Ifî Steinthal: An den Leser.
zwischen der Funktion der Nervenzelle und der Person? Die Sozial-
Wissenschaft wird von Lilienfeld bald „als Zweig der Naturkunde",
bald als „Hilfswissenschaft" derselben gepriesen. — Ausser den Nerven¬
zellen gebe es auch eine Intercellular-(Zwischenzellen-) Substanz. Diese
werde in der Gesellschaft dargestellt durch Sprache, Geld, Kunstwerke u. s. w.
1st dies mehr als Analogie? Wird hierbei der soziale Organismus wirklich
als ein „realer" aufgefasst oder bloss in Analogie zu einem solchen? Ich
meine, so lange man nicht begreift, dass der Geist etwas Wirkliches, ob¬
wohl nichts Körperliches, ist, so lange kann man auch nicht begreifen,
wie der soziale Organismus, obwohl geistig, doch durchaus eine Realität
haben kann. Analogien zwischen Geist und Körper werden sich in Fülle
darbieten; aber sie beweisen nicht Gleichheit und Selbigkeit des Wesens
beider. „Die Begriffe Freiheit, Moral, Recht, Religion u. s. w. erhalten
durch solche Analogien keinen realen Boden."
Dagegen will ich schon hier auf eine Arbeit verweisen, die später
genauer besprochen werden soll, von G. Simmel: „Über soziale Differen¬
zierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen" (Staats- und
sozialwissenschaftliche Forschungen. Herausgegeben von G. S ehm o 11 er.
Bd. X. Heft 1). Yerf. bezeichnet in der Einleitung den psychologischen
Charakter der Soziologie sehr scharf (wenn er auch den Terminus „objek¬
tiver Geist" meidet), und betrachtet von disem Standpunkt aus die
Kollektiv-Verantwortlichkeit nach ihrer verschiedenen Bedeutung in den
verschiedenen Zeiten, dann weiter, hieran anschliessend, das wandelbare
Verhältnis der Individualität zur Gruppe, innerhalb deren sie steht; end¬
lich das Prinzip der Kraftersparnis als ebenso wichtig für das psychische
und speziell das sosiale Leben, wie für die Entwicklung der Natur-
Organismen. In diesen Darlegungen wird überall nicht mit Analogien
getändelt, sondern man fühlt sich wirklich auf dem festen Boden einer
exakten Betrachtung psychischer Verhältnisse und Erscheinungen.
So habe ich nur noch für die weitere Ausführung des Gesagten teils
auf unseren Aufsatz im ersten Hefte des ersten Bandes dieser Zeitschrift,
wozu noch Bd. XVII. 233 — 264 und XVIII. 311—324 zu vergleichen sind,
teils auf die gedrängtere Übersicht unseres verehrten Herrn Weinhold
im ersten Hefte des zwanzigsten Bandes, endlich auf das demnächst als
viertes Heft desselben Bandes erscheinende General-Register für alle
zwanzig Bände zu verweisen.
Schliessen aber will ich mit der Bemerkung, dass die wissenschaftliche
Volkskunde, wie eng oder weit man deren Gebiet abstecken mag, immer
eine psychologische Disziplin sein wird. Aller Geist, auch der hervor¬
ragendsten Individuen (wie Luthers, Lessings), liegt im Volke; der
National-Geist ist entweder Ausgangs- oder Endpunkt oder beides für
jeden individuellen Geist. Daher bezeichnet Völkerpsychologie oder