Zur homerischen Frage .
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verschließen . Gewiss ist in Fragen der Poesie die Aesthetik die höchste Richterin . Doch nichts ist auch seltener als ein sicheres ästhetisches Urteil , und auf keinem andern Gebiete erleidet der selbstbewusste menschliche Verstand so leicht und kläglich Schiffbruch . Gerade an den suchungen über die Homerischen Gedichte zeigt sich diese Gefahr am augenfälligsten . Wenn selbst Männer von höchster Urteilskraft dennoch in ästhetischen Dingen so straucheln können wie beispielsweise Lachmann nach Wolfs Vorgang in der rücksichtslosen Verurteilung des ganzen letzten Vier teils der Ilias , so wird man gut tun , sich solche Fälle zum warnenden Beispiele dienen zu lassen .
Dazu kommt in diesem Falle noch Eins . Ein lich volles Gefühl für das Schöne in einem Kunstwerk wird nur der erringen , der sich dem Zauber desselben rückhaltlos mit seinem ganzen Denken und Empfinden hingibt . Kritik und Phantasie sind zwar keineswegs sätze ; aber sehr leicht kommt doch die eine bei starkem Hervortreten der andern zu kurz . Werfe ich mich zum Richter über eine Sache auf' , so laufe ich immer Gefahr , mich selbst zu hoch und die Sache zu tief zu stellen . Das trifft in gleicher Weise für das ästhetische , wie für das ethische Gebiet zu . Alles wahrhaft Große uud Schöne verlangt eine gewisse Selbstentsagung , ein demütiges Herantreten des Menschen , wenn er es sich ganz zu eigen machen will . Wie man nur die Vorzüge einer Person , die man liebt , ganz und voll zu schätzen vermag , so wird man auch ein Kunstwerk nur , wenn man sich ihm in wahrer , warmer Begeisterung hingibt , ganz würdigen und verstehen lernen . Das schließt in beiden Fällen die Kritik nicht aus . Rechte Bewunderung und Liebe haben beide mit törichter Vergötterung nichts gemein . Ich brauche bei aller Bewunderung so wenig blind gegen die Mängel eines Kunstwerks zu sein , wie gegen die Fehler und brechen des mit innigster Liebe umfangenen Menschen . Aber der ganze Gesichtspunkt der Beurteilung ist doch