Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft
Herausgegeben
von
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Neunzehnter Band.
Leipzig,
Verlag von Wilhelm Friedrich,
K. K. Hofbuchhändler,
1889.
LA 1W- /i£j
F
Inhalts-Verzeichnis.
___
Erstes Heft.
Seit«
Zur homerischen Frage. Von Louis Erhardt.....1—40
1) Rückblick auf die seitherige Entwicklung der
Ansichten über Homer und das Epos 1—25. Wolf.
Lachmann 5. Vico 11. Herder 13. Fr. Schlegel
und Jac. Grimm 15. G. Curtius 20. Niese 22.
Steinthal 23. 2) Ilias A. 26 f. Handlung und
Widerspruch 27. Chrysefahrt 28. Troer und
Griechen 32. Entwicklung von A 36.
Die Rede. Von Karl Schulz...........41—65
1) Die Macht des Gottesgedankens in der Geschichte
der Menschheit. Mensch und Volk 43. Evolution
46. Philosophie 50. Das Sittliche 56. Ge-
schichte 60.
Die melkenden Götter bei den Indogermanen. Von W.
Schwartz....................66—77
Mythos und Metapher 66. Stufen derselben 67.
Melken 69. Gewitterwolke 70. Hexen 74.
Zur Legende von Robert dem Teufel. Von K. Borinski . 77—87
Geschichte der Legende 77. Roberts Geburt 79, sein
Character 82. Normannen 84.
Beurteilungen.
1) W. Scher er, Poetik. Von H. Steinthal . . . 87—97'
National-ökonomische Poetik 88. Wesen der
Poesie 90. Lyrik 91. Wert der Poesie 92.
Phantasie 93. Dichter 94. Stoffe 95. Formen
der Darstellung 96. Composition 97.
1
IV
2) Victor Vossel, Yolksmedicin und medici-
nischer Aberglaube in Steiermark,
3) M. Höfler, Yolksmedicin und Aberglaube in
Oberbayerns G egenwart und Vergangenheit.
Von U. Jahn.............
Inhalt 98. Einzelnes 99.
4) Alois Menghin, Aus dem deutschen Süd-
tirol,
5) Fridolin Plant, Berg-, Burg- und Talfahrten
bei Mer an und Bozen,
6) D. Gern peler, Sagen und Sagengeschichten
aus dem Simmental,
7) Karl Eduard Haase, Volkstümliches aus der
Grafschaft Ruppin und Umgegend,
8) Ludwig Grabinski, Die Sagen, der Aber-
glaube und abergläubische Sitten in Schlesien.
Von Ulrich Jahn.
9) Ap. S. Famincyn, Gottheiten der alten Slaven.
Von Fr. Krejci............
Die Slaven 107. Zweck des Verfassers 108.
Fehler 110. Falsche Vergleichung von Na-
men 112.
Zweites und drittes Heft.
Bas charakteristische Merkmal der Yolkspoesie. Von
Fr. Krejöi ..............115—141
Mechanisches Denken 116. Logik und Reife 117.
Czecho-Slaven 118. Der Volkscharakter 121.
Gleichnis 123. Homer 124. Slavisches 129.
Unlogische Darstellung 133. Poetische Form
139. Personification 140.
Die Rede. Von Karl Schulz...........141—164
2) Der Bann der Gedankenlosigkeit. Beweis für
das Dasein Gottes 142. Denken und Zufall 147.
Entwicklung 152. Idee 154. Bedürfnis des
Menschen 162.
Zur Würdigung 0. Th. Fechners. Von Ths. Achelis . 164—192
Psychologische Grundlage des Systems 165. Em-
pfindung 166. Nerven 167. Instinct 169. Licht
und Pflanze 171. Weltbewusstsein 174. Materie
175. Psychophysik 176. Gott 177. Bewusstes
Seite
98—101
101—107
107-114
und Bewusstloses 180. Synechologie 181. Atome
182. Glaube 183. Princip der Stabilität 184.
Hedonik 187. Aesthetik 189.
Die Mundart der westfälischen Zigeuner. Von R. v.
Sowa . . ............. 192—203
1) Vokalismus 194. 2) Consonantismus 197. 3) Be-
tonung 200. 4) Bemerkungen zur Formen- und
Satzlehre 201. 5) Sprachprobe 202.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. Nebst
Bemerkungen zum Schwerttanz. Von F. Arnold
Mayer............... 204—263
Text 205. Literarisches Material 223. Textver-
gleichungen 228. Sprachliche und sachliche Er-
läuterungen 235. Mythologie 256.
Kalendarium der oberbayerischen Kultzeiten. Von Dr.
med. Max Höfler........... 264—275
Bedeutsame Tage 264. Die einzelnen Monate 266.
Gleichnisse und Metaphern im Rig-Yeda in kultur-
historischer Hinsicht zusammengestellt und
verglichen mit den Bildern bei Homer, He-
siod, Aeschylus, Sophokles und Euripides.
Von Arnold Hirzel........... 276—313
Sprache und Kulturgeschichte 277. Die Inder 278,
dagegen die Griechen 280. Vedische Technik
282. Literatur 283. 1 ) Die Götterwelt 285.
Ergebnis 303. 2) Die mythisch-historische Welt
304. Ergebnis 311. Homer 312.
Beurteilungen.
1) R. Kleinpaul, Sprache ohne Worte. Idee
einer allgemeinen Wissenschaft der Sprache.
Von K. Bruchmann..........314—318
Inhalt 314. Einzelheiten 316. „Mehr Licht"
317. Eindruck des Buchs 318.
2) Karl Lange, Ueber Apperception. Von K.
Bruchmann........... . , 318—323
Inhalt 319. Rousseau und Fröbel 321. Bil-
dung 322.
3) V. Henry, Kalidasa, Agnimitra et Malavika.
Von K. Bruchmann .......... 324—326
Arbeiten von H. 324. Das Drama 325. Les
infinitifs latins 326.
YI
4) H. v. Eicken, Geschichte und System der
mittelalterlichen Weltanschauung. Von Rud.
Lehmann . ............
Stellung des Verfassers 327. Methode 328.
Inhalt 329. Nötige Ergänzung der Unter-
suchungen 333.
Nachricht über das Museum für deutsche Volks-
trachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes zu
Berlin. Von U. Jahn.........
Die Gesellschaft für die Völkerkunde Ungarns.
Von U. Jahn.............
Viertem Heft.
Gleichnisse und Metaphern im Rig-Teda verglichen
mit den Bildern bei Homer, Hesiod, Aeschy-
lus, Sophokles und Eurípides. Von Arnold
Hirzel............... 347-415
3) Der Mensch 347 f. a) Körperteile ; Kopf, Haar,
Antlitz, Auge, Ohr, Nase, Wange, Mund, Lip-
pen, Zunge, Kiefer, Zähne, Bart, Glied und
Gelenk, Arm, Hand, Finger, Brust, Schoß,
Nabel, Hüfte, Rücken, Schenkel, Fuß; Schweiß-
tropfen 362. b) Altersstufen 364 f. Zeugung
und Geburt, das Kind, Wachstum (Tag und
Nacht), Jüngling und Jungfrau, Heirat und
Verwantes, Mann, Frau, Witwe; Alter und
Tod. c) Verwantschaft 377 f. Gatte und Gat-
tin, Eltern, Sohn, Tochter, Bruder, Schwester,
Eidam, d) Vernunft 387 f. Sprecher, Geist,
e) Seelenleben 390. Wolwollen, Liebe, Frömmig-
keit, Freude, Furcht, f) Körperliche Tätig-
keit 391. g) Bewegung 392. h) Bedürfnisse
des Menschen 393 f. Speise und Trank, Ge-
räte, Schlaf, Bad, Kleidung, Schmuck, Farbe,
i) Krankheit, Unglück 401. k) Verkehr 402 f.
Bote und Freundschaft, Gast. 1) Besitz, Reich-
tum 406. m) Verbrecherwelt 408. 4) Das
Haus 409 f. Brunnen 415.
Seite
327—334
334—343
343-346
VII
Seite
Ein deutsches Scliwerttanzspiel aus Ungarn. (Nach-
trag.) Von F. Arnold Mayer.......416—433
1) Ein böhmischer Schwerttanz 416. Reden dabei
418 f. 2) Mythologie 425. Erntebräuche 427.
3) Einzelne Bemerkungen, Vegetations - Dä-
mon 431.
Beurteilungen.
1) Dr. Kurt Bruchmann, Psychologische Stu-
dien zur Sprachgeschichte. Von Carl Theodor
Michaëlis.............. 434—444
Grundgedanke des Buches; seine Gliederung.
Teilnahme der Natur im alten Testament;
Nachahmung. Mythologie, stella maris. Form
und Formel. Gefühl und Sprache. Apper-
ception und kleinstes Kraftmaß. Die Ana-
logie, Beispiele. Psychophysik. Urteil und
Kritik; die Anschauung. Erweiterung der
Aufgabe; die Phantasie.
2) Dr. Friedrich Polle, Wie denkt das Volk
über die Sprache? Von H. Steinthal .... 445—448
3) Arthur Seidl, Zur Geschichte des Erhaben-
heitsbegriffes seit Kant. Von H. Steinthal . . 448—453
Stoff des Verfassers. Herder, Kant, Goethe,
Carrière. Vier Merkmale des Erhabenen ;
es ist auch schön. Die Bibel.
Anzeige über Preisherabsetzung von Dr. San-
ders Ergänzungswörterbuch der deutschen
Sprache...............453
Zeitschrift
für
Völkerpsychologie
und
Sprachwissenschaft.
Herausgegeben
von
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Neunzehnter Band. Erstes Heft.
Zur homerischen Frage. VonLouisErhardt.
Die Rede, (ratio. Xôyoç.) Von Karl Schultz.
Die melkenden Götter bei den Indogermanen.
Von Director W. Schwartz.
Zur Legende von Robert dem Teufel. Von
Karl Borinski.
Beurteilungen:
Wilhelm Scherer, Poetik. Von Steinthal.
Victor Fossel, Volksmedicin und medicini-
scher Aberglaube in Steiermark. Von Ul-
rich Jahn.
M. Höfler, Volksmedicin und Aberglauben
in Oberbayerns Gegenwart und Vergangen-
heit. Von Ulrich Jahn
INHALT:
Alois Merghin, Aus dem deutschen Südtirol.
Von Ulrich Jahn.
Fridolin Plant, Berg-, Burg-und Thalfahrten
bei Meran und Bozen. Von Ulrich Jahn.
D. Gkmpelêr, Sagen und Sagengeschichten
aus dem Simmental. Von Ulrich Jahn.
Karl Eduard Haase , Volkstümliches aus
der Grafschaft Ruppin und Umgegend.
Von Ulrich Jahn.
Ludwig Grabinski, Die Sagen, der Aber-
glaube und abergläubische Sitten in Schle-
sien. Von Ulrich Jahn.
Ap.S.Famincyn, Gottheiten der alten Slaven,
Von Fr. Kr ei ei-
Diesem lieft liegt ein Prospekt von August Hettler in Leipzig über die
„Zeitschrift für Volkskunde" und ein solcher von Wilhelm Friedrich in
Leipzig über „Ed. v. Hartmanns sämmtliche Werke" bei.
LEIPZIG
Verlag von Wilhelm Friedrich,
K. R. H o f b u c h h ä n d 1 e r.
1889.
______R. Gaertner's Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW.
Die Sprache und das Erkennen
von Gustav Gerber.
gr. 8. VIII und 336 Seiten.
Preis 8 Mark.
„Ein hocbbedeutsames Werk, welches kein Sprachforscher oder
Philosoph wird unbeachtet lassen dürfen."
(Zeitschrift f. d. österr. Gymnasien.)
Vollständig liegt jetzt vor:
Die Sprache als Kunst
von Gustav Gerber.
1 2. neubearbeitete Auflage. ■—
2 Bände. 20 Mark.
Die Philologische Rundschau" empfiehlt das Werk „nachdrücklichst"
und bezeichnet es als „eine ganze encyklopädische Bibliothek im besten
Sinne des Wortes, in gedrängter, die Deutlichkeit aber keineswegs be-
einflussender Übersicht."
Das „Pädagogium" sagt: es ist auf dem Gebiete der allgemeinen
Sprachwissenschaft seit langem wieder ein Werk von bleibender Be-
deutung. Eine solche Belesenheit in den alten Rhetoren, in den klassischen
Werken der griechischen, römischen, deutschen, französischen und englischen
Litteratur, eine so intensive Bekanntschaft mit den Werken der allgemeinen Sprach-
wissenschaft und Sprachphilosophie setzt geradezu in Verwunderung. Eine
Tropen- und Figurenlehre, wie sie mit philosophischem und zugleich historischem
Sinne hier gegeben wird, existiert sonst in keiner anderen Litteratur.1'
„Werke von seltenem Werte und grosser Originalität". (Revue critique.)
Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn in Braunschweig.
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.)
Soeben erschien:
Didaktik
als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Socialforschung und zur Geschichte
der Bildung dargestellt von
Otto Willmann.
Zweiter Band: Die Bildungszwecke. — Der Bildungsinhalt. — Die Bildungs-
arüeit. — Das Bildungswesen, gr. 8. geh.
Erste Abtlieiluiig: Preis 4 Mark.
Verlag von Friedrich Vieweg & Sohn in Braunschweig.
(Zu beziehen durch jede Buchhandlung.)
Soeben erschien:
Physiologie des Geschmacks
oder physiologische Anleitung zum Studium der Tafelgenüsse.
Den Pariser Gastronomen gewidmet von Einem Professor,
Mitglied vieler gelehrten Gesellschaften.
Von Brillat-Savarin.
Uetersetzt und mit Anmerkungen versehen von
Carl Vogt.
Fünfte Auflage 8. geh. Preis 3 Mark.
Zur homerischen Frage.
Von Louis Erhardt.
(Stücke aus einem demnächst erscheinenden Werke des Verfassers
über „di e Entstehung der homerischen Gedichte", das den
volksepischen Charakter derselben zu erweisen unternimmt.)
I. Rückblick auf die seitherige Entwicklung
der Ansichten über Homer und das Epos.
Wolfs Verdienst und durchschlagender Erfolg beruhte
auf der negativen Kritik, die er an den homerischen
Gedichten übte. Durch ihn war das Eine deutlich zum
Bewusstsein gebracht, dass diese Gedichte nicht in der-
selben Weise verfasst und niedergeschrieben sein könnten,
wie etwa die „Aeneis" von Vergil oder das „Befreite Jeru-
salem" von Torquato Tasso. Er hatte, wie er selbst ein-
mal sagte, niedergerissen, nicht aufgebaut („dirui, non aedi-
ficavi").1 Die positiven Anschauungen hielten sich zunächst
im Unbestimmten und konnten von Jedem gemäss seiner
Individualität verschieden gefasst werden. Wolf selbst
war ursprünglich von der Interpolationstheorie ausge-
gangen. In seiner Vorrede zur Theogonie-Ausgabe von
17832 führte er aus, dass die Dichtungen Homers und
Hesiods lange Zeit nur mit Hülfe des Gedächtnisses fort-
gepflanzt und daher ganz besonderen Verderbnissen aus-
gesetzt gewesen seien. Doch betrachtete er diese Werke
1 Kleine Schriften I. 201.
2 Jetzt in den Kleinen Schriften I. 157 ff.; vergi, die kurze
übereinstimmende Bemerkung zu den Hymnen in der Praefatio ad
Odysseam 1784, ibid. I. p. 174.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Spraohw. Bd. XIX. 1 1
2
Erhardt.
hier im Uebrigen noch nicht in wesentlich anderem Lichte
als alle sonstigen Litteraturerzeugnisse der Griechen auch,
nur dass sie eben durch bedeutende Interpolationen ver-
dorben und in ihrer ursprünglichen Reinheit beeinträchtigt
wären. Bei seinen weiteren Studien erkannte er dann
aber, dass wenigstens für Homer mit dieser Theorie un-
möglich auszukommen sei, und die F u ht dieser Studien,
durch die Wolf die Interpolationstheorie überwand, sind
eben die Prolegomena. Jene Ansicht von dem einen Dichter
Homer, dessen Werke einst rein und vollkommen bestan-
den, bis sie im Lauf der Zeiten unter besonders ungün-
stigen Verhältnissen allmählich getrübt und verfälscht
wurden, hatte er nun endgültig aufgegeben. Dagegen zu
einer klaren, bestimmten Anschauung, wie denn nun tat-
sächlich die Entstehung der Gedichte zu denken sei, ist
Wolf selbst nie gelangt. Im Allgemeinen neigte er sich
der Auiïassung zu, dass die Anlage des Ganzen und ein
großer Teil der Gesänge selbst vom ersten Sänger her-
rühre, dieser Kern aber von den Homeriden im Anschluss
an den ursprünglichen Plan erweitert und fortgeführt sei,
— eine Ansicht, die ja auch später von Gottfried Her-
mann (Opuse. VI. 876 f.) bis in unsere Tage zahlreiche
Vertreter gefunden hat. Doch blieben bei Wolf alle diese
Vorstellungen schwankend. In den Briefen an Heyne
verwahrt er sich gegen die ihm untergeschobene Absicht :
„Ich suchte zur Komposition der Homerischen Gesänge
einen einzelnen Mann, einen, der uns Ilias und Odyssee
ans zerstreuten Bruchstücken geschaffen hätte : ich schiene
dazu den Lykurg, den Solon u. s. w. ausgreifen zu wollen -
Er bemerkt dagegen: „Nicht alle Leser des Homer müssen
also innig genug gefühlt haben, wie gleich und ununter-
brochen der Faden der Begebenheiten und Handlungen im
Ganzen beider Werke fortgeht. Sonst wäre niemand dar-
über in Zweifel, dass die Anordnung der Gesänge, zwei
bis drei ausgenommen, einleuchtende Spuren einer ab-
sichtlichen Fortsetzung durch die ursprünglichen Ver-
Zur homerischen Frage.
3
fasser selbst an-sich trägt."1 — Er verweist dabei selbst
auf die Vorrede zum Text, in der namentlich folgende
Stelle bemerkenswert ist (p. XXVI, Kl. Schriften I, 211 f.):
„Certum est tum in Iliade tum in Odyssea orsam telam
et deducta aliquatenus fila esse a vate, qui princeps ad
canendum accesserat;.. . fortasse ne probabilité!" quidem
demonsti tri poterit, a quibus locis potissimum nova sub-
temina et limbi procédant: at id tarnen, ni fallor, poterit
effici, ut liquido appareat, Homero nihil praeter majorem
partem carminum tribuendum esse, reliqua Homeridis prae-
scripta lineainenta persequentibus ; inox novis et insignibus
studiis ordinata scripto corpora esse a Pisistratidis" etc.
Er fährt dann an der bezeichneten Stelle in den Briefen
an Heyne fort: „Die letzte entscheidende Frage war bloß
dahin gestellt: Ist Homer (der erste und vorzüglichste
Sänger Trojanischer Sagen), oder sind die Rhapsoden
durch ihre Qa<pij, oder die Sammler, Ordner, Diaskeu-
asten, oder die nachherigen Berichtiger undKritiker^
die vornehmsten Urheber der vor uns liegenden kunst-
mäßigen Kompositionen?" Und ebenso hatte er sich be-
reits in der Vorrede zum Text (p. XII, Kl. Schriften I,
200 f.) geäußert: „In controversiam veniet, quantae partis
Homericorum Homerus videatur auctor esse, atque utrum
ipsi an Homeridis, Pisitratidis et criticis tribuenda sit
hujus splendidissimorum duorum operum artificiosae formae
et compositionis perfectio". Die große Kunst der Kompo-
sition, namentlich der Odyssee, und die Gleichmäßigkeit
in Ton und Farbe der Gedichte erkennt Wolf wiederholt
an; vergi, außer den schon angeführten Stellen noch
1 Briefe an Herrn Hofrat Heyne von Professor Wolf. Berlin
1797. Vergi, den von W. Körte mitgeteilten .Brief: Leben unci
Studien F. A. Wolfs, des Philologen, Essen 1833, I, S. 307: „Dann
zieht man auch daraus, als ob ich viele Väter zum Homer an-
nehme. Allerhöchstens aber nur Vier. — (Der die Odyssee anlegte,
kann nur nicht der sein, der die Ilias)." Vergi. Prolegomena,
p. CXX sqq.
1*
4
Erhardt.
Proleg. p. CXVII sq. und Praefatio p. XX, Kl. Schriften I,
207 f. Aber andererseits wirft er doch in den Briefen an
Heyne S. 17 die Frage auf: „Welches sind die innern
Spuren, die den Schluss erzwingen, beide Werke waren
anfangs nicht auf den Plan großer weitläufiger Epopöen ange-
legt", und liest man vollends in den Prolegomena Stellen wie
p. LXXI: „Igitur Telemachi iter ad Nestorem et Menelaum,
Ulyssis secessus in Ogygia insula, item pulcherrimum car-
men, in quo errores ipse suos Phaeacibus denarrans in-
ducitur, eodemque modo etiam reliqua, h. e. seorsum et
nulla spectatione universae formae, ab Homero composita
videri possimi, diuque decantata esse, priusquam aliquis
politiore et abundantiore artibus aevo animad-
verteret, ea paucis recidendis, addendis, mutandis ad
perpetuitatem unius magni corporis redacta, novum quasi
et perfectius splendidiusque monumentimi fore", — liest
man unbefangen diese und ähnliche Stellen in den Prole-
gomena, so kann es eben nicht Wunder nehmen, wenn man
Wolf jene Absicht, gegen die er sich an der oben ange-
führten Stelle der Briefe verwahrt, unterlegte. Er hatte
einerseits erkannt, dass die Gedichte, so wie wir sie
haben, nicht jenen ununterbrochenen Zusammenhang, jene
fortlaufende geschlossene Folge der Begebenheiten auf-
weisen, die wir in allen großen Kunstepen finden und der
Natur der Sache nach zu finden erwarten müssen. Anderer-
seits hatte er aber das lebendige Gefühl von der Einheit
der Gedichte und war sich bewusst, dass diese Einheit,
die Aristoteles bewunderte, in der Tat etwas Hochbedeu-
tendes sei. Er macht gelegentlich die treffende Bemerkung,
dass, was wir in dieser Beziehung Homer absprechen, wir
seinen Nachfolgern zusprechen müssen: „quantum artificii
ista ratio demit Homero, tantundem addit ingeniis iis, a
quibus tela ab eo orsa proximis aetatibus pertexta est."
(Praef. p. XXII, Kleine Schriften I, 209). Auch die
Schwierigkeit, diese Einheit als etwas erst später in die
Dichtungen Hineingebrachtes, ihnen ursprünglich Fremdes
Zur homerischen Frage.
5
zu erklären, entging ihm nicht, wie mehrere der ange-
zogenen Stellen zeigen. Doch finden sich dann auch wieder
Aeußerungen, wie die aus den Prolegomenen angeführte,
die der Lachmannschen Liedertheorie sehr nahe kommen
und die Einheit der Gedichte in der Hauptsache als etwas
halb Zufälliges, spät Geschaffenes betrachten. Diese Gegen-
sätze miteinander zu versöhnen, ist Wolf nicht gelungen.
Zwar finden sich auch bereits in den Prolegomenen An-
klänge an die Theorie vom Volksepos ; doch waren die Be-
dingungen, um diesen Begriff zu voller Klarheit zu erheben,
zu Wolfs Zeit noch zu unvollkommen gegeben, und außer-
dem werden Herders „wetterleuchtende Ideen" von Volks-
gesang und Naturdichtung ihn gegen diese ganzen An-
schauungen später eher mit Misstrauen erfüllt und ihm
die Lust, ihnen weiter nachzugehen, benommen haben.
Den ersten bedeutenden Schritt über Wolf hinaus tat
Lachmann, indem er die von Wolf selbst überall als das
Wichtigste und eigentlich Entscheidende betonte Unter-
suchung der Gedichte selbst in systematischer Weise unter-
nahm und auf Grund derselben nun eine greifbare, positive
Theorie über die Entstehung zunächst der Ilias aufstellte.
Als Lachmanns unmittelbaren Vorgänger kann man G. Her-
mann betrachten, der in seiner Abhandlung: De inter-
polationibus Homeri, 3 832, die Bücher A—O der Ilias in
einer der Lachmannschen ganz ähnlichen Weise behandelt
und schon die Ueberzeugung ausgesprochen hatte, bei ein-
gehender Kritik der Ilias werde es möglich sein, die ein-
zelnen Teile, aus denen dies Epos zusammengesetzt sei,
ziemlich rein auszuscheiden.1 Diese Untersuchungen aber
1 Opuse. V, 68: Pleraque ex quibus illud poema compositum
est carmina satis probabili ratione erui, rhapsodiasque quae in unum
corpus coaluerunt propemodum integras in pristinam formam re-
stituí posse. Den Dichter Homer betrachtete Hermann, wie be-
merkt, ähnlich wie Wolf als Schöpfer einer neuen Kunstrichtung,
als „ersten und vorzüglichsten Sänger trojanischer Sagen", ohne es
m dieser Beziehung zu wesentlich abgeklärteren Anschauungen wie
6
Erhardt.
zuerst auf breiter Grundlage durchgeführt und dadurch
über die Zusammensetzung der Ilias im Einzelnen Ergeb-
nisse erzielt zu haben, die hinfort kein ernsthafter Forscher
unbeachtet lassen konnte, ist das wesentliche Verdienst
Lachmanns. Er war durch seine Behandlung des Nibe-
lungenliedes für derartige Untersuchungen besonders ge-
schult, und namentlich in ihrer ersten Hälfte zeichnen
sich seine „Betrachtungen" auch durch große Besonnen-
heit des Urteils aus, so dass sie als Muster für alle der-
artigen Arbeiten hingestellt zu werden verdienen.
Zwei methodische Hauptfehler sind es aber meiner
Meinung nach, die der Lachmannschen und in noch höherem
Maße fast allen später in gleicher Richtung unternommenen
Untersuchungen aníhaften. Der eine Fehler liegt in zu
starker Durchdringung der Analyse mit ästhetischen Ge-
sichtspunkten. Ganz wird man ja freilich von der ästhe-
tischen Betrachtungsweise auch bei nüchternster Zerglie-
derung der Gedichte nie absehen können. Aber die höchste
Enthaltsamkeit nach dieser Seite ist doch gerade in den
homerischen Untersuchungen durchaus geboten, wenn man
nicht die Beweiskraft der ganzen Darlegung gefährden
und auch die schon gewonnenen sicheren Ergebnisse durch
die gefährliche Nachbarschaft luftiger Geschmacks urteile
ihrer Wirkung berauben will. Mit der Classification nach
„schön", „herrlich", „erhaben" oder „erbärmlich", „matt",
„dumm" ist für wirkliche Erkenntnis zumal bei Gedichten,
die ihre Vortrefflichkeit durch Jahrtausende bewährt haben,
nicht das Geringste gewonnen. Im Gegenteil, wer durch
sein ästhetisches Gefühl nach anderer Richtung geleitet
wird und das Zutreffende solcher wegwerfenden Urteile
nicht anzuerkennen vermag, wird am Ende gegen die
ganze Beweisführung des Verfassers; misstrauisch wer-
den und sich hinfort gegen jede weitere Einwirkung
Wolff zu bringen. Vergi, seinen Aufsatz „Ueber Homer und Sappho",
Opuse. VI, 78 ff.
Zur homerischen Frage.
7
verschließen. Gewiss ist in Fragen der Poesie die Aesthetik
die höchste Richterin. Doch nichts ist auch seltener als
ein sicheres ästhetisches Urteil, und auf keinem andern
Gebiete erleidet der selbstbewusste menschliche Verstand
so leicht und kläglich Schiffbruch. Gerade an den Unter-
suchungen über die Homerischen Gedichte zeigt sich diese
Gefahr am augenfälligsten. Wenn selbst Männer von
höchster Urteilskraft dennoch in ästhetischen Dingen so
straucheln können wie beispielsweise Lachmann nach Wolfs
Vorgang in der rücksichtslosen Verurteilung des ganzen
letzten Vier teils der Ilias, so wird man gut tun, sich solche
Fälle zum warnenden Beispiele dienen zu lassen.
Dazu kommt in diesem Falle noch Eins. Ein wirk-
lich volles Gefühl für das Schöne in einem Kunstwerk
wird nur der erringen, der sich dem Zauber desselben
rückhaltlos mit seinem ganzen Denken und Empfinden
hingibt. Kritik und Phantasie sind zwar keineswegs Gegen-
sätze; aber sehr leicht kommt doch die eine bei starkem
Hervortreten der andern zu kurz. Werfe ich mich zum
Richter über eine Sache auf', so laufe ich immer Gefahr,
mich selbst zu hoch und die Sache zu tief zu stellen. Das
trifft in gleicher Weise für das ästhetische, wie für das
ethische Gebiet zu. Alles wahrhaft Große uud Schöne
verlangt eine gewisse Selbstentsagung, ein demütiges
Herantreten des Menschen, wenn er es sich ganz zu eigen
machen will. Wie man nur die Vorzüge einer Person,
die man liebt, ganz und voll zu schätzen vermag, so wird
man auch ein Kunstwerk nur, wenn man sich ihm in
wahrer, warmer Begeisterung hingibt, ganz würdigen und
verstehen lernen. Das schließt in beiden Fällen die Kritik
nicht aus. Rechte Bewunderung und Liebe haben beide
mit törichter Vergötterung nichts gemein. Ich brauche
bei aller Bewunderung so wenig blind gegen die Mängel
eines Kunstwerks zu sein, wie gegen die Fehler und Ge-
brechen des mit innigster Liebe umfangenen Menschen.
Aber der ganze Gesichtspunkt der Beurteilung ist doch
8
Erhardt.
in beiden Fällen ein anderer. Tritt man an eine Sache
von vornherein mit skeptischen Blicken heran, so wird
man nur zu leicht Vorzüge übersehen und Fehler auch
da entdecken, wo keine sind. In diesem Skepticismus,
mit dem man seit Wolf und Lachmann die homerischen
Gedichte zu betrachten pflegte, glaube ich eine Haupt-
schwäche der ganzen neueren Kritik zu erkennen. Stellt
man vollends sein ästhetisches Urteil in den Dienst einer
bestimmten Theorie, sei es, dass man in Lachmanns Weise
das Epos in eine Reihe von Liedern aufzulösen sucht, sei
es, dass man als Anhänger der Interpolationstheorie, —
denn das kommt in diesem Falle ziemlich auf dasselbe
hinaus — in der Weise von Nitsch, Bergk u. A. die
wahren und untadelhaften Weike des alten Dichters her-
zustellen unternimmt, indem man widerspruchsvolle Stücke
ausmerzt, — wie leicht wird man sich da nicht über-
reden, dass die der Theorie halber zu beseitigenden Stücke
schlechtes Machwerk seien, dass in ihnen ein ganz anderer
Geist herrsche und was dergleichen Eeden mehr sind.
Wir haben damit schon den zweiten Fehler berührt,
der meiner Meinung nach den Lachmannschen und ähn-
lichen Forschungen anhaftet. Diesen Fehler erblicke ich
in der Fragestellung, mit der man an die Zerlegung der
Gedichte heranging. Man begnügte sich nicht zu unter-
suchen, wie die homerischen Gedichte, so wie wir sie jetzt
haben, beschaffen sind, sondern man fragte auch gleich,
wie sind sie einst beschaffen gewesen. Diese Frage
aber schießt wenigstens über das zunächst zu erstrebende
Ziel schon hinaus, sie gibt der Untersuchung gleich eine
besondere Richtung und beeinträchtigt die Unbefangenheit
des Urteils. Die wahre Analyse eines Werkes wird sich
vielmehr zunächst auf die bloße eindringende Beobachtung
des vorliegenden Stoffes zu beschränken haben, ohne jeden
Nebengedanken, ohne jeden Versuch, gleichzeitig etwa eine
frühere, nur verloren gegangene Ordnung widerherzu-
stellen. Wie der Meteorologe seine Beobachtungen von
Zur homerischen Frage.
9
Fall zu Fall registrirt, so muss die Kritik bei der Ana-
lyse eines Gedichtes sicli bemühen, zunächst nichts als
den objektiven Befund einfach zu registriren. Je weniger
so die Beweismasse selbst schon von Vermutungen durch-
setzt ist, je schärfere Selbstcontrolle man geübt hat, um
so sicherer wird man am Ende, auf eine derartige, mög-
lichst objective Grundlage gestützt, ein Urteil über das
Ganze zu fällen wagen dürfen.
Das ist ja überhaupt einer der wichtigsten methodi-
schen Grundsätze in jeder Wissenschaft, die möglichst
scharfe Sonderung der subjectiven und objectiven Momente
im Gange einer Untersuchung. Wird die Forschung in
der Weise richtig geführt, so vollzieht sich in ihr gleich-
sam eine Aufsaugung der subjectiven Momente durch die
objectiven, das Subjective verschwindet, und das Resultat
selbst wird ein objectives. Hingegen je sicherer und selbst-
bewusster man sich seinen vorgefassten Ueberzeugungen
hingibt, um so mehr wird der Sinn für das Objective be-
einträchtigt, die rechte Beobachtungsgabe geht verloren.
Aus diesem Grunde steht der zweite Teil der Lachmann-
schen „Betrachtungen" so weit hinter dem ersten zurück.
Während Lachmann sich in diesem noch mit einem ge-
wissen Misstrauen gegen seine eigene Theorie erfüllt zeigt,
überall aufs sorgfältigste nachprüft, jeden Schritt vorwärts
nur durch die Gewalt der Gründe getrieben tut, kurz, wie
er selbst sagt, „lieber die Manieren der epischen Poesie
erst lernen" will (S. 5), hat er im zweiten Teil alle Be-
denken abgestreift, sein Selbstbewusstsein ist ebenso durch
die unkritischen Angriffe seiner Gegner, wie durch den
Beifall seiner Freunde gesteigert, und die Liedertheorie
ist für ihn selbst zum Dogma geworden. In gleichem
Maße aber, wie sein Selbstgefühl gewachsen ist, hat er
den Sinn für die liebevolle Beobachtung des Einzelnen
eingebüßt, er verfährt summarisch und ist mit seinein Ur-
teil schnell fertig. Keine andere Eigenschaft ist aber
gerade in dieser Art von Untersuchungen für den Kritiker
10
Erhardt.
so unentbehrlich als vorsichtige Besonnenheit und Selbst-
kritik.
Den Standpunkt, der durch Lachmann erreicht wurde,
kann man als denjenigen bezeichnen, auf dem die Philo-
logie im Wesentlichen für die homerische Frage noch heute
beharrt. Zwar machen sich ja in manchen Beziehungen
nicht unerhebliche Unterschiede geltend; im Großen und
Ganzen ist es aber doch der Lachmannsche Boden, auf
dem die große Mehrzahl der Neueren steht. Das ihnen
allen, auch den namhaftesten Untersuchern der Odyssee
G emeinsame ist, dass sie einerseits den Dichter Homer als
Verfasser der beiden Epen in ihrer Gesammtmasse, wie
sie uns überkommen sind, nicht anerkennen und eine all-
mähliche, stufenweise Entstehung der Gedichte annehmen,
andererseits aber für die einzelnen Lieder oder größeren
Teile, die sie mit ziemlicher Sicherheit ausscheiden zu
können meinen, bestimmte einzelne Verfasser annehmen,
deren Zeit und Eigenart sie dann näher zu bestimmen
suchen. Ihnen gegenüber stehen noch jetzt die Vertreter
der Interpolationstheorie, nur dass sie sich genötigt gesehen
haben, ihr Princip mehr und mehr zu durchbrechen. Ganze
große Teile, wie den Schiffskatalog, die Doloneia, die Ne-
kyia pflegen auch sie auszuscheiden, und klaffende Wider-
sprüche im Einzelnen oder sonstige Mängel werden durch
Athetesen beseitigt, die je nach Geschmack und Urteils-
schärfe der Forscher verschieden ausfallen.
Neben diesen beiden Theorien nun, die man neuer-
dings vielfach als die beiden einzig möglichen zu betrachten
geneigt ist, hat sich von Anfang an eine dritte entwickelt,
die als den Schöpfer der homerischen Gedichte weder den
einen großen Dichter Homer, noch eine Reihe bestimmter,
individuell hervortretender Sänger betrachtet, sondern die
Gesammtheit des griechischen Volkes selbst im epischen
Zeitalter oder, was dasselbe ist, die Gesammtheit derer
im Volk, die zur Teilnahme an der Schöpfung, Fortbildung
und Ueberlieferung der Gedichte befähigt und geneigt
Zur homerischen Frage.
11
waren. Unter diesen voran standen bei den Griechen,
wie bei jedem epischen Volke, die berufsmäßigen Sänger;
sie waren die „Füger des Gesanges", deren Einzelanteil
näher zu bestimmen für uns jedoch weder möglich noch
wichtig ist. Der Erste, der sich zu dieser Auffassung
mit klaren Worten bereits ein halbes Jahrhundert vor
Wolf bekannt hat, ist der Italiener Vico. Er spricht es
geradezu aus, dass der Name Homer nur eine Bezeichnung
für das heroische Sängertum der Griechen überhaupt ist,
(„un Idea, ovvero un Carattere Eroico d'uomini greci, in
quanto essi narravano cantando le loro storie"), und er
erkennt auch bereits, wie sehr die Bedeutung der home-
rischen Gedichte für die Geschichte gesteigert wird, wenn
wir sie als Erzeugnisse des griechischen Volksgeistes selbst,
gleichsam als eine urkundliche Manifestation desselben
betrachten dürfen. Vico war ein philosophischerer Kopf
als Wolf, während ihn dieser an kritischer Schärfe und
philosophischer Schulung übertraf. Eben deswegen aber
vermochte Wolf eine so tiefe und nachhaltige Wirkung
auszuüben, während Vicos Ideen ernstlichere Beachtung
erst finden konnten, nachdem sie durch Wolfs Kritik eine
festere Grundlage erhalten hatten.1
1 Vico geht in seinen positiven Ansichten tatsächlich weit über
Wolf hinaus. Die Entwicklung dieser Ansichten fällt in die Jahre
zwischen 1725 und 1730. In der ersten Ausgabe seiner Scienza nuova
von 1725 (Principj di una scienza nuova d'intorno alla commune na-
tura delle nazioni; Neudruck in der Mailänder Ausgabe von Giu-
seppe Ferrari 1836) geht er noch nirgends wesentlich über die Alten
hinaus. Er nimmt wol eine längere Entwicklung der Poesie vor
Uias und Odyssee und in diesen Vorstadien auch eine Beteiligung
des ganzen Volkes an der dichterischen Produktion an (libro terzo,
capo XVII). Homer aber ist ihm der eine große Dichter, der in
der nächstfolgenden Periode nach einem bestimmten Plane die Ilias
geschaffen hat (libro III, capo XX), und er vergleicht ihn mit Dante:
Beide haben ihre Sprache aus den Dialekten des ganzen Griechen-
land, bezw. Italien gebildet. Erst in der zweiten Auflage von 1780
verkündigte Vico die „Entdeckung des wahren Homer", wie er sein
drittes Buch nun mit Recht übersehreiben konnte (Della discoverta
12
Erhardt.
Dass sich bei Wolf selbst Anklänge an die Theorie des
Volksepos finden, ist schon oben bemerkt worden. Seine
Prolegomena verraten überall das tiefe Gefühl von der
Verschiedenheit der homerischen Epen und der sonstigen
Kunstepen des Altertums. Auch jene Widersprüche, in
die sich Wolf über die Einheit der Gedichte verwickelte,
haben doch ihren tieferen Grund in der richtigen Erkennt-
nis, dass beiden großen Epen einerseits jene künstliche
wol vorbedachte Einheit, wie sie ein Dichter schafft, durch-
aus abgeht, dass sie aber andererseits trotzdem von einer
andern höheren Einheit durchdrungen und beherscht
werden, wie sie kein Einzelner, sondern nur ein ganzes
Volk unter günstigen Vorbedingungen gleichsam mit Natur-
notwendigkeit hervorbringt. Er schließt den 27. Abschnitt
seiner Prolegomena, in dem wir diese Auffassungen mit
einander ringen sehen, mit den Worten p. CXX: Felicem
dicas populum, utpote magnorum gestorum fecnndissimum,
cui carmina prope sponte nascantur, quae aliorum popu-
lorum intentissimis studiis et artibus non proveniunt,1
del Vero Homero). Merkwürdig ist aber, dass diese Ausbildung
seiner Ansichten über Homer, wie es nach einer Vorbemerkung den
Anschein hat, nicht zum Wenigsten durch Hinweise von andern Ge-
lehrten, die die erste Auflage seines Buches recensirt hatten, ge-
zeitigt wurde. Die dritte im Todesjahre Vicos 1744 erschienene
Auflage weicht von der zweiten nur unwesentlich ab. Nach ihr sind
die späteren Ausgaben und auch die deutsche Uebersetzung von
Weber (Leipzig 1822) gefertigt, die aber leider viel zu wünschen
übrig lässt. Einen Abdruck der dritten Auflage mit Vergleichung
der zweiten bietet die Mailänder Ausgabe von Giuseppe Ferrari:
Opere scelte di Giamb. Vico, Vol. Il, 1836.
1 Vgl. die oben angezogene Stelle bei Körte, S. 307. Wolf
bemerkt in jenem Briefe weiter, dass er Voss brieflich noch einen
Hauptzweifel zu lösen suche, „wie die große Einheit im Ganzen des
Homer komme", und er sagt dann: „In jedem singenden Zeitalter
ist fast Ein Saeculum wie Ein Mann. Alles ist Ein Geist und
Eine Seele. Nur Verschiedenheit der Gegenden macht Dilierenzen.
Dies kann man selbst aus neuern Zeiten, z. B. aus der Entstehung
der Ritterepopöen erweisen. Darüber denke ich einmal eine ganz
Zur homerischen Frage.
13
(Vgl. p. XLn etc.) Freilich zeigen seine Bemerkungen
über die Menis und über die Zusammensetzung der Odyssee
in diesem und den folgenden Abschnitten, wie weit Wolf
dennoch davon entfernt war, diese Keime in sich zur
rechten Frucht zu entwickeln.
Aber wenn auch Wolf selbst nicht zum vollen Ver-
ständnis der dichterischen Schöpferkraft des Volksgeistes
durchdrang, so sind doch seine Prolegomena der Haupt-
hebel geworden, um dies Verständnis Andern zu erschließen.
Der Aufschwung, den damals Kunst und Wissenschaft
überhaupt in Deutschland genommen hatten, die richtigeren
Anschauungen, die man allmählich von der Sprache und
den sonstigen Schöpfungen des Volksgeistes zu gewinnen
begann, dazu auch bereits die Erschließung anderer ähn-
licher Volksepen, wie namentlich des Nibelungenliedes, das
alles trug dazu bei, dass die Prolegomena auf fruchtbareren
Boden fielen als 60 Jahre zuvor die Ideen Vicos.
Gewöhnlich ist es der Name Herders, an den man die
Verbreitung richtigerer Anschauungen über das Wesen der
Volkspoesie anzuknüpfen ] flegt. Doch ist das, wenigstens so-
weit es sich um das große Volksepos handelt, nicht ganz zu-
treffend. Allerdings hat sich Herder um eine richtigere Auf-
fassung vom Wesen der Dichtkunst im Allgemeinen große Ver-
dienste erworben. Er erkannte, nach einer Aeußerung Goethes
über seinen Verkehr mit Herder in Straßburg, im zehnten
Buche von „Dichtung und Wahrheit," „dass die Dichtkunst
überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privat-
Erbteil einiger freien, gebildeten Männer.'1 Solche Anschau-
ungen sind naturgemäß mit der aufstrebenden Litteratur
verbunden, die sich der Notwendigkeit bewusst wird, ihre
Kraft in dem Volkstum zu suchen, in dem allein sie den
weiten, fruchtbaren Boden zur Betätigung finden kann.
neue Recherche anzufangen. Wenn nur nicht die ganze Materie
zu verwickelt wäre." — Freilich denkt Wolf hier wohl hauptsächlich
an den einheitlichen Ton, die gleiche Farbe und die gleiche An-
schauungswelt in allen diesen Werken.
14
Erhardt.
Dies Bewusstsein von der gegenseitigen Bedingtheit der
Kunst und des Volkstums, aus dem sie erwächst, war der
Ausgangspunkt von Herders ganzen Bestrebungen. Poesie
ist ihm ein Geschenk der Natur, kein künstliches Treib-
hausgewächs. Fremde Dichtung sollen wir studiren und
uns anzueignen suchen, aber nicht, um sie möglichst getreu
nachzuahmen, sondern um daraus Befruchtung des in uns
selbst liegenden Keimes zu gewinnen. Dieser Keim aber
kann es zu rechter Blüte und Frucht nur bringen, wenn
er sich nach den ihm gemäßen Gesetzen, d. h. aus dem
eigenen Volkstum und der eigenen Zeit heraus entwickelt.
In diesem Sinne müssen alle großen Dichter Volksdichter
sein. Von künstlicher, schulmäßiger Nachahmung irgend
welcher Art wollte Herder nichts wissen, und wo er der-
artiges anzutreffen meinte, machte ihn seine Voreinge-
nommenheit blind und ungerecht. Daher äußerte er auch
jene übertriebene Abneigung gegen Ovids Metamorphosen,
denen er, nach Goethes Erzählung in „Dichtung und
Wahrheit", alle „eigentliche, unmittelbare Wahrheit" ab-
sprach. „Hier sei wedef Griechenland noch Italien, weder
eine Urwelt noch eine gebildete, alles vielmehr sei Nach-
ahmung des schon Dagewesenen und eine manierirte Dar-
stellung, wie sie sich nur von einem Ueberkultivirten er-
warten lasse." Dagegen bemerkte dann Goethe, in seiner
Weise ganz richtig, „was ein vorzügliches Indiviuum her-
vorbringe, sei doch auch Natur, und unter allen Völkern,
frühern und spätem, sei doch immer nur der Dichter
Dichter gewesen." Natur war für Herder der Maßstab,
mit dem er alles messen zu können meinte. Ihm kam es
viel mehr auf die Unterscheidung von künstlich oder
schulmäßig und natürlich oder volksmäßig an, als
auf die Unterscheidung von Hervorbringungen Einzelner
und des Gesamtgeistes. Auch Homer war für ihn in erster
Linie ein Naturdichter und eben insofern auch ein Volks-
dichter; denn die Begriffe Naturpoesie und Volkspoesie
mischte Herder durcheinander. Die Frage nach der eigen-
Zur homerischen Frage.
15
tümlichen Entstehung' der homerischen G-edichte lag- ihm
ursprünglich ganz fern, und man kann es Wolf kaum ver-
denken, wenn er gerade in dieser Hinsicht sein eigenes
Verdienst gegenüber Herder mit aller Bestimmtheit be-
tonen zu sollen glaubte. Auch später, nach dem Erscheinen
der Prolegomena, ist Herder in seinen Ansichten über das
Yolksepos nicht wesentlich über Wolf hinausgekommen.
Auch für ihn war Homer der große Dichter, der die
Leistungen der früheren Sänger gleichsam wie in einem
Strahlenpunkte in sich sammelte, und an den sich dann
die Späteren anschlössen. Er fasst seine Ansicht selbst
am Schluss des Aufsatzes „Homer und das Epos"1) in den
Worten zusammen: „Also wem sind wir den Homer
schuldig? Der Gesangschule, d. i. einer Genealogie älterer
Meister, die er übertraf und, auf dem Punkt der Reife
treffend, selbst eine Schule nachließ." Eine eigentliche
Förderung der homerischen Frage kann man Herder, dessen
Studien hierin wie überhaupt mehr in die Breite, als in
die Tiefe gingen, nicht beimessen.
Die beiden Männer, bei denen ich zuerst ein in der
Hauptsache völlig richtiges Verständnis des großen Volks-
epos finde, sind Fried rie h Schlegel in seiner bereits im
Jahre 1.798 erschienenen „Geschichte der Poesie der
Griechen und Römer" und Jacob Grimm. Einen von
1 Dieser Aufsatz, der ursprünglich unter der Ueberschrift „Sa-
muel Clarke" 1803 in der Adrastea erschien, ist das Beste, was
Herder über das Epos geschrieben hat, wenn es auch an Unklar-
heiten nicht ganz darin fehlt und die Geflissentlichheit, mit der
Alles, was Wolf geleistet hatte, auf andere frühere Schriftsteller
zurückgeführt wird, unangenehm auffällt. Einen weit unerquick-
licheren Eindruck macht der Aufsatz „Homer, ein Günstling der
Zeit", in dem überall Wahres und Falsches in unklarem Gemisch
durcheinandergehen. Wolf hatte nicht so unrecht, wenn er mehr
allerlei wetterleuchtende Ideen als wirkliche Erkenntnis darin zu
finden erklärte, und die Schroffheit, mit der er sich gegen Herder
wandte, ist entschuldbarer, als Herders neuester Biograph wahr haben
will (vergi Haym, Leben Herders II, S. 596 ff. und 781 f.).
16
Erhardt.
beiden als Schöpfer der Theorie bezeichnen zu wollen,
wäre verfehlt, wie ja denn vor ihnen schon Vico die gleichen
Ideen geäußert hatte. Sie haben nur beide, wie auch
gewiss andere hervorragende Männer neben ihnen, jene
zusammenwirkenden günstigen Einflüsse, die ich oben be-
zeichnete, mit empfänglichem Sinn auf sich wirken lassen,
und so fiel ihnen die rechte Erkenntnis wie eine reife
Frucht zu. Friedrich Schlegel verdankte diese Erkenntnis
unzweifelhaft in erster Linie den Prolegomena und dem
durch sie angeregten und befruchteten Studium der home-
rischen Gedichte. Wolf hat sein Buch gekannt und es
auch in seinen Vorlesungen empfohlen; aber einen wirklich
merkbaren Einfluss hat es auf ihn und seine unmittel-
baren Schüler wie Becker, Wilhelm Müller u. A. nicht
geübt, und Friedrich Schlegel selbst ging später andere
Wege. Bei Jacob Grimm war es namentlich die innige
Vertrautheit mit der deutschen Volkspoesie und die tiefe,
liebevolle Erfassung des ganzen deutschen Volkstums, wo-
durch ihm von Anfang an Sinn und Verständnis fürs
Volksepos erschlossen wurde. Schon im Jahre 1807 macht
er die Bemerkung: „Demnach wäre der Verfasser des
Nibelungenliedes unbekannt, wie es gewöhnlich bei allen
National-Gedichten ist und sein muss, weil sie dem ganzen
Volke angehören, und alles Subjektive zurücksteht," und in
einer Anmerkung fügt er hinzu: ,.jedes Epos muss sich
selbst dichten, von keinem Dichter geschrieben werden".1)
In einem späteren Aufsatz (von 1813) „Gedanken über
Mythos, Epos und Geschichte,"2) der allerdings auch manches
Verfehlte enthält, betont er für die Bildung des großen
Epos die Notwendigkeit einer historischen That, „von der
das Volk lebendig erfüllt sei, dass sich die göttliche Sage
1 Kleine Schriften IV, S. 4 und S. 10, N. 4.
2 Ebenda S. 74 ff. und Anm. 2, S. 84. (Vergi, auch „Ge-
danken, wie sich die Sagen zur Poesie und Geschichte verhalten"
in den Kleinen Schriften I, S. 400 f. (a. d. J. 1808).
\
Zur homerischen Frage.
17
daran setzen könne," und er spricht schon von den „letzt-
angesetzten Ringen" der Nibelungen, die sich „als immer
historischer werdende leicht erkennen" lassen. Namentlich
finden sich aber alle hauptsächlichen Punkte bereits in
Jacob Grimms Besprechung der Lachmannschen Schrift
liber die Nibelungen in zum Teil ausgezeichnet treffenden
Worten erörtert.Er geht davon aus, dass sich über das
Nibelungenlied, seit es wieder Beachtung fand, zwei ver-
schiedene Meinungen gebildet hatten. „Die eine erkannte
das rege, nie stillstehende Wunder des Volksmäßigen an,
worin allein das Epos geboren und getragen werden kann."
Die andere hielt das Gedicht für das Werk eines Dichters,
den sie dann zu ermitteln suchte; sie wurde aber stark
erschüttert, „sobald nach und nach vielfache Zeugnisse
ans Licht kamen, dafür, dass der Inhalt des Nibelungen-
liedes seit langen früheren Zeiten lebendig gesagt und
gesungen worden war, und auf die gewaltige Fluktuation
derselben Fabeln im Norden Bedacht genommen werden
musste. Dies alles ließ sich gar nicht leugnen und auch
schon so viel sehen, dass der ausgezeichnete Geist des drei-
zehnten Jahrhunderts, dessen Werk die Nibelungen hätten
sein sollen, weder die Menge der alten Sagen überschaut,
noch immer glücklich darunter gewählt haben konnte."
Er weist dann auf die Abweichungen der verschiedenen
uns überlieferten Texte hin in Auslassungen sowohl als
Zusätzen, „in denen beiden weder Ungescliicktheit noch
ünpoesie eben zu spüren ist," und gelangt endlich zu
folgendem, dem Verfahren Lachmanns direkt widerstreiten-
den Ergebnis: „Mit der Frage nach dem höheren Alter
einer Rezension vor der anderen darf man nur nicht die
nach dem höheren Wert einzelner Umstände bald in den
älteren, bald in den jüngeren Liedern verwechseln, noch
1 Kleine Schriften IV, S. 92 ff., Besprechung von Karl Lach-
manns Schrift: .,Ueber die ursprüngliche Gestalt des Gedichtes von
der Nibelungen Not. 1816."
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 1. 2
18
Erhardt.
weniger glauben, dass die nicht mehr zu vereinigende Man-
nichfaltigkeit aller dieser aus einer bloßen Zudichtung ent-
sprungen, folglich durch Abschneidung der letzeren die
anfängliche Vollkommenheit wieder herzustellen sei. Diese
hat es eben so wenig gegeben, als in späterer Zeit einen
Gipfel des Lieds, der alle vorhergehenden Schönheiten
seiner Aeußerungen in sich besessen hätte. Schon in den
verschiedenen Liedern der Edda offenbaren sich allerwärts
Abweichungen und Widersprüche ganz auf die Weise, wie
sie Herr Lachmann in den Nibelungen aufdeckt." — „Wie
alles Gute in der Natur gehet auch das Epos aus der stillen
Kraft des Ganzen leise hervor; was dabei leiden oder tun
heißen kann, wer wollte es ihm absehen? Nicht haben es
wenige ausgezeichnete überlegen begabte Menschen absicht-
lich hervorgebracht, sondern in dem, was diese taten, dürfte
man eher den Gegensatz des Epischen und wodurch sein
notwendiger Untergang bereitet wurde, anerkennen." Das,
was Jacob Grimm hier der Lachmannschen Kritik, wie sie
von ihm und seinen Anhängern in gleicher Weise an den
homerischen Gedichten, wie an den Nibelungen geübt worden
ist, zum Vorwurf macht, hat er auch später in seiner Rede
auf Lachmann1 mit aller Bestimmtheit wiederholt. Er
bemerkt, dass es schwer hält, „epische Schichten, die alle
berechtigt sein können, von kunstfertigeren Einschiebseln
zu unterscheiden." „Diese Kritik ist immer raubend und
tilgend, nicht verleihend, sie kann die Interpolationen fort,
das weggefallene Echte nimmer herbei schaffen. Haupt-
sächlich aber muss ich das wider sie einwenden, dass mit
Unrecht von einer zu großen Vollkommenheit des ursprüng-
lichen Epos ausgegangen werde, die wahrscheinlich nie
vorhanden war, und in ihm alle Flecken zu tilgen, alle
wirklichen oder scheinbaren Widersprüche aus ihm zu ent-
fernen seien. Gleich anderm dem edelsten Menschenwerk
wird auch die epische Dichtung ihre Mängel an sich tragen"
1 Kleine Schriften I, S. 155—157.
Zur homerischen Frage.
19
(Hinweis auf die Sprache). „Man läuft Gefahr, durch
kritisches Ausscheiden, das gar kein Ende hat, auf der
einen Seite zu zerreißen, was auf der andern verbunden
wurde."
Die klare Einsicht, welche Jacob Grimm an diesen
Stellen namentlich von der Schichtung des Epos, von dem
Verwitterungsprozeß, der mit dem Fortbildungsprozeß stets
notwendig verbunden ist, an den Tag legt, diese Einsicht
zeichnet ihn vor allen andern aus. Sie zeigt am deut-
lichsten, dass er seine Ansichten nicht aus allgemeinen Be-
trachtungen, sondern aus der genauen Kenntnis des Epos
selbst geschöpft hatte. Deshalb hat er sich auch von allen
jenen schiefen Behauptungen und haltlosen Vermutungen,
die im Gefolge halb errungener Erkenntnis aufzutreten
pflegen, stets frei gehalten. Aber eben weil er ein Mann
war, dem man Mangel an Sachkenntnis oder Neigung für
allerlei nebelhafte Theoreme nicht wird zum Vorwurf
machen wollen, ist uns sein Zeugnis in dieser Sache
auch von ganz besonderem Wert. Leider sind seine aller-
dings nur gelegentlich gemachten Bemerkungen fast un-
geliört verhallt und selbst von den Nächststehenden kaum
beachtet. Hätte Lachmann nicht verschmäht, die be-
sonnenen Und treffenden Einwendungen Jacob Grimms
gegen sein Verfahren in den Nibelungen zu berücksichtigen
und den dort gegebenen Anregungen weiter nachzugehen,
man sollte meinen, er hätte seine Forschungen in der Ilias
später von ganz anderer Grundlage aus unternehmen
müssen. Aber er wusste offenbar mit jenen Andeutungen
nichts Rechtes anzufangen, und darin ist es andern nicht
besser ergangen. Wirken und Schaffen des Volkes er-
kannten wohl die meisten an, aber die volle Bedeutung
desselben zu ermessen blieb ihnen dennoch versagt. Auch
Jacob Grimms eigener Bruder, Wilhelm Grimm, hat, bei
allem Vortrefflichen, das er für die deutsche Heldensage
geleistet hat, doch die klare Einsicht, die seinen Bruder
auszeichnet, nie erlangt, und in noch höherem Maße lässt
2*
20
Erhardt.
Friedrich Schlegels Bruder, August Wilhelm, trotz des
Studiums, das er dem deutschen und namentlich dem in-
dischen Epos zuwandte, doch das volle Verständnis für das
Volksepos vermissen. Selbst Ludwig Uhland, der nächst
Jacob Grimm deutsche Volksdichtung and deutsches Volks-
tum am tiefsten erfasste, hat gerade den letzten Schritt
zur Erkenntnis Les großen Volksepos zu tun gleichfalls ver-
säumt. Seine allgemeinen Bemerkungen über Wesen und
Entwicklung der Volkspoesie sind ganz vortrefflich, und
niemand hat das allmähliche Wachstum der Sage in und
mit dem Liede und das Verhältnis des Epos zu Mythos
und Geschichte treffender erörtert als Uhland. Aber am
Ende ist der eigentliche Dichter der Nibelungen für ihn
dennoch der „Ordner" ; „er ist, um es kurz zu bezeichnen,
nicht der Dichter der Sage, aber der Dichter des Liedes,
wie es als ein Ganzes vor uns liegt." 1
In ganz ähnlicher Weise haben sich auch diejenigen
unter den neueren Homerforschern, die sich den Anschau-
ungen über Volksdichtung nicht überhaupt verschlossen,
doch den letzten entscheidenden Schlussfolgerungen stets
entzogen und trotz Anerkennung der entgegenstehenden
Bedenken in der Hauptsache am Lachmannschen Stand-
punkt festgehalten. Ich führe hier nur die bemerkens-
werten Worte von Georg Curtius an, in denen er 1854
1 Uhlands Schriften I, S. 448. Eine kurze Darstellung der
allgemeinen Theorie Uhlands findet sich in der kleinen Schrift:
„Klopstocks Abschiedsrede über die epische Poesie, cultur- und
literaturgeschichtlich beleuchtet, sowie mit einer Darlegung der
Theorie Uhlands über das Nibelungenlied begleitet von Albert
Frej'be, Halle 1868", S. 23—29; ebenso von Bartsch in der „Ger-
mania" XI, S. 459 ff. Die Schrift von Hassenstein : „Ludw. Uhland.
Seine Darstellung der Volksdichtung und das Volkstümliche in seinen
Gedichten", Leipzig 1887, bietet für das Epos nichts. Uebrigens
sollte Niemand, der sieb mit diesen Fragen eingehender beschäftigt,
es versäumen, sich mit dem ersten Bande von Uhlands Schriften
und mit Wilhelm Grimms Deutscher Heldensage (2. Aufi. Berlin
1867) selbst bekannt zu machen.
Zur homerischen Frage.
21
die seitherigen Ergebnisse der Homerforschung zusammen-
zufassen suchte:1 „Dass in den homerischen Gesängen kein
neuer oder gar erfundener Stoff, dass darin alt überlieferte
mit dem Glauben und der Sitte des hellenischen Volkes
eng verwachsene, im lange schon gepflegten Heldengesang
durchgesungene Sagengeschichte enthalten ist, daran zwei-
felt jetzt Niemand. Die Verschiedenheit dieses volkstüm-
lichen Epos von dem künstlichen, oder auch, wie Jakob
Grimm sich ausdrückt, des wahren, das heißt natürlich
gewachsenen, wirklich zusammen gesungenen von dem
falschen, das heißt für die Lesung mit feiner Berechnung
nnd kühler Ueberlegung gedichteten oder nachgedichteten,
ist heut zu Tage schon Gemeingut der gesammten Lite-
raturgeschichte, ja, man kann fast sagen, aller Gebildeten
geworden'. Aber der Punkt, worüber in der weiteren Ge-
staltung der Wissenschaft wieder Zweifel auftauchten,
war der, ob nicht in dies lebendige, naturwüchsige Volks-
epos der Griechen dadurch etwas Neues eingetreten sei,
dass — sei es durch einen einzelnen Dichtergeist, sei es
durch den dichterischen Geist einer Periode —
die früher vereinzelten kleineren Lieder um bestimmte
Mittelpunkte gruppirt, dadurch in strengen Zusammenhang
gebracht und auf diese Weise zu großen Epopoeen umge-
bildet wären, und ob wir nicht eben in Ilias und Odyssee,
diesen nach Aristoteles' Ausspruch in meisterhafter Einheit
abgeschlossenen Gedichten, Werke der letzteren Art er-
halten hätten." Man sieht, dass Curtius hier den rich-
tigen Entwicklungsgang mit klaren Worten andeutet; doch
kommt es ihm trotzdem gar nicht in den Sinn, sich nun
auch wirklich von hier aus über die Lachmannsche Theorie
zu erheben und das große organische Volksepos anzuer-
kennen, wie es sich Jacob Grimm dachte, das nicht minder
lebendig und naturwüchsig ist als jene einzelnen Lieder,
1 „Andeutungen über den gegenwärtigen Stand der homerischen
Frage", jetzt in den Kleinen Schriften von Georg Curtius, II, S. 179.
22
Erhardt.
über die man nicht glaubte hinwegkommen zu können.
Man vermochte sich eben nicht von dem Gedanken zu be-
freien, dass es eines Ordners oder der dichterischen Kraft
eines Einzelnen bedurfte, um das hervorzubringen, was in
Wahrheit die schöpferische Tat der Gesammtheit ist, die
Einheit in den Gedichten.
Neuerdings hat man selbst das, was Curtius bereits
für eine feste Errungenschaft der früheren Forschung hielt,
wieder in Zweifel gezogen und überhaupt jede Gemein-
schaft der homerischen Gedichte mit der Volkspoesie in
Abrede gestellt.1 Es kann das auch bei der verseli wom-
1 Gerade einer der tüchtigsten unter den Homerforschern der
neuesten Zeit, Benedictus Niese, in seinem Buche: „Die Entwick-
lung der homerischen Poesie", Berlin 1882, wendet sich vornehm-
lich gegen die, wie er glaubt, falschen Anschauungen von Volks-
dichtung in ihrer Verwertung für die homerische Frage. Seine
Gegnerschaft entspringt aber, wie mir scheint, nur daher, dass er
selbst mit der Bezeichnung Volksepos einen falschen Begriff ver-
bindet. Weder besteht der Gegensatz zwischen Kunstpoesie und
Naturpoesie, den er betonen zu müssen glaubt, — die Dichtkunst ist
überall Kunst, auch wo sie als Volksdichtung im Geiste der Ge-
samtheit wurzelt, — noch steht die Tätigkeit kunstgeübter Sänger
mit dem Begriff des Volksepos im Widerspruch. Vielmehr ist das
große Volksepos ohne eine solche Tätigkeit gar nicht denkbar, wie
sie denn bei Indern, Germanen, Scandinaviern, Franzosen, Finnen
überall in gleicher Weise wie bei den Griechen hervortritt Niese
gelangt auch selbst bei seinen mit offenem Sinn und ohne Vorein-
genommenheit geführten Einzelforschungen zu Ergebnissen, die der
von ihm bekämpften Theorie geradezu als Stütze dienen können.
Wer so wie er allmähliche Entwicklung des Epos unter der Mit-
wirkung Vieler und stetige Fortbildung der Sage in und mit den
Gedichten annimmt, der steht der Theorie des Volksepos in der
Tat weit näher, als er selbst glaubt. Nur führt ihn der Kampf
gegen das Volksmäßige in Betreff der Einwirkung von Mythos und
Sage zu Ueb er treibungen, von denen ihn eine nähere Beachtung,
namentlich der deutschen Sage und Volksdichtung sicher selbst
zurückbringen wird. Männer wie ihn hoffe ich trotz des scheinbar
unversöhnlichen Gegensatzes unserer Anschauungen, doch am ehesten
zu überzeugen, vorausgesetzt, dass sie meinen Auseinandersetzungen
aufmerksames Gehör zu schenken nicht verschmähen.
Zur homerischen Frage.
23
menen, unklaren Art, in der man diesen Begriff nur zu
häufig verwertet findet, nicht Wunder nehmen. Er dient
vielfach nur als bequemer Lückenbüßer, den man überall
da einschiebt, wo die sonstigen Auskunftsmittel versagen;
von wirklicher Vertiefung in die Ideen über Volkstum
und Gesamtgeist ist in der neueren Litteratur liber
die homerischen Gedichte wenig zu spüren. Auf der einen
Seite trifft man die Bezugnahme auf echte, naturwüchsige
Volksdichtung in buntem Gemisch mit Lobhymnen auf das
Universalgenie Homers, der erst die rohe Masse gestaltete,
und auf der anderen Seite drängt man das Volk aus dem
Volksepos hinaus, indem man es durch eine Reihe be-
stimmter einzelner Dichter ersetzt. Der Hauptvertreter
der Theorie des Volksepos in unseren Tagen, Stein thai,
dessen Aufsatz über „das Epos" als das Beste bezeichnet
zu. werden verdient, was in systematischem Zusammen-
hange über den Volksgesang geschrieben worden ist, hat
wenig Beachtung gefunden und mehrfach nur Spott und
Hohn geerntet.1 Man täuscht sich aber, wenn man auf
diese Art eine Lehre abtun zu können glaubt, die sich
nicht, wie man wol meint, auf abstráete Speculation,
sondern auf unleugbare Tatsachen in den Literaturdenk-
mälern selbst stützt und aus diesen erwachsen, nicht in
dieselben hineingetragen ist.
Freilich an einer umfassenden Erforschung und Ver-
wertung dieser Tatsachen hat es bisher gefehlt, und das
ist jedenfalls ein Hauptgrund gewesen, weshalb die Theorie
nicht durchzudringen vermochte. Man hat es versäumt,
sie an den Epen selbst im Einzelnen zu begründen, gleich-
sam an ihrer Hand mit dem Leser zusammen die Ge-
dichte zu durchwandern, um das, was vorher ein allge-
meines Schauen und Ahnen war, zu klarer, sicherer Er-
1 „Das Epos" von H. Steinthal in der Zeitschrift für Völker-
psychologie und Sprachwissenschaft, V, 1 ff. Ein zweiter Aufsatz
von Steinthal „Ueber Homer und insbesondere die Odyssee',, ehend.
VII, 1 ff., steht jenem an Schärfe der Auffassung nach.
24
Erhardt.
kenntnis zu erheben. Es scheint, dass Jacob Grimm gegen
Ende seines Lebens die Absicht hegte, eine ausführliche
Abhandlung über das Volksepos zu verfassen.1) Doch
glaube ich, dass er auch bei Ausführung dieser Absicht
kaum das, was zur festen Begründung der Theorie nun
einmal unerlässlich ist, eine Analyse eines oder mehrerer
der großen Epen im Einzelnen zu geben, sich versucht
gefühlt hätte. Ebenso liegt Steinthals Stärke nicht nach
dieser Seite. Ohne stetige Berücksichtigung des Einzelnen
ist es aber bei so schwierigen Dingen kaum zu vermeiden,
dass auch in der allgemeinen Auffassung Schwankungen
und Missgriffe sich ergeben, die dem Gegner bequeme An-
griffspunkte gewähren. Man muss es sich zum Gesetz
machen, möglichst keinen Schritt über das von der Erfah-
rung Gegebene hinauszugehen, keinerlei bloßen Vermutungen
Raum zu geben, die Theorie ganz aus der eindringenden
Betrachtung der Denkmäler selbst hervorwachsen zu lassen
und immer von Neuem an ihnen nachzuprüfen. Nur so
kann man sich vor Irrtümern und Unrichtigkeiten im
Einzelnen bewahren; aber so, meine ich, kann man auch
mit ziemlicher Sicherheit hoffen, das Endziel wirklich zu
erreichen. Wir haben es ja beim Epos nicht mit über-
sinnlichen Dingen zu tun, deren völlige Erforschung uns
von vornherein versagt ist; sondern es handelt sich um
geschichtliche Tatsachen, die, so schwierig sie zu ermitteln
sein mögen, doch innerhalb der unserem Wissen und Scharf-
sinn gesteckten Grenzen liegen. An Spuren und Zeichen,
die Wahrheit zu erschließen, fehlt es nicht; es kommt nur
darauf an, das Vorhandene richtig zu deuten.
Ein weiterer Grund, aus dem sich das langsame Vor-
dringen der Lehre vom Volksepos erklärt, ist psychologischer
Art. Sie scheint gegen den Augenschein zu streiten, der
uns überall nur einzelne Wesen tätig zeigt und auch eine
Gesamtwirkung nur als eine Summe von Einzelwirkungen
1 Vergi, die Rede auf Lachmann, Kleine Schriften I, S. 157.
Zur hornerischen Frage.
25
zu betrachten lelirt. Vollends ein ¡Gedicht, ein langes,
wolversifieirtes Gedicht als das Werk einer Gesamtheit,
nicht eines Einzelnen oder doch mehrerer hervorragender
Individuen zu fassen, dagegen sträubt sich zunächst unser
ganzes Gefühl, es sträubt sich dagegen wie gegen ein
Aufgeben unserer eigenen Individualität. Die Beweise
müssen schon sehr zwingender Natur sein und ihre Wir-
kung muss lange vorbereitet sein, um diese beiden mäch-
tigen Factoren, den Augenschein und unser Selbstgefühl,
zu überwinden. Doch, denke ich, werden wir gegen beide
heute im allgemeinen schon etwas misstrauischer geworden
sein. Wir haben zu oft die Erfahrung von ihrer Un-
zuverlässigkeit machen müssen, fast jeder Tag lehrt uns
von neuem, wie leicht wir uns durch unser Gefühl irre
führen lassen. So hat sich ja der Augenschein und, gerade
heraus gesagt, die menschliche Eitelkeit auch lange genug
gegen die Annahme des Kopernikanischen Weltsystems
gesträubt, das die Erde aus dem Mittelpunkt der Schöpfung
verdrängte. Aber so gut wie in diesem Falle die Gewalt
der innern Gründe allmählich allen Widerstand besiegte,
so gut wird auch die Theorie vorn Volksepos, die das In-
dividuum aus dem Mittelpunkt der geistigen Welt ver-
drängt, sich langsam und sicher Bahn brechen, und man
wird die Sache dann am Ende nicht weniger begreiflich
und einleuchtend finden, wie jetzt die Kinder in der Schule
die Umdrehung der Erde um die Sonne.
Nach diesen beiden Eichtungen hin nun begrenzt sich
unsere Aufgabe im Folgenden. Es wird einmal darauf
ankommen, durch eine Erläuterung der Hauptpunkte auf
(-irund der durch das Studium der Epen selbst gewonnenen
Anschauungen die Theorie dem allgemeinen Verständnis
näher zu bringen, sie fester zu begrenzen und auszuprägen,
und sodann durch die Analyse der Gedichte im Einzelnen
sie für den, der es sich nicht verdrießen lässt, die müh-
same Wanderung mit mir zurückzulegen, allmählich zur
testen, inneren Ueberzeugung zu erheben.
26
Erhardt.
n.
Ilias J.
Ueberblickt man die Handlung des ersten Gesanges der
Ilias im Ganzen, so wird man nicht umhin können, sie als
wolzusammenhängend und in sich geschlossen anzuerkennen.
Durch Missachtung des Priesters Chryses, der ins Lager
der Griechen gekommen ist, um seine Tochter Chryseis aus
der Gefangenschaft loszukaufen, hat Agamemnon den Zorn
Apollos erregt. Neun Tage lang sucht dieser das grie-
chische Heer durch eine schwere Seuche heim, am zehnten
beruft Achilleus eine Volksversammlung, um über die Maß-
regeln zur Versöhnung des Gottes zu beraten. Der Seher
Kalchas verkündet, nur durch Rückgabe der Chryseis könne
der Zorn Apollos besänftigt werden. Agamemnon, obwol
über die Worte des Kalchas erbost, erklärt sich dennoch
bereit, die Chryseis, die ihm selbst als Beutestück zuge-
fallen ist, ihrem Vater zurückzugeben; er fordert aber
einen Ersatz dafür, und als Achill dies Verlangen als un-
gerechtfertigt und unausführbar zurückweist, droht er, ihm
selbst seine Ehrengabe, die Briseis, zu entreißen. So entsteht
der Zwist zwischen den beiden Fürsten, die Ursache alles
kommenden Leides für sie selbst und die Griechen. Achill
schwört, sich hinfort jeder Teilnahme am Kampfe zu ent-
halten; Agamemnon lässt sich aber dadurch nicht ab-
schrecken, seine Drohung zur Ausführung zu bringen. Er
entsendet Chryseis in die Heimat und bemächtigt sich zum
Ersatz der Briseis. Achill fügt sich der Gewalt des Ober-
feldherrn, wendet sich aber an seine Mutter Thetis mit
der Bitte, sie möge Zeus veranlassen, den Troern den Sieg
zu verleihen, damit die Griechen für den Uebermut ihres
Führers büßen. Thetis kommt dieser Bitte nach, und
Zeus, obwol widerwillig, gibt seine Zusage. Eine häusliche
Scene zwischen Here und Zeus, die durch Hephaests gut-
mütige Dazwischenkunft beigelegt wird, und ein heiteres,
durch Gesang verschöntes Mahl der Götter, nach welchem
Zur homerischen Frage.
27
sich alle mit Sonnenuntergang zur Ruhe begeben, beschließen
den Gesang.
Diese also wolgefügte und zu einem kleineren Ganzen
abgerundete Handlung wird nun durch einen Widerspruch
gestört, der bereits von den alten Kritikern bemerkt
wurde,1 und an den dann Lachmann in seinen „Betrach-
tungen" angeknüpft hat. Während nämlich im ersten Teil
des Gesanges die Götter zwischen dem Olymp und dem
Griechenlager verkehren, und noch am Tage der Volks-
versammlung Athene vom Himmel herab zum Achill kommt
und wieder in den Olymp ins Haus des Zeus zu den andern
Göttern zurückkehrt (A 221 f.; vgl. 195, 208; 44 ff., 55,
474 etc.), berichtet dann V. 423 ff. Thetis ihrem Sohne,
dass die Götter alle mit Zeus schon am Tage zuvor zu
den Aethiopen gereist sind und erst am zwölften Tage von
dort zurückkehren werden ; dieser Umstand verhindert sie
selbst, die Bitte Achills sogleich beim Zeus vorzubringen.
Man darf sich nicht darüber täuschen, dass es die
ganze Erfindung von der Götterfahrt zu den Aethiopen
ist, wodurch die Störung im Zusammenhang des Gesanges
verursacht wird, und die dann auch die Ungenauigkeit in
der Tagesberechnung V. 493 erst zur Folge hat. Fragt
man sich, was diese Erfindung veranlasst haben kann, so
wird man vergebens nach einem tiefern Grunde spüren
(die Erklärungen des Yb zu 419 ff. können wir auf sich
beruhen lassen). Man wird sich überzeugen müssen, dass
nui ein äußerlicher Grund die Veranlassung gewesen sein
kann, und ein solcher ergibt sich in der Tat, wenn wir
die Aethiopenfahrt als ein bloß stilistisches Motiv betrach-
ten, um die Sendung der Thetis mit der Rückführung der
Chryseis in die Heimat zu verbinden. Für diesen Zweck
war es dienlich, einen Aufschub in der Ausführung von
Achills Bitte herbeizuführen, und da bot sich eben die
1 Vgl. die Scholien Va za A 222, Vb zu A 194, 222, 420 ff.
auch zu E 304.
la
28
Erhardt.
Aethiopen fahrt als bequemes Aushülfsmittel dar. Ganz in
derselben Weise wird ein Göttermahl bei den fernen
Aethiopen als ein Motiv ad hoc ¥ 205—7 benutzt, um den
schnellen Aufbruch der Iris aus der Gesellschaft der Winde
zu begründen, und auch dort ergeben sich nicht geringere
Schwierigkeiten aus der Verwertung dieses Motivs als an
unserer Stelle.1 Ebenso wird in der Odyssee, und zwar
dort in passenderer Weise als in A und T, die Abwesen-
heit Poseidons vom Olymp durch eine Fahrt zu den Aethiopen
erklärt; sie, „die fernsten der Menschen" (« 23), dienen
regelmäßig zum Vorwand, wenn die Himmlischen nicht
gleich zur Stelle sind. Um die Opfer der Aethiopen zu
genießen, müssen sich die Götter, wie es scheint, an Ort
und Stelle begeben, während sie sonst im Olymp selbst die
Freuden des Mahls genießen und der Fettdampf der Opfer-
tiere von der Erde zu ihnen emporsteigt. Doch dienen
die Opfer eben wieder zur Begründung der Reise; man
sieht, wie Eins aus dem Andern hervorwächst. Auch die
Zwölfzahl A 493 scheint formelhaft zu sein; sie kehrt in
ebenso schwankendem Gebrauch wie hier auch in Q 31
wieder2 und ist in beiden Fällen für die eigentliche Hand-
lung ganz gleichgültig.
Es ergibt sich also, dass die Fahrt nach Chryse und
die Sendung der Thetis durch ein stilistisches Motiv mit-
einander verbunden worden sind, das den örtlichen und
zeitlichen Bedingungen im ersten Teil des Gesanges nicht
genügend Rechnung trägt. Daraus könnte man weiter fol-
gern, dass die Fahrt nach Chryse ein später eingeschobenes
Stück sei zur weiteren Ausführung von A 308—11, und
das glaube ich in der Tat. Doch mag immerhin die Cliryse-
1 Vgl. die Bemerkung zu M' '205—7.
2 Vgl. zu ß 31. Häufiger als die Zwölfzahl wird die Neunzahl
formelhaft verwertet, gewöhnlich in Verbindung mit der Zehn; vgl,
A 54 f., I 470, 474, □ 664 ff., r¡ 253 etc. Die Vorliebe für die Zahl
9 wird schon in den Scholien angemerkt, V a zu Z 174, Vb zu M 25.
Zur homerischen Frage.
29
fahrt das letzthinzugekommene Stück von A sein, sie als
eine Interpolation zu bezeichnen, sind wir darum noch nicht
berechtigt. Es ist allerdings richtig, dass dies Stück zum
großen Teil aus formelhaften Versen besteht; doch eben das
dient auch zur Entschuldigung gegen die von verschiedenen
Seiten dagegen erhobenen Einwände. Denn wenn man
näher zusieht, wird man bemerken, dass sich diese Verse
in der Hauptsache auf Dinge beziehen, die bei Homer
durchweg formelhaft behandelt werden, auf Schiffahrt,
Opfer und Mahl. In solchen Abschnitten können selbst bei
sonst völlig angemessenem Fortschritt der Handlung durch
falsche Reminiscenzen aus andern ähnlichen Stellen oder
durch unbedachte Anleihen aus dem allgemeinen Schatz
epischer Redewendungen Ungenauigkeiten und Fehler ent-
stehen, die aber liber die Güte des ganzen Abschnittes mit-
nichten entscheiden.1 Sie beweisen nur, dass Beeinflussungen
1 Derartige Mängel in der Verwendung formelhafter Verse sind
in diesem Abschnitt in der Tat gar nicht zu läugnen. Sie begrün-
den an sich kein verwerfendes Urteil, da sie selbst in die besten
Abschnitte des Epos nachträglich durch falsche Reminiscenz
eingedrungen sein können. Gewöhnlich aber und namentlich,
wenn sie innerhalb desselben Abschnitts mehrfach begegnen,
sind sie allerdings ein Beweis später Entstehung. So ist es
in diesem Falle. Schon A 432 schließt sich oí schlechter an das
V orhergehende an als in iz 824 und anderen ähnlichen Stellen; ebenso
wird man À 472 ::av7][j.spcoi nicht loben können. Namentlich aber
passen A 469 und 470 schlecht aneinander, wenigstens in dieser un-
mittelbaren Aufeinanderfolge. Richtiger ist der Zusammenhang in
' 92, 174 ff. und y 67, 388 ff'.; in beiden Fällen folgt auf das Mahl
•später aus besonderer Veranlassung eine Spende (vergleiche
auch o 270 ff. nach u 250 ff'.). Dagegen in \ scheinen die Verse
470 ff. nur die Fortsetzung des Gelages zu bezeichnen (vgl. die
Spende V. 462), und wenn man diesen Gebrauch auch gelten lassen
will, so muss man dann doch zugeben, dass der formelhafte Vers *69
'inpassend verwertet ist. Vergleicht man die vielen ähnlichen
Stellen, in denen der Vers avràp èxeì xôaioç vorkommt, so wird
man finden, dass danach gewöhnlich im Folgenden entweder
Jemand das Wort ergreift oder die Schmausenden zur Ruhe gehen;
30
Erhardt.
der Gesänge untereinander stattgefunden haben, also in
diesem Falle, dass der erste Gesang der Ilias nicht zu-
gleich der zuerst unabhängig yon den andern fertig ge-
dichtete und völlig abgeschlossene gewesen sein kann.
Höchst bemerkenswert ist es freilich, dass nicht nur
das Motiv der Aethiopenfahrt, mittels dessen die Fahrt
nach Chryse angeknüpft ist, in der Odyssee passender ver-
wertet ist und daher dort ursprünglicher erscheint als in
der Ilias, sondern dass auch in allen den Stellen, an denen
die Chrysefahrt Verse mit der Odyssee gemein hat, der
Vergleich zu Gunsten der Odyssee ausfällt (vgl. die Stellen
in der Anmerkung). Ich nehme auch keinen Anstand,
daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass in der Tat
eine Beeinflussung dieses Teils von A durch die Odyssee
stattgefunden hat, und zwar durch Stücke derselben, die
eine entfernte, aber für A keineswegs günstige Parallele bietet nur
í 222 ff. In a 146 ff. kehren zwar beide Verse gleichfalls neben-
einander und ohne Beziehung auf eine Spende wider; aber dort
stehen sie in umgekehrter Keihenfolge, und das ist für diesen Fai!
jedenfalls die richtigere Anordnung. Jeder Gedanke an eine Aen-
derung von A 469, die für jeden Rhapsoden, wenn er sie für nötig
gehalten hätte, ein Leichtes gewesen wäre, ist natürlich auszu-
schließen. — Bemerkenswert ist ferner der Vergleich von A 462 f.
mit y 459 f und ß 425 f. Die Verse in A sind dieselben wie in y;
aber während in y sich die Beziehung des ys'pwv auf Nestor und die
der v£oc auf dessen Söhne oline Weiteres ergibt, ist in A zwar die
Beziehung von yeptov auf Chryses gleichfalls leicht und ungezwungen,
die von veoi dagegen, mag man nun an Odysseus und seine Gefährten
oder an die xouooi 470 denken, nicht in demselben Maße. In B
weichen bei im Uebrigen ganz gleicher Darstellung gerade diese
beiden Verse entsprechend ab, während in A der ys'pojv zum Anschluss
an die Stelle in y verführt zu haben scheint. — Gegen den eigent-
lichen Fortschritt der Handlung ist in der Chrysefahrt trotz dieser
Mängel im Einzelnen nichts Wesentliches einzuwenden, und einen
unpassenderen Vergleich als „in der Schilderung von Ritterfesten
schwelgende altdeutsche Lieder" konnte Haupt zu diesem einfachen
Stücke gar nicht beibringen; dagegen fand dann Bäumlein dasselbe
wieder zu mager!
Zur homerischen Frage.
31
man gewöhnlich zu den jüngsten rechnet. Die Erkenntnis
dieses Sachverhalts ist für die Beurteilung der Gedichte
von großer Bedeutung; sie zwingt aber, wie bemerkt,
keineswegs, die Chrysefahrt samt der sie einleitenden
Aethiopenfahrt als eine Interpolation zu betrachten, son-
dern nur als ein verhältnismäßig spät gedichtetes Stück
des Gesanges.1 Von einer wirklichen Interpolation zu reden
wären wir nur berechtigt, wenn wir etwa eine Beein-
flussung durch ein Drama des Sophokles oder Euripides
statt durch die Odyssee, bezw. eine spätzeitliche und be-
trügerische Einschaltung nachweisen könnten.
Doch bietet denn die Fahrt nach Chryse die einzigen
Spuren einer allmählichen Entstehung des ersten Gesanges?
Man braucht Lachmanns Verfahren, den Gesang in zwei
Hälften zu teilen, durchaus nicht zu billigen, und sind
meine Bemerkungen über die Aethiopenfahrt richtig, so
fällt damit sogar jede äußere Veranlassung zu einer solchen
Scheidung fort. Trotzdem kann man es aus anderweitigen
Erwägungen wahrscheinlich finden, dass in der Tat die
zweite Hälfte von A nicht ursprünglich und notwendig mit
der ersten verbunden war. Im ersten Gesänge der Ilias
wird der Knoten für die ganze weitere Handlung ge-
schürzt; es ist der Zorn Achills, der als beherschendes
Motiv des Epos in den Vordergrund gestellt wird. Aber
man bemerke, dass die verderbliche Wirkung dieses Zorns
schon in A in doppelter Weise begründet wird. Einmal
ist es das Fernbleiben des tapfersten und gefürchtetsten
1 An A 420, 427 könnte sich früher V. 428 etwa in der Weise von
" 468 : tDç apa çwvriaaa aTrs'ßT] 7rpcç jxaxpòv "OXujjx&v und daran dann
gleich A 498 ff. geschlossen haben; doch scheint r;zpir¡ A 557 auf 497
zurückzuweisen, wenn es nicht etwa nur = ,,in Kebel gehüllt" zu
erklären ist (vgl. A 359 r¡tx ó¡j.í/Xr]). Solche Kombinationen haben
aber nur den Wert, uns den früheren Zustand, v/ie er möglicher-
weise, aber keineswegs sicher bestand, einigermaßen zu veranschau-
lichen. Weitergehende Ansprüche der Kritik können nicht ent-
schieden genug zurückgewiesen werden.
32
Erhardt.
Helden vom Kampfe, wodurch an sich die Sache der Grie-
chen geschwächt wird, und die Troer unter Hektors Füh-
rung in Vorteil kommen (vgl. A 234 ff. und 338 if.).
Sodann aber, in Anschluss und Verstärkung dieses Motivs,
ist es die Hülfe, die Zeus selbst auf Bitten Achills den
Troern gewährt, wodurch vollends das Verderben der
Griechen besiegelt wird. Beide Auffassungen bilden zwar
keineswegs einen Gegensatz zu einander; aber sie stehen
doch auch nicht ganz unter demselben Gesichtspunkt. In
den folgenden Gesängen waltet bald die eine, bald die an-
dere vor; doch ist das Eingreifen des Zeus zu Gunsten
der Troer das Wichtigste und eigentlich Entscheidende
geworden, wodurch der Zorn des Helden erst wirksam wird.
Die Beziehungen auf die durch das Fernbleiben Achills an
sich geschaffene Lage treten nur in B und H deutlicher
in den Vordergrund.
Dies führt uns weiter zur Erörterung einer Frage,
die schon die Alten beschäftigte, nämlich wie haben wir
uns das Verhalten der Troer und Griechen vor Ausbruch
des Zwistes zu denken? Was beginnen sie während der
anderthalb Wochen, die bis zur Rückkehr der Götter von
den Aethiopen verstreichen ? Man hat gemeint, die Troer
hätten sich bisher aus Furcht vor Achill hinter den Mauern
gehalten, und die Schlacht, die in B eingeleitet wird, sei
überhaupt die erste nach jahrelangem Zwischenraum. Diese
Ansicht wurde schon von Zenodot vertreten, der deswegen
A 488—92 athetirte und V. 491 ganz wegließ.1 Es gibt
auch eine Anzahl Stellen in der Ilias, die entschieden diese
Vorstellung erwecken: E 788 f., 1 352 ff., O 721 ff., 2' 287
(vgl. auch y 107). Doch ebenso entschieden beruhen an-
dere Stellen wieder auf der Vorstellung, dass auch vor
dem Zwist zwischen Troern und Griechen ununterbrochen
1 Vgl. auch die Scholien zu A 1, 24, 0 720 etc.; von Neueren
Ottfr. Müller: Geschichte der griechischen Litteratur I, 87 u. A.;
vgl. auch Grote II, 250 f. Note.
Zur homerischen Frage.
33
Kämpfe stattgefunden hatten, bei denen "bisher durch Achills
Tapferkeit die Griechen im Vorteil gewesen waren, nun
aber, da sich jener zurückzieht, die Wage sich zu Gunsten
Hektors und der Troer neigt. Nur unter dieser Voraus-
setzung hat doch auch Achills drohende Vorausverkün-
digung des Unheils, das durch Hektor über die Griechen
kommen wird, rechten Sinn, und alle anderen Hindeutungen
in A gehen von derselben Voraussetzung aus ^/61, 226 f.,
240 ff', 284, 340 f., 521. Dass also auch während der Zeit
rier Aethiopenfahrt Achill als den stetig fortdauernden
Kämpfen fern bleibend geschildert wird A- 490 ff., ist
keineswegs zu tadeln, sondern ganz im Sinne des Uebrigen
erfunden; möglicherweise gehörten sogar diese Verse schon
einer älteren Fassung des Gesanges an. In B, da Aga-
memnon die Griechen rüstet, zweifelt er keinen Augenblick
daran, dass die Troer die Schlacht auch annehmen werden
(vgl. B 381 ff., 362 ff), und als die Troer dann später von
Diomedes besiegt sind, der, wie sie selbst sagen, ihnen
fürchterlicher erscheint als vormals Achill {Z 99), da kehren
sie trotzdem nicht zu ihrem früheren Brauch, sich hinter
den Mauern zu halten, zurück, sondern nehmen wohl oder
übel den Kampf wieder auf, 0 55 ff. Man vergleiche ferner
einzelne Hinweise auf frühere Schlachten, wie B 798,
Z 124, H 113 f.. K 548 ff, T 317. Zu dieser letzteren
Stelle erkennt auch das Scholion des Vb in Gegensatz zu
Zenodot den richtigen Sachverhalt an: a<r¡[isiméov âh ön
nç)ô %r¡g firpLÔoç nagaxô^siç ¡¡Cav.
Man kann auch in dieser Beziehung nicht von einem
scharf ausgeprägten Gegensatz sprechen; aber ein gewisses
Schwanken in der Auffassung ist doch unverkennbar.
So ist es aber im Epos mit allen Dingen. Während in A
Apollo ganz selbständig handelt und allein über das ganze
Heer der Griechen schweres Unheil zu verhängen imstande
ist, ohne dass sich die griechenfreundlichen Götter um ihre
Schützlinge sonderlich kümmern, tritt dann später die
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 1. 3
34
Erhardt.
Gegnerschaft der Götter untereinander oft in weitgehendster
Weise zu Tage. Selbst Zeus kann die Griechen nicht mit
vorübergehender Niederlage strafen, ohne dein erbittertsten
Widerstand der Here und Athene zu begegnen, obwol doch
die Göttinnen selbst dem Achilleus für die ihm angetane
Beleidigung reiche Buße, für die der Sieg der Troer wieder
die Voraussetzung bildet, verheißen haben [A 213 f.).
Ueberhaupt wechseln die Vorstellungen von den Göttern
in den ganzen Gedichten; bald zeigen sie sich allem Ir-
dischen hoch entrückt und halten die Sterblichen kaum
der Beachtung wert, bald wieder sind sie in jede Kleinig-
keit verwickelt; bald erscheinen sie wahrhaft göttlich und
über alles menschliche Maß weit erhaben, bald wieder
unterliegen sie allen natürlichen Bedingungen nicht viel
anders als die Sterblichen auch. Als Zeus den armen
Hephästos vom Olymp herabwirft, da dauert es einen
ganzen Tag, bis er unten auf Erden ankommt, a 592
(vgl. das Scholion Vb zur Stelle). Athene, von Here ent-
sandt, erreicht die Versammlung der Griechen schnell wie
der Gedanke, A 194. So gelangen die Götter bald in
Einem Sprung vom Himmel zur Erde, bald benutzen sie
gleich den Sterblichen einen Wagen und scheinen dies
Hülfsmittel kaum entbehren zu können. Zeus, der Vater
der Götter und Menschen, rühmt sich selbst in A und sonst
widerholt (A 566 f., vgl. A 580 f., 0 10 ft'., 0 18 ft. etc.),
für sich allein allen andern Göttern überlegen zu sein.
Dagegen hören wir A 396 ff. wieder, dass er ohne die
Dazwischenkunft der Thetis und des hundertarmigen Bria-
reos einmal in große Gefahr gekommen wäre, von Posei-
don, Here und Athene gebunden zu werden. In derselben
Weise schwanken die Vorstellungen über den Göttersitz,
den Olymp; bald ist es der Himmel in unserm Sinne hoch
oben über den Wolken in ewiger Klarheit, bald ist es das
vielgipflige, schneebedeckte Gebirge im Norden Griechen-
lands (vgl. unten zu A 420). Dasselbe Schwanken ist
aber auch bei den irdischen Dingen zu beobachten, in den
Zur homerischen Frage.
35
sittlichen Anschauungen, in den örtlichen und zeitlichen
Bestimmungen, in unzähligen einzelnen Fällen, die größten-
teils schon von den Alten bemerkt worden sind. Ich hebe
liier nur noch einen Fall heraus, der auch für A Bedeu-
tung hat. Wenn A 396 Achill den Ausdruck gebraucht,
er habe oft zu Hause von seiner Mutter gehört, oder wenn
II 222 eine Lade erwähnt wird, die Thetis ihrem Sohne
vorsorglich in den Krieg mitgegeben hat, oder endlich in
2 widerholt die Befürchtung ausgesprochen wird (I 57 if.
= 438 ff., 89 f., 331 f.), Thetis werde ihren Sohn, den
sie erzogen und in den Krieg gesandt hat, nicht wieder
im elterlichen Hause als glücklich Heimkehrenden be-
grüßen, so liegt allen diesen Andeutungen doch die Vor-
stellung zu Grunde, dass Thetis im Hause des Peleus als
Hausfrau waltete, dort ihren Sohn aufzog und auch jetzt
seiner Heimkehr harrt. Die alten Kritiker merkten
daher mit gutem Grunde den Gegensatz der Ilias zu
der späteren Sage an, nach welcher Thetis das Haus des
Peleus schon kurze Zeit nach der Geburt Achills verließ,
und dieser dann vom Kentauren Cheiron erzogen wurde
(vgl. die Scholien zu den angegebenen Stellen und zu II 37;
Apollod. in, 134 ff.). Ist nicht aber trotzdem eben diese
spätere Sage wieder in der Ilias selbst begründet? Sie
kennt Cheiron als Lehrer Achills (über ihn und Phoinix vgl.
unten zu I), und überall, wo uns Thetis begegnet, taucht
sie vom Grunde des Meeres auf, wo sie unter den übrigen
Töchtern des Nereus beim greisen Vater weilt. Wir werden
also auch in diesem Fall ein Schwanken in den Vorstell-
ungen anerkennen müssen. Thetis ist einerseits die Ge-
mahlin des Peleus, andererseits die Nereide, die Meer-
öymphe ; beide x4.uffassungen gehen in der Ilias neben-
einander her und sind erst durch die spätere Ausbildung
^er Sage in systematischer Weise ausgeglichen worden.
Nach diesen Bemerkungen, die beträchtlich hätten
erweitert werden können, wenn ich mich nicht auf den
3*
36
Erliardt.
Kreis yon A hätte beschränken wollen, kommen wir zu
unserem Ausgangspunkt zurück. Wir bemerkten, dass
die verderbliche Wirkung yon Achills Zorn in zwiefacher
Weise begründet wird. Aber während die andern Schwank-
ungen und Ungleichheiten, die wir beobachteten, sich teil-
weise fast zu Widersprüchen verstärkten, bildet in diesem
Falle die eine Begründung nur die Erweiterung und Er-
gänzung der andern. Wir sind daher wol zu der Ver-
mutung berechtigt, dass die beiden Hälften des ersten Ge-
sanges nicht auf einmal erfunden und ausgeführt sind, wie
denn alle derartigen Verschiedenheiten gegen die einheit-
liche Conception der Gedichte sprechen; keineswegs aber
wird dadurch die Annahme begründet, dass die zweite Hälfte
von A jemals selbständig bestanden habe. Der Gesang bildet
ein Ganzes, in dem zwar das Zusammenwirken vieler Fac-
toren erkennbar ist, die aber nicht unabhängig für sich
stehen, sondern sich alle einer höheren Einheit fügen.
Auch die erste Hälfte von A enthält Spuren, allmäh-
licher Erweiterung und Zudichtung. Man hat als solche
das ganze Stück A 245—303 bezeichnet, und ich teile
diese Ansicht, obgleich auf dies Stück dann im neunten
Gesänge, 1 106 ff., bereits wieder deutlich Bezug genommen
wird. Die eigentliche Handlung ist mit V. 244 erschöpft.
Achill hat seine Aufwallung so weit bezwungen, dass er
von einem tätlichen Angriff auf Agamemnon absteht; aber
er wird die Griechen durch sein Fernbleiben vom Kampfe
das ihm angetane Unrecht schwer büßen lassen. Wenn
nun der greise Nestor einen Versöhnungsversuch macht,
so ist das an sich vortrefflich und der Lage der Dinge
ganz entsprechend. Auch dass dieser Versuch ganz
wirkungslos bleibt, liegt in der Natur der Sache. Aber
auffällig ist dennoch die Art, wie sich Agamemnon und
Achill darauf äußern. Agamemnon beklagt sich über
Achills Herschsucht. Achill antwortet: es wäre schmach-
voll, dir in allen Dingen nachzugeben; das befiehl an-
Zur homerischen Frage.
37
dem.1 Aber, fügt er hinzu, kämpfen werde ich nicht um
das Mädchen; willst du mir dagegen sonst noch etwas
nehmen, dann nimm dich in Acht! Mit andern Worten
heißt das doch : in dem, was du wirklich verlangst, werde
ich dir nachgehen; aber hüte dich, sonst noch etwas zu ver-
langen! Die Alten fühlten das Anstößige solcher leeren
Drohung im Munde Achills; sie suchten sich dadurch zu
helfen, dass sie erklärten, die als Beute verteilten Frauen
zurückzufordern, sei Agamemnon als Oberfeldherr berech-
tigt, da er sie selbst als Ehrengabe verliehen habe; daher
gebe A chill hierin nach (vgl. die Scholien Yb zu J 300,
I 367). Doch das ist eine bloße Klügelei; in A selbst ist
die gewöhnliche Auffassung, dass die gefangenen Frauen
so gut wie alle andere Beute gemeinsam verteilt wurden,2
und gerade die Wegnahme der Briseis war die schlimmste
Vergewaltigung, die Achill treffen konnte. Erwägt man,
dass Achill vorher schon Alles gesagt hatte, was für die
Handlung von Bedeutung ist, so kann man sich nicht
wundern, dass bei einer Weiterausspinnung der Erzählung
durch Nestors Vermittlungsversuch die nochmalige B,ede
1 A 296 allein einzuklammern, ist zwecklos. — Am Schluss von
Nestors Rede wird derselbe Gedanke widerholt ausgedrückt, woraus
man auch auf einen Zusatz schließen könnte; doch kommt es dabei
zugleich auf die Auffassung von V. 288 an, die ich nicht für so
zweifellos halte, wie die meisten neueren Erklärer.
2 Vgl. A 123 f., 135, 162, 276, 368 f. etc.; ebenso B 227 f.,
H 56, 2 444. Freilich im neunten Gesang 1 367 f., 330 ff. stellt
Achill die Sache so dar, als ob Agamemnon allein über die Ver-
teilung der Beute zu bestimmen hätte (vgl. auch (-) 289 ff., I 136 ff. ;
dagegen A 127 f ist es Achill, der dem Agamemnon verspricht: wir
Achäer werden dir später dreifachen und vierfachen Ersatz für
Chryseis schaffen). In Wix-klichkeit werden wir ein Zusammenwirken
der Fürsten in offener Lagerversammlung anzunehmen haben, doch
ö0, dass natürlich der Oberfeldherr das entscheidende Wort hat und
auch wol Manches nach Belieben einrichten kann. Aelinlich er-
scheint aueh das Verhältnis in Pylos nach Nestors Erzählung
A 685 ff.
38
Erhardt.
Achills einige Verlegenheit bereitete. Ein Scholion des Vb
zu A 247 wirft die Frage auf, warum sich keiner von
den andern Fürsten außer Nestor ins Mittel legte. Das
Gefühl, das dieser Frage zu Grunde liegt, wird auch die
Erweiterung in A eingegeben haben, und sollte einmal
auch von den übrigen Fürsten außer Agamemnon und
Achill einer das Wort ergreifen, so war Nestor gewiss die
geeignetste Persönlichkeit. Aber die Schwierigkeit, welche
die Wiederanknüpfung des abgerissenen Fadens bereitete,
wurde nicht ganz überwunden, und namentlich Achills Rede
verrät uns eben, dass wir es hier in der Tat mit einer
Zudichtung zu tun haben.
Die sonstigen Spuren allmählicher Fortbildung in A,
soweit sie sich im Einzelnen zeigen, werden ihre Erledigung
in der Zusatznote finden. Zum Schluss sei hier nur noch
auf die bemerkenswerte Namengebung der episodischen
Personen des Gesanges hingewiesen. Chryses und Chryseis
sind nach der Stadt Cliryse genannt, der sie entstammen
und wohin auch Chryseis zurückgebracht wird, während
ihre Gefangennahme merkwürdiger Weise nach A 366 ff.
(vgl. Z 414 ff ) bei der Eroberung des hypoplakischen The-
bens erfolgt war. Ebenso ist Briseis, v.nvQr¡ Bqio^oç, viel-
leicht nach der Stadt Bresa genannt; doch kommt dieser
Name in den Gedichten nicht vor, und nach B 690 f. wurde
Briseis bei der Eroberung von Lyrnessos gefangen ge-
nommen (über die Gefangennahme der beiden vgl. die
Scholien zu A 366 und Vb zu A 18). Dass Patroklos A 307
zuerst bloß mit dem Patronymicon „der Menoitiade", also
als eine wolbekannte Persönlichkeit eingeführt wird, ebenso
wie auch „der Atride" A 7 (vgl- A 16, 24), wurde schon
von den Alten bemerkt (vgl. das Scholion zur Stelle, des-
gleichen über die Einführung Hektors das Scholion Vb zu
A 242). Nach der Lesart Zenodots wurde auch Kalchas
bei seiner ersten Erwähnung a 69 nur mit dem Patrony-
micon bezeichnet (¡lávxig 6saroQíór¡g statt Kál^aq &) und in
der Odyssee erscheint Eumaeos zuerst 640 nur als „der
5
Zur homerischen Frage. 39
Sauhirt Odysseus selbst wird in a erst V. 21 mit Namen
genannt, während man schon vorher V. 13 statt tòv ô'oïov
eine bestimmtere Bezeichnung erwarten sollte. Auch diese
Eigentümlichkeiten erklären sich nur, wenn wir uns die
ersten Gesänge der homerischen Gedichte nicht in gleichem
Maße als die zuerst erfundenen und gedichteten vorstellen,
wie bei andern Dichtungen. Aus der Theorie des Volksepos
empfangen sie ihre einfache und völlig befriedigende Er-
klärung.
Aus den Scholien zu A 74 und Q 77 ist ersichtlich, dass A 74
xeXeaí ¡jle nach Y. 62: àlX aye Br¡ xtva p-ávxtv épeíop.ev r¡ ísprja nicht ohne
Anfechtung bei den Alten geblieben war. Man rechtfertigte die
Worte in A durch den Hinweis auf die Parallele in Í2 74, 77 ; vgl.
das Scholion zu letzterer Stelle: tri òvópiaxo; p¡ xaXeaavxoç xou
Ate; r¡ Tzplç roCro xexayjxE;vr¡ 'Ipiç ú'-axoúei, mot s xa\ oxav ó AyjXXeuç Xeyri
xocvóxepov ,,àXX aye or; xtva [j.ávxtvu euXoyw; ouv xáhv èpsi (o KàXyraç)
„W ' A/tXeu xeXeai ¡o.e." Aber in £2 liegt die Sache doch etwas anders
als in A ; denn nicht darin liegt der Anstoß, dass sich Kalchas nach
der Aufforderung in A 62 erhebt, wie Iris im gleichen Falle in £2,
sondern darin, dass er den ganz bestimmten Ausdruck xeXeai p.e ge-
braucht. Doch darf man in solchen Dingen nicht allzu scharf sein
uud sich vor allem nicht zu vorschnellen Schlüssen verleiten lassen.
Im Folgenden beachte man Y. 76 die Umwandlung des formelhaften
Yersausganges ctù Sk aùvtì-eo xaí pieu axouaov (Z 384, o 318, — 259 etc.)
in ai Se aúvfreo xaí ¡j.oi opioaaov, und dazu V. 93 die Zurückbeziehung
von oye auf Apollo in V. 75. — Aelinlich wie in A 74 liegt die
Sache Á 886; Achill erzählt seiner Mutter, nach der Verkündigung
des Sehers habe er sogleich befohlen, den Gott zu versöhnen, wäh-
rend sich dazu doch Agamemnon selbst schon 'vor Achills Auffor-
derung bereit erklärt hat, vgl. 116, 127, 134. Doch ist auch das,
zumal in einer Recapitulation, eine sehr verzeihliche Ungenauigkeit. —
Etwas bedenklicher ist es, wenn Achill A 856 sagt, Agamemnon habe
sieh seiner Ehrengabe bemächtigt, aixcç àxoópac. Agamemnon hat
allerdings V. 185 gedroht, selbst die Briseis zu nehmen, aùxoç twv
xXtat7]voe, vgl. 137, 161. Er hat dann die Herolde geschickt mit der
Drohung, falls Achill sich nicht gutwillig füge, werde er selbst
mit mehreren kommen, 324. Aber Achill hat nachgegeben,
und so ist aùxoç àicoupaç nicht so korrekt wie die Darstellung in
der Recapitulation 391 f., die die Herolde berücksichtigt. Die Er-
klärung des Scholion Vb A 556 àvx\ xou eXaßev où tteiîKh, àXX a-sou-
40
Erhardt.
ptoaç ist gekünstelt. Derselbe Ausdruck kehrt dann auch A 507, 1}
240 wieder, dazu Ï 89 ccÙtoç àrrpptov; vgl. Í 107 ff., S 445, T 278,
auch II 58 f. und das Scholion Vb dazu. — A 177 wurle atbetirt
als aus E 891 entlehnt; in der Tat dürfte die a.syndetische An-
einanderreihung der Gedanken in den Versen 175 ff weniger im
Affekt des Redenden als in späterer Erweiterung ihren Grund haben.
— A 209 kann man wol als eine nicht sehr glückliche Widerholung
von 196 bezeichnen; denn während der Vers dort passend Heres Ab-
sicht, den Streit zu schlichten, begründet, kann er dem Achill gegen-
über schwerlich zur Empfehlung von Heres Rat dienen. In diesem
Falle war also Zenodot, der A 208 f. athetirte, wol von richtigerem
Gefühl geleitet, als Aristarch, der die Athetese von A 195 befürwortete.
Ich halte außerdem V. 211 für einen spätem Zusatz mit Rücksicht
auf A 225 ff. u. 293 ff.; vgl. die verschiedenen Erklärungen dieses
Verses in Wolfs „Vorlesungen über die vier ersten Gesänge von
Homers Ilias" herausgegeben von L. Usteri, und in Naegelsbachs
Anmerkungen zur Ilias I—III; die einfachere Erklärung Wolfs dürfte
doch die richtigere sein. — Aehnliche Zusätze sind vielleicht auch
A 232 und 268. Wenn an ersterer Stelle Achill dem Agamemnon
zuruft: Du hättest jetzt zuletzt gefrevelt, wenn Du nicht über
Nichtsnutzige herschtest, so sollte man doch meinen, dass sich die-
ser Vorwurf in erster Linie gegen ihn selbst richtet, da er ja am
nächsten von Agamemnons Frevel betroffen war. Zenodoth athetirte
die gauze Stelle 225—233 ; vgl. noch unten zu B 242. A 268 ist von
der Art jener Zusätze, wie sie Aristarch vielfach anmerkte. Dagegen
halte ich die Athetesen in der Chrysefahrt A 444 (vgl. die Scholien
zu <I> 479 f.) und 474 nicht für erforderlich. — Auf den Widerspruch
zwischen A 420 îtpôç "OXupuov àyàvvtcpov (vgl. 2 186, 616) zu Od. S.
42 ff. oute 7TOT , op.ßpw Ssúsxai outs /ttòv ircijtíXvaTat wird im Scholion
hingewiesen. — Ueber die verschiedenen Anschauungen betreffs der
Lahmheit Hephästs A 590 ff., 2 395 ff vgl. die Anmerkung zu letz-
terer Stelle.
Die Rede, ratio, Xoyo;
41
Die Rede
(ratio, Xóyog).
Ermittlung der geistesgeschich.tlichen Stelle
des Gottesgedankens.
Yon Karl Schulz.
Y orbemerkimg.
Die auf Seite 346 bis 352 des vorigen Bandes dieser
Zeitschrift erschienene Beurteilung, die Herr Professor Dr.
G. Glogau in Kiel meiner Schrift „Der Gottesgedanke"
in dem Aufsatze „Zur neuesten Philosophie" hat zu Teil
werden lassen, hat mich dazu ermutigt, mich darum zu
bemühen, dass wenigstens ein Teil von dem Abschnitt über
„die geistesgeschichtliche Stelle des Gottesgedankens", der
den Hauptteil meiner Schrift hatte bilden sollen, aber
aus Rücksicht auf den von der Verlagshandlung mir vor-
läufig zugebilligten Raum hatte zurückgelegt werden
müssen, in dieser Zeitschrift zur Verölfentlichung gelangen
könne. Aus den Andeutungen auf Seite 184 meiner Schrift
ist die Vermutung entstanden, der betreifende Abschnitt
sei noch nicht geschrieben. Herr Professor Glogau wünschte
mir in liebenswürdigster Weise, dass mir „Muße und die
rechte geistige Frische für die gründliche Förderung des
im Titel des Werkes bezeichneten Vorhabens voll und bald
zu Teil werden möge." Glücklicherweise hatte ich nur
nötig, die Niederschrift, die ich seit den letzten acht
Monaten nicht mehr angesehen hatte, da ich unter den
obwaltenden Umständen über ihre Verölfentlichung durch
Druck in Verlegenheit war, noch einmal gründlich durch-
zudenken.
1. Die Macht des Gottesgedankens in der
Geschichte der Menschheit.
Der Gottesgedanke ist nicht vor den Richterstuhl eines
ohne Rücksicht auf ihn geprüften Denkens zu stellen. Das
42
Schulz.
Denken muss vielmehr mit Rücksicht auf ihn geprüft
werden. Diese Prüfung- muss eine entwicklungsgeschichtliche
Betrachtung sein, die sich zur geistesgeschichtlichen ver-
tiefen muss. Der Gottesgedanke ist eine entwicklungsge-
schichtliche Tatsache, und es gilt, seine entwicklungsge-
schichtliche Stelle zu ermitteln. Das ist's, was ich früher
zur Geltung zu bringen gesucht habe.
Ich schicke mich nun an, diese Ermittlung zu ver-
suchen. Die Ueberschrift „Die Rede (ratio, Xóyog),u die ich
der Untersuchung gegeben habe, deutet nur den Weg an,
auf dem ich hauptsächlich zur Ermittlung der geistes-
geschichtlichen Stelle des Gottesgedankens gelangt bin,
nämlich auf dem Wege der Erforschung der Sprach-
bildung und alles dessen, was mit ihr im innigsten Zu-
sammenhange steht. Das Bedeutsamste an der menschlichen
Sprache ist eben das, dass sie Rede ist. Wie das sie als
solche bezeichnende Wort „Rede" nur die deutsche Form
des Wortes ratio ist, dem das sowol Vernunft, als Rede
bezeichnende griechische Wort Xóyog entspricht, so ist sie
auch in der Tat die lautlich in die Erscheinung
tretende Vernunft. Und als solche soll sie hier dar-
getan werden, nicht um ihrer selbst willen, sondern zu
dem Zweck, die geistesgeschichtliche Stelle des Gottes-
gedankens zu ermitteln. Die einzelnen nachfolgenden Be-
trachtungen werden daher Ueberschriften haben, in denen
nicht die Rede, sondern der Gottesgedanke in den Vorder-
grund gestellt ist.
Ich beginne damit, auf die Macht hinzuweisen, welche
der Gottesgedanke über die Menschen ausgeübt hat. Ich
kann mich dabei auf das beziehen, was ich in der zweiten
Abteilung meiner Schrift unter Diltheys Anleitung über
die Metaphysik als Gotteslehre gesagt habe. Darauf
Averde ich fussen und es hier zu meinem besonderen Zwecke
verwenden.
Hätte ich mich nun nicht darauf beschränken sollen,
in der Ueberschrift zu sagen, dass von der Macht des
Die Rede, ratio, )oyoc.
43
Gottesgedankens „über die Menschen" die Rede sein soll ?
Warum habe ich denn von seiner Macht „in der Geschichte
der Menschheit" gesprochen? Ich wäre mit jener Ueber-
schrift dem Streite, ob es überhaupt eine Menschheit, und
ob es eine Geschichte der Menschheit gibt, aus dem Wege
gegangen. Das sollte aber eben nicht geschehen! Denn
die Frage, ob es eine Menschheit gibt, kann gerade ihre
endgültige Lösung finden durch die Beantwortung der
Frage, welche Bewandtnis es mit dem Gottesgedanken hat.
Kann diese Beantwortung so ausfallen, dass damit der
Gedanke des „Reiches Gottes" gerechtfertigt wird, so
muss es feststehen, dass mit der Verwirklichung des Reiches
Gottes auch die Menschheit im höchsten Sinne des Wortes
verwirklicht wird, und dass wenigstens die Vorbedingungen
dazu schon jetzt vorhanden sein müssen, dann bezeichnet
das Wort „Menschheit" eben nicht, wie man gemeint hat,
ein bloßes „Gedankending", eine bloße „Verallgemeinerung".
Dass es das nicht bezeichnet, kann hier ja vorläufig
nur leicht gestreift werden.
Wer an dem Worte „Menschheit" Anstoß nimmt, dem
müsste eigentlich auch das Wort „Mensch" anstößig sein,
denn ursprünglich bedeutet „Mensch" so ziemlich das-
selbe. Es stammt von got. manna = dvr¡q, av&Qconog, ahd.
u. mhd. man = Mann, d. i. Denkender, und es verhält sich
dazu wie humanus zu homo. Die jetzige Endung „seh"
lautete got. isks, ahd. isco, ischo, escho, mhd. ische,
esche, sehe, auch bloß sen. Das Wort bedeutete ursprüng-
lich „dem Manne eigen, eigentümlich," auch „vom Manne
herstammend." Es war also ursprünglich nicht Bezeichnung
der Person selbst, sondern das ihr Zukommende, Eigen-
tümliche. Es besagte, dass alle, die „Mann" genannt
werden, von solchen Personen abstammen und gemeinsame
Eigentümlichkeiten haben. Der ursprüngliche Sinn des Wortes
„Mensch" besagte, seitdem auch Personen damit bezeichnet
wurden, ausdrücklich das Gegenteil davon, dass die Zu-
sammenfassung dieser Personen nur ein „Gedankending",
44
Schulz.
eine „leere Verallgemeinerung" wäre. Was „Mensch" ge-
nannt wurde, von dem wurde gerade eben die Zugehörig-
keit zu dem, was Denkender, d. i. „Mann" genannt wurde,
ausgesagt. Im Grunde besagt das Wort „Menschheit" auch
nur dieses, nur noch stärker. Die Silbe „heit" war ur-
sprünglich ein selbständiges Wort; ahd. heit, hait und haid,
mhd. heit. Es bedeutete Person, Stand, Rang, namentlich
geistlichen Stand (davon heithaft d. i. dem geistlichen
Stande angehörig), dann Wesen, Beschaffenheit. Bei den
Goten lautete es haidus. Demgemäss bedeutete ahd.
mennisgheit, menneskeheit, mhd. mennischeit, mennesc-
hoit, menscheit: Zustand als Mensch, menschliche Natur,
männliches Vermögen, männliche Befruchtungskraft; endlich:
Gesammtheit der Menschen.
Die enge und innere Zusammengehörigkeit, die das
Wort „Mensch" seinem ursprünglichen Sinne nach bedeutet,
ist dem Worte „Volk" ursprünglich nicht eigen. Denn
ahd. fole, folch, mhd. voie bezeichnete: Haufen, Schaar,
Menge, Heerde, auch: Kriegshaufen. Dennoch hat mit
Rücksicht auf die Sprachgemeinschaft der Ausdruck
„Volk" mehr und mehr den Sinn bekommen, dass es eben-
falls eine innere und enge Zusammengehörigkeit bedeutet.
(Vgl. diese Zeitschr. I. u. IV. S.)
Dass deshalb von einer „Völkerpsychologie" gesprochen
werden kann, was Hermann Paul (Prinzipien der Sprach-
geschichte) leugnet, will ich hier nicht erörtern. Ich be-
gnüge mich, zur Menschheitsfrage nur noch Folgendes zu
sagen. Haben alle Völker der Erde auch nur das eine
gemein, dass sie ihre Vorstellungen lautlich zum Aus-
druck bringen und sie so zu Begriffen erheben, gleichviel
wie verschiedenartig die so gearteten Sprachen auch lauten
mögen, so ist wenigstens die Möglichkeit vorhanden, dass
sie alle mit einander in Gemeinschaft treten und eine
einzige Menschheit bilden können. Es müssen eben Vor-
stellungen sein, die lautlich zum Ausdruck gebracht und
dadurch zu Begriffen erhoben sind. Und das ist ja bei
Die Rede, ratio, Xoyoc.
45
allen den Völkern der Fall, die man bis jetzt kennen ge-
lernt hat. Und so ist wenigstens die Aussicht vorhanden,
dass es einmal eine Menschheit gibt.
Soll ich die Gegner solcher Auffassung der Menschheit
etwa noch auf die seit Darwin üblich gewordene Entwick-
lungslehre verweisen? Diese ist der Annahme einer
„Menschheit" als Einheit außerordentlich günstig trotz der
12 Menschen-Arten und der 36 Eassen, die Ernst
Ha eck e 1 annimmt. Stellt dieser ja doch eine aus 21
Stufen bestehende Ahnenreihe des Menschen auf, wonach
der Mensch als ein Ergebnis der Entwicklung erscheint,
die von dem allereinfachsten Lebewesen ausgegangen und
zu immer größerer Vervollkommnung fortgeschritten ist.
Angesichts dieser Ahnenreihe gibt Haeckel in dem Streite
zwischen den „Monophyleten (oder Monogenisten)" die
den einheitlichen Ursprung und die Blutsverwandtschaft
aller Menschenarten behaupten, und den ,,Polyphyleten
(oder Polygenisten)", welche der Ansicht sind, dass ver-
schiedene Menschenarten oder Eassen selbständigen Ur-
sprungs sind, die Entscheidung dahin ab, es könne „nicht
zweifelhaft sein, dass im weiteren Sinne jedenfalls die
monophyletische Ansicht die richtige" sei. Er sagt: „Denn
vorausgesetzt auch, dass die Umbildung menschenähnlicher
Affen zu Menschen mehrmals stattgefunden hätte, so würden
doch jene Affen selbst durch den einheitlichen Stammbaum
der ganzen Affenordnung wiederum zusammhängen. Es
könnte sich daher immer nur um einen näheren oder ent-
fernteren Grad der eigentlichen Blutsverwandtschaft
handeln."
Hiernach bilden alle Lebewesen eine großartige Ge-
meinschaft, weil sie alle aus der allereinfachsten Urvor-
aussetzung, die man eigentlich noch nicht einmal Urform
nennen kann, weil es dem sogenannten „Protoplasma" noch
an jeder sichtbaren Form fehlt, hervorgegangen sein sollen.
Der Mensch aber steht hiernach mit den schmalnasigen
Affen in einem sehr engen leiblichen Zusammenhange (dass
46
Schulz.
die Schwangerschaft beim Menschen 9 Monate, beim
Alfen nur 7 dauert, wird freilich nicht beachtet), der weit
enger ist, als der zwischen diesen und den übrigen Affen,
geschweige mit den Halbaffen.
Nach der Entwicklungslehre also, die der Ansicht
huldigt, dass es in der Tertiärzeit eine Affengattung ge-
geben habe, von der sich die jetzt lebenden Menschenaffen
(Gorilla, Chimpanse, Orang-Utang, Gibbon) und die Affen-
menschen, uämlich die noch sprachlosen Menschen, unsere
nächsten Ahnen, abgezweigt haben, bilden die Menschen
trotz aller Unterschiede des Haarwuchses, der Hautfarbe
und der Schädelbildung doch eine auf gleicher Ahnenschaft
beruhende enge Gemeinschaft.
Soll ich nun also die für meinen Zweck höchst brauch-
bare Entwicklungslehre nicht angelegentlichst empfehlen?
Ich kann's nicht! Sie ist mit echt englischem Scharfsinn
von Darwin ausgedacht und von Huxley weiter ausgebildet
worden, und Ha eck e 1 hat sich die Abrundung dieser
Lehre trefflich angelegen sein lassen, aber ihr fehlt doch
das Tüpfelchen liber dem „i". Das scheint mir nun
einmal oft das Missgeschick des englischen Scharfsinns zu
sein. Welches Lob spendet Kant dem „scharfsinnigen"
Hume! Aber er kann doch nicht umhin, dem „scharf-
sinnigen" Manne nachzuweisen, dass er nicht im Stande
gewesen ist, zu dem „i" das Tüpfelchen zu finden.
Ich verwahre mich gegen den etwaigen Verdacht
einer Voreingenommenheit gegen das Englische an diesem
Scharfsinn. Ich nehme vielmehr das Recht für mich in
Anspruch, ihn, ganz abgesehen davon, dass Engländer ihn
gezeigt haben, für nicht stichhaltig zu halten, ihn dabei
aber auch einen englischen Scharfsinn zu nennen, weil es
doch nun einmal gerade Engländer sind, die ihn mehrfach
entwickelt haben.
Der Entwicklungslehre fehlt das Tüpfelchen auf dem
„i" darin, dass sie das innerste Wesen der Entwick-
lung nicht klar macht. Das kann sie auch gar nicht.
Die Rede, ratio, Xlfoç.
47
Das könnte sie nur dann, wenn es möglich wäre, ins Innre
der Natur einzudringen. Wer aber kann das? „Ins Innre
der Natur dringt kein erschaffner Geist", sagt Albreclit
von Haller mit Recht. Die Sätze über die Entwicklung
werden zwar unter Berufung auf große „Tatsachenreihen"
der vergleichenden Anatomie und Ontogenie aufgestellt, in
ihrem letzten Grunde aber beruhen sie doch nicht auf
Erfahrung. Sie werden zwar als „Schlüsse" aus Tat-
sachen bezeichnet, sind in ihrem innersten Kern aber
doch Sätze aus reiner Vernunft, Sätze a priori, wie
Kant sagen würde. Diese Sätze beruhen nicht auf streng
naturwissenschaftlichem Beweise, sondern auf natur-
philosophischen Erwägungen. Das Naturphilosophische
an ihnen macht ihren innersten Kern aus, und diesem
inneren Kern nach sind sie bloße Behauptungen, Satz-
ungen, denen man sich nur unterwerfen, die man
aber nicht wirklich einsehen kann.
Ich weiß sehr wohl, dass die Wissenschaft von Laien
oft so behandelt wird, als verstünden sie die Sache, welche
eine Wissenschaft behandelt, doch eigentlich viel besser
als die Männer der Wissenschaft. So geht es namentlich
auch der Sprachwissenschaft. Sehr viele glauben, dass sie,
weil sie ja doch sprechen, sich auch auf die Sprache ver-
stehen müssen. Bemerkenswert ist es nun aber, dass
Haeckel in der Vorrede zur ersten Auflage seiner „Natür-
lichen Schöpfungsgeschichte" sagt, dass „der gesunde
Menschenverstand des gebildeten Laien" die Entwicklungs-
lehre oft richtiger beurteilt habe, als „selbst hervorragende
Männer der Wissenschaft", oder vielmehr, dass diese sie
oft „unrichtiger beurteilt" haben als der „gesuude Menschen-
verstand des gebildeten Laien." Es ist höchst bedenklich,
in wissenschaftlichen Dingen dem „gesunden Menschen-
verstand" überhaupt ein maßgebendes Urteil zuzutrauen.
Hat dieser denn ein wissenschaftliches Urteil? Und
doch hat nur ein solches wissenschaftlichen Wert. Ist
48
Schulz.
es kein wissenschaftliches Urteil, so ist es nur Unter-
werfung unter eine Satzung1.
Wenn zwischen der Keimesgeschichte (,.Ontogenie")
und Stammgeschichte („Phytogenie") ein ursächlicher
Zusammenhang behauptet wird, weil die Entwicklung des
menschlichen Embryos so vor sich geht, dass er von der
einfachsten Form der Lebewesen ausgehend die verschie-
denen Zwischenformen bis zur endgültigen Menschenform
durchmacht, und weil die Embryos vieler Tiere ihm lange
Zeit hindurch bis zur völligen Unterscheidungslosigkeit
ähnlich sind, so beruht das auf einem Schluss, der seinem
innersten Kern nach ein naturphilosophischer Satz aus
reiner Vernunft, nicht ein naturwissenschaftlicher Satz
aus Erfahrung ist.
Dass ein solcher ursächlicher Zusammenhang zwischen
Keimesgeschichte und Stammgeschichte angenommen wird,
beruht doch darauf, dass man die Entwicklung des mensch-
lichen Embryo als eine Widerholung der Stammesgeschichte
ansieht, in der sie die sie bedingende Voraussetzung habe.
Die Stammesgeschichte nahm dadurch ihren Entwicklungs-
verlauf, dass die Lebewesen im „Kampfe ums Dasein" auf
rein mechanischem Wege „Erwerbungen" machten, die,
dann durch Zeugung „vererbt" werden konnten. Dank
diesen „Erwerbungen" und „Vererbungen" kann nun die
beim Menschen angelangte Stammesgeschichte sich als
Keimgeschichte ohne „Kampf ums Dasein", ohne „Erwer-
bungen" und „Vererbungen" widerholen. Aber eine bloße
Widerholung ist es doch nicht. Es ist eine Entwicklung,
die sich in einem Mut ter leib e vollzieht, während jene
außerhalb eines solchen stattgefunden hatte. Diese
beiden Entwicklungsgeschichten sind doch eigentlich recht
verschiedenartig: Die Keimesgeschichte beruht auf
vorausgegangener Begattung und nimmt dann ihren regel-
mäßigen Verlauf. In der Stammesgeschichte beruht sie
nicht darauf, sondern die Fortpflanzung dient nur dazu,
hinterher, nachdem Erwerbungen gemacht sind, diese
Die Rede, ratio, Xóyo;,
49
zu vererben. Man sollte doch erwarten, statt dass der
Fortpflanzung nur die Rolle zugewiesen wird, anderweitige
gemachte Erwerbungen zu vererben, dass eine Entwick-
lung der Fortpflanzungsfähigkeit angenommen
würde. Eine innere Entwicklungsfähigkeit wird ja doch
damit auch angenommen, dass Erwerbungen angenommen
werden.
Ich gebe gern zu, dass zum Verständnis des mensch-
lichen Organismus die umfassendsten Vergleichungen mit
den tierischen Organismen unerlässlich sind, und dass die
Anthropologie gut tut, sich auf den Boden der ver-
gleichenden Zoologie zu stellen. Aber das ist doch etwas
Anderes als die Annahme der Entwicklungslehre.
Gesetzt aber, man nimmt die Entwicklungslehre an,
so ist man darum doch noch keineswegs genötigt, den
Menschen fortan nicht mehr als den Mittelpunkt der irdi-
schen Natur anzusehen.
Sollte die Entwicklungslehre noch einmal dahin ge-
langen, für ihre bisherigen Behauptungen wirklich erkenn-
bare Darlegungen zu liefern, so würde ich einer der Ersten
sein, der sich die dargebotene Erkenntnis mit Freuden
aneignen würde. Vorläufig aber muss ich bedauern, dass
die Entwicklungslehre Behauptungen aufstellt, deren in-
nerster Kern völlig unerkennbar ist.
Ich lasse sie daher hier auf sich beruhen und halte
mich zunächst an den engen Kreis der Menschen, die das
vertreten, was man „Geschichte" genannt hat. Unter den
etwa 1350 Millionen Menschen, die es nach Haeckel auf
der Erde gibt, bilden die geschichtlichen Völker aller-
dings nur eine kleine Minderzahl. Sie sind aber auch die
Blüte der Menschheit!
Wenn nun von der Macht des Gottesgedankens in der
Geschichte der Menschheit die Rede sein soll, so gebührt
es sich, dass dabei zu allererst auf die Philosophie
Rücksicht genommen wird. Sie vertritt in dieser Ange-
legenheit einen Gedankenz usa in m en hang, der auch
Zeitschrift für Völkerpsyoh. und Sprachw. Bd. XIX. 1. 4
50
Schulz.
für die Menschheit im Allgemeinen von höchster Bedeu-
tung ist.
Die Philosophen waren von jeher Denker, und ihr
Bemühen war immer darauf gerichtet, das menschliche
Denken zu läutern. Sie sind von der Kritik des Her-
kömmlichen ausgegangen, nicht um bloß zu verneinen,
sondern um die Gedanken zu läutern und zu entwickeln.
Sie waren scharfe Denker, aber nicht um zu zerstören,
sondern um zu sichten und dann aufzubauen. Die Philo-
sophievertritt Jahrhunderte hindurch das scharfsinnigste
und zugleich tiefsinnigste Denken. Wie das Herz das
empfangene dunkelrote Blut der Lunge zur Läuterung zu-
sendet und es als hellrotes widerempfängt, um es dann
als nährendes Element den großen Kreislauf durch den
ganzen Körper machen zu lassen, so hat auch die Philo-
sophie eine das Denken läuternde und das menschliche
Geistesleben nährende Wirksamkeit ausgeübt. Man kann
ja gegen den Vergleich einwenden, dass nicht so, wie der
Mensch das Herz mit auf die Welt bringt, die Menschheit
mit der Philosophie ins Dasein getreten sei. Darauf lässt
sich antworten, dass das Herz im menschlichen Embryo
ja auch erst gebildet wird, und dass es sich also fragt
ob nicht auch die Menschheit ein embryonisches Dasein
gehabt, und wie weit das wol gereicht hat. Uebrigens
sind die Uranfänge der Philosophie nicht erst bei den
Hellenen zu suchen, wo sie schon eine klar ausgeprägte
Gestalt haben (so dass sich ein directer geschichtlicher
Zusammenhang bis auf unsreZeit nachweisen lässt), sondern
weit früher, als sich viele Leute träumen lassen.
Wir gehen aber bei unserer jetzigen Betrachtung von
der klar ausgeprägten Philosophie aus und bemerken, dass
ihre Vorgeschichte im innigsten Zusammenhange mit der
bis zu ihrem Auftreten reichenden Vorgeschichte der
Menschheit steht, und dass es sich daher nicht etwa darum
handelt, sie aus diesem lebendigen Zusammenhange heraus-
zulösen, sondern sie in diesem lebendigen Zusammenhange
Die Rede, ratio, X&yo;.
51
zu begreifen, was keine so unauflösliche Aufgabe ist, wie
Heinrich Ritter im Eingänge seiner geschichtlichen
Darstellung der Philosophie geni eint hat.
Betrachtet man in diesem Zusammenhange die Philo-
sophie, die sich bis auf unsere Zeit für die Betrachtung
klar entwickelt hat, so findet man, dass die Philosophen
sich als hervorragende Denker durch eine das herkömm-
liche menschliche Denken reinigende und durch ge-
läuterte Gedanken das geistige Leben fördernde Tätig-
keit erwiesen haben. Sie waren zu nicht geringem Teile
Metaphysiker.
Es war aber ein gediegener Grundgedanke derselben,
der sich in dem Streben geltend machte, sich vom Sinn en-
schein loszumachen und zu der Erkenntnis der Wahr-
heit vorzudringen. Das ist ein köstliches Streben, das
für alle Zeiten seine Berechtigung behalten wird.
Indem man sich aber die Aufgabe stellte, bis zur
Wahrheit vorzudringen, machte man damit den Versuch,
in ein Geheimnis einzudringen. Ueber die großen
Schwierigkeiten dieses Versuches war man sich nicht so-
fort genügend klar. Man überschätzte zunächst die Kraft
und Tragweite des menschlichen Erkennens. Man traute
dem Menschen zu, er könne unmittelbar ein hinter dem
Sinnenschein verborgenes wahres Sein denkend erfassen.
Aber damit hing doch der Gedanke zusammen, der ein
wahrer Grundgedanke war, dass es in der Mannig-
faltigkeit der Sinnenwelt, welcher der Mensch angehört,
einen nur für einen höher gerichteten Sinn zugäng-
lichen einheitlichen Zusammenhang der Dinge gibt, der
also dem hausbackenen Durchschnittsmenschen gar nicht
Anlass auch nur zu der geringsten Gedankenregung gibt.
Die Welt galt den Metaphysikern als Kosmos, als ein
Kunstwerk, und zwar als das höchste aller Kunstwerke,
als ein göttliches Kunstwerk, zu dessen Erfassung ein
aufs Höchste, nämlich aufs Göttliche, gerichteter Sinn,
gehöre.
52
Schulz.
Trotz aller Ausstellungen, die man an gewissen Er-
gebnissen dieser liocligericliteten Denkweise zu machen
Anlass hat, z. B. dass Plato für das Sinnfällige so wenig
Interesse hat und erweckt und seine Gedanken so wesent-
lich auf das Uebersinnliche richtet, oder dass der ver-
borgene höhere Zusammenhang der Dinge nur für ein
gedankenmäßiger gehalten wird, der von dem Menschen
entsprechend oder doch ähnlich gedacht werden könne, so
behält diese hochgerichtete Denkweise darin doch für alle
Zeiten Recht, dass sie nach Erkenntnissen strebt, die
für alle diejenigen Geheimnisse bleiben, die ihren
Sinn nicht auf das Höchste richten können.
Ihrem tiefinnersten Antriebe nach strebt sie nach
Gotteserkenntnis, wenn dies auch nicht so klar aus-
gedrückt ist. Sie betrachtet Gott nicht als ein gesondertes
Wesen, sie sucht ihn im Weltzusammenhange. Welt-
erkenntnis ist ihr Gotteserkenntnis. Sokrates stellt das
Menschliche und besonders das Sittliche in den Vorder-
grund der Betrachtung, und eben gerade durch diese Be-
trachtungsweise findet er Gott. Die platonische Ideenlehre
ist aus dem Streben nach Gotteserkenntnis hervorgegangen.
Man wird ihr nicht gerecht, wenn man bei ihrer Beurtei-
lung sich nicht auf diesen ihren Boden stellt, sondern sie
nur vom Standpunkte der modernen Wissenschaft aus be-
urteilt. Sie leistet ja freilich nicht, was jetzt die Erkenntnis-
lehre zu leisten sucht. Durch die Gläser dieser modernen
Wissenschaft angesehen, nimmt sich die schroffe Scheidung
zwischen der Sinnenwahrnehmung, die auf die veränder-/
liehe Sinnenwelt gehe, und dem Denken, das es mit den
unveränderlichen Ideen zu tun habe, allerdings wunderlich
aus. Man versteht Plato aber nur dann recht, wenn man
den von ihm gemachten Unterschied auf verschiedene
Denk- und Sinnesweisen bezieht und sich dabei nicht
durch die Mängel der Darstellung irre machen lässt. Er
unterscheidet im Grunde zwischen der Sinnesweise, bei
welcher der ganze Mensch mit seinem Denken, Fühlen
Die Rede, ratio, Xoyoc.
53
und Wollen in dem Veränderlichen und Vergäng-
lichen stecken bleibt, und derjenigen Sinnesweise,
kraft deren sich der ganze Mensch über den Staub der
Sinnen weit, und über das kleinliche, klägliche Getriebe
derer erhebt, die nichts Höheres kennen, als den Sinnen-
genuss, und kraft deren es zu seiner höchsten Beseligung
dient, mit dem Unvergänglichen, Ewigen sich zu
beschäftigen, das Plato als den Inbegriff des Guten,
Schönen und Wahren menschlich nahe zu bringen sucht.
Freilich ist diese Metaphysik mehr der Gesinnung nach
Gotteslehre. Sie lehrt nicht eigentlich Gott, sie lehrt
mehr das Gute, Schöne und Wahre; ihre Lehre von Gott
ist keine lebendige Verkündigung Gottes, weil sie keinen
lebendigen Gott zu lehren hat, wie er im Alten Testa-
ment verkündigt wird.. Sie bekämpft darum auch nicht
die Volksgötter der Hellenen, obwol sie von einer einheit-
lichen Gottheit zu reden gewohnt ist.
Die mittelalterliche Metaphysik lehrt den lebendigen
Gott. Sie stellt sich eben in den Dienst der christlichen
Kirche und ihrer Theologie, und sie kämpft und ringt in
tiefstem Ernst, um ihre Gotteslehre auch für das wissen-
schaftliche Denken überzeugend darzutun. Was die Kirche
als aus Offenbarung stammend bekennt, das setzt die
theologische Metaphysik als unumstößlich gewiss voraus
und sucht es der wissenschaftlichen Einsicht einleuchtend
zu machen.
Die neuere Philosophie hat sich von dieser scholas-
tischen Auffassungsweise losgesagt. Sie geht nicht darauf
aus, überlieferte Sätze, die als geoffenbarte Wahrheiten
gelten, einleuchtend zu machen und zu verteidigen, sie will
die Wahrheit selbst suchen und finden. In der Frage,
welche Stellung sie zum Gottesgedanken einnimmt, ist nun
gerade das Streben, Wahrheit zu suchen und zu finden,
von größerer Bedeutung, als die Lehren, die in Betreff
des Göttlichen aufgestellt werden. Das Streben, Wahrheit
zu suchen, bringt es mit sich, dass, wie immer auch die
~
54 Schulz.
Lehren über das Göttliche lauten, der Gottesgedanke sich
doch mindestens darin als einen Grundgedanken erweist,
dass die Stellungnahme zu ihm jedesmal den Grundcharakter
eines philosophischen Lehrgebäudes bildet. Tritt dabei ein
Gegensatz gegen den kirchlichen Gottesgedanken hervor,
so geschieht es doch vorwiegend, weil man ein höheres Ziel
der Gotteserkenntnis im Sinne hat und ihm nachstrebt,
das man in dem kirchlichen Gottesgedanken nicht schon
verwirklicht findet. Namentlich ist es darauf abgesehen,
Vorstellungen von Gott nicht gelten zu lassen, durch welche
derselbe verendlicht und in das Menschliche herabge-
zogen wird.
Wie, wenn nun das Streben, nach Wahrheit zu suchen,
an sich selbst schon nichts anderes wäre als eine gewisse
Form des Gottesgedankens? Wenn der Gottesgedanke
hiermit nur in einer etwas verhüllenden Form aufträte?
Das philosophische Suchen nach Wahrheit geht nicht
in dem Sinne über den Augenschein hinaus, um bloß den
eigentlichen Sachverhalt zu ermitteln. Das tut die Einzel-
wissenschaft, die sich auf Erforschung eines bestimmten
Erkenntnisgebietes beschränkt. Sie geht darauf aus, die
durch den Augenschein veranlassten Vorstellungen zu be-
richtigen. Zwischen Richtigkeit und Wahrheit ist
aber ein großer Unterschied. Unvergeßlich ist es mir
geblieben, wie ich dies im Sommer 1851 aus Heinrich
Leos Munde in einer der Vorlesungen über die französische
Revolution hörte. Dass die Leute Richtigkeit und Wahr-
heit verwechselt hätten, das, sagte er, habe sich schon oft
in der Geschichte der Völker als unheilvoll erwiesen.
Wer nach Wahrheit sucht, strebt nach einem Gesammt-
erkennen und sucht in die tiefsten Tiefen des Erkennbaren
einzudringen.
Ein solches Suchen nach Wahrheit ist mindestens dei-
sti m m un g und Gesinnung nach der Gottesgedanke, wenn
derselbe auch nicht lehrhaft ausgesprochen wird. In dieser
Gottesgedankenstimmung wird das Hinausgehen über den
■
m
Die Rede, ratio, Xóyoc,
55
Augenschein zu einem Trachten nach der Erfassung des
wahren Seins. Es liegt darin die Anerkennung einer
höheren Ordnung der Dinge, als der Augenschein sie lehrt,
die Anerkennung eines höheren Waltens. Und diese An-
erkennung ist nicht ein nüchternes Zugeständnis, sie ist
vielmehr eine lebendige und aus der tiefsten Tiefe des
Innern emporquellende Grundüberzeugung. Aus ihrer Ein-
gebung entspringt es, dass das Suchen nach Wahrheit zu
einem Suchen nach den letzten Gründen des Daseienden
wird. Auf dieses Suchen verzichtet derjenige gern, den
nicht jene Grundüberzengung drängt, etwas zu wagen, was
einer nüchternen Denkweise als ein von vorn herein hoff-
nungsloses Wagnis erscheint. Es muss auch hier wieder
betont werden, dass zur richtigen Würdigung der Philo-
sophie es unerlässlich ist, dass die Grundgesinnung und
Grundstimmung, aus der heraus sie forscht, mindestens
ebenso sehr in Betracht gezogen wird, als was sie leistet.
Wer nach Wahrheit sucht, tut es, weil ein unwider-
stehlicher Drang ihn zwingt, und er tut es auf die
Gefahr hin, dass er das, was er findet, nicht in unwider-
stehlich zwingender und überzeugender Weise, ja oft nicht
einmal ohne innere Widersprüche darlegen kann. Zeigt
sich hierin vielleicht die Macht des Gottesgedankens, selbst
wenn er nur in verhüllter und verhüllender Form auftritt?
Vielleicht zeigt sie sich auch darin, dass der nach
Wahrheit Suchende sich auch zu der tiefsten Ergründung
des Menschen gedrungen fühlt.
Aueh hier ist das Entscheidende für die Beurteilung
und Würdigung der Philosophie nicht das, was sie geleistet
hat, sondern was sie gewollt, erstrebt, gewagt hat. Welch
ein Wagnis; ist es, bis auf den Grund des menschlichen
Innern sehen zu wollen! Wie bald stösst man auf Uner-
gründlichkeiten! Wie schwierig, ja wie fast aussichtslos
erweist sich alsbald das Eindringenwollen! Ja, wer will
denn das, bloß weil er will? Wer es nicht muss, der
will es nicht. Wer sich nicht unwiderstehlich ge-
56
Schulz.
zw ungen fühlt, es zu wollen, selbst auf die Gefahr hin,
dass er sieh vergeblich abmüht, dass er niemand
überzeugt, dass er sich selbst in Widersprüche ver-
wickelt, der wirds wohl bleiben lassen, es überhaupt zu
wollen und zu versuchen. Wer es will und versucht, der
tut es in Kraft des Gottesgedankens, wenn er auch nur in
verhüllender Form in ihm waltet und sich ausgestaltet.
Eine solche Ausgestaltung des Gottesgedankens ist es
nun namentlich, wenn das menschliche Handeln und die
Beweggründe, aus denen es hervorgeht, als unter einem
unverbrüchlichen Gesetz stehend gedacht werden, und
dem Wesen dieser unverbrüchlichen Gesetzlichkeit nachge-
forscht wird. Wer sich dazu nicht innerlich gezwungen
fühlt, wird sich gern diese Mühe sparen. Denn es erscheint
von vorn herein als aussichtslos, im menschlichen Innern
diese unverbrüchliche Gesetzlichkeit wirklich ausfindig
machen und sie in überführender Weise nachweisen zu
wollen. Es erscheint daher die Betonung und Geltend-
machung derselben nur allzuleicht als eine bloße Behaup-
tung und noch dazu als eine solche, die durch die Tat-
sache widerlegt wird, dass unter den Menschen so wenig
Uebereinstimmung in ihrer Handlungsweise herrscht, dass
in dieser Beziehung die ldaifendsten Unterschiede und die
schroffsten Gegensätze vorhanden sind, die zu beweisen
scheinen, dass die Menschen darauf angewiesen sind, sich
selbst ihre Handlungsweise vorzuzeichnen und sie in
der Gemeinschaft, in der sie sich befinden, zur Geltung zu
bringen, wo nicht, so sich der Handlungsweise zu fügent
die ihnen die Gemeinschaft vorschreibt.
Der Gedanke des Sittlichen im Sinne einer unver-
brüchlichen Gesetzlichkeit ist an sich selbst der Gottes-
gedanke, wenn auch in einer denselben verhüllenden Form.
Nur dadurch, dass man das Sittliche im Menschen für ein
besonderes Gebiet im menschlichen Innern angesehen hat,
sozusagen für eine besondere Domäne, nur dadurch, dass
man das Sittliche allein auf das, was man Willen nannte,
Die Rede, ratio, Xoyoc.
57
bezogen und darauf beschränkt hat, nur dadurch, dass
man unterlassen hat, den ganzen Menschen unter die
Macht des Sittlichen zu stellen, auch sein Erkennen, und
zwar die Gesammtentwicklung des einzelnen Menschen,
wie auch der Menschheit, nur dadurch ist es möglich ge-
worden, dass der Gottesgedanke in verhüllter Form zu
Tage trat, wenn von Sittlichkeit die Rede war. Und
trotzdem hat es dadurch nicht verhindert werden können,
dass bei Kant der erst verhüllte Gottesgedanke schließlich
dieser Hülle entkleidet wurde, und dass Kant es für mög-
lich hielt, auf sittlichem Gebiet eine Gewissheit von Gott
zu gewinnen, was er auf theoretischem Gebiete für un-
möglich hielt.
Der Gottesgedanke ist der Grundgedanke in derjenigen
Philosophie, deren Geschichte von ihren Anfängen bei den
Hellenen bis auf unsere Zeit reicht. Und zwar ist er ent-
weder der klar ausgesprochene Grundgedanke, oder er wirkt
als Grundstimmung, Grundgesinnung, Grundantrieb; er be-
herrscht das philosophische Denken und treibt es an, die
Lösung von Problemen zu unternehmen, deren Lösung von
vorn herein aussichtslos zu sein scheint. Er hat sich in
der Philosophie als eine Lebensmacht erwiesen, die ihr
eine hohe "Weihe giebt und sie adelt, mag auch das Voll-
bringen hinter dem Wollen immer mehr oder weniger zu-
rückgeblieben sein.
Was nun diesen Sachverhalt als um so bedeutsamer
erscheinen lässt, das ist die Stellung, welche die Philo-
sophie innerhalb der Geschichte der Menschheit einnimmt.
Wenn man jetzt erkannt hat, dass die Wege der
Metaphysik darin verlassen werden müssen, dass sie starre
Substanzen angenommen hatte, wo man jetzt lebendige
Vorgänge sieht, so ist das ja gewiss ein Fortschritt des
Verfahrens, der auch seine guten Früchte tragen wird.
Aber das: darf man nicht wähnen, dass etwa die auf
Erkenntnislehre zielende Forschung über das Missverhältnis
zwischen Wollen und Vollbringen ganz hinaus kommen
58
Schulz.
wird. Sie wird auch namentlich noch immer in Gefahr
sein, mehr oder weniger in Metaphysik zurückzufallen. Ich
kann ganz und gar nicht die Hoffnung desjenigen teilen,
der im Jahre 1886 in Nr. 9 von „Nord nnd Süd" geglaubt
hat, den „letzten Ausläufer der Metaphysik" bezeichnen zu
können — auf Namen kommt es hier nicht an —. Die mit
Substanzen arbeitende Denkweise ist uns so in Fleisch und
Blut übergegangen und ist uns so geläufig geworden, dass
sie auch bei den Naturphilosophen, welche die Entwick-
lungslehre im Sinne Darwins als die großartigste Gedanken-
umwälzung preisen, sich noch ganz gewaltig geltend macht.
Es können noch Jahrhunderte, ja vielleicht Jahrtausende
vergehen, ehe die mit Substanzen arbeitende Denkweise
aus dem menschlichen Denken ganz verschwunden sein
wird. So ist namentlich der Begriff der „Natur", wie er
im Unterschiede von dem früher üblichen Begriff „rerum
natura'- den meisten Menschen heutiger Zeit noch so
ganz und gar geläufig ist, und wie ihn u. a. Goethe
in der von Haeckel an die Spitze seiner „Natürlichen
Schöpfungsgeschichte" gestellten Auslassung gebraucht hat,
ein Substanzbegriff, ja eigentlich wird von Goethe in diesen
Aeußerungen die Natur geradezu wie ein lebendiges Wesen
behandelt. „Wie ist Natur so gut, die mich am Busen
hält!" so heißt es auch in einem Liede von Goethe. Aehn-
lich verfahren die Männer der Sprachwissenschaft oft mit
„der Sprache", die sie so gern im Munde führen.
Nie und nimmer aber wird der Grundgedanke, der
bisher die Metaphysik beseelt und begeistert hat, der
Gottesgedanke, ausgerottet werden. Er wird auch beim
Betreiben der Erkenntnislehre zur Beschäftigung mit Auf-
gaben zwingen, deren Lösung doch auch für die Erkenntnis-
lehre immer nur eine Vorbereitung auf eine noch ange-
messenere Lösung sein wird.
Auch bei der übrigen Menschheit ist der Gottes-
gedanke, der klar ausgesprochene oder der dunkel vor-
schwebende, eine Grundbedingung der Entwicklung und
Die Rede, ratio, Xóyo?.
59
der Ausgestaltung des wahrhaft Menschlichen gewesen.
Das lässt sich natürlich nur so weit geschichtlich nach-
weisen, als die Geschichte der Völker klar vor Augen
liegt. Dies ist nun freilich in einem sehr geringen Um-
fange der Fall. Der Umfang der uns unbekannten Ge-
schichte der Völker ist weit größer, als bis vor noch nicht
langer Zeit die meisten ahnten. Die engen Vorstellungen
von dem Umfange des Menschengeschlechts, die die Griechen
und Römer hatten, sind in Folge der Entdeckungen neuer
Länder und Erdteile zwar wesentlich erweitert worden,
doch haben die früheren engen Vorstellungen noch lange
eine nachwirkende Macht behauptet.
Trotzdem nunmehr in unseren Zeiten eine wesentliche
Erweiterung dieser Vorstellungen stattgefunden hat, so
wird es sich doch empfehlen, vom Nächstliegenden
auszugehen.
Darum empfiehlt, es sich, zuerst auf diejenige ge-
schichtliche Völkerentwicklung Rücksicht zu nehmen, die
man die univers al geschichtliche genannt hat. Man
versteht darunter die durch die Berührung derjenigen Völker
herbei geführte Geschichte, deren Einfluss bis in die Gegen-
wart reicht, und deren Entwicklung die europäischen Völker
hervorragenden Anteil widmen. Die Völker, die in diesem
Entwicklungsgange, durch Kampf oder Gedankenaustausch,
aufeinander eingewirkt haben, waren besonders hochent-
wickelte Völker, und eben darum hat es für die Kenntnis
vom Menschen besonderen Wert, gerade ihre Geschichte
mit besonderer Aufmerksamkeit ins Auge zu fassen, und
zwar sowol ihre besondere Geschichte, als ihre Bedeutung
für die allgemeine Geschichte.
Vergegenwärtigt man sich nun, was die Geschichts-
forschung, sowol die besondere, als auch die allgemeine,
über Völker wie die Aegypter, Assyrer, Babylonier, Meder,
Perser, Griechen, Römer, Kelten, Germanen, Slaven er-
mittelt und festgestellt hat, vergegenwärtigt man sich
namentlich, was noch in jüngster Zeit das glänzend ge-
60
Schulz.
schrieben e Werk eines Leopold von Ranke zur klaren
Anschauung gebracht hat, so kann man keinen Augenblick
in Zweifel sein, welchen wesentlichen, alles beherr-
schenden Einfluss der Gottesgedanke bei jenen
Völkern gehabt hat. Der Gottesgedanke beherschte das
ganze Leben dieser Völker, er ist dessen Grundantrieb.
Daher wird der Umstand, dass er bei den verschiedenen
Völkern eine verschiedene Fassung und eine dieser ent-
sprechende verschiedene äußere Betätigung erhalten
hat, und dass dies zur förmlichen Scheidewand zwischen
den Völkern geworden ist, als hochbedeutsam angesehen
werden müssen.
Indem die Fassung des Gottesgedankens und seine
äußere Betätigung zur Hauptsache gemacht wurde, machte
man es sich unmöglich, einer anderen Fassung, als man
selbst hatte, wenigstens so weit gerecht zu werden, dass man
in ihr doch eben auch eine Fassung des Gottesgedankens
gesehen hätte. Jede fremde Fassung wurde als bis auf
den Grund falsch und irrig völlig verworfen und bekämpft,
ja verfolgt und mit gänzlicher Ausrottung bedroht, was
zu Kämpfen zwischen Völkern führte, bei denen es auf
Ausrottung abgesehen war. Eine großartige Ausnahme
bildete es, wenn Paulus in Athen, anknüpfend an die
Altarinschrift àyvcoaroí v>é<f7, den Athenern sagte, er ver-
kündige ihnen den unbekannten Gott, dem sie unwissend
Gottesdienst täten.
Freilich waren auch die Hellenen selbst nicht Be-
kämpf er fremder Fassungen des Gottesgedankens gewesen.
Zwar war bei ihnen gerade die gemeinsame Gottesver-
ehrung das einigende Band ihres Volkstums, und es wur-
den dadurch die einzelnen so verschieden entwickelten und
einander oft so widerstrebenden Stämme zusammengehalten.
Aber sie bildete, wie es wenigstens scheint, nicht den
ausschlaggebenden Antrieb, um gegen andere Völker vor-
zugehen. Nachdem sich Athener und Spartaner und ihre
Bundesgenossen der Perser erwehrt hatten, bekämpften sie
Die Rede, ratio, Xoyo;,
61
dieselben zwar als Schänder der hellenischen Heiligtümer,
im Wesentlichen aber doch als die Bedroher ihrer staat-
lichen Freiheit. Im Uebrigen traten die Hellenen fremden
Völkern mit ihrer friedlichen Umbildungsarbeit nahe und
wirkten vorbildlich auf sie, was freilich nicht ausschloss,
dass sie sie als Barbaren ansahen und sie auch nach Be-
dürfnis zu Sclaven machten.
Auch die Gründung und Ausbreitung des römischen
Reiches, dieses bewunderungswürdigen Werkes menschlicher
Ueberlegenheit und menschenumbildender Gestaltungskraft,
ist nicht aus dem Antrieb hervorgegangen, anderen Völ-
kern in Bezug auf die Fassung des Gottesgedankens und
seine äußere Ausprägung entgegen zu treten. Zunächst
hatten sich die Römer der Angriffe neidischer Nachbarn
zu erwehren und auf ihre Sicherheit Bedacht zu nehmen.
Die außerordentlich günstige Lage Roms erregte den Neid
der Nachbarn. Das in den dadurch hervorgerufenen Kämpfen
geweckte Gefühl der Ueberlegenheit reizte dazu, diese sich
auch zu Nutze zu machen. Dies und das sehr hausbackene
Bedürfnis, den besitzlosen Leuten Ackerbesitz zu ver-
schaffen, machte die Römer zu Eroberern. Sie eroberten
Italien, das brachte sie in Kampf auf Leben und Tod mit
den Puniern, die sich in ihrem Handel durch sie beein-
trächtigt und noch weiter bedroht sahen. Sie bestanden
glücklich den Kampf um Sein oder Nichtsein und wurden
dann durch den Gang der Dinge und die mannigfachsten
Verwicklungen von einem Kampf zum andern, von einer
Eroberung zur andern geführt.
Aber wenn auch das römische Reich nicht aus Kämpfen
hervorgegangen ist, die der Gottesverehrung wegen unter-
nommen worden wären, so waren die Römer doch in den
Zeiten ihrer besten Kraftentfaltung ein gottesfürchtiges
Volk, und so sehr auch in ihrer Gottesverehrung Aeußer-
lichkeiten sich besonders geltend machten, so schöpften sie
doch aus ihrer tiefen Gottesfurcht eine große sittliche
Kraft, die sie tüchtig machte, dass sie allen Völkern,
62
Schulz.
mit denen sie in Kampf gerieten, wenigstens zuletzt über-
legen waren. Und das blieben sie selbst dann noch, als
Gottesfurcht und Sittlichkeit auch bei ihnen in Verfall
gerieten.
Wenn es nun gerade ein so tüchtiges Volk ist, wie
die Römer, das seine Tüchtigkeit seiner Gottesfurcht selbst
bis in die Zeiten des Verfalls derselben verdankt, so ist
das eben von höchster Bedeutung für die Würdigung des
Gottesgedankens.
Er erweist sich darin als eine Lebensmacht von
ausschlaggebender Wirkung. Es steht damit auch
ganz im Einklänge, dass bei den am meisten zurückge-
bliebenen Völkern auch die roheste Fassung des Gottes-
gedankens sich findet. Hier hat der Gottesgedanke sogar
eine sehr große Macht. Die Unbeholfenheit im Denken
ist keineswegs mit Stumpfheit in Bezug auf den Gottes-
gedanken verbunden. Im Gegenteil, je weniger der Gottes-
gedanke in diesen Völkern eine ihre geistige Entfaltung
befruchtende Wirkung ausgeübt hat, je unentwickelter ihr
Denken geblieben, und je unvollkommener die Fassung des
Gottesgedankens ausgefallen ist, desto mehr ist der Gottes-
gedanke bei ihnen zu einer sie beängstigenden und quä-
lenden Lebensmacht geworden.
Es ist unter diesen Umständen auch ganz natürlich,
dass Völkerkundige heutzutage gar kein Bedenken tragen
den Satz auszusprechen, dass gerade bei den Naturvölkern
die Macht des Gottesgedankens am stärksten sei. Diese
Völkerkundigen denken gar nicht daran, anzunehmen, es
könne Menschen ohne jeden Gottesgedanken irgendwo auf
der Erde geben oder gegeben haben.
Soll nun der Gottesgedanke, der sich als eine Lebens-
macht allerersten Banges in der Geschichte erwiesen hat,
richtig gewürdigt werden, so darf .man ihn nicht ent-
stellen. Man muss ihn vielmehr als das ins Auge fassen,
was er nach Ausweis der Geschichte wirklich ist. Er
schließt als Lebensmacht die Gewissheit von seiner
Die Rede, ratio, Xoyoç.
63
Wahrheit in sich, und gerade die Gewissheit von
seiner Wahrheit gilt es mit zu begreifen und zu er-
klären. Dass man ihn einfach für eine Ausgeburt der so-
genannten und sehr zweifelhaften Phantasie erklärt und
annimmt, dass die Völker ihren eigenen Gebilden Wahr-
heit zugeschrieben haben, wie ja mancher sogar seine
Lügen schließlich selbst zu glauben anfangen könne, damit
wird nimmermehr begreiflich gemacht, dass der Gottes-
gedanke sich als eine so gewaltige Lebensmacht erwiesen
hat. Jedenfalls aber hat derjenige, der den Gottesgedanken
als etwas rein Ausgesonnenes, und die Gewissheit von
seiner Wahrheit als eine Selbsttäuschung hinstellen will,
die Pflicht, dafür einen schlagenden Nachweis zu
geben oder doch wenigstens zu versuchen. Geschieht das
nicht, wird die Sache mit jener Behauptung als erledigt
angesehen, so läuft das auf nichts Anderes hinaus, als auf
eine zweifelsüchtige Zerstörung eines Gegenstan-
des der Prüfung.
Die Lebensmacht, als welche der Gottesgedanke anzu-
sehen ist, hat sich auch in der sittlich erziehenden Kraft
bewiesen, was bei Erwähnung der Römer schon zur Sprache
kam, hier aber noch unter Erinnerung an einen Ausspruch
Oscar Pescheis mit Bezug auf die Menschheit , über-
haupt noch besonders betont werden mag. Oscar Pe-
sch el bemerkt (Völkerkunde S. 257): „Wird der Wert
einer Religion einzig nach ihren Leistungen als Erziehungs-
mittel abgeschätzt, so kann auch der Dienst der Natur-
kräfte die menschliche Gesellschaft auf höhere Stufe he-
ben." Das kann er offenbar doch nur darum, weil selbst
der Dienst der Naturkräfte in dem Falle, wo er erziehend
wirkt, doch eine Fassung des eine Lebensmacht aus-
machenden Gottesgedankens ist.
Da sich nun aber diese Lebensmacht in der Geschichte
der Menschheit geradezu als als eine Grundbedingung der
geschichtlichen Entwicklung erwiesen hat, so zwingt das
unabweislich die Frage auf, ob der Gottesgedanke nicht
64
Scliulz.
der Grundantrieb aller menschlichen Geistesentwicklung
ist, und ob nicht die Klarstellung dieses Sachverhaltes der
Schlüssel zn allem Verständnis vom Menschen ist.
Freilich muss, wenn dies in Betracht gezogen wird,
der Gottesgedanke in Bezug auf seinen allerersten Ursprung
ins Auge gefasst werden, und da kann er eben doch noch
nicht das sein, was er als gedankenklarer Antrieb in der
Geschichte der Völker war, nämlich ein in einer bestimm-
ten Fassung auftretender Gedanke. Es wird sich daher
empfehlen, ihn, wenn er als Grundantrieb aller mensch-
lichen Geistesentwicklung angesehen werden soll, nur erst
als Gottesahnung zu bezeichnen. Dadurch wird das Miss-
verständnis vermieden, als sollte etwa der Gottesgedanke
als der allererste aller begrifflich ausgeprägten Gedanken
hingestellt werden.
Im Falle, dass sich herausstellt, dass die Gottesahnung
der Uranfang aller menschlichen Entwicklung ist, so ist
damit gegeben, dass sie die Urgewissheit ist, welche
die Grundlage aller Gewissheit der Wahrheit bildet.
Das schließt ja natürlich nicht aus, dass der einzelne
Mensch, ^nachdem er den ihm in der Jugend in bestimmter
Fassung dargebotenen Gottesgedanken angenommen hat,
später an ihm irre wird und, statt eine förderliche Läu-
terung zu versuchen, zu einer zweifelsüchtigen Zersetzung
gelangt. Da kann das Missbehagen an der überlieferten
Form des Gottesgedankens sehr wol eine Wirkung der
Lebensmacht sein, die jeder Fassung des Gottesgedankens
zu Grunde liegt, und die Zweifelsucht kann in einem ent-
gegengesetzten Mangel des Erkennens liegen, wie ein
solcher bei den Naturvölkern festgestellt wurde, die aus
Mangel an Verstandesschärfe nicht im Stande waren, eine
andere Fassung des Gottesgedankens zu finden, als eine
solche, die aus der ihm zu Grunde liegenden Lebensmacht
eine quälende und beängstigende machte. Der entgegen-
gesetzte Erkenntnismangel kann darauf beruhen, dass eine
übermäßig ins Kraut geschossene Verstandesschärfe der
Die Rede, ratio, Xoyoi.
65
Aufgabe nicht gewachsen gewesen ist, dem aus der Tiefe
stammenden Antriebe zur Läuterung der überlieferten
Fassung des Gottesgedankens zu entsprechen, und so statt
zu einer Umbildung zu einer zweifelsüchtigen Zersetzung
desselben gelangt ist.
Will man dem Gottesgedanken auf den Grund gehen,
so muss man dabei sehr umsichtig verfahren. Wenn ihn
Oscar Peschel auf ein „Kausalitätsbedürfnis" zurück-
führt, so fragt es sich sehr, ob dieses Bedürfnis nicht die
Gottesahnung selbst ist. Wer bürgt dafür, ob die Men-
schen jemals ein „Kausalitätsbedürfnis" hätten haben
können, wenn nicht in Folge der Gottesahnung! Wer
bürgt also dafür, ob nicht die Bezeichnung „Kausalitäts-
bedürfnis" nur ein anderer Name für die Gottes-
ahnung ist!
Noch weniger soll man eine Phantasie in des Wortes
verwegenster Bedeutung ins Gefecht führen, um den
Gottesgedanken zu erklären. An sich ist das Wort Phan-
tasie sehr berechtigt, und wenn man sich durch Froh-
schammers Buch über die „Phantasie als Grundprincip
des Weltprocesses" auch nur anregen lässt, über die land-
läufige Bedeutung des Wortes hinauszudenken und der
dadurch bezeichneten Leistungsfähigkeit nachzudenken, so
ist das sehr berechtigt. Aber man braucht das Wort
Phantasie wirklich sehr verwegen, wenn man es in der
ganz landläufigen Bedeutung ohne alle Prüfung aufrafft
und nun meint, den Gottesgedanken damit im Hand-
umdrehen klar machen zu können.
Zeitschrift für Völkerpsyoh. u. Spraohw. Bd. XIX. 1.
5
66
Schwartz.
Die melkenden Götter bei den Indogermanen.
Von Director W. Schwartz.
Der Ursprung und die Art der mythischen Vor-
stellungen hat, insofern sie sich an Naturanschauungen
anlehnen, wie nicht oft genug hervor^ eV oben werden kann,
für unsere heutige Denkungsart zunächst meist etwas
Fremdartiges, ja oft Barockes. Viele Bilder, unter denen
die Erscheinungen gefasst werden, bestehen schon einfach
nicht vor einem ästhetisch gebildeteren Geschmack, aber
in dem Grandiosen der Conception liegt auch in diesem
Falle immerhin etwas Fesselndes. Die Phantasie des
Naturmenschen knüpfte eben bei dieser oder jener wunder-
baren Erscheinung, welche nicht in seiner Machtsphäre
lag und die er nicht begriff, einfach an diese oder jene
Analogie, welche er in dem ihn umgebenden und für ihn
fassbaren Leben vorfand, so roh sie auch war, mit der
vollen Kraft der Natürlichkeit und Phantasie an. Und
die sich so entwickelnde Metapher war ihm nicht bloß
eine sprachliche Bezeichnung, sondern ein Glaubenselement
der realsten Art, welches je nach Umständen weiter von
ihm ausgebaut wurde, bis eine andere Anschauung die
erste Vorstellung verdrängte und neue Bilder an die Er-
scheinung knüpfte, indem sie andere Momente derselben
ins Auge fasste oder von anderen Voraussetzungen ausging.
Wenn der Naturmensch die Sterne mit leuchtenden
Insekten, die dort oben schwärmten oder mit glänzenden
Früchten, die in reicher Fülle von einem sonst unsicht-
baren Baum herabhingen, verglich, so waren ihm dies
Realitäten. Und die Vorstellung von „goldigen Bienen",
die den Mond wie einen großen Stock umkreisten,1 oder
von einem gewaltigen zauberhaften Apfel- oder Feigen-
1 S. meine „Praehistorisch-anthropologischen Studien". Berlin
1884. S. 158. „Poet. Naturanschauungen". 1864. I. S. 63. 65 ft.
Die melkenden Götter bei den Indogermanen. 67
bäum, der das All erfülle und dessen goldige Früchte dort
oben Jahr aus Jahr ein reiften,1 lagerte sich in mythi-
schen Bildern ab, bis andere Ideen an die Stelle traten,
man sich z. B., wie Heyse sagt, in den Sternen von un-
zählbaren Augen des Firmaments angefunkelt wähnte,
deren Winzigkeit dem riesenhaften Sonnen- und Mondauge
gegenübe !• dann auf zahllose zwerghafte Wesen dort oben
schließen ließ.2 In ähnlicher Weise umspannte die Phan-
tasie alle wunderbaren Erscheinungen des All, namentlich
den bunten Wechsel im Treiben von Wind und Wolken in
allen Phasen bis zu den grandiosen Bildern, welche das
Gewitter in der Entfaltung aller seiner Schrecknisse bot,
überall in einzelnen Momenten mit analogen irdischen
Vorstellungen einsetzend. Aber eine Art System kam in
dies Chaos erst, als das Leben der Menschen sich selbst
zu gliedern und in einer gewissen Continuität zu entfalten
anfing. Die Naturanschauung und Mythenbildung ging
gleichsam dem sich mannigfacher gestaltenden Leben
nach, immer neue Schichten von Bildern so anhäufend.
Der Jäger, der Hirt, der Ackersmann fasste die Himmels-
erscheinungen von ganz verschiedenen Standpunkten aus
auf. Sah der erstere z. B. in dem dahinjagenden Gewitter
eine wilde Jagd dahin tosen, vernahm er im Sturm das Heulen
von Hunden, erblickte er im Regenbogen den Bogen des ge-
waltigen Jägers, dessen Pfeile im leuchtenden Blitz durch
die Wolken flogen,3 so dachte der Fischer, wenn in der
1 Poetische Naturan. 1864. I. p. 53. Indogerm. Volksglaube,
1885. S. 3, 8, 15. Die Vorstellung eines himmlischen Feigenbaums
reflectiert noch in der Offenbarung Johannis 6, 13, wenn es bei dem
Bilde eines Weltuntergangs heißt: „Und die Sterne des Himmels
fielen aut die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine Feigen
abwirft, wenn er vom großen Winde bewegt wird." Eine Stern-
schnuppe war gleichsam eine fallende Frucht.
2 Ursprung der Mythologie 1860. S. 18,
0 Heutiger Volksglaube. II. Aufl. 1862. Ueber den Bogen des
himmlischen Jägers Rudra, Apollo und Wodan s. ürspr. d. Myth.,
S. 102 f. Kuhn, „Der Schuss des wilden Jägers auf den Sonnenhirsch"
5 *
68
Schwartz.
Wasserwelt, die dort oben sich plötzlich auftat, der Blitz
hin und her fuhr, an einen zauberhaften, leuchtenden
Fisch, der hin und her schoss, wie ein Hecht (oder Del-
phin), dem der Fang galt, weil er des Himmels Feuer, das
in der Gewitternacht verschwunden zu sein schien, ver-
schluckt habe. Dem Hirten weckten die vom Winde ge-
triebenen Wolken die Vorstellung einer himmlischen Herde,
und wenn der Donner zu brüllen begann, dann waren es
Rinderherden zauberhafter Art, während der Ackersmann
bei den am Horizont herumziehenden Wolken und in den
Furchen, die der Blitz zog, an ein wunderbares Pflügen
dort oben dachte und, falls er die Vorstellung mit den
brüllenden Rindern verknüpfte, feuerschnaubende Stiere
das Himmelsfeld durchpflügend wähnte.
Entstanden so Geschlecht auf Geschlecht Mythen-
schichten immer neuer Art in den einzelnen Stamm- und
Volksgruppen, in denen die Menschen sich zusammenfan-
den, so blieben die alten Vorstellungen in der Tradition
haften und gaben in der mannigfachsten Verknüpfung
des Alten und Neuen ein Substrat für das, was sich dann
in Form von Sage oder Märchen oder in religionsartigen
Vorstellungen oder in einer historisch immer selbständiger
werdenden Gestaltung daran knüpfte.
So hat jedes mythische Bild, jeder mythische Glaube
seine eigene Geschichte. Er entsteht aus primitiven Vor-
stellungen, bildet sich aus, je mehr er Momente in den
Kreis seiner Betrachtung aufnimmt und phantasievoll ver-
wertet, Allmählich aber stirbt er, von anderen Elementen
verdrängt, als Glaubenssphäre ab, zieht immer engere Kreise
und wenn er nicht ganz untergeht, bleibt er nur noch an
diesem oder jenem irdischen Moment haften.
in der Zeitschr. f. Deutsche Philologie v. Zacher und Höpfner. 1868.
S. 100. Elard Meyer. Indogerm. Mythen. 1883. I. S. 159.
1 (Jeher die Belege hierzu s. Urspr. d. Myth, und Poet. Na-
turan. II.
Die melkenden Götter bei den Indogermanen.
69
In dieser Weise hat die Vorstellung einer wilden Jagd im
Gewitter, die so viele|mythische Bilder und eine Menge von
Göttergestalten bei den Indogermanen gezeitigt hat, in
Deutschland sich noch bis auf den heutigen Tag für das
nächtliche Treiben des Sturmes in waldreicher Gegend er-
halten. Die Bezeichnung Hexenschuss ist noch ein Ueber-
rest von dem alten Glauben, dass die in Wind und Wolken
angeblich ihr Wesen treibenden Geister nicht bloß das
Wetter und besonders das Gewitter machten, sondern auch
im Blitz auf Mensch und Vieh ihre lähmenden Geschosse
entsandten, so dass schließlich jede plötzliche Lähmung von
ihnen unsichtbar ausgegangen zu sein schien. Ebenso ist
es ein Ueberrest einer alten reich entwickelten und ver-
zweigten Glaubensschicht, der noch an immer widerkeh-
renden Traumzuständen der Menschen haften geblieben ist,
wenn man vom Alp- oder Mahrtendrücken redet und in länd-
lichen primitiven Kreisen noch immer den Glauben eines
solchen Druckes als von irgend einem gespensterhaften
Wesen ausgehend festhält. Der über ganz Europa ver-
breitete Glaube endlich, dass wenn ein Sturm sich erhebe,
„sich einer aufgehängt habe", ist noch ein Ueberbleibsel
von der primitiven Combination der Urzeit, dass einer am
Himmel aufgehängten Windwolke der Sturm folge, einer Vor-
stellung, die in weiterem Ausbau der betreffenden Elemente
einst den verschiedensten Mythen den Ursprung gab, unter
denen der am Himmelsbaum hängende und im Sturm seine
Lieder singende Odhin, der noch geradezu der Hängegott
hieß, eine der charakteristischsten ist (Poet. Naturan. II. 39.
vergi, meine Abhandlung über Hexen Versammlungen u. dgl.
in dieser Zeitschrift v. J. 1888. S. 412 f.)
So geht auch die Vorstellnng von dem Zauber, den
Hexen beim Melken und der Butterbereitung angeblich
ausüben, in die Urzeit zurück, wenngleich die Entwick-
lung des Hexenglaubens, dass nämlich auch Menschen die
betreffenden Zaubereien treiben sollten, ihm mit der Zeit
ein anderes Colorit gegeben, damit aber auch eben bewirkt
70
Schwartz.
hat, class er, wenn gleich in dieser verkümmerten FormT
sich immer noch in voller Ausdehnung erhalten hat.
Die eigentümlichen Verhältnisse nämlich, die bei der
Gewinnung von Milch und Butter hervortreten und in
isolierten Kreisen den einfachen Menschen, besonders den
Frauen, oft noch ebenso überraschend und unbegreiflich
sind, wie einst den Menschen in den Urzeiten, haben be-
wirkt, dass das Absterben des sich daran knüpfenden alten
Glaubens nur eben mehr in den Kulturkreisen sich voll-
zogen hat, sonst aber derselbe noch in voller Breite in
Deutschland, Oesterreich und in der Schweiz auf dem
Lande vegetiert und unter Umständen sich auch noch zu-
weilen unangenehm in allerhand Yolksausbrüchen bei an-
geblich geübter Zauberei in Bezug auf Gewinnung von
Milch und Butter geltend macht.
Beide Momente aber, ein zauberhaftes Melken wie
Buttern, hängen mit einer weit verzweigten, an die Rind-
viehzucht sich anschließenden mythischen Schicht zusammen,
die einst ein indogermanischer Volksglaube war und in
diesen einfachen Formen namentlich noch in Deutschland
zum Teil fortlebt, bei unsern arischen Vettern aber in ihrer
Sonderentwicklung eine systematische, rituale Ausführung
der eigentümlichsten Art unter den Händen ihrer Priester
erfahren hat, infolge deren das Rind überhaupt zu einem
heiligen Objekt geworden ist.
Der Anknüpfungspunkt für die betr. mythischen An-
schauungen war, wie oben schon angedeutet, die Auffassung
der brüllenden Gewitterwolken als himmlischer Rinder bald
vom Standpunkt der Vielheit, bald von dem der Ein-
heit aus.
In einer gewissen Menge treten die himmlischen Rinder
in indischen Mythen von Indra, wie in den griechischen
vom Hermes, Herakles und Odysseus auf, indem an beiden
Stellen das Verschwindeu und Widererscheinen derselben
als Raub bezw. Widergewinnung gedacht wird, bei den
Griechen aber nur das Faktum, natürlich in den verschie-
Die melkenden Götter bei den Indogermanen.
71
denen Spielarten der Sage, verschieden ausgeführt erscheint,
während bei den Indern die Vorstellung eines besonderen
mit den Kühen verbundenen Segens hervortritt, indem sie
namentlich beim Regen gemolken zu werden schienen.
In einheitlichem , den ganzen Himmel umfassendem
Bilde erscheint so bald als der himmlische Stier Indra selbst,
in Parallele zu dem irischen Elfstier, der aus den
(himmlischen) Wassern hervorkommt, bald, indem man
die herabhängenden Wolken als Euter fasste, eine in
mythischer Hinsicht mannigfach bedeutsame Kuh von ge-
waltiger Dimension, so dass z. B. an ihr, wie auch sonst
vom mythischen Standpunkt aus die Welt nach dem Ge-
witter verjüngt oder wiedergeboren zu sein schien, die
Sage von der Weltschöpfung oder steten Erneuerung sich
an eine zauberhafte Kuh schloss.1
An die Euter dieser himmlischen Kuh2 (oder Kühe)
knüpfte sich nun die Vorstellung des Melkens derselben,
wobei der Inder meist an den Regen dachte. Die Haupt-
stelle, von der man bisher ausging, findet sich im Rigveda
XXXIII. 10, die man nach Rosen übersetzte: fulmine
coruscante e nubis caligine aquas manantes mulsit (sc. Indra).
Daran schlössen sich die mythologischen Entwicklungen
der betr. Mythen von Seiten Kuhns, Mannhardts, Grözin-
gers, Landsteiners u. A. Neuerdings hat man die Stelle
anders gefasst und namentlich die Vorstellung des Melkens
aus derselben ganz herauszubringen gesucht, wenngleich zu
dem Indra, der den Beinamen „der Kuhhirt" führt, die
Sage selbst passen würde. Bei diesem zweifelhaften Cha-
rakter bleibt das erwähnte Citat besser aber zunächst
1 In der nordgermanischen Mythe ist es die Kuh Audhumla, wie
auch in der persischen Kosmogonie der Stier eines der ersten unter
den geschaffenen Wesen ist. Ueber die Wiederbelebung der himm-
lischen Kuh nach indischer wie deutscher Sage siehe weiter unten.
2 Ueber die angebliche Eutergestalt von Wetterwolken siehe
Laistner, Nebelsagen. 1879. S. 280. 289. 297.
72
Schwartz.
beiseite, zumal das vorhandene andere Material die Vor-
stellung selbst doch klar legen dürfte.
Für das Melken der schweren, wie Euter herabhän-
genden Gewitterwolken, wodurch sie eben dann ihre Fülle
zu verlieren schienen, so dass der Regen, nebenbei bemerkt,
nur ein irdisches Accidens ist, während das Melken für die
Himmlischen eine besondere Bedeutung haben konnte, hatte
ich, um die Anschauung überhaupt anzubahnen, s. Z. in
den Poet. Naturansch. I. S. 38 nach Rochholz eine Stelle
aus Hebel angeführt, wo dieser beim Heranziehen schwerer
Gewitterwolken Bütten und Zuber aufzustellen und die
Wolken in dieselben zu melken heißt. Der Punkt, an
dem die Anschauung einsetzte, war aber noch nicht klar
gelegt. Erst eine Stelle aus Alxingers Doolin, welche mir
Pröhle vor einiger Zeit mitteilte, verhalf dazu.1 Sie ist
voller mythischer Uranschauungen und entwickelt speciell
das Melken in drastischer Weise.
Wo in Ellipsen (heißt es VI, 59) sich die Wandersterne drehen,
Hat Gott den weiten Raum mit seinem Hauch erfüllet,
Der Aether heißt; dem Erdball näher brüllet
Der Donner, schlängelt sich der Blitzstrahl, Winde wehen.
In diesen Gegenden schwebt auch das Heer der Wolken,
Leicht wandelbar, gemalet Grau in Grau.
Aus denen Regen troff und Tau,
Als Gottes Finger sie gemolken.
Das Bild, welches dem Dichter bei dem Melken „mit
dem Finger" vorschwebte, ist deutlich. Es ist direkt die
Manipulation des Drückens, Streichens, was überhaupt die
Grundbedeutung des Wortes melken, = dem griechischen
afiélysiv, lat. mulcere ist, das zur Entleerung der Wolke
angewandt gedacht wurde, wie es auch beim Euter der
Kuh zur Anwendung kommt. Mir fiel dabei gleich eine
Szene ein, wo eine ähnliche nur anders anknüpfende An-
1 Vgl. Pröhle in Kürschners Deutscher National - Litteratur
Bd. 57.
Die melkenden Götter bei den Indogermanen. 73
schauung mir einmal aus halb volkstümlichen Kreisen noch
in den letzten Jahren entgegentrat. Bei einer Wanderung
sprach ich mit einem Bahnwärter, dessen Haus ich gerade
kreuzte, vom Wetter, da der Himmel voll dicker Wolken
hing. „Ja," meinte er humoristisch, indem er nach seiner
halbstädtischen Bildung die dicken Wolken mit Schwämmen
verglich, die mit Wasser getränkt. „Da hängen viele
Schwämme, wenn die Einer ausdrückt, giebt es viel Regen."
Was hier in anderer Weise reproduciert wird, dies Aus-
drücken der Wolken, erinnert nun an ein Bild von einer
angeblichen entsprechenden Thätigkeit des Südwindes bei
Ovid. Wie der griechisch-römische Zeus sonst die
Aegis, d. h. die Donner wölke, mit der Rechten schüttelt
(quatit), dass Feuer und Regen herausfährt, so gebraucht
Ovid an der betr. Stelle das Wort premere, was er auch
direkt vom Melken des Euters anwendet. Entsprechend
dem ubera plena premere Fast. IV. 769, heißt es Metam, I,
p. 268 f. vom Notus:
Utque manu late pendentia nubila pressit,
Fit fragor, inclusi funduntur ab aethere nimbi.
Der Akt, um den es sich handelt und woran die Anschau-
ung einsetzt, tritt hier entsprechend den obigen Bildern deut-
lich hervor. Wie man weiter dann die Vorstellung direkt
des Melkens in Beziehung auf die himmlischen oder die
irdischen Verhältnisse fasste, ist eine andere Sache, ebenso
wie, dass man bei rationalistischer Deutung an die Regen-
wasser dachte, erklärlich ist.
Zunächst ist aber nach Allem die Vorstellung des
Melkens der Wolken als himmlischer Euter von Seiten der
Winde erklärt. Ob hiernach die aus dem Rigveda er-
wähnte Stelle, die sich in der Anschauung fast ganz zu
der Ovidischen stellt, künftighin im Sinne Rosens oder der
neueren Erklärer gedeutet wird, ist für den betreffenden
allgemeinen mythischen Glauben gleichgiltiger. Das oben
entwickelte Bild aber und der daran sich knüpfende
74
Schwartz.
Volksglaube wird hinlänglich auch auf indischem Boden
bestätigt, wenn die Sage von einem entsprechenden Melken
der Wolken, resp. der Gewitterwolken, als Kuh gefasst, von
Seiten der Windgeister, der Ghandarven oder der Maruts
berichtet. Hierher gehört zunächst ein Citat Paninis,
welches Elard Meyer (Indogerm. Mythen, Berlin 1883,
S. 32. 148.) schon in seiner Bedeutung hervorgehoben hat,
in welchem Panini die Ghandarven die Apsaras (d. h. die
Wolken) melken lässt. Aehnlich heißt es nun im Rigveda
1, 64, 5 von den Maruts, dass sie die himmlischen Euter
(nämlich die Wolken) wie mir Herr Prof. Weber freundlichst
bestätigt, melken, mulgent (nubes) ubera (quasi coelestia),
wozu sich dann 2, 24, 10 stellt, wenn es von ihnen heißt,
dass sie die Euter der bunten Kuh (ihrer Mutter Priçriï)
d. h. der Wetterwolke, die ja auch die Gemahlin des Sturmes-
und Regenbogengottes Rudra ist, gemolken haben.1
Bewegt sich hier das Melken noch in dem Natur-
element, aus dem die Anschauung hervorgegangen ist, so
ist es bei den deutschen Windgeistern, den Hexen, die ur-
sprünglich Wolkendämonen waren wie die indischen Ghan-
darven, Maruts und Ribhus, zu welchen letztern sich auch
schon sprachlich die den Hexen verwandten Elben stellen,
in der Form überhaupt eines zauberhaften Melkens haften
geblieben, indem das schon oben erwähnte Uebergehen
und Anknüpfen des betreffenden Glaubens an irdische Ver-
hältnisse und das Uebertragen der Zauberei auf Menschen
eine Verallgemeinerung der Vorstellung auch in Hinsicht
auf die Art und den Zweck des Melkens nach sich zog.2
Mannhardt hat in den ersten Capiteln seiner „Ger-
manischen Mythen" eine Fülle von Material in Betreff dieses
zauberhaften Melkens der Hexen (der Molkentöverschen,
1 Elard Meyer. Indogerm, Mythen I. 147.
2 An die Stelle der Hexen treten in Dänemark in dieser Hin-
sicht die Alraune, bei den Inselschweden der Skratz, auf den Faröer
die Draugar u. s. w. Mannhardt, Germ. Mythen. S. 53.
z
Die melkenden Götter bei den Indogermanen. 75.
der Milchdiebe) beigebracht, welches nun erst ein richtiges
Relief erhält. Da er nämlich den Thor in dieser Hinsicht
mit Indra identificiren wollte, was ihm nicht ganz gelungen
ist, fand er namentlich in den sagenhaften Zügen, dass die
Hexen aus einem Axthelm u. dergl. melken sollten oder
mit einem Donnerkeil die K11I1 bestrichen werden müsse,,
um reichlich Milch zu geben, Bezüge auf die entsprechen-
den Geräte in den Händen des Thor und wollte daraus
dasselbe, was vom Melken des Indra angeblich berichtet
wird, auch auf Thor übertragen. Wenn ihm das aber
nicht gelungen zu erhärten, so erinnert doch Alles, was er
in Betreff des Melkens der Hexen berichtet, dass sie z. B.
auch aus Lappen, Stricken u. dergl. zu melken verständen,
an das Wolken- und Blitzterrain, aus dem die Windgeister
zu melken schienen, nur das eben nach den Wandlungen
des Hexenglaubens, nicht die himmlische, sondern des
Nachbars Kuh es ist, von dem die Hexe so die Milch zieht.1
Wenn der noch fortlebende Glaube aber sich so als eine
Abschwächung einer alten mythischen Vorstellung erklärt
so ist die Sache psychologisch auch deshalb noch besonders
interessant, weil in Wirklichkeit nie etwas Aehnliches ge-
übt sein kann, sondern sich nur die Tradition von solchen
Manipulationen so die Jahrtausende hindurch auch hierin
erhalten hat.
Bestätigt wird übrigens diese Auffassung noch dadurch,
dass auch nach indischer wie deutscher Sage die ange-
zogene Parallele der irdischen Kühe zu den himmlischen sich
noch in den mannigfachsten anderen Beziehungen bekundet.
Kuhn hat eine Menge von Beispielen beigebracht, aus denen
hervorgeht, dass, wie man z. B. meinte, die himmlischen
Wolkenkühe würden im Gewitter bei ihrem Austreiben
an der Bühne des Himmels im Blitz mit Ruten gepeitscht,
um die Fruchtbarkeit ihrer Euter zu mehren, — erschie-
1 Schon Burchardt von Worms (f 1024) erwähnt dies. Grimm,
Myth. 1837. Anh. XXXVIII.
76
Schwartz.
nen doch dann die Euter d. h. die betreifenden Wolken
am vollsten, — auch dem entsprechend in der gewöhnlichen
Mimesis des himmlischen Vorgangs, man die irdischen Kühe,
um denselben Zweck zu erzielen, bei den Indern mit den
Zweigen des Çamî, bei den Deutschen mit denen des Vogel-
beerbaumes peitschte, dessen federartige Blätter auch noch
wider in besonderer Weise an das himmlische Terrain, näm-
lich an die Wolkenbildungen der sog. Federwolken, erinnerten.1
Ebenso ist nicht bloß die Wolkenkuh Audhumla es, von der
dann die (Neu-)Schöpfung der Welt im G-ewitter mit aus-
geht, sondern indische wie deutsche Sagen berühren sich auch
in dem Mythos, dass die Kuh, nachdem sie getödtet, immer
wider aus der Haut (und den Knochen) gelegentlich durch
Rutenpeitschen lebendig gemacht werden könne. Es ist
dies ein Glaube, der die Entwicklung des Gewitters von dem
Standpunkt aus gleichsam reproducirt, dass, nachdem „zu-
erst" die Wolkenhaut und die (Knochen-) Blitze sichtbar
werden,2) „plötzlich" im „brüllenden" Donner „die Kuh"
wider aufgelebt erscheint, und das Melken beginnt. Mann-
hardt hat die hierherschlagenden Sagen von dem Wider-
belebt werden der himmlischen Kuh durch die Ribhus in
Indien, durch das Nachtvolk und die Elbe in Deutschland
schon in so eingehender Weise behandelt, dass ich nur
daraufhinzuweisen brauche, zumal das ähnliche Widerbelebt-
werden der Böcke durch Thor, das .doch nur eine andere
Spielart desselben Mythos ist, hinlänglich bekannt sein dürfte.
So hat sich in der indogermanischen Vorzeit eine ganze
Schicht von mythischen Vorstellungen und Gebräuchen an
die Rinderzucht angeschlossen, nur muss man die Analogien
in der niedern Mythologie, in den primitivsten, an die Na-
tur sich anlehnenden Anschauungen suchen. Denn wie das
Leben der einzelnen Völker, ist auch die Entwicklung der
1 Kuhn, Herabkunft des Feuers. 1886. 161. 170.
2 Deber die Vorstellung der Blitze als Knochen s. Prähisto-
risch-anthropologische Studien. 124. 133 ff.
Zur Legende von Robert dem Teufel.
77
mythischen Massen dann auseinander gegangen, zumal sie
sieh noch in den verschiedensten Volkskreisen, die lange
noch in einer gewissen Abgeschlossenheit lebten, wider
mannigfach individualisirte, bis aus den verschiedenen
Schichten sich zuletzt ein mehr allgemeinerer Volksglaube
abhob, der in seinen Göttergestalten gleichsam ein Pan-
theon aller vorhandenen Lokalculte war.1
Zur Legende von Robert dem Teufel,
Von Karl Borinski.
Der ganze Kreis dieser in mannichfacher Hinsicht für
die Sagengeschichte interessanten Legenden hat neuerdings
eine fleißige literarische Bearbeitung erfahren,1 so dass es
auf Grund derselben wol möglich ist, zu einem allgemeinen
Urteil über ihre Bedeutung und ihren etwaigen mytholo-
gischen Wert zu gelangen. Da die bezüglichen Eesultate
des Verfassers manche Widersprüche enthalten und in
Folge dessen auch herausfordern, so dürfte eine Nach-
prüfung derselben an dieser Stelle wol am Platze sein.
Die erste Andeutung der Legende findet sich in einer
jener heiligen Anekdotensammlungen eines Mönchs aus
dem 13. Jahrhundert, die für die geistliche Literatur die-
ses Jahrhunderts überhaupt charakteristisch scheinen. Der
1 Ein Bild von der Phase des Heidentums, in der die Lokal-
kulte besonders Hervortraten, erhält man, wenn man an die Ver-
ehrung der verschiedenen Heiligen in den einzelnen Gauen katho-
lischer Länder denkt; was bald wieder in eine entsprechende, bunte
Götterwelt ausarten würde, wenn nicht der Clerus die allgemeinen
christlichen Vorstellungen festhielte.
2 In Anschluss an eine kritische Ausgabe einer englischen
Bearbeitung, der ni. e. Romanze vom „Sir Gowther" durch Karl
Breul. Oppeln, Eugen Franck, 1886.
78
Borinski.
Aufzeichner ist Franzose und das eigentliche Heimatland
der Legende ist Frankreich geblieben. Beteiligt sind im
Wesentlichen bei ihrer Verbreitung nur die romanischen
Nachbarländer mit Ausschluss von Italien. Von Deutsch-
land nur die (romanischen) Niederlande. In die deutschen
Volksbücher unseres Jahrhunderts ist diese specielle Le-
gende erst auf gelehrtem Wege gekommen und verdankt
ihre heutige Popularität bei uns lediglich Meyerbeers be-
kannter Oper (1831),
Der Charakter der Legende ist wie auch ihrer ersten
Bearbeitungen ein rein geistlicher, ja kirchlicher. Reuige
Bekehrung eines großen und zugleich gefährlichen Sünders
ist das Motiv. Der letztere Umstand ist es zweifellos, der
dieser „Conversio" Beliebtheit vor vielen ihresgleichen
sicherte.
Dass bei ihren ausgeschmückten Bearbeitungen Motive
der (historischen) Sage und Geschichte verwendet wurden,
ist selbstverständlich. Diese einfache Sachlage jedoch hat
K. Breul nicht zur Grundlage seiner Untersuchung ge-
macht. Weder die Erwägung des christlichen und histo-
rischen Elements noch des sagenhaften will er gelten
lassen. Für ihn ist der Robert ein einheitliches mytho-
logisches Factum, das er alsbald an den unausbleiblichen
Lichtgott anzuknüpfen nicht verfehlt. Er erreicht das da-
durch, dass er nach einem nicht sehr tiefgehenden Aperçu
F. Liebrechts (Zur Volkskunde 106 f.) den Robert dem aus-
gedehnten Märchenkreise zuzählt, den R. Köhler (Eberts
Jahrbuch VIII, 253 if.) ausführlich behandelt hat. R. Köhler
tut dies nicht; offenbar mit Grund.
Der Typus jener Märchen vom „Grindkopf" (wie ihn
Köhler bezeichnet) oder vom „starken Hans" in Nöten
(vergi. Grimmsche Märchen III, 258 ff.), wie man sie viel-
leicht charakteristischer taufen könnte, enthalten zunächst
den geraden Gegensatz zur Robertsage. Es ist der Held
im Narrenkleide (vergi. Chrestien-Wolframs junger Parzi-
val), der Königssohn in Niedrigkeit oder der in allen Ge-
Zur Legende von Robert dein Teufel.
79
fahren unverwüstliche Wundersteinbesitzer, der bretonische
Lanzelot, der Stammvater aller neueren Fortunate. Hier
ist ein gutes Princip im Kampf mit bösen Mächten, die
durch Wolken brechende Sonne. Robert aber zeigt in
seinem Grundwesen ein entschieden böses Princip im
trotzigen Kampf mit guten, hilfreichen Mächten. Er ist
nicht in Not wie jene Helden, sondern er schafft Not,
und zwar ohne jeden Grund. Er hat keines von den
Attributen jener alten Sonnenhelden (Steinthal über die
Simsonsage, Zeitschr. f. Völkerpsych. II, 136"if.), selbst die
Stärke tritt zurück vor der „Wildheit", ist höchstens übel
angewendete Stärke mit dem Grundzug der Bosheit. Wo
in ähnlichen Legenden die Bosheit fehlt, da fehlt bezeich-
nender Weise auch die Stärke, überhaupt jede auszeich-
nende Kraft, wie in einem Marienmirakel, welches Breul
S. 210 mitteilt, und ähnlichen Versionen, die er S. 124 in
einen unberechtigten Zusammenhang bringt.
Das einzig Gemeinsame ist die Geburt. Die Geburt
aber ist niemals das erste, das hauptsächliche in einer
Heldensage. „Die Geburt," sagt Steinthal a. a. 0. II, 145,
„ist allemal das Letzte was die Sage ihrem Helden an-
dichtet, nachdem sie mit seinem Wesen und Leben schon
fertig ist: wie der Schriftsteller die Vorrede erst nach
Vollendung des Buches schreibt." Grade hier wird dies
recht deutlich. Diese Form der Geburt bildet in ihrem
Kerne ein Legendenelement des Mittelalters für sich, das
zu den verschiedenartigsten Compositionen hinzutritt. Es
ist die Erzeugung durch den Teufel. Die Beziehung, in
welcher dieselbe zu heidnischen Ueberlieferungen steht,
(namentlich zu alten genealogischen; zu verweisen ist ganz
besonders auf das Rigsmal der Edda), tritt hier sehr zu-
rück vor den eigentümlich mittelalterlichen Teufelslegen-
den, deren Ursprung ja doch ganz wo anders zu suchen
ist. Im Mittelpunkte steht hier die Anschauung von der
Geburt des Antichrist, die in allen Teilen (der Teufel ist
der Affe Gottes) auf eine Parodie der Heilslegende hinaus-
80
Borinski.
läuft. Im weiteren Umkreise ist hier mit den physiologi-
schen Grundbedingungen zu rechnen, welche gerade dieser
Seite des Teufelglaubens zu Grunde liegen (vergi, neuer-
dings den inhaltreichen Aufsatz von Kirchhoff, Beziehungen
des Dämonen- und Hexenwesens zur deutschen Kranken-
pflege. Allg. Zeitschr. für Psychiatrie 44, 329 ff.). Ex-
treme Formen des Temperaments (Melancholie, cholerische
Heftigkeit) genügen hier bei Mutter und Kind, um zur
Erklärung den Teufel herbeizuziehen. (Physisch miss-
geschaffene Kinder sind von vornherein „Wechselbälge de»
Teufels", an denen die Eltern „schwer zu tragen haben",
vergi. Grimmsche deutsche Sagen Nr. 82, 83, wo sie den
Eltern beim Tragen zu schwer und daher ins Wasser
geworfen werden.) Incubus-Hallucinationen bei derartig
krankhaft disponirten Müttern und Melancholie oder dergl.
psychische Abnormitäten bei deren Söhnen sind eine völlig
ausreichende Unterlage für die vielen Sagen, in denen
Söhne, von ihren Müttern unterrichtet, dass sie vom Teufel
erzeugt sind, entweder Wallfahrten antreten und (von
Maria) gerettet werden (s. jetzt die reichen Zusammen-
stellungen von Marienlegenden durch A. Mussafia, Sitzungs-
berichte der Wiener Akademie z. B. 115, 56 oder z. B.
Schambach und Müller, Niedersächsische Sagen und Mär-
chen, Gött. 1854, Nr. 169) oder ein trauriges Ende neh-
men (wie z. B. Maurer, Isländische Sagen der Gegenwart
Lpz. 1860, 192 f. 300, wo der Sohn zum Geistlichen be-
stimmt wird, ein sonst häufiger Zug, aber gerade in unsrer
Verbindung, bei der man an alte Weihung denken könnte,
ganz vereinzelt). Genährt wird diese Manie durch die Vor-
stellungen von Teufelskindern und Teufelsleben, mit denen
die Predigt, zwar in übertragenem Sinne aber höchst de-
taillirt ausgeführt, wirtschaftet. Es ist noch einmal streng
festzuhalten, dass diese Form der Geburtssagen nach Her-
kunft und Absicht verschieden ist von einer andren, die
gleichfalls im Mittelalter sehr häufig ist, und die wir nicht
anstehen als mythische Reste anzuerkennen. Das ist die
Zur Legende von Robert dem Teufel.
81
dunkle Geburt, die Erzeugung von ungewissem Vater bei
hervorragenden Persönlichkeiten, die wir in komischer
Herabzielmng in den Anekdoten vom „Schneekind" wider-
finden. Sie knüpft sich, so viel ich gefunden habe, nie-
mals an Unglückskinder, sondern immer an Helden im
obigen Sinne. Der Ursprung alles Großen ist ungewiss.
Und nicht bloß auf große Helden und Zauberer (Alexan-
der, Merlin) auch auf große Heilige wird dies ganz naiv
angewandt. Man sieht hieraus, dass geistliche Umwand-
lung dieser Sagenform ins Teuflische, mit der so viel
operirt wird, gar nicht im Interesse der Geistlichen ge-
legen hat. Bei letztren mag das Moment der Jungfräu-
lichkeit der Mutter hinzutreten. „Audivimus," so erzählt
Jocelin von der Mutter des heiligen Keutegern (bei Dun-
lop I, 214), „frequenter sumptis transfigiis puellarem
pudicitiam expugnatam esse ipsamque defloratam corrup-
torem sui minime nosse. Potuit aliquid hujusmodi huic
puellae accidisse." Diese Verkleidungen sind stets ange-
nehmer Art (glänzende Ritter, wie in dem von Gaston
Paris Romania VIH mitgeteilten lai de Tydorel), und für
die Mutter ist der Vorgang unerwartet, überraschend. Bei
der Teufelerzengung aber kommt irgend eine Schuld
der Eltern (Verwünschung, Uebertretung von Gelübden)
hinzu. Schon äußerlich gehört jenes mehr dem frei er-
fundenen Märchen, dies der (im weitern Sinne) historischen
Sage, Legende, Anekdote an.
Noch in der neuesten Geschichte haben wir einen
merkwürdigen Fall, dass sich die Sage ganz in diesem
Sinne an eine historische Persönlichkeit knüpft. Sie be-
tritt den Marschall von Luxembourg, den großen franzö-
sischen General. Auch an Wallenstein hatte sie nicht
übel Lust pieranzutreten. Aber die historische Sage hat
Launen, deren Ergründung hier sehr weit führen würde.
Er steht mit dem Teufel im Bunde, ohne dass von einer
Verschreibung die Rede wäre, wie bei Faust, mit dem ihn
Volksbücher des vorigen Jahrhunderts (in der Hölle) zu-
Zeitschrift für Völkerpsycli. und Sprachw. Bd XIX. 1. 6
82
Borinski.
sammenbringen. Die Sage ist deutsch. Es ist also der
glückliche, feindliche Führer, der Schrecken des Volkes, von
dessen wüsten Sitten das Volk vernimmt, um alsbald sein
Dasein dem Teufel zuzuschreiben. Auch Robert ist ein
wüster Großer, der Schrecken des Volkes. Er ist ungläu-
big, er vergeht sich gegen Nonnenklöster, gegen fromme
Einsiedler. In der neueren Volkssage (Görres, Teutsche
Volksbücher, 216, van den Bergli, de nederlandsche Volks-
roman 1837, S. 192 f.) erscheint er auch in dieser redu-
cirten Form neben vielen andern Teufelskindern. Die Buße
ist da auf kurze Zeit vor dem Tode beschränkt wie bei
Faust, er wird schließlich vom Teufel zerschmettert,
wie seine Genossen. Diese Version aber steht wie all
diese neueren Sagenhelden bereits unter dem Einflüsse des
protestantischen Geistes, der für die Verworfenen keine
Buße kennt. Der ursprüngliche Robert aber ist ein Sohn
des Zeitalters, in dem die Kirche keinen höhern Ehrgeiz
kennt als dem Teufel eine Seele zu entreißen (vergi, die
scholastische Speculation darüber bei Roskoff, Geschichte
des Teufels I, 224 f.). Hier knüpft sich an Robert eine
kirchliche Conversio, die aus dem Räuber und Bösewicht
einen großen Büßer und schließlich einen Helden der guten
Sache, einen Streiter gegen die Ungläubigen macht. Diese
Conversio, wie sie als die erste Fassung der Robertsage
auftritt, ist für sie charakteristisch. Mirakel, in denen
sie fehlt, zeigen auch im übrigen durchaus ihre Zusammen-
hangslosigkeit in Bezug auf unsere Sage. Solche Conver-
siones aber knüpfen sich, wenn auch übertreibend und
ausschmückend, immer an historische Facta. Sie wurden
von Rom aus ermuntert und förmlich vertrieben. Man ist
also nicht bloß berechtigt, sondern verpflichtet, bei der in
ihrer ersten dichterischen Fassung (in einem französischen
Roman des 13. -Jahrh.) schon ganz im historischen Lichte
dargestellten Sage sich nach dem historischen Vorbild um-
zusehen.
Nisard, Littré, Uhland gehen von dieser Anschauung
Zur Legende von Robert dem Teufel. 83
aus, ohne einen Anhalt geben zu können. Nur soviel steht
fest, dass auch sie die Persönlichkeit, welche noch heute
in den Geschichtsbüchern als der historische Robert der
Teufel angeführt wird, nämlich (nach der „histoire géné-
rale de Normandie" von Gabriel Dumoulin 1631) einer der
Normannenherzöge dieses Namens im 11. und 12. Jahrhun-
dert (gewöhnlich Robert I. f 1035) nicht für das ent-
sprechende Vorbild zu halten scheinen. Nicht was Breul
dagegen (S. 108) anführt, „dass die zeitgenössischen Ge-
schichtschreiber von beiden nichts besonders Schlechtes,
sondern im Gegenteil viel Gutes zu berichten wissen," ist
hierbei das Entscheidende — denn der Beiname „le Diable"
hat an sich gar nichts damit zu tun und könnte umgekehrt
der Ausgangspunkt der Sage sein. Die Gründe sind viel-
mehr diese. Diese Herzöge stehen durchaus nicht in dem
hellen historischen Licht, dessen ein historischer Charakter
bedarf, um Mittelpunkt eines ausgebreiteten Sagenkreises
zu weiden. Der zweite steht überdies der Festsetzung
der Sage zeitlich zu nahe. Ferner ist ja Robert in der
Sage gar nicht Herzog von der Normandie. Er ist der
Sohn eines Herzogs von der Normandie und verübt seine
Heldentaten fern von diesem Lande am Kaiserhofe zu Rom,
im Kampf mit den Sarazenen. Beide Gründe machen auch
die augenblicklich ansprechende Annahme (von Le Héri-
chier Hist, et gloss, du Normand, 1862, I, 177) des
Wickings Rollo aus dem 9. Jahrhundert, der bekehrt die
Tochter Karls des Einfältigen heiratet, unhalthar. Ja, wenn
die Sage eine Localsage wäre. Aber sie ist nichts weniger
als das. Die Localsage erschöpft sich sonst in Angabe
und Ausschmückung von Oertlichkeiten. Beides ist dürftig
in der Normandie und schmeckt nach Reisestaifage. Bei
dem sonst aufmerksamen Etienne Pasquier (les recherches
de la France) aus dem 16. Jahrhundert, einer für Sagen-
kunde durchaus nicht unempfänglichen Zeit (man sehe ihre
Reiseschriftsteller) habe ich noch nichts bezügliches bei der
Normandie erwähnt gefunden. Dies bestätigt den Charak-
6*
84
Borinski.
ter der Sage als einer allgemein volksmäßigen Tradition,,
in der eben die Normandie nur eine Rolle spielt.
Bei dieser Sachlage ist es auffallend, dass keiner der
genannten Forscher auf denjenigen mittelalterlichen Helden
verfallen ist, der sich hier geradezu selbst als historischer
Anknüpfungspunkt der Sage darbietet. Wer in Gibbons
history (X, 146 ff.) die Charakteristik des berühmtesten und
bedeutendsten jener normannischen Räuber list, deren Aben-
teurerleben mit einer Fürstenkrone endet, der wird in Ro-
bert Guiscard Zug für Zug die Bedingungen widerflnden,
die bei unsrem Legendenkreis vorauszusetzen sind. Einem
Räuber gleich taucht der spätere Beherscher Süditaliens
daselbst auf. In den Bergen Calabriens wirbt er eine
Bande aus Einheimischen, der Grundstamm des blind-
ergebenen Heeres, das später Papst und Kaiser in Schach
halten sollte. Seine Abkunft ist dunkel. Er ist Nor-
manne, aber während ihn seine bewundernden Getreuen
zum Sohne des Herzogs von der Normandie machen, er-
scheint der Sohn Tancreds von Hau te ville seiner hoch-
näsigen Geschichtschreiberin Anna Comnena als Sohn eines
Bauern. Noch in seinen ersten Heldentaten gegen Griechen,
und Einheimische ist der Held vom Räuber schwer zu un-
terscheiden. Klöster zu plündern und zu schänden, Pilger
zu quälen, Kaufleute auf ihre Päcke hinzumartern, lag
nicht außerhalb der Interessensphäre des genialen Feld-
herrn, des geriebenen Diplomaten, des „Achilles" seines
Sängers Wilhelm von Apulien. Aber ebenso berufen wie
wegen seiner Gewalttätigkeit musste Robert „Schlaukopf"
alsbald durch seine außerordentlichen Gaben und seine
dämonische Kühnheit werden. Es ist schade, dass dieser
seltene Mann keine hervorragenderen Biographen gefunden
hat, als den steifleinenen Dichter Wilhelm von Apulien
und den mageren Chronisten Ganfred von Malaterra. Wir
hätten sonst sicher noch mehr Einzelzüge aus diesem an
großen und glänzenden Momenten reichen Leben. Aber
in der Beschreibung seiner Heldentaten in der Schlacht
Zur Legende von Robert dem Teufel.
85
bei Civitella (bei Wilh. Script. IX. lib. II. v. 215—244)
bricht selbst durch die kalten Verse des mechanischen
Panegyricus ein Strahl der Sonne Homers.
„Schwert und Lanze führt er zugleich."
Dreimal mit dem Pferde stürzend haut er sich dreimal sieg-
reich aus dem dichtesten Feindeshaufen. Noch Gibbon (Anm.
42 zu Cap. 56) knüpft an seinen Namen „Guiscard" phan-
tastische Etymologien. (Die Normannen selbst erklärten
es jedoch als Schlaukopf und es ist [vergi. Diez etym.
Wörterb. 5 A. S. 608] nichts andres als eine rein lautliche
Erweiterung des an. viskr.) Nun halte man zu dieser
Seite — dem ersten Teile dieses ruhmgekrönten Banditen-
lebens seine spätere Entwicklung zum Fürsten und Her-
zog, zu den dunklen Anfängen des normännischen Pilgers
mit dem Schwert in der Faust seine glänzende Vermäh-
lung mit einer italienischen Prinzessin, zu der Excommu-
nication des Papstes über den frechen Räuber, den gott-
verfluchten Heiligenschänder, den Klagen und Verwün-
schungen des griechischen Kaisers seine spätere Unent-
behrlichkeit für Papst und Kaiser. Nicht bloß dem unbe-
ratenen, allwärts bedrängten Nikolaus II., auch dem ge-
waltigen Gregor wurde er letzter Helfer, Retter in äußerster
Gefahr. Den berühmten Entsatz Roms gegen Heinrich
(bei Ganfred III, 33, Murât V, 586) nahm er als letzte
Heldentat ins Grab. Die Gregorianische Erkenntlichkeit
für solche Dienste wird nicht ausgeblieben sein. Sie diente
stets in majorem ecclesiae gloriam. Hier könnte jene Con-
versio, von der oben die Rede war, eingesetzt und sich
vermischt haben mit der Kunde des Lagers und des Vol-
kes von dem wunderbaren Leben des gefürchteten und be-
wunderten normännischen Helden.
Wie die biographischen Hexameter seines Wilhelm
von Apulien (vergi. Wilmanns Einleitung zu ihm in den
Script.), so scheint auch das historische Factum seines
Lebens im Mittelalter spurlos vorübergegangen zu sein,
86
Borinki.
falls man nicht diese nnerlässlichen Spuren mit uns in der
Robertsage widerfinden will. Die Version eines „Robert
von Sicilien", wie sie in französischen und englischen Dich-
tungen vorliegt, würde alsdann an Bedeutung gewinnen.
Auch hier ist der Grundzug die conversio eines stolzen
Ungläubigen. Die auffallende Frömmigkeit, die der schlaue
Robert später bei passenden, besonders gern bei auffallen-
den Begebenheiten zur Schau trug (s. Gibbon X, 151), bietet
auch hierfür eine vortreffliche Unterlage. Das chronolo-
gische Verhältnis ist genau das der Bildung und Vorbe-
reitung der Sage entsprechende. Es ist ferner zu beachten,
in welcher Zeit und unter welchen Einflüssen wir sie
grade bei unsrer Annahme sich gestalten sehen. Dies
Zeitalter (12., 13. Jahrhundert) ist recht eigentlich als die
Teufelsperiode zu bezeichnen. „Die Vorstellung vom Teufel
mengt sich hier überall hinein" (Roskoff a. a. 0. I, 335).
Grade in solcher Zeit muss also die Ausgestaltung in dem
Eingangs erörterten Sinne sich Zug für Zug belegen lassen.
Man braucht dann zur Erklärung einer Sage von so spä-
tem und willkürlichen Charakter keine mythologischen Ex-
perimente noch allzu specialisirte symbolische Deutungen.
Zu den letztren möchten wir jedoch nicht die geistvollen
Bemerkungen rechnen, die Ethelestan du Méril in seinem
Aufsatze über unsre Legende (Etudes sur quelques points
d'archéologie et d'histoire littéraire 1862, 272 ff.) nieder-
gelegt liât.
In welchen Beziehungen auch in historischer Zeit die
Anschauungsweisen der Völker bezw. ihre Wandlungen zur
Sage stehen, ist an unsrem Beispiel im Einzelnen lehrreich
durchgeführt. Uns kam es darauf an, den Grundstock
dieser Legenden einmal klarer zu legen, als bei dem bun-
ten Gemisch von Schösslingen extrem entgegengesetzter
Bildungskreise, von altnordischen und romanischen, phan-
tastischen und historischen Bestandteilen, die sich daran
heruniranken, bislang möglich schien. Zeit und Raum, die
sich uns dabei für ihn ergaben, dürften ihre Gewähr in
Zur Legende von Robert dem Teufel. 87
sich selbst finden und zum mindesten geeignet sein jenes
Gewirr durchsichtiger erscheinen zu lassen. Den Boden
aber, auf dem es hervorsprießt, auf seine inneren Bestand-
teile zu untersuchen, die psychologischen und ästhetischen
Bedingungen ausfindig zu machen, die dieser Gattung
Nachtsagen ursprünglich zum Dasein verhelfen, scheint
eine lohnende Aufgabe, an die uns der Weg vielleicht
bald einmal zurückführt.
Beurteilungen.
Wilhelm Scherer, Poetik. Berlin, Weidmannsche Buchh.
1888.
Der Herausgeber dieses postumen Werkes, ein Schüler
des Verfassers, Dr. Bichard Meyer, beginnt seine Vorbe-
merkung mit folgenden Worten: „Die Poetik, die leider
das letzte große Werk Scherers bleiben sollte, war in den
letzten Jahren seine Lieblingsarbeit. Der älteste Entwurf
ist von 1871 datirt-, besonders aber seit Vollendung der
Litteraturgeschichte stand der Plan, eine umfassende Lehre
von der Dichtkunst auf breitester empirischer Grundlage
aufzubauen, im Mittelpunkte seines Interesses. Im Sommer-
Semester 1885 las er dann die „Poetik" als vierstündiges
Privat-Colleg zum ersten und zugleich zum letzten Male.
Er erstaunte selbst, wie er widerholt aussprach, über die
geringe Mühe, die ihm die Vorbereitung machte; die Ge-
danken strömten ihm so leicht und in solcher Fülle zu,
als habe er mit dieser Arbeit nur die Frucht langjähriger
Anstrengungen abzupflücken". Kurz vor seinem Tode
äußerte Scherer, „er habe, als er die Poetik vortrug, auf
der Höhe seines Schaffens gestanden."
Es schien mir wichtig, diese Mitteilung des Heraus-
gebers hier widerzugeben, da sie das Werk wesentlich
clrerakterisirt; und nur um solche Charakterisirung des
88
Steinthal.
Werkes und seines Verfassers (natürlich bloß von Seiten
seiner wissenschaftlichen Tätigkeit) ist es uns hier zu tun.
Zumal Lob oder Tadel spenden, wäre übel angebracht; aber
auch um den Gegensatz zwischen mir und dem Verfasser
in dem behandelten Punkte darzulegen, ist es mir nicht zu
tun. Schließlich mag es sich der Leser selbst sagen, wie
fern ich Scherer stehe — wissenschaftlich; denn, das darf
ich wol liier ausdrücklich bemerken, wenn wir uns persön-
lich begegneten, was freilich nur selten geschah, so war
es von beiden Seiten mit herzlicher Freude; und ich kannte
Scherer schon, als er als Student in Berlin lebte.
Das erste was ich zu bemerken finde, ist die Tat-
sache schlechthin, dass Scherer es für nötig hielt, außer
der deutschen Litteratur-Geschichte eine Poetik zu schreiben,
die nicht bloß eine Poetik der deutschen Poesie sein sollte,
sondern, wie empirisch auch immer, doch eine allgemeine
Lehre der menschlichen Dichtung. Dies ist wichtig her-
vorzuheben, obwol es eine unausweichliche Folge dessen
ist, was Scherer in der Widmung seines Werkes „Zur Ge-
schichte der deutschen Sprache" über eine Historik als
„Mechanik der Gesellschaft" (S. VII,) ausgesprochen hat.
Ich weiß nicht, ob er sich jemals über die allgemeine Ethik
erklärt hat, welche über die „nationale Ethik" (S. VIII)
hinaus gehend auf der umfassendsten Völker- und Sitten-
Geschichte, auf dem „demokratischen Dogma vom unfreien
Willen, dieser Centrailehre des Protestantismus, dem Eck-
stein aller wahren Erfassung der Geschichte" beruhen
müsste, aber doch von dieser Geschichte noch verschieden
wäre. Doch gleichviel, seine Poetik liegt vor, und zwar,
wie hier ausgeführt werden soll, genau so, wie sie aus den
Grundsätzen folgen musste, die er in jener „Widmung"
bekannt hat.
An die Bemerkung also, dass es für Scherer überhaupt
eine Poetik gibt, schließt sich sogleich als zweiter Satz,
dass sie vom national-ökonomischen Gesichtspunkt aus ge-
macht ist — nicht als ob dies nach Scherers Sinn ein er-
Beurteilungen.
89
laubter Gesichtspunkt neben andern gleich erlaubten wäre;
sondern das ist der einzig wahre für alle Geschichts- und
das heißt für alle Geisteswissenschaften.
Wer dies verwunderlich findet, der möge nur folgen-
des bedenken. Es handelt sich um nichts andres, als um
V •
das was durch Ihrings Auftreten, „der Zweck im Recht",
über die juristischen Kreise hinaus gedrungen ist. Alle
menschliche Tätigkeit ist bewusstvoll, d. h. absichtsvoll,
d. h. zweckerstrebend. So hat denn nicht bloß das ge-
sammte Recht und jede Rechts-Institution ihren Zweck als
schöpferischen Grund, aus dem es zu begreifen ist, sondern
die Dichung nicht minder. Ferner aber handelt es sich
nicht um individuelle, mönchische Zwecke, sondern um
Zwecke innerhalb der Gesellschaft.
Dieser Gesichtspunkt (mit Scherer s Erlaubnis das. S. VII
dürfte ich ja sagen: der völkerpsycliologische) macht sich
schon bei einer geschichtlichen und kritischen Uebersicht
der Poetik „im gröbsten Umriss" (S. 34) geltend. Er be-
zeichnet die „Aufgabe, wenn sie universal genommen wird"
wie sie noch niemals genommen ist, in folgender Weise
(S. 35): „Alle Ansichten liber das Wesen der Dichtkunst
(oft schon im Namen ausgedrückt), wie sie bei allen Völkern
in Mythen und einzelnen zerstreuten Aussprüchen hervor-
treten, wären zu sammeln und zu erörtern, wenn man eine
vollständige Theorie aufstellen wollte,"
Bestimmter tritt dann der national - ökonomische Ge-
sichtspunktin Schbrers„Bezeichung des Zwecks seiner Poetik"
hervor, welche im Gegensatz zur frühern philosophischen
eine „philologische Poetik" sein soll: sie habe die dichte-
rischen Hervorbringimgen zu beschreiben, und zwar in
dreifacher Hinsicht, in ihrem Hergang (Entstehung), in ihren
Ergebnissen, in ihren Wirkungen. Die Ergebnisse aber
„verraten schon einiges von ihrer Entstehung, weil das
tatsächlich Vorhandene in der Regel ein Gewolltes ist,
also jede Beobachtung liber das Gedicht zugleich eine Ab-
sicht des Dichters enthüllt" (S. 66). Vgl. auch S. 70.
90
Steinthal.
Völlig- aber gibt Scherer seine Betrachtungsweise kund
in dem Abschnitt „Ueber den Ursprung der Poesie", dem
ersten des Kapitels „Dichter und Publikum". Nämlich:
Poesie ist Ausdruck des Vergnügens; und ihr Zweck ist,
Vergnügen zu bereiten — im weitern Sinne dieses Wortes.
Auch „das fromme Gefühl der Erhebung wird als etwas
Angenehmes empfunden" (S. 77). Die Unterhaltung, die
uns ein Roman, das Theater gewährt, ist ein Vergnügen.
Gesang ist mit Tanz verbunden, Tauzen ist aus Springen
hervorgegangen, dieses ist Ausdruck der Freude. Auch ist
die Bewegung der Glieder an sich Vergnügen, „man wird
sich der Kraft der Glieder bewusst, indem man sie übt".
Das Singen ist beim Menschen wie beim Vogel „freie
Aeußerung des Lebensgefühles, vielleicht wieder verbunden
mit der Annehmlichkeit der Stimmbänder-Uebung; sie
drücken ein Vergnügen aus, wie bei anderen Tieren das
lustige Bellen, das kräftige Wiehern". Ja, mit Berufung
auf Darwin bemerkt Scherer, dass bei vitalen Tieren die
Stimme in der Brunstzeit als Lockmittel gilt. „Hiernach
wird der Gebrauch der Stimmorgane mit der Voraus-
empfindung des größten Vergnügens, das die Tiere zu fühlen
im Stande sind, associirt worden sein." Bei den Urahnen
des Menschen werde es ebenso gewesen sein.
Außer Tanzen und Singen ist auch Lachen ein Quell
der Poesie; es ist ursprünglich Ausdruck der Freude, und
vielfach ist Poesie darauf berechnet, Lachen zu erregen.
Wenn nun der Einzelne mit Andern „springt, jubelt und
lacht", so haben wir den Chor; erregt er das Lachen der
Andren, so haben wir Schauspieler und Dichter und
Publikum — in embryonischer Gestalt, wie sie unter den
Wilden erscheint. Hier ist auch Nachahmung, in-
sofern jene Possenreißer der Wilden ausgezeichnete
Mimiker sind.
„All dies möglicher Weise noch ohne die Sprache!"
„Das erste Hinzutreten der Sprache war ohne Zweifel
direktes Benennen des Freude erregenden Gegenstandes"
Beurteilungen.
91
(S. 83). Ein „australisches Liedchen" enthält nur ein wenig
mehr, und der Tanz und Gesang ist begleitet von einer
symbolischen Handlung. So erfahren wir, was Symbolik
ist: „Vorempfindung eines Vergnügens macht sich Luft in
einer Handlung, welche mit dem künftigen Vergnügen einige
Aehnlichkeit hat;" und so ist mit dem Symbol in dem hin-
zutretenden Worte auch die Ve r gl e ich un g, abermals ein
Vergnügen, als ein Ausdrucksmittel der Poesie gegeben.
Zu Lied, Tanz und symbolischer Handlung aber wird
die Gesellschaft, der Chor, „angeleitet durch einen Vor-
sänger, durch einen Dichter, der das ganze Fest erfand."
„Der australische Festact ist nichts anderes als eine
Entwicklung des werbenden Lockrufes des Männchens
nach dem Weibchen". Da nun aber die Frauen bei jenem
Fest nicht zugegen sind, so meint Scherer, die Erfindung
desselben falle in eine Zeit, wo die Männer im Kriege von
den Weibern getrennt waren.1
Lyrik ist also Aussprechen einer verwickelten Freuden-
vorstellung (S. 89), und die Wirkung wird durch Reize des
Klanges, des Rhythmus noch erhöht. Aber auch der
Zweck ist klar. „Das werbende Liebeslied ist ein er-
fahrungsmäßig probat gefundenes Mittel, die Vorstellung,
die den Liebenden erfreut, in der Geliebten zu wecken,
sich dieselbe geneigt zu machen.
Wie sich Erotik mit Lachen verbindet, zeigt Homers
Erzählung von Ares und Aphrodite.
Und so hat Schiller Recht, meint Scherer (S. 93),
wenn er Kunst und Poesie aus dem Spieltrieb ableitet.
Die spielende Phantasie spielt am liebsten mit erotischen
Vorstellungen, natürlich bei uns nicht mit so rohen, wie
bei den Australiern. Die Vorstellung aber von Macht,
Reichtum, großer Körperkraft, siegreicher Betätigung, er-
1 Unter dem Text möchte ich noch bemerken, dass, wie mir
scheint, das Fest der Australier ein religiöses war, das Lied also
Embryo eines Hymnus.
92
Steinthal.
folgreicheni Wirken, sei es durch List oder Stärke, enthalten
ja ebenfalls angenehme Gegenstände. Also auch das
Höchste, Erhabene wirkt erfreulich und macht Vergnügen,
wie immer, durch die Substitution, bei welcher wir uns an
die Stelle des vor die Phantasie geführten Glücklichen
setzen. „Wenn die Bibel Gott mit dem Wort schaffen
lässt, so ist auch dies eine wünschenswerte vergnügliche
Vorstellung: wir wünschen solche Macht zu besitzen"
(S. 94) — und auch der Schriftsteller, müssen wir sagen,
der diese Schöpfung erzählt, wollte sich und uns dieses
Vergnügen des Besitzes höchster Macht bereiten.
Wie auch „das Unangenehme in der Poesie angenehm
wird, und der dargestellte Schmerz Vergnügen macht?"
sucht Scherer ausführlich zu zeigen (S. 96 if.)
Die erregende Macht der Poesie kann auch als Mittel
benutzt werden, um auf den Willen zu wirken, durch die
Phantasie kann man auf die Leidenschaften und Taten
wirken (S. 113). So entwickelt Scherer hieraus Lehrge-
dichte, Mythos, Gebet, Zauberlied.
Aus dieser Macht der Poesie ergibt sich ihr Wert.
Man erreicht viel bei den Menschen durch Poesie (S. 118).
Und so hat die Poesie natürlich auch einen Tausch-
wert (S. 121) in Ruhm und Lohn. Sie ist eine Art von
Waare, und ihr Wert regelt sich nach Angebot und Nach-
frage, Production und Consumtion. Hier spricht Scherer
von Buchhandel, Honorar, Feuilleton, Enten, Leihbibliothek,
Schauspieler, Recensenten, ungeschriebener und geschriebener
(Natur- und Kunst-) Poesie.
Aber auch einen idealen Wert hat die Poesie. Wie
sie sich zur Sittlichkeit verhält und verhalten soll? lässt sich
kaum fest bestimmen.
Wir dringen jetzt in die Werkstätte des Dichters
(S. 148), indem es sich um die Factoren der Production
handelt. „Die National-Oekonomen unterscheiden drei
Factoren der Production: Natur, Kapital, Arbeit". Aehn-
lich für die dichterische Production: Natur und inneres,
Beurteilungen.
geistiges Leben des Einzelnen und der Völker (=Natur)r
die in Tradition und traditioneller Behandlungsart ange-
sammelten Produkte (= Kapital), und die Arbeit des
Dichters. Hier kommt Teilung der Arbeit in Betracht.
Ein Dichter beschränkt sich auf eine ganz bestimmte
Gattung oder er versucht sich in mehreren. Er dichtet
die Fortsetzung des Gedichts eines Andren. Er über-
arbeitet dasselbe. Hier kommen die mannichfachen Ver-
hältnisse der Volks-Epen zur Sprache. Wird ein größeres
Dichtwerk von einem Dichter mit längerer Unterbrechung
gearbeitet, so erscheint er selber schon als ein Andrer.
Endlich die schaffenden Seelen-Kräfte. „Das poetische
Schaffen setzt eine starke innere Erregung voraus." dies
ist „wahrscheinlich" und „mindestens normal", besonders
„für starke Ingenien und für die Conception der Urzeit".
Diese Erregung ist „Spiel der Phantasie". „Und was
ist Phantasie?" — „Es ist ganz klar, dass sie als Grund-
kraft (als elementare Fähigkeit unsrer Seele) mindestens
in starker Verwantschaft mit dem Gedächtnis steht, ja
die Frage ist notwendig, ob sie nicht überhaupt mit dem
Gedächtnis zusammenfällt." Letzteres anzunehmen, ist
Scherer „geneigt". Da nämlich mit der Reproduction einer
Vorstellung durch das Gedächtnis allemal eine Veränderung
derselben verbunden ist, so ist eben die Phantasie das um-
wandelnde Moment des Gedächtnisses. Mit der Umwand-
lung tritt eine neue Einordnung ein, und durch diese wer-
den neue Vorstellungen erweckt. Neue Associationen und
Combinationen: das ist die Arbeit der Phantasie.
Die Phantasie ohne die Herschaft des Willens treibt
ihr Wesen im Traum. Im wahren Dichten wird das Spiel
der Phantasie auf feste Ziele gelenkt — blitzartig oder
mühsam. So greift auch der ordnende Verstand in die
Phantasie ein.
Lebhaftigkeit der Phantasie = Leichtigkeit vielfacher
Ideen-Association. Ihre Fruchtbarkeit beruht oft nur auf
Steigerung: große Zahlen u. s. w. Die kleinen Verhält-
94
Steinthal.
nisse von Ort und Zeit werden multiplicirt, „z. B. Schil-
lers Beschreibung der Charybdis im Taucher nach, dem
Muster eines Mühlbachs, dessen Sprudeln er einfach ins
Große projicirt und mit homerischer Ueberlieferung com-
binirt". — Oder Negationen: das Unendliche, das Wüste,
Meer, moralische Leerheit, dumpfes Brüten; „mau citirt,
was nicht vorhanden ist". S. 167.
Die lebhafte Phantasie gibt auch die Deutlichkeit der
einzelnen Vorstellungen. Diese entsteht dadurch, dass mit
einer einzelnen Vorstellung unzählige andre, die mit jener
associirt sind, zugleich ins Bewusstsein treten, z. B. mit
der eines zornigen Mannes seine Gestalt, Farbe, Stimme,
wozu dann noch die allgemeinen Analogien zwischen Tönen,
Farben, Formen, Stimmungen kommen. Hier werden die
„merkwürdigen Selbstbekenntnisse Otto Ludwigs" und Al-
flens beigebracht. „Freitag scheint Aehnliches nicht em-
pfunden zu haben," sagt Scherer. Kein Wunder für mich;
denn ich zweifle noch, ob Freitag ein Dichter ist.
Auch von der körperlichen Organisation des Dichters
spricht Scherer S. 171—177.
Dann : die Individualität des Dichters, sein Stil. Hier
wird die Einteilung der Dichter gesucht. Die bisher ver-
suchten werden besprochen. Dem Verf. eigentümlich ist
die: „ob ohne oder mit Rücksicht auf Publicum (S. 184).
Und so kommt auch das Capitel vom „Publicum" in
die Poetik, woran sich „Aufmerksamkeit und Spannung''-
(S. 191) schließt, und die Mittel, sie zu erreichen: Abwechs-
lung, Einheit und Folge, Wahrheit, Klarheit, Leichtigkeit
der Auffassung, kurz das Gefallen, d. h. die Beförderung
des Vergnügens des Publicums. Die Bedingungen des Ge-
fallens werden von Scherer besonders mit Rücksicht auf
Fechner besprochen.
Dies alles ist im Capitel „Dichter und Publikum" ge-
sagt. Die folgenden Capitel sind kürzer ausgeführt.
Die Stoffe. Was ist ein Motiv? Ein elementarer,
in sich einheitlicher Teil eines poetischen Stoffes." Scherer
Beurteilungen.
95
verwirft den Ausdruck Idee und will dafür Stoff, Thema,
Vorwurf, Hauptmotiv sagen. Ausgedehnte Werke haben
ein herschendes Hauptmotiv und untergeordnete Neben-
motive. Dieselben stammen aus der Ethik, und diese ist
die allgemeine Motivenlehre. Scherer versucht, die Themata
der Poesie aufzuzählen. Zur National-Oekonomie tritt not-
wendig Statistik (auch ohne Zahlen) hinzu. Dann die
Figuren der Verwicklung, endlich „die Klassen der Wir-
kungen", die Sympathie und Antipathie der Charaktere,
die Gefühle, welche durch die Handlungen in uns erweckt
werden. Es wären alle möglichen Fälle von Wirkungen
zu durchmustern ; ferner : wie weit die Kreise, welche von
denselben erfasst werden. Ausführlicher ist Scherer hier
nur bei den komischen Motiven, merkwürdig kurz beim
Humor. Was über denselben von Lazarus gesagt ist, war
so für ihn nicht brauchbar.1
„Innere Form" ist entweder objectiv oder subjectiv,
je nachdem an den Gegenständen der Darstellung beim
Durchgang durch das dichtende Individuum mehr oder
weniger von diesem letztern haften bleibt. Im Falle, „dass
gar nichts hafte", wäre die Darstellung „vollkommen ob-
jectiv". Nach Scherers Psychologie muss das also möglich
sein, und würde gewiss auch klar, wie das „haften" zu
denken sein solle. Was aber über objective und subjective
Auffassung weiter gesagt wird, ist ziemlich verwirrt.
Die objective Auffassung ist I. Naturalismus (Goethes
Götz), 2. typischer Realismus (Hermann und Dorothea),
3. Idealismus (Iphigenie). Die subjective Auffassung ist
Manier, so vielartig als es Subjecte gibt; vier Gattungen
sind: humoristisch, satirisch, elegisch, idyllisch. Das Idyll
kann auch, sagt Scherer, objectiv sein; und überhaupt,
sagt er, „die subjective Auffassung kann geschehen nach
allen drei Arten der objectiven Auffassung" (S. 233). Man
kann also „subjectiv idealistisch" und „objectiv idealistisch"
sein. —
Letztes Capitel: „äußere Form". Hier werden wider
96
Steinthal.
viele Einteilungen gemacht, welche (statistisch) den Be-
stand der vorhandenen Poesien in Umrissen darstellen.
Dabei ist von manchem sehr ausführlich die Rede, was ich
nicht zur äußern Form rechnen könnte, wie die Dichtungs-
Arten und die Composition.
Grundformen der Darstellung sind: a) directe und in-
directe Darstellung der Charaktere, der Gefühle, der Hand-
lungen. „Meisterhaft verstehen es die Volkslieder, aus
Eeden Ereignisse erraten zu lassen. Ganze Menschen-
Schicksale enthüllen sich aus dem Dialog" (S. 237). —
b) Fictionen (z. B. Monolog) — c) aus der Lehre von den
Zeichen (die Sprache arbeitet mit willkürlichen Zeichen,
aber im Drama ist alles natürliches Zeichen) — d) die
Rede; Monolog, Vortrag, Chorrede, Dialog. Ferner: der
Dichter spricht entweder im eigenen Namen, oder in einer
Verkleidung, hinter der er erkannt sein will; oder in frem-
dem Namen, sich selbst verleugnend, in einer Rolle. Ferner:
der Redner spricht entweder zeitlos, oder von Vergangenem,
oder von Gegenwärtigem, oder von Zukünftigem, oder er
wünscht, oder er fordert auf. Und der Dichter redet
entweder von sich, oder von Andren, oder fingirt, dass
ein Andrer von sich rede.
Wie verhalten sich nun zu diesen Grundarten der
Rede die Dichtungsarten? Die Epen sind Vorträge, die
von Vergangenem handeln und in denen der Dichter in
der Regel im eigenen Namen redet. Deshalb hält es
Scherer für eine ungerechtfertigte Forderung, dass der
epische Dichter völlig verschwinde. „Wo er irgend ein
Epitheton beifügt: der edle, herrliche u. s. w., in jedem
epitheton ornans erscheint der Dichter, und so auch Homer
selbst. Anders im Drama. Weil die Einmischug des Dich-
ters im Epos erlaubt ist, so hat hier die subjective
Auffassung besonders viel Raum, und darauf ruht die
Möglichkeit des humoristischen Romans. Also es gibt hier
kein Gesetz, aber Verschiedenheit der Art der Er-
zählung.
Weitere Unterschiede sind: kleine und große, poetische
Beurteilungen.
97
und prosaische Erzählungen. Für die kleinen Erzählungen
ist es gleichgiltig, ob der Dichter von Andren oder von
sich erzählt. Hier kämpft Scherer dagegen, dass „un-
zählige Liebeslieder" für Lyrik gehalten werden, „da sie
nichts anderes als kleine Erzählungen sind und also aus der
Lyrik ins Epos übernommen werden müssen" (S. 249).
Das ei: enste Gebiet der Lyrik ist „wesentlich die Ab-
spiegelung eines Zustandes, wie er vorliegt, oder wie er
mit Wünschen sich für die Zukunft vorbereitet." Wohin
mag nun wol Scherer Pindar's Oden und manche erzäh-
lende Psalmen oder das Lied vom Durchzug durch das rote
Meer, das Debora-Lied hinstellen? Etwa zu den Balladen
und Romanzen, also den kleinen Erzählungen?
Wesentlich ist das Verhältnis von Länge des Gedichts
zur Länge der Zeit, welche im Gedicht durchlaufen wird.
Die Composition. Wo anfangen? Wichtig ist die
Exposition. Für das Drama: Steigerung, gegen Ende
rascher Verlauf. Wie wird Abwechslung erzielt? wie Ein-
heit und Folge? Straifere und losere Einheiten.
Unter „Sprache" handelt Scherer zuerst von Be-
schreibung. Dann vom poetischen Wert ihrer Bestand-
teile. „Die poetischsten Redeteile sind die Verba" (S. 263),
namentlich solche, welche eine sinnliche Bewegung aus-
drücken, an der eine psychische Vorstellung haftet, u, s. w. —
Personification, Periphrasis u. s. w. — Zum Schluss Metrik.
Nach dieser ausführlichen Inhalts-Angabe sieht der
Leser, was hier zu lernen ist, und wird dem Herausgeber für
treue Mühewaltung dankbar sein. Meine Ausführlichkeit
halte ich für gerechtfertigt dadurch, dass Scherers
Poetik eine Signatura temporis ist. Da ich mich aller
Kritik enthalten habe, so will ich auch nicht fragen, ob
der national-ökonomische Standpunkt notwendig und un-
ausweichlich Scherers Hedonismus bedingt. Charakteristisch
aber scheint es mir, dass jetzt, wo die Ethik hedonistisch
geworden ist, die Aesthetik, speciell die Poetik auf das-
selbe Princip baut. St.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 1. ^
98
Jahn.
Victor Fossel, Yolksmedicin und medicinischer
Aberglaube in Steiermark. Ein Beitrag zur Lan-
deskunde. Graz 1885. Leuschner & Lubensky. Zweite
unveränderte Auflage 1886. VIII, 172 S.
M. Höfler, Yolksmedicin und Aberglaube in
Oberbayerns Gegenwart und Vergangenheit.
Mit einem Vorworte von Friedrich von Hellwald. Mün-
chen 1888. Stahl sen. XII, 244 S. und zwei Tafeln in
Photographiedruck.
Zu dem Besten, was auf dem Gebiete der deutschen
Volkskunde geleistet worden ist, haben von jeher Aerzte
(wir erinnern an Flügel, Lammert, Goldschmidt, Buck)
einen erheblichen Bruchteil beigesteuert. Durch ihren
Beruf in tägliche Berührung mit dem Volke gebracht und
mit dem Empfinden und Denken desselben vertraut, stehen
sie dank ihrer mehr naturwissenschaftlichen Vorbildung
den Aberglauben und Bräuchen als nüchterne Beobachter
gegenüber, und kein zweiter taugt darum mehr zum
Sammeln des Volkstümlichen, als der verständige Land-
arzt. Das bewährt sich in hervorragender Weise auch in
den Werken Fossels und Höflers. Zumal die Fosselsche
Sammlung ist für den Forscher eine wahre Fundgrube,
Dabei ist das Werk so übersichtlich disponiert, so klar in
der Sprache, so anschaulich in der Darstellung, dass wir
nicht anstehen, dasselbe als Mustersammlung auf dem
Specialgebiete der Volksmedicin hinzustellen. Gesammelt
hat Fossel vorwiegend in den politischen Amtsbezirken
Liezen, Gröbming und Umgebung Graz, wo ihn Neigung
und Beruf in vielseitigen Verkehr mit dem Volke brachten;
daneben ist gelegentlich das steierische Unterland mit seiner
deutsch-slavisch gemischten Bevölkerung berücksichtigt
worden. Nachdem Fossel im Allgemeinen die Krankheits-
anschauungen des Volkes, seine Heilmethoden, die Kranken
selbst, die Aerzte und Kurpfuscher (nämlich die Hebe-
ammen , den Bauerndoctor als Specialisten für innere Me-
dicin, den Beinbruchdoctor oder Bruchrichter, den Zähnt-
Beurteilungen, 99
reißer, den Schmied, den Wasenmeister, die Aderlass- und
Schröpf-Weib er und -Männer, die Abbeter, den Krämer,
den Pfarrer mit der Homöopathie und endlich den „privi-
legierten Kurpfuscher", den Apotheker) in anschaulicher
Weise vorgeführt hat, wendet er sich im speziellen Teil
zu Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, Kindesalter
und Kinderkrankheiten. Es folgen die Krankheiten des
Gehirns, der Nerven und Sinnesorgane, der Atmungsorgane,
der Yerdauungs-, Harn- und Geschlechtsorgane, die Krank-
heiten der Haut, die chirurgischen Erkrankungen und die
Krankheiten der Bewegungsorgane. Den Schluss bildet
das Kapitel „Sterben und Leiche". Eingestreut in die
Volksmittel sind eine große Zahl steierischer Zauberformeln.
Als Probe der Darstellungsweise Fossels mag seine Charak-
teristik des Beinbruchdoktors oder Bruchrichters (S. 40 if.)
hier widergegeben weiden: „Er ist externer Specialist
par excellence. Sein Spruch: ,aus und ab' ist kurz und
schwer, wenn er den Schaden betrachtet und damit an-
deutet, dass der Knochen aus dem Gelenke und gebrochen
sei. Jede Contusion oder Verstauchung wird von diesem
Herrn zum ,ang'sprengten' oder gebrochenen Knochen ge-
stempelt. Hat die Beschädigung die Nähe eines Gelenkes
betroffen, so ist mindestens eine Luxation vorhanden,
Sehen wir einmal diesem Ehrenmanne bei seinem Hand-
werk zu! Der Kranke wird ins Bett gebracht und an
der Lagerstätte eine Reihe von ,Eisenklampfen' (Klam-
mern) eingeschlagen, um als Stützpunkte für das ,Zugs-
personale' zu dienen. Stricke werden herbeigeschafft und
gleich den helfenden Männern sorglich geprüft, ob sie wol
dem schweren Werke gewachsen. Mit des Dichters Wor-
ten: ,Hier ist kein Geschäft für Weiber' wird den Mägden
die Türe gewiesen, und es beginnt die Tat der Männer.
Je nachdem es die Wichtigkeit des Falles erheischt, wird
ein halbes oder ganzes Dutzend handfester Bursche als
,Halter' oder ,Anzieher' verteilt, und auf des Meisters
Machtwort beginnt das ,Einrichten'. Jeder der Genossen
7*
100
Jahn.
zieht und zieht nach Leibeskräften, einer den anderen über-
bietend, bis des Meisters Wink Einhalt begehrt. Ging
aber auch schon mancher Arm dabei ans den Fugen! —
So der Knochen eingerichtet, wird das ,Pflaster' in ver-
schwenderischer Fülle um das kranke Glied getan. Wie
der Internist sein ,Oel', so hat der College von der Chirurgie
sein ,Pflaster'. Nun kommt die ,Ii alialtung', bestehend in
Anlegung von Kienspänen, Schindeln, Baumrinden, Blech-
streifen u. s. w., mit sicherem Hanfstrick befestigt. Unter
allen Pfuschern ist unser Chirurgus der angesehenste.
Heute wandert er zu Fuß in die Bauernhütte, morgen
bringt ihn aber die gräfliche Carosse ins Schloss, wo der
Gutsherr vom ,un geschickten Professor ganz und gar ver-
patzt' wurde und nun nach neuerlichem ,Brechen' der in
bester Ordnung heilenden Fractur das Pflaster den vor-
trefflich angelegten Verband verdrängt. Solche Curen haben
unserem Biedermann in früherer Zeit und noch heute dazu
verholfen, dass er sogar mit behördlicher Erlaubnis sein
sauberes Metier treiben kann, und an der Huld des Frei-
briefes zehrt fröhlich die ganze Sippe. Jeder heil und ohne
Schaden abgelaufene Behandlungsfall wird für den Bauern-
arzt zum Ausgang iiberschwänglicher Lobeserhebungen,
geht aber die Sache schief aus und schleppt sich der arme
Patient als Krüppel durchs Leben, so schweigen die Leute;
denn daran ist wahrlich nicht der ,Doctor', sondern nur
der verwünschte Knochen Schuld. —
Ebenfalls sehr reiches und wertvolles Material, ge-
sammelt im bayerischen Oberland, vorügzlicli im Isarwinkel,
bietet, die Höflersche Sammlung, nur dass sie an einem
Schaden krankt, der sich von Anfang bis zu Ende empfind-
lich fühlbar macht und die Brauchbarkeit der Sammlung
stark beeinträchtigt. Es kann nicht oft genug widerholt
werden, die Sammlungen des Volkstümlichen dienen der
Wissenschaft als Quellenmaterial, und zwar nicht
einer einzigen Disciplin, sondern vielen: Ethnologie, Anthro-
pologie, Mythologie, Prähistorie, Culturgeschichte, Völker-
Beurteilungen.
101
psychologie, Altertumskunde u. s. w., sie alle haben daran
teil. Darum muss notgedrungen ein tatsächliches, objec-
tives Archiv geschaffen werden, aus dem jeder Forscher
objectiv schöpfen kann. Der Sammler hat also nicht genug
getan, wenn er überall, wo es auch sein mag, sein Ich in
den Hintergrund stellt und sich der strengsten Objectivität
befleißigt, er darf seine Sammlungen auch niemals einseitig
in den Dienst irgend einer bestimmten Disciplin stellen
und den Stoff sogleich in diesem Sinne bearbeiten. Höfler
ist in diesen Fehler gefallen, und so ist die Ausbeutung
seiner Sammlung, da ihr, wie übrigens auch der Fossel-
schen, ein Sachregister fehlt, nicht nur sehr erschwert,
sondern der Forscher ist auch zuweilen außer Stande zu
entscheiden, ob er in dem Gesagten eigene Beobachtung,
Entlehnung oder subjektive Anschauung des Verfassers zu
erkennen hat.
Alois Menghin, Aus dem deutschen Siidtirol. Mythen,
Sagen, Legenden und Schwanke, Sitten und Gebräuche,
Meinungen, Sprüche, Redensarten etc. des Volkes an der
deutschen Sprachgrenze. Meran 1884. Plant. 173 S.
Das Werkchen will als eine Ergänzung der Zingerle-
schen Sammlungen zur Volkskunde Tirols betrachtet sein.
Es verdient um so größeres Interesse, als die einzelnen
Aufzeichnungen in den deutschen Ortschaften südlich von
Bozen, vorzugsweise in Tramin, also an der äußersten Grenze
deutscher Zunge und deutscher Sitte, gesammelt wurden
und Menghin fast ausschließlich sein eigener Gewährs-
mann ist. Es bedurfte keiner besonderen Entschuldigung,
dass der vorgefundene Stoff ohne jeden gelehrten Apparat
widergegeben ist; derartige Sammlungen sind für den
Forscher dann am brauchbarsten, wenn er in ihnen ledig-
lich eine gut geordnete, schlicht volkstümlich wiedergegebene
Stoffsammlung erblicken darf. Fast überall ist ihm das
gelungen, nur vereinzelt sind Stellen, wie die folgende
(S. 77): „Ach, wie schön war sie! Ihr Gesicht strahlte,.
102
Jahn.
wie die Sonne, Wangen und Lippen waren vom zartesten
Rot überflogen ; die Hände klein und zierlich und in ihrem
goldigen Haar, um das sich ein breiter Goldreif schlang,
flimmerten die kostbarsten Edelsteine, Diamanten und Kar-
funkel, während das blendendweiße golddurchwirkte Kleid
ihre zarten Glieder reich umwallte." So spricht das Volk
niemals, weder in Tirol noch in Schleswig; es macht sich,
als wenn ein Stück städtischen Flitterkrams auf den groben
und doch so stattlichen Hausmacherrock geflickt sei. —
Nr. 14 wäre besser nicht aufgenommen worden; es liegt
unzweifelhaft eine echte Volkssage zu Grunde, dieselbe ist
jedoch willkürlich verändert, auch das eingeflochtene Lied-
chen ist Kunstprodukt. — Doch solche Mängel finden sich
nur vereinzelt, im übrigen ist Menghins Arbeit durchaus
als eine sehr wertvolle Bereicherung zur Kenntnis der
deutschen Volkskunde zu betrachten. Eigentümlich be-
rührt, dass keine Sage von der wilden Jagd, der „wilden
Fahrt", wie sie dort zu Lande heißt, aufgeführt wird.
Der Aberglaube hat das Gedächtnis daran (vgl. S. 116,
Nr. 99 und S. 131, Nr. 16) noch treu bewahrt, folglich
müssen auch noch Sagen darüber im Schwange sein. Nr. 24
gewährt eine wertvolle Variante zu dem Märchen vom
Meisterdieb. Sonst ist das Märchen schlecht weggekommen,
wir haben keine weiteren bemerkt. Ebenso ist die Volks-
medicin nur spärlich vertreten, die Zaubersprüche fehlen
ganz. Von einem Forscher, der eine so vortreffliche Samm-
lung geboten hat, als die Menghinsche ist, darf die Volks-
kunde etwas Vollständiges beanspruchen. Wir sprechen
hiermit die Hoffnung aus, recht bald mit einem zweiten
Bändchen des Volkstümlichen aus dem deutschen Siidtirol,
welches das Versäumte nachholt, erfreut zu werden.
s
Beurteilungen. 103
Fridolin Plant, Berg-, Burg- und Thalfahrten bei
Meran und Bozen. Mit Illustrationen nach Zeich-
nungen des Verfassers, Grasmairs, Arnold etc. Meran
1885. Plant. IV, 243 S.
Das gutausgestattete Werk ist von Plant, dem Ver-
leger und Mitarbeiter Menghins, in Druck gegeben wor-
den, zunächst freilich für die Badegäste und Touristen,
doch ist es auch für den Forscher von Bedeutung. Abgesehen
von den eingeflochtenen Sagen, wird zum Teil recht inter-
essantes Material in Bezug auf Sitten und Gewohnheiten
der Bevölkerung bei Meran und Bozen geboten. Noch
wertvoller aber sind die Bemerkungen über Hausanlage,
Tracht und Erzeugnisse des Hausgewerbes, veranschaulicht
durch gute Abbildungen. Diese Bemerkungen sind um so
verdienstlicher, als leider noch immer ein offenbarer Mangel
an wirklich brauchbaren Sammlungen für Hausanlage,
Tracht und Hausgewerbe der verschiedenen deutschen
Stämme sich fühlbar geltend macht.
D. Grempeler, Sagen und Sagengeschichten aus
dem Simmental. Erstes Bändchen. Thun 1883.
Stampili. 2. Aufl. 1884. IV, 143 S. Zweites Bändchen.
Thun 1887. IV, 228 S.
Das vorliegende Werk will als ein Beitrag zur Volks-
litteratur im belletristischen Sinne aufgefasst sein ; dennoch
darf der Forscher nicht achtlos an ihm vorübergehen.
Denn wenn auch das, was Gempeler bietet, mehr den Cha-
rakter von Novellen trägt, so liegen doch den einzelnen
Stücken durchweg echte Volkssagen (meist Zwergsagen)
zu Grunde, allerdings sehr ausgeschmückt und meist in
das Endlose ausgesponnen. So zieht sich z. B. die ein-
fache, in wenig Zeilen widerzugebende Schatzsage, derzu-
iolge ein von einem kohlschwarzen Hunde mit glühroten
104
Jahn.
Augen und vier weißen Fußpfoten bewachter Schatz da-
durch gehoben wird, dass ein junger Bursch einen Kanten
Brot auf das brennende Silbergeld wirft, bei Gempeler
(I, S. 25—68 „Peter, der Geißhirt von Bunschen") durch
44 Seiten. — Für Gempelers Kenntnis des Volkstümlichen
des Simmenthals sprechen die beiden Stücke „Rüeggispfad
oder Etieggisfall" (I, 114—122) und J)'r dDiitifel im Sibe-
ddaal" (II, 200—215), welche vortreiflich in der Mundart
der Simmenthaler widergegeben sind. Da sowol Autor als
Verleger ein warmes Herz für das Volksleben ihrer Heimat
zu haben scheinen, so mag der Wunsch auf Erfüllung
rechnen, dass gelegentlich, nachdem nun dem großen Publi-
cum Genüge getan ist, auch die Wissenschaft zu ihrem
Rechte kommt und wir von Gempeler mit einer nach
wissenschaftlichen Grundsätzen angefertigten Sammlung
des Volkstümlichen der Simmenthaler erfreut werden.
Karl Eduard Iiaase, Volkstümliches aus der Graf-
schaft Ruppin und Umgegend. I. Teil: Sagen.
Neuruppin 1887. Petrenz. XII, 126 S.
Der Verfasser, dessen Sammlung dem Altmeister
märkischer Sagenforschung, F. W. L. Schwartz, ge-
widmet ist, hat sich die Aufgabe gestellt, die volkstüm-
lichen Ueberlieferungen der Grafschaft Ruppin und ihrer
nächsten Umgebung zu sammeln. Der bisher erschienene
erste Teil bietet nur Sageu. Dieselben sind teils von
Haase selbst gesammelt, teils durch Mitarbeiter zuge-
schickt; eine beträchtliche Anzahl endlich ist den einschlä-
gigen Werken von Kuhn, Schwartz u. s. w. entnommen
worden. Die Anordnung der 125 Nummern ist eine rein
geographische. An die Sagen der Grafschaft Ruppin reihen
sich die von der Mecklenburger Grenze, aus dem Länd-
chen Beilin, dem Havellande und der Priegnitz. Der An-
Beurteilungen.
105
hang Nr. 126—132 bietet einige pommersche Sagen. —
So verdienstlich die Sammlung sonst ist, so darf doch nicht
verschwiegen werden, dass es ihr zu großem Vorteil ge-
reicht haben würde und dass sich ein ungleich wertvolleres
Material hätte gewinnen lassen, wenn Haase selbst dem
Landvolk näher getreten wäre, als er das in Wirklichkeit
getan hat. So ist es gekommen, dass die mythischen
Wesen, welche in Aberglaube und Sage fast jedes nord-
deutschen Dorfes noch zu finden sind, in der Haaseschen
Sammlung nicht in dem Maße vertreten sind, als sie es
hätten sein müssen. Und es würde damit ganz schlecht
bestellt sein, wenn die vortrefflichen Beiträge des
Herrn Fehse zu Dierberg nicht eingegangen wären. Da
noch zwei Bändchen in Aussicht gestellt sind, holt Haase
das Versäumte hoffentlich nach. Sehr wünschenswert wäre
insbesondere ein genaues Nachforschen nach den Sagen von
der wilden Jagd, zumal nach etwa noch vorhandenen Namen
des wilden Jägers, bez. der wilden Jägerin. Nach der
mythologisch-ethnologischen Uebersichtskarte der Mark und
der angrenzenden Gebiete (auf Grund der noch im Land-
volk fortlebenden, aus der Heidenzeit stammenden Tra-
ditionen) von Schwartz „Zur Stammbevölkerungsfrage der
Mark Brandenburg" (Märkische Forschungen. Band XX.
Berlin 1887) liegt das Gebiet, in welchem Haase gesammelt
hat, zum überwiegenden Teile in der Frau Harke-Zone und
ragt hinüber in dieWode-, G(w)ode- und Frick-Zone. Von
allen diesen Namen ist in der ganzen Haaseschen Samm-
lung auch nicht ein einziger zu finden, und doch müsste
Haase bei dem verhältnismäßig kleinen Gebiete, dessen Er-
forschung auf die volkstümlichen Ueberlieferungen hin er
unternommen hat, die Grenzen auf das Dorf hin festzu-
stellen im Stande sein.
106
Jahn.
Ludwig GrraMnski, Die Sagen, der Aberglaube unci
abergläubische Sitten in Schlesien. Mit einem
Anhang liber Prophezeiungen. Schweidnitz o. J. Brieger
& Gilbers. VI, 57 S.
Eine Arbeit, die auch nicht im entferntesten leistet,
was der sehr anspruchsvolle Titel verheißt. Der Leser er-
hält keineswegs ein Bild der Sagenwelt und des Aber-
glaubens der Schlesier, es wird ihm nur eine bei der Größe
des in Betracht kommenden Gebietes sehr beschränkte
Zahl von Sagen, Aberglauben und Bräuchen, in wunder-
licher Gruppirung, zumeist ausgeschmückt und, was das
Schlimmste ist, fast durchweg ohne jede Angabe des Fund-
ortes, vorgeführt, so dass wir völlig im Unklaren bleiben,
ob die einzelnen Stücke der deutschen oder polnischen
Ueberlieferung, ob sie Ober-, Mittel- oder Niederschlesien
angehören. Dazu kommt, dass Grabinski sich über die ersten
Grundsätze der Volkskunde unklar ist; Sage und Aber-
glaube sind ihm zwei voneinander grundverschiedene Dinge,
die getrennt behandelt werden müssen, S. III: „Während
der Aberglaube der Ausfluss tiefster Unwissenheit und
zum großen Teil älteren heidnischen Ursprungs ist, datiren
die Sagen zum Teil aus einer späteren Zeit und sind im
Gegensatz zu dem ersteren ein Stück ehrwürdiger Volks-
tradition, die im Volksmunde fortlebt, zumeist aber der
Vergessenheit anheim zu fallen droht" u. s. w. Die Un-
fähigkeit des Verfassers ist um so bedauerlicher, als er
selbst mit dem Wenigen, was geboten wird, der Volks-
kunde einen guten Dienst geleistet hätte, wenn dieses
Wenige von ihm einfach mit voller Angabe des Fundortes
widergegeben wäre. So sind z. B. recht interessant die
Sagen S. 22 ff. vom Skrzolek, welcher ganz dem deutschen
Hausteufel, dem Kobold, Puk, Rotbüchs, oder wie er sonst
genannt wird, entspricht; S. 26 ff. „Die Teufelsmühle" ist
eine gute Variante zu dem Märchen „Tischlein deck dich";
S. 38 ff. bietet wichtige Züge zum Hexenwesen u. s. w.
Beurteilungen.
107
Von Interesse ist endlich auch, was in dem Anhang über
Prophezeiungen, welche Schlesien mittelbar oder un-
mittelbar betreffen, gesagt wird. Es liefert das den
Beweis dafür, dass von der polnischen Agitation nach
Kräften auch der Aberglaube benutzt wird, um Propa-
ganda für die national-polnischen Ideen zu machen und
das Volk gegen die Deutschen zu verhetzen. — Hoffent-
lich ist die Zeit nicht mehr ferne, da wir endlich eine
brauchbare, umfassende Sammlung des Volkstümlichen von
Preußisch-Schlesien erhalten. Was bis jetzt geboten ist,
lässt nur erkennen, dass Schlesien eine wahre Fundgrube
für den Volksforscher ist, die nur der Ausbeutung harrt,
um der Wissenschaft vortreffliches Material zu bieten.
Ulrich Jahn.
Ap. S. Famincyn. Gottheiten der alten Slaven.
(Bozestva drevnich Slavjan) Set. Petersburg 1884.
I. Th. 331 S.
Die Mythologie der sia vischen Stämme ist eins der
schwierigsten Gebiete der völkerpsychologischen Forschung.
In der vorhistorischen Zeit traten die Sia ven mit den
Culturvölkern des classischen Altertums fast in keine Be-
rührung; deshalb kommen über dieselben bei den classischen
Autoren nur spärliche, fragmentarische und meist unklare
und un verlässliche Notizen vor. Als sie dann in den ersten
Jahrhunderten n. Chr. auf dem geschichtlichen Schauplatze
als ebenbürtige Factoren auftraten, erfolgte rasch ihre
Bekehrung zum christlichen Glauben oder ihre Ausrottung,
sodass zur Betrachtung und Beschreibung ihrer Mythologie
keine Gelegenheit geboten wurde. Zur eigenen Literatur
gelangten sie nicht, von alten Volksliedern hat sich gar
nichts erhalten: folglich ist es kein Wunder, dass die
108
Krejcí.
schriftlichen Denkmäler zum Aufbau eines Systems der
slavischen Mythologie ein ungenügendes Material liefern.
Nur über die Götter und Gebräuche der baltischen Slaven
haben sich bei den mittelalterlichen Geschichtsschreibern
ausführlichere, jedoch meistens unklare Nachrichten er-
halten ; sonst sind noch einige in verschiedenen, gegen heid-
nischen Aberglauben gerichteten kirchlichen Verboten vor-
kommende Data von Bedeutung. Somit ist der Forscher
an die in volkstümlichen Gebräuchen, in Volksliedern, in
Märchen erhaltenen Reste der heidnischen Weltanschauung
und an die auf vergleichendem Wege gewonnenen Analo-
gieschlüsse gewiesen. Und das ist ein verhältnismäßig
geringer Ersatz für den Mangel an litterarischen Hilfs-
quellen. Denn die in den Volksliedern u. s. w. erhaltenen
heidnischen Vorstellungen sind uns nur in ihrer Umge-
staltung durch christlichen Glauben zugänglich und wenn
man bedenkt, wie zersetzend und durchgreifend eine solche
durch Jahrhunderte dauernde Assimilation auf die ur-
sprünglichen Vorstellungen einwirkt, indem sie das Wort
von der Vorstellung trennt, mit neuem Inhalte versieht,
und dadurch neuen etymologischen Veränderungen preisgibt:
so wird man zugeben, dass dieser Boden der wissen-
schaftlichen Forschung sehr schlüpfrig ist. Desgleichen gilt
von den Analogieschlüssen, welche sich wegen Mangels an
Hilfsmitteln auf eine sehr lückenhafte Induction stützen
können.
Unter solchen Umständen ist es begreiflich, dass es
auf dem Gebiete der slavischen Mythologie von Conjecturen
wimmelt, dass die berufensten Männer vor dem Aufbau
eines Systems abschrecken; dass die bisherigen Versuche
(Erben, Hanus) mislangen und dass man bemüht ist, zuerst
in Monographien die Meinungen zu läutern und möglichst
sicherste Data aufzuspeichern (cf. Jagiós Archiv).
Herr Famincyn hat es nun im obenangeführten Werke
versucht ein einheitliches System der slavischen Mythologie
Beurteilungen.
109
aufzubauen und nach dem bisher Gesagten ist es begreif-
lich, dass wir neugierig waren, ob und wie es ihm gelungen
ist, die großen Schwierigkeiten zu überwinden und dass
wir uns erlauben von diesem Werke in dieser Zeitschrift
Erwähnung zu tun.
Der eben geschilderten Schwierigkeiten ist sich der
Verf. wohl bewusst, und seine Methode ist in abstracto,
d. h. an und für sich betrachtet die richtige. Von den
sorgfältig zusammengestellten schriftlichen Zeugnissen
(S. 15—62) ausgehend, auf die analogen Erscheinungen bei
den verwandten Völkern (Indiern, Griechen, Pelasgern, Italern
und hauptsächlich Litauern) gestützt, wendet er sich zu den
Volksliedern und Volksgebräuchen, um die Überreste der
heidnischen Vorstellungen zu eruiren und für den Aufbau
des mythologischen Systems zu verwerten. Mit richtigem
Takte wählt er dazu die Beschwörungsformeln, die Hoch-
zeits- und verschiedene Festlieder, denn diese haben dem
Einflüsse der christlichen Religion den zähesten Widerstand
geleistet. Sehr richtig stellt er sich gegen diejenigen Ge-
lehrten, welche den Aberglauben als Verunstaltung der
christlichen Legenden betrachten (S. 6). Doch es mangelt
dem Verf. an anderen cardinalen Sachen, welche unum-
gänglich notwendig sind, um auf dem schlüpfrigen Boden
der mythologischen Forschung festen Fuss fassen zu
können.
Vor Allem ist zu bedauern, dass der Verfasser der
völkerpsychologischen Theorie und somit der neuen ver-
gleichenden Richtung gänzlich fern steht. Das äußert
sich schon darin, dass sich unter den zahlreichen im
vorliegenden Buche citierten Autoren nicht ein einziger
Vertreter dieser Richtung vorfindet. Seine Methode ist
zwar auch eine vergleichende, doch er vergleicht bloß die
stammverwandten Völker der arischen Familie; er geht
von einer richtigen Voraussetzung aus, dass die arischen
Völker einen gemeinsamen Schatz von Vorstellungen aus
der Zeit des einstigen Zusammenlebens aufbewart und
110
Krejcí.
weitergebildet haben; doch die Art und Weise, auf welche
er mit diesem Principe manipuliert, bezeugt nur zu gut,
wie sich die Ignorirung des völkerpsychologischen Stand-
punktes rächen kann. Für H. Famincyn verwandelt sich
das einfache psychologische Factum, dass die stammver-
wandten Völker wegen größerer Zahl von gleichen Be-
dingungen auch größere Ähnlichkeiten in jeder Hinsicht
aufweisen müssen, zu einer Art Hypothese, dass Alles,
was in der Mythologie der Indier, Griechen u. s. w. sich
vorfindet, in der slavischen seine Gegenstücke haben muss.
Er lässt dabei ganz außer Acht, dass stammverwandte
Völker nicht zu derselben Entwickelungsstufe gelangen
müssen, und dass es wohl denkbar ist, dass sie auch dann,
wenn mehrere von den verwandten Völkern gleiche Vor-
stellungen aufweisen, ihren eigenen Weg eingeschlagen
haben. Auf solche Weise nur können wir begreifen, wie
der Verfasser für alle wirklichen und von ihm supponierten
himmlischen Gottheiten der Slaven, bei den Italern, na-
mentlich Umbrern und Sabinern, übereinstimmende Er-
scheinungen gefunden hat. Seite 303 finden wir folgende
Zusammenstellung der slavischen und altitalischer Gott-
heiten:
Svjatovit, svjatoj vifaz, der vier-
köpfige, der tapfere Krie-
ger, welcher zum Himmels-
gotte erhoben wurde.
Dyj Dij
Svara(o)g
Solnce {since, slunce, sonce)
Avseh, Usefi, ( Usiñ)
Bèibog (Bëlin, Lazbog)
Svara(o)zic
Jarovit
Pripekalo
Semo Sancus, Janus quadrifrons,
Hercules sanctus, Jovius; Ju-
piter Sancus.
Diespiter
So(au-ua)rac(-te)Sorag(no)
Sol
Ausel (Usil)
Mars (mar = glänzen)
Apollo Soranus .(= Sauranus)
Garanus (,gary = jaryj) (/)
Jupiter Anxur (àv'ÇrjQccivw =
pripeJcaju) (!)
Beurteilungen.
Ill
Radegast-Frejr
Chors
Sim (Sem)
Jar ilo, Eryl
Lada
Liber
„Horse (Marte)" (/)
Kupala
Semo
Hercules, "HqvXIoç, Erilus
Concordia (!) und
Bona Dea, Fauna
Gupra (!) (Mars Gyprius)
Marena (Marica, Marija u. S.w.) Marica (!)
Anna (G-anna)
Ljalja
Anna Perenna (!)
Lata
Diese Tabelle erfordert wol keinen Commentar. Auf
den ersten Blick erscheinen die meisten Zusammenstellungen
gezwungen, bei Haaren herbeigezogen, unwahrscheinlich,
und dieser Verdacht wird bei näherer Prüfung zur völ-
ligen Sicherheit. Wir beschränken uns jedoch auf folgende
Bemerkungen, welche eine nähere Prüfung überflüssig
machen werden.
Der Verfasser missbraucht nämlich ein Hülfsmittel,
welches, gehörig angewendet, gute Dienste leisten kann.
Er glaubt, dass der Cultus einzelner Götter in Ortsnamen
und überhaupt in geographischen Benennungen Spuren
hinterlassen hat. Das ist immerhin möglich, nur muss
man zu solcher Annahme zwingendere Gründe haben, als
bloßen Gleichlaut der betreffenden Wörter. Zuerst muss
festgestellt sein, dass ein Gott wirklich existirte; wenn
man aber aus dem Vorkommen von etymologisch ver-
wandten Ortsnamen bei verschiedenen Völkern und in ver-
schiedenen Ländern die Existenz des fraglichen Gottes
beweisen will, so ist es ganz einfach ein unwissenschaftliches
Verfahren. Aber auch in günstigen Fällen, wo also die
Existenz des Gottes außer Frage gestellt ist, muss man mit
großer Vorsicht vorgehen, denn die frappanteste etymo-
logische Verwandtschaft, kann aus ganz anderen als mytho-
logischen Gründen entstanden sein. Dazu tritt bei Herrn
Famincyn noch der Umstand hinzu, dass er von den Laut-
112
Krejcí.
gesetzen und von der Etymologie überhaupt einen sehr
schlechten Begriff zu haben scheint, da er mitunter
auch solche etymologische Experimente zusammenbringt,
welche dem bekannten: <xluni¡l-pix-pax-~Fx!iQh.s nicht im
mindesten nachstehen.
Ein Beispiel. Eine slavische Gottheit hiess Chors. Da
dieser Name einmal mit Dazbog (siehe die Tabelle) ver-
bunden vorkommt, so besteht für den Verfasser kein Zweifel,
dass Chors-Dazbog mit dem umbrischen Horse Marte iden-
tisch ist. Mars ist nämlich ein Sonnengott und ebenfalls
— nach Verfassers Meinung — Dazbog. Horse bedeutet
ursprünglich „Ross" also Horse Marte = Chors Dazbog
= Kon Dazbog = Sonnenross — die Sonne als Ross vor-
gestellt. Es lässt sich wohl nicht läugnen, dass das Ross
ein Symbol der Sonne war und der Verfasser führt hier-
für genug Beweise an. Aber wie ist er zu der Bedeutung
Chors-Ross gelangt? Ganz einfach. Im Englischen be-
deutet horse = Pferd; ein Vogel Scolopax gallinago heisst
schwedisch Horsgjök und isländisch Hrosgauskr, was nach
Grimm Pferdeguckuk bedeutet und dieser Vogel ist dem
picus des Horse Mars anolog. Um den horse in England
mit dem Horse Mars in Italien zu verbinden, benützt der
Verfasser die geographischen Benennungen in Holstein,
Deutschland, Österreich, in den Alpenländern und in Ita-
lien und ist überzeugt, dass überall hier die Sonne als
horse vorgestellt und verehrt wurde!
Unter diesen Namen befinden sich auch folgende:
Hörsching, Hörschlag, Horschlitt, Horschitz (aus dem Sla-
vischen: Hoi-ice!), Hörsin (Hoíin), Hrusova ^Hrusová), Hroz-
nietitz (Hroznëtice), Hrozniowitz (Hroznovice), Hrosinkau,
Hrozinko u. s. w. lauter Wörter, welche evident anderen
Ursprunges sind und mit dem lieben Horse nicht einmal
gleichlauten, sondern bloß gleich geschrieben werden, wo-
bei das deutsche seh = s und rsch = f grosse Rolle
spielen. Unverzeihlich ist, dass sich der Verfasser bei
Beurteilungen.
113
manchen Wörtern an die deutsche Umgestaltung hält, wo-
durch die wahre Bedeutung, wie sie in ursprünglicher
slavischer Form enthalten ist, oft zur Unkenntlichkeit ver-
wischt wird. Z. B. Aussig-Ústí, Auspitz-Hustopec pag. 253,
wo sie dem Avsen-Usin verwandt sein sollen.
Was die Behandlung der Volkslieder betrifft, so ist
dem Verfasser entgangen, dass die naive Vorstellungsweise
der Volkslieder, mögen sie auch der christlichen Periode
angehören, der mythischen sehr nahe kommt, denn auch
die Mythologie ist eine Art unvollkommener Apperception,
welche auf einer niedrigeren Entwickelungsstufe vor-
kommt, wie wir sie auch für die Entstehung der Volks-
poesie voraussetzen müssen. Daher dürfen wir nicht alle in
Volksliedern vorkommende Personiñcationen, Apostrophen,
Metaphern für mythologisch halten. Dieselben Motive,
welche die mythische Vorstellung von einer belebten, das
Leben des Menschen beeinflussenden, an seinem Schicksale
teilnehmenden Natur verursachten, veranlassen auch den
schlichten Volkssänger die Sonne, den Mond, die Sterne,
die Bäume, die Tiere, die Flüsse anzureden und mit mensch-
lichen Attributen zu versehen. Unzählige Beispiele solcher
Art kommen z. B. in böhmischen Volksliedern vor, welche
durchaus der christlichen Periode angehören, welche wir
noch entstehen sehen. Die Sonne und der Mond werden
hundertmal personificirt, sie sind Vertraute der Liebenden,
die Vögel sind ihre Boten u. s. w., und das ist noch kein
Beweis, dass es Keste der heidnischen Weltanschauung
seien. Herr Verfasser hat hie und da, namentlich p. 152
u. f., diesen Umstand nicht beachtet.
Wir könnten noch auf die Leichtgläubigkeit des Herrn
Verfassers hinweisen, mit welcher er unverbürgte Hypo-
thesen, wie z. B. dass die norditalischen Veneti Slaven
waren, als Facta annimmt, oder auf die Sorglosigkeit, mit
welcher er aus Quellen schöpft, deren Unechtheit längst
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 1. 8
114
Krej ci.
nachgewiesen ist — wie das böhmische Mater Verborum —,
doch das bisher Gesagte berechtigt uns zu resumiren, dass
das Werk höchst dilettantisch ist und zur Lösung der
offenstehenden Fragen der slavischen Mythologie wenig
beigetragen hat.
Franz Krejci.
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manns book breaks ground in a new direction and awakens questions of the most
profound interest. Unlike most German works of the kind it is written with French
lucidity and the wealth of illustrations it contains gives it an unusual charm. Dr. Br.
seeks to recover the history of the "spiritual efforts" of man ... he has recourse to
the literature of individual nations and the fully-expressed thoughts which it enshrines . . .
For the student of language on its psychological side as well as for the student of
lang, on its more material side, the starting-point of our researches must be the
sentence, the fully expressed idea ... It will be seen, that Dr. Bruchmanns book does
not appeal to the philologist only, but to the student of humanity in all its many
phases. It is suggestive and stimulating, leading us along a novel path, and from
time to time presenting us with novel conclusions.
cfr. Prof. Misteli, Berliner Philologische Wochenschrift, 29. Sept. 1888.
Prof. V. Henry, „Revue critique" (Paris), I. Octob. 1888.
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in der zweiten Hälfe des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts, welche die ganze
nördliche Hälfte Südamerikas bis zum Amazonenstrome durchziehend, zuerst das Innere
dieses Festlandes erschlossen und zu den wichtigsten geographischen Entdeckungen
führten. . . . Das Buch soll eine anregende, populäre Lektüre bieten und zugleich
Fachmännern eine Quelle genauer, wissenschaftlicher Beweise werden. Der mannig-
faltige, belehrende Stoff empfiehlt es auch höheren Unterrichtsanstalten.
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In der deutschen Litteratur giebt es bis heute kein Werk, welches uns mit den
geistigen Erzeugnissen des ungarischen Volkes auf dem Gebiete der Poesie und Wissen-
schaft eingehend bekannt macht. Wohl hat es an einzelnen Vorläufern, die dem
deutschen Publikum die Werke dieses oder jenes ungarischen Schriftstellers oder
Dichters vorführten, nicht gefehlt, aber eine umfassende Darstellung der gesamten
litterarischen Geistesarbeit der Ungarn in deutscher Sprache wird hier zum ersten Male
geboten. Schwicker hat seine Aufgabe, eine erschöpfende und dabei übersichtliche
Darstellung des ungarischen Schrifttums zu bieten, glänzend gelöst und ein Werk
geschaffen, das wirklich einmal eine Lücke ausfüllt.
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Neunzehnter Band. Zweites und Drittes Heft.
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poesie. Von Dr. Franz Kr e j ci.
Die Rede, (ratio. Xcyoç.) Von Karl Schulz.
Zur Würdigling G. Th. Fechners. Von Dr.
Ths. Achelis.
^■e Mundart der westfälischen Zigeuner. Von
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■Ein deutsches Schwerttanzspiel in Ungarn.
\ on Dr. phil. F. Arnold Mayer.
Kalendarium der oberbayerischen Kultzeiten.
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Arnold Hirzel.
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Rudolf Kleinpaul, Sprache ohne Worte.
Von K. Bruchmann.
Karl Lange, Ueber Apperception. Von K.
Bruchmann.
Victor Henry, Kalidasa. Agnimitra et Ma-
lavika. Von K. Bruchmann.
Dr. Heinrich v. Eicken, Geschichte und
System der mittelalterlichen Weltanschau-
ung. Von Rudolf Lehmann.
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deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des
Hausgewerbes zu Berlin. Von Ulrichjahn.
Die Gesellschaft für die Völkerkunde Ungarns.
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Das charakteristische Merkmal
der Volkspoesie.
Von Dr. Franz Krejci.
Das Wesen der Volkspoesie wird am besten durch die
Betrachtung des Unterschiedes, welcher zwischen derselben
und der Kunstpoesie besteht, beleuchtet. Daraus ergibt
sich eine Reihe von Merkmalen, welche zur Genüge be-
kannt sind.
In vorliegender Abhandlung werden wir diese Reihe
nicht zu vergrößern, sondern auf eine andere Weise zur Kennt-
nis der Volkspoesie beizutragen suchen. Vom völkerpsycho-
logischen Standpunkte werden wir alle jene Eigentümlich-
keiten auf eine gemeinsame Quelle zurückführen, nämlich
auf den psychischen Mechanismus, so dass die Volkspoesie
eben durch ein markantes Hervortreten desselben gegen-
über der Kunstpoesie charakterisirt erscheinen soll.
Der Begriff des psychischen Mechanismus ist zwar
bekannt; doch wollen wir denselben in aller Kürze näher
besprechen um seine Anwendung in unserer Angelegenheit-
erklärlich zu machen.
Die Vorstellungsverbindungen, welche das gesamte
Seelenleben bedingen, können auf doppelte Weise entstehen.
Entweder entscheiden dabei die Hauptprincipien der Wech-
selwirkung, welche bloß von der Beschaffenheit unseres
Nervensystems abhängen, wobei der Mensch ihrer Macht
ebenso gut unterliegt, wie z. B. die Atome und Moleküle
der leblosen Materie den physischen Gesetzen ; oder es
greift in diesen naturgemäßen Verbindungsprocess die Ver-
nunft bestimmend ein, welche die Vorstellungen ihrem In-
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 2. 9
116
Krejcí.
halte nach zweckmäßig ordnet, wobei sie die ursprüngliche
Cohäsion derselben zu überwinden hat. Hier beb erseht das
Ich, der Logos die Vorstellungsmassen, dort folgt er ihrer
Wirkung mechanisch: deswegen heißen alle Phänomene,
welche auf die erste Art entstehen, mechanische, un-
willkürliche, und jene, wo der Logos entscheidet, logi-
sche, vernünftige, absichtliche.1
Wir sprechen von einem mechanischen Gedächtnis
gegenüber dem ingeniösen, von einer unwillkürlichen Auf-
merksamkeit gegenüber der absichtlichen, wir sagen, dass
die Phantasiebilder des Traumes mechanisch entstehen,
indem sie den Gesetzen der Wirklichkeit zum Trotze die
Schranken jeder Möglichkeit mutwillig überschreiten, wo-
gegen die Einbildungskraft des Dichters sich den ästheti-
schen und logischen Gesetzen fügen soll. Somit stehen sich
der Mechanismus und Logismus gegenüber, doch dieser setzt
jenen voraus. Der Mechanismus repräsentirt die niedrigere,
der Logismus die höhere Stufe der geistigen EntWickelung.
Der Mechanismus ist die Grundlage, der Logismus die Voll-
endung. ~
Der ganze Entwicklungsprocess ist also ein Uebergang
von einem bloß mechanischen Seelenleben zum vernünftigen.
Deswegen lässt sich auch keine sichtbare Grenze zwischen
beiden ziehen, und da eine absolute Herschaft der Vernunft
über das weite Reich der Vorstellungen ein für den aus
Leib und Seele bestehenden Menschen unerreichbares Ideal
ist, müssen wir uns das geistige Leben des empirischen
1 In einigen Büchern begreift man unter dem psychischen
Mechanismus die Vorstellungsverbindungen nach ihrer quantita-
tiven Seite; durch diese Auffassung wird der Begriff nicht erschöpft,
denn obgleich bei der mechanischen Verbindung die Stärke der Em-
pfindung und die Klarheit der Vorstellung wichtige Factoren sind,
so kommt, bei mechanischen Verbindungen von ähnlichen und con-
trären Vorstellungen auch die Rücksicht auf den Inhalt zur Geltung.
Uebrigens muss ich gestehen, dass ich den Ausdruck Quantität bei
einer Vorstellung perhorrescire, da er leicht zu der unhaltbaren An-
nahme verleitet, dass Vorstellungen Kräfte seien.
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie.
117
Menschen als stetiges Bekämpfen des Mechanismus durch
den Logos vorstellen. Dort nun, wo die Vernunft zu schwach
erscheint, gewinnt der Mechanismus Oberhand und wir unter-
liegen seiner Macht. Das geschieht: a) wo das Selbstbe-
wnsstsein wenig entwickelt ist (beim Kinde), b) wenn ir-
gend eine mächtige Ursache die Ich Vorstellung hemmt (bei
Aifecten, im Traume), c) wo überhaupt die Ichvorstellung
unentwickelt bleibt (bei Geistesstörungen).
Ferner ergibt sich aus diesem Verhältnisse des Logis-
mus zum Mechanismus, dass dieser in solchem Grade über-
wiegt, in welchem die Vernunft unvollkommen ist: je ge-
bildeter der Mensch, desto weniger handelt er mechanisch.
Analog dem Leben eines Einzelnen, können wir auch
im Leben der Völker hauptsächlich zwei Perioden unter-
scheiden: die der Kindheit und der Reife; aber auch hier lässt
sich in Wirklichkeit keine bestimmte Grenze angeben; die
Entwickelung geht auch hier allmälich vor sich. Wir
werden also annehmen müssen, dass der Mechanismus nur
auf der untersten Stufe, welche wir in Wirklichkeit wol
nicht antreffen, das Leben der Völker ausschließlich be-
herschte und dass seine Wirkung bei jetzigen Völkern sich
dem Grade der Bildung entsprechend vermindert. Hin-
sichtlich der Bildung teilen wir die Völker in wilde und
civilisirte (Culturvölker); wir setzen also voraus, dass der
Mechanismus bei den wilden Völkern mehr als bei den
civilisirten zum Vorschein komme. Und noch ein Umstand
kommt in Betracht. In jedem Volke bilden sich Schichten,
welche sich durch Bildung unterscheiden; die höher stehen-
den bezeichnen wir mit dem Namen Intelligenz, den Rest
nennen wir Volksmasse. Es mögen verschiedene Ursachen
diese Scheidung bewirkt haben: für uns ist die Existenz
derselben von Belang, denn auch hier müssen wir voraus-
setzen, dass innerhalb einer Nation die Volksmassen dem
Mechanismus mehr unterliegen, als die intelligenteren
Schichten.
Sowol die Volks- als auch die Kunstpoesie tauchen
9*
118
Krejcí.
auf verschiedenen Entwicklungsstufen auf und nach Maß-
gabe der Bildung, werden sich nicht nur die Kunstschöpf-
ungen von Volksliedern, sondern auch Kunstschöpfungen
von Kunstschöpfungen und Volkslieder von Volksliedern
durch ein verhältnissmäßiges Hervortreten des psychischen
Mechanismus unterscheiden. Doch wir müssen folgende
Facta in Betracht ziehen:
a) Die Volkspoesie geht der Kunstpoesie voran. In
der Volkspoesie finden wir Keime aller Gattungen der
künstlichen (vgl. besonders die Litteraturgeschichte der
Griechen, dann die Geschichte des Dramas bei Indiern, Ita-
liänern und Spaniern). Die Volkspoesie gehört also den
geistigen Producten der minder entwickelten Periode an.
b) Dort, wo die intelligenteren Schichten eine Littera-
tur geschaffen, flüchtet die Volksmuse in die ungebildeten
Schichten, von den Burgen und Schlössern in die Städte
und von hier aufs Land.
c) Wo heutzutage die Bildung bis in die untersten
Schichten der Bevölkerung durchgedrungen ist, verschwindet
die Volkspoesie überhaupt, der Quell der naiven Volks-
weisen versiegt und bloß die rohesten Elemente der Gesell-
schaft machen in Gassenliedern dem Naturtriebe Luft.
d) Bei Völkern, welche keine Litteratur besitzen, welche
auf der niedersten Stufe der Entwicklung erstarrten, blüht
die Volkspoesie und wenn wir auch nicht behaupten wollen,
dass jedes Volk Volkslieder aufzuweisen habe, so glauben
wir, dass man in den geistigen Producten aller Völker
poetische Schönheiten antrifft.
Ein Beispiel, um die eben angeführten literarhistori-
schen Tatsachen zu demonstriren, bietet die Culturge-
schichte der Czechoslaven. (Die älteste Geschichte müssen
wir übergehen, denn die Königinhofer Handschrift, deren
Lieder für Volksdichtungen ausgegeben werden, ist unecht).
Das böhmische Volk besaß bereits im 15. und 16. Jahr-
hundert eine ansehnliche Litteratur. Nach der Katastrophe
am Weissenberge wurden die intelligenten Schichten ver-
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. H9
nichtet. Der Adel wurde teils getötet, teils vertrieben
die sogenannten böhmischen Brüder, welche auf dem Ge-
biet der Litteratur so viel geleistet haben, flüchteten sich
in benachbarte Länder, die Städte wurden germanisirt.
Die böhmische Sprache wurde auf die Dörfer beschränkt,
und die Jesuiten haben das Ihrige geleistet, um auch die
mindesten Spuren der älteren Aufklärung zu vernichten
und jede freiere Kegung des Volksgeistes schon im Keime
zu unterdrücken. Das Volk sank tief und von den erzürn-
ten himmlischen Mächten wurde ihm zum einzigen Tröste
die Muse des Gesangs geschickt: die Volkspoesie blühte
auf. Alles, was die Böhmen an Volksliedern besitzen, da-
tirt sich höchstens aus dieser Periode.1
Gegen Ende des 18. und zu Anfang des 19. Jahrhun-
derts vollzog sich die sogenannte Wiedergeburt; die intel-
ligenteren Schichten begannen sich ihrer Muttersprache
zuzuwenden, es entstand eine neue Litteratur, die Bildung
ward allgemeiner, und da sehen wir die Volkspoesie immer
mehr und mehr verschwinden, sodass heutzutage, wo die
Bildung auch in die untersten Schichten Eingang gefunden,
1 Das beweist der Inhalt derselben. Die ältesten epischen
Lieder der Slovaken und Mährer reichen in die Zeit der Türken-
kriege, wo noch der türkische Halbmond den größten Teil der jetzigen
ungarischen Länder von den Zinnen der Ofener Burg beherschte
und die böhmischen Lieder haben fast durchweg zum Gegenstande
die Plagen des durch „robota" gedrückten Bauernstandes. Es gibt
hier keine Begeisterung und kein kriegerisches' Selbstbewusstsein,
welches die serbischen Lieder atmen, sondern nur Gram und Trauer,
dass der s-uhaj Soldat werden soll. Er zieht den weißen Bock an,
bekommt sein Pferd, seinen Säbel und Sporen, das ist sein einziger
Buhm, er will tapfer kämpfen, aber nur weil er muss, von einer
begeisterten Idee ist hier keine Spur, kaum weiß er den Feind zu
benennen. Aehnlich sind die lyrischen Lieder; ihre Scenerie ist
durchweg ländlich, ihr Geist durchaus modern. Nur die religiösen
Gesänge, welche besonders in Mähren sehr häufig sind, haben manche
sehr alte, natürlich durch christliche Anschauungen modificirte Vor-
stellung erhalten.
120
Krejcí.
dieselbe in Böhmen fast gänzlich verschwand und bloß in
entlegeneren Gegenden des weniger fortgeschrittenen Mäh-
rens und in unzugänglichen Bergschluchten der vernach-
lässigten und der allgemeinen nationalen Bewegung am
fernsten stehenden Slovaken in voller Blüte fortlebt.
Wenn daraus erhellt, dass die Volkspoesie überall auf
einer weit niedrigeren Entwickelungsstufe als die Kunst-
poesie erscheint, so sind wir wohl berechtigt, das charak-
teristische Merkmal der Volkspoesie darin zu erblicken, dass
in ihr der psychische Mechanismus markant her-
vortritt. Dabei brauchen wir uns keineswegs durch den
Umstand beirren zu lassen, dass auch in den Kunstschöpf-
ungen, welche verschiedenen Entwicklungsstufen angehören,
der psychische Mechanismus verschieden zum Vorschein
kommt. Der Abstand zwischen solchen Kunstschöpfungen
kann nie so groß sein, wie zwischen der Kunst- und Volks-
poesie und das verschiedene Hervortreten des Mechanismus
kann nie so markant auffallen, um zum Unterscheidungs-
merkmale (differens specificum) verwendet werden zu können.
Eine Analogie wird es klar machen. Plandlungen eines Gebil-
deten und eines Ungebildeten sind in Betreff des Mecha-
nismus gewiss verschieden und doch steht in derselben
Hinsicht ein (sit venia exemplo) betrunkener Gebildeter
einem betrunkenen Ungebildeten bedeutend näher als
einem nüchternen. Durch den Mangel an Selbstbe-
herrschung oder an Verstand, wie man gewöhnlich zu
sagen pflegt, ist der Betrunkene überhaupt gegenüber dem
Nüchternen markanter, deutlicher charakterisirt als der
Gebildete gegenüber dem Ungebildeten. Aehnlicher Weise
verhält es sich mit dem Mechanismus in unserer Ange-
legenheit.'
Dieser theoretisch gewonnene Schluss muss sich
aber auch praktisch bewähren, d. h. wenn die Volkspoesie
gegen die Kunstpoesie durch das Hervortreten des psychi-
schen Mechanismus charakterisirt sein soll, so müssen sich
alle Eigentümlichkeiten der Volkspoesie, wie sie von Litte-
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. 121
rar- und Culturliistorikerii angegeben werden, daraus
erklären lassen. Da aber unsere Abhandlung mehr an-
deutend als erschöpfend gehalten ist, werden wir im Fol-
genden nicht Alles besprechen, was aus dem großen, in
verschiedenen Schriften über Volkspoesie aufgespeicherten
Material, mit unserem Gegenstande zusammenhängt, sondern
nur Einiges, wovon wir glauben, dass es zur Illustrirung
unserer Meinung gehört.
I.
Allgemein wird zugestanden, dass die Volkspoesie der
eigenste Ausdruck der Volksindividualität sei, da sie aus
dem Wesen des Volkes hervorgehe und seinen innersten
Geist widerspiegele. Das stimmt mit unserer theoretischen
Supposition gänzlich iiberein. Auf Grund der vorausge-
schickten völkerpsychologischen Daten deduciren wir, dass
dort, wo der psychologische Mechanismus vorherseht, also
auf einer niedrigeren Entwickelungsstufe des Volkes, sein
Charakter in geistigen Producten deutlicher ausgeprägt
werden muss, als auf einer höheren. Unter dem Volks-
charakter verstehen wir nämlich den Inbegriff aller Eigen-
schaften und Eigentümlichkeiten, durch welche sich die
Völker von einander unterscheiden. Diese Eigenschaften
resultiren aus verschiedenen Bedingungen, unter denen
einige dem Einflüsse der fortschreitenden Bildung mehr
unterliegen als andere. Es wird also die Summa der
Eigentümlichkeiten des Volkes auf einer höheren, gebilde-
teren Stufe kleiner sein, als auf einer niedrigeren. Es
steht wohl fest, dass die gebildeten Völker einander viel
näher stehen als die ungebildeten, und ebenso, dass man
einen italienischen Bauer von einem deutschen eher unter-
scheidet, als zwei intelligente Individuen. Wenn wir be-
denken, wie nivellisirend in dieser Hinsicht z. B. eine ge-
meinsame Religion wirkt, wie groß der Einfluss der
hellenischen Cultur auf die Charaktere der Völker des
Altertums war, wie die Pariser Mode, die englische In-
122
Krejcí.
dustrie, die deutsche Kunst verschiedene, wenn auch minder
wichtige Volkseigentümlichkeiten beseitigen, wie die Ver-
kehrsmittel den Umgang erleichtern und die Buchdruckerei
den Gedankenaustausch beschleunigt, wenn wir den Auf-
schwung der Wissenschaften betrachten, so wird uns klar,
dass die Bildung die Menschheit zur gemeinschaftlichen
Arbeit vereinigt und die Volkseigentümlichkeiten schwächt
und schwächen wird, bis nur die auf physischen Bedin-
gungen beruhenden Racen unterschiede übrig bleiben, welche
durch geistige Entwickelung nicht abgeschafft werden
können. Daran ändert nichts, dass in unseren Tagen das
nationale Bewusstsein einen so mächtigen Aufschwung ge-
nommen hat und die Nationalitätsidee zum bestimmenden
politischen Factor geworden ist, wodurch die nationalen
Gegensätze eher verschärft als geschwächt werden; denn
der jetzige Begriff der Nationalität ist mit dem hier ge-
meinten Volkscharakter nicht identisch, schon deswegen,
weil er sich auf alle Volksschichten bezieht, wogegen uns
an der Scheidung der gebildeteren Schichten von der Volks-
masse gelegen ist.
Wenn also die gebildeteren Völker und gebildetere
Schichten einander näher stehen und wenn mit der Ab-
nahme der Bildung die Volkseigentiimlichkeiten sich ver-
mehren, so werden die geistigen Producte der niederen
Periode auch mehrere aus dem Volkscharakter entsprossene
Eigentümlichkeiten aufweisen, somit auch die Volkspoesie
gegenüber der Kunstpoesie durch deutlicheres Hervortreten
des Volkscharakters charakterisirt sein.
Eine nähere Untersuchung, wie sich der Volksgeist
in der Volkspoesie widerspiegelt, würde natürlich die Gren-
zen unserer Abhandlung überschreiten.
II.
Die Diction der Volkspoesie strotzt von Eigentümlich-
keiten, welche zwar einzelnen Volksindividualitäten gemäß
verschieden sind, doch gegenüber der Kunstpoesie eine ge-
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. 123
wisse Gleichartigkeit aufweisen. Es wäre verfehlt diese
Eigentümlichkeiten vom ästhetischen Standpunkte betrach-
ten und classificiren zu wollen. Vor dem Forum der
Aesthetik sind alle poetischen Schöpfungen gleichgestellt ;
ihren Normen müssen sowohl Volks- als Kunstlieder ent-
sprechen. Ebenfalls dürfen wir nicht die Volkslieder durch
Mangel an Schönheiten kennzeichnen; denn darin würde
sie so manches Kunstproduct übertreffen. Wir werden
alle solche Eigentümlichkeiten und Mängel auf jenen ge-
meinsamen Quell zurückführen, aus welchem die gesamte
Volkspoesie hervorquillt, auf den psychischen Mechanismus,
und zum Beweise wollen wir einige von denselben einer
psychologischen Analyse (keiner ästhetischen) unterziehen.
Eine ausgiebige, nie versiegende Quelle dichterischer
Schönheiten bietet das Gleichnis. Seine psychologische
Grundlage bildet das Gesetz, dass ähnliche Vorstellungen
einander reproduciren. Das geschieht gänzlich mechanisch
und man kann Jeden auf seine tägliche Erfahrung ver-
weisen. Sonst ist dieses Gesetz für die Ausbildung der
Sprache wichtig. Als die Sprache noch unentwickelt war
und als es dem Menschen behufs Benennung neuer Vor-
stellungen an Wörtern gebrach, benutzte er dazu die-
jenigen von den ihm zu Gebote stehenden Wörtern, welche
eine ähnliche Vorstellung bezeichneten. Das ist die be-
kannte grammatische Metapher, über welche Max Müller
in seinen Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache
so vortrefflich geschrieben hat. Es ist also die Metapher
und das Gleichnis eine ganz gewöhnliche Erscheinung,
welche eben dadurch noch nicht schön sein muss. Soll
ein Gleichnis schön sein, so muss es den ästhetischen
Normen entsprechen, beide Glieder desselben müssen viel
Gemeinsames aber auch genug Verschiedenes haben, damit
die Aehnliclikeit recht deutlich hervortrete; die Ueberein-
stimmung muss die charakteristischsten Teile betreffen, die
Zusammenstellung muss neu und nicht entlegen sein, sie
muss witzig, geistreich, überraschend sein. Der Kunst-
124
Krej ci.
dichter darf bloß von schönen Vergleichen Gebranch machen;
der Volksdichter dagegen unterliegt hierin dem Drucke
des Mechanismus; er vergleicht dort, wo ihn der Gedanken-
strom dazu zwingt, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob
es gefallen wird. Deswegen werden wir in Volksliedern
viele überflüssige, minder passende, für sich betrachtet
vielleicht vortreffliche, aber im Verhältnisse zum Ganzen
weitschweifige, ermüdende Gleichnisse finden. Aber alles
dies geschieht und erscheint natürlich und ungezwungen,
wenn wir daran nicht den ästhetischen, sondern psycho-
logischen Maßstab anlegen.
Sehr belehrend sind in dieser Hinsicht die homerischen
Gedichte. Es gilt heutzutage für ausgemacht, dass die-
selben aus Rhapsodien — Bardengesängen entstanden,
welche später zu einem großartigen Ganzen verbunden
worden sind; desgleichen ist man der Meinung, dass es
keine echten Volkslieder sind, sondern dass sie einen Ueber-
gang von der Volks- zur Kunstpoesie bilden. Doch immer-
hin sind sie auf einer so niedrigen Entwickelungsstufe der
griechischen Nation entstanden, wo wir ein markantes Her-
vortreten des Mechanismus voraussetzen müssen.
In homerischen Gesängen wimmelt es von Gleichnissen.
Waren sich — so könnte man fragen — die homerischen
Sänger dessen bewusst, dass die Gleichnisse eine Quelle
des Schönen seien, und verschwendeten sie deswegen so
reichlich die Gaben ihrer Phantasie? Mit niehten, sondern
da sie mit einer regen Einbildungskraft begabt waren, so
drängten sich in ihr Gemüt neue und neue Vorstellungen
ein and darunter auch nach dem Gesetze der Aehnlichkeit;
sie unterlagen dieser Strömung, sie legten ihr keine Schran-
ken an und daher kommt es, dass sie sich mit einem
Gleichnisse nicht begnügten. Als Agamemnon im 2. Ge-
sänge 1 der Ilias, um die Kampflust seines Heeres auf
die Probe zu stellen und seinen gesunkenen Mut wieder
1 Y. 144—149 nach Voss Uebersetzung citirt.
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. 125
zu "beleben, in einer ad hoc zusammenberufenen Versamm-
lung beantragt, mit weiterer Belagerung abzubrechen und
nach Hause zurückzukehren, da findet dieser Antrag be-
geisterten Anklang in den Massen der Kämpfer und Alles
eilt zu den Schiffen. Der Dichter vergleicht die dadurch
entstandene Bewegung im Heere mit dem Toben des
Meeres, wenn Euros und Notos, schnell dem Gewölke des
Donnerers Zeus sich entstürzend, seine Wogen hoch auf-
stürmen. Sogleich aber drängt sich ein neues Bild in das
aufgeregte Gemüt des Dichters: das eines Saatfeldes, dessen
wallende Aehren der brausende Westwind, zuckend mit
Ungestüm, hinabbeugt. Also zwei Gleichnisse, wo ein
einziges ausreichen würde und ein Kunstdichter würde
sich wol mit einem begnügen. Darum erklären auch
die strengen Philologen 1 (Franke) eins von denselben
für späteren Zusatz, als bloße Variation des andern.
Wenn wir auch Frankes Behauptung, dass sich im zwei-
ten Gleichnisse kein weiterer Fortschritt der Handlung
ausgedrückt finde, billigen, so stimmen wir mit ihm nicht
überein, wenn er auf Grund dieses Umstandes die betref-
fenden Verse athetirt. Ja, wenn man Alles, was ästhetisch
minder vollkommen erscheint, für eines Ho nier unwürdig
halten wollte, so iriiissten wir sehr viele Verse streichen.
Unser Standpunkt erklärt es hinlänglich. Uebrigens sind
unserer Meinung nach die ästhetischen Gründe für eine
Athetese nur dann wichtig, wenn sie sich zu anderen philo-
logischen, historischen, paläographischen Bedenken gesellen.
Was sollte man liber die Verse 455—483 desselben Gesanges
sagen, '¿ wo sich auf einem verhältnismäßig sehr kleinen Räume
1 F. R. Franke in der fünften Auflage der Faesischen Ausgabe
der Ilias, Anmerkung zum V. 148. Faesi meinte dagegen, dass in dem
zweiten Gleichnis ein Fortschritt der Handlung ausgedrückt wird.
Im ersten sei die Rede von einer Bewegung innerhalb eines ge-
wissen Raumes, im anderen von einer aus jedem Raum heraustre
tenden Bewegung. Das scheint mir zu minutiös, zu kleinlich.
2 Vergi. II. III, 1—36, wo vier Gleichnisse vorkommen, auf
Welche zusammen von der Gesamtzahl 21 Verse entfallen.
126
Krejcí.
nicht weniger als sechs ausführliche Gleichnisse, die kür-
zeren, bildlichen Wendungen nicht mitgerechnet, befinden?
Nachdem die Probe, auf welche Agamemnon sein Heer ge-
stellt, gegen alles Erwarten so ungünstig ausgefallen war,
sind die achäischen Führer bemüht, die einer Flucht ähn-
liche Bewegung zu stillen und die Menge wieder zu ver-
sammeln, wobei ihnen ihre mächtige Beschützerin, Athene,
behilflich ist. Mit ihrer fürchterlichen, aber prachtvoll ge-
arbeiteten Aegide bewaffnet, durchfliegt sie das Heer, treibt
die Achäer zur Eile an und rüstet jegliches Mannes Busen
mit Kraft, rastlos im Streite zu stehen und zu kämpfen.
Da folgt V. 455 das erste Gleichnis:
„Wie ein vertilgendes Feuer entbrennt in unendlicher Waldung
Auf den Höli'n des Gebirgs, und fern die Flamme gesehen wird:
Also dem wandelnden Heer entflog von dem prangenden Erze
Weithin leuchtender Glanz, und durchstrahlte Luft und Himmel.*'
Doch unmittelbar darauf führt der Dichter ein anderes
Bild vor:
„Dort gleichwie der Gevögel unzählbar fliegende Scharen,
Kraniche oder Gäns', und das Volk langhalsiger Schwäne,
Ueber die asische Wies', um Kaystros weite Gewässer
Hierhin flattern und dorthin, mit freudigem Schwünge der Flügel,
Dann mit Getön hinsenken den Flug, dass umher das Gefild' hallt:
So dort stürzten die Scharen von Schiffen daher und Gezeiten
Auf die skamandrische Flur . . (V. 465.)
Im V. 467:
„Jetzo standen sie All' in der blumigen Au des Skainandros,
Tausende, gleich wie Blätter und knospende Blumen im Frühling."
Und schon wieder ein neues Gleichnis, das vierte
bereits:
„Aber dicht, wie der Fliegen unzählbar wimmelnde Scharen
Kastlos durch das Gehege der ländlichen Hirten umherzieh'n,
Im anmutigen Lenz, wann Milch von Butten herabtrieft:
So unzählbar standen die hauptumlockten Achaier
Gegen die Troer im Felde, sie auszutilgen verlangend."
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. 127
Dann unmittelbar das fünfte:
„Jetzo wie oft Geißhirten die schweifenden Ziegenherden
Ohne Müh' aussondern, nachdem sie sich weidend gemischet:
So dort stellten die Führer und ordneten hierhin und dorthin
Einzugehen in die Schlacht . .
Das sechste gilt Agamemnon:
„ . . . mit ihnen der Held Agamemnon,
Gleich an Augen und Haupt dem donnerfrohen Kronion,
Gleich dem Ares an Gurt, \md an hoher Brust dem Poseidon.
So wie der Stier in der Herd' ein Herrlicher wandelt vor Allen,
Männlich stolz, denn er ragt aus den Rindern hervor auf der Weide:
Also verherrlichte Zeus an jenem Tag Agamemnon . . ."
So etwas kann sicli nur ein Homer erlauben; nur bei
ihm ist man geneigt, der goldenen Kegel : in Beschränkung
zeigt sich der Meister, zu vergessen; denn nur bei einem
Volksdichter, welcher dem Mechanismus des Vorstellungs-
verlaufes unterliegt, erscheint es natürlich und lässt sich
deswegen entschuldigen. Ein Kunstdichter würde sich
durch ähnliches Verfahren den Vorwurf des Bombastes zu
Schulden kommen lassen, wie es z. B. dem Verfasser der
^onig clíQaxXéovg widerfahren ist, welcher in die Verse
386—418 vier ausgedehnte Gleichnisse eingestopft hat.1
So wie dieses häufige Erscheinen von Gleichnissen, lässt
sich noch eine andere Eigentümlichkeit der homerischen
Gesänge auf die Wirkung des psychischen Mechanismus
zurückführen. Sehr oft ist nämlich das sogenannte tertium
comparat.ionis auf ein minimum beschränkt, und doch kann
1 Das Verhältnis der Ilias zur Odyssee in dieser Hinsicht ist
für unsere Deduction bezeichnend. In der Odyssee kommen die
Gleichnisse spärlich vor, sind gesuchter, das tertium comparationis
*st präciser, nie werden sie so gehäuft. Das stimmt mit der be-
kannten schon von Alters her bekannten Tatsache überein, dass die
Odyssee eines bedeutend jüngeren Datums ist. Folglich muss un-
serer Supposition gemäß, die Wirkung des psychischen Mechanismus
schwächer sein. Wer die Gesänge der Odyssee für Kunstlieder hält,
wird das noch begreiflicher finden.
128
Krejcí.
sich der Dichter nicht versagen, das secundum compara-
tionis bis ins kleinste Detail auszumalen. Im 4. Gesänge
V. 141 (der Ilias) wird Menelaos verwundet; aus der Wunde
strömt Blut hervor und färbt die Schenkel, die Beine und
die zierlichen Knochen des Helden, wie wenn die Mäonerin
oder die Karin ein zum Wagenschmucke des Rosses be-
stimmtes Elfenbein mit Purpur färbt.
Dies würde genügen, doch der Dichter setzt gleich
hinzu :
„Dort nun liegt's im Gemach, und viel der riesigen Männer
Wünschten es wegzutragen; doch Königen hegt sie das Kleinod."
Vergi. VI, 506 if. oder XVII, 53 if. Hier wird der
von den Panthoiden übrig gebliebene von Menelaos getötet
und sein Fall wird mit dem Sturze eines Oelbaums ver-
glichen, worüber sich der Dichter folgendermaßen aus-
breitet :
„Gleich dem stattlichen Sprössling des Oelbaums, welchen ein
Landmann
Nährt am einsamen Ort, wo genug vorquillt des Gewässers;
Lieblich sprosst er empor, und sanft bewegt ihn die Kühlung
Aller Wind' umher und schimmernde Blüte bedeckt ihn;
Aber ein schnell andrängender Sturm mit gewaltigen Wirbeln
Reißt aus der Erde den Stamm, und streckt ihn lang auf die Erde;
Also erschlug den Euphorbos, den panthoidischen (sie!) Streiter,
Atreus Sohn Menelaos . .
Der Dichter unterliegt hier dem Mechanismus des Ge-
dächtnisses, wie z. B. ein Weib aus dem Volke, welches
wegen abschweifender Nebenbemerkungen, zu denen es
durch Erinnerungen verleitet wird, nicht zur Sache gelangen
kann (wie die Amme in Shakespeare's Romeo und Julie).
Auch bei Homer finden sich zahlreiche Beispiele dieser
mechanischen Geschwätzigkeit vor. Im II. Gesänge 100.
erhebt sich Agamemnon, um den versammelten Achaiern
seinen Antrag von der Rückkehr vorzubringen, und lehnt
sich dabei auf seinen Herscherstab. Der Dichter benutzt
diese Gelegenheit und teilt ausführlich die ganze Geschichte
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. 129
des berühmten Herscherstabes mit, wie ihn Hephaistos
mit Kunst gebildet und dem großen Zeus geschenkt, wie
ihn dann Zeus dem Hermes und dieser Pelops, dem Ur-
großvater Agamemnon», gab, bis er endlich auf diesen
überkommen ist. Wenn zwei Helden zum Zweikampfe be-
gegnen, so müssen wir früher ihre ganze Genealogie er-
fahren, bevor die Waffen zu tötlichen Streichen geschwungen
werden. Das Prototyp einer solchen Geschwätzigkeit ist
der Xiyvg nvXiœv áyoQr¡rir¡g, der greise Nestor; wir brauchen
bloß an seine Unterredung mit Achilleus im 9. Gesänge
der Ilias zu erinnern.
Auf solche Weise erscheint die berühmte und von Kunst-
dichtern nachgeahmte bis ins kleinste Detail eingehende
epische Darstellung als eine Folge der ungehemmten Wir-
kung des psychischen Mechanismus. Man pflegt von dem
breiten Strom der epischen Schilderung zu sprechen, der
langsam, majestätisch, in vielen Krümmungen dahinfließt
und in dessen Wellen sich alle am Ufer liegenden Gegen-
stände widerspiegeln: und doch hat dieser Strom seinen
Ursprung einem Gießbach der mechanischen Vorstellungs-
reproduction zu verdanken.
Wenden wir uns jetzt auf ein anderes, von den griechi-
schen Heldenliedern durch Ort, Zeit und Inhalt weit ent-
ferntes Gebiet der Volksdich tung, zu den slavischen Liedern.
Eine liebliche Zierde derselben ist die sogenannte
Antithesis, eine Figur, deren Schema ist: Es ist A,
nein es ist nicht A, es ist B. Z. B.:1
„Schön zu schauen sind die roten Rosen
In dem weiten Palast des Lazaro;
Welche sei die schönste und die liebste
Und die holdeste, kann Niemand sagen:
Rosen sind's nicht, sind nicht rote Rosen,
Sind die schönen Töchter des Lazaro,
Des Gebieters über Servjas (Serbiens) Ebnen."
1 Aus Herders Stimmen der Völker und zwar aus dem Ge-
dichte: Ein Gesang von Milos Cobilich und Vuko Branvokich.
130
Krej ci.
Oder:1
,,Seli' ich's dort nicht glänzen?
Eilig hin von hier!
Glänzet dort ein Blümchen,
Wohl, so pflück ich's mir.
Nein, es war kein Blümchen.
Ging mein Schatz vorbei,
Und er glänzt so lieblich,
Denn er liebt so treu!"
Mitunter fällt das erste G-lied der Antithesis weg, und
das Schema gestaltet sich dann folgendermaßen:
Es ist nicht A, es ist B,
wie es so hauptsächlich in russischen und serbischen Lie-
dern vorkommt. Z. B.:2
„Glänzt kein Stern von ferne auf dem Blachfeld,
Nein, es raucht ein kleines, kleines Feuer,
Bei dem Feuer liegt ein Seidenteppich,
Auf dem Teppich liegt ein guter Jüngling.
Durch Unterdrückung des zweiten, negativen Gliedes
entsteht dann noch folgendes Schema:
Es ist A; doch es ist B.
Z. B.: 3
„Sagten, es käm' vom Bei'g
Dunkelnder Wolken Schar;
Doch es war meiner Maid
Kohlschwarzes Augenpaar.
Sagten, es käm' vom Berg
Purpurnes Morgenlicht.
1 Nach Wen zi g s Uebersetzung. Dieser verdienstvolle Ver-
fasser gab schon im Jahre 1830 eine Auswahl aus slavischen Volks-
liedern heraus, welche unter dem Titel: „Slavische Volkslieder" in
Halle erschien. Im Jahre 1875 begann er in Prag eine „Bibliothek
slavischer Poesien in deutscher Uebertragung" herauszugeben, von
der jedoch bloß zwei Teile erschienen. Der erste Band enthält
Wenzigs Auswahl aus seinen Uebertragungen slavischer Volkslieder,
welcher auch unsere Citate entnommen sind. Siehe pag. 18.
2 Daselbst pag. 187.
3 Wenzig 1. c. pag. 19.
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. 131
Doch es war meiner Maid
Purpurnes Angesicht.
Sagten, es strahle schon
Voller Mond sonnenklar;
Doch es war meiner Maid
Strahlende Stirn fürwahr."
Diese Figur hat sich gänzlich mechanisch aus dem
gewöhnlichen Apperceptionsprocesse entwickelt, welcher
dem Acte des Urteilens zu Grunde liegt. Haben wir
z. B. einen Eindruck, so können mehrere Vorstellungs-
massen im Bewusstsein auftauchen, um denselben zu apper-
cipiren. Die Apperceptionsfähigkeit dieser Vorstellungs-
massen richtet sich nach der Zahl der jener neuen Vor-
stellung homogenen Teile, welche nach dem Gesetze der
Wechselwirkung miteinander verschmelzen wollen, aber
durch die conträren Verbindungsteile daran gehindert
werden. Es entsteht daraus im Gemixte eine Art Spannung,
welche wir mit dem Worte Unentschlossenheit oder Zweifel
bezeichnen und welche erst dann gestillt wird, bis eine
von den zur Appercipirung sich meldenden Massen in Folge
der größten Aehnlichkeit Oberhand gewinnt und die neu
eintretende Vorstellung appercipirt. Dann ist der Apper-
ceptionsact vollzogen und wir nennen ihn in diesem Falle
Urteilen. In der Praxis äußert sich dieser Process durch
Fragen: Was ist das? — Ist es A? — Nein, es ist kein
A, denn es hat ein Merkmal X; — folglich ist es ein B;
und das ist eben das Schema der Antithesis! In den
Volksliedern kommen derartige Gedanken Verbindungen ohne
jegliche poetische Pointe vor, ein Beweis, dass es ästhe-
tische Eücksichten nicht waren, welche diese Figur zu
Stande brachten, sondern reiner Mechanismus.
So sagt in einem mährischen Liede 1 die Mutter zu
ihrer Tochter: Schau Töchterlein, schau zum Fenster
1 Franz Susil: Moravské národní písnñ s nápevy do textu vrad*'-
ními. Brünn 1859. Nr. 147. (Sammlung von mähr. Liedern.)
Zeitschrift für Völkerpsycb. und Sprachw. Bd. XIX, 2. 10
132
Krejcí.
hinaus, ob sich Staubwolken erheben, oder ob die Türken
kommen? Nein, antwortet die Tochter, es ist kein Staub,
es kommen die Türken, die mich mitnehmen werden. Ganz
prosaisch klingt auch folgende Unterredung, welche dabei
der antithetischen Form genau entspricht: Meine Teure,
schau doch nach, ob die Mutter kommt, oder die Henker.1
Eine antithetische Form weist auch folgendes niederöster-
reichische Lied auf:
Sitzt a sehen s Vegerl af'n Dânnabam,
tuat niks als singa und schrain ;
was muass denn das voar a Yegerl sain?
Das muass a Nachtigall sain !
Noan, main Schäz, das is koan Nachtigall,
Noan, main Schäz, des dearf'st nid glaubn;
Koan Nachtigall schlägt af koanm Dännabain
Schlägt in a Has'lnussschtauden.2
Bezeichnend sind für die Entstehungsarten der Anti-
thesis auch diejenigen Beispiele, wo zum negativen Teile
auch der Grund seiner Negirung hinzutritt, so dass dann
das Schema lautet: Es ist A; nein es ist nicht A; denn...,
es ist also B Diese Begründung der Negirung entspricht
dem „psychologischen Grunde", der beim Urteilen für eine
von den Apperceptionsvorstellungen entscheidet. Somit
steht diese Form der Antithesis dem mechanischen Acte
des Urteilens am nächsten. Ein Beispiel:3
Was ist weißes zu gewahren
Auf den Bergen, in den Talen?
Sind es weilier Gänse Scharen,
Oder ist dort Schnee gefallen?
1 Susil 1. c. Nr. 151: Kamarádko moja — pohledni do pola. —
Ideli tarn máti — lebo idú kati — huavicku mnë st'ati? — Neide
tam máti — nez tam idú kati — huavicku ti st'ati. Vergi. Nr. 128.
2 Franz Ziska und Julius Max Schottky: Oesterreichische
Volkslieder mit ihren Singweisen. Pesth,. 1819. Die Herausgeber
deuten durch die auch hier teilweise beibehaltene Schreibweise die
Eigentümlichkeiten der diabetischen Aussprache an.
3 Wenzig 1. c. pag. 100.
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie.
133
Wären's weif'er Gänse Scharen,
Wären längst schon fortgeflogen;
War es Schnee, die warme Sonne
Hätt' ihn längst schon aufgesogen.
Ist ein Lager; auf dem Lager
Ruht ein Jüngling hingestrecket
Und das Haupt des schönen Jünglings
Ist mit Wunden ganz bedecket . . .
Die Sache verhält sich also völlig so, wie wir bei
dem Gleichnisse gesehen haben. Beide Figuren sind eigent-
lich Schemata eines ganz gewöhnlichen Reproductions-
processes und erhalten erst dann einen poetischen Wert,
wenn die dadurch entstandenen Gedankenverbindungen den
ästhetischen Normen entsprechen und auch dies geschieht
in den Volksliedern zufällig, mechanisch, analog dem Vor-
kommen des Schönen in der Natur. Man begreift ferner
ganz gut, wie eben diese Figuren für Lieder einzelner
Völker so typisch weiden konnten; es sind nämlich von den
einfachsten und natiirlichsteu Verbindungsweisen, denen
sich jeder Gedankeninhalt leicht, wie von selbst, fügt.
III
Eine Folge des psychischen Mechanismus ist, dass sich
die Vorstellungen oft zu solchen Complexen verbinden,
welche von den gewöhnlichen, üblichen, stark abweichen;
ja es entstehen oft solche Verbindungen, die jeder ver-
ständigen Erklärung spotten.
Wenn wir einen prüfenden Blick in unser eigenes
Innere werfen, so begreifen wir ganz gut, wie sich zwei
ganz verschiedenartige Vorstellungen nur deswegen unzer-
trennlich verbinden können, weil sie sich einst in unserm
Bewusstsein zu gleicher Zeit zusammenfanden und wie sie
dann bei jeder Gelegenheit auch gegen unsern Willen
einander reproduciren. Es scheint uns nichts Sonderbares
wenn z. B. im ernsten Augenblicke irgend eine Vorstellung,
die uns ein böser Kobold ins Gemüt ruft, unsere Muskel
10*
34
Krejcí.
zum Lachen zusammenzieht, oder wenn uns die Gedanken
von einer wissenschaftlichen Lectiire blitzschnell in eine
angenehme Gesellschaft versetzen und der eilenden Arbeit
vergessen lassen: und doch frappirt uns, wenn wir etwas
ähnliches bei unserem Nächsten wahrnehmen. Ein Ge-
schwätz, das die entferntesten Gegenstände zusammen-
mischt, ein toller Ausbruch der Freude, der unseren Freund
zu Handlungen verführt, welche mit seinem sonstigen Be-
nehmen nicht in Einklang stehen . . . das erscheint uns
sonderbar, ungewöhnlich; wir können nicht begreifen, wie
man so was tun kann, wie man so einen Einfall haben
kann; denn wir sind gewohnt, die Vorstellungen logisch
zu verbinden und alle Handlungen aus ihrem logischen
Zusammenhange zu erklären. Wo uns dieser logische
Grund zu fehlen scheint, oder wirklich fehlt, dort finden
wir Alles unerklärlich oder wir bezeichnen den Mangel an
logischem Zusammenhange mit Wörtern, wie naiv, närrisch,
kindisch u. dgl. Von unserem Standpunkte ist eben der
Mangel an logischem Zusammenhang psychischer Mecha-
nismus und er gibt uns also genügenden Aufschluss über
alles naive, närrische, kindische, über alle Gedankensprünge
und sonstige Ungereimtheiten, wie sie in den Volksliedern
vorkommen.
Schon Herder1 bemerkte: „Zuerst muss ich sagen,
dass Nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe
hat, als Lieder des Volks; und eben die Lieder des Volkes
haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel ge-
dacht, ersonnen, entsprungen und geboren sind ..." Und
wenn er diesen Umstand folgendermaßen erklärt2: „weil
das in der Tat die Art der Einbildung ist, und sie auf
keinem engeren Wege je fortgehen kann", so stimmt es
mit unserer Erklärung überein; denn phantastisch ist in
der Psychologie mit mechanisch gleichbedeutend.
1 Herders Werke ed. H. Kurz. II. Bd. Auszug aus einem
Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. Pag. 31.
2 Ebend. pag. 38.
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie, j 35
Betrachten wir z. B. folgendes Liedchen:1
Dass's im Wald finstr is,
das macht das Holz;
Dass main Schâz saubr is,
des mächt mi schtolz.
Dass's im Wald finster is,
das mâch'n d' Bam;
Dass mi main Schâz nid mâg,
des glaub i kam.
Dass's im Wald finster is,
das macht dâs Lab;
Dass main Schâz an'n andan hâd,
des macht mi ha(r)b (missmuthig).
Wie ist der Gedankenzusammenhang? Man kann sich
wohl vorstellen, der Bua gehe durch einen dichten Wald
heim und seine Gedanken weilen bei der Geliebten und er
sei so in süße Erinnerungen versunken, dass ihm Alles
herum nur seinet- und seines Schatzes willen geschaffen
erscheint, dass er jeden Gegenstand, jede Erscheinung in
Verbindung mit seinen Liebesträumereien setzt. Doch der
Zusammenhang der beiden Vorstellungen, welche das Motiv
des Ganzen bilden, nämlich der Finsternis im Walde und
der Geliebten, bleibt dunkel, unerklärt, so lange wir den-
selben im Inhalte der Vorstellungen suchen. Man könnte
zwar aus der dritten Strophe herauslesen, es habe die
Waldesfinsternis den Jüngling finster gestimmt, oder aus
der ersten, der Anblick stattlicher Bäume erinnere ganz
passend an die stattliche Figur seiner Geliebten u. dgl.
Doch wer verbürgt uns die Richtigkeit einer solchen Auf-
fassung? Der Inhalt der Vorstellungen wohl nicht, denn
dieser ist dort nicht maßgebend, wo mechanisch äußerliche
Verbindungen Platz greifen können und wo auch die Rück-
sicht auf die poetische Form, hauptsächlich auf den Reim
dem Gedankenverlaufe mächtigen Zwang anlegt. Warum
könnte nicht möglich sein, dass der Bua in jenein Walde
1 Ziska-Schottky 1. c. pag. 105.
136
Krejéí.
seinen Schätz zuerst gesehen, oder dass dort ihre Stell-
dichein stattgefunden haben, so dass er sich beim Anblicke
jenes Waldes oder überhaupt jedes Waldes seiner Liebes-
tändeleien erinnert und dass neben dem Wunsche, sein
Glück möge dauerhaft sein, in seinem Herzen auch Zweifel
von der Treue des Diarndels auftauchen?
Oder wie sollen wir uns den Zusammenhang in fol-
genden Versen vorstellen:
Es kugelte, es kugelte
Ein rotes Aepfelein . .
Ach wer erhält, ach wer erhält
Dich goldnes Mädchen mein?1
Oder in diesem:
Schwimman zwoa Anterln im Wâssa,
Schwimman zwoa Anterln im See;
Ligt main liab's Diarndl im Fedabet,
Thuat iahr Ilearzerl so weh!2
Und solcher Beispiele Zahl könnte leicht verhundert-
facht werden. Anstatt einen inhaltlichen Zusammenhang
zu suchen, ist wo! am besten einen rein subjectiven
äußerlichen örtlichen oder zeitlichen Zusammenhang
vorauszusetzen, vermittels dessen dann bei Gelegenheit,
wie z. B., wenn es sich um eine Improvisation während
des Tanzens handelt, die Vorstellungen einander mecha-
nisch reproduciren, wobei natürlich die Rücksicht auf den
Reim bestimmend hinzutritt. Für diesen Zusammenhang
ist der Sänger Niemanden verantwortlich. Sein Lied wird
nur von jenen gesungen, denen die Melodie gefällt, und
solche kümmert der Inhalt nicht, oder von jenen, die sich
zufällig in ähnlicher Situation befinden (was den Verliebten
leicht passiren kann) und diese werden den Zusammenhang
sicherlich begreifen. Uns endlich ist es freigestellt, in den
schlichten Versen eines Liedes beliebigen Zusammenhang
1 Wenzig 1. c. pag. 20.
2 Ziska-Schottky 1. c. pag. 115.
Das charakteristische Merkmal der Yolkspoesie. 137
zu finden, wenn es möglich ist, und darnach den poetischen
Wert desselben zu statuiren.
Sonst könnte man diesen Zusammenhang mit demjenigen
vergleichen, welcher zwischen einem Symbole und der corre-
lativen Vorstellung besteht. Wir reden gewöhnlich von
Symbolen, deren Bedeutung allgemein oder wenigstens
mehreren Personen bekannt ist; doch es gibt auch singu-
lare Symbole, welche bloß einer einzigen Person verständ-
lich sind. So wie für einen Jüngling eine von der Aus-
erlesenen seines Herzens erhaltene Bosenknospe sozusagen
die Verkörperung aller seiner Gefühle bedeutet, so dass er
beim Anblicke derselben in seinen Liebestraum versetzt
wird, sie küsst, anredet: so können die Liebesträumereien
eines Bauernmädchens jede denkbare Vorstellung zu sol-
chem Knotenpunkte haben. Keiner ist ausgeschlossen von
den Gegenständen, welche sie umgeben; einmal sind es
Bäume, Sträucher, Blumen, ein andermal Tiere, Gebäude,
Berge, Bäche u. s. w. und darunter auch die alltäglichsten
und prosaischsten Dinge. Oft sind dann die daraus ent-
standenen Gedanken lächerlich, kleinlich, unbegreiflich; oft
aber auch höchst poetisch; immer aber sind sie schlicht
natürlich, ungesucht. Und wenn wir auf solche Weise die
Volkslieder betrachten, so werden uns keine Sprünge, Un-
möglichkeiten, keine Ungereimtheiten beleidigen oder we-
nigstens nicht überraschen.
Dabei ist hervorzuheben, dass dieser anscheinend lose
Gedankenzusammenhang fast ausschließlich in jenen kleinen
Liedern vorkommt, welche der augenblicklichen Gemüts-
lage entspringend und den innersten Gefühlen Ausdruck
verleihend, lyrischen Charakter an sich tragen, wogegen
die breite Darstellung der erzählenden Lieder eine ver-
schwindend kleine Gelegenheit zu solchen Gefühlsäußerungen
bietet. Der epische Sänger steht zu der von ihm geschil-
derten Begebenheit beinahe so objectiv, wie wir gegenüber
dem subjectiven Gefühlstreiben der lyrischen Lieder; sein
Ich und somit auch die Subjectivität der Gedanken ver-
138
Krejcí.
bindungen tritt in den Hintergrund, wodurch auch die
Ursache zu unerklärlichen Sprüngen wegfällt.
Der Mechanismus, dem der Volkserzähler unterliegt,
führt zu einer bis ins Kleinste gehenden Detailschilderung
und zur ungestörten Continuität, wodurch eben die in ly-
rischen Liedern durch denselben Mechanismus verursachten
Sprünge gemieden werden. Bei den epischen Liedern
kommt Alles auf den Inhalt an, und der Sänger würde
seinen Zweck verfehlt haben, wäre er von seinen Zuhörern
nicht verstanden; in lyrischen Liedern ist die Gemüts-
stimmung und zugleich die Melodie die Hauptsache. Damit
hängt gewiss zusammen, dass die epischen Lieder recitirt,
nicht gesungen werden, ferner dass sie sich dem Gedächt-
nisse des Volkes dauerhafter einprägen, wogegen die ly-
rischen Lieder ephemere Erscheinungen sind, welche so
schnell vergehen, wie sie entstehen. Epische Lieder
haben bei allen Völkern ihre eigenen Pfleger (cf. die
Rhapsoden bei den Griechen, die Barden bei den Germa-
nen, die Guslari bei den Slaven); die lyrischen Liedchen
dagegen entsprießen jedem Herzen, denn eines jeden
Menschen Herz, wenn es, von Gefühlen überströmend,
eines äußeren Ausdruckes benötigt, besitzt die Beding-
ungen dazu. Sehr interessant ist dieser Umstand in
zwei schönen Liedchen ausgedrückt, so dass ich mir er-
laube, dieselben mitzuteilen. Das eine — mährische 1 —
gibt den Ursprung der Liebe an:
Wie kommst du doch, o Liebe,
Wie kommst du auf die Welt?
Du wächsest nicht im Garten,
Man sä't dich nicht im Feld?
„Ich werde von selbst geboren,
Das hat gar keine Beschwer,
Und schleiche zwischen den Mädchen
Und jungen Burschen umher!
1 Wenzig 1. c. 19.
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie. 139
Und so wie die Liebe, so entstellen nach einem slo-
vakisclien1 Liede auch die Lieder : „Lieder wie kommt ihr
auf die Welt? seid ihr denn vom Himmel gefallen, oder im
Haine aufgewachsen? Wir sind weder vom Himmel ge-
fallen, noch sind wir im Haine aufgewachsen, uns haben
junge Burschen und junge Mädchen gefunden," Wer liebt,
der singt und lieben kann ein Jeder.
Es ist also auch der Unterschied der epischen und
lyrischen Volkslieder durch verschiedene Wirkung des
Mechanismus erklärt und begründet.
IV.
Schon oben wurde des Einflusses gedacht, welchen die
Rücksicht auf die Form und hauptsächlich auf den Reim
auf die Gedankenverbindung ausübt und hier wollen wir
constatiren, dass sich auch hierin die Wirkung des Mecha-
nismus zeigt. Die meisten lyrischen Lieder sind Gelegen-
heitslieder, aus religiösen oder gesellschaftlichen Anlässen
entstanden. Daraus entwickelte sich eine feste äußere
Form, welche verschiedenen Veränderungen weniger unter-
liegt, als der Gedankeninhalt. Beweis dessen ist, dass
einer und derselben Melodie mehrere Texte untergelegt wer-
den , wie man sich in allen Liedersammlungen überzeugen
kann. Der Sänger muss also seine Worte der Singweise
anpassen und wenn man an gereimte Verse gewöhnt ist,
muss er auch dieser Anforderung genug tun. Das legt dem
Gedankenverlauf nicht unbedeutende Schranken an; doch
so wie dies scheinbar dem Mechanismus zuwiderläuft, eben-
so überwindet der Sänger mit Hülfe desselben Mechanis-
mus auch diese Schwierigkeit; denn der Gleichlaut der
1 Kollars Sammlung der slovakischen Volkslieder (Narodnie
Zpievanky) 1. T. 59. col. nr. 9. In Ermangelung einer versificirten
Uebersetzung füge ich den ursprünglichen Text bei: Zpievanky,
kdë stë sa vy vzaly? — ci stë s neba padly, èi stë rástly v háji?
k nëba sme nepadly, v háji sme nëràstly — ale nás mládenci a
dëvence nasly.
140
Krejcí.
Wörter wird zum mechanischen Vermittler der Reproduc-
tion der Vorstellungen, sodass demselben nicht selten der
ursprüngliche Gedanke zum Opfer fällt. Es gibt viele
Volkslieder, wo man die Zusammenfügung der Gedanken
auf keine andere Weise erklären kann, als durch das be-
kannte: Reim dich oder ich ... Das kommt zwar bekannt-
lich auch in Kunstliedern vor, doch vor der licentia poe-
tica der Volkssänger ist keine Regel sicher.
V.
In aller Kürze sei hier noch eines Umstandes gedacht.
In den Volksliedern steht der Mensch in regem Verkehr
mit der Natur; sie nimmt an seinem Treiben, an seinen
Leiden und Freuden teil; die Sonne lacht, wenn er lustig
ist, der Mond, die Sterne sind traurig, wenn der Jüngling
nach seiner Geliebten schmachtet, die Vögel müssen seine
Grüße ausrichten, die Blumen reden ihm Trost zu, die
Tiere sprechen wie verständige Menschen. Das alles kommt
der sogenannten mythologischen Weltanschauung der auf
niederster Stufe stehender Völker so nahe, dass man daraus
oft den falschen Schluss gezogen hat: diese Personfication
und Symbolik der Volkspoesie seien Ueberreste eben jener
mythologischen Weltanschauung und man könne daraus die
erloschenen mythologischen Vorstellungen reconstruiren.
Wenn man auch zugeben muss, dass solche Ueberlebsel
(Tylors survival) sich auch in der Poesie, wie überhaupt
in allen Producten des Volksgeistes, erhalten haben können,
so muss man andererseits bedenken — und das soll hier
mit Nachdruck hervorgehoben werden — dass dieselben
und ähnliche Vorstellungen auch im psychischen Mechanis-
mus ihren Ursprung haben und dass es verfehlt wäre alle
Personificationen und Symbolisirungen für alte mythologische
Vorstellungen zu erklären. Oertliche und zeitliche Associ-
ation zweier Vorstellungen sind wir noch heutzutage ge-
neigt dem bekannten post hoc, ergo propter hoc gemäß für
causale zu halten, und eine so aufgefasste Causalität ist
Das charakteristische Merkmal der Volkspoesie.
141
von jeher der eigenste Quell alles Aberglaubens. Will man
also in der Volkspoesie mythologisches Material aufsuchen,
so hat man auf dem vergleichenden Wege sorgfältig vor
zu gehen und nicht das bloße Vorkommen einer Vor-
stellung in der Poesie für genügenden Grund ihres mytho-
logischen Ursprungs anzusehen.
Wir schließen. Es könnten noch mehrere andere
Eigentümlichkeiten der Volkspoesie von unserem Stand-
punkte beleuchtet und auf den psychischen Mechanismus
zurückgeführt werden, doch unsere Abhandlung hat keinen
anderen Zweck als die Möglichkeit einer völkei-psycho-
logischen Analyse zu beweisen und dazu wird das Gesagte
genügen.
Die Rede
(ratio, Áoyog).
Ermittlung der geistesgeschichtlichen Stelle
des Gottesgedankens.
Von Karl Schulz.
2. Der Bann der Gedankenlosigkeit.
Was ich über die Macht des Gottesgedankens ausge-
führt habe, hat nicht dazu dienen sollen, einen Beweis für
das Dasein Gottes zu führen, wie man ihn unter der Be-
zeichnung des Beweises a consensu gentium geführt hat.
Ich habe es nicht mit dem Dasein Gottes zu tun, noch
weniger mit einem Beweise dafür, sondern mit dem Gottes-
gedanken, in dessen Wesen ich einzudringen suche.
Ueber den Beweis a consensu gentium hat mein hoch-
verehrter Lehrer der Dogmatik Julius Müller, der Ver-
fasser des Buches über die Sünde, nach Ausweis meines
ira Jahre 1852 und 1853 nachgeschriebenen Heftes Fol-
142
Schulz.
gend.es gelehrt: „Er beruht auf dein an sich berechtigten
Rückschluss von der durchgreifenden Allgemeinheit des
Glaubens an ein Göttliches auf eine innere Notwendigkeit
dieses Glaubens aus der geistigen Natur des Menschen und
somit auf die Wirklichkeit seines Objectes. Aber wenn
auch das Faktum jener Allgemeinheit selbst vollständiger
constatirt wäre, als es bis jetzt ist, so würde diese Beweis-
art doch keinesfalls mehr herausbringen als nach Abzug
alles Positiven und bei den Völkern Verschiedenen vom
Gottesglauben die Realität der abstractesten und unbe-
stimmtesten Vorstellung von irgend einer übermenschlichen
Macht."
In welchem Sinne dieser Beweis geführt worden ist,
ergibt sich aus den Erläuterungen. Diese lauten: „Es soll
ein Inductionsbeweis sein, der dann erst vollständig wäre,
wenn der consensus als der omnium hominum nachgewiesen
werden könnte. Wäre dies möglich, so wäre der Beweis
sofort gänzlich überflüssig; es könnte keine Veranlassung
entstehen, ihn zu bilden ; zu diesen omnes würde auch der
gehören, für den er geführt wird. Im Beweise aus dem
consensus gentium wird das Dasein des Zweifels also still-
schweigend zugestanden, der sich gegenüber der Macht der
gentes auflösen soll. Allerdings ist diese eine respectable
Macht, und es scheint ein Rückschluss zulässig, dass es
notwendig ist, an Gott zu glauben. Dem ist der Ge-
spensterglaube entgegen gehalten worden. Wie ließe sich
auch diese nebelhafte Vorstellung, die im Ganzen nur auf
der niedrigsten Stufe der Völker vorkommt, mit dem
Glauben an Gott zusammenstellen! Doch ist erstens gegen
den consensus gentium geltend zu machen, dass das Fac-
tum bei Weitem nicht nachgewiesen, sondern nur behauptet
ist. Es ist immer aufs Neue behauptet worden, dass ein-
zelne Völker ganz ohne jede Spur von Religion sind. Wenn
auch auf diese Behauptung kein Gewicht zu legen ist, da
viel dazu gehört, um auch unter der Hülle etwas zu er-
kennen, so ist doch nicht zu behaupten, dass der consensus
Die Rede, ratio, Xóyo;.
143
gentium constatirt ist. Aber wäre er es auch., so wären
auch Vorstellungen mit aufzunehmen in diese Deduction,
nach denen manche auf ihre Götter schlagen, oder Men-
schen für Götter halten. Das Gemeinsame, was durch
solche Induction gewonnen würde, würde eine außer-
ordentlich dürftige und unbestimmte und ziemlich leere
Vorstellung von der Existenz irgend einer höheren Macht
sein, die Einfluss auf unser Leben ausübt Die Dogmatik
würde den Namen Gottes missbrauchen, wenn sie das
Glauben an Gott nennen wollte. Xenophon memor. I, 4
argumentirt, die weisesten Völker seien immer die ge-
wesen, welche am gottesfürchtigsten gewesen seien. Davon
schließt er auf die Realität der Gottheit. In Betreif der
Völker ist dies zuzugeben. Aber nicht so evident ist es
von den einzelnen philosophirenden Individuen, da der
Atheismus auf hoher Stufe der Geistesbildung vorkommt.
Auch steckt in jenem Ausspruche eine petitio principii:
Zur wahren Weisheit gehört der Gottesglaube."
Da es mir nicht im entferntesten einfällt, einen der-
artigen Beweis für das Dasein Gottes führen und damit den
Zweifler überführen zu wollen, so habe ich auch Einwände,
wie die hier vorgebrachten, gar nicht zu erwarten. Ich
behaupte nicht die Uebereinstimmung aller Völker, ge-
schweige aller Menschen im Gottesglauben; ich behaupte
auch nicht, dass in der Fassung des Gottesgedankens eine
derartige Uebereinstimmung herscht, wie man sie zum
Zwecke jenes Beweises vorauszusetzen hätte.
Ich habe nur davon geredet, dass in der Geschichte
der Menschheit der Gottesgedanke, wie auch seine Fass-
ungen gewesen sind, sich als eine große Macht erwiesen
hat, nicht mehr! Ich behaupte nicht, hier wenigstens nicht,
dass es kein Volk, keine Menschen gibt, die des Gottes-
gedankens völlig bar und ledig wären. Ich nehme nur
mit Genugtuung Kenntnis davon, dass man jetzt ganz
und gar nicht mehr darauf ausgeht, solche Völ-
ker nachzuweisen. Ich bin auch ganz mit dem Satze
144
Schulz.
einverstanden, dass die Vorstellungen von einer höheren
übermenschlichen Macht vielfach verschieden sind.
Aber ich betone die Macht dieser Vorstellungen, die
von ihrer Fassung nicht durchaus abhängig ist, und ich
gehe nun dazu über, angesichts dieser Macht den Bann
der Gedankenlosigkeit ins Auge zufassen, unter dem
wir Menschen in so vieler Beziehung stehen, und der auf
uns oft so schwer lastet. Dieser Bann ist in einer höchst
wichtigen Beziehung in allen den Fällen durchbrochen
worden, wo immer, und gleichviel in welcher Fassung, der
Gottesgedanke hervorgebrochen ist. Ob dies bei allen
Völkern der Erde geschehen ist, die man bisher gekannt
hat oder noch kennen lernen wird, ist zwar eine keines-
wegs ganz gleichgültige Frage, ebensowenig wie die
Fassung des Gottesgedankens gleichgültig ist. Aber inso-
fern es gilt, die Durchbrechung des Bannes der Gedanken-
losigkeit durch das Hervorbrechen des Gottesgedankens in
ihrer Bedeutung zu würdigen, handelt es sich um die Er-
kenntnis, dass der Gottesgedanke einen tieferen Ur-
sprung als im bloßen Denken hat, dass er vielmehr
auf einem den ganzen Menschen zu Teil werdenden
Erleben beruht. An dieser Erkenntnis aber würde da-
durch nichts geändert werden, dass Völker nachgewiesen
werden könnten, bei denen der Gottesgedanke nie zum
Durchbruch gelangt wäre. Was aber die Fassungen des
Gottesgedankens betrifft, so kann man in Beurteilung der-
selben nicht vorsichtig genug sein. Es ist so sehr schwer
zu ermitteln, wie sie ursprünglich gemeint waren,
und was etwa spätere missverständliche Auffassungen aus
ihnen gemacht haben. Am schlimmsten sind wir daran,
wenn wir auf Berichte von Draußenstellenden angewiesen
sind, z. B. auf die Berichte von Griechen (Herodot
Plutarch), wenn wir die Gottesverehrung der Aegypter
kennen lernen und beurteilen wollen. Gerade in göttlichen
Dingen gewinnen Draußenstehende immer nur äußerliche
Auffassungen und urteilen oft, wie der Blinde von der
Die Rede, ratio, Xoyoç.
145
Farbe. Aber auch die heiligen Bücher, die von der Fass-
ung des Gottesgedankens bei den betreffenden Völkern
Zeugnis geben, sind uns doch mehr nur ein Zeugnis für
die Zeit ihrer Entstehung, nicht aber für die Zeit, wo der
Gottesgedanke zum Durchbruch kam und seine ursprüng-
liche Fassung erhielt. Aber auch der als mangelhaft zu
beurteilenden Fassung muss in dem Falle, wo der Gottes-
gedanke einem wirklichen inneren Erleben entspricht, doch
noch ein nicht geringer Wert zuerkannt werden. Es be-
ruht ja zwar nur auf einem freien Uebersetzen, wenn
Luther 1. Timoth. 5, 18 den Ausdruck „ärger denn ein
Heide" anwendet (áníazov %síqcov, ärger denn ein Un-
gläubiger, nämlich derjenige, welcher den Glauben ver-
leugnet, indem er die Seinigen, sonderlich seine Haus-
genossen, nicht versorgt). Aber man sieht, dass Luther
noch etwas Aergeres kennt, als dass man ein Heide ist
und den Gottesgedanken in einer mangelhaften Fassung
hat, auch wol ihn dieser Fassung gemäß betätigt. Und
darin hat er völlig Recht. Es ist besser, ein Heide zu
sein, als in Bezug auf Gott ganz unter dem Banne der
Gedankenlosigkeit zu stehen.
Um diesen Bann nun zu verstehen und die Durch-
brechung desselben durch das Hervorbrechen des Gottes-
gedankens zu würdigen, wird auch diejenige Gedanken-
losigkeit in Betracht zu ziehen sein, auf der verfehlte
Herleitungen des Gottesgedankens beruhen. Es ist darum
nötig, auf die verschiedenen Arten von Gedankenlosigkeit
hinzuweisen.
Wenn man einen Einzelnen in einem gegebenen Falle
bezichtigt, dass er gedankenlos gewesen ist, so besagt man
damit oft nur, dass ihm im gegebenen Augenblicke nicht
diejenigen Gedanken gekommen sind, die ihn würden das
rechte Wort oder die rechte Tat haben finden lassen, und
die ihm wol hätten kommen können, wenn er seine Ge-
danken nur besser zusammen genommen hätte. Man meint
146
Schulz.
damit, dass sie wol in seinem Gedankenkreise gelegen
hätten, wenn er sie mir zu finden gewusst hätte.
Ist aber yon einem eigentlichen Bann der Gedanken-
losigkeit die Rede, so besagt das, dass die Bildung ganz
neuer Gedanken zurückgehalten, wird, und dass diese Ge-
dankenneubildung nur dadurch erfolgen kann, dass dieser
Bann durchbrochen wird. Freilich besagt es das nur im
engeren Sinne. Im weiteren Sinne kann man auch dann
von dem Bann der Gedankenlosigkeit reden, wenn manchen
Leuten Gedanken, die Anderen längst nicht mehr neu
sind, doch so ganz außer dem Gedankenkreise liegen, dass
sie ihnen weder von selbst kommen, noch auch von An-
deren beigebracht werden könneu. Wenn Plato z. B. den-
jenigen, welcher für das, was das Höchste, nämlich das
Wesentliche und Seiende' sei, keinen Sinn habe, und
der daher nicht nach dem höchsten Erkennen strebe, son-
dern sich am bloßen Meinen genügen lasse, das nur auf
die veränderliche Sinnenwelt gerichtet sei, einen Träu-
menden und Schlaftrunkenen (òvsLQOTcoXovvra %aì vnvon-
tovtcc) nennt, so meint er, dass dieser die Gedanken, die
ihn zu einem Wachenden machen könnten, wol haben
könnte, wenn er sich nur aus dem Schlafe ermuntern lassen
wollte.
Der Ausdruck vnvahxovTu erinnert übrigens unwill-
kürlich an die uns in neuerer Zeit bekannt gewordene
Form der Schlaftrunkenheit, die man mit dem Namen
„Hypnotismus" bezeichnet hat. Mit Bezugnahme darauf
könnte man ja nun auch sagen: Der Mensch, der nie
liber sich selbst nachgedacht hat, und insofern ge-
dankenlos ist, gleicht einem Hypnotisirten. Er kann zwar
denken und handeln, aber er hat keine Herschaft über
seine Gedanken und Handlungen. Er denkt und handelt
unter einem Banne, der nur dadurch, dass er über sich
nachdenkt, gebrochen werden könnte.
Im engeren Sinne kann man von dem Bann der Ge-
dankenlosigkeit insofern sprechen, als die Bildung neuer
Die Rede, ratio, Aoyoc,
147
Gedanken nicht eher hat erfolgen können, als bis sie ent-
wicklungsgemäß waren, was auch in alle Zukunft so
sein wird. Freilich wird die Entwicklungsgemäßheit eines
neuen Gerlankens nicht immer klar auf der Hand liegen.
Von manchem neuen Gedanken wird man geneigt sein zu
sagen, er sei durch Zufall gefunden worden und hätte
durch Zufall auch schon früher gefunden werden können.
Ich traue mir allerdings nicht zu, nachweisen zu
können, warum der Gedanke der Dampfmaschine erst im
vorigen Jahrhundert sich in der Weise hat Bahn brechen
können, dass dadurch eine Umwälzung der Verkehrsver-
hältnisse herbeigeführt worden ist. Ausgeführt worden
ist dieser Gedanke ja schon über ein Jahrhundert früher
von dem Franzosen Pap in, demselben, nach dem der jetzt
allgemein verbreitete Papinsche Kochtopf seinen Namen
hat. Er war als Protestant aus Frankreich ausgewandert
und hatte endlich in Marburg eine Anstellung als Pro-
fessor der Mathematik erhalten. Sein Dampfboot, mit dem
er die Fulda bis Münden herabgefahren war, wurde ihm
dort von Mitgliedern der hannoverschen Schiffergilde zer-
stört. Damit ist seine Erfindung verloren gegangen. Sie
ist dann ein Jahrhundert später von neuem gemacht
worden.
Wenn man mir sagt, dass die Erfindung der Dampf-
maschine, d. h. der neue Gedanke, der die Herstellung der-
selben ermöglicht hat, auf Zufall beruht, so entgegne ich:
Hat man denn bis dahin beim Kochen nie entdeckt, dass der
Dampf einen Deckel auf dem Topfe hob? Und warum ist
die Erfindung des Dampfschiffes, die schon ins 17. Jahr-
hundert fällt, erst im vorigen Jahrhundert nachhaltig zur
Geltung gekommen? Und warum bedurfte es nach Er-
findung des Dampfschiffes erst noch der Erfindung des
Dampfwagens? Warum endlich hat der Erfinder desselben
auch nach der Erfindung der Eisenbahnschienen noch so
unsägliche Schwierigkeiten zu überwinden gehabt, um seine
Erfindung siegreich durchzuführen? Er hatte, nachdem
Zeitschrift für Völkerpeych» und Sprachw. Bd. XIX. 2.
148
Schulz.
es bei ihm selbst hell und licht geworden war, noch
mit der hartnäckigen Gedankenlosigkeit Anderer zu
kämpfen, die sie unfähig machte, seinen Gedanken zu fassen.
Wenn in einer bestimmten Beziehung ein neuer Gedanke
gefasst wird, hinsichtlich dessen man Jahrtausende hin-
durch gedankenlos gewesen ist, so kann die äußere An-
regung allerdings auch mit dazu beigetragen haben, und
es kann auf nicht darlegbaren besonderen Bedingungen
beruhen, dass eine bis dahin unbeachtet gebliebene
äußere Anregung endlich Beachtung gefunden hat, aber
das, was entscheidend eingegriffen hat, ist doch, dass
von innen heraus, durch einen mächtigen inneren Antrieb,
der bisherige Bann der Gedankenlosigkeit durchbrochen
worden ist.
Dass neue. Gedanken auf sich warten lassen, bis sie
entwicklungsgemäß sind, lässt sich mit mehr Sicherheit
aus der Entwicklung der Wissenschaft erkennen. Ich
greife nur heraus, was mir gerade nahe liegt. Es hat
erst des großen Denkers Kant bedurft, um den Bann der
Gedankenlosigkeit zu lösen, der den Gedanken nicht zum
Durchbruch hatte kommen lassen, dass das, was wir mit
unseren Augen sehen, nicht Dinge sind, die an sich und ohne
gesehen zu werden, so wären, wie wir sie sehen, sondern
dass unser Sehen uns nur zu Vorstellungen auf Grund
der uns zu Teil gewordenen Nervenreize gelangen lässt,
die wir uns gebildet haben, dass also alles, was wir
sehen, nur unsere eigene Vorstellungswelt ist, von der die
Dinge, wie sie an sich sind, und ohne gesehen zu sein,
unterschieden werden müssen. In der Schärfe wenigstens,
wie Kant es getan hat, haben vor ihm auch die scharf-
sinnigsten und tiefinnigsten Denker diesen Gedanken nicht
auszusprechen vermocht. Ist nun Kant etwa durch Zufall
darauf verfallen? Mit nichten! Er bekennt ausdrücklich,
aus seinem langjährigen „dogmatischen Schlummer" durch
Hume aufgeweckt worden zu sein und dadurch in seinem
Denken die Richtung bekommen zu haben, die ihn zur Ab-
Die Rede, ratio, Xoyoç.
149
fassung seiner „Kritik der reinen Vernunft" befähigte, in
der seine Unterscheidung von „Ding an sich" und „Er-
scheinung" eine so große Bedeutung hat. Der neue Ge-
danke Kants war durchaus entwicklungsgemäß, und
darum brach er sich in Kants Denken Bahn. Außerdem
hat er sich bei allen den Denkern Bahn gebrochen, für
deren Denken er entwicklungsgemäß war. Das ist er
aber bisher für das Denken unendlich vieler Menschen
noch nicht gewesen, und darum sind diese noch immer der
Meinung, dass das, was wir sehen, die „Dinge an sich"
sind, die, auch ohne dass wir sie sehen, so sind, wie wir
sie sehen. Ihnen können Kants Schriften noch zu einem
Gesundbrunnen für eine richtige Weltbetrachtung dienen.
Gibt es nach dem Bisherigen eine unvermeidliche Gedanken-
losigkeit, die ihren Grund darin hat, dass für Gedanken-
neubildungen die Gedankenentwicklung noch nicht so weit
gediehen ist, dass sie an der entwicklungsgemäßen Stelle
zum Durchbrach kommen können, so fällt es schwer ins
Gewicht, dass der Gottesgedanke außerordentlich früh zum
Durchbruch gekommen ist. Es muss demnach für ihn sehr
früh die entwicklungsgemäße Stelle gegeben gewesen sein,
während sie für andere Gedanken nicht da war. Wie
sehr ist z. B. selbst Kant noch gedankenlos darüber ge-
wesen, dass man an die Prüfung des Denkens, wie er sie
im Sinne hatte, mit geschichtlichem Sinne gehen
niüsse! Wie sehr fehlte ihm noch der geschichtliche Sinn!
Wie sein- übersah er es noch, dass unser gegenwärtiger
geistiger Entwicklimgszustand etwas Gewordenes ist,
dass unser gegenwärtiger geistiger Besitzstand auf einer
Entwicklung des Denkens beruht, und dass das Denken
Dicht recht gewürdigt werden kann, wenn man es nicht in
seiner Entwicklung begreift, und zwar sowol wie sie beim
einzelnen Menschen sich vollzieht und noch beobachtet
Verden kann, als auch wie sie sich in der Geschichte der
^ ölker vollzogen hat und durch entwicklungsgeschichtliche
Betrachtung erschlossen werden muss.
li*
150
Schulz.
Es gibt nun aber eine sehr unzeitgemäße Ge-
dankenlosigkeit. Ihrer machen sich die Einzelnen schuldig,
die sich zu Gedanken nicht haben aufschwingen können,
die bereits dem der Entwicklung gemäßen Gedankenkreise
angehören.
Einer solchen Gedankenlosigkeit machen sich nun die-
jenigen schuldig, die zum Zweck der Herleitung des Gottes-
gedankens es nicht beachten, dass sein Auftauchen nur
dadurch ermöglicht werden konnte, dass der Bann der
unvermeidlichen Gedankenlosigkeit durch das entwicklungs-
gemäße Denken durchbrochen wurde.
Man kann ein sehr denkender Mensch sein und doch
vor lauter Denken so gedankenlos sein, die Entstehung des
Gottesgedankens nicht daraus herzuleiten, woraus er her-
zuleiten ist.
Man kann als denkender Mensch die Herleitung aus na-
türlicher oder auch aus „positiver" Offenbarung als eine zu
äußerliche für veraltet und für durchaus nicht mehr zeit-
gemäß halten. Als denkender Mensch kann man auch die
Herleitung aus einer besonderen Fähigkeit zum. Gottes-
gedanken ablehnen und sagen, dass sie nichts erkläre,
ebenso die Herleitung aus dem „Kausalitätsbedürfnisse",
da das, was damit bezeichnet werde, gerade ein Hindernis
des Gottesgedankens gewesen sein würde, wenn es nicht
selbst der nur noch der Fassung bedürftige Gottesgedanke
gewesen wäre. Ebenso kann man sich als denkender Mensch
dagegen verwahren, dass überhaupt der Gottesgedanke aus
einer vereinzelten Quelle hergeleitet wird, und kann
doch so gedankenlos sein, sich mit der Herleitung aus dem
Denken überhaupt zu begnügen und keine Rücksicht
auf die Entwicklung zu nehmen, die der Mensch als
Ganzes durchzumachen hat.
Das ist ja freilich noch immer besser, als wenn man
eine besondere Fähigkeit zum Gottesgedanken annimmt
Das Wort „Fähigkeit" ist eine bloße Benennung für
etwas, was erst noch zu erforschen ist. Im gewöhnlichen
Die Rede, ratio, Xoyoc.
151
Leben ist der Gebrauch solcher bloßen Benennungen sehr
häufig, wogegen auch nichts einzuwenden ist. In der
Wissenschaft aber ist er bedenklich, wenn nämlich der
zur Bezeichnung einer gestellten Aufgabe ganz statt-
hafte Ausdruck im Handumdrehen so verwendet wird, als
wäre die Aufgabe bereits gelöst.
Soll das Wort „Fähigkeit" in Bezug auf den Gottes-
gedanken mehr sein als eine bloße Benennung einer erst
zu lösenden Aufgabe, so muss er besagen, dass eine be-
sondere innere Ausrüstung vorhanden sei, aus der der
Gottesgedanke gleichsam wie ein Naturgewächs ohne
Zutun des Menschen habe emporwachsen können.
Spräche man jetzt von „fähig" im Sinne des nihd.
vängec oder vengec, von ahd. fahan, fâhen, mhd. vahen,
vân, d. i. fangen, so würde man damit besagen, dass je-
mand die Tätigkeit des Fangens ausübt. Diese Tätigkeit
bedarf zu ihrer Vollziehung großer Aufmerksamkeit. Das
Wort hat also seinem ursprünglichen Sinn nach nicht zu
der Täuschung Anlass geben können, als brächten wir
Menschen eine Ausrüstung mit allerlei Fähigkeiten zu ver-
schiedenen Leistungen mit auf die Welt, von denen wir
höchstens Gebrauch zu machen hätten, die sich aber
eigentlich von selbst geltend machten. Von einer „Fähig-
keit" zum Gottesgedanken hätte man also eigentlich nur
in dem Sinne reden sollen, dass er auf der nachdrück-
lichen Aufnahme von etwas Dargebotenem beruht.
Nun ist man aber von der Urbedeutung des Wortes
abgegangen. Man hat aus der „Fähigkeit" eine Substanz
gemacht, wodurch der wahre Sachverhalt ins Unfassliche
hinübergespielt worden ist.
Wird Alles, was der Mensch zu Tage fördert, auf
Fähigkeiten als auf letzte unerkennbare und unerklärbare
Ergründe zurückgeführt, so steht hinter allen inneren
Vorgängen das eine Unerklärbare, und mit allen Er-
klärungen innerer Vorgänge ist so gut wie nichts er-
152
Schulz.
klärt, weil hinter jeder Erklärung sogleich die Unerklär-
barkeit der betreifenden Fälligkeit steht.
Dazu kommt nun noch, dass die landläufige Denk-
weise einen ganzen Haufen von Fähigkeiten angenommen
hat, und darunter solche, die nur wenigen auserlesenen
Menschen zu Teil werden. Von solchen hervorragenden
Fähigkeiten nahm man an, dass der Einzelne deren immer
nur wenige habe. Und gewiss hat Moltke nicht die Be-
rühmtheit gerade eines Mozart oder Beethoven, ein so
guter Klavierspieler er auch sein mag, und Bismarck nicht
die Berühmtheit gerade eines Schiller oder Goethe, so
viel Gedichte ihm auch in seinem Leben gelungen sein
mögen.
Wenn nun der Gottesgedanke auf einer substanziell
zu denkenden Fähigkeit beruht, was ists denn dann mit
ihr? Ist sie eine seltene? Waren es nur wenig auser-
lesene Menschen, die den Gottesgedanken hervorbrachten?
Haben die Uebrigen ihn sich nur angeeignet? Haben diese
etwa zu dieser Aneignung einer besonderen Fähigkeit be-
durft, oder reichte dazu eine allgemeine Fähigkeit schon
aus? Und reichte diese allgemeine Fähigkeit etwa auch
schon aus, um den Gottesgedanken überhaupt hervorzu-
bringen? Darauf muss man die Antwort schuldig bleiben,
wenn man durch die Annahme substanzieller Fähigkeiten
die Fragen überhaupt hinaufbeschwört.
Man fasse vielmehr doch die inneren Tätigkeiten
ins Auge. Diese lassen sich beobachten, wenn auch nicht
in dem Sinne, in welchem Wundt die Selbstbeobachtung
bestreitet. Sie bieten für die entwicklungsgeschichtliche
Betrachtung einen einheitlichen Entwicklungsgang dar.
Darnach kann der Gottesgedanke nicht aus einer beson-
deren „Fähigkeit", überhaupt nicht aus einer verein-
zelten Quelle abgeleitet werden, er ist vielmehr in seinem
Zusammenhange mit dem ganzen menschlichen Ent-
wicklungsgange aufzuhellen und es ist für ihn die ent-
wicklungsgechichtliche Stelle zu suchen.
Die Rede, ratio, Xoyoc,
153
Wird die Notwendigkeit der entwicklungsgeschicht-
lichen Betrachtung verkannt, so bleibt dem, welcher sowol
die Offenbarung, als auch eine besondere Fähigkeit zum
Gottesgedanken ablehnt, keine andere Herleitung des Gottes-
gedankens übrig als die aus dem bloßen Denken. Und
zwar wird er ihn entweder aus einer bestimmten Art
des Denkeos herleiten, nämlich aus dei' Ideenbildung, oder
aus dem Denken überhaupt.
Vor der letzteren Ableitung hat die erstere den Vor-
zug, dass bei ihr auf die großen Unterschiede im Denken
wenigstens einigermaßen Rücksicht genommen wird, wenn
auch nicht in dem Maße, als ein Eingehen auf das Wesen
der menschlichen Eede die Unterschiede im Denken kennen
lehrt. Von diesen großen Unterschieden ahnen alle Die-
jenigen nichts, die sich dadurch täuschen lassen, dass un-
sere G (danken ja doch in Worte gekleidet sind, die dem
ungeübten Blick nur allzuleicht als völlig gleichartig er-
scheinen. Und doch, wie verschieden sind sie! Da gibt
es Wörter, die Gesehenes bezeichnen, andere bezeichnen
Geholtes, wider andere Empfundenes, andere Gewolltes,
andere wieder bezeichnen nichts von alle dem, sie dienen
vielmehr nur dazu, die etwas bezeichnenden Wörter unter
einander zu verbinden oder von einander zu trennen, in
Folge dessen sie selbst im Vergleich damit Nichts be-
zeichnen. Wie verschieden sind nun doch jene Bezeich-
nungen! Gesehenes und Gehörtes wie verschieden ist es
von dem Gewollten und Empfundenen! Jenes beruht auf
miserai Verhältnis zur Außenwelt, dieses entspringt dem
inneren Leben. Und so Grundverschiedenes hat in Worten
ausgedrückt werden können, und dadurch ist auch das an
sich nicht Denkbare wie Wollen und Empfinden denk-
bar gemacht worden! Ja in der Tat, das in Worten
ausgedrückte und dadurch begreiflich gewordene Den-
ken ist nicht von einerlei Art, es ist sehr verschieden
geartet, und man hat den allerdringendsten Anlass, es sich
auf die zu Tage tretenden Unterschiede anzusehen.
154
Schulz.
Und ist schon das ein großer Unterschied, dass wir
einerseits Sichtbares, andererseits Unsichtbares, nämlich
Gehörtes, Gewolltes, Empfundenes denken, so ist der Unter-
schied noch viel größer, dass wir einerseits unsere eigene
Welt denken und andererseits auch über diese unsere
Welt widerum hinausdenken.
Und so denken wir denn nun ganz unsere eigene
Welt, wenn wir das in Worten ausgedrückte Gesehene,
Gehörte, Gewollte, Empfundene denken. Wenn wir aber
Gott denken, sodenken wir über unsere Welt hinaus.
Welch ein Unterschied also zwischen Denken und Denken!
Kant hat ihm durch die Unterscheidung zwischen Be-
griffen und Ideen einen Ausdruck zu geben gesucht.
In Begriffen denken wir nach ihm unsere Welt, in den
Ideen denken wir über dieselbe hinaus!
Ist es nun nicht etwa ganz in der Ordnung, wenn
man das vom begrifflichen Denken so grundverschiedene
Denken in Ideen auch ganz von jenem scheidet und damit
für den Gottesgedanken im Denken selbst eine besondere
Quelle annimmt? Ja, wenn man die Berechtigung dazu
nachweisen könnte! Aber nicht berechtigt ist es, wenn
man die Scheidung ohne Weiteres vornimmt. Wenn irgend
die Gedankenlosigkeit, die doch unleugbare Tatsache ist
in Betracht gezogen zu werden verdient, so ist es bei Be-
urteilung gerade der sogenannten Ideen unerläßlich. Es
muss gefragt und ernstlich erwogen werden, wie so der
Mensch, der oft so gedankenlos sein kann in dem, was ge-
sehen, gehört, gewollt, empfunden werden kann, dazu hat
kommen können, gleichsam aus der Rolle zu fallen, indem
er gerade darin, worin er eine allem Anschein nach am
allerersten entschuldbare Gedankenlosigkeit hätte begehen
können, nämlich nicht weiter zu denken, als seine Welt
reichte, seit den frühesten uns bekannten Zeiten über
eben diese Welt so entschieden hinausgedacht hat, und dass
dieses Hinausdenken über die Welt so früh die allgemeinste
Verbreitung gefunden hat. Wahrlich, das ist ein großes
Die Redo, ratio, Àoyoç.
155
Rätsel! Und ein solches löst man doch nicht damit, dass
man es einfach ungelöst lässt! Man löst es doch nicht
mit der bloßen Annahme, der Mensch habe nun einmal die
unüberwindliche Neigung, über die Welt hinauszudenken,
da müsse er es denn doch wol auch tun.
Dass man sich bei dieser Annahme beruhigt,, beruht
im Grunde ebenso auf Gedankenlosigkeit hinsichtlich der
Gedankenlosigkeit, wie die herkömmlichen Herleitungen des
Gottesgedankens aus dem Denken überhaupt. In dem letz-
teren Falle lässt man die Gedankenlosigkeit außer Acht,
indem man glaubt, äußere Erscheinungen oder innere Er-
fahrungen annehmen zu können, wodurch das Denken zur
Bildung des Gottesgedankens habe angeregt werden kön-
nen. Die Annahme einer besonderen Neigung zum Hinaus-
denken übei1 die Welt beruht darauf, dass die Tatsache,
dass nun einmal seit Jahrhunderten und Jahrtausenden
über die Welt hinausgedacht worden ist, dazu verleitet,
ohne Weiteres ein besonderes Bedürfnis dazu anzunehmen,
weil man ja selbst von frühester Jugend daran gewöhnt
worden ist, den Gottesgedanken für unentbehrlich zu halten,
und da man an die Macht der Gedankenlosigkeit leicht
gerade da am allerwenigsten denkt, wo man es am aller-
nötigsten hätte.
Und worin ist nun derjenige denkende Mensch ge-
dankenlos, der den Gottesgedanken einfach daraus herleiten
zu können meint, dass der Mensch doch überhaupt denkt?
Eben darum, weil er auf dieses Ueberhauptdenken
so viel gibt! Weil er nicht beachtet, dass das Ueberhaupt-
denken ein höchst mangelhaftes Denken sein kann! Weil
ihm völlig entgeht, dass aus dem Ueberhauptdenken nicht
verständlich gemacht werden kann, warum der Mensch
gerade dies und das denken konnte, und dass mit der
Tatsache, dass ein bestimmter Gedanke vorhanden ist, noch
nicht begreiflich wird, wie der Mensch vermöge des Ueber-
hauptdenkenkönnens gerade zu diesem Gedanken kommen
konnte! Kurz weil er über das Wesen des Denkens und
156
Schulz.
liber die Macht der Gedankenlosigkeit gedanken-
los gewesen ist!
Die Gedankenlosigkeit ist ein sehr wichtiger Gegen-
stand wissenschaftlicher Betrachtung. Sie ist außer-
ordentlich verbreitet in der Menschenwelt und spielt in
ihr eine äußerst einflussreiche Eolle. Sie ist es auch,
durch die es möglich wird, dass man meint, es sei, um die
Möglichkeit eines bestimmten Gedankens zu erklären, nichts
weiter nötig, als dass man sich darauf beruft, dass der
Mensch ja doch überhaupt denkt; dass man also nicht
daran denkt, dass das Denken ja doch eine Entwicklung
hat, dass also Gedanken, die erst auf einer bestimmten
Entwicklungstufe möglich sind, weil ihnen bis dahin die
Vorbedingungen fehlen, vorher eben nicht möglich sind.
Aus dem Denken ist der Gottesgedanke ja allerdings
zu erklären, denn er ist ja eben ein Gedanke. Aber es
fragt sich nun eben, da der Mensch nicht bloß ein den-
kendes, sondern auch ein wollendes Wesen ist, ob aus dem
bloßen Denken, ob aus dem bereits entwickelten Den-
ken, oder ob nicht vielmehr aus der gesamten Einheit
des menschlichen Wesens. 1st. Letzteres der Fall, so kann der
Gottesgedanke nur auf einem inneren Antriebe beruhen, der
die Entfaltung des ganzen menschlichen Wesens,
und zwar auch des Denkens bdingt. Ob das eine oder
das andere der Fall ist, das ist die außerordentlich wich-
tige Frage, deren Erwägung nicht unterlassen werden
darf, und deren Beantwortung so klar und überzeugend
als möglich ausfällen inuss. Entsprang der Gottesgedanke
dem entwickelten Denken, und entstammte er demnach
hauptsächlich dem Denken, warum tauchte er denn nun
nicht wie so viele andere Gedanken erst in einer ge-
schichtlich nachweisbaren Zeit und unter geschicht-
lich vorliegenden Gedanken Vorbedingungen auf? Diese
Frage verlangt doch wol dringend eine ernste wissenschaft-
liche Erwägung! Und wenn diese Gedankenvorbedingungen
nicht geschichtlich klar vorliegen, so sollte man doch we-
Die Rede, ratio, "koyoç,
157
nigstens den Versuch machen, sie aus dem Wesen des
P< nkens zu erschließen.
Versetze man sich doch auf die Stufe der ersten Ent-
wicklung der Menschheit, vergegenwärtige man sich doch
einen Zustand, wo mit der Sprachbildung eben erst be-
gonnen wurde, wo die sprachlichen Verhältnisse noch keim -
artige waren, wo eben erst Ansätze dazu gemacht waren.
Mochten da die Menschen noch so schaffensfreudig sein,
sie machten ja doch erst den Anfang, ihr Denken zu ent-
wickeln und ihren Gedanken einen sprachlichen und damit
begrifflichen Ausdruck zu geben. Es konnte da doch erst
eil) e Gedankenbildung auf die andere folgen, und es musste
dabei doch die eine Gedankenbildung die Vorbedingung für
andere sein, und diese konnten nicht eher vollzogen wer-
den, als bis die Vorbedingung für sie da war. Von der-
er,sten Gedankenbildung an sind alle folgenden solche ge-
wesen, durch welche bisher Nichtgedachtes zum ersten
Male gedacht worden ist. Gedanken, die uns jetzt völlig
geläufig sind, waren irgend einmal ganz neue Gedanken,
Gedanken von großer Tragweite, die auf die Weiter-
entwicklung des Denkens einen wesentlichen Einfluss hatten.
Eis ist doch gar nicht zu umgehen, dass eine Stetigkeit
und Folgerichtigkeit der Gedankenentwicklung um so
mehr anerkannt werden muss, als der ausschlaggebende
Grund der Gedanken- und Sprachbildang eine aus uner-
gründlicher Tiefe des menschlichen Wesens hervorbrechende
schaffende Macht ist.
Unter solchen Umständen ist es so gut wie nichts-
sagend, wenn man sich begnügt, den Gottesgedanken so
bloß im Allgemeinen aus dem entwickelten Denken herzu-
leiten und dabei anzunehmen, dass äußere oder innere An-
regungen dazu veranlasst haben, ihn zu bilden.
Wenn es heutzutage Leute gibt, deren Denk- und
Sinnesweise ganz auf das Sinnliche und auf das Irdische
gerichtet ist, die im eigentlichen Sinne des Wortes gottes-
vergessen sind, in denen der Gottesgedanke nur noch ein e
158
Schulz.
Erinnerung ohne Saft und Kraft ist, so ist daraus, dass
dieser eine Gedanke vertrocknen und verdorren konnte,
noch nicht zu schließen, dass der Gottesgedanke eine ganz
vereinzelte Stellung im Gedankenzusammenhange gehabt
hätte. Der einzelne Zweig, der an einem Baume ver-
trocknet, ist doch im Zusammenhange der Entwicklung
des Baumes da gewachsen, wo er sich befindet. Es
darf also nicht gefolgert werden, dass der ganze Gedanken-
kreis, der nach Verdorrung des Gottesgedankens noch le-
bendig bleibt, sich ebenso hätte bilden können, wenngleich
die Menschheit nie zum Gottesgedanken gelangt wäre.
Der Gedankenkreis, den sich jetzt der Einzelne gebildet
hat, ist aus Gedanken zusammengefügt worden, unter
denen viele nur angeeignet, nicht originell gebildet worden
sind. Auch diese Aneignung ist mit einer gewissen Stetig-
keit erfolgt, aber die Stetigkeit der Aneignung ist nicht
dieselbe wie die Stetigkeit der Neubildung. Und ist der
Gottesgedanke von einem Menschen nur oberflächlich und
halbherzig angeeignet, so kann es wol geschehen, dass er
in ihm verdorrt, während andere Gedanken in Kraft und
Saft bleiben.
Es ist nun also geradezu nichtssagend, wenn man den
Gottesgedanken, ohne seine entwicklungsgeschichtliche Stelle
nachzuweisen, ganz einfach aus der äußeren Anregung
durch Vorgänge in der Sinnenwelt (namentlich Himmels-
erscheinungen) erhebende oder erschreckende, und aus dem
Streben nach Wolfahrt, auch wol „Egoismus" genannt, her-
leiten will. Namentlich wird da auch auf die erschreckende
Wirkung gewaltiger Naturereignisse großes Gewicht gelegt.
Diese konnten aber unter Umständen gar nichts als allenfalls
das Gefühl der Ohnmacht und Hiilfslosigkeit hervorrufen.
Waren nicht entwicklungsgeschichtliche Vorbedingungen
für den Gottesgedanken da, so konnten jene Ereignisse
doch nicht ohne Weiteres das Gefühl oder auch die Ein-
sicht der Ohnmacht und Hülfslosigkeit in den Gottesge-
danken umsetzen. Sie konnten Ratlosigkeit erzeugen, ein
Die Rede, ratio, Xoyoç.
159
Wissen von einem Nichtwissen, ein Wissen davon, dass
man keinen Rat wusste, oder sie konnten zum Nachdenken
darüber reizen, wie man sich schützen könne. Will man
min dazu noch ein „Kausalitätsbedürfnis" annehmen, so ist
das ebenfalls so lange nichtssagend, als nicht dessen ent-
wicklungsgeschichtliche Stelle bestimmt, und ihr Verhältnis
zu der des Gottesgedankens angegeben wird. Für sinn-
liche Erscheinungen sucht das „Kausalitätsbedürfnis" Ur-
sachen doch nur innerhalb der Sinnenwelt. Und wenn
es Ursachen außerdem auch in der Menschenwelt sucht,
so ist damit doch noch nicht im mindesten erklärt, wie es
bei der ihm eigenen Art nun dazu kommen soll, auch
außerhalb der Sinnen- und der Menschenwelt Ursachen zu
suchen. Damit wird dem „Kausalitätsbedürfnis" ohne
Weiteres eine Ruhe- und Rastlosigkeit im Denken zuge-
schrieben, die nicht im geringsten als in seinem Wesen
begründet, vielmehr nur als ihm angedichtet erscheint.
Dieses Andichten wird durch die Unklarheit möglich, die
in dem Ausdruck „Kausalitätsbedürfnis" liegt. Unser
Denken ists, das nach Ursachen sucht. Oder, noch
genauer ausgedrückt, wir baben in unserm Denken
einen „Kausalitätsbegriff", der uns anleitet, nach den
Ursachen zu forschen. Nun liegt in dem Ausdruck
„Kausalitätsbedürfnis" die Unklarheit, dass damit
dem Denken als solchem ein solches Bedürfnis
zugeschrieben wird. Hätte das Denken als solches
dieses Bedürfnis, so würde es mit seinem Suchen nach
Ursachen immer innerhalb der Sinnen- oder Men-
schenwelt geblieben sein. Ein Bedürfnis, darüber hinaus-
zugehen hat aber vielmehr der Mensch, und zwar in der
Einheit seines ganzen W7esens. Und eben daraus entspringt
es5 dass das Denken im Stande gewesen ist, über die
Sinnen- und Menschenwelt hinauszudenken.
Das ist aber nur die Folge davon, dass das Denken in
•Kraft des Bedürfnisses, das in der Einheit des ganzen mensch-
lichen Wesens begründet liegt, von Anfang seiner Entwick-
160
Schulz.
lung an bei jedem Fortschritt derselben über sich selbst
hinausgedacht hat. Dass auf diese ganz hervorstechende
Eigenart des menschlichen Denkens in ihrem schneidenden
Gegensatz zu der ebenso hervorstechenden Eigenart des-
selben, der Gedankenlosigkeit, recht aufmerksam geachtet
wird, das ist für die richtige Würdigung des Denkens und
für die richtige Beurteilung des Gottesgedankens ganz
unerlässlich.
Gedankenneubildungen zu bieten, ist jetzt nur Sache
innerlich besonders angeregter Menschen. Die meisten Men-
schen bewegen sich jetzt am liebsten innerhalb der schon vor-
gefundenen Gedankenwelt. Es ist in Zeiten einer hochent-
wickelten Kultur ja schon ungeheuer schwierig, sich in dieser
Gedankenwelt zurechtzufinden und heimisch zu machen. Man
könnte eine ganze Keilie von Menschenaltern damit aus-
füllen, um unter Anwendung des allerangestrengtesten
Fleißes sich das anzueignen, was das Denken der früheren
Geschlechter in solcher Weise hervorgebracht hat, dass es
wert ist, von den Nachkommen wider durchdacht und ent-
weder gesiebtet oder angeeignet zu werden. Man kann
ein wahrhaft erstaunliches Wissen besitzen und sich doch
mit völliger Genügsamkeit darauf beschränken, sich das
anzueignen, was die Welt bereits weiß, und kann darauf
verzichten, neue Erkenntnisse herbeizuführen. Es gehört
ein ganz entschiedener innerer Antrieb dazu, um darnach
zu streben, dass der schon so ungeheuer umfangreiche
Kreis des Wissbaren noch erweitert werde.
Es gehört jedenfalls auch schon ein sehr entschiedener
innerer Antrieb dazu, wenn jemand, ohne einem äußerem
Zwange unterworfen zu sein, sich veranlasst sehen soll,
den engen Kreis seiner Gedankenwelt zu erweitern und
aus bloßem Wissensdurst nach Aneignung dessen, was
erlernbar ist, zu streben.
Aber die Entwicklung des Denkens ist immer nur da-
durch zu Stande gekommen, dass das Denken über sich
selbst hinaus zu denken vermochte. Wie hätte wol sonst
Die Rede, ratio, Xoyo?,
161
die Sprachbildung stattfinden können! Es musste über
jede bisher gewonnene Vorstellung dasjenige, was von ihr
ausgesagt werden sollte, gedacht werden, es musste also
liber sie hinausgedacht, und es mussten lautliche Zeichen
für die Aussage geschaffen werden. Noch jetzt muss das
Kind, das sprechen lernt, über die bisher gewonnenen Vor-
stellungen hinaus denken, um zu wissen, wie es das anzu-
fangen hat, was es zum Erlernen der Sprache zu tun hat.
So schwer es uns nun auch wird, uns von der Ge-
wohnheit zu entwöhnen, dass wir es fast als eine selbst-
verständliche Sache ansehen, dass das menschliche Denken
liber seine Sinnen weit hinausdenken kann, wie es das ja
tatsächlich im größten Umfange tut, um so schwerer sollte
in unserer Schätzung die Tatsache wiegen, dass das Den-
ken diese ans Wunderbare streifende Tat so leicht und
mühelos vollbringt, dass wir uns leicht einbilden können,
es verstehe sich dies eigentlich ganz von selbst.
Das ist nun für die Ermittlung der entwicklungsge-
schichtlichen Stellung, die wir dem Gottesgedanken zuzu-
erkennen haben, von größter Bedeutung. Beruhte schon die
Sprachbildung und mit ihr die Ausbildung des begrifflichen
Denkens auf einem innerem Antriebe, der das Denken ver-
anlasste, über seine dermalige Entwicklungsstufe hinaus-
zudenken, so musste es erst recht auf etnem tiefinneren
Autriebe beruhen, dass Menschen zum ersten Male über
ihre ganze sinnliche Begriffswelt hinausdachten, indem sie
die begriffliche Fassung des Gottesgedankens hervor-
brachten. Und darum ksnn das begriffliche Denken nicht
die letzte Quelle sein, aus welcher der Gottesgedanke
stammt, die Schaffung dieses begrifflichen Den-
kens kann vielmehr nur als eine Vorstufe zur be-
grifflichen Fassung des Gottesgedankens ange-
sehen werden. Es ist daher nicht der geringste Grund zu
(|er Annahme vorhanden, dass die Menschen erst eine lange
¿eit durchlebt hätten, ehe sie auf die begriffliche Fassung des
^ottesgedankens verfallen wären. Man hat aber auch
162
Schulz.
keinen Grand, großes Gewicht darauf zu legen, dass diese
Fassung schon in den allerfrühesten Anfängen erfolgt ist.
Eben so wenig hat man Anlass, die Tatsache, dass, wie
es bei Oscar Pescliel heißt, „mit der Annäherung an den
Naturzustand immer mehr und mehr geglaubt wird", nur
mit wegwerfenden Ausdrücken wie „Herschaft des Un-
glaubwürdigen", „Gebilde der Imagination" zu deuten.
Wenn es sich darum handelt, den geläuterten Gottes-
gedanken mit demjenigen zu vergleichen, wobei das Denken
halb in der Sinnenwelt stecken geblieben ist. wenn es sich
also um die richtige Fassung des Gottesgedankens
handelt, dann kann man wol von „kindischer Gespenster-
furcht" vom Standpunkte der geläuterten Fassung aus
reden. Handelt es sich aber um die entwicklungs-
geschichtliche Würdigung des Gottesgedankens, so
muss schon der erste Anfang der Ausbildung desselben als
eine bedeutsame Tatsache gewürdigt werden.
Denkt das Denken nicht über sich hinaus, so hat es Ge-
danken iiur für das, was im Bereich seiner Sinnenwelt liegt,
im Uebrigen ist es gedankenlos. Das besagt für den,
welcher den lebendigen Gottesgedanken gehabt hat, ihn
aber hat verdorren lassen, sehr treffend der biblische Aus-
druck „GottesVergessenheit". Der in sein sinnliches Denken
festgebannte Mensch nimmt seine Sinnen weit, wie sie ist,
begnügt sich damit, sich in ihr zu betätigen, und hat
kein Interesse daran, sich über sie weitere Gedanken zu
machen und etwa nach ihrem und seinem eigenen Ur-
sprünge zu fragen. So wie ihm darüber auch nur eine
Frage aufgeht, so hat sein Denken über sich selbst hinaus-
gedacht. Uns erscheint dieses Hinausdenken als durchaus
leicht und einfach, weil wir dazu erzogen und daran ge-
wöhnt sind.
Um sich dieser Gewohnheit zu entwöhnen und zu er-
messen, was es auf sich hat, wenn das Denken über sich
hinausdenkt, frage man sich, was alles folgerichtiger Weise
aus unserer Gedankenwelt ausgetilgt werden müsste, wenn
Die Rede, ratio, Xóyo;.
163
wir unser Denken in sich selbst wollten festgebarmt sein
lassen, und welches Interesse an der Sinnenwelt übrig
bleiben würde. Es fehlt ja nicht an Menschen, an denen
man darauf bezügliche Studien machen könnte, sofern sie
nämlich wenigstens leidlich folgerichtig verfahren, womit man
schon zufrieden sein muss, da es schwerlich einem Menschen
gelingen wird, in dieser Beziehung in völliger Ueberein-
stimmung mit sich stumpfsinnig zu werden für alles, was
nicht Sinnengenuss ist.
Wer den Gottesgedanken bloß aus dem entwickelten
Denken, aus einer schon vorhandenen Begriffswelt herleiten
will, der muss entwicklungsgeschichtlich verfahren, er muss
nachweisen, dass die Menschen, nachdem die Sprach- und
Begriffsbildung bis zu einem gewissen Punkte zu Stande ge-
bracht war, dann erst an einem ganz bestimmten Punkte
ihrer geschichtlichen Entwicklung zum Gottesgedanken ge-
langt seien. Dann hat er aber die Pflicht, diesen Punkt
nachzuweisen.
Zu diesem Nachweise würde auch die Darlegung nötig
sein, auf welchem inneren Antriebe es beruht hat, dass
die Menschen nicht bloß den Anregungen auf die Sinnen-
nerven entsprochen und die Sinnen Wahrnehmungen ausge-
bildet, sondern auch ohne solche Sinnenreize eine Be-
griffswelt geschaffen haben, in der sich auch solche
Begriffe befinden, die nur dazu dienen, rein formell die
Beziehungen der materiellen Begriffe zueinander auszu-
drücken. Wer den zwingenden Antrieb gerade zu dieser
Begriffsbildung nicht dartun kann, darf sich nicht einbil-
den, dartun zu können, wie weit die Begriffsbildung vor
sich gegangen sein inusste, bis ein Bilden des Gottesgedankens
möglich war. Um Letzteres nachweisen zu können, müsste
man nachzuweisen im Stande sein, kraft welcher rein
menschlichen Nötigung es zu einem Denken und Sprechen
kommen mus s te, und zwar zunächst zu einem solchen,
bei welchem noch jede Gottesahnung ausgeschlossen ge-
Zeitachrift für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. XIX. 2. 12
164
Achelis.
wesen wäre, dann zu einem solchen, wo sie hervortreten
konnte.
Ein solcher Nachweis ist aber unmöglich. Wer ihn
zu unternehmen versuchte, würde es auf Grund seiner Ver-
kennung des Denkens tun, uud sein Versuch müsste miss-
lingen. Um das Denken nicht zu verkennen, muss man
zweierlei an ihm zu würdigen wissen, erstlich dass es in
sich selbst festgebannt sein kann, in welchem Falle es
gedankenlos ist für alles, was nicht innerhalb der be-
treifenden Entwicklungsstufe liegt; sodann dass es doch
über sich hinausdenken kann, so dass es an die Stelle
jener Gedankenlosigkeit Gedankenneubildungen treten lassen
kann.
Dass es zu diesem Durchbrechen der Gedankenlosig-
keit kommt, dazu muss schlechterdings ein innerer An-
trieb vorhanden sein, und es ist eine hochwichtige Auf-
gabe, diesem Antriebe nachzuforschen.
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
Von Dr. Ths. Achelis.
Die folgenden Zeilen sollen nicht eine detaillirte Cha-
rakteristik des seltenen Mannes enthalten, der am Rüst-
tag seines Lebensabends, aber immer noch schaffenslustig,
gegen Ende des vorigen Jahres an der Stätte seiner lang-
jährigen Wirksamkeit zu Leipzig die Augen schloss, son-
dern nur in kurzen Zügen das Bild dieser originellen Per-
sönlichkeit entwerfen, sofern es in einer positiven Darstell-
ung seiner Arbeiten sich zeichnen lässt. Ich kann hier
deshalb nur beiläufig auf die eigentümliche Mischung der
verschiedenartigsten, auf den ersten Blick sich widerspre-
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
165
eilenden Elemente hinweisen, welche sich in dem Begründer
der Psychophysik, in Gustav Theodor Fechner, zu einer
ungetrübten Harmonie vereinigten. Ausgezeichnet durch
eine Fülle persönlich liebenswürdiger Eigenschaften, voll
des sprudelnsten, bisweilen auch vernichtenden Humors,
dabei von einer fast kindlichen Bescheidenheit und Anspruchs-
losigkeit, kühn und unbeirrt durch das Geschrei der Menge
in seinem wissenschaftlichen Auftreten und doch frei von
jeder leidigen Animosität, welche den Gegnerin Ermangelung-
sachlicher Gründe moralisch zu verdächtigen sucht, ein
nüchterner, exaeter Naturforscher in der harten Schule des
Experiments herangebildet und auf der anderen Seite wie-
der eine fast schwärmerisch-mystische Natur, begabt mit
tiefer lyrischer Empfindung, endlich ein philosophischer Kopf
ersten Ranges, der während seines langen Erdenwallens
den Sturz mancher hochfliegender Systeme erlebt und doch
nicht an einer endgültigen Versöhnung zwischen unseren
Idealen und den Principien unserer Erkenntnis verzweifelte,
repräsentirt er schon in seiner individuellen Entwicklung
ein höchst bedeutsames Stück unserer Zeitgeschichte, eine
Spanne von über 80 Jahren, die in unserem schnellleben-
den Jahrhundert immerhin etwas bedeutet. Aber wie gesagt,
wir widerstehen der lockenden Versuchung, diese rein per-
sönlichen Bezüge weiter zu verfolgen und zu einem ab-
schließenden Gemälde zu vereinigen, sondern wir begnügen
uns damit, lediglich die wissenschaftliche Bedeutung
Fechners, möglichst in objectiver, durch keine Beurteilung
unsererseits getrübten Darstellung zur Anschauung zu
bringen. Beginnen wir mit dem psychologischen Unter-
hau des Systems.
Die neuere Naturforschung hat sich nach längerem
Kampf mit der verhassten Philosophie dahin geeinigt, dass
unser Weltbild aus der unausgetzten Wechselwirkung äu-
ßerer Reize mit unserem Bewusstsein oder unserer Seele
sich zusammensetze, und dass sodann derselbe Vorgang bei
den Tieren, mindestens bei den höher organisirten voraus-
12*
166
Achelis.
gesetzt werden ratisse; die Tierseele, vordem ein mytho-
logischer Begriff gelegentlich mit komischem Beigeschmack,
wurde jetzt ein Gegenstand ernsthafter philosophischer Er-
örterung. Trotzdem die Tierpsychologie auch heutigen
Tags (abgesehen von einzelnen wertvollen monographischen
Darstellungen) das Stadium gewisser fadenscheiniger Ana-
logien und unzutreffender Verallgemeinerungen noch kaum
überwunden hat, dürfte der Satz, dass die Empfindung
eine durchgängige Erscheinung des ganzen animalischen
Lebens sei, wohl auf widerspruchslose Annahme rechnen.
Diese Tatsache knüpft sich bekanntlich an das Dasein und
die Wirksamkeit der Nervenstränge und je mehr diese
Fasern unserem Blicke bei den niederen Vertretern des
Tierreichs entschwinden, desto weniger scheint geistiges
Leben sich zu regen. So wenig Fechner dies Verhältnis
für die animalische Welt bestreitet, so heftig protestirt
er dagegen in einer absoluten Fassung. Zunächst bezieht
er sich auf die Polypen. Ich will nicht in Anschlag bringen,
dass in manchen niederen Tieren, insbesondere den Poly-
pen, denen Empfindung und willkürliche Bewegung beizu-
legen bisher noch Niemand Anstand genommen, bisher auch
noch keine Nervenstränge haben entdeckt werden können.
Unstreitig würde man entgegnen: sie werden schon noch
einmal entdeckt werden; sie sind nur zu fein, durchsichtig,
vereinzelt, als dass es bis jetzt gelungen wäre. Es mag
wirklich so sein! Ich habe weder Grund noch Interesse
es zu bezweifeln. Dieselbe Ausflucht stünde dann auch
bei den Pflanzen offen; aber ich bin weit entfernt, sie zu
gebrauchen; es bedarf ihrer nicht; die Ansicht, dass bloß
mittelst Nerven Empfindung möglich sei, beruht überhaupt
nur auf einer willkürlichen Hypothese oder dem Fehl-
schlüsse: weil Nerven bei Tieren zur Empfindung nötig
sind, sind sie überall dazu nötig. Was kann man dagegen
haben, wenn ich den anderen Schluss entgegensetze: weil
die Pflanzen keine Nerven zur Empfindung haben, werden
sie etwas Anderes dazu haben. Ein Schluss ist soviel wert
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
167
als der andere, d. h. keiner taugt für sich etwas; es kommt
darauf an, wie man ihn ferner stützen kann. (Nanna oder
über das Seelenleben der Pflanzen S. 48). Welches sind
nun diese weiteren Stützen, welche den anmutigen Traum
einer mythologischen Phantasie zu einer wissenschaftlich
erprobten Wahrheit machen können? „Wir sehen, dass
Atmen, Säftelauf, Stoffwechsel, Ernährung in den Tieren
nur mit Hülfe von Nerven, den sog. G an gli en nerven, von
Statten gehen; in den Pflanzen gibt es keine solche Ner-
ven; doch geht Atmen, Säftelauf, Stoffwechsel, Ernährung
noch so gut als im Tier von Statten; ja es besteht, wie
man meint, das ganze Leben der Pflanze eben nur darin.
Kann aber die Pflanze ohne Nerven atmen und sich ernäh-
ren, warum nicht auch empfinden? Man sieht eben
iiier auf das deutlichste, ja unwiderleglich, dass in den
Pflanzen Vieles in andere Mittel gelegt ist, was bei den
Tieren in Nerven-Wirksamkeit gelegt ist. Den Pflanzen
gehen freilich, außer den Ganglien-Nerven, auch noch die
Gehirn- und Rückenmarks-Nerven (Cerebrospinalnerven)
ab, und nur an die Tätigkeit dieser pflegt man die Seelen-
tätigkeit geknüpft zu halten; aber geht in den Pflanzen
ohne Ganglien-Nerven etwas Sichtbares vor, was bei
Tieren nur mit Ganglien-Nerven vor sich geht, warum
sollte nicht auch ohne Cerebrospinalnerven etwas Unsicht-
bares in ihnen vor sich gehen können, was bei Tieren nur
mit solchen vor sich geht?" (a. a. 0. S. 44). Dieser Ge-
sichtspunkt wil d sodann für die Physiologie der Pflanzen
näher ausgeführt; in derselben Weise wie die Nerven Trä-
ger und Leiter geheimnissvoller immaterieller Wirkungen
sind, vollzieht sich dasselbe Spiel bei diesen niedrigsten
Vertretern des organischen Lebens. „Wir wissen zunächst
gar nicht, wie die Pflanze das macht, mit ihrem verhält-
nissmäßig einfachen Zellenbaue Stärkemehl, Zucker, Gerb-
stoff, die verschiedensten Säuren etc. aus unorganischen
Stoffen zu erzeugen; jede Pflanze erzeugt etwas Anderes
mit einem anderen Bau, ohne dass wir jedoch irgend ivie
168
Achelis.
begreifen können, wie die andere Anordnung- von Zellen,
Fasern, Röhren dies bewirken könne: ein sicherer Beweis,
dass liier eben noch etwas mehr als bloß Fasern, Zellen,
Röhren wirksam sind. Dass nun dies Mehr wirklich we-
nigstens mit in einem feinen unwägbaren Agens liege,
dafür spricht der Umstand, dass schon bei den gewöhn-
lichen chemischen Erscheinungen, die außerhalb des Orga-
nismus von Statten gehen, ein solcher mit im Spiele ist;
Elektricität wird dabei teils erzeugt, teils wirkt die er-
zeugte auf den chemischen Prozess zurück; und so wird
es keine Schwierigkeit haben, vielmehr die größte Auf-
forderung vorliegen, auch bei den ungewöhnlichen chemi-
schen Erscheinungen in den Pflanzen ein solches vorauszu-
setzen, das oder dessen Spiel nur ebenso von dem Agens
oder Spiel, das die gewöhnlichen chemischen Erscheinungen
beherscht, sich unterscheiden mag, als beiderlei Erschei-
nungen selbst sich von einander unterscheiden. Ist doch
Grund zu glauben, dass auch die Erzeugung des Nerven-
Agens, welcher Natur es immer sein mag, in den Tieren
mit den darin vorgehenden chemischen Processen zusammen-
hängt, sowie darauf zurückwirkt, so dass die Stuctur und
Anordnung des Nervensystems nur für die Verteilung und
Verbreitung desselben von Bedeutung erscheint." Da aber
die ganze Hypothese einer solchen mystischen Kraft in den
Nerven immerhin noch gewissen Zweifeln unterworfen ist,
so will Fechner diese Beziehung lieber ganz aus dem Spiel
lassen und stützt seine Ueberzeugung durch folgende Be-
trachtung. „Statt hierbei Voraussetzungen von Etwas zu
Grunde zu legen, wovon wir gar nichts wissen, wäre es
jedenfalls am besten, von Erfolgen rückzuschließen, die
deutlich vor Augen liegen. Wir sehen doch ganz geordnete
Erfolge in den Pflanzen. Die Säfte laufen in bestimmter
Richtung, die Blüte steigt nach gewissen Regeln über der
Pflanze auf, die Blätter setzen sich nach gewisser Regel
im Umfang an; gewisse Zellenreihen füllen sich ordnungs-
mäßig mit diesen, andere mit jenen Stoffen; man betrachte
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
169
auf manchem bunten Blütenblatt die ganz regelmäßigen
Zeichnungen, welche beweisen, dass die farbigen Säfte ganz
bestimmte Wege nehmen, oder die Farbenprocesse sich in
ganz bestimmter Weise specialisiren. Alles das spricht doch
jedenfalls für ein geordnetes Spiel von Kräften, mögen
diese Kräfte und ihre Träger heißen wie sie wollen; die
Pflanze gibt darin dem Tier nichts nach; auch befolgt jede
Pflanze eine andere Ordnung als die andere, wie jedes Tier
mit anderem Nervensystem, ungeachtet die Pflanze über-
haupt keines hat. Also anstatt von Abwesenheit der Nerven
auf Mangel an Ordnung der in der Pflanze waltenden Kräfte
wie sie auch heißen mögen, zu schließen, sollte man um-
gekehrt von dem Dasein der Ordnung auf ordnende Be-
dingungen dieser Kräfte schließen, und es sich dann nicht
anfechten lassen , dass man diese doch noch nicht des Nähe-
ren kennt.1) Nur einen Beweis unserer Unwissenheit, nicht
ihrer Abwesenheit kann man darin sehen." (a, a. 0. S. 47).
Auch hinsichtlich der für das animalische Leben so über-
aus bedeutsamen Factoren des Instincts glaubt unser Ge-
währsmann bei den Pflanzen eine stricte Analogie nach-
weisen können. „Wir nennen es Instinct, was jedes Tier
lehrt, seine Bewegungen so einzurichten, dass seine rechten
Lebensbedingungen ihm zu Gute kommen, wir wissen nicht,
in welcher Weise lehrt. Was haben wir anders als alle
äußeren Erscheinungen eines Instincts in jenen Bestrebungen
der Pflanzen? Ein jedes Tier handelt anders in Folge
seiner Instincte, weil ihm Anderes dient; auch jede Pflanze
tut's. Ich bringe noch einige Beispiele. Alie Pflanzen,
die in dei1 Erde wachsen, treiben ihre Wurzeln gerade
abwärts; die Mistel bindet sich nicht an diese Notwendig-
1 Damit man die obige Beweisführung gehörig würdige, ja
damit man sie richtig verstehe, erlaube ich mir hier daran zu er-
innern , dass nach Fechner nicht an eine atomistische oder monadische
Seele gedacht werden darf, wie weiter unten ausführlich dargelegt
wird. St.
170
Achelis.
keit. Wozu diente es ihr auch? sie wurzelt auf andereu
Bäumen, und zwar nicht bloß auf der Oberseite, sondern
eben so gern an den Seitenflächen oder der Unterseite der
Aeste ein, in welchem Falle es ihr sogar nötig werden
kann, die Wurzel aufwärts zu treiben. Und so tut sie's
auch, indem sie, wie immer die Oberfläche des Astes ge-
richtet sein mag, ihr Würzelchen senkrecht dagegen treibt.
Ja hängt man ein Mistelkorn an einem Faden in einer
Linie Entfernung zur Seite eines Astes auf, so spürt das
Würzelchen sogar aus dieser Ferne, wo der Ast ist, und
richtet sich dagegen, rechts oder links, je nachdem der
Ast steht. Freilich wächst es nun auch senkrecht gegen
eine WTand von Stein oder Eisen, in der es doch keine
Nahrung findet, und säet man Mistelkörner über die
Oberfläche einer eisernen Kugel, streben sie alle mit den
Würzelchen nach deren Centrum, als könnten sie in dieser
Eichtling finden, was ihnen dient. Ihr Instinct täuscht
sie hier. Aber ist das anders, als wenn die Henne Eier
von Marmor ausbrüten will und die Wachtel der Vogel-
pfeife statt dem Ruf des Weibchens folgt? Der Instinct
ist überall daran gebunden, sich durch physische Einwir-
kungen leiten zu lassen und nach Umständen also auch da-
durch täuschen zu lassen. Unstreitig weiß das Mistel-
würzelchen den Ast, die Wand aus der Ferne überhaupt
nur dadurch zu finden, dass Luft und Feuchtigkeit und
Licht und Wärme jetzt von dieser Seite her anders ein-
wirken als von der anderen; daher es bei zu großer Ent-
fernung sie auch nicht mehr findet. Im Allgemeinen und
im Durchschnitt der Umstände wird der Instinct doch rich-
tig durch diese Einwirkungen geleitet, weil seine Einrich-
tung darauf berechnet ist, aber wie überall bei allgemein
zweckmäßigen Einrichtungen kann in einzelnen Fällen,
wo die normalen Umstände sich verkehren, auch einmal
eine Unzweckmäßigkeit daraus entstehen." (8. 113). Um
diesen Erwägungen endlich wenigstens einen vorläufigen
Abschluss zu verleihen, so erwähnen wir die Bedeutsam-
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
171
keit. des Lichtes für die Pflanzen. „Wie viel mehr Be-
deutung das Licht für die Pflanzen haben mag, als für uns,
ergibt sich, außer der Richtung, die sie gegen dasselbe
annehmen, namentlich daraus, dass es so viel mächtiger in
ihren ganzen Lebensprocess eingreift, als den unseren.
Wir wachsen nicht anders, wir atmen nicht anders im
Licht als außer dem Licht. Spurlos und wirkungslos gleitet
dei' Sonnen strai über unserer Haut hin, nur das Auge ist
für seinen Eeiz empfänglich. Aber die Pflanze spürt liber
ihre ganze Oberfläche hin den Reiz des Lichts, wie den
Mangel dieses Reizes. Er ist es, der'sie ergrünen, er ist
es, der sie erblühen macht; denn ohne Licht bleibt alles
Kraut fahl, will keine Blüte sich entfalten. Ohne Licht
stockt ihre Ausdünstung, das Kraut hört auf Lebenslust
von sich zu geben, die Sprossen werden schmal und lang
und bleich; statt kräftig herber und bittrer Stoffe erzeugen
sich nur faule und süßliche. Jeder andere Farbenstrahl
hat anderen Einfluss auf den Lebensprocess der Pflanzen."
(S. 76). Oder wie Fechner diesen Process noch lebhafter
schildert: „Statt ein buntes Bild der Gegenstände auf sich
malen zu lassen, wie auf unserer Netzhaut geschieht, malt
sie sich selbst bunt im Sonnenstral, verleiblicht diesen, so
zu sagen, in sich. Licht wird Pflanze; sie zwingt ihm
Farbe ab, es kocht in ihr Nektar und Duft; es gärt, es
schwillt Alles in ihr; sie entbrennt in ihm zu einem er-
höhten Gefühl ihres eigenen durchleuchteten Daseins, und
wird hierin zugleich die Wirkung eines Höchsten über
sich inné." (S. 73). Und dies Gesammtbild einer unauf-
hörlichen Tätigkeit des Pflanzenorganismus spiegelt sich
sehr schön in folgenden abschließenden Worten wieder:
„Ueberblicken wir einmal im Zusammenhange den ganzen
Lebenskreis der Pflanzen, wie die Säfte in ihr so regsam
quellen, wie es sie drängt Augen und Zweige zu treiben
und rastlos an sich selber zu gestalten, wie sie mit der
Krone gen Himmel und mit der Wurzel in die Tiefe
trachtet, selbstmächtig, ohne dass sie Jemand dorthin zöge
172
Ach élis.
oder ihr den Weg dahin wiese, wie sie den Frühling mit
jungen Blättern, den Herbst mit reifen Früchten grüßt,
einen langen Winter schläft und dann von frischem zu
schaffen beginnt, im Trocknen die Blätter hängt und in
der Frische sie aufrichtet, sich am Tau erquickt, als
Schlingpflanze umherkriecht, die Stütze zu suchen, wie die
Blume erst in der Knospe still verborgen ruht und dann
ein Tag kommt, wo sie sich dem Licht öffnet, wie sie
Düfte auszuströmen beginnt und im Wechselverkehr mit
Schmetterlingen, Bienen und Käfern tritt, wie das Ge-
schlecht in ihr rege wird, sie Morgens sich auftut, des
Abends oder vor dem Regen sich schließt, dem Lichte zu-
wendet, — und es deucht mich, dass es uns doch schwer
fallen sollte, diesen ganzen schwellenden und quellendenr
an innerem und äußerem Wechsel so reichen Lebenskreis
vergeblich oder leer für die Empfindung zu denken" (S. 60).
So sehen wir uns zu einer Ansicht zurückgeführt, die
wir sonst nur in den farbenprächtigen Bildern der griechi-
schen Mythologie und Poesie zu finden gewohnt waren, und
deren Erneuerung mithin auf streng wissenschaftlichem
Felde uns auf den ersten Blick sehr wenig anmuten will.
Dennoh müssen wir uns entschließen, wollen wir nicht
ungerecht gegen die liier entwickelte Lehre sein, und liegt
uns daran, sie in vollem, organischem Zusammenhang zu
erfassen, diese anscheinend pantheistischen oder hylozois-
tischen Sätze mit der eigentlich grundlegenden naturwissen-
schaftlichen Ueberzeugung unseres Gewährsmannes in Be-
ziehung zu setzen, damit nicht beide Elemente völlig halt-
los neben einander schweben, auf der einen Seite die Welt
des subjectiven Glaubens, auf der anderen die der exacten,
inductiven Erfahrung. Zunächst ist die schrittweise Ei.t-
götterung der Natur (um diesen landläufigen Ausdruck
beizubehalten) jedenfalls eine Frucht der siegreichen und
immer weiter um sich greifenden mechanischen Natur-
erklärung über ihre frühere Gegnerin die dynamische und
animistische, und insofern stellt der gegenwärtige Cultus
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
173
des Spiritismus schon wieder in unserem schnelllebenden
Jahrhundert einen bedeutsamen, wenn auch recht be-
dauernswerten Umschlag gegen die ausschließliche Her-
schaft der mechanischen Principien dar. Unsere Abneigung
aber gegen eine selbständige geistige Thätigkeitsform,
wenigstens in weiten naturwissenschaftlichen Kreisen, be-
gründet Fechner so: „Meines Erachtens ist der tiefere
rückliegende Grund unserer jetzigen Betrachtungsweise
der Pflanzen darin zu suchen, dass der Mensch im Hinaus-
gehen über den anfänglichen Naturzustand, wo er nach
einer schrankenlosen Analogie noch die ganze wirkende
Natur für göttlich beseelt und für lebendig gleich sich selbst
hielt, über das rechte Ziel hinausgegangen ist und nun
gar zu enge Schranken der Analogie zieht. Wo die ganze
Natur noch als göttlich beseelt gilt, da ist es viel leichter,
individuelle Seelen als besondere Ausgeburten der all-
gemeinen Beseelung anzuerkennen, als wo, wie bei uns,
der göttlich beseelte Geist aus der Natur heraus, über sie
emporgestiegen ist und sie entseelt zurückgelassen hat.
Da hat er auch die Seelen der Pflanzen mitgenommen, und
wenn wir nicht unsere eigene Seele fühlten, und nicht von
uns zum Affen und vom Affen abwärts zum Wurm der
Faden der Ähnlichkeiten sich gar zu deutlich fortspänne,
würden wir unsere und der Tiere Seele so gut leugnen
als die dei- Pflanzen. Denn unser jetziges Princip ist,
überall so wenig Seele als möglich in der .Natur anzuer-
kennen." (Nanna, p. 33). Wie dem auch sei, jedenfalls be-
rührt die Anlehnung an den gewöhnlichen Glauben bei
einem sonst so nüchternen Kritiker, wie Fechner, auf den
ersten Blick seltsam und dieser Umstand hat ihm wol nicht
zum Wenigsten den Ruf des Mystikers zugezogen. Aber
das ist gerade nicht außer Acht zu lassen, wie wenig
sich der berühmte Psychophysiker dieser Verwantschaft
schämt und bisweilen sehr geflissentlich seine naturwissen-
schaftliche Ketzerei bekennt. Was wir der Welt um uns
abzusehen, abzuhören meinen, es ist Alles nur unser in-
174
Achelis.
merer Schein, eine Illusion, die man sich loben kann, wie
ich's noch jüngst gelesen habe; bleibt aber eine Illusion.
Licht und Ton in der äußeren, yon mechanischen Gesetzen
und Kräften beherschten, zum Bewusstsein noch nicht
durchgedrungenen Welt über die organischen Geschöpfe
hinaus sind nur blinde, stumme Wellenzüge, die von mehr
oder weniger erschütterten materiellen Punkten aus den
Aether und die Luft durchkreuzen, und erst wenn sie an
einen bestimmten Punkt derselben antreffen, sich durch
den spiritistischen Zauber dieses Medium in leuchtende
tönende Schwingungen umsetzen. Ueber Grund, Wesen,
nähere Bestimmungen dieses Zaubers streitet man; über
die Tatsache ist man einig, und von allen Denk- und Er-
kenntnistheorien , in denen die Philosophie sicli eben jetzt
erschöpfen und leeren will, als wollte sie noch eine Philo-
sophie gebären, führt keine zu einem Zweifel an der Rich-
tigkeit dieser Tatsache, es sei denn, um den Zweifel für
unlösbar zu erklären oder die Welt in Stäubchen zu zer-
trümmern, die nur sich selber, aber nicht die Welt er-
leuchten. (Die Tagesansicht S. 4.) Aber es versteht sich
von selbst, dass mit dieser ganz allgemeinen Skizzirung
der Gegensätze die Sache nicht abgeian ist; soll die ab-
weichende Ansicht nicht bloß subjectiv verständlich, sondern
auch einigermaßen objectiv haltbar sein, so bedarf die Be-
weisführung weiterer Stützen. Der eigentliche, durch-
schlagende Grund für Fechners Opposition gegen die be-
kannte Auffassung dei- Sinnesphysiologie und Psychologie
liegt darin, dass er abgesehen von dem menschlichen Be-
wusstsein ein Allgemeines, die ganze Welt durchdringendes
annimmt und durch diese substantielle Verknüpfung das
geistige Leben über die ganze Natur ausgießt. Damit das
Licht über uns hinaus in aller Welt gesehen, der Schall
gehört werde, muss es ein sehendes und hörendes Wesen
dazu geben. Und hat man nicht schon sonst von einem
Gott gehört, der in dei' Welt allgegenwärtig und allwissend
waltet. Für die Nachtansicht aber ist seine Klarheit, wenn
Zur Würdigung G. Th. Fechiiers.
175
er überhaupt noch für sie ist, über den Dingen; darum
ist die Welt unter ihm so finster, stumm und öde. Für
die Tagesansicht ist die Welt von seinem Sehen durch-
leuchtet, von seinem Hören durchtönt; was wir selber von
der Welt sehen und hören, ist nur die letzte Abzweigung
seines Sehens und Hörens, und über Allem, was er mehr
als wir von der Zeit sieht und hört, baut sich in ihm auch
Höheres als in uns" (a. a. 0. S. 5). Doch diese Erörterung
wird, so fürchten wir, Wenige zufriedenstellen, da sie
einen zu ausgeprägt theologischen, dogmatischen Anstrich
trägt; deshalb sucht Fechner die wissenschaftliche Berech-
tigung seines Standpunktes dadurch zu erweisen, dass er
die in der Natur der Sache liegende Einseitigkeit und Be-
schränkung der naturwissenschaftlichen Untersuchung mög-
lichst klar legt. Die streng naturwissenschaftliche Be-
trachtung und Behandlung der Natur geht nur in einer
gewissen Beschränkung auf die zur Natur zu rechnenden
Bestimmungen ein, hält nämlich von der äußerlich sinn-
lichen Erscheinungswelt nur das Zählbare oder infinitesimal
Sumriiirbare, nach Zeit- und Raummaß Bestimmbare, sagen
wir kurz das quantitativ Bestimmbare fest, abstrahirt
aber von aller qualitativen Bestimmtheit, wie solche
inneren sinnlichen Erscheinungen als Lichtempfindung, Ton»
empfindung etc. zukommt. So bleibt für sie nur die Vor-
stellung räumlicher und zeitlicher Ausdehnung, die Vor-
stellung eines in diesem Räume gehaltenen, sei es nun
ausgedehnten oder in discrete Atome gespaltenen, jedenfalls
qualitativ unbestimmt gelassenen oder gleichgültig gedach-
ten Etwas, was sie Materie nennt, und die Vorstellung*
von Lagen und Lagenveränderungen der Teile der Materie
irn Räume übrig. Sie legt der Materie Kräfte bei, die
aber für naturwissenschaftlichen Standpunkt und natur-
wissenschaftliche Verwendung factisch durch nichts Anderes
charakterisirbar sind, als dadurch, dass aus gegebenen,
quantitativ bestimmbaren zeitlich-räumlichen Verhältnissen
der Materie gesetzlich andere folgen, was sie als Wirkung
176
Achelis.
der der Materie innewohnenden Kräfte bezeichnet. Sie
tut so, mag der Philosoph auch mit dem Begriff der Kräfte
umspringen wie er will, und ihn dadurch für die Natur-
wissenschaft so imfasslich und unbrauchbar als möglich
machen---- Nach Abstraction aber von allen Empfindungs-
qualitäten erkennt die naturwissenschaftliche Betrachtung
doch an, dass je nach den verschiedenen Verhältnissen der
materiellen Welt zu dem Teile, den unser Körper davon
für sie bildet, und nach dessen eigenen inneren Verhält-
nissen qualitativ bestimmte Empfindungen verschiedener
Art in der Seele entstehen können, die an unseren Körper
gebunden ist nach Gesetzen, die sie bis zu gewissen Gren-
zen in Physik und Physiologie selbst verfolgt, des Weiteren
und Genaueren der Psychophysik zu verfolgen überlässt.
Und umgekehrt schließt sie von solchen Empfindungen in
uns auf das Dasein quantitativ bestimmter Verhältnisse
in der Außenwelt, von Lichtempfindung in uns auf rasche
Aetherscliwingungen, von Tonempfindung in uns auf lang-
samere Luftschwingungen in der Außenwelt, ohne dass an
diesen selbst für die naturwissenschaftliche Betrachtung
etwas von der Qualität dieser Empfindungen haftet. Kurz
die naturwissenscl aftliche Betrachtung objectivirt bloß quan-
titativ auffassbare Bestimmungen unserer äußeren War-
nehmungen als der Natur außer uns zukommend oder zur
wesentlichen Charakteristik derselben gehörig und abstra-
hirt von den qualitativen. Nun ist es doch eine eigene
Sache, wenn der Materialist und nicht bloß dieser, sondern
im Grunde die ganze heutige, von der Nachtansicht infi-
cirte wissenschaftliche Welt der Natur über uns hinaus
deshalb keine qualitative Bestimmtheit zukommend hält,
weil der Naturforscher von ihr abstrahirt. Er hält es
eben nur für seine Aufgabe, sich mit der quantitativen zu
beschäftigen, indess doch diese in untrennbarem Zusammen-
hange mit der qualitativen in seine Wahrnehmung eintritt.
Soll die Welt über uns hinaus, indem sie qualitative Em-
pfindungen in uns hinein erzeugt, selbst qualitativ leer,
Zur Würdigung G. T. Fechners.
177
unbestimmt sein? Oder soll sie Qualitäten haben, die mit
den von unserer Seele fassbaren unvergleichbar sind, von
denen sich also nicht sprechen lässt, die man einfach da-
hin stellen muss? Aber das trifft doch factisch nicht fin-
den Teil der Natur, der die äußerliche Erscheinung1 eines
lebendigen Körpers gibt, sofern sich daran nach directer
innerer Erfahrung die Enipfindungsqualitäten des Sehens,
Hörens etc. knüpfen. Hier haben wir einen direction An-
knüpfungspunkt in der Erfahrung für die Annahme be-
stimmter Qualitäten zu den quantitativen Bestimmtheiten
der Natur über uns hinaus, den es nur zu verfolgen und
auszubeuten gilt. Wir schließen nach Analogie, Inductionen,
Causalbetrachtungen von dem, was in uns gesetzlich zu-
sammengehört. auf das, was davon über uns hinaus zu-
sammengehört" (a. a. 0. S. 233). Da nun letzten Endes
auch die Naturwissenschaft in psychophysischen Verhält-
nissen diese qualitative Bestimmung nicht entbehren kann,
so will Fechner diesen Sprung, wie er sagt, dadurch ver-
meiden, dass er in monistischer Weise die Beseelung auch
über die Natur, zunächst über die Grenzen unseres Körpers
ausdehnt. Das endgültige Resumé dieser Erwägung, die
freilich schon von dem rein psychologischen Gebiet in
das metaphysische hinüberführt, lautet deshalb: „In der
Tat bekenne ich mich in letzter Instanz zu einem objectiven
Idealismus, was nicht hindert, vielmehr die Nötigung be-
stehen lässt, eine körperliche Außenwelt und eine geistige
Innenwelt insofern zu unterscheiden, als die erste durch
den gesetzlichen Zusammenhang von Warnehmungen, die
in eine Mehrheit von Einzelwesen fallen oder fallen können,
letztere durch den Zusammenhang geistiger Bestimmungen,
die schon in jedes Individuum für sich, resp. den allge-
meinen Geist fallen, charakterisirbar ist" (a. a. 0. S. 240).
Der ganze Process der Welt, ja der ärmlichsten mensch-
lichen Empfindung culminirt somit in einem Alles um-
schließenden göttlichen Bewusstsein, als Centraipunkt des
Universums.
178
Ach élis.
Es ist liier noch nicht der Ort, die weitere erkennt-
nistheoretische Bedeutsamkeit dieser Principien zu ent-
wickeln; vorerst haben wir die Aufgabe (natürlich ebenfalls
in kurzen Umrissen), die Hauptsätze der Psychophysik,
wie sie Fechner in Anschluss an E. H. Weber begründet
hat, zu erörtern. Die allgemeine Definition dieser Metho-
dik lautet so: „Wir verstehen darunter eine exacte Lei)re
von den functionellen oder Abhängigkeitsbeziehlingen zwi-
schen Körper und Seele, allgemeiner zwischen körperlicher
und geistiger, physischer und psychischer Welt" (Elemente
d. Psych. I, 8). Und weiter: „Zum Gebiet des Geistigen,
Psychischen der Seele rechnen wir überhaupt das, was
durch innere Warnehmung erfasslich oder daraus ab-
strahirbar ist, zu dem des Körperlichen, Leiblichen, Phy-
sischen, Materiellen das, was durch äußere Warnelmiung
erfasslich oder daraus abstrahirbar ist. Alle Erörterungen
und Untersuchungen der Psychophysik beziehen sich über-
haupt bloß auf die Erscheinungsseite der körperlichen und
geistigen Welt, auf das, was entweder unmittelbar durch
innere oder äußere Warnehmung erscheint oder aus dem
Erscheinliehen erschließbar oder als Verhältnis, Kategorie,
Zusammenhang, Auseinanderfolge, Gesetz des Erscheinlichen
fassbar ist, kurz auf das Physische im Sinne der Physik
und Chemie, auf das Psychische im Sinne der- Erfahrungs-
seelenlehre, ohne dass auf das Wesen des Körpers, der
Seele hinter der Erscheinungswelt im Sinne der Metaphy-
sik irgendwie zurückgegangen wird." Es ist liier also
ausdrücklich Abstand genommen von jeder speculati ven
Ansicht über die Natur dieser wirksamen Factoren, und
dagegen nur die Beziehungen der Außenwelt zu unserem
Bewusstsein und zwar in ihren rein quantitativ messbaren
Verhältnissen der Kernpunkt der Untersuchung. Im Be-
sonderen zerlegt sich diese Lehre in eine äußere und innere
Psychophysik, „deren erste von den Beziehungen zwischen
den psychischen Phänomenen und äußeren Anregungsmitteln
derselben, sog. Reizen, handelt, die andere aber von den
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
179
Beziehungen der psychischen Phänomene zu den inneren,
sog. psychophysischen, körperlichen Tätigkeiten, die ihnen
unmittelbar unterliegen. Die erste fußt hauptsächlich auf
Experimenten, die andere zieht unter Mitzuziehung ana-
tomischer, physiologischer und psychologischer Tatsachen
Folgerungen aus der ersten." (In Sachen der Psychophys.
S. 3.) Selbstverständlich ist es für diese ganze Anschau-
ung, dass die Existenz der Seele als Tatsache außer der
Discussion bleibt, weder materialistisch die Materie dafür
eingesetzt wird, noch subjectivistiseli die Außenwelt sich
in ein bloßes Erscheinungsbild der Vorstellung verflüchtigt;
andernfalls kann natürlich nicht von einem mathematisch
flxirbaren Correlat beider Reihen die Rede sein. Dennoch
sucht Fechner dem landläufigen Dualismus möglichst aus-
zuweichen und eine monistische Perspective zu begründen.
„Das Materielle, Körperliche, Leibliche und durch ein Ver-
hältnis unmittelbarer Bedingtheit daran geknüpfte Psy-
chische, Geistige sind zwei Erscheinungsweisen desselben
W esens, ersteres die äußere für andere Wesen, letzteres
die innere Erscheinungsweise des eigenen Wesens, beide
deshalb verschieden, weil überhaupt Ein und Dasselbe ver-
schieden erscheint, je nachdem es von Verschiedenen von
verschiedenem Standpunkt aufgefasst wird. Also erscheint
auch der materielle Gehirnprocess verschieden von den
daran geknüpften Empfindungen und Gedanken, weil das-
selbe Wesen, was beiden gemeinsam unterliegt, als Gehirn-
process äußerlich, als geistiger Process innerlich aufgefasst
wird. Und so wird auch für die Tagesansicht nach dieser
monistischen Auffassung das gesammte Weltwesen, was
uns äußerlich als materielle Natur und materieller Be-
wegungsprocess erscheint, sich noch in anderer Weise
innerlich als geistiges (unseren eigenen Geist einschließendes)
Wesen erscheinen können, und wir selbst werden als Teile
des allgemeinen Weltwesens nach körperlicher und geistiger
Seite dieser doppelten Erscheinungsweise unterliegen."
(Tagesansicht S. 243.) Diese erkenntnistheoretische For-
Zeitsclirift für Völkerpsych. und Spracliw. Bd. XIX. 2/3. 13
180
Achelis.
mulirung der Aufgabe streitet aber nicht mit der ursprüng-
lichen psychophysischen Begründung, indem ja nach den
leitenden Vorraussetzungen jede Bewusstseinserscheinung,.
ja überhaupt alles geistige Leben an ein System bestimm-
ter Kräfte und Schwingungen gebunden ist, die überall
in der Natur wiederkehren. Deshalb schließt auch unser
Gewährsmann diese ganze Darstellung mit einem kühnen
Ausblick in die Zukunft: „Auf diese Weise ersparen wir
uns den magischen Zauber, die qualitas occulta, welche
uns diese oder jene Bewegungsform zur psychischen Leistung
befähigen soll, und wird eine allgemeine, nicht bloß
particulär für Menschen und Tiere gültige Psychophysik
möglich werden, in entsprechendem Sinne, als wir eine
allgemeine, für die ganze Welt gültige Physik und Chemie
haben. Wir werden die Gesetze der Psychophysik am
Menschen erforschen und werden sie auf die Welt über-
tragen können. Bewusstes und Bewusstloses in der Welt
wird nur zwei Fälle darstellen, welche zugleich maßgebend
für ihr Verhältnis und für ihren Uebergang in einander
ist." (Elemente d. Psych. II, 547). Oder wie derselbe Ge-
danke in Hinblick auf ein bekanntes Leibnitz'sches Bild
erläutert wird: „Der Parallelismus im Körperlichen und
Geistigen erinnert an die Leibnitz'sche prästabilirte Har-
monie, nur dass er auf anderem Grunde ruht als diese.
Nach uns, wie nach Leibnitz, wenn etwas im Geist geht,
geht Etwas correspondirend im Leibe, ohne dass man sagen
kann, eins habe das andere hervorgerufen. Wenn aber
nach Leibnitz Seele und Leib gleichnisweise zwei Uhren
sind, die, mit einander zusammenpassend, doch ganz un-
abhängig von einander, nur vermöge ihrer guten Einrich-
tung durch Gott nie von einander abirrend gehen, ist es
nach uns vielmehr eine und dieselbe Uhr, die sich selbst
in ihrem Gange als geistig sich regendes Wesen und einem
Gegenüberstehenden als ein Getriebe und Treiben mate-
rieller Räder erscheint. Statt praestabilirter Harmonie ist
es Identität des Grundwesens, was beide Erscheinungen.
Zur Würdigung G. Th. Fechners. 181
zusammenpassend macht." Während mithin an sich ge-
nommen beide Welten nur die verschiedenen Strahlen-
brechungen eines Wesens, einer Substanz sind, zerlegt
unsere sinnliche Betrachtungsweise zu Folge eines ange-
borenen Dualismus den einheitlichen Charakter des Seienden
in diese beiden divergenten und doch stetig auf einander
angewiesenen Reihen des physischen und psychischen Ge-
schehens. Natürlich ist dieser Gesichtspunkt für die Er-
klärung der psychophysischen Processe festzuhalten, die für
eine monadologische Ansicht, so z. B. für die Annahme
eines punktuellen Seelensitzes, unverständlich werden. Des-
halb wendet sich Fechner in einer ziemlich ausführlichen
Polemik gegen den sonst ihm so sympathischen Lotze, aus
der wir hier nur folgende Sätze hervorheben wollen: „Die
monadologische Ansicht gestattet principiell der Psycho-
physik über ihren ersten Angriffspunkt hinaus (den sie in
der sog. äußeren Psychophysik findet) keine weitere Ent-
wicklung (zur inneren Psychophysik), wogegen die syne-
chologische ihr principiell eine mit der Naturwissenschaft
im gewissen Sinne parallele, im anderen Sinne sie über-
steigende, unbeschränkte Entwicklung gestattet. Denn
nach der monadologischen Ansicht sind alle geistigen Vor-
gänge nur innere Vorgänge des Atoms ohne wesentlichen
Bezug zu körperlichen Vorgängen, die in einem Atom nicht
statthaben können; nur die erregenden körperlichen An-
stöße an dem Atom von außen und Rückwirkungen nach
außen sind psychophysical fassbar und verfolgbar. Hin-
gegen nach der synechologischen Ansicht sind alle ver-
schiedenartigen geistigen Vorgänge an eben so verschieden-
artige körperliche Vorgänge (als einheitliche innere oder
Selbsterscheinungen derselben) gebunden; selbst jede ein-
fache Empfindung an einen zusammengesetzten körperlichen
Process, der höhere Verhältnisse einschließt, und selbst die
höchste göttliche geistige Tätigkeit entzieht sich diesem
Princip nicht, sofern sie mit der allgemeinsten und höch-
sten Ordnung der Weltverhältnisse solidarisch zusammen-
13*
182
Ach élis.
hängt." (Ueber physikal. u. philos. Atomenlehre S. 255.)
Und gerade dies religiöse Moment ist so bedeutsam, dass
es noch durch eine weitere Ausführung gestützt wird:
„Während die synechologische Ansicht sich gar nicht an-
ders abzuschließen vermag als in der Idee eines allgegen-
wärtigen, allwissenden, persönlichen, d.h. eineBewusst-
seinseinheit in sich tragendes Gottes mit den innerlich-
sten, unmittelbarsten Bewusstseinsbeziehungen zu seinen
Geschöpfen, vermag die monadologische in keiner Weise
zu einer Vorstellung Gottes zu gelangen, welche nicht für
das religiöse Bedürfnis eine Absurdität oder für das philo-
sophische eine Inconsequenz wäre. Denn entweder ist nach
ihr auch Gott ein in einem Punkt seiner Welt sitzendes
Atom unter anderen Atomen, dem man aber ganz andere,
wunderbar exceptionelle Kräfte zuschreiben muss, welche
mit allen Kräften, die man sonst psychischen Atomen zu-
schreibt, unvergleichbar sind, mittels deren er von seinem
punktförmigen Sitz aus die Welt beherscht, oder er ist
kein Atom, die geistige Einheit wird bei ihm nicht durch
einen einfachen Punkt repräsentirt (warum aber dann bei
anderen Geistern?) oder der Gedanke Gottes wird in ein
Glaubensgebiet verwiesen, welches sich mit unserem Wis-
sensgebiet nicht berührt oder nicht verträgt, und dadurch
die Lücke und der Widerspruch zwischen Glauben und
Wissen festgehalten, deren Beseitigung wir vielmehr von
der Philosophie zu fordern hätten, oder er wird in mystisch-
phantastische Unklarheit versenkt." Mit dieser Erörterung
sind wir freilich aus dem Rahmen unserer, wesentlich der
Psychologie gewidmeten Darstellung auf die Sphäre des
mehr oder minder strittigen religiösen Glaubens getreten;
aber weil gerade hierin sich die Weltanschauung Fechners
abschließt, möchten wir gern noch einen Augenblick dabei
verweilen. So sehr der Begründer der Psychophysik als
inductiver Naturforscher einem streng empirischen Aufbau
der Erkenntnis huldigt und. so sehr er einer verschwom-
menen Speculation abgeneigt ist, so sehr betont er doch
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
183
andererseits die Geltung bestimmter Axiome und Forde-
rungen, die sich letzen Endes nicht exact beweisen lassen.
„Alles Allgemeinste, Höchste, Letzte, Fernste, Feinste,
Tiefste ist überhaupt seiner und unserer Natur nach Glau-
benssache. Dass die Gravitation durch die ganze Welt
reicht und von jeher gereicht hat, ist Glaubenssache; dass
überhaupt Gesetze, durch's Endliche verfolgt, in's Unbe-
grenzte von Zeit und Raum wirken, ist Glaubenssache;
dass es Atome und Undulationen des Lichtes gibt, ist
Glaubenssache; der Anfang und das Ziel der Geschichte
sind Glaubenssache, sogar in der Geometrie gibt es Glaubens-
sachen in der Zahl der Dimensionen und den Sätzen für
die Parallelen. Ja streng genommen ist Alles Glaubens-
sache, was nicht unmittelbar erfahrbar ist, und was nicht
logisch feststellt. Ein jedes Wissen um das, was ist, setzt
sich fort in Glauben und muss sich darein fortsetzen und
endlich damit abschließen, damit es einen Zusammenhang,
einen Fortschritt und einen Abschluss des Wissens gebe."
(Die Tagesansicht S. 17.) Vielen wird dieser Skepticismus
nicht zusagen, und unfraglich kehrt er seine Spitze auch
gegen den Urheber der ganzen Weltanschauung selbst;
doch muss man im Interesse einer unparteiischen Beurteilung
es ausdrücklich hervorheben, dass Fechner diese Conse-
quenz durchaus nicht verheimlicht und z. B. für seine An-
sicht von der Beseelung der Pflanzen und der Möglichkeit
einer für sich selbstbestehenden sinnlichen Empfindung nur
eine logische Widerspruchslosigkeit oder Denkbarkeit in
Anspruch nimmt, keine exacte Beweisbarkeit. Indem wir
aber von einer weiteren Entwicklung dieser religiösen
Elemente absehen, wenden wir uns zunächst zu dem
unter speciellen psychophysischen Voraussetzungen stehenden
Problem der Teleologie, um dann mit einem kurzen
Ueberblick über die unter der nämlichen Perspective be-
handelten Aesthetik unsere Darstellung zu schließen.
Es gehört gegenwärtig fast zum guten Ton (freilich
seltsam genug), über die Einfalt und Beschränktheit des
184
Achelis.
Zweckmäßigkeitsprincips einige wolfeile Redensarten zu
machen, namentlich herscht diese gesellschaftliche Rück-
sichtslosigkeit in den Kreisen der naturwissenschaftlichen
Aufklärung. Je weniger diese die precären Fragen der
Erkenntnistheorie sich gründlich zu eigen macht und sie
lieber mit einem energischen Fußtritt der antiquirten
Metaphysik zustößt, um so lauter das Geschrei über die
unglaubliche Zähigkeit, mit der ganz besonders die Deut-
schen an den ererbten Irtümern einer scholastischen Phi-
losophie festhielten. Begreiflicher Weise wird nicht von
uns an dieser Stelle eine ausführliche Erörterung dieses
Problems erwartet werden können, eben so wenig wie wir
gewillt sind, die harmlosen anthropopathischen Ergüsse des
gefiilsseligen 18. Jahrhunderts, das sich in der Verherlich-
ung gerade dieses Grundsatzes gern erging, verteidigen
zu wollen; aber es bedarf unseres Erachtens keines lang-
wierigen Beweises, um sich zu überzeugen, dass z. B. auch
in den einfachsten biologischen Vorgängen der Darwin'schen
Anpassung die Tätigkeit einer wenn auch noch so schwach
functionirenden Empfindung der Zweckmäßigkeit wirksam
ist. Fechner findet daher die jetzt modische Verketzerung
teleologischer Principien darin begründet, dass man
kein mit dem Causalgesetz solidarisches Princip der Ten-
denz habe entdecken können und sich somit gefürchtet
habe, die Integrität jenes zu verletzen. So sehr nun unser
Autor im Allgemeinen den Standpunkt Darwin's (aber
nicht den seiner Schüler) teilt, so sehr empfindet er es
als eine Pflicht, ein für die causale und teleologische Auf-
fassung gleich befriedigendes Schema aufzustellen, das er
das Princip der Tendenz zur Stabilität nennt. Selbstver-
ständlich ist dabei die Voraussetzung eines urteilenden
Bewusstseins. „Wenn wir beispielsweise die Erhaltung
einer festen Ordnung des Himmels zweckmäßig nennen,
so ist es deshalb, weil uns als empfindenden, ästhetisch
bestimmbaren Wesen Ordnung überhaupt unmittelbar ge-
fällt, und weil wir Erfolge dieser Ordnung im Sinne einer
Zur Würdigung G. Th. Fechners. 185
Mehrung unseres Wolbefindens oder Verhütung des
Gegenteils spüren, indem wir uns in Raum und Zeit da-
durch orientirt finden. Sonst wäre die Ordnung des Him-
mels aus dem Gesichtspunkt eines Zweckes so gleichgültig
als das unregelmäßigste Herumfahren der Gestirne unter-
einander." (Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgesch.
der Organismen S. 92). Um zunächst an den physikalischen
Ausdruck anzuknüpfen, so sind alle in regelmäßiger Peri-
ode wiederkehrende Lagen- und Bewegungsverhältnisse
der Teilchen eines materiellen Systems oder der Schwer-
punkte ganzer Massen stabile Verhältnisse, die asymptotisch
nach der absoluten Ruhe und Bewegung auseinandergehen.
Dieses Gesetz bestimmt auf Grund der wirksamen Kräfte
(Bewegung, Geschwindigkeit 11. s. w.) die Wiederkehr frühe-
rer Zustände unter den gleichen Bedingungen, wenn auch
häufig nur approximativ, und diese Periodicität tritt um
so sicherer ein, je mehr jene Annäherungsverhältnisse
systematisch zusammenpassen. Dieser Grundsatz ist auch
auf das geistige Gebiet anwendbar, indem die functionellen
Erscheinungen der höheren Organismen derselben Höhe
einer constanten Ausgleichung zustreben und so den Cha-
rakter des Zweckmäßigen gewinnen. „In der Tat, über-
legen wir es näher, so heißen uns die Entwicklungsvor-
gänge, die Einrichtungen und Außenbedingungen eines
Organismus nur eben insofern zweckmäßig, als sie zu einem
approximativ stabilen organischen Zustande zu führen und
einen solchen innerhalb gewisser Zeitgrenzen, wenn auch
mit größeren oder geringeren Abänderungen, fort zu er-
halten vermögen; denn das Sterben eines Organismus be-
ruht nach materieller Seite auf dem Verluste der organi-
schen Stabilität. Hiernach fällt das Princip der Tendenz
zur Stabilität mit dem teleologischen Princip, so weit dieses
auf die materielle Seite der organischen Welt beziehbar ist,
zusammen. Damit aber, dass die Tendenz zum Ziele noch
nicht die Erreichung des Zieles bedeutet und das Ziel über-
haupt nur in Approximationen erreichbar ist, gewinnen
186
Achelis.
wir auch den Gesichtspunkt dafür, dass die organische
Welt trotz des Waltens des teleologischen Princips in ihr
doch fortgehends noch so vielen Störungen unterliegt, die
den Charakter der Unzweckmäßigkeit tragen." (a. a.O. S.90)„
Die wirkliche Handhabung dieses Princips wird dann so
näher bestimmt: „Um das vereinbarte Princip der Causa-
lität und Teleologie mit auf die psychische Seite der Exis-
tenz zu übertragen, hat man nur anzunehmen, dass die
physische Tendenz zur Stabilität Träger einer psychischen
Tendenz zur Herbeiführung und Erhaltung eben der Zu-
stände, worauf die physische geht, sei, dabei aber in Rück-
sicht zu ziehen, dass die psychische Tendenz teils über,
teils unter der Schwelle des Bewusstseins sein und teils
instinctiv, teils mit der Vorstellung des [äußeren Mittels,
wodurch sie sich vollzieht, und des Zweckes selbst behaftet
sein kann." (a. a. 0. S. 92). Dieser letztere Gesichts-
punkt ist insofern bedeutsam, als dadurch eine annähernd
genaue psychologische Bestimmung der dabei wirksamen
Factoren ermöglicht wird nach den bekannten psychophy-
sischen Grundsätzen. Indem nämlich jede Lust mit einem
ins Bewusstsein fallenden Streben verbunden ist, denselben
Zustand zu erhalten, resp. zu verbessern, und dementspre-
chend die Unlust mit einem Streben ihn zu beseitigen und
zu vermindern, so lassen sich nach Intensität und Quan-
tität der Reize die Beziehungen der Stabilität und Insta-
bilität zu einander abgrenzen. „Insofern bewusste Antriebe
immer mit Lust und Unlust in Beziehung stehen, kann
auch Lust und Unlust mit Stabilitäts- und Instabilitäts-
verhältnissen in psychophysischer Beziehung gedacht werden,
und es lässt sich hierauf die Hypothese begründen, dass
jede die Schwelle des Bewusstseins übersteigende psycho-
physische Bewegung nach Maßgabe mit Lust behaftet sei,
als sie sich der vollen Stabilität über eine gewisse Grenze
hinaus nähert, mit Unlust nach Maßgabe, als sie über eine
gewisse Grenze davon abweicht, indess zwischen beiden
als qualitative Schwelle der Lust und Unlust zu bezeich-
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
187
nenden Grenzen eine gewisse Breite ästhetischer Indifferenz
besteht." (a. a. 0. S. 94). Solche psychophysische Zustände,
in welchen die qualitative Schwelle der Lust überstiegen wird,
nennt Fechner harmonische gegenüber den disharmonischen,
welche die der Unlust überschritten haben, zwischen beiden
fallende indifferente und in diesem Sinne wird aus dem
Princip der Tendenz zur Stabilität das der Tendenz zur
Harmonie, das die Welt beherscht." (Tagesansicht S. 210).
Diese Ideen einer Lustökonomie (wie man es nennen könnte)
dienen dann als Grund- und Eckstein der Ethik, die in
strengem, wenigstens äußerlich scharfen Gegensatz zur
Kant'schen Formulirung eine universale Hedonik ist, deren
allgemeinster Satz so lautet: „Der Mensch soll, so viel an
ihm ist, die größte Lust, das größte Glück in die Welt
überhaupt zu bringen suchen, ins Ganze der Zeit und des
Raumes zu bringen suchen." (Ueb. d. höchste Gut S. 10).
Durch diese exacte psychophysische Begründung hofft
Fechner den ewigen Streit zwischen Naturwissenschaft und
Philosophie endgültig schlichten zu können; so sehr jene
im Rechte sei, in ihrer Betrachtung sich zunächst durch
keine fremde Rücksichtnahme beirren zu lassen, so sehr
ihr Gebiet der Zusammenhang des äußeren Geschehens sei,
so wenig stehe ihr deshalb ein Urteil zu liber die Entwick-
lung des geistigen Lebens, „der inneren Erscheinlichkeit"
und namentlich über' die abschließende Frage, ob die Welt
als Ganzes nur mechanischen Regulativen gehorche: Denn
eben dies Problem untersteht nicht mehr ihrer Competenz.
An und für sich aber besteht gar kein Bedenken, trotz der
vollen Geltung mechanischer Principien ein weltumspannen-
des Bewusstsein an den Anfang aller Dinge zu setzen.
«Ich wüsste zuvörderst nicht, was gegen eine mit Bewusst-
sein sich vollziehende Einrichtung der gesammten materi-
ellen Welt, darunter der irdischen und organischen, be-
wiese. Man findet einen Gegengrund darin, dass diese
Einrichtung sich mit gesetzlicher Notwendigkeit vollziehe,
und mag nicht zweierlei Gründe des Geschehens statt eines
188
Achelis.
haben, bewusste Antriebe und gesetzlich wirkende Kräfte.
Nun sind aber gerade die, welche sich am entschiedensten
auf diesen Standpunkt stellen, zugleich am festesten über-
zeugt, dass alle, selbst die höchsten, Bewusstseinsprocesse
im Menschen, den Willen desselben nicht ausgenommen,
an materielle Vorgänge geknüpft sind, welche mit gesetz-
licher Notwendigkeit entstehen und vor sich gehen und die
Bewusstseinsprocesse ebenso gesetzlich notwendig mit sich
führen. Wie können sie also in einer gesetzlichen Not-
wendigkeit, mit welcher materielle Processe vor sich gehen,
einen Gegengrund darin finden, dass dieselben Träger von
Bewusstsein, beziehentlich von bewussten Antrieben, welche
eben dahin, wohin die materiellen zielen, sind? Weshalb
soll die schöpferische bildende Tätigkeit der Welt über-
haupt eine gesetzlose sein, uin sie für eine bewusste halten
zu können?" (Ideen S. 96). Darin liegt der eigentliche
Grund dieser seltsamen Verblendung, dass man sich immer
einbildet, nur eine Mechanik der Atome ermögliche einen
wirklich gesetzlichen Aufbau der Welt, aber alles bewusste,
psychische Dasein vertrage sich eo ipso nicht mit einer
inductiven, vorurteilsfreien, erfahrungsgemäßen Anschau-
ung. Erst sehr widerwillig bekennt man sich dann zu der
doch so einleuchtenden Wahrheit, dass dieses ganze Ge-
webe der mechanischen Principien, mit denen die Natur-
wissenschaft die Welt sich regieren lässt, doch nur ein
Ergebnis unseres beobachtenden Geistes ist, das nicht
etwa vor und über den Dingen schon existirt, sondern erst
durch unsere Betrachtung erzeugt wird, eine Rechnungs-
formel zum bequemeren Verständnis des Geschehens. Die
gerühmte Notwendigkeit aber, welche stets als überlegene
Gegnerin der Freiheit angerufen wird, ist gleichfalls ein
Spiegel, in dem wir die Beziehungen der Dinge zu einan-
der anordnen, aber kein vorweltliches Schema, das etwa
auch ohne ein Bewusstsein Bestand haben könnte, das sich
dieser Kategorie bediente.
Zur Würdigung G. Th. Fechners. 189
Ein kurzes Wort gebührt noch der Aesthetik,
•selbstverständlich nur, sofern es sich um die psychologische
Begründung derselben handelt. Diese hebt unser Ge-
währsmann in seiner Vorschule der Aesthetik schon durch
die der idealistischen Construction entgegengesetzte Be-
zeichnung „einer Aesthetik von unten" 'klar hervor. Als
grundlegende Voraussetzung für die Kunstlehre gilt das
Princip der Schwelle, d. h. also die Bedingung, dass eine
durch einen äußeren Reiz ausgelöste sinnliche Empfindung
einen gewissen Grad und eine gewisse Dauer übersteigen
muss, damit ein ästhetisch wohlgefälliger Eindruck in das
Bewusstsein fallen kann (II, 140). Anderseits ist diese
Empfänglichkeit für Eindrücke, die unter normalen Be-
dingungen Lust oder Unlust im Bewusstsein erzeugen
können, bedingt durch die specifische Stimmung, in der
man sich im gegebenen Augenblick befindet; auch diese
Disposition wird unter einem besonderen Princip aufge-
führt. Die weiteren verschiedenartigen Modificationen dieser
ursprünglichen Einwirkungen (die Abstumpfung, der Con-
trast, der Wechsel in der Form der receptiven Tätigkeit,
die Versöhnung, die Einheit des Mannichfaltigen, die Wider-
spruchslosigkeit, Association u. s. w.) hier eingehend in
genetischer Entwicklung darzustellen, würde selbstverständ-
lich viel zu weit führen; nur den letzten entscheidenden
Factor für diese ganze Reihe von Gefühlen, das letzte
Princip des Grundes der Lust und Unlust, möchten wir
seiner psychologischen Bedeutsamkeit halber hervorheben.
Auch hier tritt die früher erörterte Fechnersche Anschau-
ung zu Tage, dass nämlich ein psychophysischer Bewegungs-
zustand um so lust voller ist, je mehr er dem Zustande der
Harmonie (d. h. der relativen Stabilität des Processes) sich
nähert und je mehr lebendigere Kräfte in das harmonische
Formverhältnis der Teile eingehen (II, 267). Dasselbe gilt
natürlich in umgekehrter Folge für die Unlust. Wie in
der Ethik, so bevorzugt Fechner auch hier den Begriff der
Lust (selbstredend in idealem Sinne), und gesteht auch
190
Achelis.
ganz offen den hedonistischen Charakter seiner Aesthetik
zu, wenn dieser auch ein consequent universal-eudämo-
nistischer ist. Denn nicht auf das individuelle Wolbehagen
des Individuums kommt es an, sondern auf das Facit der
Lust in der Weltbilance, so dass z, B. „nur das als wahr-
haft, als objectiv schön zu gelten hat, woran unmittel-
bares Wolgefallen zu haben mit Rücksicht auf alle Folgen
und Zusammenhänge gedeihlich im Ganzen ist" (I, 119).
Oder bezüglich des Geschmackes: „Der beste Geschmack
ist der, bei dem im Ganzen das Beste für die Menschheit
herauskommt: das Bessere aber für die Menschheit ist,
was mehr im Sinne ihres zeitlichen und voraussetzlich
ewigen Wohles ist" (T, 264).
Wir stehen am Ende unserer Schilderung. Da wir
bislang absichtlich — so weit das überhaupt durchzuführen
ist — unsere persönliche Ansicht und Beurteilung zurück-
gehalten haben, so sei es uns nun am Schluss verstattet,
an der Hand einer summarischen Charakteristik Fechners
von Zeller unsere eigene Stellungnahme zu begründen.
Fechner (sagt Z.) führt die ganze Außenwelt nach Berke-
ley's Vorgang auf einen gesetzmäßigen Zusammenhang
von Erscheinungen zurück, und auch die immateriellen
Atome oder Kraftcentren, aus denen er diese hervorgehen
lässt, sind gleichfalls nur einfache Erscheinungen. Das
Beste, in welchem und für welches diese Erscheinungen
existiren, sind die Seelen oder Geister, die (wie bei Leib-
nitz) in ihrer Gesamtheit eine aufsteigende Stufenreihe
bilden. Eben deshalb kann aber auch der Zusammenhang
der Erscheinungen, wie Fechner glaubt, nur durch das
Bewusstsein ermittelt sein, und so kommt er schließlich auf
die Annahme, dass jede Gruppe niedriger Geister in einer
höheren und die Gesamtheit derselben in der Gottheit
enthalten sei, wobei sich denn natürlich eigentümliche
Folgerungen über die Verhältnisse dieser verschiedenen
ineinander geschachtelten Persönlichkeiten nicht vermeiden
lassen." (Geschichte der deutschen Philosophie, p. 906).
Zur Würdigung G. Th. Fechners.
191
Kennzeichnend ist für den ganzen Charakter der entwickelten
Weltanschauung die Verknüpfung rein idealer Elemente
mit den Tatsachen und Principien der inductiven Natur-
wissenschaft; richtig bezeichnet deshalb Zeller diese Aehn-
lichkeit mit den Ansichten Berkeleys, wenn auch der grund-
legende Unterschied übergangen ist. Während dieser jedes
Geschehen in einen Process unseres Geistes auflöst, sucht
Fechner über den Kähmen unserer Perception hinaus das
Walten des Bewusstseins im Kosmos überhaupt festzuhalten
und soweit möglich auch zu beweisen, so dass er selbst
sein System unfraglich mit Becht, wie schon früher be-
merkt, als objectiven Idealismus bezeichnet. Indem wir
aber nach unserer ursprünglichen Absicht von jeder wei-
teren erkenntnistheoretischen Kritik absehen und uns
lediglich an die psychologischen Ausführungen halten, so
gestehen wir, dass uns die, freilich ja auch hypothetisch
entwickelte, Beseelung aller Dinge (gleich viel ob orga-
nischen oder unorganischen Ursprungs) zu wenig mit der
naturwissenschaftlichen Erfahrung im Einklang zu stehen
scheint. Wenigstens will es uns bedünken, dass mit diesem
Problem die Grenzlinien unserer exacten Beobachtung über-
schritten und das dunkle Terrain des persönlichen Glau-
bens betreten sei. Damit ist noch Nichts darüber prä-
judicirt, ob nicht psychisches Leben sich über die Schranken
des individuellen Bewusstseins binaus zeigen könne, sei es
in abgeschwächter Form bei niederorganisirten Wesen, sei
es in höchster Vollendung als zusammenfassendes Universal-
bewusstsein. Um so rückhaltsloser stimmen wir dagegen
der psychophysischen Begründung zu, die ja auch trotz
aller abweichenden Meinungen in nebensächlichen Fragen,
eine immer größere Anerkennung zu finden scheint; hier
haben wir wieder den festen Boden experimenteller Unter-
suchung unter unseren Füßen, so dass erst über die weitere
(monistische oder dualistische) Deutung der betreifenden
Erscheinungen ein Streit aufkommen kann. Ganz beson-
ders sympathisch aber begrüßen wir die Wideraufnahme
192
Sowa.
des so verpönten teleologischen Princips in der Natur-
wissenschaft, weil gerade der fanatische Cultus der mecha-
nischen Anschauung in unserer Zeit jede nüchterne, vor-
urteilsfreie Prüfung entgegenstehender Ansichten von vorne
herein unmöglich zu machen droht. Endlich wird der
milde, von tiefer Religiosität durchdrungene Sinn Fechners
auch denen eine gewisse Achtung einflößen, welche sonst
auf völlig anderem Standpunkt stehen, ohne sich jedoch
der jetzt vielfach üblichen intoleranten Verketzerung frem-
den Glaubens anzuschließen.
Die Mundart der westfälischen Zigeuner.
Von E. v. Sowa.
Die Mundart, welche ich unter diesem Namen begreife,
schließt sich am nächsten an die von Graffunder 1835 in
Neudorf aufgezeichnete an; da aber die von mir in West-
falen gehörte Mundart doch wenigstens phonetisch sich von
jener unterscheidet, und es keineswegs sicher ist, dass sich
die Differenzen auch auf Sprachgebrauch und Wortvorrat
erstrecken, scheint es vorsichtiger, die Sprache der von mir
befragten Zigeuner nur nach der Gegend, in welcher diese
wohnen, zu benennen, — vielleicht ist sogar die Bezeich-
nung „westfälisch" schon eine zu weite.
Die Anzahl der im Regierungsbezirke Arnsberg in
Westfalen ansässigen Zigeuner ist nach amtlichen Daten
folgende:
Westfeld 5 Individuen
Sassmannshausen 45 „
Berleburg 58 „
Summa 108 Individuen.
Die Mundart der westfälischen Zigeuner.
193
In Berleburg fand ich die Zigeuner völlig germanirt
derart dass auch die älteren Leute nur noch beim Zusam-
menkommen mit wandernden Banden ihres Stammes hier
und da ein Zigeunerwort gebrauchen — als solche wurden
mir z. B. maro (Brod), mas (Fleisch) genannt. Die West-
felder habe ich nicht besucht, in Sassmannshausen aber
fand ich bei einer alten Frau eine gute, bei anderen älteren
Leuten eine noch immer leidliche Kenntnis der Zigeuner-
sprache, — die Jugend ist auch dort germanisirt. Die
Sassmannshausener Zigeuner wohnen nicht gemeinschaft-
lich mit anderen Einwohnern und verlassen auch im Som-
mer ihr Dorf nicht zahlreich, da ihre Beschäftigung sie
nicht aufs Wandern hinweist. Post bemerkt (Die Zigeuner
in Europa und Asien I. S. 26), dass nach einem Briefe
Diefenbachs sich auf Schloss Wittgenstein ein handschrift-
liches Vocabular der Sprache eben dieser Zigeuner befinde.
Die Einsichtnahme in eine solche Sammlung würde viel-
leicht unsere Kenntnis des romischen Wortvorrats erwei-
tern-, ich selbst habe bei kurzem Verkehr mit den Zigeu-
nern in Sassmannshausen manche anderweitig in dieser
Bedeutung noch nicht belegte Wörter aufzeichnen können,
z. B. cor „Handelsmann" — in den anderen Dialecten
„Dieb", sturno( Ochs — vergi. Liebich (Die Zigeuner S. 160),
stima „Kater" — wol männliches Tier überhaupt?1 u. a.
Zur Angabe von Wörtern sind auch diese Leute viel
leichter zu haben, als zum Uebersetzen ganzer Sätze oder
zum selbständigen Sprechen. Erzählungen zu erhalten ge-
lang mir nicht, wäre aber bei fortgesetztem Verkehr doch
vielleicht möglich. Die Zigeuner berichteten, dass ihre
wandernden Stammesgenossen häufig das Dorf passirten
genau sprächen wie sie selbst nur ungleich geläufiger, wes-
halb die angesiedelten ob ihrer geringen Sprachkenntnis
1 Pott, Zig. II. S. 247 gibt keine ausreichende Erklärung,
An Sanskrit sthira oder sthurin ist nicht zu denken. (Vgl. Mikl.
M, W. X. 185.)
194
Sowa.
von jenen verspottet würde. Gewiss trägt bei den Colo-
nisten das zeitweilige Zusammentreffen mit ihren der Sprache
vollkommen mächtigen wandernden Stammesgenossen viel
dazu bei, die Kenntnis derselben zu erhalten und zu be-
leben; gleichwol wird diese in nicht allzulanger Zeit bei
ihnen erloschen sein, da sie sich in der Familie nur mehr
des Deutschen bedienen.
Da die von mir in Sassmannshausen aufgezeichneten
Wörter und Sätze, obgleich ziemlich zahlreich, eben nichts
Neues für die Grammatik und Syntax bieten, vielmehr
hierin mit Graffunders Aufzeichnungen im Ganzen über-
einstimme!], beschränke ich mich im Folgenden darauf, die
Lautverhältnisse der Mundart möglichst genau zur Dar-
stellung zu bringen und nur wenige Bemerkungen für die
Formenlehre beizufügen.
Bei der Vergleichung der von mir aufgzeichneten
Laute und Wörter glaube ich außer Graffunders Materia-
lien (vergi. Pott a. a. O. I. 22 f.) auch Liebichs Wörter-
verzeichnis heranziehen zu dürfen, mich übrigens auf die
Hervorhebung dessen, worin die zu vergleichenden Mund-
arten aus einander gehen, beschränken zu sollen,
I. Vocalismus.
Die unbetonten Vocale werden dumpf und flüchtig aus-
gesprochen, so hört man z. B. jperlka für und neben porikä
(Esel) u. a. Auch Graffunder bemerkt (Zigeuner S. 53),
dass die vor den Tonsilben stehenden Vocale gern gekürzt
werden. Einen Beleg hierfür bietet auch seine Schreibung
grumni (Kuh) für Liebichs guruinni. Charakteristisch für
die Mundart ist die besonders flüchtige und kurz abge-
brochene Aussprache der unbetonten Endvocale (s. unten)
— auch hierzu stimmt die Angabe Graffunders a. a. 0.
S. 52 genau.
Die Mundart der westfälischen Zigeuner.
195
Die yon mir wahrgenommenen Vocale sind:
a, ä, e, e, 9, i, 0, 0, 0 , u.
ä, ë, e, ï, ö, ü.
ai, au, oi, ui.
a) a entspricht Liebich-Graffunders ä in pral (Bruder)
— Liebich pral, bar (Stein), Graffunder bar, aber Liebich
porr, gakoc (Vetter) — Liebich gäko, cacor (wahr, echt) —
Liebich tschätscho, aver (anderer) — Liebich wäwer (0 aver ?) ^
ferner ë, ö in bokalo (hungrig) — Liebich bokelo und bökölo.
ä ein kurz und flüchtig ausgesprochenes gegen e nei-
gendes a vertritt im Auslaut des Nominativ Sing, regel-
mäßig Liebich-Graffunders a. Z. B. porlkä (Esel) — Lie-
bich purïka, somiä (Stall) — Liebich sonnia. Denselben
Ausgang hat oft auch die dritte Person Sing. 2. 3. Plur.
des Präsens. Z. B. kurelä (er schlägt) — Graffunder gu-
rela, dSanä (sie gehen) — Graffunder dschana.
e vertritt Liebichs ë in des (zehn) — Liebich dësch,
Liebichs a in pernoi (weiß) — Liebich parno, damedtrd
(Schürze) — Liebich damadlra, Liebichs i in 1er idi (Vogel)
— Liebich tschirküb, teleni (Strumpf) — Liebich telin. Der
Comparativ hat stets e in -der (wie bei Graffunder), wäh-
rend Liebich i, % bietet. Z. B. fededer (besser) — Liebich
fedidïr; e entspricht Liebichs ö in bolepen (Himmel) — Lie-
bich bolöpenn, wo auch Graffunder bölepen bietet.
e, das geschlossene e, wechselt mit e und % und ent-
spricht Graffunder-Liebichs e inlautend im Wortbildungs-
Suffix pen, ben, z. B. rïpen (Kleid) — Liebich ripenn, cVaen
(Bett) — Graffunder tschiben, Liebich tschipenn. Diese Worte
lauten häufiger rlpïn, h\>\n, dagegen bietet bolepen das
reine e; ferner entspricht es e im obi. Thema des Plurals
beim Substantiv z. B. cäven (Kinder) — Graffunder tscha-
ben; meist wird camn gesprochen — vergi, dagegen kanen-
gsri, pliujehgwe mit offenem e. Auslautend steht e für Lie-
bichs e, z. B. cave (Kinder), löve (Geld) — Graffunder tschabe,
Liebich löwe, këre (zu Hause) — Liebich këre\ ebenso oft
hört man cävi, lovï, Z:ërï und cäve, löve, këre. Der Artikel
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 2/3. 14
196
Sowa.
des Feminin und Obi. des Masculin ist e, e, i — Graffun-
der e, i. E vertritt das deutsche i in dem Lelmworte
met (mit).
9, ein sehr flüchtiges e, hört man in romdnicël (Zigeu-
ner collect.) für Graifunders romnitschël, gustdri (Ring) —
gustêrin, romddäno( (verheiratet) — Liebich romedïno, kërg-
àïwo (heimisch) — Liebich këreduno — in sukor (schön) für
Liebichs schukker, aver (anderer) — Liebich wäwer\ ebenso
im Wortbildungs-Suffix gdro, gdri, z. B. in kanehgari (Ohr-
ring) — Liebich gannengeri gustêrin, phujehg&re (Kartoffel pl.)
— fehlt bei Liebich. Nachschlagend hinter % lautet e in
ridi1 (Erbse) — Liebich hëril. Auslautend steht 0 für e oft
in mrd (meine) — auch mre — neben mue. Auch andere
Auslaut-Vocale können in rascher Rede zu e verflüchtigt
werden. Kein Zwischen-Vocal lautet abweichend von
Graifunder in ismä (Stube) — Graifunder ¿sema, Liebich
aber isma.
i entspricht dem deutschen e im Lehnworte viñg
(wenig).
0 entspricht Liebichs ö in rom (Mann, Zigeuner)
— Liebich röm, Liebichs u in porikct, (Esel) — Liebich
purïka, gorvni (Kuh) — Liebich gurumni; Graifunder
grumni, norkli (Katze) — Liebich murka.
o; ein sehr offen gesprochenes 0 (a), findet sich in hom
(ich bin), homes (ich war), — Graifunder hom, homes, man
hört aber auch hom, selten hom.
o ist geschlossenes 0 und wechselt mit 0 und u im
Auslaut der Nomina — meistens hört man u, z. B. gäd2oc,
gâà2u, gäd So (Mann) — Liebich gadscho (Nichtzigeuner),
loäro (groß] — Liebich baro etc. Derselbe Laut findet sich
im bestimmten Artikel 0, u (vielleicht auch 0) — Graifun-
der 0, u. — In der Endung der ersten Person des Perfects
hört man 0, u, z. B. kurdom, kurdum — Graifunder gurdom.
1 Die Verstümmlung des Anlauts ist im Dialect der deutschen
Zigeuner nicht ohne Parallele.
Die Mundart der westfälischen Zigeuner. 197
Den dumpferen Vocal bieten auch andere Mundarten des
deutschen Zigeuner-Dialects (vergi. Pott I. 392).
b) ä wechselt mit a in dädes'.ro (väterlich), dad (Vater).
ë entspricht Liebichs i in kërach (Schuh) — Liebich
dirach.
hörte ich deutlich in dem nur einmal aufgezeich-
neten Worte pasero 1 (Hirt) — Liebich berschero.
Lang ist das e als Bindevocal der dritten Pers. Sing,
und den zweiten, dritten Plur. des Präsens, z. B. in base-
vela (er spielt), basevëna (sie spielen) — was von Graffun-
der nicht speciell bemerkt wird, wol aber in einem Beispiel
bei Liebich (Zigeuner S. 125, anela) bezeichnet ist.
I steht für G-raffunder-Liebichs i in rlpen (Kleid) —
Liebich ripenn, clben (Bett) — GrafFunder tschiben, Liebich
tschipenn, ridi (Erbse) — Liebich hëril.
ö steht für Liebichs ü in veljöna (Violine) — Liebich
welljüna.
ü wechselt mit u in but, but (viel).
ai entspricht Graffunders ei in grai (Pferd) — Graf-
funder grei (wol auch mit dem Laute ai zu sprechen). Die
Endvocale der Präsens-Formen werden vor anlautendem
Vocal des folgenden Wortes mitunter abgeworfen; Beispiele
hierfür bieten die unten angefügten Sprachproben.
II. Consonantismus.
Charakteristisch für die Mundart ist die tonlose Aus-
sprache der Medien g, dg, d, b nicht nur im An- und Aus-
laute, sondern selbst inlautend zwischen Vocalen; es ist
möglich, dass sie sich von den Tenues durch geringere
Energie der Articulation — wie sie ja den Media zu-
1 Daneben pasemakro (Schaf) —- wofür bei Liebich keine Pa-
ralelle zu finden. Möglich, dass Liebich genauer gehört hat, als
ich. Vgl. übriges zum Ausfall des r die weiter unten gegebenen
Beispiele und engl. Zig. basengro, Hirte.
14*
198
Sowa.
kommt — unterscheiden; zu hören ist jedoch dieser Un-
terschied nicht. Ich glaubte dennoch diese Laute schon
deshalb nach Analogie der anderen Dialecte mit g, d2, d, b,
nicht mit h, c etc. bezeichnen zu sollen, weil die tonlose
Aussprache nicht ganz consequent festgehalten wird, viel-
mehr mitunter diese Laute (d2 ausgenommen) noch als
Media mit einem gewissen Stimmton zu Gehör kommen.
Das Schwanken der Aussprache dieser Laute wird
auch von Liebich (Zigeuner S. 117) bemerkt, aber diabe-
tischer Verschiedenheit zugeschrieben. Auch G-raffunder
erwähnt (Zigeuner S. 53) diese Eigentümlichkeit. Beide
Schriftsteller begünstigen in der Schreibung die Mediar
während ich nach dem Gehör meistens die Tenuis setzen
würde.
In bestimmten Fällen werden die inlautenden Medien
stets tönend gesprochen und zwar g hinter h (nach Graf-
funder auch d hinter n), d im Suffix des Comparativs -der,.
des Perfects -dorn etc. und in manchen anderen, die nicht
unter eine Regel zu bringen sind.
Der Consonantenbestand ist folgender:
k, k, g, g1, n, ch.
c, dî, j, 's.
t, ts, d, d, n, r, l, s, c (dz),
p, ph, b, b, m, f, V, w.
Die Tenues k, t, p werden hauchlos wie im Slavi-
schen, die Aspiraten kh, th, ph mit einem ganz leichten
Hauche — wie die deutschen h, t, p — gesprochen; bei
th ist die Aspiration am vernehmbarsten, h fällt aus im
unbestimmten Artikel je für jelc (vergi. Pott I. 280). es ent-
spricht sehr häufig Graffunder-Liebichs g, was jedoch lediglich
die Schreibung betrifft.
In her ach (Schuh) entspricht k Liebichs d (t) — Lie-
bich dirach.
kh entspricht in Jchas (Heu) Liebichs h — Lieb, kass,
1 Die Antiquabuchstaben bezeichnen die tonlosen Media.
Die Mundart der westfälischen Zigeuner. 199
lind so ohne Zweifel in allen anderen Wörtern, welche im
griechischen und böhmischen Zigeunerdialect 1ch haben.
ch hat bei den westfälischen Zigeunern nicht wie bei
Graffunder (ZigeunerS. 52) und Liebich (Zigeuner S. 120)
auffällig tiefe oder rauhe Aussprache, sondern entspricht
dem ch der Süddeutschen; oft hört man nur h für ch, z. B.
in häva (ich esse) neben chava (vergi. Liebichs heiwawa [ich
verstehe] gegenüber chàìóvav im Dialect der böhmischen
Zigeuner.
Die Dentalen werden niemals mouillirt, — wo sich
nj findet, sind die beiden Laute getrennt zu sprechen, z. B.
in sornja (Stall).
n entspricht Liebichs m in norldi (Katze) — Liebich
murka; es findet sich eingeschoben in busnin (Ziege) gegen-
über Liebich pussin; es fällt aus vor dem j des Nominativ
Plur. und des Obi. der Feminina, z. B. romja (Frau Acus.
Sing.) — Graffunder romnia, pheja, pheje (Schwestern Nomin.
Plur.) — Graffunder penta.
th und ph treten für Liebichs t, p wol an den meisten
Stellen ein, wo die oben erwähnten Dialecte die Aspirata
haben; ich hörte thüd (Milch) — auch bei Liebich thud,
phu (Erde) — Liebich puw, phen (Schwester) — Graffunder-
Liebich pën.
b, b wechselt mit v, f (vergi. Graffunder Zigeuner S. 53
und Liebich Zigeuner S. 117), z. B. gäb und gäf (Dorf) —
Liebich gab ; stets wird cävo (Knabe), ~kuräva (ich schlage)
gegenüber Graffunders tschabo, guraba gesprochen; auslautend
steht w (das englische w) in bow (Ofen) — Graffunder-
Liebichs b in hob gegenüber, v entspricht Graffunder-Lie-
bichs m in gorvni (Kuh) — Graffunder grumni, Liebich gu-
rumni (vergi, im griech., ungar., böhm., mähr. Dialect ga-
ruvni, guruvñi). Das vorgeschlagene w fehlt in aver (anderer)
— Liebich wäwer, vielleicht o (m) äwcr ?
r ist lingual, nicht stärker rollend als im Deutschen;
in der Lautgruppe skr verschwindet es oft ganz, man hört
lesko (sein) neben lealtro, daAesko (väterlich) für dadeslcro ;
200
Sowa.
so stets pe (auf) gegenüber Liebichs pre. Auch vor Con-
soiianten wird r oft kaum hörbar gesprochen, z. B. in
forceta {forseta? Gabel) — Liebich forschetta, welches fast
foceta klingt; hierher dürfte auch das oben erwähnte pasero
für Liebichs berschero zu ziehen sein. — Für sornja1 (Stall)
dagegen bietet Liebich eine Form ohne r — sonnia.
I entspricht Liebichs n in vochlin (Fenster) — Liebich
wochni.
Auslautende Consonanten werden mit folgenden Aus-
lautvocalen in Liaison gesprochen, z. B. Me horn an o gab,
ich bin im Dorfe.
III. Betonung.
Yergl. Graifunder Zigeuner S. 52. Der Accent hat
nicht die Eigenschaft den Vocal einer Silbe immer zu
längen, wol aber sind die Vocale unbetonter Silben durch-
wegs kurz. Ueber die drittletzte Silbe kann der Accent
nicht hinausgehen, — auf dieser liegt er in den Bildungen
auf ehgdro( — engdri, den Adjectiven auf ah, doch haben
die letzteren einen starken Accent auch auf der Endsilbe,
welcher sehr oft zum Hauptton wird. Worte mit langem
Vocal in der vorletzten Silbe betonen gewöhnlich diese,
demnach z. B. die Formen des Präsens: 1curáva, imréla, l;u-
rêna\ geschlossene vorletzte Silbe dagegen hat nicht not-
wendig den Hauptton.
In den Substantiven auf in und Ii hörte ich dieses
Bildungs-Suffix auch bei langen oder geschlossenen vor-
letzten Silben oft mit dem Ton ausgestattet; z. B. in bws-
uin (Ziege), büün (Arbeit), norldi (Katz), cerkli (Vogel) der-
art, dass die letzte gegenüber den andern noch als hervor-
1 Damit erledigen sich Potts (Zig. II. S. 238) Zweifel an der
Existenz dieser Form; sie widerstreitet aber auch dan a. a. 0. ge-
machten Versuchen zur Erklärung von sonnja, welch letzteres doch
wol die jüngere Form des Wortes ist.
Die Mundart der westfälischen Zigeuner. 201
gehoben empfunden werden konnte. Das Gleiche fand in
einem Beispiel im Accusativ Sing, mit dem Obi. Thema-
Suffix statt, — rom,¡ja yon ròmni, wogegen der Nominativ
Plur. yon phm den Ton auf der ersten Silbe hatte: phèja,
phèje. In den wenigen Beispielen, in welchen sich ein
„Conjunctiv" des Präsens feststellen ließ, trug diese Form
den Ton auf der Endsilbe: te kèras (dass wir tun), kurèn
(sie schlagen). — Beispiele für die Betonung, deren er-
schöpfende Behandlung nur auf Grund reicheren Materials
möglich wäre, bieten die unten folgenden Spracbproben.
IV. Bemerkungen zur Formen- und Satzlehre.
In der Stammbildung bietet die westfälische Mundart
manche Abweichung von dem bei Graffunder und Liebich
dargestellten; so hat sie norLli (Katze) — Liebich murkat
cerkli (Vogel) — Liebich tschirkülo; piro (Topf) entspricht
Liebichs plri, dikli (Tuch, Halstuch) Liebichs dikklo.1 Die
Substantiva haben oft -in für -i oder -i für -in der anderen
Mundarten, ein Schwanken, welches auch in anderen Dia-
lekten gewöhnlich ist — so vochlin (Fenster) — Liebich
wochni, pani (Wasser) — Liebich pänin, teleni (Strumpf) —
Liebich telin. — Das Genus des Substantivs wird nicht
immer streng beim prädicativen Adjectiv festgehalten. So
hört man: O thüd (männl.), hi perni (weibL), die Milch ist
weiß. 0 saster (männl.), hi phäri (weibl.), das Eisen ist
schwer.
Aus der Declination scheint der Instrumental zu ver-
schwinden — wenigstens wurde in Sätzen, wie „Ich schlage
mit dem Stocke" der Nominativ mit der aus dem Deutschen
entlehnten Präposition met (mit) angewendet. Vergi, die
Beispiele unten.
1 Vielleicht sind die Formen auf i Diminutiva, wie in einigen
modernen indischen Sprachen, vergi, in Sindhi : kätu (großes Messer)
käti (kleines Messer), Trummpp, Sindhi Gram. S. 77.
202
Sowa.
Possessiv-Pronomen der ersten Pers. Sing, ist sowol
miroc als mroc, moc. — Das bei Graffunder so häufig als
Artikel fungir ende Demonstrativ-Pronomen koba, kowa konnte
ich bei den westfälischen Zigeunern überhaupt nicht fest-
stellen. Die von ihm aufgezeichnete Pluralform des Re-
flexiv-Pronomens pen — allen anderen Dialecten fremd —
bestätigen die von mir erhaltenen Beispiele.
Beim Verbum fiel die Form der zweiten Pers. Sing,
des Präsens auf: vehi — Graffunder weha in: Kater vehi?
Woher kommst Du? eine Frage, die ich mehrmals hörte.
Die von Graffunder aufgezeichnete auf a auslautende Prä-
sensform fand sich im allgemeinen Gebrauche für Präsens
und Futur; die Verwendung von Partikeln zur näheren
Bezeichnung des letzteren kommt in den von mir aufge-
zeichneten Sätzen nicht vor; die von Pott als Conjunctiv
bezeichnete, dem Präsens anderer Dialecte entsprechende
Verbalform mit consonantischem Auslaut, ließ sich in einem
Beispiele nach te, also ganz in dem Gebrauche, den ihr
Pott zuschreibt, consta tiren; der für die Aufzeichnung etwas
zu rasch gesprochen ene Satz lautete: Men dm de (wol Graf-
funders hum te) kerâs but bütin, Wir müssen viel arbeiten
(Arbeit tun). Aus dem Satze: I lurde kurèn pen, Die Sol-
daten schlagen einander, möchte ich in Ermangelung wei-
terer Belege keine Folgerungen für den Gebrauch dieser
Form ziehen.
V. Einige Sätze als Sprachprobe.
E cave dSàna an e sikepàsken. Die Kinder gehen in die
Schule. — 0 à2ukr hi pal o bòw. Der Hund liegt (ist) hin-
ter dem Ofen. — I gòrvni chàl\ (hàl') e Ichas. Die Kuh frisst
(das) Heu. — Me dSàva an o flêko. Ich werde in die Stadt
gehen. — Me horn an o gáb. Ich bin im Dorf. — Men dm
de keràs but bütin. Wir müssen viel arbeiten. — Man hi vihg
love. Ich habe wenig Geld. — Ah i phù hi je' bar. Auf der
Erd liegt (ist) ein Stein. — Mr9 câve hi bokalè. Meine Kin-
Die Mundart der westfälischen Zigeuner. 203
der sind hungrig. — Man hi dui phèje. Ich habe zwei Schwe-
stern. — O rom kurëla pesiera romjà. Der Mann schlägt sein
Weib. — 0 thüd hi perni. Die Milch ist weiß. — Me Icur-
dcm o. grai. Ich habe das Pferd geschlagen. — 0 bolepen
hi baro. Der Himmel ist hoch (groß). — Dïuvje hi sulceri
Mädchen sind schön. — I lurde Teuren pen. Die Soldaten
schlagen einander. — !(?.) miro her hi stär ismi. In meinem
Hause sind vier Stuben. — An i vàlin hi pani. In der
Flasche ist Wasser. — I cave hi an o päni. Die Kinder
stehen (sind) im Wasser. — Me dSäva pas i romeni-cël. Ich
gehe unter die Zigeuner. — Laco( dives galea. Guten Mor-
gen, Vetter! — Hol tu ja cacoc rommi-cël? Bist du ein echter
Zigeuner? — Havoc gesèftoc M tut? hai tu je cor? Welches
Geschäft hast Du? bist du ein Handelsmann? — Me hom
je caco Mio. Ich bin ein echter Zigeuner (Schwarzer). —
Hi tut je' caco lëredûno ? man hi aver je këredîmo:.1 — Me hom
je càci dctdesH ramni. Ich bin eine Zigeunerin von unver-
fälschter Abkunft (eine echte väterliche Zigeunerin). —
Man hi je suiter rom. Ich habe einen schönen Mann. — 0
d«d hurél i càven. Der Vater schlägt die Kinder. — I cäve
pasevên' an e hòfa. Die Kinder spielen im Hofe. — Mroc cavoc
pasevéla pe veljöna. Mein Knabe spielt die (auf der) Violine.
— I d ai Uurël' o càves met o lîàst. Die Mutter schlägt das
Kind mit dem Stocke. — An amâro Icër hi büt cave. In un-
serem Hause sind viele Kinder.
Ich benutze die Gelegenheit, einige in meinem Aufsatze über
die Mundart der ostpreußischen Zigeuner, im vorigen Jahrgange
dieser Zeitschrift S. 82 if. bei der Corrector übersehene Fehler zu
verbessern: S. 87, Zeile 11 v. u. 1. kh statt sch, S. 89, Zeile 18 v.
o. 1. hattas für hattav, S. 92 corrigire im Schema des Präsens Zeile
19 u. 20 V. o. dzana für dzan. R. S.
1 Keredüno übersetzt Liebich im Wörterbuch „häuslich, hei-
misch, wohnhaft". Der Sinn des ersten Satzes ist mir wegen des
«aco nicht klar, der zweite besagt offenbar: Ich habe eine andere
Heimat (als Du).
204
Mayer.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus
Ungarn,
Nebst Bemerkungen zum Schwerttanz.
Yon Dr. phil. F. Arnold Mayer.
In der Oesterreichischen Touristenzeitung 1886,
S. 13 if. beschreibt Herr K. Siegmeth Eine deutsche Sprach-
insel in der Máramaros und berichtet bei dieser Gelegen-
heit aus dem Orte Deutsch-Mokra: „Ein gewisses kultur-
historisches Interesse nimmt jedoch der ,Schwerttanz' für
sich in Anspruch, obwol er jetzt schon selten mehr getanzt
wird und in Vergessenheit zu geraten beginnt. Früher
durfte er bei keiner Festlichkeit fehlen und wurde von
zehn Burschen in voller Uniform getanzt, von denen jeder
ein Schwert trug. Einer unter ihnen war maskirt und
stellte den Hans Thommerl (Faschingsnarren) vor. Der
Tanz selbst bestand aus verschiedenen Sprüngen über das
Schwert, welche unter wol einstudirten und genau fest-
gesetzten Gesprächen bei Musikbegleitung ausgeführt
wurden. Die Gespräche sind im Schwerttanzbüchel ver-
zeichnet, das sich als geschriebene Tradition vom Groß-
vater auf die Enkel fortgepflanzt hat. Der Vortänzer tritt
auf, sagt seinen Spruch . . . und ruft dann einen Tänzer
nach dem anderen herbei, welcher unter Absingung seines
Spruches die taktmäßigen Sprünge ausführen muss." Durch
die Freundlichkeit des Herrn S. bin ich im stände, den
merkwürdigen Schwerttanz hier ganz mitzuteilen.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 205
1 [la]1 Schwerttanzbüchel,
geschrieben im jähre
1836 [M].
[lb] Lustiger schwerttantz.
Spruch des ersten vortantzer:
wir treten herein also fest,
5 wir grüßen den hferrn] wirth
und all seine gäst,
wenn wir aber den einen grüßen]
und den andern nicht,
so möchtens man, wir waren
keine rechten Obernthuner
nicht :
Obernthuner Obernthuner sind
wir genannt,
wir ziehen fürsten und grafen
wohl durch sein land,
1 Parenthesen in [] sind immer von mir; ein einfacher wag-
rechter oder schräger Strich im Text deutet fehlende Entsprechungen
in einer Fassung gegenüber der anderen an; ■■ ■ Gleichheit ent-
sprechender Stellen. Ein beigesetztes H. bezeichnet Mitteilung oder
Nachweis von Professor R. Heinzel.
M 1. Vgl. dazu M 188. Wir, d. h. Yortänzer, Fasching und
Spielleute.
M 1, S 1. Feststehender Eingang bei solchen volkstümlichen
Spielen, s. das von mir in der Zeitschr. f. d. Altert. [Zs.] 29, S. 104 ff.
veröffentlichte Kreutzburger Weihnachtsspiel, V. 10 und die An-
merkung. Zu unserer Stelle insbesondere [MS 1 ff.] im Salzburger
Schwerttanz [unten S. 223 ff. Nr. 5]: Wir treten herein ganz edel
und fest \ und grü&en alle anwesenden Zuschauer aufs best, \ grüßten
wir einen oder den anderen nicht, | so möchten sie meinen, das wären
die rechten schwerttänzer nicht; \ spielmann mach auf den lustigen
schwerttanz. Dazu noch Uhland, Volkslieder I. Nr. 3, Str. 2: Solt ich
ein grü&en, die ander nit, j so sprächens, ich war kein singer nit.
[Die allgemeinere Bezeichnung durch Singer, Schwerttänzer wird das
ältere, erst später die lokale Bestimmung eingetreten sein.]
M 7 Obernthuner, ist vielleicht Obertrum, bei Mattsee im
Salzburgischen, von Gmunden, der Heimat der Mokraer Kolonisten,
nicht allzu weit, gemeint? oder Oberthurnim oberösterreichischen
Flachlande bei Neumarkt ?
Steirischer Schwerttanz
bei S chi ossär [S].
1 Ich tritt herein wol also fest
und grülie Ihro kaiserliche ho-
heit, den aller durchlauch-
tigsten erzherzog Johann etc.
aufs best,
absonderlich begrüße ich
eins und das andre; tät ichs
nicht,
5 so wär ich kein rechter Ober-
steirer nicht.
Obersteirer bin ich genannt,
206
Mayer.
10 wier ziehen die eine gassen
auf, die ander nieder,
wier kommen abr allzeit her
wieder.
ich führ daher ein höflichs '
ich führ meine kling in der
rechten hand,
tritt jungfrau herein in den
. grünen kränz,
das mit mir in schelleln herum-
springt,
spielleith machts auf den lusti-j
gen schwerttanz. J
15 vordanzer spricht dann: herein
Grünenwald.
[Vgl. M 30.]
[2 a] warum huast du mich in
Grinnenwald?
ich grab die wurzel jung unnd
alt,
schwarz, weiß, ehrenpreiß
ist gut für die 'raazen und für
die meiß,
20 auch die jungen spitzmeiß,
hernach thu ichs in ein heferl
hinhein
• den schwerttanz.
[Vgl. S 35.]
10 der Fasching ruft: herein Ober-
mayer.
[Vgl. S 38.]
[Vgl. S 74-77.]
M 10. Vgl.: Ich xog das drey und dreisigste land auf und
nieder, aus dem unter Nr. 21 unten angeführten Winkelmannschen
Spiele V. 15.
M 12. 13. Darnach sollen meine gesellen ihre schellen lassen
khngen, Nr. 21 V. 33, also sollen meine gesellen ihre schellen lassen
klingen, V. 5.
M 14. Trommelschläger, schlag auf die trommen, \ dass wir %u dem
tanzen kommen, Nr. 21 V. 12. 13. Eine weitere Parallele bietet
die zu M S 1 angeführte Stelle aus dem Salzburger Spiel.
M 16. Die irage der auftretenden Person hier und im fol
genden soll nur derselben Gelegenheit geben, ihr eigenes Wesen zu
schildern, huast mit ua f. ai, Weinhold, Bair. Gramm. § 106.
M 18. ehrenpreiü, Veronica officinalis, galt früher allgemein
als ausgezeichnetes Wundmittel, s. dazu unten S. 232.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
207
und lass' 24 stund sieden drein/
dann nimm ich wieder heraus,
mach mir ein grinenwaldsalben
daraus, ;
25 sie rinnt nicht und schwinde
nicht,
schadt auch den kleinsten kind
nicht,
enta es liegt der knecht bey
der dirn,
da kann meine grinnewald-
salben auch nicht dafür,
meini herren.
30 vordanzer ruft den 2. mann:'
herein Obermuar!
antwort:
warum huast du mich den
Obermuar ?
ich iss den tag nicht mehr als
8 uar,
8 S uar und siessen [ 2b] 1
schotten,
35 ja bei den schön menschen
lass ich mich auch nicht ver-
spotten,
ich huaß Hons Kannichs, zum\
raufen und zum schlagen bin
i nit da böst, J
[Vgl. S 74-77.]
Obermayer :
warum heiß ich Obermayer?
ich iss den tag wol neun
pfund eier,
neun pfund eier wol nicht
allein,
15 süße milch und saure schoten,
die jungen madin sind mir auch
nicht verboten.
ich heiß auch der Hans Kanix,
zum raufen und zum schlagen
bin ich der best.
M 23. ich, 1. ichs.
M 25. schwindt — zergeht ? oder besser [H.] : verflüchtigt sich.
M 27. enta, Schmeller, Bair. Wörterbuch, I2, 4 [BMZ, Mhd.
Wörterb. I, 430], eher (prius), hier im Nebensatz, der Yers ist
mit dem vorhergehenden zu verbinden, das Ganze muss burlesk ge-
fasst werden; enta in derselben Bedeutung M 156, mhd. würde in
beiden Fällen wan [nisi] stehen.
S 14. In M fehlend [übrigens reimlos] und wol zu tilgen; der
nächste V. in S nach 13 wird ähnlich wie M 34 gelautet haben.
M 36. böst, d. i. best [optimus], ö f. e Bair. Gr. § 26, in S miss-
verstanden als: nit der boeste [non pessimus] = der beste?
208
Mayer,
wo man den scharfen degen
auszoicht,
bin i der erst, der bei der
dör ausfliecht,
wann der köpf bei direiniröckt,
40 u. wo ma kröpfen ihm wieder
hienein stockt,
bin ich der erst, der und straum
bacht,
bin i der erst, ders ins maul
faucht,
meini herren. j
vordanzer ruft den 8. mahn:
herein Obenstreit!
45 antwort :
[Vgl. M 81.]
warum huast du mich den'
Obenstreit?
ich ziech daher von aller weith,
ich ziech die andern gassen auf,
die andern nieder,
bettel dass brod und Verkaufs
wieder.
[Vgl. S 113.]
herein Jungesgsell.
(der gerufene erscheint.)
[Vgl. S 47—54 u. 102. 103.]
M 37. auszoicht, Bair. Gr, § 98.
M 39. L. bei da Dir. rockt, das mhd. Wb. II 1, 591 hat für
die intrans. Bedeutung von recken einige Belege [emporragen,
mittels Ausstreckens irgend wohin reichen, eilen, los-
rennen, verrecken?].
M 41. L. erst, und der straum b. [= und wenn man, der
= wenn man, Mhd. Wb. I, 32014), vgl. Deutsches Wb. der Brüder
Grimm I, 972 und die dort beigebrachten Beispiele aus nhd.
Zeit], straum = Strauben, eine Art Pfannkuchen, Schöpf, Tirol.
Idiot. 718; Schmeller IIa, 803 f.
M 42. faucht, au f. â, Bair. Gr. § 71.
M 48. Widerholt aus M 10?, vgl. S 102. 103. f. die andern . . .
die andern wird man vielleicht die einen . . . die andern lesen
müssen.
M 49—53 [mit S 49—54]. Vgl. aus dem unter No. 21 angef.
Spiele V. 11 ff.: Da ich war wie ein krug, | da mich mein vater
zum hauß hinaus schlug. \ er gab mir einen weißen stecken
in meine rechte hand | und weist mich damit in das drey und
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 209
[Vgl. S 47—54 u. 102. 103.]
[Vgl. S 55-63.]
50 bin ich [3a] ein wunderlicher
mahn,
stett mir mein hoffen so
wacker an,
hat mein vatter gemeint, ich
bi so gar verdorben,
u. bin durch bettelbrod ein
reicher kaufmann won,
meine herren.
55 vordanzer ruft den 4. mann.
Springinsklee,
herein Hansspringinklee !
ant[wort] :
warum huast du mich den
Hansspringinklee ?
harte arbeit thut mir ja weh,
€0 holzhacken u. scheida klimm,
dabey mog bugi nit biegen.
vordanzer fragt:
was hat dier dein vater für
ein handwerk gelehrt?
antwort Hanspringinklee:
65 zönt ausbrechen,
äugen ausstöchen,
naßen abschneiden,
der teufel mag das ding daleidn.
dreisigste land. \ ich zog das drey und dreysigste land auf und
nieder, | ich bettelt mein brod und verkauft es wieder. |
da meint mein vater, ich wer verdorben: | da war ich zu
einem kauf man worden. | ich h ab verthan mein gut \ bis
auf einen alten filzhut | der liegt zu Speyer auf dem
heller \ und ist versetzt vor drei heller. Die VV. sind aus
der Schlussrede des Vortänzers an die Zuschauer. Wie mir scheint,
ist das mehr ein an unrechte Stelle versprengter Rest einer
selbständigen Figur, wie in S Edlesblut ist, die schon in M verdrängt
wurde, s. unten S. 231. [Zu den hessischen VV. vgl. auch Müllenhoffs
Parallelen aus Meister Irregang und aus Des Knaben Wunderhorn,
Festgaben für Homeyer 127 f. Ebda. 128 über den Filzhut
= nichts mehr].
M 52. bi, d. i. bt, Bair. Gr. § 167.
M 53. won, s. Bair. Gr. § 148.
M 55 Spring., von zweiter Hand zugefügt.
M 60. klimm, d. i. klieben.
210
Mayer.
bin nachtn auf der Ofenbank'
gesessen u. hab mein hossen
zerrissen >
70 u. habs [3b] denn nohren aufs
maul geschmissen,
meine herrn.
vordanzer ruft den 5. mann:
herein Schellerfridl !
antwort :
warum huast du mich den >
Schellerfridl ?
75 in wald da gibts fieli holz u.
briegel.
friesches fiaschi auf meine
Seiten,
Ruwey, deiner mag ich mich
nit meiden,
Ruwey, wann du mir das öfter
wirst sagen,
so wir ich dich zum schlapara-
potn über die koppen schlogn,
80 meine herren.
vordanzer ruft den 6. Mann:
herein Gesnell!
antwort :
M 69. 70, fehlen, wie die vorhergehenden VV., in S; aus M
106—111? 70 denn, wol verschrieben f. dem.
M 72. Schellerfridl, vgl. M 13.
M 76 f. Das Fiaschi und Rotwein gehören gut zusammen, der
Sinn der Stelle ist mir jedoch nicht klar.
M 77. Buwey, û f. ô, Bair. Gr. § 63, Ausfall von t, ebda. § 142.
M 76—79 aus M 115—124 mit 110. 111? Der Sinn ist: ich
will mich deiner nicht enthalten.
M 79. schlaparapotn, wol — schlappere! schlapperewolt! schlap-
perement! — sackra, Schöpf 617; vgl. schlapadibix, schlakadibix,
Castelli, Wörterbuch der Mundart . . . unter der Enns 243; an-
dere Formen bei Schmeller II2, 530: wol ein verkapptes Sdclcgro ;
übrigens s. auch slappe, Mhd. Wb. II2, 392, = Haube, ahd. u.
noch später bedeutet das Wort auch leichter Schlag, Maul-
schelle.
M 81. Ueber Gesnell s. unten S. 229.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
211
warum huast du mich den
Gesnell ?
ich geh wohl her aus der höll.
A
25
85 was hast du in der höll ge-
than ?
verspielt, was ich gehabt hob.
we hat dir zu geschaut?
der wirth auf der bern- 30
haut. [4a]
was thut der wirth auf der
bernhaut ?
20 wo kommst du her?
Jungesgsell:
wol aus der höll.
Obermayer :
was hast in --
Jungesgsell:
Obermayer :
Jungesgsell :
wirt in der
Ob er mayor:
—— tut derselbe wirt?
Jungesgsell:
würfeln und karten beim licht.
90 spielt würfll u. karten auß.
was thut der Endl?
ist in bäum, beiteli kirn und
spundl.
was thut die Bendi?
sie ist in der kuchl, reibt
schießel u. kandl.
M 84. höll, s. Schmeller I2, 1080 unter Hell2): der enge Eaum,
den an einem Winkel der Stube der Ofen mit der Wand
bildet.
S 20. Vgl.: Wo kommen Sie her, wo wollen Sie hin ? der König
von England zum König von Sachsen im Harzer Spiel, unten Nr. 2.
M 86. hob, 1. han, so hat auch S.
M 87. we, vgl. Bair. Gr. § 162.
M 91. Endl, ? — Andreas; es gibt auch einen Familiennamen
Endl: Steub, Die oberd. Familiennamen 91 [Diminutiv aus ahd.
Agino]; wahrscheinlicher [H.] = Großvater, [s. An, Änil, Eni,
Än, En il bei Schmeller I2, 85].
M 92. L. beitelt birn und spendi [spenling, Schmeller II2,
674 f., eine Pflaumenart, Spindel pflaume].
M 93. Bendi, Diminutiv aus einer Zusammensetzung mit bern—,
Steub 45 als Familienname.
M 94. kandl, 1. kendl.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 2/3. 15
212
Mayer.
95 was thut die dirn?
ist in keller. thut butter rirn.
was thut der kneeht?
liegt bei der dirn, er glaubt,
er hat recht,
was thut der Kluabua?
100 sitz[t] beim tisch u. schaut
durchs glassei zu,
meine herren. >
35 herein Grünwald.
(der gerufene erscheint.)
Grünwald :
warum heiß ich Grünwald?
husch, husch, ist heut so kalt»
40 weil ich aus dem grünen wald
bin kommen,
so bin ich tapfer heimkommen ;
von meinen brüdersleuten
schneidt man lange riem aus
kurzen häuten,
herein Edlesblut.
45 (der gerufene erscheint.)
Edlesblut:
warum heiß ich Edlesblut?
der wenig gewinnt und viel'
vertut.
ich hab vertan mein vatersgut
50 bis auf einen alten zerrissenen
filzhut,
der filzhut lifegt zu Wien im
keller,
hab ihn versetzt wol um drei
heller,
wie bin ich nicht so rund und
so bös,
dass ich meinen alten zerris-
senen filzhut wieder auslös.
M 98. Vgl. M 27.
M 99. L. der kuabua.
S 43 verstehe ich nicht.
S 53. rund, Schmeller II2, 118 = wacker, tüchtig; rundig
S. 119, = flink, hurtig, s. auch Schöpf 570. — bös?
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
213
55 herein Springesklee.
(der gerufene erscheint.)
Springesklee :
warum heiß ich Springesklee?
[M 58] — mir weh,
60 wenn man mir von der harten
arbeit sa^t,
so ist mein ganzer leib verzagt,
holzhacken und scheiter klein,
das will mein buckel gar nicht
ein. — — —
herein Schellerfriedl.
65 (der gerufene erscheint.)
Schellerfriedl:
warum heiß ich Schellerfriedl?
in meinem wald wächst holz
und prügel.
holz und prügel nicht allein,
70 hohe stock und niedere stein,
herein Wilder waldmann,
(der gerufene erscheint.)
Waldmann :
warum heiß ich Wilder wald-
mann?
75 weil ich allewurzelundkräuter
graben kann,
ich grabs aus, ich haus aus
und mach eine kostbare wund-
salbn draus,
herein Hanssupp.
(der gerufene erscheint.)
80 Hanssupp :
warum heiß ich Hanssupp?
im krieg hätt ich eine große
lust,
S 62. klein, aus kl e üben [H.] = mhd. klieben; vgl. M 60
und Bair. Gr. § 84.
S 71. Ueber Wilder waldmann s. unten S. 258 f.
S 78. Hanssupp, den Namen erklärt das fgd. [Yon Suppe, also
bezeichnend für den Gefräßigen ; über Composita mit Hans s. Grimms
Mythol. 473. 478, dazu 4. Ausg. III, 145. 147 f.]
15*
214
Mayer.
[Vgl. M 115—125.]
[Vgl. M 47. 48.]
wo man mit knöpfl und sem-
mein drein schust,
mit langer bratwurst schlüg
man drein,
85 im essen und trinken wird
keiner über mich sein,
hätt ich all wochen mein geld
und bsold,
so könnt ich schaffen, so lang
l ich wollt.
herein Rubendunst.
(der gerufene erscheint.)
90 Rubendunst:
warum heiß ich Rubendunst?
viel reden macht Ungunst,
stillschweigen ist auch eine
kunst,
hast mir nachten eine spött-
liche red angetan,
95 dass ich heute noch einen
zorn auf dich han.
ich hau dir ein stück aus dei-
nem leib,
kropfichter narr, lass mich
entkeit.
herein Leberdarm.
(der gerufene erscheint.)
100 Leberdarm:
warum heiß ich Leberdarm?
zieh einher aus schneller eil,
dreizehn tag, vierhundert meil,
hab nie nichts gessen oder
trunken,
S 83. knöpfl, Knödel, Klöße. Grimm, Deutsches Wb. V, 147 37),
vgl. Sp. 1481 unter Knöpflein3).
S 87. L. schlaffen f. schaffen?
S 88. Rubendunst, Rübe im Dunst ?
S 97. entkeit, d. i. un g eh ei t [H.; s. Schmeller I2, 1025 ff. unter
geheien = werfen, schlagen, plagen, ärgern; davon ungeheit
= ungeplagt, ungeschoren; Lass mich unkeit ebda, aus Hans
Sachs]. Dann wird auch M 122 entkeit für mekeit zu lesen sein.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
215
vordanzer ruft den 7. mann:
herein Ruwey !
ant[wort] :
warum huast du mich den
Ruwey ?
105 ich lass die bauern gottloß
buam seyn,
sama nachtn beim sauren
wein gesessen,
hamt im dö nahrn . ., ich
het an holzschlögl gefressen,
ist mai magn ist mir [4 b] so
lausig und ring,
ich hof, er wird wol noch
drin lingn.
110 mit dem Grienenwald mag
ich mi nit vertragen,
ich müst ihm zum schlapara-
potzen über kopn schlagen,
meine herren.
vordanzer ruft den 8. mann:
herein Röxmaul:
antwort :
115 warum huast du mich den
Röxmaul ?
ist mir mein herz hinabge-
sunken,
herein Rotwein.
(der gerufene erscheint.)
Rotwein :
warum heiß ich Rotwein?
bauern heißen uns bösebuben
sein;
hab mich nachten bei einem
sauern wein versessen,
hab, glaub ich, einen holz-
schlegel gessen.
M 102. Ruwey, vgl. V. 106.
M 107. . V hier steht ein nicht gut leserliches Wort, das wie
xinghe aussieht, do nahrn geht wol auf die Bauern M 105 ; dann
stimmt M 107 zu M 105 nur in dieser Fassung, nicht in der
von S [110].
M 108. Das erste ist zu tilgen, lausig, der Magen ist mir
lausig, mir ist übel, besonders vor Hunger, Schmeller I2, 1511;
ring, — leicht, er fühlt seinen Magen leer.
M 109. lingn, mit Nasalirung, Bair. Gr. § 168 [oder ist liegen
gemeint? e und n scheidet die Vorlage nicht deutlich].
M 110. den f. dem, Bair. Gr. § 863.
M 111. schlaparapotxen, s. zu M 79, welcher V. hier überhaupt
zu vergleichen ist.
M 113. Eöxmatil, d. i. reck 's Maul.
216
Mayer.
Ruwey, mit deinen rödenbist
du ga faul,
hast du mir nachtn abend spadt
ein falsche röd gethan,
das ich für einen zorn in
meiner hand,
Ruweyn, ich wil dir ein hager
braden göhn auf deinen laib,
120 dass du must klagen kind
u. weib.
kind und weib zu jeder zeit,
herein Höfenstreit,
(der gerufene erscheint.)
115 Höfenstreit:
warum heiß ich Höfenstreit?
bauern stehts auf, ihr habt
schon zeit,
ich zieh herum auf freier
straßen,
welcher will sieh meiner
maßen?
120 ich stich dich nieder auf freier
straßen.
Ruweyn, aufs nagst lass du
mich mekeit,
Ruweyn, ich will dir ein
blatten [5a] Schern,
u. will dich auf den danz-
boden köhrn,
125 meini herren.
vordanzer spricht:
frint, frint, an dem andern] \
schödigts nit, • \
es mechten uns die herren
daran denken,
M 116. ga, s. zu M 87.
M 117. abend zu tilgen.
M 119. ein hager braden, d. i. einen magern Braten, euphe-
mistisch f. Prügel? -- göhn, vgl. M 162, Bair. Gr. § 139. 169.
S 120. Scheint dem Rotwein zu gehören.
M 128. Adversativ zu fassen?
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
217
mechten uns die straf a nit
schenken.
130 eia, wer hat mein liem Ru-
wein daschlagen?
spricht Röxmaul:
herr, ich hab ihm geschlagen
zu hauffen,
dass sein seil über mein
dögnspitz muss laufen,
herr, ich hab ihm geschlagen
zu to dt,
185 alle herrn und nachbarn helfts
mir aus der noth;
vordanzer spricht:
aus der noth wohin wir dir
wohl helfen, was läugst
uns ein?
spricht Röx maul:
ein eimer wein, ein fette
schwein,
140 dabei wohin wir schwert-
danzer braf lustig sein,
meini herren [5 b].
(sticht ihn nieder.)
hab ich einen sabel und du
einen degen,
ich hab dich bracht um dein
jungfrisch lebn,
ich hab dich gstochn wol
über den häufen,
125 dass deine seel auf mein
schwert herum muss laufen,
liebe brüder, helfts mir aus
der not,
der narr liegt da, er ist schon
todt.
Obermayer:
was gibst? ich will dir helfen
aus der not.
130 Rotwein:
starke wein und fette schwein.
Obermayer :
starke wein wolln wir trinken,
fette schwein wolln wir essen,
135 wolln den Höfenstreit nicht
gar vergessen,
M 132. ihm, Bair. Gr. § 360.
M 137. längst, vgl. mhd. leist [== legst] ?
M 139. fette, 1. fettes? s. Weinhold, Mhd. Gramm.2 § 521.
M 140 fehlt in S, aus M 76? Der Y. gehört wol der Person,
zu der Röxmaul spricht; hier wäre das der Yortänzer. Richtiger
scheint die Ueberlieferung in S: Oberm. fragt und gibt dann auch
seiner Freude über den bevorstehenden Genuss Ausdruck, vgl.
dazu M 33. 34. 39—42 ; S 13. 15.
218
Mayer.
vordaijzer fangt an zu zellen
von 1 bis 10 ne. zähl auf:
ein,
lassn liegen, lassn lein,
*
ein, zwei,
140 lassn liegn, lassn stehn,
eins, zwei, drei,
ist schon dabei,
ein, zwei, drei, vier,
ist schon hier,
145 eins, zwei, drei, vier, fünf,
ist schon gefriemt.
eins, zwei, drei, vier, fünf,
sechs,
ist schon gsetzt,
eins, zwei, drei, vier, fünf,
sechs, sieben,
150 es ist schon geschrieben,
eins, zwei, drei, vier, fünf,
sechs, sieben, acht,
es ist schon gemacht,
eins, zwei, drei, vier, fünf,
sechs, sieben, acht, neun,
kann alles wol sein.
Fasching, der spricht : 155 Grünwald :
spring dahier wohl überall, ich kom daher vom fiberall
S 136 ff. Aehnlich klingt die Schlussrede des Vortänzers an
die Zuschauer in Hessen [Nr. 21] ; indess an unserer Stelle werden
wol nur des Reimes wegen sinnlose Phrasen [etwa wie in manchen
Aufzählspielen] aneinander gereiht. Vgl. übrigens auch in Nr. 21
W. wie 5 ff.: Ein köpf stück oder vier, [ so komm ich mit meinen ge-
sellen %um bier; | ein köpf stück oder neun, \ so komm ich mit meinen
gesellen %um kühlen wein.
S 138. lein, wahrscheinlich, worauf mich H. führt, = lehnen;
dann jedenfalls zu leine schw. Vb., Mhd. Wb. I, 964.
M 144. Das Richtige gewiss in S, 145 wirkte in M vielleicht
auch noch auf 144, 146 man nit überall?
S 156. fiberall?, steckt darin fippern, D. Wb. III, 1671 =
zittern, und eine Anspielung auf die Winterkälte und die gewöhn-
liche Zeit der Aufführung? s. unten S. 259 ff., u. insbesondere über
den Hans im Harzer Spiel, S. 259.
Ein deutsches Sehwerttanzspiel aus Ungarn. 219
145 meines gleichen find ma über-
all,
hat mir nacht ein altes weib
graden,
ich soll den nähren dreymahl
in arsch blassen.
[Vgl. M 14.]
spricht Ruweyn :
alle herrn u. nachbarn, ich
het ein freundlichs anbe-
gehren,
150 wenn mich einer könt bal-
birn u. Schern
und die lungi von der leber
kehrn,
balbiren u. Schern wohl nit
alahn,
mit meiner kostbarn wund-
salbn.
hab nachts spät einem alten
weib eingeben,
die erste stund ists todt ge-
legen.
160 Obermayer:
hat mir nachts spät ein altes
weib geraten,
unser Fasching soll den Höfen-
streit nehmen beim kragen
vorm eingeben, so wird der
Höfenstreit aufstehn,
wird länger leben.
165 tritt d'jungfrau herein in
grünen kränz,
spielleut, machts auf den
schwerttanz.
S 157—159 nicht in M, 158. 159 Erweiterung aus 161 ?
M 147 wol das Eichtige gegen S ; dem mir im vorhergehenden
Verse [146] muss ein ich im fgd. entsprechen. Das Derbere wurde
wol vor dem Erzherzog [s. unten S. 228] gemildert. Dem Narren
ergeht es in allen diesen Spielen übel [s. unten S. 229 ff.].
S 165. Zur Sache weiß ich nichts zu bemerken [vgl. jedoch
zu M 167—185]: trat ein Mädchen auf? bekannt ist das Kranz-
singen, Uhland, Volksld. I, Nr. 2. 3.
M 151. lungi, Schmeller I2, 1493 unter Lungel — die Lunge. Was
der V. eigentlich heißen soll, weiß ich nicht recht; es ist, als ob ßuw.
unerfüllbare Forderungen aufstellen will. Uebrigens stehen Lunge
[Lungel] und Leber in alliterirender Verbindung, D. Wb. II,
1304 unter Lunge u. Lungel; ebda 461 unter Leber4).
220
Mayer.
in mein maul habe ich ein
böses bein,
wann mirs einer könnt heraus-
rei en:
155 kein lautern suppen mag i
eina beißen,
enter ös sand stuana broka
drin.
antwortet Fasching [6a]:
balwieren u. schern will ich
dich wohl,
wans du mir gibst silber u.
rodes gold,
160 gleich wie man an ballbierer
zahlen soll,
spricht Ruweyn :
silber u. rotes gold kann ich
dir nicht göm,
ich mit dir nur an kreutzer
aus daschen göm.
Fasching spricht:
165 na so gib im her.
vortanzer steigt auf den
Faschingn u. spricht:
bin da heraufgestiegen,
war besser, ich war unten
bliben,
M 153 ff. Ygl. Ruweyn M 39 ff.
M 156. stuana broka, spaßhaft gemeint, wenn er im Gegenteil
an eine schmackhafte Mehlspeise oder Fleischbrocken in der Suppe
denkt. Richtiger scheint mir H.s Erklärung: es scheinen mir auch
in der läutern Suppe Steine zu sein. [Ueber enter s. zu M 27.]
M 157 ff. Vgl. Vortanzer M 137.
M 163. L. wil f. mit? — aus da daschen.
M 165. im, ygl. zu 132.
M 148—165. Scheinen ein späterer Zusatz, sie führen nur frühere
Motive aus. Fehlen in S,
M 166 ff. Von dem eigentlichen Tanze ist wenigstens die
Erhebung des Vortänzers auf den Schwertern hier erhalten, s. unten
S. 230. Vielleicht kam das auch in S am Schlüsse des Tanzes, der,
wie es scheint, auf das Vorspiel folgte, s. V. 166.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
221
ich steig da her auf diesen
Schwertern stolz,
170 ich schau wohl aus wie Buri
Meischenholz,
ich siech dahin von fern,
wir wolln den herrn wirth
mit den listigen schwert-
danz verehrn,
hetten Sie ein [6 b] Wohl-
gefallen daran, so sahanss
wir von herzen gern,
gabens uns mit willen,
175 so wolltens wirs nicht ver-
kraden und nit verspilln,
wolltens tragen zum mötli und
guten wein,
dabei wohlen wir alle braf
lustig sein,
unsern Fasching ist wunder-
barlicher man,
unser hab und gut hat er
uns verdón,
180 bei unsern Fasching lassen
wir mit dotzen,
M 170. Buri Metschenholz wird als Eigenname gemeint sein,
vielleicht eine Person der Lokalgeschichte oder -sage? Meischholz
ist nach D. Wb. II, 946 — Meischgabel, d. i. eine lange Stange
zum Umrühren des Meisches.
M 172 ff. Bitte um ein Geschenk, wie in Nr. '21 am Schlüsse,
V. 1 ff. [weiteres s. unten S. 230, Anrn. 1. 235. 246 f.], vgl. insbe-
sondere V. 10 Ir möget uns verehren mehr oder viel. Uebér den
zu M 110.
M 175. verkraden, s. Mhd. Wb. I, 870 [krademe lärme,
schreie], Castelli 146.
M 178. unsern, 1. unser, wunderbarlicher, aus wunderlicher
M 50?, denn das Richtige dürfte sein verthunlicher, wie die zu
M 167—185 angeführte Stelle aus dem Salzburger Spiel hat.
M 180. mit dotzen, 1. [H.] wir uns nit dotzen, s. M 182. — dotz
m-; D. Wb. II, 1315, ist ein roher Mensch, totsch ein plumper
Kerl, ebda. 1313; dot-sch in derselben Bedeutung bei Schmeller
U~, 557; andötschen mit Schussern, d. i. mit Schnellkügelchen
spielen, ebda. 558; datschen, dotschen drücken, nieder-
222
Mayer.
wir wohin ihm bald sein
kopen stutzen,
bei unsern Fasching lassen
wir uns nit gar graußen,
wir wohin ihm bald diekappen
laußen.
bin ich [7 a] den so schwar
und so ringn,
185 so spring ich doch aus den
ring,
und schaut ein jeder zu seiner
klüng.
ende.
Deutsch Mokra, am 25/7 835.
Leopold Holzberger.
Das Heftchen, das mir zur Abschriftnahme vorlag-,
kann nicht, wie Herr S. in einer Zuschrift an mich be-
hauptete, das ursprüngliche Original sein. Das Papier ist
nicht altes „Schöpfpapier" früherer Zeit, sondern feines,
weißes Maschinenpapier; auch die Tinte hatte noch nicht
die gelbe Färbung des Alters, sie erschien hellgrau, wässe-
rig, wie mit Löschpapier abgetrocknet, die Schriftzüge oft
drücken, mit flacher Hand schlagen, beohrfeigen, D e tsch'n kriegen,
ebda. 555, datscheln, dätscheln, streicheln, weichlich behan-
deln, ebda. Die ganze Stelle ist wieder unklar.
M 184. L. ring f. ringn. Die Zeile ist übrigens verdorben, viel-
leicht ist zu lesen: nit schwar f. so schwar?
M 185. Und lassen mich frisch und fröhlich zu der erden sprin-
gen. Nr. 21, V. 35.
M 167—185. Da b in ich heraufgestiegen, | war besser,
ich ivär unten blieben: \ der Fasching ist ein verthun -
licher mann, | hat all sein hab und gut verthan: | er hat ver-
than sein hab und gut | bis auf einen alten zerrissenen hut: \
er reist das land wohl auf und nieder, [s. M 167] | iv a s er bekommt,
versauft er wieder. | so spring ieh aus dem grünen kränz, [S 8.
165, M 185, zur Sache s. noch S. 242, Fig. 1] | spielmann, mach
auf den lustigen [M 14] schiverttanz [S 166]. Salzburger Spiel [Nr. 5|.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 223
undeutlich mit zahlreichen Korrekturen [meist zur Ver-
deutlichung der ersten Schrift] in blauer Tinte. Meine
Vorlage hatte die VV. nicht abgesetzt; ich lasse die Keim-
zeilen hervortreten, soweit sie erhalten sind.
Die Kolonie in Deutsch-Mokra stammt aus Gmunden
in Oberösterreich und besteht seit dem Jahre 1775 [Sieg-
ln eth a. o. a. 0. 14]. Wenn wir nun für unser Spiel
zuerst Aehnliches zur Vergleichuug suchen, so liegt eine
Umschau auf bayerisch-österreichischem Sprachge-
biete am nächsten.
I.
Vorerst aber will ich nur, um Widerholuugen zu ver-
meiden, eine Uebersicht liber die bisher bekannt gewor-
denen und gesicherten Aufführungen von Schwerttänzen ge-
hen. Das Material ist, seitdem Müllenhoff zuerst in den
Festgaben tur Homeyer, Berlin 1871, 109 ff. [Fg.], den
Schwerttanz bearbeitet hatte, gewachsen: einiges war
Müllenhoff, der zum ersten Male versuchte, die zerstreuten
Ueberlieferungén zusammenzustellen, auch entgangen. Wir
kennen jetzt
A. Deutsche, außer
1. der bekannten Nachricht in Cap. 24 der Germania
a) auf bayerisch-österreichischem Gebiete:
2. Nach seinem Ursprünge hieher zu stellen ist mein
Text M.
3. Lambacher Aufführung am 23. April 1770.
M. Lindemayr, Dichtungen in obderensischer Volksmund-
art, herausgg. v. Schmieder, Linz 1875, 334. 339 f.;
noch in jüngster Zeit aufgeführt, ebda. 410.
4. Ried [Innviertel]. Zeitschr. f. deutsches Alter-
tum [Zs.] XX, 17 ff, Aufführungen aus den sechziger
Jahren und vom Anfange des Jahrhunderts.
5. Salzkammergut. — Schlossar, Kultur- u. Littera-
turbilder aus Innerösterreich, Wien 1879, 177 ff. verweist,
ohne jedoch seine Quellen gehörig zu verwerten oder auch
224
Mayer.
nur genügende Mitteilungen aus ihnen zu machen, auf
Gebhard, Der Schwerttanz im Salzkammergute, im Oesterr.
Sagenbuch, Pest 1863, 464 f.; insbesondere
6. für die Halleiner Knappen auf Schiestl, Dirnn-
berger Knappen- oder Schwerttanz, im Jahresbericht des
Salzburger Carolino-Augusteum für 1865, 67 ff., auch
im Sonderabdruck erschienen: Erwähnungen und Notizen
seit 1586, noch heute, von den Knappen aufgeführt.
Schiestls Bericht auch bei Hartmann, Volksschauspiele,
Leipzig 1880, 126 ff.
7. E ben see am Traunsee. Nach mündlicher Mit-
teilung bei Hartmann a. a. 0. 130.
8. Laufen. Ueblich gewesen nach Seethaler, Ver-
such einer Beschreibung des hochfürstl. Salzburgischen
Pfleg-, Stadt- und Landgerichtes in Laufen am Ende des
achtzehenden Jahrhunderts Bl. 86. [Bei Hartmann
130 nach einer Handschrift im Rathause zu Laufen.]
9. Den Schwerttanz erwähnt auch Hall, Der Hauns-
berg und seine Umgebung, Salzburg 1854, 43 ff. [Hart-
mann ebda.] als früher in der Gegend von Anthering
[zwischen Salzburg und Laufen] im Brauche.1
10. St eiris ch. Unser Text S, bei Schlossar 173 ff.
Aufführung aus dem Anfange unseres Jahrhunderts. Nach
Schlossar 177 ist der Schwerttanz „erwiesenermaßen noch
in den letzten Jahrzehnten in Obersteiermark und in dem
daran grenzenden Teile von Salzburg vom Landvolke zur
Darstellung gebracht . . . und wol noch aufgeführt."
11. München. Nachweisungen aus dem 16. Jahr-
hunderte in der Alemannia XIV, 185.
12. Braunau (-München). Bericht von 1782 Zs.XX,
19; Münchn. allg. Z. 1879 Nr. 40, Beilage.
13. Nürnberg. Seit 1350 (1351) wider holt bis 1600.
1 Hall nennt hier den Schwerttanz zusammen mit dem Wett-
schiffen bei Trum m und Seeham, s. dazu meine Vermutung
zu M 7.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
225
Fg. 119 f. S. insbesondere für 1496 und 1570 noch
Zs. XX, 19; Allg. Z. a. a. 0.; vgl. Alem. XIV, 250 f.
b) Alemannisches Gebiet:
14. Nördlingen, Notiz von 1679. Alem. XIV, 184.
15. Dinkelsbühl. Ebda. 184 f.
[16. Stuttgart. Nach Allgem. Z. a. a. 0., ohne
nähere Angaben.]
17. Ulm 1551. Fg. 120 f.; Genaueres Alem. XIV,
183 f.
18. Ueberlingen [im heutigen Baden, am Bodensee].
Zur bevorstehenden Aufführung im Jahre 1886 wird über
die locale Geschichte des Brauches gehandelt in Alem.
a. a. 0. 247—252. [Die älteste Notiz über den Tanz ist
danach aus dem Jahre 1581.]
[19. Straßburg. Gleichfalls bis in die neueste Zeit
aufgeführt. Alem. a. a. 0. 249 f., aber ohne Angabe
der Quelle.]
Schwerttänzer erwähnt Fischart, Aller Praktik Groß-
mutter: Neudrucke deutscher Litteraturwerke, Nr. 2
[Halle 1876], 14.
c) Mittel- und Niederdeutschland:
20. Frankfurt. Ein Holzschnitt1 aus dem Jahre
1535 von Sebald Beham stellt ein größeres Volksfest, eine
Dorfkirchweih, dar. Unter anderen Belustigungen erscheint
hier auch ein Schwerttanz [s. Bosenberg, Sebald und Bar-
thel Beham, Leipzig 1875, 47 u. 130 f.]. Der Holzschnitt
ist aus Behams Frankfurter Zeit, und schon Rosenberg
vergleicht dazu [Kirchner, Geschichte der Stadt Frankfurt
am Main, 1807 ff., II, 509] „die Schuhknechte, die
"wegen ihrer Geschicklichkeit im Schwerttanz be-
1 Nicht Kupferstich, wie die Allg. Z. a. a. 0. angibt.
226
Mayer.
berühmt waren". [Der Verfasser bespricht die Kulturver-
hältnisse der Stadt in der Zeit yon 1519—1612.]
21. Hessen 1571. Fg. 126 [nach Lyncker]; nach
Winkelmann, Augenzeugen im Jahre 1651, ebda. 121 ff.
22. Schmalkalden [Franken und Hessen]
1576. Fg. 121.
[23. Zwickau. Allg. Z. a. a. 0].
[Taubert bei Voss, Der Tanz und seine Geschichte,
Erfurt o. J. (1879?), 373 f. erzählt, dass zu Anfang
des 18. Jahrhunderts in Thüringen ein Mann mit zwei
Degen oder in ihrer Ermangelung mit zwei großen Prügeln
nach der Bierfiedel oder Sackpfeife — s. unten S. 238 —
tanzte, mit welchen er mit großer Geschwindigkeit Hiebe
nach allen Richtungen führte, während seine Füße sich
gravitätisch und langsam bewegten. Das gehört wol nicht
hieher, wie schon Voss zu meinen scheint.]
[23a. Leipzig 1613. Voss a. a. 0. 153; leider nennt
Voss auch bei wörtlichen Anführungen im Texte seine
Gewährsmänner nicht.]
24. Das Harzer Spiel. Fg. 141 ff.; Zs. XX, 15.
25. Hildesheim 1583. Zs. XVIII, 10.
26. Braunschweig 1443. Fg. 118.
27. Köln 1487 u. 1590. Zs. XVIII, 9 u. XX, 17.
28. Hermannstadt. Bis in die neueste Zeit aufge-
führt: Archiv des Vereines f. Siebenbg. Landeskunde
N. F. IX, 487 [vgl. auch Fg. 146].
29. Kronstadt. S. im Archiv a. a. 0. u. X, 146.
Bis zum Jahre 1700 jährlich aufgeführt.
30. Mühlbach. A. a. O. X, 146.
31. Schäßburg. Ebda. u. IX, 445 f.
32. Breslau 27. Februar 1620. Fg. 121 [Voss
153 f.1]
1 Voss' Mitteilungen stammen, nach — freilich nicht voll-
ständig — wörtlichen Uebereinstimmungen zu schließen, aus der-
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
227
[33. Schweidnitz. Fg. a. a. 0., bestimmtere
Nachrichten fehlen noch.]
34. Lübeck. Zs. XX, 10 ft., ein merkwürdiges
Spiel, das trotz der biblisch-historischen Einkleidung der
Personen auf eine Grundlage weist, die mit der von
M—S und mit der des Harzer Spieles ganz verwandt war.
S. unten S. 232 if.
35. Ditmarschen. Fg. 128 ff., nach dem Berichte
des Juristen Giesebrecht vom Jahre 1652 und des Anton
Yiethen, Augenzeugen 1747 und früher; vgl. Zs. XVIII, 10
u. Illustr. Familienjournal XIX, 1863, 46 ff., ein Citat,
das ich nur aus der Allg. Zeitung a. a. 0. kenne, ohne
ihm nachgehen zu können, da mir jene Zs. nicht zugäng-
lich ist.
B. auf den Britischen Inseln:
36. Shetland, wo der Tanz aus England eingeführt
sein wird. Fg. 132 ff, nach Beschreibungen des Tanzes,
wie er um 1822 üblich war.
37. Englische Auffuhrungen. Fg. 136 ff, Berichte
von dem Leben des Tanzes zwischen 1769 und 1857, und
zwar: a) in Nordenglaud, S. 136; b) in Northumberland,
137 ; c) in Yorkshire, 137 ; d) in den Bergwerksdistrikten,
138—140.
C. In Schweden: die Gothi et Sueci nach Olaus
Magnus 1555. Fg. 121 ff
D. Auch in Frankreich muss der Tanz bekannt
gewesen sein. Nachweisungen Zs. XVIII, 11.
E. In Spanien. Fg. 145 [aus dem Don Quixote]
und [la degollada] Zs. XVIII, 11.
F. Ueber die ähnliche italienische 'npertecata
s. ebda. 13; sie wird zur Zeit des Karnevals [s. unten
selben Quelle, wie die Müllenhofís in den Fg.: den Jahrbb.
der Stadt Breslau, herausgg. v. Büsching, Bd. 5. Sie sind mir
nicht zugänglich. Uebrigens gibt hier Voss ausführlichere Nach-
richten als Müllenhoff.
Zeitschrift für Völkerpsych u. Sprachw. Bd.. XIX. 2/3. 16
228
Mayer.
S. 259 ff.] aufgeführt mit Degen oder blumenbe-
kränzten [s. unten S. 242] Stöcken.
[G. Ueber die Schwerttänze wilder Völker vgl. Fg.
116, Anm. 1 und das Morgenblatt der Neuen Freien
Presse v. 5. 10. 1888, in dessen Feuilleton der Afrika-
reisende Dr. 0. Baumann einen Schwerttanz der Suahili
erwähnt.]
Der Schwerttanz ist also in ganz Deutschland verbreitet
gewesen; aber auch in England, Frankreich, Spanien und
Italien finden sich mehr oder minder vergleichbare Bräuche.
Zeitlich lässt er sich in Deutschland schon in der taci-
teischen Zeit beobachten und später vom 14. Jahrhunderte
an, seitdem eben die historischen Quellen reichlicher fließen,
durch das ganze Mittelalter bis auf die Gegenwart ver-
folgen ; und man kann schon danach mit Grund annehmen,
dass seine Uebung nie ganz abgebrochen wurde.
Ein Bewusstsein alter Tradition scheint noch vor-
handen, wenn zu Ueberlingen [Nr. 18] der Schwerttanz ein
„Zeugnis von der Tapferkeit und dem Heldenmute unserer
Vorfahren heißt". Der hessische [Nr. 21] Volksreim bezieht
sich auf Plinius, in den Fg. V. 8, vgl. ebda. 126 f.
In Ditmarschen [Nr. 35] rühmt der Vortänzer das Alter
des Tanzes. Im Salzburgischen [Nr. 6] ist er „seit ur-
denklichen Zeiten" im Gebrauch, Schiestl a. a. 0. 68.
IL
Mit unserem Spiele M zeigt nun eine auffallende Ueber -
einstimmung der steirische Schwerttanz [Text S, Nr. 10].
Er wurde auf Veranlassung des Erzherzogs Johann auf-
gezeichnet, nachdem er demselben in Aussee vorgeführt
worden. Die Uebereinstimmung geht so bis ins einzelne,
dass ich es für notwendig gehalten habe, die Lesarten
Schlossars denen meines Textes M gleich oben zur
Seite zu stellen, in einer Anordnung, welche Ueberein-
stimmung und Abweichung im Bau und im einzelnen beider
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 229
Fassungen möglichst bequem überblicken lässt. Auffällig
ist zunächst der Unterschied in der Reihenfolge der auf-
tretenden Personen. Außer dem Yortänzer erscheinen in
S Fasching [1], Obermayer [2], Jungesgsell [3], Grünwald
[4], Edlesblut [5], Springesklee [6], Schellerfriedl [7], Wilder
Waldmann [8], Hanssupp [9], Rubendunst [10], Leber-
darm [11], Rotwein [12], Höfenstreit [13]. In M kommt
auch, wie in S, der Fasching gleich mit dem Vortänzer,
wenn auch sein Auftreten nicht wie das der anderen Per-
sonen ausdrücklich angekündigt wird; er tritt übrigens
erst zum Schluss in die Handlung ein, während er in S
gewiss die zweite, vielleicht alle folgenden Personen auf-
ruft, in M tut das der Yortänzer. Das letztere wird nicht
■das ursprüngliche sein; vgl. das Lübecker Spiel [Nr. 34], wo
Xlas Rugebart1 in derselben Weise für Fasching eintritt,
ganz so der Diener Hans im Harz [Nr, 24], und ähnlich
Tommy in den englischen ßergwerksdistrikten [Nr. 37 d,
s. unten S. 233 f.]. Die Reihe ist nun in M: 4, sein Spruch
ist aber in S, soweit er sich überhaupt hier findet, 8 zuge-
teilt; — dann 2, in seine Rede teilen sieh in S 2 und 9; —
13, die Rede haben in S 5 und 13; — 6 stimmt mit S 6; —
7, vgl. S 7 ;— Gesnell, vielleicht Schreibfehler für Gesell [oder:
gell schnell, vgl. M 46, S 102. 103], stimmt mit S 3;
— für 12 vgl. S 12; — für Röxniaul S 10 [Rubendunst]; —
dann kommt in M der Yortänzer, Röxmaul sticht den Ru-
weyn nieder, dagegen in S Rotwein den Höfenstreit, die
ersteren rufen beiderseits die Gefährten um Hilfe an, es
antwortet in M der Vortänzer, dafür in S 2; — Entgegnung
in M von Röxmaul, in S 12; dann in S 2, in M der Vor-
tänzer; darauf Fasching, in S entspricht 4 und 2; dann
noch ein Schlussteil in M, der in S fehlt.
In M erschlägt Röxmaul den Ruweyn, in S Rotwein
den Höfenstreit. In anderen Fassungen ist es der „Narr",
der erschlagen wird. Ein solcher begegnet in mehreren
1 D. i. der Knecht Huppert, s. unten S. 259.
16*
230
Mayer.
Spielen und in einem Teile derselben auch seine Tötung-.
So ist es nichts anderes, wenn Sclmortison in dem Harzer
Spiel, Sterkader im Lübecker, Bessy in Yorkshire [Nr. 37c]
erschlagen werden.1 In ähnlicher Weise wurde Mamurius
im römischen Märzspiele in Gestalt eines in Pelz geklei-
deten [s. unten Anm. 1] Mannes aus der Stadt hinaus-
getrieben. Es ist eben der Winter, dessen Abscheiden
auch in unseren Spielen gefeiert wird, indem man eine
Person, die ihu versinnlichen soll, in komischem Aufzuge dar-
stellt und auch ihre Tötung vorführt, während man gleich-
zeitig — so noch in einer Anzahl von Spielen erhalten —
den König oder Anführer auf den Schwertern empor-
hebt2 und damit den Beginn der Herschaft des Sommers.
1 Aehnlich mag es gemeint sein, wenn in Ulm [Nr. 17] acht
als Bauern, nach Art von Kriegsgefangenen mit beschorenem Haupt,,
auftraten. — Narren beim Schwerttanz kenne ich : in Ulm, in Köln
1590 [Nr. 27], in Nordengland [Nr. 37a, die Bessy als altes Weib
und der narr in Tierfellen], in Northumberland [Nr. 37b, in
einem Fuchsfell, hier zugleich als Leiter und Führer], in den.
Bergwerksdistrikten [Nr. 37d, Tommy in einem Tierfell und
Bessy]; ebenso zwei „Faschingsnarren" [vgl. Fasching in M, er
heißt hier auch Hans Thommerl, s. oben S. 1, was an den engl.
Tommy erinnert] oder Hanswurste in Salzburg [Nr. 5], zwei komische
Personen auch im Harzer Spiel: Hans und Schnortison, und im.
Lübecker: Klas Rugebarfc und Sterkader. Schließlich noch das
Hänsele in Ueberlingen, das durch die vier Platzmeister gewählt
wird und wie Tommy und Bessy [denen im Münchener Schäfflertanz
Hansel und Gretel entsprechen, Fg. 140], während des Tanzes die
Gaben der Zuschauer einsammelte und ablieferte.
2 Beides: Tötung einer Person und Emporheben des Füh-
rers auf den Schwertern finde ich außer in M nirgends; nur das
zweite allein: in Nürnberg [Nr. 13, zwei Fechter auf einem Geflecht
von Schwertern], Ulm, Ditmarschen, wahrscheinlich [s. Zs. XX,
18] auch in Hessen. In einer Anzahl von Spielen bleibt es nur
bei der Bildung einer Figur aus den Schwertern, auf die sonst der
Führer trat, um in die Höhe gehoben zu werden, wobei sie auch,
auf den Boden gelegt werden. — Auch im spanischen Schwerttanz,
findet sich eine „Köpfungstour" [la degollada, oben unter D],
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
231
anzeigt.1 [Zu dem Ganzen vgl. Fg. 144; doch s. unten
S. 256 ff. 261 f.]
In unserem Spiele gehört die Figur des Fasching [der
Faschingsnarr] hierher, und er sollte eigentlich getötet
werden. Davon bewahrt die Fassung S noch eine An-
deutung V. 127 [der Narr liegt da u. s. w,]. Auch V. 97
wendet sich Rubendunst drohend mit kropfichter Narr wol
an Fasching; er scheint erbittert, dass derselbe ihn vor-
ruft [vgl. oben S. 229]. Vielleicht war das hier in der
Handlung des Spieles als Anlass zur Tötung des Narren
gedacht. Vgl. jedoch auch M 70. Jetzt scheint in S die
eigentliche Bedeutung des Narren vergessen, dafür die
Figur des Höfenstreit geschaffen, dessen Bedeutung und
Zweck gleich schon der Name ausspricht. In M ist das
verdunkelt: hier hat Oebenstreit unpassend die Rede von
Edlesblut übernommen, für jenen tritt ein Eöxmaul auf,
und diesem wird der Spruch des^Rubendunst in den Mund
gelegt, um so einen Zwist mit einem anderen [Ruweyn] zu
veranlassen. Ausserdem würde man hier nach den un-
1 Der Schwerttanz gehörte dann in die Gruppe jener mannig-
fach gestalteten Bräuche des „Winteraustreibens", an die sich einer-
seits das „Totaustragen", da Tot und Winter sich jedenfalls sehr
nahe stehen [Mythol. 7*27 ff., ygl. Zs. VII, 436 f. über den auch
Mythol.4 III, 61 erwähnten Mitothin, einen Wintergott, der erschlagen
und in einen Sumpf versenkt wird, ähnlich wie der Tot in deutsch-sla-
vischen Gebräuchen, s. dazu Zs. XXXII, 449 ff.; ebda. VII. a. a. O.
über das „Winterausbrennen" in Ditmarschen], andererseits die
verschiedenen Sonimerfeiern [Mythol. 722 ff.] reihen. [Ueber die
Frühlingsfeier s. noch Mythol.4 III, 2-31 ff.; über den Gegen-
satz zwischen Sommer und Winter namentlich Mythol. 739 mit
den Anmerkungen. Vergleichbares auch in Italien und Spanien,
Mythol. 741 f.: hier wird zu Dominica Laetare das älteste
Weib in Gestalt einer Puppe durchgesägt; über einen slavischen
Brauch ebda., vgl. insbesondere S. 744. Ueber Mai- und Sommer-
feste und -bräuche, „Tot. ( — Winter) austragen" handelt Mann-
hardt, Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme
(Wald- und Feldkulte I), von Kap. III ab.]
232
Mayer.
mittelbar vorhergehenden VV. noch erwarten, dass Ruweyit
und Grienenwald an einander geraten. Endlich scheint
am Schluss auch in M die Erinnerung an eine ursprüng-
lichere Form bewahrt: die Tötung des Narren [vgl. bes.
V. 178 if.], so dass in M, nachdem einmal das Ursprüngliche
verlassen war, die Spuren dreier verschiedener Lösungen
zu erkennen sind.
Die Personen in S: Wilder Waldmann, Hanssupp, Leber-
darm, die sich noch weiter in M nicht finden, haben auch
ihre VV. auf andere Personen übertragen, worüber ich
bereits oben S. 229 gesprochen habe und auch der Text
Auskunft gibt. Hier scheint im ganzen S das ältere zu
bieten; im Laufe der Zeit wurde die Mannigfaltigkeit eben
vereinfacht. So passen die wesentlich gleichen VV., die
jetzt in M Grienenwald, in S Wilder Waldmann [M 17—24,
S 75 — 77] haben, besser für den letzteren als für die Per-
sonifikation des grünen Waldes, der vielmehr die in S
unter Grünwald [38—43] erhaltenen VV. gemäß sind.
Vielleicht war die Wundsalbe, von der Grünwald in
M und S [in S 157 ff., Griinwald wol schon hier anstatt des
Wilden Waldmann, vgl. V. 75 ff.], redet, ursprünglich zur
Widerbelebung des Höfenstreit [M Ruweyns] bestimmt1
[s. unten S. 265 f.]. In S ist die letzte Rede des Griinwald
jedenfalls entstellt. S 158. 159 möchte ich streichen; in
163 ist eingeben = mit der Salbe behandeln; die zwei
letzten VV. spricht hier wol der Vortänzer, das Ganze
von 142 an wol Grünwald. Man sehe übrigens zu der
ganzen Stelle die Anmerkungen zum Text; dieselben sind
auch für die Beurteilung der weiteren Abweichungen
beider Fassungen M-S im einzelnen zu vergleichen.
M wie S bieten aber eine Gestalt des Schwerttanzes dar,
die sich auch an Orten nachweisen lässt, welche vom bayr.-
österr. Sprachgebiete weit entfernt liegen, so dass auf eine
1 Ueber Zaubersalben und ihre Kräfte s. diese Zeitschrift
XVIII, 400.
Ein deutsches Sehwerttanzspiel aus Ungarn. 234
gemeinsame Grundlage geschlossen werden kann. Insofern
M und S aufs engste zusammenstimmen in der Art der auf-
tretenden Personen und in der ganzen Durchführung, dürfen
wir freilich wieder eine speziell bayr.-österr. Aus-
gestaltung jenes Grundtypus' annehmen. Dieser letztere
nun zeigt sich, wie bemerkt, außer in M und S auch in
anderen Spielen. — Hierher gehört zunächst das Har zer Da
habeD wir fünf Könige. Einer, der König von England,
übernimmt die Rolle unseres Vortänzers und lässt durch
den Diener Hans die übrigen nach einander hereinrufen.
Schließlich kommt auf Wunsch des Königs von Morenland
der Schnortison herein. Es stellt sich heraus, dass er das
ganze Geld der Gesellschaft durchgebracht hat; man hebt
ihn auf den gekreuzten Schwertern in die Höhe, und Hans
erhält den Auftrag; ihm den Kopf abzuhauen. Dieses, ur-
sprünglich nur von mythischer Bedeutung [s. S. 203 f., un-
ten S. 256 if.], erscheint hier als Strafe für Schnortisons Ver-
schwendung. Dass M davon noch eine Andeutung enthält
[V. 178—183], und zwar sowol von dem Vergehen als von der
Strafe, ward schon bemerkt [S. 231].1 Der eigentliche Tanz
ist im Harzer Spiel vergessen.2 — Anschließt sich das Shet-
länder Spiel [Nr. 36]. Der Vortänzer erscheint als St. Georg,
1 Ein „liederlicher" Fasching erscheint auch im Salzburger
Spiel [s. im Text zu M 171],
2 Auch für M spricht mein Gewährsmann [s. oben S. 1] nur von
„verschiedenen Sprüngen über das Schwert [s. S. 244, Fig. 7],
welche unter. .. Gesprächen bei Musikbegleitung ausgeführt werden".
Nach ihm machte jeder einzelne Tänzer für sich „unter Absing-
ung seines Spruches die taktmäßigen Sprünge". Das ist gewiss ein
Irrtum des Berichterstatters; überall tanzen sonst die Tänzer in
größerer Anzahl auf einmal [s. unten S. 240 ff.]. Wenigstens die
Schlussfigur [s. S. 255] ist auch hier noch erhalten; das Uebrige
war vielleicht wie in S, wo der letzte V. darauf hindeutet, dass
der Tanz eigentlich erst jetzt am Ende folgte. M 14 wäre dann
nur eine Aufforderung an die Musik, aufzuspielen vor dem Beginne
des Ganzen. Uebrigens folgt auch im Lübecker Spiel noch ein
Tanz am Schlüsse ['s. unten S. 234|.
234
Mayer.
begrüßt, wie inM-S, die Anwesenden und führt tanzend sechs
Landesheilige1 ein. — Ferner ein englisches [Nr. 37d].
Tommy, das männliche Gegenbild der Bessy [S. 220, Anrn. 1]
führt hier vor dem Tanz [s. oben S. 233, Anm. 2j die Tänzer
ein; erruft „einesGutsbesitzers Sohn" und „einen Schneider"
auf und so alle übrigen der Reihe nach. — Schließlich das
Lübecker Spiel. König Josua, Hektor, David, Goliath, Judas
Makkabäus, zuletzt Sterkader, „der Repräsentant des altnor-
dischen oder spezieller des dänischen Helden- und Heiden-
tums" [Zs. XX, 15], werden vor dem Tanz gerufen, um
mit Kaiser Karl zu fechten. — In die Art unserer Spiele
M-S gehört auch der Ulm er Schwerttanz, uach der Schil-
derung des Chronisten Sebast. Fischer [in der Alem. a.
unter Nr. 17 a, 0. abgedruckt]. Nachdem der „Fechtmeister"
[ein Nestlergesell] sich auf die Schwerter geschwungen
[s. auch Fg. 121] und das „bariss [? zu: pariren?] der
Fechtmeister" geschlagen, trat nach dem Tanz ein Bauer
[acht als Bauern gekleidet Fg. 121; vgl. M 105, S 110.
117 und oben S. 230, Anin. 1] in den Ring und redete
seinen Spruch. Darnach rief der Herold einen andern
Bauern, „der was vif dem schupffa, j der kam, tryb auch
sein fantasey, j also rieff man ye ein nach dem andern j",
sie steckten oben in den Rauchfängen der Häuser, schrieen
herab und kamen einer nach dem andern in den Ring,
acht [vgl. die acht Bauern bei Müllenhoff], ein jeder sagte
seinen Spruch, trieben viel „bossen" mit einander [Tötung
des Narren?], das trieben sie vor allen Häusern der Bürger,
wer es eben wünschte [s. S. 246], tags den Schwerttanz, nachts
den Reiftanz [V erbindung beider Tänze ist auch sonst be-
zeugt], am weißen Sonntag [Sonntag nach Ostern] hielt
der Nestler Fechtschule und da hielten sie auch denSchwert-
1 Beide letztgenannte Spiele lehnen sieh an das geistliche
Schauspiel an, Fg. 143, das Lübecker [s. unten] führt dagegen
einen Helden der Sage ein, wodurch sich Müllenhofls Vermutung
a. a. 0. bestätigte.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 235
tanz und Reiftanz auf dem Schuhhaus [wo die Schuhmacher
im Erdgeschosse ihre Waren feilboten], das sei der letzte
Tanz und damit das Tanzen aus gewesen, die Leute hätten
ihnen viel Geld geschenkt.
Das eigentlich Mimisch-dramatische der genannten Tänze
fehlt dagegen beim Salzburger Schwerttanz [Nr. 5, s. unten
S. 248 f.], der sonst ganz ähnlich verläuft und bis in Einzelnes
namentlich mit M stimmt [s. die Anmerkungen zum Text]. Nur
hat er eben die bloße An- und Schlus s rede des Vortänzers
an die Zuschauer, welche gewöhnlich in Begrüßung und Bitte
oder Dank wegen der G-aben besteht. Aehnliches findet sich
auch in Hessen [Nr. 21], Ditmarschen, Shetland, während in
M-S und den verwandten die ganze mimisch-dramatische
Handlung hinzukommt. — Auch in Siebenbürgen ist der
Schwerttanz zwar „von Reden begleitet und hat einen Rei-
genführer" [Archiv IX, 403], war aber vielleicht auch
nie in der Art dieser letzteren. Beim Hermannstädter
Schwerttanz [Nr. 28] ist die alte Rede des Anführers nicht
mit überliefert; jetzt bezögen sich die gesprochenen Worte
jedesmal auf die Veranlassung, die wol einst immer eine
Kultusfeier gewesen sei [Schuster im Archiv IX, 489,
s. aber auch unten S. 261 f.].
III.
Zu unseren Spielen 1 bemerke ich hier im besonderen
noch Folgendes:2
M 13. Schelleln. So im Breslauer Spiel [Nr. 32]: „Hosen-
bänder mit Schlittenschellen." [Im Münchner Schäff-
lertanz bei Olaus Magnus, Fg. 123: tintinnabula seu
1 Wie die Reime sich jetzt darstellen, mag ihre Abfassung bis
ins 15. Jahrhundert oder noch weiter zurückgehen; sie klingen im
ganzen und einzelnen sehr nahe den hessischen VY. [Nr. 21].
2 Worauf hier vorzüglich zu achten ist, hat schon Müllenhoff
in den Fg. angedeutet.
236
Mayer.
areas campanulas genu tenus.1] — In Hessen nach
Winkelmann : „an die Kniescheiben haben sie Schellen
gebunden." — In Ditmarschen nach Yiethen: „an jedem
Beine eine Schelle".
Für die Kleidung der Tänzer ist sonst die weiße Farbe
bezeichnend. Weiße [Oberjhemden [die nudijuvenes des Tacitust
Vgl. Winkelm. beiMüllenhoff 126.] : in Nürnberg [zwei auf dem
Gefleckt von Schwertern farbig, außerdem einer rot gekleidet,
Fg. a. unter Nr. 13 a. 0.; ,,rot und weiß gekleidet"r
Ried, oben Nr. 4], in Hessen [Nr. 21], in Ditmarschen bei
Yiethen, Breslau [große Fechterärmel2], englisch [Nr. 37 d
„mit weißen Oberhemden"], Shetland [a white hempen shirt],
weiße Hemden in Ulm [Alem. XIV, 183]; Yorkshire [Nr..
37c, clad in white], spanisch [im Don Quixote, oben
unter D, blanquísimo lienzo]; nordenglisch [Nr. 37 a, dres-
sed in their shirts,?]. — Ausführlicher schildert Bell im
Archiv IX, 487 die Kleidung der Hermannstädter
Schwerttänzer: Halbstiefel mit Goldfranzen, woran kleine
Glöckchen hängen [s. oben], enge weiße Beinkleider,
darüber schwarzsamtene, mit Gold verputzte, bis
zur Hälfte der Schenkel reichende Pluderhosen,
schwarzsamtener, enganschließender Rock mit schmalem
Gürtel um die Lenden, blauseidener Schärpe [s. unten]
um die Brust, weißem Halskragen, blausamtenem
Barett mit weißer Feder [eine weiße Feder auf dem
Bergkäppel hatten die Halleiner Knappen im 16. Jahr-
hundert, der Fähnrich war in weißen Doppeltaffet ge-
kleidet, Schiestl a. unter Nr. 6 a. 0. 68] auf dem Haupt.
Der zwölfte Tänzer ist reicher als die andern elf
mit Glöckchen behangen [im Nürnberger Spiel ist nicht
einer, sondern sind mehrere der Tänzer unter den übrigen
1 Die Pritschenmeister bei dem großen Schießen zu Koburg
im Jahre 1614 hatten „um das Knie ein Band mit mächtigen
Schellen", Freytag, Bilder a. d. d. Vergangenh., Werke XIX, 326 f.
2 Dazu noch bei Voss [siehe oben Nr. 82]: blaue Strümpfe,
weiße Schuhe.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 237
durch ihre Tracht ausgezeichnet, s. oben; ähnlich scheiden
sich in Ditmarsehen der Vortänzer und „der in der Mit-
ten" — hier sind zwei Leiter des Tanzes, wie im Uliner
Spiel nach Fischer — dadurch in ihrer Kleidung von den
andern, dass nur sie einen Hut tragen, vgl. Fg. 131 f.; und
so sind im Harzer nur der Diener Hans und der Kassierer
Schnortison in weißem Kittel, als Bauern, wie die
acht im Ulm er Spiel, s. oben S. 230, Anm. 1], der Hans-
wurst [S. 229 f.] hat die gewöhnliche buntscheckige
Harlekinskleidung und die Pritsche. — In Ueber-
lingen hatten die Tänzer lange, blaue Röcke, rote
Westen, kurze Leder- oder schwarze Samt hos en,
lange Strümpfe, Schnallenschuhe und dreieckige schwarze
Filzhüte, einen Degen und einen Strauß aus künst-
lichen Blumen [vgl. unten S. 242]; „Platzmeister"
und „Fähndrich" trugen Schärpen [alle Tänzer mit
Schärpen in Hessen nach Winkelm,]; der Hänsele hatte
das „Kostüm eines gewöhnlichen Ueberlinger Fast-
nachtshänsele". Der Berichterstatter meint, diese
Schwerttänzertracht sei nur das Festgewand der reichsten
„Rebbiirger" gewesen. Zum Beweise zieht er eine Notiz
von 1821 über den Empfang des Großherzogs Ludwig durch
die Rebleute in Ueberlingen an; aber da heißt es eben nur,
dass sie sich „im alten Schwertietanz-Anzug" vorstellten.
Und wenn auch der Degen allgemein zünftig gewesen
sein soll, so hat er doch eine besondere Bedeutung im
Schwerttanz. — In Aussee [Nr. 10] finden wir grüne
Hüte, reich mit „Buschen" und Bändern [vgl. S. 242] ge-
ziert, grünen Rock, rotes Leibchen, schwarze Hosen, rote
Strümpfe und Bundschuhe; über der rechten Schulter eines
jeden befindet sich ein weißes Tuch, welches unter dem
linken Arme in eine Schleife gebunden wird. Ueber dieses
Tuch wird um die Mitte des Leibes ein S che 11 en kränz
[s. oben] gelegt, um, meint Sehlossar, den Takt beim Tanze
zu markiren [??]• Jeder hat in der rechten Hand einen
Säbel. — Die Halleiner Knappen haben jetzt die „Berg-
238
Mayer.
uniform" [„Uniform" nennt auch Siegmeth die Kleidung
der Tänzer in M, s. S. 1], nämlich: schwarze Bergmütze,
weißen Bergkittel und weiße Hose, rote Feld bin de
[s. oben], Arschleder und Schwert. Der Sergeant trägt
eine breitere rote, weiß eingefaßte Feldbinde und großen
rot und weißen Federbusch [Unterschiede in der Kleidung
zwischen den Tänzern, s. S. 241], Schiestl 69. — lu
Nürnberg wird die Kleidung der Messerer beim Tanze
vom 8. Juni 1570 so geschildert: weiße Röcke, mit braun,
goldfarb und blau verbrämt, schwarze Barette mit
rot und weißen Federn [Soden, Kaiser Max II. in
Nürnberg, 1866, 45. Die Aufführung wurde wiederholt
am 12. Juni, ebda. 81; vgl. Allg. Z. a. a. 0.].
M 14. Spielleith, Musik [und Gesang]. Ein Pfeifer
und ein Trommler in Nürnberg 1570 und 1600. — Drommel
und Pfeifen, Breslau. — Zwei Feldpfeifen und eine Trommel,
Aussee. — In Hallein bestand die Musik früher aus zwei
„Schwöglern" und einem Trommler; jetzt spielt die ganze
Berg-Bande, Schiestl 69. — „ Spielleute " [zwei Trommler
und zwei Pfeifer] auch in Ueberlingen. — Ein oder zwei
Pfeifer, ein Tambour in Salzburg [Nr. 5]. — Sub cantu . . .
tibiis vel cantilenis, aut utrisque simul, die „ Glothi et
Sueci" [C.].— [Tibiis aut tympanis, Münchener Schäfflertanz].
— Singen und Trommelschlagen, Hessen nach Winkelm. —
Trommel [zu Beginn des Tanzes], Ditmarschen.— Shetländisch :
bagpipe . . . the music playing. — Music, Northumber-
land. — Fiddler,.... singing, Yorkshire. — „Fiedler...
Prolog g es ang", aus den englischen Bergwerksdistrikten. —
Bei den Sachsen in Siebenbürgen war die Musik bei den
meisten der altertümlichen Festtänze im 2/4 Takte, marsch-
artig, Archiv IX, 403. 420. —
M 15. Die Tänzer sind „das junge Landvolk" in
Hessen [Nr. 21, s. unten S. 240], „junge Leute" in Büsum, Fg.
130, so auch in M [s. oben S. 1, hier aber wol nicht „Bauern",
s.M 105.109]. — Schmiede- und Schuhknechte in Braun-
schweig [Nr. 26]. Schmiede in Hildesheini [Nr. 25] und in
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
239
Köln 1590 [Nr. 27]. Schuhkneclite in Frankfurt [Nr. 20].
Schuster in Leipzig [Nr. 23a]. — Messerer in Nürnberg
1350. 1351 und sonst. Messerschmiede [und Schuster]
in (Braunau-) München [Nr. 12]. Ein Tanz der Schmiede
und Schwertfeger in Nürnberg wird erwähnt in der
Alem. a. a. 0. ohne nähere Angabe der Quelle. Ebda,
die Gestattung eines öffentlichen Umzuges an die Tuch-
macherzunft von 1527. Vielleicht gehört beides hierher. —
1579 bitten in Nördlingen [Nr. 14] die Feintuchweber
um Gestattung der Aufführung des Schwerttanzes und be-
rufen sich darauf, dass dergleichen in ihrem Handwerk üblich
gewesen. — Kürschner in Breslau. In Hermannstadt
hatten die Kürschner das Vorrecht, den Tanz aufzuführen.1
— Die ledigen „Rebleute" in Ueberlingen, „welche eine
Gesellschaft mit einem Vorstand von vier Platzmeistern,
einem Fähndrich und einem Säckelmeister bildeten". — Für
Ulm erfahren wir aus dem gleichzeitigen, in der Alem.
a. a. 0. mitgeteilten Bericht des Seb. Fischer: dem Nadler-
gesell, der den Tanz führte, dem „Mayster des Schwerts"
[vgl. „zwei Meister des langen Schwertes", Fg. 120 aus
Schmid, Schwab. Wb., vom Ulmer Tanz; the master
St. George, in Shetland] half ein Schreinergesell, „auch
ein Fechtmayster" [so nennt den ersten auch Müllenhoffs
Quelle in den Fg. a. a. 0.], der Nestler voran, der Schreiner
zuletzt, es tanzten sonst Gesellen von verschiedenem
Handwerk. — Im Salzburgischen [Nr. 6] führten den Tanz
die Bergknappen 1586 vor dem Erzbischof Georg v. Kuen-
burg auf; 1587 beim Einritt des Erzbischofs Dietrich in
Hallein [Schiestl 68]; 1631 vor Herzog Albrecht in Hof-
gastein, als er nach dem AVildbad reiste; 1647 wurde er
wieder eingeübt, nachdem er dreißig Jahre nicht aufge-
führt worden; 1688 wurden den Bergknappen für den bei
Hof in der Fastnacht abgehaltenen Tanz zwölf Gulden
ausgezahlt [Schiestl 68, Anm.]; heute führen ihn 17
1 Wie sie es erlangt, erzählt Nr. 388 in Müllers Sieben-
bürgischen Sagen, Kronstadt 1857.
240
Mayer.
[s. unten] Knappen [„sechzehn Knappen mit einem
Vortänzer und dem Sergeanten,"1 sagt Schiestl 69] auf,
die ihn von der Landbevölkerung, ans der sie hervor-
gingen, übernommen haben [Schiestl a. a. 0.]. — Salz-
schiffleute in Lambach [Nr. 3] und in Laufen [Nr. 8]. —
In Schmalkalden [Nr. 22] hatte jede Innung ihren eige-
nen Tanz.
Anzahl der Tänzer: In M treten, den Fasching2
abgerechnet, neun Personen auf, soviel auch, wenn man
Spielleute und Narren nicht mitzählt, in Salzburg [Nr. 5];
in S zwölf: ebenso viel im Hermannstädter Tanz, dazu
kommt hier der Hanswurst, der nicht mittanzt [s. unten
Anm. 2], sondern die Zuschauer durch parodierende
Nachahmung der eigentlichen Tänze belustigt;
zwölf auch in Aussee, außerdem wieder ein „Faschings-
narr"; ,,etwa zwölf" in Kied. Sonst sechs: die „Gotlii
et Sueci"; in Yorkshire [dazu die Bessy]. Sieben: in
Nürnberg [Fg. 120]; Shetland; im Harz, den Diener Hans
und den Kassirer Schnortison eingerechnet. Fünfzehn
[insgesamt]: in den englischen Bergwerken. Sechs zehn
bis zwanzig: dn Hessen nach Winkelm. Zwanzig: in
früherer Zeit zu Kied. Vierundzwanzig: in Ulm [Fg.
a. a. 0.]; in Spanien [Don Quixote]. Zweiunddreißig:
in Ueberlingen, in die wenigstens das „Hänsele" nicht ein-
gerechnet ist. Sechsunddreißig: in Breslau.
S 166. Die Figuren des Tanzes kehren zum größe-
ren Teile in den Beschreibungen wieder. Wie zu Tacitus
Zeit der Tanz ausgeführt wurde, ist aus der als Zeugnis
so wertvollen kurzen Erwähnung in der Germ. Cap. 24
nicht näher ersichtlich. Es wird zwischen „Schwertern
1 S. oben über den Ulmer Tanz S. 237 ; vgl. aber auch S. 250,
Anm. 1.
2 Dieser tanzt, wie gewöhnlich der „Narr", wol nicht mit.
Dies gilt auch in Northumberland für die komische Person, obwol diese
hier Führer der Tänzer ist, s. oben S. 230, Anm. 1 ; vgl. unten über den
Hermst. Tanz. Siegmetlis Angabe [oben S. 204] wird ungenau sein.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
241
und Speeren" getanzt, wobei nur die Hinzufügung der
Speere, frameae, von dem sonstigen Brauch abweicht1
[vgl. übrigens zur taciteischen Stelle unten S. 243,
Fig. 3. 245, Fig. 18 u. Fg. 111 f.]. — Für Nürnberg
[Fg.] stellt ein Bild, jedenfalls aufeinander folgende
Figuren bezeichnend, [1] zwei Doppelringe dar von
Tänzern, die auf ihren vorgestreckten Schwertern zwei
farbig gekleidete Fechter emporhalfen und außerdem [2]
noch eine Gruppe von sieben Tänzern, davon einer durch
rote Kleidung ausgezeichnet [s. oben S. 237J, die hinter-
einander tanzen und mit den Händen abwechselnd ihr
eigenes Schwert am Griffe, das des Vordermannes an
der Klinge halten. — Das zweite findet sich auch in
Schweden und in Shetland, das erste in Ulm und in Dit-
marschen. In Schweden kommt noch dazu ein triplex
gyrus, eine rosa und dann eine quadrata rosa super unius
cuiusque caput, aus den Schwertern gebildet. Die beiden
Bosen auch in Ditmarschen [vgl. a hexagon, Yorkshire].
Hier und auf Shetland Springen über die Schwerter.2
1 Nur der Vollständigkeit halber führe ich an, dass es in Sieben-
bürgen einen „Spießtanz" gibt, Archiv IX, 234. 275 f., der bei Hoch-
zeit en zwischen zwei in Kreuzform auf den Fußboden gelegten
Spie Pen getanzt wird.
2 Voss überliefert a. o. a. 0. 153 f. folgende Schilderung
des Zuges der Kürschner aus ihrer Herberge zum Tanz. Dem An-
führer folgten drei Knaben, jeder mit einem Scepter in der rechten
Hand, hierauf drei Knappen, der eine das Paradeschwert, der andre
zwei Fechterschwerter und der dritte ein Paar Tussaken („Dusas, ein
hölzernes Schwert der schwäbischen Bauern") tragend. Die Klei dung
der Knaben [vgl. oben S. 236 fF.J ist: weiße Kittel, Feldbinden [s. S.
237] "mit blau und weißen „heidnischen Schürzen, schachtweise
mit roten Streifen besetzt" ; sie tragen grüne Kränze [s. unten S. 242,
Fig. 1]. Die Meister und Gesellen gingen paarweise, hinter jedem
Paar zwei Knaben in der angegebenen Kleidung, einen Reif mit blau
und weiß bemalten Streifen [hier ist wol an die nach der oben S.234 ge-
machten Bemerkung mitunter vorkommende Verbindung des Schwert-
und Reiftanzes zu erinnern] und einer holzgeschnitzten R o s e [s. oben]
darauf tragend. Auf beiden Seiten des Zuges schreiten vier Trabanten
mit Partisanen. Nun zuerst die Beschreibung des Tanzes, wie bei
242
Mayer.
Bei den Siebenbiirger Sachsen soll der Tanz, der
mit scharfen Schwertern ausgeführt wird [Archiv IX,
487], nach der Aussage alter Leute früher künstiicher
gewesen sein [ebda 4031 ; indess waren nach der Beschrei-
bung, die Bell von zwei widerholt beim Tanze betei-
ligt gewesenen Hermannstädter Kürschnern erhalten hat
[danach im Archiv IX, 487 ff.], die Figuren noch
künstlich genug. Ich teile die Beschreibung, die a. a. 0.
wenig zugänglich ist, hier mit. Es ist eine der aus-
führlichsten, die wir besitzen; dazu zeigt sie das We-
sentliche der Tanzfiguren verhältnismäßig rein bewahrt.
Der Bericht ist in dieser Hinsicht eigentlich nur mit dem
aus Shetland zu vergleichen, aber im ganzen nicht so
unklar wie dieser [s. Fg. 135].
„1. Alle Tänzer schreiten reihenweise nach dem Takt
der Musik einmal in der Eunde herum, jeder auf der
Spitze des Schwertes ein Kränzchen von lebenden Blumen
tragend [„Kürschnermeister. . . mit aufgesetzten Lorbeer-
kränzen", Breslau; — „die Köpfe beschoren und bekränzt"
in Ulm, und zwar sind nach Seb. Fischer alle Auftretenden
beschoren und bekränzt, nach Schmid bei Müllenhoff, wie mir
richtiger scheint, s. oben S. 230 Anm. 1, nur jene acht
„Bauern"], stellen sich sodann in einer Linie auf und
neigen ihre Schwerter.
2. Das ,Kappelmachen'. Die Tänzer folgen einander
Müllenli. in den Fg., dann noch folgende bemerkenswerte Züge: „Ein
alter Fechter schlug im Paradeschlagen dreien Knaben, welche
niedergekniet Avaren, einem jeden derselben einen Dreier vom
Kopfe [die Tötung des Narren, oben S. 229 f?J. Ein anderer
schlug das Parat [= die Parade?] auf einer gemachten Rose von
Schwertern [der Führer auf den Schwertern, s. S. 230 f.]; wieder
andere fochten auf kleinen gemachten Rosen aus dem [die Hervor-
hebung ist von Voss] Tussaken [?J. Des Abends zwischen 7 und 8
Uhr hielten sie einen Laternentanz [s. den Fackeltanz unten
S. 248], Jeder trug eine Laterne mit brennendem Lichte auf dem
Kopfe [vgl. die transparenten Mützen in Ebensee, S. 248]. In dieser
Ausschmückung wurde noch in zwei Wehren gefochten [?]".
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 243
reihweis tanzend [wie in Nürnberg (Fg. a. a. 0.), Schwe-
den, Shetland; nur ist von dem „abwechselnden Halten
der Schwerter" an unserer Stelle noch nicht die Rede, —
vgl. dagegen unter Fig. 5]. Plötzlich fallen die drei ersten
ab, tanzen in einem kleinen Kreise herum, während die
andern an ihnen vorüber tanzen; dann bilden die drei
nächstfolgenden einen gleichen Kreis, und das setzt sich
so fort, bis vier kleine Kreise zu je drei Tänzern gebildet
sind; den Anschein der Kreisform bringt dabei vorzüglich
die schnelle Bewegung der Tänzer hervor. Die vier Kreise
gruppiren sich um den in der Mitte stehenden Harlekin so:
^H. ^ [Vgl. das Ulmer Spiel (Fg. a. a. 0.): „Das Ziel des
O C)
Tanzes war, dass sie alle um einen Narren tanzten"
u. s. w.; in der Mitte der Tänzer ein Narr auch nach
Seb. Fischer.]
3. Der .Natterngang', bestehend in schlangenför-
migen Windungen [man denkt an das Durchgehen unter
den Schwertern in Shetland; con tantas vueltas, spanisch,
Fg. a. a. 0.], wonach die Tänzer an die betreffende Per-
son, der zu Ehren der Tanz aufgeführt wird, die Kränze
abzugeben pflegen.
4. Das Stadtwappen (von Hermannstadt). Je zwei
Tänzer bilden durch Uebereinanderlegen der Schwerter etwa
in der Höhe des Knies das Hermannstädter Stadtwappen,
tanzen, die Schwerter in dieser Lage haltend, fort und er-
heben dann plötzlich alle das Wappen über ihre Köpfe.
[Hier sind im Texte zwei gekreuzte Schwerter abgebildet.]
5. Einer des andern Schwert an der Spitze fassend,
tanzen die Tänzer in sechs Paaren hintereinander her [wie
in Nürnberg, Schweden und Shetland, s. oben S. 241].
6. Das doppelte Stadtwappen, tanzend gebildet
durch Kreuzung von je vier Schwertern.
7. Das Fußabschneiden und Aufschlagen. Wäh-
rend des Tanzes wendet der erste Tänzer sich plötzlich
um und tanzt den übrigen mit gegen den Fußboden gehal-
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 2/3. 17
244
Mayer.
tenem Schwert entgegen. Vor jedem Tänzer schlägt er
mit dem Schwert auf dem Fußboden auf, während dieser
darüber springen und sich sodann sogleich umwenden und
dem Vortänzer folgen muss, so dass der letzte Tänzer über
alle elf Schwerter nacheinander zu springen hat (diese
schöne Figur wird oft widerholt). [Springen über die
Schwerter s. oben S. 241, in Shetland, wie auch andere
Figuren, öfters widerholt.]
8. Die doppelte Brücke, gebildet durch Kreuzung aller
Schwerter. [Kreuzung der Schwerter auch im Harzer Spiel.]
9. Widerholung der siebenten Figur.
10. Das Radschlagen, gebildet durch eine schnelle,
kreisförmige Bewegung, zu gleicher Zeit von allen Tän-
zern ausgeführt.
11. Widerholung der siebenten Figur [die schon durch
die öftere Widerholung als althergebracht und wichtig be-
zeichnet scheint].
12. Der letzte Tänzer gibt sein Schwert während
eines Rundtanzes ab [wol eine symbolische Andeutung
dafür, dass er in der folgenden Figur für den „Hans-
wurst" eintritt, womit er, eigentlicher mitwirkender Tänzer
zu sein, einstweilen aufhört, vgl. S. 240, Anm. 2].
13. Dem letzten Tänzer werden die Schwerter rings
um den Hals gelegt [erinnert an die Tötung des Narren,
s. S. 229 f.; besonders die degollada, S. 230, Anm. 2].
14. Widerholung der siebenten Figur.
15. Der Stern. Die Schwerter werden in Form
eines Sternes gekreuzt [die rosa, oben S. 241]; der Hans-
wurst kriecht unter den Stern und verleiht ihm durch
seinen Rücken eine Stütze; der zwölfte Tänzer springt
auf den Stern und hält eine Rede [vgl. S. 230 f. 233,
Anm. 2, besonders ähnlich ist es in Ulm, s. S. 230, Anm. 2;
speciell für die Rede sind die Berichte aus Hessen bei
Winkelm., Ditmarschen, Shetland und der Text M einzu-
sehen]. Nach gehaltener Rede wird der Stern aufgelöst
und in der Runde umher getanzt. [„Wenn sie nun ihren
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 245
König wieder herunter auf den Erdboden gesetzet, so wird
dieses Schauspiel durch ein abermaliges Tanzen . . geen-
diget . . Viethen in den Fg. — „Alle fassen einander
an und tanzen zum Schlüsse den Rundtanz", nachdem
Schnortison, von den gekreuzten Schwertern für tot herunter
gefallen, wieder auflebt, Harz].
16. Das doppelte Radschlagen, je zwei neben-
einander hinschwebende Tänzer machen mit dem Schwerte
eine Radbewegung, so dass es für den Zuschauer den Ein-
druck macht, als befänden sich zwei Räder an einer
Achse in Bewegung [vgl. Fig. 10].
17. Fuß- und Kopfabschneiden. Die beiden vor-
deren Tänzer [auch sonst sind zwei Tänzer ausgezeichnet,
so in Nürnberg, s. S. 237] fassen gegenseitig ihre Schwerter
bei der Spitze [s. Fig. 5], halten eines nach unten in
der Nähe der Füße [s. Fig. 7], das andere nach oben
in der Nähe des Halses, wenden sich nun um und
tanzen gegen die andern, die alle zwischen den beiden
Schwertern hindurchspringen müssen [s. Fig. 7. — Die
ganze Figur 17 ist jedoch nicht klar.].
18. Durch die Mitte gehen. Die Tänzer stellen
sich zu je sechs gegenüber auf und tanzen nach der ent-
gegengesetzten Seite (mit vorgehaltenen Schwertern?)
zwischen einander durch.
19. Widerholung der siebenten Figur.
'20. Die Tänzer stellen sich paarweise gegenüber und
wetzen ihre Schwerter [s. Fig. 18].
21. Zum Schluss tanzen alle noch einmal in der Runde
herum [Parallelen s. zu Fig. 15J und neigen beim Abgehen
ihre Schwerter [s. Fig. 1]." —
Man sieht, die Figuren sind zum Teil altfeststehende,
und eine größere Ausdehnung des Ganzen entsteht wesent-
lich nur durch Widerholung oder Verbindung dieser ein-
zelnen Züge. Auch die Kleidung der Tänzer zeigt [s. S.
236 f.] nicht mehr die alte Einfachheit.
Einen näheren Bericht über die Art des Tanzens
17*
246
Mayer.
haben wir auch von Ueberlingen. In der Aleni., a. unter
Nr. 18 oben a. 0. steht in einem ans dem Seeboten
Nr. 27 vom 3. März und Nr. 34 vom 19. März 1886 ab-
gedruckten Aufsatze eine Erörterung über die ursprüng-
liche Weise der Ausführung des Schwerttanzes in Ueber-
lingen, gelegentlich einer „am nächsten Donnerstag" bevor-
stehenden neuerlichen Aufführung.1 Zuerst pflegte vor der
Fastnacht die Einholung der Bewilligung zu geschehen,
die Mitglieder besetzten dann die etwa erledigten Aernter,
s. oben S. 239. Am Morgen des für den Tanz bestimmten
Tages wurde zuerst eine Messe für die Teilnehmer gehalten,
während dessen Hänsele mit Knallen der Peitsche die Straßen
durchzog. Dann Umzug durch die Stadt unter Trommeln
und Pfeifen. Der erste Tanz geschah vor dem Rathaus, der
zweite vor dem Pfarrhaus, die anderen vor den Häusern
angesehener Personen [ein derartiges Herumziehen auch in
Northumberland, Yorkshire und den Bergwerksdistrikten].
Vor jedem Hause, vor dem getanzt wurde, schwenkte der
Fähndrich die Fahne; zwei Platzmeister gingen in das
Haus, das „Kompliment abzulegen und sich zu rekomman-
diren", wie es im Spruch heißt [ähnliches in Hessen, nach
Winkelm., und Shetland; vgl. auch oben S. 244 unter ]5"|.
Hänsele, der kein Wort sprechen durfte [wie S. 240, Anm. 1
bemerkt, steht er in den Spielen außerhalb der Reihe der
übrigen Teilnehmer, der Tänzer], sammelte unterdessen
die Gaben [Nordengland'2 und Bergwerksdistrikte, Harz;.
1 Also das wäre eine Aufführung noch in allerjüngster Zeit.
Die letzte Quelle, die Miillenhoff noch Zs. XX, 17 benützte, der Bieder
Schwerttanz, stammt aus den sechziger Jahren. Vgl. übrigens auch
Siegmeth oben S. 1 ; nach ihm scheint in Deutsch-Mokra der Tanz
ebenfalls noch heute aufgeführt. Dort, dann auch in Steiermark [S.].
und in Salzburg [s. oben Nr. 10 u. Nr. 6, vgl. auch Nr. 3 und
Nr. 19] haben sich also die Tänze länger und zum Teil wol auch,
besser [gegen Müllenhoffs Meinung in der Zs. a. a. 0.] als sogar im
Innviertel [Ried] erhalten.
2 Ueber die eigentümliche Verbindung der Sitte des „Pflug-
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
247
vgl. dagegen Germ. cap. 24: Non in quaestum]. Der
zweite Platzmeister arrangirt mittlerweile den Tanz, nach
militärischem Kommando tritt die Mannschaft in eine Reihe
[the six stand in rank, Shetland] nnd salutirt; „alsdann
stellten sie sich hintereinander auf, in der rechten Hand
den Degen, während die linke die Degenspitze des Hinter[?]-
manns faßt, so dass alle gewissermaßen eine Kette bildeten
[s. S. 243, Fig. 5]; mit hüpfenden Schritten im Sechsachtel-
takt [s. dagegen S. 238] wurden nun die verschiedensten
Linien beschrieben, Kreis- und Schlangenlinien [s. S. 243,
Fig. 3], dann eine Gruppe mit gekreuzten Degen darge-
stellt, indem einer nach dem andern unter zwei einpor-
gehaltenen Degen hindurchgegangen [so!] und die zwei
letzten sich immer wider der Gruppe anschlössen, bis
diese sämtliche Teilnehmer aufgenommen [s. S. 243 f.,
Fig. 7, verglichen mit Fig. 17, besonders aber das wider-
holte „Durchgehen unter den Schwertern" auf Shetland],
worauf sie wider in gleicher Weise aufgelöst wurde.
Endlich sprang ein jeder der Reihe nach über einen in
Kniehöhe gehaltenen Degen [s. oben Fig. 7]. Hierzu ward
von den Spielleuten Musik gemacht [vgl. S. 238] und von
den umstehenden Kindern gesungen:
Hatlaha, hatlaha, habermus gnug,
gnädige frau, gnädige frau, gen mer au geld !
Dann folgt ein munteres Tanzvergnügen, und hierauf ziehen
sie ab, wie sie gekommen." — Bei Lindemayr [oben Nr. 3]
schildert ein Gedicht die „Gedanken eines Lambacheri-
schen Pfarrbauers, als er die durchlauchtigste Dauphine,
Erzherzogin von Oesterreich, den 23. April 1770 zum Lam-
bach ankommen sah", und hier heißt es [S. 334 der Aus-
gabe] :
Abá no künstliga, runder und theurá
richten si d'schöfleut und d'schwert-tanzerá.
ziehens" mit dem Schwerttanze, die sich hier findet, vgl. Mannhardt,
a- oben S. 231, Anm. a. 0. 558, wonach das jüngeren Ursprungs ist.
248
Mayer.
Ebda. 339 ff. stellt dann ein Bericht der Linzerisclien Frey-
tags-Ordinari-Zeitung Nr. 337 vom 27. April 1770 über
die Empfangsfeierlichkeiten, und hier [darnach auch bei
Hartmann a. o. a. 0.] wird der Tanz so geschildert: Aufge-
führt wurde er vor der Erzherzogin Antoinette, die dem
Dauphin entgegenreiste, auf der Traun bei Lambach von
den Salzschiffleuten auf einem mit einer türkischen Musik
besetzten und von zwölf il lu mi ni r ten Zillen umgebenen
Schiffe als der „sogenannte Schwert- oder Fackeltanz"
[auch der Tanz der Halleiner Knappen geschieht in der
Dunkelheit und bei Fackelbeleuchtung, Schiestl 69], ver-
bunden mit einem Feuerwerk [s. unten S. 254], wobei
zuletzt ein „Vivat [s. S. 249] Antonia" auf den zwölf neben-
einander gestellten beleuchteten Zillen gebildet wurde.
In Ebensee [Nr. 7] ist der Schwerttanz bisweilen mit
„dem wilden Mummenschanz der ,Glöckler' verbunden, die
am heiligen Dreikönigsabend [s. S. 259 ff.] mit transparen-
ten, von innen erleuchteten [s. oben die Fackeln] hohen
Mützen [s. S. 237, Ditmarschen], weißen Hemden und
Hosen [s. S. 238, Hallein], über den Kleidern mit Glocken
behangen [s. S. 235 f.] und mit langen Stäben in gewaltigen
Sätzen springend und jauchzend von Ort zu Ort ziehen
[s. S. 246]." Ebensee habe eine Saline, fügt Hartmann hinzu;
also sind auch wol Salzschifileute die Tänzer, wie in Laufen
und Lambach [s. S. 240].
Nach Gebhard, a. oben unter Nr. 5 a. 0. wurde ehedem
im S alz kämm er g ut der Schwerttanz folgendermaßen dar-
gestellt: Nach dem Spruch beim Eintritt [s. oben zu M 1,
S 1] wird ein Eondo getanzt [s. S. 242, Fig. 1; „in der
Runde", Ditmarschen; Circle is danced round twice, Shet-
land; They dance round . . . they form into a circle . . .
they dance round, ebda. ; „erst bewahren sie den Kreis und
marschiren eine Zeit lang in der Runde", aus den Berg-
werksdistrikten; vgl. auch S. 245, Fig. 21]. Jeder hält die
Spitze des Säbels seines Nebenmannes [s. S. 247]. Ueber die
Säbel wird dann gesprungen [s. ebda, und S. 244, Fig. 7].
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
249
Dieselben werden niedergelegt [so wird auf Shetland aus
den Schwertern ein Schild gebildet und auf den Boden
gelegt; dasselbe geschieht und dazu wird noch, wie im
Salzkammerg., herumgetanzt in Northumberland; auch in
Ditmarschen wurden die Schwerter auf den Boden gelegt,
dann wurde der Vortänzer auf ihnen emporgehoben; in den
englischen Bergwerksdistrikten werden die Schwerter in
einem Geflecht zusammengefügt, und einer trägt sie in
die Mitte des Kreises, die anderen hüpfen und springen eine
Weile unbewaffnet herum, bis jeder sein Schwert aus dem
Bündel zieht — vgl. hierzu M 186], und es wird herumgetanzt.
Darauf werden sie wieder aufgehoben, und der sogenannte
Schnecken wird gebildet, aus welchem der Yortänzer und die
Nachfolgenden sich wieder herauswinden müssen, ohne die
Säbelspitze loszulassen [es ist jedoch nicht ganz klar, wie das
vor sich ging; die Auflösung des Bündels in einer gewissen
festbestimmten Ordnung auch in Shetland]. Dann tritt ein
„Faschingsnarr" in die Mitte und kniet nieder, alle Tänzer
legen die Säbel auf ihn, der Yortänzer springt auf die
Säbel, auf den Rücken des Narren [vgl. S. 242 f., Fig. 2.
230 f. 233]. Dann findet wieder, aber schneller, ein Rund-
tanz [vgl. S. 248] statt, wobei unvermerkt die Tänzer immer
um einen weniger werden, bis auf den Yortänzer und Nach-
tänzer [Vor- und Nachtänzer auch in Ulm nach Fischer],
die sich ein paar Mal mit ihren Säbeln herumdrehen. Sie
schlagen dann mit denselben zusammen [so auch die Gothi
et Sueci oben unter C. ; vgl. dazu Germ. Cap. 11 : Sin placuit,
frameas concutiunt] und schreien ein freudiges Vivat!
Der Halleiner Tanz hatte im Jahre 1647 [Schiestl
68; s. oben S. 239] 16 „Proben" [Figuren], aus denen ich
folgende hervorhebe [Schiestl ebda.]:
„1. Ein tanzen." [Vielleicht ein Aufziehen in einer
Kette oder paarweise, wie jetzt beim Tanz, s. obenS. 247 und
250.] „4. Die Brücke." „9. Der Kasten." „11. Der
Stern. Im auf und ab." „13. Die Roste, darauf der Fähn-
rich steht." „14. Ihrer Sechs, das Nebenrädel." [Jedes-
250
Mayer.
falls scheinen hier sechs Tänzer eine besondere Figur zu
bilden, vgl. S. 241; mit dem „Radschlagen" S. 244 hat
das aber wol nichts zu tun]. „16. Das Wetzen." [Vgl.
S. 245, Fig. 20.] Jetzt wird der Tanz aufgeführt
von 16 [s. oben S. 240] Knappen [unter ihnen ein Vor-
tiinzer] und dein „Sergeanten" auf einem im Freien er-
richteten Podium, Schiestl 69. Hr. Schiestl findet in dem
Tanz nur „Hauptmomente aus dem Knappenleben in der
Grube und über Tags", ursprünglich mit ,,Arbeitszeugen,
den sogenannten Häuereisen", aufgeführt. Hiervon wird
das Gegenteil richtig sein ; ursprünglich waren gewiss
die Schwerter, s. auch Hartmann a. o. a. 0. 130: Die
Meinung hat sich unter den Bergleuten vielleicht nach
der Abbildung auf der Fahne [s. unten S. 254], auf der die
Hälfte der Tänzer Werkzeuge tragen, festgesetzt; übrigens
hieß der Tanz bereits 1586 SchAverttanz [Schiestl 68]. Eine
Umdeutung des Tanzes auf das Bergwerkswesen haben frei-
lich die Knappen selbst vorzunehmen versucht, indem einzelne
der Sprüche, die der Leiter des Ganzen, hier „Sergeant" ge-
nannt,1 zu den einzelnen Figuren singt [s. oben S. 238], diesen
letzteren eine Beziehung zum Bergwerksleben geben sollen.
Aber einige Figuren darunter sind noch die alteu, bezeichnen-
den, die also, wie wir gleich sehen werden, auch noch dieser
Tanz aufweist. Die Tänzer rücken zuerst paarweise mit
Musik an, bilden eine Front und salutiren mit den Schwer-
tern [ganz so in Ueberlingen, s. S. 247; vgl. auch S. 242,
Fig. 1; das wird schon 1647 unter 1 stattgehabt haben].
Nun folgt eine Figur, die allerdings nur „das Aufrufen
und Vortreten in der Anstaltsstube, wo jedem vor der
Schicht seine Arbeit angewiesen wird", vorstellen dürfte.
Dann wird eine Chaine gebildet, ähnlich wie im Cotillon ;
1 Er wird von dem Vortänzer unterschieden, wol so, dass
hier der Vortänzer eben nur der erste in der Reihenfolge der Tänzer
ist, während der „Sergeant" der eigentliche Vortänzer, der Leiter,
ist [s. übrigens oben S. 239 f.]. Ursprünglich wird die Person bei dem
Tanze sicher nicht gewesen sein.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 251
diese geht über in einen Rundtanz [s. S. 244 f., Fig-.
15]. Die Verbindung zwischen den Tänzern bilden die
Schwerter, indem jeder mit der einen Hand sein Schwert
am Griff, mit der anderen die Spitze des Schwertes seines
Nebenmannes fasst [s. S. 242 f., Fig. 2 „die Tänzer
reihweis tanzend", und Fig. 5, nur dass dort die
Tänzer hintereinander, hier im Kreise stehen]. Hierauf
werden aus den gegen den Boden gehaltenen Schwertern
die Querhölzer eines Trettenwerkes, „Brücke" genannt,
[es ist also die oben S. 249 erwähnte 4. „Probe" aus dem
Jahre 1647; vgl. auch die „doppelte Brücke" S. 244, Fig. 8]
gebildet, worauf der Sergeant in „Stellung" [so dass er
also wenigstens diese Figur nicht mittanzt] spricht [doch
redet Schiestl sonst auch von Gesang, oben S. 250]:
Die brücke ist erbaut,
tanzt kühn auf ihrem rücken,
doch habet acht und schaut,
es darf kein schritt missglücken.
Diese VV. könnten wol alt sein. Es springt dann,
von dem hintersten angefangen, jeder über die vor ihm
liegenden Schwerter [vgl. S. 244, Fig. 7]. Darauf folgt
wieder nur eine Variation der Figur hilt and point
[Shetland, Fg. 134, das bekannte abwechselnde Halten
der Schwerter an Griff und Spitze] : die Tänzer stehen in
zwei Reihen einander gegenüber [die Tänzer einander
gegenüber, S. 245, Fig. 18. 20; mit dem Rücken gegen
einander, Shetland, Fg. 134], ihre Schultern paarweise
mit den Schwertern verbunden. Dann folgt der so-
sogenannte „Hauptstollen". Zwei Reihen Tänzer stehen
einander gegenüber, und auf einer Reihe hält jeder sein
Schwert unter einem Winkel von etwa 45° gegen den
gegenüberstehenden Tänzer, „so dass ein Stollen im Spitz-
bogenstil gebildet werde". Von dem hintersten an fahren
nun alle Tänzer durch diesen Stollen hindurch, der „Ser-
geant" voraus. [Er beteiligt sich also an dieser Figur. —
Durchgehen unter den Schwertern auf Shetland; vgl. auch
252
Mayer.
S. 243, Fig. 3 u. 245, Fig. 17]. Dann wider eine Runde;
hierauf die „Stolle", der „Sergeant" rutscht über eine yon den
Tänzern schräg gehaltene Leiter nach abwärts. Ein Spruch
deutet dies auf das Bergwesen aus ; der „Sergeant" spricht ihn
bemerkenswerter Weise auf der Leiter aufrechtstehend [s.
oben Fig. 15]. Nun wider eine Runde und hierauf der
„Steigkasten", eine Figur, die gewiss mit der 1647 als
9. angeführten, dem „Kasten", dieselbe ist, so dass schon
damals der Tanz einen Bezug auf das Bergwerk
hatte. Es ist nur soviel klar, dass mit Hilfe der Schwerter
der „Sergeant" sich über die Tänzer erhebt- im übrigen
scheint man bei der Bildung und Auflösung der Figur
das Auf- und Abfahren in der Grube nachbilden zu wollen.
Das drücken auch ganz deutlich die vier VV. aus, die
der „Sergeant", oben angelangt, spricht und die nichts alter-
tümliches haben [also wesentlich nur eine Variation der
früheren Figur]. Jetzt kommt eine Runde und eine weitere
Gruppe, „das Gerüst zu einem ^Haidensturz1 darstellend.
Zwölf Mann bilden die Grundjöcher und auf deren Rücken
vier Mann die Pfeiler. Um auf den Rücken der Tänzer zu
gelangen, dient ein Mann in Uniform [s. S. 237 f.] ohne
Feldbinde [vgl. S. 244, Fig. 12; auch sonst ist gewöhn-
lich der ,Narr' anders gekleidet, wie sich im Vorher-
gehenden widerholt ausgewiesen hat], der ,Stock'2 ge-
nannt, als Schemel, auf dessen Rücken sich die vier Mann
1 Haldensturz ist „das Gerüst, auf welchem die Grubenhunde auf
die Halden umgestürzt und so entleert werden" [D. Wb. II, 223
unter dem W.2] 5 Halde ist bei den Bergleuten „ein beim Schacht auf-
geschütteter Hügel Erde oder Gesteins" [ebda. Sp. 221 unter dem W.3] ;
der Grubenhund „ein länglich viereckiger, oben offener, auf vier
Rädern ruhender Kasten zur Förderung auf Stollen oder Strecken"
[ebda. IV 2, 1918 unter Hund II, 2a].
2 Entweder wie in stockdumm zu verstehen oder mit dem
dialektischen Stockerl = Schemel zu vergleichen. Mit dem
Stock haben wir also hier insgesamt 18 Mitwirkende [s oben
S. 250J.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
253
oben auf die übrigen Tänzer hinaufschwingen, zu welchem
Behufe sich der,Stock' auf vier verschiedenen Seiten auf den
Boden kniet und mit seinem Rücken einen Schemel bildet."
— Es ist ohne weiteres klar, dass dieser „Stock" der oft er-
wähnte „Narr", der Fasching in M, ist. Folgendes aber
ist ein Rest seiner Tötung [s. S. 229], wenn es heißt:
„Hat sich der vierte Mann hinaufgeschwungen, so bekömmt
der Stock in seiner gebückten Stellung zur Ergötzung des
Publikums von dem Sergeanten mit seinem Schwerte einen
tüchtigen Klaps auf den Hintern, als Zeichen, dass seine
Rolle zu Ende ist..." Der „Sergeant" steht in der Mitte
der Gruppe über den Tänzern [er tut also hier wider
mit] ; aber was er spricht, ist wider nur die bergmännische
Ausdeutung der Figur [der „Haldensturz"]. — Jetzt folgt
eine Runde und Bildung des „Bergs": Der „Sergeant" ver-
tauscht das Schwert mit der Bergfahne [Fahne und Fähnrich
auch in Ueberlingen, s. S. 246] und besteigt mit Hilfe des
„Stockes" die von den andern über ihren Köpfen wagrecht
gehaltenen Schwerter [der „Stern" auch S. 244, Fig. 15, vgl.
1647 Nr. 11(?) und Nr. 13; Hartmann 131 möchte hier
roßen = rose lesen für roste]; er schwingt die Fahne
und ruft:
Der freude höchster jubel
ertönt auf diesem stand,
glück auf! glück auf! glück auf!
den hohen gönnern mit einand!
[Vgl. den Salzburger Tanz Nr. 5; s. oben S. 249.] Die letzte
Zeile wird nach Umständen geändert; z. B. beim Salz-
burger Künstlerfest lautete sie: Deutschlands Künstlern
miteinand! Die Gruppe wird von bengalischem Feuer
beleuchtet; und während des Verlösch ens desselben hat
der „Sergeant" bereits seinen hohen Standpunkt verlassen.
Wieder eine Ronde; daraus bildet sich das „,Flechten' [die
dritte Figur 1647; Hartmann dagegen 131 verbindet das
mit Probe 13], ein künstliches Verflechten der Schwerter
254
Mayer.
unter sich, und das sogenannte ,Ueberspringen', wo jeder
Tänzer über sein eigenes Schwert springt, ohne die Ver-
bindung mit den übrigen Tänzern aufzuheben [?]". — Darauf
folgt eine Runde und daraus der „Schiangl — (Schlangen )
tanz" [vgl. S. 244, Fig. 8, die „Natterngang" heißt, aber
wol ganz anders verläuft], der die Ausfahrt aus dem
Berge darstellen soll. — Dann wieder in die Fronte, wie zu
Anfang des Tanzes und Abziehen, wobei ein Hanswurst
unter der Volksmenge mit einer Handspritze Unfug treibt ;
andere Spaßvögel werfen Feuerfrösche [ein Feuerwerker
beim Tanz in den engl. Bergwerksdistrikten] unter die
Mädchen.
Schiestl gibt zur Verdeutlichung der Figuren Abbil-
dungen bei, die immerhin noch manches im Unklaren lassen.
Der Tanz ist schon 1750 abgebildet worden auf einer
alten Knappenfahne von diesem Jahr [Schiestl 67]. Aus
einem von Seh. aufgefundenen, auf den Schwerttanz be-
züglichen Gedicht, das im ganzen jung zu sein scheint,
teile ich nur mit:
1. Knappen auf im kreise,
schwingt den Schwerter-tanz
nach der väter weise
zu des festes glänz!
3. Nackte Schwerter klirren
in der tänzer hand,
fröhlich wallt um ihren
leib das festgewand.
6. So beim schwertgeflimmer
kehrt vor unserm blick,
kehrt das vorge immer
neu geformt zurück.
[Die zwei letzten VV. beziehen sich auf die verschie-
denen Variationen einer Figur.]
Der Bericht aus Ried: Zuerst stellten sich die Tänzer,
zwölf an der Zahl, einander gegenüber [S. 245, Fig. 18
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
255
u. bes. Fig. 20, wodurch sich Müllenhoffs Bedenken Zs. XX,
18 erledigt]; der Schwertkönig [so genannt auch in Dit-
marschen, Schweden; in dem verwandten Reifentanz und in
Yorkshire; vgl. auch das Harzer Spiel; Herr heißt der Vor-
tänzer in M 132] mit einer schiefen Mütze [ wie in Ditmar-
schen nur die beiden Leiter einen Hut tragen] und einer
Schärpe [s. S. 237], wand sich zwischen den Männern durch
[s. S. 245, Fig. 17] und wurde schließlich von ihnen, indem sie
ihre Schwerter um seinen Hals legten [der König vertritt
die Stelle des „Narren", vgl. Zs. XX, 18; s. übrigens oben
S. 244, Fig. 14 und die Fassung M—S], unter Absingung
eines kurzen Spruches emporgehoben [s. S. 230 f.]. — Vor
etwa 40—50 Jahren, schreibt der Berichterstatter, soll
dieser Schwerttanz viel großartiger betrieben worden sein.
Damals zogen die Schwerttänzer von Ort zu Ort, von Hof
zu Hof [s. S. 246] und führten, sich in zwei Reihen einander
gegenüber aufstellend und die Schwerter kreuzend [s. S. 244,
Fig. 8], wobei einige über die Schwerter tanzten and
sprangen [s. S. 244, Fig. 7], ihren wilden Reigen aus, und
schließlich wurde der „Schwertkönig" in der Weise, wie eben
beschrieben, von ihnen emporgehoben. Da wurde nun in
dem Hause, in dem die Schwerttänzer einkehrten, gesotten
und gebraten, und es gab einen lustigen Abend; gewöhn-
lich wurde auch getanzt [s. S. 247]. Die Sprüche kann der
Gewährsmann nicht mitteilen.
In M endlich müssen wir uns die Schlussfigur wie
in Ulm denken, wo die Tänzer ihre Schwerter auf die
Achsel des „Narren" legen und dann der Führer hinauf-
steigt. Hier steht Fasching als „Narr"; und so kann es
auch in der Spielanweisung [M 166] heißen, der Vortänzer
steige auf den Fasching, und der erstere dann doch sagen,
er stehe auf diesen Schwertern stolz. [Im übrigen s. S. 252
und vgl. S. 233, Anrn. 2.]
256
M ayer.
IV.
J. Grimm, Mythol. 187 weist den germanischen
Schwerttanz dem Zio als vorzüglichem Schwertgotte1 zu2;
andere erinnern auch an Wodan3, zu dessen Ehren in
Yorkshire ein Kiesentanz aufgeführt wird, der vielleicht
ein Schwerttanz noch in der altmythischen Gestalt ist
[Fg. 144, Zs. XX, 15]. Auch dem Frô, der gleichfalls ein
Schwertgott ist, könnte der Tanz gewidmet gewesen sein.
Und so ist es denn überhaupt ganz gut denkbar, dass der-
selbe Tanz zu Ehren verschiedener Götter aufgeführt
wurde.4 Insbesondere lässt sich zur Erklärung mancher
bestimmter Formen des Schwerttanzes wol auch an-
1 Mythol. 184 ff.; er heißt bayerisch auch Eor = Schwert,
vgl. ebda, und darauf verweist auch Schuster im Archiv IX, 401.
2 Vgl. Fg. 115. Miillenhoff vergleicht die Mamertalien, durch
die Mars gefeiert wurde.
3 Vgl. über Wodan als Kriegsgott Mythol. 121 ff.; für den
in Rede stehenden Punkt insbesondere auch Simrock in seiner
Mythol. 4 230, der aber S. 275 f. den Tanz genauer doch wider
unter Zio abhandelt.
4 S. dazu auch Schuster im Archiv IX, 234 u. 235 f. Ob es
dagegen auf die Spur des Gottes, dem die jedesmalige Aufführung
gegolten habe, leiten kann, wenn das eine Mal Schäfer, das andere
Kürschner, sonst Messerer oder noch andere [die Schäfer sollen auf
Frô, Messerer und Schwertfeger auf den Schwertgott Zio weisen,
a. a. 0. 489] genannt werden, scheint mir sehr zweifelhaft; ebenso
wenig dürfte eine Zwölfzahl der Tänzer [12 Monate?, vgl. übrigens
über die Zwölfzahl Mythol. 4III, p. XII] für den Sonnengott beweisen,
da ja die Anzahl der Teilnehmer sehr wechselt [s. oben S. 240].
In jedem Falle war es ursprünglich im Kähmen des Spieles immer
der in dem Führer der Tänzer verborgene Gott selbst, der eine
feindliche Gewalt tötete [vgl. z. B. den Kaiser Karl im Lübecker-
Spiel; anders jetzt in M—S].
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
257
nehmen, dass sich ein Tanz, etwa zu Ehren des Zio oder
eines anderen Gottes, vielleicht eines Frühlingsgottes,
der zugleich Schwertgott war1, verbunden hat mit einem
Freudenfeste zur Feier des Frühlingsanfanges,2 welches
letztere charakterisirt wird durch Tötung des Narren3 und
Emporheben des Königs auf den Schwertern. Manchen Fas-
sungen fehlt ja der eigentliche Tanz ganz; dafür haben sie jene
beiden Züge oder doch wenigstens einen von diesen.4 Manches
nicht bloß in der Person des Narren, sondern auch in der
Vorführung verschiedener Tänzer mit ihren zum Teil
spaßhaften Reden, wie in M—S, ist gewiss jung und viel-
leicht nur neuerem Faschingsscherz angehörig. In M—S,
und auch sonst noch, heißt der „Narr" geradezu F aschin g;
und vom Fasching in M heißt es [s. oben S. 1], er trete
„maskirt" auf [vgl. jedoch auch die englischen Tommy und
Bessy in Tierfellen, S. 230, Anm. 1]; in üeberlingen ist
sein Kostüm das eines „Fastnachtshänsele" [s. S. 237].
Dagegen möchte ich für eine Gestalt, wie die des
Dieners Hans im Harzer Spiel, doch noch an das erinnern,
1 Hiefür böte sich Frô, welcher Schwertgott [Mythol. 194. 196]
und zugleich Frühlingsgott [ebda. 194] war.
2 Wenn der Schwerttanz, den die Schäßburger Bauernjugend
unter anderen drei Tage lang gegen Weihnachten aufgeführten Tänzen
am letzten Abend, dem bênengôwent, darstellte, einen unzüch-
tigen Charakter trug, während anderswo an diesem Abend einfach
getanzt wird [Archiv IX, 446, X, 143], so wäre das nur für eine Feier
des Frühlings, des Erwachens der Natur, bezeichnend und müsste
nicht gerade auf Frô „als phallischen Gott der tierischen Zeugung
und Fruchtbarkeit" gehen, wie Schuster a. a. 0. 446 will. Wodan
wäre ja nach Mythol. 141 ff. auch ein Gott der Fruchtbarkeit.
3 Die Aufführungen, denen diese fehlte, sind vielleicht nur
Abkürzungen [Fg. 144, ?; s. übrigens oben S. 229 ff.].
4 Eine der eben vorgetragenen ähnliche Auffassung auch bei
Schuster im Archiv IX, 403 f., wozu nur zu bemerken ist, dass für
eine Frühlingsfeier keineswegs die Darstellung zweier kämpfenden
Parteien notwendig wäre. Auf eine Frühlingsfeier weist übri-
gens in M—S wol auch eine Figur wie die des G r ü n w a 1 d.
258
Mayer.
was Mythol. 482 gesagt ist: „Ich kann mir wol denken,
dass schon im Heidentum der Gottheit, deren Erscheinung
Glück und Heil verkündigte, ein lustiger Alb oder Zwerg
als Diener zur Seite stand und ihre Segnungen dem ge-
meinen Haufen versinnlichte."1 Hans ruft hier die Per-
sonen auf, während z. B. in M-S dafür der Fasching
eintritt [s. S. 229], der „Nárr", mit dem die Person des Die-
ners meist zusammengefallen ist. Zu Wil der Waldmann
in S vgl. die Waldleute, Mythol. 461 if.; dazu ist zu
nehmen, was die Nachträge 4III, 139 ff. an Belegen über
„waltman", „Wilder Mann" u. s. w. beibringen. Ueber
Spiele und Tänze, in denen der Wilde Mann eine Rolle
spielt, s. Hartmann 447 ff. bei Gelegenheit seiner Mitteilung
eines Wildmännli-Tanzes. Es ist auch eine Frühlingsfeier
und so mit dem Schwerttanz zu vergleichen; der wilde
Mann ist der im Lenz neu erwachende Vegetationsdämon
fs. Mannhardt, a. o. a. 0. 333 ff., insbesondere 337; vgl.
dazu oben S. 231, Anm. I].2 Mythische Bedeutung haben
möglicherweise auch die Schellen der Schwerttänzer [oben
S. 235 f.]. Nach Mannhardt 546 ff. bezeichnen die Schellen
bei den Festumzügen ursprünglich wol eine beabsichtigte
Vertreibung der Hexen und Feldgespenster durch den
Glockenschall, wobei allerdings noch ein verbreiteter Fast-
nachtsbrauch unmittelbar einwirken konnte. Hierher kann
auch das Springen und Jauchzen beim Schwerttanz in
Ebensee gehören: „Das laute, unsinnige Geschrei beim Um-
lauf durch die Felder dürfte der Weckruf gewesen sein,
durch den man vordem die schlafende Vegetation wieder ins
1 Vgl. dazu die im Text zu S 78 angeführten Stellen aus der Mythol.
— Andererseits merke ich an : Obermayer zeichnet sich durch eine
riesenmäßige Gefräßigkeit [Mythol. 486—489. 495, 4III, 150] ausj
ebenso ist Rias Rugebart [Lübeck] ein Fresser und Saufbold [olr, d. i.
berauscht, betrunken, heißt der Riese Geirroär einmal, s. Mythol.
495].
2 Vielleicht sind die Blumen beim Schwerttanz [oben S. 242]
hierher zn ziehen.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
259
Leben zu bringen, resp. die Geister des Todes und Miss-
wachses zu bannen vermeinte", ebda. 547. Zu gleichem
Zwecke Peitschenknall in Ueberlingen [s. oben S. 246]?
Wichtig für die Beurteilung dieser Dinge ist die Zeit
der Aufführung. Die Shetländer geschah um Weihnachten,
ebenso die Englischen; hier und dort hängt ja der Brauch
innig zusammen [s. Fg. 135 f.] Um dieselbe Zeit auch in
Schäßburg. In die Weihnachtszeit weisen ferner im Harzer
Spiele Berührungen mit einem Weihnachtsspiel, sowie der
gefrorene Bart des Hans [Fg. 143, vgl. auch S 39; Bessy und
Tommy in den Englischen Fassungen : es sind wie Klas Ruge-
bart in Lübeck (s. S. 229), Figuren des Weilmachtsmummen-
schanzes (s. Fg. 140 f.)|. — Dagegen zur Fastnacht: 1688
die Halleiner Knappen [s. oben S. 239] ; die Aufführungen in
Nürnberg; in Hessen nach Winkelm.; bei den Gothi et Sueci.
Am „Vasselabende" in Hildesheim; ebenso in Braunschweig; in
frühern Zeiten jeden Fastnachtsdonnerstag in Ueberlingen,
später nur alle zehn Jahre [Aufführung noch 1886, vorher
am 27. Sept. 1875; alle acht Jahre in München durch die
Messerer von Braunau] oder bei besonders festlichen Gelegen-
heiten [s. unten S. 260 f.]. In der Fastnacht die Schuster
in Frankfurt auf dem Römer, aber auch hier bei Festen
[s. oben S. 225, Nr. 20]. Um Fastnacht und bei Hoch-
zeiten und anderen Festen in Hessen [nach Winkelm.]. Um
Fasten1 wird auch die Ulmer Aufführung gewesen sein, am
29. Hornimg 1551 [nach Fischer] von 1—3 nachmittags.2 —
In Schmalkalden [Franken und Hessen] war der Schwert-
tanz besonders am Maifest üblich.
Die Aufführung geschieht also zur Wintersonnen-
wende;3 es kann aber für diese auch die Fastnacht als
Frühlingsanfang eintreten [s. Fg. 144]. Dies würde
1 Zu Mittfasten auch das Todaustreiben [s. S. 231, Anm. lj
nach Mythol. 727.
2 Um die Vesperzeit auch in Breslau.
3 Iin November [?] in Ried.
Zeitschrift für Yölkerpsyoh. und Spraclrw. Bd. XIX 2/3. 18
260
Mayer.
entschieden auf eine bestimmte1 und ausschließlich my-
thische [doch s. Tacitus, unten S. 262] Bedeutuug weisen.
Aber der Tanz wurde auch schon ganz früh bei anderen
Gelegenheiten, bei Festen, zur Ehrung- verschiedener
hoher Personen aufgeführt: in Franken und Hessen
„an dem Maifest oder bei irgend einer öffentlichen Ge-
legenheit . . . vorzüglich, wenn Fürsten in einer Stadt
vom Rate daselbst bewirtet wurden, wie das zu Ehren
des Fürsten Georg Ernst von Henneberg in Schmalkalden
1576 geschah" [Fg. 121]. In Hessen nach Winkelm. vor
Landgraf Ludwig VI. und seiner Gemahlin; nach dem-
selben auch bei Hochzeiten. In Breslau bei der Einsetzung
Friedrichs v. d. Pfalz, Königs von Böhmen, als Herzog in
Schlesien 1620. Am 8. Juni 1570 in Nürnberg zur Feier
der Anwesenheit des Kaisers; ebenso daselbst 1496 vor dem
Herzog von Pommern.2 An Volksfesten in Frankfurt, s. oben
unter Nr. 20. Vor den jungen Altenburgischen Herschaften
in Leipzig [Nr. 23a] 1613. Bei der Installation des Sachsen-
grafen in Hermannstadt mußte er jedesmal getanzt werden
[Archiv IX, 403] und wurde in Siebenbürgen noch bei
anderen festlichen Gelegenheiten und überhaupt öfter auf-
geführt; in Kronstadt führten ihn die Kürschner bis zum
Jahre 1700 jährlich im Fasching, wahrscheinlich bei den
großen Kürschnerbällen, auf [Archiv X, 143]. In ähn-
licher Verwendung, wie in Siebenbürgen, erscheint er auch
bei den Halleiner Bergknappen [nach Schiestl 66]: „Bei
besonderen Festlichkeiten, wie z. B. beim Knappenjahr tage,
1 Für die Abstammung des Tanzes überhaupt aus heidnischer
Zeit spricht ganz im allgemeinen schon die Uebereinstimmung
örtlich sehr verschiedener Fassungen [s. Fg. 141].
2 Möllenhoff in der Zs. a. o. unter Nr. 13 a. 0. hat für diese
zwei letzten Aufführungen Jablonski „Allg. Lexicon . ." zur Quelle,
vermisst aber bei diesem eine nähere Angabe über den Ursprung
der Nachricht. Für 1570 findet man Genaueres bei Soden a. o.
S. 238 a. 0. ; für die Aufführung v. 1496 weiß ich auch nichts wei-
teres zu nennen.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
261
bei Anwesenheit allerhöchster und höchster Herschaften,
bei Volksfesten u. s. w." Nach Schlossar a. a. 0. 188 wurde
<er in Obersteiermark gar nur bei ganz besonderen Fest-
lichkeiten aufgeführt, was aber nicht richtig sein wird; auch
hier dürfte, wie überall, einmal eine regelmäßige Aufführung
statt gehabt haben. In dem der Ausgabe von Lindemayrs
Dichtungen beigefügten Idiotikon heißt es S. 410 unter
Schwerttanz, wobei Höfer [Etymol. Wb. Linz 1815] III,
129 citirt wird: „Zuletzt noch von den Schiffleuten am
Stadl zu Lambach zur Winterszeit — gegen Entgelt — und
zur eigenen Unterhaltung im Fasching aufgeführt'•,
doch auch anlässlich besonderer Festlichkeit, so im Jahre
1770 [s. obenS. 247 f.]1.— M wurde nach Siegmeth früher
bei jeder Festlichkeit aufgeführt [s. oben S. 1].
Darnach meine ich: Der Tanz hat häufig — in seiner
mimisch-dramatischen Ausgestaltung [oben S. 232—235]
wol immer — mythische Bedeutung, insbesondere, aber
nicht ausschließlich, für die Frühlingsfeier; er kann
jedoch gleich ursprünglich auch in profanem Gebrauch
gewesen sein. Dies geht schon aus den Worten des Ta-
citus, des ersten Berichterstatters, hervor: Spectaculum
unum atque in omni coetu idem.2 Ich möchte das ganz
besonders betonen.3
Verfehlt ist der Versuch einer Herleitung des Schwert-
tanzes aus antiken Ueberlieferungen, so bei einem gelehrten
1 Höfer teilt mit [S. 130], dass der Schwerttanz ehedem auch
Mohrentanz hieß. Kamen vielleicht die Tänzer dort mit ge-
schwärzten Gesichtern? Der Tanz gab ja zu mancherlei Mummen-
schanz Veranlassung. Höfer weiß nur, dass die Salzschiffleute sich
„im Winter durch Schwerttanzen, Sternsingen, Winter- und
Sommerspielen [s. oben S. 231, Anm. 1]" etwas zu verdienen
pflegten.
2 Vgl. auch den von Müllenhoff Fg. 131 erwähnten Holzschnitt
des Teuerdank, auf welchem Kaiser Maximilian auf einem „Geflecht
von Schilden" erscheint.
3 S. übrigens dazu schon Müllenhoff Fg. 115.
18*
262
Mayer.
Northumbrier, der an das römische armilustrium denkt
[Fg. 116. 137]. Ebensowenig ist er den römischen Gla-
diatorenspielen nachgeahmt [s. Alem. XIV, 250]. Im Volke
selbst knüpfte sich die Sagenbildung an den Schwert-
tanz, namentlich dort, wo gewisse Genossenschaften ihn
aufzuführen pflegten und dies erklärt werden sollte. So
hatten in Ueberliugen nach einer Sage die Rebleute das
Privileg des Schwerttanzes vom Kaiser als Lohn für ihre
Tapferkeit erhalten [Alem. a. a. 0.; weiteres s. Fg. 147.
119 und oben S. 239].
Unter einigen mit dem Schwerttanz verwandten
Tänzen verdient besondere Beachtung [s. darüber unter
anderem Zs. XX, 19] der Münchener Schäfflertanz.1
Hier tritt die „Gretel" auf, eine dem Narren, dem
Tommy und der Bessy des Schwerttanzes vergleichbare
Gestalt. — Eine gewisse Aehnlichkeit zeigen auch mimisch-
dramatische Tänze in Siebenbürgen, wie der Kößchentanz,.
den nach einem im Sächsischen Hausfreund von 1861 über
eine Aufführung bei Schäßburg veröffentlichten Bericht
F. W. Schuster im Archiv IX, 412 ff. schildert. Auch hier
ist ein Lustigmacher ; aber nicht dieser wird in dem Spiele
getötet, sondern eine mitgebrachte Ziege. Der Anführer,
Oberst genannt, wird darüber zornig [vgl. M 130]; zwei
von den Mitspielern, die als Walachen erscheinen, hauchen
der Ziege mit ihren Knitteln Leben ein, ganz wie im
Harzer Spiel Schnortison am Ende wieder lebendig gemacht
wird. Schuster sieht hier wieder einen Thormythus;2 er
1 Ursprünglich zu Ehren Thors, der, wie die Schäffler, den
Hammer führt?
2 Man erinnert sich dessen, was die Mythol. 165. 169 über
Thor sagt. Darnach versteht sich auch das Widerbeleben eines
Schafes durch Christus-Thor, bei Haltrich, Deutsche Volksmärchen,
aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen, Berlin 1856 [3. Auflage Wien
1882], Nr. 14 ; Heilung eines zerstückten Pferdes bei Müller a. o. S„
239 Anm. a. 0. 385. Petrus als Heiler verstümmelter Gliedmaßen
Archiv IX, 426; vgl. auch die ad. „Segen" und Laubersprüche. Der
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 263
vergleicht speciell Thors Fahrt zu Utgardloki ;1 der Knittel
sei an die Stelle des Hammers getreten. Zu M 47. 9,
S 102 vergleichen sich folgende von Schuster, angeführte
W. aus diesem Spiel:
Ich bin kommen von weitem
durch land und leute u. s. w.
Ueber diese und andere Tänze und Umzüge hoffe ich viel-
leicht noch einmal näher handeln zu können und damit
dem von Möllenhoff am Schlüsse seiner Abhandlung, in den
Fg. 147 ausgesprochenen Wunsche nachzukommen.
Wien, 14. Dezember 1888.
Zug gehört aber in den größeren Zusammenhang des allgemein idg.
Mythus; darüber noch zuletzt Schwartz in dieser Zs. XVIII, 411.
1 In der jüngeren Edda. Es ist ein Abenteuer Thors, das
durch eine Erzählung eingeleitet wird, in der Thor geschlachtete
Böcke widerbelebt, Arnamagn. Ausgabe I, 142.
264
Höfler.
Kalendarium der oberbayerischen Kult-
zeiten,
dem Jahre 1887 untergelegt, mit besonderer Rück-
sicht auf oberbayerische Yolksmedicin.
Yon Dr. med. M. Ho e fier.
Toelz (Krankenheil).
Bei jedem Volke gibt es einen eigenen Kanon von
Heilmitteln, die sich dem Kalender anschließen, indem sie
mit der Jahreszeit oder alten Kulten zusammenhängen.
Im nachfolgenden Kalendarium liegen nun die civilisato-
rischen Entwicklungsgänge des oberbayerischen Yolkes, wie
Glieder einer langen Kette, aneinander; jedes Glied aber
ist selbst wider ein Stein, gebildet aus verschieden alten
Schichten, die vom rohesten Anfang bis zu den ethisch
höheren Volksideen sich in Sitte und Brauch nieder-
geschlagen haben.
Eine mit der Natur zusammenhängende Urreligion,
germanisches und römisches Heidentum, klösterliches
Christentum, der Glaube an den Einfluss der Gestirne
auf das Schicksal des Menschen und sein körperliches Ge-
deihen, alle diese Phasen, welche auf das volkstümliche
Denken in medicinischen Dingen etc. einen Einfluss aus-
übten, alle haben sie ihre Spuren hinterlassen.
Der Urreligion gehört an die Feier und die medi-
cinische Bedeutung, welche den an den Wechsel der Jahres-
zeiten sich anschließenden, besonders hervorragenden Zeiten:
der Sommer- und Winter-Sonn wende und den Quatem-
bern, sowie den durch den Mondwechsel bestimmten Tagen
beigemessen wird. — Dass von den Wochentagen beson-
ders der Freitag bevorzugt wird zu Besegnungen des Viehes
und der Felder, zu Blutentziehungen u. s. w., scheint
de lits ch. Unter allen Freitagen am höchsten gestellt ist
der Karfreitag, der heilkräftigste Tag für das Gedeihen
und Genesen von Mensch und Haustier. Mittwoch und
Kalendarium der oberbayerischen Kultzeiten. 265
Samstag- sind die häufigsten Badetage ; der Sonntag ist fast
durchgehends ein Ruhetag.
Deutsch-heidnisch ist ferner, dass die Nachtzeit hei-
liger gilt als der Tag und von den Nächten wider am
heiligsten die Nächte vor den großen Festtagen: Weih-
nacht (Thomas, Sylvester, Drei Könige), Fastnacht, Ostern,
Johannis u. s. w. Germanisch erscheinen aber vor allem:
die zwölf Rauchnächte (Wodansnächte) vom 24. Dec.—
6. Jan., die Zeit des Wasserkults (24. Juni—15. August)
der sich durch Bäder, Wasserpatrone, Brunnenverehrung,
Wetter-Herren und Wetter-Processionen, Wetterkerzen-
Weihe, Ulrichs-Segen u. s. w. deutlich genug bemerkbar
macht, und der Frauendreißiger (15. Aug. — 13. Sept.)
mit seiner Kultdauer von dreißig Tagen. Die alten Wolfs-
monate: Oktober, November und December, sind voll von
Erinnerungen an Wodan, als dessen Stellvertreter oft
St. Michael, St. Leonhard und St. Koloinann erscheinen.
Wie weit Bayern aber den Anspruch auf einen eigenen
Kriegsgott (Er, Irch-Ziu; Irtag, Erchtag = Dienstag) er-
lieben darf, mögen andere entscheiden.
Römisch-heidnischen Anstrich haben die Feier von
St. Sebastian, Lichtmess, Palmsonntag, St. An tonitag,
St. Veit stag, Scapulierfest u. s. w. Andere Tage sind
nur klösterliche Heiltage wie: Rochus, Valentin, Blasius,
Agathe, Lukas; wieder andere sind von den ärztlichen
Kalendermachern zu medicinischen Heiltagen gestempelt
worden und haben sich als solche noch bis ins neunzehnte
Jahrhundert ihre Existenz bewahrt.
Selbstverständlich können in dem nachfolgenden Kalen-
darium nur die Schlagwörter für die Volksgebräuche an-
gegeben werden; wer sich für Weiteres interessirt, findet
nähere Auskunft in des Verfassers Buch: Volksmedicin und
Aberglaube in Oberbayerns Gegenwart und Vergangenheit.
München 1888. Ernst Stahl sen. XII, 244 S. und 2 Tafeln
in Photographie-Druck.
266
Höfler.
Januar
1. Neujahr. Neujahr-Ansingen;
Neujahr abgewinnen; Alten
Weibern morgens zuerst be-
gegnen, hält man für ein Un-
glück; Hexenfurcht; früher
LebzeltenundKäsegeschenke,
sowie Stärketrunk (Met) in
den Spitälern und Klöstern;
„Christkindl mit'm kraußen
Haar" ; Pantoffelwerfen.
Schiv endtag.1
2—4. Schwendtage.
5. „Gebnacht ist unsers Herrn
Tischlnacht" (Berchta); Stern-
ansingen; Wasser, in der Nacht
vor hlg. 3 Könige geweiht, hält
sich das ganze Jahr.
6. Dies epiphaniae. Brechentag,
Brechtag, Berchttag; die so-
genannten Bauchnächte neh-
men ein Ende; hlg. 3 Königs-
Rauch, Salz und Wasser; C f
M f B f werden mit Kreide
an Haus- und Stallthüren ge-
schrieben; 3 König-Ansingen;
Berchteln; wilde Jagd (Berch-
ta) ; die Zimmer und Stallungen
werden ausgeräuchert; „Ober-
ste Tag" (seil, nach Weih-
nachten); Groß Neujahr;
Schwendtag.
7. Valentin. Die fallenden Leute
(Jänner).
(Epileptische) besuchen die
Sankt Valentinskirchen.
8. Erhardt-Zelteln für Husten.
9—14. Abgang des Mondes. Nicht
Haare schneiden.
9. Geb-Nächt-Sonntag.
11. Schiv endtag.
12. Zeichen des Löwen. Ader-
lasstag.
14. Freitag im Abgäng des Mon-
des. Outer Schröpftaq.
20. Sebastian, der durch Pfeile
getötete Patron der Schützen
(Pfeil); Sebastians Hirnschale;
Minnetrunk aus derselben ;
Pestpatron an Stelle des pfeil-
tragenden Apollo, Pestpfeile ;
Procession zu Pestkapellen;
freiwilliger Fasttag, „bis die
Sterne eingehen"; „der Saft
geht in die Bäume."
21. Meinhard. Der Almerer geht
zum letzten Mal um. Frei-
tag im Steinbock, guter Ader-
lass- und Schröpftag.
22. Schivendtag.
26. und 28. Mittwoch und Freitag
im abnehmenden Mond, gute
Ader lasstage.
27. Schäfflertanz alle 7 Jahre
(Gretel in der Butten) in der
Zeit vor Fastnacht.
Februar (Hornung).
Mariae Lichtmess, Mariae Rei- zen gegen Unwetter; Lichtl-
nigung; Haus - Wachskerzen- tag; Annemirl - Tag; Liehtl-
Weihe; schwarze Wachsker- Aufstecken auf Holzspäne;
1 Schivendtag — verworfener Tag, an welchem jede Unter-
nehmung fehl schlägt.
Kalendarium der oberbayerischen Kultzeiten.
267
Ê-halten-Tag (Schlenkeltag) ;
Zinstag.
3. Blasius. Einblaseln der
Halskranken; Schienkel-
mittwoch (Landfasching); Bla-
si-Wasser; Blasi-Licht.
5. Agathe. Hustenzelteln.
6. Sonntag nach Lichtmess. (Frü-
her Kapellen-Umritte).
7. u. 8. Wachsen des Mondes im
Löwen. Haar schnei de tage.
9. Apollonia mit der Zange, Pa-
tronin der Zahnleiden den.
Apollonien-Wurz.
11. Freitag nach Lichtmess im Ab-
gang d. Mondes. Guter Ader-
lasstag für die Schwan-
geren.
17. Donnerstag nach Sexagesi-
mae. Bauernjahrtag; unsin-
niger Pfingsttag;1 Schwendtag.
18. Russiger Freitag (Küchen-
Ruß).
.19. Geschmalzener Samstag.
(Schmalz - Nudeln) ; Fasten-
b ä d e r ; Salz-Kultbrote (Bre-
zen).
20. Fastensonn tag, Sonntag
Invocavit, „Kässonntag".
Fasenacht-Krapfen ; Mas-
kerade; Eier in Schmalz;
27.
süße Fasenachts-Milch; um
12 Uhr mittags war früher
„Landsprache" (Gericht)
behufs Vorlesung des
Weistums für den Ort.
21. Fasenachts-Montag.Blauer
Montag, Unsinniger Mon-
tag, Geil-Montag. Be-
liebter Hochzeitstag.
22. Fasenacht. Kuchelball;
aller Narren Kirchtag;
Fasenacht-Laufen; Jackel-
schutzen; Fasenachts -
Schimmel.
23. Aschermittwoch. Ein-
ascheln mit Buchen-
„Asche"; Quatember-
G'sundbäder u. Ader-
lasstag.
24. Mattheiss. Loosnacht.
25. Walpurgis-Todestag.
26. Besonders guter Ader-
lasstag im Zeichen des
Steinbocks.
Erster Sonntag in der Fasten.
Funkensonntag, Hutzelsonn-
28. Oswald (Wodan), Viehpatron.
Oswaldstauden.
März (Mirz).
2. Quatember-G'sundbäder.
3. Märzenbäder, am Abend
vor dem ersten Freitag im
März.
4. Erster Freitag im März. Der
Lauf eines an diesem Tage
geschossenen Hasen ist ein be-
sonders gutes Amulett ge-
gen Lumbago.
6. Haar sehn eide- u. Ader-
lasstag.
6—9. Haars chne ide tag im
Löwen-und Jungfrau-Zeichen.
10. Märzenbäder am Abend
1 Pfingsttag = fünfter Wochentag.
268
Höfler.
vor dem zweiten Freitag im
März.
12. Gregor. Die Gregori (Virga-
tum, in der Schule Austrei-
ben mit der frischen, grünen
Rute; Kinderlust).
14. Schwendtag.
16. Mittfasten. Märzenbäder
(schon 930 üblich); Tod-Aus-
treiben; Zinstag.
17. Märzenbäder am Abende
vor dem 3. Freitag im März.
Gertraud, die erste Gärtnerin,
die Herbergs - Patronin, bei
der die Toten die erste Nacht
schlafen, giebt das Zeichen
zum Blumeneinsetzen nach
der Winternacht; Gertvuds-
Minne ; die besten Eier wer-
den um diese Zeit gelegt.
Gertruds - Kapellen in
der Nähe der Spitäler
vor den Stadt-Thoren.
April
1. Apriltag. Schlechter Tag;
kein Aderlasstag; Judas,
der Erzschelm, ist an diesem
Tage geboren.
3. Palmsonntag. Weihe derPalm-
Weiden, des Wachslaubes und
des Sefelbaumes; Hexen-
besen und Wetterbuschen;
die Weiber haben ihren Tag
(Palmeselin); Schwendtag;
Besuch der Spitäler.
3—6. Haarschneidetag im
Zeichen des Löwen u. der
Jungfrau.
6—9. Pumpermetten.
7. Gründonnerstag. Antlass
pfinztag, Dies absolutionis;
1 Antlass = Sündenerlass.
19. Joseph. Hab tag; Märzen-
sch neew as ser; Josephi-
Lilien-Oel; Josephi-Kraut;
Joseplii-Staberl.
20. Laetare, Maiensonntag. Tod-
Austragen im Umzug; Win-
ter- u. Sommerspiel; Kalbs.
Kopf-Essen in Spitälern;
Rosensonntag.
21. Benedict. Frülilings-Naclit-
gleiche, in den heidnischen
Zeiten durch solenne Umzüge
und Opfer gefeiert; Bene-
dictenwurz; Benedicten-
kraut.
21—24. Aderlasstage.
25. „Mariä - Verkündigung kom-
men die Schwalben wieder-
um"; Aderlasstag für die
Schwangeren; Zinstag;,
schwarzer Sonntag (fünfter
Fastensonntag).
31. Schmerzhafter Freitag.
(Ábril).
Schwendtag; Pflanzen, in
dieser Nacht gepflückt,
sind besonders heilsam;,
in der Nacht vor dem Kar-
freitag werden von schwar-
zen Hennen die hochgeweih-
ten Antlass-Eier gelegt;.
Kräutl-Suppe und Nissl-Salat;
Besuch der Spitäler.
8. Karfreitag, höchster Frei-
tag. Getreide-Säetag ; unge-
schmalzene Wassersuppe; Erb-
sensuppe ; Karfreitag - Häute
(Kultbrot); Eierspende der
bäuerlichen Messner an die
Klöster; Zwingmessen; Nä-
gelschneiden; Chrysam-
Kalendarium der oberbayerisch en Kultzeiten.
269
Wasser-Weihe; brüchige
Kinder werden durch
Baumlöcher oder Erd-
löcher hindurchgescho-
ben (Widergeburt); die Hexen
sind nachts in der Kirche
sichtbar.
9. Karsamstag. In der Nacht
vor Ostern eingetragene
Pflanzen sind besonders
h eilkr äftig; Osterfeuer(hie
und da in Trichtergruben);
Osterfeuer-Pfeile; Osterkoh-
len; Holzscheiter- (Feuer-)
Weihe; Mannl-Brot; kalter
Haus-Herd wird mit Oster-
kohlen wider angeschürt;
Karsamstag'- Gras gibt viel
und schmalzreiche Milch.
10. Ostertag. Osterhas - Eier;
OsterWasser; Oster-
Vetgerl; O st er bl üm eri ;
Osterwachs; Oster-Fladen
und Osterlamm (Kultbrote) ;
Osterspeisen-Weihe; Oster-
Widder; Oster-Krone ; Acker-
Weihe; Oster -Ritt; Ostern-
Anwünschen. Besuch der
Spitäler.
11. Ostermontag. Emmaus-(Eben-
aus) Gehen.
16. Schwendtag.
Mai
1. „Der erste Tag Mai"; Mai-
baum-Schlag oder -Setzen;
Mai-Ansingen; Mai-Büschel;
Maien-Milch; Maienschmalz;
Maienbuchen (Antlassbuchen)
werden auf die Felder ge-
steckt; Maikuren; Mai-
Scorpion; Maibäder.
1 Viele Berge tragen den S
17. Schwendtag. Weißer Sonn-
tag , Freudensonntag ; Met-
Tag; „Schön he its- und
Stärke-Tr unk".
23. Samstag vor Geoi'gi- Wasser-
vogel-Umritt.
24. Georg.1 Die Wiesen dürfen
nicht mehr betreten werden;
Aufstellen der E-Zäune ; die
Hirten sägen den Kühen die
Hornspitzen ab ; Georgi-Leib-
Brote; Zinstag; der Bill-
mees-Schnitter oderWegeles-
schneider reitet um und macht
den Bockschnitt; Georgi-Se-
gen f. d. Pferde.
Der zweite Sonntag nach
Ostern = Bocksonntag.
30. Katharina. Kathreinblü-
merl; Kathreinöl; die
Nacht vor dem 1. Mai
ist die ursprüngliche Wal-
purgis-Nacht (Truden-Nacht),
Hexen - Sabbath ; die in
dieser Nacht eingetra-
genen Kräuter sind be-
sonder s wirks am e Hexen-
kräuter ; der Hexentanzplatz
in dieser Nacht ist die Schar-
nitzer-Klause; Maifestblu-
me; Gürtelkraut; Hexen-
ausblaschen (peitschen).
(Maï).
1—3. Mai. Mai-Feiertage.
Haarschneiden im Zei-
chen der Jungfrau.
4. Florian, der Patron für
Schmiede und Feuerarbeiter.
6. Erster Freitag im Mai. Ader-
lasstag.
7—8. Schwendtage,
iamen Georgsstein.
270
Höfler.
IB. Freitag vor Christi Himmel-
fahrt, Schauer-Freitag.
16—18. Bittwoche. Felder-Um-
gang.
16. Johannes Nepomuk, Patron
der Flösser. Im Yolksmunde
heißt er Hans A . . . ., weil
er auf dem A .. .. schwimmt.
19. Christi Himmelfahrt. Him-
melauffahrtsblümerl (Wetter-
schutz); Zinstag; goldene
Non- (nona seil, hora) Tag.
20. Freitag nach Christi Himmel-
fahrt, Schauerfreitag. Kreuz-
Ritte.
25. Urban, Patron der Schäffler.
Urbans-Plag ; Urban-Reiten.
29. Pfingsten. Pfingstrose ;Pfingst-
kränze; Pfingstbraut; Pfingst-
liimmel (Pfingsthammel); die
Männer haben ihren „Tag" ;
Besuch von Herren-Wörth
im Chiemsee ; Pfingsttauben-
Essen.
30. Pfingstmontag. Eschritte;
Pfingstling-Aufzug (Zsamm-
trägl-Aufzug) ; Hansl u. Greti.
Juni (Der ander Mai 1477).
1. „Hohe Mittwoch". Quatem-
ber-Gsundbäder.
3. Freitag vor Dreifaltigkeit,
„laufender Freitag" mit Lich-
ter-Opferung.
5. Dreifaltigkeits-Sonntag. Drei-
faltigkeitsblümerl (Freisen-
kraut); Maitanz.
6. „Stolze Montag".
8. Erdspiegelmachen.
9. Fronleichnamsfest. Großer
Antlass; Antlass-Rosen;
Kranzltag ; Prangerkränzl ;
Himmelbrotschutzen.
10. Viehfreitag. Viehsegen.
13. Antonius v. Padua („Antoni,
Lemoni, Pomeranzen bum
bum" etc ), Patron für Lieb-
haber und Liebhaberinnen,
Nothelfer bei Verlusten. An-
tonifeuer; Antoni-Plag;
St. Antonius mit der Sau und
mit der Glocke (Sauglocken-
läuten); Antoni-Schweinerl;
Antoni-Glöckerl.
15. St. Vitus, Veit, der große
in Oel gemarterte Exor-
cist. Kröten zu Amu-
letten sind einzufangen.
16. Kleine Antlass.
17. Schwendtag.
22. Erdspiegelmachen.
22. In der Nacht vor Jo-
hannes d. Täufer sind
die heilkräftigen Pflan-
zen einzutragen. Johan-
nisbeeren, Johannis-
wurz, Johanniskraut.
Die Schlüsselblume, die am
Johannistage wächst, gibt die
Schlüssel zum verborgenen
Goldschatz ab; Kohlen wer-
den zu Gold; die Wün-
schelrute wird geschnitten;
Sunnwend-Abend.
24. Johannes d. Täufer. Som-
mer - Sonnwende (Sommer-
Weihnachten); Sonnenwend-
feuer; Feuersprung; Sonn
wendblümerl; Sonn-
wendgürtel (wohlriechen-
Kalendarium der oberbayerischen Kultzeiten. 271
der Mädchen-Gürtel); Gör-
telkraut (Schmecker); das
heilsame J o h a n n i s - Was-
ser, Johannisbäder;
Jackelschützen ; Johannis-
käferl; Johannisblut; Johan-
nisbrot; Johannisfreitanz; 26.
Johannisküchel: (Hollerkü-
chel) im Teig am Baum ge- 29.
backene Hollerblüh; Johan-
nes d. Täufer ist im Volks-
munde Hans Dampf, weil
Nudeln gebacken wer-
den; der Wegelesschn eider
oder Billmees-Schneider rei-
tet um, Jackelschützen;
Pfingst- Maien (Birken) wur-
den vor den Met-Sieder-
Häusern aufgestellt; „Met-
Hansel".
Paul. „AI 1 er Wetterherren"-
Tag; Procession.
Peter. An diesem Tage oder
am Montage darauf gehen
die Würmer ins Wasser;
Petersbart ; Peterstamm ;
schwarz Peter; Zinstag.
Juli.
2. Mariae Heimsuchung. Hasel-
zweige und Rosenkränze wer-
den ans Fenster gehängt ge-
gen Unwetter; Zinstag.
4. Ulrichssegen gibt Regen ; Ul-
richs Minne; Kapellen-Um-
ritte zum Abhalten von Mäu-
sen, Wasser und Ungeziefer;
Procession gegen Mäuse-Fraß.
7. Willibald-Umritte.
10. Siebenschläfer. Eiskraut-
e intragen.
11. Der dritte Sonntag vor Ja-
kobi, Kolomanns-Sonntag.1
15. Heinrich. Felder-Umgang.
17. Scapulierfest. Scapulierfleckl,
welche geweihte Kräuter ent-
halten, werden gegen Leibes-
nöte getragen; Schwend-
tag.
20. Heilige Wilgefortis, d. i.
heilige Kümmernis. Augen-
Patr onin.
21. Schwendtag.
22. Magdalena, die Büßerin. Die
thränenden Augen sollen
an heil. Was s er quellen mit
dem Goldfinger gewaschen
werden.
28. Hundstage Anfang.
25. Jakob. Jakob-Brunnen; Ja-
kobs-Beeren gegen „Flüsse";
Milchmessen auf der Alm
(Jakobsen); Jakobifedern; Ja-
kobi-Stab; Jakobikraut; Ja-
kob, der Wetterherr; Zinstag;
W egelesschneider.
26. Anna Mariandl-Tag. Patro-
nin der Schwangeren.
29. Martha, die sorgsame Haus-
frau. Schauerfreitag; Schauer-
kreuz e ; Eschpro cession.
1 St. Kolomann steht beim Landvolke in großer Verehrung.
Viele Kolomanns-Kapellen stehen auf „Befcbergen" und haben meist
„gute Wetterglocken", heilkräftige Brunnen-Quellen, Ge-
sichts-Urnen, schwimmende heilige Holzbilder, die immer wieder
zurückkehren zur Kapelle; Kolomann ist auch Pestpatron.
272
Höfler.
August (Äugst).
5. Schauerfreitag. Schauer-
kreuze.
6. Maria Schnee; Wessobrun-
ner Mutter-Gottesfest; Maria
Schnee bewahrt vor Wassers-
not.
10. Lorenz. Lorenzi-Kohlen als
Schutz vor Feuersbrunst;
Zinstag.
12. Schauerfreitag. Schauer-
kreuze.
15. Mariae Himmelfahrt, der große
Frauen-Tag. Wetterkerzen-
Weihe ( Himmelbrand - Blüh,
Hirn m el ai i ffali r tsb I ii m eri) ;
Anfang des Frauendrei-
ßigers; Kranzlkräuter,
Hexenkräuter, Heilkräu-
ter und die giftigen
Tiere sollen eingetra-
gen werden; im Frauen-
dreißiger Eintragen der
schon selten geworde-
nen Hollerblüh; Frauen-
dreißiger-Blümerl; „Wurz"-
weih; Frauen-Eier; Frauen-
käferl; Frauen-Vögel nisten;
Hirschherz - Kr euzl be-
sonders im Frauendrei-
ßiger gut und kräftig.
16. Rochus, Pestpatron.
20—21. Schwendtage.
21. Erster Sonntag im Frauendrei-
ßiger. Baldrian ausgraben.
21—25. Abgäng des Mondes im
Frauendreiliiger. Eintragen
d. Schwindwurz und d.
Schwindholzes.
23. Ende der Hundstage.
24. Bartholomaeus. Almenab-
triebs-Zeit; Jahrmarkt häufig;
Zinstag; Saubartl, Schmutz-
bartl.
25—2. Sept. Wachset im Frauen-
dreißiger ; Tiere, welche
für das Schwinden hel-
fen sollen, werden „ein-
getragen"; Dreißigst-
Schi e he.
28. Augustin, Patron d. „Augen"-
kranken. Zweiter Sonntag
im Frauendreiliiger; Pfaf-
fe nröhr le in un d Bal.
drian ausgraben.
September (Der ander August 1477).
1. Aegidi (Gidi, Gilg). Keferloher
Markt; Schleifer - Jahrtag ;
Gilgenkreuzer.
4. Schutzengelfest. Senner und
Sennerinnen gehen zur Kirche
im Bittgang; dritter Sonntag
im Frauendreißiger ; Bal-
drian ausgraben.
'8. „Mariae Geburt fliegen die
Schwalben fürt" ; Eschproces-
sion; Wachholder-Bee-
renpflücken; ,,Unser Frauen-
tag in der Saat".
11. „Maria Nam' kommen die
Schwalben z'samm"; Esch-
procession.
12. Schwendtag im Frauen drei-
ßiger. Sau-Igel schießen (das
Fett gut für Kreuzweh
und Brüche).
13. Ende des Frauendreißigers.
Beginn des Annadreiläigst.
Kalendarium der oberbayerischen Kultzeiten. 273
16.
21.
23.
27.
1.
6.
8.
12.
13.
15.
16.
16.
18.
H. Yilpet (eine von den sa-
ligen Fräulein).
Quatember-G'sundbäd er.
HerbstnacKtgleiclie.
Kosmas und Damian, die
Aerzte-Zwillingsbrüder. Sie 29.
werden vom Volke nicht ge-
feiert, wie in den romanischen
Ländern, wo die Aerzte schon
von den frühesten Zeiten ab
verehrt wurden, während sie
in Deutschland erst sehr spät
sich Achtung erwarben, nie-
mals aber zum Rufe der Hei-
ligkeit gelangten.
Michael1, Kuchelmichel. Um-
züge der Gebirgsschützen ;
Zinstag; der Micheli-Wind
hat das Vorrecht im Jahr.
October (Wolfs-Monat;
Erster goldener Samstag. 20,
Schwendtag. 21.
Zweiter goldener Samstag.
Ende des Annadreißigst.
Kolomann. Kolomannssegen;
(s. sub 11. Juli); Einnehm e- 22
tag.
Dritter goldener Samstag. 23,
Kirchweih. Ausbessern des 24
Herdes und der Wohnungen; 28
Kirchweihbrot; Kirchweihnu-
deln u. Breie; Fleischspeisen; 30,
Kannen (rote Rüben) ; Strick-
Hutschen (Schaukeln, inci-
tamentum); Geschenke an 31,
die Bader.
Gallus, Gallistift ; Zinstag.
Lukas zeit ein für den
Husten.
der Hirbst 1477).
. Wendelin, Vielipati-on.
, Ursula mit den 11000 Jung
frauen (St. Ursula et St. Un-
decimella, virgines). Die
Engel fliegen in der Luft.
. Zeichen des Skorpions. Erd-
spiegelmaclien.
. Nachkirchweih. Aepfelküchel.
Raphael, der Arzt-Engel.
Simon und Judas. Unglücks-
tag; Wolfs-Segen.
Nothburga, die h. Bauern-
magd. Patronin f. Hausmägde,
Köchinnen u. Kinds-Menscher.
W olfgang. W olfgangssegen
über Horn-Vieh und Pferde;
Wolfgangs-Rübeln.
November (Wolfsmonat; der
Allerseelenfest. Armenbrot;
Seelenzelten; Seelenzöpfe
(Zopfformen aus Brotteig);
Büchein (Bucheckerbrote) ; 6.
Armenbäder; Armen-
aderlässe; Todtengrüfte
werden zum Besuche geöffnet
u.Zöpfe in Teigform geopfert.
Samstag nach Allerheiligen.
1 Viele Berge tragen S. Michaels
ander Hirbst 1477).
Opferung von 3 schwarzen
Pfennigen für die 3 Fräu-
lein.
Leonhard.1 Umritte um Ka-
pellen im frühen Morgen-
lichte ; Patron der Ham-
merleute , Gefangenen und
Entbindenden; Leonhards-
Ketten; Rosenketten; Huf-
u. S. Leonhards Namen.
2 74 Höfler.
eisen ; Würdinger - Lupfen ;
Liendlschutzen (Jackelschut-
zen).
11. Martin, der Schimmel-Reiter
und Soldat mit blauem Mantel.
Martinsritte ; Gänsebraten ;
Bockhörndl- Brote ; Zinstag ;
Martins-Minne am Martins-
„Abend"; M artins-Gerte
(Kr an a wit); Martins-Schnit-
ten; Martinskrapfen; Schwein-
chen-Stallsegen.
19. Elisabeth. Procession nach
Elsbeth im Wald.
22. Cacilia, Patronin der Geigen-
macher.
23. Katharina mit dem Rade. An
diesem Tage soll kein Rad
gehen, daher Feiertag für
Müller und ■ Spinnerinnen;
„Kathrein stellt den Tanz
ein;" Mettag u. Habtag;
Kathrein - Wurzel; Ka-
threin öl; Schweingeld für
die Siechen in Spitälern.
30. Andreas. Wer am Andreastag
stirbt, kommt „vom Mund auf"
in den Himmel; „Andreas-
schnee thut den Körnern und
Früchten weh."
December (Wolfsmonat; der Winter 1477).
1. Eligius, der Patron der
Schmiede.
2—4. Abüäng des Mondes und
Zeichen d. Krebses. Schlech-
teste Aderlass-Z eit.
4. Barbara, Patronin der Berg-
knappen. Sie wird in der
Todestunde angerufen. Bar-
bara-Wurzel (AI 1er m anns-
Harnisch); ein Kirschzweig,
am Barbaratag abgeschnit-
ten, blüht in der Weih-Nacht.
6. Nikolaus, Nicolò, Klaubauf,
Patron f. Wassergefahren. Ni-
koló-Birnen (Birnen-Klötzen-
brot, Kultspeise); Lebkuchen;
Reiter- und Spinnerinnen-Fi-
guren; Umritte; Processionen;
Bergfeuer (Vorfeier der ger-
manischen Winter-Sonnen-
wende) ; Schweinskopf-Essen ;
Schwendtag
8. Zweiter Donnerstag im Ad-
vent. Klöpfels Nächte; Ge-
bäck: Birnbrot (Kultbrot)
mit Fähnchen; Krippenzeit;
Mariae Emplängnis, (Kleibel-
tag-Leibgewinnung).
11. Schwendtag.
12. Lucia, die „leuchtende".
Ottilie, Patronin der Augen-
kranken, die „Licht" er-
halten. Ihr Bild hat zwei
Augen auf einem Buche, die
sie sich um ihren Vater aus-
geweint hat. Haupt-Truden-
Nacht.
14. Quatember-G'sundbäder.
15. S c h w e n d t a g. Klöpfels-
Nächte.
17—24. Werk-Woche, Geuwoclie.
21. Thomas-„Nacht". PantofFel-
werfen; Löseln; Bleigießen
mit einem Kreuzschlüssel ;
man sieht den Allerliebsten
und den Teufel; „Strohsack,
ich tritt dich, h. Thomas, ich
bitt' dich, lass mir heut nacht
Kalendarium der oberbayerischen Kultzeiten.
275
erschein'n den Herzallerlieb-
sten mein"; Thomas-
Zucker (Honigkultspeise) ;
Wildes Heer; Rumpel-Nacht;
Halter- (Hirten-) Segen; Ho-
nig-Lebzelten in den
Spitälern.
24. In der Weih-„Nacht" soll die
Christ würz (Heim - W urz)
eingetragen werden ; Birn-
klötzen (Kult-) Brot; Marzi-
pan; Weihnachts-Zelten; Ab-
schenkung der Mädchen mit
Klötzen-Brod; Metten (-matu-
tina) -Wurst; Metten - Holz-
block ; Weihnachtsrosen ge-
hen auf; das Vieh meldet
Gesichter an; Haus-Wolf (Ge-
bäck) ; „Grünfutter" und Aeh-
ren werden an die Elemente
(Wasser, Feuer und Erde)
ausgestreut; Aufstellen eines
Berchtelboschen (Fichten-
koppe) auf der Gattersäule
des Bauernhofes; in neuester
Zeit auch Weihnachtsbaum;
die Tiere liegen in den
Ställen auf den Knieen und
können reden ; Untersberg-
manndl sind in der Kirche
sichtbar, ebenso die Hexen;
Bach-Käs-Geschenk an die
Bade r.
25. Christtag. Gottes Friede
(treuga Dei), Weih-,,Näch-
ten". Winter-Sonnenwende.
Wilde Jagd.
24.—6. Januar. Rauchnächte, die
12 heiligen ,,Nächte", Un-
ter - Nächte. Rauch-Läuten •
Schuh-Werfen; die Kraft der
Hexen ist in diesen Nächten
am stärksten.
26. Stephan (Stöffels-Tag). Um-
ritte ; Pferde - Ader lass;
Steifeis-Aepfel und Steffels-
Grosclien werden geopfert;
Pferde-Rennen ; Steffels-Meth.
27. Steffel-Nachi (Nachfeiertag).
Johannis Ev. (Hans-Wurst
wegen der Metten-Wurst).
Johannis-Singen ; Johannis-
Wein (Johannis-Minne).
2,8. Unschuldige Kinder, Kind-
lein - Tag, Pfefferlein - Tag,
Fitzlein-Tag. Pfeffer-Zelten;
Aufkindeln in der Oberpfalz.
31. Sylvester-Nacht. Löseln; Blei-
gießen ; ^Kalender - Yerbren-
nen. Neujahr-Anschießen.
Zeitschrift für VölkerpBych. und Sprachw. Bd. XIX. 2 3. 19
276
Hirzei.
Gleichnisse und Metaphern im Egyeda
in culturhistorischer Hinsicht zusammengestellt und ver-
glichen mit den Bildern bei Homer, He s i od, Aeschy-
lus, Sophokles und Euripides.
Von Arnold Hirzei.
Einleitung.
Der Philologe weiß, wie wichtig die Tropen und unter
diesen vor allem die Gleichnisse und Metaphern für die Be-
urteilung eines jeden poetischen und prosaischen Kunstwerkes
sind. Man hat deshalb schon längst der Bildersprache
besonders der Dichter die ihr gebührende Aufmerksamkeit
geschenkt und die neueren und neuesten Untersuchungen
dieser Art, in erster Linie auf dem Gebiete der classischen
Litteratur, haben uns gezeigt, daß es sich wol verlohnt,
den Spaten auf diesem Felde wissenschaftlicher Forschung
anzusetzen. Die Tropen der griechischen Dichter, um bei
diesen zu bleiben, sind von verschiedenem Standpunkt aus
behandelt worden; so hat man sie in grammatischer, in
rhetorischer, auch in lexikographischer Hinsicht untersucht
und zusammengestellt, oder man ordnete und betrachtete
dieselben nach sachlichem Gesichtspunkt, oder endlich
wurden die psychologischen Momente in den Vordergrund
gestellt. Ein jeder dieser Wege hat zu irgend einem
lohnenden Ziele geführt; am lehrreichsten und frucht-
bringendsten wird aber zweifellos die Untersuchung, wenn
in ihr die Principien maßgebend sind, die Peez (cf. S. 284)
in seiner Darstellung der Tropen des Aeschylus, Sophokles
und Euripides verfolgt hat. Er geht von der richtigen
Tatsache aus, dass die poetischen Bilder „die natürlichen
Gfeiclinisse und Metaphern im ßgveda. 277
Erzeugnisse des betreffenden Zeitgeistes, der betreffenden
poetischen Richtung und des Geistes des betreffenden
Dichters sind, dass sie als solche nur in einer derartigen
Rücksicht, d. h. in culturhistorischer und poe-
tischer Rücksicht behandelt werden können" und stellt
deshalb die. Proportionstropen (Metapher, Gleichnis, Alle-
gorie) sowie die unter den Begriff der Synekdoche und
Metonymie fallenden Bilder des einzelnen Dichters nach
sachlichen Gruppen zusammen, um dann seine Schlüsse
ziehen zu können, die sich für die Culturgeschichte, für
die Beanlagung des Dichters und für den poetischen Wert
der von ihm gebrauchten Tropen ergeben. Untersuchungen
dieser Art über indische Dichtungen sind in größerem
Umfang meines Wissens noch nicht angestellt worden, und
meine vedischen Studien brachten mich deshalb auf den
Gedanken, eine möglichst vollständige Sammlung der Ver-
gleiche im Rgveda zu veranstalten. Es lag nahe, auch
die Metaphern zu berücksichtigen ; leider sali ich mich aber
gezwungen, von diesen nur diejenigen zu behandeln, die
mit den Vergleichen irgendwie verwandt sind, da die Be-
rücksichtigung sämtlicher Metaphern mich veranlasst
hätte, die mir gesteckten Grenzen dieser Arbeit allzuweit
zu überschreiten. Ich hoffe aber doch, auf die wichtigsten
dieser Bilder aufmerksam gemacht zu haben. Bei der
Anordnung des reichen Materials schlug ich den Weg von
Peez ein und suchte möglichst übersichtlich die Bilder
nach sachlichen Gruppen zusammenzustellen. Es lag mir
vor allem daran, zu zeigen, welchen Gebieten die Tropen
angehören; ausserdem versuchte ich, dem Leser Einsicht
in die eigenartige und kühne Dichtersprache zu verschaffen
und konnte deshalb seitenlange Aufzählungen nicht ver-
meiden, um auch die kleinste Variation ein und desselben
Bildes nicht unberücksichtigt zu lassen. Ein hervorragendes
Merkmal der vedischen Kunstsprache ging notwendig bei
meiner Behandlung der Bilder verloren: ihre Häufung in
demselben Liede, sogar im selben Verse; ich musste natürlich
19*
278
Hirzel.
mein Augenmerk auf den Inhalt der einzelnen Figur richten,
das Lied in seiner Einheit zu betrachten, war nicht meine
Aufgabe. In betreff der Gleichnisse mache ich noch darauf
aufmerksam, dass von Gleichnissen im eigentlichen Sinne
des Wortes, wie wir sie z. B. bei Homer finden, im Rgveda
nicht die Rede sein kann; in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle finden wir nur kurze Vergleiche. „Wir erkennen
— um Fritzsches treffende Worte (die Anfänge der Poesie
p. 22) zu gebrauchen — in der Tatsache, dass der Reich-
tum des Veda nicht aus grossen, malerisch geordneten,
sondern aus kleinen, unzusammenhängenden Bildern besteht,
ein Merkmal seiner hohen Altertümlichkeit". Ueber die
Schönheit der Bilder dürfen wir uns auch nicht allzugroße
Illusionen machen ; es kam dem Rshi nur darauf an, durch
Vergleiche und Metaphern, oft der kühnsten Art, seine
Gedanken gewissermaßen zu verkörpern. Max Müller
sagt richtig (Essays, d. Ausg. I. p. 69) : „was die Schönheit
betrifft, so müssen wir dieselbe in der Abwesenheit alles
Gemachten und Ueberspannten und in der Einfalt ihres Ge-
mütes suchen". — Zum anderen nahm ich mir vor, Paral-
lelen zu ziehen zwischen den Tropen des Rgveda und
denen der ältesten griechischen Dichter, Homers und
Hesiods, sowie der Repräsentanten einer späteren Zeit,
der drei großen griechischen Tragiker, um an der Hand
dieser Bilder zu zeigen, wie weit die zwei Völker desselben
Stammes ihre Gedanken, Anschauungen und Gebräuche
nach der Trennung verändert haben, wie weit diese die
gleichen geblieben sind. Berücksichtigt wurden selbstver-
ständlich auch die homerischen Hymnen.
Als Ergebnis unserer Betrachtungen werden wir vier
Punkte hervorheben dürfen. Erstens gewähren uns die
Tropen des RV. eine vorzügliche Einsicht in die älteste
Culturgeschichte des indischen Volkes. Schon ein Blick
auf die Inhaltsübersicht (S. Schluss des II. Teils) lässt er-
kennen, wie weit sich der Gesichtskreis jener alten Stämme
erstreckte. Eine reichverzweigte Götterwelt lenkt die Ge-
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
279
schicke der Menschen. Der Inder fühlt seine Ohnmacht
gegenüber diesen Mächten des Himmels, und um sie ge-
wissermaßen zu verpflichten, ihm ihre Grade, ihr Wol-
wollen zu schenken, bringt er ihnen tagtäglich seine Opfer
dar. Preisgesänge und Gebete melden den Göttern, dass
das Opfer bereit ist, und dass der Priester ihren Besuch
erwartet. Das heilige Feuer flackert schon am frühen
Morgen und seine Lohen tragen süsse Labung zum Himmel
und verkünden den Gottheiten frohe Botschaft. Schon
die Almen des vedischen Inders haben in grauer Vorzeit
den Göttern in dieser Weise gedient, und ein Manu,
Mâtariçvan, alte Priestergeschlechter wie die Priyamedha's,
Bhrgu's u. a., Günstlinge der Götter wie der Taugrya,
Paura etc. werden immer und immer wieder gepriesen.
Unstet und wechselreich, geteilt zwischen Freude und
Schmerz, zwischen Erholung und Arbeit verlief das mensch-
liche Leben. Mit inniger Liebe hangen die Eltern an
ihrem Kinde, das die zärtliche Mutter am Busen nährte
und das der Vater auf dem Schöße liebkoste. Nach den
glückseligen Jahren der Kindheit scheidet der Jüngling
aus dem Vaterhause und gründet sich sein eigenes Heim ;
aus der blühenden, von Freiern angebeteten Jungfrau ist
eine tadellose, ihrem Manne treu ergebene Gattin geworden.
Nur zeitweise ist es dem Gatten vergönnt, die schönen
Stunden der Erholung im engen Kreise der Familie zuzu-
bringen. Ernste Pflichten sind an ihn herangetreten. Der
Landmann sorgt für Hans und Hof; er bebaut das Feld
und sein Stall ist angefüllt mit edlen Rossen, kräftigen
Stieren und milch geben den Kühen; auch die muntere
Kälberschar fehlt nicht. Der Hirte treibt das Vieh auf
die Weide. Der Zimmerer baut die Wagen für den Land-
wirt, für den Wettfahrer oder den Krieger; der Schmied,
der Schlächter, der Schmelzer, sie alle liegen ihrem Berufe
ob. Wieder andere verdienen sich als Lohnarbeiter ihr
Brod. Weber und Weberin sorgen für die Kleidung; am
schmucken Gewände, auch an Ringen, Spangen und anderen
280
Hirzcl.
Zieraten hat der Mensch seine Freude. Den Handelsmann,
der entfernte Gegenden aufsucht, befördert das Schiff über
Flüsse und Meer. Der Jäger durchschweift Wald und
Flur, um irgend ein Wild oder grimmiges Raubtier zu
erlegen. Bei Spiel, Tanz und Musik suchte der alte Inder
seine Erholung; noch lieber aber beteiligte er sich am
Wagenfennen, um als geschickter Wagenlenker mit feurigen
Rennern den Siegespreis zu erlangen. Aber gar oft stört
wilder Kriegslärm dieses friedliche Leben. Dann werden
Schwert und Bogen freudig zur Hand genommen und der
Streitwagen fährt den Kämpfer dem Feinde entgegen*
Ist dieser glücklich überwunden, so kehrt der Krieger, den
das feindliche Geschoss verschonte, reich mit Beute ver-
sehen in seine Heimat zurück. Eine ganz besondere Auf-
merksamkeit schenkte der vedische Inder den Erzeugnissen
und Erscheinungen in der Natur. Die ihn umgebende
Tier- und Pflanzenwelt waren ihm wolbekannt ; die Morgen-
röte, die strahlende Sonne, das Toben des Sturmes, das
Gewitter, der Regen, alle diese Mächte riefen seine Be-
wunderung und sein Staunen wach und er versuchte, in
kindlich naiver Weise, sich diese Vorgänge zu erklären.
Wir hoffen in großen Zügen darauf aufmerksam gemacht
zu haben, welches Licht gerade die Bilder des RV. auf
das Leben des damaligen Volkes werfen.
Zweitens stellen wir den indischen Tropen diejenigen
Homers, Hesiods und der drei griechischen Tragiker zur
Seite und werden aus dieser Vergleichung folgende Schlüsse
zu ziehen haben: a) Was die Zahl der Tropen betrifft, so
steht der Rgveda den griechischen Dichtungen weit voran;
ihm am nächsten kommt Homer und erst in dritter Linie
folgen die Tragiker. Hesiod darf ich bei Seite lassen, da
er, wie es sich bei dem von ihm bearbeiteten Stoff nicht
anders erwarten lässt, über eine verschwindend kleine
Zahl von Bildern verfügt, b) Gerade umgekehrt ist das
Verhältnis, wenn wir die Zahl der Gebiete, welchen die
Tropen entnommen sind, ins Auge fassen: für den RV.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
281
können wir 12 Hauptgruppen unterscheiden : Götterwelt,
mythisch-historische Welt, Mensch, Haus, Religion, Staat,
Vergnügungen, Kunst, Wissenschaft, Volkswirtschaft, Krieg,
Natur; bei Homer kommen neu hinzu die Bilder vom Fisch-
fang und von der Bienenzucht. Von den Tragikern haben
Aeschylus die Bilder 28, Sophokles und Euripides 24 Ge-
bieten entnommen (vgl. das p. 284 citirte Werk von Peez,
Systemat. Darstellung der Tropen des Aesch., Soph, und
Eur. etc.); weder der RV. noch Homer haben Bilder, die
der Gymnastik, Architectur, Bildhauerei, Malerei, dem
WTeinbau und dem Handel angehören. Die Zahl der unter
die einzelnen Gruppen fallenden Bilder ist natürlich eine
sehr verschiedene und wir können c) aus dem häufigen oder
geringen Vorkommen bestimmter Bilder Schlüsse ziehen
auf die verschiedenen Zustände in den Zeitaltern, welchen
die Dichtungen angehören. Auf diesen Punkt werde ich
wiederholt aufmerksam machen. Ich weise zum voraus
auf die zahllosen Bilder von der Viehzucht hin, die wir
im RV. finden werden; ganz gering ist ihre Zahl in unseren
griechischen Dichtungen; eine reiche Fülle von der Schiff-
fahrt entnommenen Tropen begegnet uns auf griechischer
Seite, während der Rgveda arm an solchen Bildern ist.
Die Viehzucht spielte also im alten Indien eine größere Rolle
als in Griechenland, hier war dagegen die Schifffahrt von
größter Bedeutung (man vergi, die Worte Weckleins zu
Iph. T. 307). Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man auf
anderen Gebieten, d) Wir werden bei unsern Zusammen-
stellungen finden, dass viele indische Proportionstropen,
Vergleiche wie Metaphern, griechischen nahe verwandt oder
oft ganz gleich sind. Wie erklären sich solche Ueberein-
stimmungen? Man muss zwei Arten von solchen gleich-
artigen Tropen unterscheiden: die Uebereinstimmung ist
rein zufällig oder hat einen tieferen Grund. Es ergibt
sich die interessante Tatsache, dass die bildlichen Vor-
stellungen, die sich die vedischen Dichter von den ver-
schiedenen Erscheinungen der Natur machen, bei den be-
282
Hirzeì.
rücksichtigten griechischen Dichtern wiederkehren; man
findet auf vedischer wie auf griechischer Seite die Strahlen-
kühe, die Sonnenrosse, den Sonnen wagen, Sonnen vogel, den
goldenen Donnerkeil ti. a. m. Dass diese naiven, im Volke
lebenden Vorstellungen auf jene Zeit zurückgehen, da
Inder und Griechen noch zusammen wohnten, wird niemand
bezweifeln, umsoweniger als wir auch Analogien bei den
Germanen u. a. indoeuropäischen Völkern nachweisen können.
Alles andere, was in der beiderseitigen Bildersprache über-
einstimmt, kann nur zufälliger Natur sein, d. h. ähnliche
oder dieselben Situationen veranlassten ähnliche oder gleiche
Bilder. Schnell wie ein Pferd, wie der Wind, schön wie
die Sonne etc. etc., solche Vergleiche mussten dem vediseli en
Dichter so nahe liegen als dem griechischen, denn in Indien
gab es wie in Griechenland schnelle Rosse, dort wie hier
raste der Wind über die Erde und leuchtete die Sonne
mit glänzenden Strahlen. An irgend welche Entlehnung
von der einen oder anderen Seite ist nicht zu denken.
In dritter Linie dürfte man durch unsere Zusammen-
stellungen einen Einblick in die vedische Dichterwerkstätte
gewinnen und die prägnante Kürze der Vergleiche sowie
die Kühnheit der Bilder kennen lernen. Was die Phantasie
betrifft, so stehen zweifellos die vedischen Dichter obenan,
den Triumph wahrer Schönheit jedoch feiern die Griechen.
Einen großen Fehler, den die griechischen Dichter vermieden
haben, ließen sich die Rshi's zu Schulden kommen: sie
häuften ihre Bilder so übermäßig, dass sehr oft ihre Rede
zum Rätsel geworden ist. Es bestätigen sich hier die
Worte Quintilians: ut modicus autem atque opportunus
eias usus illustrât orationem: ita frequens et obscurat et
taedio complet, continuus vero in allegorias et aenigmata
exit (inst. or. VIII 6, 14; cf, VIII 5, 34 und Aristot. poët. 22).
Viertens endlich hoffe ich, werden meine Gruppirungen
auch für die Interpretation der einen oder anderen Rgveda-
stelle nicht wertlos sein. So vieles bleibt noch dem Veda-
interpreten zu tun, und das Bewusstsein, auch nur ein
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
283
kleines Schärflein zu der schwierigen Arbeit beigetragen
zu haben, wird mich ermuntern, dem Ziele wissenschaft-
licher Erkenntnis auch fernerhin mit Eifer zuzusteuern.
Vieles konnte ich in dieser Arbeit nur andeuten,
mancher Punkt mag mir auch entgangen sein, war doch
der reiche Stoff kaum übersehbar: an der Nachsicht des
Lesers wird es hoffentlich nicht fehlen, zumal wenn er be-
denkt, mit welchen Schwierigkeiten der Interpret des Veda
auch jetzt noch zu kämpfen hat. Unsere Abhandlung soll
ein Versuch sein, den Rgveda und die Zeit, in der er ent-
standen, von einer bis jetzt nicht genug beachteten Seite
zu beleuchten und dessen Kunstsprache mit derjenigen
griechischer Dichtergrößen zu vergleichen.
Unseren Veda-Citateli haben wir die transscribirte
Ausgabe des KV. von Aufrecht (1. Aufl.) zu Grunde
gelegt; daneben benutzten wir Max Müllers kleine
(2 Bde) und große Ausgabe (mit Säyanas Commentar,
6 Bde). ' Die Vâlakliilyahymnen sind für sich gezählt, die
Verse der Par-içaralieder nach M. Müller citirt, Für Homer
wurde der Text von Dindorf (Teubner) zur Grundlage
genommen, für die homerischen Hymnen die Textausgabe
von Baumeister (Teubner), für Hesiod Goettlings
Ausgabe (ed. III. cur. J. Flach) und für die Tragiker
Dindorfs Poetarum scenicorum Graecoruni Aeschyli,
Sophoclis, Euripidis et Aristophanis fabulae superstites et
perditarum fragmenta (ed. V. 1869); die Fragmente der
Tragiker sind nach Nauck Tragicorum Graecoruni frag-
menta (und nach Dindorf P. sc. ed. V.) citirt. Zu Rate
zogen wir für unsere Untersuchung die folgenden Werke:
A. Ludwig, der Rgveda, 5 Bde (Bd 1 u. 2: Ueber-
setzung; 3: die Mantralitteratur und das alte Indien;
4 u. 5: Commentar) [L.]i. H. Grassmann, Uebersetzung
des Rgveda (2 Bde.) [G.] und Wörterbuch zum Rgveda
1 In den eckigen Klammern gebe ich die von mir gebrauchten
Abkürzungen an.
284
Hirzel.
[G. Wb.]. Das große Petersburger Wörterbuch [P. W.]-
Siebenzig Lieder des Rgveda übersetzt von K Gel du er
und A. Kaegi, mit Beiträgen von R. Roth [G. K. 70 L.].
Zimmer, altindisches Leben [Z.]. Abel Bergaigne,
la réligion védique, 3 Bde [R. V.]; —, quelques observations
sur les figures de rhétorique dans le Rgveda (in : Mémoires
de la société de linguistique de Paris, vol. IV. p. 96—137)
[S. L.] ; —, la syntaxe des comparaisons védiques (Mélanges
Renier, p. 75—101) [S. V.]. R. Fritzsche, die Anfänge
der Poesie (Gym. Progr. Chemnitz 1885). Frommann,
über den relativen Wert der homerischen Gleichnisse
(Gym. Progr. Büdingen 1882). Krupp, die homerischen
Gleichnisse (Progr. von Zweibrücken 1882/83). J. Rappold,
die Gleichnisse bei Aeschylus, Sophokles und Euripides
(Progr. I—III, 1876, 77 und 78). H. Ritters, de con-
formationum usu Aeschyleo (Diss. L. 1882). Lueck, de
comparationum et translationum usu Sophocleo (Progr. I
u. II, Neumark 1878 und 80; III, Stargard 1882),
Magdeburg, über Bilder und Gleichnisse bei Euripides
(Prog. I u. II, Danzig 1882 u. 84). W. Peez, Beiträge
zur vergleichenden Tropik der Poesie. I. Teil. Systema-
tische Darstellung der Tropen des Aeschylus, Sophokles
und Euripides, mit einander verglichen und in poetischer
und culturhistorischer Rücksicht behandelt, Berlin 1886
(in: Berliner; Studien für cl. Phil, and Arch. III. Bd. —
Seite Y[I—XII stellt der Verfasser die Litteratur über die
Tropen zusammen). J.Po chop, über die poetische Diction
des Hesiod (Gym. Progr. Mähr. Weisskirchen 1880/81).
In P. Schneider, de elocutione Hesiodea, Berlin 1871
konnten wir leider keine Einsicht nehmen. Andere, nur
beiläufig herangezogene Arbeiten werden im Laufe der
Untersuchungen angeführt werden. Herrn Prof. Dr.
Windisch verdanke ich vielseitigste Belehrung und An-
regung, und mein wärmster Dank sei ihm dafür ausge-
sprochen.
Gleichnisse und Metaphern im Kgveda. 285
Wir beginnen unsere Betrachtungen mit der Götter-
weit, demjenigen Gebiete, das im Keiche des vedisclien
Ariers entschieden die erste und wichtigste Stelle einnahm,
und dessen Gestalten ihn, war er Sänger oder König oder
Hirte oder was auch sonst, tagtäglich beschäftigten und auf
all sein Sinnen und Trachten von bestimmendem Einfluss
waren. Aus diesem hohen, heiligen Kreise steigen wir
dann raschen Schrittes über die Stufe der mythisch-histo-
rischen Welt auf die Erde herab und sehen uns um, wie
der Mensch und das schon damals gar mannigfaltige
menschliche Leben den vedischen Sängern Stoff zu Bildern
bot. . Zuletzt werden wir uns der Natur zuwenden und
hoffen, nach Durchwanderung derselben unsere Aufgabe
gelöst zu haben.
I. Die Götterwelt. .
..Gott", „Gottheit" allgemein finden wir in ver-
schwindend geringem Maße von den Sängern des RV. zu
Vergleichen herangezogen, während sich in den griechischen
Dichtungen, die uns hier beschäftigen, eine reiche Fülle
von solchen Gleichnissen findet. Agni bewohnt wie ein
Gott allerhaltend die Erde (devo nei yah prthivim viçvddhâyâ
upakshéti I. 73, 3); er macht die Hälfte jedes Gottes ans,
d. h. ist ihm „gleichstehend" an Macht (prátyardhim devásya-
devasya mahnä — agnîm X 1, 5). Kein Gott, kein Sterblicher
überragt Agnis Kraft (nahí devó ná mártyo mahás tâva krá-
tum paraît I 19, 2). Püshan ist den Göttern gleich an
Schönheit (samó devaír — çriyà VI 48, 19). Soma wird dem
tadellosen himmlischen Geschlecht verglichen (miabhiçasta
divyà yáthd vit IX 88, 7). Wie die Götter bei den Asuras
den Glauben bewirkten, so soll die çraddhâ (d. Glaube) das
Gesprochene bei den Götterverehrern zur Geltung bringen
(ydthä devà ó[sureshu çraddhàm — cakriré | evám — yájvasv asmà-
kam uditám krdhi X 151. 3). Im Lied von der Einigkeit singt
286
Hirzeì.
der Dichter: eines Sinnes seien eure Gedanken, wie die
alten Götter zu ihrem Teil eines Sinnes sich setzen (devá
biiägdm ydthä púrve samj cincinà upâsate X 191, 2). Die
Gebete sollen zu den Göttern gleichsam gehen (upa
yantu dhtldyo elevan dchä nà I 139, 1; cf. I 132, 5.) — An
zwei Stellen begegnet uns „cisura" im Vergleiche, das, ur-
sprünglich Beiwort des Dyaus, später auf andere Götter im
allgemeinen Sinn von Gott, göttlich, übertragen wurde
(cf. v. Bradke, Dyaus Asura): Agni hebt das Beil und
senkt es cisura iva nirníjam Vili 19, 23. G. übersetzt
gleich wie die Sonne ihre Pracht " ; ich möchte eher an
Somas Prachtkleid denken, das oft genannt wird, cf. G.
Wb. s. y. nìrnij.1 Agni setzte sich nieder als Hotar asuro
nà VII 30, 3; hier ist asura jedenfalls allgemein zu fassen
(cf. B. p. 74). VII 56, 24 wird ein kräftiger Held „Asura
unter den Menschen" genannt (asmé viró marutah çushmy
àstu jdnänäm yo äsuro vidhartá) * cf. Y. Bradke 1. c. p. 66, der
richtiger übersetzt als L. und G. und erklärt: „was der
Asura unter den Devas, das sei unser Held unter den
Menschen". Cf. V 27, 1 und X93, 14, wo wir eine ä.
Metapher vom Opferherrn finden: v. Bradke p. 67 f. — X
11, 6 heißt Agni asura (tavishydte dsuro) und noch ö. —
Die Gabe der Maruts flimmert wie eine asurische {asury&va
jdñjatl I 168, 7).
Da es den vedischen Dichtern, wie sich uns ergeben
wird, vor allem daran lag, ihren Schöpfungen Leben zu
verleihen und sie mit individuellen und anschaulichen
Zügen auszustatten, mieden sie Vergleiche mit dem
mehr abstracten, allgemeinen Begriff „Gott". Wie
wenig konnte sich der vedische Inder aus dem farb-
1 v. Bradke 1. c. p. 51 übersetzt: wie d. Asura (Dyaus) sein
Gewand; ich glaube nicht, dass hier an Dyaus zu denken ist, da
ich keine Stelle im RV. kenne, wo ihm ein nirnij beigelegt wird. —
Soma wird übrigens nach der Zusammenstellung von B. an drei
Steilen asura genannt: IX, 99, 1. IX 73, 1 u. 74, 7.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
287
losen eleva machen, wie klar aber wurde seine Vor-
stellung", wenn ihm zur Illustration irgend welchen Ge-
dankens der flammende Agni, die aufleuchtende Ushas,
der gewaltige Indra und andere Götter vorgeführt wurden!
Anders bei den Griechen Homers: sie waren mit ihren
iïsôç, êaif.iwv vertrauter als der Inder mit seinem deva
und ein iïsôç ok genügte, um in ihnen Vorstellungen der
verschiedensten Art wach zu rufen; sie dachten an die
Pracht der olympischen Götterwohnung, an den darin re-
gierenden König und an Hohes und Schönes mehr. Diese
auffällige Verschiedenheit erklärt sich jedenfalls dadurch,
dass der Anthropomorphismus bei den Griechen stärker
entwickelt war als bei den Indern. Die künstlerische und
darum menschliche Gestaltung des Gottes ist bei den Indern
nicht vollendet, während dies bei den Griechen der Fall •
war; Götter und Menschen waren auf diese Weise ein-
ander näher gerückt, und deshalb nahmen die homerischen
Sänger keinen Anstand, in verschiedener Weise Gott, Gott-
heit für Gleichnisse zu verwenden. Da es hier auf eine
vollständige Sammlung der betreffenden Stellen nicht an-
kommt, so zähle ich nur kurz die verschiedenen Kategorien
der in Frage stehenden homerischen Gleichnisse auf:
a) iïsôç wç: r 230 von Idomeneus; ebenso von anderen
hom. Helden an vielen Stellen.
b) ä&ccvccTos wç, von Alkinoos £ 309.
c) ôaifiovi laog: E 438. 18. h. Oer. 235 etc.
d) Jè«ç á&ctvÚTo iair èoixoôç: Anchises h. Ven.
•55. ov yàq %ywye cl&ctv áx o ig tv '¿orna r¡ 209 von Odys-
seus, ä. TT 200. £ 243. dO-avaryGi d-sijç sîç omet %oix€v
O- 158 von Helena.
e) s ó cf i V f-t r¡ dz w ç à T á X a v % o ç : H 366. y 110 etc.
f) sixsloç — iïsoïç, von Dionysos h. VII 21.
g) sïâoç ccliyxioç ciiï av c t o ta ir, ein Sterblicher
& 174.
h tïsoïç èvaXiyxioç, Odysseus t 267; cf. v 89.
288
Hirzel.
ùsaï s. ccvdrjv: T 250; ä. a 371, i 4. Usai è. cÎvtïjv:
ß 5. (J 310; cf. œ 371.
i) â lavavo ig sva Xíyxio i, Brüder der Nausikaa r¡ 5.
k) âéf. taç ai> av ài o ia ir o/noïog, y 468 yon Tele-
niacli; i) 14 und ip 163 von Odysseus. Cf. £ 16.
1) è m s iza lo g o 414. A 60 etc., womit Menschen
den Göttern verglichen werden; nur 1 Mal von einem
Gott, Helios: h. XXXI 7.
hi) wars &£ocí, h. Cer. 108 die Töchter des Keleos
und Aehnliches oft.
Endlich erwähne ich noch die häufigen Beiworte der
Helden: D-S o e ióí¡g: E 862 etc.; ¿t-sosíxslog: A loi
etc.; 1). XXVIII 15: tsír/r¡; iaóO-sog: B 565 etc.
Die Sammlung lässt sich leicht vervollständigen mit
Hülfe des lex. Horn. v. Ebeling.
Von Hesiod gehören nur 3 Stellen hierher: 0. 112
die Menschen des goldenen Zeitalters cóazs 0-soi tfs&ov —.
Sc. 182 Theseus smsUsXog ciSaváxoi(jLV. Frg. LXXXIII:
siâog 'OXvfATZiádsGGiv ofioír¡ (Asmsg)íli¡). — Theog. 350
heißt Urania ttsosidrjg.
Die Tragiker machten nur geringen Gebrauch von
solchen Gleichnissen: Pers. 711 heißt es von Dareios: cog
üeóg óir¡yaysg {ßioxov). Ae. Suppl. 980if. befiehlt Dañaos
seinen Töchtern, den Argeiern Gebete und Opfer darzu-
bringen wg iïsoïg 3Olv^nioig. Oe. C. 247 f.: sv vplv (dem
Chor) ojg Ü-£o) xsífxüiha rláfjiovsg (Oedipus und Antigone). —
Phil. 657: ¿íausg d-sóv, vom Bogen. — Ag. 336 f.: wg
äs daífxovsg aqvlctxvov svdrjGovGiv. — Rhes. 301: oqcò
ôs cPijaov wars òaifxova. — Ale. 996: Das Grabmal
der Alkestis soll geehrt werden 0 solai ò fio im g. — Pers.
150 f.: i]òs Dswv laov òqi&ci'h^ioìg qxxog OQ/Ltärai fiTjzrjQ
ßaadswg. E. El. 67: ïaov Üsolaiv vom Landmann. Hec.
356: Polyxene íar¡ Dsoïci. — Von den o. angeführten 3
Epitheta findet sich nur laód sog: Pers. 856 v. Dareios,
der 633 laoâaif.iœv ßuailsvg heißt. Pers. 80: ìaód-sog
Gleichnisse und Metaphern im Egveda,
289
<pioc von Xerxes. Ant, 836: roïg îôo&éoiç. I. A. 626:
icr. yévoç. Tro. 1169: rrjç iôo&èov zvQavviâoç.2 —
Wir lassen nun die einzelnen Göttergestalten, die im
RV. zu Vergleichen herangezogen sind, vor unsern Blicken
vorübergleiten:
a) Agni. Bei diesem Gotte wie bei Dyaus, Mitra,
Sürya u. a. ist oft schwer zu entscheiden, ob wir das betr.
Wort als Eigenname oder Apellativum aufzufassen haben
(cf. y. Bradke 1. c. p. 12 f.); ich habe deshalb nur die mir
ganz sicher scheinenden Stellen hierher gezogen und ver-
weise für anderes auf die Rubriken „Feuer", „Himmel",
„Freundschaft", „Sonne". — Indra soll das rakshas nieder-
brennen mit dem Geschoss, wie Agni den dürren Wald
(agnir nd çûshkam vánam indra hell rdksho ni dhakshi VI 18,
10).3 Indra und Agni werden um Reichtum gebeten, damit
die Bittenden das Feste und Starke in den Schlachten be-
wältigen können wie A. die Wälder beim Winde (agnir
vdneva vate VIII 40, 1). Indra verzehrte den unterworfenen
Vrtra wie A. mit den Zähnen trockene Speise (agnir nd
jämbhais trshv dnnam X 113, 8). Indra erstarkte wie A.,
der die Wälder überwältigt (agnir vdneva säsahih VIII 12,
9). Sürya ergoss seine Glut wie A. im Walde (agnir vane
nd X 31, 9). Soma wird angerufen: entflamme mich wie
den durch Reiben erzeugten A. (agnim nd mä4 matliitdm
sám didipah VIII 48, 6). Soma ergießt sich wie A. nach
dem Holze (agnir nd — vana à srjydmäno IX 88, 5). Die
Presssteine besingt der Sänger, die bessere Nahrungs-
2 Cf. die Zusammenstellung bei Rappold, Gleichnisse bei Ae.
S. E. II p. 29 ff.
3 L.; „wie Agni, der [Blitz] Pfeil". Mit G. Wb. fasse ich trotz
des pada-pätha (lietis) das heti als Istr.; wäre es mit agnir nd und
dem flg. açanir parallel construirt, so würde das Fehlen der Ver-
gleichungspartikel sehr auffallend sein ; auch die Annahme von Ber-
gaigne, S. V. p. 99, halte ich für unnötig, es sei vielleicht die Bez.
der Waffe in denselben Casus wie der Göttername gesetzt.
4 Ueber die Stellung des Pronomens cf. Anm. 24.
290
Hirzel.
bereiter sind sogar als A. (agnéç cid — pitukfttarebhyah
X 76, 5).5
b) Aditi. Das Geben der Maruts dauert lange wie
der A. Satzung (dditer iva vratám I 166, 12). Soma wird
verglichen mit der Milch der (unversieglichen Weltkuh)
A., d. i. der Urmaterie (pdyo nd dugdhám áditer ishirám
IX 96, 15).
Aryaman: cf. s. Mitra p. 298 f.
c) Açvinen. (Nasatya). Indra ist ein tüchtiger Wagen -
fahrer (súgmyo ratheshthah) násatyeva I 173, 4). Soma ist bei
der Anrufung heilvollst násatyeva IX 88, 3.
d) Indra. Dieser, der Gott xcu Víoyj¡v der vedischeu
Inder, der gewaltige Himmels- und Kriegsgott wurde in
besonders hervorragender Weise von den alten Sängern
des Veda angerufen und gepriesen und deshalb auch am
meisten von allen Göttern zu Vergleichen herangezogen/'
Von Göttern werden folgende mit ihm verglichen: Den A.
füllen mit Kraft, mit Gottheit, mit Gabe die trefflichsten
Männer índram nd VI 4, 7. Die Taten des starken A.
werden wie diejenigen Indras gepriesen (indrasyeva — tavdsas
krtani VII 6, 1). „Schafft den Agni . . . euch herbei wie
den Indra" heißt es X 6, 5, cf. die gleich darauf citirte
Stelle IV 43, 3. A. soll Stärkung herbei schaffen, ganz
5 Es ist begreiflich, class bei meiner Anordnung- der Vergleiche
das sehr interessante Gesamtbild eines jeden vedischen Gottes ver-
loren geht. Da ich mich aber bemühte, innerhalb der verschiedenen
Gruppen, so weit es ging, die Bilder, die sich auf ein und denselben
Gott beziehen, zusammenzustellen, wird man leicht eine Uebersicht
gewinnen können. Von Agni und Ushas gibt eine hübsche Dar-
stellung Fritsche Anfänge d. Poesie p. 16 f. u. 18 f., die sich an
der Hand unserer Arbeit vervollständigen lässt.
6 Ich verkenne keineswegs den von M. Müller betonten Heno-
theismus, der im Veda herscht und will nur hervorheben, dass
Indras Größe und Macht ganz besonders gepriesen und ihm gewisser-
maßen der Platz des alten idg, Dyaus pitar eingeräumt wurde (cf.
VI 20, 2 p. 24).
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda. 291
wie sie Indra liebt (ütir mdravätatamä X 6, 6). — Die Aç-
vinen kommen eilends zur Opfergabe indro né IV 43, 3.
Die Açvinen sind indraähnlichst (Indratamä I 182, 2);
ebenso die Ushas VII 79, 3. — IV 37, 5 wird der indra-
ähnliche (indrasvantam) Rbhu angerufen. — Die zum Opfer
gehn, rufen wie den I. den Dadhikrâ IV 39, 5. — Püslian
steht da wie I. im Kampf um Güter X 139, 3. Derselbe
Püshan wird von dem preisenden Säuger VI 48, 14 und
15 der Reihe nach mit Indra, Varuna, Aryaman, Vishnu,
der Marut-Schar verglichen, worin sich die niedrigere Stel-
lung des Püshan ausspricht • tám va zu Anfang von 14
beziehe ich auf Püshan und nicht auf die Marut-Schar wie
L. nach Säy., da jedenfalls 14 und 15 eng zusammen-
gehören und zu allen Vergleichungsobjecten derselbe
Göttername, eben Püshan, zu ergänzen ist. L. lässt in
15a die Vergleichungspartikel bei çàrdho ohne Grund aus.
— Manyu ist siegbewirkend wie I. X 84, 5. — In
dem Lied an Sarasvatï lesen wir VI 61, 5: wer dicli
anruft, o Göttin S., wenn Kampf sich erhob, wie den
Indra bei des Vrtia Ueberwältigimg {indram nd vrtratérye)
etc. — Der goldarmige sc. Savitar wird verglichen mit
dem donnerkeilbewehrten I. VII 34, 4. — Töter der Feinde,
Burgenspalter ist Soma wie I., der große Taten verrichtet
(indro riá yo malia kdrmäni cákrir IX 88, 4). Soma wird
wie Indras Tosen in der Schlacht gehört (índrasyeva va-
gnúr IX 97, 13). Außerhalb des Götterkreises finden wir
folgende Bilder von Indra: der König und Günstling Indras,
Trasadasyu ist wie dieser Vrtrabewältiger IV 42, 8 (über
Tr. cf. R. V. II 305Ì. Die sieben Ströme preisen wie den
I. den Paijavana VII 18, 24 (König Sudas, cf. R. V. II
361). In der Rüjastuti wird der König angeredet: indra
ivehá dhruväs tishtha X 173, 2. — VIII 63, 10 fleht der
Dichter um einen gewaltigen Heldenherrn wie I. (tveshäm
indram na sdtpatim). „Ich bin Nebenbuhlertöter wie I. un-
verletzt" spricht wohl ein „Throncandidat" (Z. p. 175) X
166, 2. Tärkshya, das Sonnenross, wird erfleht, wie Indras
Zeitschrift für Völkerpeych. und Sprachw. Bd. XIX. 2/3. 20
Hirzel.
Gabe (indrasyeva räthn àjóhuvànali X 178, 2). — Der Besitz
von Kühen erscheint dem Dichter so wertvoll, dass er sie
auf gleiche Linie mit I., Bhaga und Sorna stellt: gávo bhdgo
(¡uva Indro me cichän gâvah sómasga prathamdsya bhakshdh | ima
ya gâvah sá janäsa índra (— was diese Kühe sind, ihr
Leute, das ist Indra!) VI 28, 5. — Die unvergleichliche
Hoheit des indischen Götterkönigs tritt besonders hervor
in folgenden Formeln: nicht ist einer wie du I. geboren,
nicht wird er geboren werden, über das All bist du hinaus
gewachsen (nd tvdväii indra kdçcana nei jäto etc> I 81, 5), ganz
ähnlich I 165, 9. Nicht wie du bist, Unsterblicher, gibt
es einen andern VI 21, 10; ähnlich VI 30, 4. Nie zuvor
wurde geboren ein heldenhafterer als du, keiner so, weder
an Eeichtum, noch an Herrlichkeit VIII 24, 15. Nicht
wie du bist, ist ein Himmlischer noch ein Irdischer ge-
boren, noch wird er geboren werden VII 32, 23. Aehnliche
Formeln, allerdings nicht auf einen Gott angewendet,
finden wir h. Ap. P. 173: ovxs oïç Ivakíyuov oiks
ßQoroiöi, von Typhaon; B 553: to) J' (Menestheus) oi> nú
rig ôfioïoç — (cvi'iQ und Ae. oft. — Einen andern, der so wie
du, finde ich nicht, um ihm zu spenden, heißt es VIII 24,
12. Keiner, I., ist höher als du, nicht besser ist einer,
keiner ist so wie du: IV 30, 1, cf. I 52, 13. Keiner stellt
an Heldenmut dem I. voran I 80, 15. I. lässt keinen
Vergleich zu in Bezug auf Stärke I 102, 6. Niehls Treif-
licheres als du bist, gibt es V 31, 2. Nicht gibt es seines
Gleichen unter den Geborenen und unter denen, die ge-
boren werden in Zukunft IV 18, 4. Niemand erreichte
dein Lob durch Kraft noch durch Herrlichkeit VIII 24, 17;
ähnlich VIII 59, 3. Nicht die Götter erreichten dich,
nicht die Sterblichen; alles Gewordene überragst du an
Kraft VIII 86, 9. Der Götter Kraft kommt Indras
höchster Göttermacht nicht gleich (devâç cit te asuryhya
pùrvâ 'nu kshatraya mamire sáháñsi VII 21, 7); VIII 67, 4
heißt es: ndkim vrdhïkd indra te nd suslid ná suda uta | na-
nyds tvdc chura vaghdtah. Nie gingen anders wohin unsere
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
293
Wünsche als zu dir: nú anyátrü cid adrivas tván no jagmur
äfdsah VIII 24, 11. Weder des Himmels Umfang- noch
der Erde Grösse sind mit I. vergleichbar I 55, 1; cf. I
6], 8; VII 21, 6. Die Erde ist das Ebenbild Indra s : ca-
ler shé bhúmim praiimánam ojoso I 52, 12, cf. v. 13: tmm
bhuvah pratimánam prthivyâ. — Zu I. als dem Herrn der
Güter spricht der Dichter: yâd indrähdm ydthâ tvdm i;iya
vásva elea it j stotá me goshakhä syät Vili 14, 1. Wir sehen,
die Dichter benutzten Indras Macht, um die höchste
Macht zu veranschaulichen. Direkte Parallelen aus unsern
griechischen Dichtern lassen sich natürlich nicht geben;
am ehesten noch können wir dem I. Zeus und den Kriegs-
gott Ares zur Seite stellen. Homer zieht den ersteren
selten zu Vergleichen heran; in Bezug auf die fxrjng wird
mit ihm Odysseus verglichen, B 169. 407. K 137, und
Hektor II 47 und A 200. Agamemnon ist öfxßava xcà
xs(faXitv ïxelog /dà tsoTcixsoavvu) B 438. Sehr häufig
dagegen werden die Helden dem Ares verglichen:
Achill X 132; Patroklos II 784; Aias H 208ff.; Hektor
!' 72; (-) 215 und a. Nur selten stossen wir auf Bilder
dieser Art bei den Tragikern: H. f. 521 sagt Me-
gara von Herakles: Jiòg ùmtt/qoç {raTv ovâév è<j& od' l'avs-
qoç. Rhes. 355 und 358 wird Rliesos metaphorisch Zeus
genannt; 386 heißt er iïsôç civròg "Aqtjç. Während also
Homer gern von solchen Gleichnissen Gebrauch machte,
mieden die Tragiker dieselben geflissentlich. Warum?
Diese Frage muss an anderem Orte beantwortet werden.
e) Ushas. Der Götter Stämme (viçah) sollen nicht
weichen wie die ins Wasser tretenden Morgenröten (pra-
snätir ivosràh VIII 64, 8), cf. L. IV 388 z. Stelle. Agnis
Gänge wurden wahrgenommen wie die der U. (ushäsam.
ivétayah X 91, 4); A. strahlte wie mit der U. Strahl (ushdso
ncí bhünúna VI 15, 5). Agnis Feuer erschienen wie der
U. Strahlen (ushäsam iva letávali Vili 43, 5). Indra er-
füllte beide Welten (= Himmel und Erde) wie U. X 134, 1.
Nicht sind, Indra, deine Gunsterweisungen, nicht die Reicli-
20*
294
Hirzel.
tiirner zu überschauen, so wenig als die früheren Ushas
und die neuen (pürvä ushdso nd nütanäli VII 18, 20; be-
kanntlich erregten das ewige Erscheinen und Verschwinden
der Morgenröte, sowie ä. Naturerscheinungen das Erstaunen
des ved. Inders in hohem Maße und bei den Dichtern ist
daher oft von diesen Wundern der Natur die Rede). I 57, 3
ruft der Dichter dem Opferer zu: diesem furchtbaren (Indra)
rüste zu sc. das Opfer beim Opferfest, mit Verehrung, wie
du, glänzende Ushas iüsho nd çubhra à bharä); L. fasst das
na als Negation auf und zieht es zum flg. pdniyase, die
Stellung des na ist mir aber dann unerklärlich. Ich glaube,
dass wir einen Vergleich des Opferers mit der Ushas vor
uns haben; der Vocativ des Vergleichungssatzes ist durch
Attraction zu erklären, d. h. er wurde angezogen von
dem Vocativ, welcher zu a bharä zu ergänzen ist. Ganz
deutlich ist diese Construction I 30, 21, worauf Bergaigne
S. V. p. 86 aufmerksam gemacht hat; cf. auch VI 68, 4.
Inwiefern in unserem Beispiele der Opferer mit U. ver-
glichen wird, ist unklar; vielleicht haben wir an die Unter-
würfigkeit zu denken, die selbst Ushas dem über ihr ste-
henden Indra zollt. — Die Maruts schmücken das Opfer
(adhvaraçriyah) wie der U. Strahlen X 78, 7. — Zu Soma
wird gesagt: fülle an die zwei großen Welten, wie U., Sürya
mit den Strahlen IX 41 5. — Urvaçï spricht zu Purü-
ravas (über die Situation des Liedes cf. L. V 516): fort
schritt ich wie der Ushasen erste (pràkramisham ushdsäm
agriyéva X 95, 2). — Das Lied ist ghrtaantlizig (cf. s.
Antliz w. u.) wie die Göttin U. VII 85, 1. — fas, die als
Göttin bei den Griechen eine so hervorragende Eolle spielte
wie Ushas, habe ich bei unsern griechischen Dichtern nir-
gends in einem Gleichnisse gefunden.
f) Rbhu, kommt nur X 144, 2 in einem Vergleiche
vor: dieser (der Keil; L. V 219 „damit ist die vashatkrtî
gemeint") bringt den Rauschtrank wie Rbhu (aydm bibharty
ûrdhvdkrçanam modani rbhúr nd krtvyam mádam) ; wir können,
Gleichnisse und Metaphern im Egveda.
295
jedoch das Wort auch appellativ fassen als tüchtig", wie
das L. und G. tun.
g) Tvashtar. Der Sänger ruft den Agni, „dass dieser
"bei un's sei wie T. bei den Gestalten, die er zimmern will
(tväshtä rûpéva tdkshyä VIII 91, 8). „Wie T. alle Wesen
kennend schuf ich die zwei Welten" rühmt sich Varuna
IV 42, 3.
h) Dyaus. Die Götter wirken mit ihren Schätzen
wie D. (devà dyaúr ná varebhih krnávanta svaíli X 74, 2).
— Bei dir, o König, dem kunstreichen, soll der Vollkom-
menheit wegen gleichsam D. zum Opfer laden, ruft der
Dichter VI 12, 2 dem Agni zu (ä yásmin tve sv äpälce
yajatra ydkshad râjant sarvdtäteva nú dyauh). Agni brüllte
wie der donnernde D. (stanáyanniva d. X 45, 4). Glücklich
erschien der erfreuende (Agni), wie D., wenn er durch die
Wolken lächelt, cf. w. u. (dt/aûr iva smdyamäno ndbho-
bhih II 4, 6). Indras Gewalt wird hervorgehoben mit den
Worten: zerbrechend wie der stein-(blitz-) bewehrte D.
(vibhañjanúr açânimân iva d. IV 17, 13). X 133, 5 wird
gesagt: wer uns, Indra, anfeindet —, dessen Stärke wirf
nieder wie der große D. (maMva d.)- wie D. lasse er über-
legene Herschaft gedeihen (d. ná leshaträm abhibhüti piishyät
IV 21, 1). Dem Indra wurde von den Göttern insgesamt
Asuraheit (satrâsunjàm) wie die des D. verliehen VI 20, 2 ;
cf. zu der Stelle v. Bradke 1. c. p. 27, 32 u. 44, der über-
setzt „Asurastellung, die der des D. gleich ist." — Meta-
phorisch heißt Indra I 54, 3 Dyaus: área divé brhaté —.
Brhaspati fand die Ushas, den Siirya, die Kuh, den (Blitz-)
Strahl wie der donnernde D. {slandyann iva d. X 67, 5;
donnernd wie D.?). — Herabstieg zum Sindhu Varuna wie
D. VII 87, 6. Er, der Weise (Varuna), lässt Weisheit ge-
deihen wie D. die Farbe (rüpdm d. iva VIII 41, 5). Im
Marut-Lied VIII 7, 26 wird der Stier (nach Sây. = der
Hegen) mit D. verglichen: als mit Uçanas ihr aus der
Ferne nach des Stieres Höhle gingt, brüllte er aus Furcht
296
Hirzel.
wie D. (uçdna y dt parafata ukshnó rándhram dy ataña | d. nd
cakradad bhiyá).
i) Dhishanä, die Verleiherin von Reichtum : Indra
verteilt Gut wie Dh. Besitz (vlbhaktä bhägdm dhishdneva
vàjam III 49, 4).
k) Parjanya. Agni ist die wie P. donnernde Macht
(parjdnyakrandyam sditali VIII 91, 5); Indra gleicht an Ge-
walt dem regenreichen P. (ojasä parjányo vrshtimáñ iva
VIII 6, 1). Indu, der dem regenreichen P. gleicht, soll
sich klären im Madhu-Strom IX 2, 9; wie sehr oft, fehlt
hier das tert. comp.; L. V. 338 ergänzt gut „so befruch-
tend, so woltätig für uns". Aehnlich werden IX 22, 2 die
Somatränke mit den Regengüssen des P. verglichen. —
König Citra breitete sich aus wie P. mit Regen (p. iva
tatemad7 dhí vrsläya Vili 21, 18). Der Sänger soll mit dem
Liede rauschen wie P. I 38, 14.
1) Püshan, der Gott des Gedeihens: Wie P. ruft
euch (d. h. so reich an Gaben wie P.), Açvinen, der Ver-
ständige, wie (er) den Agni, die Ushas etc. ruft [yuvâm
pùshév^çvinâ puramdhir agnim, ushâm nd jarate — I 181, 9).
Indra ist den Menschen ein P. VI 24, 5. Sarasvati wird
angefleht: bahne uns Erwerbung wie P. (ràda püshéva nah
saním VI 61, 6). Soma ist wie P. Gebetslied-Erreger (dht-
javano) IX 88, 3. Als P., als Rayi, als Bhaga strömt Soma
sich läuternd IX 101, 7.
m) Bhaga, der Gabenspender: Dich (Agni) — wollen
wir wie Bh. in das Preislied setzen, singt der Rshi
I 141, 10. Agni ist anzurufen wie Bh. I 144, 3 : ä. VIII
7 Ich mache darauf aufmerksam, dass sehr oft in den ved.
\ ergleichen das dem eigentlichen u. bildlichen Ausdruck gemein-
schaftliche Verbum in den Vergleichungssatz hineingezogen wird, wie
an unserer Stelle; so auch z. B. II 11, 3 (p. 31): eta-prá vcLyáve
s is rate nd çubhràh-, man vergleiche ferner: II 14. 11. IV 1, 19.
V 25, 8. VI 24, 6; 48, 21. VII 55, 2; 103, 5. VIII 6, 23; 12, 13;
21, 18; 34, 3; 82, 3; 85, 11. IX 14, 5; 57, 1; 69, 1; 97, 18; 107
12. X 101, 11 etc. Cf. auch S. V. p. 79 f.
Gleichnisse und Metaphern im Kgveda.
297
91, 6; er ist wie Bh. der Führer der göttlichen Völker
III 20, 4. Agni erschließt die Opfergabe immerfort wie
Bh. das Gut (yihavyám a. änushdg bhdgo ná varum rimati
V 16, 2). Zu Agni dringen wie zu Bh. die reichlich spen-
deten (bhágam iva pzpreânasa rñjate I 141, 6). „Du bist
uns Bhaga" wird Agni VI 13, 2 angeredet. Die Açvi-
nen werden gebeten, reiche Habe zuzuteilen áñgev i
X 106, 9; ich verstehe darunter mit L. Ança und Bhaga,
die zwei Aditisöhne; sehr matt wäre das Appellativ: „wie
zwei Verteiler" (so Gr.). Indra hielt fest wie Bh. am höchsten
Himmel die beiden Welten I 62, 7; wie Bh. ist er im
Schlachtgesang zu rufen (bh. ná kârê hávyó) III 49, 3, cf.
V 33, 5. Wie dem Bh. gehen die Menschen Indra nach
VIII 50, 5. Der Äiigirasa (= Brhaspaii) führte her wie Bh.
den Aryaman d. h. die Ehe, wie der Zusammenhang zeigt
(bhága iréd aryamánam ninöya X 68, 2). Die Kühe erschei-
nen dem Sänger VI 28,5 wie Bh. (Cf. p. 292).
n). Mar ut s. Agiiis Strahlen rauschen mächtig wie
die Marut-Schar (tuvishvanáso márutam nà çàrdhahTV 6, 10);
Agni ist nicht zu hemmen wie der M. Brausen (ná yó
xàrâija rnarviäm iva svanáh I 143, 5); wie die mächtig rau-
schende M.schar auf einträglichen Fluren, auf wüsten
Flächen ist Agni zu verehren (— ishtánih; ich folge mit
L. Sä y anas Erklärung yashtavyah ; G.: braust er, P. W.
rauschend) I 127, 6. Mit Agnis Huld (avena, L.'s Con-
jectur ravena Gebrüll halte ich für unnötig) mischen sich
gleichsam der M. Genüsse d. h. der Sturm I 128, 5, cf.
L. IV 276. Agni soll als botar das Opfer anstellen gleichsam
auf der M. Antrieb (— práyukti) VI LI, 1. Die Açvinen
sind marutähnlichst (maruttamä I 182, 5). Soma geht
brüllend wie der M. Rauschen IX 70, 68; ebenderselbe
Concretes mit Abstractem verglichen wie noch ö. : cf. S. V.
85. [Ich verweise in den meisten Anmerkungen mit Absicht auf
Bergaigne, da dessen an feinen Beobachtungen reiche Syntax der
ved. Gleichnisse noch zu wenig beachtet ist].
298
Hirzel,
wird der kräftigen (cushmi) M.schar verglichen IX 88, 7.
— Die Kuçikas bekämpfen den Feind wie die Angriffe
der M. (amitrñyudho marutäm iva prayah III 29, 15). Nicht
so wie diese M. strahlen andere mit Goldschmuck, Waffen,
mit ihren Leibern VII 57, 3.
o) Mitra. Agni wird oft mit ihm verglichen : du bist
wie M. Herr des großen Gesetzes (— m. ná brhatá rtá-
syási VI 13, 2); ihn setzten hin die Bhrgus, wie den schön-
hingesetzten M. VI 16, 2; er verfügt liber fürstlichen
Glanz wie M. (tvám hi kshaítavad yágó 'gne m. ná pát/jase
VI 2, 1); besitzt Mitras Glanz ({miiramahali) I 44, 12.
ebenso VI 5, 4 und Vili 49, 7. A. ist schön wie M. I 38,
139; gerade so verehrungswiirdig wie M. {kränä m. ná
■tjajníah V 10, 210. Agni wurde wie M. eines Wunders
Lenker (Kutscher: ni. ná Ihüd ädbhutasya rathih I 77, 3);
Bergaigne E. V. III 134 erklärt gut „c'est à dire qu'il a
apporté aux hommes un présent merveilleux". Er ist wie M.
unter den Menschenstämmen zu preisen II 2, 3; der Sänger
soll Agni besingen, der wie M. die Leute verbündet (mitrám
ná yutaijájjanam VIII 91, 12). — Indra schuf sich wie M. unter
den Menschen vollendete Herrlichkeit (vi. ná yó jáneshv á
yàçaç cakré ásámyá X 22, 2); Indra wird VI 24, 5 meta-
phorisch M. genannt. — Brhaspati schmückt im Volke wie
M. Gatte und Gattin (jáne m. ná dámpati anakli X 68, 2).
9 ácha vada \ ayním mitravi ná darçatâm : Besteht der Ver-
gleich, welcher sich auf das Accusativobject des Hauptsatzes bezieht,
nur aus Vergleichungspartikel und Substantiv, so wird dieses eben-
falls in den Accusativ gesetzt. Die Fälle dieser Art sind zahllos;
man vergleiche z. B. 112, 3. III 2, 15, IV 6, 8; 38, 3. VI 46, 13.
X 115, 3. Dieselbe Construction kommt auch bei Homer vor:
Opjj.ov o Ivlp'j¡j.á/0) — ËV31XSV, y púas ov — ^íkiov to? a 295 f. — VI
45, 22 hat das Dativobject des Hauptsatzes das Vergleichungswort
im Dativ attrahirt: tád vo gaya suté saca puruhvtàya sátvane \ çdm
yád gáve ná çakine || (was heilsam dem wie ein Stier Kräftigen!).
10 Ueber krärjÄ cf. v. Bradke 1. c. p. 35 f.; die von ihm statuirte
Bedeutung des Wortes gibt, wenn sie auch nicht sicher zu erweisen
st, doch am ehesten einen guten Sinn.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
299
Dein Vishnu wird zugerufen: sei heilvoll wie M. 156, 1.
Soma ist schön wie M. IX 2, 6; yon ihm wird gesagt:
asävi mitró IX 77, 5; zugleich mit M. u. Aryaman wird er
verglichen I 91, 3 = IX 88, 8: cu&ish tvám asi priijó nú
mitró daJcsMyyo ar y am evasi soma. Die drei bekannten Aditi-
söhne finden wir in dem Vergleiche VIII 31, 13: yäthä no
mitró aryama vàrunah santi gopáh | suga rtásya pänthäh.
p) Rudra. X 61,15 werden die Açvinen rudra-
ähnlich (raüdräv) genannt; dasselbe Epitheton erhält Agni
X 3,1. Wie Rudras Söhne (die Maruts), des Dyaus Asura
Ordner es wünschen, — so soll es sein (.ijátha rudrásya
sünávo dicó vàçanty ásurasya vedhásah | — táthéd [Anni. 16¡
asat: VIII 20, 17, cf. v. Bradke 1. c. p. 46).
q) Varuna. Agni herrscht allein über das Gut wie
V. éko vásvo váruno ná rajati I 143, 4); er weiss alles wie
V. durch seine Einsicht (vlçvam sá veda v. ydthä dhiyá X
11, 1). Die Kakuha (Büffelart) der Açvinen tummeln sich
wie des Varuna yuga : vaçydnte vara kakuìia apsú jäta yuga jvr-
néva várunasya bhéreh I 184, 3; yugä, das gewöhnlich hier
mit „Geschlechter" übersetzt wird, nehme ich in seiner
eigentlichen Bedeutung „Gespann" und denke hierbei wie
L. IV 49 an die Zeit, spez. an die Jahreseinteilung ; das
Jahr mit seinen Monaten und Tagen wird oft unter dem
Bilde eines Wagenrades dargestellt: cf. die von mir zu-
sammengestellten Bilder unter „der Wagen und seine Teile"
(II. Teil, 2 ß) und Z. p. 368. Bestärkt werde ich in meiner
Annahme durch die Stelle I 25, 8, an der spez. V. als
Kenner der 12 Monate etc. aufgeführt wird (cf. auch Z.
p. 367). — Indra wird X 99, 10 mit dem zauberkräftigen
{mäyi) V. verglichen und VI 24, 5 metaphorisch als V.
bezeichnet. Soma hüllt sich ins Holz (die Kufe, cf. über
dieses Bild w. u. und S. L. IV p. 132 f.) wie V. in die
Flüsse {vanä vusäno v. ná síndhün IX 90, 2); derselbe heißt
metaphorisch Varuna IX 95, 4.
i') Vasu (der treffliche, woltuende sc. Gott): X 122, 1
preist der Sänger Agni wie den glänzenden V. (vásum ná
300
Hirzel.
cürámahasam —); ein anderer singt I 127, lj: agnlm hotäram
'manye dásvantam väsum etc.; ebenfalls von Agni heißt es:
als Vasu bist du des Guten Herr allein (vdsur vdsünäm
kshayasi tv dm éka X 91, 3). Dadhikrä wird IV 40, 5 u. a. auch,
durch die Worte charakterisirt : vdsur antarikshasdd. — Die
Par vara (Berge pers.) sind Helden wie die Vasus (vdsavo
nà virali V 41, 9). Dein Mythus entlehnt ist das Gleichnis
X 126, 8: wie ihr, o Vasus, die am Fuße gebundene
Büffelkuh befreitet, so befreit uns aus der Not; ähnliches
wird von Indra und Agni IV 12, 6 gesagt, cf. S. L.
IV p. 101.
s) Väja (N. pr. eines der drei Rbhu: der Mutige):
VII 37, 4 wird Indra dem V. verglichen und erhält zugleich
den Namen des andern Rbhu „Rbhukshan": du I. gehst
als Rbhukshan mit eigenem Glänze wie V. gewogen zur
Heimat jubelnd (tvdm indra svdyaçâ rbhukshâ v. nd sädhur dstam
eshy rkva).
t) Väta, Väyu, die Windgötter, finden wir in fol-
genden Vergleichen: Agni durcheilt die Nächte als Fürst
wie Väyu SC. die Länder (v. nd raslitry city eiy aktün VI
4, 5; cf. L. IV. 347); V. 7 desselben liedes wird er direkt
als Väyu bezeichnet. Indra soll zum Opferer fahren wie
Väyu mit seinen Gespannen11 (yähi väyür nd niyûto no dcha
III 35, 1 = VII 23, 4); ä. heisst es von ihm „wie V. mit
dem Wagen die Vasus zu Gespannen habend" (rdtho na
11 Die Construction dieser und der folgenden Stelle erklärt, wie
ich überzeugt bin, richtig Bergaigne S. V. p. 98: Ces dieux font
la mòne route que leur char et leurs chevaux. Il n'en est pas moins
vrai que les comparaisons suivantes, appliquées à Indra, et où le nom
de Väyu est construit parallèlement à cekii des chevaux ou du char,
éveillent l'idée d'Indra venant comme Vayu avec son char ou ses
chevaux: es folgen unsere beiden Stellen: cf. desselben Ver-
fassers Anm. 4, 5 u. 6 u. p. 99, wo noch weitere Beispiele ana-
loger Construction zu finden sind. Wir werden noch oft solchen
formelhaften, ein Compositum vertretenden Ausdrücken begegnen
und verweisen auf unsere Anmerkungen: 15. 19. 23. 31. 38. 46.
Gleichnisse und Metaphern im Kgveda.
301
väijvr vásubhir ni/jútvCiii III 49, 4). Schwierig ist il 14, 3:
täsmä etdm antàrikshe nei vâtam indram sómair órnuta júr nei
ràstraihy cf. p. 127; hier geht uns nur der erste Teil des
Verses an, und da ich glaube, dass das „einhüllen" des Indra
(veranschaulicht durch das im 2. pfida folgende Bild) sich
nur auf diesen bezieht und nicht auf Väta, nehme, ich an,
dass wir das tertium comp, für den ersten Vergleich zu
ergänzen haben, wie so oft; vielleicht ist zu übersetzen:
den Indra, der wie Väta im Luftraum etc. brüllt oder
einherfährt, hüllt etc. Graßmann's Uebersetzung „reicht
Soma dar, der braust wie Sturm im Luftraum" kann ich
nicht billigen und Ludwigs Erklärung V 56 erscheint mir
zu gekünstelt. — Soma hat wie Väyu Gespann (v. nd yó
niyiävän IX 88, 3). X 76, 5 besingt der Dichter die Press-
steine, die ungestümer als V. den Soma erfassen, (vàyôç
eia a sómarabhastarebhyali)\ wir können mit L. V 331 an
Väyus Wettkampf mit Indra denken. — Diese (età, ich
ergänze -mit Säjj. stutayali) eilen vorwärts (zu Indra) wie
dem Vayu die glänzenden etc. Gespanne (prd väydve sisrate
na çubivrah, cf. Anm. 7) lesen wir II 11, 3.
u) Die Presssteine arbeiten rascher als Vibhvan
(vibhvdnä cid âçvàpastarebhi/ah X 76, 5; cf. L. V 331): Vibhvan
N. pr. eines der drei Rbhu (der „Künstler").
v) Vishnu kommt nur zweimal in Vergleichen vor
und zwar ohne dass sein Name genannt wird; nur die
Epitheta weisen auf ihn hin: Agni mit dem dreifachen
Sitz gleicht dem Beinschlag des hindurchgedrungenen
(„eilenden" L.; trishadhdsthas tatarusho nd jdiihah VI 12, 2,
unklar!). Soma eilt mit der weitschreitenden Eile ( raühata
urugäyasya jütún IX 97, 9; dies Epitheton erhält Vishnu
häufig und ich weiss nicht, warum hier L. an den Sonnen-
gott denkt).
w) Savitar. Agni hat wie Gott S. rechte Gedanken
(<devo nd ydli savitd satydmanmä I 73, 212, ebenso Soma
12 Sehr oft wird das Relativpronomen in den Vergleichungssatz
gestellt: S. V. p. 81 A. 4; man vergleiche noch VI 67, 4; 4, 3.
302
Hirzel.
IX 97, 48; er soll zum Schutze aufrecht steheu wie Gott
8. I 36, 13; weit empor streckt er wie S. die Arme (úd
yamyamlti saviteva bähü I 95, 7); er ließ aufwärts das Licht
emporsteigen wie S. IV 6, ]. Der Sänger ruft Agni wie
Savitars Belebung (savdm) VIII 91, 6. Die Ushas strecken
Licht aus wie S. die Arme VII 79, 2. Pashans Satzung
ist wahrhaft wie die des Gottes S. ([satyádkarma) X 139, 3;
dasselbe wird im Wiirfelliede von den Würfeln gesagt
X 34, 8. Den Preis und der Verehrung Darbringung,
das Lied strecke (Brhaspati) vor (úpastutim námasa údyatim
ca çlôkam yañsat) wie S. die Arme I 190, 3. Soma er-
schließt wie Gott S. Gut (varam nä deváh s. vy ürnute IX
110, 6).
x) Sürya. Agni wird, früh aufgehend, als S. ge-
boren (? mürdha bhuvó bhavati náktam aynís tátah súryo
jayate pratár udyán X 88, 6). Göttliche Kraft folgt dem
Indra wie der Ushas Siirya I 56, 4: ä, IX 84, 2: Indu
folgt wie S. der Ushas (induh sishakty ushásam ná sûryah13.
Die Falben sollen Indra zum Tranke her lenken wie alle Tage
den S. I 130, 2. Ushas ist schön mit Süryas Herrlichkeit,
mit Goldschniuck I 122, 2. Tarkshya, das Sonnenross, hat
sich rasch mit Kraft über die fünf Menschenstämme aus-
gebreitet wie S. mit Licht über die Wasser (der Luft,
s. iva jyótishapás X 178, 3). Von Brhaspati sagt der
Sänger: wie S. groß an Licht die Morgenstrahlen (er-
zeugt), bist du aller brahma Erzeuger (usrâ iva súryo jyó-
tishä mallo viçveshàm ìj janità brdlimanäm asi II 23, 2 u.
Der Marut Lobeserhebung (carkrtih) geht im Augenblick
um den Himmel wie Gott S. VI 48, 21; ihre Heldenkraft
í 73, 1. y 17, 3. I 100, 3. II 12, 4. Oft wird auch das den ganzen
Satz regirende Rei. pron. einem kurzen Vgl.ausdruck nachgestellt,
■wie z. B. devo na yah — I 73, 3, mitra iva yo — II 4, 1; cf. VI
3, 3. VII 63, 1.
13 Gemeinschaftliches Object: S. Y. p. 79.
14 Doppelte Construction des nomen agens mit Genitiv und
Accusativ, cf. X 22, 3. (S. V. p. 87 f.).
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda. 303
und Größe (imahitvahám, L. gut „Majestät") bahnte langen
Weg wie S. V 54, 5. Rodasi (cf. R. V. II 388 f.) wird
auf des Verehrers Wagen steigen wie S. mit glänzendem
Antlitz (a süryéva vidható rátham gat tveshâpratïku I 167, 5),
Soma steht über allen Wesen wie Gott S. IX 54, 3; von
den Steinen gepresst klärt er sich wie Gott S. IX 63, 13;
seine Güsse (sarga) ergossen sich wie des S. Strahlen IX
67, 7; Soma wieherte wie Gott S. IX 64, 9 (das Bild vom
Wiehern finden wir ö., cf. II. Teil sub açva und atya).
In dem dunkel gehaltenen Liede X 31 lesen wir Strophe 8:
tväcam pavitram krnuta svadhavän yäd Im süryam net harito
váhanti „(seine) Haut macht zum Läuterungsmittel der
Selbstherrliche, wenn ihn wie S. die Falben fahren" ; unter
svadhavän können wir nach dem Zusammenhang nur den
St. .6 genannten asura, die höchste Gottheit (cf. v. Bradke
1. c. p. 70) verstehen.
Ich reihe noch die Bilder an, in denen die mythischen
Sonnenrosse Etaça und Dadhikrä vorkommen. In der
Erklärung von I 121, 13: tvám sûr o harito ramayo nrn bhärac
cakrám étaço nágám indra schließe ich mich Bergaigne (R. V.
II 331 und 332) an und übersetze: „du brachtest der Sonne
Rosse zum Stillstand, die Helden; es brachte das (Sonnen-)
Rad dieser Etaça gleichsam (d. h. einer, der Etaças Stelle
vertritt), o Indra"; L.s und G.s Uebersetzung halte ich
für verfehlt. — Die Maruts treiben viele an wie der Tages-
Etaça (purupraishä ahanyò naitaçah I 168, 5). Soma stürzt
dahin wie im Sprunge Etaça (sàrgo nei takty étaçah15 IX
16, 1); IX 108, 2 cf. II. Teil X. (Volkswirtschaft) A a, 7.
Zum Opfer neigten sich die Ushas wie Dadhikrä dem lichten
Orte zu (dadhikraveva çiicaye padeuja VII 41, 6).
Die vorliegende Zusammenstellung zeigt uns, dass-
sämtliche Gottheiten des Veda eine größere oder kleinere
Rolle in den Vergleichen spielen. Ihr Wert für die Mytho-
logie besteht darin, dass sie die besonders .charakteristischen
Eigenschaften jeder Gottheit vorführt.
15 sargo u. étaçah parallel construirt, cf. Anna. 31. (S. Y. p. 97.)'
304
Hirzel.
II. Die mythisch-historische Welt.
(Historische Gleichnisse.)
Die liieher gehörigen Bilder, deren Gegenstand die
Rshis und Helden der vedischen und vorvedischen Zeit
bilden, sind alle historischer Art, d. 1). es werden uns Er-
eignisse, die einst stattgefunden haben sollen oder sich
wirklich ereignet haben und die dabei beteiligten Personen,
sehr oft auch letztere allein, in Form eines Gleichnisses
oder Vergleiches vorgeführt. Diese historischen Gleich-
nisse stehen im Gegensatz zu allen anderen Bildern, die
zur poetischen Veranschaulichung dienen (poetische Gleich-
nisse) und stehen hinter letzteren an dichterischem Wert
bedeutend zurück, wie schon ihr verhältnismäßig seltenes
Vorkommen, im Rgveda wie in den Dichtungen anderer
Zeiten und anderer Völker zeigt. Trotzdem verdienen
diese Gleichnisse schon in sprachlicher Hinsicht unsere
Aufmerksamkeit, da wir in ihnen die verschiedenen Ver-
gleichungsformeln der vedischen Sprache sämtlich vertreten
finden: das doppelgliederige Gleichnis, die kürzeren Ver-
gleiche und den durch ein Wort ausgedrückten Vergleich.
Der Wert, den unsere Bilder sodann für die geschicht-
liche Betrachtung haben, ist nicht zu unterschätzen; der
Vedaleser hat ja oft genug die Frage aufzuwerfen, ob die
Helden und Sänger und Opferer, deren Taten und Erleb-
nisse meist nur flüchtig angedeutet werden, dem Mythus
oder der Geschichte angehören und gerade die Gleichnisse
sind es, die uns oft für die Beantwortung der Frage Auf-
schluss geben. In den Rahmen unserer Arbeit gehören
jedoch solche Betrachtungen nicht. Viele derartige Pro-
bleme hat A. Bergaigne in seiner Religion vedique zu
lösen versucht. Wir haben Gelegenheit, folgende Helden-
gestalten kennen zu lernen;
An gira s (cf. R. V. I 47 f.; II 307 ff.), der mythische
Priester und Sänger, wird nach Manus (p. 309) am meisten
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
305
in Vergleichen erwähnt; Agni soll wie A. heran zum
Opfer kommen ([angirasvát; diese kurzen Vergleiche mit
dem Suffix — vat sind sehr häufig) I 31, 17; wie A. soll er
des Praskanva Ruf erhören I 45, 3; wie A. wird er ge-
rufen I 78, 3, ebenso VIII 43, 13. Dem Indra ersinnt
der Sänger ein Preislied wie A. I 62, 1 ; Indra öffnete den
Angiras hülfreicli den Stall; deshalb bittet der Sänger: in
derselben Weise siege und kämpfe für uns I 132, 4; ihm
singt dies neue Lied wie A. wird II 17, 1 ausgerufen,
ä. III 31, 19. Die Maruts sind verschiedenartig wie die
Añg. mit ihren Gesängen (vigvdrüpä ángiraso ná sâmabhih
X 78, 5). Indra und Agni wurden nach Angiras' Weise
besungen VIII 40, 12. Indra wird der beste (A. áñgirasta-
mah) genannt I 130, 3. —
Die Açvinen sollen wie auf des (Sängers) Atri (cf.
R. V. II 467) auf das vorzügliche Loblied des Çyfivçava
hören (àirer iva çrnutam pürvyástutim çyâvaçvasya — Vili
35, 19);. wie euch, Açvinen, der Sänger Atri laut mit
Liedern rief zum Somatrank, so rief ich euch — spricht
der Dichter VIII 42, 5 und 6 (ydthä vam dtrir agvinä gxrbJiir
vipro ájohavit — [j era väm ahve 10 —); wie ihr den Atri aus
16 WTir lernen an unserer Stelle ein vollständiges Gleichnis mit
zwei Gliedern kennen. Ueber die sprachlichen Eigentümlichkeiten
der ved. Gleichnisse hat gut gehandelt Bergaigne in seiner Syntaxe
des Comparaisons védiques; p. 76 ff. gibt er eine Uebersicht über
die verschiedenen Gleichnisformeln. Meines Wissens finden wir an
folgenden Stellen des RV. Gleichnisse mit yathä im Vorder- und
evd im Hauptsatz: a) historische: I 76, 5. II 30, 4. III 17, 2;
36, 3. IV 12, 6. VI 4, 1. VIII 38, 9 (eva-ydthä)-, 42, 5 u. 6. IX
82, 5; 96, 12. X 7, 6; 126, 8; 149, 5; 151, 3 (yátha-evám). Väl.
6, 2. — VIH 20, 17 (yáthü-tátha) ; VIII 36, 7 (táthU-yátha). VIII 5,
25— 27 (yáthcL-etavat); Val. 1, 9 u. 10 u. 2, 9 u. 10 (etavat-yátha).
b) poetische, nur sieben: I 113, 1. V 78, 7; 78, 8. Vili 47, 17;
X 60, 8 u. 9. — I 108. 2 u. X 88, 19 {yâvat - tavat). Die Partikel
evd ist zu ergänzen: I 51, 12. IV 37, 3. VII 3, 7. VIII 4, 3;
5, 37; 24, 28 u. 29; 31, 13. X 191, 2. Val. 3, 1 u. 4, 1. ydthä
fehlt in dem Gleichnisse V 2, 7. — (Das Verzeichnis bei B. ist un-
vollständig!).
306
Hirzel.
großer Finsternis befreitet, errettet (mieli) aus der Not
(dtrim ná malms támaso 'mumuktam túrvatam narä duritad
aJMke, cf. S. V. zu VII 58, 3 p. 82), so betet der Bhärad-
väja VI 50, 10. Agni wird angefleht: Komm her (zu uns)
wie zu Atri, erfreue dich am Saft (« yahy agne atrivát
sutê rana V 51, 8 = 9 und 10); er soll wie A. den
Praskanva erhören I 45, 3; der lichte (gúcih) sc. Agni
dringt vor atrivát d. h. wie dem (oder bei) A. V 7, 8.
Viçvasâman wird aufgefordert, zu lobsingen wie A. V
22, 1. Den Çyâvâçva soll Indra erhören wie er den A.
erhörte, als er die Opferwerke verrichtete VIII 36, 7.
Atharvans, des altberühmten Feuerpriesters (cf.
E. Y. I 48 if.; II 321) gedenkt man, wie billig, bei der
Feuererzeugung, denn er war der erste, der dieses Dienstes
waltete : imam u tyám atharvavdd agnìm manthanti vedhdsah
VI 15, 17. Agni soll wie A. mit göttlichem Licht den die
Wahrheit schädigenden Toren niederbrennen X 87, 12.
Als Säuger tritt er I 80, 16 auf: Wie Atharvan, Vater
Manu, Dadhyac das Lied „ausspannten" (cf. Teil II sub
„Webekunst"), so wurden in diesem Indra die brahma —
und die ukthas vereinigt (yàm a. m. d. dhiyam dtnata j
tdsmin brahmani — s ci m agmatd).
Apnaväna wird in dem Vergleiche VIII 91, 4 er-
wähnt: — apnavänavdd à huve | agnim.
Urukaksha VI 45, 31: ddhi brbüh panlnam vdrshishthe
mürdhdnn asthät | uriih kdlcsho na gängydh; da urüh k. keinen
guten Sinn gibt, halte ich es mit B. R. und anderen fiir
einen Eigennamen: Brbu stellte sich auf der Pani höchstes
Haupt wie Urukaksha, der an der Gangà wohnte.
Uçanâ, der Weise (R. V. II 338 ff.): der huldvolle
sc. Priester (vedháh) soll ein Lied singen wie U. IV 16, 2-
Soma spricht hohe Weisheit, wie U. (kavyam uçdneva Iru-
vünah IX 97, 7). —
X 105, 6: es zimmerte der Held (Indra) mit Kraft
(den Donnerkeil), wie der geschickte Mùtariçvan mi
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda. 307
Einsicht (rbhúr ná lirátubhir m.), cf. R. V.. II 322; anders
Z., p. 55.
Von der Hülfe, die Indra dem Et a ça und Vaça
leistete, ist die Rede in Val. 2, 9.
Wie Aurva und B h r g u (aurvabJirguvdt) ruft der
Sänger den Agni VIII 91, 4.
Bunt geschmückt führte Agni die Finsternis mit der
Flamme weg, im Flug wie Auçija (der Sohn der Uçij,
cf. R. V. I 58) fliegend VI 4, 6.
Kan va, der Sänger (R. V. II 462 if.): die Aç-
vinen werden um dieselbe Gunst angefleht, die sie zu
Teil werden ließen dem K., Priyamedha, Upastuta,
Atri, Çinjâra, Ançu, Agastya und Sobhari
VIII 5, 25—27. Die Bhrgus erreichten alles Gewünschte
wie die K. (Jcdnvä iva) VIII 3, 16. Ich schmücke nach
altem Geiste die Lieder wie K, sagt der Sänger VIII
6, 11. Wie Indra für K., Trasadasyu, wie für
Pakt ha, Daça vr aja, wie für G o ç a r y a ; R j i ç-
van Rind- und Goldbesitz erbeutete, um ebenso
große Gunst wird er Väl. 1, 10 gebeten; ä. Val. 2, 10.
Unsere Lieder und den schönen Lobgesang erhöre wie
Kanvas Ruf: Väl. 4, 8. Die Maruts sollen mit Beistand
kommen, wie ehemals zu K, als er sich fürchtete (yátha
puréthá Jiànvâya bibhyùshe I 39, 7. —
VIII 5, 37: Verschafft mir, Açvinen, Anteil an neuen
Gaben, wie Kaçu, der Cedier mir 100 Büffel, 10 Tausend
Kühe gab.
Den Açvinen soll lautes Lob zurufen der Auçija wie
G ho s li ä bei des Arjuna Erlangung I 122, 5.
Soma soll Rshigut strömen lassen wie Jamadagni
IX 97, 51.
Taugry a (Tugrya), der Sohn des Tugra (= Bhujyu;
cf. R. V. III 10 ff.): Mit Milchspende möchte ich euch (die
Açvinen) herwenden wie der alte T. I 180, 5. VIII 63
14 wünscht der Sänger, dass ihn vier rasche Renner zum
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 2'3. 21
308 Hirzel.
Göttermahle fahren wie die Vögel den Tugrya und ä. VIII
3, 23; das Legendenhafte tritt hier deutlich hervor. —
Derjenige, den Indra und Agni beschützen, bricht selbst
fest verschlossene Schätze auf wie Trita (— Soma?), die
Töne sc. hervorbrechen lässt, (— drlhá dt sá prá bhedati
dyumna vanir iva tritali) V 86, 1 ; ä. Gr. u. L. V 294. Wir
haben oft das gemeinschaftliche Verbum für den Vergleich
in einem etwas veränderten Sinne zu ergänzen, cf. Anm. 22.
Bergaignes Uebersetzung „wie Trita mit seinen Gesängen"
(S. V. p. 99) dürfte zu kühn sein. Trita wird auch in
dem Gleichnis Val. 4, 1 erwähnt: unten p. 310.
Den Sudäs sollen die Maruts geleiten wieden Divo-
d â s a, dessen Vater VII 18, 25.
Indra und Agni sollen nach Nabhäka-Weise be-
sungen und angebetet werden VIII 40, 4 u. 5.
Als Na va g vas (die „Neuner", cf. R. V. II 307 f.)
bewältigen die Flammen die Hölzer VI 6, 3.
Ushas ließ wie Nodhä, was den Menschen lieb ist,
sehen (nodha ivävir ahia priyáni I 124, 4); n. ist unzweifel-
haft nomen pr., cf. S. L. IV p. 99).
Von Purumüyya, wie er in den Schlachten von
Indra unterstiizt wurde, hören wir VIII 57, 10. —
Wie des Pedu Pferd (cf. R. V. II 451) ist Soma
Töter der schlangenarmigen (Wesen), aller Dasyu [paidv',
nà hi tvám ähinämnäm hanta viçvasyasi soma dás//oh IX 88, 4).
Vili 3, 12 werden wieder eine ganze Reihe von
Helden aufgezählt: Indra hilf uns wie du halfst dem
Paura, dem R u ç a n a, dem Ç y ä v a k a, dem K r p a,
dem Svarnara.
WTie Priyamedha erhöre Praskanvas Ruf wird
Agni angefleht I 45, 3.
Dem berühmten Sänger Bharadväja vergleicht sich
der Ushas ver ehrer VI 65, 6.
Von der sagenhaften Rettung Bhujyus durch die
Açvinen (cf. R. V. III 10 if. ; L. V 468) ist die Rede IV
27, 4: wie der dahineilende (Wagen) der Indragenossen
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
309
den Bh., brachte ihn — den Soma — der Falke vom hohen
Gipfel (des Himmels).
Die B h r g u s, mythische Priester (cf. R. V. I 52 if.) :
IV 7, 4 : den Agni schafften herbei die Lebenden, der wie
Bhrgn von Stamm zu Stamm geht (— bhfgavânam viçé-
viçe) ; in der Deutung des unsichern bhrgav. schließe ich
mich Säy. an, der erklärt, „bkrguvad äearantam11 ; L. „wie
Bh. tätig" u. G. „funkelt hell". Agni wird gerufen bhr(ju-
rât VIII 43, 13. Wie die Bh. schufen wir dem Indra
das brahma: IV 16, 20. Als tapfere Kämpfer lernen wir
die BhrgUS IX 101, 13 kennen: apa çvânam arâdhdsam hatà
maklnám ná (wie den Feind?) bhfgavah, cf. L. V 378. —
VIII 91, 4 cf. s. Aurva p. 39. —
Sehr häufig wird der Stammvater der Menschheit,
M a nus (Manu) zu Vergleichen herangezogen; in vielen
Fällen lässt sich jedoch nicht entscheiden, ob dieser oder
einfach das Appellativ „Mensch" gemeint ist. Die Açvinen
sollen heilbringend herankommen wie zu M. {manushvät
I 46, 13; Säy. manäv. ica) ; auf unsere Opferstreu sollen
Varuna, Mitra, Ary am an sich setzen, wie auf diejenige des
M. (sie sich setzten) I 26, 4: — sidantu mànusìio yathä ;
cf. S. V. p. 78. Agni soll zum Opfer kommen manushvät
wie M. I 31, 17; die Opferer wollen Agni als Leiter des
Opfers einsetzen wie Manus (es tat, I 44, 11. L. „wie
einen Menschen" ; da M. so vielfach zu Agni in Beziehung
gesetzt wird, glaube ich, ist es richtiger, auch hier an M.
zu denken) ; der Priester ist geschickt wie der des Manus
I 59, 4 (hóta manushyò ná däkshah, cf. I 180, 9, II. Teil:
Keligioii, sub Priester); I 76, 5: wie du (Agni) mit des
Manus-Sängers Opfergüssen die Götter verehrtest, so lass
dich heute verehren; III 17, 2; wie dem M. fördere dies
Opfer Wie M. wollen wir dich einsetzen, wie M. dich
entzünden, wie M. verehre die Götter, heißt es ferner von
Agni V 21, 1, cf. VII 11, 3. Vili 43, 27; manushvät wird
er gerufen VIII 43, 13. Wie M. lasst uns den von Manus
entzündeten Agni verherrlichen: VII 2, 3. Dem Indra u.
21*
BIO
Hirz el.
Varuna wird das Opfer dargereicht manushvát VI 68, L
Soma soll sich klären wie er sich dem Manu klärte IX
96, 12. — I 80, 16 cf. s. Atharvan p. 306.
Specielle Namen (cf. L. V 223 f.) führt Manu in den
zwei Gleichnissen:
Val. 3, 1: wie du, Indra, bei ManuSämvarani
gepressten Sorna trankst, bei N ï p ä t i t h i, bei M e d h y â -
tithi. bei Pushtigu und Çrushtigu etc., so trink
hier bei uns und Val. 4, 1 : wie du bei Manu V i v a s y ä n
gepressten Soma trankst, wie du bei Trita am chandas
Gefallen findest, (so) belustige dich mit Äyu. —
Dem Indra und Agni wurde Neues gesungen nach
Mandhätar-Weise VIII 40, 12.
Vài. 1, 9 wird Indra um die Gunst gebeten, wie er
sie durch seine Hülfe dem Medhyätithi und N ï p â -
tit hi bewies (cf. Val. 3, 1 p. 43). —
Als ihr Götter wie die Yatis (?) die Wesen schwellen
ließet, da brachtet ihr die im (Luft-) Meer verborgene
Sonne (yäd deva yátayo yathä, bhúvanany ápinvata | átra samn-
drá a gülháni a sûryam ajabhartana X 72, 7; yátayo ist un-
klar; G. „wie starke Herscher", L. „wie Arbeiter"; schwer-
lich richtig!). —
Agni soll wie zu Y a y ä t i zum Opfer kommen
I 31, 17.
Vaça Açvya, der Günstling der Açvinen (cf. R. V.
II 301 f; 449), wird VIII 46, 21 erwähnt: her kommen
soll der Götterfeind (ádevah), der so viel Belohnung empfing
wie V. A. bei Prthuçravas Känita empfing, und Val. 2,
9: p. 39. —
Wie V i r ü p a soll Agni Praskanva erhören 145, 3. —
Ich war's, der den Navavästva Brhadratha, wie die
V r t r a ('vrtréva) den Dâsa als Vrtratöter zusammenschmet-
terte, ruft Indra aus X 49, 6.
V 61, 10 preist der Sänger Purumïdhas Freigebig-
keit : der mir hundert Kühe gab wie Vaidadaçvi, wie
Taranta («/ó — v. ydthä dàdat t. iva; G. „wie T. der Spross
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
311
des Vidadaçva", aber die doppelte Vergleichungspartikel
weist auf zwei von einander verschiedene Personen), vgl.
L. V p. 502.
Vyaçva (R. V. II 453) wird als Anbeter und
Günstling der Açvinen VIII 26, 9, Agnis VIII 23, 23,
Indras VIII 24, 22 und Somas IX 65, 7 in Vergleich ge-
zogen; das Geschlecht der Vyaçva wurde mit Opferlohn
reich bedacht, wie uns VIII 24, 28 und 29 zeigt: wie du
(Ushas) dem Sushäman Reichtum zum Geschenk herbei-
führtest für die V., (so) soll des Närya Opferlohn zu den
somareichen Vyaçva gehen.
Indra und die Maruts werden aufgefordert, Soma zu
trinken wie bei Çâryâta III 51, 7. —
V 2, 7: Agni befreite den gefesselten Çunaçcepa
A-on tausend Pfosten (sahdsräcl yúpad, soll wol besagen, dass
der Gott auch das scheinbar Unmögliche leisten kann;
anders L. IV 328), „so löse von uns die Stricke" (para-
taktisches Gleichnis).
Vài. 6, 2: Wie du bei S a m v arta dich berauschtest,
wie bei K r ç a, so, Indra, berausche dich bei uns.
Sushäman: cf. o. Vili 24, 28.
Sobharï tritt uns Vili 22, 15 in kurzem Vergleich
als Verehrer der Açvinen entgegen, ebenso
Sthürayüpa als Lobsänger Agnis VIII 23, 24 und
der Añgirase Hiranyastüpa als Anbeter Savitars
X 149, 5.
Wir lernen eine stattliche Reihe mythischer und histo-
rischer Helden in unsern Gleichnissen kennen und müssen
nur bedauern, dass die wenigsten Bilder ausgeführt sind;,
die meist trockene Aufzählung der Namen sticht sehr ab
gegen die sonst so oft zu hohem poetischem Schwung sich
erhebende Sprache. Zum Teil können wir uns diesen Con-
trast daraus erklären, dass viele dieser Stellen späteren
und nicht den ältesten Liedern angehören. . Genaue Ana-
logien aus den griechischen Dichtern wird niemand für
diesen Abschnitt erwarten. Bei Homer werden sehr oft
312
Hirzel.
Götter mit Helden wie Nestor, Achill etc. verglichen, aber
wir haben in allen diesen Fällen an eine wirkliche Ver-
wandlung des betreffenden Gottes zu denken und von
einem Gleichnis im strengen Sinn des Wortes kann keine
Rede sein. Aus Hesiod weiß ich nur ein einziges histo-
risches Gleichnis anzuführen: frg. CLXIVb, wo Helenas
Ehebruch auf gleiche Linie mit Klytämnestras schänd-
lichem Gebaren gestellt wird : (¿g óè KXvTai/jlvr¡(íTQr¡ ttqoXi-
tiovgì AycifiéfJivova ôïov \ Aiyíüttbo naçéXsxio xaï sïXeio
X€ÎQOvcc xoírr¡v | W(T cEXévr¡ X¿x°£ ïciv&ov Msvsláov.
Häufiger werden von den Tragikern Gestalten der Helden-
sage zu Gleichnissen beniitzt: Ch. 831 f. wird Orest auf-
gefordert mit dem Mute des Perseus den Mord zu voll-
bringen. Or. 1404 wird Orest mit Odysseus verglichen,
1480 mit Hektor und Aias. Ant. 823 ff. vergleicht sich
Antigone mit Niobe, ä. Soph. El. 147 ff. Prom. 425 ff.
führt der Chor als Beispiel für die Schmerzen des Pro-
metheus die Qualen des Atlas an, Phil. 676 ff. vergleicht
er das Los des Philoktet mit Ixions Schicksal, Med. 1282 ff.
die Untat der Medea mit Inos Ermordung der eigenen
Kinder. In solcher Weise werden noch oft in den Tra-
gödien vom Chore Parallelen gezogen; Rappold 1. c. II
p. 5 ff. hat die Stellen zusammengetragen. Aus den we-
nigen Zeilen ergibt sich, dass die epische Erzählung Ho-
mers und Hesiods für solche Reflexionen keinen Raum fand,
während die lyrische Dichtung des Veda und der griech.
Tragiker sich erlauben durfte, ihre Blicke nach der Ver-
gangenheit zu richten und die Erinnerung an deren
Größen gern wachrief.
Nur wenige historische Gleichnisse des R. V. bleiben
uns noch anzuführen übrig: mit den Ahnen vergleichen
sich die Gottesverehrer IV 2, 16: wie unsere vormaligen
Väter das heilige Gesetz d. h. das Opfer in Tätigkeit
setzend, gingen zur Andacht die Lobpreisenden (ádha yätka
nah pitárah pdräsah pratnaso — rtám açushânah —) und VIII
40, 12: dem Indra und Agni wurde zugesungen nach
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
313
Väter-Art (pitrcád). Den Vergleich X 78, 3 cf. p. 161. —
Wie du, Indra, den alten Sängern (pürvebhyo jaritrbhyah)
zum Labsal gleichsam gereichtest, so rufe ich dich, lautet
der Refrain von I 175 und 176, v. 6, ä. VI 19, 4. Der
Opferer ruft VIII 38, 9 Indra und Agni wie die Weisen
(sie) riefen (yàthâhuvanta médhirâh). — Häufig wird endlich
durch die Formeln pratnavát, pürvavát u. ä. auf
frühere Zeit verwiesen: Ushas soll den Menschen leuchten
wie ehedem (pratnavát) VI 65, 6; Agni soll zum Opfer
kommen wie ehemals (pürvavát) I 31, 17; er strahlt wie
nicht zuvor (ápürvyam) III 13, 5 und hat sich wie ehedem
(pratnavát) mit neuem Glänze am Himmel ausgebreitet
VI. 16, 21. Indra soll der Menschen Führer sein yátha
pura I 129, 5; Kraft geht von ihm aus wie ehedem (¡çùshmà
yád as y a pratnákodírate II 17, 1); schlage unsern Feind wie
du in kühner Weise ehemals (ihn) schlugst, lesen wir II
30, 4; wie du die früheren Sornas trankst, so trink (sie)
heute: III 36, 3. Von Sorna heißt es: wie du zu den
früheren (Opferern) kamst, so kläre dich zu neuem Heile
IX 82, 5; X 76 3: sein Saft „entfernt Gebrechen" (? 30
L., der rapas liest, cf. V 331) wie er früher dem Menschen
Gang schuf (— viver apó yátha pura mánave gâtùm àçret)
Eine hübsche Uebereinstimmung mit diesen letzteren Ver-
gleichen finden wir im Griechischen: das homerische wç rò
nccQoç T18Q (z. B. X 250. i 340) entspricht obigen Formeln
ziemlich genau; auch Hesiod o. 184 bietet diesen Ver-
gleich. Von den Tragikern wird ebenfalls oft in den histo-
rischen Gleichnissen durch ein tiqóg&sv (Prom. 425), ttùqoç
(Med. 1282) u. Ae. auf die Vergangenheit verwiesen.
(Fortsetzung folgt.)
314
Bruchmann.
Beurteilungen.
Rudolf Kleinpaul. „Sprache ohne Worte." Idee
einer allgemeinen Wissenschaft der Sprache.
Leipzig, W. Friedrich. 1888. 456 S. XXVIII.
Denkt man bei Sprache ohne Worte zunächst an Ge-
berdensprache, so könnte mancher Leser dieser Zeitschrift
in obigem Buche eine Fortsetzung von Kleinpauls wert-
vollem Aufsatz (diese Zeitschrift, Bd. VI, S. 353 if.) ver-
muten. So indessen ist die Sache nicht. Sondern der
Verfasser wendet sich hier einem sehr viel umfassenderen
Gebiete zu, indem er „Sprache" im weitesten Sinne als
Ausdruck oder äußeres Zeichen eines zu Grunde liegenden
Gedankens oder innerer Bedeutsamkeit betrachtet und be-
handelt. Um dies zu können, sind nicht nur die mannig-
fachsten Kenntnisse aus Büchern, sondern auch Beobach-
tungen der Welt und ihres Treibens erforderlich, durch
welche der Veriasser ebenso anziehend ist, wie durch die
glatte, flüssige Darstellung. Das Ganze gliedert sich in
drei Bücher. Im ersten Buch, S. 1—208 handelt er von
„Sprache" ohne Absicht der Mitteilung und Gedanken-
austausch. Erstes Capitel. Kritik der Weltsprache. Sym-
bolik. Divination. Traumsprache. Zweites Gesicht der
Schotten. Zweites Capitel. Sprache des Angesichts. Die
leiblichen Analogien. Leib und Seele (das heißt wie von
Aeußerem auf Inneres zu schließen sei). Nationalität
und Rasse. Stand und Profession (Gewerbekrankheiten).
Erfahrungen und Schicksal schon im Aeußeren des Men-
schen erkennbar. Kleidung. Drittes Capitel. Sprache
der Mienen und Geberden, Interjektionen, Lachen und
Weinen; der Kuss. Die Selbstbeherschung. Zweites
Buch, 211—353. Sprache mit Absicht der Mitteilung,
aber ohne Gedankenaustausch. Erstes Capitel. „ Ein
Schritt vorwärts. Die Reveille." Officielle Widerholung
Beurteilungen.
315
natürlicher Geberden. Beredtsamkeit des Marmors. Pla-
stische Zeichen der G-esinn ungen (Händedruck, Ver-
neigung, Niederknien). Drittes Capitel. Beibringung von
Tatsachen. Rhetorische Kunststückchen, Populäre Argu-
mente, Officielle Acte. Viertes Capitel. Die Wahl von
Bildern. Bildersprache des Volkes. Bilder gewählt, um
die Wahrheit eindringlich zu machen oder auch nicht ge-
rade heraus zu sagen; Blumen- und Briefmarkensprache.
Fünftes Capitel. Significative Waffen und Kleidungsstücke.
Fächer- und Handsclmhsprache. Stehende, freiwillige und
aufgezwungene Abzeichen. Uniformen, Orden und Grad-
abzeichen. Wappen und Aushängeschilder. Drittes Buch.
Sprache mit Absicht der Mitteilung und mit Gedanken-
austausch. Erstes Capitel. Die entwickelte Sprache. Panto-
mimen und Hieroglyphen des Volkes. Zweites Capitel.
Die vernünftige Geberdensprache. Wilde, Taubstumme,
Mönche. Drittes Capitel. „Wieso ich dies schreibe". Die
alte Bilderschrift , ihr Uebergang zur Buchstabenschrift.
Das griechisch-pliönizische Alphabet. Die lateinische Schrift
in Deutschland. Viertes Capitel. Unsere angeborenen
Ziffern (die Hand). Sachregister 449—456.
Der Leser sieht, dass es ihm hier etwa ergeht, wie
Petrus Act, Apóstol. X, 12 et descendens vas quoddam,
velut linteum magnum ... in quo erant omnia quadru-
pedia et serpentia terrae et volatilia caeli: aber er kann
getrost zugreifen, um von dieser mannigfaltigen Speise
nach Belieben zu genießen.
Da die psychologisch-anthropologische Absicht des
Verfassers durch Skizzirung des Inhalts hinlänglich klar
sein dürfte und die Fülle der Einzelheiten eine annähernd
erschöpfende Aufzählung nicht gestattet, so bleibt dem
Referenten nur übrig, ein paar davon auszuwählen, welche
ihm gerade auffällig schienen und dann noch in Kürze die
allgemeine Anschauung, die sich ihm aus der Lektüre des
Buches ergab, anzudeuten.
316
Bruchmann.
Von der Logik des Aberglaubens finden wir S. 24 ein
Beispiel. Die zwei rundlichen nebeneinander sitzenden
Knollen des sogen. Knabenkrautes haben seit alter Zeit an
zwei Hoden erinnert. Aus diesem Grunde waren jene
Knollen lange Zeit als specifische Mittel bei Hodenbrüchen
und als geschlechtliche Reizmittel, sogen. Heiratswurzeln^
im Gebrauche (vgl. diese Zeitschrift, XVIII, 105). Der
Myrtenkranz (S. 29) solle nicht ursprünglich die Jungfrau-
schaft bezeichnen, sondern „dass das junge Weib bereit
ist, auf dem Altar der Liebesgöttin die Jungfrauschaft zu
opfern". Das Hermelin (S. 33) sei durch eine Metapher
zu seinem guten Ruf gekommen. Man fabelte nämlich,
dass es lieber sterbe als sich beschmutze. Diese körper-
liche Reinlichkeitsliebe wurde dann auf die der Seele über-
tragen und so das Hermelin auch allegorischen Figuren der
Keuschheit beigegeben. Verfasser behauptet auch seiner-
seits, dass die buckligen Menschen meist klug oder geist-
reich sind (105); in Spanien ist der hinkenden Frau durch
das Sprichwort wenigstens der Vorzug eingeräumt, dass
sie „eine besondere sexuelle Virtuosität besitzt". Wie die
Menschen haha, hoho, hihi, liehe lachen, so meinte der
Papst Innocenz III. (S. 124), dass die neugeborenen Kinder
über die Erbsünde weinen, die Knaben wimmern A, die
Mädchen E, jene liber Adam, diese über Eva.
Die Spuren, welche Handwerks-Beschäftigung am
Körper ausbildet, behandelt Kleinpaul S. 141 f. Dass schon
die Stirn beredt sein kann, lehrt der Kaiser Marc Aurel
(S. 145), der einem Gesandten, welcher ihm einen Vortrag
halten sollte, sagte: ich habe deine Rede schon gehört; deine
Stirn sagt alles. Zu der künstlichen Haut des Menschen
(der Kleidung) gehört auch die geschätzte Kravatte; Klein-
paul erzählt uns, dass sie nach den Kroaten benannt sei,
die sie unter Ludwig XIV. in Frankreich in Mode ge-
bracht haben (S. 151).
Verfasser kann trotz seines Themas die Sprache mit
Worten nicht umgehen (8. 168 f.) und hält (wie auch mir
Beurteilungen.
317
scheint) Flüche und Schwüre für Ausdrücke, welche sich
nur äußerlich von Interjektionen unterscheiden (Wandt,
Essays, 1885, S. 112); die Vermutung, dass st! (unser
Ruf) mit der Wurzel sta zusammenhänge (S. 176) ist
schon öfter gemacht und nicht unangefochten geblieben.
Ueber das Wesen des Kusses kann sich der natura-
listisch gestählte Leser (S. 197) unterrichten. Ob der
freundschaftliche Kuss schon Formel geworden ist in jener
Aufforderung Klopstocks an Gleim (16. Juni 1750, S. 242)
„vergessen Sie nicht, zu mir auf einen Kaffee und auf
einen Kuss zu kommen", bleibe dahin gestellt Doch wird
man an die „Dankeszähre" erinnert, welche im XVIII.
Jahrhundert in Dankbriefen sogar bei den ausgezeich-
netsten Männern fließt.
Verfasser ruft (S. 358) „mit Goethe und anderen Ster-
benden" mehr Licht! Soviel mir bekannt, ist dieser
Ruf Goethes nicht verbürgt, sondern er habe so etwas
gesagt, wie „rückt mir das Licht näher". Aber wäre er
auch verbürgt, so wiisste ich nicht, was es heißen soll.
Sollen wir glauben, dass Goethe die ihm bald bevorstehende
Veränderung durch „mehr Licht" charakterisirt hat? Kurz,
ich finde diese Formel, welche mit so viel Vorliebe auf
alle möglichen Dinge, sogar von den Spiritisten, angewendet
wird, nur dann erlaubt, wenn wir sie nicht mit Goethes
Namen decken, sondern auf eigene Faust mehr Licht
suchen. Sie scheint mir sonst zum abergläubischen Zauber-
spruch zu werden, bei welchem nichts zu denken ist.
Des Verfassers Darstellung der Schrift, S. 398 f., 410 f.
ist hervorzuheben. Nur weiß ich nicht, was er meint (S. 390)
„wie würde er sich erst wundern, wenn er hörte, dass
alles, was wir heute in Europa Schrift nennen, den Kari-
katuren, womit Narrenhände Tisch und Wände be-
schmieren, seinen Ursprung dankt". Da er S. 442 die
indischen Ziffern gibt, so wundere ich mich, dass er S. 8
sagt, „was die arabischen Ziffern, die angeblich ein Inder
erfunden hat, anbelangt" . . . denn meines Wissens sind
318
Bruchmann.
doch die Ziffern den Arabern erst von den Indern gekom-
men. Ferner glaubt er S. 412 nicht recht daran, dass die
Phönizier die Schrift von den Aegyptern gelernt haben.
Auf S. 429 f. gibt er eine Tabelle der Buchstaben, indem
er ihre ursprüngliche hieroglyphische Gestalt und neue
aus den Buchstaben entstandene Zeichen beschreibt, Gegen-
stände, auf welche der Name des Buchstabens übertragen
ist, und Nationen, denen der Buchstabe abgeht, anführt.
So sagt man z. B. in Italien von einem Manne, der einen
großen, dicken Bauch hat, somiglia un B u. s. w.
Mir machen diese reichhaltigen Zusammenstellungen
den Eindruck, als habe den Menschen ein unvertilgbarer
Drang inne gewohnt, auch außer der Wortsprache alle nur
möglichen Dinge bedeutungsvoll und „sprechend" zu machen;
d. h. um sich mitzuteilen, war der Mensch über die Wort-
sprache hinaus höchst erfinderisch. Dieser Mitteilungs-
drang hat sein Gegenstück in der weit ausgebildeten Fähig-
keit und Neigung des Auffassenden, welcher etwas er-
kennen will, schnell, auf verschiedenste Art, nach bisheriger
Erfahrung, ohne erst viel Worte abzuwarten, schon aus
der äußern Erscheinung. Endlich scheinen mir manche
Ausdrucksformen danach eingerichtet, dass sie bequem
sind, namentlich Geberden. Eine Mitteilung soll also mit
möglichst geringer Kraft und möglichst großer Bequem-
lichkeit, nach dem Princip des kleinsten Kraftmaßes ge-
schehen.
K. Bruchmann.
Karl Lange, Dr., Director der ersten Bürgerschule zu
Plauen i. V. Ueber Apperception. Eine psycho-
logisch-pädagogische Monographie. Dritte völlig umge-
arbeitete und vermehrte Auflage. Plauen, F. E. Neu-
pert. 1889.
Dieses Buch scheint mir mit Recht zum dritten Male
aufgelegt zu sein und einem guten Bedürfnisse zu eut-
Beurteilungen.
319
sprechen. Hat es, namentlich gegen seine erste Form, eine
bedeutende Erweiterung erfahren, so ist seine Haupt-Ab-
sicht doch dieselbe geblieben, nämlich „an einem interes-
santen psychologischen Hauptstücke zu zeigen, wie den
Begriffen und Gesetzen der Seelenlehre die fruchtbarste
Anwendung auf pädagogischem Gebiete gesichert, wie die
graue Theorie in lebendige Tat umgesetzt werden könne".
Der erste Abschnitt heißt : die Lehre von der Apper-
ception, eine psychologische Untersuchung; in seinen vier
Abschnitten werden behandelt Wesen und Arten der Apper-
ception, ihre Bedingungen, ihre Bedeutung für die geistige
Entwicklung, ihre Geschichte seit Leibniz (Kant, Herbart,
Lazarus, Steinthal, Wundt). Der zweite Abschnitt gibt
die Anwendung der Apperception auf die Pädagogik. Zum
Object der Apperception gehört die Auswahl und Anord-
nung des Lehrstoffes, zum Subject der Apperception die
Erforschung, Erweiterung und Verwertung der kindlichen
Erfahrung, beides muss beim Lehren zweckmäßig verknüpft
w erden.
Keiche Erfahrung, Liebe zur Sache, Abwesenheit der
Phrase und Besonnenheit des Urteils machen die Schrift
erfreulich und nützlich. Folgen wir dem Verfasser in ein
paar Einzelheiten.
Da ich nicht im stände bin, die verschiedenen Defi-
nitionen von Apperception unter einen Hut zu bringen und
da des Verfassers Zweck wesentlich ein praktischer ist,
so wende ich mich hauptsächlich dem letzteren zu. Ver-
fasser scheint mir richtig zu bemerken, dass nicht jede
Perception eine Apperception sei (9), er spricht von einer
passiven und aktiven Apperception (11 u. 14) und räumt,
wie mir scheint richtig, dem Willen einen gewissen Ein-
fluss auf die Apperception ein, wenn er S. 40 bemerkt,
dass Mängel der Intelligenz nicht selten Fehler des Wil-
lens sind. Apperception definirt er (32) als „diejenige see-
lische Tätigkeit, durch welche einzelne Warnehinungen,
Vorstellungen oder Vorstellungsverbände zu verwandten.
320
Bruchmann.
Producten iinsres bisherigen Vorstellung^- und Gemüts-
lebens in Beziehung gesetzt, ihnen eingefügt und so zu
größerer Klarheit, Begsamkeit und Bedeutung erhoben
werden".
Näher lässt sich an der Wirkung der Apperception
noch Folgendes unterscheiden. Die Apperception beseitigt
oft ein Unlustgefühl (13), schwache Perceptionen werden
durch sie im Bewusstsein festgehalten (18), sie erleichtert
und entlastet die Seele wesentlich bei Erwerbung neuer
Anschauungen und erspart der Seele Kraft für andere
Zwecke (76. 77). Verfasser beruft sich bei dieser Gelegen-
heit auch auf Avenarius und ich freue mich, hierin mit
ihm auf gleichem Wege zu sein (Psychol. Studien zur
Sprachgeschichte 177 f.). Die Kinder wie die Völker be-
ziehen das Neue auf Altes, so dass das Alte, namentlich
wenn es sprachlich fixirt ist, zum Organ des Geistes wird,
um das Neue zu bewältigen (42, 43); ja das Alte, kann
man hinzufügen, wird sprachlich oft festgehalten, obgleich
es veraltet ist.
Apperceptionsfähigkeit erzeugt nun der Unterricht,
wenn er das Nachfolgende durch das Vorangehende ver-
ständlich zu machen sucht (132). Alles Lernen ist apper-
cipiren (120); Ziel des Unterrichts (65), den Zögling mehr
und mehr apperceptionsfähig, d. h. selbständig zu machen.
Somit darf die Apperception nicht dem Zufall überlassen
werden (122), der vorhandene Gedankenschatz des Schülers
muss erforscht werden (157) und man muss sich durchaus
hüten, zu viel bei ihm vorauszusetzen. Merkwürdig genug
ist z. B. folgende statistische Tatsache. Von 500 Schülern
aus 33 vogtländischen Schulen hatten 82°/0 Stadtkinder
keine Vorstellung vom Sonnenaufgang, 77 °/0 keine vom
Sonnenuntergang, 37°/0 hatten kein Kornfeld, 49% keinen
Teich, 80% keine Lerche, 82°/0 keine Eiche gesehen, 37°/0
waren noch nicht im Walde gewesen, 52°/0 auf keinem
Berge, 50°/0 noch nicht in der Kirche, 57°/0 in keinem
Dorfe, 72°/o konnten nicht angeben, wie aus Getreide Brot
Beurteilungen.
321
entsteht, 49°/0 wussten noch nichts vom lieben Gott (156).
Tatsachen müssen für die Kinder in Probleme verwandelt
werden (197), was an sich nicht Interesse erregt, muss in
den Dienst eines interessanten Zweckes gestellt werden.
Man sieht, dass der Verfasser damit z. B. an Rousseau
erinnert. Populär könnte man auch sagen, dass der
Lernhunger (welcher ja leider keineswegs andauernd und
lebhaft genug zu sein pflegt) künstlich erregt werden
muss, und dass es herrlich wäre, wenn wir allemal in den
Kindern erst das Bedürfnis hervorbringen könnten, welches
durch den Unterricht befriedigt werden soll. Ein meines
Wissens als Schriftsteller ziemlich vergessener Pädagoge
möge hier Erwähnung finden, zumal seine Ansicht über
die Heimatskunde sich vielfach mit der des Verfassers
berührt. Fr. Fröbel nämlich sagt, man solle etwas aus
dem Menschen herausbringen, nicht in ihn hinein (S. 376.
430 seines Buches „Die Menschenerziehung u. s. w. dar-
gestellt von dem Stifter, Begründer und Vorsteher der Er-
ziehungsanstalt zu Keilhau, Fr. Willi. Aug. Fröbel. Erster
Band ,Keilhau 1826). Somit muss sich der Unterricht in jeder
Beziehung (auch auf ethisch-religiösem Gebiet) möglichst
an die Erfahrung der Kinder anschließen (183. 191) und
sie werden mit Vorliebe ihre eigenen Erfahrungen zum
besten geben, wenn es gilt, fremde Erscheinungen nach
Analogie der bekannten zu begreifen (173).
Ungemein wichtig ist daher die Pflege der Heimats-
kunde im weitesten Sinne (159 f. 172. 175), wie mir in
Fröbels Buch am wertvollsten die ähnliche Anweisung er-
scheint, die Kinder auf die Außenwelt durch Anschauung
und Wort aufmerksam zu machen (z. B. 362 f. 130 f.).
Von Zillers „Stufen" (Verf. 124 f.) habe ich eine noch
ungünstigere Meinung, so etwa wie 0. Hubatsch (Gespräche
über die Herbart-Zillersche Pädagogik, Wiesbaden 1888).
Ist nun die Heimatskunde im weitesten Sinne die
Hauptsache und nicht an eine einzige Stufe des Unterrichts
gebunden, so kommt daneben der Reihe nach (134 f. 143 f.)
322
Bruchmannn.
die Bibel, deren erste Geschichten im Alten Testament
sich freilich nicht für den Beginn des Unterrichts eignen
(140), das deutsche Volksmärchen, die deutsche Helden-
sage, hellenische Sagen, die deutsche Geschichte. Das Er-
gebnis für das Subject der Apperception fasst Verfasser
S. 188 zusammen. Er schematisirt den Gang des Unter-
richts seinerseits so (214): Stufe der Vorbereitung (Ana-
lyse), der Darbietung (Synthese), der Verknüpfung (Asso-
ciation), der Zusammenfassung (System), und Anwendung
(Funktion, Methode). Also erst gründliche Anschauung,
dann denkendes Verknüpfen, endlich praktische Verwertung
des Gelernten.
Die Kinder sollen zu Menschen gebildet werden : sehen
wir uns also noch an, was der Verfasser Bildung nennt.
Ungefähr mag es stimmen mit Goethes trefflicher Be-
merkung (Sprüche in Prosa V): sich mitzuteilen ist Natur;,
Mitgeteiltes aufzunehmen, wie es gegeben wird, ist Bil-
dung. Nur da sei (78) Bildung vorhanden, wo ideale Nor-
men auf dem Gebiete des Wissens und Denkens, Fühlens
und Wollens appercipirend sich betätigen, wo sie den psy-
chischen Mechanismus heherschen. Der Weg zum Mit-
gefühl führe aber durch die Apperception, die Bereicherung
und Vertiefung des Gemütslebens sei meist gleichbedeutend
mit der Forderung der sittlichen Gesinnung, des Wollens
(73). In der Tat: Ziel der Bildung ist die Fähigkeit teil-
zunehmen an dem Empfinden, Wissen und Wollen eines
andern Geistes. Nicht dass jemand viel weiß, über allerlei
Dinge ein paar Brocken mitreden kann, mit wenig be-
kannten Kunstausdrücken aus den verschiedensten Gebieten
der Wissenschaften und Künste um sich wirft, ist das
Wesen der Bildung (Humanität), sondern in der Vereini-
gung mit andern liegt sie. Sie bleibt ein leerer (darum
aber auch so beliebter; Schall, wenn dem einen Menschen
die Fähigkeit abgeht, dem andern nachzuempfinden. Bil-
dung ist die erste Bedingung für Gerechtigkeit und ver-
fährt nach dem trivialen aber wahren Grundsatz „was
Beurteilungen.
323
dem einen recht ist, ist dem andern billig". Wer zu be-
merken glaubt, dass gegen diesen Grundsatz häufig und
roh verstoßen wird, muss es als eine besonders wichtige
Aufgabe der Erziehung betrachten, die Heranwachsenden
auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit aufmerksam zu
machen. Du hast dich roh, unpassend u. s. w. betragen,
so denke dir, wie dir zu Mute wäre, wenn ein anderer
sich so gegen dich betragen hätte. Kurz die Fähigkeit
und Pflicht, sich in die Lage des andern zu versetzen und
mit ihm zu empfinden, muss in den Schulen sorgfältig ge-
pflegt werden. Man sehe sich um, wie groß die Zahl der
„Gebildeten" ist und wie oft sie ihr Verhalten nach dem
beliebten Schema einrichten „ja Bauer, das ist ganz was
andres". Es ist freilich richtig, was Schiller sagt (Literar.
Nachlass der Frau Caroline v. Wolzogen, Leipzig 1848.
I 251) „auf das Vergebenmüssen kommt man doch am
Ende immer mit den Menschen, aller Umgang miisste
sonst aufhören" und „Intoleranz gegen andere Menschen
ist eine Klippe, an der besonders gerne die Menschen von
Charakter und zarten Gefühlen scheitern" (ib. I 212); aber
eben darum sollten die Fälle, wo man vergeben muss,
möglichst eingeschränkt werden und keinem Stande braucht
jener beste Teil der Bildung, der sittliche Takt, zu fehlen.
Charakter und zarte Gefühle sind freilich für das Wol-
befinden dessen, der sie hat, eine zweifelhafte Mitgabe;
aber lassen sich ja ohne jede Gelehrsamkeit erwerben und
gedeihen vielleicht besser ohne diese. Dalier wird jener
„Bauer", der es anders erwartet hatte, mit seinem Staunen
recht haben und wäre jener Sinn für Gegenseitigkeit und
Gerechtigkeit bäuerisch, so könnte man nur wünschen, dass
diese bäuerische Gesinnung recht gepflegt wird und Fort-
schritte macht.
K. Bruchmann.
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 2/3. 22
324
Bruchmann..
Victor Henry (Chargé de cours à la Faculté des Let-
tres de Paris). Kalidasa. Agnimitra et Mala-
vi ka, comédie en cinq actes et un prologue mêlée de
prose et de vers traduite du sanscrit et du prâcrit.
Paris, Maisonneuve et Ch. Ledere, 25 Quai Voltaire.
1889.
Prof. Henry hat sich schon mehrfach durch seine ge-
diegenen sprachwissenschaftlichen Arbeiten bewährt. So
verdanken wir ihm eine Reihe von „esquisses morpho-
logiques" (z. B. le subjonetiv latin, Douai, 1885, le nomi-
natif-accusatif pluriel neutre dans les langues indo-euro-
péennes, Douai, 1887), welche sich durch gründliche Kenntnis,
Scharfsinn und ebenso klare wie anregende Darstellung
auszeichnen. Ferner lieferte er zwei Uebersetzungen:
Moudräräkchasa, le sceau de Rukchasa, drame en 7 actes
de Viçakhadatta, 1888 und Trente stances du Bhoininî
Vilâsa accompagnées de fragments du commentaire inédit
de Manirama 1885 (Sanskrittext mit Uebersetzung). End-
lich liegt neuerdings ein Werk von ihm vor, weiches mit
entschiedenem Beifall aufgenommen ist: Précis de gram-
maire comparé du grec et du latin. Paris, Hachette, 1888.
Da man gezweifelt hat, ob unser Stück dem Kalidasa
zuzuschreiben sei, so begründet Henry in der Vorrede seine
Ueberzeugung, dass es in der Tat ein Werk jenes Dich-
ters ist, wahrscheinlich jedoch sein erstes oder eines seiner
ersten (VI), jedenfalls sei es des Kalidasa nicht unwert.
Mir scheinen die dem Stück vomUebersetzer nachgerühmten
Vorzüge durchaus begründet. Er nennt es (VIII) zugleich
naiv wie ein Idyll des Theokrit und kunstvoll wie eine
Komödie Shakespeares. An diese erinnert die eigentüm-
liche Mischung von Romantik und Wirklichkeit und, was
sonst meines Wissens dem indischen Drama nicht eigen
ist, der Humor. Diese drei Dinge machen denn auch das
Stück zu einer sehr angenehmen Lektüre. Der Ueber-
setzer, an dessen grammatischer Genauigkeit nicht zu
Beurteilungen.
325
zweifeln ist, liât aber mehr gegeben als eine wörtlich ge-
treue Uebersetzung.1 Denn er ahmt (wie mir scheint aufs
glücklichste) den poetisch-ästhetischen Reiz jener orienta-
lischen Poesie mit aller Kunst seiner Sprache nach und
seine Verse machen überall den Eindruck einer spontanen,
nicht erzwungenen Leistung. Jedem Abschnitt des Stückes
folgen kurze, aber erschöpfende, erläuternde Anmerkungen.
Reichen diese wenigen Bemerkungen hin, um das Buch in
jeder Beziehung zu empfehlen, so wird dem Leser vielleicht
erwünscht sein, etwas über den Inhalt des Dramas zu
hören. Ein indischer König,2 umschwärmt von mehreren
Exemplaren des ewig Weiblichen, welche alle (aus Neigung
oder Devotion) seine Gunst als höchstes Glück betrachten
wirft sein Kennerauge auf eine Dienerin, Malavika. Sich
ihr zu nähern gelingt nach mancherlei verdrießlichen
Hemmungen hauptsächlich mit Hilfe seines Vertrauten
Gautama, welcher gelegentlich Schildwache steht, p. 76.
Am meisten fühlen sich dabei die Königin Dharini beein-
trächtigt und Ira vati, welche sich bisher der königlichen
Gunst besonders zu erfreuen hatte. Auch ist Malavika
ja nur Dienerin, wie kann sie also an die Seite des Königs
erhoben werden? Aber Dharini hat bereits einen erwach-
senen Sohn, ist also selbst nicht mehr ganz jung, und
Iravati muss sich in den Wechsel alles Irdischen fügen,
zumal bekannt wird, dass Malavika eine verkappte Prin-
zessin ist. Der König braucht nun nicht mehr wie Ovid
(Amor. II, 8) seine Liebe zur Dienerin weit von sich zu
weisen :
Quid, quod in ancilla siquis delinquere possit,
illum ego contendi inente carere bona?
Sondern er könnte sagen:
1 Eine solche besitzen wir von unserem Meister A. Weber,
Berlin, F. Dümmler, 1856.
2 II a le coeur tendre comme du beurre frais p. 54.
22*
326
Bruchmann.
Thessalus ancillae facie Briseïdos arsit:
serva Mycenaeo Phoebas amata ciuci.
Nec sum ego Tantalide maior, nec maior Achille.
Quod decuit reges, cur mihi turpe putem?
Am Hofe des Agnimitra findet man sich in folgender
Moral zusammen:
aux pieds de leur seigneur se donner des rivales,
c'est le devoir pieux des épouses royales:
tel un généreux fleuve apporte au Roi des eaux
le tribut éternel de cent et eent ruisseaux.
Damit ist auch jene niedliche, einer mannigfaltigen
Anwendung fähige, Meinung beseitigt (p. 22):
vous savez qu'entre bons confrères
l'usage veut qu'on soit jaloux.
Zusatz.
Unterdessen erschien eine fünfte morphologische Unter-
suchung: Les infinitifs latins, Paris, Ernest Thorin, Eue
de Médicis 7. 1889. Mir scheint, dass wir dafür dem
rastlosen Scharfsinn des Verfassers zu besonderem Danke
verpflichtet sind. Ist seine Methode und Darstellung eben
so zu rühmen, wie früher, so zeichnet sich die neue Ab-
handlung durch Fülle der Ergebnisse und Anregungen be-
sonders ans. Daher sei eine kurze Andeutung des Inhalts
gegeben. Verfasser erschließt einen Infin. fier neben fieri.
Wie es Locative ohne Endung gibt, so ist auch fier ein
solcher. Nach Analogie von fier ist gebildet capier u. s. w.
Verfasser beantwortet die Frage, warum es nicht (wie
fier) auch caper, veher gibt, warum aus dicier nicht dïcîr
geworden sei. Zum Schluss gibt er eine Uebersicht über
die gesamten Infinitiv-Bildungen des Lateins, welche höchst
überraschend ist. Vgl. zur Sache Misteli diese Zeitschrift
XV, 458 f. XIV 326 f.
K. Bruchmann.
Beurteilungen.
327
Dr. Heinrich v. Eicken, Staatsarchivar in Anrieh. Ge-
schichte und System der mittelalterlichen
Weltanschauung. Stuttgart, Cotta, 1887.
Das vorliegende Werk ist nicht nur für das Gebiet
der Kulturgeschichte von außergewöhnlicher Bedeutung: es
steht auch, ohne dass es den festen Boden methodischer
Quellenstudien und sorgfältiger Ergriindung des Tatsäch-
lichen jemals verließe, durchweg auf jener Höhe, wo die
historische Betrachtung zur Philosophie wird. Es bietet
eine Ideenge schichte im weitesten Sinne des Wortes und
gehört somit durchaus in den Kreis der Anschauungen und
Bestrebungen, welchen diese Zeitschrift gewidmet ist; es
ist nach Inhalt und Methode eine wesentliche Bereiche-
rung derselben.
Der Verfasser hat freilich, wie es der Augenschein
lehrt, seine nächste Anregung nicht von der Völkerpsycho-
logie, noch überhaupt von der Philosophie empfangen. Er
ist Historiker, und die Zusammenstellung der bisherigen
Auffassungen seines Problems, welche das Vorwort enthält,
ist ausschließlich der geschichtlichen Litteratur entnommen.
Was H. v. Sybel in der „Geschichte der Kreuzzüge « über
den Einfluss der Askese bemerkt, das erscheint hier in einer
umfassenden Verallgemeinerung. Deutlich treten fern er in ein-
zelnen Teilen des Werkes die Spuren Rankescher Geschichts-
auffassung hervor, namentlich da, wo die Eigenart der ver-
schiedenen Nationalitäten und ihre Bedeutung für den Ent-
wicklungsprocess, den das Buch schildert, in Betracht kommt.
Daneben aber zeigt die allgemeine Anschauungsweise des Ver-
fassers eine ganz auffallende Annäherung an Hegeische Ge-
sichtspunkte und Ideen : ob sie einem direkten Studium, oder
ob sie einer der zahlreichen mittelbaren Nachwirkungen
Hegelscher Philosophie entspringen, lässt sich schwer beur-
teilen. Doch möchte man das erstere annehmen; jedenfalls
zeigt z. B. die Einleitung bis in die Terminologie hinein jenes
Abhängigkeitsverhältnis, wenn es daselbst heißt: „Die
Gegensätze der antiken und der mittelalterlichen Geschichte
328
Rud. Lehmann.
finden ihre Auflösung in der Kultur der Gegenwart. Die
letztere ist die Synthese der beiden ersteren."
Auf die Methode des Buches aber und den Gedanken-
gang- im Einzelnen ist die Hegeische Geschichtsphilosophie
ganz ohne Einfluss geblieben. Ueberhaupt sind es, wie
schon gesagt, nicht die in der Einleitung ausgesprochenen
allgemeinen Anschauungen und Ideen, welche die Eigenart
und den Gang der Untersuchung bestimmen. Vielmehr
geht Eicken von einem ganz bestimmten Problem aus, das
sich ihm allmählich zum leitenden Gesichtspunkt für die
Auffassung der mittelalterlichen Kulturgeschichte gestaltet
hat. „Ursprüglich", sagt er im Vorwort, „war es meine
Absicht, den Nachweis zu liefern, dass die beiden in der
Kirche des Mittelalters sich mit gleicher Macht hervor-
drängenden Bestrebungen der Weltverneinung und der
Weltbeherscliung, welche doch völlig entgegengesetzter
Natur zu sein und sich gegenseitig auszuschließen scheinen,
ihrem Wesen und Zweck nach eins waren, dass der Ueber-
gang von der weltflüchtigen Lehre des Christentums zu
der weltherschaftlichen Politik des römischen Papsttums
von dem Augenblicke an. in welchem die Kirche als eine
sacramentale Heilsanstalt begriffen wurde, ein logisch not-
wendiger Vorgang war, dass demnach die Machtanspriiche
der mittelalterlichen Hierarchie ihren Grund keineswegs
in der Willkür einzelner Persönlichkeiten, sondern in der
Logik des religiösen Systems hatten". (S. 1). „Unter der
Arbeit nun wuchs mir das Material zu einer größeren
Ausdehnung an, als ich anfänglich geahnt hatte. Da
meine Frage den innersten Kern der mittelalterlichen
Weltanschauung berührte, so wäre die Behandlung der-
selben ohne die Darstellung der letzteren nicht verständ-
lich gewesen. Darum erweiterte sich meine Aufgabe bald
zu einer Geschichte der mittelalterlichen Weltanschauung.
Ich machte den Versuch, die christliche Weltanschauung
in ihrem ganzen Entwicklungsprocess zu verfolgen, von
ihrer Vorgeschichte im Altertum, ihrer Ausbildung und
Beurteilungen.
329
Vollendung in der classischen Zeit des Mittelalters bis zu
ihrer Auflösung am Ausgange des letzteren. An das
eigentliche Thema meiner Arbeit schloss sich also einer-
seits der Umsetzungsprocess der antiken Weltanschauung
in die mittelalterliche und andererseits der Umsetzungs-
process der letzteren in die moderne an." (S. XI f.)
Dem ersten dieser „Umsetzungsprocesse", der Ent-
stehung der mittelalterlichen Weltanschauung, ist der
erste Teil des Werkes gewidmet. „Der Ausgangspunkt";
so fasst Eicken den Inhalt dieses Abschnittes zusammen
(S. 1), „der antiken Völker war die nationale Staatsidee.
Die letztere begrenzte zunächst das Gebiet der antiken
Cultur, sie war der beherschende Gedanke der Politik,
wie der religiösen und sittlichen Vorstellungen. Jede Na-
tion betrachtete sich, beziehentlich ihr Staatsgebiet als das
Centrum des Erdkreises. Die Geschichte der Römer war
im wesentlichen ein politischer, die der Griechen ein ästhe-
tisch-philosophischer, die der Juden ein religiöser Process."
Die mittelalterliche Weltanschauung nun ist nicht
dentiseli mit der christlichen Erlösungslehre, sie entspringt
vielmehr einer ganz bestimmten Wendung, welche diese
Lehre unter dem Einfluss äußerer Umstände angenommen
hat. „Die wissenschaftliche Forschung", sagt Eicken
(S. IV), „ist sich über diese Frage keineswegs klar gewor-
den, indem dieselbe die Lehre des ursprünglichen Christen-
tums als Maßstab für die Beurteilung der mittelalterlichen
Hierarchie anzunehmen pflegt, ohne die Wendung, welche
durch die Entstehung der Kirche in der Geschichte des
Abendlandes eingetreten war, genügend zu berücksich-
tigen." Die „Weltverneinung" freilich ist einer der am
tiefsten wurzelnden Grundzüge auch des ursprünglichen
Christentums. Sowol die transcendenten Gesichtspunkte,
unter denen die christliche Erlösungslehre das Leben und
die Welt anschaut, als die Nachwirkung, welche die Per-
sönlichkeit des Stifters auf die Bekenner seiner Lehre
ausübte, vereinigten sich, um das christliche Ideal der
330
End. Lehmann.
Lebensführung zu einem asketischen zu gestalten. „Wie
Christus sieh freiwillig ans Kreuz schlagen ließ, so sollten
die Menschen ihre irdische Existenz dem Erlöser zum
Opfer bringen, indem sie allen zeitlichen Interessen ent-
sagten und ihr Leben zu einem Martyrium gestalteten"
(S. 107). Ein neues und entscheidendes Moment jedoch
trat in die Entwicklung der jungen Religion hinein, als
die von außen bedrängende gewaltsame Unterdrückung und
die von innen drohende Gefahr fortgesetzter Spaltungen
zur Aufrichtung eines besonderen priesterlichen Amtes
nötigte, in welchem von nun an die Gemeinschaft der
Gläubigen ihren festen Mittelpunkt finden sollte. Es ent-
stand nunmehr „die sacramentale Heilsanstalt der Kirche,
welche den Besitz und die Verwaltung der göttlichen
Gnadenmittel dem Priestertum vorbehielt." Vom Beginn
des zweiten Jahrhunderts an lässt sich der Entwicklungs-
process verfolgen, bis er um die Zeit der Annäherung des
Christentums unter Constantin seinen Abschluss fand. „Diese
Entwicklung bildete den entscheidenden Wendepunkt in
der Geschichte der christlichen und der abendländischen
Cultur, indem mit der Entstehung derselben die welt-
flüchtige Askese des Christentums ein positives weltliches
Princip in sich aufnahm. Der Begriff der Kirche hatte
sich zu dem des Priestertums verengt. Seitdem war die
Kirche zu einer Vermittlungsanstalt zwischen Gott und
Menschheit geworden. Die Kirche war das Reich Gottes
auf Erden, der Leib Christi oder wie Chrysostomus sagte,
„die Kirche ist Gott" (S. 119). Hiermit waren die beiden
Pole gegeben, um welche sich die christlich katholische
Weltanschauung von nun an bewegte. „Der metaphysische
Dualismus von Gott und Welt war von jetzt ab gleich-
bedeutend mit dem Dualismus von Kirche und Welt.
Demnach mussten alle irdischen Einrichtungen sich der
Kirche unterwerfen. Die göttlichen Zwecke waren die
ideale Norm für die staatliche Verwaltung und Gesetz-
gebung, für Recht, Sitte, Wissenschaft und Kunst. Seit-
Beurteilungen.
331
dem forderte die Kirclie aus ilirer übersinnlichen Idee mit
gleicher logischer Notwendigkeit die Verneinung der Welt
auf der einen und die Beherschung derselben auf der an-
deren Seite. Beide, Weltverneinung und Weltbeherschung
erschienen seitdem als die sich gegenseitig bedingenden
Forderungen der christlichen Glaubenslehre" (S. 120). Das
„Ideal des christlichen Gottesstaates" auf Erden, welches
in der Kirche verwirklicht wird und die ganze Erde um-
fassen soll, ist nunmehr der herschende Gedanke der Gläu-
bigen. Die Geschichte des Mittelalters ist, im Kernpunkte
ergriffen, die Geschichte des siegreichen Vordringens und
des späteren Rückganges dieses Gedankens; und es ist
diese Entwicklung, welcher der Hauptteil des Eickenschen
Buches gewidmet ist: „Das Mittelalter trug in seiner
ganzen Bildung den Schmerzenszug der Welt Verneinung
auf der einen und den gewalttätigen Charakterzug der
W^elteroberung auf der anderen Seite. Es überwand und
beherschte die Welt, indem es dieselbe verneinte. Der
Welt absterben bedeutete soviel als der Kirche leben. Die
Erfüllung der drei asketischen Tugenden, Armut, Keusch-
heit und Gehorsam, stellte also die Aufgabe, die ganze
Persönlichkeit mit ihren materiellen und geistigen Inter-
essen der Kirche zum Opfer zu bringen. Die Steigerung
der Askese hatte die entsprechende Steigerung der kirch-
lichen Weltmacht zur notwendigen Folge. Beides, Welt-
verneinung und kirchliche Weltherschaft, waren in der An-
schauung des Mittelalters gleichbedeutende Begriffe. In
der erschöpfenden Ausbildung dieser beiden sich gegenseitig
bedingenden Strebungen lag die Eigenart, das Wesen der
mittelalterlichen Cultur. Nur unter dem Gesichtspunkte
der gleichmäßigen Geltung von Askese und priesterlicher
Weltherschaft ist der Geist der mittelalterlichen Ge-
schichte zu begreifen." (S. 156.)
Jene drei asketischen Tugenden wurden in ihrer wei-
teren Verbreitung zu einer unerschöpflichen Machtquelle
für die Kirche. „Durch die Tugend der Armut erwarb
332
Eud. Lehmann.
die Kirche unermessliche Reichtümer, durch die Tugend
des Gehorsams erwuchs sie zu dem größten und mäch-
tigsten Staatswesen, welches es jemals gegeben hat, durch
die Tugend der Keuschheit endlich gewann sie ein unver-
gleichlich bewegliches, zu jeder Zeit und an jedem Ort
kampfbereites Beamtenheer." (S. 156 f.) Allein je mehr
von der Welt die Kirche in ihren Machtbereich hineinzog,
desto mehr wurde sie selbst genötigt mit den weltlichen
Interessen, die sie beherschen wollte, zu rechnen, desto
weiter entfernte sie sich mithin von dem ursprlinglichen
Ideal des Gottesreiches auf Erden: „In demselben Maße,
als die Macht der Kirche stieg, wurde die Kirche zur
Welt." Die Ausbreitung der kirchlichen Weltherschaft
machte immer weitere Concessionen an die menschliche
Natur rotwendig, deren Verneinung doch ursprünglich das
letzte Ziel dieser Herschaft gebildet hatte. Es zeigt sich
das am deutlichsten in denjenigen Erscheinungen, welche
den Gipfel- und zugleich den Wendepunkt der ganzen Ent-
wicklung darstellen: in den Kreuzzügen. Gerade diese
Kriege, „in welchen der Gottesstaat der römischen Kirche
seine höchste Verwirklichung erreichte, führte alle Gebiete
des Lebens, Staat, Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft in
die Weltlichkeit zurück". So beginnt hier auf dem Höhe-
punkt der kirchlichen Machtentfaltung die rückläufige Ent-
wicklung, welche in ihrem weiteren Verlauf zur Refor-
mation des 16. Jahrhunderts und von hier aus zur Be-
gründung einer neuen Weltanschauung führte. Dieser
„Auflösung des christlichen Gottesstaates" ist der letzte
Teil des Buches gewidmet.
Auf allen einzelnen Lebensgebieten widerholt sich
derselbe „tragische Cirkel", der soeben in allgemeinen
Zügen geschildert wurde. Je näher der kirchliche Ge-
danke seiner äußeren Verwirklichung rückt, desto mehr
hat er an seinem ursprünglichen Inhalt eingebüßt, und
sein Sieg dient in letzter Linie nur dazu, den Umschlag
aus der Askese in die entschiedenste „Weltbejahung" zu
Beurteilungen.
333
befördern. Der Verfolgung dieses Processes auf den ein-
zelnen Gebieten ist ein großer Teil des Buches gewidmet.
In der Gestaltung des Staatswesens wie des Familien-
lebens, der Wirtschaftspolitik wie des Rechts, endlich in
Wissenschaft, Litteratur und Kunst: überall entdeckt
Eicken die entsprechenden Züge, die zu einem gleichartigen
Resultate führen. Unter den Kapiteln, die diesen Sonder-
gebieten gewidmet sind, verdienen diejenigen, welche Poli-
tik, Recht und Volkswirtschaft behandeln, den Vorzug: in
der nicht nur umfassenden, sondern auch vielfach ins Ein-
zelne gehenden Darstellung, tritt die gediegene Grundlage
historischer Studien, von welchen der Verfasser ausgeht,
vorteilhaft hervor. Auch der Abschnitt, welcher die bil-
dende Kunst behandelt, zeigt feinsinnigste Auffassung und
umfassende Kenntnis des Gegenstandes. Die Kapitel über
wissenschaftliche und dichterische Litteratur dagegen
scheinen dem Referenten, obwol er auch hier mit dem
Hauptgedanken übereinstimmt, noch mannigfacher Er-
gänzungen bedürftig. Es ist natürlich, dass es gerade
auf diesen Gebieten, wo die Persönlichkeiten verhältnis-
mäßig den freiesten Spielraum hatten, am schwersten ist,
neben dem großen Entwicklungsgange die einzelnen, teils
wirklichen, teils scheinbaren individuellen Abweichungen
gebührend zu berücksichtigen; und es ist daher kein Tadel,
wenn wir darauf hinweisen, dass hier noch manches zu
tun übrig bleibt. Sowol das, was Reuter in seinem be-
kannten Buche „die Aufklärung im Mittelalter" genannt
hat, als auch die verschiedenartigen religiösen Stimmungen,
welche sich in der Poesie geltend machen, bedürfen im
Hinblick auf die Gesichtspunkte Eickens noch einer ein-
gehenden Durchforschung.
Noch nach einer anderen Seite hin erscheint eine Er-
gänzung des Werkes wünschenswert. Eicken zeigt uns
vom geschichtlichen Standpunkt aus die Entstehung des
asketischen Princips und die Bedeutung desselben für die
weitere historische Entwicklung. Die psychologische
■
334 Ulrich Jahn.
Eigenart aber der Askese, das Rätselhafte, das in der
„Verneinung- der Welt" seitens des Einzelnen liegt, sucht
er nicht zu ergründen: es ist dies eine Aufgabe, die dem
Psychologen vom Fach bleibt und die durch das Eickensche
Werk an dringendem Interesse und an Bedeutung gewinnt.
Von philosophischer Seite aus ist, soviel dem Referenten
bekannt, bis jetzt nur durch Schopenhauer der Versuch ge-
macht worden, das Wesen der Askese zu ergründen.
Allein Schopenhauer hat dieses Problem aus dem psycho-
logischen Gebiet, in das es gehört, nach seiner Weise
ganz und gar auf das metaphysische hinüber gezogen
und daher keine im psychologischen Sinne verständliche
Erklärung geliefert.
Man sieht : wie jede bedeutende wissenschaftliche
Untersuchung, so eröffnet auch das Eickensche Werk
mannichfache Perspectiven; es regt zu Ergänzungen und
weiteren Forschungen an. Man wird hierin nicht einen
Mangel des Werkes, sondern nur ein Kennzeichen seines
Wertes zu erblicken haben. Das Eickensche Buch ist auf
seinem Gebiete eine Leistung ersten Ranges und verdient
als solche anerkannt zu werden.
Berlin. Rudolf Lehmann.
Nachricht.
Das neubegründete Museum für deutsche Volks-
trachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes zu
Berlin. C. Klosterstraße 36.
Mehr als irgend ein anderes Volk hat das deutsche
für die Erkenntnis seines inneren Wesens getan. Ueber-
au : von Tirol bis nach Schleswig-Holstein, von der li-
tauischen Grenze bis zu den Flämingen, von den Sieben-
bürger Sachsen bis zum Vaskenwald, sind Sammlungen
der volstümlichen Glaubens Vorstellungen, Bräuche und
Sitten, der Sagen und Märchen, der Lieder, Sprichwörter
Nachricht.
335
und Kätsel in reicher Fülle erschienen, und noch immer
sind die besten Kräfte bemüht, durch neue Sammlungen
das gewonnene Material zu vergrößern und, wo es Not
tut, zu berichtigen und zu verbessern. Nur die, sagen
wir, handgreifliche Volkskunde ist im Rückstände ge-
blieben.
Wie unser Volk denkt und glaubt und fühlt und
spricht und singt und tanzt, das wissen wir. Aber wie
die Gegenstände ausschauen, welche es geschaffen hat, wie
es seine Häuser fügt und aufbaut, wie es seine Höfe
und Dörfer, Gärten und Fluren angelegt hat, wie es
in Stube, Küche und Keller wirtschaftet und wie der
Hausrat beschaffen ist, wie es sich kleidet, in welcher
Weise es Viehzucht, Ackerbau, Jagd und Fischfang be-
treibt , wie die kunstvolle Hand- und Hausarbeit des
Bauern, der Bäuerin gefertigt wird, welcher Fahrzeuge
es sich in Handel und Verkehr bedient, welche Dinge
uraltem Herkommen nach bei Geburt, Hochzeit, Tod
und Begräbnis, bei Aussaat und Ernte, bei den ver-
schiedenen Jahresfesten, im Genieindeleben und in der
Volksmedicin üblich sind, — das ist wahrscheinlich zum
weitaus größten Teile noch verborgen.
Und doch ist diese handgreifliche Volkskunde, da sie
das treueste Bild des jeweiligen Kulturstandpunktes eines
Volkes gewährt, unerlässlich zur Herstellung eines tatsäch-
lichen, objectiven Archivs des Volkstümlichen, aus dem
jeder Forscher schöpfen kann. Beweise dafür sind, wenn
es überhaupt eines Beweises bedarf, die Völkermuseen,,
voran das Königliche Museum für Völkerkunde zu Berlin,
durch welche die volkstümlichen Sammelwerke über Glaube
und Brauch, Sage und Märchen der verschiedenen Völker
erst ihre richtige Deutung erhalten haben.
Was der deutschen Volkskunde Not tut, ist also ein
deutsches Volksmuseum. — Ansätze dazu sind ja hier
und da von einzelnen Landes-, Provinzial- und Stadt-
Museen gemacht worden; aber selten ist man liber die
336
Ulrich Jahn.
bescheidensten Anfänge hinaus gekommen. Meist hat man
sich mit Abbildungen beholfen. Wenn wir aber auch eine
stattliche Eeihe farbiger Bilderwerke über volkstümliche
Trachten besitzen und nicht wenige volkstümliche Gegen-
stände irgendwo bildlich widergegeben sind, so können Ab-
bildungen doch immer nur Form und Farbe der Originale
zur Anschauung bringen. Ueberdies ist das Material durch
seine Zerstreuung der Forschung schwer zugänglich, und
im Grunde wird durchweg nur Stückwerk geboten.
Der Grund, dass die Versuche, die verschiedenen Ge-
genden Deutschlands in den Eigentümlichkeiten ihrer Be-
völkerung, in deren Trachten und den Erzeugnissen des
Hausgewerbes darzustellen, bisher misslungen sind, liegt
nicht allein an den mangelhaften Mitteln, welche aufge-
wendet wurden, sondern vorzugsweise in der geringen
Kenntnis der Sachlage und an der falschen Methode, nach
welcher die Angelegenheit betrieben ist. Selten ist das
jedoch zugestanden worden, vielmehr sind die Schwierig-
keiten, weil man sie nicht überwinden konnte, für unüber-
windbar ausgegeben worden; und so ist's gekommen, dass
sich in den weitesten Kreisen die Ansicht verbreitet findet,
die Herstellung eines deutschen Volksmuseums gehöre zu
den unmöglichen Dingen.
Warum sollte aber in Deutschland nicht möglich sein,
was in andern Ländern zur zwölften Stunde versucht und
mit Glück durchgeführt worden ist? — Von dieser An-
sicht ging der Vorstand der Berliner Gesellschaft füi-
Antliropologie, Ethnologie und Urgeschichte aus, als
er vor mehr als zehn Jahren höheren Ortes vorstellig
wurde, in dem neuen Museum für Völkerkunde zugleich
eine Abteilung für deutsche Trachten und Geräte einzu-
richten. Weil aber die Einrichtungsarbeiten in diesem
Museum, welche schon Jahre in Anspruch genommen haben,
auch zur Stunde noch lange nicht als beendet betrachtet
werden können, so ist, um rasch die Erfüllung herbeizu-
führen und nicht durch weitere Verzögerung die Sache zu
Nachricht.
337
schädigen, der Gedanke erfasst worden, ein besonderes
deutsches Museum der Volkstrachten und Ge-
räte zu begründen.
Zunächst galt es, um alle Bedenken zu zerstreuen,
die Möglichkeit nachzuweisen, dass selbst heute noch, wo
sowol die Trachten als auch die Erzeugnisse des Haus-
gewerbes durch Mode und fabrikartige Industrie sämtlich
mit raschen Schritten ihrem Untergange entgegen eilen,
auf diesem Gebiete Ersprießliches geleistet werden kann.
Es wurde zu diesem Zwecke eine ethnographische Probe-
sammlung in der Gegend veranstaltet, welche vielleicht
am meisten dem Zersetzungsprocess ausgesetzt ist, — in
Mönchgut auf Rügen.
Die Probe gelang in jeder Beziehung: die Mönchguter
Sammlung genügt allen Ansprüchen, welche die ethnologische
Forschung stellen kann. Ermuntert durch diesen Erfolg
traten unter dem Vorsitz des Geheimen Medicinalrats Prof.
Dr. Eudo If Vir chow die Herren: Sanitätsrat Dr. Max
Bartels, Geh. Rat Prof. Dr. Adolf Bastian, Prof. Eugen
Bracht, Louis Castan, Franz Goerke, Landgerichts-
rat Max Hollmann, Dr. Ulrich Jahn, Jean Keller,
Bauinspector Fr. Kleinwächter, Prof. A. Kretschmer,
Alexander Meyer Cohn, Dr. Georg Minden, General-
consul William Schönlank, Prof. Dr. Willi. Schwartz,
Dr. Albert Voss, Geh. Rat Prof. Dr. Karl Weinhold
und Geh. Rat Prof. Hermann Weiß zu einem Comité zur Be-
gründung eines Museums der deutschen Volkstracli-
teil und Erzeugnisse des Hausgewerbes zusammen.
In diesem Museum sollen möglich gleichmäßig Nord-, Mittel-
und Süddeutschland vertreten sein, um die noch vorhandenen
Eigentümlichkeiten ihrer Bevölkerung in Trachten, Haus-
anlagen und Erzeugnissen des Hausgewerbes, wenn tun-
lich, in vollständigen Zimmereinrichtungen mit plastischen
Figuren (nach der Weise des Hazelius'schen Museums zu
Stockholm) zur Anschauung zu bringen.
Dem Mangel, der sich in Bezug auf Räumlichkeiten
338
Ulrich Jahn.
geltend machte, in welchen das aufgekaufte Material vor-
läufig sicher lagern kann und die sich zugleich zu einer
Aufstellung der Sammlungen eignen, ist von Seiten Seiner
Excellenz des Staatsministers, Ministers der geistlichen,
Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten, Herrn Dr.
von Gossler, abgeholfen worden, indem er dem Comité
neben dem hygienischen Museum ausreichende Räumlich-
keiten Berlin C. Klosterstraße 36 zur Verfügung
stellte. Daselbst sind inzwischen die Säle und Zimmer zu
ihrem neuen Zwecke hergerichtet und ist mit der Auf-
stellung von Gegenständen aus Mönchgut (Insel Rügen),
dem Elsass, der Schwalm (Hessen) und dem. Spreewalde
bereits begonnen worden. Die demnächstige Erwerbung
entsprechender Sachen aus Littauen ist in Aussicht ge-
nommen, so dass bei der im Herbst dieses Jahres zu er-
wartenden Eröffnung des Museums fiinf deutsche Land-
schaften in einer Musterausstellung vertreten sein werden.
Um die Verwirklichung des Planes zu erreichen, dass
das begründete Museum ein deutsches Volksmuseum im
wahren Sinne des Wortes werde, d. h. ein Museum, welches
ganz Deutschland in den Eigentümlichkeiten aller seiner
Stämme in möglichster Vollständigkeit vorführt, muss die
Unterstützung der weitesten Kreise in Anspruch genommen
werden. Das Comité hat sich darum entschlossen, eine
Gesellschaft zu begründen, welche bis zur etwaigen Ueber-
nahme des Museums seitens des Staates Besitzerin des-
selben sein wird, um die Weiterentwicklung des Unter-
nehmens in ähnlicher Weise zu bewirken, wie das seiner
Zeit bei dem Königlichen Kunstgewerbe-Museum zu Berlin
geschehen ist.
Nicht minder wichtig, als die Unterstützung mit Geld-
beiträgen, so unerlässlich dieselben zur Bestreitung der
Ankäufe und sonstigen Ausgaben auch sein mögen, ist
aber, dass überall im Reiche die Freunde der deutschen
Volkskunde dem neuen Unternehmen ihre Kräfte widmen,
dass dieselben ein wachsames Auge auf alle Gegenstände von
Nachricht.
339
volkstümlichem Werte haben, für deren Erwerbung Sorge
tragen und ihren Besitz dem Museum sichern. — Wenn
schon das Volksmuseum, wie alle Museen, den fröhlichen
Geber am liebsten sieht, so darf sich doch auch der des
besten Dankes versichert halten, welcher die Museums-
verwaltung auf käufliche Einzelsammlungen oder wertvolle
Einzelstiicke aufmerksam macht und, wenn erforderlich,
den Ankauf vermittelt.
Yon Wert wird den Freunden des Unternehmens sein,
zu erfahren, welcher Stücke das Museum bedarf. Da eine
Aufzählung der ethnologisch wichtigen, volkstümlichen
Gegenstände außerdem noch dem vorläufig der Sache
ferner Stehenden ein anschauliches Bild gewähren dürfte
von dem, was eigentlich geplant wird, so mag eine solche,
nach den sieben Unterabteilungen: Wohnung; Haus-
halt und Hausrat; Kleidung; Nahrung; Kunst und
Gewerbe; Handel und Verkehr; Volksbrauch und
Glaube, systematisch geordnet, hier widergegeben werden.
A. Wohnung: 1. Situationsplan des Dorfes. Aus
demselben müssen die geographische Lage des Dorfes, der
etwa vorhandene Fluss oder Bach, Teich oder See, die
nächsten Berge, Täler und Wälder ersichtlich sein; ferner
muss er die Lage der Hofstätten, die Richtung und Front
der einzelnen Gebäude, die Lage der Kirche, der Mühle
u. s. w. enthalten. — 2. Situationsplan der Hoflage.
— 3. Modell des Hauses. Zur Anfertigung von Haus-
modellen sind am besten Dorfhandwerker: Tischler und
Zimmerleute, heranzuziehen, damit die Modelle naturgetreu
den Aufbau des Hauses, die Balken Verbindung, die Lage
des Daches und der Dachsparren erkennen lassen. Wenn
möglich, ist nicht das Modell eines bestimmten Hauses,
sondern der in der betreffenden Gegend herschenden Bau-
art zu geben. Falls die Tenne (Diele), die Viehställe und
die Räume für Heu und Stroh nicht im Hause enthalten
sind, würden dieselben in das Modell aufgenommen wer-
d en. Andernfalls ist ihre Lage auf dem Situationsplane
Zeitschrift für Völkerpeych. u. Sprachw. Bd. XIX. 2/3. 23
340
Ulrich Jahn.
(A. 2) anzugeben. — 4. Plan der Hauseinrichtung. —
5. Giebel v er zier ungen (besonders beachtenswert: Wind-
latten mit Hähnen, Rossköpfen, Schwänen, Geren u. s. w.)
in Originalen oder Modellen. — 6. Schlösser (Holz-
schlösser und charakteristische Arbeiten der Dorfschmiede).
— 7. Türklopfer. — 8. Hausmarken. — 9. Dach-
1 o eher (Eulenlöcher, Rauchlöcher) in Zeichnungen oder
Modellen.—10. Anlage der Feuerstätten (Herd, Back-
ofen, Kachelofen) in Plänen oder Modellen. — 11. Wand-
verzierungen (Täfelungen). — 12. Kelleranlage in
Plänen oder Modellen.
B. Haushalt und Hausrat: 1. Licht und Feuer:
Kienspanhalter; Leuchter, besonders Hochzeitsleuchter;
altertümliche bäuerliche Lampen und Lampenhalter; La-
ternen (besonders mit Hornscheiben); Steinfeuerzeuge
(Zunderladen.) — 2. Speisebereitung: Ess- und Trink-
geschirre; Back- und Butterformen; Kessel und Grapen;
Kesselhaken. — 3. Besonders charakteristische
Wäschegerätschaften: Mangelhölzer ; Waschhölzer ;
Glätte- (Gniedel-, Gnier-) Steine. — 4. Mahl- und
Stampfgeräte in Originalen oder Modellen : Hand-
mühlen; Stampfmühlen; Salzmühlen; Pfeifermühlen. —-
5. Stubengeräte in besonders charakteristischen
Formen: Tische; Stühle; Bänke; Bettladen; Truhen (Troli-
nen), Laden und Kasten; Schaffe (Spinden, Schränke)
Sanduhren; Wiegen.
C. Kleidung: 1. Trachten für Kinder: Steckkissen
und seine Einrichtung ; Kopfbinden, Mützen der Säuglinge;
Trachten für größere Kinder. — 2. Trachten für Er-
wachsene [zu unterscheiden: Männertracht, Frauen-
tracht, Witwentracht, Alltagstracht und Festtracht ; Tracht
für Kirchgang, Nachtmahl, Hochzeit (Bräutigam, Braut,
Hochzeitsbitter), Leichenbegängnis (Totenfrau), Trauer]:
Schuhe und Schnallen, Stiefel, Holzschuhe, Schlittschuhe
(besonders aus Knochen), Schneeschuhe, Eisschuhe, Schlamm-
schuhe; Strümpfe (Zwickel) und Strumpfbänder; Hemd;
Nachricht.
341
Hose; Hosenträger oder Gurt; Unterrock; Mieder und
Latz; Weste; Oberrock; Jacke; Nachtmahlsrock ; Nacht-
mahlsmantel der Frauen; Pelzwerk; Handschuhe; Tücher
(Spitzen-, Seiden-, Wollen-Tücher); Kopfbedeckungen (Mützen,
Hüte, Hauben, Kappen, Brautkronen u. s. w.); Schmuck-
sachen [Spangen, Ketten, Stirneisen, Ringe, Armbänder
u. s. w. in Gold, Silber (Filigran), Kupfer, Messing, Bronze?
Horn, Knochen, Elfenbein, Bernstein, Granaten, Glas u. s. w.];
Schirme und Stöcke. — 3. Totenanzüge.
D. Nahrung: 1. Viehzucht: Besonders charakte-
ristische Haustierarten (Varietäten) in Abbildungen und
ausgestopften Exemplaren; Schmuck der Pferde, Rinder,
Ziegen u. s. w. ; Melkgeräte, bezw. in Modellen (Schemel,
Eimer, Bricken); Einrichtungen von Hürden, Koppeln
u. s. w. in Plänen und Modellen. — 2. Ackerbau: Pläne
und Modelle der Flureint eilung; charakteristische Acker-
geräte (primitive Pflüge und Eggen in Modellen oder Origi-
nalen, Zahnsicheln. Hacken, Spaten u. s. w.) — 3. Jagd:
Fallen in Modellen; Schlingen und Jagdnetze; primitive
Wurfgeschosse; Instrumente zum Anlocken des Wildes:
die zur Herstellung der Jagdgeräte erforderlichen Werk-
zeuge; Schmuckstücke, Ringe und dergl. an Jagdtrophäen;
die von Jägern gebräuchlichen Wand Verzierungen aus
Zähnen, Geweihstücken u. s. w. — 4. Fischfang: Ab-
bildungen und ausgestopfte Exemplare der wichtigsten
Fischarten; Modelle von Netzen und Reusen; Angeln, Har-
punen, Fischspeere, Netzsenker; Modelle von Räuchereien,
Heringsschuppen; die zum Netzestricken und zur Verfer-
tigung der sonstigen Fischereigeräte gehörigen Werkzeuge.
E. Kunst und Gewerbe (Hand- und Hausarbeit und
die dazu gehörigen Werkzeuge): 1. Flechtarbeiten. —
2. Spinnarbeiten. — 3. Webereien. — 4. Näharbeiten.
— 5. Stickereien. — 6. Klöppelarbeiten.— 7. Stick-
arbeiten. — 8. Seilerarbeiten. — 9. Schmiede-
arbeiten (besonders erwünscht geschmiedete eiserne
Votivbilder). — 10. Schnitzereien. — 11. Malereien
23*
342
Ulrich Jahn.
(besonders an Truhen, Hausbalken, Webestühlen, Schränken,
Bettladen). — 12. Filigran- und Email- (Schmelz-)
Arbeiten. — 13. Töpferarbeiten (Dorftöpferei). — 14. Mu-
sikinstrumente (Dudelsack, Zither, Geige, Hackbrett,
Flöte, Pfeife, Horn, Trompete, Klapper, Schellen, Holz-
glocke, Trommel, Maultrommel u. s. w.) — 15. Cise-
lirungen.
F. Handel nnd Verkehr: 1. Wagen in Modellen und
Abbildungen.— 2. Schlitten in Modellen und Abbildungen,
bezw. in Originalen. — 3. Karren in Modellen und Ab-
bildungen. — 4. Schiffe und Boote in Modellen und
Abbildungen (Einbäume, wenn möglich, in Originalen),
Anker.
G. Gegenstände, welche dem Kreise von Volksglaube
und Brauch angehören : 1. Geburt, Taufe, Kindesalter:
Amulette; Patenbriefe; Kinderspielzeug. — 2. Hochzeit
(besonders charakteristisch die Hochzeitswagen, welche
in Modellen und Abbildungen widerzugeben sind, und die
Hochzeitstruhen). —3. Tod und Begräbnis: Totenkisten,
Totenladen (in Modellen und Abbildungen, bei kunstreicher
Herstellung die Originale); Grabbeigaben; Grabdenkmäler
in Originalen, Modellen und Abbildungen ; Totenbretter. —
4. Ernte: Erntewagen in Modellen und Abbildungen;
Erntepuppen in desgl.; Erntekränze in desgl. — 5. Jahres-
feste: Weihnacht (Masken und Vermummungen, welche
bei den Umzügen verwandt werden: die Perchtelmasken
il s. w.); Fastnacht und Todaustreiben (Puppen des Todes
u. s. w.); Ostern (bemalte Ostereier, Puppe des Judas
u. s. w.); erster Austrieb (Vermummungen, Lebensrute);
Pfingsten und Johannis (Puppe des Graskönigs, Wasser-
vogels u. s. w., Modelle der beim Vogelschießen üblichen
Scheiben, Adler, Tauben u. a.) — 6. Gemeindewesen:
Schulzenstäbe und sonstige Abzeichen der Ortsobrigkeiten ;
Nachtwächterausrüstung (Saltner); Kerbhölzer; Loose und
Eigentumsmarken. — 7. Volksmedicin: Amulette (Toll-
tafeln); Verbandzeug; Chirurgische und geburtshilfliche
Nachricht.
343
Instrumente (Gebärstuhl) ; Bereitung des Notfeuers (im
Modell mit Erklärung-).
Um jeglichem Irrtum vorzubeugen, sei schließlich noch
darauf hingewiesen, dass ausgeschlossen bleiben: Trachten,
welche durch die Mode beeinflusst, und Geräte, welche
durch fabrikmäßigen Betrieb hergestellt sind. Hinzugefügt
werde, dass es wünschenswert erscheint, sämtliche Stücke
mit dem Namen, den sie in ihrer Heimat tragen, zu bezeich-
nen. Etwaige Anfragen, bezw. Einsendungen, möge man
an das. Museum für deutsche Volkstrachten und Er-
zeugnisse des Hausgewerbes, Berlin C. Klosterstraße 36
richten. — Im Uebrigen wird die Zeitschrift bei dem
großen Interesse, welches das Museum für jeden Forscher
auf dem Gebiete der Volkskunde beanspruchen darf, ihren
Leserkreis in dieser Sache stets auf dem Laufenden zu
erhalten bestrebt sein.
Ulrich Jahn, Dr. phil.
Die Gesellschaft für die Völkerkunde Ungarns.
Ein erfreuliches Zeichen für das von Jahr zu Jahr
steigende Interesse an der Volkskunde ist die Gründung
der Gesellschaft für die Völkerkunde Ungarns, welche am
27. Januar dieses Jahres in Budapest stattgefunden hat.
Vorsitzender ist Herr Paul Hunfalvy, als Schriftführer be-
grüßen wir den um die Volkskunde Ungarns hochverdienten
Herausgeber der „Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn.
Zeitschrift für die Volkskunde der Bewohner Ungarns und
seiner Nebenländer. Budapest 1877 ff.", Herrn Professor
Anton Herrmann. Wir entnehmen dem Aufruf zur Grün-
dung der Gesellschaft folgendes:
„Zweck der Gesellschaft für die Völkerkunde Ungarns
ist die Erforschung der Völker des ungarischen Reiches und
des historischen Ungarns und, auf Grundlage des gegen-
seitigen Kennenlernens, die Förderung der brüderlichen Ein-
344
Ulrich Jahn.
tracht und des Gefühls der Zusammengehörigkeit der
Völkerschaften im Yaterlande.
Den Kreis dieser Forschungen bilden: Ursprung und
Gestaltung, Entwickelung und Vermengung, Zustand und
Verhältnisse, ethnischer Charakter und anthropologischer
Typus der heimischen Völkerstämme, alle Aeußerungen und
Gegenstände der Volksseele und des Volkslebens. Hieher
gehören also:
Ueberlieferung und Sage, Aberglauben und Besprech-
ungen, Sitten und Gebräuche, Lebensweise und Beschäf-
tigung, Bauart und Einrichtung, Möbel und Gebrauchs-
gegenstände, Kleidung und Verzierung, Musik und Poesie,.
Spiel und Tanz, Feste und Mysterien, Denkweise und Dia-
lect, Bedensarten und Sprichwörter, Märchen und Bätsei,
Volkslied und epische Gesänge u. s. w. und die körperliche
Beschaffenheit der Landesbewohner.
Aufgabe der Gesellschaft und ihrer Mitglieder ist: das
oben Erwähnte zu beobachten und aufzuzeichnen (Musik-
noten, Abbildungen), ferner ethnographische Studien, Aus-
flüge und Forschungsreisen anzuregen, zu unterstützen und
die Ergebnisse wissenschaftlich zu verwerten, Fachorgane
und ethnographische Werke herauszugeben, Vorlesungen
und Vorträge zu halten und hiebei Ideen auszutauschen,
einschlägige Arbeiten zu beurteilen, die ethnographische
Tätigkeit der heimischen Völkerstämme gegenseitig bekannt
zu machen, die Ergebnisse der ethnographischen Forschung
im In- und Auslande miteinander zu vermitteln, die Biblio-
graphie der heimischen Völkerkunde zusammenzustellen,
eine Fachbibliothek zu errichten, die Gebrauchsgegenstände
des Volkslebens in natura zu sammeln, ein vaterländisches
ethnographisches Museum zu schaffen und zu erhalten,
kurz: in Ungarn die ethnologisch-anthropologischen Disci-
plinen und Kenntnisse zu concentriren, zu pflegen, zu ver-
breiten und volkstümlich zu machen.
Jede politische und confessionelle Tendenz ist aus der
Gesellschaft ausgeschlossen.
Nachricht.
345
Die Gesellschaft wird ordentliche, gründende, corre-
spondirende und Ehren-Mitglieder haben. Inländer können
ordentliche Mitglieder sein, Ausländer correspondirende.
Jährlicher Beitrag 3 iL, Gründungsbeitrag 50 fl. Auch In-
stitute und Körperschaften können Teilnehmer und Gründer
sein. Die Mitglieder erhalten das officielle Organ der Ge-
sellschaft u. dgl. gratis.
Damit die Gesellschaft möglichst intensiv und extensiv
wirken könne, werden Sectionen errichtet:
I. Je eine besondere Section für die Erforschung der
einzelnen heimischen Völkerschaften (z. B. Magyaren, Székler,
Csángós, Palovzen; Deutsche in Südungarn und jenseits der
Donau, Sachsen in Siebenbürgen und in der Zips ; Kroaten,
Serben, Bunyevazen, Bulgaren, Slovaken, Euthenen, Polen,.
Wenden; Rumänen, Italiener, Griechen, Armenier, Zigeu-
ner u. s. w.); ferner für die occupirten Provinzen (Bos-
niaken) und für die den Magyaren verwandten Völker-
familien (Finnen-Ugrier, Türken-Tartaren).
II. Eine allgemeine Section für Folklore und Völker-
psychologie, für die Offenbarungen des Volkslebens und der
Volksseele.
III. Eine allgemeine Section für die Gebrauchsgegen-
stände des Volkslebens (volkstümlicher Stil, Bauart, Orna-
mentik, Keramik, Textilindustrie, Möbel, Geräte, Spiel-
zeug u. dgl.).
IV. Eine allgemeine Section für Volksmusik (und Tanz).
V. Eine anthropologische Section.
VI. Eine Section für Statistik.
Außerdem werden für besonders wichtige, mit der
Ethnographie in Verbindung stehende Angelegenheiten der
Nation besondere Commissionen eingesetzt. Solche sind: die
Auswanderung, Colonisation, das ethnographische Museum,
die Ural-Expedition u. dgl. Die Angelegenheiten der ein-
zelnen Sectionen und Commissionen werden von einem
Vorstand und einem oder zwei Referenten geleitet.
Die Generalversammlungen sind womöglich Wander-
346
Ulrich Jahn.
Versammlungen und werden mit besonderer Berücksich-
tigung der ethnischen Verhältnisse und in Hinsicht auf
ethnographische Belehrung tunlichst abwechselnd in ver-
schiedenen Gegenden des Landes abgehalten. Auch sonst
werden, wo Zeit und Ort geeignet sind, ethnographische
Ausflüge veranstaltet.
Bei den Zusammenkünften der Gesellschaft können, in
welcher Sprache immer, Vorlesungen und Vorträge ge-
halten werden, doch muss man darauf bedacht sein, das»
man allgemein verstanden werde. Um den Verkehr mit
dem Auslande und den der magyarischen Sprache unkun-
digen Inländern zu ermöglichen, wird die Gesellschaft
dafür Sorge tragen, dass sie liber ein lialbofficielles Fach-
organ in deutscher Sprache verfüge".
Schließlich werde noch hinzugefügt, dass Beitritts-
erklärungen an Herrn Professor Dr. Anton Herrmann,
Budapest, Attila-utcza 47 zu richten sind.
Ulrich Jahn, Dr. pliil.
Eingesandt sind und werden in dem nächsten, bez. in den fol-
genden Heften zur Besprechung kommen: Fr. Fi-. Fronius, Bilder
aus dem sächsischen Bauernleben in Siebenbürgen. 3. Aufl. Wien
und Hermannstadt 1875. Graeser & Krafft. — Fr. Wrubel, Samm-
lung bergmännischer Sagen. Neue billige Ausgabe. Freiberg in
Sachsen (o. J.). Craz u. Gerlach. — Chr. Bartsch, Dainu Balsai.
Melodien litauischer Volkslieder. Erster Teil. Heidelberg; 1886.
Winter. — M. Hippe, Untersuchungen zu der mittelengl. Romanze
Sir Ainadas. Braunschweig 1888. Westermann. (Inaugural-Disser-
tation). — Mythologische Forschungen aus dem Nachlasse von Wil-
helm Mannhardt, herausg. von Hermann Patzig, mit Vorreden von
K. Müllenhoff und W. Scherer. Straßburg 1884. Triibner. — G.
Längin, Religion und Hexenprocess. Leipzig 1888. Wigand. —
Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen. Kleinere Schriften
von Josef Haltrich. In neuer Bearbeitung herausg. von J. Wolff.
Wien 1885. Graeser. — O. Weddigen u. Ii. Hartmann, Der Sagen-
schatz Westfalens. Minden 1884. Bruns. — H. Hartmann, Bilder
aus Westfalen, Neue Folge. Minden 1884. Bruns. — H. Pröhle,
Harzsagen. Zweite Auflage in einem Bande. Leipzig 1886. Mendels-
sohn. — E. Handtmann, Neue Sagen aus der Mark Brandenburg.
Berlin 1885. Abenheim. — Cenêk Zíbrt, Staroceské Vyrocní Obyceje.
Prag 1889. Vilímka. — D. Brauns, Japanische Märchen und Sagen.
Leipzig 1885. Friedrich. — J. C. Poestion, Isländische Märchen.
Wien 1884. Gerolds Sohn. — M. Lehmann-Filhés, Isländische Volks-
sagen. Berlin 1889. Mayer und Müller.
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Conte. — Mohammed ben Habib. Conte arabe. — Additions et corrections au glos-
saire cryptologique du Breton. •— Piosenskie polskie (Chansonettes polonaises) etc.
Vol. IV.
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Bände vorerst noch zum Subscriptions]-»eis geliefert werden, bei weiterer Verminderung
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I. und II. Band. — I>äe Versendung; erfolgt von der Verlagsliandlung
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Vorliegende Arbeit unterscheidet sich von anderen über denselben Stoff vorzüglich
durch die fleissige und ausführliche Behandlung des Volksliedes, sowie der isländischen
Litteratur, durch die Fülle der erläuternden metrischen Übersetzungen und die tiefgehende
Beachtung, die zum ersten Male die nordische Litteratur der neuesten Zeit hier gefunden hat.
Dr. Th. Born:
Ueber die Negation
und eine notwendige Einschränkung des Satzes vom Widerspruche.
Ein Beitrag zur Kritik des menschlichen Erkenntnisvermögens.
brosch. M. 2.—
Die vorliegende Schrift gelangt zu dem Resultate, dass die negativen Sätze und Sprach-
formen immer einen positiven Gedanken, meistens einen positiven Geg-ensatz, bezeichnen; die
erhobenen Einwände werden zurückgewiesen. Hieraus ergiebt sich dann die durch noch andere
Betrachtungen unterstützte Folgerung, dass der Satz des Widerspruchs nur eine relative, an-
nähernde Wahrheit besitze, in absoluter Bedeutung aber genommen ein unübersteigliches
Hemmnis für jede philosophische Weltanschauung bilde. In dem Einheitstriebe sieht der
Verfasser den letzten Grund zur Idealisirung der Begriffe und Urteile, welche dann zu Wider-
sprüchen, Antinomien, führt.
Dr. Ludw. Kuhlenbecks
Das Problem einer
internationalen Gelehrtensprache
und der Hellenismus der Zukunft.
Ein Sendschreiben an den geistigen Adel deutscher Nation,
brosch. 60 Pf.
Die Broschüre ist eine kultur>vissenschaftliche Agitationsschrift, die gerade in der
Gegenwart, wo die Frage eines internationalen Verständigungsmittels sowohl wie die der Bil-
dungsreform so lebhaft diskutiert wird, anregend und befruchtend wirken dürfte.
Dr. Arthur Sei dl:
Zur Geschichte des Erhabenheitsbegriffes
seit Kant.
brosch. M. 3.—
Von der Anschauung ausgehend, dass die historische Erforschung der genetischen
Entwicklung eines Begriftes das vorzüglichste Mittel zu einer exakten Bestimmung des-
selben ist, bringt Seidl's Monographie zuerst — und dies bildet den Hauptinhalt der Schrift
— eine historische Ubersicht über die einzelnen Wandlungen, welche der Begriff in der
deutschen Philosophie seit Kant erfahren, und versucht auf Grund dieses kritischen Unter-
baues sodann eine Neu-Formulierung desselben.
Eduard von Hartmanns
Lotze's Philosophie.
brosch. M. 4.—
.Lotze's philosophisches System wird hier zum ersten Mal einer genaueren Analyse
und Kritik unterzogen.
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dien zur Sprachgeschichte. Von Carl
Theodor Michaelis. | deutschen Sprache.
Dr. Friedk. Polle, Wie denkt das Volk
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franz -deu'sc'ien
und
(il. nach d.
Neuestes
l. senschaft
{ Wörterbuch
bestesi deutschen
V Sprache.
Einziges
-exikon
( I
) dieser Art,
\ das bei ie-
(.dein Worte
angiebt: 1. Aussprache;
rieutsch-franz. 2. Bindung^. Gross-oder
Kleinschreibung- ; 4.Kon-
Sprache ¡ligation u. Deklination;
5-Ste Illing der A djuktiva;
k6. Etymologie.
Amtlich empfohlen in Krankreich, Öster-
reich 11. fastsämmtlichen deutschenStaaten.
A.Grosse Ausg.
6 A. ufi
T. I.I68OS.,2SM
geb. 32 M.
T.II,215öS ,3SM.; T.II.920S. (M ; je. T. einz.
geb. 42 M. J 6M.,gb 7,25M.
,-S ii inj e it I'd) e i ò f ' fit) e 25 c 1 fii g s • ^ tuf) I) n ti ï» fit tt g
Barlin, SW il, Hallesche Str. 17 (Gep; 1S56 )
3. Hand-u.Schul-Ausg.
50. A ufi.
^ B.Teile in e.Rd.
T.I76SS ^12 VI.,geb.13,50
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda
in culturhistorischer Hinsicht zusammengestellt und ver-
glichen mit den Bildern bei Homer, Hesiod, Aeschy-
lus, Sophokles und Euripides.
Yon Arnold Hirz el.
(Fortsetzung.)
III. Der Mensch.
Um das reiche Material möglichst übersichtlich zu
gestalten, habe ich es in verschiedene Gruppen zergliedert
und beginne mit
A. den Körperteilen.
Voraus zu schicken sind einige allgemeine Vergleiche
vom Menschen: den Jungen (Agni?) schmücken (die Priester),
wie Menschen (wörtl. lebendige), ihn zu kleiden (ayávo ná
rasé; Säy. vâsäya. Ich folge L. in der Auffassung dieser
unklaren Stelle) V 43, 14. Die Açvinen spenden wie Men-
schen (manushvád) dem, der die Opferstreu zubereitet hat
X 61, 15. Indra soll Soma trinken, wie ein Mensch sich
am Tranke erfreuend III 32, 5; zurück wich vor den
beiden (Falben, d. h. wol dem Soma, cf. I 63, 2) Indra,
wie ein ermatteter Sterblicher in Furcht (mdrto net çaçra-
manó bibìmàn X 105, 3); für die dunkeln Worte ist Ber-
gaignes Bemerkung R. V. II p. 257 zu vergleichen: „il
n'était guère possible d'exprimer d'une façon à la fois plus hardie
et plus claire l'idée que le prêtre fait d'Indra son serviteur et lui
impose une tâche que le dieu trouve quelquefois trop lourde";
ich glaube aber, dass die Worte Bergaignes Scharfsinn
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX, 4. 24
348
Hirzel.
klarer erschienen als sie es wirklich sind, fassen doch die
Interpreten die Stelle verschieden anf! „Alles Geborne
übertreffe ich an Größe" (yiçvâ jätany abliy àsini malina)
spricht Indra Vili 89, 4. Rudra ist der schönste vom
Gebornen II 33, 3. Gott Soma wird aufgefordert: prà sun-
vanásyándhaso márto nd (wie ein Sterblicher) irta tád vácah
IX 101, 13, und Güter zuzumessen, wie ein Mensch spre-
chend (nrvád rádann úpá no maini vajän X 28, 12).
Kraft und Gewandtheit werden mit der Schönheit
zusammengestellt IX 65, 18: à nah soma sáho júvo rüpärn ná
varease bliara.
Apäm nap at (Agni, das Wasserkind) wirkt gleichsam
in eines anderen Leib (Jnyásyevehá tanoà vivesha) II 35, 13
d. h. im Holze, nachdem er von den Menschen auf Erden
entzündet worden; Säy. gut: pârthivas y ai oâgneli çarirena
käshthendhana hkshanena.
a) Der Kopf. Gleichnisse fehlen uns hier wie bei
einigen andern Körperteilen; ihre Stelle vertreten ver-
schiedene prägnante Metaphern.
Die geheime, unsichtbare Kraft des Feuers wird in
dem Bilde X 79, 2 dargestellt, wo der Dichter von Agnis
Haupte, das im Versteck geborgen, redet. Des Nachts ist
Agni das Haupt der Erde X 88, 6. Soma ist des Him-
mels Haupt IX 27, 3, cf. IX 69, 8. — X 67, 1 ist von einem
Lied ([dhiyam) und Val. 3, 4 spec, von einem Preislied (ar-
Mm) mit sieben Häuptern (saptäcushan) die Rede, wahr-
scheinlich = „auf sieben Sänger verteilt" (G. „sieben
Hauptteile enthaltend"?!). III 5, 5 fehlt diesem Epitheton
das zugehörige Substantiv und ich finde es angezeigt, nach
Analogie der obigen zwei Stellen ein Wort für Lied zu
ergänzen (L. versteht darunter den von 7 Rossen gezoge-
nen Sürya, ohne jedoch einen Beleg hierfür beizubringen-,
mir ist dieses Bild im R V. unbekannt). — Die Pfeile
haben scharfe Häupter d. i. Spitzen (itigmámürdhanah) VI
46, 11; notwendig ist die Annahme einer Vergleichung hier
nicht, weil mürdhan an sich heißt: Hervorragendes. Diese
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
349
Grundbedeutung, als deren Spezialisirung „Kopf" erscheint,
ist noch oft genug- im Veda und später vorhanden. Vgl.
b) Das Haar. Agni ist flammenhaarig' (çocishkeça)
I 45, 6; 127, 2. III 14, 1; 17, 1; 27, 4. V 8, 2 U. 41, 10;
dasselbe Beiwort erhält Sfrya I 50, 8 Agnis Haare sind
golden (hárikeca) III 2, 13; Indra X 9G, 5 u. 8, Savitar X
139, 1 il. Sürya X 37, 9 sind ebenfalls goldhaarig. Agni
ist außerdem auch ghrtahaarig (ghrtâkeça) VIII 49, 2.
Püshan VI 55, 2 u. IX 67, 11 und Rudra I 114, 1 u. 5
endlich tragen geflochtenes Haar (kapardin). Wie die Inder
so. liebten es auch die Griechen, ihre Götter mit schönen
goldenen Haaren sich vorzustellen ; dem harikeça entspricht
das Epitheton xQvóoxófujg des Dionysos: Hes. Th. 947; des
Apoll: E. SuppL 976. Tro. 253. I. T. 1236 (cf. Pind. Ol.
VI 41. VII 32) und des Eros: I. A. 550; Leto heißt
XQvaoniôxa^ioç h. A. P. 27. Einer gr. Feuer- oder Sonnen-
gottheit wird dieses Beiwort nicht beigelegt. Bekannt
sind die homerischen Epitheta svjilôxafxoç u. rjvxofxoç.
Dass auch griechischer Phantasie Feuerhaare bekannt
waren, zeigt die kühne Metapher bei Ae. Pr. 1043 f., wo
vom Blitz gesagt wird: tcvqôç a/.iqir¡xr¡g ß0gzqv%oc. — Indra
trägt den Himmel wie einen Haarbusch (künstlich gebun-
dene Haare; bhàrti sv idhavän opaçâm iva . dyám I 173, 6),
cf. VIII 14, 5: Indra ließ den Haarbusch an den Himmel
reichen; beides Bilder zur Verherrlichung von Indras Stärke
und Gewalt. Schwierig ist die Auffassung von IX 71, lcd:
hárir opaçâm krnute nábhis pá a upastire camvòr bráhma nirnije;
der goldgelbe sc. Sorna, schafft sich als Haarbusch die
Wolke, die Milch der 2 Schalen (= Himmel und Erde, cf.
w. u.) als Decke, das brahma zum Schmuck d. h. das
Nass des Himmels ist der Schmuck seines Hauptes, die
Milch ist seine Grundlage, sein eigentlicher Schmuck aber
ist das Gebet (cf. Ii. V 360). Die Gandharven sind wind-
haarig (väyükecd) III 38, 6. Wenn Agni windgetrieben
sich im Holze verbreitet, mäht er die Haare der Erde ab
24*
350
Hirzel.
(dati róma prthivyâh I 65, 4) (1. Ii. er verwüstet die Pflanzen-
welt, cf. VI 6, 4 (II. Teil, sub açva); Y 41, 11 werden
die Berge baumbehaart (vrkshâkeçâh) genannt. Die Pflanzen
werden also als Haarwuchs der Erde aufgefasst; ä. in den
Brâhmanas, cf. die Stellen bei L. IV 258. Homer redet
von der xófxr¡ der Bäume: ip 195 — cméxoipa xófirjv ravv-
q vXXov èXirjç; P 677: tiá/uvco vrì àfj,q.ixôfxœ ; fil 357: âçvoç
vipixo/Jioio u. ö.; ebenso Ale. 585 f.: vipixótiwv — èkazâv;
Baccli. 676: nçôç iXciTr¡g — q.oßi]v. Hipp. 211: 'év ts xofir¡rr¡
Xsifxwvi, hier werden also auch die Pflanzen insgesamt wie im
Veda als Haare aufgefasst.
c) Das Antlitz. Mit besonderer Vorliebe wird im
R V. vom Antlitz Agnis gesprochen; er heißt schönantlitzig-
(svanïJca) II 1, 8. IV 6, 6. VI 15, 16. VII 1, 23 u. 3, 6;
¿upráñka I 94, 7. VI 15, 10 u. ö. ; lichtantlitzig (jyotiramka)
VII 35, 4; scharfantlitzig (tigmánika) I 95, 2; ghrtaantlitzig
(ghrtápratíka) I 143, 7. III 1, 18 u. V 11, 1 (ebenso Ushas
VII 85, 1); madhuantlitzig (mádhujpratíka) X 118, 4. Im
breiten Antlitz flammte Agni, verkündet, der Sänger VII
36, 1 u. „des Agni Antlitz" will ein anderer Rshi ver-
ehren: X 7, 3. Sein nicht schwindend Antlitz sehen die
Menschen vor sich V 2, 1. Als aller Opfer Antlitz (vif-
veshärn h y àdhvarànâm) wurde er erzeugt X 2, 6. Auel»
einige Bilder von der Ushas und dem Sürya gehören hie-
her: wie groß an Maß der Ushas Antlitz gleichsam (d. h
die von der Morgenröte erleuchtete Welt, yäwnmäträm
usháso ná vrátiham) — so großes bringt dar zum Opfer
kommend der Brahmane X 88, 19 (ganz anders G.; ich
glaube, dass der Dichter die große Wichtigkeit des Opfers
durch das Gleichnis illustriren will). Vom Antlitz der
Ushas wird gesungen III 30, 13. V 76, 1. VI 50, 8.
X 88, 19 und des Sürya VI 5.1, 1: rtásya çùci darçatâm
ánlkam. Ushas hat ein schönes Antlitz I 92, 6, ebenso
Nacht und Ushas (suprâtïke — doshâm ushâsam îmahe V
5, 6), und Himmel und Erde I 185., 6. Ushas ist Miter
ànïkam I 113, 19 (cf Hillebrandt über Aditi p. 20: das
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
351
Tageslicht in seiner Unvergänglichkeit). I 121, 4 wird
Indra, gebeten, das Antlitz der roten Kühe (nsriyänäm
ànïkam) d. i. die Morgenstrahlen zu schenken. Rodasi, die
Braut der Maruts, besitzt ein glänzendes Antlitz (tveská-
pratika) I 167, 5 und der Sonnengott ist das helle Antlitz
der Götter I 115, 1. In dem späten Waffenliede VI 75
lesen wir im Eingang: wie der Gewitterwolke Antlitz ist
es (jtmútasyeva bhavati prátíkam), wenn der Gepanzerte geht
in der Schiaeilten Schoß ; diese schönen Worte drücken zu-
gleich die Furcht vor solchem Krieger und die Wider-
standslosigkeit aus. Schließlich mache ich auf VII 85, 1
aufmerksam, wo das Lied mit kühner Metapher glirta-
antlitzig wie Ushas genannt wird. In unsern griech. Dich-
tungen finden sich einige analoge Metaphern: cf. h. VII
58: Zs[.iélr¡z svwniâoç u. li. Cer. 333 von Persephone: evá-
niòcc xovqt¡v. Wie im R V. die Sonne, erhält der Mond ein
7TQÓ(íu)Tior S. frg. 786 (713 D.), (ebenso Pind. Ol. X(XI)
74: svumiôoç (JtXàrctç) u. E. El. 30 Spricht vom nçôoumov
àovç\ Dem Lied-Antlitz lassen sich zur Seite stellen die
Bilder Phoen. 1336: ovx evnQOCaiTcotç q.Qoi¡jiíoig aQysi Xóyov
11. E. frg. 490: ôixccioGvvaç rò yQvúsov nQÓúwnov.
d) Das Auge. Zu Agni gehen vereint die Gedanken
der Frommen wie die Augen nach der Sonne {agnini ácha
deoa,jatàm mànâhsi càksliRnshïva sûr je sám cavanti V 1, 4 17).
Der Gott des verheerenden Elementes, dessen Blicken in
seinem unaufhaltsamen Vorwärtsschreiten gleichsam nichts
entgeht, „schaut mit den Augen auf die beiden Geschlech-
ter'' (Götter u. Menschen) II 2, 4; mit hundert Augen sieht
er (ratám cäkshäiio akshúbhir) I 128, 3; dieses Bild soll jeden-
falls seine außergewöhnliche Sehkraft bezeichnen, gerade
wie das Beiwort des Riesen Briareos „¡-ìtatóyzsiQov" A 402
dessen ungeheure Stärke ausdrückt, Varuna VII 34, 10
17 Die sich entsprechenden Objekte im Haupt- und Vergleichungs-
satz werden oft, wie an unserer Stelle, in doppelter Weise con-
struct: S. V. p. B6 f. (Cf. Anm. 43).
352
Hirz el.'
u. Indu IX 60, 1 u 2, resp. Sorna IX 65, 7 sind sogar
tausendäugig (sakasracakskâs)\ Agnis Augen sind abseits,
versteckt (rdimk), wenn er das Holz verzehrt X 79, 2r
man sieht sie nicht. Agni soll das Auge des heiligen Ge-
setzes sein: X 8, 5. — Die Açvinen werden II 39, 5 mit
Augen verglichen: aJcshi iva cákshushá yätam arali ; L. über-
setzt gut „wie Augen mit Sehkraft kommet her". Sie sind
bessere Bahnfinder selbst als das iUige mit fehlerloser
Sehkraft (aJcsknáf cid gätuv¿ttaránulbanéna cákshasci Vili 25, 9).
Leitet unsere Ergebenheit einen schönen Weg wie das
Auge den Gehenden sc. leitet, bittet der Marutverehrer
V 54, 6.18 Wie nach der Sonne das Auge, richtet sich
das Opfer (darnach, cf. L. IV 353) VI, 11, 5. Beliebt ist
die Vorstellung vom Sonnenauge im Veda wie bei den
Griechen. Das Auge, die Ushas, wurde durch die Kraft
der Götter erzeugt VII 76, 1 ; „die Göttin (Ushas), alle
Wesen rings beschauend, erstrahlet weit, ihr Auge zu uns
wendend" (G.): I 92, 9. Sürya ist das helle von den Göt-
tern (an den Himmel) gesetzte Auge {cákshur devdhitam
fukrdm VII 66, 16); der Sonne Auge wandert vom Luft-
raum umhüllt I 164, 14. Ushas führt der Götter Auge
VII 77, 3. Die Maruts machen das Auge der Sonne ver-
schwinden durch Regengüsse V 59, 5. Indra beschaut die
Welt mit dem Auge der Sonne VII 98, 6. Atri setzte der
Sonne Auge an den Himmel V 40, 8. Sürya ist das Auge
des Varuna I 50, 6 etc. il. des Mitra-Varuna: I 115, 1.
VI 51, 1. VII 63, 1. X 37, 1. „Auf geht euer schön-
gestaltetes Auge, entfaltend (ihren Glanz), die Sonne", so
werden VII 61, 1 Mitra und Varuna angeredet. Die sieben
Flüsse ließen das eine Auge — die Sonne — gedeihen
IX 9, 4. Die glänzenden Maruts sind so schön wie das
18 ádha sma no aràmatim sajoshasaç cákshur iva yántam ánu
neshathü sugám: das gemeinschaftliche Verb ist oft für den Ver-
gleichungsausdruck in einer anderen Person zu ergänzen ; cf. I
168, 5 p. 357.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
353
Sonnenauge V 59, 3. 10 Sürya sielit alles (•vifväcakshas)
I 50, 2. VII 63, 1; er sieht die Menschen (nfcakshas) VII
60, 2; ebenso Soma u. a. Götter. Savitar ist goldäugig
(hiranyäkshd) I 35, 8. I 72, 10 ist von den zwei Augen des
Himmels die Rede, d. s. natürlich Sonne und Mond; cf.
VIII 41, 9, wo es heißt, dass Varunas zwei scharfspähende
Augen über den drei Erden wohnen. Auch die Nacht
endlich hat ihre Augen, mit denen sie ausschaut X 127, 1.
Wir gehen zu den Griechen über. Bei Homer weisen auf
das Sonnenauge Stellen wie r 277: JHé)uog ¿>'og návr*
ecfOQÙç U. ä. I 109 f., S. El. 825 f.; h. Oer. 62: 'Hthov—,
t/smv üxonov tjóè xaì ccvóqwv. Allgemein heißt es 11 388:
&£oÙv on tv (Strafaufsicht) ovx txXéyovTsg, cf. £ 82. cp 28.
Zu X 127, 1 (Augen der Nacht, cf. o.) bemerkt Fritzsehe
Anf. d. Poesie p. 13 richtig, dass dieses Bild in der griech.
Mythologie eine Entwicklung genommen, die zu der aben-
teuerlichen Figur des mit Augen übersäten Wächters Argos
geführt hat (cf. auch Hense, poetische Personification etc.
I p. 27): der ".loyog navómr¡g (Ae. Suppl. 304 f., cf. Phoen.
1115) u. noli'yXrjvog (spätere D.) ist die Sternennacht; die
Sage vom Argostöter entstand unzweifelhaft auf Grund des
falsch verstandenen Hermes-Epithetons ^iqys'i^óvxrjg (cf.
Améis Anh. zu « 84). Sehr beliebt ist das Bild vom Sonnen-
auge u. ä. bei den Tragikern: Ae. frg. 186, 5 (192, 5 D): 6
ttccvtotttccc ïlXioç; Ch. 985 f.: ò návv' stiotitsvmv — ìlXiog;
Pr. 91: vòv ticìvótttì]v xvxXov r¡Xíov xaX¿>\ 796 f.: i\Xiog
■ïiQoôôèQv.stai âxrïaiv. Das Feuerauge der Sonne wird er-
wähnt Ae. frg. 293 (304 D.): rjXioç ttvqwttùç^ dasselbe Epi-
theton erhält der Blitz Pr. 667 ([tcvqwtiov — xsqccvvov) ; cf. die
Zusammenstellung solcher Metaphern des Aeschylus bei
Ritters, de conformât, usu Aesch. p. 10. Sophokles nennt
die Sonne Ant. 879 Xa/Anâôoç Isqov o[i[jia, cf. 104: ccfiéçag
ßltqaQOv (Arist. nub. 285: o/i^a aiO-éçoç)-, Trach. 102:
19 súryo ná cákshu ; beide Begriffe sind parallel construirt, statt,
wie wir erwarten, von einander abhängig! Cf. Anm. 11 u. S. V.
p. 94
354
Hirzel.
tln\ oí xqcctiötsvwv xat ofifia; Oe. C. 704 f.: o yccQ olìsv
oqcûv xîxàoç Xsvüasi viv fioçiov Jióg. Euripides spricht ä.
vom xalXißXsqaqov qàiç Ion 188; die gr. Phantasie ging
also noch weiter als die indische: nicht nur „Auge" nannte
sie die Sonne, sondern dieses Auge erhielt auch Augen-
lieder, so dass schließlich vom Augenliede des Tages u. ä.
gesprochen werden konnte. E. I. T. 194 f. finden wir
wieder tfifi avyàç akioç; ä. Hipp. 886: rò Gsfivòv Zr¡vóg
ofifAct, cf. Hes. O. 267: navra lôœv Aiòq oq&akfioç —. Hipp.
849 f.: ¿q-OQif (¡péyyoç áskíov, cf. E. El. 739: ÜsQfiav âsXiov
XQvGumòv %ÔQav. Während uns die Augen der Nacht nur
einmal im E V. begegneten, treffen wir sie bei den Tra-
gikern oft: der Mond ist Ae. Sept. 390 wxiòg òqd-aXfióg
(cf. Hense, poet. Personif. I p. 26 f.), Pers. 428 vvxròg
ofXfia (ebenso Pind. Ol. III 20: èonégccg òqfruXfxòv àvré-
Mïjva). Elim. 428: sooç xsXaivrjg vvxròg ofifi árpsi-
lero. Das Mondauge wird auch Ae. frg. 164 (169 D.) ge-
nannt: o fi ¡na Ar¡rwag xÓQrjg. Aus dieser Auffassung erklärt
Roscher Iuno und Hera p. 37 f. das Epitheton der Hera:
ßoconig. — J. T. 110 finden wir ebenfalls vvxròg onna
u. Phoen. 543 rvxròg % áqsyyi-g ßXeq.uQov. Nach vor-
stehenden Belegen können wir constatiren, dass, während
Homer das Bild vom Sonnenauge selten gebraucht, diese
Vorstellung sich bei den späteren Dichtern einer großen
Beliebtheit erfreut, zu einer Zeit also, die dem Veda un-
gleich ferner liegt als die Periode der homerischen Poesie.
Dass wir bei den Griechen genau dieselbe Vorstellung
wie im R V. finden, beweist uns, dass sie auf vorgrie-
chische, indogermanische Zeit zurückgeht, und es wird
reiner Zufall sein, dass Homer seltener als die Tragiker
vom Sonnenauge spricht.
Auch das Feuerauge war, wie wir o. gesehen haben,
der gr. Poesie nicht fremd; ich erwähne noch Ae. Pr. 253:
(fXoyo)Tròi' nÌQ , cf. 791: ngòg àvroXàg qloywnag ijXioön-
¡ßsig. E. frg. 690 heißt es: o fifia ycxQ nvgòg yé/isig, rarQog
Xéovrog o)g ßXincov ngòg ifißolrjv.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
355
e) Das Olir. Zu den Açvinen wird gesagt: seid uns
gut hörend wie zwei Ohren (karnäo iva suçrûtâ bhütam asme
II 39, 6); wie zwei Ohren mögt ihr auf den Befehl achten
X 106, 9.
f) Die Nase. „Seid Beschützer unseres Leibes wie
die Nase" (ein wunderliches Bild!) fleht der Sänger zu
den Açvinen II 39, 6 (nasevâ nas tanvà raksliitârâ ; es ist
nicht notwendig mit L. wegen des Duals näsä an die zwei
Nasenlöcher zu denken, denn derselbe steht jedenfalls nur,
um den Parallelismus mit dem Subjecte, das durch 2 Per-
sonen vertreten wird, herzustellen; man vgl. III 33, 3, wo
es von Vipät u. Çutlldrï heißt: vatsám iva matará samrihàné;
wir würden sagen „wie die Mutter ihr Kalb." Of.
Anm. 21).
g) Wange (Backe, ciprä).20 Agni ist goldwangig
[hirifiprä) II 2, 5; ebenso Indra VI 29, 6, der auch liärici-
pra (in derselben Bedeutung) heißt X 96, 4 u. 12. Von
Indras Backen (fipre) ist ferner die Rede Y 36, 2 und
VI 17, 2 heißt er backig (fipravän; çiprinîvân X 105, 5);
schön wangig {su ciprä) V 36, 5. VII 24, 4. VIII 21, 8;
32, 4 u. ö. Diese Epitheta erinnern uns unwillkürlich an
das Beiwort '/ccklmaQijog der homerischen Frauen, das 2
607 der Leto u. 0 87 der Themis beigelegt wird.
h) Mund. Von einer neuen Seite zeigt sich uns
Agni, wenn er mit der Zunge und den Zähnen seines
Mundes gierig das Holz verzehrt. Er häuft im Mund die
Speise an {yád óshadhir aòhisrshto vánuni ca pari svayám
cinushé ánnam âsyè X 91, 5); macht die Butterlöffel glühen
in seinem Mund V 6, 9 und in seinen Mund wird die Opfer-
spende (bavis) gegossen X 91, 15. Er ist starkmündig
(sväs) IV 6, 8, hat seinen Mund überall (cicvátumulha I
97, 7; L.s „aliantlitziger" ist ungenau!) wie auch Viçva-
20 L. gibt das Wort mit „Kiefer" wieder. Ich folge dem P. W.;
Kiefer ist hánu, cf. p. 857.
356
Hirzel.
karman X 81, 3. — Die Maruts, die Götter des Sturmes,
rauschen mit dem Mund (svdritära äsdbhih I 166, 11). —
VI 75, 15 wird der Pfeil gepriesen, dessen Mund Erz ist
(ydsyä dyo múkham) ; eine ganz ä. Vorstellung bekunden die
homerischen Worte O 389: %ax à ovó/xa eifxèva %aX-*oj sc.
\vaxá, womit zu vgl. Pers. 415: ifxßoXoig %alxoaxó¡jLOig.
i) Die Lippen. Von den Açvinen wird gesagt:
óshthàv iva màdhv âsné vàdanta II 39, 6; ich lese mit GL
valíanla-, wie Lippen, die Honig dem Munde zuführen (L.
„die Honig mit dem M. sprechen"!).
k) Die Zunge. Wir sprechen so oft von züngelnden
Flammen, dass wir uns des bildlichen Ausdrucks kaum
noch bewusst sind; der R V. belehrt uns darüber, wie alt
diese Metapher von der Feuerzunge ist. Zunge des Stieres
(jihvá — vrshno) wird die Flamme VI 6, 5 genannt. Agni
streckt die Zunge weit aus zu den Pflanzen II 4, 4 ; isst
unersättlich mit der Zunge die Hölzer X 79, 2, verzehrt
die Holzel- mit zerstörender Zunge (abhipramúra juhvá X
115, 2); umschlingt mit der Flamme alle Bäume und macht
sie schwarz mit der Zunge VI 60, 10. Mit der Zunge
soll er Flammen ausgießen IV 4, 2. An der ausgestreckten
(Opfergabe) sog er mit den Zungen (uttänam — adhayaj
juhübhih sc. ddksldnäm V 1, 3). Seine Zunge bricht die
Steine (drsliddam jihváyácadMt VIII 61, 4). Er wird als
Zunge der gewaltigen sc. Götter bezeichnet X 6, 5, denn
durch ihn, das Feuer, wird ja den Göttern das Opfer zum
Genüsse bereitet; des Opfers geheimnisvolle Zunge (j. —
guhyäm) heißt er X 53, 3. Schönzungig ist er ferner
(sujihva) I 14, 7; 142, 4. X 110, 2, wie auch Savitar III
54, 11. VII 45, 4 u. die Maruts I 166, 11. Die folgenden
Beiwörter malen Agnis Tätigkeit noch weiter aus : er hat
eine liebliche Zunge (mandrdjihva) IV 11, 5. V 25, 2;
V 26, 1 wird er aufgefordert, mit lieblicher Zunge die
Götter herzufahren; dasselbe Beiwort führen Savitar VI
71, 4, der v. 3 Mranyajihvas heißt u. Brhaspati I 190, 1
u. IV 50, 1. Eine angenehme Z. hat Agni ferner (rdmsu--
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
357
jilivati) IV 1, 8; eine honigsüße nahrungsreiche Z. (mddhu-
matl sumedhä) III 57, 5; eine Honigzunge (mddliujihvah) I
13, 3; 44, 6; 60, 3; eine lichte Z. (cucijihvo) II 9, 1; er
wendet seine spitzige Zunge nach den Gebüschen (rpidtik
tigrnám atasêslm jihvám IV 7, 10). Agni ward geboren mit
der Zunge zitternd (juhvü rójamüno) III 31, 3. „Trinkt
mit Agnis Zunge" ruft der Sänger den Göttern zu V 51, 2.
Die Maruts genießen vermittelst des Feuers die in dasselbe
gegossenen Spenden, deshalb heißen sie agnijihvd „den
A. zur Zunge habend" I 44, 14 u. ö. von den Göttern.
Die Maruts bewegen sich hastig wie die Zungen des Feuers
VI 66, 10 und leuchten wie Feuerzungen X 78, 3. — Zu
Indra sagt der Dichter „ergreif den siißen Saft mit der
Zunge" VIII 17, 5. Zu des Himmels Gewölbe rauschten
die madhuzungigen sc. Somatranke IX 73, 4; des Opfers
Zunge klärt ab teures madhu heißt es von Soma IX 75, 2.
1) Kiefer. Agnis Kiefer sind scharf, nicht kann man
ihnen widerstehen (tigmá asya liánavo nd pratidhfshe Vili
49, 13); weiter ausgemalt wird dieses Bild X 79, 1: die
Kiefer tun sich auseinander und ziehen sich zusammen,
verschiedentlich; die unersättlichen, kauenden essen viel
(nana hdriü riblirte sdm bharete dsinvati bápsati bltúry attah).
Ganz dieselbe Metapher gebraucht Aeschylus Ch. 325:
71VQOC fiaksQíl yvcc&og U. Pr. 368: noTcc[.ioì nvqug dámovrsg
ciyçicaç yvciDoiç x. t. 1. — Indras Kiefer werden V 36, 2
erwähnt. Hieher gehört auch das Gleichnis I 168, 5: wer
setzt euch, Maruts, durch sich in Bewegung wie die zwei
Kiefer mit der Zunge sich bewegen (? h'> vo 'ntdr—réjati tmdnä
l.dnvëva {Say. hanü!] jihrdyä; cf. Anm. 18 u. L. V 240).
m) Die Zähne. Das Feuer wild, wie wir gesehen
haben, mit Mund, Zunge, Kiefer ausgestattet; natürlich
dürfen auch die Zähne nicht fehlen! Viel vernichtet der
W underbare mit den Zähnen (jnlrâni das m ó ni rinàti jam-
bhair I 148, 4); Agni isst und kaut mit scharfen Zähnen
Ca. jámbhais tigìtair atti bhárcati — I 143, 5); selbst harte
Speisen verzehrt er mit den Zähnen IV 7, 10, ä. VII 3, 4
358
Hiizel.
u. VIII 43, 3; verzehrt die Hölzer mit kauendem Zalme
(sám y ó vana ywáte bhásmana data X 115, 2); gellt liber
Anhöhen und Täler kauend (bdpsat) X 142, 4, cf. I 143,
5 (o.). Deshalb heißt er glutgezahnt (tápurjambha) I 36,
16; 58, 5. VIII 23, 4; cf. X 20, 3: er erstrahlt mit der
Zahnreihe (bhrâjate çrénidan). Die Flammen sehen wie
Gold ans: Agni ist goldzahnig V 2, 3 (hirnyandantam)•
V 7, 7 u. VII 4, 2 wird er hellzahnig (çucidan) genannt
u. X 87, 2 tritt er mit ehernem Gebiss auf (áyodañsJitro).
Endlich heißt Agni gutgezahnt (sujdmbha) VIII 49, 13;
starkzahnig (cUújambha) III 29, 13 und scharfzahnig (tig-
nmjamhhd) I 79, 6. IV 5, 4; 15, 5. VIII 19, 22; 44, 27.
Er gleicht dem Zahn der Lanze an Glanz (so P. W.;
atharyö ntt dántam fuJcrám — IV 6, 8), cf. VI 7«f). 11, wo
die Pfeilspitze mit kühner Metapher Zahn genannt wird:
virgo asyä dántah, dieselbe wird also zugleich dem Kaub-
tiere verglichen, das erbarmungslos seine Beute zerfleischt.
Wir haben hier eines der vielen Bilder vor uns, das in
fast rätselhafter Kürze die weitere Ausmalung dem Hörer
resp. Leser überlässt. — Nicht ganz deutlich ist das Bild
X 68, 6: yada raldsya píyalo jáswn bhéd bfhaspátir agni-
tàpobhir arkaíh | dadbhir ná jihva párivishtam ádad „als des
schmähenden Vaia ,Räch en' (? L.) B. mit (Blitz-)strahlen
von|Feuersglut spaltete, [und] die Zunge den mit den
Zähnen gleichsam erfassten frass"; cf. L. V 482.
n) Bart. Agni ist goldbärtig (hiriçmaçruh) V 7, 7
und X 46, 5; diese Metapher wendet auch Aeschylus an,
Ag. 306: qÀoyôç /.úyccv nœywva und Euripides: nwycov tivqôç
nach Hesych. s. v. (cf. Cat. 61, 99: faces aureas qiiatiunt
comas). Indra hat ebenfalls goldfarbenen Bart (hdriçmaçâru)
X 96, 8 ; er benetzt den goldfarbenen Bart (çmdçruni hári-
tabhí pruslinute) X 23, 4; wir werden wol mit L. (cf. V
195) an den Blitz zu denken haben, der beim Gewitter
gleichsam vom Regen benetzt wird. Nach Analogie von
hdriçmaçâru (X 96, 8, o.) haben wir gewiss harita zu ç. ZU'
ziehen und nicht mit Say. als Istr. zu fassen, wie G.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
359
tut („den blonden Schnurrbart netzt mit Soma J. sich"!).
X 23, 1: den Bart mächtig schüttelnd steht er aufrecht
da (prd çmàçru dodhiu ad ürdhcdthä bhüd) erinnert uns einiger-
maßen an die vielgepriesenen Homerworte: 3H xaì xva-
vérjôiv su òqQVGi vsvös Kqovíoiv j cc¡li/?qÓüicci <fäqu. pattai
STisQQœùavTO avaxzoç I xqcctÔç an dOavároio fxéyav âJ
¿ÀéÀc&v "Oh'iinov A 528 ff. (Die Brauen des Zeus sind die
Wolken, cf. S. Ant. 528: vecpéXrj oqjçvwv. E. Hipp. 173:
oyQÍKov vicpoç. Dieses Bild ist meines Wissens dem K; V.
nicht bekannt). — ¿¡vyévsiog, das Homer nur als Beiwort
von Löwen verwendet, finden wir einmal, h. XIX 39, einem
Gotte, dem Pan, beigelegt: dg ïâsv öipiv c<iisiXi%ov, r¡vyé-
v810v.
o) Glied; Gelenk. Die Feuerstrahlen wurden, wie
wir o. gesehen haben, Haaren verglichen ; das Feuer scheint
aber auch gleichsam seine Glieder auszustrecken, wenn die
Flammen mit großer Behendigkeit um sich greifen. So
sagt denn der Dichter „mit roten Gliedern steigt er (sc.
Agni) zum Himmel" (dyám áñgebhir arusliêbhir ïyate I
141, 8); Agni ist der schöngliedrige {sváñga] X 1, 1;
leuchtet rings mit den Gliedern III 7, 4. — Indras Donner-
keil, der Blitz, wird treffend hundertgelenkig (çatdparian)
genannt: I 80, 6. VIII 6, 6; 65, 2; 78, 3.
p) Arm. Agni streckt die Arme weit empor I 95, 7,
cf. p. 302. Der himmlische Agni kommt, seine Arme wider-
holt austreckend, auf die Erde herab X 142, 5. „Indra
trägt den Donnerkeil im Arm" (vdjrabähu) : I 174, 5.
X 44, 3 u. ö.; dasselbe Beiwort führen Indra-Agni I
109, 7 u. Eudra II 33, 3. Die Blitze ruhen in den xArmen
der Maruts V 54, 11. Der Stier (Indra) schleudert den
vierschneidigen Behälter des Regens (den Blitz) mit den
Armen (vfshä vfshandkim cdturaçrim ásyann ugró bähübhyäm IV
22, 2). Die Maruts tragen viel Beglückendes in den hel-
denhaften x^rmen I 166, 10. Mitra u. Varuna fahren mit
Süryas Zügeln, gleichsam die Arme sc. schwingend (bahúta
ná dañsánü ratharijatah säkdm sáryasya raçmiblrih Vili 90, 2).
360
Hirzeil.
Welchen Sterblichen Mitra, Varuna u. Aryaman gleichsam
mit den Armen (bahúteoa) erretten, vor Schaden behüten,
der gedeiht ganz unversehrt I 41, 2. Indra ist arm-
stark (balivöjüh) X 111, 6; ebenso die Maruts VIII
20, 6 u. Vñyu I 135, 9. Savitar, der Sonnengott, streckt
goldenen Schein empor (hiranyáytm amátim VII 38, 1); da-
für sagt der Dichter oft : S. streckt die goldenen Arme
empor: VI 71, 1; cf. I 95, 7; 190, 3 p. 302. Die Sonnen-
strahlen erscheinen also in der vedischen Poesie (u. a.)
unter dem Bilde des goldenen Arms; anders ist im allge-
meinen die griechische Auffassung dieser Naturerscheinung,
cf. Fritzsche Anfänge der Poesie p. 15. Höchstens dürfte
das häufige Epitheton der Hera bei Homer, Xsvxúisrog
hieher zu ziehen sein, das h. XXXII 17 auch l£Xf¡vr¡ er-
hält und es liegt sehr nahe, hier an eine der altindischen
verwandte Vorstellung zu denken.
9) Hand; Finger. Die Açvinen sind wie Hände
dem Leibe am heilbringendsten II 39, 5 und gewähren
wie Hände Hülfe II 39, 7. Indra hat den Donnerkeil in
der Hand (vájrahasta) I 173, 10. II 19, 2. VII 32, 3
u. ö.; cf. I 81, 4: er nahm den Keil in die Hände. Indra
mit der schönen Rechten .(sudäkshina) wird VII 32, 3 und
VIII 35, 5, an letzter Stelle zugleich als mit der schönen
Linken (sushavyá) gepriesen. Indra und Püshan sind schön-
händig (suhásta) III 57, 2; ebenso die Rbhus IV 33, 8 u. ö.
Indra zerschmetterte den Vaia mit Gebrüll wie mit der
Hand (karéneva vi calcaría ráoena X 67, 6). Die Maruts
halten die Blitze in den Händen (vidyúddhasta) VITT 7, 25.
Savitar endlich ist goldhändig (hîranyahasta) I 35, 10; breit-
händig (prthüpäni) II 38, 2 u. schönhändig (supani) III
33, 6. VII 45, 4; schönhändig sind auch Tvashtar III
54, 12. VI 49, 9. VII 34, 20; Mitra-Varuna I 71, 9.
III 56, 7 und die Açvinen I 109, 4. Dem schönfingerigen
(svañguré) Savitar (IV 54, 4) stellt sich die oodoâàxrvloç
r¡aog des Homer zur Seite; die Lichtstrahlen wurden, wie
sich aus dieser Zusammenstellung ergibt, bei Indern und
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
361
Griechen auch als die Finger der Lichtgottheit aufge-
fasst.
r) Die Brust. Mit dein Vergleiche „lasst uns wie
Brüste anschwellen zum Leben44 wendet sich der Sänger
II 39, 6 an die Açyinen (stánáo ira pipyatam juáse nah).
Der glänzenden sc. Ushas Brust gleichsam wurde gesehen
(ùpo adarçi çundhyùco ná ráksJto I 124, 4); Ushas macht
sichtbar ihre Brust (ävir vákshoh krnushe —), wenn sie
erglänzt mit hoher Pracht VI 64, 2; cf. auch VII 96, 6,
wo von Sarasvats Brust die Rede ist.
Ich schließe hier einige Bilder vom Schöße an :
I 117, 5 wird eine Heldentat der Açvinen erwähnt: ihr
grübet den Vandana (Günstling der Aç.) heraus wie einen,
der in Nirrtis Schöße ruht (sushupváiisam ná nírrter upásthe
— úd üpathur açvinâ vàndanâya); ich folge hier wie 116, 11
(w. u.) mit L. der scharfsinnigen Erklärung Säyanas (cf.
L. IV 32). Es kann sich nur um die Errettung Van-
danas handeln, und deshalb halte ich die Ueberzeugung von
G. wie von Bergaigne (der ein „ihn sc. Rebha" ergänzt,
lì, V. III 19: vous l'avez déterré afin de le faire briller
pour V.) für falsch. Der Tote ruht in Nirrtis Schoß;
der Grieche gebraucht statt dessen einen andern, aber
ebenfalls bildlichen ilusdruck: das Hadeshaus wird, wie
bekannt, oft als Aufenthaltsort des Dahingeschiedenen
genannt, cf. z. B. X 52: si ó r¡ór¡ rs&vàoi jtal slv 'AiSao
dófxoiGiv. — Aus dem Schoß der Berge hervor eilen die
Flüsse (pärvatänam — updsthäd) III 33, 1 ; der Schlachten
Schoß wird erwähnt VI 75, 1 (samádam u.) und noch sehr
oft finden wir upástha bildlich gebraucht: cf. G. Wb. s. v.
s) Nabel. Den Soma und Ptishan machten die Götter
zum Nabel des ainrta d. h. zum Mittelpunkt des Unsterb-
lichkeits- (Götter-) gebietes II 40, 1; undeutlich sind die
Worte IV 58, 1: die Zunge der Götter ist des amrta
Nabel; nach X 6, 5 (p. 356) liegt es nahe, an Agni zu
denken, der ganz passend amrtasya nâbhih genannt werden
konnte; cf. I 59, 2: Agni n. vrthivyá, I 164, 34 u. 35
362
Hirzel.
wird nach dem Nabel der Welt (bhuvanasya n.) gefragt
und das Opfer (yajila) als solcher bezeichnet. Noch oft
wird nñblii bildlich gebraucht zur Bezeichnung des räum-
lichen oder geistigen Mittelpunkts; sämtliche Stellen liier
zu besprechen, würde mich zu weit führen und ich ver-
weise auf Gr. Wb. Bekannt istTò/ii(paXòg — i>al¿^ar¡q bei
Homer (« 50); cf. N 192: ácnídog o^MfctXov. Auch die
Tragiker gebrauchen das Wort bildlich im Sinne von
Mittelpunkt: Ae. Sept. 746 f.: hv [leGofMpâloiç ilv'dixolç; Ag.
1056: EüTÍag /ueGo¡li(pc<yov. Oe. R- 897: yàç in' o¡ug>akóv.
Med. 668: ri â' òfiq.aXòv yr¡g dsGjiiopóòv éúzákrjç;
t) Indras Hüfte (sphigì) wird III 32, 11 und VIII
4, 8 erwähnt,
u) Der Rücken. Den selbsterzeugten (Agni, d. h.
seinen Wagen, der ja oft genug erwähnt -frird, cf. z. B.
V 1, 11) bestiegen die Wesen wie (Berges-)rücken (abhim
aha svdjenyam bháma prshthéva ruruhuh V 7, 5 ;21 dass an
Bergrücken zu denken ist, beweisen andere Stellen, wo
ausdrücklich vom Rücken des Berges die Rede ist: V 36, 2:
párvatasya prshtJié; VI 24, 6: párvatasya prshthád. Vom
prshthá des Agni wird I 58, 2 gesprochen; vom Rücken
des Gandharven X 123, 2 und von dem Somas IX 14, 7
und 102, 3. Sehr oft bezeichnet das Wort die Himmels-
höhe: I 115, 3 etc.; ähnlich jyrsththàni ródasor IX 22, 5*
Das Opferfeuer wird mit ghrta beträufelt: deshalb hat
Agni einen ghrta-Rlicken: V 4, 3; 37, 1 (ghrtáprshtha)
u. ö. ; dasselbe Beiwort erhält die Opferstreu (barhís) I
13, 5. Die Presssteine tragen den Soma gleichsam auf
ihrem Rücken; so erklärt sich „sómaprshthàso ádrayah"
21 Dass hier ein Plural einem Singular des eigentlichen Aus-
drucks gegenüber gestellt wird, ist nicht auffällig, da oft die Con-
cordat fehlerhaft ist; cf. IX 86, 16. VIII 27, 22. V 40, 5. IV
20, 3. Umgekehrt finden wir oft einen Ausdruck im Plural des
Parallelismus wegen, wo der Singular am Platz wäre: IX 93, 2.
X 75, 4.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda. 363
VIII 52, 2; auch Agni wird so bezeichnet: VIII 43, 11
und X 91, 14. Wie der i. Hymnendichter von dem Berg-
und Himmelsriicken, spricht Homer vom Meeresrücken: in
fiQta runa Ü(xXáacr¡g B 159; ä. Hei. 774: nóviov 'ni
voozoïç. Zu vgl. ist auch I. T. 46: xtf°iôç âè vôtrcc u.
161: yciíag èv vwtol.ç
y) Schenkel. Der gar nicht zum Liede VIII 1 ge-
hörige Vers 34 enthält den obscönen Vergleich: sein festes
(Glied) wurde sichtbar, vorn wie ein knochenloser Schenkel
herabhangend (dnv asya stliürdm dadrçe purdsthäd anasthá
ürúr ava rámbamdnah). I 28, 2 werden die beiden Teile
der Somapresse zwei Schenkeln verglichen: y atra dváv iva
jagliánadliisliavanya krta.
w) Fuss. Zu den Açvinen spricht der Opferer: wie
zwei Füße geleitet uns zum Heil (jjádeva no nayatam
vdsyo dulia II 39, 5); wie zwei große Männer mögt ihr
einen Standort in den Tiefen finden, wie zwei Füße, für
den, der die Tiefe (des Gewässers) durchschreitet (—pra-
tislithum pudeva gädlidm tarate vidäthah X 106, 9, cf. p. 374).
Vermöge der abwärts führenden Bahn (seiner) Kräfte
geht Indra wie zu Fuße dahin (pravdtä lü krdtünäm d lia
padéva gdcchasi IV 31, 5), d. h. wenn er wie ein Mensch
einherschreitet, bewegt er sich mühelos, ohne Anstrengung,
in Folge des natürlichen Kraftprincips. — Wie die Füße
vorsetzend, den einen um den andern, macht er den Vor-
dem (den höher gestellten Menschen) zum Hintern (pâdàv
iva pralidrann anydm-anyam krnoti pürvam aparara çàcîbhih
VI 47, 15). Die allkundigen, Mitra, Varuna, Aryaman,
folgen den Geboten gleichsam mit dem Fuße (— vratu
padéva safcire V 67, 3; G. gut: „Schritt für Schritt").
Der Sänger hebt an das Lied, das gleichsam mit dem
Fuß (dich, Indra) zum Opfer geleitet (jpadéva pípratim
prádhvaré Vili 12, 31. —
Anhangsweise füge ich diesem Abschnitt noch den
Vergleich X 134, 5 bei: wie Schweißtropfen ringsum
(am Körper niederrinnen), sollen nach allen Seiten die Ge-
Zeitschrift für Völkerpaych. und Sprachw. Bd. XIX. 4. '¿5
364
Hirzel.
schösse niederfallen (áva svedá ivabkito víshvak pat ant u
didydvah).
B. Altersstufen.
Bei der Betrachtung der hieher gehörigen Bilder
können wir den Menschen yon seiner Wiege bis zum Tode
begleiten. Einige allgemeine Vergleiche mögen vorerst
Erwähnung finden. Den Agni schmücken mit Verehrung
(verherrlichen) wie einen Lebendigen (äyilm nd) die willig
opfernden fünf Völker VI 11, 4; anders Say. u. G. (cf.
Bacch. 8: TivQÒg %n cpXóya). Agni ist wie das Leben
Lebenshauch (âyur nd pruno) I 66, 1 und wird wie heil-
samer Lebensodem zu gewinnen gesucht (atméva çévo
didhisMyyo bhñt I 73, 2). Der Wind ist^Varunas Hauch:
atmá te váto rdja à navlnot VII 87, 2; ähnlich wird Väyu
ätma denanäm X 168, 4 genannt. Sürya ist der Lebens-
hauch des Gehenden und Stehenden I 115, 1. — Der große
Brhaddiva rief den Indra als sein eigenes Selbst (svâm
tanvàm) X .120, 9. — Varuna schied mit einer Stütze die
zwei Welthälften wie der Ungeborne (ajó nd, das uran-
fängliche göttliche Wesen) den Himmel sc. hielt22 VITT
41, 10.
a) Zeugung. Geburt. In den zwei Reibhölzern
hat Agni seinen Platz wie die wolbeschaifene Leibesfrucht
in den Schwangeren (gdrbha iva sildhito garbhimshu III
29, 2). In Vers 3 desselben Liedes haben wir ein weiteres
Bild von der Feuererzeugung : auf das ausgestreckte (untere,
als Weib gedachte Reibholz) lege (das obere); sogleich
22 Sehr häufig passt das Verb oder ein anderes Glied des Haupt-
satzes nicht für den Vergleich und wir müssen dann für den letz-
teren eine dem Sinn entsprechende Ergänzung suchen. Wir werden
solchen Fällen oft begegnen ; beispielsweise vgl. man I 65, 4 ;
186, 9. II 31, 7. V 9, 4. VI 49, 12. VIII 77, 1. IX 86, 16.
X 89, 7. Diese sprachliche Nachlässigkeit ist ein auffalliges Charac-
teristicum der vedischen Gleichnissprache und ist sorgsamer Be-
achtung wert.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda. 365
gebar es, geschwängert, den Stier (Agni); cf. Vers 1, wo
das „zeugende Reibholz" und „die Gebieterin" zur Feuer-
reibung in Stand gesetzt werden; V 7, 8: (ihn) gebar die
gut gebärende Mutter — (sushür asütä mata) d. i. das
Reibholz und V 9, 3 p. 367. — Wie der Gatte den Keim
legten die Maruts ihre Kraft hin (auf die Erde; bhdrteva
gárbham svdm ú chavo dhuh V 58, 7). Vüyu ist der Keim
der Welt (bhúvcmasya gárbho X 168,4); Soma ist Erzeuger
(janità) der Lieder, des Himmels, der Erde, des Agni, des
Sürya, des Indra, des Vishnu IX 96, 5. — II 16, 8 wird an In-
dra die Bitte gerichtet: einmal (noch vor der Schlacht) mögen
wir uns mit deinem Wolwollen vereinen wie mit den Gat-
tinnen zeugungskräftige sc. Männer (pdtnibhir nei visitano) ;
Ludwigs Auffassung der unklaren Worte (cf. V 59) ist zu
gesucht. Auf ein bei der Somabereitung verwendetes
Gerät scheinen sich die rätselhaften, bildlichen Worte X
101, 12 zu beziehen: das Glied richtet auf, treibt es an,
stoßt es hinein zu Beutegewinn (kdpm narah kaprtlidm
úcl dadhätema codáyata khuddta vâjasàtaye); auf die Soma-
pressung bezieht sich wol auch das Bild X 101, 11: ubhé
dhilrau váhnir äpibelamäno 'ntdr yóneva carati dvijánih
„zwischen der Gabeldeichsel bewegt sich das erstarkende
Zugtier wie ein Mann, der zwei Weiber hat, auf seinem
Lager" (Z. p. 250). Mit dem Zeugungsacte wird auch die
Bewegung der Mörserkeule bei der Somabereitung ver-
glichen: wo das Weib das Hinwegstoßen und Andrücken
lernt (ydtra ndry apacyavám upacyavàm ca çikshate I 28, 3).
In dem späten Liede V 61 wird Vers 3 von den Maruts
gesagt: die Männer streckten die Schenkel auseinander
wie bei Kindererzeugung die Frauen (putrakrthé nà jd-
nayah). Der Eegen ist Parjanyas Samen; deshalb nennt
der Sänger den Pfeil, dessen Schaft in Folge des Regens
gewachsen ist, aus Parjanyas Samen entsprossen (parjd-
nyaretas) VI 75, 15. Den Soma tragen Himmel und Erde
wie die Leibesfrucht die Mutter (gárbham nà mata III
46, 5).
<. o 5*
366
Hirzel.
Die folgenden Bilder beziehen sich auf die Ge-
burt: wie an der Geburt des eigenen Sohnes, habe Ge-
fallen, Agni, an meinem Preislied (jánmeva nttyam tdnayam
jushasva stómam — III 15, 22:i). Wenn ihn, den Agni,
Nacht und Ushas gebären, ersteht das weiße Koss (d. h.
Agni als Sürya, cf. Teil II sub väjin) bei der Tage An-
bruch Y 1, 4. Den Agni erzeugten die Wasser als Mütter;
ihn nahmen auf als Keim, der nach dem heiligen Gesetze
sich richtet, die Pflanzen und Bäume und Kräuter, schwan-
ger, gebären ihn X 91, 6; mit anderen Worten, der vom
Himmel strömende Kegen befruchtet die Pflanzenwelt
und diese schenkt dem Agni das Leben: die bekannte alt-
indische Vorstellung von der Entstehung des Feuers! Agni
ist der schöngeborne (sujata) II 1, 15. X 7, 6 u. ö. (auch
Epitheton der Açvinen: I 118, 10; der Ushas I 123, 3
h. ö.; der Maruts I 88, 3 u. ö.; des Mitra u. Varuna VIII
25, 2; des Aryaman VII 64, 1), und der holzgeborne (m-
nejá) X 79, 7. Die beiden Welten enthüllte Savitar wie
die Frau die Geburten sc. an das Licht bringt {ródasi —
dplva yóshà jdnimäni vavre III 38, 8; ich lese mit L.
dpeva für das unverständliche api-iva — ). Als Indra den
Strömen freie Bahn schuf, ließen die Felsen wie Frauen
die Leibesfrucht (sc. die Wogen) hervorbrechen {cibili prd
dadrur jánayo na ydrbham — ádrayah IV 19, 5; a. p..
dadrur ist jedenfalls transitiv. G. K. 70 L. ungenau „ge-
bärend gleichsam barst der Schoß der Steine"). Unklar
ist V 78, 5: tu dich auf, Baum, wie der Leib einer, die
gebären will (vi jihìshva vanaspate yónih süshyantyä iva);
cf. die Vermutung Ludwigs V 405; Graßmanns „Block-'
ist nicht zu belegen. — II 29, 1 : Ädityäs, schafft weg
von mir die Sünde wie eine heimlich Gebärende sc. das
neugeborene Kind, wie Säy. erklärt; cf. über diese Stelle
Z, p. 333.
-3 Sohn und Geburt des Solines parallel construirt: S. V. p. 100
u. Anm. 4; wörtlich „wie an der Gebart, (und) dem Sohne sc..
welcher derselben entspringt."
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
.367
b) Das Kind. Pas Reibholz gebar den Agni wie
ein junges Kind (ciçum yathä nàvam V 9, 3); derselbe ist
gleichsam das rote Kind des Himmels IV 15, 6, mit wel-
chem Bilde der Dichter den Blitz bezeichnet, wie auch X
4, 3, wo es heißt: wie ein edelgebornes Kind dicli er-
ziehend nährt dich die Mutter (d. i. die Wolke) mit Zärt-
lichkeit (f. ná tvä24 jényam vardháyantl mata bïhJiarti saca-
nasydmanä). Agni trägt man wie ein gebornes Kind (c.
jütúm ná VI 16, 40). Der Mutter Versteck weiter auf-
suchend, kroch er wie ein Kind in die weitverzweigten
Pflanzen (humará ná vìrddhah sarpa cl urvih X 79, 3. cf.
Ludwigs gute Erklärung IV 412). Oft wird Agni „das Kind"
genannt, so XI, 2: Bunt kam das i\ind durch Finsternis
und Nacht von den Müttern (den Pflanzen) her. VI 48, 5
heißt er „Spross des heiligen Gesetzes" (gárbliam rtásya);
weitere diesbez. Stellen s. b. G. Wb. s. vv. garbha und
çiçu. Wie dem Kinde jauchzen alle unsterblichen Götter
ihm zu, wenn er geboren: VI 7,4. — Indra bestieg als
kleines Kindlein den neuen Wagen (arbhakó ná kumärak»
'did tishthan nàvam rátham Vili 58, 15 ; ná ist hier quali-
fleirend und entspricht unserem „als"). Die Maruts spielen
(wenn sie im Sturme dahinsausen) wie Kindlein, die eine
schöne Mutter haben (çiçulâ ná Im Uly ah sumdtáro X 78, 6);
sie weilen im Hause schönen Kindern gleich (liarmyeslithâh
çiçavo ná cubi irà VII 56, 16). Der Sänger verneigt sich
vor dem herankommenden Rudra wie das Kind vor dem
von ihm geehrten Vater (kumaràç ait pitáram vàndamânam
práti mnâma rudropayántam 11 33, 12). Wie ein (neu-)
gebornes Kind schrie Soma im Holze (çiçur ná jato 'va
cakradad váne IX 74, 1); der verschwisterte (Somatrank,
mit Milch gemischt) hüllte sich in das Gewand wie zum
24 Wie das gemeinschaftliche Verb fAnm. 7) und das Relativ-
pronomen (Anni. 12) wird auch das zum Hauptsatz gehörige Per-
sonalpronomen gern in den Vergleichungssatz gestellt; cf. VITI
48, 6; 87, 8. VII 18, 4.
368
Hirzel.
Genüsse (der Muttermilch) das Kind an die Brüste sc.
sich schmiegt (? à jämir átke avyata bhujé ná puträ onyòh
IX 101, 14). Wenn Soma sich klärt, hüpft er wie ein
Kind (ç. nä hrilan IX 110, 10). Wie mit der Mutter das
Kind (säm mâtrbhir nä p.; der pl. mâtr. wegen des flg.
aclbhzh, cf. .inni. 21) lief brüllend der Stier (== Soma) mit
den Wassern IX 93, 2. Soma soll wie ein Kind durch
das Opfer geschmückt werden IX 104, 1: çiçum nú ya-
ßaih pari bhüshata —; wie ein Kind erfreut man ihn mit
Opfern und Lobliedern IX 105, 1. Das Kind (Soma) lieb-
kosen (wörtl. „lecken" rihanti) die Lieder IX 85, 11. —
Sonne und Mond umlaufen (wie) zwei Kinder spielend das
Opfer X 85, 18. Wie zum Kinde, wie eine (von Milch)
strotzende (Mutter) kommt Sindhu (çiçum nä pipyúshiva
veti s. 1106, 5: doppelte Vergleichungspartikel, cf. IX 64, 7).
Den Vena liebkosen wie ein Kind die Sänger mit Liedern
X 123, 1. Unklar ist mir VI 75, 17: wo die Pfeile zu-
sammenfliegen, wie Kinder kahl (? humará viçihhâ iva;
L. „deren Haarschopf aufgelöst), da soll uns Brahmanaspati
— Schutz verleihen. Unsere griech. Dichter liefern einige
Parallelen zu obigen Bildern: Teukros naie, wç vnò
ôvdxsv eie AÏaviï ' u âé ¡.iiv Gansï xQvmaüxe — 0 271; in
den übrigen Gleichnissen Homers vom Kinde (ausgen.
0 362 u. II 7) ist das kindische, törichte das tert. comp.
(yrjiiog, vijnvTioç u. ä.): B 337: die Danaer reden naiaiv
èoixótsg, ä. ô 32; N 292 U. Y 244: ¡atjxszi xavxa Isyco-
fied-ct vi\nvTioi coç. Cf. Y 200 u. 431; h. Merc. 151 if.,
163 if. Der RV. hat ein derartiges Gleichnis, wie wir
gesehen haben, nicht aufzuweisen. — Sophokles sagt Phil.
701 f.: elqns — naîç cirsq wç cpíXag rid-r¡vag. Aeschylus
spricht Pers. 618 von den Pflanzen und Suppl. 1026 f. er-
wähnt er noTa/uoi/ç ó° oï âià xùqocç ^sXsfxòv ti ¿fia %éovaiv
TioXvrexvoi.
c) Wachstum. Agni wächst gleichsam im Verbor-
genen an seinem Sitze (gúhevci vrddhäm sädasi — III 1, 14).
Um Indras Größe zu verherrlichen, sagt der Dichter zu
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
369
ihm: über das All bist du hinaus gewachsen ('ti viçvam
vavakshitha I 81, 5), cf. I 102, 8. Vili 51, 2. Durch
den Somagenuss ist Indra an Kraft gleichsam größer ge-
worden VI 44, 3. —
Tag und Nacht, die zwei Alt ersgenossen (sävayasä)
streben abwechselnd demselben Ziele nach I 144, 3. Die
Maruts sind ebenfalls Altersgenossen : I 165, 1.
d) Jüngling. Ihn — den Agni — wie einen jugend-
lichen (Sohn, und dessen) Ruhm umfingen die zwei Welten
(tarn id yahvàm ná ródasi pari çràvo babhüvatuh V 16, 4).
Das Wasserkind (apum ncipät, d. i. Agni als Blitz), das ein
Jüngling (yiivänam), liebkosen Jungfrauen, die Wasser
II 35, 4. Wie Agni werden insbesondere Indra und die
Maruts, sodann auch andere Götter als „Jünglinge" be-
zeichnet, cf. G. Wb. s. yúvan. Die Açvinen sollen den
Lobgesang genießen wie Jünglinge ein Mädchen (stómam
jushethàm yuvaçém kanyanäm Vili 35, 5). Soma schmückte
sich mit den Töchtern des Vivasvat (d* i. den Fingern: p.
386) wie ein glänzender Jüngling (gubhró ná mâmrjé yúva
IX 14, 5; cf. Anm. 7).
e) Jungfrau. Atri rief die Açvinen zu Hilfe wie
eine bittflehende Jungfrau (nadhamcmeva yóshà V 78, 4).
Zu den Açvinen trug die Fliege (Biene) den Honigsaft im
Munde wie eine Jungfrau zum Stelldichein sc. geht (yu-
v&r ha mdkshä páry a. mádhv asá bharata nishkrtám ná yó-
shanà X 40, 6); die richtige Erklärung dieser Worte hat
Bergaigne, S. V. p. 89 gegeben: nla formule nishkrtam n.
y. était donnée par les phrases qui contiennent un verbe
signifiant 'aller7 X 34, 5, cf. IX 93, 2 et I 123, 9; IX
69, 4; 86, 32. Elle est introduite ici dans une nouvelle
phrase où Vidée d'aller n'est pas exprimée, mais seulement
suggérée par l'expression d'une autre actionGewiss ist
dies richtig und deshalb Ludwigs „zubereitete Speise" zu
verwerfen. Anm. 2 deutet Berg, die Fliege als den Priester,
der den Aç. seinen Gesang anbietet; ich glaube nicht,
dass wir dies in den Worten suchen dürfen ; die Fliege
370
Hirzel.
schlürft das madlm und fliegt zum Himmel, um es den
Aç. zu überbringen, das ist ein Bild, womit veranschau-
licht werden soll, wie die in Wirklichkeit nicht beim Opfer
erscheinenden Götter ihren Tribut empfangen. — Ushas
kommt wie eine schöne Jungfrau (yósheva sundry a. —
I 48, 5); sie ist strahlend genaht wie eine Jungfrau (yu-
vatir nd yóshà VII 77, 1), naht dem (nach ihr) verlan-
genden Gotte wie eine Jungfrau, die auf ihren Leib stolz
ist (kanycvct tanvà çaçadànà I 123, 10). Einer von der
Mutter geschmückten Jungfrau gleich lässt sie ihren Körper
(sich? tcinvàm) sehen (màtrmrshteva yóshà I 123, 11). Die
Himmelstochter senkt wie eine treffliche Jungfrau Männern
gegenüber ihr Antlitz (rirn yósheva lit adra ni rinite dpsah
V 80, 6; die Bedeutung von apsas ist nicht sicher, den
besten Sinn gibt L.s „Antlitz"; P. W.: Wange; G.: Busen).
Bruderlosem Mädchen gleich, wendet sie sich Männern zu
(àbhrâtéva puhsá eti pratici I 124, 7). X 3, 2 ist von der
Ushas als der Jungfrau, die des hohen Vaters (Dyaus)
Kind, die Rede (— yósham hrhatdh pitür jam)-, noch öfter
wird sie Jungfrau genannt: I 92, 11; 101, 7; 123, 9.
Ushas und Nacht sind die zwei großen himmlischen Jung-
frauen (;yóshane divyé mahi VII 2, 6), cf. I 62, 8: von
Alters her wandeln um Himmel und Erde die verschieden-
farbigen, wider erstehenden Jungfrauen (yuvatï). Der
Sänger soll die Marut- Schar herankommen machen wie
durch eine Gabe das Mädchen (yoslidna) den Freund V
52, 14. Die Somatränke sind geschmückt einer Jungfrau
gleich, die das väterliche Vermögen besitzt (yósheva pf-
tryävati IX 46, 2); des Soma Strahlen sind (an glänzender
Erscheinung) Jungfrauen gleich IX 96, 24. — Die mütter-
liche Erde soll, eine Jungfrau, dem, der Opferlohn gab,
den Toten vor Nirrtis Schoß schützen X 18, 10. Nie-
mand vermag den Pfeil — das Sonnenross Tärkshya —
aufzuhalten, der einer Jungfrau gleicht (nú smà varante
yuvatím nd çàryâm X 178, 3); wie oft sind hier Metapher
und Gleichnis in ein Bild zusammengedrängt. Das Sonnen-
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
371
ross schießt rasch dahin und wird deshalb einem Pfeil
verglichen, zugleich aber veranlasst seine Schönheit den
Vergleich mit einer Jungfrau; an Stelle des ersten Ver-
gleiches tritt die Metapher: der Pfeil gleicht somit einer
Jungfrau. Bergaigne hat eine ganze Reihe von solchen
Beispielen in seinen observations s. 1. fig. de rhét. dans le
R V. (S. L. IV 96 if.) zusammengestellt. — Die Wasser
des Himmels umwandeln liebkosend als Jungfrauen das
Wasserkind d. i. den Blitz II 35, 4. Sindhu ist eine Jung-
frau: X 75, 8. Auch die Griechen machten von letzterem
Bilde Gebrauch: Hesiod: wç ttqoqswv, o)ç aßorj nuq-
ttévoç sìaii' (frg. CCLV). Ae. Pers. 61 3: nao'Hrov TCi¡yr¡g
fièra. E. Hei. 1: Nsílov — ■/.aXXinaQ'HviOi óoaí. — Die
Ghrtaströme eilten zu Agni wie Jungfrauen zum Stell-
dichein (sámaneva yóshah — IV 58, 8); wie Jungfrauen,
um zur Hochzeit zu gehen, mit Schmuck sich schmücken,
sehe ich sie, sagt der Dichter Vers 9 (kanya, iva vahatúm
étavà u añjy añjüná —). Als Jungfrau naht dem Agni
abends und morgens der ghrtareiche sc. Löftel VII
1, 6. Wie zu einem Stelldichein Jungfrauen, gehen zum
Winde (die Wasser? mm prerate ánu, vátasyci vishihÁ aí-
nam gaclianti sámanam ná yóshah X 168, 2; Bedeutung
und Construction von vishthä sind unklar. Ich schließe
mich der Auffassung L.s an, die allein einen guten Sinn
gibt: „es stürzen nach ¡die Wasserj des Windes Bahnen,
wie — kommen sie zu ihm"). Die Sehne schwirrt (çiïikte,
L. „lispelt") wie eine Jungfrau sc. spricht, lang ausge-
spannt am Bogen VI 7 5, 3 ; das A erb lässt sich schwer
übersetzen ; jedenfalls soll das Erklingen der Bogensehne
mit der Sprache einer Jungfrau verglichen werden. Vers
4: die beiden sc. Bogenenden gehen (einander) zu wie zum
Stelldichein Mädchen. — Im Flusslied III 33 spricht der
Fluss zu Viçvâmitra: dir will ich mich hingeben (? oder
„verbeugen"?) wie die Jungfrau dem Freier (máryayeva
kanya. çaçvacaite, Vers 10). — Sehr oft werden die Finger,
die das Feuer hervorbringen, als Jungfrauen bezeichnet:
372
Hirzel.
I 95, 2: zehn Jungfrauen zeugten diesen, cf. I 141, 2.
IX 1, 7 etc. Des Trita Jungfrauen heißen die Soma kel-
ternden Finger IX 32, 2 und 38, 2. — Aus Homer lässt
sich höchstens B 872 hieherstellen, wo von einem Helden
gesagt wird: %qvgòv %ywv r¡vxe xovqtj. Das Bild von der
jungfräulichen Morgenröte kennt er nicht.
f) Heirat. a) Buhle, Freier, Bräutigam,
Braut. Agni ist gleichsam Buhle der Ushas (ushó ná
járáh I 69, 1 = 69, 5 = VII IO, 1); I 66, 4 heißt er
Buhle der Jungfrauen d. h. der Ushas, wie uns obige
Stellen lehren; X 11, 6 wird er einfach Buhle genannt.
Auch vom Buhlen des Opfers (adhvarásya jarám) wird ge-
redet X 7, 5. Ushas kommt gleichsam zum Buhlen (Sürya),
wenn sie erscheint VII 76, 3; der Schwester geht der
Buhle, d. i. Sürya nach X 3, 3. Zu Väyu wird gesagt:
erwecke Fülle (Reichtum) wie ein Buhle die schlafende
(jará â sasatim ira I 134, 3). Dem Soma brüllen die Kühe
(die Milch, die ihm beigemischt wird, cf. Teil II sub Kuh)
zu, wie das Mädchen dem lieben Buhlen sc. zuruft (alhi
gavo anüshatci yósha jarám iva jrriyám IX 32, 5), ä. IX
56, 3; Soma geht wie ein Buhle zum Mädchen IX 38, 4;
ä. IX 96, 23 (cf. IX 96, 22 p. 386) u. 101, 14. Rjrâçva
schlachtete 101 Widder wie ein junger Buhle I 117, 18:
cf. R. V. III p. 10 (u. 9). Die Flüsse haben zum Buhlen
den Burgenspalter (Indra) X 111, 10. — „Indra, wie ein
Liebender {venó ná) höre unsern Ruf", fleht der Sänger
VIII 3, 18. — „Ich gehe zum Stelldichein (der Würfel)
wie eine Buhlerin" (émkl esham nishkrtám jarinlva) sagt
der Würfelspieler X 34, 5. — Oft wird der Götter Stell-
dichein {nishkrtám) erwähnt: III 62, 13. IX 69, 4; 78, 1;
86, 7; 107, 22; dasjenige Indras: VIII 69, 7. IX 15, 1;
61, 25; 64, 15; 86, 16; 101, 16; des Indra-Väyu IX 13, 1.
— Die Frommen schmückten wie Unvermählte zu den
Zusammenkünften die Tore (— agrüvo ná sámaneshv VII
2, 5; die Stelle ist unklar). Schwierig ist VIII 51, 9:
sámaneva vapiisiiyatáh krndvan mánusha yugá; ich liber-
!
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda. 373
setze: ,.zu Versammlungsplätzen gleichsam für sich, den
Bewundernden, mache er (Indra) die Menschengeschlechter ".
— Agni gleicht einem Freier (máryam ná — VIII 43, 25),
trägt den Schmuck eines Freiers (mdryaçrîk) II 10, 5.
Der Säuger hat das Loblied den Açvinen zugeführt wie
die Jungfrau dem Freier (yóshanám ncí márye X 39, 14).
Einem Freier gleich, der seine Braut lieb hat, rufe ich
Indra herbei (máryo ná yóshüm abhí mányamfmó 'cha vi-
vaJcmi — índrcim) : IV 20, 5. Gern stellt man sich die Maruts
als schmucke Freier vor: sie sind schön von Gestalt wie
Freier V 59, 3 und 5; cf. VII 56, 16 und X 77, 3. Wer-
benden Freiern gleichen sie {yareyévo ná máryá) X 78, 4;
wie reiche Freier (vara ivéd raivatâso) schmücken sie sich
mit Goldschmuck V 60, 4. Des Rudra Schmucke heißen
sie I 64, 2 und X 78, 1: ksìiitniàm ná màryâ arepásah.
Sürya geht der Ushas nach wie der Freier der Jungfrau
I 115, 2. Wie der Freier mit Jungfrauen zusammen-
kommt, (so strömt) Soma dem Becher zu (márya iva yuva-
tíbhih sani arshati sómah kalàçe — IX 86, 16; wir haben
hier wider einen Fall von Inconcordanz der zwei Glieder,
indem sam nur zum ersten Gliede gehört und dem Instr.
PI. yuv. der Loc. Sing. kal. gegenüber stellt [cf. Anm. 21];
doch lässt sich auch nach Analogie der folgenden Stelle
ein usriyabhih ergänzen, wodurch die Inconcordanz erträg-
licher wird. Soma vereinigt sich im Becher mit den Kühen
(= Milch) wie der Freier, der zum Stelldichein geht, mit
dem Mädchen (máryo ná yóshüm abhí nisìchrtàm yánt sám
gacJiate JcaMça usriyábhih IX 93, 2). Er gleicht ferner
dem schönen Freier, der sich schmückt IX 96, 20; einem
Freier mit Hausbesitz (m. — pastyävan) ÌX 97, 18, cf. IX
101, 14; er ergötzt sich an den Wassern wie an schönen
Jungfrauen der Freier X 30, 5. Die Götter haben an
Gebetliebenden ihre Freude wie Freier sc. an der Braut
(vara iva) I 83, 2. — Indra, du mögest an unsern Lie-
dern Gefallen finden wie der Bräutigam an der Braut
(vadhüyúr iva yóshanüm) fleht der Sänger III 52, 3 = IV
374
Hirzel.
32, 16; ä. die III 62, 8 an Püslian gerichteten Worte.
IX 69, 3 tritt Sorna als Bräutigam (vadhüyúh) auf.
ß) Hochzeit. Ehe. Dadhikrä kommt, einen Kranz
flechtend wie der glänzende Brautführer (,srdjam krnväno
jányo nei çiïbhvû IV 38, 6); es ist wol möglich, dass hier,
wie Bergaigne R. V. II 455 Anm. 2 meint, der Dichter
auf die Hochzeit der Süryä anspielt. Diese Hochzeit der
Süryä mit Soma wird X 85, 6—17 gepriesen; v. 7, 8 u. 10
enthalten eine Reihe von darauf bezüglichen Bildern, die
an Kühnheit nichts zu wünschen übrig lassen: Einsicht
war ihr Polster, das Auge ihr Schmuck, Himmel und Erde
ihre Truhe, als Süryä zum Gatten ging (7); die Loblieder
waren die Querstangen der Deichsel, das kurira-Maß der
Haarschmuck, die Açvinen der Süryä Brautführer, Agni
war der Führer (8); ihr Herz war der Wagen, und der
Himmel war die Decke (10). — Die Flammen nennt der
Dichter I 140, 8 langbehaarte Unvermählte, die das Feuer
umfassen: täm agrúváh keçinïh sám hl rébìiire. Als ein
Unvermählter (so sorglos) geht vermählt durch die Schlach-
ten mit kampflustigem Geiste der weise Sürya (véty dgriir
jànivân —) V 44, 7. — Die folgenden Stellen sind unklar:
Die Açvinen sind die Götter, die gleichsam den Hochzeits-
zug der Süryä „anordnen" (? ishukrteva —) I 184, 3.
Indra soll diejenigen retten, die dem Wunsche „dieses'"
(des Opferherrn?) nachgingen wie solche, die sich ein Weib
genommen sc. dem Weibe (yé asya kâmam janidhá iva
gmán X 29, 5); dass j. = Brautführer (G.), ist schon
wegen jani, das nur = Weib, Gattin, unmöglich. X 32, 4:
diese Stätte beschaute ich (nach Säy. Anrede an Indra),
welche Kühe beherschen wie den Brautzug Milchkühe?
(tád it sadhástham oblìi cani dîdhaya gâvo yàc châsan vaha-
tùm nà dlienàvcih).
g) Mann. X 106, 9 wird zu den Açvinen gesagt:
wie zwei große Männer mögt ihr einen Standort in den
Tiefen finden (bri imitera gambháreshu prati shthám — rida-
lli ah). Indra führte die zwei Welten zusammen wie laut-
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
375
rufende Männer (in der Schlacht? tdva pránltl indirà jóhu.
variant sdm ydn rifu nd ródasi ninétha VII 28, 3) d. h.
wol er vereinigte sie durch Erlegung des Dämons (v. 3 c d);
L.s Erklärung V 128 kann ich nicht folgen. YII 36, 8
wird Püshan einem Manne verglichen, der sich in der
Versammlung (der Stammesangehörigen) auszeichnet
(vidathyàm nd viravi). Die Maruts werden aufgefordert,
zur Trankspende zu kommen, dem Lobe der Männer gleich
(das an die Götter gerichtet wird; — nardm nei gáñsah
setvanäni gantana II 34, 6); dieselben Götter heißen I
169, 6 segensreiche - Männer (mïlhùsho rifn). Männern
gleich (nrvdt) jubelten ringsum die Winde IV 22, 4. Das
Opfer hat Freunde wie ein Mann (:nrvätsakJw) IV 2, 5.
Die Presssteine reinigen den Soma, wie Männer die
Opferspenden (náro havyâ nd mar jay cinta äsdbhih X 76, 7).
Die Frösche treten VII 103, 9 als Männer auf. — Der
hastaghna, eine Vorrichtung zum Schutze der Hand, soll
(wie) ein Mann den Mann schützen von allen Seiten
(— pilmän púmañsam pari putu viçvàtah VI 75, 14).
Diesen Beispielen lässt sich aus Homer der Vergleich
g 128 anreihen: Amphinoinos gleicht Invici) ùvôqî. — F 189
(= Z 186) nennt Homer die Amazonen ùvtiùvsiqcu. —
h. Merc.. heißt es v. 195 : die Hunde folgten dem Stier
r¡VT€ IfOJXSÇ 6/x6(fQOV€Ç.
h) Frau. Witwe. Die Açvinen schmücken sich
den Leib wie Frauen (méne iva tanvä çiimbhamâne II
39, 2). Die Uslias singen wie emsige Frauen im Wechsel
auf dem gemeinsamen Weg (corcanti nárlr apdso nd — I
92, 3). Die Rodasi, das sind die zwei AVelten, Himmel und
Erde, gleichen rastlosen (oder: „jugendlichen") Frauen
(nàrl yahvi nd — X 93, 1); I 62, 7 werden sie zwei Weiber
(méne) genannt. Die Wasser fließen tosend wie dem heiligen
Gesetz ergebene Frauen, die lautes Geschrei erheben (età
arsiiant / a la labìi dvant i r rtavarïr iva samkrocamänäh IV
18, 6). -
Die Açvinen werden X 40, 2 gefragt: wer schafft
376
Hirzel.
euch zu Bette wie die Witwe den Schwager (vidhá-
veva (levaram; cf. auch p. 377); poetischer ist das einzige
homerische Gleichnis von der Witwe, d- 523 if.: Odysseus
klagt beim Gesang des Demodokos wie die die Witwe um
den gemordeten Gatten.
i) Alter. Als Indra Allherscher wurde, dankten die
Götter ab, Greisen gleich (ävasrjanta jivrayo nä devâ IV
19, 2). An dich wie an einen Stab Greise halten wir uns
{à tvä rambhäm nä jivrayo rarabhmá) spricht der Dichter
zu Indra VIII 45, 20. Agni ist geschmückt mit nicht
alternden sc. Flammen (añjanó ajaran abhí II 8, 4); in
die alternden Hölzer wurde der nicht alternde Agni ge-
legt III 23, 1. Varuna durchstrahlt die zwei Welten wie
der nicht alternde mit dem Licht (natürlich Agni: ajáro
nä focishâ VI 68, 9). Auch Indra, Ushas, Sülya und andere
Götter altern nicht, cf. G. Wb. s. y. ajara. Genau ent-
sprechend ist das homerische Beiwort der Götter áyr¡o<*K,
einmal (B 447) auf die cdyig angewendet; auch in den
Hymnen, cf. Ii. Cer. 242 u. bei Hesiod, cf. Th. 949, finden
wir es. Von den Tragikern hat es nur Sophokles: Ant.
608 íf.: clyr¡Qwg ôh XQÓvco óvváazccg Kuxtysig 'OXvfinov —
aïyluv (Zeus). — Die Himmelsachse ist dyr¡Qavrog, Euri-
pides Epigr. v. 1 : o tÒv ay. nóXov cd&égog r¡Xis réfivcar.
— Im Winter, sagt Hesiod 0. 533 ff., gehen die Menschen
wie der Greis einher: tçinoâi ßgoTw laoi, ovt ini vùtu
«ays, xcíQr¡ â'slç ovòag agarai, rat ïxsXoi (fjOirwGiv.
k) Tod. Von den Flammen wird I 140, 8 gesagt: es
auferstanden die Gestorbenen widerum zum Leben (ürdhvás
tasthur mamriishïh prayäve púnah); mit &vr¡axm werden
Abstracta personificirt bei E. Andr. 775 f.: aQsxà x«ì
ÜavovGci Xá finsi] S. Oe. C. 611: &ví¡(fxsi ôh níaxig und
sonst. — In der Oshadhistuti X 97 wird v. 11 die Heil-
kraft der Kräuter gepriesen mit den Worten: wenn ich —
die Kräuter in die Hand genommen, verschwindet der
Lebenshauch der Schwindsucht wie vor dem Lebenergreifer
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
377
(dem Tod: — atrná ydkshmasya naçyati pura jîvagrbho
yatliä).
C. Verwandtschaft.
Das Familienleben stand bereits bei den vedisclien
Indern auf einer hohen Stufe (cf. Z. p. 305 if.), das zeigen
allein schon die vielen demselben entnommenen, zum Teil
recht schönen Vergleiche.
a) Gatte. Wie der Gatte zur Frau {patir iva jä-
yàm) kommt Savitar zu uns: X 149, 4, Soma geht (wie)
der Gatte zu der Frauen Stelldichein (pâtir jdnïnâm lipa
yäti nishJcrtám IX 86, 32); die Kühe d. s. die Milchtränke
gingen brüllend zum Gegenstand ihres Wunsches (váram),
zum lieben Gatten im Becher, zu Indu: IX 97, 22. Un-
klar ist VIII 2, 19, wo Indra aufgefordert wird, mit Gü-
tern zu kommen wie ein Großer, der eine junge Frau hat
(mcúiañ iva yúvajanih).
b) Gattin. Agni ist gleich der Gattin im Hause
allem gewachsen (jayèva yóncw dram viçvasmai I 66, 3);
er gleicht einer tadellosen, vom Gatten geliebten Frau
(anavadya pàtijushteva nari I 73, 3). Die Finger werden
Jungfrauen verglichen, wie wir p. 371 f. gesehen haben; sie
sind auch Gattinnen: Agni wird von den Gattinnen ent-
zündet (jdnibhih sdm idhyate III 26, 3), ist der Herr der
Gattinnen (pâtir jdnïnâm I 66, 4); I 71, 1 heißt es von
den Fingern: es trieben an die Begehrenden den Begeh-
renden wie den eigenen Gatten die Frauen, die gemein-
samen Wohnsitz haben (pdtim nd nityam jdnayah sdnüah).
Die Opferer bereiteten dem Agni das Lager (yoni) wie
die Frau dem Gatten IV 3, 2. „Wer schafft euch zu
Bette, wie den Gatten das junge Weib zum gemeinsamen
Lager" (máryam ná yóshà —) werden die Açvinen ge-
fragt X 40, 2. Wie die Gattinnen ein einziger gemein-
samer Gatte brachte Indra alle Burgen an sich (jdnlr iva
patir — VII 26, 3). Indra soll herfahren zur lieben
Gattin (jayam — I 82, 5, d. i. zu dem als Heimatstätte
378
Hirzel.
der Götter aufgefassten Opferraum, ef. III 53, 4: jäycd
ästam etc.). Mit viel tausend (Werken) belohnen die
Schwestern (d. s. die Finger: p. 386) wie Hausfrauen
(jdnayo nd pdtnlr) den üppigen sc. Indra, I 62, 10. Wie
'den Gatten die Gattinnen (pdtim ná pdtnlr) umfassen lie-
bend die Andachtslieder den Indra I 62, 11; ä. I 186, 7 u.
X 43, 1. Dem Herzen Agnis soll sich das Lied nahen
wie die Frau dem Gatten X 91, 13. Dem Indra bietet
sich (freie) Bahn dar wie eine verlangende (uçativa) „Frau",
haben wir zu ergänzen nach I 62, 11 und 71, 1 (p. 377):
V 32, 10; ebenso sind die Flüsse einer Verlangenden
X 111, 10 verglichen. Indra machte die Wasser zu Arya-
gattinnen (arydpatnîr) d. h. brachte sie in die Gewalt der
Arva X 43, 8. — Ushas senkt lächelnd das Antlitz wie
die schöngekleidete, verlangende Gattin vor dem Manne
I 124, 7; geschäftigen, treuen Frauen Averden ferner die
Ushas I 79, 1 verglichen. I 79, 2 ist ebenfalls auf sie zu
beziehen: Agni nahte gleichsam mit heilvollen, lächelnden
sc. Frauen. Wie Gattinnen (pdtnlva), die erste Anrufung
zu fördern, werden Nacht und Ushas sichtbar I 122, 2;
in demselben Verse wird die Nacht einer Unfruchtbaren
(stari) verglichen. Die Maruts schmücken sich, Frauen
gleich (jdnayo nd), die Rosse zur Fahrt I 85, 1. Soma
ist wie eine Frau („weiß, in Milch", so nach Say. zu er-
gänzen) gehüllt VIII 17, 7; er ist glücklich wie die Frau
beim Gatten {jayéva pdtyäv — mañhase IX 82, 4). — Men-
schen, die bruderlosen Mädchen und gattenfeindlichen
Frauen gleichen, sind für die Unterwelt geboren, heißt es
IV 5, 5 (ahhratdro nd yóshano vydntah patiripo nd jdnayo —
paddm ajanata gabhirdm). Weil die auf der Erde entzün-
deten Flammen zum gastfreundlichen Himmel emporsteigen,
sagt der Dichter 1 95, 6, dass die zwei Welten wie zwei
Frauen dem Agni ihre Liebe beweisen (— joshayete nd
méne —).' „Niederbeugen will ich mich vor dir wie eine
strotzende d. i. säugende Frau (ni te nahsai pìpyànéva
yóshá) spricht der Fluss zu Viçvâmitra III 33, 10; auch
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
379
X 124, 7 werden die Flüsse Frauen verglichen: jánciyo
ná s indi lavas a asya (des Varuna) vàrnam çâcayo bhari-
bìirati. — Die göttlichen Tore (dévîr dväro) sollen weit
sich öffnen, wie Frauen für die Gatten sich schmückend
(pdtibhyo ná jdnáyah cúmbhammüh X 110, 5). — Wie die
Frau dem Gatten (jâyéva pátye) will sich Yaml dem Yama
hingeben: X 10, 7. — I 167, 3 wird Rodasi, die Geliebte
der Maruts, dem Weibe des Manus (des Menschen?) ver-
glichen: gril ta cárantí mánusho ná yóshà; ghrtacï (dem gh.
zugewandt) beziehe ich mit Bergaigne R. V. II 388 und
389 A. 1 auf Rodasi, da der „gh.-Löffel" (L. u. G.) gar
nicht in den Zusammenhang passt; V 43, 11 erhält Sara-
svatï dasselbe Beiwort, — Die Väk gab sich Manchem
hin wie die Gattin dem Gatten X 71, 4. — Das Wasser,
mit dem der Soma gemischt wird, ist dessen Gattin: pd-
tmrantah sutá — VIII 82, 22. — Die Stute wird als
Gattin des Pferdes bezeichnet: I 56, 1 (yosliä) und I 121,
2 (mena), die Kuh als Gattin des Stieres: vfsheva pátnlr
abhy èti I 140, 6. — I 105, 8 = X 33, 2 klagt der
Dichter: sdm mä tapanty abhitah sapdtnïr iva pdrçavah;
wir werden (mit L.) parç. als N. pr. zu fassen haben (G.
..Rippen-'). — Vrshäkapi stellt der Indränl nach wie einer
Frau, die keinen Helden zum Manne hat (aviram iva)
X 86, 9.
c) Eltern; Vater, Mutter. Die folgenden Ver-
gleiche zeigen uns in ihrer Mehrzahl, wie hoch die Häupter
der ved. Familie geachtet wurden, und wie innig das Ver-
hältnis zwischen Eltern und Kindern war. „Sei gut wie
die Eltern" (pitáreva sadhúh) wird Agni angefleht III
18, 1. Die Açvinen sollen Hülfe bringen wie die Eltern
dem Sohne X 39, 6 und 131, 5; sie sind verbündet wie
die Eltern X 106, 4, sind dem Sänger Eltern III 54, 16.
Indras Kraft eilten die zwei Welten nach wie dem Kinde
die Eltern (ànu te çushmam turáyantam lyatuh kshoní çi-
f um ná mätcira VIII 88, 6). Indra und Varuna sind Eltern
gleich heilbringend (gambliú) IV 41, 7. —- Ganz besonders
Zeitschrift für Völkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 4. 26
380
Hirzel.
häufig finden wir das Bild von Vater-Himmel und
Mutter-Erde: I 160, 2; 185, 11; 191, 6. V 43, 2. VI
70, 6; Himmel und Erde sind die Eltern: I 159, 2 etc.
(cf. G. Wb. s. pitr u. mätr). IV 22, 4 wird das Ver-
hältnis von Himmel, Erde und Sonne durch die Metapher :
„die Eltern des Rindes" ausgedrückt. Die Griechen machten
von denselben Metaphern Gebrauch, cf. unten; Hesiod
Th. 45 und Aeschylus frg. 43 (41 D.) spielen raía und
Ovqcîvoç die Elternrolle; direct als „Eltern" werden meines
Wissens weder bei Homer und Hesiod, noch bei den Tra-
gikern Himmel und Erde bezeichnet. — Die Frommen
schmücken die Tore wie reiche Eltern das Kind, indem
sie es (dabei) liebkosen VII 2, 5. — Die „ Opfertiere8 (?)
stehen aufrecht da wie Vater und Mutter (urdhvá dila-
vanti pitar èva médltàh III 58, 2).
Agni wird wie ein Vater gerufen (johátro a. pratha-
mdh pitéva) II 10, 1, ä. VI 52, 6, u. geehrt: VI 12, 4;
mit ihm ist man zusammen wie mit einem Vater (so PW. ;
pitúr ná ydsyäsaya I 127, 8), und seine Hülfe gleicht der
des Vaters: VIII 64, 16. Wie ein Vater dem Sohn soll
er (den Menschen) leicht zugänglich sein (sä nah pitéva
sünávé'gne süpayanó bhava I 1, 9). Nach X 69, 10 trug
Vadhryaçva (cf. E. V. II 343) den Agni im Schoß wie der
Vater den Sohn. Den Açvinenwagen rufen die Opferer
wie des Vaters Namen X 39, 1. Indra ist Fürsorger wie
der Vater (prämatih pitéva VII 29, 4), cf. X 23, 5. Vili
1, 6 stellt ihn der Sänger höher als den eigenen Vater;
er wird wie ein Vater gerufen VIII 21, 14, ä. I 104, 9
und III 49, 3. „Mich rufen wie einen Vater die Ge-
schlechter", preist er sich selber X 48, 1. Kraft soll er
bringen wie der Vater den Söhnen: VII 32, 26. Er trägt
den Keil wie der Vater den lieben Sohn (bliartá vájrasya
— pitá putrám iva priyám X 22, 3; diese doppelte Con-
struction des Nomen agens finden wir auch II 23, 2 :
Anm. 14 und S. V. p. 87 f.); Indra wird auch einfach —
wie Agni u. a. Götter — „Vater" genannt, so IV 17, 17;
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda. 381
Väl. 4, 5 (cf. Gr. Wb.). Des Helden (wahrscheinlich ist
Indra gemeint) Wol wollen gleicht dem des Vaters (yäsya —
sumatíh pitúr yathâ Vili 75', 4). Von Vater Dyaus ist
oft die Rede: I 71, 5; 90, 7 etc.; derselbe heißt V 83, 6
ásurah pitá, cf. v. Bradke, p. 62 f. (ebenso Agni III 3, 4,
cf. v. Bradke p. 64 f.), und IV 17, 4 janitá indrasya.
Der Leser wird sich hier sofort des Zeus 7xari¡q ccvôqwv
re -deùv is erinnern : A 544 etc., cf. Hes. Th. 47 ; frg.
XLIX ; bekannt ist auch die so oft widerkehrende An-
rede: Zsv jtcctsq (z. B.: A 503). Dieser Vergleich ist sehr
wahrscheinlich urindogermanisch (cf. auch Juppiter)! —
Auch Brhaspati wird VII 97, 2 einem Vater ver-
glichen; cf. VI 73, 1. Die Kraft der Maruts gleicht der-
jenigen des Vaters (váyo nä pitryam sdhah VIII 20, 13);
I 38, 1 werden sie gefragt: „was nahmt ihr euch in
die Hände wie der Vater den Sohn?". — X 78, 3 werden
wir wol an „Vorfahren" zu denken haben: pitrnám nd
çdnsah siirätdyah sc. marútah. — An Västoshpati richtet der
länger VII 54, 2 die Worte: wie der Vater an den
Söhnen habe an uns Gefallen; den Soma bittet ein an-
derer: sei uns gnädig wie der Vater dem Sohn gegenüber
X 25, 3 und ä. VIII 48, 4; die Somatränke sind Väter:
yüydm hi soma pitdro máma sthdna IX 69, 8. Der Köcher
ist vieler (Töchter) Vater und groß ist seiner Söhne Zahl :
VI 75, 5; mit Töchtern und Söhnen werden die Pfeile
verglichen, weil die Wörter für „Pfeil" verschiedenen
(wenn auch vorwiegend weiblichen) Geschlechtes sind, wie
L. V 555 richtig bemerkt. Bei Homer lesen wir ähnliche
Vergleiche vom Vater, doch sind dieselben weniger zahl-
reich: ß 234 und s 12: tccczí¡q <foiç r¡mog ¡¡ev, von Odys-
seus; Í2 770: èxvQÔç óè 7iar>¡Q œç îoç, cf. o 152; q 397,:
ncizrjQ ojç xrjôeai vioç, VOU AntinOOS. q 110 f.: ôst,à^isvoç âé /us
xtïïoç — ! èvôvxéwç è(pi/.£i, îxjç sÏts tcuzijo tòv víóv. n 17 ff.:
der Sauhirt nimmt den Telemach auf wie ein Vater den
Sohn. Neue, dem R V. unbekannte Züge enthalten die
Gleichnisse U 222 ff.: Achill klagt um Patroklos wie ein
2G*
382
Hirzel.
Vater um den Sohn; s 394 ff.: Scheria ist dem miiden
Odysseus was der genesende Vater seinen Kindern, und
ß 276: riavqoi yc'g xoi naideg bfxoloi nettqì néXovrai. In
den Tragödien finden wir keine solchen Gleichnisse; nur
zwei Metaphern aus Euripides mögen erwähnt sein: Hec.
451: Apidanos ist xaXkiazcov vócÍtwv nanjç; frg. 477:
nôvoç — svy.Xeiaç rcaTr¡Q. —
Agni ist Hausgebieter (dámpati) I 127, 8; als Haus-
herr liebkost er die junge Frau (rerihydte yuvatim viç-
pàtïh san X 4, 4; viçp. ist hier = dampati; gewöhnlich
wird unter der Frau die ähuti verstanden; eine andere
sehr passende Erlärung gibt L. IV 399). Die Açvinen
gleichen zwei einsichtigen Hausgebietern (ddmpatwa Jcratu-
vidä II 39, 2).
Agni gleicht in seinen Functionen einer schwängern
Mutter V 15, 4; die beiden Reibhölzer sind seine Mütter:
III 55, 4 etc., ebenso die Wasser des Himmels und die
Pflanzen: I 141, 5 (cf. X 91, 6 p. 366). V 2, 1 lesen wir
die allegorischen Worte: die junge Mutter (das Holz) trägt
das Kind (das Feuer) im Verborgenen, nicht gibt sie es
dem Vater (dem, der das Feuer reibt). — Aditi soll den
Lobgesang annehmen wie die Mutter den teuren Sohn
(süniim nd mata hrdyam suçévam V 42, 2). Indra und die
Mutter schätzt der Sänger gleich hoch VIII 1, 6. Unklar
ist VI 20, 8 : a fúgram çdçvad ibi tarn dyótanayci mütúr ná
íñm úpa srjâ iyádhyai „den Tugra mit der ganzen Diener-
schaft entsandte er, um die Mutter (durch den Sieg)
gleichsam zu verb er lieh en" (?). Ushas ist gleichsam die
Mutter der Menschen: sydma mätiir nd sündvah: VII 81, 4;
ihre Mutter ist die Nacht: III 55, 12 (die an anderen Stellen
als ihre Schwester bezeichnet wird: p. 386). Die Soma-
])flanze ist Mutter des Soma: III 48, 3. — Dem Vater Dyaus
steht, wie wir schon sahen, die Mutter Erde zur Seite:
X 18, 10 u. 0.; ä. "Jár¡v — ¡ur¡t¿Q(x &r¡Qwv: S 283 u. h.
Ven. 69; <P&ír¡v firjréçcc fxftwv: I 479, cf. o 226. Auch
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
383
Hesiod kennt die Mutter Erde: ttqoXiuùìv '/ova /.ir¡r¿oa
/tiUwr : Th. 284. Ae. Pr. 90 wird die Erde ncifx^r¡TwQ genannt,
cf. Sept. 415 f. : 7TQoaré?j.£T(xi sïçysiv tsx.ovGv¡ (xtjtqì (Vater-
land) 7toléf.iiov âcQv. E. Hec. 70 f.: x&wv, fxsXavonreQvyoìv
liäxsq òvsìquìv. E. frg\ 672 heißt das Meer vyqà fir¡Tr¡o.
— Wie die Mutter den Sohn mit dem Saume, soll die
Erde den Toten verhüllen: X 18, 11. — Weil die Winde
aus den Wolken hervorbrechen, heißen die Maruts pfrni-
mätctras „die Wolke zur Mutter habend": I 23, 10; 85, 2
il. ö., cf. auch V 52, 16. (Bei den Griechen ist bekannt-
lich die Pleiade Maia Mutter der Winde, spec, des Her-
mes, cf. Ae. Ch. 813. S. El. 1395. E, Andr. 276 etc. etc.).
— Die Wasser bittet der Sänger X 9, 2, willigen Müttern
gleich Anteil an ihrem Safte zu gewähren (ugatir iva ma*
tárah). X 78, 6 heißen die Maruts süräijali sindhumatarah,
„deren Mutter der Strom"; dasselbe Epitheton erhalten
die Açvinen I 46, 2 und Soma IX 61, 7. Dem Sindhu
eilen die Flüsse zu wie dem Kinde die Mütter (abbi iva
sìndho çiçum in ná matâtv — X 75, 4, cf. Anm. 21). Der
Strom heißt, weil er kleinere Gewässer in sich vereinigt,
matrtamä: III 33, 3. — Die beiden sc. Bogenenden tragen
der Mutter gleich den Sohn, d. i. die Sehne, im Schoß
VI 75, 4. — „Heilung", so heißt die Mutter der Kräuter
(ishkrtir náma vo mata X 97, 9). — Die Väk, das heilige
Wort, ist die Mutter verschiedener Götterpaare: X 125, 1,
cf. V 47, 1. Sehr wahrscheinlich ist auch III 39, 3 auf
sie zu beziehen: yamâ cid átrn yamasúr asüta jïhvaya
ágram pátad á Inj àsthcit, cf. S. L. IV p. 109 f. — Bei
Homer kommt selten ein Vergleich mit „Mutter' vor:
T 783 wird Athene, die dem Odysseus beisteht, einer
solchen verglichen, ebenso â 130, wo geschildert ist, wie
sie von Menelaos den Pandarospfeil abwehrt. Aus den
Tragödien kenne ich (außer den oben angeführten) keine
Analogien.
d) Sohn. Wie Söhne um die Mutter sollen die Götter
auf dein Rücken der Opferstreu sitzen (à putrâso ná ma-.
384
Hirzel.
táram vîbhrtrâh sánau devâso barhíshah sadantu VII 43, 3);
den Schutz der Götter ausersehen sich die Opferer wie
ein Sohn (pairó ná) VIII 27, 22. Agni ist wie ein Sohn
(die Menschen) erfreuend geboren : I 69, 3, cf. I 66, 1 und
VI 2, 7. Wie Söhne kosteten die Geisteskraft des Vaters
diejenigen, die auf seine Lehre hörten (sc. die Priester,
Opferer; pitúr ná putráh krátum jusJianta çrôshan yé asya
fâsani — I 68, 5); seine Lebenskraft ist stark wie der
dem Sohne (vom Vater gewährte) Schutz fâd asyáyur
gräbhanavaä vilú çàrma ná sünáve I 127, 5). Himmel und
Erde hält er umfasst wie der Sohn die Eltern (— puträ
ná matára tatántha X 1, 7). Der mächtige Feuergott ist
der Sohn der Kraft (sünú sáhasas) I 127, 1. VI 12, 1
u. ö., cf. VIII 49, 13: sáhaso yaliúh; ferner heißt er Sohn
der Waldbäume (sünúm vánaspátmam Vili 23, 25), Sohn
des Felsens (der aus der Wolke hervorzuckende Blitz?
ádreh sünúm X 20, 7). Die Flammen sind seine Söhue:
maiiás putráñ arushásya prayákshe III 31, 3. Den IV
19, 9 erwähnten Sohn der Unvermählten (putrám agrúvo)
möchte ich nicht mit L. (V 84) auf den Blitz beziehen, da
ich für dieses Bild keine Parallele kenne, sondern halte
es für richtiger, wie G. und andere an die IV 30, 16 an-
gedeutete Legende zu denken. — Die Açvinen, des Him-
mels Söhne (äivä ajutä IV 43, 3), gleichen zwei Söhnen:
putrúgréva ruca X 106, 4. Der Sänger ruft den Indra
wie ein Sohn den Vater VII 32, 3, ä. I 130, 1 und VII
26, 2. Wenn er den Indra preist, erfasst er dessen Saum
wie der Sohn denjenigen des Vaters III 53, 2. Indra be-
wältigt mit den Rudras wie mit Söhnen die Feinde in der
Schlacht I 100, 5. Er ist ein Sohn der Kraft (çàvasak
Sünúm) IV 24, 1, cf. I 62, 9. Die Maruts, des Himmels
Söhne (divás putràsa X 77, 2), schleudern das Wolkenkind
(milió nàpâtam) d. i. Eegen hervor I 37, 11, bringen madliu,
das ihnen so teuer ist wie der eigene Sohn, heran: I
166, 2. Soma hüllt sich in lichtes Kleid (die Milch, cf.
w. u.) wie der liebe Sohn, zum Schmuck (priyáh sünúr ná
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
385
mdrjyah IX 107, 13); wie mit des Vaters Einsicht der
Sohn, soll er sieh anstrengen etc. (pitúr ná putráh krátubhir
yatânà — IX 97, 30). Der goldgelbe — Soma — ist jäh
süryasya IX 93, 1. Himmel und Erde werden I 185, 2 um
Schutz angefleht, wie er dem Sohne von den Eltern zu
Teil wird (nityam ná sünúm pitror upásthe dyâvà ràkshatam
prillivi no álhwt); sie haben die Götter zu Söhnen (devá-
putre: I 159, 1. VII 53, 1; cf. auch I 185, 4: ródasi d.).
Wie die indischen Götter Söhne des Dyaus und der Prthivï
sind, so stammen bekanntlich die griechischen, die Üsoi
Ovçaricovsç von Ovqavóg und Tala ab! — Die an die Götter
gerichtete Opferspende (havih) gleicht dem zu Hause wol-
gepflegten Sohne des Vaters (pitúr ná putráh súbhrto du-
rone VIII 19, 27). Das Lied haben die Sänger wie den
eigenen Sohn geschaffen (nityam ná sünúm tánayam dá-
dhamh X 39, 14). Der Kessel (gharmó) wurde ans Feuer
gesetzt wie der Sohn in des Vaters Schoß V 43, 7. Die
Frösche begrüßen sich wie den Vater der Sohn (akhkhalï-
Jcrtyä pitàram ná putró anyó anyám úpa vádantam eti
VII 103, 3).
An einige unserer Vergleiche erinnert das Gleichnis
11 191 f.: 10V — (ßi)Xag £v %XQS(fsv r¡ó' ¿tírakXsv, j á/aycc-
yan(xL,ôf.i£voç wúsí >'/ tov viov sÓvtu.
Allgemeiner gehalten ist kder Vergleich II 4, 4: Ag-
nis Wachstum ist erfreulich wie das eines Angehörigen
(asyd ranvâ svásyeva pushtih).
e) Tochter. Ushas ist Tochter des Himmels (divas
duhitä) I 30, 22. VI 65, 6 und sehr oft; auch Suryas
Tochter heißt sie: I 34, 5; 116, 17 etc.; cf. E. Phoen. 175,
wo Selene als Heliostochter bezeichnet wird. Unter der
Tochter des Gottes — Dyaus — haben wir vielleicht
ebenfalls Ushas zu verstehen: devó duhitári tvìsìiim dhM
I 71, 5. Sonne und Nacht sind die roten, verschieden-
farbigen Töchter: VI 49, 3; die Sonnenstrahlen werden
„schmucke Töchter des (Sonnen-) Wagens" genannt: I
50, 9 (áyukta saptd çundhyùvah suro rdtliasya naptyàl?),.
386
Hirzel.
und die Nacht heißt, wie Ushas, Tochter des Himmels X
127, 8. — Die Sorna kelternden Finger des Priesters sind
Töchter des Vivasvat: IX 14, 5. — Der Sänger fleht Indi a
als Bhaga (d. i. um Glück) an wie eine daheim alternde
sc. Tochter, die bei den Eltern weilt, sc. ihn anfleht (amä-
júr iva pitróh saca sciti samanád á sádasas tvám iye bltác/am
II 17, 7).
f) Bruder. Agni ist den Fluten verschwistert wie
ein Bruder den Schwestern (jämih sindkünäm bhráteva
svàsrâm I 65, 4). Indras Fürsorge kennen die Opferer
wie diejenige eines Bruders (vidma hi te prámaiim deva
jämivdd X 23, 7). Teurer als der geizende Bruder ist
dem Sänger Indra (vásyañ — bhrâtur ábhuiijatah Vili 1, 6).
Indra und Agni sind Zwillingsbriider VI 59, 2. Schön
von Ansehen sind die Maruts wie lauter Zwillinge (¡/anuí
iva sùsadrçah V 57, 4).
g) Schwester. Nacht und Ushas sind Schwestern:
III 55, 11. VI 49, 2, cf. X 127, 3; bei Hesiod sind Sonne,
Mond und Morgenröte Geschwister : Th. 371 ff., cf. lu
XXXI 4 ff. In dem parataktischen Gleichnisse IX 65, 1
werden die Morgen strahlen mit Schwestern verglichen, zu-
gleich aber bezeichnen letztere metaphorisch die Finger,
welche den Soma keltern: hinvánti súram úsrayah svasavo
jâmdyas patini | maham indum mahiyûvah. Die ver-
schwisterten Finger, die das Feuer reiben und den Soma
keltern, finden wir sehr oft erwähnt: III 29, 13; 57, 3.
IV 6, 8, cf. I 71, 1. — IX 1, 7 etc., cf. auch I 62, 10. —
Die sieben roten Schwestern X 5, 5 sind die Flammen
des Opferfeuers, cf. L. IV 400. — Unter den Schwestern,
mit denen Soma auf dem Gipfel des Trita den S Coya ent-
flammte IX 37, 4, haben wir die Ushas zu verstehen, cf.
o. IX 65, 1 (G. falsch!). Soma geht brüllend dahin wie zu
des Freundes Schwester (hrändann ety cibhi sàkhyur ná
jâmim IX 96, 22; wir müssen nach Analogie von pr'ujam
ná jará im flg. Vers (citirt p. 372) als Subject des bild-
lichen Ausdrucks ein Wort wie jara ergänzen). Die Havir-
Gleichnisse und Metaphern im Kgveda.
387
dhane kamen verbunden wie Zwillingsschwestern {yamé
iva yátamane X 13, 2). Das Gebetslied ist himmlischen
Ursprungs, deshalb heißt es Schwester der Götter VII
23, 2 (ghósha — devájamir) und „verseliwistert" (susJäu-
tim — jämim) VIII 12, 31. — Vipät und Çutudrï werden
als Schwestern angeredet III 33,*9. — Dunkel ist Val.
11, 4: ghrtaprúsliah saiimyä jirddänavah saptá svdsärah sá-
dana rfàsya, cf. L. Y 291 ; vielleicht sind wieder die Feuer-
flammen gemeint; sádana rtásya kann das Opfer sein.
h) Eidam. Indra soll nicht ferne bleiben wie ein
liässlicher Eidam (agrirá iva jdmätä VIII 2, 20, sc. dessen
Anwesenheit nicht erwünscht ist): Bergaigne findet S. L.
IV 1. c. in diesen Worten eine Anspielung darauf, dass das
Gebet die Gemahlin des Gottes ist, cf. auch R. V. II
269; nach meiner Ueberzeugung kann dies unmöglich in
den Worten liegen. — Indra und Agni verleihen größere
Gaben als der Eidam und als der Frau Bruder (àçravam
hi bhûriâàvattarâ väm vijâmâtiir utá va glia syälat I
109, 2). —
Zum Schlüsse dieses Abschnittes erwähne ich noch,
dass Agni zu widerholten Malen (z. B. X 92, 2) tanüna-
pät genannt wird, „Spross seiner selbst", „„weil das Feuer
nicht notwendig aus anderem Feuer, gleichsam durch
Zeugung hervorgeht, sondern aus eigener Kraft ins
Leben zu treten scheint, als Blitz oder an den Reib-
hölzern " " (P. W.).
D. Vernunft,
Ein Sprecher (vadma) ist Agni VI 4, 4 und 13, 6.
Wie auf einen Befehl (çâsur iva) hörten die Açvinen auf
das Weib des Entmannten I 116, 13. Indra ist stark
wie das Wort (cäkinam vaco yátha Vili 46, 14); er soll
gut auf die Lieder hören, nicht wie einer, der nein sagt
(màtathâ iva I 82, 1). Rodasi (ci, p. 379) wird I 167, 3
der Rede in der Versammlung verglichen: gúha cavanti —
sabhavatï vidathyèva sàm vâk, cf. S. V. p. 80 A. 1. —
388
Hirzel.
I 29, 1 bittet der Sänger Indra um Verleihung von Kühen
und Pferden, „wenn wir auch Ungepriesenen gleich sind"
(yác cid dhi — anacastá iva smdsi). — Die Çakunti-Vögel
sprechen zur rechten Zeit: II 43, 1. — Auch Unbelebtem
verleiht der Dichter Sprache: beim Spiele erheben die
Würfel ihre Stimme X 34, 5; die Bogensehne geht (wenn
sie gespannt wird) nah zum Ohr, als ob sie etwas sagen
wollte (vaksìiyàntìvéd —) VI 75, 3. Das Geräusch der
Presssteine wird gleichsam als Gebet betrachtet, und die
„sprechenden Steine" finden wir sehr häufig: I 118, 3. III
58, 3. V 31, 12; 37, 2. VII 68, 4. VIII 34, 2. X
36, 4; 94, 2 und 13; indem metonymisch für Geräusch =
Gebet „Stein*' gesagt wird, entsteht die zunächst unver-
ständliche Formel: „der Stein wird gesprochen" (gravä —
ucyáte) X 64, 15 = X 100, 8. Es liegt nahe, aus dem
Griechischen Stellen zu vergleichen wie S394: d-aÁáaar¡g xv^ict
tóaaov ßocat Tí ori ytQOov. P 265: ufX(fì rtióv€g ßoowciv. —
Ae. Pr. 431: ßoä ài nóvziog xXvówv und E. Tro. 29: yßo
Ixà/navâçog. Ae. Sept. 330: ßoq — nói ig; SuppL 583:
nùau ßoij da es aber nicht sicher ist, dass ßorj an
sich nur „Stimme" (eines Menschen oder Tieres) bedeutete
(cf. Jl 495: avÁoi y 0Qf.tr/ytg xe ßor^v %xov — gaben einen
Ton, wie 11 105 nr¡Xr¡i~ — xtvaxr¡v so ist es zweifel-
haft, ob in den angeführten Beispielen von Vergleich die
Rede sein kann.
Die Açvinen laufen scharf wie der Geist (memo nä —
drdvanta X 61, 3). Die Sonne geht dem Geiste gleich die
Wege im Augenblick (m. nà y ó 'dhvanah sadyd éty —
I 71, 9). Soma ist schneller als der Geist (mánaso jáviyan
IX 97, 28), dasselbe gilt vom Wagen der Açvinen: I
117, 2; 118, 1; 181, 3; 183, 1. X 39, 12 und Indras:
X 112, 2. Aus diesen Vergleichen erklärt sich das auch
uns wolbekannte Beiwort ..gedankenschnell" (manojü, ma-
nojava und -as), das den Açvinen VIII 22, 16 beigelegt
wird, und ferner dem Indra I 163, 9, Indra-V.iyu I 23, 3,
den Maruts I 85, 4, dem Viçvakarman X 81, 7, dem Wagen
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
389
der Açvinen I 117, 5; 119, 1. V 77, 3. VI 63, 7. VII
68, 3, dessen Pferden I 181, 2 u. VI 62, 3, sowie den
Hengsten Agnis I 186, 5; auch der Parvata (Donnerkeil?)
Indras heißt so VI 22, 6 und der Vogel, der Indra den
Soma überbrachte VIII 89, 8, cf. IV 26, 5. Denselben
Sinn hat, glaube ich, dhijü IX 86, 1 : dliìjàvo mddä arshanti
und V. 4: dhijúvo divyá asrgran. Das gleiche Bild finden
wir bei Homer und Hesiod: die Schiffe der Pliäaken sind
wxsïai aititi — vórjfia r¡ 36, cf. O 80 ff.; h. Ap. P. 8: nqoç
"ùAi'Linov ano y^dovòg wars vór¡/.ia siai und 270: Ini vi¡a
vóij(i (oç a Àio ; 11. Merc. 43 ff.: wç â' ònór œxv vór¡¡ncc dici
otéçvoio nsQrfiU dvéçoç — aiç a¡ll' tnoç xvù eçyov ifXi'¡ásio
xi'öi¡nog cEQ(iÍ¡g. — Hes. Sc. 222: Perseus wars vóijfi Ino-
rato. —■ Wir haben noch einige Bilder von der Geistes-
tätigkeit zu erwähnen : Agni leuchtet außergewöhnlich wie
andauernde Geisteskraft (durúkagocih krátur ná nityo I
66, 3) und ist wie Geisteskraft glückbringend (Je. ná bhadró
I 67, 1); er ist der Ushas kundig (so P. W., usháso nd-
vedä I 79, 1). Ushas verfehlt die Gegenden nicht, gleich-
sam Bescheid wissend (prajänativa) V 80, 4. Die guten
Taten der Rbhus sind nicht nachzuahmen (unvergleichlich,
nâ — predimeli III 60, 4). An Mitra und Varuna wendet
sich der Sänger mit den Worten: mögt ihr das Gebet
des Sängers fördern, so dass ihr mit Kraft gleichsam
(dessen) Herbste füllet (ß ydt krdtvä ná çarddah pmaithe
VII 61, 2). Der Saft Somas erstrahlt als Geisteskraft
(,dàkslio vi räjati) IX 61, 18. Die Priester wollen das Opfer
wie beglückende Geisteskraft (krdtum ná bhadrám) gedeihen
lassen IV 10, 1. Das an Agni gerichtete Loblied ist gleich-
sam aus eigenem Interesse verfasst: stómam yám asmai
mamáteva — VI 10, 2. —
Nicht wie daheim alternde Toren (amojúro yathâ mu-
rasa) wollen sich die Opferer bei Indras Saft niedersetzen:
VIH 21, 15.
390
Hirzel.
E. Seelenleben.
a) Wolwollen. Agni, der bei den Menschen gleichsam
heilvoll {jane ná céva), ist (darum) anzuflehen 1 69, 2, anzu-
rufen, weil er einem Förderer gleicht (avitcva) VIII 60, 15.
Indra schenkt dem Sänger erwünschtes Gut gleichsam
tausendfach (saliásreneva) Val. 2, 1. — Die Frau, die ihre
Nebenfrauen vertrieb, spricht X 159, 5: ich eignete mil-
den Glanz der andern an wie eine Gabe von solchen, die
nicht Stand halten (rádho dstheyasäm iva).
b) Liebe. Agnis Flamme klisst die Löffel am Munde
(nihsänam juhvò mükhe VIII 43, 10), cf. X 74, 2: háva
eshäm asuro — nihsata lísliam und X 94, 9: somádo hdrî
indrasya nihsate. Unter der „Kosenden" I 71, 5 (ava
tsarat prçanyàs) haben wir wahrscheinlich die Nacht zu
verstehen.
c) Frömmigkeit. Soma ergoss sich wie der Wunsch
der Frommen Qcâmo ná yó devayatám ásarji IX 97, 46).
„Die Maruts pries ich eben, ein Erflehen gleichsam der
beiden Welten" (ishudhyéva — ródasyoh) ruft der Sänger
I 122, 1.
d) Freude. Die Blitze lächeln (ava smayanta) I
168, 8; Dyaus lächelt durch die Wolken II 4, 6. — VIII
78, 6 bezeichnet das Lächeln den Blitz selbst: wenn Indra
geboren ist, dann sind geboren das Opfer (des Himmels,
y apio), der Gesang (arM) und das Lächeln (háskrtih).
Agni bewirkt das Lächeln aller Opfer (viçveshàm adlir.
haskartâram) IV 7, 3. — Bei Homer lächelt nicht der Blitz,
sondern die vom Blitze getroffene Erde: yéXaúüs âè nàôu.
nsqì I iccikov vtcò cttqonriç t 362 (oder hat hier
yslàœ noch seine ältere Bedeutung „bin heiter, strahle" ?).
cf. h. Cer. 14; bei Aeschylus die Woge: KVfxccrcov th'rtQiÖ-
fx-ov yéXaú^ci Pr. 89 f.
e) Furcht. Wenn Indra mit seinen Waffen dahin
eilt, sind in Glut Himmel und Erde, gleichsam aus Furcht
(dyanh ksliâ nà bhìshan) I 133, 6. Bei den Zügen der
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
391
Maruts zittert gleichsam wankend die Erde (vitliur èva
tejate bhúmir) I 87, 3, ä. Y 59, 2, und jeder Baum ziîtert:
I 166, 5.
F. Körperliche Tätigkeit.
Indra überwältigt gleichsam (bringt an sich) durch
den Menschen alles Glück (sumnâni vicva mánusheva tur-
ránir — I 130, 9); I 173, 9 wird er mit einem eifrigen
(sc. Opferer) verglichen : turó nei karma nàyamâna uJctha.
Indra25, der gewaltige Himmelsgott, ist der Inbegriff aller
Kraft und Stärke, daher seine Beiwörter ,:çakràu der
Kräftige I 62, 4 etc. (nur selten von a. Göttern: II 39, 3
und X 24, 4 werden die Açvinen, VIII 4, 15 Püshan,
I 166, 1 die Maruts, Y 41, 15 Varütrí und VIII 1, 19
Soma so genannt), „çatàkratu" der liundertkräftige I 10, 1
etc., „çaktïvat" Y 31, 6, fácipáti I 106, 6 u. ö., ç¿masah
pàti I 11, 2 u. ö. Er ist Erschütterer des Unerschüt-
terten (cyàvanam dcyutänäm) VIIT 96, 4; Träger des
Himmels (dhartâ divó rájasas prshtá ürdhvó III 49, 4), ä.
von Soma: dharúnam diváh I 23, 13. Das Dargereichte
nimmt Indra an wie ein Bezwinger (yatamkaro nä, L. „Ein-
treiber") V 34, 4. Die Maruts erschüttern die Erde bei
ihren Zügen: I 37, 6, weshalb sie „Erschütterer" (dha-
tayah) genannt werden: 137, 6 etc. Viriipa fleht den Agni
an: nicht wirf uns in dieser großen Schlacht weg wie
ein Lastträger sc. die Last (bhärabhrd yatha) VIII 64, 12.
IV 5, 6 spricht ein Dichter zu Agni: ich mindere nicht
das Lied wie schwere Last (gurum bliaràm na). VIII 21, 1
wird zu Indra gesagt : wir rufen dich wie etwas Schweres
Ich bemerkte bereits p. 287, dass der Anthropomorphismus
der Götter bei den Indern bei weitem nicht so entwickelt war wie
bei den Griechen. Die vedischen Gottheiten haben im Geiste des
damaligen Inders noch keine bestimmt ausgeprägte Gestalt ange-
nommen, wie das in Griechenland schon zur homerischen Zeit bei
einem Zeus z. B. der Fall war. Aus diesem Grunde sind auch
Ausdrücke wie die oben zusammengestellten bildlich aufzufassen.
392
Hirzel.
tragend, Hülfe suchend (— sthürdm ná Me cid hháranto
'vasyávah). — Wie ein sich eifrig bemühender (bhushann
iva) bringt der Sänger dem Gotte das Loblied dar X
42, 1. —
Wie ein Ausgießer (sékteva) goss ich in das Gefäß
zum Trinken sc. Soma, lesen wir im Indraliede III 32, 15.
In dem Zauberliede I 191 heißt es v. 14: die sieben un-
vermählten Schwestern nahmen dir das Gift weg wie
Wasserkrug-Trägerinnen (udakdtn Teumhhinïr iva). — Das
Erretten aus der Not und Erlösen von der Sünde wird
an einigen Stellen mit dem Lösen eines Knotens oder
Strickes verglichen (VIII 56, 18 mit dem Lösen der Fes-
seln: w. u.): „wie einen festen Knoten löst den Atri"
(drlhám granthím ná vi sliyatam a.26) sagt der Dichter X
143, 2 zu den Açvinen; „wie einen Strick löse meine
Sünde" bittet den Varuna der Sänger II 28, 5, cf. V 85,
8 : — sdrvä ta vi shya çithiréva. Soma soll, sich klärend, den
rechten Weg und den bösen wie einen geknüpften Knoten
lösen, d. i. trennen (granthím ná vi shya grathitdm — rjúm ca
gatùm vrjindm ca IX 97, 18).
G. B ewegung.
Agni bewegt sich geschäftig gleichsam (bhüshan ná)
zu den braunen hin sc. Hölzern, Pflanzen I 140, 6; der
junge sc. Agni erhebt sich einer Linie gleich (çrénir ná,
t. c.: so grad) X 61, 20. Sein Herschersitz gleicht dem des
„Herumwandlers" d. i. Väyus nach Say. (párijmeva kshayasi
VI 13, 2); dem Läufer gleich, der sich nicht täuscht, nicht
umkehrt, zeigt er sich bei den Kräutern (adroghó ná dra-
vita —) VI 12, 3; der Zusammenhang zwingt uns zu dieser
Uebersetzung und wir können mit G. an das Sonnenross
26 S. V. p. 84 macht Bergaigne auf den eigentümlichen Sprach-
gebrauch des RV. aufmerksam, wonach z. B. wie an unserer Stelle,
dasselbe Verb „einen Knoten lösen" und „einen Gefangenen los-
binden" ausdrücken kann. Cf. Anni, 22.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
393
denken; Ludwigs „Schmelzer" ist nach meiner Ueber-
zeugung unhaltbar. Agni verbarg sich im Versteck (im
Wasser), wo ihn dann die weisen Bhrgus fanden; diese
Legende von der Entdeckung des Feuers wird X 46, 2
erwähnt. Von Agni heißt es ferner, dass er mit der
Flamme alle Bäume umschlingt VI 60, 10. — Den Ver-
gleich mit einem Wanderer finden wir VII 34, 5: yáteva
pátman tmánñ hinota wie ein dahin fliegender Wanderer
eilet und X 106, 3: párijmaneva yajathah purutra, von den
Açvinen; cf. I 183, 5: die gezeigte Richtung gleichsam
gradaus gehend (diçam nd dishtam rjüyeva —) kommt auf
meinen Ruf; X 143, 6: wie Heilbringende kommt (pamiß
iva — bhüshatam —). Auch die Maruts werden Wanderern
verglichen: I 64. 11. Der Sänger bewegt durch seine
Lieder den Püshan, der einem auf dem Weg behenden
(sc. Wanderer) gleicht (ajirám ná yamanì) I 138. 2.— Die
Maruts sollen durch die begehrten Hilfleistungen die Men-
schen fördern (ihnen zum Ziel verhelfen), wie der zurück-
gelegte Weg zum Ziele führt (gato nadlnä vi tiruti jantwn
prcí na — tir eta VII 58, 327); sie messen die Wegstrecken
gleichsam aus der Ferne (paraváto ná yójanàni mamire
X 78, 7). Soma gleicht weiter Bahn (urv Iva gätuh, IX
96, 15); er ist der stete Gänger (jágmir) VIII 82, 22.
Die Feinde des Sudäs gingen dem Verderben wie einem
Ziele entgegen (ïyùr árdham ná nyarthám — VII 18, 9). —
Der Vollständigkeit wegen erwähne ich noch X 86,
7: bhasán me amba sákthi me çiro me vìva hrshyati.
H, Bedürfnisse des Menschen.
a) Speise und Trank. Agni gleicht ergötzender
Nahrung (pushtir nd ranva I 65, 6), gereicht zur Freude
wie ein speisereiches Gelage (pitumátwa samsát IV 1, 8).
27 Das Beispiel ist nicht für ein zweigliedriges Gleichnis anzu-
sehen, weil ein solches zur Vergleichungspartikel yátha haben miisste:
S. V. p. 82.
394
Hirzel.
Er lässt Ruhm wie Nahrung gedeihen (— pushtim nd
pushyasi VI 2, 1). Das Feuer verspeist gleichsam das
Holz: VI 12, 4 heißt es ausdrücklich, dass Agni Holz zur
Speise hat (drvdnno), ebenso II 7, 6 ; er ist gefräßig (açùsha)
I 174, 3, bemeistert gierig die Speisen X 91, 7 und ä.
VI 4, 5; leckt im Schoß der Erde gleichsam gekochte
Speise (sasám nú pakvám — ririhváñsam X 79, 3). VIII
63, 2 und an anderen Stellen wird Agni Sarpisschlürfer
(sarpiräsuti) genannt. Er dürstet gleichsam, wenn er das
Holz anstrahlt II 4, 6, ä. VI 15, 5. Wenn er die Ge-
büsche verbrennt, würzt er gleichsam die Erde (asvadaijan
ná bhúma II 4, 7). Auch bei Homer finden wir das essende
Feuer: rovg a/ta Gol 7tvq lattisi W 182 und bei Eurípides
Med. 1187: na/uyxxyov ttvqôç. — X 143, 6 werden die Aç-
vinen aufgefordert, heranzukommen wie zum Brunnen
reichliche Tränke (útsam nd pipyûshîr ishali). — Indras
Herlichkeit wurde genossen wie der Schale berauschender
Trank (dpäyi te máhahpátrasyeva — mádáh I 175, 1); Indra be-
rauscht sich am Somatranke II 19, 2 und ö., er ist der
„Somatrinker" (somapä) y.ca ^oyr{v: III 41, 5 etc., cf. I
21, 1, wo Indra und Agni die besten Somatrinker genannt
werden. Dem Austeiler von Nahrung gleich (pitvó ná —
vibhaktá) teilt Indra zu X 147, 5. Die getrunkenen Soma-
säfte, die im Innern kämpfen, gleichen berauschten Men-
schen VIII 2, 12, cf. IX 107, 12. Dem Soma soll wie
Nahrung (bhrti) ein Lied dargebracht werden IX 103, 1,.
ä. VIII 55, 11. I 61, 1 h. 2 und IV 16, 15; cf. VII
36, 2 : dies Lied bereite ich euch wie Speise (imam, — sutrMm
isham net krnve). Die vorwärts stürmenden Maruts gleichen
Rauschbetörten (durmddä iva) I 39, 5. Die lärmenden
Presssteine gleichen Schnelltrinkern (añjaspá iva) X 94, 13.
— Wie Durstige blickten zum Himmel auf die bedrängten
Trtsu VII 33, 5. — Wie Nahrung (dhäsim iva —) wird
dem xAgni der Sitz zurecht gemacht I 140, 1. — Von
Analogien aus dem Griechischen sind nur zwei Gleichnisse
Hesiods anzuführen, in denen die Freude am Kampfe mit
Gleichnisse und Metaphern im Egveda.
395
derjenigen am Mahle verglichen wird: Sc. 114: dem He-
rakles und Jolaos ist Schlachtgetiimmel nolv qdzsQce i>oi-
vr¡g und frg. CCXXIII: yJÎaxiôaç, nohé/LKi) xs%aQr¡ótag rj'iivs
òaixi.
b) Verschiedene Geräte lernen wir in den folgenden
Bildern kennen: die Açvinen werden aufgefordert herbei
zu kommen, ähnlich einem Schlauch zum Ausgießen
(krívir ná séka) VIII 76, 1. Indra wird von den Opferern
wie ein Schlauch mit Somatropfen voll gegossen I 30, 1.
Püshans Freundschaft soll feindlos (avrkám) sein, ähnlich
eines Schlauches (elfter iva) sc. Festigkeit, welcher Milch
enthält, nicht zerrissen und wol gefüllt ist: VI 48, 18;
aus dem avrkam haben wir für den Vergleichungsausdruck
den Begriff der Festigkeit, Sicherheit zu entwickeln. —
VII 89, 2 wird der unsichere Gang eines Menschen mit
einem wankenden, aufgeblähten Schlauch verglichen: ydd
émi prasphuránn iva dírtir ná dhmàtó ; auffällig sind die zwei
Vergleichungspartikeln und wir haben deshalb vielleicht
zu dem prasph. ein anderes Subjekt, etwa „Mensch" zu
ergänzen; darauf weist auch Sfty. hin, der erklärt: „vor
Kälte erbebend". Wenn es regnet, stellt sich der ved.
Inder vor, dass Parjanya Wasser aus dem Schlauche (d. i.
der Wolke) ausgießt: dftirn su Jcarsha vishitam nyàhcam V 83, 7,
cf. I 129, 3. IV 45, 1 u. 3. Der Schlauch war das
Symbol der Wolke auch bei den Griechen: auf diese Vor-
stellung deutet die Erzählung vom Windschlauche, den
Aeolus dem Odysseus mitgibt, hin: x 19 ff. — Der im
ausgetrockneten Teiche liegende Frosch wird VII 103, 2
einem trockenen Schlauch verglichen. Ein Vergleich liegt
wahrscheinlich auch I 191, 10 vor, trotzdem die Ver-
gleichungspartikel fehlt: súrye vishám a sajämi drtim
súravato grhé. — Die Wolke wird metaphorisch als Tonne
und Kufe bezeichnet: Varuna gießt die Tonne mit der
Oeffnung nach unten über die Erde aus (meinabäram — kd-
vandham) V 85, 3, cf. VIII 7, 10; die Maruts mit der Tonne
(kabandhinah) finden wir V 54, 8. Für die Wolkenkufe
Zeitschrift für Völkerpsych. u. Sprachw. Bd. XIX. 4. 27
396
Hirz el.
vgl. man V 83, 8. IX 86, 3 und 108, 9. IX 88, 6 wird
der durch das Läutersieb sich ergießende Sorna dem Hegen
aus der Himmelskufe verglichen. I 7, 6 wird die Wolke
„Kessel" (paru) genannt. Einen sonderbaren, mir nicht
recht verständlichen Vergleich enthält V 19, 4: gharmó
ná vajajatharó 'dabdhah çàçvato dcibháh „wie ein Kessel mit
Speise im Bauche [ist Agni] der un versehrbare Allver
derber" (L.). Das Unrecht soll heiß sieden wie der Kessel
am Feuer (carúr agnivan iva) und den Bösewicht verderben :
VII 104, 2. — Bei Homer finden wir ¡jl 237 die Charybdis
und (]> 362 das Wasser des Skamandros mit einem Kessel
voll siedenden Wassers verglichen. — Soma gleicht einem
Topf (cam), aus dem man Gaben schütteln kann IX 52, 3.
— Indra spaltete den Berg wie einen neuen Krug (nävam
in ná Icumbhám) X 89, 7. — Oft ist die Rede von den 2
resp. 3 Schalen (dhishdne), das sind die 2 resp. 3 Welten:
Himmel, Erde, Luftraum, z. B. I 160, 1. VI 8, 3. V
69, 2. — VI 27, 6 werden die dem Pfeil erliegenden
Vrcivans springenden Gefäßen verglichen (pátra bhindfmá,
Vergleichungspartikel fehlt!). — Indras goldfarbene Lippen
gleichen 2 Löffeln (sruveva, nach Säy., doch ist die Be-
deutung des Wortes unsicher!) X 96, 9. Das begangene
Unrecht will der Sprecher von I 162, 17 durch das Gebet
angenehm, d. i. wider gut machen gleichsam mit dem
Löifel voll Spende beim Opfer (srucéva). — Wie mit einem
Mühlstein (drshddeva) soll Indra das rakshas zermalmen
VII 104, 22. — Die Açvinen werden gebeten, wie Krücken
(khrgaleva) vor dem Ausgleiten Schutz zu gewähren II 39,
4. — Der Speer Indras gleicht einem langen Haken
(dirghäm hy àrthuçâm yathä fdktim bibharshi X 134, 6, cf. X
44, 9; mit einem langen Haken (der Blitz? ankuço —) soll
Indra dem Opferer Gut darreichen: VIII 17, 10.— Vishnu
hält die Erde ringsum mit Pflöcken fest (mayúkhaih)
VII 99, 3. — Das von den Adityas verliehene neue Leben
befreit den Menschen von der Sünde wie einen Gefesselten
aus der Fessel (bandhad baddhàm iva) Vili 56, 18. Mitra
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
397
und Varuna, die das Unrecht verfolgenden Götter, werden
VII 65, 3 schlingenreiche Fesseln genannt (bhûripâçâv án-
rtasya sêtu). — Die auf das Brett geworfenen Würfel bren-
nen als magische Kohlen (divya ángaro), ob wo) kalt, das
Herz aus X 34, 9.
c) Schlaf. Für Menschen, die Schlafenden gleichen,
d. h. untätig sind, findet Indra keine Gabe I 53, 1. Agni
wacht früh auf (usharbúdham) IV 6, 8 u. ö. Hesiod sagt
von den Menschen des goldeneu Zeitalters: Üvrjaxov ujg
vnvio ôsdfirifiévoi O 116.
d) Das Bad wird in dem einzigen Vergleich V 80, 5
erwähnt: Ushas steht einer Badenden gleich aufrecht da,
als hätte sie ihren Leib für rein befunden.
e) Kleidung; Schmuck. Das beim Tagesgrauen ent-
zündete Feuer „kleidet sich in Morgenröten" VI 3, 6;
Schönheit und Licht sind die Gewänder, in die es sich
hüllt: II 10, 1. IV 5, 15, cf. I 26, 1; 95, 7. Das Opfer-
feuer, das mit glirta besprengt wird, heißt „ghrtagewan-
dig" (ghrtänirnik) III 17, 1 u. ö. In rüstige Kraft kleidet
sich Agni X 53, 3 (áyurvásüno). Wenn er durch die Fluren
zieht, beleckt er rings den Ueberwurf der Mutter (adki-
vasám pári maté rihdn I 140 , 9) und er selbst dient den
zwei Welten zum Ueberwurf (adhïvàsàm ródasi vàvasâné
X 5, 4). Agni wird vom Sänger wie mit einem Kleid mit
dem Lied umhüllt (vástreneva väsayä mammana) I 140, 1-
ähnlich heißt es VIII 26, 13, dass die Açvinen dem zu
Glück verhelfen, der wie mit dem Kleid die Frau mit
ihren Opfern verhüllt ist ('dhivasträ vadhür iva). VI 8, 3
lesen wir: Agni rollte wie 2 Felle die 2 Schalen aus-
einander (vi cármanwa dhisháne avartayad) d. i. er trennte
Himmel und Erde; über die Schalen cf. o. p. 396; wir
haben hier wieder eines der vielen Beispiele, wo Metapher
und Vergleich in wenig Worte zusammengedrängt sind.
Indra rollte die 2 Welten wie ein Fell zusammen: VIII
6, 5. — Das Wasserkind (Agni) ist mit dem Blitz be-
kleidet II 35, 9. — An die Açvinen kann man sich halten
27*
398
Hirzel.
wie an das Kleid bei der Kälte (? yuvór hi yantrám him y èva
vâsaso) I 34, 1. Vom altgewordenen Cyavana lösten sie
die körperliche Hülle wie ein Gewand (drapim iva) I 116r
10 u. ä. V 74, 5. — Die zwei Welten passen für Indra
wie zwei Gürtel (Jcakshye na) I 173, 6; einem großen Felle
gleichen seine Zufluchtsstätten (mahiva krttih çaranâ — Vili
79, 6). Indra ist in Kräfte gehüllt (tàvishïbhir avrtam) VIII
77, 2, cf. I 130, 4. IV 16, 14. VI 29, 3, wo er einem
Tänzer verglichen wird, ist er mit wolriechendem Mantel
versehen-, II 14, 3 soll er in Soma gehüllt werden júr ná
(wie ein Greis? Säy.) in Decken. Noch ein anderes Klei-
dungsstück lernen wir aus IV 22, 2 von ihm kennen:
çriyé párushnlm ushámcma Úrnam yásyáh párvani sakhyâ'/a
vivyé, unzweifelhaft ist die Wolke gemeint; der in die
(Wolken-) Wolle sich kleidende Indra heißt deshalb
Widder: II. Teil sub „Schaf und Ziege". Auch die Ma-
ruts kleiden sich in Wolle, cf. u. Diesem Wollen- d. i.
Wolkenkleide entspricht im Gr. die bekannte Aegis des
Zeus, unter der wir die Regenwolke zu verstehen haben
(cf. E. H. Meyer, indogerman. Mythen I p. 139). Indra
zerreißt die Burgen wie das Alter ein Gewand (átkam ná
puro jarima vi dardah IV 16, 13). — Ushas ist in Licht
gekleidet (jyótir vdsänä) I 124, 3, cf. III 39, 2, wo jeden-
falls Ushas gemeint ist; sie hat ein lichtes Gewand: I
113, 7. VII, 77, 2, ist goldfarbig: VII 77, 2. Diese und
ähnliche Metaphern sollen die glänzende Erscheinung
Agnis, der Ushas und anderer Götter veranschaulichen
und im Griechischen finden wir analoge Bilder. Die licht-
gewandige Ushas erinnert uns lebhaft an die xQoxònenXog
■r¡u>g & 1 etc.; auch Sonne und Mond sind bei den Griechen
prächtig gekleidet: h. XXXII 8: ein 'äxeccvoio Xosaact-
fxévr¡ XQ^a — típaxa eoaa¡xévr¡ — Zslr¡vr¡. Phoen. 175:
to hint<QO(ß(i)VOv xtvyarsQ \íXíov, XsXavuia. Ion 1516: iv
qasrvcdg »¡liov 7i£Qimv%ciïç. Für Sonne und Mond fehlen
uns die entsprechenden Metaphern im RV., da andere
Götter, neben Agni besonders die Maruts und Soma, wie
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
399
wir sehen werden, mit ihrer Kleiderpracht in den Vorder-
grund treten. IV 13, 4 wird das schwarze Gewand der
Nacht erwähnt; Siirya zieht es weg-, und seine Strahlen
schütteln die Finsternis ab wie ein Fell, cf. I 122, 2 und
VII 63, 1, wo gesagt wird, dass er die Finsternis wie ein
Fell zusammenwickelte; cf. auch VIII 6, 5 p. 397. Bei
Aeschylus Pr, 24 wird die rroixdsiiicov vv£ erwähnt, das
schwarze Gewand der Nacht wird hier also durch das
Sternenkleid ersetzt. — Vena trägt ein wolduftendes Ge-
wand (dtkam surabhim) X 123, 7. Das Kleid der Maruts
ist die Wolke: V 52, 9; 63, 6 und ferner der Regen: III
26, 5. V 57, 4. Wie ein Fell benetzen sie mit Wasser
die Erde I 85, 5. — Varuna liegt den Gegenden an als
ein Gewand (— átka âçàye Vili 41, 7). Dem Väyu be-
reiten die Ushas schöne Gewänder mit wunderbaren Strahlen
I 134, 4; er selbst soll (v. 3) die Ushas bekleiden. —
Reichlich ist Soma mit Kleidern versehen: er ist in präch-
tige Gewänder gehüllt IX 97, 2; hüllte sich gleichsam in
ein gewaschenes Kleid IX 69, 4, mit welchem Kleide wol
die Milch gemeint ist, cf. IX, 14, 5: gáh (d. i. Milch, cf.
Teil II) krnväno nd nirnijam und VIII 1, 17: gavyâ vástreva
vasàyania in náro; dieses Kuh- d. h. Milchgewand (wir fin-
den oft das Wort „gou metaphorisch für „Milch": cf.
Teil II) wird noch oft erwähnt, z. B. IX 8, 5 u. 6. An-
dere Somakleider sind das ghrta: IX 82, 2 und das Wasser
II 36, 1. IX 2, 3 etc., cf. IX 89, 2: der König zog der
Flüsse Gewand an; ferner das Läutersieb: IX 101, 15,
der Schafpanzer (d. i. die Somaseihe: pári shyá stivano
avyáyam — vàrmâvyata) IX 98, 2, die Kufe: IX 90, 2 und
die Finger, welche ihn pressen: IX 97, 12. Auch mit
Liedern wird Soma bekleidet: IX 35, 5; 43, 1; in Begeh-
renswertes, in Licht kleidet er sich I 135, 2. Diese Me-
taphern hat Bergaigne S. L. IV p. 131 f. zusammengestellt
und besprochen. — Die an Indra gerichteten Gebete hat der
Sänger wie gute, schöngefertigte Kleider gemacht: V 29,
15. — Indra soll das Loblied des Sängers in Reichtum
400
Hirzel.
kleiden VI 35, 1. — Die geschmückten Opferpfosten heißen
schön resp. licht gekleidet III 8, 4 resp. 9. Die vedi wird
mit dem barhis und dieses wider mit den verschiedenen
Opfergeräten bedeckt, deshalb sagt der Dichter X 114, 3:
die vierlockige, junge, schöngestaltige, ghrtaantlitzige
kleidet sich in die Opferwerke (cf. L. V 304). — Der
Pfeil kleidet sicli in Adler- (kleid, suparnám vaste VI
75, 11). — Die Maruts schütteln Himmel und Erde wie
den Saum (sc. eines Kleides, ántam ná I 37, 6). — Bei
Homer wird svw/u nur vereinzelt bildlich gebraucht: O
389: xaicc Giú{.iu sïixéva xa^il(ì) sc- ÍvGrá. Y 381: Achill
ist yQtaì ei/Liévog dkxr'tv. Einmal begegnen wir auch dem
Vergleich mit einem Fell: P 389 if. Der Kühnheit der
ved. Metaphern kommt am nächsten Ae. Ag. 872: %3-ovôç
TQÍ/iioiQOV %laïvav èirjrysi laßt¿v. —
Einen Vergleich mit der Wolle schließt in sich das
Beiwort úrnamradas „wollenweich", das V 5, 4 dem barhis
und X 18, 10 der Erde gegeben wird. Dieser Vergleich
liegt uns näher als der homerische t 233, wo der Leib-
rock des Odysseus weich wie eine Zwiebelhaut genannt
wird.
Der Schmuck gab zu folgenden Bildern Veranlas-
sung: Agni trägt man wie an der Hand einen Ring (háste
ná hhâdinam VI 16, 40). Die Flammen sind sein Schmuck:
II 8, 4; deshalb heißt er VI 4, 6 bunt geschmückt; er
schmückt sich mit lichten Kühen (añide çûcibfdr góbhir V
1, 3): die Kühe bezeichnen hier nicht, wie gewöhnlich, die
Milch, sondern das ghrta, cf. VII 64, 1 : des ghrta Pracht-
gewand (nirnijo). III 14, 3 wird er mit Opferspenden ge-
schmückt. II 10, 5 endlich tritt er im Schmuck des
Freiers auf (■mâryaçrîh). Den prächtigsten Schmuck be-
sitzen die Maruts: sie tragen goldene Gewänder V 55, 6,
sind bunt geschmückt I 64, 4, cf. X 77, 2, haben Gold-
schmuck an der Brust I 64, 4; 166, 10. VIII 20, 22.
X 78, 2 etc.; an ihren Schultern sind Spangen befestigt:
VII 56, 13, cf. I 64, 10; 166, 9. V 53, 4, und Hirschfelle
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
401
hangen um dieselben: I 166, 10. Putzliebenden gleich
(çubhamyàvo ná) erstrahlten sie mit Schmuck X 78, 7. Dem
Sänger sollen sie mit Gut das Lied schmücken II 34, 6. —
Die gesungenen Loblieder sollen Indra und Vishnu schmücken,
lesen wir VI 69, 3. Die Kuh ist nicht nur das Alltags-
kleid Somas, sondern auch sein Schmuckgewand: IX 107,
26; 86, 26; 72, 1, cf. 99, 1. Das brahma bereitet ersieh
zum Schmuck IX 71, 1, und mit Schönheit wird er geschmückt
IX 34, 4. — Auch der Nacht fehlt der Schmuck nicht:
X 127, 1. Den reichen Schmuck der griech. Götter kennt
jeder, ich erinnere nur an h. Ven. 65: xqvooj xoa ¡.irísela a —
3yj(fQoáízr¡, den goldenen Wagen der Artemis: h. IX 3 und
ihre goldenen Zügel: Z 205; cf. h. XXXII 5, wo der
Schmuck der Selene beschrieben wird. — £ 232 if. ver-
gleicht Homer den verschönerten Odyssens dem von Gold
umfassten Silberschmuck. —
Einige Bilder von der Farbe dürfen wir nicht uner-
wähnt lassen: das aufstrahlende Feuer wird lichter Farbe
verglichen I 66, 3 : citró ydd abhrät fvetó ná vikshú. Agni,
sowie Ushas, Indra und die Maruts sind goldfarben: II
35, 10. VII 77, 2. V 38, 2. II 34, 11. Der Soma hat
eine goldgelbe Farbe, deshalb wird er unzählige Male kurz
hari „der goldgelbe" genannt. Sürya heißt der rote
(bradhna) VIII 58, 7 u. ö. Nacht u. Morgenröte sind die
zwei verschiedenfarbigen (virüpe) I 95, 1, cf. I 96, 5. Die
dahin eilenden Apsarasen sehen aus wie rötliche Farben
(ta añjáijo 'runáyo ná sasruli X 95, 6). — Das Gebet ist
hellfarbig (çukravarna) I 143, 7, mit welcher Metapher
seine Vorzüglichkeit bezeichnet werden soll.
I.Krankheit. Unglück.
Wie Verletzung beim Gange, soll Uebelwollen dem
Menschen fern bleiben (rishtám ná yamann dpa bhütu dur-
matir I 131, 7). — Wer dem Agni dient, der dringt mit
des Himmels Unterstützung durch die Feinde wie durch
Bedrängnis (dvisho áñho ná tarati VI 2, 4).
402
Hirzel.
K. V e r k e h r.
Agni ist gleichsam des Himmels Gehülfe (dirá ivéd
aratir II 2, 2), ist Gehülfe der Nacht VI 3, 5, der im Holz
herschende Gehülfe VI 12, 3 ; sehr oft wird er ohne nähere
Bestimmung blos „Gehülfe" genannt, wie VI 15, 4. X
3, 1. Indra wird VI 47, 7 einem Führer verglichen (prd
nah puraetéva paçya prá no naya —), cf. I 130, 1. III
34, 2. Die Maruts sind kundige Leiter, den besten Weg-
weisern gleich (prajhätaro ná jijéshthah sunitdyah X 78, 2.
•— III 30, 15 lesen wir: indra drhya yamdkoça abhüvan
yajnaya çiksha grnaté sdkhibhyah. Indra sei stark ! Menschen
mit Reisekisten (gleichsam) waren es (die zum Opfer
kamen); dem Opfer hilf, dem Preisenden, den Freunden;
die Stelle ist unklar, ich glaube aber, dass L. sie richtig
aufgefasst hat, der V 65 erklärt: „Indras Verehrer —,
die mit ihren Darbringungen kommen, sind, wie Reisende
mit Waren den Wegelagerern, so den bösen Menschen
wie den Dämonen ausgesetzt; sie müssen geschützt wer-
den". Die Opfer er wünschen von Indra nicht wie aus-
wärtige oder wie fremde Menschen behandelt zu werden
(ma bhüma nishtyä ivéndra ttád aranci ita Vili 1, 13). Als
Svarbhänu den Síirya mit Finsternis schlug, da glichen
die Wesen in ihrem Aussehen einem der Gegend Unkun-
digen, Verirrten (dkshetravid ydthä mugdlió bhùvanân// adï-
dhayuh V 40, 5). — „Ushas, die Schulden gleichsam —
d. h. die den Göttern zu entrichtenden Opfer — treibe
ein", heißt es X 127, 7 (rnéva yätaya). Soma beeilt sich,
die Feinde zu bewältigen, einem Schuldverfolger ähnlich
(dvishds tarddhyä rnaya nd lyase IX 110, 1). Aehnlich wie
Yi6 wie x/8 (çapha), wie die (ganze) Schuld zusain-
mengeschaift (d. i. abgetragen) wird, so will der Dichter
von VIII 47, 17 den bösen Traum zu Äptya sc. Trita
cf. R. V. II p. 326 ff'.) schaffen.
Zu einer reichen Anzahl von Bildern lieferten den
Stoff der Bote, die Freundschaft und besonders die
Gleichnisse und Metaphern im Egveda.
403
Gastfreundschaft. Wir begreifen leicht, wie dem zum
Himmel empor steigenden Feuer die Vermittlerrolle zwischen
Erde und Himmel übertragen werden konnte, und wenn wir
vollends daran denken, dass nach altindischer Vorstellung das
Feuer seinen ursprünglichen Sitz im Himmel hatte und erst
von da zu den Menschen gelangte, so wundern wir uns nicht,
dass Agni so unendlich oft als „Bote" (düta) angerufen
wird, I 44, 2 etc.: er wie keiner war ja des Weges zum
Himmel, seiner Heimat, kundig. I 60, 1 wird er als sehr eif-
riger Bote (suprâvyàm d.) bezeichnet, I 44, 2 als erwünschter
Bote (Júshto d.), I 36, 4 als der uralte Bote (— pratnám\
I 44, 11 als weiser, rascher, unsterblicher Bote (präce-
tasam jtrám d. ámartyam), I 44, 9 als Bote der Stämme
(d. viçàm àsi). Oft sagen auch die Dichter zu ihm: du
gehst nach Botschaft aus {yási dütyam), cf. I 44, 12; 74, 7.
— Die Açvinen gleichen Boten: II 39, 1, cf. X 106, 4.
Wie ein gehorsamer Entsandter war Vasishtha aufmerk-
sam gegen die Açvinen, indem er sie pries (çrushtîvêva
préshito vani abodhi — VII 73, 3). Die Taube ist die Botin
der Nirrti X 165, 1; die breitnasigen, unersättlichen,
braunen sc. Hunde sind Yamas Boten X 14, 12. Den
Vena hat Varuna zum Boten X 123, 6. Dem Soma geben
Anweisung wie einem Boten die Weisen IX 99, 5. — Die
Stimme wird IV 33, 1 und VIII 5, 3 einem Boten ver-
glichen, ebenso das Lied V 43, 8. VI 63, 1, cf. X 47, 7:
meine Boten wandern zu Indra, die Loblieder (vanivano
mama dütasa îndram stómag caronti); die Stimme (Indras?)
soll zwischen den 2 Welten wandern wie ein Bote (antár
dütó ná ródasi carad vak I 173, 3). Homer liât ebenfalls
verschiedenen Göttern die Botenrolle übertragen, ich er-
innere an Iris, die Botin der Götter B 786 u. ö., Hermes
óiáxroQog u 84 etc.; cf. h. Ger. 407, h. XIX 29 (ctyyeXoç) ;
€ 29: üó yàq — uyysXóg sfidi; û 169 u. 173: Jloç ayys-
Xog; an Athene, Helios: A 714, ,9- 270. Der Morgenstern
ist der Bote der Eos: v 93 f. Auch der Vogel fehlt bei
ihm nicht als Bote, cf. o 526: k/çxoç, ÙnóXXm'og xa-^vç
404
Hirz el.
ayyeXoç. Die oúact ist /lidg cíyysXog B 93, cf. w 413: vaca —
ayyeXoç ama xocrà móXiv wysro. Nur den Feuerboten
kennt, das Epos nicht; hieftir können wir Ag. 282 ver-
gleichen: (fQvxròg âè (/qvxtÒv ÔsiIq an ccyycÍQOv nvçôç
%nsfinsv (âyy. ein persisches Wort für Bote). Ag. 264
wird Eos sïàyysloç genannt. Hermes erscheint Pr. 941
als Jwg TQÓyjg; Euripides nennt ihn Ion 4 /hòg Iùtqiç,
El. 461 Jiog ayysXoç. —-Aus Euripides ist auch die Me-
tapher Heracl. 656 hieherzuziehen: ¡3oi¡v—ayyslov yoßov,
cf. Suppl. 203 f.: sha <T cíyysXov yXiôccfav Xóyoìv âovç. —
Bei Hesiod finden wir Hermes als Herold Th. 939 (xíjqvx*
à&avccrcov) und als Boten 0. 85 (&€a~v rayvv cíyysÁov).
Der den Menschen so willkommene und wolgesinnte
Agni wird gern einem Freund verglichen: Die Sänger
preisen ihn wie einen Freund: VIII 73, 1, cf. VIII 23, 8;
31, 14; 63, 2. Man muss ihn wie einen Freund zu ge-
winnen suchen (mitra iva yó diclhishâyyo — II 4, 1). Man
schmückt ihn wie einen gut aufgenommenen Freund Y 3,
2; die Sterblichen stellen ihn wie einen Freund voran
V 16, 1. „Sei uns wolgesinnt wie ein Freund dein
Freunde" wird III 18, 1 gesungen. Agni gleicht einem
heilbringenden Freund (dadhúsh tra bhrgavo — m. nei çévam
divyàya jánmane I 58, 6). Mitra und Varuna schufen ihn
gleichsam als Freund I 151, 1. Wer ihn entzündet, will
ihn gleichsam zum Freunde haben I 143, 7. Das Feuer
entzündet man täglich, wie man durch (täglichen) Umgang
einen Freund gewinnt, das ist der Sinn von X 7,5:
dyúbhir hitám mitrám iva pray ó gam ; wir erwarten mitrdm
prayógena, statt dessen sind m. und p. coordinirt, cf. S. V.
p. 100. Einem Freunde gleich erstrahlt das Feuer V
6, 7. Metaphorisch wird Agni als Freund bezeichnet
I 67, 1 u. ö., auch als Hausfreund III 2, 15 u. ö. Auch
die Açvinen gleichen Freunden: X 106, 5; gleichsam ihre
Freunde, haben ihnen die Sänger die Madhuspende darge-
bracht III 58, 4, cf. VII 67, 7. Indra kommt wie ein
Freund zum Opfer X 29, 4; er ist wie Agni der Freund
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
405
der Menschen VIII 2, 27, cf. VI 45, 7, und seine Falben,
die ihn zum Opfer fahren, werden III 35, 4 ebenfalls zu
Freunden erhoben. I 190, 6 vergleicht der Dichter Brhas-
pati einem gewonnenen Freund. Die Maruts ferner zeigen
sich den Menschen, die ihnen gehuldigt haben, als Freunde:
— ukshánty asm ai marido hita iva puré rájúnsi. payaso, mayo-
bhúvah I 166, 3, cf. V 54, 8 : aryamano ná mandali — pinvanty
útsam; wie alte Freunde ruft man sie an V 53, 16. Die
Leute, welche die Satzung des Mitra und Varuna wie ein
Freund (die Freundschaft) verletzen, werden von Indra
bestraft X 89, 8. Den Soma bittet der Dichter VIII
48, 4, er möge wie ein Freund dem Freund die Lebens-
zeit verlängern, ähnlich IX 104, 5; er und Indra sollen
des menschlichen Glückes gedenken „ganz wie man Freund-
schaftsbündnisse schließt" (indem man dabei auf des Freun-
des Wol bedacht ist; yäthä yathä miträdhitöni samdadhúr X
100, 4). Soma soll zum Glänze gereichen wie der Freund
dem Freund IX 105, 5. Kshetrapati verschafft den Men-
schen wie ein Freund Rind, Ross und Nahrung IV 57, 1.
— X 115, 7 werden die Opferherren Freunden verglichen;
mitraso ná yé südhitä rtâyàvo.
Agni ist nicht nur der Freund, er ist auch der Gast
(dtithi) der Menschen: I 127, 8. VII 3, 5. VIII 23, 25;
der liebe Gast (priyó no a. VI 2, 7, cam II 2, 8), der
liebste G. (préshtha VIII 73, 1), der beste jugendlichste G.
(çréshtha yávishtha I 44, 4), der wünschenswerte G. (vá-
renya I 58, 6), der glückbringende G. (a. givó nah V 1, 8),
der strahlende, schön glänzende G. (dyutaná VI 15, 4, dar-
çataçri X 91, 2), der glanzreiche G. der Nacht (aktór a.
vibhâvasum X 92, 1). Er wird gepriesen wie ein befreun-
deter Gast (a. ná mitriyo VIII 19, 8) und gleicht einem
weichruhenden Gast, dem. Liebes erwiesen wird (syonapir a.
ná prìnànó I 73, 1). Der IV 40, 5 genannte Gast ist
wahrscheinlich Dadhikrn, cf. R. V. II 457. — Die auf-
leuchtende Ushas lächelt wie ein freundlicher Einlader
(? chándo ná smayatc I 92, 6; die Bedeutung von eh. ist
406
Hizel.
unsicher); sie weckt wie ein Tischgenosse die Schlafenden
(admasán nd sasató bodháyanñ I 124, 4). Agni ist der
Tischgenosse (admasád) der Menschen VIII 44, 29, cf. VI 4, 4;
ebenso heißen Indras Falben X 44, 3; sadhamädyä werden
sie VIII 13, 27; 32, 29 und 82: 24 genannt. — Als Indra den
Strömen Bahn schuf, setzten sich die Berge wie Tisch-
genossen VI 30, 3.
L. Besitz. Reichtum.
Die folgenden Vergleiche lehren uns, wie sehr die
vedischen Inder nach Reichtum trachteten und wie hoch
sie ihn zu schätzen wussten. Von Indra wünschen die
Menschen Reichtum wie einen Vermögensanteil (rayim
bharâùçam ná III 45, 4; Säyanas brauchbare Erkl. zeigt,
dass unter ança nicht das Erbteil zu verstehen ist : yathä
pita vyavahärajnäya puträya svaJciyasya dhanasya bhagam da-
däti) ; ähnlich VIII 79, 6: tv 2 — rádJto bhägdm ivemahe und
VIII 88, 3 : vdsüni—práti bhägdm ná dîdhima. II 19, 5 wird
dagegen das Erbteil gemeint sein: à yád rayim guhddava-
dyam asmai bhárad dnçam naitaço. Etaça — das Sonnenross
— soll fehlerverdeckenden Reichtum wie ein Erbteil brin-
gen, cf. Ludwig V 61, der zu guhad. bemerkt: „das Epi-
theton — zeigt, welche Rolle der Reichtum zu allen Zeiten
gespielt hat". Der Sänger naht mit Liedern dem Indra
und Varuna, um des Lobes teilhaftig zu werden, wie (an-
dere) Menschen nach Gut trachten (— joshtara iva. vdsvo
IV 41, 9). Wenn Indra mit Vätas Pferden fährt, zieht
er sie fest an sich wie zu erbeutendes Gut (rjrà vajam
nd gádhyam yúyüshan IV 16, 11). Der Sänger soll Indra
herkommen lassen, damit er, einem Behälter gleichend, der
mit Gut gefüllt ist, Geschenke mache (kôçam ná pürnám
vúsuná nyrshtam a cyâvaya maghadéyâya çéram X 42, 2, cf.
X 134, 4: viçvâni dhünushé \ rtiyím ná —); ein Gott ist
mit einem Gefäße verglichen! — an einer solchen Zu-
sammenstellung nehmen wir Anstoß, nicht so der vedische
Dichter, dem es weniger auf die Schönheit als auf die
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
407
Anschaulichkeit des Vergleichs ankommt. Verschiedene
kühne Vergleiche dieser Art hat Bergaigne S. L. IV p.
113 f. zusammengestellt. IX 93, 3 wird die Milch, mit
welcher man den Soma mischt, blanken Gütern verglichen :
mürdhänam (sc. der Welt, d. i. Soma) gàvah páyasa camúshv
abhí trinanti vásnbhir ná niktaih. Mitra und Varuna sollen
dem Opferer die gleichsam viehverschaffenden Güter be-
hüten (paçushô ná vajän V 41, 1). Indra gewährt dem-
jenigen seine Hülfe, der ihm reichlichem Gute gleichenden
Soma keltert (dkánam ná syandrám bahulâm X 42, 5). Den
Agni verehrten die Männer, als ob sie eines alten Vaters
Habe verteilten (indem sie ihm so reichliche Opfergaben
darbringen, pitúr ná jívrer vi vedo bharanta I 70, 5). Agni
ist so wertvoll wie Reichtum: I 127, 9; 58, 6; 60, 1;
66, 1, cf. I 128, 1. Seine Schönheiten sind begehrenswert
wie .der Reichtum eines Mannes, der reich an Helden-
söhnen (spärhä ydsya criyo drçé rayír vlrávato yathä VII
15, 5). Agni verleiht dem Menschen Kraft wie Reichtum,
der vom Vater erworben wurde [rayír ná—pitrcittó I 73, 1).
— Vandana, den die Açvinen aus der Grube erretteten,
wird einem verborgenen Schatze verglichen (;yád vidváñsa
nidhím ivápagídham úd darçatad upáthur vándanuya I 116, 11,
cf. I 117, 5 p. 11). Pedu erhielt von den Aç. das weiße
Pferd, das so hoch zu schätzen ist wie beglückender Reich-
tum (— bhágarn ná nrbhyo hàvijam mayobhúvam X 39, 10).
„Nicht gib uns hin wie Reichtümer der Verschwender"
(ma no magliéva nishshapí párd däh) fleht der Sänger I 104, 5
den Indra an. Soma soll seinen Saft wie väterlichen
Reichturn genießen lassen (— sutdsya bhakshlmahi pitrya-
syeva räycih VIII 48, 7); er glänzt wie Reichtum (rayír vi
rajati dyumàn IX 5, 3; S. wird hier also metaphorisch als
ray i bezeichnet, während wir eher einen Vergleich er-
warten). IX 88, 3 wird er einem Reichtumsverleiher ver-
glichen (viçvàvâro dravinodà iva). Auch die Presssteine sind
den Menschen so lieb wie Reichtum: X 94, 10. — Nah-
rung wie Reichtum, der (sogar eines Berges) Rücken über-
408
Hirzel.
rag't, teilen sie aus (push t im vibhâjanta ásate rayim iva
prshthám prabhávantam ayate II 13, 4); Subject ist n. Säy.
grhamedhinah, ich glaube vielmehr mit L. V p. 55, class die
beim Opfer versammelten Götter gemeint sind, schon wegen
des Vergleichungsausdrucks, denn mit pr. prabh. soll ge-
wiss die Unermesslichkeit des Reichtums veranschaulicht
werden, und Nahrung, die so großem Gute gleicht, ver-
mögen nur Götterhände zu verleihen. — Tugra ließ den
Bhujyu (seinen Sohn) in der Wolke zurück wie der Ge-
storbene seinen Reichtum I 116, 3. Der Somatrank be-
geistert den Sänger von VIII 48, 6 so, dass er ausruft:
ich komme mir vor wie ein Reicher (ä soma manye re-
vàn iva —).
M. Verbrecherwelt.
An bösen Menschen fehlte es im alten Indien nicht
und wie die Vergleiche zeigen, war es vor Allem der
Dieb, vor dessen Handwerk man sich hüten musste.
Die Maruts erlegen den Menschen, der gegen seine
Verbündeten kämpft, wie einen Schuldigen (yé mártyam
prtanäydntam ümair rnävanam ná patayánta sdrgaih I 169, 7).
— Agni eilt schneller als ein schuldiger Dieb, wenn er
die Länder mit seinen Strahlen durchzieht {yah — dhá-
vvjän rnó ná täyur dti dhämvä rat VI 12, 5). „Wie der
Dieb einen Platz im Verborgenen einrichtend, verhalfst
du dem Atri, indem du ihn (darauf) aufmerksam machtest,
za Reichtum", wird V 15, 5 zu Agni gesprochen (padám
nd täyur gühä dddhäno mahó rayé citáyann àtrim aspah).
Agiiis Spuren gehen die Weisen nach wie einem Dieb,
der mit, Vieh an verborgenem Ort sich versteckt (paçvd
ná tciyúm gúhá cátantam — I 65, 1). Wie einem Dieb, der
ein Kleid raubt, schreien dem Dadhikr.i die Völker nach
(vastramäthim [wörtl. das Kleid quirlend, reibend, d. i.
wegreißendj nd tayúm IV 38, 5, cf. S. L. IV p. 120).
„Macht uns aus dem Rachen der Wölfe los wie einen ge-
fesselten Dieb", diese Bitte wird VIII 56, 14 an die
Gleichnisse und Metaphern im Egveda.
409
Adityas gerichtet. Varuna soll den Vasishtha losbinden
wie einen Dieb, der am Vieh (-diebstahl) sich ergötzte
(und den Diebstahl gesühnt hat, paçutrpam ná täywn VII
86, 5). Die Worte Vili 29, 6 pathá ékah plpdya táskaro
yathä gehen auf Püshan; wir übersetzen mit L. „einer
wird fett vom Wege wie ein Dieb" ; anders fasst Ber-
gaigne R. V. [I 422 die Stelle, der, wie öfter, zu viel
zwischen den Zeilen liest, wenn ich mich so ausdrücken
darf. — Wenn die Sonne aufgeht, gehen die Gestirne wie
Diebe davon: I 50, 2. — In dem späten Zauberliede I
191 heißt es Vers 5: diese (Schlangen, Würmer) wurden
des Abends wie Diebe gesehen. — Wie ein Dieb, der in
den Stall einbricht, überwinden die Heilkräuter alle Hinder-
nisse (dti viçvah parishthah stená iva vrajàm akramuli X
97, 10).
X 4, 6: wie zwei ihr Leben aufs Spiel setzende
Räuber, die im Walde sich umher treiben (und den Wan-
derer fesseln), so binden die 2 (sc. Hände) mit 10 Stricken
(die Reibhölzer, tanütydjeva täskarä vanargü raçanâbhir da-
rdbliir abhy ädhitäm). — Den gr. Dichtern gefielen derartige
Bilder auf Götter angewendet nicht; nur h. Ap. P. 275 ff.
finden wir ein liieher gehöriges Gleichnis: /laxpidmg álá-
olà is Xr¡lüríjQsg spricht Apoll zu den Seefahrern. —
IV. Das Haus.
Der Sänger Kakshivat wünscht ein hohes Alter wie
die Heimat (<•islam, ivêj —) zu erreichen I 116, 25. Die
Maruts kommen zum Opfer wie nach der Heimat (améva)
II 36, 3.
Das Haus des Freigebigen ist geschmückt wie Götter-
wohnungen (devamäneva) X 107, 10. Das Himmelsgewölbe
wird mit einem Bauwerk verglichen in dem metaphorischen
Ausdruck divo manam — VIII 52, 2.
410
Hirzel.
Für Wohnung finden wir in den Vergleichen ohne be-
merkbaren Unterschied vorzugsweise yoni, oka, okya, kshatja,
kshiti gebraucht. Der für die Götter zurechtgemachte Sitz
gleicht einem Heim (— sthánam à yát sedáthur dhruváse ná
yónim VII 70, 1), cf. VI 15, 16. Indra hat zur Wohnung
die Wahrheit (satyàyonih) IV 19, 2. Das ghrta ist Agnis
Heim {yoni) II 3, 11. — IX 66, 12 u. ö. wird der Opfer-
platz „des heiligen Rechtes Wohnsitz" (rtásya yoni) ge-
nannt. — Die drei Welträume (pamvátah) sind die Woh-
nungen (svusaräni) der Açvinen I 34, 7. Agni erfreut die
Menschen wie die Wohnstätte (óko ná ranvó I 66, 2), ähn-
lich von den an Indra gerichteten Wünschen IV 16, 15
und X 33, 6: yásya prásvadaso gira upamâçr avasah pìtuh j
kshétram ná ranvdrn ücúshe; cf. I 144, 7: ranváh sámdrshtan
pitumàn iva ksháyah = X 64, 11 v. der Lobpreisung der
Marut-Schar. Unklar ist I 104; 5: práti yát syâ nlthà-
darçi dàsy or óko nachä scidanam jänäti gät: als die List Da-
syus offenkundig! wurde, gelangte die Kundige (PSäy. gaur)
wie zur Wohnstätte zu (des Kalbes?) Sitz. — „Sorna,,
erfreue dich an unserrn Magen (wörtl. Herz) wie der Bräu-
tigam am eigenen Wohnsitz" (márya iva svá objè) spricht
der Dichter I, 91, 13. In Indra suchen die Gebetslieder
die Heimatstätte, zu den Göttern gleichsam sc. gehend
I 132 , 5 . 28 Agni verleiht Gut, das nahrungsreichem
Wohnsitz gleicht (— pitumántam iva ksháyam rátnam dddhäti
V 48, 4). D}^aus und Prthivï bereiten den Menschen Herr-
liches, Freude gleichsam zur Wohnung (mahás karatho vá-
rivo yátItâ no 'smé kshâyâya VI 50, 3). Der Opferplatz (die
Erde) soll gleichsam die Wohnstätte der Ushas sein (iyám
sá bhüyä ushäsäm iva kshá X 31, 5). Agni gleicht geräu-
miger Wohnung (Icshitír ná prthví I 65, 3); an Schätzen reich
28 indra olcyam didhishanta diñtáyo devân áchñ ná dhUáyah;
Bergaigne bemerkt S. Y. p. 89 richtig, dass ein Verb „gehen" zu
ergänzen ist, das wir I 139, 1 (p. 286 meiner Arbeit) ausgedrückt
finden.
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
411
strahlt er wie eine Wohnung von Reichtum (— kshitir nd
räyä puruváro adyant IV 5, 15). — Süryas Wohnung wird
VIII 58, 7 erwähnt: üd ydd brcidhndsya vishtdpam grhám —
gánvahi. — Die Opferstreu (barhis) gewährt Wohnsitz (den
Göttern, pastyavat) II 11, 16. — Indra verschafft den Huld-
vollen gleichsam Wohnung (vâsdyasîva vedhdsas VII 37, 6,
Sây. svakîye stimm 'vasthapäyasi). Unklar ist I 173, 6: sdrn
vivya indro vrjdnam nd bhttmä J, hüllte sich in die Erde,
die gleichsam sein Wohnsitz ist; Grassmanns Uebersetzung
„wie ein Gewand" wird schwerlich richtig sein, da vrj.
in dieser Bedeutung nicht zu belegen ist, wol aber könnten
wir mit L. an vrj. — „Kraft" denken, cf. I 130, 4: sam-
vivyäna ojasä cavobhir indra — und ä. Stellen. Auf die
bekannte gr. Vorstellung von der Götter wohnung auf
dem Olymp, die analog der menschlichen, nur viel präch-
tiger ausgeführt ist, brauche ich nur mit einem Worte
hinzuweisen. Sophocles nennt Oe. R. 195 das von Amphi-
trite bewohnte Meer OáXufxov 'ifxcfiiQícag. —
Der Himmel ist ein über der Erde ausgebreitetes schir-
mendes Dach: nd u shyd çarnaé divó jyótir ayañsta sáryah
VIII 25, 19.
Agni soll Kraft zum Ruhme wie Türen erschließen
{duró nd vâjam — II 2, 7); er erschließt des Reichtums
Türen I 68, 5, ebenso Soma IX 64, 3. Die Açvinen sollen
die himmlischen Speisen und Flüsse wie Tore aufschließen
(— dpa dvareva varshathah, VIII 5, 21). — Von den Pforten
des Himmels ist I 56, 5; 113, 14. III 43, 6 u. IX 5, 5
die Rede (ata = Türrahmen samt der Tür: cf. Z. p. 154
und Anm.); diesen entsprechen die nviui des Himmels:
E 749. & 393 {E 646 u. ö. n. des Hades, auch E. Hipp.
56; e 15 des Tartaros, w 12 des Helios). Indra steht bei
den Pajra als Loblied (d. i. Gegenstand des Lobi.) wie ein
Türpfosten [dúryo nd yúpoh I 51, 14). — Dein „hundert-
torigen", dessen Besitz Indra errang (fatddurasya vedo
X 99, 3), stellt sich zur Seite I 383: éxcaófiTivXoí
dai vom ägyptischen Theben. — Die Worte III 61, 4:
Zeitschrift für Vülkerpsych. u. Sprachw. Bd. XIX. 4»
412
Hivzel.
áva syümeva cinvaii maglióni/ ushá yäti svásarasya pátnl fasst
nach meiner Ueberzeugnng richtig Z. p. 154, wenn er
übersetzt „den Türriemen lösend tritt sie hervor die Hans-
herrin" (besser „Herrin des Stalles", cf. Teil II sub „Stall"),
cf. dessen Anm**. — Die Größe, der Tür kommt, wie wir
sehen, in keinem vedischen Vergleich in Betracht, während
sie in dem einzigen Gleichnis von der Tür Q 317 if. das
tertium comparationis bildet: oaar¡ â'vipoQo^oio i>vqr¡ tta-
Xá^ioio zézvxzai âvéqoç àyvtioïo —, tóüo' ¿Íqcc tov ydes
Adlers) énázeQ&sv %dav msQcí. —
Agni stützt wie eine Säule als Stützbalken die Men-
schen (sthüneva jcmäh upanrid yayantha I 59, 1); IV 5, 1 ist
unklar : mit seinem hohen Wachstum stützte er (sc. den
Himmel, haben wir wol nach der folgenden Stelle IV 6, 2
zu ergänzen; G.s Auffassung ist unrichtig) wie ein Stütz-
balken das steile Ufer (— vaksMthenopastaihäyad upamin
ná ródhafy) ; wie ein Aufrichter (sc. des Opferpfostens) setzte
er den Rauch als Stütze an den Himmel (méteva dhümám
stabhäyad ùpa dyâm IV 6, 2). Agni selbst wird Stütze des
Himmels genannt (divo dhárman dharúne: V 15, 2, cf. X
170, 2) und Stützpfeiler (skambhd) X 5, 6; auch Siirya ist
skambha des Himmels IV 13, 5 und Soma IX 74, 2; 86,
46: eine Flüssigkeit mit einer Stütze verglichen, gewiss
ein kühnes Bild! Ueber kühne Metaphern im RV. vgl.
man Bergaigne, S. L. IV 106 ff'. (Combinaisons incohérentes
du terme propre et du terme figuré-). Cf. X 44, 4, wo der
Soma Stütze der Kraft (ürjäh sk.) genannt wird. IX 89, 6
heißt es ferner von Soma: vishtambhá divó dharánah prthi-
vyâ vif vu uta kshitáyo háste as/ja, cf. IX 2, 5; 86, 35; 87, 2;
.108,16. — Die Gaben der Maruts sind feste Stützen (skam-
bhádeshna) I 166, 7. Der Himmel wird einer gut errichteten
Säule verglichen V 45, 2 : sthüneva súmita drñhata dyauh,
— Wie zwei kleine Mädchen am neuen Pfosten erglänzen
die braunen, sc. Pferde Indras, auf ihren Fahrten (<kanina-
kéva vidradhé nave drupadé arbhaké — IV 32, 23 ; die Deu-
tung ist nicht sicher, vidradhe ganz unklar: Say. erkl. es
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
413
mit Vy nähe gespreizt, weshalb L. vermutungsweise „Strebe-
sparren". Der Vergleich gibt einen guten Sinn, wenn
wir an eine Verzierung des Holzpfostens denken). — Bei
Homer (nicht bei den Tragikern) treffen wir ebenfalls Ver-
gleiche mit der Säule: Aisyetes steht unbeweglich wie
eine da N 437, ähnlich von den Rossen Achills P
434 ff. Der Oelbaum ist dick r¡vn mmv xp 191. Die
steckenbleibende Speerhälfte wird einem Pfahl vergi. N
564 (oitne analog nvçixavGTos). Aus Euripides ist die
Metapher J. T. 57 zu vergi.: (StìXoi oÏkmv — naXdsg uq
asveg. — In fünf Vergleichen — und nur in diesen —
kommt das Wort akrá vor, welches von L. mit „Säule",
einmal mit „Fahnenstange", von Gr. mit „Banner", einmal
mit „Strebepfeiler" übersetzt worden ist (P. W.: rasch,
stürmisch(P)). Agni, entzündet als a. (indhmo ah-ó) in den
Versammlungen, hebe leuchtend unser — Gebet empor
I 143, 7; er ist zu schmücken uçigbhir nakráh I 189, 7;
gleicht einem tragenden a. beim Zusammenstoß der großen
sc. Wasser (a. nú babhrih samithé mahinäm) III 1, 12. Die
Opfersäule ragt in die Höhe wie ein neu errichteter a.
{navaja nakráh) IV 6, 3. Die Ädityas wuchsen an wie a.
(akrá nú yâvrdhuh) X 77, 2. Ich glaube, es kann kein
Zweifel obwalten, dass akra „Säule" bedeutet; ausschlag-
gebend ist besonders III 1, 12, wo ja auch Gr., inconse-
quent genug, sein „Banner" mit einem „Strebepfeiler" ver-
tauschen muss. —
lieber die innere Einrichtung des Hauses geben
uns keine Vergleiche Aufschluss; nur I 67, 5 kann man
hieher stellen, wo der Dichter sagt, dass die Weisen dem
Agni gleichsam einen Sitz ausmessen und zurecht machen
(sádmeva dhiräh sammâya cakruh); unter dem Lager des
Stieres (vrshabhásya nïlé) IV 1, 11 und 12 ist das Holz zu
verstehen, in welchem Agni sich aufhält. — Dem „¿v-
îïqovoç" (Eos: 0 535 497 u. ö.) stellt sich kein ve-
disches Bild zur Seite.
Wir reihen die Bilder von der Burg an (pur, be-
28*
414
Hirzel.
festigter Platz, cf. Z. p. 142 if.): Agni ist frohen Mutes
wie in der Burg der "bejahrte (König — haben wir n.
Säy. zu ergänzen, ranvàìi punva jéryah VI 2, 7). Die Burg
gewährt sichern Schutz, deshalb spricht der Dichter zu
Agni: „sei uns eine große, eherne, hundertfach umschlos-
sene Burg" VII 15, 14; „als eine Burg wollen wir dich
hinstellen" X 87, 22; „beschütze — mit ehernen Burgen"
I 58, 8, — mit 100 Burgen VIT 16, 10, — mit 100 eher-
nen Burgen VII 3, 7. VIII 62, 18 wird ein Gott (welcher
sagt der Dichter nicht) angefleht, den Feind wie eine
Burg zu vernichten. — Indra ist der Spalter der Burgen
(puram hhindúr I 11, 4), der Burgzerstörer (puramdará II
20, 7 u. ö.), ebenso Agni: VI 16, 14 und VII 6, 2; I 109, 8
werden Indra und Agni zusammen so genannt.. Indra
spaltet wie Burgen die gottlosen Spalter (bhinát púro ná
bhido àdevîr I 174, 8), cf. VI 20, 7; reichliche Nahrung
wie eine Burg soll er erschließen VIII 6, 23, ä. VIII
32, 5. Ihn, der einer Burg gleicht, soll man preisen (pú-
ram ná dhrshnv àrcata Vili 58, 8), und beim Burgherrn
gleichsam sucht man Freundschaft (müräyüvo ná púrpatim
I 173, 10). — Soma betritt die zwei Schalen wie der Mann
die Burg (jáno ná puri cannar vif ad IX 107, 10). — Die
Wasser glänzen wie Burgen V 41, 12. Sarasvatí ist eine
eherne Burg (âyasï puh) VII 95, 1. Unter der ehernen
Burg VIII 89, 8 ist die Wolke zu verstehen, cf. II 35, 6,
wo rie Wolken „rohe Festen" (ämasu pürshu) genannt wer-
den. Aehnlich wie die indischen Dichter pur, gebrauchen
die griechischen nvqyoç: l 556 heißt es von Aias: roïoç
yáq acfiv nvqyoç ánúleo-, J 334: rcvqyoç 'Aiuiùv alloc,
jrel&wvï, cf. 347. A e. Suppl. 95 f.: èljiiâcov — vipi-
nvqyoav • Oe. R. 1200 i.: avaiarv xooqqi nvqyoç (Be-
schützer) avéG'ccc; Alk. 311: naïç ¡tihv ¿¿qürjv rrcciéq *¿X¿i
nvqyov fityccv ; Med. 389: ïjv ¡Liév xiç r^fxïv nvqyoç, ùûyiulrjç
(javfr Häufig wird von Homer der Schild einem Bollwerk
vergi., cf. H 219: aáxog r¡Ut nvqyov. — Von Echepolos sagt
er J 462: r¡qms à' œç 07 ¿ nvqyoç, évi xquieqf¡ vú¡xívi¡. —
Gleichnisse und Metaphern im Rgveda.
415
Den vedischen Ansiedelungen fehlte auch der Brun-
nen nicht; derselbe wird in mehreren Bildern erwähnt:
verdeckt, wie Brunnen von Arbeitern (zugedeckt werden),
sind viele Kräfte in Indras Gliedern (airtaso 'vatäso nd
kartrbhis tanúshu te krätava i. bhúrayah I 55, 8 „Wir schaffen
uns den, der unvergängliche Hülfe gewährt (äkshitotim, —
Indi a) zur Freundschaft her wie den Eimer in den Brun-
nen" (— à cvävayämo 'vate nd kógam) heißt es IV 17, 16,
und „lasst uns den I. wie einen Brunnen mit Gut aus-
gießen" (indram visara nd rdsunah sicâmahe) II 16, 7, cf.
Val. 2, 6: wie ein wasserreicher Brunnen schwollst du
stets von Gütern (udriva — avató vasutcand sdda pipetha);
ähnlich Val. 1, 6: wasserreichem Brunnen gleich strömen
die Andachtslieder (udriva — avató na siñcaté kshdranti —
dhUmjah). Indra schaut herab — zu den Menschen —, wie in
die Brunnen der Mensch VIII 51, 6. Sehr kühn ist das Bild
III 46, 4: in den weiten, tiefen, von Geburt an gewaltigen,
alles fassenden Brunnen der Gebete (— avatäm matïnâm)>, in
Indra dringen ein die Somatränke. — Soma ist ein wasser-
reicher Brunnen X 101, 5, ein Brunnen mit zugerüstetem
Eimer und gutem Seil (ishkrtähävam aratdm suvaratrdni —
mice X 101, 6), cf. X 101, 7 u. 11. Soma bohrte gleichsam
einen unversieglichen Brunnen, der den Menschen zum
Trünke dient (abhydbhi hi — tatdrdühótsam nd keim cij ja-
napânam dkshitam IX 110, 5).
In Varunas Schlund fließen die 7 Strome wie in eine
hohle Röhre (— anukshdranti käküclam sürmydm sushiràm
iva VIII 58, 12).
416
Mayèr.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus
Ungarn.
Nebst Bemerkungen zum Schwerttanz.
Von Dr. phil. F. Arnold Mayer.
Nachtrag.
1. Bei meinen Zusammenstellungen für die obige
Arbeit habe ich, wenn mir nicht bezügliche Notizen in
Verstoß geraten sind, übersehen : „Der Schwerttanz im süd-
lichen Böhmen" von J. J. Amman, in den Mitteilungen des
Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, XXVI,
1887, S. 35—42 [ich bezeichne ihn mit Nr. 2 a]. Darauf
verweist mich jetzt freundlich Herr Professor Heinzel.
Der hier mitgeteilte Schwerttanz stammt aus Ruken-
dorf bei Rosenberg [so wol zu lesen statt Nosendorf a. a. 0.
S. 36].1 Er ist aufs engste verwandt, mit unseren Fas-
sungen M und S, stimmt bald mit der ersten, bald mit der
zweiten näher und ist wesentlich nur eine andere, aber um
charakteristische Bestandteile2 und auch sonst im einzelnen
verkürzte Lesart. Dadurch erhält die oben S. 233 aus-
gesprochene Vermutung von einer eigentümlich bayrisch-
österreichischen Gestalt des Schwerttanzes eine Stütze.
1 Jedoch ist der Scliwerttanz aucli sonst in den Dörfern um
Rosenberg bekannt, namentlich in Oberhaid. In der — übrigens
Sagenreichen — Gegend kommen auch die Namen Zi e freund als
Familien- und Zulissen als Orts-Name vor, Amman in den Mit-
teilungen der Anthropol. Gesellsch. in Wien. Bd. XVI, S. 57 der
Sitzungsberichte; vgl, oben S. 256.
2 Namentlich fehlt die Tötung, s. oben S. 229 ft'., verglichen
mit unten S. 425 ff.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 417
Amman erzählt — ich beschränke mich auf das Wesent-
lichere — nach den Mitteilungen eines ehemaligen Haupt-
mannes der Schwerttänzer: Voran zieht eine Blech-
musik von 6—12 Mann [s. oben S. 238]. Früher waren es
nur Trommler und Pfeifer, hernach diese mit Blechmusik
[s. ebda.]. Der Pfeifer oder Flötenbläser spielte vormals
auch beim Tanze nochmals allein [vgl. oben S. 233
Anm. 2]. Zuerst treten die Musikanten in die Stube,
dann der Hauptmann [s. S. 229]. Er hat einen weißen
Schurz als Binde um den Leib, an beiden Enden mit
einem Riemen verbunden, in dem, wie in einem Gehenke,
das Schwert steckt. Dieselbe Tracht haben heute
jAenderung der Kleidung oben S. 236 und 237 Hallein]
auch seine sechs Gesellen und der Foschai [Faschings-
narr]. Also im Ganzen oline den Foschai sieben Tänzer
[s. S. 240]. Der Hauptmann trägt einen breitkrempigen
Hut [s. S. 237]', auf dem ein Strauß von Kunstblumen
[s. S. 242] steckt. Früher trugen sie weiße Hemden
[s. S. 236 if.], bauschige Aermel [s. S. 236 Breslau],
hohe Stiefel. Der Narr führt kein Schwert [s. S. 244
Fig. 12, S. 246]. Als 9. Person kommt dazu das soge-
nannte Mehlweib, früher ein Weib, jetzt ein Mann in
Harlekinskleidern [weiße Hosen], mit einzelnen Schellen
an den Kleidern, wie der Foschai, außerdem mit einem
Schellenkranz um die Mitte [für Foschai und Mehl-
weib vgl. die genau entsprechenden To mm y und Bessy
oben S. 230 Anm. 1, mitunter erscheint auch eine dieser
beiden Figuren allein; vgl. ferner wilden Mann und wil-
des Weib im Nürnberger S eh önb arti auf en, Mannhardt
a, o. a. O. [B K.] 334 ff.,2 s. auch den Abschnitt über die
Maipaare ebda. 423 ff.]. Insbesondere steht dem Mehl-
weib, auch dem Namen nach, gleich die M ehi mut ter
1 Man denkt unwillkürlich an den Breithut Wodan.
2 Vgl. dazu „Das Schönbartlaufen zu Nürnberg" in der Sonn-
tagsbeil. zur Nationalzeit, vom 27. Januar 1889.
418
Mayer.
bei Mannhardt, Mythologische Forschungen [MF.], Straß-
burger Quellen und Forschungen Bd. LI, 314. Nach diesen
Analogien hätten wir hier im Schwerttanz die bei den
Frühlingsfesten erscheinenden Vegetationsdämonen zu
erkennen, s. unten S. 425 ff.
Beim Erntefest erscheinen diese dann als „Dämonen
des altgewordenen Getreides", „der Alte und die Alte,"
Mannhardt MF. 340 ff.1 Vgl. auch die Holzfräulein
bei Mannhardt BK. 77 ff., die im Gras- und Korn-
wuchs walten und für die man im Böhmerwalde und
sonst einige reife A ehren von der Ernte stehen lässt.
Ueber die Schellen s. oben S. 235 f.. liber den Schellen-
kranz insbesondere S. 237. Der Hauptmann beginnt
sogleich einen kreisförmigen Gang in der Stube [s S. 242
Fig. 1] und ruft zunächst die Gesellen der Reihe nach
herein. Nun folgen die Beden:
Hauptmann:
Ich tret herein mit schwert
und degn,
ich grüß den hauswirt samt
seine gäst.
wenn ich das eine tat und das
andere nicht,
5 war ich kein rechter andeuter
nicht.
ich tret dem deutschen kaiser
in sein land
mit trommel und pfeifen
und klingendem spiel,
herein! herein! herr Jung-
gesell.
Vgl. dazu MS 1 ff'. Merkwür-
dig ist doch der V. 6 ; er scheint
auf Jahrhunderte zurückzuweisen,
in denen die deutsche Kaiser-
würde in voller Macht blühte.
In S kömmt zunächst nun Obermayer, in M Grün-
wald, hier
1 Vgl. oben S. 231 Anm. 1 „das älteste Weib in Gestalt einer
Puppe."
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
419
Junggesell:
10 Warum heiß ich Junggesell?
ich bin erst kommen aus der
höll !
Hauptmann:
Was hast du in der höll ge-
macht ?
Junggesell:
15 Ich hab verspielt, was ich hab
ghabt.
Hauptmann:
Wer hat dir zugeschaut?
J unggesell:
Der wirt auf der bärenhaut,
20 der hat würfel und karten auf
den tisch hergebracht.
H auptmann:
Was macht der äinl?
Junggesell:
Der klaubt im garten birn und
speinl.
25 Hauptmann:
Was macht die ani Y
Junggesell:
Die sitzt in der kuchel und
reibt schüssel und kanl.
Hauptmann:
30 Was macht der knecht?
Junggesell:
Der liegt bei der dirn und
meint, er mach ihrs recht.
Hauptmann:
Was macht die dirn?
35 Junggesell:
Die liegt beim knecht und
lasst sich liebn.
Hauptmann:
Was macht der bua?
Junggesell:
40 Der arme narr, der schaut
durch die finger zua.
Hauptmann:
Herein 1 herein! herr Schellner-
friedl!
Ygl. M 80 ff, S 20 ff.
21—40: vgl. M 91 ff. zu äinl 22
vgl. oben zu M 91. Ani 27 ist
Großmutter; vielleicht ist so
auch M 93 zu lesen statt Bendi.
420
Mayer.
Schellnerfriedl:
Warum heiß ich Schellner-
friedl?
45 in mein wald gibts viele prügel,
in meinem maul hab ich ein
böses bein.
Hauptmann:
Herein! herein! herr Grüner-
wald!
Grünerwald:
.50 Hoho! warum heiß ich Grüner-
wald*?
ich grab die wurzeln, sinds
jung oder alt;
gibs in ein kleines gspaderl1
hinein,
lass' 24 stunden drinnen sein. >
es rinnt nit und schwimmt
nit
55 und macht der dirn kein kind nit,
wenn liegt der herr und der
knecht bei ihr:
kann der Grünerwaldhans auch
nix dafür.
Hauptmann:
Herein! herein! herr Lands-
drommet!
60 Landsdrommet:
Hoho ! warum heiß ich Lands-
drommet?
zum raufen und schlagen bin
ich der allerbest,
wenn man die guten nudeln
schupft,
bin ich der erste, der dazu
hupft ;
65 wenn man die guten krapfen
bacht,
bin ich der erste, der ins maul
facht.
Hauptmann:
Herein! herein! herr Ronwai!
Vgl. M 74. 75 Schellerfriedl [der
dort auf Hanssprinsklee folgt],
dazu V. 153 Bmveyn, wobei die YY.
154—156 weggeblieben sind; in
S vgl. 66 fl'. Schellerfriedl [nach
Spring esklee}.
Vgl. Qrünwald [erstauftreten-
der]. M 16 ff., Wilder Waldmann
[nach Schellerfriedl] S 73 ff. V.
54 wird wol nach M 25 schwindt
zu lesen sein. 56 ist ivenn —
mhd. wan [nisi], der Sinn hier
deutlicher als M 27.
Dieser Figur entspricht in M [dort
nach Orütiwald] und S [dort der
erste] Obermayer: M zeigt hier, wie
oben zu 22 ff. sich wies, gegen
S eine vollständigere Fassung, die
nun in dein vorliegenden Spiel
eine weitere Gewähr findet.
Spadl, Ospddl f., Spadài n., Sehmelier II 659, Schachtel.
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 421
Ronwai: 1
70 Hoho! warum heiß ich Ron-
wai?
die bauern müssen vogellustig
sein. Ï
der Rurmdunst hat sich im
Wirtshaus verredt,
hat müssen die ganze nacht
liegen auf dem brett.
Hauptmann:
75 Herein! herein! Herr Rfurm-
dunst.
Rurm dunst:
Hoho! warum heiß ich Rurm-
dunst '?
der Foschai hat sich im Wirts-
haus versessen,
hat müssen einen bratenen
holzschlägel fressen.
80 Hauptmann:
Herein! herein! herr Edles
blut!
Edles blut (Foschai [?]):
Hoho! warum heiß ich Edles
blut?
wer wenig verdient und viel
vertut!
85 ich hab vertan meines vaters
gut,
bis auf einen alten filzhut.
ich hör was rauschein!
ich tat meine rondel1 vertau-
schen
um ein schönes mensch oder\
um ein trum speck. /
Vgl. Rutveyn M 104 ff. [nach Ges-
nell\, dazu Röxmaid 116 f. und Rot-
icein Sili [nach Leberdarm}, dazu
Rubendunst 98 ff., vgl. auch oben
S. 231 f.
Rubendunst in S [nach Hanssupp\
hat nicht vergleichbare VV. [die
Figur fehlt im böhmischen Spiele,
außerdem noch gegen S Wilder
Waldmann, Leberdarm, gegen M
Röxmaid, doch s. oben zu 70 ff,,
gegen M—S Höbenstreit, Spring-
insklee] ; dagegen vgl. S 112 f.
M 106 f. unter Ruweyn [Rot-
Vgl. Edles blut in S 47 ff. [nach
Grünwald].
Vgl. M 35. 39 ff. S 16. 83 ff.
Amman fährt nun in der Beschreibung des Tanzes
fort: Während die Gesellen in dieser Reihenfolge und unter
Bouderl bei Schindler II, 53? [Blechsieb].
422
Mayer.
diesem Prolog1 eintreten, setzt der Hauptmann seinen kreis-
förmigen Gang- in der Stube fort [?], immer von links
nach rechts, und die nach einander Eintretenden schließen
sich ihm an. AVenn alle in der Stube sind, gehen sie
noch mehrmals im Kreise herum, selbst hintereinander
einen Kreis bildend [s. S. 248], der Foschai ist der
Letzte. Nun zieht der Hauptmann sein Schwert, ihm
folgen die Uebrigen. Alle halten die Schwerter weit über
die Achsel nach hinten geneigt, indem zugleich jeder die
Spitze des Schwertes des Vordermannes mit der Linken
fasst [s. ebd.]. Da aber der Foscliai kein Schwert hat, so tritt
er ein wenig aus dem Kreise, und die Schwerttänzer gehen
wieder 3—4 mal in dieser Haltung im Kreise herum [s. S.
251]. Das geht nun in ein Springen oder Tanzen nach Art
der Bauerntänze über, verbunden mit einem Zusammen-
schlagen der Schwerter in der Weise, dass sie beim Tanze
die Schwerter an Grift und Spitze festhalten, jeder aber
sein Schwert von der Achsel herabnimmt und die Spitze
des Schwertes in der Linken so dem Griffteil des Schwertes
in der Rechten nähert, dass die Klingen gegen Spitze und
Griff und die Hände eines jeden sich übereinander kreu-
zen, und, indem die Spitze des Schwertes des Vordermannes
immer unter dem Griffteil des eigenen Schwertes sich be-
findet, in dieser Lage 5—6 mal die obere Klinge auf die
untere geschlagen wird [s. S. 244 Fig. 8, S. 249]. Nachdem
sie so einige Mal herumgetanzt, bleiben sie stehen, und der
Ronwai tritt in die Mitte des Kreises, nachdem er sein
Schwert dem Foschai gegeben hat [s. S. 244 Fig. 12], der
an seiner Statt eintritt. Ronwai lässt sich in der Mitte
auf alle Viere nieder, und die sechs Gesellen halten nun
ihre Schwerter mitten auf den Rücken des Ronwai,
die Spitzen kreuzweise übereinander [s. oben Fig. 15].
Der Hauptmann stellt sich auf seinen Rücken und auf
die gekreuzten Schwerter zugleich [s. S. 255] und tut fol-
genden Spruch [Fig. 15 oben]:
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn, 423
90 Hauptmann:
Ich bin heraufgestiegen
mit schwert und degn,
es war gscheidter gwen,
ich wär drunten bliebn;
es möcht den hausherrn
nicht verdrießn,
er möcht ein par taler her-
schießn,
95 ein par taler wären zu viel,
ein par silberzehner wären das
rechte ziel,
wer will mein spiel abgewin-
nen,
der muss über die klingen
springen.
Vgl. M 166 ff.
Der Hauptmann springt vom Rücken des Ronwai
(„ein rauher, starker Bursche" ["?]) herab, alle bilden, die
Schwerter einsteckend, wider den ursprünglichen Kreis.
Der Hauptmann wendet sich gegen den Junggesellen um
und bietet ihm die Spitze seines Schwertes. Mit der
Rechten hält der Hauptmann sein eigenes Schwert, die
Spitze desselben der Junggesell mit der Linken. Der
Hauptmann fasst mit der Linken die Rechte seines Hinter-
mannes und so weiter im Kreise, bis alle einander die
Hände gereicht haben [s. S. 251]. Nun das Schwerter-
springen: der hinter dem Hauptmann Stehende springt
zuerst über die Klinge, dann der Hintermann des Jung-
gesellen und so fort, ohne dass einer die Hand des an-
dern loslässt, bis alle, ohne Hauptmann und Junggesellen,
übergesprungen sind. Der erstere Kreis biegt sich also
über das horizontal gehaltene Schwert [des Hauptmannes]
zu einem neuen Kreis aus und wider zurück [ Springen über
die Schwerter: s. S. 244. Vgl. auch S. 247]. Der Foschai
treibt dabei manche Possen, springt auch über die Klinge
u. dgl. [s. S. 240 Hermannstadt]. Nach dem Schwertspringen
bildet sich wider der frühere Kreis. Die Schwerter sind
über die rechte Schulter geneigt, die Linke hält die Spitze
424
Mayer.
des Schwertes des Vordermannes. Foscliai ist wider ans
dem Kreise getreten, die Schwerttänzer gehen einige Mal
im Kreise herum [s. S. 269]. Nun die letzte Figur:
der Hauptmann hält das Schwert mit gestrecktem Arm
hinaus, ebenso die Uebrigen; dadurch treten alle in
einen erweiterten Kreis mit den Gesichtern nach dein In-
nern des Kreises, so dass die gestreckten Hände und
Schwerter den Kreis bilden. In dieser Stellung wider
mehrere Mal Umgang; dann beginnt wider die Musik, die
während des Schwerttanzes schwieg [s. jedoch oben S.
247], und eine Tanzunterhaltung [s. ebda.] ; der Foschai
treibt dabei als Hanswurst wider seine Späße.
Bemerkenswert ist mir nun noch: die Tänzer werden
beschenkt [s. zu M 172]; namentlich hat auch das Mehl-
weib die Aufgabe, Gaben einzusammeln [s. S. 246], Es unter-
sucht vor allem die Bratröhre der Bäuerin, um „nach altem
Herkommen" Krapfen [s. M 40j oder Fleisch, welche
schon zu diesem Zwecke hergerichtet sind, stehlen zu können.
Die roten Flecke, die es auf seinem weißen Gewand auf-
genäht trägt [s. S. 246 ff.], legt die Bäuerin in die Nester
ihrer Hennen in dem Glauben, dass dieselben dann recht
viele Eier legen werden.1 In früheren Jahren zog eine
solche Schwerttanzgesellschaft von Dorf zu Dorf; wenn
verschiedene Gesellschaften zusammentrafen, gab es oft
blutige Kämpfe, wobei ein bestimmter Vorgang einge-
halten ward, indem der eine Hauptmann den anderen zu-
erst im Rätsellösen zu überwinden suchte. Vor allem han-
delte es sich da um das von den Schwerttänzern gesammelte
1 Iii der Pfalz reißt man dem Maikönig sein Gewand vom
Leib, jeder sucht ein Stück zu erhaschen, Mannhardt BK. 849;
man schrieb nämlich bei den Frühlingsanfängen einem in grünes
Laub oder Blumen gehüllten [über die Laubeinkleidung Mannhardt
a. a. 0., 316 ff.j Burschen oder einem ebensolchen Mädchen
eine das Gedeihen des Federviehes, der Obstbäume, der Acker-
frucht fördernde Kraft zu [als Vertretern der Gottheit], s. a. a. 0.,
815. 357, oben S. 259 Anm. 1, unten S. 426. 430.
Ein deutsches Schwerttanz spiel aus Ungarn.
425
Getreide. Vgl. darüber die Nachrichten Ammans a. a. 0.,
41. 42. Aufgeführt wurde der Tanz nur in der Fast-
nacht s zeit [s. oben S. 259 f.], zuletzt noch 1881 in Zett-
lersreith am Faschingdienstag. Zwischen Kaplitz und
Rosenberg gab es früher fast in jedem Dorf solche Schwert-
tanzgesellschaften. Amman verspricht, eine Vergleichung
des von ihm mitgeteilten Schwerttanzes mit den anderen
Ueberlieferungen noch folgen zu lassen, die indes bis jetzt
noch nicht erschienen ist.
2. Oben [unter IV, S. 256 if.] habe ich, den Spuren Müllen-
hoffs folgend, in dem Schwerttanze, so weit mythische Anschau-
ungen darin zum Ausdruck kamen, eine Darstellung der
Besiegung der winterlichen Naturgewalt durch einen Früh-
lingsgott gesehen. Dem scheint aber zu widersprechen, wenn
in manchen Spielen die getötete Figur wider belebt
wird. Kann da noch an eine winterliche Macht gedacht
werden? Denn eine solche Widerbelebung wird man im
Zusammenhang einer Frühlingsfeier wol nur so auifassen
können, wie Mannhardt BK. es bei anders gearteten
Spielen und Umzügen tut: der „Vegetationsdämon" wird
im Frühling wider zum Leben gebracht. Es müssen
damit noch zusammengehalten werden Fälle, die Mann-
hardt bei der Besprechung verschiedener Frühlingsfeiern
beigebracht hat: in Niederbayern erleidet der „Pfingstl",1
der in Laub und Blumen gekleidet ist, — also keines-
wegs ein Winterdämon — bei seinem Umzug viel
Unbill, zuletzt stellt man vor, wie ihm der Kopf abge-
hauen wird; ähnlich wird der „Pf ingstlümmel" in Schwa-
ben behandelt, 321. 349 ff'.; der „Maikönig" wird be-
sonders in Böhmen gern geköpft, 342 f.; auch in Ober-
bayern wird der Pfingstl übel behandelt, 353; in
Thüringen wird der Wilde Mann erschossen und dann
1 Alle Teilnehmer des Umzuges tragen entblöste Schwer tel-
fs. dazu unten S. 427], nur die Träger der eingesammelten
Geschenke [s. S. 424] nicht [S. 417].
4-26
Mayer.
wider belebt, 335. Daraus ergibt sich aber eine
neue Schwierigkeit: wie soll es aufgefasst werden, dass
der Frühlingsgeist getötet wird? Man denkt zu-
nächst, dass in dramatischer Folge erst die Vernichtung
der sommerlichen durch die winterliche Gewalt, dann ihr
Wideraufleben im Frühling dargestellt wird; ähnlich wie
in gewissen altgriechischen Bräuchen. Das wäre eine ganz
ungezwungene Anschauung.1 Mannhardt scheint einer an-
deren Auffassung geneigter, auf die ihn Beobachtungen
bei barbarischen oder halbbarbarischen Völkern führen:
dass nämlich der die Vegetation darstellende Geist getötet
wurde, um mit seinem Blute die Felder zu besprengen und
dadurch fruchtbar zu machen, 360 ff.2 Diese Auffassung
ergibt sich für gewisse ganz ähnliche Erntebräuche, s. MF.
I, § 5 „Tötung des Korngeistes im Erntebrauch", und es
liegt nun in der Tat nahe, analoge Bräuche bei den
Frühlingsfeiern analog aufzufassen. Nur eine zeitliche
Verschiebung wurde dabei vorgenommen: die Tötung des
Getreidedämons und allgemeiner des Vegetationsgeistes
zur Fruchtbarmachung der Felder war eigentlich nur im
Herbste am Platze; nun feierte man auch die Ankunft des
Frühlings, indem man jenen Vorgang wider darstellte, durch
den man im Herbst für einen schönen Frühling gleichsam
vorgesorgt hatte.3 Kam aber noch vollends die Wider-
1 Man darf hier daran erinnern, dass wie die Adonisfeiern auch
die nordischen Julspiele zu Unsittliclikeiteu Anlass gaben, Ausland
1888, S. 1032, vgl. auch oben S. 257 Anm. 2 den Schäßburger
Bericht über die Aufführung des Schwerttanzes.
2 Verbrennung des Blutes des „Oktoberrosses" MF. IV, § 7,
vgl. S. 332.
3 Ich vergleiche hier das nordische [„in Oster- und Vester-
götland erhalten"] Julopfer, s. Ausland a. a. 0. „Dasselbe
wird unter eigentümlichen Tänzen von Knaben mit geschwärzten
Gesichtern ausgeführt. Einer von ihnen, der das Opfertier dar-
stellt, ist in Pelz gekleidet und hat zuweilen einen Strohwisch
im Munde, der bis hinter die Ohren reicht, so dass er den Borsten
eines Schweines gleicht. Unter Gesang werden die Schlachtgeräte
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
427
belebung [s. MF. 30] hinzu, die vielleicht ursprüng-
lich bei der Frühlingsfeier im Unterschied zur
Erntefeier nirgends fehlte, so war ebenso in zeit-
licher und dramatischer Folge, wie oben [S. 426], die
Friihlingsfeier genügend charakterisirt.
Für den Schwerttanz wäre zu überlegen, ob nicht
in Schwerttänzen, wie sie M—S und die verwandten dar-
stellen, ursprünglich selbständige Teile vereinigt erscheinen.
Der eigentliche Schwert tanz, eine in omni coetu [da-
nach freilich wol auch zur feierlichen Verehrung des Früh-
lingsgottes] bei den Germanen übliche Sitte, wäre, meine
ich, erst durch Verbindung mit den spezifischen, ur-
alten FrühlingsbräucJien [Tötung und Widerbelebung des
Vegetationsdämons] zu einer feststehenden Kultushand-
lung des Volkes geworden.1 Die Schwerter ver-
traten die Sensen. Hier kann ich wider auf merk-
würdige Erntebräuche verweisen, die Mannhardt MF.
33 ff. [„Der Fremde" in Erntegebräuchen2] mit den not-
wendigen Erläuterungen mitteilt: Umschnürendes Fußes
eines Voriibergehehenden [vgl. S. 243 Fig. 7], Umschnüren
des Halses [vgl. S. 244 Fig. 13]; Streichen der Sense,
Stoßen derselben in die Erde; die Arme des Dreschflegels
werden dem „Fremden" um den Hals gelegt, S. 42.
45 [vgl. oben Fig. 13]; am auffallendsten ist aber und
scheint klar auf den Weg zu weisen, auf dem die ver-
mutete Vereinigung vor sich ging, wenn die Schnitter im
Pommerschen den in ihrem Kreise stehenden Ankömmling
so anreden:
herbeigebracht und das Spiel stellt hierauf die Opferung des Tieres
vor." Dazu Mannhardt MF. I, § 4 [„. . . Einbinden in eine Garbe
. . der Strohwisch ist „Abscliwächung der Einhüllung" in ein
Aehrenbündel, S. 45] und besonders Capitel II, das über die Tötung
des „Getreide tier es" handelt.
1 Vielleicht erst später, in der nach tacit ei sehen Zeit,
s. oben.
2 Es ist der „entweichende Getreidedämon", dessen man sich
zu bemächtigen und den man zu töten sucht, vgl. oben.
Zeitschrift itir Volkerpsyc'i. und Spraokw. Bd. XXX. 4 29
428
Mayer.
Wir wollen den herrn bestreichen
mit unserm blanken sehwert,
womit man fei der und wiesen schert:
wir scheren grafen und für s ten.
dann wünschen sie eine Grabe:
Ist dieser wünsch nicht recht,
ist doch der streich ein schwerterrecht.
[vgl. noch M 9 und. oben S. 424].1
Dazukommt noch, dass, vor der Tötung einen Tanz
mit Schwertern aufzuführen, ganz entsprechend scheinen
musste; andererseits, dass auch schon früher der Frühlings-
gott durch den Schwerttanz wird gefeiert worden sein,
s. oben S. 427. Ferner ist bemerkenswert, dass im Osna-
brückischen, ebenso in Schottland, zur Ernte kommende
Fremde mehrmals an Kopf und Füßen in die Höhe ge-
hoben werden, was Mannhardt [MF. 42 if.] nicht zu
deuten weiß. Das Emporheben des Führers scheint spe-
ciell dem Schwerttanz als solchem eigen; es kömmt auch
dort vor, wo nur der Schwerttanz an sich besteht, ohne
die mimisch-dramatische Handlung. Sollte vielleicht hier
eine Uebertragung geschehen sein?2
Indes möchte ich die oben [IV.] vorgetragene Auf-
fassung [Vernichtung des Winters durch den Früh-
ling] aus den Schwerttanzspielen nicht ganz ausschließen.8
1 Bei Potsdam sagt, die Schnitterin zu dem Fremden unter
anderem :
Viel komplimente kann ich nicht machen,
hierauf folgt eine fiasche wein,
eine gebratene gans und ein halbes sehwein,
darüber wird der herr nicht böse sein.
[dazu M 139, S 131.]
2 lieber den Zusammenhang der liier verwerteten Ernte-
bräuche mit der antiken Lityersessage s. MF. 50 ff.; auch Kap. II
[Chtonien und Euphonien] und Kap. IV [Das Oktoberross] sind zu
vergleichen.
3 Mannhardt weist wenigstens in den von ihm [in BK] behan-
delten Frühlingsfeiern ein Hineinspielen winterlicher Mächte ab;
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn. 429
Diese Anschauung dürfte in der Regel überall dort fest-
zuhalten sein, wo an den bedeutungsvollen Zeiten [zu Weih-
nachten, Fastnacht] nur der eigentliche Schwerttanz mit
der Erhebung des Anführers im Triumphe auf den Schwer-
tern aufgeführt wird, ohne das dramatische Spiel.1 Es lag
doch ganz nahe, entweder mehr das Abscheiden des
Winters oder das Erwachen des Frühlings zu betonen
und danach die Aufführungen verschieden zu gestalten.
Uebrigens ist der Gedanke eines Streites von Winter und
Sommer ganz volkstümlich.2
3. An einzelnen Bemerkungen will ich noch geben:
Ueber die Kolonie Deutsch-Mokra [oben S. 1] ist jetzt
auch R. Bergner im Ausland 1889, S. 38 zu vergleichen;
der Name Holzberger [oben M 189J ist dort einheimisch. —
Vom Halleiner Schwerttanz [oben Nr. 6] findet sich eine
kurze Beschreibung mit einer Abbildung nach Schiestl in :
Die österr.-ungar. Monarchie in Wort und Bild, S. 453 f.
des Bandes : „Oberösterreich und Salzburg." —
Goliath und König David [vgl. S. 234 Lübeck] erscheinen
auch in Zimmern bei Rottweil im Pfingstritt, Mannhardt,
folgerichtig sieht er denn auch in dem Totaustreiben und ähn-
lichen Bräuchen [vgl. S. 231 Anm. 1] das Begräbnis der erstor-
benen Vegetation [BK., 417 ff.]. Hier würde ich doch lieber
an den Winter denken; vgl. MiUlenhoff in den Fg. über Mamurius
und Mannhardt selbst MF. 129 in dem Abschnitt über die Luper-
ealien.
1 Auch sonst aber wird man bisweilen dieser Auffassung den
Vorzug geben, so z. B. wol im Lübecker Spiel, s. oben S. 234;
das Rieder Spiel [oben S. 254 f.] zeigt in der Tötung des Königs
[König, wie der Maikönig, Pfingstkönig, s. oben S. 255], was
sonst nirgends erscheint, deutlich die Tötung des Vegetations-
dämons, dieser wird aber dann, widerbelebt, emporgehoben; das
letztere wird wol eine Uebertragung aus dem eigentlichen Schwert-
tanz sein [s. oben]. Mischungen und Verwechselungen mögen ja
bei diesen Bräuchen und Spielen auch noch weiter stattgehabt
haben.
2 S. oben S. 231 Anm. 1.
29*
430
Mayer.
BK., 351 f. In Schwaben treten auch sonst noch bekannte
geschichtliche Personen bei den Umzügen auf, ebenso in
Oberbayern; kriegerische Namen, berühmte Personen er-
scheinen da eben als das dem Könige gebührende reisige
oder wehrhafte Gefolge, oder man will überhaupt die Zahl
der Auftretenden nur vermehren, der Sinn der Feier wird
nicht mehr verstanden, Mannhardt BK., 367.1 Im beson-
deren noch Platzmeister [oben S. 239 Ueberlingen] öfters
beim Pfingstritt in Schwaben, 349 ff. —
Nach Mannhardt BK. 365 wäre es möglich, dass in den
bezeichnenden „weißen Hemden" der Schwerttänzer nicht
so sehr eine Erinnerung an die nudi iuvenes des Tacitus,
sondein mythische Bedeutung läge; auch beim Pfingstsritt
in Schwaben, BK. 349, trägt der Mohrenkönig ein weißes
Ueberhemd. —
Für das Durchlaufen unter den Schwertern [in Shet-
land, Fg. 134] vgl. das im Norden zur Julzeit allge-
mein verbreitete Brücken spiel der Kinder, Ausland
S. 1029. —
Blumensträuße und Kränze spielen bei der Mai-
[oben S. 231 Anm. 1] und Erntefeier eine große Eolie; der
Maibaum wird damit geschmückt, s. Mannhardt BK. öfter,
z.B. 179. 193. 201. — Ein Mann mit geschwärztem Ge-
sicht erscheint auch bei Umzügen gelegentlich der Wein-
lese, a.a.O. 314; vgl. im Ansbachischen das geschwärzte
Gesicht des Pfingstlümmels, S. 321; in Böhmen erscheint
der Maikönig so, 342; schwarze Masken bei der Ernte
in Oberfranken S. 20, vgl. 26. Danach ist oben S. 261
Anm. 1 der Name Mohren tanz zu beurteilen; und der
König von Mohren land im Harzer Spiel [vgl. auch S.
234 Anm. 1] findet sein Gegenstück in einem Mohren-
könig mit rus s ig e m Gesicht beim Pfingstritt in Schwaben,
1 Aus diesem letzteren Umstände erklärt sicli auch, dass die
Reden bei diesen Spielen zum großen Teil gar keinen Zusammenhang
mit der Feier haben, ja sogar mitunter ganz sinnlos sind [vgl. zu
S 136.]
Ein deutsches Schwerttanzspiel aus Ungarn.
431
a. a. 0. 349. Eine mögliche Erklärung' dieses Zuges gibt
Mannhardt 322» —
Für die Spaltung des Vegetationsdämons in zwei Ge-
stalten finden sich ebda. S. 365 Beispiele; vgl. „Hypo-
stasen" des Pfingstkönigs, 367. Solche Hypostasen des
Vegetationsdämons werden wir zum Teil gewiss in den Ge-
folgsleuten des Vortänzers in M—S sehen dürfen, so z. B.
in Grünwald ; deutlicher aber sind Obermayer und Hans
Karnitz Repräsentanten der Feldarbeiter im Spiele,
wenn man ihre Worte vergleicht mit. dein, was der Brief
enthält, der dem ScMwekerl [bei Mannhardt MF. 28,
aus Hannover], einer menschlichen Figur, in die Hand ge-
geben wird, indem man sie vor die Tür des Nachbars
stellt, der mit der Feldarbeit noch nicht fertig ist:
Ich bin der mann,
der alles kann.
ich kann fünfhundert bund baken,
fünfzig boten braken,
dreißig boten sehlepen und häkeln,
und das alles in einem tag,
dazu gebrauch ich meine macht.
Vgl. auch die vorhergehenden VV.:
Guten abend, frau mutter!
was macht euer hund ?
ist eure katze noch gesund? u. s. w.
nebst den Sclilussversen:
Dazu muss ich haben 84 schweineschinken
und einen anker wein zu trinken,
neunzig gänse, die gebraten,
und zwölf hühner, die gesäten, u. s. w.
mit M 33 ff. S 13 ff. 83 ff.; dazu s. MF. 17 f. über die
Vielgefräßigkeit des Lityerses, der in der antiken Sage
den Feldarbeiter repräsentirt.1 — Gestalten, wie den mit
i Danach wäre das oben S. 257 f. Anni. 2 unten Gesagte zu
berichtigen.
132
Mayer.
Fellen bedeckten Narren in Norden gland [oben S. 230
Anni.], Tommy in einer Tierhaut in den Bergwerksdistrik-
ten [oben ebda.] fasse ich jetzt als „Vegetationstiere" 1:
beide haben den Schwanz eines Tieres vom Rücken herab-
hängend, ebenso in Nothumberland der in ein Fuchs-
fell gekleidete „chief or leader". Es begreift sich jetzt
auch die Sonderstellung, welche diese Figuren einnehmen,
indem sie nicht mittanzen. Bemerkenswert ist auch, dass
in den nordischen Julspielen, ganz ähnlich dem Fasching
beim Schwerttanze, der dumme Peder erscheint s. Aus-
land 1888, S. 1029. —
[Deutlichen Zusammenhai]g mit dem deutschen „Meister-
sang" zeigen M 47 f., S 102 f., vgl. Bartsch, Meisterlieder
der Kolmarer Handschrift S. 117:
Ich bin gewandert durch die land u. s. w.
S. 422:
Ich war so wît in frömden landen.
Dazu Hruschka-Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böh-
men, I Nr. 69 a, V. 1 f.:
Wir ziehen daher in sehnellester eil
in dreizehn tagen vierhundert meil.
Ganz so Nr. 69 b. Zu grüßen M 5 ff. S 2 ff. (mit der
Anmerkung) und in Nr. 2 a (oben S. 416 ff.) V. 2 ff., s.
Schröer in Bartsch's Germanist. Studien S. 197 ff. (über
1 Vgl. die Menschen io Tiergestalt bei den Frühlingsumzügen,
MF. 63 ff. Sie erinnern an eine andere, im Norden einheimische
Figur, das „Julevätten" [Jul-Gespenst], das, als kriechendes Tier mit
einem langen Schwänze dargestellt, in den nordischen Jul-
stuben auftrat, mit geschwärztem Gesichte, und nur durch
Speisen begütigt werden konnte [s. dazu MF. 70]. Schon
nicht sicher scheint mir, ob damit ganz verglichen werden darf,
wenn in gewissen Gegenden Englands zu Weihnachten ein Spiel
aufgeführt wird, in demein Drache in die Stube kömmt, der vom
heiligen Georg besiegt wird [s. darüber Ausland 1888, S,
1003; u. vgl. oben S. 428 f.].
Ein deutsche? Schwerttanzspiel aus Ungai'n. 433
den Zusammenhang des volkstümlichen Schauspiels mit
dem Meistersang), speciell 198. Zu M 39 vgl. Germania
3, 315 (aus einem Meistergesang):
Welcher reckt sein maul herfir, recht als der esel hinder der
stalledir ?
Damit würde nur trefflich stimmen, wenn der Ruwerin
wirklich der Ruhin ist, der in den Fastnachtsspielen bei
Keller und in den von Ziugerle herausgegebenen Sterzinger
Spielen erscheint, wie jetzt Prof. Heinzel in einer brief-
lichen Mitteilung an mich meint. Dem kann ich jedoch hier
nicht weiter nachgehen. Jedenfalls aber ist der Hanssupp
in S der Jean Potage des Volksschauspiels (die Anmer-
kung zu S 78 trifft dann nicht das Richtige). — M 119 ist
vielleicht Hasel brad en zu lesen (vgl. Has'lnusssalb'n =
Prügel, Blätter des Vereins f. Landeskunde v. Nieder-
Oesterreich 1889, S. 141). Dützen (vgl. dolzen M 181?)
auch bei Hruschka-Toischer I No. 71 (. . . du darfst mi
neat long dutx'n). Der Pfingstlspruch (I No. 89) zeigt
manche Aehnlichkeiten mit unseren Texten. — Einige
weitere Ergänzungen zu dem Vorstehenden muss ich auf
eine künftige Gelegenheit versparen. — Man lese oben:
S. 205, Z. 11 V. u. Zuschauer, S. 210 M 81 mann, 212 M 99
kluabua, 220 M 154 herausreißen, S. 232, Z. 13 V. u. 262,
S. 262 Z. 1 v. u. Zaubersprüche. 13. 9. 89.]
Aehnlich wie an den Schwerttanz knüpften sich noch
an ähnliche Bräuche Sagen: so z. B. an das Windelbahn-
fest in Stolp, s. Am ürdsbrunnen, Bd. 6 Nr. 5; vgl.
auch für die Tänze der Egerer Tuchmacher und Metzger
den oben angeführten Aufsatz aus der Nationalzeitung.)
19. Februar 1889.
m
434
Michaeli,?.
Beurteilungen.
Dr. Kurt Brucimi aim, Psychologische Studien zur
Sprachgeschichte. Leipzig, Wilhelm Friedrich.
Der einheitliche Grundgedanke des aus psychologischen
und sprachwissenschaftlichen Studien hervorgegangenen
Bruchmannschen Buches ist folgender: Die großen Ge-
setze der Geschichte, die einen beständigen Kampf zwischen
Glauben und Wissen, zwischen Gefühl und Anschauung
aufweist, spiegeln sich wider in der Sprache. Die Er-
scheinungen auf dem Gebiete der Sprache sind den ge-
schichtlichen Vorgängen analog. Die Sprache entstellt
aus Gefühl, wird der Ausdruck des Wissens, und kehrt
gelegentlich wider zu ihrem Ursprung zurück. Laute,
die zunächst nur Gefühlswerte sind, werden zu Worten-
aber die Worte verflüchtigen sicli in einzelnem mitunter
bis zu dem bloßen Hauche eines Gefühls, und die aus
ihnen in funkelnder Pracht erbauten Kunstwerke er-
weisen sich oft nur als ein schöner Schein, eine Luft-
spiegelung von vorüberrauschender Kürze und schatten-
hafter Vergänglichkeit. Die Sprache beschreibt also
hierin einen Kreis oder eine Spirale, indem sie auf einer
anderen Stufe dahin zurückkehrt, von wo sie ausgegangen
ist, ihrerseits ein Beispiel des Kreislaufes (oder der Spiral-
bewegung) menschlicher Dinge. Dem Nachweis und der
Erklärung eines Teils dieser Erscheinung ist Bruchmanns
Untersuchung gewidmet. Er stellt sich die doppelte Auf-
gabe erstens durch Beispiele zu erweisen, wie eine sprach-
liche Ueberlieferung• besteht, gemäß welcher Worte und
Kedensarten von der Zeit ihres Ursprunges an, soweit sich
derselbe zurückverfolgen lässt, weiter gebraucht werden,
ohne den ursprünglichen Sinn zu behalten, oder genauer
so, dass sie nur ein Mittel geworden sind, ein Gefühl zum
Ausdruck zu bringen, und zweitens die psychologischen
Beurteilungen.
435
Gründe, von denen dieser sprachliche Vorgang abhängt,
zu erklären. Seine Arbeit zerfällt demgemäß in einen
geschichtlichen Teil (S. 10—173) und eine psycho-
logische Betrachtung (S. 174—354).
Der geschichtliche Teil, in dem der Nachweis der
Tatsache und ihre Beschreibung geliefert wird, dürfte den
Leser in seiner übersprudelnden Fülle von Beispielen und
in der Sorgfalt, mit der die Erscheinungen festgestellt und
zum Bewusstsein gebracht werden, an Untersuchungen er-
innern, wie sie für die Vererbungslehre oder die Ent-
stehung der Arten geführt worden sind. In keinem Falle
hat es der Verfasser sich leicht gemacht. Er geht den
Spuren der Erscheinungen, die er begreiflich machen will,
hauptsächlich iu der religiösen Poesie, im Volksliede und
in den volkstümlichen Redewendungen der deutschen Sprache
nach. Die Untersuchung nötigt, die Bibel, griechische
und römische, auch indische Mythologie und Poesie herbei-
zuziehen, durchs Mittelalter und die Neuzeit zu führen,
und aus einer reichen Belesenheit strömt dem Verfasser
der Stoff' für seine Untersuchung zu.
In unsern Kirchenliedern, auch in der profanen Poesie
wird die Natur häufig mit Empfindung ausgestattet, sie
nimmt teil, vor allem an den religiösen Empfindungen
des begeisterten Menschen: Himmel und Erde lobsingen
und jauchzen oder trauern und weinen, Flüsse und Berge
springen vor Freuden, die Flüsse schlagen in die Hände,
selbst Felsen und Steine empfinden Teilnahme und Mitleid.
Solche Teilnahme der Natur findet sich vor allem zuerst
im alten Testament; am häufigsten da, wo nicht von ge-
schehenen Begebenheiten, sondern wo von erhofften oder
gewünschten Ereignissen die Rede ist. Sie fehlt auch
nicht gänzlich im Rigveda, ist hier aber um ein merkliches
matter, weniger innerlich, weniger leidenschaftlich.
Bruchmanns Untersuchung ergibt nun, dass die Ethisirung
der Natur, wie sie sich im alten Testament findet, in ihrer
Art und ihrem Grade einzig, nur hier erstanden, nicht
436
Michaelis.
etwas allgemein menschliches ist. Sie tut dem im alten
hebräischen Volke herrschenden religiösen Gefiihlsdrang
genug, sie befriedigt (las religiöse Gefühlsbedürfnis durch
poetische Erregung, ohne dass wol die Dichter an die Er-
füllung ihrer prophetischen Wünsche glaubten. Die Natur
wird mit Liebe zu Jahve gesehen; ein Tausch des Gemütes
findet statt, den Sternen und Bäumen, den Inseln und
Wogen des Meeres wird das menschliche Gemüt geliehen,
nicht eigentlich bis zur logischen Täuschung, wol aber, um
durch den schönen Schein die Seele, wenn auch nur vor-
übergehend angenehm zu erregen. Der hebräische Dichter
sagt also schon vieles, was er nicht unmittelbar glaubt
und erzählt, vieles, was er nie gesehen oder erlebt hat;
er spricht gebieterisch selbst das Unwahrscheinlichste aus
und fordert von einem jeden, er solle dasjenige für wirklich
erkennen, was ihm dem Empfinder auf irgend eine Weise
als wahr erscheinen konnte. Die so in der hebräischen
Poesie entstandene eigentümliche Art der Belebung der
Natur hat sich durch die lateinische Kirchenpoesie ins
neuere Kirchenlied fortgepflanzt, und auch wo sie im pro-
fanen Liede der Neuzeit auftritt, vielleicht mit Ausschluss
Ossians und der von Ossian abhängigen Poesie, ist sie
meist auf die Überlieferung des alten Testaments zurück-
zuführen. Erst recht ist natürlich in der Nachahmung
und Fortsetzung ein voller Glaube an das Gewünschte
oder Erzählte nicht vorhanden, die Gefühlserregung viel-
mehr das eigentliche Ziel dieser poetischen Ausdrucksweise.
Und wie aus dem alten Testament die Teilnahme der
Natur an den Empfindungen des Menschen, so ist aus der
griechisch-römischen Mythologie und Poesie in kirchliche
und weltliche Gedichte eine Fülle von Namen, Gestalten,
Sachen und Wendungen übergegangen, die zur poetischen
Erregung beitragen, an deren Existenz und Wahrheit
kaum allgemein das Altertum glaubte, wir aber vollends
nicht mehr glauben können. Der Olymp und Tartarus,
die Furien, Amor, Phöbus, Mars, Venus etc. finden sich im
Beurteilungen.
437
Kirchenliede. Die Maria heißt z. B. stella maris (stern
im mere, merstern) und sie scheint, wie Bruchmann
scharfsinnig auseinandersetzt, zu diesem Namen gekommen
zu sein, durch eine direkte Ver Schmelzung1 heidnischen
und christlichen Glaubens. Sie übernahm in christlicher
Zeit das Amt der Beschützerin eines Seevolkes, das ur-
sprünglich die Venus besessen hatte. Natürlich ver-
schwindet bei der Anwendung des Namens Meerstern auf
Maria jede klare Anschauung, jeder unmittelbare Glaube.
— Eine Masse überlieferter Wendungen pflanzen sich wie
die Himmel, das himmlische Heer, der Tod als Person,
andere Personifikationen stetig fort. Ausdrücke und Ver-
wendungen für Licht und Finsternis, welche mythische
Beziehungen bis aus der arischen Urzeit in sich schließen,
Farbennamen und -Vorstellungen in eigentümlichster
Verwendung zeigen ein starres Fortleben; eine populäre
Metaphysik erhält sich zäh und lebenskräftig, Sprach-
formeln und Wortverbindungen zeigen eine bewunderungs-
würdige Lebensdauer. Aber was ehemals bedeutsamen
Inhalts war, und auf Anschauung beruhte, ist allmählich
zur Formel geworden, was ehemals wirklich geglaubt
wurde, ist jetzt nicht mehr überzeugte Anschauung, nur
Mittel das Gefühl dichterisch zu beeinflussen, dem Gefühls-
bedürfnis der Menschheit zu genügen.
Wie verhält sich nun Gefühl und Sprache zu einander?
Der Beantwortung dieser Frage ist der zweite psycho-
logische Teil der Arbeit Bruchmanns gewidmet. Das Ge-
fühl hat seine Entwickelungsgeschichte ; es ist verschieden
nach Zeiten, und Völkern. Wie verhält sich die Ent-
wickelung der Sprache zur Entwickelung des Gefühls?
In welchem Verhältnis stehen dabei Fühlen und Denken'?
Als HilfsVorstellung für die Beantwortung dieser Fragen
benutzt Bruchmann das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes :
Eine zweckmäßig arbeitende Organisation löst eine ihr
obliegende Aufgabe mit den relativ geringsten Mitteln.
Wäre die Kraft, der Seele unendlich so brauchte sie im
438
Michaelis.
Denken nicht hauszuhalten, da sie dies nicht ist, so sucht
sie ihre Arbeit mit dem relativ geringsten Kraftaufwand
zu leisten. Je leichter ihr die Arbeit wird, desto wohler
ist ihr. Das kraftsparende Mittel der Seele ist die Ge-
wohnheit. Das Ungewohnte ist lästig; die gewohnten
Tätigkeiten werden dagegen ohne besondere Belästigung
ausgeführt. Gewohnheit erspart also Kraft. Wenn der
Seele eine fremde Vorstellung angeboten wird, welche sie
nicht in ihrem bereits verhandenen Besitz unterbringen
kann, so hat sie außer dem Vergessen ein Mittel, die ge-
forderte Mehrleistung mit einiger Kraftersparnis zu voll-
ziehen. Sie nimmt die gebotene Vorstellung auf, ver-
wandelt aber, was an ihr ungewohnt ist, in Gewohntes.
Sie führt das Neue auf das Alte, das Fremde auf das
Geläufige, das Unbekannte auf das Bekannte zurück.
Dieser Vorgang ist in der Psychologie unter dem Namen
Apperception bekannt. Die Apperception erscheint also
als ein Streben der Seele nach Kraftersparnis und ordnet sich
dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes unter. Dem Prinzip
des kleinsten Kraftmaßes scheinen nun freilich Pleonas-
men, Hyperbeln zu widersprechen, wie ihm in der sicht-
baren Natur die Verschwendung mit der die Natur bei
der Fortpflanzung organischer Wesen vorgeht, zu wider-
sprechen scheint. Bruchmann sucht nachzuweisen, dass der
Widerspruch in Wahrheit nicht besteht, dass überall
wenn auch in invidueller Weise, der scheinbar über-
flüssige Kraftaufwand wenigstens in der Sprache der Be-
friedigung eines Gefühlsbedürfnisses dient.
Einer der wichtigsten Vorgänge nun, die auf Apper-
ception und dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes beruhen
und durch die die Sprache ihre Arbeit, den Ausdruck für
die Gefühlsbedürfnisse mit möglichster Kraftersparnis zu
schaffen, leistet, ist die Analogiebildung. Die Wichtigkeit
der Analogiebildung auf dem Gebiete der Lautgeschichte
ist anerkannt. Hier kann sie kurz als eine Association
von Vorstellungen durch Laute bezeichnet werden. Aber
Beurteilungen.
439
auch für die innere Seite der Sprache, für- die Bedeutung,
Vorstellung1 und Darstellung ist sie von größter Wichtig-
keit. Aristoteles definirt sie Poet. XXI p. 1457 b. to (U
dváÁoyov /.éyw orav o/ioiwç i'/j¡ ¿ó ösvrsqov tzqoç to ttquj-
TOV xccl TO T£t(xqtov 7tq()ç io TQtTOl'. ¿OSI ytíO àvtì TOV
ÒsVléQOV TO T¿TCCQTOV i¡ ài'TÏ TOV TSiaQTOV T() Òf-VTS-
Qov. Z. B. Wie sich das Greisenalter zum Leben ver-
hält, so verhält sich der Abend zum Tage. Also kann
man sagen: der Abend ist das Greisenalter des Tages,
und man sagt: das Alter ist der Abend des Lebens. Yon
solcher Analogiebildung ist nun die ganze Sprache durch-
drungen. Aber eben deswegen werden nur neue oder ver-
kehrte oder unverständliche Analogiebildungen unmittelbar
als solche empfunden. Die gewöhnlichen Analogiebildungen
dagegen bemerkt man nicht besonders. Als bemerkens-
werte Analogiebildung kann z. B. bezeichnet werden der
Ausdruck „die sieben Sachen der Vermissten;" oder
„hundert sieben Sachen." Im Kinderliede werden sieben
Sachen angegeben, die zum Kuchenbacken gehören. Hier
gewinnt die Wendung die Bedeutung: „alles Nötige, alles,
was dazu gehört." Dann wird an andrer Stelle von sieben
Sachen geredet, wo von gerade sieben Sachen, genau ge-
nommen nicht geredet werden kann. „Die Feinde werden
in die Pfanne gehauen;" Wie ein Stück Fleisch oder ein
Teil eines Tieres zerstückelt wird, um in der Pfanne ge-
braten zu werden, so werden die Feinde zerteilt. „Gift*'
ist allemal wirksam; Daher: scharf wie Gift; gefährlich
wie Gift, stark wie Gift. Schließlich hält ein geleimter
Kasten, wie Gift. Stockfinster hat seine Bedeutung etwa
daher, dass Stock gleich Gefängnis ist. Also ist stock-
finster soviel wie finster wie im Gefängnis, Nun wird aber
auch stockfremd, stocktaub etc. gesagt. Man kann sich
nicht verhehlen, dass bei solcher Ausdehnung der Analogie-
bildung oft eine unsägliche Leerheit der Vorstellungen
entsteht. Ein Wörtchen wie „potz", entstanden nach
Grimm aus „Gottes", nach Weigand aus „Bocks" wird
440
Michaelis.
durch Analogiebildung- in Wortverbindungen aufgenommen,
wo es ganz unverständlich ist, Potz Blut! Potz Lunge!
Potz ITosenlatz! Potz Maus! u. s. w. Es wird offenbar
zum bloßen Interjektionstypus für erregtes Gefühl. Es
zeigt sich die menschliche Neigung, durch Worte Effekt
zu machen. Die Anologiebildung wiederholt zu diesem
Zweck Worte in demselben Zusammenhange, in dem sie
früher gebraucht sind, demselben Gefühle dienend und doch
nicht ihren ursprünglichen Sinn bewahrend. In unsern
Kirchenliedern lobsingen und jauchzen die Himmel noch
ebenso wie im alten Testament; es fällt aber niemand
mehr ein, an ein Jauchzen der Himmel zu glauben; den-
noch wird der Ausdruck beibehalten, weil er überliefert
ist. Der Preis Gottes hat sich solange dieser Wendungen
bedient, dass vor der andächtigen Stimmung des Sinnenden
oder Betenden der Sinn der Worte verschwindet. Das
Gefühl tut sich genug durch Wiederholung der heiligen
Formel der Ueberlieferung. Die Analogiebildung erweitert
aber auch oft die gegebenen Ausdrücke. Im Jesaias
geben die Zweige der Bäume durch ihr Rauschen Bei-
fall , wie der mit den Händen zusammenschlagende
Mensch. Ein nachahmender Psalmist läßt dagegen schon
die Flüsse in die Hände schlagen und die lateinische
Kirchenpoesie lässt dann sogar die Gestirne, die Erde,
das Meer u. s. w. in die Hände schlagen. Erst
springen Berge, dann soll die ganze Erde springen. Auch
die Personificationen, soweit sie poetisch und nicht mytho-
logisch sind, gehören in das Gebiet der Analogiebildungen
und -Erweiterungen. In der Mythologie schließen sie den
Glauben an die Realität der Personen in sich ein; in der
poetischen Sprache erhöhen sie nur den ästhetischen Reiz
der Darstellung. Doch wird hier stets zwischen berech-
tigter und unerlaubter Analogiebildung zu scheiden sein.
Wer heute noch den Olymp versammelt, um sein Mädchen
zu preisen wird abgeschmackt. Trotzdem erhalten sich
Juno, Mars, Amor. Demnach büßt allmählich bei der Kraft-
Beurteilungen.
441
ersparnis, die in der Analogiebildung liegt, der Ausdruck
der Sprache notwendig an Anschaulichkeit ein. Der durch
diesen Process erfolgende Bedeutungswandel lässt sicli übri-
gens besser in der geschichtlichen Zeit als in den Anfängen
der Sprachbildung verfolgen. Erweiterung, Verengerung, Ver-
schiebung der Bedeutung, Wechsel im Hang- und Gefühls-
wert der Wörter, immanente und zufällige, stufenweise
oder sprungweise erfolgende Veränderungen der Bedeutung
u. s. w. kommen in der Sprachgeschichte überall zu Tage. Es
findet in der Sprache eine stetige Überlieferung von Worten
und Gedanken statt; die Empfänger haben oder bilden andere
Gedanken und behalten für diese Gedanken entweder den
bisherigen Ausdruck bei, oder formen ihn um, behalten
aber auch die überlieferten Gedanken bei, obgleich sie im
Widerspruch mit der eigenen Denkweise stehen.
Metaphysische, ethische und ästhetische Bedürfnisse
des Menschen finden dabei ihre Befriedigung. Die Re-
flexion tritt zu Gunsten des Gedächtnisses zurück, eine
Einschläferung des Denkens durch die Wogen der Em-
pfindung, ein Verblassen der ursprünglichen Sinnlichkeit
zu Gunsten eines abstracten Gefühlswertes findet statt.
Von einzelnen Wörtern dehnt sich dieser Vorgang auf
ganze Redensarten aus, was eine einzelne für sich stehende
Anschauung erlebt hat, begegnet in Schilderungen.
Die Analogie in der Formenbildung findet also ihr Gegen-
stück in der Analogie der Gedankenbildung. Wie Formen
Macht gewinnen, so gewinnen Worte, Gedanken und ganze
Kreise der Gedanken Macht, so dass man erstaunt über
die Neigung der Menschen, die Ueberlegung schweigen zu
lassen. Wie Sprache aus Gefühl entspringt, so wird sie
wider zu Gefühl. Die Abhängigkeit der Sprache vom all-
gemeinen Willen zum Leben zeigt sich wie in den von
den Strahlen der aufgehenden Sonne der Urzeit beleuch-
teten Keimen, so in den von der vollen Mittagsglut der
Entwicklung beschienenen mannigfach gegliederten und
verzweigten Bildungen. Was einst ein verhältnismäßig
442
Michaelis.
roher Klang- war, ist jetzt Inhalt für einen mitunter kaum
auszudenkenden Reichtum des seelischen Besitzes gewor-
den; was einst als festgeprägter Gedanke Eigentum des
Menschen war, ist jetzt oft zu einem Hauch des Gefühls
verflüchtigt, so dass wir Stücke aus der Urväter Hausrat
oft, wie Kinder spielend zu tun pflegen, ihrer ehemaligen
Bestimmung und Geltung entgegen, ziemlich gedankenlos
aber nicht ohne Genuss, im Denken hin und herwenden.
Zum Schluss macht Bruchmann noch den sinnreichen
Versuch, seine Untersuchungen mit der Psychophysik in
Verbindung zu setzen. Durch Anknüpfung an die Psycho-
physik lässt sich die Relativität der Empfindung und damit
der Erkenntnis, die Tatsache des Vergleichungschließens,
die Abhängigkeit dessen, was wir sehen, von seiner Uni-
gebung, die Wirksamkeit der früheren Erfahrungen, also
der Gewohnheit, und die Eigentümlichkeit des Bewusst-
seins in einer Weise bestimmt zu sein, die sich zwischen
Gegensätzen bewegt, begreiflicher machen. Ueberliaupt
eine große Reihe von Tatsachen auf dem Gebiete der
Psychologie und Sprachwissenschaft lässt sich aus psycho-
physischen Betrachtungen ableiten.
Dies etwa, in aller Kürze und ohne die Beispiele wider-
gegeben, der Gedankengang Bruchmanns. Seinen Ausfüh-
rungen möchte ich mich, wenn ein Urteil gewünscht wird,
im wesentlichen vollständig anschließen. Der Grundgedanke,
dass die Sprache aus Gefühl entspringt und gelegentlich
zu ihrem Ursprung zurückkehrt, dass Anschauung und
wirkliche Logik in der Sprache zurücktreten, damit Gefühls-
bedürfnisse befriedigt werden, scheint mir durch die Bei-
spiele und ihre Erläuterungen unwiderleglich erwiesen.
Auch an der Brauchbarkeit des Prinzips des kleinsten
Kraftmaßes zur Erklärung des psychologischen Vorgangs
bei dem Bedeutungswandel der Worte, Redensarten etc.
möchte ich nicht zweitein. Doch aber scheint es mir, dass
in dem Metto des Buches: „Gefühl ist alles" etwas hyper-
bolisches liegt, und dass in vielen einzelnen Fällen, wenn
Beurteilungen.
443
auch zuzugeben ist, dass das Wort oder die Redewendung
ganz beträchtlich an Anschaulichkeit verloren und an Gefühls-
wert gewonnen hat, ein etwas größerer Rest von Anschauung
in ihm erhalten bleibt, als Bruchmann annimmt. „Scher Dich
zum Teufel!" Wir brauchen die Redewendung, ohne an
den Teufel zu glauben; der, den die Weisung trifft, weiß
nicht, wohin er gehen soll; der Befehlende weiß, seiner
Aufforderung kann nicht Folge geleistet werden. Aber in
den Worten liegt doch wol mehr Anschauung als die vom
Gehen. Ich habe in der Jugend vom Teufel gehört, von
Mütterchen, in der Küche, in der Religionsstunde; der
Satan der Versuchung ist mir nicht unbekannt. Wie oft
habe ich den Teufel abgebildet gesehen, erst in der Arche
Noäh, wie er saure Trauben genascht hat und sich in
Bauchschmerzen krümmt, dann in biblischen Lesebüchern, in
Märchen, auf Michel-Angelos jüngstem Gericht u. s. w. Ich
fürchte mich jetzt nicht mehr.vor Hölle und Teufel, und
doch, wird der leibhaftige Gottseibeiuns genannt, allein
oder in Gesellschaft seiner liebenswürdigen Großmutter, ich
glaube doch, eine bestimmte Anschauung zu besitzen, und
sie drängt sich mir auf, so oft derselbe heraufbeschworen
wird. Für mich also liegt etwas mehr als ein Gefühl der Ab-
neigung in der Wendung: „Scher Dich zum Teufel!" und ich
möchte meinen, dass der Dichter doch meist auch nach
Anschaulichkeit im Ausdruck strebt. Der Gegensatz
Glauben und Wissen deckt sich wol nicht ganz mit
dem Gegensatz Gefühl und Anschauung. Der Glaube kann
dahin sein, die Botschaft ungenutzt erklingen, die Anschau-
ung mag sich dadurch abschwächen, aber sie braucht doch
wol nicht dadurch zu verschwinden. Und wenn ich so
über den Grad der Zurückdrängung des Anschaulichen und
des Hervortretens des Gefühlswertes im Worte mit Bruch-
mann an einzelnen Stellen seines Werkes rechten möchte,
so kann ich auch den Wunsch nicht unterdrücken, es
möchte der historische Teil seiner Betrachtung noch mehr,
als geschehen ist, auf die einzelnen Wandelungen des Men-
Zeitschrift für Yölkerpsych. und Sprachw. Bd. XIX. 4. 30
444
Michaelis.
s eh enges chicks in der Culturgeschichte eingehen. Wie
Christentum und Eeste griechisch-römischer Bildung sich
im Mittelalter an- und fortgepflanzt haben, wie die Re-
naissance gewirkt, wie die moderne Philosophie den Dichter
und die Sprache beeinflusst hat, das möchte man ein-
gehender und bis ins einzelne in einer historischen Dar-
legung liber Sprache berücksichtigt und klargelegt wünschen,
was freilich eine volle Kraft für sich allein erfordert.
Bruchmann constatirt eine psychologische Notwendigkeit,
aber nur eine historische Tatsache. Aber die Vorgänge,
die er uns schildert, können auch als eine historische
Notwendigkeit erfasst werden, nicht als eine historische
Notwendigkeit überhaupt, — wer wollte die feststellen?
— aber als eine historische Notwendigkeit bei einem ganz
bestimmten, nämlich dem vor uns liegenden Gange der Cultur-
geschichte. Ich glaube, eine solche Darlegung würde,
dazu führen, etwas mehr positiven Glauben in den Schöpf-
ungen der dichterischen Phantasie und etwas mehr An-
schaulichkeit in ihren Worten und Gebilden zu finden.
Goethes Naturschilderung möchte ich nie nur allgemein
psychologisch, sondern stets auch individuell-historisch be-
griffen wissen, und die Belebung der Natur in seinen Ge-
dichten würde ich mir aus der philosophischen und poe-
tischen Richtung seines Jahrhunderts und aus seiner Per-
sönlichkeit erklären. Doch möchte ich mit diesem Wunsche
gewiss nichts gegen die Berechtigung und Notwendigkeit
allgemeinerer psychologischer Betrachtung sagen. Andeu-
tungen über die Erweiterung seiner Untersuchung hat
übrigens Bruchmann selbst in den Schlussworten seines
Buches gegeben und es verdient dankend hervorgehoben
zu werden, dass der Sprachhistoriker, der Psychologe und
der Aesthetiker hier mannigfaltige Anregung zu weiteren
Forschungen finden.
Berlin.
Carl Theodor Michaelis.
Beurteilungen.
445
Dr. Friedrich Poïîe, Wie denkt cías Volk über
die Sprache? Leipzig, Teubner 1889.
Diese Schrift umfasst nur 126 Seiten (mit einem Re-
gister von 27 Seiten) und ist für „Leser aus allen Kreisen
der Gebildeten" bestimmt. Dem entspricht die wirklich
anmutige Darstellung derselben. Ich wünschte, da ss auch
Gelehrte das Büchlein studiren möchten. Vielleicht lernt
hier doch mancher einsehen, inwiefern es Schöpfungen des
Volkes in der Tat gibt, was der Verfasser in der Ein-
leitung darlegt.
Der Verfasser berührt hier wesentlich den Gegen-
stand, den auch Bruchmann in dem vorstehend angezeigten
Buche behandelt hat; indessen ist sein Gesichtspunkt ein
anderer. Er will, wie das Titelblatt ankündigt, das dar-
legen, was man anderweitig das unmittelbare Verhalten
des Bewusstseins im Volke zu seiner Sprache genannt hat,
im Gegensatz zu dem reflectirten Verhalten des Gramma-
tikers; und er legt jenes in Tatsachen dar, oline es durch
Theorie erklären zu wollen, worauf Bruchmann ausgeht.
In anderer Weise kann ich (immer abgesehen von Bruch-
manns strenger Wissenschaftlichkeit und der populären
Behandlung des Verfassers) den Unterschied so bezeichnen:
der Verfasser will zeigen, wie das Volk versteht, Bruch-
niann aber wie das Volk spricht und auch die Dichter
sprechen. Gerade weil Bruchmann viel Tieferes und Um-
fassenderes wollte, hätte ich gewünscht, dass er der vom
Verfasser vertretenen Rücksicht mehr Aufmerksamkeit
hätte widmen können. Während der Sprechende so man-
ches spricht, woran er nicht glaubt, an dessen Wirklich-
keit er nicht denkt, so weiß der Hörende doch recht wol,
was der Redende gesagt hat; er versteht richtig und
macht diesem keinen Vorwurf, dass er sich eigentlich ganz
unverständlich ausgedrückt habe.
So scheint mir das erste Kapitel unseres Büchleins
„Das Volk versteht richtig" das wichtigste der acht Ka-
pitel desselben.
30*
446
Steinthal.
Während Bruclimann seine Beispiele aus der Litteratur
holt, findet sie der Verfasser meist im Volksleben. Doch
citirt er auch manchen wunderlichen Satz aus classischen
Dichtern. Nur möchte ich hier, zumal wenn es einen
Schriftsteller wie Lessing betrifft, die Sache etwas schwer
nehmen. In Lessings Emilia Galotti (2. Aufzug 6. Auftritt)
ruft Claudia aus: „Gott, Gott! wenn das der Vater wüsste!
wie wild er schon war, als er nur hörte, dass der Prinz
dich jüngst nicht ohne Misfallen gesehen!" Hier, hätte
ich gewünscht, der Verfasser hätte sich den Gesichtspunkt
Bruchmanns gewählt und sich gefragt, woher mag Lessing
zu solcher Wendung gekommen sein? Das ist doch nicht
mit dem Versehen eines vielleicht sogar ungebildeten und
unwissenden Zeitungs-Schreibers zusammen zu stellen.
Wollen wir denn nun ohne weiteres corrigiren und dafür
schreiben: „nicht ohne Wolgefallen"? Gerade hundert
Jahre, berichtet der Verfasser, hat es gedauert, bis man
den Fehler oder Irrtum entdeckt hat. Wie kam das? —
Mir fällt hierbei ein, dass lateinisch, also in der aller-
logischesten Sprache, nach dubito und ähnlichen Wörtern
eine Negation, die in dem abhängigen Satze zu denken
ist, nicht gesprochen wird. Also bedeutet haud scio an
non possis ich weiß nicht, ob es dir nicht unmöglich ist,
also: ich vermute, dass es dir unmöglich ist; und haud
scio an nemini, ich weiß nicht, ob nicht niemandem, viel-
leicht niemandem. Ebenso wenn Hamlet an Ophelia
schreibt (2. Aufzug 2. Auftritt): „Zweifi' ob lügen kann
die Wahrheit", so heißt dies: ich weiß nicht, ob nicht die
Wahrheit lügen kann. Wo sich die Negationen häufen,
und zumal, wenn sie versteckt liegen wie in „zweifeln,
versäumen, unbenutzt, zu wünschen übrig lassen, warnen",
wird gar leicht eine Negation zu wenig oder zu viel ge-
setzt. In Lessings angeführtem Satz sind drei Nega-
tionen: „nicht ohne Mis—" statt logisch notwendiger
vier, etwa: nicht ohne Unmisfallen. Der Verfasser spricht
kurz die Tatsache aus (S. 16): „Das Volk fasst im allge-
Beurteilungen.
447
meinen rasch auf, wie es gemeint ist, und geht nun willig
darauf ein, ohne sich weiter darum zu kümmern, wie es
ausgedrückt ist" (und der Gebildete macht es eben so, wie
besonders Bruchmann weitläufig erweist und erklärt). „Die
Unart, sich mehr an den Wortlaut als an das Gemeinte
zu halten, hat das Volk dichterisch ausgestaltet und an
den Pranger gestellt in seinem Eulenspiegel." Und ganz
fein fügt der Verfasser hinzu, wie dergleichen unvoll-
kommene Ausdrucksweise zu einer künstlerischen Rede-
figur werden kann. So in Reuter's : „Wer 't mag, de mag
't; un wer 't nicli mag, de mag 't jo woll nich mägen".
Diese Tautologie bringt „die Subjectivität des Geschmackes"
und folglich, meine ich, die Gleichgültigkeit des Schrift-
stellers gegen ein tadelndes Urteil des Kritikers „ganz
hübsch zum Ausdruck und wir freuen uns an dem komi-
schen Gegensatz zwischen Form und Inhalt". Dasselbe
aber gilt von dem Spiel der Negation. Es sind feine
Schattirungen, welche die durch negirte Negation herge-
stellte Position bewirkt; Häufung der Negationen aber ist
übelklingend. So erfolgt eine unlogische Abkürzung durch
Auslassung einer an sich notwendigen Negation. Die
Mutter der Emilia will sagen, dass der Vater schon beim
leisesten Wolgefallen wild ward, ja, sie meidet das Wort
„Wolgefallen" gänzlich, und sagt dafür „ohne Misfallen".
Aber diese Negation des Misfallens lässt immer noch zu
viel Wolgefallen bestehen. Darum verstärkte die Mutter
die Negation durch eine andere Negation. Denn es wäre
wenig erreicht worden, wenn gesagt wäre: „nicht mit
Misfallen". Nun wäre freilich logisch, wenn „ohne" blei-
ben sollte, noch eine neue Negation nötig gewesen, welche
aber den Ausdruck schleppend gemacht hätte. So be-
deutet „nicht ohne Misfallen" so viel wie: schon mit dem
allergeringsten Wolgefallen.
Wenn der Verfasser Genesis 11, 3 citirt: „Und nah-
men Ziegel zu Stein und Thon zu Kalk", so kommt dies
auf Rechnung Luthers; De Wette übersetzt: „Und die
448
Steinthal.
Ziegel dienten ihnen zu Stein, und das Erdharz diente
ihnen zu Mörtel". Auch bei Luther gilt ,,zu" für „statt"
oder „zum Dienst von".
Ohne auf die übrigen Kapitel einzugehen, bemerke
ich nur kurz, um das Auffallende dieser Erscheinungen
zu erklären: Es liegt im Wesen der Sprache, dass der
Mensch, genau genommen niemals spricht, was er sagen
will (meint), und nimals sagt (meint), was er spricht. Wer
sagt denn das, wenn er spricht: Der Stein fliegt, die Uhr
geht, die Nadel sticht u. s. w. u. s. w.? Denn die Sprache
ist nur appercipirendes Organ: Gesprochenes; davon ganz
verschieden ist das Appercipirte, d. h. das Ergebnis der
Apperception: das Gesagte und Verstandene.!
Steinthal.
Dr. Arthur Seidel, Zur Geschichte des Erhaben-
heitsbegriffes seit Kant. Leipzig, Wilhelm
Friedrich 1889.
Das Büchlein bietet insofern mehr als der Titel ver-
spricht, als von Seite 142—167 der Verfasser seine eigene
Ansicht darlegt. Die geschichtliche Uebersicht beginnt er
mit dem 18. Jahrhundert; und wenn er die Vorgänger
Kants und Herders nur unvollständig aufführt, so zeigt er
in der Darstellung ihrer Nachfolger eine große Belesenheit.
Dabei führt er auf 21/2 enggedruckten Seiten der Vorrede
diejenigen Schriften des vorigen und unseres Jahrhunderts
an, welche er nicht gelesen hat. So dürfte wol jeder, der
eine ästhetische Arbeit vor hat, vom Verfasser recht
schätzenswerte historische Winke erhalten.
Des Verfassers Weise, die Geschichte zu behandeln,
sagt mir allerdings nicht zu ; aber er hat das Bewusstsein
seiner Beschränkung. Er gesteht allen Theorien „einen
Kern der Wahrheit" zu; aber er hält es für unmöglich „die
Beurteilungen.
449
"besondere Systematik" jeder Theorie „organisch auszu-
denken." Daher macht aber seine Darlegung nur den
Eindruck einer Sammlung, die in einige große Fächer
verteilt ist, aus welcher jedoch ein klares Bild von dem
heutigen Stand des Problems und von der Entwicklung
desselben zu diesem Stande nur schwer zu gewinnen ist.
Darum erscheint auch am Schlüsse des Verfassers eigene
Ansicht nicht als das notwendige Ergebnis der in der
Geschichte liegenden Kritik; sondern er verfährt eklektisch.
Am meisten will er sich Kant anschließen. Herder findet
wenig Gnade vor seinem Blick.
In letzterem Punkte bin ich andrer Ansicht, befinde
mich aber allerdings damit in Gegensatz nicht nur zum
Verfasser, sondern fast zu allen Ästhetikern dieses Jahr-
hunderts. Ich meine, vom Erhabenen hatte Herder1 ein
viel besseres Verständnis als Kant und die meisten Aesthe-
tiker. Er sagt (beim Verfasser Seite 16): „Verwirrung der
Begriffe ist's, wenn man das Erhabene in Nacht und
Nebel, in Höhlen und Tiefen, in Grauendem und Furcht-
barem, gar im Formlosen sucht." Hiermit, meine ich,
„packt er Kant recht entschieden." Denn wenn „Kant
vorzüglich eine detaillirte Psychologie des Prozesses bei
erhabenen Wirkungen gibt", so muss dieselbe notwendig
ihre Fehler haben, wenn sie der Analyse eine falsche
Tatsache unterlegt. Das Unlust-Gefühl, die Formlosigkeit,
die Nähe zum Hässlichen, das Dunkel, was man alles im
Erhabenen finden wollte, ist alles eingebildet. Der Orkan,
die Lawinen, Erdbeben, das aufgeregte Meer, Wasserfälle,
cyklopische überhängende Felsenmassen, tiefe Schlünde,
vulkanische Ausbrüche, das Chaos — wer dies erhaben
i Ueberhaupt, ist es ein Irrtum, zu meinen, Herder sei von
Kant völlig zunichte erdrückt. Wer dies meint, wird auch niemals
begreifen, wie Schelling Hegel und Herbart so sehr von Kant ab-
gehen konnten; dem ist die Geschichte der deutschen Philosophie
seit Kant eine Abnormität.
450
Steinthal.
nennt, der hat kein Recht iiber Burke zu witzeln oder
mit Kant verächtlich auf ihn herabzusehen.
Ich berufe mich nicht bloß auf Herder, sondern auch
auf Goethe. Merkwürdig, dass der belesene Verfasser, der
auch Stellen aus Goethe citirt, (Seite 18. 19.) gerade die-
jenige Stelle, (Dichtung und Wahrheit 9. Buch) welche ich
für die bedeutendste halte, ganz übersehen hat, sodass er
Seite 92. 110 das Citât Carrière's aus Goethe, welches ge-
rade die von mir gemeinte Stelle enthält, nicht als Citat
erkennt und für Worte Carrière's gehalten hat. Carrière
nämlich will, wie Herder, Goethe (und auch ich) „gegen-
über den Irrtümern seitheriger Theorien festhalten, dass
wir mit dem Erhabenen innerhalb der Sphäre des Schönen
bleiben, dass das Große, welches ästhetisch wirken soll,
immer ein formell Erfreuliches sein muss." Folglich ist
es eine ganz unfolgerechte Äußerung Carrière's, (die auch
darum nicht so betont werden darf, wie der Verfasser
tut Seite 92), wenn er das Erhabene „als eine durch
Schmerz vermittelte Lust" bezeichnet. Dasselbe ist weder
eine Vereinigung noch eine Mischung von Lust und Unlust,
kein Compromiss, nichts von all dem. Auch wird vom Er-
habenen nichts bedroht, weder der Körper noch der Geist,
noch erzeugt es „Schwindel" (Seite 69.)
Ich habe meine Ansicht in einem Vortrage niederge-
legt, der in der National-Zeitung vom 13. u. 14 Febr. 18b9
Morgen-Ausgabe abgedruckt ist, und der im nächsten Jahre
in einer Sammlung von ähnlichen Vorträgen, die ich seit
15 Jahren gehalten habe, nochmals erscheinen wird. Dort
hebe ich als unterscheidende Merkmale des Erhabenen
gegen das Ungeheure, Übergewaltige folgende vier Punkte
hervor: Ruhe des Gemüts, Idealität des Gefühls, Klarheit
des Bewusstseins, große Fülle und doch zugleich Form des
Inhalts. Schon hieraus ist klar, dass, wenn ich das Er-
habene subjectiv nenne, dies nur in dem Sinne geschieht,
wie ich auch das Schöne und alle Warnehmimg so nenne;
objectiv sind diese, insofern sie vom Object als Merkmal
Beurteilungen.
451
desselben ausgesagt werden, und diese Urteile allgemeine
Anerkennung beanspruchen dürfen. 1 Dann liabe ich
weiter an der Bibel nachgewiesen, wie das Erhabene auch
im Kleinen, und wie es in der Einfachheit hervortreten
kann, wie es sich mit dem Rein-Schönen und dem Naiven
und Lieblichen vereinigt, und auch Lust wie Schmerz und
selbst Spott sich erhaben ausdrücken kann. Für alles
dies habe ich die Beispiele aus der Bibel gegeben und
kann hier nur nochmals, wie ich es schon einmal in dieser
Zeitschrift getan habe (XI. 162), mein Bedauern darüber
ausdrücken, dass unsere Ästhetiker die Bibel eben nicht
kennen.
Ich kann also „Amorphie, Disproportionalität, Regel-
losigkeit, Asymmetrie, Disharmonie als (Jharakeristika
des Erhabenen" (Seite 147) nicht gelten lassen. Sonst
wäre das Erhabene nicht schön. Es ist aber wirklich
schön, d. h. es kann schön sein, und ist keineswegs ein
„nicht mehr Schönes" (Seite 147), etwa ein Übermensch-
liches.2 Hat denn wirklich ein Ästhetiker beim Anblick
1 Ich würde also den Niagara-Fall erhaben nennen, aber doch
nicht behaupten, er sei an sich erhaben, „mag ein Mensch Zeuge
dieses Schauspiels sein, oder nicht". Wenn kein Mensch Zeuge des-
selben ist, so ist jener weder erhaben, noch irgend etwas, was wir von
ihm aussagen könnten, wie z. B. fließendes Wasser; dann wissen
wir eben gar nicht, was er ist, womit wol der Verfasser überein-
stimmt (S. 84). Ob man das Object mit Kant (beim Verfasser
S. 22) lieber „erhebend" als „erhaben" nennen will, ist gleichgiltig.
Es ist auch kein Ding „rot", sondern veranlasst mich nur, rot zu
empfinden.
2 Auch Carrière sagt (beim Verfasser S. 91): „Nur vergesse
man nicht, wie die Größe allein es nicht tut, sondern stets die Be-
dingungen des Schönen erfüllt sein müssen. Wir stehen nicht außer-
halb, sondern innerhalb des Schönen". Gerade dies hat Goethe so
deutlich gemacht. — Auch Kuno Fischer kann ich für mich citiren
(S. 82): „die Natur erhebt uns nicht, sie imponirt uns nur; die be-
lebte Natur in ihrer bewegten Idealität ist uns heimlicher, als die
starre, tote, die uns in ihrer unbeweglichen und starren Größe zu-
30*
452
Steinthal.
eines orientalischen Symbols, sei es eines semitischen oder
indischen Götzen oder eines tiergestaltigen ägyptischen
Ungeheuers den Eindruck des Erhabenen gehabt? Denen,
welche diese Götzen anbeteten, werden dieselben erhaben
erschienen sein ; denn das Erhabene hat einer historischen
Entwicklung unterlegen, wie alles Geistige. Damit löst
sich der Widerspruch der Ästhetiker, welche den Kindern
und kindlichen Völkern Sinn für das Erhabene teils ab-
sprechen, teils vorzugsweise zuschreiben.
Hierbei - fällt mir des Verfassers Furcht vor Theo-
sophie ein. Allein Berücksichtigung der Religion in der
Aesthetik ist doch schlechthin unerlässlich, zumal beim Er-
habenen. Hat denn nicht alle Kunst, also alles Schöne
(denn erst durch die Kunst lernen wir die Natur schön
finden) in der Religion ihre Geburtsstätte? Und ist das,
was im Erhabenen erscheint, nicht allemal das Göttliche?
Endlich möchte ich mir noch erlauben, darauf hinzu-
weisen, dass die meisten Aesthetiker, die doch alle von
Idee und Sinnlichkeit, Inhalt und Form reden, in das Wesen
des „Erscheinens" oder der „Darstellung" nicht die rechte
Einsicht haben. Sonst würde z. B. Muff schwerlich ge-
glaubt haben, etwas zu sagen, wenn er bemerkt (beim
Verf. S. 91): „Ist das Verhältnis zwischen geistigem Inhalt
und sinnlicher Form ein derartiges, dass die Idee mehr
an als in dem Gegenstande zur Erscheinung kommt, über
ihn hinausgeht", dann entstehe die Erhabenheit. Ebenso
ist es nicht mehr als geistreiche Antithese, wenn Schelling
(S. 38) sagt : wie das Schöne die Einbildung des Endlichen
rückstößt". Erdbeben, Vulkane, Gewitter sind nach ihm nicht von
ästhetischer Wirkung. Sie können furchtbar, imposant sein,
aber sie sind nicht erhaben. „Die immense Natur erzeugt den
Schein des Erhabenen ,der sich in den Gemütei-n leicht bis zu einer
wirklich erhabenen Stimmung steigert", richtiger meine ich zu sagen:
erzeugt eine Stimmung, die sich in einem gebildeten Gemiite zu
einer erhabenen umbilden kann.
Beurteilungen.
453
ins Unendliche, so sei das Erhabene „die Einbildung des
Unendlichen ins Endliche". Darstellung, Ausdruck ist nicht
Einbildung-; sonst muss man freilich sagen, das Unendliche
lasse sich dem Endlichen nicht einbilden, und daraus er-
geben sich alle jene genannten falschen Folgerungen. —
Was Darstellen heißt, muss der Aesthetiker vom Sprach-
forscher lernen. Dieser hat klar gezeigt, dass zwischen
Inhalt und Laut immer ein Tertium liegt; aber kein In-
halt kann im Laute liegen, ihm eingebildet sein, in ihm
zur Erscheinung kommen.
Der Leser sieht, dass ich mit meiner Auffassung doch
nicht allein stehe; und wenn ich das Wesen des Erhabenen
besser erfasst habe als Andere, so verdanke ich dies
der Klarheit Goethes und der Bibel.
Steinthal.
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Dr. Sanders, Ergänzungswörterbuch der deutschen
Sprache. Eine Vervollständigung und Erweiterung
aller bisher erschienenen deutschen Wörterbücher,
Berlin, Hans Liistenöder,
das wir in dieser Zeitschrift schon besprochen haben, ist
von der Verlagshandlung im Preise von M. 50 auf M. 30
herabgesetzt.
Im Verlage von Wilhelm Friedrich, k. R. Hofbuchhändler in
Leipzig erscheint soeben :
Die Aegyptologie.
Ein Grundriss der ägyptischen Wissenschaft.
Yon Prof. Dr. Heinrich Brugscli.
I. Abtheilung.
Gr. 8. Preis brosch. M. 10.—.
Die II. (Schluss-) Abtheilung erscheint Anfang 1890.
Die ägyptologisclien Arbeiten haben seit ihrem
sechzigjährigen Bestehen einen gewissen Abschluss er-
reicht und eine neue Epoche ist in der Gegenwart ein-
getreten. Eine kritisch behandelte, unparteiische Ueber-
sicht der bisherigen Leistungen ist bis zur Stunde niemals
geliefert und ist wohl niemand befähigter, dieses Gebiet
zu bearbeiten, als eben der Verfasser, welcher in vor-
liegendem Werke die kritische Sichtung der Masse, das
Ausscheiden des Unbrauchbaren und Unbedeutenden von
dem thatsächlich Werthvollen, die Vertheilung der Quellen
nach Fächern und Unterabtheilungen, die übersichtliche
Darstellung der Einzelforschungen und ihre Ergebnisse
sich als Ziel gesetzt hat.
IPP"* Durch jede Buchhandlung zu beziehen,
Bruck von Emil Herrmann gen. in Leipzig.
R. Gaertners Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW.
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Gymnasial-Direktor a. D. und Dozent an der Berliner Universität.
XII. und 440 S. 8™. 8 Mark.
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es in einem anderen Sinne als der Pissimismus gelöst zu haben. Wir sind seinen
Untersuchungen, die in wohlüberlegter, strenger Folge vorschreiten, auf reiflichem
und gründlichem Durchdenken beruhen, einen unbefangenen, weiten Blick zeigen und
in verhältnismässig leichtverständlicher Form vorgeführt werden, mit Aufmerksamkeit
und Freude an dem Gebotenen gefolgt."
Liti er. Centraiblatt v. Zarncke. 1S88. No. 4S.
Früher erschienen:
Frederichs, F., Der Freih eitsbegriff Kants und Fichles. M. 1,00.
Gerber, Gustav, Die Sprache als Kunst. 2 Bände. 2. neubeaib. Auflage.
AI. 20,00.
— Die Sprache und das Erkennen. M. 8,00.
Gizycki, Paul von, Einleitende Bemerkungen zu einer Untersuchung
über den Wert der Naturphilosophie des Epikur. AI. 1,00.
Haym, R., Die Autorität, welche fällt, und die, welche bleibt. Ein popu-
lär-philosophischer Aufsatz. AI. 0,50.
— Feuerbach und die Philosophie. Ein Beitrag zur Ktitik beider. AI. 1,50.
— Hegel und seine Zeit. Vorlesungen über Entstehung und- Entwickelung,
Wesen und Wert der Hegeischen Philosophie. AI. 8,00.
— Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt. 2 Bde. AI. 35.00.
— Wilhelm von Humboldt. Lebensbild und Charakteristik. AI. 10,00.
— Die romantische Schule. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen
Geistes. AI. 12,00.
Joël, Karl. Zur Erkenntnis der geistigen Entwickelung und der
schriftstellerischen Alotive Piatos. AI. 2,00.
Jonas, R-> Grundzüge der philosophischen Propädeutik. Für den
Gehrauch an höheren Lehranstalten. 4. Aufl. kart. AI. 0,40.
Michaelis, C. Th , Über Kants Zahlbegriff. AI. 1,00.
_ Stuart ATills Zahlhegriff. M. 1,00.
Pappenheim, Eugen, Die Tropen der griechischen Skeptiker. Kap.
I— III § 6. M. 1,00.
Schneider, Karl, Rousseau und Pestalozzi, der Idealismus auf deutschem
und auf französischem Boden. 4. Auflage. AI. 1,00.
Schubring, Friedlich, Die Philosophie des Athenagoras. AI. 1,00.
Wangenheini, Fritz, hreiherr v., Verteidig ungKants gegen Fries. AI. 1,60.
Weltmann, Eduardus, Galeni qui fertur de patribus philosophiae
Ii bel lus. AI. 1,00.
Verlag von Wilhelm Friedrich in Leipzig.
Dp. Carl Abel:
Über Wechselbeziehungen der
Ägyptischen, Indoeuropäischen und Semitischen Etymologie.
Gr. 8°. Erster Teil kompl. in 3 Lieferungen. Preis M. 20.—.
(Einzelbeiträge zur allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft. Band IV).
In der vergleichenden Analyse einer ägyptisch-indoeuropäischen Wurzel weist Prof.
Abel nach, dass in einer der indoeuropäischen vorausgehenden Periode Indoeuropäisch und
Ägyptisch in derselben Wurzel-Stämm-Laul- und Begriff bildung wesentlich gleichmässig ent-
standen sind und dass die indoeuropäische Etymologie der aegyptischen, in welcher die alten
Züge offener zu tage liegen, nicht entraten kann. Semitische Anreihungen sind der Fort-
setzung vorbehalten.
Dp. Mopitz Bpasch:
Philosophie und Politik.
Studien über Ferdinand Lassalle und Johann Jacoby.
Gr. 8°. Preis M. 3.— .
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Kreisen grosses Interesse erwecken, denn zum ersten Male ist hier der Versuch gemacht,
die geistige Bedeutung dieser beiden Persönlichkeiten wissenschaftlich zu würdigen.
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indischen Urgeschichte.
(Einzelbeiträge zur allgemeinen und vergleichenden Sprachwissenschaft Band V.)
--Gr. 8°. Preis M. 9.—. --
Unter Benutzung des sehr reichen Materials an historisch-geographischen Namen aus
Centraiasien, die der Verfasser aus den griechischen und römischen Schriftstellern, ierner
aus den arabischen und persischen Geographen des Mittelalters, sowie aus den Schriften der
neueren Forschunjisreisenden geschöpft hat, ist es Brunnhofer gelungen, für eine beträchtliche
Reihe von Völkerstämmen, Landschaften, Städten, Flüssen und Bergen, deren Identificirung
bisher der Interpretation des Rigveda getrotzt hat, die Irstorisch-geographisrhe Verification
zu erzielen und den Nachweis zu führen, dass das Terrain, auf welchem sich die Völker-
bewegunsren des Rigveda vollzogen haben, sich vielfach über das Pandschab hinaus auf das
Hocltlnnd von Iran und Turan an den Oxus und Yaxartes bis hinüber an den Südosten des
Kaspisclien Meeres erstreckt hat,
Eduapd von Haptmann:
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theoretischen Standpunkte.
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ORUCK. VON EMIL HERRMANN SEN., LEIPZlQ.
It IO.»
1&5.* .
X, p 12.1. 81
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- - IHN»
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*
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00001100061096
Zeitschrift
für
Yölkerpsycliologie
und
Sprachwissenschaft
Herausgegeben
von
Prof. Dr. M. Lazarus und Prof. Dr. H. Steinthal.
Neunzehnter Band.
JO 5 110 120 130
Leipzij
Verlag von WilheF
K. K. Hofbuchl-
1889
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