre vom Bedeutungswandel im Allgemeinen,
die sich gründen muss auf die Vergleichung des gesammten,
uns zugänglichen Sprachmaterials. So bedeutet die Arbeit
einen tüchtigen Schritt vorwärts auf dem Wege zu jenem
Ziel, welches darin besteht, die Gesetze zu finden, nach
denen sich die geistige Entwicklung der Menschheit voll-
zogen hat, nach denen sie sich auch heute noch vollzieht.
Darmstadt. Dr. G. Büchner.
„Der Hellenismus der Zukunft." Ein Mahnwort
von Johannes Flach. Leipzig bei W. Friedrich 1888.
— In 8. br. M. 1. —
Unter diesem Titel behandelt der durch seine philo-
logischen Schriften rühmlichst bekannte Verfasser die neuer-
dings eifrig besprochene Frage von dem Rollentausche der
beiden klassischen Sprachen im Gymnasialunterricht.
Die Broschüre zerfällt in zwei Teile. In dem ersten
vergleicht der Verfasser die Griechen und Römer mit ein-
Beurteilungen.
101
ander hinsichtlich des Bildimgswertes ihrer Sprachen und
ihrer Leistungen auf dem weiten Gebiete der Litteratur,
Kultur und Kunst und gelangt dabei zu dem naturgemäßen
Resultate, dass das Römertum in seinen Leistungen in
Kunst und Wissenschaft nur als eine schwächliche Nach-
ahmung des Hellenentums erscheint und sich in seiner Be-
deutung für die moderne Kultur — vom Kriegs- und Pro-
cesswesen abgesehen — mit diesem in keiner Weise messen
kann.
Der zweite Teil handelt von der, nach den vorausge-
gangenen Erörterungen, als notwendig erscheinenden Be-
schränkung des lateinischen Unterrichts zu Gunsten des
Griechischen und von der Art und Weise, wie sich in Folge
dessen der griechische Unterricht zu gestalten hat. Mit
Recht betont dabei der Verfasser die Tatsache dass, wäh-
rend das Lateinische „gegenwärtig eine todte Sprache ist
und niemals wieder eine Auferstehung feiern wird", die
griechische Sprache eine lebende ist und nie aufgehört hat
eine lebende zu sein. An diese Bemerkung knüpft sich
dann eine längere Betrachtung über das moderne Griechen-
tum, dessen Sprache es vielleicht beschieden ist, dereinst
als neuer Unterrichtsgegenstand im Lehrplan der Gymna-
sien die Beschäftigung mit dem Altgriechischen zu er-
leichtern und zu befruchten, und als Sprache der Diplo-
matie auch das Französische zu ersetzen. —
Natürlich werden diese Ansichten, die den bisherigen
Anschauungen so ganz entgegenlaufen, vielfach eine ab-
fällige Beurteilung erfahren, wir aber können von unserem
Standpunkte aus dieselben nur mit Beifall begrüßen, da
wir darin eine Billigung und Verbreitung unserer eigenen
Ausführungen erblicken, die wir in unserem nicht lange vor
jener Abhandlung erschienenen Buche „Griechische Reisen
und Studien" (Leipzig, W. Friedrich) über denselben Ge-
genstand veröffentlicht haben.
Halle a. d. S. Hans Müller.
102
Bruchmann.
E. Lemke, Volkstümliches in Ostpreußen! Erster
Teil. 1884. 190 S. Zweiter Teil. 1887. 303 S. Moh-
rungen, W. E. Harich.
Die neunzehn Capitel des ersten Teiles enthalten: in
der Neujahrsnacht, Fastnachtfreuden, Ostern, Pfingsten,
Johanni-Abend, Erntegebräuche, Weihnachten, Hochzeits-
gebräuche, der Täufling, Heil- und Zaubergebräuche in
Krankheitsfällen, nach dem Tode, allerlei Spuck. Volkstüm-
liches aus der Pflanzenwelt, aus der Tierwelt, in der Küche,
Spinnen, Weben, Nähen, volkstümliche Wetterkunde, ver-
schiedentlicher Aberglauben, Reime, Spiele u. s. w.
Der zweite Teil bietet uns Sagen (70), Märchen (56)
und bringt von S. 273 an Nachträge zu den Capiteln des
ersten Teiles. Ein Glossar S. 298 f. schließt das Buch.
Sammlungen von Märchen, Sitten und Aberglauben bringen
ziemlich gleichmäßig denselben Eindruck hervor. Der Aber-
glaube überrascht durch seine Sinnlosigkeit und Zähigkeit,
sodass das Volk (wie L. I xv sich ausdrückt), im Allge-
meinen den Standpunkt eines gedankenlos nachsprechenden
Kindes einnimmt. Aber die Ueberlieferung hat auch hier,
oder hier noch mehr, da es sich nicht um eine ölfentliche Ein-
richtimg handelt, eine erstaunliche Kraft der Selbstbehaup-
tung. Sie wird allerdings weniger rätselhaft, wenn man
bedenkt, dass der Aberglaube meist sehr eng mit Wol und
Wehe des Menschen zusammengebracht wird und sein ver-
meintlicher Zusammenhang damit wichtig ist. Scheint der
Aberglaube ein Nützlichkeitsbedürfnis zu befriedigen, so Sagen
und Märchen mehr die Bedürfnisse der Phantasie, welche
ethischer und ästhetischer Anregung bedarf. Darum müssen
sie teils schauerlich sein (II 8 f.), teils ungewöhnlich schön.
Da gibt es versunkene Herlichkeit (II 3, 5, 8 f.), vergrabene
Schätze, ein wunderbares Glückskind, welches sie findet,
einen Ungeschickten, der nicht zugreifen kann. Sowol der
Humor bekennt in Sage und Märchen, dass der Dumme
Glück hat (II 54. 137. 122), als auch stellt das bedrückte
Rechtsgefühl seine Vergleichungen an über den Lauf der
Beurteilungen.
103
Welt, welcher oft genug mit der Schilderung des Predigers
Salom. IX, 1] übereinstimmt: ich sähe, dass zum Laufen
nicht hilft schnell sein, zum Streit hilft nicht stark sein,
zur Nahrung hilft nicht geschickt sein, zum Reichtum hilft
nicht klug sein, dass einer angenehm sei, hilft nicht, dass
er ein Ding wol könne — sondern alles liegt es an der
Zeit und Glück.
Naturgemäß finden sich in diesem in Deminutiven
taumelnden Jau-jau-Dialekt1 Ueberlieferungen, welche längst
bekannten ähnlich sind.
Die ' uns vorliegende Sammlung ist mit großer Liebe
und Sorgfalt angestellt, übersichtlich geordnet und auf ob-
jektive Widergabe des Gesehenen und Gehörten gerichtet.
Somit haben wir L. aufrichtigen Dank zu sagen. Deutun-
gen sind von L. absichtlich fast ganz ausgeschlossen, vgl. IIxiv.
Unsere Sitte, bei Feststellung irgendeiner angenehmen
Tatsache hinzuzufügen „unberufen" findet sich nattirlieh
auch hier. Der Neid der Götter, den Herodot I 32 lakonisch
formulirt iò Ïïsïov nàv (piïoveQÔv, Plato Phädrus p. 247 A
leugnet, wird gefürchtet, wenn man I 82 nicht sagen darf,
wie viel Milch die Kuh gibt. Nennt man das richtige Maß,
so ist die Milch verrufen.
Bei der Ernte wird auch in Ostpreußen ein Vorüber-
gehender gern gebunden, wovon er sich durch ein Geld-
geschenk lösen muss I 23. In dem letzten, noch unge-
1 Wer von Deminutiven auf Gemütlichkeit schließt, muss Ost-
preußen als das wahre Land der Gemütlichkeit betrachten; jau, jau
(ja, ja) mein Duche (Du) I 22; das Kornche ist reif; de Sonnche
(Sonne) ; ein silbernes Nuschtchen (nichts) I 99 ; die Sonnchen I 104 ;
mein Mutschchen (Mutter) I 110; sehrchens (119. 111) ; in dem buntem
Rockchen I 122; Mannchen I 123; blinde Kuhchen ich leite dich
I 134; Ofchen mein! I 141; Neiche (nein) I 82; mein Gottchen II 109;
wer sein Viehchen retten will II 25 ; Guten Abend Baumgartchen,
g. A. Pflaumenbaumchen 11 65; Kuhchen (ruft man in den Stall)
dein Herrchen (Frauchen) ist tot I 57; nocli ä par Tagches I 22;
ein Tochterchen II 237 ; ein Hahnchen und Hennchen II 238 ; das
liebe Fuchschen II 244; ein Tropfchen, ein Brunnchen II 245.
104
Bruch m ami.
mähten Stück des Getreidefeldes sitzt „der Hase"; kein
Mäher will der letzte sein. Dazu ist zu vergleichen, was
Mannhardt berichtet (Mythologische Forschungen aus dem
Nachlass von W. M., Straßburg 1884) S. 103 f. Da sitzt
ein großer oder toller Hund im Korn. Zum Abmähen der
letzten Halme fordert man in Frankreich auf durch den
Ruf tuez le chien, tuez le chien! In Puy-de-Dôme wird
die letzte Garbe la cagne Betze, Hündin, um Lons-le-Saul-
nier (Jura) cu-à-chien, Hinterteil des Hundes, benannt. Der
Kornhund wird nun auch, mit den letzten Halmen gelän-
gen, in die Scheune gebracht. Darum kann man in Tirol
sagen, dass mit dem letzten Drescherschlag der Hund er-
schlagen wird.
Vom Monde ist II 17, 28 f. die Rede; vgl. dazu Otto
Henne am Rhyn die deutsche Volkssage im Verhältnis zu
den Mythen aller Zeiten und Völker, zweite Auflage, 1879,
S. 31 f.
Gespenstige Zeit ist nicht nur Mitternacht, sondern
auch Mittag. An Sylvesterabend (17) sitzen die Hexen
besonders gern an Kreuzwegen und lauern darauf, Jeman-
dem einen Possen zu spielen ; auch am 24. Dezember lauern
sie auf I 33.
Uebef die Mittagsstunde I 60 f. Vgl. dazu diese
Ztschr. XIII, 310 f. Karl Haberland die Mittagsstunde als
Geisterstunde, Ossian von Ahlwardt Bd. III p. 218 Geister
schweben um Mittag dort, Bernh. Schmidt, das Volksleben
der Neugriechen und das hellenische Altertum Bd. I 1871
p. 177.
Wenn der Sturm heult, so sagt man, Jemand will sich
aufhängen; so lange der Sturm anhält, sucht der Selbst-
mörder den Strick (I 108). Dies gehört zum Glauben an
den Zusammenhang zwischen Wind und Seele.
Die Sagen von Versteinerungen fehlen nicht II 28;
vgl. Henne am Rhyn p. 74. Ztschr. f. Ethnologie 1878 p. 33 f.
II 47 hört einer das Gras wachsen; das muss eine
alte Redensart sein, denn in der Edda (Gylfag.) hört Heim-
Beurteilungen.
105
dall das Gras in der Erde und die Wolle auf den Schafen
wachsen (Simrock, siebente Aufl. 1878 p. 266, 27).
TI 107 erscheint ein Brunnen, aus dem früher immer
Gold und Silber geschöpft wurde, der aber jetzt nur Wasser
hat, vgl. dazu Kuhn, Herabkunft, zweite Aufl. p. 103 f.
In des Knaben Wunderhorn p. 659 (R.eclam) heißt es:
Der Brunnen.
Hab ein Brünnlein mal gesehen
Dx-aus tat fließen lauter Gold, .
Täten dort drei Jungfern stehen,
Gar so schön und gar so hold u. s. w.
Dass Tränen, einem Toten nachgeweint, die Ruhe
nehmen, wird erwähnt II, 280. Dieser Glaube findet sich
bekanntlich auch sonst; dass er aber allgemein sei, habe
ich ¡diese Ztschr. XIV p. 232 bestritten. Als weitern
Beweis gegen die Allgemeinheit dieser Anschauung füge
ich hinzu Schack, Heldensagen des Firdusi p. 169, wo
sieben Tage ohne Bedenken über Feridun geklagt wird.
Vgl. übrigens Grimm, Mythol. II4, p. 778.
Eine eigentümliche (falsche) Analogie-Logik begegnet
uns öfter im Aberglauben. Hierher rechne ich II, 15, wo
übereilt der Teufel genannt wird und dann auch erscheint.
Wo er angemalt wird, erscheint er; wo er genannt wird,
bleibt er nicht aus. I, 115 deuten krause Haare auf
krausen Sinn, eine Analogie, bei der das Volk sich glaubt
etwas denken zu können. F. Liebrecht, Zur Volkskunde
(Heilbronn 1879) erwähnt p. 328: tritt ein Frauenzimmer
in eine Schmiede, so lässt sich das Eisen nicht zusammen-
schweißen; die „Spaltung" wirkt sympathisch auf das Eisen.
Wuttke, der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart,
Berlin 1869, § 571 u. 605 erzählt: schwangere Frauen
dürfen kein neugeborenes totes Kind ansehen, sonst muss
auch ihr Kind sterben. Sie dürfen mit keiner Leiche in
Berührung kommen, sonst hat ihr Kind sein Leben lang
Leichenfarbe; sie dürfen nicht in den Mond sehen, sonst
106
Bruchmann.
wird ihr Kind mondsüchtig. Isst die schwangere Frau
zusammengewachsenes Obst, so kommen Zwillinge zur
Welt. Das Kind und seine noch stillende Mutter dürfen
keinen Fisch essen, sonst lernt das Kind nicht sprechen,
denn die Fische sind stumm. Gibt man dem Kinde einen
Kalender in die Hand, so wird es gelehrt u. s. w.
Naivetät ist von Anmaßung und Roheit oft nicht viel
verschieden. Naiv nennen wir aber noch die aus Nütz-
lichkeitsgründen zu rechtfertigende Sitte II, 275, dass voi-
der Heirat der Bräutigam Hab und Gut der Braut, sie
umgekehrt das des Bräutigams einer Musterung unterwirft,
ehe sie sich ewig binden. (In Immermanns Oberhof wird
eine verfänglichere gegenseitige Prüfung erwähnt.) Roh
dagegen ist die Gesinnung jener Töchter (II, 280), welche
am Begräbnistage des Vaters zum Tanze gingen. Sie
sagten: „wir werden doch nicht um Tote trauern! Wir
sollen trauern, wenn einer geboren wird; denn dann kommt
er uns Armen in den Weg und macht unser Elend noch
größer; oder (= aber) wenn einer stirbt, gellt er uns aus
dem Weg und macht uns Platz. Das ist nun oder (= aber)
bei Gott wahr."
Das Misstrauen gegen Stiefvater und Stiefmutter ist
in Erzählungen gleichfalls niedergelegt II, 157 f.
Wir kommen zum Schluss auf einige sprachliche Er-
scheinungen.
Die Lerche heißt auch der Lirch I, 27, II, 286.
Der Maulwurf hat seinen guten alten Namen 1, 90:
da heißt er Möltwurf.
Das Marienwiirmchen heisst II, 235 Kuhchen. Dazu
vgl. Grimm Myth. II4, p. 578: Gotteskühlein, Gottes-
kalb , Herrgottsvöglein, Marienkälblein. Anderwärts hat
man dafür Herrgottschäfchen. Grimm 1. c. III4, p. 69
führt als Namen einer Spinne (?) Himmelsziege an; die
Libelle III, 201 heißt Gottes- oder Teufelspferd; eine
Raupe III, 311 heißt Teufelskatze; ein Käfer heißt Eichochs
I, 152. 153; die Schnepfe Donnerziege I, 152, vgl. Wuttke
Beurteilungen.
107
1. c. § 20. § 164, Simrock Mythol. dritte Aufl. p. 231.
Warum das Marien wiirmchen Kuhchen genannt wird, er-
klärt Grimm nicht, während er die andern wunderlichen
Namen zu deuten sucht.
Ich kann mir nur denken, dass es wegen seiner Sanft-
heit und Unschuld so genannt wird, wozu auch der andere
Name Herrgottschäfchen passen würde. I, 86 finden wir
die beliebte Redensart wieder: „daraus kann kein Schwein
klug werden. " Ich hörte einst eine gekränkte Köchin
sagen: die Wäsche kann kein Schwein reine kriegen, was
freilich sehr widerspruchsvoll klingt. Denn dieses nütz-
liche Rüsseltier ist weder der Inbegriff von Klugheit noch
von Sauberkeit. Woher also die Redensarten? Mir scheint
es so: die Schweine sind gefräßig, fressen nicht nur Alles
durcheinander sondern auch Alles ganz auf, sie werden
mit Allem fertig, machen immer reinen Tisch. Wie nun
ein gutes Schwein Alles frisst (behauptet der Yolksmund),
mit Allem fertig wird, vor keinem Schmutz und Unrat
zurückschreckt, so wird dieses wertvolle, aber nicht ge-
rade ästhetisch anregende Tier zum scherzhaften Symbol
unbeirrbarer Findigkeit oder Ausdauer, so dass man sagt,
daraus kann kein Schwein klug werden. Erst nach Ana-
logie scheint dann das andere gesagt worden zu sein: die
AVäsche kann kein Schwein reine kriegen d. Ii. mit so viel
Schmutz könnte selbst ein Schwein sich nicht abfinden.
I, 87 finden wir eine Reihe von Hunde-Redensarten.
Darunter: es ist ein Hundewetter d. h. ein Wetter gut
genug für Hunde, aber viel zu schlecht für Menschen.
Hundekälte dagegen ist an sich nicht klar. Eine doppelte
Deutung scheint möglich. Entweder ist es eine Kälte, bei
der wol Hunde aber nicht die Menschen sich hinauswagen
mögen, eine Kälte gut genug für die Hunde aber zu schlecht
für die Menschen, oder es ist in anderem Sinne nach der
Analogie von Hundewetter gebildet. Hundewetter kann
auch mit nachträglicher Deutung ein Wetter sein, bei wel-
chem man nicht einmal einen Hund hinausjagen möchte,
J 08
Bruchmann.
und danach Hundekälte die Kälte, welche für den Hund
nicht gut genug-, sondern sogar für ihn zu kalt ist. Hunde-
mager ist auch weniger klar oder weniger gut. Denn die
Hunde sind meines Wissens keine Typen der Magerkeit
Entweder [heißt hundemager also: so mager, wie mitunter
Hunde (Windh.) sind — dann wäre es kein gutes Com-
positum; oder es ist gebildet nach Analogie von hunde-
müde (= sehr müde) und heißt dann sehr mager. Das
wäre auch nicht gerade sinnreich, aber hat die ungeheure
Macht der Analogie für sich als Entschuldigung.
II, 22 begegnet uns der Rabenvater. Wir sagen es
im Leben, ohne uns Rechenschaft zu geben: er ist ein
Rabenvater. Sind die also so schlecht? Wir hören, ja.
Denn der Rabe („der seine hässlichen Jungen nicht leiden
kann") füttert die Jungen einige Wochen nicht. Sie bleiben
nur dadurch am Leben, dass sie die Würmer fressen,
welche im Unrat, der im und am Neste ist, entstehen.
II, 25 hören wir, dass auch die gemütlichen Ostpreußen
einen Drachenwald haben; er liegt bei Gr. Kamitten.
Einige Kinderreime I, 118 f. fordern zur Vergleichung
auf mit solchem aus dem „Wunderhorn". Bezeichnend ist
für diese Reime, dass sie vor einer Sinnlosigkeit nicht zu-
rückschrecken, da ja die Kinder, denen man sie singt, nur
durch den Gesang schläfrig gemacht werden sollen. So
folgendes:
schu, schu, schu, schu, scheichen,
die Pikatz (Katze) legt' ein Eichen,
der Kater wollt es braten,
es wollt ihm nicht geraten. Oder:
die Katz legt ein Eichen,
sie mocht es nicht ertragen,
sie warf es übern Graben.
da kam der Bar (Bär)
und kocht' es gar,
da kam der Schmied
und aß es mit,
da kam die Schmiedsche
und kriegt das Neegchen (die Neige).
Beurteilungen.
109
Ein liebes Hannchen wird I, 123 „mein Männchen"
angeredet. Da das liebe Hannchen eine Männin ist, so
weiß man nicht recht, was mit dieser zärtlichen Appo-
sition anzufangen ist. Ich denke sie lehrt, dass es dem
Kinderreim, wie manchem anderem Reim, auf den Sinn
nicht besonders ankommt. Dass nun die Kinder damit zu-
frieden sind, ist vielleicht erlaubt; dass aber die Großen
diese Sachen stetig wiederholen, ist bedenklich. Aus dem
Wunderhorn vgl. p. 807 (Eeclam) „was der Glans alles auf-
gepackt ist", p. 808 „Kinderpredigt", p. 812 „Reiterlied
auf des Vaters Knie", p. 819 „Sonnenlied", p. 820 „Guten
Appetit".
Nach dem Inhalte sind zu vergleichen II, 245 No. 52
mit Wunderhorn S. 788 „Erschreckliche Geschichte vom
Hülmchen und vom Hähnchen", nach der Form II, 245—
246 mit, Wunderh. S. 801 „ein Zicklein, ein Zicklein, das
hat gekauft das Väterlein" u. s. w. und S. 804 (Kinder-
concert) „kleines Männele, kleines Männele, was kannst du
machen?" Denn wir finden an diesen drei Stellen eine Art
der Wiederholung, welche, zum Teil als Refrain, am Schluss
des Ganzen bis zum Anfang zurückgreift, ohne dabei irgend
eine Stufe des Fortschritts auszulassen. Daher hören wir
z. B. am Schluss des „Kinderconcerts" die Töne aller In-
strumente,. welche wir bereits vorher wiederholt kennen
gelernt haben, hintereinander noch einmal in der Reihen-
folge, wie sie allmählich bekannt wurden.
K. Bruch mann.
Ueber denGedanken einer Üulturgeschichte derlndo-
germanen auf sprachwissenschaftlicher Grund-
lage von Dr. 0. Schräder, Gymnasiallehrer und Privat-
docent für vergleichende Sprachwissenschaft an der
Universität Jena. Jena, H. Costenoble, 1887, 22 S. 8.
Programme haben in der Wissenschaft oft etwas an-
regendes, so auch die Schrift des Verfassers, welcher be-
reits in mehreren Bänden an die Ausführung seines Pro-
Bruchmann.
gramiiis gegangen ist. Hier entwickelt er im Anschluss
an Karl Brugmanns Schrift „Zum heutigen Stand der
Sprachwissenschaft" Straßburg 1885 den Gedanken der in-
dogermanischen Philologie und Culturgeschichte und die zur
Lösung dieser Aufgabe von der Sprachwissenschaft gebote-
nen Mittel. Die Geschichte der Sprache nämlich ist nicht
bloß Laut- und Bedeutungsgeschichte, sondern gibt auch
häufig Ausschluss über materielle Verhältnisse der Ent-
wicklung. Dieser Gedanke ist uns seit Jakob Grimm und
Adalbert Kuhn recht geläufig 'and hat für ein gewisses
Gebiet seine glänzende geschichtliche Darlegung durch V.
Hehn gefunden. Indessen ist die Aufgabe nicht leicht, da
sie ein ebenso ausgebreitetes Wissen wie eine höchst wach-
same Kritik sprachlicher Tatsachen erfordert. Der Ver-
fasser gibt uns nun folgendes Bild seiner methodischen
Grundsätze.
Haben wir auch die Gleichheit scheinbar unverwanter,
die Verschiedenheit ähnlich lautender Wörter der indo-
germanischen Familie festgestellt, so erwartet uns noch
die heikle Aufgabe, die ursprüngliche Bedeutung einer ety-
mologischen Reihe zu ergründen. Wir haben ferner zu
fragen, in wie vielen und welchen Sprachen verwante
Wörter sich belegen lassen, um daraus auf die Verwant-
schafts-Verhältnisse der idg. Völker einen Schluss zu ziehen.
Verf. schließt sich hierin wesentlich an Joh. Schmidt an.
Verf. glaubt (S. 7) an eine Wurzelperiode der Sprache,
aus welcher sich die wortbildende und flectirende erst ent-
wickelt hat; vai der Deutung der Wurzeln hat er freilich
nicht viel Vertrauen. Für die weitere Sprachgeschichte
sind die Kategorien zu beachten: der Bedeutungswandel,
die Wortbildung, die Wortentlehnung. Ueber den ersteren
bemerkt der Verfasser mit Recht, dass wir rein psycho-
logischen und culturhistorisch-psychologischen Bedeutungs-
wandel zu unterscheiden haben. Zur letzten Classe gehört
z. B. die Tatsache, dass unser „Buch" von der Sitte sich
herschreibt, Schriftzeichen in Buchenstäbe zu ritzen. Als
Beurteilungen.
Ill
Beispiel der eisten Ciasse führt Verf. an, dass ahd. smecken
im Mhd. die Bedeutung riechen erhält und noch heute in
süddeutschen Dialekten bewart. Daher sagt man (wie ich
höre), dass die biedern Schwaben nur vier Sinne haben,
da sie riechen auch schmecken nennen. Hierher rechne
ich auch (nach Fick „ dessen Wörterbuch nur bei gründ-
lichster Sprachkenntnis dem Prähistoriker nützlich sei",
Schräder S. 5, IV3 S. 100) abh und bha tönen, hell sein; ra
und ar hell sein, tönen; Im S. 102 tönen, brennen (vgl-
singen und sengen); ga S. 103 tönen, hell sein. Die be-
kannte Neigung, Gesichtsempfindungen mit Geliörseinpfin-
dungen und überhaupt die Eindrücke der verschiedenen
Sinne miteinander zu vergleichen, finde ich wieder in Worten
wie Aesch. Sept. 104 xivnov âsâoQxa ■ náruyog oij êvàç
ôoçcg. Bei Herod. I 125 ist ¿xovsiv so viel wie unser
„vernehmen" Genes. 8, 11 da vernahm (im Hebräischen:
erkannte) Noah, dass das Gewässer gefallen wäre auf Erden;
den Worten âxovoaç xavxa 6 Kvqoç geht vorher (§ 124)
zcx dh yQic^fMXTu. tXsye rcíás, sodass das Lesen des Briefes
mit dxoveiv bezeichnet, wird; Exod. 20, 18 übersetzt Luther:
und alles Volk sähe (wörtlich nach dem Hebräischen) den
Donner und Blitz und den Ton der Posaune. Gesichts-
und Geruchsempfindung kreuzen sich in Duft, duftig und
duften; bei C. F. Meyer (König und Heiliger, III. Auflage)
duftet ein Brautpaar von Schönheit; bei Goethe Nausi-
kaa III schwebt der Aether duftend ohne Wolken u. s. w.
Ich meine, wenn wir etwa zu Ficks Wurzelverzeichnis
Vertrauen haben, so findet der von ihm bezeichnete Aus-
tausch und Uebergang seine Bestätigung durch ähnliche
Vorgänge in späterer Zeit. Dies ist rein psychologischer
Bedeutungswandel; aber auch die Kategorien jenes andern
(Schräder S. 9) sind nach dem Verf. nur nach psycholo-
gischen Gesichtspunkten zu bestimmen.
Als solche Kategorien nennt er Verengerung, Erwei-
terung, Verschiebung (S. 11), Wechsel im Rang oder Ge-
fühlswert der Wörter (Bube, Dirne u. ähnl.). Die bisher
112
Bruchmaiin.
genannten Beispiele des Bedeutungswandels nennt er (nach
Wundt Logik I, S. 26 f. 1880) apperceptive. Sie beruhen
auf Determination, durchweiche die mit einem Worte ver-
bundene Vorstellung in sich Veränderungen erfährt. Asso-
ciation dagegen nennt er den Vorgang, dass neue Begriffe
an bereits vorhandene associirt und durch adjektivische
auf ältere Substantiva bezogene Bildungen bezeichnet
werden. Wenn z. B. ayas Kupfer ist, so wird Gold gelb-
glänzendes ayas, Silber weißliches ayas genannt. Eine Art
der Association ist dem Verf. auch die Bedeutnngs-Ueber-
tragung, welche neue Culturbegriffe nach der Aehnlich-
keit benennt, welche irgendwie zwischen ihnen und schon
bekannten Dingen besteht, wie wenn im Fortschritt des
Schiffbaues die Griechen ihre bessern Fahrzeuge xvfiß^
(Topf) nennen. Es bleibt noch zu berücksichtigen die
Wortbildung, Wortzusammensetzung und das Fremdwort,
welchem in neuerer Zeit so viel Liebe (und Hass) zu teil
geworden ist. Diese Andeutungen werden genügen, um
zu zeigen, dass der Verf. mit wolgeordneten theoretischen
Voraussetzungen arbeitet, deren erfolgreiche praktische
Benutzung wir von ihm zu erwarten haben.
Erweitert und vervollständigt werden die Aufgaben
der idg. Philologie durch einige Untersuchungen, welche
sich an die oben genannte Kategorie der Wertveränderung
der Wörter anschließen, welche wir auch Veränderung
der inneren Sprachform nennen können, mit der sich
manche Sprachforscher befreundet haben (so Paul, Prin-
cipien der Sprachgesch. - S. 347, Karl Brugmanu K. Z. 24,
9, 1877), Indessen fehlt es diesmal an Raum, um diesen
Gedanken weiter auszuführen. K. Bruchmann.
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raschenden Analogieen hingewiesen wurde, die das Neugriechische mit den romanischen
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gemacht worden, die wichtigsten derselben zusammenhängend und übersichtlich dar-
zustellen. Trotz der Beschränkung, die sich der Verfasser darin auferlegt hat, bietet
die Abhandlung auf engem Raum ein reichhaltiges Material, wodurch endlich eine
Bestimmung der Ausdehnung und des Umfanges jener Analogieen ermöglicht wird und
zugleich für spätere Untersuchungen eine feste Grundlage gegeben ist.
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Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
Von Dr. Franz Krejci.
Ich glaube durch die Worte des Titels hinlänglich den
Standpunkt präcisirt zu haben, von welchem in diesem Auf-
sätze der Spiritismus betrachtet werden soll. Es werden
uns weder die Details der spiritistischen Lehre noch ihr
philosophischer Wert interessiren und auch die Frage nicht,
ob ihre Experimente den Namen einer wissenschaftlichen
Arbeit verdienen, oder ob durch dieselben vielmehr ein
Missbrauch der wissenschaftlichen Errungenschaft zu un-
würdigen Zwecken geschieht. Wir halten uns bloß an die
Tatsache, dass die spiritistische Lehre mehr und mehr
Boden gewinnt und besonders unter den Volksmassen An-
klang findet. Und dieser Umstand verleiht dem Spiritis-
mus eine sociale Bedeutung und berechtigt uns denselben
einer völkerpsychologischen Analyse zu unterwerfen.
Diese Analyse concentrili sich in der Beantwortung
der Frage, warum sich der Spiritismus so verbreitet hat.
Zu diesem Zwecke sollte zuerst gesagt werden, was der
Spiritismus ist. Doch wir werden diese Frage verschieben;
wir bahnen uns den Weg zur Untersuchung des gegebenen
Themas durch Hinweis auf eine seltsame sociale Erscheinung.
Vor unseren Augen entspinnt sich ein heftiger Kampf
zwischen der positiven Religion und der fortschreitenden
^ issenschaft, dessen Toben die Gemüter der ganzen ge-
bildeten Welt erfüllt, so zwar, dass eben durch diesen
Kampf unsere socialen Verhältnisse am besten charakteri-
su't sind. Wenn wir uns die gesammte Gesellschaft der
uitiirVölker Europas als ein denkendes Ganze vorstellen
w°Uen, so repräsentirt jener Kampf die größte Vorstellungs-
ZeitBchrift für Yölkerpsyoh. und Sprachw. Bd. XVIII. 2
114
Krejcí.
und Apperceptions™asse, welche alle Handlungen des be-
seelten Giganten bestimmt; alles, was in der Gesellschaft
geschieht, alle socialen Erscheinungen sind durch diesen
Kampf bedingt.
Inmitten dieses Kampfes erscheint nun der Spiritismus
und wird — von beiden streitenden Mächten bekämpft.
Die Theologen behandeln ihn ganz anders als die übrigen
wissenschaftlichen Theoreme und auch die Vertreter der
Wissenschaft verbannen ihn aus ihrem Kreise. Was ist
also dieser Spiritismus? — Dies zwingt uns zuerst den
Kampfplatz zu besichtigen, denn in dem Verhältnis, in
welchem der Spiritismus zur Religion und Wissenschaft
steht, beruht seine sociale — wie wir glauben — Bedeutung
und somit auch die Lösung unserer Frage.
I. Das Endziel der gesammten geistigen Arbeit der
Menschheit ist die Erkenntnis des Ich und der Außenwelt,
worin das Verhältnis beider mitinbegriffen ist: also eine
einheitliche Weltanschauung. Diese Weltanschauung ist
ein naturgemäßes Bedürfnis eines jeden selbstbewussten
Individuums und es findet keine Ruhe, bevor es mit diesen
Fragen nicht im reinen ist. Natürlich ist die Beant-
wortung dieser Fragen, also auch die dadurch entstandene
Weltanschauung, von der Qualität und Quantität des geisti-
gen Schatzes abhängig und wenn wir die Qualität und
Quantität der Vorstellungsmassen mit dem Worte Bildung
bezeichnen, so ist auch die Weltanschauung durch Bildung
bedingt, so wechselt die Weltanschauung mit der Bildung
und so muss sich auch mit der fortschreitenden Bildung
die Weltanschaung vervollständigen. Anders ist dieselbe
beim Kinde als bei einem Erwachsenen, anders bei einem
Wilden als bei einem Gebildeten.
Die geistige Arbeit der Menschheit repräsentiren die
Wissenschaften; das Endziel derselben muss also eine ein-
heitliche Weltanschauung sein und wenn sich speciell mit
der Zusammenstellung der Weltanschauung die Philosophie
beschäftigt, so ist sie als die Resultante aller Wissenschaften.
Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
115
alles Wissens zu betrachten. Die Wissenschaften sind aber
von ihrem Ziele noch weit entfernt, sie sind unvollständig ;
folglich ist auch die Weltanschauung-, welche auf Grund
derselben von der Philosophie geschaffen wird, unvollständig.
Der Mensch braucht aber eine vollständige Weltanschau-
ung, folglich ist er gezwungen das Unvollständige des po-
sitiven Wissens auf irgend eine Weise zu ergänzen, und
dies führte ihn schon in der Urzeit zur Mythologie und
Religion. Wo der Verstand nichts ausrichtet, dort stellt
sich zu rechter Zeit Phantasie ein. und das Wissen wird
durch Glauben ersetzt.
Insofern die Religion die wissenschaftlichen Resultate
ergänzt, muss sie sich mit dem Fortschreiten derselben
auch verhältnismäßig ändern. Je mehr die Wissenschaft
fortschreitet, desto weniger bleibt dem Glauben übrig. Es
gab Zeiten, wo Religion und Wissenschaft eins waren; da
sind denn die Priester die ersten Pfleger der Wissenschaften.
Die Wissenschaft galt gleich dem „Mehr Wissen" und wurde
für etwas Göttliches angesehen (cf. die Priester in Aegyten,
die privilegirten Priestergeschlechter bei den Hebräern
Und Griechen. Derselben Erscheinung begegnen wir im
Mittelalter, wo bekanntlich der Humanismus aus den Zellen
der Mönche hervorgegangen ist und sich verbreitet hat.)
Dieses Verhältnis würde der Theorie entsprechen, aber
ist leicht zu ersehen, dass dem so fortwährend nicht
war und nicht sein konnte. Es gab verschiedene Ursachen,
Welche die Religion zu einem conservativen Factor
dachten, wogegen die Wissenschaft unaufhaltsam vorwärts-
schreitend das revolutionäre Element reptäsentirte. Sie
konnten nicht unverändert nebeneinander bestehen, und
dadurch entstand ein Kampf, welcher nur durch Nach-
geben einer Partei entschieden werden kann. Die Wissen-
schaft kann nicht capituliren, sie müsste sonst lügen; es
,f|uss also die Religion nachgeben und sich den neuen Er-
luûgenschaften acconimodiren. So wird der Kampf auf eine
^ eile gestillt; sobald aber die geistige Arbeit wieder vor-
8*
116
Krejcí.
wärts zu dringen beginnt , widerholt sich derselbe Process
und wird sich widerholen, bis — wenn es überhaupt mög-
lich ist — die Wissenschaft zur allgemeinen Religion wird,
sowie anfangs das Gegenteil galt.
Die Religion schreitet also auch vorwärts aber sprung-
weise, und die Zwischenzeit ist durch jenen Culturkampf
erfüllt. Nur dürfen wir nicht vergessen, dass der Begriff
der Religion auf Alles auszudehnen ist, was in der Cultur-
geschichte eine analoge Stellung annimmt, wie die Religion
heutzutage, also auf alle den Fortschritt hemmenden Vor-
urteile, Gebräuche, Traditionen; und dass unter Wissen-
schaft jeder Fortschritt der geistigen Arbeit zu verstehen
ist, auch wenn derselbe durch irgend eine Religion herbei-
geführt worden ist. So war z. B. das Christentum im
Vergleiche zur heidnischen Mythologie ein Fortschritt und
zwar ein um so bedeutender, als es eine neue vollständige
Weltanschauung mitbrachte und dem Streite zwischen dem
Volksglauben und den philosophischen Systemen ein Ende
machte. Desgleichen bedeutet der Protestantismus gegen-
über dem mittelalterlichen Katholicismus einen Fortschritt,
und seit jener Zeit weicht die Theologie Schritt für Schritt.
Wir brauchen uns bloß an das Gallileische e pur si muove,
an die Ideen der französischen Revolution, an die natur-
wissenschaftlichen Thesen über die Entstehung der Welt
zu erinnern, um zu erkennen, wie sich auch die strengste
Dogmatik modernisiren kann. Doch es geht nicht ohne
Kampf und seine Flammen lodern heutzutage am heftigsten.
II. Der Mensch braucht eine einheitliche Weltan-
schauung; denn sie bietet ihm einen genügenden mora-
lischen Halt. Wie so denn?
Alles menschliche Handeln ist bekannterweise durch
Vorstellungsmassen bedingt, der Wille ist vom Wissen ab-
hängig. Nun ist die Moralität im Allgemeinen eine Regel-
mäßigkeit im Handeln.1 Regelmäßig handeln kann
' Ich verweise dabei auf die Anmerkung Steinthals in dieser
Zeitschrift XVri. p. 110—112.
Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
117
unserer Supposition gemäß nur Derjenige, der auch seinen
Vorstellungsschatz in Ordnung hat, indem er feste Maxi-
men geschaffen, die sein Handeln bestimmen. Eine ein-
heitliche Weltanschauung bringt Ordnung unter die Vor-
stellungen, so dass sie jede Apperception bedingt, also
auch diejenige, welche dem Handeln vorangehen muss.
Wer mit seiner Weltanschauung nicht fertig ist, handelt
nicht consequent. Das Kind handelt jede Stande anders
und die Moralität der Wilden entspricht ihrer unvollkomme-
nen Weltanschauung.
In Hinblick auf das im 1. Gap. Gesagte folgern wir:
dass dort, wo die Religion die Weltanschauung bietet, durch
die Religion auch die Moralität bedingt ist und dass der
Religiösgesinnte moralisch gut sein muss.
Wer die Weltanschauung durch Wissenschaft erhalten
hat, welche von der durch Religion übermittelten ver-
schieden ist, unterliegt der Macht derselben und ist eben
darum moralisch gut, weil er gebildet ist.
Der religiös Gesinnte muss so handeln, wie ihm seine
Religion vorschreibt; handelt er anders, so sündigt er.
Der Gebildete handelt nach seinem Gewissen und seiner
Ueberzeugung. Darin beruht ihre Moralität. Wenn ihre
Handlungen mit den Maximen der wissenschaftlichen Ethik,
Welche das Ideal des menschlichen Handelns aufstellt, nicht
übereinstimmen, so ist es nicht ihre Schuld. Sie sind ein-
mal Kinder der Zeit und können sich ihrem Einflüsse nicht
entziehen. Oder könnten wir es einem Griechen verargen,
dass er seinen Feind hasste, einem Montenegriner, dass er
Einern Pobratim zur Flucht verhilft, einem Moliamedaner,
dass er die Ungläubigen Hunde nennt? Hatte Sokrates
Unrecht, wenn er den Begriff der agszy] auf inia%r¡fir¡ grün-
dete? oder Christus, wenn er für seine Feinde mit den
Korten betete: Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was
tun ? So sind auch in unserer Zeit Religion und Bil-
dung die einzigen Grundlagen eines sittlichen Lebenswan-
dels und der relative Wert dieser Moralität steigert sich
118 Krejcí.
beinahe zum absoluten, da einerseits die Maximen der
christlichen Moral "den ethischen Grundsätzen ganz nahe
stehen und da man andererseits von einem wahrhaft Ge-
bildeten voraussetzen muss, dass er die Grundsätze der
Ethik kennt und sich darnach richtet.
Wenn die Moralität und die Religiosität in solchem
Verhältnisse sich befinden, inuss die Irreligiosität bei be-
treifenden Menschen auch moralische Verkommenheit mit
sich führen: was dem Menschen Glauben nimmt, das
macht ihn moralisch elend, indem es ihm die Grund-
lage seiner Moralität zerstört.
III. Daraus ergeben sich für den Culturkampf wich-
tige Consequenzen. Denn es gibt zwischen der religiös
gesinnten Volksmasse und den Aufgeklärten, welche wahre
Bildung besitzen, eine Schichte der menschlichen Gesell-
schaft, welche durch die erwärmenden Strahlen der Bil-
dung nicht so durchdrungen ist, um neues Leben aufblühen
lassen zu können, so dass dieselben verheerend wirken.
Die modernen Anschauungen erschüttern den Glauben, und
da sie für ihn keinen genügenden Ersatz gewähren, ver-
lieren die Menschen, welche das Schicksal in diese Schichte
verbannt hat, jedweden moralischen Halt. So lange sie
glaubten, handelten sie nach den Gesetzen der religiösen
Moral, sie wussten, was sie zu tun hatten; jetzt aber
glauben sie nicht mehr an den Gesetzgeber, wie könnten
sie seine Gebote befolgen ? Dagegen haschen sie nach den
Parolen moderner Aufklärung, welche sie nicht verstehen,
da sie der nötigen Vorbildung entbehren: Willkür wird zu
ihrem Gesetzgeber, und so muss diese Halbbildung mit der
Irreligiosität auch moralische Verkommenheit mit sich
führen.
Diese Verkommenheit ist also eine traurige Folge des
großen Culturkampfes, des Antagonismus der Religion und
der Wissenschaft, und die verwüsteten und verwarlosten
Gemüter jener unglücklichen Individuen sind die Opfer
desselben. Und was wird dann aus solchen Leuten? Dar-
Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
119
über gibt uns die Statistik Auskunft, indem sie beweist,
dass eben in dieser Schichte der Gesellschaft, welche durch
Halbbildung und Irreligiosität charakterisirt ist, einerseits
der Selbstmord am häufigsten vorkommt, andererseits, dass
sich der größte Teil der Verbrecher aus derselben recru-
tirt. Der Selbstmord wird nicht nur durch den gesunden Ver-
stand, sondern auch vom ethischen Standpunkte mit Recht
verdammt, es ist eine unmoralische Tat. Das häufige,
ungewöhnliche Vorkommen desselben muss also als ein
Zeichen der im Wachstum begriffenen Sittenlosigkeit, des
wachsenden moralischen Elends angesehen werden: es ist
eine sociale Krankheit.
Masaryk hat es in seiner Schrift: Der Selbstmord,
als sociale Massenerscheinung 1, unternommen die Ursachen
dieser socialen Krankheit zu eruiren und aus seiner Dar-
legung erhellt es klar, dass, wenn nicht überall, doch
wenigstens größtenteils der Mangel an Religiosität die
letzte Ursache dieser traurigen socialen Erscheinung aus-
macht. Ueberall wo ungenügende Bildung und Irreligiosi-
tät vorauszusetzen ist, wächst die Zahl der Selbstmörder;
in großen Städten, in ihrer nächsten Umgebung ist sie
größer als auf dem Lande; unter den Männern größer
als bei den mehr dem Gefühle unterliegenden und darum
mehr andächtigen Frauen. Damit stimmt iiberein, dass
der Selbstmord bloß bei civilisirten Völkern vorkommt, wo-
gegen bei den halbgebildeten Nationen nur dort, wo sie
mit der europäischen Civilisation in Berührung kommen,
und dass die Selbstmordneigung mit der fortschreitenden
Zivilisation zunimmt. Desgleichen weist eine große Ziffer
(las Militär auf, und man wird Masaryk sicherlich bei-
pflichten, wenn er die militärische Bildung das Prototyp
der Halbheit nennt.
„.Die gegenwärtige" — sagt er S. 174 — „sociale
Massenerscheinung des Selbstmordes ist die Folge des Zu-
'■ Wien 1881. Carl Conegen.
120
Krejcí.
sammenbruches der einheitlichen Weltanschauung-, wie sie
das Christentum in allen civilisirten Ländern bei den Massen
consequent zur Geltung gebracht hat. Der Kampf des
freien Gedankens mit den positiven Religionen führt zur
Irreligiosität der Massen: diese Irreligiosität aber bedeutet:
intellectuelle und moralische Anarchie und — Tod. Die
großen wissenschaftlichen Errungenschaften der Neuzeit
drängen sich den Menschen gewaltsam auf: die Meisten
werden unvorbereitet mit der höheren Cultiir bekannt, und
es ist ein schon bekanntes sociologisches Gesetz, dass das
zu rasche und unvermittelte Bekanntwerden mit einer höhe-
ren Cultur den Untergang der Uncivilisirten im Gefolge
hat. Wie die niederen ßacen aussterben, wenn sie mit
den höheren d. h. civilisirten in Berührung kommen, so
stirbt auch in der civilisirten Gesellschaft diejenige Schichte
der Bevölkerung aus, welche die höhere Cultur unvermit-
telt erhält. . . . Die Selbstmörder sind die blutigen Opfer
der Civilisirung, die Opfer des Culturkampfes."
Für den zweiten Umstand, dass die irreligiösen Massen
das größte Contingent der Verbrecher liefern, fehlen uns
zwar statistische Angaben, dagegen können wir diese Tat-
sache als allgemein geltend anführen, indem wir bloß auf
tägliche Erfahrung hinweisen, oder auf die Schilderungen
der Romanciers, eines Hugo, eines Sue u. s. w., oder auf
die historischen Data über verschiedene Revolutionen.
Kurz die Irreligiosität macht diejenigen, welche ge-
nügender Bildung entbehren, unglücklich, elend. Darunter
leidet die ganze Gesellschaft und es ist begreiflich, dass
man Hilfe gegen dieses Uebel sucht. Um ein Uebel weg-
zuschaffen, ist das probateste Mittel, die Ursachen desselben
zu erforschen und im Keime zu ersticken. Nun ist die
Irreligiosität eine Folge des Culturkampfes: wollten wir
sie wegschaffen, so rnüsste Friede gestiftet werden zwischen
den streitenden Mächten. Der Streit ist aber eine natur-
gemäße Notwendigkeit; er ist unausweichlich, wenn die
Menschheit vorwärtsschreiten soll. Von unserem Stand-
Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
121
punkte wäre also unmöglich Hilfe zu leisten. Wird bloß
ein Stillstand geschlossen, so kann er nicht lange dauern
und der Kampf entbrennt von Neuem. Die Schlachtlinie
befindet sich dort, wo beide Mächte aneinanderstoßen d. h.
eben in der mittleren, halbgebildeten Schichte und dort
werden immer neue und neue Opfer fallen. Gerettet wer-
den bloß diejenigen, welche entweder zurückweichen in den
Schooß der Kirche, oder zum Feinde übergehen.
Das Eine wie das Andere beschäftigt gegenwärtig
die Gemüter der leitenden Factoren, welche dem socialen
Elend entgegenzuarbeiten berufen sind. Einerseits erschallt
der Ruf nach confessioneller Schule, anderseits ist man
bemüht die Wissenschaft zu po pul ari sir en.
Das kann wohl für die Zukunft wirken, aber dort, wo
der Kampf wütet, in den Gemütern der Unglücklichen,
wird dadurch nichts gebessert. Dort bleibt nichts anderes
übrig, als Frieden zu stiften — die Contraste auszugleichen.
Den Gemütern, welche die Religion unbefriedigt lässt und
welche für die Wissenschaft unreif sind, muss etwas Drittes
gegeben werden, was in der Mitte liegend die Contraste
in sich aufhebt und den Bau der zerrütteten Weltanschau-
ung mit neuer Stütze versieht. Es kann selbstverständlich
Mehrere solcher Mittel geben; eins davon ist aber der
Spiritismus.
IV. Was ist also dieser Spiritismus? Ist er ein philo-
sophisches System, oder eine neue Religion? — Wie schon
gesagt, wollen wir diese Fragen unbeantwortet lassen; es
genügt für unseren Zweck auf ein charakteristisches Merk-
mal hinzuweisen, welches den Spiritismus befähigt die Ver-
mittlung zwischen der Religion und Wissenschaft zu über-
nehmen. Und das ist der Umstand, dass er den Glauben
Geister aufrechtzuerhalten sucht. Der Glaube an Gei-
ster verbürgt dem Menschen ein jenseitiges Leben und die
Vorstellung vom Himmel ist einer der Grundpfeiler der
herrschenden Religionen. Auf demselben beruht die Moti-
vation der christlichen Moral, welche der wissenschaftlichen
122
Krejcí.
Ethik so nahe stellt: handle gut, dass es dir wohlergehe
auf Erden und nach deinem Absterben. Dieses Gebot klingt
concreter als abstráete Regeln der Ethik, ist einem Unge-
bildeten begreiflicher, und so eine Vorstellung, welche das
Gemüt befriedigt, welche es von der natürlichen Furcht vor
dem Nichtsein, vor dem Tode befreit, ist eine unerschöpf-
liche Quelle von Trost und Aufmunterung in den schwie-
rigen Lagen des Lebens. So eine Vorstellung kann einen
Hiob vor Verzweiflung retten, kann Märtyrer und Heilige
erzeugen.
Die moderne Wissenschaft aber erschüttert eben diesen
Grundpfeiler der Religion, sie erklärt rücksichtslos alle
diese schönen, poetischen Vorstellungen für Phantasiebilder,
sie zerstört den Glauben an Offenbarung, welche die Wahr-
heit derselben Vorstellungen verbürgen sollte. Stellen wir
uns die Hilflosigkeit eines Menschen vor, in dessen Herzen
der Wurm der Skepsis zu nagen beginnt. Was er sehn-
lichst herbeiwünscht, verwirft der Verstand; was der Ver-
stand proponirt, perhorrescirt das Herz. Qual der Unent-
schlossenheit martert ihn und er fragt ratlos : Was soll
ich machen? „Glaube," sagt die Religion. „Du kannst
nicht glauben," sagt die Wissenschaft. — Da kommt der
Spiritismus und sagt: „Glaube nur, denn es lässt sich wissen-
schaftlich beweisen!"
Kann es uns wundern, wenn ein solcher Mensch die
neue Lehre begierig ergreift? und können wir dem Spiri-
tismus verargen, wenn er ihn rettet, wenn er ihn wieder
zufrieden, lebensfroh, glücklich macht? Gesetzt, die Basis
der spiritistischen Theorie sei seicht; mag die strenge
Wissenschaft die ganze Lehre für ein Phantom erklären,
mögen die spiritistischen Experimente und Geistercitirungen
bloße Taschenspielerei sein: einem kranken Herzen, dem
der Verstand an sich selbst gewiesen, nicht helfen kann,
genügt der bloße Schein einer wissenschaftlichen Begründung
und psychologisch ist dieser Grund genügend, quod fere
libenter homines idquod volimi eredunt — wie schon Cäsar
Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
123
wusste. Es ist doch ein Fortschritt, wenn man das glaubt,
Avas man für bewiesen hält, wovon man sich überzeugen kann.
So sind wir, glaube ich, an dem Punkte angelangt
von welchem wir die sociale Bedeutung des Spiritismus zu
würdigen im Stande sind.
Erstens bekommt die Frage nach den Ursachen der
großen Verbreitung des Spiritismus eine befriedigende
Beantwortung. Der Zauber seiner Wirkung besteht, wie
eben erörtert worden ist, darin, dass er den Contrast
zwischen der Religion und Wissenschaft ausgleicht. Ueber-
au, wo dieser Contrast unheilvolle Folgen verursacht, indem
er die einheitliche Weltanschauung zerstört und die Grund-
lagen der Moralität erschüttert, verbreitet sich der Spi-
ritismus. So finden wir ihn in den Hütten der verarmten
Bevölkerung des böhmischen Biesengebirges, welche durch
Hunger und Not der Verzweiflung nahe gebracht ist. Man
findet ihn ferner in der mittleren Handwerkerklasse der
Hauptstädte, welche sich durch Irreligiosität und Neigung
zum socialen Fanatismus auszeichnet. Doch auch in den
höchsten Schichten der sogenannten Intelligenz zählt er
zahlreiche Anhänger; denn es ist bekannt, dass weder ein
akademischer Gradus, noch ein klangvoller Name, sei es
in der Literatur oder in anderen Sphären der geistigen
Tätigkeit, die wahre Bildung unumgänglich verbürgen,
und dass keine gesellschaftliche Stellung so erhaben ist,
um den Würdenträger vor der Halbbildung zu schützen.
Man studirt nicht um wahre Bildung zu erwerben, sondern
um sich den Weg zur Carrière oder zu einem bequemeren
Leben zu bahnen. Und diese Halbheit hat überall diesel-
ben Consequenzen im Gefolge. Auch die Intelligentesten
können der Skepsis und dem Pessimismus verfallen, aber
sie können auch im Spiritismus ihr Heil finden. Dasselbe
gilt vom Adel. Derselbe ist in jeder Hinsicht conservativ,
denn seine privilegirte gesellschaftliche Stellung befindet
«ich im Widerspruche mit modernen Anschauungen über
Gleichheit aller Stände, deswegen sympathisirt er aus egoi-
124
Krejcí.
stiscìien Gründen mit Allem, was seine Privilegien schützen
könnte und das ist vorzugsweise die Religion und ihre
socialen Einrichtungen. Dieses Syinpathisiren heißt aber
nicht überzeugt sein, heißt nicht religiös gesinnt sein. Weil
also manchmal die intellectuelle Bildung dieser Kaste nur
oberflächlich zu sein pflegt, indem man verschiedenen Sports
mehr Zeit und Fleiß widmet als dem Bekanntwerden mit
den Wissenschaften, so sind auch liier Bedingungen ge-
geben. welche Skepsis herbeiführen und den Spiritismus
willkommen erscheinen lassen.
Zweitens. Das Verhältnis des Spiritismus zur posi-
tiven Religion und zur Wissenschaft, wird jetzt klar. Er
steht mit einem Fuße auf dem Boden der Religion mit
dem anderen in der Sphäre der Wissenschaft und vereinigt
Vorteile beider in sich. Von der Wissenschaft entlehnt er
die Beweiskraft; er macht Ernst mit seinem Scheine der
Wissenschaftlichkeit ; er will Alles beweisen und das impo-
nirt gegenüber dem Verfahren der Theologie, welche ihre
Hauptstütze, den Glauben an Oifenbarung, nur durch Nega-
tion unleugbarer naturwissenschaftlicher Thatsachen retten
kann. Dagegen hat er mit der Religion das gemein, dass
er aufs Herz zu wirken versteht durch seine Lehre von
der Unsterblichkeit der Seele, von der Gemeinschaft der
Lebenden mit den Geistern der Verstorbenen und durch
die Art seiner Experimente. Das Geheimnisvolle hat immer
auf menschliches Gemüt einen sonderbaren Reiz geübt, in-
dem es unsere Phantasie anregt und uns in einen Zustand
versetzt, wo wir leicht „außer uns" geraten und dem psychi-
schen Mechanismus unterliegen. Hört man von den spiri-
tistischen Productionen, so glaubt man, in die Zeit der
Wunder versetzt zu sein und es gibt Leute genug, welche
so Etwas für bare Münze annehmen und durch dasselbe
ihren Wissensdrang befriedigen. Sie sind dabei nicht
schlimmer als die ungeheuren Scharen der Andächtigen,
welche jährlich zu heiligen Wunderbildern pilgern. So
dringt der Spiritismus auch in solche Schichten der Ge-
Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
125
Seilschaft hinein, welche den modernen Anschauungen gänz-
lich fern stehen, wohin sich kein anderer Philosoph zu
wagen unterstehen kann.
Die Theologen haben schon längst begriffen, dass ihnen
der Spiritismus weit gefährlicher sei, als die ganze übrige
Wissenschaft. Deswegen bekämpfen sie ihn dort, wo er
ihnen größten Schaden anrichtet : von den Kanzeln1
der Pfarrkirchen. So haben sie die sociale Bedeutung des
Spiritismus anerkannt, was von den Vertretern 'der Wissen-
schaft nicht gesagt werden kann. Diese hielten sich und
halten sich bis jetzt an die spiritistischen Experimente
und machen kurzen Process mit ihm, indem sie seine Theorie
für Aberglauben und die Experimente für Unsinn erklären.
In dieser Richtung strömt auch die Flut der polemischen
Literatur, wird aber nichts besser machen. Der Spiritis-
mus hat eben eine untergeordnete philosophische und über-
haupt wissenschaftliche Bedeutung, dagegen eine wichtige
sociale.
Drittens erscheint der Spiritismus als ein notwen-
diges, naturgemäßes sociales Phänomen. Er ist durch den
Kulturkampf bedingt, welcher die Irreligiosität eines Teiles
der Gesellschaft herbeiführt. Im Vergleiche zu den negativen
Konsequenzen der Irreligiosität, der Selbstmordneigung, der
Psychose, der moralischen Verkommenheit, steht der Spiri-
tismus und ähnliche Erscheinungen als ein positives Con-
sequens da. Wenn daher der Culturkampf periodisch
ln der Geschichte der Menschheit auftritt, so müssen wir
voraussetzen, dass auch der Spiritismus in der Kulturge-
schichte seine Analogien hat. Dieselben Ursachen müssen
dieselben Folgen haben; setzt man die Bedingung, muss
^an auch das 'Bedingte setzen. Die Bedingung ist der
Kulturkampf, das Bedingte der Spiritismus, also: überall
w° der Culturkampf vorhanden ist, muss auch der Spiri-
tismus vorhanden sein; nur müssen wir hinzusetzen mutatis
! Z. B. in der Königgraetzer Dioeoese in Böhmen vor einigen
326
Krejcí.
mutandis. Der Kampf z. B,, welchen das Christentum mit
den volksüblichen Anschauungen unternehmen musste, be-
zeichneten wir schon im 1. Capitel als eine Analogie des
jetzigen Culturkampfes. Das Christentum repräsentirte
damals den Fortschritt, welchem die in Verfall begriffene
antike Civilisation hemmend entgegentrat. Darin ist ein
Unterschied, dass das Christentum eine fertige einheitliche
Weltanschauung mitbrachte, was bei der jetzigen Wissen-
schaft nicht der Fall ist, so dass durch seinen Sieg der
Kampf auf lange Zeiten entschieden werden konnte. Doch
gegenüber der bestehenden polytheistischen Weltanschau-
ung verhielt es sich auf dieselbe Weise wie heutzutage
die Wissenschaft gegenüber der positiven Religion. Auch
damals wurde Bedürfnis gefühlt, die schroífen Contraste
auszugleichen ; man fühlte das Ungenügende des damals
bestehenden Volksglaubens, schon bevor das Christentum
auftrat, und das Bekanntwerden mit demselben musste bei
einem verständigen Heiden eine ähnliche Skepsis hervor-
rufen, wie jetzt das Bekanntwerden mit der Wissenschaft.
Was dachte ein solcher Mensch von den Opfern, welche
er den Gesetzen seines Vaterlandes gemäß und der Tra-
dition seiner Väter folgend, den Göttern darbrachte, was von
den übrigen Staats- und Cultureinrichtungen, wenn er die
Erhabenheit der christlichen Lehre erkannte, wenn er das
schöne idyllische Leben der christlichen Gesellschaft und
die heroische Aufopferung der Märtyrer mit den faulen
Verhältnissen seiner eigenen Umgebung zu vergleichen be-
gann? War es nicht natürlich, dass mancher von solchen
Leuten unglücklich und mit sich selbst unzufrieden ward?
Bekannt sind die Worte Senecas, durch welche er das
sociale Elend seiner Zeit charakterisirt : taedium, displicentia
sui, et nusquam residenti',s animi volutatio. Kein Wunder, be-
merkt Masaryk (S. 153), dass in einer solchen Zeit der
intellectuel 1 en und moralischen Anarchie die Gemüter auf-
geregt und durch und durch traurig und pessimistisch
gestimmt sind; und es bleibt dem größten römischen Na-
Der Spiritismus als sociale Erscheinung.
127
turforscher vorbelialten einen Hymnus auf den — Selbst-
mord zu schreiben! Also die Selbstmordneigung war da,
und in derselben Zeit trat auf einmal der Neu plafoni s-
mus auf, welcher bekanntlich die platonische Lehre durch
christliche Anschauungen umgestaltete und auf solche Weise-
den Polytheismus mit dem Monotheismus verband Und
diesen Neuplatonismus führen wir als Anologie des heutigen
Spiritismus» an. Er erscheint unter denselben Bedingungen,
in demselben Gefolge, er steht ebenfalls in der Mitte der
streitenden Parteien und hat sich auch rasch verbreitet.
Im Jahre 243 kam Plotinus nach Rom und fand hier so
viele Anhänger, unter welchen sich auch Kaiser Gallienus
und seine G-emahlin Salomina befanden, dass er sich mit
dem Plane beschäftigte eine Platonopolis zu gründen, deren
Einwohner nach den Gesetzen Piatons leben sollten. Nach-
dem endlich der Kampf durch den Sieg des Christentums
zum Abschlüsse gebracht worden war, verschwand auch
der Neuplatonismus von der Bühne.
Aehnlicher Weise könnten wir im Mittelalter unter
verschiedenen Secten, welche der Reformation vorausge-
gangen waren, Analogien aufsuchen; wir unterlassen es
aber; denn unsere Ansicht über die Bedeutung des Spiri-
tismus würde dadurch — falls dieselbe unhaltbar ist — nicht
gerettet werden. Hat sie Anspruch auf Wahrscheinlichkeit,
80 haben wir den Weg gezeigt, wie solche Analogien zu
finden sind.
Viertens können wir prognosticiren: der Spiritismus
werde so lange sich verbreiten und dadurch von socialer
Bedeutung sein, solange die Bedingungen seines Wachs-
tums bestehen werden. Wird der Culturkampf auf irgend
tune Weise gestillt, so wird auch der Spiritismus aufhören.
Entbrennt aber in der Zukunft der Culturkampf in neuer
^ orm, so wird wieder eine neue Auflage des Spiritismus
Auftauchen.
128
Haberland.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim
Essen.
Von Carl Haberland.
(Fortsetzung.)
§ 8-
Die Scheu mit Andersgläubigen zu essen, welche uns
bei den Bekennern vieler Religionen in aller Strenge and
zur starren Satzung ausgebildet entgegentritt, liegt, tief
begründet in dem Bewusstsein der Gläubigen von der Al-
leinwahrheit oder wenigstens höchsten Vorzüglichkeit ihres
Bekenntnisses und der daraus hervorgehenden Anschauung,
dass die Bekenner anderer Religionen eben durch ihr falsches
Bekenntniss befleckt sind, und dass sie diese ihre Uneinheit
durch die enge Verbindung, welche durch ein Zusammen -
essen dargestellt wird, den Gläubigen mitteilen. Die Hindu,
Juden, Abyssinier essen mit keinem, der eines andern
Glaubens ist; letztere fürchten sich dadurch des Irrglaubens
des Betreffenden schuldig zu machen.1 Der Jude betrachtete
nach talmudischer Anschauung das Essen mit Heiden als
eine Teilnahme an heidnischer Opfermahlzeit und eine An-
erkennung ihrer Götzen und verabscheute das Biertrinken
mit ihnen namentlich, weil es leicht eine Gelegenheit zum
Schließen von Ehebündnissen werden konnte;2 die russischen
Altgläubigen halten es für eine Sünde Speise oder Trank
aus einem Gefäße zu nehmen, welches der Mund eines
Andersgläubigen berührt hat.3 Für die katholischen Christen
verbot noch im Jahre 1440 das Concil von Freising das
1 Harris 2, 176.
2 Abodah Sarah 60. 226. Vom Passahlamm darf kein Fremder
essen. 2. Mos. 12, 43.
3 Erman 1, 300.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen, 129
Zusammen essen ebenso wie auch das Baden mit den Juden,1
ein Verbot, welches hinsichtlich des Zusammenessens we-
nigstens für Spanien, wo die Juden in sehr bedeutender
Anzahl vorhanden gewesen zu sein scheinen, bereits im
Jahre 303 vom Concil von Illiberis ausgegangen ist.2
Große Sorgfalt verwendete die Kirche auch auf die Ver-
hinderung des gemeinschaftlichen Essens ihrer namentlich
neubekehrten Glieder mit den heidnisch gebliebenen Volks-
genossen in der richtigen Voraussetzung, dass dadurch am
ehesten ein Rückfall in heidnischen Brauch und Grlaubeu
ermöglicht wurde; in den bischöflichen Verordnungen zur
Zeit der Christianisirung Deutschlands kehrt dieses Verbot
immer und immer wieder.3 Dass wie jeder Verkehr über-
haupt so auch das Zusammenessen mit excommunicirten
Mitgliedern der christlichen Gemeinschaft auf das strengste
verboten war und streng geahndet wurde, versteht sich
von selbst, die eigene Excommunication war schon früh-
zeitig dem dem Verbote Zuwiderhandelnden angedroht;4
in Griechenland und Rom war das Zusammenessen mit
den Verbannten verboten und erforderte, wenn es geschehen,
eine religiöse Reinigung.5 Unter den Mohammedanern sind
es nur die Schiiten, welche eine derartige Gemeinschaft
mit Ungläubigen verabscheuen, während die Sunniten sich
nicht daran kehren.6 Die Seikhs strecken in derartigen
Fällen nur das Schwert mit einigen Worten über die Speisen
und essen dann ohne Anstand,7 obgleich sie im Uebrigen
«ich gerade zu den Andersgläubigen sowol Mohamedanern
als Hindus in schroifen Gegensatz stellen. Auch schon auf
1 Lammert 50.
2 Milman 2, 288.
3 Fehr 137.
4 Lecky 2, 6.
5 Fustel de Coulanges 2B7.
" Niebubr. Beschreibung von Arabien. Kopenhagen 1772. S. 46,
' Sprengel und Forster 7, 260.
•¿eitchiift für Völkerpaycb. und Sprachw, Bd XVIII, 3. 9
130
Haberland.
niederen Culturstufen finden wir diese Abneigung, wenn-
gleich hier weniger das Religiöse als der Unterschied in
den Sitten häufig der Grund dafür ist. Die Monbuttu und
Acka pflegen nicht mit den Niam-Niam, Bongo und Mittu
zusammenzuessen, weil diese nicht wie sie beschnitten sind
und daher von ihnen als Wilde aufgefasst werden; die
Nubier der Schweinfurtschen Karawane aßen dagegen wi-
der nicht mit den Monbuttu, weil sie diese als Kannibalen
verabscheuten.1 Unter den ureingeborenen Stämmen Indiens
scheuen die Puharris und Sontars wechselseitig die Gemein-
schaft beim Essen und zwar weil die erstgenannten mit
ihren Weibern speisen, die letzteren aber Schlangen essen,
was jedes der anderen Partei ein Greuel ist;2 ebenso essen
die Uraus und Santhals, weil sie sich besser dünken, mit
keinem Munda, oder er miisste denn erst ein Stück Ge-
flügel in den .Reistopf tun, der Munda dagegen isst mit
beiden, aber alle werden nie gestatten, dass ein Europäer,
Hindu oder Muselmann ihre Nahrung oder ihre Kochge-
fäße berühre.3
Der Hindu dehnt das Verbot des Zusammenessens auch
auf seine Mitbürger gleichen Glaubens aber anderer Kaste
aus und betrachtet es als einen Makel mit einem aus nie-
derer Kaste zusammenzuessen, obgleich in seinem Religions-
gesetz gar kein bestimmtes Verbot des Zusammenessens
der drei höchsten Klassen vorliegt;4 ebenso ist auch in
Polynesien das Zusammenessen Geringerer mit Vornehmen
verpönt, es würden, da man sich die Schutzgeister gerade
beim Speisen am tätigsten dachte, die der letzteren be-
1 Schweinfurt in Zeitschrift für Ethnologie 5, 10.
2 Baseler Missionsmagazin 1842. Heft 1 S. 130.
3 Church Missionary Intelligencer 1859, 19.
4 Kerr. The domestic life character and customs of the natives
of India. London 1865. p. 300. 265. Eine indische Legende erzählt
von einem Könige, welcher sich in Kuhdung verbrannte, als er er-
fuhr, dass er unwissentlich mit einem ihm nicht sichtbar gewesenen
Pariah zusammengegessen habe. Taylor 1, 128.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
131
leidigt und ihre Rache auf beide Teile gezogen haben.1 So
weit geht aber diese Abneigung in Indien, dass selbst Unter-
abteilungen der Kasten stellenweise nicht miteinander essen
und z. B. die Namburi Travancores nie mit den anderen
Brahmanen dies tun.2 Nur bei dem gemeinsamen Essen
der Pilger in Dschagannath fällt der Unterschied der Kaste
fort, und zwar wird hierbei auf die Nichtbeachtung der
Kaste ein solches Gewicht gelegt, dass von den Priestern
denen, welche sich aus Kastenstolz von dem Mahle aus-
schließen, die Absolution versagt wird.3 Uebrigens gibt
es unter den Hindus auch Secten, welche von diesen stren-
gen Geboten abgehen; namentlich sind es die religiösen
Bettler verschiedener Vischnusecten, welche ohne Berück-
sichtigung von Starnili oder Kaste mit einem jeden essen;4
bei den Pran Nathis, welche eine Versöhnung beziehungs-
weise Identität des Hinduglauben und des Islam predigen
besteht die Aufnahmeceremonie gerade im Zusammenessen
mit Mitgliedern beider Bekenntnisse.5 Schon die Berührung
der Speise oder des Essgefäßes seitens des Angehörigen
einer niedrigeren Kaste macht dasselbe zum Gebrauch für
eine höhere untauglich,6 ebenso wie auch die Berührung
eines Ungebadeten oder eines der Schuhe an den Füßen
hat,7 und dieses Gefühl wurzelt so tief, dass oft das Küchen-
geschirr weggeworfen wird, wenn ein Mitglied einer an-
deren Kaste in die Hütte tritt, oder das Essen fortgeschüttet
wird, wenn ein solcher dem Essenden nur überhaupt zu
ttahe gekommen ist;8 namentlich weit treibt die Vischnu-
^ecte der Ramanujas den Ausschluss jeden fremden Blickes
1 Waitz-Gerland 6, 537.
i Missionary Intelligencer 1862, 190.
3 Baseler Magazin 18423 77.
4 Wilson 1, 55.
5 Wilson 1, 352.
fl Baseler Magazin 1845'2 25. Intelligencer 1858, 135.
7 Intelligencer 1858, 135.
8 Baseler Magazin 18433 85.
9*
132
Haberland.
yoiiì Mahl.1 Nach Apastambas Aphorismen''¿ soll der Zwei-
geborene mit essen aufhören, wenn ein Sudra ihn berührt,
auch nicht in einer Reihe mit unwürdigen Personen essen.
Auf der Reise wird der Hindu stets den Platz beim Essen
mit Tüchern umgeben, damit ihm Niemand zusehen kann;
symbolisch isolirt man wol auch seine Nahrung, indem man
sie vor dem Essen mit der Hand umkreist.3 Eine Folge
dieser Furcht vor Verunreinigung ist auch die Anlage der
Küche in dem Teile des Hauses, welcher Fremden am
wenigsten zugänglich ist, das Verbot des Fremdeneintritts
in dieselbe und die Vorschrift, die Küchentür stets sorg-
fältig geschlossen zu halten.4 Uebrigens handelt ebenso
der Khond den unter ihm lebenden Pariakasten gegenüber
und bei anderen nichtarischen Völkerstämmen Indiens finden
wir ähnliche Sitte, meist wol durch Hindueinfluss einge-
führt;5 auch der Jude soll nach dem Talmud kein christ-
liches Gefäß und selbst ein neues von einem Christen er-
haltenes nicht ohne eine vorhergegangene Reinigung be-
nutzen. R
Besondere Vorsicht muss namentlich der Brahmane in
Annahme von Speisen beobachten, er darf nicht die eines
Sudra, eines Wahnwitzigen, eines Arztes, eines Erzürnten,
eines Eunuchen und so noch vieler Anderer genießen, eben-
sowenig eine Speise, woran ein Vogel mit dem Schnabel
gepickt, oder welche eine Menstruirte berührt, oder auf
welche ein Mensch, der einen Abortus verursachte, sein
Auge geworfen hat. Böse sind die Wirkungen derartiger
Speisen: die eines Wäschers zerstört seine Muskelkraft, die
1 Wilson 1, 39.
2 1, 5, 16, 32. 17, 1. 2. in The sacred laws of the Ârvas. Trans-
lated by Bühler. Oxford 1879. Part 1.
3 Dubois 1, 344. Colebrooke 1, 209.
4 Wiese 1, 547. Dubois 1, 247.
5 Globus 10, 15. Metz. Die Volksstämme der Nilagiris. Basel
1858. S. 54. 60.
6 Buxtorf 628.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
133
eines Töpfers seine Existenz, die eines Wucherers wirkt,
als wenn er Exkremente, die eines Arztes, als wenn er
Eiter hinabgeschluckt hätte; die auf welche ein Fötus-
mörder geblickt, teilt ihm das Verbrechen dieses Sünders
mit.1 Isst er derartige Speisen nur aus Versehen, so büßt
ein dreitägiges Fasten sein Vergehen; geschieht es aber
wissentlich, so tritt die Buße dafür ein, welche auf den
Genuss von Samenflüssigkeit, Urin oder Kot steht.2 Sieht
den Brahmanen beim Manen- oder Opfermahl ein Tsandâla,
ein Schwein, Hund oder Hahn, eine Menstruirte oder ein
Eunuch essen, so wird dadurch die ganze Wirkung, welche
durch ein solches Mahl erreicht werden sollte, vernichtet,
and zwar zerstören von den drei Tieren das Schwein durch
Geruch, der Hahn durch den Wind seiner Flügel, der Hund
durch seinen Blick diese Wirkung.3 Speisen, welche durch
Beriechen seitens einer Kuh, durch Haare, Fliegen, Würmer
oder sonst auf eine Art verunreinigt sind, wodurch sie
eigentümlicherweise nicht als überhaupt unfähig zum Ge-
nüsse durch das Speisegesetz erklärt werden, reinigt man,
indem man sie auf das Feuer setzt, mit Wasser besprengt,
sie mit Asche oder Erde berührt.4 Die mongolischen
Lamas lassen überhaupt jede erhaltene Speise vor dem Ge-
nuss von ihren Schülern vermittelst eines Stabes mit Wasser
besprengen.5
Eine fernere Gemeinschaft, welche beim Essen von
vielen Völkern gemieden wird, ist die mit dem weiblichen
Geschlecht. Dieser Brauch gründet sich meistenteils dar-
auf, dass das Weib als ein seinem Wesen nach dem Manne
untergeordnetes Geschöpf gilt, dem es nicht gebührt, das
1 Manu (Uebersetzung von Loiseleur Deslongchamps. Paris 1840)
4> 207 ff. 8, 317.
2 Manu 4, 222.
3 Manu 8, 239 ff.
4 Apastamba 1, 5, 16, 21. Glosse. Yajnavalkya (Uebersetzung
von Stenzler. Berlin London 1843) 1, 189.
5 Klaproth 1, 237.
134
Haberland.
Mahl mit dem höherstehenden Geschlecht zu teilen, und
findet seine Ergänzung- noch darin, dass dem Weibe nur
die weniger gute Nahrung, häufig sogar nur die Reste vom
Mahl des Mannes zugewiesen werden. Auch die Idee von
der Unreinheit des weiblichen Geschlechts, weiche bei ver-
schiedenen Völkern herscht, mag auf das Entstehen der
Sitte eingewirkt haben. Bei den meisten Negerstämmen
speisen die Frauen getrennt von den Männern,1 ausnahms-
weise nur teilt der Mann wol zuweilen das Mahl mit der
vornehmsten oder liebsten Frau, welcher er auch, wenn er
gut gelaunt, etwas geistiges Getränk von den festlichen
Gelagen schickt; gewöhnlich aber speist jede Frau mit ihren
Kindern zusammen,2 sogar beim Hochzeitsmahl ist ihr nicht
die Gesellschaft des neuen Gatten gegönnt, welcher ihr
aber wenigstens ein Stück Fleisch schickt, damit sie nicht
leer ausgeht.8 In Dahome reicht die Frau knieend dem
Manne die Speise und isst, wenn er geendet hat; unschick-
lich ist es in Darfur, wenn die Frau vor dem Manne isst;
auch die Fulah und viele der ost- und centralafrikanischen
Völkerschaften, ebenso die Tscherkessen dulden nicht die
Teilnahme der Weiber am Malil.4 Dem Indianer steht das
Weib viel zu niedrig, als dass er mit dem Weibe äße, sie
isst nach ihm, und zwar wird behauptet, dass sie im Gegen-
satze zu der Mäßigkeit des Mannes alsdann sehr viel zu
sich nähme;5 indes gibt es auch Stämme, bei denen gemein-
schaftlich gegessen wird, wie beispielsweise die Cliimsyan-
Indianer in Britisch-Columbien, welche nur bei großen Fest-
lichkeiten getrennte Mahlzeiten halten, dabei aber sogar
den Weibern den Vorrang lassen.() Bei den Walachen
1 Waitz 2, 117.
2 Allgemeine Historie 4, 127 (Goldküste).
3 Ebencia 4, 316 (Whidah).
4 Globus 10, 325 (nach Eepin). El Tunsy in Liidde's Zeitschrift
9, 12. Waitz 2, 471. Andrée 2, 217. 333. Pallme 47. Globus 21, 131.
3, 75 (nach Lapinsky).
5 Catlin 91.
6 Missionary Intelligencer 1858, 247.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 135
wird das Hochzeitsmahl für die beiden Geschlechter gleich-
falls gewöhnlich in verschiedenen Räumen aufgetischt,1 und
auch in Deutschland findet sich in einzelnen Gegenden
diese Trennung der Hochzeitsgäste nach den Geschlechtern
als Brauch. In Polynesien herscht nur auf Hawai und
Tahiti die Sitte des Getrenntessens, was bei den strengen
durch ganz Polynesien herschenden Taburegeln, welche auf
Tahiti sogar nicht das Kochen am selben Feuer oder das
Essen im selben Räume den beiden Geschlechtern gestatten,
eigentlich zu verwundern ist; dagegen findet sie sich wider
streng auf den Fidschi-Inseln.2 Der Australier behandelt
das Weib gleich einem Hunde, er wirft ihr von seinem
Mahle zu, was ihm nicht behagt;3 Samojeden und Grön-
länder schließen gleich anderen Polarvölkern wol wegen
der Unreinheit des Weibes es vom Mahle des Mannes aus.4
Das Weib des Hindu steht hinter ihrem Gatten und ent-
fernt sich mit den Resten,5 ebenso isst in China die Frau
erst später, nachdem sie vorher Gatten und Söhne beim
Mahle bedient hat.G Indess scheint in Indien diese Aus-
schließung der Gattin vom Mahl des Mannes in früherer
Zeit nicht so gebräuchlich gewesen zu sein, da im Gesetz-
buch des Manu auf das gemeinschaftliche Mahl der Gatten
an einer Stelle angespielt wird;7 eine andere verbietet
allerdings wider dem Manne, wenn er Wert auf seine
Männlichkeit setzt, mit der Frau aus einer Schüssel zu
essen, ja sogar sie anzusehen, wenn sie isst, was uns aber
hei den vielfachen Widersprüchen dieser Gesetzsammlung
1 Schott. Walachische Märchen. Stuttgart u.Tübingen 1845. S. 76,
2 Waitz-Gerland 6, 346. 121. 122. 637.
3 Mundy. Wanderungen in Australien. Leipzig 1856. S. 80.
Kapitän Sturt in Journal f. Land- und Seereisen 77, 28?.
4 Pallas 3, 75. Cranz 192.
5 Baseler Missionsmagazin 442 50. 452 38. Wiese 1, 405.
0 Globus 10, 34. Hue u. Gäbet. Wanderungen durch das chine-
sische Reich. Leipzig 1867. S. 111.
7 Manu 3, 313 ff. Wiese 1, 426.
J36 Haberland.
nicht weiter Wunder zu nehmen braucht.1 Bei den He-
bräern und Aegyptern2 nahmen die Frauen, ebenso wie
bei den Griechen. Römern und Germanen an den Mahl-
zeiten der Männer teil, in Griechenland mit Ausnahme der
Staaten, wo wie in Creta und Sparta gemeinschaftliche
Mahlzeiten der Männer Vorschrift waren.Christliche Völker
kennen nicht mehr diese Unterordnung des weiblichen Ge-
schlechts, welche bei den aufgeführten. Völkern seine Aus-
schließung von dem Mahle der Männer verursacht; nur im
südöstlichen Europa ist [es dem Christentume nicht gelun-
gen, ebenso wie im westlichen Asien, den morgenländischen
Begriff der niederen Würde des Weibes zu unterdrücken,
und der Grieche und Serbe, der Armenier und der nesto-
rianische Christ dulden noch jetzt nicht die Teilnahme des
Weibes am Mahl des Mannes, bei dem sie nur als Diene-
rinnen gegenwärtig sein dürfen.4
§ 9.
Betrachten wir jetzt die Bräuche, welche bei einem
Gastmahle in den Begriff der sogenannten Höflichkeit fallen,
so tritt uns zunächst als auffallend entgegen, dass bei den
Indianern der Wirt selbst in der Regel nicht mitessen
darf,5 ähnlich wie er bei den Usbeken, wo er den Diener
macht und jedes Gericht selbst auftragen muss, erst nach-
dem alle ihren Appetit gestillt haben, seinen Anteil be-
rührt-,6 auch bei den Osseten, Inguschen, Abchasen und in
Kafiristan7 findet sich diese weitgehende Aufmerksamkeit
1 Manu 4, 43. Gautama (in The Sacred Laws of the Aryas^
Part. I) 9, 32.
2 Rihm 465.
3 Schoemann 1, 324.
4 Globus 32, 149. Ausland 1853, 729. Baseler Magazin 471 136.
s Waitz 3, 135.
6 Buriles. Reisen in Indien und nach Bukhara. Stuttgart 1835,
Bd. 1 S. 264.
7 Ausland 1878, 284.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. ] 3 7
gegen den Gastfreund, und stimmt dieses ganz mit der
patriarchalischen Sitte, wonach Abraham, als er Jehovah
und seine beiden Engel als drei Männer bewirtete, vor
ihnen stand, während sie aßen.1 In Deutschland findet
sich stellenweise wie im Westrich und in Lerbach am Harze
sogar der Brauch, dass der Bräutigam während des Hoch-
zeitsmahles, anstatt Hauptperson zu sein, aufwarten muss;'4
im Thüringischen muss er nachher mit den Musikanten
und dem Dienstpersonal essen;3 in Andreasberg erhält beim
Taufmahl der Kindervater von diesem nur eine Speck-
schwarte.4 Auf den Marianen forderte der Anstand, dass
ehe man selbst aß, man allen Anwesenden von den Speisen
anbot,5 wie es auch allgemein orientalische Sitte ist, beim
Mahle zur Teilnahme aufzufordern, und Unterlassung dieser
Einladung als ein Verstoß nicht nur gegen die Höflichkeit,
sondern auch als ein solcher gegen das Sittengesetz gilt.
Klunzinger6 will für die Einladungssitte und vielleicht mit
Recht einen Grund mit in der Furcht vor dem bösen Blicke
sehen; das neidische Auge möchte übel auf die Speise und
ihren Genießer wirken. Dem Moslin ist beim ersten Abend-
mahl an den Ramazantagen ein Gast ein absolutes Er-
fordernis und sollte er von der Straße aufgegriffen sein.7
Das Gegebene zu verkleinern und sich zu entschuldigen,
dass man nichts Besseres geben kann, findet sich wie in
unserm Höflichkeitskodex auch in dem der Samoaner, wel-
cher gern das Gegebene als „nur etwas für Eure Diener"
und ähnlich bezeichnet,8 und sich darin mit der ausgesuchten
1 1. Moses 18, 8.
- Bavaria 4 2 368. Pröhle. Harzbilder. Leipzig 1855. S. 9.
3 Witzschel. Sagen, Sitten und Gebräuche aus Thüringen. Wiea
1866. 1878. Bd. 2 S. 237.
4 Pröhle a. a. 0. 12.
5 Waitz 52 127.
6 a. a. 0. 384.
7 Ebenda 170.
8 Turner. Polynesia 198. 339.
138
Haberland.
Höflichkeit der Chinesen einerseits und mit den rohen Um-
gangsformen des Grönländers, welcher dennoch zuweilen
sich entschuldigt, dass sein Haus nichts Besseres biete,1 an-
dererseits berührt. Prätorius2 in seiner „Wünschelrute" sagt:
„Es ist ein gemeiner Brauch unter uns Deutschen, dass
der, welcher eine Gasterei hält, nach der Mahlzeit sagt:
,es ist nicht viel zum Besten gewesen, nehmt so vorlieb'."
Dagegen schreibt das indische Sittengesetz dem Hausherrn
beim Manenmahle vor, dass er zu widerholten Malen die
Aufmerksamkeit der Teilnehmer auf den Reis und die an-
deren Gerichte und ihre gute Qualität ziehe.3 Sinnig ist
der indianische Brauch, die abschlägliche Antwort, welche
durch Rücksendung des als Einladungskarte dienenden
Stäbchens geschieht, mit etwas Tabak als Versüßung der
Absage zu begleiten,4 auch der grönländische, dass man
bei Besuchen stets eine Kleinigkeit Ess- oder Fellwaaren
zum Präsent mitbringt; recht practisch der im Lechrain
beim Ende der Hochzeiten übliche, dass der Abdanker seine
Rede mit folgenden Worten schließt: „Dabei muss ich gleich
fragen, ob auch alle genug haben. Sagen Sie es nur gleich und
nicht erst nach 8 oder 14 Tagen!", worauf dann alle „Sach
genug" rufen,5 welcher Brauch sich zur Beseitigung nach-
heriger Ausstellungen auch anderwärts bei manchen Gast-
mahlen empfehlen dürfte. Richtet in Palästina der Scheich
eines Beduinenstammes den Mitgliedern desselben und seinen
sonstigen Freunden ein großes Mahl aus, bei dem der Platz
natürlich sehr beengt ist und welches sich unsern soge-
nannten Abfütterungen vergleicht, so ist bei diesem die
practische Einrichtung getrolfen, dass sobald einer gesättigt
ist, er sich die Hände wäscht, und der Scheich einen an-
1 Journal für Land- und Seereisen 74, 312 (nach Graah).
2 Bei Grimm. Sagen. Berlin 1865. Bd. 2 S. 316.
3 Manu 3, 233.
« Waitz 3, 135.
5 Leoprechting. Aus dem Lechrain. München 1855. S. 244,
lieber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. ]39
(lern der Gäste aufruft, seine Stelle einzunehmen.1 Dem
Inder hinwiderum gilt ein Verlassen der Mahlzeit vor den
anderen Gästen, um seine Abwaschungen vorzunehmen, als
der guten Sitte zuwiderlaufend, und verbietet das Sitten-
gesetz dem Brahmanen die Nahrung eines solchen Menschen
anzunehmen.2 Bei verschiedenen Beduinenstämmen Süd-
arabiens müssen die Gäste durch Handarbeit zur Zurüstung
des Mahles beitragen, während einige Holz herbeischleppen,
holen andere Wasser, helfen beim Schlachten u. s. w.3
§ 10.
Die Verteilung der Speisen übernimmt zuweilen der
Vornehmste, wie dies z. B. in Mikronesien der Fall ist und
wie auch auf den Fidschi-Inseln der König die Reihenfolge
beim Kawatrinken festsetzt;4 in Lakedämon bekleideten
das Amt des Fleischverteilers angesehene Personen, als
Beispiel diene Lysander, welcher dazu vom König Agesilaus
ernannt wurde.5 In der Reichenbacher Gegend besorgte
bei Hochzeiten früher das Austeilen der Speisen der Hoch-
zeitbitter, anderwärts im Voigtlande besorgt beim Kind-
taufschmause der Lehrer das Vorlegen.6 Im Thüringischen
¿erlegt dieser auch bei Hochzeiten den Braten, welcher
auf den Ehrentisch kommt, an dein nur Pfarrer, Lehrer
und Paten sitzen, in die gehörige Anzahl von Teilen;7 in
der Plauenschen Gegend darf, oder durfte er wenigstens
früher, sich dafür auch das beste Stück vorweg nehmen.8
Meistenteils natürlich fällt die Speiseverteilung dem Wirte
1 Missionary Intelligencer 63, 236.
2 Manu 4. 212.
j Wrede 93.
4 Waitz-Gerland 56 81. Dumont d'Urville. Reise nach dem
Südpole u. s. w. Darmstadt 1846—48. Bd. 2 S. 167.
" Plutarchs Tischreden 2, 10, 2.
6 Köhler 233. 249.
' Witzschel 2, 237.
8 Köhler 237.
140
Haberland.
zu, der nach deutscher Rede dabei selbst entweder ein
Tropf oder ein Grobian sein muss, je nachdem er sich das
schlechteste oder beste Stück reservirt. Im Waldeckischen»
sagt man, dass die Ehehälfte, welche das Fleisch schneidet
auch das Regiment im Hause habe; aber in einem solchen
Hause ist es schlecht bestellt, denn da wackeln die Tische,
schneiden die Messer nicht und gibt es kein, d. h. wenig
Fleisch zu essen.1 In der Ilia s ist es gleichfalls der Wirt,
und sei es der göttergleiche Achilleus, welcher das Fleisch
zerstückt und an die Tischgenossen verteilt.'2 In Südarabien
fand Wrede bei den Beduinen, um Streitigkeiten zu ver-
meiden, die einzelnen Stücke der geschlachteten Tiere nach
Art unseres Pfänderausratens unter die Teilnehmer ver-
teilt;3 auch bei Opferschmäusen scheint in Griechenland
vielfach die Portionsverteilung durch das Loos geschehen
zu sein/
Das schwierige Amt der Verteilung ist indess vielfach
dadurch erleichtert, dass die Verteilung der einzelnen Stücke
geschlachteter Tiere bei gemeinsamen Mahlen und Festen
durch den Gebrauch geregelt ist, und ängstlich wird als-
dann darauf geachtet, dass keinem seine Ehre durch Vor-
enthaltung des ihm Gebührenden geschädigt werde. Bei
den Lappen ist es streng nach Stand und Rang bestimmt,
welches Stück vom Renntier einem jeden vorgelegt wird,,
und richtet sich dies hauptsächlich danach, ob dasselbe
mehr vorn oder hinten am Tier gesessen hat;0 auf Samoa
wird der Rang der einzelnen Häuptlinge sogar durch den
bestimmten Fisch oder das bestimmte Fleischstück ange-
zeigt, zu welchen sie bei gemeinschaftlichem Mahle be-
rechtigt sind, und ist dies der Grund zu häutigen eifer-
1 Curtze.377.
a Ilias 9, 209. 217. 24, 625.
3 Wrede 93.
4 Plutarchs Tischreden 2, 10, 1.
5 Allgemeine Historie 20, 529.
lieber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 141
süchtigen Streitigkeiten;1 auch im alten Griechenland muss
eine ähnliche Rücksichtnahme auf die Würde bei der Ver-
teilung der Fleischstücke geherscht haben, denn als die
Söhne des Orestes, welche ihren blinden Vater sorgsam
pflegten, ihm einmal von einem Opfertiere anstatt eines
Schulterstücks eine Hüfte schickten, hielt er dies für einen
absichtlichen Schimpf und fluchte seinen Söhnen.2 Anders
war es nach chinesischen Berichten bei denHiongnu [Türken];
bei ihnen erhielten die jungen Helden die besten Bissen der
Mahlzeit, während das Alter sich mit den Ueberresten be-
gnügen musste.3 Auf Tonga erhielt der Vorsitzende Häupt-
ling dei den Kawagelagen vom gebratenen Ferkel die
Leber, vom Geflügel die Haut des Halses und den unteren
Teil am Gerippe;4 hei den Malagasclien gehört die eine
Keule eines jeden Stückes Geflügel dem Aeltesten der
Familie, ferner muss jeder getödtete Farren, wie es scheint,
dem König überliefert weiden, jedenfalls ist wenigstens
der Schwanz vom Rindvieh ein nur ihm und dem Adel vor-
behaltenes Gericht.5 Aehnlich haben die Häuptlinge der
Bakuene das Anrecht auf jedes Brustfleisch,0 und müssen
noch jetzt die Bauern bestimmter dalmatinischer Dörfer in
Erhaltung mittelalterlichen Herrenrechts von jedem Schwein
den Kopf, von jedem Ochsen die Zunge dem Herren ab-
liefern,7 welches Stück auch der Tigré bei den Marea seinem
Schutzherrn von jeder geschlachteten Kuh nebst dem Brust-
fleisch abgeben muss;8 in der Kabarda erhält der Herr von
jedem geschlachteten Rinde des Bauern eine Vorderkeule,
gleichfalls erhält er eine solche auch einmal des Jahres
1 Turner. Polynesia 344.
2 Preller 2, 344.
3 Castren. Ethnologische Vorlesungen 57.
4 Mariner 469.
0 Missionary Intelligencer 1865, 249. Globus 7, 266.
6 Globus 10, 70 nach Livingstone.
7 Globus 31, 211.
8 Munzinger 237.
142
Hab eri and.
yon denen, welche Schafe besitzen.1 Erscheinen diese Teile
danach als Leckerbissen, so finden wir andrerseits bei den
Masai den Gebrauch, dass die Frau von der Kuh nur Fuß.
Hals und Kopf, die alten Leute die Nieren und Leber er-
halten, wonach sie auch Nieren- und Leberesser genannt
werden,2 und ersehen daraus, welche Teile vom Schlachtvieh
diesem Volke als die geringsten gelten. Nieren und Lebern
aber sind hinwiderum bei anderen Völkern gerade bevor-
zugte Stücke; in Lithauen werden dem jungen Paare, nach-
dem es zu Bette gebracht ist, die Nieren von Böcken und
Ochsen vorgesetzt, damit die Ehe eine fruchtbare werde,3
bei den Chewsuren erhält beim Leichenmahl der Wirt des
Trauerhauses zuerst ein Stück Schafsleber, um, wie es
heißt, dadurch die Seele des Todten von Judas loszukaufen;4
in E.ianzo muss das Weihnachtsessen stets mit einer Leber
begonnen werden, damit man alle Speisen so leicht als
diese verdaue.5 Die Lippans in Texas essen nach Tödtung
des Wildes sofort dessen Niere in rohem Zustande;6 bei
indischen Opfern erscheint zuweilen die Leber als Opfer-
stück par excellence, dessen Ueberreste den diensttuenden
Brahmanen, welche ihren Bissen zu gleicher Zeit ver-
schlucken müssen, gegeben werden.7
Ist in Teheran am Kurban Beiram der Umzug mit
dem Opferkameel beendet, so wird dieses geschlachtet und
hat dabei jede Handwerkerzunft Anspruch auf einen ge-
wissen Teil, so die Fleischer auf den Kopf, die Schneider
auf die Beine u. s. w.8, wie auch im alten WTales genau
1 Berge 1'28.
2 v. Decken 2, 25. Nach grönländischem Glauben essen die
blassen Sterne Nieren, die roten Lebern. Bastian in Zeitschrift für
Ethnologie 4, 397 cf. Cranz 294.
3 Tettau und Temme 257.
4 Eadde im Globus 35, 122.
5 Bajacsich 131.
6 Journal of the Ethnological Society of London 2, 278.
7 Wiese 2, 362.
8 Brugsch 1, 257.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 243
vorgeschrieben war, welches Stück jedem Hof bedienten von
den gelieferten Tieren zukam; die Felle davon erhielt der
Koch.1 Nach dem Harzer Waidmannsspruch gehört Fell
nebst Kopf und Hals als Lohn dem Jäger,2 nach dem Ge-
setze des Moses, ebenso nach karthagischem Opfergesetz
das Fell vom Brandopfer dem Priester;3 nach dem türki-
schen Gewohnheitsrecht beansprucht die Regierung in Aegyp-
ten die Felle aller geschlachteten Tiere.4 In der Kabarda
erhält der Pferdehirt von den geschlachteten Stuten den
Hals und den größten Teil der Eingeweide.5 Bei den
Malers fällt ein Vorderviertel vom Opfertier dein dem Haus-
vater beim Opfer assistirenden Dorfpriester zu,6 bei den
Kurg gehört dem diensttuenden Priester der Kopf des
Schweines;7 das mosaische Gesetz bestimmte für Aron und
die Söhne Arons die Brust des Web- und die Keule des
Hebeopfers, ebenso wie das gesammte Fleisch der zu opfern-
den erstgeborenen Rinder, Schafe und Ziegen — nach dem
im 5. Buch Mose enthaltenen Gesetze erhalten die Priester
Bug, Kinnbacken und rauhen Magen vom Opfervieh.8
In diese Bestimmung der einzelnen Stücke mischt sich
zuweilen etwas Symbolisches: so erhält bei den Kurg-
stämmen der Astrolog bei einer gewissen Jagd an einem
Feste den Kopf des erlegten Wildes,9 so gebührt im alten
Wales dem Richter die Zunge, da er über die Zungen Aller
urteilen musste;10 in Athen fiel sie bei gewissen Staats-
iesten von den Opfern den dabei fungirenden Herolden als
1 Wachsmutli. Europäische Sittengeschichte. Leipzig 1831 ff.
2 S. 231..
2 Prtfhle. Harzbilder 109.
3 3. Mos. 7, 8. Duncker 1, 281.
4 Paulus. Sammlung 3, 198. Brehm 2, 20.
5 Berge 129.
6 Zeitschrift für Ethnologie 6, 349.
' Mögling und Weitbrecht. Das Kurgland. Basel 1866. S. 71.
8 2. Mos. 29, 27. 4. Mos. 18, 18. 5. Mos. 18, 3.
9 Mögling 69.
10 Wachsmuth 2, 231.
144
Haberland.
Deputat zu oder sie wurde dem Hermes als dem Gott der
Redner vor der Nachtruhe geweiht, um diese für sich zu
erlangen.1 Im heroischen Zeitalter zerschnitt man Abends
vor dem Schlafengehen die aufgehobene Opferzunge und
warf sie bei der den Göttern dargebrachten Libation in
das Feuer.2 Auch dem Poseidon wurde die Zunge seiner
Opfertiere dargebracht,3 dem Haoina nach älterer parsischer
Sitte vom geschlachteten Tier neben dem linken Auge gleich-
falls die Zunge geweiht;4 im dreißigjährigen Kriege bekam
sie der Profoss von jedem im Heere geschlachteten Stück
Rindvieh.5 Bei den samojedischen Hochzeitsmahlen erhält
der Bräutigam das Herz,6 bei.den Inguschen die Knaben
die Ohren, um sie' an Gehorsam zu erinnern.7 Das Schweif-
chen — Sauwedele — des gebratenen Schweines wird im
schwäbischen Giinztal in verdeckter Schüssel der Neuver-
mählten zum Schluss des Mahles servirti in der Oberpfalz
überreicht ihr der Brautführer das Schweifchen vom Kalbs-
braten, damit sie Glück zu Knaben habe;" in der Plauen-
schen Gegend erhielt sie früher beim Hochzeitsmahle den
hintern Teil vom Schweine mit dem ganzen Schwänze, an
welchem ein grünes Sträußchen gebunden war.10 Im Hol-
steinischen hebt der Schlächter, wenn er den Schwanz des
Schweines abgeschnitten hat, ihn in die Höhe mit. dem
Spruche:
1 Schümann 2, 242. Preller 1, 839.
2 Schömann 2, 242.
3 Arnobius. Wider die Heiden, liebersetzt von Besnard. Lands-
hut 1842. S. 613 Anmerkung.
4 Spiegel. Avestaübersetzung. Bd. 2. Einleitung. S. 72.
■"> Freytag. Bilder aus der deutseben Vergangenheit. Bd. 2 (1859)
S. 61.
6 Castren. Reisen 253.
7 Klaproth 1, 623.
8 Bavaria 2, 829.
9 Schönwerth 1, 97.
'0 Köhler 237.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 145
De Steert hört de Weerth;
Wenn he den nich behagt,
Hört he de Magd!1
Wir haben im Vorgehenden bereits mehrfach gesehen,
welche Fleischstücke bei verschiedenen Völkern am belieb-
testen waren, es mögen hierüber noch einige Angaben folgen.
„Aber den Ajas ehrte mit langausreichendem Rücken
Agamemnon . .
singt Homer2 und bezeichnet uns damit das Fleischstück
vom Schlachtvieh, welches von den Griechen am meisten
geschätzt wurde. Den Aegyptern galt die Vorderkeule mit
der Schulter als das auserwählte Stück,3 und auch im
alten Testament wird „die Schulter und das was daran
ist" als besondere Speise erwähnt, welche Samuel dem Saul
um ihn zu ehren vorsetzen lässt;4 auf den Ehrentisch ge-
hört bei der Hochzeit im Spessart das Brustkernstück des
Rindes.5 Das Liebliugsstück ist den Mongolen beim Ham-
mel das Bruststück, beim Schaf das hintere Seitenstück,1R
den Kirgisen das Bruststück, vom Pferd aber neben dem
Bauchfett, welches in Gedärme gestopft, geräuchert und
stets dem Gaste als Ehrengericht vorgesetzt wird, das
Kreuz, welches ein sehr zartes Fleisch bietet.7 Bei den
Inguschen gilt als das Vorzugsstück der Kopf mit der
Brust und werden beide Stücke daher zugleich den Gästen
vorgelegt, von denen jeder ein Stück davon nehmen muss,s
hei den Osseten der Kopf, welcher daher gleichfalls den
Gästen gegeben wird.9 Die Ostjaken bewirten solche da-
' Pröhle. Harzsagen 249 Anmerkung.
2 Ilias 7, 321.
3 Wilkinson 32.
4 1. Samuel 9, 24.
5 Bavaria 4 a 248.
6 Globus 28, 347. 211.
7 Radioff in Zeitschrift für Ethnologie 3, 294. 308.
8 Klaproth 1, 623.
9 Daselbst 660.
Zeitschrift für Völkerpsyoh. und Sprachw. Bd. XVIII. 3. IQ
146
Haberland.
gegen mit der Zunge, dem Hirn und dergleichen als Lecker-
bissen,1 während dem Patagonier das fast ganz aus Fett
bestehende Hinterteil des Straußen am schmackhaftesten
dünkt und daher von der Jagd für die Weiber und Kinder
mit ins Lager genommen wird.2 Bei den Römern galt zur
Kaiserzeit als ganz besonderer Leckerbissen die Gebär-
mutter der Sau.3
§ H. *
Nicht nur bei feierlichem Mahle ist häufig der Platz
des Einzelnen beim Mahle bestimmt, auch für das Essen
in der Familie hat sich verschiedenfach ein bestimmter Ge-
brauch in dieser Beziehung ausgebildet. Bei den Lappen hat
der Vater den obersten Platz am Feuerherd, die Frau den
daneben, die Kinder gegenüber, die Knechte und Mägde
an der Tür, der Gast wird zwischen Hausherr und Haus-
frau gesetzt4 — man befürchtet also hier nicht wie in der
Wetterau, dass das Sitzen eines Dritten zwischen zwei
Eheleuten auf Störung des Ehefriedens hinwirke.5 Bei den
Tscherkessen sitzt der Vater auf der einen Seite der Hütte,
die Mutter auf der anderen, die Kinder jedes in einem
Winkel, ein Sitzen des Sohnes mit dem Vater oder des
jüngeren Bruders mit dem älteren an einem Tische ist
überhaupt durch die Sitte als respectwidrig verpönt;0 bei
den Longobarden durfte ein Königssohn erst, wenn er von
1 Beschreibung 1, 77.
2 Musters 74.
3 Plutarclx. Tischreden 8, 9, 3.
4 Allgemeine Historie 20, 535. Beschreibung 1, 9. Im Mittel-
alter galt der dem Hausherren gegenüberliegende Sitz, das „gagen-
sidele" als Ehrenplatz. Nibelungen 617, 2.
5 Wuttke § 366. Das Sitzen zwischen zwei Schwestern beim
Essen deutet man in Deutschland — z. B. Curtze 874 — vielfach
auf baldigen Bräutigamsstand.
6 Dubois de Montpérenx. Reise um den Kaukasus. Darmstadt
1842/46. Bd. 1 S. 85. Lapinsky im Globus 8, 75.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 147
einem auswärtigen Könige gewaffnet war, mit dem Vater
zusammenessen.1 Nach dem Brauche der heidnischen Bul-
garen saß, wie aus ihren Aufragen bei dem Papste Nico-
laus I. hervorgeht, nur der Landesherr beim Essen an einem
Tische, während die Uebrigen, auch seine Gemahlin, auf
dem Fußboden ihr Essen einnahmen;2 ebenso sitzen bei
den Hannaken in Mähren nur der Hausvater und die
Hausmutter beim Essen, Kinder und G-esinde stehen dabei.3
Aehnliche Sitte führte in Erneuerung altrömischen Brauches
Kaiser Otto III. ein, indem er beim Mahle allein und höher
als die Uebrigen an einer halbkreisförmigen Mittagstafel
saß, eine Einrichtung, welche aber nach einer Bemerkung
von Thietmar von Merseburg verschieden von den Zeitge-
nossen beurteilt wurde;4 Karl der Große dagegen aß über-
haupt vor den Uebrigen allein, bedient von den Fürsten
und Herzögen, dann diese von der nächsten Rangklasse
bedient, und in dieser Stufenfolge ging die Speisung des
Hofes vor sich, so dass ein solches Mahl von Nachmittags
2 Uhr bis gegen Mitternacht dauerte — so erzählt wenig-
stens der Mönch von St. Gallen,5 ob diese Tischordnung
aber alltäglich durchzuführen gewesen ist, dafür müssen
wir wol ihm die Verantwortung überlassen, es geschah
vielleicht wol nur bei bestimmten feierlichen Gelegenheiten.
§ 12.
Die Furcht vor Vergiftung hat in manchen Ländern
namentlich an den Höfen die Sitte aufkommen lassen, dass
der Darreichende zuerst von der Speise oder dem Getränk
kostet, um den Argwohn zu vergewissern, dass nichts Un-
rechtes beigemengt ist. Sowol in Butan wie in Schoa gießt
1 Paulus Diaconus 1, 23.
2 Ausland 1875, 124.
3 Deutsch 12.
4 Thietmar von Merseburg 4, 29.
5 Mönch von St. Gallen 1, 11.
10*
148
Haberland.
der Mundschenk etwas von dem Getränk in seine bohle
Hand zum Vorkosten, ehe er es dem Herscher kredenzt;
in ersterem Staate müssen auch die Aerzte, im andero
wenigstens der königliche Leibarzt, jederzeit erst von der
Medicin im Beisein des Kranken aus gleichem Grunde
kosten.1 Im alten China geschah dies Vorkosten der Me-
dicin bei Krankheit der Eltern durch den Sohn, bei Krank-
heit des Fürsten durch den Minister.2 In den Negerlän-
dern äst die Sitte des Vorkostens allgemein; ehe man dem
Gaste etwas vorsetzt, genießt man davon, wie dies auch
bei den Kaifern Brauch ist, und selbst der Mann verlangt
es in Ashanti von seiner Ehefrau, wenn sie ihm das Essen
servirt hat.3 Die Fürstin, welche in Iddah den Missionär
Schön mit seiner Gesellschaft bewirtete, nahm gleichfalls
zuerst ein Stück von einer Ente, um zu zeigen, dass kein
Gift darin sei, wie andrerseits auf der Sierra Leone Küste
die Eingeborenen, als ihnen Kapitän Owen Rum anbot, ver-
langten, dass er nach ihrer Sitte denselben kosten solle,
um sie zu vergewissern, dass er nicht bezaubert oder ver-
giftet sei.4 Beim Besuch Heinrichs des Achten von Eng-
land in Frankreich im Jahre 1532 trank bei der Begrüßung
der französische König zuerst ihm zu5 — vielleicht aus
einem ähnlichen Grunde. Auf der Pfeiferküste muss die
Hausfrau, unter deren Obhut der Palmwein gewesen, bei
Festlichkeiten den ersten und letzten Zug tun, nicht bloß
des Giftes, sondern auch etwa beigemischten Zaubers wegen6,
und ebenso fand Livingstone bei den Makololo, dass jede
Frau, welche einen Topf mit Bier brachte, vorher erst
1 Turner. Gesandtschaftsreise 92. Harris 2, 43.
2 Plath. Ueber die häuslichen Verhältnisse der alten Chinesen
(Sitzungsberichte Münchener Akademie 1862 H) S. 244.
3 Winterbottom 381. Waitz 2, 220. Wilson 135.
4 Baseler Missionsmagazin 18451 40. Journal für Land- und
Seereisen 78, 132.
6 Brand 2, 259.
6 Wilson 89.
Ueber Gebräuche und Abei'glauben beim Essen. I49
aus gleichem Grunde einen tüchtigen Zug daraus tat.1 Das
Gesetz des Manu schreibt für die königliche Nahrung vor,
dass sie nur von den erprobtesten Dienern bereitet, dann
aber auch mit der größten Sorgfalt auf Gift geprüft wird und
durch Sprüche, welche das Gift neutralisiren, geweiht werde,
ferner dass der König allen seinen Speisen Antidote bei-
mische und stets kostbare Steine an sich trage, welche die
Wirkung des Gifts zerstören.2
Der Augenblick, in welchem man die Speise zu sich
nimmt, ist der geeigneteste, um durch Zauber auf den
Essenden zu wirken; in diesem Momente ist er völlig un-
geschützt gegen jeden schädlichen Einfluss, und wird man
daher alles tun, um einen jeden solchen auszuschließen. In
der Landschaft Drenthe (Provinz Friesland) scheuet man
sich auf das ängstlichste in Gegenwart von Mitgliedern
gewisser Familien, welche im Rufe der Zauberei stehen,
zu essen, weil sie die Macht haben, alle Speise in verder-
benbringende Dinge umzuwandeln.3 Nach Oberpfälzer An-
sicht kann man einem namentlich beim Essen leicht etwas
hineinwünschen, man braucht nur zu sagen: „Wenn du nur
den Teufel hineinäßest!a oder eine ähnliche Verwünschung
auszusprechen;4 nach mährischem Glauben kommt das Fieber
meist mit dem ersten Bissen oder dem ersten Löffel Suppe
in den Menschen.5 Eine Sorte Fieber — die hundertste —
ist bei dieser Gelegenheit sogar nach einer böhmischen
Legende für immer unschädlich gemacht, da man ihre An-
wesenheit in einem von in Milch gebrockten Brodstückchen
bemerkte und dieses in eine Blase band, wo es sich dann
selbst zu Tode schüttelte.6 Der Aegypter pflegt die ein-
1 Globus 10, 98.
2 Manu 7, 217. 218.
3 Wolf. Niederländische Sagen 585.
4 Schönwerth 8, 70 ff, woselbst auch einige Sagen als Belege
gegeben sind.
6 Grohmann No. 1147.
6 Daselbst No. 1146.
150
Hab erland.
gekauften Nahrungsmittel sorgfältig zu verbergen, um sie
vor dem bösen Blick zu schützen.1 Die O vampo haben, um
gegen Zauberei von Fremden beim Essen geschützt zu sein,
den Brauch diesen entweder Butter zwischen die Augen
zu reiben, oder ihnen, indem sie deren Kopf gen Himmel
richten, etwas Wasser, womit sich einer der Ovampo vor-
her gurgelt, ins Gesicht zu speien.2
Am einfachsten ist natürlich aber der Brauch, alle
Verdächtigen, namentlich Fremde, deren Gesinnung man
nicht kennt, einfach am Zusehen bei der Mahlzeit zu hin-
dern, dieselbe mit den Seinigen streng abgeschlossen ein-
zunehmen. Der Abyssinier verschließt beim Essen sorg-
fältig die Tür, um das böse Auge auszusperren, und ziindet
regelmäßig zu fernerem Schutze ein Feuer an3 und auch
auf den Hebriden fand Buchanan gegen Ende des vorigen
Jahrhunderts, dass bei der Mahlzeit die Tiir gewöhnlich
zugemacht war, was zwar auf die frühere Unsicherheit
gedeutet wurde, aber wahrscheinlicher aus obigem Grunde
erklärt werden kann-, war nur die Tür angelehnt, so wagte
schon fast niemand einzutreten4 — auf den Maldiven fand
sich die Sitte vor, dass man beim Essen in das innerste
Gemach sich zurückzog.5 Die Balonda essen nie in Gegen-
wart Fremder, ebenso wie die Bewohner des Reiches des
Cazembe streng heimlich diniren, die Warua nie leiden,
dass ein anderer, namentlich aber kein weibliches Wesen
ihnen beim Essen zusieht,6 und diese Scheu findet sich
vielfach auch bei anderen Völkern mehr oder weniger stark
ausgeprägt, da man nie wissen kann, was ein Zuschauer
1 Klunzinger 384.
2 Galton 216.
3 Harris 2, 194.
4 Buchanan. Heise dureh die westlichen Hebriden. Berlin
1812. S. 95.
5 Allgemeine Historie 8, 205.
6 Globus 10, 99 nach Livingstone. Gamito in Ausland 1858, 336.
Cameron 2, 65.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
151
im Schilde führt. Auf eine derartige Furcht gründet sich
jedenfalls auch der Brauch der Eskimo eine Wöchnerin ein
-lahr lang nicht allein essen zu lassen,1 da Wöchnerinnen
und durch sie das Kind vorzugsweise schädlichen Einflüssen
ausgesetzt sind, und ferner der in Deutschland weitver-
breitete, dass ein während der Mahlzeit Eintretender mit-
essen muss;2 indem dieser Teil an der Speise nimmt, würde
er auch Teil an dem derselben anhaftenden Schädlichen
nehmen und daher gewiss nicht derartiges veranlassen. In
der Wetterau sagt man, dass wenn ein Eintretender nicht
mitisst, dies den Kindern schadet.3 Bei den Indianern
fordert die Höflichkeit, dass man in jeder Hütte, in welche
man eintritt, etwas isst, vielleicht aus einem ähnlichen
Grunde.4
Am sichersten ist die Methode, welche die Neger-
könige befolgen und die darin besteht, dass überhaupt nie-
mand sie essen sehen darf, ein Verbot, welches mit der größ-
ten Peinlichkeit und Strenge durchgeführt wird, und welches
wol auch in der Furcht vor Zauberei seinen Hauptgrund
hat, und nicht, wie es wol gedeutet wird, darin dass das
Volk den König, indem ein Schleier über seine mensch-
lichen Bedürfnisse geworfen, desto eher für einen Gott
halten solle,5 wenngleich auch diese Auffassung ihre Be-
rechtigung hat, da z. B. Cameron6 auf seinem Zuge durch
Afrika im Herscher Kasongo ein Beispiel fand, dass die
vom Herscher in Anspruch genommene Göttlichkeit sich
unter anderem darin beweist, dass er keiner Nahrung zur
Existenz bedarf, tagelang oline ein Bedürfnis zu fühlen hungern
v kann und überhaupt nur aus reinem Vergnügen, nicht aus
Notdurft isst und trinkt. Bei den Warua bemerkte Ca-
1 Ausland 1865, 69.
2 Grimm, Aberglauben No. 407.
3 Wolf, Aberglauben No. 18,
4 Waitz 3, 136.
5 Allg. Historie 4, 365.
6 Cameron 2, 63.
152
Haberland.
Hieren, dass der Königin-Witt we, welche ganz abgeschlos-
sen lebte und als eine mit dem verstorbenen Gatten noch
in geistiger Verbindung stehende Prophetin verehrt wurde,
die Speisen von den Sklaven nachts hingesetzt wurden und
diese sich alsdann schleunig zurückzogen ;1 in Indien
ist in einer gewissen Brahmanenfamlie Punas der Gott
Ganesa seit dem Jahre 1640 in dem jeweiligen ältesten
Sohne durch verschiedene Generationen inkainirt gewesen,
und haben die betreifenden Personen die Bedürfnislosigkeit
von jeglicher Nahrung als ein Zeichen der einwohnenden
Göttlichkeit gleichfalls für sich in Anspruch genommen.2
Wer in Loango den König essen oder trinken sah, war
es selbst sein eigener Sohn oder andrerseits nur ein Hund,
musste sterben, wenn das Leben des Königs nicht selbst
gefährdet sein sollte, und wurde sein Blut dann auf den
Fetisch des Königs geträufelt;3 ebenso stand íd Ardrah
der Tod darauf, und musste man sich hier, wenn die
Schüsseln zum König getragen wurden, vor ihnen auf
das Antlitz werfen, damit Zauberei unmöglich gemacht
würde.4 Auch der Monbuttukönig isst stets allein und
darf selbst den Inhalt der Schüsseln niemand sehen;5 der
Herscher von Lunda isst in bestimmter Hütte und wer
ihn darin überrascht, ist unrettbar verloren;6 in Whidah
durften den König nur seine Weiber essen sehen.7 Von
dem Fürsten von Munio berichtet Barth, dass noch nie-
mand ihn essen gesehen habe,8 und gleichfalls hielt Chaka,
1 Cameron 2, 61.
2 Capt. Moore in Ehrmann. Neueste Beiträge zur Kunde von
Indien. Weimar 1806. Bd. 2 S. 388.
3 Allg. Historie 4, 675.
4 Daselbst 4, 410.
5 Schweinfurt in Zeitschrift für Ethnologie 5, 13.
6 Globus 32, 31 nach Dr. Pogge.
7 Allg. Historie 4, 365.
8 Barth. Reisen und Entdeckungen in Nord- und Centraiasien.
Kleine Ausgabe. Gotha 1859/60. Bd. 2, 133.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 153
der Napoleon der Zulu, streng auf diese Sitte.1 Tm
Gegensatz hierzu erzählt Mungo Park, dass der Mauren-
könig in Ludamar oft mit seinem Kameeltreiber aus
einer Schüssel äße,- und wird uns von Fezzan be-
richtet, dass hier Reich und Arm, Herr und Diener un-
genirt zusammenspeisten3 — ein Gegensatz der Sitte, wie
uns deren viele der aus dem Nomadenleben hervorge-
wachsene Islam bei seinem Zusammenstoß mit dem Neger-
tume zeigt. Mit dem Trinken nehmen es die Negerkönige
nicht ganz so genau, denn wenn auch in Ardrah das Le-
ben darauf stand, den König trinken zu sehen, so trank
doch in Whidah der König in Jedermanns Gegenwart und
selbst in Loango geschah dies zuweilen, nur mussten die
Anwesenden während dessen auf das Gesicht fallen und
der das Getränk Bringende sich sofort umdrehen und ein
Gleiches tun.4 In Dahome hält der Mundschenk dem Könige
ein seidenes Tuch vor, wie das auch die Kilolo (der höhere
Adel) im Reiche Lunda, ferner die Warua beim Essen
und Trinken in Gegenwart Anderer tun;5 auf der Pongo-
küste trinkt der König hinter einem Schirm oder hinter
einer Scheidewand.6
Auf Tonga dreht das Volk dem essenden König den
Rücken zu, um ihn nicht essen zu sehen; auf Viti isst
jeder Häuptling allein und die Umstehenden klatschen,
wenn er fertig ist, in die Hände,7 welches Händeklatschen
auch bei den Jaggaern, die sich im vorigen Jahrhundert
vom Innern Afrikas gegen die Küste hin vordrängten, von
Seiten der den Herscher beim Trinken knieend und sin-
1 Journal für Land- und Seereisen 78, 291 nach Capt. Owen.
2 Mungo Park. Reisen im Innern von^Afrika. Berlin 1799. S. 136.
3 Sprengel und Forster 7, 145.
4 Allg. Historie 4, 410. 265. 675.
5 Globus 10, 322 nach Dr. Repin. 32, 31 nach Dr. Pogge.
Cameron 2, 65.
6 Wilson 228.
7 Waitz-Gerland 6, 353. 579.
154
Haberland.
gend uni gebenden W eibern vollführt wurde.1 Auch die Hindu
lieben es nicht, dass ein Fremder beim Essen ihnen zu-
sieht oder nur ihnen überhaupt nahe steht, und in dieser
Beziehung Strengdenkende, wie die Sekte der Ramanujas,
die Radschputen und Andere, ziehen es in diesem Falle,
auch wenn es nur beim Kochen geschieht, vor, das Mahl
zu unterbrechen und die Speisen, welche dadurch verun-
reinigt sind, in die Erde zu vergraben;2 die Sepoys tren-
nen sich nach den militärischen Exercitien und jeder um-
gibt sich mit einem kleinen Erdringe von ein oder zwei
Zoll Höhe, um darin jeder für sich geschützt kochen zu
können.3
Ist in den vorstehend erwähnten Fällen die Rede da-
von gewesen, wie sich dem essenden König gegenüber die
Anwesenden zu verhalten haben, so gibt es andererseits
auch wider Vorschriften über Essen und Trinken in Gegen-
wart Vornehmerer, welche ähnlich erscheinen, aber begrün-
det sind in dem Gedanken, dass dem Vornehmen das Zu-
sehen beim Essen oder Trinken Anderer nicht in seiner
Würde steht, wie sich dies namentlich in Polynesien unter
dem Einflüsse der Ansicht, dass dem Essen etwas Verun-
reinigendes beiwohnt, ausgebildet hat. Ist es teilweise
wie z. B. in Butan4 überhaupt nicht Sitte, dass in Gegen-
wart des Herschers gegessen wird, so fordert anderwärts
wenigstens der Gebrauch oder das Gesetz, dass dies mit
dem Vornehmen zugewendetem Rücken geschieht. So ist
es mit dem Trinken in Gegenwart des Herschers in
Loango,b so beim Essen in Gegenwart des Häuptlings oder
selbst nur eines vornehmen Verwanten auf Tonga, wo
als Grund dafür angeführt wird, dass man alsdann an-
2 Allg. Historie 5, 105.
3 Kerr 300.
4 Daselbst 298.
8 Turner. Gesandtschaftsreise 104.
6 Wilson 228. Allg. Historie 4, 675.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Espen.
155
nehmen kann, nicht zugegen zu sein;1 auch die Singhaie-
sen kehren beim Trinken einander nie das Gesicht zu.'2
§ 13.
Bei verschiedenen Völkern findet sich eine ausgeprägte
Scheu, ein Geschirr, welches bereits ein Anderer zum Essen
gebraucht hat, zu benutzen ; diese Scheu ist namentlich in
Indien und Polynesien groß. In Indien geht sie sogar
so weit, dass einzelne höhere Kasten, in verschiede-
nen Gegenden selbst jeder reine Hindu, das eigene Ess-
geschirr nur einmal gebrauchen und sich bei öfterer Be-
nutzung selbst fiir befleckt halten würden; es wird daher
nach dem Essen sofort weggeworfen, was indess keinen
großen Verlust in sich schließt, da nur eine sehr billige
irdene Waare oder mit noch größerer Vorliebe selbst von
den Vornehmsten zusammengenähte Blätter als Speisege-
schirr benutzt werden ; vielfach sind indess auch metallene
Geschirre in Gebrauch, von denen man glaubt, dass sie
mit größerer Sicherheit zu reinigen sind als irdenes Ge-
schirr. 3 Diese Vorsicht in Betreif der Benutzung des Ess-
geschirrs überbietet noch die Vorschriften, welche das Ge-
setz des Manu gibt, denn dieses verbietet neben verun-
reinigtem Geschirr wohl auch zerbrochenes und solches
hinsichtlich dessen man irgend welchen Argwohn hat, be-
merkt aber ausdrücklich, dass ein Topf die nötige Reinigung
durch ein zweites Kochen erhält, außer wenn er in Be-
rührung mit Spirituosen, Speichel, Blut und dergleichen
gewesen.4 Um nicht zu gar zu häufiger Außergebrauchsetz-
nng der Wassergefäße, wozu ein einfacher Blick eines
Mitgliedes niedriger Kaste genügen würde, gezwungen zu
1 Mariner 489. Waitz-Gerland 6, 358.
2 Percival. Beschreibung von der Insel Ceylon. Leipzig 1803.
S. 223.
3 Kerr 171. 301.
4 Manu 4, 65. 5, 122. 123.
156
Haberland.
sein, pflegen die Frauen das' Wasser nie in Tongefäßen
zu holen, sondern stets in solchen von Metall, welche man
durch einfaches Abwaschen wider reinigen darf;1 Töpfe
betrachtet man übrigens so lange als unfähig der Verun-
reinigung durch Berührung, bis sie Wasser in sich enthal-
ten haben.2 Ist Koch- oder Essgeschirr durch irgend einen
fremden Einfluss verunreinigt, so ist es natürlich vom Ge-
brauch ausgeschlossen, und selbst Sudraklassen, wie die
Turas, welche das Betreten ihrer Wohnung oder ihres Bootes
durch einen Brahmanen als entweihend ansehen, werfen,
wenn dies geschieht, ihr Kochgeschirr fort.3 Auch die
geringste Kleinigkeit, ein Reiskorn oder dergleichen, wel-
ches beim Essen der Nachbar auf den Teller fallen lässt,
macht die Beendigung der Mahlzeit unmöglich, oder for-
dert wenigstens die Ersetzung von Speise und Geschirr;4
unter den Koragars, einer Pariakaste des südlichen Ka-
mara, wird bei einem bestimmten Feste das Fallenlassen
eines Reiskorns vom eigenen Teller auf den des Nachbars
mit einer Geldbuße und der Ausstoßung aus der Kaste be-
straft.5 Anders als diese übertrieben reinlichen Hindus der
Gebirgslappe, welcher nur seine Zunge als Reinigungsmittel
der Schüsseln oder Tröge gebraucht, bis diese zuletzt von
dem Gebrauche kohlschwarz werden,6 oder die türkischen
Stämme, welche ihre Holzgeschirre im Gegensatz zu den
gnt gehaltenen Kupfergefäßen nur mit einem selbst nie ge-
reinigten Pferdeschweif auswischen,7 oder die Damara,
welche das Reinigen ihrer Milchschüsseln aus abergläubi-
schem Grunde nur ihren Hunden überlassen.8
1 Dubois 1, 246.
2 Ebendaselbst.
3 Max Müller. Essays (Deutsche Ausgabe) 2, 308.
4 Dubois 1, 250. Missionary Intelligencer 1858, 135.
s Globus 28, 61.
6 Lüddes Zeitschrift 2, 524.
7 Daselbst 10, 343.
8 Andersson 1, 246.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 157
Wie der Inder ist auch der Polynesier sehr eigen in
Beziehung auf die Speisegefäße; in Neuseeland hat jeder
streng sein eigenes Esskörbchen, ' und wenn auch im übri-
gen Polynesien darin nicht die gleiche Strenge herscht, so
sind doch verschiedenartige Beschränkungen in dieser Be-
ziehung überall dort üblich. Namentlich aber wird wegen
des von den Vornehmen ausgehenden Tabu ängstlich da-
rüber gewacht, dass ein von den Höchststehenden, beson-
ders vom Könige, benutztes Geschirr, welches dadurch dem
gemeinen Gebrauch entzogen ist, nicht von einem Niedrig-
stehenden benutzt wird; ein derartiger Tabubruch hätte
für beide Teile traurige Folgen, da der zürnende Schutz-
geist des Vornehmen ihn unbedingt rächen würde. Daher
werden auf Tahiti die Gefäße, woraus der König gegessen
oder getrunken, meist zerbrochen, und wol nur die sehr
kostbaren für seinen ferneren Gebrauch aufgehoben.2 Ein
Gleiches geschieht auch in Japan mit dem Essgeschirr des
Mikado; benutzt dasselbe ein Anderer oder berührt er es
nur, so trifft ihn schweres Unglück, Anschwellungen des
Mundes und der Kehle sind die nächsten Folgen davon.3
Auch in Whidah trank niemand aus dem Becher des Kö-
nigs, bei zufälliger Berührung fremder Lippen wurde er
nicht mehr gebraucht;4 der schwäbische und bayerische
Aberglaube verlangt wenigstens, dass man einen fremden
Löffel vor dem Gebrauch dreimal anhaucht, man weiß sonst
nicht, welches Unheil man sich dadurch zuzieht — ein böser
Mund kann leicht die Folge der Unterlassung dieser Vor-
sicht sein.5
Der deutsche Volksglaube liebt überhaupt die zu weit
getriebene Gemeinschaft beim Essen nicht. Essen zwei
Von einem Teller, so entsteht Feindschaft zwischen ihnen,
1 Waitz-Gerland 6, 54.
2 Waitz-Gerland 6, 191. 349.
Bastian. Seele 95. Ausland 1859, 538.
4 Allg. Historie 4, 365.
5 Birlinger 1. 409. Panzer 1, 257. Meier 508.
158
Haberland.
ebenso, wenn man in ein Stück Brod beißt, von dem schon
ein Anderer abgebissen hat, namentlich, wenn es in die
abgebissene Stelle geschieht; bläst man indessen darauf,
so schadet es nicht;1 nach böhmischem Glauben aber ver-
liebt sich ein Jüngling in ein Mädchen, wenn er nach ihr
von demselben Stücke isst.2 Ja der deutsche Volksglaube
geht so weit, dass er sogar das gleichzeitige Trinken
zweier Personen als nicht gut verwirft;3 fangen zwei zu-
sammen an zu trinken, so trinken sie einander die Röte,
sind es stillende Frauen, einander die Milch ab.4 Auch
in Mikronesien findet sich ein Verbot, dass zwei Menschen
von einer Bananentraube essen,5 und durch fast ganz Poly-
nesien ist das Zusammenessen aus einem Gefäße streng
untersagt, vielfach sogar das Zubereiten und Auftragen
des Essens für zwei Personen.G Den Parsen ist das ge-
meinschaftliche Essen zweier Personen von einem Teller
gleichfalls verboten, damit nicht der Speichel des Einen
die Speise für den Andern zu einer unreinen mache.7 —
Ueberall in Deutschland kann übrigens das Verbot der ge-
meinschaftlichen Benutzung eines Essgefäßes schon deshalb
nicht gelten, weil vielfach auf dem Lande die Hausge-
nossen ans einer gemeinschaftlichen Schüssel direkt essen,
wie dies auch im Mittelalter allgemeine Sitte war, und
z. B. noch Parcival mit den Gralsrittern nach orientali-
scher Weise die Speisen mit den Fingern aus einer Schüs-
sel langen musste.8 — Ebenso ist das Waschen zweier Per-
sonen aus einem Waschbecken verpönt, da es Feindschaft
zwischen ihnen erregt, welcher Glaube nicht nur für
1 Grimm. Aberglaube No. 448. 146. Wuttke § 212.
2 Grohmann No. 1464.
3 Grimm No. 1933.
4 Grimm No. 145. Fischer 252. Wuttke § 369.
5 Waitz-Gerland 5b 147.
0 Daselbst 6, 54. 354.
7 Anquetil in Spiegels Avesta. Bd. 2. Einleitung S. 50.
s Rochholz. Glaube 2, 120.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 159
Deutschland, sondern auch für England, Italien und Nor-
wegen1 gilt; in Norwegen sagt man auch wol, dass sie
dann gleiche Kinder bekommen;2 in Mecklenburg vermeidet
man die üble Folge — Erzürnen — wenn man vorher
dreimal in das Waschwasser spuckt.3 In Oberfranken
sieht man es sogar nicht einmal gern, wenn zwei Kinder
mit demselben Wasser getauft werden, da dann eines von
ihnen sterben muss;4 auch anderwärts, z. B. in der Ober-
lausitz, findet sich diese Abneigung, für welche der Glaube,
dass die Kraft dem Wasser durch die erste Taufe genom-
men, als Erklärung eintritt.5 Blasen zwei Personen zu-
gleich in ein und dasselbe Feuer, dann kommt nach nor-
wegischem Glauben keine von ihnen in den Himmel, nach
böhmischem blasen sie sich Flechten aus dem Feuer an;6
drücken zwei Personen zugleich auf eine Türklinke, die
eine von innen, die andere von außen, dann stirbt nach
norwegischer Deutung bald jemand im Hause.7
Die gleiche Scheu vor Verunreinigung, welche uns die
angeführten Gebräuche zeigten, liegt auch dem ferneren
zu Grunde, beim Trinken nicht das Gefäß mit dem Munde
zu berühren, sondern die Flüssigkeit so in den Mund zu
gießen, dass es nicht geschieht. Diese Sitte herscht bei
den Hindus — zu diesem Zwecke sind die Trinkgefäße
häufig mit einem Hahn versehen, damit das Getränk in
einem Strahl ausfließe — wenn auch nicht allgemein,8
bei den Parsen,9 bei den Singhalesen,10 den Malaien,11 in
1 Strackerjan 1, 46. Brand 3. 177. Duringsfeld 2, 210. Lieb-
recht. Zur Volkskunde. Heilbronn 1879. S. 381.
2 Liebrecht 331.
3 Bartsch No. 1532.
4 Bavaria 3, 309.
5 Wuttke § 348.
ö Liebrecht 337. Grohmann No. 263.
' Liebrecht 314.
8 Kerr 171. 301. Wiese 1, 522, 561.
9 Spiegel. Avesta. Bd. 2. Einleitung. S. 50.
10 Parcival 222. Allg. Historie 8, 492.
11 Waitz-Gerland 5» 129.
160
Haberland.
Poly- unci Melanesien. Von Neuseeland wird es als Sitte
der Vornehmen berichtet, dass sie sich das Getränk in
die vor den Mund gehaltenen Hände schütten ließen, da-
mit wegen der Heiligkeit des Kopfes die Lippen das Ge-
fäß nicht berührten ;1 auf Viti hält man das Gefäß 8 bis
10 Zoll über den Kopf, da es unschicklich, dass mehrere
es mit dem Munde berühren, doch scheinen gerade die
vornehmsten Häuptlinge hier von dieser Sitte ausgeschlos-
sen zu sein.2. In Abyssinien spendet der Herr den Unter-
gebenen einen Trunk, indem er ihnen denselben in die
nebeneinandergehaltenen hohlen Hände gießt; auf gleiche
Weise trinkt der Diener die Neigen des Herrn, jedenfalls
wol damit nicht eine Verunreinigung des Trinkgefäßes des
Herrn eintritt.3 Auf Mindanao tranken nach Forrest im-
mer je vier Personen geistiges Getränk aus einem Gefäße
mittelst kleiner Köhren,4 also auch mit Vermeidung der
Gefäß berührung.
§ 14.
Was die Reinlichkeit bei Tische durch Händewaschen
und Mundausspülen anbetrifft, welche wir bei vielen Völ-
kern antreffen, wo wir sie in Anbetracht des übrigen Kul-
turzustandes derselben kaum zu erwarten berechtigt sind,
so dürfen wir solche wol größtenteils auf durch Religion
oder Aberglauben gebotenen Brauch zurückführen, deim
der Begriff der Reinlichkeit ohne eine solche Beimischung
scheint dem Geiste des Naturmenschen, so schwér dies
auch mit unsern jetzigen Ansichten zu vereinigen sein
mag, schwieriger und später zu kommen als der der Ab-
wendung eingebildeter abergläubischer Einflüsse durch Ab-
waschung körperlicher Verunreinigung, welche seiner An-
sicht nach eben diese eingebildeten Einflüsse auf sich zieht
1 Waitz-Gerland 6, 852.
2 Wilkes 2, 181. Waitz-Geiiand 6, 579,
3 Heuglin 132.
4 Forrest. Reise nach Neu-Guinea u. s. w. Hamburg 1782. S. 26ö.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. ] f¡]
— dem Wilden liegt z. B. bei Verunreinigung durch eine
Leiche weniger daran, sich von der Beschmutzung zu rei-
nigen, weil sie ihm als solche unangenehm ist, ihn sinnlich
oder ästhetisch unangenehm berührt, als weil anderenfalls
dem Geist des Todten oder überhaupt dem Geisterreich
schädliche Einwirkungen auf den Verunreinigten gestattet
sind. Religiöse Gründe nimmt auch Gerland für das in
ganz Polynesien übliche Mundausspülen und Händewaschen
vor und nach Tisch als mitwirkend an,1 und da wir in
den orientalischen Religionen die Waschungen bei Tische
eben als religiöse Gebote behandelt finden, so können wir
dreist ähnlichen Ursprung für diese Sitte bei den vielen
Völkern niederer und höherer Kulturgrade, bei denen sie
uns entgegentritt, vermuten, wenngleich wir ihn nicht
überall so deutlich ausgesprochen finden wie bei den
Kutchin - Indianern,2 welche ihre Kinder vermahnten,
vor dem Essen Hände und Gesicht zu waschen, damit
sie den großen Geist nicht erzürnten. Im alten Ägypten 3
wusch man sich stets vor dem Essen die Hände, wie
dies auch bei den Parsen Vorschrift ist,4 in Florida5 das
Gesicht, auf der Pfeiferküste6 die Hände nach der Mahl-
zeit, wobei man sich gleichzeitig den Mund spülte; auch
in Iddah fand der Missionär Schön, dass die Fürstin, ehe
sie von den den Gästen vorgesetzten Speisen kostete, sich
die Finger wusch, wie überhaupt vielfach im westlichen
Afrika diesem Reinlichkeitsbrauche begegnet wird.7 Hän-
dewaschen vor dem Essen als stehende Sitte zeigen uns
ferner die Kafirs,8 welche auch vor dem Essen beten, die
1 Waitz-Gerland 6, 54. 47. 362. Turner. Polynesia 3-53.
2 Missionary Intelligencer 1866, 125.
,3 Wilkinson 32.
4 Spiegel Avesta a. a. O.
5 Waitz 3, 82.
Wilson. Westafrika. Leipzig 1862. S. 87.
' Baseler Missionsmagazin 18451 40. Journal Ethn. Soc. 1, 221.
N Elphinstone. Gesandtschaftsreise nach Kabul. Weimar 1817.
2 S. 340.
Zeitschrift für Völkerpeych. und Sprach w. Bd.. XVIII. 2. 11
162
Haberland.
Adighe,1 nach dem Essen die Lappen* und andere-, im
Mittelalter war es in Deutschland Sitte sich vor Tische
zu waschen und dann nochmals nachdem die Fleischspei-
sen gegessen waren, d. h. vor dem Nachtisch, wobei wir
uns gegenwärtig halten müssen, dass der Gebrauch der
Gabeln erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts seinen
Ursprung nahm.
In den orientalischen Religionen sind die Waschungen
bei Tisch genau vorgeschrieben und werden im Allgemeinen,
eben weil sie religiöse Gebote sind, peinlich befolgt. Die
genauesten Vorschriften hat wol das indische Sittengesetz :
nach ihm ist vor dem Essen der Mund auszuspülen und
sind dann nebst Brust, Kopf und Fuß die Höhlungen des
Körpers, von denen als die sechs des Kopfes die Augen,
Ohren und Nasenlöcher besonders hervorgehoben werden,
zu benetzen. Das Mundausspülen muss dreimal, beim Sudra
und dem Weibe nur einmal, und zwar jedesmal mit soviel
Wasser als die Handhöhiung hält, geschehen; dann muss
der Mund zweimal getrocknet werden und zwar mit der
sogenannten Maus der Hand; bei den Apastamba ist vor dem
dritten Male des Spülens noch ein Reiben des Gaumens
und des inneren Teils der Lippen mit dem Finger oder
einem Stückchen Holz vorgeschrieben. Nach dem Essen
ist der Mund wieder zu spülen, welches auch bei dem
Übergeben nach Tische, wofür zu anderen Zeiten Bad und
Essen geklärter Butter als Reinigung vorgeschrieben sind,
als genügend erachtet wird, und darf man nirgends vor-
her hingehen, namentlich auch nicht einmal über die Ve-
den nachdenken, so lange man noch irgendwie einen Rest
der Nahrung im Munde hat. So lange die Hände nach
dem Essen von der Abwaschung noch feucht, soll man
nicht lesen, ohne die gehörige Abwaschung nach dem Essen
nicht den Kopf, das Feuer, eine Kuh oder einen Brahma-
1 Globus 3, 74.
2 Beschreibung 1, 9.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
163
nen berühren.1 Das Bad indessen unmittelbar nach dem
Mahle ist für gesunde Personen verboten.2 Colebroke er-
wähnt noch eines Mundspülens wenn man sich setzt, eines
weiteren, wobei man das Wasser hinunterschluckt, vor Be-
ginn des Essens und dann wieder eines nach Beendigung
der Mahlzeit.3 Der Ackerbau treibende Bhatelastamm der
Brahmanen hat sich von der Ablution vor der Mahlzeit
dispensiert ebenso wie von verschiedenen anderen Geboten
des religiösen Gesetzes, wird daher aber auch als auf nie-
drigerer Stufe als die übrigen brahmanischen Stämme
stehend betrachtet.4 Die Lamas der Mongolen führen aus
Furcht vor der Verunreinigung durch tierische Speise stets
ein Gefäß mit Wasser bei sich, um nach solcher Speise
sofort den Mund reinigen zu können, wogegen das Hand-
waschwasser ihnen gereicht wird.5
Bei den Mohammedanern ist das Waschen der Hände
vor und nach dem Essen und die Abtrocknung mit einem
Handtuch Vorschrift; das Wasser dazu ist zuerst den
Gästen, welche zur rechten Seite des Wirtes sitzen, dann
denen zur linken zu reichen, alles Wasser aber, worin sich
die Essenden die Hände gewaschen haben, in eine Schale
zusammenzugießen.6 Ferner verlangt das strenge Gebot,
nichts beim Essen hinunterzuschlucken, was zwischen den
Zähnen steckt, und spülen sich daher Bigoristen nach je-
dem Bissen den Mund aus, was sonst eigentlich nur nach
beendeter Mahlzeit Sitte ist.7 Das Sittengesetz der
Sekte der Babys schreibt das Reinigen des Mundes mit
1 Manu 2, 53. 60. 4, 75, 76. 82. 101. 121. 142. 5, 138. 139. 144.
145. — Apastamba 1, 5, 16, 9. 40.
2 Colebroke 1, 154.
3 Daseselbst 1, 208.
4 Transetions As. Soc. Bomb. Brauch 3, 373.
5 Klaproth 1, 237. 238.
6 Tornauw 231.
7 Pottinger. Reisen durch Beludschistan und Sinde. Weimar
1817. S. 235n.
11*
164
Haberland.
Zahnstocher und Bürste nach dem Essen vor.1 Das Ab-
rasieren des Schnurbarts, welches der Islam vorschreibt,
hat auch seinen Grund in der Furcht, durch denselben die
Speise zu verunreinigen;2 dem indischen Sittengesetz zu-
folge verunreinigt aber weder ein Barthaar, welches in
den Mund gerät, noch die Speise, welche zwischen den
Zähnen hängen bleibt; löst sich letztere, so verunreinigt
sie; doch nur, wenn sie auf ein Körperglied fällt, ist eine
Reinigung nötig, während das Verschlucken dieser Speise-
reste sie ebenso wie auch den Speichel von selbst wieder rein
macht.3 Das orthodoxe jüdische Speisegesetz schreibt vor,
genau Acht zu haben, dass die Hände in ganz reinein
Wasser gewaschen und sorgfältig abgetrocknet werden,
ehe man das Brot isst; genießt man es mit nicht getrock-
neten Händen, so ist es als ob man unreines Brot geges-
sen, genießt man es aber gar mit ungewaschenen Händen,
so ist die Verunreinigung so groß, als ob man bei einer
Metze gelegen habe. Vor dem Nachgebet ist der Mund
zu spülen, damit das Gebet und der Name Gottes mit
reinem Munde gesagt werde, auch ist genau darauf zu
achten, dass nach geendeter Mahlzeit kein Fleisch oder
Brosamen sich zwischen den Zähnen befinden.4 Nach ge-
nossenem (kirchlichen) Abendmahl soll man einem verein-
zelt in Deutschland vorkommenden Aberglauben gemäß
sich nicht den Mund abwischen.5
§ 15.
Eine fernere Sitte, welche sich weitverbreitet findet,
ist die, sich nur der rechten Hand beim Essen zu bedie-
1 Gobineau p. 518.
2 Maltzan 383.
3 Manu 5, 141. Apastainba 1, 5, 16, 11- Gautama 1, 38 ft*. 44.
Yâjnavalkya 1, 19-5.
4 Buxtorf 268—270. 299—302.
5 Kuhn und Schwartz. Norddeutsehe Sagen, Märchen und Ge-
bräuche. Leipzig 1848. S. 444.
lieber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 165
neu. Allgemein ist sie im Islam, welcher vorschreibt, mit
der linken, die in Aegypten beim Essen sogar unsichtbar
bleiben muss und sittsam herabgesenkt zu Nebenzwecken
wie z. B. Trinken trocken aufgespart wird, keine Speise
zu berühren, da diese Hand zu den weniger anständigen
Beschäftigungen gebraucht wird, namentlich auch zum
Waschen des Körpers, wobei wieder die rechte keinenfalls
benutzt werden darf; auch sagt man wol, dass der Teufel
mit der linken Hand isst und trinkt.1 Ebenso ist den
Hindus die Linke beim Essen verboten, schon darum, weil
man sich ihrer zur Eeinigung nach Befriedigung der natür-
lichen Bedürfnisse bedient,2 — der rechte Arm selbst muss
beim Essen entblößt sein,3 die Speise mit allen fünf Fin-
gern zum Munde geführt werden4 — den Singhalesen ist
sie selbst beim Speisebereiten untersagt;5 die Malaien be-
dienen sich nur dreier Finger der rechten Hand zum Essen
und halten die linke für geringere Bedürfnisse frei, vor-
nehme Frauen bedienen sich sogar der rechten außer beim
Essen nur noch zum Sticken und Grüßen.7 Gleicherweise
findet sich diese Sitte auch bei vielen Negervölkern und
kann bei ihnen, da sie unterschiedslos bei heidnischen und
mohammedanischen Bekennern und selbst bei Stämmen,
die vom Islam gar nicht berührt sind, wol nicht als im-
portirt angesehen und dem Einflüsse des Islam zugeschrie-
ben werden;8 das Reichen der linken Hand gilt stellen-
weise sogar als arge Beleidigung, da so manches Nicht-
1 Tornauw 232. Niebuhr 78. Höst 108. Klunziger 56. Ausland
1858, 41.
2 Kerr 171. Manu 5, 136.
3 Manu 4, 58.
4 Colebroke 1, 209.
5 Percival 203.
6 Waitz 5a 129.
7 Waitz 1, 152.
8 Munbo Park 250. Allg. Historie 3, 192. Wintterbottom 164.
Waitz 1, 151.
166
Haberland.
anständige damit geschieht.1 Auch der Neuseeländer ge-
braucht nie die Finger der linken Hand zum Essen.2 Das
Berühren mit beiden Händen fordert das jüdische Gesetz
bei Aufhebung des Becher zur Danksagung bei Tisch,3
das indische beim Manenopfer für die Gefäße, worin der
Wirt den Reis und die übrigen Nahrungsmittel herbei-
bringt, weil sonst die bösen Geister sofort die Speisen ver-
streuen;4 überhaupt darf keine Speise angenommen wer-
den, welche man nur mit einer Hand darreicht.5
§ 16.
In starkem Widerspruch mit unsern Begriffen von
Wolanständigkeit steht die arabische Sitte, dass man, so-
bald man gesättigt ist, dies durch „eine zwar nicht zarte
aber unzweideutige Weise", nämlich durch ein starkes
Aufstoßen, seinem Wirte andeutet, der dann aufhört, wei-
ter zum Essen zu nötigen; es ist dies eine unbedingt er-
forderliche Höflichkeitsform, um die volle Befriedigung
über die Bewirtung auszudrücken, und wird als eine dem
Wirte angetane Ehrenbezeugung aufgefasst.6 Genau die
gleiche Sitte herscht auch in Indien7 und ähnlich pflegt
der Abyssinier sein Wolbehagen bei einer Bewirtung durch
ein starkes Geschmatz gleich einem Schweine auszudrücken,
nach seiner Meinung beobachtet dies nur der Bettler nicht,
1 Winterbottom 164.
2 Avisland 1860, 449.
3 Buxtorf 286.
4 Manu 3, 224/5.
5 Colebrooke 1, 208.
® André 1, 198. Brehm 1, 182. Brugsch 1, 359.
7 Paulin de S'Barthélemy 1, 464/3. „Sie waren völlig zufrieden
mit der Bewirtung, as he indeed learnt from the fragrance of their
belches." Siwaitische Legende bei Taylor 2, 845. Eine andere Gas-
entlerung aber bedroht das französische Sprichwort „qui pète en
mangeant, voit le diable en mourant". Wolf No. 632.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 167
der isst, als ob er sich dessen schäme;1 auch der Suda-
nese leckt sich die Finger zum Zeichen, dass es ihm wol-
geschmeckt mit lautem Schnalzen einzeln ab.2 Die Grön-
länder hinwiderum verhalten sich bei einer Bewirtung
sehr gleichgültig, um nicht für arm oder heißhungrig ge-
halten zu werden, und lassen sich infolge dessen auch sehr
zum Zulangen nötigen;3 auch der Indianer stellt sich,
wenn er in das Zelt des Wirtes tritt, selbst bei größtem
Hunger durchaus gleichgültig und betrachtet ein gegen-
teiliges Benehmen als seiner Würde zuwiderlaufend.4 Auch
in Europa ist das Sichnötigenlassen nicht nur in den
besseren Ständen Sitte; der schwedische Hochzeitswirt
muss - seine Gäste, nachdem das Brautpaar mit dem
Geistlichen bereits am Tische sitzt, erst auf dem Hofe
aufsuchen und sie gleichsam mit Gewalt an den Tisch
bringen.5 Wer bei einem Feste zuerst aus der Brei-
schüssel isst, wird nach norwegischem Glauben nicht selig
oder stirbt zuerst: dagegen lebt nach mährischem, wer
langsam isst, lange; nach Tyroler kommt der, welcher zu-
letzt mit Essen aufhört, nicht zum Heiraten.6 Im Eifel-
lande wird derjenige, welcher am Dreikönigsabend zuerst
in die Schüssel langt, König oder Königin und muss die
Zeche zahlen — man langt daher häufig nach langem
Zögern gemeinschaftlich zu.7 Das Aufsichwartenlassen zu
Tisch kennt übrigens bereits Plutarch als ein oligarchi-
sches Benehmen.8
Die Vertilgung alles Aufgetragenen wird von den
1 Harris 2, 194. Sprenger und Forster 3, 196n. Globus 3, 313.
2 Brehm 1, 182.
3 Cranz 224. Journal f. Land- und Seereisen 75, 85 (Cpt. Graah).
4 Carver 207.
5 Globus 3, 311.
6 Liebrecht. Zur Volkskunde. Heilbronn 1879. S. 337. Groll-
mann No. 1626. Zingerle 90.
7 Schmitz 6.
8 Tischreden 8, 6, 2.
168
Haberland.
meisten Naturvölkern als eine Pflicht gegen den freund-
lichen Geber betrachtet und nur sehr vereinzelt, wie z. B.
bei den Mongolen,1 findet sich die Anschauung, dass es
unanständig ist, von den aufgetragenen Speisen alles zu
verzehren. Selbst in Deutschland gilt es in manchen
Gegenden noch bei den Bauernfestlichkeiten, bei Hochzeit
und Taufe, als Pflicht des Gastes, sein Möglichstes in Ver-
tilgung des Dargebotenen zu leisten, und leicht wird dann
Bescheidenheit und Mäßigkeit für eine Beleidigung des
Wirtes gehalten.2 Auch im Orient betrachtet man das
tüchtige Zulangen seitens des Gastes als eine Ehre für
den Wirt; beispielsweise legen die Maroniten einen großen
Wert darauf, dass die Gäste fleißig der Flasche zu Ehren
des Wirtes zusprechen.3 Bei den Serben erfordert es die
Ehre des Hauses von einer Hochzeit die Gäste nur im
Stadium einer größeren oder geringeren Trunkenheit zu
entlassen, und halten sie gleichfalls darauf, dass der so-
genannte Weihnachtsbesucher sich womöglich betrinke, da
dies als eine gute Vorbedeutung für die Familie im fol-
genden Jahre gilt.4 Wenig anheimelnd ist die persische
Sitte, das Taschentuch als Umhüllung für die Speisen zu
benutzen — dem Schah werden sie in Shawls aufgetra-
gen —,5 immer aber noch weniger abstoßend als die Sitte,
welche Prschewalski bei seinem mongolischen Karawanen-
führer beobachtete, statt der Teller gefrorene Fladen von
Yak-Exkrementen zu nehmen.6 In sein Sacktuch wickelt
übrigens auch der Bewohner des Fichtelgebirges das Leich-
brot, welches ihm von jedem Begräbnismahl mitgegeben
wird.
1 Klaproth 1, 237.
2 Bavaria 3, 1000.
3 Paulus. Sammlung u. s. w. 2, 216.
4 Eajacsich 144. 131,
5 Ausland 1865, 1039 (nach Pollack).
s Ebendaselbst.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. ] g
§ 17.
Weit verbreitet ist der Brauch, als besondere Gnaden-
bezeigung seitens der Fürsten und Vornehmen den Un-
tergebenen oder Niedrigerstehenden Bissen vom eigenen
Essen in den Mund zu stecken. Wenn dies auf der Skla-
venküste der König tat, so durfte der Glückliche keinen-
f'alls den Bissen mit den Händen berühren, noch weniger
ihn aber fallen lassen; Verlust der königlichen Gnade wäre
die sichere Folge gewesen.1 Eine wahre Tortur muss
aber diese Ehrenbezeigung oft bei den Kirgisen sein: hier
legt nämlich der Sultan auf- seine Hand eine Pyramide
kleiner Fleischstücke, der Empfänger kriecht nun auf Hän-
den und Füßen herbei, erhält diese Pyramide auf ein-
mal in seinen Mund gestopft und darf nichts fallen lassen,
sondern muss das Ganze hinterwürgen.2 In etwas schützt
übrigens den Kirgisen das Gesetz vor allzu großer Gna-
denübertreibung, denn wenn ihm mehr als drei Stück
Fleisch oder ein Knochen eingestopft sind, und er erstickt
daran, so muss der Geber den vollen Blutpreis erstatten;
hat er allerdings nur drei Stück Fleisch, wenn auch noch
so große erhalten, dann hat beim Erstickungsfall die Fa-
milie das Nachsehen.3 Sogar noch bei den Türken findet
man den Brauch, dass der Hausherr kleine Kugeln von
Reis dreht und sie bevorzugten Gästen in den Mund steckt.1
Auf Samoa wurde Leutnant Wilkes, als man ihn bewirtete,
gebeten, dem Könige etwas von seiner Platte als Freund-
schaftsbezeigung zu geben; er tat es, als er aber die
gleiche Freundlichkeit einem vom Volke erwies, erregte
dies großen Unwillen, es wurde als Beleidigung des Königs
aufgefasst.5 Auch der Araber steckt wol seinem Nachbar
oder seinem Gaste einen besonders guten Bissen als Freund-
1 Allg. Historie 4, 401.
2 Hansteen. Reiseerinnerungen aus Sibirien. Leipzig 1846. S. 166.
3 Radloff in Zeitschrift für Ethnologie 3, 294.
4 Brand 1, 341.
5 Wilkes 1, 148.
170
Beurteilungen.
schaftsbeweis in den Mund1 und ebenso füttern die Tschu-
waschen ihre Gäste mit Löifeln in nicht sparender Weise.2
In Abyssinien ließen sich nach Bruce die Vornehmen von
den Weibern mächtige Happen in den Mund zwängen und
zwar musste, je vornehmer der Esser, desto größer auch
der Bissen sein.3 Bei den Garas Bengalens stopfen die
Köche, im Kreise herumgehend, den Gästen die Speise
handvoll in den Mund, während die darauf folgenden Die-
ner das Getränk ihnen in den Mund gießen;4 in China
begnügt sich der Wirt, den Gästen von den Speisen mit
seinen Essstäbchen vorzulegen.5
(Fortsetzung folgt.)
Beurteilungen.
Sigwart, Dr. Prof., Die Impersonalien. Eine logische
Untersuchung. Freiburg 1888. Akad. Verlagsbuchh.
Herrn Staatsrat Dr. Gustav von Rümelin, Kanzler
der Univ. Tübingen zur Feier seines fünfzigjährigen
Doctor-Jubiläums überreicht.
Dies ist eine nach Form und Inhalt vorzügliche Mo-
nographie. Ich habe mich schon mehrere male über die
Verba impersonalia geäußert; das letzte mal auf Veran-
lassung von Miklosich (diese Zeitschr. IV, 235). Da hätte
man wol sehen können, mit welcher Unbefangenheit ich
meinen früher ausgesprochenen Ansichten gegenüber trete,
dieselben prüfe und nach der mir von Andern gewordenen
1 Andrée 1, 198. Wrede 74.
2 Beschreibung 1, 40.
3 Sprenger und Forster 3, 196. Anmerkung.
4 Dal ton a. a. 0. 5, 267.
5 Globus 31, 163.
Beurteilungen.
171
Belehrung umgestalte; und man wird es mir verzeihen,
wenn ich neben der Freude, gelernt zu haben, auch die
Freude genieße, lernen zu können. Genau so verhält es
sich auch jetzt bei Gelegenheit der angezeigteu Schrift;
und ich muss bekennen, dass, während ich, selbst nach
Miklosich, immer noch ein Gefühl der Unbefriedigtheit in
mir trug, ich jetzt die Ueberzeugung gewonnen habe, die
Sache sei im Grunde aufgehellt, und es bedürfe nur noch
der Special-Untersuchung.
Dieses Endergebnis Sigwarts (S. 77) will ich voran
stellen: „Aus der vorangehenden Analyse geht endlich auch
hervor, dass die verschiedenen früheren Auffassungen für
je einen Teil der Impersonalien berechtigt sind, und nur
darin fehlen, dass sie alles unter denselben Begriff bringen
wollen." Wir hatten also (wie ich Sigwart verstehe) den-
selben Fehler gemacht, den diejenigen begangen haben,
welche alle Bedeutungen eines Wortes unmittelbar aus
einer Grundbedeutung erklären wollten, während gar oft
die Entwicklung der Bedeutungen eines Grundwortes einem
Stammbaum mit mehreren Zweigen entspricht.
Jede Entwicklung der Bedeutung eines Wortes oder
einer Wortform oder einer syntaktischen Yerbindungsform,
Uebertragung, Verschiebung, Fortschritt der Bedeutung,
oder wie man es nennen mag, ist Folge einer Appercep-
tion: durch die innere Sprachform (Grundbedeutung) wird
irgend eine Erkenntnis (Sinn des Wortes) gebildet, durch
diese aber (ihrerseits zur inneren Sprachform geworden,
nachdem die erste vielleicht völlig vergessen ist) wird
abermals eine andere Erkenntnis (ein andrer Sinn) ge-
wonnen u. s. f.
Demnach wäre es Aufgabe der historischen Sprach-
wissenschaft, den Ursprung der Impersonalia aufzudecken
und sowol ihre weitere Entwicklung, als aueh dabei ihre
Berührung mit Constructionen verwanter Bedeutung zu
zeigen. Dabei wird sich Sigwarts Arbeit als vortreffliche
Grundlage bewähren.
172
Steinthal.
Bestehen bleibt der durch Miklosich gewonnene Satz,
dass das Impersonale nicht sowol eine Classe von Yerben,
als eine Constructionsweise (eine Satzbildungsform) be-
zeichne. Und ich halte fest, dass das Verbum immer eine
Person hat, welche gewöhnlich auf das Subject des Satzes
hinweist, zuweilen aber das Subject, weil es eben gar
nicht gegeben ist, bloß andeutet. In den letztern Fällen
steht das Verb (nicht unpersönlich) aber subjectlos. Durch
die Persönlichkeit, ohne welche, das Verbum gar nicht zu
denken ist, wird die Wirklichkeit ausgedrückt.
Nur die indogermanischen Sprachen kennen den im-
personalen Satzbau; selbst die semitischen kennen ihn nicht.
Dies hängt entschieden mit der Unfertigkeit des Verbi
substantivi im Semitischen zusammen. Wenn man z. B.
im Hebräischen folgende drei Ausdrücke: „gut ist der
Mann, mir ist wol, wol mir!" in der Construction nur in-
sofern unterscheidet, als im ersten der Nominativ, wo in
den beiden andern der Dativ steht: so findet der Ausdruck
des Impersonale keine deutliche Stätte, weil das Personale
dieselbe nicht deutlich hat. Doch wird man die beiden
letzten als impersonal ansehen müssen. Häufig aber er-
scheint hier das persönliche Verbum, wo im Indogerm. das
Impersonale steht. Im Hebräischen „ regnet es " nicht;
sondern der Regen fällt, wenn Gott ihn sendet. 2 M. 19, 16:
„Und es geschah am dritten Tage, als es Morgen ward"
(aber wörtlich: beim Werden des Morgens"), „da geschah
Donner und Blitz". Es raucht nicht, sondern „der Berg
raucht, und der Rauch steigt auf". Es wird nicht ge-
tanzt, sondern „Tänze1' sind (das. 32, 19). Den Hebräer
„drängt es nicht", sondern „sein Herz treibt ihn" (2 M.
25, 2); es wird ihm nicht bange, sondern sein Geist wird
gestoßen (1 M. 41, 8). — Nur noch zwei Ausdrücke (außer
den erwähnten „mir ist wol, mir ist bitter") finde ich im
Hebr. mit entschieden impersonaler Wendung: erstlich das
häufige „es geschah"; 2 M. 12, 25. 26: „und es geschehe,
wenn ihr in das Land kommt — und es geschehe, wenn
Beurteilungen.
eure Kinder sprechen werden, so sprechet". Nicht: es
war Mitternacht, sondern „und es geschah um Mitter-
nacht, da schlug Gott". Der andere Fall ist noch ab-
stracter und weniger häufig, der Ausdruck einer Verpflich-
tung 2 Sam. 18, 11. „mir (lag es) ob, zu geben"; Ps. 92, 2.
„Schön ist's, Gott zu danken und deinen Namen zu singen".
Hierbei muss für die Leser, denen das Hebräische fremd
ist, darauf hingewiesen werden, dass der Infinitiv mit „zu"
nicht wie im Deutschen einfach der Infinitiv ist, also nicht
als Subjekt zu „schön" und zu „liegt ob" gezogen werden
kann; er ist nur Gerundium.
Sollten wir nicht annehmen dürfen, dass diejenigen
Fälle der Anwendung des Impersonale, welche sich in einer
Sprache finden, die dem Gebrauche desselben so wenig ge-
neigt ist, auch die ursprünglichsten Gelegenheiten zur
Schöpfung desselben darbieten? Dann kämen wir zu dem
Ergebnis, dass die Grundbedeutung des Impersonale sei:
1. Das Geschehen im Allgemeinen, wie es Object der
Warnehmung ist (es geschah);
2. Zustände des sinnlichen oder geistigen Gefühls
und Regungen des Begehrens (wol mir, wehe mir); und
folglich
3. Zweckbeziehungen, die aus einer gegebenen Lage
entspringen (es ist schön, liegt ob) ;
No. VIII. II. X. beim Verf. S. 73 f.
Bei der S. 8 berührten Frage, ob die Impersonalia
im Laufe der Geschichte der indogermanischen Sprachen
in Zu- oder Abnahme begriiFen sind, entscheidet sich der
Verf. mit Benfey für die Zunahme, gegen Miklosich, der
eine Abnahme sieht. Vielleicht gleicht sich der Streit da-
hin aus, dass Verba mit ausschließlicher und strenger im-
personaler Construction, namentlich solche mit einer ob-
jectiven Person, wie pudet me, sich in Abnahme finden,
was namentlich im Deutschen der Fall ist, wogegen sich
die impersonale Construction auch der Verba, welche ge-
wöhnlich persönlich angewant werden, besonders mit ganz
174
Steinthal.
abstracter Bedeutung, gemäß dem ganzen Entwicklungs-
gange der Sprache zu immer größerer Abstractheit, immer
häufiger findet. Der Grieche hatte ursprünglich, also noch
bei Homer, wenig ursprüngliche unpersönliche Yerba, aber
in der attischen Prosa nicht selten unpersönliche Con-
struction.
Der Verf. nennt seine Arbeit „eine logische Unter-
suchung". Damit bezeichnet er sein Anliegen und sein
Ziel; denn nebenbei geht er natürlich auf die sprachliche
Form ein. Für mich ist letztere der Gegenstand; aber
die Logik ist hier nicht zu meiden. Wenn ich nun schon
in früheren Jahren Scheu trug, mich auf logische Unter-
suchungen einzulassen, so bin ich jetzt um so furchtsamer,
als ich die neuesten logischen Werke gar nicht kenne.
Also nur wenig aus dem Stegreif.
Die Sprache ist nicht logisch, und die Logik inuss in
ihrer Rücksicht auf Sprache vorsichtig sein und darf sich
nicht von ihr leiten lassen. Die Sprache ist ursprünglichst
geschaffen, die Welt als Warnehmung und sinnliche Em-
pfindung, also als wirkliche vor- und darzustellen. Diese
Vor- und Darstellung lässt sich nicht vollziehen ohne
Phantasie und nicht ohne gewisse Analysen nnd Synthesen,
welche Analoga und Vorbereitungen zu den logischen
Denkprocessen sind. — Die Logik hingegen, weil sie
nur das Denken beachtet, bewegt sich um Urteile und
Schlüsse (einfache und zusammengesetzte Urteile), welche
aus begrifflichen Elementen Begriffe bilden sollen. Also
wo kein Begriff, findet die Logik keinen Gegenstand. Der
Begriff und jedes begriffliche Element ist allgemein, die
Warnehmung ist einzeln; also, wo es sich um wargenom-
mene Einzelheiten handelt, mag der Psycho - Physiologe
prüfen, ob die Warnehmung gut ist, mag der Grammatiker
den sprachlichen Ausdruck ergründen — dem Logiker
liegt hier nichts an. „Warnehmungsurteil", ein Name, wel-
cher einen Gegensatz zu „ Erfahrungsurteil ", d. Ii. zum
Denk- oder Verstandesurteil bilden soll, ist eine Contra-
Beurteilungen.
175
dictio in adjecto. Die Warnehmung als solche kann nur
im Satze ausgedrückt werden und enthält kein Urteil
aber der Satz dient allerdings auch dem Urteil als Mittel
des Ausdrucks. „Sokrates nahm den Giftbecher" kann
Ausdruck eines zufälligen Geschehens sein, und ist dann
bloß ein Satz; es kann aber auch ein begriffliches Element
des Begriffes Sokrates aussagen: dann enthält es ein Ur-
teil. „Es regnet" (jetzt hier) ist ein Satz; „es regnet"
(auf Erden) ist ein Urteil der Meteorologie. Dieses Urteil
aber wird durch die Satzform in keiner Weise berührt.
Wenn die Sprache Sätze durch Impersonalia bildet, so
ist damit für die Natur der in jenen ausgesagten Urteile
gar nichts bestimmt; der Logiker könnte darin nur eine
Anregung finden, sich die Frage vorzulegen, ob es wol,
wie subjectlose Sätze, so auch subjectlose Urteile geben
dürfte. Das meteorologische Urteil „es regnet, es schneit"
ist warlich nicht subjectlos.
- Brentanos Verwirrung, indem er Urteilen von Vor-
stellen und Denken völlig trennt und ersteres als Aner-
kennung oder Verwerfung mit Liebe und Hass zusammen-
bringt, wird augenblicklich gelöst, wenn man ein solches
Urteilen, als ein ästhetisches, vielmehr Beurteilen nennt.
Die Logik, als Kunstlehre des Denkens, lehrt uns Ur-
teile und Schlüsse beurteilen, d. h. sie lehrt, welche
Urteile und Schlüsse zu billigen und welche zu verwerfen
sind. Im Satze „A ist" wird die Verbindung der Existenz
mit A ausgesprochen, und so kann derselbe weiter auch
beurteilt werden. Enthält der Satz eine bloße Warneh-
mung, so treffen die Sinne oder eine Stellvertretung der-
selben die Entscheidung, ob jene Verbindung anzuerkennen
ist oder nicht. Der Gegenstand selbst, das A, kann gar
nicht anerkannt werden; denn nur um die Weise, wie wir
ihn denken, handelt es sich. Soll „A ist" heißen: A be-
findet sich jetzt hier, so entscheiden die Sinne, ob A hier
ist; soll „A ist" allgemein aussagen, dass A sich irgend-
wann und irgendwo finde, so mag: es umständlicher zu er-
176
Stein thai.
weisen sein; immer aber handelt es sich nicht darum, A
an sich anzuerkennen, das ich vielleicht als schöne Phan-
tasie oder als einen tatsächlichen Irrtum anerkenne; son-
dern die Verbindung des A mit dem Sein wird gebilligt
oder nicht. Das Prädicat der Existenz ist kein quali-
tatives Prädicat; aber es ist die Grundlage aller Prädi-
cate, und somit auch ein Prädicat, ganz einzig in seiner
Art. So ist doch das Urteil immer zweigliedrig; die Be-
urteilung aber dieses Urteils, d. h. der Synthese zweier
begrifflicher Elemente, bezieht sich eben gerade nur auf
diese Synthese, und immer nur auf eine solche, also nicht
auf ein einzelnes Merkmal, sondern auf eine Einheit aus
zwei Momenten.
Herbarts Behauptung, alle kategorischen Sätze seien
hypothetisch, scheint sich an die Stoa zu lehnen. Aber
alle Schlüsse sind ja nicht minder hypothetisch, indem der
Schlusssatz nur gilt, wenn und insofern die Vordersätze
gelten. Wer aber den Schluss ausspricht, meint, dass sie
gelten. So meint wer da sagt „Zeus donnert" sowol, dass
Zeus, als dass Donnern ist, als auch, dass Zeus es ist, von
dem der Donner kommt, und der Satz durch Nominativ und
flectirtes Verbum sagt dies aus. Der Akademiker zweifelte
ob Zeus ist, aber darum doch nicht, ob Donner ist. Der
Epikuräer glaubte, dass Zeus ist, aber nicht dass er don-
nere, obwol er auch nicht leugnete, dass es donnert. Sagt
jemand „ es spukt ", so sagt er die Wirklichkeit des Spu-
kens aus, stellt dasselbe absolut auf. Der Logiker aber
beurteilt dieses absolute Setzen als absolut falsch, d. h. er
verurteilt die Verbindung des Begriffes Spuken mit der
Tätigkeit des absoluten Setzens, wie dort die Verbindung
des Donneras mit Zeus.
Denn gerade wenn es wahr ist, dass der Logiker in
ganz analoger Weise wie der Aesthetiker und Ethiker be-
urteilt, so kann sein Object nicht ein einzelnes Moment
sein, welches ja weder schön, noch gut, noch wahr sein
kann; sondern alle drei beurteilen eine Verbindung, eine
Beurteilungen.
177
Synthese. Auch scheint mir, dass das absolute Setzen
eines Begriffs in Herbarts Sinn vollkommen der inneren
Freiheit in seiner Ethik analog sei: ein Wille wird als
sittlich gesetzt.
Auf einzelne Punkte, wo ich vom Verf. abweiche, will
ich nur wenig eingehen. Es ist mir vorgekommen (z. B.
S. 24 f.), als ob der Verf., wenn er von „echten und eigent-
lichen Impersonalien" spricht, eben nicht beachtet habe,
dass es überhaupt keine Impersonalia x sondern nur im-
personale Constructionen gibt, und dass es dabei ganz
gleichgültig bleibt, was bei dem impersonalen Ausdruck
„gemeint" wird. Sagt man „hier ist's tief, dort seicht",
fragt uns ein Wanderer „ist es noch weit nach X?" so
mag man meinen, was man will; der Ausdruck ist nichts
desto weniger subjectlos. Ich meine auch bei diesen
Sätzen weder das Wasser, noch den Weg, wie der Verf.
meint; sondern ich meine die größere oder geringere Boden-
senkung an jenen Stellen, über welche das Wasser fließt,
oder vielmehr dieses Bild des über eine Einsenkung oder
Erhebung des Bodens fließenden Wassers. Was der Verf.
als die Meinung der Sätze hinstellt, ist eine unrichtige
grammatische Erklärung. Wer ins Bad steigend sagt „es
ist kalt ", spricht nicht impersonaliter; sondern „ es " ist
das Subject, nämlich das Wasser; aber wenn Gretchen
sagt „es ist so schwül, so dumpfig hie", so meint sie
nicht die Luft, die Gretchen und manches Volk, wie die
Hebräer, gar nicht kennen, also auch nicht „als bestimm-
teres Subject nennen" könnten. Man hat ein Prädicat,
das man empfindet und fühlt, für das man aber kein Sub-
ject kennt: so stellt man es als selbständig hin, indem
man die Beziehung auf ein Subject andeutet, ohne dieselbe
auszuführen. Oder, wie der Verf. S. 27 selbst darlegt,
indem man sagt „es läutet", kennt man zwar das Sub-
ject, aber, da nichts an ihm liegt, so nennt man es nicht.
Dort erwähnt auch der Verf. sehr richtig, dass auch der
Infinitiv subjectlos gebraucht werden kann, wie in „ich
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spraohw. Bd. XYIII. 2. 12
178
Steinthal.
höre läuten" ; denn im Infinitiv steckt grammatisch so viel
Person und so wenig Subject wie in „läutet". Während
nun sonst der Infinitiv durch den Zusammenhang mit dem
Hauptsatz durch dessen Subject oder Object sein wirkliches
Subject erhält, bleibt es in „ich höre läuten" ohne Subject.
Sehr schön wird die Bemerkung ausgeführt, dass „es
brennt" ein voller Satz sein kann, indem sich „es" auf
das Feuer im Ofen bezieht; aber unpersönlich gebraucht,
bedeutet es ein Schadenfeuer (S. 37).
Ich stimme mit dem Verf. so oft überein, dass ich
stutzig werde, wo ich es nicht kann; wie S. 46 if. Ich
denke, der Satz „es ist noch Nacht", „heute ist Sonntag"
enthält weder einen Zustand, noch einen Zeitabschnitt als
Subject. Dieser Satz, sage ich, ist subjectlos, es ist, um
mit dem Verf. zu reden, ein Benennungssatz; was aber der
denselben Sprechende meint, geht den Satz, und also den
Grammatiker nichts an. Gehen wir aber auf die Meinung
des Sprechenden ein, so meint auch er wol nur in den
seltensten Fällen einen Zustand des Gesichtskreises oder
einen Zeitabschnitt, sondern etwa: ich kann noch schlafen;
heute gehe ich in die Kirche; wissenschaftlich aber liegt
in „es ist noch Nacht" eine gewisse Stellung der Erde zur
Sonne. Also grammatisch sind solche Sätze subjectlos; die
Logik aber hat hier gar nichts zu sagen, wie sie über-
haupt nicht eher etwas zu sagen hat, als bis sich der-
selben ein ihr unterworfenes Object, d. h. eine Synthesis
begrifflicher Elemente, darbietet. — Ich finde jemanden
beschäftigt', ohne schon zu wissen, was er vorhat, und höre
ihn eben ausrufen „es geht", oder „es geht nicht". Da
ist der Satz nicht bloß scheinbar, sondern wirklich unper-
sönlich, d. h. subjectlos, ein Benennungssatz, ein Ausruf.
Frage ich ihn nun: was geht nicht? so sagt er mir, was
er will und wie er es zu erreichen glaubt und die ge-
wonnene Ueberzeugung, dass er recht glaube. Da höre
ich seine Meinung, die mit jenem Satze nur sachlich zu-
sammenhängt, aber nicht sprachlich.
Beurteilungen.
179
„Ich esse, schreibe" drückt etwas wirkliches aus; aber,
meint der Verf. (S. 54) „die Wirklichkeit ist in diesen
Fällen schon darin eingeschlossen, dass das Subject als
wirklich existirendes vorgestellt wird". Das ist richtig;
aber festgehalten muss werden, dass diese Wirklichkeit
grammatisch durch die Nominativform des Nomens und die
Personalflexion des Verbi ausgedrückt wird. In „es blitzt"
aber mag der Logiker, wenn er einmal glaubt hier mit-
reden zu dürfen, „von einem Wirklichen das Blitzen, nicht
vom Blitzen das Wirklichsein" ausgesagt hören; der
Grammatiker kann nur sagen, es fehle ein Subject; die
auf ein solches weisende Flexion aber sage einen Vorgang
als wirklich aus. Wer da sagt: „in Palästina regnet
es jährlich zweimal, in Aegypten regnet es niemals",
der sagt doch von keinem Wirklichen das Kegnen aus,
sondern vom Eegnen das Wirklichsein und dessen Gegen-
teil, aber subjectlos. In diesem subjectlosen Satz mnss
der Logiker unzweifelhaft ein Urteil anerkennen. Für ihn
mag der geographisch bestimmte Ort mit seinen gesamm-
ten klimatischen Bedingungen das Subject ausmachen: das
kümmert die Sprache nicht.
Die wundervollen unpersönlichen Constructionen in
Schillers Taucher nennt der Verf. „sogenannte Imperso-
nalien"; und wenn es heißt „da hebet sich's schwanen-
weiß", so meint er, „es" sei das gesehene Weiße. Ich aber
denke, gleichviel wie sich die Logik entscheiden mag, wenn
sie überhaupt hier etwas zu sagen hat, dass grammatisch
„schwanenweiß" durchaus Adverbium ist, und dass ein
subjectloses „sich heben" ausgesagt wird. Gewiss muss,
jeder bei dem Satze: „Da bückt sich's hinunter mit lieben-
dem Blick" an die Königstochter denken; aber nicht sie
steht vor mir, sondern subjectlos ein Sich-hinunter-Bücken,
und nun fühle ich um so lebendiger mit ihr. Nach meiner
Psychologie würde ich sagen, die Vorstellung der Königs-
tochter schwingt, aber tritt nicht ins Bewusstsein.
So nun auch im letzen Paragraphen S. 71. Wenn
12*
180
Bruchmann.
der Verf. zugesteht (S. 25), dass grammatisch „mich friert*
und „j'ai froid" verschieden, obwol logisch völlig gleich
sind, so muss auch „es geht ums Leiben" und „es ist Zeit
zu handeln" grammatisch auseinander gehalten werden.
Treifend ist des Verf.s Bemerkung, dass das Gerundium
„vollkommen den Charakter eines Impersonale" habe. Will
man eine psychologische Analyse dessen, was mit solchem
Ausdruck gemeint ist, so hat der Verf. recht, wenn er
sagt, dass „ die gegebene Notwendigkeit eines Zweckes und
der darauf gerichteten Handlung" im Bewusstsein ist; aber
von Subject ist grammatisch hier nichts zu finden, so we-
nig wie in „mich drängt's" (S. 39). Auch gehörte das
Gerundium nicht in diesen Zusammenhang, sondern dort-
hin, wo vom impersonalen Passivum die Eede war. „Es
ward gegessen und getrunken" ist erzählender Modus,
nunc est bibendum ist Notwendigkeitsmodus.
Nach allem aber muss ich sagen, dass ich keine lehr-
reichere Abhandlung über das Impersonale kenne als die
des Verfassers.
St.
Die arische Periode und ihre Zustände von Dr. F.
Spiegel, Professor an der Universität Erlangen. Leipzig,
W. Friedrich, 1887. 330 S. und X. (Zweites Heft der
Einzelbeiträge zur allgemeinen und vergleichenden
Sprachwissenschaft, Verlag von W. Friedrich.)
„Eigentlich lernen wir nur von Büchern, die wir nicht
beurteilen können. Der Autor eines Buches, den wir be-
urteilen könnten, müsste von uns lernen," — so bemerkt
Goethe (in der dritten Abteilung seiner Sprüche in Prosa)
und ebenda (in der sechsten Abteilung), „wen jemand lobt,
dem stellt er sich gleich." So dürfte denn nur der gleich-
stehende Kenner ein Lob aussprechen und dem Lernenden
wäre es versagt, seine Freude über die Belehrung zu äußern,
damit er nicht den Anschein erregt, sich dem Gelobten
Beurteilungen.
181
gleich zu stellen. Wenn wir aber grade von den Büchern
lernen, welche wir nicht beurteilen können, so würde die
natürliche Empfindung des Dankes und die nicht grade
üppig wuchernde Neigung zu loben denn doch zu sehr ein-
geschränkt werden. Ja, sollten die Meister nur von ihres
Gleichen beurteilt werden, so ergäbe sich vielleicht mit-
unter, dass nach der wunderlichen Einrichtung unsrer
Welt ein zweiter Meister gar nicht vorhanden ist, so dass
der Autor am Ende in Geduld und Gnaden mit dem Surro-
gat eines vom lernenden Nicht-Meister gespendeten Lobes
vorlieb nimmt, anstatt zu warten, bis der Weltlauf den
zweiten Meister und noch dazu in der Situation des seinen
Mitmeister lobenden Kritikers hervorbringt, welcher dann
mit dem Meisterpatent die facultas laudandi rite erlangt hat.
Unter diesen Umständen wird es wol gerechtfertigt
erscheinen, wenn ich mit meinem uneingeschränkten Lobe
des uns vorliegenden Buches nicht zurückhalte, vielmehr
sage, dass es mir nach Inhalt und Form eine vorzügliche
Leistung des ausgezeichneten Gelehrten zu sein scheint,
dem wir bereits viele wertvolle Bücher, besonders seine
Eranische Altertumskunde zu verdanken haben. Fülle des
Wissens, Sorgsamkeit der philologischen Methode, Gang der
Untersuchung Und Einteilung des Stoffes machen das Buch
ebenso wertvoll wie genussreich und sichern ihm einen
Leserkreis, welcher sich bedeutend über die Zahl derjenigen
hinaus erweitert, welche sich mit altpersischer und alt-
indischer Literatur abgegeben haben.
Die arische Periode ist die Zeit, welche Inder und
Eranier in gemeinsamer Entwicklung durchlebt haben
müssen, ehe sie sich in zwei Völker schieden. Der Zu-
sammenhang zwischen ihnen ist enger als der mit den
übrigen indokeltischen (wie Spiegel statt indogermanischen
sagt) Völkern. Des Verf. Aufgabe ist es nun, zu zeigen,
worin sich dieser engere Zusammenhang bekundet. Zu
diesem Zwecke durchmustert er in 45 Abschnitten die ge-
sammte Ueberlieferung, indem er alle Lebensgebiete und
182
Bruchmann.
Lebensäußerungen jener beiden Völker vergleicht, oder fest-
stellt, ob ihr Sprach- und Gedankengut nicht bloß arisch,
sondern zugleich indokeltisch ist. Da begegnen wir also
den Jahreszeiten, den Namen der Meere, Flüsse, Berge,
Himmelsgegenden, der Dinge in den Naturreichen. Es
folgen die Lebensweise, die socialen Zustände, die allge-
meinen wissenschaftlichen Begriffe, geographische Bezeich-
nungen, die Religion, besonders das Feuer, das Wasser,
die Luft, der Wind, Himmel und Erde, Mitra, die Sonne,
Indra u. s. w. Sodann werden die theologischen Ausdrücke
und Redewendungen, die Rechtsausdrücke, Sitten und Ge-
bräuche behandelt. Ihnen schließen sich die epischen Er-
zählungen an (Yama und Yima, Ahi und Azhish Dahäka,
Trita, Manu, Zarathushtra, Kuru, die Kosmogonie u. s. w.).
Wir haben uns zunächst mit dem Namen und Wohn-
sitz der Arier zu befassen, ohne freilich vom Verf. end-
giltig beschieden zu werden. Lassen deutete sie als die
Edlen, Roth als die Eigenen (populares), die zu den Freun-
den Gehörigen,' Spiegel schließt sich der erstgenannten
Deutung nicht an und gesteht, dass die Etymologie uns in
Stich lässt, da wir nicht wissen ob arya der Dienstbereite
oder der Ordnende sei. Ebenso bleibt die alte Frage nach
der Urheimat der Indokelten und des arischen Volkes un-
gelöst. Nur so viel lässt Spiegel gelten, dass die Ansicht
von der Herkunft der Indokelten aus Centraiasien mehr
als zweifelhaft geworden ist (S. 14), im Uebrigen haben
wir uns mit der Hoffnung einer etwa zukünftig erfolgen-
den Aufklärung zu begnügen (S. 319). Ging nun auch der
arischen Periode die allgemein indokeltische voraus, deren
Cultur allen Völkern dieses Stammes zu Gute kam, so
bilden doch die Arier, d. h. Eranier und Inder eine ge-
schwisterliche Gemeinschaft, so dass beide Völker einmal
ein einziges gewesen sein müssen, das sich bis zu einem
1 H. Zimmer, Altindisches Leben, Berlin 1879, S. 100, Spiegel
S. 100 f., über Arier und Iren Zimmer in Bezzenbergers Beiträgen
m, 137 f.
Beurteilungen.
183
gewissen Zeitpunkt gemeinsam entwickelte. Die beiden
arischen Sprachen gehen auf eine Muttersprache zurück,
welche aber schon vor dem Beginn der geschichtlichen Zeit
ausgestorben ist. Wird ein engerer Zusammenhang zwischen
diesen beiden Völkern schon durch die gemeinsame Be-
nennung von Flüssen, Bergen und Gegenden wahrschein-
lich gemacht, so besonders durch Tatsachen ihrer Religion
(S. 127).
Für die Frage nach den Wohnsitzen ist es wichtig
zu wissen, ob ein Name für das Meer vorhanden ist; der
Sprachschatz der Arier lässt uns wiederum zu dem Schluss
kommen, dass das Meer auch noch in der arischen Zeit (wie
in der indokeltischen) unbekannt gewesen ist (S. 27).1
Beide arische Sprachen haben Wörter für Winter,
Frühling und Herbst, während der Sommer nicht gemein-
sam bezeichnet wird (S. 24 f.), indessen sind im Gebrauch
dieser Worte manche Unterschiede vorhanden; trotzdem
scheint es, dass in der arischen Zeit die Namen des Winters
(ghiam, xyam, him), Sommers (ham, sarna) und Herbstes
(iparad, saredha) auch verwendet werden konnten, um das
Jahr zu bezeichnen. Die Inder in ihrem heißen Lande
rechneten ursprünglich nach Wintern2, so dass das Jahr in
Winter und Sommer zerfiel, während die Yedische Zeit eine
Dreiteilung (Frühling-Vorsommer, Hochsommer und Regen-
zeit, Herbst und Kälte) zu Grunde legte. Inder und Perser
scheinen die Teilung des Monats in zwei Hälften gekannt
zu haben (S. 99).3 Was die Himmelsgegenden betrifft, so
hält Spiegel an seiner Meinung fest, dass sie in der arischen
Zeit noch nicht so unterschieden wurden, wie bei den In-
dern (und Hebräern), welche nämlich die Orientirung, nach
Osten gewendet, angenommen haben (S. 30).
Wir wenden uns nun zu den Lebensbedürfnissen, zu
den Tieren und zum Menschen selbst.
1 Zimmer. S. 25. a. a. 0.
2 Zimmer ib. S. 371. Spiegel S. 25.
3 Zimmer ib. S. 364.
184
Bruchmann.
Die Namen für Gold und Silber, in den arischen
Sprachen identisch, sind nicht für sie besonders bezeichnend,
da sie vielmehr auch in den indokeltischen Sprachen ihre
unverkennbaren Vertreter haben; ein gemeinsamer Name
für Metall ist nicht nachweisbar (S. 32 f.), wie auch für
das Salz, woraus freilich nicht sicher zu schließen ist, dass
der Besitz dieses Gewürzes der arischen Zeit entgangen
sei (S. 36).
Die Namen von Pflanzen und Tieren sind zum Teil
indokeltisch, zum Teil aber nur arisch; von letzteren werden
uns S. 59 zwei Dutzend aufgezählt. Die Flora Indiens ist
aber auch eine andere als die Erans, so dass nicht die
gleichen Bedürfnisse der Namengebung oder Namen-Er-
haltung für dieses Gebiet vorlagen. Zudem hat uns bis
jetzt der tückische Zufall in den Keilinschriften jeden
Pflanzennamen versagt und das Awestâ nennt nur wenige.
Für die Baumrinde haben wir kein gemeinsames Wort,
aber eine gemeinsame Anschauung, wonach die Einde die
Haut des Baumkörpers ist (S. 38). Eiche, Buche und Birke
scheinen den Ariern unsprünglich ganz unbekannt zu sein,
ebenso Esche, Linde und Fichte (S. 39). Arische Ueber-
einstimmung findet sich in Wörtern für Baum, Holz oder
Wald, Brennholz, Baum oder Wald, Schilfrohr, Korn, Ge-
treide, Bohne, Getränk; wild, Maulesel, Pferd, Widder,
Ziege, Bock, Taube, Löwe, wilder Esel, Fuchs, Vogel, Adler,
Schildkröte, Fisch und ropi oder raopi, ein fuchsähnliches
Tier. Die vedischen Inder wie die Eranier teilen die
Tiere in zwei- und vierfüßige ein und kennen aus indo-
keltischer Zeit den Unterschied wilder und zahmer Tiere.
Ob das Schwein bei den Ariern Haustier war, bleibt
zweifelhaft (S. 51), wogegen der Hund zum indokeltischen
Inventar gehört.1
Auch für den Körper und seine Teile finden wir einige
nur arische Namen (S. 65 f.), so ein Wort für den ganzen
1 Uber die Katze s. S. 51. M. Müller Indien (Lpz. 1884)
S. 227 f.; über das Scbaf Spiegel S. 50 u. 67.
Beurteilungen.
185
Körper, für das Gesicht, für das Auge, für blind, Lippe,
Hals, Rücken, Zunge, Brust, Mutterleib, Rippe, Taille, Hand,
Zehe, Faust, Beiu, Vorderfuß und Herz.
Weder Jagd noch Fischfang bieten zur Construction
eines arischen Gemäldes Anlass; erstere war wol mehr ein
Vergnügen der bevorzugten Klasse, als allgemeine Beschäf-
tigung des um sein Dasein arbeitenden Volkes, während
der Fischfang in Eran niemals besonderen Umfang und
mannichfaltigeren Betrieb erreichen konnte. Dagegen zeigt
sich im Gebiete der Viehzucht vielfache Uebereinstimmung.
Die Furchung des Ackers zum Zweck des Getreidebaues
wird arisch durch eine Wurzel bezeichnet, deren Vertreter
im Indischen krish, im Eranischen karsh lautet (S. 69).
Der Reichtum wird bei den Indern und Eraniern vornehm-
lich an dem Besitz der Rinderherden gemessen;1 der Pflug
wurde ursprünglich von Rindern gezogen (S. 70). Für das
Brot ist ein gemeinschaftlicher Name nicht nachweisbar
(S. 81, vgl. Zimmer S. 269); für den indischen Getränke-
namen surâ, awestisch hura sind wir nicht im Besitz einer
sicheren oder genaueren Deutung. Dass die Indier ein ge-
wisses Getränk (mitunter auch das Nass der Wolken) mit
Soma bezeichnen und dass die Eranier eine Haoma-Pflanze
und einen daraus bereiteten Trank kennen, gilt längst als
eine deutliche Unterstützung der arischen Gemeinschaft.
Die vedische Poesie nötigt uns unter Soma dreierlei zu
verstehen, den irdischen Trank, den Regen, einen Gott.
Denn die von ihm ausgesagten Taten und Erscheinungen
lassen sich nicht mit einem dieser drei Subjekte gemein-
schaftlich verbinden. Freilich begegnen wir im Rig-Veda
nicht einer reinlichen Unterscheidung dieser Erkenntnis
oder dieses Glaubens; sondern die Macht und Trägheit der
Ueberlieferung brachte es mit sich, dass mechanisch und
widerspruchsvoll die Einzelheiten dieser drei Gebiete in-
1 Spiegel S. 69. Zimmer S. 221. 173. 224, wo die Schönheit
eines Gesanges durch den Vergleich mit der brüllenden Milchkuh
erläutert wird.
186
Bruchmann.
einander verschlungen werden.1 Auch der eranische Haoma
(S. 170 f.) ist ein Gott, welcher seinen Verehrern Macht
und mannichfaltige Gaben verleiht. Wer ihn genießt,
kommt ins Paradies, er gibt Weisheit, trägt die Religion
als seinen Gürtel. Daneben erscheint er als himmlischer
Baum Gaokerena, welcher einen Unsterblichkeit bewirken-
den Trank enthält. Er steigt — wie, ist nicht deutlich —
als Pflanze und Person auf die Erde herab. Ist nun auch
nicht zu leugnen, dass der Soma-Cultus mit seinen Anfängen
in die indokeltische Zeit zurückreicht, so zeigt doch sein
arischer Betrieb ein besonderes Antlitz, dessen Züge wesent-
lich von denen des indokeltischen Betriebes verschieden
sind. Die Frage, ob der Haoma-Cultus ein bloßer Reflex
des Soma-Cultus sei, wird von Spiegel im Anschluss an
Windischmann verneint. Es ist nicht glaublich, dass die
Indier die ursprüngliche Pflanze nach ihrer Einwanderung
in der neuen Heimat wieder fanden oder dass sich der
Soma-Cultus in Indien entwickelt und erst von da zu den
Eraniern verbreitet habe.
Endlich sei nicht ausgeschlossen (S. 175), dass die
Arier den Soma-Cultus von auswärts, etwa von den im
Westen wohnenden Sumeriern erhalten haben, zumal Win-
dischmann (Zoroastr. Studien S. 165 f.) auf den Zusammen-
hang des Soma mit dem Lebensbaum der Genesis hin-
gewiesen hat und auch bei den Assyrern von einem Lebens-
baum die Rede ist.2
Wollten wir diese kurze Musterung aus der Fülle der
Darlegungen des Verfassers ergänzen (sein Wortregister
umfasst ungefähr 1500 Worte aus dem Sanskrit, dem Alt-
und Neupersischen und dem Awestâ), so möchte doch das
Bild der äußeren Lebensweise der Arier nicht wesentlich
vervollständigt werden. Sie sehen in dieser Beziehung
1 Vgl. Big-Veda übers, v. Ludwig II No. 832. 838,5. 855,14. 857,3.
861,9. 864,2. 868,4. 5. 876,7. 886,3.
2 Sayce, Alte Denkmäler im Lichte neuer ForscLungen S. 23
(Leipzig).
Beurteilungen.
187
ziemlich indokeltisch aus. Sie treiben Ackerbau und Vieh-
zucht, pflügen mit Bindern, kennen als Haustiere außer
dem Rinde das Pferd, das Schaf, den Hund, bauten Kuh-
ställe (S. 67); sie genossen die Milch, bearbeiteten sie durch
Quirlung (S. 68) und scheinen auch mit der heilsamen
Speise des sauren Kahms bekannt gewesen zu sein (S. 68);
sie verzehrten mancherlei Körner- und andere Feldfrüchte
(42 f.) darunter die Gerste (44). Unter den Metallen
finden wir außer dem oben genannten Gold und Silber das
Eisen (34), das Kupfer (35), fiir Zinn fehlt ein alteranisches
Wort; die ursprüngliche Bedeutung von ayas ist unsicher,
indem es für die geringeren Metalle gebraucht worden zu
sein scheint (35). Der Weinstock und der Nussbaum
kommen in Eran vor (S. 40); letzterer scheint von dort
nach Westen gewandert.
Die Lebensordnungen lassen sich jedoch nicht zu dem
Bilde einer gemeinsamen arischen Verfassung benutzen
(S. 89). Die Familie ist zwar die Grundlage des Lebens,
der Hausherr von besonderem Ansehen, aber darüber hin-
aus können wir höchstens noch an die Zusammenfassung
zu kleineren Genossenschaften, welche durch Verwantschaft
begründet waren, denken (S. 89 f.), welche Einheit also
einige Familien umfasst haben könnte. Finden wir auch
ein Wort für Herscher und König, so lässt sich aus sprach-
lichen Denkmälern der Begriff des Volkes nicht nachweisen
(S. 91). Man kannte den Verkehrsfortschritt des Handels
und ein wichtiges Betriebsgerät desselben, die Wage; we-
nigstens gibt es dafür ein indisches Wort tulâ und ein
neupers. ierdzü. Auch in Eran kannte man die Sitte, den
Vertrag durch Handschlag zu bekräftigen (S. 93), was
wol nichts anderes bedeuten kann, als dass die den Ver-
trag Schließenden durch dieses äußere Zeichen auf die
Freiheit einer andern Entschließung verzichten, indem sie
jener Verbindung der Hände den Wert geistiger Verbün-
dung zu einem einzelnen Zwecke beilegen. Wie nach
körperlichem Kampf dei1 Friedensschluss am deutlichsten
188
Bruchmann.
bemerklich gemacht wird, wenn das Werkzeug des Kam-
pfes, Arm und Hand, in die Hand des Gegners gelegt
werden, so wird die Verschiedenheit der Yerkehrsinteressen
symbolisch durch Handschlag zur Einheit verschmolzen
(vgl. über die Heirat S. 237).
Die Frage, wie sich das Böse mit dem Walten der
Gottheit verträgt, wann es entstanden ist und ob es je-
mals verschwinden wird, haben die Völker teils gar nicht,
teils verschieden beantwortet. Die Bibel teilt die An-
nahme von der ursprünglich tadellosen Beschaffenheit dieser
Welt. Der Teufel jedoch, welcher in Gestalt der Schlange1
bereits am Anfang der Geschichte wirksam ist, bleibt es,
mehr oder weniger, bis zum Ende, so dass am Ende die
Gesammtheit in zwei große Klassen zerfällt, von denen
die eine dem Teufel zugehört.
Die Eranier (S. 305) glauben weder an eine fort-
währende Verschlechterung, noch an einen sich stetig un-
gefähr gleich erhaltenden Bestand des Guten und Bösen,
sondern an fortdauernde Zunahme der Macht des Guten,
ein Glaube, welcher eine gewisse Analogie in dem Opti-
mismus des Propheten findet. Jesai. II 4 und Micha IV
3 f. Als hervorstechendster Zug einer gemeinsam arischen
Religion tritt uns die Verehrung des Feuers entgegen.
Wären uns nur eranische Wortsammlungen erhalten, so
fänden wir zu unserem Erstaunen den so wolbekannten
indischen Namen des Agni nicht wieder; denn das Feuer
heißt atare (S. 129. 135). Den Versuch, sich vom vedischen
Agni ein plastisches Gesammtbild zu entwerfen, wird kein
Leser des Rig-Veda unternehmen. Die ihm beigelegten
Taten und Eigenschaften schließen sich vielmehr abwech-
selnd an die rein sinnliche Erscheinung des vor uns bren-
nenden Feuers an, teils werden sie zu Aussagen einer
1 Der Lebensbaum mit der Schlange findet sich auch im Assy-
rischen s. Sayce a. a. O. S. 23—24.
Beurteilungen.
189
moralischen Persönlichkeit.1 Auch in der Religion des
Zarathushtra wird noch das wirkliche Feuer verehrt
(S. 151). Das Feuer, das der Priester beim Opfer vor
sich brennen sieht, redet er an; außerdem spielt es, wie
Agni, ins Persönliche hinüber, wie wenn es sich auf Seiten
des Ahura Mazda an dem Kampfe gegen die bösen Wesen
beteiligt. Im Awesta ist von seinem himmlischen Ursprung
die Rede; dass der Sohn Ahura Mazdas (also das Feuer)
irdische Speise genießen muss, dass so der Dämon der
Hunger-Begierde auf ihn Einfluss gewinnt, ist dem sitt-
lichen Ernst der Eranier Gegenstand des Nachdenkens ge-
wesen. Indessen hat nur der Hunger, nicht auch der
Durst Macht über das Feuer. Das Feuer verzehrt ja nun
freilich mitunter auch unreine Dinge; damit ist nicht ge-
sagt, dass der Mensch jene Zufälle nachahmen soll: son-
dern er nahe sich freiwillig nur mit trocknem Holze und
Wolgerüchen, anstatt das reine, heilige Element durch Un-
reines zu belästigen. Die Eranier unterscheiden vom Haus-
feuer das des Dorfes und Bezirkes und hielten letzere für '
reiner und heiliger als das erstere. Außerdem werden im
Awesta fünf Feuer unterschieden 1) in der Höhe, welches
nichts verzehrt, 2) im Körper der lebenden Wesen, welches
Alles verzehrt, 3) in den Pflanzen, welches bloß Wasser
verzehrt (also eigentlich ein Widerspruch gegen oben),
4) das Blitzfeuer, 5) das gewöhnliche Feuer. Wie also im
Rig-Veda (a. a. O. I No. 3y 7, 4) Agni als Stier in den
Kräutern bezeichnet wird, wie er (265, 2) Keim in den
Bäumen ist, Inhalt des Festen und dessen, was sich regt,
wie er sogar im Steine den Keim hat,2 wie er im Versteck
weilt (284, 3), so glauben auch die Eranier außer dem
sichtbaren Feuer an ein unsichtbar in den Dingen wir-
kendes (S. 152\ Mögen nun diese Vorstellungen mehr oder
weniger indokeltisch sein, so sind wir bei dem Fehlen
1 Vgl. Rig-Veda übers, v. Ludwig I No. 249—269. 340—392-
275. 281. 287. 416. 422. 204. 397. 309. 326. 406 u. s. w. II 542.
2 Vgl. 294, 1. 302, 3. 306, 8.
190
Bruchmann.
anderweitiger indokeltischer Ueb er lief er ung wol zu der
Ansicht berechtigt, dass die Bedenken über die Nahrung
des Feuers dem arischen Gedankenkreise eigentümlich sind.
Außerdem scheint sich schon in arischer Zeit neben
dem Feuer als Element ein Cultus besonderer Feuer ge-
bildet zu haben, deren Glut man als besonders heilkräftig
ansah; die Eranier gingen hierin weiter als die Indier.
(S. 167).
Das wolbekannte indische Götterwort deva bezeichnet
eranisch (als daeva) nur die bösen Götter — die Eranier
vergaßen also (wie Ludwig annimmt und mit ihm der Ver-
fasser) den ursprünglichen Sinn. In den Keilinschriften,
also der ältesten Literatur, kommt es nicht vor, sondern
erst im Awesta. Spiegel vermutet, dass man es etymo-
logisch an div betrügen angelehnt habe, so dass daeva der
Betrüger bedeutete, womit der Charakter der Dewen in
der persischen Heldensage bei Firdusi durchaus überein-
stimmt. Die persischen Götter zerfallen nun in zwei
Klassen, in himmlische und irdische (Herod. I 131 f.), unter
den ersteren nimmt Mithra einen besonderen ßang ein und
bedeutet anscheinend den Freund (S. 180). Ist dieser Name
uns auch aus dem Kig-Veda bekannt, so fehlt es auf per-
sischer Seite an einem directen Vertreter des Varuna, mit
dem zusammen im Rig-Veda Mitra genannt zu werden
pflegt. Ist nun auch Mithra ein Lichtwesen, so lässt er
sich doch nicht mit der Sonne gleichsetzen, sondern er ist
das sie begleitende oder ihr vorangehende Licht (S. 183),
eine Auffassung, welche mir nicht übel zu dem Charakter
der Eranier zu passen scheint, insofern die Verehrung des
Lichts noch weniger materiell ist, als die der Sonne. Dass
man sich ihn auf einen Wagen, gezogen von vier weißen
Pferden, dachte, scheint alte d. h. arische Erinnerung.
Näheres über ihn S. 184 und Eran. Altertumskunde II 78 f.
Die Vergleichung des eranischen Mithra mit dem indischen
Mitra lässt nicht zweifeln, dass wir in ihm einen arischen
Gott vor uns haben (S. 185).
Beurteilungen.
191
Hören wir nan, dass er der Siegreiche ist, Alles sieht,
seine Späher überall hat, die Verträge und die Gerechtig-
keit beschützt, die Vertragsbrüchigen bestraft, dass bei
seinem Namen geschworen wird, dass er die Länder und
Könige beschützt, dass er das Wasser laufen lässt, Vieh
und Menschen gedeihen macht, König und Herscher der
ganzen Welt ist, von den Kriegern um Hülfe angefleht
wird, so kann sich wol die Frage erheben, was dann noch
für den berühmten Ahur a Mazda übrig bleibt. Ahu heißt
Ort, Welt und Herr (S. 225 f. Eran. A. K. II init.). Sollte
er gar nicht auf eine der alten Naturgottheiten zurück-
gehen, sondern eine Neubildung auf eranischem Boden sein?
Ahura ist auch bei den Eraniern ein Beiname göttlicher
Wesen, meistens jedoch den höchsten Gott allein bezeich-
nend, auch dem Mithra beigelegt. Mazda soll bedeuten,
große Weisheit besitzend. Da wir ein vedisches Gegen-
stück nicht nachweisen können, so haben wir diesen hohen
und reinen Göttergedanken in der Tat als eine eranische
Errungenschaft anzuerkennen.1 Danach hätte also Win-
dischmann (Zoro. Stud. S. 122) Recht und die Verteilung
der Machtsphären sowie des Ranges Mithra gegenüber darf
uns nicht mehr kümmern als etwa der Widerstreit der
vedischen Prädikate, wonach bald dieser bald jener Gott
als Herr der Welt u. s. w. gepriesen wird.
Aus dem indischen Vorrat stellen sich unserer Erin-
nerung aber natürlich noch mehrere Götter dar, nach deren
Verbleib wir in der eranischen Literatur ausspähen, wie
Dyaus, Indra, die Sonne, Himmel und Erde, die weniger
bekannte Aramati und die bekannte Ushas. Letztere hat
die göttliche Verehrung bei den Eraniern eingebüßt (S. 98.
314), sie haben nur den entsprechenden Namen für die
Morgenröte. Dyaus scheidet als indokeltisch aus (S. 132 f.,)
Spiegel hält ihn (mit Ludwig) für einen sehr alten Gott,
der aber zurückgetreten und von Indra verdrängt worden
1 Ein Analogon S. 206.
192
Bruchmann.
ist (S. 160).1 Die im Rig-Veda so beliebte, in Form eines
Compositums erfolgende Anrufung von Himmel und Erde
finden wir bei den Eraniern nicht wider; der Name der
Àramati (S. 159, 163, 200 f.) aber begegnet uns wider im
erauischen Wort Ârmaiti, das wir uns aus ârem-maiti ent-
standen zu denken haben. Wenn nun Spiegel diesen Namen
als „passendes Denken" deutet, so fragt sich wide rum, ob
eine so abstráete göttliche Potenz für arisch anzusehen
sei. Dem steht z. B. R.-V. 918, 5 (Ludw.) entgegen, denn
da heißt es „mit dem wandelnden Rudra gehen die Ströme,
über die große Aramati sind sie gelaufen"; da nun die
Ströme über die Erde laufen und im Altpersischen (S. 202)
uns dieselbe Deutung und Bedeutung entgegentritt, so
können wir kaum zweifeln, dass Aramati eigentlich die
Erde bedeutet und uns als arischer Besitz zu gelten hat.
Wie verträgt sich nun dies mit dem „passenden Denken"?
Vielleicht so, dass in aramati zwei Wörter verschiedenes
Ursprungs zusammengeflossen sind; denn der erste Bestand-
teil könnte auch von ar (alere) nähren herstammen.
Dazu kommt, dass ein anderer Göttername Haurvatád
zwar abstract Unversehrtheit, Ganzheit bezeichnet, trotz-
dem aber daneben Gott des Wassers ist, wenngleich keines-
wegs in besonderer Charakteristik hervortretend.
Die Verehrung der Sonne ist bei den Eraniern durch-
aus nicht so ausgedehnt, wie bei den Indern, doch wird
sie (als mascul.) angerufen; zu ihrem Preise wird nicht
sowol erwähnt, dass sie Leben und Nahrung schafft, als
vielmehr, dass sie Alles reinigt und ihr Licht die Finsternis
verscheucht. Auch in Eran werden ihr (vielleicht formel-
haft) schnelle Pferde beigelegt, wozu Eran. A.-K. II 68 zu
vergleichen ist.
Dem vedischen Indra entspricht der eranische Indra
(S. 194f.), indessen ist er hier kein Gott, sondern ein
Dämon und zwar ein Gegner des obersten Genius des
1 Vgl. diese Zeitschr. XIII. 477; freilich ist alt ein relativer
Begriff.
Beurteilungen.
193
Feuers. Er erwartet (Eran. A.-K. II 127) die Seelen der
Verdammten an der Brücke Çinvat, er verengert diese
Brücke und stürzt jene in den Abgrund.1
Ahi und Azhish Dahâka (257 f.) sind schon vielfach
Gegenstand der Forschung gewesen.2 Der gründlichen
Untersuchung des Verfassers möge der Leser in die Ein-
zelheiten folgen; wir heben hier nur hervor, dass er ihn
mit Typhoeus vergleicht (S. 316) und auf die Gleichstellung
von ahi und azish nichts gibt, da im Veda dem Dahâka
nichts entspricht;3 Azhish Dahâka ist mit der Vritraschlange
des Veda nicht identisch.
Bei dieser Gelegenheit erklärt sich Spiegel ziemlich
lebhaft gegen einen mehrfach von Mythologen angenom-
menen Scenenwechsel, wonach ursprünglich himmlische Er-
eignisse auf die Erde oder in die Unterwelt verlegt wor-
den sind, nachdem man die alten Erzählungen misszuver-
stehen angefangen hatte (S. 260 u. 181). Ich teile diese
Bedenken des ausgezeichneten Gelehrten nicht, um so we-
niger, als er selbst solchen Scenenwechsel in seiner Er.
A.-K. I 436 glaublich gefunden hat, da er dort zugibt,
dass wir bei den Eraniern mehrfach Wesen in die Unter-
welt versetzt finden, welche bei den Indern im Himmel
strahlen. Indra kämpft also mit der Wolkenschlange am
Himmel. Sei denn nun im Awesta dieser Kampf auf die
Erde herabgestiegen? Habe man darum angefangen auf
Erden mit Schlangen zu kämpfen, weil man die Ueber-
zeugung von solchen Kämpfen am Himmel gewonnen hatte?
Umgekehrt habe der Mensch zuerst auf Erden mit Schlan-
gen gekämpft und später am Himmel gewisse Vorgänge
mit dieser irdischen Erfahrung gedeutet. Dies ist völlig
richtig, aber nicht geeignet, unseren Glauben an jeden
1 Vgl. Roth, Z. d. M. Ges. 1852, S. 67 f.
2 Eran. A.-K. I 5B0 f. Lenormant, Lettres assyriologiques 1871
J S. 11. 99 f. 110. Popper, Der Ursprung des Monotheismus (1879)
S. 279 f. Bréal, Mélanges de mythologie. Paris 1877 S. 118.
3 Ueber Trita und Thraetaona s. 258 f. 264 f. Er. A.-K. I 538.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spractíw. Bd. XVIII. 2. 1*3
194
Bruchmann.
Scenenwechsel zwischen Himmel und Erde zu entwurzeln
Und sprächen nicht Spiegels philologische Bedenken gegen
die Gleichsetzung von Ahi und Azhish Dahâka, so würde
man immer noch sagen können, dass Indras himmlischer
Schlangenkampf freilich erst nach Analogie des irdischen
gedacht wurde, dass aber dieses Märchen, wenn die Namen
und einzelne Züge besser stimmten, eben wegen dieser
Besonderheit sehr wol später einmal als irdisches Ereignis
aufgefasst werden konnte. Gehen die Seelen nach alter
Vorstellung in den Himmel (ihre Heimat) zurück, so können
Erlebnisse, welche sie dort zu haben pflegten, später in
den Hades versetzt werden, wenn man das Jenseits in die
Unterwelt verlegt hatte. Haben jene berühmten Hunde
(S. 95. 2391 einstmals die Brücke bewacht, welche zum
Himmel überführt, so könnte Cerberus trotzdem, ohne seine
Verwantschaft mit ihnen aufzugeben, in der Unterwelt
hausen.
Hieran anschließend sei noch der Bestattung gedacht
(S. 95, 236 f. Zimmer Altind. Leb. 400 f.). Das Awesta
untersagt Begraben und Verbrennen der Toten und will
sie den Vögeln überlassen sehen. Während nun die Inder
sich dachten, dass der König des Totenreichs zwei vier-
äugige Hunde hat, welche den Bösen furchtbar sind und
die Verstorbenen in ihre Wohnungen führen, werden im
Awesta natürliche Hunde dazu gebraucht, den Toten an-
zusehen-, sie müssen aber über ihren Augen zwei Male
haben, welche für Augen gelten sollen: eine Art Formel
aus arischer Zeit. Gewisse Gebräuche bei dieser Gelegen-
heit sind von überraschender Aehnlichkeit (S. 238, 239).
Der Glaube, dass während zehn Tagen in jedem Jahre die
Toten auf die Erde zurückkehren und dann mit Speise und
Trank zu bewirten sind, findet sich außer bei den Era-
niern auch bei den Römern und heidnischen Ostpreußen.
Wissenschaft und Kunst, Religion und Rechtsleben
der Arier zeigen ein wesentlich indokeltisches Gepräge,
haben aber doch auch einige nur arische Züge. Zu den
Beurteilungen.
195
arischen Göttern gehört Mitra, Apâm napât und Vritra-
han: aber keiner von ihnen ist im Awesta ganz derselbe
wie in den Veden- so ist es auch mit Sorna. Auch die
Heroen haben neben gemeinsamen Eigenschaften und Taten
ihre Verschiedenheiten; in ihren Kreis gehört auch Yama
mit Yima. Davon abgesehen erregen die Eranier unsere
Hochachtung durch die Sonderentwicklung religiöser Ge-
danken, welche uns wirklich lebensvoll vorkommt, während
Religion und Philosophie in Indien so oft einen träumerisch-
unfruchtbaren Eindruck macht.
Die Keilschriftenfunde des Westens haben für so
manchen Punkt unsere Meinung von Ursprünglichkeit
dieser und jener Cultur oder einzelner ihrer Erscheinungen
ins Wanken gebracht und beseitigt. Die assyrisch - baby-
lonische Cultur erstand vor unsern Augen unerwartet in
neuem Reichtum, und über ihre Zeiten hinaus vermelden
uns die Akkadiscli - Sumerischen Reste die Existenz eines
Volkes, dessen Errungenschaften von den dort erst zuge-
wanderten Semiten angeeignet wurden. Damit nicht ge-
nug führt Sayce die Hetiter auf den Kampfplatz, so dass
wir vorläufig auf weiteren prähistorischen Kitzel unserer
Neugier wol gern verzichten möchten. Alle diese Ent-
deckungen erwecken in uns mehr und mehr den Gedanken,
dass der Völkerverkehr und der Gedankenaustausch in
Asien lebhafter gewesen ist, als wir bisher dachten, und
dass es demnach der Vorsicht bedarf, wenn wir an die
Charakteristik der einzelnen Völker gehen auf Grund der
ihnen zugeschriebenen Cultur und Literatur. Andererseits
ist es tröstlich zu sehen, dass die Arbeit der Menschen
doch nicht gar so vereinzelt war und nur ihnen selbst
genützt hajt, dass sie nicht, ohne andern zu Gute zu kommen,
klanglos zum Orkus hinabgestiegen ist, schweigend von
der Erde wider verschlungen, welche sie. schweigend eine
Zeit lang an ihrer Oberfläche geduldet hatte, um nun, wie
Penelope, ihr Gewebe wider aufzutrennen.
Die Philologen haben hierbei Fragen zu beantworten,
13*
196
Bruchmann.
welche dem ethischen Historiker keineswegs gleichgültig
sein können. Denn es ist z. B. wichtig zu wissen, an wie
vielen Stellen der Erde die Schrift erfunden worden ist,
wie oft der menschliche Geist den Scharfsinn besass, diese
hohe Stufe der Entwicklung zu ersteigen und was für
Dinge es sind, welche er der Aufzeichnung für wert er-
achtet hat.
Demjenigen, was von den Semiten der im Osten auf-
strebenden indokeltischen Entwicklung zugekommen ist,
hat naturgemäß auch unser Verfasser in seiner Eran. A.-K.
nachgespürt und das vorliegende Buch ist überall diesem
Gedanken nahe geblieben. Die Frage, ob Aehnlichkeiten
oder Gleichheiten von Gedanken u. s. w. verschiedener
Völker auf Ueberlieferung oder auf selbständige Entwick-
lung zurückzuführen sind, ist darum so schwer endgültig
zu entscheiden, weil wir die Geschichte nur in Bruch-
stücken haben und nicht einmal alle diese Bruchstücke
sicher deuten können. Wir müssen uns daher oft genug
begnügen, dasjenige neben einander zu stellen, was zu
einer Vergleichung auffordert.1 An den Moses des A. T„
werden wir erinnert durch den eran. Dârâb (Spiegel
S. 300 f.). Seine Mutter Homâi, welche die Geburt ihres
Sohnes verbergen wollte, ließ ein Kästchen anfertigen, über-
zieht es mit Pech und Wachs und lässt es den Euphrat
hinabschwimmen; es wird von einem Wäscher oder Müller
aufgefangen. Mann und Frau, kinderlos, erziehen es und
nennen es Dârâb, weil es im Wasser (âb) gefunden ist.
Diese Erzählung nennt Spiegel eine assyrische. Denn dort
erzählt ein König: „ich bin Sargina, der große König,
meine Mutter brachte mich an einem geheimen Orte zur
Welt, sie legte mich in einen Kasten von Binsen, mit Erd-
pech schloss sie meine Türe zu. Sie warf mich in den
Fluss; er brachte mich zur Wohnung Akki, des Wasser-
1 Vgl. Spiegel, Eran. A.-K. I 386 f. 446. 456. 473. 482. 513 f.
TI 63. 168. Max Müller, Indien u. s. w. S. 104 f. Zimmer a. a. 0.
S. 352.
Beurteilungen.
197
trägers. Er zog mich auf als seinen eignen Sohn." Im
indischen Epos ist Karna der Sohn der Königstochter
Kuntî; er wird in einem Kästchen auf dem Flusse Aç-
vanadi ausgesetzt und als Pflegesohn aufgezogen. Im Ver-
lauf der Erzählung wird ein Mädchen als Siegespreis dem-
jenigen zur G-attin bestimmt, welcher einen bestimmten
Bogen spannen könnte. Die Kastenaussetzung macht den
Eindruck, als sei die Erzählung von den Assyrern nach
Osten vorgedrungen.
Zoroaster (S. 289 f. Eran. A. - K. I 669 f.) war mit
seinem Geiste schon im Himmel gebildet, ehe er auf die
Erde herabkam; die Mutter hat vor seiner Geburt einen
der Bedeutung des Sohnes entsprechenden Traum, wird
indessen nicht (wie sonst öfter) als Jungfrau gedacht. Er
beginnt mit dreißig Jahren seine Religion zu verkündigen.
Uebrigens wird Z. auf den persischen Keilinschriften nie-
mals genannt, aber im Awesta.
Wie genau der Schöpfungsbericht der Assyrer (wel-
cher vermutlich nicht aus einem akkadischen Original
übersetzt ist Say ce a. a. O. S. 19) mit dem der Genesis
stimmt, lehrt Say ce a. a. O. S. 19 f. Ein Siindenfallbericht
ist bis jetzt bei den Assyrern nicht entdeckt (Sayce S. 23);
dagegen ist die Sintflut der Babylonier (die Eranier haben
sie nicht Eran. A. -K. I 456) wider von verblüffender
Uebereinstimmung mit dem der Genesis, wie Haupt's1
Uebersetzung (bei Sayce S. 28 f.) lehrt. ' In den Bräh-
manas und in allen späteren Schriften ist Manu Vaivas-
vata Vater des Menschengeschlechts und seiner Menschen-
schöpfung geht eine große Flut vorher, ein Bericht, der
vermutlich von den Semiten übernommen ist.
Manus Stellung hat also eine gewisse Aehnlichkeit
mit Noah, obgleich letzterer keine Menschen schafft; dem
Noah entspricht dagegen genau der babylonische Sisuthros
=> Hasis-adra oder Adra-hasis, was weise und fromm be-
1 Haupt, Der keilinsehriftliehe Sintliutbericht 1881.
198
Bruchmann.
deuten soll (Sayce S. 26 f. 38). Die Aegypter haben
keinen Sintflutbericht (Sayce S. 54). Endlich ist noch zu
erwähnen, dass Zoroaster, wie Moses, durch das sich tei-
lende Wasser geht. Spiegel, Eran. A.-K. I 694.
Obgleich in Gefahr, yon Max Müller für einen „Ver-
ächter des Veda" (Indien S. 105) gehalten zu werden, muss
ich als weiteres Kennzeichen des semitisch - indokeltischen
Verkehrs das Gewicht der Minu maná anführen nach
Zimmer a. a, O. S. 50 u. 352 f.
Von rein arischem Zahlengut ist nichts zu melden
(Spiegel S. 97); dagegen scheint mir erwähnenswert, dass
in der Heldensage (bei Firdusi-Schack) die Sieben unge-
mein häufig vertreten ist, s. S. 263. 264. 276. 277. 289.
397. 417. 457, ein Kampf von sieben Helden S. 270; vgl.
Eran. A.-K. I 587, 716.
Mit dem Worte napât (naptar) Abkömmling, bezeich-
nen die. Inder sowol den Sohn wie den Enkel, german.
nefo, nift; bei den Eraniern werden Neife und Nichte
durch Umschreibung ausgedrückt (S. 85 f.); jâmâtar be-
deutet nicht nur den Schwiegersohn, sondern auch den
Mann der Schwester (Schwager), sogar den Gatten (S. 87).
Da Ahura Mazda allein Schöpfer ist und überhaupt
den höchsten Rang bekleidet, so ist es Formel aus Ueber-
lieferung, wenn andere Genien „Beschützer und Schöpfer"
genannt werden (S. 188), ein Ausdruck, welcher dem Glau-
ben eigentlich nicht entspricht. Als einen formelhaften
Gebrauch haben wir es anzusehen, dass beim eranischen
Somapressen in das Sieb ein Haar gelegt wird, indem be-
kanntlich im Rig-Veda der Somasaft zur Läuterung über
die Haare des Schafsschweifes hinfließt.1 Ein anderes
Beispiel davon, dass die Sprache der persischen Könige
mit ihren Gesinnungen nicht übereinstimmt, sondern bloße
1 Ueber symbolischen Beischlaf s. v. Liliencron, Die histori-
schen Volkslieder der Deutschen vom 13.—16. Jahrh. Leipzig 1865
—69, Band II S. 293 u. 297.
Beurteilungen.
199
Formel war, findet der Leser S. 255. Von Farbennamen
ist S. 100 die Eede.
K. Bruch mann.
Beruht das Gemeinsame in den .Religionen auf
Verwandtschaft oder Entlehnung? Von Licen-
tiat Gloatz in Dabrun bei Wittenberg.
Vorstehende Frage stellt und beantwortet im Wider-
streit mit allen bisherigen Errungenschaften der verglei-
chenden Mythologie zu Gunsten des äußerlichsten Tratio-
nalismus, der sich hier freilich nicht in den Dienst eines
religiösen, sondern eines rein empiristisch oder darwinistisch
fundierten atheistischen Positivismus stellt, Otto Gruppe
in dem dickleibigen Buche: „Die griechischen Culte
und Mythen in ihren Beziehungen zu den orienta-
lischen Religionen. Erster Band, Einleitung. Leipzig,
B. G. Teubner, 1887." Durch die Maßlosigkeit, mit der
ein einseitiges Princip hier bis zum Ueberdruss geltend ge-
macht wird, sinkt der wissenschaftliche Wert dieses Buches
allerdings in einem Maße, dass es sich fragt, ob seine Be-
sprechung in dieser Zeitschrift ihm nicht schon zu viel
Ehre antut. Indessen es kleidet sich in wisseu schaftliche
Form und übt bei einem großen Apparat von litterar-
historischen Notizen eine so herausfordernde, scheinbar auf
exakteste Forschung sich gründende Kritik der entgegen-
stehenden Ansichten, dass ein Schweigen hierauf als Ein-
geständnis der Schwäche und Ueberwundenheit gedeutet
werden könnte. Sogleich das Vorwort spricht den Zweifel
aus, ob es gegenwärtig eine wissenschaftliche Mythendeu-
tung überhaupt gebe, da sie im einzelnen so verschieden
ausfalle und auch in den Grundfragen unsicher sei. Dies
wolfeile Argument richtet sich freilich auch gegen den,
der die vorhandenen Theorien und Deutungen um neue
vermehrt; der Verfasser muss sich aus seinen eigenen
Prämissen den Schluss gefallen lassen, dass er selbst mit
200
Gloatz.
einer abweichenden Ansicht nur die Unsicherheit vermehrt.
Etwas anderes ist es, wenn er seine Ansicht beweisen
kann; aber auf den Beweis kommt eben alles an, und, wo
bereits abweichende Ansichten bestanden, kann auch sehr
wol eine von diesen die richtige sein, oder sie können sich
ergänzen und doch Wesentliches gemeinsam haben, wie
auch das Vorwort dann doch eine gemeinsame Grundan-
schauung bei allen Neueren findet, nämlich dass der Mythos
ein Produkt der unbewusst dichtenden Volksseele sei
(S IV.). Dieser Grundanschauung wird entgegengestellt,
dass alle Mythen Teile der Litteratur seien (S. V). Dies
ist aber gar kein Gegensatz, betrifft nur den Erkenntnis-,
nicht den Sachgrund. Das will doch auch schließlich
Gruppe nicht behaupten, dass erst in den ältesten literari-
schen Denkmälern der Mythologie diese von den Verfas-
sern künstlich gemacht sei (vgl. S. 3). Er gibt nun in
Kapitel 1, das uns hier allein beschäftigt, eine eingehende
historisch-kritische „Übersicht über die wichtigsten Ver-
suche, die Entstehung des Cultas und des Mythos zu er-
klären" (S. 1—273). Wir halten uns bei den Ansichten
der Alten (§ 1), der Kirchenväter, Humanisten und Deisten
des vorigen Jahrhunderts (§ 2), bei Creuzer (§ 3), Joh.
H. Voss und seiner rationalistisch genannten Schule (§ 4),
bei der lokalistischen Mythendeutung Forchhammers (§ 5)
nicht auf; über diese Vorstufen der wissenschaftlichen
Mythologie hat sich längst ein gemeinsames Urteil gebil-
det, von welchem auch Gruppe kaum wesentlich abweicht.
Aber mit der Grimmschen Schule, die zuerst den
Mythos aus dem Wesen der Volkspoesie erklärt (§ 6), tritt
er in Gegensatz. Das Volk als solches könne nicht dich-
ten; es habe bei dem Volksmythos nicht sowol eine pro-
ducierende, als vielmehr eine destructive Aufgabe, ver-
nichte die ihm nicht homogenen Mythenformen; die Pro-
duction des Mythos liege immer in den Händen einzelner
(S. 64). Hier sollte Gruppe nur den historischen Nachweis
versuchen, wieviele Mythen, die Gemeingut einer Nation
Beurteilungen.
201
geworden, sich auf einzelne Dichter zurückführen lassen;
es findet sich schließlich so viel Gemeinsames in den ver-
schiedensten ältesten Dichtungen eines Volks, dass man
wol berechtigt ist, von gemeinsamen Anschauungen und
.Sitten zu reden, die einem Volk ursprünglich eigen sind,
mit zu dessen Individualität gehören, ja zum Teil nicht
einmal auf dessen Stammväter zurückzuführen sind, sondern
hinaus auf eine größere Völkerfamilie weisen, aus welcher
dies Volk hervorgegangen und bei welcher sie sich eben-
falls, obwol zugleich wider in besonderen Formen, der Indivi-
dualität der verwandten Völker entsprechend, finden. In diesen
ursprünglichen Volksanschauungen wurzelt das Volksepos,
und die Grimmsche Unterscheidung desselben vom späte-
ren Kunstepos ist unanfechtbar, in ihrer Genesis begrün-
det und nicht bloß mit Gruppe (S. 67) auf unsre Stellung
zu ihnen zu reduciren. Vor allem wendet er sich nun
aber gegen Adalbert Kuhn, Max Müller und ihre An-
hänger (§ 7—25). Zwar macht er hier nicht soviel Auf-
hebens wie im Vorwort von den verschiedenen Eichtungen
der vergleichenden Mythologie, der solaren und nubilaren;
erkennt vielmehr (S. 76) an, dass diese Auffassungen
schon im Veda gleichberechtigt nebeneinander stehen, und
es befremdet nur, dass er gar nicht Bezug nimmt auf das
(von Simrock und Asinus besonders betonte) naturgemäße
Gesetz der Erweiterung des Tages- zum Jahres- und zum
Weltaltermythos, wozu die Natur selbst der kindlich poeti-
schen Auffassung der Völker alle Anschauungen darbot,
die dann auch die eigentliche Substanz in allen Mythen
bilden und gar nicht auf Dichtung und Erfindung einzel-
ner, sowie spätere Entlehnung seitens eines Volkes vom
andern ihrer Natur nach zurückgeführt werden können. Ver-
geblich müht sich Gruppe ab, im einzelnen zu zeigen (§ 8 ff.),
dass die angebliche gemeinsame indogermanische Religion
und Cultur überhaupt voreilig erschlossen sei, das Gemein-
same vielmehr auf Entlehnung beruhe. Wir sind weit da-
von entfernt, die geringste Entlehnung principie!! zu leug-
202
Gloatz.
lien, aber können eine solche doch nur da zulassen, wo die
doch auch von Gruppe zugestandne Sprach verwantschaft
und die damit unzweifelhaft zusammenhängende Anschau-
ungsverwantschaft der arischen Völker zur Er-
klärung nicht ausreicht oder sonstige zwingende Gründe
vorliegen. Gruppe selbst muss (S. 79f.) die Gleichungen
Zeus -Dy aus - Tyr, Ushas- Eos -Aurora, Surya- Helios- Sol als ge-
sichert anerkennen, aber vermisst noch an diesen und an-
deren Namen die Beziehung auf den Cultus zum vollgülti-
gen Beweise für das Vorhandensein urindogermanischer
Götter Vorstellungen. Dieser ungeheuerlichen Zumutung an
die Sprachbildung bedarf es jedoch nicht; die Mythologie
knüpft sich an die Appellativa schon mit der Geschlechts-
bezeiclinung und an die mit den Appellativen bezeichneten
Naturanschauungen so unmittelbar, dass man mit jenen
gemeinsamen Namen auch gemeinsame Mythen anerkennen
muss, mit welchen sie sich in den ältesten Quellen auch
unmittelbar zusammen und verwachsen finden, ganz abge-
sehn davon, ob und wieweit ihnen auch religiöser Gehalt
zukomme, welcher sich dann doch aber in zweiter Linie
aus dem Inhalt der Mythen und den darin auch enthalte-
nen Beziehungen auf Cultus ergibt. Von nicht entlehnten
gräco-italischen Götternamen will Gruppe natürlich
gar nichts wissen (S. 82ff.); ist ihm doch selbst vicus aus
ohog entlehnt (S. 84), trotz der ganz anders gewendeten
Bedeutung; dass eigentümliche altitalische Bräuche sich
auch mit denen anderer arischer Völker berühren, zieht
er nicht in Betracht. § 9 handelt er vom Gemein-
samen des Avesta und der Veden. Gerade aus der
engen sprachlichen Verwantschaft derselben folgert er,
dass oft sehr auffallende Uebereinstimmungen der Sprache
sich auch da finden, wo die etwa vorhandne sachliche Be-
ziehung nicht aus der proethnischen Periode stamme. Aber
weist nicht gerade der gemeinsame Ausdruck für die dem
einen Volk guten, dem andern Volk feindlichen Götter auf
eine vor der Spaltung gemeinsame Verehrung? Gruppe
Beurteilungen.
203
selbst gibt auch sogleich (8. 86) eine verwante Keligions-
anschauung der Eranier und Hindu zu, aber hilft sich
(S. 94) mit der Ausflucht auf das ungewisse Alter der persi-
schen Eeligionsbücher, in welche die sämmtlichen Religions-
begriffe aus Indien übertragen sein könnten, wie auf den
Münzen der sogenannten indoskythischen Könige brahma-
nische und buddhistische Vorstellungen mit eranischen ver-
mischt seien. Dagegen spricht wieder, dass dieselben
Götternamen dem einen Volke gute , dem andern böse
Wesen bedeuten, sodann, was wir schon oben über die
Zusammengehörigkeit der Appellativa und ursprünglicher
poetisch-mythischer Naturanschauungen bemerkt. Nicht im
Geringsten geht Gruppe auf diese ein als den eigentlichen
Inhalt der Sagen z. B. vom Drachenkämpfer Thraetaona-
Trita, und dass der erster e Sohn Athwyas, d. h. des Wasser-
bewohners, der zweite Aptya,, aus dem Wasser geboren
heißt, ist ihm Zufall (S. 89),. womit doch nichts erklärt
ist. Auch Yama-Yima soll nicht aus arischer Vorzeit stam-
men, da Yama in den älteren Eigvedaliedern fehlt und die
semitische Paradies- und Flutsage sich fast noch näher
mit dem iranischen Yima berührt (S. 91 f.). Aber wie
natürlich schloss sich an den Jahresmythos die Vorstellung
des Weltfrühlings, des goldnen Zeitalters schon für das
Denken der Urzeit. Weil Gruppe so gar nicht auf den
einfachen naturgemäßen Sinn der Mythen und die ihnen
zu Grunde liegende Gesammtanschauung eingeht, bleibt ihm
alles aphoristisch, unverstanden, zusammenhangslos, zufällig,
bald hier, bald dort entlehnt. Endlich muss er doch selbst
im Blicke auf den gerade das Opfer betreffenden Soma-
Haomakreis zugeben (S. 97), „dass die Indoeranier vor
ihrer Trennung bereits einige derjenigen Gebräuche übten,
welche späterhin eine sakrale Bedeutung erhielten." § 10
bestreitet nun erst recht die mythologische Verwant-
schaft zwischen den entlegeneren Gliedern der
indogermanischen Völkergruppe; die übereinstimmen-
den Namen fänden sich immer nur in ganz wenigen Spra-
204
Gloatz.
chen (S. 98); aber wenn sie auch nur in zwei sich finden,
sind sie doch vorhanden. Dann sollen, auch wenn die
Namen anklingen, die Texte zu jung sein und die Mythen
nicht übereinstimmen (a. a. 0.). Dass gerade bei den ver-
schiedensten Versionen die gemeinsamen Grundanschauungen
z. B. von Draclientötern um so schwerer wiegen, und was
sie bedeuten, das bekümmert unsern Kritiker nicht. Er
hält sich an lauter Einzelheiten und sieht dabei den Wald
vor lauter Bäumen nicht. Mit. Vorliebe hebt er das noch
Zweifelhafte und Streitige in Erklärung von Einzelnheiten
hervor und gibt so Seite 105 ff ein Verzeichnis von Götter-
namen, die auf die verschiedenste Weise erklärt werden,
in buntem Durcheinander, als ob damit vollends alles un-
sicher würde, recurrirt dann wider auf das Walten des
.Zufalls (S. 109) und findet endlich (S. 118) in Kuhns Hypo-
these einer proethnischen Religion den Widerspruch, dass
die complicirte Götterlehre der spätesten griechischen und
indischen Autoren in die Urzeit zurückreichen solle und
doch die Ueberlieferung so zertrümmert sei, dass immer
nur je zwei Sprachen denselben Götternamen enthalten.
Diese karikirte Darstellung der Forschungen eines Mei-
sters wie Kuhn ist nur dadurch möglich, dass Gruppe nicht
wie dieser nach dem Sinn der Mythen und nach den in
der Natur selbst gegebenen Zusammenhang der ihnen zu
Grunde liegenden Anschauungen fragt; dass Kuhn auch
Entwicklungsstufen des Mythos lehrt, erwägt er nicht.
Schließlich verneint er (S. 119) a priori die Frage, ob
auch nur Elemente eines Gottesdienstes in die
proethnische Periode hinaufzurücken seien, obwol die-
selbe nach Ausweis der Sprache prototheistische Vorstellungen
gekannt zu haben scheinen; freilich sei der Ausdruck „Herr"
ganz allgemeiner Art und die Wurzel div bedeute auch
Licht, Himmel, wie das chinesische tien, das finnische juin,
könne somit erst allmählich in die spätere religiöse Be-
deutung hineingewachsen sein; es handle sich um transi-
torische Bedeutungsnüancen (S. 121). Das gleiche Resul-
Beurteilungen.
205
tat ergibt sich, nachdem die angeblichen proethnischen
Gottesbezeichnungen einmal abgewiesen sind, für die Cul-
tusbezeichnungen (hn-zu, stu-çtu, yaj-yaz); ihre sakrale
Bedeutung, obwol sie in den ältesten Texten verschiedener
Völker vorkommt, sei natürlich immer erst eine abgeleitete,
und es bliebe die Frage offen, bis zu welchem Stadium
der Ableitungsprocess in der Ursprache gediehen (S. 122).
So erklärt denn unser Kritiker naiv genug die gesammte
etymologische Beweisführung der Schule Adalb. Kuhns und
M. Müllers für misslungen (S, 132); aber er will auch die
falsche Voraussetzung derselben zerstören, dass die natio-
nale Zusammengehörigkeit der Indogermanen sich in einer
Gemeinsamkeit der religiösen Vorstellungen aussprechen
müsse, und unterwirft daher den Nationalitätsbegriff
einer Kritik (§ 17). Nach J. Grimm ist der Mythos natio-
nal und die gemeinsame Muttersprache das Band einer
Nation. Viel weiter und zu weit geht nach Gruppe (S. 133)
die vergleichende Mythenforschung seit Mitte unseres Jahr-
hunderts in der Anschauung, die Nation besitze nicht nur
eine gemeinsame Sprache, sondern auch eine große Fülle
anderen gemeinsamen geistigen Eigentums. Die Nation
werde gewissermaßen zu einem lebenden Organismus er-
hoben. Aber der Begriff der indogermanischen Völker sei
ein linguistischer, kein ethnographischer, auch keine reli-
giöse Einheit. Eine Nation sei keine constant fortdauernde
Einheit, nehme fortwährend fremde Bestandteile in sich
auf und setze sich demnach in jedem Augenblick ihrer
Geschichte aus Elementen zusammen, deren einzelne sie
den verschiedensten anderen Nationen als verwant er-
scheinen lassen (S. 134). Wir halten dem entgegen, dass
doch auch ein Organismus beständig fremde Bestandteile
als Nahrung in sich aufnimmt und sich assimilirt, und,
wenn auch die linguistische und ethnographische Ver-
wantschaft sich nicht immer deckt, dass die indogerma-
nischen Völker im Großen und Ganzen nicht nur eine lin-
guistische, sondern auch ethnographische Einheit bilden, aller-
206
Steinthal.
dings so, dass die letztere noch über die erstere hinausreicht
und die ganze kaukasische Rasse umfasst, so dass man hier
von zwei concentrischen Kreisen reden kann. So hindert
aber auch nichts, einen ursprünglichen Gemeinbesitz an
Religion und Kultur anzunehmen, der sich dann durch
Verkehr der Völker miteinander natürlich fortschreitend
gesteigert und geläutert hat. Freilich auch den sonstigen
ursprünglichen Gemeinbesitz an Kultur sucht Gruppe (§ 18)
mit Hülfe der Paläontologie noch möglichst zu schmälern
und daraus gegen die vergleichende Mythologie zu argu-
mentiren; Hephäst-Wieland passe nicht in die Rohkupfer-
zeit der Pfahlbauten, die Paradiesschilderung nicht zu der
späten Einführung der Obstbaumzucht in Europa (S. 138).
Wir antworten: Hephäst ist nicht bloß Schmied, sondern
ursprünglich Feuergott; Wieland weist durch seinen Vater
Vate auf Wuotan, durch das Boot auch auf eine andre
Funktion zurück (Simrock D. M. 4. A. S. 228); von para-
diesischen Früchten kann den europäischen Völkern mit
den Mythen aus der Urzeit eine Erinnerung aus der asia-
tischen Heimat geblieben sein. Wie monströs und aus der
Luft gegriffen ist dagegen die Hypothese Gruppes (S. 182 f.),
dass von den Karthagern u. a. die' Paradiessage nach
Britannien zu den Druiden, von diesen an die Nordsee ge-
bracht worden. Aber freilich Religion überhaupt ist für
Gruppes consequenten Empirismus nur äußerlich übertrag-
bar, nichts in ihrem tiefsten Grund Wahres, Universales
und Innerliches, nur eine Form des Gesellschaftsinstinkts
(S. 267).
Th. Nöldeke, Die semitischen Sprachen. Eine Skizze.
Leipzig 1887. 64 S. 8°.
Auch diese Schrift ist, wie die obige S. 170, eine Gratu-
lationsschrift und stammt aus Meisterhand. Ich kenne kaum
jemand, der wie Nöldeke befähigt wäre, eine Arbeit zu
liefern, wie Renan's vor einem Menschenalter erschienene
Beurteilungen.
207
Geschichte der semitischen Sprachen. Und ein Abriss einer
solchen ist die vorliegende Schrift.
Als charakteristische Merkmale des semitischen Sprach-
stammes stellt der Verfasser auf (S. 2): „Das Ueberwiegen
dreiconsonantiger oder nach Analogie von dreiconsonan-
tigen gebildeter Wurzeln, die beiden Haupttempora [Per-
fectum u. Imperfectum], die hohe grammatische Bedeutung
des inneren Vocalwechsels", welcher letztere Zug sich ge-
rade dadurch als ursprünglich kennzeichnet, dass er im
Laufe der Zeit verblasst. Unterscheiden diese Punkte den
Stamm von anderen Stämmen, so bindet die Sprachen dieses
Stammes noch „die Aehnlichkeit in der Bildung der Nomi-
nal- und Verbalstämme, die große Uebereinstimmung in
den Formen der Personalpronomen und in ihrer Verwen-
dung, sodann die ziemlich weitgehende Gleichheit in der
Wortstellung und Satzbildung und endlich die Menge ge-
meinschaftlicher Wörter". Indessen scheint schon „das
Assyrische nicht an allen diesen Zügen teil zu nehmen,
und bei einigen heutigen Dialekten, wie Neusyrisch, Mahri
und gar Amharisch fällt manches altsemitische Charakte-
risticum weg".
Ein Ursemitisch, das sicherlich einmal existirt hat,
lässt sich doch nur teilweise oder unsicher reconstruiren.
„Der Entwicklungsgang der Sprachen ist uns in seinen
Einzelheiten oft recht dunkel" (S. 3).
So redet der besonnene Forscher. Er leugnet auch,
dass irgend eine semitische Sprache durchaus der ursemi-
tischen am nächsten stehe. Das Arabische habe allerdings
sehr vieles treuer be wart, als die Schwestern, besitze aber
eine große Anzahl eigentümlicher Fortbildungen, und in
manchen Stücken sei das Hebräische, ja das Aramäische
altertümlicher. — Ich bedaure, dass der Verfasser hier wie
auch an anderen Punkten seine kurze Schrift nicht mit
den betreifenden Tatsachen als Beweisstücken seiner all-
gemeinen Behauptungen in angefügten Anmerkungen aus-
gestattet hat.
208
Steinthal.
Der Verf. tadelt auch die bisher versuchten Charak-
teristiken des semitischen Stammes teils wegen ihrer Ein-
seitigkeit, teils weil nicht geschieden ist, was im Blute
und was in den Lebensverhältnissen begründet sein mag.
Die Verwantschaft der semitischen Sprachen mit den
indogermanischen hält der Verf. für wahrscheinlich, aber
nicht für nachweisbar. Sehr kenntlich dagegen ist die
Verwantschaft der semitischen mit einigen Sprachen Nord-
Afrikas, die man „hamitisch" nennt: Aegyptisch, Berberisch,
Bedscha (Bischârî u. s. w.), Agau, Galla, Dankalî u. s. w.
Die Uebereinstimmung zeigt sich auffallend in der Gram-
matik, aber wenig im Wortschatz. Nur sind die hamiti-
schen Sprachen noch zu wenig erforscht.
Durchaus zweifelhaft lässt der Verf. die Urheimat der
Semiten, ob Afrika? ob Armenien? Arabien? „Auch ist
gar nicht so ohne weiteres zuzugeben, dass die Araber den
semitischen Charakter am meisten zeigten: richtiger wäre
es, zu sagen, dass die Bewohner der arabischen Wüsten-
länder unter dem Einfluss der ungeheuer einförmigen Na-
tur und des im ewigen Wechsel ewig gleichbleibenden Le-
bens einige der wichtigsten semitischen Charakterzüge am
einseitigsten ausgeprägt haben" (S. 11), während, möchte-
ich hinzufügen, andere, nicht minder wichtige Charakter-
züge ganz unentwickelt geblieben sind.
Fragen wir, inwiefern sich unter den semitischen
Sprachen gegen einander größere oder geringere Ueber-
einstimmung zeigt, so lässt sich nur sagen, dass „das Ara-
bische (mit dem Sabäischen) und das Aethiopische unter
einander näher verwant sind und sich den übrigen semi-
tischen Sprachen als eine geschlossene [südliche] Gruppe
gegenüberstellen" (S. 14)l. Die nördliche Gruppe besteht
aus dem Hebräisch - Phönikischen, dem Aramäischen und
1 Ist der sogenannte „gebrochene Plural", der sich nur in
dieser südlichen Gruppe der semit. Sprachen findet, wirklich eine
„tiefgreifende Neuerung?" Für solche Behauptungen die Gründe
des Verf. zu kennen, wäre wichtig.
Beurteilungen.
209
Assyrischen. In Klein-Asien hat es wol niemals eine se-
mitische Sprache gegeben.
Hebräisch und Phönicisch sind bloß Dialekte einer
Sprache, und auch Moabitisch und Philistäisch sind nur
Dialekte dieser Sprache. Wir kennen aber die Lautverhält-
nisse, namentlich die Vocale, des Hebräischen nur aus ihrer
letzten Periode, aber nicht Davids oder auch nur Jesa-
jas.1 Bis um 300 a. Chr. wird das Hebräische lebendig
geblieben sein (S. 20), in der Zeit der Makkabäer war es
wol schon ausgestorben. Doch blieb es Gelehrten spräche
und führte noch lange ein gewisses Leben, bis einige Jlih.
p. Chr. Alles spätere Hebräisch ist zu betrachten wie das
Latein des Mittelalters und der Neuzeit.
Phönicisch kennen wir nur aus Inschriften, und zwar
haben wir neupunische Inschriften noch aus dem 4. Jh.
p. Chr.
Aramäisch hat sich allmählich sehr ausgebreitet über
Syrien und Palästina, wie über das Euphrat- und Tigris-
gebiet (S. 28). „Vermutlich bildeten Araihäer in Baby-
lonien und Assyrien schon von Altersher einen großen,
oder gar den größten Teil der Bevölkerung, während die
assyrische Sprache die der Regierung und der Literatur
war.'' Aramäisch war in der persischen Zeit die officielle
Sprache für die Provinzen westlich vom Euphrat; und
diese Stellung mag es schon im assyrischen Reiche gehabt
haben. Selbst in Arabien hat man neuerlichst aramäische
Inschriften aus der vorpersischen Zeit gefunden (S. 29). —
Ein aramäischer Dialekt war auch die Sprache Palmyra's
und zumeist auf den Inschriften der Nabatäer (bis gegen
100 p. Chr.), die aber Araber waren. — Der Verf. be-
spricht die Geschichte und den Charakter des Aramäischen
1 Der gottesdienstliche Vortrag aber hat sicherlich an der
Sache gar nichts geändert, sondern ist gerade nur Veranlassung ge-
wesen, die Aussprache der letzten Zeit so "treu wie möglich zu waren.
Wer laut und langsam deutsch vorlist, wird auch etwas von der
„schlichten Sprache" abweichen.
Zeitschrift für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd XVIII- 2. 14
210
Steinthal.
und Syrischen bei Juden und Christen eingehend (S. 28—40).
Es ist dies das Gebiet, das gerade durch des Verf.s Spe-
cialforschung so viel Licht erhalten hat.
Verdrängt wird das Armäische überall nach den Er-
oberungen der Muslime durch das Arabische, und schon
um 1000 p. Chr. ist auch das Syrische (die Sprache von
Edessa) tot. Nicht direct mit diesem hängen die heute
noch lebenden aramäischen Dialekte in Mesopotamien, Kur-
distan, am Urmiasee zusammen. Sie zeigen (S. 38) eine
völlige Umbildung des alten Sprachbaues." „Die alten Ver-
baltempora sind fast spurlos ausgestorben, aber glücklich
durch neue Bildungen aus Participien ersetzt."1
Die in den Keilinschriften aufbewarte Sprache, ge-
wöhnlich assyrisch genannt, hieße b.esser babylonisch. Ge-
wisse babylonische Inschriften scheinen bis ins 4. Jahr-
tausend a. Chr. hinaufzugehen. Die Hauptmasse stammt
aus der ersten Hälfte des letzten Jahrtausends a. Chr.
Dem Verf. scheint es, als ob das Assyrische dem Hebräi-
schen näher stünde, als dem Aramäischen. „Es entfernt
sich aber in manchen Stücken von allen Schwestersprachen.
Es hat z. B. das alte Perfectum (gänzlich oder bis auf
wenige Spuren) verloren." Leider lässt die Forschung noch
vieles zweifelhaft.
Im Arabischen sind die Dialekte des tiefen Südens
von Arabien (das Sabäische u. s. w.) von den nördlicheren
und mittleren zu unterscheiden. Auch die nördlichen Ara-
ber scheinen schon lange vor Chr. geschrieben zu haben.
Entlehnungen der Araber aus dem Aramäischen beweisen
den Einfluss der aramäischen Cultur.
Schon im 6. Jh. p. Chr. herschte in Arabien weit und
breit die Sprache, die schlechtweg die arabische heißt,
gewiss mit dialektischen, aber unwesentlichen Eigenheiten.
1 Ersatz der Verbalflexion durch Participia findet sich auch
in den Tochtersprachen des Sanskrit; bekanntlich nicht im Roma-
nischen, auch nicht im Neugriechischen mit Ausnahme des tsako-
nischen Dialekts.
Beurteilungen.
211
Noch 200 Jahre nach Muhammed galten die Beduinen des
eigentlichen Arabiens als Inhaber dieser reinen, classischen
arabischen Sprache. Die Sprache von Koraisch, der Dialekt
von Mekka ist nicht musterhaft, und der Koran zeigt
starke Verstöße gegen die Classicität.
Unter der Oberleitung der Koraischiten eroberten die
Beduinen die halbe Welt, und durch den Islam und den Koran
ward das Arabische eine Weltsprache. Aber nicht alle
Araber sprachen classisch, die des Nordwestens schon seit
Jahrhunderten nicht. Arabisirte Fremde wirkten ebenfalls
wenig günstig. Den Gegensatz reiner und unreiner Sprache
empfand man schon im 1. Jh. der Hidschra. Gegen Ende
des 2. Jhs. ward das System der arabischen Grammatik
aufgebaut und im Wesentlichen für alle Folgezeit vollendet.
Um diese Zeit beginnt schon der Uebergang ins Neu-
arabische. 1
Der Wortreichtum des Arabischen ist berühmt. Ob er
wirklich zu rühmen? Der Verf. sagt (S. 43): „Die Lebens-
verhältnisse der Araber sind überaus einfach, ihr Land
trostlos einförmig, ihr Anschauungskreis mithin sehr be-
schränkt. Innerhalb dieses Kreises bezeichnen sie aber
die kleinste Modification durch ein eignes Wort." Schlimme
Eigenschaften einer Weltsprache. — Auch was der Verf.
(S. 50) von der arabischen Grammatik sagt, kann mich
wenig zum Lobe reizen. Aber richtig ist, dass sie für
Scholastik sehr geeignet war (S. 51). Ich notire noch:
„Im Gebrauche der Tempora zeigt das echte Arabisch noch
Spuren der dichterischen Freiheit, die wir im Hebräischen
sehen; diese verschwindet in der späteren Literatursprache"
— welche eben schon eine wesentlich tote Sprache ist.
Der Verf. nennt sie eine xoivrj.
Die in Asien. Afrika, auch Europa neu entstandenen
arabischen Dialekte „sind einander ähnlicher geblieben, als
man bei der großen Ausdehnung und den starken geogra-
1 Die Eroberungen des Islam wirkten auf das classische Ara-
bisch, wie die Eroberungen Alexanders auf das Griechische.
14*
212
Steinthal.
phischen Hindernissen des Verkehrs erwarten konnte" —
immerhin verschieden genug, um ein Verständnis unmög-
lich zu machen. Die Abweichungen von der alten Sprache
mögen nirgends so groß sein, wie die des Französischen vom
Latein, sind aber überall größer als die des lugodorischen
Dialekts auf Sardinien von seiner Stammsprache. Ich möchte
eine andere Seite hervorkehren. Wenn man sich über die
Uebereinstimmung der romanischen Sprachen verwundert
hat: so wird dieselbe durch die der arabischen Dialekte
um so erklärlicher, als die römische Herschaft, Gesetz-
gebung und Lebenseinrichtung eine ungleich größere bin-
dende Macht besaß, als die muhammedanische Regierung.
Die sabäischen Inschriften, Zeugen einer bedeuten-
den eigenartigen Cultur im südwestlichen Hochlande Ara-
biens, beginnen lange vor Chr. und ziehen sich bis ins
4. Jh. p. Chr. hinein. Das Sabäische, dem Arabischen nahe
stehend, ist etwas altertümlicher als dieses, schließt sich
öfter den nordischen Sprachen an und hat manches Eigen-
tümliche. Nur bieten die Inschriften nicht Material genug
zu einer vollständigen Erkenntnis der Sprache.
Die sabäische Cultur ging bald nach Chr. zurück und
erlag gänzlich unter den Kämpfen mit den Abessiniern.
Endlich das Oeez oder eigentliche Aethiopische, die
Sprache des alten aksûmitischen Reiches. Die älteste In-
schrift stammt aus der Zeit etwa 500 p. Chr. Die äthio-
pische Schrift ist die einzige semitische Schrift mit genauer
Vocalbezeichnung. Seit 1000 Jahren mag das Geez schon
tot sein. Es ist immer noch Sprache der Kirche und
Literatur ; seit dem 14. Jh. aber ist das Amharische Hof-
und Staats-Sprache. Das Geez steht dem Sabäischen näher
als dem Arabischen. Das Geez und alle äthiopischen Dialekte
haben vor allen semitischen Sprachen den Vorzug, einen
besonderen Subjunctiv zu besitzen; er wird aus dem Im-
perfect durch die Vocalverstärkung nach dem ersten Ra-
dical gebildet, also durch innere Flexion.
Wenn schon das Geez von einer Bevölkerung ge-
Beurteilungen.
213
sprochen wird, welche viel einheimisches afrikanisches Blut
in sich aufgenommen hat, so scheint sich das Amharische
noch mehr auf Nichtsemiten übertragen zu haben. Es steht
der altsemitischen Art ferner als irgend ein semitischer
Dialekt (S. 61). Von Wörtern und Formen ist vieles ver-
loren, andres in wunderlicher Weise neu gebildet. Nament-
lich aber zeigt die Syntax einen ganz unsemitischen
Charakter, und zwar Züge, welche sich regelmäßig im Hami-
tischen (z. B. Agau) zeigen. „So haben hier also wahr-
scheinlich ursprünglich Hamiten bei der Annahme semitischer
Sprache ihre hamitischen Sprachanschauungen und Gewohn-
heiten beibehalten und die Sprache darnach umgestaltet."
So hätten wir hier im strengsten Sinne eine semitische
Tochtersprache.
Diese Mitteilungen mögen genügen, um den Reichtum
der kleinen Schrift an Tatsachen und Urteilen zu zeigen.
St.
A. H. Sayce, Alte Denkmäler im Lichte neuer For-
schungen. Ein Ueberblick über die, durch die
jüngsten Entdeckungen in Aegypten, Assyrien, Baby-
lonien, Palästina und Klein-Asien enthaltenen Bestä-
tigungen biblischer Tatsachen. Deutsche vom Ver-
fasser revidirte Ausgabe. Leipzig, Otto Schulze.
232 S. 8.
Schon vor sechzehn Jahren hat unser Eberhard
Schräder in seinem Buche „Die Keilinschriften und das
Alte Testament" die hebräischen Erzählungen durch die
Ergebnisse der Entzifferung der assyrisch - babylonischen
Inschriften teils zu erläutern, teils zu bestätigen, teils zu
corrigiren gesucht. Manches damals von ihm kühn Be-
hauptete hat sich seitdem bestätigt. Bei so schnell vor-
schreitenden Forschungen indessen ist eine neue Arbeit in
gleichem Sinne um so willkommener, als sie auch sonstige
orientalistische Ergebnisse mit in ihren Bereich zieht, wie
214
Steinthai.
dies die angekündigte mit ihrem erst geistreichen, dann
aufzählenden Titel in dankenswerter Weise tut.
Das erste Kapitel enthält die Geschichte der Entziffe-
rung der Keil-Inschriften. Wie es kommt, dass dabei
weder Oppert noch Schräder erAvähnt wird, weiß ich
nicht.
Die altbabylonische Cultur ist auf eine akkadisch-
sumerische Grundlage gebaut. Akkader und Sumerer aber
waren nicht Semiten; zu welcher Easse sie gehörten, ist
noch ganz ungewiss. Sie hatten in einer Hieroglyphen-
schrift umfangreiche Bibliotheken, darin auch teils Zauber-
formeln zur Abwendung der Angriffe böser Geister, teils
Hymnen an die Gottheiten. Die Babylonier bewarten und
übersetzten diese alte Literatur, und gaben auch gramma-
tische Schemata als Mittel zum Erlernen der alten, bald
darnach ausgestorbenen Sprachen. So sind die Babylonier,
wie die Gründer der Naturwissenschaft, so auch der Phi-
lologie. — Wir wollen nun einige wichtige Punkte her-
ausheben.
Fangen wir mit dem Anfang an, mit der Welt-
schöpfung. Es liegen mehrere Berichte in den Frag-
menten des Berossos vor. Jetzt lernen wir ein assyri-
sches Dokument kennen, das der biblischen Darstellung in
der Genesis sehr ähnlich ist. Es scheint nicht aus der
alten Sprache übersetzt, sondern im 7. Jh. a. Chr. abge-
fasst. Der Verf. teilt bloß die Uebersetzung mit ohne den
Urtext, und überlässt die Yergleichung dem Leser. Die
Tiefe und die Meeresflut (diese ist, denke ich, das hebr.
cir.p, aber als Femininum) sind Erzeuger und Gebärerin
des Himmels und der Erde. Dieses sexuelle Verhältni
musste im Monotheismus völlig schwinden. Nach Himmel
und Erdeko mmen die Götter.
Das Noch-nicht-sein wird assyr. ausgedrückt durch:
nicht genannt werden. Das ist auch hebr. Anschauung:
Sein und Wesen = genannt werden. Auch bei der Schö-
pfung der Genesis gibt Gott einige Namen. Ob der Aus-
Beurteilungen.
215
druck „dass es gut war" assyr. angedeutet ist, kann be-
zweifelt werden. Mehr stimmt folgendes: „Die Wasser
werden an einen Platz gesammelt" zur Bibel: „Es sammle
sich das Wasser unter dem Himmel an einen Ort." Fer-
ner: „Die Scharen Himmels und der Erden." Sie gebären
die großen Götter Anu, Bei und Ea. Endlich: die Götter
„machten" die Tiere, „sie hießen hervorkommen die leben-
digen Wesen, das Vieh des Feldes, das Wild des Feldes
und die kriechenden Tiere."
Es gab einen Sabbath bei den Babyloniern „ein Tag
der Kuhe des Herzens", „ein Tag der Vollendung der Ar-
beit". Verboten ist an demselben kochen, weiße Gewän-
der tragen, opfern, fahren, öffentlich sprechen, Arznei neh-
men, fluchen. Aber dieser Sabbat steht schwerlich mit der
Schöpfung in Verbindung, wie Sayce meint, sondern er
hat (S. 22) „lunaren Charakter", und hängt also nur mit
der Teilung der 28 Monatstage durch 4 zusammen. Sabbat
und Neumond fallen zusammen.
Ob die Erzählung vom Sündenfall sich bei den Assy-
rern findet, ist noch zweifelhaft. Die Akkader hatten
eine „böse Schlange" und eine bildliche Darstellung scheint
so gedeutet werden zu müssen. Der Lebensbaum findet
sich häufig. Adam galt als Vater des „weißen Volkes",
im Gegensatze zu den „Schwarzköpfen", den Akkadern.
Die Sintflut ist assyr. ausführlich vorhanden, und
Sayce behauptet (S. 26) Sisuthros werde gerettet wegen
seiner Frömmigkeit, die Vernichtung der übrigen Men-
schen ist die Strafe ihrer Sünden. Das ist wol nur cum
grano salis zu verstehen. Die vier großen Götter Anu,
Bei, Adar und Ennugi (vielmehr aus IJebelwollen? gegen
die Menschen) vernichten dieselben; nur der Gott Ea „der
Herr der unerforschliclien Weisheit" will dies dadurch
verhindern, dass er den Entschluss der Götter einem Men-
schen verrät, der nun auf Eas Antrieb ein Schiff baut.
Warum gerade dieser Mensch gerettet wird, ist entweder
nicht gesagt oder nicht zu lesen oder nicht zu übersetzen.
216
Stein thai.
Der assyr. Noa bringt auf sein Schiff alles Vieh, Korn und
Samen, Silber und Gold! Das Wasser steigt bis an den
Himmel und alles Licht schwindet. Die Götter (außer
jenen vier) „im Himmel fürchten sich vor der Sintflut und
steigen empor zum Himmel des Gottes Anu. Wie ein
Hund auf seinem Lager kauern sich die Götter an dem
Gitter des Himmels zusammen. Istar schreit wie eine Ge-
bärerin, es ruft die hehre Göttin mit lauter Stimme: Ich
aber gebäre die Menschen nicht dazu, dass sie wie Fisch-
brut das Meer füllen." Die Götter weinen und wehklagen.
Am 7. Tage beruhigt sich die Flut. Da wird eine Taube
aus der Arche geschickt. „Die Taube flog hin und her;
da aber kein Ruheplatz da war, so kehrte sie wieder zu-
rück." Nun wird eine Schwalbe ausgesant. Dann ein
Rabe, der kehrte nicht wider. Der assyr. Noa opfert nun
auch. Die Götter kommen herbei. Aber die Istar schwört
„bei dem Geschmeide meines Halses", der Gott Bei solle
nicht zum Altar kommen, „weil er unüberlegt gehandelt
und meine Menschen dem Verderben preisgegeben hat".
Bei, da er das Schiff sieht, wütet: „Welche Seele ist da
entronnen! Kein Mensch soll leben bleiben in dem Verder-
ben." Der Verdacht, einen Menschen gerettet zu haben,
fällt sogleich auf Ea, und dieser sagte zu Bei: „Du bist
der streitbare Führer der Götter; warum (aber) hast du
so unüberlegt gehandelt und die Sintflut angerichtet? Auf
den Sünder lasse fallen seine Sünde, auf den Frevler lasse
fallen seinen Frevel. Lass dich erbitten, dass er nicht
vertilgt werde." Da kam Bei zu Vernunft, segnete den
Geretteten und erhob ihn sogar zum Gott.
So mag endlich noch bemerkt werden, dass der assyr.
Noa den Beinamen Hasis-adra (Sisuthros) oder Adra-hasis
führt, d. h. weise und fromm, sein eigentlicher Name aber
bedeutet „Lebenssonne".
Auch für den Turmbau zu Babel finden sich Andeu-
tungen. Beachtenswert ist die durch das Assyrische mög-
lich gewordene Erklärung der Namen der Noachiden'
Beurteilungen.
217
Schern = samu olivenfarbig, Ham = hammu schwarz, Ja-
phet = ippat weiß.
Anderes, als noch nicht sicher genug, übergehe ich.
Wir kommen zu den ägyptischen Berichten. Von einer
Sintflut verlautet nichts, aber doch von einer Vernichtung
des Menschengeschlechts durch ihren Schöpfer Ra. Als
die Erde mit dem Blute der Menschen getränkt war, trank
Ra 7000 Becher Wein, der von den Früchten Aegyptens
und dem Blute der Erschlagenen gemischt war; sein Herz
erfreute sich und er schwor, das Menschengeschlecht nim-
mermehr vernichten zu wollen. — Erzählungen wie die
der Genesis zu erfinden, dürfte jedem Schriftsteller un-
möglich sein; aber aus Erzählungen, wie die hier mitge-
teilte ägyptische und babylonische, die biblischen formen,
beweist eine staunenswerte Gestaltungskraft.
„Pharao", genauer „Par-o" ist das äg. pir (oder per)-aa
(das lange a ward im Hebräischen schon früh langes o
und der Vocal vor r ward ä, weil vor diesem Consonanten
gern a gesprochen wird) eig. „großes Haus", also ähnlich
wie die türkische „Pforte". Potiphar bedeutet „Gabe des
Aufgehenden", Potiphera „Gabe des Sonnengottes".
Die 18. Dynastie, welche die Hyksos (semitische Er-
oberer Aegyptens, die dasselbe 5 Jhh. beherschten) verjagt
hatte, machte Eroberungszüge nach Asien. Thothmes III
um 1600 a. Chr. hat uns an den Tempelmauern von Kar-
nak die kanaanitischen Städte aufgezählt, die er unterjocht
hatte. Darunter finden sich recht bekannte Namen, wie
Gibea, Migdol, Hazor, Heschbon, Megiddo, auch Negeb oder
„Südgau" und Merom und Kischon. Alle diese Namen
haben also schon 400 Jahre vor Mose bestanden. Eine
Ortschaft trägt den Namen Jalcob-El.
Der Auszug Israels aus Aegypten wird nicht mehr
wie früher unter Ramses II, sondern unter Meneptah II
(etwa 1300) gesetzt. Was von den Aperiu gesagt wird,
hat schwerlich mit den Hebräern, noch weniger mit den
Israeliten zu tun. Bemerkenswert aber scheint, dass dem
218
Steinthal.
König Meneptah im 8. Jahre seiner Regierung1 folgende
Nachricht übermittelt ward: „Die Stämme der Sasu (Be-
duinen) haben ihren Weg von dem Lande Edom über die
Festung Ketham [„„das Etham der Schrift""], die in Suk-
koth liegt, nach den Seen der Stadt Pithom im Lande
Sukkoth genommen, um sich und ihre Heerden vom Besitz-
tum Pharaos zu unterhalten." Ich meine, diese Nachricht
sei bemerkenswert, obwol sie gar nicht einen Auszug, son-
dern einen Einzug nach Aegypten berichtet. Solche Ein-
und Auszüge werden aber so oft stattgefunden haben, dass
jeder ruhige Forscher es aufgeben wird, bei solchen Be-
richten gerade nur an Israel zu denken.
Ob der Name Mose aus dem ägypt. mes, mesu Sohn
entstanden ist? Dieses mes war öfter Name ägyptischer
Prinzen.
Was den Opferdienst und die Ceremonien Israels be-
trifft, so zeigen sich auch hierin Aehnlichkeiten mit denen
der Assyrer und Babylonier. Auch diese kannten Frie-
dens-, Heb- und Sühnopfer, Darbringung der Erstgeborenen.
Die Götter wurden in „Schiffen" herumgetragen, auf den
Schultern von Männern mittels Stäbe. Diese Schiffe hatten
auch in der Form Aehnlichkeit mit der israelii Lade.
Vor dem Gottesbilde stand ein Tisch mit Schaubroden. Es
gab unreine Speisen, zu denen auch das Schweinefleisch
gehörte. In den Yorhöfen der Tempel standen große
Waschbecken, „Seen" genannt, wie der „See" in Salomos
Tempel. Manches stammt schon aus der akkadischen Zeit.
Wie mir scheint, können uns alle Entzifferungen der
Hieroglyphen und der Keilschriften mannichfache Realien
darbieten, welche der Interpretation des Pentateuchs för-
derlich sind. Aufhellung der ältesten Geschichte Israels
vor David können sie nicht schaffen. Es ist an sich eine
historische Eroberung, wenn wir von einem alten mäch-
tigen Reiche der Hettiter erfahren, von dem alle Kunde
bis in die neueste Zeit verschollen war; aber die Ge-
schichte Israels, besonders da wo wir recht im Dunklen
Beurteilungen.
219
tappen, wird durch die neu erweckten hettitischen Hiero-
glyphen nicht erhellt. — Yon der Zeit an aber, wo wir
auch in der Bibel beglaubigte Geschichte haben, bieten
Hieroglyphen und zumal Keilschriften, die wünschenswerte
Ergänzung und auch Correctur, welche wir namentlich
Schräder verdanken, den Sayce kaum nennt.
Aber Schräder kannte damals die neue Entdeckung
noch nicht, dass Cyrus weder Perser noch Anhänger Zo-
roasters war, sondern König von Elam und Polytheist.
Cyrus eroberte das Land von Ekbatana, gewöhnlich, aber
fälschlich, Medien genannt; darauf zog er später auch in
Babylon ein, wo er den Dienst der babylonischen Götter
förderte, indem er sie adoptirte: wie er auch in Merodach
seinen Herrn und Beschützer sieht. Die Juden schickte
er nach Jerusalem zurück, weil dies seiner Politik ent-
sprach. Auch gründete nicht Cyrus, sondern Darius das
persische Reich.
Sayce hat nicht für Fachgelehrte, sondern für das
gebildete Publikum geschrieben, und in diesem Sinne muss
sein Buch empfohlen werden.
St.
Hans Müller, Griechische Reisen und Studien. Zwei
Teile in einem Bde. Leipzig, Friedrich 1887. 244 S.
8°. und 209 S. 8°.
Der erste Teil enthält zunächst in vierzehn Kapiteln
(S. 1—154) eine Reisebeschreibung. Der Verf. hat mit
offenen Sinnen und empfänglichem Geiste gesehen, und hat
Gesehenes, Gefühltes und Gedachtes mit ursprünglicher
Frische dargestellt. Schon die Widmung „Der wider-
erstandenen griechischen Nation in Verehrung und Dank-
barkeit" zeigt, dass wir einen Philhellenen zu lesen be-
kommen. Wie viel wir nun auch schon über das heutige
Griechenland gelesen haben mögen, wir werden nicht satt
220
Sfeinthal.
und greifen immer wider nach der neuesten Schilderung.
Wir fragen uns bang: hebt sich Hellas? Freudig empfan-
gen wir vom Verf. die bejahende Antwort. Man kann ja
zweifeln, ob er nicht zu rosenfarbig gesehen hat; aber ich
meine, dass wir, wenn es sich um Sympathie und Anti-
pathie, optimistische und pessimistische Anschauungen han-
delt, immer in viel höherem Grade fürchten müssen, dass
die letztere wol gegen gar zu vieles blind and stumpf ge-
wesen sei, als dass die erstere schöngefärbt hätte.
Nachdem der Verf. die unmittelbaren Eindrücke, die
er gewonnen, mitgeteilt hat, gibt er in zwei Kapiteln eine
zusammenfassende Betrachtung über Land und Volk. Dabei
muss anerkannt werden, dass er vielleicht alles Wertvolle,
was seit der Befreiung Griechenlands über dasselbe ge-
schrieben ist, gelesen hat und auch mit der neugriechischen
Literatur innig vertraut ist.
Der zweite Teil enthält Proben neugriechischer Dich-
tung im Original und in Uebersetzung; letztere entspricht
ersterer im Metrum und im Reim, und ist auch ziemlich
treu, so dass man bei geringster Vorkenntnis sich hier
leicht im Neugriechischen üben kann. Ich bin nicht in
der Lage, die Richtigkeit der Uebersetzung überall zu be-
stätigen, oder eine andere Auffassung als die seinige gel-
tend zu machen. Aber ich glaube, dass eine wörtliche,
wenn auch unmetrische und reimlose Uebersetzung selbst
poetisch besser gewirkt und den Eindruck des Originals
besser erreicht hätte — abgesehen von der didaktischen
Wirkung. Fremde Verse in deutschen Versen widerzu-
geben müssen wir bei den hohen Anforderungen, die wir
heute stellen, den wirklichen Dichtern überlassen. Ich
wähle als Beispiel den Anfang des ersten, herlichen Ge-
dichtes: „Hellas an die Kinder:"
Dí2 ncíióiá fiov, Ach ihr Armen,
*ÖQgiavL( fxov Ohn' Erbarmen
IxoQTtia^svrx du) X sxtl • Hier und dorthin weit
zerstreut!
Beurteilungen.
221
diooyfjisva
cY^Qiafiéva
So mit Plagen
Euch zu schlagen
Iloiòg axXihqôç cîàç âicoxsï; Wer hat grausam das gebeut?
Hier fehlt der Uebersetzung die Innigkeit, welche das
Original mit dem ersten Tone naiòiù anschlägt. Dass die
Mutter ihre Kinder anredet, welche verwaist sind, kann
nicht durch „arm und erbarmungslos" aufgewogen werden.
Nun reimen zwar „Armen" und „Erbarmen" tadellos; aber
sie geben doch das doppelte /lov nicht wider, das schon
an sich, noch mehr durch die Verdopplung, noch mehr
durch dessen Stellung im Eeim so ergreifend wirkt. Dann
folgen zwei Participien, das zweite eine Steigerung des
ersten; die Uebersetzung gibt nur eine Redensart in zwei
Wörtern, welche reimen, und doch hat jeder Vers drei
Wörter, während das Original in jedem Verse ein Wort
enthält. Wie viel Kraft geht da verloren! Auch sind
„Plagen, schlagen" wenig poetisch.
Vieles ist vom Verf. gelungener übersetzt, und die
Gedichte werden sicherlich auch von Damen mit vielem
Vergnügen gelesen werden. Ich zweifle kaum, dass es
sich lohnen würde, diese griechischen Lieder ohne Original
in bester Uebersetzung der jungen und weiblichen deut-
schen Lese weit zu bieten. Gerade für diese Möglichkeit
möchte ich dem Verf. raten, die Uebersetzung noch ein-
mal genau durchzugehen. Es sind ja oft nur Kleinig-
keiten, die ich geändert wünschte, weil sie die Spitze ab-
gestumpft haben. So z. B. im naiv reizenden neunten
Liede (von Rhangawis, gew. Rangabé genannt). Jede
Strophe schließt K' alio, sirca, âhv 'Qìjtoì „Weiter wünsch'
ich nichts von dir." „Von dir" steht nicht im Original,
obwol es gemeint ist, auch in der ersten Strophe steht.
Nun heißt es in der letzten Strophe: Tinor ¿'Ilo âhv fyzà
„Wünsche nie was Bess'res mir!" Nein, nicht an Besseres
ist zu denken, sondern überhaupt an nichts Anderes wei-
ter, was zu wünschen wäre; denn nun hat er alles, die
Geliebte ganz. — Wunderlich hat der Uebersetzer den
222
Steinthal.
Schluss der bekannten Fabel von der Grille (von demselben
Dichter und Staatsmann) verfehlt: „Mit Gesang-, das ist ja
nett! Dann magst du nur weiter springen," das Original
XoQonijôci XoiTcòv raiga besagt genau nur: „so tanze nun!"
Der Verf. berührt aber noch zwei sehr wichtige Punkte,
die Stellung des Neugriechischen zum Altgriechischen und
zu unsern Gymnasien. Den erstem habe ich in meiner
Geschichte der Sprachwissenschaft bei den Griechen und
Kömern besprochen. Ich muss auf denselben ein andermal
ganz besonders eingehen, und kann hier nur mein Be-
dauern äußern, dass die neueren Betrachtungen des Neu-
griechischen seitens der jungen Forscher auf dem Gebiete
der Sprachvergleichung meine Darlegung unbeachtet ge-
lassen haben, und noch weniger kann ich mich mit des
Verf.s Schrift „Das Verhältnis des Neugriechischen zu den
romanischen Sprachen," 1888, befreunden.
Wie viel unhellenisches Blut in den heutigen Griechen
des Festlandes fließen mag, scheint mir gleichgültig. Ich
leugne nicht, dass Blut ein ganz besonderer Saft ist; aber
der Geist eines so mächtigen Culturvolkes, wie der der
Hellenen, besaß eine große aufsaugende Kraft. Auch hat
bis auf die Türken kein barbarisches Volk in Griechen-
land die Herschaft geübt, wie die Germanen in den roma-
nischen Ländern. Also leugne ich mit dem Verf. (wie jetzt
wol allgemein geschieht) die Slavisirungstheorie, wie jede
andere merkliche Barbarisirung der Hellenen. Andrerseits
wird auch heute von keinem anderen Stamme als von einem
hellenischen griechisch gesprochen. Die hellenisirten Bar-
baren in Asien und Afrika sind längst verschwunden.
Ich verstehe die Sache zu wenig. Steht es fest, dass
das Neugriechische ohne fremdartige Einflüsse aus dem Alt-
griechischen entstanden ist, so können doch die inländischen
traurigen Umstände seit Alexander die Sprache sehr ge-
waltsam beeinflusst haben, und nicht aus dem classischen
Altgriechischen ist das Neugriechische entstanden, sondern
aus den Volksdialekten. Demnach könnten wir den
Beurteilungen.
223
griechischen Schriftstellern raten wollen: lasst fahren was
dahin ist! und wenn es noch so herlich war, jetzt ist es
doch dahin. Wir wünschen euch einen Dante, ein dich-
terisches Sprachgenie, welches aus der Mitte der lebendigen
Volksdialekte einen herausgreift und ein für allemal zur
griechischen Schrift- und Umgangssprache macht. Sucht
nicht Altclassisches dem Volke beizubringen; suchet viel-
mehr euch die Volkssprache anzueignen. Auf die Volks-
Poesie geht zurück!
So ließe sich reden, meine ich, und so ist, wer weiß
wie oft, geredet worden. Vielleicht aber wissen doch die
Griechen besser, als wir, was sie tun können und was sie
zu tun haben. Ist nicht die ganze altgriechische Poesie
in einer Kunstsprache gedichtet? Deutsche und Italiener
vertragen das was sie „Messingsch" nennen gar nicht; sie
vertragen solche Mischung der Cultur- mit der Volkssprache
nur, wenn sie mit besonderem Takt gemacht wird. Wenn
die modernen Griechen die Mischung so gut verstehen wie
Pindar: so mögen sie mischen. Wenn sich der Verf. dar-
über wundert, dass sie so fest an ihrer Umschreibung des
dem Neugriechischen fehlenden Infinitivs halten : so scheint
mir das ein gutes Zeichen. Der Grieche hat also offenbar
den Sinn für den Infinitiv verloren, und der Sinn dafür
fehlt schon im Neuen Testament (meine Gesch. d. Sprw.
S. 247). Darum mögen sie ihn nicht. Eine Sprache ohne
Infinitiv hat man einem Menschen ohne Hand gleichgestellt :
das ist sehr übertrieben; dieselbe wäre höchstens eine
Hand, der ein Finger fehlt. Die Umschreibung des Infi-
nitivs kann schleppend werden; dann ist es die Geschick-
lichkeit des Schriftstellers, dergleichen zu meiden. Im all-
gemeinen ist das Neugriechische hier nur wenig übler dran,
als alle die Sprachen, welche dem Infinitiv die Präposition
„zu" beigeben, vu oder zu? z. B. und sie hat nichts zu
essen ocui ôhv tí vu (pccyr¡.
Trotzdem müssen die Schriftsteller des heutigen Hellas
daran erinnert werden (wenn es nötig sein sollte!), dass
224
Steinthal.
alle Kraft der Rede doch nur aus der lebendigen Volks-
sprache fließen kann, nicht aus den alten Classikern.
Was das Griechische in unsern Gymnasien betrifft, so
freut es mich, mich mit dem Verf. in der hohen Bedeutung,
die diesem Unterrichtszweige gebührt, in Uebereinstimmung
zu finden; und es freut mich, dass ich mit meiner Meinung:
„so streiche man ruhig das Latein" (diese Zeitschr. XVI,
357) ganz ehrenwerte Vorgänger habe. Ich habe keine
Abneigung gegen das Latein. Der Unterricht darin, gut
geleitet, könnte sehr nützlich werden. Nur das kann das
Latein mit seiner steifen Logik und seinen meist steif nach-
ahmenden Dichtern nicht gewähren, was wir mit unseren
hyperkünstlichen Geistern brauchen: ein geistiges Natur-
bad! das kann nur das classische Hellenentum bereiten.
Was die lateinischen Classiker konnten, das können unsere
heutigen Dichter auch und sogar im allgemeinen noch besser
als sie. Oder welcher Lateiner wäre neben die großen
Dichter der modernen Völker zu stellen? Zu den helle-
nischen Dichtern aber kehren wir immer wider zurück, wie
zu ihren Statuen und Tempeln.
Der Autorität mehrer Physiker und Physiologen, welche
sich so entschieden gegen die grammatische Bildung aus-
gesprochen haben, darf ich die Autorität Liebigs entgegen-
stellen. Nach mündlicher Mitteilung, aber aus erster Quelle,
weiß ich, dass er sich zu Schülern Gymnasiasten wünschte,
die noch gar nichts von Naturwissenschaft wissen, aber
nicht Zöglinge der Realschule.
Was dagegen das Studium des Neugriechischen auf
den Gymnasien solle, wofür der Verf. in Uebereifer gerät,
das weiß ich nicht. Der Gebildete mag nach seinem Ge-
schmacke und nach seiner Muße neben der altclassischen
und seiner heimischen Literatur diese und jene moderne
Dichtung im Original oder in der Uebersetzung lesen, und
darunter eben auch neugriechische. St.
Druck von Emil Herrmann senior Leipzig.
Verlag der K. R. Hofbuchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig.
Die Amtssprachen in ihrem Zusammenhange
mit dem semitischen Sprachstamme.
Von
Rudolf Falb.
gr. 8. Preis brochirt Mark 3.—
Der Verfasser ist während seines langen Aufenthaltes in Südamerika durch
vergleichende Sprachstudien zu einem für die Urgeschichte der Sprache und Schrift
hochbedeutsamen Resultate gelangt, das er hier niederlegt.
Der Tod der Unsterblichen.
Von
Wilhelm Stoffregen.
gr. 8. Preis brochirt Mark 2.—r
Unter den „Unsterblichen" sind die Philosophen — klassische und unklassische
— verstanden, welche die Kritik des Verfassers in geistvoller Weise auf den Aus-
sterbeetat gesetzt hat. Indem nämlich die Hauptzüge der philosophischen Gedanken-
richtung, sowie des Ausführlicheren die hervorragendsten spekulativen Denker der
Neuzeit einer Kritik unterzogen werden, stellt sich heraus, dass — verglichen mit den
äusseren Umständen, unter welchen der Philosoph aufzutreten pflegt — wir es in
letzterem mit einem Originaldenker zu thun haben, der nur zu einer unfruchtbaren,
subjektiven Gedankenarbeit beanlagt ist und wegen dieser seiner Geistesorganisation in
Berührung mit der Familie der exakten Forscher untergehen muss.
Sprache ohne Worte.
Ein Beitrag zum Folklore.
Von
Dr. Rudolf Kleinpaul.
gr. 8. Preis brochirt Mark 10.—
In diesem Werk fasst der Autor zum ersten Male die mannigfaltigen Erschei-
nungen der Sprache im weiteren Sinn, welche der Lautsprache teils voran, teils
neben derselben hergehen, in ein System zusammen. Mit einer scharfen Kritik der
sogenannten Weltsprachen beginnend, wendet er sich in origineller Weise zu einer
andern Art Weltsprache, die in dem Universum, der Symbolik, der Divination, dem
Traum, u. s. w. zu Tage tritt. Das Ganze ist aufs strengste gegliedert, aber anziehend
und allgemein verständlich vorgetragen; das Licht, das auf das Wesen und den Ur-
sprung der Sprache und der Schrift geworfen wird, ein überraschendes. Die Lektüre
gehört zu den interessantesten ihrer Art.
Die Aussprache des Lateinischen.
Von
Karl Poetzl.
gr. 8. Preis brochirt Mark 3.—
Der Verfasser behandelt diese Frage nicht wie die bisher darüber erschienenen
Werke in trockener, dem Leben abgewendeter Manier, sondern weist, auf die lebende
Aussprache in Italien gestützt, streng wissenschaftlich, — aber dabei fesselnd und auch
für gebildete Laien verständlich, — nach, dass die Aussprache der „alten Römer"
mit der lebenden italienischen fast identisch gewesen sein müsse.
Der Anhang über das Studium der antiken Sprachen auf den Gymnasien wird
gewiss den Beifall aller denkenden Schulmänner finden.
fp^" Durch alle Buchhandlungen zu beziehen.
Verlag der K. R. Hofbuchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig.
Moderne Probleme.
Von
Dr. Eduard von Hartmann.
Zweite vermehrte Auflage, gr. 8. Preis brochirt Mark 5-—
Die erste Auflage dieser Schrift wendete sich gegen verschiedene Zeitströmungen,
welche sich zum Teil mit Geräusch zu inszenieren verstehen, wie z. B. der Vegetaria-
nismus, die tierschützlerische Sentimentalität und der Antivivisektionismus, die Frauen-
emanzipation, die zunehmende Ehelosigkeit und Heiratsverspätung der höheren Stände,
die Überschätzung der geheimnisvollen und krankhaften Nachtseiten der menschlichen
Natur. Sie zergliederte ferner die Ursachen des Rückgangs der Wissenschaften und
der Lehrerfolge an unseren Universitäten und höheren Schulen und in unserer Bücher-
litteratur und wies überall auf die Mittel zur Abhilfe hin. Die zweite Auflage, in
welcher Aufsätze über Geselligkeit in und ausser dem Hause, über Wohnungsfrage,
moderne Unsitten und Schulreform hinzugetreten sind, wird ohne Zweifel den Beifall
beim Publikum behaupten, welcher der ersten Auflage zu Teil geworden ist.
Anthropogonie,
das ist
Das allgemein Menschliche
seinem Wesen und seiner dreigliedrigen Entwicklung nach;
oder
„Ursprung" der Sprache, der Sittlichkeit und der Kunst.
Von
Dr. Max Schasler,
gr. 8. Preis brochirt Mark 8.—
Auf Grund des Nachweises, dass die in der Philosophie bisher übliche Gliede-
rung des subjektiven Geistes in einen theoretischen (erkennenden) und einen praktischen
(wollenden) Geist insofern eine wesentliche Lücke enthält, als sie der reinen An-
schauung, welche weder der einen noch der andern Thätigkeitsweise ausschliesslich
angehört, keine selbstständige Geltung neben dem Erkennen und Wollen zuerkannt,
hat der Verfasser in dem oben verzeichneten Werke den Versuch gemacht, diese
Lücke auszufüllen, indem er sowohl in ideeller wie in materieller Beziehung darzulegen
bemüht ist, dass Sprach e, Sittlichkeit und Kunst, als die konkreten Bethätigungs-
formen des erkennenden, des wollenden und des anschauenden Geistes, als
die fundamentalen und im eminenten Sinne substanziellen Sphären dieser Be-
tätigung zu betrachten sind, auf denen alle übrigen Sphären, wie die der Philosophie
und der Wissenschaften, überhaupt des Staats, der Religion, des Rechts, der Industrie etc.
erst als sekundäre Gebiete beruhen. Von diesem Gesichtspunkt aus ist das Werk als
grundlegende Einleitung zu jeder künftigen Sprachphilosophie, Ethik
und Ästhetik zu betrachten.
Die spartanische Verfassung bei Xenophon.
Von
Dr. Bruno Fleischanderl.
gr. 8. Preis brochirt Mark 3.—
Die Stellung Xenophon's als beste und bedeutendste Quelle für spartanische
Verfassung soll dargethan werden, so dass die Behauptung des Verfassers gerechtfertigt
erscheint, dass aus Xenophon allein ein vollständig anschaulisches Bild spartanischer
Verfassung gewonnen werden kann.
Durch jede Buchhandlung zu beziehen,
DRUCK VON EMIL HERRMANN SEN., LEIPZIG.
îQ* \
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
von
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Achtzehnter Band. Drittes Heft.
INHALT:
Ueber sagenhafte Völker des Altertums und
Mittelalters. Von Prof. Ludwig Tobler.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim
Essen. Von Carl Haberland.
Die indo-chinesische Philologie. Von Her-
bert Baynes.
Beurteilungen:
Andrew Lang, Custom and Myth. Von
Dr. P. Steinthal.
Folklore. Ein Nachtrag zu vorstehender Be-
sprechung. Von Prof. Steinthal.
Zur neuesten Philosophie. Von G. Gloga».
Beilage zu diesem Heft:
Prospekt über die Gesamtwerke Eduard von Hartmanns.
LEIPZIG
Verlag von Wilhelm Friedrich,
K. R. Hofbuchhändler.
1888.
Wochenschrift für klassische Philologie.
® Herausgegeben von G. Andrésen und H. Heller.
—— Vierteljährlich 6 Mark. Probenummern unberechnet. ——
R. Gaertner's Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW.
Verlag von Wilhelm Friedrich in Leipzig.
Sprache ohne Worte.
Ein Beitrag zum Folklore.
Von
Dr. Rudolf Kleinpaul.
gr. 8. Preis brochirt Mark 10.—
In diesem Werk fasst der Autor zum ersten Male die mannigfaltigen Erschei-
nungen der Sprache im weiteren Sinn, welche der Lautsprache teils voran, teils
neben derselben hergehen, in ein System zusammen. Mit einer scharfen Kritik der
sogenannten Weltsprachen beginnend, wendet er sich in origineller Weise zu einer
andern Art Weltsprache, die in dem Universum, der Symbolik, der Divination, dem
Traum u. s. w. zu Tage tritt. Hierauf lässt er die Physiognomik und die Mimik
folgen, indem er sich bereits auf den Menschen konzentriert, der durch die Züge seines
Gesichts, seine Mienen und Geberden tausenderlei, aber zunächst ohne Absicht einer
Mitteilung, verrät. Diese Absicht charakterisiert die Gruppe von Äusserungen, die
im zweiten Buche behandelt wird ; der entwickelte Gedankenausdruck führt zum dritten
Buche, welches da abschliesst, wo die Lautsprache beginnt. Das Ganze ist aufs strengste
gegliedert, aber anziehend und allgemein verständlich vorgetragen- das Licht, das auf
das Wesen und den Ursprung der Sprache und der Schrift geworfen wird, ein über-
raschendes. Die Lektüre gehört zu den interessantesten ihrer Art.
Einzelbeiträge zur allgemeinen und vergleichenden
Sprachwissenschaft.
Heft III:
Psychologische vStudien zur Sprachgeschichte.
Von
Dr. Kurt Bruchmann.
gr. 8. Preis brochirt Mark 9.—
Die für die Sprachgelehrten, Literarhistoriker und Psychologen berechnete
Schrift weist streng an der Hand sprachlicher Denkmäler, die besonders dem Rig-
Veda, der Bibel, der lateinischen, griechischen und deutschen (auch der neuesten)
Litteratur, dem Volksliede und der Umgangssprache, entnommen sind, den Bedeutungs-
wandel einzelner Worte und ganzer Gedanken nach, wie er hauptsächlich durch die
Überlieferung von Volk zu Volk entstand. Im ersten (geschichtlichen) Teile ordnet
Verfasser den Stoff u. A. nach den Kategorien : Teilnahme der Natur, Mythologie,
Licht und Farbe, populäre Metaphysik, deutsche Sprachformeln. Im zweiten (psycho-
logischen) Teile zeigt er die Macht der Analogie auf die Gedankenbildung, bespricht
den Unterschied von Poesie und Mythologie, das Verhältnis des Schilderung zur An-
schaulichkeit, den Widerspruch zwischen Sprechen und Denken, die Sprachentwicke-
lung nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses und neuere Forschungen über indo-
germanische Wurzeln und Bedeutungswandel. Endlich versucht er eine Anknüpfung
an die Psychophysik nach Wendt und Fechner und leitet seine sprachgeschichtliche
Betrachtung zu den allgemeinen Kategorien der Geschichte hinüber. Für Theologen
dürfte die ausführliche Behandlung der geistlichen Dichtung (von der Bibel bis ins
19. Jahrhundert) von besonderem Interesse sein.
Durch alle Buchhandlungen zu beziehen. "^|§
Ueber sagenhafte Völker des Altertums
und Mittelalters.
Yon Prof. Ludwig Tobler.
Die Entdeckung von Pfahlbauten, alten Grabstätten
und Erdhöhlen mit den darin gefundenen Geräten und
Producten ältester Kultur — diese Entdeckung, welche in
neuerer Zeit in fast allen Ländern Europas stattgefunden
hat, musste die früheren Begriffe von geschichtlichem Le-
ben ebenso umgestalten, wie dies zum Teil schon vorher
durch die Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung,
durch die Enthüllung der ältesten Bau- und Schriftdenk-
mäler in Vorderasien, Aegypten und Central-Amerika ge-
schehen war. Alle diese Entdeckungen gewannen an In-
teresse, je mehr sie mit manchen früher nicht verstandenen,
bezweifelten oder übersehenen Angaben antiker Schrift-
steller zum Teil überraschenden Einklang zeigten. Die
nächste Folge war, dass der zeitliche Umfang dessen, was
wir Geschichte heißen, eine bedeutende Erweiterung nach
rückwärts erfuhr. Freilich verdanken wir dies zunächst
nur denjenigen Denkmälern, welche in lesbarer Schrift und
mit Angabe von Zahlen und Namen zu uns reden, dagegen
nicht jenen erstgenannten Kesten ältester Cultur, noch
weniger den Entdeckungen ältester Menschengebeine, welche
das Dasein unserer Gattung in noch höhere Epochen or-
ganischen Lebens auf der Erde hinaufrücken, aber mehr
der Geologie und Paläontologie, also der Geschichte der
Natur, nicht der Cultur angehören. Zunächst dem mitt-
leren der im Vorigen angedeuteten Zeiträume scheint der
in neuerer Zeit aufgekommene Name „Vorgeschichte" an-
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spraohw. Bd. XVIII. 3 15
226
Tobler.
gemessen, der freilich etwas Widersprechendes enthält,
aber als Hülfsbegriff wol vorläufige Geltung behalten mag.
Wir verstehen darunter eine Zeit, zu deren vollständiger
und zuverlässiger Darstellung die Daten noch nicht aus-
reichen, so dass z. B. für überlieferte Namen von Völkern
sachliche Zeugnisse ihres Daseins fehlen, oder umgekehrt
für vorhandene Denkmäler die Namen der Völker, von
denen sie herrühren. Uebrigens kann Niemandem ent-
gehen, dass die Grenze zwischen der sogenannten Vorge-
schichte und der wirklichen Geschichte des Altertums eine
fließende ist und dass der Fortschritt der Wissenschaft
eben darin bestehen wird, immer mehr von dem Gebiete
der Vorgeschichte in das der eigentlichen Geschichte herü-
berzuziehen.
Die einstweilen noch bestehenden Lücken unserer
Kenntnis des Altertums einigermaßen auszufüllen, bietet
sich die ältere Schwester der Geschichte, die Sage, dar.
Schon die Geschichtschreiber des Altertums erkannten die
Aufgabe, sich eine Vorstellung vom Verhältnis zwischen
Sage und Geschichte zu bilden und die erstere irgendwie
zur Ergänzung der letzteren zu benutzen. Sie taten es
bald in naiver, bald in kritischer Weise; sie nahmen ent-
weder unbedenklich oder gar unbewusst Gegenstände der
Sage in ihre Darstellung der ältesten Zeit auf, oder sie
bemühten sich, eine Grenze zu ziehen und dies Sagenhafte
auszuscheiden. Bei Herodot, der ein deutliches Bewusst-
sein des Unterschiedes hat und es nicht selten ausdrück-
lich bezeugt, fließen doch in der Vorstellung und Darstel-
lung der ältesten Zeit und entlegener Länder Sage und
Geschichte noch vielfach ineinander; ebenso in den älteren
historischen Büchern der Israeliten und auch noch bei den
meisten Geschichtschreibern des Mittelalters.
Wenn man daher vom kritischen Standpunkt der Neu-
zeit aus die Geschichte des frühen Altertums oder Mittel-
alters darzustellen unternimmt, stößt man immer wider
auf die Notwendigkeit, ihr Verhältnis zur Sage irgendwie
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc. 227
positiv zu bestimmen; denn mit der einfachen Negation
ist es schon darum nicht getan, weil die Sage, noch ab-
gesehen von irgend einem Kern geschichtlicher Wahrheit,
den sie enthalten kann, selbst eine Geschichte hat; also
eine geschichtliche Tatsache, ein Teil der Geschichte selbst
ist, nämlich der Entwicklung des geistigen Lebens, wel-
ches doch neben den äußeren Ereignissen und Zuständen
seinen eigentümlichen Charakter und Wert, ja im Grunde
das höchste Interesse hat, dem alles Andere dienen muss.
Wenn aber die Sage irgendwie zur Geschichtsforschung
beigezogen werden darf, so muss man doch vor Allem die
naheliegende Ansicht abweisen, der Unterschied der Sage
von der Geschichte bestehe darin, dass jene, von je älteren
Zeiten sie rede, auf um so mehr verdunkelter Erinnerung
beruhe und in demselben Maße weniger Glauben verdiene.
Auch dass die Sage den Mangel geschichtlicher Continuität
stellenweise durch rein erdichtete Elemente ausfülle,
welche schon durch den Charakter des Wunderbaren
der Glaubwürdigkeit entbehren, gehört nicht zum Wesen
der Sage. Die Sage ist nicht ein oberflächliches Gemisch
von zweierlei Bestandteilen, die sich leicht von einander
scheiden lassen, sondern die Mischung von Dichtung und
Wahrheit, die sie allerdings enthält, ist eine durchgängige;
auch was sie Wahres enthält, ist lauter Mittelbares, gleich-
sam nur Spiegelbild, einfacher oder mehrfacher Keflex von
Facten, die wir entweder sonst gar nicht kennen oder in
positiven Geschichtsquellen anders dargestellt finden. Wenn
es erlaubt ist, die Sagenwelt mit einem Gebiete der Na-
tur zu vergleichen, so lässt sich etwa sagen: Die Sage ist
weder krystallinisches Urgestein, noch bloß aufgeschwemm-
tes Geschiebe, sondern metamorphisches Gestein d. h.
eine allmählich eingetretene und fortgeschrittene Umbil-
dung eines irgendwie beschaffenen Grundstocks durch Ein-
dringen anderer Stoffe. Der Horizont unserer Kunde von
vergangenen Zeiten ist auch nicht etwa unter dem Bilde
concentrischer Kreise vorzustellen, von denen der innerste
15*
228
Tobler.
der unserer Gegenwart nächste Umkreis vollständigen
historischen Lichtes wäre, die äußern successive Abstufun-
gen der nach außen zunehmenden Dämmerung, mit der die
Sage die Ereignisse älterer und ältester Zeit umwoben
hätte. Sage und Geschichte liegen überhaupt nicht auf
einer Ebene, so dass die eine die Fortsetzung der andern
sein oder in dieselbe allmählich übergehen könnte: sie sind
qualitativ, nicht bloß quantitativ (nach Zeiträumen und
nach Graden der Gewissheit) verschieden. Dies ergibt
sich schon daraus, dass Sagenbildung noch weit in Zeiten
hineinreicht, welche längst von Strahlen historischer Ge-
wissheit erhellt sind, sowie umgekehrt einzelne positive
Daten in eine Zeit hinaufreichen, die im Uebrigen noch
vom Nebel der Sage umhüllt ist.
Grundlage aller Geschichte ist Chronologie; die Sage
aber kennt keinerlei Zeitrechnung, sondern nur überhaupt
ein Nacheinander, so weit es zum Begriffe des Geschehens
und causalen Zusammenhangs gehört. Sie spricht aller-
dings am meisten von der ältern und ältesten Zeit, aber
sie folgt auch dem Verlauf der spätern Geschichte und
nimmt aus jedem Zeitraum Einzelnes auf, jedoch ohne Be-
wusstsein der Zeitfolge als solcher und nur so viel, als
sich mit ihrem bereits mitgebrachten Stoffe assimiliren
lässt, was nie ohne teilweise Entstellung und Umbildung
gesehen kann. Die Masse des Stoffes wächst natürlich
durch immer neue Ansätze, wie bei einer Lawine, die aus
dem höchsten Gebirge zu Tale ¿:011t, aber unterwegs wird
auch Manches abgestreift oder ausgestoßen, und es wächst
auch der unhistorische Charakter des Stoffes, weil jeder
neu hinzukommende Niederschlag einer späteren Zeit sich
mit um so viel mehr heterogenen Schichten früherer Zei-
ten verschmelzen muss. Die Sage wird also, entgegen der
Erwartung und gewöhnlichen Ansicht, um so unhistorischer,
je mehr sie sich der historischen Zeit nähert. Sie kommt
dann mit ihrer unterdessen herangewachsenen Schwester,
der Geschichtschreibung, ins Gedränge, so dass an diesem
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc. 229
Widerstand ihr Fluss ins Stocken gerät und ihre Gebilde
durch ihre eigene Schwere zerfallen oder durch die Ein-
flüsse der Bildung verwittern. — Gewisse allen Zeiten ge-
meinsame Erscheinungen haben formgebend, vermittelnd
und ausgleichend auf die Masse der Sage eingewirkt; aus
Widerholung von Grundzügen und Motiven jener Art, ähn-
lich Variationen einer Melodie mit veränderter harmoni-
scher und rhythmischer Ausgestaltung, erklärt sich z. B.
die Häufung vieler sagenhafter Züge auf den Namen eines
Helden, wie Alexander, Theodorich, Karl der Große, und
umgekehrt die Widerholung eines bedeutsamen und belieb-
ten Zuges an sehr verschiedenen Personen, eine Er-
scheinung, welche der Mythus und das Märchen noch in
höherem Grade zeigen.
Wir wollen nun das bisher über das Verhältnis von
Sage und Geschichte Gesagte auf gewisse Völker anwen-
den, welche in merkwürdiger Weise zwischen geschicht-
lichem und sagenhaftem oder gar mythischem Charakter
schwanken. In der Tat gibt es auch Völker von geradezu
mythischem Charakter; denn da das Wesen aller Mythen-
bildung darin besteht, dass Naturerscheinungen irgendwie
als Taten oder Leiden seelischer Objecte aufgefasst wer-
den, und da ein Volk, je höher im Altertum um so. mehr,
als eine seelische Einheit gedacht werden kann, so konnte
die Mythologie nicht nur individuelle, sondern auch col-
lective Subjecte als Träger oder Vertreter gewisser Na-
turerscheinungen auffassen, besonders solcher, für deren
Auffassung eine zusammengehörige Vielheit gleicharti-
gerer Subjecte sich sogar besser eignete als ein einzelnes-;
dahin gehören gewisse Wirkungen der Elemente, welche
mehr continuirlichen als momentanen Charakter tragen.
Natürlich wurden solche mythische Völker der Zahl ihrer
Angehörigen nach ungefähr so klein gedacht wie die mensch-
lichen Völker der ältesten Zeit gewesen sein müssen.
Wenn ihnen keine Naturerscheinungen zu Grunde lagen,
so konnte die geschäftige Phantasie, nur um in ihrem geo-
230
Tobler.
graphischen Bilde von der Welt keine Räume leer zu
lassen, fern und dunkel vorgestellte Gegenden mit men-
schenähnlichen Wesen "bevölkern.
Wenn nun zunächst einige Beispiele von halb oder
ganz mythischen Völkern, die schon aus Homer hinlänglich
bekannt sind, nur kurz in Erinnerung gebracht werden, so
geht dies allerdings über das Gebiet des Sagenhaften hin-
aus; aber jene Völker sind eben, wie so vieles Mythischer
auch in die Heldensage übergegangen, dabei mehr oder
weniger bestimmt auf der Erde localisirt und später zum
Teil auch mit wirklichen Völkern vermengt worden; sie
konnten ja auch einzelne Züge mit solchen wirklich gemein
haben, und gerade diese Möglichkeit ist von besonderem
Interesse für unsern Hauptgegenstand.
Die Kyklopen mögen nach der Etymologie ihres
Namens ursprünglich Beziehung auf die Sonne gehabt
haben; später haben sie andere Bedeutung angenommen.
Bei Hesiod1 erscheinen ihrer bloß drei, welche dem Zeus
die Donnerkeile schmieden, mit denen er die Titanen be-
kämpft; Homer aber schildert sie als eine Art Volk, we-
nigstens nicht ohne gesellige Berührung mit einander, ob-
wohl sie einsam wohnen, wie die Riesen der Germanen,
da der Einzelne mit seiner Kraft sich eher genügen konnte
als Zwerge, welche aus dem entgegengesetzten Grund
immer als Volk vereinigt erscheinen. Eine dritte Auf-
fassung der Kyklopen, welche sie am meisten einem mensch-
lichen Volke annähert, liegt in der Sage, dass die colos-
salen alten Mauerwerke, welche sich in mehreren griechi-
schen Landschaften vorfanden, von ihnen herrührten, wie
auf nordeuropäischem Gebiet ähnliche Bauten den Riesen,
resp. riesenhaften Vorfahren der spätem Völker, zuge-
schrieben wurden.2
1 Theog. 140.
2 Angelsächsisch enta geweorc und Aehnlicher; J. Grimm,,
Myth. 3, 156 und unten.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc.
231
Zunächst an die Kyklopen schließen sich bei Homer
die Las try g on en1 wegen ihrer riesenhaften, den Gigan-
ten ähnlichen Größe und ihrer Menschenfresserei, während
sie von den Kyklopen durch städtisches Leben sich unter-
scheiden, welches freilich mit keiner weitern Cultur ver-
bunden erscheint. Solche findet sich dagegen in hohem
Grade bei den P h ä a k e n, welche sich selbst wegen ihres
Verkehrs mit den Göttern den Kyklopen und Giganten
ähnlich finden,2 von denen sie sonst durch ihre Menschen-
ähnlichkeit weit abstehen. Die Insel der Phäaken aufzu-
suchen ist freilich ein eitles Unternehmen; ihre ursprüng-
liche Heimat war ja Hypereia d. h. Oberland, und ihre
wunderbaren selbststeuernden Schiffe fuhren auch von Selle-
ria aus „in Nebel gehüllt" d. h. es sind WolkenschifFe und
sie selbst ein Volk seliger Geister.3
An die Kyklopen schließen sich wegen ihrer Einäugig-
keit die von Herodot4 erwähnten Arimaspen, im äußer-
sten Norden wohnend und mit den Greifen kämpfend,
welche das dort häufige Gold hüten. Die von Herodot
selbst bezweifelte Einäugigkeit dieser Leute, welche auch
in ihrem Namen liegen soll, hat man auf Grubenlichter
von Bergleuten bezogen. Aehnlich kämpfen nach Homer5
die Pygmäen (faustgroße Zwerge) an den Fluten des
Okeanos mit den Kranichen.6 Nach späteren Berichten
werden Pygmäen an mehreren Orten gefunden, besonders
aber in Afrika, wo noch später zwerghafte Völker gefun-
den werden (s. unten). Dagegen mag beiläufig der Unter-
schied bemerkt werden, dass die griechische Mythologie
1 Odyss. 10, 81 ff. 120.
2 Odyss. 7, 206.
3 Odyss. 8, 55 ff. Ueber die Phäaken s. Gerland, Altgriech.
Märchen, S. 11—19.
4 3, 116. 4, 27. Aeschylos Prom. 804 setzt sie in den Süden.
5 Ilias 3, 6.
6 Nach Aristot. hist. anim. 8, 12 sind der Gegenstand des
Streites die Saaten.
232
Tobler.
die Vorstellung1 von zwerghaften Wesen weit weniger aus-
gebildet hat als die germanische, und weniger als die von
Riesen, wahrscheinlich weil die mit der Kleinheit sich leicht
verbindende Missgestalt den plastischen Sinn der Griechen
weniger anzog. Die Daktylen und die ihnen nahe stehen-
den Kabiren und Teichinen haben mit den germanischen
Zwergen die Kunstfertigkeit in Metallarbeit gemein, er-
scheinen aber nicht als Volk, und ihre Hauptsitze, der
Berg Ida, die Inseln Samothrake und Kreta, weisen über
das engere hellenische Gebiet hinaus nach Vorderasien.
Dort ist auch die Heimat der vielbestrittenen Amazonen,
welche in der Reihe der sagenhaften Völker eine bedeu-
tende Stelle einnehmen, aber liier nicht ausführlich behan-
delt werden können. Dass die Idee eines kriegerischen
Frauenvolkes der Plastik und Poesie der Griechen frucht-
bare Motive darbot, ist einleuchtend; sie beruhte aber ohne
Zweifel auf dem tatsächlichen Bestand gynäkokratischer
Einrichtungen bei einigen Völkern Kleinasiens. Auch in
anderen Ländern bestanden und bestehen zum Teil noch
jetzt ähnliche Einrichtungen. So fand Livingstone in Afrika
mehrere Frauenreiche. In dem Negerstaat von Dahomeli
herscht ein König, der eine Leibgarde von 8000 sehr krie-
gerischen Weibern hält.
Der Amazonenstrom von Südamerika hat seinen Na-
men nicht aus grundloser Uebertragung der alten Sage
auf jenen Teil der neuen Welt empfangen, sondern von
dort vorgefundenen Zuständen (s. Ausland 1871, S. 1214).
Im Norden Europas bietet die von römischen Geschicht-
schreibern bezeugte Tatsache, dass Frauen im Kriege nicht
nur als Prophetinnen, sondern bewaffnet mitwirkten,1 nur
eine scheinbare Parallele, denn es handelt sich dort nur
um Ausnahmen und Notfälle, nicht um feststehende förm-
liche Gleichberechtigung oder gar Ueberordnung und Allein-
herschaft des weiblichen Geschlechts; Vergleichung der
1 Einige Zeugnisse s. Paul und Braune, Beiträge 12, 225.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc. 233
antiken Amazonen mit den Walküren muss schon darum
fernbleiben, weil die letztern nie als Volk auftreten, auch
etwas Uebermenscliliches an sich haben. Wenn Tacitus
im Capitel 45 seiner Germania von den nördlich an die
Schweden grenzenden Sitonen berichtet, sie stehen unter
weiblicher Herschaft, so muss ihm wol eine falsche Deu-
tung des Namens der dort wohnenden Finnen zu Ohren
gekommen sein, wonach man das fremde Wort kaina
mit dem germanischen kwêna, Weib (englisch queen, jetzt
nur noch als Bezeichnung der Königin gebräuchlich) ver-
mengte.1 Aber noch Paulus Diakonus (1, 15) spricht von
Amazonen in intimis Germaniae finibus, mit denen
einst die Langobarden in ihren früheren Wohnsitzen ge-
kämpft haben, und Adam von Bremen (4, 14) von einer
terra feminarum, die er den antiken Amazonen gleich-
stellt, während der König Alfred in seinem Reisebericht
zwar ein Mägdhaland und ein Cwenaland erwähnt,
aber ohne diese Namen weiter zu deuten.
Als Heimat der Amazonen wird auch Aethiopien ge-
nannt; aber die homerischen Aethiopen sind wider ein
mythisches Volk von glückseligen Geistern, ähnlich den
Phäaken, in nächster Beziehung zum Cultus der Sonne
stehend, den Göttern vertraut und von ihnen mit langem
Leben begnadet.2 Das spätere historische Volk der Aethio-
pier3 hat mit dem mythischen nur noch die Zweiteilung
in eine östliche und westliche Hälfte gemein, welche letz-
tere am obern Nil den Namen bewahrt hat. Bäumlich ent-
gegengesetzt, aber innerlich entsprechend den Aethiopen
finden wir die Hyperboräer. Pindar4 beschreibt sie als
ein unzugängliches Wundervolk, Verehrer des Apollo, frohe
1 Grimm, Gesch. der Sprache, 3, Ausg. S. 517. — Müllenhoff,
Altertumskunde, 2, 10 ff.
2 Od. 1, 23. II. 1, 423.
3 Herod. 3, 19 ff. 7, 70.
4 Pyth. 10, 55 ff.
234
Tobler.
Feste feiernd, ohne Kampf, Krankheit und Alter. Ihr
im hohen Norden gelegener Wohnsitz deutet nach der im
Altertum verbreiteten Vorstellung- auf Nähe der Götter.
Wenn Herodot1 bemerkt, den Hyperboräern sollten Hyper-
notier entsprechen, so könnten diese eben die später vor-
hersehend nach Süden versetzten Aethioper sein; denn
auch die Hyperboräer werden später (von Plinius,2 frei-
lich nicht ganz zuversichtlich) als wirkliches Volk erwähnt.
Aehnlich verhält es sich mit den Kimmeriern, welche nach
der Odyssee3 im äußersten Westen in steter Finsternis
wohnen, nach Herodot4 als historisches Volk am mäoti-
schen See, von wo sie durch die Skythen vertrieben nach
Kleinasien einfallen. Die beiden Angaben können kaum
dasselbe Volk meinen, aber auch weit entlegene Länder
tragen zuweilen denselben Namen, z. B. Iberien und Alba-
nien finden sich auch im Kaukasus.
Den ursprünglich mythischen Charakter der Phle-
gyer hat Kuhn nachgewiesen.5 Während die ihnen im
Namen entsprechenden alt-indischen Bhrigus ursprünglich
Geister des himmlischen Feuers, später ein altes Priester-
geschlecht bezeichnen, erscheinen die Phlegyer bei Homerr>
als ein übermütiges Geschlecht, das sich um die Götter
nicht kümmert; in historischer Zeit sind sie ein wildes
Volk, das aus Thessalien oder Thrakien nach Phokis ge-
drungen sein soll. Die Kerkopen sollen in Kleinasien
von Herakles besiegt worden sein, aber auch an den Ther-
mopylen gewohnt haben. Sie werden als neckische und
tückische Berggeister dargestellt und ihr Name deutet auf
halb tierische Gestalt. (Vergi. Preller, Griech. Myth. 21, 160.)
1 4, 36.
2 4, 26.
3 11, 14.
4 1, 15. 4, 11-13.
5 Herabkunft des Feuers. 1. Aufl. S. 19 if.
6 Hymn. Apoll. 278 ff.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc. 235
Der Name der von Kuhn 1 den griechischen Kentanren
gleichgestellten alt-indischen Gandharven könnte sich in
dem der Gandaren, eines indo-persischen Volkes erhalten
haben. Ueber die Lapithen als wildes Bergvolk s. Prel-
ler a. a. 0. 2, 10—15.
Wir kommen nun za einer zweiten Gruppe von Völ-
kern, nämlich solchen, die keinen erkennbaren mythischen
Hintergrund haben, sondern zur Ausfüllung des geographi-
schen Weltbildes oder als naturhistorische Merkwürdigkeit
von den Schriftstellern der Griechen und Römer erwähnt
werden, zunächst meistens von Herodot. Ein durchgehen-
der Unterschied gegenüber der ersten Gruppe lässt sich
aber nicht aufstellen, wie schon dort bemerkt wurde, weil
mythische Völker einzelne Züge von sagenhaften oder wirk-
lichen an sich haben oder annehmen konnten. So ist z. B.
bei dem oben erwähnten Volke der Lästrygonen die riesen-
hafte Größe ohne Zweifel mythisch, aber die ihnen zuge-
geschriebene Menschenfresserei kommt ja bei Naturvölkern
noch heute vor und war ohne Zweifel früher weiter ver-
breitet, wie auch die Menschenopfer. Wenn der Dichter
beifügt, es könne bei jenem Volke ein des Abends eintrei-
bender Hirte den am Morgen austreibenden anrufen, „weil
die Pfade der Nacht und des Tages einander dort nahe
liegen", so scheint dies, so wie die Finsternis der Kim-
merier, auf Kunde von Völkern des höheren Nordens zu
deuten, welche etwa durch phönikische Seefahrer vermit-
telt war. Jedenfalls muss auch hier unser Hauptinteresse
darauf gerichtet sein, die sagenhaften Nachrichten der
Alten womöglich mit neueren ethnographischen Beobach-
tungen wirklicher Zustände in Verbindung zu bringen.
Schon von Homer2 erwähnt werden die Lotophagen.
Dass die Lotospfianze ihre einzige Nahrung war, mag als
Uebertreibung gelten, stimmt übrigens zu dem ihnen vom
1 Zeitschr. f. vgl. Sprachforsch. 1, 514 fi.
2 Odyss. 9, 48 ff.
236
Tobler.
Dichter beigelegten friedlichen Charakter. Sie wohnen nach
Herodot1 neben anderen Völkern Libyens, deren Dasein
nicht zu bezweifeln ist, obwol einzelne Angaben über ihre
Sitten auf mangelhafter Kunde und teilweise auf phanta-
stischer Ergänzung und Uebertreibung beruhen mögen.
Zu jenen Nachbarn gehören dietroglodytischen (höhlen-
bewohnenden) Aethiopen, welchen mehr tierische als mensch-
liche Lebensweise zugeschrieben wird,2 indem sie z. B.
Schlangen und Eidechsen essen, ihre Sprache dem Schwir-
ren von Fledermäusen verglichen wird. Was den Genuss
von sonst als unessbar und ekelhaft geltenden Tieren be-
trifft, lauten die Berichte neuerer Ethnographen über ein-
zelne Völker von Australien, Südamerika und Afrika keines-
wegs günstiger.3 Hin wider entsprechen die von Homer4
genannten Hippomolgen (Rossmelker) den noch heute Pferde-
milch trinkenden mongolischen Nomaden Völkern Mittelasiens,
deren Sitte aber auch einigen von arischem Stamme gemein
war.5 Die von Herodot6 geschilderten Argippäer, im
Gebirge über Shythien hinaus wohnend, sind den afrika-
nischen Lotophagen darin ähnlich, dass sie von Pflanzen-
nahrung (dem Saft einer bohnenartigen Baumfrucht) leben,
woher wahrscheinlich auch wider der friedfertige Charak-
ter rührt, der sie zu Schiedsrichtern ihrer Nachbarn und
ihr Land zum einem Asyl macht. Ihr Name könnte auf
Zucht oder Verehrung weißer Rosse deuten, die bei den
Persern vorkommt, und sie könnten ein priesterliches Ge-
schlecht gewesen sein; aber ihre Friedfertigkeit könnte
auch nur „heilige Einfalt" bedeuten und ihrer geistigen
Eigenschaft stehen körperliche gegenüber, die auf eine
niedrige Rasse weisen: Kahlheit, stumpfe Nasen, großes
1 4, 177.
2 A. a. 0. 183.
3 Peschel, Völkerkunde. 2. Aufl. S. 163.
4 II. 13, 5.
5 Vgl. Heiin, Kulturpflanzen und Haustiere. 2. Aufl. S. 21. 47.
6 4, 23.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc.
237
Kinn. Dass diese Leute unter Bäumen leben, welche sie
im Winter mit Filz überziehen, erinnert an die weiter
unten anzuführende Beschreibung der Finnen bei Tacitus.
In jenen skythischen Gegenden erwähnt Herodot1 auch
noch die Androphagen, aber als ein äußerst wildes No-
madenvolk. Von der Menschenfresserei, die ihr Name ver-
rät, gilt das oben bei den Lästrygonen Gesagte. Da aber
die Sitte (über deren Verbreitung in der heutigen Völker-
weit Pescheis Völkerkunde S. 165 if. Auskunft gibt) sonst
gerade in den nördlichen Gegenden nicht vorkommt, so
kann die Angabe Herodots eine Uebertreibung von kriege-
rischer Blutgier und Grausamkeit sein oder etwa eine
Missdeutung der bei Skythen und Germanen bezeugten
Sitte des Trinkens aus der Hirnschale erlegter Feinde.
Die von Herodot2 selbst bezweifelte Angabe, dass von dem
benachbarten Volke der Neurer jeder alljährlich einige
Tage sich in einen Wolf verwandle, entspricht dem auch
von den Germanen lange gehegten Glauben an Wer wölfe,
dem sich die bei Slaven und Neugriechen fortlebende Vor-
stellung von Vampyren anschließt. Uebergänge aus mensch-
licher Gestalt in tierische oder anderweitige Abnormitäten
der ersteren erscheinen in manchen Angaben der alten
Geschichtschreiber und Geographen und können teilweise
in Missverständnis oder Uebertreibung wirklicher Züge von
Naturvölkern, auch schon in Missdeutung fremdsprachlicher
Namen, ihren Grund haben. Wenn Herodot3 erklärt, er
könne nicht glauben, dass nördlich von den Argippäern
Menschen mit Ziegenfüßen wohnen, so werden wir ihm
wol beistimmen und eher etwa an Dämonen denken, die
man, in halb tierischer Gestalt nach Art der Satyrn vor-
gestellt, an die Grenze der Menschenwelt, in Wildnis oder
Wüste versetzte; denn in solche Gegenden, oder in den
1 4, 106.
2 4, 105.
3 4, 35.
238
Tobler.
fernsten Süd, Nord oder Ost, besonders nach Indien, wei-
sen die meisten Angaben antiker und auch noch mittel-
alterlicher 1 Schriftsteller über vorkommende Abnormitäten
der Menschengestalt oder seltsame Sitten. Eine reiche
Auswahl, oder vielleicht eine ziemlich vollständige Samm-
lung solcher Angaben, meist aus griechischen Quellen, gibt
Plinius (im 7. Buch, Cap. 2 seiner Naturgeschichte). Wenn
er dort unter Anderm von Menschen spricht, die nur ein
Bein haben, so ist diese Angabe vielleicht zu verbinden
mit der nicht weit davon stehenden betreifend die indischen
Gymnosophisten, welche den ganzen Tag, abwechselnd
auf einem Bein stehend, in die Sonne blicken. Die hunds-
köpfigen Menschen, die er anführt, aber einmal auch ge-
radezu Tiere (animalia) nennt, sind wol von den Affen
(Pavianen) abstrahirt, die noch heute „Hundsköpfe" heißen.
Wenn Herodot (am zuletzt angeführten Ort) noch
stärker bezweifelt, dass weiter nördlich es auch Solche
gebe, die einen sechsmonatlichen Winterschlaf halten, so
mag das von Tieren auf Menschen übertragen sein, aber
doch auch von der Lebensweise dortiger Völker einigen
Sinn haben. Der viel spätere und noch kritischere Taci-
tus sagt am Schluss seiner Germania, er wolle dahin ge-
stellt sein lassen, ob die nördlich von den Finnen lebenden
Hellusier und Oxionen menschliche Gesichter, aber tie-
rische Leiber und Glieder haben, was ohne Zweifel auf
Pelzkleidung nach Art der Eskimos zu beziehen ist, aus
der nur die Gesichter hervorschauen. Aehnlich wird die
Nachricht der Alten von Panotiern (Ganzohren, d. h.
deren Ohren den ganzen Körper bedecken) auf eine Art
von Kapuzen gedeutet, dergleichen die Anwohner nordischer
Meere tragen mochten.2 Eben solche Leute soll aber nach
deutscher Sage des Mittelalters der Herzog Ernst im fer-
nen Osten gefunden haben, als er auf seinen Irrfahrten
1 Z. B. Adam vou Bremen 4, 25, 19.
2 W. Scherer, Vorträge und Aufsätze, S. 50.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc.
239
dieselben Gegenden berührte wie einst Alexander der
Große auf seinem Zuge nach Indien.1 Die Nachricht von
Menschen mit breit herunterhangenden Ohren stammt aus
einer Angabe des Ktesias, welcher um das Jahr 400
y. Chr. am persischen Hofe lebte und ein Buch über In-
dien schrieb. In dem indischen Epos Ramayana werden
großöhrige Völker als im fernen Südosten wohnend er-
wähnt. Schreiten wir dieser Spur folgend aus Hinter-
indien nach den von Malayen bewohnten Inseln hinüber,
deren Bevölkerung auf jenem Weg eingewandert ist, so
finden wir dort noch heute, nur nicht mehr so verbreitet,
wie sie im 17. Jahrhundert von den ersten Entdeckern
gefunden wurde, die Sitte die Ohrlappen zu durchlöchern
und durch hineingesteckte Gegenstände so zu erweitern,
dass sie bis auf die Schultern herabhangen und sich auf
dem Rücken berühren.2
Diese Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass
hinter manchen Angaben der Alten, so unglaublich sie
lauten, etwas mehr als eitle Fabelei stecken kann. Dass
die Nachrichten der Alten über abnorme Menschenbildun-
gen in die Kosmographien der deutschen Humanisten und
aus diesen in die bildende Kunst übergingen, hat Prof.
Rahn an Beispielen aus der Schweiz gezeigt.3
Abgesehen von solchen halb fabelhaften Abnormitäten
der Gestalt, welche ja auch nicht ausdrücklich ganzen
1 Dieselben Berichte über die Wunder des Orients wie in der
Dichtung von Herzog Ernst finden sich in der späteren von Rein-
fried von Braunschweig und zum Teil auch in der Weltchronik des
Rudolf von Ems. s. Bächtold, Geschichte d. deutsch. Litt, in der
Schweiz, S. 113. 116. Anm. S. 34. Noch im 15. Jalirh. Aehnliches
in der „Möbrin" des Hermann von Sachsenheim, Ausgabe von Mar-
tin, S. 26.
2 Gerland in der Zeitschr. f. Völkerpsych. Bd. 5, S. 266.
3 Zürcher Taschonbuch 1879 S. 156 (Deckenbilder in der Zunft-
stube der Schmiede). — Geschichte der bild. Kunst in der Schweiz
(Bilder in der Rosette der Kathedrale von Lausanne).
240
Tobler.
Völkern zugeschrieben werden, finden wir sichere Zeug-
nisse genug, dass die Zustände alter Völker dem Tierleben
nahe kamen und dass auch fortgeschrittene Nachkommen
derselben sich jener Verwantschaft nicht schämen. Dem
Volke der Finnen, das wahrscheinlich in Mitteleuropa ge-
wohnt hat, bis es durch die Einwanderung der Indoger-
manen in den Nordosten zurückgedrängt wurde, schreibt
Tacitus1 „mira feritas, foeda paupertas" zu: „Sie essen
Gras (herba, vielleicht nur einzelne Kräuter), schlafen auf
dem Erdboden; wärend die Frauen mit den Männern auf
die Jagd gehen, verkriechen sich Kinder und Greise in
das Geäst der Bäume." Diese Angaben stimmen mit
denen des Herodot über die Völker von Libyen überein,
und stehen nicht weit von dem Glauben nordamerikani-
scher Indianer an Abstammung ihres Volkes von wilden
Tieren, von dem Glauben eines Teiles der Bewohner von
Madagaskar an Abstammung von Affen und ähnlichen Vor-
stellungen anderer Völker.2 Was also die neuere Zoologie
von tierähnlichen Anfängen des menschlichen Daseins lehrt,
ist dem Bewusstsein oder wenigstens der Ahnung von Na-
turvölkern nicht fremd. Griechen und Germanen haben
freilich ihren Ursprung auf einen andern Boden gestellt.
Der begreifliche Trieb nationalen Stolzes, den Ursprung
des eigenen Volkes möglichst weit bis an den Auf au g der
Dinge hinaufzurücken, dasselbe als ein centrales, als älteste
und eigentlich allein vollbürtige Menschheit darzustellen,
erzeugte zunächst den Anspruch auf Autochthonie, welcher
mit den Theorien moderner Wissenschaft von successiver
Einwanderung der meisten Völker in ihre späteren Wohn-
sitze so sehr in Widerspruch steht. Bei der Annahme von
Autochthonie hätte man die Menschen aus Steinen und
Bäumen entstehen lassen können, wie es griechische und
1 Germania 46.
2 Bastian in der Zoitschr. f. Völkerpsycli. Bd. 5 S. 158 ff. 310.
Sogar das Ramayana spricht vom Verkelir der Menschen mit Affen
als ihren Vorfahren.
Uebei* sagenhafte Völker des Altertums etc.
241
germanische Sagen andeuten;1 aber die Anthropogonie
wurde meist mit Kosmogonie und Theogonie verbunden
und so auch die Ethnogonie mitten in die Mythologie
hinein gerückt. Wenn das nationale Volkstum mit über-
menschlichen Wesen in Verbindung gebracht werden sollte,
konnte freilich nicht ohne Weiteres ein mythisches Urvolk
angenommen werden, sondern an die Stelle eines solchen
mussten einzelne Geschlechter oder Helden treten, die ganz
oder teilweise von Göttern abstammten. Aus jenen lässt
dann die Sage zunächst Volksstämme erwachsen, welche
mit einander kämpfen, bis aus ihrer Vermischung die
Grundlage des historischen Volkes hergestellt ist.
Sollte irgend ein mythisches Volk als Grundlage
eines wirklichen angesehen werden, so könnte es wol nur
ein Volk yon Riesen oder Zwergen sein; denn diese
stehen trotz ihres Abstandes vom Mittelmaß des Menschen
diesem am nächsten. Dass der Glaube an Riesen und
Zwerge auf der Anschauung ungewöhnlich großer und klei-
ner Menschen resp. auf der Erinnerung an solche be-
ruhe, wird Niemand behaupten; er ist eine freie Schöpfung
der mythologischen Phantasie, konnte aber, nachdem er
einmal entstanden war, durch wirkliche Anschauungen von
jener Art genährt und länger erhalten werden, als er sonst
gedauert hätte. Abstammung der Menschen von Riesen
oder Zwergen finden wir nun zwar nirgends angenommen,2
weil man sich eines specifischen Unterschiedes dieser, so-
wie anderer Mittelwesen, von dem Menschen immer bewusst
blieb, und zwar nicht nur in Hinsicht auf die leibliche
1 Hierher gehört die Redensart : oùx ànò Spuoç oùS' àr.b r.¿ipr¡g,
Odyss. 19, 163, zur Bezeichnung nachweisbarer Herkunft eines Men-
schen. Nach Hesiod op. et dies 129 stammte das dritte Menschen-
geschlecht aus Eschen, wie nach der nordischen Edda der erste
Mensch Askr hieß und noch ein später Volksreim die sächsischen
Mädchen auf den Bäumen wachsen lässt.
2 Nach 1. Mos. 6, 4 waren aus der Verbindung der „Söhne
Gottes" mit den Töchtern der Menschen Riesen erwachsen.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 3. 16
242
Tobler.
Gestalt, sondern auch auf die gesellschaftliche Form des
Lebens. Aber Spuren davon, dass wenigstens in der spä-
teren Sage Erinnerungen an vorhistorische Völker, und
auch Vorstellungen vom Ursprung historischer, gelegent-
lich mit den noch fortlebenden Sagen von Eiesen und
Zwergen zusammenflössen, finden wir auf dem Boden des
mittleren und nördlichen Europa da und dort; auch in
Vorderasien.1 Dass dabei Riesen häufiger vorkommen als
Zwerge, erklärt sich leicht ; denn auch im heutigen Sprach-
gebrauch ragt „ein Riese", von einem ungewöhnlich großen
Menschen gesagt, über das gewöhnliche Maß weniger hin-
aus als „ein Zwerg", von einem auffallend kleinen Men-
schen gesagt, unter jenem Maß zurückbleibt. Es lag also
in der Annahme von Abstammung eines Volkes aus riesi-
schem Geschlecht keine gar zu unehrenvolle Abnahme an
Körpergröße, während umgekehrt die mit „Zwerg" ver-
bundene Vorstellung von krüppelhafter, verkümmerter Ge-
stalt die Möglichkeit einer Zunahme, resp. einer Abstam-
mung der Menschen von Zwergen, auszuschließen schien.
Die vielbesprochene Frage, ob die Menschheit im Ganzen
oder ein einzelnes Volk seit ältester Zeit an Leibesgröße
ab- oder zugenommen habe, müssen wir den Anthropologen
überlassen; dagegen dürfen wir nie vergessen, dass die
fraglichen Begriffe Riese und Zwerg, wie alle quantitativen,
immer etwas Relatives an sich haben. Im äquatorialen
Afrika gibt es Reste von alten Völkern, welche etwas
Zwerghaftes an sich haben, obwol das durchschnittliche
Maß der Individuen immer noch vier Fuß beträgt, sowie
umgekehrt die Patagonier in Südamerika etwas Riesen-
haftes haben, obwol sie im Durchschnitt nicht über sechs
Fuss messen.2 Eine Folge dieser Relativität der sprach-
lichen Bezeichnungen ist auch, dass einem Volke von etwas
1 Den in Palästina einwandernden Canaanitern traten wilde
Ureinwohner entgegen, die später als Riesen gedacht wurden.
Hehn a. a. 0. S. 19.
2 Im neuen Reich 1879. 2. Hälfte. S. 153 ff.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc.
243
Meiner und schwacher Leibesbeschaffenheit feindliche Nach-
barvölker, welche ihm an Körpergröße und Kraft überlegen
und dadurch gefährlich waren, leicht als „Riesen" erschei-
nen konnten, sowie umgekehrt ein Volk von der letztern
Art auf ein solches von der erstem verächtlich herabsehen
und ihm einen entsprechenden Spottnamen geben, sich selbst
aber der Abstammung von Riesen rühmen mochte. Auf-
fallende Unterschiede dieser Art mussten, wenn sie auch
in Wirklichkeit nichts Wunderbares hatten, in der Erin-
nerung und Sage späterer Zeit übertrieben, jenen Charak-
ter annehmen.
J. Grimm hat in seiner Mythologie einige Namen älte-
rer Völker mit Bezeichnungen von Riesen zusammentref-
fend gefunden; aber die lautliche Identität der betreffen-
den Wörter ist zum Teil zweifelhaft. Ein alter süddeut-
scher Name für Riese war Durs,1 noch erhalten in Orts-
namen wie Tursenried, Tursental, in der Schweiz
vielleicht Durstalden (aus Durs-stalden, dem urkundlichen
Namen des jetzigen zürcherischen Dorfes Dürstelen).
Grimm vergleicht dieses Wort mit der Stammsilbe des
Volksnamens Tyrsener, Tyrrhener, eines Teils der Bewoh-
ner von Etrurien, wobei an die von römischen Geschicht-
schreibern berichtete Rückwanderung eines Teiles der
Etrusker nach Norden (Rätien) gedacht werden müsste.
Eine Glosse erklärt Ambro: devorator, manezo (letzteres
wörtlich übersetzt: Menschenfresser, womit dem altzürche-
rischen Geschlecht der Manesse eine etwas verdächtigt
Abkunft zugeschrieben wird!). Die Riesen erscheinen aller-
dings in deutschen Märchen gelegentlich auch als Menschen-
fresser; die Ambronen aber sind ein historisches, mit den
1 Das Wort bedeutet eigentlich einen Durstigen, wie der
norddeutsche ßiesenname Eten einen Gefräßigen, beide Namen be-
züglich auf die gierige und "Verzehrende Natur der Riesen. Das von
Herodot mehrfach erwähnte Volk der Agathyrsen und die skythi-
schen Thyrsageten dürfen nach dem Lautgesetz nicht hierher ge-
zogen werden.
16*
244
Tobler.
Teutonen auf ihrem Zuge über die Alpen verbundenes
keltisches Volk. — Das mittelhochdeutsche Wort Hiunc
(gesprochen Hüne) bedeutet: Hunne, Ungar, aber auch:
Eiese, und Hünen heißen bekanntlich im spätem Sprach-
gebrauch die als riesenhaft gedachten älteren Bewohner
deutscher und schweizerischer Lande, deren Gebeine und
Geräte, besonders Waffen, in alten Gräbern gefunden wer-
den. — Den Hunnen werden von den Geschichtschreibern
des Mittelalters die später in Ungarn erscheinenden A va-
ren (lateinisch auch Abäri) gleichgesetzt, welche Nestor
Obri nennt. Slavisch obor bedeutet aber Riese und ist
nach Grimm von jenem Volksnamen abstrahirt, also pa-
rallel zu Hunne = Hüne. Wenn der Name Aväri ge-
sprochen wurde, so fiel er mit dem lateinischen Appellativ
aväri, gierige, zusammen und konnte ebenso auf die gierige
Natur der Eiesen wie auf die Raubgier jenes Volkes be-
zogen werden. — Die mit Hunnen, Avaren und Ungarn
stammverwanten Finnen der spätem Zeit heißen bei den
Eussen Tschuden; dasselbe Wort bedeutet aber auch
Eiesen, und die Tschudengräber in Eussland entsprechen
unsern Hünengräbern.1 Jedoch folgt daraus nicht, dass
die Finnen den Slaven als Eiesen erschienen, sondern das
Wort scheint in jener Verbindung den Begriff von „Ur-
einwohner" angenommen zu haben. In der Edda ist Finn
auch Name eines Zwerges, und der in der Sage berühmte
Schmied Wieland mit seinen Brüdern stammt von elfischem
Geschlecht, heißt aber auch Sohn eines Finnenkönigs, und
die mit den Finnen nächstverwandten Lappen erscheinen
in Sagen mit dem Charakter von Zwergen (s. unten). Ein
altdeutscher Name für Eiese war noch Ent; er findet sich
sich in dieser Gestalt bei den Angelsachsen, mit verscho-
benem Auslaut vielleicht im bairischen Dialect, wo enz-
1 Dass der Name Skythen = Tschuden sei, bestreitet Grimm
(Gesch. d. Spr. 153) gegenüber Schafarik schon aus lautlichen Grün-
den: aber seine eigene Deutung des Namens (entsprechend dem
germanischen shiutan, schießen) stimmt ebenfalls nicht zum Lautgesetz.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc.
245
^als erster Teil von Zusammensetzungen etwas Großes, Un-
geheures bezeichnet und das Adjectiv enzerisch dieselbe
Bedeutung hat; in der Schweiz erscheint Enzi- in Namen
von Bergen und Berggeistern; daneben allerdings auch
Entibühl als Name eines Hügels, wo alte Gräber gefun-
den wurden; vergi. Grimm, Wörterb., enterisch. Zusam-
menhang dieses Wortes mit Antes, dem alten Namen eines
Teiles der sia vischen Völker, wird von Grimm nur frage-
weise berührt, dagegen angenommen von Schafarik.1 Jor-
danes2 nennt die Antes „fortissimiwas zu riesenhaftem
Wesen stimmen würde. Ob das Wort ursprünglich slavi-
scher Eigenname gewesen und bei den Germanen appella-
tiv geworden, oder ob umgekehrter Hergang anzunehmen
sei, mag zweifelhaft bleiben;3 sicher aber ist, dass die Vor-
posten der Slaven seit alter Zeit mit den Germanen nahe
zusammen wohnten und noch später weit nach Deutsch-
land hinein reichten. — Das Letztere gilt von dem slavi-
sclien Volke der Wilzen, lateinisch Wilzi und Wilti, in
älterer Form Weletabi, Weleten, an der Elbe sesshaft (von
wo nach Schafarik4 ein Teil derselben [mit den Angeln
und Sachsen?] nach England gezogen sein soll [?]). Neben
Wilzen kommt, später und seltener, auch die Namensform
Wilken vor, welche aus der lateinischen Schreibung
Vilci entstehen konnte, wenn das c derselben als Je gelesen
wurde. Aehnlich schwankt in der altnordischen Tidrik-
sage die Schreibung zwischen Villeinga- und Villzina-menn,
womit dort ein über Skandinavien verbreitetes, aber auch
nach Polen gedrungenes Volk bezeichnet wird, dem das
historische Slavenvolk der Wilzen freilich nicht zur Grund-
1 Slav. Altert. .2, 22 ff.
2 de orig. Get. cap. 5.
3 Das e, mit dem das Wort im Angelsächsischen erscheint,
-erklärt sich als Umlaut von a. Der von Grimm, Myth. 3, 151 bei-
gebrachte Ortsname An&ivar zeugt, wenn er überhaupt hierher ge-
hört, für ursprüngliches a.
4 A. a. 0. 2, 554 ff.
246
Tobler.
läge, wol aber zur Stütze seines Namens gedient haben
wird. Aus dem Geschlechte des Königs Vilcinus stammen
nämlich nach der Sage mehrere Kiesen; man hat daher
auch den Namen (unter der Voraussetzung, dass k der
ursprüngliche Laut sei) mit Wolken (welches alte Singu-
larform ist) und mit englisch welkin, Luft und Himmel, in
Verbindung gebracht, da die deutschen Riesen oft Wetter-
erscheinungen bedeuten. Andrerseits bedeutet das dem
Volksnamen We let entsprechende russische Wolot auch
Riese; in den russischen Volksmärchen wird den Woloten
übernatürliche Kraft zugeschrieben, und die Weißrussen
nennen die in ihrer Gregend vorkommenden alten Grabhügel
Wolotowki oder Wolotki. Man mag nun für die ursprüng-
liche Form des Volksnamens ein t oder ein k, oder man
mag zwei ursprünglich verschiedene, nur zufällig ähnlich
lautende Namen desselben Volkes annehmen, so scheint
die Tatsache zu bestehen, dass Deutsche und Slaven das-
selbe mit Riesen vermengt haben.
Zwischen Riesen und Zwergen halten eine gewisse
Mitte die dem deutschen Volksglauben unter verschiedenen
Namen bekannten Wilden Leute, auf rätoromanischem
Gebiete Fänken genannt. Sie tragen manche Züge einer
Urbevölkerung, die von fortschreitender Cultur ausgeschie-
den oder ausgestoßen, in die Einsamkeit der Berge und
Wälder zurückgewichen ist, doch bisweilen noch als älteste
Inhaberin des Landes angesehen und zu Ehren gezogen
wird, wie das Wildmännchen und Wildweibchen an der
Aelpler Kirchweih in Stans.
Noch deutlicher tritt diese Auffassung bei den Zwer-
gen hervor. Diesen hatte der älteste Glaube eine Fülle
geistiger Kräfte zugeschrieben, durch die sie Göttern und
Menschen ebenso wichtig erscheinen mussten wie die Rie-
sen. Aber die spätere Sage kehrt an den Zwergen nur
noch die schwächere Seite hervor: sie sind zwar durch
ihre Unscheinbarkeit und teilweise Unsichtbarkeit vor
raschem Untergange geschützt und bewären in der Tat
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc. 247
eine zähe Lebenskraft, aber sic h er m Untergang sind sie
dennoch geweiht. In den Stadien ihres allmählichen Ver-
schwindens zeigen sie auffallende Aehnlickheit mit den-
jenigen Erscheinungen, die wir beim Untergang eines
wirklichen Volkes teils beobachten können, theils uns
denken müssen. Diese Parallele ist besonders von Roch-
holz1 geistreich und zum Teil schlagend nachgewiesen wor-
den. Sie beruht auf der oben ausgesprochenen Ansicht,
dass die Sage mit dem wirklichen Leben Schritt halte,
ihm gleichsam nachrücke, also Erinnerungen wirklicher
Ereignisse, nachdem sie erblasst sind, mit viel ältern, aber
ähnlichen mythischen Vorstellungen vermische und so ein
Schattenbild geschichtlichen Lebens darstelle.
Gegenüber der yon der antiken Poesie angenommenen
Aufeinanderfolge eines goldenen, silbernen, ehernen und
eisernen Zeitalters hat die neuere Forschung die Perioden
der ältern Culturgeschichte nach den Materialien, welche
zur Verfertigung der Geräte dienten, in ein Stein-, Erz-
und Eisenalter unterschieden, in aufsteigender, nicht ab-
steigender Reihe, und nicht in moralischem, sondern in
technischem Sinne. Seither hat man mannigfache Ueber-
gänge zwischen diesen Stufen gefunden, so dass von einem
ausschließlichen Charakter derselben nicht mehr die Rede
sein kann; doch bleiben die drei Knotenpunkte der Ent-
wicklung im Sinne eines durchschnittlichen Vorwiegens der
drei Stoffe. Die Zwerge nun, gemäß ihrer mythischen
Natur, lassen sich in diese moderne Einteilung mensch-
licher Culturgeschichte nicht einfügen, aber sie begleiten
dieselbe in mittelbarer und zum Teil negativer Weise.
Ursprünglich, und auch noch später da und dort, arbeiten
sie in Edelmetall, sie verfertigen Göttern und Menschen
Geschmeide in Silber und Gold. Aber diese Stoffe finden
sie im Innern der Erde, ihr eigentliches Element ist, wie
das der Riesen, das Gestein; sie heißen ja darum auch
1 In der Argovia Bd. Y, S. 294—316.
248
Tobler.
Erdmännchen, wohnen in Höhlen und gleichen insofern den
Troglodyten des Herodot und den Höhlenmenschen der
neuern Forschung; auch die autochthonen Vorfahren höher
gestiegener Völker sollen, wenn nicht aus Bäumen, aus
Steinen hervorgegangen sein, wie nordamerikanische In-
dianer es von den ihrigen behaupten und wie kleine Kin-
der noch heute bei uns aus dem Gestein gewisser Berge
geholt werden. Die Geräte der Urvölker sind, wenn nicht
aus Knochen von Tieren, aus den Knochen der Erde d. h.
eben aus Steinen gefertigt, wie man sie in den ältesten
Fundstätten, auch der Pfahlbauten, ausgegraben hat und
wie sie auch den Zwergen zugeschrieben werden. Wie nun
die Zwerge wegen ihres dunklen Aussehens, das sich aus
ihrem unterirdischen Aufenthalt erklärt, im Norden Schwarz-
elfen genannt wurden, so nannten die Isländer die im
9. Jahrhundert von ihnen entdeckten, eben auch in Erd-
höhlen wohnenden Grönländer blänienn (dunkle Leute).
Der älteste Lebensunterhalt der Menschen durch Jagd
konnte den Zwergen gemäß ihrer leiblichen Beschaifenheit
und ihrer Gebundenheit an Erdwohnung nicht zugeschrie-
ben werden; wol aber konnten sie mit den Menschen zur
Viehzucht fortschreiten, und entsprechend ihrem Aufenthalt
im Gebirge weisen die Alpensagen ihnen die Zucht oder
Obhut der Gemsen zu. Wenn aber das Menschenleben zu
den Anfängen der Landwirtschaft fortschreitet, so vermag
das Volk der Zwerge diesem Fortschritt nicht mehr zu
folgen; es beginnt die Uebermacht des heranwachsenden
Menschengeschlechts zu empfinden und sucht zunächst in
dienender Stellung sich demselben anzubequemen. Die
Zwerge finden als Lohn für ihre Dienstfertigkeit Zuflucht
und Unterkunft bei den Menschen; sie werden geduldet,
zuweilen aber auch zudringlich gefunden und dann ver-
spottet oder verscheucht. In diesen Zügen der Zwerg-
sagen spiegelt sich das Schicksal einer von einem erobern-
den Volke vorgefundenen älteren Bevölkerung des Landes,
welche unterworfen, aber gelitten wird, so lange ein für
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc. 249
beide Teile ersprießliches Einvernehmen möglich bleibt.
Aber der stärkere Teil lässt den schwächern seine Ueber-
mach fühlen oder missbraucht sie geradezu, das unterwor-
fene Volk findet seinen Zustand unerträglich, und da es
nicht mehr auswandern kana, zieht es sich in die Einöden
zurück, wo es allmählich ab- und ausstirbt. Diese Vor-
gänge hangen vielleicht zusammen mit der Verbreitung
des Eisengerätes, nicht bloß zu Waifen, sondern auch zum
Ackerbau, dessen Pflege auch die gesellschaftlichen Zu-
stände vermannigfaltigt und dichtere Bevölkerung möglich
macht, dagegen dem Fortbestand einfachen Naturlebens
wenig Raum mehr gewährt. Das sind die Zeiten, wo die
vereinsamten Zwerge einander in der Wildnis zurufen:
Der König ist todt ! und Rochholz erinnert daran, dass in
der Umgebung desselben aargauischen Dorfes, wo Schädel
eines ausgestorbenen Volkes gefunden worden sind, nach
der Sage die letzten Zwerge verschwunden sein sollen.
In der Ostschweiz und in Vorarlberg heißen die Zwerge
Walser, was sonst der Name jener deutschen Colonisten
ist, die im Mittelalter aus Ober-Wallis nach Rätien ver-
setzt wurden und dort alte Rechte bewahrt, also ein
glücklicheres Schicksal als die Zwerge erfahren haben; sie
leben aber in einigen Tälern so abgesondert und zurück-
gezogen, dass sie dennoch mit den Zwergen verglichen
werden können.
Skandinavische Sagen aus dem Eisenalter lassen die
Lappen als eine Art von Geistern erscheinen, die in den
Bergen wohnten, listig, kunstfertig in Geschmeiden, Hüter
von Schätzen u. s. w., also gleich den Zwergen. Die Lap-
pen selbst glauben aber an ein eben solches Volk, ihnen
selbst ganz ähnlich, nur glücklicher, reich durch Zauber-
künste, daher sie den Beistand dieser Geister, als ihrer
verklärten Vorfahren, zu erlangen suchen.1
Wir haben aber zum Schluss auch aus Deutschland
1 Vgl. Helms, Lappland. Leipzig 1848.
250
Tobler.
ein Beispiel anzuführen, dass noch in neuerer Zeit der
Name und die Tätigkeit eines bestimmten Volkes, oder
wenigstens der Bewohner einer volkreichen Stadt, mit
dem Wesen und Treiben der Zwerge in merkwürdiger
Weise sich verbunden hat. Die betreffenden Volkssagen
erstrecken sich aus der Schweiz und dem Süden von
Deutschland bis nach Thüringen und in den Harz hinein,
und knüpfen sich an den Namen der Venetian er, der
aber in der Sage mit kürzerer und deutscher Endung
meistens die Form Venediger angenommen hat.1 Im
Fichtelgebirg und in Sachsen erscheint statt dessen der
Name Walen d. h. Walchen, Welsche; in der Lausitz er-
zählt man von Fensmänneln, in Oesterreich von Fe-
nesleuten, welche Benennungen vielleicht eher auf den
aus der Tannhäusersage bekannten Venusberg, in dem auch
Zwerge hausen, als auf Venetien zu beziehen sind. Die
Venediger erscheinen vorzugsweise in Gegenden, wo Berg-
bau betrieben wird oder wurde, und sie selbst treten als
Bergleute, Schatzgräber oder Metallarbeiter auf. Mit fremd-
artiger Kleidung und Sprache erscheinen sie von Zeit zu
Zeit einzeln in den betreffenden Gegenden und verkehren
mit der einheimischen Bevölkerung nur so weit, dass sie
sich Wege ins Gebirge zeigen lassen; dort betreiben sie
möglichst geheim und schnell ihre Arbeit und verschwin-
den wieder in so rätselhafter Weise, wie sie gekommen
waren. Diese teilweise Unsichtbarkeit oder wenigstens
fast geisterhafte Schnelligkeit der Bewegung, ferner die
Bearbeitung edler Metalle in den Bergen, zuweilen auch
Zaubergewalt über das Wetter, endlich die Abnahme ihrer
Erscheinung in neuerer Zeit, — alle diese Züge haben die
Venediger mit den Zwergen gemein. Auch als Zauber-
1 Ueber diesen Gegenstand hat zuerst L. Storch in der Gar-
tenlaube 1862 S. 559 ff. geschrieben; ich habe ihn, zunächst vom
schweizerischen Standpunkt aus, in der Zeitschrift „Illustrirte Schweiz"
(Bern 1873) S. 182 ff. 192 ff. behandelt und muss für das Stoffliche
auf jene Abhandlung verweisen.
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc.
251
ktinstler, Wunderärzte und Wahrsager gleichen sie ihnen
zum Teil noch, streifen aber doch mehr an die Gestalt
fahrender Schüler des spätem Mittelalters oder industriel-
ler Abenteurer der neuern Zeit. Mit Metallarbeit, ihrem
Hauptberuf, ist die ihnen zugeschriebene Heilkunst wol
vereinbar, wenn man bedenkt, dass die Anfänge der letz-
tern mit denen der Mineralogie und Chemie phantastisch
verschlungen waren, und dass der von den Alchymisten
gesuchte Stein der Weisen so wol zur Bereitung des Goldes
wie zur Erreichung hohen Alters dienen sollte; auch waren
Schmiedekunst und Heilkunst schon im Altertum als eine
Art von Zauberei angesehen.1 Einzelne Familien, bei denen
Venediger freundliche Aufnahme fanden, werden von ihnen
reichlich belohnt durch kostbare Geschenke oder Mitteilung
ebenso wertvoller Kenntnisse, und auch das stimmt noch
zu den Zwergen sagen, dagegen nicht mehr der S chi us s
der meisten Venetianersagen, der darauf hinaus geht, dass
irgend ein Landeskind aus einer der von Venedigern be-
suchten Gegenden, später einmal durch Geschäft oder Zu-
fall nach Venedig geführt, daselbst einen Mann von jener
Art, den es einst in seiner Heimat gesehen oder gar als
Führer ins Gebirg begleitet hatte, als reichen Goldschmied
oder Juwelier widerfindet, dann wol auch von ihm erkannt,
belohnt und etwa durch einen Zauberstreich nach Hause
versetzt wird. Dieser letzte Zug gehört freilich wieder
in das Reich der Phantasie, aber auch der Reichtum von
Venedig grenzte ans Fabelhafte, besonders durch die Ver-
bindung der Stadt mit dem Orient, dem Lande der Wun-
der. In Regensburg gab es eine Walenstraße, in wel-
cher geschickte und berühmte wälsche Goldschmiede wohn-
ten, und Walen hießen in Bayern überhaupt kunstfertige
Goldarbeiter. Dass Italien auch als Heimat oder Schule
der Zauberkünstler (z. B. des Dr. Faust) galt, ist eben-
falls bemerkenswert und stimmt zu dem oben berührten
1 Vgl. Schräder, Sprachvergleichung und Urgeschichte. S. 233.
252
Tobler.
Zusammenhang der beiden Künste, soll uns aber nicht
abhalten, neben der Aehnlichkeit der sagenhaften Vene-
diger mit Zwergen auch Unterschiede zu bemerken. In
der Schweiz bestehen die Sagen von beiden durchaus ge-
trennt neben einander, während die tirolischen „Venediger-
niandl" allerdings den Bergmännchen entsprechen und
sonst keine ausdrückliche Beziehung auf Venedig haben,
das doch dort näher liegt. Hinwider erscheinen die Ve-
nediger in Schweizer-Sagen nirgends ausdrücklich in zwerg-
liafter Gestalt; ein Hauptunterschied ist aber, dass die
Zwerge allenthalben als ein Völklein beisammen leben,
wenn sie auch den Menschen zuweilen einzeln erscheinen,
während die Venediger immer nur als einzelne ins Ge-
birge kommen. Damit hängt zusammen, dass diese Gold
suchen, die Zwerge aber ihrer Natur nach es bereits
besitzen und nur verarbeiten, um es gelegentlich an
Menschen zu verschenken, meist als Lohn für geleistete
Dienste. Das tun die Venediger allerdings auch, aber es be-
steht hier wieder der feinere Unterschied, dass das, was sie
als Lohn geben, in seinem gewöhnlichen metallischen Wert
ohne Weiteres erkannt wird, während die Gaben der
Zwerge, zuerst unscheinbar, erst nachher ihren wahren
Wert offenbaren. Auch die von den Berggeistern auf-
erlegte Bedingung des Stillschweigens, wenn die Gaben
dauernden Segen wirken sollen, erscheint bei den Vene-
digern selten oder nur in der entstellten Form, dass das
Geheimnis ihrer Goldmacherkunst gewahrt werden soll.
Auch wenn trotz den zuletzt hervorgehobenen Unter-
schieden die Venediger nur eine vergröberte, mehr ins
Menschliche gezogene Gestalt der Zwerge sein könnten,
so müsste doch ihr Name aus irgend welchen realen ge-
schichtlichen Verhältnissen und Tatsachen erklärt werden.
Wenn der Flug der von mythischer Phantasie ausgegan-
genen Sage ermattet ist, so lässt sie sich, wie der Zug-
vogel auf den Mast eines Meerschiffes, auf Anhaltspunkte
Ueber sagenhafte Völker des Altertums etc.
253
nieder, um von dort aus einen neuen Ansatz oder Auf-
schwung zu versuchen.
Als im Mittelalter Venedig den Handel auf dem Mit-
telmeer beherschte und Handelsverbindungen zunächst mit
süddeutschen Städten, durch diese aber auch mit nord-
deutschen pflegte, mögen unternehmende Bürger der La-
gunenstadt zur Erweiterung oder Befestigung einzelner
Gewerbszweige Deutschland bereist, an einzelnen Orten
sich eine Zeit lang aufgehalten, wol auch dauernde Nieder-
lassungen gegründet und von dort aus ein weiteres Gebiet
ausgebeutet haben. Insbesondere mögen sie Gegenden, in
denen Bergbau betrieben wurde, aufgesucht und dort das
Rohmaterial für feine Metallarbeiten zu gewinnen gesucht
haben, natürlich in möglichst geheimer Weise. Wo sie
selbst oder ihre Sendlinge nicht hingelangen konnten,
mochten sie einheimische Bergleute in Dienst nehmen, und
auch auf diesem Wege konnte ihr Ruf sich weiter ver-
breiten. Aber schon bevor in den Stürmen der Völkerwan-
derung von Flüchtlingen die Stadt Venedig gegründet war,
hatten die Bewohner jener Gegend, die alten Veneter,
ein keltisches oder illyrisches Volk, einen Verkehr des
nördlichen Europa mit dem südlichen vermittelt, und zwar
in einem Handelsartikel, der von Griechen und Kömern als
Stoff für Schmucksachen fast so hoch wie Gold und Silber
geschätzt wurde — dem Bernstein.1
Dieses seltsame Product der Ostseeküste wurde von
dort auf mehreren Wegen nach dem Süden gebracht; einer
derselben mündete am Adriatischen Meere. Schafarik2
schreibt diesen Handel den sia vischen Wenden zu, die
sonst immer Venedi oder Yinidae heißen und auch nach der
Ansicht von Bacmeister3 bis nach Bayern hinein wohnten,
jedoch unter dem Namen Winden, der mit Venediger
1 Ueber die Fundstätten und die Verbreitung des Bernsteins
s. Miillenhoff, Altertumskunde Bd. I.
2 Slav. Altert. 1, 101 ff. 257 ff.
3 Alemannische Wanderungen S. 150.
254
Tobler.
nicht mehr zu vermitteln ist. Es ist möglich, dass schon
seit jener Zeit mit dem Namen der Yeneter sich gewisse
Vorstellungen von Reichtum und Kunstfertigkeit verban-
den. Was für Waaren die Yeneter als Tauschartikel fin-
den Bernstein nach Norden lieferten, wissen wir nicht be-
stimmt; wahrscheinlich waren es Edelmetalle, daneben auch
Erz, das auf diesem Wege bezogen wurde, bevor man es
im eigenen Lande gewinnen lernte.
Die deutschen Sagen von Yenedigern gehen, wie schon
diese Form des Namens zeigt, nicht auf so alte Zeit zu-
rück und knüpfen sich zunächst nur an die berühmte
Stadt, die später auf jenem Boden erwachsen ist. Beson-
dere Beziehungen geschichtlichen Verkehres in neuerer Zeit,
die gerade für die Schweiz nicht fehlen, mögen dazu bei-
getragen haben, den Namen jener Stadt im Bewusstsein
des Volkes lebendig zu erhalten. Von allgemeinerer Be-
deutung ist die Tatsache, dass Venedig nicht nur zur Zeit
der Kreuzzüge, sondern noch viel später, der Ausgangs-
punkt für Fahrten, auch einzelner Pilger, nach dem hei-
ligen Lande, also ein Berührungspunkt zwischen Abend-
und Morgenland war, dem die Phantasie manches Wunder-
bare zuschreiben konnte.
Bleibt nach allem bisher Gesagten die Berührung der
Venediger mit den Zwergen ein bloßer Zufall und mit
einem Rest von Rätselhaftigkeit verbunden, so mochte es
immerhin gestattet sein, die gesammte Betrachtung auf
diesen Punkt auslaufen zu lassen.1
1 Eine Parallele zu den Völkernamen, welche im Zwielicht
von Sage und Geschichte stehen, ist der Landesname England und
Britannien, der nach mittelalterlichen Quellen (vgl. W. Müller, My-
thol. d, deutsch. Heldensage S. 112) auch das Todtenreich be-
zeichnet, als Insel im Westen gedacht, weil man sich das Abschei-
den aus der Lebewelt unter dem Bilde einer Fahrt über Wasser
vorstellte. Ein rein mythischer Name für denselben Begriff war
Magonia.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 255
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim
Essen.
Yon Carl Haberland.
(Fortsetzung.)
§ 18.
Die Lappen legen im Gegensatz zu Grönländern und
Kamtschadalen die Speisen niemals direct auf die Erde,
sondern legen mindestens den Handschuh, gewöhnlich aber
eine Matte unter.1 Die Zigeuner lassen ihre Trinkgefäße
nie den Boden berühren, da das Gefäß alsdann in Folge
der Berührung der ihnen als heilig geltenden Erde für den
ferneren Gebrauch zu heilig werden würde.2 Auf dem
Hacken beim Essen zu sitzen gilt den Mongolen als sünd-
haft und wird mit Reiseunfall bestraft;3 mit gekreuzten
Beinen beim Essen sitzen verursacht nach Mecklenburger
Ansicht Leibschneiden.4 Die Richtung des Gesichts beim
Essen ist in Indien yon Wichtigkeit, die Richtung nach
Osten verlängert das Leben, nach Süden bringt Ruhm,
nach Westen Glück, nach Norden Belohnung der Wahrheit;5
beim Manenmahl ist die Richtung nach Süden untersagt:
was der Brahmane so isst, genießen dann nicht die Manen,
denen es zugedacht ist, sondern verzehren die Riesen;6
nach einer Stanze des buddhistischen Werkes Waesakára-
sataka ist die Richtung nach Norden überhaupt untersagt,
Osten bringt langes Leben, Süden Reichtum, Westen
Glück.' Bei einem Manenmahl ist ferner die Gegenwart
1 Allg. Historie 20, 529. Beschreibung 1, 9.
2 Tylor 2, 274 nach Liebich.
3 Globus 28, 380.
4 Bartsch No. 574.
5 Manu 2, 51.
6 Manu 3, 238.
7 Hardy 317.
256
Haberland.
eines Einäugigen, Lahmen oder einer Person, welche ein
Glied zu viel oder zu wenig hat, sowie überhaupt jeder
Person, welche nicht zum Zutritt berechtigt ist, verboten,
wenn nicht die Wirkung desselben vernichtet werden soll.1
§ 19.
Den Marokkanern ist es ebenso wie den übrigen An-
hängern des Islam nach der Vorschrift des Propheten
verboten auf die Speisen zu blasen, um sie kalt zu machen,
weshalb der Mittelasiate z. B. seinen Thee durch Umher-
spülen in der Schale abzukühlen pflegt;2 ganz ebenso
betrachten die Oberpfälzer es als eine Schande, das Essen
kalt zu blasen, sondern genießen es heiß, wie es vom Herde
kommt.3 Der erste Brei darf dem Kinde nach Zwickauer
Sitte nicht kaltgeblasen werden, damit es sich später nicht
den Mund mit heißer Suppe verbrennt.4 In der Hofhaltung
des indischen Kaisers Acbar, dessen Regierung die zweite
Hälfte des 16. Jahrhunderts ausfüllte, mussten die Köche
bei der Zubereitung der Speisen sogar Mund und Nasen-
löcher zuhalten, damit ihr Hauch nicht das Essen verun-
reinigte;5 der römische Aberglaube forderte, dass man die
aus der Hand gefallene und wieder aufgehobene Speise nicht
abblies.6
Das Trinken bei Tisch ist bei verschiedenen Völkern
nicht üblich. Die Peruaner thaten es stets erst nach dem
Essen,7 ebenso trinken die Neger erst nach dem Schlüsse
ihrer Mahlzeit und zwar Wasser, während sie ihre geistigen
Getränke zu einer anderen Zeit einnehmen.8 Die Türken
1 Manu 3, 242. 170. 176.
2 Höst 107. Ausland 1858, 41. 1865, 1088.
3 Schönwerth 3, 244.
4 Köhler 437.
5 Sprenger & Forster 6, 120.
6 Plinius 28, 5.
7 Allg. Historie 15, 507.
8 Globus 10, 295 (nach Dr. Reppin). Journal Etlin. Soc. 1, 222,
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
257
pflegen gleichfalls meist nur Wasser bei Tisch zu trinken;1
ebenso die Bewohner Kordofans, bei denen die Merissa, eine
Art Bier, erst nach dem Schluss der Mahlzeit aufgetragen
wird.'2 Als Parsen- und Hindusitte erscheint das Nicht-
trinken bei Tische gleichfalls,3 wie diese Sitte sich überhaupt
als eine weithersehende orientalische findet: der Araber
darf nur einmal am Schluss der Tafel trinken, denn sobald
man Durst fühlt, ist man gesättigt, man trinkt und ist
fertig; das Trinken selbst aber muss noch sitzend, nicht
stehend, geschehen.4 Auch bei den Hochzeiten der Ober-
pfalz wird gewöhnlich beim Mahle nicht getrunken, sondern
Bier und Sclmaps erst nachher aufgetragen;5 der mährische
Walache gibt bei den seinigen neben einer sehr reichlichen
Speiseauswahl nur klares Wasser als Getränk, wer Bier
oder Branntwein haben will, muss sich dieselben selbst
beschaffen.15
§ 20.
Verboten ist nach deutschem Volksglauben zu essen
während die Todtenglocke läutet, hohle Zähne sind Folge
davon, wenn man nicht gar, wie man im Hildesheimischen
glaubt, den Tod in sich hinein isst;7 auch soll man kein
Stück Brod essen, welches man während dieses Läutens
in der Tasche getragen hat, wenn man nicht Gefahr laufen
will, dass einem die Zähne ausfallen.8 Ferner soll man in
der Pfalz nicht während einer Sonnenfinsterniss essen,9
1 Brehm 1, 342.
2 Pallme 48.
3 Spiegels Avesta Bd. 2, Vorrede S. 50. Dubois 1, 250.
4 Ausland 1858, 41. nach General Daumas.
5 Bavaria 2, 285.
6 Deutsch 15.
7 Wuttke § 385. Bartsch No. 328. Wolf No. 433. 267. 268.
Grohmann No. 1193. Witzschel 2, 256. Seifart. Sagen u. s. w. aus
Stadt & Stift Hildesheim. Cassel & Göttingen 1860 S. 144.
8 Wuttke § 382 für den Hunsrück.
9 Schönwerth 2, 55.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 2. 17
258
Haberland.
welches Verbot sich im indischen Speisegesetz für Sonnen-
und Mondfinsternisse wiederfindet,1 jedenfalls wegen des
auch anderwärts verbreiteten Glaubens, dass während einer
solchen Gift auf die Erde her ab träufelt, dann aber in ganz
Deutschland namentlich nicht während eines Gewitters.
Man befürchtet sonst, dass es einschlägt, weil ihm nach
oldenburgischer, harzer, waldeckischer Anschauung zum
Gesetz gemacht ist, den Schläfer und Beter zu schonen,
aber den Fresser todtzuschlagen; in der Grafschaft Mark
sagt man, dass dadurch der im Gewitter dahinfahrende
Gott beleidigt würde, und fürchtet natürlich seine Rache;
nach hessischem Glauben verliert man alsdann die Zähne.2
Eine niedersächsische Sage erzählt, dass von zwei Schäfern
der eine gerade schlief, als ein furchtbares Gewitter aufzog,
während der andere aß und sich darin auch nicht stören ließ ;
da erschallte plötzlich eine Stimme aus der Luft: „den
Schlafenden lass schlafen, den Fressenden schlag toclt!"
und der Esser büßte mit dem Leben seine frevelhafte
Handlung.3 Geht Jemand kauend in die Kirche, so bleibt
ihm, wenn er stirbt, der Mund offen-,4 kommt man so in
das Zimmer eines Anderen, dann zanken sich die Eheleute
in diesem Hause.5
Brechmittel zu nehmen, um stark essen zu können,
war nicht nur der raffmirten Tafelfreude der Römer,
sondern auch einzelnen Indianerstämmen bekannt;0 nach
Catlin trinken sie einige Tage vor dem Maisfeste im
Uebermaß vom schwarzen Trank, der heftiges Erbrechen
1 Taylor 2. 250.
2 Bartsch No. 1006. Grohmann No. 229. Strackerjan 1, 45.
Curtze 195, 413. Schambach & Müller. Niedersächsische Sagen und
Märchen. Göttingen 1855 S. 335. Wolf No. 433. Montanus 18.
3 Schambach & Müller 42.
4 Fischer 268. Peter. Yolksthümliches aus Oesterreich-Schlesien.
Troppau 1867. Bd. 2 S. 257.
5 Peter 2, 257.
6 Waitz 3, 82.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 259
bewirkt, um dadurch sich den Magen für den kommenden
Schmaus zu leeren.1 Die Arowaken und Botokuden treten
sich häufig bei Ueberladung des Magens auf den Bauch;2
die Marokkaner reiben sich, wenn sie gesättigt sind, den
Magen an der Wand.3 Auch Jesus Sirach empfiehlt das
Brechmittel, wenn man zu vielem Essen genöthigt worden
sei und seine Ruhe wiederfinden wolle;4 Gregor von Tours
erzählt von einem Günstling des fränkischen Königs Theo-
dobert, dass er um schneller verdauen zu können und wieder
Esshist zu bekommen, Aloe zu nehmen pflegte.5 Das in-
dische Gesetz schreibt für das Brechen nach Tisch nur
Mundspülung als Reinigung vor, während für ein solches zu
anderen Zeiten das Bad und das Essen geklärter Butter
gefordert wird.6 Nach jüdischer Diätetik soll man vor Tisch
möglichst seine Nothdurft befriedigen, damit man mit leerem
Magen und reinem Leibe zu Tisch kommt ; andernfalls zieht
man sich leicht Krankheiten zu.7 Die deutsche Gesundheits-
regel für das Verhalten nach Tisch besagt:
„Nach dem Essen musst Du stehen
Oder hundert Schritte gehen"
und ganz ähnlich findet sich dieselbe in Indien wider, wo
dem Sitzen nach dem Essen Beleibtheit, dem Stehen Körper-
kraft, dem Gehen langes Leben, dem LaufeD aber schäd-
lichster Einfiuss zugeschrieben wird.8
Ringe mussten in Rom vor dem Essen abgelegt werden,
ebenso müssen sie es bei den Juden, damit nichts Unsau-
beres sich darunter versteckt halte, und sie trotz der vor-
1 Catlin 138.
2 Maximilian Prinz zu Neuwied. Reise nach Brasilien. Frankfurt
1820/1 Bd. 2, S. 26.
3 Beauclerc. Reise nach Marocco. Jena 1829. S. 70.
4 Jesus Sirach 31, 25.
5 Gregor von Tours 3, 36.
6 Manu 5, 144. Apastamba 1, 3, 10, 21.
7 Buxtorf 268.
8 Hardy 316.
17*
260
Haberland.
herigen Waschung unrein zu Tisch kommen.1 Der süd-
deutsche und rheinische Aberglaube liebt es nicht, dass die
Füße beim Essen übereinander geschlagen werden, der
meklenburgische bedroht es mit Leibschmerzen; nach böh-
mischem wird dann die ganze Gesellschaft still, nach ober-
pfälzischem gleichfalls dieses oder aber sie gerät in Streit.2
Die mohammedanische Sitte gestattet gleichfalls das Ueber-
einanderschlagen erst nach beendigtem Mahle,3 und auch
Aristophanes führt in den Wolken das Verbot des Kreu-
zens der Füße als eine .Tischsitte der guten alten Zeit an.4
Stand jemand vom Schmause auf, so musste nach römischer
Sitte sein Platz sofort gefegt werden; es galt dieses Ver-
lassen des Tisches während der Mahlzeit für unheilbringend,
weil dem Tische vom Volksglauben ein hoher Grad von Heilig-
keit zugeschrieben wurde.5 Der Inder soll nach Vorschrift
des Manu nicht essen, wenn er nur mit einem Kleidungsstück
angetan ist, oder wenn er auf einem Bette liegt; auch soll
man seine Nahrung nicht beim Essen in der Hand halten oder
sie in den Schoß oder auf einen Stuhl legen; überhaupt ist
Speise, welche auf einem Stuhl gelegen hat, unrein und ver-
boten.6 Beim Manenmahl darf der Brahmane nicht mit be-
decktem Kopfe oder mit Schuhen an den Füßen essen, welch
beides überhaupt allgemeine Ess Vorschrift zu sein scheint,7
sonst genießen anstatt der Manen, welche unter ätherischer
Form neben ihm weilen und durch seinen Mund die Speisen
zu sich nehmen, die Râkchasas die Speisen 8
1 Plinius 28, 5. Buxtorf 270.
2 Lammert 217. Wolf No. 188. Bartsch No. 574. Grolimann
No. 1550. Schönwerth 8, 273.
3 Tornauw 232.
4 Vers 983.
5 Plinius 28, 5. Klausen 635 nach Festus.
6 Manu 4, 45. 63. 74. Gautama 9, 56. 32.
7 Gautama 9, 45. 35. Apastamba 1, 11, 30, 14.
8 Manu 3, 328. 189.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
261
§ 21.
Der Gebrauch, beim Essen nicht zu reden findet seinen
Grund wol darin, dass bei dieser Handlung die Gefahr
von schädlichen Einwirkungen durch Zauberei oder über-
natürliche Mächte sehr nahe liegt, gegen welche uns
auch bereits Vorsichtsmaßregeln aufgestoßen sind. Gebote
des Schweigens aber in gefahrvollen Lagen, namentlich
wenn übelwollende Geister in der Nähe geglaubt werden,
zeigt uns unser Volksglauben vielfach, ebenso wie auch der
anderer Nationen z. B. der Neger, welche bei Ueberschreitung
von Wasserfällen und ähnlichen schwierigen Unternehmen
tiefes Schweigen beobachten, um die Geister nicht zu reizen.
Bei den Tupis herschte während des Essens gänzliche
Stille;1 beim Manenmahle muss der Brahmane in Still-
schweigen essen, da nur dann und wenn außerdem die
Speisen recht warm sind, die Manen teilnehmen:2 dieses
Gebot des Schweigens gilt auch für die Parsen bei den
Mahlzeiten an den Gedächtnistagen der Verstorbenen;3 bei
den Griechen war tiefe Stille bei einer bestimmten Opfer-
mahlzeit am Poseidonsfeste vorgeschrieben.4 Ueberhaupt
beginnt dei dem Hindu die Conversation erst nach Schluss
des Gastmahles, nachdem man sich die Hände gewaschen
und den Mund ausgesptihlt hat.5 Im deutschen Aberglauben
scheinen einige Vorschriften — nicht zu reden, wenn ein
anderer trinkt';6 beim Essen nicht zu singen oder zu
brummen, da man sonst einen närrischen Ehegemahl oder
1 Waitz 3, 424.
2 Manu 3, 236. 237.
3 Spiegels Avestaiibersetzung Bd. 2 Vorrede S. 102 — nach S.
50 scheint es überhaupt Sitte zu sein, bei Tische nicht zu reden;
auch soll man den Penom (ein kleines viereckiges Stück Zeug) dabei
vor dem Munde befestigen.
4 Schoemann 2, 513.
5 Dubois 1, 249.
6 Grimm No. 1132.
262
Haberland.
ein brummendes Weib erhält1 — auf eine ähnliche Idee
hinzudeuten. In Rom wurde es nicht für gut gehalten, bei
Tisch von einer Feuersbrunst zu sprechen, wenigstens goss
man dann Wasser unter den Tisch zur Abwehrimg;2 von
Todten redet bei Tisch nicht gern der Ehste, weil sonst
leicht Ungeziefer seinem Felde schadet.3 Von seinen Tauben
soll man nach Anleitung der Rockenphilosophie nicht über
Tisch reden, da sie sonst wegfliegen oder sich fortgewöhnen ;4
nach Wetterauer und böhmischem Glauben kommen, wenn
man liber Tisch von Vögeln redet, deren Nester man kennt,
die Ameisen daran,5 nach schlesischem verlassen sie die-
selben oder der Kuckuck saugt die Eier aus.6 Schlechte
Vorbedeutung ist dem Franzosen das Hören betrübender
Neuigkeiten oder Worte beim Schmause;7 der Abbé Dubois
berichtet von den Dscheinas, dass man während der Mahl-
zeit eine Glocke läutete oder auf eine Metallplatte schlug,
damit unreine Worte vom Nachbar oder der Straße aus nicht
von dem Essenden gehört wurden und ihn und seine Speise
verunreinigten.8 Beim jüdischen Mahle hat jeder einen
Engel bei sich unter dem Tische, welcher aber nur bleibt,
wenn man von Gottes Wort redet, und dann dafür sorgt,
dass die Speisen gutbekommen, bei unnützem Geschwätz
aber verschwindet und durch einen bösen Krankheit bringen-
den Geist ersetzt wird;9 „Ein Mahl ohne ein religiöses
Wort ist ein Todtenmahl" sagt der Talmud.10 Auch verbietet
1 Birlinger 1, 415. Grohmann No. 1606, — wer beim Essen liest,
wird gedankenlos. Bartsch No. 579.
2 Plinius 28, 5.
3 Holzmayer 105.
4 Grimm No. 441.
5 Wolf No. 391. Grohmann No. 431 (überhaupt zu Hause nicht
von ihnen reden).
6 Peter 3, 212.
7 Thiers No. 54.
« Dubois 2, 518.
9 Buxtorf 289.
10 Seligmann 26.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 263
dieser, dass man spreche, wenn man etwas im Munde hat,
damit der Bissen nicht in die unrechte Kehle komme.1
§ 21.
Einen eigentümlichen Platz nimmt im deutschen Aber-
glauben und auch in dem anderer europäischer Völker der
Tisch ein, und zwar weisen uns die Aeußerungen dieses
Aberglaubens in ihrer G-esammtheit darauf hin, dass
wenigstens ursprünglich dabei der Tisch als Esstisch, als
das das Essen tragende Stück des Hausrates aufgefasst
ist. Im römischen Volksglauben galt der Tisch als den
Penaten geheiligt und nie ließ man ihn leer wegnehmen,
sondern immer so, dass noch etwas darauf war; überhaupt,
durfte, da nichts Heiliges leer sein sollte, dies auch bei ihm
nicht der Fall sein, Salzfass und eine mit Speisen gefüllte
Pfanne durfte nie auf ihm fehlen.2 Auch der Schwur des
alten Römers lautete bei Tisch und Feldfrucht.3
Im deutschen Volksglauben tritt uns die Heiligkeit
und ceremonielle Wichtigkeit des Tisches zunächst in den
Gebräuchen entgegen, welche den Einzug der Neuvermähl-
ten in das neue Heim begleiten. Im Voigtlande muss dei-
Gatte beim Einzug in das Haus die junge Frau auf den
Armen vom Wagen in das Haus tragen und sie dort auf
den Tisch setzen, wo sie ein aufs Geratewohl aufgeschla-
genes Lied aus dem Gesangbuche liest, anderwärts dort
wird die junge Frau dreimal um den Tisch geführt;4 dieses
Führen um den Tisch, auf dem Brod, Gesangbuch, auch
wol Salz liegen, ist auch in Thüringen üblich.5 In der
Oberpfalz soll zuerst von den Brautsachen ein Tischchen
1 Buxtorf 289.
2 Plutarch, Römische Gebräuche S. 64. Tischreden 7, 4, 1, 7.
Klausen 649. Arnobius S. 634. Klausen 634 (nach diesem aber war
die Pfanne auf dem Herde).
3 Klausen 634 nach Festus.
4 Köhler 234. 235.
5 Witzschel 2, 228.
264
Habeiiand.
mit einem Stückchen Brod und einem Gebetbuch in das
neue Haus gebracht werden;1 in Rötz in der Oberpfalz
müssen beim Einzug in das Haus die Brautbetten zunächst
auf den Tisch gelegt werden.2 Auch während der Hochzeit
selbst spielt der Tisch seine Rolle. Bei den Lausitzer
Wenden und in der Oberpfalz muss die Braut nach beendig-
tem Mahle über die Tafel steigen und von da herabspringen,
auch darf sie während des Hochzeitmahles das Zimmer nur
verlassen, indem sie über den Tisch steigt;3 im Thüringi-
schen bindet die Braut die Hochzeitsgeschenke in das Tisch-
tuch, worauf dieselben gelegt worden sind und springt
damit über den Tisch.4
Ferner macht sich der deutsche Landmann die heilige
zauberhaft wirkende Kraft des Tisches bei verschiedenen
Anlässen zu nutze. Bei starkem Gewitter gilt in Böhmen
als Schutz das Umstürzen eines Tisches, worauf bereits einmal
bei einer letzten Oelung das hochwürdige Gut gelegen hat;5
in der Oberpfalz sichert es bei einer Feuersbrunst die
Räumung des Hauses, wenn man den Tisch umgekehrt in
die Mitte der Stube und ein Krucifix zwischen die Beine
desselben stellt;0 in Heidenheim, gleichfalls in der Oberpfalz,
geht man bei Ausbruch eines Feuers in das Haus einer
Wöchnerin und kehrt dort den Tisch um.7 In Oester-
reichisch-Schlesien stürzt man bei einem Feuer in der
Nachbarschaft den Tisch um und legt auf jeden Fuß ein
Stückchen Brod, damit das Feuer nicht weiterbrenne.8 In
der Wetterau führt man gekaufte Tiere dreimal um das
1 Schönwerth 1, 72.
2 Daselbst S. 71.
3 Haupt. Sagenbuch der Lausitz. Leipzig 1862. Bd. 2, S. 70
Anmerkung. Schönwerth 1, 109. 98.
4 Witzschel 2, 239.
5 Grohmann No. 268.
6 Schönwerth 2, 85.
7 Daselbst S. 86.
8 Peter 259.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 265
Tischbein, um sie anzugewöhnen;1 der Böhme führt zu
diesem Zwecke seine Hühner dreimal zwischen dem eigenen
Beine und dem Tischbeine hindurch und wirft sie dann
durch das Fenster auf den Hof, oder er setzt sie auf den
Tisch, worauf gewöhnlich das Brod liegt.2 In Ostpreußen
bindet man am Neujahrstage die Zäume der Pferde an den
Esstisch, damit diese im Jahre gut fressen;3 der Voigtländer
setzt am Weihnachtsheiligen abend den Hund auf den Tisch
und gibt ihm dort zu fressen;4 damit gekaufte Schweine
gut fressen lernen, soll man sie nach oberpfälzischem
Brauch das erste Mal aus der Suppenschüssel fressen
lassen.5 Ferner schabt man in der Oberpfalz drei Tisch-
ecken an und gibt das Abgeschabte dem Vieh in den Trank,
dann hat die Hexe keine Macht darüber; auch in der
Eäucherungs-Kur beschrieener Kinder spielt das Abge-
schabte von den vier Tischecken hier und anderwärts in
Deutschland eine wichtige Eolle, beschrieenem Vieh gibt
man diese Medicin gleichfalls ein.6
Die Ehrfurcht, welche man dem Tische schuldet, zeigt
sich in mannigfachen Vorschriften. In Böhmen ist es ver-
boten, sich darauf zu setzen oder mit Messer oder Gabel
hineinzustechen; letzterem Frevel folgt unbedingt Zahn-
schmerz;7 lässt man ein kleines Kind mit den bloßen Füßen
auf den Tisch treten, dann bekommt es nach mitteldeutschem
Glauben böse Füße oder es gibt nach mecklenburgischem
Zank im Hause.8 Ueber den Esstisch darf man in der
Bretagne kein Kind reichen, da sonst ein Unglück es trifft;
1 Wolf No. 236.
2 Grohmann No. 1045. 1675.
3 Wuttke § 14.
* Köhler 361.
5 Bavaria 2, 300.
6 Daselbst S. 301. Schönwerth 1, 187. 310. Grimm No. 2.
Fischer 137.
7 Grohmann No. 1607. 742.
8 Fischer 205. Bartsch No. 114.
266
Haberland.
anderwärts in Frankreich tritt dies nur dann ein, wenn
ein böser Wind es dabei berührt; Widerzurückreichen
wendet aber das Unglück ab;1 dagegen liebt man es in
Böhmen die Neugeborenen unter den Tisch zu legen, um
sie verschiedener guter Eigenschaften teilhaftig werden zu
lassen.2 Nie darf in Masuren die Leiche auf den Familien-
tisch gestellt werden, wenn man nicht bald einen aus der
Familie nachfolgen sehen will;3 nach Wetterauer Glauben
dauert der Schmerz der Hinterbliebenen nicht lange, wenn
man einen Gestorbenen (oder Sterbenden) auf die Stelle
legt, wo der Tisch steht.4 Stellt man einen Schuh auf den
Tisch, dann entsteht Zank (Waldeck); legt der Hausherr
seine Kopfbedeckung auf den Tisch, so wühlen sofort die
Maulwürfe in seinem Felde (Mähren); nimmt man die
Getreidebürde, welche man zum Mahlen in die Mühle tragen
will, vom Tisch aus auf den Rücken, dann wird die Mühle
nachher beim Mahlen brechen (Mähren); knickt man aber
gar Flöhe oder Läuse auf dem Tisch, dann erhält man sie
alle wider (Thüringen).5 Schon nach römischem Glauben
verlor eine Medicin ihre Kraft, wenn sie zufällig vorher auf
den Tisch gestellt wurde;6 nach bayerischem und Thüringer
Glauben ist es der Essig, welcher absteht, wenn er auf
dem Tische stehen bleibt,7 wie auch der Same, welcher vor
dem Säen auf den Tisch gelegt wird, sich nicht entwickelt;8
ebenso geht auch nach schlesischer Ansicht der Teig nicht
auf, wenn die Hefe vorher auf dem Tische war.9 Segensreich
wirkt aber diese kraftnehmende Eigenschaft des Tisches
1 Wolf Beiträge 2, 208. 253.
2 Grohmann No. 765—769.
3 Toppen. Aberglaube aus Masuren. Danzig 1867 S. 107.
i Wolf No. 145.
5 Curtze 419. Grohmann No. 385. 1074. Fischer 201.
6 Plinius 28, 5.
7 Panzer 1, 264. Fischer 200.
8 Bavaria 2, 297. 3, 379. Toeppen 92.
9 Peter 248.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 267
gegen durch Zauber erlangte Kräfte — ist ein Raufer
durch geheime Kunst gefeit, dann braucht man ihn nur
auf einen Tisch zu werfen und sofort ist seine unnatürliche
Kraft entschwunden.1
Nachts muss der Tisch abgeräumt sein, sonst kann
das Aelteste oder das Jüngste im Hause nicht schlafen,
namentlich aber wenn ein Messer darauf liegen bleibt —
dies ist ein weitverbreiteter Glaube in Mittel- und Süd-
deutschlau d.2 Der Böhme sagt, dass der Tisch deshalb
Nachts nicht bedeckt sein dürfe, weil an ihm die Engel
wachen müssen, wie es auch in Deutschland heißt, dass
man nicht in der Engel Schutz stehe, wenn man das Tisch-
tuch Nachts auf dem Tische liegen lasse;3 der Oberpfälzer
rechtfertigt das Verbot, Nachts etwas auf dem Tische liegen
zu lassen, damit, dass Nachts die armen Seelen auf den
Tisch hüpfen, um dort zu rasten;4 dagegen behauptet ein
aus dem Jahre 1612 uns überlieferter Glaube, dass wenn
alsdann die Mäuse die Brosamen davon herunterfressen,
der, welcher am anderen Morgen darauf isst, faule Zähne
bekommt;5 in der Oberpfalz sagt man, dass Brod Nachts
auf dem Tische liegen gelassen Störung der Nachtruhe durch
die armen Seelen oder Zahnweh bewirke.0 Im Yoigtlande
gilt für die Christnacht das Gebot, den Tisch nicht unab-
geräumt zu lassen.7 Lässt man Nachts ein Messer liegen,
lauert nach böhmischem Glauben der Feind so lange, bis
man es an seineu Ort legt, einen Löifel im Topf oder auf
dem Teller können die Kinder nicht schlafen, überhaupt aber
1 Zingerle No. 605.
2 Grimm No. 91. 1004. Fischer 204. Birlinger 1, 410. Rochholz,
Kinderlied 332. Lammert 91. Schönwerth 3, 280. Grohmann No.
789. Wolf-Mannhardt. Zeitschrift 4, 4 (Solothurn).
3 Grohmann No. 1598. Grimm No. 572.
4 Schönwerth 1, 286.
5 Wolf-Mannhardt. Zeitschrift 3, 316.
6 Schönwerth 1, 404.
7 Köhler 362.
268
Habeiiand.
einen Topf offen auf dem Tisch stehen, kann Niemand im
Hause schlafen; indes ist es ein sehr gutes Schlafmittel,
zwei Töpfe umgestürzt stehen zu lassen.1 Auch ehe man
über Land geht oder verreist, muss der Tisch ganz abge-
räumt sein, da einem sonst der Weg sauer wird, gleichfalls
darf nichts darauf gelegt werden, bis der Hof überschritten.'2
Gereinigt darf der Tisch nur mit dem Wischtuch werden,
wischt die Hausfrau statt dessen die Tische mit Papier ab,
dann geht der Segen zum Hause hinaus (Mecklenburg),
gleichfalls darf mit dem Besen der Tisch nicht abgefegt
werden, da auf ihm in der Samstagnacht die armen Seelen
ruhen (Oberpfalz), auch kann man durch Abkehren von
Bank und Tisch mit dem Besen sich argen Flohzuspruch
zuziehen (Thüringen).3
§ 23L
Die in vielen Fällen übernatürlich wirkende Kraft
des Tisches wird auch von dem Tischtuch, gleichfalls in
seiner Eigenschaft als eines Trägers der Nahrung, geteilt.
Namentlich befähigt diese Kraft zum Blicke in die Zukunft,
dient dann aber auch noch außerdem als Mittel des Schutzes
und des Heiles. Auf Kephalonia stellen sich die Mädchen'
welche ihren künftigen Mann sehen wollen, Mitternachts
mit dem Tischtuch vom Abendessen um den Kopf in dunkler
Stube vor den Spiegel, in Ragusa schütteln sie am Johannis-
abend dasselbe nach dem Abendessen aus und lauschen,
was für einen Namen sie dabei hören.4 In Mähren beuteln
die Mädchen am heiligen Abend nach dem Essen das Tisch-
tuch vor dem Hause aus und wissen dann, dass wenn ein
Mann während dieser Zeit vorübergeht, sie diesen oder
einen seines Standes heiraten werden;5 in Schlesien gehen
1 Grohmann No. 1596. 1592. 1584. 1588. 790. 792.
2 Panzer 1, 267. 2, 304. Bavaria 3, 343.
3 Bartsch No. 1554. Schönwerth 3, 279. Fischer 201.
* Düringsfeld 1, 166. 2, 88.
5 Yernaleken 340.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 269
sie mit dem Tischtuch vom Abendschmause, worauf sich
noch die Gräten etc. befinden müssen, Sylvestermitternacht
auf einen Kreuzweg und schütteln es hier aus: begegnet
ihnen nun beim Zurückgehen zuerst ein Mann, so heiraten
sie im Jahre.1 In Südböhmen legen sich die Mädchen das
Tischtuch am Christabend zusammengenommen im Freien
auf den Kopf und erfahren dann die Zukunft, Geläut hören
deutet auf Tod, Musik hören auf Heirat, u. s. w.;2 ebenso
tritt man in Mecklenburg Sylvesternacht mit dem umge-
hängten Tischtuch vom Abendessen rücklings zur Tür
hinaus und blickt nach dem Dachfirst, dort einen Sarg,
Wiege oder Krone als Vorbedeutung von Tod, Geburt und
Hochzeit zu erblicken;3 in Unter Würschnitz im Voigtlande
bindet man am Weihnachtsabend, Sylvester- oder Fastnachts-
abend neunerlei Stück von den Speisen in die Ecken des
Tischtuches, nimmt dieses unter den Arm, klopft an den
Laden und horcht was gesprochen wird in der Stube;
dieses ist vorbedeutend für die Zukunft.4
Einem Tischtuch, welches zur Taufmahlzeit eines Erst-
geborenen gedient hat, ist, wenn auf eine Unfruchtbare ge-
worfen, im sächsischen Erzgebirge die Kraft eigen, ihr zu
Kindern zu verhelfen ;5 in Mecklenburg wird zu Ende eines
Kindtaufschmauses das Tischtuch einem Gaste über den Kopf
geworfen, alsdann wird bei ihm die nächste Taufe sein.6
Im Kinzigthale wirft man das Tischtuch bei nahendem
Hagelwetter durch das Fenster hinaus, damit aller Hagel da-
rauffalle;' in der Bretagne legt man das Saatgetreide in das
Tischtuch, welches Weihnachten benutzt worden, damit die
1 Wuttke § 89.
2 Yernaleken 881.
3 Bartsch No. 1224.
4 Köhler 368.
5 Grimm No. 479.
6 Bartsch No. 112.
7 Nork, Die Sitten und Gebräuche der Deutschen und ihrer
Nachbarvölker. Stuttgart 1849 S. 514.
270
Haberland.
Vögel die Saat nicht fressen.1 Das Koronagebet zur Schatz-
gewinnung muss in der Oberpfalz 9 Tage lang vor einem
mit einem heiligen Speisetuch gedeckten Tisch, an welchem
12 Stühle stehen, gebetet werden;2 auch beim Heben eines
alle 7 Jahre auf einen Augenblick erscheinenden Schatzes
gebrauchte man an der Mosel in einem Falle unter anderen
Dingen eine Serviette, welche eben vom Stuhle kam.3 Im
Yoigtlande gilt als sicherer Schutz für die Wöchnerin, wenn
sie allein auf den Boden oder in den Keller gehen muss,
das um den Kopf gewundene Tischtuch.4 Die Juden ziehen
nach dem dritten Mahle gegen Ende des Sabbats schnell
und behende das Tischtuch hinweg im Glauben, dass ihnen
dann ihre Schulden schnell bezahlt werden.5 Der Masure
versteht hingegen wider durch eine eigene Manipulation
mit dem Tischtuche Ersparnisse beim Todenmahl zu machen,
indem er das dafür bestimmte Tischtuch vorher über die
Leiche deckt, dann vermag niemand etwas zu essen, oder
er fährt wohl auch zu gleichem Zwecke mit dem Lappen,
womit der Todte gewaschen, über die Leiche.6
Bei den österreichischen Serben, in Montenegro, Dal-
matien deckt man am Weihnachtsfeste einen leeren Mehl-
oder Kornsack als Tischtuch auf;7 in Galizien bestreut man
zu dieser Zeit den Tisch mit Heu und legt dann erst das
Tischtuch darüber;8 auch für die Mahlzeit bei den Hexen-
versammlungen auf den Blocksbergen erwähnen Rostocker
Kriminalakten des 16. Jahrhunderts, dass die Tische mit
Gras oder Kraut bestreut gewesen seien und man auf in
die Erde gegrabenen Grasbänken gesessen habe.9 Es mag
1 Wolf No. 242 (nach de Nore).
2 Schönwerth 8, 207.
3 Wolf-Mannhardt, Zeitschrift 1, 243.
4 Köhler 437.
5 Buxtorf 387.
6 Toeppen 111. 112.
7 Rajacsich 127. 132.
fe Deutsch 23.
9 Bartsch 2, 10. 12. 15.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 271
hierbei der alten indischen Sitte, die Opferspeisen auf das
heilige Kusagras zu stellen, gedacht sein; übrigens legten auch
die Irländer noch im 17. Jahrhundert ihr Fleisch in Er-
mangelung von Tischen auf ein Bündel Gras.1 In der
Görlitzer Gegend stellt man am Sylvesterabend Strohbände
unter den Tisch und setzt beim Essen die Füße darauf;
diese Strohbände werden dann zum Umwinden der Obst-
bäume benutzt ; der gleiche Brauch gilt in Mecklenburg für
den Christabend.2 Im römischen Penatenkult wurden Fladen
als eine Art heiliger Tische benutzt, um darauf zu spenden,
was die Legende auf eine Benutzung derselben als Ess-
unterlage seitens des Aeneas zurückführte; nach anderer
Ueberlieferung vertraten Eppichblätter diesen Zweck.3
Legt man in der Wetterau ein Gedeck zu viel auf den
Tisch, dann hat man einen hungrigen Freund;4 nach Voigt-
länder Glauben bekommt man dann einen hungrigen Gast,
einen durstigen dagegen, wenn man gedankenversunken
aus einer leeren Tasse trinken will; auch deutet es auf
Besuch, wenn beim Ausschütten der Kartoffeln einige im
Topfe hängen bleiben;5 in Böhmen hingegen isst die Haus-
hexe mit, wenn man eine Gabel zu viel auflegt.6 Legt ein
Gast nach vollbrachtem Essen die Serviette wider vorsichtig
in die alten Falten, so sagt man in Waldeck, dass er sobald
nicht widerkomme;7 stellt man nach dem Essen nicht den
Stuhl vom Tische fort, dann bekommt man nach schlesischem
Glauben keine Frau.8
1 Tylor 1, 45.
2 Kulin-Schwartz 407. Bartsch No. 1189.
3 Klausen 687.
4 Wolf No. 187.
5 Köhler 395.
6 Grohmann No. 1631.
7 Curtze 417.
8 Peter 257.
272
Haberland.
§ 24.
Der deutsche Volksglauben hat für die Mahlzeit ferner
noch mancherlei Regeln, welche, obgleich ihnen ursprünglich
vielfach andere — abergläubische — Ansichten zu Grunde
liegen, doch den Eindruck machen, als seien sie nur gegeben^
um bestimmte Wolanständigkeiten bei Tische einzuschärfen.
Das voreilige Essen während des Suppenbrodschneidens
verbietet er durch die Behauptung, dass man dann alles
weit leichter vergiss't,1 — nach mecklenburgischem Glauben
wird man gedankenlos, wenn man beim Essen liest2 —
das Herausnehmen aus den Kochtöpfen damit, dass dann
das Essen nicht ordentlich kocht,3 das Essen mit dem Koch-
löffel seitens einer Magd, dass dann das Freien lange
dauern oder dass sie in der Fremde heiraten wird;4 nimmt
sie Milch oder Brei aus der Pfanne, so regnet es bald oder
sie erhält einen Mann sauer wie Sauerkraut.5 Den Römern
galt das Essen aus der Pfanne, da mit ihrem Inhalt die
Laren genährt wurden und sie überhaupt als Eigentum der
Götter und heilig gehalten wurde, sogar als irreligiös.6
Auch in Venedig bestraft sich das Essen aus dem Topfe
durch Regen am Hochzeitstage und in Böhmen muss ein
Mädchen dasselbe Unglück erwarten, wenn es den Milch-
topf auskratzt und das Brenzel isst;7 trinkt man in Norwegen
aus einem Topfe, dann kann man nicht eher sterben, als
bis Einem ein Topf über das Gesicht gestülpt wird.8 Fährt
man ebendort mit dem Quirlschaft unter den Hängetopf,
1 Birlinger 1, 403. Panzer 1, 264.
2 Bartsch No. 579.
3 Grohmann No. 1600.
4 Grohmann No. 881. 1647.
5 Grimm No. 803.
6 Klausen 632.
7 Düringsfeld 2, 111. Grohmann No. 894.
8 Liebrecht 331.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 273
dann entsteht Feindschaft unter dem Vieh;1 nach böhmi-
schem Glauben wird ein mit einem Kochlöffel gefüttertes
Kind blöde oder dumm.2 Wendet man bei der Mahlzeit
einen Teller um, so können die Hexen an ihr teilhaben;3
setzt man im Wirtshaus ein Glas mit dem Boden nach
oben auf den Tisch, entsteht eine Bauferei, auch soll man
den Finger nicht ins Glas stecken, wenn man nicht später
Not erleiden will.4 Durch Ueberspannen des Deckels eines
Kruges mit der Hand bekommt der Nachtrinkende das
Herzgespann,5 trinkt man dagegen Wasser über einen
Messerrücken, dann vergeht der Schlucken;0 den Krug
darf man nicht mit offenem Deckel bieten, sonst wird Einem
die Stärke weggetrunken.7 Schabt Jemand Käse auf dem
Tischtuch, dann werden die Leute ihm gram, trocknet er
sich die gewaschenen Hände an demselben ab, so bekommt
er Warzen, das Maul, so wird er nicht satt;8 dies geschieht
auch, wenn das Tischtuch mit umgekehrter Seite aufgelegt
wird.9 Der Talmud verbietet, die Knochen und Gräten
neben oder hinter sich zu werfen, damit die unsichtbaren
Kreaturen nicht getroffen werden, und anderseits auch nicht
etwa die Hunde deshalb kommen und dabei vielleicht einen
der Essenden in den Fuß beißen;10 ferner tadelt er das
Ausklopfen des Markes aus den Knochen auf den Tellern,
weil dann leicht die bösen Geister denken können, man
schlage sich und in Folge dessen herbeikommen und Schaden
stiften.11 Dem buddhistischen Bettelmönch schreibt die
1 Liebrecht 314.
2 Grohmann No. 802.
3 Grimm No. 309.
4 Grohmann No. 1616. 1595.
5 Grimm No. 11. 949. Fischer 197.
6 Wolf No. 289 (Wetterau).
7 Schönwerth 3, 242.
8 Grimm No. 271. 283. 944. Wolf No. 285. (Wetterau—Warzen).
9 Grimm No. 571. Panzer 1, 265.
10 Buxtorf 290.
11 Ebendaselbst.
Zeitchrift für YulkerpByoh. und Sprachw. Bd. XVIII. 3. l^1
274
Haberland.
Disciplin unter anderem beim Essen vor, kein „cracking,
munching, grunting or lapping" Geräusch mit dem Munde
zu machen, nicht seine Hände und Lippen abzulecken, nicht
den Mund zu weit zu öffnen, nicht zu große Bissen zu
nehmen, damit nicht etwa etwas herausfalle, nicht einen
zweiten ehe der erste verschluckt, nicht mit gefülltem
Munde zu sprechen, nicht aus der Mitte herauszuessen, an
welcher Stelle der Reis, die gewöhnliche Nahrung, aufge-
häuft ist, sondern den Reis mit der Flüssigkeit zugleich
zu nehmen, auch nicht etwa besondere Leckerbissen sich
aus der Brühe herauszusuchen, sondern gerade fort zu
essen.1
§ 25.
Besondere Sorgfalt wird aber in allen Gegenden
Deutschlands darauf verwendet, dass nie ein Messer mit
der Schneide nach oben liegt: man glaubt damit Gott, die
Engel oder die armen Seelen zu verletzen. Der Preuße
sagt, man dürfe es nicht tun, weil Gott und die Engel
droben wohnen — „Dorthin ist Gott und wohnen die
Geister" kann man von ihm hören, wenn er vor dieser
Messerlage warnt —,'£ der Schwabe, dass sich der Herrgott
daran schneide, auch wol, dass es den Augen Gottes wehe
tue,3 der Oberpfälzer direct, dass man ihm die Augen
aussteche oder auch nur, ebenso wie der Unterwaldener,
dass es Gott wehe tue.4 Nach oldenburger, mecklenburger,
sächsischer und tiroler Ansicht beschädigt man durch
diese Lage die in der Luft schwebenden Engel, weil sie
hineintreten und daran die Füße zerschneiden;5 nach böhmi-
1 Beai. A Catena of Buddhist Scriptures from the Chinese.
London 1871. p. 234. Hardy 93.
2 Wuttke § 206. Tettau und Temme 285.
3 Meier 501.
4 Schönwerth 3, 280. 1, 287. Lütolf. Sagen, Bräuche und Le-
genden aus den Fünforten. Luzern 1865. S. 556.
5 Strackerjan 1, 46. Bartsch No. 567. Grimm No. 209. 948.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 275
scher können sie oder die armen Seelen hineinfallen und
sich die Augen ausstechen1 — in Westfalen treten stellen-
weise für die Engel die Zwerge und ihre Rache ein;2 auch
der Talmud warnt vor dem Aufwärtslegen der Schneide,
damit nicht die englischen und geistlichen Kreaturen sich
beschädigen.3 Nächtsdem sind es die armen Seelen um
derentwillen man vermeidet die Schärfe nach oben zu
kehren, denn diese sind gezwungen darauf zu reiten oder
zu sitzen oder auch barfuß darauf herumzulaufen — Oester-
reich, Tirol, Oberpfalz4 — der Oberpfälzer sagt sogar direkt,
dass der Teufel sie darauf setze;5 die Rumänen Siebenbür-
gens sehen wenigstens dahin, dass bei der Leiche kein
Messer so liege, damit die ausgefahrene Seele nicht zum
Reiten darauf gezwungen werde.6 Wegen der ihnen er-
wachsenden Pein möchten auch die armen Seelen nach
schwäbischem Glauben ein solches Messer immer umkehren,
weshalb man dasselbe oft in eine schwingende Bewegung
durch sie versetzt sieht.7 (Nach rheinischem Glauben tut
auch das mit der Schärfe nach unten gekehrte Messer den
armen Seelen im Fegefeuer weh.8) In Graubünden hingegen
hat diese Messerlage häufig ihr Gutes, denn wenn böse
Menschen d. h. Hexen in das Zimmer kommen, müssen sie
ein entsetzliches Geschrei erheben und sich dadurch zu
erkennen geben;9 jedenfalls wird hierbei angenommen, dass
1 Grohmann No. 631. In der Rheinpfalz sagt man, dass Kindel',
welche Messer mit der Spitze nach oben kehren, die Engel im
Himmel erstechen. Bavaria 4b 403.
2 Montanus 1, 107.
3 Buxtorf 290.
4 Wolf-Mannhardt Zeitschrift 4, 148. Yernaleken 353. Zingerle
No. 312. Schönwerth 1, 286. 3, 280.
5 Schönwerth 1, 286.
6 Schmid. Das Jahr und seine Tage in Meinung und Brauch
der Romanen Siebenbürgens. Hermannstadt 1866. S. 40.
7 Schönwerth 1, 286.
8 Wolf No. 142.
9 Meier 515.
18*
276
Habeiland.
sie das gleiche Geschick wie Engel und Seelen haben und
die Messerschärfe an ihren Fiißen oder anderen Körperteilen
fühlen. In Oesterreichisch-Schlesien ebenso wie in der
Oberpfalz glaubt man gleichfalls, dass wenn ein Messer so
gelegt wird, eine Hexe — oder aber der Teufel — darauf
reitet, hier scheint es aber auf die unerwünschte Gegen-
wart dieser Wesen anzukommen, da man in der Oberpfalz
auch annimmt, dass dann der Teufel Gewalt hat.1 Ueb-
rigens findet sich diese Anschauung, dass der Teufel auf
einem solchen Messer läuft, reitet oder sitzt auch in Pommern,
dem Voigtlande, Böhmen und anderwärts.2 Indes treffen
auch den Menschen selbst direcct verschiedene Nachteile für
die Unvorsichtigkeit, ein Messer in der angegebenen Weise
hinzulegen. Wird ein Kind geboren, während dieses der
Fall ist, dann ist sein Schicksal nach der Rockenphilosophie
und schlesischem Glauben besiegelt und nichts kann es vor
einstiger Hinrichtung schützen ;3 Streit, Tod und sonstiges
Unglück sind in Böhmen und Oldenburg weitere Folgen,
so dass man wol die oldenburger Vorschrift begreifen
kann, dass wenn ein Messer so liegt und gleichzeitig ein
Kind ins Feuer fällt, man erst das Messer umkehren und
dann erst das Kind retten solle4 — genau dieselbe Redens-
art gilt übrigens in Norwegen für das Hineinlegen von
Messer oder Scheere in eine Schüssel,5 in der Eifel für den
Fall, dass ein Brod auf dem Rücken liegt6 — in Schwaben
raubt es den Kindern in der Wiege den Schlaf,7 in Meck-
lenburg verursacht es Leibschneiden.8
1 Peter 252. Schönwerth 3, 280.
2 Kuhn. Westfälische Sagen 2, 25. Anmerkung. Köhler 895.
Grohmann No. 1597.
3 Wuttke § 206. Grimm No. 1083.
4 Grohmann No. 1613. Strackerjan 1, 45. 46.
5 Liebrecht 314.
6 Schmitz 68.
7 Meier 502.
8 Bartsch No. 567.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
277
Der Bayer betrachtet diese Messerlage sogar, wenn
es bei Tische geschieht, als eine Beleidigung, wie ähnlich
auch der Oldenburger das Hinkehren der Messerschneide
gegen den Tischnachbar als Vorbedeutung von Feindschaft
ansieht.1 Böse Bedeutung hat es gleichfalls, nach mittel-
deutschem Glauben, wenn man die Spitze des Messers ge-
gen einen Tischgenossen kehrt, es deutet auf Tod dessel-
ben2 — in einem deutschen Märchen legen die Räuber die
Spitzen der Messer gegen sich 3 — dagegen bedeutet in
Belgien ein mit der Schneide aufwärts gekehrtes Messer
mit der Spitze nach einer Person gerichtet, dass sie bald
heiratet;4 fällt ein auf den Tisch geworfenes Messer auf
den Rücken und bleibt so liegen, sagt es dort gleichfalls
eine Hochzeit voraus.5 Liegt in Böhmen das Messer mit
der Spitze der Türe zugekehrt, so geht der Segen aus
lem Hause.6 Dass bei den Mahlzeiten Karls des Großen
nach dem Berichte des Mönches von St. Gallen7 die Messer
beim Darreichen mit der Spitze gehalten wurden, war wol
eine Vorsichtsmaßregel oder ein wenigstens daraus hervor-
gegangener ehrfurchtsvoller Brauch.
Legt man in Frankreich und England, stellenweise
auch in Deutschland, Gabel und Messer oder zwei Messer
über Kreuz, so deutet dies auf Unglück;8 auch dem Böh-
men tut, wenn er nach dem Essen Löffel, Messer und
Gabel über Kreuz auf den Teller lagt, dies Abbruch am
Segen.9 In Kärnthen darf man nicht mit der Gabel spie-
1 Wolf-Mannhardt. Zeitschrift 2, 103. Strackerjan 1, 49.
2 Fischer 236.
3 Grimm. Kindermärchen. Bd. 3 S. 105.
4 Wolf No. 85.
5 Wolf No. 86.
6 Grohmann No. 1631.
7 Buch 2 Cap. 18.
8 Thiers No. 50. Vaschalde 18. Brand 3, 137. 222 (und für
die Basken 233). Fischer 236. Zingerle No. 252.
9 Grohmann No. 1609.
278
Haberland.
len, namentlich nicht etwa sie klingend auf die Zinken
fallen lassen, denn dann glaubt der Teufel er sei gerufen ;*
in Böhmen ruft man damit die Not, auch wenn man nur
mit den Fingern auf dem Tisch trommelt;2 in Oestereichisch-
Schlesien geht, wenn man mit Messer oder Gabel auf dem
Tisch klappert, eine Hexe um das Haus,3 in Norwegen
tanzt dann der Teufel.4
Das Umrühren des Essens oder Trinkens mit einem
Messer oder einer Gabel ist verboten und von Leibschnei-
den oder Stechen gefolgt — Oldenburg, Mecklenburg —5
oder aber empfinden die Kühe Schmerzen am Euter und
geben rote Milch — Oberdeutschland — ;6 Leibschneiden
bekommt auch nach bayerischem Glauben das Kind, dessen
Medicin mit einem spitzigen Messer umgerührt, oder ihm
auf einer Messerspitze eingegeben ist.7 Ferner darf man
nicht Brod, anstatt es hineinzubrocken, mit einem Messer
in die Milch schneiden, denn dann weint die Mutter Gottes,
nach anderer Ansicht aber nimmt man damit den Kühen
den Nutzen — Schwaben, Oberpfalz, Böhmen, Mecklen-
burg — ;8 in Thüringen steht man alsdann sofort in dem
Verdachte, der Kuh die Milch abschneiden zu wollen;9 die
Brocken müssen übrigens nach böhmischer Vorschrift alle
in der Milch untertauchen, auf ein nicht untergetauchtes
setzt sich die Drude und quält den, der es isst.10 Ins Brod
mit dem Messer zu stechen, ist siindlich, es fließt Blut
1 Wolf-Mannhardt. Zeitschrift 4, 413.
2 Vernaleken 353. Grohmann No. 1573.
3 Peter 252.
4 Liebrecht 338.
5 Grimm No. 1052. Strakerjan 1, 49. Bartsch No. 577.
6 Rochholzl, 50.
7 Panzer 267.
8 Bielinger 1, 410. Wolf-Mannhardt. Zeitschrift 4, 48. Schön-
werth 1, 334. Grohmann No. 733. Bartsch No. 568.
9 Witzschel 2, 280.
10 Grohmann No. 125.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 279
dabei heraus — Schwaben, Tirol1 — es tut den armen
Seelen weh, der böse Feind und böse Leute können an,
beim nächsten Backen löst sich die Rinde von dem Brode
— Oberpfalz —;2 in Spanien sagt man, dass es der hei-
ligen Jungfrau neue Schmerzen verursache.
Bei den Todtenmählern der heidnischen Preußen war
der Gebrauch von Messern verboten; jedenfalls wegen An-
wesenheit der Geister der Verstorbenen3, wie auch in
deutschen Sagen mehrfach der Zug widerkehrt, dass von
den Zwergen geschenkte Kuchen nicht mit dem Messer
angeschnitten werden dürfen;4 so schnitt gleichfalls der
vieler Zauberkräfte kundige alte Freiberger im Voigtlande
nie Brod mit einem Messer, sondern brach es oder hackte
es mit einem Beile durch5 — ein Teufelsbündler, welcher
erfahren wollte, was in einem ihm übergebenen Brief, mit
welchem er sich stets nach Wunsch Geld machen konnte,
stünde, musste ihn mit einem hölzernen Messer öffnen, da
jedes andere eiserne dabei versagte6 —. Ebenso darf das
serbische Weihnachtsgebäck, Tschesniza, nicht geschnitten,
sondern muss gebrochen werden.7
Aehnliche Vorschriften hinsichtlich des Gebrauches
eiserner Gerätschaften finden wir auch anderwärts: der
Ostjake darf den Fischknorpel, welchen er meist roh ge-
nießt , nicht mit einem Messer berühren, da sonst schlech-
ter Fischfang erfolgt;8 die Juden in Sibirien, welche nur
in tönernen Gefäßen kochen, dürfen daraus nichts mit einem
metallenen Gerät nehmen, ferner haben sie auch je ein
1 Meier 501. Zingerle No. 302.
2 Schönwerth 1, 404. 3, 280.
8 Haupt. Sagenbuch der Lausitz. Leipzig 1862/3. Bd. 1 S. 38
nach Nork.
4 Z. B. Haupt 1, 38.
5 Eisel. Sagenbuch des "Voigtlandes. Gera 1871. S. 218.
6 Grimm. Sagen 1, 134.
7 Globus 30, 72.
8 Pallas 3, 40.
280
Haberland.
Messer zu Brod, zu Käse, zu unreinen nicht essbaren Din-
gen;1 schneidet man mit einem Metzgermesser frisch Brod
oder Käse an, so verliert es nach Tiroler Meinung die
Tödtung.2 Zum Sabbat muss der Jude scharfe Messer
haben, denn wenn sie stumpf sind und man damit nicht
schneiden kann, so ist kein Frieden am Tisch und das
Haus übel versorgt;3 in Susa (Ostafrika) muss jedes neue
Messer, ehe es zum Fleischschneiden benutzt werden darf,
von einem Priester angeblasen werden.4
§ 25.
Mehrfache symbolische Bedeutung fällt dem Löffel in
den Volksbräuchen zu. Er gehörte nach Rochholz einst
zu den deutschen Rechtssymbolen, welche das Besitzrecht
ausdrückten und steht in volkstümlichen Redensarten unJ
Gebräuchen noch jetzt in Verbindung einerseits mit dem
Liebesleben, andrerseits mit dem Aufhören des Lebens.
„Löffeln" kann man in verschiedenen Teilen Deutschlands
für Lieben und Buhlen hören,
„Liebe macht Löffelholz
Aus manchem jungen Knaben stolz"
sagt das Sprüchwort, und „Löffelhohlen" bezeichnet, ob-
gleich der Löffel dabei gar keine Rolle mehr spielt, noch
jetzt im Lechrain die Mahlzeit, welche acht Tage nach der
Hochzeit das junge Paar bei den Eltern der Frau einnimmt
und sich dabei für Alles bei diesen bedankt.5 Für Sterben
tritt er in der schleswig-holsteinischen Redensart „den
Löffel aufstecken"6 — nämlich auf das dafür bestimmte
Löffelbrett — ferner in der V yerischen „den Löffel weg-
1 Hansteen 105.
2 Alpenburg. Mythen und Sagen Tirols. Zürich. 1857. S. 865.
3 Buxtorff 341.
4 Harris 2, 163.
5 Leoprechting S. 248.
6 Rochholz 1, 142 nach Dahlmann.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 281
werfen" auf,1 und die gleiche Idee, die Gleichstellung- des
Aufhörens des Essens mit dem des Lebens, tritt uns in
der lappischen Yolkspoesie mit den Versen:
„Was bist Du beim Scheiden,
Wenn Du den Löffel wegwirfst, wenn man Dein Leben nun
fortnimmt?"
entgegen.2 Das Fallenlassen vom Löffel deutet auf Tod,
sei es der eigene oder in der Verwantschaft, im Tiroler
und Oberpfälzer Volksglauben,3 das nächtliche Klirren der
Löffel in Tirol auf Hunger der armen Seelen;4 das Rühren
von Messer und Gabeln in der Tischlade gilt in der Ober-
pfalz als Todesvorbedeutuiig.5 Fällt in Tirol der Löffel beim
Essen hin und zwar aufwärtsliegend, dann hat man noch
nicht genug gegessen, oder aber es ist das Fallen des
Löffels ein Zeichen, dass man sich sein Essen nicht ver-
dient hat;6 wer den hingefallenen Löffel nicht wieder auf-
nimmt, ist verheiratet.7 In einer Oberpfälzer Sage be-
lehrten die Holzfräulein die Leute, dass wenn sie einen
Löffel mit der Höhlung nach oben auf den Tisch legten,
die Andern — d. h. die Geister — mitäßen;8 es kommen
auch in diesem Falle menschliche Mitesser.9 Der Löffel
für das Kind muss in Schwaben vom Paten geschenkt wer-
den, damit es eher essen lernt,10 wie überhaupt das Löffel-
schenken seitens des Paten weit verbreitete deutsche Sitte
ist; Kindern, welche nicht sprechen lernen, soll in Böhmen
1 Rochholz. Schweizersagen aus dem Aargau. Aarau 1856. Bd. 2.
Einleitung S. 51.
2 Donner. Lieder der Lappen. Helsingfors 1876. S. 100.
3 Zingerle No. 392. 393. Bavaria 2, 321.
4 Zingerle No. 474. ,ßt
5 Schönwerth 1, 263.
6 Zingerle No. 284. 285.
7 Zingerle No. 155. Wer zuerst zu einem Gatter kommt und
es doch nicht aufmacht, ist es gleichfalls. Daselbst No. 156.
8 Schönwerth 2, 365.
9 Schönwerth 3, 242.
10 Meier 476.
282 Haberland.
>
der Taufpate stillschweigend dreimal mit einem neuen
Löffel über den Mund schlagen.1
In Zürich erhielten früher beim Hochzeitsmahle die
Getrauten nur einen Esslöffel vorgelegt,2 in einzelnen
Orten der Rheinpfalz isst noch j$tzt das junge Paar gleich
nach der Heimkunft eine "Weinsuppe aus einer Schüssel
und mit einem Löffel;3 im Welzheimer Walde (Schwaben)
muss das junge Paar beim Hochzeitsmahl mit neuen Löffeln
essen, welche dann ihr Eigentum verbleiben.4 Im Ammer-
und Saterlande wird der jungen Frau beim Einzüge in das
Haus am Heerde der' große hölzerne Ausgabelöffel (Sleef)
überreicht und sie dann dreimal um den Herd geführt,
wobei der Löffel gleichfalls wohl Besitz und Herschaft an-
deutet;5 in der Oberpfalz wird der Löffel, mit dem die
Braut die drei ersten Löffel Sappe erhält, zerbrochen und
zum Fenster hinausgeworfen, damit sie das Heimweh ver-
liere,6 oder aber, nachdem er zerbrochen, in den Saal ge-
worfen, damit die Musik „pfeifen" soll;7 in Esthland zer-
bricht der Bräutigam seinen und seiner Braut Holzlöffel,
worauf der Hausvater beide zusammengibt;8 wer vom
Brautpaar beim Essen der Brautsuppe den Löffel zuerst
hinlegt, stirbt auch zuerst, sagt man in Thüringen.9 In
Leicester war es früher Brauch das Andenken abwesen-
der Freunde beim Mahle durch das Emporheben der Hände
und Löffel zu ehren;10 Thüringer Glaube ist, dass man die
Zuriickkunft abwesender Familienglieder befördern kann,
1 Grohmann No. 816.
2 Rochholz 1, 142.
3 Bavaria 4J> 368.
4 Meier 478.
5 Strackerjan 2, 125. Kuhn-Schwartz 433.
6 Bavaria 2, 284.
7 Schönwerth 1, 96.
8 ßochholz 1, 142.
9 Witzschel 2, 243.
10 Brand 1, 299.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 283
wenn man ihren Esslöffel in das Salz steckt.1 Bei den
Janitscharen bildete der hölzerne Löffel, welcher in einer
Metallklappe vorn an der Mütze getragen wurde, einen
wesentlichen Teil ihrer Tracht, wie auch ihre kupfernen
Feldkessel einen hohen Hang1 in ihrer Anschauung ein-
nahmen, gewissermaßen die Vereinigungspunkte der Ab-
teilungen waren und deshalb auch stets eine Ehrenwache
hatten.2
Selbst eine gewisse magische Kraft kann unter beson-
deren Umständen dem Löffel anhaften und gern benutzt
man in manchen Gegenden Deutschlands diese seine Kraft
zu Blicken in die Zukunft, zum Erkennen der Hexen und
Aehnlichem. In Nieder Österreich kann ein Mädchen, wenn
sie am Weihnachtstage alle Speisen mit einem und dem-
selben Kochlöffel umrührt und ihn ohne ihn abzuwaschen
unter die Schürze hält, ihren Zukünftigen erkennen, es ist
der Erste, welcher ihr beim Umbiegen um die Straßenecke
begegnet;3 im Voigtlande tritt am Neujahrstage das Mäd-
chen, wenn es die übliche Milchhirse gekocht hat, mit
Rührlöffel und Quirl vor die Türe, um in dem Erstkom-
menden den Beruf des künftigen Gatten zu sehen.4 In
Siebenbürgen steckt man den Löffel, welcher im Farben-
topfe, worin die Ostereier gekocht sind, gesteckt hat, in den
Gürtel und besteigt beim nächsten Viehtriebe einen Baum
um alle Hexen erkennen zu können, welche dann bittend
und drohend herbeikommen, um Geheimhaltung zu erzwin-
gen; die schlimmste der Hexen aber ist die, welche man
als Reiterin auf dem Gemeindestier erblickt.5 In Kamern
kann man, wenn man den Löffel, womit am Christfest der
grüne Kohl gerührt ist, bei sich trägt, in der Kirche wäh-
rend des Vaterunsers die Hexen an ihrer sonderbaren, sonst
1 Witzschel 2, 286.
2 Ali al Abassi 2, 543. 591. 598.
3 Vernal eken 331.
4 Köhler 364.
5 Schmidt S. 8.
284
Baynes.
unsichtbaren Kopfbedeckung erkennen;1 im Württember-
gischen soll man zu gleichem Zwecke am ersten Knöpflein-
tage den Löffel unbesehen aus dem Knöpfleinteig ziehen
und an den beiden andern Tagen ihn ebenso hinein- und
heraustun, so dass an ihm Teig von allen drei Tagen sitzt:
geht man mit diesem Löffel in die Kirche, dann sieht man
alle Hexen dem Geistlichen den Eiicken zuwenden.2 Wenen
(Auswüchse am Kopf) kann man im Mecklenburgischen
vertreiben, wenn man stillschweigend zu einem geht, wel-
cher grünen Kohl kocht, die Kelle nimmt und mit dieser
dreimal stillschweigend darauf drückt;3 damit Kühe recht
viel Milch geben, klopft man in der Oberpfalz das Euter
mit einem neuen Kochlöffel.4 Die Serben schützen sich ge-
gen die Annäherung des Hagels durch das Hi ^ausstellen
einer Schüssel mit Löffeln auf den Hof.5
(Fortsetzung folgt.)
Die indo-chinesische Philologie.
Von Herbert Baynes.
Die indo-chinesische Philologie ist eine Wissenschaft
von gestern. Wenn man einen Sinologen irgend einer
Eichtling oder Schule vor fünfzig ja vor zwanzig Jaren
über die Herkunft der „Himmelssöhne" befragen möchte,
so würde er nachdrücklich meinen, sie hätten seit undenk-
1 Köhler 405.
2 Baader. Sagen des Neckartales u. s. w. Mannheim 1848. S. 256.
Am Sonnwendtage backt man im Unterinntale den sogenannten
„Neunhäutling", ein Küchel, welches neunmal in denselben Teig
gelegt und ebenso oft gebacken wird. Zingerle No. 1365.
3 Bartsch No. 1700.
4 Schönwert 1, 334.
5 Globus 30, 95.
Die indo-chinesische Philologie.
285
lieber Zeit dieselbe ethnische Stellung eingenommen, und
seit etwa fünftausend Jaren eine isolirende Sprache und
sogar eine monotheistische Religion gehabt. Das heißt,
die Geschichte Chinas ist bis in die Neuzeit als die einer
allmälichen Selbstentwicklung eines gleichartigen Stammes,
welcher fast das ganze Land besetzte, vom wilden Leben
bis auf eine Cultur, die kein westliches Volk vor fünf-
hundert Jaren erreicht hatte, verstanden worden. Aus
dem Vorhandensein dieser vorausgesetzten Selbstentstehung
und Entwicklung eines wichtigen Culturfocus hat man
wichtige Schlussfolgen für die Politik und für die Ge-
schichtsphilosophie gezogen.
Mir liegt, z. B., das Buch des Herrn Dr. Chalmers
über den Ursprung der Chinesen vor.1 Er sagt :
„Im Ganzen scheint es höchst warscheinlich. dass vor
nicht viertausend Jaren die Vorfaren der Chinesen ohne
alles Schreibsystem waren und zu der Zeit ein Idiom
sprachen, welches größtenteils aus einheitlichen einsilbigen
Wurzeln, ohne Flexion, ohne Agglutination, bestand. Das
heißt, von den mannigfachen Veränderungen, welche die
Zeit in der menschlichen Sprache fast aller Nationen zu
Stande gebracht hat, zeigt es kaum eine. Allerdings muss
man eine Entwicklungsperiode annehmen, worin secundare
Wurzeln aus primären und tertiäre aus secundären her-
vorgebracht werden, um die Sprache auf den Zustand des
Idioms des alten Chinas zu bringen. Die dazu zu verlan-
gende Zeitdauer vermag man nur vergleichsweise zu be-
stimmen .... Ich will nur hinzufügen, dass mit Bezug
auf die Altertümlichkeit der Menschen, wie sie etwa aus
anderen Erdteilen zu bestimmen ist, ich nicht die geringste
Spur davon in der früheren Geschichte Chinas finden
kann."
Die Ursache des Missverständnisses bezüglich des po-
litischen und ethnologischen Zustandes des alten Chinas
1 The Origin of the Chinese. London, Trübner, 1868.
286
Baynes.
ist merkwürdig; sie liegt in den besonderen Abteilungen
der chinesischen Annalen und in den Eigentümlichkeiten
der geographischen Abteilung des Reichs für die Verwal-
tung. Durch diese Verwaltungs-Abteilungen wurde, unter
anderen Orientalisten, zunächst Klaproth in seinen „Ta-
bleaux historiques de l'Asie" irre geführt, da sie auf das
ganze Land, als ob es überall von den Chinesen selbst
besetzt wäre, bezogen worden sind.
Die dreitausend Bände, woraus die geschichtlichen
Annalen bestehen, sind keineswegs ein fein gesponnenes
Erzälen aller staatlichen, gesellschaftlichen, künstlichen,
wissenschaftlichen und landwirtschaftlichen Gegenstände,
welches eine unseren westlichen Ansprüchen genügende
Geschichte ausmachen würde. Der Grundzug ihrer Ver-
breitung ist vielmer analytisch nnd encyklopädisch. Alles
wird einzeln betrachtet. Erstens kommen die kaiserlichen
Urkunden, welche die rein staatlichen Verhältnisse jeder
Regierung, und zwar besonders mit Bezug auf die Taten
des Kaisers, enthalten. Dann folgen Abschnitte über Chro-
nologie, Vorschriften, Musik, Landwirtschaft, staatliche
Opfer, Erdkunde, Staatswissenschaft, Literatur und Urkun-
den des Auslandes. Im letzten Abschnitte jeden Teiles der
Annalen, wo alle Tatsachen und die sie betreffenden An-
gelegenheiten erwähnt sind, werden die Einwanderer,
welche nicht untertänig, und obgleich innerhalb des chine-
sischen Reiches, doch nicht Chinesen waren, nämlich die
Mjau, Man, Lau, Pan, Ngu u. s. w. als Ausländer einge-
teilt. Da man also bisher die Geschichte Chinas meistens
aus den chronologischen Teilen dieser Annalen entnommen
hat, so scheinen die Chinesen immer in vollem Besitze
ihres Reiches gewesen zu sein.
In der Sprachwissenschaft ist das Problem Chinas
zweifellos das der Entwicklung. Nach Schlegel und An-
deren sollen Stoff und Form im Chinesischen in Getrennt-
heit beharren, dagegen haben Humboldt und Bopp ausge-
sprochen, die chinesische Sprache sei ohne alle Form, ohne
Die indo-chinesische Philologie.
287
Organismus und Grammatik. Worin nun steckt die ganze
Schwierigkeit allgemeiner Verständigung, wenn nicht darin,
dass man den Begriff des Entwicklungsgesetzes richtig
fasse? Sei es Natur- oder Geisteswissenschaft, der For-
scher fürt das Entwicklungsgesetz der Organismen oder
der Sprach- und Denkweisen, welches er annimmt, mit
einer großartigen und oft genug erfolgreichen Einseitigkeit
durch, als müsse er Alles ausschließlich aus diesem ent-
nemen. Einerseits hebt man die positiven und inneren
Bildungsursachen hervor, wärend andererseits Alles aus
äußeren Vorgängen erklärt wird.
Nun ist bei uns in seinem Adoptivvaterlande ein fran-
zösischer Forscher erstanden, welcher sich schon um die
Sprachwissenschaft manches Verdienst erworben, der auch
Vertreter eines neu in die Sinologie eingefürten Princips
geworden ist. Durch eine kritische Betrachtung der gan-
zen Frage der Entwicklung Indo-Chinas in seinen Schriften
„The oldest Book of the Chinese", „The Cradle of the Shan
race", „Formosa Notes", und „The Language of China be-
fore the Chinese" sucht M. Professor Terrien de la Cou-
perie durchaus beiden Standpunkten gerecht zu werden.
Uns bleibt also nur seine Beiträge zum Verständnisse der
Erscheinungen in die richtige Verbindung zu bringen.
Die Bevölkerung Indo-Chinas besteht größtenteils aus
ethnischen Elementen, welche in China schon vorher an-
sässig waren. Wenn man also die Ethnologie der ganzen
Halbinsel verstehen will, so muss man die chinesische Ein-
wanderung selbst studiren, um die nötige Unterabhängig-
keit verschiedener menschlicher Bassen richtig zu fassen.
Die Ergebnisse altchinesischer Philologie zeigen, dass
China seine Sprache und die Bestandteile der Künste,
Wissenschaften und Satzungen von den Ansiedelungen der
ugro-altaischen Bak-Familien empfangen hat. Diese Völker
kamen von Westasien um 2300 v. Chr. her, unter der Fii-
rung von Männern hoher Cultur, welche durch ihre Nach-
harn, die Susianer, mit der Civilisation, die aus Babylonien
288
Baynes.
herstammte und im zweiten Focus abgeändert wurde, be-
kannt waren.
Als diese Bak-Familien mit den Landeskindern in Be-
rürung kamen, fanden sie tättowirte Geschleckter, und
zwar zwei Stämme, deren Grundzüge heutigen Reisenden
noch immer bewunderungswürdig scheinen. Der eine war
ein Zwerggeschlecht, die Tjau, welche noch durch «) die
Trau, östlich von Bienlioa in Kok'in-China ansässig, fast
die kleinsten des Menschengeschlechts; ß) die Hotca-cSan,
Südwest-Junnan, y) die Minkopieen der Andamanen, <?) die
Siman gen der maläjischen Halbinsel und e) einen der ein-
geborenen formosanischen Stämme, vertreten sind. Diese
Geschlechter sind alle Vertreter des einst so weit verbrei-
teten Negrito-Stammes. In der Nähe von der ersten chi-
nesischen Ansiedlung am Hwañ ho war der andere Stamm
der K'añKjó, die „Langbeinigen". Die französischen For-
scher der Expedition du Mekong namen auch war, dass die
Mois, Pcnoñs undíTas der süd-indo-chinesischen Halbinsel
lange Beine hatten. Da zu der Zeit die Chinesen von den
Regionen und Rassen südlich vom Jan-zö-Kjan nichts wuss-
ten, da ferner die heutigen Vertreter dieser merkwürdigen
Menschen nicht weit von einander wonen, so scheint es
höchst warscheinlich, dass die chinesischen Einwanderer
beider Stämme einander kannten, und dass die damalige
Niederlassung in Nord-China war; dass sie also erst nach-
her südwärts getrieben wurden. Die nichtchinesischen
Rassen des „blumigen Landes" sammt ihren jüngeren Ver-
wanten Indo-Chinas zeigen, in dem ungleichen Betrag der
Verwantschaften und Parallelismen, welche sie mit den
Chinesen gemeinschaftlich besitzen, dass einige dieselben
durch zufällige Nachbarschaft, andere dagegen aus Ver-
mischung bekamen.
Durch die Rassenfolge und die Sprachenüberlieferung,
zwei Tatsachen, die sich nicht gegenseitig decken, wird es
uns schwer, die Sprachgeschichte eines Landes zu verfol-
gen, und dabei die Identität eines Geschlechts, das ja
Die indo-chinesische Philologie.
289
immer dieselbe Sprache spräche, festzuhalten. Was das
hier aufgestellte Problem anbetrifft, so sind die früheren
Angaben ethnologisch; das sprachliche Zeugnis reicht nicht
weiter als das Nachspüren der Wirkung der Landesspra-
chen auf das Idiom der chinesischen Eindringlinge.
Nun sind die Mittel, welche M. de la Couperie zur Be-
stimmung der Landesidiome bei der Einteilung der Sprachen
anwendet, die Verwantschaften des Wörterbuchs und der
Begriffslere. „Das Heil der Wissenschaft," sagt Herr Pro-
fessor Steinthal, „beruht immer größtenteils auf der rich-
tigen Stellung der Frage; denn jede Frage schließt ihre
Antwort in sich, und ist jene verkehrt gestellt, so kann
auch diese nur verkehrt erfolgen. Mit neuen Fragen be-
ginnen neue Epochen." Haben wir also einen Organismus
von Merkmalen vor uns, so fragt unser Verfasser bezüg-
lich der Einteilungsmerkmale statt nach dem Wie und
Warum, wie es meistens die arische Schule zu tun pflegt,
nach dem Was, ob es nämlich wahr sei, dass die Gram-
matik stets beharrt und nie vermischt? Ob die Wurzeln
einer Sprache, wie sie durch sprachwissenschaftliche Unter-
suchung gefunden werden, Anfänge und nicht Ergebnisse
sind?
Durch die unbewusste Wirkung des Geistes, welcher
nach Zeichen allgemeiner Vorstellungen sucht, werden die
Wurzeln hervorgebracht. Nach M. de la Couperie besteht
die wurzelbildende Periode noch und wird nie endigen.
Es gehört zu der Natur der Sprache im Zustande rast-
loser Entwicklung und Umwandlung zu sein, und deswegen
darf man nicht behaupten, dass in früheren Zeiten andere
Einflüsse und Tätigkeiten als die, welche heutzutage wir-
ken, herschten. Die Sprachen von Tibet, Birmah, Pegii,
Siam, Annam und China werden gewöhnlich einsilbig ge-
nannt, und noch von Manchem irrtümlich als lebendige
Exemplare der Ursprache einsilbiger Wurzeln bezeich-
net. In Wahrheit aber hat es nie solchen Monosyllabis-
mus gegeben. Der Einsilbigkeit gibt es nur drei Arten,
Zeitschrift für Yölkerpeych. und Sprachw Bd. XVIII. 3. 19
290
Baynes.
eine der Verwitterung, eine des Aussprechens und eine
der Schrift. Die Sprachen Südost-Asiens gehören der zwei-
ten an, wärend die Einsilbigkeit des Englischen z. B.
aus der Verwitterung entsteht. Wegen der Scheidung
der Stoffwörter von den Formwörtern werden diese Spra-
chen auch nebensetzend genannt; es sind eben die
Stoff- und Form Wörter, welche zusammenfließen und dann
nach und nach verwittern. Die Verwitterung wird oft
durch Unterscheidung der Tonhöhe beim Aussprechen her-
vorgebracht. Man hat diese Töne als Ueberbleibsel der
Sprache der Urmenschheit, als die Sprache lauter Seelen-
gesang war, betrachtet, Tatsache ist jedoch, dass sie bloß
eine gemeine Erscheinung sprachlichen Equilibriums sind.
Durch Verwitterung wurden die Sprachen Südost-Asiens
vielfach zertrümmert, doch kann man ihren früheren und
volleren Phonetismus gewissermaßen durch Paläographie
und dialektische Vergleichung widerherstellen. Unser Ver-
fasser teilt sie in sechs Klassen:
1. Einkapsulirend. 2. Einverleibend. 3. Alliterirend.
4. Nebensetzend. 5. Anfügend und 6. Amalgamirend.
Man muss sich aber wol vergegenwärtigen, dass sie
nicht aufeinander folgende Stufen, sondern Zustände sind,
und zwar das Ergebnis zweier großer Kräfte, welche die
Sprache hervorbringen, nämlich die geistige Fähigkeit all-
gemeine Ideen zu begreifen und auszudrücken und die
Faulheit der Sprachorgane. Manchmal wirken diese zwei
Kräfte harmonisch zusammen und manchmal gegeneinan-
der. Zu beobachten sind hier die merkwürdigen Erschei-
nungen der gemischten und hybridischen Sprachen. Ge-
mischt ist eine Sprache, wenn bloß das Wörterbuch mit
ausländischen Bestandteilen versehen ist, hybrid, wenn die
Grammatik zerstückelt wird. Die Grammatik zeigt innere
und äußere Entwicklung: innere, wenn sie, die Möglich-
keiten der Entfaltung benutzend, doch ihrer eigenen Natur
treu bleibt; äußere, wenn sie mit einer andern Grammatik
sich mischt. Dieser Erscheinung liefert die vergleichende
Die indochinesische Philologie.
291
Begriffslere genügenden Beweis, denn die Ideologie hat
mit der Wortstellung im Satze zu tun und zeigt wie die
Sprachen nach verschiedenen Denkweisen aufgebaut wer-
den, ja, dass sobald ein Idiom mit directer (logischer)
Wortstellung mit einem indirecter oder invertirender Wort-
stellung in Beriirung oder Vermischung kommt, die Gram-
matik sich entwickelt, mischt und ändert.
Wir glauben mit M. Prof. de la Couperie folgende
Begriffsentwicklungs - und Vermischungsgesetze annemen
zu können:
1. Wo ein eingewandertes Idiom mit einer Sprache
verschiedener Ideologie, die von den älteren Ansiedlern
gesprochen wird, in Berürung und Vermischung kommt,
ist die Erhaltungskraft der Satzeinrichtung größer bei
dem minder verfeinerten Idiom, ob ansässig oder wander-
lebend.
2. Sobald sich Auflegen und nicht Aussetzen zweier
Sprachen, welche von zwei Stämmen verschiedener Bildungs-
stufen gesprochen werden, einstellt, behauptet sich die vor-
hersehende Stellung des Geschlechtsworts und des Eigen-
schaftsworts der verfeinerten Sprache.
3. Unter gleichen Umständen wird die vorhersehende
Stellung des Zeitworts mit Bezug auf Subject und Object
die der minder gebildeten Sprache sein, oft mit Zuwachs
widerholender Pronomina.
4. Wo eine Sprache ungerader Musterform (V) von
einem Idiom der geraden Form (IV, VI) abgeändert wird,
finden wir Erscheinungen der einverleibenden, das Object
und Subject öfters widerholenden Pronomina.
Wenn man also den inneren Sprachsinn, den sprach-
schaffenden Geist oder das Volksbewusstsein verstehen will,
so wird es äußerst wichtig zu wissen, ob die Ideologie
natürlich, direct, indirect oder hybrid ist Meistenteils
darf man die Behauptung aufstellen: die dolichokephali-
schen Stämme haben die directe Ideologie, die brachy-
kephalischen dagegen die indirecte.
19*
292
Baynes.
Die ideologischen Kennziffern, welche von unserm V er-
fasser gebraucht werden, sind folgende:
et) Für die Wortstellung, d. h. die einzeleigentümlichen
Merkmale der Ideologie
1. Genitiv + Nomen 2. Nomen + Genitiv
3. Adjectiv + Nomen 4. Nomen + Adjectiv
5. Object + Verbum 6. Verbum + Object
7. Verbum + Subject 8. Subject + Verbum
Hierbei merke man, dass sämmtliche Fälle der Vor-
anstehung durch die ungleichen 1. 3. 5. 7., die nachstehen-
den dagegen durch die gleichen 2. 4. 6. 8. ausgedrückt
werden.
ß) Für die syntaktische Anordnung des Subjects, des
Verbums und des Objects sind sechs Möglichkeiten:
I. Object + Subject + Verbum
II. Object + Verbum + Subject
III. Subject + Object 4- Verbum
IV. Verbum -f- Subject + Object
V. Verbum + Object + Subject
VI. Subject + Verbum + Object.
Das heißt, die ideologischen Kennziffern jeder Sprache
können durch bloß fünf Zeichen, vier arabische und ein
römisches ausgedrückt werden.
Die Sprache der Urchinesen oder einwandernden Bak-
Familien war ganz und gar verschieden von dem Idiom
der Landeskinder, mit Ausnahme der Sprache der nörd-
lichen Geschlechter, welche ihnen ins Mittelreich schon
vorangegangen waren, und aller Warscheinlichkeit nach
dem altaischen oder turko-tatarischen Stamme angehörten.
Der Beachtung verdient es ja wol, dass die urchinesische
Sprache nicht mit dem altaischen, sondern vielmer mit dem
westlichen oder ugrischen Zweige der turanischen Familie
und zwar zunächst mit den ostiakischen Dialekten verwant
war. Die ideologischen Kennziffern dieses Idioms waren
warscheinlich die, welche allen ugro-altaischen Sprachen,
wenn nicht verwirrt, gemein sind, nämlich 1. 3. 5. 8. III.
Die indo-chinesische Philologie.
293
Es sind aber keine nach dieser Ideologie geschriebenen
Texte vorhanden. Die heutige Formel ist 1. 3. 6. 8. VI.
in allen chinesischen Dialecten; eine frühere Formel 1. 3.
5. 8. I. wird jedoch manchmal bei den älteren dieser Dia-
lecte, wie z. B. der von P'uk'aa, Kanton und Tuñkiñ ge-
funden. Ja, in den Schriften der Tau-sö findet man sogar
Ueberbleibsel der primitiven Begriffslere 1. 3. 5. 8. III.
Und doch ist die sprachliche Entwicklung Chinas mit die-
sen drei Formeln nicht vollkommen.
Zeitweilige merkwürdige Beispiele einer Formel 2. 3.
6. 7. sind in einigen älteren Texten zu finden. Die Kenn-
ziffern 6. 7., welche die Nachstellung des Subjects anzeigen
und eine Syntaxis IV. oder V. in sich schließen, sind in
früheren Texten der Hia-Kegierung um 2000 v. Chr. näm-
lich in gewissen Teilen des Jí Kiñ und im Kalender der
Hi a-Dynastie vorhanden. Letzterer wurde zur Zeit, wo der
Begründer der genannten Dynastie südöstlich nach den Mün-
dungen des Jan-zö-Kjan hinzog, verfasst. Durch dieses Vor-
rücken wurde das Idiom der Eroberer mit der Sprache der
Autochthonen vermischt. Da nun dieser Kalender zum Be-
hufe der gemischten Bevölkerung geschrieben und verbreitet
wurde, so folgt, dass die Abweichungen vom damaligen Chi-
nesischen von vornherein den sprachlichen Zügen des Land-
striches entsprachen. Ja wol, und es sind gerade solche, die
den tagalo-malajischen Idiomen eigentümlich und deswegen
nicht zu verkennen sind, weil die Stellung des Subjects nach
dem Zeitworte in den anderen Dialecten, welche das Chine-
sische beeinfiusst haben, nicht vorhanden ist. Durch die
Stellung des Objects nach dem Zeitworte und durch die syn-
taktische Einrichtung des sechsten Standards gegen die reinen
Kennziffern des Uralischen, die ihm früher gemein waren, lässt
sich nicht zweifeln, dass das Chinesische von den Mon- und
von den Taisch-Csan-Landessprachen entlent hat. Die Ent-
wicklungsstufen der chinesischen Begriffslere sind also fol-
gende: 1. 3. 5. 8. III., 1. 3. 6. 7. IV., 1. 3. 5. 8. I., 2. 3.
6. 8. VI. und 1. 3. 6. 8. VI.
294
Baynes.
Die Phonesis, die Morphologie und die Sematologie,
alle zeigen, wie groß der Einfluss der Landessprachen war.
Einfürung und Wachstum der Töne als Ergebnis sprach-
lichen Gleichgewichts wegen der Verwitterung sind dem-
selben Einflüsse zuzuschreiben.
Die Partikelnachstellung des ugro-altaischen Sprach-
stammes zum Ausdrucke von Zeit- und Raumverhältnissen
ist im Chinesischen abgeändert und zwar durch den ent-
gegengesetzten Grundsatz vertreten worden.
Ueber die alten Dialecte gibt es drei chinesische
Wörterbücher, welche wol zu berücksichtigen sind, nämlich
das Ecr-ja, das P'añ Jen und das cSwö Wan. Ersteres
ist ein Werk der K'au-Regierung (1050—255 v. Chr.) und
wird je nach dem Gegenstande in neunzehn Abschnitte
eingeteilt. Kleine Wörtersammlungen, die nach ihren ver-
wanten Bedeutungen eingerichtet sind, bilden den ersten
Abschnitt cSi Ku, welche dem berümten Herzog von K au
zugeschrieben wird. cSi jen, der zweite Abschnitt, besteht
aus einer Reihe von Wörtern, wovon das letzte die Be-
deutung der anderen gibt : die Verfassung desselben schreibt
man gewöhnlich Zö Hia, einem Jünger Kuñs zu. Die
nächste Abteilung ist paarweise sammt Erklärungen an-
angeordnet. Diese Art Doppel Wörter, welche ein Kenn-
zeichen der Taisch-Csan-Sprachen bildet, ist öfters in den
Volksliedern zu finden, im cSi Kiñ z. B., und ist als Er-
gebnis des Einflusses der Landessprachen dieser Familie
auf die Sprache der Chinesen anzusehen. Das Er -ja soll
den Klassikern als Sprachschatz dienen, der Endzweck des-
selben reicht jedoch weiter, denn es enthält viele Wörter,
welche man in keinem chinesischen Texte eigentlich ge-
funden hat. Zum großen Teile sind es LenWörter, welche
im Chinesischen nur durch die Homonymen als phonetische
Exponenten erscheinen. In diesem Werke findet sich ein
Fünftel des ganzen Vorrats, das heißt, 928 Wörter, welche
sonst nirgend vorhanden sind. Nach dem Wu kiñ Wan
zö enthalten die fünf Kiñ oder kanonischen Bücher bloß
Die indo-chinesische Philologie.
295
3335 verschiedene Wortformen. Wenn man die vier cSu
hinzufügt, so ist die Summe nur 4754. Die große Samm-
lung der 13 Kiñ (csi san Km), welche außer den vorher-
hergehenden noch die I-1 i, K'au-li, Hjan-Kiñ, Ko-liaù,
Kuñ Jan und das Er-ja einschließt, enthält 6544 ver-
schiedene Wörter.
Was den P'an Jen betrifft, so ist es nichts anderes
als eine vergleichende Wörtersammlung, welche von Jan
Hjuñ (5 v. 3 Chr. — 18 n. Chr.) gemacht worden ist. Der
volle Titel lautet: Jeo hien cse k'e zjüe tai jii csi pie
kwô P'añ Jen d. h. „die Sprache der Vergangenheit von
Boten in leichten Wagen sammt Wörtern aus verschiede-
denen Landesteilen erläutert". Ueber 12 000 Wörter aus
mer als 44 Landstrichen hat Jan Hjuñ in seinem Wörter-
buche gesammelt.
Hü cSen, der Verfasser des cSwö Wan, lebte im
ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Das cSwö Wan,
welches aus 9353 Wörtern besteht, ist noch immer das
Hauptwerk chinesischer Lexikographen geblieben. In die-
sem großen Werke hat Hü cSen alle Zeichen der sogenann-
ten Sjau K'wan, welche er für die besten hielt, gesam-
melt. Von Ku Wan hat er auch 441 Zeichen gegeben.
Wenn man also die Daten, welche aus dem Er-ja,
dem Páú Jen und dem cSwö Wan zu entnemen sind
sammt den Commentaren Kwô Pôs und eine kritische
Anordnung derselben nach Zeit und Raum zusammenbrin-
gen könnte, so würde Vieles über die sprachliche Geschichte
Chinas zwischen 500 v. Chr. und 250 n. Chr. erklärt und
erläutert werden können.
Zälen wir nun die Ergebnisse der indo - chinesischen
Philologie auf, denn sie sind von weitreichender Wichtig-
keit. Sie zeigen nämlich, dass die merkwürdige Cultur
Chinas aus Babylonien und Syrien herstammt, dass die so-
genannte chinesische Liste der Könige auf das frühe baby-
lonische Kanon sich stützt und die erste Dynastie der 86
von Berosus erwänten Könige wieder herstellt. Die Dauer
296
Baynes.
des ganzen chinesischen Kanons ist, ohne irgend eine astro-
nomische Beziehung, auf 44 Jahrhunderte vor Christus ge-
rechnet worden; die frühere Dynastie dagegen (13, 11, 9
Könige) auf 600 Jahre, woraus sich etwa 3800 v. Chr. für
Sen-Nuñ = Sargon ergeben würden. Außer der Aen-
lichkeit von Namen und Tatsachen zwischen chinesischer
Sage und babylonischer Geschichte erhalten wir zwei große
Synchronismen: Ku Nak Kcun-te = Kudur Nak-Kcunte
um 2300 v. Chr. und 'Sen-Nuñ — Sargon um 3800 v. Chr.
Noch wichtiger sind vielleicht die sprachlichen Tat-
sachen, welche durch wissenschaftliche Forschung ans Licht
gebracht worden sind. Besonders merkwürdig sind die ideo-
logischen Veränderungen, welche in den zwei Sprachtypen
turano-skythisch und indo-pacifisch zu erkennen sind. Die
ursprüngliche Ideologie der kwanlunischen Familie war
1. 3. 5. 8. III., die des heutigen Chinesischen ist jedoch
1. 3. 6. 8. VI., während die des Karengischen 1. 4. 6. 8.
VI., die des Tibeto-Birmanischen 1. 4. 5. 8. III. ist.
Erlauben wir uns endlich, die hauptsächlichsten sprach-
wissenschaftlichen Ergebnisse zu schematisiren, mit der
Hoffnung, dass M. Prof. de la Couperie in diesem frucht-
baren Forschungsfelde viele Mitarbeiter gewinnen möge!
Ideologische Kennziffern.
14 5 8
I. Natural gen-f-n, n-f-adj., a-j-v, s-{-v .
14 6 8
II. Hybrid gen-|-n, n-f-adj., v-f-a, s -f- y .
1 8*5 8
III. Indirect gen-j-n, adj.-|-n, a-f-v, s-j-v .
1 3 5 7
IV. Hybrid gen-f-n, adj.-f-n, a-(-y, v-j-s .
1 3 6 8
V. Hybrid gen-|-n, adj.-)-11? v-f-a, s-f-v .
2 4 6 8
VI. Hybrid n-f gen, n-j-adj., v-f-a, s-}-v .
2 4 6 7
VII. Direct n-j-gen, n 4-adj., v-f-a, v-)-s .
1. Gen -f- n
2. n -j- gen
3. Adj. -f- n
4. n -j- adj.
5. o-j-v
Bei der Sprachüberlieferung wird die alte
spätere Rassenstellvertretung öfters verwirrt.
. a) 0 + S + V
ß) 0 + V + s
• y) S + V + o
. 3) V + s + o
. £) V + O -f s
, Ç) S + V-fQ
. 7]J A-f-S
. &) s + v
6. v -j- o
7. v -f- s
8. s -f v
9. v — pa — v
10. v — o — v
Anordnung durch
Das System der chinesischen Sprachkette.
Todt Sprachen Lebend Dialekte Subdialekte
YSprachen der in China eingewanderten Bak-Stämme f
< /Ku-wan (als rohe Phonetik dargestellt) f 'Su hwa oder Buchspraehe mit ihren Verkettungen
iGem.\Ht./0estliche und mittlere Dialekte f
\H. (Allgemeine Dialekte der K'au-Regierung f
< ('Dialekte zur Zeit der Bürgerkriege f
lH. < (.......Siniko-Annamitisch
(H. j (Dialekte der Zin- und Han-Dynastien f
e. vChr.2200
NB
H
'In.
iHt.
Kanton (Punti od. Kuñ
Amoj
^P'uk'au
Hakka
'Sanhai
Siniù u. s. w.
Tungan
K'ank'ju
K'enk'jü
Tjek'jü od. Swatau
Hainan-Insel
Hinhwa
Nankanp'u
u. sb-D.
P'ú-an etc.
K'anpu
u. Sub.-D
K'au-an
u. S.-D.
2000 1500 1000 500 200
f bedeutet todt; Ht.
n. Chr. 200 60»
Altmandarin
1300
r
! Nankin
I Central
Pekin
ÍHokienp'u (K'îli)
<Kj annin
(Suk'anp'u
(Hankau
jNinpo
Ì Kinkwa
IWank'au u. s. w.
/'Suntienp'u
\Tienzin u. s. w.
1600
hybridisirt; H. = hybrid.
298
Baynes.
Das System des turanisch-skythischen Sprachstammes.
I. Südwest-Asiatisch:
f Sumirisch-Akkadisch, u. s. w. + ht.
II. Uralisch:
1. Ugro-Finnisch.
2. Samojedisch.
2. Jamatisch-Koreanisch.
III. Altaisch:
Türkisch-Tatarisch.
IV. Kwanlunisch:
1. Jenisseisch-Kottisch.
2. Chinesische Familie:
a) Alt f.
ß) Siiiiko-Annamitisch.
y) Kanton-Dialekte.
<J) P'okjen.
e) cSanhai.
O Mandarin.
3. Karen-Familie :
«) Nördlicher oder vorchinesisclier Zweig.
ß) Südlicher oder birmanischer Zweig.
4. Tibetisch-Birmanische Familie:
u) Bcot-Gruppe.
ß) Nepal „
y) Sikkin „
d) Assam „
«) Kak'arisch-Koch-Gruppe.
C) Naga-Kakcjen „
v) Kuki
if) Arrakan-K'in „
i) Birmanisch „
x) Laka-Solo „
X) Siphan n
V. Himalajisch:
1. Dravidas.
Die indochinesische Philologie.
299
2. Gangetisch.
3. Kolarisch.
4. Negrito-Andamanisch.
5. Australisch.
VI. Kucs-Kaukasisch:
1. Nord-Kaukasisch.
2. Alarodisch.
3. Kusitisch.
VII. Euskarisch und andere Abteilungen.
Beurteilungen.
Custom and Myth. By Andrew Lang. London, Long-
mans, Green and Co. 1885. 312 S.
In dem vorliegenden Buch bietet Lang nicht eine lose
Sammlung einzelner Essays, wie man aus dem Inhaltsver-
zeichnis zu schließen versucht sein könnte, vielmehr sind
sämmtliche Abhandlungen, so verschiedene Themen sie auch
behandeln und so mannigfache Gebiete sie auch streifen,
durch gewisse, häufig widerkehrende Grundgedanken mit
einander verknüpft und in einen organischen Zusammen-
hang gebracht. Vor Allem ist seinen Arbeiten die Methode
des Folklore gemein, über welche er sich im ersten Essay
eingehender ausspricht und über welche uns der Leser
einige Worte zu sagen vergönnen möge; immer wider geht
er von rohen Mythen und Märchen, von wilden Sitten und
Gebräuchen aus, deren Vorkommen bei höherstehenden
Culturvölkern wie Griechen und Römer stutzig macht,
welche sich bisweilen unter der Landbevölkerung bis auf
den heutigen Tag erhalten haben, welche uns aber erst klar
und verständlich werden, wenn wir die Analogien, die uns
die Wilden bieten, aufgespürt und sie aus der primitiven
300
Dr. P. Steinthal.
Weltanschauung der sogenannten Naturvölker erklärt haben.
Ferner sind viele Abhandlungen eingestandenermaßen mit
polemischer Tendenz geschrieben.
Lang wendet sich gegen die bisherige Behandlung der
vergleichenden Mythologie überhaupt, gegen die „philolo-
gische Methode der Namenanalyse", deren sich die meisten
Vertreter jener Wissenschaft bedienen, gegen die einseitige
Beschränkung ihrer Forschungen auf sprachverwante Völ-
ker, deren sie sicli schuldig machen. Wir werden nach-
her sehen, dass Lang die Berechtigung zu einer so radi-
kalen Opposition, wenn sie sich auch gegen so hervor-
ragende wissenschaftliche Autoritäten wie A. Kuhn und
Max Müller wendet, nicht abgesprochen werden darf, wenn
es uns auch scheint, als ob er den Wert der Etymo-
logie für die Mythenerklärung zu sehr unterschätzt und
wenn wir auch einwenden müssen, dass er bei Anführung
der etymologischen Deductionen anderer Forscher gar nicht
prüft, inwieweit sie mit den von der Sprachwissenschaft
festgestellten Lautgesetzen einer Sprache in Einklang
stehen, und z. B. gar nicht darauf aufmerksam macht,
dass Max Müllers Identification von Kqovoç und xqovoç
deswegen entschieden unzulässig ist. Im Großen und Glän-
zen hat die etymologische Analyse der Götter- und Heroen-
namen, mit welcher man sich doch schon seit lange be-
schäftigte, der Mytheninterpretation nur geringen Nutzen
gebracht. Ein Hauptgrund dafür liegt in der Unsicherheit
der Etymologien, die denn auch in den stark abweichen-
den Ansichten der verschiedenen Gelehrten zum Ausdruck
kommt. Oft kann nicht einmal festgestellt werden, ob ein
Göttername einer andern Sprache entlehnt ist, ob z. B. eine
Gestalt der griechischen Mythologie erst im Sonderleben
des griechischen Volkes entwickelt, ob sie aus dem indo-
germanischen Erb gute übernommen worden, oder ob sie
sich von semitischen Nationen aus zu den Griechen ver-
breitet hat. Diese Discrepanzen hinsichtlich des Ursprungs
der Götter oder der Mythen haben denn auch ganz hete-
Beurteilungen.
301
rogene Anschauungen über ihre Bedeutung und ihren Cha-
rakter zur Folge. Greifen wir ein frappantes Beispiel,
auf das wir bereits hingedeutet, aus dem Essay „The
Myth of Cronus" heraus. Nicht weniger als sechs ver-
schiedene Deutungen dieses Mythus werden hier angeführt.
So fasst Max Müller zunächst Kqôvoç als „Sohn der Zeit".
Nach ihm verdankt bekanntlich der Mythus seinen Ursprung
einer „Krankheit der Sprache" — eine Anschauung, welche
von der grundverkehrten Theorie ausgeht, dass die Sprache
ein selbständiger Organismus sei. Nach Müller hatte man
zunächst ein Adjectivum xqovìcùv oder xqovíói¡g im Sinne
von „verknüpft mit der Zeit". Später erhielten die Ad-
jectiva auf cœv oder lòrjg ausschließlich patrony misch en
Sinn. Man verstand daher den Sinn jener Worte nicht
mehr, und erfand, um sie sich zu erklären, den Gott Cro-
nus. Wie man freilich dazu kam, so barbarische Geschich-
ten liber ihn zu erzählen, erklärt Müller nicht. Wenn
hier Cronus als specifisch griechischer Gott gefasst wird,
so vergleicht dagegen A. Kahn das sanskritische Partici-
pium „Kräna", „der Schaffende", und zieht aus der indischen
Mythologie den Prajäpati heran. Nach ihm ist Cronus
„der Herr lichter und dunkler Mächte, welcher die Licht-
gottheiten verschlingt" — wobei uns der Unterschied
zwischen dem Verschlinger und den verschlungenen Wesen
nicht recht klar wird. Brown und Preller fassen ihn da-
gegen als Erntegottheit (nach Brown wörtlich Hornträger)
auf, ersterer vergleicht das assyrische Ka Rhu, das he-
bräische qeren „Horn", hält demnach Entlehnung von den
semitischen Völkern für wahrscheinlich, — hiernach müsste
es aber doch auffallen, dass Cronus nie mit Hörnern dar-
gestellt wird. Preller trifft mit ihm zwar in der Wider-
erkennung semitischer Elemente zusammen, vergleicht je-
doch den Namen mit xçaivœ, vollenden. Ich glaube, jene
Aufzählung ist für den Leser zu ermüdend, um sie hier
in aller Ausführlichkeit zu widerholen; erwähnen wir da-
her nur kurz, dass Härtung und Say ce den Cronus als
302
Dr. P. Steinthal.
Sonnengott, Schwartz ihn hingegen als Sturmgott auf-
fassen und dass demgemäß auch von seinem Embleme, der
Sichel, ganz verschiedene Deutungen gegeben werden. Noch
mehrere ähnliche Beispiele gibt der Autor uns hinsichtlich
der widersprechenden Deutungen, welche die Vertreter der
philologischen Methode von gewissen Mythen geben, vgl.
z. B. die Differenzen Müllers, Kuhns, Roths und Schwartzs
über den Sinn des Mythus von Urvaçî und Pururavas, p.
67—71 etc.
Müssen uns so weitgehende Differenzen in der Tat
gegen die philologische Methode misstrauisch machen, so
hat dieselbe ferner den Fehler, dass sie die barbarischen
Elemente, die sich in den Mythen oder Märchen so hoch-
stehender Culturvölker wie der Griechen und Römer vor-
finden, nicht erklärt, und sodann den Nachteil, dass sie
den Wert der Namen für die Erklärung der Mythen weit
überschätzt. Bereits Tylor hat darauf aufmerksam ge-
macht, dass viele volkstümliche Geschichten zuerst von
namenlosen Personen erzählt, dass die Namen erst spä-
ter hinzugefügt wurden. Wie erklären sich die Mytho-
logen die frappanten mythischen Parallelen bei Völkern,
welche die maßgebenden Namen absolut nicht kennen und
welche ganz anderen Sprachstämmen angehören? Wie
machen sie es beispielsweise begreiflich, wenn die Maoris
von ihrem Gotte Tutenganahau ganz ähnliche Geschichten
erzählen, wie die Griechen von Cronus? Aus solchen Be-
denken ergibt sich fast von selbst die Notwendigkeit My-
then und Märchen nach einer anderen Methode zu erklären.
Lang substituirt nun der philologischen die Folklore-Me-
thode, den Namen erklärt er freilich (Introduction, p. 6)
für ungeeignet, scheut aber den treffenderen Ausdruck
„Methode der vergleichenden Mythologie", da die philo-
logischen Interpreten diesen bereits für sich in Anspruch
nehmen. Seine Methode ist nun zunächst nicht auf Mythen
angewandt, sondern aus der Archäologie und Ethnologie
herübergenommen worden. Sie hat bei der Erklärung pri-
Beurteilungen.
303
mi ti ver Kunstproducte, wie auch der Volksrätsel und Sprich-
wörter, abergläubischer Bräuche und Sitten zuerst treff-
liche Dienste geleistet. So hat sie z. B. Tylor in seiner
„Primitive Culture" in umfassendster Weise angewendet,
und schon bei ihm sieht man klar, als wie geringwertig
hier das Moment der Rassen- und Sprachgemeinschaft and
bisweilen auch das Moment der Entlehnung angesehen
wird. Schon hat er jene Rudimente der Volks Weisheit,
jene Bräuche und Sitten, wenn sie uns bei hochstehenden
Culturvölkern begegnen, alsUeberbleibsel älterer roherer
Entwicklungsstadien erklärt, zu welchen uns erst die Ana-
logien bei den Wilden den Schlüssel geben. Diese Anschau-
ung überträgt Lang auf das Gebiet der Mythen und Mär-
chen. Oft begegnen uns, wie er mit Recht hervorhebt, bei
geistig so hochstehenden Nationen wie Griechen und Römern,
barbarische Geschichten und Mythen, abstoßende Gebräuche,
die zu ihrer vorgeschrittenen intellectuellen Entwicklung,
zu ihren geläuterten sittlichen oder ästhetischen Anschau-
ungen nicht recht passen wollen. Machte doch der Cronus-
mythus bereits den doch keineswegs pietätlosen Sokrates
stutzig. In solchen Fällen ist es nun von Wichtigkeit den
Mythus da wiederzufinden, wo er mit dem ganzen geisti-
gen Niveau eines Volkes in Harmonie steht, und hier leisten
uns gerade die Mythen solcher Stämme, die mit dem be-
treffenden Culturvolke weder stamm- und sprachverwant
sind noch in historischem Contact standen, große Dienste.
Der Mythus erweist sich hier „als ein Product uralter
menschlicher Phantasie, welche an der rudimentären Kennt-
nis der Außenwelt arbeitet". Ihm liegt, um einen treffen-
den Ausdruck Tylors zu gebrauchen, die Metaphysik des
Animismus zu Grunde, nach welcher alle Naturobjecte
als belebte und beseelte Wesen aufgefasst und auch die
Grenzen zwischen so verschiedenen organischen Wesen wie
Menschen, Tieren und Pflanzen nicht scharf gezogen wurden.
Beispiele für jene Theorie liefert Langs Buch in Fülle, so
zeigt er z. B. in dem Essay „Star Myths", wie die ver-
304
Dr. P. Steinthal.
schiedensten Völker die Sterne als Tiere oder Menschen
in ganz ähnlicher Weise sich vorstellten, ja wie sogar so
eigenartige Geschichten wie die von der verschwundenen
Plejade von Völkern, die von einander so entfernt lagen
wie Griechen und Australier, erzählt werden.
Wenn nun Lang auch in vielen Fällen die Mythen
ohne Annahme der Entlehnung erklärt, so verneint er
das letztere Princip nicht etwa schlechthin (cf. den Essay
„A far-travelled tale"), vielmehr stellt er sogär zwei Wege
fest, auf welchen die Entlehnung vor sich ging, nämlich
1. durch Sclaven, 2. durch Bräute, welche die Männer aus
fremden Stämmen oft gewaltsam entführten. Auch das
Moment der Rasse ist nach ihm für den Mythus nicht
etwa gleichgültig, vielmehr ist dieselbe für die letzte lite-
rarische Gestaltung desselben von entschiedener Wichtig-
keit, wenn auch seine gemeinsame Basis nicht von ihr
beeinflusst wird.
Ein weiterer Grundgedanke, der sich gleich einem
roten Faden durch die Mehrzahl der Essays hindurchzieht,
ist der Nachweis des innigen Connexes, welcher zwischen
den metaphysisch-religiösen Anschauungen der Culturvölker
und den Sitten und Riten der Wilden besteht. In dieser
Hinsicht liefert uns der Autor ein bedeutsames Capitel der
Psychologie der Wilden, das ihm ja auch zum Titel seines
Buches Veranlassung gegeben hat. Ein häufig widerkeh-
rendes Beispiel ist der Zusammenhang zwischen dem To-
temismus und der Exogamie. Der erstere Ausdruck ist
den nordamerikanischen Stämmen entnommen. Unter To-
tem verstand man ein Naturobject (ein Tier, eine Pflanze),
welches die Mitglieder eines Stammes als ihren Vorfahren
religiös verehren. Mehrfach (zuerst in „Apollo and the
mouse") weist Lang nach, dass diese Anschauung auch
unter den arischen Völkern einst geherscht haben muss
und sichtliche Spuren in ihren Mythen zurückließ (vgl.
z. B. die Liebesabenteuer, bei denen sich Zeus tierischer
Gestalten bedient). Bei den Griechen wurden die Totems
Beurteilungen.
305
öfter zu Attributen der Götter, die man sich ursprünglich
theriomorphisch, später aber anthropomorphisch dachte.
So wurden die heiligen Mäuse, die im Apollotempel gehal-
ten werden, einst selbst Objecte religiöser Verehrung ge-
wesen sein. Unter den Eassen, welche die totemistische
Anschauung haben, besteht nun das Gesetz der Exogamie,
nach welchem kein Mann ein Weib heiraten darf, welches
von demselben Ahnentier abstammt, denselben Totemnamen
und dasselbe Abzeichen trägt wie er selbst. Aus dieser
Sitte, die ebenso wie der Totemismus mit der vorrücken-
den Civilisation verschwindet, erklären sich ja auch jene
strengen und seltsamen Restrictionen des ehelichen Ver-
kehrs, welche in Geschichten von der Art des Amor- und
Psychemärchens fortexistiren. Sowohl der Totemismus als
die Exogamie führen uns, wie der Essay „The early hi-
story of the family" zeigt, in eine Epoche, in welcher die
patriarchalische Familie noch nicht existirte und die Ver-
wantschaft wahrscheinlich ausschließlich auf die weib-
liche Descendenz zurückgeführt wurde. Hier ist freilich
Vieles, wie der Autor selbst zugibt, nur Vermutung, und
z. B. die Beweise für das einstige Bestehen der Polyan-
drie unter den Ariern ziemlich schwach. Dass übrigens
großer Wert auf die Exogamie gelegt wurde, erhellt schon
aus den strengen Strafen, welche man auf Uebertretung
jener Verbote setzte.
Von wie einschneidender Bedeutung der hier zu Tage
tretende Zusammenhang zwischen der theoretischen und
der praktischen Geistessphäre der Wilden für die Ursprünge
der Eeligionen ist, zeigt Lang in dem gegen Max Müller
gerichteten Essay „Fetishism and the Infinite". Mit Ent-
schiedenheit weist er die Theorie des letztern zurück, nach
welcher der mit dem Totemismus eng verwante Fetischis-
mus eme Abirrung von einer ursprünglich reineren Welt-
anschauung repräsentirt. Max Müllers Argumentation liegt
hier eine falsche Auffassung der Hymnen des Egveda zu
Grunde, vor welcher bereits Prof. Oldenberg in seiner Vor-
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 3. 20
306
Dr. P. Steinthal.
lesung „Einleitung in den Veda" gewarnt hat. Der Rgveda
spiegelt nicht einfach die Volksreligion wieder, sondern
wir erfahren ans ihm nur die religiösen Anschauungen
einer bestimmten Kaste — und zwar der gebildetsten, der
Priester- und Sängerkaste, welche wahrscheinlich bestrebt
war die gröbere Metaphysik der niedrigeren Kasten zu
läutern und zu heben. Der Atharvaveda führt uns da-
gegen höchst wahrscheinlich ursprünglichere und ältere
Stadien religiöser Entwicklung vor; und wenn uns hier
zahlreiche Spuren des Fetischismus begegnen, so ist wahr-
scheinlich der letztere nicht, wie Max Müller glaubt, unter
den alten Indern erst secundär gewesen, sondern er ge-
hörte — ebenso wie der Totemismus, der noch heute in
dem Glauben an die Ayataren des Vishnu-Krshna fort-
lebt — yon Anfang an zu ihrer religiösen Anschauung.
Dass der Totemismus auch für die Anfänge der Kunst von
Bedeutimg ist, zeigt Lang im letzten Essay („The art of
savages"). Entweder zeichnen die Wilden den Totem sich
auf ihren Schild oder ihren Rock oder sie tätowiren ihre
Brust mit seiner Figur oder endlich sie bringen ihn auf
den Pfeilern über den Gräbern zur Darstellung.
Wir ersehen aus dieser Abhandlung, wie Archäologie
und Folklore sich darin gleichen, dass sie uns eine unbe-
schadet verschiedener äußerer Einflüsse wie Klima und
Landschaft homogene geistige Entwicklung der Völker
verschiedenster Abstammung vorführen. Wie die Obser-
vanzen griechischer Mysterien so manche Parallele zu den
Mysterien so barbarischer Nationen wie der Indianer oder
Australier enthalten (cf. „The bull-roarer"), so erinnern
uns archaische Gemmen der Griechen an die rohen Zeich-
nungen jener so entfernten Erdteilen angehörenden Völker.
Wir hoffen, dass der Leser aus unseren Andeutungen sich
ein Bild der Grundsätze zu entwerfen vermögen wird, mit
Hülfe welcher Lang sich bemüht hat in das bisher ziem-
lich schwankende Gebiet der Mythenvergleichung und My-
thendeutung mehr Ordnung und Methode zu bringen. Dass
Beurteilungen.
307
er die Einzelnheiten der Mythen oft nicht erklären kann
und hierin hinter seinen Vorgängern zurücksteht, gibt er
selbst zu, und der Wert seines Buches wird durch solche
Mängel nur wenig beeinträchtigt. Von dem reichen In-
halt desselben aber legen bereits die Titel seiner Essays
Zeugnis ab, die wir hier der Reihe nach anführen : „Intro-
duction, The Method of Folklore, the bull-roarer: the myth
of Cronus, Cupid, Psyche and the „sun-frog", a far-travel-
led tale, Apollo and the mouse, star myths, moly and man-
dragora, the „Kalevala", the divining rod, Hottentot mytho-
logy, fetishism and the infinite, the early history of the
family, the art of savages.
Ein guter Index macht das Buch recht übersichtlich.
Es sei nun gestattet, über drei Abhandlungen nähere
Mitteilung zu machen. Zuerst Langs Ansicht von Amor
und Psyche, welche auch in einer besonderen Schrift ver-
öffentlicht ist:
The marriage of Cupid and Psyche . .. London 1887.
Published by David Nutt, in the Strand. LXXXVI
und 65 Seiten.
Das berühmte Märchen des Apulejus von Amor und
Psyche wird hier in einer mit geschmackvollen Illustratio-
nen ausgestatteten Ausgabe in der Adlingstonschen, dem
16. Jahrhundert bereits entstammenden Uebersetzung dem
Publikum vorgeführt. Voraus gehen einige englische Ge-
dichte, die sich eng an das sinnige Märchen knüpfen, das
zu so vielen modernen Kunstwerken angeregt hat. Dann
folgt die Vorrede, in welcher der Herausgeber Andrew
Lang über die älteren englischen Ausgaben Auskunft gibt
und die Illustratoren namhaft macht. Nun aber kommt
erst der wertvollste Teil der Publication, ein höchst in-
structiver, circa 70 Seiten umfassender J)iscurs des Autors
über die Fabel. Durch Vergleichung von Märchen der
verschiedensten sowol arischen als nichtarischen Völker
gelangt er zu dem Resultat, dass „die Elemente unseres
Härchens, wenn gewisse primitive sociale Verhältnisse vor-
20*
308
Dr. P. Steinthal.
liegen, fast allgemein menschlich sind (S. I—XXXV) und
dass, wenn auch die Annahme der Entlehnung durchaus
nicht von vornherein abzuweisen, vielmehr in jedem ein-
zelnen Falle gewissenhaft zu prüfen ist, jedenfalls Cosquins
in seinen Contes de Lorraine (Paris 1886) ausgesprochene
Ansicht, dass Indien die einzige Geburtsstätte des vor-
liegenden Märchens sei, nicht zugegeben werden darf. Da
man, einmal wegen der abweichenden CulturVerhältnisse
der verschiedenen in Betracht kommenden Volksstämme,
sodann aber auch angesichts des schwankenden Charakters
derartiger Geschichten überhaupt, keine vollständige Ent-
sprechung der Märchen verschiedener Rassen (z. B. euro-
päischer und amerikanischer oder afrikanischer Märchen),
sondern nur eine wesentliche Correspondenz ihrer Ideen
(Grundbestandteile) erwarten darf, so gilt es zunächst
letztere zu analysiren.
Lang findet nun sieben Hauptereignisse heraus, in
welchen sieben Ideen zum Ausdruck kommen. Von diesen
werden nun drei (die Eifersucht der älteren Schwestern auf
eine glückliche jüngere, die Eifersucht der Schwiegermutter
auf die Geliebte ihres Sohnes, die Bestrafung der Neu-
gierde, die gegen ein Verbot gerichtet ist) als menschliche
Ideen ausgesondert, die zwar überall durch Märchen illustrirt
werden können, aber unter Begünstigung gewisser cultur-
und sittengeschichtlicher Momente leichter in den Vorder-
grund treten (wie z. B. die Eifersucht auf jüngere Schwe-
stern stärker in Ländern hervorgehoben wird, wo das
jüngste Kind erbberechtigt ist). Eine vierte Idee (der
Plan eine verhasste Person zur Ausführung gefährlicher
Taten anzutreiben und sie bei deren Misslingen mit dem
Tode zu bestrafen) wird als eine für Zeitalter absoluter
Autorität geläufige Vorstellung nachgewiesen. In engem
Zusammenhang mit dieser steht eine fünfte Idee (von der
Reise nach der Hölle — die sich ebenfalls — sogar mit
ähnlichen, die Rückkehr lebender Personen aus der Unter-
welt betreffenden Restrictionen — bei den Völkern ver-
Beurteilungen.
309
schiedenster Abstammung vorfindet. Am eingehendsten
werden die zwei übrig bleibenden Ideen behandelt — näm-
lich 1. die Idee von den Tieren, die befreundeten Menschen
zu Hülfe kommen, 2. die Idee von dem Verbote, das der
Bräutigam seiner Braut auferlegt, das punctum saliens der
ganzen Geschichte. Die Wurzel der ersteren weist Lang
in der bei den meisten wilden Nationen verbreiteten An-
schauung der Verwantschaft der Menschen mit den Tieren
und resp. sogar mit der unorganischen Natur nach, wäh-
,rend die letztere — wie Lang durch Herbeiziehung der
mannigfachsten Zeugnisse zu begründen sucht — eine einst
tatsächlich bestehende Sitte reflectirt, die, nachdem sie in
praxi verschwunden, noch im Märchen oder Mythus fort-
lebt. Eine Stelle des Herodot gibt Lang einen bedeutungs-
vollen Fingerzeig zu seiner Beweisführung, nach welcher
das Verbot in den Fällen entstand, in welchen Männer
sich Gattinnen anderer Stämme mit Gewalt freiten. Keine
einzige der aufgeführten sieben Ideen ist mithin einem
einzelnen Volke eigentümlich, vielmehr finden sich alle bei
Völkern verschiedensten Ursprungs vor. Nach dieser Ana-
lyse zeigt Lang, dass Cosquins Beweise für den indischen
Ursprung des Märchens höchst unzureichend sind, da so-
wol das Motiv von dem Tierfell, das ein Mensch an- und
wider ablegt und das ihm event, die Eigenschaften des
betreffenden Tieres gibt und wider nimmt, wie auch das
von den hülfreichen Tieren zu weit verbreitet sind, um sie
als specifisch indisch ansehen zu dürfen. Die Unwahrschein-
lichkeit der obigen Cosquinschen Hypothese wird schließ-
lich noch speciell bei der Vergleichung eines Zulu-Märchens,
das mit der Erzählung des Apulejus frappante Aehnlich-
keiten zeigt, dargetan.
Betrachten wir hiernach Langs Ansicht vom Kronos.
Langs Ansicht über Cronus.
So sehr uns Lang von der Unsicherheit der Theorien
seiner Vorgänger über den Gott Cronus zu überzeugen ver-
standen hat, so gibt er selbst freilich keine ausreichende
310
Dr. P. Steiûthal.
Erklärung über die ihm zu Grunde liegenden Vorstellun-
gen. Der erste Teil des Cronusmytlius, in welchem Cro-
nus zu seiner eigenen und seiner Geschwister Befreiung
gewalttätig gegen seinen Vater Uranos auftritt und ihn
yon der Gäa trennt, findet eine frappante Parallele in dem
Maori-Mythus von Tutenganahan und ist ein Naturmythus,
welcher die Trennung von Himmel und Erde, welche bis
dahin stets vereinigt gewesen, erklären soll. Es liegt hier
eine Vorstellung, die unter den Wilden weit verbreitet und
auch iñ China und Indien Analogien gefunden, zu Grunde.
Ueber den Sinn des Verschlingungsmythus, für welchen
er uns auch die mannigfachsten Analogien vorführt (vgl.
auch Grimms Märchen „Der Wolf and die sieben jungen
Geißlein"), spricht er sich nicht sehr entschieden aus. Nur
als Vermutung führt er an, dass die Nacht, welche die
Welt bedeckt, den Wilden die erste Idee eines solchen
Mythus gegeben haben könnte, will aber selbst nicht alle
Wesen, von welchen ähnliche Geschichten erzählt werden,
mit der Nacht identificiren. Es genügt ihm die Tat des
Cronus als „eine der Fantasie der Wilden congeniale, da-
gegen den civilisirten Griechen widerstrebende" nachgewie-
sen zu haben. Auf die etymologische Erklärung des Wortes
Cronus verzichtet er.
Schließlich:
The bull-roarer.
In diesem Essay gibt uns Lang die Geschichte oder
die Charakteristik eines der weit verbreitetsten Spielzeuge,
das unter wilden wie unter civilisirten Völkern gefunden
wird und bei ihren Mysterien zur Anwendung kommt. Es
ist den englischen Bauernjungen noch heute bekannt; die
Australier nennen es tur dun, betrachten es mit religiöser
Scheu uno verbieten den Weibern danach zu sehen, womit
sie kundtun, dass es ihnen als Symbol der nur für die
Männer bestimmten Mysterien gilt. Verfertigt wird der
bull-roarer einfach so, dass an ein Stück eines hölzernen
Brettes, dessen Ende geschärft worden, ein starkes Stück
Beurteilungen.
311
Saite angebunden wird. Wenn das Instrument herum-
gedreht wird, verursacht es einen schauerlichen Lärm.1
Bei den Griechen begegnet es uns unter den Spielzeugen
des Dionysuskindes (xwvoi, QOfxßoi). Auffällige Analogien
bieten uns die Dionysusmysterien und die Mysterien der
Wilden (afrikanischer, australischer, amerikanischerStämme).
Bei beiden beschmieren sich die Celebranten mit Ton —
eine Sitte, deren Ursprung schwer zu erklären ist; bei
beiden spielen Tänze eine wichtige Eolle. Trotz dieser
Analogien nimmt Lang nicht an, dass ein Volk das In-
strument vom andern entlehnt hätte, sondern glaubt, es
sei von den meisten Völkern in einem primitiven Cultur-
stadium separat erfunden worden. Dr. P. Stein thai.
Folklore.
Nachtrag zu vorstehender Besprechung.
Von Prof. Steintlial.
Diese junge Prinzessin aus England hat also schon in
Deutschland ihren Eintritt vollzogen, und ich sehe voraus,
dass sie wie Manchestertum, Utilitarismus und sonstige
Heilsarmeen ihren Triumphzug durch Deutschland halten
wird. Schließlich habe ich auch nicht das Geringste da-
gegen, wenn nur aus den Fußspuren dieses Zuges Heil
ersprießt, und wenn es wirklich die Prinzessin und nicht
eine ihrer Kammerzofen ist, die man verehrt. Sie trägt
ein mir längst wolbekanntes Gesicht, eine von mir längst
geliebte Gestalt; denn sie ist eine Zwillingsschwester,
gleichviel ob jüngere oder ältere, der Völker-Psychologie.
1 Anm. d. Red. Als Kind nahm ich .einen Splint, befestigte
durch ein Loch an dessen Ende einen Bindfaden und schleuderte
mit Hülfe des letzteren den Splint im Kreise herum, dabei entstand
ein Sausen, ähnlich dem, welches man oft an Windmühlen-Flügeln
bemerkt. St.
312
Prof. Steinthal.
Während aber letztere in Deutschland das Heimatsrecht
gewonnen hat (?), hat die erstere es in England erworben
und nachdem sie sich auch in Frankreich ansässig gemacht
hat, versucht sie nun auch in Deutschland ihren Sitz zu
gewinnen.
In diesem Sinne würde ich also Dame Folklore freu-
dig begrüßen können, wenn ich nicht doch dabei werde
lächeln müssen : denn sie ist nicht eine Zwillingsschwester,
sondern nur ein (es wird darauf ankommen, ob getreues
oder ungetreues) Konterfei der Völkerpsychologie.
Oder was hat wol irgend ein Anbeter dieser Schönen
geleistet, was dein gleichkäme, was unser Bastian getan?
mehr getan als unser Haberland? oder unser Flügel?
oder unser ethnologischer Physiolog Pio ss? unser Gründer
der ethnologischen Jurisprudenz Post? Wo fände Miss
Folklore einen behaglicheren Sitz als in Waitz-Gerlands,
Friedrich Müllers, Pescheis Werken?
Am liebsten hält sie sich in den Mythen-Gärten der
Völker auf, und sie findet, die Mythen-Vergleichung habe
hier arg gehaust, und sie müsse hier vor allem Ordnung-
schaffen. Schade freilich ist es, dass Miss, wie sie von der
Völkerpsychologie gar nichts gehört hat, so auch über die
vergleichende Mythologie recht schlecht unterrichtet ist.
Ueberhaupt hat die letztere das Missgeschick, die töricht-
sten Gegner gehabt zu haben und noch zu haben, überdies
törichte Anhänger, die von ihr verlangten, was sie nicht
gewähren konnte.
Die Völkerpsychologie hatte gesagt, die Mythen seien
Schöpfungen der Völker, welche zunächst den gesammten
Erkenntnisinhalt umfassen, also auch den religiösen in sicli
schließen, damit dann aber weiter auch das praktische
Leben gestalten und regeln, indem sie Sitten und Institu-
tionen, Cultus und Cultur hervorbringen. So bilden die
Mythen den Mittelpunkt der gesammten psychisch-ethno-
logischen Forschung, da einerseits alles aus ihnen fließt,
sie selbst aber innig mit der Sprache verbunden sind,
Beurteilungen — Nachtrag.
313
welche freilich als noch ursprünglicheres Element des
Geistes anerkannt werden inuss.
Nun zeigen sich bei den verschiedenen Völkern in
ihrem geistigen Besitz, in den Sprachen, Mythen, Sagen
und Märchen, Sitten und Aberglauben, Meinungen, Schätz-
ungen, Grundsätzen, Einrichtungen, Dichtungen, Rätseln
und Kinderspielen, auffallende Uebereinstimmungen — aber
auch Abweichungen, Verschiedenheiten. Letztere wurden
zuerst bemerkt, ich meine, beachtet; sie regten zuerst die
Frage an: woher das? Das Natürlichste schien dem Men-
schen, dass sie Alle gleich leben, gleich sprechen, denken
und tun. Das Gegenteil nun, das sich ihm in der Erfah-
rung darbot, erklärte er sich zuerst in mythischer Form.
Nirgends sucht der Mythos die Gleichheit der Menschen zu
erklären, sondern lediglich die Ungleichheit. Der erwachende
Verstand war es, der denn doch bald herausfand: c'est par-
tout comme chez nous. Ich weiß zwar nicht, woher dieser
Satz stammt, und was er eigentlich bedeutet, und bin nicht
sicher, ob er nicht am Ende bloß dies sagen soll: es gibt
überall Schurken und ehrliche Leute. Doch gleichviel: die
Gleichheit der menschlichen Natur in allen Völkern wird
damit anerkannt.
Die Wissenschaft aber sucht das Gleiche wie das Un-
gleiche; das heißt: sie vergleicht, und das kann sie nicht,
ohne dieses wie jenes, jenes wie dieses herauszuheben; und
da wir längst, gerade umgekehrt gegen den primitiven Men-
schen, die Ungleichheit als das Natürliche hinnehmen, so
werden wir am stärksten von der gegen Erwartung sich
darbietenden Gleichheit betroffen, und so sind wir am
meisten und stärksten bemüht, die letztere zu erklären,
und wo möglich in einer Weise, dass zugleich auch die
Ungleichheit begreiflich wird.
So verfahren alle vergleichenden Disciplinen, insofern
sie rational sind, aus Gesetzen begreifen wollen, und
das heißt allemal: insofern sie genetisch erklären, ein
314
Prof. Steinthal.
Werden und eine Entwicklung- aus einem Keime oder aus
Bedingungen verfolgen.
Wie viel Möglichkeiten also hat man bis heute versucht,
um die Gleichheit und Ungleichheit der Mythen der Völker
zu erklären? Nach Lang1 gab es bisher zwei Schulen,
die euhemeristische und die linguistische, zu denen er nun
als dritte seine folkloristische fügt. Dies beweist in meinen
Augen entweder völlige Unkenntnis der Geschichte der
Mythologie oder völlige Urteilslosigkeit. Hier aber will
ich über die „Schulen" der Mythologie nur bemerken, dass
es auch eine deutsche gibt, der ich mich anschließe, und
die ich so nenne, weil sie von den deutschen Germanisten
Grimm und Uhland gegründet ist. Die Grundgedanken
derselben aber gehören dem universellen Cr eu z er. Da
unsere Zeitgenossen von dem letztgenannten Manne nichts
oder nicht viel wissen werden, höchstens, dass er Symbo-
list und Synkretist war (Grund genug, um ihn zu igno-
riren!), so will ich die mythologischen Grundgedanken des
Mannes hierher setzen.
Creuzer stellt vor allem folgenden allgemeinen Grund-
satz für die Mythenforschung hin: „Aber der Kichtweg
zum höhern Altertum, und mithin zum Gebiete des Mythos
ist die Anschauung, der Sinn. Bildet die Masse der ge-
sammten Mythen ein großes Panorama religiöser Anschau-
ungen, so ist es das Schauen dieser Anschauungen, was
hauptsächlich den Mythologen macht. Der Mythologe wird
geboren." Doch bedarf er der Schule. Eine gute Schule
ist „das einfache Lesen des ersten Buches Moses. Aber
auch Natur, Natursprache und Volk weihen den zum Er-
klärer der Mythen, dem die Natur jenen Sinn gegeben".
Der Mythologe müsse besitzen „vor allen Dingen geniale
Dichtungskraft„wissenschaftliche Empfindung, wie es
1 Meine Angaben über Lang entnehme ich den ausführliehen
Excerpten, die mein junger Freund, Dr. Paul Stein thai, Verfasser
des vorstehenden Aufsatzes, für sich gemacht und mir zur Verfügung
gestellt hat.
Beurteilungen — Nachtrag.
315
Speusippos nennt: s7riaTr¡/xovixr¡ ái(j&i¡Gig d. h. großes um-
fassendes Wissen, wissenschaftlichen Geist, aber auch Sinn
und Tact. So gerüstet geht er auf den Mythus geradezu
los, und erfasst mit Sicherheit und schnellem Geistesblick
dessen Bedeutung. Wie die Mythen von dem Menschen
der Vor weit nicht erdacht, nicht ergrübelt worden, son-
dern von selber in schöne Seelen gekommen: also ist der
Mythen Deutung nicht jeglichem gegeben, und das, wor-
auf es zuletzt ankommt, lässt sich auch nicht lehren".
Dies ist gegen Gottfried Hermann, Voss und Otfried Müller
gerichtet. „So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet
ihr in das Paradies des Mythos nicht eingehen."
Er entwickelt nun diesen Grundsatz näher: „Es gibt
ein Erfahren der Mythen, und ein solcher (der geborene
Mythologe) erfährt die Mythen alle Tage, wenn er sich um-
sieht in der lebenden Haushaltung der Natur und das
Volk in seinem Tun und Leben beobachtet. . . Das Ent-
fernteste tritt ihm nahe. Z. B. die Fabel vom Phönix,
mit dessen Sterben und Wideraufleben eine Zeitperiode
bezeichnet ist. Wer den Gebrauch und den Spruch des
Volkes vergleicht, wenn es „„seine Kirch weihe begräbt,
um sie im nächsten Jahre wieder zu wecken"" und auf
die große Consequenz der Natursprache achtet, erst der
wird sich der natürlichen Genesis und der ersten Anschau-
ung jenes Symbols auf einem geraden Wege nähern. Oder:
wer den Weinstock betrachtet, und nun auf die Ausdrücke
acht gibt, womit der Winzer die verschiedene Entwicklung
des Gewächses, sowie die Erscheinungen an ihm in seiner
Sprache schlicht, aber treffend bezeichnet, dem wird gar
manches verständlich werden, was griechische Volks- und
Bildersprache in bacchischen Gebräuchen, Attributen und
Mythen versinnlicht hat."
Wer hier Creuzer nicht beistimmt, dem spreche ich
ebenfalls den Sinn für Mythologie ab. Hier ist Jacob
Grimm und seine Schule, Kuhn und Schwartz vorge-
zeichnet.
316
Prof. Stein thai.
Grenzer entwickelt weiter die vergleichende Methode,
die ja nach dem eben Bemerkten nun ganz überflüssig
scheinen könnte: „Weil ich in jedem hellenischen Mythus
einen Ton und Laut der allgemeinen Natursprache sehe,
und der Grundton von den meisten Tönen mir orientalisch
zu klingen scheint: deswegen fühle ich mich mehrenteils
bewogen, den griechischen Mythenlaut mit jenem orienta-
lischen Grundton zu vergleichen." In Folge dessen sagt
Creuzer von sich, dass er „bei jedem griechischen Mythus,
selbst dem localsten und speciellsten, zwar der Localität
und den besondern Umständen ihre vollen Rechte ein-
räume, aber dabei doch auf den allgemeinen Grund aller
Sagen und Mythen, die menschliche Natursprache, und
auf das ursprüngliche Vaterland der mythischen Ganzheit
hellenischen Glaubens, auf den Orient hinblicke."
Hierüber äußert er sich noch deutlicher. Die Mytho-
logie bilde kein System. „Denn wenngleich in ihren Kreis
auch Religionslehren und Ideen gehören, die, sobald sie
doctrinell und wissenschaftlich erfasst werden, ein syste-
matisches Ganze bilden können : so bleiben doch bei wei-
tem die meisten Mythen innerhalb der Grenzen des Sinnes,
des Glaubens, der bloßen Anschauung und der Phantasie
stehen." Creuzer will also statt System lieber sagen:
„Ganzheit mythologischer Massen, Fäden eines großen my-
thischen Gewebes." Die Mythenmassen der einzelnen Völ-
ker verhalten sich zu einander „wie die Planeten, die aus
einander gefahrenen Teile eines zerstobenen Urplaneten,
die nun in verschiedenen Bahnen um die Sonne laufen."
Zunächst seien „diese einzelnen Bahnen zu beobachten und
alle Erscheinungen des einen wie des andern warzunehmen.
Die wahre Einsicht aber in ihr Wesen bleibt die Erkennt-
nis ihrer ursprünglichen Einheit, sowol dass sie Teile
eines Ganzen waren, als auch wie sie es waren, wie sie
sich ungetrennt zu einander verhielten".
Auch über den Ursprung der Sage aus dem Mythos
hat er sich ausgesprochen : „Wir schauen so auf den Grund
Beurteilungen — Nachtrag.
317
in den wallenden Fluten der Sage und haben endlich den
Hort einer einfach-wahren Urgeschichte von dem wechseln-
den Regiment solarischer und neptunischer Kräfte, und
wie dieser tellurische Regierungswechsel mit dem Wechsel
ältester Dynastien innerlich und notwendig zusammenge-
worfen worden."
Warum ist denn nun aus diesen vortrefflichen Grund-
sätzen Creuzers so gar nichts Gescheites herausgekommen?
Das könnte ich dem Leser sehr genau sagen. Creuzer war
krank; ich könnte das Bild seiner Krankheit entwickeln;
sie war sogar ansteckend. Indessen da sie heute keine
Ansteckungskraft beweist, glaube ich der Arbeit überhoben
zu sein. Dafür aber will ich dem Leser noch ein kleines
Geschenk machen, für das er mir gewiss danken wird.
Du kennst doch Buttmann? unter den ältern Grammati-
kern den genialsten. Er sagte von den Mythen: „Nicht
nur dass Götter seien, sondern dass diese und jene be-
stimmte Gottheit sei, ist den rohen Völkern ein Gegen-
stand der Erfahrung, so wie die Existenz dieses oder
jenes Menschen." So spricht ein Genie!
So viel über Creuzer. Verfolgen wir jetzt unsere
oben angeknüpften Gedanken weiter.
Die Uebereinstimmungen verschiedener Menschen lassen
sich dreifach erklären: 1. einer hat es vom andern em-
pfangen; 2. beide haben es von demselben dritten empfan-
gen; 3. keiner hat es vom andern, sondern jeder aus sich.
Dieser dritte Fall kann sich aber in doppelter Weise ge-
stalten: die Uebereinstimmung ist Zufall und äußerlich,
oder aber sie ist wesentlich und notwendig. — Endlich
ist zu beachten, dass sich der dritte Fall sowol mit dem
ersten wie mit dem zweiten combiniren kann.
Z. B< ich spreche wie meine Mutter, meine älteren
Spiel- und Schulgenossen und meine Lehrer — nach Fall 1 :
ich habe es so von ihnen gelernt. Ich spreche ferner so
wie mein Bruder — nach Fall 2 : er hat es von denselben
Personen gelernt. Ich spreche auch wie Herr X, der hun-
318
Prof. Steinthal.
dert Meilen von mir entfernt lebt, den ich nie gesehen
habe und im mindesten nicht kenne, ebenfalls nach Fall 2;
denn wenn die Kette des Empfangens hinlänglich weit
hinauf verfolgt wird, so wird es darauf hinaus laufen, was
der Fall besagt; und die größere Verschiedenheit, die in
Bezug auf die Sprache zwischen mir und meinem Bruder
einerseits und mir und X andererseits besteht, erklärt sich
wesentlich aus der Länge jener Traditionskette. Wer wird
denn, so lange sich Fall 2 denken lässt, darauf verfallen
den dritten anzunehmen? Wer wird ferner, von der Tra-
ditionskette absehend, erklären, ich spräche wie mein Bru-
der nicht weil wir in derselben Häuslichkeit erzogen sind,
sondern weil wir derselben Nationalität angehörten? Kurz,
wer wird denn etwas aus den fernsten Ursachen (dem
genus proximum oder genus ultimum) erklären, was sich aus
dem Specificum ergibt? Das wäre ja Sophistik.
Die deutsche Mythologenschule hat also angenommen,
dass, wenn die Sprache Goethes und Schellings überein-
stimmt, dies in der gleichen Nationalität beider liegt; wenn
aber Goethe mit Sophokles übereinstimmt, so liege dies
zwar nicht in der Nationalität, welche bei jedem eine an-
dere ist ; aber es gehöre dies immer noch zu dem Fall 21
sobald wir die Traditionskette weit genug zu verfolgen im
Stande sind. Fall 1 und 3 aber sind nicht ignorirt wor-
den; sondern ersterer ist bei den häufigen Entlehnungen
jüngerer Culturen aus älteren anerkannt worden; der dritte
Fall aber liegt dem zweiten durchweg zu Grunde. Hier-
bei aber ist noch ein Unterschied zu machen. Ich spreche
z. B. wie mein Bruder und wie X; aber nicht bloß ähn-
licher meinem Bruder als dem X, weil ich von derselben
Umgebuug wie mein Bruder die Sprache erhalten habe,
sondern auch weil gewisse psycho-physische Eigentümlich-
keiten unserer Eltern uns beiden gleichmäßig vererbt sind,
und wir folglich jeder aus sich heraus dennoch einer wie
der andere spricht. Also tritt Fall 3 zu 2 hinzu. Der-
selbe tritt auch allemal zu 1 hinzu: denn man nimmt nicht
Beurteilungen — Nachtrag.
319
auf, was einem nicht zusagt, und was man nicht auch
allenfalls selbst hätte schaffen können. So beruht denn
auch wol die Aehnlichkeit der Sprache aller deutsch Re-
denden nicht bloß auf der Kette der Tradition, sondern
auf der psycho-physischen Verwantschaft, auf der gleichen
Nationalität. Und ebenso wenn weiter Goethes Sprache
der des Sophokles ähnlich ist, so ist das teils Entlehnung
(besser : Anbildung, Angleichung), teils die psycho-physische
Gemeinsamkeit der indogermanischen Rasse. Nicht anders
ist es mit dem westöstlichen Divan.
Schließlich aber spricht doch auch der Chinese und
der Australier. Er spricht anders als wir, ganz anders:
das ist richtig; aber er spricht doch, und sprechen ge-
schieht allemal nach denselben fest bestimmten Gesetzen.
Mögen also die Sprachen der Chinesen und Australier in
einer ganz fremden Kette der Tradition liegen, welche sich,
noch so weit rückwärts verfolgt, niemals weder einander
noch mit der unsrigen berühren, weil sie einen verschiede-
nen Anfangspunkt haben: insofern es Sprachen sind, stim-
men sie mit der unsrigen in gewissen psycho-physischen
Bedingungen iiberein, nämlich in den allgemein mensch-
lichen. Ich spreche also wie der Chinese, weil wir beide
Menschen sind. Wer aber wird sagen, dass ich wie der
Grieche, der Inder, und dass der Inder wie der Perser
spreche, weil sie und wir alle Menschen sind?
„Vergleichend" ist ein sehr überflüssiges Epitheton,
weil es überall, wo gedacht wird, also für alle Wissen-
schaft, selbstverständlich und notwendig ist. Wir können
keinen Begriff, kein Allgemeines bilden ohne die Einzel-
heiten zu vergleichen. Aber wissen oder erforschen muss
man, auf welcher Grundlage man vergleicht, auf dem
Grunde von Fall 1, 2 oder 3.
Die deutsche Schule der vergleichenden Mythologie hat
ihre Vergleichungen auf Fall 2 beschränkt: sie setzt eine
psycho-physische Rassenidentität mit Ueberlieferung voraus.
Voraussetzend und wissend, dass es Fall 3 gibt, lässt sie ihn
320
Prof. Steinthal.
einstweilen außer Acht; d. h. wissend, dass alle Mythen-
bildung menschlich ist, die indokeltische wie die amerika-
nische u. s. w., lässt sie doch die Erforschung aller nicht-
indokeltischen Mythen bei Seite und erforscht einerseits die
Gleichheit und Ungleichheit der indokeltischen Mythen nach
Fall 2 und andrerseits die psychische allgemeine mensch-
liche Notwendigkeit der Mythen aller Völker, wenn auch
dies nur eben an den indokeltischen, nach Fall 3. Denn
was für die psychologische Erklärung der Mythen der Ur-
in dokelten gilt, gilt auch für die der wildesten Völker —
mutatis mutandis.
Die Hypothese (wenn man es so nennen will) der ver-
gleichenden Mythologie, dass zunächst die Mythen desselben
Völkerstammes (Indokelten, Semiten u. s. w.), ja noch spe-
cialer vor allem der Völkerfamilien (Arier, Germanen, Kel-
ten, Slaven u. s. w.) vergleichend erforscht werden müssen,
ist so scharf methodisch, dass sie geboten war, auch wenn
sich nun zeigen sollte, dass die anthropologische Völker-
verwantschaft für die geistigen Producte der Völker völlig
gleichgültig sei, wie Folklore ein wenig zu früh behauptet.
Welche Torheit, der deutschen vergleichenden Mytho-
logie vorzuwerfen, sie nenne sich vergleichend und ver-
gleiche doch die amerikanischen Mythen nicht!
Wenn sich vor zwanzig Jahren ein Deutscher auf
Vergleichung indokeltischer Mythen mit amerikanischen
hätte einlassen wollen: so hätte ich ihm gesagt, er möge
doch noch warten, bis wir sichere Kenntnis und Einsicht
in das amerikanische Mythensystem gewonnen haben. Da-
mals hatten wir sie noch nicht; erst Brinton hat sie uns
geschaffen. Was aber die Mythologie der Neger und Austra-
lier betrifft, so erlaube ich mir den Folkloristen zu be-
merken: kennt und versteht ihr sie denn? Bevor ihr die-
selben eindringend erkannt habt, lasst von jeder Verglei-
chung ab; dergleichen kann nur zu grundlosen Behauptun-
gen führen. Habt ihr aber die sichere Einsicht gewonnen,
dann mögt ihr auch vergleichen. Was nun aber gai' die Prä-
Beurteilungen — Nachtrag.
321
historie betrifft, die ans Gräbern, Höhlen, Mooren, Dämmen
u. s. w. die Lebensformen ausgestorbener Völker, überhaupt
früherer und frühester Zeiten des Menschengeschlechts zu
erforschen sucht, so ist diese jüngste Wissenschaft noch
so unsicher tastend, so zweifelhaft in ihren Ergebnissen,
dass sie benachbarten wissenschaftlichen Gebieten noch
wenig Licht borgen kann.
Wir gestehen also zu, dass zur Erklärung gewisser
Natur-Erscheinungen bei verschiedenen Völkern auf gleicher
Ötufe ihrer geistigen Entwicklung und unter gleichen Le-
bensbedingungen und Einrichtungen, auch gleichen Schick-
salen, gleichen Gefahren und Kämpfen und Kampfmitteln
recht wol ganz ähnliche Mythen erfunden werden konnten.
Nur setzen wir zwei Bedingungen für diese Methode,
welche auf der Gleichheit der menschlichen Natur beruht,
erstlich: dass nicht Erbschaft vorliege, und zweitens, dass
die beiden Mythen wirklich gleich sind und nicht bloß
scheinen. Denn wol zu beachten bleibt, dass zwar die
Griechen, Inder und Deutschen u. s. w. einmal Wilde
waren; aber sie brauchen darum doch nicht gerade die
Lebensformen der nordamerikanischen und australischen
Wilden gehabt zu haben. Die Wilden unterscheiden sich
doch auch. Namentlich aber müssen doch diejenigen Wil-
den, welche aus sich heraus eine höhere Cui tur gestaltet
haben, von denjenigen Wilden, die das nicht vermocht
haben, neben aller Aehnlichkeit auch viel oder wesentliches
Unähnliches gehabt haben. Wie wären sie sonst zur Cul-
tur gelangt, während jene in der Wildheit blieben?
Wir haben immer behauptet, dass die indogermani-
schen Mythen Gedanken des primitiven, uncultivirten
Geistes sind; aber wild und wild ist unterschiedlich.
Man wolle auch nicht vergessen, was gerade die Folk-
lore lehren sollte, dass es fast ebenso schwer für uns
Culturmenschen ist, den Wilden zu verstehen, wie das
Tier. Gerade in dieser Beziehung sind uns die Veden, die
ältesten Producte der Kunstpoesie und der Wildheit immer-
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 3 21
322
Prof. Steinthal.
hin noch nahe genug stehend von so einziger Wichtigkeit.
Sind denn die Folkloristen so sicher, die Wilden schon zu
verstehen? Jeder weiß, dass man ein wildes Volk nur
versteht, wenn man lange inmitten desselben gelebt und
verkehrt hat, und zwar bei voller Beherschung der Sprache
derselben. Wie viel wilde Völker sind denn wirklich unter
solcher Bedingung erkannt?
Die deutsche Schule weiß (seit Creuzer und Schwarz),
dass wir die höhere oder priesterliche oder Sängermytho-
logie aus der Denkweise unsres eignen heutigen Volkes
aufklären müssen: haben die Folkloristen schon eine voll-
ständige Kenntnis der Vorstellungen der europäischen
Völker (Germanen, Romanen und Slaven)? und haben
etwa sie diese Forschungen in Gang gebracht?
Die deutsche Schule ist keineswegs die linguistische,
obwol sie Wert auf Etymologie legt und überhaupt philo-
logische Bildung und Schulung fordert. Auch behauptet sie
nicht, dass das Unverständliche die Mythologie mythologisch
mache. Sie weiß schon durch Creuzer (s. oben S. 315),
dass der Mythos ursprünglich so verständlich war, wie jedes
Wort in seinem Ursprung es sein muss. Es ist also für
die deutsche Schule bloß ein Problem, zu erklären, woher
es komme, dass die Mythen meist unverstandene Traditio-
nen werden — wie die Wörter.
Die Folklore erkennt im Mythos, wie die deutsche
Schule, die Naturauffassung der Wilden. Letztere aber
behauptet, dass hierbei vor allem auf die Völker gemein-
samer Abstammung hingeblickt werden müsse; denn die
Mythen stammen aus jener Zeit, wo die Völker noch gar
nicht da waren und sind den nun erst geborenen Völkern
von dem Stammvolk vererbt. Dies zu leugnen hat die
Folklore nicht den geringsten Grund, obwol das Bemühen
die entsprechenden Mythen bei den Amerikanern, Austra-
liern u. s. w. zu suchen, immer noch durchaus gerecht-
fertigt bleibt. Denn jenes Stammvolk war ein wildes. Da-
Beurteilungen — Nachtrag.
323
rum widersetzt sich auch andrerseits die deutsche Schule
dem Beginnen der Folklore durchaus nicht.
Aber nicht bloß ist die Vergleichung der Mythen
stammverwanter Völker sicherer, sondern die vergleichende
Mythologie hat auch durch die Veden einen festern Boden
gewonnen, der allein eine Vergleichung wilder Mythen frucht-
bar machen kann. Sich der Hülfe der Veden entschlagen,
heißt: sich Phantastereien ergeben.
Von den Veden muss man freilich eine richtige Vor-
stellung haben. Die Sänger der vedischen Hymnen sind
zum Teil schon Kunstdichter ; sie sämmtlich eben stehen
auf einer Stufe, die man nicht mehr ohne weiteres die
eines Wilden nennen kann.
Die Veden sind ferner ein specifisch indisches Product.
Keine einzige Gottheit der Griechen oder der Deutschen
steht in der Vorstellung des vedischen Sängers. Dieser
hat nur indische Göttervorstellungen. Zeus und Tyr (Zio)
und Dyaus sind allerdings etymologisch identische Wörter;
aber die Göttergestalt, welche durch diese drei Namen be-
zeichnet wird, ist bei jedem der drei Völker verschieden,
nationales Gebilde. Die Torheit eines ursprünglichen Mo-
notheismus hat begierig die Identität von Dyaus und Zeus
aufgegriffen, und hat übersehen, wie relativ jung der in-
dische Dyaus ist, und dass Zeus ganz unabhängig von ihm
gestaltet, und die Gleichheit des Namens insofern ganz zu-
fällig ist. Genau so wie es sich mit Varuna und Uranos
verhält, die nur zufällig gleichen Namen haben. — Solche
Fehler aber kann nur die deutsche Schule, wie sie in ihr
entstehen konnten, auch angreifen und verbessern. Die
Folklore kann daran nur herumreden.
Die Mythen schaffen Sitten und Einrichtungen, und
also sind diese aus jenen zu erklären. Später schaffen
die Völker (in secundärer Weise) [Mythen, welche jene
Sitten und Gebräuche erklären ¡sollen. Dergleichen ist
natürlich wertlos, insofern sich nicht etwa in den jungen
Mythos die Erinnerung an den alten, ersten hineingerettet
21*
324
Prof. Steinthal.
hat. Wenn also z. B. Lang- (oben S. 309) in seinem Ver-
such über Eros und Psyche auf Herodot I, 146 hinweist,
um damit zu zeigen, wie hellenische Sitten uralte wilde
Begebenheiten verraten, so meine ich, dass, wenn die mi-
lesischen Frauen nicht mit ihren Männern speisen, dies
durch ein erfundenes Geschichtchen erklärt wird, aber in
der Tat eine ganz andere Ursache hat.
Ueberhaupt hat nicht alles, was ein Mythos erzählt,
mythische Bedeutung ; gar manches ist reine Dichtung.
So oft (und wie oft geschieht dies!) zwei Mythen (mythische
Züge, Grundelemente) im Bewusstsein aus irgend welcher
Veranlassung an einander geraten und zusammen gefasst
werden, ensteht bald das Bedürfnis, die Verbindung solcher
Elemente zu motiviren, und das geschieht oft rein aus
Phantasie, und selten ist das verbindende Tertium selbst
ein mythischer Zug. Wer Mythen deuten will, muss diese
verbindenden, motivirenden Zutaten der Erzählung auszu-
scheiden wissen.
Die (wie Lang sie nennt) philologische Schule weiß,
dass Mythen-Deutung und -Forschung (trotz der Veden und
der Edda) recht schwer ist. Aus dem Mangel an Ueberein-
stimmung ihrer Anhänger schlechthin ihre Nichtigkeit und
Haltlosigkeit zu erschließen, ist Sache lotterig dilettanti-
scher Skepsis, wie Sextus Empiricus sie treibt, im Gegen-
satz zu dem straffen Denken eines Gorgias und Protagoras.
Also meine ich schließlich: Die deutsche Schule kann
die Folklore, gerade insofern sich dieselbe positiv verhält
und gründlich forscht und Tüchtiges leistet, vollkommen
würdigen und anerkennen ; — aber principiell braucht sie
nichts neues von ihr zu lernen. In diesem Sinne habe ich
in dieser Zeitschrift XVII, S. 227 ff. die schönen gründlichen
Arbeiten von Gaidoz gewürdigt und schon öfter die Mé-
lusine als vortrefflich redigirtes Blatt empfohlen.
Beurteilungen.
325
Zur neuesten Philosophie.
Yon Prof. G. Glogau.
Es fällt nicht in den Kreis der Aufgaben dieser Zeit-
schrift, den "Wert der folgenden Schriften, welche sämmt-
lich dem Gebiete der erkenntnistheoretischen Forschung
angehören, an sich und im Einzelnen zu bestimmen. Wir
haben vielmehr an dieser Stelle nur insoweit eine geauere
Kenntnis von den hier auftretenden Bestrebungen zu nehmen,
als dieselben die Erscheinungen des Völkerlebens oder die
Gesetze des geschichtlich lebenden Geistes aufzuklären ge-
willt und geeignet sind. Im Uebrigen müssen wir uns
damit begnügen, durch eine klare Bezeichnung des prin-
cipiellen Standpunktes einer jeden ein Urteil darüber zu
ermöglichen, ob und wie weit ihr tibérwiegender Inhalt,
welchen wir übergehen, etwa anderen Interessen des Lesers
entgegen kommt. In diesem Sinne bitte ich meine Beur-
teilung der mir von dem Herrn Herausgeber gleichzeitig
zur Anzeige überwiesenen Schriften zu fassen.
I. A. Riehl. Der philosophische Kriticismus und
seine Bedeutung für die positive Wissenschaft.
Zweiter Band, Leipzig,» Wilhelm Engelmann.
1. Teil. Die sinnlichen lind logischen Grundlagen
der Erkenntnis. VIII u. 292 S. 1879.
2. Teil. Zur Wissenschaftstheorie und Metaphysik.
XII u. 358 Seiten. 1887.
Nach Riehl (2, S. 15 if.) hat die Philosophie nach dem
Entstehen exacter Wissenschaft, welche R. ausschließlich
der modernen Zeit vindicirt (!), ihre frühere allbeherschende
Bedeutung verloren. Es bleibt ihr aber fortan eine dop-
pelte Aufgabe. Einmal hat sie die offenkundige und die
latente Metaphysik zu bekämpfen, die sich ins Werk der
Wissenschaft mengt und ohne Kritik der Begriffe nicht
zu beseitigen ist; und in Folge dessen ist sie zweitens das
zum Verständnis seiner selbst gebrachte Erkennen, Wissen-
schaft und Kritik der Erkenntnis. Als solche nun folgt
326
Glogau.
sie der Wissenschaft nach. Denn sie löst ihre Aufgabe
nicht etwa vermöge eines ihr eigentümlichen Erkenntnis-
princips; sondern im stetigen Znsammenhange mit der po-
sitiven Wissenschaft hat sie vielmehr nur immer genauer
und vollständiger das Verständnis derselben zu vermitteln.
Für diese Ansicht R.'s dürften wir wol an den einleiten-
den Artikel der Avenarius'schen Zeitschrift erinnern. Der
schwerste und verhängnisvollste Irrtum aber, zu welchem
Plato der Philosophie den Anlass und das Beispiel gab,
liegt nach R. in der ungehörigen Verwendung einer ethi-
schen oder ästhetischen Idee zur Erklärung der Natur-
vorgänge, da man auf Grund eben derselben Princi-
pien zu einer ethischen Lebensauffassung und zu der
Erklärung der Dinge zu gelangen hoifte. Was selbst
Aristoteles noch an den Naturphilosophen der vorsokrati-
schen Zeit zu tadeln fand, dass sie nämlich vom Principe
des Guten oder des Zweckes kaum Gebrauch gemacht
hätten: das müsse vielmehr als ein Vorzug ihrer Denk-
weise vor derjenigen des Aristoteles anerkannt werden.
Denn die Autorität oder Verbindlichkeit einer sittlichen
Norm rühre ausschließlich von ihrer socialen Bedeutung
her. So ist die Philosophie als Gesinnung oder die prak-
tische Weisheitslehre von der Philosophie als Wissenschaft
zu unterscheiden. Die erstere tritt aus der Reihe der
Wissenschaften heraus und neben die Kunst und den
Glauben des Gemütes hin. Keines dieser drei Reiche aber
kann in die inneren Angelegenheiten der anderen eingrei-
fen oder die Bahnen stören wollen, auf denen sich diese
bewegen, weil jedes von ihnen eine andere Seite der Na-
turwirklichkeit darstellt und darlebt (1, S. 292).
Wie steht es jedoch mit der Einheit dieser „Natur-
wirklichkeitb', ihrer letzten Wurzel?! Danach zu fragen
hat ja nun eben die Besonnenheit des modernen Forschers
verlernt, die ihn, wie wir sahen, hinter Plato und Aristo-
teles zurückführt; und wir dürfen hinzufügen: ebenso hin-
ter die Pseudo-Modernen Leibniz, Fichte, Hegel — von
Beurteilungen.
327
welchem letzteren der Verfasser gelegentlich „gleichsam
unter dem Strich, wohin sie gehören, einige Specimina aus
dem Verschlusse, in dem sie sich in den Werken Hegels
befinden, an das Licht zieht" (2, S. 120). Denn „Welt und
Leben können nie rein in Wissenschaft aufgehen" (1, S.
291). In der Anerkennung einer bleibenden Lücke ist
jedoch die positive Wissenschaft nun keineswegs materia-
listisch. „Sie verhält sich kritisch zu den vergegenständ-
lichten Begriffen von Materie und Bewegung. Warum
aber sollte sie in den entgegengesetzten Fehler fallen und
die Existenz und Wirksamkeit des Geistes auch dort vor-
aussetzen, wo es ihr dafür an der empirischen Grundlage
fehlt?" (2, S. 357 f.)
Hiermit hat Riehl — ich weiß nicht, zum wievielsten
Male es geschehen ist — den „modernsten" Standpunkt gut
formulirt. Es scheint indessen sein eigenes Verfahren, ja
schon die 2, S. 358 unmittelbar folgende Behauptung, nur
schlecht zu solchem absoluten Kriticismus zu stimmen.
„Die Entwicklung der Natur," fährt er. nämlich dort
fort, „ist nicht von einem geistigen Sein ausgegangen; sie
hat zu einem geistigen Leben hingeführt. Die innere
Regsamkeit dessen, was wir als Materie warneh-
men, die qualitative Wirksamkeit der Dinge, die
den äußeren Sinnen als Bewegung erscheint, hat
sich (NB!) zu Gefühl und Empfindung gesteigert,
dem Elemente des Bewusstseins, mit welchem eine
Entwicklungsreihe (NB!) begonnen hat, die unmit-
telbar bis zum Menschen reicht und an dessen gei-
stige Geschichte heranführt"1 (2, S. 357 f.). Sollte
hier nicht dennoch „auf Grund derselben Principien"
die natürliche und geschichtliche Welt erklärt werden?!
Es fällt aber unser kritischer Anti-Metaphysiker auch aut
dem Boden des Naturerkennens in die, Verhältnisse der
Erscheinung „vergegenständlichende" Metaphysik überall
1 Von mir unterstrichen.
328
Glogau.
zurück. Er lehrt z. B. über die Empfindung (1, S. 26 if.),
dass sie, mit dem Bewusstsein ihrer Beziehung auf ein
reales Etwas verbunden, uns einer Existenz versichere;
er erklärt sich gegen Kant für einen Realismus, der in der
Beständigkeit und Gleichförmigkeit der Bedingungen, unter
denen bestimmte Empfindungen gegeben werden, dasjenige
anerkennt, was wir mittelst der Erscheinungen von den
Dingen selbst erkennen (2, S. 175); er hält ebenso Raum
und Zeit für eine reale Unendlichkeit in der Richtung
der Coexistenz und Succession u. s. w. Es kann daher
auch die, wie es uns scheint, metaphysische Behauptung
einer Entwicklung der Natur zum Geiste nicht ganz für
einen lapsus calami gelten. Oder sollte den Verstand des
Verfassers der täuschende „Glaube an die Möglichkeit
einer anderen wol gar höheren Erkenntnisart, als der
streng wissenschaftlichen", der seine Macht (nicht etwa
tieferen Seiten unseres Wesens, als sie in der sinnlichen
Warnehmung offenbar werden, sondern) „nur der langen
Gewohnheit verdankt, über die Dinge zu speculiren . . . .
statt die Dinge zu erforschen" nur vorübergehend be-
einfiusst haben?! (vergi. 2, S. 9). Wenigstens rafft er sich
a. a. 0. insofern gleich wieder auf, als er seinem Werke
den folgenden Schlusssatz gibt: „Die Darstellung der
Principien dieser geistigen Geschichte fällt aber nicht
mehr in den Bereich der Naturwissenschaft, noch über-
haupt der theoretishen Philosophie1" (2, S. 358).
Ein Machtspruch schlägt seine Anwandlung zu Boden —
durch ihn streicht er zugleich die „streng wissenschaftliche
Erkenntnisart" der Geschichte.
Das Alles scheint mir nun Folgendes zu bedeuten.
Bei der Feststellung der naturwissenschaftlichen Princi-
pien, die auf gut Kantisch mit der Aufgabe der theoreti-
tischen Philosophie überhaupt sich decken soll, vermochte
unser Verf. metaphysische Probleme allerdings nicht zu
1 Yon mir unterstrichen.
Beurteilungen.
329
umgehen, wenn er aus der absoluten Lücke des Solipsis-
mus herauskommen wollte. Daher hat er, gegen die Zeit-
strömung, ihrer Lösung die größere Hälfte des zweiten
Teiles des zweiten Bandes (2, 128—358) widmen müssen.
Mit den Principien der geistigen Geschichte und weiter
mit den verbindenden Fäden der verschiedenen Reiche
der allgemeinen „Naturwirklichkeit" aber, deren Erkenntnis
die beregte Lücke vollends schließen müsste, verhält es sich
für denjenigen natürlich ganz anders, welcher das Anrecht
zu den „Modernsten" zu zählen, nicht ernstlich in Frage
gestellt wissen will. Es ist der moderne Wahn des „exak-
ten" Erkennens, welcher des Verf. Metaphysik nach den
ersten Schritten Halt zu machen zwingt: dieser hat ihn,
um mich des üblich gewordenen Ausdruckes zu bedienen,
zu seiner doppelten oder vielmehr dreifachen Buchführung
geführt. Wissenschaft, Kunst und sittlichen Glauben,
welche die Tatsachen der Geschichte uns ebenso wie Natur
und Geist in inniger Wechselwirkung begriffen zeigen, werden
deswegen wie völlig heterogene Reiche von einander ge-
trennt, weil R. „positive Wissenschaft" lediglich innerhalb
der sinnlichen Welt wenigstens für möglich hält.
Und mit welchem Rechte geschieht dies? Außerhalb
der Mathematik (und der Mechanik) bleiben in strengem
Sinne exacte Ergebnisse nur etwa noch in der Physik
möglich, sonst aber sind sie überall ein Ideal. Die Phy-
siologie, die Biologie, geschweige die Geologie u. s. w., und
d. h. die Erkenntnis der concreten sinnlichen Wirk-
lichkeit, müssen sich überall mit annähernden Werten
begnügen, die principien keineswegs höher stehen als die
Ergebnisse der geschichtlichen Forschung. Riehl aber fasst
die Meinung, dass sich in dieser weder mit sich identische
Gründe noch auch eine Continuität gesetzlichen Geschehens
nachweisen lasse, nur deswegen, weil die geschichtliche
Welt und ihre Bewegung völlig außerhalb seines Gesichts-
feldes liegen bleibt. Die „Wissenschaft" wird mit Kant
auf die Naturerkeimtnis eingeschränkt, was ihrem durch-
330
G logan.
aus allgemeinen Begriffe offenbar Hohn spricht. Bei sol-
chem Standpunkte, der seine Erklärung lediglich in vor-
übergehenden historischen Zuständen und Stimmungen findet,
ist uns das vorzeitige Haltmachen auf der metaphysischen
Bahn und weiter R.'s Urteil über Plato und die Wissen-
schaft des Altertums allerdings sehr begreiflich. Dann aber
kann sein Werk auch diejenigen, welche die geschicht-
liche Wirklichkeit aufhellen wollen, an sich nicht küm-
mern. Es genügt hier daher, auf die in der Ueberschrift
angegebenen Specialtitel der beiden Teile zurückzuweisen,
welche die Probleme bezeichnen, die mit vielen kritischen
Unterbrechungen und nicht ohne Widerholungen scharf-
sinnig und ausführlich von unserem Verfasser erörtert
werden. Ein mit -a- unterzeichnetes, Riehl sehr wolwol-
lendes und sehr einsichtiges Referat in der deutschen Li-
teraturzeitung 1887 Nr. 50, für dessen Verfasser ich des-
wegen Windelband halten möchte, der Riehl ursprünglich
wol ziemlich nahe stand, macht bei aller Anerkennung
unter anderem folgende Anmerkungen liber das Ganze,
die ich zur näheren Orientirung der Leser noch folgen
lasse.
Der zweite Band „will mit Benutzung der Psycho-
physik, der Metageometrie, der Hirn- und Nervenphysio-
logie, der Darwinschen Theorien und mancher sonstigen
Errungenschaft der neuesten Zeit die Probleme der Er-
kenntuislehre, der Wissenschaftstheorie und der Metaphysik
einer neuen Behandlung unterziehen. — — — Mancher
Sachkundige wird den Eindruck davon tragen, als ob
Riehl, nachdem sein erster Teil (gemeint ist der früher
erschienene erste Band, der hier nicht besprochen wurde)
dem philosophischen Dogmatismus gegenüber in kritischer
Höhe operirt hat, hier einige Stufen herabgestiegen sei
und sich einem naturwissenschaftlichen Modedogmatismus
allzu gehorsam gefangen gebe. Er folgt bei aller Einzel-
kritik im Ganzen einer ungeprüften Tendez und gerät in
starre Einseitigkeiten hinein." Und zum Schluss: „es könne
Beurteilungen.
331
nicht alles Neue darin gut, nicht alles Gute darin neu
genannt werden".
Ich fürchte, durch dieses Urteil werde die ganze „wis-
senschaftliche" Philosophie getroffen, als deren hervorragen-
der Vertreter Riehl allgemein anerkannt ist, wie sehr sie
sich selbst auch „außerhalb des Verschlusses" und „über
den Strich gehörig" (vergi, oben S. 327) vorkommen möge.
Tatsachen und Kritik verlangen wir alle — fragt sich
nur, was unter „Tatsache", unter „empirischer Grundlage"
des Näheren zu verstehen sei, und namentlich wie weit der
Gesichtskreis des Forschers sich ausdehnen müsse! Wol
finden wir es bei einem Experimental-Physiker begreiflich
und beinahe notwendig, dass er außerhalb der sich wan-
delnden Naturkraft, in deren lebendiger Anschauung sein
Leben hingeht, ein Sein nicht anerkennt. Für den freien
Standort des Philosophen aber scheint es bedenklich, wenn
er aus der Geschichte seiner eigenen Wissenschaft nicht
hat entnehmen können, dass die allgemeinen Aufstellungen
und Ahnungen der Auffindung und Durchdringung der ein-
zelnen Tatsachen allemal vorausgeeilt sind. Das Motiv
für die Einzeluntersuchung ist allein in der Fragestellung
gegeben, die vorher anderswo vorbereitet wird, so dass
mit einer Krisis des geschichtlichen resp. philosophischen
Bewusstseins wie derjenigen der sokratisch-platonischen
Philosophie sich stets auch ganz neue Forschungsgebiete
entbinden müssen. Wir haben nun S. 325 f. gesehen,
dass der Gesichtskreis unseres Verfassers hinter Plato
und Aristoteles, d. Ii. hinter dem Anfang des selbstbewuss-
ten Lebens der Menschheit zurückliegt. Seine Kritik der
Erkenntnis folgt der Wissenschaft nach, ihm sind trans-
scendentale Ideen ein Hirngespinnst. Die „transscendentale
Frage" aber geht in die ihr bei Kant gewordene moderne
Fassung noch nicht auf, sondern sie hat einen weiteren
Umfang. Ihre volle Durchdringung aber bildet den Boden
für die specifisch philosophischen Aufgaben, die es mit
Nervenphysiologie u. s. w. direct nicht zu tun haben.
332
Glogau.
II. August Classen. Ueber den Einfluss Kants auf
die Theorie der Sinneswarnehmung und die
Sicherheit ihrer Ergebnisse. XII u. 275 S. gr. 8°.
Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1886.
Dem Verfasser, der eine scharfe Polemik führt, gilt
Kant als der einzige Philosoph, der gegenüber den schwe-
ren Missverständnissen der dogmatischen Philosophie ernst-
lich in Betracht kommen könne. Sein Landsmann Albrecht
Krause in Hamburg aber gilt ihm als derjenige, welcher
den Mittelpunkt der Kantischen Lehre, den Aufweis der
transscendentalen Funktion des Verstandes zu Begriffen
a priori, in séiner Schrift „Die Gesetze des menschlichen
Herzen" durch eine erweiternde Umbildung der Kantischen
Kategorientafeln mit gründlichem Scharfsinn so corrigirt
habe, dass sie nun auch für die Erweiterung unserer
Erfahrung geschickt werde. Von diesem Standpunkte aus
hat der Verfasser die Sinneswarnehmung erörtert. Es
ergibt sich ihm S. 274, dass wir durch die Natur unseres
eigenen Verstandes genötigt sind nach folgenden Regeln
zu denken und warzunehmen :
„1. Derselbe Verstand, der einen einmaligen Eindruck
erfasst, erfasst damit zugleich etwas (Substanz) Reales,
aber zufällig, denn es ergibt sich noch keine Ursache aus
diesen einfachen Daten.
2. Derselbe Verstand, der viele Eindrücke erfasst,
muss in der Qualität ein Hervorragendes warnehmen; im
Verhältnisse zu anderen muss er das Ueberwiegen über
das Schwächere (Ursache der Einwirkung) erkennen, und
die Wirklichkeit des Wargenommenen muss ihm aus die-
sem Verhältnisse unmittelbar klar werden.
3. Derselbe Verstand, der in der Quantität nur Kleines
oder Weniges erfasst, muss dasselbe in der Qualität ein-
geschränkt finden, und in Hinsicht seines Verhältnisses zu
anderen als abhängig von größeren Dingen. Er muss
auch in der Modalität die Warnehmung nur als möglich
Beurteilungen.
333
beurteilen, da es erst dann wirklich wird, wenn viel Her-
vorragendes der Warnehmimg sich aufdrängt.
4. Derselbe Verstand, der von dem Gesichtspunkte der
Quantität eine Allheit findet, bedarf notwendig, um nun
diese sicher zu constatiren, der Negation in der Qualität,
d. h das Aufhören des realen Gegenstandes, der nur durch
Wechselwirkung zwischen dem Realen und dem Nichts
ein Ganzes wird."
Nicht den vollen Inhalt, wol aber den Kern der Schrift,
bildet eine Theorie der Warnehmung, die nach den ange-
gebenen Gesichtspunkten gewonnen wird. Namentlich wer-
den einmal die speciellen Regeln ausführlich dargelegt,
nach denen die Warnehmungen durch den Gesichtssinn
entstehen, und zweitens werden die Modification en des
Farbensinnes eingehend nach der zweimal vierteiligen
Kant-Krauseschen Kategorientafel erörtert. Indem ich
mich jeden Urteils liber den Wert und die Tragweite die-
ses in seiner Form vielfach tumultuarischen Unternehmens
enthalte, bemerke ich nur, dass der Verfasser ein Medici-
ner ist, der sich mit den einschlägigen naturwissenschaft-
lichen Theorien wol vertraut zeigt. Möglich, dass seine
nach meiner Empfindung viel zu reflectirte und schema-
tische Betrachtung psychologischer Vorgänge sich ander-
wärts als ein bedeutsames Fermentum cognitionis erweisen
mag. Die specifisch geschichtliche Seite des Lebens
wird eine directe Aufklärung hier jedenfalls nicht finden.
III. Johannes Volkelt. Erfahrung und Denken. Kriti-
sche Grundlegung der Erkenntnistheorie. XVI u. 556 S.
8°. Hamburg und Leipzig, Leopold Voss, 1886.
Auch dieses Buch bleibt den völkerpsychologischen In-
teressen im Ganzen ferne. Da jedoch der Verfasser seine
Bekämpfung des Positivismus ausschließlich auf Tatsachen
des Bewusstseins gründet, so müssen wir auf den scharf-
sinnigen und wertvollen Gedankengang desselben näher
eingehen. — In sehr großer Ausführlichkeit alle Zweifel,
334
Glogau
möglichen Einwände und abweichenden theoretischen Stand-
punkte berücksichtigend, bestimmt aber Volkelt zuerst als
die Aufgabe der Erkenntnistheorie die Forderung, die
Möglichkeit des Erkennens zu einem Probleme der Philo-
sophie zu machen, ohne etwelche Erkenntnisresultate oder
logische, psychologische, metaphysische Annahmen als dar-
überstehende Instanz vorauszusetzen. Sie fragt lediglich,
aus welchen bewussten Quellen, die aller Erkenntnis sach-
lich vorausgehen, die Ueberzeugung von der objectiven
Gültigkeit des Erkennens entspringe und wird so zur
Theorie der objectiven Gewissheit. — Ich will nun zu-
nächst des Verfassers Gedankengang ohne kritische Unter-
brechungen reproduciren.
Ein absolut gewisses Wissen habe ich unmittelbar
von meinen eigenen Bewusstseinsvorgängen. Denn diese
bleiben so lange der Bezweifelung entrückt, als sie mir
als rein subjective Facta gelten. In ihnen also muss die
Betrachtung den Ausgangspunkt finden. Wenn nun die
moderne Wissenschaft nur den „Tatsachen der Erfah-
rung" unbedingte Unwidersprechlichkeit zuschreibt: so
ist eben Erfahrung dieses unmittelbare, scheidewandlose
Innewerden ; d. h. unser Erkenntnisprincip ist mit dem der
reinen Erfahrung identisch. — Es zeigt sich indessen un-
ter den einzelnen Vorgängen des subjectiven Bewusstseins
keine gesetzmäßige Verknüpfung oder auch nur irgend
welche Regelmäßigkeit. Wir sind, scheint es, mit unserem
subjektiven Principe dem absoluten Skepticism us anheim-
gefallen. Darüber hilft uns jedoch die Methode der den-
kenden Selbstbetätigung des Bewusstseins hinaus, zu wel-
cher sich unser Princip näher zu bestimmen hat.
An gewisse Vorstellungsbedingungen nämlich knüpft
sich unablöslich und unausrottbar der Gedanke einer eigen-
tümlichen Notwendigkeit, die Vorstellungen gerade in die-
ser und nicht in anderer Weise an einander zu binden.
Mit und in den successiven Denkakten des Urteils ist
von selbst der Gedanke gegeben: Du stehst unter der
Beurteilungen.
335
Einwirkung' von Forderungen, die aus der Sache ent-
springen, um die es sich handelt. Da nun urteilen den-
ken ist: so verlangt jeder Denkakt für seine Bestimmun-
gen unmittelbar, dass sie gelten. Der nähere Sinn aller
sachlichen oder logischen Notwendigkeit aber ist die For-
derung eines transsubjectiven Gehaltes; sie meint
und verlangt für ihren Gegenstand Seinsgültigkeit und
ferner die Zustimmung aller erkennenden Subjecte. In
jedem Urteil, das gesetzmäßige Verknüpfung, wenn auch
1 nur implicite, mitmeint, ist daher erstlich eine unbestimmte
Vielheit erkennender Subjecte implicite mitgesetzt; zwei-
tens ihr Zustimmen müssen und d. h. eine principiell
gleiche, von einheitlichen Gesetzen beherschte Natur der
erkennenden Subjecte; drittens endlich ein transsubjectiver
Gegenstand, mindestens ein Geschehen, das die Warneh-
mung u. s. w. veranlasst hat, welche das Object des Ur-
teils bildet. Auch da, wo man sich die Allgemeingültig-
keit des Urteils gar nicht zum Bewusstsein gebracht hat,
benimmt sich jedermann so, als ob er es ausdrücklich
getan hätte. Die Gewissheit von der objectiven Natur des
Denkens ist somit in einem unwiderstehlichen Glauben
unmittelbar subjectiv begründet. Dieser führt uns aus der
pfadlosen Oede des extremen Skepticismus. Wir gelangen
durch ihn zu der Anerkennung eines (subjectiv) Unerfahr-
baren, nämlich menschlicher und außermenschlicher Gegen-
stände, von denen die letzteren näher als über- und unter-
menschliche zu bezeichnen wären. Wäre dieser Glaube
selbst eine uns aufgenötigte Täuschung: niemals doch
würden wir uns von der Nichtübereinstimmung des Trans-
subjektiven mit den Forderungen des Denkens überzeugen
können.
Die Aufweisung der dargelegten allgemeinen Gewiss-
heitsprincipien bleibt jedoch von einem concreten Erkennen
noch fern. Es gilt daher weiter, die reine subjective Er-
fahrung mittelst der Denkmotive in Erfahrungen mit
dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Seins-
336
Glogau.
giiltigkeit umzuwandeln. Dabei aber erweist sich das
Denken als eine stellvertretende Funktion. Ich kann näm-
lich keinen Bewusstseinsvorgang wirklich hervorrufen,
der die von ihm geforderte Verknüpfung gewisser Subjects-
und Prädikatsvorstellungen tatsächlich leistet. Dennoch
aber bin ich berechtigt, es im Fortgange des Denkens so
anzusehen, als ob die postulirte Verknüpfung vollzogen
wäre. — Klar, bestimmt und lückenlos rechtfertigt sich
nun das Denken in dem Erkenntnisgeschäft erst dann vor
sich selbst, wenn es jeden besonderen Denkakt oder jedes
einzelne Urteil nicht etwa bloß in dem begleitenden Be-
wusstsein seines Gegründetseins hinstellt, sondern wenn es
vielmehr den Grund, welchen es für seine Gewissheit zu
haben behauptet, ausdrücklich heraushebt. Dabei erweist
sich die reine Erfahrung zwar nicht als Quell, wol aber
als Veranlassung von vielfältigen Fragen und Bemü-
hungen ; als Grundlage, Reiz und ausschließlich maßgebende
Bedingung, gemäß der die Denkfunctionen sich vollziehen,
um das Unerfahrbare zu erreichen. Das Denken, das
seine einzelnen Akte nach Grund und Folge verknüpft,
aber wird zum Begründen imd Beweisen, zu einem Ver-
knüpfen höherer Ordnung. Die hier hervortretenden For-
men und Principien sind sämmtlich direct unerfahrbare
oder transsubjective Verhältnisse. Diese, in welchen die
transsubjective Gewissheit des Besonderen gegründet ist,
nennen wir Kategorien; näher sind es die Formen des
Urteilens, Schließens, Begründens, die Form des Begriffes.
Erfahrung und Denken bilden danach zwei einfache
Gewissheitsprincipien. Ihr Zusammenwirken aber ergibt
nicht sofort ein Abbild der transsubjectiven Wirklichkeit,
sondern vielmehr nur ein Bestreben, sich derselben mit-
telst subjectiver Veranstaltungen in möglichster Weise zu
nähern. Daher sind die subjectiven Factoren auch im Er-
kenntnisprocesse überall noch wol zu beachten. Schon in-
sofern die Denkakte mein sind, ich sie spüre und ihrer
inne bin, kommt ihnen transsubjective Wirklichkeit nicht zu,
Beurteilungen.
337
die ja vielmehr in einem Glauben, einem unserer Innerlichkeit
entspringenden Vertrauen gegründet ist. Aber auch die-
ses Vertrauen ist subjectiver Natur. Ebenso sind es die
mannigfaltigen Stellungen des Denkers zur Erfahrung und
seine durch diese Stellungen bedingten besonderen Ver-
knüpfungsweisen: dem Benutzen, Bearbeiten, Umformen der
Erfahrung (z. B. wenn sich ein gewonnenes Ergebnis später
nur zum Teil oder gar nicht bestätigt) kann in der trans-
subjektiven Welt nichts entsprechen. — Weiter tritt die
individu ell-bewusste und demzufolge dualistische Natur
des Denkens besonders darin hervor, dass es von Gefühl, Ge-
müt, Phantasie, Gesinnung der Persönlichkeit sich abhängig
zeigt und namentlich von der kulturgeschichtlichen Stel-
lung derselben innerhalb der Menschheit. Daher ist der
wissenschaftliche Begriff gegenüber den subjectiven Be-
standteilen des Erkenntnisresultates eine nie vollziehbare
Forderung. Statt das Allgemeine und dessen Beziehung
auf die unbestimmte Totalität seiner Einzelnen zeitlos als
solches zu denken, wie der Begriff es erfordern würde,
müssen wir in der Forschung mit einer positiv gegebenen
Richtung zufrieden sein, welche durch die Vernachlässigung
gewisser individueller Beschaffenheiten des Warnehmungs-
stoffes gewonnen wird. Die tatsächlich vorhandene Un-
sicherheit des Erkennens erweist sich also einmal als die
Folge der Dürftigkeit und Vieldeutigkeit seiner Grundlage:
die Erfahrung umfasst überhaupt nur ein winziges Bruch-
stück von dem Weltgefüge und meist deutet das, was in
ihr in einem unmittelbaren Neben- und Nacheinander ge-
geben ist, auf höchst verschiedene Seiten und Teile der
causal verbundenen transsubjectiven Wirklichkeit hin.
Diese Unsicherheit steigert sich aber zweitens durch den
antinomischen Charakter der eigentlich metaphysischen
Probleme; durch die sinnlich-bildlichen Elemente, in welche
wir das Innerliche, Unsinnliche namentlich zum Behuf der
Mitteilung fassen müssen; durch die Gefühlsvermittlung,
deren das Denken für die Umdeutung eines Fernen und
Zeitschrift für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. XVIII. 3. 22
338
Glogau.
Fremden in Nahes and Analoges oft nicht entraten kann.
Kommt dazu endlich noch Unachtsamkeit, Flüchtigkeit,
Trägheit: so müssen wir vollends in Irrtum geraten.
Da nun aus den angegebenen Gründen die Erkennt-
nisfähigkeit des menschlichen Geistes, die in der bestimm-
ten Gesetzmäßigkeit seines Functionirens angelegt ist, nur
schrittweise aus ihrer Latenz hervortritt: so mag die mo-
ralische Ueberzeugung, dass das, was sein soll, auf ob-
jektiver Grunglage ruhe, wenigstens für die Zwecke des
praktischen Lebens die hypothetischen und skeptischen
Ergebnisse der Wissenschaft zu vollerer Gewissheit stei-
gern. Dem Denken freilich ist diese moralische Gewiss-
heit, als nur gefühlsmäßig, keineswegs ebenbürtig. Noch
weniger ist es die specifisch religiöse Gewissheit. Aehnlich
aber ist auch der realistische Glaube an die Warnehmung
lediglich von praktischer Bedeutung. Die intuitive Selbst-
erfassung endlich gilt dem Verfasser als ein rein subjek-,
ti ves Phänomen, an welches bei weitem nicht alle Men-
schen eine (willkürliche) Deutung ins Transsubjective hin
anknüpfen. Er schließt mit dem Hinweise, in welcher Art
auf seinen Grundlagen eine Erkenntnistheorie zu erbauen
wäre. —
Ich komme jetzt zu einigen kritischen Bemerkungen,
und zwar zunächst über die äußere Form und den näheren
historischen Zusammenhang des Werkes. Dasselbe hat
8 Abschnitte, 31 Capitel, 556 Seiten. Es mag ja sein,
dass solche Breite — oder wie der Verfasser sich aus-
drückt: ein solches „Zuviel an dornenvoller Gründlichkeit"
— für junge Leute einen didaktischen Wert hat. Nur
freilich ist es schwer glaublich, dass diese aus der inneren
Dialektik ihres Geisteslebens die allgemeinen Gesichtspunkte
schon vollständig sollten gewonnen haben, ohne welche ein
Ausharren innerhalb so ausführlicher kritischer Erörte-
rungen kaum möglich erscheint. Denn auf die Resultate,
in welchen der Geist endgültig Ruhe finden würde, ist ja
eben nur hingewiesen. Hat aber der Verfasser vorwiegend
Beurteilungen.
339
an Fachmänner gedacht, so war doch manches Elementare
vorauszusetzen, das in unserem Auszage daher auch fort-
gefallen ist. Mir will scheinen, eine rechte Reibung der
Geister, welche Funken hervorlockt, kann nur eine knappe
Darstellung bewirken, welche, um nicht zu zerstreuen und
unnötig zu ermüden, ihre Vorarbeit hinter sich lässt.
Wahrhaft befruchten wird uns allemal nur derjenige,
welcher ein angestrengtes Nachdenken herausfordert, wie
wir es bei der Vertiefung in die philosophischen Klassiker
erleben. Und so dürfte auch mancher Gedanke Volkelts
erst in der Fassung unseres Auszuges zu voller Geltung
gekommen sein. — Der Verfasser ist nun aber zu seinen
breiten Auseinandersetzungen durch seinen eigentümlichen
Entwicklungsgang veranlasst. Die Erwägungen nämlich,
welche er nach Herausgabe seiner Untersuchungen über
die Erkenntnistheorie Kants anstellte, um die philosophi-
schen Gedankenkreise seiner Jugend zu reformiren, ziel-
ten, wie das Vorwort uns mitteilt, dahin, die erkennt-
nistheoretischen Bemühungen der Gegenwart in der von
ihnen eingeschlagenen Eichtling weiterzuführen und doch
gewisse folgenschwere Einseitigkeiten und Verirrungen
derselben in haltbarer Weise zu vermeiden. So war er
gezwungen, dem neuesten Gesänge andächtig zu lauschen,
welchen die modernen Titanen, vorzeitig siegesfroh, zum
Preis eines funkelnagelneuen Weltalters aller Orten an-
stimmen. Ihnen, welchen aus der Ueberlieferung der
Menschheit nichts feststeht, musste er in all' ihren Wen-
dungen folgen, um durch eigene Interpolationen die noch
ungefüge Melodie womöglich zu einträchtiger Harmonie
zu führen. Dies schwere Werk hat die geistige Frische
und Regsamkeit Volkelts innerhalb eines verhältnismäßig
engen Gesichtskreises festhalten müssen. Die Lösung
seiner Aufgabe ist ihm nun gewiss, wie alle Urteilsfähi-
gen anerkennen müssen, nicht übel gelungen. Er kommt
über Riehl z. B. ein erhebliches Stück hinaus und weniges,
was er sagt, möchte ganz abzulehnen sein. Aber Alles
22*
340
Glogau.
freilich bleibt unbestimmt und der Ergänzung bedürftig.
Das würde bei einem Manne von Volkelts Tiefe aber
sicherlich nicht der Fall gewesen sein, wenn er sich mit
den geschichtlichen Mächten in Reih und Glied gestellt
und lieber auf die schon entwickelte Wahrheit sich
stützend den bedrohten alten Göttern hätte zu Hülfe kommen
wollen, als seine Kraft in einem undisciplinirten Einzel-
kampf zu erschöpfen. Er würde seine Motive z. B. bei
Descartes, Fichte, Plato in weniger folgenschwere Ein-
seitigkeiten verstrickt und in wesenhafteren Zusammen-
hängen wiedergefunden haben. Dies zu beweisen, wendet
sich meine Kritik jetzt zur Betrachtung des Inhaltes. Ich
werde mich dabei genau auf meinen Auszug beziehen, der
zu diesem Behufe von mir gemacht ist.
Der Ausgangspunkt, den der Verfasser nimmt, ist,
wie ihm gewiss nicht verborgen blieb, demjenigen ähnlich,
welchen z. B. Augustin und Descartes für ihre grund-
legenden Bestimmungen über das Wesen des Erkennens
genommen haben. Von dem subjectiven Bewusstsein und
der Selbstbesinnung des Individuums nämlich muss die
in geschlossenem Zusammenhange in die Tiefe vordringende
principielle Untersuchung notwendig ausgehen. So hat auch
meine Darstellung der Erkenntnistheorie in ihrem zweiten
Capitel „die Urtatsachen der wissenschaftlichen Reflexion
oder die grundlegenden Voraussetzungen des speculativen
Kriticismus" (Abriss, Bd. II, S. 60—107) Descartes' klas-
sischen Gedankengang reproduciren müssen. Während nun
aber Volkelt zwar mit Descartes die hausbackene Realität
des sogenannten gesunden Menschenverstandes in der wahr-
heitverlassenen Ungewissheit des individuellen Subjects,
der dubitatio Descartes', sich in absoluten Skepticismus
auflösen lässt, so schlägt er doch gleich seinen eigenen
Weg ein, indem er sofort sich auf die Tatsache des Ur-
teils beruft. Im Urteil aber bewährt sich wol das logische
Princip in der Einzelerkenntnis in einfachster Weise; es
kann jedoch nicht selbst und an sich in ihm erscheinen.
Beurteilungen.
341
Denn die im Urteil vollzogene Verknüpfung, auf die Alles
ankommt, wird ja, wie der Verfasser es anerkennt, hier gar
nicht einmal ihrem vollen Gehalte nach immer bewusst.
Daher aber geht Descartes (und ich mit ihm) in der „Me-
thode der denkenden Selbstbesinnung" weiter. Nachdem
er den zufällig erwachsenen subjectiven Gehalt des Be-
wusstseins zerstört hat, weist er innerhalb des Individuums
die Selbstgewissheit des denkenden Subjects als
solchen nach. In diesem erst findet er, wie später ebenso
Fichte, die reine Gestalt des in allem Erkennen wirksamen
logischen Princips: ein identisches Sein, das zweifellos
gültig ist, weil es unmittelbar sich erlebt und unbedingt
seiner selbst sich gewiss ist. So gilt es, diese letzte Wur-
zel aller Notwendigkeit und Allgemeinheit genau aufzu-
klären. Von dort aber wird Descartes vermöge einer
ganz allgemein formulirten Erkenntnisregel dann weiter
zu der eingeborenen Idee der Wahrheit geführt, welche
zwischen dem individuellen und dem erkennenden Men-
schen, die trotz ihrer äußeren Einheit in Widerspruch
auseinander fallen, durch den Hinweis auf den transsub-
jectiven Gottesgeist die vermittelnde Brücke schlägt. So
erst gelangen wir zu einem Grunde und Quell des „Un-
erfahrbaren", das als „transsubjectiver Gehalt" durch die
„sachliche oder logische Notwendigkeit" gefordert ist.
Durch diesen scheinbaren Umweg also wird ein allbeher-
schender Gipfel erreicht, in dessen Gesichtskreis der „An-
spruch auf Allgemeingültigkeit und Seinsgültigkeit" erst
einen Sinn gewinnt. Und weiter ist von hier aus auch
der Uebergang in die endliche Welt und ferner der Ueber-
gang zur bestimmten Fassung des Substanz- undCausalitäts-
begriifes nunmehr ebenfalls erst methodisch gesichert, wie
ich in meinem Abriss des Näheren gezeigt habe. Volkelts
kürzerer Weg, welcher dies Alles in der Schwebe lassen
muss, erscheint mir daher in der Tat als ein Um-weg.
Er sieht dem kurzen Anlauf der Schotten noch vielfach
Glogau.
sehr ähnlich.1 — Wenn der Verfasser dann später die Ka-
tegorien, durch welche eine objective allgemeingültige Er-
kenntnis allein möglich werde, als dem Denken einwohnende
direct un erfahrbare transsubjective Verhältnisse bezeichnet:
so ist es ihm ebenfalls gewiss nicht entgangen, dass er
damit auf die Wurzeln von Piatos Ideenlehre gestoßen ist.
Auch hier aber würden seine Ergebnisse reicher und be-
stimmter geworden sein, wenn er diese sehr verzweigte
Lehre, welche in der deutschen Philosophie vielfach neue
Ansätze entwickelt hat, nach allen ihren Motiven geduldig
ausgedacht und verfolgt hätte. Namentlich wäre das cen-
trale Verhältnis zwischen moralischer und logischer Tätig-
keit und Gewissheit, das der Verfasser kaum wirklich be-
rührt, und damit das Verhältnis von Theorie und Praxis
überhaupt, alsdann principiell von ihm durchschaut wor-
den, und damit hätte auch die logische Tätigkeit erst eine
ganz bestimmte Stelle in dem Kreise der letzten Principien
gewonnen. Nach meinem Dafürhalten gehört es zu den
schwersten Mängeln des Unternehmens, dass des Verfassers
denkende Selbstbesinnung über so wichtige Dinge ganz im
Unbestimmten hat bleiben wollen.
Völlig ungenügend, weil viel zu allgemein, ist aber
weiter das Verhältnis der individuellen oder reinen Erfah-
rung zu der objectiven Erkenntnis bestimmt. Zuerst: auf
welche Weise oder durch welche Vermittlung sind die
beiden Erkenntnisfactoren Erfahrung und Denken über-
haupt auf einander bezogen? Sollte es etwa durch sich
selbst einleuchten, wie eine logische Bearbeitung der in
sich zerstückelten subjectiven Erfahrung dem ihr ganz
heterogenen Denken gelingen könne? Der Verfasser sieht,
dass das Zusammenwirken dieser beiden „einfachen Ge-
1 In meinem Abriss, Bd. II, S. 11 f. habe ich gezeigt, an wel-
chen Mängeln die von Aristoteles auf die Analyse des Satzes ge-
gründete alte Kategorienlehre notwendig kranken muss und wie die
Berücksichtigung des phänomenologischen Processes denselben Ab-
hilfe bietet.
Beurteilungen.
343
wissheitsprincipien" auch gar nicht an allen Stellen und
unter allen Verhältnissen sofort regelrecht von statten
gehe, wie dann zu erwarten stünde. So ist er gezwungen,
auf das Mitwirken noch anderer, nämlich persönlicher Ver-
hältnisse, hinzuweisen. Gefühl, Gemüt, Phantasie, Gesin-
nung, besonders aber die kulturgeschichtliche Stellung in-
nerhalb der Menschheit werden als ablenkende oder modi-
ficirende Kräfte hervorgehoben. Wie hängen nun diese
mit den eigentlichen Erkenntnisfactoren zusammen? Es
wird die Frage unabweisbar, wie sich in dem
Fluss der Geschichte die persönlichen und die
gesammten psychologischen Factoren des Geistes-
lebens zu den dem Denken zugehörigen Bezie-
hungsformen zwischen Subject und Object des
Näheren verhalten. Muss sich das denkende Subject,
das dem individuellen immanent ist, nicht et wie z. B. schon
in dem Mythos zur Geltung bringen, indem ja der Mythos
auch z. B. eine transsubjective Wirklichkeit zu setzen
meint? Ja, setzt eine solche nicht jedermann, nicht auch
der realistische Glaube an die Warnehmung? Und wie ver-
hält sich nun dieser Glaube und weiter die intuitive Selbst-
auffassung, die der Verfasser ein rein subjectives Phäno-
men nennt, zu der „denkenden" Selbstbesinnung? Wenn
der erkenntnistheoretischen Reflexion, wie ich völlig be-
stätigen muss, die Mittel fehlen, von sich aus auf das
Alles zu antworten, ohne in Hegelsclie Dialektik abzuirren:
so hat eben die Erkenntnistheorie, die ihre sämmtlichen
Beziehungspunkte doch jedenfalls genau übersehen muss,
noch ein weiteres Capitel nötig, das diese Verhältnisse
klarstellt. Es vermag die logische Selbstbesinnung allein
nicht einmal das regelmäßige Zusammenwirken der bei-
den Erkenntnisfactoren in dem Benutzen, Bearbeiten, Um-
formen der Erfahrung näher zu bestimmen ; wie also sollte
sie wol zu den verwickelten methodologischen Elementen
eine klare Stellung gewinnen können! — Aber nicht nur
das Verhältnis der wissenschaftlichen zu den vorwissen-
344
Glogau.
schaftlichen (mythischen, empirischen, intuitiven) Setzungen
(welche, wie richtig behauptet wird, beide durch einen
[unwiderstehlichen] Glauben aus der pfadlosen Oede des
Skepticismus in eine objective Welt geführt werden) ver-
steht der Verfasser nicht aufzuhellen — er kann bei sei-
nem Gegensatz gegen alle psychologischen Factoren auch
nicht zugestehn, dass es eine „wissenschaftliche" Phantasie
gibt. Wir könnten, meint er, keinen Bewusstseinsvorgaug
hervorrufen, welcher die vom Denker geforderten Verknü-
pfungen tatsächlich leiste. Ist nun, frage ich dagegen,
die metaphysische Welt eines Leibniz oder Plato oder
welche man sonst für die rechte hält, nicht eine wirklich
vorhandene Schöpfung des Bewusstseins? ! Auch die
Sinnen weit aber ist nur eine solche. Dass nun jene ein
im Einzelnen vielfach unausführbarer Ansatz bleibt, ist
zuzugestehen — dennoch kann sie den kräftigen Geist
fast bis zum Schauen des sinnlich Unerfahrbaren erregen.
Der Verfasser führt im Allgemeinen sehr richtig aus, dass
nach dem Wesen des wissenschaftlichen Denkens die Er-
gebnisse desselben stets mit subjectiven Elementen behaf-
tet bleiben müssen, am letzten Ende, weil sie unserer In-
nerlichkeit entspringen. Für wen diese Tatsache aber
nun eine ernstliche crux wird: der könnte die principielle
Auflösung derselben in Piatos erkenntnistheoretischem Ter-
minus ¡.d¡xrifjLa roi ovtog finden, oder in Fichtes späterer
Ansicht, in welcher gezeigt wird, wie der Erkenntnispro-
cess nach seiner Natur und Stellung nur Bilder des
wahrhaft Seienden zu erschaffen vermöge. Solche Bilder
jedoch sind gar nicht bloß postulirte, sondern sie sind
durch die wissenschaftliche Phantasie wirklich voll-
zogene Verknüpfungen, deren weitere und schärfere Um-
bildung allerdings nach der Dialektik des geschichtlichen
Geistes, ebenso wie es bei allen anderen Hervorbringungen
des Menschen der Fall ist, stets noch gefordert bleibt.
Um der näheren Aufklärung all dieser Schwierigkeiten
willen muss nun, meine ich, eine psychologisch-genetische
Beurteilungen.
345
(oder die phänomenologische) Betrachtung zu der erkennt-
nistheoretischen Reflexion noch ergänzend hinzutreten,
wenn auch wahrlich nicht als eine „über ihr stehende
Instanz". In diesem Sinne also habe ich a. a. 0. (Abriss
Bd. II S. 17—59) meine Erkenntnistheorie mit einem ersten
Capitel eröffnet, das auf Grundlage der Ergebnisse des
ersten Bandes „die Quellen des Erkennens oder die allge-
meinen Verhältnisse und die Arten des geschichtlich ge-
gebenen Wissens" nach ihrer principiellen Bedeutung in
größester Kürze erörtert. Dadurch wird es dann weiter
auch möglich, das Wesen des Irrtums tiefer zu erfassen,
als es die Voraussetzungen des Verfassers zulassen, der
auch hier sehr oberflächlich geblieben ist.
Schließlich, scheint mir, könne eine erkenntnistheore-
tische Grundlage in dem Geiste des Lesers nur dann einen
rechten Halt und einen befriedigenden Zusammenschluss
gewinnen, wenn die aus ihren Motiven geforderte Umbil-
dung der Erfahrungsbegriffe nun wirklich ausdrücklich
vollzogen wird. In der anschaulichen Geschlossen-
heit einer Arbeit liegt wol der specifische Unterschied
von Buch und Abhandlung. Ich kann daher des Verfas-
sers Werk nur eine Abhandlung nennen, welche durch
ihre Ausführlichkeit alle Grenzen, die einer solchen durch
die Gesetze des Stiles gezogen sind, zersprengt hat. In
meiner Darstellung dagegen sacht das dritte und letzte
Capitel „die ErfahrungsWissenschaft im Lichte der grund-
legenden Voraussetzungen des speculativen Kriticismus"
(a. a. 0. S. 108—150) dieser Anforderung zu genügen.
An dieses schließt sich aber weiter unmittelbar der vierte
Teil meines Abrisses an, welcher in der Darstellung der
Ethik, Aesthetik, Noetik (a. a. 0. S. 151—477) die gewon-
nenen allgemeinen Ergebnisse sofort auch im Einzelnen
fruchtbar macht.
Ich schließe meine kritischen Bemerkungen mit dem
Ausdruck der Hochachtung, mit welcher die gediegene
Forscherpersönlichkeit Volkelts mich wie einen jeden er-
346
Glogau.
füllen muss. Sein Auftreten ist mir ein neues Merkmal
für das beginnende Unterliegen unserer Titanenwelt, welche
die Mühsal zusammenschauenden Denkens verlernt hat.
Wollte sich aber der Verfasser „für das concrete Erken-
nen der herlichen Fülle des Weltinhalts" (Vorrede, S. VI),
an welches er also glaubt, fortan dem in der Weltgeschichte
selbst hervortretenden Gesammtgeiste der Menschheit in-
niger anvertrauen, statt das flüchtige Gekräusel zu son-
dern, das über seine Oberfläche hinwegzieht: er würde,
glaube ich, „die philosophischen Gedankenkreise seiner Ju-
gend" (ebenda S. III) sehr viel weiter vertiefen und sie
zugleich in einem weit größeren Umfange sich erhalten
können. Im Sinne einer dahingehenden Bitte, bitte ich
ihn meine Bemerkungen aufzufassen. Nur die an dieser
Stelle geforderte Kürze hat mit der Bestimmtheit des
Ausdrucks deren scheinbare Schärfe veranlassen können.
IV. Carl Schulz. Der Gottesgedanke. Grundzüge einer
geistesgeschichtlichen Betrachtung. 184 S. Leipzig,
Duncker & Humblot, 1888.
Die vorliegende Schrift versucht es in der Tat, die Er-
kenntnistheorie durch den Rückgang auf die Haupterschei-
nungen der Geschichte neu zu begründen. Sie gliedert
sich in zwei Abteilungen: 1. Die geistesgeschichtliche Be-
trachtung als Aufgabe der Erkenntnislehre, S. 1 — 83;
2. die Metaphysik als Gotteslehre, S. 85—184. Davon
fällt also namentlich die erstere ganz in den Gesichtskreis
dieser Zeitschrift. — Der Verf. legt nun im ersten Capitel
derselben „die Grundfrage der Erkenntnislehre" S. 3—22
seine Aufgabe dar. Er setzt, um seinen Weg sich zu
bahnen, dem heut' populären Standpunkt der Kantischen
Kritiken zuerst im Allgemeinen die entwicklungsgeschicht-
liche Betrachtung gegenüber, welche geeignet sei, die on-
tische Starrheit jenes zu überwinden. Bei Kant nämlich
„wird vorausgesetzt, dass die ewigen, unwandelbaren Ge-
setze der Vernunft mit Sicherheit erkannt werden können,
Beurteilungen.
347
auch dass sie von der Art sind, dass sie ein streng ab-
gegrenztes Gebiet erkennen lassen, dessen Ueberschreitung
dann mit Leichtigkeit als Anmaßung bezeichnet werden
kann. -----Dass (also) dem Gottesgedanken keine
andere Betrachtung zukommt, als dass er vor den
obengenannten Richterstuhl gefordert wird. Dass
der Richter selbst in seinem ganzen Denken und Erken-
nen, wie es sich nach den „ewigen und unwandelbaren
Gesetzen" vollzieht, mit dem Gottesgedanken etwas zu
schaffen hätte, durch ihn gar etwa irgendwie von Rechts-
wegen beeinflusst würde, das wird nicht vorausgesetzt.
Nur wenn der Richter seines Richteramtes vergisst und
anmaßlichen Beeinflussungen des Denkens freien Raum ver-
stattet, dann kann, so wird vorausgesetzt, der Gottes-
gedanke ihn beeinflussen---der (also) zu dem eigent-
lichen menschlichen Denken und Erkennen nur äußer-
lich hinzugekommen ist, nicht mit zu dem Inbe-
griff desselben gehört---Daher ist es möglich
auf dem Wege der „Selbsterkenntnis" erst das mensch-
liche Denken und Erkennen, ganz wie es ist, zu erkennen
und dann erst den Gottesgedanken zu prüfen, wie er sich
im Lichte dieser Selbsterkenntnis ausnimmt — — —
Dadurch aber wirkt er (Kant) darauf hin, so viel an ihm
ist, dass einer ganz beschränkten Denk- und Erkenntnis-
weise Eingang verschafft wird. Und das ist ihm leider
nur allzusehr gelungen" (S. 4 f.). Schulz aber fordert
dagegen eine lebendige Auffassung von unserem Denken
und Erkennen. „Indem die Entwicklungsgeschichte
als Geistesgeschichte begriffen wird, ist das Ziel der
Erkenntnislehre die geistesgeschichtliche Erkennt-
nis, die darin besteht, dass alle menschliche Entwicklung
in dem zum Gottesgedanken führenden Antrieb ihren Ur-
sprung aus dem Geist hat" (S. 7). Die Menschheit ist
keine Summe von Einzelnen, welche vielmehr ein künst-
lich hergestelltes Schattenbild der Reflexion sind. In Wahr-
heit ist ein Einzelner nur „das noch nicht in die Gedanken-
348
Glogau.
und Lebensgemeinschaft hineingewachsene Kind, das gerade
in den Zeiten, wo es am hülfsbedürftigsten ist, und wo es
umkommen würde, wenn es von seiner Umgebung nicht
körperlich gepflegt und gehütet würde, innerlich noch
ganz auf sich selbst ange wiesen ist, noch ganz für
sich lebt und sich zunächst ganz aus sich selbst
heraus bloß auf Grund der ihm zuteil werdenden Sinnes-
reize entwickeln muss" (S. 9). Nicht isolirten hülflosen
Kindern aber verdanke das erste menschliche Sprechen
seinen Ursprung. Vielmehr mussten bereits eine lange
menschliche Sonderentwicklung „bis zur Ausbildung der
Sprache jene Menschen durchgemacht haben, welche den
Gottesgedanken zum ersten Male auf irgend welchen Aus-
druck gebracht und mitteilbar gemacht haben konnten —
--er ist nicht an einem ohne Rücksicht auf ihn fest-
gestellten Erkeunen zu messen, sondern das Erkennen
ist unter Rücksichtnahme auf ihn zu prüfen" (S. 18).
Alle Entwicklung aber ist eine zusammenhängende und
einheitliche. Anstatt also mit Kant jenen abstract ge-
dachten Einzelnen zur Norm und zum Maßstabe des Er-
kennens zu machen, ist die Frage vielmehr umgekehrt:
Was ist vom Erkennen zu halten nach Maßgabe
der Tatsache, dass der Gottesgedanke da ist, und
nicht bloß da ist, sondern auch eine große Macht aus-
geübt hat" (S. 19). „So etwa muss die Erkenntnislehre
verfahren, wenn sie der Metaphysik Gerechtigkeit wider-
fahren lassen---will" (S. 20): sie ist auf eine ent-
wicklungsgeschichtliche Betrachtung zu fundiren.
Diesen Gedankengang inuss, denke ich, jeder billigen,
der das Wesen des geschichtlichen Geistes erfasst hat —
und so habe ich oben S. 342 ff. gegen Volkelt eine ähn-
liche Ergänzung der erkenntnistheoretischen Fragestellung
verlangt. — Der Verfasser hat aber nicht nur die dogma-
tischen „Voraussetzungen" des nach seiner eigenen Schätz-
ung anti-dogmatischen Kriticismus glücklich formulirt und
im Allgemeinen den Weg zu ihrer Ueberwindung gewie-
Beurteilungen.
349
sen: er macht dabei in demselben ersten Capitel auch viele
gute psychologische Bemerkungen, welche zeigen, dass er
mit der einschlägigen Literatur wirklich Fühlung gewon-
nen hat. Um so mehr muss die Bemerkung frappiren, es
sei in der Wissenschaft bisher „noch nicht einmal der
Gedanke zum Durchbruch gelangt (!), dass die Betrachtung
der kindlichen Entwicklung (!!), insbesondere der Sprach-
bau^!!), von Wichtigkeit sei" (S. 17). — Abgesehen nun
von einer ähnlichen Unklarheit, weiß ich mich auch mit
dem Gedankengange des zweiten Capitels „die geistes-
geschichtliche Betrachtung im Unterschiede von der ent-
wicklungsgeschichtlichen" (S. 22—32) völlig in Ueberein-
stimmung. Der Verfasser sucht hier „das Treibende"
dieser Entwicklung zu erforschen (S. 23). Jenes einheit-
liche Treibende, das wir deutlich spüren, auf dem auch
das Erkennen beruht, nennt er aber mit Berufung auf
Luther Geist. Wird das Erkennen „nicht auf die ihm
zu Grunde liegenden Antriebe hin angesehen, wird nicht
darauf geachtet, dass es sich kraft dieser Antriebe erst
entwickeln muss, wird es so angesehen, als ob, wenn der
Mensch nur vernünftig, wenn er nur recht Mensch ist,
sich das Erkennen auch gleichsam von selbst macht, so
liefert diese Auffassung eben ein Zerrbild vom Erkennen"
(S. 27 f.). Man hält sich an die Ergebnisse und fasst
dieselben „als Tätigkeiten auf, von denen man meint, dass
sie ein ganz besonderes und nur auf das Erkennen ab-
zweckendes Dasein haben" (S. 28). Man scheidet die „Spon-
taneität" der theoretischen von dem „Willen" der prakti-
schen Vernunft, während Wollen vielmehr „die ur-
sprünglichste Form ist, in der sich das innere
Tätigsein vollzieht. Diese Tätigkeit ist erkennt-
nisgewinnend und---entfaltet sich---bis
sie zu der begrifflichen Klarheit gelangt" (S. 29).
„So ist das Wollen selbst schon der Anfang und Beginn
des Erkennens — — —, dessen Ziel das Ergebnis ist,
das also diesem Ergebnis zustrebt, es zu verwirklichen
350
Glogau.
strebt, ehe noch darüber begriffliche Klarheit herschen
kann, die erst mit der Verwirklichung des Ergebnisses
möglich wird," welches „eine Entfaltung dessen ist, was
im Wollen schon enthalten ist" (S. 30). Dieses „birgt die
Gewähr des Gelingens und der Hervorbringung des ent-
wicklungsgemäßen Ergebnisses in sich": die Sicherheit
des Gelingens beruht auf der Sicherheit des Antriebes.
„Das Wollen ist so recht eigentlich geistige Tätig-
keit. Und ob es der rechte Geist, in dem gewollt wird,
das zeigt sich an dem Ergebnis. —--Je mehr das
anfänglich entwicklungbegründende Wollen — — —
ein entwickeltes wird, desto größeren Spielraum der Tätig-
keit gewinnt es, desto mehr wird es frei von leiblich-ge-
setzlichen Schranken —--desto mehr auch bildet sich
ein persönlicher Geist aus--— die Freiheit, die
sich darin als echt erweist, das s der Geist des Willens
frei ist, indem er es ist, der die Wahlfreiheit in Schran-
ken hält" (S. 30 f.).
Damit hat der Verfasser — ich weiß nicht, ob mit
oder ohne sein Wissen — die platonische Grundanschau-
ung des geistigen Lebens, die heute so vielfach verwirrt
und verdunkelt ist, klar und glücklich wieder an das Licht
gehoben. Dafür gebührt ihm ein freudiger Dank und die
volle, uneingeschränkte Anerkennung. Nur wünschte ich,
er hätte seine Abhandlung hier abgebrochen. Denn alles
Folgende bleibt so weit hinter den Ausführungen der
beiden ersten Capitel zurück, dass es den reinen Eindruck,
welchen diese trotz mancher stilistischen Mängel hinter-
lassen, nur schädigt. Schon das dritte Capitel „die Selbst-
tätigkeit und Gesetzlichkeit beim Denken und Sprechen"
(S. 32—51) kommt über sehr allgemeine Hinweise nicht
hinaus. Die Psychologie wird reflectirt und rationalistisch
und wo der Verfasser, wie vielfach geschieht, auf die Be-
hauptungen von Sprachforschern eingeht, erhalten wir nur
abgerissene und springende Bemerkungen. Aehnlich steht
es mit dem. vierten Capitel ,;die durchgeistigte Vernunft,
Beurteilungen.
351
eine Deutung des inneren Lebens" (S. 52—83). Des Ver-
fassers Hauptsatz freilich, dass „in dem Ausdruck Furcht
Jahwehs, Furcht des Herrn, der Gottesgedanke zum lauter-
sten, reinsten Ausdruck gelangt", dass diese „an sich selbst
ein wahres, inneres Erlebnis ist" erkenne ich an. Aber
der Verfasser bleibt einer wirklichen Bestimmung der
geistigen Grundtriebe selbst und einer Entwicklung der-
selben in der mannigfaltigen Abwandlung und Entfaltung
der verschiedenen Geistesstaffeln und Lebensgebiete, wie
ich sie in den beiden Bänden meines Abrisses versucht
habe, sehr fern. Sondern thetisch nur stellt er ganz Ver-
einzeltes hin und ergeht sich sonst in sprachgeschichtlichen
Bemerkungen, welche den Sprachgebrauch der hebräischen
Bibel und dessen Entwicklung und Umbildung durch Luthers
Uebersetzung betreifen. Ueber diese steht mir ein Urteil
nicht zu. — Die ganze zweite Abteilung des Buches end-
lich S. 85—184 gibt nichts als einen recht lesenswerten
Auszug aus Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaf-
ten und nur gelegentlich hebt der Verfasser dabei seinen
Gegensatz zu Dilthey hervor, über dessen Weite er keine
Klarheit gewonnen hat. „Um die Metaphysik als ein Zeug-
nis von der Macht des Gottesgedankeus nachzuweisen"
(S. 87) geht er nämlich an der Hand dieses bewärten
Führers in vier Capiteln die griechische und christliche
Metaphysik und deren Zersetzung durch und bespricht im
fünften und letzten Capitel in ähnlicher Weise das erste
einleitende Buch des Diltheyschen Werkes.
Nach der feinsinnigen und glücklichen Entwicklung
des Problems werden uns also lediglich noch Vorstudien
oder ein Teil derselben für dessen spätere Lösung geboten.
Das sagt der Verf. widerholt auch selbst. Z. B. heißt es
S. 30: es komme nur darauf an, darzulegen, wie sich die
geistesgeschichtliche Betrachtung von der entwicklungs-
geschichtlichen unterscheide; S. 51: es habe nur die
Unentbehrlichkeit der geistesgeschichtlichen Betrach-
tung dargetan, dieselbe aber nicht im Einzelnen ausgeführt
352
Glogau.
werden sollen; endlich im letzten Satze des Buches heißt es
sogar: er habe vorläufig auch mit dem zurückhalten müs-
sen, was er über die entwicklungs- und geistesgeschicht-
liche Stelle des Gottesgedankens zu sagen hätte. Wenn
der Verfasser nun andrerseits widerholt, z. B. S. 157, trotz
der hundert Seiten, die Dilthey gewidmet sind und trotz
seiner sprachgeschichtlichen Excurse, von dem ihm be-
schränkt zugemessenen Räume spricht: so sieht man wol,
wie sich ihm im Laufe seiner Arbeit der Plan derselben
verschoben hat. Die Berechtigung des Titels derselben aber
wird zweifelhaft. Er hätte, bis ihm weitere Muße zuteil
ward, auf den Entwurf von Grundzügen noch verzichten
und seine allgemeinen Gedanken einstweilen — z. B. als
einen Artikel für diese Zeitschrift — gestalten sollen.
Dass ihm diese Muße und die rechte geistige Frische für
die gründliche Förderung des im Titel des Werkes be-
zeichneten Vorhabens voll und bald zuteil werden möge,
das wünscht Referent ihm von ganzem Herzen.
V. M. Guggenheim. Die Lehre vom apriorischen
Wissen in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der
Ethik und Erkenntnistheorie in der Sokratisch-Plato-
nischen Philosophie. 79 S. Berlin, Ferd. Dümmler, 1885.
Guggenheims Abhandlung berührt sich insofern mit
derjenigen von Schulz, als auch sie gegen den herschen-
den Positivismus den Kern des specifisch menschlichen
Wesens verteidigt. Er gewinnt aber für seine Aufgabe
dadurch eine sichere Begrenzung, dass seine Untersuchung
allein auf die besondere Fassung gerichtet ist, in welcher
die Lehre vom apriorischen Wissen zum ersten Male in
die Welt trat. — Während nun der befruchtende Einfluss
der allgemeinen philosophie-historischen Studien der letzten
Jahrzehnte in den selbständigen jüngern Denkern fast nur
gelegentlich und selten recht fühlbar wird, so haben wir
hier den erfreulichen Anblick vor uns, dass dem Verfasser
die grundlegende Bedeutung des Platonischen Ringens für
Beurteilungen.
353
alle Folgezeit, und d. h. die Einheit des menschlichen
Wesens und die einheitliche Tat der Geschichte, durch
seinen Rückgang auf den Quell in lebendiger Anschauung
aufgegangen ist. Denn zweifellos beseelt den Verfasser
nicht ein bloß philologisches, sondern ein wesentlich philo-
sophisches Streben: das zeigt auf allen Seiten der sichere
Blick, mit dem er die Probleme erfasst, und die Fähigkeit
sowol die analogen Erscheinungen in der modernen Welt
wider zu erkennen, wie auch die Art und den Grund von
deren besonderer Abwandlung. Freilich bleibt nach dei
stilistischen Seite zu wünschen. Der Verfasser zeigt sich
nämlich durch seinen Gegenstand einstweilen noch so sehr
gefesselt, dass er sich in die Bedürfnisse eines von anders-
wo herantretenden Lesers nicht zu versetzen weiß; er hält
nur den kleinen Kreis der nächsten Mitforscher im Auge.
Meines Erachtens aber würde eine wirklich frachtbare
Wirksamkeit seiner Untersuchungen nicht nur eine viel
breitere und nach Seiten der obwaltenden Voraussetzungen
vollständigere Darlegung des Tatbestandes erfordern, die
aus dem Sinne aller derjenigen gedacht werden müsste,
welche, ohne Specialisten zu sein, sowohl im Plato wie in
der Erkenntnistheorie zu Hause sind — es wäre andrer-
seits auch innerhalb des Textes in der Art zu scheiden,
dass nicht vorübergehende kritische Tagesfragen und die
oft dürftigen Meinungen mancher Platoniker in die Sub-
stanz des großen historischen Gemäldes ablenkend und
zerstörend einfließen. Doch solche mehr formale Mängel
lassen sich überwinden, wenn der Verfasser frühzeitig ge-
nug sein Augenmerk darauf richten wollte. Andernfalls
fürchte ich, er dürfte sich mehr und mehr in bloß gelehr-
ten Notizen verlieren. Dem Referenten also scheint es,
dass der Verfasser erst durch eine eingehendere Bewäh-
rung seines Grundgedankenganges, dass „sich der Begriff
des apriorischen Wissens als eine Consequenz der Soma-
tischen Opposition gegen die sophistische Skepsis darstelle",
die Philosophie wesentlich fördern würde. Der hier ge-
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. 3. 23
354
Glogau.
botene kurze Nachweis der verschiedenen Staffeln und
Richtungen in der Entbindung des Apriori als des geisti-
gen Grundwesens; der daraus sich ergebenden wechseln-
den Relation zwischen den Begriffen do'Ha und éniúz7¡^r¡;
endlich des Zusammenhanges der Fragestellung namentlich
in den Dialogen Meno, Theaetet und Phaedon, ist ihm in-
dessen wol begründet erschienen.
VI. J. H. Witte. Das Wesen der Seele und die Na-
tur der geistigen Vorgänge im Lichte der Philo-
sophie seit Kant und ihrer grundlegenden Theorien
historisch-kritisch dargestellt. XVI u. 336 S. Halle a. S.,
Pfeffer, 1888.
„Seitdem Fr. A. Lange in seiner Geschichte des Ma-
terialismus" (Iserlohn, 2. Aufl., Bd. 2, S. 381) den Ausdruck
einer „Psychologie ohne Seele" zuerst aufgebracht hat, ist
der Irrtum, dass eine derartige Betrachtung in der Form
der Wissenschaft möglich oder gar als philosophische Theorie
zulässig sei, in die weitesten Kreise gedrungen. Schon des-
halb dürfte es sich lohnen, die in jenem Irrtum enthaltene
Selbsttäuschung und Ueberspanntheit eines an sich berech-
tigten philosophisch-kritischen Gedankens einmal gründlich
aufzudecken. — — — Solcher Aberglaube stellt sich zu-
gleich dar als Folge und Beispiel jener einseitig positivi-
stischen Richtung, die seit mehr denn einem Jahrzehnt
auch bei uns in Deutschland die stetige Entwicklung des
philosophischen Denkens ernstlicher bedroht und gefährdet"
(S. I), wofür der Verfasser unter anderen Gizyckis popu-
larisirende Tätigkeit anführt. Auch die tiefergehende spe-
cialwissenschaftliche Forschung aber, die überall auf die
philosophischen Voraussetzungen ihrer Probleme eingehen
müsse, namentlich die juristische Psychologie, habe in Folge
jener bestehenden Theorien gar sehr fehlgreifen müssen.
So will denn der Verfasser die „apriorischen Grundlagen
unserer geistigen Organisation----im Sinne von zu-
gleich mit den fundamentalsten Erfahrungen sich bilden-
den und äußernden Momenten geistiger Selbsttätigkeit des
Beurteilungen.
355
Menschen" (S. XIII) durch eine kritische Geschichte der
mannigfachen über das Wesen der Seele und die Natur
der geistigen Vorgänge, die von Kant und der nachkanti-
schen Epoche geschaffen sind, aufs neue gegen den positi-
vistischen Aberglauben sicher stellen.
Er gibt die Gliederung seines historisch-kritischen
Verständigungsversuches S. 4 in einer verkürzten Repro-
duction des Inhaltsverzeichnisses selber folgendermaßen an.
Indem er von dem extremsten Standpunkte ausgeht, wird
behandelt „I. Der Materialismus und die Leugnung der
Seele: die Seele nur ein Product, ein Accidenz oder eine
Function des Leibes; II. Der skeptische Positivismus, be-
sonders bei W. Wundt: die Seele ein gewordenes Ding,
aber keine Substanz; III. Der Kantianismus und Kriticis-
mus: die Seele ein Phänomen, ihr beharrliches Wesen ein
Postulat der Vernunft und zwar: A. Kants eigene Lehre
vom Wesen der Seele im Zusammenhange seiner erkennt-
nistheoretischen Grundansicht: die Seele ein objectives
Phänomen, ihre Substanz ein Vernunft-Postulat; B. Der
subjective Kriticismus und Relativismus: die Seele ein
subjectives Phänomen, so zumal bei Schopenhauer und
in dessen Theorien der Seele als einer Vorstellung d. h.
der Seele als eines bloßen Scheines; C. Die Modificationen
des subjectivistischen Kriticismus und des relativistischen
Phänomenalismus: die Seele ein individuelles Phänomen;
D. Der nominalistische Phänomenalismus und Empirismus:
die Seele ein Titel und Name ; IV. Der absolute Idealismus
und moderne Realismus: die Bejahung der Seelen Substanz,
und zwar A. Der absolute Idealismus: die Seelensubstanz
als relativ constante reale Einheit im Processe des Wer-
dens, nämlich: 1. Fichtes Ichbegriff und die Seelen Substanz
als Princip der Geschichte des Bewusstseins, 2. Schellings
Lehre und die Seelensubstanz als beharrliches Sein des aus
dem unbewussten Naturprocess hervorgegangenen bewuss-
ten Lebens des Geistes, 3. Hegels Lehre vom subjectiven
Geiste und die Seele als eine bloß gewordene Substanz
23*
356
Glogau.
und ein Durchgangspunkt im Processe absoluten Werdens;
B. Der halb dogmatische Realismus von Fries, Herbart und
Beneke: die Seele ein reales übersinnliches Ding und be-
harrliches Sein; C. Der wissenschaftliche Realismus bei
Schleiermacher, Trendelenburg, Lotze und Harms, d. h.
1. Die Seele als reales Princip des Bewusstseins in einem
Organismus, 2. die Seele als gewordene psychische Sub-
stanz, 3. die Seele als ein reales übersinnliches Ding, das
dem Titel der Substanz entspricht, 4. die Seele als sub-
stantielles Substrat des individuellen geistigen Lebens oder
als incorporirter Geist."
Diese Inhaltsangabe aber mag auch für unsere Leser
genügen. Einmal ersehen sie daraus, dass völkerpsycho-
logische Fragen hier kaum nur gelegentlich berührt wer-
den; andrerseits erhellt aus ihr ebenso die Wichtigkeit des
Werkes für diejenigen, welche sich aus Unklarheit und
Irrtum in betreif der principiellen Vorfragen des geschicht-
lichen Daseins ernstlich zu befreien wünschen. Indem der
Verfasser allen Wendungen, die hier der Zeitgeist genom-
men, im Einzelnen nachgeht, zeigt er durchgehends eine
ausgedehnte quellenmäßige Kenntnis seinem Gegenstandes
und er verbindet mit ihr im Ganzen einen glücklichen
Blick und eine gesunde Kritik. Er behält sich übrigens
vor, das in der Kritik zerstreut Gewonnene demnächst als
Kern eines Lehrbuches der Psychologie zusammenzufassen.
Dann erst dürfte sich eine nähere Prüfung seiner Grund-
anschauungen auch an dieser Stelle empfehlen. — —
Vielleicht hat mancher Leser mit mir aus diesem
Ueberblick über eine Anzahl wichtiger Erscheinungen aus
dem Gebiete der neuesten Philosophie die Ueberzeugung
gewonnen, dass neue oder vielmehr sehr alte Bedürfnisse
den Bann der letzten Jahrzehnte von sehr verschiedenen
Seiten aus nun endlich zu brechen beginnen. Dazu mag auch
das Selbstbekenntnis beitragen, welches Avenarius soeben in
seiner Kritik der reinen Erfahrung über sich abgelegt hat.
Druck von Emil Herrmann senior, Leipzig,
R. Gaertner's Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW.
I------
A Die Sprache und das Erkennen
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1 Gustav Gerber.
gr. 8. VIII und 336 Seiten.
Preis 8 Mark.
„Ein hocbbedeutsames Werk, welches kein Sprachforscher oder
Philosoph wird unbeachtet lassen dürfen."
(Zeilschrift f. d. österr. Gymnasien.)
Vollständig liegt jetzt vor:
Die Sprache als Kunst
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Gustav Gerber.
2. neubearbeitete Auflage.
2 Bände« 20 Mark.
Die vPhilologische Rundschau" empfiehlt das Werk „nachdrücklichst"
und bezeichnet es als „eine ganze encyklopädische Bibliothek im besten
Sinne des Wortes, in gedrängter, die Deutlichkeit aber keinesivegs be-
einflussender Uber sieht."
Das „Pädagogium" sagt: es ist auf dem Gebiete der allgemein en
S-prachwissenschaft seit langem wieder ein Werk von bleibender Be-
deutung. Eine solche Belesenheit in den alten Rhetoren, in den klassischen
Werken der griechischen, römischen, deutschen, französischen und englischen
Litteratur, eine so intensive Bekanntschaft mit den Werken der allgemeinen Sprach-
wissenschaft und Sprachphilosophie setzt geradezu in Verwunderung. Eine
Tropen- und Figure*'ehre, wie sie mit philosophischem und zugleich historischem
Sinne hier gegeben wird, existiert sonst in keiner anderen Litteratur."
L
Werke von seltenem Werte und grosser Originalität". (Revue critique.)
Société des Traditions populaires.
Revue des Traditions populaires.
Publiée par M. Paul Sébillot,
Secrétaire général de la Société.
La Revue consacrée aux traditions, légends, chansons populairs, mœurs, usages,
mythologie, art populaire, etc., paraît par iàsciculs mensuels de 48 à 64 p. grand in 8°
raisin, qui chacun contiennent plusieurs airs de musique gravés, et des dessins.
La troisisème année est en cours de publication.
Abonnement 15 frs. pour la France 17 frs. pour V Union postale.
La cotisation des sociétairs est de 15 frs. par an, sans distinction de nationalité
donne droit à l'envoi gratuit de la Revue et de 1'Annuaire.
Abonnements etc. M. H. Certeux, 167 rue St. Jacques, Manuscrits etc.
M. Paul Sébillot, 4, rue de l'Odèon, Paris.
Im Verlage von Wilhelm Friedrich erscheint:
Geschichte der Weltlitteratur
in Einzeldarstellungen.
Diese „Geschichte der Weltlitteratur" unterscheidet sich von den bisherigen
Arbeiten auf diesem Gebiete dadurch, dass jede einzelne Litteraturgeschichte zwar ein
in sich völlig abgeschlossenes Ganzes bildet, aber alle von dem einheitlichen Gesichts-
punkte geleitet werden, in angenehmer, nicht doktrinärer Darstellung ein Bild des
Besten zu geben, was die betreffende Litteratur aufzuweisen hat, dieses Bild durch
geschmackvoll ausgewählte Proben (in metrischen Ubersetzungen) zu illustrieren und
mit dem grossen Wust der unbedeutenden Namen und Bücher, diesem leidigen Ballast
aller bisherigen Litteraturgeschichten, gründlich aufzuräumen, und nur soviel davon
mitzuteilen, um den Charakter eines brauchbaren Nachschlagewerkes und bleibenden
Handbuches nicht zu beeinträchtigen. Zu diesem Unternehmen hat sich eine Anzahl
erprobter Litteraturkenner vereinigt, deren jeder nach einheitlichem Plane diejenige
Litteratur bearbeitet, die er vollständig beherrscht, und so ist der Begriff „Weltlitteratur"
hier zum ersten Male in praktischer Weise gelöst worden: ein Bild der litterarischen
Grossthaten der Kulturvölker, gezeichnet von Männern, die selbst Poeten genug sind,
um den Meistern der Dichtkunst gerecht zu werden. Die bis jetzt erschienenen Bände
enthalten :
GESCHICHTE
der
altgriechischen Litteratur
von ihren Anfängen
bis zur Eroberung Konstantinopels
von Ferdinand Bender.
br. M. 12.—, geb. M. 13.50.
GESCHICHTE
der
englischen Litteratur
von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit
von
Carl Bleibtreu.
2 Bde. br. M. 15.—, geb. M. 17.—
GESCHICHTE
der
niederländischen Litteratur
von
Hell wald - Schneider.
br. M. 12.—, geb. M. 13.50.
! GESCHICHTE
der
deutschen Litteratur
von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit
von
Franz Hirsch.
3 Bde. br. M. 24.50, geb. M. 29.—
GESCHICHTE
der
polnischen Litteratur
von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit
von
Heinrich Nitschmann.
II. Aufl. br. M. 10.—, geb. M. 11.50.
GESCHICHTE
der
neugriechischen Litteratur
von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit
von
A. R. Rangabé und Daniel Sanders.
br. M. 3.—, geb. M. 4.20.
GESCHICHTE
der
russischen Litteratur
von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit
von
Alexander von Reinholdt.
br. M. 13.50, geb. M. 15.—
GESCHICHTE
der
italienischen Litteratur
▼on ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit
von
K. M. Sauer.
br. M. 9.—, geb. M. 10.50.
Geschichte der skandinavischen Litteratur
von ihren Anfängen bis auf die neueste Zeit
von
Ph. Schweitzer.
Band I und II. (Band III (Schluss-Band) erscheint Ende dieses Jahres.)
2 Bde. broch. M. 9.—, geb. M. 11.—
Durch jede Buchhandlung zu beziehen,
DRUCK VON EMIL HERRMANN 8EN« LEIPZIG.
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Achtzehnter Band. Viertes Heft.
INHALT:
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim
Essen. Von Carl Haberland.
Zwei Hexengeschichten. Von Director W.
Schwartz.
Ausruf, Frage und Verneinving in den semi-
tischen Sprachen. Von P. Jensen.
Höret ihr Himmel, merk auf Erde. Von H.
S t e in th al.
Beurteilungen:
E. N. Setälä, Zur Geschichte der Tempus-
und Modusstammbildung in den finnisch-
ugrischen Sp rächen. Von Franz Misteli.
J. Qvigstod-Sandberg, Lappiske eventyr og
folkesagn Von P. Steinthal.
A. Joannissiany, Armenische Bibliothek IV.
Märchen und Sagen. Von K. B i u chmann.
Terms used in talking to domestic animals. — An den Leser.
Beilage zu diesem Heft: Ein Prospekt „Neuere Stimmen der Kritik über
E. v. Hartmanns Stellung in der Geschichte der Philosophie".
LEIPZIG
Verlag von Wilhelm Friedrich,
K. R. Hofbuchhändler.
1888.
Im Verlage von Gebr. Henninger in Heilbronn erscheinen:
Literaturblatt
für germanische und romanische Philologie.
Herausgegeben von
Dr. Otto Behaghel und Dr. Fritz lVeu.ma.im,
o. ö. Professor der german, Philologie o. ö. Professor der roman. Philologie
an dei Universität Basel. an der Universität Freiburg.
Abonnementspreis pro Semester von 6 monatlichen Nummern von wenigstens
32 Spalten 40 M. 5.—
Zum gleichen Preise können die vollständig erschienenen Semester und ganzen Jahr-
gänge bezogen werden.
Einzelne Nummern werden nicht abgegeben.
Englische Studien.
Organ für englische Philologie
unter Mitberiicksichtigung des englischen Unterrichts auf höheren Schulen.
Herausgegeben von
Eugen Kolbing-,
o. ö. Professor der englischen Philologie an der Universität Breslau.
Abonnementspreis pro Band von ca. 30 Bogen in 3 Heften M. 15.—
Zum gleichen Preise werden die vollständig erschienenen Bände geliefert.
Einzelne Hefte sind zu erhöhtem Preise käuflich.
Vollständig erschienen sind elf Bände; vom XII, Band ist das erste Heft aus-
gegeben, das 2. Heft nnter der Presse.
Französische Studien.
Herausgegeben von
Cr. Körting und X!. Koschwitz.
Abonnementspreis pro Band von ca. 30 Bogen M. 15.—
Zu gleichem Preise werden die vollständig erschienenen Bände geliefert.
(Der III. Band M. 12.—) Einzelne Hefte sind zu erhöhtem Preise käuflich.
Vollständig erschienen sind vier Bände.
Vom VI. Band erschienen:
1. Heft: Die germanischen Elemente in der französ. und
prOVenZ. Sprache von Dr. Emil Mackel. (Einzelpreis M. 6.80.)
2. Heft: Der Bestiaire divin des Guillaume le Clerc. Von
Max Friedrich Mann. (Einzelpreis M. 3.60.)
3. (Schiuss-)Heft: Die Tempora der Vergangenheit in den
romanischen Sprachen, mit besonderer Berücksichtigung des fran-
zösischen. Von Johan Vising. (Unter der Presse.)
Vom IV. Bande an erscheint in unserem Verlage:
Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft.
Begründet und herausgegeben von
F. Techiner,
Dozent der allgemeinen Sprachwissenschaft an der Universität in Leipzig.
Abonnementspreis pro Band — in zwei Halbbänden — M. 12.—
T7in-7alna Wo! ViVinr» r\ a. cinrï 711 PT-1-1 öl» "Proico Völlflirll
lieber Gebräuche und Aberglauben beim
Essen.
Von Carl Haberland.
(Schluss.)
§ 26.
Außer den im Vorhergehenden bereits gelegentlich
angeführten einzelnen Fällen gibt es noch verschiedene
Vorkommnisse bei Tisch, welche dem abergläubischen Ge-
müte Veranlassung bieten, aus ihnen Vorbedeutung für den
Speisenden zu ziehen. In den germanischen Ländern ist
ebenso wie in Frankreich und Südeuropa1 — sogar in Ost-
indien als eingeführt unter der farbigen Bevölkerung2 —
sehr verbreitet der Glaube, selbst in den besseren und auf-
geklärteren Kreisen (vielleicht wol gerade vorwiegend in
den besseren, wie dieses für Mecklenburg wenigstens spe-
ciell von Bartsch angegeben wird3), dass von dreizehn bei
Tisch zusammensitzenden Personen eine im nächsten Jahre
dem Tode verfallen ist, ohne dass man diesen Glauben auf
einen sicheren Grund zurückführen könnte, obgleich man
zur Deutung bereits Judas als Dreizehnten beim Abend-
mahl und Loki, das Princip des Bösen, als Dreizehnten der
1 Brand 3, 232/8 (England). Düringsfeld 1, 114 (Kephalonia)
2, 92 (Dalmatien), 2, 112 (Venedig). Brand 3, 233 (Basken). Für
Deutschland fast jede Sammlung abergläubischer Sitten.
2 Branch 759.
3 Wuttke § 48. Bartsch No. 506.
Zeitschrift für Yölkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. á. 24
358
Haberland.
nordischen Götterfamilie herbeigezogen hat.1 Die dem Schick-
sal verfallene Person ist in Deutschland entweder die jüngste,
die zuletzt erschienene oder aber die unter oder yor dem
Spiegel sitzende, welche Bestimmung sich im dalmatinischen
Glauben widerfindet,2 auch wol diejenige, welche sich ängst-
lich und niedergeschlagen zeigt, wenn darauf aufmerksam
gemacht wird, welche zuerst die Hand nach dem Munde
führt (Oldenburg),3 zuerst aufsteht oder zuletzt sich gesetzt
hat (Mecklenburg)4; in Tirol beschränkt sich local die Vor-
bedeutung nur überhaupt auf ein Unglück oder einen Vor-
lust,5 sonst aber überall ist der Tod unausbleiblich. In
Warnsdorf in Böhmen scheint die Vorbedeutung des Drei-
zehnten nur für den Weihnachtsschmaus und mit einer
merkenswerten Aenderung Gültigkeit zu haben: man
sagt dort, dass nicht nur die dreizehnte, sondern alle Per-
sonen, welche über zwölf daran teilnehmen, im nächsten
Jahre sterben.6 Selbst in Aegypten pflegt man Tisch-
gesellschaften nie zu dreizehn, sondern zu zehn oder zwölf
abzuteilen;7 dagegen berichtet von den Nabatäern Strabo8
gerade das Halten von Gastmahlen zu dreizehn Personen
als eine Eigentümlichkeit. Als eine nicht uninteressante
Notiz füge ich noch bei, dass sich im Jahre 1857 in Bor-
deaux eine Tischgenossenschaft von dreizehn Personen ge-
bildet hatte, um hierdurch den auch dort grassirenden
Glauben an die ominöse Bedeutung dieser Zahl zu bekäm-
pfen, und auch wirklich das Glück gehabt hat, dass im
ersten Jahre wenigstens kein Mitglied gestorben war; ihr
Fest hatten sie auf den dreizehnten Freitag des Jahres
1 In Bayern nennt man Dreizehn des Teufels Dutzend. Lam-
mert 97 nach Sehmeiler.
2 Düringsfeld 2, 92.
3 Strackerjan 1, 34.
4 Bartsch No. 506.
5 Zingerle No. 255.
6 Vernaleken 338. 349.
7 Klunzinger 56.
8 S. 1407.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 359
\
festgesetzt, die Stühle liessen sie gern auf einem der Füße
sich herumdrehen, und noch manch anderer Satz des Volks-
glaubens wurde auf seine Ungefährlichkeit durch die Praxis
von den Mitgliedern geprüft.1
Im römischen Aberglauben war besonders gefürchtet
das Fallenlassen von Speisen aus der Hand beim Mahle,
welches je nach dem, was der Betreffende in diesem Augen-
blicke sprach oder dachte, gedeutet wurde; geschah es dem
Pontifex bei einer Pflichtmahlzeit, so wurde es als ein sehr
schlimmes, eine Sühne forderndes Vorzeichen aufgefasst:
das Stück musste unbedingt wieder auf den Tisch gelegt
und nächstdem dem Lar damit geräuchert werden, um die
übele Vorbedeutung abzuwenden.2 Gleichfalls aus dem Hei-
dentum war in das Christentum der Glaube übergegangen,
dass Speise, welche man zufällig bei Tisch fallen ließ, von
den Todten in Anspruch genommen wäre und nicht wieder
aufgenommen werden dürfe, ein Glaube, gegen welchen die
Kirchenväter nötig hatten, ihre Ermahnungen zu richten.3
Die Parsen achten ängstlich darauf, dass beim Essen vom
Munde nichts auf den Teller zurückfalle oder auf die Klei-
dung gerate; was bereits ein Mal im Munde gewesen ist,
darf als speichelbefleckt nicht zum zweiten Male hinein-
geführt werden.4 Der Deutsche betrachtet das Fallen-
lassen von Speise, vielfach namentlich von Brot, ebenso
wie wenn der Bissen drückt5 oder man sich auf die Zunge
beißt,6 nur als ein Anzeichen, dass der Bissen dem Essen-
den von einem der Mitspeisenden nicht gegönnt wird;7
nach älterem englischen Aberglauben bedeutet es Unglück
1 Vasehalde. Croyances et superstitions populaires du Vivarais.
Montpellier 1876. S. 18.
2 Plinius 28, 5.
3 Fehr 56.
4 Spiegels Avesta Bd. 2 Vorrede S. 50.
5 Panzer 1, 266. Meier 512.
6 Grohmann No. 1605.
? Wuttke § 45. 266. Wolf No. 189. 199. Witschel 2, 295.
Köhler 395. Curtze 417.
24*
360
Haberland.
und nahende Krankheit.1 Fällt dem Serben beim Brechen
des Weihnachtskuchens ein Stück ab, so folgt ein Todes-
fall im Hause.'2
Größere Bedeutung legt man in Deutschland dem Fal-
lenlassen von Messer oder Gabel bei. Meistenteils deutet
man es auf kommenden Besuch, namentlich wenn das Mes-
ser oder die Gabel am Boden stecken bleibt;3 auch dem
Steckenbleiben der fallenden Scheere schreibt man vielfach
diese Vorbedeutung zu,4 in der Oberpfalz überhaupt jedes
spitzen Gegenstandes.5 Ferner bedeutet es in Böhmen und
Lauenburg, dass die Speise dem Essenden nicht bekommen
wird und er daher gut tut, nicht weiter zu essen;6 in
Mecklenburg missgönnt alsdann einer der Mitessenden dem
Betreffenden die Speise und isst man, wenn man trotz der
Warnung weiter isst, die Missgunst mit in sich hinein und
bekommt Leibschmerzen;7 der Tiroler nimmt beim Fallen-
lassen von Gabel oder Löffel an, dass der Essende sich
sein Mahl nicht verdient habe.8 Mehrfach tritt auch die
Beziehung auf den Tod ein, so in Tirol, wo ein Todesfall
im Hause oder der eigene, dieser auch in der Oberpfalz,
eintritt, wenn man den Löffel fallen lässt,9 so in Nieder-
österreich, wenn das fallende Messer im Boden stecken
bleibt.10 Der Russe nimmt aus der Richtung, nach der
die Spitze des gefallenen Messers liegt, Gutes oder Böses
1 Brand 3, 175.
¿ Globus 30, 72.
3 Wuttke § 48. Wolf No. 116 (Rhein). Zingerle No. 234. Groh-
mann No. 1594 etc.
4 Wolf No. 167. Bartsch No. 557. Zingei-le No. 234. Curtze
419 etc.
5 Schönwerth 3, 281.
6 Grohmann No. 1593. Wuttke § 206.
7 Bartsch No. 575.
8 Zingerle No. 285.
9 Zingerle No. 392/3. Bavaria 2, 321.
10 Vernaleken 311.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 361
für sich ab.1 Der norwegische Aberglaube verbietet, Mes-
ser oder Löffel, welche am heiligen Abend vom Tische
fallen, vor dem andern Morgen aufzuheben.2
In Rom war es von übeler Vorbedeutung, wenn etwa
dem Gaste, während er trank oder nieste, sein Tisch weg-
genommen war, in letzterem Falle jedoch nur, wenn er
nichts weiter genoss oder wenn plötzlich alle Gäste auf
einmal stillschwiegen.3 lu Deutschland geht bekanntlich
bei einem allgemeinen plötzlichen Schweigen ein Engel
durch das Zimmer4 und bleibt (nach oberpfälzischer An-
sicht) bei dem stehen, der zuerst wider mit Reden an-
fängt,5 auch nimmt man in Berlin und anderwärts an, dass
in dieser Stille ein Lieutenant das Licht der Welt erblickt,
oder dass ein solcher seine Schulden bezahle. Den Griechen
war das Niesen bei Tisch ein böses Omen, im 16. Jahr-
hundert galt es bei Anfang der Mahlzeit als ein gutes,
in der zweiten Hälfte derselben aber als ein böses Vor-
zeichen;6 den Neuseeländern bedeutet es Besuch oder Neuig-
keit,7 den Juden ist dabei der sonst übliche Neujahrsgruß
verboten.8
Im deutschen Aberglauben deutet das Verschütten von
Wein bei Tische auf eine Taufe9 oder allgemein auf
Glück,10 worauf auch der ältere französische und englische
das Beschütten eines Menschen mit Wein bezieht;11 den
Griechen dagegen galt das Verschütten von Wein als ein
1 Ausland 1862, 1166.
2 Liebrecht 320.
3 Plinius 28, 5.
4 Wuttke § 48 (Norddeutscliland, Schlesien). Zingerle No. 1537.
Bartsch No. 1537. Curtze 419.
5 Schönwerth 3, 273.
6 Brand 3, 143.
7 Waitz-Gerland 6, 393.
8 Buxtorf 289.
9 Wolf-Mannhardt 2, 100 (Bayern).
10 Birlinger 1, 378.
11 Thiers No. 43. Brand, 3, 222.
362
Haberland.
ungünstiges Zeichen.1 In Tirol ist der Mann, welcher
Wein verleert, heimlicher Bräutigam,2 in Böhmen wird ein
junges Mädchen, welches in einer Gesellschaft Bier ver-
schüttet, bald ohne Ehe sich gesegnet finden.3 Gleich dem
Verschütten von Wein galt den Griechen auch das von
Oel oder Wasser als Unglück bringend,4 welcher Glaube
sich jetzt noch für Oel in Venedig, Dalmatien, Kephalonia
findet5 — schnell Salz darauf werfen wendet nach vene-
dischem Glauben das Unglück ab —, während das Wein-
verschiitten in diesen Gegenden die gegenteilige Vorbedeu-
tung von Glück und Freude angenommen hat.6 Böses
Omen ist ferner in Deutschland, England, Russland,7
Frankreich, auch bei den Basken8 das Verschütten von
Salz: man verschüttet damit sein Glück, hat Schelte, bis-
sige Reden von Personen, welche ungerufen das Zimmer
betreten werden (Oesterreichisch-Schlesien),9 Familien-
zwistigkeiten (Russland),10 Verdruss und Unglück zu er-
warten, namentlich muss man sich hüten, es wieder auf-
zuraffen; indess wendet man den Verdruss nach deutschem
Glauben, wenn man sofort etwas von dem Salz hinter sich
oder aus dem Fenster (Voigtland)11 wirft — auch das
Gießen von Wein auf die Hand wird als ein älterer ab-
wendender Brauch aus England berichtet.12 In England
ebenso wie auf Kephalonia deutet man das Salzverschütten
1 Schümann 2, 294.
2 Zingerle No. 82.
3 Grohmann No. 1566.
4 Scbömann 3, 294,
5 Düringsfeld 1, 141. 2, 114. 115.
« Daselbst 1, 114. 2, 92. 118.
' Ausland 1862, 1166.
8 Brand 3, 233 (nach Michel).
9 Peter 256.
10 Ausland 1862, 1611,
11 Köhler 431.
12 Brand 3, 165. 167.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 363
ferner noch auf Freundschafts- und Liebesbruch.1 Am
Rhein vermutet man von einem Mädchen, welches das
Salzfass aufzusetzen vergisst, dass es keine Jungfrau mehr
ist;2 als ein unglückliches Vorzeichen wurde es früher in
England gehalten, wenn jemand einer anderen Person beim
Salzen half.3 Einen noch schlimmeren Hader im Hause
aber als das einfache Salzverschütten verursacht indes
nach schwäbischer Anschauung das Verschütten von Pfeffer;4
in anderen Gegenden von Deutschland scheint man ihm
keine Bedeutung beizumessen.
§ 27.
Ebenso ängstlich wie auf die Abfälle seines Körpers
wie Haare, Nägelabschnitte und dergleichen der Natur-
mensch achtet, damit sie nicht als Teile seiner selbst in
der Hand eines Uebelwollenden Mittel werden können, ihm
zu schaden, ist er auch besorgt, dass dieses nicht mit den
Ueberresten seiner Mahlzeiten geschieht, da er auch durch
diese ebenso geschädigt werden kann. Daher werden sie
zuweilen, wie z. B. in Neuseeland, weggeworfen,5 und zwar
jedenfalls so, dass kein Unberufener sich ihrer bemächtigen
kann — Earle berichtet jedoch, dass man sie in grünen
Körbchen an Stäbchen und Stützen gehängt habe, um sie
vor Hunden und Schweinen für die nächste Mahlzeit auf-
zubewahren0 — oder sie werden auch wol, wie dies
mit den Speiseresten des Herschers der Monbuttu und auf
der Loangokliste geschieht, in eine Grube geschüttet und
vergraben.7
1 Brand 3, 165. 167. Düringsfeld 1, 114.
2 Wolf No. 459.
3 Brand 2, 165. 167,
4 Meier 505.
5 Waitz-Gerland 6, 54.
6 Journal für Land- und Seereisen 74, 19.
7 Schweinfurt in Zeitschrift für Ethnologie Bd. 5, S. 18. Glo-
bus 28, 280. Allg. Historie der Reisen Bd. 4, S. 675.
364
Haberland.
Vielleicht tritt auch der gleiche Grund für die fernere
in Polynesien und auf Mindanao herschende Sitte ein, dass
die Reste des Mahles von den Gästen mitgenommen wer-
den,1 wie dieses gleichfalls in Rom Sitte gewesen zu sein
scheint; in Japan schickt man das nicht aufgegessene Con-
fect jedem Gaste nachträglich zu2 und in Zürich war es
noch im 16. Jahrhundert Gebrauch, dass die Ueberreste
nach der Zahl der Gäste geteilt und mitgegeben wurden.3
Auf dem Lande herschen für das Hochzeitsmahl in Deutsch-
land noch vielfach ähnliche Gewohnheiten, namentlich in
den baierischen Gegenden, wo ein stehender Ausdruck da-
für — das B'schoidessen — bräuchlich ist.4 In Mittel-
franken bringt sogar jeder Hochzeitsgast seinen sogenann-
ten „Maurer" mit, meist eine Frauensperson, damit sie die
Reste sammele und heimtrage, welches Amt in der Ober-
pfalz der das Hochzeitsgeschenk bringenden Person zufällt.5
Wo in der Oberpfalz der Teilnehmer am Hochzeitsmahle
sein Couvert selbst bezahlt und nach dem Preise auch das
ihm verabfolgte Quantum bemessen wird, hat er natürlich
gutes Recht, dass er das nicht vertilgbare Uebermaß für
sich in Anspruch nimmt und es, falls er nicht vorzieht,
seine Angehörigen zum Aufessen mitzubringen, mit nach
Hause trägt; ein zweiter Teller steht neben dem seinigen,
um diesen „Beschaid-' daraufzulegen.0 Im Thüringischen
bindet nach dem Hochzeitsfrühstücke im Hause der Braut
jeder Gast eine Ecke Kuchen in eine Serviette zum Mit-
nehmen; auch der den Schluss des eigentlichen Hochzeits-
mahles bildende Butterkuchen wird nebst dem Teller und
reichlichen Fleischüberresten in eine Serviette gepackt und
1 Waitz-Gerland 6, 110, 358.
2 Werner. Die preußische Expedition nach China, Japan und
Siam. Leipzig 1873. S. 399.
3 Die gute alte Zeit S. 715.
4 Bavaria 7, 401. 402. 992. 2, 284. Leoprechting 247.
s Bavaria 3, 965. 2, 286.
6 Schönwerth 1, 95/6.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 365
mitgenommen;1 in Hauen bei Fürstenwalde wird auf der
Hochzeit überhaupt nur Brod mit Butter oder Schmalz
gegessen, die andere Speise aber verteilt und den Gästen
ins Haus geschickt.2
Eine fernere eigentümliche Sitte in Oberbaiern ist es,
dass die Gäste oft vom Hochzeitgeber die Erlaubnis erhal-
ten, noch Aftergäste (Kunden), meist indes auf eigene
Kosten, einzuladen-,3 in Tiefenbach (Oberpfalz) hat jeder
Gast das Recht einen Ehren- oder Nebengast zu benennen,4
eine Sitte, welche eine gewisse Aehnlichkeit mit dem In-
stitut der „Schatten" des späteren Altertums hat.5 Im
Thüringischen finden sich sogar bei Hochzeiten und Kind-
taufen die „Zupfgeher" ein, Ungeladene, welche sich hinter
die Stühle stellen und durch ein Zupfen an Aermel oder
Kragen zart andeuten, dass sie etwas vom Schmause wün-
schen, worauf innen denn auch von den Gästen gereicht
wird;6 in der Bretagne wird lieber gleich das ganze Haus
mit Einschluss des Gesindes geladen.7 Die talmudische
Tischanstandsregel verbietet dagegen direct dem Gaste das
Einladen noch eines anderen.8
Vielfach ist das vollständige Aufessen des Aufgetrage-
nen Forderung des Brauches oder Grundsatz der Höflich-
keit, wie dieses namentlich streng die Indianer durchfüh-
ren;11 gleichfalls ist es auf der Loangoküste geboten, nichts
1 Witzschel 2, 235. 237.
2 Kuhn-Schwartz 434.
3 Bavaria 1, 992.
4 Schönwerth 1, 64.
5 Der Name des Parasiten hatte ursprünglich durchaus nicht
die spätere verächtliche Bedeutung, sondern bezeichnete in Athen
die durch das Loos gewählten Teilnehmer der durch das religiöse
Gesetz gebotenen öffentlichen Mahle. Fustel de Coulanges 183.
6 Witzschel 2, 243.
7 Ausland 1859, 873.
8 Seligmann 222.
9 Waitz 3, 136.
366
Habeiiand.
beim Essen übrig zu lassen.1 In China muss jeder Gast die
Tasse Reis, welche das Mahl beschließt, vollständig leeren
und im Notfall vorher das Zuviel herausnehmen heißen,
denn es wäre gegen alle Höflichkeit etwas davon stehen zu
lassen;2 bei den Adighe darf nichts von den Speisen, welche
zum Gast getragen sind, in die Küche zurückkehren, son-
dern die Reste müssen von den zufällig anwesenden Per-
sonen, Nachbarn oder Sklaven verzehrt werden;3 die Thra-
ker schütteten bei ihren Gastmählern den übriggebliebenen
Wein über die Kleider der Gäste.4 Vom Passahlamm der
Juden darf ebenfalls nichts übrig bleiben: was bis zum
anderen Morgen nicht verzehrt ist, muss mit Feuer ver-
nichtet werden; selbst über die Straße darf nichts davon
getragen werden, sondern im Hause, worin man das Lamm
zubereitet hat, muss es auch verzehrt werden.5 Ebenso
muss vom Einsetzungswidder und den dazu gehörigen
Broden der Ueberrest, welchen die Priester übrig lassen,
bis zum Morgen mit Feuer verbrannt werden.0 Beim
Todtenmahl an den Gräbern, welches die Christen in Bei-
behaltung alten Brauches mehrfach feierten und gegen
welches die Kirchenväter oft eifern mussten, war es gleich-
falls Gebot, nichts von den Speisen übrig zu lassen,7 und
fast klingt es wie eine Reminiscenz hieran, dass noch jetzt
nach thüringischem Glauben die Speisen und Getränke,
welche man den Grabmachern auf den Kirchhof schickt,
ganz aufgezehrt werden müssen und kein Rest ins Haus
zurückgebracht werden darf, wenn in ihm nicht bald wie-
der jemand sterben soll.8 Dagegen forderte das römische
1 Allg. Historie 4, 682.
'2 Globus 81, 164.
3 Lapinsky im Globus 3, 74/5.
* Wachsmuth 1, 61.
5 2. Mos. 12, 10. 46.
6 2. Mos. 29, 34.
7 Fehr 56.
« Witzschel 2, 259.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 367
Herkommen, die Speisen nie ganz aufzuzehren, sondern
stets etwas auf dem Tische zu lassen, wofür Plutarch ver-
schiedene Gründe ins Feld führt: der Tisch darf als ein
Heiliges nie leer sein, man muss der Esslust Einhalt zu
tun wissen, man muss an das Gesinde und den folgenden
Tag denken.1 Die Mongolen halten gleichfalls für eine
große Unanständigkeit, die aufgetragenen Speisen ganz zu
verzehren,2 und berühren sich hierin mit den Grundsätzen
unserer besseren Gesellschaft. In Südsibirien betrachten
unter den türkischen Stämmen die Nachbaren eines glück-
lichen Jägers es als eine Ehrenpflicht, das erlegte Wild
in einer Sitzung zu verzehren und nicht zu weichen, so
lange noch ein Rest davon vorhanden ist,3 und gerade so
wie dort der Nachbar dies Beuteverzehrungsrecht hat,
ebenso gebührt bei den Eskimos jedem Dorfbewohner ein
Anteil an dem erlegten Walross, wobei der Magen beim
Verzehren das Möglichste leistet; das Fleisch wird in große
Stücke geschnitten und werden diese dann in der Reihe
herumgereicht, damit ein jeder Gelegenheit hat, von den-
selben einen mächtigen Happen mit den Zähnen abzureißen.4
Der Ostgrönländer gibt statt dessen beim Fange eines See-
hundes jeder Familie, welche mit ihm im selben Hause
wohnt, einen bestimmten Teil nach Verhältnis der Größe
der Familie und des Fanges.5
Im deutschen Aberglauben tritt das Gebot des völligen
Aufessens der Speise gleichfalls mehrfach auf und wird die
Verletzung der Vorschrift mit verschiedenartigen Nachteilen
bestraft, wogegen er hinwiederum die genaue Befolgung,
also dass kein Speiserest auf dem Tische zurückbleibt, mit
schönem Wetter für den folgenden Tag belohnt; dieser
1 Klausen 649.
2 Klaproth 1. 237.
3 Schtschukin in Lüddes Zeitschrift 10, 344.
4 Parry im Journal für Land- und Seereisen Bd. 78, S. 265.
5 Capitain Graah. Ebendaselbst Bd. 75, S. 84.
368
Haberland.
Glaube harscht durch ganz Deutschland;1 der schwäbische
fordert zu diesem Zwecke stellenweise indes nur die Til-
gung des Inhalts der Suppenschüssel.2 Vom vorgesetzten
Brode darf man in Baiern nichts übrig lassen, wenn man
nicht Zahnweh bekommen will;3 in Erlangen muss man,
um dasselbe zu vermeiden, wenigstens den Rest des Brodes
mitnehmen;4 von dem dem Hochzeitlader vorgesetzten Bier
und Brod darf in der Oberpfalz unbedingt nichts zurück
bleiben, es muss nötigenfalls mitgenommen werden, damit
der Neid nicht der neuen Wirtschaft ankommen kann.5
Kommt ein aufgelegtes Brod wieder unangeschnitten von
dem Tisch herunter, so werden die Essenden nicht satt;0
lässt im Voigtlande der Besuch das vorgesetzte Essen
stehen, dann wird schlecht Wetter;7 in Ludwigslust muss
Ueberreste der Mahlzeit „de Anner" essen.8 Noch mehr
achtet aber der Aberglaube auf die Neige im Glase: man
bringt damit dem Teufel ein Opfer,9 sie gehört nach ober-
pfälzischer und norddeutscher Eede dem Gottlosen,10 sie ist
in der Oberpfalz der Trank derer, welche sich unter dem
Galgen versammeln, d. h. der Hexen;11 es schimmert hier
überall, wie auch in dem oben mitgeteilten Glauben aus
Ludwigslust, jedenfalls noch eine alte Opferidee durch.
In Böhmen hingegen sagt man wieder, dass wer sein Bier
1 Grimm No. 279 Wuttke § 48. 206. Witzschel 2, 285 etc.
- Birlinger 1, 401.
3 Panzer 1, 258.
4 Duller 310.
5 Schönwerth 1, 64.
ß Fischer 287.
7 Köhler 395.
8 Bartsch 2, 208. „De Anner" (der Andere) wird hier sich auf
Geister beziehen, wie in ganz ähnlicher Verbindung bei Schönwerth
2, 305.
9 Grimm. Mythologie. 1. Auflage. 567.
10 Schönwerth 3, 42.
11 Schönwerth 3, 179.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 3 £¡9
bis auf den letzten Tropfen austrinkt, seine oder eines
Anderen Kraft trinke.1 In ein nicht ganz ausgetrunkenes
Glas soll man nach rheinischer und sächsischer Vorschrift
ja nicht von neuem einschenken, da sonst Gift Folge für
den Trinker ist.2 Ein schottischer Trinkerclub des vorigen
Jahrhunderts beugte allen iibelen Folgen dadurch vor, dass
er die Mitglieder verpflichtete, alles, was sie im Glase
ließen, in das eigene Gesicht zu schütten.3
Angegessenes Brod darf man nicht liegen lassen;
kommt ein Anderer dazu, es über den Galgen zu werfen,
so kann man diesem nicht entgehen;4 beißt ein Anderer
hinein, so wird man sich gram;5 und ebenso gefährlich ist
es nach deutschem und französischem6 Glauben, die Eier-
schalen nach dem Genuss der Eier ganz zu lassen statt
sie zu zerdrücken, was schon den Römern und zwar nicht
nur für die Eierschalen sondern auch für die Schnecken-
gehäuse vorgeschrieben war.7 Wer dieses verabsäumt,
läuft Gefahr, falls ein Fieberkranker die Schale findet,
dass dessen Krankheit auf ihn übergeht, oder falls Hexen
sich derselben bemächtigen, sie darin nisten, ihm oder
seinem Federvieh schaden; im Brandenburgischen lässt man
nur die Hühner dann nicht mehr legen.8 Den vielfältigen
Gebrauch von Eierschalen bei Hexereien bezeugt unter
Anderen bereits Conrad Gessner.
Das Gesetz des Manu enthält vielfache Bestimmungen
über die Reste der Mahlzeit. Der Bramane soll die seini-
gen, welche stets entfernt vom Orte, wo das heilige Feuer
sich befindet, hinzulegen sind, keinem Sudra geben, außer
1 Grohmann No. 1604.
2 Wuttke § 206 (Khein). Mündlich aus Provinz Sachsen.
3 Brand 2, 263.
4 Grimm No. 168.
5 Wuttke § 212.
6 Vingtrinier 248.
7 Plinius 28, 4.
* Grimm No. 828. 1119. Globus 28, 347.
370
Haberland.
wenn dieser sein Diener ist; tut er es bei einem Manen-
mahl, so ist er unrettbar der Hölle verfallen. Diese Reste
vom Manenmahl, welche eigentlich den vor ihrer Initiation
verstorbenen Kindern und den Seelen der Männer, welche
ohne Grund Frauen ihrer Kaste verlassen haben, gehören,
sollen nebst dem was zu Boden gefallen ist, den fleißigen
und gutartigen Dienern gegeben werden; die Reste des
Manenkuchens selber aber mögen an Kuh, Bramanen, Ziege,
Vogel gegeben oder ins Feuer oder Wasser geworfen wer-
den.1 Nach einer Stelle mag jeder die Reste eines Mahles,
welches respectabelen Gästen gegeben ist, ebenso die Reste
eines den Göttern gebrachten Opfers essen,2 eine andere
hingegen verbietet wieder, die Reste eines Anderen zu
essen, oder Nahrung von einem Anderen anzunehmen, der
dieses thut;3 ein Arbeiter, Barbier, Familienfreund oder
ein Unglücklicher, welcher Arbeit anbietet, können unbe-
schadet die Nahrung, welche ihnen von denen gegeben
wird, zu welchen sie im Abhängigkeitsverhältnis stehen,
annehmen.4
Eine weitere interessante Sitte in Bezug auf den
Ueberrest des Mahles findet sich in Ueberlebung alten
Opferbrauches in vielen Gegenden Deutschlands: zu be-
stimmten Zeiten wird dieser Ueberrest oder auch eine be-
sondere Speisegabe auf dem Tische während der Nachtzeit
gelassen, um als Nahrung für die zu diesen Zeiten herum-
ziehenden Seelen oder die verblassten Göttergestalten un-
sers alten Heidentums zu dienen. In Tirol lässt man
Allerheiligen oder in der vorangehenden Nacht die Ueber-
bleibsel der für den Tag gebackenen Kuchen auf dem
Tische stehen und stellt Lichter um sieherum, denn'diese
Ueberbleibsel gehören den armen Seelen;5 anderwärts in
1 Manu 2, 56. 3, 245. 246. 249. 260. 261. 4, 80. 81.
2 Manu 3, 285.
3 Manu 4, 211. 212.
4 Manu 4, 253.
5 Panzer 2, 103. Wolf-Mannhardt 3, 342.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 37I
Tirol bleibt in der Nacht vor üreikönigen der Rest des
Nachtmahles, welches vorschriftsmäßig- aus drei Gerichten
bestehen soll, auf dem Tische, damit die in der Nacht um-
ziehende steinalte Perchta oder Stampa, auch wol Ghanga
genannt — im Pustertale mit ihren Kindern —, sich daran
sättige, in älteren Zeiten stellte man zu diesem Zwecke
auch wol Nudeln auf das Dach;1 in Oberbayern erhielt
Frau Bert bis vor kurzem in dieser Nacht noch Küchei-
chen, welche ihr auf den Tisch gelegt wurden.2 In der
Bretagne wird in der Nacht von Allerheiligen das Essen
gleichfalls nicht abgetragen, damit die Seelen sich dessel-
ben bedienen können;3 in Périgord bleibt am Allerseelen-
abend von jedem Gerichte ein Rest auf dem Tische stehen,
welche Reste noch durch Fleisch und Wein verstärkt wer-
den, oder man setzt auch wol den Seelen neunerlei Ge-
richte auf;4 in der Normandie wird Sylvesternacht der
Tisch für die Feen gedeckt,5 in anderen französischen Ge-
genden ließ man früher in der ganzen Zeit von Weihnacht
bis zum Beschneidungstage Tag und Nacht Brod auf dem
Tisch, weil in dieser Zeit die heilige Jungfrau ihr Mahl
auf Erden einzunehmen gewohnt war.6 Gerade die Weih-
nachtszeit spielt auch in anderen Gegenden für diese Opfer-
bräuche eine wichtige Rolle. In Skandinavien bleiben die
Speisereste, denen man noch eine Kanne Bier hinzufügt,
während der Julnacht auf dem Tische stehen;7 in Monte-
negro, Dalmatien, der Herzegowina, auch in Teilen Serbiens
1 Zingerle No. 1142. 1144. 1537. Alpenburg 48. Wolf-Mann-
hardt 3, 334. Früher geschah dieses Uebriglassen für die Stampa an
den drei Rauchnächten. Zingerle No. 1140. 1537.
2 Bavaria 3, 941
3 Villemarque. Volkslieder aus der Bretagne. Tübingen 1841.
S. 263 Anmerkung.
4 Mannhardt. Mythen 724. 725 (nach de Nore).
5 Ebendort 725 (nach Bosquet).
6 Thiers 128.
7 Mannhardt. Mythen 725.
372
Haberland.
wird gleichfalls der Weihnachtstisch nicht eher abgedeckt,
als bis, das Haus nach drei Tagen wieder gereinigt wird,
während anderwärts in Serbien die Speisen wenigstens
während der heiligen Nacht auf dem Tische bleiben;1 in
Oesterreichisch-Schlesien lässt man Christabend Speisen
für die armen Seelen übrig, denen es erlaubt ist, um Mit-
ternacht davon zu essen;2 auch in Böhmen lässt man als-
dann von jeder Speise etwas auf dem gedeckten Tische
und zwar hier, damit der Fuchs im folgenden Jahre keine
Hühner huit.3 Als ausgesprochener Opfer- und Bittbrauch
tritt uns diese Weihnachtsspeisegabe noch in Mähren ent-
gegen: man legt Christabend von jeder Speise einen Löifel
voll auf einen besonderen Teller und wirft diese Gabe
nachher dann in den Brunnen, welcher in gereimter Formel
gebeten wird, das Festmahl mit zu genießen und dafür
Wasser in Fülle zu geben.4 Im Odenwald wieder ist es
die Nacht vor Fastensonntag, wo für die lieben Engel die
leckersten Speisen aufgesetzt und ihnen alsdann die Fen-
ster geöffnet werden;5 prosaischer stellt man in der Ober-
pfalz die Reste des Mittagsmahles vom Fastnachtsdienstag
in einer alten Scherbe auf des Nachbars Grund, damit der
Fuchs nicht in das eigene Haus kommt.6 Diese Einmisch-
ung praktischen Zweckes in den Opferbrauch weist auch
der preußische Glaube auf, nach welchem man dadurch,
dass man Abends Tischtuch, Schüssel, Löffel und Brod —
stellenweise überhaupt das restliche Abendessen — auf
dem Tische liegen lässt, das Quälen von Mensch und Vieh
durch die Mahr (den Alp) verhindert.7 In Böhmen sind
die Laren gewohnt in den Nächten von Donnerstag auf
1 Rajacsich 132. 127. 120. 125.
2 Peter 274.
3 Grohmann No. 356.
4 Grohmann No. 321.
5 Grimm No. 896.
6 Schönwerth 1, 350.
7 Tettau und Temme 286. Wuttke § 194.
lieber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
373
Freitag von der Speise der Menschen zu genießen, man
lässt ihnen daher für diese Nacht die Speisereste stehen,1
Schließlich sei noch einer poetisch-zarten Anschauung des
tiroler Volkes Erwähnung getan: setzt man am Christ-
abend eine große Schüssel voll Milch mit den Löffeln der
Hausbewohner im Kreise um dieselbe geordnet auf den
Tisch und kehrt um Mitternacht aus der Kirche zurück,
dann findet man einen, manchmal auch zwei von den
Löffeln nicht mehr an ihrer Stelle, weil Maria und das
Christuskind mit ihnen gegessen haben; den glücklichen
Inhabern dieser Löffel aber geschieht etwas Außerordent-
liches in diesem Jahre.2
Im katholischen Süddeutschland sammelt man vielfach
die ganze Woche hindurch die Brosamen des Tischtuches
in der Tischtruhe und schüttet sie Samstagnacht ins Herd-
feuer, sie dienen dann am Sonntag den armen Seelen zur
Absättigung;3 in der Umgegend von Luhe in der Ober-
pfalz wirft man sie sowie sonstige Speisereste als Opfer
für die Holzfräulein in den Ofen,4 ein einfaches Wegwerfen
der Brosamen ist nicht gestattet, sie müssen durch das
Feuer als dem heiligen reinigenden Elemente vernichtet
werden. Auch den Tropfen, welcher an der Schüssel beim
Schöpfen hängen bleibt oder was dabei auf den Tisch fällt,
die Milchstraße von der Schüssel zum Kinderteller, lässt
der süddeutsche Glaube nicht unbeachtet: es darf dieses
nicht wieder in den Teller hineingenommen werden, son-
dern muss den armen Seelen verbleiben, stellenweise wie
z. B. in der Gegend von Wunsiedel auch den Moosfräulein,5
wie man überhaupt noch sprüchwörtlich in der Oberpfalz
sagt, dass was bei Tische übrig bleibt, für die Holzfräulein
1 Grobmann. Sagen 194.
2 Zingerle No. 1561.
3 Rochholz. Glaube 1, 323. Schönwerth 1, 285.
4 Bavaria 2, 238.
5 Panzer 2, 69. Schönwerth 1, 285.
Zeitchrift für Völkerpsych und Sprachw. Bd. XVIII. 4. 25
374
Haberland.
aufgehoben wird.1 Eine Sage der Rheinpfalz erwähnt der
Sitte, den Rest des Mahles als das sogenannte „Gottesteil"
zur Seite zu stellen, welches in dieser Sage dann einem
sich später dafür dankbar erweisenden Berginännchen als
Erfrischung gereicht wird.2 Mit der Bedeutung des Speise-
restes als Opfergabe hängt wol auch die in Oettiiigen
(Oberpfalz) geltende Redensart zusammen, dass wer zu
essen aufgehört hat und nochmals anfängt, der Katze einen
Pfennig geben müsse;3 unter der Katze wird sich hier wol
der Hausgeist bergen.
Kaum in einem anderen Brauche tritt uns so deutlich
wie in diesen durch ganz Europa sich ziehenden Gewohn-
heiten der Speisegabe das Hereinragen des Heidentums in
unsere modernen Volksanschauungen entgegen; es ist noch
das alte Opfer, sei es nun den überlebenden alten Götter-
gestalten, sei es den christlichen Engelu oder gar der
Jungfrau gegeben, oder sei es umgewandelt in eine Spei-
sung der armen Seelen, in deren Auffassung die über-
lebenden heidnischen Ideen sich wol am innigsten mit den
Anschauungen des christlichen Volksglaubens gemischt
haben; es ist noch das heidnische Hauptfest, an welchem
diese Gebräuche am festesten haften; es ist in einem
Worte noch ein Stück Heidentum, farbenfrisch, lebenskräf-
tig und widerstandsfähig, mitten in Anschauungen und
Lebensgewohnheiten, welche mehr als ein Jahrtausend von
den Zeiten trennt, wo dieses Heidentum die Gedanken und
Gefühle der Vorfahren beherschte.
§ 28.
Die Fröhlichkeit, die gehobene Stimmung beim Mahle
lässt dieses als die geeignete Zeit für die Fassung wich-
tiger Entschlüsse erscheinen, die Phantasie ist erregter
1 Schönwerth 2, 378.
2 Bavaria 42 886.
3 Schönwerth 1, 359.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 375
und manche Bedenken, welche sonst der Fassang des Ent-
schlusses vielleicht hemmend in den Weg- treten würden,
verschwinden in diesem Momente. Tacitus berichtet ans
von den Deutschen, dass sie ihre wichtigsten Beschlüsse
während der Gelage fassten, Strabo und Plutarch von den
Persern, dass sie beim Wein liber die wichtigsten Dinge
beratschlagten;1 gleichfalls besagt ein griechischer Vers,
den uns Plutarch aufbewahrt hat,2 dass
„Besserer Rat und Sinn bei vollem Magen sich finde"
und diesem Grundsatze entsprechend finden wir auch als
alte griechische Sitte Beamtenberatangen in Form gemein-
schaftlicher Mahlzeiten.3 Ferner huldigen die Indianer
Südamerikas vielfach gleichem Brauche: in Guiana wird
der Kriegshauptmann beim Mahle gewählt,4 am Ucayali
berät man vor dem Kriege erst, nachdem man sich durch
Chichagenuss in die nötige Begeisterung versetzt hat,5 die
Araukaner schlichten bei ihren großen Schmausereien die
wichtigsten Staatsgeschäfte.6 Auch die Bewohner Tongkins
lieben es, ihre Angelegenheiten über Tisch zu verhandeln.7
In eigentümlichem Gegensatz zum alten germanischen Brauche
steht der moderne deutsche Aberglaube, dass gerade das,
was über der Mahlzeit verabredet wird, misslingt8 — sollte
sich hierin vielleicht christlicher Einfluss in bewusstem Ge-
gensatze zum heidnischen Brauche erkennen lassen?
1 Strabo 1333. Plutarch. Tischreden 7, 9, 1.
2 Tischreden 7, 2, 1.
3 Tischreden 7, 9, 1. (Tischreden 7, 10 findet sich eine längere
Erörterung über die Frage, ob diese Beratungen beim Wein em-
pfehlenswert seien.)
4 Bastian. Seele 125.
5 E. Grandidier in Nouvelles Annales 67± 77.
6 Neue Sammlung von Reisebeschreibungen. Hamburg 1780 ff.
Bd. 4*> S. 142.
i Globus 32, 330.
8 Grimm No. 822.
25*
376
Haberland.
Und wie dem schnellen Fassen eines Entschlusses das
Mahl günstig ist, so auch der festeren Verbrüderung zur
Ausführung des Entschlusses: wenn die Sinne erregt und
das Herz oifeu, dann schließt sich schnell zusammen, was
unter anderen Umständen sich nur ungern, vielleicht nur
unter Vorbehalt, vielleicht gar nicht zusammengefügt hätte.
Daher verpflichten sich die Indianer durch Teilnahme am
gemeinsamen Mahle zur Kriegsfolge-,1 daher halten bei den
Abchasen die Hirten vor dem Friihjahrsauszuge gegürtet
und mit dem Wanderstabe in der Hand ein gemeinsames
Mahl und verpflichten sich dabei zu gegenseitiger Hülfe-
gewährung,2 Bräuche, welche uns ähnlich auch bei anderen
Völkern entgegentreten. Auf Madagaskar ward vor Beginn
eines Krieges ein Ochse geschlachtet, sein Fleisch verteilt
und gegessen, und jeder, welchem dieses und das Eintauchen
seiner Sagaie in das Blut des Ochsen gestattet wurde, als
Bundesgenosse angesehen.3 Gleicherweise wird bei den
Battas zum Zeichen der Kriegsverbrüderung von Dörfern
Büffelfleisch gegessen ,4 gehört zum Schlüsse der Bluts-
brüderschaft unter den Dayaken wie auch bei manchen
anderen Völkern außer den übrigen Ceremonien das bin-
dende gemeinschaftliche Mahl,5 verpflichtet bei den Sing-
phos die Annahme von Fleisch des vor wichtigen Unter-
nehmungen geschlachteten Büffels zur Nachfolge,6 und
schließt bei den Abors der Austausch von Fleisch Bünd-
nisse; 7 bei den Garos stopft und gießt man sich beim Ab-
schluss des Friedens gegenseitig Fleisch und Reisbier in
1 Waitz 3, 148.
2 Bastian in Zeitschrift f. Ethnologie Bd. 3. Versammlungs-
berichte S. 59.
3 de Pages in Bohn 5 255.
* Waitz 5a 191.
5 Baseler Missionsmagazin 404 133.
6 Dalton a. a. 0. 5, 186.
7 Dalton 195.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 377
den Mund,1 auf Neuseeland muss jede vollkommene Ver-
söhnung durch ein gemeinschaftliches Mahl bekräftigt wer-
den.2 Die orientalische Sitte des gemeinsamen Brodessens
als Zeichen des Friedens, der Freundschaft, des Schutzes
gehört gleichfalls in diesen Ideenkreis.
Im alten Testament begegnet uns die Sitte der Bun-
desbestätigung durch Gemeinschaft des Mahles mehrfach.
Als das Volk das Gesetz Jehovahs annahm, da „schauten
sie Gott und aßen und tranken";3 als Jethro, der Schwie-
gervater des Moses, sich den Israeliten anschließt, da kamen
Aron und die Aeltesten „das Brod mit ihm zu essen",4
und gleicherweise als Jakob sich mit seinem Schwieger-
vater vergleicht, da aßen die beiden Parteien auf dem
Gedächtnishaufen und Laban ruft als Zeugen des Vertrages
eben diesen Haufen und dieses Mahl an.5 Aehnliche An-
schauungen herschten auf Samoa und boten hier den Mis-
sionaren einen günstigen Anknüpfungspunkt für das Ver-
brechen des Judas, welches den Neubekehrten aus diesem
Grunde um so verabscheuungswiirdiger erscheinen musste.6
Die Ablehnung einer Einladung erscheint entsprechend die-
sen Ideen leicht als eine feindliche Demonstration, wenig-
stens findet bei den arabischen Stämmen eine derartige
Auffassung statt.7 Um alle diejenigen, deren Dienste sie
brauchten, zu Tisch- und Hausgenossen zu machen und sie
dadurch in ein näheres Verhältnis zu sich zu rücken, sollen
nach Plutarch die Perserkönige ihren Freunden, Feldherren
und Leibwächtern immer Speisen von ihrer Tafel zugeschickt
und sogar die Sklaven- und Hundemahlzeiten auf ihrer
1 Dalton '268.
2 Earle a. a. 0. 75, 385.
3 2. Mos. 24, 11.
* 2. Mos. 18, 12.
5 1. Mos. 81, 46. 52.
6 Turner. Polynesia 325.
7 Sprenger 1. 496 Anmerkung.
378
Haberland.
Tafel haben auftragen lassen.1 Nach arabischen Begriffen
tritt der Gast durch Annahme des Mahles in eine Art
Schutzverhältnis, und weigerten sich daher die Abgesand-
ten von Tayif, als sie mit Mohammed über ihren Anschluss
verhandelten, die von diesem ihnen gesandten Nahrungs-
mittel vor Abschluss des Vergleichs zu genießen, um nicht
als seine Gäste und als solche als seine Schützlinge ange-
sehen zu werden.2
Das klassische Altertum legte dem gemeinschaftlichen
Mahle gleichfalls eine hohe Bedeutung in Bezug auf Staat
und Cult bei. In Sparta fand ein gemeinschaftliches Mahl
abgesehen von den Festtagen zweimal im Monat statt und
zwar mit Zwang der Teilnahme, denn ein Nichtteilnehmen
daran brachte Ausschluss von der Bürgerschaft mit sich;3
außerdem musste auch hier und ebenso in Athen an jedem
Tage eine Anzahl dazu — in Athen durch das Loos —
Erwählter sich in gemeinsamer Mahlzeit, welche als eine
geheiligte, für das Wohl des Staatswesens unumgänglich
nötige betrachtet wurde, vereinigen; das Auslassen dieses
Mahles auch nur an einem Tage drohte in Sparta mit dem
Verlust der göttlichen Gunst; späterhin beschränkte sich
die Sitte in Athen auf ein gemeinschaftliches Mahl der
Prytanen im Prytaneum.4 Wurde in Athen der Sohn be-
hufs Aufnahme in die Phratrie dieser von seinem Vater
vorgestellt, so opferte die Phratrie und die Mitglieder teil-
ten das gekochte Opferfleisch in gemeinsamem Mahle mit
dem Neulinge, ihn dadurch als den Ihrigen anerkennend,
während sie bei Zweifel an der Echtheit seiner Geburt
vorher das Fleisch vom Altar nahmen;5 es liegt hier die
alte Idee zu Grunde, dass gemeinsamer Genuss namentlich
1 Tischreden 7, 4, 5.
2 Sprenger 3, 485.
3 Fustel de Coulanges 230.
4 Daselbst 183.
5 Daselbst 136/7.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
879
durch, die Religion geweiheter Nahrung ein festes, ja un-
lösliches Band bildet. Ferner spielte das gemeinschaftliche
Opfermahl in den Amphiktyonien gleichwie in dem latini-
schen Städtebündnis seine wichtige symbolische Rolle, die
einzelnen Städte wurden durch das gemeinsame Mahl ihrer
Vertreter zu politischer Einheit verknüpft.1 Im römischen
Bürgerleben erscheint das gemeinschaftliche Mahl in zweier-
lei Form, erstens in dem der Curialgenossen, welches diese
an den Fornicalien und einigen anderen Festen um den
Herd des betreifenden Curiengebäudes versammelte und in
den dabei gebräuchlichen Speisen die Einfachheit der alten
Zeit darstellte und aufbewahrt hatte, und dann in dem
gemeinschaftlichen Mahle sämmtlicher Hausgenossen am
Feste der Vacuna,2 wie in dem fröhlichen Essen, welches
der Familienälteste der Verwantschaft gab, wenn am
20. Februar die Charistia gefeiert wurde, dem Feste, von
welchem Ovid singt, dass an ihm mehr denn sonst die
Eintrachtsgöttin gnädig gesinnt sei.3 Die ursprüngliche
Idee des Curienmahles erlosch indes nach und nach: die
Mitglieder der Curie glaubten sich von der Pflicht der
Teilnahme entbinden zu können, das Mahl wurde eine reine
Formalität zu Gunsten der Priester und an Stelle des ge-
meinsamen Mahles trat eine Verteilung von Geld und Le-
bensmitteln an die Mitglieder der Curie.4 Das oben er-
wähnte Hausmahl findet sein interessantes Gegenbild in
dem französischen Brauche, dass der Hausherr am Drei-
königstage alle seine Kinder bei Tisch versammelte und
selbst die kleinsten dazu aus den Betten geholt wurden;
unterließ man dieses, so wurden die armen Würmer durch
böse Geister, welche sie quälten und wol gar aus den
1 Daselbst 250/1.
2 Klausen 931. Fustel de Coulanges 136.
3 Creuzer 4, 759. Ovid. Fasten 2, 617.
4 Fustel de Coulanges 136.
380
Haberland.
Betten warfen, für diese Nichtteilnahme am Familienessen
gestraft1
Auch den Agapen der älteren Christen, welche anfangs
vor dem Abendmahl, dann nach demselben und noch später
bei sonstigen feierlichen Gelegenheiten stattfanden, und
Reiche und Arme, Vornehme und Geringe zu einem ehr-
baren, von religiöser Unterhaltung und Hymnensingen
begleiteten Mahle versammelten, lag die Idee einer Ver-
brüderung, bei ihnen in dem Herren, zu Grunde, welche
erst später gegen das Materielle des Mahles zurücktrat,
um ihre Stelle, namentlich bei den Gedächtnismahlen der
Märtyrer an deren Todestagen, den ärgsten Ausschreitun-
gen, der Schwelgerei und Trunkenheit zu überlassen. Diese
Ausartungen waren es, welche den Eifer der Kirchenväter,
des Tertullian, Gregor von Nazianz, Chrisostomos, Ambro-
sius und Augustin, und ihre Verdammung der Liebesmahle
sowie das Verbot derselben seitens verschiedener Concilien
hervorriefen: das Concil von Laodicea verdammte sie in
scharfen Ausdrücken, das von Karthago verbot die Teil-
nahme der Geistlichkeit, das von Agde (Sens) das Banket-
tiren in den Kirchen, wie man aber an dem langen Ueber-
leben der Sitte in den einzelnen Gegenden und den wider-
holten Verboten sehen kann, ohne durchgreifenden Erfolg;
erst dem Concil von Trullo im Anfange des achten Jahr-
hunderts gelang es, die Unsitte gänzlich zu unterdrücken.'2
Diesen altchristlichen Liebesmahlen stellt sich das
gemeinsame Mahl der indischen Pilger bei dem großen
Feste des Dschagannath zur Seite, wo wie dort alle Kasten-
unterschiede, welche in Indien das Zusammenessen mit dem
Niedrigerstehenden verbieten, aufgehoben sind;3 und so
groß ist hier die Wichtigkeit, welche auf die Teilnahme
am Mahl gelegt wird, dass ein Sichausschließen aus Kasten-
1 Cortet 47.
2 Lecky 2, 120. Milman 2, 320. Haug 558.
ä Wiese 1, 328. Vergi. Ehrmann 3, 288.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 381
stolz die Verweigerung der Absolution seitens der Priester
nach sich zieht;1 nach Wilson ist unter diesem gemein-
samen Mahle indes nur die gleichmäßige Verteilung der
vorher dem Idol dargebrachten Nahrungsmittel an alle
Anwesenden za verstehen,2 was ja aber auch auf dieselbe
Idee hinausläuft. Aehnlich gilt in der Bretagne beim
Seelenmahl, welches um Mitternacht vor dem Begräbnis
aufgetischt wird, kein Eangunterschied nach Stand oder
Beichtum.3 Ueberhaupt ist das gemeinschaftliche Essen,
namentlich von Nahrungsmitteln, welche vorher den Idolen
dargebracht und dadurch geweiht sind, ein unter den mei-
sten Vishnusekten, dann auch unter den Sikhs herschender
Brauch,4 wie gleicherweise sehr gebräuchlich unter allen
Sekten das Weihen von Nahrungsmitteln durch Opferung
und demnächstige Verteilung an die anwesenden Verehrer
ist; abwesenden Vornehmen wird ihr Teil wol auch in das
Haus geschickt.5 Besonders streng halten die Sadhs, eine
Unitariersekte unter den Hindus, auf das gemeinschaftliche
Mahl der Glaubensgenossen an den auf die Vollmonde fal-
lenden Festen.6 Die Aufnahmeceremonie bei den Siva-Na-
rayanis, welche einen einzigen G-ott verehren, von dein keine
Attribute ausgesagt werden können, besteht darin, dass
auf eines der heiligen Bücher Betel und Zuckerwerk ge-
legt und demnächst zum Genuss unter die Anwesenden
mit Einschluss der Neuaufgenommenen verteilt, werden,
wobei man einige Texte aus dem Buche vorträgt.7 Eigen-
tümlicher war die Aufnahmeceremonie von Hinduproselyten
bei den Sikhs; sie bedienten sich dazu des Wassers, welches
einem der Ihrigen in die Hand gegossen, von jedem An-
1 Baseler Missionsmagazin 18423 77.
2 Wilson 1, 163.
3 Yillemarqué 236.
4 Wilson 1, 163. 275.
5 Wilson 1, 116.
6 Wilson 1, 356.
< Wilson 1, 358.
382
Haberland.
wesenden mit den Zähnen berührt wnrde und dann von
dem Aufzunehmenden hinuntergeschlürft werden musste,
um ihn von jedem Kastenstolze — die Sikhs verwerfen
das Kastenwesen — zu heilen;1 ob in diesem Brauche auch
die Idee der Bindung im Schlucken des Wassers, welches
die anderen Gläubigen berührt, mitspricht, muss dahin-
gestellt bleiben.
In deutschen Landen erscheint noch mehrfach das ge-
meinschaftliche Mahl als Gelegenheit und Anlass zur Ver-
söhnung sich feindlich Gegenüberstehender. In Rotenburg
trank man vor noch nicht langer Zeit am Abend des
24. Juni den Johannissegen und versammelte sich dabei
zu piqueniqueartigem Mahle vor den Häusern; alther-
gebrachte Sitte hierbei aber war, dass Nachbarn, wenn
sie auch das ganze Jahr hindurch sich befeindet, bei die-
ser Gelegenheit sich versöhnen und mit einander essen
mussten.2 In der Tübinger Gegend ladet man zu großen
Hochzeiten alle Dorfbewohner, sowol Freunde als Feinde
ein,3 und im Voigtländischen laden zu Trauerfeierlichkeiten
sich die Nachbarn auch dann ein, wenn sie jahrelang ver-
feindet sind und sogar vielleicht unter einander processiren;
manche alte Feindschaft soll dieser schönen Sitte schon
ihr Aufhören verdankt haben.4 Im Canton Luzern bot
früher das Fastnachtsfeuer, welches allen alten Groll ver-
zehren sollte, die Gelegenheit für die Versöhnung der Nach-
barn;5 das früher in Irland und Wales am 1. November
angezündete Feuer hieß das Friedensfeuer, das Fest selbst
das Friedensfest :(i in polnischen Dörfern des österreichischen
Schlesiens ist das gemeinsame Verzehren der Osterlämmer
Anlass zu allgemeiner Versöhnung, man stößt mit einander
1 Forster. Bengalen 1, 296.
2 Meier 427.
3 Meier 481.
4 Köhler 255.
5 Lütolf 564.
6 Daselbst. Anmerkung.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 383
au, trinkt und umarmt sich und lässt allen Groll fahren.1
Und wie in Deutschland, so in Indien! Hier spielen bei
den Sudras die festlichen Mahle dieselbe Rolle für die Aus-
bringung ihrer Streitigkeiten, für die Versöhnung feindlicher
Parteien; vielfach halten sie sogar darauf, dass vor Beginn
des Schmauses durch erwählte Schiedsrichter jede Streitig-
keit geschlichtet oder wenigstens ihre Schlichtung versucht
wird.2
Wir finden oder fanden wenigstens bis vor nicht langer
Zeit auch außerdem in Deutschland noch verschiedene durch
das Herkommen gebotene gemeinschaftliche Mahlzeiten in
einzelnen ländlichen Gegenden, welche auf die frühere große
Bedeutung derselben im Gemeindeleben hinweisen. Nach
einem älteren Brauche der altinärkischen Wenden wurde
alljährlich ein Hahn so lange gejagt, bis er ermüdet hin-
fiel, dann todtgeschlagen, gekocht und verzehrt, während
welcher Mahlzeit sich niemand aus dem Dorfe entfernen
durfte; auch musste ein jeder Dorfbewohner von einem zu
diesem Tage gebackenen großen Brode erhalten. Es sollte
das Gedeihen des Viehes durch diesen Brauch gefördert
werden;3 diese Annahme deutet auf alten Opferbrauch, das
Verbot des Dorfverlassens wol auf eine Verbriiderungs-
ceremonie. In Engerda im Altenburgischen versammelt
sich noch jetzt nach einem alljährlich nach Pfingsten ab-
gehaltenen Gerichte über die im Laufe des Jahres zur An-
zeige gekommenen Uebertretungen der Dorfordnung die
gesammte Gemeinde mit Einschluss der Frauen und Kin-
der zum „Biertrunk";4 zu dem jährlichen gemeinschaft-
lichen Trünke in Gödewitz musste aus jedem Hause ein
Bewohner kommen und das Bier bis auf den letzten Tropfen
1 Vernaleken 302.
a Dubois 1, 391.
3 Kuhn. Märkische Sagen und Märchen. Berlin 1848. S. 335.
4 Grässe. Sagenschatz des Königreichs Sachsen. Dresden 1874.
Bd. 2 S. 392/3.
384
Haberland.
geleert werden1 — wir werden hier wol Nachklänge heid-
nischer Opfertränke vor uns haben, und müssen uns, wie
auch bei dem wendischen Brauche, wundern liber das zähe
Festhalten an dem Zwange zur Anteilnahme für die Ge-
sammtheit, nachdem längst jeder Gedanke an den ursprüng-
lichen Zweck erloschen ist. Ein Verpflichten durch Nah-
rungsmittelgabe tritt uns in dem noch jetzt in dem voigt-
ländischen Marktflecken Möschlitz herschenden Brauche
entgegen, die Genieindebeamten und Gemeindediener durch
Einhändigung zweier Fastenbretzeln unter gleichzeitiger
Verpflichtung durch Handschlag zu dingen.2
Eine wichtige Rolle im deutschen Volksrechte spielte
ferner früher die Sitte des Weinkaufes, des Mittrinkens
der Gemeinde als Zeugin bei Contractschlüssen, wozu noch
im vorigen Jahrhundert stellenweise die Gemeinde durch
die sogenannte Bauernglocke zusammen gerufen wurde/5
Für die Gemeinden ist dieser Brauch erloschen, für die
Contrahenten selbst findet er sich noch in einzelnen Gegen-
den. So besteht im Eifellande der „Wingkoff" noch zur
Sitte, er wird bei Abschluss vom Käufer oder Verkäufer
ausbedungen und besteht in einer bestimmten Quantität
Getränkes, welche von beiden gemeinsam genossen wird;4
so ist in Masuren noch beim Kauf und Verkauf der „Lein-
kauf, welcher schon im 14. Jahrhundert im pomesanischen
Rechte erwähnt wird, üblich: man benennt mit diesem
Worte das Getränk, welches man beim Abschluss genießt
und dessen Neige man rückwärts über den Kopf gießt,
damit das Gekaufte gedeihe.5 Im Waldeckschen ist „Wien-
kopp hallen" ein Ausdruck für das Feiern dei- Verlobung,15
' Wolf. Beiträge 1, 191.
2 Köhler 230.
3 Abhandlung von den Fingern. Leipzig und Eisenach 1756.
S. 207.
4 Schmitz 96.
5 Toppen 98.
6 Curtze 515.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen.
385
und auch anderwärts findet sich noch in Deutschland der
Ausdruck selbst aber ohne entsprechenden Brauch.
§ 29-
Die Idee enger Vereinigung, welche durch das Zu-
sammenessen zweier Personen symbolisch angedeutet wird
und welche in frühesten Zeiten wol auch als eine wirk-
liche betrachtet wurde, da der gleiche Nahrungsstoff in
beide Körper überging, findet ihren ausgeprägtesten Aus-
druck in der durch alle Weltteile verbreiteten Sitte, die
Ehe durch ein Zusammenessen oder ein Zusammentrinken
des Brautpaares zu schließen oder wenigstens diese Céré-
monie als eine notwendige den eigentlichen Eheschluss be-
gleiten zu lassen. So war es im alten Mexiko1 and in
Texas2, im alten Macédonien, wo ein Brod mit dem
Schwerte geteilt und gemeinschaftlich gegessen wurde,3
so war und ist es noch in Indien, so ist es bei den nord-
amerikanischen Indianern,4 den Orang Benue5 und vielen an-
deren Völkern, so bildet noch in China,6 Japan7 und bei den
Indochinesen,8 ebenso wie bei den Samojeden9 und den
Wotjaken,10 bei welch Letzteren der Priester vorher das
betreffende Bier weihet, das Trinken der bei diesen Völkern
gebräuchlichen berauschenden Flüssigkeiten aus demselben
Gefäße einen Teil der Hochzeitsceremonie; im griechischen
und römischen Hochzeitsceremoniell erscheint das Teilen
1 Waitz 4, 132.
2 Domenech in Nouvelles Annales 572 353.
3 Gubernatis. Die Tiere in der indogermanischen Mythologie.
Leipzig 1874. S. 150.
4 Waitz 3, 105.
5 Waitz 5a 177.
6 Müller. Allgemeine Ethnologie. Wien 1873. S. 391. Werner 213
7 Werner 343.
8 Gubernatis 150.
9 Castrén. Reisen im Norden. Leipzig 1853. S. 253.
10 Beschreibung 1, 55.
386
Haberland.
eines Kuchens zwischen den Eheschließenden gleichfalls als
wesentlicher Teil des Abschlusses der Ehe.1
In Indien bildet das Essen von demselben Blatte oder
aus derselben Schüssel, wozu dem Brautpaare unter ge-
wissen Ceremonien nach Beendigung der großen Mahlzeit
der Gäste besonders servirt wird, das eigentliche Symbol
der engen Vereinigung der Ehegatten, es ist das einzige
Mal in ihrem Leben, dass das Weib der Ehre gewürdigt
wird, mit dem Manne und nicht nach ihm und von seinen
Eesten zu speisen.2 Zunächst isst der Bräutigam, recitirt
dabei folgendes Gebet:
Ich binde mit dem Bande der Nahrung dein Herz und
deine Seele an den Edelstein (meiner Seele); ich binde sie
mit Nahrung, welche der Faden des Lebens ist; ich binde sie
mit dem Knoten der Wahrheit.
Möge dein Herz das meine werden und meines das deine.
Da Nahrung das Band des Lebens ist, binde ich dich
damit!
und reicht alsdann den Ueberrest der Braut.3 Im alten
Indien verzehrte das Paar nach der Ankunft im Hause
das Speiseopfer gemeinschaftlich.4 Bei den Teliga Ostindiens
begleitet die Wider Versöhnung der Eheleute nach geschehe-
nem Ehebruche gleichfalls das Zusammenessen einer ge-
weihten Speise, welche der Priester ihnen reicht.5
Auf Neuguinea6 ebenso wie bei den Dayaken7 treten
neben dem gemeinsamen Essen beziehungsweise für dasselbe
Betel und Cigarre ein, welche sich die Brautleute gegen-
seitig in den Mund stecken; kaut der Ehegatte im späteren
Leben ein Betelblatt und überlässt es der Gattin zu wei-
1 Fustel de Coulange 45. 47.
2 Dubois 1, 315. 344.
3 Colebrooke 1, 234.
4 Grohmann No. 917 Anmerkung.
5 Buchanan bei Wiese 1, 446.
« Waitz 6, 633.
7 Ausland 1867, 723.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 387
terem Genüsse, so erscheint dieses in Indien wie aneli- bei
den Malaien als besonders zarte eheliche Aufmerksamkeit.1
Durch Genuss von Betel und Arekanuss geschieht in Indien
gleichfalls die Uebernahme und Verpflichtung zur Ausfüh-
rung wichtiger Unternehmen;2 bei den Radschputen ist
das Zusammengenießen von Opium unverletzliches Ver-
sprechen und ein dadurch bestätigter Vertrag gegen jeden
Bruch gesichert;3 in Japan verpflichteten sich früher eine
Anzahl Diener wol durch Zusammentrinken von Wein, sich
bei dem Tode ihres Herrn durch Bauchaufschlitzen selbst
den Tod zu geben.4
Auch im modernen Volksleben Europas findet sich noch
vielfach das gemeinsame Essen und Trinken der eben Ver-
mählten als nötig für eine glückliche Zukunft gefordert;
in Russland, der Bretagne und dem Trentino geschieht es
sogar unter Mitwirkung des Priesters, also als religiöse
Ceremonie;5 in der Bretagne lässt der Priester die beiden
Brautleute zusammen Wein trinken, nachdem er ein Stück
Brod zwischen ihnen geteilt hat.0 Im Piemontesischen muss
von einem Teller und aus einem Glase von ihnen gegessen
und getrunken werden;7 in Masuren trinkt das Paar bei
der Rückkunft aus der Kirche aus einem Glase je zur
Hälfte, damit Einigkeit in der Ehe bestehe;8 in Thüringen
nimmt das Brautpaar vor dem Kirchgange gemeinschaft-
lich von einem Teller eine Suppe, häufig eine Weinsuppe,
zu sich und zwar müssen Beide gleichzeitig mit dem Essen
anfangen und aufhören, damit nicht der eine Teil in dem
1 Somadeva Bhatta. Uebersetzt von Brockhaus. Leipzig 1843.
Bd. 2 S. 201. Waitz 5* 130.
a Taylor 3, 419.
3 Wiese 1, 507 nach Oberst Tod.
4 Tylor 1, 456.
5 Gubernatis 149. Wolf. Beiträge 1, 80/1.
6 Yillemarqué 255 Anmerkung.
7 Düringsfeld 2, 20.
8 Toeppen 89.
388
Haberland.
einen Falle die Herschaft im Hause erhalte, im andern
aber früher als der andere sterbe.1 In Oberbayern setzt,
nachdem der angenommene Freier das Drangeid gezahlt
hat, die Braut ihm den von ihr zubereiteten sogenannten
„Ja-Schmarren" vor und das Paar verzehrt ihn demnächst
gemeinschaftlich.2 Wie hier der gemeinsame Genuss als
Bestätigung des Verlöbnisses dient, so kennen auch noch
englische Lustspiele des 17. Jahrhunderts den „contracting
cup" beim Schlüsse des Ehevertrages.3 Um Naabburg in
der Oberpfalz herscht die eigentümliche Sitte, dass die
Neuvermählten vor Beginn des Hochzeitsmahles an einem
abgelegenen Orte eine gebratene Taube verzehren1 — im
deutschen Mittelalter wurde am Morgen nach der Braut-
nacht dem Paare ein gebratenes Huhn vor das Bette ge-
bracht5 —; durch den gleichen Vogel, eine schwarze Taube,
über welche Zauberworte ausgesprochen waren und welche
sie der Tochter und deren Geliebten zum Essen vorsetzen,
verwandeln in einer niederländischen Sage die Eltern die
ihnen unbequeme Liebe in eine erbitterte Feindschaft.6
In Sardinien isst bei der Taufe Mann und Weib aus einer
Schüssel, wie sie dieses auch bereits mit dem gleichen
Löffel bei dem der Trauung folgenden Frühstücke getan
haben.7
§ 30.
Gleich den Ueberbleibseln des Mahles erfordern auch
die Knochen der verzehrten Tiere eine ganz besondere Be-
rücksichtigung. Zwei durchaus entgegengesetzte Behand-
lungen finden sich aber hierbei vor, die eine zerstört die
1 Witzschel 2, 285. 230.
2 Bavaria 1, 389.
3 Brand 2, 50.
4 Bavaria 2, 290. Schönwerth 1, 94.
5 Schönwerth 1, 123.
6 Wolf. Niederländische Sagen S. 369.
7 Ausland 1853. 183. 182.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 389
Knochen völlig, die andere sucht sie ebenso vollständig zu
erhalten. In Südcarolina und auch anderwärts in Nord-
amerika bei den Indianer stammen müssen die Knochen der
verzehrten Jagdtiere aufgelesen und verbrannt werden;1
gleicher Sitte huldigen die Tschuktschen, welche selbst die
Federn der Gänse verbrennen oder ins Wasser werfen,
und achten sie für so wichtig, dass sie bei Holzmangel
lieber das Fleisch roh essen als das Verbrennen der
Knochen unterlassen2 — die Skythen sollen nach Herodot
in Folge des Holzmangels die Knochen der Opfertiere als
Heizungsmaterial für das Kochen des Fleisches verwendet
haben.3 Für die Knochen der geopferten Tiere fordern die
Knochenverbrennung die Kaffern4 und die Tscheremissen;5
gleichfalls achten die Tschuwaschen genau darauf, dass bei
Familienopfern die Knochen der betreifenden Tiere ver-
brannt und alle Ueberbleibsel sorgfältig verscharrt werden,
damit nichts vom Opfer durch Tiere etwa verunreinigt
werde.6 In Südcarolina wird der Brauch damit begründet,
dass andernfalls die Jagdtiere aus dem Lande sich zurück-
ziehen, da aus den unzerstörten Knochen ein neues Tier
sich bildet und alsdann seine Genossen warnt.7 Eine ähn-
liche Anschauung über Warnung der Tiergenossen begeg-
net in der deutschen Sage: aus dem Meer bei Helgoland
zogen die Heringe für immer fort, als ein Fischer einen
Hering aus Uebermut mit Ruten gepeitscht und wider ins
Wasser gesetzt hatte, von der Mündung der Schlei die
Dorsche, als eine Dirne aus Aerger darüber, dass das Ge-
sinde gar zu viel mit diesem derzeit sehr häufigen Fische
1 Waitz 3, 85.
2 Globus 28, 46.
3 Herodot 4, 61.
4 Ausland 1863, 1043. Tylor 2, 397.
5 Beschreibung 1, 36.
e Pallas 1, 63.
7 Waitz 3, 85.
Zeitschrift für Völkerpsycli, und Sprachw Bd. XVIII. 4.
390
Haberland.
genährt wurde, einem Dorsche einen Splitter durch di&
Augen stieß und ihn so wider schwimmen ließ.1
Der oben aus Südcarolina beigebrachte Glaube schließt
sich an den weitverbreiteten, welcher aber gerade auf die
entgegengesetzte Behandlung der Knochen hinwirkt, dass
das Knochengerüst der Träger des Lebens ist und sich an
dasselbe, wenn es vollständig vorhanden ist, neues Fleisch
anschließe und das todte Tier selbst wider oder ein anderes
ihm gleichartiges entstehe. Diese Anschauung, für welche
als typische Beispiele die Widerbelebung von Thorrs Bock
die alltägliche Ersetzung des Tafelebers Sährimnir in Wal-
halla, die Widerbelebung des Pelops und so manches ihnen
gleichende Märchen der Ueberlieferung der verschiedensten
Völker dienen können, lässt uns deutlich den Grund er-
kennen, aus welchem so vielfach das Skelett des genosse-
nen Tieres gesammelt und seine Zerstreuung gehindert
wird. Hierzu stellt sich auch der parsische Brauch, dem
Haoma vom geschlachteten Tiere den Kopf, nach früherer
Sitte die Zunge und das linke Auge zu weihen, um da-
durch die Lebenskraft des Tieres der guten Schöpfung zu
erhalten, welche andernfalls durch die Tödtung eines reinen
Geschöpfes geschädigt sein würde.2 Wenn Hogström einen
Lappen Kopf, Füsse und Flügel eines Auerhahns opfern
sah, damit sein Gott daraus neue Vögel zur Jagd bilden
sollte,3 oder die Lappen vielfach überhaupt nur die Kno-
chen und höchstens noch kleine Fleischstückchen der Opfer-
tiere den Göttern, oder jetzt den unterirdischen Geistern,,
weihen, weil diese sie schon mit Fleisch bekleiden werden,4
wenn die Tungusen nach Gmelin dem Teufel das erste
Jagdtier opferten, indem sie es selbst verzehrten und
1 Miillenlioff. Sagen, Märchen und Lieder der Herzogtümer
Schleswig, Holstein und Lauenburg. Kiel 1845. S. 136/7.
2 Spiegels Avestaübersetzung Bd. 2 Einleitung S. 72.
3 Allg. Historie 20, 538.
4 Beschreibung I, 14. Castrén. Mythologie 147.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 39I
dann die Knochen auf einem Gerüst im Walde ihm wei-
heten,1 so wird uns leicht begreiflich, weshalb vielfach
bei den Indianern Nord- and Südamerikas die Knochen
beim Essen nicht verletzt, sondern sorgfältig neben der
Hütte zusammengelegt oder in der Hütte oder auch in
einem Verstecke aufbewahrt werden, indem wie sie sagen
sonst Mangel an der betreifenden Tierart eintreten würde,2
die Samojeden die Knochen der Opfertiere an einem ent-
legenen Orte, wo sie nicht gestört werden,3 die Wotjaken
sie an ihrem heiligen Platze aufstellen.4 Gehört das
jüdische Gebot, dass vom Passahlamm kein Bein zerbrochen
werden darf,5 gleichfalls in diesen Ideenkreis?
Besonders muss aber bei den erwähnten Völkern dar-
auf geachtet werden, dass nicht ein Hund sich über die
Knochen hermacht oder einige davon trägt. Bei den Lappen
wird das Fressen eines Opferknochens am Hunde mit dem
Tode gesühnt und der betreifende Knochen des Hundes
statt des verzehrten auf das Opfergerüst gelegt;6 die nörd-
lichsten Indianer, welche die Knochen auch nicht ins Feuer
werfen dürfen, müssen sich auf schlechte Jagd gefasst
machen, wenn Hunde die übrig gebliebenen Knochen des
verzehrten Wildes erwischen;7 namentlich ist aber bei vielen
Indianerstämmen gefürchtet, dass ein Hund Biberknochen
benage, da dann die Geister der Biber erzürnt werden und
die Jagd verderben, sie also des wertvollsten Tauschmittels
im Verkehr mit den Weißen berauben.8 Auch die Pata-
gonier haben große Sorge, dass die Hunde nichts von dem
1 Allg. Historie 19, 242.
2 Bastian in Zeitschrift für Ethnologie 3. Verhandlungen S. 59.
Whymper 205.
3 Castren in Liiddes Zeitschrift 7. 396.
4 Beschreibung 1, 59.
5 2. Mos. 12, 46.
6 Beschreibung 1, 14. Allg. Historie 20, 541 nach Hogström.
7 Whymper 205.
8 Carver 253.
26*
392
Haberland.
Fleisch oder den Abfällen der bei Hochzeiten geschlachte-
ten Pferde berühren nnd betrachten, wenn es geschieht,
dies als sehr unheilbringend.1 Aehnlich darf bei den Fin-
nen kein Tier von dem an einem gewissen Tage geschlach-
teten Schafe, dessen Knochen daher auch vergraben wer-
den, irgend etwas bekommen, wenn nicht das Gedeihen des
gesammten Viehes dadurch in Frage gestellt werden soll.2
Geiler von Kaisersberg fragt, warum man nicht die Bein-
lein von dem Opferlamm den Hunden gebe? und beant-
wortet die Frage aus dem Volksglauben mit „man spricht,
sie werden unsinnig".3
Die Grönländer dürfen die Seehundsköpfe nicht zer-
brechen oder wegwerfen, sondern müssen sie vor der Tür
auf einen Haufen legen, damit die Seelen der Seehunde
nicht erzürnt werden und die übrigen verscheuchen,4 der
Wöchnerin ist es streng verboten die Knochen des von ihr
verzehrten Fleisches zum Hause hinauszuwerfen, da dann
das Kind stirbt;5 wenn Mangel an Seehunden eintritt,
werfen sie stets nach dem Fange etwas von den Einge-
weiden wie auch die Knochen wieder in die See,6 für
welchen Brauch nach dem oben Auseinandergesetzten der
Zweck klar vor Augen liegt. Bei den Lappen müssen die
Bärenknochen sorgfältig mit dem Messer von einander ge-
löst und keiner derselben etwa gequetscht werden, wie
gleichfalls auch der Kopf nicht zerhauen werden darf, son-
dern ganz gekocht werden muss.6 Dahingegen muss wie-
der das Schulterblatt vom Schafe bei den Mongolen nach
der Mahlzeit zerbrochen werden und gilt Unterlassung als
1 Musters 178.
2 Beschreibung 1, 20.
3 Stöber. Zur Geschichte des Volksaberglaubens im Anfange
des 16. Jahrhunderts. Basel 1875. S. 56.
4 Cranz 276.
5 Cranz 275.
6 Capitan Grah in Journal für Land- und Seereisen 75, 90.
7 Donner 131.
Ueber Gebräuche und Aberglauben beim Essen. 393
eine schwere Sünde.1 Recht deutlich erscheint auch die
Idee der Neugestaltung von Wesen aus den Knochenresten
in dem Brauche der Camma in Niederguinea, die Körper,
welche Nachts die vampyrartigen Höhlengeister annehmen,
wenn man sich ihrer bemächtigen kann, vollständig zu
verbrennen und namentlich darauf zu achten, dass nicht
Knochen von der Zerstörung verschont bleiben, da aus
ihnen neue Vampyre entstehen.2
Die Schöpsenknochen werden von den Karelen über
das Dach geworfen;3 die Nomadenlybier warfen das Ohr
des zum Opfer bestimmten Thieres über das Haus,4 die
Juden die Eingeweide des Versöhnungshahnes auf dasselbe,
damit die Vögel auch etwas davon haben oder nach anderer
Auffassung die Raben mit der Sünde, welche dabei als
innerlich im Eingeweide sitzend betrachtet wurde, in die
Wüste fliehen sollten.5 Im germanischen Aberglauben er-
scheint das Werfen der Knochen oder ihre Aufbewahrung
zu bestimmten abergläubischen Zwecken: in der Rheinpfalz
wirft man die Knochen, welche von dem Fastnachtsdiens-
tag gegessenen Fleische stammen, in einem möglichst wei-
ten Kreise um das Haus herum, weil in diesem Umkreise
dann der Habicht keine Gewalt über das Geflügel hat;6
in Böhmen hält die Asche der am heiligen Abend verbrann-
ten Fischgräten den Blitz ab und liefert ferner ein speci-
fisches Mittel gegen eine gewisse Viehkrankheit.7 Ein
Werfen mit Knochen „so das Fleisch ab ist in St. Lau-
renzens Ehre" als Schutz vor dem Zahngeschwür kennt
bereits eine Sammlung deutscher abergläubischer Gebräuche
1 Globus 28, 347.
2 Liebrecht 369.
3 Globus 28, 368.
4 Herodot 4, 188.
5 Buxtorff 563.
6 Bavaria 42 378.
7 Grohmann. Apollo Smintheus. Prag 1862. S. 54.
394
Haberland.
vom Jahre 1612.1 In Island darf bei Rind und Schaf ein
gewisser Knochen im Schenkel, das „Schluckbein", nie den
Hunden vorgeworfen werden, sondern muss als Viehsterbe-
schutz entweder verschluckt oder in ein Loch der Wand
gesteckt oder tief in die Erde gegraben werden mit den
Worten „Schütze mich vor dem Viehsterben" — oder „dem
Höllenrachen" — „wie ich dich vor dem Hunderachen
schütze!"; der Knochen soll dem Volksglauben nach ein
verwünschter Königssohn sein.'2 Hier erscheint der Vieh-
schutz ausdrücklich als ein Akt der Dankbarkeit für die
Hinderung der Knochenentweihung; wie tief aber in den
Ideenkreis der Naturvölker überhaupt der Gedanke an die
Bedeutsamkeit der Knochenbehandlung eingewurzelt ist,
zeigt uns recht deutlich eine Sitte, welche Bastian3 von
Hirtenvölkern (leider sagt er nicht welcher) berichtet,
welche aus Furcht vor der nicht ordnungsmäßigen Behand-
lung der Knochen des von ihnen verkauften Viehes in feier-
lichem Mahle ein Stück mit allen Ceremonien der Knochen-
heiligung essen, um dadurch für das übrige genugzutun.
Erwähnt mag hier noch werden, als wol auf ähnlicher An-
sicht wie die Bräuche der Knochenbehandlung beruhend,
dass man in Ugogo zur Zeit der Reise Burtons den Weißen
vorwarf, dass sie durch Wegwerfen der Samenkörner der
gekochten Melonen Blattern erzeugten,4 womit wir auch
wol noch die Beschuldigung, welche der Harrisschen Expe-
dition in Abyssinien gemacht wurde, zusammenhalten kön-
nen, dass die Reisenden durch Rösten des ihnen von der
königlichen Tafel verehrten Teiges, welchen sie wie üblich
halbgebacken erhielten, Hungersnot liber das Land brächten.5
1 Wolf-Mannhardt 3, 311.
2 Liebrecht 369.
3 Zeitschrift für Ethnologie Bd. 3. Verhandlungen S. 59.
4 André 2, 146.
5 Harris 1, 304.
Zwei Hexengeschichten.
395
Zwei Hexengeschichten
aus Waltershausen in Thüringen nebst einem mythologischen
Excurs über Hexen- und ähnliche Versammlungen.
Von Director W. Schwartz.
I.
Kam mal Einer 'nes Abends spät über 'ne Wiese, da
sah er viele Lichter und eine Menge vornehmer Leute,
Herren und Damen, die vergnügten sich da und tanzten,
und dabei war 'ne curiose Musik; sein eigner weißer
Kater, der spielte unter anderm den Dudelsack.j
Wie er noch so verwundert zusah, kam der auf ihn
zu und fragte ihn, was er da wolle. Weil er ihm jedoch
immer zuerst des Mittags von der Suppe in seine Schüssel
gegeben, so würde es ihm noch so hingehen; er solle sich
mitvergnügen. — Ja, meinte der Mann, er hätte man
keinen Anzug! — Dafür würde er schon sorgen, sagte
Jener, und da brachten sie ihm dann auch schöne Kleider
und einen Rock mit Tressen besetzt, und nun ging's los.
Allmählich aber erloschen die Lichter und der Mann
befand sich im Dunkeln, und vergeblich suchte er sich
zurechtzufinden, so dass er zuletzt sich hinlegte, um zu
warten, bis es hell würde.
Wie der Morgen graute, sah er, dass er in einen
Sumpf geraten und in einem Pferdegerippe steckte, aus
dem er zum Hintern heraussah; — das war das schöne
Kleid gewesen! Der weiße Kater hat sich aber nie wider
sehen lassen.
II.
Mal dienten zwei Knechte auf einem Bauernhofe.
Wie's nun Abend wurde, sagte der Eine zum Andern;
„Ach, wenn's doch erst Morgen wäre." „I, warum denn?"
sagte der Andere; „es schläft sich ja ganz schön die Nacht."
„Na," sagte der Erste: „dann lege Dich mal an meine Stelle,
396
Schwartz.
dann wirst Du nicht so denken." Das tat nun Jener,,
legte sich aber das Häckselmesser neben das Bett. In der
Nacht nun kam die Bäuerin in die Kammer und hatte
einen Pferdezaum in der Hand. Der Knecht tat, als wenn
er schliefe. Wie sie ihm aber den Zaum überwerfen wollte,
sprang er auf und entriss ihr den Zaum und warf ihn ihr
über, und nun ging es auf und davon, hoch in die Luft über
Wälder und Felder, bis sie nach dem Blocksberg kamen.
Da ging es lustig her, sie tanzten und fochten mit großen
Schwertern und riefen immer dabei:
„Ich schlage eine Wund'.
Die heilt in einer Stund'."
Der Knecht aber, der sein Häckselmesser mitgenom-
men, war mitten darunter und rief immer: „Ich schlage
'ne Wund, die heilt nimmermehr." So viel sie ihm auch
sagten, er solle das Andere sagen, so blieb er doch bei
seiner Rede.
Als nun Alles vorbei war und es wider nach Hause
ging, warf er der Bäuerin den Zaum wider über, und nun
ging es auf und davon. Wie sie aber bei einer Schmiede
vorbeikamen, sagte er dem Schmied, er sollte seinem Pferde
die Yorderhufe beschlagen. Das geschah denn auch. Als
er aber zu Hause ankam, nahm er dem Pferde den Zaum
ab und ging auf seine Kammer, als wäre nichts gewesen.
Den andern Morgen hieß es, die Bäuerin sei krank,
kein Mensch wusste aber, was ihr fehle. Als der Knecht
nun auch in die Stube kam, und sie so im Bett lag, da
sagte er, sie solle ihm doch mal die Hände zeigen. Als
sie das aber nicht wollte, riss er das Deckbett weg, und
da saßen die Hufeisen noch an den Händen; da war es
herausgekommen, dass sie eine Hexe war.
Obige Sagen wurden mir im vorigen Jahre in Fried-
richsrode während eines Sommeraufenthalts daselbst von
einem alten Waltershauser Knecht, der noch voll solcher
Zwei Hexengeschichten.
397
Geschichten war, erzählt. Sie sind höchst eigentümlich,
indem in ihnen gerade verschiedenartige, in Hexen-
geschichten widerkehrende mythische Züge in
prägnanter Weise vereint sind. Wenn ich darin eine
Veranlassung finde, ein Paar derselben einer eingehenden
Erörterung zu unterziehen, so erscheint es geeignet, vorher
zur Charakteristik derartiger Hexengeschichten
und ihres Ursprunges überhaupt in großen Zügen den
nötigen Hinter- oder vielmehr Untergrund zu zeich-
nen, dem sie entstammen.
Der Glaube an Hexen und namentlich Hexenver-
sammlungen in Europa ist nicht, wie man früher viel-
fach meinte und auch J. Grimm noch zum Teil annahm,
entstanden im Anschluss an eine angebliche Zauberkunst,
die seiner Zeit im Heidentume geübt, auch nach Einfüh-
rung des Christentunis in heimlichen Versammlungen im
Stillen weiter gepflegt worden sein sollte. Er beruht viel-
mehr in seinem Hauptcharakter, wie ich schon zum Teil
im Urspr. der Myth. S. 21 if. aus einander gesetzt habe,
bei den meisten europäischen Völkern ursprünglich auf
einem allgemeinen indogermanischen Volksglauben,
in welchem sich die primitivsten Vorstellungen von aller-
hand zauberhaften, in Wind und Wolken ihr Wesen
treibenden Geistern, gemäß allen den Accidentien und
Wirkungen, die man dabei wahrzunehmen glaubte, verkör-
pert haben.
Die irdische Localisirung ist erst, wie meist überall in
den Mythen, umgekehrt ein späterer Process, der sich hier
um so leichter vollzog, je mehr sich die Vorstellung des
Zaubernkönnens verallgemeinerte, und sich so die Fähig-
keit, in dieser Weise wunderbare Einwirkung auf die Na-
tur wie auf Mensch und Vieh auszuüben, leicht auch auf
Menschen übertrug und dann diese zu Trägern einer da-
hin schlagenden geheimnisvollen Kunst machte.
Die alten Urvorstellungen treten noch eigentümlich
hervor im deutschen Aberglauben und in allerhand sich
398
Schwartz.
daran schließenden Gestaltungen und Bildern der Hexen-
sagen, wie sie sich in den mannigfachsten und doch immer
denselben typischen Hintergrund zeigenden Variationen bei
den verschiedenen Stämmen in der Tradition als ebenso
viel Niederschläge des gemeinsamen Volksglaubens erhalten
haben.
Bedeutsam ist besonders, wo der unmittelbare Anschluss
an die Natur noch direct haften geblieben ist oder naheliegt.
Ich hebe in dieser Hinsicht nur ein paar charakteristische
Beispiele hervor. Wie man ein plötzlich aufsteigendes oder
besonders starkes Gewitter in Süddeutschland noch ganz
gewöhnlich ein Hexenwetter nennt, so geht noch überall
beim deutschen Landvolk die Rede, im Wirbelwind, —
den die Sprache ja auch sonst noch höchst charakteristisch
„Windsbraut" nennt, also als ein weibliches Windwesen
bezeichnet, offenbar weil es im sich „drehenden Tanze"
dahinbewegt, — sitze eine Hexe oder Trude; und
allerhand Aberglauben gibt an, wie man sich vor ihm
schützen könne. Und wenn sich dazu nun in den Sagen
als ein typischer Zug ein plötzliches zauberhaftes Auf-
fahren in die Höhe und daran sich schließende Luft-
fahrt bei griechischen wie deutschen Hexen, ähnlich wie
selbst bei den homerischen Göttern es noch haften geblie-
ben ist,1 stellt, so gemahnt das ebenso an den sich erhe-
benden Windstoß, wie es weiter auf den im Unwetter
sich bildenden nächtigen Wolkenzug weist, wenn die
Hexen kurzweg Nachtfahrerinnen oder Mantelträge-
rinnen genannt werden. Ziehen doch auch, was nament-
lich das Letztere anbetrifft, die griechischen Götter, selbst
auch noch bei Homer, ebenso ganz gewöhnlich in Wolken
gehüllt am Himmel dahin; spielt doch auch in deutscher
Sage die Wolke noch ausdrücklich unter anderm als Tarn-
kappe oder als Mantel des Wodan, in den sich der Sturmes-
gott hüllt und davon den Beinamen Hackeiberend empfing,
1 Grimm. Myth. 2, I. 302 f.
Zwei Hexengeschichten.
399
eine entsprechende Rolle, so dass es sich dem eng- anschließt,
wenn auch die Hexen so ausgestattet am Himmel zu aller-
hand geheimnisvollen Zusammenkünften dahin zu fahren
schienen, falls sie nicht auf den Wolken als auf phantastisch
gedachten Reittieren, die sie sich nach den Sagen selbst
gezaubert, dahinjagend gedacht wurden. Denn gleich wie
die Götter können sie auch die Gestalt sich selber oder
anderen wandeln und führen dazu auch noch ausdrücklich,
wie jene, den Zauberstab, d. h. den Blitz, dem man haupt-
sächlich die wunderbaren Wandlungen in den phantastisch
wechselnden Wolkenbildungen und sonstigen Erscheinungen
des Gewitters dort oben zuschrieb, und der so zu dem haupt-
sächlichsten Medium für alles derartige Zaubern wurde.
Ihre Beziehung zum Wetter bricht auch sonst noch
überall hindurch. Blitz- und Wetterhexe ist eine ganz
gewöhnliche Bezeichnung für sie, und wie das Sieb in
ihren Händen auf den feinen Regen geht, der nach alt-
mythischer Vorstellung gesiebt wurde,1 so heißt es, wenn
der Nebel im Walde aufsteigt, „die Hexe braut", und
ein Unwetter namentlich mit Hagel und Schloßen brauen
ist ja dann überhaupt eine Haupttätigkeit der Hexen. Dass
aber auch dies Letztere ursprünglich als ein Akt himm-
lischer, nicht irdischer Wesen galt, wird unter ander m
dadurch bestätigt, dass die Hexen auch selbst im Gewitter
weiter noch tätig eingreifen. Sie sind z. B. selbst Ge-
witterdämonen, wenn sie wie die Elbe im niederfahren-
den Blitz ihre lähmenden Geschosse entsenden, wovon
bei verallgemeinerter Vorstellung noch unsere Bezeichnung
für eine Lähmung im Rücken als Hexenschuss herrührt
u. dergl. mehr.2
1 Urspr. d. Myth. S. 223. Poet. Naturan. I. X.
2 Auch wenn die Hexen ein Stück Yieh umbringen, sagt man
noch, es hat einen S eh u s s bekommen. Meier, Sagen aus Schwaben.
1852. I. S. 191. Yergl. Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen. 1849. G.
Anm. 49. Panzer, Bayerische Sagen. 1855. H. S. 209.
400
Schwartz.
Wie für die meisten Typen der sich an sie anschließen-
den mythischen Elemente sich Parallelen bei Indern und
Griechen finden und nicht bloß indische Hexen wie die unsern
auf Besen (d. h. dem Blitz in Anschluss an die strahlen-
förmige garben- oder zickzackartige Form desselben) durch
die Luft fahren,1 sondern auch die zauberhaften Vorbe-
reitungen bei ihrer Wandlung und angeblichen Rüstung
zur Luftfahrt sich ähnlich bei den betreffenden Völkern
widerholen, und namentlich die Zaubersalbe bei Griechen
wie Deutschen dabei ihre Rolle spielt, — die selbst Homer,
der sonst- solchen elementaren Vorstellungen sich fern hält,
bei der Kirke erwähnt:'2 — so tritt namentlich eine über-
raschende Homogenität im Ursprung bei Schilderung der
großen Festversammlungen der Hexen mit den ähn-
lichen Sturm- und Gewitterwesen bei den Griechen her-
vor. Nur hat dort das Ganze den bäurisch einfacheren Cha-
rakter der deutschen Sage abgestreift und unter dem Einfluss
eines schon mannigfachen Culturlebens und einer poetisch
entwickelteren Mythologie äußerlich zum Teil ein anderes
Colorit erhalten.
Fasst man nämlich den Kern der Vorstellungen ins
Auge, der den Hexen Versammlungen wie allen den
orgiastischen Umzügen zu Grunde liegt, an welchen
letzteren die griechische Mythologie so reich ist, so decken
sich die Elemente fast vollständig.3 Schon dass derartige
1 Schon Mannhardt, Germ. Myth. 35 Anm. 4 fasste es so.
2 Die Zaubersalbe tritt in Griechenland zunächst wie in Deutsch-
land auf, wenn bei Lucian in Thessalien — denn dorthin „nach Nor-
den" verlegte man die eigentliche Heimat der Hexen von griechischer
Seite, wie z. B. die Esthen nach Finnland, die Finnen nach Lapplandr
— eine Hexe sich mit einer Salbe beschmiert, um als Vogel auf-
zufliegen. Bei der Verwandlung der Gefährten des Odysseus tritt
sie nach der Vorstellung des Homer wie des Ovid nur bei der
Entzauberung auf, indem Kirke die Tiere dann mit derselben be-
streicht, während bei der an Personen vorgenommenen unfreiwilli-
gen Verwandlung passender Trank und Zauberstab eintritt.
3 Vergi. Schwartz, Poet. Naturaa. 1879. H. 160 ff.
Zwei Hexengeschichten.
401
Versammlungen sich überall an einzelne hohe Berges-
gipfel knüpfen, welche in die Wolken hineinragen, und an
denen die Gewitter sich zu sammeln pflegen, weist auf eine
entsprechende Scenerie hin. Und wenn die Feste in ihren
charakteristischen Urtypen namentlich in dunkler
Nacht unter Feuer- und Fackelschein vor sich gehen
sollten, so weist dies ebenso auf die G-ewitternacht hin,
wie es nicht befremden kann, wenn neben den Wind- und
Wolkengeistern im Zickzack der Blitze und in den
brüllenden und hallenden Donnern noch andere the-
r i om or phi sch-gestaltete Geister einzugreifen schienen.
Concentrirt sich ein solches Bild z. B. vor allem eigen-
tümlich in den an den Blocksberg sich anschließenden
Sagen, in welchen die Frühlingsversammlung der
Hexen um ein bocksartiges oder mit einem Pferde-
fuß und einem Kuhschwanz versehenes Wesen, trotz
aller christlichen Deutung als Teufelsspuk, noch voll Hei-
dentum ist, so sind die daran sich schließenden Scenen
ursprünglich nur Analoga in bäurisch roher Form zu dem
wilden Treiben, welches unter Anderm bei den Griechen
überhaupt dann die Nymphen, Thyiaden, Mänaden
und Bakchantinnen mit den bocksfüßigen Panis-
ken oder Satyrn sowie den pferdehufigen Silenen
oder dem stierfüßigen Dionysos angeblich begingen,
zumal wenn der Letztere eine Art Vorsitz dabei führte
ähnlich wie der kuhschwänzige Gewitterdämon auf dem
Blocksberg.1
In der Gewitternacht schienen eben alle dahin ge-
hörenden Wind- und Wolkendämonen gleichsam los-
gelassen und sich zu einem orgiastischen Zuge oder,
wie man mit christlichem Anstrich in Deutschland sagt,
zu einem wahren Hexensabbat zu einen und zum Teil
1 Ueber das Fortleben solcher Vorstellungen noch heute auch
heim griechischen Landvolk s. Bernhard Schmidt, Das Volksleben
der Neugriechen. Leipzig 1871.
402
Schwartz.
phantastisch tierartig ausgestattete Geister sich ihnen
zu gesellen. Der „springende" Zickzack des Blitzes, der
bald „brüllende" bald „hallende" Donner lenkte nämlich
die Phantasie auf springende Geiße, brüllende Stiere
oder donnernde Eosse und ließ so die betreffenden Wesen
in ähnlicher Weise wie wir gesehen haben, irgendwie
ausgestattet erscheinen. Musik und wildes Jauchzen,
Tanz und Buhlschaft, wie es im Tönen und Brausen des
Sturms, im Wirbel und Zusammenstoß der von den Win-
den gejagten und bedrängten Wolken sich zu bekunden
schien,1 bildete angeblich den Mittelpunkt der Feier, welche
sich in der Gewitternacht unter grell aufleuchtendem Feuer
entfaltete, und wenn Blitz und Donner den Höhepunkt er-
reichten, dann war der Meister erschienen, dem die Huldi-
gung galt. An den wolkenumkränzten Bergesgipfeln voll-
führte sich die Scenerie, zu der von allen Seiten die
Geister, Bakchantinnen, Mänaden und Thyiaden wie die
deutschen Nachtfahrerinnen und Mantelträgerinnen im
Sturm herbeizueilen schienen, um mit den himmlischen bocks-
oder pferdehufigen Geistern zu tanzen und sich zu haschen,
überhaupt ihr ebenso geheimnisvolles als tolles Wesen zu
treiben. Das Bild, welches Schiller in ideal gehaltener
Form kurz streift, wenn er in seinem Berglied singt:
„Zwei Zinken ragen ins Blaue der Luft,
Hoch über der Menschen Geschlechter,
Drauf tanzen, uinschleiert yon goldenem Duft,
Die Wolken, die himmlischen Töchter,
Sie halten da oben den einsamen Reihn,
Da stellt sich kein Zeuge, kein irdischer ein."
eben dasselbe Bild, in die Gewitternacht einrückend und
gemäß den phantastischen Erscheinungen derselben nach
dem Culturstandpunkt der Naturmenschen in der verschie-
densten Weise gedeutet und dann weiter ausgesponnen,
1 Ueber die Buhlschaft der Wind- und Wolkenwesen s. außer
den angeführten Stellen noch Berliner Zeitschr. f. Anthropologie
XVIII. 666 ff.
Zwei Hexengeschichten.
403
liegt allen jenen und ähnlichen Sagen zu Grunde. Wenn
Plinius Hist. nat. lib. V. c. 1. von dem über die Wolken
sich erhebenden Berge Atlas erzählt, dass er des Nachts
häufig in Feuer aufleuchte und dann Aegipanen
und Satyrn dort ihr ausgelassenes Wesen trieben
und der Flöten und Schalmeyen Klang und der
Cymbeln Dröhnen sich hören lasse, so treten der-
artige Vorstellungen bei den verschiedensten, namentlich
indogermanischen Völkern, uns entgegen und haben sowol
eine reiche Fülle von Mythen geschaifen, als auch Berge,
die als Wetterscheiden sich besonders bemerkbar mach-
ten, sagenhaft ausgestattet, wie auch endlich in Nach-
ahmung der angeblichen himmlischen Vorgänge, Umzüge
und dergleichen zu orgiastischen Cuiten Veranlassung
gegeben.1
Nachdem ich so den natürlich realen Hintergrund,
dem auch die Sagen von den Versammlungen der Hexen
entsprossen sind, in der Hauptsache gekennzeichnet habe,
wende ich mich zur Besprechung einiger Momente,
welche den neu beigebrachten thüringischen Sagen eigen-
tümlich sind oder wenigstens durch ihre charakteristische
Widerkehr auch hier die Aufmerksamkeit besonders erregen.
1. In der ersten Geschichte tritt am Schluss drastisch
1 Auf diesen Charakter der betreffenden Berge, die noch das
Landvolk als „Wetterzeiger" ansehe, da sich an ihnen die Gewitter
entwickelten, macht schon Praetorius in seiner Daemonologia Rubin-
zalii Silesii v. J. 1668. I. p. 45 aufmerksam. Er stellt so zum Olymp
in Norddeutschland die Schneekoppe, den Zobten, den Blocksberg,
den Ettersberg bei Weimar und den Petersberg bei Halle, alles iso-
lirte, weithin sichtbare Bergeskegel. Dem entsprechend sagt v. Alpen-
burg in seinen Mythen und Sagen Tirols, 1857 : „Dass die Hexen-
plätze meist so gelegen sind, dass sich dort die Wetterwolken bil-
den und wirbelnd herumtreiben, die dann sich entleerend das kleine
Bächlein im Nu zu einem dunklen Wildbache anschwellen, der mit
Sand, Steinen und Bäumen unermesslichen Schaden anrichtet."
404
Schwartz.
der Zug hervor, dass Alles, was bei einem solchen
Zauberfeste noch so herlich und glänzend er-
scheint, doch eitel Trug ist und schließlich in
ein widriges Gregenteil umschlägt.
Als die Spuknacht mit ihrem Glanz und ihren wun-
derlichen Vergnügungen zu Ende, umgibt den unfreiwilligen
Teilnehmer nichts als Sumpf, und er selbst steckt in einem
eklen Pferdegerippe.
Ein derartiger Wechsel der Scenerie, der in sol-
chen und ähnlichen Bildern psychologisch zunächst in der
Weise begründet erscheint, dass alles Schöne nur „Ver-
blendung" gewesen, ist aber kein vereinzeltes Moment
in dieser und ähnlichen Sagen, sondern ergibt sich in seiner
Widerkehr in den verschiedensten Sagenkreisen indogerma-
nischer Mythen bei den mannigfachsten Variationen und
Modificationen des Wechsels resp. der Verblendungsscene
als ein altes gemeinsames mythisches Urelement, welches
sich hier an das Phänomenale der Gewittererschei-
nungen anschloss und das rasch Vorübergehende der-
selben sowie gewisse in ihnen angeblich hervertretende
Contraste, der zu Grunde liegenden Gesammtnaturanschau-
ung entsprechend, so deutete und phantastisch ausspann.1
Am einfachsten erscheint der betreffende typische Zug
eines solchen an die Gewittererscheinungen sich knü-
pfenden Gegensatzes z. B. in der Sage von dem in der
Gewitternacht dahintosenden Wilden Jäger oder
Nachtjäger. An die Keule, welche derselbe im fliegen-
den Blitz und nachkrachenden Donner wie der nordische
Thor zu werfen schien, knüpft sich nämlich bald goldi-
ger Glanz, bald unerträglicher Gestank. Dasselbe
widerholt sich in anderer, aber doch ähnlicher Weise in
1 Wenn das Blendwerk liier im Charakter der Scenerie
liegt, so erscheint die betreffende Vorstellung verallgemeinert dann,
wenn den Hexen wie überhaupt den Göttern die Fähigkeit zu-
geschrieben wird, die Augen der Menschen zu verblenden
(das íHXysiv oaas <pasivá bei Homer).
Zwei Hexengeschichten.
405
den mit heidnischen Vorstellungen so reich getränkten
Teufelssagen, die unter christlicher Gewandung so viel-
fach alte Gewittermythen bergen. „Was der Teufel
als glänzendes Gold gab," sagt J. Grimm, „war bei
Licht besehen Mist und Kot.
Ich habe diesen Gegensatz im Anschluss hieran im
„Heutigen Volksglauben und das alte Heidentum", Berlin
1849 (1862), zunächst auf einen in den Blitzerscheinun-
gen angeblich entsprechend hervortretenden Gegensatz zu-
rückgeführt, indem dieselben erst leuchtend auftreten,
dann aber in dem mit ihnen verbundenen „Schwefel-
geruch" sich Gestank und Verwesung an sie zu knü-
pfen schien, so dass Blitz und Wolken weiter an Kno-
chen und schwindende Häute erinnerten u. dergl. mehr.
Ja der betreifende Charakter erweiterte sich, wie spätere
Untersuchungen dartaten, noch stellenweise in anderer
drastisch roherer Form, indem der Eegen mythisch oft als
ein ovçsïv und eine gewisse Art Donner als eine noçdr]
der himmlischen Wesen gefasst worden war.
Mit solchen contrastirenden Elementen erscheinen nun
auch die Hexensagen mannigfach versetzt, was bei den
Naturanschauungen, an die sie sich, wie ausgeführt, an-
lehnen, nicht befremden kann. Namentlich treten solche
Züge in den kleineren Genrebildern, an denen die Sagenart
reich ist, hervor, zuweilen als ein eine derartige Versamm-
lung störendes und dieselbe zum Abbruch bringendes Mo-
ment, in der Regel aber als Symptom des „widerlichen"
Hintergrundes, der, nachdem die phänomenale Verblendung
vorüber, überhaupt zu Tage tritt. Wie ein Gewitter oft mit
einem besonders krachenden Donner sein Ende erreicht zu
haben scheint, so stört z. B. einerseits nicht bloß in Deutung
eines solchen ein Aufschrei oder auch in einer litauischen
Sage eine noqór¡ eines angeblich zufällig hinzukommenden
Zuschauers das Hexenfest,1 wie auch andererseits bei einem
1 Heutiger Volksglaube u. s. w. H. Aufl. 120 Anm.
Zeitschrift für Völkerpsyeh. und Sprachw. Bd. XVIII. 4. ¿
406
Schwartz.
in anderer Weise herbeigeführten Abbruch des Festes jenes
letztere unsaubere Moment nur zur Folie mit für die con-
trastirende Scenerie diente.
Wird die letztere in der thüringischen Sage nur durch
das ekle Pferdegerippe angedeutet, für das anderweitig
ein Todtengerippe, ein Gräberfeld mit Knochen und Aelm-
liches eintritt,1 so wird dieselbe sonst meist in der unflätigeren
Art im Anschluss an das ovqsïv, den Schwefelgeruch und
eine angebliche nog dì) ausgeführt, wie ich es oben nach
Grimm schon von den Teufelsgeschichten erwähnt habe.
Nach Baader, Volkssagen aus dem Lande Baden, Karlsruhe
1851, kommt z. B. ein wandernder Handwerksbursch an
einen Felsenkeller, in dem eine Hexenversammlung
stattfand. Er schaut durch das Schlüsselloch und gewahrt,,
dass der Keller hell erleuchtet war und darin gezecht
und getanzt wurde, auch sah er an der Wand ein Pferd
angebunden stehen. Da hörte er, wie eine Frau der Sipp-
schaft zu einer andern sagte: „Geh, blas das Licht aus,"
worauf diese durch das Schlüsselloch dem Gesellen ins Auge
blies, dass er augenblicklich erblindete. Hierüber entsetzt
schrie er dreimal: „Um Gottes Willen macht auf!" Da
flog die Tür auf, und Hexen und Teufel stoben aus einan-
der. Der Gesell ging nun in den Keller und faud, dass sein
1 Die Knochen knüpfen ursprünglich an die Blitze an, wie aus
mannigfachen mythischen Bildern erhellt, in denen die Wolken dann
als dazu gehörige verwesende Häute gelten. So besteht der sogen.
Viehschelm, der Gewitterstier, dessen Erscheinen ist wie das
Rauschen des wilden Heeres, der grässlich (im Donner) brüllt
u. s. w., am Hinterleibe aus Aasknochen, die nur die Haut eben
deckt. Der Sturmwind hieß bei den Nord-Germanen Leichen-
schwelger, gerade wie eine ähnliche Anschauung noch in der Sage
von den Sirenen hindurchblickt, wenn sie als die ursprünglichen himm-
lischen Wolkenvögel, die das zauberhafte und bezaubernde Sturmlied
ertönen lassen, von den Gebeinen hinschwindender Männer, die sie
angeblich bezaubert, umgeben sind. S. meine Abhandlung über
dieselben in der Berliner Zeitschrift für Gymnasialwesen v. J. 1868
(Prähistorische Studien S. 135 ff.).
Zwei Hexengeschichten.
407
Aufruf alles Blendwerk zerstört hatte. Das Essen
war Viehkot, der Wein Rosspisse geworden und das
Pferd in den Knecht einer Hexe verwandelt: sie hatte ihn
— wie eine ähnliche Scenerie auch in der zweiten thürin-
gischen Sage vorkommt, — im Schlafe gezäumt und dahin
geritten, während ein Bund Stroh im Bette neben ihrem
Manne ihre Stelle vertrat. — Auf das Verschiedenste führt
die Phantasie den Contrast aus. Die Pfeife, die einem vor-
übergehenden Musiker gereicht worden, der genötigt ward
zu dem Hexentanz aufzuspielen, — ein oft widerkehrender
Zug, — stellte sich nachher als einZiegenröhrknochen
heraus, der Becher, der als Geschenk gereicht, entpuppt
sich als ein Kuhfuß, der Kuchen als ein Kuhfladen,
das Geld als Scherben u. s. w. — Meist aber concen-
trirt sich die Wandlung resp. Verblendung um die Speisen,
die angeblich aufgetragen werden, wie eine Sage, die ich
einmal zu Gittelde hörte, gemäß dem bäurischen Wol-
geschmack die Sache in der knappsten und doch prägnan-
testen Weise folgendermaßen schildert. Ein Knecht, heißt
es, hatte ein Hexenmahl, bei dem eine Art Kobold oder
Drak auf Geheiß der Hexe unsichtbar die Speisen her-
beischleppte, belauscht und an demselben teilgenommen.
Als die Hexe sich dann ertappt sah, rief sie ihm höhnisch
zu: „Hast Mäuse gegessen statt Bratbirnen, hast Spin-
nen gegessen statt Klumpe, hast Würmer gegessen statt
Sauerkohl. Kuhn u. Schwartz, Nordd. Sagen, Nr. 217.
Dass eine solche Blendwerkscene bei einem Hexen-
mahl schon eine indogermanische Sagenform ist, be-
weist eine ähnliche Geschichte, die Philostratus uns im
Leben des Apollonius von Tj^ana aufbewahrt hat, und die
auch schon gelegentlich von J. Grimm und Graeße gestreift
wird, die aber erst durch die obigen Perspectiven ihre volle
Bedeutung erlangt. Apollonius rettete nämlich einen Jüng-
ling, der in die Hände einer Lamia oder Empusa gefal-
len, die eine schöne Gestalt angenommen hatte, um ihn so
in Liebe und Buhlschaft zu verstricken. Die Sache ist
27*
408
Schwartz.
philosophisch verarbeitet, mythologisch ist aber die Schluss-
scene eben bedeutsam, wo (durch Apollonius Dazwischen-
treten) die Störung des buhlerischen Mahles in der
bekannten Weise sich entwickelt. Als die Hexe nämlich er-
kannt ist, heißt es: „da gehen alle die goldenen Gefäße
und das, was Silber schien, in Rauch auf, und Alles
ging vor den Augen weg, und die Weinschenken und
Köche und die ganze Dienerschaft wurde unsichtbar."
Alles war nur ein Phantom gewesen.
Dies Moment wird aber noch nach anderer Seite hin
bedeutsam. Wenn nämlich das so charakteristische Hexen-
mahl noch so auch bei der Empusa und Lamia hervortritt,
die auch wie die Mänaden, Tliyiaden u. s. w. ursprünglich
zum Spuk der Gewitternacht gehörten und dann erst in
einer gewissen Differenzirung zu Gespenstern der gewöhn-
lichen Nacht geworden sind,1 so ist jenes Moment ursprüng-
lich auch auf griechischem Boden neben Tanz und
Buhlschaft ein gemeinsamer mythischer Zug der
betreifenden Wesen gewesen, der nur für die mit dem
Dionysos verbundenen Dämonen in dieser Form als nicht
passend in Wegfall gekommen ist, während statt dessen
als Substrat des wahnsinnigen Rasens, das hier in
den Vordergrund tritt, der Genuss des trunken machen-
den Göttertranks, den z. B. Tliyiaden durch den Schlag
ihres Zauberstabes wecken, in besonderer Weise dann zur
Ausbildung gelangt. Es tritt überhaupt hier bei Ver-
gleichung dieser Sagen hervor, wie die ursprünglich homo-
genen mythischen Elemente sich verschieben und zum
Teil auch im Charakter sich umgestalten. Fliegen die
Mänaden beim Euripides in den Bakchen noch gleich
den Hexen auf wie die Yögel, tanzen und buhlen
wie jene, so wandeln sie sich doch nicht mehr wie jene
in allerhand phantastische Wolkentiere oder benutzen
solche als Reittiere. Der Raserei der Scenerie entsprechend
1 Indogermanischer Volksglaube. 1885. 198.
Zwei Hexengeschichten.
409
werden jene Tiere zum Object für ihre Wut, und wie
der Wind die Wolken zerreißt, zerreißen sie angeb-
lich die himmlischen Böcke, Stiere u. dergl.1
Verblendungsscenen brechen dabei auch in diesen
Mythen, wie überhaupt in denen des Dionysos überall hin-
durch, nur dienen sie nach der Auffassung seines ganzen
Umzugs oder Einzugs als Mittel seine göttliche Macht zu
bewähren. Auf seine Veranlassung haut nach der Sage
der ihm widerstrebende Lykurgos sich einen Fuß ab oder
tödtet seinen Sohn mit einem Beil, indem er in seiner
Verblendung glaubt, mit einer Weinrebe zu tun zu
haben. In den Bakchen des Euripides, also zur,Zeit der
gehobensten nationalen Mythologie, spielen sich noch eben
solche Scenen ab und werden dichterisch verwertet. Pen-
theus fesselt in seiner Verblendung einen Stier am
Troge, während er glaubt den Dionysos in Banden zu
schlingen. Der grausigste Contrast aber ist, wenn Agaue,
Pentheus Mutter, sich verblendet mit den Bakchantinnen
auf ihren Sohn stürzt in dem Glauben, einen Stier zu zer-
reißen und dann triumphirend sein Haupt auf dem Thyr-
sosstab als glückgekrönten Raub nichts ahnend trägt.2
Hält man, was die letzte Sage anbetrifft, dazu die ganze
Scenerie, in der Dionysos dabei sich in Feuersgluten
1 Vergi, über die Anschauung Heutiger Volksglaube. II. Aufl.
49. 120. Poet. Naturan. II. 64. Das Zerreißen ihrer Opfer von
Seiten der Hexen tritt besonders so in Süddeutschland auf. s. z. B.
Zingerle, Tiroler Sagen S. 338. Schönwerth, Sagen aus der Ober-
pfalz III. S. 181. In den bakchantischen Cuiten ist es eben dem
Charakter derselben entsprechend in der angegebenen Weise ein
Hauptmotiv der Scenerie geworden.
2 Analog ist wenn die Minyaden dem Dionysos wider_
streben und schließlich Leukippe mit den Schwestern ihren
eigenen Sohn zerreißt wie ein Reh. Anton. Lib. X. cf. Welcker,
Griech. Götterlehre I. 446. Auch die Sage von Orpheus gehört
hierher, den dieMänaden auch zerrissen, weil er sich ihren
Orgien widersetzt, s. weiter unten.
410
Schwartz.
offenbart, sich in die G e wit, ter ti er e Drache, Stier u. s. w.
wandelnd oder dann ähnlich in Sophokles Antigone unter
nächtlichem Jubelschall und Feuersglanz, „des hoch-
donnernden Zeus Spross", einziehend gedacht wird mit den
Thyiaden (aï as ¡¿airó¡.isvai nttvvv%oi %oqsvovGi ròv ra-
¡Liíav "jccx%ov), so klingen in alle dem noch die großartigsten
Gewitterscenerien an, um die sich die einzelnen mythischen
Bilder, welche die Sage noch aus damit zusammenhängen-
den anderen Anschauungen erhalten hat, als individuelle
Ausführungen einzelner Züge gruppiren.
Auch auf eine eigentümliche Verblendungsscene der
nordischen Mythologie, die sich auch an das Gewitter an-
schließt, will ich der Analogie halber zum Schluss noch
hinweisen, nämlich auf die Sage von Thor und Utgard-
loki. Es liegt derselben, wie auch das Hineinspielen der
Midgardschlange noch bestätigt, die Vorstellung eines
Kampfes aller finsteren Gewittermächte mit dem Donner-
gott zu Grunde, dessen Scenerie dann in freierer Phantasie
zu mehreren Wettkämpfen ausgesponnen ist. Schließlich
war aber Alles, wie Utgardloki zuletzt höhnt, von Anfang
bis Ende nur — Verblendung gewesen. „Ich habe Dir stets
ein Blendwerk vorgemacht, sagt Utgardloki, und werde
auch ein andermal meine Burg mit solchen Täuschungen
schirmen; und wie Thor zornig den Hammer hob um zu-
zuschlagen," heißt es weiter, „sah er Utgardloki nicht
mehr, — auch die Burg war verschwunden, er sah nur
weite und schöne Felder vor sich."
Wenn die beigebrachten Beispiele von Verblendungs-
scenen den behaupteten Ursprung derartiger Vorstellungen
klar gelegt haben dürften, so schließt sich doch an die aus
den Bakchen des Euripides herangezogenen Scenen noch ein
so charakteristisches Bild an, dass ich die sich daran knü-
pfende höchst bedeutsame Perspective nicht unerwähnt
lassen möchte.
Zwei Hexengeschichten.
411
Pentheus belauscht nach Eurípides und Nonnus den
Hexensabbat der Bakchantinnen, unter denen seine Mutter
sich befindet, von einem Baume herab. Gerade so sehen
wir in einer tiroler Sage bei Zingerle 337 f. einen Bur-
schen von einem Baume herab die Orgien der Truden
oder Hexen belauschen, indem er sehen will, ob seine
Braut dabei ist. Den Schluss der Scene bildet in beiden
Sagen das Zerreißen eines der bei der Scene beteiligten
Wesen von Seiten der Bakchantinnen resp. der Hexen.1
Wenn schon Preller die Scenerie des Pentheus auf der
Fichte bei Euripides einen alten bedeutungsvollen Zug der
Sage nennt, so führt uns die angezogene Parallele und was
sich Alles daran schließt, zumal bei dem ganzen Hinter-
grund in der Natur, mit dessen mythischer AuiFassung wir
es hier zu tun haben, noch zu ganz anderen Kesultaten.
Zwei Personen werden nämlich besonders typisch in
jene geheimnisvollen Versammlungen hineingezogen: ein
zufällig oder als Lauscher in dieselben hineingeratendes
Wesen, das sie in irgend einer Weise stört, und „entdeckt"
meist verfolgt und zerrissen wird, oder ein Spielmann,
von dem die wunderbare Musik ausgeht.2 Wenn es noch
1 Wenn in der Tiroler Sage „das Mädchen" zerrissen wird, dann
aber die Stücke wider gesammelt und dieselbe wider zum Leben
zurückgerufen wird, wobei nur eine Rippe fehlt, und davon ihr ein
Wahrzeichen blieb, so verleiht das der betreffenden Sage noch einen
besonderen mythischen Hintergrund. Nicht bloß, dass der Zug bei
der Zerstückelung und Widerbelebung des Pelops widerkehrt, auch
sonst hat er eine Fülle von Analoga in den Sagen von den wider-
belebten Böcken des Thor, der Kuh des deutschen Nachtvolks, wie
der indischen Rhibhus u. s. w. s. Mannhardt, German. Myth. 57 ff.
Die diesen letzteren Bildern zu Grunde liegende Anschauung war,
dass beim Scheiden des Gewitters nur Haut (Wolken) und Knochen
(Blitze) des im Gewitter aufgetretenen Wesens übrig geblieben waren,
die dann beim nächsten Gewitter wider belebt erschienen. — Ueber
das Zerreißen s. oben S. 409 und die betr. Anm.
2 Dass in dem Spielmann ein charakteristischer Typus stecke,
darauf haben schon ihrer Zeit Menzel, Zingerle und Lütolf hin-
gewiesen.
412
Schwartz.
eine freie Erfindung sein könnte, dass ein Lauscher dabei
auf einen Baum steigt, so hat J. Grimm in seiner ersten
Ausgabe der Mythologie v. J. 1835, also vierundzwanzig
Jahre, eheZingerle obige tiroler Sage der Tradition entnahm,
den Sitz des Spielmanns auf einem Baum, mit einem
Pferdehaupt als Geige in der Hand, schon als einen charak-
teristischen Typus der Scenerie verzeichnet, und dieselbe
ist in späteren Sagensammlungen nicht bloß bestätigt, son-
dern auch durch ein Nebenmoment in ihrer mythischen
Bedeutung charakteristisch hervorgehoben worden, wenn
auch bei Verblendungsscenen der Spielmann nach Aufhören
einer solchen angeblich „auf einem Galgen" sich wider-
findet.
Fassen wir nämlich das letztere mythische Bild ein-
heitlich zusammen, so deckt sich der beim Hexensabbat des
Gewitters auf dem Pferdehaupt aufspielende mythische Mu-
sikant auf dem Baume oder Galgen sowol ganz mit dem
nordischen Odhin, dem „Hängegott", der hoch oben am
Himmel am windigen Baum, „am Ast des Baumes,
dem Niemand ansieht, aus welcher Wurzel er spross" d. h.
hoch oben in der Wolke am himmlischen Sonnenbaum
hängt und im Winde seine Zauberrunen singt, als auch
mit dem angeblich phrygischen Marsyas, dem im Winde
pfeifenden Satyr, der dann geschunden, d. h. mit
seinem Wolkenfell an der Fichte hervorragenden
Ast aufgehängt sein sollte, wie ich beide Bilder schon
in den Poet. Naturan. H. so gezeichnet habe. Auf den
Musikanten der Hexenversammlung passt dann aber recht
eigentlich, was Heine in seinem Lied das Meer sagt:
Der Sturm spielt auf zum Tanze,
Er pfeift und saust und brüllt.
Und wenn man so bei der ganzen orgiastischen Sce-
nerie, die sich am Himmel im Graus der düstern
und nur durch gelegentliche Blitze erhellten Ge-
witternacht abzuspielen schien, hoch oben in den
Zwei Hexengeschichten.
413
Wolken den Meister sitzend und sein Sturmlied
aufspielend wähnte, damit Alles im wirbelnden
Tanze sich drehe, so ist es wahrlich ein homogener
und prächtiger Abschluss des ganzen, gewaltig gedachten
Bildes. Ist der in einer Wolke gehüllt auftretende Sturmgeist
aber so der Musikant beim Hexentanz, so wird auch das noch
wahrscheinlicher, worauf ich schon oben hingedeutet, dass
zu dem Bilde eines versteckten Lauschers und Störers,
der zuletzt mit einem Aufschrei oder in ähnlicher Weise
hervorbricht, „der Donner" die Veranlassung gegeben. Die
Phantasie führte eben nach den Symptomen, die sie wahr-
zunehmen glaubte, das Bild verschieden aus, wie es ja
überall in den Mythen widerkehrt.
Auch auf ein anderes Moment in der Sage von Pen-
theus möchte ich noch zum Schluss hinweisen, nämlich auf
das Bild, wie die rasende Mutter das Haupt desselben
auf dem Thyrsosstabe als Kopf des angeblich zerris-
senen Waldtieres triumphirend dahin trägt, und wie an
ihm gerade nachher, als die Verblendung gewichen,
der Contrast so grausig hervortritt, indem sie in ihm das
Haupt des Sohnes erkennt. Ich würde nichts Typisches und
an die himmlische Scenerie Anknüpfendes darin finden,
wenn nicht in einer ähnlichen griechischen Sage ein Haupt
speciell eine wunderbare und an den Naturkreis des
Gewitters sich anschließende Polle spielte, ich meine den
Kopf des Orpheus, des angeblich thrakischen Musikers,
der mit seinem Gesang d. h. den Sturmesliedern die
ganze Natur bezauberte.1 Weil er sich nämlich wiePen-
theus den Orgien widersetzte, sollen ihn ja auch die Mä-
naden zerrissen haben, sein Haupt aber übrig geblieben
und süße oder klagende Weisen singend auf den
1 Wenn die Sage den Orpheus nach Thrakien setzt, so ist das
nur eine mythologische Localisirung, wie wenn man die Zau-
berer in Thessalien zu Hause sein ließ (cf. S. 400). Das mythische
Thrakien ist nur „das Nordland der Stürme", wo alle Sturm- und
"Windgeister (auch die kämpfenden wie Ares) zu Hause zu sein schienen.
414
Schwartz.
Wassern dahin getrieben sein. Wie letzteres an die
Vorstellung anzuknüpfen scheint, die in einzelnen aufge-
richteten Wolken „blasende Windhäupter oder sogen.
Gewitter- oder G-rummelköpfe" erblickt, und von einem
solchen Wolkenhaupte auch hätte gesagt werden können,
dass es mit den himmlischen Regen wassern dahin treibend
weiter sein zauberhaftes Sturmlied augestimmt habe, so
könnte auch in dem Zug der Pentheussage, der an dem
„Haupt" des Pentheus weiterspinnt, noch ein Nachklang
einer ähnlichen Naturanschauung und Vorstelluug stecken.
Erinnert doch der Pferdekopf des Hexenmusikanten, auf
dem er zum Gewittertanz aufspielt auch an das wunder-
bare Pferdehaupt des Dadhyanc, dessen Gerippe (na-
mentlich Kinnbacken und Knochen) Indra als Waffe
für den Gewitterkampf in den (himmlischen) Wassern
sucht, und in dem eine theriomorphische Auffassung eines
solchen Gewitterkopfes uns entgegentritt, — alles Paralle-
len, die auch für das erwähnte Moment an ein Substrat in
der Natur denken lassen. Poet. Naturan. I. 128 ff.
2. In der zweiten thüringischen Sage ist interessant,
wie neben dem Tanz der Hexen das Ganze einen streit-
baren Charakter empfängt, indem sie auch mit großen
Schwertern fechten. Ein Uebergang in einen derartigen
kriegerischen Anstrich der Hexenversammlungen kann bei
dem ganzen natürlichen Hintergrunde derselben nicht be-
fremden, wo Wind und Wolken auch je nach modificirter
Anschauung auf einander im Kampf loszufahren, die Blitzes-
schwerter in der Dunkelheit der Gewitternacht za leuchten
und der ganze Lärm des Unwetters zu kriegerischem Ge-
bahren zu stimmen schien. Von solchen nächtlichen Kämpfen
weiß schon Burchard von Worms zu berichten und oft ist
selbst der Aufzug der Hexen schon ein kriegerischer. Unter
Fahnen und Trompetenklang und Schall kommen
z. B. die ungarischen Hexen nach dem Gebhardsberg bei
ZAvei Hexengeschichten.
415
Ofen geritten und feiern ihre üppigen Mahle und Tänze.
Ausland 1879. S. 8. 16.)
Erinnert der Spruch, unter dem das Kämpfen in un-
serer thüringischen Sage vor sich geht
Ich schlage eine Wund',
Die heilt in einer Stund'.
der altertümlich klingt und dem ich sonst mich nicht er-
innere begegnet zu sein, an die Kämpfe der Einherier in
Walhall, die sich auch täglich erneuen, in denen sie sich
Wunden schlagen, ja tödten, am nächsten Tage
aber wider frisch auf dem Plan sind, so nähert das
damit verbundene Erscheinen auf zauberhaft gezäun-
ten Wolkenrossen dann die Hexen den Valkyrien, so
dass man sieht, die Wurzel aller dieser Vorstellungen liegt
nahe bei einander und die Differencirung hat eben nur
verschiedene Geisterklassen aus denselben bei Deutschen
wie bei Griechen und Römern entfaltet, indem z. B. die
über Land und Meer auf ihren feuerschnaubenden Rossen
reitenden und stets kämpfenden oder kriegerische Umzüge
haltenden Amazonen ebenso hierher gehören wie die Kory-
banten, Kureten, Salier u. dergl.1
Auch das zauberhafte Zäumen und die damit ver-
bundene Wandlung in ein Ross findet bei dem nachge-
wiesenen Terrain nun seine Erklärung. Es ist der Blitz
als Zaum gefasst, mit dem die Wetterhexe sich ein Wol-
kenpferd schafft oder selbst in ein solches verwandelt
wird. Darauf, dass die Auffassung des Blitzes als eines
Zaumes des Donner- und dann überhaupt derWolken-
rosse eine indogermanische Vorstellung sei, darauf habe
ich verschiedentlich schon hingewiesen. Namentlich tritt
dies Moment in griechischer Sage hervor, wenn Bellero-
phon mit einem goldenen zauberhaften Zaum (y¡íl-
TQov ïmxsiov nennt ihn Pindar Ol. 13, 94) das Donner-
1 Urspr. der Myth. z. B. 87 f. Poet. Naturan. 164 f.
416
Schwartz.
ross Pegasos einfängt und zähmt, oder Athene — die
in das Gewitter einrückende Frühlingssonne — es selber
tut, und deshalb als Chalinitis verehrt wurde. Bisher
konnte ich für die betreifende Anschauung kein Bild eines
Analogon bei einem Dichter anführen. Jetzt habe ich ein
solches gefunden, indem Th. Vischer in seinem Buche
„Auch Einer". Stuttgart 1879. II. S. 180 in einem Ge-
witterliede sagt:
0 Himmel brich ! Entschließe
Dies Blau aus sprödem Stahl,
Nur Regen, Regen gieße
Herab ins schwüle Tal!
Er hört. Im Westen webet
Und spinnt ein grauer Flor,
Er ballt sich, schwillt und schwebet
Als Wolkenberg empor.
Jetzt mit den Feuerzügeln
Fährt auf der jähe Blitz
Und auf den luft'gen Hügeln
Löst er sein Feldgeschütz.
Zu dem zauberhaften Zäumen der Wölk enr o ss e resp.
ihrer Substitute passt auch schließlich das Beschlagen
derselben, wie es in der zweiten thüringischen Sage auf-
tritt. Ueber die weite Verbreitung dieses sagenhaften
Zuges hat Schottmüller in seiner Schrift „Die Kriegerin von
Eichmedien". Bartenstein 1875 (Progr.) gehandelt, vergi.
Krauß, „Südslavische Hexensagen" (Mitteilungen der an-
throp. Gesellschaft in Wien 1864. XIV. Bd. S. 27). Die
Vorstellung schließt sich dem schon oben entwickelten
Glauben von allerhand im hallenden Donner sich bemerk-
bar machenden Rossen oder pferdeftißigen Wesen an, deren
Hufschlag sich dann im feuersprühenden Blitz zu be-
kunden schien. Wie man einerseits z. B. in der Oberpfalz
noch vom Blitz sagt: „Die Rosse, welche U. L. Frau im
im Himmel spazieren fahren, schlagen mit ihren Hufen
an einen Stein", wie die altaischen Tataren Donner und
Blitz dem Dröhnen und Ausschlagen der Hufe von
Zwei Hexengeschichten.
417
Seiten der Rosse ihres Himmelsgottes zuschreiben, in
gleicher Anschauung griechische Mythen den Himmlischen
erzhufige Rosse beilegen, der Hexenmeister auf dem
Blocksberg selbst mit seinem Pferdefaß als eine Art Ken-
taur auftritt; andrerseits man im sprühenden Blitz und
dröhnenden Donner ein Hämmern am Himmel, dass
die Funken stoben, vor sich gehend wähnte und dies über-
haupt die Vorstellung eines himmlischen Schmiedens
dort oben weckte: so knüpfte sich an beide Art Bilder, in
natürlicher Parallele zu einem vorgeblichen Hämmern
an dem rollenden Wolkenwagen, der in einem krachen-
den Donner gebrochen schien, ein angebliches Beschlagen
des Donnerrosses und überhaupt der Wolkendämonen,
zumal wenn man sie sich in ähnlicher Gestalt dachte. So
lässt nach nordischer Sage Odhin sich beim Schmied in
Pislir sein Ross zur nächtlichen Luftfahrt beschlagen,
ähnlich wie die deutsche Sage bei der wilden Jagd von
Mannsen und Weibsen berichtet, die mit ihr ziehen und
deren Hufeisen gelegentlich zur nächtlichen Stunde von
einem Schmied erneuert werden müssen, vor Allem aber
das Beschlagen der Hexe in der angegebenen Weise oft
widerkehrt. Die Phantasie, mit der man die Erscheinung
auffasste, ermöglichte eben Alles. Haben doch die Truden
sogar im Anschluss an die zickzackartige Gestalt des
Blitzes, wie solche im Pentagramm allgemein reflectirt,
sogar siebeneckige Füße der Art, mit denen sie die Men-
schen im Schlaf treten, und wenn der Glaube schließlich
doch an solcher Vorstellung Anstoß nahm, wurde sie höch-
stens modificirt, nicht sofort aufgegeben. So haben die
Hexen z. B. Geiß- und Bocksfüße, dann reitet eine solche
bei Zingerle (335) auf einem Bock den Hagelwolken voran,
während nach Alpenburg-Bechstein ihnen schließlich nur
als Wahrzeichen ein Bocks- oder Geißfuß „rückwärts am
Kreuz eingebrannt ist".1
1 Ueber die an den Blitz sich anschließenden sagenhaften Vor-
418
Schwartz.
Doch ich breche ab. Die ausgeführten mythischen Ele-
mente dürften in der Zeichnung des behaupteten Hinter-
grundes sich gegenseitig hinlänglich stützen und ihrerseits
wider den Grundsatz bewahrheiten, den ich im Ursp. d.
Myth. 1860. S. 11 als Resultat der damaligen Untersuchun-
gen an die Spitze stellte und trotz Mannhardts späterem
Widerspruch voll aufrecht erhalte, „dass nämlich der
Grund und Urquell aller Mythologie zunächst nichts weiter
sei, als der sich entwickelnde Glaube an eine den Men-
schen geheimnisvoll' umgebende and ere Welt (eine
zauberhafte Wunderwelt), die nur mit ihren Symp-
tom e n in diese (die irdische) hineinzuragen schien, die man
sich aber im Ganzen nicht anders ausgestattet dachte als
diese, und die man je nach dem, was man warzunehmen
glaubte, sich (phantasievoll) ausmalte und bevölkerte (even-
tuell mit sich und der umgebenden Natur in Beziehung
brachte)." Wenn gerade die behandelten Hexen- und ähn-
lichen Geschichten mit den ihnen zu Grunde liegenden
mythischen Elementen so ein Chaos gläubiger Naturanschau-
ungen der verschiedensten primitivsten Art entfalten, so
zeigen sie weiter zugleich, dass in den einzelnen Sagen
neben allgemeinen widerkehrenden Grundvorstellungen auch
überall gewisse Nüandrangen durch das Heranziehen dieses
oder jenes secundär en Natur elements hervortreten. Sie lehren
damit, dass im Durchschnitt nicht eine Sage von der an-
dern abzuleiten ist, sondern jede eine gewisse Selbständig-
keit beanspruchen kann und sie alle nur gleichsam „ver-
schiedene Spielarten" sind, die „demselben Volksglauben"
erwuchsen. Dies gibt uns ein anschauliches Bild von dem
freien, naturwüchsigen Schaffen der Sage, an dem sich
Alt und Jung, Mann, Weib und Kind von Geschlecht zu
Geschlecht beteiligte, bis allmählich im Anschluss an eine
Stellungen der Geisterfüße s. meine Abhandlung „Ueber den Blitz als
geometrisches Gebilde nach prähistorischer Auffassung" in der Fest-
schrift des Posener Naturwiss. Vereins v. J. 1887 S. 232 ff.
Ausruf, Frage und Verneinung etc.
419
sich in bestimmten Volkskreisen entfaltende Culturentwick-
lung auch die Tradition in bestimmten Typen sich zu con-
solidiren anfing1, die dann die Grundlage einer immer mehr
historisch werdenden Auffassung- und Gestaltung des alten
mythischen Materials wurde, dessen Ueberbleibsel noch
jetzt im Volke fortleben.
Berlin, April 1888.
Ausruf, Frage und Verneinung in den
semitischen Sprachen.
Von
R. Jensen.
Man redet insgemein von Lautgesetzen, von Sprach-
gesetzen etc. Man glaubt an die Unfehlbarkeit derselben
wie an die Unumstösslichkeit eines mathematischen Lehr-
satzes. Man rechnet also auf dem Gebiet der Linguistik wie
auf allen Erfahrungsgebieten mit etwas sicher Erschliess-
baren nicht nur in Folge logischer Notwendigkeit, sondern
auch auf Grund einer möglichst grossen Anzahl analoger
Fälle. Das aus den folgenden Erörterungen sich mir er-
gebende Resultat gehört zu dieser letzteren Art von
Schlüssen, indem es, obwohl nicht logisch begründet, doch,
weil empirisch gerechtfertigt und psychologisch möglich,
darauf Anspruch machen darf, als mehr denn eine blosse
Hypothese betrachtet zu werden.
Ein deutscher Satz wie „Nein doch!" hat negative Form,
aber exclamative Bedeutung, ein Satz wie „Was für ein
Mann!" interrogative Form, aber ebenfalls exclamative Be-
deutung, ein Satz endlich wie „Wer sollte wohl heute
kommen?" interrogative Form, aber negative Bedeutung. Wir
sehen also, dass negative, exclamative und interrogative
Sätze im Deutschen wenigstens unter bestimmten Umständen
einander vertreten können. Der Erklärungsgrund für diese
420
Jensen.
Erscheinung ist in nicht allzu grosser Tiefe zu suchen. Die
3 in Rede stehenden Satzarten, sowie die darin bez. zum
Ausdruck kommenden Denkarten sind mit einander verwandt
und lassen sich unter einen Generalbegriff subsumiren. Das
allen 3 Denkarten Gemeinsame ist: „Einem Objecte be-
ziehungslos und fremd gegenüberstehen". Es ist sehr schwer,
dieses Gemeinsame sprachlich zu bezeichnen, da uns eben
der Begriff schon im gemeinen Denken und Reden nicht zum
Bewusstsein kommt. Dass er unbewusst latent vorhanden
ist, zeigt sich z. B. daran, dass „Befremden" ein Synonym
von „Erstaunen" ist.
Genau dieselbe Vertretung dieser 3 Satzarten zeigt sich,
wie zu erwarten war, da sie sich psychologisch erklärt, in
anderen Sprachen, so auch in jeder einzelnen semitischen
Sprache.
Ich erinnere nur an die häufigen interrogativen Sätze
mit negativer Bedeutnng im Hebräischen wie Maleachi 111,2:
inianrü "WH iais ffr-h» bsbDtt = „Und wer erträgt
den Tag seines Kommens und wer besteht bei seinem Er-
scheinen" für „Keiner erträgt den Tag seines Kommens und
Keiner besteht bei seinem Erscheinen" oder Ps. IV, 7 : ">E
•"Dito == „Wer wird mich Gutes sehen lassen" für „Nie-
mand wird mich Gutes sehen lassen", an Namen wie biOiü
== Wer wie Gott" für „Niemand ist wie Gott", oder an in-
terrogative Ausdrucksweisen wie i'ns ^ rtü (Ps. III, 2) =
„Wie zahlreich sind meine Feinde" für „Oh, sehr zahlreich
sind meine Feinde", an arabisches: Juá¿! U = „Wie
vortrefflich ist Zeid" für „Oh, sehr vortrefflich ist Zeid" an
syrisches Vaaj \L> = „Wie töricht ist sein Buch" für
„Oh, sehr töricht ist sein Buch" mit exclamativer Bedeutung.
Hiermit ist zusammenzustellen, dass derselbe Stamm n-k-r.,
der im Hebräischen, Syrischen und Assyrisch-Babylonischen
2um Ausdruck des „Fremd- und Unbekanntsein" im Arab,
auch zu dem des Nichtwissens gebraucht wird, im Äthiopi-
schen daneben den Begriff des „Sichwunderns" bezeichnet.
(Z. B. ankara = miratus est, nakir = pereguinus, alienus,
mirus.)
Ausruf, Frage und Verneinung etc.
421
Da im Semitischen im Allgemeinen Frage-, Ausruf- und
Verneinungssätze erst durch besondere Wörtchen und Wörter
zu solchen werden und nicht, wie z. B. im Deutschen, schon
durch Stellung und Betonung, so folgt, dass im Semitischen
Ausruf-, Frage- und Verneinungs-wörter einander vertreten
können. Und wie dies in jeder einzelnen Sprache für sich
allein genommen geschieht, so ist wenigstens zu vermuten,
dass dies auch von Sprache zu Sprache geschehen kann,
also dass z. B. derselbe lautliche Ausdruck, der in einer
semitischen Sprache eine Frage anzeigt, in einer anderen
diß Verneinung andeutet u. s. w. Im Folgenden habe ich
versucht die verschiedenen Fälle dieser Vertretung zu-
sammenzustellen, ohne im einzelnen Falle zu untersuchen,
ob sich die Frage aus der Verneinung oder die Verneinung
aus der Frage u. s. w. entwickelt habe, oder ob ev. ursprüng-
lich ein Gemeinsames zu Grunde liege.
Ich lasse am liebsten unerörtert das zum Ausdruck der
Frage dienende arab. f = dialekt. 5 und hebr. n und viel-
leicht wohl auch irgendwie = aeth. (nachgesetztem) hü,
obwohl man dies passend zusammenstellen könnte mit dem
auch im Arabischen vorkommenden ! und Î des Aus- und
Anrufs, ebenfalls das äth.-hebr. welches wohl auch
einen interjectionalen Ursprung hat, und wende mich zu dem
möglicherweise mit den eben erwähnten Partikeln zu ver-
knüpfenden Lautcomplex ai.
I. a. Derselbe dient wenigstens im Arab, als Partikel
des Aus- und Anrufs, nämlich sowohl in der Form ! wie
jí _ j ^
auch in den erweiterten Formen ¿Í und = unserem
j
deutschen 0!, von denen ¿-I der Form nach genau mit dem
* Prof. Nöldeke, dem ich für eine ganze Reihe von Zusätzen, Vor-
schlägen und Aussetzungen zu herzlichem Danke verpflichtet bin und
mit dem ich diese ganze Arbeit durchgesprochen habe, ohne dass der-
selbe doch für irgend etwas darin Vorgetragenes die Verantwortung
übernähme, hall hebr. wegen des talm. ix für ein verkürztes daneben
vorkommendes
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spracliw. Bd. XVIII. 4. 28
422
Jensen.
¡s^ ^
Fragepronomen übereinstimmt. Ob L = syr. jl, Gl und
Ia£> (nach Nöldeke aus ! = 5 und IS zusammengesetzt), eben-
falls = 0!, mit den eben genannten Wörtern enger zu-
sammengehören, kann zweifelhaft sein.
b. Als Fragewort ist die Wurzel ai in allen semiti-
schen Sprachen vertreten, meistens in Zusammensetzungen.
Im Assyrischen haben wir aiu = „wer" (z. B. in dem Satze:
aiu tim ilänkirib samt iiamad = wer erfährt den Ratschluss
der Götter im Himmel), weiter sicher aina (ianu) = wo. Zu
ï (ë) contrahiert findet sich ai ebendort in ika(-ma) = wo?
Daneben findet sich noch eine Reihe mehr oder weniger in
ihrer Bedeutung ganz klarer assyr. Adverbien, die den
Fragestamm ai enthalten.
Im Hebräischen findet sich ^ (urspr. = i») = wo?,
STW = wo?, ipx = wie?, n¡p» = wo? wie?, =
wie?, == wo? wie = wo? in = woher?
woraus wahrscheinlich ^und nstf hervorgegangen
ist, rvptf = welcher, n:ra ^ = woher?, im Syrischen
Ì-M = welcher?, = welche? und ^-^-1 = welche? (im
Plural) = resp. (nach Nöldeke) ai-denä, ai-dä und ai-illën,
, P 7 V 7 o 7 7 7 o * V
ferner te-1 == wo?, P---Ì = wie?, == wie? und
== woher?*, im Talmudisch-Aramäischen ifi = wer? (=
w ^
urspr. ai, [aiu]). Weiter bietet das Arabische f = wer?
und = wohin? wo?, endlich das Äthiopische hß. (ai)
= wer? (neben hßi- = ainü) und h£t (aite) = wo? (neben
- = aitëiiu). Verkürzt zu ë findet sich semitisches ai
in äth. h G (ëfô) wo? = hebr. nb*1^. Form und Bedeutung
? o 5 o ^
verbieten es, arab. (¿^.ä) = wo (in der Rela-
* Höchst wahrscheinl. geht auch (las eia^* = wann? gegenüber
ursem. matai auf älteres ai zurück. Cf. äth. e/ö = wie. Nur wegen
dieser beiden Wörter den unfehlbaren Lautgesetzen zu Liebe einen semi-
tischen Fragelaut e anzunehmen, scheint mir pedantisch zu sein.
ai
■ ** Wie sich zum ai-Stamme arab. ^-»1 = wo, wie? verhält, ist noch
nicht genügend aufgeklärt. Vgl. hebr. "¡;< und rtiK = wohin? und vor
allem nix in hierhin un i dorthin (f. Reg. 2, 36, 42).
Ausruf, Frage und Verneinung etc.
423
tion, nicht in der Frage) mit dem Fragewörtchen ai und
weiter mit äthiop. Äje.-fc zusammenzustellen. Dagegen ist
arab. = wie? jedenfalls an hebr. und äth. efö =
wie? anzuschliessen. Es dürfte zwischen diesen Wörtern
dasselbe Verhältnis obwalten wie zwischen äthiop. kiyähü
und arab. 's Gl.
c. Endlich deutet das W. ai in semitischen Sprachen und
zwar im Hebräischen und Assyrischen die Verneinung an.
Die Bedeutung des assyrischen ai und daraus contrahierten
è (I) als „nicht" in prohibitiven Sätzen ist unanfechtbar.
Hebr. = -pi« = „nicht" hat man früher mit hebr. "pa =
„Eiteles, Falsches, Sünde" zusammengestelt. Die Zulässig-
keit einer derartigen Combination muss erst noch erwiesen
wrerden. Andere haben an einen Zusammenhang mit arab.
°J = „nicht" und weiter mit äth. en in eni>eya = „ich kann
c_
nicht" und ëndai = vielleicht (eigentlich = ich weiss nicht)
gedacht. Obwohl nun der Verbindung von äth. en mit hebr.
"¡^ kein Hindernis im Wege steht, da auch in äth. ëfô ursem.
bez. hebr. ai zu è geworden ist, so verbietet sich meiner
Meinung nach die Zusammenstellung von hebr. "p« mit arab.
deshalb, weil kein sonstiges Beispiel des Überganges von
ursem.-hebr. ai zu arab. ï vorliegt.* Dagegen empfiehlt sich
eine Zusammenstellung des Wortes mit dem assyrischen
vai11 = nicht.
Das im Bisherigen Vorgetragene können wir demnach
in dem Satze zusammenfassen, dass im Semitischen derselbe
Lautcomplex ai 1) zum Ausdruck des Aus- und Anrufs 2) zu
dem der Frage 3) zu dem der Verneinung dient.
II. a. La == „nicht" ist allen semitischen Sprachen ge-
meinsam mit Ausschluss des Äthiopischen, ebenso al =
„nicht" mit Ausschluss des Altsyrischen. Im Äthiop. ist
es bis auf al in albö = „es giebt nicht" untergegangen, im
* Falls wirklich arab. in aus ursem. ain entstanden sein sollte, sieht
man nicht recht ein, wie sich von eben diesem ain ein arab. annä (pannai)
herleiten konnte.
28*
424
Jensen.
Amharischen dagegen ist es die eigentliche Partikel der
Negation.
b. Zum schlichten Ausdruck der Frage dient im Arabi-
o
sehen JJó, welches dialektisch mit <J! wechselt. Nur eine
kritiklose Exegese kann eben dieses hai im Hebräischen
(Deut. 32, 6) finden. Die Bedeutung des Wortes und der
Umstand, dass wir im Arabischen daneben Ü^Jt = „nonne?"
G5 ^
und = „warum nicht?" vorfinden, verbietet die Annahme,
■f- '
dass es aus arab. ! und ^ == „nicht" zusammengesetzt ist.
Eine direkte Zusammenstellung mit gemeinsemitischem al
= „nicht" wird durch das anlautende h des Wortes sehr
fraglich. Dagegen scheint eine Beziehung zwischen dem l
o
der Negation und dem l des fragenden JJé annehmbar.
c. Das bekräftigende arab. J, das cohortative äthiop. la
und das ebenfalls bekräftigende aus la entstandene assyrische
iü gehört natürlich nicht zu diesem negativ-interrogativen
/-Stamme, sondern zunächst zu dem demonstrativen l in
J! = der, die, das, rtex = diese u. s. w. Zu diesem letz-
° ^ CS 9 ^
teren gehört natürlichaiich arab. = „hierher!", wie jJLío,
ebenfalls = „komm heran !" = hebr. tìbn == „hier, hierher"
ohne imperativische Kraft. Da die demonstrativen Wurzeln
wenigstens zu einem Teile auf interjectionale zurückzuführen
sind, so dürfen der Vollständigkeit wegen die eben genannten
Wörter nicht übergangen werden.
Es folgt aus dem Gesagten, das Wörter mit al-lial als
wesentlichem Bestandteil im Semitischen zum Ausdruck der
Frage, der Verneinung und vielleicht auch als Interjectionen
verwandt wurden.
III. Als ein gemeinsemitischer Fragestamm fungiert
ferner im Hebr., Syr. und Arab, bestimmt mit „was?"
übersetzbar, gewiss aber schon im Ursemitischen ein Frage-
wort allgemeiner Art, wie dies namentlich der Gebrauch
desselben als des verallgemeinernden ma erweist. So treffen
wir auf der einen Seite im Assyrischen man-ma == „wer auch
Ausruf, Frage und Verneinung etc. 425
immer" (= man + ma), matima „wann auch immer" (mañ + ma)
andererseits arab. jv-o ! == wo auch immer u. s. w.
b. Dasselbe ma scheint schon im Ursemitischen zur
Bezeichnung der Verwunderung verwandt worden zu sein.
Wir finden nicht nur im Hebräischen n;ïn DipEn snïs nia =
„wie schauerlich ist dieser Ort", sondern auch im Syrischen
vías = „wie töricht ist sein Buch!". Verwandt da-
mit ist arab. fjo^ Lo = „wie vortrefflich ist Zeid !c%
mag dies nun wirklich urspr. bedeuten: „Was hat Zeid vor-
trefflich gemacht?" oder, was viel wahrscheinlicher ist und
was auch schon Ewald behauptet hat, einen im Akkusativ
stehenden Elativ enthalten, der erst später als Causativ auf-
gefasst wurde. Für diese Auffassung sprechen namentlich
Formen wie Co = „wie leicht ist dies!" und Lo
xj ¿*( == „wie gut redet er" gegenüber einem Causai von
einem Verbum und JU'i von JU. Im Äthiopischen
wird (wie im Hebräischen, Syrischen und Arabischen ma)
mì, sonst = „was?" auch in Exclamativsätzen verwandt,
welches imHebr., meist „wer?" bedeutend, in einzelnen Fällen
eine urspr. Bedeutung „was?" voraussetzt und im Talmudi-
schen sowie im Mandäischen als allgemeines Fragewort =
hebr. n, arab. f verwandt wird.
c. Ob im Hebräischen im Hohenliede VIÍI, 4 n« =
„nicht" ist, muss als sehr zweifelhaft bezeichnet werden.
Aramaisierendes nftb ntDS beim Daniel (I, 10), ntt^tD im
Hohenliede (I, 7), biblisch-aramäisches niab und nftb ^ bei
Esra und syrisches und = „dass nicht, dass nicht
etwa, ob etwa" könnten ebensogut und besser direkt mit n'a-
lia = „zusammenhängen" (Nöldeke), statt mit einem anzu-
nehmenden gleichen Worte in der Bedeutung „nicht" und
sind darum für unsere Untersuchung belanglos.
Im Arabischen wird Lo ganz allgemein in der Bedeutung
„nicht" verwandt, so zwar, dass eine urspr. Bedeutung „was?"
426
Jensen.
überall nicht mehr empfunden wird. Beispiele anzuführen
ist überflüssig.
Aus dem Dargelegten erhellt, dass dem Wörtchen mä
wenigstens irgendwie und irgendwo in den semitischen
Sprachen interrogative, negative und exclamative Kraft
innewohnt.
IV. a. Dass der Laut n zum Ausdruck der Negation im
arabischen und äthiopischen ën verwandt wird, sahen
wir schon oben. Letzteres liegt anerkanntermassen vor in
eribeya = „ich kann nicht" und in endet Ì = vielleicht, (so-
fern dies als „nicht mein Wissen" zu deuten ist), ev. auch
in eribala = „ohne", welche letztere Partikel aber andere
anders erklären. So verführerisch es sein könnte, hebr. js
= aram. rte als aus nb = so (zu erschl. aus und
ëfo) und einer Negation n zusammengesetzt zu erklären und
so treffliche Parallelen zu der dann anzunehmenden Bedeu-
tungsentwicklung von so-nicht zu damit-nicht man an
äthiop. kama-i = damit nicht (eigentl.: „wie nicht"), arab.
(mit folgendem Subjunctiv = „damit") etc. finden könnte,
so kann doch schon wegen der Kürze des Vokals an einen
Zusammenhang mit hb kaum gedacht werden.
b. Zum Ausdruck der Frage dient der Laut n nur im
Äthiopischen und zwar in dem enklitischen nü, welches genau
wie nachgesetztes lateinisches ne die Frage andeutet.
Es wird demnach der Laut n, wenn auch nur in der süd-
semitischen Gruppe, 1) znm Ausdruck der Frage, 2) zu dem
der Verneinung verwandt.
V. Eine Combination des m-Lauts mit dem w-Laut liegt
in man {manu) = wer? vor (arab.-äthiop.: manü, assyr.:
man{n)u (¡man(n)ü??), syr. man und erst aus man + hü mannu).
Dass das n in man-manu nicht etwa irgendwie die in Frage
stehende Person andeutet, sondern vielmehr man-manu urspr.
als Fragewort für irgend ein Object, ob Person oder Sache,*
anzusehen ist, geht daraus hervor, dass m-n um das femi-
* So lässt sich aus äth. mi — was? und hebr. mi = wer? und =
wie? vielleicht auch für ursem. ml Ähnliches schliessen.
Ausruf, Frage und Verneinung etc.
427
nin-neutrale t vermehrt im Äthiopischen (als ment) (nach Nöl-
deke aus min oder mun + t entstanden) zum Ausdruck des
deutschen was? dient; denn „was" kann nie und nimmer als
fem.-neutrales „wer" gedacht werden. Wie sich zu diesem
man = „wer" amharisches man = „was" verhält, kann ich nicht
erklären. Etwas auffallend ist, dass zufolge Exodus 16, 15
das Wort = Manna durch STD = was erklärt wird, wäh-
rend sonst man, manu nur „wer" bedeuteten und nur im
modernen Amharisch und im Aramäischen ein Wort
ganz anderen Ursprungs (= ^ + kb) = „was" ist, welches
aber zu der Zeit, wo Exodus 16, 15 schriftlich fixiert wurde,
noch kaum existiert haben dürfte.
Das was ich hieran sofort anschliessen möchte, bringe
ich unter aller nötigen Reserve, weil es Dinge betrifft, die
wir überhaupt nicht wissen können. Aber so gut wie man
der metaphysischen Philosophie niemals die Berechtigung
zur Existenz verweigert hat, trotzdem sie Dingen nachgeht,
die im Reiche der Hypothesen zu bleiben verurteilt sind, so
gut brauche ich mir es nicht zu versagen, das Folgende,
obwohl es hypothetisch bleiben muss, hier vorzutragen.
Mit der eben besprochenen Lautgruppe m-n, die eine
Frage ausdrückt, möchte ich, fussend auf dem bisher Gesag-
ten, die eine Negation andeutende Wurzel und die
äth. Vm-n-n verbinden. Hebr. = „sich weigern", aram.
Aie „überdrüssig sein" und äth. manana = „verachten, ver-
werfen" deuten auf eine Urwurzel m-n hin, die das Nord-
und das Südsemitische auf verschiedenen Wegen dem Tri-
consonantismus angepasst haben. Ein aus m-n zerdehntes
ist nicht auffallender als dies die jedenfalls aus den
onomatopoetischen und lautsymbolischen Urwurzeln tf-ñ
und h-ñk zerdehnten Wortstämme pDtf und sind.
Eine solche Deutung der Wörter ^ und m-n-n wage
ich um so eher, als ich auch noch andere Wörter ähnlichen
Stammes und wie diese lautsymbolisch aber aus anderen
psychischen Antrieben hervorgegangen im Semitischen zu
finden glaube. Ich meine die Wörter marni, nstt, }jl¿o =
428
Jensen.
zählen, welche mit arab. ^k+3 und äth. Unnanaja = wün-
schen durch den Generalbegriff „denken" zu vermitteln* sind,
wie denn z. B. auch nrän, CJLL sowohl = „denken",
„wollen" als = zählen. Es ist interessant, so im Semitischen
dieselben geistigen Regungen auf dem Wege der gleichen
(aber natürlich unabhängig von derselben zu denkenden)
Lautsymbolik durch dieselben Laute dargestellt zu sehen,
wie im Indogermanischen. Bedeuten doch auch die Grund-
wörter zu mä sowohl wie zu än etc. im Indogermanischen
die Negation und das indogermanische men den Denkprocess.
Es ist im Grunde genommen hiervon nicht zu trennen, wenn
zum Ausdruck der ersten Person im Indogermanischen das
m verwandt wird, während dazu im Semitischen das n dient.
Frage, Ausruf und Verneinung auf der einen Seite, das
Denken und das Ichbewusstsein auf der anderen Seite sind
insgesammt auf eine Zurückziehung der Person von der
Aussenwelt auf sich selbst zurückzuführen und werden darum
in lautsymbolischer Weise sehr passend gerade durch die
Nasale bezeichnet. So finden wir denn auch in den grund-
verschiedensten Sprachen das Pronomen der ersten Person
und die Negation sowohl durch den labialen und dentalen
als durch den gutturalen Nasal (ñ, ñg) bezeichnet. Es ist
der Erwähnung wert, dass in einer der ältesten uns inschrift-
lich überlieferten Sprachen, der sumerisch-akkadischen, die
Negation durch n, das Pronomen der ersten Person aber
durch m und, worauf viele Spuren führen, in verschiedenen
Verhältnissen durch ñg (ñgal-í = ich, -ñga = mein) an-
gedeutet wird, ein Umstand, der schon allein im Stande wäre,
Halévys jetzt auch von Delitzsch angenommene Theorie,
dass nämlich das Sumerisch-akkadische eine künstliche
* Es verdient Beachtung dass, wie für den Begriff „wünschen" ein
Stamm Ï32 uud i3a verwandt wird, so fiir den Begriff „zählen" etc. im
Arabischen urspr. 13a (cf. == certa quantitale defìnivit, decretus fuit),
im Assyr. dagegen 13^3 (cf. z. B. minütu — Zahl = *minautu und d.
Imp. munu — zähle).
Ausruf, Frage und Verneinung etc.
429
Schöpfung der (Assyro-)Babylonier ist, zurückzuweisen, in-
sofern diese resp. andere Nasale verwenden.
Wir haben uns durch die letzte Auseinandersetzung
ziemlich weit, so scheint es, von dem eigentlichen Thema
abziehen lassen, indes nicht mehr, denke ich, als zur Er-
läuterung des sich mir ergebenden Schlusssatzes nötig und
nützlich ist. Ich meine gezeigt zu haben, dass in einigen
Fällen innerhalb derselben semitischen Sprache, in anderen
innerhalb verschiedener Sprachen gleiche oder ähnliche Aus-
drücke für Ausruf, Frage und Verneinung gebraucht werden
und schliesse daraus, dass dieselben wenigstens zum grossen
Teil mit einander verwandt sind. Und hier komme ich auf
das zurück, was ich einleitend bemerkte, dass wir nämlich
in der Linguistik wie in allen Erfahrungswissenschaften mit
der Wahrscheinlichkeit rechnen müssen, die allerdings oft-
mals von recht zweifelhafter S tringenz sein kann. In unserem
Falle ist ein Umstand anzuführen, der mit Nachdruck für
ihre Zulässigkeit spricht. Das ist der folgende: Abgesehen
davon, dass die Ausdrücke für Aus- und Anruf wie in an-
deren Sprachen die Vokale nach der Reihe durchlaufen, und
ev. diesen die sich aus Vokalen leicht entwickelnden Laute
h, h, u und i anschliessen, existiert in den semitischen
Sprachen kein einfacher Ausdruck für dieselben ausser den
oben genannten. — Ausser den erwähnten Wurzeln ai, h,
h + l, m und n (+ Vokal resp. Vokalen) existiert kein ein-
facher Ausdruck für die Frage im Semitischen. — Neben
den besprochenen Formwurzeln i, ai, l, m und n (+ Vokal
resp. Vokalen) existiert kein einfacher Ausdruck für die
Negation in den semitischen Sprachen. Also abgesehen
davon, dass Laute wie b, g, k, d t, r etc., die auch sonst
keine* Formwurzeln liefern, ebenfalls weder zum Ausdruck
der Frage noch zu dem der Verneinung noch zu dem des
Aus- und Anrufs verwandt werden, werden ebensowenig die
Laute d, t t,p, k, s, die als Formwurzeln die verschiedensten
* Ich meine natürlich im Ursemitischen. Denn im Syrischen z. ß.
liegt ja d als Pronominalstamm- vor, welcher Laul aber auf ursem. d
zurückgeht.
430
Jensen.
Funktionen haben, zu einem dieser Zwecke verwandt, da-
gegen schliessen sich diesen gegenüber die oben besproche-
nen Laute und Lautkomplexe zum Ausdruck von Aus- und
Anruf, Frage und Verneinung zu einer Gruppe zusammen.
Dieser Umstand, meine ich, muss genügen, um eine nicht
nur scheinbare, sondern auch causale und concausale Ver-
bindung der in Rede stehenden Wortgattungen als gewiss
erscheinen zu lassen. Wie weit eine solche ursprünglich ist,
d. h. ursemitisch, wie weit dieselbe späteren Ursprungs ist,
d. h. in einer uns fertig vorliegenden Sprache erzeugt, wie
weit von einer gegenseitigen Vertretung der 3 Wortgattungen
die Rede sein kann, und wie weit von einem Generalbegriff
für alle 3 Begriffe oder je 2 derselben, wie weit endlich ev.
die Syntax eine solche Verknüpfung und Vertretung hervor-
gerufen oder begünstigt hat, das ergiebt sich z. T. aus dem
oben Erörterten von selbst, z.T. aber erst aus sehr vertieften
Untersuchungen und es liegt daher ausserhalb des Rahmens
unserer Arbeit, uns darüber hier zu verbreiten. Von einer
Gewissheit im Einzelnen kann hier füglich schon desshalb
nicht die Rede sein, weil ja gerade solche kleine Partikel-
chen, wie die besprochenen der Composition auf der einen,
und Decomposition auf der anderen Seite hinneigen und
darum oft zu einer falschen Etymologie Veranlassung geben.
Wir sind zufrieden, wenn sich nur im Allgemeinen unsere
These von der Verwandtschaft der semitischen Ausdrücke
für Aus- und Anruf, Frage und Verneinung als annehmbar
erweisen sollte.
Prophetischer Anruf.
431
„Hört ihr Himmel, merk' auf Erde."
Von H. Steinthal.
Mit Kücksicht auf:
Bruchmann, Kurt, Dr., Psychologische Studien zur
Sprachgeschichte. 354 S. 8°. Leipzig, Wilhelm
Friedrich. 1888.1
„Hört ihr Himmel, merk' auf Erde." Ueber diesen
Anruf habe ich schon einmal in diesen Blättern gesprochen
(XI, 161 if.), aber bloß von dessen überwältigender Kühn-
heit. Jetzt wollen wir zu erforschen suchen, wie er zu ver-
stehen sei, was sich der Schöpfer desselben dabei gedacht
habe. Wir haben (und das könnten wir ja einen sehr
glücklichen Zufall nennen) einen sehr alten Commentar
desselben: 5. M. 31, 28. 30, 19. 4, 26. Nach diesen Ver-
sen werden Himmel und Erde als Zeugen angerufen. Die-
selben beziehen sich nämlich auf 5. M. 32, 1, wo sich der
Anruf Jesajas, nur in andrem Rhythmus, widerfindet. Hier
bestünde aber vor allem das Bedenken gegen den Wert
dieses Commentars, ob die beiden Verse Jes. 1, 2 und 5 M.
32, 1 trotz der äußerlichen Uebereinstimmung denselben
Sinn haben, zumal wenn man mit den Kritikern annimmt
(wie ich tue), dass der schöne, in der Form ganz eigen-
tümliche Gesang 5. M. c. 32 erst im babylonischen Exil
gedichtet sei. Ein Dichter, der nach länger als einem
Jahrhundert das Wort eines andern borgt, mag letztem
leicht einen andern Sinn unterlegen, als dasselbe hatte.
1 Das oben angegebene Buch soll im nächsten Heft eine um-
fassende Besprechung finden.
432
Prof. Steinthal.
Nun sehe ich zwar nicht die geringste Veranlassung- zu
solcher Befürchtung (vergi. XI, 162), dagegen um so mehr
Grund, die angeführten Verse 31, 28. 30, 19 als solche an-
zusehen, welche den alten Anruf sowol bei Jesaja, wie im
Deuteronomium nicht mehr in seinem ersten Sinn verstan-
den. Wenn nämlich das Lied c. 32 zu den ältesten Stücken
des Deuteronomiums gehört, so gehören jene Verse vielmehr
zu den jüngeren Stücken, welche einige Generationen spä-
ter geschrieben sind.
Wenn ich nicht irre, liegt hier eine klare Vorstellungs-
Entwicklimg vor, die wir mit einiger Sicherheit verfolgen
können.
Der Gedanke, der alle Propheten durchdringt, ist der
des Bundes zwischen Gott und Israel, oft in der näheren
Bestimmung einer Verlobung und Verehelichung Jahves
mit seiner Nation. Ein Bund ist ein Vertrag, welcher
beiden beteiligten Seiten Bedingungen auferlegt, die von
ihnen beiden erfüllt werden müssen: Israel dient Jahve;
Jahve segnet und schützt Israel.
Dieser Gedanke des Bundes schließt aber außer Gott
und Nation alles mit ein, was zur Ausführung der Bedin-
gungen mitwirken muss. Der Himmel muss Regen spen-
den, die Erde ihre Frucht: sie treten ein in den Bund,
wie auch alle schädlichen Mächte, deren Wirksamkeit zu-
rückgehalten werden soll. Diesen Vertrag schließt Jahve
ab zu Gunsten Israels (Hos. 2, 20). Allerdings vermögen
jene vermittelnden Mächte nichts aus sich selbst. Himmel
und Erde sind willig ihre Schätze dem Volke zu geben;
aber zuvor müssen auch sie dieselben von Jahve erhalten
haben. Besteht nun der Bund, so wird „Jahve die Himmel
erhören, und die Himmel werden die Erde erhören, und
die Erde wird das Getreide und den Most und das Oel
erhören, und diese werden das gott-gesäete Volk erhören"
(das. V. 23. 24).
Wir sagen wol: der Boden durstet, lechzt; aber so
kräftige Personification, dass Himmel und Erde und Frucht
Prophetischer Anruf.
433
bitten und erhören, liegt uns fern — doch nicht so fern,
dass wir dieselbe nicht mehr verstünden.
Wie nun aber, wenn der Bund gebrochen ist? Das
Volk, indem es sieht, dass die Verheiß ungen und Erwar-
tungen nicht erfüllt werden, von Leiden aller Art be-
drängt, ruft aus (5. M. 31, 17), sein Gott sei nicht mehr
in seiner Mitte, er habe den Bund gebrochen. Also, um
sich rechtfertigen zu können, nimmt Gott die unwandel-
baren Himmel und Erde zu Zeugen dafür, dass Er schon
bei der Eingehung des Bundes verkündet habe, wenn das
Volk ihm nicht dienen werde, dass dann auch Er das Volk
preisgeben werde. Nicht Schwäche und nicht launische
Sinnesänderung Gottes ist es, wenn er das Volk nicht
schützt und nicht segnet, sondern die Treulosigkeit des
Volkes hat das verschuldet: dies werden einst Himmel und
Erde als Zeugen dem Volke zurufen.
Da nun das Lied Deut. c. 32 die Unwandelbarkeit
und Vollkommenheit Gottes gegenüber dem Leichtsinn und
der Wandelbarkeit des Volkes preist: so glaubte eben der
Urheber jenes Verses 30, 18 dies Lied rufe in diesem eben
angegebenen Sinne Himmel und Erde als Zeugen an. —
Ein Anderer aber, der Verfasser von 31, 16—22, prosaischer
oder rationalistischer als jener, meinte, das Lied eben selbst»
welches mit der Anrufung des Himmels und der Erde be-
ginnt, solle der Zeuge für die Treue Gottes gegen die Un-
treue des Volkes sein; denn es solle von Mund zu Mund,
von Geschlecht zu Geschlecht gehen und den abtrünnigen
Enkeln sagen, dass sie ihr Leiden verschuldet haben, in-
dem sie den Bund gebrochen haben.
So sehen wir, wie man den Anfang des Liedes eines
Anonymus, nachdem man es als das Lied Moses anzusehen
gewohnt war, in der dargelegten doppelten Weise verste-
hen konnte; dass dies aber der ursprüngliche Sinn war,
ist mit nichten erwiesen. Es bleibt also immer noch für
uns die Frage, was der Anruf eigentlich besagen sollte.
So viel allerdings haben wir aus Hosea gelernt, dass der he -
434
Prof. Steinthal.
bräische Dichter die Himmel und die Erde und deren
Frucht als Wesen ansah, welche ebenso wol bitten als sich
erbitten lassen und erhören; d. h. er sah die Kräfte
der Natur wie gefühlvoll entbehrende und gewährende
Mächte an.
Bleiben wir zunächst hierbei stehen, so müssen wir
uns ferner vorhalten, dass der hebräische Dichter nicht
bloß in der Art personificirt und gleichstellt, dass eine ge-
wisse Analogie zwischen der äußern Gestalt des unbeleb-
ten Gegenstandes und der menschlichen Gestalt maßgebend
und erkennbar bliebe; es bedurfte für ihn nicht der Ana-
logie zwischen den Zweigen der Bäume und den Händen
und Armen der Menschen, er appercipirt nicht jene als
diese (wie Bruchmann voraussetzt S. 11); sondern, indem
der prophetische Dichter personificirt, ethisirt er zugleich
das Unbelebte, die Natur. Himmel und Erde haben weder
Ohr noch Mund noch Hand, noch irgend etwas solchen
Organen Analoges, und dennoch hören und reden und ge-
währen sie.
Ganz in derselben Weise, ohne die von unsrer heuti-
gen Poetik gefolgerte Anschaulichkeit, heißt es Ps. 19:
„Die Himmel erzählen die Ehre' Gottes, das Firmament
tut kund seiner Hände Werk." Hier ist offenbar „Hände
Werk-' parallel „Ehre Gottes". Die Schöpfung, hier als
Subject, ehrt den Schöpfer. Dieser Vers könnte aber doch
einen besonderen Hintergrund haben. Wenn es nämlich
die gesammte Schöpfung ist, welche als solche die Ehre
Gottes verkündet: warum wird denn hier bloß der Himmel
genannt und nicht auch die Erde? Hier verkündet viel-
mehr der Himmel so wol sich als die Erde. Wie ist das
zu verstellen? Es scheint doch eben nicht, als wäre hier
unser Sprichwort „das Werk lobt den Meister" poetisch
ausgeführt, wenigstens nicht bloß dieses und dieses nicht
ursprünglich. Es scheint mir aber ri&htig bemerkt (von
Delitzsch), dass wie Ps. 8 beim Anblick des Nachthimmels
so unser Ps. 19 beim Anblick des Taghimmels gedichtet
Prophetischer Anruf.
435
sei. Näher möchte ich noch hinzufügen, er sei ein Loblied
beim "Anbruch des Tages, bei der Morgenröte; denn be-
sonders wird ja die aufgehende Sonne gepriesen. Erinnert
nun die Weise, wie dies geschieht (V. 6), an den Mythos,
so könnte auch der erste Vers auf alter Reminiscenz be-
ruhen, ohne dass damit dem dichterischen Vermögen des
Urhebers etwas an Kraft abgesprochen werden soll. Aus
dem Mythos ist bekannt, dass die Morgenröte, indem sie
die Dinge beleuchtet, sie offenbart und den Menschen zeigt.
Hier, im Psalm, ist der Himmel selbst das Licht, das zu-
erst sich selbst offenbart (und dadurch die Ehre Gottes
erzählt) und dann auch die Erde mit ihren Geschöpfen
zeigt (diese kund tut), and so noch einmal Gottes Herr-
lichkeit preist.
Man vergesse hierbei nicht, dass nach hebräischer
Ansicht das Licht nicht von Sonne, Mond und Sternen ab-
hängt; es stammt vom Himmel und umflutet das All. So
ist auch der Tag nicht Erzeugnis der Sonne, und die Nacht
ist nicht ohne Licht; beide sind himmlisches Licht. Daher
konnte auch der Dichter fortfahren: „ein Tag strömt dem
andren Rede zu, Nacht kündet der Nacht Wissen", nicht
damit auch der andre Tag und die andre Nacht wisse
und auch sie dieselbe Rede und dasselbe Wissen dem
Menschen predigen, als wären sie ohne diese Mitteilung
unwissend, wie ein Menschengeschlecht, das nichts von dem
vorangehenden empfangen hätte; sondern wie in unserer
Vorstellung die obere Stelle des Stromes nicht der untern
das Wasser mitteilt, vielmehr das ununterbrochene Strömen
des Wassers selbst den Strom ausmacht: so fließt in Tag
und Nacht, in ihrem Wechsel, der Ruhm Gottes. Aber
weder Tag noch Nacht sind personificirt — jedoch ethisirt.
Wie sie ohne Mund und ohne etwas Analoges sind, so
haben sie auch „weder Wort noch Stimme". Plastisch
ist das allerdings nicht angeschaut, aber geistig wargenom-
men. Ist dies nun dennoch und unbestreitbar schön, so
mag die Aesthetik zusehen, wie sie mit dieser Art Schön-
436
Prof. Steinthal.
heit fertig wird; aber auch die Psychologie muss zusehen,
wie dergleichen zu begreifen.
Ist uns nämlich so aus hebräischer Vorstellungsweise
klar geworden, wie Himmel und Erde als ethische Mächte
gefasst werden konnten, so fragt sich immer noch, wie der
Prophet darauf verfallen konnte, dieselben so anzureden,
wie er tut. Ich halte es nicht für erwiesen, dass Ps. 19
älter sei als Jesaja und Hosea; aber gewiss ist mir, dass
er in einer noch ursprünglichem Denkweise gedichtet ist.
Die prophetischen Reden, wie sie uns vorliegen, sind aller-
dings schriftstellerische Kunstwerke und sind keineswegs
so, wie wir sie haben, gesprochen worden, wie auch die
Eeden Ciceros und Demosthenes nicht; aber jene wie diese
sind doch immerhin als wirkliche Eeden an das Volk ge-
dacht. Wie fällt also ein Eedner darauf, nicht die Männer
von Athen und Jerusalem anzureden, sondern ganz andere
Zuhörer, die er erst herbeiruft und die so fern stehen.
Dies ist doch etwas ganz anderes, als wenn Demosthenes
im Anfange seiner Eede um den Kranz zu allererst die
Götter betend anruft.
Es sei mir gestattet, liier eine Erfahrung aus meinem
Leben mitzuteilen. Ich war auf dem Eigi, dessen Schön-
heit darauf beruht, dass dieser Berg in den Vierwaldstädter
See hineingeschoben ist, so dass man von hier aus alle die
Eiesenberge, welche jenen See umgeben, mit einem Blick
in der Eunde überschauen kann. Der See rückt die Berge
in diejenige Entfernung, die das Auge braucht, um zu
sehen, ohne Hindernisse zwischen Aug' und Berg zu
schieben. Vielleicht hat mancher Leser, wie ich, auf der
vorgeschobensten Spitze gestanden, welche der Schweizer
sehr treffend „das Känzeli" nennt. Ja, das ist eine Kan-
zel, sagte ich mir, als ich dort stand; aber welche Predigt
wäre ihrer würdig? Wer wagt es, in dieser Kirche unter
solcher Kuppel vor diesen zur Andacht versammelten
schneehäuptigen Greisen und sonstigem Volk zu predigen?
Die zehn Gebote könnte Mose hier verkündet haben, Jesus
Prophetischer Anrut.
437
seine Bergpredigt gehalten, und liier, wo sich vor unsrem
Auge Himmel und Erde berühren, jener sich herabsenkend,
diese hinansteigend, da könnte Jesaja sein „höret Himmel,
vernimm Erde" recht natürlicher und begreiflicher Weise
gesprochen haben, denn er hätte beide mit einem Blicke
gesehen. — Könnte also der Prophet bei einem ähnlichen
Hinblick auf den Hermon oder Libanon nicht zu jener An-
rede hingerissen sein?
Philologisch ist dies nicht gedacht. Es mag richtig
sein oder nicht: wir müssen uns umsehen, wie sich der-
gleichen aus der Eedegewohnheit des Mannes und seines
Volkes erklärt.
Eine Anrede, wie unsre Redner sie durchweg haben,
wendet der Prophet gar nicht selten, doch nicht regel-
mäßig an (Hos. 4, 1. 5, 1. Amos Anfang des c. 3. 4. 5.
Mikha 3, 1. 9. Jer. 2, 4. 5, 21. u. a.). Auch Mikha 1, 2
gehört hierher; denn die Völker, welche hören sollen, sind
nur die Stämme Israel; und nicht die Erde wird dort ge-
meint, sondern das Land Israel. Solche Stellen gleichen
nicht sowol der Anrede Ciceros an die Quinten, als seiner
Anrede an Catilina. Die Worte „hört ihr Leute alle" (so
müsste man wol statt „Völker" übersetzen) finden sich
allerdings 1. Kön. 22, 28 ebenfalls. An letzterer Stelle
aber bedeuten sie: alle Gegenwärtigen mögen später (nach
Erfüllung derselben) als Zeugen für die Wahrheit der eben
gesprochenen Weissagung auftreten, und so konnte man
auch (s. oben) Jesaja und Deuteron, verstehen. Bei unsrem
Propheten haben sie diesen Sinn nicht; denn er sagt (V. 2):
Alle sollen hören, dass Gott als Zeuge wider sie auftreten
werde.
Jesaja (c. 5) beginnt, er wolle ein Lied singen. Plötz-
lich aber V. 3 redet er die „Bewohner Jerusalems" an
und fordert sie auf, zu richten zwischen ihm und seinem
Weinberge. Er zieht seine Hörer in seine Parabel mit
hinein, er lässt sie in derselben die Rolle des Richters
spielen, dass sie sich selbst verurteilen müssen. Hier hat
Zeitschrift für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. XVIII. 4. 29
438
Prof. Steinthal.
die Anrede einen künstlerischen Zweck und gehört völlig
zur Parabel.
Mit ganz außerordentlicher Kraft ertönt in demselben
Capitel 1, za dessen Beginn er Himmel und Erde auf-
gefordert hat, auch Jesajas Anrede, Y. 10. Nachdem er
auf die Verwüstungen im Lande hingewiesen hatte, das
fast wie Sodom und Gomorrha daliege, flammt er plötzlich
auf: „Höret das Wort Jahves ihr Sodom-Fürsten, horcht
auf die Lehre unsres Gottes, ihr Gomorrha-Volk!" So
springt er von der Gleichheit des Unglücks unvermittelt
über zur Gleichheit der Schuldigen. Ich weiß nicht, wie
unsre Ehetoren diese Redefigur nennen.
Wenn Joel beginnt: „Höret dies, ihr Greise, und mer-
ket auf, ihr Bewohner des Landes! Ist solches geschehen
in euren Tagen, oder in den Tagen eurer Väter?" so wer-
den hier allerdings die Greise als Zeugen für eine Tat-
sache aufgefordert.
Ganz anders dagegen Mikha 6, 1 ff. Er beginnt frei-
lich ganz so einfach, wie es in den oben angeführten Stellen
geschehen ist: „Höret", nämlich Israel-Juda. Sie sollen
hören, was Jahve spricht, d. h. was er dem Propheten zu
sprechen befiehlt. So ist nichts natürlicher, als dass sich
der Prophet mit Jahve identiâcirt. Er, Gott oder der Pro-
phet, lebt in Streit mit dem Volke. Nicht wie im ersten
Capitel wird hier (c. 6) Gott als Zeuge vorgeführt; sondern
er ist der Kläger, der seine Beschwerde vor den Richter
bringen will. Jesaja in der Parabel konnte das Volk zum
Richter machen. Das geht hier nicht an. Zu Richtern
nimmt Jahve die Berge (V. 1): „Auf, beschwere dich bei
den Bergen, und hören sollen die Hügel deine Stimme ! " Der
Prophet folgt dieser Aufforderung unmittelbar und spricht
(V. 2): „Höret ihr Berge die Beschwerde Jahves, und ihr
Unwandelbaren, die Grundvesten der Erde! Denn Be-
schwerde hat Jahve über sein Volk, und mit Israel will
er rechten."1
1 So übersetzt Hitzig richtig und schön (während sein Com
Prophetischer Anruf.
439
Der zweite Jesaja (49, 1) redet Abwesende, aber doch
in sehr natürlicher Weise an, nämlich alle Länder und
Völker, um ihnen zu sagen, welche Bedeutung Israel für
sie habe. Dies ist aber wider nur eine rhetorische Figur.
Denn der Prophet war sich bewusst, dass er vielmehr nur
zu Israel spricht, denen er sagen will, was sie den Völkern
sein sollen.
Das werden alle Kategorien prophetischer Anreden
sein, und in dieser Uebersicht konnten wir erstlich bemer-
ken, wie Worte, welche Mikha (1, 2) mit Bezug auf seine
und der Angeredeten Gegenwart sprach, später im Buche
der Könige den Sinn hatten, dass die Leute in der bald
erscheinenden Zukunft als Zeugen auftreten sollen. Das
ist ganz der Wandel des Sinnes, den wir oben für den
Aufang des Liedes 5. M. c. 32 bemerkten. Dann aber
sahen wir bei demselben Propheten Mikha (6, 1 ff.), wie
die (leblose) Natur zum Richter (nicht zum Zeugen) auf-
gefordert wird. So ist es nur ein Schritt weiter, wenn
Jesaja und jenes Lied 5. M. c. 32 die ewig unveränder-
liche Natur (Himmel und Erde statt der Berge) lediglich
zum Hören auffordert, weil er sich beklagen will und einen
Hörer seiner Klage wünscht. Diese Klage ist aber inhalt-
lich dieselbe wie jene Beschwerdeführung: die Undankbar-
keit des Volkes gegen Jahve. Dass es sich nicht um
Zeugnis, sondern lediglich um Anhören handelt, geht ge-
rade aus Deut. 32 sicher hervor, da der Prophet (V. 2)
seine Rede eine „Lehre" nennt, der er den Erfolg eines
fruchtbaren Regens wünscht.
So bedarf es, um diesen Verkehr mit der leblosen
Natur zu erklären, nur noch des Beweises, dass diese
Ethisirung der Natur (welchen Ausdruck auch Bruchmann
hat) nach allen Seiten etwas der hebräischen Denkweise
Vertrautes war. Hierzu aber hat Bruchmann die Stellen
fleißig gesammelt. Einige Stellen würde ich streichen, da
mentar daza töricht ist) nach dem Vorgange der altea jüdischen
■Commentatoren.
29*
440
Prof. Steinthal.
öfter das Land statt der Bewohner genannt wird — eine
gewöhnliche Figur; aber allerdings werden wol auch die
Tiere des Landes und des Meeres gemeint. Indessen hat
Bruchmann sehr recht, wenn er daran erinnert, dass Völ-
ker und Zeiten zu unterscheiden sind, und dass was an-
fangs lebhaft gefühlt war, später nicht nur feststehende
Formel war, sondern nach formelhafter Analogie erweitert
ward. Auch die uns erhaltenen Propheten und Psalmen
sind nicht alle weder im Inhalt noch im Ausdruck genial.
Bruchmann hat entschieden recht, wenn er nicht jeden
poetischen Ausdruck als wirklich gefühlt, noch weniger
als angeschaut verstehen will. Hier kommt es denn dar-
auf an, das Conventionelle auf seinen Ursprung zurückzu-
führen, indem es eben eine bloß formelhafte Ausbildung
eines ursprünglich wahren Bildes ist. — Nur zwei Dinge
würde ich hier Bruchmann zu weiterer Ueberlegung geben.
Erstlich meine ich, es sei nicht die Frage (S. 22), „wie
einige Menschen dazu kommen, der Natur im allgemeinen
und Steinen insbesondere Gefühl zuzuschreiben, die Natur
als ethisch und ihre empfindungslosesten Teile als fühlend
zu denken." Denn niemals sind es nur einige Menschen,,
die so individuell organisirt wären, dass sie das tun; denn
sonst würden sie von ihren Genossen verlacht werden.
Einige sind freilich allemal die Schöpfer; aber die andren
erkennen das Geschöpf derselben als ihr eigenes an. Sonst
würden die Sänger nicht verstanden, würde ihr Lied nicht
angenommen werden. Es handelt sich allemal darum,
wie der Mensch schlechthin zu solcher Vorstellungsweise
kommt. Zweitens, sind die Zeiten und Völker zu unter-
scheiden: so braucht es uns wenigstens nicht immer leicht
zu werden, uns in solche Vorstellungs weise zu versetzen;
und wir müssen selbst in der Beurteilung, ob etwas wirk-
lich gefühlt oder nur conventionell widerholt oder gar
nach Analogie erweitert wird, vorsichtig sein. Denn all-
gemein menschlich muss auch das Individuellste sein, wenn
es nicht töricht ist.
Prophetischer Anruf.
441
Es handelt sich liier um Poesie und Mythologie zu-
gleich, wie verschieden auch beide sein mögen, dann aber
auch um Unterscheidung beider (vgl. meine Einleitung
§ 321). Das echt Mythologische mag uns oft schwer an-
kommen; anerkannt und begriffen muss es werden (vgl.
diese Zeitschrift II, 23 f). Selbst einfache Wort-Etymo-
logie würde ohne diesen Grundsatz nicht zu verstehen sein.
Bruchmann erinnert sehr passend an unser sengen, das
sich zu singen genau so verhält, wie senken zu sinken ; also
bedeutet singen so viel wie brennen. Das erklärt vedischen
Sprachgebrauch. Freilich sind nicht alle vedischen Lieder
ursprünglich; sie sind im Gegenteil voll von conventionel-
ler Kedeweise. Bruchmann mag auch darin recht haben,
dass alle Dichter, auch gute, gelegentlich fertig überlieferte
Formeln anwenden. Indessen überkommt mich zuweilen
das Gefühl, als spanne Bruchmann die Dichter gar zu
grausam auf die Verstandesfolter. S. 53 nennt er Lenaus
Ausdruck „an ihren bunten Liedern klettert die Lerche
selig in die Luft", sehr glücklich, kann aber spöttische
Bemerkungen hierüber doch nicht unterdrücken, als schiene
er die Dichter überhaupt eigentlich für wunderliche Leute
za halten, welche wir uns aber gefallen lassen. Sie befinden
sich in „holdem Wahnsinn", und die Frage sei bloß, ob dieser
Wahnsinn ehrlich oder fingirt ist, ob die Dichter etwa den
wilden Mann bloß spielen, weil es eben überlieferte Fast-
nacht sei; aber auch der ehrliche Dichter komme wider
zu der Besonnenheit, in welcher er über sich selbst mit-
lacht. Wir Gesunden aber lassen es uns gern gefallen,
dass uns der Dichter den Wahnsinn kosten lasse. Kein
Dichter, meint Bruchmann (S. 37), glaubt was er sagt,
und wenn der Dichter (wie der Schauspieler) den Wahn-
sinnigen schlecht spielt, so wird er von uns „ausgelacht"
(S. 38). Dies alles gilt natürlich nur von der Metapher.
Der Prophet, ist dagegen zu behaupten, ist eher Pro-
phet, bevor er Dichter wird, und als Prophet ist er durch-
aus gläubig und nicht poetisch. Wenn er also sagt (Jes.
442
Prof. Steinthal.
60, 18 yon Br. S. 39 citirt): „du nennst Heil deine Mauern",
so bedeutet dies wie 26, 1 „Heil macht Gott zu Mauer
und Wall" d. h. man bedarf der Mauer nicht, da Gott
Heil gibt, und Zach. 2, 9 „ich (Gott) werde ihm (Jerusa-
lem) eine Mauer von Feuer sein". Und wenn es dann
weiter heißt (Jes. 60, 19): „Nicht dient dir fiirder die
Sonne zum Licht am Tage . . . Jahve wird dir sein ein
ewig Licht ..." so ist das der unerschütterliche Glaube
des Propheten an einstige (gleichgültig, wie bald oder wie
spät eintretende) Veränderung aller Völker- und Menschen-
verhältnisse und an eine zugleich damit verbundene Um-
wandlung der Natur. Der Prophet ist Teleolog. Gott
hat die Welt zu einem bestimmten, anfänglich gesetzten
Zwecke geschaffen. Diesem Zwecke entsprechen jetzt we-
der die Menschen, noch die Natur. Die Menschen werden
sich ändern, und dann ändert Gott die Natur. Der Pro-
phet fühlte die Endlichkeit der Natur viel tiefer und voller
als wir. Die Welt ist durchgängig vergänglich und man-
gelhaft, Himmel und Erde altern, Sonne und Mond ver-
lieren wechselnd ihren Glanz. Einst wird eine ewige,
vollkommene, Gottes würdige Natur erschaffen werden,
sobald die Menschen solcher ewigen Natur würdig sein
werden.
Aber allerdings ist der Prophet auch Dichter, und
zuweilen sehr plastisch. So wird die Heuschreckenplage
in folgenderWeise beschrieben von Joel 2, 4: „Wie Pferde-
gestalt ist ihre Gestalt, und wie Eosse also rennen sie.
Wie Wagengerassel hüpfen sie über die Spitzen der Berge;
wie Geprassel der Feuerflamme, das die Stoppeln verzehrt;
wie ein mächtiges Heer, das gerüstet zum Streite; . . .
wie Helden rennen sie, wie Kriegsleute ersteigen sie die
Mauer, und jeder geht seines Weges und sie verflechten
nicht ihre Pfade, und einer drängt den andren nicht, män-
niglich auf seiner Bahn gehen sie; zwischen die Geschosse
fallen sie und verwunden sich nicht; in der Stadt umher
traben sie, auf der Mauer rennen sie, die Häuser steigen
Prophetischer Anruf.
443
sie hinan, durch die Fenster kommen sie wie der Dieb."
Und derselbe Joel, der so plastisch zu schildern weiß,
spricht (2, 21), nachdem er Rettung verheißen hat: „Sei
getrost, Flur, frohlocke und freue dich! Denn Jahve tut
Gewaltiges. Seid getrost, ihr Getier des Feldes! Denn
es grünen die Anger der Trift, denn der Baum trägt seine
Frucht . . . Und ihr Söhne Zions frohlocket und freuet
euch eures Gottes!" Bei der Hoffnung, die er den Tieren
macht, spricht er als Grund eben das nackt aus, was er
vorher der Flur poetisch gesagt hat. Klarer ist noch
Jes. 35, 1 f. „Es frohlocken Wüste und Wildnis, und es
jubelt die Steppe und blüht auf wie eine Lilie. In voller
Blüte steht sie und jubelt nur Jubel und Jauchzen . . .
Sie werden schauen die Herlichkeit des Ewigen, den Glanz
unsres Gottes." Hier erklärt ein Wort das andre. Und
so ist denn auch der Sinn von Amos 1, 2 poetisch: „Da
werden trauern die Anger der Hirten, und verdorren wird
das Haupt des Karmel," wo das zweite Glied wider das
erste erklärt.
So wird es wol bei dem. bleiben, was Br. (S. 21) aus
Uhland citirt, dessen Worte nur selbst wider als Worte
eines Dichters und nicht eines Grammatikers verstanden
werden müssen. Mit mir einverstanden sagt Br. (S. 39)
von der Poesie des Propheten, dass wir bei ihrer Ge-
mütsverfassung „einen wahrhaften Schein haben. Die
Natur wird mit Liebe (zu Jahve) gesehen, der Tausch
des Gemütes (wie ich es genannt hatte VI, 328) findet
statt; denn den Steinen und Bäumen, den Ländern und
den Wogen des Meeres wird das menschliche Gemüt gelie-
hen", fügt aber hinzu: „nicht bis zur logischen Täu-
schung, scheint mir, sondern um durch den schönen Schein
die Seele, wenn auch nur vorübergehend, angenehm zu
erregen". — Ferner aber meint er (S. 37): „Die Ethisi-
rung der Natur im A. T. ist unter den uns bekannten
Litteraturen einzig. Dass die Natur auch sonst zur Teilnahme
herangezogen wird, ist bekannt; diese Teilnahme unter-
444
Prof. Steinthal.
scheidet sich aber wesentlich von jener erstern. Hier
erhebt sich nun die Frage, was sich die Dichter dabei
gedacht haben, ob die Nachahmung des A. T. in der
christlichen lateinischen und deutschen Poesie auch eine
Nachempfindung gewesen ist." S. 39 fasst er sich dabin
zusammen, „dass jene Ethisirung der Natur, in ihrer Art
einzig, gerade nur hier entstanden, nicht aber etwas all-
gemein Menschliches ist. Diese Redeweise sollte dem in
diesem Volke herschenden Gefühl genug tun. Dass die
Dichter an die Erfüllung ihrer poetischen Gefühle geglaubt
haben, glaube ich nicht. Denkbar wird so etwas nur unter
der allgemeinen Voraussetzung von der Fähigkeit und
Neigung der Menschen, ihr Gefühl durch Poesie in der
Weise zu befriedigen, dass sie das Gefühl vorüber-
gehend durch das Spiel der poetischen Vorstellungen
erregen lassen, zu deren Tatsächlichkeit sie kein logisches
Vertrauen haben." Und vorher (S. 35) hieß es als Erklä-
rung aller Poesie, „die nie entstanden wäre, wenn sie
nicht ein Bedürfnis der Menschen befriedigt hätte", fol-
gendermaßen: „Wenn irgend etwas für menschliches Wesen
bezeichnend ist, so ist es die Neigung, sich auszusprechen."
Es ist „Bejahung der Persönlichkeit, dass der Mensch sein
Leid und seine Freude ausspricht, schließlich auch seine
sonstigen Gedanken". (S. 36): „Auch die Poesie des A. T.
ist auf jene allgemein menschliche Neigung zurückzuführen.
Die Dichter wollten sich und ihre Hörer befriedigen. Ein
großer Teil ihrer Poesie, obgleich von uns altertümlich ge-
nannt, ist schon darum nicht primitiv, weil der Geist Jahves
auf den Fittigen dieser Poesie durch die Seelen seiner Be-
kenner fliegt. Die Empfindungen, welche die Dichter aus-
sprechen, sind nach Völkern und Zeiten denn doch sehr
verschieden. Ja, wenn es nun gilt gegen Verächter Jahves
aufzutreten? Ihn zu preisen war schon ein tiefes Bedürf-
nis der leidenschaftlich erregten Innerlichkeit der alttesta-
mentlichen Dichter; wie musste ihnen zu Mute sein, wenn
sie ihn zu verteidigen hatten? Beim Bekennen höchster
Prophetischer Anruf.
445
Güter entbehren die Menschen ungern des hyperbolischen
Schwunges, gerade so wie sie ihre Verachtung und ihren
Hass selten mit kalter Gelassenheit ausdrücken."
Was Bruchmann meint, zeigt sich wol am klarsten
durch den eben citirten Satz, in welchem er selbst poetisch
spricht, also Dichter wird: „Der Geist Jahves fliegt auf
den Fittigen dieser Poesie durch die Seelen seiner Beken-
ner" d. Ii. diese Poesie hat zum Inhalt das monotheistische
Bekenntnis. Warum bedient sich Bruchmann nicht dieses
prosaischen Satzes? Er glaubt doch nicht, was völlig un-
logisch wäre, dass die hebräische Poesie Fittige hat, auf
denen Jahve fliegt? und durch die Seelen der Dichter hin-
durch fliegt? Nein, jene Worte sollen, das ist Bruchmanns
Absicht, im Leser das Gefühl wecken, durch welches sie
im Stande sein werden, sich das Gefühl jener Dichter klar
zu machen, nachzufühlen; und das hat er, ob wol absicht-
lich, doch im unbewussten Drange der Mitteilung getan.
Und so ähnlich denke ich mir das Verhältnis der Hymnen-
dichter, die durch die Propheten und Psalmen angeregt
sind.
So richtig nun aber auch das ist, was Bruchmann
hier sagt, so kann ich ihm doch nicht durchaus beistimmen.
Wie verschieden auch die poetischen Formen sein mögen,
wie einzig auch die prophetische Weise, sie sind doch alle
Poesie und haben insofern gemeinsamen, allgemein mensch-
lichen Grund. Der Prophet, insofern er Dichter ist, spricht
von „lachenden" und „trauernden" Fluren, wie alle Dichter
aller Völker und Zeiten. Sie wollen nicht sagen, dass es
eine Flur ist, bei deren Anblick du lachst und weinst,
sondern sie würden auf solche Eedeweise nie geraten sein,
wenn sie nicht durch eine wahrhafte Täuschung glaub-
ten, die Flur selbst lache in ihrer Fruchtbarkeit und weine
in ihrer Dürre; und nicht bloß wir schauen in dem Grün
der Fluren Gottes Herlichkeit, sondern die Flur selbst in
ihrem Grün schaut Gottes Glanz. — Der Prophet aber
als solcher, wenn er die messianische Zukunft darstellt,
446
Prof. Steinthal.
glaubt ganz entschieden, was er sagt, wie er auch glaubt,
dass er das nicht erfunden habe, sondern ihm das von
Gott eingegeben sei.
Wenn Bruchmann nur dies sagen will (und ich nehme
an, dass er nur dies will), dass die Worte an sich oft
keine plastische, anschauliche Vorstellung geben, ja dass
sie sogar nicht selten nicht einmal etwas Gedachtes dar-
stellen, sondern nur einem Gefühl der Andacht, Verehrung,
des Staunens, der Freude oder Trauer u. s. w. Ausdruck
verleihen sollen: so wäre hiergegen meinerseits nichts ein-
zuwenden. Nur würde ich auch so immerhin für den Ur-
sprung der Redensart einen Vorstellungssinn suchen, der
im Bereiche der Erfahrung liegt. Seltsam aber berührt
es, wenn Bruchmann dergleichen als Eigentümlichkeit
„einiger Menschen", nämlich der Dichter hinstellt; wenn
er diese fragt, ob sie glauben was sie sagen; wenn er
Habakuk für seinen Vers (2, 11): „Der Stein in der Wand
schreit, und der Sparren im Holzwerk stimmt ihm zu"
verantwortlich machen will. Macht er denn die ver-
antwortlich, welche von einem Morgen, Mittag und Abend
des Lebens sprechen? Das muss einen Felsen erbarmen,
sagt auch Schiller. Nun, wenn wir alle es verstehen, dass
der Stein Erbarmen fühlen kann, so ist es doch kein allzu
weiter Schritt, dass derselbe Stein dieses Erbarmen, oder
ein anderes Gefühl, wie das der höchsten Empörung über
Druck und Grausamkeit, auch durch Geschrei ausdrückt,
zumal wenn er selbst erst in Folge solcher Erpressung
zur Wand geworden ist. Kann das der Stein, so doch wol
auch das Holz, welches dann mit jenem einen Wettgesang
der Klage anstimmt. Hat denn das deutsche Volk nicht
seit zwei Jahrhunderten gesagt, die Kuinen des Heidel-
berger Schlosses schreien, klagen? Wir sagen doch tau-
sendmal in Prosa: das schreit um Rache. Dafür sind keine
andren Mittel der Erklärung nötig als diejenigen, welche
überhaupt den Bedeutungswandel bestimmen. Euripides,
Hippolytus 408—413 sagt von Ehebrecherinnen (nach Fritz):
Prophetischer Anruf.
447
Doch hass' ich auch, die nur in Worten keusch und streng,
Verborgen aber frecher Tat sich weihn.
Wie mögen.....
Die nur ins Antlitz blicken ihrem Ehgemahl
Und nicht erzittern, dass die Schuldgenossin Nacht
Und des Gemaches Wand' einst ausschrein ihr Vergehn!
Kommen wir endlich zu Jesajas Anrufung von Him-
mel und Erde, so erklärt sich dieselbe vor allem aus dem
Mitteilungstriebe, aus dem Bruchmann alle Poesie hervor-
gehen lässt. Wie mächtig, "wie brennend dieser Trieb im
Propheten ist, lehrt uns Jeremia. Wem sollte sich nun
Jesaja mit seinen ersten Worten mitteilen? Dem Volke?
Er wollte hier zunächst nicht den Willen Jahves verkün-
den (was er aber doch bald darauf tut, indem er die
Sodoms-Männer anredet), sondern die schmerzliche Klage
Jahves, die das ungehorsame Volk natürlich nicht ver-
steht. Er richtet dieselbe an das All, das ist Himmel und
Erde. Glaubte er, dass Himmel und Erde hören können?
Das scheint der Monotheist nicht glauben zu können; Him-
mel und Erde sind ihm vergängliche Materie. Dennoch
könnte er dieselben, eben sowol wie Hosea (s. oben) als
ethische Mächte ansehen.
Vielleicht aber ist die Sache noch einfacher. Es hat
mich überrascht zu sehen (und wird den Leser überraschen
zu hören), dass Jesaja in den ihm wirklich zugehörigen
Eeden (viele sind ihm ja aus Missverständnis zuerteilt)
den Himmel niemals außer dem einzigen Male an unsrer
Stelle erwähnt! Er ist also nicht gewöhnt, weder ein
poetisches Spiel mit dem Himmel zu treiben, noch ihn
überhaupt in seinen Gedankengang hereinzuziehen.
Nun schildert er uns c. 6 seine Weihung zum Pro-
pheten. Die Scene, welche er darstellt, spielt offenbar
nicht im jerusalemischen, sondern im himmlischen Tempel.
Im Himmel also hat Jahve „seinen Tron, den hohen und
erhabenen"; um ihn stehen Seraphe in Menschengestalt
mit sechs Fittigen. In diesem Tempel steht auch ein
448
Prof. Steinthal.
Altar mit Feuer. — Jesaja hält also den Himmel für be-
völkert mit heiligen Wesen, welche Gottes Heiligkeit
preisen, dessen Heiligkeit auch die ganze Erde füllet. An
diesen Himmel also mit seinen Bewohnern und an diese
Erde, voll von Gottes Heiligkeit, richtet er auch in c. 1
seinen Anruf. Dieser also ist visionär, nicht poetisch, ganz
ernst gemeint und zu verstehen.
Bei dem nach seiner ganzen Darstellungsweise eigen-
tümlichen Propheten, der Jes. c. 24—27 gesprochen hat,
wird in c. 24 durchgängig in entschiedenster Weise das
Land (die Erde) als solches mit seinen Bewohnern als
Sünderin für identisch genommen: es hat gesündigt, war
verrucht, wird bestraft; und V. 21 werden auch die Ge-
stirne (als Schutzgötter der frevelnden Mächte) bestraft.
Diese Vorstellung scheint allerdings erst im Exil entstan-
den zu sein. Sie findet sich demgemäß c. 34, 4: „Zusam-
mengerollt wie ein Buch werden die Himmel, und ihr gan-
zes Heer (sc. die Sterne) fällt welk herab, wie das Blatt
vom Weinstock, wie das Laub vom Feigenbaum welk
abfällt."
Nun schließlich noch ein Anhang. Den vielen Stellen
gegenüber, welche Bruchmann aus der lateinischen und
deutschen Kirchendichtung mit entschiedensten Anklängen
an Propheten- und Psalmenstellen citirt (es werden wol
an hundert Stellen sein, zum Teil aus vier Versen und
darüber bestehend, wozu noch einige griechische und sy-
rische Liederstellen gefügt sind, und sie sind sicherlich
nicht alle von Bruchmann gesammelt), wird man große
Mühe haben in der hebräischen Dichtung der Juden des
Mittelalters auch nur zehn ähnliche zu finden. Und doch
ist diese Dichtung nicht weniger umfangreich, als die
christliche; die hebräische Sprache, deren sich die Juden
bedienten, scheint in noch höherem Maße Widergebung
prophetischer und Psalmenphrasen zu begünstigen; und
unter den Verfassern jener Tausende von Hymnen sind
nicht wenige echte Dichter: ich brauche nur Juda Hallewi
Prophetischer Anruf.
449
zu nennen. Aber in seinem Zionsliede (schon von Herder
übersetzt) finde ich nur eine Entlehnung: „Die Herlich-
keit Gottes war deine (Zions) Leuchte, nicht Sonne, Mond
und Sterne waren deine Lichter" (vgl. oben S. 442).
In einem jedenfalls altertümlichen Gedicht (um Jahr-
hunderte älter als das eben genannte; wie M. Sachs ver-
mutet aus dem 8. oder 9. Jahrh. aus der Zeit des Bilder-
sturmes) finden sich unter den zweiundzwanzig kurzen
Zeilen auch zwei mit offenbarer Entlehnung. Es beginnt:
„Alle kommen dir zu dienen , . . sie verkünden in Eilan-
den dein Heil, Völker suchen dich auf, die dich nie ge-
kannt u. s. w. Und Berge brechen in Jauchzen ausr
und Eilande jubeln, wenn du regierst."
In den noch älteren Gebeten der Juden im üblichen
täglichen Gottesdienst kommt jene Belebung der Natur
gar nicht vor. So heißt es in einer Schilderung der mes-
sianischen Zeit: „Wir hoffen, dass . . . erkennen und ein-
sehen werden alle Bewohner des Erdenrundes, dass dir
sich beugen müsse jedes Knie, schwören müsse jede Zunge"
u. s. w., wobei an Tiere gar nicht gedacht werden kann.
In einem andern Gebete, das ungefähr aus derselben Zeit
wie das vorige stammt (2.—5. Jalirh. p. Chr.), erhalten
wir den Commentar zu dem von Bruchmann S. 19 citirten
Psalmenverse. Dort heißt es nämlich: „Denn jeder Mund
muss dir danken, und jede Zunge dir schwören, und jedes
Knie sich dir beugen, und jeder Aufrechte vor dir sich
bücken, und alle Herzen müssen dich fürchten, und jedes
Innere und jede Niere lobsingen deinem Namen, wie es
im Psalm heißt: alle meine Gebeine sprechen, Gott wer
ist wie du!" — Aber von Berg und Baum und Fluss ist
keine Rede.
Einmal finde ich (im Abendgebet) den Ausdruck „die
Hiitte deines Friedens", was nicht etwa friedliche Hütte
bedeutet, sondern den Frieden als Hütte gedacht. Gottes
Friede ist eine Hütte, wie (oben S. 442) das Heil eine
Mauer.
450
Prof. Steinthal.
Die üblichen jüdischen Gebete geben auch den Hin-
weis auf den Grund der Wandlung der Anschauung, der
sich nach Schluss des biblischen Canons bei den Juden
vollzogen hat. Schon in Ps. 104 heißt es zwar: „Gott
macht Winde zu seinen Boten (Engeln), flammendes Feuer
(Blitz) zu seinen Dienern." Daraus ward unter persischen
Einflüssen und im Anschluss an Jesajas und Ezechiels Vi-
sionen Ernst gemacht, und alle Naturkräfte, namentlich
die Gestirne, aber auch Abstracta, wurden zu wirklichen
Engeln, wie Milde und Gerechtigkeit und ihr Gegenteil.
Alle diese Engel erfüllen mit Freuden die Befehle Gottes
und preisen seinen Namen. Berg, Fluss u. s. w. sind vor
denselben ganz zurückgetreten. Die Juden sind nicht so
anmaßend wie Zinzendorf, welcher singt (Br. S. 270):
„Schweigt ihr großen Cherubime! Still ihr muntern Sera-
phime! Eure Brüder wollen eilig rufen: heilig, heilig,
heilig." Die Juden ahmen dem Engelchore nach, und
mischen ihr dreimal heilig in das der Engel. Sie sagen:
„Wir wollen deinen Namen heiligen in der Welt (d. h. auf
Erden) wie man ihn heiligt in den Himmeln droben" oder
bestimmter: „nach der Weise der heiligen Seraphen."
Wenn es richtig ist, dass die prophetische Rede 1.
prophetisch, 2. dichterisch, 3. ursprünglich mythologisch der
monotheistischen Denkweise angeeignet, sein kann, so mag
es oft genug schwer sein, diese drei Fälle immer richtig
zu unterscheiden, und im dritten Falle ist die Inter-
pretation, wenn sie vollständig ist, immer eine doppelte.
Yon unserm „Hört ihr Himmel u. s. w." aber meine ich
nun, dass es vom Propheten visionär gedacht ist, aber
nach der Figur des Umfassenden statt des Umfassten;
dass hingegen der gleiche Anfang des Liedes 5. M. c. 32,
rein dichterisch zu verstehen ist; der Dichter drückt da-
mit die Wichtigkeit seines Liedes aus.
Beurteilungen.
451
Beurteilungen.
Zur Geschichte der Tempus- und Modusstamm-
bildung in den finnisch-ugrischen Sprachen
von E. N. Setälä. Helsingfors 1887. XIV u. 184 S.
In dieser Schrift wird zum ersten Male die analogische
Erklärungsweise1 systematisch und erfolgreich auf einen
Teil der finnisch-ugrischen Formen angewendet. Im Fol-
genden beschränke ich mich nur auf die wichtigsten Er-
gebnisse und zwar innerhalb der beiden Sprachen, des
Magyarischen und des Finnischen, die ich von dieser
Sprachfamilie einzig genauer kenne; der Verfasser selbst
zieht sämmtliche Zweige bei, nämlich noch Estnisch,
Lappisch, Tscheremissisch, Mordwinisch, Ostjakisch, Wogu-
lisch, Syrjänisch-Wotjakisch. Dabei folge ich im Ganzen
der Reihenfolge der Schrift, die in vier Capitel zerfällt:
Präsens, Präteritum, Imperativ, Conjunctiv, und mit einem
zusammenfassenden Rückblick schließt.
Die beiden finnischen Lautgesetze, welche von der
Analogie durchbrochen werden, sind 1. die Schwächung des
ersten Consonanten einer geschlossenen Silbe, des t zu d,
k zu jì kk zu k, Ik zu lj, mp zu mm, et zu en, p zu v, rt
zu rr, siehe diese Zeitschr. XI. 425 flg.; 2. die Schwächung
des p zu v und das Schwinden von t nach kurzen unbe-
tonten Silben; so antava „gebend" aus *antapa; pü-ta Parti-
tiv von pü „Baum", aber talo-a von talo „Haus". Im Plur.
antavat treffen beide Wirkungen zusammen. Der Kürze
halber spreche ich von Gesetz 1 und 2.
1. Die dritte Pers. Sing, des finnischen Präsens zeigt
häufig den Ausgang pi nach betonten, vi nach unbetonten
Silben: syöpi2 „isst", juopi „trinkt", säpi „bekommt", antavi
1 Beiläufig mache ich auf die klare übersichtliche Schrift Ana-
logia, and the scope of its application in language von Benjamin Ide
Wheeler (1887) aufmerksam, was das Indogermanische betrifft.
2 finn, y — ü!
452
Misteli.
„gibt", tulevi „kommt", sanovi „spricht" für das gewöhnliche
syö juo sci, anta tule sanò. Die Formen antäpi tvl¿- ' sanöpi
wurden durch syöpi juopi säpi hervorgerufen, in denen pi
eine an die fertige dritte Pers. Sing, angesetzte Partikel
scheinen konnte; auch wurde so die wünschenswerte laut-
liche Einheit derselben grammatischen Kategorie erreicht.
Die umgekehrte Uebertragung, nur dass vi zu reducirtem
u herabsank, fand im Diabetischen syö" (s¿¡") juo" (Jö')
säu (soa") statt. Die vom Verfasser aufgestellte Regel
der Verteilung von pi und vi wird von der Sprache im
Kaiewala (1866) bestätigt; Beispiele gibt jede Seite. Nur
fällt mir auf, dass diese pi- und «¿-Formen mitten unter
Präterita erscheinen und unmöglich von ihnen sonderlich
unterschieden wurden. Ihre präsentische Natur erhellt
mehr aus ihrer Form als aus ihrem Gebrauche. Man
vergleiche z. B. VI 17/8: hep o juoksi, matka joutui, koti jixpi,
tie lyheni „das Pferd lief, die Fahrt eilte, die Heimat
blieb zurück, der Weg kürzte sich", oder III 79/80: ajaa
suhuttelevi, ajoi päivän, ajoi toisen „er sauste 1 beim Fahren,
fuhr einen Tag, fuhr einen zweiten" u. s. w. Doch zeigt
das wol eher, dass die Präsensform eben sowol die reine
Handlung als die Gegenwart ausdrückt; gerade wenn die
Zeitsphäre durch den Zusammenhang bestimmt ist, kann
ohne Schaden die allgemeine Präsensform eintreten. Uebri-
gens werden wir dieser Vertauschung weiter unten noch
einmal begegnen. Ein „historisches" Präsens liegt jedenfalls
nicht vor, nicht eine lebhaftere Darstellungsweise, sondern
das Präteritum bleibt unbezeichnet, sowie in gewissen
Fällen die nominativische Stammform den Accusativ ver-
tritt. Wahrscheinlich wird nun nach alledem freilich, dass
auch die gewöhnlichen Formen anta „er gibt", tule „er
kommt", sanö „er spricht" für anta'1 (S. 48 ob.) tule'1 sano*
stehen, und obendrein weisen die östlichen Dialecte wirklich
diese Vocalisirung auf, wie uns der Verfasser belehrt.
1 d. h. fuhr sausend.
Beurteilungen.
453
2. Wie pi gehört auch vat vät der dritten Pers. Plur.,
das aber nie fehlen darf, anfänglich nur dem Präsens an:
syövät juovat sävat, antavat tulevat sanovat. „In den ältesten
schriftlichen Denkmälern, die sich auf die westliche Mund-
art der Suomisprache gründen, .... sowie in den Bibel-
übersetzungen, von den frühesten bis auf die spätesten,1
bildete sich die dritte Pers. Plur. des Präteritums nur
durch Zusatz des Pluralzeichens t an den Tempusstamm"
8. 12/3; also söit joit sait, annoit tulit sanoit für das gewöhn-
liche söivät joivat saivat, antoivat tulivat sanoivat. Ueber die
sonst allgemein anerkannte Participialnatur dieses vat vät,
dessen Singular pa pä heißen müsste, verlautet zwar der
Verfasser wenig; sie wird aber durch seinen Nachweis von
kurzen außerpräsentischen ¿-Formen erst recht zweifellos,
und eine Beziehung zum pi vi der dritten Sing, bietet sich
leicht, wenn man an die comparativischen und pronominalen
Stammformen auf -mpa (-mma) -mpä (-mmü), Nom. mpi, sich
erinnert; siehe S. 167 Anm. 2. Ja auch das regelrechte
pa pä des Sing, findet sich in nominaler und adjectivischer
■Geltung gar häufig: syöpä Esser, juopa Trinker, jäpä Ueber-
rest, käypä gangbar u. s. w., während participiales syövä
juova säva u. s. w. sein v von den Formen wie antava tule-
va sanova, in denen es nach Gesetz 2 sich einstellte, be-
zogen zu haben scheint. Allerdings ist es bloßer Zufall,
dass das nach finnischen Lautgesetzen entstandene v mit
dem magyar, v des Particips zusammentrifft, z. B. finn.
elävä „lebend" mit magyar, elö = *eleve, vergi, das uncon-
trahirte eleven; die Verwantschaft der Bildung bleibt trotz-
dem bestehen; siehe auch diese Zeitschr. XIII 125. Derselbe
Lippenlaut zeigt sich nach S. 14 auch im Livischen (mak-
säb ich bezahle = finn, maksan) und S. 18 in der zweiten
Pers. Du- und Plur. des Lappischen, und damit verrät er
sich deutlich als Suffix und nicht als Personalendung, siehe
diese Zeitschr. XIII. 125 Anm.
1 In dem zu Leipzig bei Pöschel & Co. 1874 erschienenen neuen
Testamente stehen die gewöhnlichen Formen auf -ivat -ivät.
Zeitschrift flir Völkerpsych. und Sprackw. Bd. XVIII. 4. 30
454
Misteli.
3. Das Finnische besitzt Reflexive, deren dritte Pers.
Einz. auf kse(n) und he(n) ausgeht.1 Was an solchen For-
men in den sieben ersten Gesängen des Kaiewala vor-
kommt, verzeichne ich sammt demjenigen, was unter den
bezüglichen Artikeln das Lexikon von Lönnrot noch bei-
steuert, damit schon aus dieser Aufzählung die Verteilung
von kse und he klar werde: ajaikse „erhob sich, warf sich"
ajoihe, asetaiksen „schickte sich an, bereitete sich", istuiksen
„setzte sich" istuihen, katseleikse „sah sich um", kcinteleilcse
„wandte, sich", künteleikse „lauschte1', kohennaikse „richtete
sich auf", kykistäikse „bog sich (kauerte) nieder", lenteleikse
„flog umher", lïteleikse „näherte sich", läteleikse „ordnete sich"
ältelihe, paneikse „stellte (legte) sich" 'panihen paneite, sioitte-
leikse „nahm seinen Platz ein" siottelihe siottelihet (3. Plur.);
käntelihe, küntelihe, loihe und löihe von luo- und lyö- „warf
sich, verlegte sich" luorne luoksen, nimittelihe „nannte sich",,
pistihe „begab sich", reutoihe „schleppte sich" reudoikse, sei-
sattelihe „blieb stehen" seisattelime, seisottihe dasselbe, suorit-
tihe „richtete sich", vetihe „zog (begab) sich". Es ergibt
sich, dass vor kse Diphthonge stehen und vor he einfache-
Vocale, oi und ui ausgenommen, die nie ihren ersten Teil
einbüßen; vergi, reudoikse und reutoihe, istuiksen und istuihen.
Ferner verhält sich wol deutlich z. B. ajaikse : ajoihe wie
actives aja „fährt" : ajoi „fuhr", oder paneiksen : panihen
wie pane „legt" : pani ,,legte", oder luoksen : loihen wie luö
„wirft : loi „warf" u. s. w., und wir müssen mit dem Verf.
kse(n) dem Präsens, he(n) dem Präteritum zuweisen, und
nur darin besteht der Unterschied, dass in den activen For-
men i nur das Präteritum als sein Tempuszeichen charakteri-
sirt, in den reflexiven gerade i den Reflexivbegriff enthält,
dalier auch im Präsens sichtbar ist und mit dem präteri-
talen i verschmilzt; auch die Infinitive lauten istuita katse-
leita kohentelcita kykistäitä künteleita läteleita lltteleitä paneita
pistäitä reuioita seisatteleita. Indem schließlich der Personal-
1 Eine Parallele dieses n ephelkystikums gibt in der Declination
-der Dativ auf lien und Ue-, die «-Formen stehen gerne vor Vocal en.
Beurteilungen.
455
endung he(n) nach bekanntem Wechsel se(n) entspricht,
bleibt dem Verf. nur übrig, k als einen Präsenszusatz wie
p V zu erklären, der vor se(n) als deutlicher Guttural sich
erhält, sonst in der verneinenden Form und in der zweiten
Pers. Sing, des Imperativs, wie man weiß, als „Glottis
explosiva" geschlossene Silbe bewirkt. Allerdings mangelt
einigen Verben das reflexive i (luoksen, wol auch lyöksen,
Infin. luota lyötä, Infin. act. luoda lyödä), so dass kse reflexiv
schillert; aber wie man dies auch fassen1 mag, gegenüber
der großen Masse von Verben fällt dieser Einwand nicht
sehr ins Gewicht, und der Verf. weist überdies nach, dass
im Estnischen „keine einzige" der &se-Formen als reflexiv
angesehen zu werden braucht und viele nicht einmal
dürfen, und dass man auch im Finnischen kse zuweilen
bei Verben antrifft, die keine reflexive Bedeutung haben
(S. 36 —38). Wie die pi- und ^'-Präsentien werden auch
die auf kse unter eigentliche Präterita gemischt, weswegen
ich sie oben als solche übersetzte. Ein Beispiel genüge
III 471 istuiksen ilo-kivelle, laulu-pädelle paneikse, lauloi kotvan
lauloi toisen u. s. w. „er setzte sich auf den Freudestein,
er stellte sich auf die Sangesplatte, sang eine Weile, sang
eine zweite" u. s. w., aber XXI 365/6 istuihen ilon teolle,
laulu-työlle työntelihe „setzte sich ans Geschäft der Freude,
machte sich an die Arbeit des Gesanges". Der Präsens-
natur der fee-Formen widerstreitet das nicht, findet doch
auch im altindischen Epos zuweilen ein ähnlicher Wechsel
der Tempora2 statt. Wo kse auch im Präteritum und he auch
im Präsens auftritt, liegen Analogiewirkungen vor, wie der
1 So citirt der Verf. S. 32 mütaksen „er verändert sich", mü-
talcset „sie verändern sich"; vielleicht nur dialectische Aussprache
für mütaiksen, mütaikset.
2 Z. B. Mh. Bh. 5, 7287 „es glühte der Himmel o König, es
rauchen die zehn Weltgegenden, und nicht konnten die Vögel in der
Luft mehr bleiben" {gagväla-dhümajante - çekus); adhümajanta hätte
freilich eine Silbe zu viel; doch der Wechsel von -kse und -he be-
rührt den Vers nicht.
23*
456
Misteli.
Verf. des Näheren nachweist; das trifft z. B. auch mütti-
ikse1 neben müttailcse oder umgekehrt müttaihen neben müt-
tiihen, wie Ujfalvy und Hertzberg in ihrer grammaire Fin-
noise (1876) S. 50/1 (immer mit tt) ansetzen, wenn über-
haupt alle diese Formen üblich sind und nicht zur Hälfte
aus grammatischer Theorie hervorgegangen; denn nur mü-
taikse(n) und müttihe(n) geben die ursprüngliche Verteilung
wider, die auch der Kalewalatext beobachtet. Neben diesen
dritten Personen auf se und he existiren auch erste Per-
sonen auf ine, so das oben verzeichnete luome „ich werfe
mich", luontelime „ich näherte mich" (Präs. luonteleik.se), lähen-
telime dasselbe, seisattelime „ich blieb stehen", karautime VII
63 „ich eilte" u. s. w. Dagegen enthalten die Imperative
lyöte „schlag dich", pyörteleite „drehe dich", känteleite „wende
dich", seisotaite „stelle dich", paneite „lege dich" kein dem
nie se he entsprechendes Personalsuffix te, ansonst sie indi-
cativische Bedeutung haben miissten, sondern ein ableiten-
des te (siehe den Verf. 34/5), dem wie obigem i intransitive
Bedeutung zukommt. Die Erörterungen des Verf. liber
lese machten auf mich einen überzeugenden Eindruck.
4. Jeden, der Finnisch treibt, befremdet es höchlich,
dass in scheinbar gleichen Verhältnissen das Präsens des
— nur unpersönlichen — Passivs Consonantenschwäclumg
verlangt, das Imperfect davon frei bleibt : pannahan (— pan-
ta-han), aber pantihin von pane- „setzen, legen"; mennähän
(== nien-tä-hän), mentihin von mene- „gehen"; tuodahan tuoti-
hin von tuo- „bringen"; annetahan annettihin von anta-anna-
„geben" u. a. Der Verf. nimmt auch hier an, dass den
Präsensstamm k resp. „Glottis explosiva" schließe und durch
Vermilderung der Consonanten seine Gegenwart verrate:
pannahan mennähän tuodahan annetahan. Nun vereinigten
sich aber im vorigen Abschnitte dieselben Elemente zu kse;
1 Die beiden i, das eine reflexiv, das andere des Präteritums,
wären voll berechtigt, machen sich aber kaum in der Aussprache
geltend.
Beurteilungen.
457
der Verf. muss also weiter annehmen, was keine Schwie-
rigkeit auf sich hat, das h-nx des Präteritums sei in das
Präsens gedrungen und habe das berechtigte kse beseitigt,
während die auf den ursprünglichen Zustand hinweisende
Consonantengruppe verblieb; *pannaksen (= *pcin-ta-ksen)
glich sich dem pantihin zu pannahan, *tuodaksen (= *tuo-ta-
ksen) dem tuotihin zu tuodahan an. Ich halte diese Lösung
für so einleuchtend, als man nur bei sprachlichen Dingen
verlangen kann.
5. Weniger gewiss ist mir, dass z. B. tulemme „wir
kommen", tulette „ihr kommt" ein *tuleme oder gar *tulekme
(S. 172) und *tulete zur Voraussetzung habe, wenn gleich
der .Verf. — und das ist sehr wichtig — nachweist, dass
-mrne -tte dem Präsens, dem Präteritum die Formen mit
einem m und t gebühren; also: sä-mma „wir erhalten",
sä-tta „ihr erhaltet4', aber sai-ma „wir erhielten", sai-ia „ihr
erhieltet", oder otamme, (-mma) „wir nehmen", otatte (-tía)
„ihr nehmet", ottima „wir nahmen", otti{t)a2 „ihr nähmet";
und dass dann die mm- und /¿-Formen und zwar schon
durchgängig im Kaiewala die anderen verdrängten. Ab-
gesehen davon, dass liber das Verhältnis von ma ta und
me te nichts gesagt wird, bleibt auch das Verhältnis zu
den Possessivsuffixen mme und nne unklar; tuomme „wir
bringen1' kann man doch nicht von suomme „unser Sumpf,
das Präteritum toimme nicht vom Plural soimme abtrennen,,
aber ebenso wenig lässt sich beim Nomen von einem Prä-
sensstamm reden; nne freilich könnte von tte unabhängig
sein, nach den S. 52 beigebrachten Variationen zu schließen.
Auch wäre die beim Possessivsuffix mangelnde Consonanten-
schwächung zu beachten: vetemme „unser Wasser" von
vete- vede- und vedämme „wir ziehen" von vetä- vedei- ; deutet
1 h-n nimmt den Vocal der vorausgehenden Silbe an.
2 saita und ottia nach Gesetz 2; i des Präteritums und des
Plurals bildet mit einem vorausgehenden Vocal immer nur eine
Silbe, daher saita zweisilbig, nicht dreisilbig.
458
Misteli.
das auf früheres *veteme und fand der Doppelconsonant zu
einer Zeit, als Gesetz 1 seine Kraft verloren hatte, vom
Verbum aus auch beim Nomen Eingang-??
6. Beim Imperativ erklärt der Verf. die Formen der
ersten und zweiten Plur. auf -Jcahamme -kähämme (= -käm-
me -kämme) S. 113 „nach einer falschen theoretischen Ver-
mutung gebildet" und als „vollkommen unbefindlich", und
in der Tat bietet der Kaiewala nur z. B. lyökämme I 21
5,lasst uns schlagen", sä-kamme, ruvetkamme III 131/2 „lasst
uns anfangen", el-kälte IV 439 des Negativverbs u. s. w.
Der durch Schwinden von t und h entstandene Hiatus
wird nicht durch Contraction beseitigt und z. B. in der
dritten Pers. Sing, -kahan -kähän stets zweisilbig gemessen:
seisolcahan „er bleibe stehen", slrtykähän „er weiche" III
127/8. Das auf aha ähä deutende ä ä der ersten und zwei-
ten Plur. statt a ä, das allerdings die heutigen Bücher
und Grammatiken kennen, das „aber wol kaum irgendwo
in der Volkssprache 1 angetroffen" wird, rührt nach dem
Verf. von der Nebenform der zweiten Pers. Plur. auf -kä
-kä her; es mag auch der lange Vocal der dritten Sing,
eingewirkt haben, in der an das Moduszeichen ka kä das
Personalzeichen h-n tritt. Für die letztere Erklärung hatte
ich schon vor Jahren, in dieser Zeitschr. XIV 309/10 und
311 Anm., mich ausgesprochen, nur dass ich damals nicht
so recht wusste, wie schwach es mit den Formen -kahamme
-kahatte bestellt sei, die man sogar allgemein für ursprüng-
lich ansah. Um den alten Bestand zurückzuführen, muss
man außerdem mit dem Verf. an die Wirkung von Gesetz 2
sich erinnern, welcher nur sa-ka-han „er bekomme" und
*sano-a-han „er spreche" entsprechen ; das factische sano-
ka-han beruht auf dem „Systemzwang" des sä-ka-han; und
1 Ich verstehe nicht, warum der Verf. S. 111 Anm. 3 die
Schreibweisen Agrícolas tietket „wisset", techkette „machet", ioeatta
„trinket" tietkät, tehkätte, juokätta liest und nicht vielmehr mit kurzem
ka kä, wie man gerade nach seinen Erörterungen erwarten müsste.
Beurteilungen.
459
muss mail die richtigen Endungen me te (ma ta) statt
der vom Präsens in den Imperativ verschleppten mme tte
einsetzen; wirklich finden sich nach dem Verf. S. 110
salíame „lasst uns beginnen", olíame „lasst uns sein", laula-
Icame „lasst uns singen" in der Liedersammlung Kanteletar,
und die Kalewalaformen lyökämme elkäite u. a. erweisen sich
durch die mangelnde Consonantenschwächung trotz der ge-
schlossenen Silbe ohnehin als jung (S. 114). Es bleibt nur
noch -icä -kä -kai der zweiten Pers. Plur. übrig: käy-kä
„geht", tulkä tulkai „kommt", von denen man die ersten
beiden sonst allgemein aus -hätte -Jcätte (-kaha-tte -kähä-tte)
verstümmelt dachte, wie auch in dieser Zeitschr. IV 307
unten angenommen wurde. Nachdem aber ka kä als Zeichen
des Imperativs sich herausgestellt, erklärt der Verf. sie
ungleich ansprechender aus -kata -Icätä Jcate, deren t nach
Gesetz 2 wie im Partitiv schwinden musste. Nur vermisst
man auch hier eine Erörterung liber die Qualität des
Schlussvocals, die des Yerf. richtige Anschauungen vor
jedem Einwand sicher stellen würde.
7. All das ist auf den sogen. Optativ zu übertragen,
der sich vom Imperativ nur durch die anders gefärbte
Modussilbe ko kö unterscheidet. Auch hier haben die For-
men -kohomme -koliotte (-komme -kötte), resp. mit ö, die übri-
gens nicht sehr gebräuchlich sind, keine Berechtigung
neben -komme -kotte oder kome kote — resp. mit ö; kylpeötte
(= kylpe-kö-tte) „ihr mögt baden" steht Kaiewala 50, 270,
külkottes (= Jcül-ko-tte-s) „höret" 46, 155. Die erstere Form
kylpeötte zeigt augenscheinlich, wie richtig der Verf. sano-
a-han „er rede" und nicht sanokahan als lautgesetzliche Form
aufstellt. Die zweite Form enthält am Ende die Partikel
s, über die man diese Zeitschr. XIY 309 Anm. nachsehe.
Der zweiten Pers. Sing, ist dies s im heutigen Zustand
der Sprache fest angeschmolzen, kann aber, weil nach
S. 125 s-lose und doch geschwächte Formen schon Agricola
kennt, diese Schwächung und geschlossene Silbe nicht be-
wirkt haben, die sich z. B. in helios (= tul-ko-s) „komme",
460
Misteli.
najos (— nai-ko-s) „heirate" zeigt. Ich stimme dem Verl
hei, wenn er Anlehnung des Optativs an die zweite Pers.
Sing1, des Imperativs annimmt, für den die Consonanten-
erweichung Kegel ist.
8. Für die magyarische Grammatik ist die Ausbeute
spärlich. Wenn zweiter Sing. Imperat. csapjál várjál für
csapj „schlage", vdrj „warte" aus dem Einflüsse der neu-
tralen Verben wie almodjál „träume" S. 142 hergeleitet
wird, so vergi, darüber diese Zeitschr. XI 422/3, XIII 105,
XIV 307, wo ich auf den Einfluss auch des -ál des Prä-
teritums und -nal des Conditionalis hinweise. Denn zweifel-
los ist das a dieser beiden Formationen ursprünglich lang,
wie die Pluralformen beweisen (váránk várátok Dáránah, vár-
nânk -nátok -nának), und glaublich genug behauptet der Verf.
Anlehnung an dieses -ál für das perfectische -teil und das
-jál des Imperativs, deren Pluralformen (2. -tatok, 3. tak und
tanak, 2. jatok, 3. janak) für einstige Kürze zeugen. Eine
Vergleichung mit dem Präsens der objectiven Conjugation
und der ganz verschiedenen Behandlung des j nach t hätte
die Eigenheit des magyar. Imperativs noch mehr ins Licht
gesetzt und die Wahrscheinlichkeit der gleich zu erwähnen-
den Hypothese des Verf. noch erhöht: kössön1 und kösse
(obj.) „er binde" und köti „er bindet", kössünk und kössük
„lasst uns binden" und kötjiik „wir binden", kössetek und
kössetek „bindet" und Iwtitek „ihr bindet", kössenek und kösselc
„sie mögen binden" und kötiJc „sie binden". Bei der objecti-
ven Conjugation des Präsens hat man es mit einem reinen j
zu tun; beim Imperativ, wenn überhaupt sein Kennzeichen
mit finnischem ka kä ko kö in Verbindung stehen soll, mit
einem „tonlosen palatalen Spiranten", in den früheren
Denkmälern mit ch und h angedeutet, der mit t sich zu ts
1 Magyar, s = s = sch; ss = ss, während deutsch s mit
und deutsch sx oder ss gleichfalls mit sz dargestellt wird; aber xs
gibt den Laut des französischen j wider. Die Accente der Vocale
bezeichnen die Länge.
Beurteilungen.
461
vereinte, ungefähr wie im Sanskrit dentales t und palata-
les ç ein ch (= tsh) ergibt; der aber sonst zu j sank, wie
der Verf. S. 142 unten scharfsinnig vermutet, und so mit
dem reinen j des Präsens der objectiven Conjugation zu-
fällig zusammen traf (vârjon und várja obj. „er erwarte",
vârja „er erwartet"). Man dürfte also kössön nur auf
*kötsön, nicht auf *kötjön, wie man gewöhnlich tut, zurück
führen; der t- schützte gerade den älteren Laut. Ob ich
wirklich den Verf. richtig verstanden, dessen Ausdruck
gerade hier an einiger Undeutlichkeit leidet, möchte ich
indessen nicht mit Bestimmtheit versichern.
Aus dem „Rückblick" hebe ich als allgemeinere Er-
gebnisse der Schrift hervor:
1. Die Tempusstämme des Ugrischen sind No-
minalstämme, und zwar a) unmittelbar; für den finni-
schen Präsensstamm auf pa pi (va vi) ist das ausgemacht;
ebenso für das magyarische Perfect auf t: adott „gegeben,
hat gegeben", adtak „gegebene, haben gegeben", b) Der
Satz des Verf. ist unanfechtbar: wenn man an den Tem-
pusstamin nur das nominale Mehrheitszeichen t anzuhängen
brauche, um die dritte Pers. der Mehrheit zu erhalten,
dass auch dies nominalen Charakter des Verbs erweise
(S. 166 unten), so tuli-t „sie kamen, sanoi-t „sie sprachen"
(== tulivat sanoivat). Am wenigsten unterliegt der Präsens-
stamm auf k oder „Glottis explosiva" der Beschuldigung
nominalen Gebarens. Allein c) die Anwendung der Posses-
sivsuffixe („unser Nehmen" statt „wir nehmen") gibt den
Ausschlag {ptamme = ota me nach Verf.) und ist für das
ugrische Verb überhaupt charakteristisch, und d) nenne
ich als starken Verdachtsgrund, wenn eine Verbalform
,ist, sei, war, wäre" zu sich nehmen kann, um die Existenz
kräftiger auszudrücken, oder um Modi zu bilden, oder um
sich zu einem andern Tempus zu verschieben: magyarisch
e-het-né-m van eig. „mein (-ra) essen (e-) können (-het-) wol-
len (-né-) ist" = „ich wünschte zu essen, ich hätte Hunger",
wofür schon das einfache eJietném ausreichen würde, siehe
462
Misteli.
den Verf. S. 172 Anm., Simonyi, „Grundziige der Bedeu-
tungslehre" (1881 magyar.) S. 22 unten, „Wirkungen der
Analogie vorzüglich in der Wortbildung" (1881 magyar.)
S. 13 oben; adott legyen „er habe gegeben", adott vaia „er
hatte gegeben", siehe diese Zeitschr. XIII 125/6. End-
lich e) bezeugen nominale Auffassung auch Redensarten
wie abban (resp. oly) hiszem-ben vagyok „in diesem (resp.
solchem) Glauben (eig. glaube ich) bin ich", weil hiszem
„ich glaub' es" einem hitem „mein G-laube" gleichzukommen
scheint, siehe Verf. S. 172 Anm. Einige Zweifel kann ich
bei e) freilich nicht unterdrücken; denn Alles, was Simonyi,
auf den sich der Verf. beruft, in seiner Schrift „Grund-
züge der Bedeutungslehre" S. 22 3 derartiges anführt, sind
Sübstantivirungen, die auch bei uns nicht selten vorkommen,
z. B. schweizerisch „der Hätti(ch) und der Wetti (= wollt
ich) sï Brüder gsl", oder Imperative (Pack an, Lebe recht)
als Eigennamen für Tiere und Menschen u. s. w. So citirt
denn auch Simonyi abban a hiszemben volt „in diesem „ich
glaub' es" war er", was vom Obigen stark abweicht, weil
hiszem als unveränderte Phrase in den Satz aufgenommen
wird.
2. Die Modussuffixe, vom Indicativ abgesehen,
sind Deverbalia und erweisen sich mindestens der Form
nach meist als Continuativa und Frequentativa, der nähere
Nachweis würde indessen Berücksichtigung entlegener Glie-
der des Sprachstamms fordern, weshalb ich mich mit einem
Punkte begnüge. Mit dem Zeichen des finn. Potentialis ne
und des magyar. Conditionalis na ne dürfte nicht bloß das
estnische und lappische Verbalsuffix ne zusammen hängen
— der Verf. führt S. 179 an estn. podene „krank werden",
lapp. collane „sich setzen" im Gegensatz zu pode „krank
sein", colla „sitzen" — sondern auch das Suffix der ma-
gyarischen momentanen1 Verben: döbben erschrickt, dobban
1 Symonyi: Die Bildung der magyar, frequentativen und mo-
mentanen Verben, (1881 magyar.) S. 4 u. 38 sq.
Beurteilungen.
463
roppan dröhnt kracht, harsan erschallt, höhlten stutzt, suhan
huscht, toppan stampft u. s. w. Ein Versuch, den Zusam-
menhang der Bedeutung aufzuspüren, dürfte vor der Hand
verfrüht sein; dagegen begreift man, wie der finn. Potentia-
lis als Präsens eines mit ne abgeleiteten Yerbalstammes mit
dem eigentlichen Präsens Hand in Hand geht: anta „er
gibt", cintane „er würde geben", Plur. antavat und antanevat,
wie es auch antelê „er gibt oft", Plur. antelevat heißt. Man
hat nicht nötig, eine Uebertragung des vat vom Präsens auf
den Potentialis anzunehmen, wie ich noch in dieser Zeitschr.
XIII 125 tat, und Formen mit bloßem pluralischen t lassen
sich nicht nachweisen.
3. Selbst die Unterscheidung der Zeitstufen
lässt zu wünschen übrig, nicht etwa beim Participium,
das eigentlich nur Vor-, Mit-, Nachzeitiges auszudrücken
vermag und nun nicht bloß diese relativen Bezüge, sondern
auch adjectivische und nominativische, active und passive
Bedeutung vermischt, sondern gerade beim Verbum finitum,
wofür zwei ziemlich weit reichende Belege oben unter 1.
und 3. gegeben wurden. Es ist das eine natürliche Folge
der nominalen Behandlung. Das Magyarische leidet in
dieser Hinsicht weniger als das Finnische, das nur zwei
einfache Zeiten besitzt — die umschriebenen sind wol
neueren Ursprungs —; denn es verfügt noch über ein
eigenes einfaches Perfect auf t, das der Verf. unter die
isolirten und unklaren Bildungen reihte, das in der Con-
versation das altererbte Präteritum auf á (ê) ebenso ver-
drängt, wie es bei unserm Imperfect stattfindet. Selbst
eine „ganz vereinzelt stehende Futurbildung mit dem Verbal-
snffix ndil 1 existirt, „die hauptsächlich in der ältern Sprache
in Relativsätzen als Futurum exactum auftritt" (S. 174
Anni.), sonst aber schon zu Anfang des 17. Jahrhunderts
in der gewöhnlichen Rede ungebräuchlich war.
Und nun meine der Verfasser nicht, dass alle Zu-
1 Im Besondern vergi. Simonyi ebenda S. 2-5/6.
464
Dr. P. Steintlial.
sätze und Ausführungen, mit denen ich die Besprechung
seiner gehaltvollen Schrift begleitet teils aus eigenem In-
teresse an seinen neuen Erklärungen, teils mit Rücksicht
auf die linguistisch gebildeten Leser dieser Zeitschrift,
gerade zu seiner Belehrung dienen sollen; meine Bespre-
chungen bezwecken nicht bloß einen Begriff vom Buche,
sondern auch von der Sache zu geben, was ich eigens her-
vorhebe. Ich zähle daher auch nicht einige Fehler gegen
den deutschen Sprachgebrauch auf, die dem geborenen Finn-
länder begegneten, sondern will zum Schlüsse lieber über
die reichlichen Literaturnachweise, zu Anfang und bei den
einzelnen Artikeln, aus älteren und neueren Schriften und
Werken, meine Freude aussprechen, weil der deutsche Leser
aus ihnen von dem regen sprachlichen Forschen hoch oben
im Norden eine deutliche Vorstellung gewinnen kann.
Franz Misteli.
Lappiske eventyr og folkesagn ved J. Qvigstod, semi-
narbestyrer og G. Sandberg, sognepraest. Med en ind-
ledning af professor Moltke Moe. Kristiania 1887.
Das vorliegende Buch ist bereits in einer Anzeige der
Zeitschrift Melusine vom 5. Mai kurz besprochen und die
zugehörigen bibliographischen Notizen dort citirt worden.
Wir haben hier eine recht naturgetreue Schilderung der
quasi-historischen Sagen, der mit den Mythen so eng ver-
knüpften Märchen, der religiösen Traditionen und Sitten
des im Allgemeinen weniger bekannten lappischen Volkes
vor uns. Der Seminardirector Qvigstad und der Prediger
Sandberg, die längere Zeit im Lande verweilten, haben
die Sammlung aus dem Lappischen ins Norwegische über-
setzt, ihre Darstellung zeichnet sich durch Kürze, Anschau-
lichkeit und Authenticität aus. Der Kenner norwegischer
Märchen hat der Sammlung eine schätzenswerte Einleitung
vorausgeschickt, auf welche wir die Aufmerksamkeit be-
Beurteilungen.
465
sonders hinlenken möchten, da er in ihr über die Grund-
sätze spricht, nach welchen Märchen wissenschaftlich zu
behandeln sind. Was den Inhalt der Sammlung betrifft,
so heben wir zunächst die Märchen heraus. Sie sind von
zweierlei Art: 1. von historischer Färbung, 2. solche, die
mit dem Volksglauben zusammenhängen. Die ersteren
drehen sich besonders um die Kämpfe, denen das kleine
Grenzvolk der Lappen früher ausgesetzt gewesen, am
meisten von seinen Nachbarn gegen Osten, den sogenann-
ten Tsjuden, einem finnischen Volksstamm, den Jordanes
bereits erwähnt (cf. Poestion, Lappländische Sagen etc.
4. Abteilung. Historische Sagen). Der Name stammt von
Slaven und Scandinaviern; bei diesen ist er jedoch ver-
gessen, während er den Lappen noch heute alle Demüti-
gungen ihres Nationalbewusstseins zurückruft und das Volk
sich noch jetzt vor ihren Einfällen fürchtet. Nur mit
List vermögen sich die Lappen gegen die Angriffe des
ihnen physisch überlegenen Volkes zu wehren, gerade wie
auch in den Stallo-Geschichten der eben erwähnte Held
deu Lappen an Körperkraft überlegen, aber durch ihre
Verschlagenheit überwunden wird. In den historischen
Sagen ist ein hervorragender Held der Wegweiser Lauru-
kasj, finn. Laurekadsj, karel. Larikka, der Urtypus im
Kampf der Lappen, zu dem man bei sibirischen Stämmen
Seitenstücke nachweisen kann. Ein großer Teil dieser
Sagen stammt aus der Zeit des Krieges zwischen Russ-
land und Schwedisch-Finnland wie auch zwischen Schwe-
den und Norwegen-Dänemark im 16. und 17. Jahrhundert,
von denen die Lappen sich vergebens fernhalten wollten.
Merkwürdigerweise halten die Lappen die eben genannten
Feinde für Tsjuden. Derartige Geschichten sind zwar ziem-
lich einförmig, aber sie werden gut erzählt. Freilich haben
sie keine historische Beweiskraft, da sich ererbte Sagen in
die historischen Erinnerungen einmischen. Mehrere dieser
Sagen haben sich zu einzelnen Heldengestalten befestigt
und zu epischen Cyclen abgerundet. Vielleicht haben einige
466
Dr. P. Steinthal.
von diesen Erzählungen früher in metrischer Form existirt,
wenigstens ist z. B. die Geschichte „Stallo wird vom alten
Spjettsje genarrt" (bei Poestion cf. XXXII) bei den Lappen
in alten Metren gefunden worden. Der Ausgang ist in
diesen Geschichten gewöhnlich günstig für die Lappen,
die bisweilen Dank ihrer Zauberkunst über die Tsjuden den
Sieg davon tragen, nachdem sie zuerst vor ihnen sich ge-
flüchtet. Eine große Rolle spielen in diesen Geschichten
die S tall os (cf. Poestion, 3. Abteilung), ursprünglich wol
eine Art • altnordischer Vikinger (worauf schon der Name
„der in Stahl Gekleidete" hinweist). Von verschiedenen
Völkern sind sie zu Rächern auserkoren, oft werden ihnen
Züge von brutalem Kannibalismus zugeschrieben, hin und
wider befleißigen sie sich einer gewissen Ritterlichkeit.
Sie sind nicht hinterlistig wie die Lappen, sondern gehen
oifen vor. Stets bleiben sie kaltblütig und sind Repräsen-
tanten geordneter staatlicher Verhältnisse, unter deren Bot-
mäßigkeit sie die Lappen zu bringen haben. Unter den
finnischen Lappen sieht man sie als übernatürliche Wesen an,
wozu z. B. stimmt, dass sie sich in allerlei Gestalten ver-
wandeln können. Selbst wenn man den Stallo tödtet, wird
man ihn nicht los; es kommt dann ein Zweiter und Dritter,
um den Erschlagenen zu rächen. Was nun die lappische
Religion anbetrifft, von der hier viele Mitteilungen gemacht
werden, so können wir nicht erwarten hiervon völlig klare
Vorstellungen zu gewinnen, da die fortdauernde Berührung
mit dem Christentum jene Anschauungen vielfach verdun-
kelt hat. Letztere berührten sich jedenfalls vielfach mit
dem finnischen Glauben, es lag eine Art Fetischismus
vor, so wurden z. B. der Göttin Akko (finn. Ukko) Steine
errichtet und ihr Essen geopfert. Die Religion hatte einen
brutalen Charakter. Die Götter, d. h. die Steine, Bäume
und Vögel, verehrt man nur zu dem Zwecke, reiche Beute-
in Jagd und Fischfang, diesen Hauptmitteln des Lebens-
unterhaltes der Lappen, zu gewinnen. Die Bäume betete
man so an, dass man in ihren Stamm Löcher bohrte, Kupfer-
Beurteilungen.
467
ringe bineinsetzte, um das Wild an den Baum zu locken
und es an den aufgestellten Schlingen zu fangen. Wenn
diese Ringe von Menschenhand oder vom Winde berührt
■wurden, so läuteten sie und das Wild lief zu diesem Baume
hin. Auch die Märchen verraten ja noch Spuren des Baum-
cultus, vgl. z. B. XI. „Die zwei Geschwister", von welcher Er-
zählung später noch die Rede sein wird. Der Vogelcultus
war ebenfalls sehr im Schwange. Insbesondere wurde das Ge-
schrei der Vögel als Vorzeichen des Unheils aufgefasst. Man
hatte Götzenbilder von Stein oder Holz, sogen, „seider", die
an den verschiedensten Stellen (auf Felsen oder an einem
Flusse etc.) aufgestellt wurden. Unter den Entlehnungen
religiöser Elemente oder mythischer Wesen von den scan-
dinavischen Völkern steht der bei Norwegern und Finnen
so weit verbreitete Todtencultus, der Glaube an die quälen-
den Gespenster, die sogen, dauinger, in erster Linie, der,
wie wir aus XLVIII sehen, noch bis in unser Jahrhundert
hinein in Lappland eine große Rolle gespielt hat.
Während uns nun die lappischen Sagen trotz aller
Entlehnungen doch in das eigene Geistesleben des lap-
pischen Stammes hineinführen, so verhält es sich wesentlich
anders mit den Märchen im engeren Sinne, deren Wert viel-
mehr darin liegt, dass in ihnen die am allgemeinsten vor-
kommenden Stoffe in lappischem Gewände auftreten. Wie
Lang und Gust. Meyer in mehreren Essays ausgeführt habenf
so huldigt auch Moe der Anschauung von einem internatio-
nalen Gemeingut an Märchen, nach welcher weder Sprach-
und Stammverwantschaft noch historischer Contact nötig
sind, um das Vorkommen ähnlicher Geschichten bei ver-
schiedenen Völkern zu erklären. Freilich legt Moe mit
Recht das größte Gewicht auf das Wandern solcher Ge-
schichten oder wenigstens ihrer Grundziige von Volk zu
Volk. Viele Märchen haben die Lappen von überlegenen
Culturvölkern empfangen, besonders von Scandinaviern
(Norwegern), Finnen und Russen. Eine der wahrscheinlich-
sten Entlehnungen aus dem Norden ist das wenig ästhe-
468
Dr. P. Steinthal.
tische Märchen LH „Der König- und die Laus". Wie in
so vielen Märchen erwirbt sich auch hier ein armer Junge
die Hand einer Königstochter. Für die Entlehnung ist die
Schlussformel bezeichnend. Sie lautet — nachdem von einer
Hochzeitsfeier die Eede gewesen —: „So flog der Gast zu
diesem Reiche hin und er hat mir diese Geschichte er-
zählt." Eine derartige Wendung, welche den Erzähler
seinen Zuhörern gegenüberstellt und sie wider in die Welt
der Wirklichkeit versetzen soll, kennzeichnet das Märchen
als aus dem Norden entlehnt, da sie in den nordischen
Märchen sehr geläufig ist, während sie in den specifisch
lappischen Berichten fast unbekannt ist. Von XXI, der
Geschichte vom „Riesenvogel", in welcher die in fast allen
Volksepen vorkommende Episode einer Reise in die Unter-
welt widerkehrt (cf. das Kalevala, die Odyssee etc.), weist
Moe eine dänische, freilich etwas abweichende Variante
nach. Schon die Erwähnung des Trolls (Unterweltskobolds),
der eine Königstochter geraubt hat und sie lange Jahre
unter der Erde festhält, macht Entlehnung von den nor-
dischen Völkern wahrscheinlich. Finnische Entlehnungen
weist Moe, entgegen der Ansicht der Sammler, nach wel-
chen, wegen Erwähnung der Handels wege, Russian d die
Heimat des Märchens sein soll, zunächst in No. XI „Die
zwei Geschwister" nach. Interessant ist es hiermit das
finnische Märchen „Das Mädchen ohne Hände" (bei E.
Schreck No. 12) zu vergleichen. Man sieht hier, dass Gu-
stav Meyers Bemerkung zutrifft, dass die Farben der Mär-
chen bei den Lappen stark verblasst sind. Weit ausgeführ-
ter, weit eingehend motivirter ist die finnische Vorlage als
die lappische Geschichte, die vorkommenden Personen wer-
den in der finnischen Geschichte weit eingehender charak-
terisirt, die Züge inniger zarter Poesie, die das finnische
Märchen aufweist, gehen dem lappischen zum großen Teile
ab. Um diese Ansicht zu begründen, wollen wir den In-
halt des Märchens erzählen und die Varianten hervorheben.
Beide Geschichten beginnen damit, dass das einträchtige
Beurteilungen.
469
Znsammenleben eines Bruders und einer Schwester durch
die Frau, welche der erster e heiratet, gestört wird. In
dem lappischen Märchen wird nun gar nicht erwähnt, dass
der Bruder eine Hexe heiratet. Erst aus dem finnischen
Märchen wird es klar, warum diese einen so argen Groll
auf die Schwester hat; sie mag eben nicht, dass diese das
Haus führt, weil sie selbst die Wirtschaft leiten will. Nun
schiebt die Hexe verschiedene Untaten, die sie selbst be-
gangen, der Schwester ins Gewissen und macht den Bruder
schließlich daran glauben, dass diese die Täterin wäre. In
diesen Untaten variiren nun beide Geschichten ein wenig.
Wir übergehen diese Modifikationen und berichten nach der
lappischen Version, dass die Schwester beschuldigt wird,
den Kuhstall und die Heuscheuer angesteckt und das Kind
ihres Bruders getödtet zu haben. Zur Strafe dafür haut
der Bruder seiner Schwester (nach dem finnischen Märchen
recht sinnig auf den Rat seiner Frau) die Hände ab. Im
finnischen Märchen lässt nun der Bruder die Schwester,
der er die Hände abgehauen, am Strand allein auf einer
wüsten Insel, im lappischen an einem Baum. Trotzdem
verheiratet sich das Mädchen mit einem Königssohn, der
sie, wie ein feiner Zug des finnischen Märchens andeutet,
zuerst im Traume vor sich gesehen hat. Sehr hübsch ist
in dem finnischen Märchen das Gespräch, in welchem der
Prinz das Mädchen überredet, ihm in sein Heim als Gattin
zu folgen. Weder von der Schönheit und Sittsamkeit des
Mädchens noch von der Schwangerschaft des Weibes zur
Zeit, als ihr Mann (der Prinz) auf Reisen geht, weiß das
lappische Märchen etwas. Dieses endet damit, dass die
Unschuld der Schwester an den Tag kommt, dass sie ihre
Hände wider bekommt und die Uebeltäterin ihre verdiente
Strafe erhält. Ganz anders geht das finnische Märchen
weiter. Der Königssohn kommt hier — darin treffen frei-
lich wider beide Versionen zusammen — in das Gehöft
seines Schwagers. In einem Briefe wird ihm die Geburt
seines Sohnes, der von unvergleichlicher Schönheit sei, mit-
Zeitsehrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XVIII. d. 31
470
Dr. P. Steinthal.
geteilt. Wenn wir nicht fürchteten, dass unsere Betrach-
tung zu viel Raum einnehmen würde, so könnten wir bei
noch anderen Märchen eine ebenso detaillirte oder noch
detaillirtere Vergleichung lappischer, finnischer und russi-
scher oder noch anderer Varianten desselben Märchenstoffes
anstellen. Insbesondere ist der Aschenbrödelstoff sehr be-
liebt, nur dass es sich bei den Lappen und Finnen um
einen verachteten Bruder, nicht, wie im Grimmschen Mär-
chen, um eine verachtete Schwester handelt (cf. z. B. XXV
unserer Sammlung „Die drei Brüder" mit dem finnischen
Märchen [8] „Aschenhans", Poestion XXIV „Aschenputtel,
Riese und Teufel", und eine andere Version finn. 5 „Der
Aschenhocker" mit Poestion LIV „Die Tochter des Beive-
königs"). Von Tierfabeln, an denen die Lappen nach Don-
ner (Lieder der Lappen, 1876) sehr reich sein sollen, ist
in der vorliegenden Sammlung nur eine überliefert „Der
Wolf und der Fuchs", sie ist eine Episode des Reinecke-
Cyclus und soll finnischer Herkunft sein. Von XIII
„Glücksvogel" weist Moe russische Abstammung nach. Die
Erwähnung von Handelsreisen, Kaufleuten, Kopeken, lässt
fast mit Notwendigkeit darauf schließen. Viele verwante
Züge begegnen in Grimms Märchen „Von den zwei Brü-
dern", so z. B. im Anfang die Episode von dem Tiere, das
um Schonung bittet und, um sich dankbar zu erweisen,
nützliche Ratschläge erteilt, für welche Cosquin (vergi, da-
gegen Lang, Introduction zu Cupid and Psyche) buddhi-
stischen Ursprung vermuten würde. Die merkwürdigste
russische Entlehnung liegt in XXIII „Die Familie Staerk"
vor, sie erinnert uns — besonders in der Geschichte von
dem als Reiter verkleideten Weibe im ersten Teile — an
die ererbten epischen Dichtungen, welche die Russen „by-
liner" nennen, und welche W. Wollner in seinen „Unter-
suchungen über die Volksepik der Großrussen" behandelt
hat. Interessant ist es hier zu bemerken, dass die lappische
Geschichte aus einem Gusse gemacht zu sein scheint, ob-
schon doch der zweite Teil lochst wahrscheinlich anders-
Beurteilungen.
471
woher — aus Norwegen oder aus Finnland — entliehen
ist als der erste. Wir können hier lernen, dass es falsch
ist das Märchen als Ganzes, als Product der Entlehnung
von anderen Völkern aufzufassen. Vielmehr muss das Mär-
chen — gleichgültig um welches Volk es sich dabei han-
delt — einer nationalen Umschinelzung und Bearbeitung
unterliegen. So wird denn auch hier die geistige Eigen-
tümlichkeit des entleihenden Volkes zum Ausdruck kommen.
Ferner handelt es sich — wie auch Lang in seiner Ein-
leitung zu „Amor und Psyche" ausführt — bei derartigen
Entlehnungen nicht um die Ueberlieferung fertiger Märchen,
sondern um vereinzelte epische Züge, die zum typi-
schen Ausdruck bestimmter Gedanken, Zustände etc. sich
eignen. Eine große Reihe solcher epischen Züge (wie z. B.
von dem armen Jungen, der eine Königstochter heiratet,
von den schweren Aufgaben, die ihm deren Vater stellt und
bei deren Ausführung ihm seine Braut hilft oder nützliche
Ratschläge erteilt, cf. Langs lehrreichen Essay „A far tra-
velled tale" in „Custom and Myth") wandert stetig hin und
her und ist für fast alle Märchenformen gemeinschaftlich.
Solche entliehenen Züge sind nur das rohe Material, das
zu den verschiedensten Bauten umgeformt werden kann.
Außer diesen Elementen handelt es sich aber bei den Mär-
chen noch um ähnliche lose Glieder, Erzählungsmotive,
welche aus der gleichartigen Entwicklung des menschlichen
Geistes zu erklären und als halbversteinerte Ueberlebsel
einer ausgestorbenen mythischen Gedankenschicht aufzu-
zufassen sind. Vor Allem ist hier an die Charakter-
typen des Märchens zu erinnern, an die übernatürlichen
Wesen, die Kobolde (Trolls) und Riesen, welche in den
Märchen aller Völker eine so große Rolle spielen. Wenn
göttliche Wesen auch aus der Religion eines Volkes ge-
schwunden sind, so leben sie doch oft noch im Märchen
fort. Bisweilen treten jedoch hier auch überirdische Wesen
auf, welche noch angebetet werden und an welche noch
geglaubt wird. Das Eindringen fremder Bestandteile ist
3L*
472
Dr. P. Steinthal.
auch hier nicht ausgeschlossen; vielmehr ist nur der Typus
als ererbt zu bezeichnen. In unserer Sammlung- kommen
hier die häufiger widerkehrenden Persönlichkeiten von Nja-
vitsjaedne, Hatsjaedne, Gieddegaesj galgo in Betracht. Die
ersten beiden Gestalten (die Tochter der Sonne und die
Tochter des Mondes) bilden geradezu den Mittelpunkt eines
lappischen Nationalepos, das in einer Art rhythmischer
Prosa geschrieben ist, dann und wann sich za regelrechten
trochäischen Versen erhebt und die erste Entwicklung des
Menschen vom goldnen Zeitalter schildert (cf. die Rudi-
mente dieses Epos bei 0. Donner, „Lieder der Lappen",
der sie in einer Uebersetzung, welche den Eindruck großer
Treue macht, vorführt). Grieddegaesjgalgo ist ein feen-
artiges Wesen, dessen guter Rat häufig gesucht wird und
das der klugen Frau in den norwegischen Märchen ent-
spricht. Bezeichnend ist demnach für die Lappen die nahe
Y er wan tschaft zwischen Epos und Märchen. Der Märchen-
stoff sieht aus, als wenn er epischen Volksdichtungen sich
nähere, die in einer Art rhythmischer Prosa abgefasst sind,
andrerseits haben (nach Fjellner) die lappischen Märchen
und Sagen früher fast immer eine Art metrischer oder
rhythmischer Form gehabt. — Im weiteren Verlauf der
Einleitung geht Moe noch näher auf das allgemein-
menschliche Element des Märchens ein. Aus der Gleich-
artigkeit des menschlichen Geistes ergeben sich, wie er in
Üebereinstimmung mit Lang hervorhebt, auch in den Grund-
zügen der Märchen von Völkern, die in keinem Cultur-
zusammenhange mit einander gestanden haben und die
auch nicht stammverwant sind, wesentliche Uebereinstim-
mungen. Mit Recht hebt Moe die Allgemeingültigkeit ge-
wisser Märchenstoffe hervor, z. B. von einem Helden ge-
ringen Ursprunges, der sich durch Schwierigkeiten aller Art
zu Sieg und Anerkennung emporgearbeitet, die Gunst und
schließlich auch die Hand einer Königstochter erlangt und
zuletzt zu den höchsten Würden emporsteigt (vergi, z. B.
in unserer Sammlung die Geschichten vom Olderholzjungen,
Beurteilungen.
473
vorn Fischerjungen und dem Meermädchen, vom Jüngling,
der fünf Riesen besiegte etc. etc.). So ergeben sich sowol
in den Motiven und Formen als im Materiale der Märchen
hervorstechende Analogien. Um hier jedoch nicht immer
nur allgemeine Betrachtungen weiter zu spinnen, sondern
auch einmal wider an einem Beispiele die Gültigkeit jener
Maximen zu erläutern, möge man mir gestatten den In-
halt der XIV. Geschichte „Die zwei Freunde" zu erzählen,
die unter den Märchen der vorliegenden Sammlung noch
eine der am meisten poetischen Geschichten zu sein scheint.
Wir haben hier eine der häufigen Erzählungen vom Auf-
enthalte Sterblicher in der Unterwelt vor uns, unwill-
kürlich werden wir an die bei den Griechen so hervor-
tretenden Geschichten berühmter Freundespaare, wie be-
sonders an die Dioskurensage erinnert, während die
Scenerie an einer Stelle die Verwantschaft mit der Kyff-
häuser-Geschichte als naheliegende Idee in uns wachruft.
Zwei junge Leute versprechen weder im Leben noch im
Tode sich zu trennen; als der Eine gestorben war, wollte
der Andere heiraten und erinnerte sich während der Hoch-
zeit seines Freundes. Um ihn zur Hochzeit einzuladen,
geht er fort, klopft mit dem Schuh auf die Decke über
dem Grabe seines Freundes und ruft ihn aus dem Grabe
heraus. Dieser kommt auch heraus, bleibt jedoch vor der
Tür des Hoclizeitshauses stehen; denn er will nichts ge-
nießen, was Andere im Munde gehabt haben (cf. ähnliche
Ideen bei Lang, Cupid and Psyche, Introd. S. XXXV),
sondern nur aus einer Kreidepfeife rauchen. Uebrigens
war der Gast für alle Hochzeitsgäste unsichtbar. (Häufige
Märchenepisode, zu der ich wol keine Analogien anzuführen
brauche.) Er verlangt hierauf zurückzugehen, denn er
müsse Koch bei einer Hochzeit in der Unterwelt sein. Der
Bräutigam steigt mit ihm in die Gruft und beide kommen
in ein Zimmer mit vielen Lichtern auf dem Tisch. Beide
gehen dann ins Hochzeitshaus und treten dort an einen
runden Tisch mit zwölf Lichtern heran, wo viel getanzt
474
Dr. P. Steinthal.
wurde. Der Gast fragt sodann nach der Erlaubnis um den
Tisch zu tanzen, diese wird ihm gewährt und er vergisst
dabei trotz der Warnungen des Küchenmeisters seine
Braut und seine Gäste und tanzt öfters herum. Schließ-
lich schiebt ihn der Freund aus dem Hause. Als er auf
die Oberwelt kommt, findet er seine Heimat ganz verän-
dert, an Stelle einer neuen eine verfallene alte Kirche etc.
Ein altes Weib sagt ihm, vor 250 Jahren sei ein Bräuti-
gam bei der Hochzeit verschwunden. In der vorliegenden
Geschichte scheint es — um Moes Gedankengang weiter
zu verfolgen — demnach z. B. nicht notwendig Entleh-
nung oder wenigstens Entlehnung der ganzen Geschichte
von anderen Völkern anzunehmen. Freilich besteht ein
historischer Zusammenhang der Märchentraditionen ver-
schiedener Völker auch da, wo er sich nicht nachweisen
lässt. Aber es sind dann weniger die ganzen Märchen als
gewisse Züge und Episoden, welche entlehnt sind. Solchen
Untersuchungen muss daher zunächst eine Auflösung der
Märchen in ihre epischen Elemente voraufgehen (cf. Stein-
thal, Zeitschr. f. Völkerpsych. Bd. XVII, S. 133). So er-
gibt sich denn, dass zur Erklärung übereinstimmender
Traditionen verschiedener Völker gewöhnlich mehrere
Principien verwandt werden müssen, dass hier Ererbtes
und Entlehntes wie auch selbständig Erfundenes mit ein-
ander verschmilzt. Eine genaue Unterscheidung aller dieser
verschiedenartigen Elemente ist sehr schwierig und nach
dem jetzigen Stand der Wissenschaft häufig unmöglich.
Zunächst hat man die Untersuchung auf die Völker ein-
zuschränken, welche in historischer Verbindung gestanden
haben oder noch stehen. Bei den Lappen sind dies die
Nordländer, Finnen und Russen. Aber die Stärke dieser
verschiedenen Einflüsse ist bei weitem nicht gleich. Wie
der Einfluss der nordischen oder anderer germanischer
Sprachen auf die westfinnische Sprache bei weitem größer
als der der Russen ist, so ist auch in die lappische Mär-
chenmasse bei weitem mehr Sc andina visches als Russi-
Beurteilungen.
475
sclies eingedrungen. Auch finnische Einwirkungen sind
natürlich zu constatiren. Daher sind vergleichende Unter-
suchungen sowol der nordischen und der lappischen Tradi-
tion als der Ueberlieferung der Lappen und anderer finni-
scher Stammverwanten wichtige Desiderate.
P. Steinthal.
Armenische Bibliothek. Herausgegeben von Abgar
Joannissiany. IV. Märchen und Sagen. Mit einer
Einleitung von G-rikor Chalatianz. Leipzig, W.
Friedrich. 147 S. u. XXXVII.
Die kleine Schrift, welche aus einer nach den Kate-
gorien „Versteinerungen und Zauberschlaf ", „• Zauber-
schlangen und Drachen'', „die De wen", „die goldene Wun-
dernaclitigali", „über Verwandlungen", „über Hexen und
Zaubereien" geordneten Einleitung, einer Sammlung von
Märchen, dem armenischen Volksepos „David von Sassun"
und einer Auswahl von Sprichwörtern besteht (S. 135 f.),
enthält viel allgemein Interessantes. Wolbekannte Märchen
erscheinen hier wieder, zuweilen (S. 6—7) mehrere in
eins verschmolzen, ausgestattet mit allen den wunderbaren
Zügen, die z. B. in den Kategorien der Einleitung be-
zeichnet sind. Verweisungen auf nicht-armenisches Märchen-
gut sind wiederholt in den Anmerkungen gegeben.
Mancherlei von diesen Märchen wird sogar von jenem
Volke nicht eigentlich als Märchen empfunden, sondern als
täglich sich erneuernde Wirklichkeit. So der Kampf zwi-
schen Licht und Finsternis, der seit Adams Zeiten jeden
Tag geführt wird (XXXIII). Eine Tatsache dieser Art
scheint mir dagegen zu sprechen, dass die Mythologie (wie
Max Müller und mancher mit ihm will) aus Missverständ-
nis der Sprache entsprungen sei. Vielmehr muss ihr Ur-
sprung in der Anschauung gesucht werden, welche durch
Geisterglauben gedeutet wurde.
476
Bruchmann.
Einige Einzelheiten seien hier erwähnt. Auch die
Armenier hatten eine Vorstellung voin Sitz der Sonne, wie
sie uns anderweit begegnet. Psalm 19, 5 ist die Rede
yon der Hütte der Sonne, die Morgenröte hat ihren Ort,
Hiob 38, 12; s. außerdem Herder, vom Geist der ebräischen
Poesie, Werke ed. Suplían XI, 273; Edda v. Simrock (sie-
bente Aufl.) S. 254; Eig-Veda übers, yon A. Ludwig, I,
No. 375, 5 am festen Orte ist das Licht niedergesetzt und
sonst; Ossian v. Ahlwardt III, 91 Sein Zelt der Ruh' ist
im West, II 274; bei einem russischen Bauern endlich fand
diese Vorstellung vor wenigen Jahren der berühmte Maler
und Reisende Wereschagin.
In unsrer Schrift findet sich eine entschiedene Vorliebe
für die Zahlen 7 und 40. An verwante Vorstellungen
erinnern die Worte S. 46 f. „ach, erwiderte sie, ich schweige
immer, aber ich habe Vater und Mutter, mir ist bange nach
ihnen. Mich hat ja doch kein Stein geboren, ich bin ja
doch nicht auf dem Baume zur Welt gekommen (vgl. diese
Ztschr. XI S. 1.17, 118, 5. Mos. 32, ]8, Spiegel, Eranische
Altertumskunde I, 1871, S. 473).
Als Schluss eines Märchens finden wir (S. 10. 20. 51.
63. 132) „vom Himmel fielen drei Aepfel herab," was da-
hin erläutert wird, einer für den Erzähler, der zweite für
den, der ihn erzählen ließ, der dritte für den Zuhörer, oder
auch der dritte für die ganze Welt. Die Bedeutung dieser
Redensart ist mir nicht klar.
Das Volksepos (bereits mit dem Gegensatz von Christen-
tum und Heidentum) zeigt uns in seinem Helden David
eine gewaltige Gestalt und überhaupt kraftvolle Züge. Ein
Vater wird sieben Ellen in die Erde geschlagen (vgl- auch
S. 112). David stößt mit der großen Zehe an einen Kiesel-
stein, dass die Funken sprühen. Bäume werden mit der
Wurzel ausgerissen. Dem Schibikan von Chorassan hängen
die Augenbrauen bis auf die Brust herab und er hat sie
um den Rücken gebunden. Ein andrer Riese hat eine so
lange Unterlippe, dass sie bis zur Erde herabhängt und
Beurteilungen.
477
den Boden fegt. Die Zungen, die aus den am Sattel be-
festigten Köpfen der erschlagenen Riesen herabhängen,
furchen die Erde wie ein Pflug. Auch Davids Kind hat
Wunderkraft. Der Junge liegt in den Windeln, ist aber
anstatt der Windelbänder mit einer Pflugkette umwickelt.
Als er zu weinen anfängt und sich in der Wiege rührt,
zerspringt die Kette in mehrere Stücke. Davids Gattin
Chandud-Chanum stürzt sich vom Turm herab; ihr Kopf
schlägt ein Loch in den Stein. Die Art Jemanden zu töten,
indem er von zwei emporschnellenden Bäumen, an die er
gebunden ist, zerrissen wird, finden wir auch S. 130.
Aus den trefflichen Sprichwörtern einige Proben. Erst
wer lesen kann, ist ein Mensch. Im Traume sieht der
Hungrige Brot, der Durstige Wasser. Wer Geld hat, hat
keinen Verstand, wer Verstand hat, hat kein Geld. Was
kümmert es den Blinden, dass das Licht teuer wird? Wer
die Wahrheit spricht, muss einen Fuß im Steigbügel haben.
Der Zornige wird bald alt, Der Esel kennt sieben Weisen
zu schwimmen; sieht er aber das Wasser, so vergisst er
alle. Koche erst das Wort im Munde, ehe du es heraus
lässest. WTäre ein Bruder wirklich etwas Gutes, so hätte
der liebe Gott auch einen. Den Kummer des Armen ver-
steht nur der Arme. Wenn ich Honig habe, kommt die
Fliege selbst aus Bagdad. Somit sei die Schrift allseitig
empfohlen. K. B r u c li in a n n.
TERMS
USED IN TALKING TO DOMESTIC ANIMALS,
In Controlling the movements of domestic animals by the voice,
besides words of ordinary import, man uses a variety of peculiar terms,
calls and inarticulate sounds — not to include whistling — which
vary in different localities. In driving yoked cattle and harnessed
horses teamsters cry "get up;" "click click" (tongue against teeth),
"gee," "haw," "whoa," "whoosh," "back," etc., in English-speaking
countries; "arre," "arri," "jüh," „gio," etc., in European countries.
478
In the United States "gee" directs the animals away from the
driver, hence to the right. In Virginia mule-drivers gee the animals
with the cry "hep-yee-ee-a in Norfolk, Lngland, " whoosh-wo in
France, "hue" and "huhaut;" in Germany "hott" and "hotte"; in
some parts of Russia "haitä," serve the same purpose. To direct
animals to the left another series of terms is used.
In calling cattle in the field the following cries are used in the
localities given : "boss, boss" (Conn.) ; "sake," "sake" (Conn.) ; "coo,
coo" (Va); "sook, sook," also "sookey" (Md.); "sookow" (Ala.);
"tloñ, tloñ" (Russia); and for calling horses, "kope, kope" (Md.
and Ala.); for calling sheep, "konanny" (Md.); for calling hogs
"chee-oo-oo" (Va.).
The undersigned is desirous of collecting words and expressions
(oaths excepted) used in addressing domesticated animals in all parts
of the United States and in foreign lands.
In particular he seeks information as to :
(1) The terms used to start, hasten, haw, gee, back and stop
horses, oxen, camels and other animals in harness.
(2) Terms used for calling in the field : cattle, horses, mules,
asses, camels, sheep, goats, swine, poultry, and other animals.
(3) Exclamations used in driving from the person, domestic
animals.
(4) Any expressions and inarticulate sounds used in addressing
domestic animals for any purpose whatever (dogs and cats).
(5) References to information in works of travel and general
literature will be very welcome.
Persons willing to collect and forward the above mentioned data
will confer great obligations on the writer ; he is already indebted
to many correspondents for kind replies to his appeal for the Coun-
ting-out Rhymes of Children, the results of which have been published
in a volume with that title. (Elliot Stock, London.)
To indicate the value of vowels in English please use the vowels-
signs of Webster's Unabridged, and in cases of difficulty spell
phonetically.
All correspondence will be gratefully received, and materials
used will be credited to the contributors.
Adress,
Professor H. CARRINGTON BOLTON,
university club
New York City.
U. S. A.
An den Leser.
479
An den Leser.
Die Leitung der Zeitschrift für Völkerpsychologie ist
stets bemüht gewesen, das ganze Gebiet, dessen Bearbei-
tung sie sich gestellt hat, auch voll und ganz zu umfassen.
Es konnte nicht ausbleiben, dass einige Felder — wir
haben hier vorzugsweise die Völkerkunde, dann aber auch
in gewisser Hinsicht die Mythologie im Auge — welche
seiner Zeit, als unsere Zeitschrift ins Leben trat, kaum
unter den Pflug genommen waren und nur geringen Er-
trag, noch dazu häufig von zweifelhafter Güte, boten, im
Laufe der Jahre durch die sorgfältige Pflege, welche man
ihnen angedeihen ließ, in ihrer Ertragsfähigkeit außer-
ordentlich gehoben wurden, so dass sie sich jetzt dem
besten Boden an die Seite stellen dürfen. Soll nun das
weite Gebiet trotzdem auf allen seinen Teilen weiterhin
gleichmäßig bearbeitet werden, so ist ein Zuschuss von
Arbeitskraft nötig. Es lag daran, diesen zu gewinnen,
und es haben sich in freundlicher Weise die berufensten
Vertreter der Volkskunde und Mythologie zur Verfügung
gestellt, um Hülfe zu leisten, dass die Zeitschrift für
Völkerpsychologie auch auf diesen Specialgebieten ein Cen-
tralisationspunkt gelehrter Forschung sein werde. Wir
nennen u. a. Männer wie: A. Bastian, C. P. Caspari,
L. Freytag, A. Herrmann, F. S. Kraus, H. E. Meier,
A. Meitzen, F. W. L. Schwartz, R. Virchow, R. Wein-
hold und J. V. Zingerle. Als Redactor für diesen volks-
kundlich-mythologischen Teil der Zeitschrift ist von uns
Herr Ulrich Jahn-Berlin gewonnen worden.
Wir werden demgemäß mit dem Erscheinen der näch-
sten Nummer, d. h. von Neujahr 1889 an, ständig einen
erheblichen Bruchteil unserer Zeitschrift den Disciplinen
der Volkskunde und Mythologie widmen. Dort werde
480
An den Leser.
Aufsätze volkskundlichen und mythologischen Inhalts zum
Abdruck gelangen, und jede Einsendung, durch welche der
Wissenschaft eine Förderung erwächst und die zugleich
von eigener Geistesarbeit des Verfassers zeugt, darf auf
Berücksichtigung rechnen; Arbeiten dagegen, welche ledig-
lich Stoffsammlungen sind, können trotz des hohen Wertes,
welchen sie als archivalisches Material fiir den Forscher
haben, nicht publicirt werden. Sie können nur durch das
Massenhafte der beigebrachten Belege wirken, und um
so umfangreiche Werke aufzunehmen, fehlt uns der Raum.
Um so mehr werden wir uns angelegen sein lassen, alle
bedeutenderen Sammlungen von Sagen, Märchen, Sitten,
Bräuchen u. s. w., sowie überhaupt alle wichtigen neuen
Erscheinungen auf dem Gebiete der Volkskunde und Mytho-
logie unseren Lesern in streng sachlichen Besprechungen
vorzuführen und sie so auf der Höhe der einschlägigen
Litteratur zu erhalten.
Damit Weitläufigkeiten tunlichst vermieden werden,
sei schließlich die Bitte vorgebracht, etwaige Einsendungen
nach ihrem jeweiligen Inhalt scheiden zu wollen und die-
selben, wenn sie volkskundlich oder mythologisch sind, an
Herrn Dr. U. Jahn, Berlin, N. W., Perlebergerstr. 32 zu
senden, dagegen, wenn sie sich auf einem der andren
völkerpsychologischen Gebiete bewegen, direkt an meine
Adresse zu richten.
Berlin, W., Schöneberger Ufer 42.
Prof. S teint hai.
Druck von Emil Herrmann senior, Leipzig.
^llllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllHlllllllllllllllllll'lllillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllj;
I Neuester Verlag von Ferdinand Schöningh in Paderborn und Münster. =
I Geschichte der griechischen Farbenlehre. I
= Das Farbenunterscheidungsvermögen. — Die Farbenbezeichnungen =
der griechischen Epiker von Homer bis Quintus Smyrnäus. =
I Yon Edm. Veckenstedt, Dr. phil. §
216 Seiten, gr. 8. broch. 3 Mark 80 Pfennig.
äiiiiiiiiiiiiimiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiimiHiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiE
Verlag der K. R. Hofbuchhandlung von Wilhelm Friedrich in Leipzig.
Alexander Petöfi's Leben und Werke.
Mit einer Einleitung:
Die Epochen der ungarischen Cultur
von Alexander Fischer.
Beste Ausstattung, gr. 8°. Mit Porträts, Facsimiles etc. Preis eleg. broch. M. 10.—
Der Standpunkt, von welchem der Literarhistoriker Alexander Fischer ausging-,
war, nicht nur ein Lebensbild Petöfi's und seiner Zeit zu liefern, sondern die Literatur-
geschichte zur Cultur- und Sittengeschichte zu erweitern, wie dies Johannes Scherr in
seinem monumentalen Werk über Schiller gethan.
Man wird in diesem Werk vor allem Petöfi als Menschen kennen lernen, dann lässt
Fischer vor unsern Augen den Dichter und die Dichtungen entstehen. So verknüpft er,
unierhaltend und im hohen Grade belehrend zugleich das Litterarische mit dem Persönlichen
und zeigt, weshalb und wodurch Petöfi das geworden, was er der ungarischen Nation ist. Im
Grossen und Ganzen wird der Leser in diesem Werke ein sorgfältig ausgeführtes, farben-
frisches Gemälde von Petöfi als Menschen und Poeten empfangen, das auch literarhistorischen
und zeitgeschichtlichen Werth besitzt. Das beigefügte hochinteressante Handschreiben Petöfi's
in Facsimilet.ruck (eine in deutscher Sprache geschriebene Autobiographie),
ein wohlgelungenes Porträt in Heliogravure und einige Handzeichnungen Petöfi's, das Porträt
von Petöfi's Frau mit Facsimile, ein 1848er Revolutions-Programm etc. sind werthvolle und
interessante Beigaben.
Wissenschaft des Weltgedankens.
System einer neuen Metaphysik
von Dr. J. Rülf.
in gr. 8°. Preis broch. M. 8.—
Ein Werk, nach Form und Inhalt völlig neu und von grosser epochemachender Be-
deutung. Pas eine Mal vom Dinge, das andere Mal vom Begriffe ausgehend, entwickelt
der Verfasser zwei völlig analoge und conforme Lehrgebäude, "die neben einander aufragen
und zu einander sich stellen und verhalten, wie — um mit dem Verfasser zu reden — die
beiden Thürme am Portale des gothischen Doms. Mittelst einer ganz eigenthümlichen Me-
thode, der Verfasser nennt sie die genetische, welche Schicht aufbauet auf Schicht, Stufe
auf Stufe, Stockwerk auf Stockwerk, werden wir'ganz allmählich geführt und mitgehoben bis
zum höchsten allumfassenden Begriffe, welcher auf der einen Seite uns die Totalität des
Weltçedankens, anf der andern Seite die Totalität der G e d an k e n w elt zum adäquatesten
Ausdrucke zu bringen versteht. Die Diction ist eine äusserst lebendige, verständliche und
anregende. Dem Werke wohnen alle Bedingungen inne, welche geeignet sind, die lebhafteste
Sensation in der gebildeten Welt wachzurufen.
Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn in Braunschweig.
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.)
Soeben erschien:
Didaktik
als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Socialforschung und zur Geschichte
der Bildung dargestellt von
Otto Willmann.
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arbeit. — Das Bildungswesen, gr. 8. geh.
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=====^-
Verlag von Friedrich Vieweg <5c Sohn in Braunschweig.
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Physiologie des Geschmacks
oder physiologische Anleitung zum Studium der Tafelgenüsse.
Den Pariser Gastronomen gewidmet von Einem Professor,
Mitglied vieler gelehrten Gesellschaften.
Yon Brillât-Savarin.
Uebersetzt und mit Anmerkungen versehen von
Carl Vogt.
Fünfte Auflage 8. geh. Preis 3 Mark.
y. S, L
. 4 Juti 1966
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^.Yr'
Universitätsbibliothek der HU Berlin
00001100061097
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Achtzehnter Band.
130 140
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K. R, Hofbuchh
1888.
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