*
Inhalt
Abhandlungen. Sejte
Xi >er Wettlauf im deutschen Volksleben von K. Weinhold.......................... 1
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit von H. Lewy . 23. 130. 238
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald. I. Von M. Rehsener. . . 40
Zur Mythendeutung von K. Bruchmann............................................. 55
Der Schwank von den drei lispelnden Schwestern von J. Rolfe . ¿ry.
Rätselfragen, Wett- und Wunschlieder von J. Schröer . . ? \ 67 6/
71
79
117
144
285
169
337
188
205
300
373
278
293
411
349
415
438
Kleine Mitteilungen.
Regenzauber in Osteuropa von J. Polek 85.
Miscellen von S. Fraenkel 87.
Grozdanka und Aaibah) von G. Godden 88.
Gefesselte Götter von M. Godden 89. von Schwartz 448.
Aus Ostfriesland von C. Dirksen 90.
Zur Sage von den drei Jungfrauen von G. Müller 93.
Eine westpreussische Spukgeschichte 97.
Schwur unter dem Rasen von Iv. Weinhold 224.
Zum Aberglauben auf Island von K. Maurer 225.
Volkstümliche Kirchendarstellungen von Mielke 225.
Sommer- und Winterspiel aus Schlesien von Honig 226.
Sommersonntag in Heidelberg 228.
Volksreime auf Bettlerhochzeiten von K. Weinhold 228.
Bitten um Regen in Japan von R. Lange 334.
Ostfriesisches Märchen von C. Dirksen 336.
Die falsche Braut von Frischauf 451.
Volksrätsel aus der Grafschaft Ruppin von K. E. Haase...........................
Zur Volksdichtung von Cäsar Flaischlen..........................................
Volkstümliche Schlaglichter IV. von W. Schwartz.................................
y Aus dem mittelschlesischen Dorfleben von A. Baumgart.............................
Bilder aus dem heroischen Volksleben von Hammershaimb, aus dem Fseröisehen über-
tragen von Jiriczek...................................................... 155.
Sagen und Gebräuche im Stubaitbal in Tirol von Greussing..............................
Zu den deutschen Volksliedern aus Böhmen und Hessen von Voretzsch . . . 176.
Der Wolf mit dem Wockenbriefe. Märchen, mitgeteilt von E. Damköhler, erläutert
von K. Weinhold.........................................................
Die Thor ah-Wimpel oder Mappe von G. Minden.............................
Das Leben Jesu von P. Martinas von Cochem als Quelle geistlicher Volksschauspiele
von J. J. Ammann.................................................. 208.
Das Saterland von Th. Siebs............................................. 239.
Allerlei Inschriften aus den Alpenländern von Fr. Ilwof......................
Volksrätsel aus dem Bergischen von O. Schall.................................
Villotte friulane von E. Schatzmayr.................................... 329.
--Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen von Fr. Vogt................
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen von August
Gifte e....................................................................
Der Geruch vom Standpunkte der Volkskunde von M. Höfler..........................
IV"
Inhalt.
Des Schneiderleins Glück, ein Märchen 452.
Märchen von der Königstochter, die nicht lachen konnte, von H. Carstens 456.
Zu Glückshafen und Wettlauf von A. Herrmann 459.
über das wendische Sprachgebiet von Müller 460.
Nochmals das Märchen von den sieben Grafen 462.
Bücheranzeigen.
Gr. Allen, The Attis of Catullus, von H. Diels 98.
Stolz, Die Urbevölkerung Tirols, von G. Kossinna 98.
F. Jonsson, Y. Gudmundsson, B. Melstedt, Thriar ritgjördir, von K. Maurer 100.
Schweizerisches Idiotikon, Heft 20—23, von Weinhold 107.
Jacobs, Indian Fairy Tales, von A. Weber 108.
Günther, Aus dem Sagenschatz der Harzlande 109.
Pineau, Le Folklore du Poitou, von Weinhold 110.
Har ou, Contributions au Folklore de la Beigne 111.
Hofer, Weihnachtsspiele, von K. W. 111.
Branky, Eulennamen 112.
Zivaja Starina II. 1—3. 112 Ceskÿ Lid 113. 468. Wisla V. 4. VI. 1—3. S. 115.
von A. Brückner.
Symons, Ontwikkelungsgang der Germaansche Mythologie 230.
Fr. Sander, La Mythologie du Nord 231.
Plutarchs Bomane questions, by Holland and Jevens 232.
A. Graf, Miti Legende e Superstizioni II. 232.
H. Gaidoz, Un vieux rite medical 232.
M. R. Cox, Cinderella 233.
Thuriet, Traditions populaires du Haute-Saône von Ch. Marelle 234.
Bielenstein, Grenzen des lettischen Volksstainmes von K W. 234.
Büttner, Suaheli-Schriftstücke von M. Hartmann 236.
The International Folklore Congress 1891. 338.
Uppsalastudier tillegnade S. Bugge. — Germanistische Abhandlungen zum Geburts-
tage K. v. Maurers, von K. Weinhold 339.
Macdonald, Religion uud Mythologie, von R. Meyer 340.
R. Heim, Incantamenta magica 341.
D. Macritchie, Underground life 341.»
Brenner und Hartmann, Bayerns Mundarten II. 1. 342.
W. Müller, Zur Volkskunde der Deutschen in Mähren, von Piger 342.
Merkens, AVas sich das Volk erzählt 344.
Neubaur, Neue Mitteilungen über die Sage vom ewigen Juden 644.
Cerny, Mythiske bytosce luziskich Serbow von A. Brückner 345.
Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn III. 1. 2 von M. Höfler 345.
v. Wlislocki, Aus dem Volksleben der Magyaren von J. Schröer 346.
Fr. Krauss, Böhmische Korallen 348.
Stern, Die Analogie im volkstümlichen Denken 463.
Lukas, Grundbegriffe in den Kosmogonien, von M. Rüdiger 464.
Schneller, Beiträge zur Ortsnamenkunde Tirols. I. von Fr. Stolz 464.
v. AVlislocki, Volksglaube der Siebenbürger Sachsen, von A. John 465.
Jacobs More english fairy taies 466.
Har ou, Mélangés de Traditionisme de la Belgique. — Le Folklore de Godarville 467.
E. Martinengo-Cesaresco, La poésie populaire 467.
Lewalter, Deutsche Volkslieder aus Niederhessen. 4. Heft, von K. YV. 467.
Auszüge aus den Sitzungs-Protokollen des Vereins von A. Brückner 116. 237. 469.
Register 470.
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und, H. Steinthal.
Dritter Jahrgang.
Im Aufträge des Vereins
herausgegeben
VOll
Karl Weinliold.
1893. Heft 1.
Hierzu Tafel I und II.
BERLIN.
Verlag von A. As her & Co.
6 if'
Inhalt.
Seite
Der Wettlauf im deutschen Volksleben. Von Karl Wein hold . . 1
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit. I. Von
Heinrich Lewy..................................................23
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
Von Marie Rehsener.............................................40
Zur Mythendeutung. Von K. Bruchmann.................................55
Der Schwank von den drei lispelnden Schwestern. Von Johannes
Bolte..........................................................58
Zu dem Märchen von den sieben Grafen. Von Johannes Bolte . 61
Rätselfragen, Wett- und Wunschlieder. Von K. Julius Schröer . 67
Volksrätsel aus der Grafschaft Ruppin und Umgegend. Von K. Ed.
Haase..........................................................71
Zur Volksdichtung. Von Cäsar Fl ai sch len.........................79
Kleine Mitteilungen:
Regenzauber in Osteuropa. S. 85. — Miscellen. S. 87. — Grozdanka und ¿laiöai.1].
S. 88. — Gefesselte Götter. S. 89. — Aus Ostfriesland, S. 90. — Zur Sage von den drei
Jungfrauen. S. 93. — Zum Märchenmotiv von den drei findigen Brüdern (oder Genossen).
S. 96. — Schlesische Sagen vom Nachtjäger. S. 96. — Eine westpreussische Spuk-
geschichte von 1333. S. 97.
Bücheranzeigen:
Grant Allen, The Attis of Caius Valerius Catullus. S. 98. — Fr. Stolz, Die
Urbevölkerung Tirols. S. 98. — prjär ritgjörffir, sendar og tileinkadar Herra Pali Mel-
steff, af Finni Jönssyni, Valty GuiTmuniTssyni og Boga Th. Melsted. S. 100. — Fr. Staub,
L. Tobler und R. Schoch, Schweizerisches Idiotikon. S. 107. — Joseph Jacobs»
Indian Fairy Tales. S. 108. — Friedrich Günther, Aus dem Sagenschatz der Harz-
lande. S. 109. — Leon Pineau, Le Folklore du Poitou. S. 110. — Alfred Harou.
Contributions au Folklore de la Belgique. S. 111. — August Hofer, Weihnachtsspiele.
S. 111. — Branky, Eulennamen. S. 112. — V. J. Lamanski, Zivaja Starina. S. 112.
— Dr. L. Niederle, Dr. C. Zibrt, Cesky Lid. S. 113. — Wisla. S. 115.
Aus den Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde .... 116
Wir machen darauf aufmerksam, dass der Verein für Volkskunde
(Sitz in Berlin), dessen Organ diese Zeitschrift ist, nichts gemein hat
mit der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde des Dr. E. Veckenstedt
in Halle a. S.
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift
auf Quartblättern mit Rand gebeten wird, Mitteilungen im
Interesse des Vereins, Krenzbandsendungen, beliebe man an
die Adresse des Herausgebers, Geh. Regierungsrat Prof. Dr.
K. Weinhold, Berlin W., Hohenzollernstr. 10, zu richten.
Bücher für Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags-
buchhandlung A. Asher & Co., W. Unter den Linden 13, senden.
Beitrittserklärungen zum Verein nimmt der Schriftführer Prof. Dr.
Brückner, Berlin SW., Lankwitzstr. 1, und der Schatzmeister entgegen.
Schatzmeister des Vereins ist Banquier Alexander Meyer Cohn,
Berlin W., Unter den Linden 11.
Der Jahresbeitrag ist 12 Mk., wofür die Zeitschrift an die Mitglieder
geliefert wird.
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge
der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und H. Steinthal.
Im Aufträge des Vereins
herausgegeben
Inhalt.
Seite
Das Saterland. Yon Theodor Siebs........................................239
Allerlei Inschriften aus den Alpenländern. Yon Franz Ilwof . . 278
Bilder aus dem heroischen Volksleben. Yon Y. U. Hammershaimb,
übertragen von Jiriczek (Schluss)..................................285
Volksrätsel aus dem Bergischen. Yon O. Schell.......................293
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem als Quelle geistlicher
Volksschauspiele. Yon J. J. Ammann (Schluss).......................300
Villotte friulane (Friaulische Dorflieder). Yon Dr. E. Schatzmayr
in Triest..........................................................329
Kleine Mitteilungen:
Bitten um Regen in Japan. S. 834. — Asar und Gemir. S. 336. — Zu dem Beitrag
von K. Voretzsch (Zeitschr. III, 176 ff.) S. 337.
Bücheranzeigen:
The international Folk-lore Congress 1891. S. 338. — Uppsalastudier
tillegnade Sophus Bugge pä hans 60-ära födelsedag den 5. Januari 1893. S. 339. —
Germanistische Abhandlungen, K. von Maurer dargebracht. S. 339. — J. Mac-
donald, Religion and Myth. S. 340. — Incantamenta magica graeca latina.
S. 341. — Macritchie, David, The Underground life. S. 341. — Dr. Oskar Brenner
und Dr. August Hartmann, Bayerns Mundarten. S. 342. — Müller, Willibald,
Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in Mähren. S. 342. — Heinrich Merkens,
Was sich das Volk erzählt. S. 344. — Neubaur, L., Neue Mitteilungen über die Sage
vom ewigen Juden. S. 344. — Cerny, A., Mythiske bytosce luziskich Serbow. S. 345. —
Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn. S. 345. — v. Wlislocbi, Heinrich,
Aus dem Volksleben der Magayren. S. 346. — Friedr. S. Krauss, Böhmische Korallen
aus der Götterwelt. S. 348.
Wir machen darauf aufmerksam, dass der Verein für Volkskunde
(Sitz in Berlin), dessen Organ diese Zeitschrift ist, nichts gemein hat
mit der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde des Dr. E. Veckenstedt
in Halle a. S.
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift
auf Quartblättern mit Rand gebeten wird, Mitteilungen im
Interesse des Vereins, Kreuzbandsendungen, beliebe man an
die Adresse des Herausgebers, Geh. Regierungsrat Prof. Dr.
K. Weinhold, Berlin W., Hohenzollernstr. 10, zu richten.
Bücher für Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags-
buchhandlung A. Asher & Co., W. Unter den Linden 13, senden.
Beitrittserklärungen zum Verein nimmt der Schriftführer Prof. Dr.
Brückner, Berlin SW., Lankwitzstr. 1, und der Schatzmeister entgegen.
Schatzmeister des Vereins ist Banquier Alexander Meyer Cohn,
Berlin W., Unter den Linden 11.
Der Jahresbeitrag ist 12 Mk., wofür die Zeitschrift an die Mitglieder
geliefert wird.
Der Wettlaiif im deutschen Volksleben.
Von Karl Weinliold.
Übungen der körperlichen Stärke und Gewandtheit gehören von alters
her zu der Erziehung des Menschen, und Wettspiele, in denen sich die
Leute einer Gemeinde oder eines Stammes untereinander oder mit den
Nachbarn messen, sind wohl bei den meisten Völkern Brauch gewesen.
So auch bei den Germanen. Wenn wir aus den ältesten Zeiten, den
Schwerttanz etwa ausgenommen, keine schriftlichen Urkunden davon haben,
so darf das nicht verwundern. Diese Wett- und Kampfspiele waren etwas
so Gewöhnliches und Natürliches, dass darüber nicht berichtet ward, und
so blieb es auch in dem Mittelalter. In der ritterlichen Gesellschaft bildeten
sich dann die Turniere aus, die Wettkämpfe zu Ross mit ritterlichen
Waffen. Unter dem Landvolke aber blieben die alten Spiele, die wir in
Ring-, Lauf- und Wurfspiele (bei den letzteren die Wettschiessen) teilen
können, in lebendiger Übung. Besonders zäh hafteten sie in den deutschen
Alpenländern. Ich erinnere an die Schwingfeste in der Schweiz1), an die
Ringspiele in den Salzburger Gebirgsgauen (Pongau, Pinzgau) und im
nordöstlichen Tirol. Hier waren und sind es noch zum Teil Volksfeste
im Hochsommer, zu denen sich die Bewohner der Nachbargaue auf dazu
geeigneten Stellen des Gebirges sammeln, auf den danach genannten Spiel-
bergen, Spielbüheln, Spielkogeln, Spielfeldern, Spielwangen, Spielangern,
um ihre Kraft und Gewandtheit, namentlich im Ringen (ränggeln) in der
Wette zu erproben. Nicht bloss die Sieger selbst, sondern auch ihre
Heimatgaue erwarben dort Ehren. Auf Hochfilzen in der Pinzgauer Urslau
trafen die Pon- und Pinzgauer, auf dem Jochberg im Tiroler Bezirk Kitz-
büchel die Pinzgauer und Tiroler, am Hundsstein im Mitterpinzgau die
Leute aus den Bezirken Zell, Saalfelden und Taxenbach, auf der Flatnitz-
alp, wo Salzburg, Steiermark und Kärnten grenzen, die Leute aus diesen
drei Ländern zum Kampfspiel zusammen1 2).
1) Stalder Fragmente über Entlebuch II, 12—48.
2) Vgl. Aug. Prinzinger in den Mitteil, der Gesellsch. f. Salzburger Landeskunde
XX, 123 f. und in dem Verzeichnis der wichtigeren Quellen zur Landeskunde des Herzogt.
Salzburg S. 33 f.
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
1
2
Weinhold:
Ich will von den Leibesübungen hier aber nur den Wettlauf behandeln.
Die Schnellfüssigkeit war für den Helden, das ist den zu Schutz und
Trutz tüchtigen Mann, bei den Germanen so gut als bei den Griechen eine
notwendige Eigenschaft. In unserer alten Poesie ist snel ein stehendes
schmückendes Beiwort der Becken und Degen wie nodcoxrjg für den
homerischen Helden. Siegfried und Achilleus waren ausgezeichnete Läufer,
und gerade die Lust, diese seine Tüchtigkeit in der Wette zu beweisen,
benutzte nach den deutschen Kibelungeliedern Hagen, um den Mord au
Kriemhildens Mann auszuführen.
Wie Stellen bei zwei österreichischen Dichtern des dreizehnten Jahr-
hunderts (Helbling 3, 35. Jüngling 35) darthun., wandte man Mittel an,
die Glieder der Läufer geschmeidig und gelenk zu machen: man strich
Bücken, Beine und Arme, man massierte sie, wie man heute sagen würde.
Bei den deutschen Yolksspielen, die wir vorhin erwähnten, haben
Wettläufe in früherer Zeit immer ihre Stelle gehabt, wenn sie auch weniger
in Ansehen stunden als die Bingkämpfe, weil sie weniger Stärke und Mut
forderten und daher auch von Mädchen und Frauen ausgeführt werden
konnten. Bei einem Armbrustschiessen im Kanton Solothurn im Jahre
1488 findet sich neben anderen Leibesübungen auch der Wettlauf genannt;
seitdem wird er aber bei den Schweizer Nationalfesten nicht mehr erwähnt1).
Wohl aber finden wir ihn bis in die Gegenwart in den österreichischen
Alpenländern, namentlich im Herzogtum Salzburg, sowohl im Flachgau als
im Gebirge1 2) als Volksbelustigung. Und dasjenige, das wir im folgenden
über sein Vorkommen an bestimmten Jahreszeiten ausführen wollen, wird
reichlich beweisen, dass der Wettlauf über ganz Deutschland bis in unser
Jahrhundert, ja vielfach bis zur Gegenwart seine alte Stellung im Volks-
leben behauptet hat. Ohne Unterschied des Geschlechts der Läufer lebte
er fort, und bei den Kinder- und Schulfesten hat er sein altes Becht als
volkstümliche Lustbarkeit neu verbrieft erhalten.
Lust und Ehre bereiteten die Wettspiele. Auf einer Bildungsstufe
nun, wo die naive kindliche Auffassung alles Seienden herrschte, haben
die Menschen geglaubt, was ihnen selbst grosse Freude mache, werde auch
den Göttern, den himmlischen wie den unterirdischen, gefallen und die-
selben in gleichem Masse als die Opfergaben für diejenigen freundlich
stimmen, welche ihnen jene Lust bereiteten. So sind die Wettspiele ein
Teil des Kultus der alten Völker geworden und haben religiöse Bedeutung
1) Mitteilungen L. Toblers in Zürich.
2) Hühner, Beschreibung- des Erzstiftes und Reichsfürstentums Salzburg I. 251,
II. 397. Winkelhofer, Geographie des Salzachkreises. Salzburg 1813. Prinzinger in den
Mitteil. d. Gescllsch. f. Salzb. Landeskunde XX, 124. Schober, Die Völker Österreich-
Ungarns. Wien 1881. I, 382.
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
3
gewonnen. Das ist von den griechischen Spielen namentlich bekannt und
hei den Germanen ist es nicht anders gewesen. Kämpfe mit den Waffen,
die bis zum Blutopfer sich steigerten, Ringkämpfe, Wettläufe und Wett-
rennen, Tänze, waren die Arten dieser Vorführungen.
Wir besitzen nur wenige direkte Angaben über den Gottesdienst der
heidnischen Germanen. Das meiste darüber müssen wir durch vergleichende
Schlüsse gewinnen, wofür teils schriftliche Zeugnisse, teils die Beobachtung
des Volkslebens die Unterlage geben. Auch zur Erkenntnis der alten
religiösen Verwendung der Wettspiele können wir nur diese Quellen an-
schlagen, und sind darauf angewiesen, die Volksgebräuche an den hohen
Zeiten des Jahres und des menschlichen Lebens darnach zu untersuchen.
Der Suchende findet. Gerade für den Wettlauf begegnen uns reich-
liche Beweise, dass er ein Spiel gewesen, das mit alten Kulthandlungen
verbunden war in den Frühlings- und Erntefesten und bei bedeutenden
Ereignissen des häuslichen und öffentlichen Lebens. Dasjenige, das wir
noch heute gewinnen können, deutet auf die Fülle, die einst vorhanden war.
Die heidnischen germanischen Feiern für die Wiederkehr der im
Winter verschwundenen Sommergottheiten waren nach der Bekehrung auf
die hohen Feste Ostern und Pfingsten übertragen worden. Jene Feiern
waren in einer Zeit fest gestaltet, als die Deutschen noch überwiegend von
der Viehzucht lebten, wenn sie auch längst daneben Ackerbau trieben.
Es waren daher Spiele der Hirten, womit diese den Göttern dafür dankten,
dass sie nun wieder für die Herden und für sich volle reichliche Nahrung
auf den Weiden fanden.
Der Wettlauf und das Wettrennen, letzteres von den Rosshirten ge-
halten, nahmen nun dabei eine grosse Stelle ein.
Mannhardt fasste die Sache anders. Er sah in dem Wettlauf der
Frühlingsgebräuche den Einzug der Pflanzengenien in Wald und Feld
nachgebildet; den Maibaum, das gewöhnliche Ziel des Rennens, erklärte
er auch für einen Vertreter der Pflanzenwelt1). Schon das erregt Bedenken,
und Mannhardt kommt dann bei dem Erntefest, wo ebenfalls Wettläufe
stattfinden, mit seiner Erklärung in Verlegenheit.
Ich halte es allein für richtig, die Wettrennen zu Fuss und zu Ross
für einen Teil des Festes zu nehmen, das die Hirten und die Landbauern
in Dankbarkeit und Verehrung der segenspendenden Gottheit veranstalteten.
Sie müssen ein Ziel haben, im Frühling den Maibaum, das Kultzeichen der
Frühlingsgottheit, im Herbst die letzte Garbe. Der Sieger muss ferner
einen Preis gewinnen, der entweder in einem Kranze oder — was die
jüngere Zeit brachte — einem einigermassen wertvollen Gegenstand bestund,
1) Wald- und Feldkulte I, 392. 397.
1*
4
W ein hold:
oder auch im Gewinn einer Würde bei dem Festaufzug, die ihm wahr-
scheinlich für das ganze Jahr einen Vorzug gab, bis dann ein anderer
seine Stelle gewann, wenn er sie nicht behaupten konnte.
Einige Beispiele zunächst aus der Oster zeit werden das näher be-
leuchten.
Auf dem Kalbeschen Werder in der Altmark herrschte der Brauch,
dass die Jungen, die im Sommer die Pferde hüten sollten, am ersten Oster-
tag (in einigen Dörfern auch am Cliarfreitage)x) auszogen, um die Brach-
weide (das Heigras) für den zu Pfingsten kommenden Austrieb auszu-
stecken. Auf einem Hügel ward von den ältesten Jungen, die schon das
Jahr vorher gehütet hatten, eine Tanne aufgepflanzt, an deren behackten
Ästen sie die Knochen aufsteckten, welche die neuen Jungen vorher
sammeln mussten. Auf den Gipfel des Baumes kam ein Pferdeschädel.
Dieser Knochengalgen, wie man den Baum nannte, war das Ziel des Wett-
laufs sämtlicher Pferdejungen. Der Sieger ward zum König ernannt1 2), der
letzte hiess der lahme Zimmermann. Der Festzug, der sich anschloss, war
freilich zu einem Bettelzug herabgekommen, bei dem für den hinkenden
und verbundenen Zimmermann Gaben im Dorfe gesammelt wurden3).
Ganz verwandt war die Sitte in Fiessau bei Osterburg in der Altmark.
Hier wurde die Pfingstweide von den Schafhirten vor Ostern schon ab-
gesteckt und am Pfingstfest selbst ein Wettreiten der Hirten auf der Weide
gehalten, nach welchem ein Galgen gebaut und mit möglichst viel Knochen
behängt ward. Der Sieger hiess der Dauslöper, der letzte am Ziel der
Pingstkäm 4).
Dauslöper, der Tauschlepper oder Daustriker (Taustreicher) bezeichnet
den ersten, der durch den frischen heilkräftigen Maitau des Weidegrases
schleift und streift, und ist ein Ehrenname des Hirten, der mit seinem Tier,
an dessen Schweif ein Maienbusch gebunden war, der den Tau aufsammelte,
zuerst die Weide erreichte. Die Namen der letzten sind Spottnamen5).
Den Knochenbaum oder Knochengalgen halte ich für einen Opferbaum,
an dem die Hirten ursprünglich die Gebeine und den Schädel des der
Gottheit dargebrachten Opfertiers aufhingen nach uraltem Kultbrauche6).
1) Auch in Oberschwaben fand am Karfreitag vor Sonnenaufgang (also zu besonders
heiliger und heilbringender Zeit) ein Wettreiten der Rossbuben statt. Die Tiere wurden
dadurch nach der Meinung für den Sommer gegen die Bremsen geschützt: Birlinger,
Volkstümliches aus Schwaben 2, 78.
2) Der Wettlauf hiess daher der Königslauf.
3) Aus dem 3. Jahresbericht des Altmärkischen Vereins bei Adalb. Kuhn, Märkische
Sagen und Märchen, 323 f.
4) A. Kuhn und W. Schwartz, Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche, S. 379.
5) Vgl. u. a. U. Jahn, Opferbräuche S. 305 f. 309. Über das Taustreichen A. Kuhn,
Westfälische Sagen 2, 165.
6) Mannhardt, Mythologische Forschungen 189 sah in dem Knochenbaum auch wieder
eine Veranschaulichung seines Vegetationsdämons.
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
5
Bei dem grossen Siegesopfer, das die verbündeten Deutschen nach der
Varusschlacht ihrem Kriegsgott brachten, wurden die Schädel der gefallenen
Rosse an die Bäume genagelt (Tac. annal. 1, 61). Die Gebeine und die
Schädel der Opfertiere waren das Bleibende derselben, aus denen die gött-
lichen Wesen sie stets wiederbeleben konnten, sobald nur kein Knochen
verletzt war1).
Wie beliebt die Wettlä.ufe in der Osterzeit gewesen sind, bewmist am
schlagendsten ihre Einfügung in deutsche Osterspiele des XIV. und
XV. Jahrhunderts, indem in mehreren derselben1 2) der Gang der Jünger
Petrus und Johannes zum Grabe des Herrn in einen komischen Wettlauf
ausgeartet ist.
Bei den Hirtenfesten zu Pfingsten ist das gewöhnliche Ziel des
Wettlaufs der Maibaum, auch Maibusch genannt: gewöhnlich ein junger
grüner Laubbaum (Birke, Buche) oder eine hohe Baumstange mit grünem
Wipfel, der mit einem Kranz, mit Tüchern, Bändern, einem Hut als Preisen
geschmückt war. Zuweilen ward auch nur um die Ehre des Sieges gelaufen
oder geritten.
Wir deuteten schon oben den Maibaum als das alte Kultzeichen, die
effigies oder das signum des sommerlichen Himmelsgottes, dem das
Frühlingsfest im freudigen Dankgefühl von den Menschen veranstaltet
ward, und erklärten das Laufspiel für einen Teil des religiösen Aktes, an
den sich der feierliche Umzug anschloss, dessen Führer durch die Wett-
handlung bestimmt worden war.
Bis gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren diese Wett-
läufe oder Wettrennen im Mai oder zu Pfingsten in Westfalen, in der
Altmark, in Ostfalen, in Franken, Thüringen, Schlesien, in Schwaben,
Bayern3) noch sehr verbreitet. Sie berühren sich nahe mit dem Wett-
austrieb der Hirten und Hirtinnen am Pfingstmorgen, bei dem jeder mit
seinen Tieren als erster auf der Gemeindewiese zu sein trachtet und den
Segen und Gesundheit für alles Lebende bringenden Maitau am reichlichsten
vom Grase zu streifen sucht. Aber die Wettläufe schliessen sich erst als
1) Vgl. die Zusammenstellung bei Eocliholz, Deutscher Glaube und Brauch 1, 219 ff.
— Über das Verbrennen unzerbrochener Knochen in den Jahrzeitfeuern U. Jahn, Deutsche
Opfergebräuche 40 ff. 122.
2) Hoffmann, Fundgruben II, 334. Pfeiffer, Germania 3, 294 (Egerer Spiel). Pichler,
Drama des Mittelalters in Tirol 165 (Sterzing). Erlauer Spiele, herausgeg. von Kummer
87 f. Von den in Frankreich entstandenen zeigt nur eines in einer Orleanser Handschrift,
die auch sonst Spiele enthält, die sich mit deutschen berühren, den Wettlauf, vgl. Zeitschr.
f. deutsches Altertum XXXVI, 239.
3) Kuhn, Westfäl. Sagen 2, 160 ff. Märkische Sagen 323 ff. Kuhn und Schwartz,
Norddeutsche Sagen 379 fg. Pröhle, Harzbilder 66. Bavaria IV. 1, 243 f. Schlesische
Provinzialblätter 1870. 289 ff. Schroller, Schlesien III, 251 ff. 264 fg. 268. Birlinger,
Volkstümliches aus Schwaben, 2, 93. E. Meier. Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche in
Schwaben S. 394. 398. Panzer, Bayerische Sagen und Bräuche 1, 234—239. 2, 81—90.
444 ff.
6
Weinhold:
Folge des Austriebes an und leiten, wie ich wiederholt hier hervorhob, die
ursprünglich religiöse Festhandlung ein.
Einige Beispiele mögen nun folgen.
In Halberstadt, dem alten Hauptort des ostfälischen Landes, war es
noch gegen Ende der vierziger Jahre unsers Jahrhunderts Brauch, auf
dem Anger zu Pfingsten den Maibusch aufzustecken, der mit seidenen
Tüchern und anderen Sachen behängen ward. Um diese laufen die jungen
Burschen. Die ersten am Ziel bekommen die Preise, der letzte erhält den
Spottnamen Lamböm oder Lambö. Darauf laufen die jungen Mädchen,
und zwar nach einem andern Maibusch, bei dem ein Lamm als Preis steht;
die letzte bekommt einen Klotz und wird Klotz-Marine genannt1).
In Gross-Wirbelitz bei Salzwedel in der Altmark laufen zu Pfingsten
die Jungen nach einem Maienbusch. Der Sieger wird König und erhält
einen Blumenkranz um den Hals und einen Maienbusch in die Hand, mit
dem er beim Umzug den Tau wegfegt, wovon er auch Dauslöper genannt
wird1 2). Der letzte, der Pingstkasm, muss das bekränzte Gestell (Rick)
tragen, woran die beim folgenden Umzug gesammelten Würste und Speck-
seiten gehängt werden3).
In Westfalen sassen beim ersten Anbruch des ersten Pfingsttages, um
Mitternacht schon, alle Pferdejungen zu Pferde und jagten zur Pfingst-
weide, die schon zu Ostern ausgesteckt worden war. Der erste auf der
Weide bekam den Namen Däwestrüch (Taustrauch, entstellt aus Däwestrik,
Taustreicher). Dann führte man ihn mancherorten auf einen Berg, setzte
ihn auf einen abgehauenen Strauch und zog ihn unter allgemeinem Freuden-
geschrei durch den Tau den Berg hinab: ihm ward also der reichste Teil
von dem Tau des heiligen Tages vergönnt. Seine Pferde wurden mit
Maienkränzen geschmückt, und die des letzten Reiters, der Pengstemocke,
mit Blumen. Darauf folgte das Wettrennen4).
In Schlesien ist, im deutschen wie im polnischen Teile des Landes,
das Wettrennen, besonders zu Pferde, mit dem Ziele des Maien und dem
Umzuge nachher, früher allgemein verbreitet gewesen. Infolge von Aus-
schreitungen aber, die dabei vorkamen, verbot seit dem vorigen Jahr-
hundert die Polizei die Lustbarkeit, und nur an wenigen Orten blieb sie
im Brauch. Selbst in Breslau hatte sich das Pfingstreiten bis in das acht-
zehnte Jahrhundert erhalten5).
Besonders gut erhielt sich bis gegen 1850 das uralte Frühlingsfest in
einigen Dörfern des Striegauer Kreises. In Liissen, ehemals den Johan-
nitern gehörig, und in Järischau, das die Benediktinerinnen von Striegau
1) Kuhn u. Schwartz, Norddeutsche Sagen, S. 386.
2) Vermengung des Viehaustriebs und des Wettlaufs.
3) Kuhn u. Schwartz a. a. 0. 380.
4) Kuhn, Westfälische Sagen 2, 164 f.
5) Schröder, Schlesien 3, 252 f. 265 f. 268. 272 f.
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
7
besasseu, zwei grossen Bauerndörfern, geschah am frühen Morgen des
zweiten Pfingsttages das Wettrennen der Bauernsöhne und Grossknechte
nach einer hohen geschälten Fichtenstange, deren Spitze der mit Blumen
und Bändern geschmückte Maibusch krönte. Unter ihm hingen die Preise:
ein Kranz, Halstücher und ähnliche Sachen. Den Sieger rief man zum
König aus, den letzten zum Rauchfiss oder Rauhfist1).
Der König ward nun auf die Schultern der abgestiegenen Reiter ge-
hoben und kletterte an der Stange empor, um sich den Maien und den
Kranz herabzuholen. Dann ging es in feierlichem Ritt durch das Dorf,
der König mit dem Busch und dem Kranz voran. Der Rauchfiss sammelte
dabei in den Bauerhöfen Beiträge von Lebensmitteln für das spätere Ge-
lage. Inzwischen war die Kirchzeit gekommen und alle Reiter ritten zur
Kirche.
Nachmittags bildete sich der Zug von neuem und bewegte sich zum
Hause der Königin, die vom König zu Tanz und Schmaus abgeholt ward.
In den Dörfern Lüssen und Järischau war Königin die Geliebte des Königs.
Ihr brachte er auch die Preise vom Maibaum, die für Mädchen passen:
ein Tuch, eine Schürze, ein buntes Band1 2).
In diesem schlesischen Pfingstbrauche sind die Teile des alten
Frühlingsfestes voll erhalten: Wettrennen der Jünglinge zu Ross, wobei
die Würde des Führers im Festzuge erworben wird, dann der Aufzug (die
pompa), der Gottesdienst (Opfer), das Festgelage und der Tanz.
In Schwaben bestund an verschiedenen Orten der Maitauritt, der uns
an die niederdeutschen Ostergebräuche erinnert, die wdr früher schilderten.
In den ersten Stunden des 1. Mai, oft schon um 1 oder 2 Uhr in der Nacht,
ritten alle Burschen, die über ein Pferd verfügen konnten, in den Wald,
wo Lieder gesungen, am Wraldsaum getummelt und gelagert ward. Mit
Sonnenaufgang zog alles heim3). Das ist nur ein Bruchstück der alten
Sitte.
Aus anderen schwäbischen Orten werden Wettläufe und Wettrennen
nach dem Maibaum und andere Bräuche zum 1. Mai berichtet. Häufiger
noch ist das Pfingstfest die Zeit dieser Feier, und zwar meist Pfingst-
montag, da die Kirche sie am Pfingstsonntage nicht duldete. Nach einem
Protokoll vom 19. Mai 1700 ward am Pfingstmontag zu Merstetten nach
langer Unterbrechung ein Wettrennen lediger Burschen um einen Käse
1) Das Wort ist Entstellung von Rauchfass, worin die euphemistische Benennung
eines in Tiergestalt gedachten Frühlingsgeistes liegt. Als solcher zeigt sich der Rauch-
fiss in anderen schlesischen Frühlingsgebräuchen. Das Wort Rauchfuss wird den Bären
bezeichnen; im polnischen Oberschlesien heisst eine dem Rauchfuss ganz verwandte Ge-
stalt niedzwiez (Bär). — Ich bemerke, dass Rauchfuss (gelehrt übersetzt Dasypodius) auch
als Familienname vorkommt. Im Griechischen wird öaavnovg auf den Hasen angewandt.
2) Nach*R. Dreschers Bericht in Schröders Schlesien 3, 265 f. 272. Nebenzüge habe
ich hier weggelassen.
3) E. Meier, Sagen, Sitten und Bräuche aus Schwaben 394. 398.
Weinhold:
gehalten, das die Obrigkeit später jedoch von neuem verbot. In Bissingen
hielt sich Wettlauf und Wettrennen an jenem Tage bis in den Anfang
unsers Jahrhunderts1). Genaueres wird aus Bettringen berichtet, wo die
Sitte bis in die Gegenwart fortlebte. An dem Pfingstritt beteiligen sich
aber nur die jüngsten Burschen. Sie tragen einen dichten Kranz von
gelben Schmalzblumen1 2); ein jeder hat ein weisses Hemd über seinen
Kleidern, das um die Hüften gegürtet ist. Auch die Bosse sind mit den
gelben Blumen geschmückt und bestens aufgezäumt. Den Blumenschmuck
besorgt das Mädchen, das sich jeder Pfingstreiter zu dem Tage gewählt
hat. Die Burschen reiten ohne Sattel. Der Führer des Zuges, der Fähn-
rich, trägt einen Maien in der Hand. Als Spassmacher tritt der Pfingst-
lümmel auf. Der ganze Bitt beschränkt sich in Bettringen auf einen
Umritt durch das Dorf, wobei allerlei Sprüche gesprochen werden, aus
denen sich ergiebt, dass der Pfingstlümmel in das Wasser geworfen ward.
Bach dem Umritt sammeln einige Pfingstbuben zu Fuss Lebensmittel
in den Höfen und Häusern, die dann mit den Mädchen im Wirtshause
genossen werden. Tanz bis zur Betglocke beschliesst das Fest3).
In ganz ähnlicher Art wird der Pfingstritt zu Busplingen gehalten.
Der Pfingstbutz ist hier in Stroh gehüllt — er ist hier Vertreter des Winter-
dämons —, einige ältere Burschen suchen ihn zu fangen, und wenn es
gelingt, werfen sie ihn ins Wasser4).
Das Wettreiten, das in Bettringen und Busplingen vergessen worden
ist, hat sich in Fulgenstadt erhalten. Es findet nach dem Vormittags-
gottesdienst des zweiten Pfingsttages nach einem Ziel im Felde statt. Der
Sieger führt dann den Zug mit einem Maien in der Hand5), der letzte
heisst der Hazeler und wird in grünes Laub gekleidet. Jedenfalls ist er
ins Wasser geworfen worden. Bachmittags folgt dann der Umritt in
benachbarte Dörfer, Gabensammeln und Tanz6).
Diese Umritte haben auch im bayerischen Schwaben bis über die
Mitte unseres Jahrhunderts (ob noch jetzt, weiss ich nicht) gedauert,
ebenso in einigen ober- und niederbayerischen Dörfern7). Eine Hauptrolle
fällt dabei dem sogenannten Wasservogel (zuweilen Pfingstl genannt)
zu, einem in Laub gekleideten Menschen (seltener wird er durch eine
1) Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben 2, 160.
2) wie es scheint, gelbem Hahnenfuss, da ebendort auch weisse Schmalzblumen Vor-
kommen, was den Gedanken an Caltha und an Leontodón ausschliesst.
3) Birlinger a. a. 0. 2, 151 ff.
4) Birlinger 144 f.
5) Aus einem Spruch des Hazelers ergiebt sich, dass der Sieger den Barnen Reifan-
schmecker erhielt, das wohl dem niederdeutschen Dauslöper oder Daustriker sich ver-
gleicht.
6) Birlinger 2, 135—143.
7) Bayr. Schwaben: Panzer, Bayerische Sagen und Bräuche 2, 83. 85. 87. 89: Alt-
bayern: 1, 234 f. 2, 81.
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
9
Puppe vertreten), in dem wir ein uraltes Menschenopfer erkennen, das am
Frühlingsfest der regenspendenden Gottheit1) gebracht worden ist. Ur-
sprünglich ward durch das Los oder durch ein Wettrennen bestimmt, wer
aus der Gemeinde sein Leben hingeben müsse. Merkwürdig treu ist die
Erinnerung hieran zu Sontheim in Schwaben bewahrt worden, wo die
Burschen am Pfingstmontag durch das Los den Wasservogel wählen: wer
das kürzeste Hölzchen zieht, muss es sein. Sie führen ihn dann in den
Wald und hüllen ihn ganz in Birkenlaub. Dann geht es in das Dorf
zurück und ein Zug von 18—20 Reitern bildet sich, deren zwei letzte den
unberittenen Wasservogel zwischen sich nehmen. Der Zng geht auf die
Brücke über die Zusamm, von der sie ihn in den Bach hinabwerfen1 2).
In anderen Dörfern des bayerischen Schwaben, ebenso im nieder-
bayerischen Abensberg3) wird durch ein Wettrennen, das in der Frühe des
Pfingstsonntags statthat, bestimmt, wer der Wasservogel sein muss: dieser
letzte ist ursprünglich der Opferung verfallen gewesen. Die ersten am Ziel
erhalten Preise nach jüngerer Sitte.
In Holzheim in Schwaben sind einige bemerkenswerte Abänderungen
eingetreten4). Hier wird der Wasservogel durch eine Puppe dargestellt,
wie auch bei dem Todaustreiben am Sonntag Lätare in mitteldeutschen und
slavischen Landen eine Puppe den Opfermenschen ersetzt hat; dieselbe ist
am Leibe mit Wasservogelblumen umkränzt, die von den Kindern oft
stundenweit hergeholt werden5), und an den Armen mit weissen Schmalz-
blumen (Hahnenfuss). — Der Wasservogel wird auf ein Pferd gesetzt, das
ein Knabe führt, und nimmt an dem Umritt teil, der (nach einem Spruch
zu schliessen) um die Felder ging6). Dann wird ein Wettrennen gehalten.
Der Sieger erhält Küchel als Preis und wählt sich eine Pfingstbraut, die
den Ehrenplatz an der Tafel bekommt, und auf deren Stadelgiebel der
Wasservogel gesetzt wird, wo er bis auf die nächsten Pfingsten sitzen
bleibt.
In diesen oberdeutschen Pfingstbräuchen nimmt das Menschenopfer,
das der befruchtenden, segenspendenden Sommergottheit gebracht worden
ist, die Hauptstelle ein. Wir werden darin einen der höchsten Götter —
den schwäbischen Ziu, den bajuvarischen Eru, also den germanischen Tius
zu erkennen haben. Der feierliche Umzug mit dem Opfer tritt stark
hervor: der Wettlauf oder das Wettrennen dient zur Bestimmung des
Menschen, welcher zum Heil des ganzen sein Leben hingeben muss. Der
1) Grimm, D. Mythologie 562. Panzer 2, 444 f.
2) Panzer 2, 89.
3) Panzer 2, 83. 85 f. 87.
4) Panzer 2, 85 f.
5) Es wird von Panzer nicht gesagt, was für Blumen das sind.
6) Im Dürkheimer Landgericht im bayer. Schwaben ist die ganze Feierlichkeit in
einen kirchlichen, vom Pfarrer geführten Umritt der Dorfflur, an deren vier Ecken das
Evangelium gelesen und das Wetter gesegnet wird, verwandelt. Panzer 2, 90.
10
Weinhold:
letzte am Ziel ist es. So erhalten wir einen wertvollen Beitrag zu dem
Aufbau des ganzen ältesten Frühlingsfestes aus dem heute noch blühenden
Pfingsthrauch der Bayern und Schwaben1).
Als eine besondere Art des Wettlaufes mag noch aus dem Algäu das
Karren schieb en oder Karrenrennen erwähnt werden, das zu Wangen
am Pfingstfest geschieht oder geschah. Jeder Bursche kommt mit seinem
Mädchen und einem Karren auf einen bestimmten „freien Wasen“. Ein
Seil wird ausgespannt, längs dem sich die Burschen mit ihren Karren,
worin die Mädel sich gesetzt haben, aufstellen. Auf gegebenes Zeichen
fahren sie auf den Maibaum als das Ziel los. Sie halten aber auf halber
Bahn, die Mädchen machen den Burschen im Karren Platz und schieben
nun um die Wette diese auf das Ziel los. Die erste am Maibaum gewinnt
den ersten Preis u. s. w.a).
Hier scheint der Wettlauf der einzige Rest der Pfingstfeier zu sein.
Inwieweit dies auch für Kärnten gilt, wo am Pfingstmontag nach alter
Sitte Wettläufe auf den Alpen gehalten werden1 2 3), weiss ich nicht.
In den Maifesten der niederdeutschen Städte, in denen sich der Um-
zug zum prächtigen Umritt des Maigrafen ausgebildet hatte4), traten die
übrigen Teile der Feier, somit auch der Wettlauf, ganz zurück und er-
loschen. Von Niedersachsen hatten sich die Maigrafenfeste nach Dänemark
und Schweden verbreitet.
Der Frühling weicht dem Sommer, der zur Zeit der Sonnenwende in
vollster Pracht entfaltet ist. Bei dem grossen Sunnwendfest, das die
Kirche auf den Namen Johannis des Täufers umtaufte, haben die Kampf-
spiele auch einen Teil der Feier ausgemacht, Zeugnisse dafür sind aller-
dings spärlich; doch wird berichtet, dass hei dem Sunnwendfest, das die
Leute aus Salzburg, Steiermark und Kärnten auf ihrer gemeinsamen Grenze,
der Flatnitzalpe, viel besuchten, Ringspiel und Wettlauf gehalten wurden.
Und gleiches wird zu Johannis auf dem Sonntagkogel bei Johann im Pongau
stattgefunden haben, wenn hier auch nur vom Ringkampf aus dem Ende
des vorigen Jahrhunderts erzählt wird5).
Die Erntefeste beginnen mit dem ersten Schnitt (Jakobitag, 25. Juli)
und ziehen sich bis Katharinen (25. November) hin; aus diesen vier Monaten
1) Unter dem Namen Pfingstquack kommt der Brauch auch auf rheinfränkischem
Boden im Hinterweidenthal in der Pfalz nach Panzer 1, 238 vor. Auch aus Elsass wird
dieser Name und der Brauch berichtet. Pfingstquack ist der Pfingstfrosch. Der Frosch
als Yorbote des Sommers, als Laubfrosch Ankündiger des Regens, hat seine Stelle in den
Frühlingsbräuchen, vgl. Mannhardt, Wald- und Feldkulte 1, 355 f.
2) E. Meier in J. Wolfs Zeitschrift für deutsche Mythologie u. Sittenkunde 1, 443.
3) Schober, Die Völker Österreich-Ungarns I. 382.
4) J. Grimm, D. Mythol. 735—38. Mannhardt, Wald- und Feldkulte 1, 369 ff.
5) L. Hübner, Beschreibung des Erzstiftes Salzburg. II. 396 f. 691.
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
11
ragt besonders der Bartholomäitag (24. August) als Zeitpunkt der ab-
geschlossenen Getreideernte hervor. Sowie die Erntefeste in Griechenland
und Italien mit Opfern und Spielen begangen wurden1), so ist das auch
in Deutschland geschehen.
Zu Besdau bei Luckau in der Niederlausitz laufen am Erntefeste die
Knechte und Mägde, aber getrennt von einander, um Backwerk, Tücher
und ähnliche Preise1 2). Gleicher Brauch bestund auf den Gütern um Nörten
im Hannoverschen und um Grimma in Sachsen3). In Pommern liefen nur
die Mägde nach der letzten Garbe, welcher Ähnlichkeit mit einem Manns-
bilde gegeben wurde. Die Siegerin erwarb das Recht der ersten Tänzerin
am folgenden Tanzabend. Auch in Schlesien war der Wettlauf nach be-
endeter Ernte auf die Mägde beschränkt4).
Dass die letzte Garbe ein Opfer war zu Dank und Bitte für die ge-
gebene und für die künftige Ernte, lehren lange erhaltene niederdeutsche
Gebräuche, bei denen sich sogar die Anrufung Wodans fortgefristet
hatte 5).
Bei der mit alter Fülle gefeierten thüringisch-fränkischen Kirmse, wie
sie aus der Hildburghauser Gegend Hohnbaum in Büscliings Wöchentlichen
Nachrichten IY. 399 (1819) beschrieben hat, die mit feierlichem Aufzug
nach dem Gottesdienst, und mit Schmaus und Tanz begangen ward, fand
am zweiten Tage das Kuchenlaufen statt: Burschen und Mädchen liefen
nach dem auf einen Topf gelegten Kuchen um die Wette.
In Schwaben ward noch um die Mitte dieses Jahrhunderts das Ernte-
fest zu oder um Bartholomäi mit Wettläufen, Wettspringen, Ringen,
Klettern und anderen Wettübungen begangen6). Mancherorten hiess das
Fest der Schäferlauf oder Schäfersprung, wTeil ein Wettlauf der Hirten
den Hauptteil bildete. In Bretten liefen am Lorenztage (10. August), dem
sogenannten Schäfermarkt, die ledigen Schäferburschen und Schäfertöchter
am Abend auf freiem Felde in paarweiser Ordnung nach einem Ziel. Der
Sieger gewann ein Lamm, die Siegerin ein seidenes Halstuch. In Wild-
berg geschah der Wettlauf in gleicher Art acht Tage vor Michaelis. Neben
dem Wettlauf gingen noch andere Übungen nebenher; Gottesdienst ging
dem Lauf voran, Tanz folgte. In Markgröningen liefen die Schäfer und
Schäferinnen am Bartholomäustage barfuss über ein Stoppelfeld. Die Preise
waren für den Sieger ein Hammel, für das erste Mädchen am Ziel ein
Lamm oder ein scharlachenes Mieder, Schnupftücher oder ähnliche Sachen7).
1) Mannhardt, Wald- und Feldkulte 2, 254 ff. Mythologische Forschungen 172 ff.
2) Kuhn u. Schwartz, Norddeutsche Sagen S. 399. Nr. 109.
3) Kuhn, Westfäl. Sagen, 2, 187. Nr. 525. Mannhardt, Wald- und Feldkulte 1, 396.
4) Kuhn, Märkische Sagen S. 342. Schroller, Schlesien 3, 309.
5) Grimm, D. Mythologie 140 ff. Pfannenschmid, Erntefeste 104 ff.
6) E. Meier, Sagen aus Schwaben 437 ff. 451.
7) Vgl. Meier a. a. O. Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben 2, 280. Aus Schwaben
2, 209 ff.
12
Weinhold:
Wenn hier die Hirten, nicht die Schnitter laufen, so gründet sich das
wohl darin, dass mit vollendeter Ernte die Weide auf den Stoppelfeldern
offen wird.
Am Jakobitage fand zn Teinacli im Schwarzwald ein weit und breit
berühmtes ländliches Fest statt, der sogenannte Hahnentanz. Dasselbe
eröffnete ein Wettlauf von jungen Burschen und Mädchen. Darauf folgte
ein Eselwettrennen1) und nach diesem der Hahnentanz., wobei es darauf
ankam, dass ein von seinem Mädchen unterstützter Bursche ein Wasser-
glas mit seinem Kopfe herunterstiess, das auf einem Brette an einer Stange
ziemlich hoch stund. Auf der Spitze der Stange sass ein Hahn in einem
Käfig. Wem das dreimal gelang, gewann den Hahn. Die Paare umtanzten
dann die Hahnenstange1 2).
Solche Hahnentänze werden auch sonst in Schwaben und ebenso im
Eisass bei Erntefesten gehalten3). Sie sind sehr alte Volksbelustigungen,
die einen tieferen Grund haben, da der Hahn als Wettervogel wie als
Symbol der Fruchtbarkeit zur Ernte in Bezug steht. Fischart im Gargantua
(Hallische Ausgabe von Aisleben 73) gedenkt des Hahnentanzes und zwar
in einem Atem mit den Wettläufen um die Hosen und den Barchat
(Parclient). Auch in dem Fastnachtspiel der alt hanentanz (Kellers Fast-
nachtspiele Kr. 67)4) erscheint dieser Tanz als ein ländliches Wettspiel:
von welliem baursman das pest wird getun an alls gefehr, es sei diser oder
der, dem wirt der han gegeben und dem lezten ein prucli5 6) darneben.
Auch Geiler von Kaisersperg gedenkt in den Predigten über das Karren-
schiff des Hahnentanzes (Scheibles Druck 465). Wegen der eingerissenen
Ausschweifungen stellte der Augsburger Bat 1512 die Gesellen-, Kranz-
und Hahnentänze abö).
Ein eigentümlicher Wettlauf wird in Altheim bei Horb in Schwaben
acht Tage nach der Kirchweih gehalten, der Hammeltanz7). Paarweise
treten Burschen und Mädchen zu einem kreisförmigen Wettlauf an um
einen Pfahl, woran eine Schlaguhr hängt. Das Paar, bei dem die Uhr
gerade schlägt, wenn es vorüberläuft, bekommt einen Säbel und einen
geschmückten Hammel. Ursprünglich wird es ein gewöhnlicher Wettlauf
gewesen sein mit dem Preise des Hammels. Tanz und Schmaus schliessen
sich an8).
1) Teinach ist ein Badeort, in dem für die Gäste Esel gehalten werden.
2) Birlinger, Aus Schwaben 2, 213.
3) Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben 2, 286 ff. Pfanneuschmid, Germanische
Erntefeste 293. 420.
4) Der kurz hanentanz bei Keller, Fastnachtsp. Nr. 89.
5) Die pruch (Lendenhose) ist ein bekannter Preis heim Wettlauf, vergl. weiterhin.
6) v. Stetten, Geschichte der Stadt Augsburg 2, 161.
7) Über die Hammeltänze am Erntefest, Pfannenschmid 292. 558.
8) Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben 2, 289.
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
13
Die Wintersonnenwende ist in dein germanischen Heidentum eine
hochheilige Zeit gewesen; das Gedeihen der neuen Jahreshälfte ward den
Göttern durch grosse Opfer empfohlen, bei denen wir feierliche Umzüge
und Spiele aus fortlebenden Yolksgebräuchen erschliessen dürfen. Yon
den Spielen haben sich Wettrennen erhalten, die auf den zweiten Weih-
nachtstag, der dem ersten Märtyrer Stephan von der Kirche gewidmet
worden war, gelegt wurden. Sanct Stephan war an Stelle eines Heiden-
gottes, wahrscheinlich Wodans, der Patron der Posse geworden; ihm zu
Ehren wurden und werden im Norden und Süden Deutschlands Wettrennen
von den Bauern gehalten, wofür er den Pferden Segen und Gedeihen
sicherte.
In Bayern sind diese Stephansritte noch jetzt sehr häufig1). Die meist
sehr alten Stephanskapellen werden von den Bauern der Gegend umritten,
dann die Feldflur umjagt und darauf festliche Umritte durch die Dörfer
gehalten. Die Pferde glaubt man durch diese Ritte für das nächste Jahr
gegen alle Schäden, namentlich gegen die Hexen geschützt.
Im Herzogtum Schleswig fand am Stephanstage zu Walsbüll auf der
Landstrasse von Flensburg nach Tondern ein grosses Wettrennen statt.
Das Ziel war ein jetzt verschwundenes Wirtshaus. Der Sieger gewann
für den Renntag eine bevorzugte Stellung, gleich den Siegern bei den
Frühlingswetten1 2).
Auch in England war es ein alter Brauch, am Stephanstage die Pferde
in raschem Laufe auszureiten, bis sie in Schweiss gerieten, und Gebete
um gesegnete Weiden zu halten3).
Wir fragen nun, ob sich nicht Wettläufe ausser den Jahrzeitfesten bei
Feierlichkeiten aufweisen lassen, die mit religiösen Gebräuchen verbunden
waren. Da kommt zunächst der Brautlauf in Betracht, das Fest der
Heimführung der vermählten Braut4).
Die Entscheidung ist hier aber nur sehr vorsichtig zu treffen, da in
den germanischen Hochzeitbräuchen manches noch auf die vorhistorische
gewaltsame Brautgewinnung, die Raubehe, hinweist; vielleicht geht selbst
der Name Brautlauf auf die rasche Entführung des Weibes zurück5).
1) Mannhardt, Wald- und Feldkulte 1, 402 fg. Schmeller, Bayr. Wörterb. 22, 735.
Höfler in unserer Zeitschrift 1, 305. Dahn in der Bavaria I. 2, 998 ff. Ein Zeugnis fin-
den Stephansritt aus Schwaben hei E. Meier, Sagen aus Schwaben 466.
2) Mannhardt, Wald- und Feltkulte 1, 403.
3) Aus dem Mirror von Kuhn zu Westfäl. Sagen, Gebräuche und Märchen 2, 101
angeführt.
4) Weinhold, Deutsche Frauen im Mittelalter 1, 362 fg. (2. A.).
5) M. Müller, Essays (Deutsche Ausgabe) 2, 234. Dargun, Mutterrecht und Raub-
ehe. Breslau 1883. S. 130. H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte 1, 73. Konr. Maurer
in unserer Zeitschr. 1, 111.
14
Weinliold:
\S
A
Ci
Eine Erinnerung an den Brautraub liegt wohl in folgendem altmärki-
schem Gebrauch: am Schluss des ersten Hochzeittages begiebt sich die
ganze Hochzeitgesellschaft auf einen zum Laufen geeigneten Platz. Die
Braut wird von zwei jungen Männern geführt, dann giebt ihr der Bräutigam
einen Vorsprung und der Wettlauf zwischen ihm und der Braut beginnt.
Am Ziel der Bahn wird der jungen Frau der Kranz von jungen Weibern
abgenommen und dafür die Haube aufgesetzt1).
In anderen Gegenden (Obersteiermark, Schwaben, Eisass) entflieht die
Braut aus der Kirche oder von der Tanzstube. Der Bräutigam (in Sieben-
bürgen1 2) dessen Vertreter der Brautknecht) muss sie zu fangen oder in
ihrem Versteck zu finden suchen3).
Anders als diese Läufe des Brautpaars sind die Wettläufe der Hochzeit-
gäste zu beurteilen. Zwar kenne ich keine alten Belege für sie, aber altes
hat sich sicher in den jüngeren Gebräuchen erhalten.
In der Mark Brandenburg und in Kursachsen war noch im vorigen
Jahrhundert verbreitete Sitte, dass die jungen Männer am zweiten Hochzeit-
tage von einem bestimmten Punkte bis zum Hause der Braut einen AVett-
lauf hielten. Der Sieger bekam von der Braut und den Brautjungfern drei
grosse Brautstollen (Gebäck) und tanzte darauf barftissig, selbst im AVinter,
mit ihnen4).
In Oberbayern wird bei dem Zuge der Hochzeiter aus der Kirche der
Braut- oder Schlüssellauf gehalten. Der Hochzeitlader steckt Bahn und
Ziel ab. Die flinksten Burschen, bis auf Hosen und Hemd entkleidet,
tanzen vom Kirchthor ab vor dem Brautpaar her und beginnen dann bar-
fuss einen AVettlauf. AVer das weiteste Ziel zuerst erreicht, erhält einen
vergoldeten Holzschlüssel, der ihm an den Hut gebunden wird, und den
1) Kuhn, Märkische Sagen S. 358. — Auch in der Grafschaft Ruppin und in den
angrenzenden Teilen der Priegnitz und Mecklenburgs hatte sich das Haschen der Braut
durch den Bräutigam, wobei die Hochzeitgesellschaft in zwei Parteien geteilt, mithalf, mit
dem Brautkranzabtanzen vermengt (Mitteil, vom Oberlehrer K. E. Haase). Dieses Haschen
der Braut durch den Bräutigam kann sich freilich auch auf einen andern Grund zurück-
führen, der mit der Werbung um die Gunst des Mädchens zusammenhängt. Bei den
Kalmücken nämlich und den Völkern des malajischen Archipels findet, nachdem die Eltern
der Braut die Einwilligung gegeben, ein AVettlauf zwischen dem Mädchen und dem
Bräutigam statt. Es soll kein Fall Vorkommen, dass sich das Mädchen fangen liesse, wenn
sie Abneigung gegen den Bewerber hat. Ploss-Bartels, Das Weib in der Natur- und Völker-
kunde 1, 50 (3. Aufl.).
2) Mätz, Die siebenbürgisch-sächsische Bauernhochzeit. Kronstadt 1860. ¡8. 66.
3) Weinhold, Deutsche Frauen 1, 384. Dargun, Mutterrecht 131. Reinsberg-
Düringsfeld, Hochzeitbuch 146. 252. — Verschieden hiervon ist das Stehlen der Braut
durch Freunde des Bräutigams: Bavaria I. 402. III. 334. Schönwerth, Aus der Oberpfalz
1, 106 f. \Tierthaler, AVanderungcn durch Salzburg, Berchtesgaden und Österreich (AVien
1816) 1, 165 (aus dem Lungau), v. Kürsinger, Ober-Pinzgau (Salzburg 1841) 169. Birlinger,
Volkstümliches aus Schwaben 2, 377. 393.
4) Kuhn, Märkische Sagen S. 363.
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
15
höchsten ausgesetzten Geldpreis. Der letzte hat die Sau und wird an
Rücken und Hut mit Sauschwänzchen besteckt.
In manchen Gegenden laufen, je nach dem Stande des Brautpaars, die
Jäger, die Sennen, die Holzknechte, die Köhler; auch die Sennerinnen
und andere Mädchen laufen. Zuweilen ist die Braut, die vor dem Gast-
hause steht, worin das Hochzeitmahl gehalten wird, das Ziel des Laufs.
Selbst bei silbernen und goldenen Hochzeiten fehlt der Wettlauf nicht;
nur führen ihn dann ältere Männer aus1).
Im Bistum Eichstatt bestund noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts
folgender Brauch. Am zweiten Hochzeitstage, dem Kraut- und Fleischtag,
auch Rocken- oder Brauttag genannt, ritten oder liefen die jungen Burschen
um Henne und Hahn. Sie liefen zuerst vom Hause des Bräutigams nach
dem Hause der Braut, und der Sieger erhielt eine mit Bändern geputzte
Henne. Dann ging es im vollen Laufe zum Bräutigam zurück, wo der
zuerst ankommende einen Hahn oder Goeker als Preis empfing1 2).
Verändert lebte dieser Hahnen- oder Hennenritt in Schwaben fort.
Wenn eine Braut aus einem andern Orte nach Hohenstatt auf der schwäbi-
schen Alb heiratet, stellen sich während der Trauung ledige Burschen zu
Pferde bei dem Bettelhaus auf und reiten, sobald das Brautpaar aus der
Kirche tritt, in vollem Lauf auf dasselbe zu. Der erste erhält ein Geschenk
vom Bräutigam; ursprünglich muss eine Henne oder ein Hahn der Preis
gewesen sein, wie der Käme „um die Henn’ reiten“ andeutet3).
In Wolfschlugen, Oberamt Nürtingen, ward es beim Einheiraten einer
Fremden so gehalten, dass an der Hochzeit ledige Burschen nach einer
an einen Pfahl gebundenen Henne um die Wette reiten. Der erste am
Ziel, dem es gelingt, abspringend vom Pferde die Henne zu fassen, erhält
sie und ausserdem vom Brautpaare Wein und Geld4).
In der südlichen Oberpfalz folgt auf das Hochzeitamt in der Kirche
das Backofenschiissel-Laufen5). Gleich vor der Kirchthür ziehen alle lauf-
fähigen männlichen Gäste Strümpfe, Schuhe und Röcke aus. Der Braut-
führer entfernt sich einige Hundert Schritt von ihnen und giebt das Zeichen
zum Lauf durch Aufwerfen seines Hutes, den er auf seinen Stock steckt.
Wer sich dieses Hutes zuerst bemächtigt, erhält den vom Hochzeiter ge-
setzten Preis und ist ausserdem von der Zeche beim Hochzeitmahl frei6).
1) Bavaria I. 1, 398 f.
2) Nach dem Journal von und für Teutschland v. J. 1791. III. S. 473 bei Reynitzsch
über Truhten und Truhtensteine (Gotha 1802). S. 351 f.
3) Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben 2, 386.
4) E. Meier, Sagen aus Schwaben 483.
5) Der Grund der Benennung nach der Backofenschüssel ist nicht mehr erkennbar.
6) Schönwerth, Aus der Oberpfalz, Sitten und Sagen 1, 93. Der Siegende soll aber
ein unbescholtener Mann sein, weil seine Untugenden auf das erste Kind des Paares über-
gehen.
16
Weinhold:
In Österreichisch-Schlesien lässt die erste Brautjungfer am zweiten
Hochzeittage einen grossen Kuchen hacken, den Grenzkuchen. Die ledigen
Burschen, zuweilen auch verheiratete Männer, versammeln sich und die
Brautfrau mit der Brautjungfer stecken die Rennbahn ab. Dann stellen
sich diese zwei in die Mitte der Bahn und halten ein weisses Tuch in die
Höhe. Die Laufenden suchen im Yorbeirennen nach dem Ziel den beiden
das Tuch zu entreissen. Wem es gelingt, erhält das Tuch und den Kuchen
als Preis. Der Kuchen wird gemeinsam verzehrt1).
Diese Wettläufe gehören zu den ältesten Teilen der Hochzeitfeier.
Sie gehören in den festlichen Zug, in dem die Braut von ihren Freunden
und Gespielen in das Haus des Bräutigams geführt ward. Gesänge wurden
von der Menge dabei angestimmt1 2) und die rüstigsten im Zuge begannen
das Spiel des Wettlaufes.
Die Barfiissigkeit der Läufer selbst im Winter muss einen rituellen
Grund haben und nicht bloss der Leichtfüssigkeit halber gefordert sein3).
Dem Hochzeitfeste hat auch in unserer heidnischen Zeit nicht das religiöse
Element gefehlt; man erbat und wünschte den Segen der Götter für die
junge Ehe und brachte ihnen daher Spiele und wohl auch Opfer dar4)-
Wir begegnen dem Wettlauf aber nicht bloss bei häuslichen, sondern
auch bei Staats- und Gemeindefesten.
Bei der jährlichen Huldigung der Entlebucher an Luzern, die bis
zur französischen grossen Revolution am Ostermontag auf der Wiese zu
Schüpfen stattfand, schloss sich an die Heerschau über die bewaffnete
Mannschaft regelmässig ein Wettlauf der Mädchen an. Die beste Läuferin
erhielt vom Landvogt eiuen Rock in den Landesfarben5).
Nach uralter, aus dem Altertum schon (Sallust. bell, jugurth. Kap. 79.
Valer. Max. Y. 6) berichteter und weitverbreiteter Sage6) diente der Wett-
lauf zur Entscheidung von Grenzstreitigkeiten7). Yon jeder Partei wird
ein Mann gestellt: wo die zwei Zusammentreffen, soll die Grenze sein.
Diese Sage ist in der Schweiz auf einen Streit zwischen Uri und Glarus
übertragen, ferner zwischen Graubünden und Lichtenstein8). Auch wird
1) A. Peter, Volkstümliches aus Österreichisch-Schlesien 2, 225.
2) Müllenhoff, De antiquissima Gertnanorum poesi chorica S. 23 f.
3) Wir fanden sie auch hei dem Schäferlauf in Markgröningen in Schwaben, und
dürfen herbeiziehen, dass in Oberschwaben am Funkensonntag (dem ersten Fastensonntag)
alle Mädchen in Strümpfen (Vertretung der Barfüssigkeit) tanzen mussten. (Birlinger,
Aus Schwaben 2, 64).
4) Weinhold, Deutsche Frauen im Mittelalter 1, 374 fg. Altnordisches Leben 247.
5) Stalder, Fragmente über Entlebuch 2, 375 ff.
6) Nach Mitteilung vom Geh. Rat Bastian findet sie sich selbst in Samoa.
7) J. Grimm, Grenzaltertümer, Kleine Schriften 2, 68 fg.
8) Grimm, Deutsche Sagen Nr. 288. Lütolf, Sagen, Bräuche und Legenden aus den
fünf Orten 392. 577.
Der Wettlauf im deutsehen Volksleben.
17
sie über einen Zwist zwischen den Gemeinden Wollerau und Ägeri
erzählt.
Hier ist der Grenzlauf das Mittel zur Erreichung eines wichtigen
Zwecks. Als schmückendes Spiel ist der Wettlauf aber bei dem Grenz-
begang verwandt worden, der in wiederkehrenden Fristen von den deutschen
Gemeinden zur Sicherung ihrer Marken gehalten worden ist und religiöser
Handlungen nicht entbehrt hat.
Jakob Grimm hatte bereits Wettläufe dabei vermutet, aber keinen
Beweis beibringen können1). Nun ist derselbe, noch dazu aus neuester
Zeit, in Dittenheim bei Heidenheim a. H. gefunden, wo am Schluss des
feierlichen Grenzbeganges ein Wettrennen der berittenen Männer und ein
Wettlauf der Mädchen gehalten wird1 2).
Die Wettläufe konnten durch die verschiedenen Bedingungen des
Laufens mancherlei sein. Schmeller sagt in seinem Bayerischen Wörter-
buche 1, 1448 (2. Aufi.): „Man hat verschiedene Arten solcher Wettspiele.
— Beim Blindlaufen sind den Läufern die Augen verbunden. Nachdem
sich jeder auf ein Zeichen dreimal umgedreht, geht es auf das Ziel los,
welches natürlich von nicht wenigen verfehlt wird. Beim Sacklaufen
stecken sie bis an den Kopf in Getreidesäcken; beim Hosenlaufen stecken
immer zwei, jeder mit einem Bein, in einem Paar Hosen; beim Eier-,
Kochlöffel- oder Tellerlaufen haben die Läufer auf einem Teller,
einem Kochlöffel oder dergl. ein Ei oder etwas ähnliches an das Ziel zu
bringen. Beim Tabaklaufen müssen sie mit brennender Pfeife anlangen.
Bei dem unter Mädchen gepflegten Wasserlaufen kommt es darauf an,
mit einem Kübel voll Wasser auf dem Kopfe glücklich ans Ziel zu
kommen.“ Wir finden letzteres in Bayern wie in Schwaben, so bei dem
Schäferlauf in Wildberg, wo die Mägde mit gefüllten Kübeln wettliefen.
Gleiches hat E. Lovarini in unserer Zeitschrift II, 57 aus Viterbo und
Assisi im Umbrischen berichtet.
Das Eierlaufen (Eierlesen, Eierklauben) finden wir anders, als
Schmeller es beschreibt, in der Schweiz, in Schwaben, in Bayern, auf der
Eifel, im Waldeckschen, in Schlesien3) als Wettspiel zwischen einem Eier-
leser und einem Läufer. Eine gewisse Zahl Eier werden von dem Läufer
in bestimmtem Abstande von einander in gerader Reihe auf den Boden
1) Grenzaltertümer: Kleine Schriften 2, 64.
2) Aus der Kölnischen Zeitung vom 25. September 1872 hei Pfannenschmid, Ernte-
feste 348.
3) Tobler, Appenzeller Sprachschatz 165. Seiler, Die Basler Mundart 6. Birlinger,
Volkstümliches aus Schwaben 2, 185 — 190. Schmeller, Bayer. Wörterb. I2, 1321. Schmitz,
Sitten und Sagen des Eifler Volkes 1, 29. Curtze, Geschichte und Beschreibung des
Pürstent. Waldeck 404. Gomolke, Breslauer Denkwürdigkeiten 3, 184.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. o
18
Weinhold:
gelegt. Dann muss der Leser die einzelnen aufheben und in einem Siebe
sammeln, während der Läufer inzwischen einen bestimmten Weg zu einem
Ziele (von dem er ein Zeichen mitzubringen hat) und wieder zurück machen
muss. Wer zuerst fertig wird, hat den ausgesetzten Preis gewonnen.
Fischart erwähnt den Eierlauf im Gargantua (er lieff der eyer S. 281 der
Ausgabe von Aisleben). Das Spiel lebt noch, namentlich in der Schweiz
(Appenzell, Aargau, Basel, Bern). In Schlesien war das Eierlesen eine
Belustigung der Zunftgenossen am Ostermontag und besonders bei den
Breslauer Tuchmachern beliebt.
Das Sacklaufen oder Sackhüpfen ist eine in vielen ober- und mittel-
deutschen Landen beliebte Belustigung. In Schlesien z. B. veranstalteten
es noch in neuer Zeit Gastwirte auf den Dörfern zur Unterhaltung städtischer
Gäste an Sonntag - Nachmittagen. Ebenso das Schürzenrennen oder
Schürzenlaufen, wobei barfiissige kurzgeschürzte Mägde über einen Brach-
acker oder ein Stoppelfeld um Preise liefen. Bei dem Guirlanden-
rennen, das in Mittelschlesien bis zur Gegenwart beliebt war, ist ein
Laub- und Blumengewinde der Preis der siegenden Magd.
Ein alter Ausdruck für Wettlaufen ist gewesen die barre loufen
(Wolframs Willi. 187, 15. Altdeutsche Blätter 2, 224. Altswert 89, 27),
der haar lauffen (Fischart, Gargant. 281, hallischer Neudr.), harr loufen
(Pauli, Schimpf und Ernst), der barr spilen (Fischart, Gargant. 274, hall.
Neudr.). Parlonffen wird noch im 17. Jahrhundert für Wettlaufen (cursu
certare), barloufung gleich wettloufung gebraucht1). Es bezeichnet das
Laufen nach der Barre1 2), dem verschränkenden Balken, der die Rennbahn
am Ziele schloss. Auch ein Drehkreuz oder ein Pfahl diente dazu. Von
dem Maibaum haben wir früher als Ziel des Laufes oder Rennens ge-
sprochen.
Auch der Ausgangspunkt der Läufer ward markiert: oft durch ein
quergespanntes Seil, eine auf den Boden gelegte Stange, im Pinzgau zu-
weilen durch eine Querlage von Stroh.
In den Schilderungen der Laufspiele haben wir häufig von der Beteili-
gung der Mädchen an denselben zu sprechen gehabt. Und hier kommen
wir nun zu den Gleichungen deutscher Wettläufe mit jenen italienischen,
über welche Dr. E. Lovarini seine Forschungen, besonders aus paduanischer
Vorzeit, bei uns mitgeteilt hat (Zeitschrift II, 56 — 67). Wie sich in
italienischen Städten vom 12. bis ins 16. Jahrhundert Wettläufe zu Fuss
und zu Ross um ein Stück Tuch nachweisen lassen, das bald als drappo
1) Grimm, D. Wörter! 1, 1140. Schmeller, Bayer. Wörterb. 1, 401.
2) Du Gange, Glossar, med. et intim, latinit. 1, 586 (Mort. 1888) barrse: decursio
palaestrica, sic dicta quod palsestra barris seu repagulis clauderetur.
■ K/ws/v
W* l/v
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
19
yerde, bald als panno scarlatto oder als palio (palio d’oro)1) oder sonstwie
bezeichnet wird, so finden wir auch in den Akten und Chroniken süd-
und mitteldeutscher Städte vom 14. bis in das 17. Jahrhundert solche
Wettläufe um den Barchat (Barchent) oder Scharlach als Belustigungen
verzeichnet.
Die Laufenden waren Männer und Weiber, ursprünglich gewiss wie
auf den Dörfern ohne Einschränkung der Personen, wie denn an den
Pferderennen, die gleichzeitig und um ähnliche Preise statthatten, immer
alle, die Lust und Geschick dazu hatten, teilgenommen haben. Beweise
dafür giebt ein Bericht über das Münchener Laufen von 1448, wo ganz
allgemein gute gesellen und frawen und töchter als die laufenden
genannt werden. In Nördlingen liefen 1442 hübsche frawen und gemeine
weiber in Gemeinschaft miteinander. Dass unter den hübschen frawen
ehrbare Frauen zu verstehen sind, ergiebt sich aus dem Gegensatz zu den
gemeinen in der Angabe, dass ein gemeines weip, d. li. die Insassin des
öffentlichen Hauses, siegte. Aber im übrigen hören wir nur von den Be-
wohnerinnen des Frauenhauses als Teilnehmerinnen an den städtischen
Wettrennen. Die Ausartungen, die sich dabei eingefunden haben mögen,
mussten den ehrbaren Mädchen und Frauen die Lust an der alten Sitte
verleiden, und da das Volk diese Spiele forderte, war die Obrigkeit ge-
nötigt, die öffentlichen Dirnen zu dem Barchent- oder Scharlachlaufen zu
stellen.
J. E. Schlager hat im ersten Bande seiner Wiener Skizzen aus dem
Mittelalter (Wien 1835) über das Volksfest der laufenden Pferde in Wien
gehandelt, woraus erhellt, dass dabei nicht bloss die Rosse, sondern auch
mannen oder knecht und frawen gelaufen sind. Herzog Albrecht III. von
Österreich hatte im Jahre 1382 bei Bestätigung der Wiener Freiheiten
von 1296 bestimmt, dass man an jedem der beiden Jahrmärkte zu einem
Scharlach rennen solle2). Diese Spiele dauerten bis 1534, Kaiser Ferdinand I.
verbot sie aus sittenpolizeilichen Gründen3). Die Zeiten waren der Auffahrts-
tag des Heilands im Mai und der Katharinentag im November. Es rannten
4—10 Pferde, die mautfrei waren, ausser den Männern und Weibern.
Genaueres ergiebt eine Eintragung in das Copey-Buch der gemainen
Stat Wien4) zum Jahr 1454 über das Scharlachrufen, d. i. die öffentliche
1) mlat. cursus palii Du Cange II, 676b (Niort 1883). Das Stück Tuch ist eine echt
mittelalterliche Form des Preises, die mit der alten Naturalwirtschaft zusammenhängt,
wonach Stoffe oder daraus gefertigte Kleidungen (ganz oder teilweise) das metallene Wert-
stück vertraten. Vgl. über die Verwendung von Kleidungsstücken als Preise hei Wett-
kämpfen Rochholz in der Zeitsehr. f deutsche Philologie 1, 459 ff. Zu dem hier nament-
lich erwähnten Hosenpreis vgl. Fischart, Gargantua (Hallisch. Neudr. 73): sprang vmb die
Hosen, jagt vmb den Barchat.
2) Die Wettläufe werden durch Herzog Albrecht nicht eingeführt worden sein; er
bestimmte nur die beiden Zeiten der Rennen.
3) Schlager, Wiener Skizzen. 1846. S. 365.
4) Herausgegeben von Zeibig. Wien 1853 S. 13.
2
20
W einholfl:
Ankündigung des Rennens um das Scharlachtuch. Es ward ausgerufen,
dass am Montag nach Christi Himmelfahrt die Pferde von Schwechat herein
in die Stadt laufen sollten, nachdem sie Tags vorher auf das Rathaus zur
Einschreibung gestellt und vor dem Rennen selbst dort bulliert worden
sind. Das erste Pferd am Ziel gewinnt den Scharlach, das ander den
sparber1), und welches das lest darczu ist, das hat gewunnen
die saw. nu hoert mer. auch werdent die freyen knecht zu
einem parhant lauffen, und welcher der erst darczu ist, der hat
den parhant gewunnen. auch werdent die freyen töchterl zu
ainem parhant lauffen, und welche die erst darczu ist, die hat
gewunnen den parhant.
Die freien knechte sind die Knechte des Freimanns oder Henkers,
der meist die Polizei im städtischen Frauenhause hatte. Bis 1450 kam
der Pachtzins, den die Wirtin des Frauenhauses der Stadt Wien zahlte,
dem Schergen zugute. In dem hintern Frauenhause hatte derselbe aber
nichts ze pieten noch ze schaffen1 2).
Die freien töchterlein sind natürlich die Insassen des gemeinen Frauen-
hauses.
Von Wien ward dieses Volksfest nach Wiener Neustadt 1469 über-
tragen. Die Pferde rannten zu Mariä Himmelfahrt (15. August) um einen
Scharlach oder einen Rock von welhischem Tuch, zu zweit um einen
Sparber und zuletzt um eine Specksau. Die freien Knechte und die freien
Frauen liefen jeder Teil für sich um einen Parchent3). Ursprünglich hat
die Sau wohl nur die Bedeutung des Misserfolges im Rennen, wie das bei
den Wettläufen auf den Dörfern sicher ist, wto der letzte mit Sauschwänzchen
besteckt ward (vgl. oben S. 15)4). Aber für das symbolische Zeichen oder
den symbolischen Namen ist auch eine wirkliche Sau als letzter oder auch
als zweiter Preis, wie in Nördlingen, gestellt worden.
In München fand das Rennen wie in Wien zum Jahrmarkt statt. Hier
scheinen noch wohlbelenmdete Männer und Frauen die Laufenden gewesen
zu sein, wenigstens heisst es in der Ordnung des Rennens im Jahrmarkt
von 1448: ain barchanttuech gueten gesellen dem, der zum ersten über
das zil komt. das ander barchanttuech frawen und töchtern, welche zum
ersten über das zil komt.
1) Sperber erscheinen auch in Italien als Preise, so in den Statuten von Bologna
aus 1259—62, wo der scarlatus, et roncinus (= minor equus) et sparvierus als Preise ge-
nannt sind. Du Cange a. a. 0. II, 676b.
2) Schlager, Skizzen, 1846. S. 875. 383.
3) Böhmers Chronik von Wiener Neustadt 1, 160.
4) Bei dem Kinderfest, dem Bechtle, im Saulgau am Dienstag vor Fastnacht heissen
die nach Fleiss und Betragen letzten Schüler Sau oder Huitz: Birlinger, Volkstümliches
aus Schwaben 2, 278. Der den letzten Schlag beim Dreschen thut, erhält den Namen
Sau, Mockel, Saumockel, ebenda 425 ff.
Der Wettlauf irn deutschen Volksleben.
21
Im Jahre 1557 bezahlte der herzogliche Hof die Hälfte (das halbe)
vom rennscharlach und parchant per 13 fl. 5 ß.1).
In Augsburg- zeigen sich wieder die freien Fräulein als Läuferinnen,
wenigstens lässt darauf die Jahrmarktordnung von 1454 schliessen: item
die freylein umb das parchanttuech zu lauffen1 2).
In Nördüngen sind sie an einem Montag des Jahres 1442 (und gewiss
ausserdem oft) mit andern Frauen um den Parchent gelaufen. Der weise
Rat hatte der Bürgerschaft zur Lust ein Wettrennen auf einer grossen
Wiese vor der Stadt angestellt, wie eine Reimerei jener Zeit erzählt3).
Das lustige Yolk drängte sich durcheinander:
in weyt sach man ein hübsch gedreng,
dazwischen ein hübsche leyten,
dofnr ein parchet weyten.
davon macht man nicht weytes zil,
do sach man hubscher frawen vil
mit peyden grossen und kleinen,
die man haysset die gemeynen,
zu dem parchat lauffen schon,
des lachet mancher werder man.
ein gemeines weyp erliff das tuech.
do kom mancher pueb in seiner pruech
und hett ain zrissens wammes an,
ir was ain teyl nit wol getan,
do zoch man aber ain parchat dar,
itlicher nam des lauffens war.
der wart von ainem pueben gwunnen4).
Dann beginnt das rennen der pferdlein mit den knaben vmb
ain Scharlach, eine Sau und um eine Armbrust.
Wie beliebt das Parchentlaufen in Bayern noch um die Mitte des
17. Jahrhunderts gewesen, bezeugen Stellen in J. Baldes Agathyrsis und in
einem Hochzeitgedicht seines Zeitgenossen Joh. Khuen5).
Für Breslau liegen Zeugnisse dieser Lustbarkeit vom Anfang des 16.
bis zum Ende des 17. Jahrhunderts vor.
In Nik. Pols Jahrbüchern der Stadt Breslau (II, 204) ist vermerkt:
1515 mitwoch nach Crucis (Kreuzerhöhung) liefen die freyen weiber wette
umb ein weissen parchen, umb 1. par schuch und umb eine schaube.
1) Schmeller, Bayer. Wörterb. I2, 269.
2) Schmeller, ebenda.
3) Dye keierwisen, aus einer Wolfenbütteler Handschrift gedruckt bei Keller, Fast-
nachtspiele des 15. Jahrhunderts III, 1352 ff.
4) Eine Abbildung des Nördlinger Rennens um den Scharlach bei Seb. Münster,
Kosmographie. Basel 1567. S. 846.
5) Schmeller a. a. 0. 1, 269. Murer in seinen Emblemata (Zürich 1622) stellt auf
dem neunten Bilde drei Knaben dar, die von einer am Boden liegenden Stange aus nach
einem entfernten Drehbalken rennen, von dem ein Tuch als Preis hängt, Rochholz in der
Zeitschr. f. deutsche Philol. I, 464.
22
Weinhold:
1686 fand bei dem Schiessfest im Schiesswerder zu Breslau ein Pelz-
laufen statt, das auf einer Scheibe jenes Jahres abgebildet ward. Neun
oder zehn freie Weiber rannten von einer Schranke aus nach einer Stange,
woran ober auf einem Kreuz ein Frauenpelz hing, darüber ein Hut; rechts
am Querholz Schuhe und Strümpfe, links ein Stosseisen (Reibeisen) und
ein Brummeisen.
Her Pritschenmeister mischte sich unter die laufenden Weiber und
hielt sie durch seine Spässe auf. Die erste am Ziel gewann den Pelz; die
nächsten erhielten die andern Sachen, die letzte das Brummeisen. Am
Schluss wurden die Frauen beim Stückhauptmann gespeist1).
Die Wettläufe der Weiber der städtischen Frauenhäuser haben sich
im engsten Zusammenhänge mit alten Yolksgebräuchen und als ein Seiten-
zweig derselben gezeigt, der sich durch das städtische Leben gebildet hat.
Wir werden sie daher nicht auf italienischen Einfluss zurückführen und
nicht für etwas Fremdes erklären dürfen.
Wettläufe der Mädchen haben sich auf dem Lande bis in unsere Tage
neben denen der Männer bei den Frühlingsfesten der Hirten, dem Ernte-
fest der Ackerleute, bei dem Grenzbegang erhalten, und sind auch ausser
diesen Zeiten als "Volksbelustigung geblieben. An den Hochzeiten scheinen
nur Männer die Laufenden gewesen zu sein. Es sind Teile eines uralten
Ganzen von religiöser Grundlage, das sich noch aus den Trümmern auf-
bauen lässt, wie vor allem der Pfingstbrauch aus den schlesischen Dörfern
Lüs'sen und Järischau (S. 6. 7) und die oberdeutschen Wasservogelspiele
erwiesen haben.
Albrecht Weber hat jüngst in der Sitzung der Berliner Akademie der
Wissenschaften vom 28. Juli 1892 über das indische Yäjapeya-Opfer ge-
handelt (Sitzungsberichte 1892 Nr. XXXIX). Dasselbe geschah bei einem
alten Wettrennen, das im Herbst gefeiert ward, in der frischen Jahreszeit,
die auf die Regenzeit folgt und sich unserm Lenz vergleichen lässt. Es
war ein Wettfahren von siebzehn Wagen, währenddessen ein Priester einen
Gesang anstimmte und Pauken geschlagen wurden. Der Sieger ward durch
Sprüche zum Herrn des folgenden Jahres geweiht. Darauf bestieg er einen
' Pfahl und das daraufgesetzte Rad und liess seine Gattin mit hinaufsteigen.
Heruntergestiegen liess er sich auf einem Sessel nieder, ward als Herr ge-
salbt und ihm Gedeihen des Ackerbaues und des Hauswesens, sowie über-
haupt Segen für das nächste Jahr zugesichert.
Mir fällt nicht ein, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem
väjapeya und dem alten deutschen Pfingstgebrauch (S. 6) zu behaupten.
Aber wir können beide sich gegenseitig beleuchten lassen, denn die
1) Gomolke, Denkwürdigkeiten III, 183 (Schroller, Schlesien 3, 310).
Der Wettlauf im deutschen Volksleben.
23
Grundzüge stimmen zu einander. Durch den deutschen Yolksgebrauch er-
giebt sich schlagend, dass A. Weber den väjapeya richtig für eine sehr
alte volkstümliche Siegesfeier eines Wettkampfes erklärte (S. 11 oder 771).
Aus dem indischen Ritual erhellt die religiöse Grundlage aufs stärkste,
die ich für unsere Frühlingsbräuche mit dem Wettlauf behauptet habe.
Das Ersteigen des Maibaums durch den Sieger im Wettrennen (S. 7)
vergleicht sich durchaus dem Ersteigen des Pfostens mit dem Rade durch
den indischen Sieger, das nach dem Qatapatha- brähmana den Aufstieg in
den Himmel bedeutete.
In dem deutschen Brauche wird der Sieger von seinen Mitbewerbern
auf die Schultern gehoben; das ist die alte germanische Art der Erhebung
zum Herzog oder König. Das indische Ritual hat dafür das Segnen und
Salben.
In dem deutschen Brauche bringt der Sieger seiner Geliebten Gaben
von dem erstiegenen Maibaum oder lässt sie an seinen Ehren teilnehmen;
im indischen Ritual fordert er sie auf, mit hinaufzusteigen.
Aus der indischen Quelle ergiebt sich, dass der Sieger die erworbene
Würde für das ganze Jahr behält. Dass auch nach deutscher Sitte das
Gleiche gegolten hat, lässt sich aus der Königswürde bei den Wettschiessen
folgern, die bei den städtischen Pfingstschiessen noch heute für ein ganzes
Jahr erworben wird.
Wenn die Inder diese Jahreswürde mit Zusicherung besonderen Segens
in Haus und Feld ausstatteten, so erinnern wir uns, dass der Sieger in
deutschen Pfingstbräuchen in den reichen Genuss des segenvollen Maitaus
kam, der auch auf ein Jahr wirksam war.
So wird denn auch hier wieder deutlich, welch grossen Gewinn unsere
Yolkssitten der Forschung über unsere Altertümer zu bieten vermögen.
Morgenländischer Aberglaube in der römischen
Kaiserzeit.
Yon Heinrich Lewy.
Dass auf die Ausbildung des Aberglaubens in der römischen Kaiserzeit
das Morgenland bedeutenden Einfluss geübt hat, ist bekannt. Beachtung
verdient daher, und zwar insbesondere von seiten der klassischen Philo-
logie, ein Yerzeichnis abergläubischer Bräuche, welches auf dem Boden
Yorderasiens im 3. Jahrhundert n. Chr. abgefasst und bisher weder behandelt
24
Lewy:
noch auch nur übersetzt1) worden ist. Dasselbe findet sich in der zu dem
talmudischen Schriftenkreise gehörigen Tosefta (Traktat Sabbat YII und
YIII). Die dort aufgezählten Bräuche werden unter der Bezeichnung
„emoritische“ (nach dem aus der Bibel bekannten kanaanitisclien Volks-
stamm der Emoriter, dessen Raine verallgemeinert erscheint)a), d. h.
fremde, den heidnischen Völkern mit griechisch-römisch-orientalischer
Mischkultur eigene, zusammengefasst und vom Standpunkt des Judentums
aus verpönt. Um Gebräuche bei heidnischen Gottesdiensten handelt es
sich dabei nicht: deren Einzelaufzählung wäre überflüssig. Einiges, und
so gerade das erste, gehört nicht einmal in das Gebiet des1 Aberglaubens.
Ich gebe die Übersetzung paragraphenweise, indem ich jedem Para-
graphen meine Bemerkungen folgen lasse: leider fallen dieselben oft nur
dürftig aus.
Tosefta Sabbat Kap. YII.
§ 1. Folgendes gehört zu den emoritischen Gebräuchen. Wenn
sich jemand das Haupthaar wegschert oder sich einen Schopf stehen
lässt oder sich den Vorderkopf bis zum Scheitel kahl macht. Wenn
eine ihren Sohn zwischen die Toten schleppt. Wenn jemand einen
Lappen um seine Hüfte oder einen roten Faden um seinen Finger
knüpft. Wenn jemand Erdschollen (Steine) zählt und ins Meer
oder in den Strom wirft: das gehört zu den emoritischen Ge-
bräuchen.
Für Haupthaar steht ein Lehnwort = ¡togg1 2 3). Gerade im Anfang des
3. Jahrhunderts begann bei den Kaisern selbst das ganz kurz geschorene
Haar (?7 xovqci rj sv /(><¿5), welches sonst die Athleten und die Stoiker zu
tragen pflegten, Mode zu werden (vgl. Marquardt, Privatleben der Römer
II, 583 f.). Das Abscheren der Haare spielte auch im Kultus der syrischen
Göttin eine Rolle nach Lucian de dea Syr. 55: avijQ svf dv eg ippv
nöliv ngtoxov ceruitverjcai, xepahfr gev öde xai ocpgvag sigvgccTo. Ähnlich
berichtet Macrobius Sat. I, 23: „Yehitur enim simulacrum dei Heliopolitani
ferculo, uti vehuntur in pompa ludorum Circensium deorum simulacra: et
subeunt plerumque provinciae proceres raso capite longi temporis casti-
monia puri“. Auch die ägyptischen Priester rasierten sich: Stellen bei
Wiedemann, Herodots zweites Buch S. 154. Bei den Römern schoren sich
1) Lange nach Einsendung meiner Arbeit erschien das erste. Stück dieses Verzeich-
nisses (Kap. VII §§ 1—8), übersetzt von J. Fürst, in: Winter und Wünsche, die jüd. Litt,
seit Abschluss des Kanons, S. 151.
2) Öfters in der Bibel, aber auch in ägyptischen Inschriften (Ed. Meyer, Gesch. d.
Altert. I, 214. 218) wird als Gesamtname der Kanaaniter gebraucht.
3) Fürst übersetzt: das Abscheren des Haares am Vorderhaupt von Ohr zu Ohr.
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
25
die aus einem Schiffbruch Geretteten das Haar ab, um ihr überstandenes
Unglück zu zeigen, vgl. Juvenal XII, 81 fg.:
„gaudent ubi vertice raso
garrula securi narrare pericula nautae.“
Klemens von Alexandria, der im Anfang des 3. Jahrhunderts starb, schreibt
(Paed. III, 11 p. 290) auch als christliche Tracht das kurzgeschorene Haar
({¡uly y.scpcd'i}') vor.
Das für „Schopf“ gebrauchte Wort kann nach der sonst vorkommenden
Lautvertretung griechischem cpalaQig entsprechen, welches Wort aber in
dieser, an sich sehr wohl möglichen, Bedeutung nicht nachweisbar scheint.
Gemeint ist jedenfalls eine Haartracht nach Art des oxacpiov, wobei nur
ein Haarbüschel (oxollvg) hinten oder an der Seite stehen blieb, vgl.
Wieseler, X. Jahrb. 1855 S. 357 ff.1).
Statt (Variante ’pTHlib) lese ich pTlTJlb (vgl. J. Levy, Chald.
Wörterb. üb. d. Targ. I, 126) und fasse dieses „hohe Stellen“ im
Sinne von ^p^p „Scheitel“, das ja auch „Höhe“ bedeutet. Für die
DI"QJ genannte Kahlheit nämlich, um die es sich hier handelt, bildet der
Scheitel die Grenze nach hinten, vgl. Mischna Negacim X, 10: nf"Hp ist
die Kahlheit vom “Iplp nach hinten, fH"QJ die Kahlheit vom ^Tp^fp nach
vorn. Dass es sich an unserer Stelle um eine griechisch-römische Mode-
frisur handelt, beweist babyl. Baba qamma 83 a: „Wer sich das Haar vorn
völlig schert, folgt emoritischer Sitte; nur Ptolemäus bar Rüben erhielt
die Erlaubnis so zu thun, weil er mit der Regierung verkehrte1 2)“. —
Dazu vgl. W. Helbig, Das homer. Ep. 2 240: „Wenn die euböischen
Abanten otzi&sv xn/.incovTsg heissen, so dürfen wir mit den antiken Ge-
lehrten annehmen, dass es bei ihnen Sitte war, das Haar vorn zu scheren,
am Hinterkopfe dagegen lang wachsen zu lassen. Die Ansichten über den
Ursprung dieser Sitte lauten verschieden. Die einen behaupten, die Abanten
hätten sie von den Arabern, d. i. von den mit Kadmos nach Euböa ge-
kommenen Phönikiern (Strabon X, 447, 8) oder den Mysern angenommen.“
Wenn die Mutter das Kind zwischen die Toten (auf dem Begräbnis-
platze) schleppt, so soll dies wohl irgendwelche Schutz- oder Heilwirkung
haben. Beispiele für den Glauben, dass durch die Berührung mit Leichen
Krankheiten abnehmen, giebt Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube 2
S. 314. Auch in Norwegen wird der Kranke zuweilen mit der Hand einer
Leiche oder mit den Leichentüchern gestrichen; bei einer plötzlichen
Lähmung oder Schmerz, was man oft „Totengriff“ nennt, lässt man sich
mit einem Totenknochen streichen: Liebrecht, Zur Volkskunde 312 fg.
Damit zu vergleichen ist, was im Traktat Semahot VIII gelehrt wird: „Man
1) Fürst übersetzt: das kreiselförmige Herablassen der Haarflechten.
2) Fürst übersetzt: das Kahlscheren des Haares dem Schicksalsgötzen. Er denkt
offenbar an das babyl. Sabbat 67 b vorkommende "fj: siehe weiter unten.
26
Lewy:
7
/
gellt auf den Begräbnisplatz und untersucht die beigesetzten Leichen drei
Tage lang (auf Scheintod) ohne Rücksicht auf den Verdacht emoritischer
Gebräuche.“
Der um die Hüfte gebundene Lappen ist, entsprechend dem roten
Faden, als rot zu denken. Er dient als Amulet, vgl. Dioskorides III, 95:
neQiacpOev de rpoivixco (hxxei $Q£(t(iaca)v vnGOvg anslavvei (sc. akvoGov).
Insbesondere trugen die Eingeweihten von Samothrake eine purpurne Binde
um den Leib, vgl. Schol. Apoll. Rhod. I, 917: neql yaQ tv\v xodiav oi
(.iEf.ivra.ievm zaiviag dmovGi noQcpvQcig.
Joannes Chrys. in ep. I ad Cor. XII, 7 (tom. X p. 125 Par.) erwähnt
unter den Amuleten der Kinder auch tov xdxxivov ocraxova. Vgl. Dioskorides
IV, 43: iGioQovoi de xiveg xai Loyaifxov avzrjv (sc. cpoivixa') eivai evöeofinv-
fievr/v (pnivixijj 8ql<j) xai neQiaJixnfievrjv. So auch noch heute allgemein:
vgl. Wuttke, Der deutsche Volksabergl.2 S. 359.
Bei dieser Gelegenheit gebe ich einen kleinen Nachtrag zu Otto
Jahns Aufsatz über den Aberglauben des bösen Blicks bei den Alten
(Verhandl. d. sächs. Ges. d. Wiss. phil.-hist. Kl. 1855). Daselbst wird S. 80
als Mittel gegen bösen Blick und Besprechen die unter dem Namen „la fica“
bekannte Geberde erwähnt (wobei man den Daumen zwischen dem Zeige-
und Mittelfinger der geschlossenen Hand durchsteckt), bildlich sehr häufig
dargestellt, in der Litteratur nur Ovid Fasti V, 433 f. nachweisbar. S. 81
A. 221: „Sehr merkwürdig sind zwei entsprechende Hände von Gagat,
welche diesen Gestus machen, während in der inneren Fläche ein Halb-
mond angebracht ist, wenn sie wirklich antik sind.“
Babyl. Berakot 55b: Amemar und Mar Zutera und Rab Ase (im 5. Jahr-
hundert) sassen bei einander. Einer von ihnen sagte: Wer in eine Stadt
hineingeht und sich vor dem bösen Blicke fürchtet, der nehme den Daumen
seiner rechten in seine linke und den Daumen seiner linken in seine rechte
Hand und sage: „Ich N. N. stamme von Josef ab, über den der böse Blick
keine Macht hat.“ — Wenn er sich aber vor seinem eigenen bösen Blicke
fürchtet, so sehe er auf seinen linken Nasenflügel.
Nach babyl. Sabbat 53a wurde dem Pferde zum Schutze gegen den
bösen Blick ein Fuchsschwanz angehängt.
Jenes kreuzweise Anfassen der Daumen wird babylon. Pesahim 110a
auch als Schutzmittel empfohlen, wenn man aus paarigen Gefässen ge-
gessen oder getrunken hat; dazu die Formel: „Ihr und ich sind drei.“
Das Leeren einer geraden Zahl von Bechern wurde vermieden: man
fürchtete die Macht der Dämonen (Sedim)*). Damit stimmt überein Plinius
N. H. XXVni, 5 und 17; ferner Porphyr., Vita Pythag.: eofHeiv
dtövfuov. Im allgemeinen galten die ungeraden Zahlen als bevorzugt.
Vergil Ecl. VIII, 75: „numero deus impare gaudet“. Columella VIII, 5: den 1
1) Hierüber vgl. D. Joel, Der Abergl. u. d. Stellung d. Judent. zu demselben I, 60 fg.
Morgen]ändischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
27
Hühnern wurden Eier in ungerader Zahl untergelegt. Plutarch, Quaest.
Rom. 2, de Is. et Osir. 48.
Run zurück zu unserem Texte!
Bei den Erdschollen oder Steinen (das hebräische Wort kann beides
bedeuten) handelt es sich um eine Art von Wahrsagung. Lenormant, Die
Magie und Wahrsagekunst der Chaldäer (deutsche Ausgabe) S. 463: „Die
Hydromantie der Griechen bestand lediglich darin, dass man beliebige
Gegenstände ins Wasser warf und einerseits nachsah, ob dieselben ver-
sanken oder auf der Wasserfläche forttrieben, andererseits die entstandenen
Wellenkreise beobachtete.“ Wenn man mehrere, vorher abgezählte Dinge
ins Wasser warf, so kam es wohl darauf an, wofür die Mehrheit sprach.
Maimonides, Misne Tora, ‘Aboda zara XI, 7 bemerkt, dass von den O'ftpip
manche sich des Sandes oder der Steine, andere eines Metallspiegels oder
eines Glasgefässes, noch andere des Stockes zum Wahrsagen bedienten.
§ 2. Wenn jemand vor einer Flamme mit den Händen auf die
Schultern klopft oder die Hände übereinander schlägt oder tanzt,
das gehört zu den emoritischen Gebräuchen. Wenn jemandem ein
Stück Brot entfallen ist und er spricht: „Gieb es mir wieder, damit
mein Segen nicht verloren sei.“ (oder wenn jemand spricht:') „Stellet
das Licht auf die Erde, damit die Toten sich ärgern“ (oder:)
„Stellet das Licht nicht auf die Erde, damit die Toten sich nicht
ärgern(oder) sind jemandem Funken zu Boden gefallen und er
spricht: „Heute bekommen wir Gäste“ — das gehört zu den emo-
ritischen Gebräuchen.
Die erwähnten Bräuche vor einer Flamme dürften ihre Erläuterung
finden durch die Worte des syrischen Bischofs Theodoret im 5. Jahrhundert
(Opera ed. Simmond, Paris 1642, I, 352): eidov yäy sv ziot noleoiv anai
zov szovg er ralg nkazeiaig anzogevag nvgäg xai zavzag ziväg vnegcdho-
gevovg xai nr]dtövzag ov govov naiöag, allä xai arögctg. zä. öe ye ßgecpiy
nagä zcöv grjzsQwv nagacpegogeva dicc rrjg (ployog. sdoy.ei ös zovzn äno-
ZQOTiiaogög eivai y.ai xäfraQOig. Und dazu vgl. Poet. Lyr. Gr. ed. Bergk 4
III, 682: „Incertum, utrum ex poeta aliquo an ex populär! cantilena petitum
sit quod servavit Hesychius: wul avcioocr tivqqci nQolkvQog. nvg ngö zwv
tkvQiov. Scribendum: ‘Qm civciooa, nvgä nQoSvQoig. Interpretatio autem
sic restituenda videtur, huc relatis iis, quae falso s. v. wruoz^Qe leguntur:
zhä (pcxggdxcov SLwdaoi zivsg enayeiv z/jv cExdzr]v zeug oixlcag, ttvq ngö
dvQiör (ävdnzovzec). Etwas Ähnliches geschah nach Lucian de dea Syria 49
bei dem Frühlingsfeste der syrischen Göttin, was Mannhardt, Wald- und
Feldkulte II, 261, mit den Oster- und Maitagsbräuchen vergleicht. Siehe
auch J. Grimm, D. Mythologie, Aberglaube Nr. 918: „Wer übers Johannes-
feuer springt, kriegt dasselbige Jahr das Fieber nicht.“
28
Lewy:
Das Aufheben eines bei Tische fallen gelassenen Bissens erwähnt auch
Plinius, N. H. XXVIII, 5: „Cibus etiam e manu prolapsus reddebatur, utique
per mensas: vetabantque munditiarum causa deflare“. Das Gegenteil lehrte
Pythagoras, vgl. Diog. Laert. VIII, 8, 34: xä de tceoovz’ ann XQCcneCrjg gij
avcugeio&ai, vtcsq xov sditeo&ai axokdoxog eo&isiv rj oxi sni xslevxfj
xivog' xai ^Agtoxocpavrjg de xiov ygcoiov cprjoiv etvai xä Tctnxovxa, keywv sv
xotg c'Hq co gi ’
Mrjös yaveoiT axx’ av evxög xrjg xQarte^rjg xaxaneop.
Vgl. jetzt auch E. Rohde, Psyche S. 224 A. 1. Bei den alten Preussen
galt die Regel, beim Mahl auf die Erde gefallene Bissen nicht aufzuheben,
sondern für arme Seelen, die keine Blutsverwandte und Freunde, welche
für sie sorgen müssten, auf der Welt haben, liegen zu lassen. Wenn aber
in unserer Stelle davon die Rede ist, dass ein anderer aufgefordert wird,
aufzuheben, um Unsegen zu verhüten, so findet sich Ähnliches bei J. Grimm
a. a. 0., Aberglaube Nr. 14: „Wer aus dem Haus gehend oder ausreisend
etwas vergessen hat, kehre nicht um danach, sondern lasse es durch einen
andern nachholen; sonst geht alles hinter sich.“
Wenn es als Kränkung der Toten gilt, ein Licht auf die Erde zu
stellen, so hängt das vielleicht mit der altjüdischen (aber auch deutschen
— vgl. Wuttke, Der deutsche Volksabergl. 2 S. 428 ff. —) Sitte zusammen,
im Trauerhause zu Häupten der auf die Erde gelegten Leiche ein Licht
auf die Erde zu stellen. Die Aufstellung des Lichtes auf dem Boden zu
anderem Zwecke mochte hie und da als Eingriff in die Rechte der Toten
erscheinen. Auf der Synode zu Elvira im Jahre 306 wurde in Kanon 34
bestimmt: „Cereos per diem placuit in coemeterio non incendi, inquietandi
enim sanctorum spiritus non sunt.“ Baronius und Aubespine verstehen dar-
unter die Seelen der Verstorbenen, vgl. v. Hefele, Konziliengeschichte I2, 169.
Die Deutung von Funken auf Gäste findet ein Seitenstück bei Grimm,
Aberglaube, Nr. 889: „Springen die Brände am Feuer hinten über und
schnappen, so nahen fremde Gäste dem Haus.“ Ähnlich in Norwegen, vgl.
Liebrecht, Zur Volkskunde 328: „Knistert das Feuer im Ofen,, so sind
bald Fremde zu erwarten.“
§ 3. Wenn jemand eine Arbeit anfängt und spricht: „Möge
N. N. kommen, dessen Hände hurtig sind, und sie an fangen!“
(oder:) „Möge N. N. kommen, dessen Füsse hurtig sind, und vor
uns vorüber gehen!“ — Das gehört zu den emoritischen Gebräuchen.
Wenn jemand an einem Fasse oder an einem Teige beschäftigt
ist und spricht: „Möge N. N. kommen, dessen Hände gesegnet sind,
und anfarigen!“ — das gehört zu den emoritischen Gebräuchen.
Offenbar schrieb man gewissen Menschen eine ganz besondere Ge-
wandtheit oder ein ganz besonderes Glück zu und die Fähigkeit, durch
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
29
ihre Hilfeleistung, ja durch ihre blosse Nähe auch andere zu fördern. Eine
wunderbare Heilkraft sollen Pyrrhos und Vespasianus besessen haben (Plut.
Pyrrh. 3; Suet. Yesp. 7).
§ 4. Wenn jemand das Fenster mit einem Dornzweige1') ver-
schliesst; wenn jemand Eisen an die Füsse des Bettes einer Wöch-
nerin bindet; wenn jemand den Tisch vor ihr deckt, das gehört zu
den emoritischen Gebräuchen.
Man darf aber das Fenster mit Wolldecken oder Pflanzenwolle
verstopfen und ihr eine Schale mit Wasser vorsetzen und ihr eine
Henne anbinden, dass sie ihr zum Hören diene, und es gehört dies
nicht zu den emoritischen Gebräuchen.
Hem Weissdorn ((iagvog) wurde in Asien und Griechenland eine
Gegenwirkung gegen dämonische Einflüsse zugeschrieben, daher man ihn
bei Geburten und Leichenbegängnissen draussen an der Thür anheftete,
vgl. Ovid Fasti YI, 130 und 165 und Bötticher, Baumkultus S. 360. Die
spina alba hat Janus der Carna verliehen, „um damit allen bösen Schaden
von den Thüren abzuwenden, vor allem die gräulichen Strigen, welche
in der Nacht kommen und den Kindern das Blut aussaugen“ (Preller, Röm.
Myth. 3 II, 238). Bei der Bettung des latinischen Königskindes Proca legt
sie die Weissdornrute ins Fensterloch. Auch an unserer Stelle ist von
einer Wochenstube die Rede. Jetzt giebt eine wertvolle Zusammenstellung
E. Rohde, Psyche S. 217 A. 3. Ähnlich noch Grimm, Aberglaube Nr. 389:
„In einer Wochenstube lege man an jede Thür einen Strohhalm aus dem
Wochenbette, so kann das Jüdel und kein Gespenst nicht in die Stube.“
Auch das an die Bettfiisse gebundene Eisen — Perles, Monatsschrift
f. Gesch. u. Wiss. d. Jud. XIX, 428, citiert dazu Sprenger, Mohamm. I,
142: Die Mutter Mohammeds erhielt vor ihrer Niederkunft den Rat, ein
Stück Eisen um die Arme und um den Hals zu binden — soll Zauber
brechen, der in Wochenstuben besonders gefürchtet ist. Ygl. Grimm, Aber-
glaube Nr. 516: „Frühjahrs, beim ersten Austreiben des Yiehs, legen sie
Äxte, Beile, Sägen und ander Eisengerät vor die Stallthür; es kann dann
nicht bezaubert werden.“ In Norwegen muss die Wöchnerin Stahl bei
sich tragen, wenn sie vor der Einsegnung ausgeht (Liebrecht, Zur Volks-
kunde 321). Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart2
S. 355: in der Pfalz legt man bei Entbindungen eine Axt unter die Bett-
stelle, damit das Herzblut nicht entfliesse. Indessen liegt wohl auch hier
der Gedanke an Zauber zu Grunde. Das. S. 264: „Stahl und Eisen legt
man unter die Thürschwellen, in die Wiege, trägt es bei sich u. s. w.“
(gegen Behexung). Hierzu nehme man Schol. Q zu Odyss. XI, 48: xotvtj
1) J. Lewy, Verh. d. 33. Philol.-Vers, zu Gera S. 85 übersetzt mit einem
Querriegel (sera). Fürst übersetzt: mit dem Schloss.
30
Lewy:
mg ttclqu avÜQionoig eozlv vrcoXrjipig, on vshqoI xcd öcd/uopsg oidrjQOv
rpoßovvzai. Ygl. Schol. zu *, 323 bei Schräder, Porphyr, rell. ad. Od. pert.
p. 99. Tylor, Anfänge der Kultur (deutsch) I, 140: „Die orientalischen
Dschinnen leben in solcher Todesfurcht vor dem Eisen, dass der blosse
Name desselben ein Zaubermittel gegen sie ist, und so vertreibt im euro-
päischen Yolksglauben das Eisen Feen und Elfen und vernichtet ihre
Macht. Diese sind wesentlich, wie es scheint, Geschöpfe des Steinalters,
und das neue Metall ist ihnen verhasst und gefährlich.“
Zu dem Tischdecken vgl. Servius zu Yerg. Aen. X, 76: „Yarro Pilumnum
et Picumnum infantium deos esse ait eisque pro puerpera lectum in atrio
sterni, dum exploretur an vitalis sit qui natus est.“ Denselben Brauch in
anderem Sinne erwähnt Serv. Y. Ecl. IY, 62: „proinde nobilibus pueris editis
in atrio domus Iunoni lectus, Herculi mensa ponebatur“. Im Morgenlande
wurde der Tisch in der Wochenstube, also wohl ebenfalls im atrium, ge-
deckt, die Beziehung auf bestimmte Gottheiten muss aber in Vergessenheit
geraten sein.
Das Verstopfen der Fenster mit Wolle soll die Zugluft verhüten und
ist darum selbstverständlich erlaubt1). Das Vorgesetzte Wasser ist für die
Wöchnerin zum Trinken bestimmt, besonders während sie zeitweilig allein
liegt1 2 *). Die Henne, welche ja auf jedes Geräusch hin gluckst, soll wohl
der allein schlummernden Frau anzeigen, wenn jemand naht8).
§ 5. Wenn jemand spricht: „Schlachtet diesen Hahn, der4 5) am
Abend gekräht hat“; „diese Henne, die gekräht hat wie ein Hahn“;
„Gebt ihr einen Hahnenkamm8) zu fressen, da sie kräht wie ein
Hahn“ — das gehört zu den emoritischen Gebräuchen.
Die Lesart „schlachtet“ ist der anderen „steiniget“ vorzuziehen, ebenso
ist D"1S?Ü2 „am Abend“ richtiger als nilEO „wie ein Rabe“. Beides,
„rabenartig“ oder „abendlich“, kann das im babylonischen Talmud
Sabbat 67b bedeuten, dem dort unmittelbar ein „hahnartig“ folgt:
diese doppeldeutige Lesart ist wohl die ursprüngliche. An sich wäre raben-
artiges Krähen des Hahnes als Unglückszeichen denkbar, ebenso wie das
wolfartige Heulen der Hunde, Plutarch de superst. 86 *). Ausschlaggebend
1) Nichts hat damit zu tliun, was Hesychios unter aiecpavov IxyfQttv berichtet:
fdo( jv, onore natöior ctQQSr yivono tcuqv. 'Amx.olg, öttcpctvov tlctictg ti&£pcu ngo rwr
itvQüüv‘ tn'i cie twv mv tnia d/ß trjv Tcdnolctv.
2) Dagegen beruht auf Aberglauben, was Grimm Nr. 674 anführt: „Man stelle ihr
(der Wöchnerin), ohne dass sie es weiss, Wasser unters Bett.“
8) Fürst übersetzt nach der Lesart im Jalquj I § 587: und darf das Huhn anbinden,
welches angefangen hinauszugehen.
4) Fürst: diese Henne, die.
5) Fürst: ihren Kamm.
6) Ygl. Paus. IY, 21, 1; Julius' Obsequens 68; Orosius Y, 18. Im babylonischen
Talmud Baba qamma 60b heisst es: „Die Rabbinen haben gelehrt: wimmern die Hunde,
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
31
aber ist für unsere Stelle Petronius Sat. 74, wo der zu früh krähende Halm
als Unglücksprophet betrachtet und alsdann geschlachtet und gekocht wird.
Das zu frühe Krähen sollte entweder eine Feuersbrunst an demselben Tage
oder einen Todesfall in der Nähe anzeigen. Uber norwegischen Aberglauben
Liebrecht, Zur Volkskunde 329: Kräht der Hahn zu ungewöhnlicher Zeit,
so bedeutet es Feuersbrunst, wenn er dabei warm an den Füssen ist; im
entgegengesetzten Falle bedeutet es, dass jemand bald ertrinken wird1).
Arabisch ist das Sprichwort: „Wenn eine Henne kräht wie ein Hahn,
so soll sie geschlachtet werden.“ Derselbe Glaube ist auch in Persien
nachweisbar. „Gallina cecinit“ wird Terent. Phorm. IV, 4, 30 unter anderm
als böses Zeichen genannt, geeignet die Hochzeit zu vertagen. Nach Donat
bedeutet es dort „superiorem marito esse uxorem“. Ähnlich in dem italieni-
schen Sprichwort: „In quella casa non e mai pace, dove la gallina canta
ed il gallo tace“. Doch ist dies keinesfalls die ursprüngliche Bedeutung
jenes Aberglaubens, wie Grünbaum, ZDMG XXXI, 339 annimmt. Nach
einem sicilianischen Sprichwort darf eine Henne, die wie ein Hahn kräht,
weder fortgegeben noch verkauft, sondern muss von ihrer Besitzerin ge-
gessen werden (de Gubernatis a. a. 0. S. 556). Auch der deutsche Aber-
glaube fürchtet dies Zeichen, vgl. Grimm Nr. 83: „Henne wie ein Hahn
krähend bedeutet Unheil“. Nr. 555: „desgleichen, wenn die Henne kräht
(muss einer sterben)“. Nr. 1055: „Wenn Hühner krähen, kommt Feuer
aus.“ Auch in Russland ist dieser Glaube verbreitet. Nach allgemeiner
Überzeugung muss eine solche Henne sofort getötet werden, wenn man
nicht vorher sterben will. Vgl. Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube 2
S. 269. Columella VIII, 5 g. E. rät dem Züchter unter andern auch diejenigen
Hühner abzuschaffen, welche anfangen als Hähne zu krähen oder zu treten:
indessen scheint er nur an die Unbrauchbarkeit solcher Hühner für das
Brütegeschäft, nicht an irgend eine schlimme Vorbedeutung zu denken.
Den Halmenkamm gab man der krähenden Henne zu fressen, um das
omen abzuwenden. Nach Juvenal XIII, 233 nämlich wurden den Laren
Hahnenkämme gelobt, um Krankheiten abzuwenden:
„pecudem spondere sacello
Balantem et Laribus cristain promittere galli
Non andent:“
Uber die Geschichte von einem Hahn, der 1474 auf dem Kohlenberg
zu Basel verbrannt wurde, weil er ein Ei gelegt haben sollte, vgl. v. Amira,
Tierstrafen und Tierprozesse (Mitteil. d. Instituts f. Österreich. Geschichts-
forschung XII) S. 558.
so kommt der Todesengel in die Stadt; bellen sie freudig, so kommt der Prophet Elia in
die Stadt. Das gilt aber nur, wo keine Hündin ist.“
1) Auch anderswo scheint die Vorstellung von einem am Abend krähenden, dämoni-
schen Hahn der Nacht vorhanden zu sein: vgl. de Gubernatis, die Tiere in der indo-
germanischen Mythologie, deutsch von Hartmann, S. 557.
32
Lewy:
§6. Krächzt ein Rahe und man spricht zu ihm: „Schreie!“ —
krächzt ein Rahe und man spricht zu ihm: „Kehre dich um1)!“ —
das gehört zu den emoritischen Gebräuchen.
Im babylonischen Talmud heisst es statt dessen: Sagt jemand zu einem
männlichen Rahen: „Schreie!“ und zu einem iceihlichen Rahen: „Pfeife und
kehre mir deinen Schweif zu [zum Guten]“ — so sind das emoritische Gebräuche.
Offenbar soll durch diese Zurufe dem Krächzen des Raben seine üble Vor-
bedeutung genommen werden. Der Zusatz „zum Guten“ im Talmud ist
aber wohl eine Glosse. Bei den Arabern galt der Rabe als Unglücksbote:
ygl. Rückerts Hariri I, 591. 592. Bei den Römern galt die Stimme des
Raben nur dann für glückbedeutend, wenn sie von rechts kam: vgl. Cicero
de div. I, 39, 85 und 7, 12. Eine besondere Art des Schreiens dieser
Tiere wurde allgemein schlimm gedeutet. Plautus Aulul. IV, 3, 1: „non
temere est, quod corvus cantat mihi nunc ab laeva manu, simul radebat
pedibus terrain et voce crocibat sua.“ Plinius, N. H. X, 12, 15: „pessuma
eorum significatio, cum glutiunt vocem velut strangulati“. Ebenso Dio
Cassius LVIII, 5. Vgl. P, Schwarz, Menschen und Tiere im Aberglauben
der Griechen und Römer (Progr. d. städt. Realgymn. Celle 1888).
§ 7. Wenn jemand spricht: „Iss diese dattelförmige Knospe
des Lattichs, damit du dadurch meiner gedenkest!“ (oder:) „Iss sie
nicht wegen der Staarhlindheit!“ — „Küsse den Sarg des Toten,
damit du ihn in der Nacht sehest!“ (oder:) „Küsse den Sarg des
Toten nicht, damit du ihn nicht in der Nacht sehest1 2)!“ — „Ziehe
dein Hemd verkehrt an, damit du Träume habest!“ (oder:) „Ziehe
dein Hemd nicht verkehrt an, damit du keine Träume habest3 4)!“ —
„Setze dich auf den Kehrbesen*), damit du Träume habest!“ (oder:)
„Setze dich nicht auf den Kehrbesen*), damit du keine Träume
habest!“ — das gehört zu den emoritischen Gebräuchen.
Athen. II, 79—81 handelt vom Lattich (RgLdaj): er erwähnt nichts
von einer Wirkung auf die Augen, wohl aber, dass der Liebesgenuss da-
durch gehindert werde. Ebensowenig bietet Dioskorides II, 164. 165.
Aus Portugal berichtet Liebrecht, Zur Volkskunde 374: „Um von
Geistererscheinungen frei zu bleiben oder um nicht von einem Verstorbenen
1) Fürst: Sagt einer beim Krächzen des Raben: o weh! oder sagt einer beim Krächzen
des Raben: Gehe zurück!
2) Die Konstruktion von „küssen“ mit p ist zwar sonst nicht zu belegen, aber
durch die Analogie anderer Verba des Berührens wie und WS durchaus erklärlich.
Die andere Lesart dagegen — „schlafe im Sarge des Toten“, „schlafe nicht im Sarge des
Toten“ — enthält hebräisch im ersten Gliede einen Sprachfehler, abgesehen von der Un-
wahrscheinlichkeit eines solchen Verfahrens. /
3) Fürst: Ziehe dein Hemd verkehrt an, damit du nicht träumst.
4) Fürst beide Male: Zweig.
I
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
33
zu träumen, ist es gut, wenn man die Sohlen an den Schuhen der Leiche
küsst. Doch nur sehr furchtsame Personen thun dies, da es sonst für ein
glückliches Anzeichen gilt, von Verstorbenen zu träumen, als wenn sie
noch lebten.“ — Vielleicht ist gar in unserem Texte zu lesen: „Küsse
den Sarg des Toten, damit du ihn nicht in der Nacht sehest!“ „Küsse
den Sarg des Toten nicht, damit du ihn in der Nacht sehest!“
Beispiele dafür, dass beim Zauber vieles umgekehrt gemacht werden
muss, giebt Wuttke, Der deutsche Volksabergl. 1 2 S. 171. Anders als an
unserer Stelle heisst es bei Grimm, Abergl. Nr. 3: „Wer ein Stück von
der Wäsche verkehrt oder links anzieht, wird nicht beschrieen.“ Ein un-
beabsichtigtes Thun ist gemeint, wenn Liebrecht, Zur Volkskunde S. 330
als norwegischen Aberglauben anführt: „Zieht man des Morgens das Hemde
verkehrt an, so wird an dem Tage etwas toll hergehen.“
Über einen Besen zu gehen verbot Pythagoras (/tirjös octgov vtisq-
ßaivsiv): Plut. Qu. Rom. 112.
§ 8. Wenn jemand spricht: „Setze dich nicht auf den Pflug,
damit du uns die Arbeit nicht schwer machest/“ —das gehört zu den
emoritischen Gebräuchen. „Setze dich nicht auf den Pflug, damit
er nicht (später) zerbreche!“ — das gehört zu den emoritischen Ge-
bräuchen. Wenn (tjemand aber sagt): „damit er nicht durch das
Geivicht deines Körpers zerbreche!“ so ist dies erlaubt1).
§ 9. Wenn jemand spricht: „Lege deine Hände nicht auf den
Rücken, damit uns die Arbeit nicht behindert sei/“ das gehört zu
den emoritischen Gebräuchen.
Sonst hat das Verschränken der Hände magisch hemmende Kraft.
Plinius XXVIII, 17: „Assidere gravidis, vel quum remedium alicui ad-
hibeatur, digitis pectinatim inter se implexis veneficium est, idque eom-
pertum tradunt Alcmena Herculem pariente. Peius, si circa unum ambove
genua. Item poplites alternis genibus imponi. Ideo haec in conciliis
ducum potestatumque fieri vetuere maiores velut omnem actum impedientia.
Vetuere et sacris votisve siinili modo interesse.“ Vgl. Grünbaum ZDMG
XXXI, 259.
§ 10. Wenn jemand einen Feuerbrand an die Wand heftet2)
und ruft: „Weg!“ — so gehört das zu den emoritischen Gebräuchen.
Ruft er aber wegen der Funken, so ist es erlaubt.
1) Fürst übersetzt nach der Lesart im Jalqut a. a. 0.: Sagt einer: „Setze dich nicht
auf den Pflug, damit du uns die Arbeit nicht schwer machstdas ist ernoritische Sitte; sagt
er es aber in der Absicht, dass der Pflug nicht zerbricht, so ist dies erlaubt.
2) Abzuweisen ist die von Zuckermandel aufgenommene Lesart : Wenn jemand sagt:
„Hefte einen Feuerbrand an die Wand!“
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
3
34
Lewy:
§ 11. Wenn jemand Wasser auf die Strasse giesst und ruft:
„Weg!“ — so gehört das zu den emoritischen Gebräuchen. Ruft er
es aber wegen der Vorübergehendeil, so ist es erlaubt.
§ 12. Wenn jemand Eisen zwischen die Gräber wirft [und ruft:
— so gehört das zu den emoritischen Gebräuchen. Thut
er es aber wegen der Handwerker, so ist es erlaubt.
§ 13. Wenn jemand einen angebrannten Stab oder Eisen unter
seinen Kopf legt, so gehört das zu den emoritischen Gebräuchen.
Thut er es aber, um die Dinge zu verwahren, so ist es erlaubt.
Der Ruf lautet in der Ausgabe von Zuckermandel Hin, Varianten
dazu sind 8*711 PHP! 8in. Perles (Monatsschr. f. Gesch. u. Wiss. d. Jud.
XIX, 1870 S. 428) hält 8*in für persisches chodä, den Namen für „Gott“.
Aber was bedeutete dann dieser Ruf an die in der Nähe befindlichen
Menschen? Unbefriedigend übersetzt J. Levy (Neuhebr. u. chald. Wörter-
buch II, 15) „Spaltung, Scheidung“. Ebenso unbefriedigend Kohut in seiner
Ausgabe desAruch: „Unterwürfigkeit“. Offenbar handelt es sich an zweiter
Stelle in allen Fällen um einen einfachen Warnungsruf, und daher erkenne
ich in ¡"Hn 8*7H ursprüngliches 8^11, die talmudischen und targumischen
Formen des hebräischen ¡“18^!"! „dorthin! weiterhin! weg von hier!“ Dieser
Ruf passt durchweg auch an erster Stelle, wo es sich meines Erachtens
zweifellos um Abwehr feindlicher, dämonischer Mächte handelt.
Das unter den Kopf, offenbar ins Bett, gelegte Eisen dient, ähnlich
wie oben bei der Wöchnerin, als Amulet. Denselben Zweck muss der an-
gebrannte Stab haben. Da ist es nun höchst merkwürdig, ganz ähnlichen
Bräuchen auf weit entlegenem Boden und in viel späterer Zeit zu begegnen.
Ygl. Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, 227: „Nach anderen Aufzeich-
nungen bei Thiers wird der Trefoir oder tison de Noel in den dreizehn
Nächten täglich im Feuer angekohlt. Unters Bett gelegt schützt er
Haus und Hof das Jahr hindurch vor dem Donner; seine Berührung schützt
die Menschen vor Frostbeulen an den Füssen, die Tiere vor vielen Krank-
heiten.“ Ähnlich zu Gerardsbergen in Belgien, vgl. das. 229: „Der Christ-
brand wird nur ein wenig angebrannt und beim Gewitter wieder ins Feuer
gelegt, weil dann der Blitz nicht einschlagen soll; selbst ein Splitter von
ihm, unters Bett gelegt, schützt vor dem Einschlagen des Wetters.“
Mannhardt vermutet S. 238, „dass hinsichtlich des Weihnachtsblockes eine
Schicht älterer Volksgebräuche und Vorstellungen eine Umdeutung im
Sinne gewisser christlicher Ideen erfahren hat.“
Nunmehr vermute ich, dass der an die Hauswand geheftete Feuer-
brand, zu welchem der Ruf „Weg!“ an einen bösen Geist gehört, als Ab-
wehr- oder Schutzmittel gleichzusetzen ist mit dem Feuerbrande, von dem
ein angekohltes Stück unter den Kopf gelegt wurde. Vielleicht sollte
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
35
ersterer das Haus vor Feuersbruust schützen nach dem Grundsatz „Similia
similibus curantur“, welcher bei dergleichen eine Rolle spielt. So wird
nach einem, wohl indogermanischen, Zanberspruch die Gelbsucht durch
innere und äussere Mittel von gelber Farbe vertrieben: vgl. Kuhn, Z. f.
vergl. Sprachw. XIII, 115. Wuttke, Der deutsche Yolksabergl. 1 2 S. 301 f.
Lenormant, die Magie und Wahrsagekunst der Chaldäer, deutsche Ausg.
S. 52 erwähnt eine im Louvre befindliche Bronzestatuette von assyrischer
Arbeit, den schrecklichen Dämon des Westwindes vorstellend, die an der
Thür oder am Fenster des Hauses angebracht wurde: der Dämon sollte
sich vor seinem eigenen Aussehen fürchten.
Das Anzünden von Fackeln wird verpönt auf der Zweiten Synode von
Arles im Jahre 443 oder 452 und auf der Sechzehnten Synode von Toledo
im Jahre 693: vgl. v. Hefele, Konziliengeschichte II 2 757 und III2 350.
— Die Quinisexta oder trullanische Synode (zu Konstantinopel) im Jahre
692 bestimmte in § 65: „Es ist verboten, an den Heumonden vor den
Wohnungen oder Werkstätten Feuer anzuzünden und darüber zu springen“:
vgl. v. Hefele a. 0. III 2 338x).
Das zwischen die Gräber geworfene Eisen dient wohl als Schutzmittel
gegen den gespenstigen Werwolf, „der mit dem Yampyr von einem Ge-
schlecht ist. Der Werwolf ist hier nicht ein verwandelter lebender Mensch,
sondern ein dem Grabe in Wolfsgestalt entstiegener Leichnam2).“ Ent-
zaubert wird der Werwolf dadurch, dass man Eisen und Stahl über ihn
wirft. (Ygl. Wilh. Hertz, Der Werwolf S. 88 und 85). Lenormant, Die
Magie und Wahrsagekunst der Chaldäer (deutsche Ausgabe) S. 10 erwähnt
eine akkadische Beschwörungsformel, in der von Anbinden weisser und
schwarzer Streifen ans Bett die Rede ist zum Schutze gegen den Schreck-
geist, das Gespenst, den Yampyr. — Die Handwerker auf dem Begräbnis-
platze sind mit Herrichtung von Grabstätten beschäftigt zu denken. Den
von einigen Handschriften auch hier gebotenen Zusatz, und ruft KTH,
lässt Zuckermandel wohl mit Recht fort. Die Anbringung des Feuer-
brandes am Hause und die Ausschüttung von Wasser auf die Strasse
konnten, abgesehen vom Aberglauben, gewdss zu verschiedenen Zwecken
geschehen und mussten ohne jenen Zuruf jedem gänzlich unbedenklich
erscheinen. Aber weshalb sollte wohl jemand Eisen zwischen Gräber werfen,
wenn nicht aus Aberglauben oder, um die Handwerker mit Werkzeug
zu versehen? Hier wird also das Werfen nicht erst durch einen be-
gleitenden Ruf auffällig gemacht und ebensowenig durch Beziehung eines
Rufes auf Menschen des Auffälligen entkleidet.
1) Über Anzünden zum Schutze vor Dämonen vgl. auch noch Tylor, Anfänge der
Kultur (deutsch) II, 195 fg.
2) Über Wolfsgestalt eines todbringenden Geistes der Unterwelt im Altertum vgl.
E. Rohde, Psyche S. 180 A. 1.
3
36
Lewy:
Mit dem Ausgiessen von Wasser auf die Strasse zur Abwehr ist zu
vergleichen Plinius, N. H. XXYIII, 5, 4: „Incendia inter epulas nominata
aquis sub mensas profusis ab ominamur“. Ähnlich Petronius, Sat. 74.
Möglicherweise wurde nur während der Mahlzeit das Wasser in einem
solchen Falle unter den Tisch — um nämlich Störung zu vermeiden —
sonst aber auf die Strasse gegossen. „Wenn die Leiche aus dem Hause
getragen wird, so giesst man ihr dreimal Wasser nach und zerschlägt dann
das Gefäss, damit man vor der Wiederkehr des Toten sicher sei“ (Wuttke,
Der deutsche Yolksabergl. 2 S. 435). Nach einem akkadisch und assyrisch
erhaltenen Zauberspruch wird das gebrauchte Zauberwasser nach der an
dem Menschen vollzogenen Beschwörung auf die Seite der Landstrasse
geschüttet (Lenormant, Die Magie und Wahrsagekunst der Chaldäer,
deutsche Ausgabe S. 72). Nun ist auch der letzte Punkt in dem Satze
des Bes Laqis im Talmud Pesahim lila verständlich: Wer eines von fol-
genden vier Dingen thut, ist sich selbst an seinem Tode schuld: wer zwischen
Baum und Wand seine Notdurft verrichtet, wer zwischen zwei Bäumen
hindurchgeht, wer geliehenes Wasser trinkt, wer über ausgegossenes
Wasser hinwegschreitet, selbst wenn es seine eigene Frau vor seinen
Augen ausgegossen hätte.“ Das Yerbot des Hindurchgehens zwischen
zwei Bäumen entspringt wahrscheinlich der Besorgnis vor Übertragung der
von anderen zu ihrer Heilung dorthin gebannten Krankheiten. Man ging
nämlich zu solchem Behufe zwischen den beiden Hälften eines gespaltenen
Baumes hindurch, vgl. Wuttke, Der deutsche Yolksaberglaube 2 S. 317 und
Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, 14—22 und 32 fg.; Zeitschr. des Yer.
f. Yolkskunde II, 81 f.
Wie man in Griechenland beim Ausgiessen von (schmutzigem) Wasser
auf die Strasse die Yorübergehenden durch einen Ruf zu warnen pflegte,
lehrt Suidas unter anovinzgov• Ngtozotpdvrjg (Ach.616) „tooneg anovmzQov
eviykovzeg eonegag“. euodaot de oi dgycuoi, и поте exyeotzo dnövtnzgov
emo nov övpldtov, civa gq zig ßgayfj ztov nagiovzov, leyetv ’Ei-tozw.
§ 14. Wenn ein Weib in den Backofen hineinschreit, damit das
Brot nicht in Stücke zerfalle; wenn jemand Späne an den Henkel
des Topfes legt, damit es nicht siede und überlaufe — so gehört das
zu den emoritischen Gebräuchen.
Man darf aber einen Span von Maulbeerholz und Glas in den
Topf werfen, damit es schnell koche. Indessen verbieten die Weisen
Glas wegen der Lebensgefahr.
Als norwegischen Aberglauben führt Liebrecht, Zur Yolksk. 331 an:
„Merkt man, dass die Speise anbrennt, so braucht man bloss ein Stückchen
wollenes Zeug gerade unter den (hängenden) Kochtopf ins Feuer zu werfen
oder damit über den Topf zu fahren oder einen silbernen Löffel hinein-
zustecken.“
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
'37
Maulbeerspäne und Glas hatten also, nach dem damaligen Stande der
Erfahrung, die natürliche Eigenschaft, das Kochen zu beschleunigen.
Koch jetzt gebraucht man zu diesem Zwecke Soda, in der wie im Glase
Natron enthalten ist; ja man nimmt geradezu Natron, damit die Gerichte
schneller weich kochen. — Glas ist nachträglich wieder verboten worden,
weil die Splitter leicht mit verschluckt werden und so Gefahr bringen
könnten. — Von dem Holze des wilden Feigenbaumes sagt Plinius,
N. H. XXIII, 64: „Bubulas carnes additi caules magno ligni compendio
percoquunt“.
§ 15. Wenn eine bei (<dem Kochen von) Linsen schweigen heisst,
oder bei (dem Kochen von) Reis schreit, oder die Hände über-
einander schlägt vor einem Lichte, so gehört dies zu den emoriti-
schen Gebräuchen.
Der babylonische Talmud nennt Graupen statt Reis und fügt an erster
Stelle hinzu: Wenn eine hüpft bei (Bereitung der) Tunke. Ferner an letzter
Stelle: Wenn eine Frau Wasser lässt vor ihrem Topfe, damit es schnell kochen
soll, so ist darin ein emoritischer Gebrauch zu erkennen.
Zu vergleichen ist damit Plinius, N. H. XIX, 36: „Nihil ocimo foe-
cundius: cum maledictis ac probris serendum praecipiunt: ut laetius pro-
veniat, sato pavitur terra. Et cuminum qui serunt precantur ne exeantV
So schon Theophr., H. PI. IX, 8, 8. VII, 3, 5. — Über den Glauben an
die Zauberkraft des Urins überhaupt vgl. die Schrift von Prof. Eugen
Wilhelm, On the use of beefs urine according to the precepts of the Avesta
and on similar customs with other nations. Bombay 1889, S. 25 fgg.
§ 16. Wenn eine Schlange auf das Bett gefallen ist und man
spricht: „Er ist arm, in Zukunft wird er reich werdenic, „Sie ist
schwanger, sie gebiert einen Knaben„Sie ist Jung fr au, sie
heiratet einen grossen Mann“ — das gehört zu den emoritischen
Gebräuchen.
Die Schlange galt als eine Erscheinungsform des Genius. Cicero,
de divinatione I, 36: da sich um den in der Wiege liegenden Roscius zu
Solonium allnächtlich eine Schlange wand, erklärten die haruspices dem
Vater, es deute dieses Vorzeichen auf einen vorzüglich begabten und der-
einst gefeierten Mann hin. Vgl. Script, hist. Aug. rec. Peter I, 125, 19;
II, 25, 6. Es ist bekannt, wie gerne man Schlangen bei sich in den
Häusern und in den Schlafzimmern hielt (vgl. Plinius, N. H. XXIX, 72):
leicht konnte daher eine Schlange aufs Bett fallen. Allerdings scheint bei
Römern und Griechen eine Schlange im Hause sonst, abgesehen von dem
Vorkommen bei Kindern, Unheil verkündet zu haben. Terent. Phorrn.
IV, 4, 29: „anguis in inpluvium decidit de tegulis“ (gleichzeitig Krähen
der Henne); Theophr., Char. 16: xcd säv ¡'dp bcpiv er rfj oixla, eäv per
38
Lewy:
nageiav, SaßaCiov xaheiv, eäv ös iegov, erxavJa ^q^ov ev&vg IdQVOctoüat.
In Norwegen bedeutet es Glück, wenn eine Schlange sich dem Hause
nähert: Liebrecht, Zur Yolksk. 328.
§ 17. Will eine Frau Küchlein zum Brüten setzen und spricht:
„Nur durch eine Jungfrau lasse ich sie setzen“, „Nur nackt setze
ich sie“, „Nur mit der linken (Hand) setze ich sie“, „Nur mit
beiden (Händen) setze ich sie“’, wenn jemand eine Frau sich an-
trauen lässt durch zwei (Bevollmächtigte) oder sich von einer Frau
scheiden lässt durch zwei (Bevollmächtigte}, und wenn jemand
sagt: „Setzet noch einen an den Tisch!“ — das gehört zu den emo-
ritischen Gebräuchen.
In Bezug auf das Ansetzen der Hühner herrscht auch auf germanischem
Boden allerlei Aberglaube. Ygl. Grimm, Abergl. Nr. 18: „Eine Henne setze
man brüten, während die Leute aus der Kirche gehen, dann kriechen viel
Junge aus.“ Nr. 19: „Wer grossköpfige Hühner wünscht, thue beim An-
setzen der Gluckhenne einen feinen, grossen Strohhut auf.“ Nr. 575: „Will
eine Frau ihre Henne brüten setzen und lässt die Strümpfe lottern, die
Haare fliegen und hat ihren schlechtesten Rock an, so bekommt sie lauter
Küchlein mit Kobeln auf den Köpfen und gefiederten Füssen.“
„Ungemein häufig ist die Nacktheit die Bedingung eines Zaubers,
und zwar ganz überwiegend bei Mädchen und Frauen, selbst bei ehrbaren
Hausfrauen“ (Wuttke, Der deutsche Yolksabergl. 2 S. 170).
Statt nur mit beiden (Händen) setze ich sie könnte es auch heissen: nur
durch zwei (Leute} setze ich sie. Obgleich dies zum Folgenden gut passte,
halte ich es doch nicht für das Richtige, weil sonst dieser Satz schon
vorher, vor oder nach dem von der Jungfrau, zu erwarten wäre. Nach
meiner Übersetzung schliesst sich die Erwähnung beider Hände passend
an die der linken Hand an.
Die Zulässigkeit eines Bevollmächtigten sowohl bei der Eheschliessung als
bei der Ehescheidung wird gelehrt im babylonischen Talmud Qiddusin 41a, b.
Wer noch einen an den Tisch gesetzt zu sehen wünschte, musste die
bereits vorhandene Zahl der Tischgenossen für bedenklich halten. Man
scheute wohl dabei, wie auch sonst, eine gerade Zahl; vgl. Plinius,
N. H. XXYIII, 5, 5: „Quin et repente conticescere convivium adnotatum
est non nisi in pari praesentium numero, isque famae labor est ad quem-
cunque eorum pertinens.“
§ 18. Wenn eine Frau Eier und Kräuter in die Wand thut
und davor (Lehm} klebt und sieben zählt, so gehört das zu den
emoritischen Gebräuchen.
Im Talmud Sabbat 67b heisst es: Wenn eine Frau Eier in die Wand
steckt (und Lehm klebtf} vor den Küchlein, so ist darin ein emoritischer
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
39
Gebrauch zu erkennen. Und wenn jemand umrührt vor den Küchlein, so ist
darin ein emoritischer Gebrauch zu erkennen. Wenn eine Frau hüpft und ein-
undsiebzig <vor deny Küchlein zählt, damit sie nicht sterben, so ist darin ein
emoritischer Gebrauch zu erkennen.
Offenbar ist liier der Text zerrüttet.
Ähnlich bei Grimm, Abergl. d. Esthen Nr. 69: „Wird das Vieh zuerst
im Jahre ausgetrieben, so graben sie unter die Schwelle, über welche es
zuerst treten muss, Eier, wodurch alles Ungemach von ihm gebannt wird.“
Ohne Zweifel waren das Opfer an die schädlichen Dämonen: vgl. K. Meyer,
Der Aberglaube des Mittelalters S. 224. Derselbe berichtet S. 213 f.: „Am
Walpurgisabend bohrte man drei Löcher über der Thür des Kuhstalls und
steckte Wurzeln in dieselben, welche ebenfalls zu bestimmten Zeiten
waren ausgegraben worden; dadurch glaubte man die Hexen, welche be-
kanntlich in der dem ersten Maitag vorausgehenden Nacht besonders thätig
sind, vom Betreten des Stalles abzuhalten.“ „In ähnlicher Weise befestigte
man auch an Himmelfahrt ausgebrütete Eier an die Dächer.“ Nach dem
Erklärer Selomo Jishaqi (Raschi) wären auch an der Talmudstelle die
Schalen ausgebrüteter Eier gemeint.
Die Zahl Sieben kommt öfter bei Zauber vor: vgl. A. Dieterich, Papyrus
magica musei Lugd. Batav. (N. Jahrb. f. Pliilol. XVI. Suppl.-Bd.), Index
s. v. Cb
§ 19. Wenn ein Weib Küchlein im Siebe schüttelt oder Eisen
zwischen die Küchlein legt, so gehört das zu den emoritischen
Gebräuchen.
Thut sie (letzteres) aber wegen der Donner und wegen des
Blitzes, so ist es erlaubt.
Columella VIII, 5: „Cribro viciario vel etiam loliario, qui iam fuerit
in usu, pulli superponantur, deinde pulegii surculis fumigentur“ (gegen eine
Hühnerkrankheit). Im Harz wird noch jetzt krankes Federvieh über einem
Kohlenfeuer in einem Siebe hin- und hergeschwenkt (Wuttke, Der deutsche
Volksaberglaube der Gegenwart2 S. 91). Wolf, Beitr. II, 378; Pröhle in
Wolfs Zeitschr. I, 202; Kuhn, Märk. Sagen 381. Vgl. Grimm, Deutsche
Myth. S. 1066, 1152: „Das Sieb erscheint ein altertümliches, heiliges
Gerät, dem man Wunder beilegte.“ — Vgl. auch W. Schwartz, Ursprung
der Mythologie S. 7.
Das Eisen ist uns oben schon mehrfach begegnet. Wenn das Hinein-
legen von Eisen in das Hühnernest zum Schutze gegen Gewitter erlaubt
wird, so handelt es sich dabei nicht um etwas Geheimnisvolles. Plinius,
N. II. X, 75 und Columella VIII, 5 erwähnen den Glauben, dass die Eier,
auf denen die Henne sitzt, wenn es donnert, schlecht werden. Als Mittel
dagegen empfiehlt Plinius in den Hühnerkorb einen eisernen Nagel oder
40
Rehs ener:
auch etwas von einer Pflugschar aufgerissene Erde zu thunx). Columella
sagt, dass viele kleine Lorbeerzweige und Knoblauchwurzeln nebst eisernen
Nägeln hineinlegen1 2). Nach de Gubernatis, Die Tiere in der indogerm.
Mythol., deutsch von Hartmann, S. 554 wären das Symbole der schwefligen
Donnerkeile (wegen ihres starken Geruches) und des als eiserne Waffe
aufgefassten Donnerkeiles; das empfohlene Mittel wäre nach dem Grund-
sätze „Similia similibus“. Wenn diese einleuchtende Deutung richtig ist
(vgl. auch Wuttke, Der deutsche Yolksabergl. 2 S. 92), so hatte jedenfalls
das Yolk der späteren Zeit keine Ahnung mehr von dem ursprünglichen
Sinne seines Thuns, sondern fasste das Eisen als eine Art von Blitzes-
ableiter auf.
Mülhausen im Elsass.
(Schluss folgt.)
Aus Gossensass.
Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
Yon Marie Rehsener.
I.
(Hierzu Tat. I. II.)
Unter Arbeit versteht der Bauer vorzugsweise die Thätigkeit zur Er-
haltung seines Hofes: sowohl die täglich sich erneuernde als auch die durch
die Jahreszeiten bedingte in Haus, Feld, Wald und Alm. „Was versteht
ein Ochse oder Esel vom Sonntag!“ sagte ernst ein junges Mädchen, das
sich als höchste Seligkeit wünschte, im Himmel immer lesen zu können,
als von einer geistigen Thätigkeit die Rede war.
Yon den Yolksschullehrerinnen hiess es: Ich sage nicht, dass sie es
fein haben, aber sie wollen nicht arbeiten. Yom Bauern Eisentle, der
mehrere Maschinen erfunden: Er hat allm dem Zeug abgewartet, nie gern
gearbeitet. Lachend erzählt man, es habe einmal einen Hantierer gegeben,
der gesagt habe: Das Arbeiten verstehe ich nicht recht, aber das Rechnen
(sich dafür bezahlen lassen!); und zu einem Bauernknecht, der andernorts
1) „Si incubitu tonuit, ova pereunt cett. Remedium contra tonitrus clavus ferreus sub
stramine ovorum positus aut terra ex aratro.“
2) „Plurimi etiam infra cubilium stramenta graminis aliquid et ramulos lauri nec
minus alii capita cum clavis ferreis subiciunt: quae cunctu remedia creduntur esse ad-
versus tonitrua, quibus vitiantur ova pulli que semiformes interimuntur ante quam toti
partibus suis consummentur.“
Aus Grossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
41
Arbeit suchen wollte, hörte ich sagen: „Mehr Geld willst Du verdienen?!
wenn Du einen Hafen voll Geld siedest, giebt es doch keine gute
Suppe ab.“
Einmal hat ein Weibis einen Hafen voll Kreuzer gesotten und eine
lötzere (schlechtere) Suppe hat sie gesagt, habe sie nie gehabt.
Eigentümlich wird das Wort Arbeit zur Bestimmung anderer Begriffe
gebraucht: So zu lügen, das ist keine Arbeit! — Der Neid ist die aller-
schlimmste von allen Untugenden. Der Geiz schafft wenigstens etwas
zusammen; aber der Neid schafft garnichts!
Jede Arbeit reicht einer andern die Hand, darf nicht unterbleiben und
muss zur rechten Zeit geschehen: „Wenn ich nicht den ganzen Tag gehen
müsste wie eine Uhr!“ rief, schon mit den Beschwerden des Alters kämpfend,
unsere Bäuerin. „Stehe ich nur eine halbe Stunde später auf, so mängele
ich sie den ganzen Tag und komme aus keiner Arbeit.“
Auch die höhern Mächte müssen dem Thun der Menschen ihrer An-
sicht nach entsprechend handeln. Als es im Herbste einmal garnicht
regnen wollte, sagte der Leitner: „Roggen baue ich doch! Wenn ich das
Meinige gethan habe, nachher wird der liebe Gott wohl auch arbeiten
(regnen lassen).“
Man soll die Kinder das Arbeiten ,lernen’, ehnder sie verstehen, dass
es hart ist.
Yiel zu lange sein sie in der Schule, meinte die Klamperin (Spenglerin),
da haben sie es zu fein. Zu Hause, beim Bauern müssen sie arbeiten, da
vergehn ihnen die Bosheiten. Die Bäuerin, zu der sie sprach, antwortete:
Die Herren sprechen immer: Bildung! Erziehung! ich werde nichts
davon gewahr. —
Die Spinnen vertreiben wir nicht, denn wir lernen von ihnen den
Fleiss.
Der Müde rastet gern und der Faule noch viel lieber! „Härter ist es
zu rasten, wenn man nicht gearbeitet hat! glauben Sie es?“
Ist etwas schwer, so heisst es — frisch derleiden! Wenn es mir
ein Ernst ist, so wird es wohl gehen. Nun denn in Gottes Namen!
Die heilige Therese hat auch Unmögliches gekonnt. Sie war in einem
Kloster und die Obern plagten sie sehr, gaben ihr allerhand schwere
Arbeiten auf; aber sie vollbrachte sie alle. Endlich schickten sie sie gar
mit einer Reiter (Kornsieb) Wasser zu holen und sie brachte das Wasser!
Was in Gottes Namen gearbeitet ist, schützt auch gegen die Ränke
des Bösen: Eine Kindbetterin lag allein und es war auch niemand im
Hanse, da kam ein Fremder und wollte, sie solle aufstehen. „So reich
mir den Kittel (Rock)! sagte sie. „Da sein ,drui’ Gottesnamen dabei,“
antwortete der Mann: „in Gottes Namen ist er gewirkt, in Gottes Namen
gemacht und in Gottes Namen angelegt! Den Kittel kann ich nicht an-
o'reifen.“ und er cimr. —•
42
Behsener:
In dem Sinne wie von Gottesdienst die Rede ist, heisst auch das
Gebet ein Thun:
Ein alter, schon hinfälliger Bischof war eines Abends ,nicht recht gut
aufgelegt’ (nicht wohl), dessenungeachtet betete er, wie er es gewohnt war,
lang und viel vor dem Schlafengelien. Sein Diener, der es sah, sagte zu
ihm: „Herr, was plagen Sie sich heute, wo sie so miserabel sind! Gehen
Sie doch lieber zu Bett.“ Der Bischof aber antwortete: „Was Du heute
derthust, sollst Du nicht auf morgen lassen!“ Er betete zu Ende,
den nächsten Morgen aber war er tot. —
Im Gegensatz zum Gottesdienst, der ewig währt, sagt man: Herren-
dienst währt nur über Nacht.
Das Wie der Arbeit, ,wie die Arbeit geht’ und Lebenseinrichtung
bestimmt die Weise der Täter — der Brauch. Er beherrscht die ganze
Bauernwirtschaft; er bewahrt das Gute, verschliesst aber auch gegen das
Bessere und wer davon ab weicht, setzt sich dem Spotte der andern aus —
er will ein Gescheiter sein!“ Doch sagt man auch: Wo es der Brauch ist,
legt man die Kühe in die Betten und die Leute ins Stroh!
Als von Ubelständen, der Luft- und Lichtlosigkeit der Ställe, die
Rede war, äusserte ein Einheimischer, der das Yolk genau kennt, der Herr
Pfarrer aus Pflersch: Mit Worten ist da nichts zu machen, eher mit dem
Beispiel, und auch mit diesem nur sehr allmählich: Unsere Leute sind
fest wie unsere Berge!
Doch auch die Berge sind nicht so fest, wie sie scheinen: den Fels
sprengt das Eis, der Steinblock stürzt zu Thal, der Wildbach sucht sich
neue Wege, bringt Gerolle herab und entwurzelt den uralten Baum; die
Lawine überschüttet die Schlucht und der Gletscher tritt allmählich zurück.
— Dass aber auch der Brauch der Umwandlung unterworfen ist, giebt
unbewusst der Bauer selbst zu, indem er nicht selten sagt: Ehnder war
es der Brauch.
„Es ist überall gut Brod essen, wenn man eins hat;“ sagte die freund-
liche Frau des Penser-Scliuster, des Fremdenführers, die aus einem andern
Thal hierher geheiratet hat; dagegen meinte ein hiesiges Bauernmädchen:
„Der Hantierer, da sage ich nichts, der muss sehen, dass er weiter kommt;
aber einer, der Bauernarbeit verrichtet, dem ist die Welt nie zu
klein!“
Ein hölzernes Haus und ein Lärchenkamin ist sein Begehr.
Als Schutz gegen Andersdenkende und Feuersgefahr setzte ein Gossen-
sasser auf den Holzbaum seines Hauses, d. h. den Querbalken unter dem
weitvorstehenden Fürschuss, den Spruch:
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 43
Veracht nicht mich und das meinige, | Zuvor dich und das deinige. j
Such oh du findest ohne Dadel dich, | Alsdann komm und verachte mich, j
Vor wilder Zeit und Hitze, | Heil’ger Florian beschütze | Durch deine
Fürbitt und Kraft | Mein Haus und Nachbarschaft. Joseph Herbert 18591).
Die Arbeit des Hausbaues nach der Schweizer Art kann man nicht
mehr sehen, da die feuersgefährlichen Schindeldächer zwar ,eingehalten’,
aber nicht neu hergestellt werden dürfen1 2); man ist auf die Kunde aus
früherer Zeit und die Beobachtung des Vorhandenen angewiesen.
Für das Fällen des Bauholzes haben die Leute früher allerhand
Glauben und Sekten (Meinungen) gehabt. Sie haben auf die Zeit gesehen
und nach dem Muhne (Mond), wann sie die Feichten fällen sollten. „Und
das ist wahr,“ behauptete ein junger Mann, der neben der Lawine sein
von ihr umgerissenes Holz räumte, „das alte Holz z. B. in einer Tenne
hält allm noch, das ,nuie’ — wenn man jetzt eine Tenne baut, wo man
nicht mehr seile (solchen) Glauben hat und den Baum fällt, wenn man
ihn braucht — ist geschwind faul. Im Februar soll das Holz am besten
sein und am stärksten halten, ehnder der Saft in den Bäumen anfängt zu
fliessen und nach den Ästen zuzuströmen.“
Was den Mörtel anbetrifft, so soll, wie man in alten Büchern gelesen
haben will, früher eine Portion Essig ihn fester gemacht haben; auch
wurde dem gewaschenen Sand, wie er sich z. B. an Mühlrädern sammelt,
der Vorzug gegeben. —
In der Hauseinrichtung ist alles auf das Notwendigste beschränkt.
Das breite Dach schützt auch das um die Mauern aufgestapelte Holz und
ersetzt die Holzhütte. Die Kuchl ist zugleich Räucherkammer, — Speck-
seiten und Würste werden an die Decke gehängt; auf dem Herde ist der
Platz für die Hennen, die in der Stiege, einer Art hölzernem Käfig, warm
gehalten werden müssen. Den Vorräten dienen: Das Gadele, Pschütt und
Birl (Speise- und Vorratskammer und der Raum unter dem Dach), Tenne
und Keller.
Mensch und Vieh leben unter demselben Dach. Ein Mädchen findet
ihre Liegerstatt oft noch in der Brodkammer und der Knecht steigt auf
einer Leiter noch höher hinauf in sein Nest — den Schluff. Als wir in
einem verhältnismässig kleinen Hause fragten: „Wo schlafen sie denn
alle?“ (es waren zehn erwachsene Personen), wurde geantwortet: „Wir
haben noch ein paar dunkle Kammern; man kann sich schon klein machen,
wenn man will.“ —
1) Die jetzigen Besitzer wussten nicht, was auf ihrem Hause steht — aber, sagte
der Kienast Hannes, meine Tochter hat es gelesen, und ich — er zeigte mit dem Finger
auf sein Herz — ich bin der Lehrer davon.
2) Dreifach liegen die Lärchenschindeln und müssen, sollen sie nicht faulen, alle
acht bis zehn Jahr umgewendet werden. An die Holzschornsteine aber setzen sich die
Russschnaken und brennen erst diese, so flammt der ganze Kamin auf.
44
Rehsener:
„In Ridnaun bei Sterzing,“ erzählte ein Ziramermann, „war ein altes
Haus — ich hab’s gesehn, wie wir es niederrissen, um das neue zu bauen
— die Einfahrt war in der Mitten, rechts und links waren die Wände von
rundbehauenen Holzbäumen; zum Heu hat man eine Leiter hinaufsteigen
müssen und eine andere wieder hinab, um zuzukommen.“
In Telfs lockte uns ein reichgeschmücktes Fenster, hinter dem sich
aber nur ein Gadele befand, in ein Haus; doch beim Weitergehen kamen
wir auf einen langen Söller über abschüssigem Felsen, der mehreren
Häusern, die mit den Giebeln darauf stossen, als verbindende Gasse dient.
Ein Haus, welches mehrere Stockwerke hat, hat eine wilde Höhe,
heisst es, und eins, welches mit dem des Nachbarn unter ein Dach gebaut
ist, so dass beide im Giebel zusammenstossen, wird ein halbes Haus
genannt.
Die Kerl (Erker), die Bilder auf den Aussen wänden, die Marillen
(Aprikosen) neben den Hausthiiren gewähren selbst den kleinsten Hütten
ein freundliches Aussehen. Einen aussergewöhnlichen Schmuck erhalten
die Hausthüren von Palmsonntag bis nächsten Pfinztig (Donnerstag) früh
durch „die Ballm“ (Palme), eine aus Ölzweigen, Wachholderästen und
Weidenkätzchen an langer Stange künstlich hergestellte Palme (Taf. 1).
Sie wird vor der Hütte aufgerichtet oder wie eine Fahne zum Giebel
hinausgehängt.
Trotz der grossen Feuergefährlichkeit früherer Bauart steht noch ein
uraltes Haus am Ende des Pflerschthals auf dem Stein (Taf. 2). Vom
Wege zum grossen Wasserfall führt ein Pfad dorthin ab. Zunächst fallen
drei Holzkästen, zum Teil von der Sonne verkohlt, zum Teil vom Alter
gebleicht, ins Auge, die dem Söller vorgebaut sind. Mit ihren kleinen
Giggerln (Fensterchen) möchte man sie für Heustadel halten; doch sind
es Kammern. Die oberste der Schluff des Knechtes.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 45
Labe (Laube) und Labndille1) (unterer und oberer Hausgang) liegen
über Kreuz; neben der Hinterthür, zu der man zuerst gelangt, befinden
sich zwei Kuhställe, für je zehn Rinder; weiter vorgebaut Schaf- und
Schweinestall, hieben der Hausthtir, gegen den Gletscher, liegen Wohn-
stube und Kuchl; rückwärts zur Seite der Auffahrt die mächtigen Heu-
stöcke und am andern Ende des Saales in der aus rundbehauenen Stämmen
aufgeführten Hauptwand und der Knechtskammer gegenüber liegt das Ehe-
gemach der Bauersleute. Es ist fast dunkel, hat auch nur ein Giggerl,
welches mit dem Holzschieber verschlossen werden kann und gewährt nur
Raum für das grosse und ein kleines Bett, Kasten (Schrank) und Truhe.
Das Aufsteigen auf die stuhlhohe Schwelle zu erleichtern, ist ein Klotz
vorgelegt, auch scheint sie zum Sitzen zu dienen. „Eine alte Welt!“
Hier lebte einst das Steiner-Mandl, der reichste, doch von der Kirche
in Gossensass, zu der er gehörte, am entferntesten wohnende Bauer. Er
hatte ein Mule (Maultier) und besass das verbriefte Recht, dass zum Gottes-
dienst nicht eher geläutet werden durfte, als bis er zu sehen war, wie er
auf seinem Mule zur Kirche angeritten kam.
Als wir über die ungleichen grossen Steine des Hausgangs uns weiter-
tappten, waren wir froh, Feuer in der Küche zu sehen, zwei Feuer, denn
es kochten zwei Parteien, die das Haus besitzen und im Sommer auch
gemeinschaftlich bewohnen. In der engen, aber wie überall getäfelten
Stube sass eine steinalte Frau mit einem kleinen Kinde. „Wie alt ist das
Kind?“ fragten wir. „Koch nicht sechs Wochen“ — „und das Haus?“ —
„vier und ein halbes Jahrhundert.“
Unwillkürlich gedachte ich einer Stelle bei Riehl1 2) und erzählte später
unserer Wirtin, wir hätten in einem Buche gelesen, wie vor mehr als
1000 Jahren die Leut — es wären Heiden gewesen — wenn sie ein Haus
bauten und wollten, dass die Mauern recht fest halten sollten, ein lebendes
Kind in das Fundament eingemauert hätten.
„Da sieht man, was sie (die Heiden) für Tuifel gewesen sein! Die
werden die Sekten (falsche Meinungen) wohl alle gehabt haben!“ rief die
Zenze lebhaft.
Die Arbeit im Hause beginnt und schliesst auf der Fuirstatt des
Herdes und das auf lodernde Feuer mit seinen Fuirglansterln (Funken)
wird, wie die Sonne in der Natur es ist, der Mittelpunkt des häuslichen
Lebens.
1) Letztere wird auch, wenn sie klein, Dillele, wenn gross, Saal genannt.
2) W. H. Riehl, Die Familie, S. 135. „Aus dem dunkelsten Altertum dämmert dort
der Glaube herüber, dass ein Haushau am festesten wird, wenn man ein lebendes Kind in
die Fundamente einmauert. Vernichtet werden muss der Einzelne, vernichtet das teuerste
Kleinod der Familie, ein unschuldiges Kind, damit das ganze Haus feststehe über der
Leiche des zu Tode gemarterten Einzelwesens.“
46 Rehsener:
Von letzterem giebt schon das alte Kinderlied ein flüchtiges Bild:
,Bronobis’ (ora pro nobis)!
Die Gäns gehn in Kobis (Kohl),
Der Bauer geht zu wehren (abwehren),
Und fällt in die Dern (Berberitzen);
Der Knecht geht zu helfen,
Und die Dirn zu melken;
Die Bäurin zu kochen
Und die Kinderle alle zu kosten.
Die Männer haben in der Weite zu thun, die Frauen im Hause und
die Hausfrau vorzugsweise am Herde1). „Wir werden wohl sehen, dass
die Kirche im Dorf bleibt“ (werden Ordnung halten!)
Den Bauern nennt sein Weib ihren Herrn. „Ich weiss wohl,“ sagte
der Lois, „dass in meinem Haus nicht alles so ist, wie es sein soll; aber
was sein kann, das soll auch sein.“
Aus einem Bauern kann schleunig ein Herr (Vornehmer) werden, aber
aus einem Herrn nicht so leicht ein (tüchtiger) Bauer. —
Das Platzl im Korn, das die Bäuerin selbst gegätet hat, kennt man
leicht (ihre Arbeit ist sorgfältig).
Die Ehehalten machen zu schaffen: Ein Bauknecht (erster Knecht)
zieht die Arbeit, die er nicht thun will, so lange hin und her, bis sie der
Bauer selbst thun muss, und wenn es nach jenem ginge, müssten sie täg-
lich ins Hotel an die Tafel zum Essen gehen. Einem andern ist die
,Bessrige’ (was er über den Lohn erhält) zu gering. Manche Dirn ist
schlauderisch — ein ,Wosen’1 2). Manche ist unhilfli, jene gar ein ver-
lorenes Mensch (sie bringt nichts fertig); die möchte dienstlich sein, aber
sie zieht den Schweif nach sich (ist schwächlich). Und eine aus der
Fremde, „hann i Sorge, lasst das hintere Thürle offen“ (hält es mit andern).
Wer Tagewerker haben muss, ist nicht zu neiden. Die Leut wollen
alle Herren und Frauen ,ogeben’, nicht arbeiten und je grösser der Lohn
wird, desto schlechter wird es; aber noch ist kein Schöwer (Schober) in
der Weite (draussen) geblieben, man hat Tagewerker bekommen, ihn ins
Haus zu schaffen.
Den Sunntigsdienst lassen sich Mädchen zur Aushilfe für die Haus-
arbeit nicht bezahlen und Tagewerker, die die Woche mit dem Bauern
gearbeitet haben, kommen auch Sonntags zu ihm, aber nicht zur Arbeit,
sondern im Feiertagsgewand zum Mittagessen. Ja in Sterzing haben sie.
früher die Feldarbeiter, welche z. B. Montags die Arbeit beginnen sollten,
schon abends zuvor, also am Sonntag gekostet.
1) Hunde, Weiber und der Backofen gehören zum Hause.
2) Schimpfname für ein unordentliches Mädchen. Sie ist wie ein herausgerissenes
Stück Rasen, an dem noch Erde hängt.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 47
Ist morgens das Gebetläuten verklungen oder die Frühmesse vorüber,
so fasst die Dirn die Asche vom Tage vorher auf und verwahrt sie für die
Waschlauge. Abends, wenn sie sie zusammenkehrt, könnte noch eine
glühende Kohle darin sein. Das Mädchen macht Feuer und stellt darüber
den grossen Wasserkessel zum Milchschüsselspülen. Darauf eilt sie in die
Tenne, steckt dem Vieh das Futter ,oer’ und kommt herab zum Melken,
Milchdurchseihen und Tränken1).
Unterdessen hat die Bäuerin die gestockte Milch ogerahmt und die
Dirn spült die Schüsseln1 2 *).
Wer sich beim Spülen oder Waschen das ,Fürtich’ (Fürtuch, Schürze)
sehr nass macht, bekommt einen Yollsäufer zum Mann.
Die Milch wird nur im Sommer in den Keller gebracht, im Winter
hat sie im Wohnzimmer, im Milchkasten ihren Platz und muss sich in
den üblichen Tabaksrauch schicken; wenn sie zu nahe dem Ofen steht,
rahmt sie nicht aus. Die Milch ist wie eine Frau, sagt man, sie will
es nicht zu heiss haben und nicht zu kalt, und reinlich will sie es haben.
Rechts von der Fuirstatt steht der Wasserhafen, links der Hennen-
hafen und dahinter der Fuirhund zum Auflegen der Brände. Jetzt schürt
die Frau das Feuer unter das Herz des Dreifusses. Er darf, wenn eine
Kindbetterin im Hause ist, nicht erkalten, d. h. es muss oft darauf für sie
gekocht werden, auch darf er nie leer stehen. Wenn es nicht lohnt, ihn
auszuheben und die Glut einem der Häfen zuzuschieben, wird wenigstens
ein Stückchen Holz darauf gelegt.
„Warum thun sie das,“ fragte ich die Frau. „Weil ich es immer so
gesehen habe.“ — „Aber was ist der Grund?“ „Weil, so lange er leer
ist, eine arme Seele darauf niederhocken muss. Sagen Sie es nicht, man
lacht jetzt darüber!“ —
In einer eisernen Pfanne, deren es in einer jeden Kuchl eine Unzahl
giebt, werden fast alle Gerichte — das Mus8), die platschnasse Suppe4 * * *)
u. s. w. ,derschaffen\
1) Das Seihen geschieht meistens vermittelst der Seihe, einer mit einem Brett
zusammenhängend aus Holz geschnittenen Schüssel und des Seihen-Strohs, einem zu
mehreren Strähnen zusammengeflochtenen Kuhschwanz, der mit kochendem Wasser nach
jedem Gebrauch übergossen werden muss. Die Schüssel hat in der Mitte ein rundes
Loch, welches mit dem Seihenstroh vor dem Durchgiessen der Milch fest zugestopft wird.
2) Dies geschieht bei den hölzernen mit einer Reibe aus bindfadenzähen Rinder-
wurzen und mit marmorartigem Sande vom Tribulaun.
8) Eine grosse Pfanne wird mit Butter ausgestrichen, dass sie schmutzig (fettig) ist,
Milch hineingegossen und zum Kochen gebracht; dann wird mit der linken Hand Mus-
mehl hineingesäet, während die rechte mit einem eisernen Besen den Brei gleichklopft.
Zuletzt wird die Pfanne in die Glut gestellt zum Behacken und oben auf ein Stück Butter
gelegt.
4) Ein paar Löffel Mehl werden in Butter geröstet, kaltes Wasser aufgegossen und
zum Kochen gebracht. Unterdessen wird hartes Schwarzbrod gegrambelt (klein gehackt) in
eine Schüssel gethan, die glühende Suppe darüber gegossen und zugedeckt, bis das Brod
ekvas erweicht ist.
48
Rehsener:
Die Bestandteile fast aller Speisen sind: Mehl, Milch, Topfen (weisser
Käse), Butter, Butterschmalz; hartes Roggenbrod, Weissbrod, das Knödel-
zeug (feingeschnittener Speck und Würste) und Eier; als Zuspeise Sauer-
kraut, Kresse und Salat, als Würze Schnitz (Schnittlauch) und Knofel
(Knoblauch). Erdäpfel, auch Grundbirnen genannt, bilden ein Extraessen
zum Neunern, dem Frühstück um 9 Uhr, oder zum Rändel (Märende) um
3 Uhr nachmittags. Als Getränk dient neben dem Wasser, was immer
frisch vom Brunnen sein muss, abgerahmte süsse oder saure Milch.
Das Mus muss eine Stunde kochen, eine Stunde kühlen und eine hilft
es1). In dreierlei Fällen kann man der Suppe durch Wasser helfen: wenn
sie zu heiss, zu dick oder zu rass (salzig) ist. Der Butter und das Butter-
schmalz macht nicht fett, sondern stark. Zu einem Knödelzeug für die
Näthigen (die Armen), sagen manche, sei das Wild erschaffen; jetzt stehlen
es die Reichen den Armen! Die Knödel müssen mit der Kelle, ohne den
Teig mit der Hand zu berühren, geformt werden, und die Köchin, wrelche
das nicht thut, die Knödel nicht rund macht, kommt nicht zum Heiraten.
Das Sauerkraut ist gesotten, wann die Köchin will. Kur noch fein-
geschnittenen und in Butter gebräunten Knofel giesst sie darüber.
Mit weittönender Stimme ruft die Bäuerin die Leute zum Essen,
arbeiten sie in der Nähe. Sie ruft sie bei Namen und lässt diese in den
alten Laut „6“ ausklingen: „Seppö, Loisö, Maidlö, Rosö, Mario!“ Die
Antwort ist „hö!u.
Eine andere klopft mit einem Stück Holz auf den Boden der um-
gekehrten Milchmelters. Arbeiten die Hausgenossen weiter ab, etwa im
gegenüber befindlichen Bergwalde, so wird ein helles Kleidungsstück auf
den Söller gehängt, zum Zeichen, dass sie kommen sollen. Sind alle in
der getäfelten Stube versammelt, so wird die Kost mitten auf den vier-
eckigen Tisch, wo eine Schiefertafel eingelegt ist, gestellt. Das Gebet
beginnt, bei dem jeder entblössten Hauptes steht. Man setzt sich auf die
um die Wand laufende Bank und nimmt nötigenfalls Yorbänke zu Hilfe.
Die Löffel der Hausleute liegen bereit, Fremde ziehen die ihrigen aus der
Tasche oder greifen nach denen, die an der Wand, hinter dem Kreuze des
Herrgotts, neben Kornähren, Kolben von türkischem Weizen, einem Ölzweig,
auch wohl einem wichtigen Papiere stecken.
Über dem Tische hängt eine aus Holz geschnitzte Taube — der heilige
Geist — er muss ,oergehängt’ sein und zwar etwas lose, damit er sich
bewegen kann. Unserer muss nicht genug ,geweicht sein, dass er sich
nicht bewegt. Die Essschüssel oder Pfanne, für welch letztere dass Pfann-
brett mit einer Yorrichtung zum Halten des Stiels untergelegt wird, darf
nicht aus der Mitte gerückt, auch wenn Gäste da sind, welche mitessen,
nicht diesen zugeschoben werden. Es wäre eine Beleidigung für die andern.
1) (1. h. es ist mühsam zu machen und wenig nahrhaft.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
49
Jeder muss an seinem Ort (der ihm zugekehrten Stelle) das Essen aus der
Schüssel schöpfen, den Brei dort sauber ausessen. Nach dem Essen wird
wieder gebetet, am längsten nach dem Nachtmahl. —
Von kleinen Orten bei Sterzing, die sich nicht streng an die Gebräuche
kehren, heisst es:
In Gupp essen sie das Mus vor der Supp (sonst umgekehrt),
In Guspenein thun sie vor dem Vormessen Zäun1).
In Gost essen sie das Mus aus einer Knosp1 2),
Und in Rust ist das Essen ein G’lust.
Jeden Tag ist fünfmal zu kochen. Am Kirchtag wird den ganzen
Tag ,geprestert’ (gekocht und gebraten). Fasten- oder Schmalzkost giebt
es am Freitag, Samstag und zu Zeiten auch Mittwochs.
Das Fasten wird streng gehalten. Den Wastes-Tag (St. Sebastian)
haben manche solange gefastet, bis die Stern am Himmel blitzten. Wenn
einer lange nichts gegessen hat, sieht er die Sterne.
Ein Mann ist auf dem Wege über den Jaufen verhungert. Er hat
Speck und Fleisch bei sich gehabt; aber sich nicht davon zu essen getraut,
weil es Freitag war.
An den Abenden vor grossen Festen werden Krapfen gebacken. Ein
Mann bringt die schwere Magnstampfe (Mohnstampfe) herbei und besorgt
das ,Mägnnuiden’ (Zerreiben des Mohns). Die Hausfrau bereitet den
Schotten3), kocht die Kläzen (Dörrbirnen) und schneidet sie fein — alles
zu einer Fülle für die Krapfen.
Im übrigen isst man, danach man arbeitet. Für Feldarbeiter nur einen
lautern Kaffee zu Neunern thufls nicht.
Supp und Kraut schlagt nit gar laut,
Aber Nudeln und Nocken4) thäten ehnder glocken.
Ein Bauer und sein Knecht, das Reck Josele, führten Heu. Zu Mittag
erhielten sie Suppe und Mus und der Bauer ausserdem noch Nocken. Als
sie nachher bei der Arbeit waren, das Heu aufzuladen, hörte der Knecht
plötzlich auf und sagte zu dem erstaunten Herrn: Supp und Mus haben
ausgelassen, jetzt, Nocken hebet5)!
Ist der sorgfältig gepflegte Fäcken (das Schwein) geschlachtet oder
ein Lampl, so giebt es ausnahmsweise auch eine saure Suppe, Beuschl von
der Wampe und ein Geröstel von Herz und Lunge.
„Die Lungl im Hafen und die Liebe im Hause lässt sich nicht ver-
bergen!“ —
1) Wie Gärten und Wiesen umzäunt sind; verstärkter Ausdruck des Ungehörigen.
2) Grosser Holzschuh, mit dem man in den Stall geht.
3) Schwach saure über Feuer geronnene Milch.
4) Kleine Mehlklösse, nach dem Kochen in Butter gedünstet.
5) Meine Kraft ist zu Ende, jetzt arbeite du mit der weiter, die du vom Extra-
essen hast.
Zeitschrift d, Vereins f. Volkskunde. 1893.
4
50
Rehaener:
Nicht nur die armen Seelen der Verstorbenen halten sich in der Nähe
des Herdes auf. Gefruindete und Fremde suchen hier die Bäuerin hoam,
wenn sie zukehren und setzen sich auf den Herdrand, während sie ihnen
einen Kaffee wärmt.
Auch Glück oder Unglück meldet sich hier an. „Lässt sich das
Herdschmiedl (Heimchen) hören, so bringt es dem Hause Glück!“ Das
Seltene wird freudig begriisst, dagegen erregt das Aussergewöhnliche Be-
sorgnis: „Lässt sich die Herdhenne (eine weisse Maus) sehen, so giebt
es Unglück!“ —
Die Köchin aber, welche sich beim Kochen das Gesicht schwarz ge-
macht hat, wird geneckt, sie habe die Kuchl gesperrt, es könne niemand
eini gehn.
Vor den Menschen werden die Tiere besorgt. Alle Tiere sind ihm
,zu einem Nutzen’ erschaffen und Unsre Frau hat auch für sie gebeten.
Als der Herr die Ähren ausstreichen wollte — früher sollen sie länger
gewesen sein und mehr Körner enthalten haben als jetzt — hat Unsre
Frau gebeten, etwas solle er darin lassen für Katzen und Hunde.
Hat die Moine (Name fast aller Katzen) nur einmal aus ihrem Troge
Milch geschleckt, so steht sie, wenn gemolken wird, daneben, die frisch
gemolkene zu empfangen. Die muss sie haben, denn sie kommt beim
Fangen der Mäuse und Hatten leicht an giftiges Zeug.
Kühe, Schafe und Schweine sind angehängt und eingesperrt; ihnen
muss alle Nahrung, dreimal täglich, zugetragen werden. Zuerst der Busche,
dann die Abbrühe, Lecke und die Tränke, das Gespule und die Jutte
(Molken). Die Kühe, das ist ein feines Vieh, wenn man danach thut,
tragen sie etwas!
Die Fremden meinen, man kann die Milch nur so hernehmen, o woll!
Wir haben eine Kuh, erzählte die Wild-Maidl, die lässt kein Weibis
zum Melken zu — sie ist allm von einem Löter gemolken worden —; der
Bruder muss sie melken. Als er nicht da war, hat die Mutter ihr den
Kopf gehebt (gehalten), die Mene (Philomene) den Bauch gekrahlt und
ich habe sie gemolken. Geschlagen hat sie; wir haben ihr eine Stange
hinter den Fuss gehalten — o, uns ist alles eingefallen — aber es half nichts.
Warum wollen Sie noch eine zweite Kuh kaufen? fragte ich gelegent-
lich. „Eine im Stall derfriert ja und es ist ihr so viel der Weil lang!
Mit Vieh umzugehen, dafür haben Sie nicht den Verstand und ich hann
Sorge, Sie lernen es nie.“
Wenn der Bauer kein Vieh mehr haben kann — wo nimmt er den
Mist her für die Felder? und wenn nichts wachst — wo nimmt er die
Nahrung her für die Ehehalten? Er ist fertig! —
Die Lampl müssen warten, bis ihnen einer ein Maul voll giebt,
während für den Fäcken alle paar Tage noch ein grosser Kessel mit Rüben,
Erdäpfel und Kobis gekocht wird.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 51
Eine Frau schnitt immer, wenn sie Speck brauchte, ein Stück von
ihrem ,lendigen’ (lebendigen) Fäcken ab und mästete ihn dann weiter.
Eine andere kam zum Metzger bitten, ihr doch ihr Fackel (Schwein-
ehen) abzustecheu. Er schickte den Burschen, aber als der das Schwein
sah, getraute er sich nicht zuzugehen, so gross war es. Er ging heim und
schickte den stärkern Gesellen. Auch der getraute sich nicht zu. Endlich
musste der Schaffer selber gehen; der stach es ab und — da wog das
Fackel — des Weibis ,Huisterle? (Schmeichelname) — sieben Centner. —
Noch ein anderes war so feist geworden, dass es sich garnicht mehr rühmen
konnte, da frassen es die Ratten und die Mäuse.
Die Hennen aber, das ist ein mühselig Kunter; doch wohl jedem
schmecken die Knödel besser, wenn ein Ei darin ist; die Eier ,wuchern"
(gehen auf).
Aus ihrem Käfig dürfen die Hühner vor das Haus in die Sonne gehen
und in den Stall zum Eierlegen. Im Winter nur das Letztere. Dann
heisst es: „Es hat öergeschnieben, Hennen! Jetzt ist es nichts mehr in
der Weite, das wisst ihr auch selbst; dort holt ihr euch kalte Füsse und
dann hört das Eierlegen auf.“
Es hat etwas Wildes, wenn die Frau mit dem Besen die Hennenstiege
auskehrt und die Hühner schreiend zwischen dem Feuer und der Wand
ihren Weg suchen. Die Frau nennt das Schreien Singen und unsere ruft
die Pulen alle bei Namen: „Königin, Putze. Ploderappele, Buhi, toller
Tonige u. s. w. Ihr zwei letzten seht ja aus wie ein abgebranntes Dorf!
Hast Du eine Sprache wie ein wilder Mann! Eine jede hat eine andere
Sprache!“ — Selten wird ein Huhne (Hahn) gehalten.
Bevor es völlig dunkel wird, geht man zunachten in den Stall, noch-
mals nach dem Yieh zu sehen. Ist der letzte Gang in die Küche gethan,
so besprengen sich die Leute mit Weihwasser und verlassen mit den
Worten Gelobt sei Jesus Christ die grosse Stube, um in einer, meist
oben gelegenen Kammer, zur Ruhe zu gehen.
Die Reinhaltung des Hauses ist nur bis zum gewissen Grade möglich,
da die Ställe auch in den Hausgang münden und die Hennen hier durch-
laufen müssen. Zwischenein wird gekehrt. Nuie Besen kehren gut und
die alten wissen die Winkel. — Das Ausdüngen der Ställe wird besorgt,
wenn keine andere Arbeit von Männern besorgt werden kann, wenn es
z. B. regnet.
Der Hansl, ein Knecht aus dem Jaufenthal, hat es allm mit der
Säubrigkeit und Schönheit gehabt — nicht hingesetzt hat er sich, ohne ein
Sacktüchel unterzubreiten —; doch da ist eine Frau aus seinem Thal ge-
kommen, die wusste es, dass seine Eltern aufgehaust hatten, und als der
Hansl wieder mit der Säubrigkeit anhub, sagte sie nur:
4f
52
Rehsener:
„Mit Spülen und Reiben thut man keine Gelder vertreiben!“ (wenn
sie sauber gewesen wären, hätten sie das Ihrige nicht verloren.) Da hat
er es gehabt und war ein Frieden.
Die grossem Hausarbeiten beginnen erst, wenn die Feldarbeit auf hört.
Dann wird Kraut (Kabis, Weisskohl) eingestossen, aber dabei oft das
Salz gespart, und Brod gebacken, was erst im Frühling wieder geschieht.
Das Getreide wird gedroschen. Wer den letzten Schlag gethan, wird ge-
foppt. Tote Mäuse sollen sie einem solchen sogar in die Taschen gesteckt
haben. Schliesslich werden die Spinnräder herbeigebracht und es wird
fürs Gewand gesorgt.
Wer am Tage des Brodbackens im Hause ist oder ins Haus kommt,
erhält ein Loab (Laib).
Ein Mann hatte viele Kinder, und als er im Herbst Brod backte,
kamen auch viele Leute ins Haus; aber er gab jedem ein ganzes Brod.
Eins seiner Kinder beobachtete, wie schnell die Loabl verschwanden und
sagte zu ihm: „Vater, wenn Du es so machst, werden wir bald kein Brod
mehr haben!“ — „Das wollen wir doch erst sehen!“ erwiderte ihm der
Vater und schrieb sich den Tag auf. Nachher hatten sie noch nie so lange
mit dem Brod gereicht, wie dieses Mal.
Die kleinen Loabl werden in luftiger Kammer in den Rühmen
(Rahmen, hölzernem Gestelle) aufgehoben. Das Brod wird hart wie Schiffs-
zwieback, aber nicht schimmelig.
Wenn die Leut alles für den Kaffeetisch und fürs Wirtshaus ver-
wenden, da bleibt ihnen nichts zu einem ehrlichen Gewand (ohne Riss
und Fleck). Das Maul muss nicht alles haben!
Da ist das rupfene Zeug (von Hanf) zu besorgen. Die harbenen Pfaten
(Frauenhemde aus Flachsgespinnst, ohne Ärmel), der Schalk (sehr kurze
Leinenjacke mit Ärmel) und der wollene Kittel (Frauenrock).
Handwerker gehen auf die Stär (Stör), d. h. arbeiten in den Bauern-
häusern.
Grosse Wäsche findet, wie das Brodbacken, nur zweimal im Jahre
statt. Sieben- bis achtmal wird das Gewand gesechtnet (gesechtelt), d. h.
es wird über die Wäsche, die in einen Holzzuber gepackt ist, durch ein
Aschentuch kochende Aschlauge gegossen, die durch ein Spundloch ab-
Hiesst; dann wird die Wäsche wie überall behandelt.
Von der früheren Tracht der Leute haben sich nur noch'wenige
vollständige Exemplare erhalten. Unsere Wirtin hat noch ihr bäuerisches
Gewand und legte es, damit wir es sehen konnten, an. Ein junger Mann
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm. 53
gab auch das Gewand der verstorbenen Mutter nicht her, sondern hing es
in eine Kammer an den Nagel. Dort hat es solange gehangen, bis es
verrottet war und von selbst vom Nagel gefallen ist. Es ist unfassbar, wie
die Frauen in dem faltenreichen, schweren Rock sich bewegen und arbeiten
konnten; merkwürdig ist die heisse, hohe Kappe.
Die Männer hatten früher den ,weitfliegigen' breitkrämpigen Hut, ferner
Kniehösler, weisse oder ,bläwe? Strümpfe und Schnallenschuhe. Die Geist-
lichen trugen alle rote Strümpfe, jetzt müssen sie klagen (schwarz gehen),
weil der Kaiser die heiligen Länder (Jerusalem) verspielt hat1).
Bei den engen Kniehosen der Männer war der Geldbeutel in der
Tasche auch äusserlich bemerkbar, wenn er recht gefüllt war, und musste
der obere Rand der Tasche, in der er getragen wurde, wollte ein Bauer
fein sein, immer etwas schadhaft, wie von vielem Gebrauche, sich zeigen.
Ein Knecht hat beim Metzger sogar einmal den vollen Geldbeutel hervor-
gezogen, auf die Wagschale geworfen und wiegen lassen.
Als Schmuck ist den jetzigen Frauen nur noch das bunte Halstuch
und die farbige Schürze geblieben. Die jungen Männer tragen an Fest-
tagen und wenn sie in die Kirche gehen, neben Spielhahnfedern, Gems-
bart, Edelweiss und Hawerraute, gern die hochrote Nelke. Doch manche
Geistliche eifern dawider, nennen es den Hochmut in die Kirche tragen;
aber die Burschen lassen sich diesen Schmuck nicht nehmen. Einer hat
gar gesagt, für den Diebstahl eines Nagele1 2) giebt nicht jeder Herr Ab-
solution. Jetzt, ob es so ist, weiss ich nicht.
Will man in ein Haus eintreten, so gehört sich’s zur Hausthüre zu
gehen; doch ist diese selbst bei Tage nicht immer offen. Samstags wohl,
denn am Samstag soll man, weil an ihm Unsere Frau geboren ist, die
Vergelts-Gottl (den Dank für Almosen) nicht aussen sperren. Yom Bettler
erhält man so immer mehr als man giebt. Aber während des Gottes-
dienstes bleibt das Haus geschlossen. Es soll zwar verboten sein, zu der
Zeit zu betteln; doch da nur die Kranken und Schwachen von der Kirche
Zurückbleiben, könnten diese sich eines Eindringlings nicht derwehren3).
Gegen nächtliches Einsteigen, z. B. der Buabn beim Fensterin, schützen
die Eisenspäne (Gitter).
Verlässt jemand auf länger das Haus, so besprengt er sich mit Weih-
brunn (Weihwasser).
Wir waren in einer der ärmsten Hütten, als ein blühendes Mädchen,
welches eben als Sennerin auf die Alm gehen wollte, in die grosse Stube
1) Vielleicht ist die weltliche Herrschaft des Papstes damit gemeint.
2) Die Nelkenstöcke haben ihren Platz auf dem luftigen Söller, über dessen Rand
die weithiu sichtbaren Blüten herabhängen.
3) Bleibt ein Fremder zur Nacht, so liegt er auf dem Ofen. Der Raum zwischen
diesem und der Wand heisst die Hel nicht Höll!
54
Rehsener:
trat. „Ich bitt um’s G’leit,“ sagte sie und ging auf die 92jälirige Gross-
mutter zu. Mühsam stand die Alte auf, wankte zum Weihbrunnkessel
und besprengte die Gitsche damit, worauf diese wieder die Stube verliess.
Die Geistlichen haben ihre gute Stube, in der auch Amtshandlungen
verrichtet werden.
Als ein Bauer aus der Nähe von Gasteig (bei Sterzing) seinen Bruder,
der Pfarrer im Unterland geworden, dort besuchte, führte ihn der in die
gute Stube. Und der Bauer fand die so schön, dass, als er später in der
Heimat davon erzählte, er hinzufügte, wenn es im Himmel noch schöner
wäre als in der Stube, danu getraue er sich nicht eini zu gehen.
Von seinem Hause bekommt der Besitzer oft den Namen: „Das ist
der, den wir von Haus aus haben.“ Es knüpft sich Holz- und Wasser-
berechtigung an das Haus; ja Einzelnen gewährt es noch das Recht, bei
Umgängen (Processionen) einen Altar vor der Thüre aufstellen zu dürfen.
Als wir an einem Blutstage (Frohnleichnam) den reichen Altar vor
dem Rosen-Gasthaus betrachteten, trat der Wirt zu uns und sagte: „Der
ganze Aufbau gehört nicht mein, sondern meinem Hause. Alles wird in
eine grosse Kiste verpackt und so aufgehoben. Yerkaufe ich das Haus
und ziehe aus, so bleibt der Altar im Hause zurück.“
Früher hat die Mutter die Kinder die Gebete und Fragen für die
Beichte gelehrt, „jetzt,“ sagte eine junge Frau, „könnte sie es nicht mehr,
denn es wäre anders.“ — „Und doch, sagen sie, es wäre der gleiche Gott —
der alte! Da werden ihm, denke ich, doch auch die alten Gebete recht
sein!“ —
Die Kinder ihrizen die Eltern — sagen, weil es feiner ist ö s (Ihr) statt
du zu ihnen. Die Wörter ,Himmels-Tatta‘ (Yater) und ,Himmelsmammele‘
lernen sie früh und recken die kleinen Hände in die Höhe oder strecken
sie nach den bunten Bildern der Wände aus.
Das Haus, nicht der Ort ist dem darin Geborenen die Heimat.
Setzt sich der Yater zur Ruhe, so wird der älteste Sohn der Schaffer
und der ist auch der Erbe des Hofes, die jüngeren Brüder bleiben darauf
und dienen ihm als Knechte; nur wenn ausserdem noch Vermögen vor-
handen ist, wird dieses an alle Geschwister verteilt. Sind die Kinder noch
minderjährig, hat bis zu ihrer Yolljährigkeit der Gerhäb (Yormund)
darüber zu wachen, dass nichts von ihrem unbeweglichen Eigenthum ver-
kauft wird.
Steht ein Kapital auf einem Hause und zahlt der Besitzer die Zinsen
dem Gläubiger richtig auf den Tisch, so ist es früher der Brauch gewesen,
etwas von dem Gelde zurückzuschieben.
Aus Gossensass. Arbeit und Brauch in Haus, Feld, Wald und Alm.
55
Ein jüngerer Bruder musste wegen Ungehörigkeiten die ,Hoamit’ ver-
lassen; er zog nur vom Giggelberge nach Steckholz herab, keine zwei
Stund weit, dort wurde er krank und starb, und — ein Viehdoktor hat
gesagt, er habe die Hoamkrankheit gehabt.
„Unsre Nandl (Grossmutter),“ sagte unsre alte Bäuerin, „hat ihre
Heimat ,ogelöst‘, ,d erlösD. Das war eine andre Zeit, verstehen Sie, da
hat man den Rückkauf der Heimat, wenn sie in fremde Hände über-
gegangen war, so genannt.“
Die Zenze hütet ihr Haus, dass ihr die Schwester verheissen und ge-
schaffen hat, und sorgt, dass geschieht, was geschehen muss. Wie sie es
will, ist es allm der Brauch gewesen und verstehn es auch die Andern zu
thun. Und so sagte sie im Bewusstsein ihres nicht mehr fernen Todes zu
uns: „Wenn ich sterbe, bin ich sicher, dass meine Arbeit nicht unterwegs
bleibt; wie es mit Ihnen Ihrer ist, weiss ich nicht!“ —
Zur Mythendeutung.
Von K. Bruchinann.
Den eingefleischten Mythologen wird von ihren Gegnern wohl haupt-
sächlich ein Zuviel an Phantasie vorgeworfen, während diese bei jenen
zu wenig Psychologie vermuten werden. Der „primitive“ Mensch, so
heisst es, soll sich um den Himmel gekümmert haben, so dass er sich zu
einer Poeterei veranlasst fand, wie sie z. B. stellenweise im Rig-Veda
vorliegt? das widerspricht dem Begriff des primitiven Menschen und der
Anschauung, die wir von seiner Lebensweise gewonnen haben. Aber
gerade weil sich das Wort „primitiv“ nicht streng definieren oder chrono-
logisch abgrenzen lässt, hat unter seinen breiten Fittigen viel Platz.
Vielleicht avancieren wir selbst einmal im Laufe der Zeiten zu der
interessanten Species der Primitiven, während jetzt dafür jene Menschen
gelten, auf deren geistiges Leben wir Schlüsse ziehen aus Resten (besonders
der Sprache), welche erst seit einigen tausend Jahren fixiert sind. Primitiv
hat nur diesen relativen Sinn, dass es zeitlich und inhaltlich vor uns war
und eine Stufe des Denkens bezeichnet, über welche wir durch Kenntnis
der Thatsachen und kühle Logik hinaus sind. Aber nichts hindert, eine
lange Zeit verflossen zu denken, ehe primitive Menschen mythologische
Anwandlungen bekommen haben.
Und nun die Mythologie selbst. Der radikale Gegner müsste behaupten,
dass es gar keine Mythen giebt. Weniger grausam wäre es, bloss zu
sehen, dass sie falsch gedeutet werden. Giebt es also Mythen? Oder sind
56
Bruchmann:
jene Erzählungen nur Werke der Dichter? Mit andern Worten: wodurch
unterscheidet sich ein Mythos von einer dichterischen Conception? Dies
wird man, je nach dem psychologischen Standpunkt, verschieden beant-
worten. Die Mythologen werden behaupten, dass die Mythen ein Erzeugnis
der Gesamtheit sind, von ihr besessen, geglaubt und fortgepflanzt wurden.
Poetische Darstellungen dagegen gehen auf einzelne Urheber oder Kreise
von Dichtern zurück, sind nur Gegenstand poetischen Glaubens derjenigen,
welchen sie bekannt werden und pflanzen sich als Litteratur-Erseugnis
fort, nicht wie religiöse Überzeugungen des Yolkes, wie Sitten and Ge-
bräuche.
Geben uns nun die alten Denkmäler der Litteratur Anlass, an Mythen
im Sinne der Mythologie zu glauben? Die Völkerpsychologen werden es
aus mehreren Gründen bejahen. Denn die Mythologie ist z. B. im Rig-
Yeda so eng mit Religion verbunden, dass sie fast damit zusammenfällt
und Religion (diese Schrulle wird wohl nur noch sehr wenige „historische“
Anhänger haben) ist nicht vom Einzelnen erfunden und durch Überredung
oder List der Menge beigebracht, sondern ein Erzeugnis der Gesamtheit,
welches ihrem Bedürfnis ebenso entspricht, wie z. B. die Sitten, die ja
zum Teil religiösen Ursprung haben. Es mag sein, dass religiöse Dichter
die Vorstellungen von Agni bearbeitet haben, aber als Gegenstand religiösen
Gefühls können sie ihn mit seinen Haupteigenschaften und Thaten nicht er-
funden oder der Menge empfohlen haben. Ferner sind viele Mythen so
wunderlich, ja absurd, dass es jene Dichter unterschätzen oder die Gläubig-
keit des primitiven Menschen überschätzen hiesse, wenn man annimmt, er
habe infolge dichterischer Überredung jene Vorstellungen seinem religiösen
Inventarium einverleibt. Wir kommen also nicht von der Vorstellung los,
dass es wirklich Mythen als Erzeugnis der Gesamtheit gegeben hat.
Ja aber, Ihr deutet sie falsch. Beweis: Die Mythologen erklären ver-
schieden. Der eine sieht lauter Sonne, der andre hört nur den Wind
rauschen, ein dritter umnebelt uns mit Wolkengebilden. Ausserdem noch
zeigt die neuste, ja die allerneuste Etymologie, dass Eure Wort-
vergleichungen sich nicht halten lassen. Folglich ist die vergleichende
Mythologie Unsinn. Also wäre auch die Psychologie u. s. w. Unsinn, weil
die Erklärung der Phänomene fortwährend schwankt? Weil etwa die
geheimnisvoll-reichen Leistungen des Muskelsinns jetzt ein neues Licht
entzünden sollen oder weil mit Hypnotisierung und Suggestion operiert
wird, ist die ganze Psychologie in Frage gestellt? Wer das will, dem sei
das unschuldige Vergnügen gegönnt. Andere dagegen werden sich auf
den alten Satz berufen, dass eine Sache darum nicht schlecht oder unwahr
ist, weil ihre Beweise schlecht oder nicht allgemein überzeugend sind.
Und wenn mythologische Thatsachen vorliegen, so ist stetig, mit den
wechselnden Mitteln der Wissenschaft (zu denen hoffentlich auch Psycho-
logie und Logik gehören) die Erklärung zu versuchen. Wenn es also
Zur Mythendeutung*.
57
wirklich Mythen giebt (wie sie oben genannt wurden), so giebt es Mytho-
logie und wenn stammverwandte Yölker und solche, die es nicht sind,
Mythen haben, so giebt es auch eine vergleichende Mythologie.
Aber die falschen Wortdeutungen! Nun, die können im schlimmsten
Falle zu falschen Mythendeutungen führen; die Deutung selbst als Aufgabe
bleibt bestehen. Ausserdem ist die Etymologie und die vergleichende
Lautlehre eine Wissenschaft, welche stark in Fluss (und im Schwange) ist.
Wenn nun — man erschrecke nicht — es uns einmal so gehen sollte, wie
es Bopp und Schleicher ergangen ist und wie es noch ergeht, dass man ihr
Gewebe auflöst, wie es Penelope mit eigener Mühe that, soll man dann
aus der gegenwärtigen Beleuchtung der Sache so sicher auf ihre Unrichtig-
keit schliessen, selbst wenn die inhaltliche Ähnlichkeit von Mythen
ihrem Lautgewande zu widersprechen scheint? Selbst wenn die jetzt an-
genommenen Lautgesetze das zu verbieten scheinen, so bleibt die Frage,
wie haben die Menschen diese wunderlichen Vorstellungen entwickeln
können und wie kommt es, dass sie an verschiedenen Stellen einander so
ähnlich sind.
Wie sollen denn aber Mythen entstanden sein? Die einfachste An-
nahme scheint die: wie auch sonst die meisten Vorstellungen, nämlich
aus Anschauung1), aus Beobachtung der Aussenwelt, welche oder insofern
sie ein besonderes Interesse einflösste. Andre lassen sie ganz oder mit-
unter entstehen aus nicht mehr verstandenen Worten und Erzählungen
älterer Überlieferung. Dann hätten wir Erdichtungen, welche gleichsam
die Lösung des in der Dunkelheit der Überlieferung enthaltenen Rätsels
bilden. Dann wäre von einem eigentlichen Naturmythus nicht mehr zu
reden. Ein drittes ist die Kombinierung beider Methoden, welche neuer-
dings von dem französischen Sprachforscher V. Henry1 2 3) versucht ist in
seiner scharfsinnigen und geistreichen Abhandlung „Quelques mythes
naturalistes meconnus, Les supplices infernaux de l’antiquite“ (Paris,
E. Leroux, 1892. 24 S. 8°). Danach ist auch für Henry (worin ich ihm
völlig beistimme) die Naturanschauung das Erste. Sie krystallisiert sich,
wie man kurz sagen kann, zu einer ganz kleinen Erzählung, wie dies
ähnlich einmal von Steinthal8) dargestellt worden ist. Diese kleine Er-
zählung wird mit der Zeit zum Rätsel. Nun ist es ja bekannt, welche
magische Gewalt solche Rätsel auf unsere frühen Vorfahren ausgeübt
haben und wie beliebt sie waren (z. B. Rig-Veda I. 164. 20; Henry p. 17).
Dieses Knochengerüst eines alten volkstümlichen Rätsels formte man, wie
mit einer schöpferischen Apperception von atonistischer Färbung, zu dem
1) Ygl. meine „Psychologischen Studien zur Sprachgeschichte“ p. 108 f. 24 f. 211 f.
2) Ygl. über ihn Zeitschr. f. Völkerpsychologie XIX, 324 f. Im Jahre 1892 erschien
noch von ihm Le livre YII de l’Atharva-Véda, traduit et commenté. Paris, Maisonneuve.
132 S. u. X.
3) Zeitschr. für Völkerpsychologie IXr 277.
58
Boite :
lebensvollen Körper einer Erzählung um, welche als Mythos erscheint.
Den Stoff zu dieser Inkarnation nimmt die Phantasie gelegentlich auch
aus geschichtlichen Yorgängen.
So erzählte man sich z. B. zuerst von den „Dan ai den“ natürliche DingeT
dass sie den Hegen wie durch ein Sieb aus den Wolken fliessen lassen
(vgl. Aristoph. Wolken Y. 374). Was soll es aber bedeuten., dass sie fast
alle ihre Männer sogleich nach der Yermählung zu Tode bringen? Wer
ist denn jener Mann jeder Danaide? Run, es könnte der Blitz sein, der
sogleich tot ist (wie Schiller sagt), nachdem er sich entladen hat, der nur
die kurze Yermählung mit der Wolke erlebt. Daraus habe sich all-
mählich das Rätsel gbildet, welches hypothetisch die Form hat: cinquante
femelles humides — leurs maris meurent le jour des noces — elles versent
de l’eau dans un vase percé. Lösung: les nuées — les éclairs — la pluie.
Henry behandelt ferner Sisyphus, Tantalus, Tityus mit analoger Methode.
Darüber hinaus will er aber seine Parallelen auch lautlich durch Ver-
gleichung der griechischen Worte mit dem Sanskrit sichern, was den
Sprachforschern um so lieber sein wird, als Henry mit seiner sprach-
wissenschaftlichen Bildung in der vordersten Reihe steht. Indem ich die
Abhandlung dem Leser bestens empfehle, setze ich das Schlusswort des 4
Yerfassers als einen Ausdruck gemeinsamer Überzeugung hierher: je suis
de ceux qui pensent qu’en dépit des inévitables exagérations du principe
d’interprétation naturaliste, ce principe, appuyé sur la comparaison et l’éty-
mologie, demeure le seul solide qu’ „on y reviendra.“
Berlin.
Der Schwank von den drei lispelnden Schwestern.
Von Johannes Bolte.
In Müllenhoffs Sagen, Märchen und Liedern der Herzogtümer
Schleswig, Holstein und Lauenburg 1845 S. 413 steht ein Schwank von
drei schönen Schwestern, die kein Wort richtig aussprechen können und
deshalb von ihrer Mutter, als sich ein Freier anmeldet, den strengen Be-
fehl des Schweigens erhalten. Still sitzen sie an ihren Spinnrädern, während
die Mutter dem Freier die verschiedenen Vorzüge ihrer Mädchen anpreist,
da reisst der einen der Faden, und sie ruft: ,De Daet de bikt’ (Der
Draht bricht). Die zweite erwidert: ,Tütt em an!’ (Knüpf’ ihn an),
worauf die dritte ärgerlich sagt: ,Moder sä, wy schullen ni päken
(sprechen), päek all dee!’ Der Freier ist schnell ernüchtert, greift nach
seinem Hut und lässt sich nicht mehr blicken.
Der Schwank von den drei lispelnden Schwestern,
59
Die Geschichte ist weit verbreitet. Simrock (Deutsche Märchen 1864
Nr. 58) hat sie nach Müllenhoff wiederholt, und auch eine kürzlich von
Antje Carstens in der Zeitschrift Am Urquell 3, 293 mitgeteilte Fassung
aus Ditmarschen stimmt ganz zu Müllenhoffs Wiedergabe. In einer ebenda
von Anna Treichel erzählten Variante aus Westpreussen lauten die Aus-
rufe der Mädchen: ,Itt epei!’ und ,Nippe an!’, wozu die dritte
triumphierend bemerkt: , Bin tille gefiegen, werd ’en Manne
kriegen’. — In J. Haltrichs Deutschen Volksmärchen aus dem Sachsen-
lande in Siebenbürgen, 4. Aufl. 1885 Nr. 58 ist der heiratslustige Bursche
nicht zugegen, sondern die Mutter hat derjenigen Tochter einen Mann ver-
sprochen, die ein Bund Hanf schweigend abspinnen würde. Die Äusse-
rungen der drei Töchter aber sind dieselben: ,Fäden nätsch’ (— knätsch,
gerissen); ,Näp e Nitschen (— Knidchen, Knoten) drun’; ,Ei wol geat,
dät ich näst deried (geredet) hun1)!’
In andern Aufzeichnungen ist nicht der gerissene Faden, sondern eine
über die Diele laufende Spinne die Veranlassung, das gebotene Still-
schweigen zu brechen. So ruft in einer pommerschen Variante, die mir
Fräulein Hedwig P. erzählte, die älteste Tochter: ,Da ’itt ne ’Pinne!’
Die andere warnt: ,Ei doch ’tille!’ Und die dritte äusserst selbst-
zufrieden: ,1s man dut, das is niss desat habe’. — In der zweiten
von A. Treichel a. a. 0. veröffentlichten westpreussischen Fassung heisst
es: ,Eine Pinne, eine Pinne!’ ,Man tille, man tille!’ und ,Man
gut, dass ich nicht gepochen habe’. — In einer ebenda gedruckten
polnischen Erzählung endlich erregt die auf den Schrank gesprungene und
von der Butter naschende Katze den Unwillen des einen Mädchens so sehr,
dass sie das Gebot der Mutter vergisst.
Zu diesen jungen Aufzeichnungen aus dem Volksmunde füge ich eine
lim dreihundert Jahre ältere, die mir kürzlich in einer Meisterlieder-
sammlung des Nürnberger Schuhmachers Georg Hager (Berliner Mscr.
germ. quart 583, Bl. 245 a) aufstiess. Leider trägt dies Lied von den drei
Bauerntöchtern weder einen Autornamen noch ein Datum, doch steht es
mitten unter Meistergesängen, die ums Jahr 1550 entstanden sind; die
Sammlung Hägers ist 1588 angelegt und bis 1617 fortgesetzt. Man wird
aus dem nachstehenden Abdrucke die völlige Übereinstimmung des Meister-
liedes mit der zuerst angeführten Gestalt des Volksschwankes erkennen;
nur die Schlussstrophe macht eine etwas dürftige Nutzanwendung auf lästige
Sangesgenossen des Verfassers.
Auf andere von den Meistersängern, insbesondere Hans Sachs, be-
handelte Schwank- und Märchenstoffe einzugehen behalte ich mir für ein
anderes Mal vor.
1) Vgl. nun auch Am Urquell HI, 342 f.
60
Boite :
Die drei pauren dechter.
Im suessen thon Harders.
1.
Ein peuerin drei döchter hette,
die künden doch al drei nit reden wol,
doch weltens reden imer zu,
stacken geschwetzes vol.
5 Ein pauer vm die werben dette,
wolt sie al drei peschauen an dem ort;
verpot in ir mutter, ir solt
keine reden kein wort.
Als die heyrats leut in die stuben kamen,
10 saßen die drei vor dem ofen mit namen
vnnd spunnen alle samen:
in dem der eltsten ir faden abprach,
die spindel ir ant erden fiel,
sie zu ir Schwester sprach:
2.
15 ,Det, mi is mein faden aplochen.’
Das hört ir Schwester, wurd schelig daruon,
sprach: ,Was sat, das e plochen is!
so klüpel wide an!’
Die drit Schwester die sprach mit pochen:
20 ,Ei thun ir den nit peide weigen til?
Ei weigt, das euch dots nebe sent1),
de mutte sagen will.’
Als die heirats leut hörten die drei iungen
reden mit kindisch vngelencken zungen,
25 sie zu der thur aus trungen,
vnd wurd aus der heirat nicht vberal.
Daruon kumpt das alt Sprichwort,
das man nach saget vilmal:
3.
Welcher mensch nich wol reden kone,
30 der selbig doch imer zu reden will;
ob es im gleich vbel an steht,
doch acht er es nit vil.
Dem ist auch wol zu gleichen schone
ein singer, dem es auch nit wol aus gat,
35 an stim, lieblicher melodei
ser grossen mangel hat,
1) V. 21 bedeutet: ,Ei schweigt, dass euch Gotts Leben [?] schände!’
Zu dem Märchen von den sieben Grafen.
6]
vr>d wil doch imer pei den leuten singen:
so pald sie dan sein stim hören erklingen,
sie zu der tür aus dringen.
40 Ob er schon singt aus meisterlicher kunst,
so hat man doch seines gesangs
weder lieb, freud noch gunst.
Berlin.
Zu dem Märchen von den sieben Grafen.
(Zeitschrift des Vereins für Volkskunde II, S. 201 und 244.)
Yon Johannes Bolte.
Zu dem hübschen, von H. Carstens mitgeteilten Märchen hat schon
Weinhold vier verwandte Fassungen bei Müllenhoff (S. 586), J. W. Wolf
(Hausmärchen S. 98), W. v. Plönnies (Ztschr. f. d. Mythol. 2, 377) und
Curtze (1860 S. 141) nachgewiesen, denen man noch den ,Mann im Pflug'
bei Simrock, Deutsche Märchen 1864 Nr. 4, eine pommersehe Aufzeichnung
bei U. Jahn, Jahrbuch f. niederd. Sprachforschung 12, 158 (1887) und (Die
singende Besenbinderstochter’ bei Bartsch, Sagen, Märchen und Gebräuche
aus Mecklenburg 1879 1, 482 anreihen kann. Alle diese Erzählungen von
der getreuen Frau wiederholen, wie gleichfalls schon von Weinhold be-
merkt ist, den im 16. Jahrhundert durch Lied und Prosaerzählung ver-
breiteten Stoff des Grafen von Rom und des Alexander von Metz und
stimmen in einer auffallenden Eigentümlichkeit miteinander überein; es
sind nämlich Liedstrophen, oder besser gesagt Arien, in den prosaischen
Text eingestreut und den Hauptpersonen, der als Spielmann verkleideten
Frau und dem Grafen in den Mund gelegt, so dass der Schluss des
Märchens einen dramatischen, beinahe opernhaften Charakter erhält.
Plönnies berichtet, dass im Odenwalde beim Absingen der Strophen die
Zuhörer als Chor einfielen.
Woher stammen nun diese eingestreuten Yerse? Haben wir darin
Überreste einer umfangreicheren alten Ballade vor uns, wie sie Ulrich Jahn
für ähnliche Fälle voraussetzt? Dagegen spricht die breite Sentimentalität,
die uns auf das 18. Jahrhundert, frühestens das Ende des 17., hinweist.
Oder stammen die Stellen aus einem Drama her?
Wichtig für die Entscheidung dieser Frage ist die Thatsache, dass die
Liedstrophen sich seit dem Anfänge des 19. Jahrhunderts in fliegenden
Blättern besonders gedruckt nachweisen lassen. Aus der ,Ganz neuen
Lust-Rose’ 1807 Nr. 21 abgeschrieben steht der Text ,Was fehlet dir, mein
62
Boite :
Herz, dass du so in mir schlagest?’ (14. Str.) in einer von K. T. Heinze
zusammengestellten Volksliedersammlung auf der Bonner Universitäts-
bibliothek S. 504 Nr. 6. Andere Druckblätter finden sich in verschiedenen
Sammelbänden der Berliner Kgl. Bibliothek: Yd 7905, 32, 3 und 58, 2.
7908, 50, 4. 7909, 39, 5. 7911, 39, 3 und 48, 5. 7912, 20, 3; auch in
den von F. A. Cropp gesammelten Hamburger Drehorgelliedern 2, 178 auf
der Bibliothek des Vereins für hamburgische Geschichte. Eine kürzere
Fassung von sieben Strophen aus der Maingegend mit Melodie gab L. Erk,
Deutsche Volkslieder 2, 1 Nr. 3 (1811) = Mittler Nr. 784, eine dreistrophige
mit einer schöneren Weise aus Pommern Birlinger und Orecelius, Deutsche
Lieder 1876 Seite 8. Eine neunstrophige Variante steht bei C. Mündel,
Elsässische Volkslieder 1884 N. 81, eine vierzehnstrophige aus dem Volks-
munde mit Hinzuziehung eines gedruckten Textes bei v. Ditfurth, Deutsche
Volks- und Gesellschaftslieder des 17. und 18. Jahrhunderts 1872 Nr. 32.
Eine Vergleichung dieser verschiedenen Texte ergiebt, dass die längsten
unter ihnen die ursprünglichen sind, und dass die kürzeren aus jenen durch
Weglassung der Strophen entstanden sind, in denen sich bestimmte Be-
ziehungen auf die Geschichte von der treuen Frau finden.
Vgl. z. B. Str. 9 in Ditfurths Abdruck:
Ist jetzund das mein Lohn, o zeitliches Verlangen,
Dass ich so weit um dich wohl übers Meer gegangen
Und habe dich erlöst aus Ketten und aus Band?
Str. 10: Kennst du den Pilgrim nicht, dass du mich so verstössest,
Der viel gewagt daran, dass du nun bist erlöset
Wohl aus der Türken Hand?
Man darf also nicht denken, dass eine allgemein gehaltene Liebesklage
später in die Erzählunng von der treuen Frau übernommen und um-
gemodelt und vervollständigt wurde, sondern die Verse sind ursprünglich
für die in dieser Geschichte gegebene Situation gedichtet. Andererseits
sind sie für sich so wenig verständlich, dass sie sicher nicht von Anfang
an ein selbständiges Ganze gebildet haben, sondern aus einer grösseren
Dichtung entnommen sind. Berücksichtigt man das Versmass, die regel-
mässig zwischen männlichem und weiblichem Schlüsse wechselnden
Alexandrinerpaare, so liegt der Schluss ausserordentlich nahe, dass ein
Drama des 18. Jahrhunderts die Quelle für unser Lied abgegeben habe.
Leider vermag ich nun diese vermutliche Vorlage nicht nachzuweisen;
doch werden wir sehen, dass in der That der Stoff des Märchens auf der
Bühne der früheren Jahrhunderte zu wiederholten Malen Leben gewann.
Schon der Hamburger Heinrich Knaust (c. 1520—1577) schrieb um 1550
eine ,Comoedia germanica de comite proficiscente Hierosolymam ad videndum
sepulchrum Christi, capto in itinere et in aratrum subacto a Soldano rege
AegyptÜ, die uns jedoch nur aus seinem eigenen Verzeichnis seiner
Zu dem Märchen von den sieben Grafen.
63
gedruckten Werke1) bekannt ist. Und 1595 wurde auf der Wilhelmsburg
zu Schmalkalden eine Komödie vom ,Grafen Alexander am Pflug’ vor dem
Landgrafen Moritz von Hessen gespielt, und zwar betrug die Zahl der
Darsteller nur zwei1 2).
Im 17. Jahrhundert ward eine Umprägung der Erzählung, die der be-
gabte Jesuit Jakob Bidermann (f 1639) in seiner lateinischen Sammlung
Acroamatum academicorum libri tres3) veröffentlichte, auch für die Dramatiker
massgebend. Seine Novelle, die den Kitter Bertulphus und seine treue
Gattin Ansberta taufte, stellte die älteren Versuche Wolfgang Bütners4)
und Jakob Zannachs5) in den Schatten und regte die Ordensbrüder des
Verfassers wiederholt zu Bühnenbearbeitungen an. So wurde 1652 in Wien
ein Jesuiten drama ,Bertulphus durch Ansberta von Ottomani Gefängnuss
. . . erlöset’, 1660 in Neuburg an der Donau Ingeniosus amor, tragico-
comoedia. Pertulfus ingenio et arte coniugis Ansbertae e dira barbarorum
servitute et gravi aratri iugo in libertatem vindicatus’ und 1667 wiederum zu
Wien ,Fides coniugalis sive Ansberta sui coniugis Bertulfi e dura captivitate
liber atria? aufgeführt6). Das letztere Stück, von dem ein vollständiger Ab-
druck ohne Autornamen aus dem Jahre 1667 vorliegt7), rührt von dem
Jesuiten Nikolaus Avancini her und ist später in seiner Poesis dramatica
2, 253 — 359 (Coloniae 1675) wiederholt worden. Ob spätere Jesuiten-
aufführungen auf Avancini zurückgehen, habe ich noch nicht festgestellt:
Tauberbischofsheim 1708, Regensburg 1723 durch Judas Thaddäus Holl,
Luzern 1732 und Fritzlar 17698). Auch von der evangelischen bürger-
lichen Komödiantengesellschaft zu Biberach wurde 1742 Bertulfus und
Ansberta mit einem Nachspiel von dem alten Kaminfeger (für 13 Personen)
dargestellt9). Als eine Nachwirkung von Bidermanns Novelle ist es ferner
anzusehen, dass in einem Schauspiele, dessen Gegenstand die Weiber von
Weinsberg sind, der Frauen-Treu von Mison Erythreus von Gänßbrunn
(Saltzburg 1682), eine Frau, die als Mann verkleidet ihrem Eheherrn das
Leben rettet, den Namen von. Bidermanns Heldin Anßberta erhalten hat.
1) Schröder, Lexikon der hamburgischen Schriftsteller 4, 90 Nr. 21 (1866).
2) Habicht, Zeitschr. des Vereins für Henneb er gische Geschichte 3, 21 (1880).
3) Lib. 2, acr. 2, p. 202 — 233 in der Kölner Ausgabe von 1703: , Virtus celata
Clarion.
4) Epitome historiarum 1567, Bl. 350 (Archiv f. Litteraturgesch. 6, 324).
5) Vierdtes Theils Historischer Erquickstunden Ander Theil, Durch Didacum Apo-
liphthem Lusat. Leiptzig o. J. (um 1610) S. 61.
6) Scenarien bei Weller, Serapeum 1865, 63. 127. 271.
7) 2 -f 110 Bl. 4°. Exemplare in Graz und Stuttgart. Eine deutsche Fassung citiert
Anton Mayer, Wiens Buchdruckergeschichte 1, 262 Nr. 1589 (1883).
8) Sammelband des Luisenstädtischen Realgymnasiums zu Berlin. Mettenleiter,
Musikgeschichte der Stadt Regensburg 1866 S. 251. Katholische Schweizerblätter 1, 497
(1885). Sammelband in Kassel: Com. quart 60, 11: .Die äusserst verfolgte, aber aus der
höchsten Not errettete Gottesforcht, vorgestellet in Bertulfo und Ansberta’.
9) Ofterdinger, Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte 6, 43 (1883).
64
Boite :
Dem 18. Jahrhundert scheint eine weitere Umformung der Sage anzu-
gehören, die den Helden Rudolf von Paqueville nennt. Die älteste Spur
derselben bietet ein schweizerisches Volksdrama, von dem W. v. Plönnies
in Hennebergers Jahrbuch für deutsche Litteraturgeschichte 1, 1—31 (1855)
Nachricht gegeben hat. Hier finden wir die Ballade vom Grafen von Rom
mit der Sage vom Möringer zusammengeschweisst. Rodolph von Paqueville
hat einen Bruder Philibert, der mit ihm in türkische Gefangenschaft gerät.
Rodolph, der sanftere der beiden Grafen, wird von seiner ebenso gearteten
Gattin Roserta, die als Musikant verkleidet den Pascha durch ihren Gesang
zu rühren weiss, befreit, der ungestümere Philibert auf Marias Veranstaltung
gerade an dem Tage in die Heimat zurückversetzt, an dem seine Frau
Mechtild sich mit einem andern Ritter vermählen will. Das Stück ist um
1800 im Kanton Wallis von Lukas de Schallen im Geschmacke der späteren
Jesuitendramen in Alexandrinern gedichtet. Doch hebt Plönnies selbst
hervor, dass einzelne strophische Partieen, die er nicht ab druckt, auf eine
ältere dramatische Vorlage hinweisen, und verspricht eine weitere Unter-
suchung, die indes meines Wissens nicht erschienen ist,
Auf eine solche Vorlage weist auch das niederösterreichische Puppen-
spiel vom ,Grafen Paquafil’, das in den 1885 von R. Kralik und J. Winter
veröffentlichten Deutschen Puppenspielen S. 43 herausgegeben ist, zurück.
Allerdings giebt es nur die eine Hälfte des Walliser Dramas wieder, die
das Schicksal Philiberts behandelt1). Die Geschichte Rudolfs von Paque-
ville finden wir dagegen in einem Volksliede ,von dem Markgrafen von
Backenweil’, 29. Str. mit dem Anfänge ,Nun horchet zu und schweiget still'
wieder1 2 3).
Dass nun zwischen dem in Alexandrinern geschriebenen Drama des
18. Jahrhunderts, das möglicherweise auch in ein prosaisches Volksbuch
mit Versresten, ähnlich dem niederländischen Volksbuche von Florentina
und Alexander von Metz8) umgeformt wurde, und zwischen den oben auf-
gezählten Märchen ein gewisser Zusammenhang besteht, lässt sich ausser-
dem wahrscheinlich machen durch das in mehreren Fassungen (bei Plönnies,
Wolf und Curtze) erscheinende Motiv des Bruders des Helden, der mit
ihm in die Türkei zieht, seine Gefangenschaft teilt und von der treuen
Gattin mitbefreit wird. Diese Person, die in den Märchen ganz überflüssig
ist, stammt offenbar aus der Vorlage des Walliser Schauspiels her, wo der
ungestüme Bruder und seine leichtherzige Frau als Gegenbilder zu dem
Helden und seiner aufopfernden Gattin ausgeführt sind.
Noch bemerke ich, dass Leonhard Wächter in seinen unter dem
Namen Veit Weber herausgegebenen ,Sagen der Vorzeit’, die durch ihre
1) Auf diesen Zusammenhang hat schon Minor in der Zeitschrift für deutsche Philo-
logie 1888 aufmerksam gemacht.
2) Fliegendes Blatt auf der Berliner Bibliothek Yd 7918, 1.
3) Uhland, Schriften 4, 305.
Zu dem Märchen von den sieben Grafen.
65
gesuchte und fratzenhafte Altertümelei heut nur abstossend wirken, die
Ballade vom Grafen von Born in der Erzählung (Der graue Bruder (in des
Frauenlobs Ton), erneuert hat4 1).
Anhang.
Um die mir bekannten Zeugnisse über die Erzählung von dem Grafen
von Paqueville dem Leser zugänglich zu machen, lasse ich hier anhangs-
weise das oben angeführte Lied folgen, wenn es auch weder besondern
poetischen Wert besitzt noch in einer guten Überlieferung vorliegt. Es
behandelt geradeso wie das Puppenspiel nur das Schicksal des einen
Bruders Philibert und ist also mit den verschiedenen späteren Ausläufern
der Sage vom Möringer zu vergleichen, über die am ausführlichsten
W. v. Tettau, Über einige bis jetzt unbekannte Erfurter Drucke (Jahr-
bücher der Kgl. Akademie zu Erfurt. N. F. 6, 243—291. 1870) gehandelt
hat; vgl. Uhland, Schriften 4, 286. 8, 431. Liebrecht, Zur Yolkskunde
1879 S. 168. F. Yogt, Paul-Braunes Beiträge 12, 431. Minor, Yierteljahrs-
schrift für Litteraturgeschichte 1, 282.
Schönes | Geschicht-Lied | von dem | Markgrafen Backenweil, | welcher | im Krieg von den
Türken gefangen, und | nach überstandenem grossem Ungemach | wunderbarer Weise aus
der Sclaverei | befreit worden ist. | Sehr angenehm und merkwürdig zu lesen. | □ | Gedruckt
in diesem Jahr, j 4 Bl. o. J. (Berlin Yd 7918, 1.)
1. Nun horchet zu, und schweiget still,
AVir singen vom Markgraf von Backenweil,
AYie ist es ihm ergangen.
Er ist gezogen in Ungarischen Krieg,
Von den Türken wurd er gefangen.
2. Er blieb gefangen sieben Jahr;
Er schrieb gar oft um Kanzion,
Hat niemals kein Antwort empfangen.
Das war dem Herrn eine schwere Buss,
Keinem Menschen könnt ers klagen.
3. Er wurd vor einen Pflug gespannt,
Viel Hunger und Durst er oft empfand,
Gar hart wurd er geschlagen.
Das war dem Herrn eine schwere Buss,
Keinem Menschen könnt ers klagen.
4. Graf Backenweil lag in einem Stall,
Er hat eine Ketten um den Hals
Und eine an den Füssen.
Die Lebens-Nahrung, die man ihm gab,
Musst er mit den Hunden geniessen.
5. Er ward zum vierten Mal verkauft,
Zum fünften Mal, dass ers nicht weisst,
Das that den Türk verdriessen.
Er rufte seinem Diener zu:
Du musst ihn morgen todt. schiessen.
6. Der Diener war bereit geschwind,
Geht in den Stall, wo er ihn findt,
Und thut es ihm ansagen:
Er sollt sich rüsten zu dem Tod,
Morgen müsst er ihn todt schiessen.
7. „Du hast mir schon oft gesagt
Von deinem Gott, er war so stark.
Bitt ihn zu dieser Stunde!
Es ist kein Mensch auf dieser Welt,
Der dir mehr helfen könnte.“
8. Graf Backenweil kniete sieben Stund,
Bis er vor Ohnmacht niedersunk,
Sank nieder auf die Erden.
Er schlief nur eine kleine Weil,
Es wird ihm schon besser werden.
1) Bd. 2, 399—450 der 2. Auflage, Berlin 1790,
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
66
Boite: Zu dem Märchen von den sieben Grafen.
9. Weil er schlaft eine kleine Weil,
Kam er dreihundert und vierzig Meil.
Und da er daraus erwachet,
Da lag er unter einem Baum
Gar nahe hei seinem Schlosse.
10. Graf Backenweil sähe hin und her,
Er sähe ein Mägdlein bei der Heerd,
Er sprach ganz unverdrossen:
„Mägdlein, liebes Mägdlein mein,
Sag mir, wem gehört das Schlosse?“
11. „0 lieber Bruder, ich will dirs sagen:
Es gehört dem Markgraf Backenweil,
Der ist schon lang gestorben,
Er ist gezogen in Ungarischen Krieg,
Bey den Türken ist er verdorben.“
12. „Mein Kind, tliu mir noch weiter sagen:
Was sind denn jenes für Kutschen und
Wagen,
Oder was thut passieren?
Was ist heut daselbst für ein Fest,
Dass alles thut dahin marschieren?“
13. „Mein lieber Bruder, ich will dirs sagen,
Die gnädige Frau will Hochzeit haben,
Sie lässt sich copulieren
Mit einem Herrn von Falkenstein;
Darum thun sie dorthin marschieren.“
14. „Hab Dank, mein liebes Mägdelein!
Fürwahr ich will auch sein dabei,
Ich will mich adressieren.“
Er nimmt den Stab in seine Hand,
Thut langsam zum Schloss marschieren.
15. Und als er für die Porten kam,
Der Portner schaut ihn gar sauer an:
„Wo kommst du her getreten?
Fort, packe dich nur gleich darvon!
Man braucht hier keine Bettler.“
16. rAch Gott, ich bin kein Bettler nicht,
Aus Ungarn komm ich erst daher;
Ich bringe Nachricht aus Türkei,
Wo es dem Grafen von Backenweil
Gar übel ist ergangen.“
17. Der Portner sprach: „Pack dich nur
fort!
Man braucht heut keine Commission.
Thue nur nicht disputieren,
Oder ich nehm den Stock zur Hand
Und thu dich wacker abschmieren.“
18. Graf Backenweil ging traurig davon,
Er bliebe draussen vor dem Thor
Und dacht in seinem Herzen:
„Der liebe Gott weisst alles wohl,
Mit dem will ich nicht scherzen.“
19. Die Herren waren alle beisammen,
Sie wurden vom Hofherrn wohl empfangen.
Ein Herr sprach zu dem Portner:
„Es steht ein Armer vor dem Thor,
Der jämmerlich thut klagen.
20. Er hat mich auf das höchst gebeten:
Er komm aus Ungarn hergetreten
Und woll sich adressiren,
Er hab Commission an die gnädige Frau,
Begerht Bittweis mit ihr zu reden.“
21. Ein Diener macht sich auf geschwind,
Lauft zu der Frau, wo er sie find,
Und thut ihr solches sagen:
Es sei ein Armer vor dem Thor
Mit jammervollen Klagen.
22. „Lasst mir den Armen kommen hieher!
Möcht wissen, was sein Begehren wär,
Eh es zur Kirche läutet.
Es nimmt mich Wunder, was es mög sein,
Dass er uns will andeuten.“
23. „Ach gnädige Frau, seiet hoch gebeten,
Ich komm erst aus Ungarn her getreten,
Bin durch Türkei gegangen.
Ich sah den Herrn von Backenweil,
Es ist ihm gar übel ergangen.“
24. „Mein Kind, thu mir noch weiters
sagen!
Was thut er für ein Kleidung tragen?
Was trägt er für ein Kittel?
Was hat er für ein Liverei?
Was führt er für ein Tittel?“
25. „Er trägt einen langen leinenen Rock,
Kein Hut hat er auf seinem Kopf,
Keine Schuh an seinen Füssen;
Die Lebens-Nahrung, wo er hat,
Muss er mit den Hunden geniessen.“
26. „Ach, mein Kind, thu mir weiters
sagen, —
Anstatt der Freude hör ich klagen —
Wo könnt ich ihn antreffen?
Ich will dich gern mein Lebenlang
Für mein eigen Kind anrechnen.“
Rätselfragen, Wett- und Wunschlieder.
67
27. „Ach, gnädige Frau, wollt ihr das thun,
So geht mir eure Hand darzu!
Seht hier meinen kleinen Finger!
Mein Schatz, wenn du mich sonst nicht
kennst,
So kennst du das golden Ringlein.“
28. Da [die] Gnädige Frau den Eh-Ring sah,
Fiel sie dem Markgraf um den Hals.
Sie sprach: „Fahrt fort, Kutschen und
Wägen!
Mein erster Ehinann lebet noch,
Kein andrer soll mir werden.“
29. Die Herren waren sehr erfreut,
Sie dankten Gott in Ewigkeit
Yon wegen den Wunderdingen.
Dem Bräutigam ist es nur leid,
Dass er muss leer von hinnen.
Berlin.
ßätselfragen, Wett- und Wunsclilieder.
Von K. Julius Scliröer.
„Altes Erbgut germanischer Stämme,“ nennt Uhland (Schriften 3, 181)
die Wett- und Wunschlieder, die wir „im nordischen Altertum, bei
den Angelsachsen, bei den Liederdichtern des deutschen Mittelalters und
fortwährend in den Schulen der Meistersänger, besonders aber auch im
deutschen und verwandten Volksgesange antreffen.“ Zu dieser Dichtungsart
zählt man auch das sogenannte Pilgerlied, mit dem der unbekannt auf-
tretende Pilger sich empfiehlt. — Zur Erläuterung des deutschen Pilger-
liedes brachte J. Grimm (altd. Wälder 2, 29 f. Uhlands Schriften 3, 289)
eine Stelle aus der Legenda aurea in der Erzählung vom heiligen An-
dreas. Sie lautet: Proponatur sibi (Peregrino) aliqua quaestio satis gravis,
quam si enodare sciverit, admittatur, si autein nescierit, tanquam inscius
et indignus episcopi praesentia repellatur.“ Eine eigene Art des volks-
mässigen Gebrauches von Rätselliedern wird geschildert in August Hart-
manns „Weihnachtslied und Weihnachtspiel in Oberbayern S. 53“ und
in desselben Verfassers „Volksschauspiele in Bayern und Österreich-Un-
garn“ S. 190 unter dem Namen „Das Anrollen“.
Eine poetische Form der Anwendung von Rätselfragen hat sich aus-
gebildet in der grossen deutschen Sprachinsel in Ungarn, die der Heide-
boden heisst, der sich an Pressburg anlehnt, nur dass Pressburg am
andern Donauufer liegt; die Bewohner heissen die Heidebauern. Der
Heideboden grenzt an eine noch grössere deutsche Sprachinsel in Ungarn,
die Hienzei (s. Frommann, Zeitschrift „Die deutschen Mundarten 1859.
Band 6. S. 21. 179. 330.) — Ob sie heute noch deutsch sind, wissen wir
nicht. Bekanntlich sind von der ungarischen Regierung Verfügungen
5*
68
Schröer:
getroffen, durch welche die deutsche Sprache völlig ausser Brauch gesetzt
werden soll. In Kinderschulen, Volksschulen, Mittelschulen und Hoch-
schulen steht die Magyarisation der Jugend obenan. Keine Stimme regt
sich, die stark genug wäre, diesem Wesen ein Halt zuzurufen! —
Die deutschen Bewohner der Hienzei, die Hienzen waren schon im
Lande bei Einwanderung der Magyaren; die Heidebauern aber sind protestan-
tische Exulanten, die ungefähr um 1630 eingewandert sind. — In der
seltenen Schrift „Pressburger Kirchen- und Schul-Verlust von Reimundo
Rimando 1673“ heisst es S. 19: Nachdem in die Stadt Pressburg schon
vor 40 und mehr Jahren sehr viel lutherische österreichische Exulanten,
entweder um ihren Gottesdienst da zu verrichten oder sich gar allda nieder-
zulassen (zu)gereiset.“ Die Zahl der Evangelischen nahm so zu, dass
1636 eine lutherische Kirche in der Stadt erbaut ward (Geschichte der
Protestanten in Österreich von G. E. Waldau, Anspach 1784.)
Diese demnach um 1630 etwa zugewanderten Exulanten brachten die
Weihnachtspiele mit. Sie kamen aus Österreich und liessen sich in
Pressburg und Umgegend und auf dem Heidehoden nieder. Die Be-
völkerung Pressburgs, besonders die protestantische, die Weingärtner der
Vorstädte, sind mit den Heidehauern vielfach verschwägert.
Auch in Pressburg blühten meist die Weihnachtspiele, wie aus meiner
Ausgabe der Deutschen Weihnachtspiele in Ungern (Wien 1858)
bekannt ist.
Die Sitte der Rätselfragen wurde nun so gehandhabt. — In allen Orten,
wo man die Weihnachtspiele aufzuführen pflegte, konnte dies nur unter
besonders günstigen Umständen geschehen. Es mussten z. B. die passenden
Gestalten zur Darstellung des Herodes, des Teufels, der Maria (durch
einen Burschen dargestellt) u. s. f. vorhanden sein. Wenn das der Fall
war, so wurden auch die Rätselfragen, die der Hauptmann des Herodes
können musste, einstudiert. Wo die Spiele in Blüte stunden, da lebte
man für dieselben vom 1. Advent bis zum h. Dreikönigtag. An Sonn-
und Feiertagen wurde auf der heimischen Bühne gespielt in einem Sale
etwa des Gasthauses, und zwar zwei- oder dreimal an einem Nachmittag;
an Werktagen auswärts. Weil um diese Zeit, auch wenn nicht gespielt
wurde, die guten Protestanten unter dem Vorsitze des Meistersingers1)
viel beisammen sassen und sich im Bibelaufschlagen und im Kirchen-
gesang übten, um zum Gruss und Lebewohl, zu allen Lebenslagen, ein
Lied zu können, da liess sich das Einstudieren der Spiele ganz im Stillen
zustande bringen, indem es den Anschein hatte, als oh man nur in an-
gedeuteter Weise sich üben wollte. Ein Ort wusste von dem andern also
1) Meistersinger hiess in Oberufer der Darsteller des Königs Melchior, sonst Altkunig
genannt. Wahrscheinlich war der Meistersinger ursprünglich auch Lehrmeister der Spiele
und war die Lehrmeisterschaft in Oberufer aus persönlichen Gründen einem Nichtmit-
spielenden übertragen.
Rätselfragen, Wett- und Wunschlieder.
69
nicht, ob heuer gespielt werden sollte. — Wenn nun eine Gesellschaft der
Meinung war, dass in einem Nachbardorfe heuer nicht gespielt werde, so
zog sie dahin mit dem grünen Baum des Paradieses voraus, neben dem
der riesige Stern getragen ward und es folgten alle Personen des Spiels
im Kostüm. AVenn nun in dem Dorfe die Spiele doch einstudiert waren,
so trat der heimische Hauptmann des Herodes dem fremden Hauptmann
entgegen und legte ihm Fragen vor, die er in Reimen beantworten sollte.
Da nun jeder Ort andere geheim gehaltene Fragen hatte, konnte der
Fremde nicht antworten. War im Orte ein gerüsteter Hauptmann nicht
vorhanden, so stund nichts im Wege, dass die fremde Gesellschaft spielte
und sie ward mit Jubel begriisst. Sie fragte nach dem Hauptmann des
Ortes, der sich nicht stellte, wenn er nicht vorbereitet war. Wenn er
sich stellte, ohne eine Aufführung anzeigen zu können, so durfte der
fremde Hauptmann fragen; jener konnte nicht antworten und musste das
Feld räumen.
Ich habe in den deutschen AVeihnachtspielen in Ungern S. 207 die
Rätselfragen der Sternspielbruderschaft von Pressburg mitgeteilt. Die
von Oberufer, wo man mir die Texte der ganzen Spiele anvertraute,
hielten aber ihre Rätselfragen auch vor mir geheim! Erst im Jahre 1861
überlegten sie sicli’s besser und übersandten sie mir freiwillig. Der Haupt-
mann des Herodes rüstet sich immer noch zu dem Kampf, wenn ein
fremder Hauptmann käme: „er soll nur kommen, wir sind bereit!“ —
Seine Bereitschaft hat etwas tragisches, indem auf der ganzen Welt kein
zweiter Hauptmann mehr vorhanden ist, der ihm gefährlich werden könnte.
Das Rätsellied1) teile ich nun hier mit.
Zween Haubtleut singen.
Mel.: Allein auf Gott setz dein Vertraun etc. etc.
Fremder: Ihr lieben Brüder griiss Euch
schön,
Weil Ihr so ferren zu uns kommt her!
Habt Ihr ein Bürg für diesen Stern,
So lasst Euch doch mit singen hoern.
Oberufer er: Mit singen, lieber Bruder
fein,
Mit singen soll die Antwort sein:
Ich hab den Stern in meiner Hand;
AVas du mich fragst, ist mir bekannt.
Fr.: Ist dir auch alles gut bekannt,
Dass du mit bleibest in der Schand?
Sonst werd ich dir ein Lied aufschlagn,
Darein sollst du die Wahrheit sagn.
Ob.: Du willst mir erst das Lied auf-
schlagn?
Ich kann dir schon die AYahrheit sagn:
Was in dem Lied zu lesen ist,
Das steht auch in der heil’gen Schrift.
Fr.: So fange ich das Lied jetzt an,
Weil du es ja gut singen kannst;
Zu wissen, was du gelernet hast,
So gieb mir Antwort auf die Frag.
1) In der Abschrift, die vorliegt, ist es „Sterngesang der Oboruferer“ genannt, was
sich aus Str. 2, 3 erklären kann. Das eigentliche Sternlied ist es nicht, vgl. Weihnacht-
spiele aus Ungern S. 206.
70 Schröer: Rätselfragen,
Ob: Ein Singer bin genennet ich,
Will hören, was du mir vorsprichst;
Dann will ich dir mit Freundlichkeit
Antwort geben, des bin ich bereit.
Wett- und Wunschlieder.
Er.: Mein lieber Singer, sage mir
Um dieses, was ich frag von dir:
Das welche Feuer ist ohne Hitz?
Der welche Thurm ist ohne Spitz1)?
Fr.: Ich frag dich nun mit Freundlichkeit,
Du sollst mir geben guten Bescheid:
Willst du ein Singer sein auserkorn,
Sag, warum ist Christ, der Herr, geborn?
0 b.: Ein solcher Singer bin ich frei,
Antwort zu geben vermag ich frei:
Christus, der Herr, ist drum geborn,
Dass wir nicht alle sein verlorn.
Ob.: Alles was du jetzt fragst von mir,
Will ich mit Freuden sagen dir:
Gemaltes Feuer hat keine Hitz,
Der babylonische Thurm hat keine Spitz.
Fr.: Ein Singer bist genennet hier,
Eins frag ich dich, das sage mir:
Der welche Wald ist ahne Laub?
Die welche Strass ist ahne Staub?
Fr.: Weils du dich einen Singer nennst,
Und dich zu Christus, dem Herrn, be-
kennst,
So sage mir, in welcher Stadt
Als Christ der Herr geboren ward?
0 b.: In welcher Stadt will ich dir sagn,
Weils du mich so genau thust fragn:
Zu Betlehem in einer Streu,
In einer Kripp auf Stroh und Heu.
Fr.: Weils du nun so viel wissen thust:
Wie viel haben das Kind gesucht?
Wem ist’s am ersten kund gethan
Und wo sind sie gewesen dann?
Ob.: Der Engel hat es kund gemacht
Wohl den drei Hirten bei der Nacht,
Als sie da auf dem Felde lagn
Und ihrer Herden Schafe pflagn.
Fr.: Um eines will ich dich noch fragn,
Mit singen sollst du mir wohl sagn,
Bist du ein Singer in der That:
In welcher Schüssel die Welt gessen hat?
Ob.: Weil du mich auch um dies thust
fragn,
Mit singen will ich dir es sagn,
Ich bin ein Singer auserlesn:
Das ist in Noae Kasten gewesn.
Ob.: Alles was du mich nun thust fragn,
Das will ich dir von Herzen sagn:
Der Tannenwald ist ahne Laub,
Die Himmelsstrass’ ist ahne Staub.
Fr.: Weils du ein guter Singer willst sein
Und hast Christum bekennet frei,
Hast gelernet den Katechismus fein:
Sag mir, was die zehn Gebot solln sein?
Ob.: Mein lieber Singer, alle Zeit
Will ich dir geben guten Bescheid;
Du folgest Christus, deinem Herrn,
Drum kann ich dir die Gebot erklärn.
Fr.: Mein lieber Singer, mir so viel sag,
Nur um drei ich dich thu fragn.
Das erste zweit und dritte sag,
Was Gott darin geschrieben hat?
Ob.: Du sollst glauben an einen Gott,
Du sollst nicht schwören bei deinem
Gott,
Feiertag sollst heiligen, spricht dein Gott,
Das sind die ersten drei Gebot.
Fr.: Noch drei, mein lieber Singer sag,
Weils du die zehn gelernet hast,
Dann will ich glauben alles dir,
Weils du thust Antwort geben mir.
1) Diese und die nächstfolgenden Fragen begegnen auch in andern Rätselliedern, vgl.
unter andern Mittler, Deutsche Volkslieder Nr. 1306. 1307 und die Nachweisungen daseihst
2. A S. 29; Tschischka, Österreich. Volkslieder S. 28 f. Müller, Volkslieder aus dem Erz-
gebirge S. 70. Peter, Volkstümliches aus Österreichisch-Schlesien 1, 272.
Rätselfragen, Wett- und Wunschlieder.
Ob.: Mein lieber Singer, ich will dir sagn,
Weibs du mich noch um drei thust fragn:
Vater und Mutter sollst ehren gut,
Nicht töten und auch nicht stehlen thu.
Pr.: Mein lieber Singer, ich bitte dich,
Denn ich bin hier und frage dich,
Dass du mit reinem Herzen hier
Die rechte Wahrheit sagest mir.
Ob.: Mein lieber Singer, ich kann dir sagn,
Wenn alle Felberbäum Feigen tragn,
Dann will ich dir vor meinen Tagn
Kommen und dir die Wahrheit sagn.
Wien.
71
Fr.: Jetzt schliessen wir ja unser Lied,
Weil du mir gute Antwort giebst.
Ich will dich ja um keines fragn,
Denn kein Felberbäum kann Feigen
tragn.
Ob.: Mein lieber Singer, ich kann dir sagn,
Wenns du mich nur um viel thust fragn,
Mit Gottes Hilf kann ich dir sagn,
Was du dir wünschest, mich zu fragn.
Fr.: Amen, das Lied ist nun vollbracht,
Ich wünsch dir, Singer, gute Nacht.
Wir haben uns mit Gottes Hilf
Vereinigt mit dem Sternenlied.
Yolksrätsel
aus der Grafschaft Ruppin und Umgegend1).
Gesammelt von K. Ed. Haase.
1. An unse Hus | Hängt ne Perlepus
Un wenn de lewe Sonne scheint, | Dann unse Perlepuse weint.
Der Eiszapfen.
2. Welche Brücke ist aus einem Stücke erbaut?
Die Eisbrücke.
3. Ein Mann im weissen Kleid will die ganze Welt bedecken und
kann es nicht übers Wasser breiten. Der Schnee.
4. Witt rup näh’t Dack und schwatt werr’ runn.
Der Schneeball (vgl. Nr. 91).
5. Krüppt dörch ’n Tun un rasselt nich. Die Sonne.
6. Johann, spann an, | Drei Katten voran,
Drei Müs vorup, | Johann sitt drup. Das Siebengestirn.
7. In meines Vaters Garten stehen sieben Kameraden, keine Eichen,
keine Buchen, und wer es kann erraten, soll die Nacht bei mir schlafen.
Das Siebengestirn.
8. Welche Hosen kann kein Schneider machen?
___ Die Wasserhosen.
1) Gesammelt in Rechlin, Dierberg, Herzberg, Keller, Kraatz, Protzen, Ruppin (Alt-
und Neu-), Seebeck, Stöffin, Teschendorf, Gadow (Kr. Ostpriegnitz) und Tarmow (Kr. Ost-
Havelland).
72
Haase:
9. Et lcrüppt wat dörch den Tun un schleppt alle Därmen nach.
Die Glucke mit den Küken.
10. Wo kümmt de Flöh näh’t Bett? Schwarz.
11. Es kamen zwei gegangen, die nahmen ihn gefangen. Sie führten
ihn zu Friwweldewipp, von Friwweldewipp zu Nägel; da wurde er yon
ihnen zerknickt. Zwei Finger, die einen Floh ergreifen u. s. w.
12. Kümmt en Mann von Hickenpicken,
Droegt en Kled von bunten Flicken
Un het ök enen roten, fleschenn Bart.
Hoert mal, wie de Düwel rärt. Der Hahn.
13. Wer kann nachsprechen: „Der Hahn, der Hahn und nicht die
Henne?“ Der Hahn, der Hahn.
14. Worüm rönnt de Häs äwern Berg?
Weil ken Lock dörch is.
15. Zweibein sass auf Dreibein. Da kam Yierbein und wollte Zwei-
bein beissen. Zweibein nahm Dreibein und that Yierbein damit schmeissen.
Ein Hund (Yierbein) will ein Mädchen (Zweibein),
das auf einem Schemel (Dreibein) sitzt, beissen. Diese
nimmt den Schemel und wirft nach dem Hunde.
16. Zweibein ging nach dem Feld und hatte Dreibein auf dem Nacken;
da kam Yierbein und wollt Zweibein beissen. Da nahm Zweibein Drei-
bein und wollt’ Yierbein damit schmeissen.
Zweibein, ein Bauer; Dreibein, eine Mistforke; Yierbein, ein Hund.
17. In Ilow (Auf Phylax) geh ich, | In Ilow (Auf Phylax) steh ich,
[In Ilow bin ich selbst gericht’ (Auf Phylax geh ich säuberlich);]
Meine Herren, ihr rat’ts (das raten die Herren) in drei Tagen nicht.
Schuhe aus dem Felle eines Hundes, der Ilow (Phylax) hiess.
Wenn die dritte Zeile fehlt, erklärt man das Rätsel durch folgende Er-
zählung: Ein Mann war wegen eines schweren Yerbrechens angeklagt, und
da die Beweise seiner Unschuld nicht erbracht werden konnten, wurde er
zum Tode verurteilt. In dieser Not erbat sich seine Frau ein Gottesurteil,
indem sie zu den Richtern sprach: „Meine Herren, ich will Ihnen ein
Rätsel aufgeben, und wenn Sie es in drei Tagen erraten, dann ist mein
Mann schuldig; wenn aber nicht, ist er unschuldig,“ und sie gab ihnen
vorstehendes Rätsel auf. Da es die Richter nicht erraten konnten, wurde
der Mann freigesprochen. — Wenn die dritte Zeile mitgesprochen wird,
dann ist die Yerurteilte, die das Rätsel aufgiebt, eine Frau oder ein
Mädchen. Die Worte: „Auf Phylax geh ich säuberlich“ sind also jeden-
falls entstellt aus den Worten: „Auf Phylax bin ich selbst gericht’“.
18. Ein Mädchen (Sorg’) sollte hingerichtet werden: doch versprach
man ihr die Strafe zu erlassen, wenn sie in drei Tagen ein Rätsel auf-
geben könne, das niemand riete. Als sie am dritten Tage zur Hinrichtung
Yolksrätsel aus der Grafschaft Ruppin und Umgegend. 73
gefahren wurde, sah sie eine Krähe mit einer Maus fliegen, und nun
sprach sie:
Sorg’ satt up ’n Wägen, | Sorg’ sach en dritten drägen,
Drei Köpp’ un acht Ben, | Sorg’ het in Lewen sonn Ding nich sehn.“
Da niemand das Rätsel raten konnte, so erhielt sie ihre Freiheit.
Die Krähe mit der Maus und sie selbst.
19. Es geht eine Dame stolz spazieren und hat ein kohlschwarz Röck-
lein an. Die Krähe (der Rabe).
20. In einer Mühle stehen sieben Säcke, auf jedem Sacke liegen sieben
Katzen, und jede Katze hat sieben Junge; daneben steht der Müller. Wie-
viel Füsse sind in der Mühle?
Zwei, die des Müllers; denn die Katzen haben Pfoten.
21. Ist schwarz, kocht rot und geht meist rückwärts. Der Krebs.
22. Ich kenn ein kleines Tierchen,
Das trägt die Knochen über dem Fleisch.
Sagt mal, wie das Tierchen heisst? Der Krebs.
23. Eine Dame ging über den Hof und liess einen grünen Teller
fallen. Kuh und Kuhfladen.
24. Als ich jung war, konnte ich vier bezwingen; als ich älter ge-
worden, musste ich Berge umringen, und als ich tot war, musste ich auf
den Tanzplatz gehen.
Das Rind, das als Kalb an dem Euter sog, später
den Haken zog und dessen Fell nach dem Tode
zur Fussbekleidung gebraucht wurde.
25. Yier gehangen, vier gegangen, zwei Wegweiser und ein Nach-
klapper; was ist das?
Die Kuh mit vier Zitzen am Euter, vier Füssen,
zwei Augen und einem Schwanz.
26. a) Hinner unse Hus, I Da ploegt oll Nawer Krus
Ahn Haken, ahn Stett. | Seggt, wo rnökt he det?
b) Hinner unse Hus, | Da hakt Peter Krus
Dörch Distel un Dorn | Un ’t wern doch jroje Forn (= gerade
Furchen).
c) Hinner unse Schün’ | Ploegt Yater Kühn
Ohne Plog un ohne Schär, j Un doch werd’t ne depe Fähr.
Der Moll (= Maulwurf).
27. Wipp-hup un Werp-liup | Gähn bei’ näh’n Berg rup,
Acht Foet un en Stett (= Sterz, Schwanz), ] Räj’ mal, wat is det.
Frosch und Maulwurf.
28. Auf dem Dache sitzen zehn Tauben; ein Jäger schiesst zwei davon
herunter; wieviel bleiben sitzen?
Keine; denn die übrigen acht fliegen hinweg.
29. Welcher König kann fliegen? Der Zaunkönig.
74
Haase:
30. Welcher König hat kein Land? Der Zaunkönig.
31. In welchem Walde wächst kein Laub? Im Nadelwalde.
32. Welche Augen sitzen nicht im Kopfe? Die der Bäume.
33. Unse Knecht Knust | Het en Ding wie ne Fust.
Weht der Wind, | So bammelt dat Ding. Die Birne.
34. Ich ging mal über Feld, | da begegnete mir Gotthelf
Und fand ein klein Wunderstück, | Das war wie mein klein
Finger dick.
Draus könnt ich schneiden | Zwei Speckseiten
Und eine Pfaft'enmütz. Die Eichel.
35. Wenn sie kommen, dann kommen sie nicht; und wenn sie nicht
kommen, dann kommen sie. Was ist das?
Ein Landmann, der Erbsen sät, meint: Wenn die Spatzen (Tauben)
kommen, dann gehen die Erbsen nicht auf; denn sie werden von ihnen
weggefressen. Wenn aber die Spatzen (Tauben) nicht kommen, dann
gehen die Erbsen auf.
36. Wieviel Erbsen gehen in den Topf?
Keine; denn sie werden alle hineingethan.
37. Hinter unse Hus, da steit en klen Männeken un het en roten
Käppel. Die Felddistel.
38. Was ist das, was grün aufsteht, blau dasteht und weiss zu Bette
geht? Der Flachs.
39. Als ich jung und schön war, da war ich blau bekrönt; als ich
aber alt und schief geworden, wurde ich geknüppelt, geschlagen und dar-
nach von Kaiser und König getragen. Der Flachs.
40. As ik jung war, trug ik ne blaue Krön;
As ik old war, wat ik stott (gestossen) un schlän.
Der Flachs.
41. Es wüchset aus der Erde | Und kleidet jedermann
Yom Kaiser und vom König ) Bis zu dem Bettelmann
oder
Den Kaiser und den König | Und auch den Bettelmann.
Der Flachs.
42. Was für eine Behörde ist die Kartoffel?
Ein Stadt- und Landgericht.
43. Gross wie ein Haus, | Klein wie eine Maus,
Stachlicht wie ein Igel, | Glänzend wie ein Spiegel.
Die Kastanie.
44. Sitzt auf ein Täckchen (= Zäckchen), | Hat ein rotes Jäckchen.
Eine rote Kirsche.
45. a) Weiss wie Schnee, sag mir das! | Grün wie Gras, was ist das?
Rot wie Blut, sag mir’s gut! | Schwarz wie Teer, sag mir’s
ganze Rätsel her.
Voiksrätsel aus der Grafschaft Ruppin und Umgegend.
75
b) Grün wie Gras. | Ich weiss noch was.
Rot wie Blut, | Ist noch nicht gut.
Schwarz wie Pech. | Nun ist es recht.
Die Kirsche (in ihrer Entwickelung).
46. Eine Jungfer sitzt im Grünen und hat einen roten Rock an. Wenn
man sie drückt, dann weint sie und hat doch ein steinernes Herz.
Die Kirsche.
47. Rauh—rauh—riep (== Rauhreif), | Wie gaele is de Piep!
Schwatt is de Sack, | Wo de gaele Piep instack.
Die Mohrrübe in der Erde.
48. Es steht ein Mann auf einem Bein, trägt hunderttausend Schweine,
und wenn er ruft: „Holt welche!“ — dann sind sie alle kohlschwarz.
Ein Pflaumenbaum mit reifen Früchten.
49. Es steit en Mann up enen Ben, | Muss sine hundert Schäp allen
hoed’n.
Wenn er roip: „Holt wat!“ | Sind se alle kohlschwatt.
Ein Pflaumenbaum mit reifen Früchten.
50. Welcher Sporn wächst aus der Erde? Der Rittersporn.
51. Gross wie ein-Haus, | Klein wie eine Maus,
Bitter wie Galle, | AVir essen’s doch alle.
Die Wallnuss.
52. Welcher Stock liefert den besten Trank? Der Weinstock.
53. Es hängt an der Wand, | Hat neun Häute | Und beisst alle Leute.
Die Zwiebeln im Netze.
54. AVann kann man nicht ohne Gefahr in den Garten gehen?
AA'enn der Spargel schiesst und die Bäume ausschlagen.
55. Isern Perd schitt höltern Kätteln. Der Bohrer.
56. Vor freit’ un hinn schitt’. Der Bohrer.
57. Der dicke Papa, | Die dünne Mama,
Die weisse Mamsell, | Das rate mal schnell.
Die Bierflasche mit Schaum.
58. Unse lange dünne Knecht pumpst unse dicke Diern.
Das Butterfass.
59. AVelcher Hut passt auf keinen Herrenkopf? Der Fingerhut.
60. Es hängt an der Wand | Und giebt mir alle Morgen die Hand.
Das Handtuch.
61. AVelches Licht brennt länger, ein Wachs- oder ein Talglicht?
Keins; sie brennen beide kürzer.
62. Ein eisernes Pferd mit flächsernem Schweif; was ist das?
Eine Nähnadel mit Faden.
63. Ich bin am wärmsten, wenn es am kältesten, und bin am kältesten,
wenn es am wärmsten ist. Im Sommer lässt man mich verächtlich stehn,
im Winter streichelt man mich schön. Der Ofen.
76
Haase:
64. So klein wie ne Maus, | Bewacht das ganze Haus.
Das Schloss.
65. Wat is am ihrsten in de Kirch? De Schlötel oder de Fleg.
66. Unse Knecht Hinrich | Steckt sin Pinrich | In uns Magd ihr Purr.
Schlot un Schlötel.
67. Dat herret un scherret un het man dre Ben. Das Spinnrad.
68. Acht Jungfern greifen sich und kriegen sich mein Lehen nicht.
Das Spinnrad.
69. Grossvater druddelt, Grossmutter nuddelt, Grossvater druddelt so
lange, bis Grossmutter trächtig wird.
Grossvater, das Spinnrad; Grossmutter, die Spule.
70. Welcher Knecht erhält keinen Lohn? Der Stiefelknecht.
71. Ein armer Soldat muss Schildwacht stehn.
Er hat keine Füsse (Beine) und muss doch gehn,
Er hat keine Arme und muss doch schlagen;
Wer kann mir das Rätsel sagen? Die Uhr.
72. Welche Uhr hat keine Räder? Die Sonnenuhr.
73. Wem kann man ungestraft den Hals brechen?
Der Weinflasche.
74. Rund sclnniet ik ’t rup näh’t Dack, lang kämmt werr rann.
Das Wollknäuel.
75. Hinner unse Hus, | Da steit en Kabus (— Schlafkammer).
Manch einer schitt da in, [Manch ener pisst da in,] | Manch ener
stippt sin Brot da in.
Das Bienenschauer (mit Honig).
76. Lonton (?) ging über das Feld, der hatte mehr Füsse als Bonton (?).
Die Egge.
77. Welcher Schuh ist nicht von Leder?
Der Hemmschuh am Wagen.
78. Es hängt an der Wand, und wenn es herunterkommt, wird es
lustig. Der Kantschu.
79. Es wird so schwarz als ein Rabe | Und badet sich alle Tage.
Das Mühlrad.
80. Klippermann und Klappermann,
Die rennen beide den Berg hinan;
Klappermann rennt noch so sehr,
Klippermann kommt doch noch eh’r.
Ein fahrender Wagen (Klappermann), vor dem die Pferde mit
einer Kette (Klippermann) an der Deichsel befestigt sind.
81. Vier Rurell, vier ruh Fell, en Klippklapp, en Johlklapp, en Rah-
klapp un en Klisterpott; wat is dat?
Vier Räder am Wagen, vier Pferde, die Wagendeichsel mit
Kette, der Kutscher, die Peitsche und ein Teergefäss.
Yolksrätsel aus der Grafschaft Ruppin und Umgegend.
77
82. Welche Schere hat keine Klinge? Die Wagenschere.
83. Vier Jungfern greifen sich und kriegen sich im ganzen Leben
nicht. Die Schaufeln einer Windmühle (vgl. Kr. 68).
84. Es risselt, es rasselt wie eiserne Ketten,
Soldaten, Kameraden, es kann niemand erretten.
Die Windmühle.
85. Loept un loept un klimmt nich to Dörp. Die Windmühle.
86. Ruh bei, rabbel, ruppdi, | Morgen komm ik up di,
Ik will di pumpaneilen, | Dat di de Buck (= Bauch) sali sweilen.
Der Brotteig.
87. En ganzen Stall vull brüne Perd un en holten Peter mang.
Ein Ofen voll Brote mit dem Schieber.
88. Zwischen uns und Wittenberg, da liegt eine gelbe Plüm’ (= Pflaume),
und wer die gelbe Plüm’ will essen, muss den witten Berg zerbrechen.
Das Ei.
89. Es kommt ein Fässchen aus Holland,
Hat nicht Staff (= Stab) noch Band,
Und ist doch zweierlei Bier darin. Das Ei.
90. Zwischen Berlin und Kopenhagen
Da liegt eine goldene Uhr begraben;
Und wer die goldene Uhr will haben,
Der muss Berlin und Kopenhagen zerschlagen.
Das Ei.
91. Witt schmiet ik’t rupp näh’t Dack, gael kümmt werr rann.
Das Ei (vgl. Kr. 4. 74).
92. Ich kenne ein kleines Häuschen, hat keine Thür noch Fenster,
und will sein kleiner Wirt heraus, muss er erst die Wand zerbrechen.
Das Ei.
93. Innen rauh und aussen rauh und zehn Ellen im Leibe rauh.
Ein Fuder Heu.
94. Oben spitz und unten breit,
Durch und durch voll Süssigkeit.
Der Zuckerhut.
95. Welche Lieder nimmt man mit ins Grab? Die Augenlider.
96. Was für Wasser ist ohne Sand? Das Augenwasser.
97. Zwei Reihen (Ein ganzer Stall voll) weisse Hühner und ein roter
Hahn damalig. Die Zähne und Zunge.
98. Innen blank un buten blank, | Is ok Flesch un Blot damalig.
Der Fingerring.
99. Es ging eine Dame wohl über den Hof
Und zeigte dem Herrn das blanke Loch.
Der Herr gedachte in seinem Sinn:
„Ach, hätte ich doch meinen drin!“ Der Fingerring.
78.
Haase:
100. Worüm satt de Möller de Mutz up?
Weil de Miitz den Möller nicli upsädden kann.
101. Eine Rauhe hab ich, | Yor dem Bauch sie trag’ ich.
Junggesellen, furcht’ euch nicht! | Meine Rauhe heisst euch nicht.
Die Muffe.
102. a) Ich kenn ein Ding, wie ein Pfifferling; kann gehen, kann
stehen, kann auf dem Kopf nach Hause gehen. Was ist das?
b) Wer steht sogar in der Kirche auf dem Kopfe?
Der Nagel unter dem Schuh.
103. ’t sitt in’t Holt, schimpt as en Ruhrspatz, un ken Minsch ant-
wurt’ em. Der Pastor auf der Kanzel.
104. Wer geht seinem Ende rückwärts entgegen. Der Seiler.
105. Welche Ähnlichkeit besteht zwischen einem Barbier und einer
Wäscherin? Beide müssen zuerst einseifen.
106. Welche Trommler trommeln mit der Nase?
Alle, denn keiner legt die Nase beim Trommeln ab.
107. Welcher Unterschied ist zwischen einem Grosssprecher und einer
Schneidermamsell? Jener schneidet auf, diese schneidet zu.
108. Welcher Unterschied ist zwischen einem Passagier und einem
Stubenmädchen? Jener kehrt ein, diese kehrt aus.
109. Was ist im Kriege oft ein schlimmer Fall? Ein Überfall.
110. Wer hat es besser, der Kaffee oder der Thee?
Der Kaffee; denn er setzt sich, der Thee dagegen muss ziehen.
111. Et fliegt wat öwern Gräben, | Het ken Hart oder Mägen,
Het ken Läwer oder Lungen, | Kann de Soldaten übertwingen.
Die Kanonenkugel.
112. Öwer unse Hus un Näwers Hus, da schlän sich en Pär (met
Krücken rut — oder met Rung). Der Rauch.
113. Welcher Baum liegt an einer Kette? Der Schlagbaum.
114. Et steit up Dack | Un röcht en Piep’ Tobak.
Der Schornstein.
115. Auf welcher Leiter hat nie ein Mensch gestanden?
Auf der Tonleiter.
116. Ist in Kross (= eine weitbauchige Kanne mit engem Halse) und
nicht in Kann’,
Ist in Frau und nicht in Mann,
Der Kuckuck hole mich, | Ist in ganz Polen nich.
Leipzig ist ’ne grosse Stadt, | Das Ding dort niemand hat.
In Berlin kann’s wohl sein; | Ist das Dorf auch noch so klein,
Und das Ding wird drinnen sein. Der Buchstabe R.
117. Niemand und jemand waren in einem Haus. Niemand ging
hinten heraus, jemand ging vorn heraus; wer blieb zu Haus? Und.
Yolksrätsel ans der Grafschaft Ruppin und Umgegend.
79
118. ’t is weg, ’t bliewt weg, ’t was alle Dag all weg, un ik häw’t
hüet noch sehn. Der Weg.
119. Was läuft ohne Füsse fort und kommt nicht wieder?
Die Zeit.
120. Welches Land hat die schlechtesten Pferde?
Österreich; denn es besitzt Mähren.
121. Welches Jahr dauert nur einen Tag? Neujahr.
122. Welche Rose hat keinen Dorn?
Die Krankheit. — Der Mat-rose.
Zur Volksdichtung.
(Uhlands „Der gute Kamerad“.)
Von Cäsar Flaischlen.
In Band XI S. 28 ff. der Zeitschr. f. Völkerpsychologie gab Professor
Dr. H. Steinthal eine kurze Analyse des Uhlandschen Gedichts vom guten
Kameraden sowohl in Bezug auf seine Quelle, einem ihm von Berthold
Auerbach citierten kleinen Volksliede, als auch in Bezug auf sein Ver-
hältnis zur Volksdichtung überhaupt und insbesondere zu den Korrekturen,
welche es im Munde des Volkes bis heute erfahren hat. Er illustrierte
dies letztere an dem Text des Gedichtes, wie er ihn von einem Dienst-
mädchen hat singen hören: „Die dritte Strophe sang es garnicht; die
anderen beiden hatten mancherlei Veränderungen, die sich bei genauerer
Betrachtung als wirkliche Verbesserungen erweisen1)“. So sang es Vers 6:
„Die Kugel“ statt „Eine Kugel“; Vers 7: „Gilt sie“ statt „Gilt es“; Vers 8,
dem entsprechend: „Ihn hat sie“ statt „Ihn hat es“, Vers 9: „Erlag“ statt
„Er liegt“; alles Korrekturen, die für die Texterklärung unsers Volks-
liedes überhaupt und im besonderen für die sowohl in literarhistorischer
als psychologischer Hinsicht hochinteressante Beobachtung: wie ein Kunst-
lied sich zum Volkslied bildet, von weitgehender Wichtigkeit sind. Die
Änderungen, welche Steinthal in dem Text des Dienstmädchens fand, haben
sich in den wesentlichsten Punkten längst schon in den weitesten Kreisen
auch der Gebildeten eingebürgert; der ursprüngliche Text wird wohl nur
selten zu hören sein. Es sei mir gestattet, im nachfolgenden diese Varianten
1) Vgl. auch J. E. Wackerneil, Das deutsche Volkslied (Sammlung gemeinverständl.
wissenschaftlicher Vorträge Heft 106. Hamburg 1890), der daselbst Steinthals Bemerkungen
weiter ausführt.
80
Flaischlen:
durch die Fassung des Gedichts zu ergänzen, an die ich mich selbst in
meinen Knabenjahren gewöhnt und in der ich es, ohne mich im geringsten
um den Uhlandschen Text zu kümmern, auch heute noch im Kopf habe
und auch heute noch singen würde, wenn ich dabei nicht gerade textkritisch
aufgelegt wäre. Mein erstes Bekanntwerden mit dem Liede mag dafür
entscheidend gewesen sein. Ich hörte es von Soldaten auf der Strasse und
wandte mich an den Burschen meines Yaters, der mich dann Text und
Melodie lehrte. Auch erinnere ich mich noch deutlich, wie ich meiner
Mutter gegenüber mich verwunderte: der Druck enthalte Fehler, als ich
das Gedicht zum erstenmal bei Uhland las. Zum bessern Vergleich folge
auch dessen Fassung.
Uhland. Volkslied.
1 Ich hatt’ einen Kameraden, Ich hatt’ einen Kameraden,
2 Einen bessern find’st du nitt; Einen bessern find’st du nitt;
3 Die Trommel schlug zum Streite, Die Trommel rief zum Streite,
4 Er ging an meiner Seite Und er ging an meiner Seite
5 In gleichem Schritt und Tritt. In gleichem Schritt und Tritt.
6 Eine Kugel kam geflogen: Eine Kugel kam geflogen:
7 Gilt’s mir oder gilt es dir? Gilt sie mir oder gilt sie dir?
8 Ihn hat es weggerissen, Ihn hat es weggerissen,
9 Er liegt mir vor den Füssen, Und er lag (und liegt) zu meinen Füssen,
10 Als wär’s ein Stück von mir. Als wär’s ein Stück von mir.
11 Will mir die Hand noch reichen, Willst mir die Hand noch reichen,
12 Dieweil ich eben lad’: Dieweil ich eben lad’?:
13 Kann dir die Hand nicht geben, Kann dir die Hand nicht geben,
14 Bleib du im ew’gen Leben Bleib du am ewigen Leben,
15 Mein guter Kamerad. Mein guter Kamerad.
Strophe 1. In Vers 2 möchte ich zunächst das „nitt“ bemerken. Es
stört mich als Schwaben heute noch, wie als Knabe, zumal Uhland selber
Schwabe war und somit „net“ hätte setzen müssen; „nitt“ ist lediglich aus
Reimnot gesetzt.
Vers 3. Das „rief“ statt „schlug“ erkläre ich aus einer apperceptionell,
wenigstens dem Knaben und dem naiveren Begriffsvermögen des „Volks“,
näher liegenden engeren Verbindung des Verbums mit dem folgenden „zum
Streite“, analog den Wendungen ,zum Kampfe rufen’, ,zum Gerichte rufen’,
,zur Kirche rufen’. Uhland hat sich hier eine poetische Licenz erlaubt;
Die Trommel aber kann streng genommen nur geschlagen werden, nicht
selbst schlagen. Am wahrscheinlichsten dünkt mich jedoch dies „rief“
herübergenommen aus:
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall;
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!
etc. etc.
Zur Volksdichtung.
81
Nach ,Wogenprall’ steht zwar meistens Strichpunkt, so dass ,Zum Rhein,
zum Rhein, zum deutschen Rhein!’ als selbständiger blosser Aufruf zu
nehmen wäre; doch gehört beides zweifellos zusammen. Die richtige
Interpunktion wäre Doppelpunkt.
Yers 4 hat, wie nachher Yers 9, ein eingeschobenes „und“, was im
Yolksliede überhaupt sehr häutig zu finden ist, auch an Stellen, wo es
mitunter ganz sinnwidrig ist, was hier keineswegs gesagt werden könnte.
Ich halte es gerade bei diesen zwei Yersen für eine eher aus musikalischen
Gründen hervorgegangene Einschaltung. Es ist eine Art Auftakt, durch
den sich das folgende „gieng“ und „lag“ stärker betont.
Strophe 2; Yers 6 hat Uhland den unbestimmten Artikel: „eine Kugel“,
nicht „die Kugel“, wde Steinthal von jenem Dienstmädchen anführt. „Eine“
ist unstreitig richtiger und auch volksliedhafter als „die“, obwohl dann
inkonsequent in Yers 7 das bestimmte Subjekt folgt; aber es ist weniger
die bestimmte, den Freund tötende Kugel gemeint, wie man erklären
könnte, als vielmehr irgend eine von den vielen, die da heranpfeifen. —
Als weitere Yariante des Yerses findet man häufig auch „kommt“ statt
„kam“, das auf einer Rückwirkung des Präsens „gilt“ in Yers 7 beruhen
könnte.
Yers 7 lautet im Yolkstext: „Gilt sie mir oder gilt sie dir?“ bei
Steinthal „Gilt sie mir? gilt sie dir?“ Beides hat zum Unterschied von
Uhland das bestimmte Subjekt „sie“; eine Änderung, die im Yolksmunde
das ursprüngliche „Gilt es“ schon völlig verdrängt hat. Über die Berechti-
gung des Ausfalls oder Nichtausfalls von „oder“ müsste die Melodie ent-
scheiden. Der Yers unterbricht die Erzählung durch den Übergang zur
Frage und zum Präsens; doch nur um dieselbe lebendiger zu machen.
Dass dieser Tempus-Wechsel empfunden wird und zwar als Inkonsequenz
und als Abweichung, bezeugt die öfter vorkommende Ausgleichung durch
Verwandlung des Präsens ins Präteritum; also: „Galt es mir? oder galt
es dir?“
Yers 9 hat zunächst das schon bei Yers 4 besprochene Auftakts-Und,
sodann „lag“ statt „liegt“. Wackerneil bemerkt, das Präteritum sei besser,
da auch sonst die Vergangenheit der Erzählung stehe. Ich kann dem nicht
zustimmen; das Gedicht spitzt sich auf den letzten Scheidegruss der beiden
zu und tritt aus der Vergangenheit nach und nach in die unmittelbarste
Gegenwart über. Die ganze dritte Strophe verlöre ihren Zusammenhang
mit der zweiten, wenn „lag“ stünde; ihre ganze Fassung wie auch die
Scene, die sie schildert, bedingen, dass der Freund zu des Freundes Füssen
,liegt’ und nicht dag’. Dennoch wird man meist das Präteritum hören,
und zwar, wie wahrscheinlich ist, wieder- musikalischer Motive wegen.
Man bemerke: Yers 7 hat vier resp. sechs i-Laute, Yers 8 zwar nur zwei,
doch hoch betonte, Yers 9 selbst wieder drei resp. einen; das ist eine
Häufung, die der natürlichen Sprache ferne liegt und in der Musik monoton
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 0
82
Flaischlen:
wirkt, was Mer um so störender ist, da gerade diese beiden Verse den
Mittel- und Schwerpunkt des ganzen Gedichts bilden. Die vielen i-Laute
aber gestatteten schon an sich keine so hervorhebende Betonung, wie sich
bei einem offenen a von selbst giebt. Man mache den Versuch, „liegt“
zu singen; auch mit vollster Stimme vorgetragen, wird es einen weit
schwächeren Eindruck als „lag“ hervorbringen; man gebe ferner acht, wenn
das Lied zufällig gesungen wird, ob nicht bei „lag“ jeder Singende — ich
bemerkte es besonders bei einer Kompagnie Soldaten — unbewusst mit
vollster Lunge einsetzen wird, als ob er eine Art Befreiung empfände, aus
all den u, o und i der vorgehenden Verse herauszukommen. Bei „liegt“
ermöglicht schon die Schlusskonsonanz keinen vollen, reinen Ton. „Lag“
wäre sonach logisch falsch, aber musikalisch wohl gerechtfertigt.
Strophe 3. Das Dienstmädchen Steinthals sang diese garnicht mehr;
und es lassen sich für ihren Wegfall auch mehrfache Gründe finden. „Es
ist,“ führt Wackerneil nach Steinthal aus, „schon innerlich unwahrschein-
lich, dass der tödlich Getroffene noch die Hand reicht, und ebenso un-
wahrscheinlich, dass der Eifer des Ladens dem Kameraden keinen Augen-
blick gönnen sollte, diesen Abschiedsgruss zu erwidern. Alsdann führt die
ganze Strophe die Handlung nicht mehr weiter;“ ..........,und endlich hat
sie auch eine süsslich-sentimentale Färbung: alles Momente, die dem Volks-
geschmacke zuwiderlaufen’. Die Strophe ist in der That überflüssig und
auch sentimental und ist vielfach vergessen; aber ich möchte doch nicht
so weit gehen, sie im Charakter des Volksliedes für unmöglich zu erklären.
Es liegen trotzdem genug Momente in ihr, sie diesem nahe zu bringen,
wie z. B. die sehr wesentliche Korrektur „Willst“ statt „Will“ in
Vers 11, wodurch die Erzählung in die für das Volkslied charakte-
ristische direkte Anrede verwandelt wird. Die leichte Möglichkeit dieser
Änderung, sowie ihre Thatsache selbst zeigt, wie vortrefflich Uhland den
Ton des Volksliedes getroffen hat. Es hätte niemand „willst“ gesetzt,
wenn das Ganze bloss als Kunstlied empfunden worden wäre. Das Volk
nahm aber das Gedicht ohne weiteres in seinen Liederschatz auf und hier
glichen sich dann die wenigen fremden oder ungewohnten Änderungen
seiner Form fast wie von selbst durch eine Art Analogie mit denen des
traditionellen Volksliedes aus. „Willst“ ändert in dem Bilde des ganzen
Vorgangs nicht das Geringste. Der Freund sieht den gefallenen Kameraden
noch die Hand erheben, aber er hat sein Gewehr zu laden und kann sich
nicht um ihn kümmern. Die direkte Anrede „Willst mir die Hand noch
reichen?“ ist beinahe noch feiner; da der Überlebende den Vorgang in
einer Frage halb an den Gefallenen, halb an sich selbst gerichtet, schildert,
so bleibt dadurch offen, ob der Getroffene ihm in der That noch einmal
die Hand drücken wollte, oder ob er sie nur ganz unwillkürlich erhob,
wie es jeder Fallende thut, um geholfen zu bekommen. — Statt „will“
und „willst“ recitierte eine Lehrerin, im übrigen streng den TJhlandschen
Zur Volksdichtung.
83
Text gebend: „wollt’“. Es konnte ein Yersehen sein und erklärlich aus
den einleitenden Präteritalformen. — Bemerkt sei endlich noch zu diesem
Yers die fast regelmässige Änderung von „reichen“ in das geläufigere
„geben“ aus Yers 13, sowie eine vielfach zu beobachtende Verwechslung
der beiden Yerse.
Yers 12 hörte ich da und dort „lag“ statt „lad5“.
Yers 14 und 15. „Bleib du am ewigen Leben, mein guter Kamerad“
— ich entsinne mich kaum, in meinen Knabenjahren anders gehört zu
haben, freilich fiel die ganze Strophe häufig weg; der Bursche meines
Yaters jedoch sang bestimmt: „am“. Er brachte den Yers zweifellos mit
dem ihm weit näher liegenden Ausdruck „am Leben bleiben“ zusammen,
vielleicht weil er es das erste Mal falsch verstanden, und sang „ewig“ mit,
weil er keinen weitern Ersatz dafür wusste. Yers 15 war dann Anrede
oder Apposition. Diese Verwechslung wäre ausgeschlossen gewesen, wenn
Yers 15 „Ein guter Kamerad“ gelautet hätte, wie man ebenfalls hören
kann. Aus diesem Irrtum aber ergab sich ein Rückschluss, der das ganze
Gedicht veränderte, nämlich: dass die Kugel nur verwundet, nicht aber
tötet. So falsch dies war, so legte doch ich selbst, von jenem „am“ be-
einflusst, mir das Gedicht als Knabe nie anders aus, bis ich einmal das
rätselhafte „ewig“ zu verstehen, meine Mutter und Uhland zu Rate zog . ..
Vielleicht lässt sich dieser Irrtum erklären. Betrachtet man das ganze
Gedicht, so ist jeder einzelne der ersten dreizehn Yerse für sich selbständig
und kann vom folgenden durch irgend eine Interpunktion getrennt werden;
nur 14 und 15 bilden einen Gedanken. Der Bursche hatte erst falsch
verstanden, sang „am“ statt „im“ und dachte dabei an den Ausdruck „am
Leben bleiben“. Ein gewisses unbewusstes Gefühl für Parallelismus, gegen
den im ganzen Gedicht nur diese zwei Yerse verstossen, wofür ihm aber,
einmal irregeleitet, eine Erklärung mangelte, befestigte dann den Irrtum
und als drittes Moment träte, das erste entschuldigend oder doch erklärend,
hinzu, dass seinem naiven Denken eine Antwort des Freundes im Sinne
von: ,bleib du nur am Leben! deine Wunde kann wieder heilen! ich lebe
ja auch noch und will meinen Freund nicht verlieren’, sicher natürlicher
geschienen hätte, als die sentimentale Wendung, die Uhland durch seinen
Schluss dem Ganzen gab. Doch ist hierzu eine weitere Thatsache zu be-
merken, die für den Text unserer Volkslieder von nicht unwesentlicher
Bedeutung ist, dass nämlich beim Gesang die Worte oft durchaus willkür-
lich gegeben werden, und sich niemand im geringsten daran stösst, mit-
unter den grössten Unsinn zu singen. Die erste Strophe ist meist bekannt,
in der zweiten wird das Gedächtnis schon unsicher, und wird immer
weniger zuverlässig, je länger das Gedicht ist. Man behilft sich, die
Melodie mit lalala — weiterzuführen (die Melodie haftet meist treuer),
oder man ,macht sich rasch irgend einen Reim’.
6:
84
Flaischlen: Zur Volksdichtung.
Derartige Improvisationen knüpfen dann entweder an den äusseren
Reim des Wortes an, oder durch den Gleichklang irgend einer anderen
Melodie verlockt an deren Text, oder aber es sind absichtliche Ein-
schaltungen des Singenden, welche dann meist eine gewisse parodistische
Wendung haben. Das erste illustrieren, bewusst und zu erhöhter komischer
Wirkung ausgebeutet, jene Couplets, in denen jeder Vers einem anderen
Gedichte entnommen ist, mit dem vorgehenden aber nicht logisch, sondern
nur durch den Reim verbunden ist. Das zweite ist ein potpourriartiges
Ineinanderiibergehen zweier Lieder. Das dritte könnte man Neudichtung
nennen. So erinnere ich mich, als Beispiel zu diesem letzteren, aus einer
Gesellschaft junger Leute, dass ein Bräutigam, nach einer halbernsten
Neckerei mit seiner Braut, mit komischem Pathos anfing: „Mei Diarndl is
harb auf mi — und i woass nit warum —“ worauf das junge Mädchen
ohne weiteres lachend fortfuhr: „Und wann du di umbringst — so war
dös recht dumm!“ Als weiteres Beispiel für solche Neudichtung in Bezug
auf das Uhlandsche Gedicht stehe hier noch eine Wendung, die ich aus
dem Munde eines Berliner Malermeisters hörte; er sang:
Er liegt zu meinen Füssen,
Kaum einen Schritt von mir!
Als ich fragte, ob es auch so heisse, wie er singe, besann er sich,
gab zu, es könnte wohl anders lauten, erinnerte sich jedoch des richtigen
Textes nicht im geringsten.
Oft werden auch verschiedene Strophen des gleichen Gedichts durch-
einander geworfen. Man ist fröhlicher Stimmung, singt und giebt als Text
dazu, was einem gerade über die Lippen kommt. So hörte ich und nicht
nur einmal und nicht etwa immer nur absichtlich, sondern häufig völlig
unbewusst und gedankenlos:
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite,
Als wär’s ein Stück von mir!
worauf dann gleich die dritte Strophe angestimmt wurde. Dass sich in
unsern Volksliedern derartiger Unsinn hin und wieder festgewurzelt hat,
liegt mir ausser Zweifel. Die Forschung sollte auch dieses Moment jeden-
falls nicht so schlechthin unberücksichtigt lassen. Selbst ein Unsinn wdrd
dann und wann bestimmend und kann sich so festsetzen, dass es mitunter
unmöglich werden kann, ihn zu enträtseln und auf seine richtige Quelle
zurückzuführen.
Zusatz von Prof. Steinthal.
Uber den Einfluss der Melodie auf die Gestaltung des Textes im
Volksmunde habe ich folgende Beobachtung gemacht. In Heines Loreley
trifft es sich, dass jm dritten Verse der ersten Strophe die Melodie auf die
Kleine Mitteilungen.
85
erste Silbe des Wortes „alten“ mehrere Moren legt, so dass man singen
muss: aaalten. Um diesem Übelstande zu entgehen, singt man, wie ich
gehört habe, uralten.
Endlich bemerke ich, dass wie der Text, so zuweilen auch die Melodie
in der Yolksstimme sich ändert. So habe ich von marschierenden Land-
wehrleuten den ersten Yers unsers Uhlandschen Liedes mit ganz anderer
Melodie singen hören, und, wie mir scheint, mit schönerer, d. h. passenderer
Melodie.
Kleine Mitteilungen.
Regenzauber in Osteuropa.
Ign. J. Hannsch hat schon im Jahre 1842 (Die Wissenschaft des Slawischen
Mythus, S. 295) hervorgehoben, dass in der russischen Landschaft Archangelsk die
Leute am 23. Juni im Flusse baden und „Kupalnitza“ streuen. Dass dieses Baden
die Hervorrufung von Regen zum Zwecke hat, sagt der genannte Autor nicht;
dennoch scheint ihm diese Vorstellung vorgeschwebt zu haben, da er gleichzeitig
auf das in Serbien besonders bei Wassermangel gefeierte Dödola-Fest hinwies, bei
welchem ein Mädchen, das ganz mit Gras, Kräutern und Blumen umwunden ist,
unter Tanzen mit Wasser begossen wird.
Nicht so harmlos ist der Brauch, welcher bei grosser und anhaltender Dürre
zur Erlangung von Regen im Laufe des Frühjahrs und der ersten Sommermonate
in West- und Südwestrussland beobachtet wird.
Im 12. Bande des von Prof. Jagic herausgegebenen Archivs für slawische
Philologie (Berlin 1890) berichtet M. Murko (S. 640) nach einer dem „Odesskij
Listok“ aus Jampol in Podolien zugekommenen Korrespondenz, dass in einem
grossen Dorfe (der Name wird nicht genannt) das Volk nach dem allgemeinen
Gebete in der Kirche den Geistlichen im Ornate auf die Erde geworfen und hierauf
mit Wasser begossen habe. Am Tage des Ivan Kupalo (Johannes des Täufer)
aber, berichtet Murko weiter, badeten, um Regen hervorzurufen, die Weiber, ohne
die Kleider abzulegen, in grossen Haufen im Flusse, indem sie dem „Kupalo“,
welchen sie sich aus Zweigen, Gras und Kräutern angefertigt hatten, den Weihe-
guss gaben.
Ein anderer Fall von Regenzauber, der sich in Südrussland ereignete, wird
im „Urquell“, Bd. II S. 204—205 erzählt.
Im Juni des Jahres 1884 herrschte in Peresadowka (Gouvernement Cherson)
grosse Dürre. Die Bauern schrieben dieselbe drei alten Weibern zu, die bei ihnen
als Hexen galten. Diese Weiber wurden in das Dorfamt beschiedcn und beauf-
tragt, bis zum 17. Juni Regen zu schaffen. Um aber den Regen desto sicherer
zu erlangen oder vielleicht auch um die Ankunft desselben zu beschleunigen, liess
man sie einstweilen im Flusse baden. — Als der festgesetzte Tag herankam und
86
Polek:
noch immer kein Kegen fiel, wurden die Bauern ungeduldig. Sie schleppten die
Hexen vor die Dorfobrigkeit, wo man ihnen anfangs drohte, weil sie den Kegen
verscheucht hätten; als aber die Weiber trotzige Antworten gaben, flehte man sie
unter Thränen an, sie möchten sich erbarmen und es regnen lassen. Jene erwiderten,
sie könnten nicht mehr helfen, denn sie hätten den ganzen Regen an den Berg
Athos verkauft. Die Aufregung legte sich allmählich und „mit tiefem Unwillen
hörte man jetzt von den Bauern das Wort Athos aussprechen, der Quelle alles
ihres Übels, wie sie meinten“.
Der Glaube an den Regenzauber war einst und ist vielleicht noch heute auch
unter der Bukowiner Landbevölkerung ruthenischer und rumänischer Nationalität
verbreitet.
Unterm 8. Juni 1790 (a. St.) berichtete infolge mündlichen Auftrags der gr.-or.
Erzpriester von Czernowitz dem bischöflichen Konsistorium, dass die Bauern von
Scheroutz und Werboutz (ruthen.) alle Weiber zusammengerufen und zu baden ge-
zwungen hätten, „damit es regnen solle“. Dabei sei zu Werboutz ein Weib er-
trunken und ein anderes todkrank geworden1).
Über einen zweiten Fall von derartigem Aberglauben in der Bukowina haben
die Österr. Blätter für Litteratur, Kunst etc. im Jahre 1847 (IY. Jahrg. Nr. 296)
ein Verhör-Protokoll dd. St. Ilie, den 24. Juni 1797 veröffentlicht, dem wir folgendes
entnehmen.
An dem genannten Tage klagten Flora Illuana und Titiana Buseu, Weiber
aus Keschwana (rumänisch), dass sie „mit mehren ihres Geschlechtes und zween
Männern“ auf Anstiften eines gewissen Simeon Кора von dem Pfarrer (!), dem
Richter und den Geschworenen ihres Dorfes als Hexen, „welche den Kegen ge-
sperrt haben sollten“, angegeben, dann „nacket ausgezogen und in den geheimsten
Teilen, sowie über den ganzen Körper überhaupt genau und zwar im Beisein vieler
Menschen und des Priesters untersucht“ und hierauf ins Wasser geworfen worden
seien.
Über den Sachverhalt befragt, gab der Ortsrichter Michailo Putzu zu Proto-
koll: Man habe gehört, dass in Badeutz, Burla (rumän.) und an anderen Orten
„Untersuchung“ gepflogen worden sei. Infolgedessen habe man auch in Keschwana
den Beschluss gefasst, „untersuchen zu lassen, welche aus ihrer Gemeinde die
Zeichen einer Hexe an sich tragen“. Da sie aber diese Zeichen nicht kannten,
habe Simeon Кора, der sie in anderen Ländern kennen gelernt zu haben vorgab,
seine Dienste angeboten. Nun seien von zwei Männern die männlichen und von
zwei Weibern die weiblichen Dorfbewohner der Untersuchung unterzogen worden.
Dabei solle man an der Flora Illuana und der Titiana Buseu, sowie an drei
anderen Weibern und zwei Männern „einige Zeichen“ gefunden haben. Hierauf
seien diese Sieben im Beisein des Pfarrers und sechs anderer Personen nochmals
und zwar von Simeon Ropa „ganz“ untersucht worden, und da letzterer sich
äusserte, „dass alle diese Zeichen haben, folglich getaucht werden müssen“, so
habe man dieselben, nachdem man ihnen vorher die Hände bei den Beinen
zusammengebunden, nach Kopas Anleitung „getaucht“. Hierbei seien alle bis auf
die zwei Männer als Hexen befunden worden, „weil sie nicht wie jene unter-
gesunken seien“.
Als hierauf der Untersuchungsrichter von den Beteiligten die Erklärung ab-
verlangte, „was eine Hexe sei“, da wusste es keiner, auch Simeon Ropa nicht, zu
1) J. Polek, Die Anfänge des Volksschulwesens in der Bukowina. Czernowitz 1891.
Seite 12.
Kleine Mitteilungen.
87
sagen. Auf die Frage aber, warum sie also diese Weiber ins "Wasser geworfen
hätten, gaben sie zur Antwort: „Weil es lange nicht geregnet hatte, und sie hoffen,
durch das Tauchen Kegen zu erhalten“.
Czernowitz. Dr. J. Polek.
Miscellen.
I. Wochentagsnamen als Personennamen1).
Ein sehr beliebter und seit alter Zeit gebräuchlicher syrischer Name ist Bar
Ifadbesabbä (verkürzt unter anderm in Habsah, Zeitschr. d. Deutschen Morgenl.
Ges. XXV. 518) d. i. „Sonntagssohn“ (zu „Sonntag“ verkürzt) gräcisiert in der
Form BapL-faßßctq (Payne Smith Thes. syr. 587).
Hierher gehört auch der arabische Name 'Arriba, d. i. Freitag (jüdisch 'Anibä
Juchasin (Filipowski) 76, 1. 4). Von einem Wochentagsnamen ist schon der alt-
testamentliche Name Sabtai (zu tiabbät, Sabbath, gehörig) gebildet.
II. Das Zeichen des ausfahrenden bösen Geistes.
Josephus erzählt (Antiquit. Jud. VIII. 46) vom König Salomo, er habe Gesänge
verfasst, durch die Krankheiten besprochen werden (ncipyiyopsHrcu) und Beschwörungs-
formeln hinterlassen, mit denen man die Dämonen so verjagen kann, dass sie nie
wieder zurückkehren. Er fährt dann folgendermassen fort: „Dieses Heilverfahren
besteht auch jetzt noch bei uns in voller Kraft. Ich habe erfahren, dass ein ge-
wisser Eleazar, einer unserer Landsleute, in Gegenwart des Vespasian, seiner Söhne,
der Heerführer und einer grossen Menge Soldaten Besessene von ihren bösen
Geistern befreite. Die Heilung bestand nun in folgendem: Er brachte an die
Nase des Besessenen einen King, der unter seinem Steine eine von Salomo be-
stimmte Wurzel [wahrscheinlich ist die Mandragora gemeint1 2)] enthielt und zog
ihm dann, wenn er daran roch, den Dämon aus der Nase. Der Besessene ward
dann sogleich ruhig; er aber beschwor den Geist mit dem Eide Salomos, nie
wieder in den Besessenen zu fahren, indem er dabei die von dem König ver-
fassten Gesänge recitierte. Um aber den Umstehenden zu beweisen, dass er wirk-
lich diese Kraft besitze, stellte er ein kleines, mit Wasser gefülltes Gefäss oder ein
Fussbecken in der Nähe auf und befahl dem Dämon, dieses beim Austreten umzu-
kehren und so den Zuschauern deutlich zu zeigen, dass er den Menschen verlassen habe.11
Ein ähnlicher Zug begegnet uns in einer späteren jüdischen Erzählung3).
Kabbi Simeon soll die Juden von einer sie bedrohenden schweren Verfolgung
durch Bitten beim Kaiser erretten. „Als die Matrosen auf das Schiff gehen, tritt
einer von ihnen dem Kabbi auf den Hals. In demselben Momente fuhr ein böser
Geist aus seinem Munde heraus. Als nun der Kabbi seine Augen hob, sah er
den Geist auf dem Mastbaum sitzen. Er fragte ihn nun: „Wie heisst du?“ Der
erwiderte „Smdun4) Josephs Sohn“. „Und was willst du hier?“ „Ich will für
dich ein Wunder thun“.........„Und worin soll dies Wunder bestehen?“ „Ich
1) Vgl. M. Hartmann in dieser Zeitschrift II, 320.
2) Oder BactQcts Löw Aram. Pflanzennamen 188?
3) Die Vatikanische Handschrift der Halachoth Gedoloth etc. besproch. von Hildes-
heimer S. 17. Vgl. dazu Bahli Me'iläh 17 a und 17 b.
4) Aussprache nicht mit Sicherheit zu ermitteln.
Godden:
werde in die Kaisertochter fahren, und sie soll beständig schreien: „Bringt mir
den Rabbi Simeon, dass er mich heile1).“ Wenn du aber dann zu ihr kommst,
dann flüstere in ihr Ohr1 2) und ich werde aus ihr herausfahren“ — nUnd woran soll
ich erkennen, dass du aus ihr gefahren histP1 „In demselben Augenblicke sollen alle
Glasgefässe im kaiserlichen Palaste zerbrechen.“ — Der Dämon fährt in die Prin-
zessin, sie schreit nach dem Rabbi, man holt ihn, er verspricht sie zu heilen und
der Kaiser frägt: „Woran sollen wir erkennen, dass der Dämon ausgefahren ist?“
Der Rabbi nennt das Zeichen. Er flüstert in ihr Ohr, sie wird ruhig und sogleich
zerbrechen alle Gefässe. Zum Danke hebt der Kaiser die Verfolgungsdekrete auf.
In den Vitae patrum (Migne Patrolog. Ours, complet, Lat. Serie 72) 760 findet
sich eine Erzählung von der Austreibung eines bösen Geistes. Hier giebt der
Geist seinen Austritt dadurch deutlich kund, dass er ein Stück Mauerwerk umstösst.
Andere Zeichen (Gestank, Geschrei) sind so bekannt, dass es nicht nötig ist,
auf sie näher einzugehen.
Breslau. Siegmund Fraenkel.
Grozdanka und Jaidafoj.
Ich möchte die Aufmerksamkeit unserer geehrten Mitglieder auf eine Bemer-
kung Dr. W. Mannhardts lenken, die sich in seinen „Celtischen Sonnenmythen“
(Zeitschrift für Ethnologie. 1875) findet. Seite 285, indem er die Geschichte des
„Lorbeerkindes“ mit „falsche Braut“ erklärt, sagt er: — »die Vertauschung
der wahren Braut durch eine falsche ist ein bekannter mythischer
Ausdruck------------“
Von welchen Mythen oder Gebräuchen spricht er? Und müssen solche, wie
er sagt, mit Nacht und Winter zu thun haben?
Die einzigen Beispiele, welche ich kenne, sind das wohlbekannte Fest der
Daidala (AcuJaX-/]), und die bulgarische Feier der Grozdanka.
Wenn einer der Leser unserer Zeitschrift weitere Beispiele wüsste, so würden
wir, denke ich, der Lösung des Rätsels der Bedeutung dieses altgriechischen Hera-
festes einen Schritt näher kommen; und nicht nur diesem, sondern auch dem Ver-
ständnis des Kultus der Jahresgötter überhaupt.
Die Hauptpunkte des Ritus der griechischen Jahresgötter scheinen zu sein
der avo&og, der Upog und der mflcJo; —, d. h. das Aufsteigen, die Heilige
Hochzeit und das Hinabsteigen (oder die Rückkehr). Ich darf kaum die deutschen
Gelehrten an die Jahres-Gebräuche der Bauern erinnern, die Mannhardt so aus-
führlich in seinem Buche „Der Baumkultus“ beschrieben hat. Zum Beispiel die
Maibraut (Baumkultus c. 5), Kornaufwecken (c. 6) und Frühlingseintritt (c. 4).
Zur Bequemlichkeit stelle ich die griechischen und bulgarischen Parallelen
hier nebeneinander, in der Hoffnung, weitere Analogieen dafür zu erlangen, welche
die Handlungen des Kultus oder die rituellen Hochzeitgebräuche aufklären.
Grozdanka. Daidala (AottActAvj).
„Der Sonnengott (Sclunce männl. die „Man sagt, dass Zeus, als Hera mit
Sonne) hebt am Tage des hl. Georg in ihm gezankt hatte, umherwanderte, bis
1) Bekannter märchenhafter Zug, der in der Geschichte vom „dankbaren Toten“
vielfach wiederkehrt.
2) seil, eine magische Formel.
Kleine Mitteilungen.
89
einer goldenen Wiege Grozdanka als
Braut zu sich empor, wo sie neun Jahre
stumm ist; weshalb sie einer anderen
Braut den Platz räumen und selbst als
Brautfübrerin bei der Hochzeit eintreten
muss. Dabei entzündet sich der Schleier
der Unrechten Braut — — — — jene
findet ihre Sprache wieder und wird des
Sonnengottes Gemahlin.“
W. Mannhardt, Celtische Sonnenmythen.
Zeitschr. f. Ethnologie. VII. S.236 (citiert:
Krech Slaw, Lit. S. 82).
Alalkomenes ihm vorschlug, sie zu hinter-
gehen durch eine vorgespiegelte Heirat.
Er schmückte eine Eiche als Braut, gab
ihr Gestalt und nannte sie Daidale (Aou-
J&Xv]). Als Hera voller Zorn zu Zeus
kam, sang man den Brautchor und
brachte Wasser. Als die List entdeckt
wurde, versöhnte sie sich lachend mit
Zeus, und sie selbst führte den Braut-
zug. Sie verbrannte das Bild „Daidala“.“
Auszug von Plutarch. Fragmente IX. 6
(cf. Pausanias IX. 3).
Nachdem das Vorhergehende geschrieben wTar, habe ich aus dem „Bericht
des Internationalen Kongresses über Volkskunde von 1891“ welcher eben ver-
öffentlicht ist, ersehen, dass meine Hoffnung, eine Erklärung der Daidala - Fest-
gebräuche und -Mythen zu finden, soweit es die primitiven Hochzeitsgebräuche
betrifft, durch Dr. Winternitz unterstützt wird.
In seinem Aufsatz über „Indo-europäische Gebräuche“ sagt er: „Die Sitte,
eine alte Frau als Braut einzuschieben, ist gewiss einer der vorherrschendsten
Gebräuche unter den slavischen, deutschen und romanischen Nationen („Report
of the International Folklore Congress 1891“ p. 269; Dr. Winternitz citiert hier
A. Weber, Indische Studien V. 393, und Dr. Schroeder, „Hochzeitsgebräuche der
Esten, p. 72) *).
Diese Hoffnung wird noch verstärkt durch Professor J. B. Fevons in seinem
Aufsatz über „Den Ursprung der asiatischen Völker“, in. welchem er sagt: „Die
Sitte, eine alte Frau in Verkleidung für die Braut zu vertauschen, wTenn der
Bräutigam kommt, um sie zur Kirche abzuholen, wird an vielen Orten gefunden,
in Deutschland, der Schweiz, unter den Polen, den Wenden, den Winden, den
Serben, in Rumänien, Frankreich, und wenn Usener (Rhein. Mus. XXX. 183) bei
seiner Auslegung der Stelle in Ovid (Fasti III. 677) recht hat, auch unter den
alten Römern“.
Sollte ich nicht hoffen, nähere Umstände über einen so weitverbreiteten Euro-
päischen Gebrauch zu erfahren und auch Beispiele unter den Naturvölkern?
Ich verdanke der Güte des Herrn Prof. Dr. Weinhold ednen Hinweis auf die
Geschichte der „Bkilschen Braut“ welche Herr Olrik in Bd. II S. 252 unserer
Zeitschrift veröffentlichte (Sigrid und Othar u. s. w.), und welche ich über-
sehen habe.
Ridgefield, Wimbledon, England. Gertrude M. Godden.
Gefesselte Götter.
Herrn Professor W. Schwartz spreche ich meinen besten Dank aus für die
Aufmerksamkeit, die er in unserer Zeitschrift II, 197—199 meiner Anfrage (ebd. 1
1) Vgl. auch Winternitz, Das altindische Hochzeitrituell in Denkschriften der Wiener
Akademie XL. 1, 4. (Wien 1892).
90
Dirksen :
II, 84) geschenkt hat. Ich kann aber nicht umhin, zu erklären, dass ich von der
Ansicht des Herrn Professor abweiche und die Erklärung der Fesselung der Götter
nicht in den Mythen der Naturphaenomena, sondern in dem primitiven Kultus der
lokalen Geschlechter suche, der sich aus dem Kultus der Naturvölker und aus
den Gebräuchen der Bauern erheben lässt. Ich glaube, dass die Begräbnissitten
das Rätsel lösen werden, und will hier nur auf eine Mitteilung des Herrn
A. Merensky in der Zeitschrift für Ethnologie VII, 19 hinweisen: „Einige unter
den Troglodyten beerdigen ihre Toten, indem sie sie vom Hals bis zu den Füssen
festbinden mit Ruten vom Dornenstrauch. Letzteres ist genau der Gebrauch der
Hottentotten, welche früher die Toten nicht nur banden, wie andere afrikanische
Stämme, sondern förmlich einwickelten.“
Vielleicht wird sich finden, dass das Fest der Tonea nur das Begräbnisfest
der Hera ist.
Ridgefield. Gertrude M. Godden.
Aus Ostfriesland.
Von Karl Dirksen.
I. Köteldümke
heisst in Ostfriesland der kleine Däumling. Seine Geschichte gehört zu den be-
kanntesten. Das Wort köteldümke kommt im ostfriesischen Wörterbuch von
Doornkaat-Koolman nicht vor; ebenso fehlen die Ausdrücke kötelketrekken und:
kötelketrekkers. Beim kötelketrekken werden die Kinder in zwei Haufen abgeteilt.
Sie stellen sich in Flankenstellung gegen einander auf, umfassen sich mit den
Armen und suchen sich über einen auf dem Boden bezeichneten Strich zu ziehen.
Diese Thätigkeit des Ziehens nennt man kötelketrekken. Beim kötelketrekken soll
festgestellt werden, welche Partei die schwächere ist, mithin im Wettstreit den
kürzeren zieht. Den lauten Jubel der Sieger suchen die Überwundenen durch: slip
üt, kötelketrekkers! abzuschwächen. — Nach dieser kleinen Abschweifung möge
die Geschichte vom Köteldümke, die uns mitten unter eine andächtige Kinderschar
versetzt, folgen. Die Mutter erzählt: Dar was mal ’n köteldümke, de har ’n wagen
fan hikken und sprikken, un de raden wassen eierdoppen, un de pèrde, dat wassen
müsen. — Enmal wul köteldümke ütfaren. As he ’n endje hen was, kwam hum
’n bòne integen, de se: Mag ’k man efen up din wagen? — „Ne,“ se köteldümke,
„min wagen is fan hikken un sprikken, un de raden sünd eierdoppen, un de pèrde
sünd müsen.“ — Un de bòne króp d’r dog up! As he nog ’n bètje wider fòr,
kwam hum d’r ’n stopnadel integen, de se: Mag ’k man efen up din wagen? —
„Ne,“ se köteldümke, „min wagen is fan hikken un sprikken u. s. w.“ Un do
kròp de stopnadel d’r dog up! Un as köteldümke nu nog ’n endje wider kwam,
kwam hum d’r ’n kölke für integen, de se : Mag ’k man efen up din wagen ? —
„Ne,“ se köteldümke, „min wagen is fan hikken un sprikken, un de raden sünd
eierdoppen, un de pèrde sünd müsen.“ Un dat kölke für króp d’r dog up! As
köteldümke nu wèr in hüs kwam, was he so möje un le sük up bedde. Un as
he nu so mòi slèp, do fung dat kölke für up de wagen an to glümen; un de
wagen kwam in brand, un de pèrde branden up, un’t hei un stro un de hele
schür kwam in brand. Un as de schür nu upbrand was, do fung ok nog dat hüs
Kleine Mitteilungen. 91
an to brannen, un de arme köteldümke, de nog so moi lag to släpen, brande
mit up.
hikken un sprikken, dürre, leicht zerbrechliche Reiser, hikken, die im Frühjahr von
Bäumen und Sträuchern abgehauenen dünnen Zweige (fehlt im ostfriesischen Wörterbuch).
Das Wort kommt übrigens nur noch in der Yerbindung hikken un sprikken vor. —
eierdoppen, Eierschalen — integen, entgegen — se gekürzt aus sede, sagte — efen,
eben — kröp, Prät. zu krüpen, kriechen — ’n kölke für, ein Kohlchen Feuer — möje,
müde — moi, schön.
II. Ostfriesisches Kinderspiel.
Dat schäpke-stelen
ist ein Spiel, welches von Knaben und Mädchen gemeinsam gespielt wird. Aus
den an demselben Teilnehmenden werden gewählt: eine Mutter, deren erwachsene
Tochter und ein Dieb. Letzterer wird aus der Zahl der Knaben genommen. Die
übrigen Kinder sind die Schäfchen; sie stehen an einem als Stall bezeichneten
Platz. Die Mutter geht zur Kirche; sie schärft ihrer Tochter beim Fortgehen ein,
auf den Koch topf zu achten und an die Schafe zu denken, damit diese nicht ge-
stohlen werden. Der Kochtopf nimmt die ganze Aufmerksamkeit der Tochter in
Anspruch. Sie setzt sich neben denselben, mit der Hand die Thätigkeit des Um-
rührens nachahmend. Sobald die Mutter sich entfernt hat und die im Topf be-
findliche Masse zu kochen beginnt, weiss sie sich nicht zu raten und zu helfen,
und es entspinnt sich nun zwischen ihr und der Mutter folgendes Gespräch, das
sich so lange fortsetzt, bis sämtliche Schafe, die beim jedesmaligen Herannahen
des Diebes ihr Geschrei erheben, gestohlen sind.
Tochter: Moder, moder, d’pot kökd ofer!
Antwort der Mutter: Do d’r ’n betje solt in!
Tochter: Ik heb’t al dän.
Die Mutter nennt dann noch andere Gegenstände, die dem Essen beizumischen
sind, und die Tochter bestätigt allemal: Ik heb’t al dän. Wieder zu Hause an-
gelangt, sieht die Mutter, was vorgefallen ist; sie erhebt ein lautes Geschrei, und
wenn die Tochter nicht vorzieht, rechtzeitig aus dem Hause zu eilen, bekommt
sie für ihre, alle Begriffe übersteigende Unachtsamkeit, eine gehörige Tracht
Prügel. —
In dem vorbeschriebenen Spiel spiegelt sich ein Stück Familienleben wieder,
das wenig befriedigt. Die Mutter ist eine jener, uns im Leben vielfach begegnenden
Frauen, welche nicht begreifen, dass auch die Versorgung des Haushaltes ein Gott
wohlgefälliger Dienst ist. Selbst pflichtvergessen, hat sie ihre Tochter nicht zu
der Selbständigkeit erzogen, die man von einer guten Hausfrau erwartet. Die
Folgen sind: das Vermögen schwindet, und Zank und Streit sind stete Gäste. Es
sind mithin ernste Wahrheiten, welche das Kinderspiel veranschaulicht. III.
III. Martinilied
aus dem südwestlichen Teile Ostfrieslands.
Sünte Marten, de is gröt.
Geft rni ’n stükje kesenbrod,
92
Dirksen:
dat is för Sünt-Marten!
De kojen, de dragen de starten,
de ossen, de dragen de horns,
moi meisjes tragen de toms.
Och jüffrau, sitt jo de dok 6k net? —
Fannafend kunid jo freer.
Kumd he net, dan häl w’hum net,
dan häl wi Jakuh Jansen,
de sal up de violke spöln
un wi wiln singen un dansen.
(Sanct Martin, der ist gross. Gebt mir ein Stückchen Käsebrot, das ist für S. Martin.
Die Kühe, die tragen die Schwänze, die Ochsen, die tragen die Hörner, schöne Mädchen
tragen die Türme. Ach Jungfrau, sitzt Euch das Tuch auch nett? — Zum Abend kommt
Euer Freier. Kommt er nicht, dann holen wir ihn nicht, dann holen wir Jakob Jansen,
der soll auf der Fiedel spielen und wir wollen singen und tanzen.)
IY. St. Nikolaus.
Am Abend des 5. Dezember legen sich in Ostfriesland die Kinder, nachdem
sie die unten folgenden Liedchen bis zum Ermüden der Erwachsenen gesungen
haben, zeitig zu Bett. Jn der Nacht kommt, wie sie wissen, der heil. Niklas, der
nur denjenigen Kindern etwas bringt, welche sich früh zur Ruhe begeben. Die
Kleinen haben für das Pferd des heil. Mannes einen Teller mit einem Kohlblatt
oder einem Stückchen Brot auf den Tisch gestellt. Unter den Gaben, die der
heil. Niklas bringt, befindet sich allemal ’n stutenkerl für die Mädchen — und ’n
stutenwif für die Jungen. In Leer und Umgegend erhalten die Kinder in der
Regel auch ’n stutenswin und einige oranjebollen oder krüdstütjes. Es sind dies
weiche Brötchen, welchen man eine den Rossäpfeln ähnliche Gestalt und Farbe
giebt. Die oranjebollen sind den Kindern etwas durchaus Neues, indem dieselben
nur für die Niklasbescherung gebacken werden, und auf die Frage der Kleinen,
woher der Sünnerkläs die schönen Brötchen habe, belehrt man dieselben: De lied
Sünnerkläs sin perd püpd. Das unter III mitgeteilte Liedchen, welches in Vers 1
bis 7 einen Bericht über den heil. Niklas und in Vers 8—13 die Bitte an den-
selben enthält, den kleinen Kindern etwas zu bringen, findet sich weder im ost-
friesischen Wörterbuch, noch in Lüpke’s „Alte Heimatklänge“. Yers 4 und 5
werden nur verständlich, wenn man liest: un fan Amsterdam nach Spanjen. He
häld appelkes fan Oranjen. —
Auch nach Meiderich (Beg.-Bez. Düsseldorf) kommt der heil. Niklas; aber
merkwürdigerweise kennt man hier kein einziges Niklaslied. Die hiesigen Kinder
legen ein dem Holzschuh nachgebildetes „Klümpke“ auf ihren Teller, das sie ge-
wöhnlich aus einer Wurzel oder einer Rübe, aber auch wohl aus einem Stückchen
Holz, Kreide u. s. w. mit grosser Geschicklichkeit anzufertigen verstehen. Sie
erhalten ausser anderen Kleinigkeiten auch stets einen Stutenmann geschenkt, der
eine irdene Pfeife im Munde hält; Stutenfrauen aber werden nicht gebacken. Man
macht mithin bei den Geschenken keinen Unterschied zwischen Knaben und
Mädchen.
Es folgen nun die Liedchen.
Kleine Mitteilungen.
93
1.
Sünnerkläs, du gode blöd,
breng’ mi ’n stükje sükkergod,
net to fbl un net to min. —
Smit mi’t man to d’ schöstein in!
(Sünnerkläs = Sanct kläs. — Sükkergod = Zuckerzeug. — net = nicht. — föl = viel,
min = wenig. — Schöstein = Schornstein.)
2.
Sünnerkläs up’t witte perd
steid för d’ bakkers döre.
„Bakker, dö mi d’ döre open;
ik wil sünnerkläsgod kopen
för de lütje kinnerkes,
de so möi na bedje gän
un so moi wer upstän.“
(Bakker = Bäcker. — moi = schön. — wer = wieder.)
3.
Sünnerkläs, de heilig man,
trekt sin beste taprok an,
ridt därmit na Amsterdam,
Amsterdam fan Spanjen.
Appelkes fan Oranjen. —
Perden fan Granaden
riden ofer alle straten.
Gef de lütje kinner wat
un de groten ’n schüp in’t gat.
Där lät hör mit lopen
mit’n pär gollen knopen;
där lät hör mit dansen
mit’n pär gollen kransen.
Taprok = langer Mantel, Tap verkürzt aus Tappert weiter, talarartiger Überwurf.
Schüp = Schups, Stoss. — gat = Loch, Hintern. — hör = sie. — gollen = golden. —
knopen = Knöpfen.
Zur Sage von den drei Jungfrauen.
In dieser Zeitschrift II, 323 f. hat Ignaz v. Zingerle in seiner Mitteilung
über „die drei heiligen Jungfrauen zu Meransen“ auf Bayern verwiesen, wo nach
Panzer und Sepp der Kult der drei Jungfrauen am verbreitetsten gewesen. Die
sagenhaften Motive der Legende deuten unverkennbar auf eine Mischung mit Alt-
heidnischem und enthalten Trümmer eines altgermanischen Naturkultus. An wie
alte historische Fäden die Sage geknüpft ist, beweist die Verbindung des Mythus
mit uralten Befestigungen im Isarthal bei München; es ist in hohem Grade
interessant, diese Thatsache näher zu verfolgen. Sehr erleichtert wird uns dies
94
Müller:
durch die schöne Schrift des Major a. D. Karl Graf von Rambaldi: „Wande-
rungen im Gebiet der Isarthalbahn“ 1).
Das Isarthal war Zeuge der ältesten menschlichen Kultur in bayerischen
Landen; Zittel hat den diluvialen Charakter mancher Funde erwiesen. Zahlreich
sind sodann die Spuren keltischer Ansiedelungen in dieser Gegend; an denselben
Orten wird uns auch die Anwesenheit der Römer bezeugt. In erster Linie gilt
dies von dem wildromantisch gelegenen Grünwrald mit seinem sogenannten
Römerturm und seiner oberhalb des Dorfes gelegenen, 1764 von Dominik
von Linprun entdeckten Römerschanze, einem Kastell, das von vorrömischer
Entstehung sein kann, nach der bekannten Sitte der Römer, einheimische Be-
festigungsanlagen, die sie als zweckdienlich erkannten, ihren Absichten dienstbar
zu machen.
Die Yolkssage von Grünwald kennt an diesem Ort eine „römische Burg“, und
noch heutigen Tages heisst der hierherführende Weg der Burgweg. In der That
hat Linprun an den Wällen der Schanze noch Reste von Mauern gesehen.
Rambaldi meint denn wohl nicht mit Unrecht1 2), es liege sehr nahe, dass „raub-
lustige Recken eine derartige, schon vorhandene Befestigung in Besitz nahmen
und nur zweckentsprechend veränderten“.
Ein Name für dieses auf römischem Grund stehende, sagenhafte Schloss ist
nicht erhalten. Wohl aber wreiss die Sage von drei Jungfrauen zu erzählen,
die man um die Sonnenwende nachts auf dem Platze sah, wo das Schloss ge-
standen. Die eine war ganz weiss, die andere von oben bis zu den Lenden wreiss,
unten schwarz, die dritte bis zum Halse wTeiss, sonst ganz schwarz gekleidet. Die
weisse ging voran, die halbweisse folgte, die schwarze bildete den Schluss, gefolgt
von einem schwarzen, grossen Hunde mit feurigen Augen. Jede der Jungfrauen
hatte einen Rocken an der Seite hängen, und sie spannen Flachs mit der Spindel.
Zu gleicher Zeit hörte man „aus den GeAvölben“ tief herauf einen Hahn krähen.
Die Sage kennt ferner drei unterirdische Gänge, die zum Schlosse führen. Im
Gewölbe haust die halbweisse Jungfrau bei einem grossen Schatz, der in einer
Kiste liegt, bewacht von einem schwarzen Hunde mit feurigen Augen, welcher im
Maule einen Schlüssel hält3).
Interessant ist es nun, dass diese Sage auf dem kurzen Wege bis nach
Wolfratshausen, dem Ende der Isarthalbahn, in ihren Einzelheiten sich ändert,
während der Kern derselbe bleibt und die lokalen Verhältnisse mit denen der
Grünwalder Sage auffallende Ähnlichkeiten aufweisen.
Die völlig durch Feuer zerstörte Burg Wolfratshausen stund auf althistorischem
Boden. Wie das Römerkastell bei Grünwald, so war auch diese frühmittel-
alterliche Burg in eine vorgeschichtliche AVallburg hineingebaut worden, deren
Anlage den übrigen Schanzen im Isarthal — bei Grünwald, Baierbrunn und
Schäftlarn — ziemlich entspricht, indem alle in Dreiecksform sich auf mehr oder
minder spitz verlaufenden Vorsprüngen des steil abdachenden Hochufers der Isar
ungefähr 26 Meter über dem AVasserspiegel des Flusses hinziehen. Auch hier
sollen, nach Sepp4)) drei Gänge vom Drachenfels unter der Erde ausgehen.
1) München 1892. Verlag von Ernst Stahl sen. Mit Illustrationen von Friedrich
Freiherrn von Loen.
2) a. a. 0. S. 34.
3) Friedr. Panzer, Beitrag zur deutschen Mythologie Bd. I, 39. — Rambaldi,
a. a. 0. S. 34, mit einigen interessanten Daten.
4) Altbayer. Sagenschatz S. 339.
Kleine Mitteilungen.
95
Wenn auch in Wolfratshausen die Sage von „drei Fräulein“ sich an ein
versunkenes Schloss anlehnt, wenn nach Fr. Panzer dieses sagenhafte Schloss
„in nächster Nähe“ der Burg gestanden haben soll, so dürfen wir soweit gehen,
den Schauplatz der Sage mit der uralten Befestigungsstätte der Burg selbst zu
identificieren. Der Wortlaut der Sage hindert daran nicht, die einzelnen Umstände
derselben ebensowenig, wohl aber ist die alte Burg der Mittelpunkt der zahlreichen
Gespenstergeschichten, die man sich unten im Flecken erzählte.
Die Wolfratshauser Sage von den drei Jungfrauen klingt nicht so unvermischt
wie die von der Grünwalder Schanze: hier eine mit religiös - abergläubischen,
christlichen Motiven vermengte Erzählung, dort in Grünwald der blosse Bericht
von einer alljährlichen Erscheinung flachsspinnender Jungfrauen, die an die
griechischen Parzen zu erinnern vermögen.
Die Sage selbst erzählt Schöppner1) nach dem Bericht eines 88jährigen
Mannes folgendermassen:
„Es liegt da (an der sagenhaften Stelle) ein Schatz verborgen, von welchem
einst ein mutiger Mann soviel nahm, als er tragen konnte. Das ging so zu:
Zuerst beichtete er und nahm ein geweihtes Amulet unseres Herrgotts und der
heiligen Mutter auf die Brust, damit ihm der Böse nicht schaden konnte. So
nahte er sich dem Platze, wo vor der Höhle ein schwarzer Hund mit glühenden
Augen sass, welcher ihm aber den Eingang nicht verwehrte. Er gelangte in ein
Zimmer und erblickte drei Jungfrauen in drei Betten liegend. Eine von diesen
Jungfrauen, oben weiss, unten schwarz, war wach, die beiden anderen schliefen.
Als der Mann das feine Bettzeug bewunderte, sagte ihm die halb schwarze, halb
weisse Jungfrau, er solle es nur mit dem Finger befühlen; aber das Feuer war so
mächtig, dass ihm gleich die Fingerspitze verbrannte. Er liess sich aber dadurch
nicht abschrecken, sondern ging auf die beiden mit Gold gefüllten Kisten hin.
Auf einer Kiste lag eine Schlange, den Schlüssel im Maul, welchen sie willig
nehmen liess. Er öffnete die Kiste und die halb schwarze, halb weisse Jungfrau
sagte ihm, er solle nur nicht mehr nehmen, als er tragen könne, was er auch be-
folgte. Heraus kam er ohne Plagen, aber desto mehr hatte er im Hineinwege zu
bestehen. Der Teufel erschien ihm in allerlei Gestalten und fuhr auf ihn los; er
hatte Durst und es wurde ihm Trank geboten, aber er nahm nichts; denn alles
war nur Blendwerk, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Mit den drei
Jungfrauen hatte es aber folgende Bewandnis:
Sie waren sehr reich und wollten ihr Gut teilen; zwei von ihnen waren blind
und wurden von der bösen, halb schwarz, halb weissen Jungfrau betrogen. Sie
mass nämlich das Gold mit dem Viertelmass. Bei ihrem Teile machte sie das
Mass immer ganz voll; wenn aber die Reihe an die blinden Schwestern kam,
kehrte sie das Viertelmass um, bedeckte bloss den Boden bis zum Rande mit
Gold und liess die Schwestern mit den Händen darüber streichen, um zu erproben,
dass das Mass voll sei. Wegen dieses Betruges ist sie verdammt. Der Teufel
peitscht sie mit Ruten, bis die Fetzen von ihr hängen; dann wirft er sie nachts
um die zwölfte Stunde in ihr Bett, wo sie augenblicklich wieder ganz wird. Diese
Strafe dauert fort, bis alles fortgetragen ist.“
Wenn man auch weiss, wie bekannt der Mythus von den drei Jungfrauen auf
der bayerisch-schwäbischen Hochebene, in den Bergen Tirols, des Allgäu und der
Oberpfalz ist, so ist seine Gestalt, welche wir im Isarthale vor uns haben, doch
besonderer Beachtung wert. Hier im Isarthale haben wir zwei Beispiele besonders
1) Sagenbuch der bayer. Lande I, 433.
96
Frankel:
deutlich dafür, dass die Ursage von den drei Jungfrauen zurückweicht auf ur-
germanischen, einheimischen Volksglauben: sie haftet an vorgeschichtlichen
Wallburgen, die wahrscheinlich auch Kultstätten waren, und hängt zusammen
mit dem Naturkult unserer Vorfahren. Die drei Jungfrauen, die zur Zeit der
Sonnenwende erscheinen, sind Spaltungen des vorgöttlichen Begriffs des Erden-
lebens in Frühling, Sommer und Winter.
München. Dr. Gustav A. Müller.
Zum Märchenmotiv von den drei findigen Brüdern (oder Genossen)
ist in der Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. II. 119—122 von A. Olrik und ebenda 299 f.
von S. Singer verschiedenes neues Material beigesteuert und bereits bekanntes ver-
zeichnet worden. AVenn auch, namentlich durch die genauen Hinweise in den
Fussnoten zu S. 120 u. 121, die Möglichkeit zu einer wünschenswerten Zusammen-
fassung und vergleichenden Überschau der stark von einander abweichenden
Varianten dieses ungemein langlebigen Stoffes geliefert zu sein scheint, so sind
doch, selbst unter Rücksicht auf G. Huths reichhaltige Ausführungen in der Zeit-
schrift f. vergleich. Litteraturgesch.. N. F. II 406 ff., eine Anzahl von neueren
Fassungen des Themas an den angegebenen Stellen übergangen worden. In der
Hauptsache werden hoffentlich meine bezüglichen Notizen in dem Artikel „Zum
Proteusmärchen und anderen wandernden Stoffen“ in der Germania, Vierteljahrs-
schrift f. dtsch. Altertumskunde XXXVI (N. F. XXIV) 310, sowie XXXVII 38
und 120 auf alle notwendigen Ergänzungen unmittelbar oder mittelbar aufmerksam
machen. Das Problem verdiente einmal eine erschöpfende Behandlung.
Nürnberg. Ludwig Fränkel.
Schlesische Sagen vom Nachtjäger.
In Schlesien heisst der wilde Jäger der Nachtjäger; denselben Namen führt
er in der Lausitz (bei den Wenden nöcny jagar) und in einem Teile Rügens.
Im Eulen- und Riesengebirge erzählt man viel von ihm; er tritt hier aber nicht
zu Ross auf, sondern als Jäger zu Fuss, von einer Koppel Hunde umgeben, und
er trägt seinen Kopf unter dem Arm.
Eines Abends waren bei dem Pachtschenken in Heinrichau an der Eule Gäste
gewesen und als sie fortgingen, trat der Schenke mit hinaus und blieb eine Weile
stehen. Da sah er über den Steg einen stattlichen Herrn kommen, der hatte
keinen Kopf und führte eine Koppel Hunde an der Leine. Er ging an der Pacht
vorbei. Der Schenke fragte verwundert: „Herr, Herr! warum so viel Hunde?“
Da drehte sich der barsch um und sprach: „Ich brauche so viel!“ Und weg
war er.
Wenn man auf den Nachtjäger trifft, bittet er einen zuweilen, den Hunden
über den Graben zu helfen. AVenn man es thut, giebt er einen Thaler; wer aber
sich fürchtet, der muss sich über die nächste Grenze retten, sonst ist er verloren.
Der Nachtjäger jagt die Holzweibel (im Riesengebirge: die Rüttelweiber) im
AValde. Sie können sich vor ihm nur retten, wenn sie einen Baumsturzei finden,
Kleine Mitteilungen.
97
wobei die Holzmacher Walts Gott! gesagt haben. Die Holzweihel sind kleine
Weiber, ganz bäuerisch angezogen und ärmlich von Aussehen. Ein Holzmacher
hat sie einmal im Langenbielauer Revier gesehen, als er aus dem Mittagschlafe
erwachte. Sie rafften alles dürre Holz in ihre Schürzen, und da ging es nur so
knick-knack im Rusche.
In Wüstewaltersdorf unter der Eule war einmal ein Knecht, ein rechter Prahl-
hans, der rühmte sich, er thäte sich vor garnichts fürchten, auch vor dem Nacht-
jäger nicht und er getraue sich bei den Dornsträuchern am Wege nach Lang-
waltersdorf zu schlafen, wo jener umging. Die anderen Knechte warnten ihn,
aber er verwettete sich und der Herr gab ihm ein Pferd, dass er rascher dorthin
kommen könnte. Da er nun schon lange geritten und noch immer nicht bei den
Sträuchern war, fing er an, fürchterlich zu fluchen. Plötzlich stand ein Popel
neben ihm, wie ein altes Weib: das sagte zu ihm: „Was bist du so ungescheut
und fluchst so abscheulich: du kommst balde zu den Sträuchern.“ Der Popel
lief nun neben dem Pferde her und auch eine ganze Koppel Hunde, rote, blaue,
gelbe, grüne, und es dauerte nicht lange, da kamen sie zu dem Dornicht. Da
sagte der Popel: „Knecht, steig ab und warte! Du hast über den Nachtjäger
deinen Spott getrieben, itzund musst du fangen, was auf dich zukommt!“ Nu
ging der Popel in die Sträucher nein und balde kroch eine Schlange heraus, so
gross wie ein Wiesebaum, und gerade auf den Knecht los. Der machte die Augen
zu und greifen that er erst recht nicht, und da er wieder die Augen aufmachte,
kroch eben noch der Schwanz der Schlange neben ihm vorbei. Da sprang er,
was er konnte, auf das Pferd und ritt nach Hause. Aber am andern Morgen lag
er tot in seinem Bette. Der Popel mit den Hunden und die Schlange war aber
der Nachtjäger gewesen.
Im Lande drunten (d. i. in der Ebene zwischen dem Zobten und der Oder)
lebten einmal ein Vater und eine Mutter, die gingen an einem Sonntag-Nach-
mittag mit ihrem kleinen Jungen spazieren. Da kamen sie zu einem schönen
eingezäunten Garten, den sie noch niemals dort gesehen hatten. Sie gingen hinein
und das Jungei blieb vor einem Baume stehn, worauf ein Guckuck sass und
schrie. Die Eltern gingen indessen weiter und als sie sich nach einer Weile um-
sahen, war das Kind verschwunden und der ganze Garten mit ihm. Da haben
sie sehr geweint und sich gegrämt, aber es half nichts. Acht Tage darnach sind
sie wieder den Weg gegangen und da war der Garten wieder da und ihr Jungei
sprang ihnen gesund entgegen. Wo es aber in der Zeit gewesen ist, hat es nie-
mals sagen können. Aber der Guckuck soll der Nachtjäger gewesen sein.
An der Oder bei Gurau zeigt sich der Nachtjäger beritten gleich dem wilden
Jäger anderwärts. Der längst verstorbene Schiffer Pischel hat ihn, wie er noch ein
Junge war, oft gesehen, wenn er mit den andern Jungen das Vieh an der Oder
entlang abends nach Gurau heimtrieb. Der Nachtjäger sass ohne Kopf auf einem
Schimmel und jagte über ihren Köpfen weg; Reiter und Pferd sahen aus, als
ob sie brennten. Gethan hat er ihnen aber nichts.
(Nach mündlicher Überlieferung.)
K. W.
Eine westpreussische Spukgeschichte von 1333.
In der Detmar-Chronik von 1101—1395 (die Chroniken der niedersächsischen
Städte. Lübeck. 1. Band. Leipzig 1884) liest man zum Jahre 1333 (ebd. S. 472):
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 7
98
Weinhold: Kleine Mitteilungen.
In deme sulven järe schach in Prützen en wunderlich ding, it was enes
ridderes dochter, de het Ghertrud; de wart krank bet an den döt. als men seghede,
so wart ze mit der swarten kunst vorräden unde wart hemeliken enwech ghevöret
van den bösen gheisten, unde in erer stede lach en spuk, lik gheschapen also
se. dat bewisde sik, oft dat sturve, unde wurde begraven; men newiste anders
nicht, it enwere de vrowe sulven. darna nicht langhe dö vant se en olt herre in
deme hrüke bi Dancz. he nam ze up unde brachte ze in de stad half levendich;
erer redelikeit hadde ze nicht, de van Dantzeke senden ze ereme yedderen Ber-
tolde van Merginwerder; de sende ze vort eren bröderen unde susteren unde den
anderen vrundeu. en del spreken, ze weret; en del spreken dar enjeghen, ze
enweres nicht, mer se were en bedreghersche. tö dem lesten wart ze brand in
dem vure van eren eghenen vrunden in der stet, de het Mewa. hir schach nit
gudes nä.
Dr. Koppmann, der Herausgeber der Detmar-Chroniken, giebt an, dass diese
Geschichte aus den Ann. Thorun. stamme; eine Überarbeitung finde sich bei Simon
Grunau, Preuss. Chronik I. S. 580.
Bücheranzeigen.
The Attis of Caius Valerius Catullus by Grant Allen, B. A., formerly
Postmaster of Merton College, Oxford. London, 1892. Published by
David Nutt in the Strand.
Das Büchlein bringt den Originaltext des Catullischen Galliambus (Attis) mit
einer metrischen englischen Übersetzung, die dem „grössten Gedichte der lateini-
schen Litteratur“ S. XV besser gerecht zu werden sucht, als die frühereu. Die
Hauptsache bilden zwei Exkurse, die den Attiskult, den Ursprung des Baumkultus
und des Galliambus untersuchen. Die religionsphilosophische Anschauung des
Verfassers ist bestrebt, zwischen seinen beiden Hauptgewährsmännern Frazer
(Baumkultus) und Spencer (Ahnenkultus) so zu vermitteln, dass er annimmt, der
Baum sei ursprünglich auf das Grab des verehrten Ahnen gepflanzt und so des
Segens des Toten und zugleich der Verehrung der Lebenden teilhaftig geworden,
eine geistreiche Idee, die mit reicher Kenntnis der folkloristischen Litteratur
(namentlich der englischen) durchzuführen gesucht wird.
Berlin. H. Di eis.
Fr. Stolz, Die Urbevölkerung Tirols. Ein Beitrag zur Paläo-Ethno-
logie von Tirol. Zweite umgearb. Auflage. Innsbruck, Wagnersche
Universitäts-Buchhandlung 1892. 121 SS. 8°.
Im Jahre 1886 erschien in dem „Boten für Tirol und Vorarlberg“ und gleich-
zeitig in einem Sonderabdrucke die Wiedergabe eines von Stolz in Innsbruck
gehaltenen Vortrages über Tirols Urbevölkerung. Mannigfache Nachfragen haben
Bücheranzeigen.
99
den Verfasser zu einer erneuten Ausgabe veranlasst: aus dem unscheinbaren
Heftchen ist eine starke Abhandlung geworden, die ebenso wie die beigegebenen
Anmerkungen auf mehr als den dreifachen Umfang angewachsen ist. Könnte
auch manche Erörterung, die an belanglose Lokallitteraur anknüpft, ohne Schaden
entbehrt werden, so wird man dem Verfasser doch für die allseitige Vertiefung
seiner Aufgabe dankbar sein und manches eher noch eingehender und zugleich
mit strengerer Kritik behandelt wünschen, um eine Art Urgeschichte des Landes bis
zu der Zeit zu erhalten, wo es mit der römischen Eroberung in das helle Licht
der Geschichte tritt.
So wenig wie heute ist jemals, soweit wir in die Vorzeit zurückschauen, das
Land Tirol im Besitze eines Volkes gewesen. Von Urzeiten an haben nicht nur
mehrere ganz unverwandte Nationalitäten sich in den Boden geteilt, auch giebt es
wenig Gegenden Mitteleuropas, wo wir im Altertum schon eine so rasche Auf-
einanderfolge verschiedener Stämme auf einem und demselben Grunde, den sie
sich strittig machten, verfolgen können. Noch unklarer und verwickelter, aber
auch reizvoller wird die Völkergeschichte Tirols dadurch, dass der älteste bekannte
Bestand der Bevölkerung mehr als ein Rätsel über seine Herkunft, ja über sein
wirkliches Bestehen aufgiebt. Gleich die Räten, die der weit über die Grenzen
des Stammes hinausgehenden Provinz Raetia den Namen liehen, sind solch ein
Rätsel. Müllenhoff ist es leider nicht mehr vergönnt gewesen, diesen Punkt seiner
Altertumskunde näher auszuführen: er zählte die Räten zur vorarischen Ur-
bevölkerung Europas. "Waren sie überhaupt ein national ausgeprägter Volksstamm
mit eigener Sprache? Unzweifelhaft einmal, doch lässt sich kaum eine sichere
Thatsache aus der Überlieferung hierfür anführen, ihre angebliche Verwandtschaft
mit den Etruskern, an die das in ethnologischen Fragen nur zu oberflächlich
urteilende Altertum glaubte, ist nach und nach immer zweifelhafter geworden.
Dass Steubs Ortsnamenforschungen, die auf romanischem Gebiete noch zu seinen
Lebzeiten so hart mitgenommen worden sind, auch auf rätischem Boden nichts
Bleibendes erbracht haben, darf man jetzt wohl unverblümt aussprechen. Etrusker
aber haben trotzdem in Südtirol ihre Stätten gehabt, wie die Funde der Inschriften
in nordetruskischem Alphabet unzweifelhaft bezeugen. Ihrer einstigen Ausdehnung
durch Ortsnamenforschung nachzugehen, der Stolz das Wort redet, verbietet indes
unsere Unkenntnis der etruskischen Sprache, garnicht zu reden von der Erwägung,
dass die etruskischen Ansiedlungen dieser Gegend sich kulturell in einem Ur-
zustände befunden haben werden, der dauernde Erhaltung ihrer Namen mehr als
zweifelhaft erscheinen lässt. Von einer etruskischen Bevölkerung in Nordtirol
aber, die Stolz als möglich hinstellt, wäre auch dann völlig abzusehen, wenn die
von Genthe ins Ungeheuerliche übertriebene Annahme eines direkten etruskischen
Tauschhandels nach dem Norden sich nicht als der grosse Irrtum herausgestellt
hätte, der sie thatsächlich ist. Ebensowenig kann ich mich der Ansicht von Stolz
anschliessen, dass die als Bewohner des Inntals genannten Breunen und Caenaunen
der alpinen Triumphalinschrift des Augustus mit Strabo für Illyrier zu halten sind.
Die weite Ausdehnung des illyrischen Stammes der Veneter nach Nordwesten bis
an den Bodensee, die neuerdings Pauli annimmt, ruht doch nur auf der zweifel-
haften Grundlage von Namensklängen. Dass der Landschafts- und Volksname
der Breunen in romanischer Form im sechsten Jahrhundert und noch später wieder
auftaucht, ist mehr oder weniger eine gelehrte Auffrischung und zeugt in keiner
Weise für eine längere Widerstandskraft ihrer Nationalität, die uns etwa berechtigen
könnte, in diesen Gebieten auf illyrische Ortsnamen zu fahnden. Dann müsste
man ja in Böhmen nach keltischen Ortsnamen Suche halten können. Dagegen
7*
100
Maurer:
sind im Südosten durch das Pusterthal zweifellos illyrische Scharen eingezogen
und die älteste nachweisbare Bevölkerungsschicht dieses Gebietes gewesen. Von
dem Zuge der Kelten in die Ostalpen um die Wende des fünften Jahrhunderts
scheint das Hochland von Tirol so gut wie unberührt geblieben zu sein. Doch
hat später von Süden her aus dem Polande eine starke keltische Einwanderung in
das südliche Tirol stattgefunden. Mit der römischen Einverleibung schliesst die
dankenswerte Abhandlung, die auch darin von den Gepflogenheiten der klassischen
Philologie sich vorteilhaft fernhält, dass sie den Ergebnissen der Anthropologie
und der Grabfunde überall gebührende Rücksicht schenkt.
Berlin. G. Kossinna.
prjar ritg-jörAir, sendar og tileinkaöfar Herra Pali Melsted, af
Pinni Jönssyni, Valty GuAmundssyni og Boga Th. Melsted.
Kopenhagen 1892; 93 SS. 8°.
Am 13. November vorigen Jahres feierte Pall Meisted in Reykjavik seinen
80. Geburtstag, ein Mann, der sich um seine Heimat vielfach verdient gemacht
hat. Ein Sohn des gleichnamigen Amtmanns (f am 3. Mai 1861), welcher in der
politischen Geschichte Islands eine nicht unwichtige Rolle gespielt hatte, und ein
älterer Bruder des Lektors SigurÖur MelsteÖ an der Priesterschule in Reykjavik,
hatte Pall zunächst die Rechtswissenschaft studiert, und auch teils als Sachwalter,
teils als konstituierter Sysselmann in der Praxis gewirkt. Daneben war er sowohl
als Volksvertreter am Alldinge, als auch als Herausgeber oder Korrespondent ver-
schiedener Zeitungen politisch thätig gewesen; mit besonderer Vorliebe gab er
sich aber dem Studium der Geschichte hin, und auf diesem Gebiete erwarb er
sich teils als Lehrer des Faches an der Lateinschule zu Reykjavik, teils aber
auch als Verfasser mehrfacher populärer Werke sehr erhebliche Verdienste, deren
jüngstes, eine „NorÖurlanda saga“, erst kürzlich (1891) von der isländischen ge-
lehrten Gesellschaft herausgegeben wurde. Aus Anlass dieses Jubelfestes haben
nun drei ehemalige Schüler des Mannes ihm eine Sammelschrift gewidmet, von
welcher wenigstens ein Teil in das Bereich dieser Zeitschrift fällt, und darum in
ihr besprochen werden soll.
Die letzte der drei in dem Bändchen vereinigten Abhandlungen, die des Cand.
mag. Bogi MelsteÜ, eines Neffen des Jubilars, handelt „Um alpingi“ (S. 56 bis
92), und kann hier nur kurz erwähnt werden. Der Verfasser, welcher erst vor
kurzem ein recht brauchbares Lesebuch der neuesten isländischen Litteratur
herausgegeben hat (Synisbök islenzkra bökmennta ä 19 öld; Kopenhagen 1891),
schildert in diesem Aufsatze die Entstehung der isländischen Landsgemeinde, deren
Verfassung in der freistaatlichen Zeit, sowie die Umgestaltung dieser Verfassung,
wie sie kurz nach der Vereinigung des Landes mit Norwegen durch die Järnsida
und die Jönsbök erfolgte. Er schliesst sich dabei durchaus den Ansichten an,
welche der treffliche Vilhjalmur Einsen verteidigt hatte, selbst in den Punkten, in
welchen diese am schwächsten begründet sind, wie z. B. bezüglich der Zahl der
Richter in den Fjöröungsdömar; aber seine Darstellung ist in seltenem Masse klar
und durchsichtig, und darum zur ersten Einführung in den Gegenstand sehr
empfehlenswert. Auf die bestehenden Differenzpunkte einzugehen, ist hier nicht
am Orte, und überdies von mir anderwärts schon genugsam geschehen (vgl.
Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Bd. 32
S- 331-56).
Bücheranzeigen.
101
Hierher gehört dagegen die erste der drei Schriften, welche die Überschrift
„Um galdra, seid", seiömenn og völur“ trägt, also von Zauberei und Wahr-
sagern, sowie von denen handelt, welche solche Künste betreiben (S. 5 — 28).
Verfasst ist sie von Dr. Pinnur Jönsson, Professor der altnordischen Philologie
in Kopenhagen, welcher uns, abgesehen von so manchen anderen tüchtigen
Leistungen, neuerdings auch durch einen kurzen Abriss der isländischen Litteratur-
geschichte (Agrip af bökmenntasögu Islands; Reykjavik 1891 und 1892) und durch
eine isländische Metrik (Stutt islenzk bragfrsefii; Kopenhagen 1892) erfreut hat.
Der Verfasser geht aber aus von dem Glauben der alten Nordleute an die Fort-
dauer der Seelen nach dem Tode, und zwar als weit weiserer, mächtigerer und
vollkommenerer Wesen, als dieses die Lebenden sind, also von einem Glauben,
welcher sich in der verschiedensten Weise zu erkennen giebt, unter anderm aber
auch in dem Bestreben, sich mit diesen Seelen in Verbindung zu setzen, um ihr
Wissen und ihre Macht ausnutzen zu können; dazu haben aber die Zaubermittel
und die Beschwörungen gedient, — eine Bemerkung, die gewiss nicht unrichtig,
aber doch kaum erschöpfend ist, da nicht aller Zauber auf die Beihilfe über-
irdischer Mächte gebaut ist. Weiterhin werden die verschiedenen Ausdrücke
zusammengestellt, mit welchen die Zauberei und die Leute, welche sie betreiben,
bezeichnet werden. Wenn aber dabei nicht nur das Wort galdr, wie früher schon
geschehen, von gala, d. h. singen abgeleitet wird, sondern auch seidr und das Zeit-
wort sida auf dieselbe Grundbedeutung zurückgeführt werden will, so erscheint
mir die letztere Ableitung doch etwas bedenklich, da Kenningar wie „sverda seidr“,
„Fjölnis seidr“ auch dann vollkommen verständlich sind, wenn man seidr im
gewöhnlichen Sinne als Zauber nimmt. Trotz dieser Gleichstellung von galdr und
seidr unterscheidet der Verf. indessen doch verschiedene Arten von Zauberern, und
zwar stellt er die völur und spdmenn dem seidfolk gegenüber. Den Namen der
völva leitet er, wie dies schon Joh. Fritzner (in der norwegischen Historisk
Tidsskr. IV, S. 169, Anm. 2; 1877) und K. Müllenhoff (Deutsche Altertumskunde,
V, S 42; 1883) gethan hatten, von dem völr, d. h. Stab ab, also von dem Zauber-
stabe, spägandr, dessen sich die Wahrsagerinnen bedienten. Er sieht in der völva
ursprünglich wesentlich eine „spakona“ oder Wahrsagerin, welcher die „spaför“
und die „ütiseta“ als Mittel diente um „at leita fretta“. Sie suchte nämlich die
zumal zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten herumschweifenden Seelen
aufzusuchen oder zu erwarten und mittels ihres Stabes und mündlicher Be-
schwörungen zum Beantworten ihrer Fragen zu bringen; diese Fragen bezogen
sich aber teils auf die Zukunft oder auf die Vergangenheit, wie z. B. auf begangene
Verbrechen, teils aber auch, wie wir wohl beifügen dürfen, obwohl der Verfasser
dieser Möglichkeit nicht gedenkt, auf die Gegenwart, z. B. auf Dinge, die in weiter
Entfernung vor sich gingen. Ein Beispiel der letzteren Art bietet die Vatnsdtela,
Kap. 10, wo die Wahrsagerin dem Ingimund ansagt, dass ein silbernes Amulet
aus seinem Beutel verschwunden sei. Nur ausnahmsweise wird diese Art der
Wahrsagerei auch von Männern, spamenn, betrieben; über deren Betrieb durch
von Ort zu Ort herumziehende Weiber giebt der Verf. aber eine Reihe sehr an-
schaulicher Belege. Doch kann ich bezüglich dieser wandernden Wahrsagerinnen
ein Bedenken nicht unterdrücken. Der Verfasser will zwischen dem Auftreten der
völur in Norwegen und auf Island einen wesentlichen Unterschied .finden, indem
diese dort aus ihrer Kunst ein herumziehendes Gewerbe machten, während sie
hier als ansässige Frauen ganz wie andere Weiber ihres Standes lebten, und er
will diesen Unterschied daraus erklären, dass auf Island der alte heidnische Glaube
weit früher als in Norwegen verfallen und einer mehr rationalistischen Richtung
102
Maurer:
gewichen sei. Mir will dagegen scheinen, dass der behauptete Unterschied gar
nicht bestehe. Die Oddbjörg, von welcher die Glüma, Kap. 12, erzählt, »zieht auf
Island ganz ebenso als Wahrsagerin herum, wie die ungenannte Finninn der Vatns-
daela, Kap. 10, die ebenfalls ungenannten völur der Nornagests p. und des Orms p.
Störölfssonar in der Flbk. I, S. 358 und 525 oder die Heidi- in der Örvarodds s.
Kap. 3 in Norwegen, und ich begreife nicht, worin der Unterschied liegen soll,
welchen der Verfasser zwischen deren Verhalten finden will. Das Auftreten ferner
der porbjörg litilvölva in Grönland, welches die Eiriks s. rauda, Kap. 4, schildert,
ist ebenfalls ganz gleicher Art, und da Grönland von Island aus entdeckt und be-
völkert wurde, liegt nicht der mindeste Grund vor, bei ihm mit dem Verfasser an
norwegischen Einfluss zu denken. Überdies gehören von den herumziehenden
völur in Norwegen drei völlig unhistorischen Sagen an, und finden sich umgekehrt
auch hier ansässige und nicht wandernde Zaubrerinnen, bezüglich deren es genügen
mag, auf die Königin Gunnhildr Üzurardöttir zu verweisen, ganz abgesehen davon,
dass sich kaum begreift, warum der herumziehende Betrieb der Wahrsagerei auf
eine tiefere Religiosität des Volkes schliessen lassen sollte, als deren Betrieb durch
ansässige Frauen in angesehener Stellung. — Zum „seidr“ hinwiederum, meint der
Verfasser, brauche man mindestens dreierlei Dinge, nämlich erstens einen Zauber-
sitz (seifihjallr), zweitens unterstützende Sänger (raddlid), endlich drittens gewisse
Lieder (kvsedi, frseöi), welche aber doch wohl von eben jenen Sängern vorzutragen
waren, wie dieses zumal die Erzählung von der grönländischen porbjörg zeigt.
Auch eines Stabes (seidstafr) wird gedacht, sowie auch weiterer Zaubermittel (taufr),
welche die Zauberin allenfalls in einem Beutel bei sich trug; über die Art ihres
Gebrauches fehlt uns aber jede Kunde. Der seidr diente aber nicht nur zur Er-
forschung geheimer Dinge, sondern auch zur Erzielung vielfacher anderer Erfolge,
und zwar zumeist schädlicher, zuweilen indessen auch schützender und förder-
licher Art. Die zauberkundigen Leute sind aber vielfach auch „eigi einhamir“,
d. h. fähig, ihre Gestalt zu wechseln und in der von ihnen erborgten Gestalt weite
Entfernungen zurückzulegen; die gandreid, d. h. der Ritt auf einem Stabe, schliesst
sich an diese ihre Eigenschaft an. Übel angesehen waren übrigens zumeist die
zauberkundigen Leute, und vielfach wurden sie bereits im Heidentume verfolgt,
freilich zumeist wohl nur wegen des von ihnen gethanen Schadens; nur selten
gaben sich tüchtige Leute mit zauberischen Künsten ab, und nur selten nahmen
auch solche zu fremder Zauberkraft ihre Zuflucht. — Fragt man aber schliesslich,
wie sich denn eigentlich die völur von den seidmenn unterschieden, so fällt es
schwer, eine richtige Antwort zu geben, und auch der Verfasser spricht sich über
den Punkt nicht klar und bestimmt aus. Unsere Quellen selbst halten die Schei-
dung nicht streng fest. Die Hildr der Örvarodds s. wird als „völva ok seiefkona“
bezeichnet, und für ihre Verrichtung wird der Ausdruck „seidr“ gebraucht. Die
porbjörg litilvölva heisst „späkona“; aber sie trägt „taufr“ in ihrem Beutel bei
sich, sie sitzt während ihrer Weissagung auf dem „seidhjallr“ und als „fremja
seidinn“ wird ihr Vorgehen dabei bezeichnet. Auch bei der wahrsagenden Finninn
in der Vatnsdsela ist von einem „efna seid" eptir fornum sid>“ die Rede. Die
puridr sundafyllir der Landnama, II, Kap. 29 war eine völva, wie der Name ihres
Sohnes Völu-Steinn zeigt; aber ihren Beinamen hatte sie daher erhalten, dass sie
einmal während einer Hungersnot durch seidr alle Sunde mit Fischen füllte
u. dgl. m. Dennoch möchte auch ich die vom Verfasser angenommene Unter-
scheidung festhalten und ihr nur eine etwas bestimmtere Grundlage geben. Die
völva und der spämadr sind als solche lediglich mit der Wahrsagerei befasst,
gleichviel ob diese von ihnen durch seidr oder auf anderem Wege betrieben wird;
Bücheran zeigen.
103
dagegen kann der seiör zwar zur Wahrsagerei gebraucht werden, aber auch zu
einer Menge ganz anderer und sehr verschiedener Zwecke. Dazu kommt, dass
der Mensch, worauf ich schon vor langen Jahren aufmerksam gemacht habe (Die
Bekehrung des norwegischen Stammes zum Christentume II, S. 97 —148), nach
altheidnischem Glauben auf sehr verschiedenen Wegen die Befähigung zu über-
natürlichen Leistungen, und zumal auch zur Weissagung erlangen konnte; sie konnte
ihm vermöge seiner Abkunft von Göttern, Elben oder Riesen angeboren, oder ihm
durch besondere Umstände bei seiner Geburt oder spätere Vorkommnisse ein für
allemal zugewachsen sein oder endlich auf seinem geheimen Wissen und Können
beruhen. Sehr häufig handelt es sich dabei nur um den Wechsel einer feineren
und einer gröberen Anschauungsweise, wie denn z. B. der Glaube an die „ham-
farir“ ursprünglich von der Annahme ausgeht, dass die menschliche Seele den
schlafenden Leib verlassen und in angenommener Gestalt vorübergehend ein ge-
sondertes Dasein führen könne, während daneben dann auch die andere Vorstellung
auftaucht, dass der Gestaltenwechsel durch die Anlegung eines Wolfsgewandes
(ülfhamr), Federkleides (fjadrhamr), Schwanenhemdes (alptarhamr) u. dergl. ver-
mittelt wurde, oder wie die Wunderkräfte der Götter selbst von Snorri gelegentlich
auf „galdr“ und „seiör“ zurückgeführt werden, während doch ursprünglich sicher-
lich nur die höhere Natur des göttlichen Wesens als deren Ausgangspunkt be-
trachtet worden war. So mag denn auch die völva ursprünglich als ein höheres,
mit der Gabe der Weissagung ausgestattetes Wesen gegolten haben, und diese
höhere Begabung erst hinterher auf zauberisches Wesen und besondere Geheim-
künste zurückgeführt worden sein.
Die zweite Abhandlung ferner, welche das „Föstbrseöralag“ oder die Buni-
brüderschaft behandelt (S. 29—55), hat Professor Dr. Valtyr Guömundsson
beigesteuert, derselbe, dem wir bereits eine sehr tüchtige Arbeit über die Privat-
wohnungen auf Island verdanken (Privatboligen pä Island i Sagatiden; Kopenhagen
1889). Der Verfasser schliesst sich gleich von vornherein der von M. Pappenheim
aufgestellten Ansicht an, dass das föstbrselralag den Ausgangspunkt bilde für die
Entstehung der Gilden in Dänemark und in Norwegen; da er jedoch auf die Be-
gründung dieser Hypothese sich nicht einlässt, brauche ich auf diese hier nicht
weiter einzugehen, zumal ich die ihr entgegenstehenden Bedenken schon ander-
wärts auseinandergesetzt habe (Kritische Vierteljahrsschrift Bd. 28, S. 341—53 und
Bd. 31, S. 213—22). Dagegen veranlasst mich die gelegentliche Bemerkung des
Verfassers (S. 46), dass ihm keine Angaben über eine Bundbrüderschaft bei andern
Völkern als den Nordleuten bekannt seien, zu einer Richtigstellung. Jön Arnason,
gegen welchen diese Bemerkung gerichtet ist, verweist in seiner Historislc Ind-
ledning til den gamle og nye Islandske Rsettergang, S. 237, Anm. 159—60 bezüglich
des Gebrauches, beim Abschlüsse von Bündnissen Blut zu trinken, auf die Berichte
des Giraldus Cambrensis über die Irländer, und die Angaben des Herodot, des
Polydorus Virgil, und des Bodinus über die Skythen; wenn aber zwar hier die
Eingehung einer Bundbrüderschaft im eigentlichen Sinne nicht vorliegen dürfte, so
ist doch das Vorkommen einer Wahlbrüderschaft und Wahlschwesterschaft bei
den Südslaven zweifellos, über welches Fr. Krauss, Sitte und Brauch der Südslaven,
S. 619—43 eingehenden Bescheid giebt. — Bezüglich des Namens der Verbindung
(S. 35—39) unterscheidet der Verfasser eine doppelte Bedeutung desselben, indem
„föstbrsedralag“ teils die feierlich eingegangene Bundbrüderschaft bezeichne, teils
aber auch das freundschaftliche Verhältnis, welches unter zusammen aufgewachsenen
Leuten zu bestehen pflege; dabei soll die letztere Bedeutung die ursprüngliche
gewesen sein, wogegen die erstere erst der christlichen Zeit angehören und überdies
104
Maurer:
wahrscheinlich auf Island beschränkt geblieben sein soll. Hier regen sich mir
wieder Bedenken. Die Scheidung der beiden Bedeutungen zwar ist unzweifelhaft
begründet; aber schon sie dürfte wohl etwas bestimmter gefasst sein. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass föstbrööir, seltener föstri, zunächst nur den Pflege-
bruder bezeichnet, ganz wie föstrfaöir oder föstri den Pflegevater, föstrsonr oder
föstri den Pflegesohn, föstrmödir die Pflegemutter, föstrdöttir die Pflegetochter und
föstra eine der beiden letzteren, föstrsystir aber die Pflegeschwester bedeutet, oder
wie das Pflegeverhältnis selbst als föstr oder barnföstr bezeichnet wird; etymo-
logisch ist die föstrmödir als Amme (von dem Zeitwort föstra = fseöa also füttern,
säugen abgeleitet), und der föstrbrööir als Milchbruder aufzufassen, so dass also
schon in der Geltung beider Ausdrücke für das blosse Pflegschaftsverhältnis eine
Erweiterung des ursprünglichsten Wortbegriffes zu erkennen ist. Bei dieser ersten
Erweiterung ist aber die Sprache nicht stehen geblieben. Fritzner hat bereits aus
der um das Jahr 1200 geschriebenen Clements saga (Postola sögur S. 13<>) einen
Beleg dafür erbracht, dass man als „föstri“ allenfalls auch einen ganz Fremden
ansprach, so dass also der Ausdruck ganz ebenso gebraucht werden konnte wie
etwa felagi, lagsmaöi-, kumpänn, und bietet sich allenfalls als eine weitere Parallele
dar, dass in der Grettla, Kap. 77, eine Hausmagd die Tochter des Hauses als „systir“
anspricht. Da liegt denn doch die Anwendung der gleichen Bezeichnung auf den
Bundbruder noch viel näher; aber wenn damit zwar die Annahme begründet ist,
dass die Übertragung derselben auf diesen eine spätere ist, so ist damit doch noch
keineswegs festgestellt, ob diese Erweiterung des Sprachgebrauches eine gemein-
nordische oder eine ausschliesslich isländische ist, noch auch ob sie schon vor
oder erst nach dem Übergang der Nordleute zum Christentume sich vollzogen hat,
und nach diesen beiden Seiten hin wollen mir die vom Verfasser angeführten
Gründe nicht genügen. Allerdings ist richtig, dass der Ausdruck föstrbrööir als
Bezeichnung eines Bundbruders in den über das 13. Jahrhundert hinaufreichenden
Denkmälern sich nicht nachweisen lässt; aber abgesehen von einer Strophe des
porbjörn hornkloft, in welcher der Rabe als „arnar eidbrööir“, Bundbruder des
Adlers bezeichnet wird, wird in ihnen auch nicht von eidbrseör oder svarabrseör
gesprochen, dieses wie jenes sehr einfach darum, weil sie eben keine Veranlassung
hatten, der Bundbrüderschaft zu gedenken. Die Erwähnung von eidbrseör in der
Hakonar s. gamla, Kap. 58, von svarabrseör in der Knytlinga, Kap. 21 und 1Ü0
und von eiösvarar in den Skaldskaparm., Kap. 41, beweist nichts, da alle diese
Quellen erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und von Isländern ge-
schrieben sind. Dass in der Föstbraeöra saga, und zwar nach der Hauksbök so-
wohl als nach der Flateyjarbök die Bezeichnungen föstbrööir und svarabröölr
wechseln, lässt eben nur erkennen, dass beide ganz gleichmässig für den Bund-
bruder gebraucht werden konnten, ohne irgendwelche weitere Schlüsse zuzulassen,
und dass Saxo Grammaticus von „invicem conjurati“ spricht, zeigt eben auch
höchstens, dass man zu seiner Zeit die Bezeichnung Eidbrüder in Dänemark kannte,
gestattet aber noch keineswegs die Folgerung, dass sie dort die allein übliche war.
Bleibt also nur die einzige Stelle der GpL. § 239 übrig, in welcher „eidbroedr“
und „föstbroeör tveir foeddir upp saman, ok hafa drukkit bäöer speina eina“ als
gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden; aber auch diese Stelle, an welcher
es darauf ankam, die beiden Verhältnisse mit voller juristischer Schärfe auseinander
zu halten, beweist nicht, dass nicht beide in der gewöhnlichen Rede unter einer
Bezeichnung zusammengefasst werden konnten, vielmehr scheint der Umstand, dass
zu „föstbrseör“ noch ein besonderer erklärender Zusatz nötig befunden wurde,
gerade umgekehrt darauf hinzudeuten, dass diese Bezeichnung an und für sich eine
Bücheranz eigen.
105
mehrdeutige war. Überdies ist jedenfalls nicht daran zu denken, dass die Gula-
pingslög, so wie sie uns vorliegen, aus der Zeit König Häkons des Guten (935
bis 61) stammen, wie der Verfasser annimmt; deren gemischte Redaktionen können
nicht vor dem Anfang des 13. Jahrhunderts entstanden und auch deren ältere
Redaktion kann kaum vor dem Anfänge des 12. Jahrhunderts aufgezeichnet worden
sein, also in längst christlicher Zeit, wie denn auch an der Spitze ihrer aller ein
Kristindömsbalkr steht. Die Übertragung des Namens der Pflegebrüderschaft auf
die Bundbrüderschaft möchte ich aber nicht, wie der Verfasser, daraus erklären,
dass die letztere besonders oft unter Pflegebrüdern eingegangen worden sei, son-
dern vielmehr daraus, dass dieselbe sich nach dem Vorbilde der Pflegebrüderschaft
ausgestaltet habe; die gleiche Behandlung beider Institute in den G]pL. scheint
vielmehr zu beweisen, dass es unter Pflegebrüdern der künstlichen Eingehung eines
Bundes gar nicht bedurfte. — Bezüglich der Verfassung und Bedeutung der
Bundbrüderschaft (S. 39 — 46) lässt sich meines Erachtens nur sagen, dass die
Rechte und Pflichten, welche diese den Verbundenen gewährte und auferlegte, im
ganzen den aus der brüderlichen Verbindung sich ergebenden nachgeahmt waren;
im einzelnen aber lässt sich die Bedeutung und der Umfang dieser Rechte und
Pflichten kaum allgemein giltig feststellen. Schon das Pflegschaftsverhältnis selbst,
welches doch vermutlich der Bundbrüderschaft als nächstes Vorbild diente, scheint
nicht nur zu verschiedenen Zeiten in ziemlich verschiedenem Umfange wirksam
gewesen zu sein, sondern auch durch den Eingehungsvertrag, auf welchem es be-
ruhte, von Pall zu Pall eine verschiedene Ausprägung erlangt zu haben; dieselbe
Vielgestaltigkeit macht sich aber auch bei der Bundbrüderschaft selbst wieder
geltend, die ja ebenfalls künstlich eingegangen wurde, und darum durchaus von
den Bedingungen des EingehungsVertrages abhängig war. So wird unter den Bund-
brüdern hin und wieder Gütergemeinschaft verabredet, und zwar teils zu gleichen
Hälften, teils aber je nach Verhältnis des beiderseits Eingebrachten; anderemale
legt dagegen der Vertrag nur die Verpflichtung auf, sich im. Notfälle gegenseitig
je nach dem Bedürfnisse des einen Bundbruders und der Leistungsfähigkeit des
andern zu unterstützen, oder es wird gar nur ein gegenseitiges Erbrecht für den
Pall des unbeerbten Todes verabredet. Ebenso konnte bei grosser Standes-
verschiedenheit die höhere Würde des einen Bundbruders diesem Vorbehalten
bleiben. Nicht minder konnte ausgemacht werden, dass der überlebende Bund-
bruder dem Vorhersterbenden sofort im Tode nachfolgen, oder sich selbst mit
demselben begraben lassen solle; als selbstverständlich galt aber weder die eine
noch die andere Verpflichtung. Dagegen scheint die Verpflichtung, gegenseitig
für einander Rache zu nehmen, wenn der eine oder der andere der Verbundenen
getötet werden würde, keiner besonderen Abrede bedurft zu haben; wohl aber
konnte, in der christlichen Zeit wenigstens, auch ihr gegenüber ein beschränkender
Vorbehalt gemacht werden. Aus dieser Vielgestaltigkeit des Verhältnisses erklärt
sich denn auch, dass dasselbe in unseren Rechtsquellen so gut wie gar nicht er-
wähnt wird. Die oben angeführte Stelle der GpL. ist die einzige, welche seiner
gedenkt, und wenn sie den Eidbrüdern gleich den Milchbrüdern für den Todschlags-
fall einen kleinen Wehrgeldsbezug für einander zuspricht, so darf dieser in An-
betracht seiner Geringfügigkeit doch wohl nur als ein Minimum verstanden werden.
— Hinsichtlich der Eingehung der Bundbrüderschaft (S. 46 — 54) werden natür-
lich die drei bekannten Pormalakte hervorgehoben, also der Gang unter den oder
die Rasenstreifen, die Vermischung des Blutes und die Ableistung des Eidschwures.
Die Bezeichnungen eidbrsecl'r, svarabseör, eiösvarar für die Bundbrüder, sveriaz i
brseöralag für die Eingehung der Verbindung u. dgl. mehr scheinen in der Eides-
106
Maurer:
leistung das entscheidende Moment zu sehen; dennoch aber will der Verfasser
dieses für die ältere Zeit vielmehr in der Blutmischung und in dem Gang unter
den Rasenstreifen finden, welchen letzteren er, mit Pappenheim, als eine sym-
bolische Zwillingsgeburt durch die mütterliche Erde auffasst. Daneben erkennt er
indessen doch auch die Berechtigung jener anderen Deutung an, welche ich seiner-
zeit dem Gang unter den Rasenstreifen gegeben habe, wonach dieser lediglich
ein Bestärkungsmittel des Eides gewesen sei, wie als solches sonst auch wohl
die Eideshilfe bei der Eingehung der Bundbrüderschaft verwendet wurde, und er
macht für diese Deutung geltend, dass wiederholt, sei es nun der Gang unter den
Rasen oder die Vermischung des Blutes, ausdrücklich als Eid bezeichnet wird.
Er glaubt dabei beide Deutungen durch die Annahme miteinander vereinigen zu
können, dass die erstere die ältere und ursprüngliche, die letztere dagegen erst
später aufgekommen sei, nachdem sich die frühere verwischt gehabt habe; noch
„i söguöldinni“, also doch wohl in der heidnischen Zeit, soll die neuere Deutung
die ältere ersetzt haben, während dann hinterher nach dem Übertritte des Volkes
zum Christentume der Rasengang und die Blutmischung als heidnischer Brauch
weggefallen, und nur der Eid, jetzt allenfalls durch Eidhelfer verstärkt, übrig-
geblieben sei. Aber gegen diese Auffassung erheben sich mir zwei gewichtige
Bedenken. In der Laxdsela, Kap. 18, wird der Gang unter den Rasenstreifen als
ein Mittel gebraucht, um die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit einer
Zeugenaussage festzustellen, und er wird dabei ausdrücklich als die im Heiden-
tume übliche Form der skirsla, d. h. des Gottesurteils bezeichnet; in der Vatns-
dsela aber, Kap. 33, wird er im Zusammenhänge mit einem Vergleichsabschlusse
angewendet, also doch wohl in der Art, dass durch ihn die Feierlichkeit eines
„jafnafiareiör“ erhöht werden wollte, d. h. des eidlichen Versprechens, in gleichem
Falle in gleicher Weise sich abfinden lassen zu wollen. Wie sich nun diese
beiden Anwendungsarten mit der Deutung des Rasenganges als einer Wieder-
geburt vereinigen lassen, hat der Verfasser ebensowenig zu erklären vermocht wie
vor ihm Pappenheim, und doch muss die gleiche Förmlichkeit in allen Anwendungs-
fällen offenbar die gleiche Deutung finden. Sodann aber scheint sich auch die
Hypothese des Verfassers mit dessen Ansichten über die Terminologie nicht ver-
einigen zu lassen. Die Bezeichnung der Bundbrüderschaft als föstbrseöralag soll
erst in der christlichen Zeit aufgekommen sein; als eidbraedr konnten aber die
Bundbrüder doch erst von dem Zeitpunkte an bezeichnet werden, in welchem der
Eid für die Eingehung des Verhältnisses die massgebende Bedeutung erlangt hatte,
was ebenfalls erst in der christlichen Zeit der Fall gewesen sein soll. Wie be-
zeichn ete man denn dann nach des Verfassers Meinung den Verband und die in
ihm Stehenden während des Heidentums? Bei meiner Auffassung der Bezeichnung
„fostbrseöralag“ als einer ursprünglichen und des Rasenganges als einer blossen
Zugehör zur Eidesleistung kann natürlich auch diese Schwierigkeit nicht auftauchen.
— Endlich bezüglich der Zahl der Bundbrüder (S. 54 und 55) bemerkt der Verf.
ganz richtig, dass deren zumeist nur zwei gewesen seien, nur seltener drei oder
vier; aber er lässt auch die neun Bundbrüder der Gull-pöris saga passieren und
zieht selbst die Jömsvikinger und die späteren Gilden zur Vergleichung heran.
Da möchte ich nun zunächst der Gull-pöris saga kein allzu grosses Gewicht bei-
legen, da sie gerade in Bezug auf ihre Bundbrüder grosse Unsicherheit verrät.
Sie bespricht zunächst (Kap. 2 S. 45 meiner Ausgabe) eine Anzahl junger Leute,
welche gemeinsame Spiele ab hielten, und sagt von ihnen: „varmed'peim föstbrsedralag
mikit“; dann erst wird berichtet (S. 46), wie diese „TX, föstbrseör“ „svördust allir
i föstbrsedralag“, und ist sich somit der Aufzeichner der Sage nicht klar darüber,
Bücheranzeigen.
107
ob eigentlich das gemeinsame Aufwachsen der jugendlichen Nachbarn oder deren
Eingehung eines formalen Bundes die Grundlage ihres Verhältnisses zu einander
gebildet habe. Möglicherweise ist die letztere erst eine spätere Zuthat eines Über-
arbeiters der Sage, der mit dieser überhaupt sehr willkürlich geschaltet zu haben
scheint; solchenfalls würde aber die ganz isoliert stehende Angabe nur sehr geringe
Glaubwürdigkeit besitzen. Noch weniger geht es aber an, die Verbindung der
Jömsvikinger oder die späteren Gilden mit der Bundbrüderschaft in einen Topf
zu werfen. Nicht alle Genossenschaften, und selbst nicht alle eidlich eingegangenen
Genossenschaften sind darum schon Bundbrüderschaften; oder soll auch die in
der Sturlünga V, Kap. 14, S. 155 (ed. Guöbrandur Vigfüsson) besprochene Mord-
brennerbande ein föstbraedralag heissen, weil ihre Mitglieder eidlich versprachen,
jeden von ihnen zu rächen, welcher etwa erschlagen werden würde?
Meine Bedenken gegen einzelne Punkte in den vorliegenden Abhandlungen
habe ich damit ausgesprochen; sie verschwinden vor dem vielen Anziehenden,
welches diese enthalten, und für welches den Verfassern Anerkennung und Dank
gebührt. Dem verdienten Jubilar aber, welchem sie gewidmet sind, mag zum
Schlüsse nicht minder der Dank ausgesprochen werden für die trefflichen Schüler,
welche er herangezogen und zu solchen Leistungen ausgebildet hat!
München, den 27. Januar 1893. K. Maurer.
Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache.
— — — Bearbeitet von Fr. Staub, L. Tobler und R. Schoch.
Frauenfeld, Verlag von J. Huber, 1891/92. 4°. Heft XX—XXIII.
Wir haben im ersten Bande unserer Zeitschrift, S. 211 f., von dem grossen
schweizerdeutschen Wörterbuch Nachricht gegeben, das auf umfassende Samm-
lungen gegründet, woran Hunderte von deutschen Schweizern und Schweizerinnen
sich beteiligten, unter den fleissigen Händen und der gelehrten und einsichtigen
Fürsorge der Herren Staub, L. Tobler und Schoch stattlich heraufgewachsen ist.
Es liegen wieder vier Hefte vor, welche den zweiten Band abschliessen und den
dritten beginnen. Den Worten nach reichen dieselben von Hirte — huizgen,
von ja—kurlig. Soviel ist ersichtlich, dass das Werk, das ursprünglich auf vier
Bände berechnet war, jetzt acht füllen wird. Es hätte ja bei knapperer Anlage
und bei der Beschränkung auf das rein sprachliche, so dass das Idiotikon nur
die idiomatischen Wörter und die eigentümlichen schweizerischen Bedeutungen
sonst bekannter oberdeutscher Worte verzeichnet hätte, der ursprüngliche Anschlag
innegehalten werden und das Werk seinem Abschluss jetzt nahe sein können.
Andererseits hat die Ansicht, dass in Dialektlexika auch Realien hineingehören
und unter den Wortbezeichnungen die betreffenden älteren und jüngeren Sitten,
Gebräuche u. s. w. erwähnt und gedrängt beschrieben werden sollen, gar manches
für sich. Wenn die unterstützenden Kantone und der Bund für die bisherige
breitere Bearbeitung des Materials die Mittel weiter gewähren, möchte Referent
es daher bedauern, wenn das volkskundliche Element aus dem Werke be-
seitigt würde. Abgesehen von der Ungleichheit der Fortsetzungen zu den ersten
beiden Bänden, ist es doch zweifelhaft, ob die angelegten Sammlungen über das
schweizerische Volksleben dann sobald benutzt würden und den Dienst jemals
leisteten, welchen sie im Sinne der Sammler haben leisten sollen. Für das Lesen
in dem Wörterbuche, was, wie ich hoffen will, nicht wenige thun werden (denn
108
Weber:
zum blossen Nachschlagen sollten solche Arbeiten zu gut sein!) gewähren die aus-
geführten, mit Fleisch und Blut genährten Artikel, ganz besondere Weideplätze,
wie aus Sehmeilers Bayerischem Wörterbuch und aus dem Grimmschen Deutschen
Wörterbuche, namentlich dessen fünftem (Hildebrandschen) Bande, recht viele
wissen. Auch in den vorliegenden Heften giebt es eine ganze Reihe Artikel, die
in solcher Art ausgeführt sind. Ich hebe hervor: Ilas, Hasle, heiss, Hose, Hus
(Haus), Huet (Hut), Johannes, Jahr, Kuh, Kuchen, Kilt, kommen, Künig, Kind,
Kappe. — Wir wünschen den Männern, welche Zeit und Kraft dem Schweizer
Idiotikon hingegeben haben, jene Lust zur Ausdauer, welche die Wörterbuchs-
arbeit vor allem erfordert. Reichen Dank haben sie verdient.
K. Weinhold.
Indian Fairy Tales. Selected and edited by Joseph Jacobs, editor of
„Folklore“. Illustrated by John D. Batten. London, David Nutt.
1892, S. XIY. 255.
Die neunundzwanzig hier aufgeführten Geschichten sind ein mixtum compositum
von europäisch-indischen Stoffen und eigener Phansasie. In den auf S. 227 beginnenden
Notes and References werden nach einer allgemeinen Einleitung von S. 236 an Fall
für Fall die Quellen und die Parallelen dafür angegeben, sowie weitere Bemer-
kungen hinzugefügt. Soweit dabei Anlehnung an indische Texte stattfindet, so bei
1. 7. 13. 17. 20. 25. 29 an buddhistische Jätaka-Legenden, bei 5. 15 an das Panca-
tantram, bei 11 an den Kathäsaritsägara, bewegt sich <Jie Darstellung wirklich leidlich
sicher auf indischem Boden; bei den übrigen Erzählungen aber, die sich an
Miss Stokes Indian Fairy tales (2. 8. 22), an Mrs. Frere Old Deccan Days
(4. 27), an Mrs. Kingscote Tales of the sun (10. 18), an Steel-Temple Wide-
awake stories (3. 9. 16. 19. 21), an Campbell South folk-tales (6), Knowles
folktales of Kashmir (12. 14. 24. 26. 28) und Dam es Baluchi Tales (23) an-
schliessen, liegt zwar auch indisches Gepräge und Colorit vor, aber die Stoffe
sind mit europäischen Anschauungen so untermischt, dass der Titel Indian fairy -
tales dafür nur cum grano salis zutrifft. Durch den Einfluss der indischen Ayah’s
(Zofen, Kindermädchen) werden den englischen Kindern, besonders den Mädchen,
allerhand indische Vorstellungen zugeführt; dieselben vermischen sich indessen
bei diesen bald mit den eigenen Bildungselementen zu einem nicht mehr recht
scheidbaren Ganzen, wozu die eigene Phantasie dann noch hinzutritt, so dass ein
schier unlösbares Quodlibet entsteht, und zwar um so unlösbarer, als ja doch auf
diesem Gebiete schon von alter Zeit her Indien und die westlich davon liegenden
Länder in einem steten Austausch von Geben und Nehmen (der Autor hält im
Vorwort irrigerweise Indien allein für den gebenden Teil) gestanden haben,
wozu noch hinzutritt, dass manche dieser Märchen und Sagen gar noch als miss-
verstandene Reste alter, den indogermanischen Völkern gemeinsamer natur-
symbolischer Mythendichtung anzusehen sind. Nur lokale Sammlungen, wie die
von Campbell, Knowles und Dames bieten hier wenigstens einige Garantieen, ob-
schon sich die Mythen bekanntlich häufig genug auch auf ganz ungeeignetem
fremdem Boden lokalisiert haben. In einem Wirrwarr von Fremd und Eigen, Neu
und Alt ist kein roter Faden mehr zu finden, wenn nun dazu auch gar noch die
dichtende Phantasie des Erzählers selbst sich gesellt. Als eine Quelle für Indian
fairy tales, oder für Indian folklore ist somit das vorliegende Buch in keiner
Weise zu betrachten und zu verwerten. Der Autor selbst erhebt ja wohl in der
Biicheranzeigen.
109
That auch keinen Anspruch der Art, obwohl der Ton seines Vorworts und seiner
Noten hier und da darauf hinführen möchte. Vielmehr hat er es wohl nur darauf
abgesehen, ein unterhaltendes Büchlein für English children zu schreiben.
Dafür spricht ja auch die Beigabe der Blustrationen, die ihrerseits zum teil ebenso
bizarr und grotesk, aber zugleich ebensowenig echt Indian, sondern ein Gemisch
von Indisch-Europäisch sind, wie die Erzählungen selbst.
Bei dem riesigen Reichtum der indischen Litteratur an Märchen- und Er-
zählungstexten jeder Art hätte der Verfasser vielleicht doch auch für den Unter-
haltungszweck besser gethan, wenn er sich an ein solches Originalwerk angelehnt
hätte. Aus dem grossen Kashmirschen „Meer der Erzählungsströme“ hätte er
wahrlich, bei aller Rücksicht auf die „children“, doch mehr als nur eine Geschichte
entlehnen können. Ein gewisser Hauch von Poesie und naiver Gläubigkeit ist
über dieselben denn doch meist ganz anders ausgegossen, als ihm dies bei seiner
wesentlich reflektierend verfahrenden Kombination glücken konnte. Bizarr genug,
um indisch zu sein, sind die Geschichten ja allerdings, so z. B. das Märchen von
den sieben Paar Augen, welche sieben Königinnen, der neuen Favoritin zu Liebe,
ausgerissen werden, und dann jahrelang am Halse von deren Mutter, einer alten
Hexe, als Halsband dienen, bis der junge Sohn der einen jener sieben Königinnen
dem Spuk ein Ende macht und die Augen ihren früheren Eigentümerinnen zurück-
giebt, wobei, da mittlerweile eines derselben abhanden gekommen ist, seine eigene
Mutter einäugig bleibt, da sie ja ihn als Auge habe (S. 121). Nach S. 240 findet
sich übrigens hierzu eine Parallele in einer sicilianischen Geschichte. Die Noten
enthalten überhaupt manche dankenswerte Angabe. Und da sich auch das Büchlein
selbst gefällig liest, und die Illustrationen Humor und Geschmack zeigen, so mag
es immerhin als eine ganz dankenswerte Lektüre gelten. Nur als „source“ für
Indian fairy tales möchten wir es nicht angesehen wissen.
Berlin. A. W.
Aus dem Sageuschatz der Harzlande von Friedrich Günther. Mit
vielen Textbildern von G. Mittag. Hannover-Linden und Leipzig,
Verlag von Manz & Lange, 1893 (1892). S. XII. 260. 8°.
Die Absicht des Verfassers dieses Buches wrnr nicht, eine neue Sammlung
aus dem Volksmund unmittelbar stammender Sagen zu geben, sondern eine Aus-
wahl aus dem reichen, in älteren und neueren Büchern gedruckten Schatz der
Sagen aus dem ganzen Harzgebiete. Er will dabei hauptsächlich der Schule
dienen, indem er dem Lehrer für den Unterricht in der Heimatskunde Stoff bietet,
dann aber auch ein Hausbuch liefern, in welchem die besten und schönsten Über-
lieferungen aus der Vorzeit in einfacher und verständlicher Sprache zu finden sein
sollen. Nach diesen Gesichtspunkten ist die Auswahl getroffen, wmlche die Sagen
in einer geographischen Anordnung bringt, die. von Goslar ausgehend, dem Ober-
harz zuerst folgt, dann am Südharz hingeht, über das Mannsfeldische nach dem.
Ostharz und seinen Vorlanden sich lenkt, und über Ilsenburg und Harzburg den
Brocken zum Schluss erreicht. Zu jeder Sage ist in dem Anhang der Quellen-
nachweis und nicht selten eine Anmerkung gegeben. Das Vorwort enthält eine
Übersicht über die Litteratur der Harzsagen. Wenn das Buch auch davon absieht,
für die Sagenkunde neues zu liefern, so können wir es doch als eine sorgsame
110
Weinhold:
Arbeit loben, der wir wünschen, dass sie die gute Absicht des Herrn Verfassers
erfülle.
Weniger Geschmack können wir den in Holzschnitt wiedergegebenen Feder-
zeichnungen des Herrn Mittag abgewinnen. K. W.
Le Folklore du Poitou par Léon Pineau. Avec notes et index. Paris,
E. Leroux. 1892. S. XI. 547. 12°.
Professor L. Pineau in Tours hat seinen Contes populaires du Poitou (Paris
1891; ygl. unsere Zeitschrift I. 454) sehr bald eine reichere Sammlung folgen
lassen, die sich nicht bloss auf Sagen und Märchen beschränkt. Das gleich dem
vorigen zu der Collection de Contes et Chansons populaires gehörige Buch enthält
I. Contes et Legendes, II. Chansons (S. 207—456), III. Berceuses. Jeux et formu-
lettes. Devinettes. Traditions et Coutumes. Prières populaires (Segen). Dictions
sur le temps. Miettes de folklore. Die dritte Abteilung bietet Anfänge zu Samm-
lungen, die der Herr Herausgeber wahrscheinlich fortsetzen wird. Überall trifft
der Leser auf gute Bekannte aus dem weiten Gebiete der \Tolksüberlieferung.
Prof. Pineau hat verweisende Anmerkungen beigegeben, aber nicht in ausreichendem
Masse und ohne Konsequenz. Viele Stücke sind ohne jede Note geblieben, selbst
wenn sie Varianten zu den Contes populaires de Poitou waren, z. B. S. 139 du
domestique qui a mangé son maitre, wo auf Le grand Louis (Contes S. 160 ff.) zu
verweisen war. Auch bei den Chansons d’amour et de mariage hätte bemerkt
werden sollen, dass die Motive von Nr. 27 und 33 die gleichen sind.
Ich will nur einiges anmerken. Jean sans peur (S. 128) entspricht dem
Grimmschen Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Le conte
de Lansquenet (S. 125) ist ein bekannter Landsknechtschwank; der Landsknecht
ist zu einem pfiffigen Knaben Lansquenet mit Namen geworden, der mit dem
kleinen Saint Jean wandert und dessen Sehnsucht nach dem Paradiese garnicht
teilt, ihm auch nicht folgt, als S. Jean endlich ins Paradies geht und ihn auf-
fordert, mitzugehen. Aber nach der Trennung geht es dem kleinen Lansquenet
schlecht und er klopft nun an das Himmelsthor. S. Jean will ihn jetzt nicht ein-
lassen; da wirft der Schlaukopf seine Mütze durch die Thürspalte, springt nach
und bleibt auf seiner Mütze sitzen. So ist er im Himmel geblieben.
Les danseurs maudits, in zwei Varianten, S. 160 ff., erinnert an die aus
Thüringen und Sachsen erzählte Geschichte von der Strafe solcher, die zu heiliger
Zeit auf dem Kirchhofe tanzten; Grimm, Deutsche Sagen, Nr. 282 (mit An-
merkung).
Bemerkenswert ist Le meneur de Loups (S. 121). Ein Fährmann muss in
der Nacht einen Mann mit dreissig Wölfen übersetzen. Als Fährlohn erhält er ein
Dreifrankstück, das sich aber zu Hause als ein Eichenblatt erweist. In unsern
deutschen Sagen vom Auszug der Zwerge oder der Überfahrt der Geister wird
umgekehrt das Baumlaub zu Gold.
Unter den Liedern giebt es viel hübsche und lustige. In den Pastourellen ist
der alte Charakter dieser Gattung bewahrt.
Zu den Devinettes will ich bemerken, dass die unanständige Einkleidung einer
Anzahl derselben anderwärts Parallelen findet: eine bretonische enthält der erste
Band der Kryptadia (bei ihnen ist auch das Lösungswort unanständig). Ältere
deutsche finden sich in einer weimarischen Handschrift (daraus eine Auswahl in
Bücheranzeigen.
111
Kellers Altdeutschen Erzählungen, S. 482 f., und im Weimarschen Jahrbuch von
Hoffmann und Schade, V, 329—356, herausgegeben von R. Köhler, vgl. auch das
Verzeichnis in Kellers Fastnachtspielen, S. 1458 ff., und in einer dem Wiener
Antiquar Kuppitsch einst gehörigen Handschrift, vgl. Mone Anzeiger VIII, 318 f.
Das 15. und 16. Jahrhundert erfreuten sich an solchen Dingen, und unter dem
Volke lebte manches fort, vgl. nur unsere Zeitschrift III, 75 ff. Wegener, Volks-
tümliche Lieder aus Norddeutschland 1, 127 ff. Am Urquell II, 15 f. III, 33.
K. Weinhold.
Contributions au Folklore de la Belgique par Alfred Har on. (Col-
lection internationale de la Tradition. vol.IX). Paris, Emile Lechevalier.
1892. S. XII. 90. 18°.
Das neunte Bändchen der von den Herren E. Blémont und Henry Carnoy in
Paris herausgegebenen Collection internationale, einer Beigabe zur Zeitschrift
La Tradition, enthält Beiträge zur belgischen Volkskunde, von Herrn Alfred
Harou in Namur aus gedruckten Quellen gesammelt. Das im Holzschnitt aus-
geführte Bild des Verfassers ist beigegeben. Das Büchlein besteht aus neun an
Umfang ungleichen Kapiteln: Wallfahrten und Prozessionen; Volksfeste, mili-
tärische Aufzüge an Heiligentagen (Marches); Feste der Vorzeit; wunderbare
Fussstapfen; verborgene Schätze; die goldene Ziege (la gatte d’or); Zwerge und
Elben (les mitons, sotays etc.); Burgen, Denkmäler, Rinnen, Teufelsbauten. Das
flämische wie das wallonische Belgien sind vertreten. Die Sammlung kann als
Ergänzung zu dem aus lebendigen Quellen geschöpften Folklore Wallon par Eug.
Monseur (Bruxelles 1892) und dem Questionnaire de Folklore publié par la société
du Folklore Wallon (Liège 1890/91) betrachtet werden, die wir in unserer Zeit-
schrift I, 454. II, 329 besprochen haben. K. W.
Weikuachtspiele, herausgegeben von August Hofer (19. Jahresbericht
des niederösterreichischen Landes-Lehrerseminars in Wiener-Neustadt).
Wiener-Neustadt 1892 (Verlag des Seminars). S. 54 8°.
Herr Prof. A. Hofer hatte im 17. Jahresbericht des Wiener-Neustädter Lehrer-
seminars eine Sammlung von Weihnachtliedern aus Niederösterreich veröffent-
licht, der er nun eine Sammlung von Weihnachtspielen folgen lässt, die grössten-
teils in Waidhofen a. d. Ybbs aufgezeichnet wurden. Es sind 1 Adventspiel,
16 Hirtenspiele, 2 Herbergspiele (Joseph und Marie suchen Herberge in Bethlehem)
und 8 Dreikönigspiele. Der Herausgeber, dem wir für seine Gabe Dank wissen,
weist selbst auf die sehr nahe Berührung der Spiele mit den Liedern hin, da
manche Spiele nur Wechselgesänge sind, ja nicht einmal das, sondern nur an
einige Personen verteilte, hinter einander gesungene Strophen (No. 20). Diese
einfachsten religiösen Volksspiele stehen in ihrer unbeholfenen Kindlichkeit ganz
nahe den ältesten weltlichen Versuchen zu dramatischer Darstellung, welche wir
unter den Fastnachtspielen finden. — Seitdem ich die Aufmerksamkeit der Freunde
volkstümlicher Poesie auf die Weihnachtspiele und Lieder gelenkt habe (1853), sind
112
Brückner:
vierzig Jahre verflossen und der in den verschiedensten deutschen Ländern zu-
sammengetragene Stoff ist sehr angewachsen. Unter denen, die dazu geholfen,
seien nur K. J. Schröer, August Hartmann, Wilhelm Pailler im besondern ge-
nannt. Wir begegnen, ganz wie in dem weltlichen Liederschatz, auch diesen geist-
lichen Volksliedern, sowie den Advent-, Christkind- und Dreikönigsspielen in den
verschiedensten deutschen Landen. Sie waren unseres Volkes Gemeingut, das
jetzt freilich in manchen Gegenden verworfen und vergessen ist, nicht am
wenigsten durch die Schuld der Polizeigewalt, welche alte Volkssitten von gutem
Inhalt und tiefinnerlicher Poesie unterdrückt hat, weil sie die gern und willig dabei
gegebenen Geschenke als verbotene Bettelgaben ansieht. K. Weinhold.
Eulennamen. Ein kleiner Beitrag zur deutschen Kultur- und Sittengeschichte.
Von Franz Branky. Separatabdruck aus Mitteilungen des ornitho-
logischen Vereins in Wien „Die Schwalbe“. XVI. Jahrg. Verlag des
Verfassers. (1892.) S. 35. 8°.
Die kleine Schrift, die aus einer wenig verbreiteten Zeitschrift abgedruckt ist,
zerfällt in zwei Abschnitte. Der erste einleitende handelt über die Eule im all-
gemeinen, bespricht die Übertragung des Vogelnamens auf Personen, die zur Ver-
gleichung mit der Eule anregten, sowrie die künstlerischen und gewerblichen Nach-
bildungen des interessanten Vogels, endlich die Eule im Aberglauben. Der zweite
bringt die volkstümlichen Namen der einzelnen Eulenarten, meist aus deutschen
Mundarten. Zu der Ausführung über die Nachbildungen der Eule liesse sich viel
nachtragen. Ich erinnere hier nur an antike, mit Athene-Minerva zusammen-
hängende Nachformungen und an die kleinen Bronzeeulen der japanischen Fabriken.
Die Eule auf einem aufgeschlagenen Buche sitzend, dessen Blätter die eine Kralle
festhält, ist eine verbreitete moderne Darstellung. Meinem Vater stach sie ein
Graveur in Leipzig 1815, als er dort studierte, in sein Petschaft. Bekannt ist die
schöne Eule auf dem Buche von dem Berliner Bildhauer Schiffeimann.
K. W.
Zivaja Starina, periodiceskoe izdanie otdelenija etnografii Imp. Russkago
Geograf. Obscestva pod redakcieju V. J. Lamanskago. Zweiter
Jahrgang, Heft 1 bis 3; 152, 168 und 170 S. gr. 8°. Petersburg 1892.
Während im ersten Jahrgange dieser Zeitschrift für Volkskunde in Russland
die asiatischen Völker und Länder besonders berücksichtigt worden waren, tritt
im zweiten das grossrussische Volkstum und seine Erforschung in den Vorder-
grund. So ist die wichtigste und umfangreichste der Abhandlungen von Prof.
A. J. Sobolevskij, der Begrenzung und lautlichen wie morphologischen Charakte-
ristik russischer Mundarten auf Grund aller erreichbaren gedruckten Angaben ge-
widmet; dieser sehr interessante Beitrag für die Slavistik umfasst bisher (I, S. 1
bis 24) die südgrossrussischen, (II, 1—26) die nordgrossrussischen und (III, 3
bis 30) die weissrussischen Mundarten. Die eingehende Schilderung eines „Bären-
winkels“, des Bezirkes Troicina im nordrussischen Gouvernement Vologda, seiner
Bücheranzeigen.
113
Einwohner, ihres Lebens, ihrer Sitten, Aberglauben und Überlieferungen, ihrer
Beschäftigung, Ernährung und Gesundheit, ihres Familien- und religiösen Lebens,
der Hochzeitsbräuche u. s. w. liefert A. Sustikov (II, 71—91 und III, 106—168).
Aus dem übrigen Material, Abdruck von Liedern u. dgl., heben wir noch hervor
den Vortrag von F. rstomin über Klagelieder nach Aufzeichnungen aus den
Gouvernements Olonec und Archangelsk, Jak. Svetlovs Aufsatz über den
Dialekt von Kargopol (Gouvernement Olonec) mit lexikalischen Beiträgen und
V. Moskovs über das sogenannte Auerspiel.
Die nichtrussischen Slaven sind vertreten, ausser in einer Sammlung bul-
garischer Märchen und Lieder aus der Gegend von Prilep, namentlich in der
interessanten Korrespondenz des nachmals berühmten Slavisten Sreznevskij; sie
umfasst die Beisebriefe, welche Sr. an seine Mutter gerichtet hat, als er 1839 bis
1842 im Auslande, Berlin, Breslau, Prag u. s. w. weilte und mit den Vertretern
der slavischen Renaissance unter Böhmen, Lausitzer, Serben u. a. lebhafte Be-
ziehungen unterhielt; im ungezwungensten Tone werden die persönlichen Ein-
drücke des angehenden Slavisten geschildert. S. Bobcev theilt aus seiner reich-
haltigen Sammlung von Rechtsbräuchen unter den Bulgaren das Kapitel über
Wahlbruderschaft und Wahlschwesterschaft mit, die daran sich knüpfenden Cere-
monien, rechtlichen Folgen u. s. w.
Nichtslavischen Völkern sind gewidmet die Übersetzung eines ostjakischen
Heldenliedes durch S. Patkanov (die Kämpfe der Helden von Emder) und die
eingehende Schilderung der Hochzeitsbräuche und Lieder bei den Mordvinen
durch M. E. Evsevjev, einen mordvinischen Volkslehrer, der zahlreiche Texte
im Original und in der Übersetzung mitteilt.
Ausserdem enthalten die Hefte bibliographische Besprechungen (Bericht von
I)r. J. Polivka über böhmische Ethnographie von 1880—1890 u a.) sowie kleine
Mitteilungen aller Art, Wir wiederholen den Wunsch einer durchgehenden Nume-
rierung der Hefte, damit das Citieren erleichtert werde. A. Brückner.
Cesky Lid. Sbornik venovany studiu lidu ceskeho v Cecliach, 11a Morave,
ve Slezsku a na Slovensku. Redaktori Dr. L. Niederle, Dr. C. Zibrt.
Band I (Prag 1892), Heft 3—6 (S. 221—643); Band II, Heft 1 (S. 1
bis 104).
Die junge Zeitschrift für böhmische Volkskunde entwickelt sich kräftig; be-
stimmt für weite Verbreitung bringt sie in jedem Hefte zahlreiche Beiträge, freilich
in kleinen Dosen, um das Interesse der Leser rege zu erhalten; saubere Holz-
schnitte schmücken einzelne Artikel; durch Aufstellung von Fragenschemata (über
Festbräuche u. dgl.) und Abdruck des eingehenden Materials wird eine rege Wechsel-
beziehung zwischen Redaktion und Leserkreis eingeleitet; der bibliographische
Theil ist zwar in erster Reihe böhmischen Publikationen gewidmet, doch werden
auch ausländische Werke und Zeitschriften berücksichtigt. Aus der Masse der
Artikel heben wir hier hervor die eingehende Schilderung der Nixen, des Wasser-
mannes nach der böhmischen Volksüberlieferung durch Jos. Kost’al; sie stimmt
in allen Einzelheiten mit der deutschen überein und giebt einen interessanten Beleg
ab für das Wandern des Glaubens. F. Bartos, der unermüdliche Sammler alles
Volksthümlichen in Sprache, Lied und Brauch der Mährer, liefert mehrere dies-
bezügliche Beiträge: über das Schrättel; über wirtschaftlichen Brauch und Glauben;
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1S93. g
114
Brückner:
über das Wochenbett. J. Koula, J. Klvana, R. Tyrsova, F. V. Vykoukal u. a.
stellen dar die Volkstrachten, Stickmuster, Bemalung' der Gerätschaften, Einrichtung
und Inneres der Bauernhäuser, die Gerichte der Bauernküche u. dgl. m., namentlich
bei Slovaken und Mährern. Böhmische Lieder und Tänze teilen mit Vycpalek
und Hruska; Hostinsky handelt über das Volkslied im allgemeinen. Zur ver-
gleichenden Sagenkunde gehört der Aufsatz von V. Tille „Volkssagen vom
Herrscher und seiner Berufung vom eisernen Tische“: die Sage von Premysl wird
eingehend durch alle Wandlungen verfolgt, die sie in den verschiedenen Auf-
zeichnungen erfahren hat, ihre Elemente werden bestimmt, die Frage nach dem
Sinn des Mythus angeregt. Wir bemerken hierzu, dass die ähnliche Sage von
einem König Stephan als keine neue Version gelten darf, sondern bloss als die
Premyslsage mit anderem Namen; dann dass die Erweiterungen der späteren
Überlieferung nicht als volkstümlich zu betrachten sind; endlich dass mythische
Beziehungen vergebens gesucht, eine Vervollständigung aus moderner Überlieferung
vergebens angestrebt wird. Sehr reichhaltig ist das Material über Volksbrauch,
bisher auf die Zeit von Weihnachten bis Ostern sich erstreckend, besonders was
die dramatischen Volksspiele im Fasching betrifft, das Dorotheenspiel u. a., zu
denen auch noch die bis 1835 in der Gegend von Vysoke am Riesengebirge auf-
geführte Komödie von der Tochter des englischen Königs Franziska und dem
Sohne des Londoner Kaufmannes Hans, der sie aus der Sklaverei rettet, gezählt
werden darf, die im Original mitgeteilt wird. Anderes, Angaben über Dialekte
und deren Wortschatz, Beiträge zur älteren Volkskunde, z. B. das Blutzeugnis des
Toten gegen die Mörder, Einsetzung von Grenzzeichen, ein handschriftliches
Cancional von 1737 u. s. w. müssen wir hier übergehen. Aus dem bibliographischen
Teil sei die vollständige Übersicht des böhmischen folkloristischen Materials bis
1890 von Ferd. Pätek und die Darstellung des lausitzserbischen durch A. Cerny
besonders genannt. Auf den archäologischen Teil der Zeitschrift, wie er in Ab-
handlungen und Kritiken durch Matiegka, Niederle, Cermak u. a. vertreten
ist, haben wir hier nicht einzugehen.
Grössere Abhandlungen giebt die Redaktion des Cesky Lid in einer besonderen
Bibliothek heraus (Knihovna Ceskeho Lidu), von der bisher erschienen sind:
Heft 1 Das Schrättel in der altböhmischen Volksüberlieferung, von Dr. C. Zibrt;
Heft 2 Mährische Hochzeit, beschrieben von Fr. Bar tos, eine erschöpfende Dar-
stellung der bezüglichen Bräuche; Heft 3 wird Beiträge zur böhmischen Volks-
etymologie von Jos. Cerny enthalten.
Noch erwähnen wir, dass von dem Werke „Geschichte der Trachten in
den böhmischen Ländern“ (Dejiny kroje v zemich ceskych) Heft 2 und 3
erschienen sind, vgl. Zeitschrift f. Volksk. 1891, S. 457: dadurch ist der erste Teil
(Geschichte der Tracht von den ältesten Zeiten bis zu den IJussitenkämpfen von
Dr. C. Zibrt) abgeschlossen und liegt nunmehr als stattlicher Band von 457 S.
Lex.-Oct. mit 235 Illustrationen vor. Die ausserordentliche Belesenheit des Ver-
fassers, die Heranziehung aller erreichbaren Quellen, ihr sorgliches Prüfen und
Sichten, das diese Arbeit wie die übrigen des unermüdlichen Verfassers aus-
zeichnet, erheben dieselbe zur Höhe der ausländischen Publikationen der Art;
andere slavische Litteraturen können eine so tief eindringende und umfassende
Arbeit auf diesem Gebiete vorläufig nicht aufweisen. A. Brückner.
Bücheranzeigen.
115
Wisla. Miesi<;cznik gieograficzno-etnograficzny 1891. 1892. (Bd. Y, Heft 4,
S. 701—^50, und Bd. YI, Heft 1—3, S. 1—700).
Bei früherer Besprechung, Zeitschrift 1892, S. 93 f., haben wir bereits Wert
und Bedeutung dieser Quartalschrift für polnische Volkskunde hervorgehoben; auf
gleicher Höhe erhält sich ihre Fortsetzung, aus deren reichem Inhalte wir hier
nur einiges nennen können. Das Studium von Br. Grabowski über Sagen von
ehelichen Verbindungen Nächstverwandter geht von der Oedipussage aus, weist
deren mythische Ausdeutung zurück und verfolgt den Stoff durch alle Literaturen;
die Fortsetzung wird Ehen zwischen Tochter und Vater und Bruder und Schwester
behandeln. E. Majewski schildert in einer erschöpfenden Monographie die
Rolle der Schlange in Sprache, Aberglauben und Phantasie des polnischen Volkes
und fasst den Ertrag von vielen hunderten von Mitteilungen in einem übersicht-
lichen Resümee zusammen. J. Franko weist den Zusammenhang polnischer und
russischer Volksschwänke vom Krieg der Juden, die Felder blühenden Haide-
kornes für Wasser halten, u. a. mit Geschichten von den sieben Schwaben, mit
dem Berichte von Paulus Diaconus über die Niederlage der Heruler und dem
biblischen über die Pharaos nach. Die hier begonnene ethnographische Studie
über Kassuben und Kociewier von Dr. Nadmorski ist jetzt, erweitert
und fortgesetzt, als besonderes Buch erschienen (Posen, 1892, S. 130); M. Toppe ns
Aberglauben aus Masuren wird in einer Übersetzung mitgeteilt; anziehende ethno-
graphische Bilder liefert der verdiente Archäologe Z. Glogier („Am Ufer der
Biebrza“ und „Ein Weichselausflug“), W. Ronisz („Dorf Dreglin im Sierpcer
Kreis“), Br. Grabowski („Slovaken und Hannaken in Südmähren“ nach dem
Werke von J. Herben) u. a. St. Ciszewski stellt zum ersten Male auf diesem
Gebiete in einem sehr eingehenden Bericht die serbokroatische Folkloristik, von
Vuk bis auf unsere Tage, zusammen. Stoff zur Geschichte des Volkstheaters
(Krippen- und Herodesspiele u. a.), zum Volksliede (Krakowiaken u. a.), zu Volks-
bräuchen (Oster- u. Erntebräuche u. a.) liefern Z. Wasilewski, S. Udziela,
W. Matlakowski u. a.; über das Fortleben der Märchen von 1001 Nacht im
Munde des polnischen Volkes handelt St. Ciszewski. Die stattliche Rubrik
„Erforschungen“ bringt Beantwortungen der von der Redaktion aufgestellten Frage-
schemata, die sich auf Volksmedizin, Wohnhaus, Johannisfeuer, Bilderschrift, Dia-
lektische Eigenheiten u. s. w. erstrecken. Ausserdem reichhaltige bibliographische
und kritische Übersichten.
Grössere zusammenhängende Arbeiten werden in einer besonderen „Biblio-
teka Wisly“ veröffentlicht, von der bisher 9 Bändchen erschienen sind, darunter:
das Weib im Volksliede (von K. Skrzyhska), Medizin und Heilaberglauben des
polnischen Volkes (von Dr. M. Udziela); Sagen und Lieder aus den Beskiden
(von R. Zawiliiiski), aus den Gegenden von Przasnysz (St. Chelchowski);
Dorf Rudawa bei Krakau (von St. Polaczek) u. a. A. Brückner.
8*
116
Brückner: Protokolle.
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Berlin, Freitag, den 25. November 1892. Herr Dr. M. Friedländer
sprach über das Studentenlied mit Hinweisen auf das Volkslied, gab dessen Ge-
schichte vom Erzpoeten an bis heute, charakterisierte die einzelnen Jahrhunderte
und einzelne Lieder, hob den Beitrag von Dichtern und Musikern (meist Di-
lettanten) hervor, sowie die Umwandlung, bezw. das Fortleben einzelner Melodien.
Treffliche Gesangsvorträge erläuterten die interessante Darstellung.
Freitag, den 17. Dezember. Herr Dr. U. Jahn erstattete Bericht über ältere
Trachten, Schmucksachcn, Geräte, die er aüf einer durch Deutschland im Sommer
und Herbst 1892 unternommenen Reise erworben hatte, indem er zugleich die
schönsten Stücke der Sammlung, namentlich Kerbschnitzereien, Tier- und Menschen-
masken dörflicher Faschingsumzüge u. dgl. m. ausstellte und erläuterte; an den
Yortrag schloss sich eine Debatte an. — Hierauf wurde der Gesamtvorstand des
Vereins von 1892 durch Akklamation für 1893 wiedergewählt; die Mitglieder des-
selben nahmen sämtlich die Wiederwahl an.
Freitag, den 20. Januar 1893. Herr Syndikus Minden legte sogenannte
Wimpeln vor, wie sie bei der Geburt eines jüdischen Knaben für die Thorarollen
gestiftet wurden, die aus dem Ende des 17. Jahrhunderts aus einer bayerischen
Gemeinde stammen, wobei die Verquickung deutschen und jüdischen Volks-
brauches hervorgehoben wurde. — Herr Dr. U. Jahn stellte aus und erläuterte
eine stattliche Sammlung von bäuerlichen Schmucksachen (Schnallen, Ohrreifen,
Hochzeitstüchern, Zopfflechten, Brautgürteln) und Kopfbedeckungen, namentlich
Hauben und Hochzeitskronen, grösstenteils aus Süddeutschland, die für das Museum
in der deutschen ethnographischen Ausstellung in Chikago bestimmt sind.
Nach Verlesung des Geschäftsberichtes für das verflossene Jahr durch den
Vorsitzenden und der Jahresbilanz durch den Schatzmeister wurde der Ausschuss
von zwölf Mitgliedern für 1893 gewählt, nämlich die Herren Friedei, Bartels,
Görke, Heck, Rödiger, Möbius, Steinthal, Voss, Lazarus, U. Jahn,
E. Schmidt, Arendt. Hierauf erteilte der Ausschuss von 1892 die Entlastung
für 1892. A. Brückner.
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und, H. Steinthal.
Im Aufträge des Vereins
herausgegeben
voll
Karl Weinliold.
BERLIN.
Verlag von A. Asher & Co.
Inhalt.
Seite
Volkstümliche Schlaglichter. IV. Von Wilhelm Schwartz . . . 117
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit. Von
Heinrich Lewy (Schluss.)................................... 130. 238^
Aus dem mittelschlesischen Dorfleben. Von August Baumgart . 144
Bilder aus dem færôischen Volksleben. Von V. U. Hammershaimb. 155
Sagen und Gebräuche im Stubaithal in Tirol. Von Paul Greussing 169
Zu den deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Niederhessen.
Von Karl Voretzsch................................................. 176
Der Wolf mit dem Woekenbriefe. Märchen in Kattenstedter Mundart.
Mitgeteilt von E. Damköhler, erläutert von K. Weinhold . 188
Die Thorah-Wimpel oder Mappe. Ein Beitrag zur jüdischen Volks-
kunde. Von Georg Minden.................................................205
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem als Quelle geistlicher
Volksschauspiele. Von J. J. Ammann..................................208
Kleine Mitteilungen:
Schwur unter dem Rasen. S. 224. — Zum Aberglauben auf Island. S. 225. — Volks-
tümliche Kirchendarstellungen. S. 225. — Ein Sommer- und Winterspiel aus Schlesien
S. 226. — Der Sommersonntag in Heidelberg 1893. S. 228. — Volksreime auf Bettler-
hochzeiten. S. 228.
Bücheranzeigen :
De ontwikkelingsgang der Germaansche Mythologie. Redevoering uit-
gesproken te Groningen d. 20. Sept. 1892 door Dr. B. Symons. S. 230. — La Mythologie
.du Nord éclairée par des inscriptions en Germanie par Sander. S. 231. — Plutarchs
Romane questions. Translated a. d. 1603 by Philemon Holland. S. 232. — Graf,
Arturo, Miti, Leggende e Superstizioni del Medio Ero. S. 232. — Un vieux rite
médical. Par Henri Gaidoz. S. 232. — Gin da relia. Three Hundred and Forty-five
Variants by M. R. Cox. S. 233. — Ch. Thuriet, Traditions populaires. S. 234. — A.
Bielenstein, Die Grenzen des lettischen Volksstammes. S. 234. — Büttner, Fr. G. G.
Suaheli-Schriftstücke. S. 236.
Aus den Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde . . . . 116
Wir macken darauf aufmerksam, dass der Verein für Volkskunde
(Sitz in Berlin), dessen Organ diese Zeitschrift ist, nichts gemein hat
mit der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde des Dr. E. Veckenstedt
in Halle a. S.
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift
auf Quartblättern mit Rand gebeten wird, Mitteilungen im
Interesse des Vereins, Kreuzbandsendungen, beliebe man an
die Adresse des Herausgebers, Geh. Regierungsrat Prof. Dr.
K. Weinhold, Berlin W., Hohenzollernstr. 10, zu richten.
Bücher für Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags-
buchhandlung A. Asher & Co., W. Unter den Linden 13, senden.
Beitrittserklärungen' zum Verein nimmt der Schriftführer Prof. Dr.
Brückner, Berlin SW., Lankwitzstr. 1, und der Schatzmeister entgegen.
Schatzmeister des Vereins ist Banquier Alexander Meyer Cohn,
Berlin W., Unter den Linden 11.
Der Jahresbeitrag ist 12 Mk., wofür die Zeitschrift an die Mitglieder
geliefert wird.
Volkstümliche Schlaglichter.
Von Wilhelm Schwarte.
IV. Die Weltgeschichte im Spiegel des Volkstums.
So lange eine geschichtliche Tradition sich innerhalb kleiner, ländlicher
Kreise bewegt, — denn nur von dieser „volkstümlichen“ Überlieferung und
Kenntnis der Geschichte soll hier die Rede sein1), — wird sie von einem
gewissen Verständnis getragen und gewinnt an fester Gestalt. Der Mensch
übersieht eben mehr die Verhältnisse. Je mehr der Horizont aber, den
sie zu umfassen trachtet, sich weitet, und die Ereignisse ins Grosse spielen,
desto schwankender und unbestimmter wird sie, wenn nicht Lieder zu
Trägern derselben werden oder andere Momente irgendwelcher Art ihr
einen Halt geben.
Die Tradition ist zumal von Haus aus „subjektiv“. Nicht wie die
Dinge gewesen, sondern wie sie den Menschen erschienen, wie sie selbige
in Liebe oder Hass aufgefasst, werden sie festgehalten und phantasievoll
weiter ausgesponnen.
Sie knüpft sich echt menschlich weniger an Dinge und Zustände, als
an „Personen“, die sie in der Richtung, in welcher sie selbige einmal
gefasst hat, immer mehr zu „typischen“ Gestalten dann ausbildet. Wie
Krystalle schiesst Homogenes an, das Bild vertiefend und weitend. Das
gilt im guten wie im bösen, vom Helden wie vom Räuber, vom Weisen
wie vom Schalk. Ebenso wie nur „Charaktere“ im Leben auf das Volk
dauernd Eindruck machen, so fesseln auch nur solche in der Erzählung.
Die ältesten Typen kunstartiger Darstellung auf diesem Gebiet haben des-
halb etwas Dramatisches. Das gilt von der Tierfabel wie vom Epos.
Die Tradition ist also zunächst „mehr poetisch“ als historisch.
Letzteres wird sie erst, wenn ein keimender Trieb nach Wahrheit Kritik an-
fängt zu üben und nach dem Zusammenhang der Dinge zu forschen. So lange
die Überlieferung von Geschlecht zu Geschlecht gläubig aufgenommen sich
fortpflanzt und nach dem in ihr liegenden Typus sich ausbildet, ist sie nur
1) Wie bei den früheren Artikeln reflektieren auch bei diesem besonders meine
früheren kulturhistorischen Wanderungen in der Mark, überhaupt in Norddeutschland.
Zeitsclir. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 9
118
Schwartz:
eine Summe von Bildern, welche das mit jedem Geschlecht sich erneuende
Heimatsgefühl als ihm angehörig mit mehr oder minderer Liebe festhält.
Nicht aber bloss der subjektiv-poetisch sich so bekundende Yolks-
charalcter verleiht den Traditionen etwas „Flüssiges“ und „Wandelbares“,
sondern vor allem „der Mangel an jeder Chronologie“, die erst ein Pro-
dukt wissenschaftlicher Betrachtungen ist und das Denken innerhalb eines
gewissen Zahlensystems voraussetzt. Wie aber der natürliche, fern von
der Kultur und Litteratur lebende Mensch seine eigene Yergangenheit nach
gewissen bedeutenderen Ereignissen gleichsam als nach „Etappen“ ordnet,
„vor“ oder „nach“ denen etwas Anderes sich ereignet habe, so verwendet
auch das Yolk bestimmte Bezeichnungen für gewisse charakteristische
Zeitabschnitte und beginnt nach ihnen zu rechnen. Aber kaum hat es den
Yersuch gemacht, gewisse Gruppierungen und gleichsam Grenzbestimmungen
sich so herzustellen, so verschwimmt mit der Zeit wieder alles ineinander,
da der Zusammenhang und jede Art von Zeitbestimmung, die begonnen
hatte, allmählich wieder abbröckelt, und je länger je mehr werden einst
charakteristische Bezeichnungen zu blossen Namen meist ohne besonderen
Hintergrund und Unterschied.
So treten z. B. in der Mark die verschiedensten Namen für derartige
historische Etappen, wie ich sie nannte, hervor. Will man z. B. irgend
einen eigentümlichen Gebrauch als besonders altertümlich bezeichnen, so
sagt man, meist ohne besonderen Unterschied, der stamme noch aus der
alten wendischen oder katholischen Zeit. Wenn aber noch an die letztere
eher ein mehr oder minder dunkles Gefühl sich knüpft, dass es sich um
etwas religiös Yerschiedenes dabei handle, so stellen sich zum Ausdruck
„Wendenzeit“ als fast homogen die Ausdrücke „Schweden-“, „Bussen-“
und „Franzosenzeit“, obgleich jeder Name an sich doch schon einem
anderen Jahrhundert entstammt und an verschiedene Yerhältnisse anknüpft,
der erstere sich an den Schwedeneinfall unter dein Grossen Kurfürsten,
der zweite an die Kämpfe Friedrichs des Grossen an der Oder im sieben-
jährigen Kriege und der dritte sich an die Okkupation Napoleons I. an-
schliesst.
Wie diese Bezeichnungen wechseln, schwanken auch die mit denselben
in Yerbindung tretenden Personen selbst noch in literarischen gebildeten
Kreisen. Ich habe gelegentlich schon erzählt, was mir einmal selbst mit
einem, an sich sehr tüchtigen Dorfschullehrer, nicht weit von Berlin, be-
gegnete. Sein Dorf lag ausserhalb der grossen Strasse, und so lebte er
ziemlich isoliert. Nur selten gönnte er sich einen Besuch in Berlin. Da
sprach er zu mir einmal nach einem solchen ganz begeistert von der Statue
des Grossen Kurfürsten, was doch für ein gewaltiges Denkmal es sei, habe
er jüngst wieder an sich erfahren; dabei passierte es ihm aber, dass er
die am Piedestal angebrachten gefesselten Figuren, da er die in denselben
liegende Symbolik nicht fasste, für alte „Wendenfürsten“ ausgab, die der
Volkstümliche Schlaglichter.
119
Grosse Kurfürst, wie er meinte, unterworfen. Die Geschichtszahlen waren
ihm mit der Zeit abhanden gekommen und wie einem Mann aus dem
Yolke war ihm von der ganzen alten Kurfürstenzeit nur im Gedächtnis
gehliehen, dass sie der Wendenherrschaft hier ein Ende gemacht hatte,
und dies übertrug er auf den Hauptrepräsentanten derselben, den Grossen
Kurfürsten.
Ähnliche Yerschiebungen traten mir gelegentlich ganz allgemein am
Isergehirge entgegen. Dort knüpfte sich z. B. die Schwedenzeit an den
dreissigjährigen Krieg, da der daselbst zum Teil noch mehr fühlbare
Gegensatz zwischen evangelisch und katholisch Erinnerungen an jene Zeit
mehr wach gehalten, auch der Name Wallensteins dort noch mehr lokale
Beziehungen hat. Das hinderte aber nicht, dass in einem einzelnen Falle
in Anknüpfung an den siebenjährigen Krieg, der auch hier spielte, der
Name- Friedrichs des Grossen hineingezogen wurde und dieser hier auch
mit den Schweden sich herumgeschlagen haben sollte, diese oder jene
Schanze noch davon angeblich herrührte. Ja auch Blücher, der Moltke
des alten Fritz (!), wie Einer sich ausdrückte, wurde nach dem Bober und
der Katzbach zu hineingezogen. Das Yolk verbindet eben die Namen
und die Dinge, die ihm im Gedächtnis geblieben, wie es ihm passt, gerade
wie das Nibelungenlied auch mythische sowie historische Personen ver-
schiedener Zeiten unter dem Einfluss der Sagenbildung, auf der es fusst,
miteinander in Beziehung bringt1).
Diese Unbestimmtheit wird noch gemehrt durch den Umstand, dass
das „Gedächtnis“ des Yolkes relativ „kurz“ ist. Wie die Erinnerungen
einzelner Familien ohne litterarische Aufzeichnungen meist nur auf Gross-
oder Urgrossvater zurückgehen, dann alles mehr oder minder nebelhaft
wird, höchstens noch einige Reminiscenzen anklingen, so auch in der
Tradition eines Yolkes.
Sie greift im Durchschnitt nicht über das dritte und vierte Geschlecht
zurück; nur lokal erhalten sich gelegentlich länger historische Namen und
brockenhafte Reminiscenzen, wenn sie in Spruch oder Lied fortleben,
oder sonst irgendwelche Anlehnung finden; es ist aber eben nur zufällig.
Als ich mit Kuhn den Harz nach Sagen durchwanderte, machten wir
z. B. in der Nähe von Seesen eine interessante Erfahrung dieser Hinsicht.
Wir liessen uns mit Kindern, die wir im Walde trafen, in ein Gespräch
ein und forschten zunächst nach Sagen und, als dies vergeblich war, nach
Liedern, und da kam dann unter anderm die auch in Städten bekannte
1) Dieses Moment wird übrigens umgekehrt auch bedeutsam für jeden Versuch, aus
Sagen, wenn nicht sonstiger litterarischer oder historischer Anhalt sich bietet, Zeitgruppen
herauszuschälen oder hineinzutragen. Die Tradition ist hierin ebenso luftig wie in geo-
graphischen Bestimmungen und Distanzen. Ebensowenig wie das Volk bestimmt Zeit-
unterschiede festhält, hat es auch weitergreifende Anschauungen von der Lage der Länder.
Nur gewisse Namen hält es fest und höchstens nach welcher Himmelsrichtung sie liegen,
besonders oh nach Norden oder Süden.
120
Schwärt/,:
Kinderpredigt, die da anfängt, „Meine. Damen und Herrn, Appel sind keine
Bärn,“ u. s. w. zu Tage, in welche zu unserer Überraschung dann aber die
Yerse eingeschoben wurden:
Der Tilly sitzt in Seesen
Meine Mutter hat zwei Besen,
Zwei Besen hat meine Mutter u. s. w.
Das Kinderlied hatte hier einen Nachklang an die Schlacht bei Lutter
am Barenberge aus dem XYII. Jahrhundert bewahrt, die Tilly von einer
Höhe bei Seesen leitete. Unterstützt wurde die Reminiscenz freilich wohl
noch dadurch, dass, wie wir später erfuhren, man noch einen (tischartigen)
Steinblock daselbst als die Stelle zeigt, von wo Tilly aus die Schlacht
überschaut und „dirigiert“ haben sollte.
Eine noch grössere Überraschung der Art hatten wir einmal in der
Altmark auf einem Dorfe in der Nähe von Tangermünde, als wir eines
Sonntag-Nachmittags in dem Kruge daselbst singende und trinkende Bauern
fanden. Mutete es schon uns altertümlich an, dass sie noch Met tranken,
der damals — es war im Jahre 1842 — schon meist längst abgekommen
war1), so wurden wir noch in anderer Weise in Verwunderung gesetzt, als
bei einem Rundgesang eine Erinnerung an den luxemburgischen Mark-
grafen von Brandenburg, Kaiser Karl den Vierten, auftauchte, die also ans
XIV. Jahrhundert anknüpft und die älteste historische Erinnerung der Art
in der Mark ist, welche wir gefunden. Einer der Leute stimmte nämlich,
als an ihn die Reihe kam, die Strophe an:
„Kaiser Karolas siin bestet Peerd,
dat was ene fälige Stute,
dat eene Ooge was nist wert,
dat annere was reen ute,“
worauf die anderen, während er den Krug leerte, einfielen mit:
„reen ute, reen ute, reen ute“ u. s. w.
bis es dann zuletzt hiess:
„nu wisch hee sik de Schnute“
(s. Märkische Sagen. Berlin 1843. S. 10).
Diese volkstümliche Reminiscenz erhält noch ein bedeutsames histo-
risches Relief, wenn in M. Christoph Entzelts, weiland Pastors zu Oster-
burg, Altmärkischer Chronik von Kaiser Karl zu lesen ist: „Es zeigen auch
seine vielfältigen Thaten, dass er ein kurzweiliger Herr gewesen ist, als
mit dem fahlen Pferde, so aber zu lang zu erzehlen, mit der Speise,
die nichts kostet und niemand schadet“ u. s. w. Zur Seite steht auch
hier freilich eine lokale Anknüpfung, indem man noch im Gedächtnis be-
halten, Kaiser Karl habe das Schloss in Tangermünde und vor allem das
1) Im Posenschen habe ich ihn in den siebziger Jahren noch gelegentlich als eine
Art alter Rarität in polnischen Gutsbesitzerkreisen getrunken.
Volkstümliche Schlaglichter.
121
Dorf Carlbau gebaut, welches Entzelt plattdeutsch „Kalpu“ nennt und
hinzusetzt, „soll heissen Caroli Gehau“.
Derartiges tritt verschiedentlich hervor, aber es sind, wie gesagt, meist
nur brockenartige Überbleibsel. Der Volkstradition fehlt eben mit dem
Mangel der Zeitunterschiede meist jeder Begriff der Kontinuität. Wie
Schweden-, Russen- und Franzosenzeit ineinander übergehen, der Grosse
Kurfürst mit den alten Wendenfürsten in Beziehung tritt, so sieht das Volk
weniger die Ereignisse aus weiter Perspektive allmählich in die Gegen-
wart übergehen, als gleichsam in einen Rahmen zusammengezwängt vor
sich, wobei höchstens das eine mehr in den Vorder-, das andere mehr in
den Hintergrund tritt. Alles dies giebt der Tradition, ehe sie in die
Geschichte übergeht, etwas „Anekdotenartiges“. Die einzelnen Geschichten
schweben gleichsam in der Luft und rücken so dem Leben des Volkes
allmählich gewissermassen nach, indem sie mit jedem Geschlecht leicht
den Träger wechseln1). Die Sage vom Schildhorn bei Spandau, welche
litterarisch auf den letzten Wendenfürsten Pribislaw bezogen wird, der,
vor Albrecht dem Bären hier flüchtig, mit seinem Pferde durch den breiten
Havelsee daselbst geschwommen und sein Schild und Horn, als er glück-
lich hinübergekommen, als Wahrzeichen an einen Baum aufgehängt haben
und Christ geworden sein soll, — diese Sage hörte ich im Laufe der Jahre
in jener Gegend von den verschiedensten Personen erzählen. Neben dem
letzten Wendenkönig — der an verschiedenen Stellen der Mark noch
spukt, — trat die allgemeine Bezeichnung „ein Ritter“, dann der Grosse
Kurfürst, dann Gustav Adolf1 2) und endlich sogar ein General Schill3)!
In ähnlicher Weise sind Geschichten, die man litterarisch bis ins
Mittelalter hinein verfolgen kann, zu verschiedenen Zeiten immer wieder
auf andere Personen übertragen worden. Der alte Dessauer wird ähnlich in
mancher Geschichte abgelöst von Zieten, Zieten von Blücher, Blücher vom
alten Wrangel, und so geht es fort, indem teils unwillkürlich, teils um
einen Hintergrund zu gewinnen, welcher Interesse erregt, der Erzähler an
Näherliegendes, an bekannte, statt an allmählich fremder werdende Personen
anknüpft.
Die grossen Ereignisse aber, welche das Volk weniger in ihrem
Zusammenhang und allgemeiner Bedeutung, als in einzelnen Resultaten
erkannte, die es eben hinnahm, wie sie kamen, schwinden im Strom des
1) Diese Erscheinung habe ich auf mythologischem Gebiet schon betont. Siehe
Schwartz, Der heutige Volksglaube und das alte Heidentum. Berlin. II. Aufl. v. J. 1862.
S. 13. So tritt z. B. hei Prenden der alte Sparr aus der Zeit des Grossen Kurfürsten an
die Stelle des Wilden Jägers, wirft aus der Luft eine Menschenlende herab und der-
gleichen mehr.“
2) Wohl im Anklang daran, dass das Faktum sich nach einigen in einem Religions-
krieg zugetragen haben soll und man dann an den dreissigjübrigen Krieg dachte.
3) Der Name „Schildhorn“ spielt dabei offenbar mit, vielleicht auch eine Erinnerung
an Schills kühnen Zug vom Jahre 1809.
122
Schwartz :
Lebens, im täglichen Kampf um das Dasein immer mehr in dem Gedächtnis.
Nur inwiefern sie einzelne Volkskreise besonders berührten oder Verhält-
nisse, namentlich Gegensätze vorhanden sind, die immer wieder darauf
zurückzugreifen veranlassen, werden sie in Einzelerinnerungen noch
lebendiger wach gehalten. Wo Evangelische und Katholische im Lande
massenhafter zusannnenstossen, weiss man noch mehr oder weniger von
alten schweren Kämpfen, die erst mit der Zeit in Deutschland einen modus
vivendi in dieser Hinsicht geschaffen, und erzählt noch dies oder jenes
davon, was im Gedächtnis haften geblieben1), ebenso wie in Grenzlanden
schärfer hervorgetretene nationale Gegensätze noch oft ein Substrat für
das Haften von Traditionen, die dahin schlagen, bilden. Wo aber das
Leben selbst keine unmittelbare Anknüpfung mehr bietet, da verfliegen
mit der Zeit die Erinnerungen oder werden durch andere näherliegende
verdrängt.
Die Kontinuität tritt erst voller in die Tradition ein, wenn diese lite-
rarisch aufgezeichnet in die „Geschichte“ anfängt überzugehen. Von einer
wirklichen Geschichte kann aber in Wahrheit erst dann die Rede sein,
wo für die Ereignisse „gleichzeitige“ literarische Zeugnisse eintreten oder
wenigstens sichere Anknüpfungen nach Zeit, Ort, Personen und dergl. sich
bieten. Wenn eine keimende Geschichtsschreibung bei einem Volke dabei
auf die früheren Zeiten nach den sagenhaften Überlieferungen, um einen
Anfang zu haben, zurückgreift und sie mit möglichster Ausscheidung alles
Wunderbaren historisch gruppiert, so empfängt die Sache dadurch doch
keinen historischen Wert, wenn nicht anderweitig etwa Bestätigungen ein-
zelner Fakta hinzukommen, sondern es ist und bleibt immer nur eine
nebelhafte, allmählich poetisch gestaltete Tradition, wie sie ein Volk bei
seiner nationalen Entwicklung sich nach den vorhandenen heimatlichen
Anklängen ausgebildet und zurechtgelegt hat, und die nur von diesem
Standpunkt aus eine relative Bedeutung hat.
Recht charakteristisch tritt das bei Griechen und Römern hervor, wenn
es gleich überall ähnlich gewesen. Namentlich ist die alte griechische
Geschichte zunächst nur eine mit der Zeit an gewissen Etappen zurecht-
gerückte Märchen- und Sagenmasse. Der sagenhafte Argonautenzug, der
Zug gegen Theben, vor allen der trojanische Krieg und zuletzt die schliess-
lich in ein System gebrachten Wanderungen, waren solche Etappen, zwischen
denen sich die Genealogieen der einzelnen Stämme zurechtzogen, je nach-
dem dieser oder jener Held an dem einen oder anderen teilgenommen
hatte. Die Geschlechtstafeln der einzelnen Stämme von der troischen Zeit
aufwärts umfassen aber dabei nur meist eine kurze Spanne Zeit. Mit
1) z. B. am Isergebirge. In der Mark wird so nocli in der Umgegend von Jüterbog
bei der Nähe der Lutherstadt Wittenberg die Geschichte zäh festgehalten, wie ein Hake
von Stülpe Tetzel einst abgeführt habe. Schwartz, Sagen und alte Geschichten der Mark
Brandenburg. Berlin, Volksausgabe v. J. 1886. S. 73.
Yolkstümliche Schlaglichter.
123
wenigen Namen stehen wir schon mit einer mythischen Abstammung vom
Zeus gleichsam am Anfang aller Dinge, während die ganze Kulturentwick-
lung doch schon einfach uns zeitlich wie örtlich weite und ferne Per-
spektiven eröffnet. Es ist dort nicht anders gewesen, als z. ß. bei den
Angelsachsen, deren Stammgeschichte schon mit dem Ururgrossvater des
Hengist ihr Ende findet, indem sie denselben als Sohn des Yöden schon
göttlicher Abstammung sein lässt1).
Ich habe schon gelegentlich, um an einer Parallele zu zeigen, was
dabei herauskommen kann, wenn aus den Sagen eines Volkes, als wären
es wirklich historische Erinnerungen, „eine Vorgeschichte desselben“
mechanisch konstruiert wird, in humoristischer Form ein Bild gegeben,
was für eine Vorgeschichte etwa, wenn wir sonst von der Geschichte
Norddeutschlands und namentlich der Mark nichts wüssten, aus den
volkstümlichen Traditionen sich hier nach analogen derartigen alten
Vorbildern ergeben dürfte!
„Zuerst erhielte man nämlich,“ führte ich aus1 2 3 * *), „als die Religion der
früheren Zeiten den Glauben an die Herrschaft eines bösen Geistes, des
Teufels, dem molochartig Menschenopfer dargebracht zu sein schienen, wo-
für die vielen Sagen von ihm entführter oder getöteter Menschen sprächen,
wie auch, wenn er sich angeblich die Seelen derselben habe verschreiben
lassen, dies nur offenbar ein Nachklang daran wäre. Der Blocksberg war
sicherlich nach allem eine alte Kultusstätte desselben, und zwar wurde er
dort besonders zur Frühlingszeit in nächtlicher Feier bacchantisch von
alten Frauen verehrt, die als Priesterinnen desselben in einer Art
geheimnisvoller Zunft allerhand Zauber daneben übten, auch noch, als das
Christentum hier einzog in die Lande, ihr Treiben im stillen fortsetzten,
bis man sie mit Feuer und Schwert ausrottete8). In den alten Zeiten habe
es übrigens noch gewaltige Riesen gegeben, die so gross waren, dass sie
mit ausgerissenen Baumstämmen ihr Vieh hüteten, dennoch seien sie nicht
ganz unkultiviert gewesen, vor allem hätten sie sich als geschickte Bau-
meister erwiesen, namentlich Dämme und andere Steinbauten aufgeführt,
aber auch Handwerke haben sie schon getrieben. Bei Gerswalde in der
Uckermark liege wenigstens ein grosser Stein, von dem erzählt werde,
und dessen Eindrücke es auch noch deutlich zeigten, dass, wie die Leute
behaupteten, ein Riesenschneider auf demselben gesessen, woher die vor-
handenen Löcher herrührten; man sehe noch ordentlich neben der Ver-
tiefung, wo er sass, ringsherum die kleineren Löcher, in denen sein
1) Grimm, Mythologie, 1837. Anhang. S. III.
2) Prähist. anthrop. Studien. Mythologisches und Kulturhistorisches. Berlin 1884.
S. 169 ff.
3) An Hexen als alte Priesterinnen einer heidnischen Gottheit denkt zum Teil selbst
noch J. Grimm, Myth.2 1057, vgl. Quitzmann, Die heidnische Religion der alten Baiwaren.
Leipzig 1860. S. 226.
124
Schwartz ;
Handwerkszeug, Schere, Nadel, Fingerhut und Zwirnknäuel gelegen. — ihre
Könige haben übrigens die Riesen stets in goldenen Särgen beigesetzt, die
in eisernen gestanden, und diese wieder in eichenen. Dem eindringenden
Christentum haben sie sich feindlich entgegengestellt und namentlich ver-
sucht, den Bau christlicher Kirchen zu stören und sie mit gewaltigen Fels-
blöcken einzuwerfen gesucht, aber vergeblich. Die letzten dieses Volkes
hat ein alter König, der Vater des sogen, alten Fritz — seinen Namen
weiss man nicht, — dann unter seine Soldaten gesteckt (!), und so
sind sie allmählich verschwunden.“
„Ebenso scheint es einen anderen Menschenschlag hier gegeben zu haben
von kleinerer Rasse, die in Höhlen, halb unter der Erde, gelebt und dort
reiche Schätze aufgehäuft haben, aber in sittlicher Beziehung scheu und
etwas verkommen, namentlich diebisch gewesen sind. Gern hätten sie den
Leuten allerhand Schabernack angethan, aber es dann meist verstanden,
sich der Strafe zu entziehen, so dass man geglaubt, sie besässen eine Art
Zauberkappe, die sie, wenn sie selbige still überzögen, sofort unsichtbar
machen könnte. Sie haben meist unter Königinnen gelebt, sind aber,
als das Land mehr kultiviert worden, nach Westen ausgewandert. Nament-
lich scheint der oben erwähnte Fritz bei ihrer Vertreibung tliätig gewesen
zu sein; wenigstens heisst es, er habe sie schliesslich über das rote (!) Meer
verwiesen1).“
„Dann muss eine Art Heroenzeit hier stattgefunden haben, ein buntes
Völkertreiben, indem aus dieser kriegerischen Epoche, wie die Bezeich-
nungen alter Burgwälle und Schanzen noch beweisen, verschiedene Namen
von Völkern noch hinüberklingen, die einst hier müssen eine Rolle gespielt
haben. Unter der Menge der Helden aber ragen besonders hervor der
sogen. Grosse Kurfürst, der die alten Wendenfürsten hier besiegt und die
Schweden, welche eingefallen, wieder aus dem Lande getrieben hat, der
alte Fritz, der wie ein Harun al Raschid oft unerkannt durch das Land
gewandert und nach dem Rechten gesehen, oder mit einem seiner Paladine,
einem gewissen Zieten, seine Kurzweil getrieben, wobei er aber oft den
kürzeren zog u. s. w.“
In dieser oder ähnlicher Weise würde etwa eine Vorgeschichte der
Marken aussehen, wenn sie, in Ermangelung jeder anderen Kenntnis, aus
den volkstümlichen Erinnerungen in ähnlicher Weise zurecht geschnitten
1) In verschiedenen Gegenden sucht man noch jetzt die Zwerge oder Unterirdischen
als einen alten verkommenen Volksstamm zu erklären, während man es in betreff der
Kiesen, in betreff derer man es früher ebenso machte, nachgerade aufgegeben hat. Die
Zwerge sind aber mit den mannigfachen, sich an sie knüpfenden Sagen uralte mythische
Gebilde, indem man in den Sternen solche himmlische „Kleinen" in der Urzeit dort oben
zu finden wähnte, die, wenn der Himmel sich bezog, ihre Nebelkappen übergezogen hatten,
in nächtlichen Gewittern schmiedeten und dergl. mehr. Siehe Urspr. der Myth. im Index
unter „Zwerge“. Berliner Zeitschr. f. Ethnologie u. s. w. v. J. 1892. S. 166.
Volkstümliche Schlaglichter.
125
würde, wie es die Griechen thaten, wenn sie nach entsprechenden Erinne-
rungen die Menschen erst in Höhlen wohnen Messen, dann ein Götterspross
den Ackerbau einführte, ein anderer das Pferd anzuspannen und zu zügeln
lehrte, von einem dritten die Schmiedekunst den Menschen gebracht sei,
wunderbare, zum Teil riesenhafte Geschlechter, halb göttlicher, aber auch
halb tierischer Art, den Menschen vorangegangen seien und dergl. mehr.
Die Geschichte ist überall nämlich erst ein keimendes Produkt der
Bildung, das, wie nicht oft genug betont werden kann, je näher es den
volkstümlichen Anschauungen liegt, desto subjektiver ist und erst, je
mehr es das Leben der Völker auf literarische (sowie monumentale)
Zeugnisse hin verfolgt, objektiver wird, zur vollen Entwicklung aber erst
gelangt, wenn es auf einer mehr internationalen Basis zur Weltgeschichte
wird.
Wenn ich obige Betrachtungen mehr unter dem Eindruck und den
Erfahrungen geschrieben, welche ich in dem jahrelangen Verkehr mit dem
norddeutschen ländlichen Volkstum gemacht, so gebe ich zum Schluss noch
einige zum Teil „literarische“ Zeugnisse für den Charakter volkstümlicher
Geschichtsauffassung in dem oben ausgeführten Sinne.
Weshalb es zur Schlacht von Fehrbellin gekommen.
Die volkstümliche Version davon ist eine Erinnerung des alten Fritz
aus seiner Ruppiner Zeit, welche er nach Gleim im Jahre 1779 bei einer
Inspektionsreise im havelländischen Luch, in heiterer Stimmung über seine
neuen Schöpfungen daselbst, bei Tafel zum Besten gegeben hat3).
„Von der Schlacht bei Fehrbellin, sagte der König, bin ich so orientiert,
als wenn ich selbst dabei gewesen wäre. Als ich noch Kronprinz war und
in Ruppin stand, da war ein alter Bürger, der Mann war schon sehr alt,
der wusste die ganze Bataille zu beschreiben und kannte den Wahlplatz
sehr gut. Einmal setzt’ ich mich in den Wagen, nahm meinen alten Bürger
mit, welcher dann mir alles zeigte, so genau, dass ich zufrieden war mit
ihm. Als ich nun wieder nach Hause reiste, dachte ich: Du musst doch
deinen Spass mit dem Alten haben! Da fragte ich ihn: Vater, wisst ihr
denn nicht, warum die beiden Herren sich miteinander gestritten haben?
„0 jo, Iliro Königlichen Hoheiten, dat will ich Se wohl seggen“ — Friedrich
soll den Dialekt selbst nachgeahmt haben, —. „As unse Korförste is jung
gewest, hät he in Utrecht studert, und da ist de König von Schweden as
Prinz oft gewest. Da liebben nu de beede Herren sick vertörnt, liebben
sick in den Haaren gelegen, und dit is nu de Pike davon!“ 1
1) Proehle, Feldgarben. Leipzig 1859. 401 ff.
126
Schwartz :
Der alte Fritz und Zieten.
Die Zeit Friedrichs des Grossen, das war die epische Zeit des alten
Preussentums und der alte Fritz und Zieten der Mittelpunkt desselben.
Die alten Soldaten, die mit ihnen die Schlachten geschlagen, im Lager-
leben ihnen näher getreten, — die Verhältnisse waren damals noch nicht
so gross, wie in den späteren Kriegen —, das waren zumeist die Träger
der Geschichten, die dann ins Volk übergingen und jene zum Mittelpunkt
eines reichen Sagenkranzes machten, welcher in der ersten Hälfte dieses
Jahrhunderts nicht bloss in den alten preussischen Provinzen, sondern in
ganz Norddeutschland mehr oder minder bekannt war. Es waren nicht
gerade immer Geschichten kriegerischer Art, wenn sie gleich meist das
Soldatenleben streiften, sondern anekdotenartige Erzählungen, wie sie früher
ähnlich vom alten Dessauer umgingen, die darin gipfelten, dass der Held
der Geschichte nie in Verlegenheit kam, immer schlagfertig in Wort und
Handeln war und den Nagel stets auf den Kopf traf, Charakterzüge, die
man dann im Heere preussische Schneidigkeit nannte, während der Fremde
sie oft durch den Ausdruck Windigkeit herabzusetzen trachtete. Nament-
lich gipfelt der Haupttypus der Art in einer Art Wettspiel zwischen dem
alten Fritz und Zieten, bei dem echt volkstümlich der Mutterwitz des ein-
fachen Zieten meist triumphiert1).
Eine Geschichte für viele. Der alte Fritz neckt Zieten und will ihn
bei Tisch in Verlegenheit bringen. Als die Suppe aufgetragen wird, sagt
er: „Ein Hundsfott, wer seine Suppe nicht ausisst.“ Dabei hat er vor
Zieten keinen Löffel hinlegen lassen, sondern nur einen Kanten Brot.
Zieten nimmt den schmunzelnd und schneidet sich mit dem Messer eine
Art Löffel daraus, mit dem er seine Suppe isst, als wäre alles in Ordnung.
Wie er fertig ist, sieht er sich im Kreise um und sagt: „Damit wären
wir nun fertig. Ein Hundsfott aber, der seinen Löffel nicht aufisst1 2).“
Eine Fülle solcher Geschichten gingen seiner Zeit im Lande um und
fanden im preussischen Geist volkstümlicher Kreise sympathischen Wieder-
hall. Oft waren sie echt derb, wie ich deren ein paar gelegentlich in den
Märkischen Forschungen vom Jahre 1863 mitgeteilt habe. Die Sage lässt
den alten Fritz auch dabei gemeinsam mit Zieten durch das Land ziehen, wie
im Mittelalter Christus und Petrus und überträgt dann unter anderm einen
Schwank, der einst von jenen erzählt wurde, auf unsere Helden, wobei
Zieten durch seine Schlauheit dann meist den Vogel abschiesst. Sie haben
1) Den Mutterwitz liebt das Volk so' triumphierend darzustellen. So kommt bei den
Griechen Homer auch nicht gegen einfache Fischer auf und kann ihre Eätselrede nicht
lösen. Grübelnd fällt er sogar dabei über einen Stein und stürzt sich zu Tode. „Homer
und der alte Fritz“, Prähistorische Studien. 141.
2) Schwartz, Sagen u. s. w. Berlin 1886. S. 37.
Yolkstümliehe ■ Schlaglichter.
127
z. B. einmal angeblich unerkannt bei einem Bauer Herberge gefunden
gegen das Versprechen, am andern Morgen dreschen zu helfen. Sie schlafen
zusammen in einem Bett, Zieten lässt den König aus Respekt vorn liegen.
Wie sie den andern Morgen nicht zur Arbeit erscheinen, kommt der Bauer
mit einem Stock und bearbeitet den vorn liegenden König. Sie bitten
noch um eine kurze Frist, da sie noch zu müde seien, und der Bauer ge-
währt sie ihnen auch endlich, da sie doch zu jämmerlich thaten. Wie sie
sich wieder einrichten, sagt Zieten: „Nun will ich mich aber für alle Fälle
vorn hinlegen,“ und der König legt sich auch hinten hin. Als sie aber
wieder einschlafen und der Bauer zum zweiten Male kommt, sagt er, wie
Zieten gedacht: „Nun werde ich mir aber einmal den, der dahinten liegt,
langen.“ Und so ging Zieten leer aus, der alte Fritz bekam aber zweimal
seine Schläge1).
Neben diesen mehr ländlich-bäurischen Traditionen giebt es bekannt-
lich noch eine grosse Fülle mehr städtischer Überlieferungen von Friedrich
dem Grossen, in denen er aber mehr der Weise von Sanssouci oder der
König ist, der überall nach dem Rechten sieht und Gerechtigkeit gegen
alle, wes Standes sie auch sind, übt. „Dem König entging nichts“, das
ist der Grundzug der durch die meisten dieser Geschichten geht, wovon
ich noch aus den unteren städtischen Volksschichten ein Beispiel anführen
will. Vom Prof. Preuss, dem bekannten Historiographen Friedrichs des
Grossen, heisst es, er habe einmal gehört, in Potsdam lebe noch ein alter
Gartenknecht aus der Zeit des Grossen Königs, der noch viel von ihm
erzählen könne. Preuss habe, als er einmal in Potsdam war, die Gelegen-
heit benutzt, ihn aufzusuchen und knüpfte ein Gespräch mit ihm an „ob
er sich noch des Königs erinnere, wie denn der Herr gewesen und dergl.“
„Ach“, sagte der Alte, „das war ein niederträchtiger Kerl (d. h. kluger und
scharfer Herr), da durfte keine Aprikose, keine Pfirsich fehlen, der sah
alles, dem entging nichts und dann war der Teufel los.“ Das war keine
respektwidrige Äusserung, sondern gerade das Gegenteil davon, nur der
1) Die Art, wie diese Geschichte auf den alten Fritz und Zieten übertragen wird,
ist an sich noch höchst interessant. Wenn sie von Christus und Petrus erzählt wird, ist
sie meist nur eine Episode einer längeren, mythisch noch anklingenden Geschichte, wobei
Petrus den Schaden hat, indem dieser zuerst, weil er vorn liegt, Schläge empfängt, dann
„aus Vorsicht“ sich hinten hinlegt, was sich aber dann als Thorheit erweist, indem er
nun wieder mit solcher bedacht wird, weil der Bauer zur Abwechslung gerade den hinten
liegenden sich langt. Wenn das zu anderen analogen Geschichten von Christus und Petrus
passt, auch unmöglich doch Christus Schläge erhalten konnte, so ergab sich die Wandlung
der Scenerie, dass Zieten den alten Fritz „in Schlauheit“ hineinfallen lässt und dieser es
ausbaden muss, sofort nach dem typisch gewordenen Verhältnis dieser beiden fast von
seihst, wenn die Sage auf sie übertragen ward. Man sieht so recht deutlich an diesem
Beispiel, wie die Scenerie gleichsam der traditionelle Kern der Sache ist, und sie bei Über-
tragungen je nach Umständen in der Ausführung und den Motiven sich wandelt. — Über
die angezogenen Geschichten von Christus und Petrus s. Mannhardt, Zeitschrift f. deutsche
Mythologie und Sittenkunde. I. 41. 471. II. 13. 54.
128
S cli wart z:
Anschauung der Verhältnisse entlehnt, in denen unser Gartenknecht sich
bewegte, gerade wie jener Kärrner vorn alten Fritz sagte: „Der hat eine
Pitsche (Peitsche), mit der kann er fahren, wo er will.“ —
Nach der Zeit Friedrichs des Grossen ändern sich aber die Ver-
hältnisse auch auf dem Gebiete des Volkstums. Die Litteratur überwuchert
je länger je mehr die schaffende Kraft desselben und mit den Freiheits-
kriegen beginnt die Geschichte in den weiten Dimensionen europäischer
Verwicklungen sich abzuspielen. Da machen sich überall weitere, fern-
liegende Perspektiven geltend, und die handelnden Personen stehen nicht
mehr so unmittelbar im Volke wie früher. Gelegentlich keimen zwar noch
Ansätze zu phantasievoll volkstümlicher Auffassung und Behandlung Ein-
zelner in alter Weise, wie z. B. bei Blücher, aber sie kommen nicht mehr
zur besonderen Entfaltung. Die Tradition tritt vor der Litteratur und der
Schule, welche allen die Weltgeschichte wenigstens in grossen Konturen
vermittelt, immer mehr zurück. Nur ab und zu klingt es noch vorüber-
gehend von Ereignissen wie Personen in kleineren Kreisen an, aber es ist
mehr eine Art Tagesgeschwätz, das der Tag verschlingt, wie er es geboren,
es kommt zu keiner dauernden typischen Gestaltung im Volke.
•An „die Pike von Fehrbellin“, von der Friedrich der Grosse erzählte,
erinnerte mich z. B. die volkstümliche, naive Auffassung eines Reservisten
der Mansteinschen Brigade, der in Schleswig-Holstein mitgewesen, von der
Veranlassung des Krieges zwischen Österreich und Preussen vom Jahre
1866 und der ganzen Entwicklung desselben und weshalb speziell die Man-
steinsche Brigade zunächst mehr in dem Hintergrund dabei gestanden habe.
„Wie unser König und der Kaiser von Österreich zusammen gegen die
Dänen fochten“, sagte er, „hatten sie verabredet, auch einmal einen Gang
mit einander zu machen, um zu sehen, wer die Oberhand hätte.“ Der
Kaiser von Österreich sei auch damit einverstanden gewesen, hätte aber,
— und nun trat der ganze Stolz des Mansteinschen Reservisten von
Schleswig-Holstein hervor, — die Bedingung gestellt, die Mansteinselie
Brigade dürfte nicht dabei sein; so einen Respekt hätten die Österreicher
vor ihr gehabt. Deshalb wäre sie auch in dem Kriege nicht vor den
Feind gekommen, nur bei Königgrätz sei es beinahe doch notwendig
gewordenx)!
Vom Prinzen Friedrich Karl fing man auch schon an sich die wunder-
barsten Dinge zu erzählen, z. B. er sei vor dem Kriege von 1870/71 als
Schäfer verkleidet in Frankreich gewesen. Weil er nämlich gehört, hiess
es, die Franzosen hätten fast alles Land unterminiert, um die Preussen, 1
1) S. meine märkischen Sagen v. J. 1871. S. 124 i'.
Yolkstümliche Schlaglichter.
129
wenn sie in Frankreich einrückten, in die Luft zu sprengen, sei er, um
Näheres zu erfahren, in jener Verkleidung dorthin gegangen und hätte sich
überall als Schäfer angeboten. Als aber die Leute gesagt, sie brauchten
keinen Schäfer, sie hielten keine Schafe, hätte er sich verwundert gestellt,
dass sie so viel Weide unbenutzt liessen, und da hätte er erfahren, dass
wirklich alles unterminiert sei. Nun hätte er sich genau die Stellen ge-
merkt, um seine Soldaten so zu führen, dass sie keinen Schaden litten,
und so sei es ihm denn auch geglückt1).
Nun zum Schluss noch eine volkstümliche Schilderung der Schlacht
bei Weissenburg wie sie die „Yossische Zeitung“ vom 14. August 1870 in
einer kleinen Humoreske brachte. Sie sagt: „Ein sehr prosaisches, aber
vielleicht sehr wahres Bild vom Schlachtfelde gab, wie die „Elberf. Zeitung“
erzählt, auf einem Berliner Bahnhofe bei einem der Gefangenenzüge einer
der transportierenden Soldaten, ein biederer Liegnitzer. — Er klagte, —
so schreibt der Korrespondent, — inmitten des Überflusses, den die Ge-
gangenen hatten, über rasenden Durst, und ich verhalf ihm zu einem Glase
Bier. Ich fragte ihn aus; er hatte bei Weissenburg gelochten. „Haben
Sie viel Kanonen gesehen?“ — „Gesehen habe ich gar nichts, immer vor-
wärts, fünf Stunden lang.“ — „War Kavallerie dabei?“ — „Das weiss ich
nicht, wir sind immer bloss vorwärts gelaufen mit gefälltem Bajonett; die
Franzosen schossen so viel, dass die Luft ganz dunkel war. Ab und zu
wurde kommandiert: „Halt!“ Dann schossen wir dreimal und dann liefen
wir wieder vorwärts.“ — „Wie viel Patronen haben Sie verschossen?“ —
„Nicht viel, 37.“ — Haben Sie Gefangene gemacht?“ — „Ich habe bloss
Einen gemacht.“ — „Wie war das?“ — „Er hielt mir sein Gewehr gerade
vors Gesicht und wollte losdrücken. Ich sprang zu und packte ihn an
der Gurgel und sagte: „Oller Bruder, geschossen wird hier nicht mehr. Ihn
behielt ich gleich, da sitzt er.“ — In der That blickte in diesem Augen-
blick ein freundlich grinsendes Franzosengesicht einverständnismässig
herüber. Der Gefangene schien für seinen Gefangennehmer Anhänglichkeit
zu haben und nickte ihm öfter zu.“
In diesem Bilde tritt so recht anschaulich hervor, wie eng der Horizont
meist ist, in welchem die gewaltigsten Ereignisse dem Einzelnen sich
gegenüber abspielen und dass der Mann aus dem Volke, der das Leben
meist nur in der vollsten Unmittelbarkeit des Augenblicks erfasst, gleich-
sam seine Welt für sich hat. Erst je nach den verschiedenen Graden der
Bildung und daran sich schliessender Lebenserfahrungen weitet sich der
Horizont, klärt und vertieft sich das Urteil und. die Auffassung der Dinge
in den höheren Volksschichten und in diesen wieder je nach der Be-
gabung des Einzelnen und seiner ethischen sowie geistigen Sonder-
entwicklung. Trotz der schliesslich so entstehenden unendlichen Ver- 1
1) Siehe die Vorrede zu meinen märkischen Sagen v. J. 1871.
130
Lewy:
schiedenheiten giebt es aber doch im Kleinen wie im Grossen massgebende
Verhältnisse sowie bedeutsame Momente im Leben jedes Volkes, in denen
ein einheitlicher Pulsschlag durch Alle geht. Es ist der lebendige
Volksgeist, welcher der Träger der Nationalität ist.
Berlin, Januar 1893.
Morgenländiseher Aberglaube in der römischen
Kaiserzeit.
Von Heinrich Lewy.
(Schluss.)
Tosefta Sabbat Kap. VIII.
§ 1. Sagt jemand 8^21 so gehört das zu den emo-
ritischen Gebräuchen. Rabbi Jehuda liest
§ 2. Sagt jemand plpl pp so gehört das zu den emoritischen
Gebräuchen. Rabbi Jeliuda meint, p*T beziehe sich axif den im
Richterbuche XIT, 23 vorkommenden Götternamen Dagon.
§ 3. Sagt jemand ’’3^7 "’31, so gehört das zu den emoritischen
Gebräuchen. Rabbi Jehuda meint, p beziehe sich auf den Götzen-
dienst {Arnos VIII, 14): „Beim Leben Deines Götzen, Dan.u
An heidnische Götternamen ist hier nicht zu denken: deren Anwendung
brauchte nicht so im einzelnen verboten zu werden. Am Anfänge von § 3
steht in einer Handschrift „und zur Freude“, was offenbar Glossem
ist, mich aber veranlasst, in dem bisher absonderlich (vgl. J. Levy, Neuhebr.
und chald. Wörterb. I, 414) gedeuteten '31 (im Talmud Sabbat 87b
'3H, wodurch für das erste Wort der Vokal o feststeht), einen griechi-
schen Freudenruf borg, borg = gbovg, gbovg zu erkennen. Die Fälle, wo
unter dem Einfluss der Tieftonigkeit der Anlaut eines Wortes verstümmelt
wird, sind im Altgriechischen sehr selten (vgl. Baunack, Rh. Mus. XXXVII,
477 und Studia Nicolaitana 48 ff.), im neueren Griechisch desto häufiger,
z. B. Xaxdxg = glaxdxg, yiakog = aiyiakog, nixiguov — huxifuov (vgl. Reiske
zu Constant. Porphyrog. Vol. II p. 671).
In § 1 schwankt die Überlieferung — von den Bemerkungen des
R. Jehuda dürfen wir füglich absehen — zwischen JTSC'm was
Zuckermandel aufnimmt, und Eine Deutung wage ich nicht.
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
131
In § 2 steht die Aussprache des ersten Wortes durch die Anlehnung
an den Namen Dagon ungefähr fest. Für das zweite Wort schwankt die
handschriftliche Überlieferung zwischen jV"Hp pHp Tip. Auch hier will
ich mich lieber aller Deutungsversuche enthalten.
Im babylonischen Talmud Sabbat 67b wird als emoritisch noch folgender
Spruch angeführt: ‘’SITDI p13*D1 ’l‘T3 IN Die beiden letzten Worte
werden allgemein als eine besondere Formel genommen. Sie sollen be-
deuten „Tag und Nacht“ (vgl. J. Levy, Neuhebr. u. chald. Wörterb. I, 177),
ohne dass sie bisher erklärt wären. Statt findet sich auch
geschrieben. Mir klingt ’’DTTDI ‘OtPIX ’üski ’übüsk oder *mkt 3übüskl an äoxi
xardom, die ersten Worte der bekannten ephesischen Zauberformel an, von
denen jenes „Finsternis“, dieses „Licht“ bedeuten soll (vgl. Hesychios,
Ecpeoia yod/ifiara'): und ich stelle = äoxi zu hebräisch häsak
„finster sein“, Tjt^in hösek „Finsternis“. Der Abfall des anlautenden ¡1 h
im Griechischen würde der Regel entsprechen; in die hebräische Formel
scheinen die Worte aus der griechischen zurückgewandert zu sein, was bei
diesen Dingen nicht auffallen kann1). Rabbi Jehuda bezieht *73 auf die in
der Bibel (Jesaja LXY, 11) erwähnte Gottheit Gad: wohl wieder mit Un-
recht, da in diesem Falle das Verbot selbstverständlich wäre. Man über-
setzt gewöhnlich: „Komm, mein Glück, und kein Ermüden!“ Indessen
halte ich es für vergebliche Mühe, eine Übersetzung zu ermitteln: Der
Satz gehört zu den ihrer Natur nach dunklen Formeln, deren K. Wessely
eine grosse Menge zusammengestellt hat (Ephesia grammata, Jahresber. d.
Franz Joseph-Gymnasiums in Wien für 1885/86). Er muss aber jedenfalls
besonders häufig angewendet worden sein.
§ 4. Wenn jemand seinen Stock befragt und spricht: „Soll ich
gehen oder nicht gehen? “ — so gehört das zu den emoritischen Ge-
bräuchen. Zwar keinen Beweis, aber doch eine Erwähnung bietet
Hosea IV, 12: „Mein Volk befragt sein Holz, und sein Stock ver-
kündet ihm.“
Eine hierauf bezügliche Stelle aus Maimonides Misne Tora, Aboda
zara XI, 7 ist bereits oben zu Kap. VII § 1 angeführt worden. Das Ver-
fahren war auch den Griechen bekannt, vgl. Nikander, Theriac. 613.
1) Eine Deutung- der ’Ecpsoia yod/ifiara aus den semitischen Sprachen bietet Stickel,
De Ephesiis litteris, Universitätsprogramm, Jena 1S60, S. 9:
wn nnis ■’Strn
pK *72nnn rsn
pü 'nKir Kin pK
„Tenebrae pallidae sunt tenebrae meae,
ad ignem suspice fideliter,
fidus ille, qui collustrans praebet vitam.“
132
Lewy:
§ 5. Wenn jemand „Zur Genesung/“ sagt, so gehört das zu den
emoritischen Gebräuchen. Rabbi KLazar, Sohn des Sadoq, meint,
morn nicht „Zur Genesung!“ wegen Störung des Gesetzes-
studiums im Lehrhause. Der Kreis des Rabban Gamliel sagt nicht
„Zur Genesung/“ [ams Scheu vor den emoritischen Gebräuchen].
Derartige Kufe beim Niesen gehörten der römischen wie der griechi-
schen Sitte an. Plinius, N. H. XXVIII, 2: „Cur sternumentis salutamus?
quod etiam Tiherium Caesarem, tristissimum ut constat hominum, in velii-
culo exegisse tradunt. Et aliqui nomine quoque consalutare religiosius
putant. Petronius, Sat. 98: Giton ter continuo ita sternutavit, ut gra-
batum concuteret, ad quem motum Eumolpus salvere Gitona iubet.
Ammianus, Anthol. Gr. II, 13:
Ov dvvaxou rfj yeigl Ilgoxhog xgv giv utiojuvooeiv,
xfjg givög ydg eyei xgv yj'Qo. /Mxqoxegxjv.
ovdh Aeyei Zsv ocöoov, ejiei Jixagfj' ov ydg dxovei
xfjg givög, nolv ydg xfjg dxofjg aneyei.
Auch Cg di rief man dem Niesenden zu, vgl. ebenda 11. Dieser Ruf
oder auch iaoig scheinen in Palästina üblich gewesen zu sein; im jerusa-
lemisehen Talmud Beralcot VI 1 loisst es: „Wenn jemand während des
Essens niest, darf man ihm nicht d. i. 'Qgd'G> oder d. i. löoi/gy —
die Überlieferung ist geteilt — zurufen, weil dadurch ein gefährliches
Verschlucken entstehen könnte“, l’aoig entspricht genau dem an
unserer Tosefta-Stelle. Man sieht also auch aus dem Talmud, dass dieser
Ruf in jüdischen Kreisen keineswegs allgemein verpönt war, obwohl er
doch eigentlich mit der Auffassung des Viesens als augurium zusammen-
hängt und die Einreihung unter die emoritischen Gebräuche daher ganz
in der Ordnung ist. — Im babylonischen Talmud Berakot 53 a ist von Ver-
meidung einer Störung im Lehrhause die Rede, und dabei wird erwähnt,
dass der Kreis des Rabban Gamliel im Lehrhause nicht rief, um
nicht das Studium daselbst zu stören. Demgemäss streicht Zucker-
mandel in der Tosefta mit Recht die überlieferte Begründung, als ob dieser
Kreis den Ruf aus Scheu vor den emoritischen Gebräuchen vermieden
hätte. Noch besser wäre es aber, zumal im Anschluss an den Ausspruch
des Rabbi Ehazar, die Begründung nach jener Talmudstelle zu ändern.
Zu erwähnen bliebe noch, dass auch die Araber beim Niesen grüssen:
vgl. Rückerts Hariri I, 543. Über die mit dem Niesen verbundenen Ge-
bräuche handelt auch Tylor, Anfänge der Kultur (deutsch) I, 97 fg.
§ 6. Wenn jemand spricht: „Übrigens und erübrigend/“ — so
gehört das zu den emoritischen Gebräuchen. Rabbi Jehuda sagt’.
„ Übriges und erübrigtes möge es nicht in seinem Hause gebenL
Letzteres soll die Strafe sein. Die Redensart muss in nichtjüdischen
Kreisen heimisch gewesen sein, der Ursprung ist also in einer fremden,
Morgen]äudischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
133
zunächst in der griechischen Sprache zu suchen. Den hebräischen Worten
entspräche genau Xoinov xal XeXsippevov, und eine solche Redensart ist
wohl denkbar, da Xoinov (auch xo Xomöv) von Polybius an im Sinne des
lateinischen ceterum, XeXeimai aber für das zur Besprechung noch Übrige
schon von Aischines, p. 16, 27, gebraucht wird. Yon Deutschen wird oft
ähnlich ä propos gesagt.
§ 7. Wenn jemand sagt: „Ich will trinken und übrig lassen!“
oder „ Trinket und lasset übrig!“ — so gehört das zu den emoriti-
schen Gebräuchen.
§ 8. Wenn jemand spricht: der Wein sei zu eurem Leben!“ —
so gehört das nicht zu den emoritischen Gebräuchen.
§ 9. Es ist vor gekommen, dass Rabbi rAqiba, als er seines
Sohnes Hochzeit feierte, bei jedem Fasse, welches er öffnete,
sprach: „ Wein zum Leben unserer Gelehrten und zum Leben ihrer
Schüler!“
Überliefert ist in § 7: „Ich will trinken und übrig lassen“ mit der
Arariante „trinket und lasset übrig!“ — sodann in § 8: „Trinket und
lasset übrig, und der Wein u. s. w.“ Das Yerhalten das fAqiba wird
offenbar als Beispiel für das zuletzt Erwähnte angeführt: daher muss § 9
genau zu § 8 stimmen, was in der Überlieferung des Textes nicht der Fall
ist. Dazu kommt, dass nicht erkennbar scheint, aus welchem Grunde die
in § 8 angeführten Worte unbedenklich sein sollen, wenn die in § 7 als
verpönt gelten. Auf den Unterschied zwischen 2. Plur. und 1. Sing. —
wenn letztere in § 7 richtig sein sollte — kann es doch keinesfalls an-
kommen. Danach habe ich die Übersetzung gestaltet. Sie wird bestätigt
durch den Wortlaut der Parallelstelle im Talmud: „Ich will trinken und
übrig lassen, ich will trinken und übrig lassen!“ — das ist emoritischer Ge-
brauch.
„Wein und Leben für den Mund der Gelehrten!“ — das ist nicht
emoritischer Gebrauch. Es hat sich zugetragen, dass R. fAqiba, als er
seines Sohnes Hochzeit feierte, bei jedem Becher, den er brachte, sprach:
„Wein und Leben für den Mund der Gelehrten! Leben und Wein für
den Mund der Gelehrten und für den Mund ihrer Schüler!“ Das Doppelte
„Ich will trinken und übrig lassen“ ist hier offenbar verderbt aus „Ich
will trinken und übrig lassen,“ „trinket und lasset übrig!“
Die Berufung auf das Beispiel des cAqiba hat ihren Grund wohl darin,
dass ein solcher Trinkspruch manchen als verpönt erschien, die seine
Üblichkeit bei Griechen und Römern kannten. Ygl. z. B. Cassius Dio
LXXII, 18: £(p cp xal 6 örjpog xal f/peig naoa/orjpa jiävxeg xovxo dp ev roTg
ovpjiooloig nodtbg Xeyeodai e^eßor/oapev Zgoeiag. Ambrosius de Helia et
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 10
134
LeAvy:
ieiunio 17: Bibamus inquiunt, pro salute imperatorum, et qui non biberit,
sit reus in devotione. — Bibamus pro salute exereituum — pro filiorum
sanitate.
Nach babyl. P'sabim 86 b und Besä 25 b verlangte in jüdischen Kreisen
der Anstand, den Becher nicht in einem, sondern in zwei Zügen zu leeren;
drei Züge erschienen geziert. Bei den Römern kam es gerade darauf an,
in einem Zuge und ohne abzusetzen den Becher so zu leeren, dass keiu
Tropfen zurückblieb: vgl. Plinius, N. H. XIY c. 22, besonders § 145;
Ambrosius de Helia et ieiunio c. 13 und c. 17. Daher ist mir unsere Stelle
noch unverständlich.
§ 10. Wenn jemand spricht „Nicht, nicht!“ — so gehört das
zu den emoritischen Gebräuchen. Wenn auch keinen Beweis, so
doch eine Erinnerung bietet Hiob XXI, 14: „ Und sie sprachen zu
Gott: „Weiche von uns, und deine Wege wollen wir nicht kennen“.“
In dem Schriftverse liegt wohl hier der Nachdruck auf „Weiche von
uns!“. Ich glaube eine Formel zur Abwendung ungünstiger Vorbedeutungen
zu erkennen, ähnlieh dem Procul a nobis! bei Petronius, Sat. 74.
§ 11. Wenn jemand einen Faden um etwas Rotes knüpft, so
gehört dies zwar nicht nach Meinung des R. Gamliel, wohl aber
nach Meinung des R. El azar ben Sadoq zu den emoritischen Ge-
brauchen.
Ist mir unverständlich, zumal oben (Kap. YII § 1) der rote Faden als
Schutzmittel erwähnt wurde. Der Ausdruck OY7X “QJ by, der sich nur
übersetzen lässt „auf (um) Rotes“, ist bedenklich. Ich möchte lesen D*1K
statt D'HK. Dann heisst es: wer einen Faden um einen Menschen knüpft.
Dass ein blosser Faden bannte und hegte, weist Grimm, Deutsche
Rechtsalt. S. 182 f., aus Gebräuchen des Mittelalters nach. — Die Parsen,
wenn sie einen Totenacker anlegten, schlugen in vier Ecken vier grosse
Nägel ein und zogen eine Schnur von hundert goldenen oder baumwollenen
Fäden dreimal darum. „Denn dieser Faden macht eigen und gerichtlich
haftbar.“ Rochholz, Alemannisches Kinderlied S. 147.
§ 12. Wenn jemand sagt: „Gehe nicht zwischen uns beiden hin-
durch, damit Du nicht unserer Freundschaft ein Ende machst“ —
so gehört das zu den emoritischen Gebräuchen. Sagt er es aber
in Rücksicht auf die Ehrerbietung (auf den Anstand), so ist es
erlaubt.
Ygl. Grimm, Aberglaube Nr. 213: „Läuft ein Hund zwischen ein paar
Freunden durch, so wird die Freundschaft getrennt.“ Nr. 894: „Wenn
zwei Freunde Zusammengehen und ungefähr ein Stein zwischen beide fällt
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit. j 35
oder ein Hund quer über den Weg läuft, so wird die Freundschaft bald
getrennt.“
Das Hindurchgehen zwischen zwei Personen galt auch für unanständig.
§ 13. Was ist ein (vgl. Lernt. XIX, 26)? Einer der spricht:
„Mein Stock ist mir aus der Hand gefallen,“ „Mein Brot ist mir
aus dem Munde gefallen,“ „N. N. hat hinter meinem Rücken ge-
rufen,“ „Ein Rabe hat mir gerufen,“ „Ein Hund hat mich an-
gebellt,“ „Eine Schlange ist mir zur Rechten vorbeigelaufen “ „Ein
Fuchs zur Linken,“ „Ein Hirsch ist vor mir quer über den Weg
gelaufen.“ „Fange bei mir nicht an (die Steuer zu erheben), denn
es ist Morgen, es ist Monatsanfang, es ist Sabbathausgang (d. h.
Wochenanfang).“
Im babylonischen Talmud Sandedrin 65b heisst es statt X. N.: Sein
Sohn hat ihm von hinten gerufen.
Es handelt sich offenbar um ungünstige Vorzeichen. Rabe und Hund
sind schon früher behandelt worden. Ich füge noch hinzu, dass ein ins
Haus gelaufener fremder schwarzer Hund Unheil bedeutete nach Terenz
Phormio IV, 4, 30, und ebenso der Angang eines Hundes nach Plaut. Cas.
V, 4, 4; August, doctr. Christ. H, 20, 31 (Migne). — Im Talmud Pesahim
lila heisst es: „Drei sind es, die man nicht in der Mitte gehen lassen
und in deren Mitte man nicht gehen soll: ein Hund, ein Baum, ein Weib;
nach manchen auch ein Schwein, nach anderen auch eine Schlange.“
Wegen des Baumes s. ob. zu Kap. VII § 13 a. E. Über den Angang des
Schweines als unheilvoll vgl. Wuttke, Der deutsche Volksabergl. 2 S. 187. —
Des Fuchses Angang wird bei anderen Völkern verschieden ausgelegt
(Grimm, Deutsche Myth. 3 II, 1081). Dem römischen Wanderer wurde
sehr bange, wenn ihm eine Füchsin, die noch nicht lange geworfen hatte,
die Strasse kreuzte. Horat. Carm. III, 27 Anf.:
Inpios parrae recinentis omen
Ducat et praegnans canis aut ab agro
Rava decurrens lupa Lanuvino
Fetaque volpes;
Rumpit et serpens iter institutum,
Si per obliquum similis sagittae
Terruit mannos:
Begegnung des Hirsches gilt auf germanischem Boden als günstig:
vgl. Grimm, Abergl. Nr. 128. Im babylonischen Talmud Sänhedrln 66a
werden diejenigen erwähnt, welche die Bewegungen des Wiesels, der
Vögel und der Fische als Vorzeichen deuten. Über das Wiesel als ovp-
ßoXov ¿vodiov vgl. Aristoph. Ekkl. 787; Theophr. Char. 16; Plaut. Stich.
HI, 2, 7; Artemidor. III, 28. Auch Suidas unter ovjußoXw — — ■— d
10*
136
Lewy;
yEvoixo xl ovgßolov, ovx Inexelovv та dolgavxa, „oeiogög et yhoixo i) луд алб-
хдолоу, fj didigeiev yakrj“, i) xi xoiovxov. Über die Fische vgl. Plinius, N. H.
XXXII, 8 und H. Stephanus, Thes. s. v. lydvofxavxig. Über Menschen-
angänge spricht Lucian, Pseudologista 17.
§ 14. Was ist ein R. Ismael meint: wenn sich jemand
mit etwas über das Auge fährt. R.'Aqiba meint: es sind diejenig en,
welche Zeiten angeben, z. B. Heute ist es gut auszugehen, Morgen
ist es schön zu erwerben, Heute wird die Sonne bedeckt sein, Morgen
wird Regen fallen {oder') z. B. diejenigen, welche sagen: Gewöhnlich
ist in den Vorjahren der Sabbatjahre der Weizen gut, in den
Schaltjahren die Hülsenfrüchte schlecht. Die Weisen meinen: es
sind diejenigen, welche die Augen (durch Taschenspielerkünste)
täuschen.
In der Talmudstelle sagt II. Simon: wenn sich jemand mit siebenerlei
олео/ли über die Augen fährt.
Nach der Überlieferung unserer Stelle wäre es verpönt, an eine hervor-
ragende Ertragsfähigkeit der sechsten Jahre im allgemeinen zu glauben:
indessen wird doch Levit. XXY, 20 f. eine solche, mit Rücksicht auf das
folgende Brachjahr, ausdrücklich verheissen. Die Talmudstelle bietet das
Richtige, wenn sie von besonderem Gedeihen des Weizens spricht. Und
danach ergiebt sich statt der unverständlichen oder sinnlosen Überlieferung
л mp rwrpv oder тгл лтгб лгзйр лтрг in der Tosefta sowie statt
ЛТ’Пй ЛТОЙр ,'Л1рТ, der im Talmud leicht das paläographisch sehr nahe
liegende wie sinngemäss genau passende Л11И ЛТПЬ ЛТЗЙр tj'H'D4!?, wo-
nach ich übersetzt habe.
Über Tagwählerei vgl. Sueton. Octav. 2, Plinius, N. H. XXX, 2.
§ 15. Man darf einen Baum mit roter Farbe färben und ihn
mit Steinen beladen, und es waltet dabei kein Bedenken ob hin-
sichtlich des Sabbathjahres (in welchem Feldarbeit verboten ist) oder hin-
sichtlich emoritischer Gebräuche.
Im Talmud Sabbat 67a deutlicher: „Einen Baum, der seine Früchte
abwirft, darf man u. s. w.“ Und zwar wird dort das Beladen mit Steinen
als Heilmittel bezeichnet, da es den bisher zu üppigen Baum schwäche,
während die Färbung dazu dienen soll, die Aufmerksamkeit und die Für-
bitte der Vorübergehenden zu erwecken. Ich vermute, dass ursprünglich
die rote Farbe ein Schlitzzauber sein sollte. Vgl. Epiphanios Adv. liaeres.
Lib. I tom. I liaeres. 18 (Patrol. Gr. ed. Migne XLI, 260): Ev ydg гф xaigcg,
örs то Hdoya eyevExo exeToe, dgyjj de avxij yivexai xov eagog, ote г/ лдоотх]
lorjfisgia, ex /ilXxEcog Aa/ißdvovoi лагreg Alyvnxioi хата äyvcoolav, xal ygiovoi
per xd ngoßaxa, ygiovoi de xal xd devdga, xdg ovxäg, xal xd dXXa, qnjjui-
C ovx eg xal keyov reg, öxi cpgoi xö луд ev xavxrj xfj fj/uegq xax ecpkelgE лохе xijv
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
137
oixov/uevqv. To de o/rjua rov cuyaxog xd oxvoomöv äle^rjxrjQiov mxi xijg xooavxrjg
nkgyrjg xai xoiavxgg.
Ich möchte die Anwendung der roten Farbe als Abwehrmittel über-
haupt darauf zurückführen, dass Rot als die Farbe der feindlichen dämo-
nischen Macht gedacht wurde. Rot war in Ägypten die Farbe des Set-
Typhon. Rot galt in Ägypten oft geradezu als Synonym von Schlecht und
Böse. Ygl. Wiedemann, Herodots zweites Buch S. 214 „Similia similibus
curantur“. Die jüdischen Gesetzeslehrer glaubten an die Wirkung und
legten sich die Sache in ihrer Weise zurecht.
Die rote Farbe wird XlpD genannt, welches Wort Wiesner, Scholien
zum Talmud II, 146 mit Syricum (Plinius, N. H. XXXIII, 40) gleichsetzt.
Ritter, Erdkunde XI, 533 und 543 erwähnt, dass Stamm und Wurzeln
der Fruchtbäume im Morgenlande zuweilen mit Steinen umhäuft werden,
um sie gegen heftige Winde oder auch gegen die Sonnenhitze zu schützen.
Wiesner a. a. 0. bemerkt, beim Abfallen der unreifen Früchte trage der
Wind doch meist die Schuld. — Allein auf dieses Verfahren passt der
Ausdruck „beladen“ nicht. Auch läge dieser Grund für das Verfahren so
nahe, dass die Rabbinen dann auf den ihrigen nicht hätten verfallen
können.
§ 16. Man darf Wein und Ol vor Braut und Bräutigam in
Rinnen laufen lassen, und das gehört nicht zu den emoritischen
Gebräuchen.
§ 17. Es hat sich zug etragen, dass Jehuda und Hillel, die
Söhne des R. Gamliel, nach Kabul kamen, und da Hessen die Be-
wohner dieser Stadt Wein und Ol vor ihnen in Rinnen laufen.
Eine Stadt Kabul gab es, ausser der indischen, im Stamme Äser (vgl.
Josua XIX, 27). Auch ein Distrikt von zwanzig Städten in Galiläa hiess
Kabul (vgl. 1. Kön. IX, 13).
§ 18. Man darf verbrennen bei (dem Tode von) Königen, und
das gehört nicht zu den emoritischen Gebräuchen; denn es heisst
Jeremia XXXIV, 5: „In Frieden wirst du sterben, und gleich den
Verbrennungen deiner Väter, der Könige, wird man dich ver-
brennen. Wie bei Königen, so darf man auch bei Fürsten ver-
brennen, aber nicht bei Bürgern. Was verbrennt man bei jenemf
Sein Bett und alle seine Gebrauchsgegenstände. Als R. Gamliel,
der Alte, starb, geschah es, dass der Proselyt Aquila bei ihm
Gegenstände im Werte von mehr als 70 Minen verbrannte.
Bei Homer ist mehrfach davon die Rede, wie zu einem vollständigen
Begräbnis das Verbrennen der Habe des Toten gehöre: E. Rohde, Psyche
Seite 23.
138
Lewy:
§ 19. Man darf beim Sterben der Könige den Pferden die
Sehnen der Hinterfüsse zerschneiden, und das gehört nicht zu den
emoritischen Gebräuchen.
Durch dieses vevgoyMneiv bricht das Pferd zusammen und wird völlig
unbrauchbar. Ygl. Josua XI, 6. 9; 2. Samuel VIII, 4; 1. Chron. XYIII, 4.
§ 20 behandelt, mit Bezug auf die jüdischen Speisegesetze, das Yerbot
des Genusses von Tieren bei gewissen Verletzungen dieser Art.
§ 21. Man darf einen erschrecken, der Krämpfe oder Zittern
der Glieder hat, und das gehört nicht zu den emoritischen Ge-
bräuchen. Hat sich ein Knochen in jemandes Kehlv festgesetzt, so
darf man ihm einen Knochen von derselben Art auf den Kopf
legen.
An das erstere Heilmittel glaubt das Volk noch heute. Letzteres
kennt auch Plinius, N. H. XXVIII, 12: „Si quid e pisce haeserit faucibus,
in aquam demissis frigidam pedibus cadere; si vero ex ossibus haeserit
faucibus, impositis capite ex eodern vase ossiculis. Si panis haereat, ex
eodem in utramque aurem addito pane.“ Im Talmud wird dazu noch ein
Heilspruch gelehrt, zugleich ein anderer für den Pall des Verschluckens
einer Fischgräte.
§ 22. Folgendes ist erlaubt. Hat man eine Arbeit begonnen,
so spende man Gott Lob und Preis; bei einem Fasse und bei einem
Teige bete man, dass Segen und nicht Fluch hineinkomme.
Dies steht wohl im Gegensatz zu dem oben Kap. YII § 3 Verpönten.
§ 23. Man darf einen Spruch flüstern wegen des (bösen)
Blickes und wegen der Schlange und wegen des Skorpions, und
man darf (zur Heilung) mit etwas über das Auge fahren am
Sabbat; R. Simon, Sohn des Gamliel, meint, nur mit einem Gegen-
stände, den man am Sabbat nehmen darf. Man darf nicht flüstern
mit einem Worte der Sedim. R. Jose meint, auch an einem Werk-
tage darf man nicht mit einem Worte der Sedim flüstern.
Statt „wegen des (bösen) Blickes“ könnte man auch übersetzen „wegen
des (kranken) Auges“: ich habe ersteres vorgezogen, weil ich auch bei
Schlange und Skorpion nicht an Heilung einer Wunde, sondern an ein
bannendes Fernhalten des Tieres denke, vgl. Jeremia VIII, 17: „denn
siehe, ich lasse gegen euch Schlangen und Ottern los, für die es kein
Flüstern (d. h. keine Beschwörung) giebt, und sie werden euch beissen,
spricht Gott.“ Alle solche Heil- und Zaubersprüche wurden also im
Flüsterton angewendet.
Morgenländischer Aberglaube in (1er römischen Kaiserzeit.
139
Sedim (Sing. Sed) sind Dämonen. Sie haben Hahnenfüsse: babylon.
Berakot 6a, Gittin 68b. Schwartz, Ursprung der Mythol. S. 218, vergleicht
die gansfüssige Berchta1). Mündel, Die Yogesen 6 S. 442 erwähnt Zwerge
mit Gänsefüssen, die sich abdrücken, wenn man über Yacht Asche streut
— ganz wie an der erstgenannten Talmudstelle. Ygl. auch Tylor, Anfänge
der Kultur (deutsch) II, 199.
In der Mischna Sanhedrin XI, 1 wird das Flüstern zu Heilzwecken
allgemein verpönt. Nach der babylonischen G^mara dazu 101a soll dieses
Yerbot nur gelten, wenn man vor dem Flüstern ausspuckt; aus der jerusa-
lemischen Gemara Sanhedrin X aber geht hervor, dass nach dem Sprechen
ausgespuckt wurde: und dies erfahren wir auch anderweitig, z. B. Theokr.
YII, 126:
yoaia re nagelt],
äug enupJvodoioa xä ¡urj Kala voocpiv eovxoi,
wozu der Scholiast bemerkt: eldodaoi de al ygöuai örav enqdmotv enmrvetv.
Tibull. I, 2, 54: ter cane, ter dictis despue carminibus. Plinius, X. H.
XXYIII, 4, 7: terna despuere praedicatione in omni medicina mos est
atque ita effectus adiuvare. Ygl. Jahn a. a. 0. 84 ff. — Nach Sebuot 15b
wäre das Ausspucken beim Flüstern (von Bibelversen) verboten, weil es
eine Verletzung der Ehrerbietung gegen den (in den Versen vorkommenden)
Gottesnamen darstelle.
Der Schluss von § 23 und § 24 handelt von dem Charakter der
Sodomiten und der Emoriten.
§ 25. Rabbi Simon, Sohn des Gamliel (im II. Jahrhundert) sagte:
man findet unter allen Völkern kein nachgiebigeres als die Emo-
riten; denn wir finden, dass sie an Gott glaubten und nach Afrika
auswänderten und Gott ihnen ein Land gab, so schön wie das
ihrige, und das Land Israels nach ihnen benannt wird.
Im jerusalemischen Talmud Sebi'it YI, 1 heisst es: „R. Samuel Sohn
des NaLman (im 3. Jahrhundert) sagte: —------------Der Stamm Girgaschi
verliess das Land und wandte sich nach Afrika.“ Hier erscheint also eine
andere der sieben kanaanitischen Völkerschaften, und zwar diejenige, deren
Nichterwähnung Josua IX, 1 und XII, 8 auffällt. Ygl. Prokopios, Vandalen-
krieg II, 10: Eneidg EßoaToi, eg Alyvnrov äveycbggoav xal äyyi rcbv Ilalaiorivgg
öglcov eyevovro, Mcoorjg gev oocpog avr/o, dg am dg rijg ödov {¡yijOa.ro, {fogoxei,
diadeyerai de rgv gyegoviav Lgoovg 6 rov Navrj naig, og eg re rijv Ilalaiorlrrjv
rov leidv rovrov elogyaye xal äoerrjv ev reg nole/ucg xoeiooo) r) xard ävdoomov
cpvoiv emdei^djuevog rgv y/Ioav eoye. xal rä eßvg änavra xaraoroeipdiievog rag
1) Nach 0. Keller, Tiere d. klass. Altert. S. 459 A. 94 ist der grosse Fuss der
Berchta-Freyja Attribut der Spinnerei, weil der Fuss vom fleissigen Treten des Spinnrades
gross wird.
140
Lewy:
nóXeig evnercòg 3iaoaoTrjorj.ro, àvixrjróg re navrànaoiv edoigev elvai. tote dk fj
enißaXaooia ycòga èx Xidcòvog juéygi rcòv Alyvnrov ogiaov hoivixr/ £vjlmaoa
rbvojuaCero. ßaoiXevg dk elg rò naXaiòv ècpeiotfjxei, cooneg cinaoiv còjuoXóyrjrai,
oT &oivixcov rà àgyaiórara àveygàxpavro. evravßa cgxrjvro eßvrj noXvavßgco-
nórara, Eegyeoaìoi re xaì 3’Ießovoaloi xal alla arra òvó/uara èyovra, ólg òr/ avrà
fj rcòv eEßgaicov iorogia xaXel. ovrog ó Xaòg ènei àiiayóv ri ygfjfra tòv ènrjXvrrjv
OTQOXìjyòv eìdov, è£ fjdxòv rcòv nargioov èfavaoravreg èn Alyvnrov ójuógov ovoijg
èyajor/oav. evi) a ycògov ovdéva orpioiv ìxavòv èvoixfjoao&ai evgóvreg, ènei èv
Alyvnrcp noXvavdgconia èx naXaiov fjv, èg Aißvrjv èoràXrjoav. nóXeig re olx.ioa.vreg
noXXàg |vjunaoav Aißvrjv juéygi orrjXcòv rcòv AlgaxXéovg èoyov, èvraviìa re xaì
èg èjue rfj 'Poivixrov rpcovfj ygcòfxevoi coxr/vrcu. èòeijuavxo dk xaì cpgovgiov èv
Novpuòiq nóXei, ov vvv nóXig Tiyioig èori re xal òvoiicjQe.rca. èvda orfjXai dvo
èx Xißojv Xevxcòv nenoir) ¡nevai èxyyi xgfjvrjg ehi rfjg pieydXrjg, ygdpi/xara <Poivrxixà
èyxexoXauuava èyovoai rfj fpoivixcov yXcòoorj Xéyovta còde' ilpeìg èojuev oi
cpevyovreg ànò ngoocònov 'hjoov rov Xtjorov vlov Navfj. Dieser Wort-
laut der Inschrift, welchem man deutlich die Übersetzung aus einer
semitischen Sprache anmerkt (hebräisch: ìtSìl |Ì3“]5 ^tPiÌT ’’jjSJÖ
ist offenbar genauer als derjenige in der Überlieferung des Sui das, Xavaav
övojua xvgiov. xal è!~ avrov Xavavaioi.
"Ori Moovofjg reooagäxovra erg ovjurpiXooorpijoag rep Xacp reXevrä, diàdoyov
xaraXinrov 3hjoovv ròv rov Navfj ‘ öong xarcóxioe ròv AogafjX èv rfj yfj, fj
ènrjyyeiXaro Kvgiog rrß Aßgaa/r eon de ano rov norapiov Alyvnrov xvxXovpievrj
òià ßaXdoorjg xaì tgrjgäg' exßaXcJw ndvrag rovg ßaoiXeig xaì Övvdorag rcòv è&vcòv
oinveg vn avrov Òiarxópevoi dia rfjg nagaXiov Alyvnrov re xaì Aißvrjg xarérpvyov
elg rfjv rcòv Arpgrov ycògav, rcòv Alyvnrioov ¡xfj ngoode^ajuévcov avrovg òià rijv
tjvfj/jjjv rijv ngoregav, fjv enaßov di avrovg èv rfj Egvßgä xaranovnoßevreg
ßaXdootj ‘ xaì ngoocpvyóvreg rolg Acpgoig rijv egrjjuov avrcòv mxrjoav ycògav,
avadeiàjuevoi rò oyfjjua xaì rà fjihj, xaì èv nXaìqì Xidivaig àvaygaipàiravoi rìjv
alriav, di ijv ànò rfjg Xavavaicov yfjg cpxrjoav rfjv Arpgixfjv. xaì ehi juéygi vvv
ai roiavrai nXàxeg èv rfj Novjuidh, negiéyovoai ovrorg’ "H/neig èo/usv Xava-
vaioi, ovg èdico^ev Arjoovg ó Xjjorfjg. Kai ßrjXvxov Xavavaia. Kaì
XavavTrig yfj.
W. Bacher, The supposed inscription upon „Joshua thè robber“
(Jevish Quarterly Review III, 354 ff.) führt, auf Talmudstellen gestützt,
aus, wie nach der Zeit des Josephus — der selbst noch sagen konnte
(c. Apion. I, 12, 4): Ov ¡nfjv ovdk ngòg Xijoreiag óroneg äXXoi riveg, fj rò nXéov
eyeiv àlgiovv noXe/novvreg èrganpoav fj/ucòv oi narégeg, xairoi noXXàg rfjg ycògag
èyovorjg yivgiàdag àvdgcòv ovx àroX/ucov — die Juden von ihren Feinden
Xrjorai, ein Räubervolk, genannt worden sein müssen mit Bezug auf ihre
Eroberung von Palästina, und wie die Kunde von jener angeblichen In-
schrift bei Prokop erklärlich sei, dessen Vaterstadt Cäsarea im Talmud
als besonders judenfeindlich erscheine.
Morgeuländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
141
Allein ich kann in der Inschrift, von welcher Prokop berichtet, nichts
Judenfeindliches finden: das Zeitwort T]3, dessen Participum Tf3 auch nach
Bacher griechischem Xgoxrjg entspricht, wird selbst in der Erzählung des
Mose Deuteron. II, 35 und III, 7 mit Bezug auf das Plündern der Israeliten
in ihren Kriegen gebraucht. Ich sehe weiterhin keinen Grund zu be-
zweifeln, dass die Inschrift vorhanden war: selbstverständlich würde ihr
Vorhandensein noch lange nicht beweisen, dass die Ansiedelungen der
Phönikier in Kordafrika wirklich mit der Eroberung Palästinas durch Josua
Zusammenhängen, wie Prokop und schon viel früher jüdische Gesetzes-
lehrer glaubten.
Ich verweise auch auf Eusebios Chronic. Graec. p. 11: ovxoi scpvyov
emo JiQoodojiov xcbv viöjv 3IoQarjX xal xaxcoxrjoav Tomo/uv xrjg ’Aepgcxfjg. —
Chron. Pasch, t. II ed. Bonn. p. 102 (die griechische Urschrift dazu ist
234 v. Chr. verfasst): „harum (sc. insularum Balearium) inhabitatores fuerunt
Cananaei fugientes a facie Jesu filii Nave“. Nach Movers, Die Phönikier
II, 2 S. 427 fgg. unterliegt es keinem Zweifel, dass die jüdische Apokryphik
die anderweitige Kunde von der Auswanderung der Kanaaniter nach Afrika
zur Unterlage ihrer Dichtungen genommen hat. Die Inschrift hält er für
unecht, meint aber, es müsse zwischen der Eroberung Kanaans und der
Vertreibung der alten Kanaaniter einerseits und der Übersiedelung phöni-
kischer Landbauer, der sogenannten Libyphöniker, andererseits notwendig-
em Zusammenhang stattfinden. — Vgl. auch Schröder, Die phön. Spr.
Seite 3.
Zum Schlüsse füge ich noch einige andere Sätze über „emoritische
Gebräuche“ an. In der (etwa 200 n. Chr. niedergeschriebenen) Misna
heisst es Sabbat VI, 10:
Man darf (am Sabbat) ausgehen mit einem Heuschreckenei und mit einem
Fuchszahn und mit einem Kreuzesnagel: so lehrt Rabbi Mehr. Die {meisten)
Weisen aber verbieten dies auch an Werktagen als emoritische Gebräuche.
Nach der Gemara dazu 67 a wurde das Heuschreckenei bei Ohren-
schmerzen ins Ohr gehängt. Der Zahn eines lebenden Fuchses galt als
Mittel gegen Schlafsucht, der eines toten Fuchses gegen Schlaflosigkeit.
Der Kreuzesnagel sollte gegen KSTT (Entzündung? Geschwulst?) helfen1).
1) Ähnlicher Aberglaube auch sonst, z. B. Plinius, Nat. Hist. XXVIII, 11: „Beim
viertägigen Fieber binden sie ein Stück eines Nagels von einem Kreuze, in Wolle ge-
wickelt, oder auch ein Seil davon um den Hals, und ist der Kranke geheilt, so verstecken
sie das angehängte in einer Höhle, wohin die Sonnenstrahlen nie dringen“. — Vgl. Otto
Jahn a. a. 0. 107. — Palladius de re rustica 24: um die Tauben an den Schlag zu fesseln
und zu verhindern, dass sie nach einer anderen Wohnung übersiedeln, soll man an allen
Zugängen zum Taubenhause ein Stück vom Stricke eines erdrosselten Menschen auf-
hängen.
142
Lewy:
Abbajji und Raba lehrten: Wo es sich um Heilung handelt, giebt es
kein Verbot wegen emoritischer Gebräuche.
Im Folgenden finden sich die oben an verschiedenen Stellen bei-
gebrachten Parallelen aus der Tosefta. In dieser fehlt der Satz (Sabbat
67b):
Wenn sich der Mann mit dem Namen der Frau und die Frau mit dem
Namen des Mannes nennt, so gehört das zu den emoritischen Gebräuchen.
Nach dem Erklärer Selomo Jisljaqi (RaschiJ geschah dies in der Nacht
aus Aberglauben.
In der Misna Hullin IY, 7 heisst es: Wenn ein erstgebärendes Tier zu
früh gebiert, so darf man die Frucht den Hunden vorwerfen; ist aber das
Tier geweiht, so muss sie vergraben werden. Indessen darf man sie nicht an
einem Kreuzwege vergraben, ebensowenig wie man sie an einem Baume auf-
hängen darf, weil dies emoritische Gebräuche sind.
Nach dem Erklärer Raschi hätten die Zauberer eine Frühgeburt an
einem Kreuzwege vergraben, um der Wiederholung eines solchen Vor-
kommnisses vorzubeugen.
Allerlei Aberglauben, der unter Juden in Babylonien zu Anfang des
4. Jahrhunderts n. Chr. herrschte, lernen wir kennen durch eine Äusserung
des 338 gestorbenen Abbajji im babylonischen Talmud Hullin 105b.
(I.) Abbajji sagte: Früher glaubte ich, man vermeide es nur aus Sauber-
keit, bei der Händewaschung nach der Mahlzeit das Wasser unmittelbar auf
die Erde zu giessen; später wurde ich belehrt, dass es geschieht, weil sonst ein
böser Geist dort seine Ruhestätte finde.
(II) Früher glaubte ich, man vermeide es deshalb, etwas vom Tische zu
nehmen, während jemand den Becher zum Trinken hält, weil dadurch möglicher-
weise ein Unfall während der Mahlzeit geschehen könnte; später wurde ich be-
lehrt, dass es gefährlich ist, weil man von dem betäubenden Geiste befallen
werden könnte. Dies gilt jedoch nur, wenn man einen Gegenstand nimmt und
dann nicht wieder zurücklegt; wenn man ihn selber nimmt und dann wieder
zurücklegt, so ist es unbedenklich. Das Bedenken besteht auch nur, wenn man
ihn weiter als vier Ellen vom Tische entfernt; ferner nur, wenn der Gegenstand
bei der Mahlzeit gebraucht wird. Mar bar Rab Ase Hess sogar den Gewürz-
mörser und - Stössel, als bei Tische benutzbar, nicht wegnehmen.
(III.) Früher glaubte ich den Grund dafür, dass man die (zu Boden
gefallenen) Speisebrocken zusammenfegt, in Reinlichkeitsrücksichten zu erkennen;
später aber wurde ich belehrt, dass sie sonst schädlich würden, indem sie Armut
herbeiführten. Der Engel der Armut stellte jemandem nach, konnte seiner aber
nicht habhaft werden, da der Mann sorgsam auf die Speisebrocken achtete.
Eines Tages hielt er sein Mahl auf dem Rasen; da dachte jener: „Jetzt kommt
er gewiss in meine Gewalt1,1. Aber nach beendeter Mahlzeit nahm der Mann
Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit.
143
eine Schaufel, entwurzelte das Gras und warf es in den Fluss. Da hörte er
sagen: „0 weh, er hat mich aus seinem Hause geworfen !“
(IV.) Früher glaubte ich, man vermeide es, den Schaum zu trinken, weil
es unappetitlich ist; später wurde ich belehrt, dass es schädlich ist, weil man
nämlich den Schnupfen davon bekommt. Trinken des Schaumes erzeugt
Schnupfen, Blasen in den Schaum erzeugt Kopfweh, Wegstossen des Schaumes
erzeugt Armut. Wie schützt man sich davor f Man lässt den Schaum zer-
gehen Stammt der Schnupfen von Wein, so trinke man Bier; wenn von Bier,
dann Wasser; wenn von Wasser, so giebt es kein Heilmittel. Da passt das
Sprichwort: „Dem Armen läuft die Armut nach“.
(V.) Früher glaubte ich, man vermeide es deshalb, ein Stück Grünzeug
aus dem Gebunde, sowie es der Gärtner gebunden hat, heraus zu essen, weil
das nach Gefrässigkeit aussähe; später wurde ich belehrt, der Grund sei, dass
es möglicherweise mit Zauberei gebunden ist. — Rab Tjisda und Rabba bar
Huna fuhren zu Schiffe. Da sprach eine „Matrone“ (d. h. eine griechische
oder römische Frau von Stande) zu ihnen: „Ich will mich zu euch setzen“.
Sie gestatteten es ihr aber nicht. Da sprach sie ein Wort und bannte dadureh
das Schiff. Darauf sprachen sie ebenfalls ein Wort und lösten es dadurch.
Da sagte sie zu ihnen: „ Was will ich mit euch machen, die ihr euch nicht
mit einer Scherbe (im Abtritt) reinigt und auf euern Kleidern kein Ungeziefer
tötet und nicht aus einem Gebund, wie es vom Gärtner gebunden ist, Grün-
zeug esst!“
(VI.) Früher glaubte ich, man vermeide es nur aus Sauberkeitsrücksichten,
auf den Tisch gefallenes Kraut zu essen; später wurde ich belehrt, dass man
es vermeide, um nicht üblen Geruch aus dem Munde zu bekommen.
(VII.) Früher glaubte ich, man vermeide es, sich unter eine Dachrinne
zu setzen, wegen des Abflusswassers ; später wurde ich belehrt, dass Dämonen
sich dort auf halten. — Lastträger, die ein Fass Wein trugen, wollten sich aus-
ruhen und stellten das Fass unter eine Rinne — da barst es. Sie kamen zu
Mar bar Rab Ah, der einen Kasten nahm und den Dämon bannte. Dieser
antwortete auf die Frage, weshalb er so gethan hätte: „Was sollte ich machen,
wenn sie mir das Fass auf mein Ohr setzten f“ — — — — —
(VIII.) Früher glaubte ich, man giesse deshalb aus dem Kruge, aus dem
man trinken will, zuerst ein wenig Wasser oben ab, weil oft Spänchen obenauf
schwimmen; später wurde ich belehrt, es geschehe wegen des bösen Wassers. —
D. Joël, Der Aberglaube und d. Stellung d. Judentums zu demselben
S. 70 hebt die Geneigtheit des Abbajji hervor, „mysteriöse Gründe selbst
da zu acceptieren, wo ihm die natürlichen nicht entgangen waren“.
Mülhausen im Eisass.
144
Baumgart:
Aus dem mittelschlesischen Dorfleben.
Von August Baumgart.
[Im Jahre 1860 gab mir mein Schul- und Universitätsfreund der Pastor
A. Baumgart zn Fürstenau, Kr. Neumarkt in Schlesien, Aufzeichnungen,
die er auf meinen Wunsch über das bäuerliche Leben in seiner Gegend
gemacht hatte. Er war ein geborner Fürstenauer, Sohn des dortigen
evangelischen Pfarrers, und war seinem Vater in dem Pfarramt nachgefolgt,
das er über ein Vierteljahrhundert bis zu seinem Tode (den 21. Mai 1882)
verwaltet hat. Er kannte daher die Leute an der mittleren Weistritz
und im Zobtener Halt sehr genau. Ich teile hier den Abschnitt aus seiner
Handschrift mit, der sich auf festliche Zeiten des Bauernlebens bezieht.
Jeder Leser wird erkennen, wie mit einer gewissen Wohlhabenheit und
durch die allgemeinen Veränderungen in den öffentlichen Zuständen die
Auflösung alter dörflicher Zustände entstanden ist. Städtisches hat sich in
das Bäuerliche gemischt. Mit Breslau haben die Dörfer jener Gegend, die
durch die Breslau-Freiburger Eisenbahn durchschnitten wird, täglich fünf-
mal Verbindung; und ihre wohlhabenderen Insassen bringen gar vieles aus
der grossen Stadt auf ihr Dorf. Das Jahr 1848 hat in Schlesien, wie in
andern Ländern, einen grossen Einschnitt in Sitten, Gebräuchen und Tracht
gemacht; von da ab ist die Kleidung des schlesischen Landvolkes, wie sie
aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert herübergekommen war,
modern städtisch geworden. Baumgart schrieb 1860 darüber: „Der Bauern-
stand ist durch seine Kleidung etwa nur noch während der Feldarbeit und
unter den Schulkindern kenntlich. Im übrigen hat man das noch vor
10—15 Jahren übliche Kostüm fast ganz ausgezogen: Die langen dunkel-
blauen Tuchröcke, die hohen Stiefeln und die Lederhosen der Männer;
die roten griinbesetzten Friesröcke und schwarzmanchesternen Mieder und
die Strohhauben der jüngeren Frauen und der Mädchen. Die grossen
weissen ausgenähten Schürzen und die entsprechenden weissen Brusttücher
der Bauerfrauen sind höchstens noch ein bespöttelter Schmuck armer Tage-
löhnerinnen. Die schönen Goldkappen von gediegenem Brokat, welche die
Frauen an den wichtigsten Festen der Kirche schmückten, sind längst zu
den Trödlern gewandert und die einst allgemeinen Schnurrgucken (runde
Hauben von buntem Kattun mit breiten Spitzen) kennt die Jugend nur
noch als ein Spottwort. Bei dem öffentlichen Gottesdienst wie bei Familien-
festen und grösseren Versammlungen glaubt man sich unter ein klein-
städtisches Publikum versetzt. — Der verheiratete, ältere Bauer geht in
seinem Hause des Sonntags in weissen steifgestärkten Hemdärmeln oder
Aus dem mittelschlesischen Dorfleben.
145
trägt eine Art Unterjäckchen, entweder aus Wolle gewirkt oder aus buntem
Flanell. So bleibt er auch, wenn Gäste kommen. Im Winter legt er bei
Ausgängen einen schwarzen, dunkel überzogenen Pelz an, worin er auch
seine Besuche selbst beim Geistlichen macht, ohne ihn abzulegen. Der
früher gewöhnliche weisse Klatschpelz wird nur von Müllern und armen
Knechten noch getragen. Wenn die Weiber, nach städtischer Mode auf-
geputzt, zu Besuch oder in Gesellschaft kommen, sitzen sie eine Zeitlang
nach ihrem Eintritt in feierlichem Schweigen, ein steifgestärktes grosses
gesticktes Taschentuch in der Hand so haltend, dass es den ganzen Unter-
leib fächerartig bedeckt. Der Spinnrocken ist verbannt: nur alte Gross-
mütter, Tagelöhnerfrauen, Mägde und ärmere Kinder spinnen noch.“
Was bei allen Wandelungen geblieben, ist der Aberglaube, über den
wir A. Baumgarts Aufzeichnungen ein andermal mitteilen werden.
K. Weinhold.]
Die Konfirmation der Kinder.
Knaben und Mädchen versammeln sich an dem bestimmten Sonntag-
morgen in der Kirchschule, erstere in Oberröcken, im Knopfloch einen
langen Bosmarinzweig nebst einigen Orangeblättern und einer Pomeranze,
die mit rot- oder grünseidenen Bändern kreuzweis übersteckt ist. Die
Mädchen tragen ganze Kleider, nicht mehr wie früher Rock, Jacke und
weisse Schürze und alle einen Kranz von gemachten Blumen, nicht mehr
künstliche Myrtenkränze, die lediglich Brautschmuck geworden sind. Sämt-
liche Mädchen haben Handschuhe, die ärmeren gestrickte, und Sträusse
aus den schönsten Treibhausblumen, entweder an der Brust oder in der
Hand. Im langen paarweisen Zuge, voran die Knaben, dann die Mädchen,
wird der Geistliche in seiner Wohnung abgeholt und von allen Kindern
nach einander oder von dem ersten Knaben und dem ersten Mädchen mit
den stehenden Worten angeredet: „Herr Pastor, ich habe mir vor-
genommen heute zum ersten Male zum Tisch des Herrn zu gehen, wenn
ich Sie mit etwas beleidiget habe, so seien Sie so gut und verzeihen Sie
mir!“ Ebenso geordnet erscheinen die Kinder auch nach beendeter Feier
nochmals im Hause des Geistlichen, um von ihm Abschied zu nehmen,
und mit folgenden, gleichfalls seit uralter Zeit feststehenden Worten zu
danken:
„Herr Pastor, ich bedanke mich für Ihre Müh’ und Fleiss,
„Dass Sie mich haben gelehret zu Gottes Ehr’ und Preis;
„Dafür will ich Ihnen wünschen die ewige Freud’ und Wonne,
„Dass Sie mögen glänzen wie die liebe Sonne!“
(Der seltsame Schluss bezieht sich ohne Zweifel auf Daniel 12, 3.)
Yor und nach den Kindern erscheinen auch sämtliche Eltern um ihren
Dank abzustatten.
146
Baumgart:
Die Hochzeit.
Die Ehen werden hier in der weitesten Umgegend leider nur in den
seltensten Fällen aus Liebe und gegenseitiger Zuneigung geschlossen.
Entweder werden sie aus einem gewissen moralischen Zwange eingegangen,
als nachträgliche Ehrenrettung der Braut, oder sie werden als ein blosses
Geschäft behandelt, das in folgender Art abgeschlossen wird: Der heirats-
fähige und heiratslustige Mann wird in der Regel von den hausierenden
Rockleuten (d. h. Schnittwarenhändlern), böhmischen Spillenleuten (Holz-
warenhändlern) und anderen Leuten, die viel herumkommen, auf dieses
oder jenes Mädchen oder eine Witwe in näherer oder weiterer Ferne,
gleichzeitig aber auch mit vollständiger, genauer Angabe ihres Besitzes
und der Yermögensverhältnisse der Eltern, aufmerksam gemacht. Sagt
nun ein solcher Antrag dem betreffenden Heiratskandidaten zu, so macht
er sich ungesäumt auf den Weg, doch niemals allein, sondern stets in
Begleitung eines in allen Ränken erfahrenen Allerweltsfreundes, der nun
den Titel eines Freiwerbers führt. Dieser, wie sein Gefährte in halbem
Sonntagsanzuge, hängt gewöhnlich einen Sack um und hat das Recht,
ausser seinem Honorar in jedem am Wege liegenden Wirtshause freie
Zeche zu fordern, wovon, indem noch besondere Umwege deshalb ein-
geschlagen werden, der unverschämteste Gebrauch gemacht wird. In dem
das Ziel bildenden Hause angelangt, führt der Freiwerber das Wort, indem
er sich des gewöhnlichen Yorwandes bedient, eine Kuh kaufen zu wollen.
Natürlich zeigt man sich darüber verwundert und mit einer plumpen, oft
recht unzarten Wendung wird dann die wahre Absicht des Heiratsantrages
alsbald eröffnet. Weit entfernt über ein solches Verfahren entrüstet zu
sein, erfolgt in der Regel bald ein Bescheid; entweder wird der stumme
Heiratskandidat abgewiesen oder er wird aufgefordert wieder zu kommen,
welcher Aufforderung er auch baldigst Folge leistet, wenn ihm anders die
Verhältnisse der zukünftigen Schwiegereltern eine angemessene Mitgift zu
versprechen scheinen. Jetzt erhält er das Jawort von den Eltern; er hat
aber die künftige Braut in vielen Fällen kaum mit einem flüchtigen Blicke
gesehen. Nach einigen wenigen Besuchen innerhalb 4, 6, 8 Wochen ist
die ganze Angelegenheit in Richtigkeit und das Aufgebot wird bestellt,
wobei der Herr Bräutigam auch gegen den Geistlichen gar kein Hehl
daraus macht, dass ihm die Braut angetragen worden sei. Nur selten ist
er im stände, die zu einem Aufgebot nötigen Personalien genau anzugeben,
(wusste doch unter gleichen Verhältnissen, vor etwa zwei Jahren, ein
Bräutigam nicht den Familiennamen seiner Schwiegereltern). Bei den
Trauungen wird in der Kirche das seit Alters ortsübliche Brautlied aus
dem Gesangbuche gesungen. Nur wirklich jungfräuliche Bräute, deren
Zahl aber von Jahr zu Jahr geringer wird und jetzt, laut amtlichen
Aus dem mittelschlesischen Dorf leben.
147
Registern, kaum noch 1/3 der jährlichen Gesamtzahl beträgt, dürfen im
Brautkranz vor den Altar treten und werden hei brennenden Kerzen
getraut. Yon dieser durch das Volk selbst aufrecht erhaltenen Kirchen-
zucht werden aber in Breslau und den Provinzialstädten, für und ohne
Geld, Ausnahmen bewilligt; d. h. für gefallene Bräute ist der Brautkranz
dann nicht ein Myrtenkranz, sondern ein Epheukranz, oder er darf nicht
den ganzen Kopf umschlingen, sondern muss hinten eine verborgene Lücke
haben oder auch seine Farbe muss hellei sein als die gewöhnliche Myrten-
farbe, zeisiggrün, grasgrün u. s. w. — Dies alles je nachdem! — Die
Bräutigame tragen noch häufig einen Rosmarin- oder Orangenzweig oder
beides im Knopfloch; ebenso werden auch nicht selten die Pferde des
Brautwagens mit Buchsbauin und rotseidenen Bändern an den Mähnen und
am Schwänze geputzt. Yollständig erloschen ist aber die einst allgemein
verbreitete Sitte, dem Brautpaar kleine Kränzchen von Rosmarin in der
Grösse von Zweithalerstücken auf den Scheitel zu legen. Die einst all-
gemein beliebten, lustigen Hochzeitbitter sind jetzt allgemein verpönt, man
schämt sich ihrer als bajazzoartiger Erscheinungen. Bei grossen Bauern-
hochzeiten hält man sich daher Breslauer Lohndiener, und nur die Kräuter-
dörfer, von Gemüsegärtnern (Kräuterern) bewohnte Dörfer in unmittelbarer
südlicher Lage bei Breslau, haben noch zuweilen den alten Hochzeitbitter,
der auch noch wie früher mit buntseidenen, flatternden Bändern aus-
staffiert ist und den Hochzeitszug in die Kirche führt. Der Bräutigam oder
ein Kirchendiener (hier Kirchvater genannt) holt die Braut, wenn nicht
das Brautpaar, wie sehr häufig, auf Stühlen vor dem Altar sitzt, von ihrem
Platze zum Trauakt vor den Geistlichen, der während desselben nicht
selten Gelegenheit hat zu bemerken, wie angelegen es sich der Bräutigam
sein lässt, seine Hand in die ihm zuvor von der Braut dargereichte zu
legen, denn es gilt noch immer der Glaube: Wer seine Hand bei der
Kopulation oben liegen hat, wird dereinst in der Ehe die Herrschaft im
Hause behalten. — Sobald aber die Braut von ihrem Sitze sich erhebt,
muss auch sogleich die neben ihr sitzende Brautfrau oder Brautjungfer
auf die eben verlassene Stelle rücken, damit diese nicht auskühle, was
sonst Unglück für die zukünftige Hausfrau brächte. Für Schicksals-
propheten gelten auch die Altarkerzen während der Hochzeit: wenn näm-
lich die eine derselben trübe brennt oder gar erlischt, so bedeutet dies,
auf wessen Seite es geschieht, Unglück, Krankheit oder gar den Tod für
den Bräutigam oder die Braut. Für Unheil verkündend wird es gleichfalls
angesehen, wenn es in den Brautkranz regnet. —
Aus der Kirche zurückgekehrt kleiden sich zunächst die weiblichen
Glieder des Trauungszuges um, denn es würde gewaltiges Aufsehen er-
regen, wenn auch nur die Braut im Brautkleide sich zur Mahlzeit setzen
wollte. Es sammeln sich nun auch die zum Essen geladenen Gäste, die
148
Baumgart:
wohl von denen zu unterscheiden sind, die vor der Trauung, in geringerer
Anzahl zum Züchten geladen werden. Das Züchten war früher ein letztes
feierliches, formelles Werben und Anhalten des Bräutigams um die Braut,
und geschah sonst wohl durch den Ceremonienmeister, den Hochzeit-
bitter. Jetzt versteht man darunter nur noch die nach dem feierlichen
und meist schweigenden Genuss von Kaffee und Kuchen folgende Abschieds-
scene des Brautpaares von den Eltern. Zum Züchten geladen zu werden,
gilt für eine besondere Ehre und schliesst zugleich das Ehrenamt des
kirchlichen Beistandes ein, sowie die Verpflichtung zu den üblichen Hochzeits-
geschenken, die jedoch denen erlassen sind, die nur zum Schmause geladen
werden. Die Hochzeitsgeschenke selbst werden aber nicht mehr wie früher
während der Mahlzeit iiberbracht, sondern schon vor der Hochzeit in das
Brauthaus geschickt, wo sie, nebst den Ausstattungs-Möbeln in einem
besonderen Zimmer zur Ansicht der Hochzeitsgäste ausgestellt sind. Über
der Mahlzeit oder vielmehr nach derselben (zum Dessert) wird, obgleich
auch diese Sitte schon an verschiedenen Orten einzuschlafen scheint, dem
Bräutigam mit vielem Lärm eine grosse, versiegelte Schachtel als von der
Post angelangt), die herkömmliche Gabe der Brautfrau, zur Eröffnung
übergeben. Dieser muss sich nun dessen weigern und die Braut dazu auf-
fordern, die ein Gleiches zu thun verpflichtet ist. Die Schachtel wird dann
dem kecksten Junggesellen übergeben oder von irgend einem Hochzeits-
gast eröffnet. Ihr Inhalt, Brauthaube, Kinderkleider und Kinderwäsche,
Spielsachen, Wiegenband (ein langer Papierstreifen, mit oft recht zoten-
haften Yersen beschrieben) und vor allem der so beliebte Storch, Nicke-
mann, Dukatenkacker, Stehauf u. s. w. und Wickelkinder von Holz oder
Wachs, machen nun unter allerhand schlüpfrigen, derb belachten Scherzen
die Wanderung von Hand zu Hand um die ganze Tafel. Während dieser
Beschauung hat die Hochzeitslust den Höhepunkt erreicht; die Hochzeits-
gäste werfen sich häufig mit Bonbons, Zuckernüssen, Rosinen, Mandeln u.s.w.,
bei ärmeren mit Erbsen und schliesslich wird der von ihren Jungfern
wacker verteidigten, sich sträubenden Braut der Kranz genommen, gleich-
falls unter allerlei Anspielungen, und von den Brautfrauen die Haube auf-
gesetzt.
Nach aufgehobener Tafel, zu welcher gewöhnlich der Bräutigam das
Rindfleisch und Getränk zu liefern verpflichtet ist, begiebt sich in den
meisten Fällen die ganze Gesellschaft in den Kretscham zum Tanz. Die
Brautbetten müssen von einer Frau zurechtgemacht werden, die dieses
Geschäft ohne alle Zeugen verrichtet, weil sie nach dem Volksglauben
dabei streng geheim gehaltenen Hokuspokus machen muss, damit die Ehe
auch fruchtbar werde. Ledige Personen müssen fern gehalten werden.
Diese Frau heisst denn auch die Bettfrau und wird besonders geehrt;
dazu ausersehen zu werden, gilt für einen grossen Vorzug. — Beim Eintritt
Aus dem mittelscblesischen Dorfleben.
149
in die neue Heimat muss das junge Ehepaar ein Stück Brot, einen Löffel
Salz und ein Stück Kupfergeld (meist einen Dreier) erhalten oder vor-
finden.
Gehurt und Taufe.
Sobald ein Kind geboren ist, wird ihm, vorzüglich in der ersten Nacht
seines Lebens, ein Gesang- oder Gebetbuch, oder sonst ein Buch geist-
lichen und religiösen Inhalts, bei Katholiken wohl auch der Rosenkranz,
in die Wiege zu Häupten unter das Bettchen gelegt. — Ist ein Kind un-
ruhig, so muss ihm die Ruhe gesucht werden, d. h. es wird Staub aus
allen vier Ecken der Stube zusammengekehrt, eingewickelt und alsdann,
täglich an einer anderen Stelle, unter das Bettchen gesteckt, dies kann
bis zu einem Jahre fortgesetzt werden; probatum est! — Ein Kind darf
unter einem Jahr nicht mit Blumen geschmückt werden noch auch in einen
Spiegel sehen. — Letzteres darf auch die Mutter des Kindes während
ihrer Wochenzeit nicht. Sie hat überhaupt so manches zu beobachten:
sie darf z. B. nicht Herein rufen, wenn angeklopft wird (eigentlich soll
aber an einer Wochenstube gar nicht angeklopft werden); sie darf bei
Gefahr ihrer Gesundheit und ihres Lebens nicht ihr Gehöfte und Garten
verlassen, ehe sie zur Kirche geht. — Dieser Kirchgang ist in Schlesien
wie auch in der Ober-Lausitz eine auf dem Lande und in kleineren
Städten allgemein verbreitete Sitte, und ist nur nach den jedesmaligen,
ortsüblichen kirchlichen Einrichtungen verschieden. In der evangelischen
Kirche empfängt die Wöchnerin, die mit einer Geleitfrau erscheint, und
so wie diese dunkel gekleidet sein soll, ohne aber zu trauern, an einem
Kirchtage, am Altäre knieend, nach einem bezüglichen Gebet und Vater-
unser, den Segen von dem Geistlichen. In der katholischen Kirche, wie
auch in der sächsischen Oberlausitz holt der Geistliche die Wöchnerin in
der Vorhalle ab, betet dort (exorcisirend) und führt sie dann selbst zum
Altäre. Der Kirchgang erfolgt entweder nach Ablauf der sechs Wochen,
oder sobald die Wöchnerin sich kräftig genug fühlt, oder doch nach Ent-
scheidung des Gatten sich fühlen muss. — Stirbt eine Wöchnerin während
ihrer Wochenzeit, d. i. vor ihrem Kirchgänge, so muss sie schwarz gekleidet
in den Sarg gelegt werden, weil sie doch um ihr Kind trauern muss.
Bei einem Taufen erscheinen die unverheirateten weiblichen Paten,
die sogenannten Jungfern-Paten, sämtlich im Kranz, doch nur äusserst
selten, obgleich früher gewöhnlich, im Myrtenkranz. Bei Berührung des
Kindes nach vollzogenem Taufakt, pflegen noch viele, vorzüglich die
älteren Paten, nicht des Täuflings Stirn zu berühren, sondern mit Zeige-
finger und Daumen der rechten Hand das Gesichtchen zu überspannen,
weil man glaubt, dass dadurch Grübchen in den Wangen entstehen. Ehe
die Paten die Kirche verlassen, werden dem Kinde noch die Patengeschenke
eingebunden, d. h. in das Bettchen gelegt, und zwar Geld in besonders
Zejtschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 1 1
150
Baiimgart:
dazu gefertigte Couverts, (sogenannte Patenbriefe, mit Vignetten und be-
züglichen Yersen geziert) gewickelt und mit buntseidenen Bändern um-
schlungen. Die niedrigste Taxe für das Eingebinde einer Magd beträgt hier
1 Rthlr. 3 Pf., der Kupferdreier darf aber nicht fehlen. Bei der Rückkehr
aus der Kirche in das „Kindelhaus“, muss diejenige Pate, die den Täufling
trägt, sagen: „In (einen) Heida hom her furt getroan, In Christa breng’ ber
wieder.“ — Die Taufschmäuse sind jetzt weit seltener als früher, doch wo
sie noch stattfinden, ist auch noch an vielen Orten, vorzüglich bei den
sogenannten kleinen Leuten, die Sitte des Kar ndla-Siche ns (Körnchen-
Suchens) damit verbunden, mit der es folgende Bewandnis hat: Die Tauf-
gelage, vorzüglich war dies in früherer Zeit noch häufiger der Fall, werden
mit der sogenannten Kindla-Suppe beschlossen, das ist eine Art Warmbier,
in welches Kuchen eingebrockt wird. Zur Verfeinerung des Geschmackes
gehören nun Rosinen und Mandeln, Karndla genannt. Diese Karndla zu
liefern sind die Jungfer-Paten verpflichtet, aber sie dürfen dieselben nicht
freiwillig darbieten, sie müssen im Gegenteil sich stellen, als ob sie die-
selben vergessen hätten, obgleich sie ganze Starnutzken (Dütchen, vergl.
Weinhold, Schlesisches Wörterbuch 93) im untersten Unterrocke verborgen
halten. Jetzt beginnt nun die Freiheit der Junggesellen, diese am be-
wussten Orte als vorhanden vorausgesetzten Karndla zu suchen, und das
Privilegium der suchenden Jünglingshände erstreckt sich über alle
Taschen (Schubsäcke).
Ist das Kind ein Jahr alt, so müssen sich die Paten mit ihren Ge-
schenken einfinden, bestehend meistens aus Kleidchen: die erste Jungfer-
Pate hat noch die Verpflichtung dem „Johrkledla“ auch den „Johr-Kranz“
(Jahrkranz, von Myrtenzweigen) und ein Häubchen beizufügen. — Die
Einladungen (Patenbriefe) zu einem Taufen, so fordert es der allgemeine
Brauch, werden mit allerlei veralteten Prädikaten überladen und bei beiden
Konfessionen von den Schullehrern geschrieben, die dafür eine kleine Ein-
nahme geniessen. (Die Prädikate sind vorzüglich: der wohl- ehr- und
achtbare Junggesell, und die wohl- ehr- und tugendsame Jungfer.) —
Das gute Aussehen eines Kindes soll niemals gelobt werden, es wird sonst
berufen und hört auf zu gedeihen; geschieht es aber dennoch, so muss
man dreimal dabei ausspucken. — Die erste Kinderklapper dürfen nicht
die Eltern, sondern sollen die Paten dem Kinde kaufen, weil dasselbe
sonst aus dem Vaterhause gegen Fremde klatscht und gewäschig wird.
Tod und Begräbnis.
Jeder Todesfall soll sogleich den Haustieren, vorzüglich den Pferden,
Kühen und Bienen (letzteren mit dreimaligem Anklopfen an den Stock
oder die Beute) angezeigt werden. — Das Wasser, womit eine Leiche ge-
waschen worden ist, nebst den Gefässen, muss an einen Ort vergraben
Aus dem mittelschlesischen Dorfleben.
151
werden, wo niemand darüber schreiten kann; es verursacht dasselbe sonst
abzehrende Krankheiten. — Auf eine Leiche, vorzüglich wenn sie schon
im Sarge liegt, darf niemand Thränen fallen lassen, auch nichts der Leiche
mit in das Grab geben, was ein Gesunder lange getragen hat, vorzüglich
was noch die Körperwärme in sich trägt, als Tücher u. s. w. Es muss
sonst die betreffende Person nach langsamem, abzehrendem Siechtum
sterben. Es dürfen daher nicht einmal am Körper in der Kleidung ge-
tragene Stecknadeln, z. B. zum Befestigen der Sargausschläge, verwandt
werden. — Wenn eine Leiche nicht erstarrt, so stirbt binnen Jahresfrist
ein anderes Eamilienglied nach. Die Nähnadel mit dem Faden, mit dem
ein Sterbekleid genäht worden ist, darf nicht abgeschnitten werden, sie
muss daran hängen bleiben. Einer Leiche muss, ehe der Sargdeckel ge-
schlossen wird, alles hinweggenommen werden, womit ihr Gesicht oder
ihre Augen vielleicht bedeckt waren, als Tücher, Läppchen u. s. w.; sie
kann sonst am jüngsten Tage Christum nicht sehen, wodurch ihre Seligkeit
gefährdet würde. — Stirbt eine Wöchnerin, so muss sie zur Trauer über
das verlassene Kind schwarz gekleidet in den Sarg gelegt werden, während
sonst alle Sterbekleider weiss sind. Alle Gerätschaften, mit denen eine
Leiche gewaschen worden ist, als Kämme, Schwamm, Lappen, Seife u. s. w.,
gehören mit in den Sarg.
Zur Leichenbegleitung wird in der Regel das ganze Dorf gebeten,
und je nach dem Range der Verstorbenen auch benachbarte Ortschaften;
zu diesem Behufe hält der Gemeindehirte oder besser noch seine Frau,
oder ein von ihm gedungenes Weib, einen Umgang von Haus zu Haus;
aber dabei ist es strengstens verboten, die Schwelle der Häuser zu über-
schreiten, es würde sonst der Tod ins Haus gebracht; es muss daher drei-
mal mit einer Gerte an die Thüre geschlagen werden. — Wenn ein Sarg
zum Begräbnis aufgebahrt wird, so müssen die Stühle, Schemel, Bänke u. s. w.
umgeworfen werden, auf denen der Sarg gestanden hat. — Wird eine
Leiche zum Kirchhofe gefahren, d. h. auf einem Bretterwagen von einem
entfernten Orte nach dem Pfarrdorfe, so muss der Kutscher eilen, um
wieder zurück über die Dorfgrenze zu gelangen, ehe der Sarg versenkt
wird. Auf dem Hinwege müssen aber, vorzüglich wenn mehrere Dorf-
grenzen zu überschreiten sind, an jeder derselben die Pferde dreimal an-
gehalten und dreimal wieder angetrieben werden, ehe der Zug sich weiter
fortbewegen darf. — Jede Arznei, die einem Verstorbenen zuletzt vom
Arzt verordnet worden ist, die derselbe aber nicht ausgebraucht hat, gilt
für ein Universalheilmittel in den heterogensten Krankheiten, und wird
darum häufig begehrt. — Die Beerdigungsfeierlichkeiten richten sich
natürlich nach der Konfession, den Ortsverhältnissen, ob Stadt, ob Land,
und nach den Vermögens-Umständen der Toten wie der Leidtragenden
und gehören eigentlich nicht hierher; nur ist noch zu erwähnen, dass ohne
Unterschied der Konfession und des Standes des Verstorbenen, die Träger
11*
152
Baumgart:
nach der Persönlichkeit des letzteren gewählt werden und nur in aus-
nahmsweisen Fällen die Zahl 4 übersteigen. Unverheiratete junge Männer
(sogenannte Junggesellen) tragen Kinderleichen und überhaupt ledige Per-
sonen, deren Särge, wenn ihr Lebenswandel unbescholten war, bekränzt
werden. Gewöhnlich sind bei solchen Begräbnissen auch, nach der Zahl
der Träger, sogenannte Leidjungfern (ähnlich den TrauermarSchällen) die
schwarz gekleidet und meist mit Epheu bekränzt, grüne frische Kränze
und Guirlanden tragen, uud~ vor und hinter dem Sarge oder zu dessen
beiden Seiten gehen. Diese Kränze müssen aber dann, sowie auch die
Sträusse, welche die Träger im Knopfloch tragen, in das Grab auf den
Sarg geworfen werden. Dasselbe geschieht auch mit den Citronen, die
bei Begräbnissen von den Trägern in der linken Hand gehalten werden. —
In manchen Gegenden, so in Kanth und seinen benachbarten Ortschaften
tragen bei Begräbnissen lediger Personen und von Kindern auch die
jugendlichen Träger Kränze von Immergrün auf dem Kopfe, die sie dann
abnehmen und gleichfalls in das Grab nachwerfen. — Am Beerdiguugstage
unverheirateter, vorzüglich verlobter Personen, wird das Trauerhaus festlich
geschmückt mit Kränzen und wohl auch mit Maien, denn dieser Tag gilt
für den Hochzeitstag, weshalb denn auch das sogenannte Traueressen sehr
oft, absichtlich, wie ein vollständiges Hochzeitsmahl zugerichtet wird, bei
welchem ausser den Verwandten, Trägern und Leidjungfern auch ein
grosser Teil der Leichenbegleitung zu Gaste geladen ist.
Festgelage, Mahlzeiten und Speisen.
Die Festgelage auf dem Lande werden eingeteilt in Tauf-Essen,
Hochzeit-Essen, Trauer-Essen und Kirmess. Die Tafel-Einrichtung ist
dabei folgende: Die Tische, wenn einer nicht ausreicht, zwei oder drei,
werden im rechten Winkel aufgestellt, welcher an seiner äusseren Spitze
für den Ehrenplatz gilt, auf welchem bei Hochzeiten natürlich auch das
Brautpaar eingeklemmt wird, das, im Rücken die Wände und die Stuben-
ecke, sich oft buchstäblich nicht rühren kann. Unweit dieser Ecke, bei
Hochzeiten in der Nähe der Braut, oft derselben gegenüber, an der innern
Spitze des rechten Winkels, hat der Geistliche, wenn er überhaupt geladen
wird, seinen Platz, welcher auch, wenn es der Kindla- oder der Huxt-
vater begehrt, mit einem Gebet die Tafel eröffnet. — Bei dem Taufessen
und dem Hochzeitessen dürfen weder die Eltern des Kindes noch der
Braut bei Tische mit sitzen. Diese speisen draussen; nur der Vater als
Hausherr darf zuweilen, ab- und zugehend, in blossen Hemdsärmeln, bei
dem einen oder dem andern Gaste auf Augenblicke sich niederlassen, um
zu tischkerieren (diskurieren) oder dem einen und dem andern zuzu-
trinken. — Die Reihe der Speisen eröffnet eine in mehreren Schüsseln
aufgetragene Brühsuppe, d. i. eine ungemein starke, fette, lautere Rinds-
Aus dem mittelschlesischen Dorflehen.
153
brühe mit Reis und etwas gestossenem Zimmet. Pflicht der Junggesellen
ist es, diese Suppe sämtlichen Gästen auf ihre Teller vorzulegen und nach-
zugeben. — Dann folgt das Rindfleisch, welches geschnitten aufgetragen
wird, aber früher auch von den Junggesellen oder von irgend einer
Respektsperson unter den Gästen zerlegt werden musste. Es werden dazu
gegeben: Kren- oder Meerrettichtunke, stark gezimmtet, aber nicht ver-
siisst; zuweilen noch eine andere braune Tunke von Schnittlauch oder
Rosinen (die Saucen heissen stets Tunken), saure Gurken und an manchen
Orten auch Hering. Die Gänge folgen von jetzt ab in sehr langen Pausen
aufeinander und die Männer rauchen dazwischen, sprechen, wiewohl meist
bescheiden, dem Glase zu; das Weibsvolk schweigt lächelnd oder flüstert
nur. Hach alter Sitte kommt das schlesische Lieblingsgericht: Wurst —
mit Sauerkraut in Untertassen; — früher Blut- und Leberwurst, jetzt aber,
als Zeichen des modernen Fortschrittes, Bratwurst mit einer braunen, siiss-
säuerlichen Sauce; nicht selten werden alle drei Arten zusammen zu be-
liebiger Auswahl geboten. Bei vornehmer sein wollenden und bemittelteren
Bauern wird nun ein Gericht eingeschoben, nämlich polnisch (braun) ge-
sottene Karpfen mit Sauerkraut. Statt dessen erscheint auch zuweilen
Rindszunge mit Rosinensauce. Zwei aufeinander folgende Braten, min-
destens einer, machen den Beschluss der Speisen, und zwar Kalbsbraten
mit Backobst oder Salat, zuweilen Heringssalat, und schliesslich Schweine-
braten mit Sauerkraut, der aber auch bei den Ärmeren nicht fehlen darf.
Bemitteltere schalten auch hier noch einen Braten ein oder lassen ihn den
beiden genannten vorangehen, und zwar Enten- oder Speckfetten Gänse-
braten. Ein Nachtisch darf auch nicht fehlen; er besteht aus gutem haus-
backenem Brote, frischer Butter, die, vorzüglich bei Hochzeiten, in Form
von Hühnern mit Küchlein oder von Lämmchen aufgetragen wird, und
Käse (bei Ärmeren — altem Quarge). — Den völligen Beschluss macht
um Mitternacht Kaffee und Kuchen, — Dies die Hochzeits- und Kindtauf-
schmäuse. — Die sogenannten Traueressen sind meist einfacherer Art,
wenn dieselben eben nicht, wie oben angedeutet, verstorbenen ledigen
Personen zu Ehren veranstaltet werden; bei dieser Gelegenheit wird an
mehreren Orten, ausser Kaffee und Kuchen, etwas kalte Küche aufgetragen,
wobei aber Heringssalat, gebackene Pflaumen und Preisselbeeren, nicht
fehlen dürfen. — Kalte Küche mit gleicher Beigabe, Kaffee, Thee oder
Chokolade, sind es auch, womit sich die Bauern bei ihren Lichtenabenden
oder Winterkränzchen gegenseitig zu bewirten pflegen. (Die kalte Küche
besteht meist aus zweierlei Braten, vielleicht auch aus Schinken und zwei-
bis dreierlei Wurst.) Cigarren dürfen bei keiner solchen festlichen Gelegen-
heit fehlen.
Als Getränk bei festlichen Gelegenheiten wird zwar ausser Bier
immer noch, vorzüglich bei den kleinen Leuten, der Schnaps in ziemlich
bedeutenden Quantitäten und zwar in zwei Sorten, Korn und Guter (d. i.
Baumgart:
154
Kümmel, Pfeffermünze oder Grunewald) kredenzt. Bei dem wirklichen
Bauer ist aber bereits der Schnaps durch Wein verdrängt, und es stehen
daher nicht selten auf Bauerntafeln herber und süsser Ungar, letzterer für
die Weiber und gewöhnlich gefälscht, zuweilen auch einige Flaschen Rot-
wein. — Bei den Lichtenabenden und Kränzeln wird ausser Bier und gutem
Schnaps Grogg oder Punsch getrunken.
Bei Hochzeiten und zum Teil auch bei Kindtaufen erfüllt die liebe
Jugend Hof und Gärten und guckt lüstern zu Thür und Fenstern hinein,
und bettelt wohl auch um Kuchen, Wurst, Fleisch und dergl., man nennt
dies Schwellehocken. — An Fastnacht und zur Kirmiss ziehen wohl
noch zuweilen junge Burschen, Knechte, Pferde- und Ochsenjungen umher
mit langen Peitschen und knallen des Abends in den Bauergehöften und
vor den Häusern anderer bemittelter Leute so lange und so fürchterlich,
bis sie Kuchen erhalten, — dies heisst Kuchen platzen.
Zu Weihnachten essen bemittelte Bauersleute gesottene Karpfen in
brauner polnischer Sauce, ärmere dagegen Hering. — Die allgemeine
Fastnachtsspeise ist Bratwurst.
Die Fleischkost der Landleute besteht hauptsächlich in Schweinefleisch
von selbstgeschlachteten Schweinen, wo dann das Rauchfleisch den grössten
Teil des Jahres ausreichen muss. Rindfleisch kennt man nur zu Fest-
zeiten; Kalb- und Schöpsenfleisch sind ganz ungebräuchlich. — Braten ist
selten.
Das schlesische Bauerngesinde erhält früh Milch oder andere Suppe,
darauf Kartoffeln mit der Schale. Das Mittagbrot, vorzüglich in der Ernte,
besteht aus Fleisch und Gemüse, oder Fleisch, Tunke und Klössen (sehr
derb); das Abendessen sind wieder Kartoffeln mit Tunke. In mancher
Haushaltung, besonders auf den Dominien, ist die Gesindekost für jeden
Tag der Woche fest und besteht ausser der Ernte meist in Fastengerichten,
Graupe und Erbsen, gemischt oder allein; Fleisch wird wöchentlich nur
zwei- bis dreimal gekocht, doch dürfen des Sonntags nie und nirgends die
Klösse fehlen.
Die Bauern stossen bei ihren Festlichkeiten miteinander an, aber nicht
wie andere Menschen, sondern es fasst der eine das Glas am obersten
Rande, der andere das seinige fast ganz unten am Fuss, und so werden
dann die Gläser aneinander gestossen und halb streichend, halb schleifend
zusammengeschlagen, als ob Feuer gepinkt werden sollte; natürlich ist dann
der Klang nur ein Klirren und Klappern, aber niemals ein Wohllaut. —
Der Trinkspruch lautet: „Dein Wohlsein (Ihr Wohlsein)!“ — „Herr Lange
— Herr Kalesse — Frau Biewaldin u. s. w. Du sollst (Sie sollen) leben!“
— Worauf die Antwort: „Selbsteigen!“ oder „Wohl bekomm’s!“ —
Nach jedem Schluck Branntwein, wobei fast immer ein ganzes Gläschen
ausgestürzt wird, gehört es zum guten Bauernton, sich zu schütteln und
das Gesicht zu verzerren, als ob man Gift getrunken hätte.
Aus dem mittelschlesischen Dorfleben.
155
Zur Vesper im Sommer gehört weisser Quarg mit Salz und Kümmel,
im Winter aber, falls sie dann üblich ist, und auch zum Abendbrot, wird
statt der Butter dick eingekochter Sirup von Runkelrüben, sogenannter
Saft, gegeben.
Das allgewöhnliche Frühstück der Landleute, hier und da auch des
Gesindes, ist der Kaffee, den sich der Bauer, besonders des Sonntags, auch
zur Vesper anthut. — Das gewöhnliche Festgebäck ist der Kuchen, der
aber nur als Streuselkuchen und jetzt schon viel dünner und besser als
früher gebacken wird; andere Sorten sind den Landleuten fremd. — Die
einst so beliebten Gälbrütla (Gelbbrotel) zu Ostern sind fast ganz ab-
gekommen. Hin und wieder werden Pfannenkuchen von den moderneren
Bauersfrauen gebacken (Krapla genannt).
Für ein beliebtes Gericht als Fastenspeise werden angesehen die
Schnickerle, eine Art Klösschen von Schwarzmehl (ähnlich den Nudeln zum
Gänsestopfen) mit brauner Butter und gebratenen Zwiebeln; vgl. Weinhold,
Schles. Wörterbuch, pag. 87. — Ein Volksgericht in den bis in unser
Jahrhundert überwiegend polnischen Gegenden auf dem rechten Oderufer
sind Kartoffeln, mit der Schale oder gebraten, zu kalter Buttermilch oder
Schlippermilch. Ebenso ist es in denselben Gegenden Sitte, Speisen und
Gebäck mit Leinöl (oleum lini) zu mechseln; auch dergleichen unter
Schweinefett oder Quarg gerührt, statt Butter auf Brot zu streichen.
Bilder aus dem fseröischen Volksleben.
Von V. U. Hammershaimb.
Aus dem Fseröischen übertragen von Dr. Otto L. Jiriczek.
Lebensbilder faeröischer Volksart und Sitte zu schreiben, war wohl
niemand berufener als Probst V. U. Hammershaimb, der den grössten Teil
seines Lebens auf den Inseln zugebracht und der feröischen Sprache und
Litteratur das liebevollste Studium zugewendet hat. Die „Follcelivsbilleder“,
die er für seine „Faerosk Anthologi“ verfasst hat, sind denn auch in ihrer
schlichten, volkstümlichen Erzählungsweise und in ihrer vollendeten Ab-
rundung kleine Meisterstücke.
Die nicht ganz unbedeutenden Schwierigkeiten des modernen Fgeröi-
schen dürften das Erscheinen einiger dieser Bilder in deutscher Über-
tragung rechtfertigen, bei deren Auswahl das volkskundliche Interesse
massgebend war. Die Übertragung durfte, da der philologische Wortlaut
156
.firiczek:
des Textes (im Gegensätze zu den von mir im II. Bande dieser Zeitschrift
mitgeteilten feröischen Sagen) keine Rolle spielt, eine freie sein; dass sie
keinen Anspruch auf die Wiedergabe des au der Sprache haftenden
stilistischen Lokalkolorits erheben kann noch will, ist selbstverständlich.
Herrn Probst Hammershaimb sei hier der beste Dank für die Er-
laubnis zur Übertragung und für freundliche Aufklärungen über mancherlei
Schwierigkeiten des Textes ausgesprochen.
Hochzeit.
Stattlich war der Bursch, der älteste Sohn des Bauers zu N., der so
reich war, dass er zwölf Mark1) an Königsgut und drei Mark zu erbeigen
\i ödal] besass, und schön war das Mädchen, das sich der Jüngling zum
Weibe gewählt hatte. Ob seine Werbung so aufgenommen worden war,
wie man sagt, dass es sein soll, soll es recht und richtig zugehen, nämlich
zuerst mit „Kein“, dann mit Schweigen, und endlich mit „Ja“, ist un-
bekannt, doch gefreit hatte er, sie hatte ihr Ja gegeben und die Eltern
zugestimmt, und so war alles in Ordnung. Er war mit zwei Yerlobungs-
zeugen beim Pastor gewesen, um sich einschreiben zu lassen, sie waren
in der Kirche aufgeboten, und die Hochzeit für die zweite Woche hernach
angesetzt worden. Weithin verbreitete sich die Kunde, wie viele Tonnen
Korn aus dem Yorratshause genommen worden waren, um Hochzeitsbrot
zu backen, wie viele Hammel man zu „skinsakjöt“ [Schaffleisch, mit Salz
bestreut, abgekocht und dann zum Dörren aufgehängt] abgekocht hatte,
und wie viel von Schafen man noch zu schlachten gedachte, bis die Hoch-
zeit stattfände; ein Ochse und eine Mastkuh standen im Stalle und sollten
das Leben lassen, damit die Speise nicht ausgehe und niemand sagen
könne, er sei zu einer Hungerhochzeit eingeladen worden.
Kun näherte sich der Freudentag, die Hochzeitsbitter wurden aus-
gesandt, die Gäste zu laden, und sie hatten sich die Einladung der Braut
und des Bräutigams zusammengestellt, wie sie sie in den Häusern Vor-
bringen wollten: die einen machten sie zu einer kleinen Predigt, die
anderen scherzhaft; aber manch junges Herz schlug unruhig, als der Bitter
in das Dorf kam, aus Angst, er möchte nicht zu ihnen kommen und ihnen
ein solches Yergnügen entgehen. Wo er eintrat und zur Hochzeit lud, war
er natürlich willkommen, und man holte die [Branntwein-] Flasche hervor
und bot ihm ein Gläschen, und der Kaffeekessel wurde über das Feuer
gesetzt und der Tisch für ihn gedeckt. Doch bei den meisten entschuldigte
er sich, er habe so viele Häuser abzugehen und müsse sich deshalb beeilen,
er danke ihnen ebenso herzlich dafür, wenn er sich auch nicht nieder-
1) Eine „mörk“ = 10 000 bis 20 000 Quadratellen.
Bilder aus dem fseröischen Volksleben.
157
liesse — aber er musste doch wenigstens das Gläschen in die Hand
nehmen, die Lippen befeuchten und „skäl“ sagen, ehe er wegging. — Die
Sorge, sie würden am Ende nicht eingeladen werden, war nun allerdings
von der Jugend genommen; aber alle konnten ja nicht vom Hause, und
nun kam die andere Sorge, wer von ihnen daheim bleiben müsse, und
darum erscholl es von Kindern und Gesinde: „Mamma, lass mich hin! —
Hausvater! ich möchte gern zu der Hochzeit — wann kommt ein solches
Vergnügen wieder für uns!“
Wenden wir uns nun wieder dem Hochzeitshause zu und sehen wir
nach, wie es dort zugeht. Eine Unzahl von Köchen war bereits acht Tage
vor der Hochzeit hier zusammengekommen, einer rannte über den andern
und die Thüren standen keinen Augenblick von früh bis abends zu, son-
dern wurden im ganzen Hause beständig auf- und zugeschlagen. Die alte
Hausmutter hatte schon ganz den Kopf verloren über all den Fragen, auf
die sie Antwort geben sollte, und wünschte nur, die ganzen Festtage wären
schon vorüber.
In der Rauchstube hing ein grosser Kessel über dem Feuer, in dem
sollte die Blutwurst gekocht werden. Einige der Hochzeitsköche standen
hier und schnitten den Talg, sowohl Nierenhaut wie Netz, die das Fett
abgeben sollten, andere Weiber rührten mit dem Quirl Mehl in das Blut
ein und andere reinigten den Magen, Netzmagen und Dickdarm, worein die
Wurstmasse gefüllt werden sollte. Im Dörrhause lagen ganze Haufen von
Schafsköpfen; einer der Knechte sass dabei und schnitt die Kopfwolle ab,
und zwei Mägde standen am Feuer und sengten und schabten die Köpfe
ab, dass kein Härchen daran bleibe, über das sich die Gäste auf halten
könnten. — Nun kam das Boot ans Land, das die ausgeborgten Gegen-
stände brachte: Tischtücher, Speiseschüsseln, Speisemesser, Porzellan, Gläser
und ähnliche Sachen vom Kaufmanne; — das war heikel und musste gut
auf bewahrt werden, damit nichts zerbräche, und darum wollte die Haus-
frau selbst dafür sorgen und es wohl an einem Orte verwahren, wo es
ohne Gefahr bis zur Benutzung stehen konnte. — Ein langer Querbalken
im Fischdörrhause, der von einem Ende zum andern reichte, war begehrens-
wert; denn hier hing Rumpf an Rumpf von frisch abgehäuteten und aus-
geweideten Schafen und Lämmern. Der Hausherr kommt herauf und
schneidet Hälse, Vorrücken und einige Keulen ab, damit er den Leuten,
die ins Hochzeitshaus kämen, frischgekochtes Fleisch vorsetzen könne,
auch soll es der Grützsuppe Kraft geben, die am Hochzeitsabend1) den
Gästen vorgesetzt werden soll. Was von den Rümpfen noch übrig war:
Schenkel, Mittel und Endrücken, Rippenpartie und Beine, sollte hängen
bleiben, um am Hochzeitstage selbst gebraten zu werden.
1) brüdleypsaftan, nach germanischer Art Bezeichnung für den Tag vor der Hoch-
zeit! Der Abend des Hochzeitstages heisst faer. brüdleypskvöld. FA. Ords. s. v.
158
Jiriczek:
Der Hochzeitsabend war nun gekommen; ein Boot mit acht Leuten
war frühmorgens beim ersten Tagesgrauen nach dem Pastor geschickt
worden, und die Ruderer zögerten nicht lange mit der Abfahrt, denn sie
wollten wieder zurück sein, wenn der Tanz begönne, und der Weg war
lang. Der Hausherr gab ihnen ein Frühmahl, und in das Boot erhielten
sie mehr Speisevorrat, als sie am Wege essen konnten. Die Wassertonne
hatte man nicht vergessen, und auch jenes Tönnchen mit dem Hass nicht,
das keiner verschmähte, wenn es ein paar tüchtige Rudergriffe um eine
umbrandete Landzunge galt. — War schon vorher ein geschäftiges Durch-
einander im Hochzeitshause gewesen, so ging jetzt alles drunter und drüber;
alles sollte ja für die Hochzeitsgäste bereit stehen, die Tische zurecht-
gestellt, Tücher ausgebreitet, Stühle und Bänke herbeigeschafft werden.
Das war ein Herumlaufen in der Rauchstube, Küche, Glasstube und dem
grossen Zimmer, die Thüren flogen auf und zu und die Köche eilten hin
und her. Jetzt kamen Nachbarn mit grossen Töpfen Milch und kleineren
mit Sahne, — letztere sollte gleich auf den Tisch kommen, die Milch erst
gekocht und dann aufgehoben werden — übergenug gab es da zu denken
und zu besorgen!
Der Mittag war vorüber, Braut und Bräutigam standen in Sonntags-
kleidung, die Schenken standen schon bereit mit der Wein- und Brannt-
weinflasche und Gläsern. Jetzt sah man ein Heer von Hochzeitsgästen
den Hügel herab kommen, Braut und Bräutigam und Schenken eilen da
in das Tun (Hausmark) hinaus, um sie zu empfangen und ins Haus zu
laden. Das erste, was die Gäste thun, ist, sich des Fusszeugs zu entledigen
und trockene Strümpfe und Tanzschuhe, oder Schuhe aus gegerbter Schaf-
haut anzuziehen; dann werden die Gäste zu den Tischen geführt, um sich
an Speise und Trank von der langen Gebirgswanderung zu erquicken; da
surrt das Gespräch durcheinander, die Pfeifen werden angezündet, und
mancher schiebt sich ein Stück von der Kautabaksrolle zwischen die Zähne.
Hier treffen sich viele, die sich schon lange nicht gesehen, man fragt sich
aus und erkundigt sich nach allerlei, und so vergeht eine gute Weile,
bis die Jungen sich zusammenthun und einen Ring schliessen; da wird
gesungen und getanzt — das tönt bis auf das Tun hinaus — der Ring
wächst und schlingt sich mehrfach in sich selbst. — „Das Pastorboot
kommt!“, wird in die Stube hineingerufen, und Braut und Bräutigam eilen
zum Landungsplatz hinab, um auf dem Landungssteine das Boot zu er-
wartenj — der Pastor ist nicht allein im Fahrzeug; andere Hochzeitsgäste
haben ihn gebeten, sie mitzunehmen. Die Schenken, die dem Brautpaar
auf dem Fusse gefolgt sind, bieten nun Wein, Branntwein (oder Cognac)
an, sobald jemand den Fuss auf das Land setzt. Erst jetzt treten Braut
und Bräutigam in den Tanz ein, und können sich die Gäste voll dem
Vergnügen hingeben; denn ein- oder das andere Mal ist es schon ge-
schehen, besonders auf den Nordiuseln, dass der Pastor nicht am fest-
Bilder aus dem fseröischeu Volksleben.
159
gesetzten Tage kam, da er auf den Aussenschären vom Wetter gebunden
sitzen bleiben musste und vor Brandung und Seesturm nicht loskommen
konnte; da musste die Trauung bis zu seiner Ankunft verschoben werden
und es machte sich sehr fühlbar, dass da etwas fehlte, was nicht fehlen
durfte. | Der Tanz ging fröhlich fort, und war ein Lied oder eine Helden-
ballade zu Ende, so fand sich gleich ein anderer, einen neuen Sang zu
beginnen, und so ging es fröhlich und lustig fort, bis der Hauptkoch zum
Nachtmahle einlud. Da setzten sich die Gäste zu Tisch und erhielten
Suppe mit Fleischklössen und Rüben, Blutwurst, Hammelköpfe, Erdäpfel,
Brot und Butter. Nach dem Nachtmahle wurde nicht mehr getanzt, sondern
jeder suchte sein Nachtquartier auf, das ihm bei den Nachbarn und in den
nächstgelegenen Siedelungen angewiesen worden war, und war froh, konnte
er nur ein Lager auf dem Fussboden wo immer bekommen. So war der
erste Tag der Hochzeit vorbei; ein oder der andere, der noch kein Schlaf-
bedürfnis spürte, trieb sich bei dem Schenken herum und liebäugelte mit
der Flasche, die jener hatte; doch es dauerte nicht lange, so war alles
ruhig.
Nun war der Hochzeitstag angebrochen; die Jugend konnte vor Freude
nicht lange schlafen, und schon frühmorgens hörte man im Tün und
Hochzeitshause Menschenstimmen. Jetzt wurde allen Kaffee mit Weiss-
brot und Zwieback vorgesetzt, die Pfeifen wurden angezündet, und draussen
und drinnen hörte man lautes Gespräch, die Burschen scherzten mit den
Mädchen und schwatzten viel mit einander, ebenes und unebenes. Die Zeit
verfloss rasch, die Morgenmahlzeit wurde aufgetragen, und abermals wurden
die Gäste zu Tisch geladen; da war kein Mangel an Schafschinken, denen
Blutwurst, Brot und Butter folgten.
Die Weiber begannen nun, sich in die Staatskleidung zu werfen,
die sie in der Kirche anhaben sollten, und Frauen waren die Braut zu
schmücken gegangen, und das wollte seine Zeit haben, wie das Sprichwort
sagt: „eine Braut zu schmücken braucht Weile.“ Es geht gegen Mittag,
und noch immer deutet nichts auf den Kirchgang; die Leute fangen daher
an, ungeduldig zu werden, und mehr als einmal hört man: „Heute wird
der Brauttanz spät beginnen.“ Endlich kommt doch die Botschaft, die
Braut sei fertig, aber unglücklicherweise hört man gleichzeitig, dass die
zweite Brautgeleiterin und mehrere Kranzjungfern noch nicht aus der
Kammer gekommen sind, es fehlt noch dies und das: die eine muss sich
noch das Haar in die Stirne kämmen lassen, die andere es sich teilen
lassen, die dritte flechten, und darum muss man, mit wenig Lust, doch
noch etwas warten. — Endlich steht die Sache doch so, dass dem Pastor
gemeldet wird, man wolle nun zur Kirche, und so verschwindet er und
der Küster.
Jetzt ertönt Glockengeläute, das Brautpaar tritt in das Tün, Büchsen-
schüsse krachen, und die kleinen Jungen, die keine Büchse haben, und
Jiriczek:
160
es doch mit den Erwachsenen gleich halten wollen, rennen mit aufgetriebenen
Lammsblasen herum, und zerschlagen sie vor dem Brautpaare. Lang war
der Zug, der in die Kirche sollte, und es dauerte lange, ehe man alle zu-
sammenpaarte, je zwei, ein Bursch und ein Mädchen. — Die Brautmesse
war gehalten, die Lieder abgesungen, alle hatten am Opfer teilgenommen —
gar mancher Angst im Herzen, sich ungeschickt zu benehmen, so z. B.
etwa die Yerneigung und Yerbeugung vor dem Brautpaare zu vergessen,
als es aus dem Chore zurückkam; denn sie wussten sehr gut, dass solches
nicht unbeachtet bliebe, sondern bei Tisch zum allgemeinen Yergnügen
preisgegeben würde, wenn das Hinter stück *), geschmückt mit farbigen
Bändern, vom Oberkoche mit einem scherzhaften Reime den Gästen vor-
gesetzt wurde, damit sie darüber ihr Sprüchlein machten; — niemand, zu
dem das Hinterstück kam, durfte es zum Nächsten schieben, ehe er sich
nicht durch ein Reimlein gelöst hatte. — Da läutet es wieder, und nun
geht es aus der Kirche heim, Büchsen knallen, Blasen bersten, das ganze
Gefolge geht zurück, wie es kam — Braut und Bräutigam stehen im
Hochzeitshause mitten in der Stube, und nun kommt der Pastor und die
ganze Schar, um ihnen Glück zu wünschen. Die Köche treten ein, ent-
bieten zur Mahlzeit, und weisen jedem den Sitz an; das Brautpaar auf dem
Hochsitz, Brautführer und Brautführerinnen beiderseits von ihnen, und so
weiter, wie es zur Kirche ging. Die Mahlzeit besteht aus Fleisch- oder
Grützsuppe, Ochsen- und Lammsbraten, worauf Bäckereien folgen; die
Schenken sind nicht lässig im Nachfüllen leerer Gläser. Die Gäste sind
lustig und manches Scherzwort fällt bei Tisch und weckt Gelächter.
Nun merkt man, dass die Köche wünschen, die Gäste möchten sich
erheben und der zweiten Tischgesellschaft Platz machen; daher wird der
Psalm nach Tische gesungen und für die Mahlzeit gedankt. Nachdem die
zweite Gesellschaft abgegessen, beginnt man an die Anordnung des Braut-
tanzes zu denken, während die dritte Gesellschaft speist, und alle, die frei
sind, sammeln sich in der Tanzstube, und der Küster hebt das Braut-
lied an:
„Ihr ehrlichen Brautleute, achtet nun wohl......1 2)“, wie der Sendbote
Abrahams Rebekka dahin brachte, ihm nach Kanaan zu folgen und Isaaks
Frau zu werden; meist folgt dann die Susannenweise und noch ein drittes
ernsthaftes Lied, und daran schliessen sich Heldenlieder und Balladen, und
der Tanz geht ununterbrochen die ganze Nacht hindurch bis zum nächsten
Mittag. Es kommt der dritte Tag; am Morgen begeben sich alle Gäste
in das sogenannte „Brauthaus“; Braut und Bräutigam sitzen hier an einem
Tische, schenken selbst Wein oder Rum und bieten allen, die mit den
Hochzeitsgeschenken herkommen, grosse Becher an, — und nicht selten
1) Faer. drunnur „Hinterteil und Schwanz eines Rindes“, FA. Ords. s. v.
2) Im Originale dänisch; altes Kirchenlied.
Bilder aus dem heroischen Volksleben.
161
wird hier des Guten zuviel gethan; der Tanz wird nun munterer und
polternder. Das ist der letzte Tag, und heisst Abfahrtstag; die, welche
von weither kamen, fahren zuerst, damit sie noch bei Tageslicht nach
Haus kommen; die, welche einen kürzeren Weg haben, weilen oft im
Tanze bis zur Dämmerung und sind dann nicht selten vom Singen ganz
tonlos und heiser wie Enteriche. Noch eine Mahlzeit wird ihnen geboten,
ehe sie fahren. Die Staatskleider werden in Kleidersäcke, Kisten oder
Bündel gelegt; dann nehmen alle mit Kuss Abschied und danken für gute
Gesellschaft und Yergnügen. Am Sonntage darauf findet die „Haus-
hochzeit“ statt; da kommen die Köche und nächsten Verwandten zu Gast,
hernach wird wieder am Abende getanzt, und damit ist das Hochzeitsfest
zu Ende.
Hausbau.
Der jüngere Sohn des Erbbauern N. in Mikines hatte sich mit. einem
Mädchen von der Hauptinsel verlobt und selinte sich danach, sie bald auf
seine Insel heimzuführen. Der Vater hatte nichts gegen die Heirat ein-
zuwenden und versprach ihm beim Hausbau zu helfen. Im Winter zog er
Steine, die oben im Gebirge gebrochen wurden, heim, denn in den An-
siedelungen hier ist kein Stein zu sehen; er benutzte hierzu den Stein-
schlitten, wenn es so hart gefroren war, dass der Schlitten nicht in den
Mooren oberhalb des Hauses versank. So wurde denn auf dem Bauplatze
der Grund gelegt, unmittelbar auf den harten Erdboden, wo er nicht
sumpfig war, und aus hübschen flachen Steinen errichtet. Das Frühjahr
kam, und nun sollte vom Kaufmanne alles Material zu den Häusern ge-
nommen werden: Holz, Birkenrinde, Teer, Nägel, Ziegel, Kalk, Öfen und
anderes, und alles das wurde auf einem Schiffe nach Sörväg geführt und
dort aufgestapelt; denn das Fahrwasser um Mikines ist stets so unruhig,
dass man nicht daran denken kann, dort eine Schiffsladung auszuschiffen.
So musste man denn die Dorfbewohner bitten, alles den langen und
schwierigen Weg von Sörväg heraus zu transportieren; der Mikinesfjord
mit seiner starken Strömung lässt nicht mit sich spassen; doch machte
keiner der Männer Schwierigkeiten, jeder versprach nach einer Ladung
fahren zu wollen, sobald Meeresstille eintrete, und alle gaben ihre Zusage
gerne. Balken und Bretter nebst dem anderen Materiale wurden glücklich
auf die Insel geschafft, ohne dass ein Schaden geschah, und nun musste
man daran denken, sich einen der besten Zimmerleute der Insel zu ver-
schaffen, dass er die Arbeit leite, und andere, dass sie ihm hülfen. Der
bereits gelegte Grund zeigt, wie gross die Wohnhäuser werden sollten;
so werden denn die Ober- und Unterbalken, sowohl die Lang- als Quer-
balken erst verfertigt, dann in einander in den Ecken eingefalzt und in
der Mitte zusammengestossen, alles so solid, dass nichts auseinandergehen
kann, wenn der Nordwestwind mit seinen grimmigen Griffon das Dach
162
Jiriczek:
packen sollte; denn mag dieser Wind anderwärts auch erträglich sein, so
brausen und sausen hier (infolge der Gebirgsformation) die scharfen
Wirbel, die er von oben auf die Ansiedelung sendet, so, dass das Haus
zusainmenzubrechen droht; darum gilt es, die Häuser stark zu bauen und
sich vorzusehen, dass sie der Wind nicht niederreisse. Das Riegelwerk
war fertig, die Scheidebalken gelegt, jeglicher Balken mit seiner Falz, in
die die Eckpfosten und Stolpen, sowie die beiden Enden der Wandbretter
gelegt werden sollten; auch die Querbalken, die den Fussboden tragen
sollten, lagen bereits. Jetzt galt es, das Sparrenwerk aufzustellen; die
Hahnenbalken waren alle fertig und nach den Unterbalken zugemessen;
die Eckpfosten und Stolpen wurden aufgestellt, die Querbalken fest in sie
und die Unterbalken beiderseits eingestossen, und die Spreizbalken in die
Hahnenbalken eingesetzt.
Das Dachgerüste ragte nun empor, und man musste sich beeilen,
die Bekleidung aufzusetzen, damit der Wind keinen Schaden anrichte.
Das Sägegestell batte keinen Tag geruht, Balken und Bretter wurden
gesägt, und jedes Menschenkind auf der Insel, das einen Hobel halten
konnte, war unter die Handwerker aufgenommen worden, um zu helfen,
und man konnte allen ansehen, dass hier keine Faulheit herrschte, sondern
jeder sich beeilte, so gut er konnte. Die Sparren wurden aufgestellt und
mit den Querspreizen verbunden, zusammengestossen, je eine Halbsparre
mit dem oberen Ende in die andere, mit dem unteren in das Hahnen-
gebälke, und am Ende die „skälkar“ (Holzstücke) angenagelt, die das
„Wasserbrett“ tragen sollen, auf dem der Torfhälter (schiefes Brett, das
den Torf am Herabgleiten hindert) angenagelt wird; hierbei gilt es auf-
zupassen, dass das Lager für die „skälkar“ nicht zu gross wird, denn sonst
können Sprünge, besonders Frostsprünge, grossen Schaden anrichten,
namentlich, wenn das Dach bloss einen rechten Winkel bildet. Oft wird
eine Steinwand der einen Mauer des Hauses vorgeschoben, und zwar ent-
weder gemauert oder aus Steinen und Torfstücken gesetzt, und das Dach
über den Gang zwischen der äusseren und inneren Mauer hinausgebaut.
Dann wurden die Hahnenbalken aufgesetzt, um die Sparrenpaare zusammen-
zuhalten nnd der letzte Sparren auf dem Giebel erhielt seinen Balken.
Darauf begann man zu decken; die Schindeln wurden aufgelegt und sorg-
fältig Brettkante an Brettkante auf die Sparren genagelt, der Giebel auf
die Falzbekleidung aufgelegt, und ein Fenster eingeschnitten, damit Licht
in den Boden falle. Während man so am Dachstuhle arbeitete, hatte man
unten nicht gerastet, sondern alles gethan, die Arbeit zu fördern, damit
die Häuser vor dem Winde abgesperrt stünden. Obzwar man keine
übergreifende Bretterverkleidung haben wollte, wurde gleichwohl eiligst
gearbeitet; die Bretter lagen alle zurechtgehauen, gehobelt und mit Falzen
zum Ineinandergreifen versehen, die Fensterrahmen waren eingesetzt und
in der Eile wurden sie provisorisch mit Brettern verschlagen. Jetzt, da
Bilder aus dem fseröischen Volksleben.
163
das Haus geborgen war, konnten alle Leute in der Ansiedlung ruhig
schlafen, wenn der Wind kam. Am ersten schönen Tag darauf sollte das
Dach gedeckt werden und dabei musste alles Volk in der kleinen Siede-
lung helfen. Die Zimmerleute begaben sich auf das Dach, legten die
Birkenrinde auf und befestigten die Torfhälter über derselben am Wasser-
brett, setzten die Windbretter vor die Giebel und schlugen die Riegel,
die sie halten sollen, fest. — Zahlreiche Leute graben draussen Torf-
stücke, die auf die Birkenrinde gelegt werden; zum Transporte der Torf-
stücke nach Haus bedient man sich der Pferde; die Frauenzimmer winden
Heubänder zum Überlegen über die Torfstücke, damit sie nicht reissen,
ehe sie fest geworden und die Rasenziegel zusammengewachsen sind, und
lange Zweige werden oben aufgelegt, damit die Torfziegel halten und nicht
herabrutschen, sich nicht aufwerfen und vom Dache stürzen. Wird die
Belegung gut vorgenommen, so kann ein solches Rindendach ein halbes
Jahrhundert stehen, ohne Sprünge zu bekommen. Während die Bauleute,
nun nicht mehr unter freiem Himmel, sondern das Dach über sich, ge-
schützt vor dem Wetter, es mag draussen zugehen wie es will, die Arbeiten
ausführen können, die noch zu besorgen sind, als da ist: Boden und Decke
legen, Wände täfeln, Fenster einsetzen, mauern, Öfen errichten, Fallstücke
auf die Hahnenbalken zwischen die Querbalken setzen, Thüren einsetzen
und dergleichen Kleinigkeiten mehr, haben sich andere daran gemacht,
aus Stein und Torf die Wände der Rauchstube aufzuführen, die am oberen
Ende an das Haus angebaut werden soll, doch so, dass das Dach bisweilen
etwas niedriger ist und nur bis etwa zur Hälfte des Hausgiebels reicht.
Innerhalb der Mauern kommt dann Riegel- und Sparrenwerk, getragen von
Stolpen, und trägt das Dach wie in den anderen Häusern. Der schmale
Gang zwischen den Wänden und der Panelierung wird zu Alkove - Schlaf-
stellen verwendet, die mittels einer Schubthür von der Rauchstube aus
zugänglich sind. Zur Bedachung der Rauchstube verwendet man selten
Birkenrinde, sondern legt nur Stroh unter die Torfrasenziegel; über die
Alkoven legt man jedoch meist Birkenrinde.
Unter dem Hausbau kam ein Mann aus Thorshavn her nach Westen;
er gedachte hier zu übernachten, doch heftige Brandung zwang ihn, mehrere
Tage auf der Insel zu weilen. Er schlenderte im Dorfe herum und liess
sich in ein Gespräch mit den Bauleuten ein und begann sie zu fragen,
welchen Taglohn ein Handwerker hier im Westen bekäme. Sie ant-
worteten, sie wüssten es nicht; er glaubte, er habe sich schlecht aus-
gedrückt, und der Mann habe nicht verstanden, was er meine, und brachte
-deshalb nochmals seine Frage vor; doch der Zimmermann antwortete:
„Wir denken an keinen Lohn für unsere Arbeit, sobald das Haus fertig
ist, wird ein Fest abgehalten, und dazu kommen wir alle; — hier will
einer sich niederlassen, der unserer Hilfe bedarf; sollten wir jemals in die
Lage kommen, ihn um seine Hilfe anzusprechen, so wissen wir, dass er
164
Jiriczek:
damit nicht zögern wird.“ Diese Antwort prägte sich der Nordmann gut
ein, um nachher erzählen zu können, was auf Mikines Brauch sei und wie
hilfreich hier im Westen einer gegen den anderen sei.
Der Ansiedler und seine junge Frau haben uns gebeten, nach Westen
zu kommen und sie den kommenden Sommer am St. Svitunstag (2. Juli)
zu besuchen, wenn es das Wetter erlaubt. Wie unser Boot um die Land-
zunge gleitet und gegen die Kluft zufährt, erblicken es Leute, die am
Berge stehen und melden die Ankunft der Gäste. Die Gatten eilen herab,
um uns zu empfangen und führen uns von dem felsigen Strande hinauf zu
ihrem Hofe. Der Weg geht am Fischdörrhause [fiskahjallur] vorbei, zu
dem wir zuerst kommen; die Giebelwände beiderseits sind wohl gearbeitet,
die dazwischen befindlichen Sprossen frisch geteert; wir gucken hindurch
und sehen ein Bündel Kohlenfische und ein anderes mit Kleinfischen
drinnen hängen und die Querstangen voll von ausgeweideten und paar-
weise zusammengebundenen Fischen1). In der Nähe des Hofes steht das
Fleischdörrhaus; ein Holzschloss ist vorgelegt, doch steckt der Schlüssel
und wir können eintreten, um nach dem Dörrfleische zu sehen; doch
ist davon wenig vorhanden, da das Jahr schon so weit vorgeschritten ist;
das Dörrhaus ist gut gearbeitet, die Sprossen schmal, damit der Wind
tüchtig durchziehen kann, die Eckpfosten stark und mit Querbändern gut
befestigt, und ein dicker Gürtel läuft um die Mitte der Sprossen; Eisen-
stangen aus dem Riegelwerk in den vier Ecken sind mit dem untersten
Steine der Steinhaufen verbunden, auf denen das Riegelwerk ruht, damit
der Wind das Dörrhaus nicht vom Grunde losreisse. Das dritte Aussen-
haus (Wirtschaftsgebäude) ist der Kuhstall, der dem Hofe zunächst steht,
gerade gegenüber der Rauchstubenthür; das ist hier wie überall auf den
Inseln ein niederes, finsteres und unappetitliches Stein- und Torf-Gebäude.
Sie besassen eine Kuh und eine Färse, die beide im Freien weideten, und
ein Stierkalb, das im Hauszaune stand und brüllte. Wir gelangen jetzt
zu den Wohnhäusern. Infolge des trockenen Frühjahres war das Holz
frühzeitig gesprungen und konnte nunmehr innen und aussen endgiltig
verschlagen werden, und nun war alles fertig und von aussen geteert.
Wir erfassen das Klinkenband, öffnen und gehen durch die Yorstube, in
der die Mühle steht, in die Rauchstube. Hier war kein Fenster, das Licht
fiel durch die Luke mitten in der Dachwölbung herein. Unser Blick fiel
zuerst auf den Lukenrahmen1 2), der mit dem Messer schön geschnitzt und
mit Namen und Jahreszahl versehen war; die Deckhaut war mittels der
Hebestange, die an einem Querbalken angebunden war, aus dem Rahmen
gehoben. Über dem Feuer in der Esse hing an einem Haken ein Kessel
1) Grössere Fische werden ausgeweidet, um schneller zu dörren, kleinere bleiben
ganz (Mitt. Hammershaimbs).
2) genauer: Ijöarabogi-, zur Erklärung vergl. Jahrgang II dieser Zeitschrift, S. 155,
Anmerkung.
Bilder aus dem fteröischen Volksleben.
165
und herum standen Sitzbänke, unter denen Torfstücke lagen, Dreibeine,
Baumstümpfe und Walrückenwirbel zum Sitzen; an den Wänden und den
Alkoven liefen Bänke. Von dem gestampften Erdboden der Rauchstube
treten wir über eine Thürschwelle in die Glasstube, die ungefähr acht
Ellen tief, sechs lang, und drei innerhalb des Gebälkes, somit gute viert-
halb zwischen Fussboden und Decke, hoch war; hier standen Tische, Stühle,
Kisten und Betten. Von hier gelangten wir in eine Küche, wo ein Herd
zum Feuern der beiden Ofen stand, die sich in der Kammer und in der
letzten und schönsten Stube befinden. Von der Küche führt eine Thür in
das Tun, durch die man Unbekannte führt, wenn man sie ehren und in
die Hauptstube geleiten will; hier war auch eine Leiter, auf der man auf
den Boden steigen konnte, wollte man sich dort nach den Vorräten an
Wolle, Getreide und ähnlichem umsehen; Roggen, Stroh und ähnliches
waren in die Winkel gelegt worden. Alles das war schön zu sehen, das
beste aber, was man sehen konnte, war die Freude, die von den Gesichtern
des jungen Ehepaares strahlte, dass sie alles das besassen und gegeneinander
so gut waren, dass sie sich Glück und gute Tage für die Zukunft erhoffen
durften.
Die Ausfahrt.
Von den Fgeringem geht das Wort, dass sie mit einem Ruder in der
Hand zur Welt kommen. Das ist wohl eine Übertreibung und nicht buch-
stäblich zu nehmen; doch das ist richtig, dass die meisten Kinder, die hier
geboren werden, schon eine Seefahrt mitgemacht und oft einen recht un-
angenehmen Sturm im Boote überstanden haben, noch ehe sie zwei Wochen
alt waren; denn länger lässt man ungern die Kinder ungetauft, und führt
sie daher oft weite Strecken dem Priester zur Taufe zu, es sei Sommer
oder Winter. Und das erste, womit die Jungen zu spielen beginnen, sind
kleine Boote, die sie zu ihrem grössten Jubel in Wassertonnen, Pfützen
oder im Bache und unter der Wasserrinne1) in der Hausmark schwimmen
lassen. Alle Bygden (Dörfer) liegen am Strande, mit Ausnahme eines
Fleckens auf Nordstreymoy, der zur Bygd „i Kollafirdi“ gehört. Legt nun
ein Boot an, so kommen die Kinder zum Strande hinab und bitten, sie in
das Boot zu lassen, während die Ladung gelöscht wird, und ist es leer
und die Brandung nicht besonders schlimm, wird ihnen gern die Erlaubnis
gegeben, ein Stückchen vom Lande zu fahren und zu rudern, so gut sie
es eben treffen, wenn auch die Griffe nicht just so sind, wie sie sein sollten.
Die Ruder, die hier gebräuchlich sind, sind leicht zu handhaben, kurz, mit
schmalem Blatt, damit man das Boot schützen und die Woge einschlagen
kann, die in das Boot zu stürzen droht; es dauert daher garnicht lange,
1) faer. Icekja „eine in einem Bache (wo er einen kleinen Fall bildet) angebrachte
Kinne, durch die das Wasser läuft und ivoher man das Wasser holt“ FA. Ordsaml. s. v.
Zeitschr. d, Vereins f. Volkskunde. 1893. 12
166
Jiriczek:
bis der Junge ein Ruder halten und so führen kann, dass man es merkt,
wenn er mit den anderen Männern an der Reeling sitzt, und daher kommt
es, dass man sie oft schon in früher Jugend zur Ausfahrt mitnimmt, damit
sie sich früh an die See gewöhnen: denn das ist ja das grösste und beste
im Leben für den Fasring.
Es war zur Zeit der Lichtmesse; die Fischerei im Hochwinter war
kärglich ausgefallen, denn das Wetter war ungünstig zur Ausfahrt ge-
wesen, und die langen Wochen erzwungener Unthätigkeit hatten viele
Familien der Armut nahegebracht; denn wo die See ihren Beitrag versagt,
herrscht Rot auf den Faeröern. Jetzt aber verbreitete sich die Nachricht,
dass sich der Februarschellfisch vor Nolsö gezeigt habe, und somit musste
man darauf bedacht sein, Muscheln und Meerschnecken zum Köder zu
sammeln, und darüber verging ein Tag. Die Strömung ging gerade hart,
und da fischt es sich am besten nach der Steinscholle; doch diese Strömung
gehörte zu den argen, da der Mond der Erde zunächst stand, und deshalb
war es ein gefährliches Wagestück, auszufahren, wenn nicht ruhiges, an-
dauerndes Wetter herrschte. Leicht begreiflich, dass die Fischer überall
in schlechtem Humor und geringer Geduld am Lande umhergegangen
waren und ausgespäht hatten, ob das Wetter Gelegenheit zur Ausfahrt
geben werde, denn sie sehnten sich alle hinauszukommen und aus der
See wieder eine Mahlzeit zu holen! — Nun aber war eine Ruhepause ein-
getreten, der Wind legte sich gegen Abend, der Wolkenzug hörte fast auf,
so dass man ihn nur am Monde vorbeitreiben sah. Der Tag brach in
vollem Sonnenschein an; schon nach Mitternacht hatte N. alle Bootsleute
geweckt und sie angetrieben, rasch zum Felsabsatz herabzukommen und
die Köder an der Leine zu befestigen. Er versprach sich einen guten
„Weckfisch“1) heute, weil sich grosse Frühjahrsfische im Steinschollenzuge
befanden; der „Weckfisch“ und „Haltefisch“ fallen ausserhalb der Teilung
jenen zu, welche wecken, beziehungsweise das Boot am Fischstande stille
halten, als Lohn für die Arbeit, die den anderen allen zu gute kommt.
Bei dem Befestigen des Köders wurden auch die Schnüre und Haken
untersucht, ob sie wohl angebunden, ob kein Schade am Haken sei, weder
an seinem Halse noch am Bogen, am Schnabel oder am Köderhalter. Eine
Weile darauf waren sie vom Lande abgestossen, der Morgensang erklang,
so dass man ihn weithin in allen Gehöften hörte:
„Auf Deine Gnade bau’ ich,
geb’ mich in Deine Hand . .. .“1 2)
1) fser. vökufiskur, vaktafiskur: „Fisch, den derjenige zum Lohne erhält, der die
Bootsmannschaft frühmorgens weckt und versammelt“ (FA. Ords. s. v.); vergl. gleich unten
im Texte.
2) Im Originale dänisch; aus Hans Thomissöns Kirchenlied: „Jeg vil mig Herren
love“ (mitgeteilt von Pr. Hammershaimb).
Bilder aus dem faeröischcn Volksleben.
167
und die, so daheim geblieben waren, legten ihr Gebet hinzu: „Jesus sei
mit ihnen und sende sie wohlbehalten zurück!“
Sie hatten gutes Wetter auf dem Wege zur Fischbank, doch die
Strömung ging scharf und die Westflut brauste wie ein Wasserfall, und
als sie um die Landzungen hinaus kamen, gingen die Wogen so hohl, dass
sie kaum den obersten Rand von Nolsös steiler Südküste sahen, wenn sich
das Boot im Wellenthale befand. Eine kleine Weile ging der Wind von
Süden und die Strömung folgte nun der Windrichtung und setzte die See
in Aufruhr; sie trösteten sich damit, dass die See glätter würde, wenn die
Flut vorbei wäre. Sie hatte ihren Höhepunkt überschritten, als sie zu
den Fischbänken kamen, und so legten sie denn die Leine aus, acht
Leinenlängen1) den Grund entlang. Während die Leine auslag, griffen
einige zu den Zwieseln und Angeln, die sie mitgenommen hatten, um es
mit den Schnüren zu versuchen, und manche Heilbutte und sonstige gute
Fische wurden aufgezogen, nun die Flut sich gelegt hatte. Die Flutstille
war eingetreten, da ruderten sie nun zu der Fischblase [ein aufgeblasener
und gedörrter Walfischmagen], die an der Oberleine befestigt war, um die
Grundleine aufzuziehen. Der Fang bei diesem ersten Aufzug war nicht
so schlecht, aber ein Heringshai strich um das Boot und war so zudring-
lich, dass es schon schändlich war, wie er die Steinschollen, die an der
Leine waren, verschlang und die Fische in der Mitte abschnappte, als die
Leine über Bord gehoben wurde. Das war ganz unerträglich; Harpune
und Zug- und Bootshaaken hatte man ja im Boote; — eine fette Leng1 2 *)-
Leber wurde auf die Grossangel gesteckt und dem Hai vorgeworfen; der
wTar nicht faul, den Bissen zu verschlingen und die Männer rasch bei der
Hand, ihn mit dem Bootshaken zu stechen, mit Messern zu verwunden
und zu töten, ihn aufzuschneiden und seine Leber ins Boot zu schaffen.
Run wurde wieder ausgeworfen, aber es geriet nicht recht; da die Strömung
so stark war, kam die Leine in Unordnung, musste wieder aufgenommen
werden und zeigte sich da verfitzt wie ein Knäuel; es bedurfte einiger
Zeit, sie zu entwirren, ehe sie wieder ausgeworfen werden konnte. So
ging der Tag nicht ganz ohne Verdruss ab, doch war der Fang gut, und
da sie gern eine rechte Ladung heimbringen wollten, zog sich ihr Aufent-
halt länger hinaus, als sie beabsichtigt hatten; — doch nun sollte nicht
mehr ausgeworfen, sondern an die Heimfahrt gedacht werden. Das Wetter
war den ganzen Tag über gut gewesen; doch durfte man ihm nicht trauen;
die See ist klug, sagt ein Sprichwort, und man muss sich nach ihr richten:
hier draussen ging Wellenschlag, um das Högniriff8) stand heftige Bran-
dung, am Strande hatte es stark gebrandet; — diese Unruhe in der See
1) à 60—80 Faden s. FA. Ords. s. v. djupshcedd.
2) Lota molva.
8) Högnabodi, Blindschäre vor Rituvlk an der Südostspitze von Osterò (FA. II 482).
12*
1G8
Jiriczek:
deutete auf ein Unwetter, das im Anzuge war. Doch noch war es erträg-
lich und gut und darum ruderten sie alle acht getrost dem Hafen vor dem
Steven zu. In festem Rudern kamen sie rasch vorwärts, und sie hatten
die grössten Schwierigkeiten mit den Stromwirbeln und -Läufen bereits
überwunden, da brach ein Unwetter mit Wirbelwind und Schneegestöber
von Nord-Nord-West über sie herein, das Boot musste gegen den Wind
gelegt und zwei Ruder eingezogen werden, denn es galt zu schöpfen, da
das Boot stark belastet war; solange Aussicht war, das Land zu erreichen,
zögerte man, etwas von dem Fange hinauszuwerfen; doch das Rudern
gegen den Wind war anstrengend und die Männer begannen müde zu
werden, so dass es bisweilen eher rückwärts als vorwärts zu gehen schien.
Es war dunkel und kein Strich auf dem Kompass zu erkennen; sie ruderten
lange und wussten nicht, wo sie waren, doch hielt man beständig gegen
den Wind. Sieht man weder Land noch Kompass, so wird die Zeit lang
in einem Boote, das im Unwetter zur See ist, und es kann nicht geleugnet
werden, dass ein paar von den Männern um die Heimkehr besorgt wurden
und den Mut zu verlieren begannen, und alle sehnten sich danach, es
möchte bald aufhören, damit sie doch wüssten, wohin sie steuern sollten.
Wie sie nun so sitzen und sich ins Zeug legen und mit übermenschlicher
Kraft rudern, merken sie an dem minderen Seegange, in dem sie sich nun
befinden, dass sie aus der Strömung unter das Land gekommen sind, und
in allen belebt sich der Mut wiederum und keiner spart den letzten Rest
seiner Kraft, jeder greift zu, so kräftig er kann — da kommt der Rück-
schlag der ans Land anprallenden Wellen an den Steuerbord, und gleich-
zeitig ruft der Ruderer an den Steuerbordsdillen: „Land!“ und der vorderste
Mann auf der Hinterbordsbank: „Nesslid!1) Skardhamar8) gerade vor dem
Steven!“ Der Wind hatte sich gedreht und blies nun gerade aus Norden;
aussen vor Skardhamar kamen sie in Deckung und hier hielten sie nun
ein, um die Müdigkeit vergehen zu lassen und eine Weile auszuruhen, ehe
die letzten Ruderschläge heim bis zur Leite gemacht wurden.
Dort zu Hause herrschte Unruhe; — man hatte das Boot zeitig heim
erwartet und aus jedem Hause, aus dem der Mann auf die Fischerei aus-
gefahren war, waren die Frauen, jede mit ihrem Kaffeekrug und gehacktem
Zucker, in die Pfarrei gekommen, damit sie den Männern bei ihrer Heim-
kehr einen heissen Trank bieten könnten. Sie hatten eine gute Weile
gesessen, da brach der Sturm los und schlug das bange Frauenherz mit
Entsetzen; bebend eilten sie auf den Hügel hinaus, um zu spähen und zu
lauschen, und wieder herein zu den anderen, um die Trauerbotschaft zu
überbringen, dass sich noch nichts von ihnen zeige. Der Sturm wehte fast
das Haus um; — nun wirbelte vom Kollafjord dichter Seerauch herüber, 1 2
1) Bergleite bei dem Dorfe ä Nesi auf Österö, FA. II 438.
2) Klippe am Strande unter Nesslid, FA. II 443.
Bilder aus dem fseröischen Volksleben. •
169
die Windsbraut packte die Häuser, dass alles bebte und zitterte, doch noch
mehr bebte das Frauenherz, das an den Mann und die anderen im Boote
dachte: „sie machten es nicht, wie es jetzt tobt, sie finden den Kurs
nicht bei dieser Finsternis,“ so klagen die armen Frauen und gehen angst-
voll und friedlos in der Rauchstube hin und her; der Pastor und seine
Frau gehen, selbst voll Bangen und Sorge, zwischen ihnen umher und
versuchen sie zu beruhigen und ihnen Geduld und Hoffnung zuzusprechen.
„Jetzt höre ich ein Boot singen!“ ruft voll Freude eine der Frauen und
alle verstummen, um zu lauschen, ob es das Boot ist, das sie so heiss er-
sehnen. „Gott sei Lob! es sind unsere Männer, ich erkenne die Stimmen!“
Sorge und Trauer war nun zu Freude und Dank umgeschlagen, und
während jene mit dem Boote vor der Klippe so lange hielten, bis die
letzten Yerse des Psalmes ausgesungen waren, kamen sie alle mit dem
heissen Tranke zum Strande und erwarteten sie schon, als sie landeten; die
Thränen flössen, als sich die Gatten wiederfanden und sich um den Hals
fielen, sie wussten nicht, wie froh sie sein sollten. Dann wurde die Beute
aus dem Boote geworfen, das Boot auf die Walzen geschoben, in das Boot-
haus gezogen und mit Stützen befestigt; dann ging man nach Hause, und
inniger als an manch anderem Abend wurde Gott im Abendgebete Dank
gesagt für die Gnade, die er ihnen heute erwiesen. —
(Schluss folgt.)
Sagen und Gebräuche im Stubaithal in Tirol.
Von Paul Greussing.
Etwa zwei Stunden in südlicher Richtung von Innsbruck, dort wo der
ungeheure Bogen der Stefansbrücke sein steinernes Gewölbe über den
Ruezbach in schwindelnder Höhe erhebt, und wo dieser Fluss in die Sill
sich ergiesst, mündet das Stubaithal in das Sill- oder Wippthal.
Koch wenig berührt vom Hauche der modernen Welt, lebt hier der
Bauer in kleiner Hütte inmitten der herrlichen Fluren, der starren Felsen,
der eisigen Gletscher, die in Südwesten seine Heimat begrenzen.
Neustift heisst das innerste, höchstgelegene Dorf des Thaies, dessen
Alpen vom ewigen Schnee begrenzt werden.
Diese entlegenste Gemeinde birgt auch den grössten Schatz an Sagen.
Die Sonne ist bereits versunken, nur von der höchsten Spitze des
Ferners leuchtet noch ihr letzter Scheidegruss.
170 Grcussing:
Ein müder Wanderer, betrete ich die rassige Almhiitte zu Mutterberg.
Der Senne schürt gerade an seinem Feuer. „Grüess Gott!“ lautet sein
freundlicher Grass, „Heut ä amäl da heroben?“ Er rührt indes mit
hölzernem Löffel das „Muas“ (Mus, eine Speise aus Mehl und Milch) ohne
mich weiter zu mustern. „Kann ich vielleicht heute bei Euch übernachten?“
„Warum nit, wenn Enk (Euch) Heu und Stroh zur Liegerstatt guet gnuag
ist?“ „Könnt ich vielleicht auch etwas zum Essen bekommen?“ Uber
das lodernde Feuer hinweg schnitt mir der Senne, dessen Alter schwer zu
bestimmen gewesen wäre, ein komisch-ernstes Gesicht zu. „Na, na,
a Schnapsl und an Butter und a Brot kunts haben — aber wias mit dem
Müasl da geht, dös woas der liebe Herrgott und Seppeies Gretl!“
Erstaunt über den dunklen Sinn des letzten Teiles seiner Antwort
schaute ich in das sonnenverbrannte, mit tüchtigem „Hatzen“ (Schnurrbart)
geschmückte Antlitz des Alten, dessen Augen jetzt aber prüfend das „Muas“
visitierten. Endlich nahm er die Pfanne vom lodernden Feuer, stellte sie
auf den aus Steinen erbauten Herd nieder und seufzte beinahe: „Sehens
Herr, dö Milch ist verhext, heut war Seppeies Gretel betteln da auf’n
Käser (Sennhütte) und i bin just nit gut auf (unwohl) gewesen und da
hab i sie über die Hütten gejagt und nachher hat mir das vergebene
(nichtsnutzige) Weibsbild die Milch verhext. Da kunnt i rühren bis zum
jüngsten Tag, es blieb olm (immer) lauter.“
Ich wusste, dass ich, wenn ich es mit dem Alten nicht verderben
wollte, seine Meinung nicht belächeln durfte und mir war es daran ge-
legen, noch mehreres aus dem Schatzkästlein des Aberglaubens und der
Sagen gerade aus seinem Munde zu erfahren, denn er war mir als der-
jenige bezeichnet worden, dem sämtliche „Gschichten“ von Hexen u. s. w.
bekannt wären.
„Jetzt muss i schleunig um geweichte (geweihte) Kohlen und um a
Weichwasser gehn,“ fuhr der Alte fort „und das muss i in Stall eingraben,
dann kanns in Yiech nix mehr anhaben.“
„Giebt es da bei Euch auch noch Hexen?“ fragte ich den Senner.
Ich nahm meine Feldflasche, gefüllt mit altem Kirschengeist, und
reichte sie ihm zum Trünke dar.
Bald war unsere Unterhaltung in Fluss und er erzählte mir un-
aufgefordert folgendes.
Auf der Alpe Mutterberg sieht man zuweilen in mondhellen Nächten
einen sclrwarzen Stier mit weissem Stirnfleck, es ist der Geist eines Senners,
der das Yieh misshandelt hat. Zur Strafe dafür muss er als Stier um-
gehen. Er kann jedoch erlöst werden, weil er ein „Zintl“ ist, d. h. einen
weissen Stirnfleck hat.
Zu Grabach sieht man hie und da eine „Fackelsau“ (Mutterschwein).
Es war dort einstmals ein Hirte, der die fremden Schweine Hunger leiden
liess, während er seine eigenen gut fütterte. Er wurde dafür nach seinem
Sagen und Gebräuche aus dem Stübaithal in Tirol.
171
Tode in eine Fackelsau verwandelt und muss als solche bis zum jüngsten
Tage umgehen. —
Auf der Schongeloar Alm zeigt sich manchmal ein graues Männlein,
das ist aber nicht böswillig und die Almleute lassen dasselbe im Heu über-
nachten. Man nennt es „Schongloar Gilgl“. Die Leute vermuten, dass es
der Geist eines Kuhhirten ist, der Milch gestohlen hat. —
Auf der Autenalm, gerade oberhalb Neustift, wohnt ein gespenstiges
Wesen, man nennt dasselbe „Autens Breatlecke“. Oftmals rumort dasselbe
ganz fürchterlich.
Zu „Nuirath“ (Neurauth) sieht man manchmal einen Hund. Man
braucht nur längere Zeit zu horchen, natürlich nach „Betläuten“, dann
hört man pfeifen. Pfeift man auch, so erscheint ein gespenstiger Hund.
Man nennt ihn „Nuirath Würstler“. Es ist der Geist eines Hirten.
Auf der Kiihalpe zu Oberiss aber haben sie vor etwa 20 Jahren einen
Kühstier gehabt, der hat den Kühen die Milch aus dem Euter getrunken.
Aus diesem Grunde verkaufte man den Stier nach Milders. Dort jedoch
setzte derselbe sein Diebeshandwerk fort und als ihn deshalb eine Dirne
züchtigen wollte, war er spurlos verschwunden. Es ist der Geist eines
Senners gewesen, der die Kühe heimlich im Walde gemolken hat und auf
diese Weise die Eigentümer betrog. —
In früheren Zeiten hatte beinahe jede Almhütte ihre „Wichteln“ oder
„Ungeschicht“, jetzt aber sind sie auf die höheren Berge gezogen, weil
der Unglaube überhand nimmt. Hie und da jedoch, wenn es droben recht
wettert, kommen sie auf Besuch herunter. Sie sind aber dann unsichtbar
und man vernimmt nur auf einmal hinter der Ofenbank ein Knistern und
Kratzen. Manchmal hört man sie auch lachen oder weinen. Es sind un-
getaufte Kinder.
Yor vielen, vielen Jahren war einmal zu Stubai die Pest und die
Leichen standen von der Pfarrkirche zu Telfes bis zum Ende des ziem-
lich langen Dorfes. Dazumal war nämlich Telfes die einzige Kirche im
Thale. Nach und nach sind alle Personen ausgestorben, bis auf zwei alte
Leute in Neustift. Diese sassen eines Abends vor der Thür ihrer hölzernen
Hütte und besprachen sich eben, was aus ihnen werden sollte. Da kam
ein spannlanges Männlein und sang:
„I bin so grau, i bin so alt,
Denk Spitzwies zweimal Wies’ und zweimal Wald.
Esst’s Kranebitt und Biberneil,
Packt Enk der Tisel1) nit so schnell.“
Ehe sich die Überraschten erholen konnten, war das Ungeschicht ver-
schwunden. Sie assen beide Wachholderbeeren und Bibernell und siehe —
sie blieben verschont. Später kam der Norg öfters zum alten Ehepaare in
1) Tisel: influenzaartige Krankheit.
172
Greussing':
„Hoangart“ (Heimgarten zum Geplauder), insbesondere, wenn draussen die
Flocken, wirbelten und der Gletscliersturm beulte. Er setzte sich dann zu
ihnen auf die Ofenbank und erteilte manch nützlichen Rat über Vieh und
Viehzucht. —
Es giebt aber auch böswillige Norgen. So hat erst vor einem Jahre
ein solches Ding bei einem Bauern zu Vergor zwei Kühe an eine Kette
gehängt. Zufällig war mein heutiger Wirt zugegen. Er legte zwei Weiden-
stöcke in Form eines Kreuzes über die Ketten und sofort sprangen selbe
nach kurzer Bemühung auseinander. Ohne dies Mittel wäre es nicht mög-
lich gewesen, die zwei Rinder zu trennen. —
Beim Buckeier zu Telfes trieb noch vor wenigen Jahren ein Un-
geschicht sein Schabernack. Es löschte nächtlicher Weile die Lichter in
der Stube aus, peinigte die melkenden Knechte, warf Steine u. s. w. Er-
schraken die Leute, dann hörte man ein gellendes Lachen. Auch beim
Tannerbauern zu Telfes geschah im verflossenen Jahre ähnlicher Spuk,
jedoch ist man dort noch im Zweifel, ob es ein Norg oder arme Seelen
waren. Manche behaupteten sogar, es sei der Teufel gewesen.
Den ganzen Sommer über wohnen unsichtbarerweise die Kaser-
törggelen auf den Almen. Das sind sonst harmlose Wesen, nur die
Neugierde können sie nicht vertragen.
Um Martini ziehen sie von der Alm ab und da segnen die Leute ihre
Häuser, wenn sie abends zwischen 8 — 9 im Dorfe vorbeiwandern. Man
verscliliesst dann die Fensterbalken so fest als möglich. War aber einmal
ein neugieriger Knecht und schaute heimlich hinaus. Da zogen sie vor-
über, eine ungezählte Kinderschar. Schon kamen die letzten heran. Auf
einmal erklang eine Kinderstimme: „Geh, thu dös Balkl zu!“ Sofort war
der Knecht erblindet.
Er versuchte alle möglichen Mittel zur Heilung, er befragte fromme
Priester — vergebens. Da gab ihm endlich eine alte Bäuerin den Rat:
„Nächstes Jahr mehr (wieder) zu schauen.“ Er that es. Richtig wanderten
die geisterhaften Kinder wieder vorbei. Schon glaubte der Arme, sie wären
vorüber, als eine Stimme ertönte: „Geh, thu dös Balkl auf!“ Er wurde
sofort wieder sehend. —
Ein anderes Mal begegnete ein Knecht, der es mit den Weibsbildern
mehr als nötig zu thun hatte, auf der Strasse zwischen Fülpmess und
Mieders den abziehenden Kasertörggelen. Ganz zuletzt humpelte ein kleines
Kind dem Zuge nach. Es war im Hemde, aber dasselbe war viel zu lang,
so dass es vom Kinde nachgeschleppt wurde.
Der übermütige Bursche fing zu lachen an, erstarrte jedoch sofort vor
Schreck, denn das Kleine sagte: „Vater, derfst nit z’lachen, weil mir kein
besseres Leichentuch geben hast.“ —
Was die Hexen anbetrifft, so giebt es solche in Stubai noch in grosser
Menge. Jeden „Pfinstig“ (Donnerstag) versammeln sie sich zum Hexen-
Sagen und Gebräuche aus dem Stubaithal in Tirol.
173
sabbat am Sailjoche. Sie machen die bösen Wetter und wenn die grosse
Glocke von Telfes nicht wäre, dann würden die Fruchtfelder schon längst
in Murbrüche verwandelt sein. Besonders kräftig gegen das Verhexen
der Früchte ist es, wenn man im Frühjahr geweihte Kohlen in die
Erde legt.
Der Andrä Volderauer, ein Bauersohn aus Telfes, hat erst neulich am
Sailsteg eine Hexe gesehen. Sie war weiss gekleidet. Der O.chsener
Wurzer hat die Hexen deutlich schreien gehört am Sailerboden. Den
Buckeier Bauern aus Telfes begegneten auch einmal zwei Hexen, und die
haben ihn so böse angeschaut, dass er vor Schreck das Kreuz schlug und
über Stock und Stein von dannen eilte.
Der Brantner Bauer zu Telfes gab vor etwa 10 Jahren einen feisten
Ochsen auf die Alm unter Sailjoch. Da kommt eines schönen Tages ein
Bursche und meldet, er solle schnell kommen, der Ochse sei verhext. Da
ist der Brantner wohl eilig mit geweihtem Salz auf die Alm — aber zu
spät. Der Ochse stand wohl oben — aber nur die Haut war über die
Knochen gespannt und er zitterte wie Moosrohr. Die Hexen, hatten nachts
ein Gelag gegeben und das Fleisch dazu vom Brantner Öchselein heraus-
gezaubert. —
Der alte Jörgele von Gabers traf einmal zu oberst auf der Saile eine
Hexe. Sie sprach kein Wort und strickte. Natürlich suchte Jörgele so
bald als thunlich aus dem Bereiche der schweigsamen Hexe zu kommen,
denn erst etliche Jahre sind es her, dass ein Fremder da oben einschlief
und des andern Morgens zu Völs bei Innsbruck erwachte. —
Wenn es recht blitzt und donnert, betet der Landmann: „Heiligs
Benediktus Kreuz, neunmal g’segnet, neunmal g’weiht, Jnri Jesus von
Nazareth, König der Juden, bewahre uns vor jähem Tod!“ und kein Blitz,
aus Hexenhand geschleudert, kann treffen. —
Die Glocke von Telfes aber hat eine solche Kraft gegen die verhexten
Wetter, dass schon beim ersten Tone die Wolken nördlich gegen Kreith
ziehen. Aus diesem Grunde trugen die Kreither den Telfesern 2000 Fl.
unter der Bedingung an, dass sie die Glocke nimmer läuten. Die Telfeser
aber natürlich als die „Gscheidern“ gingen diesen Vertrag nicht ein. —
Um Johannis und Bartlmä nachts 12 Uhr blühen die Schätze, d. h.
man sieht an der Stelle, wo Geld begraben liegt, einen Lichtschein. Ins-
besondere am sogenannten „Rastbiclil“ (ehemalige Totenrast) liegt ein
Schatz vergraben. Denselben wollte einstmals ein Bauer heben und er
war schon in der Arbeit, als zwei „Löter“ (Männer) in uralter Tracht er-
schienen. Von Furcht erfasst, suchte der Schatzgräber das Weite. —
In der Nähe des Oberberger Sees liegt eine goldene Gans vergraben.
Ein Gaisbub sah vor einigen Jahren dortselbst einen Stein, auf welchem
eine Gans eingemeisselt war. Er berichtete dies dem Senner. Als aber
beide einige Stunden später danach suchten, war der Stein verschwunden.
174
Greussing:
Hätte der dumme Bub zwei Holzstäbe kreuzweise über den Stein gelegt,
dann hätte er die Stelle wieder gefunden und wäre beute samt dem Senner
ein steinreicher Mann. Die Gans ist ein alter Heidengott, der vor tausend
Jahren während Feindesgefahr vergraben wurde. —
Zwischen Fulpmes und Mieders liegt ein Wald, Gschnals genannt.
Dort sieht man noch heutzutage nachts ein Lichtlein. Selbiges hüpft herum
und beginnt schliesslich zu „juchzen“ (juhu schreien); es ist der Gschnals-
juchzer. Wagt es irgend ein kecker Bursche, nachzujuchzen — hui —
dann ist das Licht bei ihm und wäre er eine Stunde davon entfernt
gewesen.
Als anno 1809 die Bayern zu Telfes ihr Quartier aufgeschlagen hatten,
wohnte dortselbst auch ein Major. Er wagte es, trotz Warnung der Leute,
das Licht zu verhöhnen. Da kam er schön an. Ihm und seinen Soldaten
wurden die Gesichter gar arg zerkratzt und er musste endlich fliehen.
Nicht besser ging es einem Schmid zu Fulpmes, der sich unterfangen
hatte, zu spotten.
Hie und da sieht man den Gschnalsjuchzer zu Telfes am letzten
Hause als „Loter“ ohne Kopf nächtlicherweile auf der Bank sitzen1).
Der Gschnalsjuchzer begegnete auch einst einem Geistlichen als Mann
ohne Kopf. Er hielt dem Erschrockenen ein Kind vor. Die Leute glaubten,
der Hochwürdige hätte das Kind taufen sollen, dann wäre der Gschnals-
juchzer erlöst worden. —
Yor etwa fünfzig Jahren hütete am Schönberg ein Knabe Ziegen. Auf
einmal kam ein Hund des Weges daher, der hatte statt des Kopfes einen
Ganskragen auf. Wahrscheinlich war es auch der Gschnalsjuchzer. —
Als noch sämtliche Bewohner Stubais nach Telfes Kirchen gehen
mussten, lebte zu Neustift ein gar gottesfiirchtiges Weibele. Sie war alt
und krank und dennoch wollte sie um Weihnacht die Mitternachtsmesse
besuchen. Als sie Telfes erreichte, war es aber leider schon halb ein Uhr.
Wie erstaunte sie jedoch: beim Eintritt in die Kirche gab der Priester
soeben den ersten Segen. Gott hatte es so gefügt. Der Priester hatte
mit der heiligen Handlung nicht eher beginnen können, bis das Weibele
erschienen war.
Zur gleichen Zeit lebte in Neustift ein riesenstarker Mann, Ameis-
berger genannt. Der trug einst einen gestohlenen Stier lebend übers Joch
und verspeiste selben innerhalb zwei Tage. Es war ein Waldmensch.
Sein Bild ist an der Decke der Pfarrkirche in Innsbruck gemalt. Es
ist der Mann, welcher in beiden Händen eine zerrissene Kette schwingt.
1) Ich selbst sah im Jahre 1880, am 7. Dezember, 6 Uhr abends, ein schneeweisses
Licht zu Gschnals. Es glich einer Kugel, war erst klein, wuchs zur Grösse einer gewöhn-
lichen Kegelkugel an und verschwand wieder. Trotz herrschenden Südwindes konnte man
nicht die mindeste Bewegung der Flamme entdecken.
Sagen und Gebräuche aus dem Stubaithal in Tirol.
175
Zu Gschnitz war einst ein Seelsorger, ein frommer Mann, der konnte
Teufel austreiben. Er hatte nach Hunderten geheilt. In Stubai gab es
früher viele solcher Besessenen.
Eine Stunde ober Mieders ist ein unterirdischer See, der Wildmöser
See. Vor einigen Jahren fiel eine Botin hinein und ward bei Hall im
Unterinnthal als Leiche aufgefischt. Der See hat also einen unterirdischen
Abfluss. Ändert sich die Witterung, so hört man den See donnern. Heute
ist er ganz mit Schilf überwachsen. Dieser See wird nach einer alten
Prophezeiung einst ganz Mieders überschwemmen, wie es vor hundert
Jahren schon geschehen ist.
Wo heute das erste Haus in Mieders steht, war einst das letzte, d. h.
ganz Mieders wurde durch obigen See vor 100 Jahren vermurt. —-
Buttermilch ist eine Medicin, die für alles hilft, aber sie muss sofort
nach dem Butterschlagen getrunken werden, denn:
„Milch vom Kübel
Vertreibt alle Übel;
Wenn sie a AVeil steaht,
Dann schau wie’s dir geaht!“
Die gefährlichsten aller Tiere sind die Beisswürm (Schlangen, hier nur
durch die harmlose Natter vertreten), die pfeifen die Leut’ an und ge-
schehen ist es. —
Wenn ein Mann heiratet, so muss er haben:
1. eine breite Hand, damit er viel durch die Finger sehen kann,
2. einen grossen Hals, damit er viel schlucken kann,
3. eine feste Leber, weil viel drüber kriecht,
4. ein steinhartes Herz, damit er die Stich nit g’spürt.
Am Hochzeitstag legt die Braut ein ihr gehöriges Kleidungsstück über
die Hose des Mannes und ihr ist die Herrschaft im Hause gewiss. —
Wenn jemand in Stubai stirbt, so wird von den Angehörigen des Ver-
blichenen in der ganzen Gemeinde, welcher der Tote angehörte, Haus
für Haus Brod verteilt. Bei jedem „Vergelts Gott“, das gesprochen wird,
fliegt die Seele des Verewigten „an Ruck aufi“ (ein Bischen aufwärts).
Die Leiche einer Jungfrau wird von geschmückten Jungfrauen, solche
eines Junggesellen von Junggesellen mit Biischl (Blumenstrauss) auf den
Hüten zu Grabe getragen.
Ehemänner und Eheweiber, hier Mander und Weiber genannt, zum
Unterschied von Buben und Madien (ledige Leute), werden von Ehe-
männern bestattet.
Die Totenwach bei einem Junggesellen versehen Jünglinge, bei einer
Jungfrau Jungfrauen, und zwar immer zwei Personen. Bei Eheleuten wird
die Totenw'ach von Ehemännern gehalten. Den Wächtern müssen die
Hinterbliebenen Branntwein und Brod aufstellen; dann wird zum Zeit-
vertreib kartet (Karten gespielt). Nur hie und da besprengt man den Toten
176
Voretzsch:
mit Weihwasser, damit keine unreinen Geister in dessen Nähe kommen.
Die Totenwache dauert von 8 Uhr abends bis morgens 6 Uhr.
Ist eine Leiche im Dorfe, so muss jedes Haus wenigstens ein Familien-
glied in der Zeit von 6 — 8 Uhr abends zum Rosenkranzbeten zu der-
selben entsenden. Unterlässt man dies, kommt „z’schnachts“ (zur Nacht-
zeit) der Tote und rächt sich.
Die Leichen von Erwachsenen werden, wenn sie „auf Ehren“ (aus-
gestellt) liegen, in ein Tuch gehüllt oder eingenäht; nur die Kinder (Engel)
liegen offen.
Stirbt ein Kind, so herrscht in der Regel mehr Freude als Jammer
im Trauerhause, denn der „Engel“ ist direkt in den Himmel geflogen.
Schwerkranke melden sich vor ihrem Tode und man nennt dies Munuga
(Ermahnung zum Beten).
Zu Mieders lag einst ein Mann im Sterben. Ein Arbeiter sah den-
selben ausserhalb des Dorfes Lab hagen (Laub rechen) und dachte: „schau,
isch der Hansl mehr auf“ (wieder gesund). Als der Arbeiter ins Dorf
kam, läutete gerade das Sterbeglöckl und er fragte, wer gestorben sei.
Wie war er bei der Nachricht erstaunt, dass es derselbe sei, welchen er
eben Lab hagen gesehen hatte. Der Sterbende hatte sich gemeldet.
Das Melden aber ist ein gutes Vorzeichen für die Seele des Sterbenden,
denn: „Übelor wo a Munuga geschieht, beetet ma a Toter unser.“
Tannenhof zu Telfes in Stubai.
Zu den deutschen Volksliedern aus Böhmen
und aus Niederhessen.
Von Karl Voretzsch.
Die Sammlung der deutschen Volkslieder aus Böhmen (herausgegeben
vom Deutschen Verein zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag.
Redigiert von Alois Hruschka und Wendelin Toischer. Prag 1891) und die
seit 1890 erscheinenden — und, wie es scheint, vorläufig zum Stillstand
gelangten — Niederhessischen Volkslieder (herausgeg. von Joh. Lewalter.
I.—III. Heft. 1890—92. Hamburg) bieten dem Freunde des Volksliedes
zu mancherlei Vergleichungen und Beobachtungen Anlass. Eigene Samm-
lungen, die ich mir seit Beginn meiner Studienzeit angelegt und an ver-
schiedenen Orten fortgesetzt habe, gestatten mir, zu einigen Liedern, die
dort zum erstemnale gedruckt sind, aus andern Gegenden Paralleltexte
Zu den deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Niederhessen.
177
nachzuweisen, darunter hie und da auch solche, welche die dort ver-
öffentlichten Texte in manchen Punkten ergänzen und berichtigen; weiter
zu einigen auch sonst schon bekannten Liedern immerhin bemerkenswerte
Varianten mitzuteilen; und schliesslich zu dem und jenem Liede eine
Bemerkung hinzuzufügen, die für seine Geschichte vielleicht nicht un-
wichtig ist.
Ich beginne mit den niederhessischen Liedern:
1.
Wir lustgen Dreiundachtzger
Sein alle beisammen. (Lewalter I, no. 19.)
Die vom Herausgeber hierzu verzeichneten Varianten weichen ziem-
lich von einander ab, lassen aber doch einen ursprünglichen Zusammen-
hang erkennen. So darf man wohl auch das böhmische ,Wer sen ein
lustiger Dragoner will sein, Der muss auch haben Kurasche dabei!’
(Böhm. Vir. S. 232), zu welchem die Herausgeber keine Varianten an-
geben, hierherziehen. Ferner hängt damit zusammen ein Lied der Bonner
Königshusaren mit einem eigentümlichen Refrain und einer kurzen Ein-
leitung, die gewissermassen das Signal zum Anstimmen des Gesanges giebt.
Es lautet folgendermassen:
Juja, Juja!
Jetzt gehts wieder juja!
Jetzt gehts los! I
Rendezvous, Rendezvous —
Alle Rheinländer,
Das sind Teufelsbänder,
Rendezvous, Rendezvous —
Alle Rheinländer,
Und die sind gut. 1
Langsam und gezogen.
1. Unser Oberst hat an uns gedacht,
Hat Bier und Branntwein mitgebracht.
Unser Oberst soll leben,
Die Husaren daneben,
Neben ihm seine Officier!
Königshusaren, das bleiben wir.
Rendezvous, Rendezvous,
Alle Rheinländer etc. w. o.
178
Voretzsch:
2.
.»
Es hatt’ sich ein Fähnrich
In ein Mädchen verliebet. (L. I, no. 20.)
Das Lied ist offenbar eine Mischung aus zwei verschiedenen Liedern.
Strophe 1 — 4 und vielleicht noch 7 bilden ein Lied für sich, die beiden
Strophen dazwischen gehören einem anderen Liede an, das Lewalter nur
noch von „einigen alten Hessen“ hat erhalten können. Dies zweite Lied
ist anderwärts noch wohlbekannt und lautet in der vollständigeren Fassung,
die mir aus der Garnison Halle (36. Inf.-Reg.) bekannt ist, so:
1. Es sind ja die Zeiten so schön in der Welt,
Dass alle junge Burschen müssen ziehen ins Feld.
Widerallallalla, Widerallallalla —
Dass alle junge Burschen müssen ziehen ins Feld.
2. Der König von Preussen, er hat es gesagt,
Dass alle junge Burschen müssen werden Soldat.
3. Die hübschen und die geraden, die sucht er sich aus,
Und die Krummen und die Lahmen schickt er wieder nach Haus.
4. Ach Mädchen! Ach Mädchen! Wie wird’s euch ergehn!
Ihr müsst nun mit die Krummen und die Lahmen ausgehn.
5. Die traurigen Briefe, die schicken wir nach Haus,
Damit pressen wir unsern Eltern die Thränen heraus.
6. Die lassen sich erweichen und schicken uns brav Geld,
So wie es uns lustigen Soldaten gefällt.
Die Melodie weicht nur wenig von der niederhessischen ab.
3.
Ich stand auf hohem Berge,
Schaut herab ins tiefe Thal. (L. II, no. 16.)
Das Lied, das der Herausgeber noch nirgends aufgezeichnet geglaubt,
ist weiter nichts als eine Umformung und teilweise Verstümmelung des
Liedes von der Soldatenbraut, das wieder nur eine Veränderung des Liedes
von den drei Grafen ist. Das wird klar, wenn man Simrock (Die deutschen
Volkslieder) no. 57 *) daneben hält: hier kehren die drei Mittelstrophen
des niederhessischen Liedes nahezu wörtlich wieder, nur dass liier ein
bergischer Husar die Rolle des „reitenden Artilleristen“ spielt und die
dort kaum angedeutete Wirtshausscene ausführlich erzählt wird. Ein den
gleichen Gegenstand behandelndes Lied, welches seine Verwandtschaft
mit dem niederhessischen auch durch die sehr ähnliche Melodie erweist, 1
1) Auch bei Böckel, Lieder aus Oberhessen, no. 93.
Zu den deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Mederhessen.
179
inhaltlich aber ursprünglicher scheint, habe ich einst von einem Füsilier
des 125. Inf.-Regr (Tübingen) singen hören:
1. Ich stand auf hohem Berge,
Schaut hinunter ins tiefe Thal.
Da sah ich drei Gesellen
Bei einem Mädchen stehn.
2. Der erste war ein Schäfer,
Der zweite ein Kaufmannssohn,
Und der dritte, das war ein Wander-
bursch,
Der liebte das Mädchen schon.
3. Und der Wanderbursche dreht sich
um und um,
Nahm das Mädchen wohl bei der
Hand.
Er trieb es mit ihr solange,
Bis er in ein Wirtshaus kam.
4. „Guten Morgen, Sie, Frau Wirtin!
Schenk sie ein ein gut Glas Wein,
Und das Mädchen hat so schöne
Kleider an:
Versoffen müssen sie sein.“
5. Und versoffen sinds die Kleider,
Kein Kleid ist nicht mehr da,
Und so muss das schwarzbraune Mäd-
chen
Bei der Nacht nach Hause gehn.
6. Und die Handwerksburschen, das sind
Schelmen,
Die, wenn sie auf der Reise sein,
Sie verführen alle schönen Mädchen,
Dieweil sie noch viel schöner sein1).
4.
An der Weichsel gegen Osten,
Da stand nach blutger Schlacht. ■ (L. III, no. 43).
Der Anfang entstammt einem anderen Liede, das Lewalter an anderer
Stelle mitteilt1 2). Dadurch wird aber der Schauplatz unseres Liedes völlig
verändert und der wahre historische Hintergrund verdunkelt: denn dieser
ist ursprünglich der Krieg von 1870, wie sowohl die vom Herausgeber
citierte erzgebirgische Version (A. Müller, S. 24) als auch die mir aus der
Provinz Sachsen bekannten Texte zeigen. Wir dürfen das Lied wohl als
eins der wenigen echten Volkslieder betrachten, welche die grosse Zeit
von 1870 gezeitigt hat. Text und Melodie vereinigen sich, um eins der
schönsten Soldaten- und Volkslieder zu schaffen, das, auf dem Marsch oder
im Biwak von zweistimmigem Chor gesungen, einen überwältigenden Ein-
druck macht.
Ich gebe die von mir aufgezeichneten Texte unverkürzt wieder, da
sie sowohl unter sich, als auch gegenüber den beiden schon bekannten
Versionen ihre Eigentümlichkeiten haben und das Lied selbst einer aus-
führlicheren Würdigung wohl wert ist.
1) Vergl. hierzu ,Der Mühlbursch ’ in: A. Müller, Volkslieder aus dem Erzgebirge.
2. Aufl. 1891. S. 81.
2) Heft I, no. 33 (An der Weichsel, fern im Osten, Stand ein Soldat auf seinem Posten).
Die zugehörige Melodie findet sich bereits früher aufgezeichnet in: Soldatenliederbuch,
ausgegeben vom Konigl. preussischen Kriegsministerium. Berlin 1882 (daselbst no. 81).
Ebenda, unter no. 92 und 93, finden sich auch schon die Melodieen von Lewalter III,
no. 13 und I, no. 23.
180
Voretzsch:
1. Bei Sedan auf den Höhen,
Da stand nach blutger Schlacht
[:In der letzten Abendstunde
Ein Musketier auf Wacht.:]
2. Die Wolken ziehn gen Osten,
Der Mond am Himmel stand,
Er erleuchtet Wald und Fluren
Im grünen Frankenland.
3. Was raschelt dort im Busche?
Es ist ein Reitersmann,
Der mit tiefer blutger Wunde
Lag im Busche bei Sedan.
4. Reich Wasser, deutscher Kamrad!
Die Kugel traf so gut.
Dort an jenem Wiesenrande,
Da floss zuerst mein Blut.
5. Doch gewähr mir eine Bitte!
' Grüss mir mein Weib und Kind:
Denn ich heiss Andreas Förster
Und bin aus Saargemünd.
6. Denn ich habe Weib und Kinder
Daheim am trauten Herd,
Die auf ihren Vater harren,
Der niemals wiederkehrt.
7. Der Mond beleucht’t das Auge1),
Der Krieger Totenschar,
Die noch gestern um die Stunde
Hier noch frisch und munter war.
8. Den andern Morgen in der Frühe
Grub ihm ein Schütz sein Grab,
Und er streute Wiesenblumen
Und grüne Zweig aufs Grab.
9. Aus zwei Zweigen macht er ein Kränzlein,
Durch dieses weht der Wind.
Denn hier ruht Andreas Förster,
Er war aus Saargemünd. (Magdeburg, 26. Inf.-Reg.).
b.
1. Bei Sedan auf den Höhen
Da stand nach blutger Schlacht
In später Abendstunde
Ein Sachse1 2) auf der Wacht.
2. Die Wolken ziehn gen Osten,
Die Dörfer stehn im Brand,
Sie erleuchten Wald und Fluren
Im fernen Frankenland.
3. Der Sachse schritt auf und nieder
Wohl an der Totenschar,
Die gestern zur selben Stunde
Noch gesund und munter war.
4. Was jammert dort in einem Busche 8.
Und klagt in bittrer Not:
„0 heilige Mutter Gottes,
Gieb einen sanften Tod3)!“
5. Der Sachse, er trat näher:
Da lag ein Reitersmann,
Der von des Feindes Kugel
So schwer getroffen war.
6. „Gieb mir Wasser, lieber Kamrad!
Die Kugel traf so gut.
Dort an jenem Wiesenrande,
Da floss zuerst mein Blut.
7. Doch eine Bitte mir gewähre!
Grüss mir mein Weib und Kind:
Denn ich heiss’ Andreas Förster
Und bin aus Saargemünd.
Denn ich habe Weib und Kinder
Daheim am trauten Herd,
Die da warten auf ihren Vater,
Der niemals wiederkehrt.“
1) ? etwa für: die Aue?
2) Auch: ein Schütze.
?)) Diese Zeilen stimmen zur erzgebirgischen Fassung.
Zu den deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Niederhessen.
181
11. Und in der frühen Morgenstunde
Grub ihm der Sachs’ ein Grab
Und er streute Wiesenblumen
Und Zweige mit hinab.
12. Ein Kreuz aus schwachem Zweige
Schwankt dort im Morgenwind:
Da ruht Andreas Förster,
Er war aus Saargemünd.
(Halle, 36. Inf.-Reg.)l)
1870 war Saargemiind noch französisch. Wenn man darauf besonderes
Gewicht legen will, so wird die Tragik dadurch noch gesteigert: der
Reitersmann Andreas Förster war dann ein Deutscher, der in französischen
Diensten gefallen ist und nun seinem Feind — der zugleich sein Lands-
mann ist — die letzten Griisse an Weib und Kind aufträgt.
9. Und bin ich nun gestorben,
Dann grab mich friedlich ein,
Und pflanz’ auf meinem Grabe
Ein klein Vergissnichtmein.“
10. Er sprach’s, es brach sein Auge,
Der Reitersmann war tot.
5.
Nicht weit von Württemberg und Baden
Und von der wunderschönen Schweiz. (L. III, no. 34.)
Dies prächtige Hohenzollernlied ist im Schwabenlande wohl bekannt,
wo es schon seit 1866 gesungen worden sein soll und hier bereits mehr-
fach — allerdings in veränderter Gestalt — in Schulbücher aufgenommen
worden. Als Verfasser wird der — nunmehr verstorbene — Tübinger
Volksdichter Metzger Späth vermutet, von einigen Seiten mit Bestimmtheit
als solcher bezeichnet1 2).
Die schwäbische Version weicht nur in Einzelheiten von der nieder-
hessischen ab. Schwierigkeiten für die Erklärung bietet — abgesehen
vom Refrain, der offenbar in gar keiner syntaktischen Beziehung zum
vorausgehenden steht und auch im Inhalt nur lose mit dem übrigen ver-
knüpft ist — bloss die zwmite Strophe:
Von diesem Berg da geht die Sage,
Die sich ins ferne Land erstreckt,
Und (hessisch: ein) jeder Vater hat die
Klage,
Die sich auf seinen Sohn erstreckt.
Man nimmt ihn fort ins fremde Land,
Sein Vater glaubt, er sei verbannt,
Auf Hohenzollerns steilem Felsen,
Wo unverzagt die Eintracht ruht.
Der Inhalt bezieht sich, wie auch die Schlussstrophe zeigt, auf die
geborenen Hohenzollern, die in fernen (norddeutschen) Garnisonen ihren
Dienst leisten müssen. Der Ausdruck ist etwas unbeholfen: zweimal
,erstreckt’, dazu das zweite Male offenbar nur dem Reim zuliebe, um den
einfachen Gedanken auszudrücken: ein jeder Vater hat eine Klage, die
1) Ähnlich auch in Prenzlau, 64. Inf.-Reg.
2) Ich entnehme diese Angaben den ,Blättern des schwäbischen Alhvereins’ (Jahrg.
1892. IV, 214). Ebenda IV, 172 findet sich auch der Text des Liedes.
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde, 1893.
13
182
Yoretzsch:
sich auf seinen Sohn bezieht = ein jeder Vater klagt wegen seines Sohnes.
So dürfen wir auch die ,Sage’ der ersten Zeile nicht in dem üblichen Sinn
nehmen: auch hier hat die Reimnot den Dichter zu einem schiefen Aus-
druck verleitet. Er will offenbar nur sagen: von diesem Berge heisst es,
wird erzählt, gesagt; dafür dem Reim zuliebe ,geht die Sage'. Der Sinn
der ersten Zeilen ist danach: ,Von diesem Berg, d. i. den Bewohnern
dieses Berges, erzählt man, ebenso wie von den Bewohnern des ganzen
Landes: ein jeder Vater klagt wegen seines Sohnes, den er ins fremde
Land hergeben muss’.
6.
0 Strassburg, eine wunderschöne Stadt,
Darin liegt ein Soldat. (L. III, no. 19.)
Dies komisch-ernste Lied (Umänderung des weitbekannten 0 Strass-
burg, o Strassburg, Du wunderschöne Stadt etc.) ist — ausser in Vieder-
hessen und im Erzgebirge — auch noch anderwärts bekannt. Bei den
72ern in Torgau beginnt das Lied:
Lippe-Detmold, eine wunderschöne Stadt,
Darin liegt ein Soldat,
Der da musst marschieren in das Feld,
Wo die Kanonen stehn.
Eine bemerkenswerte Variante findet sich in 0. Schambachs Lieder-
halle1):
,Preuss’sch Eilau, eine wunderschöne Stadt.’
Hier ist ein lustiger Refrain zugefügt, der — wie so oft — zur ersten
Strophe recht wohl passt, zu den folgenden aber einen rührenden Kontrast
bildet:
Drum ist’s so schön, drum ist’s so fein,
Drum ist’s so schön, Soldat zu sein.
Leider hat der Herausgeber nicht angegeben, woher er das Lied
erhalten.
In Böhmen liegt ein Städtchen.
Das kennt fast jedermann. (L. II, no. 17.)
Dies Lied ist seither in einer ausführlicheren Fassung aus Böhmen1 2)
bekannt geworden, das ohne Zweifel seine Heimat ist. Dass es von hier
aus nach dem Erzgebirge gelangt ist, nimmt nicht Wunder. Wie ist es
1) 0. Schambach, Liederhalle für Deutschlands Jugend. Altenburg. 1883. no. 55.
Daselbst ist auch die Melodie beigefügt, voll der sich die niederhessische nur wenig
entfernt.
2) Deutsche Vir. a. B. S. 82.
Zu den deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Niederhessen.
183
aber nach dem westlichen Deutschland, nach Hessen und an den Nieder-
rhein gelangt? Im Jahre 1866 haben es die Bonner Königshusaren —
wie mir ein ehemaliger Angehöriger des Regiments (Herr Seebach in
Halle a. S., dem ich auch die übrigen hier mitgeteilten Lieder des Bonner
Husaren-Regiments verdanke) mitteilt — in Böhmen singen hören und
von da mit nach Bonn gebracht. Yon hier aus hat es sich jedenfalls
weiter verbreitet — die entlassenen Husaren trugen es weiter in Städte
und Dörfer. Dass auch noch andere preussische Regimenter das Lied aus
Böhmen mitgebracht haben, ist recht wohl möglich. In jedem Fall hat
hier der Krieg das Bekanntwerden des Liedes in entferntere Gregend ver-
mittelt — ein interessantes Zeugnis dafür, welche Zufälligkeiten für die
Verbreitung eines Volksliedes in Betracht kommen können.
Dies Lied möge den Übergang zu den deutsch-böhmischen Volks-
liedern bilden, von denen ich folgende hervorheben will:
8.
Die Sonne steht am Himmel,
Mit ihr da schied die Schlacht. (D. Vir. a. B. S. 84.)
ln der vorliegenden Form bezieht sich das Lied auf eine Episode des
Krieges von 1866: die Schlacht von Trautenau (dafür auch Nachod oder
Tobo) ist als Hintergrund gedacht. Das Lied scheint sonst nicht bekanntl-
ich fand es in dem Liederbuch eines Magdeburger Musketiers (26. Inf.-Reg.),
hier aber auf den Krieg von 1870 und die Schlacht von Sedan bezogen,
auch sonst mehrfach abweichend. Ich gebe den Text unverkürzt wieder:
1. Die Sonne sank im Westen,
Im Norden war die Schlacht,
Bedeckt mit ihrem Schleier
Die dunkle Todesnacht.
2. Und mitten unter Toten
Ruht sterbend ein Soldat,
Es schläft an seiner Seite
Sein treuster Kamerad.
3. Es neigt sein Haupt zur Erde
Der Sterbende und spricht:
„Vernimm, du treuster Bruder,
Was mir am Herzen liegt. 4
4. Nimm diesen Ring vom Finger
Wenn ich gestorben bin,
Und alle meine Briefe,
Die im Tornister sind.
5. Soll dich noch einmal geleiten
Zur Heimat das Geschick,
So bring’ du meinem Liebchen
Dies Liebespfand zurück.
6. Sag’ ihr, dass ich gestorben
Bei Sedan in der Schlacht,
Und in den letzten Zügen
Noch treu an sie gedacht.
7. Und sollt’ mit einem andren
Der Priester sie vereinen,
Soll sie noch oft gedenken
An ihren verstorbenen Freund.
8. Mit diesem armen Ringe
Geb’ ich mein Wort zurück.
Im Himmel werd’ ich bitten
Auch für ihr ferneres Glück.
1). lied.
1) Liegt uns in einer Aufzeichnung aus dein Spessart vor.
13
184
Vor etz sc
9. Wenn Mond und Sterne funkeln
Mit ihrem Silb erlicht,
Sie scheinen dem toten Soldaten
Ins blasse Angesicht.
Ob die Beziehung auf Sedan oder auf 1866 ursprünglicher ist, wird
sich jetzt schwer entscheiden lassen. In Böhmen ist das Lied erst in
jüngster Zeit aufgezeichnet worden.
9.
Mein Schatz, der ist im Kriege,
Zu Ostern kehrt er heim. (D. Y. a. B. S. 98.)
Das Lied macht einen durchaus modernen Eindruck. Nicht so in der
Fassung, welche in mehreren Garnisonen der Provinz Sachsen (Magde-
burg, Halle, Torgau) bekannt ist: hier tritt an Stelle des „Schatzes“ und
„Burschen“ der Fähnrich auf, wodurch der Inhalt in eine frühere Zeit
und dadurch erst in die rechte Beleuchtung gerückt wird. Diese Version
ist ausführlicher und auch schöner als die böhmische, die ihr gegenüber
nur als Entstellung erscheint. Die Melodie ist einfach wie der Text, aber
gerade dadurch ist das Lied ausserordentlich wirkungsvoll. Es gehört zu
den besten Liedern dieser Gattung. Ich gebe den Magdeburger Text
(26. Inf.-Reg.), dazu die wesentlichsten Abweichungen des Halleschen
(36. Inf.-Reg.):
1. Ein Fähnrich zog im Kriege,
Widibumjaja! Juchheirassa!
Ein Fähnrich zog im Kriege,
Wer weiss, kehrt er zurück?
Wer weiss, kehrt er zurück?
2. Er liebt’ ein schwarzbraunes Mädchen
Drei Jahr’ und noch viel mehr1).
3. Ein Fähnrich1 2) kam geritten,
Von Blut war er so rot.
4. Er grüsst’ ein schwarzbraunes Mädchen,
Sie schaut’ ihn fragend an:
5. „Ach Fähnrich, lieber Fähnrich!
Was bringst du neues mir?“
6. „Die Neuheit, die ich bringe,
Macht dir die Äuglein rot.
7. Dein Fähnrich ist erschossen,
Ist tot und lebt nicht mehr3 4).
8. Ich hab’ ihn sehn begraben
Von vielen Officiern4).
9. Der erste trug den Degen,
Der zweite sein Pistol.
1) Halle: Sie war so wunderschön.
Darauf folgt noch eine besondere Strophe:
Sie stand auf hohem Berge
Und schaut ins tiefe Thal.
2) Halle: Lieutenant. Also auch hier Modernisierung!
3) Halle: Dein Fähnrich ist gestorben,
Ich hab es selbst geselin.
4) Halle: Wir haben ihn begraben
Mit vielen Officieren.
2u den deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Niederhessen.
185
10. Der dritte trug den Kürass,
Der vierte seine Krön’.
12. Da droben auf jenem Berge
Singt eine Nachtigall.
11. Über sein Grab ward geschossen 13. Sie singt unserm Fähnrich zu Ehren
Nicht weit von hier, in einem tiefen Thale,
Stand ein Mädchen an einem Wasserfalle. (D. Vir. a. B. S. 137.)
Das Lied ist hier gleichfalls zum erstenmale gedruckt, ist aber auch
anderwärts bekannt, wie eine mir mündlich bekannt gewordene Version
aus Prenzlau zeigt. Sie unterscheidet sich von der böhmischen haupt-
sächlich dadurch, dass sie an Stelle der drei ungleich langen Strophen
(die sich im Gesänge wohl ausgleichen) vier Strophen zu je vier Zeilen
bietet, ausserdem noch durch mancherlei Einzelheiten. Der Text lautet:
1. In einem Städtchen, in einem tiefen Thal,
Stand einst ein Mädchen an einem Wasserfall.
Sie war so schön, so schön wie Milch und Blut,
Sie war von Herzen einem Räuber gut.
2. „Armes Mädchen, du dauerst meine Seele,
Ich aber muss in eine Räuberhöhle.
Ich kann hinfort nicht länger bei dir sein,
Dieweil ich muss in finstern Wald hinein.
3. Hier diesen Ring, und sollt’ dich jemand fragen,
So sprich: ein Räuber der hat ihn getragen,
Der dich geliebt bei Tag und bei der Nacht,
Und schon so viele Menschen umgebracht.
4. Gehe dort auf jene(r) grüne(n) Wiese,
Da giebt es Männer an der Zahl so viele,
Mit denen du vielleicht kannst glücklich sein —
Ich aber muss in’n finstern Wald hinein.
11.
Lustig ist’s Soldatenleben,
Für den Kaiser woll’n wir geben
Unsem letzten Tropfen Blut;
Soldaten müssen haben Mut. (D. Vir. a. B. S. 233.)
Das Lied ist ein sprechendes Beispiel für die Umbildungen und Um-
deutungen, denen das Volkslied auf seinen Wanderungen unterliegt. In
der vorliegenden Version aus Böhmen handelt es sich natürlich um das
Österreichische Vaterland und Kaiser Franz; eine fränkische Version,
welche der vorigen in der Form sehr nahe steht, bezieht den Inhalt auf
Mit Pulver und mit Blei.“
Für seine Tapferkeit.
10.
186
Voretzsch:
das bayerische Vaterland, eine elsässische gar auf Frankreich und die
Franzosen1). Aus Norddeutschland ist das Lied bisher nicht bekannt ge-
worden, wird aber auch hier gesungen: so in der Rheinprovinz, so in der
Provinz Sachsen. Diese Versionen unterscheiden sich von den bisher ge-
druckten durch eine strengere (auch ursprünglichere?) Pointierung in den
ersten Strophen und durch abweichende Schlussstrophen.
a.
1. Redlich ist, das deutsche Leben
Fürs Vaterland dahinzugeben,
Für1 2) den letzten Tropfen Blut:
Ja, wir Deutsche haben Mut.
3. Wenn wir unsre grauen Mäntel
Um ein deutsches Mädchen hängen,
Ei, dann fühlt sie keinen Schmerz:
Redlich ist das deutsche Herz.
2. Wenn Kanonen uns auch blitzen
Und andere Waffen auf uns spritzen —
Ei, dann ziehen wir ins Gefecht:
Ja, wir Deutsche haben Recht.
4. Ich muss wandern auf fremden Strassen
Muss meinen Schatz einem andern
lassen,
Den ich hab so treu geliebt3) —
Lebe wohl, vergiss mein nicht!
5. Sollt’ es Frankreich nochmals wagen
Und sich mit Deutschland nochmals schlagen,
Ei, dann soll das Pulver und Blei
Zeigen, dass wir Deutsche sein4).
(Halle a. S., 36. Inf.-Reg.)
Die Melodie ist nicht die von Ditfurth (Frank. Volkslieder II, no. 263)
initgeteilte. Sie ist langgezogen und einförmig.
b.
1. Mutig ist das deutsche Leben,
Das uns zur Freiheit ist gegeben,
[: Bis zum letzten Tropfen Blut.
Wir Husaren haben frohen Mut.:]
2. Wenn Kanonen und Haubitzen
Granaten auf uns blitzen,
Mutig gehen wir ins Gefecht,
Denn wir Deutsche kämpfen für das
Recht.
3. Wenn wir unsre weissen Mäntel
Um ein deutsches Mädchen hängen,
Ei, so fühlt sie keinen Schmerz:
Redlich ist ja das Husarenherz.
4. Mutig ist der deutsche Mann,
Der für die Freiheit sterben kann:
Wer sein Weib und Kind verlässt,
Der steht gewiss, gewiss im Kampfe
fest.
1) Auch in Schwaben ist das Lied bekannt: siehe E. Meier, Schwab. Volkslieder,
no. 98.
2) Diese sinnlose Attraktion im Magdeburger wie im Halleschen Text.
3) In Magdeburg (26. Inf.-Reg.):
Ich habe sie so treu geliebt.
4) Für diese letzte Strophe in Magdeburg (26. Inf.-Reg.) die beliebte Wanderstrophe:
Auf meinem Grabstein könnt ilir's lesen,
Was für ein treuer Schatz ich gewesen,
Der hier liegt und der hier ruht,
Dem sein ilerz, ja das war gut.
2u den deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Niederhessen.
187
5. Deutschland, o du stolze Macht,
Schwarzweissrot') ist unsre Pracht.
Tapfer muss das Preussen sein,
Sonst stünd’ Frankreich, Frankreich3 1 2) bald am Rhein.
(Lied der Bonner Königshusaren.)
Die Melodie weicht etwas von der sächsischen ab.
Zum Schluss mögen hier einige Lieder Platz finden, die ein Freund
des Volksliedes (Herr Referendar C. Du Chesne in Ebersbach) teils auf
einer Ferienreise durch Nordböhmen, teils bei späterer Gelegenheit ge-
sammelt und mir freundlichst zur Verfügung gestellt hat. Sie finden sich
in den ,Deutschen Volksliedern aus Böhmen’ nicht, oder berühren sich
mit dort publicierten Texten nur in allgemeinen Motiven.
12.
1. Es lebten zwei in einem Sinn,
Sie lebten in der Unschuld hin,
Sie liebten sich herzinnig lieb.
Das Schicksal trennt sie wunderlich.
2. Der Jüngling wollt’ auf Reisen gehn,
Da blieb sein Mädchen weinend stehn.
Da sprach die Mutter: „Mein liebes
Kind,
Du weinst dir deine Äuglein blind.“
3. „Doch, Mutter, hab’ dir keine Not,
Schon längst wünsch’ ich mir meinen
Tod.
Wenn er nicht kehrt recht bald zurück,
Sonst kommt er um sein Erdenglück.“
4. Die Mutter merkte sich das Wort
Und sprach (?) zum Jüngling dieses
Wort:
„Wenn du nicht kehrst bald zurück,
Sonst kommst du um dein Erdenglück.“
5. Der Jüngling trat die Reise an
Und reiste in des Liebchens Land.
Wie ihm da zu Mute war,
Als er da sein Mädchen sah!
6. Die roten Wangen waren bleich,
Die Hände und Füsse starr wie Eis.
Sie lispelt’ ihm noch leise zu:
„Mit mir geht’s in die ewige Ruh’.“
7. Sie schaut noch einmal die Sonne an,
Dann sinkt sie gleich in seinen Arm.
Ganz unschuldvoll und seelenrein
Schlief sie in seinen Armen ein.
(Sobochleben b. Teplitz).
Das Motiv ist das gleiche wie in dem Lied ,Es zog ein Knab’ ins
fremde Land’ (D. Vir. a. B. S. 90 f.). Im einzelnen aber zeigen die Lieder
keine Verwandtschaft.
1) So 1870/71. Dafür im Jahre 1866: schwarzrotgold.
2) 1866: Österreich, Frankreich.
188
Voretzsch r
1. Ich hab als armer Tischlergesell
Für das Leben keinen Mut.
Wenn ich bei meiner Werkstatt steh,
Da heisst es: Hoble gut!
Ach hobeln thu ich herzlich gern,
Das fällt mir gar nicht schwer.
Mir glänzet nie des Schicksals Stern,
Und das verdriesst mich sehr.
2. War’ mir des Meisters Pepi gut,
Es wtird’ mich herzlich freun.
Kommt sie zu mir in die Werkstatt
’rein,
Geht mir das Herz aus dem Leim.
Ich bin dem Mädchen herzlich gut,
Ich liebe sie recht heiss,
Auch ich vergiess’ fürs Leben gern
Mein Blut und meinen Schweiss.
18.
3. Wär’ mir des Meisters Pepi gut!
Wär nicht ihr Vater reich,
Wär er so arm, wie ich es bin,
So wärn wir beide gleich.
Doch heimlich ist sie mir doch gut,
Sie liebt mich innerlich (inniglich?)
Das giebt mir Kraft, das giebt mir Mut,
Das freut mich innerlich.
4. Drum hobeln will ich, weil ich kann,
Bei Tag’ und bei der Nacht,
Bis endlich mich bei meinem Fleiss
Die Liebe glücklich macht.
Und bringt die Liebe es zustand’,
Und Pepi ist mein Weib,
Dann leimt und hobelt meine Hand
Nur noch zum Zeitvertreib.
(Aus einem Liederbuch. Schluckenau.)
Der glatte Text scheint modernen Ursprungs. Das Versmass stimmt
mit dem des bekannten ,Hobelliedes’ aus Raimunds ,Verschwender („Da
streiten sich die Leut’ herum —Wohl um den Wert des Glücks“) überein:
vielleicht ist es zu dieser Melodie gedichtet, wie ja auch Einzelheiten des
Textes an das Lied erinnern.
14.
1. Wenn man in späten Enkeltagen 4.
Von Sechsundsechzig spricht,
Da wird man sich verwundert fragen:
Warum kam denn Baiern nicht?
2. Warum seid ihr nicht erschienen, 5.
Als man drang in Böhmen ein?
Franz Joseph hat es euch ja geschrieben,
Dass ihr sollt zur Stelle sein.
3. Oder habt ihrs nicht könnt lesen 6.
Die Depesch’ des Generals,
Weil besoffen ihr gewesen
Noch zum Abendmahl?
Hannover, Württemberg und Dessau1)
Liesset alle ihr im Stich,
Bis Manteuffel unterdessen
Euch wohl auf die Kappen stieg.
Und der Baier sprach: Erschienen
Warn wir nicht zur rechten Zeit allhier.
Allein dass wir zu Haus geblieben:
Hatten soviel gutes Bier.
Wo wir hinkamen allerorten,
Da tranken wir zu jeder Stund,
Sonst wärs uns sehr sauer worden:
Das war der Verspätungsgrund.
(Sobochleben.)
1) Natürlich: Hessen. Die Sängerin jedoch erklärte auf Befragen: Dessau. So wird
Hessen zu Dessau nur wegen eines vorausgehenden ,und\
7ai rlen deutschen Volksliedern aus Böhmen und aus Niederhessen.
189
1. Was hört man jetzt neues vom Kriege,
Was hört man zu jetziger Zeit?
Man hört nichts als Kämpfe und Siege.
Das Schlachtfeld ist allzu bereit.
2. „O Schwester, ich muss dich verlassen,
Muss fort in das mördrische Land,
Ich kann dich vor Schmerz kaum
umfassen,
So komm doch und reich mir die
Hand.“
3. „Die Kugeln, die hört man schon pfeifen,
Da liegen die Toten gehäuft,
Dort sticht man mit mördrischer Lust
Meinem Bruder das Schwert in die
Brust.“
4. Die Schwester thut weinen und klagen —
ist das nicht ein traurig Geschick? -
„Im Schlachtfeld ist er geblieben,
Zu mir kehrt er nicht mehr zurück.“
Tübingen.
5. Die Mutter thut weinen und klagen.
Der Vater naht: „Wo ist mein Sohn?“
In Bosnien liegt er begraben,
Das ist der Soldaten ihr Lohn.
(Schluckenau, Liederbuch.)
Der Wolf mit dem Woekenbriefe.
Märchen in Kattenstedter Mundart.
Mitgeteilt von E. Damköliler, erläutert von K. Weinhold.
Et war e mal en graf, de harre drei dechter, äwer keine harre hei
sau leif als de jingeste, dat war sin schötkint. Wenn hei nä’r schtat faur,
denn brochte hei se immer wat mede, un alles wat se sek winsche, dat
kre'ich se. Wi nun mal weder gröter marcht war in der schtat, da fraucli
de graf sin dechterken, wat et an liwesten hebben wolle? hei wolle et
kepen. Un dat meken winsche sek nen hipschen wokkenbreif. De graf
verwundere sek, dat sine dochter sek nen wokkenbreif winsche, äwer hei
se ja, hei wolle nen recht hipschen, den besten, de te kepen warre, mede
bringen. De graf leit nun änschpannen un wi hei äffären wolte, da kam
sine dochter noch emäl änjelöpen un se, hei solle äwer jo den wokken
breif nich vorjetten.
Dat weder wär den däch sau schene, un wi de gräf in dat holt kam,
wü hei dorch moste, dä sungen de vogels sau hipsch, dat de gräf meine,
sau schene harre hei se noch nich ehert. Wi de gräf nü sau in sinen
wägen sät, ewwerlachte hei sek, wat hei alle kepen wolle, wat hipsches
190
Damköhler:
solle et äwer sin. Met der wile war hei nä’r schtat ekommen, wü schon
alles lewe. Da war vel te sein un vel te kepen. De graf mäke erseht
sine jeschefte äf un denn kofte hei in; hei sochte immer dat beste üt, wat
da war. Wi hei nü schön sau wit fartich wTär, date nä hüs fären wolle,
da folt ene in, date den wokkenbreif noch nich harre, un dene dorfte hei
doch nich vorjetten.
Hei junk alsau wedder uä’n marchte un sochte un sochte, könne äwer
keinen wokkenbreif finnen. Hei frauch, wü wol wekke te hebben warren,
äwer keinder harre wekke sein. Hei leip noch en pär mäl ewwert marcht,
äwer ne, et wär kein wokkenbreif dä. Dä worte recht bedriwet; wat
warre wol sin dechterken sein, wenn hei den wokkenbreif nich mede
brochte, wü et sek sau vel op efreut harre? Et junk ne sau nä, hei konue
et äwer nich endern un se terlezt tau sinen kutscher: wey willen man nä
hüs fären, et geit al op’n äbent lös. Un sei fauren wech. De gräf sät in
sine kutsche un se kein wort, hei dachte man immer an den wokkenbreif.
Wi hei nün in dat holt ekommen wär un dat hei sau in jedanken sät, dä
schimmere op’n mäl wat vor ene von böme; hei kukke nipe tau un wi
hei necher käm, jewäre hei op’n böme en wulf, de harre en wunder-
schönen wokkenbreif in der schnüte. De gräf leit gliks schtille holen un
frauch den wulf, op hei den wokkenbreif nich krien kenne. Nei, se de
wulf, dene geiwe hei nich her. Dä böt de gräf ene vele jelt, wenne ene
den wokkenbreif leite, äwer de wulf wollne nich herjeben. Terlezt se de
gräf, hei solle ene doch man den wokkenbreif jeben, hei solle ök alles
hebben, wate hebben wolle. Dä se de wulf, wenn hei hebben solle, wat
den gräfen tauerscht op der brie bejenen de, wenne üt’n holte keime, denn
solle hei ök den wokkenbreif hebben. Nün harre de gräf nen hipschen
püdel, de ene allemäl, wenn hei nä hüs käm, bis op de brie entjejen leip,
un dachte, de wulf meine disen püdel. Hei vorschprök denn ök, dat de
wulf hebben solle, wat ene tererscht op der brie bejenen warre. Dä
schmeit de wulf den wokkenbreif von böme un de gräf faur vulder freuden
nä hüs.
Wi hei nün üt’n holte rüter käm, date nä sinen schlosse kukken
könne, dä säch hei schön von widens sinen püdel änkommen, äwer ök
sine kleine dochter, de al lange op eren väder ewärt harre, un weil hei
nich käm, ene en betjen entjejen junk. Den gräfen schwäne nischt güts,
wi hei de beiden däher kommen säch, un reip sinen kutscher tau, hei
solle taufären, dat se er nä’er brie keimen wi dat kint. Hei hoffe ök
immer noch, dat de püdel en betjen vorut. löpen solle; äwer je rascher
de gräf faur, deste harter leip dat meken un de pudel ble'if terie. Den
gräfen ewwerleip et heit un költ un in siner angest joche hei, wate könne,
äwer et hulp ne nischt. Wi hei op de brie käm, wär sine dochter ök dä
un lache un frauch gliks eren väder, ope ök den wokkenbreif harre. De
gräf mäke en frintlich jesichte, sau güt et gän wolle un se: jä, mi
Iler Wolf mit dem Wockenbriefe.
191
dechterken, dene hewwe ek nich vorjetteii. Dat meken marke äwer sinen
väder doch an, date wat op’n harzen harre, hei war nich sau fro un sau
frintlich wi sist. Et fraucli ne denn 6k, op ne wat arre gäu warre, awer
hei leit sek nischt üt, dämet et sine dochter nich marken solle. Wi se
nü nä hüs kämen, da war de freude gröt ewwer all de Sachen, de de graf
mede broclit harre; an meisten freue sek awer de jingeste dochter ewwer
den hipschen wokkenbreif; sau wat schönes harre se noch nich esein. Bi
al diser freude un disen jüwel war den grafen doch schlecht te sinne, hei
wolle ok fro sin, awer hei könne et nich, hei moste immer an den wulf
denken. Et düre ok nich sau lange, da folt et der grefinne op, dat er
man sau bedriwet war, un se frauch ene. Anfanks wolle hei et nich sein,
terlezt awer verteile hei alles, wi et ene gän war in holte, un meine, wenn
hei doch man den wokkenbreif nich enommen harre.
Se wären alle in gröter not, blös de jingeste dochter harre keine
angest un meine, de wulf warre wol nich kommen. Nän äbenbröe säten
se alle in der schtüwe un verteilten sek noch wat. Dä op ein mäl pumpe
wat än’t dör. Da! dä isse, se de gräf, un vor angest wüsten se nich, wat
se anfengen sollten. Se leipen hen un her un wollten de dochter vor-
schteken. Met der wile jink et al weder: „bum, bum, bum! ek wil hebben,
wat mek vorschproken is, ek wil hebben, wat mek vorschpröken is.“
Harreje! et wär de wulf un wolle dat meken hälen. Ne, se de grefinne,
mine dochter krichte nich, dat mach kommen wi et wil, un schlöt dat
meken in de kämer. Awer de wulf kloppe immer harter än’t dör un wort
al unjedillich, dat hei sau lange wären moste. Dä käm de gräf un sine
frü op den jedanken, se wollten nä eren schwineharten schikken, de harre
ok en kleines meken, dat wTär met’n gräfen sinder dochter in gliken alder:
dat wollten se hipsch äntrekken un den wulwe herjewen. Se sen denn
nun taun wulwe, hei solle dat meken hebben, äwer hei nieste noch en
betjen wären, bis sei et änetrekt harren.
Et düre ok nich lange, dä wär den schwineharten sin meken dä. Dat
moste der kleinen grefinne sine kleder äntein, wort hipsch terechte mäkt
un denn vor’t schloss efeurt, wü de wulf wär. Un dei wulf se tau den
meken: set dek op minen rüen schwänz, ek wil dek fären holt in’t lant,
ewwer hals, ewwer kop, ewwer schtok, ewwer blök! un vort junk et in’t
holt nä’n wulwe sinder hele.
In der hele läch vel löf un mos, wü de wulf oppe schleip; hir solle
nün dat meken bliben un den wulwe wat liüshölen. Dat meken se ok
vor lauter angest, jä, dat wolle et daun. Nä ner wile se de wulf, hei
meste jezt weder furt in’t holt, et solle sek äwer nich underschtän un
wechlöpen, sist jinge et ene schlimm. Dämet jink de wulf vort. Dat meken
wär nün ganz allene in der hele un fonk än mette schrien; et wär sau
angeste, dat de wulf et. opfreten dee, äwer wech te löpen underschtunt et
sek 6k nich, et wüste jo keinen bescheit in der wiltnisse. Wi de wulf
192
Damköhler:
weder kam, wäre hellisch ineue; hei lachte sinen kop in den méken sinen
schot un sé vor et: „lüse mek“. Dat méken lüse ene denn ök, und däbi
schleip de wulf in. Wi de wulf weder op wäke, frauch hei dat méken,
wat et wol an der tit warre, un dat méken sé: „et wart wol sau an der
tit sin, dat min väder met’n schwinen in midäsläger lit.“ „Bist rechte nich,
hist rechte nich,“ sé de wulf un lachte sek in de ekke. Wi et äbent war,
se de wulf vör’t méken: „set dek op minen rúen schwänz, ek wil dek fären
holt in’t lant, ewwer hals, ewwer kop, ewwer schtok, ewwer blök“ un
brochte et weder nä’n schlosse.
Op’n schlosse wären se noch alle oppe un schproken dävon, wü et
wol dén méken jinge un op dé wulf et wol nich emarkt harre, dat et dat
rechte nich warre. Ach, sé de gréfinne, wúvon solle denn dat marken?
hei kennt jo unse dochter nich; hei wart wol nich weder kommen. Indem
kloppe et dreimäl än’t schlossdör un sé: „ek wil hebben, wat mek vor-
schpröken is.“ Richtich, de wulf wär weder dä un brochte dén schwine-
harten sin méken weder un wolle dat andere hebben. Nun wüsten se op'n
schlosse nich, wat se mäken sollten. Dä folt der gréfinne in, dat de kau-
harte ök en méken harre, dat met érer dochter in gliken alder wär. Nun
wort dén sin méken ehält. Et moste sek 6k hipsch te rechte mäken un
denn wort et dén wulwe henejében. Wi et vört dör kam, sé de wulf
weder: „set dek op minen rúen schwänz, ek wil dek fären holt in’t lant,
ewwer hals, ewwer kop, ewwer schtok, ewwer blök“ un furt junk et in’t
holt nä’n wulwe sinder líele. Na ner wíle sé de wulf weder tau den méken,
hei wolle mäl vört gän, et solle sek äwer nich underschtän un wechlöpen,
sist jinge et ene schlimm. Dat méken bleif denn ök in der hele.
Wi de wulf weder käm, worte meue. Hei lachte sinen kop dén méken
weder in den schot un sé: „lúse mek“. Dat méken lúse ene denn ök un
däbi schleip de wulf in. Wi hei weder op wäke, frauche dat méken, wat
et wol än der tit warre, un dat méken antwére: „et wart wol sau än der
tit sin, dat min väder met’n keuen in midäsläger lit.“ „Bist rechte nich,
bist rechte nich“ brumme de wulf un lachte sek in de ekke. Wi et
äbent eworren wär, sé hei weder tau dén méken: „set dek op minen rúen
schwänz, ek wil dek fären holt in’t lant, ewwer hals, ewwer kop, ewwer
schtok, ewwer blök“ un brochte et weder nä’n schlosse.
Op’n schlosse wären se in angest, op de wulf ök dén kauharten sin
meken weder bringen warre. Indém dat se noch dävon schproken, junk
et än döre: „bum, bum, bum, ek wil hebben, wat mek vorschpröken is,
ek wil hebben, wat mek vorschpröken is.“ De wulf war weder dä. Jezt
liulp alles nischt, se mosten de gréfinne hérjében. Dat kleine meken kréich
de besten kléder än, dé et harre, näm sinen wokken un dén hipsehen
wokkenbreif un wort vör’t schloss efeurt, wú de wulf al lúre. Wi et hen
käm, sé de wulf: „set dek op minen rúen schwänz, ek wil dek fären holt
in’t lant, ewwer hals, ewwer kop, ewwer schtok, ewwer blök,“ un furt junk
Der Wolf mit dem Wockenbriefe.
193
et weder dorch’t holt nâ’n wulwe sînder hêle. Wî se ne tît lank da wären,
së de wulf, hei wolle mal wechgän; et solle sek âwer jô nich underschtän
un wechlôpen, sist jinge et êne schlimm; dâmet junk de wulf vört; dat
mëken fenk âwer ân te schrien, dat et hîr san schteinwint aliène sin solle.
Wi de wulf weder kam, worte meue, lachte sinen kop in dën mëken sînen
schôt un së: „läse mek“. Dat mëken lûse dën wulf un dâhî schleip hei
in. Wî hei weder op wâke, frauch hei, wat et ân der tît warre, un dat
mëken antwêre: „et wart wol sau ân der tît sîn, dat mîn vâder met sînen
jesten ân der tâfel sit.“ „Bist rechte, bist rechte“ së de wulf.
Dat mëken moste nun immer bî dën wulwe in der hêle bliben. Op
lezt könne et et âwer nich mêr ûthôlen un eines dâges nâm et sînen
wokken un wokkenbreif un leip furt, immer dorch’t holt wat et lôpen könne.
Et leip dën ganzen dâch, könne sek âwer nich ût dën holte finnen; et wort
âbent un schön dîster un et wâr immer noch in der wiltnisse. Et wär sau
marröde, dat et sek en ôgenblik hensatte. Wat wolle dat wëren, wenn et
erseht ganz dîster wort un de willen dire kämen? op’n böm könne et nich
klettern, dë wären sau hoch un sau dikke. Et reip nâ vâder un mutter,
âwer et hör keinen minschen. Un wenn de wulf nun kâm? Et fonk ân te
schrien un leip weder wider dorcht holt bis et dîster wort. Dä op ein mäl
schimmere dorch de bême en licht. Dat mëken junk drop tau, un wî et
ne cher kâm, jewâre et en klein hîseken. Et kukke dorcht fenster un sâch
in der schtûwe ne ôle frû, dë schpunt immer flîtick vor sek hen, ône op
te kukken. Sonst wâr wîder keinder drinne. Dat mëken fâte sek en harze
un kloppe ân, âwer de frû schîne et nich ehêrt te hebben, se schpunt wîder;
èt kloppe noch en mâl ân. Dâ kukke de frû rûter un frauch, wër dâ warre.
Ach, së dat mëken, kenne je mek denn dise nacht nich bî jîch behôlen?
ek hewwe mek in holte vorlôren un weit nich wû ek bin. Butten in holte
grûle ek mek, behölt mek doch dise nocht, ek wil ök ganz ârtich sîn un
nicht ëten un drinken. Ja, së de frû, behôlen kan ek dek nich, mîn dochter,
mîn man is en minschenfrëter, un wenn dë nâ hûs kimt un rikt, dat hîr
wër is, denn frite dek op. Lôp jô furt, date dek nich jewâr wart. Dâ fonk
dat mëken ân te schrien un bide de frû sau vêle, se mechte et doch be-
hôlen, et kenne nich mêr gân un wû et in der finsternisse hensolle? se
solle et doch vorschtëken, et wolle ôk mûsekenschtille sitten un sek nich
rippeln un nich rêen. Dat hilpt dek nischt, së de frû, mîn man rikt dat
glîks, wenn wër in hûse is, un dâbî kukke se sek dat mëken en betjen
jenauer ân, un wî se sâch, dat et sau hipsch wâr un dat et saun schênes
klêt âne harre, dâ dûre se dat mëken doch un së, et solle man rinkommen,
sei wolle et dise nacht behôlen. Dat mëken moste nün alles vorteilen, wî
et ne gân harre. Dârop hâle de frû wat te ëten hër, un wî dat mëken
ejetten harre, së de frû, se wolle et min und’ne in kelder vorschtëken, dat
ère man et nich marken dê, hei warre wol bâle kommen; et solle sek
âwer jô schtille vorhôlen, sist warre et vorlôren. Dat mëken vorschprôk
194
Damköhler :
clat denn ôk un wort nun in kelder ebrocht un dà in ne öle kiste
schtöken.
Et dure ôk nick lange, dâ mâke sek butten de wint op uu et wort en
jerûsche un en jebrâsdie, als op de bénie umme brëken wollten, un de
schturm kâm immer necher un necher bis dichte vor't luis un in de hûsdêr.
Dâ wort et schtille. Dat wâr dë frû ère man, de minschenfrëter. Sau wî
de wint in de schtûwe trât un sînen grôten mantel âwe tôn harre, së hei
tau sinder frû: „frû, ek rûke minschenfleisch, ek rûke minschenfleisch.“
„Ach wat,“ së de frû, „dû bist wol nidi rechter klauk, -wû soll hîr miiischen-
tìeisch sin, ek hewwe nischt.“ „Doch,“ secht hei, „ek rûke minschenfleisch,
hâle man hër, ek hewwe grôten hunger,“ un dâbî schniifele hei umhër, op
hei et nidi finnen kenne. De frû schult, wû hei sek sau wat denken kenne,
dat se wëne in luise harre; hei warre wol nidi recht jescheit, in dise jêjent
keime kein minsche. Hei bleïf âwer dâbî, et warre minschenfleisch in hiise,
un wenn sei et nich gutwilliger hërhâlen dë, denn wolle hei et schon
finnen. Nun wort de fril doch bange un se së vor êren man, hei solle
sek man te frêden jében, se wolle et ôk hërhâlen, âwer hei solle êr vor-
schprëken, dën minschen nischt te daun. „Brink et man erseht hër,“ së
hei, „dat wart sek schön finnen.“ De frû moste mi dat mëken hervôrhôlen,
un wî et dën minschenfrëter sâcli, zettere un bewwere et ân ganzen karper
un bide êne, hei médité êt doch nicht daun; un de frû schprôk ôk vor
dat mëken un së tau êren man: „kukke mâl, dit Ideine ârtige worm, dat
darfste mek nich opfrëten.“ Dat mëken moste nûn vorteilen, wû et êne
gân harre, wat vor ne bewantnis et met dën wokkenbreiwe harre un wû
et hër wâr. Dârop së dë man, hei wolle et ân lêbente lâten, et solle sek
te bede leïn, denn morjen freu, ê de sunne opjinge, wolle hei et metnëmen
un nâ hûs bringen. Keinder wâr frôer wî dat mëken. De frû mâke en
bede te rechte, wû et sek rin lachte un et schleip ôk bàie in.
Dën andern morjen, de sunne wâr noch lange nich opegân, dâ wâr
de wint schon te jange. Dat mëken moste opschtân un sek te rechte
mâken. Wî ailes sau wît fartich wâr, bedanke sek dat mëken bî der frû,
nâm sînen wokken un wokkenbreif un de reise junk lös. De wint mâke
sek op, dat de bénie brâschten, nâm dat mëken in sînen mantel un furt
junk et dorch de luft. Grâde wî de sunne opgân wolle, kämen se vorii
hipschen schlosse ân. De wint satte et hîr âf un së, et solle sek hîr opm
schlosshof setten un ânfengen te schpinnen. Dat mëken dât denn dat ôk
un de sunne schîne op den wokkenbreif, datte blitzere un blenkere.
Op dën schlosse wône âwer en prinz, dë harre noch nich lange frît.
Wî nûn de prinz opwâke un ût’n fenstere kukke un dat mëken mit dën
hipschen wokkenbreiwe sâch, dâ wolle hei abselût dën wokkenbreif hebben.
Dat mëken moste op’t schloss kommen un et wort efrât, op et dën wokken-
breif nich vorkêpen dê. Et së âwer në, dëne vorkefte et nich; wenn et
Der Wolf mit dem Wockenbriefe.
195
äwer ne nacht bi den prinzen schläpen kenne, denne wolle et den wokken-
breif herjeben. Darnet wärme ok invorschtän.
Den prinzen sine frü harre eren manne awer neu schläpdrunk ejeben,
un wi dat meken et äbents op sine kämer kam, da schleip de prinz schön
un wöke de ganze nacht nich weder op, un dat meken könne kein wort
metne schpreken. Den andern morjen, wi de sunne opjunk, war de prin-
zessinne schon da un wolle den wokkenbreif hebben. Dat meken awer se,
den wokkenbreif jeiwe et noch nich her, de prinz harre de ganze nacht
eschläpen un et harre kein wort metne schpreken kennen; et wolle erseht
noch ne nacht bi ene schläpen. Dat jeschöch ok. De prinzessinne harre
eren manne äwer weder neu schläpdrunk ejeben, un dat meken könne
weder nich metne schpreken, weil hei nich opwäke. Wi än andern morjen
de prinzessinne käm un den wokkenbreif hebben wolle, jäf ne dat meken
äwer noch nich her; et se, de gräf harre de ganze nacht eschläpen, et
wolle ok de dride nacht noch bi ene bliben, denn solle se den wokken-
breif ganz beschtimt hebben. De prinzessinne leit sek denn ok därop in
un mäke eren manne weder den schläpdrunk te rechte. Wi et äbent wort
un de prinz sek henlein wolle, dä dachte hei: „wutau sollek denn immer
den schläpdrunk nemen?“ un jöt ne wech, un nun könne dat meken metne
schpreken un se erkennten sek. De wulf metn wokkenbreiwe wär nemlich
dise prinz ewest un dit meken wär vor ene beschtimt. Den prinzen sine
frü äwer wär ne hexe un wolle nich, dat dise beiden tesamme keimen.
Jezt wort se hals ewwer köp furt ejocht, un de beiden andern hebben sek
efrit un sint gliklich met enander ewest.
Das Märchen vom wulve met’n wockenbreiwe ist von Herrn Ober-
lehrer Ed. Damköhler in Blankenburg am Harz in der Mundart seines
Heimatdorfes, des benachbarten Kattenstedt, so aufgezeichnet worden, wie
er es oft von seinem Yater, und dieser wieder von seinen Eltern gehört
hatte. Ich will einige vergleichende Ausführungen dazu geben, da dieses
Märchen einer weit verbreiteten alten Familie angehört, die über Europa
verstreut ist und wahrscheinlich aus Asien stammt. Doch werde ich mich
auf das zunächst liegende beschränken.
Das Grundthema der verschiedenen Erzählungen ist, dass ein Yater
(König, Graf, Kaufmann) genötigt wird, seine liebste Tochter an ein
tierisches Wesen zu geben, das aber ein verzauberter Mensch ist; seine
Erlösung wird durch das Mädchen vollzogen.
In dem Kattenstedter Märchen soll ein Graf seiner jüngsten Tochter
aus der Stadt als Geschenk einen Wockenbrief (d. i. ein verziertes Stück
von Pergament oder dünner Pappe, das um den Flachs am Hockenstiel
I
Weinholcl:
196
gelegt wird)1) mitbringen. Er findet keinen, begegnet aber auf dem Heim-
wege einem Wolfe mit einem schönen Wockenbriefe. Er erhält ihn von
dem Wolfe gegen das erste, das ihm zu Hause entgegenkommen werde.
Das ist nun seine Tochter. Als der Wolf sie abholen kommt, wird erst
die Tochter des Schweinehirten, dann die des Kuhhirten untergeschoben;
beide bringt der Wolf zurück und verlangt die rechte. So muss ihm denn
zuletzt das Grafentöchterchen folgen. Sie wohnt mit dem Wolfe in der
Höhle, langweilt sich aber so, dass sie mit ihrem Wocken und dem Wocken-
briefe entflieht. Sie findet nicht aus dem Walde heraus, abends gelangt
sie zu einem Hause. Die Frau desselben nimmt sie auf ihr Bitten ein
und versteckt sie vor ihrem Manne, einem Menschenfresser, dem Winde.
Aber der riecht das Menschenfleisch, doch erbarmt er sich des Mädchens
und trägt es am andern Morgen auf seinem Mantel zu einem schönen
Schlosse, wo ein jung vermählter Prinz wohnt. Die Grafentochter setzt
sich auf Hat des Windes vor das Schloss und spinnt. Die Sonne scheint
auf den schönen Wockenbrief; der Prinz sieht das und will den Brief
haben, den sie aber nur gegen eine Nacht bei ihm hergeben will. Der
Prinz bekommt zweimal einen Schlaftrunk von seiner Frau, so dass das
Mädchen kein Wort mit ihm sprechen kann. In der dritten Nacht aber
dachte der Prinz: wozu soll ich denn immer den Schlaftrunk nehmen?
und so konnte das Mädchen mit ihm reden und sie erkannten sich. Der
Prinz war nämlich der Wolf und die kleine Gräfin für ihn bestimmt. Da
ward die Frau, die eine Hexe war, fortgejagt und jene heirateten sich.
Man sieht leicht, dass in der Erzählung einiges gestört ist und fehlt.
Die Überlieferung ist in dem aus Fehmern bei Müllenhoff (Sagen,
Märchen und Lieder der Herzogtümer Schleswig-Holstein und Lauen-
burg. Kiel 1845. S. 385) mitgeteilten Märchen vom weissen Wolf
besser.
Ein König verirrt sich auf der Jagd im Walde und ein schwarzes
Männchen führt ihn zurecht gegen das Versprechen, dass es zum Lohne
das erste, das dem König zu Hause entgegen kommen werde, erhalte.
Das ist die jüngste Tochter. Nach acht Tagen holt ein weisser Wolf die
Prinzessin ab, nimmt sie auf seinen Rücken und jagt mit ihr über Berg
und Thal nach dem gläsernen Berge; dort wirft er sie ab und läuft davon.
Das Mädchen sucht ihn nun. Es kommt zu einer kleinen Hütte, wo eine
Frau ihm von ihrer Hühnersuppe mitteilt und die Knochen mitgiebt, als
sie es weiter zum Winde schickt, der wohl vom weissen Wolfe wissen
werde. So wandert die Prinzessin zum Winde, dann zur Sonne, erhält
1) Schambach, Wörterbuch der niederdeutschen Mundart der Fürstentümer
Göttingen und Grubenhagen S. 303. Woeste, Wörterb. der westfälischen Mundart S. 328.
— Wockenblad, das Pergament oder steife Papier, das iim den Spinnrocken gebunden
wird, Bremisch-niedersächsisches Wörterbuch Y, 284. Danneil, Wörterbuch der
altmärkisch-plattdeutschen Mundart S. 249.
Der Wolf mit dem Wockenbriefe.
197
von beiden Hühnerknochen mit und kommt endlich zum Monde, der vom
weissen Wolfe auch nichts weiss, aber sagt: das schwarze Männchen gebe
Hochzeit im gläsernen Berge. Der Mond bringt sie hin, in der Eile hat
sie aber eins der Hühnerknöchlein vergessen. Sie versucht nun am Glas-
berge hinaufzuklettern, indem sie die Knöchelchen als Leitersprossen an-
legt. Oben fehlt noch eine Sprosse, die sie durch ihren kleinen Finger
ergänzt. In dem Berge sitzt das schwarze Männchen als verwunschener
Prinz mit angezauberter Frau. Er erkennt die Prinzessin nicht, die nun
ein Lied vom weissen Wolfe singt. Sie muss es wiederholen und der Prinz
erkennt sie. Der Zauber ist gelöst, die falsche Frau wird verstossen und
die Königstochter geheiratet.
Zu dieser Gruppe gehört auch die pommersehe Erzählung vom
weissen Wolf, aus Meesow, Kr. Regenwalde, bei Ulr. Jahn, Volks-
märchen aus Pommern und Rügen I. no. 60 (Korden 1891), die freilich am
Anfang und Schluss arge Änderungen hat.
Hier wird eine Prinzessin von einem jungen Herrn entführt. Sie muss
ihn im Walde lausen1) und die gefundene sehr grosse Laus auf den Fahr-
weg legen. Da kommt ein Wagen mit der Frau des jungen Herrn und
fährt, über die Laus; mit einem Knall verschwindet alles und die Prinzessin
ist ganz allein. Ein abgedankter Soldat weist ihr den Weg zu einem
kleinen Häuschen, worin eine alte Frau wohnt, deren Söhne Sonne, Sterne
und Mond sind, Menschenfresser, die sich aber des Mädchens erbarmen
und ihr sogar drei glänzende Kleider schenken. Der Mond giebt ihr an,
wie sie zu dem weissen Wolfe kommen könne und giebt ihr die Knöchelchen
der drei Hühner mit, von denen sie dort gegessen hat. Diese muss sie als
Brückenteile in das grosse Wasser legen, und als ihr eines fehlt, schneidet
sie sich den kleinen Finger ab und kommt so hinüber zu der Stadt des
weissen Wolfes. Sie legt nun das Kleid an, das ihr Sonne beim Abschiede
mitgab; die Frau des weissen Wolfes begehrt es und bekommt es gegen
ihre Erlaubnis, dass das Mädchen eine Nacht bei dem Prinzen bleiben
dürfe. Ein Schlaftrunk betäubt diesen. Ebenso in der zweiten Nacht,
welche das Mädchen durch das Sternenkleid erkauft. Aber in der dritten
Nacht, welche ihr das Mondkleid verschaffte, goss der weisse Wolf den
ihm verdächtigen Trank weg und erkennt nun die Prinzessin. — Diese
pommersche Variante lässt nun nicht die Lösung des Zaubers und die Ver-
einigung des weissen Wolfes mit ihr eintreten, sondern die Prinzessin wird
reich beschenkt entlassen und heiratet den abgedankten Soldaten.
In der Fehmernschen und der Pommerschen Erzählung hat das Auf-
suchen des verschwundenen Wolfes durch das Mädchen eine bedeutsame
1) Das Lausen und die gefundene grosse Laus spielt auch in dem dänischen Märchen
vom Wolf Königssohn (Sv. Grundtvig, Dänische Yolksmärchen. Übers, von W. Leo. Leipzig
1878. S. 252 f.) eine Rolle.
Zcitsclir. d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
14
198
W einhold:
Stellung, Prüfungen seiner Liebe sind dabei. In der Kattenstedter Fassung
ist die Erinnerung daran nur dunkel. Diese in dem Märchen von Amor
und Psyche am schönsten entwickelte Fahrt nach dem verlorenen Geliebten
finden wir auch in dem hessischen Märchen vom Löweneckerchen (Grimm,
K. u. H. M. Nr. 88), in dem dänischen vom Wolf Königssohn und eigent-
lich auch in dem hannoverschen vom Raben (Grimm, K. u. H. M. III, 153).
Im Grunde aber gehört dieselbe nicht zu dem ältesten Bestände der
Geschichte. Dieser liegt darin, dass das Mädchen das verzauberte
Tier lieb gewinnt und durch seine Liebe erlöst.
Diese einfache Gestalt hat eine Gruppe, worin der Verlauf so ist, dass
dem Mädchen von dem Tiere erlaubt wird, die Eltern zu besuchen, unter
dem Gebote, die gegönnte Frist nicht zu versäumen.
In dieser Weise erzählt das schwäbische Märchen: drei Rosen
auf einem Stiel (E. Meier, Deutsche Volksmärchen aus Schwaben Nr. 57),
so genannt, weil der Vater der jüngsten Tochter vom Markt drei Rosen
auf einem Stiel mitbringen soll. Diese hütet ein schwarzes Ungeheuer,
dem der Vater zur Lösung seines eigenen Lebens die Tochter angeloben
muss. Das Tier erlaubt ihr sehr bald zu dem Vater zu gehen, nur solle
sie am nächsten Tage zurückkehren. Sie ist gehorsam, findet aber das
Ungeheuer wimmernd und im Sterben. Allein da sie kommt, kriecht ein
schöner Prinz aus dem haarigen Pelz.
In einer Erzählung aus der Schwalmgegend in Hessen (Grimm,
K. u. H. M. III, 152), wo auch eine Rose das von der jüngsten gewünschte
Geschenk ist und das grosse schwarze Tier sich zunächst auch nicht ver-
wandeln kann, versäumt das Mädchen, weil der kranke Vater stirbt, die
Frist und trifft bei der Rückkehr alles im Garten und Schloss traurig ver-
wandelt. Unter einem Kohlhaufen findet sie das Ungeheuer wie tot, ist
sehr betrübt, begiesst es mit Wasser und es wird lebendig und wandelt
sich, erlöst, in einen schönen Königssohn.
In dem niedersächsischen Märchen (aus Sichelstein, bei
Schambach und Müller, Niedersächs. Sagen und Märchen S. 263), wo auch
eine Rose das ist, was der Vater von seiner Kauffahrt mitbringen soll, ist
das „Gedierze“ ein Bär, an den sich das Mädchen bald gewöhnt. Der.
Besuch bei den Eltern ist vergessen. Das Mädchen findet nun eines Tages
den Bären wie tot. Sie beweint ihn, und als die Thränen auf ihn fallen,
erwacht er und steht erlöst als schöner Prinz vor ihr.
Nach dem verwandten masurischen Märchen (Toppen, Aberglauben
aus Masuren mit Sagen und Märchen. Danzig 1867. S. 142), ebenfalls mit
der Rose, lässt das halb wolf-, halb bärartige Tier das Mädchen einmal
nach Hause fahren. Als sie gehorsam zurückkehrt, findet sie das Wesen
in Ohnmacht, küsst es vor Schmerz und erlöst es dadurch.
Ebenso erlöst in einer kroatisch-krainischen Erzählung (Friedr.
Krauss, Sagen und Märchen der Südslaven I. no. 66) ein Kuss des Mädchens
Der Wolf mit dem Wockenbriefe.
199
den verzauberten Igel, dem es durch die Kose, die es gewünscht, zu eigen
geworden war.
Nach einer baskisclien Erzählung (Webster, Basque Legends.
London 1877. S. 167) ist das Ungeheuer, in dessen Besitz die Königs-
tochter durch den Wunsch nach einer Blume kam, eine Schlange. Das
Mädchen versäumt die gegönnte Frist um einen Tag, findet die Schlange
ganz erstarrt, erwärmt sie und sagt ja, als es von ihr gefragt wird, ob es
sie heiraten wolle. Auf dem Kirchgänge wird die Schlange zum schönen
Prinzen, die Schlangenhaut wird von der Prinzessin zu einer bestimmten
Stunde verbrannt und der Zauber ist vernichtet1).
Sehr nahe steht dieser Gruppe das welschtiroler Märchen von
dem Blatte, welches singt, tanzt und musiziert (la foglia che
canta, che balla e che suona), das sich die jüngste Kaufmannstochter
wünscht und dadurch in die Gewalt einer Schlange gerät (Chr. Schneller,
Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck 1867. Nr. 25). Sie wird
von der Schlange gut behandelt; als sie zu der Hochzeit ihrer beiden
Schwestern geladen wird, geht die Schlange mit,, und als der Hochzeit-
reigen getanzt wird, verlangt die Schlange, dass es mit ihr tanze. Wenn
auch mit Grausen, thut es das Mädchen, zertritt dabei den Schwanz der
Schlange und ein bildschöner Jüngling liegt, vom Zauber befreit, in
ihrem Arm.
In allen diesen Märchen empfängt das Untier erst mit Lösung der
Verwünschung menschliche Gestalt: eine Blume (oder ein Blatt) ist allen
eigen. Dem singenden Blatt der welschtiroler Erzählung entspricht zu-
nächst die singende Rose1 2) des deutschtiroler Märchen (Zingerle, Kinder-
und Hausmärchen. Innsbruck 1852. Nr. 30), in welchem aber abweichend
von den übrigen kein Tier, sondern ein alter Mann3) der Hüter der Rose
und das Wesen ist, das die Königstochter dafür fordert. Er geht mit ihr
zur Hochzeit der beiden älteren Prinzessinnen. Die jüngste beobachtet
das Gebot, nicht zu lachen und zu sprechen und enthauptet auch auf seinen
Befehl den Alten, aus dessen Rumpf der Schlüssel zu allen Schätzen des
verzauberten Schlosses fällt. Die Königstochter war nun steinreich und
frei, ein Schluss, der an das Ponnnersche Märchen erinnert, aber ebenso
wenig ursprünglich und echt ist als der dortige.
1) Die Verbrennung der Tierhaut findet sich auch im Märchen ,Ilans mein Igel’, in
der indischen Geschichte vom verzauberten Brahmanensohn, wo der Zauber gelöst ist, als
die Schlangenhaut verbrannt wird: Pantschatantra von Th. Benfey II, 147, und ebenso in
der Sinhäsana-dvätrifnjikä in der Geschichte von dem in einen Esel verwandelten Gandharva:
A. Weber, Indische Studien XV, 254. Mehr noch bei Benfey, Pantschatantra I, 2G0 f.,
265 ff. über die Entzauberung durch Verbrennung der angenommenen Hülle.
2) Eine Rose, die spricht und singt, bringt in dem lothringischen Märchen vom
weissen Wolfe der Vater der jüngsten mit. Cosquin, Contes populaires de Lorraine
II, 215.
3) In dem Pehmernschen Märchen sind das schwarze Männchen und der weisse Wolf
zwei Erscheinungsformen desselben verzauberten Prinzen.
14
200
W einhold:
In der Gruppe, welche wir hier vorführten, hält das Mädchen das
Gebot. In einer andern aber Übertritt sie es und die Trennung von dem
geheimnisvollen Wesen erfolgt sofort. Dasselbe war dem Mädchen um so
lieber geworden, als es in der Nacht menschliche Gestalt annahm. Nach
allerlei Gefahren findet das Mädchen den Geliebten wieder und vereinigt
sich bleibend mit ihm.
Ton den deutschen Märchen gehört das hessische vom singenden
springenden Löweneckerchen hierher (Grimm, K. u. H. M. Nr. 88).
Ein Yater, der auf Reisen geht, soll den drei Töchtern etwas mit-
bringen; die jüngste wünscht eine Lerche (das Löweneckerchen). Als er
diese findet, packt ihn ein Löwe, dem er als Lösung seines Lebens die
jüngste Tochter geloben muss. Dieselbe geht am nächsten Morgen in den
Wald, wo der Löwe sie empfängt und in sein Schloss führt. Bei Nacht
ist er ein schöner Mann, die Hochzeit wird da begangen; auch alle seine
Leute sind dann Menschen. Nach einiger Zeit lässt sie der Gemahl zur
Hochzeit der ältesten Schwester nach Hause auf Besuch. Als die zweite
sich verheiratet, bittet sie ihn, mitzugehen, und er tliut es, sagt aber, kein
Strahl eines brennenden Lichtes dürfe ihn treffen, sonst müsse er sieben
Jahre lang als Taube fliegen. Trotz aller Vorsicht fällt nun dort ein
Kerzenstrahl auf ihn und er entfliegt als Taube. Nun sucht die Frau nach
ihm, folgt sieben Jahre lang seinen Blut- und Federspuren, bis diese auf-
hören. Da steigt sie zu Sonne und Mond hinauf, um nach der Taube zu
fragen; der Mond erfährt vom Winde, dass die Taube wieder ein Löwe
geworden und am Roten Meere mit einem Lindwurm kämpfe. Dorthin
weist sie der Nachtwind und auf seinen Rat schneidet sie am rechten Ufer
die elfte der dort stehenden grossen Ruten ab und schlägt den Lindwurm
damit, der nun schwach wird. Der Löwe wird Mensch, aber auch der
Lindwurm eine Königstochter, die den Jüngling fasst, mit ihm auf den
Vogel Greif springt und ihn entführt.
Aber die junge Frau verzagte nicht und kam endlich zu dem Schlosse,
worin der Löwenprinz mit der Königstochter lebte. Sie öffnete das Kästchen,
das die Sonne ihr geschenkt hatte und zog das sonnenstrahlende Kleid an,
das darin lag. Die Schlossfrau begehrt es und erhält es gegen Fleisch
und Blut: d. h. sie muss erlauben, dass jene eine Nacht in der Kammer
des Bräutigams schlafe. Dieser wird durch einen Schlaftrunk betäubt. Die
zweite Nacht erkauft die treue Frau durch eine goldene Glucke mit zwölf
goldenen Küchlein, die im Ei waren, das ihr der Mond gab. Diesmal wird
der Schlaftrunk weggegossen und der Prinz erkennt seine Gattin. Sie
entfliehen auf dem Vogel Greif und kommen in ihr Schloss zu ihrem
Kinde zurück.
In diesem Märchen sind die Abenteuer der suchenden Frau ähnlich
erzählt, wie in dem früher erwähnten aus Fehmern und Pommern und in
dem Kattenstedter.
Der Wolf mit dem Wockenbriefe.
201
Sehr ausführlich und vielfach von dem Gange der genannten Märchen
abweichend, auch mit andern Motiven gemischt, entwickelt das dänische
Märchen vom Wolf Königssohn die Schicksale der Prinzessin, nach-
dem ihr Ungehorsam den Wolfprinzen vertrieben hat (Sv. Grundtvig,
Dänische Volksmärchen. Übersetzt von W. Leo. Leipzig 1878. S. 252 if.).
Der Wolf wandelt sich nachts in einen Menschen, hat aber streng verboten,
Licht anzuzünden, so dass die Königstochter ihn nie sah. Nach zwei Jahren
darf sie ihre Eltern besuchen. Die Mutter giebt ihr beim Abschiede ein
Messerchen mit, womit sie den geheimnisvollen Mann ritzen solle. Klage
er über Schmerzen, sei er ein Mensch. Er klagt und hinkt fortan; sie
verspricht künftig folgsamer zu sein. Aber nach zwei Jahren, als sie
wieder bei den Eltern gewesen, folgt sie doch dem üblen Rat der Mutter,
macht in der Nacht Licht und sieht nun ihren Gatten, der sofort entflieht.
Die schweren Prüfungen der suchenden Frau werden von ihr bestanden,
und die beiden werden endlich wieder vereint und der Zauber ist gelöst.
Dagegen endet das verwandte norwegische Märchen unglücklich,
da der in einen Bären bei Tage verwandelte Mann, als ihn die Frau auf
Anstiften ihrer Mutter in der Nacht beleuchtet hat und er durch einen
herunterfallenden Tropfen des Talglichts geweckt wird, genötigt ist, sie
für immer zu verlassen. Die Abenteuer des Suchens fehlen natürlich.
(Asbjörnsen, Tales from the fjeld — from the norse by G. W. Dasent.
London 1874. S. 353.)
Unglücklich schliesst auch die lothringische Erzählung vom
weissen Wolf (le loup blanc: E. Cosquin, Contes populaires de Lorraine.
Paris 1887. II, no. 63)1). Der Gegenstand des Wunsches der jüngsten
Tochter ist eine sprechende Rose. Der Vater findet einen Strauch mit
sprechenden und singenden Rosen vor einem Schlosse. Dem weissen
Wolfe, der auf ihn stürzt, als er die Rose bricht, muss er die erste Person
versprechen, die ihm zu Hause entgegenkommt. Es ist die jüngste Tochter.
Der Vater führt sie zu dem weissen Wolfe, der abends ein schöner Prinz
wird und nur am Tage Tier ist. Daheim sagt der Vater, wo das Mädchen
geblieben ist. Die älteste Tochter geht auf das Schloss und ihr verrät die
Schwester das Geheimnis. Alsbald hört man ein schreckliches Geheul, der
Wolf kommt und stürzt tot bei dem Mädchen nieder. Es ist sein ganzes
Leben unglücklich.
In einem piemontesischen Märchen, das A. de Gubernatis auf-
zeichnete (Die Tiere in der indogermanischen Mythologie. Aus dem Eng-
lischen übersetzt von M. Hartmann. S. 630), ist ein guter Abschluss bei
sonst gleichem Verlaufe möglich gemacht. Die jüngste der drei Töchter,
Margarete, wünscht von dem reisenden Vater nur eine Blume. Eine Kröte
droht ihm beim Pflücken den Tod, wenn er ihr nicht eine Tochter vermähle.
1) Vgl. dazu die vergleichenden Ausführungen E Cosquins a. a. 0. S. 217—230.
202
Weinhold:
Die jüngste entschliesst sieh zum Opfer. Tu dev Nacht wird sie ein schöner
Jüngling. Aber er gebietet ihr, alles geheim zu halten, sonst müsse er
ewig Kröte bleiben. Dennoch verrät sie ihren Schwestern das Geheimnis
und die Kröte verschwindet. Der Ring, den ihr Gemahl ihr früher ge-
geben, der alle ihre Wünsche erfüllen solle, versagt; der Geliebte erscheint
nicht wieder. Als sie aber den Ring als nutzlos in einen Teich wirft, steigt
der Vermisste als schöner erlöster Jüngling heraus.
In einem toskanischen Märchen, das Gubernatis ebenfalls ans
Volksmund aufzeichnete (a. a. 0. S. 631), verletzt das Mädchen auch das
Gebot, über das Geheimnis zu schweigen und ausserdem versäumt es die
ihm zur Heimkehr von dem Besuche der Eltern gesetzte Frist. Der
Zauberer (von der Tierverwandlung ist keine Erinnerung geblieben) ver-
schwindet und das Mädchen wandert unter Abenteuern, welche zu diesen
Märchen ursprünglich nicht gehören, sieben Jahre lang herum. Ob sie den
Gesuchten finde, ist nicht gesagt.
Hier sei nun genauer des Märchens von Psyche und Cupido ge-
dacht, das Apulejus von Madaura in seinen Metamorphosen (IV, 28 bis
VI, 24) erzählt und zum Gemeingut der gebildeten Welt gemacht hat1).
Es ist nichts Anderes, als eine im Stil jenes afrikanischen Schriftstellers
der Periode der Antonine ausgeführte Variante unseres Märchenstoffs, die
keinen antiken Göttermythus enthält, sondern dieser ist gewaltsam in die
alte indo-europäische Fabel hineingedeutet worden.
Die Hauptzüge sind diese. Ein König und eine Königin haben drei
Töchter, deren jüngste, Psyche mit Namen, von wunderbarer Schönheit
ist. Aber sie findet keinen Freier, und als die beiden älteren Schwestern
heiraten, befragt der Vater das milesische Orakel Apollos und erfährt, dass
Psyche auf dem Gipfel eines Berges ausgesetzt werden solle, wo ein Un-
geheuer in Schlangengestalt sie holen werde. Psyche wird dorthin gebracht,
der Zephyr trägt sie auf eine blumige Bergwiese und zu einem wunder-
baren Schlosse. Sie sieht niemanden, obgleich sie köstlich bedient wird,
und alle Nächte teilt ihr Lager ein unbekannter Gatte. Nach einiger Zeit
hat sie nach den Schwestern Sehnsucht; der Gatte giebt ihren Bitten, sie
durch den Zephyr holen zu lassen, nach, obgleich er die Gefahr erkennt,
und sie bringen voll Neid Psyche dazu, das vermeintliche Ungeheuer töten
zu wollen. Psyche erkennt Cupido, der Dolch entsinkt ihr, ein Tropfen
Öl träufelt auf den Schläfer, weckt ihn und er entfliegt in die Lüfte. Nun
folgen die Irrfahrten Psyclies, um den Entflohenen zu finden. Sie ent-
scliliesst sich endlich zu Venus zu gehen, die sie zuerst züchtigt und ihr
1) Die Zugehörigkeit des Psychemärchens zu unserer Familie hat schon W. Grimm
in den Ausführungen zu dem Märchen vom Löweneckerchen hervorgehoben: Kinder- und
Hausmärchen. 3. Aufl. (1856) III, 155; ja schon in den altdänischen Heldenliedern, Balladen
und Märchen (1811) S. 529 erkannt. Ich muss hier bemerken, dass ich die Abhandlung
von M. Andr. Lang im 1. Bd. der Biblioth. de Carabas Cupid and Psyche (London 1887)
nicht gelesen habe.
Der Wolf mit dem Wockenbriefe.
203
dann drei schwere Aufgaben giebt: einen grossen Haufen gemischten
Getreides zu sondern, eine Flocke von dem goldenen Fliess furchtbarer
Widder zu bringen, ein Fläschchen vom Wasser des Styx zu holen.
Endlich schickt Yenus sie in die Unterwelt, damit sie ihr etwas von der
Schönheit der Proserpina in einem Büchschen bringe. Sie findet überall
wunderbare Hilfe, als sie aber neugierig das Proserpinabüchschen öffnet,
fällt sie in einen tiefen Schlaf. Doch Cupido weckt sie: die Prüfungen
sind zu Ende, das Paar wird für immer vereint und der Dichter lässt die
Götter beim Hochzeitsmahl erscheinen. Yoluptas ist das Kind des Paares.
Wo Apulejus die Fabel von Amor und Cupido kennen lernte, die er
als schönste Episode seinem Eselroman einfügte, wird sich beantworten
lassen: wahrscheinlich in Griechenland während seines mehrjährigen
Aufenthaltes daselbst. Er war ein Sammler von Geschichten, wie seine
Metamorphosen beweisen, und kannte (Met. 1.1) die milesisc.lien Erzählungen,
die mit den persischen, und diese wieder mit den indischen, Zusammen-
hängen.
In dem unerschöpflichen Schatze indischer Geschichten finden sich
auch solche, welche die Grundzüge der von uns hier berührten Märchen
enthalten. Was ich oben als ältesten Bestand derselben bezeiclmete, dass
das Mädchen das verzauberte Tier lieb gewinnt und durch seine Liebe
erlöst, erscheint in einer in Kashmir spielenden Geschichte im Dhermangada
Cheritra (Benfey, Pantschatantra 1, 254), wo die dem Sohne des Königs
von Kanakapuri verlobte Tochter des Königs von Suräshtra den Bräutigam
in Schlangengestalt findet. Obschon darüber sehr betrübt, pflegt sie doch
liebreich die Schlange, führt sie nach den heiligen Orten und erhält am
letzten derselben den Befehl, die Schlange in einen Wasserbehälter zu
setzen. Darin verwandelt sich dieselbe in einen schönen Mann, mit dem
die treue Gattin fortan in Kashmir vergnügt lebt.
Andere Züge enthält ein indisches Yolksmärchen aus Benares1) von
Tulisa, der Tochter eines Holzhauers, welche der Sohn des Schlangen-
königs heiratet. Ihr Glück wird durch ihre Mutter gestört, die durch ein
altes Wreib die Tochter dazu verführt, die verbotene Frage nach seinem
Namen an den Gemahl zu thun, wodurch alles verschwindet, was sie be-
glückte. Aber durch schwere Arbeiten, die ihr die Schlangenkönigin, die
Mutter des verlorenen Gatten, aufgiebt, und die sie durch Hilfe dankbarer
Tiere löst, bricht sie zuletzt den Zauber und wird mit dem von der
Schlangengestalt befreiten Geliebten wieder vereint (Benfey, Pantscha-
tautra 1, 255).
Ich führe sodann nur noch die achte Erzählung des Nachtrags zum
ersten Buche des Pantschatantra an, vom verzauberten Brahmanensohn1 2).
1) Aus dem Asiatic Journal. Nouv. ser. t. II von H. Brockhaus am Ende seiner
Somadeva-Übersetzung mitgeteilt.
2) Übersetzt von Benfey a. a. 0. II, 144 f.
204
Weinhold:
Die Gattin eines Bralimanen hat nach langer Unfruchtbarkeit eine Schlange
als Sohn geboren, die sie in mütterlicher Liebe pflegt und als sie gross
geworden, verheiraten will. Der Brahmane geht auf des Weibes Bitte aus,
eine Braut zu suchen, und ein anderer Bralunane giebt ihm seine Tochter
für den Sohn mit. Alles ist bei der Heimkehr entsetzt, dass das schöne
Mädchen mit einer Schlange vermählt werden soll, aber dieses selbst willigt
ein, damit das Wort ihres Vaters wahr bleibe. Es pflegt die Schlange und
einmal in der Nacht wandelt sich diese in einen Mann. Der Brahmane,
welcher das Paar auf dem Lager findet, verbrennt die zurückgebliebene
Schlangenhaut und der Zauber ist zerstört1).
Zum Schluss will ich auf eine Märchengruppe hinweisen, in der die
Vernichtung des Zaubers durch einen Jüngling, den Bruder des verzauberten
Mädchens geschieht. Dazu gehört ein niederschlesisches Märchen,
von Heinr. Fischer in Wolfs Zeitschrift für deutsche Mythologie 1, 310
mitgeteilt. Ein Vater hat seine Tochter in eine Taube verwünscht; der
Bruder sucht sie auf, als er herangewachsen ist, und kommt dabei zum
Winde, zum Raben und zur Sonne. Die Sonne weist ihn zu einem Schlosse
auf einer Insel, auf welche eine gläserne Brücke führt. Er kommt über
dieselbe, indem er Knöchelchen mit Sirup aufklebt und für das fehlende
letzte seinen kleinen Finger hingiebt. Er findet die Schwester mit drei-
zehn andern Mädchen in dem Schlosse schlafen, zur Erlösung fehlte aber
noch etwas und die Schwester ward in die finstere Welt verwünscht. Ein
Müller giebt dem Jüngling Bescheid darüber und ein Rabe trägt ihn in
einer Tonne Mehl dorthin. Durch Stimmen wird ihm geraten, die Besen
auf dem Boden zu Asche zu kehren und diese ins Wasser zu werfen. Da
wird der Zauber gelöst.
Ein waldeckisclies Märchen (Reinhold das Wunderkind, bei Curtze,
Volksüberlieferungen aus dem Fürstentum Waldeck, Nr. 20) erzählt, wie
ein verschwenderischer Graf seine drei Töchter hintereinander an einen
Bären, einen Adler und einen Walfisch verkaufte. Der nachgeborene Sohn
1) Wir dürfen uns hier des deutschen Märchens Hans mein Igel (Grimm, K.H.M.
no. 108) erinnern. Hans ist halb Igel halb Mensch und Sohn eines Bauern, der sich ein
Kind wünschte, und wäre es ein Igel. Er weist im Walde einen verirrten König zurecht,
gegen das Gelöbnis dessen, das zu Hause ihm als erstes begegnen würde. Es ist die
Tochter, doch wird dort beschlossen, den Igelmenschen zu betrügen. Hans bringt dann
noch einen König, der im Walde verloren war, gegen gleiches Gelöbnis aus der Not und
dieser wie seine Tochter beschliessen, ihr Wort zu halten. — Hans Igel reitet nun auf
seinem Gockelhahn in das erste Königreich, wo er allen feindlichen Empfang besiegt, die
Prinzessin mit sich führt, dann mit seinen Borsten blutig sticht und fortjagt. Im zweiten
Königreich wird er mit Ehren empfangen und die Hochzeit gefeiert. In der Brautkammer
streift er die Igelhaut ab und lässt sie verbrennen. Nun ist er ganz Mensch und alles
voll Freude.
Der Wolf mit dem Wockenbriefe.
205
Reinhold zieht später aus, die Schwestern zu erlösen. Er kommt jedesmal
zurecht, wenn die Yerwandlung der Schwäger in Menschen nahe ist und
erhält beim Abschied Bärenhaare, Adlerfedern und Fischschuppen als
Mittel im Kampfe gegen den Zauberer Zornebock, der als wilder Stier
auftritt. Er tötet denselben und erlöst damit die von Zornebock gefangene
Prinzessin, die Schwester jener in Bären-, Adler- und Walfischgestalt ver-
wünschten Prinzen, seiner Schwäger. Aller Zauber ist nun gebrochen und
Reinhold heiratet zum Schluss die Prinzessin.
Die Thorak-Wimpel oder Mappe.
Ein Beitrag zur jüdischen Yolks künde.
Von Georg Minden.
ln der Januarsitzung (1893) des Yereins für Yolkskunde erlaubte ich
mir, zwei mit Stickereien in Form hebräischer Buchstaben versehene,
3 — 4 m lange, etwa 15 cm breite Leinwandstreifen vorzulegen, für welche
die Bezeichnung „Thorali-Wimpel“, in Norddeutschland auch „Mappe“,
üblich ist.
Unter Thorah (d. h. Lehre oder Gesetz) versteht man in der jüdischen
Religion den Pentateuch, von dem regelmässig beim öffentlichen Gottes-
dienst ein Abschnitt vorgelesen wird. Diese Yorlesung darf aber nicht aus
gedruckten Büchern erfolgen, sondern sie wird nach orientalisch-altertüm-
licher Weise aus einer einseitig beschriebenen Pergamentrolle vorgenommen,
welche in einem an der Ostseite der Synagoge befindlichen Schreine, der
„heiligen Lade“ (aron hakkadosch oder nach sogenannter polnischer Aus-
sprache oren hakkaudesch) aufbewahrt wird. In den Synagogen reicher
Gemeinden finden sich oft Dutzende solcher Rollen. Ist eine unbrauchbar
geworden, so wird sie, damit kein Unfug damit verübt wird, häufig auf
dein Friedhof begraben; solche Gräber finden sich auf dem berühmten
Prager Begräbnisplatz.
Auf die Herstellung der Thorah-Rollen wird grosse Sorgfalt verwendet.
Der Text, welcher in den angeblich von Esra nach dem babylonischen
Exil erfundenen Quadratbuchstaben geschrieben wird, darf nicht die
geringste Abweichung von der Überlieferung enthalten. Er darf nicht
„punktiert“ sein, d. h. es fehlen die in den Drucken und in nicht zum
Gottesdienst bestimmten Handschriften üblichen Punkte und Striche über,
unter und zwischen den Buchstaben, durch welche 1) die Interpunktion,
2) die Yokalisation (die Buchstaben selbst sind nur Konsonanten), 3) die
20G
Mi ndon:
Melodieen, nach denen die psalmodierende Recitation erfolgt, angegeben
werden.
An die aus den zusammengeliefteten Pergamentblättern bestehende,
viele Meter lange Rolle wird an beiden Enden je eine runde Stange be-
festigt, welche oben und unten über das Pergament hinausragt und zum
Schutz für dasselbe mit Rundhölzern versehen ist. Um diese Stangen wird
dann die Rolle von rechts und links aufgerollt, mit der „Wimpel“ oder
„Mappe“ umbunden und dann in einen aus kostbarem Stoff hergestellten
Überzug hineingesteckt, so dass die Stangen oben und unten hervorsehen.
Auf den oberen Enden der Stangen wird meistens ein goldener oder
silberner Zierrat in Form einer Krone gesetzt. Diese Krone ist oft eine
vierfache, die dann symbolisch erklärt wird: 1) Die Krone des Königtums
(des Hauses David), 2) des Priestertums (des Hauses Aharon), darüber
3) die Krone der Gelehrsamkeit und 4) über diesen allen die „Krone des
guten Namens“. Yiele Tliorahrollen sind noch mit einem die Widmung
tragenden Schild und mit einem „Thorahfinger“ versehen, d. h. mit einer
silbernen Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger, um damit bei der Vor-
lesung (dem „Leinen“ vom lateinischen linea) die Linien anzuzeigen, damit
der Vorleser nicht in eine falsche Zeile gerate. Natürlich ist dies nur
eine Solennität, da der Vorsänger den ganzen Text genau auswendig weiss.
Das Auswendigrecitieren ist aber verboten, damit sich ja kein Fehler in
den Text einschleiche.
Sowohl das „Herausnehmen“ der Thorah, als das „Wiedereinheben“
geschieht mit grosser Feierlichkeit.
Auf die „Wimpel“ bezieht sich nun folgender echt volkstümliche
Brauch, der bei orthodoxen Gemeinden wohl noch heute geübt werden
mag: Nach der am 8. Tage nach der Geburt stattfindenden Beschneidung
eines Knaben wird die Windel, in welcher derselbe bei diesem Akte ge-
legen, in vier Streifen zerschnitten, welche aneinander geheftet und in
hebräischer Sprache mit dem Namen des Kindes, dem Datum seiner Geburt
und einem Spruch beschrieben werden, welcher bedeutet: „Gott lasse ihn
„gross werden zur Thorah, zur Chuppah und zu guten Werken! Amen!
„Selah!“ d. li. er möge gut lernen, sich verheiraten (chuppah = Trau-
himmel) und Wohlthaten üben. Diese Schriftzüge werden gestickt und
mit mehr oder minder reichen Ornamenten versehen, von denen einige
symbolische Bedeutung haben, indem z. B. beim Worte Thorah eine aus-
gebreitete Rolle oder ein dieselbe hoch erhebender Vorsänger, beim Wort
Chuppah ein unter dem Trauhimmel befindliches Paar und ähnliches dar-
gestellt wird. Ebenso häufig finden sich aber nichtssagende, im Stile des
Zeitalters übliche Ornamente ohne besondere Beziehung.
Dieses Band wurde von dem Knaben, sobald er gross genug war, um
in die Synagoge mitgenommen zu werden — was etwa mit dem 5. Lebens-
jahre geschah — dorthin gebracht und zum Andenken, soweit es nicht
Die Thorah-Wimpel oder Mappe.
207
für eine Thorarolle gebraucht wurde, im heiligen Schreine aufgehängt. Tn
Zweifelsfällen diente es auch oft neben den Registern und den den Stamm-
baum enthaltenden Leichensteinen als standesamtliche Urkunde. Der Um-
stand, dass sich an den Wimpeln manchmal Blutflecken finden, erklärt
sich daraus, dass sie aus der bei der Beschneidung gebrauchten Leinwand
gefertigt sind.
Zu bemerken ist, dass auf diesen Wimpeln figürliche Darstellungen
üblich sind, ebenso wie sich an dom Vorhang der heiligen Lade (paroches)
häufig der Löwe als Wappentier des Stammes Juda vorfindet, während
sonst in der Synagoge figürliche Darstellungen durchaus verpönt sind,
gemäss dem biblischen Verbot, dass man keinerlei „Bild“ der Gottheit
fertigen dürfe.
Von den beiden vorgelegten Wimpeln, die aus einer kleinen bayerischen
Gemeinde stammen, trägt die eine die Jahreszahl 1696, die andere 14801).
Das jüdische Volkstum, welches in grossen Resten noch lebendig ge-
blieben ist, aber — wie alles Volkstum — im Zeitalter der Eisenbahnen
schnell schwindet, dürfte des Interessanten viel bieten. Dasselbe ist zwar
litterarisch vielfach benutzt; aber die systematische wissenschaftliche Be-
arbeitung vom Standpunkt der Volkskunde aus fehlt noch. Bei der eigen-
tümlichen Verbindung orientalischer und europäischer Anschauungen, bei
dem steten Zurückgreifen des Volksgeistes auf eine reiche und eifrig ge-
pflegte Litteratur, endlich bei der steten Wechselwirkung der in den ver-
schiedensten Ländern angesiedelten Gemeinden untereinander, dürfte ein
1) Die hebräischen Jahreszahlen werden durch Buchstaben ausgedrückt, indem die
ersten zehn Buchstaben des Alphabets die Einer, die darauffolgenden die Zehner, die
letzten die Hunderte ausdrücken. Die Zahlen werden dann addiert, so dass jedes Wort
gleichzeitig einen Zahlenwert hat. Hieraus entspringen die bekannten kabbalistischen
Spielereien. Die Tausende werden in der „kleinen Zeitrechnung“ nicht ausgedrückt. Da
nun das Jahr seit Erschaffung der Welt 5000 in das Jahr 1240 p. Chr. n. fällt, so müssen
die in die eine Wimpel eingestickten Buchstaben resch, mem (r und m) = 240, d. h. 14S0
p. Chr. n. gelesen werden. Dies Alter erschien den meisten Sachverständigen, denen ich
die Wimpel zeigte, zu hoch. Herr Professor Lessing jedoch, der auch die Güte hatte,
mich auf ein im hiesigen Kunstgewerbe-Museum vorhandenes, sehr reich gesticktes der-
artiges Band, das aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts stammt, aufmerksam zu machen,
meinte, dass es nach dem Charakter der Stickerei, die teils gothisierende, teils Renaissance-
formen zeigt, nicht unmöglich wäre, dass dies Band aus dem Ende des 15. Jahrhunderts
stamme — falls es nämlich in Oberitalien gefertigt sei. Dies ist bei den Wanderungen,
die solche Gegenstände zu machen pflegen, nicht ausgeschlossen.
Unerklärt dagegen bleibt, dass die andere Wimpel am Schlüsse in hebräischen Buch-
staben die Inschrift zeigt „Oberin Giinzburg“. Der Einsender schrieb mir zwar, dass ein
Frauenkloster dieses Namens sich in der Nähe befinde. Es ist aber nach Ansicht des
Herrn Professor Lessing ausgeschlossen, dass etwa diese Arbeit im Kloster gemacht sei.
Herr Dr. Ulrich Jahn bemerkte bei der Diskussion, dass die bayerischen Bauern die
Taufwindeln „Fatsche“ (mhd. fasche, bayer.-österr. die Fatschen, Fadschen: das breite
Band, womit die Kinder umwickelt werden, Wickelband, lat. f'ascia; Schmeller, Bayer.
Wörterbuch l2, 779) genannt, ebenfalls mit einem frommen Spruch besticken und auf-
bewahren.
208
Ammann:
solches Studium auch für die Yolkskunde im allgemeinen fruchtbar werden.
Doch ist eine besonders sorgfältige Sichtung und Kritik des Stoffes wohl
angebracht, da derselbe der Entstellung durch der Parteien Hass und Gunst
besonders ausgesetzt ist.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem
als Quelle geistlicher Yolksschauspiele.
Von J. J. Ammann.
Das Passionsspiel des Böhmerwaldes1), oder im engeren Sinne das
Höritzer Passionsspiel, ist, wie ich bei Herausgabe desselben im 30. Jahr-
gange der Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Deutschen in
Böhmen (daraus besonders abgedruckt, Prag 1892) nachgewiesen habe, aus
dem Leben Jesu von P. M. von Cochem entnommen.
Der Verfasser dieses Passions, der Leinwebermeister Paul Gröllhesl
aus dem Markte Höritz im Böhmerwalde, nahm den Text zn seinem Spiele
fast wortgetreu aus dem bekannten Volksbuche Cochems; kritischen Sinn
hatte er nur insofern nötig, als er in dem umfangreichen Werke Cochems
aus verschiedenen Abschnitten passende Stellen auswählen und diese so
zusammenfügen musste, dass ein dramatisches Ganze, ein Volksschauspiel
daraus wurde. Eine solche Arbeit macht zwar manchem Volkspoeten keine
grossen Schwierigkeiten. Ich kenne einen solchen Mann im Böhmerwalde,
der mir nicht ohne Selbstbewusstsein versicherte, dass er „jedes Geschichten-
büchel“ in ein „Gspiel“ (Volksschauspiel) umzuwandeln vermöge — es
sieht freilich auch danach aus. Der Standpunkt unseres Verfassers war
jedoch etwas weniger willkürlich. Gröllhesl hatte vor der Zusammen-
stellung des Höritzer Passions bereits Kenntnis von andern volkstümlichen
Passionsspielen und liess sich bei seiner Arbeit hiervon leiten. Dies beweist
uns schon seine Dreiteilung des Spieles nach Art anderer, älterer geist-
licher Volksschauspiele in ein Paradeisspiel, Schäferspiel und eigent-
liches Passionsspiel. Ja Gröllhesl scheint mehr als bloss den Kähmen
dieser Spiele gekannt zu haben, ihm dürfte bereits bekannt gewesen sein,
dass sich schon in älteren Passionsspielen Stücke1 2) aus Cochem eingefügt
1) Es ist hauptsächlich in zwei Fassungen (Höritzer und Tweraser Passion) über-
liefert, von denen der H. P. die ursprüngliche Fassung ist, der T. P. nur unbedeutende
Abweichungen vom ersten zeigt. Vgl. meine Ausgabe des Böhmerwald-Passionsspieles.
2) Vgl. das Passionsspiel aus dem Böhmerwald S. 15 f.
Das Leben Jesn von P. Martinus von Cochem.
209
finden und dass also Cocliems Leben Jesu zu weiterer Ausbeute besonders
geeignet sei — denn dass etwa umgekehrt das Höritzer Passionsspiel von
1816 die Quelle für so viele andere Spiele gewesen sei, ist nach der zeit-
lichen und räumlichen Entfernung nicht anzunehmen1).
Man erzählt auch im Markte Höritz, Gröllhesl habe einige Zeit bei
sich einen Schauspieler beherbergt, der die Spieler in der dramatischen
Darstellung unterrichtet habe. Es wäre nicht unmöglich, dass letzterer
auch bei der Zusammenstellung des Textes von Einfluss war, wiewohl
Gröllhesl sein Textbuch eigenhändig geschrieben resp. aus Cochem ab-
geschrieben hat.
Gewiss ist, dass der Höritzer Passion sich in der Auswahl der Scenen
und im dramatischen Bau auf andere ältere Überlieferungen geistlicher
Volksschauspiele stützt und daher auch mit diesen einen Zusammenhang
zeigt, der ihm zugute kommt. Dadurch rückt unser Passionsspiel in eine
Leihe mit anderen, besonders in Österreich heimischen Spielen gleicher
Art, und im Gegensätze zu den alten Passionsspielen wie das Brixlegger,
das Oberammergauer, das Thierseer und andere kann man hier von einer
jüngern Gattung sprechen, bei welcher sicli der Passion selbst durch die
stoffliche Beschränkung schon mehr der Form des weltlichen Dramas
nähert, durch die Voraussetzung eines Paradeis- und Schäferspieles aber
eine Erweiterung erfährt, die über den bei grösseren Aufführungen
gewohnten Inhalt eines Passions wiederum hinausreicht und zugleich neues
Interesse für das ganze Spiel erweckt. Von diesen Gesichtspunkten liess
ich mich leiten, als ich dem Markte Höritz im Böhmerwalde eine grosse
Aufführung ihres Passionsspieles empfahl und mich zu einer entsprechenden
volkstümlichen Neubearbeitung erbötig machte1 2). Alle diese neueren
Passionsspiele fristen den älteren von Brixlegg, Oberammergau, Thiersee,
Erl gegenüber ein armseliges und für weitere Gesellschaftskreise nahezu
unbekanntes Dasein; doch warum sollte nicht auch eines derselben, wenn
es auf Grund der ursprünglichen Überlieferung in volkstümlichem Geiste
entsprechend umgearbeitet und ausgestattet wird, in grossartiger und
würdiger Weise und dazu mit Erfolg aufgeführt werden können?
In der Tliat hat sich der Markt Höritz, in opferwilliger Weise vom
deutschen Böhmerwaldbunde ermuntert und unterstützt, für diesen Gedanken
gewinnen lassen. In der herrlichen Gebirgslandschaft dieses Böhmerwald-
marktes ragt bereits ein neues Volksschauspiel-Haus empor, das im
saftigsten Wiesengrün gelegen und von Wald umsäumt jedem Fremden,
der sich auf der neuen Böhmerwaldbahn der Station Höritz nähert, von
ferne entgegenlaeht. Bei 300 Einwohnern des Marktes übte ich diesen
ganzen Winter für das neubearbeitete Spiel ein, und alle Beteiligten setzten
1) Vgl. Österr. Litteraturblatt I. Jalirg. Nr. 8 S. 252.
2) Vgl. das Passionsspiel des Böhmerwaldes S. 30.
210
Ammann:
ihre besten Kräfte für das Unternehmen ein, dass Höritz ein Seitenstück
zu Oberammergau werde.
So werden denn schon in diesem Sommer, 1893, an allen Sonn- und
Feiertagen1) in dem elektrisch beleuchteten Hause die ersten grossen Auf-
führungen stattfinden, denen die ganze deutsche Bevölkerung der näheren
und ferneren Umgebung mit Spannung entgegensieht. Ich hoffe, das Drama
aller Dramen wird auch hier eine gute Aufnahme finden und manchen
Freund der Volksdichtung und der Natur in unsern herrlichen, aber noch
weltvergessenen Böhmerwald führen.
Ich wollte schon bei Herausgabe des Böhmerwald-Passionsspiels den
Nachweis liefern, dass ausser diesem Passion noch manches andere Volks-
schauspiel auf Cochems Leben Jesu zurückgeht, ohne dass dies bisher
bekannt war, allein es fehlte dort für diese Untersuchung der nötige
Raum1 2). Ich trage dies nun hier nach.
Ähnlich wie beim Volksepos und beim Volksliede kann man auch bei
den Volksschauspielen die Erfahrung machen, dass sie erst im Lauf der
Zeit durch Änderungen oder Erweiterungen und Zusätze so geworden sind,
wie sie uns heute in irgend einem Textbuche vorliegen. Ich konnte dies
im Böhmerwalde öfters beobachten. Wenn ein bekanntes Volksschauspiel
wie das Christkindelspiel, der ägyptische Josef, die Räuber auf Maria-
Kulm und andere in einem Dorfe mit irgend einem neuen, zugkräftigen
Zusatz oder mit einer Änderung aufgeführt wird, so dauert es nicht lange,
bis andere Spielgesellschaften dasselbe bringen oder, wenn sie der Neuerung
nicht habhaft werden können, sie nachahmen oder gar einen andern Ersatz
dafür bieten, denn es herrscht auch auf diesem Gebiete grosser Ehrgeiz.
Auf diese Weise giebt es auch bei Volksschauspielen keinen völligen Still-
stand, und diese Stücke bilden sich fort und um und verändern in Einzel-
heiten vielfach ihre Gestalt. Dieser Entwicklungsgang mag sich bei manchen
Volksschauspielen in so ausgedehntem Masse vollzogen haben, dass aus
kleinen Anfängen allmählich ein ganzes Volksschauspiel wurde, wie wir
dies auch bei den alten Oster- und Passionsspielen sehen.
Die Änderungen und Zusätze sind nicht immer Eigenarbeit von Volks-
poeten, sondern häufig werden sie bloss aus anderen naheliegenden Quellen
übertragen. Eine solche Quelle für verschiedene geistliche Volksschauspiele
war auch Cochems Leben Jesu, und wenn viele Volksschauspiele heute
dieselben Stücke enthalten, so erklärt sich dies nicht so sehr aus der un-
mittelbaren Abhängigkeit dieser Spiele untereinander, sondern vielmehr
auf Grund der gemeinsamen Quelle, die überall zugänglich war und deren
gute Verwendbarkeit beim Volke allmählich allgemein bekannt wurde.
1) Vom 4. Juni an bis gegen Mitte September.
2) Vgl das Passionsspiel des Böhmerwaldes S. 15 f.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
211
J. K. Scliröer hat im Anschlüsse an K. Weinholds bekannte Unter-
suchungen (vergl. Weihnachtsspiele) an etlichen österreichischen Yolks-
schauspielen nachgewiesen, dass sie Yerse aus Hans Sachs’ Tragödie von
Schöpfung, Fall und Austreibung Adams aus dem Paradiese enthalten,
vergl. J. K. Schröers Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungern, Wien 1858
Nachtrag, Germanistische Studien von Bartsch III, 197 f., Weimariscb.es
Jahrbuch III, 391 f., IY, 383 f., A. Hartmann im oberbayerischen Archiv
34, 1 f. und in Yolksscliauspiele 1880, Yorrede YII, J. Bolte im Jahrbuch
des nd. Yereins 9, 94 f. und Korrespondenzblatt 9, 91. Ähnlich wie des
alten Meisters Hans Sachs Tragödie (1548) in Spielen späterer Zeit ver-
arbeitet wurde, so hat auch Cochems Yolksbuch (1680) wieder auf viele
geistliche Spiele eingewirkt, ja sogar solche hervorgerufen. Wenn auch
J. K. Schröers Hinweis auf Hans Sachs in einzelnen Spielen, wie z. B. im
Yordernberger Paradeisspiel1) mehr Licht in die Entstehung brachte, so
blieben doch durch die Unbekanntschaft mit Cochems Leben Jesu sehr
auffällige Stücke dieser Spiele, sowie ganze Spiele, unaufgeklärt; ander-
seits aber reicht auch Cochem nicht aus, um nun „alle“ Teile auf ihren
Ursprung zurückführen zu können, zumal da auch die Anlehnung ver-
schiedener Yolksschauspiele an Cochem qualitativ und quantitativ sehr
verschieden ist. Ein für die Untersuchung schwieriger Umstand ist auch,
dass die Heilige Schrift zugleich Quelle für Cochem und für die geist-
lichen Yolksschauspiele ist, so dass wir die Heilige Schrift sowohl durch
Cochem als über Cochem hinaus überall und zumeist in ausgiebigster Weise
vertreten finden.
Wir wollen zunächst das von K. Weinhold, Weihnachtsspiele S. 302 f.
mitgeteilte Paradeisspiel aus Yordernberg in Obersteier zur Ver-
gleichung heranziehen. Die Hs. ist aus dem Jahre 1847, Weinhold nimmt
aber als ursprüngliche Abfassungszeit wie beim Yordernberger Weihnachts-
spiel das 15. oder 16. Jahrhundert an1 2). Da nun auch hier Cochems Leben
Jesu benutzt wurde, so muss wenigstens die Fassung des ganzen Spieles,
wie es uns in der Hs. von 1847 überliefert ist, ans Ende des 17. oder ins
18. Jahrhundert herabgerückt werden. Freilich ist nichtsdestoweniger für
andere Teile des Spieles, besonders für die gesanglichen und wohl auch
für die von Hans Sachs entlehnten, ein höheres Alter anzusetzen, denn
die Scheidewand zwischen dem älteren Texte und den jüngeren Zusätzen
macht sich um so auffälliger bemerkbar, als jener poetisch ist, diese aber
prosaisch gehalten sind, eine wunderliche Mischung in ein und demselben
Spiele und bezeichnend für die Entstehungsweise. Man wird hier mit
J. K. Scliröer3) annehmen müssen, dass die poetischen Stücke die ältere,
1) Ygl. K. Weinholds Weihnachtsspiele S. 134, 300.
2) Ygl. Weihnachtsspiele S. 134, 300.
3) Vgl. Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungern, Wien 1858 S. 177.
212
Ammann:
ursprüngliche Fassung ausmachen und dass zu diesen erst später die
prosaischen Teile aus Cochems Buche hinzugefügt wurden. Wenn auch
im Yordernberger Paradeisspiel einerseits in Yersen Cochems prosaischer
Text verarbeitet ist, anderseits auch Hans Bachs’ Yerse in Prosa erscheinen,
als stammten sie gleichfalls aus Cochems Buche, so mag das doch nur eine
Ausgleichung der verschiedenartigen Teile sein, die von einem späteren
Compilator besorgt wurde. Es zeigt sich in diesem Spiele auch über
Cochem hinaus Yerwertung der Heiligen Schrift, so dass wir hier alte
geistliche Lieder mit Stellen von Hans Sachs und Cochem, sowie aus der
Heiligen Schrift zu einem nicht eben harmonischen Ganzen verquickt
finden.
Im Y. P. (Yordernberger Paradeisspiel) S. 306x) sagt Gott Yater in
Y ersen:
.... „Wann du außgelebt wirst haben,
Werden dich die Engel in den Himmel tragen.“
Bei Cochem1 2) S. 43b heisst es unten in der Erzählung gleichfalls:
.... „sonder wan wir auff diser weit außgelebt hätten, wären wir
von den Engeln lebendig in den Himmel getragen worden.“
Diese Worte bezeichnet Cochem als allen „Theologis communiter“, sie
könnten daher möglicherweise auch aus einer andern Quelle stammen.
Hier sind aber wahrscheinlich nur aus Cochems Prosaworten Yerse ge-
macht worden. Ein Gegenstück, wie der Compilator auch Yerse des Hans
Sachs in Prosa umgesetzt, zeigt uns zu S. 304 des Y- P. die Stelle:
„Adam nimm an den lebendigen Atem“ u. s. w.3). -
Im Y. P. spricht Lucifer (neben Satan und Belial) S. 309 unten:
.... „die wir so lüderlicher Weise verscherzet haben.“
Dazu lässt sich im H. P. (Höritzer Passion) und bei Cochem die erste
Rede Lucifers vergleichen4):
„was wir liederlich verscherzet haben.“
Im Y. P. S. 314 beginnt die Gerichtsscene mit den zwei Töchtern Gottes
(Barmherzigkeit und Gerechtigkeit wie im H. P. nach Cochem). Yoraus
geht im Y. P. S. 314 eine Art Prolog in Prosa, den der Engel spricht.
Selbst dieser Prolog ist aus Cochem5) entlehnt, wir finden nur unbedeutende
Kürzung und die formelle Änderung, dass es im Y. P. heisst: „in unserer
1) Nach K. Weinliolds Weihnachtsspieleu citiert.
2) Nach der Ausgabe von 1697 Frankfurt a. M. 8. Kap. „vom Paradeiß“ citiert. Vgl.
Das Passionsspiel des Böhmerwaldes S. 8 f.
3) Vgl. Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungern von J. K Schröer S. 178, weiter noch
S. 182, 184.
4) Vgl. Cochems Ausgabe von 1697 8. Kap. „vom Paradeiß“ S. 44.
5) Vgl. ebenda 9. Kap. „wie über den Adam Gericht gehalten und er auß dem
Paradeiß gestossen worden“.
I
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem. 213
Komödien“, während Cochem sagte: „in disem Capitel“. Dann beginnt im
Y. P. S. 314 f. die Barmherzigkeit mit den Teufeln ihren Streit um den
Menschen. Hier gehen zunächst der Prosa wieder Heden inYersen voran,
die eine ausführlichere Quelle als Cochems Leben Jesu voraussetzen.
Besonders fällt hier auf, dass die Barmherzigkeit von sich sagt: „Ich werde
die Lieb und Barmherzigkeit Gottes genannt“ und später wiederum:
„ich als die Liebe“.
Hier haben wir noch eine Erinnerung an die ehemaligen vier Töchter
Gottes, was wohl auch in einer andern Quelle — Hans Sachs ist hier aus-
geschlossen — enthalten war. Der genaue Anschluss an unsere Ausgabe
Cochems beginnt in Y. P. S. 316 mit der Anklage Lucifers, bei Cochem
9. Kap. S. 45b; nur schliesst sich der Verfasser des Y. P. nicht so sklavisch
an Cochem an wie der des H. P., er wählt mit besserem Verständnis das
für das Spiel Passende aus, fügt auch wieder andere Stücke dazwischen
ein, er war also sicher ein gebildeterer Mann, vielleicht ein mit Volks-
schauspielen vertrauter Geistlicher.
Dass im Y. P. eine „bestimmte“ Fassung des Lebens Jesu von Cochem
benutzt wurde (nicht etwa die von 1689 oder ein Nachdruck dieser wie
die von 1741), zeigt sich S. 322 unten: „Es ist mir lieb, mein lieber Son,“
welche Stelle in der Auflage von 1741 weggelassen ist, dagegen in der
von 1697 bei Cochem S. 48b zu finden ist. S. 223 spricht die Worte des
zweiten Absatzes von unten im H. P. Gott Vater, im Y. P. Gott Sohn,
nachdem es bei Cochem nur heisst S. 48b unten: „Darnach sprach Gott“.
Damit kann nur Gott Vater gemeint sein — es könnte diese Änderung
für die Annahme eines geistlichen Verfassers wiederum Bedenken er-
wecken.
Es folgt nun die Verheissung der Erlösung nach dem biblischen Text,
eine Scene, die man bei Cochem erwarten möchte, die aber bei ihm nicht
zu finden ist. Auffallend ist auch, dass der T. P.1) diese Stelle hat, während
sie im H. P. fehlt. A. Pangerl dürfte die Scene aus anderen Volks-
schauspielen bekannt gewesen und von ihm nach dem biblischen Texte
eingefügt worden sein. Der Text dieser Scene stimmt im T. P. nicht
genau zum V. P. Ebenso erinnert der Gesang Adams und Evas im T. P.
zu Anfang an den Gesang Adams und Evas S. 326 im V. P. beim Weggang
aus dem Paradiese. Als das erste Menschenpaar in höchster Betrübnis auf
Erden weilt, sendet nach dem V. P. S. 327 ihm Gott seinen Engel mit der
Verheissung der Erlösung: „Nicht betrübe dich so ser Adam! auß deinem
Samen wird widerum ein Mensch geboren werden . . .“ und vorher klagt
Adam: „Ach weh ich armer Mann, ach weh was hab ich gethan, daß ich
so ein großes Gut mit einem einzigen Apfelbiß verscherzet hab! u. s. w.
1) Tweraser Passion von A. Pangerl ist eine dem H. P. ganz nahestehende Fassung,
zusammen B. P. (Böhmerwald-Passion). Ygl. S. 7 meiner Ausgabe des Passionsspieles des
Böhmerwaldes.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
15
214
Ammann:
Auch diese Stelle ist wieder nach Cochem dramatisiert, vgl. das 9. Kap.
„von dem Leben Adams“ S. 51b (in der Ausg. von 1682 S. 57): Als ein-
mal der fromme Ertz-vatter Adam den weg zum paradeiß ansahe, und bey
sich bedachte, was für ein grosses gut er für sich und seine Kinds-Kinder
verschertzt hatte, fienge er an bitterlich zu warnen, und zu sprechen:
„0 mich armen Mann, was hab ich gethan? was für ein grosses gut liab
ich durch einen apffelbiß verschertzet“ u. s. w. „Als der gute Adam dise
wort redete, da schickte Gott einen Engel zu ihm, welcher ihn mit freund-
lichen Worten ansprache: Nicht betrübe dich zu sehr, o Adam, dan auß
deinem samen wird geboren werden ein mensch, welcher wird seyn ein
gerechter und fridsamer held“ u. s. w. wie im Ar. P. Im Y. P. macht Adam
S. 328 f. Testament. Die Anrede an die Kinder zeigt eingangs und in der
zweiten Hälfte Entlehnung aus Cochem ebenda S. 52b — 53, in der ersten
Hälfte aber ist eine Betrachtung über die Kürze des menschlichen Lebens
mit Vergleichen eingefügt, die Cochem nicht enthält.
Es folgt nun ohne Beziehung zu Cochem im Y. P. ein Wechselgesang
zwischen dem Tod und Adam in Versen. Es ist endlich die Zeit der Er-
lösung herangenaht und Gott Vater sendet seinen Sohn in die Welt: dies
ist im V. P. (S. 331—334) nach Cochems 44. Kap. „Gott Vatter gibt seinen
Sohn der Welt“ S. 218b: „Mein allerliebster Sohn ... die Zeit ist nun
da“ u. s. w. (in der Ausg. von 1682 S. 244) gearbeitet. Die Antwort des
Sohnes im V. P. S. 331 f. ist aus Cochems 45. Kap. S. 222—23 entnommen.
Die Rede Gott Vaters im V. P. S. 332 unten nach Cochem 222—23, auch
der Schlussvers oben S. 323 stammt aus Cochem S. 223a unten: „. . damit
er die schäfflein, so der höllische wolff schon im rachen hatte, möchte
erretten.“ Zur folgenden Rede des Gott Sohnes im V. P. S. 333 oben vgl.
bei Cochem das 44. Kap. S. 221a, b über den Gehorsam; und Gott A7aters
Antwort ebenda ist eine AViederholung einer früher erwähnten Stelle mit
einer Beziehung zum folgenden Spiele vom guten Hirten. Im V. P. S. 333
bis 34 ist Gott Sohn zur Reise in die AVelt bereit und spricht seine
Abschiedsworte. Auch bei Cochem, 45. Kap. S. 221 — 23 verlässt Gott
Sohn den goldenen Palast seines Araters und steigt in das Jammerthal
hinab; wie ein Bräutigam war er hervorgegangen und wie ein Riese auf-
gesprungen, zu laufen seinen AVeg vom hohen Himmel u. s. w., auch die
Wirkung des Abschieds im Himmel zeichnet Cochem S- 222b oben. Die
Dramatisierung verlangte gewisse Änderungen, aber in der Hauptsache
bietet Cochem genau dieselbe Darstellung wie das V. P. Wenn Gott Sohn
beim Abschied vom Vater spricht: „Nun Adieu, mein allerliebster himm-
lischer Arater, nun Adieu, mein allerliebster heiliger Geist; sieh ich gehe
in die Welt ins leiden, welches mir von Ewigkeit ist zubereit. Nun Adieu,
ihr lieben Englein!“ so ist diese Stelle, wenn sie auch in Cochems Leben
Jesu nicht zu finden ist, doch im Geiste Cochems verfasst, vgl. das 97. Kap.
„von dem Abschied Christi von Maria und seinen Jüngern“.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
215
Der Engel singt im Y. P. am Schlüsse des I. Teiles: Gloria in excelsis
Deo, womit auf die Gehurt Christi hingewiesen wird; es folgt aber da-
selbst kein Christkindlspiel, sondern das Spiel vom guten Hirten, in welchem
Christus nicht als Kind, sondern als Jüngling auftritt. Hier musste also
der Verfasser des Y. P. Cochem gegenüber einen grossen Sprung machen,
nichtsdestoweniger ist aber auch im Spiele vom guten Hirten Cochem
wieder benutzt. S. 344 — 48, 359 — 61, also wiederum die Rede in Prosa,
ist Cochems 166. Kap. „von dem guten Hirten“ S. 1126 f. entnommen.
Daneben findet sich aber im Y. P. noch eine starke dramatische Erweite-
rung, die mit Cochem nichts mehr zu thun hat. Hier tritt erst die Selb-
ständigkeit des Verfassers des Y. P. hervor, wiewohl auch im I. Teile
schon Zusätze ähnlicher Art Vorkommen. Es ist indessen kaum anzu-
nehmen, dass die Verse des Y. P. blosse Erfindung des Verfassers sind,
sondern auch hier benutzte er, wenn er nicht eine bestimmtere Quelle
hatte, mindestens verwandte Volksschauspiele und geistliche ‘Volkslieder,
vgl. die Bemerkungen Weinholds und Schröers zum Y. P.
Ich führte von den übereinstimmenden Stellen nur die kürzeren und
minder auffälligen mit Gegenüberstellung der Texte an, die längeren
Stellen konnte ich des Raumes wegen hier und im folgenden nur mit
Zahlen andeuten. Der vergleichende Leser wird erkannt haben, dass hier
in den prosaischen Teilen fast ausschliesslich Cochems Leben Jesu benutzt
worden ist. Allerdings genügt Cochem nicht für alle Stellen im Y. P.;
wenn man dem Verfasser des Y. P. auch Eigenart Zutrauen wollte, wird
man doch ausser Cochem noch eine weitere Quelle voraussetzen müssen.
Dem Y. P. ist zunächst das Obergrunder Weihnachtsspiel1)
(O.W.) anzuschliessen, da dasselbe gleichfalls auf Cochem zurückgeht und
daher auch mit unserem Böhmerwald-Passion einen gewissen Zusammen-
hang hat. Die ersten zwei Auftritte enthalten Stücke in Prosa und in
Versen, die aber zunächst nach der Heiligen Schrift, besonders nach der
Genesis zusammengestellt sind, erst im dritten Auftritt beginnt der An-
schluss an Cochem. Voraus geht hier die Scene, wie Gott das Menschen-
paar nach dem Sündenfall vor seinen Thron ruft, wie wir dies im Y. P.
und im T. P. nach der Gerichtsscene finden, auch noch nach der Genesis
3, 9 f. bearbeitet, dann beginnt aber S. 368 die Anklage Lucifers und der
Streit der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, getreu nach Cochem (Ausg.
von 1697 Frankfurt a. M.) 9. Kap. S. 45 f. Der Text folgt Cochem bis
S. 373 (zur Schlange), da ist dann die Verkündigung des Fluches an die
Schlange an Eva und Adam eingefügt, wie dies im Y. P. und auch im
T. P. mit der Hervorrufung des Menschenpaares vor den Thron nach der
Genesis verbunden ist. Jene Scene ist hier also in zwei Teile zerrissen
und dazwischen steht Cochems Text, ein fast untrügliches Zeichen, dass
1) Bei A. Peter, Volkstümliches aus Österreichisch-Schlesien (Troppau 1864) 1, 368 f.
15*
216
Ammann:
diese Scene yon den jeweiligen Bearbeitern immer nach der Genesis ein-
gefügt wurde, also kaum einer abweichenden Ausgabe Cochems oder einer
anderen Quelle entstammt. Nach der gereimten Bede des Engels und der
Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradiese folgt S. 375 wieder
Anschluss an Cochem S. 48b. Auch hier spricht Gott Vater nach dem
Wortlaut der Ausgabe von 1697: „Es ist mir lieb, mein lieber Sohn!“ wie
im V. P. und H. P., so dass also eine Ausgabe, wie die von 1741, für das
0. W. ausgeschlossen ist. Weiter wird im 0. W. das Leben Adams und
Evas auf Erden dargestellt S. 375—78: die anfängliche Not und Betrübnis
und die neuen Versuchungen durch den Teufel. Dieser Teil ist in diesen
Ausgaben Cochems nicht zu finden, auch lässt der Inhalt nicht gerade auf
Cochem schliessen. Der vierte Auftritt S. 378—79, wie Gott den Engel
Gabriel nach Nazareth zu Maria sendet, schliesst sich wieder wortgetreu
an Cochems 42. Kap. „von der Verkündigung Mariä“ S. 208 a, b an. Auch
hier zeigt sich Anschluss an die Ausgabe von 1697 im Gegensätze zu der
von 1791, weil S. 378 die Bezeichnung „eingeborener“ (Sohn) zu jener
Ausgabe stimmt, in dieser aber fehlt. Der fünfte Auftritt enthält den
englischen Gruss in Versen, zwar nach den Worten der Heiligen Schrift
zusammengestellt, aber zugleich nach Cochem gearbeitet, weil unter andern
S. 379 V. 16—17 aus Cochem S. 213b entnommen ist. Vgl. Cochem: „Diß
allein kan ich sagen, daß es ein werck deß hl. Geistes seye, welches er
in eigener person verrichten wird“ und: „Dieses wird der heilige Geist in
dir ausrichten“ . . Die betreffenden Stellen aus der Heiligen Schrift sind
sämtlich auch bei Cochem verzeichnet, vgl. 43. Kap. Der sechste Auftritt
S. 380—82 ist dem 51. Kap. Cochems „Wie Joseph Mariam heimlich ver-
lassen wolte“ entnommen, und zwar die Bede Josefs siehe bei Cochem
S. 257a und die gereimte Bede des Engels bei Cochem S. 259 a, Josefs
Bede nach dem Erwachen bei Cochem S. 259b, die Bede an Maria ebenda
S. 259b — 60a, die Antwort Marias (S. 381 — 82) ebenda S. 260a, b. Die
Bede des Landpflegers (S. 382), ferner vom siebenten Auftritt die Beden
Josefs und Marias sind aus Cochem 54. Kap. „Wie Maria und Joseph nach
Bethlehem reiseten“ S. 275a, b entnommen; aber die letzten kurzen Beden
S. 383: „Lasset mich . . .“ und „Des sei Gott gelobt! . . .“ sind hier hei
Cochem nicht zu finden; sondern folgen im 54. Kap. erst S. 281a, b oben.
Im achten Auftritt S. 383—88 sind die bitteren Erfahrungen, die Josef und
Maria beim Suchen einer Herberge1) in Bethlehem machten, in mehreren
Scenen dargestellt. Zuerst hat es Josef mit einem groben und eigen-
nützigen Gastwirt zu thun, vgl. dazu Cochem 55. Kap. S. 282 a und die
Klagereden weiter S. 282 b, der Verkehr mit dem milder gesinnten Bürger
bei Cochem 55. Kap. S. 281b, der Verkehr mit dem groben Bauer bei
1) Ygl. zu den Herberg- und Hirtenscenen besonders W. Pailler, Weihnachtslieder
und Krippenspiele. Innsbruck 1884, I und II, wo viele Beispiele dieser Art zu linden sind.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem
Cochem früher im 54. Kap. S. 278 a, b, die Anweisung einer Höhle wird
im 0. W. dem Gastwirt zugeteilt, während bei Cochem S. 284a Josef diese
selbst aufsucht, die Klagereden zwischen Josef und Maria bei Cochem
S. 283a, b und weiter 284a.
Mit dem neunten Auftritt S. 388—402 beginnen die Hirtenscenen, die
mundartlich und komisch, wie es in Volksschauspielen beliebt ist, gehalten
sind. Hierzu kann Cochem nicht als Quelle gedient haben. Sowie aber
S. 398 wieder die gewöhnliche Prosarede erscheint, so zeigt sich auch
wieder genauer Anschluss an Cochems 59. Kap. „Von der Ankunft der
Hirten“ S. 319a, b bis 320a oben. Von S. 399 (Gesang der Hirten) bis
zum Ende des neunten Auftritts ist Mundart mit Rede in Versen gemischt,
wozu Cochem nichts ähnliches bietet. Auch der zehnte Auftritt S. 402—6,
obwohl in Versen abgefasst, ist dennoch nach Cochems 64. Kap. S. 347.
348a. 349b unten (vgl. im 0. W. S. 405 unten). 450b und 0. W. S. 406,
5 f., ferner 451. Im elften Auftritt S. 407—11 haben wir wieder gereimte
Rede, die nicht so wortgetreu, aber doch aus Cochem hervorgegangen ist.
So S. 409 oben und Cochems 64. Kap. S. 352a, b, S. 411 Herodes’ Rede
und Cochems 65. Kap. „Wie die hl. 3 König nach Bethlehem kommen“
S. 354a, b. Zum zwölften Auftritt S. 412 vgl. Cochem S. 355 a, b, zu S. 412,
15 f. vgl. Cochem S. 359a, zu S. 414 vgl. Cochem S. 361b. 364a, b, zu
S. 415, 9 f. vgl. Cochems 70. Kap. „Von der Flucht in Egypten“ S. 396 a.
Das Unterspiel S. 416—17 finde ich bei Cochem nicht. Der letzte Auftritt,
der dreizehnte, S. 417—• 22, stellt den Bethlehemitischen Kindermord und
das Ende des Herodes dar. Dazu lässt sich nur im allgemeinen Cochems
65. Kap. „Aron der Riickreiß der drey Königen“ und 73. Kap. „Wie Herodes
die unschuldige Kindlein tödtet“ vergleichen, im einzelnen wurde aber im
O.W. mehr Gewicht auf die Charakteristik des Herodes und seiner Helfer
gelegt. Bezüglich Herodes’ Tod heisst es bei Cochem, 65. Kap. S. 430 nur,
dass er eines erbärmlichen Todes gestorben sei. Wenn also auch im Ober-
grunder Weihnachtsspiel fast durchaus Cochem benutzt worden ist, so be-
merken wir manchmal doch, besonders in gereimten Stücken, eine etwas
freiere Behandlung, einzelne Scenen scheinen sogar (wie besonders das
Nachspiel) aus anderer Quelle zu stammen, wie denn überhaupt bei den
Verfassern der Volksschauspiele eine mehr oder wmniger genaue Kenntnis
der verwandten volkstümlichen Schriften und Spiele, der ersteren vom
Lesen, der letzteren vom Hören, vorauszusetzen ist.
Ich füge hier nur beiläufig bei, dass auch das Christkindl-Spiel
des Böhmerwaldes (bei A. Hartmann, Volksschauspiele S. 474 f.) von
Cochemschem Einfluss nicht ganz frei ist.
Ich ziehe ferner das Zuckermantler Passionsspiel (Z. P.)1) zur
Vergleichung mit Cochem heran. Dasselbe ist durchweg in Versen
1) Bei A. Peter, Programm des Gymnas. zu Troppau 1868 und 69.
218
Ammann:
geschrieben und enthält ein Paradeisspiel und im Anschlüsse daran den
Passion. Yor dem ersten Auftritte des Paradeisspieles wird anstatt einer
Yorrede gesangsweise von der Erschaffung der Welt erzählt. Diese Er-
zählung bildet eine kurze gereimte Inhaltsangabe der Kap. 1 — 8 Cochems
(Ausg. von 1697), worin die Erschaffung der Welt und des Menschen und
der Fall der Engel behandelt wird. Im ersten Auftritte, S. 18—19, über-
gieht Gott dem Adam das Paradies und erschafft die Eva, vgl. Cochems
8. Kap. S. 43a, h. Zu Y. 77—88 vgl. Cochems 7. Kap. S. 36—37, zu Y. 89
bis 100 vgl. Cochems 8. Kap S. 44 (Y. 92: „was wir verscherzet han“ und
Cochem S. 44 a: „was wir liederlich verschertzt haben“). Dann im zweiten
Auftritte S. 20 f.:
Y. 105 — 6: Cochems 8. Kap. S. 44a:
Der Baum so edel ist, da er doch ein so edler bäum ist, . . daß
Dass ihr all’s wissen könnt; ihr alles wissen köntet.
Man hört auch Cochem in dem Y. 13 und 21: „0 wol, ein’ schöne Frucht,“
. . . „Ach, ach, wie gut, wie süss,“ vgl. Cochem S. 44a unten. Im dritten
Auftritte kommt die Gerichtsscene mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.
Hier müsste ich alles ausschreiben, wollte ich die Yergleichung genau
durchführen, daher mögen folgende
Y. 194 des Z. P.:
Geziemen will sich’s nicht,
0 göttliche Majestät,
Dass anders werd’ gericht’t,
Als wie dein Spruch besteht.
Y. 210 f.:
Wann du die Sund’, o Gott,
Dem Adam thät’st verzeih’n,
So würd’ er dein Gebot
Zu keiner Zeit nicht scheu’n.
Y. 226:
Weil ich bekennen muss,
Dass.........
Y. 290 f.:
Es ist mir lieb, mein Sohn,
Doch wird dir’s übel geh’n.
Wirst müssen Spott und Hohn,
Ja sogar den Tod aussteh’n.
Y. 298 f.:
Obschon nun Adam wird
Der ew’gen Straf’ befreit,
Sei er doch judiciert
Zum zeitlichen Tod und Leid,
Beispiele genügen:
Bei Cochem 9. Kap. S. 46b:
Es will sich nicht geziemen, dass Eure
göttliche Majestät wider Ihr eigenes Wort
thun sollte. Denn sie hat zum Adam ge-
sagt . ...
Bei Cochem 9. Kap. S. 47a:
Wann du, o Gott, dem Adam die Sünde
ohne einige Strafe solltest nachlassen, so
würdest du ihm Ursach geben, hernach
desto freier zu sündigen.
Bei Cochem 9. Kap. 47 a:
Ich muß bekennen, dass Adam.......
Bei Cochem 9. Kap. S. 48 b:
Es ist mir lieb, mein lieber Sohn, es wird
dir aber in der menschheit gar übel er-
gehen. Du wirst . . . den todt müssen
außstehen.
Bei Cochem 9. Kap. S. 48b unten:
Ob schon ich die ewige straff Adams auff
mich nemmen . . . dannoch befreye ich
ihn nicht von der zeitlichen straff..
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
219
Mit Y. 306 tritt dann gleich der Engel auf, verkündet dem Menschen-
paare Urteil und Strafe, aber auch die künftige Erlösung, darauf treibt er
sie aus dem Paradiese. Peter bemerkt S. 28 Anm.: „Die Scheidung der
drei ersten Auftritte wurde nach dem Obergrunder und Einsiedler Weih-
nachtsspiele vorgenommen.“ Nach einer kurzen Moral folgt die eigentliche
Vorrede zum Passion, in der von der Erschaffung Adams bis zum Tode
Christi die wichtigsten Ereignisse erzählt sind. Der Verfasser giebt hier
nichts als eine dürftige Inhaltsangabe der wichtigsten Ereignisse nach
Cochems Werke, z. B. S. 435: „Wurd’ gleich ein Rath gehalten“, vgl.
Cochems 91. Kap. „von dem Rath gegen Christum“.
Im vierten Auftritte wird dargestellt, wie Christus die Wucherer aus
dem Tempel treibt. V. 470—501 ist zu einer komischen Scene erweitert,
indem die Juden in ihrem Deutsch miteinander schachern. Dieses Stück
hängt mit Cochem nicht zusammen, sondern ist volkstümliche Einlage,
auch das Gespräch zwischen Christus und Kaiphas V. 502 — 37 ist freier
behandelt, doch ist V. 512—21 aus Cochems 93. Kap. S. 563h entnommen.
Zu V. 509—11 vgl. Cochems 92. Kap. S. 559 a. Jesus beklagt V. 538—53
Jerusalem, vgl. Cochems 92. Kap. S. 556; die Worte Jesu V. 554—59 sind
Cochems 93. Kap. S. 565h und 566 a entlehnt. Getreuer wieder ist der
Anschluss an Cochem von V. 560 — 75. Vgl.
V. 560 — 61: Cochem S. 567 a, b:
Ach, mein allerliebster Sohn! Da es nun finster wäre, und der Herr
Was Leid hast du mir angethon, noch nicht käme ... 0 mein liebster Sohn,
Dass du so lang heunt in der Nacht wie hast du mich betrübt? Ich hab ver-
Nicht kommen bist. Ich hab’ gedacht, maint, du seyest gefangen u. s. w. S. 568 a.
Du sei’st von Juden angegriffen
Oder gefänglich hingerissen.
Mit V. 591 beginnt die Berathung der Juden wider Christum, die nach
dem Inhalt der vorgebrachten Klagen sehr an Cochem und den IV. Aufzug
des H. P. erinnert, bezüglich der vielen Personennamen aber mag noch
eine andere Quelle benutzt worden sein. Ganz aber geht es dann in den
folgenden Auftritten im Geleise Cochems weiter. Christus offenhart, wie
im H. P., seiner Mutter das Leiden und nimmt nach den drei vergeblichen
Bitten der Mutter Abschied; er hält mit seinen Jüngern das Abendmahl
und nimmt die Fusswaschung vor, bezeichnet Judas als Verräter und geht
mit drei Jüngern auf den Ölberg; es folgt Judas’ Verrat und die Gefangen-
nehmung am Ölberg.
Bis hierher umfasst die Handlung, von der ersten Seena des eigent-
lichen Passions an gerechnet, drei Auftritte, im 4. bis 9. Auftritte sind
dann die Leiden Christi vom Verhöre bei Annas bis zum Kalvarienberg
weitergeführt, im 10. Auftritte ist Christus am Kreuze, und Marienklagen
und ein Epilog schliessen das Ganze. Merkwürdig ist die Übereinstimmung
der Zahl 10 der Auftritte hier und im H. P., denn wenn beide Spiele
220
Ammann.'
auch auf derselben Quelle (Cochem) beruhen, so ist doch die gleiche Ein-
teilung des Ganzen bei formell so verschiedener Behandlung auffällig.
Die Übereinstimmung zwischen Cochem und dem eigentlichen Passion
ist nicht derart, dass sie Zeile für Zeile nachgewiesen werden kann. Es
genügt wohl, im allgemeinen festzustellen, dass der Z. P. auch in diesen
Teilen des eigentlichen Passions vielfach auf Cochem beruht. Der prosaische
Text Cochems ist bei freier Behandlung hier in Yerse gebracht, allein
manche Scenen sind auch unserem B. P. und Cochem gegenüber ungleich
reicher an Beden oder Zahl der Personen; so kommen im Z. P. Y. 1099 f.
bei der Fusswaschung alle 12 Jünger zum Wort, Y. 1441 f. ist Petrus’
Reue und Y. 1583 f. Judas’ Yerzweifelung sehr weitläufig behandelt,
Y. 2365 f. bekehrt sich Longinus, bei der Kreuzabnahme spricht hier auch
noch Josef von Arimathia, Pilatus, Nikodemus; Maria Magdalenas Klage-
rede Y. 2405 — 22 ist auch hier gegenüber Cochems Text zeitgemäss um-
gewandelt. Die Übereinstimmung aber mit Cochem lässt sich doch an
einzelnen Stellen auch hier nachweisen, man vergleiche nur die Bitten
Marias beim Urlaubnehmen oder die Yerkündigung des Todesurteils Christi.
Allerdings sind hier im Passion selbst manche Stellen auch sehr frei
wiedergegeben, manche beruhen auf selbständiger Darstellung von Seite
des Yerfassers, der wahrscheinlich ein Geistlicher war und die Sprache in
dem Masse beherrschte, dass er hier weniger Cochems Worte, als den Geist
der Cochemschen Darstellung benötigte. Es ist aber auch nicht aus-
geschlossen, dass derYerfasser des Z. P. in den Auftritten des eigentlichen
Passions neben Cochem noch eine andere Quelle benutzt hat, denn es zeigt
sich zum öftern bei den Yolksschauspielen, dass sie aus verschiedenen
Überlieferungen zusammengeflossen sind.
Ein ähnliches Yerhältnis wie beim Z. P. werden wir auch beim
Kärntnerischen Leiden Christi finden.
Im Salzburger (Gasteiner) Paradeisspiel (S. P.)1) kommt gleich-
falls eine Teufelsscene vor, der Streit zwischen Gerechtigkeit und Barm-
herzigkeit wird hier aber sehr kurz abgethan, im Oberuf er er Paradeis-
spiel2) fehlt er ganz. Dennoch ist auch das Salzburger Passion nicht
ohne Zusammenhang mit Cochem. Man vgl. S. P. Y. 109—14 mit Cochems
9. Kap. „Yon dem Leben Adams“ S. 48b unten; ferner den Teil, der kurz
den Streit enthält,
S. P. Y. 123 f.:
Es hat gehalten einen streit
Die gerechtigkeit und barmherzigkeit.
Es war die sach bald soweit komen,
Daß Got den menschen solt verdamen.
Cochem, Anfang des 9. Kap. S. 45 a:
wie die gerechtig- und barmhertzigkeit
miteinander vor Gott gestritten haben, ob
man das menschliche geschlecht ver-
dammen oder erhalten solle .... daß
1) Bei J. K. Schröer, Deutsche Weihnachtsspiele aus Ungern, Wien 1858 S. 142 f.
2; Ebenda 8. 123 f. und Weimar. Jahrb. IV, 383 f.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
221
So hat doch die barmherzigkeit Gott dem menschlichen geschlecht ver-
am end gewonnen in dem streit. schonet, und dessen schuld auff sich ge-
Daß Got den menschen wolt verschonen nommen habe . . .
und hat die schuld auf sich genomen.
J. K. Schröer S. 146 Anm. zu 136 meinte, dieses Stück (der Streit
zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit) sei ein späterer Zusatz, der
im Yordernberger Passion (Weinhold S. 302 f.) noch weiter ausgesponnen
wurde. Allerdings liegen diesen Yolksschauspielen ältere Überlieferungen
zugrunde, allein ein einzelnes Einschiebsel ist dieses Stück nicht, da davor
und danach auch Cochems Text benutzt ist. Man vergleiche noch
S. P. V. 169 f.:
Als Got den Adam weinen sach,
schickt er im seinen engel nach.
(Das Folgende stimmt nur inhaltlb
Der Adam lebt über 900 jar,
doch keine erlösung folget dar.
Alsdann macht er vor seinem end’
seinen Kindern auch ein testament.
So starb also Adam der fromme man,
ließ seine Kinder in Frieden stahn.
Cochems 9. Kap. S. 51b, 52b, 53b:
Als der gute Adam diese wort redete, da
schickte Gott einen Engel zu ihm.
i zu Cochem.)
Also sturb diser fromme vatter, als er 900
und 30 jahr alt wäre und vermachte seinen
Kindern zum testament die hoffnung der
erlösung.
Weil aber keine Erlösung folgte
Das S. P. verdankt also Cochem mehr als das Stück vom Streit,
scheint aber erst nachträglich um diese Teile erweitert worden zu sein.
Eine stückweise Erweiterung, vom einfachen Liede ausgehend, ist auch
hier anzunehmenx).
Hinsichtlich des Streites zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
muss ferner auf ein Paradeisspiel aus Obersteiermark in P. K.
Roseggers Heimgarten I, 860 — 67 verwiesen werden, das in Yersen ge-
schrieben und gar volkstümlich ist. Am Schlüsse der Comedie wird der
ungerechte Yerwalter, der die Bauern quält, vom Teufel geholt, ähnlich
wie Herodes in den Christkindlspielen. Wie die beiden Töchter Gottes,
so tritt auch heim Gerichtsstreit der Teufel auf. Yon einem genaueren
Zusammenhang dieses Spieles mit Cochem und den bereits erwähnten be-
merkte ich jedoch nichts.
Das erst von J. Bolte in Alem. XYII, 2 S. 121 f. veröffentlichte Adam-
und Evaspiel aus Eisass zeigt mit Cochem keinerlei Zusammenhang,
dagegen ist es wegen seiner Beziehung zu Hans Sachs und anderen süd-
deutschen Yolksschauspielen sehr lehrreich.
Im Yorspiel zum Erler Passion1 2) siegt die Barmherzigkeit erst, als
ihr im Streit mit der Gerechtigkeit Liebe und Busse helfen. Hier ist von
der in Yolksschauspielen gewohnten Zahl der Töchter Gottes (2) wieder
1) Ygl. J. K. Schröer in der Einl. zu den deuisch. Weihnachtssp. S. 34. J. Bolte in
Alem. XYII, 2 S. 122.
2) Bei A. Hartmann, Volksschausp. S. 399 f.
222
Ammann:
abgewichen, auf Cochem lässt sich der Text nicht zurückführen, soweit
ihn A. Hartmann mitgeteilt hat, denn er dürfte so alt als Cochem und
daher von ihm unabhängig sein. Wohl aber muss ich bei A. Hartmanns
wertvoller Sammlung von Volksschauspielen noch länger verweilen, um
auch hier Cochems Einfluss nachzuweisen. Ha sind vor allem die Halleiner
Spiele, S. 78 f., zu berücksichtigen.
Das erste, Halleiner Herberg- oder Adventspiel (H. H.) könnte
inhaltlich sehr wohl nach Cochem gearbeitet sein, wenn auch in der
poetischen Umarbeitung nicht viel wörtliche Übereinstimmung vorhanden
ist; der Yerfasser zeigt überhaupt grössere Selbständigkeit. Im einzelnen
finden wir fast alle Gedanken auch bei Cochem im 54. Kap. „Wie Maria
und Joseph nach Bethlehem reiseten“ S. 275 f., auch mit übereinstimmenden
Ausdrucksweisen. So vgl. im
H. H. Y. 28: Cochem S. 275 b:
Wird helfen mir mein Gott und Herr. dan der liebe Gott wird mir schon dahin
helffen.
Ganz unzweifelhaft ist aber das Halleiner Dreikönigsspiel (H. D.)
S. 105 f. nach Cochem gearbeitet. Beim Opfern der Gaben sprechen die
heiligen drei Könige in ungebundener Hede, ebenso ist die Hede des
Herodes und die Dankrede Marias in Prosa: dies ist zum Teil wörtlich
aus Cochem entlehnt. Die Rede des Herodes S. 106 s. bei Cochem im
65. Kap. „Wie die hl. drey König nach Bethlehem kommen“ S. 354a; die
Rede Kaspars S. 108 s. bei Cochem im 65. Kap. S. 361b. Die Rede
Melchiors ist in Yersen, die Balthasars ist wieder freier behandelt, ebenso
ist die Marias S. 109 nicht so sehr nach Cochem S. 365a gegeben, sondern
die Rede bei Cochem erinnert mehr an die Josephs Y. 100—3. Die ge-
bundene Rede klingt wohl ab und zu an Cochem an, allein getreuen An-
schluss finde ich keinen. Hier finden wir demnach Cochems Anteil zu-
nächst in unveränderter Form eingeschoben, und man möchte annehmen,
das Einschiebsel rühre wiederum erst aus späterer Zeit her. Ich kann
jedoch zwischen dem Alten und Neuen keine Naht entdecken und vermute
hier, dass der Wechsel zwischen Poesie und Prosa und selbst das Ab-
schweifen in der Prosa von Cochems Text vielleicht die freie Behandlungs-
weise des Verfassers kennzeichnet.
Das Oberaudorfer Passionsspiel (O. P.) hat uns A. Hartmann
S. 373 f. nicht vollständig mitgeteilt, aber es ist schon aus dem 1. Aufzuge
zu ersehen, dass Cochem benutzt wurde. Ich wähle zur Vergleichung nicht
so sehr Stellen aus der Heiligen Schrift, die aus Cochem, aber auch aus
anderer Quelle stammen können wie in O. P. S. 374, 41 — 44 und Cochems
98. Kap. (Abendmahl) S. 600b, sondern Stellen wie
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
223
Cochem S. 600 b:
Als die zween Jünger (im 0. P. Johannes
und Petrus) zu dem Haußvater kamen,
und ihn im Namen Christi grüsten,
empfinge er sie gar freundlich, und war
sehr fro, daß ihm Chr. solche Ehre thun
wolte ....
Der Hausherr lieffe Chr. entgegen,
sprechend:
Seyd mir Willkomm, mein geliebter
Meister, ich erfreue mich, dass ihr mir
die Ehr thut, und die Ostern in meinem
Hauß halten wollet.
Ferner 0. P. S. 376, 79—82 und Cochem S. 602a. Ygl. die Fusswasclmng
im 0. P. S. 376—77 mit Cochems 99. Kap. S. 603 f., insbesondere
O. P. S. 377, 99 f.: Cochem S. 604b:
Vor dem Himmel und Erd muß auf den Soltest, darfür sich alle Knye im Himmel
Knieen liegen, und auff Erden biegen, vor mir gottlosen
Soll waschen meine Fiiß und sich vor Sünder niderknyen? Darum in Ewigkeit
mir jetzt biegen? solst du mir meine Füss nicht waschen ..
Ach Herr, in Ewigkeit wascht du die
Füß nicht mir!
u. s. w. Dieser P. wäre fiir eine genauere Vergleichung wichtig wegen
seiner Beziehungen zum Vorder-Thierseer, vergl. A. Hartmanns Anm.
S. 377—80.
Haben wir in 0. P. ein Passionsspiel, das dem des Böhmerwaldes
rücksichtlich der Quelle nahesteht, so finden wir bei A. Hartmann, Volks-
schauspiele S. 528 f. noch eines, das ausserdem noch dem B. P. örtlich
benachbart ist. Das Passionsspiel aus dem Bayerischen Walde
nämlich, teilweise in Versen abgefasst, hat auch Cochems Text verwertet.
Man vergleiche nur das „Urlaubnehmen“ Christi zu Bethanien beiderseits,
ferner die Olbergscene und die Beden der Juden in Prosa, dann Ausdrucks-
weisen wie 82 arme Waislein, 218 ach, ach, 258 Leb wohl! gute Nacht!
264 Adje, leb wohl zu tausend Mal! 113, 194 f., 208, 245 f., 269 f. u. a.,
was hinter einer freieren Bearbeitung Cochems Text und Darstellung
wiedererkennen lässt.
0. P. S. 375, 51. 59:
Sey uns, mein Freund, Willkomm! Der
Meister laßt dich grüssen.
Er möcht in deinem Haus das Oster-
lamm gemessen.
Willkomm, o liebster Gast, o Meister ..
(Schluss folgt.)
224
Weinhold:
Kleine Mitteilungen.
Schwur unter dem Rasen.
Bekannt ist aus den skandinavischen Rechtsaltertümern der Brauch des Rasen-
ganges (gänga undir jaröarmen), der bei dem Abschluss der Blutbrüderschaft und
auch als Gottesurteil (skirsla) in Übung war. Bei dem Eingehen der Blutbrüder-
schaft deute ich ihn mit Konr. Maurer (unsere Zeitschrift III, 106) als eine Ver-
stärkung des Eides, den die sich Verbrüdernden schworen. Aus Deutschland ist
kein entsprechender Gebrauch bekannt. Aber etwas nahe Verwandtes hat J. Grimm
aus einer ungarischen Urkunde von 1360 nachgewiesen (Deutsche Rechtsaltertümer
120), wonach bei Streitigkeiten um Landbesitz der Schwur mit blossen Füssen,
gelöstem Gürtel und einer Erdscholle auf dem Kopf geleistet ward. Derselbe
Brauch bei Grenzstreitigkeiten, als eine regni consuetudo ab antiquo approbata in
einer Urkunde von 1370 bezeichnet, galt auch in Siebenbürgen (Korrespondenzbl.
des Vereins für siebenbürg. Landeskunde VI, 49).
Ich kann nun aus einer schlesischen Urkunde von 1590 ein Seitenstück hierzu
beibringen. In dem langwierigen Prozess, den die Herzogin Barbara von Liegnitz-
Brieg, Tochter des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, gegen die Bauern
von Popelau im Oppelnschen Fürstentum führte1), die Holz- und Waldfrevel in
den zu Brieg gehörigen Grenzwäldern mit grösstem Trotz begingen, war 1590 im
November eine Tagsatzung zur Grenzhandlung an Ort und Stelle anberaumt worden
und die Grenzen wurden durch Zeugenvernehmung festgestellt. In den Schluss-
akten über den endlosen Rechtsstreit von 1626 (K. Archiv zu Breslau, F. Brieg I.
Ile, alte Sign. I. 4b) heisst es über jene Verhandlung1 2):
Bey diessen Zeugnissen ists noch nicht geblieben, sondern es sind ao 1590
bey besichtigung der gräntzen in anwessenheit des Opplischen burggrafen Hanssen
Oderwolffs, des Opplischen cammer-procuratoris Matthias Nossen und des Oppli-
schen forstmeisters Caspar von Hardtenbergks neun alte erlebte pawren auss den
dörffern Scholckowitz, Crostitz und Popelau auf wägen herzugeführet worden,
weil sie aldters halben nicht wol gehen mügen, die haben bekandt und auss-
gesaget etc. etc.
Am Rande steht daneben: per testes vicinos de ao 1590 numero 9 ex-
aminatos in finibus et sub dio (sic!) im grabe mit einem rasen auf
dem köpfe.
Aus dieser Randbemerkung ergiebt sich also, dass die Zeugen bei der Ver-
eidigung auf ihre Aussage in einer Grube stunden und ein Rasenstück auf dem
Kopfe hatten. Die Grube erinnert an den nordischen Rasengang, bei dem der
ausgehobene und auf Stützen gelegte, an beiden Enden am gewachsenen Rasen
haftende Grasstreifen, unter den die Schwörenden traten, notwendig eine grab-
artige Vertiefung voraussetzt. Die Rasenstücke scheinen Reste des älteren vollen
Streifens.
1) Vgl. darüber Schiminelpfennig in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und
Altertum Schlesiens XIV, 371 ff.
2) Die genaue Mitteilung der Stelle verdanke ich Herrn Geh. Archivrat Professor Dr.
Grünhagen.
Kleine Mitteilungen.
225
Doch ist dabei zu bedenken, dass die Bauern von Popelau, Krostitz und
Scholkowitz Polen waren und dass ein politischer Rechtsbrauch hier möglich ist,
wenn auch die Gerichtsherren des Oppelnschen Fürstentums als Deutsche er-
scheinen , der briegischen ganz zu schweigen. Halten wir den verwandten
ungrischen Rechtsbrauch hinzu, so würde sich ergeben, dass die Eidesstärkung
durch den Rasen auf dem Kopf der Schwörenden eine weit verbreitete Sitte ge-
wesen ist, welche in Skandinavien eine besondere Ausbildung erfuhr, die sich aber
nicht bloss bei den Kord-Germanen, sondern auch bei schlesischen an die Deutschen
grenzenden Polen und in Ungarn und Siebenbürgen nachweisen lässt.
K. AVeinhold.
Zum Aberglauben auf Island.
Über den „tilberi“ oder Zuträger, welcher nach isländischem Volksglauben
benutzt wird, um gleich unserem Drachen für seinen Herrn Milch und dergleichen
zu stehlen, habe ich in meinen „Isländischen Volkssagen der Gegenwart“ (1860)
S. 93 — 94, und hat mehr noch Jon Arnason in den „Islenzkar pjöcTsögur og
Aefintyri“, Bd. I (1862) S. 430—35, mancherlei beigebracht. Inzwischen hat aber
die im Eyjafjöröur neu erscheinende Zeitschrift „Stefnir“ in ihrer zweiten Nummer
auf Grund eines alten Gerichtsbuches über einen Prozess berichtet, welcher im
Jahre 1703 im Eyjafjöräur über einen tilberi geführt wurde, und die Zeitschrift
„Sunnanfari“ in Nr. 10 ihres zweiten Jahrganges (1893) einen weiteren Bericht
über eine Klagesache beigefügt, welcher aus gleichem Anlass im Jahre 1804 ebenda
anhängig gemacht wurde. Als Belege für das lange Fortleben dieses Aberglaubens
verdienen solche Berichte beachtet zu werden.
München. K. Maurer.
Volkstümliche Kirchendarstellungen.
Nebenstehende Zeichnung befindet sich, in Silber graviert,
auf der Schnalle eines Frauengürtels, den ich auf einer AVande-
rung über das Dovrefield in Aune abzuzeichnen Gelegenheit
hatte. Nach der Inschrift stammt der Gürtel, der zu einem noch
vorhandenen Silberschmuck gehört, aus dem Jahre 1670. Schon
damals entsann ich mich, öfters Kirchendarstellungen als orna-
mentale Verzierung gesehen zu haben. Später sah ich dann
Stickereien von dem Hardangerfjord, von denen mir zunächst
die auf Halstüchern mit roter AVolle eingestickten Kirchen auffielen (das Industrie-
Museum in Christiania besitzt mehrere davon). Diesen Kirchenabbildungen kann
ich noch folgende hinzufügen: Auf Brettern gemalt, kommen sie häufig an den in
Oberbayern verbreiteten Maibäumen vor; ein bosnischer Teppich, der 1891 im
Kunstgewerbeblatt abgebildet war, zeigt ein kirchenähnliches Bild; ferner auf der
von Herrn Dr. U. Jahn S. 340 des ersten Jahrgangs unserer Zeitschrift abgebildeten
Haubenschachtel aus Jamund, auf einem aus dem AVeitzacker stammenden Teller
in dem Berliner Museum für Arolkstrachten und, wenn ich nicht irre, auch auf
einem huzulischen Gerät der von Herrn A. Meyer Cohn im Verein für Volkskunde
einmal ausgelegten Sammlung. Es scheint also, als ob die Kirche ein beliebtes
Ccno sse
226
Honig:
Motiv in der Volkskunst sei, von dem vielleicht eine gewisse schützende Kraft
ausziehen sollte. Jedenfalls wird es interessant sein, weitere Nachweise von solchen
Darstellungen zu erhalten.
Berlin. R. Mielke.
Ein Sommer- und Winterspiel aus Schlesien.
Der Winter bleibt draussen stehen, der Sommer spricht:
Guten Abend ihr Herren, Frauen und Mann,
Schaut euch den Sommer und Winter recht an,
Über eine kleine Weile werde ich euch solche Freude vormachen,
Dass ihr müsst drüber lachen.
Äpfel und Birnen hab ich euch lassen wachsen,
Die hab ich euch gegeben zum Essen;
Wenn aber wird kommen der Winter, der grausame Mann,
Der hat einen ganz neuen Zottelpelz an.
Der Winter kommt herein und spricht:
Ei Sommer, was heisst du mich einen grausamen Mann?
Ich habe dir dein Lebtage noch nichts zu Leide gethan.
Zuhause hab ich noch viel Schafe und Rinder,
Und wenn ich dran wagen wollte meine schöne schwarze Kuh,
Sag wer soll Herr sein — ich oder du? —*)
Ei, Sommer, wärest du mein Knecht,
Ich teilt es mit dir halb.
Sommer: Und wenn es kommt zur Frühlingszeit,
Pflanz ich mir in mein Gärtelein
Viel Blumen wunderschön1 2).
Winter: Und wenn es kommt in Kaporal3)
Fang ich mir fette Fanken ein
In meine kupfernen Pfannen,
Und schiacht dazu ein fettes Kalb,
Ei, Sommer, das kannst du nicht.
Sommer: Wart, wart, ich werd dir einen Possen thun,
Und dir nichts mehr wachsen lassen4).
Winter: Was scher ich mich um dein Zuwachsen,
Sitz ich des Winters auf der Bank,
Und spinne meinen langen Flachs,
1) Ei, Sommer, was hab ich dir Leids gethan, Dass du mich heisst einen grau-
samen Mann? Ich hab schon längst um die Thür verkehrt Und deine Spottred angehört.
Nun setz ich dran meine beste Kuh, Zu wissen bin ich Herr oder du.
Deutsche Volkslieder aus Böhmen S. 50.
2) Ähnlich aber besser erhalten D. Volksl. a. Böhmen S. 50.
3) Und wenn es kommt um Weihnachtszeit, Da schiacht ich mir ein fettes Schwein
Dazu ein fettes Kalb. Deutsche Volksl. a. Böhmen S. 50.
4) Ei, Winter, poche nicht zu sehr, Ich werd dir eins beweisen Mit meinem Ernste
schwer. Ich werde nichts mehr wachsen lan, Der Hunger wird dich greifen an. Das
wird dich kränken mehr. D. Volksl. a. Böhmen a. a. 0.
Kleine Mitteilungen.
227
Ich meinen Korn und Weizen ausdresch,
Ei, Sommer, das kannst du nicht.
Sommer: Willst du noch reden und schwatzen viel,
Ich dich wohl hinter den Strauch1) noch schmeiss [wirft ihn hin]
Und dir den grauen Bart ausreiss-),
Die Sonne soll dich verzehren1 2 3).
Winter: Ach lieber Sommer, das thu -nur nicht,
Ich will gern leben nach deiner Pflicht.
Bist du der Herr und ich der Knecht,
So haben wir alle beide recht4).
Drum bitt ich dich um Verzeihung.
Sommer: Verzeihen will ichs dir zwar noch mal,
Und keinen Groll dazu haben,
Drum musst du immer fertig sein,
Und mit mir singen ein Liedelein,
Dem lieben Gott zu ehren.
Beide singen:
Wie hoch ist der Himmel,
Wie glänzend die Erd,
Wie freun sich die Menschen,
Wenns Sommer soll werden.
Wie lieblich, wie herrlich, wie reizend, wie schön,
Wenn alles in Feldern und Wäldern thut stehn5).
Aus Hartlieb bei Breslau, aufgezeichnet von Gertrud Forell und Berthold
Honig.
Grimm, Mythol.4 S. 632 ff.’, 637 ff.
Uhland, Volksl. I S. 23 ff. (Fl. Bl. 1580).
H. Sachs, Ein Gespräch zwischen dem Sommer und dem Winter. [Keller
4, 255 ff.]
Deutsche Volkslieder aus Böhmen. Redigiert von A. Hruschka und Wendelin
Toischer, Kr. 70—72.
Fränkische Volkslieder — herausgegeben von Fr. W. Frhr. v. Ditfurth II.
Nr. 378.
M. V. Süss, Salzburger Volkslieder S. 267 — 272.
1) s. Grimm, Myth.4 S. 638: Wir wollen hinter die Hecken Und wollen den Sommer
wecken.
2) Grimm a. a. 0.: Er kratzt dem Winter die Augen aus.
3) Nun, Winter, hast du’s hei mir aus, Ich sag dir’s kurz mit einem Wort: Scher
dich zum Haus hinaus! Ich werd dich werfen hintern Strauch Und raufen dir den Bart
heraus, Die Sonn soll dich verzehren. Deutsche Volksl. aus Böhmen S. 51.
4) Uhland, Volksl. I, S. 29: 0 lieber Sommer, ich gib dir’s Recht, Du bist mein
Herr und ich dein Knecht. — Ditfurth, Frank. Volkl. II. S. 287: Du Winter jetzt hab ich
das Recht, Bin ich der Herr und du mein Knecht. — Ähnlich Deutsche Volkslieder aus
Böhmen S. 49. — Süss, Salzburger Volkslieder S. 272.
5) Die drei letzten Strophen stimmen im wesentlichen zu dem böhmischen Streit-
lied aus Gablonz a. a. 0. S. 51, nur weicht das gemeinsame Schlusslied ab.
228
Honig:
Die uralte heidnische Vorstellung eines Kampfes der beiden Riesen, des
Sommers und des Winters, hat sich in Liedern und Spielen des Volkes noch
erhalten. Immer unterliegt der Winter, denn er ist freudenlos und schaurig wie
die Nacht; der liebe Sommer dagegen, ein freundlich seliger Mann, erfreut wie
der Tag, und nur ihn zu begrüssen fühlt das A^olk sich gedrängt. Nach und nach
erhält auch der AVinter seine Freuden, die er nun dem Sommer entgegenhält. In
dem Volkslied, das Uhland nach einem Fl. Blatt von 1580 mitteilt, wird der Streit
nur mit Worten ausgefochten, der Winter fühlt sich überwunden und gesteht von
selbst mit etwas plötzlichem Übergang seine Schwäche. Auch in H. Sachs’ Ge-
spräch zwischen Sommer und AVinter lebt die Personifikation noch fort, wie sie
unsere Sprache selbst bietet: „der Winter steht vor der Thür“. In elegischer
Stimmung sitzt der Dichter im Gartenhause und naiv malt er die plötzliche AVand-
lung in der Natur. Der Sommer, der schöne Jüngling, muss zur Thür hinaus, der
alte AVinter besteht auf seinem Rechte, das ihm von Gott ebenso geworden ist
wie dem Sommer. Beide rühmen ihre Vorzüge und werfen sich die Nachteile
vor. Die christlichen Gedanken drängen sich zum Schlüsse vor: Gott wird gelobt,
der alle Dinge so wohl geordnet hat und jeder Jahreszeit ihr Gutes giebt.
In unserem. Lied begegnen wir altem und neuem. Zu jenem gehört der wirk-
liche Kampf der beiden Gewalten, zu dem letzteren der Streit über A^orzüge und
Nachteile und schliesslich das Loh Gottes. Der Text ist verderbt. AVeit besser
sind die verwandten deutsch-böhmischen Streitlieder vom Erzgebirge und aus
Gablonz, namentlich letzteres stimmt wesentlich zu dem schlesischen und kann
zu seiner Herstellung benutzt werden. Auch das fränkische aus Dankeifeld
(Ditfurth II Nr. 378) ist besser erhalten, nicht minder das ausgeführte AVinter-
und Sommergespiel bei Süss, Salzburger Volkslieder. Dr. B. Honig.
Der Sommersonntag in Heidelberg 1893.
Während die Zeitungen im vorigen Spätherbst von einem Amtsvorsteher im
Siegener Land sein gewaltsames Einschreiten gegen alte A'olksgebräuche meldeten,
brachten sie in diesem März eine bessere Kunde aus Heidelberg. Dort in der
Stadt hatte sich die alte Sommerverkündigung durch herumziehende Kinder zwar
erhalten, war aber zu einem Bettelumgang herabgekommen. Da war der Gemein-
nützige Verein in Heidelberg auf den löblichen Gedanken gekommen, dem schönen
deutschen Frühlingsbrauch wieder aufzuhelfen und ein fröhliches Kinderfest daraus
zu machen. Es ist trefflich gelungen und der Umzug der wohlgekleideten Knaben
und Mädchen mit den bebänderten und grünbekränzten Stäben, in der Mitte den
laubumkleideten Sommer und den strohumschoberten AVinter führend, ist allen
eine wirkliche Augenweide gewesen. Die sehr entstellten Verse, die sie sangen,
könnten wohl durch andere, die aus den sonst erhaltenen „Sommerliedern“ leicht
zu ergänzen wären, sich ersetzen lassen. Ein Holzschnittbild hat diesen Sommer-
umzug hübsch festgehalten für die Erinnerung.
Volksreime auf Bettlerhochzeiten.
Der Volkshumor, der ohne Gift und Galle mit scharfer Beobachtung alle Er-
scheinungen des Lebens begleitet, hat die Heiraten armer Leute nicht übergangen.
Kleine Mitteilungen.
229
In K. Simrocks Deutschem Kinderbuch finden wir unter Nr. 306 (2. Aull.) folgenden
wohl aus Schwaben stammenden Reim:
Widele Wedele, Hinterm Städele
Hat der Bettelmann Hochzeit.
Pfeift ihm Läusle, tanzt ein Mäusle,
’s Igele schlägt die Trommel.
All die Tier, die Wedele haben,
Solln zur Hochzeit kommen:
Kruckenstiel und Ofengabele,
Das sind meine Hochzeitknaben,
Edelleut1) und Bettelleut
Das sind meine Hochzeitleut.
Weiter führt ein Gespräch zwischen einer Mutter und ihrer Gevatterin, das
Ed. Fiedler in seinen Volksliedern und Volksreimen in Anhalt-Dessau (Dessau
1847) S. 84 aus Gross-Aisleben mitteilte1 2):
Gun Dag, Frä Gevätern. — Schön Dank, Frä Gevätern. — Wo wollt denn
hin, Frä Gevätern? — Nä en Markt. — Wat wollt ihr da holen? — Rosmarie. —
Für wen denn? — Für meine Dochter. — Die Dochter will doch wol nicke freien?
— Nu freilich. — Wen freiet sie denn? — Raten Se mal, Frä Gevätern! — Se
freit doch wol kein Kaufmann? — Noch ein vilke bäßern. — Se freit doch wol
kein Schuster? — Noch ein vilke bäßern. — Se freit doch wol kein Linneweber?
— Wenn se’s nich raten können, denn will ichs Euch sagen. Se freit ein Besken-
binder, der hingern Oben sein Geld verdienen kann. Jedesmal, wenn er ein Besken
gebunden hat, hat er hundert Thaler in seinem Beutel. — Dat is zuvil. Krigt
er denn keine Musik dafür? — Nuke freilich. — Was für eine? — Klotzmajor.
— Wie geht denn die? — Haue nutt nutt nutt, Haue nutt nutt nutt, — Haue nutt,
Haue nutt, Haue nutt, nutt, nutt.
Von der Besenbinderhochzeit erzählen nun andere Volksreime. Simrock im
Deutschen Kinderbuch bringt einen (Nr. 309), ich weiss nicht woher?
Bürstenbinders Tochter und Besenbinders Sohn,
Die haben sich versprochen, sie wolln einander hon.
Die Mutter kam gelaufen und schrie im Laufen laut:
Viktoria, Viktoria! meine Tochter ist ’ne Braut!
Und wenn sie erst beisammen sind und haben dann kein Haus,
So setzen sichs ins Körbel und gucken oben raus.
In Schlesien hörte ich den Reim:
Besenbinders Tochter und Bürstenbinders Sühn,
Die wulden Hochzeit machen und hatten nischt derzun
und mit einer Variante lautet er ebenda:
Besenbinders Tochter Und Kachelmachers Sühn,
Wolden sich zunander Ni na nander thun.
Die Mutter kam gesprungen Und schrie vor Freda laut:
Juchhe, juchhe, mei Mädel, Mei Mädel die is Braut.
1) ? Wedelleut.
2) Wiederholt von Ph. Wegener, Volkstümliche Lieder aus Norddeutschland. Leipzig
1879. 1, 48.
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
16
230
Weinhold:
Kumm tanz ber tim a Uven Dreimal rtim und nüm,
Ock stüßt mer kene Kaehel Kene Kachel üm1).
Es giebt aber noch mehr Gestalten des lustigen Reims. Aus der Ober-
lausitz (Görlitz) teilte mir Pastor August Baumgart nach häuslicher Überlieferung
folgende mit:
Käserindeis Tochter Und Quargspitzels Sun,
Die wulden mitnander Huxt machen Und hatten nischt derzün
Als üm an Dreier Bräzeln Und üm an Brummer1 2 3) Bier;
Se gingen mitnander ein Krätschen3) Und mit dar Fiedl a für.
Fast wörtlich stimmt überein der Reim aus Kaiserswalde bei Schluckenau in
Böhmen4):
Käserandels Tochter Und Quorkspitzens Sun,
Die wollten mit enander Huxt machen Und hotten nischt derzun.
Dou kejften se üm a Dreier Bräzeln Und üm n Dreier Bier,
Und lotschten druf an Krätschen Ahinder und afür.
9 ..
Nahe verwandt endlich ist der Reim aus Jauernig in Osterreichisch-
Schlesien5):
Äppelpepels Tochter On Flaumanäza Sun,
Die wolda anander haia’n On hotta nischt derzü.
Em an Bima Präzel, Em än Bima Bir,
Ginga’s ai a Krätschen Mit der Gaije afir.
Er derft ich ni dos Maßr wätza, ’s watt ni fil zu fraßa sätza:
Said gebäta on komt, Nämd ich’s Hälzla on tonkt.
K. W.
Bücheranzeigen.
De ontwikkelingsgang der Germaausche Mythologie. Redevoering uit-
gesproken te Groningen d. 20. Sept. 1892 door Dr. B. Symons. Gro-
ningen, J. B. Walters 1892. 28 S. 8°.
Bei Übergabe des Rektorats der Universität Groningen an seinen Nachfolger
hat Herr Prof. Symons eine Rede über den Entwickelungsgang der Germanischen
Mythologie gehalten, worin er in lebendiger Weise die Bewegung in dieser
Wissenschaft schildert. Nachdem er die Frage: was ist Mythologie? aufgeworfen
1) Der gemütliche Schläsinger. Kalender für 1889. Herausgegeben von Max Heinzei.
Schweidnitz. S. 65.
2) Vierpfennigstück.
3) Kretscham.
4) Deutsche Volkslieder aus Böhmen. Prag 1891. S. 203 Nr. 183.
5) A. Peter, Volkstümliches aus Österreichisch-Schlesien. Troppau 1865. I. S. 115.
Nr. 315.
Bücheranzeigen.
231
mnl die ältesten Methoden der Mythendeutung, die allegorische oder symbolische,
und die euhemeristische, skizziert, sowie als die Anfänge der wissenschaftlichen
Behandlung der Mythologie K. 0. Müllers Prolegomena zu einer wissenschaftlichen
Mythologie (1825) und die Deutsche Mythologie Jakob Grimms (1835) bezeichnet
hat, würdigt er das bewundernswürdige Werk, das er zuletzt nannte, und be-
zeichnet die Gefahren, welche darin für eine übereifrige Nachfolge lagen. Hr. S.
geht dann auf die durch Ad. Kuhn gegründete vergleichende Mythologie und auf
die durch Wilh. Schwartz in die Mythendeutung eingeführte anthropologische Rich-
tung über, und gelangt so zu den mythologischen Arbeiten von Mannhardt, welche
die Bedeutung der Sitten und Gebräuche für die Mythologie als höher und sicherer
erwiesen als die der Sagen und Märchen und litterarischen Darstellungen. Allein
auch er geriet auf Abwege, so sehr seine „ethnologisch-historische Methode“ einen
Fortschritt bedeutet.
Zum Schluss deutet Hr. S. nur kurz auf die Arbeiten von E H. Meyer, Laistner,
S. Bugge und Otto Gruppe, um die Bewegung in der germanischen Mythologie,
welche im vollen Fluss ist, erraten zu lassen. Von der historischen Kritik hofft
er, dass sie uns die Geheimnisse des ältesten Denkens und Dichtens unserer Vor-
fahren, welche in den Mythen liegen, entschleiern werde. K. W.
La Mythologie du Nord éclairée par des inscriptions latines en Germanie,
en Gaule et dans la Bretagne ancienne des premiers siècles de notre
ère. Etudes par Frédéric Sander. Stockholm P. A. Norstedt & Söner
(1892). S. IL 186. gr. 8°.
Der Verfasser des vorliegenden Buches, der seit einem Jahrzehnt mit Schriften
über nordische Götter- und Heldensage (Eddastudier. Stockh. 1882. Hvem var
Sigurd Fafnersbane? 1883. Nordisk Mythologie. Gullveig eller Hjalmters och
Ölvers saga i öfversättning. 1887. Guldhornen frän Gallehus i Slesvig. 1888.
Harbardssangen jämte Grundtexten tili Völuspa. 1891) hervorgetreten ist, hat den
guten Gedanken gehabt, die lateinischen Inschriften römischer Zeit aus den Nord-
provinzen des Reichs, die germanische Götternamen enthalten oder zu enthalten
scheinen, zu sammeln und zu erklären. So ist das Buch entstanden. Wir be-
dauern aber sehr bestimmt aussprechen zu müssen, dass dem guten Gedanken
die Kraft der Ausführung durchaus nicht entsprach und dass dem Verfasser zur
Lösung der schwierigen Aufgabe der Erläuterung der mythologischen Namen der
Inschriften methodische Kritik und gründliche grammatische Kenntnisse des Ger-
manischen und Keltischen durchaus fehlen. Auf die einschlägige Litteratur, oder
wie man auch sagen darf, auf die Versuche anderer, die schwierigen rätselhaften
Namen zu deuten, ist nur vereinzelt Rücksicht genommen. In einem Anhang über
die Ossiangesänge will Herr S. ausführen, dass die Helden derselben die germani-
schen und keltischen Götter sind, die auf den am Hadi'ianwall in England ge-
fundenen Steinen genannt werden; und in einem zweiten über das finnische Epos
Kalevala legt er seine Ansicht vor, dasselbe enthalte den Wanenmythus. Vielleicht
findet Hr. S. hier bei denen, welche die Wanengottheiten zu Finnen machen
wollen, Beifall. K. W.
232
Weinhold:
Plutarclis Romane questions. Translated a. d. 1603 by Philemon
Holland — now again edited by Frank Byron Jevonsi— with
dissertations on Italian cuits, myths, taboos, man-worship, Aryan
marriage, sympathetic Magic and the eating of beans. London.
MDCCCXCII. Published by David Nutt in the Strand. S. CXXYIIL
170. 8°.
Das vorliegende, trefflich ausgestattete Buch bildet den siebenten Band der
Bibliothèque de Carabas, einer durch Herrn Andr. Lang hervorgerufenen und von
Herrn Dav. Nutt gepflegten Unternehmung. Ältere Übersetzungen antiker Werke
werden darin neu gedruckt und mit gelehrten Einleitungen ausgestattet, welche
den volkskundlichen Gewinn aus den römischen und griechischen Werken (in der
Bidpai-Übersetzung auch aus dem Indischen) ziehen. Diesmal ist Mr. Jevons, der
Philologe der Universität von Durham, der moderne Gelehrte, welcher den alten
Autor als Folkloristen, wie die Engländer sagen und die ihnen nachsprechen,
untersucht. Die Romanae quaestiones Plutarchs sind das älteste Buch, das sich
ein Thema aus der Volkskunde stellt; sie sind eine Darstellung der Sitten und
Gebräuche Roms, welche Plutarch nach ihrem vom griechischen sich unter-
scheidenden italischen Charakter prüft und deren Gründe er von seinem philo-
sophischen Standpunkt zu entdecken sich bemüht. Herr Jevons geht natürlich bei
seiner Arbeit (der Introduction des vorliegenden Bandes) von einem anderen
Gesichtspunkt aus und erweist den alten volkstümlichen Charakter jener Gebräuche,
indem er auf vergleichendem Wege vorgeht. Die einzelnen Kapitel sind schon
in dem Titel angegeben.
Graf, Arturo, Miti, Leggende e Superstizioni del Medio Ero. Volume II.
Torino, E. Loescher, 1893. S. 397. 8°.
Der erste Band dieser Sammlung bisher verstreuter Abhandlungen zur mittel-
alterlichen Litteratur- und Sagengeschichte hat uns nicht Vorgelegen; wir berichten
daher nur über den zweiten, welcher enthält: die Legende von einem Pabst
(Silvester IL, Gerbert); die Dämonologie Dantes; ein Pilatusberg in Italien; War
Boccaccio abergläubisch?; der heilige Julian im Decamerone und anderswo; über
den Verzicht Pabst Cölestins V.; die Sage von einem Philosophen (Michael
Scotus); K. Artur im Ätna; ein geographischer Mythus (mons calamitatis, der
Magnetberg).
Es sind interessante Vorwürfe, die gelehrt und ernst behandelt werden, mit
Anmerkungen und Anhängen, daher eine dankenswerte Gabe für die, welche
Sagenstudien gründlicher treiben.
Uli vieux rite medical. Par Henri Gaidoz. Paris, E. Rolland. 1892.
S. 85. 8°.
In unserer Zeitschrift1) haben wir bereits an verschiedenen Stellen auf den
weit verbreiteten abergläubischen Brauch aufmerksam gemacht, sich mittels Durch-
kriechens durch ein Baum- oder Steinloch von Krankheiten oder Gebrechen zu
befreien. Herr LI. Gaidoz in Paris, der Herausgeber der Melusine, hat nun in
1) I, 101. II, 50. 81. III, 106.
Bücheranzeigen.
233
einem zu Ehren von Anatole de Barthclcmy geschriebenen, hübsch ausgestatteten
Büchlein, das nur in 150 Exemplaren gedruckt ward, jenen alten Heilritus nach
seiner Verbreitung und mannigfachen Gestaltung monographisch behandelt.
Im 1. Kapitel stellt er die ihm bekannten Fälle zusammen, die sich auf das
Durchkriechen zwischen zwei Baumwurzeln, durch ein Baumloch oder einen Baum-
spalt beziehen; im 2. Kapitel das Schlüpfen durch ein Erdloch und den skandi-
navischen Rechtsbrauch des gänga undir jard armen, im 3. Kapitel die von Stein-
und Felslöchern bekannten Beispiele; im 4. Kapitel geht er auf die an kirchliche
Reliquienschreine und Altarsteine übertragenen verwandten Heilriten über, die in
Frankreich besonders häufig, aber auch sonst, und selbst aus dem protestantischen
Skandinavien nachweisbar sind. Im 5. Kapitel werden eine grössere Reihe im
Grunde zustimmender Bräuche vorgeführt, und im 6. die Erklärungen besprochen.
Professor Gaidoz erklärt sich zunächst mit einem gewissen Vorbehalt gegen
die Herleitung des Ritus aus einem Kultus der Naturkräfte, weil der zu Grunde
liegende Gedanke zu philosophisch für die älteste Zeit sei. Auch die von Liebrecht
zuerst aufgestellte Theorie, das Durchkriechen der Kranken durch den Spalt oder
das Loch sei der symbolische Akt der Wiedergeburt zur Gesundheit, verwirft er,
wie ich glaube, auf nicht genügende Gründe. Sehr bestimmt erklärt sich Herr
G. gegen Nyrops Ansicht, dass der Ritus ursprünglich die Reinigung von Sünden,
später von Krankheiten bedeute, und erklärt sich selbst für die schon von J. Grimm
vertretene Auffassung des Akts als Übertragung (transplantation) der Krankheiten
durch das mit Abstreifen (frottement) verbundene Durchkriechen.
Wer sich mit dem merkwürdigen, wahrscheinlich über unsern ganzen Planeten
verbreiteten abergläubischen Heilgebrauch beschäftigt, wird das Büchlein unseres
Kollegen Henri Gaidoz nicht entbehren können. K. Weinhold.
Cintlerella. Three Hundred and Forty-five Variants of Cinderella, Catskin
and Cap o’ rushes, abstracted and tabulated, with a discussion of
mecliasval analogues and notes, by Marian Roalfe Cox. With an
Introduction by Andrew Lang. London, published for the Folk-Lore
Society by David Nutt. 1893. S. LXXX. 535. 8°.
Ein eigentümliches Buch, wie es wenige giebt, dessen Druck auch nur durch
eine englische Gesellschaft gleich der Folk-lore Society for collecting and printing
relics of populär antiquities etc. möglich war! Herr Andrew Lang äussert in der
ihm aufgegebenen Einleitung auch unverhohlen seinen Schrecken, als er diese
Skelettierung eines Märchens erblickte; es war ihm, als habe er einen Blick auf
die Stelle gethan, wo der Riese Hop o’ my Thumbs die Knochen seiner kleinen
Opfer verwahrte. Drei zerlegte Gerippe reizender Kindermärchen hat die gelehrte
und fleissige Miss Cox hier präpariert; es sind die untereinander sich berührenden
von Cinderella (Aschenbrödel), Catskin (Allerleirauh) und Cap o’ Rushes (die
Gänsehirtin am Brunnen), welche Miss Cox in allen ihr erreichbaren Varianten
durch alle Welt aufgesucht hat. Zuerst skelettiert sie jede Variante nach ihren
Hauptzügen (part I Abstracts), dann erzählt sie die Geschichten ausführlicher
(part II Tabulations) und giebt als part III die verwandten Märchen, in denen an
die Stelle eines Mädchens ein Knabe gesetzt ist (herotales, wie sie dieselben be-
titelt) ebenfalls zuerst skizziert, dann in zusammenhängendem Bericht. Nachträge
und Noten schliessen das Buch. In einer Vorrede äussert sich Miss Cox mehr
abhandelnd über ihr Thema, unter Herbeiziehung der mittelalterlichen analogen
234
Marelle :
Geschichten. Den wesentlichsten Teil der Introduction von Mr. Andr. Lang bildet
seine Auseinandersetzung mit M. Cosquin und Mr. Jacobs. Für die Forscher in
der weitverbreiteten und vielfach verwickelten Märchenlitteratur wird die Cinderella
von Miss Cox immer eine interessante und förderliche Erscheinung sein.
K. W.
Cil. Thiiriet, Traditions populaires de la Haute-Saône et du Jura, Paris,
Émile Lechevalier, Librairie historique des Provinces, 1 vol. in-8 de
652 p. tiré à 200 ex.
Recueil de 387 pièces de divers genres: légendes merveilleuses et miraculeuses
concernant les forêts, les rivières, les montagnes, les châteaux, les églises, les
chapelles, les ruines de la contrée; croyances et pratiques superstitieuses; chansons
et contes rustiques etc. Ce nouveau livre de M. Thuriet offre le même intérêt
varié que celui qu’il a publié l’année dernière sous le titre de Traditions popu-
laires du Doubs. Vgl. die Zeitschrift des Ver. fiir Volkskunde 1892, II, 212.
Ch. Marelle.
A. Bielenstein, Die Grenzen des lettischen Volksstammes und der lettischen
Sprache in der Gegenwart und im 13. Jahrhundert. Ein Beitrag zur
ethnologischen Geographie und Geschichte Russlands. St. Petersburg,
Verlag der Kais. Akademie der Wissenschaften, 1892. S. XVI. 548.
4°. Dazu: Atlas der ethnologischen Geographie des heutigen und
des prähistorischen Lettenlandes, ebd. 7 Blätter fol.
Der Verfasser des bekannten preisgekrönten Werkes „Die lettische Sprache
(Berlin 1863)“, Pastor Dr. A. Bielenstein zu Doblen in Kurland hat die Frucht
seiner durch Jahrzehnte gepflegten Studien über die vorgeschichtlichen, geographi-
schen und ethnologischen Zustände des Lettenlandes jüngst abgeschlossen und durch
die Kaiserl. Akademie in Petersburg die Freude erlebt, dieselben in einem statt-
lichen, mit einem Atlas versehenen Quartbande veröffentlichen zu können. Wir
müssen uns hier auf einen Bericht über das wichtige Werk beschränken, eine
kritische Behandlung denen überlassend, die mit lettischer Geschichte, Sprache und
Volkskunde vertraut sind.
Der erste, kurze Teil giebt die Grenzen an zwischen den Letten einerseits
und ihren Nachbarn andererseits, welche sind die Liven, die Littauer, die Weiss-
russen und die Esthen. Die Sprachgrenzen fallen nicht selten mit den Wasser-
scheiden zusammen.
Der zweite Teil beginnt mit i^ergleichender Besprechung der Völkertafeln der
livländischen Reimchronik und des Kiewer Chronisten Nestor. Genannt werden
darin Liven, Lettgallen, Semgallen, Selen, Kuren. Östlich von den Liven hausen
die Lettgallen, die in ihrem äussersten Ende im heutigen Witebskischen erst im
14. Jahrhundert von den deutschen Ordensrittern erreicht wurden. Die Verhältnisse
des 13. Jahrhunderts sind hier dunkel. Dagegen sind die der Semgallen, südlich
der Düna, klar. Die Selen im kurischen Oberlande sind von geringer Bedeutung.
Über die Kuren wie über die Semgallen geben die Teilungsurkunden des 13. Jahr-
hunderts zwischen dem Bischof von Riga und dem deutschen Orden helles Licht.
Die Methode der Untersuchung ist, dass für jede einzelne Landschaft die Ortsnamen
in Tabellenform, je nach den alten Quellen und nach den heutigen lettischen und
Bücheranzeigen.
235
deutschen Namen zusammengestellt werden. Die Ergebnisse der geographischen
Untersuchung sind durch 8 Karten auf 7 Blättern dargestellt.
Hierauf folgt die schwierige Behandlung der Nationalität der Semgallen, Kuren
und Wenden.
Dr. Bielenstein stellt durch sprachliche Untersuchung der Orts- und Personen-
namen das lettische Volkstum der Semgallen fest und beweist auch die Un-
haltbarkeit der Vernichtung oder Vertreibung der Semgallen durch die Kriege des
13. Jahrhunderts. Er erweist durch Zeugnisse, die bis ins 16. Jahrhundert reichen,
dass semgallisches Volk nicht bloss in dem Landstrich von Autz bis Bauske
(Aagebiet), sondern auch westlich von der Windau in der Hasenpoth-Grobinschen
Gegend, und sogar nördlich von der Düna zwischen Liven und Lettgallen in der
Wendenschen Gegend gesessen hat. Das stimmt dazu, dass bis heute rein sem-
gallischer, d. h. niederlettischer Dialekt von der Ostseeküste bei Libau in dem
ganzen Südstrich des heutigen Kurland bis über Wenden und Wolmar hinaus
herrscht.
Was nun die Kuren .betrifft, die von manchen, so von Pastor Watson (f 1826)
für Letten gehalten wurden, so scliliesst sich Dr. B. der schon von Wiedemann
in der Einleitung zu dem Sjögrenschen Werk über die livische Sprache (Peters-
burg 1861) vertretenen Meinung an, dass die alten Kuren Finnen waren und be-
weist dies durch den finnischen Charakter der Personennamen und der alten und
Tausender von heutigen Ortsnamen.
Andererseits giebt aber Dr. B. alte Beweise für das lettische Element neben
und zwischen dem finnischen bis hoch nach Nordkurland und bis zur Windau-
mündung aus Orts- und Personennamen nicht bloss in den Stammsilben derselben,
sondern auch in den grammatischen Formen. So gelangt er zu dem neuen Er-
gebnis, dass die Kuren weder reine Letten, noch reine Finnen gewesen sind, son-
dern dass die Bevölkerung des Kurenlandes gemischt war: Letten und Finnen
haben dort nebeneinander gelebt. Er macht sogar den Versuch, den Procentsatz
zwischen Lettisch und Finnisch in den einzelnen politischen Kirchspielen festzu-
stellen und findet, dass sich derselbe vom 13. Jahrhundert bis in die Gegenwart
garnicht geändert habe. Die Finnen haben im Norden Kurlands und an dem
Rigischen Meerbusen, sowie an der offenen Ostsee bis Libau und noch weiter
südlich am dichtesten gesessen; im Innern des Landes, nach den Grenzen des
alten Semgallens und an der Windau hinauf, nehmen sie mehr und mehr ab und
auf der Wasserscheide zwischen Windau bei Nigranden und der Ostsee bei Nieder-
bartau verlieren sich die finnischen Ortsnamen gänzlich. Es werden also südlich
vom heutigen Kurland nach Littauen hinein finnische Gebiete und Ansiedelungen
nicht mehr zu suchen sein.
An diesen wichtigsten Teil des Buches schliessen sich Exkurse (S. 334 bis
390), zuerst über die kurischen Wenden der Chronik Heinrichs, die als Letten
erwiesen werden, die von der Windau (lett. Wenta), an der sie wohnten, den
Namen empfangen hatten. Der zweite Exkurs behandelt die Frage, welches Volk,
die indogermanischen Letten oder die ural-altaischen Finnen, älter am Rigischen
Meerbusen sei. Im Anschluss an K. Schirren und Y. Koskinen, aber mit mehr
Beweismitteln, tritt Dr. B. für die Priorität der Letten vor den finnischen Liven
oder Kuren ein.
Dann wird untersucht, ob die Grenzen zwischen Letten und Littauern sich
seit 700 Jahren verändert haben. Es werden nur kleine Verschiebungen zugelassen:
an der Südgrenze Kurlands zu Gunsten der Letten, um Memel etwas zum Vorteil
der Littauer.
236
Hartmann :
Den Schluss machen Anhänge, der wichtigste eine philologische Untersuchung
über die Dialekte der lettischen Sprache (S. 391—409), als welche bezeichnet
werden das Hochlettische im Osten, das Niederlettische (der Schriftdialekt) in der
Mitte des Landes (Wolmar, Wenden, Mitau, Bauske, Doblen, Autz, Amboten,
Bartau), und der Stranddialekt (der Tahmische) um den Rigischen Meerbusen und
in der Windauschen Gegend.
Die Karten des Atlas geben klare Übersichten über das im Werke ausgeführte
zur ethnologischen Geographie des Lettenlandes. Nach Angabe Herrn Dr. B.s hat
die meisten seine Tochter Martha gezeichnet, die letzte Karte einer seiner Söhne.
Auch im Druck wurden sie schön ausgeführt.
Wir wünschen dem hochverdienten Verfasser dieses Werkes, dass er sich
noch lange an der vollendeten Frucht seiner Lieblingsstadien freuen möge!
K. W.
Biittner} Fr. C. G., Suaheli-Schriftstücke, in arabischer Schrift, mit latei-
nischer Schrift umschrieben, übersetzt und erklärt. Mit 11 Facsimile-
tafeln. Stuttgart und Berlin, W. Spemann 1892 (auch u. d. T.: Lehr-
bücher des Seminars für Orientalische Sprachen zu Berlin, Band X).
Die Aufpfropfang der Religion, Sitte, Denkweise von Kulturvölkern auf ganz
oder fast ganz uncivilisierte Volksstämme ergiebt Bildungen, die das höchste
Interesse des Freundes der Volkskunde erwecken. Freilich, wo das Ursprüng-
liche durch jene Berührungen völlig verwischt ist, wird dieses Interesse von einem
Gefühle des Bedauerns begleitet sein. Denn aus der hybriden Bildung lässt sich
zwar das Verlorene bei richtiger Methode und besonderer Begabung für diese Art
der Forschung bis zu einem gewissen Grade rekonstruieren, es werden aber immer
noch zahlreiche Rätsel bleiben, vieles wird als fraglich bezeichnet werden müssen.
In jedem Falle ist diesen Zwitter-Halbkulturen dann eine besondere Aufmerksam-
keit zuzuwenden, wenn für sie eine neue, besonders wichtige Epoche der Weiter-
bildung eintritt.
Das ist der Fall bei einem grossen Teile der Bantu-Stämme Mittelafrikas.
Uns liegt es am nächsten, hier an diejenigen dieser Stämme zu denken, welche,
in Zanzibar und dem Küstengebiete von Deutsch-Ostafrika wohnend, unter dem
Namen Suaheli zusammengefasst werden und in Sprache, Glauben, Sitte von dem
islamischen Arabertum gründlichst durchsetzt sind. Hier ist die deutsche, bezvv.
englische Herrschaft gesichert, und es ist eine Frage der Zeit, dass diese Herr-
schaft auf das Leben jener Stämme einen durchdringenden Einfluss übt und dem
Gemisch von Ursprünglichem und Arabischem ein neues fremdes, kräftiges Element
zuführt. Hier gilt es zu retten, was noch zu retten ist.
Von diesem Gesichtspunkte aus sei hier das Verdienst des vorliegenden
Buches hervorgehoben, welches noch nach anderen Richtungen hin als eine höchst
willkommene Gabe begrüsst werden darf. Verf. hat mit scharfem Blick unter dem
ihm zu Gebote stehenden Material das ausgesucht, was neben den Zielen, die ihm
in erster Linie gesteckt waren, ein Hilfsmittel für die sprachliche Ausbildung zu
schaffen, in dem hier angedeuteten Betracht wichtig ist. Er liess sich dabei leiten
von der Rücksicht auf die „wunderlichen Vorstellungen, welche in Deutschland
über die geistigen Kapazitäten, sowie über das intime Leben der „Neger“ herrschen,“
und welche „auch' diejenigen, welche nicht Suaheli fachmännisch zu lernen ge-
sonnen sind, ein wenig in die Denk- und Ausdrucksweise unserer Ostafrikaner
hineingucken lassen“.
Bücheranzeigen.
237
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Die Stücke, die als volkskundlich interessant zu nennen wären, sind: Reise
nach Reichen im südwestlichen Teile von Deutsch-Ostafrika; Begräbnisgebräuche
in Zanzibar; drei Märchen: der Sultan, welcher Gottes Allmacht leugnete; die
Todesfurcht als Heilmittel (einer an Dickleibigkeit leidenden Frau wird vom Arzte
gesagt, sie müsse in sieben Tagen sterben; am achten Tage kommt sie, von der
Todesfurcht abgemagert, scheltend zum Arzt, der ihr sagt, die Furcht sei eben
das Mittel gewesen); die Spur des Löwen (ein Sultan sieht die schöne Frau seines
Wezirs und schickt diesen sofort weit weg; als er bei seinem Besuche der Frau
zudringlicher wird, setzt ihm diese ein reiches Mahl vor, dessen verschiedene
Schüsseln jedoch alle denselben Geschmack haben; auf die erstaunte Frage des
Sultans danach, sagt sie nur: „wer versteht, versteht“; er versteht, lässt aber einen
lose sitzenden Ring zurück; diesen findet der rückkehrende Wezir und behandelt
die Frau als untreu; deren Vater klagt beim König im Beisein des Gatten: er
habe einen wohlgepflegten Garten gehabt, den habe der Wezir gemietet, aber ver-
nachlässigt; der Wezir führt an, er habe nach einer Reise die Spur eines Löwen
an der Gartenthür gefunden, da sei er nicht hineingegangen; der Sultan: „der
Löwe ging hinein, ass aber die Früchte nicht“); drei Gedichte: Augenlid, Auge
und Pupille; Lob einer schönen Frau; das Lied vom fremden Gast.
Zugleich sei hier hingewiesen auf den am 4. März d. J. vom Verf. gehaltenen
Vortrag „Bilder aus dem Geistesleben der Suaheli, ihrer epischen und lyrischen
Dichtung entnommen“, der in den Verh. der Berliner Ges. f. Erdkunde 1893
S. 147 ff. abgedruckt ist. Es ist bereits an anderer Seite (s. Voss. Ztg. Nr. 131,
18.3.93) darauf aufmerksam gemacht worden, dass die dort erwähnten zwei Tier-
märchen, Affe und Haifisch, und Eselin und Löwe indischen Ursprungs sind und
sich fast unverändert im Pantschatantra (Buch 4) finden. Vielleicht geht auch
einiges in den „Schriftstücken“ auf indische Quellen zurück.
Berlin. Martin Hartmann.
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Berlin, Freitag, den 24. Februar 1893. Herr Geheimrat Prof. Dr. Bastian
sprach über die Verbleiborte der abgeschiedenen Seelen in Volks- und Völker-
kunde, über die Entwicklung der Vorstellungen vom Tod und von der Seele, über
die Einwirkung von Traumbildern, die Unterscheidung zweier (oder mehrerer)
Seelen, ihr (meist schädliches) Herumschweifen und Bannen desselben (an den
Seelenfesten), sowie über die Vorstellungen vom Seelenaufenthalt (Abbilder der
oberirdischen Welt oder Inseln der Seligen, endlich Walhalla und Sonnenhaus für
gefallene Krieger) und von der Rückkehr der Toten, zuletzt über die Mittel, um
dieselbe zu verhindern. In der sich anschliessenden Diskussion hob besonders der
Vorsitzende, Geheimrat Weinhold, germanische Parallelen hervor.
Freitag, den 24. März. Professor Brückner sprach über den gegenwärtigen
Stand der Mythologie; er begann mit der Creuzerschen Symbolik zu Anfang des
Jahrhunderts und der Widerlegung, die sie erfuhr, besprach hierauf die Auf-
stellungen der vergleichenden (indo-europäischen) Mythologie und wies auf die
IG**
238
Lewy: Nachtrag.
Lücken und Mängel dieses Systems hin, welche durch die moderne Folklore und
durch die Ergebnisse der Anthropologie zu ergänzen sind, wie dies durch E. B. Tylor
und Andrew Lang mit bestem Erfolg erstrebt worden ist. Hierauf sprach Fräulein
E. Lemke über Ort und Treiben der Toten im ostpreussischen Volksglauben auf
Grund eigener Aufzeichnungen: über Totenbräuche, über Vorstellungen von der
Seele, über Geistersichtigkeit, Nachziehen der Seelen (Vampyrismus), endlich
Totenerscheinungen aller Art (in der Neujahrsnacht, als Irrlichter und ähnliches).
Freitag, den 28. April. Herr Prof. C. Arendt sprach über Vorstellungen
der Chinesen über den Verbleib der abgeschiedenen Seelen; er hob die Schwierig-
keiten der Sinologie hervor, die Religionsmischung in China, die Überlebsei alter
Menschenopfer, den Heroenkult, welchem einige der populärsten Götter des
modernen China ihren Ursprung verdanken, den Ahnenkult in Familie und Ge-
meinde, den Glauben an die Verpflichtungen des Toten, das Schwanken der Auf-
fassung von einem eigentlichen Seelenaufenthalte, endlich die Vielförmigkeit der
Seelen, wie sie sich schon in der Namengebung kundgiebt. — Direktor Wilhelm
Schwartz teilte Belege modernsten Geisterglaubens und eigene Erfahrungen beim
Sammeln von „Altertümern“ mit. — Geheimrat Wein hold berichtete über die
gelungene Erneuerung des Frühlingseinzuges in Heidelberg zum Sommertag
(D. Lätare) 1893. A. Brückner.
Nachtrag zu S. 132 f.
Den mir von der Druckerei zugesandten Korrekturabzug des Schlusses
meiner Arbeit „Morgenländischer Aberglaube in der römischen Kaiserzeit“ habe
ich durch eigenen Zufall nicht erhalten. Ich muss daher an dieser Stelle ein
wenig nachbessern.
§ 6 soll vielmehr lauten: Wenn jemand spricht: „Im Übermass und
Überfluss!“ — so gehört das zu den emoritisehen Gebräuchen. Rabbi
Jehuda sagt: ,, Im Übermass und Überfluss möge sein Haus nichts
haben!“
Letzteres soll die Strafe sein. In welchem Falle jener Wunsch üblich
war, weiss ich nicht.
In der Erläuterung zu § 9 waren die Worte „ Wein und Leben u. s. w. bis
und für den Mund ihrer Schüler!u kursiv zu drucken und ohne Absatz an das
Vorhergehende anzuschliessen, da sie mit zu der Parallelstelle aus dem Talmud
gehören.
Zu dem Namenstausche zwischen Mann und Frau (S. 142) vergleiche man
R. Andree, Ethnogr. Parall. u. Vergl. S. 176: Änderung des Namens behuis
Täuschung der Dämonen.
Mülhausen im Eisass. Heinrich Lewy.
Druckverbesserungen zum 1. Heft sind
S. 69 Z. 4 v. u. mit lies nit.
.. 89 .. 24 v. o. Fevons lies Jevons.
Das Saterland.
Ein Beitrag zur deutschen Volkskunde
von Theodor Siebs.
I. Einleitendes. II. Herkunft der Saterländer und älteste Nachrichten über das Gebiet.
III. Recht und Verfassung; kurze geschichtliche Angaben. IV. Wohnung. V. Sitten und
Gebräuche. VI. Tracht. VII. Aberglaube. VIII. Lebensweise und Erwerbsquellen.
IX. Sprachliches. X. Poesie.
I. Einleitendes.
Die Saterländer, ein kleines Völkchen friesischer Abstammung,
wohnen auf einem rings von Hochmoor umschlossenen schmalen Sand-
rücken an den Ufern der Leda oder Sater Ems ([djü el, d. h. der Fluss). Das
Ländchen, welches als ein Teil des Amtes Friesoythe dem Herzogtume
Oldenb urg angehört, besteht aus vier Kirchspielen. Die nördlichste Ge-
meinde ist Strücklingen, dann folgt Ramsloh, der alte Mittelpunkt des
Saterlandes, dann Scharrel und als die südlichste Gemeinde die im
Jahre 1821 gegründete Siedlung Neuscharrel3).
Das Land ist heute ohne grosse Mühen zu erreichen1 2), bis zum Beginn
unseres Jahrhunderts aber war es schwer zugänglich. Die Moorwege, die
hineinführten, waren schlecht, ja zu gewissen Zeiten gefährlich; die um-
ständliche Bootfahrt auf dem schmalen, in vielen Windungen dahin-
1) Gemeinde Strücklingen (36,59 qkm, 2107 Einw.) mit den Bauerschaften Strück-
lingen, Bollingen, Utende, Bokelesch; Ramsloh (39,32 qkm, 802 Einw.) mit Bauerschaft
Ramsloh und Hollen; Scharrel (59,03 qkm, 842 Einw.) mit den Ortschaften Scharrel,
Fermesand, Sedelsberg; Neuscharrel (14,12 qkm, 464 Einw.). Näheres später bei Be-
handlung der Flurnamen. Vgl. Ortschaftsverzeichnis d. Grossherzogt. Oldenburg, herausg.
vom statist. Bureau. Oldbg. 1891. [Die von dem Herrn Dr. Siebs auf Grund der Olden-
burgischen Katasterkarten entworfene Karte des Saterlandes beizugeben, haben äussere
Umstände verhindert. D. R.]
2) Von Augustfehn, einer Station der Bahnstrecke Oldenburg-Leer, führt eine
Fahrstrasse über Barssei-Strücklingen-Ramsloh-Scharrel nach Friesoythe; von Ihrhove,
einer Station der Bahnlinie Leer - Neuschanz, führt eine Strasse über Collinghorst und
Rhauderfehn nach Strücklingen; auch kann man von Zwischenahn auf der Landstrasse
über Edewecht und Friesoythe nach Scharrel gelangen. Grosse Kanäle (der Kanal
Bollingen-Barssei, welcher mit dem wichtigen Hunte-Emskanal in Verbindung steht, der
Friesoyther Kanal im Osten und ferner der sogenannte Westkanal) dienen dem Güter-
transport, vor allem dem des Torfes. Darüber s. unten („Erwerbsquellen“).
Zeit,sehr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. YJ
strömenden Flusse, die dem Transithandel zwischen Niederwestfalen und
Ostfriesland diente, ward nur von Saterländern besorgt; das Land brachte
hervor, was seine Bewohner brauchten, kaum mehr noch weniger: so ward
es von Fremden fast garnicht besucht. Auch verliessen die Saterländer
ihre Heimat nicht, denn kleine Reisen bedingten schon grosse An-
strengungen. So stunden sie fast ganz ausser Berührung mit der übrigen
Welt und haben lange Zeit hindurch ihre altüberlieferte Sprache, ihr Recht
und ihre Gebräuche treuer bewahrt als die Rachbarstämme.
Kam je ein Fremder dorthin, so war er erstaunt über die eigenartige
Sprache, Kleidung und Sitte und brachte sicherlich wundersame Märe
heim. Die sonderbarsten Gerüchte kamen über das Land in Schwang,
zumal da die Saterländer selber etwaigen wandernden „Folkloristen“ ihre
Mühen mit erschreckenden Berichten reichlich lohnten. Ein gewisser M. D.
und der Pastor Ho che, der im Jahre 1798 das Gebiet durchstreift hat,
sind noch glimpflich behandelt worden; anders die Niederländer Hettema
und Posthumus, deren Erfindungen mit denen ihrer Gewährsleute wett-
eifern. Ihr Buch ist von Ni eher ding gewürdigt worden, der auch in
dankenswerter Weise historische Nachrichten über das Land gesammelt
hat1). — Die Sprache ist erst vor fünfzig Jahren gründlich untersucht
worden, obschon bereits Justus Möser und auch Strodtmann, der Verfasser
des osnabriickischen Wörterbuches, auf ihre hohe Bedeutung hingewiesen
hatten. Das grösste Yerdienst um die saterländische Sprachforschung hat
sich Johann Minssen erworben; er ist seinen Arbeiten1 2) leider früh
durch die Übersiedelung nach Frankreich entzogen worden. Seine reichen
Stoffsammlungen, von denen ein Teil in der Übersetzung bei L.Strackerjan3)
abgedruckt ist, sind leider unwiederbringlich verloren; eine Anzahl Ab-
schriften neuerer Urkunden und einige Volkslieder hat Professor Minssen
mir giitigst überlassen — auch an dieser Stelle herzlichen Dank dafür!
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, reiches Material für die Erforschung
der saterländischen Sprache und Sitte zu sammeln4); ein fünfmaliger
längerer Aufenthalt an Ort und Stelle ist mir dazu von grossem Nutzen
1) vgl. M. D. im Westfäl. Magazin (neues, fortgesetzt von Weddigen) 1799.
4. Quartal. — J. G. Ho che, Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland,
Ostfriesland und Groningen. Bremen 1800. — Hettema und Posthumus, onze Reis
naar Sagelterland. Franeker 1836. — Nieb er ding, Das Saterland. Strackerj an’s Beitrr.
z. Gesch. d. Grossherzogts. Oldenbg. Bremen 1837. I, 244 ff., 378 ff., 436 ff.
2) Minssen, J., in Ehrentraut’s fries. Archiv I (1849), II (1854).
3) Aberglaube und Sagen aus dem Herzogt. Oldenbg. 2 Bde. Oldbg. 1867.
4) Zu grossem Danke fühle ich mich verpflichtet Herrn Pastor Dumster in Scharrel
für seine Aufzeichnungen, Herrn Lehrer Busch für seine Unterweisung, ferner Herrn
Remmer Dumstorf, und manchen anderen Gewährsleuten. — Herrn Dr. Kollmann
gebührt reicher Dank für die auf meine Bitte gelegentlich der letzten Volkszählung ge-
machten sprachstatistischen Erhebungen, die in unserer Zeitschrift I, 377 ff. veröffent-
licht sind.
Das Saterland.
241
gewesen. Die Ergebnisse, die mir für die deutsche Volkskunde wissens-
wert scheinen, will ich hier mitteilen1).
II. Die Herkunft der Saterländer und die ältesten geschichtlichen Nachrichten
über das Gebiet.
Wir sind völlig im Unklaren darüber, ob das Gebiet des heutigen
Saterlandes zur alten Heimat der Chauken, der Ampsivarier oder der
Chasuarier gehört hat. Zu Tacitus’ Zeiten hatten Friesen (wahrscheinlich
die Frisii maiores) das Küstenland zwischen Fli und Ems inne, Chauken
(ob die Chauci maiores oder minores, ist ungewiss) das Gebiet zwischen
dem Unterlaufe der Ems und Weser; Südgrenze dieser Völkerschaften war
vielleicht der Hochmoorstrich1 2), welcher sich etwa von der Kuimremündung
über Groningen an den Ausfluss der Hunte zieht. Südlich davon wohnten
an beiden Ufern der Ems die Brukterer, am rechten die Bructeri maiores
etwa bis zur Hase, am linken die minores bis an die Lippe (Tac. Annal.
I, 60). Zwischen den Brukterern und den Chauken mochten vor Neros
Zeit die Ampsivarii wohnen, bis sie, von den Chauken verdrängt, in die
Bheinlande zogen (Annal. XIII, 55); an den Ufern der Hase sassen viel-
leicht die Chasuarii, dem Gebiete des heutigen Saterlandes benachbart.
In diesen Gegenden müssen einst Kämpfe mit den Römern stattgefunden
haben. Im Jahre 12 v. Chr. fuhr Drusus mit einer Flotte aus der Rhein-
mündung die Nordseeküste hinauf und in die Ems ein; auf der Ems be-
siegte er die Bootflotte der Brukterer (Strabo VII pag. 290: „sv zco Apaoiq
Agovoog Bgovyasgovg xarevav¡jiäyrjoe“). Diese Nachricht lehrt, dass die
Brukterer im Emsgebiete sassen. Den Ort des Seetreffens freilich können
wir nicht bestimmen, denn möglicherweise sind sie der römischen Flotte
weit stromabwärts entgegengefahren; anderseits aber ist nicht ausgeschlossen,
dass Drusus die Ems oder Leda aufwärts bis in das Land der Brukterer
verfolgt hat. Dass eine solche Absicht ausführbar war, haben die Züge
des Germanicus erwiesen: im Jahre 15 n. Chr. gelangte er mit der Flotte
in das obere Emsgebiet, und im folgenden Jahre ist er wahrscheinlich gar
die Hase aufwärts gefahren. Auf der Leda konnten die Schiffe sicherlich
1) Die saterländischen Texte sind in möglichst einfacher Schreibung gegeben, e ist
tonloses e (hochd. gäbe); e ist kurzes offenes ce (wie in hochd. kenne); die entsprechende
Länge ist ?; e ist geschlossenes e (hochd. See); b ist durch o, ö gegeben; ä ist langes
offenes o; silbebildcndes /, ?«, n, r sind durch (e)l, (e)m, (e)n, (e)r dargestellt; u ist kon-
sonantisches u wie engl. №, i konson. i; w ist schwache labiodentale Spirans; g ist velares
n (hochd. darjken); g ist Spirans wie im westfälischen gut; ch ist der sogenannte acA-Laut,
so auch stets in sch (nicht s zu sprechen); s ist tonloser, z ist tönender s-Laut; sogen,
echte Geminate (italien. fat-to) ist durch Apostroph bezeichnet, z. B. seien „setzten“; alle
unbezeichneten Vokale sind offen (hochd. finde, mener), alle mit ~ versehenen geschlossen
(hochd. liben, kören); ' auf geschlossenem Vokal bezeichnet den stark gestossenen Accent,
auf offenem Vokal den Wortaccent; ~ bezeichnet den stark schleifenden Ton. — Wo nichts
anderes gesagt ist, sind die Texte in der Mundart von Hollen gegeben.
2) Th. Siebs, Zur Gesch. d. engl.-friesischen Sprache. Halle 1889. S. 10.
17*
242
Siebs:
Utende erreichen, denn soweit ist noch heute der Fluss schiffbar und reicht
der Wechsel der Gezeiten. Bis zum 13. Jahrhundert, vor dem Einbrüche
des Dollart (1277) wird sich also die Flut noch weiter oberhalb geltend
gemacht haben. Und dass thatsäclilich Römer in der Gegend von Utende
gewesen sind, scheint durch römische Münzen erwiesen zu sein, die dort
im Moore gefunden und vor etwa 50 Jahren von dem Pastor Trenkamp
an den General Wardenburg in Oldenburg gesandt worden sind1).
Jacob Grimm (Gesch. d. d. Sprache 4 470) hat die Vermutung aus-
gesprochen, dass die Brukterer, weil sie sich wie die Friesen und Chauken
in ¡uei^ovg und eXcaxoveg schieden, dem friesisch-chaukischen Stamme, sagen
wir: den Ingävonen, zuzurechnen seien. Andere und viel gewichtigere
Gründe könnten uns veranlassen, diese Stammesangehörigkeit auch für
andere Gebiete zu behaupten: z. B. lässt die Betrachtung der Ortsnamen
eine Beziehung zum englisch-friesischen Stamme für das Gebiet vermuten,
welches etwa durch die Linie Haselünne—Lingen—Rheine—Lemförde—
Diepholz—Vechta—Cloppenburg—Löningen—Haselünne umschlossen wird
und Teile der Gaue Agredingo, Hasago, Lerigo und Dersaburg ausmacht.
So drängt sich auch leicht der Gedanke auf, die Saterländer könnten Reste
eines seit alter Zeit dort wohnhaften Volkes von ingävonischem Stamme
sein. Dagegen aber streitet ihre Sprache, welche eine lange Periode
gemeinsamer Entwicklung mit der ostfriesischen durchgemacht
haben muss. Sie steht der emsfriesischen Sprache, wie sie uns aus den
altfriesischen Rechtsquellen des Mittelalters und noch aus dem Hochzeit-
liede des Imel Agena von Upgant (17. Jahrhundert) bekannt ist, so nahe,
dass eine jener analoge selbständige Ausbildung in einem abgelegenen
Landstriche undenkbar wäre, und dass wir vielmehr Einwanderung aus
Ostfriesland annehmen müssen. Darauf weisen auch der Name des
Saterlandes, sagenhafte Überlieferungen, die Volkstracht und andere
Momente der kulturgeschichtlichen Entwicklung hin.
Lange Jahrhunderte hindurch wird nichts von den Bewohnern jener
Gegenden berichtet, geschweige denn von einem Saterlande. Das Gebiet
1) In Utende ist die Sage lebendig, dass dort Drusus mit seinen Schiffen auf das
Land geraten sei. Sie weist natürlich auf gelehrte Einflüsse zurück, ist aber volkstümlich
geworden und ward mir dort von einem alten Gewährsmanne, dem alles historische Wissen
fremd ist, so erzählt:
„di römische Drüzus, di iz med 'n flot vrfadent op Ämde (d. h. Emden)
töü, un dö iz hi op H&denjeh&rg (zwischen Utende und Bokelesch) fest kernen,
un dö iz hi op Ämde tövgeen; di hekg, di leit an de (liegt am Flusse).
Ledebur (das Land und Volk der Bructerer, S. 180) nahm an, dass das von Ptole-
mäus (II, 14, 12) erwähnte 2iatovra.vöa (andere Hss. 2drovrav8a Zsxovravöa Ssrovvraöa)
auf 29° 20' östl. L. und 54° 20' nördl. Br. „Sater Utende“ bedeute. Das ist natürlich
nicht ernst zu nehmen; wenn aber jener Name einfach als Missverständnis einer Stelle
des Tacitus gedeutet wird (sua tutanda Annal. IV, 73 vgl. Müller, Die Marken des Vater-
landes, Bonn 1837), so ist damit ebenso wenig gewonnen.
Das Saterland.
243
scheint um 900 dem pagns Agredingo oder Agrotingo angehört zu haben,
in welchem 834 Meppia und 948 Wer es (Yrees im Kirchspiel Werlte = 948
Werlete) erwähnt werden. Böttger1) setzt Scharrel als Schnittpunkt der
Gaue Agredingo, Emisga und Hasagowe an; vielleicht lag der Untergau
Fenkiga1 2), der in Urk. 948 neben dem Hesiga genannt wird, in diesem
Gebiete. Dahin gehören auch die Ortsnamen Oidi (1014), Oita und Oite
(öfter), d. h. Altenoythe und Hof Oita (1238), sowie der Nebenfluss der
Leda, die Finola d. h. Yehne (Bremer Stiftungsurk. b. Adam. Brem. MG.
Scr. YII, 288). Ortsnamen des heutigen Saterlandes werden erst in viel
späterer Zeit genannt, und zwar zuerst Utende als Besitz des Johanniter-
ordens in einer Urkunde vom 13. Mai 1359 (Friedländer, Ostfrs. Urkb.
Nr. 86), derzufolge der kercheer to TJthende bezeugt, dass Bole to Boldinck
(Bollingen) dem Kloster Langen ein Stück Moor abtritt. In Bokelesch bei
Utende soll einst eine Kommende der Tempelherren gewesen sein, die
nach Aufhebung des Ordens im Jahre 1312 den Johannitern zugeteilt
ward: dass es in deren Besitz ist, erweist zuerst eine Urkunde von 1319
(Richthofen, Untersuch, über fries. Rechtsgesch. II, 814. 1305). Erst zu
Anfang des 19. Jahrhunderts ist die Kommende Bokelesch säkularisiert
worden. Das sind vereinzelte Namen von Dörfern; das Saterland als
solches tritt erst mit dem Jahre 1400 in die Geschichte ein. In einer
Urk. vom 23. Mai 1400 geloben zu Emden alle Häuptlinge und Gemeinden
von Ostfriesland den Abgeordneten der Hansestädte, dass sie fernerhin den
Yitalienbrüdern keinen Yorschub mehr leisten und allen Kaufleuten Frei-
heit des Yerkehrs und Befreiung vom Strandrecht gewähren wollen; das
thun „o/c alle Murmurland mid orem seghele, Fantsingerland mit orem seghele,
Overlodingerland myd oren twen seghelen, Sagharderland (so Friedländer
Nr. 171; Sagherderland Nr. 1730) mit orem seghele und Astringerland mit
orem seghele.“ Später (1417) erscheint das Saterland in einer, wenn auch
lockeren Verbindung mit den friesischen Landschaften: „Item S eg elterland
is aec een deel fan disse saun zelanden ende iout tribuet ende schat den biscop
fan Munster“ (Richthofen, Uss. II, 8 ff., Rechtsq. S. 112). Der Name, der nun
häufiger wird, wechselt zwischen dat land von Sagelterlande (11. Juni 1401),
Sagelterlande (7. April 1405, 21. Okt. 1497), Seghelterlande (10. Nov. 1424),
Zegeederland (5. Mai 1457), Saghelsland (andere Ausfertigung derselben
Urkunde); in späterer Zeit finden wir Sagaterland, Saegerterland (1617),
im 18. Jahrhundert Sageterland, Sag der land,, Sagterlandt, Sachterland und
Saijterland, Saegeterland, Saederland, Saeterland, Saterland. Sehr wichtig
ist natürlich die heute an Ort und Stelle geltende Form: sie lautet
Selterlöund (Hollen), der Saterländer heisst Selter, saterländisch seltersch.
1) Diöcesan- und Gaugrenzen Norddeutschlands II. Bd. Halle 1874. S. 7.
2) D. Meyer, Mitteilungen des histor. Vereins zu Osnabrück III, 272.
244
Siebs:
Die Erklärung dieses Namens ist für uns von höchster Bedeutung.
Der Sprachkundige sieht sogleich, dass der älteren Form das g und l zuzu-
sprechen sind, und dass in dem e nicht ein altes e (das würde heute el
lauten), sondern ein Kontraktionsprodukt zu sehen ist. Die ältere heimische
Form muss Segelterlönd geheissen haben, und die ist ja auch urkundlich
mehrfach bezeugt. Im Landesarchiv zu Ramsloh, das 1812 von den
Franzosen versteigert ward, befand sich ein metallener Siegelstempel mit
dem Bildnisse Karls des Grossen und der Umschrift „S. Parochianorum in
Sagelte“, und das Ramsloher Kirchensiegel (Nieberding a. a. 0. 448) zeigte
einen sitzenden Heiligen mit der Umschrift „St. Jacobus patronus in Sagelten“.
Weil nun Scharrel die Apostel Petrus und Paulus, Strücklingen den heiligen
Georg, Ramsloh aber den Jakobus zum Schutzheiligen hatte, folgert Richt-
hofen (Uss.II, 1303), Sagelte müsse der ältere Name für Ramsloh gewesen sein.
Das ist aber ungerechtfertigt. Wir keimen den Namen Ramsloh aus fast
ebenso früher Zeit als den des Saterlandes (curetus in Rameslo Urk. 9. Juni
1459); die Ramsloher Kirche ist älter als die der übrigen Dörfer (s. u.) und
war gewiss einmal die einzige des Landes; und anstatt den durch gar keine
Gründe zu stützenden Namenswechsel des Dorfes anzunehmen, ist es weit
einfacher, das „Sagelte“ auf dem — gewiss nicht alten — Siegel als eine
Abstraktion aus dem Yolksnamen aufzufassen, welche die politische
Zusammengehörigkeit der Dörfer bezeichnen sollte. Wie ist nun dieser
Yolksname etymologisch zu deuten und wTas lehrt er von der Herkunft
des Yolkes? Die üblichen Erklärungen1) sind unhaltbar. Man muss sich
der Form Saghelsland (1457) erinnern und an das nicht allzu fern am
Hümmling gelegene Sögel anknüpfen, welches auch als Saget erscheint.
Wir finden in Urk. 1459 Abel von Saget, 1394 Ludike van Sagelen; daneben
in der gleichen Urk. von Zogelen, to Sogelen und in Sog eie 1394, Soeghel
1457, Zoghel 1460, Sogeil 1462, Soegell 1496; die älteste Form ist Sugila
(Registrum Sarachonis), ferner Sugele im 13. Jahrh.1 2). Sie ist entstanden
aus mnd. suge, zöge (ags. sugu) „Sau“ und lä (mnd. löh, lö, got. lauhs')
„Wald“, bezeichnet also das Gehölz, in dem die Schweine weideten. Nur
aus dieser w-Form lassen sieh lautgesetzlich die niederdeutschen Namen
Sogei, Sagele und späteres Sögel (vgl. mnd. kogel, koggel, kagel, kögel = ahd.
1) An Ableitung von afrs. säth Sumpf oder von sätha Soden ist, ganz abgesehen von
sachlichen Gründen, der Lautverhältnisse halber nicht zu denken; ebenso wenig an eine
Beziehung zur Saterkirche in Lastrup, wo nach unglaublichem Berichte die Saterländer
eingepfarrt gewesen und wohin sie schon am Saterdag zum Gottesdienste gewandert wären.
— So vergleiche ich auch nicht den Namen eines in Westfalen (Urk. 26. März 1248) ge-
nannten Hermannus de Saterslo. — Vgl. Minssen, Frs. Arch. II, 139.
2) Der Name ist keinesfalls durch Metathese aus *Sigula * Segele zu erklären und
mit den vielen Ortsnamen zu vergleichen, die Segel- Sigel- in ihrem ersten Teile zeigen
{Seegel Siegelsdorf, Seegelsbiill vgl. segel sigel „Geschwulst, Beule, d. h. woraus das Wasser
abläuft“ Schmeller III, 209), denn auch sonst erscheint der Name Sögeln, z. B. zweimal im
Norden von Bramsche.
Das Saterland.
245
kugela Mütze) erklären. Sugile war Hauptort einer comitia, welche man
die Grafschaft der Sögeler oder (mit dem allgemein üblichen Einschuh des
unorganischen t zwischen l und der Endung -re, -ere) Sögelter nannte.
Nom. Sugil(e)re bedeutet „der Sögeler“; in frs. Form würde (mit Umlaut,
vgl. knepel Knüppel) der Gen. Plur. *Segil-t-ra *Sigil-t-ra lauten. Der
Name dieser Sögelter Grafschaft ist urkundlich belegt. 1238 bestimmt Graf
Otto von Tecklenburg die Morgengabe für seinen Sohn Heinrich und Jutta,
die Tochter des Grafen Otto von Ravensberg: „assignabimus filio nostro .. .
Curiam Ogte .... Item comitiam Sygeltra . . .“ In einer Urkunde vom
18. Juni 1252 werden der Hof Oythe und die Grafschaft Sögel von Walram
von Montjoie, seiner Frau Jutta und deren Mutter Sophia, Witwe des Grafen
Otto von Ravensburg, dem Bischof Otto II. und Stift Münster übertragen:
„proprietatem Oythe cum suis pertinentiis, cometiam Sigheltra et alia“. —
Wir haben durch diese Erörterungen erwiesen: 1) dass die Sögeler um 1250
Segelter bezw. Sigelter genannt wurden; 2) dass um 1400 die Yorfahren der
heutigen Saterländer in engerer politischer Beziehung zu den friesischen
Landschaften standen und ihr Land Segelterlönd nannten. Halten wir dazu
die Thatsache, dass ihre Sprache mindestens bis um 1200 eine der ems-
friesischen gleiche Entwicklung durchgemacht hat, so dürfen wir den Schluss
ziehen, dass Ostfriesen zwischen 1200 und 1400 einen — vielleicht
schwach bevölkerten — Teil des Sögelter Landes besiedelt und mit
dem ihnen geläufigen Namen Segelterlönd bezeichnet haben. Sie scheinen
sich hinsichtlich der Kulturverhältnisse den — vermutlich westfälischen —
Bewohnern in mancher Beziehung angeschlossen, dieselben aber allmählich
resorbiert zu haben.
Die Kunde von der Einwanderung ist in der Sage bewahrt. Hoche
erzählt, die Saterländer sollten aus Burtange gekommen sein, und auch
die mehrfachen Beziehungen zum Hümmling, die von Strackerjan in den
Sagen (II, 224) gemeldet werden, weisen auf die Herkunft aus Westfalen
hin. Anders habe ich die Überlieferung erzählen hören:
„Bö olde ljude hebe kvoeden, der wlren tre1 üt Westfrelslöwnd hir kernen,
nemllch Karkhof, Blök un Awlk, un dö schein sik in Sträkelje, Römelse un
Schedel seit hebe, un fon dö tre1 schel gäns Selterlöund ütspruted weze1').ii
Hierin ist bewahrt, dass die Besiedlung durch Friesen geschehen sei;
die Yariation, dass es Westfriesen gewesen seien, konnte sich leicht, ja
sie musste sich ergeben, sobald man im Gegensätze zum Plattdeutschen der
jetzigen Ostfriesen das Westfriesische als eine dem Saterländischen nahe
verwandte Sprache kennen lernte. Die drei genannten Familien gelten
noch heute als die ältesten, aber sicherlich sind sie nicht friesisch, denn
einmal sind sie die einzigen, welche in ganz unfriesischer Weise einen
1) „Die alten Leute haben gesagt, da wären drei aus Westfriesland gekommen,
nämlich Karkhof, Block und Awik, und die sollen sich in Strücklingen, Ramsloh und
Scharrel gesetzt haben, und von den dreien soll ganz Saterland entsprossen sein.“
246
Siebs:
Stammnamen führten (s. unten hei Behandlung der Eigennamen), und dann
sind die Namensformen so unfriesisch und so plattdeutsch wie möglich
(vor allem Karkhof vgl. stl. serJce Kirche). Die ganze Sache ist aber leicht
erklärlich. Die drei Familien sind westfälisch, sie galten mit Recht als
die ältesten und waren vielleicht schon vor der friesischen Besiedlung dort
ansässig. Mit dieser Tradition verband sich im Laufe der Zeit sagenhaft
die Nachricht von der Einwanderung, und es ergaben sich, nachdem die
Friesen das Übergewicht gewonnen, zwei Versionen. Entweder man kom-
binierte so: jene drei Familien sind die ältesten im Lande, die Saterländer
stammen aus Friesland, ergo sind jene drei Familien die friesischen An-
siedler; oder man schloss: jene drei ältesten Familien stammen aus West-
falen, die Saterländer sind Ansiedler, ergo sind die Saterländer aus West-
falen eingewandert. Wir dürfen hierin ein interessantes und klares Beispiel
der Sagenvariation sehen.
Schon frühe urkundliche Beweise haben wir dafür, dass Friesen im
Saterlande wohnten. In Urk. von 1400 überträgt Graf Claus von Tecklen-
burg dem Bischof von Münster „alle herlicheit, alle vrye und eygene gude ....
in den Kerspelen van Oyte, van Oropendorpe, van Lastorpe, van Essene, van
Lonynghen, van Lynherden, van Molbergen, an den Water ströme, an Sagelter-
lande, an den Scharlevresen.........“ Hier werden also die Friesen in
Scharrel den anderen Saterländern gegenübergestellt: daraus schliesse ich,
dass entweder Scharrel zur Zeit der friesischen Besiedlung noch un-
bewohnt war und deshalb nachher im Gegensätze zu den übrigen Dörfern
eine rein friesische Bevölkerung zeigte, oder dass damals der Name
Scharrel noch nicht als Ortsname empfunden, sondern, wie öfter in den
benachbarten niederdeutschen Gegenden, als Appellativum gebraucht ward.
Stl. schedel ist Diminutiv von sche*d (Hollen) sched (Scharrel) = afrs. skerd
Neutr. „Scharte, Grenze“. Viel später haben die Saterländer die ndd. Form
„Scharrel“ an die gefälschten Privilegien und Freiheiten geknüpft, die Karl
der Grosse den Friesen verliehen haben sollte, und sich Charlefrije Freesen
genannt. So schreiben sie in einer Deduktion ihrer Freiheit an das Dom-
kapitel zu Münster, das ihnen eine neue Landfolge aufdringen wollte, um
1700: „weswegen wir supplicanten Saijterländer mehrerer Fueg und Ursach
haben, von söhlcen jure sequelae exempt zu sein, gestalt das wir oder vielmehr
unseres Saijterlandt annoch zu der Grafschaft Tecklenburg gehörig gewesen,
nach Ahnleitung adiuncti undt dahbeij sub No. 2 erfindtliches Extractus des
uhralten Tecklenburgischen in der Archive dahselbsten obhandenen Legerbuches
jederzeit für Charle frije Fresen gehalten . . .“ „. .. . dasz uhraltes archivium
Tecklenburgicum dahrthuet, dasz wir für Charle fr eye Freesen von mehr
dan dreij hundert jahren gehalten . Und dann folgen jene Extractus
(Hettema a. a. 0. S. 312 ff.), in denen es heisst: „. . . alte Protocolla, Vor-
zeigung und Register Saderlandt und dasige Ohrter betreffend wiederum fleissig
nachgeschlagen und befindet sich dieses und nicht anders darein alsz alszo:
Das Saterland.
247
die Charles fr ei je Freesen im Saderlandt am Grafenschatz 41l2 Tonne
Botter“. Dieser Name erst scheint zur Aufnahme des Bildes Karls des
Grossen in das Wappen geführt zu haben, und gerade darum ist die oben
mitgeteilte Ansicht Richtliofens, dass unter Sagelten die Scharreier nicht
einbegriffen seien, höchst unwahrscheinlich. Der Yerknüpfung mit dem
Namen Scharrel wird es auch zu danken sein, dass die Gestalt Karls in
der Sage bewahrt ist; gerade in Scharrel ist das der Fall. Dort erzählte
mir „der alte Grip“:
„In det Lörjhoher mer twischen den Ämzegöö un Fängoö der iz det sched, -
der schel noch en sten dnstönde, der schel det whpen noch opstönde fon Kärel
der Gröse. Nu gurjt det sched fon drrüt det ölde jöp eter bet tö de röde ride,
un dan gugt et fon de röde ride eter Selter pöl,“ d. h. die Grenze geht dem
alten Tief nach bis zur roten Riede und von da bis zum Sater Meer.
Damit ist wohl die alte Grenze zwischen Emsigö und Fenkigö be-
zeichnet; für eine infolge der vielen späteren Grenzstreitigkeiten gemachte
Erfindung möchte ich es nicht halten.
Dass Friesen ihr Heimatland verlassen und fremde Gegenden besiedelt
haben, dafür giebt es viele Beweise — man denke an die Kolonisation
Nordfrieslands, des Wurster und des Stedinger Landes. Anlass zur Aus-
wanderung haben wohl meistens die grossen Fluten gegeben, die den
Küstenbewohnern ihr Land raubten. Und so ist sehr wohl möglich, dass
die, welche der Einbruch des Dollart im Jahre 1277 heimatlos gemacht
hatte, die Ems aufwärts fahrend, sich neue Wohnsitze gesucht haben.
Auffällig bleibt allerdings, dass sie gegen das fette Marschland unfrucht-
bare Sandstrecken eingetauscht haben sollten; aber ihnen war dort ein
engerer Zusammenhang mit der alten Heimat ermöglicht. Auch kennen
wir andere Fälle, wo Friesen auf der Geest im Binnenlande Nieder-
lassungen gegründet haben und zwar auf westfälischem Boden1). Dass
1) Ich begnüge mich mit urkundlichen Angaben; andere Beweise gedenke ich später
einmal mitzuteilen. Zeugnis für die Ansässigkeit von Friesen in den Moorgegenden des
Dümmer Sees ist eine von Otto von Braunschweig 1318 ausgestellte Urkunde: „nos con-
tulimus nobili viro domino Rodolfo de Depholte bona et praedia infrascripta ad plieodum
nostrum spectantia videlicet comitiam Wisch fr is onum et advocatiam duarum curtum sitarum
in Drebbere . . . Item bona in Haldum in parocliia Dilingen.“ Mit den hier vereinzelt er-
scheinenden Wischfriesen können nicht etwa Friesen in ter Wisch an der Ruitenaa gemeint
sein, denn diese können nicht zu Braunschweig gehört haben; auch spricht die Zusammen-
stellung mit Drebbere und Dilingen dagegen. — In Westerwald wird Mitte des 12. Jahr-
hunderts Vreschenlo (Loo 1306, heute Yriescheloo) erwähnt. — In einer Urk. von 1238 wird
in der Gegend von Meppen „Vrysenberg (et Frysiam et omnia hiis atlinentia)“ erwähnt.
— 1226 heisst es in einem Teilungsvertrage zwischen den Brüdern Otto und Ludwig-
Grafen von Ravensberg: „omnes Uli Frysones, gui manserint in cometiis comitis Lodewici, illos
habebit, religuos omnes habebit comes Otto, gui venerint de sua Frisia ab alia parte.“
Friesische Ansiedlungen in der Gegend von Beckum zwischen Liesborn und Lippe werden
durch eine Urkunde 1276 wahrscheinlich gemacht: „agri et silvae ab orientali via exteriori
guae vulgo dicitur Vresenewech versus plagam occidentalem libere relinguentur ecclesiae
Lesbernensi et silvae ex ea parte praedictae viae guae dicitur Vresenewech versus plagam
248
Siebs:
gerade der grosse Einbruch des Dollart vom Jahre 1277 zur Besiedlung
des Saterlandes Anlass gegeben habe, lässt sich deswegen nicht mit
Sicherheit behaupten, weil schon für die Mitte des 13. Jahrhunders eben
im Emsgebiete friesische Siedlungen nachweisbar sind. Man darf nicht
vergessen, dass auch zu Anfang des 13. Jahrhunderts, namentlich in den
Jahren von 1218 bis 1221 furchtbare Sturmfluten das ostfriesische Küsten-
land verheert haben.
III. Recht und Verfassung; kurze geschichtliche Angaben.
Aus den oben mitgeteilten Urkunden ist zu entnehmen, dass die
comitia Sigheltra, die um 1238 im Besitze des Grafen von Tecklenburg
war, 1252 nebst der curia Oythe an das Bistum Münster verkauft ward;
späterhin aber ward diese Übertragung für ungiltig erklärt, und jene Be-
sitzungen blieben bei Tecklenburg. Ob und inwieweit auch das Gebiet
des heutigen Saterlandes dieser Oberherrschaft untergeben war, ob und
inwieweit die Tempelherren, denen Bokelesch gehörte, und nach 1312 die
Johanniter eine Schirmherrschaft ausübten, ist nicht zu sagen; sicher ist
nur, dass es kurz vor 1400 dem Grafen Nikolaus von Tecklenburg eigen
war und dass dieser, nachdem er 1393 von den Bistümern und Städten
Münster und Osnabrück besiegt worden, alle seine Besitzungen im Amte
Cloppenburg und im Emslande 1400 an das Bistum Münster abtreten
musste, darunter „an Sagelterlande und an den Scharlevresenii (siehe oben
S. 246). Und münsterisch blieb das Saterland bis zum Jahre 1803.
Yon seiner älteren Geschichte ist uns wenig bekannt. Vielleicht hat es
unter den Fehden der Bischöfe von Münster mit den Ostfriesen und mit
den Grafen von Oldenburg manches zu leiden gehabt. Ubbo Emmius
(Hist. Fris. decas III S. 401) sagt: „Nec morati Frisii, ne quid inultum
relinquant, in Sageltanos, qui ad Ledam palustri in solo habitabant, Frisici
quidem generis, sed a plurimis jam annis episcopo Monasteriensi facta a suis
secessione parentes, hostiliter incurrunt atque omnem eorum agrum nemine pro-
hibere auso urendo et populando quam maxime vastum faciunt.“ Urkund-
liches ist uns über diesen Einfall der Ostfriesen im Jahre 1493 nicht
überliefert. Abgesehen davon, dass die Saterländer von Zeit zu Zeit
Mannschaften zu den münsterischen Truppen stellen mussten, scheinen sie
von den Fehden und Raubzügen, die im 15. und 16. Jahrhundert die
Ämter des Münsterlandes hart betrafen, wenig gemerkt zu haben: durch
ihre Lage waren sie geschützt. Schwer aber hatten sie im dreissigjährigen
Kriege zu leiden, denn im Winter 1622/23 zog Graf Mansfeld mit seinen
Scharen raubend und plündernd auf den gefrorenen Moorwegen durch das
orientalem tam civibus Lippensibus quam ecclesiae Lesbernensi ad pascua communia
relinquentur. “
Das Saterland.
249
Saterland nach Ostfriesland. Bis auf den heutigen Tag lebt der gefürchtete
Name der Mansfelder im Munde des Yolkes. Im Jahre 1672 hatte das
Land einen Rauhzug der holländischen Besatzung von Burtange zu er-
dulden. Im siebenjährigen Kriege blieb es verschont, nur musste es zu
den Kontributionen beitragen, die vom Münsterlande zu leisten waren.
Yolle vier Jahrhunderte hatte es die Schicksale des Bistums geteilt; als
dieses im Jahre 1803 seiner Selbständigkeit verlustig ging, ward das Sater-
land mit anderen Gebieten im Reichsdeputationshauptschluss dem Herzog-
tume Oldenburg als Entschädigung für den aufzuhebenden Weserzoll zu-
geteilt. Mit Oldenburg ward es durch das Senatskonsult vom 13. Dezbr.
1810 dem französischen Kaiserreiche einverleibt, nach Befreiung Deutsch-
lands von der Fremdherrschaft aber an Oldenburg zurückgegeben.
Wenn auch das Land von Kriegen, die das Nachbargebiet betrafen,
manchmal verschont geblieben ist, so hat es doch immer viel Kampf und
Streit gegeben. Namentlich die Scharreier lagen oft mit den Lorupern
und mit den Bewohnern von Wrees und Werelte am Hümmling in Grenz-
feliden, die zu langen Verhandlungen mit der bischöflichen Regierung
führten. Die waren überhaupt nichts Ungewohntes, vielmehr ist die ganze
Geschichte des Ländchens eine Kette von Protestationen gegen die Mass-
regeln der Oberherrschaft. Die Saterläncler beriefen sich stets auf ihre
Verfassung des freien Dorfes, die ihnen wohl damals, als die Friesen
das Land besiedelten, nach dem Muster anderer Dörfer zugestanden war.
Die Grafen von Tecklenburg scheinen eine Art Schirmherrschaft geübt zu
haben, während die drei Dörfer als eine einzige Dorfmarkgenossenschaft
ihre genossenschaftlichen Beamten beibehielten. So blieb es auch lange
Zeit, nachdem das Land an einen geistlichen Grundherrn, den Bischof von
Münster, abgetreten war. Dem Dorfregimente lag es ob, die Angelegen-
heiten der ungeteilten Mark — vor allem des Moores — mit den ver-
schiedenen Nutzungsrechten zu verwalten und die Feld-, Gewerbs- und
Ortspolizei auszuüben; ferner stand bei ihm die Rechtspflege und die Ver-
tretung nach aussen. Dieses Dorfregiment ward von den vollberechtigten
Dorfmarkgenossen gebildet, d. h. von den Inhabern eines eigenen Herdes.
Sie kamen alljährlich am Fasnachts-Dienstag (s. Gebräuche V) auf dem
Kirchhofe in Ramsloh zusammen und wählten dort, auf zwei Jahre zu-
nächst, die zwölf Burgemeister (burgemestere), für jedes Kirchspiel vier.
Von denen mussten nach Jahresfrist sechs, durften jedoch alle abdanken.
Sie wurden in der Regel „die Zwölfe“ genannt. Interessant ist, dass Hoche
(a. a. 0. S. 165) hierfür den Namen „Äsen“ angiebt. Wir dürfen dabei
keineswegs an ein Missverstehen des afrs. Wortes attha „Geschworener“
denken, sondern wir können an afrs. clsega anknüpfen1). Sodann gab es
1) Herr Professor Heck in Halle hat die Güte gehabt, mich gesprächsweise auf
diesen Zusammenhang aufmerksam zu machen. Derselbe hat darum garnichts Befremdliches,
250
Siebs:
sechs schutemestéré, welche das Amt der Feldhüter und zugleich das der
Eichmeister (jkemestere) bekleideten. Sie waren untergeordnete Gemeinde-
beamte; ihren Namen verdankten sie der Obliegenheit, das Vieh zu
„schütten“, d. h. pfänden (ags. scyttan, afrs. sketta, mnd. schütten). In einem
jetzt auf dem grossherzoglichen Archive zu Oldenburg befindlichen Rechts-
buche, das am 24. Januar 1587 von den Eingesessenen des Saterlandes
vereinbart und dort aufgezeichnet ist, sind „Ordnung oder articulen für
Schuttemeisters up das Saterland nach ehren uhralten gebrueck und gerechtig-
keiten“ niedergelegt. In diesem „Sagterlandes Gerecht“ wird den
Schüttemeistern zur Pflicht gemacht, die Masse und Gewichte zu bewahren,
darnach zu eichen und durch eine zeitweilige Revision (wröge) dafür zu
sorgen, dass im Lande weder von Auswärtigen noch von Einheimischen
nach anderem Masse und Gewichte verkauft werde. Sie haben ferner auf
die Einschätzung und auf die Abgaben zu achten; drei- oder viermal im
Jahre Umgang zu halten, oh ein jeder mit der nötigen Bewaffnung ver-
sehen ist; zu sorgen, dass an Sonn- und Feiertagen während der Predigt
kein Bier verzapft werde; die Bierpreise nach dem Preise von Gerste,
Malz und Hopfen zu bestimmen (die Preise der übrigen Lebensmittel
wurden nach Witten, d. h. Weisspfennigen auf Grund der jeweiligen zu
Leer geltenden Preise festgestellt). Die Brüche (breke) für Zuwider-
handlungen bestand in der Lieferung von Bier, das die Leute im eigenen
Hause zu brauen pflegten. Die Masse und Gewichte, nach denen die
Schüttemeister eichten, wurden zusammen mit dem Archiv in der Rams-
loher Kirche aufbewahrt. Sie befanden sich in der hölzernen lóndkisté, die
mit drei Hängeschlössern versehen war; zu je einem derselben hatten die
vier Burgemeister jedes Kirchspiels gemeinschaftlich einen Schlüssel, so
dass die Kiste nur in ‘Gegenwart von Vertretern aller Gemeinden geöffnet
werden konnte. Die Masse und Gewichte (dö mete un dö weckten), die nur
auf kurze Zeit beim Umgang der Wroge entnommen werden durften, waren
schepel (Scheffel), fiödep (d. i. plattd. ferup, wohl = fiöde höp „der vierte
Haufen“ = 1/i Tonne), krüs (Kanne, eig. „Krause“), meyel (1/2 Kanne), * 13
weil das Wort asega durch Urkunden, die das Jeverland betreffen, bis zur Mitte des
15. Jahrhunderts bezeugt ist. Prof. Heck hat mir in gütigster Weise Einsicht in bisher
noch ungedruckte Urkunden gestattet, die er dem grossherzogl. Archiv zu Oldenburg ent-
liehen hatte — ich spreche ihm hierfür sowie für viele wertvolle Bemerkungen zu diesem
Kapitel meinen herzlichen Dank aus. Es finden sich folgende höchst lehrreiche Stellen:
29 Aug. 1348 Hayo Harles und Lubbe Onneken verpflichten sich zum Schutze der
alten Freiheiten und Rechte. Sie wollen richten „na lüde des laut rechtes
unde azege hohen.“ In demselben Jahre: „antworden na asigheboke unde
lantr echte“. Vgl. Schiller-Lübben, Mnd. Wb. I, 133.
13. Aug. 1439 „so scholen se neuen to hülfe de aseghe van beyden lande“. Vgl. asige,
asge, asing-, ase- mnd. Wb. I, 133.
24. Juni 1440 erscheint der asega wie im Saterlande als „aze“. Es heisst „antworden
na lüde des azebokes unde lantrechtes.“ Vgl. die Formen Richthofen, Wb.
S. 608 ff.
Das Saterland.
251
holten triächter (hölzerner Trichter), eine (Elle), enster (vgl. afrs. ense Unze;
eine Unzenwage mit verstellbarem Gewicht an dem einen Wagebalken =
ndl. unster). Ferner enthielt die Landkiste das (S. 244) erwähnte metallene
Siegel, einen Eichstempel ([fJcirzen) und das gesamte Archiv, bestehend aus
Briefen und gerichtlichen Akten, aus den Rechten der Schüttemeister und
dem obengenannten Sagelter Landrecht. Das Yorhandensein aller dieser
Stücke ist noch durch eine Revisionsurkunde vom 20. August 1812 bezeugt.
Am 23. Dezember desselben Jahres aber wurden die Masse und Gewichte
— während der französischen Okkupation — durch den damaligen Maire
Heidhaus auf Befehl des Unterpräfekten Eisendecher im Bezirk Quaken-
briiek versteigert und von Saterländern für 28 fres. 28 cents. angekauft.
Das Siegel ging verloren. Das Schüttemeistersbuch und das Landrecht
wurden in der Mairie von Ramsloh niedergelegt; ersteres kam später
gelegentlich eines Prozesses nach Oldenburg, letzteres kam ebendahin
auf das Landesarchiv, doch ward eine Kopie in Ramsloh bewahrt. Es ist
das wichtigste Aktenstück des Saterlandes. Wir lernen daraus, dass um
1587 die Jurisdiktion noch in den Händen der Burgemeister war. Die
Grundlagen der Rechtspflege, die den Zwölfen oblag, sind in 18 Artikeln
ausgesprochen, deren Hauptinhalt folgender ist: 1. Die Parteien müssen
zwei im Lande rpfahlfeste Bürgen stellen und sich zur Tragung der Kosten
verpflichten für den Fall, dass sie den Prozess verlieren; 2. Acht Tage vor
dem Termin müssen die Zwölfe von der Kanzel herab benachrichtigt werden,
der Beklagte jedoch durch den Kläger; 3. Der Kläger muss die Klage schrift-
lich einbringen, und dem Kläger geht, damit er seine Verteidigung verfassen
kann, eine Abschrift zu; 4. Die Urteilsfindung geschieht am Sonntage; den
Erbgesessenen des Landes wird das Erkenntnis vorgelegt; es wird von ihnen
eventuell untersiegelt (Gebühr 1 ortrik); 5. Die Parteien verpflichten sich, bei
der Verhandlung weder mit Worten noch thätlich sich aneinander zu vergreifen,
bei Brüche von 5 Goldgulden bezw. Pfändung; 6. Die Richter sind unverletz-
lich, bei Strafe von 10 Goldgulden; 7. Die Zwölfe sind mächtig des dritten
Teiles der Landesgerechtigkeit; 8., 9. Ausbleiben eines Richters oder einer Partei
bei der Verhandlung ist strafbar (echte Nöte ausser Krankheit werden nicht
angeführt); statt eines fehlenden Richters kann aus dem betreffenden Kirchspiele
ein Ersatzmann gewählt werden; 10. Die Zwölfe müssen das Urteil bis zur
Veröffentlichung geheim halten, bei Strafe der Abdankung und zwei Tonnen
Bieres; 11. Zur Veröffentlichung des Urteils muss jeder Hauswirt erscheinen,
bei Strafe einer Tonne Bieres — die Hälfte gehört in solchen Fällen den
Zwölfen, die Hälfte dem Lande — bezw. bei Pfändung; wir haben hierin, wie
mir Herr Professor Heck gütigst mitteilte, wohl eine Spur der allgemeinen
Dingpflicht zu sehen; 12.—18. behandelt die allgemeinen Pflichten der Richter
und die Gerichtsgebühren.
Aus Recht und Verfassung lassen sich nur wenige sichere Schlüsse
auf die Abstammung der Saterländer ziehen. Wo wir Übereinstimmung
252
Siebs:
mit ostfriesischen Einrichtungen finden, ist direkte Entlehnung nicht immer
mit Gewissheit anzunehmen, weil Ostfriesland manche Institutionen mit
Westfalen und anderen sächsischen Gebieten gemein gehabt hat. — Das
saterländische Landmass älterer Zeit scheint westfälisch zu sein: 1 Scheffel-
saat (schepels^d) zu 4 Viertel, das fiärdel zu 4 Ringen (rirj ist hier „Bezirk“,
d. h. dessen Ertrag; es ist auch das Stück Moores, auf dem ein „Ring Torf“
gestochen werden kann, vgl. unten Kap. VIII). Die Münze ist der ost-
friesischen gleich: 1 ostfrs. Gulden (2/3 fl- holländ.) = 10 Schäpe = 20 Stüber
= 200 Witte (Weisspfennige); 1 Ortrik (Örtje) = 1/4 Stüber; 1 ostfrs. Daler
= V/2 ostfrs. Gulden; 1 Reichsort = 1/i Reichsthaler = 30 Stüber; 1 Schäp
= 11V9 Pfg. unserer heutigen Reichswährung; seit 1651 galt ein Thaler
= 27 Schäpe = 3 Mk. Im Saterlande sowie in Friesoythe war infolge des
Handelsverkehrs die Leerer Münze in Gebrauch, während in Münster und
Osnabrück nach Reichsthalern, Schillingen und Groschen, in Oldenburg
nach Reichsthalern, Schillingen, Stübern, Groten, Ortjes und Schwären
gerechnet ward. Ebenso sind auch die Masse und Gewichte, welche für
den saterländischen Handel in Frage kommen, aus Ostfriesland entlehnt:
es heisst im Schüttemeistersbuch „item alles nach Lehrei* mathe und gewechte
wie allhier im Saterlandt gebrücklich isz“ u. s. w. Auch sind die erwähnten
Bezeichnungen enster und fiödep durchaus friesische Formen. Rein friesisch
auch wäre der Name „Äsen“, den wir oben erklärt haben; die Benennung
„burgemestere“ für die Gemeindevorsteher aber scheint aus dem west-
fälischen Gebiete zu stammen: hier findet sie sich oft, während das frs.
burgamastere allerdings in Westfriesland vorkommt, im Ostfrs. in älterer
Zeit jedoch nicht bekannt ist (statt dessen erscheint z. B. bürclldirmon
Altermann). Während aber in Ostfriesland das Amt unter den Herd-
besitzern jährlich der Ordnung nach wechselte1), wurden im Saterlande die
Bürgermeister gewählt, wie es in Westfalen Sitte war. Durchaus un-
friesisch ist auch die Sprachform „schutemestere“ (vgl. afrs. sketta, skettere),
ist aber in westfälischen und überhaupt in niederdeutschen Gegenden für
den Begriff „Feldhüter“ bezeugt; auch in Ostfriesland findet sich frei-
lich das Amt der „Schüttemeister“, doch hat es hier eine veränderte Be-
deutung2). Ausserdem gab es noch die bvrriuchler (Bauernrichter oder 1 2
1) Ursprünglich ward der äsega in Ostfriesland gewählt, vgl. Küre 3 Rechtsqu.
S. 4 [Heck].
2) Es sind hier die Aufseher über die „Absperrung“ der Wasserwerke (Schottwerke).
In den „Ostfrs. Mannigfaltigkeiten“ II, 151 heisst es „Schüttemeister, in den Städten auch
Schütten Richter, Schütten Hoftlinge; schon vor dem Jahre 1567 waren diese in Emden
bekannt, diese mussten die Aufsicht über den Schiessgraben führen, die Bürger im Schiessen
üben, Grenzstreitigkeiten entscheiden, die Strassen rein halten, für Abwässerung sorgen,
die Baupolizei führen, Immobilien-Verkäufe beaufsichtigen, über den Torf- und Brennholz-
Verkauf Aufsicht führen, den Syl in Emden im Stande halten und für Reinlichkeit der
Stadtbrunnen sorgen.“ Hier also sind die Funktionen der Grenzwächter und Feldhüter
mit der des Wasserschütters vereinigt, und später scheint in Anknüpfung an ostfrs.-plattd.
Das Saterland.
253
Ortsrichter), denen aber keinesfalls, wie der Name es vermuten lässt, eine
juristische Funktion oblag. Das Amt wechselte jährlich unter den Haus-
besitzern, von denen je vier im Dorfe darauf zu achten hatten, dass das
bürriucht befolgt wurde, d. li. dass die Bauern ordnungsmässig zur Gemeinde-
arbeit an Wegen u. s. w. herangezogen würden (man nennt das „wi möute
in de mente“ wir müssen an die Gemeindearbeit). Die Form bürriuchter
ist gut friesisch; weil uns aber jener Name im eigentlichen Ostfriesland
nicht bezeugt1) ist, kann er möglicherweise eine Nachbildung der in
Westfalen üblichen Bezeichnung „burrychter“ sein (G. L. v. Maurer, Gesch.
der Dorfverfassung II, 25. 27. 62, speciell für das Stift Münster, vergl.
D. Weistümer III, 27. 28). — Endlich das „Sigillum parochianorum in
Sagelten“ (s. oben S. 244) wird von den Kirchspielseingesessenen
geführt, weist also nicht etwa auf die Einrichtung der „Kerkrade“ hin,
die je einer für das Quartier eines Kirchspiels als Verwaltungsmänner
gewählt wurden und ein Kirchensiegel führten. — Fassen wir diese
Erörterungen kurz zusammen, so ergiebt sich, dass Recht und Verfassung
weder als friesischen noch als sächsischen* 1 2) Ursprunges zu erweisen sind,
vielmehr stützen sie in allen Punkten die oben erörterte Ansicht von der
Mischung friesischer und sächsischer Einflüsse.
Es war also die Verfassung des Saterlandes die des freien Dorfes;
aber über seiner Regierung stand eine Oberherrschaft: in früherer Zeit
die Grafen von Tecklenburg, späterhin die Bischöfe von Münster. Die
schütter = Schütze das Amt des Schützenmeisters hinzugekommen zu sein; vgl. Minssen,
Frs. Arch. II, 191 der noch die jetzt verschwundene Form schetere (sgettere) verzeichnet.
Darnach Bremer, Paul-Braunes Beitr. XVII, 336.
1) Nur in Langewold, Vredewold, Humsterland (Ommelande), also nicht in Fries-
land östlich der Hunse. Schwerlich wird man das Gegenteil aus einer Stelle der „Ostfrs.
Mannigfaltigkeiten“ (II, 251) folgern können, wo es sehr ungenau heisst: Jede Gemeinde
wählte jährlich ihre Vorsteher, die vorzüglich die Polizei- und Militär Sachen verwalten
mussten; sie hiessen Bauerrichter, Kedden, auch Schüttemeister. — Das afrs. ked(d) plur.
kedclar kann keinesfalls, wie Richthofen im Wörterb. (vgl. auch Bremer, Paul Braunes
Beitr. 17, 321) behauptete, mit ketha „verkünden“ zusammengestellt werden; es bedeutet
meines Erachtens „Sprecher“ und weist auf einen germ. Stamm *kudja- zurück, welcher
die Tiefstufe der in afrs. kwetha ags. cweftan enthaltenen Wurzel repräsentiert. Hiermit
ist wohl auch der in ags. Urkk. überlieferte Eigenname Cydda (germ. *kudjan-) zu ver-
gleichen.
2) In den „Mitteilungen des histor. Vereins zu Osnabrück“ VI, 197 heisst es: „Die
Saterländer sind nach Sprache, Bauart, Lebensweise und Rechtsinstituten den Friesen nicht
zuzuzählen. In letzterer Hinsicht ist ein Bericht Suurs (Klöster) beweisend: Im Jahre
1463 gab Hermann ter Molen, geschworener Richter zu Oite, den Richterstab in der Hand
haltend, mit seinen Kürgenossen den Ausspruch, dass einer der ältesten Brüder des
ostfrs. Klosters Langen das von demselben in Anspruch genommene Moor begehen und
schwören solle, wie weit das Eigentum des Klosters gehe. Kür genossen sind keine
friesische, sondern eine echt westfälische Einrichtung, und daraus folgt, dass das Gerichts-
wesen im Saterlande sächsisch war “ Der Beweis mag an sich gelten, leider aber nur bis
auf den Punkt, dass Oyte nicht zum Saterlande gehört und dadurch die ganze Erörterung
überflüssig wird.
254
Siebs:
Grafen scheinen sich um das Schicksal des Ländchens wenig gekümmert
zu haben, wofern ihnen nur die Abgaben (stl. sehet, ndd. schatt) richtig
eingeliefert wurden. In einer Cloppenburgischen „Amtsrenteyrechnung“
vom Jahre 1585/86 steht: „Item die semptlichen Einwohner des Sagaterlandes
geben Jarlichs an Buttern, welche ein Grauenschatz genannt wirt, damit sie
Dienst und aller Pacht gefreiet, und dieselbige zu Phryßoytha auf die Wage zu
lieffern schuldig seyn, nemblich 41/2 Fass“ (— 1350 Pfund). Jener Butterschoss,
der schon in einer Amtsrenteirechnung von 1472 kurz erwähnt wird, und
ebenso ein in späterer Zeit (ohne Jahreszahl) genannter Tribut von 95
(d. h. Thaler) pro Monat reichen also in das 15. Jahrhundert zurück; ja der
Name „Grauenschatz“ kann als Beweis gelten, dass er schon der Tecklen-
burgischen Herrschaft entrichtet ward. Hettema und Posthumus (S. 238)
nennen ihn grewerschet, also „Gräberschatz“. Das stl. gréue war durch das
deutsche „graf“ verdrängt worden und ward, zumal unter der bischöflichen
Oberherrschaft, nicht mehr verstanden; man dachte wohl an eine Abgabe
für Torfgräberei (grèyer der Torfgräber), und die volksetymologische Um-
gestaltung des Wortes hat sich bis heute erhalten. Mir ward auf meine
Frage darnach die Antwort: „greversehet iz nü nit mö“ („G. giebt es nun nicht
mehr“'). — Im Traktat von den Seelanden (1417) heisst es: „Segelterland iout
tribuet ende schat den biscop fan Munster“. Tom Bischof ward zur Erhebung
dieser Abgaben ein Yogt eingesetzt, der vom Saterlande unterhalten werden
musste: ein solcher wird 1585 zuerst genannt, ’’Späterhin ward ihm die
Oberaufsicht über das Land, die Erhebung der Abgaben aber einem
Receptor übertragen. Bis heute hat sich das Amt des Yogts erhalten, doch
umfasst es jetzt nur die Yerwaltung der säkularisierten Kommendegüter.
— Die miinsterische Regierung war bemüht, das Land nach Kräften aus-
zubeuten und die Privilegien hinwegzuräumen. Ausser dem regelmässigen
Schoss wurden ausserordentliche Gelder erhoben, mit denen die Sater-
länder zu Kriegskontributionen herangezogen wurden; die wichtigsten ihrer
alten Yorrechte aber wurden genommen durch den Zwang der Landfolge
und durch die Aufhebung des eigenen Gerichtswesens. Als freie Unter-
tanen hatten sie früher nur im Falle dringender Gefahr Beihilfe zur
Landesverteidigung leisten müssen; kurz nach dem dreissigjährigen Kriege
aber setzte der Bischof Christoph Bernhard eine geordnete Landesverteidi-
gung durch: in jeder Gemeinde musste ein Anführer erhalten werden, der
die wehrfähigen Männer in den Waffen zu üben hatte; Gewehr und Säbel
musste sich ein jeder selbst beschaffen, und ein Tambour ward aus der
Gemeindekasse besoldet. Solche Neuerungen fanden wenig Anklang. In
Petitionen, Denkschriften und Prozessen sträubte man sich gegen diese
Lasten und beanspruchte Stadtrechte, gleiches Recht mit dem benachbarten
Friesoythe. Bisweilen werden die ältesten Einwohner des Landes als
Zeugen für die alten Privilegien vernommen. Solchen Prozessen ist wohl
Das Saterland.
255
die Erfindung von Traditionen wie „Charles freie Friesen“ (s. o. S. 246)
zu danken, und vielleicht ist auch die Aufstellung des gesamten Sagter-
landes Gerechtes von 1587 nur zur Opposition gegen die von Münster be-
fohlene Änderung des Gerichtswesens geschehen. Ursprünglich war das
Saterland einem Gaugerichte untergeordnet, wahrscheinlich dem Gogericht
auf dem Hümmling, welches schon 1335 erwähnt wird: „Wi Otto von Dothe
hebbet vorcoft unde vorcopet usse ghogherichte uppen Homelyngen mit al den
rechte de dat us usse vader heft gheerft..........deme Edelen manne greue
Nycolausse van Tekeneborgh.“ Dieses Gogericht scheint auch für die
Dorfgerichtsbarkeit des Saterlandes die höhere Instanz gewesen zu sein,
bis alle diese Institutionen durch Einführung der münsterischen Hof- und
Landgerichtsordnung im Jahre 1571 vernichtet wurden. Zwar ist wohl die
Regierung anfangs nicht allzu streng vorgegangen, indem es die in hohem
Ansehen stehenden Gogerichte allmählich einschlafen liess und bei dem
Gerichte zu Friesoythe, das für die Saterländer anstatt des eigenen Dorf-
gerichtes zuständig ward, zwei Schöffen auf Lebenszeit anstellte. Bald
aber war jede Spur der freien Gerichtsbarkeit getilgt; eine leise Erinnerung
an das alte Gogericht kann man darin sehen, dass sich noch zu Anfang
des 18. Jahrhunderts Raban Wilhelm Diivell (1701 — 1723) „Richter in
Friesoyte und Gograf im Saterlandeie nennt. Und wie die freie Gerichtsbar-
keit, so sind alle Privilegien den Saterländern im Laufe der Zeiten ge-
nommen worden: Einiges von dem, was die miinsterische Regierung be-
lassen hatte, nahm ihnen die oldenburgische zu Anfang dieses Jahrhunderts;
durch das französische Kaisertum wurden vollends alle Freiheiten hinweg-
geräumt und später, als die oldenburgische Gemeindeordnung wieder ein-
geführt ward, nicht restituiert. Sogar die in so manchen Gemeinden als
ein Recht der Markgenossen bewahrte freie Jagd und Fischerei ist auf-
gehoben; nur der Bienenfang ist unbehindert. Alles in allem unterscheidet
sich die Yerfassung des Saterlandes heute nicht von derjenigen der übrigen
Gemeinden des Grossherzogtums Oldenburg.
Yon den kirchlichen Yerhältnissen haben wir erst aus später Zeit
genauere Kunde. Ob die Tempelherren und dann die Johanniter zu
Bokelesch, deren alte Kapelle noch erhalten ist, in irgend welcher kirch-
lichen Beziehung zum Saterlande gestanden haben, ist nicht erwiesen, jedoch
ist es wahrscheinlich. Aus dem nächstältesten Bauwerke, der Kirche zu
Ramsloh, ist wenig zu erschliessen. Es ist ein Backsteinbau, der wohl
nicht über das 15. Jahrhundert zurückreicht. Die Westseite ist mit einem
niedrigen Turme geziert, in dem die Glocken hängen. Schmucklos wie
das Äussere ist auch das Innere der Kirche, das durch kleine Schiess-
scharten ähnliche Fenster nur matt erhellt wird. Weit jünger noch ist die
Kirche zu Scharrel; die Strücklinger behelfen sich mit einer Kotkirche.
Kirchen und Friedhöfe bieten kein Interesse. Die einzigen Zeugnisse, die
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. Jg
256
Siebs:
einen historischen Wert besitzen, sind Glockeninschriften1), welche einen
Schluss auf die Erbauungszeit der Kirchen gestatten. Die beiden Momente:
dass der älteste Kirchenbau schwerlich über das 15. Jahrhundert zurück-
zudatieren ist, und dass die älteste Glocke aus dem Jahre 1427 stammt,
können unsere Ergebnisse betreffs der Kolonisation nur stützen (vgl. S. 244).
So sehr sich die Saterländer manchmal gegen die weltlichen Regierungs-
massregeln des Bistums gesträubt haben, sind sie doch seit zwei Jahr-
hunderten treue geistliche Untertanen gewesen. Die kirchliche Entwicke-
lung ist in ihrem regelmässigen Gange nur für kurze Zeit durch die
Reformation unterbrochen worden. Yon deren Bedeutung gewinnen wir
kein klares Bild, da alle Berichte von parteiischer, streng katholischer
Seite stammen. Nieberding (a. a. O.) erklärt, dass die Bewohner durch
rohe Gewalt von den Mansfeldern im Jahre 1623 zum protestantischen
Glauben gezwungen worden seien. Aber dem widerspricht einmal, dass
es doch nicht möglich gewesen wäre, dem Yolke während des kurzen
Durchzuges der Truppen erfolgreich eine neue Religion aufzuzwingen;
ferner ist erwiesen, dass schon im 16. Jahrhundert die Reformation be-
gonnen hatte, und dass 1609 Scharrel, 1613 alle drei Kirchspiele einen
protestantischen Geistlichen hatten. Fanatische Schilderungen berichten,
dass die Saterländer durch den Protestantismus völlig verroht waren, und
dass erst 1670 dem Jesuitenorden gelungen war, die „semibarbara Sater-
landia“ zum alten Glauben zurückzuführen (Diepenbrock, Gesch. des vor-
maligen Amtes Meppen S. 357 ff., 364 ff.). Heute sind die Saterländer —
abgesehen von den protestantischen Besiedlern der zu Strücklingen gehörigen
Kanalbau-Kolonieen — fast alle katholisch1 2). Die Kirche führt insofern
die Aufsicht über das Schulwesen, als dem Pfarrer die Inspektion über
die Schulen seiner Gemeinde zusteht; die nächsthöhere Behörde ist der
Kreisschulinspektor in Yechta. Bei dieser engen Yerbindung von Kirche
1) Auf der grossen Glocke in Scharrel steht geschrieben: „Mater mea, cui nomen
erat „Jesus, Maria, Lucas, Marcus, Matthaeus, Johannes, Gott“ nata est anno 1427 et mortua
1843, in quo anno ego Petronika Paulina nata sum sub pastore Oldenburg.“ Die alte In-
schrift der „mater“ wird (so meint auch Minssen in schriftlicher Mitteilung) gelautet haben
„goten 1427“, und das ist vom Giesser der neuen Glocke missverstanden und durch „gott“
wiedergegehen worden. Wir dürfen nach jenen Worten vermuten, dass Scharrel erst zu
Anfang des 15. Jahrhunderts ein selbständiges Kirchspiel geworden ist. Die Umschrift der
alten Strücklinger Glocke, welche jetzt geborsten im Turme liegt, lehrt uns, dass das
Kirchspiel im 16. Jahrhundert Utende hiess: „Maria ik hete, dat karspel to üetende het nd
laten gheten anno MDX1V. her aigelt eilerdt to Boldinck, wilden iber to Servken, eilerd to
noerende, bartolt Klwobe de mi ghaten hat.“ In Kamsloh sind zwei Glocken. Auf der älteren
liest man: „Anno Domini 1487 tempore domini roberti curati in Raemslo me fecit Tornas de
Damone“; auf der jüngeren: „maria bin yck gebeten de van rarnelslo hebben my laten ghyten
anno 1747. daer by goet ghert van wor my“.
2) Daher kamen 1890 in Strücklingen auf 1284 katholische Einwohner 823 anders-
gläubige, in den drei anderen Gemeinden aber auf 2088 katholische nur 20 andersgläubige.
Über den Protestantismus im Saterlande vgl. Hoche a. a. 0. S. 175 ff.
Das Saterland.
257
und Schule*) und bei dem durchaus einheitlichen Bekenntnisse ist begreif-
lich, dass die Leute streng kirchlich sind und der Einfluss der Geistlichen
sehr gross ist. „Di pestöur het kweden“ (der Pastor hat gesagt) bedeutet
ein Gebot. Stets aber habe ich grosse Duldsamkeit gegenüber den Pro-
testanten gefunden: die Frage des Auftretens gegen Andersgläubige wird
eben bei der unumschränkten Herrschaft des Katholicismus niemals
brennend; doch liegt auch ein gut Teil selbständigen und vorurteilsfreien
Denkens darin.
IV. Wohnung,
Eine genaue Beschreibung des Hauses, welches von den mir bekannten
Wohnungen am klarsten die saterländische Bauart veranschaulicht, soll hier
gegeben und durch Wort und Bild erläutert werden.
Uz hüs iz boöd en duzend sekshünert un niügen un tachentig un iz det
ölste in Holen, un det iz sö mäket. Wan det hüs mäket wet, dein wdde erste
dl) forbinde mciket, det synt dö stonere un dö bölken. Dän kumt op elke side
op dö stonere en rim sö log az det gänse hüs weze schel. Wan det klör iz, dän
wet et öpriucht’, dein synt ’er spone ope, elke tre1 föut en, fon fiürenholt. Dän
wet meiket op elke side en vtkebeije, uner fon stene, un derop käme dän öploger
elke tre1 föut an; man der synt ok noch huze med klctmde wöge. Befte küme
dän hömstoke fon dö müre an det spon; färe kumt en stenene müre, det hat
me fon en gowel, dertrug kumt dän ja grötdöre. Dein wet et latet un dein tekt
med he de un strel, man uner op dö ütkebege, der küme pone, dö welde tickt
mäket med doke fon stre1. Bupe op kumt en frest fon hede.
Wal me kumt in vz hüs, dän iz fär ’e döre en häge; wan me der ürgugt,
dein iz op ’e ligke side fon de teil erste di edheldene, det hat di plats, wir me
det ed öunsmit fär den winter töu ferbadenjen. Dein kumt sö ’n litje döre, der
dö berste -üt- un inguge, un dän käme dö küstäle, denn stöunde dö b&ste med ’n
kop eter ja täl, un derböpe iz ja hilde, der wet det stre1 öpstat’, der me dö belste
fon fodert un strait. Dan kumt det köluerhuk; wi kwede fon kaluerhuk, man
det mai well en dytsk wöud weze. Wan me in de grötdöre in kumt op ’e riuchter
höunde, der iz di hcigststäl; dän hebe wi en weuerkömer, deröun hebe wi en
stel, der me linen op mäket. Un dan kumt di wdskkömer med ’n döre eter
buten, dertrug guge wi in ’n tan un hälfe ok det water derin üt ’en söd. Op
di weuerkömer un di wdskkömer, der liebe wi en ben ope fon dö stonere töu dö
öukere. Dan kumt det flet, det lait op dö be sfden fon de teil; op jü ene side
synt dö finstere un der stöunde dö kisten un kuferte; op ja üer side, der synt
dö bedstede, un det iz ja ligke side.
1) Den Schulen kommen die Einkünfte der säkularisierten Kommendegüter in
Bokelesch zu statten, die vom Vogte in Ramsloh verwaltet werden. Jede Gemeinde bildet
eine Schulacht: 1. Schule in Scharrel und Sedelsberg (3 Lehrer); 2. Ramsloh, Hollen,
Hollenermoor (3); 3. Strücklingen, Bokelesch, Wittensand (4); 4. Neuscharrel (1).
18*
258
Siebs:
Wan me töu de grötdöre mkumt, dän kumt me mide in ’t hüs op ,e tdl.
Wan jü tdl töu end iz, dan iz der det fiür. Bupe det fiür, der iz en halbem
an ’e bölke un an den hdlböm der ho?]et en setelhdke an un an den setelhdke
horjet det geschlr, wir det iten an seden of bret’ wet, det kon en setel of en pot
of en pone weze. Befte det fiürhdd stöunde dö schape med puseläine un tin’ne
fete deröpe, der horpe jü kloke un det sdltfet un dl det geschlr, wet töu 't iten-
mäkjen brükt wet.
Bupe de tdl iz di bölke, un der iz in ’e mide en balchgat, der wet di röge
instat’ un öpfleld.
Det iz nü det wönhüs. Der befte iz noch di hökömer, der bupe iz nein
bölke un iz trug en wöge fon det wönhüs öuschat\ Büte fon ’e wai iz ök en
grötdöre, der fire wi det hö in. Uner det hö hebe wi en tüfelkekeler; iünske
den hökö?ner in dö ütkebege he’ wi en stöue med 'n bedstede der an, un op ’e
ligke side fon ’e tdl an dö bedstede iz di mölkkömer med’n finster derdn. Rirmed
iz jü bischrivfoyi ür det hüs töu ende.
Ramsloh und Hollen haben unter den Dörfern des Saterlandes den
alten Charakter am reinsten erhalten, doch diesen allen sind gewisse
Eigentümlichkeiten gemeinsam. Die Häuser erstrecken sich nicht in weiten
Zwischenräumen längs der Landstrasse, sondern sind auf ziemlich engem
Raume um einen Mittelpunkt versammelt. Der eigentliche Kern des Dorfes
(terp) heisst det löuch (auf Wangeroog dait leiuch): es ist das afrs. Akort loch
und lässt sich am besten mit „der Ort“ übersetzen. Eine Fahrstrasse führt
durch das Dorf, und von ihr zweigen einige Querpfade ah. Die Häuser
liegen mit der Stirnseite an diesen Wegen, jedoch meist um ein paar Meter
von ihnen entfernt, sodass rechts von der grossen Hausthür ein Misthaufen
Platz hat, der (etwa weil er eingehegt ist?) hdge genannt wird. Hinter
dem Hause, bisweilen die Längsseiten begrenzend, ist ein kleiner Garten
(tun) angelegt, der das nötigste Gemüse liefert, ln ihm ist der Ziehbrunnen
(söd). Nahe heim Hause auch haben die meisten Bauern einen aus Stein
gemauerten Backofen (öugen) und einen Schafstall (schelpekötte), eine dürftige
Lehmhütte, die mit Heidekraut gedeckt ist. Hinter den Gärten ziehen sich
Ackerfelder (dö iske, d. h. Esche) und Wiesen hin. Aus der Ferne sieht
man von einem solchen Dorfe nur seine Wahrzeichen, Kirchturm oder
Windmühle; im übrigen erscheint es als ein Komplex von Bäumen, die
sich, obschon nicht hoch, über die Strohdächer der niedrigen Häuser
erheben.
In früherer Zeit soll es im Saterlande mehrere grössere Gebäude ge-
geben haben: befestigte Backsteinbauten ([stenhuze), die mit Wall und
Graben umgeben waren. Sie wurden Burgen genannt und stammten wohl
aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Die Stätten, wo sie gelegen haben,
sind noch zu erkennen; man will sogar Spuren von einzelnen Anlagen, von
Brunnen und dergl. gefunden haben. Solcher Burgplätze giebt es in Strück-
lingen, Scharrel und Ramsloh je einen, in Hollen drei. Ton der Burg, die
Das Saterland.
259
bei der „Dille“ in der siebenten Flur von Hollen lag, ward mir berichtet:
„bl de dile, der was töfärne en stenhüs, det was en drdlgen högen b&rig, un
inwendig was ’t dl stene. Dö hebe dö ljude der an wöned un hebe ze, det det
der sö dcirlg (sumpfig) was, en grefte rund üme töu heved. Der op ’e borg, der
hed ok an wöned, der gugt noch en grefte üme töu; hüs iz der nit mör töu
siöen (zu sehen).“ Der Gedanke, dass AYall und Graben zu anderen Zwecken
als zur Entwässerung geschaffen sein könnten, wird einem Saterländer frei-
lich nicht kommen!
Im Kirchspiele Ramsloh, besonders in der Bauerschaft Hollen, finden
wir die ältesten Bauernhäuser erhalten, doch in das 16. Jahrhundert
reicht wohl keines zurück. Alle zeigen die rein westfälische, also sächsische
Bauart: Wohnung, Ställe und Yorratsräume sind unter einem einzigen
Dache vereinigt. Bei meiner Beschreibung habe ich ein Hollener Haus
aus dem Ende des 17. Jahrhunderts zum Muster genommen, weil es unter
den grösseren Häusern des Ländchens zweifellos eines der ältesten ist
(s. Taf. 3, 1 und die Grundrisse). Daneben ist die Ansicht eines kleineren
Hauses gegeben.
Die Seitenmauern sind sehr niedrig, so dass das Dach sich nur wenig
über den Erdboden erhebt; dieser Abstand beträgt bei dem erwähnten
Hollener Hause, dessen Masse ich selbst genommen habe und hier mitteile,
H/4 m gegen etwa 73/4 m Firsthöhe. Diese Wände bestehen aus Fachwerk,
das mit Backsteinen ausgefüllt ist; kleine alte Häuser haben wohl noch
Lehmfüllung, und das nennt man „gekleimte Wände“ (Jdämde wöge, vgl.
Taf. 3, 2). Auch auf der Vorderseite des Hauses fällt das Strohdach weit
herab, in der Mitte einen Ausschnitt lassend (Taf. 3, 2) für die grötdöre,
die den grössten Teil der Giebelseite einnimmt und weit genug ist, einen
beladenen Wagen durchzulassen. Über diesem (etwa 31/* m hohen) Thore
wölbt sich derWalm: er wird hom genannt (plattd. hani), was wahrschein-
lich ein Schutzdach bedeutet. Er gewährt der nach rückwärts liegenden
Thür und überhaupt der Giebelwand Schutz vor Wind und Wetter und
260
Siebs:
hindert, dass der Regen vom Dache gerade vor dem Eingänge des Hauses
ah trieft; unter dem hom (vgl. Wangeroog átiwérk) stehend, ist man in freier
Luft und doch gegen die Witterung geschützt. Die grosse Thür ist meist
in vier Felder geteilt, die einzeln aufgemacht werden können: steht einer
der oberen Teile offen (Taf. 3, 2), so ist dem Ein- und Ausgehen gewehrt,
aber der Durchzug frischer Luft unbehindert. Den Ställen wird durch
zwei hölzerne klape an der Giebelwand Luft zugeführt, dem Bodenräume
durch ein Loch über dem hom, welches ülengat (Eulenloch s. Taf. 3, 2)
genannt wird. Dieses fehlt den Häusern, bei denen der obere Teil des
Giebels (gowel, plattd. Lehnwort) ein flach zurückliegendes Dreieck bildet.
Das Dach ist mit Heide (hede) und Stroh gedeckt, der First (frest) besteht
aus Heide; über den Seitenmauern findet man auch oft Pfannendeckung
(Taf. 3, 1), die einen leichteren Abfluss des Regenwassers zulässt.
Das ist die äussere Ansicht des Hauses; fragen wir nun, wie ein
solcher Bau geschaffen wird. Zuerst werden die Yerbindte (forbinde),
d. h. die Ständer mit den darüberliegenden Balken errichtet (Fig. 2, a und b).
Das zwischen Ständer und Balken mit Zapfen eingefügte Querholz wird
stekbend (Steckband c) genannt1). Die beiden Reihen der Ständer (Fig. lc)
sind auf jeder Seite mit rime (Sparrsohlen) belegt, so lang als das Haus
werden soll (etwa 20 m Länge gegen 15 m Breite). Über dem so ent-
standenen Vierkant (M), das den inneren Raum des Hauses bildet, wird
das Sparrenwerk (dö spone Fig. 2 d) errichtet, und dann wird gelattet und
gedeckt. Der Boden (В Fig. 2) wird bölke genannt. Jetzt werden die
niedrigen Seitenmauern (Fig. 2 /) aufgeführt und durch Auflanger (óplogere
Wanger. üplager, auf den Hauptsparren abgeschärfte Sparrhölzer, Fig. 2 e)
mit dem spon verbunden. Dadurch hat man dö vtkebege2) gewonnen, welche
geteilt und einerseits als Viehställe und Kammern (Fig. 2 C), anderseits
als Mide und als ben benutzt werden. Mide (plattd. Mide, helde, hille) heisst
jener „abschüssige“ Raum (Fig. 2 D) unter den Auflangern und über den
Stallungen, in welchem das Viehfutter bewahrt wird; die äussersten Winkel
(g) der Mide werden dö öukere genannt3). Den auf der gegenüberliegenden
Seite entsprechenden Bodenraum über der Weber- und Waschkammer be-
zeichnet man einfach als ben (Wangeroog bini, d. h. Bühne). — Die Giebel-
mauer ist mit dem Spann durch Walmsparren (hómstoke) verbunden.
----------- j
1) Ein sogenannter Halbständer, d. h. von halber Stärke, wird mantje (Männchen?)
genannt. — Sind zwei Querhölzer gabelförmig zu beiden Seiten des Ständers eingelassen,
so bezeichnet man das als jáchtbend. jacht- scheint mir eine abstrakte ¿(/-Bildung von der
]/jeug zu sein: gern. *jeohtaafrs. * lacht-, also „Jochband“; vgl. westvlaem. jachtijzer (?),
de Bo, Idiot. S. 411.
2) afrs. *atkebbinge, eig. „Auskübbungen“, vgl. ndl. kubbing, ist eine Ableitung von
*kebbe = plattd. kübbe, germ. *kubjö- (vgl. ags. cofa, nhd. koben).
3) Wangeroog äaken; vielleicht diente dieser Platz ursprünglich zur Aufbewahrung
der Feldfrüchte, so dass das ablautende got. akran zu vergleichen wäre.
Das Saterland.
261
Treten wir durch die grosse Thür in das Haus ein (vgl. Fig. 1), so
befinden wir uns auf der geräumigen Dreschdiele (teil Ä). Die kleineren,
zu beiden Seiten abgeteilten Räume dienen grossenteils als Yiehställe.
Sehen wir uns die Einrichtung an. Gleich links vom Eingänge liegt die
edhtfdene (Torfwinkel L), daneben das kalyerhuk (Kälberstall J)1). Dann
überschreiten wir den kleinen Gang, der zu einer Seitenthür des Hauses
führt und kommen an die Kit stelle (11). Darin stehen, durch die grossen
stonere (c) und durch kleine Pfähle (für selig tele, eig. „Schottungen“) von
der Diele getrennt, die belste\ mit den Köpfen sind sie dem Inneren des
Hauses zugewandt. Das ist eine Eigenart der meisten sächsischen Häuser
gegenüber den friesischen, in denen das Grossvieh mit dem Hinterteile
der Diele zugekehrt steht. Lasius1 2) sieht den Hauptnutzen der friesischen
Sitte darin, dass das Vieh sich von hinten besser präsentiere, und dass die
Ställe bequemer zu reinigen seien; ich glaube aber, dass der sächsischen
Einrichtung von allem daran gelegen sein muss, Raum zu sparen und mög-
lichst reichen Dünger zu producieren, der ja für die Geest und somit auch
für das sandige Saterland wertvoller ist, als für die fetten Marschgegenden.
Yon einem absoluten Yorzuge des einen Brauches vor dem anderen ist
darum kaum zu reden. Bemerkenswert ist übrigens, dass sich in einzelnen
Häusern des Kirchspiels Strücklingen die friesische Stellung findet.
Rechts vom Eingänge liegt, ebenfalls von der Diele durch eine niedrige
Scheidewand (schot) getrennt, der Pferdestall (K) und daneben der Schweine-
koben (M). Daran stösst die durch ein grosses Fenster erhellte weyerkömer
(.D) mit Webstuhl (det stel, h) und Spinngerät (we% helspel g). Ein schmaler
Gang, der als wdskkömer benutzt wird, liegt daneben; er hat einen Ausgang
nach dem tun.
Das ganze häusliche Leben des Saterländers spielt auf der geräumigen
Diele. Im Hintergründe, etwa 2 m vor der Rückwand, brennt das offene
Herdfeuer (a), der Mittelpunkt des häuslichen Yerkehrs. Es wird fort-
während unterhalten, denn an Torf ist kein Mangel. In manchen Häusern
dient er abends sogar zur Beleuchtung, und bei seinem dunkelroten Scheine
verrichtet man Handarbeit und unterhält man sich. Schornsteine giebt es
in den älteren Wohnungen nicht. Der Torfrauch verbreitet sich im ganzen
Hause. Das hat seine Yorteile, denn er verscheucht das Ungeziefer, auch
macht er eine Rauchkammer überflüssig. Fleisch und Speck sind an den
Deckbalken über dem Herde gut aufgehoben. Doch auch viel Unreinlichkeit
1) ed (ags. äd ahd. eit) bedeutet „Breunmaterial“, hedlene afrs. lierne ags. hyrne
„Ecke“. — kaluerhuk ist die richtige Form; kölner- ist Analogiebildung nach dem Singular
kölu „Kalb“. Interessant ist die sprachliche Erläuterung (s. im stl. Text), die mein Gewährs-
mann gab.
2) Das friesische Bauernhaus. Quellen und Forschungen LY. Strassburg 1885 S. 6;
vgl. auch S(ieb)s, Weserzeitung vom 18. Januar 1885; aus diesem Artikel sind im Folgenden
einige Bemerkungen verwertet worden.
262
Siebs:
bringen der Rauch und die stäubende Asche mit sich. Das äussere
Ansehen des Dorfes ist freundlich, und selten sind die Strassen und Wege
schmutzig, denn der Sandboden saugt die Feuchtigkeit schnell auf; im
Innern der Häuser aber, wo Menschen und Yieh in solcher Einmütigkeit
nebeneinander leben, wo die Leute auf engem Raume schlafen, essen und
arbeiten, ist von Sauberkeit nicht zu reden. Der Platz zu beiden Seiten
des Feuers (det flet) ist zugleich Küche, Esszimmer, Wohnstube und
Schlafkammer. Oben an dem Deckbalken ist eine Stange, der hälböm1),
angebracht, daran hängt der Kesselhaken (setelhäke) mit dem grossen
kupfernen Kessel. An der Hinterwand sieht man zwei Schränke (schapeb)
aus dunklem Holze, darauf stehen Schüsseln, Teller und Krüge aus Por-
zellan, Steingut und Zinn. Ihre Güte und Zahl richtete sich einst nach
dem Yermögen des Hausherrn. Auf manche Zinnteller und -Schüsseln
sind einfache, aber geschmackvolle Muster eingeritzt; das Steingut zeigt
vielfach jene eingebrannten alten Blumenmuster, die früher in Holland so
verbreitet waren. Leider sind in den letzten zwanzig Jahren viele dieser
Stücke von reisenden Trödlern angekauft worden, so dass in manchen
Häusern nur noch schadhaftes Gut zu finden ist. Neben den Schränken
hängt das Küchengeschirr. Links vom Herde, in einem durch ein breites
Fenster erhellten Raume (C), stehen ein Tisch und Stühle (e). Zur Essens-
zeit werden sie bisweilen ans Feuer gerückt. Auch die beiden grossen
Kleidertruhen an der Fensterwand (d) werden gern als Sessel benutzt.
Auf der gegenüberliegenden Seite des flet sind die vier alkovenartigen
Betten, je zwei übereinander (f). Sie sind durch einen Yorhang verdeckt,
manche auch durch einen schiebbaren Bretterverschlag (scliot), der wie die
Truhen kaum wahrnehmbare Spuren einer dereinstigen bunten Bemalung
zeigt. Neben dieser Schlafstätte ist ein Gelass abgeteilt, dem durch ein
besonderes Fenster frische Luft zugeführt wird: die Milchkammer (E). —
Das also ist die Ausstattung des Wohnramnes, von dessen Mittelpunkte,
dem Herde, aus man das ganze Leben und Treiben im Hause überschauen
kann. Trotz dieses Strebens der sächsischen Bauart, alle Räume unabgeteilt
und übersichtlich unter einem Dache zu vereinigen, hat es sich doch nicht
vermeiden lassen, dass die Milch und gewisse andere Yorräte in einem
besonderen Gemache untergebracht wurden, und dass wenigstens ein ein-
ziges gesondertes Gelass, und sei es auch bloss für Krankheitsfälle in der
Familie, geschaffen ward (weyerkömer). Manche Saterländer haben über-
haupt den Yorzug der abgeschlossenen Wohnräume anerkannt und das flet
von dem vorderen Teile des Hauses durch eine Wand mit einer Thür,
womöglich einer Glasthür, geschieden. Aber auch die alten Yorratsräume
haben sich als unzulänglich erwiesen. Der Segen der Getreideernte ruht
1) Entspricht hol dem mnd. hal ahd. hohala „Kesselhaken“, so ist es als Lehnwort
aus dem Plattdeutschen anzusehen.
Das Saterland.
263
auf dem Boden ([bölke): das Korn wird mit der fürke durch das balkgat
(balchgat) hinaufgelangt und dort aufgefleit; für das Heu aber musste ein
Anbau (die hökömer F) gemacht werden, der in manchen Häusern eine
besondere Einfahrt hat; unter der Heukammer lagern in einem Keller die
Kartoffeln; ein kleines Nebengelass (G) wird als Schlafkammer benutzt.
Das Alles ist ein späterer Anbau, über dem keine Bodenräume sind.
Diese Schilderungen zeigen deutlich, dass wir im Saterlande die reinste
Form des sächsischen Hauses haben. Falls die Besiedler des Landes je
in ihrer alten Heimat der sogenannten friesischen Bauart gewohnt gewesen
wären, so hätten sie sie jedenfalls zu Gunsten einer anderen aufgehen
müssen. In Friesland kann nur die Fülle des Ernteertrages Anlass gegeben
haben, den Vierkant des Hauses als Speicher zu verwenden und die Wohn-
räume in einen Anhau zu legen, oder was dasselbe sagt: Wohnhaus und
Scheune zu einem grossen Gebäude zusammenzuschweissen. Nach der Über-
siedelung in die neue Heimat, wo Klima und Bodenbeschaffenheit und somit
auch die Erwerbsquellen andere waren, wäre die auf die alten Verhältnisse
berechnete Bauart gewiss nicht beibehalten worden. So herrscht auch in
dem von Friesen besiedelten Lande Wursten nicht der Typus des friesischen,
sondern des sächsischen Hauses, und von einer engeren Verwandtschaft der
nordfriesischen Hofanlagen, sowohl des Festlandes als auch der Inseln, mit
den ostfriesischen ist nicht die Bede (vgl. Henning, Das Deutsche Haus.
Quellen und Forschungen XEVH, Strassburg 1882; Jensen, Die nordfrs.
Inseln, Hamburg 1891, S. 194 ff.). Die Besiedler trugen eben den ver-
änderten Verhältnissen Rechnung, und so mussten sich für das wenig
ertragfähige Saterland Gebäude verbieten, die darauf berechnet waren, den
reichen Erntesegen der ostfriesischen Marschlande zu bergen — ganz ab-
gesehen davon, dass den Einwanderern sicherlich die Mittel zu solchen
Bauten gefehlt hätten1).
1) Verschieden ist die Ansicht darüber, inwieweit der Typus des sächsischen und
des sogenannten friesischen Hauses voneinander abhängig seien (vgl. Meitzen, Das deutsche
Haus in seinen volkstümlichen Formen. Berlin 1882 S. lOfgg.; Henning a. a. 0.; Derselbe,
Die deutschen Haustypen. Quellen und Forschungen LV, 2. Strassburg 1885; Lasius, Das
fries. Bauernhaus, Quellen u. Forschgen. LV, 1. An diesen Stellen auch die Litteratur).
Bevor eine solche Frage behandelt wird, müsste aber festgestellt sein, was wir überhaupt
unter „friesischer Bauart“ zu verstehen haben. Die altfries. Quellen erlauben wohl einige
Vermutungen über die Grösse der Häuser (Henning, D. d. H. S. 133), aber nicht über ihre
Anlage. Lasius, mit dem ich 1884 im Jeverlande manche Punkte erörterte, hat in seiner
dankenswerten Schrift nur die Herrenhäuser und einige grössere Höfe des Jeverlandes
berücksichtigt und darauf seine Ansicht von dem friesischen Typus gegründet. (Wichtiges
Material, z. B. das interessante stenlms zu Stumpens ist freilich ausser Acht gelassen). Das
selbständige Wohnhaus ist, wie Henning (Haustypen S. 3) treffend bemerkt, nicht zu
seinem Bechte gekommen. Nicht nur die grossen Marschhöfe der jeverländischen Küste,
sondern auch die Häuser der ostfriesischen Inseln (wovon das Fischerhaus auf Spiekeroog,
Lasius S. 22, ein Bild geben soll) und vor allem die der Moorgegenden, z. B. des Brokmer-
landes, sind friesische Häuser. Diese, sowie auch die westfriesischen Bauernhäuser, sind
eingehend zu berücksichtigen, wenn ein friesischer Typus aufgestellt werden soll.
18**
264
Siebs:
V. Sitten und Gebräuche.
Ich will im Folgenden die wichtigsten Gebräuche mitteilen, die im
Saterlande bei Gehurt und Taufe, hei der Hochzeit, hei Tod und Begräbnis
geübt werden, und dann berichten, wie man dort die regelmässigen Feste
feiert.
Geburt und Taufe.
Wän der ’n beiden (afrs. bern Kind) geboren wet, dein iz öftjü bädmüerr)
derbi. Iz det belden nü kernen, dän wet Kim well en bitsken seilt op de tilge
lait, det schel göud weze. Dein wet dö naiste fiynde derfon bisclied telt, un
dän den üer dai, dan möuten tweln fadere (Gevatter) weze fon dö naiste fiynde
(Freunde), dö guge der dän med eter serke (Kirche), der iz jü funte (oder
dl döpsten), un dän wet det beiden dopt (kesent) un den nöme rät (Käme
gegeben). Det iz den üer dai eter de gebürt. Wan ze dän wier üt’e serke
käme, dan synt dö naiste nähere un fon dö naiste fiynde in det hüs, un der
KöHde ze dan selme (sehne), un med ’t iten un drigken iz de seke bisleten.
Von Wichtigkeit ist vor allem die Bezeichnung des Kindtaufsschmauses
mit selme oder selme — beide Formen habe ich gehört. Das entsprechende
wanger. Wort siilem (masc.), vgl. harling. sylm subst. scylmen verb. weist
mit Sicherheit1 2) auf altes anlautendes k zurück, vgl. stl. serke, wang. stink
= Kirche (kerke). Ich erkläre *kelma als maskuline Abstraktbildung zu *kella
„benennen“ (kelt „nennt“ (ahd. challit) Richthofen, Frs. Rechtsqu. 335, 6
hat, nach Analogie der Präteritalformen, die Assibiliernng aufgegeben),
vgl. setma „Satzung“ zu setta „setzen“. Bemerkenswert ist, dass unter
einem alten Bilde im Leeuwarder Altertumsmuseum, „de friesche maaltijd“
genannt, die Worte stehen: „op Kaerre kerstendegge en kallingen off frionne
spreckkinge 1420sind damit Tauffeste oder Multiloquia gemeint? — Von
anderen Gebräuchen, wie Strackerjan deren einige erwähnt, ist mir nichts
bekannt geworden; besonders unwahrscheinlich ist mir die Angabe (II, 127),
dass man zu Bokelesch jedem Manne in dem Hause, wo sich ein neugeborenes,
noch nicht getauftes Kind befand, ein weisses Betttuch umgehängt habe.
Verlobung und Hochzeit.
Dl sün fregede sine olden: „bäbe un meme, synt ji dermed mfersten, det
ik det wucht (Mädchen) töu min breld nime un dermed hilkje 3)?u Un wan ze dän
1) bädmüer (eig. Badmutter) wird die Hebamme genannt; so auch auf Wangeroog
bepmöuder, auf Sild bämoSer. In Westfriesland sagt man dafür kriemheister, eig. Wochenbett-
heberin, vgl. stl. kr am Wochenbett und afrs. henda auffangen.
2) Die Form verbietet, an afrs. selma ags. selma as. selmo „Bettstelle, Lager“ anzu-
knüpfen (= nordfrs. selme Bendsen, D. nordfrs. Spr. S. 127. 417. 420 „Bettstelle“ gegenüber
sulme (Stedesand) sollem (Moringer Mundart) „Kindtaufe“. — Auch an ags. dkl „Kind“ ist
nicht zu denken.
3) vgl. ndl. hijlijk, ahd. liileih Hochzeit.
Das Saterland.
265
erlöübnis krige, dein gigen ze medenoner eter ’n pestöur un leten sik der öunschriue
(einschreib en), un dän wilden ze tre1 syndege op ’S rige fon den pestöur fon de
kansel ürspreken (öulezen), un wan der nen insdge kumt, dein kuden ze hilkje.
Töufärne gigen dein dl brydigam un jü breld twiln euende (zwei Abende) fär
de höehtid un nägeden Türe frynde un nähere: „wl wolen melden hilkje, un dän
möuten jl dl kume, liüs op ’e bölke, leidere in ’e söedls) die möuten ze töu de
höehtid käme. “
Den eünd fär de höehtid, dän wude eil br&dwäien (Brautwagen) jaget,
einige med ein, enige ök well med tweln. Do böigste wuden bikrcinset un dän
kernen der fjäür wuchter op elke wäien. Un dö wuchtere, dö op den wäien
wiren, dö hidenen en witen tdskendöwk in de ene höllnde, un in de Tire höunde
en putelje med füzel of win. Der slügen ze med um de kop töu az wilde
mänsken. Un bi elk hägst gig en kerl bi ölln un hilel him bin töm fest un
stiürde (lenkte, steuerte) him. Nü kumt di wäien der jei an in’t höchtidhüs.
Dän wilen dö wuchtere, dö op de breldwäien wiren, det göud nit miste (missen).
Dän rät et (gab es) so fül alärm in det höchtidshüs: dö der kernen, dö kwiden,
det jö hiden der niks, un dö der in’t hüs wiren, dö kwiden, wetjö der brochten,
det was niks. Wan dän di kufert un dö bede un dan det weil med ’n gröten
dizene fiäks (Spinnrad mit einem grossen Diesen Flachs) der an fon di wäien
öu schel, wolen dö wuchtere, dö op den wäien synt, det nit miste. Dän möuten
ze dö wuchtere un den fürmon fon de wäien med win of biör un füzel öuköpje.
Dän wolen dö wuchtere det bed op de bedsted mäkje, un dein hebe dö nähere
en biüre of en pyt ful fuge (ein Kissenbüren oder einen Beutel mit Federn)
un smite ’en op det bed. Dän mene dö wuchtere det bed iz börsten, un dän
rakt det en gröten schandäl. Dan kernen dö näberswuchtere un dö Ijyden, dö
jö töu de höehtid no'ged hiden, dö kernen dän ’s euends un brochten dö hauen
(Hennen), un dän reite det sö fül spektäkel öu, dän smiten ze dö hanen man
so töu ’t höchtidshüs in, un dän wuden dö hanen gripet un död melket. Un dän
wud köffi un suker un win un biör, äls ’s euends fertert, un nü gigen ze eter
hüs töu un hirmed was det ’s eünds bisleten (beschlossen).
Di brydigam med sin be tjügen (Zeugen) gigen ’s mädens (des Morgens)
wai un hälden jü breld üt. ln olden tiden hiden dö breäde ök well twö wuchtere
az bigugere bi sik, man det iz nü nit mör, un in ölden tiden dän gig äl det
liöchtidföHk me eter serke, wan ze hilkeden. Un brydigam un breLd med hire
be tjügen gigen nü eter serke, un dö tjügen mosten dän in gegenwart, wan ze
hilkje, derbi weze. Un nü wert der erst en höamt dein, un eter det höamt hilkje
ze, un dan guge ze eter hüs den dödenwai eter un möuten dän töu de grötdöre
inguge, nit töu de litse (kleine) döre, weil jö, wan jö död synt, ök töu de
gröte döre ütdreien (hinausgetragen) welde; un dän fagt det schiöten (Schiessen)
1) Eine interessante Einladungsformel: „Haus auf den Balken, Leiter in den Sod“,
d. h. der ganze Hausrat soll auf die Bühne gebracht und die Leiter, auf der man zur
Bühne hinansteigt, im Brunnen versteckt werden. So können alle Hausgenossen getrost
zur Hochzeit gehen, niemand braucht als Hüter daheimbleiben.
266
Siebs:
fon dö tjügen un dö üer Ijfjde öun, dö jö ferbiguye, un dän wert der snaps
traktirt.
Un wän ze dan in det höchtidshüs änkemen, dän kemjü ölde müer (Mutter)
fon den brydigam un hcdede dö be fon de döre in un latte (führte) dermed
um det fiür (Feuer) töu un rate (gab) jü juye wiu den sliöu (Schleef) in de
höunde; un derüm kwed men ök weH: nik wol den sliöu noch nit üt de höunde
reke (geben)“. Un dän wude him erst en gles win Idyed un dän gir\ ’t eter
’n disk wei töu köffidriyken. Un wan ’t dän midei wert un wan det en gröte
höchtid iz, dän weide op elke side fon de teil (Diele) ployken leit, der set det
föulk sik befte loys. Der wert dän det iten öpdreien (aufgetragen). Bupe än
sit di brydigam un jü br&d un derneist dö be tjügen, un dän äl eter de fer-
wäntschaft föulgje ze eter de rige. Am ende site dö beldene. Dän synt der
tweln, dö det iten öpdregen dwö med ’n gröten höndöuk in ’t knöpgat hoyjen;
erste sope med hanen un dän tjuken ris (dicken Reis), gorte med plümen un
dän wüd det spek un wurst un schiyken küt sniden un wiide op möre telere
weiset’, det elk hirfon sö fül krfge kude az hi man mäte (mochte). Un wän
dö breldljyde ’et göwd dwö konen, dän wert ök well en fat schäp (fettes Schaf)
of en faten weder slächtet. Un bi det iten un eter det iten wude erst biör
(Bier) schdrfkt un fär ’t iten un eter ’t iten, dö genen di brydigam un jü
breld med ’n tin’nen kop un ’en letse derän (zinnerne Tasse und ein Löffel
darin), det föulk rund un nägeden him töu drirfken. Un wan dän det melltid
öpherde, dän giyen ze well fon den plats ö11, der jö seten hiden; dän fayde det
snapsütschäyken öun töu fiäür (vier) üre eter midei, dän wude bereided töu de
fesper. Un ’s eünds, wän der müzik bi was, dän körn der noch yuyföulk mör
üt det terp (Dorf) un giyen me wei töu donsjen un töw driyken tö11 de
ncicht öun.
Aus keinem anderen friesischen Gebiete sind mir so wertvolle Berichte
über die Hochzeitsfeier bekannt geworden. — Die Bezeichnungen des Bräuti-
gams und der Hochzeit sind im Stl. entlehnt, während die meisten anderen
frs. Mundarten die alten Namen dafür bewahrt haben1). Die Bräuche aber
sind altes Erbgut. Natürlich hat man von einigen wenigen kirchlichen Ein-
flüssen abzusehen, z. B. dass die Hochzeit gern auf den Josefstag (19. März)
verlegt wird. Als der am besten geeignete Wochentag gilt der Donnerstag
(tünersdei), der dem Gotte der Ehe heilig war; die nächstgelegenen Tage,
der Mittwoch und Freitag, werden gemieden. Ist die Feier festgesetzt, so
besorgen Braut und Bräutigam selbst die Einladungen. Die Gäste er-
widern diese Ehre mit Geschenken, vor allem spenden sie die höchtids-
hanen. Auch hierin ist vielleicht eine Spur des Thunerkultes zu sehen:
1) Noch im Hochzeitsliede des Imel Agena heisst es breydegum, breydlofft, vgl. harling.
braidigomm; nordfrs. briägum (Sild), breedgug breelep (Wiedingharde), westfrs. briloft. Ältere
Saterländer gebrauchen statt höchtid auch werschup (Wirtschaft, Gelage), vgl. harling.
waschop; in anderen Gegenden gdme' (Wurster Glossar) und kost (holsteinisch plattd.). —
In Scharrel sagt man freier statt brydigam.
i ■ -
Das Saterland.
267
Hahn und Henne waren dem Gotte geweiht; am Niederrhein heisst es,
man müsse die Hühner gut füttern, wenn am Hochzeitstage gut Wetter
werden solle; Hochzeitshahn, Brauthahn und Bräutelhuhn sind aus dem
Brauche anderer Gegenden bekannt. Und ferner: früher war es Sitte, dass
das Paar sowohl hei der Yerlobung (wang. libelbjör), als auch nach der
Yermählung einen Trunk that, der anderwärts „Johannissegen“ heisst und
mit Thors Minne, dem nordischen Hochzeitstrunke, zu vergleichen ist
(Weinhold, Deutsche Prauen II, 383; anord. Leben 462). Endlich verdient
auch das Schwenken der Tücher Erwähnung, das, wie im Saterlande, so
auch auf den nordfriesischen Halligen bei Hochzeiten üblich und vielleicht
ebenfalls ein Rest des Thunerkultes ist (vgl. Chr. Jensen, Die nordfries.
Inseln S. 320, E. H. Meyer, Germ. Myth. S. 90).
Die stld. Hochzeitsfeier lässt noch deutlich die alte Scheidung in Yer-
trag und Übergabe erkennen. Bei dem Yertrage erscheint hier die Braut
nicht beteiligt. Aus dem elterlichen Hause wird ihre fahrende Habe in
Begleitung von Jungfrauen auf Wagen in das Heim des künftigen Gatten
geführt — das ist der eigentliche Brautlauf (Weinhold a. a. 0. I, 407).
Um jene Güter, besonders aber um den mit Flachs bewundenen Spinn-
rocken, der das Sinnbild der jungfräulichen Braut zu sein scheint (Simrock,
Myth. 6 601), entspinnt sich ein Kampf. Er endet damit, dass der Kauf
abgeschlossen und mit einem Trünke besiegelt wird. Spuren des Braut-
raubes und Brautkaufes haben sich darin bewahrt. Dass sodann die
Jungfrauen im Hause des Bräutigams das Hochzeitsbett zurechtmachen und
dabei allerlei Scherz getrieben wird, ist mir aus anderen Gebieten nicht
bekannt.
Auch der zweite Hauptteil der Feier, die Übergabe, findet, insoweit
sie nicht in die Kirche verlegt ist, im Hause des Bräutigams statt. Die
Eltern der Braut spielen bei der Entscheidung über die Heirat keine
Rolle, ebensowenig bei der Hochzeit. Das Paar, das in der Kirche
eingesegnet ist, begiebt sich auf dem Totenwege (dem llkwei der alten
Rechtsquellen) nach Hause und wird vor der Hauptthür von der Mutter
des Mannes empfangen und um den Herd geführt1)- Uralt ist dieses
Um wandeln der Feuerstätte, altindischem Brauche zu vergleichen.
Dann legt die Schwieger das Sinnbild ihrer häuslichen Gewalt, den
grossen Kochlöffel oder Sleef (s(zoM), in die Hand der jungen Frau. Das
ist eine wohl nur aus dem Saterlande bekannte Sitte, und sie ist um
so auffälliger, als von einem Symbol der Übergabe des Weibes an den
Mann, z. B. Ring, Schuh oder Hut1 2), keine Rede ist. Das junge Paar ist
1) Dass dort die Braut eine Messerspitze Kaminruss essen müsse, um einen Vor-
schmack künftiger Bitternisse zu haben (Strack. II, 125), ist nicht glaublich.
2) In Westfriesland springt man zum Schlüsse der Hochzeitsfeier über einen Hut.
— Von dem Brauche, dass im Saterlande der Bräutigam über einen Tisch ins Brautbett
springen müsse (II, 126), habe ich keine Spur gefunden.
268
Siebs:
nun im Besitze seiner häuslichen Hechte, und Braut und Bräutigam gehen
als Gastgeber mit einer Schale Branntwein und einem Löffel umher und
reichen jedem Anwesenden davon. Dieser Brauch ist gemeinfriesisch, er
herrscht auch in Nord- und Westfriesland überall. Dort ist das Fest-
getränk ein Aufguss von Branntwein auf gezuckerte Rosinen1). Die
anderen Hochzeitsbräuche, wie das Festmahl, der Tanz und die Freuden-
schüsse bieten wenig Bemerkenswertes.
Tod und Begräbnis.
Wan der an stüruen (gestorben) iz, dein welde dö nähere rüpen — det
synt dein seks nähere, dö möllten dö fiynde derfon hisched tele un dö möHen
him ök ferklödje. Bi ölden ticlen, dein mosten dö heldene hide det geinse terp
trug. Di eünd fär det higreün, dein kwiden jö in elke hüs, wein det di fder
was: „Geske (Ge es che, Frauenname) un dö he1 de,1 2) lelte hicle med ’n eiöde töu
höwene, iten un drigken, wet god hiliöut (beliebt)“. Was ’t en helden, dein
kwiden jö: „dö olde he Jan un Geske lelte hide“ un sö fere (und so weiter).
Wan der en döden iz, dein möut ’er erste fon dö nähere ferklöded weide. Dein
sJe (nähen) dö wiue det heneklöd of hendeklöd; dö mönljüde, wan ’t en mö-
monske (Mannsmensch) iz, dö putsje (barbieren) him dan un weiske him. Dein
bricht’er en sehen heimend (reines Hemd) ölln un dem det heneklöd ök un wet
dan sö op ’t stre1 del leit. Dein möut ’er en hüsholt mäket welde, un sö möut
hi dein twö etmell leze (liegen), er hi higreün welde kon; un dan käme dö
nähere wier un leze (legen) him in’t hüsholt. Un dan den üer dei ’s mPdens,
dein kumt det fölllk, un dö nähere kume un mäkje köfje of hiör un hiwirtje det
föulk. Un wan det det serkterp (Kirchdorf) iz, dan kumt de pestöur un de
koster un dö heldene un hälje ’ne (holen ihn) fingen (singend) üt\ man wan
det fere her iz, dan wet di döde med ’e wäien eter ’t serkhöw wai firt (nach
dem Kirchhof weggeführt). Dein kernen der dö naiste fiäür wiue op den
dödenwäien un fär ’n flu seks jir siten noch op elke lädertimpe (Leiterzipfel)
en wiymonske fon dö naiste fiynde, man det iz nü nit mö (nicht mehr); ägkelde
wilde der Ök well wai drdien (getragen), hesüners litje heldene. Di döhe (Grab),
di iz dein klör, un dein welde ze higreün. Dein guge dö ljude in de serke un
der wet en siugene mise d&n (wird eine singende Messe gethan) un dereter
en pretenje (Predigt), un dermed iz de seke hisleten.
Dass das Saterland, im Gegensätze zu Nordfriesland, so wenig von den
alten Gebräuchen bei der Leichenfeier bewahrt hat, ist dem eifrigen Vor-
gehen der Geistlichkeit zu danken. Die üppigen Gastereien nach der
Beerdigung (Toten-, Tröstei- oder Ehrenbiere), die früher üblich waren,
und von denen sich in West- und Nordfriesland (Jensen a. a. O. S. 348)
1) Ich habe das auch im Jeverlande als Festgetränk beim Saatdreschen kennen ge-
lernt. Dort nennt man es „smerige bönen“ (schmierige Bohnen).
2) Diese sicher verbürgte Pluralform (statt b&dene) ist nur in dieser Formel zu
finden.
Das Saterland.
269
Spuren erhalten haben, sind abgeschafft. Aus der alten Ladeformel aber
erkennen wir noch die Sitte, zu „essen und trinken, was Gott beliebt“
(d. h. alles Mögliche). Jene „Leichenbitte“ enthält ferner ein sehr wert-
volles Zeugnis für die alte Feier der Leichenschau. Die sicher ver-
bürgten Worte med’n döde töu höwene nämlich bedeuten „mit einem Toten
zur Darstellung“: töw höwene steht für töu öwene, welches einem altfrs. tö
auwande (Brokmerland), ti äwane (Westfriesland) entsprechen muss (afrs.
äwa, ags. eawan zeigen). Die Formel töu öwene ward dann nicht mehr
verstanden und in Anlehnung an töu höwe (zum Kirchhofe) zu töu höwene
geändert. — Dass die Kinder das Amt des Leichenbitters versehen, ist
auch auf Sild üblich (Jensen a. a. 0. S. 336); die übrigen Freundschafts-*
dienste aber werden von den nächsten Nachbarn besorgt, vor allem das
Einkleiden1) der Leiche. Sie wird sorgfältig gewaschen und, wenn es ein
Mann ist, rasiert, dann mit Hemd und heneklöd1 2) angethan und auf eine
Schütte Stroh gebettet, wo sie zwei Etmal (zweimal 24 Stunden) liegen
muss. Erst kurz vor der Beerdigung — so ist es auch in Nordfriesland
Sitte — wird der Verstorbene in das hüsholt d. h. in den Sarg3) gelegt.
Beim Begräbnisse sitzen vier Weiber (so auch in Nordfriesland; in West-
friesland deren zwei) auf dem Totenwagen. Dass man wie in jenen
Gegenden mit der Leiche vor der Bestattung die Kirche umwandelt, ist
mir aus dem Saterlande nicht bekannt.
Mittwinter.
Dl elwend fär midewinter, der kwede (sagen) wl töu fon tjukebükse'-wend
(Dickbauchsabend), dun wert der pufert hclken, un dan kricht elk sed (satt)
pufert, un dän fregje dö bidene (Kinder) de möuer: „meme, iz dit nü dl eiwend,
det wl sed Ite korine?“ „Ji düners (nicht *tüners, also plattd. „ihr Donners“),“
kwed jü möwer, „krlg ji ältld nit sed?“ — Un sö iz dl eiwend fär Pclsken un
1) Auf Wangeroog giebt es dafür die besondere Bezeichnung änklöMtSer, während
sonst „ankleiden“ durch kled Prater, kiek Part, klgidert gegeben wird. Auf Sild: bereewin
Jensen S. 337.
2) Über die Bedeutung von kenne- (hennekled, hennebed, hennekost vgl. hunnenklet,
hunnebedde) s. Siebs, Zeitschr. f. d. Philol. 24, 154). — heneklöd, der kwiden dö ölde Ijüde
ök weil rn fon negeklöd (Totenkleid), s. Zeitschr. f. d. Phil. 24, 460. — Nicht „Leichen-
kleid“, sondern „Trauerkleid“ scheint die Form regenkled bedeutet zu haben (Outzen,
Nordfrs. Wb. S. 278; Molema, Groning. Wb. „regensprijd* S. 342, vgl. ndl. regenkleed). Die
Etymologie ist unklar: an afrs. hre, ahd. hreo anzuknüpfen, verbietet schon das g\ ebenso
wenig ist an Zusammenhang mit ndl. rouwkleed zu denken. Da das Wort aus dem Ndl.
und Plattd., nicht aber aus dem Fr s. sicher zu belegen ist, so ist Vergleich mit ahd. hregil
am wahrscheinlichsten. Dieses Wort ist im Afrs. durch hreil vertreten.
3) eig. „Holz, das zur Behausung dient“; in Strücklingen: dödkiste. Wangeroog.
döedholt oder holt; harling. hueshold, daudekist. Nordfrs. likkäst „Leichenkiste“, westfrs.
dieffet „Totenfass“. — In Nordfriesland findet man zahlreiche Steinsärge, die als Tränktröge
gebraucht werden und „nöst“ heissen (Amrum: naast Johansen, Nordfrs. Spr. S. 106). Afrs.
nost Rechtsq. 228, 11. 229, 13 (ö ist vor st zu o gekürzt worden) ist zu vergleichen mit
ahd. nuosk Tränkrinne.
/
270
Siebs:
ök fär Pigster. Un dein Midewintersdei un Päskedei un Pigsterdei, dän wert
der tjuke gorte med plüme seden (gesotten), un der kumt Sirup ilr un der kumt
dän di hölye swinekop med tufele un musterd eter (der halbe Schweinskopf
mit Kartoffeln nnd Senf) [Strücklingen].
Wem en dai fär nejir (Neujahr) körn, dein wud älehöundegölld änschafet
töu ’n wepelröud. Dein moste erste en stok kruld (gekrallt) welde, der körn dän
hupe en holten heirt op, dän kernen der in det hart krulde stiken (Stäbchen)
öun fon ’n föut log; derüme töu wud en bail fon en wilgene jed (Bügel von
einer Weidengerte) set’. Dein fon färner side wud det med klinstergöHd
(Flittergold), göHdpopir un röuzen fersierd, un op dö stiken körn op elk en
äpel. Uner det luirt wüd en bred strik lint (Band) üme töu strikt un hogede
dein sö Uig del (tief nieder) az di wepelrölld krul was. Un wan nü di wepel-
röud klör was, dein wud sö löge teued (gewartet) det ’et tjüsterg (düster) was,
un dän girjen en pör mon dermed eter hire fiynde. Dän moste en wwmänske
of en wucht den wepelröud dö fiynde bine de dör sete un di mönspersön di
did (that) det schroten (Schiessen) bute fär ’t finster. Wän det wiumänske
of det wucht den wepelröud derin set’te, dän hiden jö sö’n gerimsel derbi:
„hir brag ik jöu en wepelröud,
den wol ik jöu schäigke (schenken),
un wän ji mi gripe woln,
dan möllt ji jöw nit löge bitägke (bedenken)“.
Dän ronen ze weg un dän möuten dö üer him gripe, un wän ze him dein krigen
op hire gründe, dän mosten jö med him in ’t hüs, un dein gig det fezitjen
(„visitjen, d. h. bewirten“) lös. Man kernen jö fon hire gründe öw (ab),
dän wiren jö frei un höugeden (brauchten) ze nit me (mit). Un sö gig ’t ök
den eünd fär hilge trei kernige, man dän was in den wepelröud nen heirt, suner
’n stirne (Stern).
Dän den nejirsmelden, dän stüd elk eder (früh) op, um di ene fär di üer
wil di erste weze, üm det nejir an öutöllwinen. Un sö gig det dän hüs bi hüs
det geinse terp trüg un krigen in elk hüs fuzel un ök neljirsköwke. Un so gig ’t
den gänse dai trüg.
Die Yöllerei an den Festabenden scheint mit dem alten Speiseopfer
zusammenzuhängen. Besonders werden diese „Dickbauchs-“ oder
„Vollbauchsabende“ aus den Landen nördlich der Elbe bezeugt. Im
Saterlande durfte am Neujahrsabend der „halbe Schweinskopf“ nicht fehlen:
das mag auf die alten Schweineopfer zurückführen, die man zu Mittwinter
der Frija darbrachte1).
1) Vgl. Jahn, Opfergebr. S. 265. Man darf in solchen Annahmen aber nicht zu weit
gehen und darf nicht vergessen, dass in manchen Gegenden aus praktischen Gründen das
Schwein während des Winters fast die einzige Fleischspeise ist. In den Wesermarschen
isst man im Frühling fast ausschliesslich Kalbfleisch, im Sommer Schafe, im Herbste
Kinder und im Winter Schweinefleisch.
Das Saterland.
271
Unter den Gebräuchen der Zwölften nimmt das Werfen der wepel-
röud die wichtigste Stelle ein. Wenn dieses Wort echt saterländisch ist,
kann es nicht, wde Kuhn, Nordd. Sagen S. 406, 518 annimmt, Diminutiv
von got. waips, ahd. iveif (vgl. ostfrs.-plattd. wepeln) sein: in solchem Falle
müsste es wepelröud lauten. Es scheint vielmehr aus werpelrölld entstanden
zu sein (vgl. nordfrs. wjarpeln, Intensivum zu „werfen“) und Werfrute zu
bedeuten. Überall ist der Glaube verbreitet, dass die Zwölften der Weis-
sagung und dem Losen besonders günstig seien (s. unten Kap. VII).
Strackerjan (I, 88) erzählt, dass im Saterlande die wepelröud zum Loswerfen
verwandt worden sei, und demnach könnte man versucht sein, sie als
„Würfelrute“ zu deuten. Aber der Bericht von einer längst „verschwun-
denen Sitte“ ist stets sehr bedenklich und auch die Art, wie sie geübt
worden sein soll, ist nicht glaubhaft. Ich vermute, dass wir die in anderen
Gegenden übliche Auspeitschung böser Dämonen vergleichen müssen.
Man peitscht die Mare aus, man sucht das wilde Heer durch Peitschen-
knallen zu vertreiben, und gerade zur Zeit der Wintersonnenwende verjagt
man,die Dämonen durch Peitschenknallen, Rutenschlagen, Schiessen und
Lärmen (Jahn, Opfergebr. S. 259). Wie sich ein Rest solcher Bräuche
z. B. in den schlesischen Schmackostern, jenen verzierten Osterruten, er-
halten hat, so in der stld. wepelröud. Und auch in der Art der Überbringung
zeigen andere Gebiete Vergleichbares. Die Bursche „fitzein“ („dengeln“,
„pfeffern“) um Weihnachten die Mädchen, und diese erwiedern den Brauch
um Neujahr (Mannhardt, Baumkult S. 265 fgg.). Strackerjan (II, 32) be-
richtet, dass sich zu einem ähnlichen Scherze unter den jungen Leuten
des Saterlandes die Überbringung der wepelröud entwickelt habe: sie werde
dem jungen Mädchen am Neujahrsabend als eine Liebeswerbung dar-
gebracht. Ob das hölzerne Herz auf diesen Brauch hindeuten soll, ist,
wie alle derartigen symbolischen Deutungen, völlig unsicher. Kuhn wollte
in dem oberen, bügelartigen Teile der wepelröud das Bild des Rades, d. h.
der Sonne erkennen1); das Abschälen des Bastes von den Ruten könnte
man (vgl. Jahn a. a. 0. S. 195) auf das Flachsopfer beziehen u. a. m. —
ich glaube aber, dass es sehr gewagt ist, solchen Schmuck, wie er bei
Maibaumkronen und Sonnenruten vielfach erscheint,' im einzelnen sinnbild-
lich zu erklären. Mannhardt (Baumkult S. 163 fgg., 247 fgg.) meint, dass
die Überbringung der wepelröud, wie in anderen Gebieten das Maienstecken,
ursprünglich mit der Liebeswerbung verbunden gewesen sei. Eine solche
Behauptung ist an sich unbeweisbar; ihr widersprechen aber auch meine
Berichte, nach denen die wepelröud1 2) nicht nur von Burschen, sondern auch
von Mädchen ausgebracht wird und von einer Erwiederung nicht die Rede
ist; es heisst nur, dass man am 5. Januar (also am Ende der Zwölften)
1) Vgl. auch Wolf, Beiträge z. d. Myth. I, 114.
2) Die an den alten Wettlauf erinnernde Verfolgung des Überbringers ist be-
merkenswert. — Altfrs. heisst Weihnachten midwinter und der 5. Janr. twilifta (tolefta) dl.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 19
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272
Siebs:
ebenfalls w(]pèlroudè überbringt, die aber anstatt des Herzens (dem christ-
lichen Dreikönigsbranche gemäss) einen Steril zeigen. Nach Strackerjans
Angaben hingegen ward vor Zeiten die w<]pelröud von den Mädchen, denen
die Werbung genehm war, durch eine tünsker erwiedert. Das war ein
Kohlstrunk, der in einen Torfsoden gesteckt war (II, 34) und auf der
Spitze eine Papierlaterne trug; durch den Stamm waren Querstäbe gesteckt,
an denen Äpfel und Kuchen hingen. Koch eher als die wepelröud liesse
sich diese tünsker mit dem Weihnachtsbaume vergleichen; aber solche
Berichte über längst „verschwundene Sitten“ sind sehr unzuverlässig1).
Glaubwürdiger ist die Nachricht, dass man am zweiten Weihnachts-
tage (II, 27), dem Steffenstage, den „Steffen aus der Tonne klopfte“.
Einer ward in eine Tonne gesteckt und mit dieser in das Dorf gerollt;
dabei und nachher ward tüchtig getrunken. Steffenstrunk und Tonnen-
treiben sind ja mancherwärts üblich1 2). Auch die Sitte, dass während der
Zwölften nichts rundum gehen, besonders aber das Spinnrad nicht gedreht
werden durfte (Kuhn a. a, 0. S. 418), ist aus anderen Gegenden bezeugt:
auf Föhr durften Schiebkarren und Wagen in dieser Zeit nicht gebraucht
werden (Jensen, Die nordfrs. Inseln S. 376). Übereinstimmung nord- und
ostfriesischen Brauches also ist auch hier wieder erkennbar.
Auf die von Strackerjan (II, 30) mitgeteilten Lieder ist nichts zu
geben: sie verraten weder in Form noch in Inhalt saterländische Spuren.
Fas nacht.
Bi ölden tidèn, ddn firden dö Ijtjdè tré1 dégè foseUünd (Fastelabend). Den
sünclai, wan det föHk üt de lest tjönst (Gottesdienst) körn, dein gigèn zè eter
’t wershüs un donsédèn sö log, weh jü geinsè nacht trüg. Wan ’t ddn Ijächt
(licht, hell) wudè, ddn mcikèdèn dö fentè (Jungen) èn ölde imètelnè (Bienen-
korb) med ’n strèpei (Strohseil) üm ’è nekè (Nacken) un an med Vi gafèle
(Gabel) un ein med ’n éskèpgt (Aschensack), det ivas èn stok med ’n plun
dèrcin, di wud diè hir un der weh (nass) mäket un in ’è eskè stipèt. Dein gig
det gegèljèn (gängeln) ein un ze gigèn eile huzè bilógs; wekè reiten (gaben) him
en wüst op ’è gafèlè, wekè reitèn him èn ài (Ei) in ’è tèlnè, un dì den éskèpgt
drudi, di mèste dérop pdsjè, det dö ver gegèlrè (Gängeler) him dèr niks fon
wèg niimèn. Wein jö det terp rund wìrèn, dein gigèn jo wièr in det wershüs,
un dèr wudèn do àièrè un wustè fèrtérd. Dan gigèn dö fentè dì ènè hir, dì
iter dèr un heddèn dö wuchtèrè eter ’t wèrshi/s töu. Dö wuchterè mòstèn halèd
1) Die Etymologie ist völlig unsicher. An die Bedeutung „Gartenschere“ ist nicht
zu denken; eher könnte in tun der Begriff „flechten“ (zäunen) und in sker der Begriff
„Stock, Stütze“ gesucht werden (vgl. mnd. schare, scharlatte, siehe auch scher-latte Doornkaat,
Wb. III, 116), also etwa „ein mit Zaunwerk versehener Stab“. Schmeller verzeichnet
„Zaunscher“, eine Art Fischzeug, s. bayr. Wb. II, 452. 1130.
2) Der Steffen oder Pferdesteffen (Wodan?) spielt auch auf Wangeroog, in den Dit-
marschen etc., eine grosse Rolle. Nach Strackerjan (II, 40) sind im Saterlande Kuchen-
eisen mit Pferd und Reiter im Gebrauche.
Das Saterland.
273
welde: den dei gigen ze fon seinen der nit wei. Dan wude wier dönsed sö
löge as ze wilen.
Di te'-sdei (Dienstag) det was bekensdei, ddn hebe die triö sespele (drei
Kirchspiele) eter Römelse geen; in ja Römelsder serke hed en gröte löndkiste
sten, wir die popire fon ’t Selterlöund dnwiren. Der wüden ok an öpbiwdred
dö ikemestere hire sehen (Sachen), töllm belspil enster, fiödep, krüs un dl wet
dö ikemestere (vgl. S. 250) brühe mosten. Ddn wüden op det Römelsder serkhow
dö burgemestere weled un ök dö schütemestere, dö wiren az nü dö feldhgtere.
Wan det nü deln (gethan) was, dan gigen dö Römelsder med dö Holener eter
Klompketile. Ddn hiden ze suke bekene fon stre1, dö wiren fon stre1 töhöpe
bänden, un ddn gig det ene terp jün ’t üer (gegen das andere), ddn scheuen
un trögen (schoben und drängten) ze sik un singen sik med dö bekene. Di
ddn ürreg (zurück) moste, di hid ferleden (verloren) un moste ddn me med
dö Her eter hire wershüs töil. Dein witd öunfdted (angefasst, d. h. angefangen)
töu donsjen un biör un füzel töu drigken. [Un wan det dan deln was, ddn wud
di foseleünd anerwaine (irgendwo) bigreün. Det hebe ik nit blöuked (gesehen),
man det hebe ik fertelen herd.] Un ddn wüd donsed sö löge, töu twelu vre, un
dermed was di foseleünd töu ende.
Nach einem anderen Berichte fand das „Gängeln“ schon eine Woche
vor Basnacht statt: acht dege für foseleünd ddn biselden (benähten) dö fente
hire höude med popir un gigen in tweln köpele, gröte un litje, ale terpe in ’t
Selterlöund trug um äiere un wüste un sogen derbi midwinterssoge; dö eifere
un wüste, dö biwdrden jö op töu foseleünd.
Diese Darstellungen weichen in einigen wesentlichen Punkten von
denen Strackerjans (II, 36 fgg.) ah. Dass die Rollen beim Einsammeln
der Gaben an den Eierülk, den Judas und den Wurstberend verteilt sind,
ist jedenfalls erst eine spätere scherzhafte Zuthat; nach meinem Berichte
ist unter den Gänglern „der Mann mit dem eskepyt“, der an den „Hans
Muff“ mit dem Aschensack erinnert1). Ton den „midwinterssoge“, die diese
Leute anhuben, ist mir nicht das Geringste bekannt geworden. — Der
Haupttag der Fasnachtszeit war der bekensdei, wahrscheinlich zugleich
die grösste Feier des ganzen Jahres, gleichsam ein Stiftungsfest der sater-
ländischen Verfassung (s. oben S. 249). Eine ganz ähnliche Feier des
Winterschlusses, die mit dem grossen Frühlingsthing verbunden war, hat
sich in Nordfriesland erhalten: sie ist auf Petri Stuhlfeier übertragen
worden (22. Februar). Die Hauptsache war da früher das Bikenbrennen; es
ist allmählich zu einer Belustigung der Kinder herabgesunken (Müllenlioff,
Schlesw.-holst. Sagen S. 167; Jensen a. a. 0. 354 fgg.). Nach Strackerjans
Bericht wurden auch im Saterlande die bekene (afrs. beken — gerrn. *baukin-,
1) Die Deutung dieses Namens durch Simrock (Myth.6 548) ist unhaltbar. Nicht
weil er die Kinder in den Muff steckt, sondern wegen des schlechten Geruches, den er
mit seinem Aschensacke verbreitet, heisst der Mann „Hans Muff“. Um einen besonders
schlechten Geruch zu erzeugen, wird im Saterlande die Asche nass gemacht.
19*
274
Siebs:
ygl. ahd. bouhhan = germ. *baukan-), d, h. die Zeichen (Baken) angezündet,
und damit ward unter wildem Geschrei ein Fackellauf über die Felder
gemacht. Meine Angaben reden davon nicht, wohl aber von einem
Scheinkampfe, der zwischen den Dörfern Ramsloh und Hollen bei
Klompketüe (d. h. Klampensteg), hart an der Grenze der beiden Bauer-
schaften stattfand. Vielleicht waren ursprünglich beide Bräuche neben-
einander vorhanden, und später ist das Fackellaufen abgekommen. In
gleicher Ursprünglichkeit wie im Saterlande hat sich wohl nirgends das
Scheingefecht erhalten (vgl. Mannhardt, Baumkult 548 fgg.). Ob es den
Kampf des Sommers mit dem Winter darstellen sollte, der schliesslich
gefangen und begraben ward, und ob die anderwärts üblichen Wettläufe,
Yogelschiessen u. dgl. Ab Schwächungen ähnlicher Kämpfe sind, lässt sich
nicht erweisen. — Was Strackerjan von einem „Runenbouk“ berichtet,
klingt unglaublich; jedoch die Mitteilung aus Barssei, dass dort ein alter
Ehemann zu Fasnacht eine Fahne über die neuverheirateten Männer ge-
schwungen und sie ermahnt habe, ihren Weibern treu zu sein, scheint,
wie so mancher andere Fasnachtsbrauch, auf die Verehrung des Thuner
zurückzuführen (vgl. oben S. 267).
Ostern.
Wan me op de liebreg (Ilebrücke) stünt un in ’t nöde (Korden) kiket,
dan siucht (sieht) man halk öugerx), wir tofädene (zuvor) det päskefiür öbadend
(abgebrannt) wude. In de wlke fär päsken slipende (schleppten) dö fente
busk un strük töhnpe, en gröten berig, well az en hüs hoch, un wan 't dan
päskemöndai was un ’t beginde dunker tö weden, dan kernen ale Ijfjde öld un
jug der iöhöpe un dan wude det päskefiür önstikt (angesteckt). Man det fiür
detö moste med stel (Stahl) un sten ivonen wede. Wan det fiür dan lystig
badende, donsende fente un wuchtere derüme tö, bikeden (bickten) med hlre
äiere, un wel det äi fon den ör styken (entzwei) slüch, di hide detselge wonen.
Wan det fiür dan mör ütbadend was, nömen dö fente gröte brönde derfon, dö
namden ze bekene un der ronen ze med herüme az wan ’t male (verrückte)
Ijfjde wiren. Was I fiür dan ütbadend, dan gegen ze in prosesiön eter serke
un gigen tree (dreimal) üm ’t höw (Kirchhof) un dan eter hüs; ölde Ijfjde
gigen ök wel ivier eter ’t päskefiür un häleden sik der 'n glöige (glühende)
köle her, wir ze in ’t hüs det fiür fon neen med önstikten. [Scharreier
Mundart.]
Der Tanz um das Osterfeuer, welches, wie auch das erste Herdfeuer
im Neubau, mit Stahl und Stein gewonnen werden muss, ferner das Eier-
bicken, der Fackellauf und der dreimalige Umgang um die Kirche — alle
diese Bräuche sind im einzelnen auch aus anderen Gegenden bekannt. —
1) bedeutet nicht etwa „heiliges Ufer“, sondern halk ist = ags. healic „hoch“.
Das Saterland.
275
Die Bezeichnung „pascha“ ist über ganz Friesland verbreitet, vgl. nordfrs.
püask (Amrum) westfrs. peeske.
Pfingsten.
Kristl hfmelfart — det ’s tjön (zehn) dege fdr pigstër — dein lôtëdën
(losten) âlë wuchtërë, wel jü königin wëzë schul, un raten (gaben) dan elk
en flftë hölu (472), dërfâr müden en höud un en krdns töustqld (eig. zugestellt,
d. h. bestellt).
Pir]stermöundai etër de lest tjöenst, dein moste dl ôldë kernig den fvgël op
’ë meine (Mühle) hebe, dein gig det jügföHk wai etër det königshvs un fërdrogkën
dër ën hôlyë tunë biôr, dë mdstë dl kônig âlë jïre rëkë (geben). Dan gigën
zë fon dër etër dë meine, Holënër un Rômëlsdër alë bë terpë, un dan wüd dër
kwëdën : ,,lëlt vs bëdjë, det gôd vs far üngluk blwârU un dein fâtëdë det fügël-
schjôtën öun. Dein schöt dl kônig ërstë trj-ë (dreimal), dein schöt dl fögd ëmàl,
un dein schöt dî mulër insën, un dân küd elk schiôtë sö gern (schnell) a’ dër
man wil. Dân wüd sö logë schëtën, det dl fvgël dërôu fei (herabfiel). Dein
körn ofte noch strid, waildet elke tërp den kônig hebë wil. Dân körn jü königin
med ën në'ën hôud un ën krclns derân un set’të den höud den op, dl den fvgël
ôuschëtën hidë. Dein moste dl ölde könig — di hidë en tin’nën fvgël in ’t
knöpgat bumëljën — den möst hl dën dwö (thun, d. h. geben), dl den fvgël
ôuschëtën hidë, un dl was dan det jlr kônig. Dân nöm dl nëkè kônig sin nëëê
königin un dl ôldë sin ölde königin in ’n irëm (Arm) un gigën etër ’t wërshvs
wai, un dër âl det föHk bëftë In un dl fiôlënstrlkër (Geigenstreicher) gig
fârôp. Dân dànsëden do bë pör (die beiden Paare) triö splle (drei Spiele,
Tänze) alênë, un dân donsëdë âl det föHk.
Jü nâcht far pigstërmowndai dân wüd ën gröten mâibôrn far det wërshvs
ôpriucht’, bupë med ën twërstok (Querstock), op ’ë ëne sidë ën holtënë scliigkë,
op ’ë vër sidë ën putéljë. Wân zë dân den vër dai ën zet (eine Weile) donsëd
hidën, dân donsëden zë vm den mâibôrn tôu, un dân mostë dl kônig un jü
königin an den mâibôrn stôllndë un hebë med sik bëën (miteinander) an tâske-
döuk tôu pâkjën (packen), dër donsëden dô ûër (die anderen) dân âl vrhër
(drüberher). Dân gigën zë etër dô neistë nâbërhüzë, un dân mostën dl kônig
un jü königin bï ’t fiür stôundë med den tâskëdôuk, un dër donsëden zë dan
wler âl vrhër rund üm ’t fiür tôu. Dân gig ’t wier etër ’t wërshvs tôw. Un
sö iz det in ôldë tfden wëzën, man opstüns (zur Stunde, d. i. jetzt) flrt elkë
terp fâr sik det fügëlschiôtën op pigstërmôundai.
Unter dieser Fülle von alten Bräuchen, welche die saterländische
Pfingstfeier ausmachen, stehen mehrere ganz vereinzelt da. Maifest und
Yogelschiessen sind hier, wie man es öfters findet, miteinander verschmolzen,
und Sonnwendbrauch ist in dieser Feier aufgegangen. Maikönig wird, wer
im Wettschiessen Meister bleibt: ihm wird, als dem besten Schützen, das
Zeichen des zinnernen Yogels übergeben, und von der Königswürde ergreift
276
Siebs:
er Besitz, indem ihm die Maikönigin1) den Hut aufsetzt. Während in den
meisten anderen Gegenden der König selbst seine Braut wählen darf, wird
diese hier unter den Mädchen des Dorfes schon zu Himmelfahrt ausgelost.
Ihr Kranz und des Königs Hut werden auf gemeinsame Kosten beschafft.
Elf Tage später, am Pfingstmontag, erst findet das Yogelschiessen statt.
Bei diesem sind zwei Punkte besonders auffällig: vor allem das Gebet zu
Beginn der Feier, das dem Ganzen eine eigenartige Weihe giebt. Und
ferner: im Saterlande wird der Yogel nicht von einer Stange oder vom
Maibaum, sondern von einem Flügel der Windmühle herabgeschossen, und
nächst dem vorjährigen Könige und dem Yogte hat der Müller das Recht,
vor den anderen Leuten zu schiessen. — Der zweite Teil der Feier spielt
beim Maibaume. Das ist (II, 52) eine Birke1 2) mit einem Querstocke, von
dem auf der einen Seite ein hölzerner Schinken, auf der anderen eine
Flasche herabhängt. Dass man den Maibaum mit Trink- und Esswaren
schmückt, wissen wir auch aus anderen Gegenden3), und den Erntemai
zierte man gern gerade mit Würsten, Schinken, Weinflaschen und dergl.
(vgl. Mannhardt, Baumkult S. 170 —172; 202 fgg.); dass man aber einen
hölzernen Schinken und eine leere Flasche aufgehängt hätte, ist mir
sonst nicht bekannt. Yon der Sitte (II, 78) dass vor Zeiten auch im Sater-
lande ein Erntemai aufgerichtet ward, ist keine Spur bewahrt; ist dieser
Bericht aber glaubwürdig, so liegt die Yermutung nahe, dass der erwähnte
Schmuck des vor der Ernte errichteten Maibaumes etwa einen Gegensatz
zum herbstlichen Erntemai bilden sollte, der mit einem wirklichen
Schinken und einer gefüllten Flasche geziert war. — Der Maibaum wird
umtanzt, und dann müssen alle über ein Taschentuch springen, das von
dem Königspaare gehalten wird. Wahrscheinlich ist dieser Sprung ein
Rest der anderwärts üblichen Sitte, über das Sommersonnenwendfeuer zu
springen. Dass Tänzer und Tänzerinnen dann von Hof zu Hof gehen, ist
ebenfalls für andere Gegenden (vgl. z. B. Kuhn, Märkische Sagen S. 327)
bezeugt, wie denn überhaupt ein Pfingstumzug vielerwärts stattfindet4). Es
darf als sicher gelten, dass dem Gewittergott Thuner ein Anteil an dem
Mittsommerfeste zukam (vgl. auch Hillebrandt, Die Sonnwendfeste. Festschr.
f. Konrad Hofmann S. 339). Da nun jener Sprung über das Tuch sich
beim Umgänge um die häuslichen Herde wiederholte, so mag man darin
1) Yon der Pflicht einer Gegengabe (II, 52) ist mir nichts bekannt geworden.
2) Die Birke heisst dl rlzene böm; der Vogelbeerbaum (Eberesche) heisst meines
Wissens niemals mäiböm, wie Strackerjan II, 52 meint, sondern кичке oder drozclkeb&eböm.
8) Selbst in grossen Städten findet man Reste dieses Brauches bewahrt. Ich erinnere
mich, dass noch etwa vor 25 Jahren stets auf dem Bremer Schützenfeste eine hohe, mit
Seife beschmierte Stange errichtet war. Sie war mit einer Krone geschmückt, in der Ess-
waren, bunte Tücher u. dergl. hingen. Die Knaben, die den Stamm erklettert hatten,
durften sich ein Stück herabnehmen.
4) Pfingstprozessionen haben sich namentlich in katholischen Gegenden erhalten,
nach Strackerjan II, 52 auch im Saterlande.
Das Saterland.
277
eine Spur des Thunerkultes sehen, umsomehr als in diesem das Tuch auch
sonst eine Rolle spielt (s. oben S. 267. 274).
Ernte und Sonstiges.
Tickte bl kalk öuger leze (liegen) enige ekere, dö Pipkeberig hete, un fluks
derart synt örs en’ge ekere, dö man Schyrionswerft namde, un hlran leit det
ölde höf, wet nü ök rögenekere synt. Nit flr derfon iz det melenkiys (Mühlen-
kreuz), wir ze töfärne uner aden ’s eünds, wan ’t miöen (Mähen) den (gethan,
fertig) was, töhöpekemene, medere un binstere (Mäher und Binderinnen), un
der wcdden, det hat dt ene pake de den ör bl de bene un walterden sik sö heräme
[Scharrel]. Wein dl röge tö"hiis was, dän wud der ädenbiör beiden (Ernte-
bier gehalten); dän wa’ der mvzlk in ’n wershüs, der giy det jurje föulk äl
waine (hin), ök dö juge kerle (Ehemänner) un wtue, un dän wud der dönsed
un fiksen (tüchtig) drögken bet möundegs midens (morgens), det wäs stilsw'igend
(stillschweigend, d. h. „in der Regel“) ältld ädenbiör [Utende].
Von den Erntebräuchen, die Strackerjan (II, 78; vgl. Kuhn, Nordd.
Sagen S. 395) nennt, ist mir nichts erzählt worden: weder dass man einen
Erntemai errichte, noch dass man gleichzeitig mit dem Mähen fertig zu
werden strebe und zu Ende desselben einen Haufen (Peterbeltf) stehen lasse.
Die Flasche, die man zu Bokelesch zuletzt in den Roggen legt, haben wir
als Symbol der Fruchtbarkeit bereits am Maibaume kennen gelernt (vgl.
Schade, Sage von der heiligen Ursula, Hannover 1854, S. 89). Wie sich
hierin die Bräuche vor und nach der Ernte, die Bitt- und Dankopfer,
ähneln, so auch findet sich das im Saterlande bei der Ernte übliche
„wäle“ der Mäher und Binderinnen in anderen Gegenden als Maibrauch.
Während in Kelbra bei Sangerhausen Schnitter und Schnitterinnen bei der
Ernte sich paarweise einen Hügel hinabwälzen, berichtet englische Sitte
„the rolling of young couples down Greenwichhill, at East er and
Whitsuntide“ (Mannhardt, Baumkult S. 480 fgg.). Dieses Wälzen und
das Beilager auf dem Ackerfelde berührt sich mit altindischem Kulte und
muss ein uralter Brauch gewesen sein, der einer Fruchtbarkeit spendenden
Gottheit galt (vgl. Alfr. Hillebrandt a. a. 0. S. 336 fgg.). Wenngleich der
Zeugnisse aus germanischen Ländern sehr wenige sind, vermag ich für
friesisches Gebiet noch zwei Belege beizubringen. Die Sitte wird auf dem
nordfriesischen Festlande geübt und heisst in der Gegend von Niebüll
„■m&dewälern“ d. h. „Matwälzen“. Für Helgoland bezeugen ähnliches die
„Schleswig-Holsteinischen Anzeigen von 1750“: Bursch und Mädchen legen
sich altem Herkommen gemäss ins Korn, er kriecht unter ihre faltenreiche
Kortel; eventuell heiratet später der Kortler die Kortelfamel, und dafür
muss an die Obrigkeit eine Strafe erlegt werden (vgl. auch Schütze, Holst.
Idiot. II, 327). — Das ädenbiör (Erntebier) bietet zu Erläuterungen keinen
Anlass.
278
Ilwof:
Weitere Sitten und Bräuche, die sich auf die Landwirtschaft be-
ziehen, teilt Strackerjan mit, andere werde ich an späterer Stelle einflechten
— es sind Bauernregeln. Was unter der Erde wachsen soll, muss bei
abnehmendem Monde gepflanzt werden, alles Andere bei zunehmendem;
in der Galluswoche (vgl. unten Kap. VII) darf nicht gesäet werden; in den
blauen sechs Wochen (St. Thomas bis Lichtmess, 21. Dezbr. bis 2. Febr.)
müssen die Eichen beschnitten, am Weihnachtsmorgen die Bäume um-
wickelt werden; Jakobi soll man das Roggenmähen beginnen, zu Johannis
die Heidschnucken scheren u. a. m. (Schluss folgt.)
Allerlei Inschriften ans den Alpenländern.
Gesammelt und mitgeteilt von
Franz Ilwof.
Auf meinen zahlreichen Wanderungen durch die österreichischen,
deutschen und Schweizer Alpen, auf meinen vielen Kreuz- und Querzügen
zu Wagen und zu Fuss, über Berge und durch Tliäler, von Ungarns West-
grenze bis in die Mitte der Schweiz, habe ich — allerdings nur nebenbei
— meine Aufmerksamkeit auch auf Inschriften gelenkt, welche ich an den
Häusern, auf Brunnen, Grabsteinen etc. aufgezeichnet fand und dieselben,
wenn sich mir Zeit und Gelegenheit bot, abgeschrieben.
Ohne irgendwie auf Vollständigkeit oder Systematik Anspruch zu
machen, stelle ich sie hier zusammen* 1), geordnet nach Ländern, mit
Steiermark beginnend und mit einer Inschrift aus der östlichen Schweiz
schliessend, und füge einigen kurze Anmerkungen bei.
Aus Steiermark.
Beim Bockwirth ist es hier genannt,
Hier kriegt liian Bradel allerhand,
Auch Suppen, Fleisch und Wärst daneben,
So dass man kann recht lustig leben;
AVer Geld hat, der geh’ da hinein,
Beim Bockwirth ist guts Pier und Wein,
AVer aber keins im Beidel hat,
Der geh vorbei, ist kein Schad.
Auf einem AVirtshause in Sehladming an der Enns.
1) Zugleich als Nachträge zu Ludwig von Hörmann, „Grabschriften und Marterten“
I. und II. Folge (Leipzig 1891) und zu desselben „Haussprüche aus den Alpen“
(Leipzig 1892).
Allerlei Inschriften aus den Alpenländern.
Gott dem Herrn trau ich,
Auf sein Wort bau ich.
Auf einem Hause in Neumarkt.
(Zu oberst das Bild eines umgekehrten Stiefels.)
Weil die Welt jetzt ist so aufgeklärt,
Drum ist der Stiefel umgekehrt.
Soll die Welt einst anders werden,
Kommt der Absatz wieder auf die Erden.
Auf dem Schilde eines Schusters zu Maria Zell (vgl. Haussprüche aus den
Alpen von Hörmann, S. 111. 179).
Dieses Haus steht in Gottes Hand,
Beim Seewirth ist es genannt.
Liebe Gäste kommt herein,
Ihr werdet gut bewirthet sein
Mit Branntwein, Bier und echten Wein
Und mit verschiedenen Speisen,
Auch wird man Freundschaft euch erweisen.
Auf dem Hause des „Seewirth“ am Erlafsee bei Maria Zell.
Glückh kombt offt
Wof man nit hofft
Aber vil eher
Kombt ohnglük her.
gefchrieben den 26. Juni 1650
Ullrich Graff zu Sultz.
Mein & in mier
Deil ich mit dier
brichß ich an dier
fo rechß gott an mier
vergiß ich dein
fo vergiß gott mein
daß foll vnßer Beder ferbintnuß Tein.
Ulrich Graf zu Sultz 1640
Anna Katharina Gräffin zu Sultz
geborne Gräfin zue hohen Embs.
Im runde Gläser der in die Stadtpfarrkirche zu Murau sich öffnenden Fenster
des fürstlich Schwarzenbergischen Oratoriums eingeritzt.
Der Steinsockel des grossen schmiedeeisernen Brunnengitters, eines
Meisterwerkes der Schmiedekunst, auf dem Marktplatze zu Bruck an der
Mur, trägt folgende Inschriften:
Im 1626 Jahr
Von Gmainer Statt
ich Erpavet war.
280
Ilwof:
Destwegen bin ich
worden graben,
Das man ein kielen
Trvnckh kan haben
Und mag mich drinckhen
Ohne Sorgen
Hat man kain Gelt
So thve ich borgen.
Umb wegen Hebe-
Lions Gefahr
Die Stadt Linz
Belegert gar1)
Der Bartl mai Linzer
Marckh hie Gehalten war.
U
\ y/ Ich arbeit das Lader mit Pleiss
Meinem Herrn zn Nutz und mir zu Preiss.
Auf dem Hanse eines Lederers in Übelbach, nördlich von Graz, unter dem
Bilde eines in Arbeit begriffenen Lederers.
Im 1629 er Jahr
Defs Monath October fürwahr
Thät dieser Elephant allda Stallung han,
Ihn habn gesehn viel Fraun und Mann
Ob freud und verwundern sich sehr.
Den Allerhöchsten Lob und Ehr
Dass Elephant so klar und fein
Giebt zu erkennen die Allmacht sein.
Unter dem Bilde eines Elephanten im Hofe des Gasthofes zum Elephanten in
Graz. (S. 283 sub „Brixen“).
Hier unter diesem Leichenstein
Ging dieser Mann zur Prüfung ein,
Er wartet auf die ewige Huh’,
Er drückt erst ein, dann beide Augen zu!
Auf einem Grabstein im Friedhöfe von St. Leonhard in Graz.
Betrübtes Beingerüst von einem alten’Sünder
Erweiche, Stein, das Herz der neuen Bosheitskinder.
Auf einem Grabstein im Steinfeld-Friedhofe in Graz.
Gott lieben macht selig,
> Wein trinken macht fröhlich,
Drum liebe Gott und trinke Wein
So wirst du selig und fröhlich sein.
Auf dem Gasthause „Eichberger“ auf dem Buchkogel w. von Graz. Derselbe
Spruch von fünf anderen Orten bei Hörmann, Haussprüche, S. 156.
Wir pauen hoch und fest
und seyn nur fremde Gäst,
wo wir werden ewig sein,
pauen wir nur wenig drein.
An einem Hause in Ligist. Derselbe Spruch, in etwas verderbter Fassung,
stund an dem Kanzlergut bei Tobelbad und an einem Hause in Badegg bei Tobelbad.
1) Im Sommer 1626 wurde Linz in Ober-Österreich von den aufständischen Bauern
unter der Führung des Stephan Fadinger belagert und daher der Bartholomäus-Markt statt
in Linz in Bruck an der Mur abgchalten.
Allerlei Inschriften aus den Alpenländern.
281
Fang an mit Gott, mit Gott hoer auf,
Das ist der schoenste Lebenslauf.
Michel Reisch bin ich,
Das Gebet mach nicht für mich
Und nur für dich,
Wenn ich stirb so bet für mich.
Das Haus ist für dich und nicht für mich.
Wer nach mir kommt beth für mich. 1818.
An einem Hause zu Gösting bei Graz.
Peter Schröck bin ich genant,
Der Himel ist mein Vaterland,
Die Welt .ist nur ein schlechte Stadt,
Da kein Mensch zu bleiben hat.
An einem Hause an der Pakalp.
Alle Zeit lustig ist gefärlich
Alle Zeit draurig ist beschwerlich. w
Lassen wir nur Gott gewalden,
Hat uns stehts besorg, wird uns noch erhalden.
An einem Hause in der Liebenau bei Graz.
Allda thut man
Hassen — Verachten — Lieben
Die Schalkheit — die Laster — den Frieden
Schuitzen — Ehren — Verfechten
Die Armen — die Frommen — die Rechten.
Umschrift auf dem Wappen des Marktes Deutsch-Landsberg, sw. von Graz.
Auf dem Brunnen in der Burgruine Wildon, s. von Graz.
In fridt bin ich dahin gefarn,
Den meine äugen gesen habn
Dein Haylandt Herr von dir bereit
Zum liecht der ganzen christenhait.
Indess rue ich in diser grufft
Biss auff meins Herrn widerkhunfft.
jGottes Wille sei mein Ziel,
Weil Gott nur das beste will.
Gott Avoiss dich überall zu finden,
Drum hüte dich vor allen Sünden.
Dieses Haus ist gut gebaut,
Gott dem Herren anvertraut.
Zum Wirtshaus gut bestellt,
Hier bekommst was gefällt.
Haussprüche aus Ligist.
An einem Hause auf der Pakalp (Übergang aus Steiermark ins kärntische
Lavantthal).
Pist durschtig, gehe her
Und' lab dich hier.
Auf dem Grabstein des kais. Rates Sigmund Schrott zu Khindberg, gest. am
11. Juni 1571. Tn der Pfarrkirche zu Cilii.
282
Thvof:
\ Das ist des Jägers Ehrenschild
Dass er bewacht und hegt das Wild.
Auf dem Hause eines Jägers bei Cilli.
Aus Ober - Österreich.
Man nennt das grösste Glück auf Erden
Gesund zu sein!
Ich sage nein.
Ein grösseres Glück ist gesund zu werden.
Auf der Sophien-Esplanade in Ischl.
(Oben eine Hausmarke mit der Jahreszahl 1585.)
Yicentz Pavdinger gmachd.
Wo Got zum Haus nit gibt sein Gvnst
So Arbeit iedermann vmbsvnst. Psa. 127.
(Wo der Herr nicht das Haus bauet, so arbeiten umsonst, die daran bauen.
Ps. 127, 1.) Auf dem Hause Nr. 5 auf dem Stadtplatze zu Gmunden. Auch bei
Hörmann, Haussprüche S. 107, jedoch nicht vollständig und wortgetreu.
Der Ochs hat Fleisch und Bein zum Laufen,
Darum kann ich das Fleisch ohne Bein nicht verkaufen.
Auf dem Hause eines Metzgers zu Hallstadt.
Aus Salzburg.
Trag nichts hinein, trag nichts hinaus,
- V So bleibt der Friede stets im Haus.
Auf einem Hause zu Zell am See. (Ygl. Hörmann, Haussprüche, S. 104
und 112.)
Das Beste ist auf dieser Welt
Dass Tod und Teufel nimmt kein Geld,
Sonst müsst gar mancher arme G’söll
Oft für einen Reichen noch in d’Höll.
Auf einem Hause zu Hallein. (Derselbe Spruch auf einem Hause zu Imst in
Tirol. Hörmann, Haussprüche, S. 136.) f ^ ^ v \ ^,
ii li
Gott ist mein Herr und Schöpfer \>r S- ■ ' b-
Ich bin der Thon, ,.er ist der Töpfer.
Auf den\ Hause eines Töpfers zwischen St. Johann im Pongau und Lend.
Dieses Haus gehört mein und doch nicht mein,
dem zweiten wird es auch nicht sein,
den dritten trägt man auch hinaus,
Und wenn der Tod kommt vor die Thür,
So gehts dem vierten so wie mir.
Lieber Freund jetzt frag ich dich,
Wem gehört dies Haus?
Am Hiesenbauerhaus am Wege auf den Gaissberg bei Salzburg.
Allerlei Inschriften aus den Alpenländern.
283
Aus Tirol
Lieber Gast komm schnell herein,
Hast Du Geld, so hab’ ich guten Wein;
Hast Du kein Geld, so magst drüben einkehren
Da steht ein Brunnen mit zwei Röhren.
Auf einem Wirtshaus im Brixenthal.
Und doch nicht mein. !/'
Auf einem Hause bei Imst im Oberinnthal. (Vgl. S. 282 und Hörmann, Haus-
spriiche, S. 125—128.)
Der älteste Gasthof in Brixen, der seit 1545 besteht, trägt noch jetzt
„als des Hauses Schild und Zier, das Elephantenthier“. An der Westseite
des Hauses stellt ein wiederholt aufgefrischtes Freskobild den Elefanten
in natürlicher Grösse mit Führern und Begleitern, teils in orientalischer,
teils in spanischer Tracht, vor. Dabei folgende Inschrift:
Als man zalt 1551 Jar den 2. tag Januari fürwar
AVas dies thier Elephandt in Teutschland unerkant
Gott well das haus in seiner verhuetung haben
Des Inhaber leib, ehr unnd guet allezeit bewaren.
Anno 1645 hat Lenhart Eschpaur Miller dis wider verneuweren lassen1).
Der erste Elefant, der in Deutschland gesehen wurde, ist derjenige,
welchen Harun al Raschid, der Khalife, Karl dem Grossen als Geschenk
1) Ein anderer auf demselben Gasthofe befindlicher Spruch bei Hörmann, Haus-
sprüche aus den Alpen, S. 157. — Vgl. zu beiden den S. 280 angeführten Spruch auf dem
Gasthofe zum Elefanten in Graz.
AViewohl dies Haus ist ganz klein,
So scheint gleichwohl die Sonn’ herein.
Christus, die Sonne der Gerechtigkeit
Scheine herein zu aller Zeit.
Auf einem Hause bei Imst.
Ich achte meine Hasser
Nicht mehr als Regenwasser,
Das von dem Dache fliesst.
Und ob sie mich beneiden,
Sie müssens dennoch leiden,
Dass Gott mein Helfer ist.
Auf einem Hause zu Mayrhofen im Zillerthal. Vgl. Hörmann, Haussprüche,
Seite 6.
Allhie durchgfuerdt worden zu eeren den grossmächtigen
Fürsten und Herrn
Maximilian zu Behem Künigreich Ertzherzögen zu Ostreich.
Andre Posch die liess malen Lenhart Mair ditz verfaren.
284
Ihvof:
sandte (Einhard, Yita Karoli, caput 16; Monachus Sangalleusis II. 8), und
der den Namen Abul Abbas trug; er wurde dem Kaiser am 19. Juli 802
zu Aachen vorgeführt (Einhard, Annales ad annum 801, 802). — 1443 soll
ein Elefant auf der Messe zu Frankfurt a. M. gezeigt worden sein, 1482
wurde ein solcher zu Köln bewundert, 1563 ebenda jener Elefant, den
König Philipp II. von Spanien dem Kaiser Ferdinand I. schickte. — Der
Elefant, der im Jänner 1551 durch Brixen zog, war jener, ein männlicher
asiatischer, den Erzherzog Maximilian, später Kaiser Maximilian II. aus
Spanien mitbrachte; im März 1552 kam dieses Tier nach Wien, wurde
dort im April zur Schau gestellt und später in die Menagerie nach Ebers-
dorf auf dem Marchfelde gebracht1).
In dem Speisesaale des Gasthauses zur Post in Füssen am Lech in
Bayern befindet sich ein Ölgemälde, die Stadt Füssen darstellend, oben
rechts das österreichische, unten links das bayerische Wappen zeigend, mit
folgender Inschrift, welche sich auf den dortselbst am 22. April 1745
zwischen Maria Theresia und dem Kurfürsten von Bayern, Maximilian III.
Josef abgeschlossenen Frieden bezieht:
Europa singt der Freuden Lied,
was man sobald geglaubet nimmer,
geschähe doch, es wurde Fried,
Und zwar anheut in diesem Zimmer.
Hier wurd der tapfern Guelphen Haus
mit Österreich gesöhnet aus,
es grüne Bayrn und dem nichts gleich
das höchste Haus von Österreich.
Füssen den 24. April 1745.
Aus der Schweiz.
Hier liegt Hans Gottlieb Lamm,
Er starb durch’n Sturz vom Damm,
Eigentlich hiess er Leim,
Das passt aber nicht in’n Reim.
Grabschrift auf dem Friedhofe zu Rorschach am Bodensee.
Nun mögen zwei lateinische Inschriften folgen, die mir beide beachtens-
wert scheinen, die eine, weil sie, ein Chronogramm enthaltend, auf einem
schlichten Bauernhause in einem Tiroler Dörfchen steht, die andere, als
historisches Denkmal und wegen der edlen Gesinnung, die sie zum Aus-
druck bringt.
PaX VIVa hVIC DoMVI CaeterlsqVe IntrantlbVs.
.„-•Auf einem Bauernhause zu Virgen im Iselthale in Tirol (1746).
1) A. Kaufmann, Über Tierliebhaberei im Mittelalter. (Historisches Jahrbuch der
Görres-Gesellschaft (1884) V. S. 399—423, bes. S. 409 f. und 423.)
Allerlei Inschriften aus den Alpenländern.
285
AVe
SanCta qVae ab IpsoMet Deo ConstltVta IVstltTa!
Haec in Aedibus his judiciariis caeca esse jubetur.
Divites ne respiciat, pauperes ne despiciat.
Sed jus suum cuique tribuat.
ProprIIs IMpensIs aedlfICarl flerlqVe CYraYIt
fran. Ant. Pps. Archieps Salisburg. S. S. Aplcae
Legat. Primas German. S. R. J. Pps ab Harrach.
(Auf dem alten Gerichtshause zu AYindisch-Matrei im Iselthale Tirols; über
der Schrift das habsburgische Wappen. — Franz Anton Graf von Harrach, geb.
1665, wurde 1709 zum Erzbischof von Salzburg erwählt und starb 1727. — Das
Iselthal, die Tauernthäler, die sich vom Yelber- und vom Kaiserbauern herab
erstrecken, sowie das Thal Defreggen gehörten im 18. Jahrhundert noch zum Hoch-
stifte Salzburg und wurden erst später zu Tirol geschlagen.)
Zum Schluss einen gewiss unbeabsichtigten „Kalauer“ auf einer Haus-
inschrift. Noch bis vor kurzem war auf einem Hause, seitlich von der
Keplerstrasse in Graz zu lesen:
Wir waren zum Fischen ausgefahren und hatten ausser Angelhaken
auf kleine Fische und Weisslinge auch die Grossangel mit und hatten eine
grosse Heilbutte bereits über das Wasser gezogen, da riss sie sich los und
verschwand mit Angel und Schnur auf Nimmerwiedersehen; kein Wunder,
dass wir uns über ihr Ausreissen und den Yerlust des guten Bissens
ärgerten. Doch dieser Ärger war bald vergessen; denn gleich darauf be-
kamen wir anderes zu denken, das erfreulicher war. Im Süden sahen wir
Wer auf- Gott vertraut
Hat wol gebaut.
und unmittelbar darunter in gleichen Schriftzügen:
Hier bekommt man gutes Sauerkraut.
Graz in Steiermark.
Bilder aus dem faeröisclien Volksleben.
Yon V. U. Hammershaimb.
Aus dem Fseröischen übertragen von Dr. Otto L. Jiriczek.
(Schluss.)
Grindabod.
286
Jiriczek:
ein Boot, das rasch mit dem Mast ein Zeichen gab1): die Fangschnüre
wurden eiligst eingezogen und wir drei ruderten, so scharf es nur ging,
auf die Grindwale zu. Nach einer Weile waren wir so nahe heran-
gekommen, dass man das Schnauben der Wale hörte; Wind und Wasser
waren regungslos still, die See stand wie gestarrtes Blut und die Berge
spiegelten sich in ihr. Die Herde erwies sich gross, wir schätzten sie auf
mindestens 800 Stück. Ein Boot war ihnen jetzt in den Rücken ge-
kommen und nun versuchte man die Herde durch Würfe mit dem ans
Schnürende gebundenen Senkstein zu treiben und sie in die gewünschte
Richtung zu lenken. Die Wale waren lammsfromm, flohen nicht vor den
Booten und Hessen sich mühelos aus dem Meere zu den Inseln locken.
Aber obwohl die Treiber froh waren, sie so nahe zu den Inseln ge-
bracht zu haben, schien es doch eine Zeitlang, dass sie nicht weiter zu
bringen wären; denn so oft sie glücklich um das Südende von Nölsö ge-
kommen waren, drängten sie sich um das Boot zurück und wollten ost-
wärts zurück in das offene Meer; sie mochten das Gefühl haben, dass sich
hier eine Schar abgelöst habe und wollten sich mit der Herde wieder
vereinen; — die Boote waren zu gering an Zahl und vermochten sie nicht
zu hindern, und die Ruderer begannen von dem vielen Rudern müde zu
werden; auch waren die Fahrzeuge schlecht bemannt: nicht mehr als drei
Mann in jedem Boote, und so konnten nicht mehr als zwei rudern, einer
musste auf dem Endsitze stehen und die Scheuchwürfe thun. Die meisten
befiel daher Missmut und sie sorgten darüber, dass die ganze grosse und
langwierige Mühe, die sie gehabt hatten, erfolglos zu werden drohte. Zu
allem Glücke war ein Mann auf der Südspitze, der Torf häufen mit Gras-
torf zudecken wollte; kaum hatte er die Boote erblickt, welche die Wal-
herde trieben, so lief er schon aus Leibeskräften in das Dorf, um die
Walbotschaft [Grindabod] zu überbringen; noch ehe er ins Dorf kam,
schrie er: Grindabod! Grindabod! so dass es weithin erscholl, und nun
rannte einer über den anderen mit dieser Freudenbotschaft im Tune, die
Kinder stimmten mit ein und jedermann stürzte in vollem Laufe zu dem
Bootsschuppen herab, um das Boot flott zu machen und die Walfang-
Gerätschaften hineinzulegen: Grindwalleinen, Walfischspiesse, Fischpicken,
Harpunen und Geröll, durch dessen Wurf die Wale gescheucht werden.
Frauen und Mädchen kamen mit Speisesäcken, Kisten und Strümpfen ge-
laufen. Sobald der Mann, der die Botschaft brachte, ins Haus gekommen
war und zuverlässige Nachricht vom Grindwal geben konnte, wurde an der
richtigen Stelle ein Signalfeuer für die Streymoyinger angezündet, und auf
Streymoy wurde mit einem Feuer erwidert und den nächsten Dörfern, die
das Feuer nicht sehen konnten, Botschaft gesandt.
1) Wird eine Walherde erblickt, so benachrichtigt man andere Boote durch Auf-
hissen einer Jacke (od. ähnl.) am Mast.
Bilder aus dem fseröischen Volksleben.
287
Die armen Leute, die bei den Walen liegen, abgemattet und erschöpft
und doch entschlossen, nicht nachzugeben, so lang der Arm noch ein Ruder
heben kann, sie arbeiten noch immer, obschon es ihnen aussichtslos er-
scheint, sich überanzustrengen; sie wissen ja von nichts, was im Dorfe yor
sich geht und wie nahe die Hilfe ist. Nun sieht das Finderboot die Lohe
auf dem Kuhberge [nördlich von Thorshavn], die Antwort zu Nes und die
Flammen in Strendur; die Besorgnis, es habe sie niemand vom Lande
erblickt, dürfen sie nun schwinden lassen — und doch wagen sie noch
nicht vollständig sich darauf zu verlassen, dass die Sache gut steht, dass
die Botschaft ihnen gilt; es könnte ja eine andere Walherde im Westen
sein, die dort verkündigt wird. Aber im selben Augenblick sehen sie auch
schon ein grosses Boot, dann ein zweites, drittes, viertes auf sie zuhalten.
Der Schaum sprüht auf, so rudern sie — es sind die Nölsoyinger, die da
kommen. Die Leiter des Fanges fahren auf das Finderboot zu und fragen
dort, in welche Bucht sie die Wale zu treiben gedächten; die Finder über-
lassen ihnen die Entscheidung, aber fügen doch hinzu, sie würden gerne
sehen, dass die Herde geradenwegs in die Thorshavnbucht hielte, wenn
nach ihrer Meinung Aussicht dafür wäre, sie dorthin zu lenken; die Finder
sind ja arme Leute und wollen natürlich ungern den grossen Fang aus
den Händen lassen, der ihnen zu erwarten steht, wenn es glückt, die
Wale zu töten. Die Leiter bitten nun die Treiberboote, die Herde gegen
Thorshavn zu treiben, und nun kam mehr Leben in das Treiben, denn
nun kam Boot auf Boot, alle mit frischen Kräften gut besetzt, und bald
waren ungefähr fünfzig grosse Boote, mit je acht bis zehn Männern be-
mannt, hinter der Herde, und die Flotte wuchs jeden Augenblick, indem
nach und nach die Boote, die einen längeren Weg zu rudern hatten, hinzu-
stiessen. Waren vorher bei der geringen Anzahl der Boote die Leute be-
sorgt gewesen, sie möchten zu schwach sein, um die Walherde geraden-
wegs in eine Bucht treiben zu können, so waren sie jetzt fast übermütig
infolge ihrer Menge und hielten jeden Zweifel an dem Gelingen für aus-
geschlossen; sie sollten bald eines besseren belehrt werden. Sie wollten
die Sache beschleunigen und die Wale zu schnellerer Fahrt antreiben,
ruderten daher knapp an sie und warfen Steine auf sie, doch allzunahe,
so dass die Wale scheu wurden und in unruhige Bewegung kamen; das
gefiel den meisten Treibern sehr gut, und sie ruderten so hart, dass sie
den Walen folgen konnten, und schlugen auf sie los; das wurde aber den
Walen zu viel, und husch! — sie tauchten unter. Schreien und Brüllen
und Getöse von den Rudern hatte bisher geherrscht — nun hielten alle
inne und es wurde so still und ruhig, dass man den schwächsten Laut in
der ganzen Flotte hätte vernehmen können. Alle zogen die Ruder ein
und hielten sie still, sie lauschten, ob sich kein Blasen vernehmen lasse,
sie standen auf den Bänken, um der Herde mit den Augen zu folgen und
zu erspähen, wo sie sei; — nichts liess sich hören, nichts sehen, die Wale
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 20
288
Jiriczek:
waren verschwunden. Ungeduld befiel die Männer, man griff wieder zu
den Rudern, ein Boot ruderte dahin, das andere dorthin, um die Wale zu
suchen, aber kein Wal liess sich sehen oder hören, und in manchem Boote
konnte man Flüche und Yerwünschungen gegen die, welche in ihrem über-
grossen Eifer ihnen den prächtigen Fang verdorben hatten, vernehmen.
Doch die Herde war nicht ganz verschwunden — unter der Ansiedlung
auf Nölsö sah man wieder mehrere Strahlen aufspritzen, ein Boot, das sich
in der Nähe befand, gab mit dem Mast ein Zeichen, um sie zu benach-
richtigen, und daraufhin fuhr das ganze Heer von Booten, das weit zer-
streut gewesen war, pfeilschnell und schäumend auf die Herde zu. Der
Syslumann und die Fangleiter ordneten nun an, wie getrieben werden solle
und passten wohl darauf, dass kein Boot den Walen zu nahe käme und
sie scheu mache, da sie Neigung zum Tauchen hatten. Nun glückte es;
die Herde liess sich über die Untiefen und Blindschären gegen die west-
liche Bucht zu treiben, dann wieder hinaus um Tinganes, die Boote legten
sich in dreifachem Halbringe vor, und nun ging es landwärts, gegen die
flachen Uferstrecken im Grunde der Bucht; jetzt war die Zeit für den
ersten Harpunenwurf gekommen, den einer der Leiter thnn sollte; die
Waffe sauste nach allen Hegeln der Kunst und fuhr einem der hintersten
Wale, der geradenwegs auf das Land zuschwamm, in den Schwanzteil,
knapp vor der Flosse; ein Blutstrahl wirbelte aus der Wunde, der Wal
wurde rasend, fuhr wie gepeitscht durch die Herde und teilte ihr seine
Raserei mit, so dass sie, einen nachstürzenden Wogenberg hinter sich,
davonrasten; die See türmte sich vor ihnen auf, wo sie fuhr, und wurde
von ihnen weit in das Land getragen; da spürten sie Grund und wollten
wieder in die See umkehren, doch ehe die vordersten Wale, die am
weitesten auf das Land geraten waren, sich zum Wenden anschicken
konnten, strömte die Flut von ihnen zurück und sie lagen im Trocknen;
die am Lande befindlichen Männer stürzen nun herbei und schneiden ihnen
den Hals auf, so dass das Blut in Strömen rinnt und das Meer rot färbt.
Jene Wale, die die letzten waren und nicht am Sande aufsassen, da sie
keinen Platz fanden, brechen sich nun gegen die Boote durch, die ihnen
mit Waffen und Steinen begegnen, und selbst wenn sie die erste und
zweite Kette durchbrochen haben sollten, geschieht es nur äusserst selten,
dass sie nicht vor der dritten umkehren; wohin sie kommen, werden sie
verletzt und gesteinigt, das Blut, in dem sie schwimmen, blendet sie, und
sie selbst wühlen die See bis zum Grunde auf; sie sind nun ganz rasend,
und gelingt es einem einzelnen Wale, alle drei Ringe zu durchbrechen,
so kehrt er oft von selbst wieder zu den anderen zurück, unter denen der
Mord wütet. Ja, hier herrscht Mord, und es ist schauerlich genug zu sehen
für den friedlichen Zuschauer auf dem Lande: hier stürmen einige Wale
an verschiedenen Stellen des Strandes an das Land, dort liegen Boote
mitten unter den Tieren, die Blut emporspritzen und sich hin und her
Bilder aus dem fseröischen Volksleben.
289
winden, aber harpuniert werden, wo sie zum Yorscheine kommen; andere
ermatten infolge des Blutverlustes, der grosse Haken wird in sie ein-
geschlagen und die Schnur ans Land gezogen, damit man sie aufziehen
und so schnell als möglich zur Blutgewinnung ihnen den Hals aufschneiden
könne; sonst beginnt das Fleisch zu faulen; man watet bis unter die Arme
ins Wasser, um das Ende der Schnur, an der der Wal befestigt ist,
entgegenzunehmen; alle haben die Hände voll Arbeit, überall, aus den
Booten wie vom Strande ertönen Rufe, und dazwischen hört man auch
Fluch- und Scheltworte. Kein Wunder, dass ein altes Wort umgeht, kein
Grindwalfang könne glücken, wenn Priester oder Weiber am Lande stünden
und dem Morde zusähen; — ob nicht der Ursprung dieses Wortes darin
liegen mag, dass sich die Männer genierten, sich in ihren Manieren bei
dem Todschlage der Wale sehen zu lassen?
Anderthalb Stunden sind vergangen, seit die Herde zugetrieben worden
war, und jetzt liegen 800 Wale tot auf dem Lande. Es ist so eng auf
dem mit Walen dicht belegten Strande, dass hier erst Platz geschafft
werden muss, ehe man an die Bezeichnung gehen kann, und darum ergeht
vom Syslumann die Aufforderung an die Walfänger, zu kommen und die
Wale nach Yägsbotn [ein Stadtteil von Thorshavn] zu schaffen. Darauf
kommt der Syslumann mit zwei Gehilfen, sie gehen von Wal zu Wal und
schneiden jedem Zahl und Wertzeichen in die Haut. Das Finderboot darf
sich jetzt einen Wal wählen; hier liegt einer, der auf einen „Gulden“
[„gyttin“ = Vie y,mörk“ (10,000 — 20,000 □Ellen Land)] und drei „skinn“
[= 7ao gyllinii'] abgeschätzt ist, den wählen sie, und der Mann dieses Bootes,
der zuerst die Wale gesehen hat, bekommt ausser seinem Anteil am Wale
auch den Kopf; ist der Wal fett, so hat er eine gute Tonne Thran aus
dem Kopfe allein. Ferner werden einige Wale ausgesondert, die als Ent-
gelt für jene Leute dienen, welche all den Fremden aus anderen Dörfern,
die hier versammelt sind, für die Zeit der Verteilung Speise und Trank
gewähren; das geschieht vor der Teilung der Beute. Dann wird geteilt
und ausgerechnet, wieviel auf ein Boot kommt, nachdem der vierte Teil
der Wale jenen zugefallen ist, die den Grund und Boden in jenem Distrikte,
wo die Waltötung stattfand, besitzen, i Eine Wache wird zur Bewachung
der Wale ausgestellt, damit nichts abhanden komme oder die Flut oder
Brandung keinen Wal fortschwemme; die anderen Walfänger fangen dann
an, in ihren nassen Kleidern zu tanzen, um sich warm zu halten und die
Kleider an sich zu trocknen, während im Laufe der Nacht die Vorarbeiten
zur Verteilung besorgt werden. 1 — Der Syslumann nimmt sich ein paar
Männer, die im Rechnen und Schreiben tüchtig sind; sie sollen nach der
jüngsten Bevölkerungszahl, wie sie um Neujahr war, herausbringen, wie
gross die Anzahl der Leute in jedem zum Waldistrikte gehörigen Dorfe
ist, und dann ausrechnen, was jedes Dorf als seinen Anteil in „Gulden“
und „skinn“ haben soll, ferner nach der Liste die Wale aussuchen, deren
20*
290
Jiriczek:
Abschätzungswert gerade die Summe, die ein Dorf erhalten soll, erreicht;
denn die Sache wird verwickelt, wenn man ein paar „skinn“ von einem
Wale zulegen müsste, dessen grösster Teil bereits einem anderen Dorfe
gehört; endlich wird für jedes Dorf ein Zettel mit den Nummern der Wale,
die ihm zufallen, geschrieben, und die Arbeit ist nicht so leicht ins Reine
zu bringen, wenn sie rasch geschehen soll, wie alle Walfänger wünschen,
um so bald als möglich heimzukommen, damit nichts von den Walen zu-
grunde gehe.
Die Westströmung ist in den Fjord [bedeutet faeroisch auch Sund!]
gekommen und mit ihm die günstigste Zeit zur Fahrt nach Yägar, der
Westseite von Streymoy, Hest und Koltur; die Leute aus dem Westen
werden daher ungeduldig und wollen vom Syslumann die Zettel bekommen
und treiben sich vor seinem Hause im Tune herum; doch er hat sich ein-
gesperrt, niemand kann hinein, ehe er fertig ist, und er darf sich nicht
stören lassen, sondern muss sich für alle Rufe nach Eile, die ihm aus dem
Tune hineingerufen werden, taub stellen; denn es kommt auf genaue
Teilung an, so dass man ihm nachher nichts vorzuwerfen habe. Doch die
Westmänner weichen nicht von der Thür; bekommen sie ihre Zettel nicht
jetzt, so verpassen sie die Strömung und müssen noch sechs Stunden
warten, ehe die Strömung wieder günstig ist.-------Jetzt öffnet sich die
Thür der Syslumannstube: „Zwölf „skinn“ per Boot!“ Die Nachricht wird
unter allen Walfängern in Eile von Mund zu Mund verbreitet; die Zettel
werden ausgeteilt und die Dorfgenossen machen sich nun daran, ihre Wale
aufzusuchen. Jetzt wird aufgeschnitten und in die Boote verteilt, soviel
sie nur tragen können; und bei dieser Arbeit stehen sie bis zum Gürtel
im Wasser, und in diesem feuchten Anzuge setzen sie sich in das Boot
und können nicht eher trockene Kleider anziehen, als bis sie nach Zurück-
legung des oft recht langen Weges heimgekommen sind. Man stösst vom
Lande ab und ergreift die Ruder, die Hauben werden auf die Ruderbänke
gelegt und der Dankpsalm erklingt von all den Booten, die in Hundertzahl
mit ihren schweren Lasten vom Lande abstossen; sind auch die Stimmen
nicht immer ganz rein, und wäre auch manches an der Melodiefärbung des
Psalmes auszusetzen, so hört man doch, dass die Herzensmeinung, die in
dem, was gesungen wird, liegt, gut ist, und manches Herz wird gerührt
und manches Auge feucht bei den Zuschauern, die auf dem Lande stehen
und auf die Schar blicken, die Gott lobt und ihm aus innerstem Herzen
für seine Barmherzigkeit und Gnade dankt.
Die Zeit wird den in den Dörfern daheim gebliebenen lang; volle
48 Stunden sind verflossen, seit jene auf die Walfischjagd ausfuhren, und
noch keine Nachricht; sie trösten sich damit, dass ein Entkommen der
Walherde, wie es leider oft geschieht, unwahrscheinlich ist, sonst wären
sie ja schon längst zurück; sie spähen und spähen mit sehnsüchtigem
Herzen, ob sich noch kein Boot zeigt, steigen auf Hügel, von denen sich
Bilder aus dem heroischen Volksleben.
291
der Ausblick auf das Meer weiter öffnet — nichts ist zu sehen, und alle
müssen sich in Geduld üben. — — Da erschallt der Ruf: „Die Boote
kommen!“ und man hört den Psalmengesang über das Meer; sie nähern
sich, und das ganze Dorf, Jung und Alt, eilt zum Landungsplätze, um den
müden und durchnässten Männern heisse Suppe oder Kaffee zu geben,
wenn sie auf das Land steigen. Die Boote sind bis zum Sinken belastet
und ragen kaum eine Handbreite über das Wasser, zwei Männer schöpfen,
eine schwache Brise kräuselt das Wasser am Strande. „Zwölf „skinn“ per
Boot, sechs für uns, die wir die Hälfte bekommen, und alles steht gut“
— das sind die ersten Nachrichten, die erfragt und freudig beantwortet
werden. Die Boote werden ausgeladen, und wenn die Beute gross ist,
wird oft nach kurzer Ruhe gleich wieder nach dem Reste gefahren. Ist
die gesamte Last heimgeführt, so wird sie unter die einzelnen Häuser nach
der Kopfzahl verteilt, da man 25 Leute auf ein Boot beim Walfang rechnet;
ein Dorf, das 200 Einwohner hat, erhält also derart acht Bootsladungen.
Doch wird nicht allen das gleiche zugeteilt, zwei Hausteile1) gehen auf
einen Mannsteil, wie ihn die bekommen, die die Wale so weit transportiert
und mit ihnen soviel Plackerei gehabt haben, und gewisse innere Teile
fallen speciell denen zu, die die Fische aufgeschnitten haben. Jegliches
Menschenkind im Dorfe, von dem alten Weibe, das nicht mehr arbeiten
kann, aber doch froh ist, soviel Thran verkaufen zu können, dass sie sich
Tabak kaufen und eine Prise gönnen kann, bis zum Kinde, das noch in
der Wiege liegt, bekommt sein Teil; — ist es zu verwundern, dass sich
alle freuen, wenn der Ruf erschallt: Grindabod!?
In der Spinnstube.
Die Tagesarbeit im Freien war vollbracht; die Knechte waren draussen
gewesen, um Heu zu schlagen und nach den Schafen zu sehen; der Haus-
wirt selbst hatte Heu vom Schober gezogen und den Kühen gegeben und
ausserdem einen Korb mit Heu gefüllt, um ihnen abends beim Melken
ein Büschel daraus zuzustecken; die Mägde hatten des Viehs gewartet, die
Kühe getränkt und den Stall gefegt. Nun waren alle in der Rauchstube
zusammengekommen, das Feuer loderte in der Esse, in der Glasstube
brannten dem neuangekommenen Gaste zu Ehren Kerzen und die Thran-
lampen in der Rauchstube wurden angezündet, denn der Winter hatte be-
gonnen; der Tag war kurz und der Abend lang und die Abendstunden
bis Weihnachten sollten zum Wollweben benutzt werden; es ist Landes-
brauch, sich mit der Wollarbeit zu beeilen, ehe im Februar die Ausfahrt-
zeit und Frühjahrsfischerei beginnt. — Die Kisten mit Wolle standen daher
auf dem Fussboden, die Spinnrocken mit Strähnen, Strick, Scheiben,
1) d. h. Anteil für die Hauslieger.
292
Jiriczek:
Rädchen und Spindel wurden hereingebracht und die Axen in die "Wand-
verkleidung oder vor die Alkovbettstellen eingesetzt und der Hausherr
wies nun jedem seine Arbeit an: die Burschen und jüngeren Knechte
sollten lcarden, die älteren spinnen. Die Mädchen setzten sich auf Baum-
strünke, Wirbelstücke und Kisten um die Feuerstätte, einige abseits, und
strickten Strümpfe und Ärmel; andere, zu zweien gepaart, strickten Jacken;
ein altes Weih sass auf dem Sitzplatz, zunächst dem Feuer, und hatte
einen kleinen Jungen in den Armen; sie hatte ihm geloben müssen, ihm
den ganzen Abend Märchen zu erzählen, damit er nicht einschlafe und
ohne Nachtmahl zu Bette gebracht werde. Der Wehestuhl stand ruhig in
der Glasstube; das Yadmel daran, das zu Julkleidern bestimmt war, war
so rasch gewachsen, dass die Weberin mit den übrigen Frauen am Abende
strickte. Die Spinner warfen ihre Yadmelsüherröcke ab, um in Hemd-
ärmeln das Rädchen unbehinderter an dem Rocken schnurren zu lassen
und derart leichter wetteifern zu können, wer die meisten Pfund Wollgarn
spinne, bis das Nachtmahl käme und die Arbeit aufgegeben würde.
Und nun schnurren die Rocken, kratzen die Karden, klappern die
Stricknadeln und die Arbeit kommt bei allen in Fluss. Doch das Sprich-
wort sagt: „Schweigen erschwert das Rudern,“ und so ist auch jede Mühe
und Arbeit schwer, wenn es dabei gar keine Unterhaltung giebt, die die
Stunden der Arbeit verkürzt. Daher herrscht nie Stillschweigen in der
Rauchstube an Winterabenden; der Hausherr oder einer der Knechte, der
eine gute Stimme hat und vorzutragen versteht, singt die langen Lieder
von Sjürd Sigmundarson, Sigmund Brestisson, Götu-Trönd und anderen
Helden der Yorzeit; alle in der Stube geben Gehör und lauschen, während
die Strophe gesungen wird, fallen jedoch ein, wenn der Refrain des Liedes
kommt. Einige prägen sich das Gesungene ein, um das Lied zu erlernen
und es selbst vortragen zu können, wenn zur Julzeit der Tanz wiederum
Alt und Jung in der Bygd zusammenruft, und in den Tanzstuben jeden
Sonn- und Feiertag zwischen Jul und Fasten .eine Kette froher Menschen
sich dreht, die ihr bestes Yergnügen zu dieser Zeit an den Liedern finden,
welche den alten Tanz beleben. '
Das Lied war beendet, alle verstummten, sowohl der Yorsänger als
die Männer und Frauen, die nach jeder Strophe den Refrain mitgesungen
hatten. Da begann die Alte am Herde Märchen zu erzählen; das war ein
Yergnügen, ihr zuzuhören; als aber Riesen, Troll, Gespenster und ähnliche
Unholde in der Erzählung auftraten, befiel die Jugend Angst, die Karden
fuhren nicht mehr Strich um Strich, die Stricknadeln hörten auf zu klappern,
und oft wurde neugierig und ungeduldig gefragt: „Und wie ward es dann,
Mütterchen?“ —
So verging der Abend rasch; das Feuer zur Bereitung des Nacht-
mahles wurde angezündet, und als es gegen Mitternacht ging, wurde der
Topf vom Feuer gehoben und die Suppe, dicke Milch, Molke, Grütze oder
Bilder aus dem fseröischen Volksleben.
293
was es nun sein mochte, auf Schüsseln oder ähnliche Lehmgefässe aus-
geschöpft, beziehungsweise das Fleisch oder der Fisch, der zum Nacht-
mahl gekocht worden war, auf Mulden herausgehoben. Die Magd, welche
die Speise bereitete, hatte Brotteig geknetet und scharrte die Kohlen
zurecht, um Gerstenbrötchen oder Kuchen zu backen. Das Nachtmahl
wurde getrunken oder gegessen, das Abendgebet abgehalten, die Männer
gingen noch vor die Thür, um nach der See auszuschauen, ob man morgen
werde ausfahren können, und dann fuhr jeder schleunigst unter die warmen
Bettdecken, und alles war ruhig. Am spätesten kam doch das Mädchen
dazu, das mit dem Backen beschäftigt war; die Brötchen mussten, ehe sie
in die heisse Asche gelegt wurden, eine ordentliche Binde bekommen, und
schliesslich wurden Torfstücke in die Asche gelegt, mit denen das Feuer
am nächsten Morgen neu belebt werden sollte.
Volksrätsel aus dem Bergiscken1 2 3 1).
Aus dem Volksmunde gesammelt
von 0. Schell.
1. Et körnen ens drei Düwen Öwer den Kerkhof te schnüwen.
De eine seit: Eck wösl, dat et Dag wör.
De angre seit: Eck wool, dat et Neit wör.
De dre'ide seit: Et ess mech alles enerlei;
Ech han Dag on Neit keng Rouh. Sonne, Mond und Wind.
2. Et geng ens en Diorken öwer de Brock;
De Bensches gengen de Knibbel de Knick;
De Hörkes gengen de Roll de Roll.
Wenn du’t nitt rötst, dann wäsch de doll. Das Schaf.
3. Hinter unserm Hause
Hängt ne Bernabause (Berlabause, Birlabause).
Wenn die liebe Sonne scheint,
Unsre Bernabause weint. Der Eiszapfen.
4. Eck schmit wat Wittes op et Däk,
Dat kömmt gèl wir heronger.
Das Ei.
6. Josef en Egypten,
De hat en Deng, dat wippten,
Rongs heröm met Hör besatt;
Rot ens, wat ess dat? Das Auge.
5. Oben spitz und unten breit,
Durch und durch voll Süssigkeit.
Der Zuckerhut.
7. En isern Hüs,
En isern Duar
On do en häulten Jakob vüar.
?
1) Als Ergänzung dienen die im Urquell I, 131 ff. und III, 138 f. veröffentlichten
Rätsel. Auch nur einigermassen genügende Litteraturnachweise zu gehen, würde zu weit
führen und ist darum unterblieben.
294
Schell:
8. Eins, zwei, drei, ihr Jagdgesellen!
Macht euch fertig schnell zum Schuss;
Lasst die Hunde wacker hellen;
Drei, zwei, eins ich haben muss.
Drei, zwei, eins, das hat gemacht
Uns schon manchesmal die Jagd.
Zwei, drei, eins, die soll nicht Schelten,
Uns den Undank leicht vergelten.
1, 2, 3 = Heer; 3, 2, 1 = Reh; 2, 3, 1 = Ehr.
9. Ein ganzes Reck voll weisser Hühne
Und mitten drin ein roter Hahn.
Der Mund.
10. Das Erste frisst,
Das Zweite isst,
Das Dritte wird gefressen,
Das Ganze wird gegessen.
Das Sauerkraut.
12. Hinten Fleisch, vorne Fleisch,
In der Mitte Holz und Eisen.
Vorne geht das Pferd,
Hinten geht der Bauer.
(Elberfeld.)
13. An beiden Enden rund
Und in der Mitte ein Pfand.
14. Mit Schreien wurd’
Als ich geboren wa
11. Raten, raten; wer kann raten?
Dieses Ding sitzt zwischen Braten,
Zwischen Braut und Bräutigam.
Der Kuckuck soll dich holen.
Das Ding ist nicht von Polen.
In Berlin, der grossen Stadt,
Die das Ding nur einmal hat.
Das „R“.
Hinten Fleisch, vorne Fleisch,
In der Mitte Holz und Eisen.
(Kronenberg.)
Der Bauer, der Pllug und das Pferd.
oder Vorne rund und hinten rund;
In der Mitte wie ein Pfund.
Otto.
ich geboren;
wuchs ich nicht mehr. Das Ei.
15. Diwi, diwidi!
Weiss wie Schnee,
Grün wie Klee,
Rot wie Blut,
Schwarz wie ein Rabe,
Wer’s rät, soll’s haben. Die Kirsche.
16. Aussen blank und innen blank,
Und mitten drin ein hölzernes Kreuz. Das Fenster.
17. Ich weiss ein kleines, dickes Fräulein;
Wenn man’s ansieht, weint man. Die Zwiebel.
18. In Gladbach kann man’s garnicht finden;
In Viersen kann man’s immer sehn.
Man kann von Rheydt bis Dülken gehn,
Kann man es nicht ergründen.
Doch wer dies Rätsel will gewinnen,
Der streng’ den Kopf ein wenig an,
Und denk ein wenig nach den Sinnen,
Dann gleich im Anfang ist er dran. Das „S“ (vgl. Nr. 45).
Volksrätsel aus dem Bergischen.
295
19. Et wor en Mann van Höpplepöpp,
De hatt’ en Glied van dausend Stock
On noch en ruaden Bat.
Oder: Es war ein Mann von Höpplipöpp;
Er hat ein Kleid von tausend Stück
Und einen ledern’ roten Bart. Der Hahn.
20. (Man vergleiche Kr. 15, 49).
Erst weiss, dann grün, dann rot werd’ ich;
Und nun, mein Kind erquicke dich. Die Kirsche.
21. Als ich des Morgens früh erwacht,
Da sah ich, was ich nicht gedacht:
Auf unserm Klee
Ein weisses Reh;
Das hatt’ weder Fleisch noch Gebein —
Läuft doch vor Regen und Sonnenschein. Der Schnee.
22. Es ist ein grosser, weisser Hut,
Steht doch keinem Mädchen gut. Der Zuckerhut.
23. Es ging ein Ritter wohl über den Rhein,
Der brachte seinem Fräulein Wein;
Er hatte weder Glas noch Fass;
Sage, worin trug er das? Die Weintraube.
Es ging ein Herr nach Bohnebach,
Von Bohnebach nach Brandebach,
Von Brandebach nach Rastern,
Von Rastern nach Tastern,
Von Tastern nach Leipzig,
Von Leipzig mit der Extrapost —
Da wurde er umgebracht.
Die Kaffeebohne.
25. (Variante zu Nr. 11.)
Rat’, rat’, rat’;
Es ist gar leicht zu raten;
Man find’t es nur im Braten.
Berlin ist eine grosse Stadt,
Die das Ding nur einmal hat.
Das „R“.
26. Äppelschen, Päppelschen op der Bank,
Äppelschen, Päppelschen onger der Bank.
Et ess kien Doktor in Brobank (England, ganzen Land),
Da en Äppelschen, Päppelschen mäken kann
Oder: De Äppelken, Päppelken wieder kurieren kann. Das Ei.
27. Im Gemüse ist es nicht,
Aber im Salat;
Und der König hat es nicht,
Aber der Soldat;
Und der Esel hat es hinten. Das „L“.
28. Einer und Keiner gingen auf den Oller;
Einer ging heronger;
Keiner ging heronger;
Wer blieb noch op dem Oller? „Und“.
Oder: Niemand und Keiner gingen in ein Haus;
Niemand ging heraus, Keiner ging heraus.
Wer blieb im Haus?
,Und“.
296
Schell:
29. In einem dunklen Kämmerlein
Beweget sich ein Hämmerlein;
Das klopft bei Tag und klopft bei Nacht,
Ob einer schläft, ob einer wacht. Herz und Herzschlag.
30. Fünf Höhlen in einem Loch; 31. Et geng en Frauken
Sage, was ist das doch? Öwer en Bräuken,
Der Handschuh. Hat en Säcksken om Rauken.
Watte wor dodren? Watte.
32. Es stand ein Mann hinter’m Haus
Und zog seinen langen Schlampampei heraus;
Er dachte in seinem Sinn:
Ach, wie ist’s so öd’ darin!
Ein Mann mit einer Geldbörse.
33. Ich trage das Kleid der Unschuld;
Italien ist meine Heimat;
Die Juden sind meine ärgsten Feinde. Das Ei.
34. In einem kleinen Kästchen
Sass ein kleines, rotes Äffchen.
Da kamen fünf gegangen
Und haben es gefangen,
Und führten es nach Fremmelbach,
Und dann nach Nagelbach;
Hier wurde es umgebracht.
Der Floh.
35. Es steht im Acker
Grün und wacker;
Es hat viele Häute
Und heisst alle Leute.
Die Zwiebel.
36. Die ersten (Silben) machen nass;
Die dritte thut oft weh;
Das Ganze hat der Rhein
Gleich hinter’m Bodensee. Der Wasserfall.
37. Woher kommt der Regen? Vom Böhmerwald.
38. Als Krankheit bringt es viele Qualen,
Als Fluss durchwandert es Westfalen.
39. Der Geliebte lag und schlief;
Die Geliebte kam und rief;
Und der Baum, unter dem er schlief,
War der Name, den sie rief.
40. Du trägst mich doppelt im Gesicht,
Und auch beim Kusse fehl’ ich nicht;
Ein Nebenfluss bin ich vom Rhein,
Zwei Fürstentümer, ziemlich klein.
Die Ruhr.
Wachholder.
Lippe.
41. Karl sass vor der Thür und Pfiff. Karl pfiff nicht und doch sass Karl
vor der Thür und Pfiff. Pfiff, der Hund.
42. Hinter dem Hause steht etwas,
Das brennt Tag und Nacht
Und brennt doch kein Haus ab.
Die Brennessel.
Volksrätscl aus dem Bergischen.
297
43. Wer geht auf dem Kopf in die Kirche?
Die Nägel unter den Schuhen.
44. Was liegt zwischen Küllenhohn und Hahnerberg? „Und“.
45. In Solingen bin ich gross und dick,
Du siehst mich auf den ersten Blick.
In Remfcheid bin ich lang und mager,
Desto grösser, desto behager.
In Honsdorf bin ich krumm, schief und bucklig;
Bin ich am Korpus zwar noch klein,
So muss ich an der Seele doch viel grösser sein.
Ich bin bei stetem Saus und Braus
Stets der beste Wirt im Haus. Das „S“ (vgl. Nr. 18).
46. Ich weiss etwas, das trägt einen Wagen Heu, aber keine Nähnadel.
Das Wasser.
47. (Man vergl. Nr. 24).
Es ist ein Ding, das geht von Mühlheim nach Kassa, von Kassa nach Tassa,
von Tassa nach Mün(d)chen, von München nach Leipzig, von Leipzig nach Hause.
Mühle, Kasse, Tasse, Mund, Leib, Abort.
48. Buten platt on bennen platt;
Fladderjan, rod ess, wat ess dat? Das Fenster.
49. (Man vergl. Nr. 15, 20.)
Weiss kam ich auf die Welt;
Ich ward ganz grün,
Doch du verschmähtest mich.
Dann ward ich rot und schwarz,
Mein Herz wie Stein so hart.
Da nahmst du mich
Und ich erquickte dich. Die Kirsche.
50. Ich weiss ein Ding, das bald erschreckt und bald erfreut, das ohne Zunge
leckt und ohne Zahn und Magen doch unersättlicher als manches Raubtier frisst.
Es frisst, so lang etwas zu fressen ist; sobald es trinkt, erlischt sein gluterfüllter
Blick und es stirbt im Augenblick. Das Feuer.
51. Im Winter werfen sich mit mir die muntern Knaben,
Im Sommer kann man mich vom Strauch als Blume haben.
Der Schneeball.
52. De Bür schmitt et fott on de Städter steckt et en de Täsch. Wat ess dat?
Der Nasenschleim.
53. Mitten in der Nacht,
Da fiel mir etwas ein;
Da liefen mehr’ tausend,
Die hatten kein Bein.
Sie hatten mehr Augen als ich
Und sahen einander doch nicht.
Einem Bauer fiel in der Nacht der Kartoffelhaufen ein.
298
Schell:
54. Welche Ähnlichkeit besteht zwischen einem Advokaten und einem Wagenrad?
Sie müssen beide geschmiert werden.
55. Loch auf Loch;
Haare um’s Loch;
Musik im Loch;
Freude im Loch.
Der Mund des Trompeters und das Mundstück der Trompete.
56. Wann haben die Mädchen und Frauen den meisten Schaum zwischen den
Beinen? Wenn sie melken.
57. Holter di Polter
Get öwer den Olter;
Hiddrich - Zittrich
Kömmt nimmer widrich (wieder). Der Hauch.
58. Auf Lustig geh ich;
Auf Lustig steh ich;
Lustig ist mein Hosenband;
Lustig bin ich drum genannt.
Das Fell eines Hundes, „Lustig“ genannt, wurde
zu Schuhsohlen und Hosenträgern verwandt.
/ M. vergl. „Am Urd’s Brunnen“ Band II S. 37, dort auch die Sage, welche
die Entstehung des Rätsels angiebt. Dieselbe Sage hörte ich von einem pommer-
schen Lehrer in der Mitte der 60 er Jahre.
59. Ech geng ens nach der Mussei (ss weich)
Und wusch minne schwatte Pussel (ss weich);
Do köm en Mann gegangen,
De hat son’n Langen do hangen.
Do seit ech för den Mann:
Ech wöol, dat ech dinnen Langen
En minner Pussel hätt’ hangen.
Eine Frau ging nach der Mosel und wusch ihren schwarzen Topf. Da kam
ein Mann mit einer langen Bratwurst.
60. Tweiben söt op Dre'iben
On hat Ebben;
Do köm Vierben
On nöm em dat Enben af
On schmit dornet dat Vierben;
Do lit Vierben dat Enben fallen.
Ein Mann sass auf einem dreibeinigen Melkstuhl und nagte an einem Schweins-
fuss. Da kam ein Hund und riss ihm den Knochen weg. Der Mann ergriff den
Melkstuhl und warf damit nach dem Hunde, welcher nun den Knochen fallen liess.
61. Zwischen zwei Bergen brummt ein Bär. Der Leibeswind.
62. Je mia dat me devan nömmt, je grötter wet et. Das Loch.
63. Wat ess et klörschte an der Stuov? Der Tropfen an der Nase.
64. We ess et frechste en der Stuov?
Die Fliege; sie setzt sich jedermann auf die Nase.
Volksrätsel aus dem Bergischen.
299
65. Wie schreibt man dürres Gras mit drei Buchstaben? Heu.
66. Wie het et elfte Gebot? Lass dich nicht verblüffen.
67. Wannia (wann) kommen Berg on Dal tesämen?
Wenn ein Buckliger in einen Graben fällt.
68. We nömmt em alles onger der Nas’ weg? Der Barbier.
69. Ich kenne einen schwarzen Mann,
Im Winter liebt ihn jedermann;
Doch wenn die Sommerblumen blühn,
Dann kümmert sich kein Mensch um ihn. Der Ofen.
70. Er hat einen Kamm und kämmt sich nicht; er hat einen Sporn und ist
doch kein Reitersmann. Der Hahn.
71. Es ist ein Tier, das hat keine Egge und auch keinen Pflug
Und pflügt doch allen Leuten genug. Der Maulwurf.
72. Wer hat das grösste Taschentuch? Die Hühner.
73. Es ist ein Ding, hinten thut es essen und vorn thut es sich brechen.
Die Häckselmaschine.
74. Wehret mir die Hühner. Katzen und Hunde thun mir nichts.
Der Regenwurm.
75. Welches Putter frisst kein Gaul? Das Putter in einem Kleide.
76. Es kommt ein Pässchen aus einem engen Land,
Das hat weder Reif noch Verband
Und hat zweierlei Getränke. Das Ei.
77. Kommen sie, dann kommen sie nicht, und kommen sie nicht, dann
kommen sie. Lösung s. Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. III, 74.
78. Wer ist der erste Mensch gewesen?
Abel. (Als Kain seinen Bruder erschlagen hatte, war er gewesen.)
79. Wo hat Gott der Herr den Esel hingesetzt, als er nach Jerusalem ge-
ritten ist? In das 10. Gebot hinter den Ochsen.
80. Es ist was, das können 100 Pferde nicht den Berg heraufziehen.
Das Garnknäuel.
81. Was für Gedanken hat der Küster, wenn er läutet?
Er möchte gern wieder aufhören.
82. Wer ist zuerst in der Kirche? Der Schlüssel.
83. Warum thut der Hahn die Augen zu, wenn er kräht?
Weil er es auswendig kann.
84. Vorne wie eine Schere, in der Mitte wie ein Besen und hinten wie ein
Bleuel. Huhn.
300
Ammann:
Das Leben Jesu von P. Martinns von Cochem
als Quelle geistlicher Volkssehauspiele.
Von J. J. Ammann.
(Schluss.)
Auch in den deutschen Volksschauspielen aus Steiermark, die
jüngst A. Schlossar herausgegeben hat1), finden wir Cochems Lehen
Jesu vielfach verwertet. Gleich im ersten Stücke, „das Paradeisspiel“,
finden wir S. 16 V. 352 f. das 9. Kap. bei Cochem: „Wie Adam aus dem
Paradeiß gestossen wird“ fast wortgetreu und ähnlich wie im Vordern-
berger Paradeisspiel aufgenommen; doch zeigt sich auch hier in der
Wiedergabe des älteren Cochemschen Textes grössere Freiheit als in
unserem Böhmerwald-Passion. Wir begegnen hier im Mitterndorfer
Paradeisspiel (M. P.) I. S. 7 V. 115 —116 in der Rede Gott Vaters
demselben Spruche wieder wie im V. P. und hei Cochem:
„Und wann du werdest ausgelebt haben,
So werden dich die Engel in Himmel tragen.“
Nach der Verführung und dem Sündenfall der ersten Menschen, die
wie im V. P. grösstenteils poetisch behandelt sind, folgt in Prosa die
Gerichtsscene wie im V. P. nach Cochem. Selbst die Einleitung Cochems
zum 9. Kap. ist da S. 16 V. 352 — 59 im M. P. aufgenommen. Der Engel
tritt auf und spricht: „Damit alle Christgläubigen besser verstehen, was
dies für eine Gnade sei, dass Gott das Menschengeschlecht verschonet und
die Schuld auf sich genommen hat, also wird in dieser Betrachtung augen-
scheinlich vorgestellt werden, wie die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit
miteinander vor Gott gestritten haben, dass kein anderes Mittel gewesen
sei als die Menschwerdung Gottes.“ Cochem dagegen sagt: „Damit die
einfältige besser v., w. für ein grosse G. es seye, d. G. dem menschlichen
geschlecht v. u. dessen sch. a. s. g. habe, wird in diesem Capitul
betrachtungs-weis gesetzt, wie die gerechtig- u. b. m. e. v. G. g. h., ob
man das menschliche geschlecht verdammen oder erhalten solle.“
Die ganze folgende Gerichtsscene stimmt dann wie im V. P. und im
B. P. zu Cochems Darstellung. Doch ist S. 21—22 V. 529—68 in poetischer
Form ein Streit zwischen Gott Vater und Luzifer eingefügt, worauf V. 559
bis 608 wieder Prosa nach Cochem folgt. Die Verurteilung Adams und
1) 2 Bände. Halle, Max Niemeyer. 1891. — Das Leben Jesu von Cochem citiere ich
von hier an nach der Linzer Ausgabe von 1750, Verlag von J. A. Ilger.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
301
Evas S. 24 Y. 609 — 75 ist auch hier in ähnlicher Fassung wie im T. P.
wieder zu finden. Yon S. 27 f. Y. 676 f. bis zum Schlüsse des Paradeis-
spieles aus Steiermark begegnen wir in den prosaischen Teilen wiederholt
dem Cochemschen Texte. So ist das Testament Adams S. 28 — 29 Y. 714
bis 26 mit geringen Änderungen aus Cochem entnommen. Man vgl.
M. P. 714 — 26:
0 ihr, meine lieben Kinder, ihr habt
gar oft und vielmal gehört, wie dass
ich in dem Paradeis, in dem Ort der
Wollustbarkeit gewesen bin und wegen
meinem Ungehorsam in dieses Elend
bin verstossen worden. Als ich einst-
mals über die Massen sehr betrübt war,
sendete mir Gott einen Engel, welcher
zu mir sagte, wie aus meinem Stamme
ein Mensch soll geboren werden, der
uns aus diesem Elend erlösen soll.
Darum ihr, meine lieben Kinder, bittet
Gott unablässlich, dass er doch einmal
seine Yerheissung erfülle. 0 Erden, er-
öffne dich! 0 ihr Felsen, zerspaltet
euch und bringt uns hervor den lang-
gewünschten Messias.
Cochems 10. Kap. am Ende:
Ihr meine liebe Kinder, ich hab euch
vilmal gesagt, wie daß ich im paradeiß
der wollustbarkeit gewesen, und leyder
durch meinen ungehorsam in dis elend
verstossen worden. Als ich nun dessent-
wegen einmal über die massen betrübt
wäre, schickte mir Gott einen Engel,
welcher mir gesagt, dass aus meinem
saamen würde ein mensch gebohren
werden, welcher uns aus diesem elend
erlösen werde........derowegen bittet
den lieben Gott ohne Unterlaß, er wolle
seine verheissung endlich einmal er-
füllen.
(Wie die Punkte andeuten, sind ein
paar Zeilen aus Cs. Texte weggelassen,
hier dagegen ein paar eingefügt, die bei
C. fehlen!)
S. 30 Y. 765 — 75 eröffnet Gott Yater seinem Sohne den Entschluss
zur Sendung des Messias. Die Worte finden sich in Cochems 44. Kap.:
Gott Yatter gibt seinen Sohn der Welt. Ygl.
M. P.:
Nun, mein allerliebster Sohn, jetzt ist
die Zeit da, dass du dich aufmachest
und in die Welt hinunter kommest. Du
weisst es, wie ich dich vom ganzen
Herzen liebe, dennoch erbarmet mich
das Menschengeschlecht so sehr, dass
ich sein Elend nicht länger mehr an-
sehen kann. Und weil dann kein andres
Mittel ist, ihnen zu helfen, so komme
dann dem armen verlassenen Menschen-
geschlecht zu Hilf, ich will lieber an dir
das grösste Herzenleid ansehen, als dass
ich das Menschengeschlecht sollt ver-
derben lassen.
Cochem:
Mein allerliebster Sohn, . . . sihe, die
zeit ist nun da, dass du dich aufmachest,
und in die weit hinab steigest. Du weist
zwar, dass ich dich mit unendlicher lieb
liebe . . . dannoch erbarmet mich der
armen menschen so sehr, dass ich ihr
elend nicht länger kann ansehen. Weil
dann kein anderes mittel ist, ihnen zu
helffen, .... so komme den armen ver-
lassenen zu hülf .... ich will doch dis
lieber sehen als die arme Sünder ewig-
lich verderben lassen.
Auch die Antwort des Sohnes ist dem folgenden Kapitel bei Cochem
entnommen, doch ist dieselbe im M. P. stark gekürzt. Ygl.
302
Ammann:
M. P. 776 — 83:
Mein herzallerliebster Vater, weil es
nun dein göttlicher Willen ist, dass ich
soll Mensch werden, so bin ich schon
bereit. Sieh, ich, dein eingeborener Sohn,
geh hin zu leiden und mein edles Leben
an einem so schmählichen Kreuz zu
lassen. Das thu ich und den armen
Sündern zu lieb, damit ich deinen gött-
lichen Willen erfülle und die Altväter aus
der Vorhölle erlöse.
Cochems 45. Kap.
(Chr. steigt vom Himmel herab):
Allerliebster Vater, weil dann dein
göttlicher will ist, daß ich soll mensch
werden, so bin ichs von hertzen zu friden.
. . . . Sihe, ich dein eingebohrner Sohn
gehe hin zu sterben und mein edles
leben an einem schmählichen galgen zu
lassen. Dannoch thue ich dis alles dir
und den armen sündern zu lieb, . . .
damit ich deinen willen erfülle, und die
armen sünder von der höllen erlöse.
Auch die Abschiedsworte, die Gott Sohn S. 32 V. 810—17 spricht,
verraten mindestens Cochemschen Einfluss, im besonderen lässt sich diese
Stelle mit jener im X. Aufzuge unseres Passions vergleichen, wo Chr. das
Kreuz küsst und dasselbe anspricht. Was aber an poetischen Teilen,
Übergängen und Gesängen im M. Paracleisspiel zu finden ist, sowie die
Teufelsscenen gegen Anfang und am Schlüsse des Stückes, das lässt sich
nicht unmittelbar auf Cochems Leben Jesu zurückführen, hier liegt viel-
mehr eine andere volkstümliche Überlieferung, die sich auch mit Hans
Sachs’ „Tragedia von der schepfung fall und ausstreibung Adams aus dem
paradeiss“ berührt, zu Grunde.
Vgl. A. Sclilossars Anm. I, 311 —15.
Wie das Mitterndorfer Paradeisspiel enthält auch das bei A. Schlossar
I S. 37 folgende Schäferspiel aus Mitterndorf (M. S.) (wie das Vordern-
berger bei Weinhold) jenen Teil aus Cochems Leben Jesu, welcher als
Zwischenspiel (Pilger und Schäfer) im Böhmerwald-Passion vorkommt.
Diese Parabel, wie sie Cochem zum „andern Sonntag nach Ostern“ erzählt,
ist im M. Schäferspiel S. 52 f. V. 401 — 520 eingefügt. Nach fünf Versen
Einleitung, die bei Cochem fehlen, und die der Pilger spricht, vernimmt
man wie bei Cochem den Huf des guten Hirten: „0 Schäflein, o Schäf-
lein, wo bist du?“ Wie jenes Einleitungsverse sind, folgt nun auch noch
eine prosaische Rede des Pilgers in fünf Zeilen (V. 408 —11), die nicht
Cochem entnommen sind, sondern als eigene vermittelnde Beigabe des
Verfassers oder Kompilators des ganzen Stückes betrachtet werden müssen.
Dann beginnt aber der Pilger nach Cochem: „0 mein liebstes Kind, wie
kommst du so gar allein in diese Wildnis und was ist denn geschehen,
dass du also weinst?“ Das folgende Zwiegespräch weicht nur in un-
bedeutenden Wendungen manchmal von Cochems Texte ab, bis die Rede
wieder in die poetische Form und in das Schäferspiel übergeht. Auch
beim Übergang macht sich wieder die Umarbeitung von Seite des Ver-
fassers oder Kompilators bemerkbar. Zum Schlüsse spricht bei Cochem
der Pilger voll schmerzlichen Mitleids zum Schäfer: „Ach du armes Kind!“
Darauf geht der Pilger weinend seines Weges weiter. Im M. Schäferspiele
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
303
jedoch heisst es an dieser Stelle V. 514 f.: „0 mein liebstes Kind, wie
erbarmst du mir, dass du wieder allein musst in diesen Wald hinein“.
Dann kommt noch der Hirt (d. i. im B. P. der Schäfer) zum Worte, aber
nun als Übergang in gebundener Rede:
„Nun muss ich wieder in diesen wilden Wald
Und will mein Schäflein rufen mit heller Stimme gar bald:
Vielleicht möcht es doch kommen zu mir oder mich erhören
Und sich doch einmal zu mir bekehren:
0 Schäflein, o Schäflein, lass dich finden!“
Ygl. auch die Anm. A. Schlossars I S. 316 f.
Das Krippelspiel aus Hitzendorf (H. K.)1) ist nach Art der im
Volke beliebten Christkindspiele inYersen geschrieben, enthält viele Lieder
und Hirtenscenen, so dass hier in der Hauptsache kein so unmittelbarer
Zusammenhang mit Cochems Leben Jesu zu erwarten ist. In diesen
Christkindlspielen hat sich überhaupt die Phantasie des Volkes am stärksten
bethätigt; das war besonders für die Bauern der richtige Stoff, worin sie
sich heimisch fühlten und ihr eigenes Wesen zum Ausdruck bringen
konnten, daher auch die vielen Hirtenlieder und Hirtenscenen in diesen
Spielen. Dennoch mag aber auf manche Teile dieser Spiele Cochems
Darstellung eingewirkt haben. So folgt in diesem Krippenspiel aus Hitzen-
dorf S. 75 V. 59 f. auf die Darstellung des englischen Grusses, der aller-
dings nicht bloss bei Cochem, sondern auch in der Hl. Schrift zu finden
war, die Verwunderung Josefs, als er die Schwangerschaft Marias bemerkt.
Auch Cochem hat darüber ein eigenes Kapitel: „Wie Joseph Mariam heim-
lich verlassen wolte“. Im Krippenspiel lauten die V. 59 f.:
Nicht genug kann ich verwundern mich:
So oft als ich Mariam ansich,
Ich bin betrübt wohl also sehr;
Mich dunkt, als ob Maria schwanger wär.
Dazu lassen sich Redeweisen aus Cochem vergleichen, wie: „Als Joseph
verstanden hatte, dass ich schwanger wäre, verwunderte er sich höch-
lich . . .“ eine Stelle, die Cochem selbst aus Brigittas Offenbarung geschöpft
hat, daher auch diese die Quelle sein könnte; ferner . . . „dass sie schwanger
wäre — deswegen betrübte sich der gute Mann so hoch . . .“ Der Engel
klärt den Josef über das Wunder auf V. 69 f.:
Joseph, du Sohn Davids, hör mich an: u. s. w.
Auch bei Cochem heisst es: „Joseph, du sohn Davids, fürchte dich
nicht zu nehmen Mariam . . .“ was allerdings Cochem selbst nur aus dem
Evangelium Matthäi entlehnt hat, das also auch als Quelle dienen konnte.
Doch genauer nach Cochems Darstellung ist dann die Art, wie Josef seinen
1) Bei A. Schlossar I. S. 71—115.
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
21
304
Ammann:
Fehler Maria gegenüber gutzumachen sucht. Der Josef sagt, nachdem
ihn der Engel belehrt hat, Y. 73 f.:
Ei, wenn’s also ist, so weich ich wohl nicht ab.
Aber wie wird’s mir armen Tropf ergehen?
AVie werd ich bei meiner Maria bestehen?
Aber sie ist ganz sanft und demütig;
Ich werd mich zu ihren Füssen legen,
Sie wird mir meine Schuld vergeben.
Der Josef kniet dann vor Maria nieder und sagt:
Mein Maria, verzeih mir doch,
Weil ich dich hab betrübt so hoch:
Ich hab dich gehabt in Willen zu verlassen,
Mich zu begeben in ein andre Strassen.
So weil mir der Engel von Gott hat erzählt,
Dass du sollst gebären den Heiland der Welt,
Verzeih mir doch, Maria rein,
Hinfüro will ich dein getreuer Diener sein.
Maria sagt:
Joseph steh auf,
Deine Schuld sei dir vergeben.
Ganz in denselben Gedanken bewegt sich Cochems Darstellung im
genannten Kapitel. Josef „wolte wegen der hertzlichen lieb, so er zu
Maria trüge, sie nicht gern verlassen,“ aber er hatte sich doch aus heiligem
Schrecken entschlossen, sie zu verlassen. Als er sich knieend im Gebete
zu Gott gewandt hatte, da erschien ihm der Engel des Herrn und klärte
ihn auf. Run ruft er aus: „0 wie hab ich dann so übel gethan, daß ich
schier andere gedancken auf sie gemacht hätte? Ach Gott wolle mirs ver-
zeyhen, wann ich übel gethan hab, daß ich hab wollen von ihr gehen!
Solche gedancken sollen mir mein lebtag nicht mehr in den sinn kommen.
Wer will nun erklären, wie demüthig, wie andächtig und beweglich der
hl. Joseph Mariam um verzeyhung gebetten habe. Des morgens frühe
gienge er in ihre kammer, helle demüthig auf seine knye, und mit heissen
zähren und vilen seuftzen sprach er zu ihr: Meine allerliebste Maria, ich
bitte demüthig um verzeyhung u. s. w. In liebreicher Wechselrede wird
nun die ganze Angelegenheit besprochen und jedes fühlt sich glücklich.
„Es ist aber nicht genug auszusprechen, in was für ehren der hl. Joseph
hernach die Jungfrau gehalten, und wie treulich er ihr gedient habe . . .“
Wer hier den Gedankengang und selbst einzelne Ausdrücke beiderseits
vergleicht, wird herausfühlen, dass auch das H. Krippenspiel wenigstens
in einzelnen Teilen nach Cochem bearbeitet sein dürfte.
Die Scene, wie Josef zu Bethlehem Herberge sucht, findet sich nicht
nur im H. Krippenspiel (Y. 251 f.), sondern ist fast in jedem Christkindl-
spiel mehr oder weniger ausgeführt. Auch Cochem erzählt die Erlebnisse
der hl. Familie zu Bethlehem, sowie auf der Reise nach Ägypten in
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
305
ausführlicher Weise, und gerade in diesen Zügen dürfte Cochems Dar-
stellung auf diese Spiele von Einfluss gewesen sein. Wenn auch Cochem
diese Erzählungen aus andern Quellen seiner Zeit schöpfte, so ist es doch
wahrscheinlicher, dass bei diesen Volksschauspielen das bekannte Volks-
buch von Cochem als jene älteren Quellen selbst benutzt worden sind.
Hier lässt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen jener Scene
und Cochems Darstellung nicht nachweisen, weil auch diese Scene gegen
Cochems Breite sehr dürftig und mehr allgemein gehalten ist. Doch liesse
sich selbst hier auf die Grobheit des Wirtes hinweisen, der den armen
Gästen zuruft,
V. 259: Schert ihr euch fort!
Bei mir ist kein Ort:
V. 269: Es ist kein Ort!
V. 313: So geht nur fort!
Cochem erzählt gleichfalls, dass Josef mit schimpflichen Worten sei
abgewiesen worden, wo er um Herberge bat; man habe ihm zugerufen:
„So packe dich nur fort!“ Auch die Zahl der Hirten wird bei Cochem
auf drei angegeben, doch sind dann die Namen, Reden und Lieder der-
selben in volkstümlicher Art ausgebildet worden. Eine andere Scene in
diesen Spielen, die auch Cochem ausführlich und mit allem Beiwerk be-
handelt, ist das Auftreten der hl. 3 Könige. Obwohl das H. Krippenspiel
auch hier die Scene viel kürzer und in Versen wiedergiebt, scheinen doch
einzelne Anklänge noch auf Cochem zurückzugehen. So vgl. V. 598: Wir
haben verbracht eine weite Reis ... V. 602: Ein gewaltiger König muss
er sein . . . mit Cochems Redeweisen im Kap. von den Heil. Drey Königen:
„und achteten nicht die weite reys“ . . . „daß aus dem Jüdischen volck
ein gewaltiger König würde gebohren werden“. Oder vgl.
H. K. V. 603 f.:
Darum bin ich jetzunter besinnt,
Nach Jerusalem zu ziehen geschwind,
Alldort zu erfragen frei:
Wo dieser neugeborne König sei.
Die Schriftgelehrten, die dort sein,
Die werden’s uns auszeigen fein:
Cochem:
Doch endlich fasseten sie die resolution,
nach Jerusalem zu ziehen, und dort nach
der Juden König zu fragen...........liesse
die Schriftgelehrten versammeln, um zu
erfahren, an welchem ort der Heyland zu
finden seye.
Der Pomp und Lärm, den die Ankunft der drei Könige in der Stadt ver-
ursacht, stimmt wieder ganz mit Cochems Darstellung überein. Er sagt:
„Alle thüren, läden, fenster und strassen waren voller leuth, disen aufzug
anzusehen.“
Im H. Krippenspiel ruft Herodes V. 659 f.:
„Was ist das? . . .
Oder was bedeut’ das Trompeten oder Pfeifen?
Oder will der Feind die Stadt angreifen?
21
306
Ammann:
Der Diener meldet, es seien drei Könige mit viel Ross und Mann aus
fremden Landen angekommen, wie dies auch Cochem schildert. Vgl. dabei
H. K. Y. 670: Cochem 64. Kap. S. 304h:
Es ist . . . an den Hof kommen . . . Als sie nach Hof kamen . . .
Herodes forscht die Könige in listiger Berechnung aus, lässt die Schrift-
gelehrten rufen, sendet die Könige nach Bethlehem und bittet 'sie bei der
Rückkehr, ihm Bericht zu erstatten. Auch hier ist sowohl im Gedanken-
gang, als mitunter in Redensarten dieselbe Verwandtschaft zu Cochems
Darstellung zu beobachten wie oben; nur hat der Bediente des Herodes
im Krippenspiele eine besondere Rolle, die durch die dramatische Um-
gestaltung hervorgerufen wurde und bei Cochem nicht zu finden ist.
Balthasar spricht beim Eintritt in den Stall im Namen der Könige
Y. 869 f.:
Wir bitten dich, zeig uns doch an
Das neugeborne Kindelein,
Dass wir es beten an und opfern fein.
Bei Cochem sprechen die Könige (65. Kap. S. 810b):
„Wir seynd von fernen landen anhero kommen, den neugebohrnen
König zu grüssen: als bitten wir demüthiglich, du wollest dich würdigen
ihn uns zu zeigen.“
Ebenso lassen sich die Reden der hl. drei Könige Y. 880 f., die War-
nung durch den Engel Y. 928 f. mit Cochems Darstellung vergleichen.
Vgl. im Wortlaute Y. 898 f.:
„Ach, wahrer Gott und Mensch du bist,
Ach liebes Kind, Herr Jesu Christ!
Ich thu dir auch präsentieren . . . den Myrrhen“
und Cochem (65. Kap. S. 312b):
„sie praesentirten dieselbige dem armen Kindlein .... daß du seyest
wahrer Gott und wahrer Mensch, ein wahrer König und Heyland der
gantzen weit.“
Maria dankt für die Gaben der hl. drei Könige Y. 904 f.:
„Ihr Herrn und König’, ich sag euch grossen Dank
Um eure köstlichen Gaben und eure Geschank.“
Bei Cochem heisst es S. 313b:
„Die Mutter Gottes nähme anstatt ihres Söhnleins die gaben an, und
thäte sich . . . ehrbarlich bedancken.“
Der Engel weckt den Josef und mahnt ihn zur Flucht nach Ägypten
Y. 1022 f.:
„Auf, auf, Joseph, schlaf nit ein,
Steh eilends auf und merk mir’s fein:
Sei munter und versteh mein Wort,
Du sollst dich bald machen fort
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
307
Und ziehen ins Ägypten-Land,
Du und Maria, beide zur Hand:
Und nehmet auch mit das Kindelein zart,
Dieweilen Herodes gesinnet ward,
Dem Kind zu stellen nach dem Lehen . . .
Diese Yerse sind lediglich eine Umbildung des Berichtes Lukas’, der
aber auch bei Cochem zu finden ist im 70. Kap. „Wie Maria und Joseph
in Egypten flohen“. Es heisst da S. 342: „Sihe, da erschiene der Engel
des Herrn dem Joseph im schlaff sprechend: Stehe auf, und nimm das
Kindlein und seine Mutter; fliehe in Egypten-land, und bleibe alda, bis
ich dirs sage. Dann es wird geschehen, daß Herodes das Kind suchen
wird zu tödten.“
Später Y. 1068 f. spricht Maria zu Josef:
Ach, mein Gott, wie hast du uns verlassen . .
und bei Cochem S. 343a: „0 mein Gott und Herr, verlasse uns nicht!“
Josef erwidert Y. 1071 f.:
„Wein’ nur nit, mein’ Maria,
Gott und die Engel werden uns beschützen vor allen,
Dass wir nit in die Händ’ Herodes fallen.“
Bei Cochem heisst es in nicht mehr zweifelhafter Übereinstimmung
S. 343b: „Der fromme Joseph tröstete sie, sprechend: Nicht weynet so
sehr, meine liebe Maria, dann der Herr wird uns schon beystehen, und
die Heil. Engeln werden uns beschützen, daß wir nicht in die hände
Herodes fallen.
Ebenso beweiskräftig ist folgende Übereinstimmung:
H. K. Y. 1074 f.:
Cochem S. 343a:
Maria sagt:
O mein herzallerliebstes Kindelein,
Wir haben wohl Ursach zu wein’n,
Dann bis Herodes haben wir viel Kreuz
gehabt schon.
Jetzt fangt an die Weissagung Simeon’s:
Dass ich und du auf dieser Erden
Viel miteinander leiden werden.
Maria weckt das schlafende Kind und
spricht:
O mein allerliebstes Söhnlein, wir
haben wohl ursach zu weynen; dann
bishero haben wir zwar vil creutz ge-
habt, aber jetzund fanget unser creutz
recht an. Jetzt fanget die Weissagung
Simeon’s an erfüllet zu werden, dass du
und ich auf diser weit werden vil müssen
leyden.
Abgesehen von der deutlichen Übereinstimmung beider Texte ist die
Stelle auch beachtenswert, weil die Vergleichung mit Cochem den ur-
sprünglichen Text des Krippenspieles, den A. Schlossar mit Unrecht ver-
besserte, rechtfertigt. A. Schlossar bemerkt I S. 325 zu S. 110 Z. 1078
und 79: in der Hs. laute es: „Dass ich und du auf dieser Welt viel werden
müssen leiden“. Das ist also wirklich die richtige Lesart, der Verfasser
vernachlässigte hier den Reim. Im Y. 1076 soll es offenbar statt „bis
Herodes“ nach Cochem heissen: „bishero“. Die letzteren Beispiele setzen
308
Ammann:
es also ausser allen Zweifel, dass zum Hitzendorfer Krippenspiel auch
Cochem ausgenutzt wurde; dies gilt stellenweise mehr bloss vom Gedanken-
gang, stellenweise aber auch vom AVortlaut. Zweifellos ist aber ausser
Cochem hei der Zusammenstellung des ganzen Spieles auch noch eine
andere volkstümliche Quelle massgebend gewesen. Nicht selten bemerkt
man, dass der Verfasser von der idealeren Fassung Cochems zu Gunsten
des derberen Volksgeschmackes abweicht, sich überhaupt mehr vom
dramatischen als erzählenden Momente leiten lässt.
Das bei A. Schlossarl. S. 117 folgende Spiel ist „Die Geburt Christi“
benannt. Dieses ist wiederum gereimt, aber in längeren und sehr holperigen
Verszeilen. Es sollen meist sechs Hebungen sein, die aber oft kaum
zusammenzubringen sind. Dagegen ist dieses Christkindlspiel noch in viel
näherer Beziehung zu Cochems Text als das vorausgegangene.
Im Prologus V. 1 — 26 ist der Inhalt in allgemeinen Zügen und die
Beziehung der Spieler zu den Zuschauern berührt. Selbst hier scheint der
Verfasser Cochem vor sich gehabt zu haben, wenigstens verraten V. 7, 9
bis 22 die Cochemsche Darstellung in Wort und Gedanken; ebenso gilt
dies sogar vom Gesang V. 27 f.:
„Als die neun Monat zu End gegangen,
Trug Maria sehr grosses Verlangen,
Ihr Kindlein zu sehen,
Mit dem sie doch gross Herzenleid
Auf Erden musst ausstehen.“
Cochem spricht in einem ganzen Kapitel vom Verlangen Jesu und
Mariä nach der Geburt (53. Kap. S. 230 f.). Derselbe Gedanke wird gleich
in den folgenden Versen 32 f. noch im besondern ausgeführt. Maria tritt
nämlich auf und spricht:
„Ach, was vor grosse Freuden, ach, was vor Süssigkeit,
Empfinde ich im Herzen, indem nunmehr die Zeit
Der neun Monat gehet zu End: dass ich mein liebstes Kind empfangen,
' Nun bald mit Augen sehen werde, ist mein höchstes Verlangen ....
Dieweil das Kind, mein Gott, so in mein Leib verschlossen ....
Dass ich dein eingebornen Sohn nach Würdigkeit bedienen mag.“
Bei Cochem (53. Kap. S. 230 f.) heisst es: „Maria gedachte oft bey sich:
0 wann doch die zeit einmal käme, daß mein allerliebreicliestes kindlein
möchte gebohren werden! Wie wolte ich ihm so fieissig dienen . . . .
damit sie denjenigen, den sie so herzlich liebte, mit ihren äugen möchte
anschauen .... 0 was für freud wird mir dises seyn, was für süssigkeit
werde ich daraus schöpfen! .... Es wäre dis allersüsseste Christkindlein
schier neun Monat lang in dem jungfräulichen leib gelegen und verschlossen
gewesen.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
309
Noch deutlicher tritt die Entlehnung aus Cochem in den folgenden
Yersen hervor. Wir finden nun von Y. 44—352 Zeile für Zeile Anschluss
an Cochem. Die Abweichungen sind fast nur formeller Art, insofern sie
durch die Umsetzung in Yerse bedingt sind. Man vgl. z. B.
Cochems 54. Kap.
Y. 44 — 55: Wie Maria und Joseph nach Bethlehem
reyseten:
Ach meine liebe Maria, ich bringe
gar schlechte zeitung;
dann es kommt ein gebott vom Kayser,
daß ein jeder sich soll schätzen lassen
an dem ort, da er gebürtig ist. So
weiß ich nicht, wie wirs immer machen
werden: dann wir beyde müssen nach
Bethlehem reysen, dieweil unser ge-
schlecht von dannen ist.
Maria sagte:
Laß dich dis nicht verstöhren, mein
lieber Joseph, dann es scheinet, es seye
der will Gottes, daß wir dahin reysen.
H. Joseph sagte:
Ich verstöhre mich nicht meinetwegen;
dann ich will wohl mit der hülf Gottes
nach Bethlehem kommen.
So geht die Übereinstimmung fort, und dort, wo bei Cochem kein
Zwiegespräch, sondern Erzählung ist, hilft sich der Yerfasser durch Ände-
rung. So erklärt Josef in Y. 70 und 72, zu welchem Zwecke er einen
Ochsen und Esel mitgenommen habe (jenen zum Verkaufen, diesen zum
Reiten). Diese Stelle findet sich bei Cochem auch im gleichen Kapitel,
aber kommt erst in der Erzählung S. 237b vor. Die Erzählung, wie der
Bauer die Flüchtigen von seiner Thür weist Y. 106 — 39, findet sich bei
Cochem S. 238b f. Der Gesang, der hier wie anderwärts die Scheidewand
für die folgende Scene bildet (Y. 140—44), bildet nur eine kurze Inhalts-
angabe der folgenden Scene und dürfte auch vom Yerfasser des Spieles
herrühren, wie wir schon beim ersten Gesänge bemerkt haben.
Ach, mein’ allerliebste Mutter, ich bitt
euch, thut nit erschrecken,
Indem ich schlechte Zeitung euch habe
zu entdecken:
Yon Kaiser Augustus ist ein Gebot
Unerhörtermassen
Ausgegangen, dass sich jedermann sollte
schätzen lassen:
An dem Ort, da er gebürtig, soll dieses
geschehen.
Mein’ liebe Maria, wir beide sollen nach
Bethlehem gehen;
Weil wir alldort gebürtig und unser Ge-
schlecht von dannen,
So weiss ich nicht, Maria, was wir sollen
anfangen.
Maria:
Lasst euch nur nicht verstören, liebster
Joseph mein,
Nach Bethlehem zu reisen, möcht Gottes
Willen sein.
Joseph:
Meine liebe Maria, ich verstör mich nicht
meinetwegen,
Ich werd wohl mit göttlicher Hülf nacher
Bethlehem kommen mögen.
310
Ammann:
Die neue Scene Y. 145 f. führt uns Josef und Maria in Bethlehem vor,
wie sie vergebens Herberge suchen und schliesslich in einer Höhle Unter-
kunft finden. Bei Cochem ist dies im 55. Kap. „Wie Joseph zu Bethlehem
Herberg suchte“ behandelt. Cochem erzählt, Josef habe in Bethlehem
zuerst einen seiner besten Freunde aufgesucht, sei aber mit seiner Bitte
um Herberge abgewiesen worden. Ebenso sei es ihm bei einem zweiten
Freunde ergangen. Darauf nahm er seine Zuflucht zu den Wirten, aber
auch diese wiesen ihn, mitunter unter Beschimpfungen, ab. In dieser Not
und Verlassenheit schlägt zuletzt Josef vor, in einer Steinhöhle an der
Stadtmauer (am obern Ende der Stadt) ein Obdach zu suchen. Dort richtet
er die Stätte, so gut es geht, zum Wohnen her. Diesen ganzen Gedanken-
gang giebt das Spiel in wörtlicher Anlehnung wieder. Bemerkenswerte
Änderungen sind nur folgende: Zuerst begriissen Josef und Maria Bethlehem,
wo sie oben angelangt sind und das sie vor Augen sehen. Der erste Freund
erhielt hier im Spiele den Namen Titus, der zweite Rufinus, der Wirt
Reichhardt. Das Zwiegespräch zwischen Josef und Titus entspricht genau
der Darstellung Cochems, der hier auch die Zwiegesprächsform hat, aber
bei Rufinus und Reichhardt war dies nicht mehr möglich, da Cochem hier
nur mehr erzählt, und zwar nicht mit jener Ausführlichkeit, wie sie der
Verfasser für sein Spiel notwendig hatte. Da der Verfasser nun auch diese
Personen gleichartig wie die erstere im Zwiegespräche darstellt, so möchte
man hier vermuten, der Verfasser habe vielleicht eine ausführlichere Quelle
als Cochem, der diese Legenden auch nur und nicht immer im ganzen
Umfange aus gelehrten Werken seiner Zeit entnommen hat, vor sich gehabt.
Wenn dies bei solcher Volkslitteratur aber überhaupt unwahrscheinlich ist,
so wird eine solche Annahme hier dadurch widerlegt, dass wir auch in
diesen Teilen nur Cochemschen Text nachweisen können. Der Verfasser
sah sich nämlich, wenn er an der betreffenden Stelle Cochems nicht Stoff
genug fand, in unmittelbarer Umgebung um und nahm verwendbare
Gedanken auf, wenn sie auch bei Cochem in anderer Beziehung stehen,
was bei Cochems Breite und häufiger Wiederholung leicht anging. So
klagt Josef nach dem Zwiegespräch mit Rufinus V. 192 f.:
„Ach, allerliebste Maria, ach, was ist das für ein’ Schand:
Sehet, wie ich von meinen Freunden in meinem eigenen Vaterland
Also verstossen bin;“
Dieser Gedanke kommt bei Cochem nicht nach der Erwähnung des
zweiten Freundes vor, sondern ist erst in der Klagerede Josefs enthalten,
welche S. 242a folgt, als er bei Freunden und Wirten vergebens gesucht
hatte. Es heisst dort: „0 meine liebe Maria, was fangen wir immer an?
wo wollen wir hingehen, damit wir Unterkommen? wann wir müsten auf
der strassen bleiben, ich müste mich ja vor leyd vertrauern, daß ich
euch alhier in meinem vatterland, unter meinen freunden, so
schlecht solte tractieren. Ich müste ja vor mitleyden kranck werden,
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
311
wann ihr bey diser kalten winters-zeit auf offener strassen müstet ligen
bleiben.“ Diese Klagerede muss nun dem Verfasser auch zugleich zur
Klagerede nach der Unterredung mit dem Wirte Reichhardt herhalten, da
Cochem nur diese eine Klagerede für beide Fälle hat. Vgl. Josefs Rede
V. 222 f.:
„Ach, mein’ herzallerliebste Maria, was wollen wir anfangen,
Wo wollen wir hingehn, damit wir Unterkommen?
Sollen wir dann unter dem freien Himmel auf offner Strassen
Liegen? Ach, dass Gott erbarm, nun sein wir ganz verlassen.
Ich bedaure nur euch, ich thu es frei bekennen,
Indem ihr’s seht und hört, ich muss mich herzlich schämen,
Dass ich von meinen Freunden und Bekannten allhier
In meinem eigenen Vaterland also schimpflich abgewiesen wir.“
Noch viel genauer ist dann der Anschluss an Cochem im Folgenden
V. 230 — 299, wo den grössten Teil Klagereden bilden, die Cochem mit
Vorliebe aller Orten einfügt.
Die Klagerede Marias V. 300 — 313 ist aus zwei Reden Marias bei
Cochem S. 245a: „0 Bethlehem . . .“ und S. 245b — 246a: „Mein aller-
liebster ... so vile Patriarchen und Propheten zu sehen begehrt haben ...“
zusammengezogen.
Die Rede Josefs V. 314— 19 und ebenso die folgenden Reden V. 320
bis 25 stehen bei Cochem S. 246 a am Schlüsse des Kapitel „Joseph sucht
Herb erg zu Bethlehem“.
Von V. 326—38 wird die Geburt Christi vorgestellt, auch genau nach
Cochem, der dies im 57. Kap. „Von der Geburt Christi“ weitläufig be-
handelt; ebenso sind dort V. 339 — 54 enthalten. Dass Josef zuletzt ein
Schlummerlied singt (V. 355 — 69) ist bei Cochem nicht erwähnt, doch
heisst es S. 268a: „Sobald das kindlein in der krippen läge, hauchte der
ochs und esel mit ihrem atliem über dasselbige, als wann sie verstand
hätten, und wüsten, daß das kindlein der wärme bedörfte.“ Daraus könnte
die 1. Strophe des Schlummerliedes hervorgegangen sein:
„Schlaf, o allerholdseligstes Kind,
Schlafe im kalten, brausenden Wind:
Ochs und der Esel, die heizen dir ein
Mit ihrem Athem, o lieb’s Kindelein:
Ach schlafe, ach schlafe!“
Die folgende Scene wird wieder durch einen inhaltverkündenden
Gesang (V. 370—74) eröffnet, dann tritt der Engel als Prologus auf und
drückt den Inhalt des Gesanges noch ausführlicher in einer Anrede aus.
Dieser Teil des Spieles geht von V. 375—691 und enthält die Verkündigung
der Geburt Christi und die Anbetung der Hirten; bei Cochem das 59. Kap.
„Wie die Engeln den Hirten die Geburt Chr. verkündiget haben“. Schon
der Wechsel der Versart lässt in diesen Hirtenscenen den Einfluss einer
andern Quelle erraten. Neben Alexandrinern erscheinen auch Verse mit
312
Ammann:
vier und fünf Hebungen. Wahrscheinlich hat hier den Verfasser ein
anderes volkstümliches Christkindlspiel beeinflusst, denn Cochem konnte
zu komischen Hirtenscenen weder Stoff noch Veranlassung bieten. Vgl.
A. Schlossar, Anm. S, 328 zu S. 136 Z. 399.
Schon V. 525 f. bemerken wir jedoch in der Verkündigung des Engels
wieder Anschluss an Cochem im genannten Kap. S. 273 f.; auch in den
kurzen Wechselreden des Galli und Stichi V. 535—38, bei Cochem S. 274b.
Von V. 539 f. werden die Gaben der Hirten erwähnt, wovon Cochem im
besonderen nichts erzählt, doch finden sich auch in den folgenden Versen
bis V. 590 noch einzelne Anklänge an Cochem (V. 542, 554, 561 — 63).
„Das Gesang“ V. 591—95 beruht auf Cochem S. 275a. Vgl. nur:
Die Hirten fielen auf die Erd,
Sie beteten an das Kindlein werth.
Vor Freuden thäten sie weinen:
Sie opferten ihre Gaben auf,
Obwohl sie waren kleine.
Die Hirten fiellen . . . auf der Erden
und betteten das kindlein an . . . daß sie
vor freuden weynten . . . Sie thäten auch
ihre taschen auf und opferten dem lieben
kindlein die gaben.
Die folgenden Gespräche der Hirten V. 596 — 691 berühren sich
manchmal mit Cochem, vielfach zeigen sie aber auch andere Form und
andern Inhalt.
Der Engel tritt V. 692 wieder als Prologus auf und verkündet die
folgenden Scenen: die Heise der hl. drei Könige, Herodes’ Ausforschungen
und Nachstellungen, die Anbetung der hl. drei Könige und ihre Rückreise,
die Flucht nach Ägypten, den Kindermord. Die erste dieser Scenen reicht
von V. 714 — 888 und zeigt Cochem gegenüber einige Erweiterungen. So
hat hier jeder der drei Könige einen Sterndeuter bei sich mit besonderem
Namen. Das stimmt zwar mit Cochems Darstellung im 64. Kap. „Wie der
Stern den H. drey Königen ist erschienen“ im allgemeinen überein, doch
fehlen da die Namen; auch war im Stern, sowie es König Melcher an-
schaut, eine Jungfrau zu sehen, die ein Kindlein trägt, während nach
Cochem — er folgt hier einem Author operis imperf. -— „mitten in disem
stern sasse ein schönes Kindlein, mit einer goldenen cron auf seinem
häuptlein und einem creutz in seinem händlein“. Es mag sein, dass hier
der Verfasser noch eine zweite Quelle neben Cochem vor sich hatte, doch
beweisen andere Anlehnungen zweifellos, dass Cochem hier auch benutzt
wurde. Vor allem erklären sich mit Hilfe Cochems jene zwei Verse nach
V. 811, welche A. Schlossar unverständlich geblieben waren:
„Wegen welchen auf den Berg Victorial auch zwar
Gewachet worden über tausend Jahr.“
Diese Verse erklären sich aus der Erzählung Cochems: „Daher schreibt
ein alter Scribent (jener Author operis imperf.), daß in Orient zwölff
männer gewesen seyen, welche zu gewissen Zeiten auf den berg Arictorial,
alwo eine lustige höhl und brunnen, und vile anmuthige bäum waren,
hinauf gestigen, und alda gewacht und gebettet haben, daß Gott zu ihrer
Das Leben .Tesu von P. Martinus von Cochem.
313
zeit den stern wolte lassen aufgehen.“ Im Spiele spricht jeder der drei
Könige mit seinem Sterndeuter, was bei Cochem nur einmal angedeutet
ist, allein jeder spricht fast dasselbe wie sein Yorgänger. Man wird schon
aus diesem Umstande schliessen dürfen, dass solche Erweiterung nur
dramatisches Beiwerk ist. Es ist auch bezeichnend, dass K. Kaspar wieder
etwas anderes im Sterne sieht als Melcher, nämlich dasselbe, was wir
oben bei Cochem fanden:
„In Mitte des Sterns sehe ich ein Kindlem an,
So auf dem Haupt tragt eine goldne Krön,
Auch ein goldenes Kreuz sein Scepter war . . .“
Zur Kennzeichnung der Anlehnung an Cochem möge noch die Rede
Melchers verglichen werden:
Y. 854.
Da das jüdische Yolk thät im Land
Moab liegen
Und König Ballak wollt wider si ob-
siegen,
Beruft selber den Propheten, that in
ersuchen,
Er sollte das jüdische Yolk verfluchen;
Und da er solches Yolk sollte vermale-
deien,
Thäte selber es davor benedeien.
Gesprochen: es wird ein Stern ausgehen
aus Jacob schnell
Und eine Ruth entspriessen aus Israel,
Ygl. Y. 734 — 35!
Israel wird sodann mächtig werden
Ygl. V. 737!
Und seine Feind’ zerstören auf Erden:
Cochem am Anfang des 64. Kap.:
Als das Israelitische volck im land
Moab ligend, in das gelobte land ziehen
wolte, beruhe der König Balac einen
heydnischen Propheten, namens Balaam,
in der wahrsager-kunst treflich erfahren,
daß er das Israelitische volck solte ver-
fluchen. Gott aber redete durch den
mund des falschen Propheten, daß er
wdder seinen willen dem volck neuste
benedeyen: und unter andern Weis-
sagungen, die er durch den Geist Gottes
redete, sprach er: Es wird ein stern
aufgehen aus Jacob, und es wird eine
Ruth entspriessen aus Israel. Er wird
schlagen die Fürsten der Moabiter, und
die Kinder Seth, und gantz Idumeen
und Israel wird alsdann mächtig werden.
Derjenige, so aus dem geschlecht Jacob
wird entstehen, wird herrschen und seine
feind zerstöhren.
Die Teile aus Cochems Text, die hier im Spiele nicht verwendet
wurden, stehen bereits früher, Y. 734 f., in der Rede von Melchers Stern-
deuter. Zuletzt schlägt Kaspar vor Y. 885:
„Mein Rath wär, wir sollten von der Reis abstehen,
Und nachher Jerusalem in die Stadt hingehen,
Uns zu erkundigen wegen des Kindlein,
Wo es möcht anzutreffen sein.“
Bei Cochem S. 304 heisst es etwas kürzer: „Doch endlich fasseten sie
die resolution, nach Jerusalem zu ziehen, und dort nach der Juden König
zu fragen.“ Darauf folgt der Gesang im Sinne von Cochem S. 304b.
In der folgenden Scene, Y. 894 f., wird Herodes mit den hl. drei
Königen in Beziehung gebracht. Das Selbstbekenntnis, das Herodes hier
314
Ammann:
V. 894—905 ablegt, enthält mehr als Cochem bietet, doch deutet Cochem
im Kap. „von den unschuldigen Kindlein“ S. 360 an, dass Herodes noch
andere Mordthaten begangen habe. Auch das folgende Zwiegespräch
zwischen Herodes und seinem Diener Protus und weiter mit den hl. drei
Königen ist dramatisches Beiwerk; Cochem giebt das kürzer und im
Erzählungston. Es mag hier den Yerfasser eine andere Quelle neben
Cochem beeinflusst haben, doch könnte der Yerfasser bei einiger Belesen-
heit diese Änderungen auch selbst gemacht haben; denn auch hier blickt
neben vielfachen Wiederholungen häufig Cochems Darstellung durch.
Ygl. z. B. V. 1006—7:
„Sollt ein neuer Judenkönig sein geboren
auf Erden,
Wo ich vielleicht von meinem Reich
würde verstossen werden?“
Cochem S. 305 a:
„Daß sich Herodes verstöhrte, ist kein
wunder; dann er fürchtete, der neue
König würde ihn aus seinem reich
stossen.“
Ygl. auch Y. 978 f. mit Cochems Kap. „von der Ankunft der Heil
drey Königen“.
Die Könige kommen nach Bethlehem, finden das Kind, beten es an
und geben ihm ihre Geschenke Y. 1032 —1155. Auch hier herrscht eine
dramatisch freiere Bewegung als in der Erzählung Cochems, doch stimmt
in der Hauptsache die dramatische Darstellung auch zu Cochem. Ygl.
Y. 1058—61:
„Der Stern thut still stehen, was soll wohl dies sein,
Als wollt er uns zeigen das kleine Kindelein;
Sehet, wie er hinwirft die Strahlen und seinen Schein!
Ach, sollte denn in dieser Hütten das kleine Kindlein sein?“
mit Cochem von der Ankunft der Hirten S. 308: „Was mögen die fromme
Königen gedacht haben, als sie den stern über diser höhl sahen still
stehen .... Weil aber der stern je länger je grössere strahlen auf die
höhl schosse, wurden sie erleuchtet, daß das arme kindlein, so in der höhl
wäre, der König der Juden seye.“
Vgl. V. 1114 — 17:
„Glaubt’s, ihr hochweise Herren, mein Kind
ist gewisslich Gottes Sohn.
Damit er die Welt erlöse, hat er die
Menschheit angenomm’,
Drum muss er in der Jugend schon leiden
Angst und Noth,
Wann er wird sein erwachsen, sterben
einen bittern Tod.“
Cochem S. 315 (Rückreise):
„Die seeligste Jungfrau erklärte ihnen,
wie daß er wahrhaftig der Sohn Gottes
seye, und darum die menschheit an-
genommen habe, damit er für die Sünden
der weit solte genug thun. Er würde
viel auf diser weit müssen leyden, ja
endlich den bittern tod ausstehen.“
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V. 1120 — 21:
Cochem ebenda:
„Urlaub wollen wir nehmen von dem
Kindelein,
Wie auch von Maria, der Mutter sein.“
„Da nun die H. drey König nach
langem gespräch von Maria Urlaub ge-
nommen . . .“
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
315
Die Könige werden dann vom Engel gewarnt, dass sie nicht zu Herodes
zurückkehren sollen. Hier ist wiederum Y. 1156—65 nach Cochem S. 315 a
gearbeitet, auch Y. 1178—89 nach Cochems 70. Kap. „Wie Maria und Joseph
in Egypten flohen“.
Mit der Rede des Herodes Y. 1190—1209 ist Cochems 73. Kap. „Wie
Herodes die unschuldige Kindlein getödtet“ (zu Anfang) in Yerse um-
gesetzt; was dann Herodes zu den Soldaten spricht und diese selbst melden,
ist dramatische Erweiterung, wozu jedoch auch Cochems Erzählung von
dem schrecklichen Kindermord Stoff genug lieferte. Der Engel hält dann
eine Schlussrede, worin er nochmals die Haupthandlungen der „Tragödie“
erwähnt.
Die Yergleichung des Geburt-Christi-Spiels mit Cochem zeigt dem-
nach, dass das ganze Spiel eigentlich nur eine Umsetzung des Cochemschen
Textes in Yerse ist. Wenn auch bei einzelnen abweichenden Teilen der
Einfluss einer andern Quelle, vielleicht ein anderes Christkindlspiel, wahr-
scheinlich ist, so ändert dies an dem Haupt-Abhängigkeitsverhältnis von
Cochem nichts. Cochem war bei diesem Spiele in der Hauptsache Quelle.
Nun folgt bei A. Schlossar I. S. 169 f. „Das Leiden Christi“ oder
das Steiermärkische Passionsspiel, bei dem die Yergleichung für
uns doppelt wichtig ist, weil nicht nur die Beziehung zu Cochem, sondern
auch zu unserem B. P. in Betracht kommt. Wir finden hier in der Haupt-
sache wiederum Cochems Text in Yerse umgesetzt, nur zeigt dieses Leiden-
Christi-Spiel nebenbei starke Erweiterungen., die nicht mehr auf Cochem,
sondern auf eine andere Quelle zurückzuführen sind1). So geht hier,
ähnlich wie bei den Paradeisspielen, eine Teufelsscene voran. Magdalena
sollte vom Hoffartsteufel gewonnen werden, sie lässt sich jedoch von der
Schwester Martha zu Jesus bekehren. Besser gelingt später den Teufeln
ihre Verführung mit Judas Ischariot, der vom Geizteufel zum Verrate ver-
leitet wird. In dieser letzteren Teufelsscene berührt sich dieses Passions-
spiel mit unserem Tweraser Passion, wo eine Judas-Teufelsscene ein-
geschaltet ist, während die vorangehende Teufelsscene weder mit Cochem
noch mit unserem Passionsspiel eine Berührung zeigt. Zwar erzählt Cochem
auch im 86. Kap. „von der Bekehrung Mariae Magdalenae“, aber sie wird
hier nicht in unmittelbare Beziehung zu den Höllengeistern gebracht. Der
Anschluss an Cochem beginnt in diesem Passion erst Y. 220 f.: „Be-
urlaubung Jesu von Maria“.
Der Verfasser hat mit der Umsetzung des Cochemschen Textes in
Yerse mit vier oder drei Hebungen zugleich den Inhalt stark zusammen-
gezogen, was übrigens nur dem Spiele zugute kommt. Die Beurlaubung
beschränkt sich hier hauptsächlich auf die drei Bitten Marias. Selbst-
1) Ygl. die Anmerk. A. Schlossars zu diesem Stücke S. 330—34.
316
Ammann:
verständlich kann bei solcher Zusammenziehung kein so getreuer Anschluss
an Cochems Text erwartet werden.
Ich stelle hier zur Beurteilung dieses Abhängigkeitsverhältnisses die
erste Bitte nach beiden Texten gegeneinander. Ygl.
Y. 260—67:
„Weil du, mein Kind, gedenkst daran
An unser beides Lieben,
Bitt’ dich deswegen herzlich schön,
Dein Urlaub thu aufschieben;
Gewähr mir nur ein’ treue Bitt,
Weil es ist nun zum Sterben,
Ach, liebster Schatz, versag mir’s nit,
Lass mir die Gnad erwerben.“
Cochem: „Wie Chr. seiner Mutter sein
Leyden offenbahrte“:
Mein hertz-allerliebstes kind, du weist,
wie grosse lieb ich zu dir trage, und
daß mir natürlicher weise nicht möglich
seye, von dir geschieden zu sein; dero-
wegen, wann es durch Gottes willen
möglich ist, so bitte ich, du wollest
dein leyden noch eine weil aufschieben,
damit wir beyde noch eine zeit in lieb
und freud bey einander wohnen ....
Im Passion ist das Aufschieben des Leidens nicht die erste Bitte wie
bei Cochem, sondern schlechthin eine Bitte, darauf kommen erst die drei
Bitten, wobei dann aus der zweiten bei Cochem im Passion zwei Bitten
gemacht wurden. Die zweite Bitte Marias verlangt die Wahl eines andern,
nicht so schrecklichen Todes. Daraus wurde im Passion die erste Bitte,
Chr. solle sich von den Juden und Heiden nicht so schmerzlich morden
lassen, und zugleich die zweite Bitte, er solle nicht eines solchen Todes
sterben. Die dritte Bitte stimmt wieder beiderseits überein, Maria begehrt
nämlich mit ihrem Sohne zu sterben. Offenbar ist hier im Passion eine
Verwirrung eingetreten, die sich entweder durch Unaufmerksamkeit des
Verfassers oder durch mangelhafte Überlieferung erklärt. Der erste und
zweite Aufzug des Böhmerwald-Passions sind hier zusammengezogen oder
es findet vielmehr die Beurlaubung nur von der Maria, nicht auch von den
Freunden statt. Es folgt darauf gleich das letzte Abendmahl S. 183
Y. 388 f. Damit aber der Abschied von den Jüngern nicht ganz un-
berücksichtigt bleibe, tritt Jesus vor dem Abendmahle auf und erwähnt
jetzt des Urlaubes von seinen Jüngern. Ygl. den Anfang des B. P. mit
Y. 388 f.:
0 allerliebste Jünger mein,
Nun ist die Zeit ankommen,
Dass ich nit lang werd bei euch sein:
Schmerzvoll hab Urlaub g’nommen
Von meiner liebsten Mutter schon,
Wie ihr selbst wohl gesehen.
Cochem vom Abschied Christi S. 14b:
Meine liebste freund, die zeit kommet
herzu, daß ich hingehe den willen
meines himmlischen Yatters zu ver-
richten, derowegen muß ich von euch
meinen abschied nehmen, weil ich nicht
länger bey euch bleiben kan.........
Doch ist auch mein Verlangen sehr, Mit grossem verlangen habe ich ver-
Zu g’niessen mit euch das Osterlamm langt mit euch das Osterlämmlein zu
essen ....
Noch sind wir aber nicht beim Abendmahle, vielmehr befiehlt der
Herr erst seinen Jüngern, wo er das Abendmahl halten will. Auch diese
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
317
Erweiterung (Y. 408—36) ist Cochem entnommen, doch ist Y. 437—63 ein
Selbstgespräch des Judas Ischarioth eingeschoben, das in seiner derben,
volkstümlichen Art vom Verfasser seihst herrühren mag.
Das Abendmahl (Y. 464 — 664) ist gegenüber dem B. P. stark aus-
geweitet und zu den vielen Reden der Jünger reichte auch Cochems Text
nicht ans, der Verfasser half sich selbst. So wird zum Abendmahle Steirer
Wein verlangt und Simon beteuert seinen guten Willen mit folgendem
Spruch:
„Ich wollte auch nichts darnach fragen,
Wenn man mich auch voneinander thät sagen (d. i. sägen).“
Dagegen vgl. man bezüglich Cochems:
V. 465 — 67:
Seid willkommen, liebster Meister mein,
Mich g’freut’s, dass ihr bei mir wollt
sein,
Das Abendmahl zu gemessen ....
Cochem 4. Kap. S. 24 (II. Teil):
Seyd mir Willkomm, mein geliebter
Meister! ich erfreue mich, daß ihr mir
die ehr thut, und die Ostern in meinem
haus halten wollet.
Bei der Fusswaschung will sich Petrus nach Cochems 5. Kap. S. 28b
nicht waschen lassen. Als aber der
Theil an mir haben,“ ist er bereit,
lassen. Auch diese Stelle ist in den
Y. 625 — 30:
Petre, wenn du nit die Füß lässt waschen
dir,
Sollst du keinen Theil haben an mir.
Petrus:
Herr, nicht allein die Füsse mein,
Hand und Haupt sollen auch gewaschen
sein.'
Jesus:
Petre, gewaschen ist ganz rein,
Es dürfen nur die Füsse gewaschen sein.
Herr sagt: „. . . so wirst du keinen
sich den ganzen Leib waschen zu
Passion aufgenommen. Vgl.
Cochem S. 28 b:
Werde ich dich nicht waschen, so
wirst du keinen theil an mir haben.
Petrus erschrak sehr und sprach:
0 mein lieber Meister, ehe ich von
dir wolte geschieden sein, lieber wolte
ich zulassen, daß du mir den gantzen
leib waschetest.
Vgl. B. P. III. Aufzug Z. 612:
Es ist genug, wenn nur die Füß sind
gewaschen.
Allerdings konnte hier auch die Heil. Schrift als Quelle dienen. Ygl.
Das Passionsspiel des Böhmerwaldes S. 17 und Joh. 13, 10.
Von V. 665 — 755 wird Judas’ Verrat dargestellt. Der Geizteufel tritt
hier wieder auf und ermuntert den Judas zum Verrat. Der Kaiphas zählt
ähnlich wie im Tweraser P. dem Judas in gereimten Sprüchen das Geld
hin, doch zeigt sich im Wortlaute keinerlei Beziehung zum Tweraser P.,
auch die Verführung des Judas ist im T. P. anders dargestellt. Es bleibt
nur V. 755: „Ein gutes Trinkgeld geb ich noch dir“ auffällig, da er mit
dem B. P.: „Wir werden dir noch ein gutes Trinkgeld geben“ überein-
stimmt, ohne dass diese Worte auf Cochem als gemeinsame Quelle zurück-
geführt werden könnten. Die Beziehung zu Cochem ist hier nicht so
318
Ammann:
ausgesprochen wie in andern Stellen, zumal da die Teufelsscene und die
Zählreime mit Cochem nicht in Berührung sind. Y. 683 f. ist auch so
allgemein gehalten, dass sich schwer eine besondere Beziehung erwarten
lässt. Näher steht hier Y. 683 dem Böhmerwald-Passion als Cochem oder
der Heil. Schrift. Ygl.
H. P. 725: Leiden Chr. I, 683:
Seid gegrüsst, ihr wohlweiseste Herrn! Seid gegrüsst, ihr jüdische Herrn!
Bei Cochem heisst es nur: „Ihr Herrn\u Ygl. Das Passionsspiel des
Böhmerwaldes S. 17. Diese ganze Judasscene zeigt wie gewöhnlich mehr
volkstümliche Bearbeitung.
Mit Y. 756 f. beginnt die Ölbergscene, die ganz nach Cochem, aber
weniger umfangreich als im B. P. bearbeitet ist. Gewisse Teile sind hier
sogar zwischen den Yersen in Prosa eingefügt. So die Hede des Engels
Z. 795—800 nach Cochems II. Kap. 12 S. 73, die folgende Hede des Engels
Z. 807 —16 nach Cochem S. 74; die Yerse sind hier inhaltlich leer, weil
sie zu viel Stoff der Cochemschen Darstellung zusammenfassen. Die
Gefangennehmung Y. 886 — 939 ist in Yersen abgefasst und bietet um-
gekehrt wieder mehr als Cochem enthält. Die Hede des Judas Y. 859
bis 66, 879 — 85, die Reden der vier Juden, Y. 886 — 915, deren Zahl mit
dem B. P. übereinstimmt, die Rede des Petrus und Malchus, Y. 916 — 35,
sind dramatische Erweiterungen, welche über Cochem hinaus wahrschein-
lich nur durch die Phantasie des Yerfassers dieses Passions zustande ge-
kommen sind; denn auch hier sind überall Cochemsche Redensarten bei-
gemischt, vgl. Y. 859, 886, 888, 904—7, 908, 913—15, 922 und die Rede
Jesus’ zu Judas Y. 871 — 78 ist wohl nur eine Yerarbeitung der Rede bei
Cochem im II. Kap. 13 S. 83 a. Jesus wird nun vor den Rat geführt
Y. 940—1031. Hier fällt besonders die Prosarede des Kaiphas auf Y. 942
bis 54, die genau zu Cochems II. Kap. 16 S. 104 stimmt, aber auch die
folgenden Yerse lassen sich alle inhaltlich auf Cochem (16. Kap.) zurück-
führen, nur die Umsetzung in Yerse machte gewdsse Änderungen not-
wendig. Yon Y. 1032 — 54 bildet des Judas Reue eine besondere Scene,
in der auch der Teufel auftritt und sich im voraus auf seine Beute freut.
Im H. P. fehlt diese Scene ganz, im T. P. ist ein Teil derselben auf-
genommen: Judas wirft dem hohen Rate sein Blutgeld hin; bei Cochem
ist im 19. Kap. von Petri Yerleugnung, auch von Judas’ Reue, sowie von
der Thätigkeit des Teufels die Rede, so dass selbst in dieser Teufelsscene
Cochems Einfluss wirksam sein kann.
Die Yerleugnung Christi Y. 1056 — 91 zeigt einige dramatische Er-
weiterungen gegenüber dem B. P., doch ist hier wie bei Cochem und im
B. P. wieder die Magd, die den Petrus verdächtigt und überall auch in
den Reden Übereinstimmung mit Cochems II. Kap. 19 S. 129. Die Er-
weiterung kommt hauptsächlich daher, weil der Yerfasser die dreimalige
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
319
Verleugnung, wie sie Cochem erzählt, stärker ausgenutzt hat. Die Überein-
stimmung mit Cochem liesse sich in vielen Versen wie anderwärts durch
Gegenüberstellung veranschaulichen. Die erste Scene des VII. Aufzuges
im B. P. nach Cochems II. Kap. 18 findet sich ähnlich auch hier V. 1092
bis 1108 wieder, doch mehr bloss angedeutet, indem hier Maria nur bei
Petrus sich über ihren Sohn erkundigt und von diesem das Bekenntnis
seiner Verleugnung erfährt. Von Johannes, Magdalena, den Wächtern, von
Jesu Klagerede im Kerker ist hier keine Rede, aber Mariä Frage V. 1092
bis 93 und Mariä und Petrus’ Antwort V. 1094—1108 ist fast wortgetreu
aus Cochems II. Kap. 19 S. 131 entnommen. Jesus vor Pilatus V. 1109
bis 53 stimmt mit Cochems II. Kap. 20 und dem B. P. überein, um so
mehr, als hier teilweise die Rede in Prosa eingefügt ist. Jesus vor Herodes
V. 1154— 1200 enthält wiederum Prosa neben Versen. Die Überein-
stimmung mit Cochems II. Kap. 21 und dem B. P. wird jedem ver-
gleichenden Leser sofort klar, nur sind einige Reden hier einem Diener
des Herodes zugeteilt. Jesus wieder vor Pilatus V. 1201 — 70. Auch hier
geht die Übereinstimmung mit Cochems II. Kap. 22 und damit mit dem
B. P. in derselben Weise weiter. Die Geisselung Jesu V. 1271 —1339 ist
von gereimten Sprüchen begleitet, wie diese ähnlich auch im H. P. ist,
doch findet sich im Wortlaute keine Beziehung. Diese Sprüche zeigen
auch mit Cochems II. Kap. 24 keinen Zusammenhang, sondern sind durch
Überlieferung von den ältern Spielen auf die jüngern übergegangen oder
danach wieder neu nachgebildet worden.
Christus wird wiederum zu Pilatus geführt und verurteilt V. 1340
bis 1436. Der Gedankengang ist auch hier derselbe wie im B. P. und bei
Cochems II, Kap. 29 — 30; eine kleine Abweichung macht sich hier durch
Einführung zweier Diener des Pilatus geltend, während die Gemalin des
Pilatus nicht auftritt.' Da^ Urteil ist in Prosa und im gleichen Wortlaut
wie bei Cochem und im B. P. mitgeteilt. Nun folgt die letzte Judasscene,
Judas’ Verzweiflung V. 1437 —1508, in der der Teufel und der Tod auf-
treten. Diese Scene hat weder mit Cochem — denn im 19. Kap. ist zwar
der Teufel erwähnt, aber der Tod nicht — noch mit dem B. P. genaueren
Zusammenhang. Doch zeigt sich dieser gleich wieder im folgenden Kreuz-
gang V. 1509 — 41. Die Begegnung mit Maria folgt hier in anderer Ord-
nung als im B. P. nach dem Zusammentreffen mit Simon von Cyrene und
der Veronika, die Reden selbst stimmen fast wortgetreu zu Cochems II.
Kap. 33 f. und zum B. P. Die Kreuzigung und der Tod Christi Ar. 1542
bis 1738 sind ausführlicher behandelt als im B. P. Hauptsächlich sind die
Spottreden der Juden, die Bekehrung des Longinus Züge, die der Verfasser
vielleicht^ nicht bloss aus Cochem schöpfte, sondern vielfach nach eigenem
Geschmack oder aus andern Darstellungen von Volksschauspielen einfügte.
Im allgemeinen mag wohl auch hier Cochem als Richtschnur für die Dar-
stellung gedient haben, aber es ist begreiflich, wenn bei der ungemein
Zeitsehr. d. Vereins f. Volkskunde. 1S93. 22
320
Ammann:
breiten Erzählung Cochems und bei der Umsetzung in Yerse von Seite
des Verfassers nicht nur hier, sondern auch an manchen andern Stellen
vom Wortlaute Cochems abgewichen und der gleiche Gedankengang mehr
in eigene Worte gekleidet wurde. Es müsste jedem andern bei Dramati-
sierung einer so weitläufigen Erzählung ebenso gehen: man würde die
dramatisch tauglichen Stellen wenig verändert aufnehmen, bei überreichem
Stoff aber würde man sich mehr vom Gedankengange leiten lassen und
die Worte lieber selbst dazu geben, als sie aus verschiedenen Stellen
zusammensuchen. Allerdings greifen gewisse Scenen, wie die Teufels-
scenen, in diesem Leiden Christi weiter über diese Quelle hinaus; sie be-
deuten wahrscheinlich einen Einfluss anderer Yolksschauspiele oder volks-
tümlicher Überlieferungen.
Das Leiden Christi aus dem Gurkthale in Kärnten, das
A. Schlossar im Anhänge seiner D. Yolksschauspiele II. S. 271 f. mitteilt,
zeigt, wie schon A. Schlossar II. S. 400 bemerkte, in vielen Teilen Be-
ziehungen zum Steiermärker Leiden Christi, das wir in der Hauptsache
bereits als eine dichterische Bearbeitung Cochems kennen gelernt haben.
A. Schlossar verweist auf die Beurlaubung, die Fusswaschung, den Urteils-
spruch, worin sich eine gemeinsame Vorlage erkennen lasse. Diese gemein-
same Vorlage ist eben Cochems Text, der da wieder durchblickt. Es lässt
sich hier aber bei der starken Änderung der Sprache, hier Verse -— dort
Prosa, auch durch eine genauere Vergleichung nicht sicher feststellen, in
welchem Ausmasse Cochem benutzt wurde und ob unmittelbar oder viel-
leicht durch ein anderes Volksschauspiel.
Vom Prolog II. S. 271 wollen wir absehen, da derselbe gewöhnlich
nur in weiten Zügen eine Inhaltsangabe bildet und eine geistliche oder
weltliche Ermahnung an die Zuschauer enthält, sich 'daher zur Vergleichung
nicht gut eignet. Aber auch der zweite Auftritt, wo der Tod singt und
redet, zeigt keine recht deutliche Beziehung zu Cochem, wiewohl Cochem
in seinem Zusatz zu dem Leben Jesu (von den vier letzten Dingen: Tod,
Gericht, Hölle, Himmelreich) auch vom Tode im besondern handelt. So
könnte die vierte Strophe des nach Höltys Totengräberlied bearbeiteten
Liedes (V. 43 — 48) auf Cochem beruhen, der den Tod Christi auch in
nahen Zusammenhang mit dom Tode der Menschen bringt (vgl. I. Kap.:
„Wie erschröcklich der Tod seye“ und A. Schlossar II. S. 401). Ferner
spricht der Tod V. 63: „Mein Pfeil wird ihn gewiss nicht fehlen“ . . .
Diese Darstellung des Todes mit dem Pfeile erinnert lebhaft an Cochems
Abbildung zum genannten Kapitel. Der Tod durchbohrt mit einem langen
Pfeile den im Bette liegenden Kranken, während die Angehörigen ver-
zweifelt die Hände ringen und wehklagen. Die Möglichkeit einer An-
lehnung an Cochem ist hier nicht ausgeschlossen, sowie auch später die
Judasscenen mit den Teufeln eine ähnliche Beziehung haben könnten.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
321
Im dritten Auftritt erscheint Christus mit seinen Jüngern. Er offen-
bart ihnen die Nähe seines Leidens, die Absichten seiner Feinde und
fordert sie znm letzten Besuche Bethaniens auf, um von der Mutter und
den Freunden Abschied zu nehmen. Damit wird also einerseits das Leiden
geoffenbart, anderseits die Urlaubnehmung vorbereitet. Diese Darstellung
entspricht nicht ganz der Cochems, wiewohl sich der Schluss mit Cochems
Darstellung vergleichen lässt:
V. 83 — 88:
Lasst uns gehn nach Bethanea
Zum G’nuss der letzten Freuden
Wo ich noch hoff, der Mutter mein
Und auch den Freunden eben
Vor meinem Tod das Lebewohl
Und auch Urlaub zu geben.
Cochems II. Kap. 3 S. 14:
Am Griinen-Donnerstag morgens käme
der betrübte Sohn Mariae wider, und
wolte den letzten tag seines lebens mit
seinen allerliebsten freunden in freuden
verzehren.
(Urlaub von Mutter und Freunden ist
dann wieder nach Cochems Darstellung!)
Die Anordnung des Stoffes und die dramatische Fügung verrät über-
haupt in diesem Leiden Christi grössere Freiheit in der Behandlung; es
kann daher obige Scene neben einer Anlehnung an Cochem noch jene
dramatische Wendung erfahren haben, dass Christus zuerst mit seinen
Jüngern auftritt, um den Besuch Bethaniens anzukündigen. Im vierten
Auftritte zeigt sich der Anschluss an Cochem bereits deutlicher. Die Juden
halten Rat wider Christum, Kaiphas spricht zur Versammlung. Diese Scene
fehlt im Steiermärker P., dagegen finden wir sie im B. P. und bei Cochem
I. Kap. 91 „Von dem Rath wider Chr.“.
V. 89 — 92 setzt eine Erörterung des Lebens und Wirkens Christi
voraus, wie dies schon im ersten Rat wider Christum und dann hier im
zweiten bei Cochem zu finden ist. Es wird jedoch nicht auf die einzelnen
Thaten eingegangen, sondern nur ganz allgemein gesagt:
Kaiphas: „Euch sind bekannt, Ihr lieben Herren,
Christi. That und falsche Lehren!
Viel Volk hat er an sich gezogen,
Mit falscher Lehre Viel’ bewogen:“
Die weitere Rede des Kaiphas ist auch ziemlich frei behandelt, doch
lässt sich, freilich auch mit Beziehungen zur Heil. Schrift, vergleichen
V. 93—96: Cochems I. Kap. 91 S. 466b f.:
Und lasst man ihm ferner seinen Muth, Lassen wir ihn also, so werden alle
Die Juden er verführen thut: an ihn glauben. Und die Römer werden
Und fallen uns die Römer ein, kommen und unser Land und Leute
Vom Lande wir vertrieben sein.
nehmen.
Auch die Reden der Räte erinnern an Cochem. Vgl.
V. 107—10: Cochems II. Kap. 15 S. 97a:
Man muss mit Listen Unterkommen, Wenn man einen Hexenmeister, welcher
Dass er in unsre G’walt wird g’nommen! das gantze land verzaubert hätte ... end-
lich durch List gefangen bekommen hätte.
22*
322
Ammann:
Der Vogel muss gefangen werden,
Sodann kann man sein Nest verderben.
V. 115—IG:
Nur nicht gleich an dem Ostertag!
Das Volk aufrührisch werden mag.
Cochems I. Kap. 91 S. 468 b:
Dann er wäre vogel-frey gemacht:
und wer ihn nur antraffe, dorfte ihn
umbringen.
Cochems II. Kap. 13 S. 78:
Die Herren aber sagten: Es dunckt
uns nicht rathsam zu seyn, an disem
hl. Oster-Fest; dann es wurde grosse
aufruhr unter dem volck machen.
Arom 5. bis 7. Auftritt haben wir Teufelsscenen mit Judas, in denen
nicht allein Cochem, sondern vielleicht, wrie beim Steiermärker Leiden
Christi, auch eine andere alte Überlieferung, hereinspielt. Der 8. Auftritt:
die Unterhandlung des Rates mit Judas — ist hier stark zusammengezogen,
die Zählreime zeigen aber auch hier wieder eine andere Fassung als im
Steiermärker oder im B. P. Der 9. Auftritt ist eine Rede des Judas in
acht Verszeilen, dagegen ist der 10. Auftritt: der Abschied Jesu von Maria,
Magdalena und Martha — entsprechend der Cochemschen Fassung breiter
behandelt. Doch ist diese Scene hier noch kürzer dargestellt als im Steier-
märker Leiden Christi. Hier ist nur die dritte Bitte (V. 285: „Lass mich
mit dir auch sterben“) deutlich geschieden, die erste und zweite läuft auf
den gleichen Gedanken hinaus (V. 259: „Thue dich dem Tod entziehen“
— V. 269: „Thue dich dem Tod entwinden“), auch werden diese nicht
als erste und zweite Bitte bezeichnet. Sonst ist in diesem Auftritte die
Offenbarung des Leidens in ähnlicher Weise wie im Steiermärker P. mit
dem Abschied von den Freunden verbunden. Es lässt sich hier auch einige
Übereinstimmung zwischen dem Kärntnerischen und Steiermärkischen P.
bemerken. Vgl.
Kärntn. P. V. 270—77:
Gleichwie der Mensch verloren hat
Beim Apfelbaum das Leben,
Der G’nuss war ihm ja tödtlich schad,
Sein Heil hat er vergeben:
So thuet auch mich in gleicher G’stalt
Die Liebe hart bezwingen,
Die Sünd den Menschen g’fangen halt,
Ich musst ihm ’s Leben bringen.
Steierm. P. V. 284 — 91:
Mein Schatz und mütterliche Zucht,
Antwort darauf zu geben:
Weil Adam durch des Baumes Frucht
Verloren hat sein Leben,
So muss ich auch mit meinem Tod
Am Holz das Leben erwerben,
Und alle Trübsal, Angst und Noth
Gern leiden bis ins Sterben.
Vgl. beide Fassungen mit Cochems Darstellung II. Kap. 2 und im
I. Aufzuge des B. P.: „Chr. sprach: Meine allerliebste Mutter, daß du be-
gehrest, ich solle mir einen geringem tod erwählen, das kan nicht seyn:
dann die Götti. Gerechtigkeit erfordert, daß ich die allergrausamste marter
und allerbittersten tod leyden solle; damit die siinde Adams und aller
menschen völliglich bezahlt werden. Dann gleichwie die sünder meinem
himmlischen Vater“ u. s. w.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
323
Die Vergleichung beweist nicht viel, doch könnte man an dieser Stelle
vermuten, der Steierm. Text stehe dem Kärntner fast näher als die hier
etwas weiter abstehende Darstellung Cochems. Vgl. aber eine andere Stelle
in beiden Spielen:
Kärntn. P. V. 290 — 301:
Maria:
Gott sei’s geklagt, weil’s doch sein
muss,
Ich kann nicht sein entgegen,
Gieb mir doch aus deinem Gnadenfluss
Den himmlisch letzten Segen.
Christus:
Der Vater in dem Himmelreich,
Der wolle dich gesegnen,
Der heilige Geist lass dir zugleich
Kein Unheil auch begegnen:
Nun ist es Zeit, dass ich mich gieb
In meines Feindes Händen,
Um alles, was da malt die Schrift
Zu leiden, Strick und Banden.
(Vgl. Cochems II. Kap. S. 9a:
„Dises haben schon vorlängst die Pro-
pheten geweissaget . . .“)
Maria:
So geh, mein Sohn, erlös die Welt,
Und thue nach Gottes Willen:
Weil es ansonst war schlecht bestellt,
Thue dies mit Blute stillen.
Der Vater wolle dir beistehn,
Den du zum G’leit mir geben,
Und mit dir zu dem Tod hingehn:
Bring uns das ewige Leben.
Steierm. P. V. 372 — 87:
Maria:
Ach weh, nun muss ich schon zurück,
Ich kann nichts mehr erwerben:
Mein Herz bricht mir zu tausend Stück,
Für Leiden muss ich jetzt sterben;
Nun küss ich dich zum letztenmal,
Bring dich nicht mehr zuwegen,
So bitt ich dich zu tausendmal
Um deinen heiligen Segen.
Christus:
Gesegn’ dich Gott, o Mutter mein,
Sainmt allen deinen Freunden,
Nun will ich mich, es muss doch
sein,
Ergeben meinen Feinden.
Alles, was worden prophezeit,
Muss heut also geschehen,
In Kürz’ werd’t ihr mit grösster Freud
Mich alle Wiedersehen.
Cochems III. Kap. S. 19b:
. . . . so gehe hin und erlöse die
Welt.
Gott der himmlische Vatter wolle
dich stärcken, der hl. Geist wolle
dich trösten . . .
Eine auffällige Übereinstimmung findet sich hei diesen Stellen nur im
K. P. 293 und St. P. 379, K. P. 298-99 und St. P. 382—83, wo die Bitte
um den Segen und der Entschluss Christi, sich den Feinden zu übergehen,
ausgesprochen wird. Die Übereinstimmung der ersten Stelle erklärt sich
indessen aus Cochem, wo Maria heim Abschied Christi (Kap. III S. 19a)
spricht: „Dann tausendmal besser ist mir, mit dir sterben, als ohne dich
leben. Wann es dann aber muß geschyden sein, so bitte ich demütig
um deinen Göttlichen See gen, damit ich gestärcket werde, das grosse
leyd gedultiglich auszustehen.“ Ebenso lässt sich die zweite Stelle mit
324
Ammann:
den Abschiedsworteil Christi bei Cochem Kap. III S. 15a Zusammenhalten:
„Nun dann, meine allerliebste Mutter! weil es muß geschieden seyn,
so sage ich dir gute Nacht, und befehle dich meinem himmlischen
Yatter. Und ihr, meine liebe Freunde, lebet wohl, meine zeit ist da,
daß ich von euch scheyde,“ wenn auch von der Übergabe an die Feinde
hier im besondern nicht die Rede ist. Y. 302 f. des K. P. zeigt deutliche
Abhängigkeit von Cochem. Wir bemerken also, dass sowohl der St. P.
als der K. P. hier eine Beziehung zu Cochem aufweisen, und wenn nun
diese beiden P. auch unter sich eine gewisse Übereinstimmung zeigen, so
erklärt sich diese nicht aus der unmittelbaren Abhängigkeit dieser beiden
P. von einander, sondern durch ihre Abhängigkeit von Cochem als der
gemeinsamen Quelle beider. Die V. 310 folgenden Trostreden der Frauen
sind wieder freier gehalten, der Yerfasser bemüht sich sichtlich, mehr
poetischen Schwung in die Schlussreden des 10. Auftritts zu bringen;
doch verraten Y. 321, 324, 327, 330 — 32, 344 auch hier Cochemschen
Einfluss.
Dagegen hört im 11. und 12. Auftritte plötzlich wieder Cochems Ein-
fluss auf, auch der Steiermärkische Passion zeigt hier keine Beziehung
zum Kärntnerischen. Der hohe Rat sowie Judas sind hier volkstümlich
karikiert, die italienischen Namen der Ratspersonen sprechen insbesondere
für den volkstümlichen Ursprung dieser Scenen.
Auch im 13. bis 15. Auftritt ist keine unmittelbare Benutzung Cochems
nachzuweisen, denn eine solche Darstellung kann ebensowohl auf der Er-
zählung der Evangelisten als auf Cochems Wiedergabe nach den Evangelien
beruhen. Das was in Cochems Darstellung eigentümlich ist, findet sich
hier eben nicht; auch in der Fusswaschungsscene kann ich keine deutliche
Beziehung zwischen dem Steierm. und Kärntn. Spiele und daher auch nicht
zwischen dem letzteren und Cochem entdecken1). Eine gewisse Überein-
stimmung in der formellen Behandlung solcher Scenen, die schon in der
Heil. Schrift eine feste Gestalt haben, versteht sich von selbst, ebenso ist
allen diesen Spielen eine gewisse volkstümliche Charakterisierung und
Behandlung eigen, wie sie sich im Laufe der Zeiten im Yolke traditionell
fortgeerbt hat. So lässt sich auch im folgenden zweiten Aufzuge in
allen fünfzehn Auftritten nur weniges finden, was mit einiger Sicherheit
als Cochems Eigentum nachgewiesen werden kann. Im 4. Auftritt erinnert
die üble Behandlung, welche Martha von den zwei Rittmeistern erfährt,
sowie im 5. Auftritt der Wechselgesang zwischen Maria und dem Wächter
an Cochems XYHL Kap. „Mariae kommt zeitung ihr Sohn seye gefangen“.
Dem Wortlaute nach Hesse sich im 5. Auftritt eine Stelle vergleichen.
Beiderseits spricht der Wächter:
1) Vgl. Schlossar, Volksschausp. II, S. 400.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
325
V. 955 — 58:
Man hat heut diese Nacht
Ein G’fangnen hergebracht,
Gestossen hin und her,
Geschlagen noch viel mehr.
Cochems XVI11. Kap. S. 126a:
Man hat vor etlichen stunden einen ge-
fangenen mit grossen schimpf herein ge-
führt, der arme mensch sähe übel aus,
und war gar jämmerlich zerschlagen.
In Y. 978 und 981 werden die Juden in ihrem Treiben gegenüber
Jesu als „rasend“ und „toll“ bezeichnet. Auch bei Cochem heisst es im
XIY. Kap. „Wie Ohr. gefangen worden“ S. 86b nach Chrysostomus, dass
Gott in dieser Leidensnacht allen Teufeln, selbst dem Lucifer, Macht über
die Juden gegen Christus gegeben habe, so dass „sie gleichsam vor Zorn
und Bosheit rasend wurden“.
In Y. 983 nennt Judas den Annas „Hochwürdig“, wie dies auch bei
Cochem im XYI. Kap. S. 106 a vorkommt.
Y. 1043.
Sag an, wer hat dir denn
Das Lehramt übergeben . . .
Besonders zeigt der 9. Auftritt
Übereinstimmung mit Cochem:
Y. 1129 — 40:
Maria:
Bekenn die Wahrheit doch nur ein,
Die Augen nichts Guts ankünden.
Ach, Johann, mit welchen Schmerzen
Wart ich deiner Gegenwart;
Sag es diesem armen Herzen,
Geht es meinem Sohne hart?
Johannes:
Ach, Maria, ich muss gestehn,
Es thut sehr schlecht mit ihm hergehn,
Denn Judas hat ihn verrathen,
Er ist in der Juden Gewalt gerathen,
Wird hart gebunden und tribulirt,
Zum hoheu Priester hingeführt. V.
Cochems XV. Kap. S. 98a:
Wer hat dir g’walt gegeben, zu lehren
inhaltlich und selbst im Wortlaute
Cochems XVIII. Kap. S. 124:
Johannes hat vom Weinen Augen wie
lauter feur, als er von Caiphas’ Haus
nach Bethanien kommt.
Maria spricht:
0 mein Johannes, sage bald an, wie
stehet die sach mit meinem armen Kind?
Dann ich mercke wohl, dass du traurige
bottschaft bringest. Ich bitte dich, sage
nur bald, wie es stehe.
Der liebe Johannes hielte die zähren
ein, so vil er kunte, und sprach: 0 liebe
Frau, mit eurem Sohn stehet es so
schlecht, dass ich michs scheue zu sagen.
Dann die Juden ihn als einen mörder
gefangen . . . und gehen so übel mit
ihm um, dass ichs vor hertzenleid nicht
sagen kan: und Judas der böse mensch
hat ihn verrathen, zu Annas und Caiphas
geführt.
V. 1145 — 46: Cochem XVIII. Kap. S. 125a:
Ach, Kind, ach, Sohn, ach, meine Freud! Ach, ach mein Kind Jesu!
0, Juda, welch Undankbarkeit! wo ist mein trost und freud!
0 Judas, du undanckbarer mensch!
326
Ammann:
Y. 1156: Cochem, S. 125b:
Drum lasset uns der Stadt zugehn. gehe doch mit mir in die stadt.
An diesen Stellen finden wir auffällige Übereinstimmung, indessen ist
dem Umstande, dass diese Übereinstimmungen gerade in specifiscli Cocliem-
schen Partieen zu finden sind, mehr Gewicht beizulegen als dem überein-
stimmenden Wortlaute selbst. Es gewinnt den Anschein, als wären im
Kärntn. P. aus Cochem nur solche Stellen eingefügt, die gerade Cochem
eigen sind; aber auch hier zeigt sich kein sehr enger Anschluss, wenn
man selbst davon absieht, dass der Text in Verse umgesetzt und daher
stark verändert werden musste.
In allen weiteren Auftritten finde ich dann keine deutliche Anlehnung
mehr an Cochem bis zum Todesurteil in Y. 2117—35, das dem Sinne ent-
sprechend in Prosa eingefügt wurde. Doch auch in diesem Urteilsspruch
ist Cochem nicht getreu wiedergegeben, sowie auch die Stelle im Steierm. P.
und im Böhmerwald-Passion wieder etwas abweichend lautet. Man muss
annehmen, dass jeder Verfasser zwar den Spruch aus Cochem genommen,
aber jeder nach eigenem Geschmack verarbeitet hat.
Auch in den folgenden Auftritten begegnen wir wieder poetisch ver-
arbeiteten Stellen, die wohl nur auf Cochem zurückzuführen sind. So lässt
sich die Rede des ersten Portier zu Maria beim zweiten Kreuzfall mit
Cochems Darstellung „Chr. begegnet seiner Mutter“ Zusammenhalten:
V. 2325 — 28:
Schau, Weib, sieh die drei Nägel an,
Woran dein Sohn muss hangen,
Sie werden ihm wohl taugen schon,
Wann er am Kreuz wird prangen.
Cochems XXXIII. Kap. S. 233b:
Dann derjenige, so die nägel trüge,
hielte dieselbige der traurigen Mutter
vor die äugen, sprechend:
Sihe, o Weib, mit disen nageln muss
dein Sohn heut ans creutz geschlagen
werden; hättest du ihn besser erzogen,
so wäre er zu solchem leyd nicht
kommen.
Als Maria Jesus auf dem Leidenswege zu begegnen sucht, bittet sie
Johannes um das Geleite, auch Martha und Magdalena sind dabei. Hier
scheint die ganze Scene, wiewohl nicht überall im Wortlaute, nach Cochem
bearbeitet. Vgl.
V. 2409.
0 mein Johann, ich bitte dich,
Zeig mir den rechten Ort,
Damit den Sohn wohl sehe ich.
Und sprechen könnt ein Wort.
Cochems XXXIII. Kap. S. 232b:
Darum sprach Maria zu Johanne:
Mein lieber vetter Johannes, ich sihe,
dass ich an disem ort, vor dem grossen
volck nicht kan zu meinem sohn
kommen, darum bitte ich, führe mich
an einen ort, da ich mit ihm vor seinem
end ein wörtlein reden, oder ihn in
seinem leyden trösten könne . . .
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
827
Johannes:
Wenn es so Euer Wille ist,
Ihr allerliebste Frauen,
So lasst uns gehn, spart keine Frist,
Wir wollen ihn beschauen.
Ich glaub, wir sind am rechten Weg,
Wie die Blutstropfen zeigen . . .
St. Johannes sprach: Liebe Frau, ich
förchte . . ., dannoch will ich euch
disen dienst erweisen, und durch einen
kurtzen weeg an einen ort führen, wo
er mus vorüber gehen ....
Diese Scene ist in ihrer ganzen Eigenart nach der Cochemschen Dar-
stellung gezeichnet, doch stimmt der Wortlaut wiederum nur teilweise
überein. Freilich ist hier zu beherzigen, dass dieser Passion überhaupt
in seiner kurzen, skizzenhaften Behandlung der Scenen die eingehende
und breite Darstellung Cochems nicht brauchen konnte; anderseits wollte
der Arerfasser ein derberes, echt volksmässiges Spiel machen, das nach
seiner Erfahrung nicht durchweg nach Cochem bearbeitet sein durfte, wenn
es seinen Zuschauern gefallen sollte.
Yon diesen Gesichtspunkten aus liesse sich der ungenaue Anschluss
an Cochem erklären, wenn er auch sonst keine andere Quelle benutzt
hätte, allein es scheint doch, dass der Verfasser dieses Passions Cochem
nur in gewissen Scenen wirklich zu Rate gezogen hat und auch hier sich
mehr bloss vom Gedankengange als vom Wortlaut leiten liess.
Ich finde nämlich auch bis zum Ende des Passions keine auffällige
Stelle mehr, die auf Cochem zurückzuführen wäre, denn soweit nur die
Heilige Schrift ausgebeutet wird, lässt sich Cochem nicht als besondere
Quelle ansehen und erweisen.
Diesem Passion folgt noch als Zwischenspiel zum Leiden Christi ein
Schäferspiel1) und als Nachspiel die Auferstehung. Auch diese Stücke
zeigen keinen deutlichen Zusammenhang mit Cochem.
Im ganzen erweist sich demnach Cochems Leiden Jesu als Quelle für
viele geistliche Volksschauspiele und man darf annehmen, dass mit den
hier verglichenen Spielen die Zahl der von Cochem abhängigen nicht ein-
mal erschöpft ist.
Wir fanden fünf P aradeis spiele, die mehr oder weniger aus Cochems
Leben Jesu geschöpft haben, und zwar das V. P. (Vordernberger Paradeis-
spiel), das Paradeisspiel im 0. W. (Obergrunder Weihnachtsspiel), das
Z. P. (Zuckmantler Paradeisspiel), das S. P. (Salzburger Paradeisspiel),
das M. P. (Mitterndorfer Paradeisspiel), ferner fünf Weihnachtsspiele,
und zwar das O. W. (Obergrunder Weihnachtsspiel), das H. H. (Halleiner
Herbergsspiel), das H. D. (Halleiner Dreikönigsspiel), das H. K. (Hitzen-
dorfer Krippelspiel), die G. Chr. (Geburt Christi aus Steiermark), ferner
zwei Schäfer spiele, und zwar das Spiel vom guten Hirten im V. P.
1) Dieses dürfte vor dem 2. Aufzuge eingefügt worden sein, wo zur folgenden Ölberg-
scene eine Waldgegend dargestellt wird.
328
Ammann:
(Vordernberger Paradeisspiel) und das Mitterndorfer Schäferspiel im M. P.
(Mitterndorfer Paradeisspiel), ferner sechs Passionsspiele, von denen
das B. P. (Böhmerwald-Passionsspiel) und das St. P. (Steiermärkische
Leiden Christi) Cochem am nächsten stehen, während das Z. P. (Zuck-
mantler Passionsspiel), das 0. P. (Oberaudorfer Passionsspiel), das Passions-
spiel aus dem Bayerischen Walde und das K. P. (Kärntnerische Passions-
spiel) nur mehr oder weniger auf Cochem zurückgeführt werden können.
Bei der verschiedenen Abhängigkeit dieser Spiele von Cochems Leben
Jesu ist beachtenswert, dass manche Spiele prosaische Stücke aus Cochem
enthalten, die ohne grosse Veränderung eingefügt werden konnten und daher
leichter zu erkennen sind; dass hingegen bei manchen Volksschauspielen
von poetischer Form Cochems Text, wenn er verwertet werden sollte,
erst in Verse umgesetzt werden musste, wobei sich dann eine grössere
Selbständigkeit der Verfasser geltend macht und die Abhängigkeit nicht
überall mit voller Sicherheit nachzuweisen ist. (
Teile, die in diesen Volksschauspielen über Cochems Leben Jesu und
die Heilige Schrift hinausgehen, sind entweder eigene Erfindung der Ver-
fasser, oder sie entstammen einer andern Quelle. Auf Rechnung der Volks-
poeten möchte ich besonders die Bildung der Zählreime, mancher Judas-,
Teufels-, Hirtenscenen, mancher derben Dialoge setzen, wobei allerdings
meistens auch noch Einfluss alter Überlieferungen mitwirkt, andere eigen-
artige Scenen mögen oft direkt auf eine andere, uns noch nicht bekannte
Quelle zurückgehen. Eine wichtige Quelle dieser Art für die jüngeren
geistlichen Volksschauspiele ist gewiss durch den Hinweis auf Cochem
offenbar geworden. Wie des Meisters Hans Sachs erwähnte Tragödie ins
Volk eindrang und das Volksschauspiel erweckte und belebte, so hat noch
in ausgedehnterem Masse Cochem durch sein Volksbuch besonders auf das
deutsche Volk im Süden eingewirkt.
Was die Darstellung der Töchter Gottes im Paradeisspiele im besondern
betrifft, ist zu beachten, dass dieser Mythus über Cochem weit zurückreicht,
vgl. Passionsspiel aus dem Böhmerwald S. 15. R. Heinzei hat uns gezeigt,
dass dieser Mythus auf den 84. Psalm, 11.—12. Vers: Misericordia et veritas
obviaverunt sibi; iustitia et pax osculatae sunt. Veritas de terra orta est
et iustitia de coelo prospexit — zurückzuführen ist. Für unsere Volks-
schauspiele war wohl einzig und allein Cochems Fassung massgebend,
dennoch zeigte sich in einer handschriftlichen Überlieferung zum Erler
Passion keinerlei Zusammenhang mit Cochems Darstellung, daher diese
Überlieferung auf eine andere ältere Fassung zurückgehen dürfte. Ab-
gesehen von verschiedenen Gedichten des Mittelalters (Erlösung, Anegenge,
De Mynnen rede) bot auch st. Bernardus, Senno I. de Annuntiatione B.M.V.1)
eine für Theologen bequeme Fassung dieses Mythus, sowie darauf auch in
1) Vgl. Migue cursus patrolog. lat. tom. 183. 383—390. Schluss des Sermo.
Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem.
329
verschiedenen Predigtwerken1) Rücksicht genommen ist. Yon solcher Seite
hat nicht nur Cochem selbst, der leider für seine Fassung keine Quelle
angiebt, sondern vielleicht auch der Verfasser der alten Erl er Hs. die
Anregung zu dieser Darstellung empfangen.
Villotte friulane (Friaulische Dorflieder).
Mitgeteilt von Dr. E. Schatzmayr in Triest.
Dem „Furlaner“ (Friauler) ist Lied und Gesang Lebensbedürfnis: von
früh morgens bis spät abends, bei der Arbeit auf dem Felde und in der
Werkstatt, auf der Wanderschaft und daheim in Haus und Garten hört
man ihn singen. Mehr noch die Furlanerinnern Einzeln und in Chören,
in Feld und Wald, in den Spinnereien, auf den Wegen und Steigen, nach
dem Vesperläuten erschallen ihre mehr oder minder fröhlichen Gesänge
(villotte). Die Furlaner sind eben ein dem deutschen Nachbar im Norden
(Kärnten) und Westen (Tirol) in mancher Hinsicht näher als dem wälschen
Landesgenossen verwandtes gemütvolles, derbes, tüchtiges, überaus arbeit-
und sparsames Landvolk an den Südhängen der komischen Alpen (Carnia)
und auf den vorliegenden Ebenen bis Görz, Monfalcone und Grado in den
Lagunen der Adria.
Beim hiesigen Volke heisst das Land, wo furlanisch gesprochen wird:
la Furlania, wo deutsch gesprochen wird: la Tedescheria. „La Germania“
ist Deutschland und Österreich.
Der friaulische Dialekt gehört zur Gruppe der ladinischen1 2) Mund-
arten, zu welchen auch das „Romaunsch“ (Rhätoromanisch in Graubünden
und Tirol) gezählt wird. Es existiert ein gutes Wörterbuch von Pirona.
Die Lautlehre des Friaulischen und der verwandten Mundarten ist von
Ascoli (geb. in Görz) im ersten Bande des Archivio glottologico italiano
behandelt worden. Bei Resiutta an der Pontebba-Bahn wird ein Unter-
dialekt gesprochen, der sehr altertümlich ist.
Fra i canti popolari italiani, i friulani sono i piü profondi — sagt ein
Kenner italienischer Volkslieder.
1) Vgl. Wiser, Th., Vollständiges Lexikon für Prediger und Katecheten. Eegensburg
1857 XI. Bd. S. 273.
2) Siehe mein Buch „Avanzi dell’ antico dialetto triestino“ (Triest, bei Dase, 1891).
330
Schatzmayr:
Urtext.
1.
Benedete 1’ antiga-e (= „le anticaglie“,
gli antichi)
I ere dute buine int (= gente)
E cumò nome baga-e,
Dute piene di bon timp! (= buontemponi).
2.
Cuand eh’ o levi su par Óarnje
(Quando io andavo su per la Carnia)
Jò no levi mai di band:
Cuafri nolis te sachete
(Quattro nuces „ze sack. etto“)
Lis fantatis a mio comand.
3.
E une dì une dì jo (l)and a messe
’o 1’ hai vidude a capita,
E in che glesie benedete
0 ni hai ftnit d’inamorà.
4.
Ti ricuardistu, ninine,
Cuand eh’ o erin sul rivai —
Tra-la-la, opla! —
Magari che ’1 fossi
Tu has capadis plui bussadis
Che no fucis sul cocolar!
5.
Yes chei voi come dos stelis,
(Avetis quegli occhi) (due stelle)
Chel nasut cussi ben fat —
Simpri aiegri e mai passioni
(Lieblings-Refrain oder „ritornello“ vieler
friaul. Volkslieder).
G.
Cuan’ che’ 1 fuc al bruse 1’ aghe
Ance jò ti sposi te —
Simpri al egri e mai passioni
7.
E Tunin al è un bici zovin,
Ch’ al sà ben puartà il capjèl:
E1 merète Teresine
Se no fòss nome par cbèl.
Nachdichtung.
In den guten alten Zeiten,
Da war alles gut und echt —
Heutzutag ist alles Schwindel,
Alles pofel, falsch und schlecht!
Beim Hinauftrieb in den Karngau —
Lebe hoch der alte Brauch! —
Hatt’ ich immer Geld im Beutel
lind die schönsten Mädel auch.
Und eines Tags, eines Tags ging ich
zur Messe:
Da sah ich das Schönste was es giebt,
Und in der lieben, guten Kirche,
Da — hab’ ich mich in sie verliebt.
Gedenkst du noch daran, Geliebte,
Wie wir standen auf der Höh’ —
Hopla, juchhee! —
Ach, wenn’s noch so wär’l
Da kriegtest du mehr Bussei, Kind,
Als Blätter an dem Nussbaum sind.
Die Augen wie zwei Sterne,
Das Naschen, ach, wie lieb —
Du verflixter Herzendieb!
Wirst du’s Wasser brennen seh’n,
Werd’ ich gleich dich freien gehn.
Tonerl ist ein hübscher Bursche,
Tonerl trägt so fesch den Hut:
Er verdient die hübsche Resi,
Schon weil er sich trägt so gut.
Villotte friulane (Friaulisclie Dorfliecler).
331
Su la plui alte cime
Al je ve’ 1 soreli a buin ore —
Ma eheste no je 1’ ore
Di abandona 1’ amor!
9.
Dait un tic a di che puarte
Ch’ al si alzi chel saitèi (oder „duca“
= Klinke!)
Viva 1’ amor! —
Che salti fùr la me morose (mia amorosa)
Che la capi a brazzecuòl.
10.
Colmi me, colmi, ninine,
Bambinute dal Signor -
Simpri aiegri e mai passion! —
La passion non 1’ hai mai vude,
E cumò manco che mai!
11.
L’ è tan’ timp eh’ a ti oseli,
Par capati sul vergòn,
E cumò che t’ hai capade,
Di tinjiti no soi bon!
12.
Un garoful senze mani
Hai plantàd sun t’ un bid mur:
Quan’ che passarti ’1 mio zovin
Al dirà che 1’ è’ 1 mio cur!
13.
Due mi disin che soi bidè,
E dis’ anc jò ca no 1’ è mal:
Hai une bide cotulute
Lis curdelis sul grimal.
14.
Veso vò, veso vò che bidè he:
No la dais, no la dais a di nisun? —
Viva 1’ amor! —
La tinjiso conservado
Come 1’ uèli da la lum!
15.
Dulà sono ches zornadis,
Bambinute dal Signor!
Auf höchster Bergesspitze
Geht schon die Sonne auf —
Ha, das ist nicht die Stunde,
"Wo ich vom Liebchen lauf!
Gebt einen Tick (Stoss) jener Pforte
Dass sich aufthu’ jenes Schloss —
Es lebe die Liebe! —
Dass herausspring’ meine Liebste,
Dass ich sie hasche und umhalse.
Nimm mich, nimm mich, mein Schätz-
chen,
Herrgottskindchen du, juchhee! —
Immer lustig, nie betrübt! —
Trauer hab’ ich nie empfunden
Und jetzt weniger denn je!
Stellte nach dir lange, lange,
Bis ich fing dich auf dem Leim —
Und nun kann ich dich Gefangne,
Ach, nicht halten fest daheim!
Eine Nelke ohne Stengel
Steckt’ ich an die Wand zum Scherz:
Wann mein Schatz daran vorbeigeht,
Wird er sagen, ’s ist mein Herz!
Alle sagen, dass ich hübsch sei
Und ich denk’, es dürft’ so sein:
Hab’ ein neues Unterröckchen
Und dazu ein Schtirzchen fein.
Ja warum, Eure hübsche Tochter
Gebt ihr nicht, gebt ihr nicht einem
Mann ?
Wollt ihr sie verschlossen halten (sich
verzehren lassen)
Wie das Öl in der Lampe dann?
Ach, wo sind die schönen Tage,
Du mein (goldnes) Gotteskind!
332
Schatzmayr:
16.
Tra i rizzòs e la barete Mi han finit d’inamorà, Tra la cise e la mura-e Mi ves fat inamofà! An euch Löckchen unterm Häubchen Hab’ ich, ach, so viel gedacht, Bis ihr, zwischen Zaun und Mauer, Gänzlich mich verliebt gemacht!
17.
Cheste viole palidute Colte su dal vas eumò, Jò vei dàle a di che frute Che’ 1 so cur al sedi gnò! Dieses holde blasse Veilchen, Frischgepflückt vom Blumenschrein, Will ich geben jenem Mädchen, Dass ihr Herze werde mein!
18. Serenata. Ständchen.
Ance cheste, e po voi vie, In braz a vò lasci il mio cur — Simpri aiegri e mai passion! Noch dieses (Lied), und dann geh ich weg, Im Arme euch lass ich mein Herz — Immer fröhlich, und nie betrübt!
19. Matinata. Morgenlied.
El gial al cante E cri che’ 1 di — Mandi, ninine, Voi a durmì. Cur mio dilèt No sta vai — Mandi, ninine, Devi parti! Es kräht schon der Hahn, Der Tag bricht an — Leb’ wohl, mein Liebchen, Will schlafen gän. Mein herzig Schätzchen, 0 weine nicht — Leb’ wohl, mein Liebchen, Mich ruft die Pflicht.
20.
Colmi, colmi, Tramontine, Ch’ ance jò soi Tramontin, Jò vei gioì di la cu cagne Cui mistir del contadin. Nimm mich, nimm mich, Älplerin, Denn auch ich ein Älpler bin, Wollen wie Schlaraffen leben, Bauer ich, du Bäuerin.
21.
0 butait chei fiers in aghe, 0 fermait chel bastiment — A 1’ è dentri ’1 gnò car zovin Ch’ al sin va tan’ malcontenti Ketten werfet, werft ins Wasser, Haltet jenes Schifflein fest, Das den Liebsten mir entführet, Der betrübt die Heimat lässt.
Al valve anc el soreli Mi mi par di ve vidùt A vede a fà partenze Tante biele zoventùt. Alle, alle mussten weinen, Sonne selbst zu weinen schien, Als sie soviel schöne Jugend Traurig sah von hinnen ziehn.
Dopo il dì de la partenze Mi è scurii duquant il mond, Jò perdude la speranze Di vede plui clièl biel front. Seit dem schwarzen Scheidetage Ist verdüstert mir die Welt — Werd’ ich je ihn Wiedersehen Der mir, ach, so wohlgefällt?!
Villotte friulane (Friaulische Dorflieder).
333
22.
Colmi me, colmi, ninine, Contentine da saràs: Une male parauline Tu da me no tu 1’ oràs! Nimm mich, nimm du mich, mein Lieb- chen, Dann hast du das Glück bei dir: Denn kein einzig böses Wörtchen Wirst du hören je von mir!
23.
Ceste vile no jò une vile, Jè une ponte di citàd: Due i zovins eh’ a son drenti Son di buine cualitàd. Dieses Dörfchen ist kein Dörfchen, Ist ein Städtchen, eine Stadt, Weil die Jugend, die darin wohnt, So viel Schick und Tugend hat.
24.
’o soi stade a Palmenjove Dal mio solit confessor — Simpri aiegri e mai passioni — E1 m’ ha dit eh’ a mi maridi, 0, ce predi dal Signor! 9', Ich bin gewesen zu Palmanuova Bei meinem gewöhnlichen Beichtvater — Immer fröhlich, nie betrübt! — Er hat mir gesagt, dass er mich ver- heiratet, 0, welcher Prediger des Herrn!
LO, Due i clàs de tò mura, e 'o du quanc jxi hai contàz — Di catèti a case sole Ancimò no 1’ ò stat càs. Allo Steine deines Hauses Hab’ gezählt ich — welche Zahl! — Könnt’ ich dich zuhause treffen Dich allein, ein einzig Mal!
26.
Lait a rosis in montagne E puartailis ca di me: ’o vèi dalis al mio zovin Che lis meti sul gilè! Pflücket Blumen auf den Bergen Und dann bringt sie alle mir: Will sie geben meinem Liebsten All’ zu seiner Weste Zier!
27.
Se savessis fantazzinis Ce ca son sospirs d’amòr: E si mur, si va sot tiare, Ancemò si sint dolòr. Wenn ihr wüsstet, liebe Mädchen, Was so Liebesseufzer sei’n: Ach, man stirbt, man wird begraben Und man fühlt sie noch die Pein!
28. E tu, Pieri, col Anute, Ce Rosute la col jò — Simpri aiegri e mai passioni — I farin la panadute E dirin: co tu, co jò. Und du Peter, nimm das Ännchen, Denn die Rosa, die ist mein: Und nun gehn wir Suppe kochen — Das ist mein, und das ist dein.
29.
No orèss che '1 cur mi duòli, Che no vevi gran passion, A vede lu me car zovin Là a servì Napoleon — Und da soll mir’s Herz nicht wehthun Bei der grossen Passion, Wo ich seh’, dass jetzt mein Liebster Dienet dem Napoleon —
334
Jò no canti di ligrie
Che jò canti di passiòn,
A vedeju due a chenti
E lu mio tant lontanòn!
0 montagnis ribassàisi,
E yo stelis fait splendor,
Tan che doi un’ ocadine
Là eh’ al è ’1 mio prim amor!
30.
Amor mio, no fami cuintre,
Par ufici no vuèi là:
Che se ves cualche pretese,
Dal plevan faimit clamà!
31.
E ehest cà 1’ è ’1 prim garoful
Che da te ’o hai ricevut,
Nance ehest no lu volevi,
Sul capjèl mel han mitut!
Lange:
Ach, ich singe nicht vor Freuden,
Denn mein Sang ist schmerzbeseelt,
Da ich seh’, dass alle andern
Heim sind und nur meiner fehlt!
Bückt euch, Berge, leuchtet, Sterne,
Und ihr Fliiss’ und Winde eilt,
Dass ich sehn mag und erkunden
Wo denn jetzt mein Liebster weilt!
Sei nicht z’wider, Herzgeliebte,
Yor den Richter ruf’ mich nicht:
Hast du was von mir zu fordern,
Sei beim Pfarrer das Gericht!
Schau, das ist die erste Nelke,
Die mir einer schenken thut,
Und auch die wollt’ ich nicht, andre
Steckten sie mir auf den Hut!
(Fortsetzung folgt.)
Kleine Mitteilungen.
Bitten um liegen in Japan.
Von R. Lange.
Die Sitte, bei anhaltender Trockenheit den Himmel feierlich um Regen anzu-
flehen, ist in Japan ebenso verbreitet, wie bei uns in katholischen Ländern. In
verschiedenen Geschichtsbüchern, wie dem Yamatoncndaiki und dem Nihonki wird
berichtet, dass die Kaiserin Kökyoku (642 — 645 n. Chr.), als im sechsten Monat
(nach dem alten Mondkalender) grosse Dürre eintrat und weder die Shinto-, noch
die Buddhistischen Götter die Gebete um Regen erhören wollten, nach dem Flusse
Nabuchi, in der Provinz Yamato, ging, zu Himmel und Erde gefleht und sich an-
betend nach den vier Himmelsgegenden verneigt habe. Ein starker, fünf Tage
anhaltender Regen war die Wirkung dieser Ceremonie. Beiläufig sei bemerkt,
dass diese Ceremonie der Anbetung der vier Himmelsgegenden noch heute, am
ersten Tage des Jahres vom Kaiser nach alter Weise vollzogen wird, jetzt aber
den Zweck hat, das Unglück im allgemeinen für das kommende Jahr vom Lande
fernzuhalten.
Nach der illustrierten Monatsschrift für Sitten und Gebräuche (jap. fuzoku
gakö), die seit Februar 1889 erscheint, werden die Bittgänge um Regen in Okuno-
mura, einem Dorfe im Kanagawaken, also nicht weit von der Hauptstadt Tökyö,
Kleine Mitteilungen.
335
in ganz eigentümlicherweise abgehalten Die männliche Bevölkerung des Dorfes,
Alt und Jung, versammelt sich vormittags 9 Uhr in dem zum Tempel des buddhisti-
schen Gottes Fudö gehörigen Bezirk, indem sich alle mit Speisen versehen. Dort
ziehen sie nun in grossen Haufen umher, an der Spitze ein Shintöpriester, dann
ein Mann, der auf einer grossen Muschel (ora)1) bläst und hinter ihm zwei bis
drei Leute mit einem grossen künstlich gefertigten Drachen1 2). Der Kopf dieses
Tieres besteht aus Gerstenstroh, die Ohren sind aus schräg abgeschnittenen Bambus-
rohren, die Augen aus Papierkügelchen, auf die man in der Mitte schwarze Punkte
gemacht, der Bart aus den langen Blättern einer Schilfart und die Schuppen aus
den Blättern einer Magnolie (jap. hö no ki). Zu beiden Seiten gehen vier oder
acht Leute mit Papierfahnen, auf denen unter anderm haohi ryü ö „acht Drachen-
könige“ geschrieben ist, dann folgen 1—2 Leute mit einer grossen Pauke, die von
einem oder zwei Leuten geschlagen wird. Nun schliessen sich die andern in
bunter Reihe an und singen die Worte: 0 Sake no kurokumo nishi kara ame ga
futte kuru: Schwarze Wolke auf dem Gipfel; vom Westen her kommt der Regen.
Dann wirft man den Drachen in einen Wasserfall bei dem Tempel und nun be-
ginnt ein allgemeines Zechen, das bis 7 Uhr abends fortgesetzt wird. Hilft dies
alles nichts und bleibt der Regen trotzdem aus, so wird noch eine andere Cere-
monie, die des Tanzes der drei Löwen (sambiköjishi) dazu gegeben und diese
hilft dann auf jeden Fall.
Die Beschreibung dieses Tanzes findet sich in Nr. 18 der erwähnten Sitten-
zeitung. Diese Löwentänze, auch jübakojishi, d. h. „Übereinanderstehende Kästen-
Löwen“ genannt, werden in allen Dörfern des Kreises Saitama in der Provinz
Musashi an bestimmten Tagen im August und September zur Abwehr ansteckender
Krankheiten getanzt. Man errichtet zu diesem Zwecke an vier Ecken vier frische
Bambusstangen, verbindet die Spitzen durch ein Strohseil und stellt an den vier
Ecken junge Mädchen von 12 —13 Jahren auf, die viereckige Kästen mit Blumen
auf dem Haupte tragen. Von dem Gestell hängen zu allen vier Seiten Tücher
herunter, die bis zu den Hüften der Mädchen reichen. In den Händen halten sie
zwei gespaltene Bambusstäbchen (sasara), die sic aneinander reiben und mit denen
sie ein eigentümliches Geräusch hervorbringen. Diese Mädchen heissen daher
„die Sasara-Reiber“. Drei Männer erscheinen als Löwen verkleidet, sie tragen
einen löwenähnlichen Kopfputz und ein auf die Hüften herabhängendes Fell. Zwei
von ihnen haben am Hinterhaupt Hörner, der dritte eine Kugel, die einen Edel-
stein vorstellen soll. Sie tragen alle drei eine Trommel, nach deren Musik sie
tanzen. In der Einfriedigung befindet sich ausserdem ein Mann mit einer Maske
und einem Fächer (uchiwa), der sogenannte Fliegenjäger (hai oi). Er hat die Auf-
gabe, die Leute durch sein komisches Benehmen zum Lachen zu bringen; ferner
ein zweiter, der passende Lieder zum Tanz singt. Hinter dem letzteren steht ein
1) Diese Muschel wird bis zu 2 Fuss lang, ist von weisslich-gelber Farbe und rötlich
gefleckt. Ihr Fleisch ist essbar. Früher verwendete man diese Muschel auch im Kriege
zu Signalen, weshalb sie auch jingai „Kriegsmuschel“ heisst. Auch die yamabusti oder
stügenja eine Untersekte der Shingonsekte bedienten sich der hora, ursprünglich vielleicht,
uin damit wilde Tiere zu verjagen.
2) Dieses Fantasietier wird in China und Japan als Schlange mit Hörnern auf dem
Haupte dargestellt und türmt nach dem Volksglauben Regen erzeugende Wolken auf.
Eine Unterart desselben hat den Namen: amaryö, d. h. Regendrachen, ist gelbgrün, hat
keine Hörner, einen spitzen Kopf, ähnlich einem Seepferdchen und einen langen dünnen
Schwanz. Das Bild desselben findet sich öfters in Wappen.
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
23
336
Dirksen:
Flötenbläser. Die Arten der Tänze sind verschieden, im ganzen giebt es jetzt
neun, früher zwölf, die auch verschiedene Namen tragen.
Die den Tanz begleitenden Lieder sind wegen des Dialektes auch für die
Japaner schwer zu verstehen. Ich führe eins davon an, das zum Mikomai-Tanz
gesungen wird:
mawari ya kuruma, mawari ya kuruma,
kuruma no gotoku ni hikimawasayona, hikimawasayona.
Kono yama ni taka ga sumugede suzu no oto,
täka ga gozaranu o kagura no oto.
Hi mo kureru, michi no mezasa ni tsuyu mo hiru
o itoma mosh'te iza kaesayona, iza kaesayöna.
Dreh’ herum dich, Rad; dreh’ herum dich, Rad,
Wie das Rad herum sich drehet, führt [die Löwen] rings herum, führt [die
Löwen] rings herum.
In den Bergen hier scheint ein Falk’ zu weilen, [da] ertönt die Schelle.
Doch es ist kein Falke, die Musik ertönet zu dem Göttertanze.
Hin geht schon der Tag; an dem kleinen Bambus auf den Wegen schwindet
schon der Tau.
Nehmet Abschied jetzo, führet heim [die Löwen], führet heim [die Löwen]'!
\
Asar und Gernir.
Ostfriesisches Märchen.
Mitgeteilt vun Karl Dirkseu.
Dar was ’n mal ’n köpman, de har dre dogters; de jüngste hede Gemir. En-
|mal wul de köpman up reise, do frög he de oldste fan sin dogters, wat he hör
mitbrengen sul. De se: Breng mi ’n moje höd mit! De twede se: Breng mi ’n
moje kled mit! As he nu sin jüngste dogter frög, de he am leisten liden mug,
se se: Spärd jo geld man; ji bruken mi niks mitbrengen. — As de fader hör nu
abslüt wat mitbrengen wul, do se se: Dan brengd mi ’n witte rose mit! — Do
, nam de köpman ofschcd fan sin dogters un gung up reise. As he sin gescheit
besörgd har, do köfde he för sin oldste dogter de möiste höd, de he krigen kun
un för de twede en hei möi kled; nu kun he aber för sin jüngste dogter de witte
rose net krigen. Up de terügreise kwam he an ’n gröt slös förbi. För dat slös
.lag ’n grote gärden, un in de gärden bleiden de möiste witte rosen. Do gung he
in dat slös un wul fragen, of he siik man m rose ofplükken düs. He sögde dat
hele slös dör un kun nüms linnen. De ene kamer was nog mojer as de anner.
In en kamer was de tafel dekd, un dat lekkerste eten stun derup. Därfan at de
köpman sük sat; dan gung he weg un pltikde sük 'n witte rose of. As he dat
dän har, kwam up enmäl ’n gröt under up hum lös, de se, wo he sük unnerstän
kun un pltikken dar ’n rose of; därför snl he hum sin jüngste dogter gefen, anncrs
wul he hum upfreten. In sin angst fersprök he hum sin leiste kind. As de köp-
man nu in hüs kwam, do fertelde he al’s un ök, wo hum t gän was mit de witte
rose. Se wass.en alle regt trürig; aber de jüngste dogter se, darum, wil hör fader
dat segt har, wul se gän.
En par dage later hui ’n wagen för do köpman sin hüs; darin sat dat under
un hol de köpman de jüngste fan sin wigter of, un brog hör na sin slös. Se har
Kleine Mitteilungen.
337
dar en hol god lefen; al‘s wat se gern har, kun se krigen. Un dat under, wat
Asar hede, was altid bi hör; nachts slep he för hör bedde, un wen se in de tun
keierde, dan keierde he mit hör. Enmal keierde se nu ok in de tun un mit en-
mäl wus se net, war dat under blefen was. Därofer wur se hei trürig un in hör
benaudheid rep se: „Asar, ik bemin u!“ — Kinn har se dat segt, do stun ’n moje
prins för hör, de frög hör, of se sin frau wesen wul; he was dat der west un
was nu wer ’n minske worden. Bold derup firen se nu ok hogtid; un hör fader
un süsters kwammen ok, un de freide was grot, un se lefden hei glükkelk mit-
nander.
Eine der vielen Varianten des Märchens vom Tierbräutigam, dem Kattenstedter
Märchen vom Wolf mit dem Wockenbriefe verwandt (Zeitschrift ITT. S. 189—95), aber weit
näher der Gruppe, welche oben S. 198 f. aufgeführt ist.
Zu dem Beitrag von K. Voretzsch (Zeitschr. III, 176 ff.).
1.
Zu Lied Nr. 9 (Mein Schatz, der ist im Kriege) macht mich Professor Suchier
darauf aufmerksam, dass dasselbe eine — ziemlich genaue — Nachbildung des
Ende vorigen Jahrhunderts wohlbekannten und weitverbreiteten ,Malbrough s’en
va-t-en guerre’ ist. Die erste Strophe lautet :
Malbrough s’en va-t-en guerre,
Mirouton, mirouton, miroutaine
Malbrough s’en va-t-en guerre,
Ne sait quand reviendra.
S. das Lied vollständig bei Louis Montjoie, Chansons populaires de la France
anciennes et modernes. Paris, Garnier Freres (s. a.) S. 24 ff. und anderwärts.
S. 186, Lied 11b, Str. 3, 1 weissen lies: braunen.
S. 188, Lied 14, Str. 3, 4 lies: Noch zum letzten Abendmahl,
ebenda 4, 1 lies: Dessen.
S. 189, Lied 15, Str. 1, 4 allzu lies: allzeit.
ebenda 5, 2 naht lies: sprach. Karl Voretzsch.
2.
Oben S. 183 bemerkt Voretzsch, dass das Lied „Die Sonne steht am Himmel,
Mit ihr da schied die Schlacht,“ Hruschka und Toischer, D. Arolksl. aus Böhmen,
Prag 1891, S. 84, sonst unbekannt zu sein scheine. Der Herausgeber der Zs. hat
indes in einer Anmerkung darauf hingewiesen, dass ihm das Lied in einer Auf-
zeichnung aus dem Spessart vorliegt. Ich selbst habe im letzten Jahre 1892 die
beiden ersten Strophen des Liedes aus dem Munde eines Knaben in Gries am
Brenner aufgezeichnet. Leider wusste er nicht mehr. Ich gebe die zwei Strophen
in der zum Teil etwas entstellten Form wieder, in der sie der Knabe vorsagte.
Die Sonne sank im Westen,
Mit ihr entschwand die Schlacht,
Sie senkt hinab den Schleier
Mit ihr die dunkle Nacht.
23*
338
W einhold :
Und mitten unter Toten
Und sterbend ein Soldat
Und ihm zu seiner Seite
Sein treuster Kamerad.
Wenn ich mich recht erinnere, sagte mir der Knabe, dass er das Lied von
einem beurlaubten Soldaten gehört habe. Vermutlich ist es in Österreich weiter
verbreitet.
München. A. Engl er t.
Bücheranzeigen.
The international Folk-lore Congress 1891. Papers and Transactions.
Edited by Joseph Jacobs and Alfred Nutt, Chairman and Hon
Secretary of the Literary Committee. London, I). Nutt, 1892. S. XXIX.
472. 8°.
Das stattliche, kürzlich ausgegebene Buch ist ein schönes Denkmal des im
Jahre 1891 vom 1. bis 7. Oktober in London gehaltenen zweiten Internationalen
Folklore-Kongresses. Es enthält den geschäftlichen Bericht, die Protokolle und
Verhandlungen. An die Spitze stellt sich die Eröffnungsrede des Präsidenten
A. Lang. Dann folgen die Vorträge der vier Sektionen.
1. Folktale Section: Rede des Vorsitzenden E. S. Hartland; WAV.Newell,
Lady Featherilight, ein unbekanntes Volksmärchen; E. Cosquin, Quelques observa-
tions sur les Incidents communs aux contes européens et aux contes orientaux;
J. Jacobs, Die Wissenschaft der Volksmärchen und die Frage ihrer Verbreitung,
mit einem Anhang: List of Folktale Incidents — mit bibliographischen Nach-
weisungen und einer kleinen Karte; Mac Ritchie, The historical aspect of folk-
lore (etwa: Geschichtliches wiedergespiegelt in der Volksüberlieferung); A. Nutt,
Probleme der Heldensage; J. Krohn, Das Volkslied in Finnland.
2. Mythological Section: Rede des Vorsitzenden John Rys; Ch. Foix,
Der Odysseusmythus (französisch); Ch. Lei and, Etrusko-römische Reste in der
heutigen toskanischen Überlieferung; W. R. Paton, Die heiligen Namen der
eleusinischen Priester; J. S. Stuart-Glennie, Die Ursprünge der Mythologie;
Ms. Mary Owen, Unter den Voodoos; J. E. Orombie, Der Aberglaube vom
Speichel.
3. Institution and Oustom Section: Rede des Vorsitzenden Fr. Pollock;
M. Winternitz, Über das vergleichende Studium der indo-europäischen Hochzeit-
gebräuche (englisch!); F. Hindes Groome, Der Einfluss der Zigeuner auf den
englischen Aberglauben; C. L. Tupper, Indische Einrichtungen und das Lehns-
wesen; F. B. Jevons, Das Zeugnis der Volkskunde für den europäischen oder
asiatischen Ursprung der Arier; G. L. Gomme, Der nicht - arische Ursprung der
Ackerbau-Gebräuche; J. S. Stuart-Glennie, Der Ursprung der Sitten; A. W.
Moore, Der Tinwald (pingvollr) auf der Insel Man.
4. General Theory and Classification Section. E. B. Tylor, Aus-
stellung von Zaubermitteln und Amuleten; Lady Welby, Die Bedeutung der
Bücheranzeigen.
339
Volkskunde; Hugh Nevill, Singalesische Volkskunde; W. P. Rirby, Über den
Portgang der volkskundlichen Sammlungen in Esthland; Ella de Schoultz-
Adajewsky, Über den verstorbenen Dr. G. J. Schoultz.
Darauf folgt ein Katatog von ausgestellten Gegenständen (mit Abbildungen),
ein Programm von Unterhaltungen und zum Schluss ein Register.
Den meisten Vorträgen folgte eine Diskussion, über die protokollarisch be-
richtet wird.
Interessant sind namentlich die principiellen Auseinandersetzungen zwischen
den Herren Andrew Lang, Joseph Jacobs und Emmanuel Cosquin. K. W.
Uppsalastudier tillegnade Sophus Bugge pä hans 60-ära födelsedag den
5 Januari 1893. Uppsala 1892. Almqvist og Wikseils Boktryckeri
(C. L. Lundström Bokhandel.). S. 236. 8°.
Germanistische Abhandlungen, zum LXX. Geburtstage Konrad von
Maurers dargebracht. Göttingen, Dietrichsche Verlags-Buchhandlung
1893. S.V. 554. 8°.
Zwei schöne grosse Bücher, jedes durch eine Vereinigung dankbarer gelehrter
Männer als Festgabe ihren gefeierten Lehrern zu ihrem Geburtstage gewidmet!
Das eine von schwedischen Gelehrten dem bedeutenden Norweger Sophus Bugge
bei Vollendung des 60. Jahres dargebracht; das andere von Deutschen, Isländern,
Dänen, Norwegern unserm Konrad von Maurer in München zum 29. April 1893,
seinem siebzigsten Geburtstage, zugeeignet.
Sophus Bugge als Philologe und Mythologe fruchtreich thätig — Konrad
von Maurer, der gelehrteste Kenner und Lehrer des nordischen Rechtes, hoch-
verdient um die Kunde des skandinavisch-isländischen Altertums — wie sie auch
durch ihre Persönlichkeit weithin gewirkt haben, erscheint in diesen zwei Bänden.
Berührt der Inhalt derselben die Volkskunde auch nur teilweise, so zeigen wir sie
doch freudig hier an, um so mehr, als Konrad von Maurer unserm Verein von
Anfang an mit wohlwollender thätiger Teilnahme angehört und diese Zeitschrift
wiederholt durch wertvolle Beiträge ausgezeichnet hat.
Die Uppsalastudien enthalten folgendes:
R. Arpi, Zur Graugans. E. Bräte, Über das altschwedische Wort själ (Seele).
K. P. Johansson, Zur Lehre von der Femininbildung im Sanskrit. 0. Klock-
hoff, König Harald und Heming; Versuch in vergleichender Sagenforschung.
E. Liden, Kleine sprachgeschichtliche Beiträge. E. H. Lind, Versifikation im
Gulatingslag. M. Lundgreen, Beitrag zur schwedischen Namensforschung. L. P.
Läffler, Beitrag zur Erklärung der Runeninschrift auf dem Tunestein. A. Noreen,
Mythische Bestandteile im Ynglingatal: 1. Fiolner; 2. Sveigder; 3. Vanland, Vis-
burr, Agne; 4. Dömarr-Yngve. P. Persson, Über Bedeutung und Ableitung von
gr. ttfj.a,vpog, (Uttüpos mit einem Exkurs über griech. und indoeurop. u-Epenthese.
A. Schager ström, Lexikalische und stilistische Bemerkungen zu Gustav II.
Adolfs Schriften. R. Steffen, Einstrophige Liedchen in unserer Volkslyrik.
P. Tamm, Anmerkungen zum Ostgotalag. E. Wadstein, Alfer und älvor. Eine
sprachlich - mythologische Untersuchung.
Im Maurerschen Geburtstagsbuch finden wir folgende Abhandlungen:
0. Brenner, Die Überlieferung der ältesten Münchener Ratssatzungen.
P. Dahn, Zum merovingischen Finanzrecht. C. Gareis, Bemerkungen zu Karls d.Gr.
Capitulare de villis. W. Golther, Zur Psereyingasaga. Valtyr Gudmundsson,
340
Meyer:
Manngjöld-hundracf. E. Hertzberg, Len og veitsla in Norges sagatid. Finnur
Jonsson, Um pulur og gätur. K. Lehmann, Das Bahrgericht. Kauffriede und
Friedensschild. E. Mayer, Zoll, Kaufmannschaft und Markt zwischen Rhein und
Loire bis in das 13. Jahrhundert. B. M. Olsen, Sundurlausar hugleidingar um
stiörnarfar Islendinga a pjööveldistimanum. A. Petersen, Om indmaning i Danmark
indtil Christians V. Danske Lov. V. A. Sech er, Om skurdsmaend eller skurs-
naevninger og om udmseldelsen af ransnsevninger pä landet i Jylland. Ph. Zorn,
Die staatsrechtliche Stellung des preussischen Gesamtministerium.
Einen sehr willkommenen Schmuck des Buches bildet das ausgezeichnete
Porträt Konrad von Maurers in Lichtdruck.
Mögen beide hochverdiente Männer noch lange im Sonnenschein wandeln und
wirken! K. Weinhold.
J. Macdonald, Religion and Myth. London, David Nutt, 1893. XIII und
240 S. gr. 8°.
Während nach der Vorrede der Verf. nur beabsichtigt, in populärer Form eine
Anzahl von Thatsachen aus dem religiösen und socialen Leben afrikanischer
Stämme mitzuteilen, versucht in Wirklichkeit sein Buch an der Hand dieser That-
sachen gleichzeitig eine allgemeine Entwickelungsgeschichte von Religion und
Mythus zu entwerfen. Es geschieht dies in der Weise, dass eine Anzahl von Ge-
bräuchen der M. wohlbekannten Negervölker in anschaulicher Weise vorgeführt
und dann regelmässig mit fortlebenden Sitten und Anschauungen aus seiner
schottischen Heimat verglichen werden (S. 79 — 80. 90. 95. 107. 140. 153. 180.
191. 197. 211. 212). — Das allgemeine Schema der Religionsgeschichte, wie der
Verf. es sich denkt, ist originell und merkwürdig genug. Er macht die aber-
gläubische Verehrung eines als allmächtig angebeteten irdischen Herrschers zum
Ausgangspunkt. Der König wird eben deswegen für alles Unglück verantwortlich
gemacht und sobald sich Zeichen eines erlahmenden Einflusses zeigen, als wert-
loser Fetisch bei Seite geworfen. Allmählich gelingt es ihm, die hiermit ver-
bundenen Gefahren abzuschütteln, indem er für sich Stellvertreter opfern lässt.
So gehen die Funktionen des Königs, als des ursprünglichen Regenten der Sonne,
der Fruchtbarkeit, des Krieges an bestimmte „Götter“ über und es entsteht eine
Scheidung zwischen guten und bösen Geistern. Vor dem Bösen sucht man sich
durch allerlei Zaubermittel und zuletzt durch regelmässige Teufelaustreibung zu
sichern. Dadurch erhalten Zauberer, Propheten, Medicinmänner ungeheure Macht.
Aber überhaupt wird das ganze Leben der Naturvölker von diesen Anschauungen
beherrscht; ihre Behandlung der Frauen, so gut wie ihre Mythen, sind von dem
jedesmaligen Standpunkt innerhalb jener stetigen Entwicklung aus zu beurteilen.
Nichts ist daher falscher, als den Negern die Religion abzusprechen; vielmehr
durchdringt diese ihre Gewohnheiten bis in das Kleinste (S. 173—184).
Dass dies von Macdonald gegebene allgemeine Entwickelungsschema viel An-
hänger finden wird, ist mir nicht wahrscheinlich. Sein Ausgangspunkt ist ein
höchst bedenklicher und die Anordnung der weiteren Phasen nicht selten recht
willkürlich. Dagegen wird man nur dankbar sein können für die Fülle der mit
entschieden schriftstellerischem Geschick mitgeteilten Thatsachen. Viele, die Afrika
betreffen, sind freilich aus bekannten Werken entlehnt, wobei der Verf. in eng-
lischer Weise citiert, d. h. sich mit Nennung des Autors begnügt. Aber viele hat
er selbst erlebt und die schottischen Parallelen vom Mund anschaulich geschilderter
Gewährsmänner entnommen. Nur selten greift er über jene Gebiete hinaus, z. B.
Bücheranzeigen.
341
bei Erwähnung der Mais-, Reis- und Kartoffelgöttinnen Perus (S. 139). Asiatische
und afrikanische Religionsart werden (S. 168) als grundverschieden kontrastiert,
während sonst doch die vermeintliche Entwickelung der Neger-Religionen als all-
gemeine Norm genommen wird.
Von Einzelheiten hebe ich hervor den Besuch heim Hexendoktor mit der
mehrmaligen Frage (S. 119), die Parallelen über den Gebrauch von Gifttränken
zum Gottesurteil (S. 118), über Aufbewahrung und Fang der Seele (S. 151), über
den Geistlichen im Schiff (vergl. die Episode der Nibelungennot; S. 170), über das
Speien als religiösen Akt (S. 176), über Meleager- und Wielandsagen (S. 187 f.,
191), über das Vermeiden des Sonnenstrahls (S. 196—97).
Den Schluss bildet eine allgemeine Betrachtung über die Entwickelungsstufe
der Neger (S. 209), ihre Moral (S. 207) und Schamhaftigkeit (S. 209). Die milde
Humanität des Urteils erinnert an die analogen Auffassungen von Waitz und
Peschei. Ebenso hält auch bei der Beantwortung der Frage nach der Zukunft der
Naturvölker Macdonald sich von jeder doktrinären Einseitigkeit frei und spricht
insbesondere sich scharf gegen jene Lehre aus, alles sei gut, wenn der Neger
arbeiten lerne (S. 221) Die psychologischen Schwierigkeiten der Bekehrung werden
mit liebevollem Eingehen erörtert (S. 224 f.) und gewisse Grundlagen für die Er-
ziehung der Naturvölker gegeben (S. 331). Und indem er die Bedeutung der ver-
gleichenden Religions - Geschichte gerade auch für die Missionen hervorhebt,
schliesst der Verf. mit einem hoffnungsvollen Ausblick das Werk, das durch seine
freie Denkart, wie durch die von frischem Humor erfüllte Darstellung, zu den
liebenswürdigsten Büchern seiner Art gehört.
Berlin. Richard M. Meyer.
Incantamenta magica graeca latina. Collegit disposuit edidit Ricardus
Heim. (Ex supplern. IXX. annal. philolog. seorsum expressa.) Lipsiae,
B. G. Teubner. 1892. 8°.
Es ist dankenswert, dass die von Herrn R. Heim veranstaltete Samm-
lung griechischer und lateinischer Segen - und Beschwörungsformeln aus dem
19. Supplementbande der Fleckeisenschen Jahrbücher für Philologie besonders ab-
gedruckt und im Buchhandel allen denen leicht zugänglich gemacht worden ist,
die sich für das weite Gebiet, zu dem sie gehören, interessieren. Es sind beson-
ders segnende, heilende Formeln, die hier gesammelt vorliegen, ferner kleine In-
schriften auf Amuleten. Der Herausgeber ist bei seiner Arbeit durch H. Usener
mehrfach unterstützt worden. Für eine vergleichende Behandlung der überall
reichlich vorhandenen Sprüche und Segen ist ein bec[uemes Hilfsmittel hiermit
geboten, das wir dankend entgegennehmen.
Macritcliie, David, Tlie Underground life. Edinburgh: privately printed 1892.
S. 47. 8°. (Mit Abbildungen.)
Die kleine Schrift bringt weitere Beiträge des emsigen schottischen Altertums-
forschers über die unterirdischen alten Steinbauten, an denen Schottland und Irland
nicht arm sind. Es ist eine Ergänzung von thatsächlichem Material zu einer früheren
Schrift des Herrn D. Macritcliie, die unter dem Titel The testimony of tra-
dition 1890 zu London (bei Regan Paul, Trench, Trübner & Co.) erschien, und zu
einem Vortrag über Fians, Fairies and Picts, gehalten in der Folklore Society
342
Weinhold:
am 10. Februar 1892. Der Verfasser knüpft an die Volksüberlieferung an, dass
jene uralten Bauten einem ausgestorbenen Volke angehörten und bringt die Zwerge
und die Feen, d. i. die elbischen Wesen, mit den sagenhaften Feens und Pechts
in Verbindung. Bekanntlich hat auch deutsche volkstümliche Auffassung Hünen,
Riesen und Zwerge oder Unterirdische für eine teils riesen-, teils zwerghafte Ur-
bevölkerung gehalten und nicht alle Antiquare haben den Kopf dazu geschüttelt,
denn was ist von den „Altertumsforschern“ nicht alles geglaubt und behauptet
worden.
Bayerns Mundarten. Beiträge zur deutschen Sprach- und Volkskunde.
Herausgegeben von Dr. Oskar Brenner und Dr. August Hart-
mann. Band II. Heft 1. München. Christian Kaiser. 1893. S. 160. 8°.
Diese Zeitschrift, deren ersten Band wir früher (Zeitschr. I. 345. II. 210) an-
zeigten, war wegen geringer Teilnahme ins Stocken geraten. Nun wagen Verleger
und Herausgeber die Fortsetzung in langsameren Fristen der Hefte. Möchten sie
ihre Hoffnung auf besseren Fortgang erfüllt sehen.
In dem vorliegenden Heft II, 1 bilden den bedeutendsten Beitrag die zwei
Regensburger Fastnachtspiele: das erste, das Schrein erspiel, 1618 in Regensburg
von den Schreinern aufgeführt und von dem Schreiner Stephan Egl gedichtet und
eingeübt, ein Bild aus dem Zunftleben, dessen Thema der Streit zwischen Meister
und Gesellen um die Arbeit bei Licht ist. Das zweite kürzere Spiel, Von dem
Hansel Frischen knecht, ist ein bäurisches Charakterbild aus selber Zeit, frisch
und voll Humor, meist im niederbayerischen Dialekt. Die Handschrift rührt auch
von St. Egl her, der aber nicht der Verfasser zu sein scheint. Aug. Hartmann hat
beide Spiele mit Erläuterungen und einzelnen Erklärungen so sorgfältig ausgestattet,
als wir es von ihm gewohnt sind. Auch 0. Brenner hat sich um das neue Heft
verdient gemacht. Sonst begegnen wir den früheren Mitarbeitern C. Franke,
H. Gradl, Himmelstoss, Neubauer, Rothbart. Wir machen alle, die sich für Volks-
mundarten und Volksleben interessieren, auf Bayerns Mundarten aufmerksam,
und empfehlen sie namentlich auch den Bibliotheken, besonders den bayerischen,
zur Anschaffung. K. Weinhold.
Müller, Willibald, Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in Mähren.
Wien und Olmütz. Verlag von Karl Gräser. 1893. S. 443. 8°.
Das vorliegende Werk über die Deutschen in Mähren zerfällt in drei Teile.
Der erste Teil bringt Märchen und Sagen, der zweite behandelt die Mundarten
und der dritte Brauch und Sitte, Tracht, Lied und Spruch. Die Einleitung bietet
zuerst eine ganz hübsche Erklärung der Entstehung von Mythe, Sage und Märchen.
Sodann weist sie auf die gegenseitige Durchdringung der Deutschen und Slaven
auf dem Gebiete der Sage hin. Nicht geringer ist aber auch der gegenseitige
Einfluss auf Brauch und Sitte, Lied und Sprache. Diese Zeitschrift hat bereits
(I. Jahrg., 4. Heft) auf die Verwandtschaft deutscher und tschechischer Volkslieder
hingewiesen. Die Ähnlichkeit ist aber nicht immer Folge der Entlehnung, sondern
beruht häufig auf der Ähnlichkeit der Anschauung und Denkweise und wohl auch
auf der ursprünglichen Verwandtschaft überhaupt. So in der schönen Sage vom
Markgrafen Jecminek (Gerstenkorn), die in der gerstenreichen Hanna sich findet
und die wir nicht auf Wodan zurückführen dürfen.
Bücheranzeigen.
343
lm ersten Hauptteil werden die Sagen leider nicht von den Märchen getrennt.
Die Unterabteilung unterscheidet allgemeine und Burgsagen (17) und Ortssagen (55).
Abgesehen davon, dass bei dieser Teilung das Märchen einfach verschwindet, ist
sie auch sonst wenig empfehlenswert. Es wäre wohl das Zweckmässigste, die
Sagen nach der Örtlichkeit, an die sie geknüpft sind, und die Märchen nach dem
Verbreitungsgebiete zu ordnen.
Noch etwas kann ich zu bemerken nicht unterlassen. Da der Verfasser, wie
er selbst in der Einleitung, S. 25, sagt, alle Sagen, die in Zeitschriften und andern
Büchern erschienen sind, zum Abdrucke bringt, so ist er wohl kaum imstande,
bei jeder die Verantwortung für ihre Echtheit zu übernehmen. Meine Erfahrung
hat mich in dieser Beziehung Vorsicht gelehrt.
In Bezug auf die Mundarten erscheint Mähren dem Verfasser als ein Deutsch-
land im kleinen, da der Süden und Norden Deutschlands seinen Einfluss ausgeübt.
Wenn von norddeutscher Einwirkung gesprochen wird, so ist darunter wohl nicht
das Norddeutsche im eigentlichen Sinne zu verstehen, denn dieses hat doch nur
wenige Spuren in unseren Mundarten aufzuweisen. Wenn auch die Planderer in
mehreren Städten Mährens Tuchniederlagen schon zur Zeit der Kolonisation be-
sassen, so ist ausser dem Namen Flamänder, der zum Schimpfwort geworden, und
etwa einigen Eigennamen von ihnen hichts mehr zu finden. Wesentlichen Einfluss
auf die Kolonisation und somit auf die Sprache Deutsch-Mährens hatte doch nur
Süd- und Mitteldeutschland. Im ganzen und grossen ist Nordmähren mitteldeutsch,
Südmähren und die Iglauer Sprachinsel süddeutsch.
Nicht verkannt hat der Verfasser die Slavismen, die sich besonders in Städten
mit slavischer Umgebung Geltung zu verschaffen wissen. Dass aber in Brünn,
Olmütz und Iglau „das Schriftdeutsch zu einem wahrhaft schäbigen Lokaldeutsch
verwaschen worden sei“, möchte ich als Übertreibung bezeichnen. Auf die
Vokalisation hätte mehr Rücksicht genommen werden können.
Der letzte Abschnitt schildert uns zuerst Brauch und Sitte in Nordmähren.
Mit Recht erklärt Müller das dortige Bauernhaus für fränkisch. Die Hochzeits-
feier, bei der ein Redmann (tschech. recnik) auftritt, weist wohl viele slavische
Elemente auf. Besonders der wehmütige Abschied der Braut ist slavisch. Der
Name des Hochzeitsredners „Druschmann“ ist slavisch: er geht auf druzba, der
Gefährte, Gespiele, zurück.
Im besonderen schildert M. Brauch und Sitte im Schönhengster Händchen, im
Kuhländchen und in den Sprachinseln von Iglau, Wischau und Wachtl-Brodek.
Hervorzuheben ist ein einfaches Weihnachtsspiel aus Nimlau bei Olmütz.
Wenig volkstümlichen Wert hat dagegen ein im Jahre 1820 von professionsmässigen
Schauspielern aufgeführtes Weihnachtsspiel. Interessant sind die Gebräuche des
„Majesunntog“ (Majesingen) und die Ostergebräuche.
Auch aus dem Kuhländchen wird ein Weihnachtsspiel und ein altes Weihnachts-
lied abgedruckt. Daran reiht sich das Todaustragen nebst dem dabei gesungenen
Liede; der Maibaum, den Mädchen singend und Gaben heischend von Haus zu
Haus tragen. Die Lieder des Pfarrers Bayer haben für die Volkskunde die Be-
deutung von Sprachproben und geben in humoristischer Weise ein Bild von der
Denkweise des Volkes.
In Bezug auf die Iglauer Sprachinsel hat der Verfasser einzelne Aufsätze von
mir über Taufe, Hochzeit und Tod, über Osterbrauch und Schnaderhüpfel fast
wörtlich zum Abdrucke gebracht, ohne mich zu nennen. Es wird sich für eine
zweite Auflage empfehlen, das litterarische Eigentum besser zu achten; selbst mein
Name fehlt im Litteratur-Verzeichnisse.
344
Weinhold:
Das die Schönheit der Iglauer Mädchen besingende Liedchen ist kein Volks-
lied. Aus der Sprachinsel von AVachtl - Brodek wird ein gereimter Wettstreit
zwischen Sommer und Winter gebracht. Auch in der Iglauer Sprachinsel entdeckte
ich ein ähnliches Lied.
Aus dem, was ich nur andeuten konnte, ersieht man wohl zur Genüge, dass
in Mähren das Volkstümliche in Fülle vorhanden ist, und ich kann mich nur dem
Wunsche des Verfassers anschliessen, dass plamnässig diese Schätze gehoben und
bearbeitet werden.
Iglau, im Juni 1893. Franz Paul Piger.
Was sich das Volk erzählt. Deutscher Volkshumor. Gesammelt und nach-
erzählt von Heinrich Merkens. Jena, H. Costenoble, 1892. S. XII.
280. 8°.
Bekanntlich sind im IG. Jahrhundert eine Menge von Schwankbüchern er-
schienen, welche lustige Geschichten zur Unterhaltung und Ergetzung, auch wohl
zur moralischen Nutzanwendung in deutscher und lateinischer Sprache erzählten
und teils aus vererbten Historien der Vergangenheit, teils aus dem mündlichen
Bericht über Sitten und Leben der Gegenwart zusammengeschrieben wurden. Es
genüge, an die Namen Johann Pauli, Georg Wickram, Jakob Frey, Mich. Lindener,
Val. Schumann, Hans Wilh. Kirchhoff zu erinnern.
Diese Litteratur, im Inhalt oft zotig und schamlos, setzte sich im 17. Jahr-
hundert fort und hat in Jahrmarktsdrucken bis in das 19., wenn auch formal viel
verändert, im ganzen auch zahmer geworden, fortgelebt. In dem Munde von
Studenten und Handwerksburschen blieb vieles erhalten, aber nicht bloss hier,
sondern auch überall dort, wo man noch Freude an alter lustiger Unterhaltung,
an Schnaken und Schnurren, an Döntjes und Vertellsels findet. Manches hatte der
Tag neu erzeugt; gesunder Witz und guter Humor sind die erhaltenden Kräfte
dieser meist kurzen Geschichten.
Herr H. Merkens hat nun eine neue Sammlung humoristischer, im Volke oder
in demselben naheliegender Schicht verbreiteter Histörchen veranstaltet, indem er
teils aus gedruckten älteren und neueren Quellen schöpfte, teils mündlichen Bericht
benutzte. Das aus letzterem entnommene wird vielleicht nicht überall die Probe
auf eine weitere Verbreitung, also auf Volkstümlichkeit bestehen; es schliesst sich
aber der ganzen Familie wenigstens an. Die Nachweise und Bemerkungen be-
richten über die von Herrn M. benutzten Hilfsmittel, ohne den Anspruch, Ursprung
und Verbreitung der Geschichtchen genauer zu verfolgen. Als unterhaltendes Buch
können wir das vorliegende empfehlen. K. W.
Neubaur, L., Neue Mitteilungen über die Sage vom ewigen Juden. Leipzig,
J. C. Hinrichssche Buchhandlung. 1893. S. 24. 8°.
Ein Nachtrag zu der im Jahre 1884 in gleichem Verlage erschienenen Schrift
desselben Verf. „Die Sage vom ewigen Juden“. Es werden darin teils weitere,
Herrn N. bekannt gewordene litterarische Notizen über den ewigen Juden mit-
geteilt, teils einige Berichtigungen zu der früheren Schrift gegeben.
Eine Bibliographie der Sage vom ewigen Juden hat Herr Dr. Neubaur in
0. Hartwigs Centralblatt für Bibliothekswesen. 1893. Heft 6 — 8 veröffentlicht.
Bücheranzeigen.
345
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Cerny, A., Mythiske bytosce luziskicli Serbow (die mythischen Wesen der
lausitzer Serben, 1. Teil). Bautzen 1893. S. 243 8°.
Während die deutsche Wissenschaft über den lausitz-serbischen Mythus durch
die Sammlungen Veckenstedts (Wendische Sagen 1880) und Schulenburgs
(Wendische Volkssagen 1880; Wendisches Volkstum 1882), aus denen Laistner
und andere reichlich schöpften, unterrichtet war, fehlte bisher in der einheimischen
Sprache eine erschöpfende Zusammenstellung des einschlägigen Materials. Diese
Lücke füllt nunmehr das Werk Cernys trefflich aus; C. sammelte alles erreich-
bare gedruckte Material und ergänzte es durch Forschungen und Fragen beim
Volke selbst; in diesem ersten Teile handelt er über den Glauben an Hausgeister,
Getreidedrachen, Zwerge und Riesen, die schlafenden Ritter, die Wildweiber, das
Mittagsweib, Wechselbälge, über die Vorstellungen von Krankheit und Tod, von
atmosphärischen Erscheinungen und vom wilden Jäger. Von den Anschauungen
Tylors und Längs ausgehend, sucht C. auch das Wesen der einzelnen mythischen
Gestalten zu erkennen, doch weicht er der Frage aus, was der Serbe nur vom
deutschen Nachbar entlehnt und was er selbst, aus der slavischen Überlieferung
her, erhalten hat; das sorgfältige Heranziehen des Mythus der übrigen Slaven
verdient besondere Anerkennung. Charakteristisch ist, dass auch auf diesem Ge-
biete die Angaben Veckenstedts, sowie sie etwas Absonderliches, Ungewöhn-
liches bieten, eine Prüfung nicht aushalten. C. weist sie regelmässig zurück, am
schärfsten S. 147 f.
Dem umsichtigen und fleissigen Sammler und Erklärer ist die slavische
Wissenschaft zu grossem Danke verpflichtet. A. Brückner.
Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn. Zeitschrift für die Völkerkunde
Ungarns. Herausgegeben von Anton Herrmann. III. Band. 1. 2. Buda-
pest 1893. S. 60. 8°.
Unter dem Protektorate und unter Mitwirkung Seiner K. u. K. Hoheit, des
Herrn Erzherzogs Josef von Österreich erscheinen diese Mitteilungen in neuer
Folge seit 1. Juni 1893. Nicht gering ist das Verdienst anzuschlagen, welches sich
der hohe Protektor um die Wissenschaft erwarb, indem er die moralischen und
materiellen Bedingungen für das Gedeihen dieses Unternehmens huldvoll gab.
Der Inhalt der neuen Folge der Zeitschrift (die nebenbei erwähnt für Mitglieder
von Volkskunde-Vereinen nur 6 Mk. für das Jahr kostet) spricht deutlich genug für
den Aufschwung, den dieselbe durch diesen fürstlichen Impuls nahm; mit einem
frisch und trefflich geschriebenen Artikel „Mitteilungen über die Zeltzigeuner“
stellt sich Erzherzog Josef selbst an die Spitze der Mitarbeiter. Dr. Heinrich
von Wlislocki, der bekannte Volksforscher, giebt dann „Neue Beiträge zur Volks-
kunde der Siebenbürger Sachsen“. Eine besonders ergiebige Quelle waren für
ihn die von seinem Grossvater während dessen Wanderschaft in Siebenbürgen zu
Anfang dieses Jahrhunderts niedergeschriebenen Lieder, Hausmittel und Be-
sprechungsformeln bei den verschiedensten Krankheiten. Wlislocki bringt darin
eine Reihe von prägnanten Beweisen für den von F. S. Ivrauss, einem Mitarbeiter
von gutem Klange, aufgestellten, wohl auch allgemein gütigen Satz, dass die
Krankheitsgeister eigentlich nur Waldgeister seien, eine Anschauung, die wir auch
in unserem „Baum- und Waldkult“ für das oberbayerische Volk bestätigen konnten.
Im Walde suchte der Urmensch zuerst seine Hilfe gegen die Krankheit er-
zeugenden, dort hausenden Wald- und Krankheitsdämonen; im Baum- und Wald-
346
HöfLer:
kulte liegen jene ersten Anfänge medicinischen Handelns und Denkens unseres
Volkes, denen nachzuspüren eine ungemein lehrreiche Aufgabe und Arbeit ist, die
jüngst eine ganz wesentliche Unterstützung erhielt durch Bartels’ vortreffliche,
eben erschienene „Medizin der Naturvölker“, da diese die nötigen volker-psycho-
logischen Analoga liefert. Der Glaube des Urmenschen verblasste eben bei
manchen Völkern früher, bei anderen später; seine noch aufgespürten Rudimente
werden uns durch solche Arbeiten erst verständlicher, sie führen uns in jene Zeiten
hinauf, in welchen der Mensch anfing, aus dem roh materiellen, egoistischen Leben
sich zu den ersten Anfängen einer etwas mitleidsvollem Lebensauffassung empor-
zuschwingen, zu dem Versuche der Hilfe für den erkrankten Mitmenschen — Zeiten,
die sicher weit ferner von unserer Zeit abliegen, als wir bisher anzunehmen ge-
wohnt waren. Auch die Arbeiten der übrigen Mitarbeiter der „Ethnologischen
Mitteilungen aus Ungarn“ sprechen für die Gediegenheit der neuen Folge dieser
von Professor Dr. A. Herrmann mit Liebe und Treue geschaffenen Zeitschrift, der
wir ein weiteres Blühen und Gedeihen wünschen.
Tölz. Höfler.
V. Wlislocki, Heinrich, Aus dem Volksleben der Magyaren. Ethnologische
Mitteilungen. München, K. Fischer, 1893. S. 173. 8°.
Bei der Anziehungskraft, die das Volk der Magyaren auf andere Völker aus-
übt, müsste es von höchstem Interesse sein, einen Einblick in das innere Leben
desselben zu gewinnen. Den Magyaren selbst könnte es nur lieb und nützlich
sein, wenn sich ihre "Welt, gewöhnlich eine terra incognita, dem Auslande mit
freundschaftlicher Annäherung längst schon erschlossen hätte. Dazu wurde,
mindestens in letzter Zeit, der rechte Weg allerdings nicht eingeschlagen, da man
die deutsche Sprache geradezu verbannte, so dass Ungarn nun mehr terra in-
cognita ist, als jemals früher! — Vielleicht kommt der Mann, der diese Mit-
teilungen bringt, mit der rechten Leuchte und führt uns in die Magyarenwelt
hinein!
Die "Werke, die Herr v. Wlislocki bei der Ausarbeitung seines Büchleins
„berücksichtigt“ hat, werden S. VIII. IX angeführt. Diese Angabe macht freilich
einen seltsamen Eindruck, indem sie Hauptwerke übergeht und Fernerliegendes
heranzieht. Wenn ein Volk, wie die Magyaren, mitten unter Ariern lebt und doch
einer ganz anderen Sprachfamilie angehört, da möchte man erwarten, dass, zur
Schilderung ihres Wesens, als Grundlage desjenigen, worin es sich eigentümlich
unterscheidet, das Moment der Sprache vor allem, ins Auge gefasst werde.
Zuerst der magyarischen Sprache und der Sprache der sprachverwandten Völker,
dann erst der nichtmagyarischen, und so auch der Sitten, Mythen und Gebräuche
zuerst der Magyaren, dann der anderen. — Indem wir diesen Plan der Forschung
ins Auge fassen, macht uns die angeführte Litteratur keineswegs den Eindruck
methodischer "Wissenschaftlichkeit. Wenn man nun aber einwenden wollte, das
Buch wäre bloss zu leichter Unterhaltungslektüre bestimmt, so fürchten wir, dass
es sich auch dazu nicht eigne. — Es besteht die ganze Schrift aus Anhäufungen
von Einzelheiten, die sich vielfach wiederholen, und so gewinnen wir kein Bild,
keinen prägnanten Punkt, der uns im Geiste beschäftigen könnte.
Den Stoff hat Herr v. Wlislocki in sieben Abteilungen geordnet, zu denen wir
uns einige Bemerkungen zur Charakteristik des Buches gestatten.
I. Der Höhenkultus. Freiherr Ferd. v. Andrian hat ein treffliches Werk
darüber geschrieben, das Herr v. W. bespricht, mit dem Zusatz, dass auch die
Bücheranzeigen.
347
Magyaren diesen Kultus kennen. Herr v. W. citiert dazu gelegentlich Grimm 609.
Dass damit Jak. Grimms Mythologie in 3. Auflage S. 609 gemeint sei, wer kann
das sogleich erraten? — S. 17 wird der Sage gedacht von einem wilden Mann und
einem Holzfäller, wo der erste sagt: einmal blast ihr, damit es warm, das andere
Mal, dass es kalt werde, einem Zuge, der uns zunächst aus Hans Sachsens Walt-
bruder mit dem Satyrus und aus Goethes Satyros erinnerlich ist. — Es ist inter-
essant, was hier über magyarische Sagen vom wilden Mann erzählt wird. v. W.
citiert dazu Mario Menghini und verweist auf die Zeitsehr. d. Vereins für Volks-
kunde I. S. 40 ff.
Das II. Kapitel bespricht Festgebräuche. Unter dem magyarischen Worte
tor, Leichenschmaus, wird allerlei berichtet, von dem das Anziehendste mit
weiteren Hinweisungen schon mitgeteilt war in Pfeiffers Germania 1867 S. 284 bis
309, was Herr v. W. nicht erwähnt. — S. 29 wird von einem seltsamen Tanz er-
zählt, von dem Herr v. W. bemerkt, es sei garnicht daran zu denken, dass dieser
Tanz, der in Nagy bänya üblich ist, slavischen Ursprungs sei, da dieser Ort von
jeher eine rein magyarische Bevölkerung hatte. Korabinskys Geographisches
Wörterbuch von Ungarn sagt darüber noch im Jahre 1786: „Die Einwohner, die
Ungarn und Deutsche sind etc.“. Es könnte der Tanz denn ein deutscher sein.
— Das Opfermahl heisst magyarisch sonst äldomas. Bemerkenswert ist dazu die
alte, in Siebenbürgen übliche Wortform: almesch, latein. almasium = mercipotus,
s. Schröer, Mundarten des ungarischen Berglandes: Sitzungsber. der Kais. Akad.
d. Wissensch. in Wien 1864 S. 120 [370]. — Zu tor, Leichenschmaus, sei nur
noch bemerkt, dass disznötor (disznö = Schwein) ein Mahl beim Schwein-
schlachten, vulgo deutsch Sautanz genannt wird, und weiterer Erwägung sei
empfohlen, dass in der Gömörer Gespanschaft der Leicheiischmaus slovakisch
kar heisst; vgl. dazu, dass in den sette comuni (Schmeller, Cimbr. Wörterb. 134)
das Leichenmahl kar tag heisst. Unser altes kara, das auch in Karfreitag steckt,
erinnert ja auch an magyar. kar, der Schade.
Zu den Umzügen der Lucia S. 42 möchten wir verweisen auf Grimm, Myth.
I3 S- 1212, dazu Schmeller 22 532. — S. 44 finden wir den Namen der Bergstadt
Schemnitz bereits in deutschem Text in magyarischer Form: Selmecz, sowie man
immer mehr die magyarischen Ortsnamen in deutschem Text magyarisiert findet,
was manche Irrung verursacht!
S. 57 wird ungenau übersetzt:
Hadd tapodjuk, hadd tipodjuk
war deutsch wiederzugeben: Lass treten uns, lass stampfen uns (nicht Lass’, treten
wir, lass’, stampfen wir). — Das III. Kapitel bringt Zauber mit Körperteilen.
S. 72 wird an die deutsche Heldensage erinnert, an den Chronisten Keza, der die
Krimhildische Schlacht der Deutschen erwähnt, darüber schon in W. Grimms
Deutsche Heldensage S. 164 und 304 noch mehr zu finden wäre. Das magyarische
Wort, das dort S. 164 vorkommt: halhatJan oder halhatatlan bedeutet aber
unsterblich, nicht „heilig“. — Einer Sage aus einer unedierten Sammlung des
Verfassers, die nach Mitteilung der übrigen verlangen macht, begegnen wir S. 74.
Ein hartherziger Ritter befiehlt seinen drei schönen Töchtern, eine Menge Hanf in
kurzer Frist aufzuspinnen. Da kam bei Nacht ein riesiger Stier. Der spann den
ganzen Hanf auf. Aus seinem Speichel entstanden die Sommerfaden, die man
daher auch Ökörnyal (Ochsengeifer) nennt. Der Berichterstatter fand dafür das
Wort ochsengäwer (Ochsengeifer) in der Bedeutung für Sommerfäden bei den
Deutschen in Krickerhäu, siehe Nachtrag zum Wörterb. der Mundarten im ungar.
Berglande, S. 43 [285] 1859.
348
Schröer: Bücheranzeigen.
Der Schatzgräberei ist das ganze vierte Kapitel gewidmet, und hier sind
einige Beschwörungssprüche mitgeteilt, in denen der hl. Christoph vorkommt, der
einen goldenen Hammer trägt. — Den Schlüssel der Schatzgräberei besitzt „Thero-
phile“, auch den Schlüssel der grossen Wissenschaften. Es scheint, dass der aus
der Faustsage, d. h. aus der Geschichte derselben bekannte Theophilus in dieser
Gestalt nach Ungarn versetzt wurde.
Im 5. Kapitel kommt der Hexenglaube zur Besprechung. Die Hexe heisst
magyarisch boszorkany, wahrscheinlich aus ßoctrcrcipa: Bacchantin, das für thrakisch
gilt. Slovakisch hört man die Form bosorka. In Miklosichs etymologischem
Wörterbuch der slav. Sprachen finde ich es nicht. Auch das grosse magyarische
Wörterbuch der Akademie bringt keine Aufklärung über die Etymologie des Wortes
boszorkany.
S. 51 hätten wir unter den Festgebräuchen, die zu Ostern üblich sind, auch
das Birkenrutenschlagen erwartet, das erst zuletzt S. 168 in dem VII. Kapitel,
wo über eine „Geburtsgöttin“ allerlei zusammengetragen ist, erscheint, freilich nicht
als Osterbrauch, sondern als Weihnachtsbrauch. Zu diesem Brauch sind wir in
der Lage, weitere Züge beizusteuern, die der Herr Verfasser leicht finden konnte,
s. Schmagöster, Osterpeitsche bei Weinhold, Schles. Wörterbuch, S. 84. Dazu
auch die magyarische Bezeichnung der Osterpeitsche als Senfkorn: Nachtrag zu
Schröers Wörterb. der deutschen Mundarten des ungarischen Berglandes, S. 46.
In der Oberpfalz wird die Osterpeitsche als Pfefferkorn in dem Spruch bezeichnet:
is der pfeffer räss, wellts en lösen ab? (ist der Pfeffer scharf, wollt ihr ihn lösen
ab?). — Zu dem Ausdruck Schmeckoster muss auch eine Form Oster schmück
Vorkommen, daraus sich die magyarische Form muslar mag erklärt, s. Magyar
Täjfzötär S. 264, das sowohl Osterpeitsche bedeutet, als wörtlich genommen Senf-
korn bedeuten kann (muslör: Senf, mag: Kern). Weitere Formen s. bei Schröer,
Wörterb. der Mundart von Gottschee (Sitzungsber. d. k. Akad. d. Wiss. 1869 S. 54).
In diesem letzten Kapitel bemüht sich Herr v. W., die Verquickung heidnischer
und christlicher Elemente im Volksglauben in den Gestalten der magyarischen
Mythe anschaulich zu machen an den Gestalten der Boldogasszony und der
Nagyasszony. Boldogasszony müsste man übersetzen mit selige Frau, und
Nagyasszony mit grosse Frau. Die Boldogasszony ist die Tochter der Nagyasszony
und sie ist die Schutzgöttin der Wöchnerinnen und der Kinder.
Wien. K. J. Schröer.
Böhmische Korallen ans der Götterwelt. Folkloristische Börsenberichte
vom Götter- und Mythenmarkte. A7on Friedr. S. Krauss. Wien,
Gebrüder Rubinstein, 1893. S. 147. 8°.
Herr Fr. S. Krauss erleichtert sein Herz in dem vorliegenden Buche von
allerlei, das ihm während längerer Zeit auf dasselbe durch verschiedene Leute
gefallen ist, die in Volks- und Mythenkunde „machen“ und deren Erzeugnisse er
den böhmischen bunten Glasperlen vergleicht. So werden denn eine Reihe
„Forscher“, mit besonderer Liebe die Herren Veckenstedt und Krek, von dem
witzigen Verfasser von allen Seiten betrachtet, schwerlich zu ihrem Vergnügen.
Weiteres haben wir nicht zu sagen.
ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und H. Steinthal.
Im Aufträge des Vereins
heraasgegeben
von
Karl Weinkold.
BERLIN.
Verlag von A. Asher & Co.
Dritter Jahrgang.
1893.
Heft 4.
I n li a 11.
Seite
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen. Von
Friedrich Vogt......................................................349
Das Saterland. Ein Beitrag zur deutschen Volkskunde von Theodor
Siebs. (Schluss)....................................................373
Villotte friulane (Friaulische Dorflieder). Mitgeteilt von Dr. E. Schatz-
mayr in Triest. (Schluss).......................................... 411
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Nieder-
ländischen. Von August Gittee in Lüttich................................415
Der Geruch vom Standpunkte der Volkskunde. Von Dr. M. Höfler 438
Kleine Mitteilungen:
Noch einmal die gefesselten Götter bei den Indogermanen. S. 448. — Die falsche Braut
in Niederösterreich. S. 451. — Des Schneiderleins Glück. S. 452. — Das Märchen von
der Königstochter, die nicht lachen konnte. S. 456. — Zu Glückshafen und Wettlauf.
S. 459. — Über das Wendische Sprachgebiet. S. 460. — Nochmals das Märchen von den
sieben Grafen. S. 462.
Bücheranzeigen:
Stern, L. Will., Die Analogie im volksthümlichen Denken. S. 463. — Lukas,
Franz, Die Grundbegriffe in der Kosmogonie der alten Völker. S.464. — Chr. Schneller,
Beiträge zur Ortsnamenkunde Tirols. S.464. — von Wlislocki, Heinrich, Volksglaube
und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen. S. 465. — More English Fairy Tales collected
and edited by Joseph Jacobs, illustrated by John D. Batten. S. 466. — Harou,
Alfred, Melanges de Traditionisme de la Belgique (Collection internationale de la Tradition.
Vol. X). S. 467. — La poesie populaire par Mme. la Comtesse E. Mar tinengo-Cesaresco.
S. 467. — Lew avlter, Deutsche Volkslieder. S. 467. — Cesky Lid. Sbornik venovany studiu
lidu öeskeho v Cechäch, na Morave, ve Slezsku a na Slovenku. S. 468.
Wir maclien darauf aufmerksam, dass der Verein für Volkskunde
(Sitz in Berlin), dessen Organ diese Zeitschrift ist, nichts gemein hat
mit der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde des Dr. E. Veckenstedt
in Halle a. S.
Beiträge für die Zeitschrift, bei denen um deutliche Schrift
auf Quartblättern mit Rand gebeten wird, Mitteilungen im
Interesse des Vereins, Kreuzbandsendungen, beliebe man an
die Adresse des Herausgebers, Geh. Regierungsrat Prof. Dr.
K. Weinhold, Berlin W., Hohenzollernstr. 10, zu richten.
Bücher für Besprechung in der Zeitschrift wolle man an die Verlags-
buchhandlung A. Asher & Co., W. Unter den Linden 13, senden.
Beitrittserklärungen zum Verein nimmt der Schriftführer Prof. Dr.
Brückner, Berlin SW., Lankwitzstr. 1, und der Schatzmeister entgegen.
Schatzmeister des Vereins ist Banquier Alexander Meyer Cohn,
Berlin W., Unter den Linden 11.
Der Jahresbeitrag ist 12 Mk., wofür die Zeitschrift an die Mitglieder
geliefert wird.
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
Von Friedrich Vogt.
I. Scheihentreiben und Frühlingsfeuer.
Am 21. März des Jahres 1090 wurde die prächtige Kirche und ein
grosser Teil der übrigen Gebäude des Klosters Lorsch durch Feuer ver-
nichtet. Über die Ursache des Unglücks berichtet die Klosterchronik
comperta a majoribus rerum fide folgendes. Ipsa, quam praediximus die
(XII Kal. Apr.) vergente jam in vesperum, postquam exemplo carnalis Israel
sedit populus manducare et bibere, et surrexerunt ludere, forte inter cetera
ludorum exercitia, discus in extrema marginis hora (ora), ut solet,
accensus militari manu per aera vibrabatur, qui acriori impulsu
circumactus orbicularem flammae speciem reddens, tam ostentui virium quam
oculis mirantium spectaculi gratiam exhibet. Is a quodam non tam perniciter,
quam infeliciter tandem intortus, ad summum ecclesiae fastigium imprudenti
jactu evolavit, ubi inter tegulas et cariosos asseres artius insidens, animante
vento fomitem incendio praebuit. (Codex Laureshamensis diplomaticus ed.
Academia Theodoro-Palatina T. I p. 200 sequ.)
Diese Nachricht von dem herkömmlichen Emporschleudern einer
brennenden Holzscheibe bei einem am Abend der Friihjahrstagundnacht-
gleiche stattfindenden Volksfeste bildet den ältesten Beleg sowohl für die
deutschen Frühlingsfeuer als auch für eine besondere Art des Festfeuers,
welche teils bei diesen, teils auch bei der zweiten Hauptgattung von
.lahrzeitfeuern, bei den Sonnwendfeuern, bis auf den heutigen Tag vor-
kommt. Denn die Frühlingsfeuer waren bisher nicht vor dem 15. Jahr-
hundert nachgewiesen (vgl. Jahn, Die deutschen Opfergebräuche S. 93 und
88), während für jenes Scheibenschleudern oder Scheibenschlagen und
Scheibentreiben, wie es gewöhnlich genannt wird, bisher kein älteres
Zeugnis bemerkt war als eine Angabe des Johannes Boemus in dem
zuerst 1520 erschienenen, dann oft aufgelegten Buche Omnium gentium
mores, leges et ritus, auf welche Schmeller, Bayr. Wb.2 II, 356 aufmerksam
macht. Boemus schildert lib. III cap. XV (de Franconia) eine besondere
Art des Johannisfeuers: Ante arcem in monte, qui urbi Herbipoli super-
eminet, ab episcopi aidicis etiam ignis fit cui orbiculi quidam lignei perforati
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 24
350
Vogt:
imponuntur, qui cum inßammantur, flexibilibus virgis praefixi, arte et vi in
a'erem supra Moganum amnem excutiuntur: Draconem igneum volare putant,
qui prim non viclerunt. Dass hiernach vor der Burg des Würzburger
Biscliofes dieselbe Handlung bei der Sonnwendfeier vorgenommen wurde,
welche 400 Jahre früher vor dem Kloster Lorsch bei jenem Frühlingsfeste
mit so unheilvollem Ausgange stattfand, ist klar. Und ganz wie Boemus
und die Lorscher Chronik sie beschreibt, wird sie noch in unserer Zeit
in einigen Gegenden Kärntens, Tirols und Oberbayerns am Johannistage
oder an dessen Yorabend geübt. So schleudern dann im oberbayerischen
Gannischgau „die Bursche Holzscheiben, die in der Mitte durchlöchert und
an den Rändern rot glühend gemacht sind (wie der cliscus in extrema mar-
ginis ora accensus), an Stöcken im Wettspiel, einer höher als der andere,
in die dunkele Luft“ (Bavaria I, 1. 374) und ebenso geschieht es im
Lesachthale an den Yorabenden des Johannes-, des Peter und Paul- und
des Ulrichtages, wobei die auf der Rute steckende glühende Scheibe auf
einem schief aufgerichteten, nach Süden gekehrten Brett in möglichst hohem
Bogen abgeschnellt wird: Lexer in Frommanns Die deutschen Mundarten
6, 200 und in der Zeitschr. f. deutsche Mythologie 2, 31. Entsprechendes
wird von der Sunwendfeier in Tirol bei Sclnneller, Bayr. Wb. 2 II, 356,
bei Panzer, Beitrag zur deutschen Mythologie I, S. 210 und bei Zingerle,
Sitten, Bräuche und Meinungen des Tiroler Yolkes 2 S. 159 Nr. 1354 nach-
gewiesen.
Nach weit verbreiteterem Gebrauche ist aber das Scheibenschlagen
ebenso wie in der alten Lorscher Nachricht ein Frühjahrsfeuerfest
oder Teil eines solchen. Die Zeit desselben schwankt zwischen Anfang
und Ende der Fastenzeit. Für den Fastnachtssonntag, der auch die Weiber-
fastnacht heisst, bezeugt Birlinger, Aus Schwaben, Sagen, Sitten und Ge-
bräuche II, 31 und 54 das Scheibenschlagen im badischen Alemannien.
Am Fastnachtabend geschieht das „Schibefleuge“ nach Yernaleken, Alpen-
sagen S. 367 in der Gemeinde Matt im Kanton Glarus und auch in einigen
abgelegenen Gemeinden Biindens. „Zu angehender Fastnacht“ wurde es
im J. 1618 „der jungen Purst“ in Rottweil untersagt (Birlinger II, 64),
„in der Fassiiacht und Fasten“ wurde es abgehalten nach dem alemanni-
schen Zeugen Lorichius, der 1593 schrieb (a. a. O. 54), während es nach
einer Schilderung Erckmann-Chatrians bei Mannhardt, Wald- und Feld-
kulte I, 456, in den nördlichen Vogesen „am Anfänge der Fastenzeit“ statt-
findet. Hier wird schon der sonst als eigentlicher Tag des Scheiben-
schlagens geltende Sonntag Invocavit, der erste der Fastenzeit, gemeint
sein, der wegen dieses Feuerfestes der Funkensonntag oder der Schofsonntag
(von Schof, mhd. schoup Strohwisch), im östlichen Frankreich dimanche des
brandons genannt wird. Auch der Ilutzelsonntag Heisst er wegen des ge-
dörrten Obstes, welches die vom Feuer Heimkehrenden erbitten und er-
halten, im badischen Alemannien aus entsprechendem Grunde der Küchle-
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
351
sonntags sonst auch der Kässonntag, der weisse Sonntag, die grosse, die
Herren- oder die Allermannsfastnacht. Am „sogenannten Küchelsonntage“
werden nach Sclmeegans, Alsatia 1851 S. 196 fg. auch in Wasslenheim und
an anderen Orten im Eisass die Scheiben von Knaben geschleudert; ob
das auch im Eisass der Sonntag Invocavit ist, wo man auf dem Lande in
jedem Hause Küchlein bäckt (a. a. 0. S. 126), oder der Fastnachtssonntag,
an welchem die Kinder in der Gegend von Mülhausen das a. a. 0. S. 115
mitgeteilte Küchlelied singen, wird nicht klar. Für Scharrachbergheim,
Wolxheim auf dem Horn und andere elsässische Ortschaften bezeugt Stöber
a. a. 0. S. 120 fg. das Scheibentreiben; ob es am Invocavittage oder an
einem der Fastnachttage stattfindet, erhellt auch aus seiner Angabe nicht.
Sicher festgestellt ist der Brauch am Sonntage Invocavit für Alemannien
und Oberschwaben durch Birlinger, Aus Schwaben II, 41. 62, Volkstüm-
liches aus Schwaben II, 56 fg. 68. 105 fg. 108 fg. und durch Ernst
Meier, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben II, 380
bis 83. Ihre Nachweise betreffen besonders das Wiesenthal, den Heuberg,
Friedingen, Altshausen, Waldsee, Ziegelbach, Leutkirch, Wolperschwende,
Altdorf Blitzreute, Baienflirt, Frohnhofen, Ravensburg, Tettnang, Wangen,
Kloster Weingarten. Von Tettnang und Wangen aus sieht man nach Meier
S. 382 „am Funkensonntage auch in der Schweiz, in Tirol und Vorarlberg
viele solcher feurigen Scheiben aufsteigen. Ebenso in Bayern (natürlich
bayerisch Schwaben). Die Deutschen in Graubünden halten gleichfalls
dies Scheibenschlagen auf hohen Bergen.“ Auch von den Höhen bei
Schopfheim im Wiesenthal aus sieht man beim Scheibentreiben an diesem
Tage nach dem mündlichen Bericht eines Augenzeugen zugleich von den
Schweizerbergen die Feuerscheiben fliegen. Aus dem Kanton Zürich be-
legen Staub und Tobler, Schweiz. Idiotikon I, 947 den Brauch für Invocavit
oder einen der Fastnachtstage. So wird denn auch für den Vintschgau
und das Oberinnthal das Hinausschleudern der brennenden, mit Harz be-
strichenen Scheiben am Sonntag Invocavit in Frommanns Mundarten II,
233, in der Zeitschr. f. d. Myth. 1, 286 fg. und bei Zingerle, Sitten 2 S. 140
Nr. 1225. 1226 bezeugt; ebenso für den Süden des bayerischen Schwabens
durch die Füssen betreffende Beschreibung Panzers, Beitr. I S. 211, und
durch die entsprechende ausführliche Schilderung Felix Dahns in der
Bavaria II, 2 S. 838 fg., welche sich auf das äussere Allgäu, das Land
an der oberen Wertach, insbesondere auf das Gebiet von Nesselwang
bezieht.
Das Scheibenschlagen am ersten Sonntag in der Fastenzeit lässt sich
also vom äussersten Westen des alemannisch-schwäbischen Gebietes bis zu
dessen äusserster Südost-Grenze und bis nach Tirol hinein verfolgen. Hier
findet jedoch der Brauch daneben auch am Johannistage statt, an welchem
auch in Oberbayern und in Kärnten die Scheiben getrieben werden,
während im Alemannischen nur die Fastnachtstage neben Invocavit in
24*
352
Vogt:
Betracht kommen1). Östlich von Tirol und vom bayerischen Schwaben
weiss ich weder das Scheibenschlagen in dieser Frühjahrszeit, noch die
Fastnachts- und Invocavitfeuer überhaupt nachzuweisen. Dagegen werden
in Oberbayern wie bei der Sommersonnenwende so auch zu Ostern die
Scheiben getrieben: Auf den Bergen von Werdenfels schleudert man nach
Schmeller, Bayr. Wb. 2 II, 356 in den Osternächten glühend gemachte Ab-
schnitte von Brunnenröhren mit Stecken in die Luft, während in Mitten-
wald und Oberau nach Panzer I S. 211 fg. beim Osterfeuer Scheiben oder
auch Bolzen in derselben Weise brennend emporgeschnellt werden.
Nördlich von Oberbayern, Oberschwaben und dem Eisass ist meines
Wissens aus neuerer Zeit das Scheibenschlagen nicht bezeugt. Die Bavaria,
welche sonst die Feuerfeste eingehend berücksichtigt, bringt für jenen
besonderen Brauch weder aus Niederbayern noch aus der Oberpfalz, noch
aus den fränkischen Provinzen Zeugnisse; und ebensowenig ist mir sonst
in Mitteldeutschland oder gar auf niederdeutschem Boden ein Beispiel dafür
aufgestossen. Dass die Sitte früher auch bei den Rheinfranken und Ost-
franken verbreitet war, zeigt die Nachricht der Lorscher Annalen und die
Angabe des Johannes Boemus, wobei es übrigens Beachtung verdient, dass
hier auch innerhalb des fränkischen Gebietes das Scheibenschlagen für
den westlichen Ort in der Fastenzeit, für den östlicheren in der Sommer-
sonnenwende bezeugt ist.
Die Invocavitfeuer, mit denen sich ja vor allem das Scheibenschlagen
verbindet, sind ohne dieses noch in weiterer Ausdehnung nachzuweisem
Strohfeuer, an denen anderswo die Scheiben entzündet werden, brannte
man nach Zeitschr. f. d. Mythol. 3, 166 zu Stavelot im Limburgischen an
jenem Sonntag in grösstem Umfang ab, und nächtliche Gelage waren damit
verknüpft, wie die Schmauserei mit dem Scheibenschlagen in Lorsch.
Während das Verbrennen einer an langer Stange befestigten Strohpuppe,
welche die Hexe genannt wird, in einigen Gegenden Schwabens zusammen
mit dem Scheibenschlagen erfolgt (Meier a. a. 0. 380, Birlinger, Volkstüm-
liches n, 60, Bavaria II, 2, 838 fg.), so geschieht das Abbrennen grosser,
um einen Baum gehäufter Strohmassen allein unter dem Namen des Hexen-
brennens gleichfalls am Sonntag Invocavit in der Umgegend von Echternach
1) Ob etwa das Eisass eine Ausnahme macht, weiss ich nicht genau anzugeben.
Stöber bemerkt zwar Alsatia ISol S. 149, dass auch bei den „viel allgemeiner verbreiteten
Johannisfeuern“ brennende Scheiben geschlagen werden, aber er giebt nicht, wie bei den
Fastnachtsfeuern, bestimmte Ortschaften an, und es ist zweifelhaft, ob er hier wirklich
elsässische Gebräuche im Auge hat. Schneegans berichtet ebenda S. 138 nach Hörensagen,
dass in Scharrachbergheim und Wolxheim das Scheibenschlagen nicht wie in Wasslenheim
und auch sonst noch im Eisass in der Fastnachtszeit, sondern am Johannistage stattfinde;
aber das widerspricht direkt der Angabe Stöbers auf S. 120. — Dass der weisse Sonn-
tag (s. oben S. 351) anderswo als der Sonntag nach Ostern gilt, gab in Ertingen bei Ried-
ling den Anlass, das Scheibenschlagen an letzterem abzuhalten. Birlinger, Volkstümliches
II, 56. 60. 106.
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
353
(Zeitschr. f. d. Mythol. 1, 89) und ähnlich in der Franche-Comté (Mannhardt
a. a. 0. 456). Auch in Burgund brennen dann die-Feuer (Alsatia 1851, 119),
und an der französisch-elsässischen Grenze bei Raon l’Etape wird in diesem
Invocavitfeuer eine lebendige Katze an einem Pfahl verbrannt (Alsatia a. a. O.),
was in der Eifelgegend nach Mannhardt (a. a. 0. 463. 501) hinwiederum mit
einem Strohmann geschieht. In der Eifel wird dabei zugleich ein brennendes
Rad von einem Berge hinabgerollt, und dieselbe Verbindung des Strohn^ann-
brennens und des Radrollens erfolgt beim Invocavitfeuer im Lauterthaie in
der Rheinpfalz (Bavaria IV, 2, 356). Das Feuerrad wird an demselben Tage
zu Konz bergab ins Moselthal gewälzt (Mannhardt a. a. 0. 501); die gleiche
Ceremonie, das Rollen des sog. „Hoalrades“, d. i. des Hagelrades, wird
auf der Rhön und in angrenzenden Gegenden bis zum Vogelsberg hin mit
einem Fackellauf durch die Felder verbunden (a. a. 0. 500). Die Bavaria
IV, 1, 242 fg. bezeugt aus der Rhön als Invocavitfeuer nur solchen Fackel-
lauf auf den Höhen, wobei mit den dazu benutzten flammenden Strohwischen
funkensprühende Räder geschlagen werden. Auch in denjenigen Gegenden,
in welchen das Scheibenschlagen an gewissen Orten heimisch ist, werden
an anderen Invocavitfeuer bezeugt, ohne dass von jenem dabei die Rede
wäre. So z. B. Fackelfeuer in Ehingen an der Donau (Meier S. 383); so
ferner grosse Feuer mit allerlei Lustbarkeiten in Appenzell (Tobler, Appen-
zellischer Sprachschatz S. 207, vgl. auch Verualeken, Alpensagen S. 368);
so die Holepfannfeuer im Etschthal (Zingerle, Sitten, Bräuche etc. des
Tiroler Volkes 2 S. 140), in Meran, Ulten, Passeier (Deutsche Mundarten
2, 233) und ähnliches in Proveis (Mannhardt S. 540). Aus verschiedenen
Schweizerkantonen wird das Invocavit- oder Fastnachtfeuer in Staub und
Toblers Schweizer. Idiotikon I, 947 und 869 fg. bezeugt. Das Feuer loht
da wiederum um eine Stange oder um eine Tanne herum, auf der im
Luzerner Gau auch die Strohhexe ehedem nicht fehlte. Die Jugend tanzt
und jubelt um das Feuer, wobei stellenweise auch Fackeln geschwungen
werden; dann kehrt sie, alte Lieder singend, ins Dorf zurück, und dort
schwärmen dann wohl Burschen und Mädchen die Nacht durch. Aus
früherer Zeit ist auch das Abwärtsrollen des Feuerrades nachgewiesen.
Am „Hirsmontag“, dem Tage nach Invocavit, wurden nach Verualeken,
Alpensagen S. 356, bei Zürich Feuer (Funken) angeztindet.
Zur Fastnacht fand die Verbrennung der Strohfigur nach Kehrein,
Volkssitte in Nassau II143fg., im Nassauischen statt; nach den von Mannhardt
S. 499 gesammelten Zeugnissen auch in Walschtirol, am Züricher See, an
der Eifel, in den Kreisen Düren und Kempen und im Oldenburgisclien,
wo dieser Handlung das Feldlaufen mit brennenden Strohbündeln (Beken)
voranging. In Nassau, wo übrigens auch wie in Raon l’Etape eine lebende
Katze die Stelle der Strohfigur vertreten konnte, riefen die Beteiligten
„wir verbrennen den Hai (Hagel)“. So wird denn auch mit dem „Sengen
des Hagels“ am Fastnachtabend, welches im 15. Jahrhundert in den Statuten
354
Vogt:
von Duderstadt verboten wird, die gleiche Sitte gemeint sein: s. Jahn,
Opfergebräuche S. 88. In einer Yisitationsordnung des Pfalzgrafen von
Zweibrücken vom J. 1579 wird auch das „Hagelfeuer und Redderscliieben“
(gewiss das Abwärtsrollen des Feuerrades) verboten (Bavaria IY, 2, 356).
Bei Dürckheim wurden auf einem Felsen, der ursprünglich Brunhildestul,
dann Brummliolzstul genannt ward, zur Fastnacht liochaufgeschichtete Holz-
reiser und „Zasseln“ verbrannt (a. a. O.). In Illzach bei Mülhausen im
Eisass lodern am Fastnachtsonntage Feuer, mit denen sich wiederum der
Fackellauf verbindet (Alsatia 1851 S. 114).
Die Invocavitfeuer, mit denen sich auf schwäbisch-alemannischem Ge-
biet das Scheibentreiben vereint, reichen demnach ohne dieses rheinabwärts
bis an die niederfränkische Grenze und westwärts nach Frankreich hinein,
während die Fastnachtsfeuer auch, wenngleich nur ganz vereinzelt, in
Niederdeutschland nachgewiesen sind. Natürlich liegt hier überall dasselbe
Frühlingsfeuerfest zu Grunde; ob ursprünglich etwa auch überall das
Scheibentreiben damit verbunden war, lässt sich nicht feststellen; seiner
Natur nach scheint dieser besondere Brauch von vornherein auf gebirgige
Gegenden beschränkt zu sein.
Aber auch an anderen Tagen finden in bestimmten Gebieten die
Frühlingsfeuer statt. Zu Petri Stuhlfeier, am 22. Februar, also in der
Regel gleichfalls um den Anfang der Fasten, wurde nach Müllen hoff, Sagen
und Märchen N. 228 in Nordfriesland das Biikenbrennen vollzogen, was
wenigstens auf der Insel Föhr, wie mir eine Augenzeugin berichtete, noch
heute stattfindet. Panzer I S. 213 N. 237 und S. 215 N. 242 erwähnt auch
Feuer „am Peterstage“ in Lochhausen bei München und in Deffingen im
bayerischen Schwaben, während ich in der Bavaria nichts Entsprechendes
gefunden habe. Jahns Angabe a. a. 0. S. 91, dass dabei auch ein Scheiben-
schlagen erfolgt sei, beruht augenscheinlich auf einem Missverständnis.
Yon den um den Anfang der Fastenzeit veranstalteten Feuern sind
die Petersfeuer offenbar am wenigsten verbreitet. Dagegen sind die Oster-
feuer in den meisten Gegenden Deutschlands bekannt, und wenn sie auch
in Niederdeutschland sicher am üblichsten waren, so treten sie doch in
Mittel- und Oberdeutschland häufiger auf, als man nach Grimm, Mythol.
I4 511 fg. annehmen müsste: vgl. besonders die Zusammenstellungen von
Mannhardt a. a. 0. 502 fg., Jahn a. a. 0. 151 fg.x). Soweit die Osterfeuer 1
1) Dr. Rackwitz hat durch Forschungen an Ort und Stelle, über die er auf der
Anthropologen-Versammlung in Münster berichtete, das Vorkommen der Osterfeuer nach
Süden hin genauer abzugrenzen gesucht (Korrespondenzbl. d. Gesellsch. f. Anthropologie 21
S. 160). Er zieht die Linie von Zerbst über Bernburg nach dem Südrande des Harzes,
von da zum Kiffhäuser, über das Eichsfeld bis zum Hilfensberg und von da nach dem
Meissner. Südlich von dieser Linie hören, nach seinen Untersuchungen, die Osterfeuer
plötzlich auf und es beginnen die Johannisfeuer. Westlich vom Meissner in Hessen wisse
man nichts von Osterfeuern, erst im Siegerlande brenne man sie wieder. Vgl. jedoch über
ihr Vorkommen in Hessen Lyncker, Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
355
nicht durch altkirchliche Bräuche beeinflusst sind, ist ein irgend wesent-
licher Unterschied zwischen ihnen und den Fastnachts- und Invocavitfeuern
nicht vorhanden. Wie in Oberbayern das Scheibenschlagen, so verbindet
sich teils ebenda, teils auch in niederdeutschen Gegenden das Rollen des
Feuerrades auch mit den Osterfeuern. Ebenso wird auch der Fackellauf
sowohl in Riederdeutschland (Mannhardt a. a. 0. S. 506 fg\), als auch in
Mittelfranken, im Wörnitzgelände (Bavaria 111, 2, 956), als Osterbrauch
geübt. Auch die zum Osterfeuer dienenden Reisigmassen werden stellen-
weise um einen Baum geschichtet (Mannhardt a. a. 0.), oder die flammenden
Strohmassen umgeben einen Pfahl (Bavaria III, 2, 934), eine Sitte, die
wir beim Invocavitfeuer teilweise als „Hexenbrennen“ auftreten sahen.
Dem wirklichen Yerbrennen der Hexe oder einer männlichen Strohfigur
bei jenen Feuern zu Beginn der Fastenzeit aber entspricht beim Oster-
feuer augenscheinlich das Yerbrennen des Judas oder des Ostermannes am
Charsamstage, welches fast im ganzen Mitteldeutschland sowie in Schwaben
und in den bayerisch - österreichischen Ländern entweder noch in seiner
eigentlichen Form als Yerbrennen der aus Stroh oder Holz gefertigten
Puppe, oder in Abarten und verblassten Reminiscenzen nachgewiesen ist:
vgl. Mannhardt S. 505 fg. und die Litteraturangaben bei Jahn S. 131 Anm.,
bei denen Bavaria I, 2, 1002 fg. hinzuzufügen und IY, 2, 333 in IY, 2, 393
zu bessern ist. Ygl. auch Schroller, Schlesien III, 246 fg. Alle die bei
den Fastnachts- und Invocavitfeuern nachgewiesenen besonderen Bräuche
treten also in dieser oder jener Weise auch bei den Osterfeuern auf.
Zwischen den beiden herrscht zweifellos eine grössere Übereinstimmung
als zwischen den Osterfeuern und den in der Walpurgisnacht üblichen
Gebräuchen. Es scheint mir daher nicht berechtigt, dass Jahn a. a. 0. die
Osterfeuer mit diesen zusammen auf ein altes Feueropfer in der ersten
Mainacht zurückführt, sie völlig von den im Anfang der Fasten statt-
findenden Feuerfesten trennt und diesen ihrerseits die Tage um Petri
Stuhlfeier als ursprünglichen Termin anweist. Ebenso wie auch sonst die-
selben Gebräuche in den einen Gegenden zur Fastnachtszeit, in den andern
in den Ostertagen geübt werden — ich erinnere nur an die Sitte der
Fastnachtsruten und des Sclimackosterns — ganz ebenso hat sich meines
Erachtens auch in den Fastnachts- und Osterfeuern ein altes Frühlings-
feuerfest zeitlich geteilt, und ich halte die von Weinhold, Deutsche Jahres-
teilung, S. 6, vertretene Ansicht immer noch für richtig, dass das ursprüng-
liche Fest nach Einführung des Christentums durch die Fasten auseinander
gerissen sei in Feiern um Fastnacht und um Ostern.
S. 240 fg. Rackwitzens Beobachtungen fehlt die Ergänzung aus den schriftlichen Zeug-
nissen. Die Abweichungen von seiner Regel, die sich in einzelnen von seiner Grenzlinie
weit entfernten Landschaften, sowohl bezüglich der Osterfeuer als der Johannisfeuer zeigen,
hat er ebensowenig berücksichtigt, wie die Fastnachtsfeuer. Hammerau, Die Bergfeuer in
Deutschland, Münchener Ällg. Zeitung 1891, Beil. SS und 89, bietet wenig Selbständiges.
356
Vogt:
Sein ursprünglicher Termin würde daher in einer Zeit zu suchen sein,
welche für gewöhnlich zwischen diese beiden Grenzen fällt; er würde der
Frühlingstagundnachtgleiche näher gelegen haben als Jahn annimmt. Von
den verschiebbaren christlichen Festtagen nähert sich dieser Zeit durch-
schnittlich am meisten der Sonntag Lätare, an welchem bekanntlich in
Mitteldeutschland nach weit verbreiteter Sitte der Sommeranfang gefeiert
wird. In Eisenach wurde an diesem Tage ehedem das Rollen des Feuer-
rades und das Strohmannbrennen in der Weise vereinigt, dass man die
Strohpuppe, welche man den Tod nannte, an ein Rad band, anzündete
und dies den Berg hinunter laufen liess (Witzscliel, Sagen, Sitten und
Gebräuche aus Thüringen, S. 192. 297 fgg.). Dies Eisenacher Lätarefest,
welches der Sommergewinn genannt wird, erklärt zwar Mannhardt a. a. 0.
S. 156 für eine „ursprünglich unzweifelhaft slavische Sitte“; aber ich meine,
mit deren Annahme muss man für das westliche Thüringen schon etwas
vorsichtig sein, und sehen wir von der Bezeichnung der Strohpuppe als
Tod zunächst ab, so bleibt in deren Verbrennung und in dem Radrollen
eine oben zur Genüge als deutscher Fastnachts- und Ostergebrauch be-
zeugte Handlung. Jahn, S. 89, will denn auch nicht diese selbst, sondern
nur ihre Übertragung auf den Sonntag Lätare slawischem Einfluss zu-
schreiben. Aber die Lätarefeier erstreckt sich, ausser über die mittel-
deutschen Kolonisationsgebiete und Westthüringen, auch mindestens über
das ganze südliche Franken, Heidelberg und den linksrheinischen Teil der
alten Kurpfalz eingeschlossen; hier noch den Anschluss an eine slavische
Sitte vorauszusetzen, scheint doch höchst gewagt. Und dazu kommt nun
— worauf schon Grimm, Myth. 735, aufmerksam gemacht hat und was
mir mein verehrter Kollege Nehring durch sehr dankenswerte Nachweise
lediglich bestätigt — dass die Lätarefeier nur in den von mitteldeutscher
Kolonisation berührten slavischen Ländern vorkommt, dass sie dagegen
sowohl den oberdeutschen und niederdeutschen Kolonisationsgebieten, als
auch den deutschem Einfluss ganz entzogenen Slaven fremd ist. So gehört
denn auch zu diesem Feste in der Kurpfalz rechts und links des Rheines der
rein deutsche Brauch des Kampfes zwischen Sommer und Winter (Bavaria
und Meier a. a. 0.), derselbe fand vordem auch in Württemberg zu Lätare
statt (Birlinger, Volkst. II, 92), und ohne nähere Ortsbezeichnung giebt
Sebastian Franck von Donauwörth in seinem Weltbuch in dem Kapitel
von Festen der römischen Christen an, dass zu Mittfasten am „Rosen-
sonntag“ (d. i. Lätare, vier Tage nach dem eigentlichen Mittfastentage) an
etzlichen orten die buben an langen ruten bretzlen rumb tragen in der statt
(was noch heutigen Tages bei dem Lätarefest in der Pfalz geschieht) und
zwen angetliane mann, eyner inn Syngrün oder Eppheu, der heyfst der Sommer,
der ander mit gemiefs angelegt, der heyfst der Winter; dise streitten mit eyn-
ander; da ligt der Sommer ob vnd erschlecht den Winter, darnach gehet man
darauf zum wein (S. CXXXIb der Ausg. v. 1534). Leoprechting, Aus
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
357
dem Lechrain, S. 167, bemerkt sogar, es werde der Sonntag Lätare oder
Rosensonntag „als Sommertag allenthalben noch heute geehrt. Der Umzug
des Sommers und Winters an diesem Tage war sonst in ganz Bayern, auch
am Lechrain üblich und kommt noch jetzt, doch nur mehr vereinzelt vor.“
Vgl. auch Bavaria I, 1, 369. Andererseits lassen sich auch bis nach
Westfalen hinein, wie sich sogleich zeigen wird, die Spuren alter Lätare-
gebräuche verfolgen.
Das Rollen des Feuerrades fand, wie in Eisenach, so auch in Franken,
am Sonntag Lätare statt. Die Nachricht, aus der dies hervorgeht, wird,
seit Grimm sie Myth. 595 (übrigens fälschlich unter den Fastnachtsbräuchen)
beigebracht hat, stets aus Francks Weltbuch (S. LIa der Ausg. v. 1534)
citiert. Sie ist aber, wie so vieles andere bei Franck, lediglich Plagiat
aus Johannes Boemus (darüber s. u.), und während Franck nur angiebt,
dass das betreifende zu mitterfasten geschehe, weist Boemus mit den Worten
in medio quadragesimae, quo quidem tempore ad laetitiam nos ecclesia ad-
hortatur bestimmter auf den Sonntag Lätare hin. Die Stelle lautet bei
Boemus zunächst weiter: juventus in patria mea (d. i. das Städtchen Aub
in Unterfranken, an der Grenze von Württemberg und von Mittelfranken)
ex Stramine imaginem contexit quae mortem ipsam (quemadmodum depingitur')
imitetur: inde kasta suspensam in vicinos pagos vociferans portat. Ab aliquibus
perhumane suscipitur et lade pisis siccatisque pyris quibus tum vulgo vesci
solemus refeda domum remittitur: a ceteris quia malae rei, utputa mortis,
prcenuncia sit, humanitatis nihil percipit, sed armis et ignominia etiam adfeda
a finibus repellitur. Das ist eine Art des bekannten Todaustragens, welches,
bei den Slaven und im östlichen Mitteldeutschland verbreitet, in Franken
meines Wissens westwärts bis in „Gegenden des unteren Maingrundes, wie
Faulbach, Stadtprozelten und Dorfprozelten“ (an der badischen Grenze) zu
verfolgen ist, wo „der tote Mann“ in den Main geworfen wird (Bavaria
IV, 1, 244). Woher der „Kalender von 1609“ stammt, aus welchem
Birlinger, Alemannia 1887 S. 119, eine Nachricht über das Todaustragen
mitteilt, ist leider nicht zu ersehen; aber ganz ähnliche Bräuche sind aus
rein deutschen Gegenden sicher und reichlich belegt. So wird z. B. in
Richterschwyl, am Züricher See, am letzten Fastnachtstage ein Strohmann
auf eine Bahre gelegt und von einem Zuge Vermummter auf eine Wiese
getragen, wo man ihn an einer hohen Stange befestigt und dann mit
Fackeln anziindet (Mannhardt a. a. 0. 499), und so wird auch anderswo
an demselben Tage bekanntlich eine Strohfigur ausgetragen und verbrannt,
ertränkt oder vergraben, an Orten, für die slavisclier Einfluss ausgeschlossen
ist. Fast dieselbe Ceremonie, welche in Richterschwyl die Fastnacht be-
schliesst, wird in Zürich am ersten Montage nach der Frühlingstag-
undnachtgleiche vollführt (Mannhardt S. 498), und nahe verwandt ist
wiederum die in der Rheinpfalz vor der unteren Hart in Battenberg,
Weisenheim a. Berg, Grünstadt u. s. w. am Lätaresonntage geübte Sitte,
358
Vo<?t:
dass die erwachsenen Knaben in Begleitung von Jang und Alt eine hohe,
mit Stroh umwundene Stange, die den Winter bedeutet, vor das Dorf
tragen und verbrennen (Bavaria IY, 2, 358). Ja auch das Abwerfen und
Verspotten eines auf hoher Stange aufgerichteten Bildes, welches ehedem
in Westfalen am Lätaretage stattfand (Kuhn, Westfäl. Sagen II, 132) und
ähnliche Gebräuche, die am Montag nach Lätare zu Halberstadt, am
folgenden Sonnabend in Hildesheim geübt wurden, hängen sicherlich mit
dieser Sitte zusammen (Grimm, Mytli. S. 653. 173). Das Austragen und
Verbrennen oder sonstige Vernichten irgend einer Figur bei dem Frühlings-
feste ist also jedenfalls ein Gebrauch, den die Deutschen nicht erst von
den Slaven erhalten, sondern selbständig neben dem Kampf des Sommers
mit dem Winter geübt haben. Auch dass sie die Puppe wie einen Toten
behandeln, lässt sich in Gegenden nachweisen, wo an slavischen Einfluss
nicht zu denken ist. Auf diesen mag höchstens die Benennung und Dar-
stellung der Figur als Tod zurückzuführen sein. Das Einsammeln von
Gaben verbindet sich mit ihrer Herumführung in Zürich ebenso wie in
Aub, und die besonderen Speisen, welche dabei den Einherziehenden ge-
schenkt werden, sind in Aub nach Boemus’ Nachricht dieselben, Avelche
auf der Rhön die vom Invocavitfeuer Heimkehrenden heischen, nämlich
Erbsen und Hutzeln; wie denn jenes Feuer auf der Rhön das Hutzelmann-
brennen und der Sonntag Invocavit der Hutzeltag genannt wird (Bavaria
IV, 1, 242 fg.). Ob auch das Rollen des Feuerrades, von welchem Boemus
berichtet, in einem bestimmten Zusammenhänge mit dem Todaustragen
stand, ob er es ebenso wie dies gerade in seiner engeren Heimat beob-
achtet Hat, oder ob er es im allgemeinen als einen fränkischen Brauch
bezeichnen will, geht aus seinen Worten nicht hervor; jedenfalls fanden
beide Handlungen am Lätaretage statt. Boemus setzt nämlich seine an-
geführte Mitteilung wie folgt fort. Eoclem tempore et talis mos observatur:
Intexitur Stramine vetus una lignea rota, atque a magno juvenum coetu in
editiorem montem gestata post varios lusus quos in illius vertice illi toto die,
nisi frigus impediat, celebrant, circiter vesperam incenditur, et ita flamm ans
in subjectam vollem ab alto rotatur, stupendum certe spectaculum praebet, ut
plerique qui prius non viderint Solem putent aut lunam coelo decidere.
Diese Lätarefeste scheinen im Verein mit den Beziehungen, die
zwischen den Osterfeuern und den Fastnachts- oder Invocavitfeuern walten,
auf eine alte deutsche Feier des Frühlingsanfanges im März, um die Zeit
der Tagundnachtgleiche, hinzuweisen. Jedenfalls bestand und besteht noch
jetzt ein solches Märzfest gerade auch in derjenigen Gegend, auf welche
sich die an die Spitze dieses Aufsatzes gestellte alte Nachricht vom Scheiben -
schlagen am 21. März bezieht. Dass diese Feier ursprünglich überall, ebenso
wie damals in Lorsch, genau auf unsern Kalendertag der Frühlingstagund-
nachtgleiche gefallen sei, braucht man nicht anzunehmen. Das Kloster
Lorsch hatte die Benediktinerregel erhalten und der 21. März ist der Tag
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Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen. ‘359
des heiligen Benedikt. Freilich war nicht Benedikt, sondern Nazarius der
Heilige des Klosters, freilich sagt auch die Chronik nichts davon, dass
jenes Fest zu Ehren des Benediktus veranstaltet sei, ja sie bezeichnet das
Datum, welches sie angiebt, nicht einmal als den Tag des Heiligen, und
den weltlichen Charakter des Festes hebt sie deutlich hervor. Trotzdem
weist schon die Feier in der Nähe des Klosters auf den Anschluss an ein
kirchliches Fest und die alte Märzfeier wird in Lorsch als ein Benediktus-
Yolksfest begangen sein. Sonst führt ziemlich auf dasselbe Datum nur das
in Zürich am Montag nach der Frühlingstagundnachtgleiche übliche Herum-
führen und Yerbrennen der Strohpuppe, welches oben erwähnt wurde.
Als einen Teil dieses alten deutschen Frühlingsfestes darf man das
Scheibenschlagen gewiss betrachten. In den Landschaften, die den eigent-
lichen Kern des Verbreitungsgebietes dieser Sitte darstellen, ist sie auf die
Frühlingsfeuer beschränkt; erst in weiterer Entfernung von ihnen schwankt
sie in die Johannisbräuche hinüber. So wird denn auch andererseits die
herkömmliche Ansicht, dass das Abwärtsrollen des brennenden Rades ur-
sprünglich der Johannisfeier eigene, festzuhalten sein, obwohl dieser Ge-
brauch kaum häufiger bei den Sonmvendfeuern als bei den Fastnachts-,
Lätare- und Osterfeuern nachzuweisen sein wird. Jedenfalls hat man ihn
schon früh mit dem Abwärtssteigen der Sonne vom höchsten Punkte ihrer
Bahn in symbolische Verbindung gebracht (Mythol. 588), wie ja auch
Boemus den Anblick mit einer vom Himmel stürzenden Sonne vergleicht.
Freilich hat Boemus das Radrollen bei der Frühlingsfeier, das Scheiben-
treiben am Johannistage beobachtet. Das ursprüngliche Verhältnis wäre
also in diesem Falle umgekehrt. Dagegen ist es z. B. in Schwaben noch
gewahrt, wo neben dem Scheibenschlagen auf Invocavit das Wälzen des
Feuerrades am Johannisfeste bezeugt ist. Nahe lag es, als Gegenstück zu
dieser Deutung des abwärts gerollten Johannisrades in dem Aufwärts-
schleudern der feurigen Scheibe beim Frühjahrsfeste ein Symbol für die
emporsteigende Sonnenbahn zu sehen, wie es Stöber, Alsatia 1851 S. 121
und Mannhardt, Wald- und Feldkulte I, 465 gethan haben1). Teilweise
sind freilich die Scheiben so klein, dass man ein Bild der Sonne in ihnen
nicht mehr wird finden können; in einer Gestalt jedoch, wie sie Felix
Dahn für die Nesselwanger Gegend beschreibt, nämlich „8 Zoll im Durch-
messer und am Rande mit Zacken gleich den Strahlen einer Sonne oder
1) Nach indischer Anschauung knüpfte sich an den höchsten Stand der Sonne bei
der Sommersonnenwende die Befürchtung der Götter, „dass die Sonne über den Himmel
hinaus fallen würde“ und entsprechend gab bei der Wintersonnenwende ihr niedrigster
Stand zu der Besorgnis Anlass, „dass sie aus dem Himmel herab fallen würde“; s. Hille-
brandt, Die Sonnwendfeste in Alt-Indien, Romanische Forschungen V (Festschrift für Konr.
Hofmann) S. 303. Nach einer solchen Vorstellung konnte die absteigende Richtung des
■Tohannisrades, die aufsteigende der Frühlingsfeuerscheibe ursprünglich den Zweck haben,
der Sonne gewissermassen die Richtung vorzuschreiben, die sie im einen und im anderen
Falle zu nehmen habe.
360
Vogt:
eines Sternes versehen,“ mögen sie wohl an die am Himmel anfsteigende
Sonne erinnern. Aber sicherlich ist der Brauch mehr als ein blosses Bild.
Den Charakter einer alten Kultushandlung scheint das Scheibenschlagen
noch durch verschiedene Umstände zu verraten. Ich weiss nicht, oh es ein
zufälliges Zusammentreffen ist, dass es nach den beiden ältesten Nachrichten
das eine Mal hei einem Kloster und an einem bedeutsamen Heiligentage,
das andere Mal A7or der Besidenz des Bischofs von dessen Hofleuten vor-
genommen ist. Jedenfalls erhält es und erhalten die Invocavit- und
Fastnachtsfeuer überhaupt nach den neueren Angaben nicht selten eine
Art religiöser Beimischung. Auf dem Heuberg sagt man vor der Handlung
drei Yaterunser und den Glauben her (Birlinger, Aus Schwaben 2, 62);
in Appenzell (Innerrhoden) werden die Kirchenglocken geläutet, während
das Feuer flammt (Staub-Tobler I, 870), und aus verschiedenen Gegenden
wird berichtet, dass die erste Scheibe zu Ehren der heiligen Dreieinigkeit
geschlagen wird. In Tettnang sagten die Alten, wenn der Mensch am
Funkensonntage keine „Funken“ mache, so mache der Herrgott welche
durch ein W etter (Meier, Sagen, Sitten und Gebräuche II, 382). Das Er-
füllen des Brauches wird da gewissermassen als eine fromme Pflicht auf-
gefasst. Dass diese nicht christlichen Ursprunges sein kann, ist klar; ich
brauche kaum erst darauf hinzuweisen, dass die Kirche keinen irgend
ähnlichen Brauch kennt. Dafür, dass er etwa aus römisch - heidnischer
Überlieferung stamme, fehlt gleichfalls der Anhalt. Er wird also doch
wohl national-heidnischer Herkunft, aber dem Christentum anbequemt sein.
Der Heuberg scheint eine heidnische Kultstätte gewesen zu sein; wenigstens
war er nach einer Nachricht vom Jahre 1799 (Alemannia 1884 S. 161)
beim Yollce „ebenso berüchtigt wie der Blocksberg auf dem Harze“. Es
mochte liier besonders nötig erscheinen, der Handlung eine christliche
Einleitung zu geben. Wirklich haftet ihr denn auch wohl gelegentlich
etwas Heidnisch-teuflisches an. So sah nach einer merkwürdigen Sage,
die Zingerle, Sitten, Bräuche und Meinungen 2 S. 141 mitteilt, bei Landeck
im Oberinnthal einmal ein Bube nachts einen einäugigen gewaltigen
Mann mit riesigen Hörnern die Scheiben schlagen, so dass sie eine
Stunde weit hinausflogen. Nach dem unten mitgeteilten Schopfheimer
Spruche und hei Panzer II, S. 239 wird auch dem Teufel eine Scheibe
gewidmet. Eine solche hat nach Panzer einen unabsehbaren Bogen gemacht.
Dagegen scheinen nach dem sogleich anzugebenden Bericht aus Arzl durch
das Scheibenschlagen Teufel vertrieben zu werden. Auf dem ehemals
Brünhilde- oder Brinholdestuhl genannten Felsen bei Dürckheim, den wir
oben als Fastnachtsfeuerstätte kennen lernten, sind in der Bömerzeit
mancherlei Zeichen, darunter am häufigsten Sonnenräder, sowie fünf
Inschriften eingehauen, von denen eine dem Mercurius Cisustius Deus
geweiht ist: Berliner philologische Wochenschrift 1889 Sp. 395 fg., 427 fg.,
459 fg. Der mit dem Brünhildenmythus in Yerbindung gebrachte Fels,
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
361
der zum Frühlingsfeuer dient, war also von ältester Zeit her ein heiliger
Ort1). Eine alte Kultstätte war auch der oben S. 353 erwähnte Ort bei
Raon l’Etape, an dein die Invocavitfeuer mit dem Katzenopfer stattfanden.
Noch ein Berner Mandat vom Jahre 1628 verdammt die Fastnachtfeuer als
heidnisch (Staub-Tobler I, 947).
Das Scheibenschlageu selbst bietet gewisse Berührungspunkte mit einer
deutsch-heidnischen Sitte, deren Hrabanus Maurus Opp. (Coloniae 1626)
Y, 605 gedenkt. Bei einer Mondfinsternis hört er das Volk ein zum Himmel
dringendes Geschrei erheben und erfährt, dass das geschehe, um dem Mond
zu helfen. Andere berichten ihm, dass man bei ihnen zu Hause zu dem-
selben Zwecke Pfeile und andere Geschosse auf den Mond zu schleudere,
wieder andere, dass bei ihnen Brände zum Himmel geworfen würden;
damit sollten gewisse Ungeheuer verscheucht werden, die den Mond zu
verschlingen drohten. Hraban tadelt die Gläubigen scharf wegen dieser
Handlungen, die nur eine Folge ihres so oft verbotenen Verkehrs mit den
Heiden seien. Für sie als Christen sei es lächerlich, zu meinen, dass sie
bei einem solchen Ereignis Gott Hilfe bringen müssten; als ob dieser die
Gestirne, die er geschaffen hat, nicht selbst verteidigen könnte. — Sollte
nicht der wde eine fromme Pflicht geübte Brauch, bei einem bestimmten
Stadium des Sonnenlaufes feurige Scheiben (bei Mittenwald in Oberbayern
feurige Pfeile) in die Luft zu schleudern, teilweise einen ähnlichen Grund
haben? Bei der Frühlingstagundnachtgleiche, bei der erst der volle Sieg
der Sonne über die Finsternis zur Entscheidung kam, wird es gegolten
haben, ihr zu helfen, feindliche Gewalten, welche die Macht des segens-
reichen Gestirnes hemmen wollen, zu verscheuchen, indem man jene
brennenden Geschosse gen Himmel warf, die zugleich ein Bild der sieg-
reich Aufsteigenden selbst darstellten. Die Widersacher der Sonne und
ihrer heilsamen Wirkungen aber sind die von dämonischen Wesen herauf-
geführten Unwetter, denen vorzubeugen ja denn auch nach der Rede der
Alten zu Tettnang die ausdrückliche Bestimmung des mit dem Scheiben-
treiben verbundenen Funkenfeuers ist. So ist denn auch mehrfach, z. B.
in Tirol, die Sitte verbreitet, bei einem Umvetter gegen die Wolken zu
schiessen oder ein Messer emporzuschleudern, weil dann die Hexe, die das
Wetter bringt, getroffen wird und herniederfallen muss (Zingerle 2 S. 61
Nr. 530—532; vgl. 544 fg.). Entsprechend findet sich auch die Vorstellung,
dass das Scheibentreiben die Dämonen zwinge, sich zu zeigen und zu ent-
fliehen: „als am ersten Fastensonntag in Arzl, in Oberinnthal, Scheiben
1) Das verdient gewiss Beachtung für die mythische Deutung der Brünhildensage
überhaupt und für ihre Beziehung auf einen Frühlingsmythus insbesondere. Aus der
Waberlohe wird die Walküre durch den Geliebten geholt; durch das Frühlingsfeuer musste
nach einem hei Mannhardt a. a. 0. 463 bezeugten Gebrauche die jüngste Ehefrau springen;
vgl. auch das Springen von Liebespaaren durch das Johannisfeuer ebenda 464 fg. und die
symbolische Auslegung dieser Gebräuche 492 fg.
362
Yogt:
geschlagen wurden, sah man sieben Teufel, die tanzend und schreiend in
den Wald sprangen“ (a. a, 0. S. 141 Nr. 1226). Jenem Brennen und Sengen
des Hagels, von dem bei den Fastnachts- und Invocavitfeuern die Rede
ist, wird daher ganz besonders das Scheibentreiben gedient haben, und
das „Hagelrad“ ist ursprünglich gewiss nicht das bergabrollende brennende
Rad, sondern die zu den Wolken emporsteigende Feuerscheibe gewesen.
Wie das Johannisrad nicht allein die absteigende Sonne symbolisiert,
sondern zugleich, wenn es in den Fluss hinabrollt, Fruchtbarkeit bringt,
so verbindet also auch die Frühlingsfeuerscheibe das Symbol des Sonnen-
stadiums mit der Beförderung der "Vegetation durch ihr der Sonne hilf-
reiches, den Wetterdämonen schädliches Emporschnellen.
Überall wird das Scheibenschlagen nach den Berichten aus neuerer
Zeit mit bestimmten Sprüchen begleitet1). Im Eisass ist dies nach Stöber
(Alsatia 1851 S. 120) ein Segensspruch für die Eltern, Geschwister, Ver-
wandten oder Freunde. Zu Wasslenheim im Eisass lautet derselbe
(Schneegans a. a. 0. S. 196):
(1) Schiwälä, Schiwälä, rundi Bein (?)
I schlau di im (dem) . . . heim.
(Hier der Name der Person, zu deren Ehre man das Scheiblein schlägt
oder schnellt, z. B. dem Herrn Pfarrer, oder dem Herrn Doktor.)
Zu Schopf heim im Wiesenthal, Kreis Lörrach, ruft man nach münd-
licher Mitteilung des Stud. phil. Rösch, der dort noch im vorigen Jahre
dem Scheibentreiben beiwohnte:
(2) Scliibi, Schibö, die Schibo soll gö,
die Schibe soll fdro.
Färt si links, färt sT rechts
färt si im Diufl ün sinr Grössmuedr ebe r§cht
oder auch: fort si im Vreneli ün sim Schatz, oder im Herr Pfarrer un siner
Frau u. s. w. ebd recht. Vgl. auch Meier, Deutsche Sitten, Sagen und Ge-
bräuche aus Schwaben, S. 382, wo noch folgt färt si nit so gilt si nit
u. s. w.
Am Feldberg, in Altglashütten z. B., heisst es:
(3) Schib, Schib, Schib,
schib wol über de Rhi1 2 3).
1) Die von ihm selbst und die von Meier (Schwab. Sagen II) gesammelten Sprüche
hat schon Panzer II, 589 fg. zusammengestellt; er hat dabei auch schon einige mittel-
hochdeutsche Verse, aber nicht die wichtigsten, herangezogen.
2) In diesem zweiten Verse ist schib als Imperativ von scluben, in drehender Be-
wegung dahinfahren, aufzufassen; es ist in dieser Bedeutung auch noch in der Variante
des 2. Verses des 9. Spruches (eig. scheib über Rhein) zu erkennen und im 2. des 6. in
Scheible entstellt. Rhi in diesem alemannischen Spruche kann nur auf den Fluss bezogen
werden und lässt sich durch die Annahme erklären, dass die Verse vom Oberrhein
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
363
Weam soll denn di Schib si?
Die Schib got krumm
die Schib got grad,
got reacht got sehleacht,
sie got dem N. N. eaben reacht.
Got sie net so gilt sie net.
Birlinger, Aus Schwaben II, 31 fg.
Zu Friedingen an der Donau:
(4) Scheibo, Scheibo,
wem soll die Scheibe sein?
Die Scheibe fliegt wohl über den Rhein,
die Scheibe soll meinem Schätzle sein.
In Altshausen:
(5) Scheib auf, Scheib ab,
Die Scheib geht krumm und grad;
die Scheib geht links, geht rechts,
geht aus und ein,
sie geht dem und dem zum Fenster hinein.
Am Bodensee:
(6) Schcible aus, Scheible ein,
Scheible über den Rhein!
Wem soll dies Scheible sein?
Es soll dem und dem sein.
Meier, Sagen etc. aus Schwaben S. 381 fg.
In Wurzach:
(7) Scheib aus, Scheib ein
das soll der N. N. zum Lädle ’nein
In Ertingen:
(8) Scheible auf, Scheible ab,
gät krumm, gät grad,
gät reacht, gät schleacht,
gät über alle Acker und Wiese na,
der N. N. ein tausend guete Nacht.
Birlinger, Volkstümliches aus Schwaben II, 59 fg. 67. 106. 108 fg.
In Tettnang, im Kloster Weingarten, und sonst hiess es bei der ersten
Scheibe: „Die Scheibe soll der höchsten Dreifaltigkeit sein“. Die zweite
Scheibe verehrte man der Landesregierung; dann wohl eine dem Pfarrer,
stammen. In den schwäbischen Versionen könnte man an sich mit Panzer das ent-
sprechende Wort vielleicht als Rain fassen; vgl. auch Birlinger, Volkstümliches II, 108,
über den Scheibenrain. Jedenfalls wird aber den verschiedenen Sprüchen ursprünglich
dasselbe Wort zuerunde Herren.
364
Yogt:
dem Schultheiss, dem Schatz und anderen guten Freunden. Meier a. a. 0.
S. 381 fg.
Im bayerischen Schwaben lautet der Spruch ebenfalls:
(9) Scheib aus, Scheib ein
flieg über den Rein (oder scheib überein);
die Scheib die soll meinem Schätzle (Fastnachtsmädle, der N. N.) sein.
An der Kamlach mit dem Zusatz ftuigt se net so gilt se net (Panzer II
S. 40 fg. Bavaria II, 2, S. 838).
In der Gemeinde Matt, im Kanton Glarus, ruft man:
(10) Schibe, Schibe überribe,
di soll mi und N. N. blibe.
Yernaleken, Alpensagen, S. 367.
Im äusseren Allgäu und in Oberbayern aber ist der typische Spruch:
(11) 0 du mei liebe Scheiben,
wo will ich dich hintreiben?
in die (Nesselwanger, Mittenwalder) G’mein.
Ich weiss schon wen ich mein, —
mein herzlieben Schatz (die N. N.) ganz allein.
Bavaria a. a. 0., Panzer I S. 211 fg., II S. 539.
(12) Diese Scheiben will ich treiben
meiner Herzallerliebsten zu Ehren;
wer will’s wehren?
Bavaria I, 1. 374, vgl. Schmeller, Bayr.Wb.2 II, 356.
(13) Scheiben will i treiben
i waos schö wem i mao
(Sepoles) kaoter omuottos lao. (?)
gets ior guot
so hat si s guot;
gets ior net guot,
wird sie s net für übol häbm.
Eltern, Bruder und Schwester, „irgendein geliebtes Haupt“ werden für
Oberbayern (Panzer I S. 211) und ebenso auch für den Yintschgau und
das Oberinnthal als diejenigen genannt, denen man Scheiben widmet
(Deutsche Mundarten II, 233). Davon wird Bavaria I, 1. 374 die Redens-
art „jemand eine Scheibe einsetzen“, d. h. Ehre und Gefallen thun, ab-
geleitet. Der begleitende Spruch heisst im Yintschgau:
(14) Holepfann! Holepfann!
Korn in der Wann,
Schmalz in der Pfann,
Pflueg in der Eard!
Schau, wie die Scheib aufsireart.
Zeitschr. f. d. Mythol. I, 286 fg., Zingerle 2 S. 140 Nr. 1225.
Oder
Oder
Beiträge zur deutschen Yolkskunde aus älteren Quellen. 365
Für das Lesaclithal in Kärnten bezeugt Lexer, Zeitschr. f. d. Myth.
II, 31, die Anschauung, wessen Scheibe beim Sclieibenschlagen recht weit
im schönen Bogen fliege, dem werde es durch das ganze Jahr gut gehen.
Bei der ersten Scheibe wird dort nach Lexer gerufen: Ho! dö Scheibe, dö
Scheibe schlag i zin an guotn Unefänk und an guotn Ausgänk. Dann folgen
gereimte Sprüche „oft der beissendsten Art“. Der Anfang derselben lautet
aber immer: Ho! dö Scheibe schlag i‘.
Die satirischen Sprüche deuten darauf, dass auch im Lesachthale
ein Brauch geübt wird, der für das bayerische Schwaben mehrfach bezeugt
ist, nämlich das Schlagen von Schimpfscheiben. Einer übelberüchtigten
Person zur Schande, einer törichten zur Verspottung kann die Scheibe
getrieben werden, wobei entweder schon die blosse Einsetzung des ver-
rufenen Namens genügt, um die sonst nur zu jemandes Ehre getriebene
Scheibe zu einer Schimpfscheibe zu machen, oder es wird auch die Be-
ziehung auf irgend einen dummen oder schlechten Streich in den Spruch
hineingebracht. So z. B.
(15) Scheib aus, Scheib ein,
flieg über den Rain;
und die soll jener, die den Ganser am Strick zur Tränk geführt
hat, sein.
Panzer II, 240 fg. aus Waldstetten und Leinheim.
Geradezu als eine Art bäuerlichen Rügegerichtes wird diese Sitte nach
Dahn im äusseren Allgäu geübt. „Es wird beim Wurf des fliegenden
Rades der Name eines solchen genannt, an dem ein geheimer Makel, eine
halbbekannte Schandthat haftet, die aber voii Polizei und Gericht nicht
entdeckt oder doch nicht gestraft ist. Das Sprüchlein dazu lautet: (16) Ei,
da hob ich eine Scheiben Die will ich hinaus treiben, und weiter dann z. B.
der Hans hat dem Seppi die Gais gestohlen, wozu dann der versammelte
Haufe dreimal ruft Hole sie, d. li. der Angeklagte soll die ihm zu Schimpf
geworfene Scheibe holen“ (Bavaria II, 2, 838 fg., vgl. Panzer I, S. 210).
Wie hier die Vergehen, so werden im nördlichen Teile der Vogesen beim
Scheibenschlagen harmlosere Dinge aufgedeckt. Mit einer Bocklarve und
einem Fell maskiert, verkündet dort ein Hirte die sämtlichen heimlichen
Liebschaften und künftigen Ehebündnisse der Gemeinde, indem er mit
lauter Stimme die Namen der betreffenden Paare brüllt, während die
Scheiben geschleudert werden (Mannhardt a. a. 0. S. 456 nach Erckmann-
Chatrian).
Sucht man nach einer. gemeinsamen Grundlage und Erklärung für
diese begleitenden Gebräuche, so wird man sie wohl in einer Art Opfer-
orakel finden können. Dass aus dem Opferfeuer, insbesondere auch aus
dem Fastnachtsfeuer geweissagt wurde, ist eine bekannte Tliatsache. Plaupt-
sächlich wurde es auf die Fruchtbarkeit des Jahres gedeutet, die in dem
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 25
366
Vogt:
Vintschgauer Spruche auch mit der brennenden Scheibe in Verbindung ge-
bracht wird. Auf weitere Prophezeiungen deutet die Angabe des Loricliius
Yom Jahre 1593, die ich Birlinger 2, 54 entnehme: „an etlichen Orten hat
man Fassnachtsfeuer, durch welches hellbrennen und scheinen maucherley
fäl von alten Weibern vermutet werden.“ Aus der Art, wie die Scheibe
brannte und wie sie flog, zog man Schlüsse über Dinge, wegen deren man
das Schicksal befragte; so wird sie auch Aufschluss über die dabei ge-
nannten Vergehen und Geheimnisse gegeben haben. Insbesondere konnte
sie aber auch als ein Bild des Lebensschicksals aufgefasst werden. Wie
noch heute das Brennen, Flackern, Verlöschen und Bauchen der Altar-
kerzen auf das Leben der an der jeweiligen heiligen Handlung Beteiligten
gedeutet wird, wie man in der Flamme des Geburtstagslichtes oder am
Silvesterabend in den schwimmenden Kerzchen das Lebensschicksal ge-
liebter Personen vorgebildet sieht, so konnte auch die fliegende Feuer-
scheibe als ein Lebensorakel dienen. So zeigt denn, wie wir sahen, der
schöne und weite Bogen, den sie beschreibt, das Glück der Person an,
der sie gewidmet ist. „Geht sie (die Scheibe) ihr (der Geliebten u. s. w.)
gut, so wird sie es gut haben; geht sie ihr nicht, gut, so wird sie das dem
Scheibenschläger hoffentlich nicht übel nehmen“: diesen Sinn wird der
13. Spruch eigentlich haben. Ob die Scheibe krumm oder grad, ob sie
rechts oder links, ob sie recht oder schlecht geht, das hat gewiss ursprüng-
lich seine bestimmte Bedeutung; und wenn sie „nicht fliegt“, so soll sie
„nicht gelten“, um kein böses Vorzeichen für die betreffende Persönlich-
keit zu sein. Denn leicht und unmerklich vollzieht sich der Übergang
von der Vorstellung, dass der Ausfall der Handlung Glück oder Unglück
vorausdeute, zu der, dass er Glück oder Unglück bringe. So setzen
denn verschiedene der angeführten Sprüche eine Auffassung voraus, als
ob die Scheibe glücktragend dem zufliege, zu dessen Ehre sie geschleudert
ist; man verdient sich seinen Dank, und der Lohn wird in verschiedenen
Gegenden nach Beendigung der Feier in Gestalt eines bestimmten Gebäckes
von den Betreffenden eingefordert. Aus dem Opfer für die Sonne und
ein fruchtbares Jahr wäre auf diese Weise durch das Orakel hindurch ein
Opfer für geliebte Personen geworden; doch wird dabei auch das unten
zu berührende Bild vom Glücksrade mit eingewirkt haben. Dass sym-
bolische Gebräuche, welche sich auf die Fruchtbarkeit des Feldes beziehen,
auch zugleich eine Anwendung auf das sexuelle Leben erhalten können
und umgekehrt, hat besonders Mannhardt zweifellos nachgewiesen. Aber
das Scheibentreiben wird gewiss nicht auf diesem Wege aus dem Gebiete
des Naturlebens in das des Menschenlebens hineingetragen sein. Denn es
ist ja keineswegs nur ein Liebesbrauch. Überall werden so gut wie für
die Geliebte auch für andere Persönlichkeiten die Scheiben geschlagen,
insbesondere auch zu Ehren der angesehensten Personen aus der Gemeinde.
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
367
Auch in dieser Beziehung ist die Sitte alter, als es bisher nachgewiesen
war. Gottfried von Strassburg sagt im Tristan V. 7165 von dem König
Gurmün Gemuotheit, der in Herzog Morolt die beste Stütze seines Reiches
und dessen tapfersten Vorkämpfer verloren hat:
diu schibe, diu sin ere truoc,
die Morolt friliche sluoc
in den bilanclen allen,
diu was dö nider gevallen.
Man hat das bisher auf das Glücksrad bezogen. Aber hier ist weder vom
Glück, noch von einem Rade die Rede. Oft genug ist es in Wort und
Bild dargestellt, dass ein Mensch mit dem um seine Achse sich drehenden
Glücksrade aufsteigt und niederstürzt, niemals aber ist davon die Rede
und kann davon die Rede sein, dass das Glücksrad selbst niederfällt (vgl.
die Nachweise bei Weinhold, Glücksrad und Lebensrad. Berlin -— aus den
Abhandlungen der Akademie — 1892 und Wackernagel, Zeitschr. f. d.
Altert. 6, 134 fg. Kl. Schriften I, 245 fg.). Wenn also Gottfried von einer
Scheibe spricht, die jemand einem andern zur Ehre geschlagen hat und
die nun herabgestürzt ist, so hat er zweifellos nicht das Glücksrad, sondern
das Scheibentreiben im Sinne, das er in jedem Frühjahr im Eisass beob-
achten konnte. So kommt erst die ganze poetische Schönheit des Bildes
zur Geltung: der Held, der in allen Grenzlanden siegreich für seines
Königs Ehre kämpft, erscheint als einer, der für den König die Feuer-
scheibe frei vom Berg in die Lüfte emporschlägt, dass sie, seine Ehre
kündigend, über die Lande dahinfährt; da plötzlich wird ihr stolzer Flug
unterbrochen und jählings siirzt sie nieder.
So dürfen wir denn auch andere Stellen bei mhd. Dichtern, die sich
auf ein schicksaldeutendes Gehen, „Scheiben“ und Treiben der Scheibe
beziehen, mit. unserer Sitte in Zusammenhang bringen, wenn dieser auch
nirgend so augenfällig wTie an der einen Stelle hervortritt. Swie küme so
min schibe ge, sagt Tristan V. 14474, als er, selbst unglücklich, der Brangaene
gerne Liebes eiwveisen möchte. Min schibe gät ze wünsche, singt Neidha.rt
13, 39 von seinem eigenen Schicksal, ebenso 63, 21 swie so mir min schibe
ze wünsche niht enloufe\ 68, 19 dem sin schibe als ebene gie diust im vollen
trcege, wol nach minem willen laz; seine Worte 91, 13 dem get sin schibe
enzelt siebtes unde krumbes, erinnern an die des 3. und 8. Spruches die Schib
got krumm, die Schib got gracl, got reacht, got schleacht; vgl. auch Martina
219, 54 dir gdt din schibe nu entwer, die du vil ungefuoge da her gar ebin
sluoge. ich solte in minen tagen och mine scliiben hän geslagen. Eine ähn-
liche Vorstellung, wie die im 5. und 7. Spruche, dass die Scheibe dem
betreffenden (der Geliebten) zum Fenster hineingehe, liegt den Versen
2677 fg. der „Erlösung“ zugrunde, die here geluckes schibe Marien dur ir
oren scheip, während Stellen wie wol gie ir schibe, Lohengrin 146, ir schibe
25*
368 Vogt:
gie für sich (ebenda 189) wieder nur an den Brauch im allgemeinen er-
innern.
Auch hei der Redensart trip fline schlben so si gdt (Heinzelin, Der
Minne lere 2012) könnte man noch an unser Scheibentreiben denken, da
es bei diesem darauf ankommt, die zuvor in Schwingung versetzte Scheibe
im rechten Augenblicke vom Stock abspringen zu lassen. Aber die Varia-
tionen so solder die schiben allez für sich triben, die wil si gieng so eben
Ottaker 52 487 und die wil daz dinc also stet, daz diu schtbe eben get, so sol
man si niht sten lan, ebenda 79 690 nötigen zu einer anderen Auffassung.
Sie sind gewiss auf das Glücksrad zu beziehen und aus einer Vorstellung
zu erklären, welche dem Bilde vom Steigen und Stürzen der auf ihm
Sitzenden eigentlich widerspricht und doch mit diesem zugleich bezeugt
ist, dass nämlich derjenige glücklich ist, dem sich das Rad unablässig
dreht. So ist Wigalois V. 1036 fg. von einem aus Gold gegossenen Glücks-
rade die Rede, welches in steter Drehung menschliche Figuren aufwärts
und abwärts bewegt, und doch bezeichent daz dem wirte nie an deheinem
dinge missegie; vgl. dazu Lohengrin 119 also daz uns gelückes rat ob got wil
loufet sumer und die winder; Konrad v. Würzburg Engelhart 4400 mir get
der Scelden schtbe; Br. Wernher (MSH. 2, 229a) so vürhte ich daz gelückes
rat noch vor dem riche stille ste. Dass manchmal auch an das Dahinrollen
der Glückskugel zu denken sei, wenn von Bewegungen der schtbe in bild-
lichem Sinne gesprochen wird, ist an sich wohl möglich, da schtbe auch
Kugel bedeuten kann. Aber notwendig ist diese Auffassung an keiner von
allen den Stellen, welche Wackernagel a. a. O. 146 fg. in diesem Sinne
deutet. Auch wenn man mit ihm annimmt, dass das Bild von der Bewegung
der Glücksscheibe durch ein unserm „Boccia“ ähnliches Spiel, wie es Hugo
von Trimberg schildert, gelegentlich beeinflusst sei, so braucht man doch
auch in diesem Falle nicht an Kugeln zu denken, da wie diese, so auch
Scheiben im eigentlichen Sinne zum Spiele geschleudert werden. Das
Diskuswerfen, welches dem Hyacinthus das Leben kostete, nennt Albrecht
von Halberstadt schiben triben (Bl. 102a-b, s. Bartschs Ausgabe S. 477a); in
dem Gedichte vom heiligen Christophorus wirft der Held im Wettspiele
„den stain oder die scheiben“ (Zeitschr. f. d. Altert. 17 S. 91, V. 194 fg.) und
in den photolithographischen Nachbildungen der „Miniaturen der Manesse-
schen Liederhandschrift von Kraus (Strassburg 1887)“ kann man auf S. 114
zwei junge Männer sehen, die augenscheinlich mit Scheiben nach einem
Ziele werfen wollen. Das Bild der weithin durch die Lüfte sausenden
Frühlings-Feuerscheibe aber scheint auf die Vorstellung vom Glücksrade
eingewirkt zu haben in jener Sage, nach welcher die zwölf Johansen auf
einer Glücksscheibe in kürzester Zeit durch alle Laude dahin fahren und
erkunden, was in der Welt geschieht, wobei denn einer auf den Petersberg
bei Halle herabfällt (Grimm, Sagen Nr. 338, Wackernagel a. a. 0. S. 138).
Ja ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass sich die Umgestaltung der
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen. 369
Vorstellung von dem Rade und der Kugel als Attribut der Fortuna zu
derjenigen, dass jeder Mensch seine eigene scMbe habe (Weinhold S. 9),
unter Einwirkung der alten Sitte des Scheibentreibens vollzogen habe.
Und umgekehrt wird das Bild, dass die Feuerscheibe demjenigen, welchem
sie gewidmet ist, als Glücksbringerin zufliege, durch das Glücksrad als
Symbol nicht allein des Glückswechsels, sondern auch des Glückes selbst
beeinflusst sein. So hat wohl eine Wechselwirkung zwischen den Vor-
stellungen stattgefunden, die sich einerseits an das Glücksrad, andererseits
an die Frühlingsfeuerscheibe anlehnten.
II. Sebastian Franck und Johannes Bohemus.
Sebastian Francks Weltbuch ist, wie oben schon angedeutet wurde,
zum guten Teil ein Plagiat aus Joannes Boemus Aubanus omnium gentium
mores, leges et ritus. Das gilt insbesondere auch von dem interessanten
und bei mythologischen Untersuchungen viel benutzten Kapitel über das
fränkische Festjahr (S. L der Ausgabe vom Jahre 1534). Wie sich Franck
hier zu Boemus verhält, dafür ist schon der Satz sehr charakteristisch, mit
dem beide diesen Abschnitt einleiten. Boemus sagt: Multos mirandos ritus
observat (Franconia) quos ideo referre volo, ne quae de externis scribuntur
inanes fabulae aestimentur. Franck: Sye (die Francken) haben vil seltzamer
breüch die ich darumb erzölen will, das man difs, so von aujslendern gesagt
ivird, dester ee geglaubt werd (so!), vnd das wir nitt verwennen die Juden,
Türcken, Heyden etc. seyen allein narren, weil wir so torecht breüch vor der
thür in vnfern landen haben, vnd dannocht Christen wollen sein. Franck
schliesst sich also seinem ungenannten Gewährsmann so genau an, dass er
auch dessen persönliche Bemerkungen mit übernimmt; aber sein selb-
ständiger Zusatz zeigt, dass er diese Volksbräuche vom Standpunkte eines
beschränkten Rationalismus oder Purismus aus verachtet und verdammt
und zwar am meisten da, wo sie auch in das kirchliche Volksleben ein-
gedrungen sind. Daraus erklären sich dann auch einzelne Änderungen,
die er an Boemus’ Text vornimmt. Andere sind auf Flüchtigkeit und
mangelndes Verständnis zurückzuführen. So giebt er die oben S. 349 fg.
mitgeteilte Nachricht des Boemus über das Scheibentreiben in Würzburg
folgenclermassen wieder: Das Bischöflich hoffgesind wirft auf disen tag bey
yren freudenfeür auf dem berg hinder dem schlofs feurine kugeln in den flufs
Moganum Jö meyfterlich zugericht, als ob es fliegend Trachen weren. Die voraus-
gehende Beschreibung der sonstigen Johannisfeuer hat er auch aus Boemus
übersetzt, aber er übergeht'dessen Angabe, dass diese Feuer fast in allen
deutschen Flecken und Städten öffentlich abgehalten werden, dass sich Mann
und Weib, Alt und Jung mit Gesang und Tanz daran beteiligen, dass die
Kränze, die sie dabei tragen, aus Artemisia und Verbena bestehen. Un-
vollständiger und unklarer ist auch seine Angabe über das Pflugziehen
370
Vogt:
der Jungfrauen als die seiner Quelle. An dem Rhein, Franckenland vnd
etlichen andern samlen die jungen gesellen all dantz junckfrauwen, vnd setzen
fy in ein pfleg vncl ziehen yhren fpilman der auff dem pfleg sitzt, vnd pfeifft,
in das wciffer, Franck. In die cinerum mirum est quod in plerisque locis
agitur. Virgines quotquot per annum choream frequentaverunt a juvenibus
congregantur, et aratro pro equis advectae, cum tibicine, qui super illud modu-
lans sedet, in fluvium aut lacum trahuntur, Boemus. Was Franck im An-
schluss daran über das an andern Orten übliche Ziehen des brennenden
Pfluges und über das Prellen des Strohmannes berichtet, ist selbständiger
Zusatz. So wird er auch aus eigener Anschauung die Nachricht des Boemus
yom Tanz um das Christusbild am Weihnachtstage dahin ergänzt haben,
dass dasselbe in eine Wiege gelegt und gewiegt wurde. Bei Boemus lautet
die Stelle: Quo Christi Jesu natalem gaudio in templis non clerus solum sed
omnis populus excipiat, ex hoc attendi potest, quod puerili statuncula in altare
collocata, quae nuper editum repraesentet, juvenes cum puellis per cir-
cuitum tripudiantes choreas agant, seniores cantent more haud
multum ab eo quidem diverso, quo Corybantes olim in Ideae montis antro circa
lovem vagientem exultasse fabulantur. Unwillkürlich muss man bei dieser
Beschreibung an das alte Yerbot der Synode von Auxerre im Jahre 585
denken non licet in ecclesia choros saecularium et puellarum cantica exercere,
eine Bestimmung, deren Beziehung auf einen Yolksgebrauch man neuer-
dings ohne genügenden Grund angefochten hat.
Einzelne Ergänzungen zu Boemus’ Angaben finden sich auch sonst
noch bei Franck neben den Kürzungen, die er an anderen Stellen mit
seiner Yorlage vornimmt. Man muss also bei den Angaben über das
fränkische Festjahr Boemus und Franck nebeneinander benutzen, jenem
aber die Geltung und die Ehre des ersten Gewährsmannes lassen.
In dem Kapitel über die Sachsen, welches Franck ebenfalls wesentlich
aus dem Boemus übernommen hat, findet sich, vollständig wiederum allein
bei diesem, folgende merkwürdige Angabe, die, soviel ich weiss, bisher
nicht beachtet ist. (Templum) quod Halberstadio est beatae virgini sacrum,
prophanis non patet, tantum initiati subeunt. Inducitur tamen unus aliquis e
populo cinericio die hominum opinione nequissimus. Hunc velato capite pulla
veste sacris admovent quibus rite peractis templo ejicitur: ejectus toto jejuniorum
tempore nudis calcibus urbem pererrat, divorum templa visitabundus. Sacer-
dotes illi victum suggerunt, mox in dominica coena iterum inductus, post olei
consecrationem ab universo clero expiatus dimittitur elemosyna prius accepta,
quam pie offert templo. Hunc Adam vulgo vocant, quia ut protoplastus ille
omni vacet crimine, per eumque civitas creditur expiata. Franck schreibt:
Ein gewonheit ist in dieser ftatt dafs fy all jar den gröj'ten Junder j'o fy wijfen
in yrer acht in ein klüglich kleyd an mutzen, vnd am erften tag in der faßen
in die kirchen füren, darnach als ein bannigen wider aufsj'tofjen, der mufs
die gantze faßen in der ftatt vnd aufj'ertlialb teglich vmb die kirchen geen,
Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
371
bi/’s auff den grünen Dornftag, fo füren J'y yn wider in die kirch, vnd nach
befchehenc bett abfolvieren fy yn, der ift nachmals aller fünden reyn | vndwirt
Adam geheyffen, dem J'y vil gelts geben, das er doch der kirchen mufs lafj'en,
vnd wider opfern, fo ift er der fünden frey, wie ein hund der flöh. Was für
uns das interessanteste an der Sitte ist, fehlt in Francks Wiedergabe: die
dunkle Farbe des Kleides, das Verhüllen des Hauptes, was sonst bei den
dem Tode Geweihten geschah, die Entsühnung der ganzen Stadt durch den
einen Bösewicht. Diese Züge deuten sicherlich die symbolische Opferung
eines Menschen, eines Verbrechers zur Sühne für die Stadtgemeinde an.
Und damit berühren sich nun merkwürdig gewisse Gerichts- und Hin-
richtungsscenen, die an demselben Tage, am Aschermittwoch, in ver-
schiedenen Gegenden Deutschlands als Festgehrauch vorgenommen werden.
Ein öffentliches Karrengericht wurde nach altem Brauche an diesem Tage
zu Stockach abgehalten; vergl. Birlinger, Aus Schwaben II, 47. Die
Zimmerische Chronik erwähnt IV, 135 ein solches zu Meringen (vergl.
Birlinger a. a. 0. S. 40). In Bühl hei Tübingen und in andern Orten wird
zur Fastnacht gegen einen Strohmann, dessen Hals durch eine besondere
Vorrichtung mit Blut gefüllt ist, eine förmliche Anklage vorgebracht; das
Urteil wird über ihn gesprochen, der Stab gebrochen und der Kopf wird
ihm abgeschlagen, so dass das Blut aus dem Halse spritzt. Am Ascher-
mittwoch wird er beerdigt; man nennt das „die Fassnacht vergraben“
(Meier, Deutsche Sagen, Sitten und Gebräuche aus Schwaben S. 371). Im
Allgäu wurde ein als Weih verkleideter Mann, der die Hexe genannt ward,
zum Tode verurteilt (Birlinger II, 33). In Rangendingen wurde am Ascher-
mittwoch „die Hexe feierlich erschossen und ins Pfarrers Miste begraben“
a. a. 0. 38. Zu Forbes, im Budweiser Kreise, wird bei der ersten Hoch-
zeit im Fasching ein Hahn wie ein Mensch gekleidet, von zwei Gästen
angeklagt, von einem Richter förmlich zum Tode verurteilt, dann in feier-
lichem Zuge in die Mitte des Marktfleckens geleitet und dort öffentlich
enthauptet (Vernaleken, Mythen und Bräuche des Volkes in Österreich,
S. 303 fg\). In Chrudim wird der verurteilte Hahn an den Galgen gehängt.
In Österreichisch-Schlesien findet das Hahnenschlagen am Aschermittwoch
statt (a. a. 0. S. 304). Die scheinbare Tötung eines von zwei Burschen
dargestellten Ochsen am Aschermittwoch erwähnt Birlinger II, 60 aus der
Augsburger Gegend. Dass auch die so weit verbreiteten Bräuche des
Begrabens der Fastnacht und des Hexenbrennens mit der symbolischen
Opferung eines Verurteilten Zusammenhängen, zeigen die eben angeführten
Bühler, Allgäuer und Rangendinger Sitten.
Zeigten sich Sebastian Francks Angaben neben denen des Johannes
Boemus schon als geringwertig, so ist nun andererseits neben Francks
Weltbuch absolut wertlos das „Papistenbuch“, welches Birlinger in der
Germania 1872 S. 79 fg. und zum zweitenmale in „Aus Schwaben“ II
S. 157 fg. nach einer Handschrift des 16./17. Jahrhunderts mitgeteilt hat.
372 Yogt: Beiträge zur deutschen Volkskunde aus älteren Quellen.
Es ist nämlich nichts weiter als eine schlechte und unvollständige Abschrift
von Seb. Francks Kapitel von der Römischen Christen fest-feyr, S. CXXbfgg.
der Ausgaben des "Welthuches von 1534 und 1542. Damit erledigt sich
auch Birlingers Angabe, das Stück sei „offenbar ein Abklatsch“ aus Rud.
Hospinianus, De origine, progressu etc. festorum apud Judaeos Graecos etc.
Hospinianus’ Werk ist 58 Jahre nach Francks Weltbuch erschienen.
III. Neujahrsorakel in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.
Honorius von Autun bemerkt im Speculum Ecclesiae Migne Patrol.
T. 172, 842D bis 843A über die Neujahrsnacht folgendes. Sed heu! quidam
miseri et nimium infelices de numero fidelium hac sacra nocte ritum sectantur
gentilium. Curiositate quippe illecti, immo a daemonibus decepti, dum quaedam
nova et vana scire cupiunt, in grave animae periculum corruunt. .. Illos dico
qui instinctu diaboli in desertis locis per maleficia daemones invocant; aliis
incognita ab his discere desiderant . . . Sed hii qui hac nocte ad sepulchra
mortuorum aliquid sciscitantur, utique cum mortuis in infernum deputantur.
Omnes etiam qui hac nocte ad aliquem fontem vel arborem vel lapidem, vel
aliquem locum non consecratum quasi aliquid novi ibi cognituri currunt, vel
si viri muliebrem vel mulieres virilem habitum pro quolibet maleficium (male-
ficio) induunt, vel quicquam quod sane fidei contrarium sit hac nocte agunt,
absque dubio in dominium diaboli se tradunt; sed qui eis talia facere consentiunt
cum eis pereunt.
IY. Hahnjörs.
Über Schleswig-holsteinische Weihnachtsbräuche findet sich manches
interessante in folgendem Büchlein, welches von Müllenhoff nicht benutzt
ist: Der Sonderlich auch um die Weyhnacht-Zeit bei dem sogenannten Kind
JEsus und bey dem Beschehren der Christ-Gaben sehr leyder! entheiligte und
schändlich missbrauchte Name unsers Heylandes JEsu Christi .... ans Licht
gestellt von M. Johann Melchior Krafften. Hamburg 1721. Vor allem
verdient eine merkwürdige Yorstellung Erwähnung, deren gelegentlich der
auf S. 48 fg. besprochenen Schmausereien in den zwölf Nächten gedacht
wird, dass nämlich in dieser Zeit in Stapelholm die Hahnjörs „nicht zwar
eigentliche Zauberische wol aber Leute zwischen beyden“ in Küche und
Keller herumgehen, essen und trinken, auch an gewissen Orten tanzen,
wobei sie nur für gewisse Leute sichtbar sind. Ich weiss den Namen weder
zu erklären, noch sonst nachzuweisen. Das Treiben der Hahnjörs erinnert
an Yintlers Blume der Tugend V. 7952 so findt man den zaubrerin unrain
die den lütten den wein trinckend auss den kelern verstolen, die selben haisset
man unhollen (var. unholen, unverholen).
Breslau.
Das Saterland.
373
Das Saterland.
Ein Beitrag zur deutschen Yolkskunde
yon Theodor Siebs.
(Schluss.)
VI. Tracht.
Frauenklei düng. Bi ölden tiden, dö hiden dö wiue en greine kape
med göHdne blöllme, det was en grünen gründ un dan med rode blöumen un
vied siden lint, en kantigen strimel derfär. Wetseldegs drugen dö wiue en
mutsken fon rödscharldk med greln lint derume un en strikelbend üme kop, di
was fon imlen lint un dein en seinem örirzen, der körn det mutsken op un
wüd an dö bee söken med ’n knöpnedele feststiket. Wad man trjjerde, dein körn
en swote kape op med swot lint un en sliuchten witen strimel. Wan det halge
dege wiren, dein körn en op üt en göHden stuk med rödsiden lint un en kantigen
strimel. Det binelken, det was hole kante med röd deruner, un det opstiksel,
det gig sö fon ’t siden üme hoch.
Dän Mden dö wiue en döwk üner med roden gründ un en bunten rand;
wet dö wiue wiren, dö hiden en göHden of en seinem kiüs med ’n sdmbend
um ’en hals un med haken of en slot op ’e neke; wuchtere hiden en seluerne
kete med ’n kiüs der an fiu, strage um ’en hals un en slot op ’e neke. Dän
hiden ze en wams med küte sleue un med göHdtrese derüme un ermhänske med
göHdne of seluerne knöpe derän un med ’n tuge op ’e höunde; jo hiden en
hämend fon wit linen med ’n seluerne spoge fär ’e hals un hire nöme med
blökletere derän un med take uvie krclge. Was det wams nü fon swot döuk,
dän was di rok ok sö; was det wäms röd, dan wäs di rok ok röd, med bunte
bistemelse derume. Balge dege, dän hiden jö eil wite döllke üme. Dö schorten
dö wiren swot of röd of greln dl sö az dö klödere wiren; jö hiden en bend
üme side fon siden lint, gefulde höze fon wulen je1 den med rode kligken, schöue
med seluerne spogen.
Männerkleidung. Dö mönljgde drügen en gröten wulenen of hetze-
wulnen liöud, det ivas dl, wet ze op ’e kop hiden. Sündegs hiden ze en sidenen
hälsdöllk, en hämend fon wit linen un en rok fon swot of liächt döllk. Deroner
wäs en kamezölken, ökwell en demästen wäms med ’n rige seluerne knöpe. Dän
hiden ze en meschiesterne kiite bukse med seluerne spoge am büterkänte ben dö
gigen tuen ür di knibel. Un dän wulene höze, dö gegen ür en knibel un wuden
bupe di knibel bünen. Dö schöue wiren med seluerne spoge op ’en föwt.
Wetseldegs hiden ze en gröten höwd fon löumerwule\ bömwulene hälsdöuke
un en roden rump fon wulen göud, un der wiren nen sleue an; jö hiden en
374
Siebs:
wams fon blöö of swot wulen goud, seluenweuen, un bukse fon grts linen, un
um dö felte drügen ze hosken.
Die äussere Erscheinung der Saterländer widerspricht der Ansicht,
die wir über die Einwanderung geäussert haben, nicht. Als Laie habe ich
es vermieden, Erhebungen über Knochenbau und Schädelbildung anzu-
stellen, und ich kann nur den allgemeinen Eindruck schildern, den der
stark ausgeprägte Schlag der Saterländer auf mich gemacht hat. Die
Männer sind kräftig und breitschultrig, aber, wie die meisten Friesen,
von zartem Knochenbau; ihre Grösse möchte ich im Durchschnitt auf
wenigstens l3/4 ni anschlagen. Fast alle haben sie blaue oder blaugraue
Augen und dunkelblonde, ins Bräunliche spielende Haare. Das ist friesische
Art. Das weibliche Geschlecht ist beinahe durchweg gross und schlank,
hat feingeschnittene Züge und eine frische Gesichtsfarbe. Während aber
ein Teil der Frauen sich durch hellblaue Augen und hellblonde, fast gelb-
liche Haarfarbe auszeichnet, sind bei anderen die Augen dunkler, die Haare
bräunlich wie die der Männer. Dieser zwiefache Typus ist auffällig, und
weil die Saterländer fast nur unter einander heiraten und Mischehen mit
den Nachbarn selten sind, bin ich geneigt, ihn durch die alte Mischung
des sächsischen und friesischen Blutes zu erklären.
Die Saterländer wussten dereinst ihre Erscheinung durch die Klei-
dung sehr vorteilhaft zu unterstützen. Es ist schwierig gewesen, die
Eigenart dieser um die Mitte unseres Jahrhunderts abgekommenen Tracht
zu bestimmen, denn heute findet man au Ort und Stelle nur noch ver-
einzelte alte Kleidungsstücke und Schmuckgegenstände vor, die als Erbgut
in der Truhe bewahrt worden sind. Das Zeug hat meist durch Mottenfrass
stark gelitten, die silbernen Knöpfe sind zum Yerkaufe, die Stickereien zu
anderem Gebrauche abgetrennt, und es würde kaum gelingen, ein echtes
Muster der einst so einheitlichen Kleidung zusammenzustellen. Alte
Schmuckstücke, nämlich Knöpfe, Kreuze und Spangen1) finden sich noch
bisweilen. Sie sind sehr einfach. Die Hemdspangen ähneln der (in dieser
Zeitschr. I. Band, Tafel II abgebildeten) Jamunder „ Jöpsel“, doch fehlt die
Yerzierung. Nach den einzelnen Stücken, die ich im Saterlande vorgefunden
habe und nach genauen und übereinstimmenden Berichten alter Leute habe
ich ein Trachtenbild zusammengestellt1 2). Einige Teile, sowie auch ein
ganzes Modell der Frauenkleidung, besitzt das Grossherzoglich olden-
burgisclie Landesmuseum. Dessen Vorstand, Herr Direktor Wiepcke, hat
1) Über diese, sowie überhaupt über die ältere friesische Tracht, vgl. Cornelius
Kempius, De origine, situ, qualitate et quantitate Frisiae, Köln 1588. S. 84 heisst es
von den Frauen: „fibitlamque pro pectoris ornatu ex argento deaurato ex patria gestant
consuetudine“.
2) War leider in Farbendruck nicht wiederzugeben (D. Ited.) Die von Hettema und
Posthumus (a. a. 0.) gegebenen Abbildungen stimmen nicht zu meinen Berichten; vgl.
oben S. 240.
Das Saterland.
375
die Güte gehabt, mir mitzuteilen, dass er meine Beschreibung und Ab-
bildung für richtig halte, obschon sie mit dem oldenburger Modell, das
wohl eine reiche Erbin darstelle, nicht übereinkomme. Abbildungen dieses
Modelles zu veröffentlichen, ist mir leider nicht gestattet worden.
Die stld. Frauentracht muss friesisch genannt werden. Die Quellen,
die von der älteren friesischen Kleidung berichten, fliessen allerdings sehr
spärlich. Des Kempius Mitteilungen und Bilder sind mit grosser Vorsicht
aufzunehmen; auch geben sie nicht die eigentliche friesische Volkstracht,
sondern die von der damaligen Mode stark beeinflusste Tracht der Vor-
nehmen. Dasselbe gilt natürlich von den übrigen Autoren, die den Kempius
benutzt haben. Eine Vergleichung mit der Tracht der übrigen friesischen
Gebiete wird die Frage nach dem Ursprünge am besten lösen1).
Zunächst die Kopfbedeckung. Alle Friesinnen, wenigstens die
verheirateten, pflegten das Haar verborgen zu tragen. Die Saterländerinnen
banden es zunächst mit einem „Streichelband“1 2) zusammen, einem
langen wollenen Haarbande, mit dem der Kopf mehrmals umwickelt ward.
Dieses ward durch einen metallenen federnden Bügel festgehalten, der sich
um den Hinterkopf legte und über den Ohren an den Schläfen anklemmte;
ursprünglich bestand dieser Halbring wohl aus Eisen und hiess deshalb
1) Nach Abschluss dieser Arbeit ist die treffliche Ausgabe des Mauningabuches er-
schienen (Jahrbuch der Gesellscli. für bild. Kunst und vaterld. Altertt. X. Emden 1893).
Diese von dem Häuptlinge Unico Manninga (1529—1588) aufgezeichnete Hauschronik, die
sich im Besitze des Grafen zu Inn- und Knyphausen befindet, enthält sehr wertvolle Ab-
bildungen und Beschreibungen ostfriesischer Ritterkleidung und — das ist besonders
wichtig — Volkstrachten. In dankenswerter Weise hat Dr. phil. Ritter in Emden die
älteren bildlichen Darstellungen sowie die Angaben der Chronisten, Urkunden und Rechts-
quellen in jener Ausgabe zusammengestellt und Erläuterungen hinzugefügt. Leider habe
ich das Werk nicht mehr im einzelnen berücksichtigen, sondern nur einige Male kurz
darauf verweisen können.
2) Die Bezeichnung stl. strikelbend ist vielleicht eine Umdeutung des altfrs. nicht
mehr verstandenen stickelbend. Die niederdeutsche Form dafür ist stükelband, vgl. ahd.
stühha, bayrisch die Stauchen, der Stuch, der Stäuchel d. h. Kopfbinde, Haube (Schmeller,
Bayr. Wb. II, 722). In ostfriesischen Gegenden scheint im 15. und 16. Jahrh. mit dem
stickelbend, stükelband ein grosser Prunk entfaltet zu sein, indem kleine silber- und gold-
beschlagene Bändchen angehängt wurden, die man „toppen“ nannte. Kempius (S. 168)
spricht von einem „circulus laneus aut byssinus, cui annexae erant parvae vittae, quibus
appendebant foliolae argenteae aut deauratae, guae sewper movebantur“. Dazu stimmen ur-
kundliche Berichte, z. B. in einem Verzeichnisse der Kostbarkeiten der Gräfin Theda, vom
Jahre 1475 (Leerort, Friedländer Ostfrs. Urkdbch. Nr. 951), wird ein „sulveren stuckel-
bant van 8 toppen“ erwähnt; in einem Heiratsvertrage, zu Norden 1500 geschlossen, werden
als silberne und goldene Kleinode genannt „eyntn stickelband unde enen nesschod (neskert)
(vgl. Jahrbuch d. Gesellsch. f. bild. K. 10, 72. 80) unde eyn span (Spange)“ etc., ebenda
Nr. 1659, vgl. Nr. 518 (anno 1440); ebenso in einer Urk. von 1455 (Nr. 688) „eyn sulver
stukelbant vorgull“-, in einer uoch nicht gedruckten jeverld. Urkunde vom 17. Sept. 1529
wird Klage geführt um „1 stukelbant van Vlll gülden“. Nach den Emsiger Busstaxen
(Richthofen, Rechtscp S.212. 213) wird mit 11 Schillingen bestraft, wer einer Frau das
stickelbend, ebenso wer ihr die slinge (Schleife) der hnetze oder houwe ahschneidet, die das
Haar zusammenhält. Die hnetze (jön- Femininum zu hnekka „Hinterkopf, Nacken“) diente,
wie die liouwe oder *ltüve (Wurster Glossar hufe), zur Bedeckung des Hinterhauptes.
376
Siebs:
örlrzen (westfrs. jerlzer, afrs. *äriser'). Die Olireisen waren über Holland,
Seeland und einen Teil von Vlandern sowie über das ganze west- und
ostfriesische Gebiet verbreitet; sie wurden dort zu einem Luxusartikel,
denn sie wurden aus Gold und Silber gearbeitet. Im Laufe der Zeit haben
sie sich zu den verschiedenartigsten Formen entwickelt. Jede nur einiger-
massen bemittelte Westfriesin besitzt ein goldenes Ohreisen; fast nur
die Dienenden tragen ein silbernes. Es ist aber nicht mehr der dünne
Reif, sondern eine an dem Schädel anliegende goldene Helmdecke, in der
Mitte gespalten und zusammenschliessbar; man sieht davon nur eine (meist
rosettenförmige) Verzierung, die an den Schläfen hervorsteht, der übrige
Teil ist von der Mütze bedeckt. In Ostfriesland ist das Ohreisen zu Ende
des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts aus der Mode gekommen,
nur in abgelegenen Gebieten ist es heute noch im Gebrauche (vgl. Johan
Winkler, De oude tijd, Jahrg. 1871). Das saterländische-Ohreisen ist
ein schmaler silberner Bügel ohne Zierde, nur zu praktischem Zwecke be-
stimmt. Es wird verdeckt durch eine mutse aus rotem Florzeug, die mit
grünem Lint (Band, vgl. lat. linteum) eingefasst ist. Statt dieser Mütze
ward an Sonn- und Feiertagen die kape getragen. Sie bestand aus einem
runden Hinterstücke und zwei Seitenteilen. Über eine steife Pappform
war grüne oder blaue Seide gespannt und mit bunten, goldenen und
silbernen Blumen und Arabesken bestickt; in den Kappen, die an hohen
Feiertagen getragen wurden, war sogar der ganze Grund mit Gold aus-
gestickt. Vorn, an der Stirnseite, war ein Spitzenstreifen (en kantigen
strlmel, vgl. ahd. strimil) eingesetzt, und unter diesem ragte, den grössten
Teil der Stirn bedeckend, eine Kopf binde (binelken) hervor. In neuer Zeit
ist statt dieser Kopfbedeckung der moderne Hut ([höud) und die Kragen-
haube (neuelkape Nebelkappe) eingeführt worden. — Mit der alten stld.
Kopftracht stimmt diejenige anderer Gebiete Frieslands überein. Die
Wangeroogerinnen trugen (Frs. Archiv II, 43) jene dreiteilige Kappe
mit einem Spitzenstreifen (oder auch statt dessen eine Spitzenmütze unter
der Kappe), und die Kopfbinde1); derselbe Brauch herrschte in Jeverland
und Ostfriesland1 2). Wahrscheinlich war diese Binde das Abzeichen der
verheirateten Frau, denn auf Wangeroog, in Westfriesland und auf den
Halligen ward sie von Jungfrauen nicht getragen, und dazu stimmt der
Bericht des Kempius (S. 168): „capitis velamen sive ornamentum erat primum
fascia ex bysso vel subtilissimo panno colore rubeo aut viridi, superius strictum
aut cuneatum, quod circum caput religabant solummodo maritatae, ac praeter
oculos et nasum faciem fere abscondebant.“ Bei diesen Worten denkt man
1) Sie heisst dort kneteldäuk (Knütteltuch), in Ostfriesland bindeken oder auch flepke; in
Westfriesland entspricht ihr das sendak (Sonnentuch), vgl. Halbertsma, Letterk. naoogst 1,185.
2) Yiele alte Stücke sind erhalten. — Wenn Kempius sagt (S. 84): „et hodie in Frisia
etiam multae mulieres bireto vel ex panno aut serico aut sameto facto peplone capita tegunt“,
so sind damit wohl die Westfriesinnen gemeint.
Das Saterland.
377
sogleich an die auf den nordfriesischen Inseln, besonders auf Föhr
herrschende Sitte, dass die Frauen das ganze Gesicht, ausser Nase und
Mund, mit Tüchern verhüllen (vgl. Tafel YI des Manningabuches). Sonst
freilich hat die ostfriesische Kopfbedeckung mit der auf jenen Inseln
üblichen wenig Gemeinsames. Jensen (a. a. 0. S. 165 fgg., wo auch sehr
gute Trachtenbilder gegeben werden) meint, dass sich die nordfriesischen
Abweichungen erst in später Zeit auf den Inseln ausgebildet haben, und
dass z. B. die Silder Krone (hüif) eine späte Ausschmückung der alten
einfachen Mütze sei. Ich möchte demgegenüber annehmen, dass sich in
jener Silder Form eine besondere Tracht der Yornehmeren erhalten hat,
die einst auch in Ost- und Westfriesland neben der einfacheren Mütze vor-
handen war: in ostfries. Urkunden seitdem 14. Jahrhundert werden nämlich
oft die padula, pale Stirnspange und andere Schmuckstücke genannt, und
auch hier ist des Kempius Nachricht zu beachten, der (S. 84) von den
matronae nobiles seiner Heimat erzählt: „aureas quasi coronasls) lapidibus
pretiosis intextas secundum qualitatem stirpis ac opulentiae portant...et
virginum ornatus in pretiosis et amplissimis aureis vel deauratis coronis con-
sistit.“ Aufs Genaueste aber stimmt zur ostfrs. Yolkstracht die der Halligen
und des nordfrs. Festlandes. Auf den Halligen trugen die Frauen die
bunte, mit Blumen- und Goldstickerei verzierte Mütze, darunter entweder
eine weisse Haube oder den aus weissem Tuche bestehenden „Sträämel“;
dieses Stück fehlt den jungen Mädchen (Jensen a. a. 0. 175). Über die
Haartracht des eigentlichen nordfrs. Festlandes endlich sagt Nissen (De
vrije Fries XY, 38), dass als Hauptteile das Haarband, die Mütze mit dem
Tüllstreifen, das weisse „skidek“ und die auf dem Hinterkopfe sitzende Haube
zu unterscheiden seien.
Die Bekleidung des Oberkörpers bestand aus drei Hauptteilen: dem
weissleinenen Hemde ('hämend), welches durch eine spoge (altfrs. nestle,
spon, span, vgl. span Urk. 1475, mhd. span u. s. w., s. oben S. 375) zusammen-
gehalten ward; einem wams aus Damast oder aus bestickter Seide, mit
kurzen Ärmeln ([sleve); einem um Nacken und Schultern geschlagenen
Tuche. Die altfrs. Rechtsquellen verlangen, dass der Angriff auf eine Frau
gebiisst werde, je nachdem die äussere oder innere Gewandung verletzt
sei (E 224. 225. H 339. 340. F 126), und dabei werden thriu kläther unter-
schieden: zunächst das hemethe\ dann thet inre kläth (auch möther, d. h.
Mieder, genannt); endlich thet üterste kläth, welches auch als hreclit hrecklin
bezeichnet wird, vgl. angelsächs. hrecca „Nacken“. Das weisse Hemd der
Saterländerinnen zeigte rings um den Kragen Zacken von blauem oder
rotem Garn, auf der Brust waren die Anfangsbuchstaben des Namens mit
„Blocklettern“ eingemerkt. Darüber stickte man früher in Kettenstich mit
blauem Garn einen Baum mit Yögeln auf den Zweigen. Ein Muster solcher 1
1) Über diese Schmuckstücke vgl. Jahrb. d. Ges. f. bild. K. X, 68. 80.
378
Siebs:
bömkeletere1'), wie sie sich in Hemden und Bettlaken finden, hat Herr Prof.
Minssen vor etwa 50 Jahren in Bollingen aufgenommen und mir gütigst über-
sandt. Ich gebe es in der Vergrösserung (s. Fig. 3). In diesen bömkeletere
mit Mannhardt (Baumkult S. 46) ein Bild des „Schicksals- und Lebens-
baumes der Ehegatten“ zu sehen, sind wir meines Erachtens nicht be-
rechtigt. — Uber dem Hemde trug man das Wams. Da es kurze Ärmel
hatte, wurden die Arme mit langen ermhc/nske bedeckt, die mit einer
„Zunge“ über die obere Handfläche ragten und im Handgelenke mit
Fig. 3.
goldenen oder silbernen Knöpfen versehen waren1 2). Auch auf Wangeroog
ist dieses damastene „Futterhemd“ gebräuchlich. Auf den Halligen wird
statt des Hemdes der „rump“ getragen, darüber Wams und Halstuch; auch
hier sind die mit silbernen Knöpfen verzierten Ärmel selbständige Stücke.
Ebenso sieht man auf dem nordfrs. Festlande den ruvip und darüber die
1) Westfrs. beamkeletters (Japicx), vgl. Halbertsma, Letterk. naoogst I, 186.
2) Das Wort „Handschuh“ erscheint im Altwestfrs. als handschöch. Die meisten
ostfrs. Mundarten brauchen ein anderes Wort: in Strücklingen heissen Handschuhe wonie,
vgl. leand (Wursten), wunthe (Cadovius), wunt (Wangeroog). In dem Beschläge der Mouwen
und den Knöpfen ward später grosser Prunk entfaltet, vgl. z. B. Urkunden von 1473 (Fr.922);
1474 (Nr. 938). Letztere erwähnt „enen yroten silveren knoep mit enen golden ducaten“.
Das Saterland.
379
Jacke mit den kurzen Ärmeln. — Schleckt sind wir über den Gebrauch
des Mantels (stl. montel) in älterer Zeit unterrichtet. Man nannte ihn
altfrs. montel oder hokke (hoyke, stl. hoike Schäfermantel), auch wohl sahen1").
Dass der Ost oder sist der nordfriesischen Inseln, ein Pelzrock, auch bei
den Ostfriesen im Gebrauche war, lehren die Formen 'stjust (Wursten),
siust (Cadovius), siust (Wangeroog), vgl. hrock ieftha tziust 'Rechtsquellen
243, 22.
Um die Hüften legten die Friesinnen einen Gürtel (afrs. gerdel, stld.
gedel). Während damit im übrigen Friesland ein grosser Luxus getrieben
ward, trugen im Saterlande die Frauen ein einfaches Seidenband, eine
Schärpe. Überhaupt hat sich hier die Tracht von aller Überladung frei-
gehalten. Besonders wohltliuend wirkt die geschmackvolle Einfarbigkeit,
die im 16. Jahrhundert auch für die Volkstracht Ostfrieslands noch
charakteristisch war (vgl. Tafel 3—6 des Manningabuclies). Meistens waren
Wams, Schürze und Bock alle von roter Farbe, letzterer aus einem Woll-
stoffe, der stld. bdi heisst, gefertigt. Unten um den Rock zog sich ein
farbiger, meistens ein grüner Besatz (bistemelse). Die wollenen Strümpfe1 2)
waren mit Falten und mit roten Zwickeln, die Schuhe mit silbernen Spangen
versehen. Ebenso., trugen auch die Frauen auf Wangeroog einen Rock von
rotem bm, mit grünem Bande besetzt, und ähnliches zeigt die Tracht der
Halligen und der Insel Helgoland (gelber Besatz). In Westfriesland ward
über dem roten, mit Besatz (stems) gezierten Rocke ein schwarzer getragen.
Die Kleidung der Männer bietet wenig Charakteristisches; was daran
eigenartig war, ist schon vor der Mitte des Jahrhunderts ausser Mode ge-
kommen. Der Hut ist durch die kipse (Kappe), die kurze manchesterne
Hose mit den Spangen durch lange Beinkleider ersetzt worden. Das Hals-
tuch, das seit alten Zeiten getragen ward3), ist noch allgemein üblich.
Es ist nicht meine Absicht gewesen, durch die Vergleichung der in
anderen friesischen Gebieten gebräuchlichen Volkstracht mit der sater-
ländischen das Bild der alten friesischen Kleidung zu konstruieren. Der
Einfluss fremder Moden ist sicherlich stark genug gewesen, um eine solche
Methodik zu verbieten. Aber mehrere Erscheinungen, die in einander
fernliegenden Gebieten auftreten, sind so eigenartig, dass sie uns zur An-
nahme einer den Friesen gemeinsamen Volkstracht zwingen. Dass hier
vor allem der Kopfputz in Frage kommt, hat schon Kempius (S. 83) aus-
gesprochen, indem er von den Friesinnen sagte: „in praesentem usqne diem
1) Ygl. z. B. Urk. 1481 (Nr. 1058): „en zwartcn suben“, vgl. bayr. Schaube, Schauben
(Schmeller, Bayr. Wb. II, 354).
2) höze genannt, vgl. westfrs. höazen, liozen, Cad. Inmen, wang. huze, nordfrs. hös
Niebüll, hoz Amrum. Das altfrs. Wort sokke scheint in der Wurster Bezeichnung fesick,
(1. i. Fusssocken, zu stecken Im Saterland sind höze lange Strümpfe, soke sind kurze.
3) Eine öfters in den altfrs. Rechtsquellen erscheinende Formel „her and halsdök“
(z. B. Rechtsq. 119, 11. 537, 8).
380
Siebs:
cum vicinarum nationum mulieribus tam in exteriori quam interiori habitu et
maxime capitum velis et ornatu multum discrepat“.
VII. Aberglaube.
Die Bewohner des oldenburgischen Münsterlandes stehen hei ihren
Nachbarn nicht eben im Rufe hoher geistiger Begabung, und es wird häufig
gesagt, dass die Kirche dort das selbständige Denken unterdrücke. Aber
für die Saterländer kann das keineswegs gelten, denn sie sind von klarem
Verstände, schneller Auffassung und gesundem Humor, und streng kirch-
liche Gesinnung steht bei ihnen im Verein mit selbständigem, freisinnigem
Denken (s. oben S. 257). Der Aberglaube ist verpönt. Doch wenn sich
die Leute auch für zu religiös und zu klug halten, um an allerlei Spuk zu
glauben, so sind sie doch meist nicht klug genug, um einzusehen, dass der
Forscher etwas daraus gewinnen kann. In Nord- und Westfriesland wird
ihm die Arbeit bedeutend leichter als bei den Saterländern. Ich habe oft
das Gefühl gehabt, als ob sie etwas Unheiliges zu thun fürchteten, wenn
sie von den alten Bräuchen erzählen oder gar die geringen Reste alten
Hausrates und alter Kleidung zeigen sollten. — Vor fünfzig Jahren würde
die Ausbeute für den Sammler weit reicher gewesen sein; desto mehr ist
zu bedauern, dass Minssen’s Aufzeichnungen (s. o. S. 240) verloren sind.
Von Strackerjans Mitteilungen, die grösstenteils auf jene zurückzuführen,
habe ich manches verwertet.
Wir wollen im Folgenden die wichtigsten und für das Saterland charakte-
ristischen Punkte herausgreifen. Zauber1) im Sinne der Taschenspielerei
heisst kgkelei oder kökelere\ der Zauberer ist ein kökeler, das Zeitwort heisst
kökelje oder öugenferk<]kelje, eigentlich „die Augen vergaukeln“ (vgl. plattd.
gokeln, kökeln, ahd. coukel, coucaldri u. s. w.). Dieses kökelje ist Sache der
Gewandtheit; wenn aber eine höhere Macht im Spiele ist, so redet man
von heksje (= hexen). Einen besonderen Ausdruck hat man im Frs. für
den Zauber des Weissagens: es ist (das überhaupt für den Begriff des
Prophezeiens gebrauchte) stl. wikje1 2); der Weissager heisst wiker, Fern, det
1) Die dem altwestfrs. täverle (Zauberei) entsprechende Form ist nicht vorhanden;
das wangeroog. tu werk (Hexe) und harling. tövener sind plattd. Entlehnungen. — Hinsicht-
lich der sonstigen frs. Bezeichnungen mag bemerkt sein, dass neuwestfrs. tjsoene, tsjüne
(bezaubern) nicht, wie Grimm Myth.4 865 meinte, zu an. kyn, mhd. kunder zu stellen ist,
sondern zu af'rs. tiona, tiuna Subst., vgl. ae. teona Schaden; aussergerm. Beziehungen sind
vielleicht in griech. övvapai zu sehen, vgl. Fick, Wb. * I, 69. — Das ostfrs.-plattd. Wort
bedudden, beduddern stelle ich zu westfrs. dodje schlummern, duseln, doderig duselig, vgl.
afrs. dudslek betäubender Schlag; wohl zu idg. \'dheudh, vgl. griech. 0va0/.a Geräte zum
Bacchusdienst, skr. düdhita verwirren, vielleicht auch kleinruss. dudva Schierling (als
narkotische Pflanze) ebda. — Endlich das ostfrs.-plattd. lübben verschneiden, schädigen,
vergiften, bezaubern = ahd. luppön ist in frs. nur vorhanden als westfrs. lobje kastrieren.
2) Man sagt stl. ik wol dl wet wikje ich will dir wahrsagen. Auf Wangeroog heisst
das Wort wik (in die st. verba übergetreten: prät. wäik, part. wikin), z. B. ik wik dl däit,
Das Saterland.
381
wikerwiu. Wie überall, so galten auch im Saterlande die Zwölften dereinst
als vernehmlichste Zeit des Wickens; Genaueres über die dabei gepflegten
Gebräuche habe ich nicht erfahren können, weder über das Schuh- und
Münzenwerfen in der Neujahrsnacht, noch über das Citieren der künftigen
Geliebten in der Thomasnacht: schon bei Strackerjan (I. S. 88. 89. 93,
vgl. ob. S. 274) gilt das als geschwundene Sitte. Und ebensowenig glaubt
man heute an sonstigen Vorspuk. Es heisst wohl, dass ein Nordlicht
künftigen Krieg anzeige, dass ein vom Boden fallendes Strohbündel der
Vorbote eines Todesfalles sei, dass das Jucken der Handfläche Geldgewinn
ankündige; auch redet man wohl vom guten (Pferd) oder schlechten An-
gang und erzählt sich von spuksichtigen Tieren, dass z. B. das Pferd, die
Rohrdommel oder die Krähe den Tod eines Menschen voraussehen, dass
das Rindvieh durch Prusten nahendes Schneewetter verkünde, die Katze
dieses und jenes Ereignis im Hause durch ihr Gebahren prophezeie —
aber das sind Redensarten, kein ernstlicher Aberglaube1): ,,det wet weH
noch kweden, man der iz nen wöud fon wer“.
Insoweit das Zaubern sich nicht auf Weissagung beschränkt, heisst es
heksje „hexen“ (s. u. S. 387). Dem Einflüsse der Kirche ist es jedenfalls
zu danken, dass heutzutage aller Zauber als schädigend, als Teufels- und
Hexenwerk gilt und von heilendem Zauber nicht mehr die Rede ist. Früher
scheint das anders gewesen zu sein, wenigstens berichtet noch Strackerjan
davon. Man bannte Krankheiten in leblose Gegenstände, die Gürtelrose
in den Eichbaum, „den Pest“ — das war ein männlicher Unhold — in
einen Misthaufen, und Blutungen stillte man durch Bestreichen mit Eschen-
holz (I, 72. 85. II, 119). Kopf und Zunge der heilbringenden Schlange
waren ein Schutz gegen Krankheiten, und mancher Mann trug eine Nattern-
zunge in einem der 24 Westenknöpfe verborgen (I, 66. II, 108 ff.). Auch
Segensprüche, von denen jetzt nichts mehr bekannt ist, werden mitgeteilt2).
dat du noch ?n drächt slpig heb silt. Es ist ae. wiccian; subst. wicce ~ engl, witch „Hexe“,
vorgerm. *wignl-. Ich stelle das Wort zu idg. ]/veigh', vgl. lit. veziu, veziau, vezti ver-
mögen, lett. wifchüt wollen; dahin gehört auch awfrs. wiliga statt *wigila Zaubereien, ae.
wiglere „Zauberer“ u. a. m. Zu dieser germ. ]/wig kann ein alid. wTgan, mhd. wlgen „con-
ficere“ angesetzt werden, wozu mhd. ich bin er teigen, gewigen „erschöpft“ gehört. Diese
Formen scheinen vielfach mit den Formen von wilian „kämpfen“, welche gramatischen
Wechsel zeigen, zusammengefallen zu sein.
1) Nur in einem Punkte ist der Aberglaube unausrottbar: ist über einem Hause
bei hellem Tage ein Feuerschein gesehen worden, so muss es abbrennen, Jahre können
freilich darüber vergehen, eine Zeitfrist ist nicht gegeben. — Allgemeine Teilnahme ist dem
durch das unabwendbare Schicksal einer Feuersbrunst Betroffenen sicher. Man schiesst
die Mittel zusammen, mit denen er sein Haus neu erbauen kann: so bildet die Gemeinde
eine allein durch die Gewohnheit konstituierte Versicherungsgesellschaft. Erst neuerdings
findet die officielle Feuerversicherung allmählich Eingang.
2) „Petrus und Maria ritten zusammen auf ein Pferd und ritten über eine Brücke, da
vertritt das Pferd den einen Fuss. Petrus sprang herunter und bat zu Gott dem Vater, dass
er möchte geben, dass alle Litt bei Litt, Sehnen bei Sehnen, Aders bei Aders, Knochen bei
Knochen------— und dasselbige begehre ich hier auch.“ Diese Umgestaltung des Merse-
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1S93. 26
382
Siebs:
Im Mittelpunkte der Gestaltenwelt, die der heutige Aberglaube kennt,
stellt der Teufel. Wir finden noch Spuren seiner heidnischen Art, aber die
Hauptzüge hat ihm das Christentum verliehen, und es hat wenig gethan,
ihn aus dem Glauben des Yolkes zu bannen. Man nennt ihn im Saterlande
mit der niederdeutschen (nicht mit der friesischen) Wortform „di dywel
daneben aber, wie überall, mit mancherlei anderen Namen, vor allem mit
euphemistischen Bezeichnungen, „dl öulde knube“ (eig. ein knorriger Aus-
wuchs am Baum) könnte man auf die Plumpheit im allgemeinen beziehen
oder auf den Klumpfuss; dass aber dabei an den knorrigen Ansatz der
Hörner gedacht wird, lässt der ebenfalls vorkommende Name „kmibelhöuden“,
d. h. Knubbelhorn, vermuten1). Mit höudene, steH (Sterz) und haysteföH
(Pferdefuss) ist der Teufel, wie überall, ausgerüstet. Yereinzelt erscheint
er als feuerglühender Mensch. In Strücklingen ward mir erzählt: „bl
Sfntjebdrsgat (Ortsn.), der hebe ze fdr tiden en glönigen kerl blöüked — det
wäs mid in ’e svmer in ’e nacht, un det iz di glönige dywel wezen“. Meist
aber heisst es „di swote dywel“, und daher sind es hauptsächlich schwarze
Tiere, in die sich der Teufel vermöge seiner Macht des Gestaltenwechsels
verwandelt. Über dem Hause eines vom Teufel Besessenen kämpfte eine
weisse Taube mit einem schwarzen Raben, bis dieser unter inbrünstigem
Gebete des Predigers tot niederfiel — di swote rouk, det was di dywel (I,
254 ff.). Die Strücklinger wollen ihn als schwarzen Höllenhund und als
schwarze Katze (s. unten S. 389) gesehen haben, zu anderen Malen als
Kröte oder auch als Pferd im Busche von Bokelesch. Ein Ramsloher
Pastor hat den Teufel einst aus einem Besessenen in einen Bullen ge-
trieben, der ist weggerannt und an ein Meer gekommen, das im Moore
liegt: noch heute heisst es das „Bullenmeer“, und der Teufel soll dort
noch umgehen und nächtens das Heidekraut zählen. Aber auch als clräke,
als ein feuriger Drache erscheint er, und in seinem Schweife trägt er Gold
und Silber durch die Lüfte. Schiesst man auf den mit Erbsilber, so fallen
die Schätze zu Boden und gehören dem Schützen. Wir werden durch diese
Sage an den apokalyptischen Drachen (Apokal. 12, 4; 20, 2) erinnert, der mit
seinem Schweife die Sterne vom Himmel nimmt und sie auf die Erde wirft.
Wenn es im westfriesischen Rudolfsbuche heisst (siehe Richthofen,
burger Zauberspruches wäre höchst interessant; die Echtheit dieser Segen aber ist mir
zweifelhaft. Noch fraglicher scheint mir die Herkunft zweier gereimter Sprüche, eines
Blut- und eines Bienensegens, die aus dem Saterlande handschriftlich überliefert sein
sollen (I, 68. 69. 105): die Sprache ist plattdeutsch, und die Reime lassen sich in einer
stl. Übersetzung nicht halten. „Immemutter sette dich, Gottesmutter bette dich Fest ans
grüne Gras Und mach Honig und Wass“ müsste in stld. Sprache lauten fest in 't greine
gers Un male hünig un wäks. — Andere rein christliche Mittel, z. B. die Verwendung des
Hechtskopfes als Amulet, da er die Leiden Christi enthält, und die christlichen Formeln
des Diebssegens (I, 63. 101) bieten wenig Interesse.
1) Die Wortform erlaubt uns nicht, an eine Erklärung als „Knäuel“ zu denken oder
an einen Euphemismus, vgl. schwed. Jcnäkul, westfäl. knüvel, Mythol. 4 S. 825, 836.
Das Saterland.
383
Frs. Rechts quellen 430, 15): „Willibrord ioe dat leerde dat y fern da nordsca
diuelen heerdeso sind mit den „nordischen Teufeln“ die Gestalten der
heidnischen Religion gemeint. Heidnische Götter und Heroen, alles, was
dem Christentum gegenüberstand, ist teuflisch: so sind göttliche, riesische
und elbische Züge in der Gestalt des Teufels vereinigt. Riesisch ist das
Sinnliche, Rohe und Plumpe. Er wird „di öulde“ genannt (vgl. „de uald“
Möllenhoff, Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig-Holstein und Lauen-
burg S. 265); er verbündet sich mit den Menschen, um ihnen bei grossen
Bauwerken zu helfen — so auch die Riesen. Diese haben im Lemdöbe
bei Scharrel eine grosse Ziegelei gehabt, in der sie die Steine zum Bau
der saterländischen Kirchen brannten;' ’und als sie damit fertig waren,
wollten sie nicht weichen und konnten nur mit Mühe verjagt werden (I,
411). Elbisch ist die Verschlagenheit. Für die enge Verbindung
riesischer und elbischer Züge im Teufel giebt uns eine stl. Sage ein
besonders interessantes Zeugnis. Bekannt ist der eddische Mythus (vor
allem aus Gylfaginning'), dass der Riese Smidr den Äsen um den Preis
von Freya, von Sonne und Mond eine Burg bauen will; Loki lenkt das
Ross Svadilfari von der Arbeit ab, und der Baumeister wird nicht fertig.
Er gerät in Riesenzorn: da erkennen die Götter, dass er ein Riese ist, und
Thorr, der Gott des Gewitters, erschlägt ihn. Mit diesem Mythus hängen
verschiedene Volkssagen zusammen, die in Skandinavien und in Deutsch-
land bis heute erhalten sind. In kleinen Zügen weichen sie von der alten
Fassung ab. Der Baumeister ist entweder ein Riese oder ein kunstfertiger
Zwerg oder der Teufel; er verspricht, einen Bau während der Rächt aus-
zuführen und verlangt als Lohn die Seele eines Menschen. Berücksichtigen
wir sodann, dass es sich im Mythus um die Gewinnung der Freya handelt,
so ist erklärlich, dass auch in der Volkssage die Frau eine Rolle spielt. Eine
häufige Variation ist auch folgende. Der Hahn ist ein Gewittervogel: man
denke an den roten Hahn als das Sinnbild des Feuers, an den Wetterhahn
und an den Glauben, dass ein im Keller eingemauerter Hahn gutes Wetter
bringe. So konnte es kommen, dass in der Sage anstatt des Gewitters des
Thorr der Hahnenschrei die Vernichtung des Baumeisters herbeiführte,
umsomehr, als die Hahnenkrat das Tageslicht, den Zerstörer alles nächt-
lichen Teufelswerkes, verkündigt und nach der christlichen Überlieferung
die Verleugnung Christi beendet. Den mythischen Zug endlich, dass Smidr
erst vernichtet wird, nachdem seine riesische Art erkannt ist, hat die Volks-
sage darin bewahrt, dass der Baumeister nur dann sein Ziel erreicht, wenn
nicht sein Ra me erraten wird. Im Saterlande nun erscheint diese alte Sage
in zweierlei Gestalt (I, 273). Ein Zimmermeister hat den „babylonischen“
Turm zu bauen, wird aber damit nicht fertig (dieses letzte Moment ist
jedenfalls der Grund gewesen, dass man an den Turm zu Babel dachte);
da kommt ein Männchen namens „ Vatter Fink“ und verspricht ihm Hilfe,
wenn er ihm geben wolle, was seine Frau unter der Schürze trage. Der
26*
384
Siebs :
Meister sagt das zu; als ihm aber nachher einfällt, dass sein Weib schwanger
ist, gerät er in grosse Angst. In der letzten Nacht vor der Vollendung
des Turmes weckt eine alte Nachbarin, die eine kluge Frau ist, durch
Händeklatschen den Hahn: der kräht, und plötzlich ist alles Teufelswerk
verschwunden. Neben dieser Sage ist noch eine andere erhalten. Ein
Mann wird mit dem Kirchenbau, den er übernommen hat, nicht fertig. Da
begegnet ihm ein altes Männchen und verspricht ihm zu helfen, doch nach
drei Tagen müsse der Meister ihm mit Leib und Seele angehören, wenn er
nicht seinen Namen erraten könne. Die Kirche wird vollendet; der Meister
rät und rät — vergebens. In seiner Not kommt er an einer kleinen Hütte
vorbei, und da hört er einen Knaben singen: „heute Abend kommt Yatter
Fink nach Hause und bringt noch einen mit“. So ist das alte Männchen
um seinen Lohn betrogen. Ähnliche Sagen werden aus den verschiedensten
Gegenden berichtet, vgl. Myth.4 454. 856 Nachtr. 158. 302. Ich glaube
nun, dass wir bei der Vergleichung grosses Gewicht auf den Namen des
bösen Zwerges legen müssen. Auf Sild wird erzählt, dass eine Zwergin
das Wiegenlied singt „morgen kommt dein Vater Finn mit dem Kopf
eines Mannes“; dazu vergleiche man die Silder Sage von dem Meermanne
Ekke Nekkepenn, die Dersauer Sage vom Knirrficker (Müllenhoff a. a. 0.
Nr. 411. 419. 416), die Erzählung von dem Trold Fin, der dem Esbern
Snare die Kallundborgkirche bauen hilft, und von dem Riesen Finn, dem
Erbauer der Kirche zu Lund (Myth.4 856. 454). Ich vermute zwischen diesen
Namen einen Zusammenhang. Schon H. Möller hat (das aengl. Volksepos
Kiel 1883 S. 74 fgg., vgl. Müllenhoff, Zs. f. Gesch. VIII, 239) mit Recht
hervorgehoben, dass der auf Sild1) erscheinende Name Vater ,,Finn“ auf
langes i zurückweisen muss: urfrs. *Fin, welches mit Diminutivsuffix -k(e)
im Stl. Fipk ergeben konnte. Das Wort scheint mir eine -wo-Bildung von
der idg. Wurzel peik (peiq) zu sein, vgl. lit. piktas böse, peikiu fluche,
altpreuss. pikuls Teufel (vgl. got. faihipa, ahd. felùda Fehde). Der Stamm idg.
*pikenó- germ. *fiyina- müsste urfrs. *Fin ergeben, der Stamm *piknó- aber
würde nach dem Gesetze der germ. Konsonantendehnung zu der Form *fikk
führen, die mit dem -er der Nomina agentis verbunden, in dem Namen
Knirrfkker erhalten zu sein scheint (eig. einen „bösen Drängegeist“ be-
deutend). Auch der nordische Troldname Finn lässt sich (unter Annahme
alter Wurzelbetonung) aus *fihinaz erklären1 2). Also erstreckt sich die
interessante Übereinstimmung dieser stldischen mit der nordfriesischen
und skandinavischen Sage auch auf die Namensform und das Beiwort
„Vater“.
1) Ygl. urfrs. *min mein, Sild: min; aber sin Sinn, Sild: sen. Vg-1. Siebs, Z. Gesch.
d. engl.-frs. Sprache S. 138. 213.
2) Ygl. Nor een, Altisld. Gramm. 2. Aufl. § 56. Der nord. Zwergname Finnr ist
lautlich damit nicht zu vereinigen, sondern ist wohl Übertragung des Völkernamens Finnr
(der Finne),
Das Saterland.
385
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Was sicli sonst an Teufelssagen im Saterlande bewahrt hat, gipfelt in
zwei Momenten, einerseits im Teufelsbündnisse, anderseits in der Be-
schwörung des Teufels. Yon einem Pakt mit dem Bösen haben wir soeben
erzählt; ähnliches wird mehrfach berichtet. Ein Mann hat sich, um mit
seinem Bau fertig zu werden, dem Teufel verschrieben, und seine Zeit ist
abgelaufen. Da bittet seine Frau den Bösen, er möge so lange Geduld
haben, bis die Kerze, die sie in der Hand halte, ausgebrannt sei. Er willigt
ein, die Frau schluckt das Licht hinunter und der Mann ist gerettet. — Sogar
ein Pastor in Strücklingen stand mit dem Teufel im Einvernehmen. Der
hat ihn einst in Gestalt eines schwarzen Hundes verteidigt; und als einem
Mädchen des Kirchspieles von einem Langholter ihr goldenes Kreuz ge-
stohlen war und der Pastor bekannt machte, der Teufel wel’de dem Diebe
den Hals um drehen, ward das gestohlene Gut schleunigst zurückgebracht.
Ein solcher Erfolg ist natürlich nur dann denkbar, wenn nicht die Diebe,
wie es oft der Fall ist, selbst mit dem Teufel verbündet sind. Das aber
kann man niemals wissen. Sicher ist es bloss von einer einzigen Klasse
von Leuten: den Freimaurern. Sie sind sehr eifrig bemüht, ihre Zahl zu
vermehren, weil in jedem Jahre einer von ihnen durchs Loos bestimmt
wird zu sterben; dem dreht der Teufel den Hals um.
Zur Beschwörung ist alles Christliche, alles Kirchliche gut: der Käme
Gottes, das Kreuz, auch ein sogenanntes hilgedöm, ein kleines Täschchen
mit einem Heiligenbilde, das man als Amulet trägt. Begegnet einem der
Teufel auf dem Wege, so kann man ihn durch Schläge vertreiben, es
müssen aber je drei Hiebe oder doch wenigstens deren eine ungrade Zahl
sein; kommt er ins Haus, so ist ein Schuss in den Schornstein von Hutzen.
In Strücklingen erzählte man mir folgende Geschichte:
„Op’t klaster (Kloster in Bokelesch), der iz sö’n gewisen Gerd Hyrman
wezen, un dö iz ’er wäigeen trüg de busk, un det fövtpad iz geen ür ’e löge
treie (Holl. trele Steg). Un az ’er bl de löge treie kumt un wol ’er vr (über),
dö sit dl dywel der bl strld (grätschweise vgl. stridje grätschen) vr de treie.
Un dö kwad ’er: „schike bl (mach, dass du weg kommst!), det’k derür kon!“
Det wol dl dywel- nit. Dö gugt ’er bl un nimt sin stok un lait him treie (drei)
derür. Dö gugt ’er bl un paket en stok op’t öür end öun un slacht him wler
treie ür. Dö kwad di dywel, hl schel noch emäl slö. „Na,“ kwet ’er, „un nimt
den stok wler üme un slacht him noch wier treie ür. Dö wikt di dywel. Dö
gugt Gerd Hyrman derür un eter hüs toi7. De öür nacht dö kumt ’er en steme
buper ’n schösten: „Gerd Hyrman, wir besteh Dö gugt ’er bl un gript det
i'bür (Rohr, d. h. Flinte) un schiyt (schiesst) in ’n schösten; eters het hi niks
wier fon ’n dywel herd.“
Der Teufel erscheint auch manchmal in Bezeichnungen und Redens-
arten, die auf ernstlichem Aberglauben nicht beruhen. Eine Pflanze
(ranunculus sceleratus) heisst dywelsbit. Ein gebräuchlicher Spruch ist:
»wan ’t rlnt un de sune schint, dan sit de dywel op Wldsbe'rgen un bakt
386
Siebs:
pörjküke“. Oft auch hört man sagen: „best dä di djjwel, dein ben ik din gröt-
möuder.“ Wir dürfen darin das riesische Moment erkennen, dass die Mutter
(vgl. Grendles mödor) mächtiger ist, als der Teufel selbst. Auch in einer
saterländischen Sage erscheint des Teufels Grossmutter (II, 10). Ein
junges Mädchen ward an der Himmelsthür abgewiesen, weil sie hei Leb-
zeiten sehr eitel gewesen war. „Sie ging wieder zurück auf den Himmels-
weg, der nahe am Himmel schön und lieblich war, dann aber schmal und
dornig wurde, und wanderte solange, bis sie zu einem andern Wege kam,
der breit und anmutig anzusehen war . . .“ Das ist rein biblisch. „Blumen
und allerlei blühendes Gesträuch prangten am Wege und dufteten gar lieb-
lich“ u. s. w. — eine Schilderung, die lebhaft an das Märchen von der Frau
Holle erinnert. „Wie sie eine gute Strecke gewandelt war, gelangte sie
endlich an die Hölle. Dort wurde sie freundlich bewillkommnet“ (die Gross-
mutter, Mutter oder Schwester des Biesen und des Teufels zeigt sich immer
zunächst mildgesinnt und mitleidig!) „und eine alte Frau, die in einem
grossen Sessel sass, trat auf sie zu und hatte ein grosses Horn in der Hand,
und durch das grosse Horn blies die alte Frau sie an, da stand sie auf
einmal in hellen Flammen und musste nun ewig brennen.“ Merkwürdig
ist in dieser Sage, dass hier nicht wie sonst nur von einem Anblasen zum
Zwecke der Bezauberung die Rede ist, sondern dass das Hornblasen liier
der Entzündung des Höllenfeuers vorangeht (vgl. auch die „ubele hornbläse“
der Kaiserchronik Myth.4 886).
Wie die Riesen-, so scheinen auch die Elbensagen ganz im Teufels-
und Hexenglauben aufgegangen zu sein.
Yon Zwergen ist mir nichts bekannt geworden, weder von den Alrunen
(I, 396) noch von den ölken oder ölkers. Sie sollen (Kuhn und Schwartz,
Nordd. Sagen etc. S. 288 fgg. 324. 485) bei Holleberg, in der Mähe von
Hollen gehaust haben: sie stahlen den Leuten ihr Hausgerät, molken die
Kühe, ja sie raubten gar einmal ein Mädchen. Als ihr König gestorben
war, sind sie ausgewandert und haben sich von einem Fährmann in Leer-
ort über die Ems setzen lassen. Diese Sage von dem Abzüge des kleinen
Yolkes ist ja auch aus anderen Gegenden bekannt, ln grossen Grabhügeln
sollen die ölkers beerdigt sein, und die Urnen, die darin gefunden werden,
heissen darum „ölkerspött“. Was der Käme ölk eigentlich bedeutet, und
inwieweit er mit alk, ülk, üllerk — so heissen anderwärts die Zwerge —
verwandt ist (vgl. mhd. ülve), ist nicht sicher; ich möchte an eine (wenn
auch erst späte) Yerkniipfung mit ostfrs.-plattd. ölk „böse, hässlich“ denken,
vgl. ndl. oolijk, mnld. odelijc „gering“. — Einen anderen Zwergnamen er-
wähnt Beninga in seiner ostfries. Chronik. Yor langen Zeiten seien die
Normännchen, kleine Leute aus Norwegen, ins Saterland gekommen, hätten
die Einwohner unterworfen und verlangt, sie sollten sich vor ihnen beugen.
Das habe der König der heidnischen Normännchen nicht erreicht und habe
darum ganz niedrige Kirchthüren und diese gegen den christlichen Brauch
Das Saterland.
387
alle an der Nordseite anlegen lassen: wenn nun die Saterländer zum Gottes-
dienst gehen wollten, mussten sie sich bücken (II, 225). Woher kommt
diese eigentümliche Sage? Man könnte meinen: weil die Zwerge heidnisch
sind, die Normannen aber, welche den Friesen durch die wiederholten
Invasionen bekannt waren, als hethena thiad xar e^opjv galten, so bezeichnete
man das Zwergvolk als „Normännchen“. Indes hin ich geneigt, die ganze
Sage als eine volksetymologische Deutung des Normannennamens zu er-
klären: när ist „elend, winzig, enge“ (germ. Stamm *narwa-), also „die
winzigen Männchen“.
Zu dem Teufel stehen in engster Beziehung die Hexen: fast alle
Hexerei (hekstere*) beruht auf einem Bündnisse mit ihm, sei es, dass dieses
direkt mit dem Bösen abgeschlossen, sei es, dass die Kunst des Hexens
ererbt oder freiwillig erlernt ist. Die völlige Abhängigkeit der Hexen von
der Gestalt des Teufels hat sich wie diese selbst natürlich erst unter christ-
lichen Einflüssen in später Zeit ausgebildet. Man schwört Gott und die
Heiligen ab, indem man, eine schwarze Henne in den Armen, dreimal
den Kirchhof gegen die Sonne umwandelt; auch durch Formeln kann es
geschehen (I, 295). Solche Mittel der Lossagung vom Guten, anderseits
die Gebete, mit denen man sich wieder vom Teufelsbündnisse lösen kann
und alle die rein christlichen Mittel gegen Behexung1) sind auch in
anderen Gegenden bezeugt. Hier sollen nur die wichtigsten heidnischen
Züge erwähnt werden. — Das saterländisclie Wort Kekse ist aus dem Hoch-
deutschen entlehnt. Es bedeutet wohl den weiblichen bösen Dämon1 2 *),
der im Walde haust, und zu dieser Bezeichnung stimmt, dass die Hexen
— im Gegensätze zu den Riesen, Elben, Maren u. s. w. — stets böse,
niemals gütige Gesinnung zeigen. Aller Hexenzauber wirkt schädigend.
1) Das Zeichen des Kreuzes, das Weihwasser, das lülgedöm (s. o. S. 385), Glocken-
geläute, Anschreiben der Buchstaben C. M. B. (Caspar, Melchior, Balthasar sind die
Namen der heiligen drei Könige) u. a. m.
2) Zu vergleichen ist skr. däsyus „der den Göttern feindliche Dämon“, ein mit idg.
Suffix -iu- aus der idg. Wurzel des „feindlich sein, anfeinden“ gebildetes Maskulinum.
Ein von derselben Wurzel germ. tes abgeleitetes -/ö-Femininum ist urgerm. *tisjö, altengl.
tiss(e), althochd. -zisse, -zissa. Da der Dämonen Reich die Luft ist, sind feindliche Dämonen
erklärlicherweise Personifikationen des Sturmes und Unwetters. Das lehren viele Sagen
und Ausdrücke. Die Hexen („Wetterhexen“) gelten im Volke als Erregerinnen des Ge-
witters; ahd. zessa, mhd. zesse bedeutet „Sturm“, „Unwetter“, und Geiler von Kaisersberg
nennt die Hexe eine „Zessenmacherin“. Dieses zessa scheint ebenfalls ein von der idg.
Wurzel des gebildetes Femininum zu sein: idg. *desnä- wird germ. *tessö-, ahd. zessa.
Berühren sich nun hierin die Hexen als physikalische Gottheiten eng mit den Walküren,
die durch Luft und Wasser ziehen, so dachte man sie sich wie auch diese im Walde
hausend: ahd. hagzissa, vgl. mnld. haghetisse, altengl. hoegtes, hcegtesse. Das u der ahd.
Formen hagazussa, hagzus ist wohl volksetymologische Anlehnung an Formen der germ.
Wurzel tus (ahd. züs) „zausen“. [Der früher viel umstrittene Name der augsburgischen
Göttin Cisa, Zisa (Mythol.4 242 ff.) ist längst als eine zur Erklärung des Namens Ciesburc
gemachte Erfindung abgethan worden; es ist aber nicht ausgeschlossen, dass zu dieser das
Wort -zissa in der oben erklärten Bedeutung mitgewirkt hat, zumal ja öfters Namen von
Halbgottheiten auf die Götter angewandt werden.]
388
Siebs:
Er richtet sich entweder direkt gegen die Menschen, besonders gegen die
wehrlosen Kinder, oder wider den Besitz und die Arbeit der Menschen,
nämlich gegen das Yieh, gegen Land- und Hauswirtschaft. Schon der
Blick der Hexe, das Ansehen mit dem mal’occhio, kann Menschen und
Tieren schaden oder gar den Tod bringen. Dieses „Entsehen“ wird in
gewissen frs. Gegenden, z. B. auf Wangeroog als sehr bezeichnet, d. h.
„genau ansehen“ (vgl. verschieren Bremer Wörter!). IY, 661). „Djü heks
he vz half schlrd, et liyt ’er al fjaurhaind strebet“ heisst es dort, wenn die
Hexe das Kalb „entsehen“ hat, dass es „vierbeinig gestreckt“ daliegt (vgl.
Frs. Arch. II, 14). Man vermeidet ängstlich, dass ein verdächtiges Weib
ein neugeborenes Kind ansehe oder es gar lobe und berühre. Doch auch
Erwachsenen können die Hexen Krankheit und sonstiges Unheil bringen,
besonders indem sie ihnen Kränze flechten und heimlich in die Betten
stecken. Der Mensch, dessen Lagerstatt diese Yerschlingungen enthält,
erkrankt und muss sterben, sofern das böse Werk nicht bald entdeckt und
verbrannt wird (I, 308); so auch das Yieh, dessen Stall solche Dinge birgt.
Dieser im Saterlande sehr verbreitete Aberglaube ist auch aus anderen
friesischen Gegenden bekannt. Müllenhoff (Schleswig-holst. Sagen S. 223)
erzählt, wie ein junges Ehepaar, in dessen Bett die Hexen Ringe und
Kränze gestopft und Unfrieden geflochten haben, in Zank und Hader gerät.
Das erinnert an die aus anderen Gebieten stammenden Berichte vom Restei-
knüpfen, das Zwietracht unter jungen Eheleuten stiftet. Schlingen und
Winden ist die Arbeit der Körnen: „deet Wyrd geweef“ bezeichnete dem
Angelsachsen das Wirken der Schicksälsmächte. Hier berühren sich die
Hexensagen aufs engste mit dem Glauben an die unheilvollen Schwestern,
die den Schicksalsfaden weben1).
Den Feldbau verheeren die Hexen, nicht nur, indem sie Unwetter
erregen, sondern auch dadurch, dass sie Ungeziefer über das Land
bringen. In den ostfriesischen Hexensagen spielt die Mäuseplage eine
grosse Rolle. Man hat die fruchtspendende Nerthus als Urbild der heiligen
Gertrud von Hivelles betrachtet, die als Schutz gegen Mäusefrass angerufen
ward; im Gegensätze dazu erscheinen die Hexen als Mäusemacherinnen
1) Der altnord. Karne norn (germ. *norno, Plur. an. norner, nach Analogie der
¿-Stämme) bedeutet wahrscheinlich „Verschlingung, Verknüpfung“. Ich stelle das Wort
indessen nicht mit Schade zu einer idg. Wurzel snerk2 (germ. subst. *norhni-), sondern halte
es für ein abstraktes nö-Femininum, welches mit der Tiefstufe nr der idg. W. ner gebildet
ist, vgl. lit. neriü, nerti „einfädeln“, narinu „einen Knoten, eine Schlinge machen“. Fick
et. Wb. 11 503 hat ohne Grund diese W. ner von der W. ner „eintauchen“ geschieden.
Die Wurzel ist in beiden Fällen die gleiche (Leskien, Der Ablaut im Lit. S. 337) und somit
dieselbe, die Weinhold seiner Deutung der Körnen als Wassergöttinnen zugrunde gelegt
hat (Zs. f. d. Alt. VI, 460). Auch für diese Auffassung der Körnen bietet übrigens die frs.
Sage eine Anknüpfung, indem die drei Hexen (die englischen Weirdsisters), nachdem sie
Beratung gehalten, auf dem Meere als Sturzwellen ein Schiff zu vernichten suchen (siehe
die Wangerooger Sage im frs. Archiv II, 82 fgg. und die Silder Sage bei Müllenhoff
a. a. 0. S. 224).
Das Saterland.
389
(Myth. 912): es gilt als Zeichen einer ausgelernten Hexe, vollkommene
Mäuse schaffen zu können, während es ihr in der Lehrzeit meist nur ge-
lingt, ungeschwänzte zu machen. Man geht zu weit, wenn man solche
Sagen mit dem Glauben an die Verwandlung der Seele in Tiergestalt ver-
bindet; sie sollen eben nur das verderbliche Thun der Hexen bekurfden.
Die Schädigung ist der Inbegriff all ihres Zaubers; es ist undenkbar, dass
sie je Gutes wirken könnten. Ihre Gaben verwandeln sich, wie die des
Teufels, in Kot; nicht einmal das Unheil, das sie selbst berufen haben,
können sie bannen. Eine Hexe gestand ihrem Manne ein, dass sie Gewitter
erregen könne und bezeichnete zum Beweise einen Baum, den der Blitz
treffen sollte. Der Mann band sie daran fest, und sie ward erschlagen
(I, 342).
Mancherlei Mittel giebt es, die gegen den bösen Hexenzauber schützen.
Yon den auf späterem christlichen Einfluss beruhenden sehen wir ab. — Die
meisten Hexen fallen schon durch ihr Aussehen auf, sie verraten sich durch
die geröteten, triefenden Augen, durch den Bart oder durch die tiefe Stimme;
doch giebt es auch solche, die sich nur in gewissen Situationen oder durch
Zaubermittel erkennen lassen. Läuft die Hexe hinter einem Wiesel (wizelke)
her, so fällt sie. Es braucht nicht das Hermelin zu sein, das schon seiner
weissen Farbe halber als heilig gilt; auch das braune Wiesel, das Sinnbild
der schönen Frau, ist ein geheimnisvolles Zaubertier, über das die Hexe
keine Macht hat (Myth. 254. 494). Unter einer Egge, besonders einer Erb-
egge liegend, kann man unbeschadet dem Treiben der Hexen zusehen —
sei es, dass hier das Ackergerät als solches, sei es, dass nach christlicher
Anschauung die Kreuzstellung der Kägel Schutz gewährt. Bekannt ist auch,
dass gewisse Kräuter geistersichtig machen: wie es in manchen Gegenden
z. B. vom Gundermann gilt, so im Saterlande vom Brombeerstrauch. Auf
ihn verwünscht man die wälrtderske (s. u. S. 392), aus seinem Gedeihen
weissagt man die Ernte, und man erkennt die Hexen, wenn man heimlich
einen Brombeerzweig bei sich trägt. Soweit die Erkennung; als die
kräftigsten Gegenmittel gegen allen Hexenschaden gelten erklärlicher-
weise die Symbole der Fruchtbarkeit: Salz, Erde und Brot; ferner das
Feuer, das im Feuer gehärtete Eisen und das weisse, leuchtende Silber.
Weit verbreitet ist ja der Brauch, das Yieh vor dem ersten Austrieb mit
Salz zu bestreuen (I, 353). Man sagte mir: „wan det fei bl förjirsdai det
erste mal ütlet’ wud, dein wüd ’er seilt öpsmften, un det wud in de he‘re öun-
wrluen, det et dercine bleu.“ Keugebornen Kindern legt man Salz auf die
Zunge, dem neugebornen Yieh Salz oder Erde. Besonders die mit Gras
bewachsene Erde hat schützende Kraft: mit grünem Rasensoden bedeckt
ist man gegen Zauber gefeit. Salz und Brot ist den Hexen sehr gefähr-
lich. Schiesst man mit Brotkrumen nach ihnen, wenn sie in der Gewitter-
wolke daherziehen, so fallen sie in Menschengestalt tot zu Boden. Auch
der Schuss mit ererbtem Silber kann sie verwunden. Ein Müllerknecht zu
390
Siebs:
Scharrel sah hei Melenkiüs (Mühlenkreuz) eine Menge Katzen; da lud er
einen vom Yater ererbten silbernen Knopf in die Büchse und schoss: am
folgenden Tage waren verschiedene Frauen im Dorfe verwundet (I, 356).
Auch die glühende Kohle, die am pdskefiür (s. Ostergebräuche S. 274) ent-
zündet ist, schützt gegen Zauber. Der heimische Herd, auf dem sie brennt,
ist das Sinnbild des Hauses, und in seinem Bereiche ist man gesichert.
Deshalb werden die jungen Kälber nicht über die Schwelle des Hauses ge-
trieben, sondern getragen, als ob sie so in seinem Schutze verblieben. —
Alle diese Mittel aber werden nicht nur wirkungslos, sondern sogar verderb-
lich, wenn wir sie aus unserer Macht geben. Darum ist es höchst gefähr-
lich, Salz, Brot oder gar die Kohle vom Herde auszuleihen.
Der Schutz gegen die Hexen ist dadurch erschwert, dass sie ihre
Gestalt wandeln können. Meist sind es, wie auch in den Teufelssagen,
bösartige oder verachtete Tiere; wird eine Farbe genannt, so ist es in der
Regel die schwarze; Tiere, die in der christlichen Religion Sinnbild der
Gottheit sind, wie Lamm und Taube, kommen selbstverständlich nicht mehr
in Frage. Dass diese Sagen mit dem Aberglauben vom Angang Zusammen-
hängen, ist erklärlich. Die grösste Rolle spielt im Hexen- und Kobold-
glauben überall die Verwandlung in Katzen, nicht etwa, weil die Katze der
Frija heilig war (Myth. 873), sondern weil sie das geheimnisvollste der
Haustiere und ein Nachttier ist. Schon oben haben wir erzählt, dass Hexen
in solcher Gestalt gesehen wurden. Eine andere Geschichte berichtet man
in Scharrel (Nordd. Sagen S. 287, vgl. I, 331). Einem Bauer ward immer
über Nacht das Bier ausgetrunken, darum beschliesst er, beim Braukessel
Wache zu halten. Da kommen viele Katzen, und er ruft: „kommt pusken,
kommt katken, kommt wärmet ju wat!“ (saterld. müsste es heissen „kumt
püsken, kumt katken, kumt wärmet jöö wet!“). Sie setzen sich ums Feuer; da
bespritzt er sie mit kochendem Wasser, und im Nu ist alles verschwunden.
Am andern Morgen aber hat des Bauers Frau ein ganz verbranntes Ge-
sicht gehabt. Zuweilen erscheinen die Hexen auch als Hasen (I, 333);
gewöhnlicher ist die Gestalt der Sau, des Bockes, der Kröte u. a. m. Tiere
spüren solchen Spuk weit eher als der Mensch, besonders Pferde und
Hunde gelten als geistersichtig. In Scharrel hörte ich darüber Folgendes:
„En pör hunert trede (Schritte) in ’t weste fon kalk öuger (vgl. oben
S. 274), der iz dl higstekolk (Hengstkolk), wir ze töfdren ’s medens med dai-
weden (Tagwerden) en schimel ütkumen blöked (gesehen) hebe wolne, dl eter’n
lindepöl bl Geders kiys ferbl ronen weze schel. Hlr wolen ze ök noch mör spök
blöked hebe: enlge fertele fon ’n mute med färgere (Sau mit Ferkeln), üer fon
twö wguljjjde med ’n sek (Sack) op ’e kop. Dl lindepöl, wir nü gerslönd (Gras-
land) iz, was töfärne wäter, un hat ök nü noch lindemer. Insen brochtene
fente (Jungen) der dö hagste in ’ e wede un hälden ze ’s medens med dai-
schnnerjen wler, un dö kernen him ök dö mute med ’e färgere jün, wlrür ze
deine bog (gehörig bange) wudene. Dö stimden jö det led ön „di Ijöue meden
Das Saterland.
391
kumt“ (der liebe Morgen kommt) un gigën stilswigend an den spök fërbi.
Man dö hagste spitsëndë dö öre un fgënë (fegën) ön tö frènêkjën (wiehern),
az wan zë ök wet blôkëd hidën, det nit (g)jucht (recht) was. Det iz wer, dö
hagstë siö (sehen) oftër mör az dë méinskënë, apart (besonders) wan wel stiryë
möt. Ök dö Künde schelnë sö wet siö konë un setë sik dan op ’ë 1rs un huljë
in ëns föd.“
In Tiergestalt erscheinen die Hexen häufig beim nächtlichen Luft-
ritt. Ausfahrt und Körpertausch werden durch Formeln und durch Ein-
schmieren mit einer Salbe erleichtert, die auch Hexenbutter1) genannt
wird. Yon solchem Zauber ward mir in Strücklingen Folgendes erzählt:
„Ôldë loge Remër, di iz in Bàljënë (Bollingen) wêzën, un di iz bi sümer-
dai etër ’t Raidërlôund waigëën töu miôën (mähen), der hed ’ër gers m&nd op
Mdriënkôër. Un di knecht, di hed him fërtelt, det di bür sin wiu jü was ën -
lieksë. Dö kwed Remër töu den knecht, hl sehet ’ër tcigkën of dwö (er soll
denken davon thun, d. h. daran denken), wan jü herüt gugt dë ncïcht üër.
Dö hed zë ën pulkën stëën op ’n schôstënbosèm, dër iz sôluë (Salbe) an wêzën,
dër hed zë sik med smërt, un dein kwed zë: „herütërditüt/1 2) tôu>n schôstën herüt,
gwër busk un brâkë un det tôu Brëmën in 5n winkelërDet hërt di knecht,
di gugt nü ök bï un smërt sik un gugt ok unër ’n schôstën stôundë un kwed
ök: „herütërditüt tôu,n schôstën herüt dgr busk un brâkë“. Dö kumt di knecht
bi det wïumcïnskë tôw Brëmen in 5n winkelër, un dö klôdërë (Kleider) synt cil
kut ritën (entzwei gerissen), wëll det ër trùg busk un brâkë was këmën. Dö
sitë zë sô logé tôu de médëntid (Morgenzeit), dö kwëdë zë tôunônër: ,,nü iz H
tïcl fon etër hüsDö gugt det wiu bi un rakt sik in ’n sêgëbuk (giebt sich
in einen Ziegenbock), dö kwed zë töu 'n knecht, nü schel ’ër op jü sitë gugë.
Dö sprigè zë bet Twiskënânèr mer, man jü kwed fcïrtid tou him, hï môH nën
wud ( Wort) kwëdè. Nü synt zë fâr Twiskënânèr mër, un dö nimt dë sëgebuk
sik op un sprigt ür d mër (über das Meer), un dö ivunërt sik di knecht un
kwed: „det iz ’ën gôudën sprog fon âi twëbënën buk“. Dö feilt hi dèrô11, un
dö hed hl tw&n dëgè gëën ër ër bi ,t wiumcinskë këmën iz op Mdriënkôër.
Zu Trinkgelagen und Schmausereien, besonders aber zu Tänzen
kommen die Hexen nachts an bestimmten Orten zusammen. Solche Plätze
sind im Saterlande bei dem genannten Melënkiüs im Kirchspiele Scharrel,
sodann unter dem Hudënkëbôm und bei dem BudënjëpôH3 *) in Strücklingen.
Es kommt vor, dass zur Nachtzeit die Hexen den Wranderer dort zum
Tanze auffordern und ihn, wenn er Folge leistet, mit Gold belohnen; ihre
1) Dieser Name soll dann auf eine Pilzart übertragen sein (Nordd. S. S. 378, 512),
vgl. unsere „Hexen"- und „Satanspilze“.
2) Man wird hier an das Hornblasen der Hexen erinnert, vgl. Myth. 886; die Sprache
ist plattdeutsch.
3) Hudenkeböm (nicht Jludenjeböm Nordd. S. S. 287, vgl. I, 316) bedeutet wahrschein-
lich „Hornbaum“, d. h. Eckbaum (huden ~ Horn) oder „Hornissenbaum“ (vgl. ndd. horrdü).
Badenjepöul = Quellpfuhl (fbuden = Born, Quelle).
392
Siebs:
Gaben aber verwandeln sieb wie die des* Teufels nachher oft in Kot. In
Strücklingen erzählte man mir:
„G-röt Hinerk fon Holner fän un Jan Frans nt Römelse küme in de
medentid fon ’n Berselder merked un küme in Bälenje bl Hudenkeböm. Dö
kwede dö heksen töu Frans, of ze wel en spil spllje woln, dein schein ze ’n dükät
hebe. Wän det ene spil üt iz, ddn kwede ze „Jan Frans, noch an döns, miden
(morgen) en göHden dükät .“ Jün ’e medentid kumt Jan Frans in ’n slJp, un
hl hed mend, hl hed in ’n sesel seten, un dö sit ’er op en hdgstekbtel, un sin
göHden dükät sit in sin tdskeJ
Mit dem Hexenglauben berühren sich in verschiedenen Punkten die
Marensagen. Sie haben wahrscheinlich ihren letzten Grund im Seelen-
glauben und in der Annahme einer Seelenwanderung, und so erscheinen
auch die Maren oft in Tiergestalt, vornehmlich als Pferde oder als Böcke.
Die Maren kommen aus England, das ja als Heimat der seelischen Geister
gilt. Auf Besenstielen fahren sie durch die Lüfte oder rudern auf einem
Siebe durch die Flut. Sie erscheinen dann als schöne Jungfrauen, und
lieblich tönt ihr Sang. Nimmt man ihnen Hucler und Sieb, so hat man
sie in der Gewalt. In allen diesen Punkten herrscht Übereinstimmung mit
den Walkürensagen. — Im Saterlande heisst die Mare wälriderske; trotz aller
Bemühungen aber habe ich diese Bezeichnung nur in der Redensart gehört
jü wälriderske hed mi itnerheüd“, d. h. „der Alp hat mich untergehabt“.
Auch andere friesische Namen der Mare beruhen auf dem Glauben, dass
sie reitet, sei es auf einem Pferde oder auf einem Stocke. Die Wangerooger
nennen sie rldimjr (nach Ehrentraut, Frs. Arcli. I, 386; II, 16 ridimer),
d. h. „Reitmähre“; es ist wohl eine volksetymologische Angleichung der
a-Form (vgl. ags. mara Mare) an wang. mjr „Mähre, Stute“, sowie auch
das mittelniederländ. Wort mare im neundld. zu (nacht)merrie geworden
ist. Diese rldlmifrs oder bökheksen reiten auf einem bäizemstok, den nordi-
schen tünridur vergleichbar. Da nun altfries. walu-, wale- (ags. wallt)
„Stock“ bedeutet (vgl. nordfrs. Festland wäle, Sild wal), so sind wir be-
rechtigt, stld. wälriderske als „Stockreiterin“ zu erklären1). Die Übersetzung
„Totenreiterin“ und die daraus gefolgerte Beziehung zu dem Namen der
Walküren (vgl. Mogk, Grundriss d. germ. Phil. I, 1014) braucht man also
nicht anzunehmen.
Die eigentlichen Marensagen (I, 375 fgg.) sind heute vollkommen in
dem Hexenglauben aufgegangen, und selbst das Charakteristische, der Alp-
druck, ist zu einem Hexenzauber geworden. Nur aus vereinzelten kleinen
1) Das ostfrs.-plattd. wdlrlder, wanger. wälrider (wö^lrider Frs. arch. I, 386 habe ich
nicht gehört; es ist wohl ein Lehnwort aus dem Plattd.) scheinen spätere Maskulin-
bildungen nach wälriderske zu sein; man vgl. den Glauben an weibliche Werwölfe. —
Das stl. Wort wälriderske (Ndd. Sagen S. 419) habe ich nicht vorgefunden; an eine Form
weilriderske und an die daraus gefolgerte Beziehung zum Spinnrade (stl. weil) glaube ich
nicht (I, 390).
Das Saterland.
393
Zügen lassen sich die älteren Verhältnisse noch erkennen, z. B. daraus,
dass die Maren bisweilen auch Gutes wirken; dass ihre Gaben im Gegen-
sätze zu denen der Hexen gering scheinen, sich aber später in Schätze
verwandeln u. a. m. Die Maren handeln nicht wie die Hexen aus freiem
bösem Triebe, sondern durch eine unglückselige Bestimmung gezwungen.
Das um Mitte Oktober in der Galluswoche geborene Mädchen ist eine
ivdlriderske; unter sieben Mädchen ist stets eine Mare. Man schützt sich
vor ihr am besten, indem man Schlüssellöcher und Thürritzen verstopft,
denn nur durch diese darf sie eindringen; auch ist es gut, dass man eine
Hechel mit Zinken über sich lege, um die Mare aufzuspiessen, oder dass
man die Schuhe umgedreht vor das Bett stelle — dann glaubt sie, man
sei nicht daheim.
Selten nur hört man vom Werwolfe reden. Über die eigentliche Be-
deutung dieses Wortes geben uns auch die niederdeutschen und friesischen
Mundarten keinen Aufschluss, denn eine einheitliche Grundform lässt sich
nicht gewinnen. Auf altes e scheint ndd. werwulf zurückzuweisen, woraus
mit volksetymologischer Umdeutung wederwulf gemacht ist (Doornkaat
Ostfrs. Wb. III, 543, Mnd. Wb. V, 609); ndd. warwidf erinnert an wargest
„Unfrieden stiftender Geist, Wirrgeist?“ Eine (nicht umgelautete) a-Form
setzen sowohl ndd. waarwulf (Bremer Wb. V, 201, vgl. ndl. waren „um-
gehen, spuken“), als auch die auf Wangeroog geltenden Bezeichnungen
voraus. Hier nennt man scheltend einen gewaltthätigen Menschen wöerwülf
oder auch möerwülf (jk möer „ich morde“). Im Saterlande habe ich von
dem Wolfe nur als von einem Korndämon gehört (vgl. Mannhardt, Roggen-
wolf passim), und zwar scheint er hier mit dem Kornbär verschmolzen zu
sein, denn man nennt ihn bärewulf. „Bareioulf sit in 'n rage un gript dö
bPdene (Kinder), wein jl in de röge käme“ (Hollen). Alle diese frs. Formen
können weder mit einem alten wer zusammeiigestellt werden, noch mit
ahd. *wariwolf (ags. werewulf), welches Kögel (Grundriss d. germ. Phil. I,
1017) mit got. wasjan verknüpft und treffend als „Wolfskleid“ erklärt hat:
dem ahd. *wariwolf müsste altfrs. *werewulf, wanger. *wyriwülf entsprechen.
Ich vermute, dass ahd. *wariwolf wie so viele andere Formen (wederwulf;
wehrwolf; vgl. meerwolf, beerwolf Myth. III, 316) die volksetymologische
Umgestaltung eines nicht mehr verstandenen Wortes war. Das altnord.
vargülfr bietet hier jedenfalls die beste Stütze: ich glaube, dass wir einer-
seits an got. wargs, altsächs. warg, anderseits an got. (gd)wargjan, ags.
wergan (werian) ahd. wergan anknüpfen und damit sowohl die a- als auch
die ¿-Formen erklären müssen.
Wir haben Hexen und Maren als Luftfahrende kennen gelernt; aber
davon, dass sie im Gefolge der grossen Götter erscheinen, weiss die heutige
Sage nichts mehr. Strackerjan (I, 369 fgg.) erzählt, dass die Saterländer
den wilden Jäger mit dem früheren Herrn von Esterwege im Kirchspiele
Lorup identificierten: mit bellender Meute ziehe der Wojnjäger durch die
394
Siebs:
Lüfte, das ganze Jahr hindurch müsse er jagen — mit Ausnahme der
hellen Nächte. Der Name Wojnjäger = Wodanjäger klingt ebenso verdächtig
wie der angebliche Name des vierten Wochentages = Goudensdej (II, 24)1)-
Man sagt in Hollen „dl wegen wed jaget“, d. h. „der Wagen wird gejagt,
schnell gefahren“, also kann „ Wojnjäger“ im Stk einen „Wagenjäger“ be-
deuten. Vielleicht weist das auf die namentlich in Westfalen verbreitete
Sage hin (Kuhn, Westfäl. Sagen IT, 87), dass der wilde Jäger den Himmels-
wagen (d. h. den grossen Bär) lenke. Da nun nicht nur die Plejaden-
gruppe, sondern auch der Wagen oft als Siebengestirn bezeichnet wird, so
scheinen mit der Sage vom „Wojnjäger“ die von Strackerjan erwähnten
und gar oft wiederholten „dunkeln Beziehungen des wilden Jägers zum
Siebengestirn“ gemeint zu sein. Von der wilden Jagd und vom „Welt-
jäger“ (Nordd. S. S. 290. 427. 504), überhaupt von Wodan und Frija habe
ich sonst keine Spur vorgefunden. In Scharrel freilich ward mir erzählt,
dass ein Schäfer mit seiner Herde nächtens spuken solle.
„En scheper, dl schel hlr med ’n kopel schepe ’s nächens herüme wedje;
det wed fon enlge hlr kweden, det ze ’n wurtelk (wirklich) blöked hebe. Fon
Farmesönd (Fermessand) kumt er her un drift eter schepmer wai.“ Es wäre
aber gesucht, darin eine Beziehung auf Wodan als Hirten sehen zu
wollen.
Wir haben hier wahrscheinlich mit einem NacKspuk zu rechnen, wie
er an mehreren Orten umgehen soll und namentlich da, wo ein Mord
geschehen ist. Ein alter Scharreier erzählte mir Folgendes (vgl. II, 226).
„In olde tlden, der schelen hlr twen wezen hebe, dö hebe sik In ’en ver
herütfreged, (herausgefordert), det jö wölne sik hööe, un dö hebe ze sik der
hööen bl Mylers hvs bl de liebreg, je. Der iz dl ene död kernen. Un dö synt
ze bl gen hlr un hebe him der en sten set’, un dl sten di schul sö ’n twen bet
tredel föt (2 — 272 Fuss) in ’t fjöörkant (Viereck) wcze. Un bope was di
plat, un der was en fiöökantlg gat önhööen, un der hed en kiys (Kreuz) eine
sten. Je, den sten, den heb ik noch blöked, man det kiys, det wa’ der al vte.
In Utende ward mir folgende Spukgeschichte berichtet:
„Det iz nü trjöhunert jlr her, dö sunt ’er tweln bröuere, dö frele eter en
wucht (Mädchen), un t’Uwens (abends), as ze eter hvs töu guye, gmjt dl ene
farüt, un bl Kräkenbernds hvs töu Utende, dö gmjt hl uner de trele (Steg)
siten; as dl öuer kumt op djü trele, dö stat hl him med ’t säks (Messer) in t
hu. Dö rvp hl: „tehme in min elrme“ (Gedärme in meinen Armen) un
störw. Di det nü dedn hed, iz weg ronen un iz med ’e mute ür de el faden
(gefahren), dö iz hl eter de Berfke (Flurname) ronen un der hed hl sik
1) Alle fries. Mundarten, die den alten Xamen bewahrt haben, zeigen anlautendes
w, z. B. neuwestfrs. w ans dl (Grouw), tvänsde (Hindeloopen) etc., nordfrs. winsdai (Sild),
wedensdäi (Oldsuin), wiensdei (Wiedingharde) u. s. w.; vgl. ostfrs.-plattd. wunsdag. Anl. g
ist nur im Ndd. zu belegen, z. B. gudensdag 1475 (Friedländer Nr. 1530), neuwestfäl.
guensdag.
Das Saterland.
395
ferhäled (erholt); wir hi eters blivn iz, det wet ik nit. Nü schel hi noch
spöukenje: wem der 'n mutjer wai fart, dein let ’er sik ürsete un bitälet tweln
gröte, dö lait ’er op ’en mestbeirjk del.“
Solche Geschichten erhalten sich meist in einer ganz bestimmten
Fassung: zu verschiedenen Zeiten sind sie mir mit fast gleichen Worten
erzählt worden; ja zuweilen stimmen sie, soweit das aus dem hochdeutschen
Texte zu erschlossen ist, fast wörtlich zu den Berichten Strackerjans, die
um ein halbes Jahrhundert älter sind (vgl. z. B. I, 184; II, 226).
VIII. Lebensweise und Erwerbsquellen.
Die Beschreibung der Lebensweise und des Erwerbes sind nicht zu
trennen. — Früher waren die meisten Saterländer Schiffer (bötjer). Sie
verdienten ihr Brot damit, dass sie die Produkte Westfalens, die zu Lande
nach Ellerbrok gebracht wurden, von dort in ihren Booten die Leda hinab
nach Leer und Emden fuhren und Erzeugnisse Ostfrieslands, namentlich
Butter und Käse, als Rückfracht nahmen; andere zogen in ihren Booten
grosse Steine, die aus der Gegend des Hümmling, von Lorup und Wrees,
auf Wagen nach Ellerbrok geschafft waren, stromabwärts nach Utende, wo
sie zu weiterem Transporte verladen wurden. Diese bötjerei gab schweren
und nur geringen Verdienst. Sie hat ganz aufgehört, seitdem durch die
Eisenbahnen ein bequemerer und schnellerer Verkehr zwischen dem west-
fälischen Hinterlande und der Kordseeküste ermöglicht ist. Einzelne
Schiffer nur haben das Gewerbe aufrecht erhalten: die einen haben kleine
Seeschiffe (schipe), mit denen sie nach Emden und dann über See fahren;
die anderen haben sogenannte muten (eigentlich „Säue“) oder auch höhte
(halbe) muten, die in Strücklingen gebaut sind und darin führen sie auf
den Kanälen Torf nach Barssei und Augustfehn.
Mit diesem Schiffergewerbe hängen verschiedene Weisen der Moor-
kultur zusammen. In erster Linie nämlich geschieht sie durch die grossen
Kanalanlagen, die 1840 begonnen und seitdem stetig gefördert worden
sind. Der Bau dieser wichtigen Wasserstrassen hat sich nur dadurch er-
möglichen lassen, dass die Moorstrecken, durch welche sie führen sollten,
besiedelt wurden; denn die ausgegrabene Masse musste zur Torffabrikation
verwandt werden. Darum sind grosse Torfgräberkolonate gegründet
worden, und diese sind laut der Bevölkerungsstatistik in gutem Auf-
schwünge. Kolonisation und Kanalbau schreiten gemeinsam allmählich
weiter aufwärts, z. B. ist der bei Ubbehausen in die Saterems mündende
und von da begonnene „Saterländische Westkanal“ bis nach Strücklingen
südwärts fortgeführt (s. oben S. 239); der ausgegrabene Torf ist mit Booten
die Leda abwärts gebracht worden. Katiirlich tritt durch diese Anlagen
das Saterland in engere Verbindung mit der Aussenwelt; und wie jene
Siedlungen in den letzten zehn Jahren das Kirchspiel Strücklingen in
396
Siebs:
seinem Charakter sehr verändert haben, so werden sie vielleicht auch bald
die Eigenart des übrigen saterländischen Gebietes vernichten.
Eine andere Art der Urbarmachung ist die sogenannte „Fehnkultur“
(plattd. fen, vgl. stl. fern „Moor“). Die obere Schicht des Moores wird
abgestochen und als Torf auf den Wasserstrassen in die Marsch geführt.
Yon dort bringen die Schiffer tierischen Dünger und Schlick zurück; der
wird auf die ahgetorfte Fläche geworfen und giebt, mit dem Moorboden
vermischt, ertragfähiges Land. Das Aussehen solcher Strecken ändert sich
bald: an die Stelle des Gagelstrauches (post) der Sumpfheide und der
gemeinen Heide, welche hauptsächlich die Flora des unkultivierten Moores
ausmachen, treten das duftende Ruchgras und verschiedene Arten des
Klees. Diese Art der Bodenverbesserung ist natürlich nur dort denkbar,
wo Wasserstrassen den Transport erlauben. Die Ausfuhr des leichten,
billigen Torfes der oberen Moorschichten hat dann zur Gründung von
grossen Fehnanlagen, Torfexportplätzen, geführt, unter denen Rhauderfehn
und Augustfehn die bedeutendsten sind. Diese letztere Anlage hat dem
Lande besonders grossen Vorteil gebracht, da sie seihst grosse Massen von
Torf verbraucht. In Hüttenwerken wird dort nämlich Roheisen verarbeitet,
und der billige Torf wird teils als Brennmaterial, teils in Form von Torf-
gas zur Eisen- und Stahlbereitung verwandt.
Eine dritte Art der Melioration, die Überdeckung des zu beackernden
Moorbodens mit einer Sandschicht (Dammkultur), hat im Saterlande keinen
Erfolg gehabt, und auch die Versuche, den Ackerbau durch Aufträgen von
Kunstdünger (namentlich von Kali) auf das Heideland zu fördern, haben
nachgelassen. Im eigentlichen Saterlande herrscht im allgemeinen noch die
alte Brandkultur. Das Moor ist von der Gemeinde (bzw. vom Staate)
auf bestimmte Zeit an die einzelnen Bauern „ausgewiesen“, und die be-
trachten es, so lange sie es bewirtschaften, als ihr Eigentum. Ist es einige
Jahre lang genutzt, so muss es Jahrzehnte hindurch brach liegen: es fällt
an die Gemeinde zurück, und der Bauer erhält ein anderes Stück zur
Bewirtschaftung.
Sobald der Winter vorbei und das Moor zugänglich ist, um Ende März
oder Anfang April, beginnt dort die Arbeit. Gesetzt, man hat ein fän von
50 Schritt Breite (die Längenausdehnung ist selbstverständlich nicht be-
grenzt) und will davon einen klep (d. h. Abschnitt, 300 Fuss) bearbeiten,
so muss man zuerst Abzugsrinnen graben (grupje). Durch diese teilt man
10 Acker, jeden von 5 Schritt Breite und 100 Schritt Länge, ab; dann
hackt man sie auf (heJcje) und lässt sie trocknen. Ist die Witterung günstig,
so geht das schnell, und bald kann gebrannt werden (smele). Man nimmt
dann eine alte Pfanne (pöpkükspone) voll fän, zündet das an und lässt,
indem man die Acker entlang geht, hier und da etwas Feuer fallen. Bei
Sonne und starkem Wind brennt das Moor gut ab und bleibt nun bis Ende
Mai liegen. Anfang Juni wird Buchweizen (böukete) gesäet und mit der
Das Saterland.
397
Egge {aide) eingeharkt; ist das Land noch neig so wird er auch wohl mit
der umgedrehten Egge eingeschläuft (öunslurje). Den Pferden, die vor-
gespannt werden, bindet man kleine runde Holzbricken (hcirjstebrike) unter
die Hufe, um ihnen eine grössere Fläche zu geben und so das Einsinken
auf dem Moorboden zu verhindern. Ist der Acker geebnet (sliuchtje), so
lässt man den Buchweizen keimen, wachsen und reifen (kme, wäkse, rlp
welde), und zu Anfang September kann man ihn mähen (w, prät. melnde,,
part. melnd). Man bindet ihn in Garben (ntnime, d. li. ausnehmen), lässt
ihn acht Tage lang trocknen, wendet einmal, lässt ihn noch ein paar Tage
liegen und fährt ihn dann ein. Zu Hause wird er gedroschen (terske),
und dann wird er entweder gemahlen und als Mehl zu Pfannkuchen ver-
braucht, oder er wird nach Holland verkauft, wto Grütze (gorte) daraus
gemacht wird.
Aber auch das unkultivierte Moor liefert dem Saterländer wertvolle
Erzeugnisse: die Heide und den Torf. Ist der Winter nicht allzu streng,
so gehen die Männer hinaus zu hedehööen (Heidehauen). Es giebt zwei
Sorten Heidekraut, die dö'pTicde (Kopfheide) und die gewöhnliche Heide;
jene wird gepflückt (nicht gemäht) und dann zu Besen (Jb&zeme) und Heid-
quasten verwertet (hedbersele, eig. Heidebürsten, kleine Handbesen zum
Scheuern; in Jeverland heissen sie böner, vgl. ags. bönian „polieren“); die
andere Heide wird mit der Sichel {dt sid) gehauen und als Kuhfutter, Streu,
Düngmittel oder — wenn sie lang genug ist — zum Dachdecken (teke)
gebraucht.
Mit dem ersten Frühling schon beginnt eine andere und wichtigere
Arbeit auf dem Moore: das Torfgraben. Dazu gehören immer zwei
Leute, der Gräber und der Karrer (greifer, kärder). Der Gräber macht
zunächst eine Grube (öundöbe), in der er stehen will, und dann sticht er
eine Ausreutung (,,en wödenje stete“)x) ab. Die Torfgrube (det edgreb) wird
12 Soden tief und 30 Soden breit. Der Gräber sticht nun die einzelnen
Soden mit dem Spaten ab, der Karrer spiesst sie mit einer prike aus der
Grube, legt sie auf die Karre und bringt sie in die spredenje (Aus-
spreitung), wo sie trocknen. Dann werden sie in kleine runde Haufen
von neun, später in grössere von 12 Soden geordnet (Utje und gröte rvqe),
wobei die untersten, noch zu feuchten Soden einstweilen Zurückbleiben;
schliesslich wird alles in grosse Bülten (beite) gehäuft. So ist es Brauch,
wenn man für den eigenen Bedarf sticht; bei den grossen Torfgräbereien
werden die Soden in wäle gebracht: das heisst in welle flele oder bogkje,
eigentlich „aufbanken“.
Schliesslich liefert das Moor indirekt noch ein anderes wichtiges Pro-
dukt, den Honig. Die Bienen sammeln ihn in grosser Menge aus den
dufti gen Heidekräutern, und so sichert die Imkerei manchem einen guten
1) aus *waudunge; ich stelle es zur gerne | weud, vgl, as. wiodon.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
27
398
Siebs:
Nebenverdienst. Sieht der Imker ('jmker) einen Schwarm, so folgt er ihm,
bis er sich an einen Baum setzt. Der Mann legt sofort seine Mütze (Jcipse)
dabei nieder — das ist nach Bienenrecht ein Zeichen des Anspruches —,
holt von Hause einen Bienenkorb (imet&ne) und setzt den Schwarm ein.
Der sammelt nun eifrig. Ist der Korb voll Honig, und hilft kein Auf-
setzen (d. h. Yergrössern des Korbes), so hat die Königin noch Samen in
den Zellen (jü müer hecl noch seld in dö müerdope), und man muss schwärmen
lassen. Manchmal kommen dann noch ein oder zwei Nachschwärme (cter-
swörme). — Die Gewinnung des Honigs im September geschieht wie überall:
die Drohnen (dränen) werden mit Schwefel (swivel) getötet; der Honig
(det hünig) wird ausgebrochen, erwärmt und in einem Beutel ausgedrückt
(ütbreke; worin mdkje; in 'n pijt üttdie, Faktitiv zu tjö „ziehen“); das Wachs
(wäks) wird ausgeschmolzen und ausgepresst. — Manche Imker, die eine
grössere Zucht betreiben, ziehen im Frühling mit den Bienen nach Ost-
friesland, wo die Rapsblüte eine gute Weide bietet; ist auch dort noch
nichts zu finden, so müssen sie mit Honig füttern. Sie kehren erst zurück,
wenn die Bienen geschwärmt haben und im Saterlande Heide oder Buch-
weizen blüht.
Die ganze Arbeit der saterländischen Bauern verteilt sich auf drei
Stätten: auf das Moor — dessen Nutzung haben wir kennen gelernt; ferner
auf Haus und Hof; endlich auf das nicht fern vom Hause gelegene Wiesen-
und Weideland und die E schiänder eien *). Esche (isk aus *itsk? vgl. got.
atisk Saatfeld) heissen die kleinen zerstückelten Felder in nächster Nähe
des Dorfes, deren einzelne Parzellen meist verschiedenen Besitzern gehören
und die, weil die Zugänge gemeinsam sind, möglichst gleichzeitig be-
wirtschaftet werden müssen. Wie schon ein Blick auf die Karte lehrt,
sind dieser Grundstücke nicht viele, denn das Saterland ist nur ein
schmaler Strich Sandbodens. Yon grösserem Grundbesitze ist hier nicht
die Rede. Fast jeder aber ist Eigentümer seines Hauses, seines Grundes
und Bodens; dass noch einzelne Stücke dazu angepachtet werden, kommt
wohl vor, ist aber nicht die Regel. Dieser Grundbesitz ist im Saterlande
fast durchgehends verschuldet. — Bezüglich der Erbschaftsregulierung
herrscht das Recht der freien Teilbarkeit des Grundes. Wenngleich die
Regierung die Festlegung desselben durch Errichtung von Grunderbestellen
in dem Sinne begünstigt, dass der Grunderbe (der älteste Sohn) 20 pCt.
des schuldenfreien Wertes der Stelle als „Yoraus“ erhält, die übrigen
80 pCt. aber zu gleichen Teilen gehen, so ist im Saterlande von dieser
Einrichtung doch kein Gebrauch gemacht worden.
Auf den Eschen wird Gemüse, vor allem aber Getreide, und zwar
Roggen gebaut. Betrachten wir einmal diese Feldarbeit. Im Frühling
muss zuerst das Land für die Sommerfrucht gedüngt werden: das nennt
1) Über den Flächeninhalt siehe Kollmann, Zs. d. Yereins f. Volkskunde I, 394.
Das Saterland.
399
man ürmjuksje, übermisten. Dazu dient tierischer Dünger, der mit dünnen
runden Soden der Gras- oder Heidenarbe {plage)x) vermischt ist. Ist dann
gepflügt oder umgegraben, so wird die Sommerfrucht, besonders Hafer
([hciwer) gesät und werden Erbsen. Bohnen und Kartoffeln (arte, böne, tufelke)
gesetzt. Auf dem Gemüseland ist viel zu thun: es muss tüchtig gejätet
werden (Jude), und die Erbsen müssen strüke zum Ranken haben; um das
Getreide braucht man sich nicht kümmern. Zu Sent Jökub (Jakobi, 25. Juli)
erntet man die Erbsen und Bohnen ein {öplüke, eig. aufziehen); die Kar-
toffeln bleiben bis September in der Erde, dann werden sie entweder mit
der fvrke ausgenommen ([vtkrige) oder ausgepflügt (med ’e plöug ütdruie).
Hafer wird Ende August gemäht, Gerste etwas früher. Der Buchweizen
wird fast nur auf dem Moore gebaut und nur vereinzelt auf Sandboden,
damit er das Unkraut vertilge. Gerste (jerste) giebt es wenig. Früher
baute ein jeder wenigstens soviel davon, dass er für seinen Hausbedarf
das Bier brauen konnte {biör bjöue)\ das hat aber längst aufgehört. Selbst
die Sitte, bei der Geburt eines Kindes zu brauen — die Wöchnerinnen
mussten doch Bier haben! — ist nun abgekommen.
Einfacher ist die Arbeit bei der Winterfrucht. Ist das Stoppelfeld
gefalgt (fölgje), gedüngt, gepflügt {tilje afrs. tilia? vgl. ahd. zila Zeile?) und
geeggt (aidje), so kann im Herbste der Roggen (dl rage)1 2) gesät werden.
Man lässt das Feld ruhig liegen bis Jakobi, dann ist er reif, wird gemäht,
in Garben (djfrue) gebunden und bleibt in Hocken ([koke) stehen, bis man
ihn einfährt. Damit die Garben nicht vom Wagen fallen, wird oben ein
Balken (punter) darüber festgebunden. Daheim wird der Roggen auf den
Boden gefleit und wird mit dem Flegel (flajene) gedroschen, wann man
gerade Zeit dazu hat. Das Stroh wird verfüttert; das Korn aber kommt,
nachdem es entweder durch Schwenken in der Wanne (wone) oder durch
Wehen mit einem Fächer (weiter) von Spreu gesäubert ist (schemgje), in
die Mühle {meine). Geld wird für das Mahlen nicht bezahlt. In Strück-
lingen ist eine Privatmühle, die Scharreier haben eine Genossenschafts-
mühle, die Mühlen in Neuscharrel und Hollen gehören der Gemeinde:
aber überall besteht der Mahllohn in einem Anteil (jü mate), den der
Müller erhält, und zwar det sögenuntwint/gste kdrel (das 27. Korn). Nur für
die Graupenbereitung wird bar Geld bezahlt: 25 Pfennig für ein fiödep
(48 Liter, s. oben S. 250). Kommt das Roggenmehl aus der Mühle zurück,
so wird es entweder im Hause zum Brotbacken verbraucht, oder es wird
verkauft.
Auch der Flachsbau wird im Saterlande betrieben. Ende April wird
der Lein {Un) auf einer umgebrochenen und gedüngten Dreesche {tridrske
1) Demgegenüber heissen dicke viereckige Soden seett.
2) Im Saterlande versteht man unter kö^den (Korn) nicht den Roggen, sondern den
Hafer. Das einzelne Samenkorn heisst kärel.
27
400
Siebs:
s. unten) gesät. Das Unkraut (jöd) muss gut ausgerottet werden; im übrigen
ist bei dem Ulaclis (det fläks) nichts zu thun, bis die Kapseln (dö hole) reif
sind. Dann wird er ausgezogen (öplüke) und in grosse Kemel gebunden
(in riömele binde). Ist er dann geriffelt (rlpelje), so werden die Stengel
(dö hedele, plattd. harrel) zu kleinen Bündeln (böte) vereinigt, von denen
etwa zwanzig auf einen Kemel gehen, und nun kommt der Flachs ins
Wasser, d. h. in die Röste (rete). Ist er genug gefault, so werden die
böte mit einem Seil umschlungen und ausgebreitet zum Trocknen auf-
gestellt (öpstükje). Bald werden sie nach Hause gebracht, und der Flachs
kann verarbeitet werden: er wird auf der Diele mit einem gerippten Holz-
hammer gepocht (troite), mit hölzerner und dann mit eiserner Flachsbreche
gebrochen (bräkje, slibrakje), mit dem Kippeisen gerippt (med ’t riblrzen
ribje), durch die Hechel gezogen (hltselje)x) und dann auf dem Spinnrade
gesponnen (op ’et well spine). Aus den getrockneten Kapseln wird der
Same (det seid) ausgedroschen.
Damit haben wir die Nutzung der Eschländereien in den Hauptzügen
besprochen; auch über die Bewirtschaftung des Wiesenlandes (grlid
Grünland) ist einiges zu sagen. Zwei Arten Heuländereien (hölöund) giebt
es im Saterlande: die einen liegen niedrig, werden im Winter überschwemmt
und brauchen nicht gedüngt zu werden; die anderen aber sind hochgelegen
und trocken, sogenannte Dreeschen1 2), welche umgebrochen und beinistet
werden müssen. Das geschieht entweder Anfang März oder auch erst im
Mai. Ende Juni ist das Gras (gers) lang genug, dass man heuen (höie)
kann; ist viel Klee (kleuer) darunter, mäht man auch wohl schon zu Anfang
des Monats. Je vier Schwaden (det med, plur. dö mede) werden zu langen
Reihen zusammengeharkt (wir(je), und diese wirze werden abends in Haufen
gesetzt (höhe; nicht koke wie beim Roggen), tags aber wieder mit der Harke
(rlue) zum Trocknen ausgebreitet. Ist das Heu fertig, so wird es auf den
Wagen geladen, eine Leiter (kraite) wird darüber festgebunden, und dann
wird es eingefahren. — Das Land, welches vorher gedüngt worden ist,
bringt im August noch eineu zweiten Grasschnitt hervor, welcher gram
genannt wird (vgl. Grummet?).
Anderes Grünland ist zur Weide für das Yieh bestimmt, besonders
für die Kinder (dö b&ste). Sie werden sowohl zur Milchwirtschaft, als
auch zum Einschlachten und zum Yerkaufe gehalten. Die Kälber werden
zuerst mit süsser Milch (sweHe molk), späterhin mit Buttermilch (sedene molk)
gefüttert. Ein Jahr lang bleiben sie auf dem Stalle, dann bringt man sie
auf die Weide (vtjagje). Die milchenden Kühe (melke bPste) werden, wenn
sie entbehrlich sind, gern verkauft, denn man bekommt 60 bis 80 Thaler
1) Daneben: trug de hitsele lüke (das wird auch bildlich gesagt: In lied him gehörig
trug de hitsele leken „er hat ihm gehörig die Wahrheit gesagt“).
2) stl. triärske, trie(r)ske = altfrs. *thriaske würde hochdeutsch „Driesche“ sein; vgl.
das ablautende plattd. druskland Brachland. Brem. Wb. I, 623.
Das Saterland.
401
dafür; geben sie nicht reichlich Milch, so lässt man sie trocken werden
(gest w&de) und macht sie fett, um sie im Herbst entweder zu verkaufen
oder zu eigenem Gebrauche zu schlachten. — Das Rindvieh kommt im
Mai auf die Weide (wede), jeden Morgen wird es von den Kindern aus-
getrieben und abends eingeholt. Das dauert so lange, bis draussen nicht
genügend Nahrung mehr ist: dann wird das Yieh zu Hause mit Stroh
(stre*), Heu, Heide und Häcksel gefüttert (hekelse); trockene Kühe bekommen
kaltes Wasser zu saufen, milchende (mölkrekende) warmes Wasses mit Mehl,
Häcksel, Kohl oder dergleichen. Diese werden drei- oder viermal am Tage
gemolken und die Milch wird grossenteils zum Buttern (sedenje „kamen“)
gebraucht; zur Käsebereitung ([siz) reicht sie nicht aus.
Pferde (Jiärjste) hält man nur, soviel zur Landwirtschaft nötig sind:
Fohlen (fölen) werden wenig aufgezogen. Recht ansehnlich aber ist für
das kleine Ländchen die Schaf- und Schweinezucht. Ein grosser Unter-
schied ist zwischen den rheinischen Schafen (rinske sch&pe) und den Heid-
schnucken ([hedschepe). Jene werden im Sommer beim Hause angebunden
(stikje), wintertags im Stall mit Heu und Stroh gefüttert; die Heidschnucken
hingegen werden gekoppelt (in ’e ltopele jaget), sie finden das ganze Jahr
hindurch auf der Heide ihr Futter, und nur wenn viel Schnee liegt, müssen
sie zu Hause versorgt werden. Obschon die rheinischen Schafe in der
Regel zwei, die Heidschafe nur ein Lamm bekommen, werden diese doch,
weil sie billiger zu halten sind, sehr bevorzugt: der Bauer hält von ihnen
zwanzig bis vierzig Stück, rheinische aber nur eins oder zwei. Auch die
Schurzeit ist verschieden: bei den rheinischen Schafen liegt sie im April,
bei den Heidschnucken um Johannis. Die Wolle wird, nachdem sie mit
heisser Sodalösung abgebrüht und in der el gewaschen (schultsje) ist, im
Hause gesponnen. — Im Herbste werden mehrere Heidschafe in jedem
Hause geschlachtet; die übrigen werden den Winter über durchgefüttert
und im Frühjahr wenn möglich verkauft.
Auch mit den Schweinen wird viel Handel getrieben. Die Ferkel
{färgere) werden nach drei bis vier Wochen von der mute abgenommen
und teils sofort verkauft, teils durch Winter gefüttert, um im nächsten
Frühjahr als Faselschweine (fezelswine) auf den Markt zu kommen. Die
mute wird gemästet und im Herbste geschlachtet: die Schinken kommen
zum Verkaufe; das übrige wird teils in Pökel (pikel) eingesalzen und am
Wiemen (wime) getrocknet, teils zu Wurst verarbeitet. Die Mastschweine
füttert man mit Roggenmehl, Kartoffeln, Wurzeln, Rüben und dergl.; für
die Faselschweine wird allerhand Abfall (öugerfäl) mit Kaff (sef, Spreu) und
Mehl zusammen gebrüht (brate), auch wird ihnen Korn auf die Diele ge-
worfen zum Aufschnüffeln (niyskje).
Auf Geflügelzucht wird kein Gewicht gelegt: Gänse und Enten werden
höchstens zum eigenen Gebrauche gehalten, und der Pflege der Hühner
402
Siebs:
wenden die Saterländer erst seit kurzem grössere Sorgfalt zu, da sie die
Eier zu hohen Preisen verkaufen können.
Im Handel verstehen die Saterländer ihren Yorteil nicht wahrzu-
nehmen, und das ist bei Leuten, die nie über die Grenze ihres kleinen
Ländchens hinausgekommen sind, nicht zu verwundern. Sie bringen ihre
guten Waren, Mehl, Eier und Butter, ja sogar die mühselige Arbeit ihrer
Hände, die gesponnene Wolle und das Leinengewebe nicht etwa auf einen
Markt, wo Nachfrage ist, sondern tragen sie zum „Kaufmann“ ihres Dörf-
chens, um Lebensmittel dafür einzutauschen. Es ist ein Tauschhandel, der
natürlich nicht zum Yorteil des Anbietenden ausfällt, umsoweniger, da sie
in der Regel bei den Kaufleuten in Schuld stehen und daher von ihnen
abhängig sind. Diese Kaufleute aber sind die wohlhabendsten Leute im
Saterlande, denn ihrer sind nur sehr wenige, und sie haben die ganze
Ein- und Ausfuhr in Händen. Nur den Yiehhandel betreiben die Bauern
selbständig: sie bringen die Tiere auf den Markt nach Ramsloh, der zwei-
mal im Jahre stattfindet, auch wohl nach Strücklingen oder Rhauderfehn.
Fremde Händler kaufen dort trächtige Kühe und besonders das Jungvieh
auf und führen sie auf auswärtige Märkte (merked), z. B. nach Ankum zum
Weiterverkauf. Die saterländischen Märkte sind zugleich grosse Belusti-
gungen für das Yolk. Da wird eine Bude aufgeschlagen, in der tanzen
die jungen Leute (det jur/ föulk); die Alten sitzen im Wirtshaus beim
Schnaps und scherzen (gnegelje) miteinander. An der Kirchhofseite sind
Zelte errichtet mit Stuten (stütetelten, d. li. Weissbrodzelte), Spielzeug für
Kinder und allerlei Hausgerät. Dass diese armseligen Verkaufsbuden für
das Saterland nicht ohne Bedeutung sind, ist begreiflich, denn Gewerbe
und Handwerk giebt es dort kaum. Der Kaufmann (köpmon) des Dorfes
hat in seinem Laden nur Sachen, die öfter verlangt werden; im Handwerk
wird nur das Notwendigste geleistet: da sind der Müller (muler plattd.),
der Schmied (smit) und der Zimmermann (timermon), sowie Schneider
(snider) und Schuster (schöuster), allenfalls noch ein Schlächter (slächter),
der auf Bestellung in den einzelnen Häusern arbeitet. Aber sie würden
zumeist von ihrem Handwerke nicht leben können und bewirtschaften
darum nebenher ihr Land. So ist von Arbeitsteilung im Saterlande wenig
zu merken: die meisten Leute arbeiten nur für ihre eigene kleine Wirt-
schaft. Knechte (knecht plattd.) und Mägde (ja fööne) werden daher in den
wenigsten Häusern angenommen, denn man würde sie nicht dauernd be-
schäftigen können. Und ist die Arbeit sehr dringend, so finden sich immer
Leute, die auf Taglohn (däilön oder däihne, d. h. Tagheuer) ausgehen.
Während der Ernte sind sie natürlich sehr gesucht; doch auch in der
übrigen Zeit brauchen sie nicht müssig zu gehen. Früher war das anders:
da waren sie oft genötigt, auf Arbeit nach Ostfriesland zu wandern; aber
jetzt können sie immer beim Kanalbau Beschäftigung finden oder auch
Das Saterland.
403
zwischen Strücklingen und Ramsloh Raseneisenerz für die Osnahrücker
Hüttenwerke graben.
So beschaffen sich die Saterländer durch ihren kleinen Betrieb der
Moornutzung, Landwirtschaft, Viehzucht und Hausindustrie in erster Linie
ihre eigene Nahrung, Kleidung und Feuerung; was an Getreide, Butter,
Eiern, Honig, Garn, Leinen und Wolle, vor allem aber an Vieh über den
eigenen Bedarf hinaus gewonnen wird, verkaufen sie und decken mit dem
kleinen Verdienste ihre sonstigen Ausgaben.
Nachdem wir die Erwerbsquellen kennen gelernt haben, bleibt über
das tägliche Leben der Saterländer nur wenig zu sagen. In kurzen
Worten will ich zu schildern versuchen, wie sie ihren Tag verbringen. Es
ist Winter. Abends vor dem Schlafengehen wird das Feuer in Asche
eingerakt (med eske töHtrlke) und mit der Feuerstülpe (fiurstelpe oder fiür-
köru) bedeckt. Nicht allzufrüh, etwa um sieben oder acht Uhr, steht man
auf, trinkt eine Tasse Kaffee (kofje), der meist in einem dünnen Aufguss
auf gebrannten Roggen besteht, oder auch Thee. Dann gehen die Männer
an die Arbeit. Erst wird das Vieh gefüttert und wet en leze op ’e täl krigen
(„eine Lage auf die Diele gekriegt“, d. h. einmal die Diele voll gelegt)
und gedroschen; auch muss an der Schnittlade (snidläde) Häcksel für das
Vieh geschnitten werden. Unterdessen hat die Frau einen Buchweizen-
pfannkuchen (böuketepögküke) gebacken, und der wird mit einer Tasse
Kaffee verzehrt; nachher wird ein Butterbrod ([bütje) gegessen. Ist es nun
nicht zu kalt, so gehen die Männer aufs Moor (eter fehl), um Gruppen zu
machen, zu hacken und Heide zu hauen; verbietet aber das Wetter solche
Arbeit, so wird der Tag auf andere Weise verbracht. Manche gehen auf
die Jagd (jegerje). Die war einstmals frei, aber seit langen Jahren ist
das nicht mehr, und jetzt kostet die Jagdkarte drei Thaler. Dafür muss
doch auch etwas geschossen werden: an Hasen (hdze) ist kein Mangel,
auch giebt es Füchse (föks), Rebhühner (petrlshäne) und Holztauben (holt-
düwe). Es ist streng verboten, die Hasen in Stricken (häzenstrik plur.
-strfke) zu fangen: darauf steht hohe Brüche (breke)\ aber immer versuchen
die Leute es von neuen, denn es ist sehr einträglich. Die Hasen werden
nämlich nach Frankreich geschickt und dort hoch bezahlt. * Erlaubt aber
ist es, die Krammetsvögel (drozelke) in Stricken zu fangen, und das ge-
schieht im Herbste viel. So finden die Jäger draussen immer Beschäfti-
gung; die Männer, die nicht jagen, kommen miteinander zusammen, um
zu schwatzen; andere thun die Hausarbeit; manche auch sind im Spinnen,
Weben, Stricken (braidje) oder im Besenbinden und Korbflechten erfahren
und wissen den Tag nützlich damit hinzubringen. Die Frauen bleiben
im Winter stets daheim, um Essen zu kochen und die nötige Hausarbeit
zu besorgen. Die Milchwirtschaft kostet viel Mühe, und dann giebt es
auch immer das sogenannte löpene werk, die laufende Arbeit: da ist zu
flicken (lapje) und zu stopfen (stöpje,), und dann muss bald gewaschen
404
Siebs:
(wdske), bald gebacken (bähe) werden. Die Zeit, die noch übrig bleibt,
wird auf die Flachs- und Wollbearbeitung verwandt. — Sind die Männer
auswärts, so wird erst um vier Uhr zu Mittag gegessen; andernfalls aber
wird die übliche Zeit (zwischen 12 und 1 Uhr) eingehalten und um 4 Uhr
etwas Kaffee und Butterbrot gevespert. Zur Abendmahlzeit um 8 Uhr kocht
man Brei oder wärmt Feste des Mittagessens auf. Um 10 Uhr gehen die
Leute zu Bett (eter bede).
Ganz anders natürlich gestaltet sich das Leben im Sommer. Da wird
um 5 oder 6 Uhr aufgestanden. Die Männer trinken dann Kaffee und
gehen aufs Feld an ihr Tagewerk. In älteren Berichten (Hoche, Hettema)
heisst es, dass die Frauen allein die Arbeit thun, die Männer aber faul-
lenzen: das mag vor Zeiten, als noch die Schifffahrt blühte, manchmal der
Fall gewesen sein, für heute aber ist es durchaus nicht giltig. Natürlich
gehen Frauen, namentlich wenn ihrer mehrere in. einem Hause sind, mit
aufs Feld hinaus, wenn die Arbeit drängt. Aber in erster Linie hat die
Hausfrau ihren häuslichen Pflichten nachzukommen und dafür zu sorgen,
dass alle zu rechter Zeit ihr Essen erhalten. In der Frühe müssen die
Arbeitsleute Kaffee, um 9 Uhr Kaffee mit Buchweizenpfannkuchen haben
— der ist die Hauptnahrung der Saterländer. Wird draussen auf dem Esch
gearbeitet, so bringt man Mittagessen und Yesper hinaus; haben aber die
Leute fern im Moore zu thun, so nehmen sie morgens Brot, Butter und
Trinken mit und bekommen erst abends warmes Essen (scden iten gesottenes
Essen). In der Bereitung des Mittagsmahles herrscht wenig Abwechslung:
Suppe, Kartoffeln und Fleisch werden in einem Topfe zusammengekocht.
Frisches Fleisch giebt es nur zu Anfang des Winters, wenn geschlachtet
ist; allenfalls hat man im Herbste frisches Schaffleisch. Aber sonst isst
man jeden Tag — natürlich ausser Freitags, denn dann wird streng ge-
fastet — gesalzenes Rind-, Schweine- oder Hammelfleisch. Kälber werden
selten geschlachtet. Für frisches Grünzeug sorgt im Sommer der kleine
Garten am Hause, dort wachsen Erbsen und Bohnen, Wurzeln ('wurtele),
Rüben (reue), Kohl (köl), Salat (salät) und dergleichen; im Winter bieten
eingemachte Bohnen, Sauerkohl, Steckrüben und Graupen den hauptsäch-
lichen Ersatz für das frische Gemüse. Etwas Besonderes aber giebt es an
grossen Feiertagen: dann wird eine Henne oder ein Hähnchen (Jiane, litje
hönke) für die Suppe geschlachtet; wer das nicht leisten kann, der nimmt
eine Wurst oder eine Schweinsrippe zu Mittag. Und dann werden trockene
Kartoffeln gekocht und die stippt (stipje) man in eine Tunke, die ein
Gemengsel (märjelse) von süsser Milch, Mehl und ausgelassenem Speck ist
(spekfat Speckfett). Der ausgebratene Speck wird regelrecht geteilt. Und
Sonntags und Feiertags abends giebt es Speckpfannkuchen von Buchweizen-
mehl, und dazu wird Thee getrunken. Das ist die Nahrung der Saterländer.
Das Saterland.
405
IX. Sprache.
Die friesische Mundart des Saterlandes (s. o. S. 240, 241 Anm., 242)
ist für die germanische Sprachforschung wichtig, weil sie ausser dem
Wangeroogischen der einzige überlebende Nachkomme der alten Sprache
Ostfrieslands ist. Sie hat sich von niederdeutschen, ja auch von hoch-
deutschen Einflüssen nicht ganz frei gehalten1). Namentlich innerhalb der
letzten zwanzig Jahre sind manche plattdeutsche Wörter eingedrungen, und
der sehr einfache, die Unterordnung fast ganz vermeidende Satzbau büsst
an Ursprünglichkeit ein3). Doch scheidet sich das Saterländische noch
heute vom Niederdeutschen so scharf ab, dass es den Bewohnern der
Nachbargebiete ganz unverständlich ist. Ich will versuchen, in sehr kurzer,
auch dem Laien verständlicher Weise die Eigenart zu kennzeichnen.
Im Vokalismus teilt das Stld. gewisse Eigentümlichkeiten mit dem
Plattd.: das alte * und ü, welches im Hochd. als ei und au erscheint, ist
bewahrt, z. B. rik reich, gripe greifen, hüs Haus, säge saugen. Das plattd.
ö, das dem hochd. au oder ö entspricht, zeigt sich meistens auch im Stld.,
und ebenso erscheint das plattd. e, welches durch hochd. ei oder e vertreten
ist, in den meisten Fällen als e (in anderen a, ä), z. B. böm Baum, bröd
Brot, ben Bein, wete Weizen, sne Schnee. Dasjenige plattd. ö, welches im
Hochd. durch ü vertreten ist, wird in Scharrel als ö (in Hollen als öu, in
Strücklingen als &u) gesprochen, z. B. gövd gut, döuk Tuch. Die Verlängerung
der kurzen Vokale vor dehnenden Konsonantverbindungen und in offener
Silbe ist noch weiter durchgeführt als im Plattd., z. B. löund Land, jeHd
Geld, sende senden, blind blind, grund Grund, höuden (aus hörn) Horn,
strik plur. sinke Strick, käme kommen, breke brechen. — Nun zu den Ab-
weichungen. In erster Linie ist wichtig, dass bereits in der urfrs.
Sprache das kurze a in geschlossener Silbe zu e geworden ist, z. B. stld.
gles (plur. gleze, mit Dehnung des e in offener Silbe) Glas, gers (mit Um-
stellung) Gras, bled Blatt, he1 den (mit Dehnung des e vor rn, aus altem
harn) Kind. Dieser Übergang des a zu e ist aber unter dem Einflüsse
gewisser Konsonanten unterblieben, z. B. in der Verbindung war, sowie
vor l- und cA-Verbindungen: swörm Schwarm, seilt Salz, nacht Nacht (Hollen:
seilt, nacht s. unten); vor Nasalen geht a nicht in e, sondern in o über, z. B.
elom Damm, pone Pfanne, löund Land (mit Dehnung des o vor nd). Ein
zweites Merkmal ist, dass das alte germanische e im Ers. (vgl. auch das
Englische) erhalten ist, während das Hochd. und Niederd. statt dessen ä
zeigen; in Scharrel spricht man e, in Hollen e\ in Strücklingen ei, z. B.
seld Saat, brelde braten, scheip Schaf (vgl. engl, seed, sheep); nur vor Nasalen 1 2
1) Ygl. die sprach statistischen Mitteilungen von Kollraann, Zs. d. V. f. Volkskunde I,
377 ff.
2) Man vgl. z. B. den auf S. 274 gegebenen Text gegenüber dem auf S. 394.
406
Siebs:
hat sich das e zu ö entwickelt: möune Mond (engl, moon). Drittens sind
die Umlauterscheinungen charakteristisch: während das Plattd. und Hochd.
unter Einfluss der ¿-Laute ein ä, ö, ü entwickeln, zeigt das Stl. als Umlaut
der langen Yokale el ([e, ei), als Umlaut der kurzen Yokale e, z. B. grein
grün, helde Häute, g&ze Gänse (plattd. göse), meine Mühle, geten gegossen
(Dehnung des e in offener Silbe). Endlich ein Wort über den Diphthong,
der in althochd. Sprache durch io und iu, im Neuliochd. durch ie und eu
repräsentiert wird. Ersterer lautet im Stl. iö (selten iä), letzterer m\ wenn
es also althochd. heisst fliogan fliegen, fliugist du fleuchst, so entspricht dem
im Stld. fljöge, (¡juchst. Das sind alte Diphthonge und streng zu trennen
von zwei jüngeren: 1) einem iö, welches durch Accentwechsel aus iä ent-
standen ist {miß mähen, kriö krähen); 2) einem iu, das aus i (e) vor clit, chs,
ngw, nkw entwickelt ist, z. B. riucht recht, miuks Mist, sjur\e singen, stiwqke
stinken.
Im Konsonantismus steht das Stld. im allgemeinen auf dem Stand-
punkte des Plattd.; auch der Ausfall der Nasale vor Spiranten ist beiden
gemeinsam, z. B. gös Gans, flu fünf. Nur vier wichtige Unterschiede
giebt es. Wo das Englische stimmloses th zeigt, hat das Stl. ein t, das
Plattd. aber d: engl, thin stld. tön dünn, engl, through stld. trug durch.
Ferner: plattd. w oder f’ welches einem hochd. b entspricht, erscheint im
Stld. als v, z. B. weu Weib, sehr me schreiben, kölu Kalb (nach l, r wird ausl.
v von jüngeren Leuten in Hollen als ig gesprochen, z. B. hörig Korb). Ein
drittes Merkmal ist folgendes: während das gutturale g spirantisch ge-
sprochen wird wie im westfälischen Platte!., ist palatales g im Ers. zu j
geworden, z. B. stld. jeHd Geld, jeden gern; daher hat sich auch frs. eg in
geschlossener Silbe zu ei, ai und ebenso eg zu ai (cd) entwickelt: dai Tag,
ivai Weg, fläin geflogen (mit ¿-Umlaut), kdi Schlüssel (ältengl. cceg). End-
lich ist charakteristisch die Assibilier ung des k und des gg vor palatalen
Yokalen: k erscheint im Anlaute als s, im Inlaute als ts, gg wird zu z,
z. B. siz Käse (engl, cheese), serke Kirche, sedene Butterkarne, hitselje hecheln,
leze liegen, weze Wiege.
Die Flexion zeigt wenig Merkwürdiges. Die drei Geschlechter der
Substantive werden durch die Artikel Mask. di (de), Fern. (d)jü (oder de),
Neutr. det unterschieden; im Plural gilt für alle Genera und Kasus dö.
Der Gen. Sing, kann sowohl durch Anhängung von -s gebildet werden, als
auch durch Umschreibung mit Präposition oder Possessivpronomen, z. B.
min susters hüs oder det hüs fon min suster oder min suster Mr hüs. Die
übrigen Kasus werden beim Mask. durch den Artikel den charakterisiert
(welcher dann wie im Plattd. oft auf den Nom. übertragen wird), beim
Fern, und Neutr. unterscheiden sie sich nicht vom Nom. Der Plural wird
— abgesehen von einigen wenigen alten Umlauterscheinungen (föut —
feHe, göus — gehe) und Formen auf -ere (klödere, löumere, diere) in der Regel
bloss durch Anhängung eines -e gebildet, z. B. dl sten — dö stene Stein,
Das Saterland.
407
iü sted — d(> stede Stadt, det spil — dö splle Spiel; nur die auf -e auslautenden
Worte hängen -n an, z. B. dl tjiige— dö tjugen Zeuge; ja streHe — dö streiten
Strasse. Die Flexion der Yerba weicht vom Plattd. wenig ab: die erste
Pers. Sing., die drei Personen des Plural und der Infin. lauten gleich, die
zweite Pers. Sing. Präs, und Prät. endet in der Regel auf -st, die dritte
Pers. Siug. Präs, auf -t. Die Tempusbildung der starken Yerba zeigt
klar die Ablautsverhältnisse, sogar Sing, und Plur. Prät. haben in manchen
Fällen noch den Vokalwechsel; das Part. Prät. ist meistens umgelautet.
Also: ik söge (sauge), dö suchst, hl sucht; wi, ji, jö söge. Prät. sog, Plur.
sogen; Part, sä in. Oder: stirue sterben, Prät. stör?/ — stüruen, Part, stvruen.
Unter den schwachen Verben sind zwei Hauptklassen zu scheiden. Die
erste bildet den Infin. auf -e (altfrs. -a, altengl. -an), Prät. ~{e)de, Part.
~{e)d, z. B. stiüre (steuern), stivrde, stiürd; nur wenn ein Dental, bisweilen
auch wenn ein Guttural im Auslaute der Wurzel mit dem Dental des
Präteritalsuffixes zusammentraf, sind lautgesetzliche Veränderungen ein-
getreten, z. B. bleide (bluten), biete, blet'; lelde (läuten), lete, let \ tärjke (denken),
töchte, tocht. Die zweite Klasse bildet den Inf. auf -je (altfrs. -ia, altengl.
-ian, althoclid. -ön), Prät. -(e)de, Part. ~(e)d, z. B. tllje (pflügen), tdede,
tlled. — Von den Zahlwörtern zeigen nur die drei ersten den Unter-
schied der Geschlechter: an ene en, tweln twö twö, tre1 triö triö.
Aber nicht nur die eigenartigen Lautverhältnisse machen das Sater-
ländische einem Niederdeutschen unverständlich, sondern auch der Wort-
schatz. Wie aus den oben mitgeteilten Texten ersichtlich ist, weicht die
stld. Sprache gerade in der Benennung vieler sehr gebräuchlicher Begriffe
vom sächsischen Plattd. ab: als Part, von siö (sehen) gilt blöuked (hochd.
eigentlich „belügt“); das Wort „geben“ wird durch reke (Prät. rate, Part.
rät) „reichen“ ersetzt; Vater, Mutter, Onkel, Tante heissen bäbe, meme,
öm und mode; für Kind, Mädchen, Junge braucht man bilden, wucht und
went (statt fenty, „schön“ wird durch flüg oder fräi, „böse“ durch läp oder
kwöd bezeichnet, spreke wird nur noch ganz selten gebraucht, und zwar
in der Bedeutung „prahlen“; die üblichen Worte für „sagen, sprechen“
sind kwede und bäle; „es donnert“ heisst et gruvielt (idg. Wurzel ghrem,
vgl. slav. gromü „Donner“, griech. ypepi'Q(ß) u. a. m. — Ganz eigenartig auch
sind die Personennamen. Männliche Vornamen wie Aljet, Häie, Elze, Köp,
Epken, Haike, Hamken, Löutje, Rainer, Sike, Wybe erscheinen uns ebenso
auffällig wie die Frauennamen Libet, Nöwntje, Sinke, Egele, Belke, Heike,
Metje, Mode, Sisken, Tjäberg, Tcdke u. a. m. An anderer Stelle gedenke ich
diese Dinge eingehend zu behandeln.
In einigen, wenn auch nicht wesentlichen Punkten unterscheiden sich
die Mundarten der einzelnen stld. Dörfer, besonders der drei Kirchspiele.
Wir haben schon darauf hingewiesen, dass das öu und ei des Ramsloh-
Hollener Dialektes in Strücklingen öü und ei, in Scharrel ö und e gesprochen
wird; ei und öu vor r erscheinen in Hollen als i und w, z. B. wir wahr,
408
Siebs:
brüer Bruder; statt bilden (Kind), meiden (Morgen), töuden (Dorn), liöuden
(Horn) u. s. w. sagt man in Scharrel beden, töden etc., in Strücklingen aber
biden, luden; ferner ist das stld. ä in Ramsloh-Hollen zu ä geworden (nacht,
Ijächt). Alles das giebt der Mundart dieses Kirchspieles gegenüber den
anderen eine gewisse Breite. Die Saterländer empfinden das sehr wohl
und sagen, darin zeige sich das Temperament: „in Ramsloh schlafen die
Leute, in Strücklingen wachen sie, in Scharrel aber sind sie flügge“.
X. Poesie.
Das Saterland ist sehr arm an Gaben der Poesie. Im Munde des
Yolkes leben heute keine Lieder, und auch von schriftlicher Überlieferung
aus früherer Zeit ist nicht die Rede. Ausser einigen ganz kleinen Sprach-
proben und zwei in unzuverlässiger Passung mitgeteilten Liedern1) ist
überhaupt kein stld. Text bekannt. Aber ein Zeugnis lässt vermuten, dass
es vor hundert Jahren echt saterländische Yolkslieder gegeben hat. Hoche
(s. o. S. 240) berichtet, er habe solche singen hören, sie aber nicht ver-
standen; den Inhalt eines besonders schönen Liedes habe er sich erzählen
lassen: es besinge das Schicksal der treuen Grete, die noch als Witwe in
Scharrel lebe. Ein schönes saterländisches Mädchen kommt nach Emden
und verliebt sich in einen Kapitän. Um ihm nah zu sein, verkleidet sie
sich und geht als Schiffsjunge bei ihm in Dienst. Aus dem Mastkorbe
singt sie ihr Liebesleid, doch der Kapitän versteht sie nicht. Sie rettet
ihm auf hoher See das Leben. Als er sie aus Dankbarkeit ans Herz
drücken will, wird ihm ihr Wesen kund, und sie wird seine Gattin. Den
Bericht Hoches über dieses echte Volkslied halte ich deshalb für glaub-
haft, weil ein alter Scharreier mir sagte, er erinnere sich, in früher Jugend
davon gehört zu haben; von dem Liede wisse er nur die Worte: her sit
bk un hulje un hülje („hier sitz ich und weine und weine“). — Ein anderes
Zeugnis ist mir durch die traditionelle Erzählung vom Spuk beim Lindepöl
(s. o. S. 390) bekannt geworden. Es heisst da, Kinder hätten das Lied
gesungen „di liöue meden kumt(e (der liebe Morgen kommt); die Leute
wissen, dass es dieses Lied gegeben hat, aber nichts weiter. — Aus dem
Jahre 1848 soll ein Lied stammen, welches zur Genügsamkeit auffordern
und der Auswanderung steuern will. Leider habe ich nur die erste Strophe
erfahren können:
„Selter, leltet üs hir bliue, „Satern, lasset uns hier bleiben,
her bl de el in 8elterlöund! Hier am Fluss im Saterland,
hir kon wl op beste liuje, Hier ist es am besten leben,
hir iz fein un gers un söund.“ Hier ist Moor und Gras und Sand.“
1) Frs. Archiv I, 159; Strackerjan a. a. 0. I, 415; unzuverlässig sind die Texte bei
Hettema und Posthumus a. a. 0. und Firmenich, Germaniens Völkerstimmen I, 233/4.
Das Saterland.
409
Das ist nicht etwa ein Spottlied: Bewirtschaftung des Moores, des ’Wiesen-
und Ackerlandes sowie Schiffahrt auf dem Flusse sind ja die Erwerbs-
quellen des Saterländers!
Dieses Lied ist echt saterländisch; von anderen aber lässt sich ver-
muten, dass sie aus dem Hoch- oder Niederdeutschen übersetzt worden
sind. Für zwei Stücke bin ich geneigt, westfälischen Ursprung anzu-
nehmen. In Hollen ward mir erzählt, es habe früher ein Kinderlied
gegeben:
„di litje snider fon Hdrkebreg, „Der kleine Schneider von Harkebriigg,
di schel üz’ beiden ’e ko,ge sele.“ der soll unserm Kinde eine Kappe
nähen.“
Hier weist der Ortsname auf Westfalen hin. Das andere ist das sogenannte
„heigeböuken efagelien secundum David Knost“, jenes als „Knost un sine drei
siöhnei( bekannte Lügenmärchen, das in Westfalen im Evangelientone ge-
sungen werden soll. Es scheint von den Saterländern aufgenommen und
erweitert zu sein (vgl. Strackerjan II, 297; Uhland, Schriften III, 229;
Münsterische Legenden und Sagen. Münster 1825. S. 232 ff.). In Hollen
habe ich es so gehört:
Dl ene fersogk, di ür ferdrogkde,
di trede körn gar nit wier,
Un di gär nit wier körn,
di körn in ’en gröt wöld,
der stüd en gröte serke.
Un in jü gröte serke,
der was en büsbömnen pestöur
un en holtenen koster.
Di pestöur, di delde det weäweiter med
’e knepel üt.
Gluksellg iz di man,
di det welwäter entlöpe kon.
Dö ron ik üt de serk’ üt
un state mi for de töne,
det det blöud sprorj mi bete üt ’e heke üt.
Un dö was det hägeböuken efagelien üt.
Yor etwa 50 Jahren machte der Pastor Frerichs (f als Hofprediger
in Oldenburg), der grosses Interesse für das Neuostfriesische hatte, von seiner
Pfarre Wangeroog aus eine Reise ins Saterland. Er hat dort ein Volks-
lied aufgezeichnet. Die Fassung ist unvollständig; die Lücken aber lassen
sich allenfalls nach den Strophen der dreizeiligen deutschen Texte ergänzen
(vgl. die Lieder bei Mittler, D. Yolksl. Frankfurt 1865 S. 245—247 und
AnhangS. 10, wo auch die Litteratur; ferner in „des Knaben Wunderhorn“
„Der bete det Asterwöld was en bür,
di hi de tre1 süne:
Di ene hit Jöust, di ür hit Knöust,
di trede Jan Berendfent.
Di ene was blind, di ür ivas lom,
di trede splinterblöudnäkend.
Dö gigen ale tre1 well op ’e jacht;
Di blinde schot en häze, di leime
grep ’ne,
di nähende stat ’ne in ’en böuzem.
Dö gigen jö noch en bitsken fere,
dö kemen jö bi en gröt weiter,
un op det weiter ligen triö schipe.
Det ene icas lek, det ür was gebrek,
det trede was gär nein böuden mör ein.
Der gär nein böwden mör ein weis,
der gigen ze ale tre1 an site.
410
Siebs: Das Saterland.
II, 204 ff.). Die Reime in Strophe l
machen eine hochdeutsche Vorlage ’
l.1) Ik gig wel bl dö nagd,
djü nagd, djü waz sö tjfjster,
det ml nen st/'rne mör sag.
2. \ik gig far min liöuste hlr hüs:\
„wucht, stönd op, let ml der in,
un rirj hogt far dö döre“.
3. ,\lk lete dl der nit in,]
ik Stände nit op, lete di der nit in,
er dü ml dö triö fersprekst.‘
4. ,,[dö triö rek ik di nit, |
ik wol di wel wet gekje,
man hilkje dwö ik di nit.“
5. Dö systere wirne der triö,
dö jugste, djü derbi waz,
djü lete den fent der in.
6. Jö latene Tiim bope in ’t hüs,
[man jö gigen nit eter bede, |
trügt finster most’ hi der wier ut.
7. Hi fei sik op ’en sten,
hi fei sik twö rybe küt,
dertö det riuchte bcn.
8. Der moste un dokter küme,
tö heljen dyz5 brek,
hi möt wier weze klör.
und 6 (Drei — herein, haus — heraus)
wahrscheinlich.
1. Ich ging wohl bei der Nacht,
die Nacht, die war so düster,
dass man keinen Stern mehr sah.
2. [Ich ging vor Liebchens Thür:]
„Mädchen, steh auf, lass mich hinein,
Ein Ring hängt vor der Thüre.“
3. ,[Ich lass dich nicht herein,]
ich stehe nicht auf, lass dich nicht ein,
Eh du mir die Treu versprichst.1,
4. „[Die Treu geh' ich dir nicht,]
ich will dich wohl was narren,
doch heiraten thue ich dich nicht.“
5. Die Schwestern waren zu drei’n,
die jüngste, die dabei war,
die Hess den Burschen herein.
6. Sie führten ihn oben ins Haus,
[„und ich glaubt, ich kam’ ins
Federbett,“ oder
„ich dacht’, sie führt mich
schlafen,“]
durch’s Fenster musst’ er wieder hinaus.
7. Er fiel hin auf einen Stein,
er fiel sich zwei Rippen entzwei,
dazu das rechte Bein.
8. Da musste ein Doktor kommen,
Zu heilen diesen Bruch.
Er muss wieder sein gesund.
Dass dieses Lied aus dem Deutschen übersetzt ist, ist um so wahr-
scheinlicher, als auch Prof. Minssen um dieselbe Zeit verschiedene sater-
ländische Lieder vorgefunden hat, die man nachweislich dort vorher nur
hochdeutsch gesungen hatte. Die handschriftlichen Texte und Musikbeilagen,
die mir gütigst von Herrn Prof. Minssen übergeben worden sind, gedenke
ich demnächst mitzuteilen.
1) Nach einer Mitteilung von Prof. Minssen. Ich gehe dessen Orthographie, jedoch
mit Anwendung meiner Typen.
Villotte friulane (Friaulische Dorflieder).
411
Villotte friulane (Friaulische Dorflieder).
Mitgeteilt von Dr. E. Schatzmayr in Triest.
(Schluss.)
Urtext.
32.
Une volte lis belezzis
E lor lavin a marit,
E curao van clutis (|uantis
Di che bande di San Vit!
33.
Une volte mi disev’s:
Ma che venji, soi paron —
Ma cumö voltais lis spalis
E burlais senze reson!
Volintir tni vedaressis
Sun che taule distirat,
Po’ ben dopo vo diressis,
Ch’ a soi muart inamorat!
34.
Hai niangiad ’ne mandulute
L’ hai niangiad e m’ ha plazut —
Sinipri alegri e mai passion! —
La domande di c’hel zovin
Si la fe che m’ ha plazut!
35.
Balistu, Pieri?
„Si ’o, che bali“ —
Tu, cu lis zoculis,
Jo cu ’1 batali1)!
Tum, la, la, tum, la, la!
36.
Yelu la, velu la vie
Ch’ al mi spache il fazolet (Fetzel
d. i. Taschentuch) —
Liu al fäz par saludami:
Mandi, mandi, benedet!
Nachdichtung.
Ehmals wurden unsre Schönen
Alle, alle bald gefreit —
Heute gehn sie alle balde
Auf die Seite zu S. Veit!
(d. i. dem Friedhof in Udine.)
Ehmals sagtest du mir: komm nur,
Bist mein Herr zu jeder Stund —
Jetzo kehrst du mir die Schultern
Und verhöhnst mich ohne Grund!
Gerne sähest du mich, gerne
Liegen auf der Totenbahr’,
Und du sprächest dann: vor lauter
Liebe starb der arme Narr!
Eine Mandel ass ich einsmals
Und sie schmeckte mir gar sehr —
Immer fröhlich und nie betrübt —
Doch die Werbung meines Liebsten
Die gefiel mir noch viel mehr!
Tanzest du, Peter?
„Ja, freilich tanz’ ich“ —
Du, mit den Holzschuhn
ich mit Pantoffeln!
Tum, la, la, tum, la, la!
Sieh da, sieh da, mein Leben,
Wie’s Tiichel weht vom Platz —
Er will damit mich grüssen:
Grüss göd, grüss göd, mein Schatz!
1) oder dalmani, die halbhölzerne, weithin klappernde Fussbekleidung der Furlanerinnen.
U
412
Schatzmayr:
37.
Se sintis a dì, ninine,
Ohe soi muart in eh est pais,
Mi dirès nn „de profundis“,
Ohe us al tomi in paradis.
38.
Hai nudrit ’ne culumbute
0’ une rame di uliv,
E cumò che Г hai nudride
Vói amale fìnch’ jo viv’.
39.
Benedèt chel troi di braide
Là che Г evi a far Г amòr —
Hai credut di col un zovin
E hai colet un traditóri
40.
Hai mangiai un rap di rie (grappo
di uva),
Par sciar! mi un рос la vòz,
E cumò che Г hai sclaride
Vói fa un cant al mio moròs.
41.
Chèi rizzòs faz a cadène
Lor mi puartin vie il cur:
Se jò fos in sepolture
Jò par lòr saltares furi
42.
Orès (Volessi) muri d’une muart dolce
Par podè risuscita —
Viva Г amor! —
Par torna ne volte sole
Cui mio ben a morosà!
Wann du hören wirst, Geliebte,
Hass ich tot, dann bete fromm,
Bet’ für mich ein De profundis,
Dass ich in den Himmel komm’.
Hab’ ein Täubchen aufgezogen
Mit ’nem Ölzweig sorgenbang —
Nun es gross ist und erwachsen,
Will ich’s lieben lebenslang.
Jener Eeldpfad sei gesegnet,
Wo ich erste Liebe sah:
Glaubte Treulieb da zu finden,
Ach, und fand nur Falschheit da!
Hab’ gegessen eine Traube,
Dass sich klär’ die Stimme mein —
Jetzt, da ich geklärt sie habe,
Sing’ ich meinem Schätzelein.
Ach, jene holden Ringellocken,
Sie raubten Kopf und Herze mir:
Läg’ ich begraben, aus der Erde
Spräng’ ich um sie heraus — zu Dir!
Möcht’ eines sanften Todes sterben,
Um wieder jung dann aufzustehn —
Es lebe die Liebe! —
Dass ich nur einmal wieder könnte,
Mit meinem Schatz spazieren gehn!
1. Se l’amor foss scrit in carte
Ce cartone che saress!
Une barce no la jeve (leva
= leverebbe)
Une nav no bastaress.
2. Non voi andar plui alla moda
Gale plui non voi portar:
Jò voi ir fanciulla soda,
Non mi vo(gl)io plui sposar.
Wenn die Liebe war’ geschrieben auf
Papier
Welche Papiermasse das wäre!
Eine Barke würde sie nicht heben
(= tragen),
Ein Lastschiff würde nicht genügen.
Nicht will ich gehn mehr modisch,
Gala mehr nicht mag ich tragen:
Ich will einhergehn als gesetztes
Mädchen,
Nicht mag ich mich mehr verheiraten.
Yillotte friulane (Friaulische Dorflieder).
413
3. Lis montagnis si slontanin
E lu cil si va slargiand:
E cussi la me morose
E’ si Ta dismenteand.
4. E tu aghe, e tu aghe,
Anchie tu tu vas in jù —
O saludimi il mio zovin,
Anchie lui aventi jù (giù).
5. 0 ce bièl lusor di lune
Oh’ el Signor nus ha mandat,
A bussà fantattis biellis
No 1’ è fregul di peccati
6. Hai ziràtt (girato) dutte la Carnje
Hai ziratt dutt il Friul
Par cattami une morose:
Mai nissune no mi (y)ul!
7. Dula mai si catte un zovin
Come me disfortunat,
Da fantazz e da fantattis
E da due abandonat!
8. Maridaissi '), fantazzinis,
Maridaissi al prin eh’ al ven,
Yjodis ben che anchie la jerbe
Quan che è seccie e’ va in fen.
9. Une volte scarpis njovis
E cumò („cum hoc“ tempore)
scarpezz frujaz:
Une volte tang biei zovins,
E cumò tang biei soldaz!
10. Fantazzinis, fait crosettis,
Che i fantazz s’ in van soldaz —
Avodaissi1) a zuess (zotti) e gobbos,
Calzumiz e strupiaz (scalzi e stroppj)!
Die Berge entfernen sich (weichen
zurück)
Und der Himmel wird immer weiter
(geht sich weitend):
Und so auch meine Geliebte,
Sie gerät in Vergessenheit (Sie sich
geht entsinnend).
Und du Wasser, und du Wasser,
Auch du, du gehst hinab —
0 grosse mir meinen Jungen (Liebsten),
Auch er zog dort hinab.
0 welch schöner Glanz des Mondes,
Den der Herrgott uns geschickt hat!
Zu küssen schöne Mädchen
Ist ja kein Krümchen von Sünde.
Hab’ durchwandert ganz Karnien,
Hab’ durchwandert ganz Friaul,
Um zu fahn mir eine Liebste:
Aber keine nicht mich will!
Wo je findet sich ein Junge
Wie ich glücklos,
Von Burschen und von Mädchen
Und von allen verlassen!
Heiratet, Mädchen,
Heiratet den ersten, der kommt.
Ihr seht wohl, dass auch das Gras,
AVann es trocken ist, zu Heu wird
(übergeht in Heu).
Einstmals in neuen Schuhen
Und nun in alten zerrissenen:
Einstmals so schöne Burschen,
Und nun so — schöne Soldaten!
Mädchen macht Kreuze (= verzichtet,
entsaget),
Denn die Burschen gehn fort (als)
Soldaten —
AVidmet (verlobet) euch den Lahmen
und Buckligen,
Den Lottern (Entstrumpften) und
Krüppeln!
1) Slavisches Reflexiv (sich) anstatt Maritate vi (verheiratet euch) — Avotatevi
(Avouez-vous).
OQ
Zeitschr. (1. Vereins f. Volkskunde. 1893#
414
Schatzmayr :
11. Il paìs uèi saludalu, Che mi toccie di partì, Che mi toccie dilà a Vienne Fra lis armis a muri. Das (Vater-)Land will ich grüssen, Denn ich muss („mich trifft’s“) abreisen, Denn ich muss dort in Wien Zwischen den Waffen sterben.
12. Jò soi pizzul, iò soi miser, No soi bon di fa il soldati Daimi1) in brazz une bambine Che jò 1’ ami insin eh’ ai fiat. Ich bin winzig, ich bin schwächlich, Ich tauge nicht zum Soldaten (Nicht bin gut zu machen den Soldaten): Gieb mir in Arm ein kleines Mädel, Dass ich es liebe, so lang’ ich atme.
13. E iò canti, canti, canti, E no sai ben sol parcè — E iò canti solamenti Sol par consolami me. Und ich singe, singe, singe, Und nicht weiss ich wohl selbst warum — Und ich singe einzig und allein Nur um zu trösten mich.
hierzu H. Heines:
Wenn die Kinder sind im Dunklen,
Wird beklommen ihr Gemüt,
Und um ihre Angst zu bannen,
Singen sie ein lautes Lied . .)
14. Jè che’ furbe di to’ mari Che no va mai a durmi: Jò cun te vorress discorri Che doman hai di partì. 0 wie schlau ist deine Mutter (jene Schlaue von deiner M.), Die niemals schlafen geht: Ich möchte mit dir plaudern, Denn morgen muss (hab’) ich ab(zu)reisen.
15. Jò doman partiss, voi vie, Poverin disfortunat: Il mio cur ati tei doni E tu tenia conservai Ich verreise morgen, gehe weg, Ärmster, Unglücklicher (ich): Mein Herz, dir schenk’ ich es Und du halt’ es wohlverwahrt.
16. Oh, ce strente di manine Co ’1 cur mio ti consegnai! Oh, ten cont di lui, ninine, Par infin che tornarai! Oh, welche Händchendrücke Mit dem Herzen mein (ich) dir übergab! Oh, bewahr’ es wohl (halte Rechnung seiner), Liebchen, Solange bis ich zurückkehre.
17. No vai, anime bièlle, No vai e sospirò: Jò là dentri no ti lasci, Fur di là ti uèi menò. Nicht weine, schöne Seele, Nicht weine und seufze: Ich dort drinnen nicht dich lasse, Heraus von dort will ich dich führen.
18. Di cheli sospir di che’ bocchiutte, Distaccat propri dal cur, Ti soi grat, o bambinutte, Ti soi grat infin che mur. Für den Seufzer jenes Mündchens, Gekommen (Gepflückt) wirklich vom Herzen, Bin ich dir dankbar, o lieb Kindchen, Bin ich dir dankbar, bis ich sterbe.
1) Slavisch, ital. dammi (gieb mir).
Yillotte friulane (Friauliscile Dorf Heder).
415
19. Se m’ in voi iò vie di clienti
Cui sa mai se tornarai,
Cui sarà che mi consoli
Des passions che puartarai?
20. Dui (di oltre) di me, dui de me’ vite
Dui di me tant zovenin,
Doi la muart a me' morose
Se iò tiri il numer prin!
Wenn ich scheide (mene vo) von der
Heimat
Wer weiss, ob ich je zurückkehre,
Wer wird sein, der mich tröste
Der Leiden, die ich tragen werde?
Ausser mir, ausser meinem Leben,
Ausser mir dem noch so jungen,
Geb’ ich den Tod meiner Geliebten,
Wenn ich ziehe die Nummer Eins! (bei
der Auslosung der Rekruten).
(Diese Sammlung kann, um ein treuer Spiegel der furlanischen Volks'
seele zu sein, fortgesetzt werden in die Hunderte.)
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen
im Niederländischen.
Von August Gittée in Lüttich.
Es ist eine sehr eigentümliche Aufgabe, den Weisen nachzuforschen,
in welchen der Spott sich in dem Yolke offenbart. Dass er vom Volks-
geist untrennbar ist, bedarf wohl keines Beweises. Die komische Litteratur
hat einen populären Ursprung und findet — wie gross auch heute die Kluft
sei zwischen dem eigentlichen Yolke und der „gantierten“ Litteratur —
ihre Typen und Inspirationen meistens im Leben und Weben der unteren
Klassen.
Bei diesen tritt denn auch die Spottlust mehr in den Vordergrund.
Hat La Fontaine von der Jugend gesagt: „Cet âge est sans pitié“, so ist
dieses Wort ebenso sehr auf das Volk anwendbar. Für jeden Moment im
Leben, für jede Lage hat es ein Wort, das in die Prosa des menschlichen
Daseins Abwechslung bringt und uns einen Augenblick in heitere Stimmung
Versetzt.
Im besonderen da, wo sich Schwachheiten und Unvollkommenheiten
offenbaren, wird der Volksgeist sich — ohne Bösartigkeit jedoch — lustig
machen.
Eine besondere Gattung dieser Äusserungen des Volkscharakters bilden
die Eigennamen, welche scherzhaft und spottend angewendet werden. Aus
dem Vorhergehenden wird schon hervorleuchten, wo man dieselben am
zahlreichsten antreffen wird. Sie sind hauptsächlich gang und gäbe unter
28*
416
Gittee:
den niederen Ständen, immer häufiger, je tiefer man die Stufenleiter der
Gesellschaft hinabsteigt. Solche Eigennamen sind in grosser Zahl vor-
handen in den litterarischen Urkunden über das Volksleben, in Spott-
und Schimpfgedichten, sowie auch in den Schwänken und Lustspielen aus
früheren Jahrhunderten.
f
J1
1.
Anlass zur komischen Anwendung von Eigennamen konnte das Volk
schon finden in dem Bestehen bedeutungsvoller Personen- und Ortsnamen.
In vielen Fällen ist die Bedeutung der Wurzeln, trotz der im Laufe der
Jahrhunderte erlittenen Änderungen, noch deutlich erkennbar, ohne dass
es nötig wäre, dass der ausgedrückte Begriff sich rechtfertigen lasse. So
heisst gegenwärtig wohl auch ein kleiner Mann De Groot oder De Groote
(gross) und ein rothaariger De Swarte (schwarz). „Auch die Natur begeht
Irrtümer.“
Die Gewohnheit des Volkes, Beinamen zu ersinnen, besteht überall.
Unter den niederen Ständen sind diese noch heute so sehr verbreitet, dass
eine Person im gewöhnlichen Umgang wohl unter ihrer populären Be-
nennung, nicht aber unter ihrem Familiennamen, bekannt ist. Man findet
es leichter, ein Wort zu behalten, das dem Geiste etwas sagt. Der wirk-
liche Name ist für den Volksgeist zu unbedeutend; und es geht diesen
Namen, wie gewissen Worten aus dem gewöhnlichen Wortschatz, welche
sich allmählich verlieren unter der Konkurrenz witzigerer Wörter, reicher
an Farbe und Ausdruck, oder solcher, welche zu dem Verstand oder der
Einbildung kräftiger reden. Das Witzige, das ist es eben, was das Volk
in seinen Sprachveränderungen beabsichtigt, und das ist ebenfalls der
Charakter, unter welchem sich die scherzhaft angewendeten Eigennamen
hervorthun.
In jeder Sprache sind, anstatt der wesentlichen Namen, für zahlreiche
Sachen andere Namen gebräuchlich, welche an irgend einen frappierenden
Zug des Gegenstandes erinnern. Auch gemeine Substantive erleiden und
erlitten in früheren Jahrhunderten solche Abänderungen. Heutzutage sagen
wir z. B. pillendraaier (— Pillendreher) für Apotheker; sabelsleeper
(= Säbelschlepper) für Soldat; pennelikker (= Federlecker) für Beamte;
steek (= Spitzhut), Zwartrok (= Schwarzrock), Hemeldragonder
(= Himmeldragoner) für Geistliche; speldezoeker (= Stecknadelsucher)
für Polizeibeamte u. a. m. Breero, ein niederländischer Lustspieldichter
des XVII. Jahrhunderts, nennt den Backofen Swartjan (Schwarzer Johann).
In den niederländischen mittelalterlichen Volksliedern (Hoffmannn v. F.,
Horae Belgicae, II2, n. 144) heisst ein Schuhmacher ein peckedraet
(= Pechfaden), ein Schneider eine spetluis (= Stichlaus), ein Bäcker ein
kijkinoven (= Guck-in-den-Ofen), ein Küster ein klinckerdiclanc
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Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen.
417
(vom Glockenschall), ein Krüppel ein liuppenstup (von huppen,
hupp eien = hüpfen), Benennungen, welche noch heute zum Teil bekannt
sind. Man vergleiche ein schup - en-bessempie (= Schaufel- und
Besenchen), die Overyselsche Benennung für einen Kärrner.
Schläge erhielten in der Yolkssprache ebenfalls komische Kamen. All-
gemein sagt man rottingolie (- Bohröl) in Holland, und vet (=Fett) in
Flandern; man unterscheidet handgeld und voetgeld, auch in Deutsch-
land Handgeld und Fersengeld; kontfeest (kont = Hintere) in
Limburg; Yondel (Warande der Dieren, Ausg. van Lennep-Unger,
p. 19, vs. 14) gebraucht stokkenbrood und Breero (Symen vs. 372)
stocvis met vuystloock overgoten (= Stockfisch mit Faustlauch über-
gossen). Auch der Strick wurde so zu einem hennipe venster (= hänfen
Fenster) bei Breero (Koe, vs. 8). Im Wallonischen spricht man von der
cravate di fier (= eiserne Kravatte) für Pranger (Dejardin et De-
frecheux, Dict. des Spots Wallons n. 835).
In den älteren germanischen Sprachen findet man Misshandlungen und
Schläge aufgefasst als Trank, der geschenkt wird. Bekannt sind die
Worte Reinharts zu seinem Oheim Brune, der im Baume gefangen ist:
(Vs. 705) Hier coomt Lamfroit ende sal u scinken,
Haddi gheten, so soudi drinken.
(Hier kommt Lamfroit, der Euch einschenken wird;
Bei der Mahlzeit muss man trinken.)
Ys. 2172 kommt der Ausdruck vor: hier brauwen, auch 2175 mede
blanden (= Meth mischen), und Tibert der Kater bruwt dem Fuchs
cloosterbier (vs. 1951). Cfr. noch im Nibelungenlied 1918, 4: hie
schenket Hagne daz aller wirsiste träne; und im Ludwigslied 53:
Her skancta cehanton sinan fianton bitteres lides. — Die An-
wendung von tr acte ereil (= bewirten), für Schläge geben, musste ganz
natürlich aus solchen Benennungen hervorgehen.
Im Yorübergehen will ich noch auf eine andere Art farbenreicher
Volksausdrücke liinweisen. In seiner Liebe zu witzigen Redensarten ge-
braucht das Volk oft Wörter, welche, sonst nur für heilige Sachen gebraucht,
durch eine Anwendung auf ganz menschliche Handlungen sozusagen in die
Parodie der echten und ursprünglichen Bedeutung übergehen. In dieser
Weise heisst das Volk eine Reihe Flüche eine litanie; eine Kneipe ein
kapelleken in Flandern, ein heilig huisje in Holland; eine Flasche
Wein wird zu einer zwarte zuster (= schwarze Schwester) in Flandern,
und in Holland zu einem Dominee (= Pfarrer); drei untrennbare Freunde
heisst man die heilige Drievuldigheid (= II. Dreifaltigkeit); ist eine
ganze Familie durch gewisse gemeinschaftliche Eigentümlichkeiten gekenn-
zeichnet, so heisst sie bald die H. Familie; eine Diarrhoe wird mit einem
Wortspiel zum vollen aflaat (= Ablass); das Kartenspiel heisst bei Breero
(Symen vs. 539) de Bijbel met 52 blaren (== die Bibel mit 52 Blättern),
418
Gittee:
und für die zehn Finger besteht die komische Benennung de tien ge-
boden (die zehn Gebote), ein Ausdruck, der sehr alt ist, da er sich schon
bei Shakespeare nachweisen lässt. In Henry VI (2d part, A. I, Sc. 3)
spricht keine Geringere als die Herzogin von Gloster diese für die Sitten
der Zeit sehr bedeutungsvollen Worte: J’d set my ten commandments
in your face.
In mittelalterlichen Urkunden kommen die Beinamen sehr zahlreich
vor, ein Beweis, dass diese Neigung schon früh bei dem Volke tliätig war.
Lächerlich sind dieselben immer, unverschämt häufig. Alte Familienakten
aus Flandern erwähnen Personen mit Namen als De Kromme (krumm),
De Manke (= hinkend, lahm), De Dikkop, De Kasse oder Bult
(= Buckel), De Bier bolle (= bolle = Kopf, wahrscheinlich = Dickkopf)
u. a. m. In den Deventer Cameraers oder Stadt-Rechnungen werden
Personen genannt wie Cal versiert (= Kalbsschwanz), Peerdesvoet
(== Pferdefuss), Scheie Heyn, Lambert mitten enen Hant, Dyrickx
wyf mitten oranglien oghen, u. s. w.
Wie populär solche Namen in vorigen Jahrhunderten waren, beweisen
die alten niederländischen Kluchten, d. i. Schwänke, welche das Volks-
leben so treu schilderten. Die Beispiele sind zahlreich. In Breeros Klucht
van de Koe tragen fast alle die Personen, von denen die Rede ist, einen
Namen, der einer körperlichen oder sittlichen Eigentümlichkeit entlehnt
ist. Vriesse Grietze, die köstliche Wirtin zum Swarte Paert, erzählt
uns (vs. 209) von dem fröhlichen Leben, das eine Dirne geführt hat mit
Doove Jas (doof = taub), mit Mancke Klaas, mit Droncke Piet
(dronken = trunken) und anderen. Der Tölpel, der sich seine Kuh
stehlen lässt, und sich auf den Weg macht, um sie selbst zu verkaufen,
lehrt uns, was für ein Mann Lange Dirck ist, der reiche Bauer, und
dessen Tochter Magre Grietje, um welche gefreit wird von Pied Quist-
goed (Peter Verschwend-Gut), welcher es „wohl durchbringen wird“:
. . . . Vreckebart was het goet te vergären een tust,
En om dat op te krijgen, had Licht hart nacht noch dag rust (vs. 363).
(Geizbart war’s eine Lust, das Gut zu sammeln, und um es zu verschwenden
hatte Leichtherz weder Nacht noch Tag Ruhe.)
An einer andern Stelle (Symen vs. 395) kommt Pieter driebochgelde
neus (Peter mit der dreihöckerigen Nase) vor.
In vorigen Jahrhunderten, als die Civil-Register noch nicht eingerichtet
waren, mussten viele solcher Namen dazu dienen, um die Personen zu unter-
scheiden. Die Freiheit im Ausdruck, welche die mittelalterliche Gesell-
schaft kennzeichnet, findet sich auch in den angewendeten Namen, um so
mehr, als die in dieser Weise getauften Personen weder Edelleute noch
Priester waren und überhaupt nicht zu den höheren Klassen gehörten. In
dem Masse, wie der Begriff der Anständigkeit sich später entwickelte,
wurden die unsittlichen Namen geändert oder aufgegeben; heute aber
Scherzhaft gebildete und an gewendete Eigennamen im Niederländischen.
419
finden sich deren noch mehrere, welche die Berufung an den Landesherrn
rechtfertigen würden1).
In der Volkssprache wird, nicht selten als Sprichwort oder Spruch,
mancher Eigenname scherzhaft angewendet, um einen ganz entgegen-
gesetzten Begriff hervorzurufen, als den ausgedrückten.
Vielfach bestehen dieselben aus einem Wurzelwort mit einer Endung.
Ein Geizhals wird also in Flandern Gevaert (geven = geben) heissen,
wobei häufig hinzugefügt wird: Gevaert is dood, maar Hebbaert leeft
nog (== Gebhart ist tot, Habhart lebt aber noch). Ein träger Mensch Jan
Tijdgenoeg (= Johann Zeitgenug); wer sich wie einen Reichen stellt,
eigentlich aber nichts besitzt, der Typus des armen Edelmannes, Baron
Geegoed (- Kein Gut, accentuiert auf der ersten Silbe). Er führt die
Firma: Pauvrete, Misere & Cie.
Dünkt sich jemand sehr klug, so nennt man ihn Rappaert (rap
= rasch, klug) oder Slimbroeck (slirn = schlau, klug), oder auch, wie
in Limburg, Slimmeke. Oft wird alsdann eine Anspielung auf eine der
Heldenthaten Slimmekes hinzugefügt: „Als Slimmeke dood is, heisst
es, zal men u Slimmeke malcen; Slimmeke ging voor den Spiegel staan,
met zijn oogen toe, om te zien hoe hij er uit zag terwijl hij sliep!“ (Wenn
S. tot sein wird, wird man dich zum S. machen; S. stellte sich vor den
Spiegel, mit den Augen zu, um zu sehen, wie er aussah, als er schlief.)
In Overijsel kennt man Leepertje (leep = schlau): Als Leepertien
dood is, söl ie Leepertien wörren.
Unartigen Kindern wird versprochen, dass sie mitgehen werden „op
Thuisblijvers (oder Jan Blijfthuisens) wagen“ (thuis = zu Hause;
blijven — bleiben).
Mittels Zusammensetzungen können solche Eigennamen ebenfalls ge-
bildet werden, ob man nun entweder mit Adjektiven und Substantiven den
Gedanken direkt ausdrückt, oder ob derselbe nur indirekt hervorgerufen wird
durch einen Teil des Wortes. Nicht selten dient im letzten Fall ein Orts-
name, er bestehe nun als Name eines wirklichen Ortes oder sei nur ersonnen;
werden in dieser Weise angewendet; noch zahlreicher vielleicht sind die,
welche von dem Volkswitz „geschmiedet“ werden.
So erhält z. B. eine Frau, welche wenig weiss, warum die Natur ihr
darum bekümmert sich der Volksgeist durchaus nicht. Viele bestehenden
Ortsnamen, in welchen ein Teil zu einem Wortspiel Anlass geben kann,
Lachmuskeln geschenkt hat, in der Volkssprache den Namen: Madam
m U C Y CL 11 JU Ct V II V/ 11 ^111 V C/ U1UUVy« J-Z ViH nuiu KJJ71 UjC/U
(r; gebrauch gemäss gehört sie nach Grimberg (grim - grimmig) zu Hause,
oder ist vielleicht zu Bott er dam, der Stadt der botteriken (bot = plump),
1) S. Van Hoorebeke, Étude sur les Noms patronymiques flamands
420
Gittee:
getauft worden. Übrigens, sagt De Brune, ein jetzt fast vergessener
Schriftsteller des XVII. Jahrhunderts, „men vind menschen, die alles op
het wrevelighste nemen en op het schots duyden, wat haar voorkomt; die
gheen ander vaart en hehben als op Spitsbergen om haecken en harpoenen
te ghebruycken“. Das Wortspiel liegt in schots (von schiessen) und in
Spitsbergen (== spitz).
Solch eine Dame ist gewiss eine Nichte der Madam van Kwikkel-
berge (kwiklcelen, vlämisch für pruttelen = murren) oder der Vrouw
Snavelsnel (= Schnabelschnell); und sie hat vielleicht Verwandte im
„Hause zu Klappenburg, wohin die Plauderer (klappen = plaudern)
gehören“, welche immer allerlei Neues mitzuteilen haben.
Sie haben inzwischen gut Acht zu geben, denn neben Klappenburg
liegt Kloppenburg, d. h. der Ort, wo kloppen oder klappen (= Klapfe,
Schläge) ausgeteilt werden.
Es ist daher vorsichtiger, mit den Schweigsamen nach Zwijgland zu
gehören.
Sonderbar ist auch der Eigenname, welcher angewendet wird, wenn
ein heiratsfähiges Mädchen sich, in Worten wenigstens, stellt, als ob sie
der Heirat abgeneigt sei. „Ja,“ sagt der Volkswitz, „warte nur bis Jan
van Pas (van pas = zur gehörigen Stunde) sich einstellt“. Bei derselben
Gelegenheit gab De Brune die folgende Warnung an Mädchen, welche sich
all zu wählerisch zeigen: „Passt nur gut auf, dass es euch nicht gehe wie
Freiern, welche am keurboom (= Wahlbaum) vorübergehend, nachher
mit vuylboom (= Faulbaum) vorlieb nehmen müssen.“ Und dann geraten
dergleichen oft in den Zorghoeck (= Sorge; hoeck = Ecke).
Ein heiratslustiges Fräulein heisst bei Breero (Symen vs. 339) Lijsje
waar is Jan? (Lijsje = Elisabeth). Ebenso bei Coster, einem andern
dramatischen Dichter des XVII. Jahrhunderts (Teeuwis vs. 363). In alten
Schwänken ist Lijsje ziemlich allgemein der Name der Frau, ebenso wie
Jan für den Mann; in verschiedenen Gegenden, unter andern in Flandern
und Overysel, sagt man heutzutage meistens Trien (= Trine): z. B. een
gekke Trien, een domme Trien, een holte (= hölzerne) Trien; Tjanne
(= Johanna) für eine Bäuerin, Peet oder Pее (= Peter) für einen Bauern.
Allgemein im Gebrauch ist noch die Benamung Kruidje-roer-mij-
niet (= Kräutchen rühr-mich-nicht-an) für einen unduldsamen Menschen.
Teuntje Roert mij niet (Teuntje = Anton) bei Breero (Symen vs. 246)
zeigt sich als nicht besonders umgänglich und schilt auch Symen tüchtig
den Rücken voll. Im Französischen kennt man auch Mainz eile Nit о u che
(= n’y touche).
Busken Huet, der Verfasser von Lidewij de, spricht daselbst (p. 230)
von einer Juffrouw ongeloof (= Fräulein Unglauben). Er schrieb eine
Minuskel; es scheint aber unzweifelhaft, dass es ein ganz in solcher Weise
gebildeter ersonnener Eigenname sei.
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen.
421
Zu derselben Klasse gehört der Schütze aus dem west-vlämischen
Sprichwort: Bykans (= Beinahe) schoss einen Spatzen, er traf ihn aber
nicht.
Mit einem klassischen Anstrich wird das Publikum zum Heer Omnes,
bei Breero (Griane 2759, Molenaer 17) gebraucht als gemeines Sub-
stantiv. „Het heromnenes is van alle deught vervremt“, sagt Triin Jans.
Der heutige Sprachgebrauch sagt in demselben ungünstigen Sinn Jan
Alientan.
Nicht nur für Personen werden derartige Namen ersonnen; auch für
Tiere und Sachen, sogar für gewisse Handlungen.
Ein Hund z. B., welchen man als hässlich bezeichnen will, heisst
Te-lang-uit-’t-water (= Zu lange aus dem Wasser).
Will man ausdrücken, dass man für etwas gleichgiltig ist, dann ersinnt
der Volkswitz eine Hausinschrift und sagt in Flandern: Ich wrohne in4
Plezierken (demin. v. plezier = frz. plaisir). Dieser Ausdruck ist ge-
gründet auf die Antwort: dat doet me plezier (= das macht mir Vergnügen),
in manchem Falle ein Euphemism für: das ist mir egal.
Ein „Spei van Bedriegt-den-boer“ (= betrügt den Bauern) ist eine
Redensart, welche in Flandern oft auf den politischen Streit angewendet
wird; im besonderen, wenn von den Zinsen die Rede ist, wobei stets auf
ein Volkslied angespielt wird mit dem Refrain: „De boer zal’t al be-
talen“. Hiermit wird darauf hingedeutet, dass die Grossen am Staats-
ruder den gemeinen Mann bei der Nase führen: kein Wunder also, dass
der spottlustige Volksgeist für die ganze Komödie (denn spei muss hier
in seiner mittelalterlichen Bedeutung gefasst werden) einen Namen ersann.
Ebenfalls ein fiktives Spiel ist, diesmal aber in der eigentlichen Be-
deutung des Wortes, das von Breero (Koevs. 42) gemeinte, wenn er sagt:
„Haesop na Kuilenburg speien“. Das bedeutet nämlich flüchten (von haas
— Hase) nach dem Freiplatz (Asyl) Kuilenburg in Geldern.
Ein ersonnenes Lied wird erwähnt von Breero (Koe vs. 434) und
anderen in einem Ausdruck für Festfeiern und trinken: van Aaltge
singen. Hiermit wird angespielt auf den Frauennamen Adelheid, zu
gleicher Zeit aber auf das mittelndl. ale, eine Art Bier (cf. engl. ale).
Noch muss der freie Ausdruck erwähnt werden, „den Lubbert in de
wei laten“ (Breero, Koe vs. 514), ein Wortspiel zwischen dem Manns-
namen Lubbert und dem jetzt veralteten lubbe oder lobbe (== das
männliche Glied), wovon noch lubben (== kastrieren). II.
II.
Zahlreiche Namen von wirklich bestehenden Orten, welche an allgemein
gangbare Wörter erinnern, luden gewissermassen zu solchem Scherz ein.
Derartige sind z. B. Bettingen in Schwaben und Dummsdorf in
422
Gittec:
Sachsen. Neben den bestehenden bildete die Volkssprache deren eine
Menge anderer.
Wünscht man auszudrücken, dass man etwas ungenau auffasst, so wird
im besonderen auf die Redensart „ich meine es“ geantwortet: „Meenen
ligt bij Kortrijk“. Täglich hört man diese komische Antwort in Flan-
dern, welche an zwei dort bestehende Städtchen erinnert. Auch „Meenen
und missen (sich irren) fangen mit demselben Buchstaben an“. In der
letzten Redensart beruht das Wortspiel nicht mehr auf dem Ortsnamen
Meenen, sondern auf dem Verbum. Im bol spei (ein flandrisches Spiel
mit hölzernen Scheiben, bollen genannt) wird zu einem gesagt, der zu
kurz wirft: Ge zijt van Kortrijk (kort = kurz).
Kortrijk wird ebenfalls in Verbindung gebracht mit dem Ortsnamen
Düren in Deutschland: Duren (der Stadtname oder das Verbum = dauern),
heisst es, is eene schoone stad, maar Kortrijk (d. i. kurzes Reich) ligt
er over (oder: dicht bij). In Holland heisst die Redensart: Duren is
eene schoone stad, die aan het Sparen (= Flussname in Nord-Holland,
oder Verbum *= sparen) ligt. De Potter (Het Boek der Vermaarde
Uithangborden, Gent 1861, p. 33) erwähnt folgende Aufschrift einer
Kneipe in Flandern:
In Duren tapt men lekker nat:
Is Duren niet een schoone stad?
Etwas Unwahrscheinliches, Unmögliches oder Unwahres ist, sagt die
vlämische Volksrede, geschehen zu Ware gern und erzählt zu Leugegem
(leugen = Lüge), oder ausgeläutet zu Sottegem (zot = Geck). Waregem
und Sottegem sind zwei Dörfer in Flandern; das andere Leugegem
würde man vergebens auf der Karte suchen. Beim Ersinnen half das be-
stehende Leupegem in Flandern nach.
Für einen Gecken musste natürlich das Wort mit Sottegem an-
gewendet werden: „Der kommt aus Sottegem“; auch geht die Uhr oft
„mit Sottegem“.
Man kommt „von Ternath“ (in Brabant) wenn man mit nassen
(— nat) Kleidern nach Hause kehrt.
Wenn die flandrischen Bauernknechte zu Mittag essen, trinken sie
alle aus einem Glas; wer zuletzt trinkt, muss dem folgenden einschenken.
Unterlässt er dies, so vergreift er sich an allen Regeln der Anständigkeit
und es wird von ihm gesagt, er sei ausBottelare (bot = plump), einem
Dorf in Flandern.
Wer dummes Zeug redet, ist aus Seevergem (in Ost-Flandern). In
dieser Bedeutung (plappern) gebraucht noch heute der Flamländer das noch
bei Breero vorkommende Verbum zeeveren.
In Holland ist, nach De Brune, von den Einwohnern des Seebades
Domburg in Walcheren nicht viel zu erwarten:
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen.
423
Die wysheid van een dwaes begheert,
Die is oock zelfs die name weerdt.
(Wer Weisheit von einem Narren begehrt, der verdient selber auch diesen
Namen.)
Merkwürdig ist die Verwendung eines sehr verbreiteten Schwankes, zu
welcher dieser Stadtname Anlass gab. Dass eine Sage entsteht als Er-
klärung eines Ortsnamens, geschieht öfter, wie wir weiter noch sehen
werden; dass aber ein Schildbürgerstreich zu diesem Zweck angewendet
wird, ist nicht sehr gewöhnlich.
Über die Ableitung des Namens des Städtchens Domburg wurde ver-
schiedenes aufgestellt. Nach der ältesten Schreibart Dumnburch in einer
Verordnung aus dem Jahre 1223 hat man gesucht, denselben auf domini-
burg zurückzuführen, Burg des Landesherrn, oder auf doemburg, Burg
wo gedoemd, i. e. Recht gesprochen (cf. engl, to doom) wurde. Andere
suchten darin duinburg (duin = Düne). Der Volkshumor weiss, wo
nicht etwas Besseres, dann doch etwas Ergötzlicheres.
Der Name entstand nämlich beim Kirchbau. Man suchte da mit viel
Mühe, aber vergebens, einen langen Balken in der Quere durch eine Thiir-
öffnuug hineinzubringen. Zu gleicher Zeit sah man einen Vogel mit einem
langen Strohhalm im Schnabel in ein Loch der Mauer fliegen und be-
merkte, dass der Vogel den Halm nicht in der Quere, sondern der Länge
nach trug. Und da war ihnen geholfen. Die Leute waren erstaunt über
das einfache Mittel und konnten nicht umhin auszurufen: Wat zijn we
toch dom me burgers! und so wurde der Ort Domburg genannt1).
De Brune lässt einen Mann, der zu einem solchen Ort gehört, in seinem
Boec der Amoreusheyt erklären:
Plomp sonder arch, myn Heeren,
Dats mynen name, wildyt weten.
Ick hebbe oyt al te gheerne wittinghen gheten,
Want te Malleghem ben ik gbebroet,
Ende die van Sotteghem hebben my ghevoet,
Met suyvele van den Keiberschen driessche.
d. h. Plump ohne Argwohn, meine Herren, das ist mein Name, müsst ihr
wissen; ich habe immer zu gerne Weissfisch (Wortspiel zwischen wit
= weiss und weten = wissen) gegessen, denn zu Malleghem (mal — dumm)
bin ich ausgebrütet worden, und die von Sotteghem haben mich gefüttert
mit Butter und Käse von dem „Keybergschen Driesch“.
Van Dale (Taalgids VIII, p. 146), sprach mit Recht die Meinung aus
dass auch de Keyber(g)sche driesch, d. h. K.’sche Wiese, zu den scherz-
haft gebildeten Namen gehört, wiewohl in Gelderland ein Weiler Keien-
borcli besteht. In mancher Redensart kommt das Substantiv kei (= Kiesel)
1) Kesteloo, Domburg1 en zijne Geschiedenis. Middelburg 1890, p. 3.
424
Gittee:
vor in Verbindung mit Thorheit und Albernheit. Man sagt z. B.: hij lieeft
een kei in’t hoofd; hij is met den kei gelcweld (= gequält); een
kei van een vent (= Mann). In einem Schauspiel von 1561 heisst eine
der Personen „Maes van Keyendaali4. Vielleicht geht dieses Kei zurück
auf den Artusritter Keye, der zwar ein tapferer Degen, aber durch seine
Spottsucht verhasst war. Im Jahre 1661 erschien de Keyklucht van
Jock en Ernst von Freiherrn Everard Meyster. (Über Keye s.
J. te Winkel, Greschiedenis der Nederl. Letterk. I, p. 181).
Plompardye (von plomp = plump) gehört ebenfalls zu dieser ein-
gebildeten Welt. „Men vindt, sagt de Brune, groote lichamen uit Plom-
pardye zoo grof als boonstroo, die niet een greintjen zouts en hebben.“
Für einen Thoren besteht das Sprichwort: Er kommt von Plompardye,
nicht von Scherpenisse (scherp — scharf)1).
Dieses Scherpenisse, gebildet nach Ortsnamen wie Hontenisse in
Zeeland, liegt gewiss am andern Ende jenes Landes. In der Nähe liegt
der Geburtsort der Betrüger: man muss, sagt wieder De Brune, aus
Schalckeroort oder Vosmeer (vos = Fuchs) sein, um durch die Welt
zu kommen.
Es ist begreiflich, dass die Wortspiele, in welchen Geiz und Habsucht
bespottet werden, zahlreich sind.
Sehr bekannt ist z. B.: Hij is uit ’t land van Cleven, wobei an
kleven (kleben) gedacht wird. In Holland wird auch gesagt: Hij is van
de Familie van Van Kleef, und mit einem Reim wird hinzugefügt: hij
houdt van de heb, maar niet van de geef (er hält vom Halten, nicht
vom Geben).
In Flandern lautet das Reimchen:
Hij is van Bever,
Liever houder dan gever.
Bever (e, en) ist der Name verschiedener Dörfer in Flandern; er kam
im Reim zu statten.
Ein Geizhals (= vrek) kommt in Flandern von Vreckhem, einem
Weiler in Ost-Flandern; schon oben wurde Vreckebaert aus Breeros
Klucht van de Koe erwähnt.
In demselben Lustspiel lässt er einen Mann aus der nämlichen Familie
„varen op Cape de Gryps“ (vs. 28). Dieses Kap steht natürlich nur auf
der Karte der Habgierigen (Gryps von grijpen = greifen). In Flandern
lebt dieser Ausdruck noch fort unter der durch Volksetymologie ent-
standenen Form von Pak-ende-gryp. Im Deutschen sagt man: Er ist
vom Stamme Nimm.
Geringe Leute, sowie die Sippe des schon erwähnten Baron Geegoed,
werden ebenfalls vom Volkshumor bedacht.
1) Harrebomee, Spreekwoordenboek.
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen.
425
Solche sind die „poorters van Nergenshuizen in Geenland“ (= Bürger
von Nirgendshausen in Keinland); unter diesen hebt ein Lustspiel aus
dem Anfang des XVIII. Jahrhunderts einen „Graaf van Nergenshuizen“
hervor.
Der Typus des Vagabunden, der „Heer van Bystervelt“, erfreut sich
eines ehrwürdigen Alters. Er kommt schon vor in dem vlämischen „rede-
rijker“ A. De Roovere, der in seinen Rhetorischen Werken schreibt:
Tvolck was ghestelt, tis nu confuys,
Al sonder ghelt en sonder cruys
Al(s) Bystervelt, daer is graen noch gruys.
d. h. Das Volk war (darum ist es verwirrt) durchaus ohne Geld und Kreuz
wie Bystervelt; da giebt es weder Korn noch Grütze.
Bystervelt besteht noch als der Name von zwei Weilern in Holland.
Es bedeutet: ein wüstes und wertloses Stück Land. In einem Brief der
Stadt Zwolle an Kämpen von 1671 wird gesprochen von Ländereien, welche
„byster en onbeheert“ liegen, und in Zwolleschen Prozessakten von einem
„voormaals bijstere, dog nu wederom beheerde dijk“ (= Damm).
Und in dem „Opregte Zandvoorder Speelwagen“, einem alten Lieder-
buch, heisst es weiter:
Hoe siegt is ’t nu met my gesteld,
Ik leef als heer van Bystervelt,
Ik heb gheen geld noch eenig pand ....
(d. i. Wie schlecht ist.es jetzt mit mir bestellt, ich lebe wie der Herr
von B., ich habe weder Geld noch irgend eine Habe . . .)
Glücklicherweise, sagt De Brune,' giebt es noch Hausfrauen „in de konst
van zuynigheid (Sparsamkeit) ervaren en die de reyse naar Hongeryen
(Wortspiel mit Hongarije = Ungarn und Hunger) door spaarzaamheyt
beletten“ (= verhindern).
Die Begierde nach Geld fand eine Personifikation in Teeuwen
Zoeck-geldt (= Matheus Suchgeld), eine Person ebenfalls aus De Brune.
Teeuwen geriet aber nicht dahin, wohin er wollte, denn: „Teeuwen
Zoeck-geldt al zijn vermögen te koste ghelegt hebbende om zeker rijck
en leelick wijf op sijn dam te krijghen, naer dat hy een ghekoppelt schaep
gheworden was, moest hy somtyds hooren, dat hy Schoonhoven gheinist
en te Leelickendam gherocht was“ (d. h. nachdem T. Z. all sein Vermögen
zu Grunde gerichtet hatte, um ein gewisses reiches und hässliches Weib auf
seine Seite zu kriegen, musste er, als er ein „gekuppeltes Schaf“ geworden
war, bisweilen hören, dass er Schoonhoven, d. i. Schönhof, verfehlt und
nach Leelickendam, d. i. Hässlichendamm, geraten war).
De Brune tröstet unsern Helden an einer andern Stelle seines Werkes
und bemerkt mit Recht: „Liever noch Mevrouw van Leelickendam,
die wat in de melk te brocken heeft, als Madame van Schoonhoven,
daer de kasse sclioon en ledigli is (d. i. lieber noch Frau von L., die etwas
426
Gittee:
in die Milch zu brocken liat, als die Darae von S., wo der Schrank schön
und leer ist). In einem solchen Haus, sagt Breero (Spaansche Bra-
bander ys. 487) „wordt lionger ghehakken en dorst ghebrouwen“.
— Auch das Sprichwort kennt dasselbe: „hei Schraalhans (von Schraal
= dürftig, mager) ist Magerman Koch, und Magerraans Gäste üheressen
sich selten“.
Essen und Festfeiern und beider Folgen nehmen im Yolkshumor, so
wie man sieht, eine grosse Stelle ein. Sich mal etwas recht Gutes anthun,
lieht der Mensch gar sehr, man wohne auch „in den Penninckhoeck
(= Pfennigecke). Schon De Brune nennt die Herren Smeermond
(smeer = schmieren) und Spaermond, welcher letztere jenem Haus und
Erbe abkauft. In Flandern ist noch heute Lainmeke Smeerbuik
(Lainmeke von Guillaume == Wilhelm; Smeerbuik = Schmierbauch)
sehr populär.
Gewisse Menschen taugen nur dazu, des Lebens zu gemessen; unter
andern Jufvrouw Nietenburg (niet = nichts), die ein Lustspieldichter
des XYII. Jahrhunderts auftreten lässt: „Jufvrouw Nietenburg“, sagt
der Yater in W. de Geests Manzieke Yrijster zu seiner Tochter, welche
sich nicht anständig beträgt, „was willst du unternehmen? Bist du im Stande
dir die Kost zu gewinnen?“
Der vlämische Yolkshumor hat sogar einen komischen Gerichtshof er-
sonnen, der seinen Sitz hat zu Gheel, einem Flecken in der Provinz
Antwerpen. Es besteht an diesem Orte eine Anstalt für Irrsinnige und
daher ist Gheel der Geburtsort und auch der Aufenthalt aller Thorheit.
Die Einwohner der Stadt Mecheln hielten einmal das Licht des Mondes
auf ihrem Turme für einen Feuerbrand und eilten herbei mit Eimern und
Spritzen. Als dieser Yorfall im Lande bekannt wurde, regnete es Spott-
schriften. Eine dieser berief die Mechler vor den Grossen Hat von Gheel,
welcher für diese Gelegenheit zusammengesetzt wurde aus edlen Herren,
wie die Herren von Apegem (aap = Affe), die Grafen von Botte gern,
von Dul-en-Dwaes (dul, dwaas = dumm, albern) und von Sottegem.
Eine andere Gattung von Äusserungen des Yolksscherzes umfasst die
Eigennamen, welche an die letzte Ruhestelle erinnern.
Jemanden zu „Blijenberge“ beerdigen, erklärt sich aus dem Wort-
spiel mit blij (= froh, cf. engl, blithe). Als Ortsname erscheint es an einem
Weiler bei Löwen.
Denselben Gedanken drückt der Yolkswitz aus durch den Namen
des Dorfes Lovendeghem bei Gent, wobei an loven (= loben) zu
denken ist.
Die fiktiven Eigennamen für das Jenseits rufen in ganz prosaischer
Weise den Gedanken an den traurigen Aufenthalt unserer körperlichen
Hülle hervor.
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen.
427
Man geht, sagt dasYolk, wenn man stirbt oder Anstalten dazu macht,
nach dem Pierenland, d. h. dem Lande der Erdwürmer, oder nach
dem Mollenland (dem Lande der Maulwürfe). Ebenso spricht der Fran-
zose von dem Pays des Taupes und der Wallone von dem Pays des
Foyans (foyan = Maulwurf) oder von dem Pays des Tiers (Tier
= Wurm).
In Holland wird, um denselben Gedankeu zu äussern, angespielt auf
Ortsnamen wie Kuilenburg (kuil = Grube), Aardenburg in See-
ländisch-Flandern (aarde = Erde); oder auf Zandwerven, einen Weiler
in Nord-Holland.
Nur mit einem Wort sei hier noch erwähnt, dass der Yolkswitz auch
bei andern Yölkern in ganz denselben Fällen dergleichen Namen ersann.
Das Zubettgehen wird oft durch einen humoristischen geographischen
Namen ausgedrückt. An vielen Orten Deutschlands spricht man von „nach
Bethlehem gehen“, obschon diese Redensart auch zuweilen angewendet
wird, um den Begriff des Betteins auszudrücken. In Thüringen kennt
man Bettenhausen, auch Federhausen; in Sachsen „nach Ruhland
gehen“, ebenso in Amsterdam naar Rusland gaan, mit einem Wortspiel
auf rust (Rast); im Eisass „nach Bettli-Alp“, zu Basel und in Schwaben
„nach Bettingen“, ein dort vorkommender Ortsname. Ein Geizhals kommt
in Deutschland oft aus Anhalt oder aus Holfast. Wenn etwas ohne
Kosten angeschafft wird, kommt es in Nord-Deutschland aus Kostnitz.
Wer sich gern rühmt, ist aus Rom, und wer sich dumm anstellt, ist aus
Domnau oder, in Sachsen, aus Dummsdorf.
Der Franzose, mit einem Wortspiel auf âne (Esel), sagt in diesem
Fall: Tu as fait ton cours à Asnières (spr. Anières, bei Paris).
Hat man Eile, so „gehört man nach Eilenburg“ oder „nach Eilau“;
in Flandern „hat man von Loopegem“ (hebben van mit einem Orts-
namen bedeutet: die Krankheit haben von dem angedeuteten Orte, in
welchem Fall der dort verehrte Heilige Hilfe bringt). Wer nicht viel
spricht, ist von Stumstorf, einem Ort in der Nähe von Halle a. S.’, und
wer arm ist, „geht nach Strassburg auf die Hochzeit“. Wer mehr über
diese Bildungen wünscht, schlage Andresen nach (Uber Yolksetymologie.
4. Aufi. p. 74 u. flg.) III.
III.
Der spottlustige Yolksgeist hat, in den Niederlanden wie überall, und
ohne damit ein Zeugnis der Ehrfurchtlosigkeit oder des Unglaubens abzu-
legen, Heilige ersonnen als Arertreter gewisser Leidenschaften, Neigungen
und Laster. Sinte Luyaert (= Sankt Faulenzer), der in den Nieder-
ländischen Volksliedern so oft vorkommt, kann als Beispiel dienen für
diese Kategorie der Volksschöpfungen.
428
Oittée :
Zuerst aber eine Bemerkung.
Volkssprache und Volksglauben hängen eng miteinander zusammen
und üben aufeinander einen gewissen Einfluss aus. Der Laut vermochte
in manchem Fall einen bestehenden Glauben zu ändern, ja genügte bis-
weilen, um gewisse Glaubensvorstellungen entstehen zu lassen; anderer-
seits bildete sich manches Wort, mancher Name als direkter Ausfluss des
bestehenden Glaubens. Diese beiden Seiten der Einwirkung aufeinander,
des Wortes und der Sache, erklären die Schöpfung von zahlreichen That-
sachen in dem Volkshumor, im speciellen in Hinsicht des Heiligenkultus.
Wenn der H. Valentin in Deutschland der Schutzpatron gegen Fall-
sucht oder Epilepsie ist; S. Blasius in Flandern die Geschwüre oder
huidblaasjes heilt, und in Dänemark gegen den blasenden Wind be-
schützt; S. Lambertus angerufen wird gegen Lahmheit; S. Rosa gegen
die Rose (d. i. den Rotlauf); Ste. Claire in Frankreich, um klar sehend
zu werden; wenn St. Cloud dort die Geschwüre, im Französischen clou,
zu seiner Specialität hat; so stehen wir hier vor Ideen, welche nur auf
dem beruhen, was man ein mythologisches Wortspiel nennen könnte.
Dass dieser schöpferische Einfluss des Lautes schon im Jahre 1566 be-
achtet wurde, darf einigermassen seltsam scheinen. Das Zeugnis des Fran-
zosen Henri Estienne hierüber ist sehr merkwürdig, wenigstens für diese Zeit.
„A quelques saincts, sagt er, on a assigné les offices suivant leurs noms,
comme (pour exemple) quant aux saincts médecins, on a avisé que tel
sainct guariroit de la maladie qui avoit un nom approchant du sien1)“.
Umgekehrt giebt es Heilige, für die ein Beiname ersonnen wurde,
gebildet nach der Verehrung, deren Gegenstand dieselben waren. Numen,
nomen! Der Beiname hat manchmal den echten Namen verdrängt. So
kennt man in Frankreich St. Criard, der die schreienden Kinder heilt;
St. Languit, St. Vivra, St. Mort, drei Heilige, welche zu Rate gezogen
werden, wenn man den Verlauf einer Krankheit kennen will; St. Estropié
und andere mehr; alles Heilige, deren wahrer Name in Vergessenheit ge-
raten ist.
Es kann, gegenüber solchen Schöpfungen der Volksphantasie, nicht
mehr verwundern, dass der Volkshumor, schon im Mittelalter, sogar für
gewisse Laster einen Schutzgeist ersonnen hatte. Das Wortspiel, denn
darauf beruhen alle die oben angeführten Thatsachen, nimmt in der
Glaubensgeschichte einen viel grösseren Raum ein, als man sich vorstellt.
In dieser Weise geschah es oftmals, dass ein Heiliger von einer Gilde
oder Genossenschaft zum Patron erwählt wurde, bloss durch den Laut
seines Namens. St. Vincent z. B. ist wegen der Übereinstimmung im
Laut mit vin zum Schutzpatron geworden der Weinbauer in einigen Teilen
Frankreichs. Ja, zahlreiche populäre Äusserungen der Kunst lassen sich
1) S. Mélusine IY, col. 507.
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen.
429
nur erklären durch eine Doppelsinnigkeit, von welcher der Künstler seinen
Vorteil zog.
Solche Ideenassociation ist so natürlich, dass sie keine Verwunderung
erregen und in keinem Fall kindisch scheinen darf, wenn man bedenkt,
dass sie aus einer Zeit stammt, als die Schreibekunst so wenig verbreitet
war. Der calembour unter der Form einer Figur oder rebus behielt
seinen ursprünglichen ideographischen Charakter und konnte für den grossen
Haufen, welcher weder lesen noch schreiben konnte, die Buchstabenschrift
ersetzen.
Diese Vorstellung einer Idee mittels eines Bildes zeigt, wie naiv der
Mensch vor einigen Jahrhunderten noch war. Diese Weise, um etwas
für die Menge begreiflich zu machen, war übrigens allgemein. Die noch
heute bekannten sprechenden Wappen sind ein Überbleibsel aus einer Zeit,
in der sogar die besseren Stände noch nicht weit genug in der Bildung
über den unteren standen, um solche Bildschrift entbehren zu können.
Es bleibt aber eine Thatsache, welche beweist, wie sehr das Wortspiel
zwischen Laut und Bild die Gunst besass. Darum führte das holländische
Haus Wassenaer in seinem Schilde wachsende Monden (wassen =
wachsen), auch wassenaars im Niederländischen genannt; die Geldersche
Familie van der Henne ein rennendes Pferd; die englische Familie
And das Zeichen &. Die Abtei Corbie in der Picardie hatte darum einen
Raben in ihrem Wappenschild, weil der Laut des Ortsnamens an den
Namen des Vogels (corbeau) erinnerte; die Abtei Pontigny bei Auxerre
führte eine Brücke (pont)1)-
Die Chronikschreiber des Mittelalters Hessen sich sogar durch solche
Gleichheit im Laute verführen, auf eigener Hand etymologische Sagen zu
schmieden.
Das Städtchen Hasselt in der belgischen Provinz Limburg führt eine
Ha sei staude in seinem Wappen. Nachdem dieser Wappenschild schon
lange Zeit bestanden hatte, entdeckte der verständige Mantelius, der eine
Chronik von dem Lande Loon verfasste, dass der Name der Stadt nur von
einem Haselwalde stammen konnte, welcher die entstehende Stadt um-
ringt haben muss. — Aarschot, ein Städtchen in Brabant, wird so ge-
nannt, weil Julius Caesar hier einst einen merkwürdig grossen Adler
schoss: dass das Wort Adler (adelaar) hier unter einer veralteten, jetzt
poetischen Form (aar) vorkommt, schreckt solche humoristischen Ety-
mologen nicht ab. — Das Dorf Raveschoot in Ost-Flandern heisst so,
eines glücklichen Schusses (schot) wegen, durch welchen ein Edelmann
eines Tages drei Raben (raven) zugleich erlegte. — Die Sage von dem Ur-
sprung der Stadt Antwerpen (= Hand werfen) setzt dieser Manie die Krone
1) Melusine IV, col. 517.
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
29
430
Gittee:
auf, ist aber zu sehr bekannt, als dass ich dieselbe hier wiederholen
sollte *).
Es ist nun eine sehr auffallende Thatsache, welche uns einen tiefen
Blick in das vielbewegte Leben des Mittelalters werfen lässt, dass die
ersonnenen Heiligen nur in Beziehung stehen zu Trank und Müssig-
gang. Unsere alten Volkslieder sind voll Anspielungen auf dergleichen
Heilige, und es ist nicht zu bezweifeln, dass auf deren Altar von den
lebenslustigen Vorfahren mit Überzeugung geopfert wurde.
Sinte Reynuit (rein-aus) war der Patron der Zechbrüder. Hier folgen
die Worte, in welchen ein Lied aus dem XVII. Jahrhundert die Anbeter
von Trank und Gesang einlud, mitzufahren nach Sinte Reynuit:
Ja, komt hier nu altemael,
Die door ’t zuipen zijn zeer kaal,
Weest nu vrij vrolijck en verheugt.
Schoon u neering niet en deugt,
Want een schoon schip nooit gehoord
Te Texel leyt aan Boord,
d. h.: Ja, kommt nun hierher, Ihr alle, welche vom Saufen ganz kahl seid.
Seid nun fröhlich und heiter, obschon Euer Handwerk nicht tauge; denn
ein schönes Schiff, schöner als je gesehen, liegt zu Texel am Ufer.
Wie der Schutzheilige zu seinem Xamen kam, ist deutlich. Unter
den zahlreichen „costumen ende usagien“, welche unsere Vorfahren beim
Trinken beobachteten, war wohl eine der wichtigsten, dass inan sein Glas
„schoontjes uit“ (rein aus) trank, es „met een snaers veegde“ (es mit
einem Zug ausfegte) oder wie die Redensarten sind, die man dafür bei
Breero, Starter und anderen Schriftstellern antrifft. „Dieser Heilige,“ sagt
Dr. Kalif in seinem schätzbaren Buch über das niederländische Lied1 2),
„war aber nicht der einzige Schutzpatron der Zunft“. In einem anderen
Liede lesen wir:
Sinte Noywerc hebic vercoren
Tot mynen alderbesten patroon,
d. h. Sankt Noywerc (aus noy, noocle — ungern; werk — Arbeit) habe
ich erwählt zu meinem allerbesten Patron.
Und etwas weiter:
Sinte Luyaert hebic omghedraghen
En Sinte Noywerc hebic gheviert,
Ic hebse ghedient bi nachte, bi daghe . . ,
d. h. Sankt Luyaert (= Faulenzer) habe ich umgetragen, und Sankt
Noywerc habe ich gefeiert; ich habe ihnen Nacht und Tag gedient.
1) J. W. Wolf, Niederl. Sagen, n. 58, 54, 82.
2) Het Lied in de Middeleeuwen (Leiden 1884) p. 468 u. flg.
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen. 431
Kein Wunder, dass diejenigen, welche so eifrig dem Herrn „van
Seiden vroet“ (seiden — selten; vroet = gescheidt) dienten, zuPoveren-
dycke (Pover = arm, vom franz. pauvre, dijk = Damm) wohnten, im
Hause genannt zur Platteborse (zur flachen (leeren) Börse). In Lüttich
kennt man den Comte de Plate Bourse. Sankt Hebniet war früher
sehr populär. Und wie konnte es anders sein, insbesondere bei der grossen
Menge reisender Landsknechte, welche nur auf Genuss und Vergnügen
bedacht, inmitten von Tanz und Musik und den Becher in der Hand, das
Lehen sorglos durchzubringen suchten?
Man bilde sich nicht ein, dass diese ersonnenen Heiligen, Heilige
welche nicht ernsthaft aufzunehmen sind, nur in Flandern zu finden seien.
Anderswo bestehen sie ebenso.
Im französischen Sprachgebrauch unserer Zeit ist Ste. Touche eine
sehr gewöhnliche Benennung für den Tag, an welchem man seinen Gehalt
erhält (toucher).
St. Boudin oder St. Cochon werden gefeiert hei der Mahlzeit, welche
beim Schweinschlachten gehalten wird.
Ein Gefrässiger ist ein „Diener von St. Goinfrain“, mit einem Wort-
spiel auf goinfre, d. i. gefrässig.
Ein Trunkenbold verehrt St. Lichard, einen ersonnenen Heiligen,
dessen Name zurückgeführt werden muss auf lecher (lecken für trinken)
oder Ste. Chopinette (dimin. von chope = Bierglas).
Das Entstehen einer Schutzheiligen wie Ste. Bouteille (— Flasche)
lag nach der Rabelaisischen Verehrung der dive bouteille nicht weit.
Die Zunft der Zelateurs de Ste. Beuverie war im Mittelalter gross1).
Ist das Kind im Begriff zu weinen, so ist es, nach dem französischen
Sprichwort, auf dem Weg nach Ste. Lärme. Im Niederländischen sprechen
wir in diesem Fall von den Waterlanders (= Wasserländer), und es
scheint mir nicht zu bezweifeln, dass wir hier wieder einen ersonnenen
geographischen Namen haben; dass aber zur Verbreitung der Redensart
das echte Waterland in der Nähe von Amsterdam — gut bekannt durch
Broek in Waterland — beigetragen hat, halte ich für sehr wahr-
scheinlich.
Kennt die Volkssprache heute nicht mehr Sankt Noywerc, d. h. den
Schutzpatron des Müssiggangs, so lebt doch der H. Maandag (Montag)
fort, ebenso in den Niederlanden wie in Frankreich und England. Der
Galizische Wasserträger Gil Peregil war, nach dem Zeugnis des gemüt-
lichen Washington Irving, sehr treu im Feiern aller Heiligenfeste, „and
of St. Monday into the bargain“.
Zu derselben Familie gehört bei den Wallonen St. Fadou (von fade
schlaff, faul) und der noch nicht kanonisierte Lazybones der Engländer.
1) Stecher, Hist. d. 1. Litter. Neerl. en Belgique p. 199.
29*
432
Gittee:
Ferner werden in der Volkssprache auch Heiligennamen ersonnen,
um einen Zeitpunkt in einer eigentümlichen Weise anzudeuten. In der
pittoresken Sprache der französischen Schuljugend heisst z. B. der Tag,
wenn die Ferien anfangen, St. Fout-le-Camp.
IV.
Der Ursprung solcher Bildungen liegt in der Analogie mit einer Menge
allgemein gebräuchlicher Zeitbestimmungen. Wir wissen alle, dass der
gemeine Mann die Namen der Heiligen anwendet zur Bezeichnung gewisser
Zeiten, nach welchen er seine Beschäftigungen regelt. Wir lesenden Stände
würden wahrscheinlich in keiner geringen Verlegenheit sein, wenn man
uns erklärte, dass diese oder jene Pflanze an dem und dem Heiligenfeste
gesäet werden müsse, wie z. B. die Zwiebel auf St. Gregorius d. i. den
12. März.
So ersann der Volkshumor bei uns Heilige wie S. Nimmermeer, den
Bruder des deutschen S. Nimmerling oder S. Nimmerlein, sowie auch
des S. Jamais der Franzosen.
Diese Zeitbestimmung ist jedoch nicht so verbreitet als gewisse andere,
gebildet durch einen Wortverband, aus dessen komischer Zusammen-
stellung die Unmöglichkeit oder die Unwahrscheinlichkeit von selbst
hervorgeht.
Schon im Mittelniederländischen kommen Redensarten vor, in welchen
örtliche und zeitliche Bestimmung scherzhaft zusammengeworfen wird.
Reinaert, der Schalk, bindet dem Löwen die schlau erfundene Fabel
auf von dem Schatz, der zu Kriekeput vergraben liegt. Der König kennt
aber den schlauen Gast und fürchtet, dass Kriekeput ein „geveinsde (er-
sonnener) Name“ sei. Nein, König, antwortet Reinecke darauf:
.... ghi sijter also na,
Alse van Colne tote Meie (vs. 2641)
d. h. Sie sind soweit davon, als von Köln bis zum Mai = was Sie denken,
ist unmöglich.
Dergleiches Wortkoppeln ist also sehr alt und bis auf unsere Zeit
bekannt geblieben. Noch heute, scheint es, bestehen in Süd-Deutschland
zahlreiche Ausdrücke wie zwischen Pfingsten und Strassburg, oder
zwischen Pfingsten und Esslingen, mit der Bedeutung von nirgends,
als Antwort auf Fragen, welchen man ausweichen will1).
Auch in den lateinischen Gedichten des Mittelalters finden sich Bei-
spiele. Inter Pascha Remisque (zwischen Ostern und Rheims) liest
1) S. van den Yos Reinaerde (Ed. Martin) Anm. zu vs. 2641. Auch ed. Jonck-
bloet, Bijvoegsel zum Glossar. S. ferner C. Müller-Fraureuth: Die deutschen
Lügendichtungen bis auf Münchhausen (Halle 1881) p. 104 (Anm. 62).
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen.
433
man im Reinardus II, vs. 690; und weiter (ib. TV, vs. 970) inter Clu-
niacum et sancte festa Johannis obiit (d. i. er starb zwischen Cluny
und S. Johannes).
Tuinman (Nederduitsche Spreekwoorden I, p. 334) erwähnt
den niederländischen Ausdruck: van Aken tot Paschen (= von Aachen
bis Ostern); auch hat er: tusschen Kalis und Sinte Reinuit, welches
er aber nicht erklärt. —- Noch heute ist die französische Redensart: cela
s’est passé entre Maubeuge et la Pentecôte (das ist geschehen zwischen
Maubeuge und Pfingsten) in vollem Gebrauch.
Pierrot in Molières Don Juan ou le Festin de Pierre (II, 1)
spricht von einer „garderobe“ (= Schürze) aussi large que d’ici à
Pâques. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Molière, um den komischen
Effekt zu steigern, seiner Person eine dieser populären Massbestimmungen
in den Mund gelegt hat.
Es giebt zahlreiche Redensarten, um eine Zeit anzudeuten, welche
niemals kommen soll. Dabei nimmt der Yolksgeist oft seine Zuflucht zu
kirchlichen Festen, wobei dann eine komische Unmöglichkeit hinzu-
gefügt wird.
Sehr gewöhnlich ist unter anderm die Redensart: als Paschen en
Pinkster op éen dag vallen (wenn Ostern und Pfingsten auf einen
Tag fallen); oder: als Paschen op een Maandag valt (wenn Ostern
auf einen Montag fällt).
Es giebt sogar ersonnene Festnamen, um dasselbe auszudrücken: te
Pruimpaschen heisst es in Limburg, als de kalveren op ’t ijs
dansen (Pruimpaschen aus pruim = Pflaume, und Paschen; wenn
die Kälber auf dem Eise tanzen). Statt Pruimpaschen sagt man auch
Sint Jutmis oder Juttemis, ein Ausdruck, der schon 1738 bei Marin
(Dict. franç. hollandais) vorkommt.
Auch im Französischen finden sich dergleichen komische Redensarten.
Cela arrivera, heisst es, si le Carême dure sept ans (= das wird
geschehen, wenn die Fasten sieben Jahre dauern); oder auch: la Semaine
des trois Jeudis (= die Woche der drei Donnerstage). Zuweilen wird
dieser letzten Redensart hinzugefügt: quarante jours après Jamais
(= vierzig Tage- nach Nimmer).
In demselben Falle antwortete der Italiener mit einem assonantischen
Reim:
II di di San Bellino,
Tre di dopo il giudidio
(d. i. den Tag des S. Bellino, drei Tage nach dem letzten Urteil). S. Bellino
ist ebenfalls ein ersonnener Heiliger1).
Man könnte diese Redensarten ohne Mühe vermehren; die gegebenen
1) S. Rolland, Rimes et Jeux de l’Enfance (Paris 1881) p. 289.
434
Gittee:
Beispiele mögen aber genügen. Wir haben noch für das niederländische
Sprachgebiet eine Redensart zu erwähnen, bei welcher wir einen Augen-
blick stillzustehen wünschen.
Niemals heisst oft in Limburg: als de klaver uit ’t veld is
(= wenn der Klee aus dem Felde sein wird); aber, viel charakteristischer,
in Flandern in der Umgangssprache ganz gewöhnlich, und sogar in ge-
schriebener Rede: In’t jaar Een, als de Uilen preeken (= im Jahr
Eins, wo die Eulen predigen). Es ist wahrscheinlich, dass dieselbe durch
ganz Belgien geht; bisweilen aber finden sich Abweichungen, sowie in
Maastricht, wo sie lautet: in et jaor ein esten uil preek1). In West-
Flandern sagt man auch: In’t jaar blök als de uilen kraaien en de
koeien met patijnen gaan (= im Jahr Block, wo die Eulen krähen
und die Kühe mit Holzschuhen gehen)1 2).
Über den Ursprung dieser Redensart sind mehrere Yermutungen aus-
gesprochen worden. Gf. D. Franquinet versuchte die folgende Erklärung:
Könnte man, sagt er, den Ursprung dieser Redensart nicht in der Volks-
überzeugung suchen, dass, im Gegensatz zu unserer christlichen Zeit-
rechnung und zu der Predigt des Wortes Gottes, eine neue Jahrzählung
und insbesondere eine Predigt des dummen Unglaubens (hier vorgestellt
durch eine Eule, das Symbol der Finsternis und des Unverstandes) un-
möglich sind?
Nicht mehr Wert hat die Mutmassung von J. De Smet3). Er will
nämlich die Eule in dieser Redensart für einen Spottnamen ansehen, der
im Jahre 1801 den Priestern gegeben ward, welche sich vor den fran-
zösischen Sansculotten verbergen mussten und genötigt waren, des Nachts
zu predigen. Das Bestehen dieses Spottnamens hat er durch nichts be-
wiesen und sich sogar, um die Redensart für seine Erzählung passend zu
machen, erlaubt, in derselben das Tempus des Verbums zu ändern: In het
jaar Een, als de uilen preekten. Dass dieses die echte Form nicht ist
und die Volkssprache wirklich das Präsens anwendet, erhellt aus Schuer-
mans Algemeen Vlaamsch Idiotikon, s. v. jaar.
Alles, was zur Erklärung dieser Redensart angeführt ward, ist daher
wenig gründlich. Der Ursprung liegt auch wahrscheinlich ausserhalb
Flanderns und geht weiter zurück als zum Anfang unseres Jahrhunderts;
denn auch Deutschland kennt ein Jaar Een; „das Jahr Eins nämlich,
wo die Elbe brannte und die Bauern mit Strohwischen löschen
kamen4)
1) G. D. Franquinet, Hoe het Volk spreekt te Maastricht in der Zeitschrift
Maasgouw (1880—1886) in Nr. 2894.
2) De Bo, Westvlaamsch Idiotikon (2. Aufl. 1892) s. v. blök.
3) Overleveringen, Legenden en Bijgeloovigheden, Gebruiken, Uit-
vindingen, Gedenkstukken, enz. der Menapiers. (Brügge 1886) p. 284. Ein
albernes Buch.
4) C. Müller-Fraureuth, Lügendichtungen, p. 104.
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen. 435
Leider können wir für das Alter weder der niederländischen, noch
der deutschen Kedensart Belege beibringen. Die äussere Form dieser
letzten erinnert aber an die Menge anderer, in denen der komische Effekt
erreicht wird durch eine Yerwechselung zwischen Subjekt und Prädikat.
Solche Umkehrung geschieht mehr in der Volkssprache. Fragt das Kind
z. B., was oder wieviel es bekommen Averde für einen oder den anderen
kleinen Dienst, den es geleistet, so antwortet die vlämische Mutter scherz-
haft: Alle guldens drij maanden (= jeden Gulden drei Monate). Ist
es nicht eine ähnliche Umstellung, welche den Worten der Marschälle des
Brautzugs auf der schwedischen Insel Huckö zu Grunde liegt, wenn sie,
um der Gesellschaft den Durchzug zu erkaufen, versprechen, dass „Jeder
Mann ein Stoof Heu, jedes Pferd ein Bund Bier erhalten“ werde1)?
In der Litteratur früherer Jahrhunderte sind solche Umstellungen un-
gemein zahlreich. Fischart, eine sehr reiche Quelle für die Geschichte
des Komischen, sagt unter anderm in seinem Binenkorb (200): Zur
zeit, da die bach branten und man mit stroh leschte, die bauren
bollen, die hund mit spissen herausloffen, nemlich zur zeit des
strengen Finkenritters.
Die Erwähnung von dem Kamen des Finkenritters führt uns mitten
in die komische Litteratur des XYI. Jahrhunderts, von welcher die unter
diesem Titel bekannte Sammlung von Schwänken und Erdichtungen die
beste Vorstellung giebt. Dieses Buch erschien etwa 1559, es ist aber nur
eine Kompilation von Stoffen, welche schon lange unter dem Volke gäng
und gäbe waren.
Bis auf unsere Zeit hat das Volk sein Vergnügen daran gehabt, Un-
sinn und Lügen zu ersinnen; es hat auch wohl zuweilen Unsinn dichten
wollen. Bis heute sind Lügenlieder und Lügenmärchen bekannt geblieben,
in Holland1 2) wie in Flandern, in Frankreich wie in Deutschland. So sehr
findet das Volk Vergnügen an den Bildern, welche es sich schafft, wenn
es seiner Phantasie die Zügel schiessen lässt, dass noch heute, in Flandern
wie anderswo, häufig ein Streit um die grösste Lüge eine Kummer
des Kirmessprogramms ist.
Es besteht eine ganze Litteratur lügenhafter Fiktionen, von denen die
ältesten, welche uns bekannt sind, zum XI. Jahrhundert hinaufreichen.
In diesen findet man auch die Quelle von all den Lügen, welche noch
heute unter dem Volk umlaufen.
Das Jahr Eins, auch das Jaar Een der Flamländer, scheint mir zu
diesen Schöpfungen zu gehören, von denen mehrere in der heutigen Volks-
sprache übrig geblieben sind, in erster Stelle der Käme des ersonnenen
Landes.
1) L. v. Schröder, Hochzeitsgebräuche der Esten, Berlin 1888, p. 63.
2) S. Kalff, o. c. p. 489.
436
Grittee:
Für das niederländische Sprachgebiet liefert wohl die älteste Anspielung
auf dasselbe eine Stelle der mittelniederländischen Klute (= Schwank) van
Pleyerwater. Die Frau beauftragt Werrenbracht, ihren Mann, player-
water, d. h. Spielwasser (von plaren, spielen, cf. eng. to play) zu holen.
Dieses Wasser ist eine Erdichtung der spielerischen Phantasie. Auf seine
Frage, wo dieses zu finden sei, antwortet die Frau:
(vs. 46) Tonvreen, in oest lant, in het vloeyt hoghe
Uten berghe van ontwijste bij tal van drofheyen.
Professor Moltzer (Middelnederl. dramatische Poezie, Groningen,
J. B. Wolters, 1873) erklärt p. 260 diese Stelle: „Tonvrede, d. i. te
onvrede, dus zooveel als in onrust en bekommering; de vrouw
maakt er maar wat van, om Werrenbracht te verschallten“ (d. h. ton-
vrede, d. i. zu Unfrieden, also soviel als in Unruhe und Besorgnis;
die Frau macht nur etwas daraus, um W. zu hintergehen“.
Bis dahin Moltzer. Die Stelle muss wohl ganz anders aufgefasst
werden. Die Frau, meine ich, gebraucht ersonnene Ortsnamen, deren wir
früher soviel Beispiele gaben: Zu Onvrede, der Berg von Ontwijste,
d. i. der Unweisheit oder Thorheit; das Thal van Droefheid, d. i. Trüb-
sinn. Alle diese Orte werden vom Dichter selbst nach Oestlant (= Ost-
land) verlegt, das ebenfalls, trotz unserer mittelalterlichen Lieder, welche
eine historische Farbe haben, als ein fiktives Land wird aufgefasst werden
müssen*).
Zu demselben Gebiet gehört das Engel and, das in niederländischen
Liedern aus früherer und späterer Zeit vorkommt und von Mannhardt ge-
deutet wird als das Land der Engel oder das Seelenland1 2).
Mehr populäre Namen für ein ersonnenes Land sind das Luilekker-
land (= Schlaraffenland) und die Yerkeerde Wereld (= Verkehrte
Welt). Bevor wir aber auf diese zwei Schöpfungen des Volkshumors
näher eingehen, müssen wir noch mit einem einzigen Wort eine andere
Redensart erwähnen, in den südlichen Niederlanden wohl geläufiger als
in den nördlichen.
Loop naar Bommelskont (Lauf nach B.) ist eine Art Ver-
wünschung, in welcher wieder ein fiktives Land zu stecken scheint. Das
Wort Bommelskont findet sich, nach Harrebomee, noch in einer anderen
Redensart: Hij gaat naar Bommelskont, sagt man, drie uren boven
de hei, daar de honden met het gat blaffen,“ (d. h. er geht nach
Bommelskont, drei Stunden über der Hölle, wto die Hunde mit dem Hintern
bellen) angewendet im Falle, wenn man sich mit Sachen abgiebt, welche
nicht zu entwirren sind.
1) G. Kalff, o. c. p. 369.
2) G. Kalff, o. c. p. 492.
Scherzhaft gebildete und angewendete Eigennamen im Niederländischen. 437
Das Schlaraffenland und die Verkehrte Welt sind zwei ganz
verschiedene Schöpfungen.
Der älteste Bericht über das Schlaraffenland im Niederländischen
reicht bis zum XV. Jahrhundert; nicht als Luilekkerland, sondern mit
dem Namen von Cockaenghen. Es ist schwer zu bestimmen, wann dieses
Wort ausser Gebrauch gekommen ist, aber Kiliaen (XVI. Jahrhundert)
kennt nur Luy-le ckerland. Der Titel der Sproke (= Schwank), in
welcher dieses ideelle Land erwähnt wird: „Dit is van dat edele lant von
Cockaenghen“ weist zurück auf eine französische Quelle, welche in dem
Fabliau de Coquaigne gesucht werden dürfte, der ins XIII. Jahrhundert
gehört1).
Die bestbekannte Schilderung des Luilekkerlandes ist die, welche
Hans Sachs in seinem ergötzlichen Schwank Das Schlauraffen Land
vom Jahre 1530 lieferte. Es liegt hei ihm, nach einer Ortsbestimmung,
welche wir schon früher kennen lernten, „drey meil hinter weynachten“.
Die Arbeit, die man zu vollbringen hat, um dahin zu gelangen, ist ganz
in Übereinstimmung mit dem Charakter des Landes: man muss einen Berg
von .Reisbrei von drei Meilen durchessen. Nicht nur Faulheit, sondern
auch all die übrigen Laster und Fehler werden mit Gut und Würdigkeiten
belohnt, während derjenige, welcher sich verständig und ehrbar zeigt, in
jenem Lande nicht zurecht kommt. Diese Züge sind ungefähr dieselben
als die, welche man in einem niederländischen Lied des XVII. Jahr-
hunderts antrifft, welches Kalff mitteilt1 2).
Während das Schlaraffenland sich gewissermassen auffassen lässt
als eine Parodie des christlichen Paradieses, ist die Verkehrte Welt ein
Mythus, welcher sich ziemlich spät nach den Erdichtungen der Volkspoeten
aus früherer Zeit von der Sippschaft des Finkenritters gebildet hat.
Waren dergleichen Märchen schon früher hei dem Volke beliebt, wie der
Finkenritter zur Genüge beweist, so erhielten sie in der Schöpfung der
Verkehrten Welt einen festen Körper. Der ganze Mythus beruht auf
einer Umstellung zwischen Subjekt und Objekt: in dem Finkenritter wird
gesprochen von einem Ort, wo unter anderm die Frucht den Baum trägt,
die Hunde von dem Hasen erwischt werden, die Schafe die Wölfe hängen,
Hühner und Gänse die Füchse belauern, und die Mäuse die Katzen fressen.
Zu der Befestigung und Verbreitung des Mythus trugen ohne Zweifel die
populären Kinderbilder hei, und von der Verkehrten Welt ist nl. ein
sehr bekanntes Bild vorhanden, das noch heute zu Epinal und Metz immer
neu aufgelegt wird. Auch in den Niederlanden kannte man dieses Bild;
es gehört sogar zu denjenigen, welche „der niederländischen Jugend
1) F. J. Poeschel, Das Märchen vom Schlaraffenland. (Halle 1878) p. 22.
2) o. c. p. 490.
438
Höiler:
wenigstens zwei Jahrhunderte zum Vergnügen dienten und die Einkünfte
des Schulmeisters nicht wenig vermehrten1).
Hiermit wollen wir unsere Liste von scherzhaft angewendeten Eigen-
namen schliessen. Die angeführten Beispiele, welche ohne Mühe ver-
vielfältigt werden könnten, genügen, um uns einen Einblick zu öffnen in
die Volkspsychologie. Sie werfen ein helles Licht auf die stets in den
Vordergrund tretende Spottlust des Volkes, welche durch die Feder eines
einigermassen begabten Dichters zu einer reichen Quelle komischer Effekte
und Situationen werden kann. Die Autorität eines Mannes von Talent
trägt manchmal kräftig dazu bei, um manchen dieser Redensarten und
Ausdrücke, welche sonst nur zur Volkssprache gehören und deshalb
meistens als trivial verurteilt werden, in den allgemein gebrauchten Wort-
schatz Eingang zu verschaffen. Für das niederländische Sprachgebiet hat
Breero gewiss mehr als eine solcher Redensarten, wo nicht weiter bekannt
gemacht, so doch am Leben erhalten. So übt das Volk stets Einfluss auf
die Bildung oder Bereicherung des Wortschatzes der Sprache, und, unter
den linguistischen Thatsachen, auf welche es sein persönliches Siegel prägt,
giebt es keine, in welchen sich sein Charakter und seine eigentümliche
Philosophie besser abspiegelt, als die scherzhaft gebildeten oder scherzhaft
angewendeten Eigennamen.
Der Geruch
vom Standpunkte der Volkskunde.
Von Dr. M. Höfler.
Die Entwickelungsgeschichte, die grosse Lehrmeisterin und Pfadfinderin
in der Physiologie, wies nach, dass die Geruchsmembrane der Rase beim
Embryo aus Hautgebilden entsteht; die Sinnesempfindungen des Geruchs-
organes sind demnach nur Modifikationen der ursprünglich bloss der Haut
zukommenden Empfindungen. Die Rase, das Schutz- und Traggerüst für
die Geruchshaut, welcher ein ganz bestimmter Kreis von Empfindungs-
Qualitäten zukommt, ist, wie „der biblische Medikus“ (1743) sich aus-
drückt, „zu nicht geringer Zierde des menschlichen Körpers mitten in dem
Angesicht hingestellt“, zwischen die Augen und oberhalb des Geschmack-
1) G. D. J. Schotei, Vaderlandsche Volksboeken en Volkssprookjes
I, p. 304.
Der Geruch vom Standpunkte der Volkskunde.
439
Organes. Wo dieser Sinn besonders entwickelt ist, wie z. B. beim Spür-
hunde, da ist auch dieses Knochengerüst besonders weit vorgestreckt. Die
Anthropologen der Neuzeit würdigen bei ihren Messungen des Gesichts-
schädels die Grössenverhältnisse des Nasengerüstes zum übrigen Gesichts-
schädel eingehender Untersuchungen. Nach seinen Messungen findet z. B.
J. Ranke (Beitr. z. Anthropol. Bayerns 1892 S. 107) „die Anschauung, dass
die Form der Nase ein Wertmesser der Physiognomik sei, für wirklich
begründet, so dass die Nase als Merkmal für die Gehirnentwickelung
innerhalb gewisser Grenzen einen diagnostischen Wert erhält“.
Für den Forscher auf volkskundlichem Gebiete braucht es darum
keine Entschuldigung, wenn er diesen sogenannten niederen Sinn auch in
das Gebiet seiner Aufmerksamkeit einbezieht unter Berufung auf das Wort
des Terenz: Nil liumani a me alienum puto; dem Arzte ist diese Auf-
merksamkeit ohnehin eine Berufsaufgabe. „Ehrlichen und reinlichen Leuten
ist es allerdings eine Scheu und Schande,“ meinte der Koburger Arzt
Kolreuter (1574), „die Nase mit Gunsten über allen Unlust zu recken; wir
Arzte müssen es aber doch bisweilen thun, alles dem Menschen zum Besten
und um unseres Berufes willen.“
Yom kulturhistorischen Standpunkte aus erinnert uns der Geruchssinn
so recht an das Platosche „Tier für sich innerhalb des Menschen“, an die
rein tierischen Triebe des Menschen, den Nahrungs- und Geschlechts-
trieb, diese mächtig drängenden Faktoren in der menschlichen Kultur-
j entwickelung.
So veredelt und verfeinert, ja fast fadenförmig uns auch heutzutage
der Zusammenhang des Geruchsinnes mit dem Geschlechtstriebe erscheinen
mag, immerhin dürfte ein solcher doch noch bestehen; nimmt man doch
an, dass die Nasengrösse mit der Grösse der Geschlechtsorgane beim
Menschen eine gewisse Kongruenz habe. Wahrhaft poetisch schildert
Ranke („Der Mensch“ I. 556) den Zusammenhang der Höhe der Sinnes-
eindrücke mit den verschiedenen Altersstufen: „die Sinne sind die eigent-
lichen Freudenbringer des Menschen, jeder in verschiedenem Masse für
die verschiedenen Lebensalter; die erste Tugend hat ihre grösste Freude
an den Empfindlichkeiten des Geschmackssinnes; dann suchen der
schwärmerische Jüngling und die Jungfrau im Dufte der Blumen und
Blüten freudigen Genuss . . . das Auge ist der Freudensinn des Alters.“
Das geschlechtlich-apathische Alter ist für Gerüche sehr abgestumpft und
bei vielen Greisen fehlt nach J. L. Prevost das Geruchsvermögen ganz.
Bei sexuellen Irritationszuständen beobachtet man nicht selten auch
Greruchshallucinationen. Je duftender der „Schmeckbüschel“ der bäuer-
lichen Geliebten, je feiner das Parfüm des Billet-doux, desto wonniger
fühlt sich der Yerehrer. Wenn der verliebte Bursche seiner Auserwählten
einen Apfel zu essen giebt, den er vorher eine Zeitlang unter der Achsel
getragen hat, so liegt dieser Spende die Hoffnung auf Gegenliebe zu Grunde,
440
Höfler:
die dieser Geruch erwecken könne. Der Manzanille-Baum (Hippomane
Mancinella) sollte — allerdings nur im Glauben der Alten, dem vielleicht
keine Erfahrungsthatsache zu Grunde lag — durch seinen Blütenduft eine
an die Rosswut (hippo-mane) grenzende physische Liebe erzeugen. Dass
aber jeder Wohlgeruch zugleich auch ein wohltliuendes Aufregungsmittel
für das sensuelle Leben überhaupt sei, ist kein blosser Glaubenssatz.
Lüstlinge gebrauchen zur Erregung ihrer geschlechtlichen Sinne gar oft
der verschiedensten Parfümerieen, die einen Geruchsrausch erwecken, ähn-
lich den AVollustdüften des Orientalen.
Wir wollen aber diesen Gedankengang, der uns auf niedrigere Kultur-
stufen oder Entwickelungszustände zurückführen würde, nicht weiter ver-
folgen.
Yiel auffälliger und jedem riechenden Menschen bekannt ist nun der
Zusammenhang des Geruchsinnes mit dem Nahrungstriebe. Wie feinfühlig
ist diesbezüglich die Tierwelt vom naseweisen Spürhunde bis zur eilfertigen
Aasfliege; allerdings tibertrifft der Geruchsinn der meisten Säugetiere den
des Menschen weit, obwohl letzterer z. B. noch 0,000 000 5 mg Moschus
und 0,000 000 1 Cumarin riecht; letzteres ist in den volksüblichen Geruchs-
mitteln (Heublumen, Waldmeister, Steinklee, Gartenraute etc.) enthalten;
ebenso ist das menschliche Geruchsvermögen für Essigsäure 0,000 3 mg
besonders empfindlich. Dieser feine Geruchsinn ist eine regulatorische
Einrichtung für die Nahrungsaufnahme auch beim Menschen; wie oft führt
das sich entwickelnde Kind seine Finger, die einen ihm noch unbekannten
Gegenstand halten, mit diesem zuerst zur Nase und dann zum Munde und
auch später noch riecht das grössere Kind mit Vorliebe und nach Affenart
an allen neuen Gegenständen; unbewusst scheinbar will es lernen den
Geruch zu trennen vom Geschmacke; denn Geruchs- und Geschmacks-
empfindungen verschmelzen gerade beim bearmten Geschöpfe, das sich
seine Nahrung herbeilangen kann, am innigsten; ja sogar so innig, dass
z. B. bei dem Alemannen- und Bayern-Volke noch heute „schmecken“
ausschliesslich für „riechen“ landläufig geblieben ist1). Das Volk denkt
nicht daran, die Geruchsempfindungen von den Geschmacksempfindungen
sprachlich zu trennen, weil eben unter den gewohnten Verhältnissen ein
zugleich schmeck- und riechbarer Stoff mit dem Geschmacksinne auch
immer den Geruchsinn anregt gemäss dem anatomischen Bau der Nasen-,
Rachen- bezw. Mundhöhle, in der die flüchtigen Substanzen, die auf die
Zunge gebracht werden, durch die Choanen-Öffnung auch in die Nasen-
höhle dringen.
Neben den Nerven des Geruchsinnes (Olfactor) besitzt die Nase gleich
der Zunge auch Nerven (vom ersten und zweiten Ast des Trigeminus), die
der allgemein verbreiteten Tastempfindung dienen und so bethätigt die
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1) Verweis auf ahd. mhd. Wörterbücher und Schmeller.
Der Geruch vom Standpunkte der Volkskunde.
441
Nase ihre Teilnahme an dem, was in der Mundhöhle vorgeht, nicht
bloss durch die eigentlichen Geruchsempfindungen, sondern auch durch
(prickelnde, heissende, stechende etc.) Tastempfindungen. Während aber
heim Geschmacksinne nur süss, sauer, salzig (oft mit „sauer“ nicht bloss
vom Kinde, sondern auch vom Erwachsenen verwechselt) und bitter
(„hantig“)1) geschmeckt wird, alles Übrige aber undefinierbar „eigentüm-
lich“ bleibt, sind die physiologischen Reizquantitäten, die die physikalischen
Agentien der Düfte und Gerüche auslösen und sich dem Sinne kundgeben,
weit mannigfaltiger. Der weit leichter bewegliche Geruchsnerv kommt so
dem nahegelegenen, aber in Bezug auf Reizempfindungen langsameren
Geschmacksorgan sehr zu Hilfe. Wäre ein nicht riechender Mensch in
Bezug auf die Auswahl seiner Nahrung ganz allein auf die Selbsterfahrung
seiner Zunge angewiesen, er würde den Mangel dieses niederen Sinnes
sehr bald beklagen müssen, auch wenn er gerade kein Gastrosophos wäre;
ein fein riechender Mensch wird auch caeteris paribus eine bessere Küche
haben und gesunder wohnen. Die Trennung der Lust- und Unlust-
Empfindungen ist eine bei allen sensitiven Nerven vorkommende That-
sache, da jeder solcher Nerv derartige subjektive Qualitätsempfindungen
auslöst, so auch beim Geruchsnerv, der sogar grössere und individuelle
Freiheiten in dieser Beziehung erlaubt und die vielseitigsten Accomo-
dationen zulässt. Ob es wohl auch eine individuelle Harmonie der Gerüche
giebt, die uns die Anhänglichkeit an die Heimat, den hochentwickelten
Heimatssinn mancher Tiere (Hunde, Katzen u. a.), wenigstens zum Teil,
erklären könnte?
Starke, namentlich ungewohnte Gerüche werden fast immer zuerst
unangenehm empfunden. Geisteskranke haben fast ausschliesslich un-
angenehme Gerüche; Hypnotisierte riechen ungemein weit und selten Un-
angenehmes. Der allmählich angewöhnte, zuerst unangenehm empfundene
Geruch eines Stoffes kann nach und nach zu einem individuell beliebten
Parfüm werden (Jodoform, Karbolsäure z. B. bei Ärzten) oder sich sehr
abstumpfen. Die Lieblichkeit des Geruches, die allerdings viel öfter
individuell ist, setzt im allgemeinen eine gewisse Verdünnung des Geruchs-
Agens in dem jeweiligen Menstruum voraus, damit sie als solche sich
bemerkbar macht.
Man könnte nun die Frage aufwerfen, ob das Landvolk Geruchs-
empfindungen schlechter percipiert als der Städter? Wenn man auch zu-
geben muss, dass der Städter im allgemeinen in einer weniger reinen
Athemluft lebt und dementsprechend die Geruchsempfindungen sich bei
ihm abstumpfen könnten, [eine Abstumpfung, die auch das von den euro-
päischen Kulturstätten aus ins Landvolk verbreitete Tabakschnupfen als
1) „hantig“ ist sowohl bitter, scharf, als salzig und sauer, stets im Gegensatz
zu süss.
442
Höfler:
Abwechselung bietendes Nasenreizmittel uns erklären könnte] und wenn
man auch wieder zugeben muss, dass der Städter und namentlich der
Gastrosoph eine grössere Auswahl von Geruchsbezeichnungen hat, weil er
auch mehr Vorstellungskreise besitzt, die er damit in Verbindung bringen
kann, so wäre es doch irrig, daraus auf eine mangelhaftere Geruchs-
perception beim Landvolke zu schliessen. In der volksüblichen Sprache
Altbayerns fehlen allerdings die Ausdrücke: „riechen“, „modern“, „duften“,
„ranzig sein“ u. s. w.; das Volk kennt aber „schmecken“ und „stinken“
und schafft sich aus dem Kreise seiner Vorstellungsbegriffe durch das
Deminutiv-Anhängsel „ein“ eine Reihe von Geruchsbezeichnungen, deren
Anzahl für eine solche Armut an Geruchs-Prototypen gerade nicht beweisend
ist, z. B. schmiergeln (zu Schmer, Fett), grawein (zu grau, nach grauem
Schimmelpilz der Speisen riechen), schimmeln, böckeln, muffeln, faulein,
räuclieln, brandein, möseln, schwitzein, kuttein, liöseln u. a. Es geht hier
beim Geruchsinne wie beim Farbensinne; das Landvolk kommt z. B. mit
ungefähr 10 Farbenbezeichnungen aus, der Grossstädter aber hat, wie
W. Schwartz in dieser Zeitschrift 1892 S. 249 nachwies, 133 solche Be-
zeichnungen von Farben; der Städter sieht ebenso viele Farben wie das
Landvolk; er hat nur mehr Bezeichnungen für die einzelnen Unterarten.
Unter normalen Verhältnissen ist für Gerüche eigentlich jeder Mensch,
dessen Nasenschleimhaut gesund ist, empfänglich, auch bei sonst verschie-
denen Bedingungen1); immer aber sind es nur subjektive Vergleiche
mit bestimmten realen Typen, mit denen wir diese Geruchseindrücke be-
zeichnen. Ein besonderer Feinschmecker, Baron Vaerst, fand einmal z. B.
in der Schweiz, dass ein Hammelbraten nach Veilchen rieche. Diesen
Vorrat an Prototypen schuf und erweiterte erst die fortschreitende Kultur,
die das Bedürfnis nach solchen (durch die Notwendigkeit, die Geruchsart
zu fixieren und sprachlich zum Ausdrucke zu bringen gegebenen) Geruchs-
bezeichnungen setzte. Die Ursache des Bedürfnisses ist nach dem Pflüger -
schen Gesetze auch die Ursache zur Befriedigung des Bedürfnisses. Der
Handels- und Warenverkehr war es namentlich, welcher durch die Unter-
scheidung frischer von alter Ware, echter und falscher Stoffe die Geruchs-
bezeichnungen erweitern half, nachdem längst vorher schon und in
erster Linie die Nahrungsauswahl die Veranlassung zu differenten Geruchs-
benennungen gegeben hatte.
Eine der ältesten Bezeichnungen für riechende Stoffe ist z. B. das Aas (ahd. äs)
= O-as, Ab-ass, Ab-uzz, abseits gelegtes oder weggeworfenes Essen1 2). Hierher reihen
sich an: Abwasser - fanles, übelriechendes Wasser; Abkraut, Abwurz = übelriechendes
Kraut; Abfleisch = ungeniessbares, faules Fleisch; Abfell (A-fel) = (übelriechende?) Haut-
ablösung; Abgeschmack = übelschmeckend, geschmacklos.
1) Selbst der Schwerkranke erfreut sich noch am Dufte der Blumen, imd noch der
Scheintote reagiert auf Geruchsempfindungen, selbst wenn alle anderen Sinnesreize ohne
Einfluss geblieben waren.
2) O-aett (Upland) = ekelerregend.
Der Geruch vom Standpunkte der Volkskunde.
443
Auffällig ist, dass das Wort „stinken“, dem (nach Kluge) das griechische zayyvg
= ranzig, etymologisch am nächsten steht, im Althochdeutschen und bis zum frühen Mittel-
alter noch bedeutete: „einen Geruch von sich gehen“, ja sogar noch „duften“. Hierher
gehören die verschiedenen Stink-Blumen, Stink-Tiere (Wiesel und Wanze), Stink-Wasser
(meist Schwefelwasser).
Das „Riechen“ ist eigentlich hierzulande nicht volksüblich; wie schon erwähnt, tritt
hierfür „Schmecken“ (G’schmach) ein; riechen ist noch mhd. auch = rauchen, Rauch und
Geruch verbreiten. Das Wort „Wass“ ahd. nuäz = feiner Geruch ist ebenfalls nicht mehr
üblich (zu o£o>, oöov) (A-wasel = Aas). Hierher die verschiedenen Ruchgräser, Ruchbäume,
Schmeckblumen, schmeckende Wasser etc.
Die übrigen Geruchsbezeichnungen stammen grösstenteils oder fast
ausschliesslich aus dem Vergleiche mit südlichen Produkten, wie sie durch
die Einführung römischer Gartengewächse und orientalischen Rauchwerkes
dem Yolke schon sehr gut bekannt geworden waren, z. B. Rosen, Kümmel,
Wein, Nelken, Zimmt, Moschus, Balsam etc. Die Ärzte und Klostermönche,
Kräutersammler und Warenhändler waren es, die diese nicht einheimischen
Geruchsbezeichnungen volksüblich machten und bei botanischen Objekten
den geruchlosen oder anders riechenden Pflanzen den Beinamen Hund-,
Kuh-, Wild etc. gaben. Die übrigen einheimischen Ruchpflanzen haben
Namen, die mit ähnlichen einheimischen Gerüchen verglichen werden; die
Kräutersammler verfuhren bei deren Auswahl gerade nicht ästhetisch, des-
halb können wir diese Namen zum Teil übergehen; Bock, Wanze, Schwein,
Esel, Kröten, Katze etc. lieferten nicht wenige solcher Vergleiche. Als In-
begriff eines besonders feinen Aromas gilt auch heutzutage noch die Apo-
theke, die vielen Pflanzen die Geruchs-Signatur gab; „mein Wiesen-Heu
schmeckt wie eine Apotheke“ kann man hier und da aus bäuerlichem
Munde hören. Der Schwefelgeruch (Schwefel ist ein gemein-germanisches
Wort, das nach Kluge erstickender, tötender, einschläfernder Stoff bedeutet)
kommt bloss dem Teufel und Gespenstern zu im Yolksmunde; der ur-
germanische Lauch, dessen Geruch vielleicht einer der am längsten be-
kannten Pflanzengerüche ist, wurde nach der Edda (Sigrdrifa-Lied 8)
dazu verwendet, um den Meth auf beigemischte giftige und berauschende
Gewürze zu prüfen, wobei daran zu erinnern ist, dass man noch heute mit
Arorliebe auf das erste Gericht Schnittlauch streut. Der Speisengeruch
und der Feuerungsrauch wird wohl für den in Not befindlichen Menschen
stets eine Art von „köstlicher“ Witterung gewesen sein; der Almhütten-
rauch und der Geruch der sogenannten Samstagnudeln ist noch heute eine
solche für Wilderer und Bettelleute.
Die Witterung der Tiere ist besonders lehrreich; so behaupten die
Jäger, dass die Gemsen und das Hochwild vor den in Sennhütten ein-
geräucherten Wildschützen und Hirten weniger Scheu hätten, als vor den
kostümierten Jägern und Jagdherren. Hunde auf Einzelgehöften wittern
streunende, ihre Wäsche selten wechselnde Vaganten viel rascher als ihnen
fremde Einheimische; ebenso wittern die Hunde ganz rasch die Hundefleisch-
Yerzehrer. Als das Christentum den Genuss des heidnischen Pferdefleisches
444
Höfler:
verbot, bezw. auf das noch 732 hier zu Lande wild lebende Pferd ein-
schränkte, musste dem Volke der eigentümlich stissliche Geruch auffallen,
den die Hautausdünstung der Eossfleisch verzehrenden Altgläubigen hatte
und den noch heute das Volk verabscheut. Vielleicht hat der Name
Hunde-Eoss-Kraut mit diesem Gerüche des Hundefleisch- oder Pferdefleisch-
Opfers in der Heidenzeit einen Zusammenhang. Von Pflanzennamen sei
hier noch „Siebengezeit“ erwähnt (Melilotus caeruleus, Foenum graecum),
das seinen Namen davon haben soll, dass es siebenmal in der Tageszeit
dufte; es ist aber wahrscheinlicher, dass es seinen Namen von den sieben
kanonischen Zeiten (horae) der Klostermönche hat, die die wohlriechende
Pflanze in die betreffenden Abschnitte ihrer Gebetbücher legten, wie noch
heute das sogenannte Bauernherbarium in Gebetbüchern zu finden ist. I)ie
Klöster, namentlich die Nonnenklöster, verfertigten auch kunstvoll gefasste
kleine Ossuarien aus Teilchen von Eeliquien, wie sie noch heute zu finden
sind. Die Einbalsamierung der Heiligen-Keliquien und der damit getriebene
Handel brachte dem Volke neue „wunderbare“ Gerüche zur Kenntnis.
„Caeterum ex reliquiis Sanctorum saepenumero odorem suavissimum fuisse
emissum passim docent scriptores,“ schreibt Meichelbeck in seinem Chr.
Benedictorum unterm Jahre 1053. Solche Heiltiimer verbreiteten in ihrer
Umgebung die Düfte orientalischer Balsame und Harze und so stand
mancher Zellenmönch „im Gerüche der Heiligkeit,“ den die anderen nicht
genossen.
Wie viele Gerüche in einem Kaume, z. B. einer Wohnstube vorhanden
sind, so können sie für den darin Wohnenden vollständig durch Abstumpfung
verschwinden; nach Kussmaul sind schon die Neugeborenen für beständige,
auch starke Gerüche bald abgestumpft. So gewöhnt sich der Mensch mit
der Zeit an die übelriechendste Atmosphäre (z. B. Kutscher an den Stall-
geruch), die auf den nicht daran gewöhnten Mitmenschen oder fremden
Eeisenden eine geradezu betäubende Wirkung haben kann. So kommt es,
dass fast jedes Volk das andere als stinkend bezeichnet (Völker-Geruch);
vergl. die orientalischen Juden noch heute (im Mittelalter war „Stinker“
ein Schimpfname für Juden), den Neger-Geruch u. s. f. Die geringere
Hautpflege, die künstlichen Hautschmieren, die verschiedene Bekleidung
(Wolle, Pelze etc.) und vor allem die verschiedene Nahrung werden daran
mehr Schuld tragen, als der noch sehr zweifelhafte specifische Bassen-
Geruch. Allerdings duftet auch der Mensch unter abnormen Verhältnissen
verschieden, z. B. Wöchnerinnen, Menstruierende, Totkranke (moschusartiger
odor mortis, der vielleicht die Veranlassung gab zur Fabel vom Tode durch
Blumendüfte). Blattern-, Masern-, Influenza-, Bheumatismus-, Syphilis-
Kranke riechen ganz verschieden; „er stinkt wie die Pest“ ist noch land-
läufiger Ausdruck (Sepsis-Geruch); es sind dies aber abnorme Verhältnisse
mit abnormen Stoffwechselvorgängen. Der Hircus axillaris scheint inter-
national zu sein; lästig wurde dieser manchen Deutschen erst im Mittel-
Der Geruch vom Standpunkte der Volkskunde.
445
alter, wie man daraus scliliessen darf, dass erst mit der Verwendung der
Mineralbäder (15. Jahrhundert) dieser Geruch eine der Indikationen für
deren Gebrauch abgab.
Einen unangenehmen Geruch durch andere Gerüche zu verdecken, ist
durchaus keine moderne Erfindung; sie ist sicher so alt als die Beigabe
von wohlriechenden Harzen oder harzreichen Holzarten zum Brandopfer;
der kirchliche Weihrauch ist eigentlich nur eine Ablösungsform für das
volle Brandopfer; man wollte mit der Beigabe wohlriechender Harze dieses
Brandopfer der Gottheit angenehmer oder „annehmbarer“ machen. Ob die
von Tacitus (Germania c. 37) beim Leichenbrande berühmter Männer er-
wähnten „besonderen Holzarten“ fremdländisch waren, ist zu bezweifeln;
wahrscheinlich bedienten sich die Germanen des einheimischen Wachholders,
dessen Beeren als „Lohbeeren“, „heilige Weih-Eicheln“ verbrannt wurden;
er lieferte die Wodansgerte (Lebensrute) und alte Pestmittel. Der Opfer-
rauch (Geruch) hat als hl. 3 Königsrauch, Rauchkerzchen, Räucher-Essenz
noch immer seine nach dem Volksglauben reinigende Wirkung und Ver-
wendung. Der heilige Rauch (Weihrauch) sollte Seuchen, Krankheits-
Schelme, Hexen und Teufel vertreiben; die Fäulnis der Luft sollte, wie
die Fäulnis des Fleisches, durch Geruchsmittel vertrieben werden; daher
noch heute der stinkende Bock im Viehstalle, früher der Wachholderrauch
in den Pest-Kontumaz-IIäusern, „Rauchhäusern“, das Wachholder-„Glütl“
in den Spitälern (Mitte des 19. Jahrhunderts), das Auf hängen von stark-
riechenden Hexenkräutern gegen Krankheits- Schelme (Schrätzlein, Putzl,
Kork ein, Heinzein, Wichtlein, Kunter, Kasermannl, Witemannl, Bilweizen,
Töckeln, Truden, Alperer, Gefraischlein, Holzweibl, wilde Ochsner etc. etc.),
welche volkstümlichen Krankheitsdämone zur Zeit der humoral - patho-
logischen Medizinschulen auf den Kamen: „phlegmatischer Schleim“ oder
„schwarze, verbrannte Galle“ sich umtaufen liessen, während sie heutzutage
als Kommabazillus (sogar mit specifischem Sippen-Geruch) als Typhus-,
Milzbrand-Bazillus etc. der modernen Kulturmenschheit ihre Visitenkarten
abgeben. Aus den staubigen Winkeln der Häuser sucht man die Hexen-
kraft zu bannen durch antipymotische, starkriechende Frauendreissigstkräuter
(Wohlmut, Baldrian, Münze, Wachholder, Weinraute, Teufelsdreck etc.)
und aus den Truhen und Schränken durch die motten-, fäulnis- und pest-
widrige Citrone1) alles schelmenhafte, verzauberte und hineinverhexte Un-
geziefer zu vertreiben. Lavendel, Myrte, Thymian, Salbey, Speik, Ros-
marin etc. sind solche Wäschekräuter, durch deren Geruch, wie durch den
der übrigen G’wand- und Quendelkräuter, Kittelkräuter, Laubquesten
(Ruchbirke) etc. man alle krankhaften Agentien zu entfernen bestrebt war.
1) An deren Stelle ist heute meist der „Schmalzapfel“ getreten, d. h. ein wohl-
riechender, zur besseren Konservierung mit Schmalz bestrichener, glänzender Apfel Die
Apfclsalbe (pomada) mag darum zu den älteren, Ungeziefer vertreibenden kosmetischen
Mitteln gehören.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893.
30
446
Hötler:
In diese doppelte Rolle eines Unholdinnen und Schelmen vertreibenden
und dabei kosmetischen Geruchmittels, das stets bei sich zu tragen ein
menschliches Verlangen war, teilte sich der „Gürtler“ oder „Schmecker“,
der als „Sonnwendgürtel“ vom Weibe verwendet wurde. Das kraut- und
küchenkundige Weib, das stets auch des Schmuckes und Liebreizes nicht
vergass, musste zuerst auf wohlriechende, fäulniswidrige, Motten und G eziefer
vertreibende Pflanzen seine Fürsorge gerichtet haben, die ihm auch den
Arorteil eines für die Festtage bestimmten Kosmetikum boten. Das älteste
volksübliche Wolligeruchsmittel des deutschen Weibes ist vielleicht die
Raute gewesen. Unter dem Namen Raute versteht aber das Volk stets
wohlriechendes, grünes, vielfach verzweigtes, gelapptes Krautblätterwerk
von Blumen verschiedener Arten, hauptsächlich den Beifuss (biböz = Beistoss
— Beiwiirze zur alltäglichen Küchenspeise) = Artemisia vulgaris (Schoss-
wurz oder Johannesgürtel), Artemisia spicata (Gürtler, Speik, Stabwurz),
Artemisia nana, Artemisia nitida (Schosswurz), Artemisia abrotanum (Eber-
raute, Stabwurz), Artemisia mutellina, Tanacetum balsamite (Schmecker,
Gürtler, Mutterstab, Frauenblatt), Valeriana celtica (Magdalenenkraut, Speik)
(Tirol), Senecio incanus (Edelraute), Asplenium, Fumaria, Galega, Thalictrum,
Veronica, Ruta graveolens etc. etc. Der Name „Raute“ (Rauten) ist so
verbreitet, dieses ureinheimische Kraut so volksüblich und bekannt, seine
volksmedizinische Verwendung bei Frauenleiden aller Art so allgemein,
bei Milchmangel seine Benutzung durch Hirten und Senner so alltäglich,
darf man fast sagen, dass an dem germanisch-deutschen Indigenate dieses
ältesten Küchenkrautes (das allerdings mit vielen anderen rautenähnlichen
Blättern früher oft verwechselt worden sein mag) nicht zu zweifeln, und
die Entlehnung desselben aus dem Lateinischen höchst unwahrscheinlich
ist; auch Kluges Wörterbuch hält das lateinische ruta für „urverwandt“
mit dem ahd. ruta; die Raute, das G’raut, ist in der That „die Mutter
aller Kräuter“; sie war die Beiwürze (Beistoss, Beifuss) zur alltäglichen
Speise wegen ihres Geruches und Geschmackes, sie ist das Sonnenwend-
kraut, das mit dem ebenfalls uralten Eisenkraut ins Sonnwendfeuer ge-
worfen wird, mit dem sich die Jugend beiderlei Geschlechter bekränzte
auf Sommersonnenwendzeit, wovon vier Bündel in der Kammer gegen die
Hexen aufgehangen werden, womit sich die Jugend beim Kirchengange
heute noch mit Vorliebe ziert1), mit dessen Rauch man den „Kunter“ in
den Stallungen vertreibt, womit sich das Wiesel (= Jungfrau) beim Kampfe
mit der Schlange, wie Lonicerus schreibt, stärkt, eine so allgemein ver-
wendete Pflanze, auf die jede Sennerin heute noch hoch und teuer schwört,
dieses Kraut kann nie und nimmer ein entlehntes oder erst eingeführtes
sein. Die fremdländischen Kräuter verraten sich nicht nur durch ihren
1) ..Herzschmecken“ und „Hutbüschel“ werden diese wohlriechenden Kräuterbündel
genannt.
Der Geruch vom Standpunkte der Volkskunde.
447
Namen, sondern vor allein durch die Art und Weise ihrer Verwendung
und durch die Krankheitsnamen, gegen die sie gebraucht werden; die
Raute ist aber geradezu ein Prototyp einer ureinheimischen Pflanze, die
ihrem Wohlgeruche ihre frühzeitige Verwendung gegen alle Faulheiten
des Fleisches und der Luft verdankt; sie wurde zur Mutter aller in der
Küche verwendeten Kräuter: als wohlriechender Rautengürtel wurde dieses
Schosskraut, Frauenblatt, Gürtelkraut, Hollenkraut, Schmeckerkraut etc.
auf dem blossen Schoss oder Bug (Schenkel) getragen, daher sie auch
„Bungler“ genannt wurde (Sclimeller-Frommann a I. 206. 217 II. 302 der
Zillerthaler nennt seine Schenkel noch „Bunglen“).
Mit steigender Kultur trat an die Stelle des wohlriechenden Heulagers
(Heublumen) das mit solchen Kräutern gefüllte Bettkissen. Hem Bettgaste
legte man im Mittelalter solche Ruchsäcklein aufs Kopfkissen: „ez smecket
so manz iender regt, alsam ez vollez baismen si“ sang Walther von der
Vogelweide (L. 54, 14) und der „Schlafkienzl“, „Schlafputzen“ von der wohl-
riechenden Rose (heute von Rosa canina) (Rosenkönig auch genannt) wurde
als Wunscherfüller und Fruchtbarkeitsmittel unters Schlafkissen gelegt; so
kam auch der Thymian zur Benennung: „Unser Frauen-Bettstroh“.
Hie wohlriechenden Öle und Salben lernte das Volk des Mittelalters
erst durch die Kreuzzüge kennen, desgleichen die warmen Wannenbäder
mit wohlriechenden Blumen (Rosen, Liebstöckl, Lavendel, Chamille etc.),
die als Zwagkräuter, Badekräuter, Laugenblumen, Waschkräuter etc. solche
Verwendung fanden; so warf man auch im Mittelalter Rosen in die
Badewannen (Wolfram von Eschenbach, Parcival 166, 26 Lachm.) und
die „Rosenbusch-Jungfern“ waren an den Höfen eine ganz gewöhnliche
Beigabe zum Männerbade. Überhaupt legte das Mittelalter grossen Wert
auf aromatische Bäder, namentlich bei Frauenleiden. Hie Badestuben-
Gelehrten jener Zeit, die sogenannten Bader, wissen auch allerlei Wir-
kungen zu erzählen von der frischen „Ruchbirke“ gegen Hautkrank-
heiten etc. (s. des Verf. Volksmedizin und Baum- und Waldkult) und dem
wohlriechenden, amulettartig am Hinterkopfe getragenen „Hauptkisschen“
gegen Schläfrigkeit und Gedächtnisschwäche.
Has Volk der Berge hat, wie jeder Reisende sich überzeugen kann,
grossen Sinn für Farben, der sich in verschiedenerWeise bemerkbar macht,
aber auch für feinere Gerüche. Hie Bäuerin pflegt im Wurzgarten, auf
der Laube und hinterm Fenster nicht bloss farbenprangende, sondern vor
allem „schmeckende“ Blumen und selbst der ältere Bauer steckt sich noch
eine Wiesenblume auf den Hut, aber dann nur eine „schmeckende“ (Mai-
glöckchen und Schmeckprimel); das junge Volk aber liebt nicht bloss
diese, es ziert sich mit Lamberten, mit dem Rauten, mit dem Nagerl
(Nelke), für deren Hiebstahl nicht jeder Geistliche Absolution erteilt. Für
die reine Luft der Berge hat auch der Gebirgsbauer Sinn, er, der an dem
würzigen Gerüche des Tannenharzes, am Hüfte blühender Wiesen ebenso
30*
448
Schwartz :
teilnahmslos vorüb ergeht, wie an der Düngerstätte und an dem Krautfasse,
die ihn gerade so gleichgültig lassen, wie den Hamburger der Steinkohlen-
Gerueh oder den Yenetianer der Lagunen-Geruch.
Tölz in Bayern.
Kleine Mitteilungen.
Noch einmal die gefesselten Götter bei den Indogermanen.
Von Wilhelm Selmartz.
Wenn ich noch einmal auf den Artikel „Die gefesselten Götter bei den
Indogermanen“ im II. Bd. unserer Zeitschrift S. 197 zurückkomme, so geschieht
es, weil ich inzwischen noch eine höchst interessante Notiz zur Sache gefunden
habe, die den behaupteten Hintergrund der dahin schlagenden Vorstellungen in
bedeutsamer "Weise erweitert und bestätigt.
Im ersten Artikel, um ihn kurz zu rekapitulieren, hatte ich, gemäss der An-
frage von Miss Gertrude Godden inbetreff der gefesselten Götter, namentlich
Göttermythen herangezogen, welche sich der Naturanschauung anschlossen, dass
die Winde (und überhaupt die Gewitterwesen) gewöhnlich „eingeschlossen“ bezw.
„gefesselt“ erschienen und im Unwetter dann, wenn sie an der Arena des Himmels
auftreten, ihre Bande angeblich sprengten, bezw. am Ende des Wetters in neue
geschlagen wurden. Wie die „Wolke“, aus der die Stürme hervorbrachen, als ein
„Berg“, eine „Höhle“, in der sie eingeschlossen gewesen, dabei in der Urzeit auf-
gefasst wurde, so galten unter anderm die „Blitze“, welche man dabei als „zauber-
hafte Fäden“ ansah, als wunderbare Bande, die, so fein sie wären, doch schwer
zerreisbar seien, wie es noch der Mythos vom Bande Gleipnir, welches den Fenris-
wolf, d. h. den heulenden Sturmeswolf, fesselt, in der Edda in eingehender Weise
ausführt (s. I. Artikel S. 197 Anm. 4).
Eine Stelle des Eunapios von Sardes nun, auf die ich zufällig stiess, lenkte
meine Aufmerksamkeit nachträglich noch auf den zauberhaften Gebrauch des
sogenannten Windzaubers und lässt diesen höchst bedeutsam für die ganze
Sache werden. Wenn wir denselben nämlich bisher nur bei den Nordgermanen
und Finnen (nach J. Grimm, M. 2 S. 606 und 1041) kannten, so lehrt uns die er-
wähnte Stelle, dass er auch in Griechenland heimisch war, und lässt weitere
Folgerungen für unser Thema daran knüpfen, indem überall auch in einem
Gebrauch das Fesseln der Winde sich als ein Hauptmoment ergiebt.
Denn Eunapios berichtet, dass noch zur Zeit Kaiser Konstantins allgemeiner
Glaube in Byzanz war, jemand könne nach Wunsch Winde „fesseln“ und so ihr
Wehen verhindern. Er erzählt nämlich, der beim Kaiser hochangesehene Philosoph
Sopatros sei von demselben seinen Gegnern preisgegeben und getötet worden, wTeil
sie ihn während einer Hungersnot in Byzanz verleumdeten, er habe die Südwinde
„gefesselt“ (xo.ts<3Vs), damit Getreideschiffe nicht in die Propontis einlaufen und
die Stadt verproviantieren könnten.
Kleine Mitteilungen.
449
Unter dem Reflex dieser Tbatsaehe gewinnt aber die gelegentlich hervor-
tretende Vorstellung bei Homer vom „Fesseln“ der Winde durch die Götter je
nach Bedürfnis1), vor allem das Bild, wie Aiolos dies ausfiihrt, ein besonderes
Interesse. Er giebt bekanntlich dem Odysseus einen Schlauch, in dem alle Winde
bis auf den West, der ihn in seine Heimat tragen soll, mit einer glänzenden
silbernen Schnur gefesselt sind, welche die Gefährten des Odysseus dann aus
Leichtsinn lösen, so dass die eingeschlossenen Winde herausstürmen. Od. 10, 23 ff.
heisst es:
vvji ö’m 'yXcu^vpyi katsfrei (die im Schlauch eingeschlossenen Winde)
/jjpfj.il) l (pC/.SLVvji
>/«•// / 3^ / ‘
OCpyvpSYj. LVCJL fJ.Y\TL 7TCLp&7TV£U (TV] OKl^OV KEp.
Und nachher:
ßovXvj ¿S JCCOtvj vixvj<rev ETxlpUUV'
5 \ \ O / 3/ ^3 3 / 3/
cktxov fxsv kvcctv, aveuoi 6 ex navreg opov<roLV.
Das Bild erhält nun unter Voraussetzung eines dahin schlagenden Volks-
glaubens auch in Griechenland eine neue, charakteristische Bedeutung, zumal es
in dem Kern der Ausführung genau zu dem Verfahren der nordischen Zauber-
weiber beim Windzauber passt. Diese verstehen es (wie J. Grimm, Myth.1 2 1041
sagt) angeblich „Wind undünwetter in einen Sack zu schliessen, dessen Knoten
sie zu gelegener Zeit lösen, wobei sie ausrufen: „Wind in Teufels Namen!“ Dann
fährt Sturm heraus, verheert das Land und stürzt Schiffe im Meere um“. Das ähn-
liche Verfahren des Aiolos ist nach allem nun nicht mehr eine poetische Fiktion des
Dichters, sondern derselbe hat nur eine alte, auch griechische Tradition vom Wind-
zauber, die sich, wie so viele Arten der Zauberei, als ein altes Erbe aus der Ur-
zeit entpuppt, seiner Darstellung verwebt, indem so es ihm möglich wurde, den
Gefährten des Odysseus die Rolle zuzuweisen, die guten Absichten des Aiolos zu
vereiteln.
Der zauberhafte Gebrauch aber an sich ergiebt sich in seinem Ursprung, wie
die meisten ähnlichen Zauberstücke der Urzeit, als eine einfache /j.i/j.-/]cru; angeb-
licher Vorgänge am Himmel, indem der Naturmensch durch Nachahmung derselben
dieselben Erfolge zu erzielen gedachte, die mit jenen dort oben verbunden zu sein
schienen, in diesem Falle also das Lenken der Winde nach Belieben;). Die
Wolke wird dabei repräsentiert durch einen Sack (Windsack, Windbeutel), der
Blitzesfaden durch einen Strick3), und wenn weiter dabei das Schürzen,
bezw. Lösen der Knoten an dem Strick eine besondere Rolle spielte, ja allein
schon stellenweise, z. B. bei den Vinländern unter Wegfall eines Sackes als
Zaubermittel zum Windzauber galt4), so geht dies Moment speciell auf die sich
1) Od. 10, 20 f. heisst es vom Aiolos: evda de ßvxxäcov avepicov xaxedfjoe xelevda,
xetvov /«o xa/iir/v äve/uov noir/oe Kooviov; ähnlich von der Athene 5, 383: fjxoi xcöv aXlcov
avs/jow xaxedr/os y.elevöovg — bis auf den Boreas, der den Odysseus zu den Phäaken
bringen sollte.
2) Uber die der Hauptmasse der alten Zauberei zu Grunde liegende /u/u/oig siehe
Prähist. Studien die im Index unter Mimesis angeführten Stellen, sowie meinen Aufsatz
über prähistorische Mythologie, Phänomenologie und Ethik in der Zeitschr. der Berliner
anthropol. Gesellsch. vom Jahre 1885 S. 539 f.; vergl. auch den II. Bd. unserer Zeitschr.
S. 7ß Anm. 7.
3) Über die Wolke als „Sack“ s. Poet. Naturansch. II 2, über den Blitz als „Faden“
oder „Seil“, ebendas. 104.
4) Globum enim de filo faciunt, heisst es in einem Bericht aus dem XIY. Jahrh.,
et diverses nodos in eo connectentes usque ad tres nodos vel plures de globo extrahi
450
Schwartz :
kreuzenden Blitze, welche ja auch sonst so im Aberglauben aufgefasst er-
scheinen, z. B. dem nodus Herculeus, dem Nestelknüpfen und dergl. zu Grunde
liegen')
Auf dem Standpunkte der Zauberei also, die Hegel schon seinerzeit, das
Richtige ahnend, mit "als die älteste Religionsphase bezeichnete2), erscheint
hier auch schon dieselbe gläubige Vorstellung einer Fesselung der Winde als
sachliches Element verwendet, welche hernach in der Zeit anthropomorphischer
Auffassung, als man in den betreffenden Erscheinungen überirdische Naturwesen
wirkend wähnte, sich an diese unter anderen Formen und Bildern anschloss3), und
die dabei hervortretende Analogie stützt, bei allem Fortschritt in der
sonstigen Auffassung der Erscheinungen, nicht unwesentlich die Richtigkeit
der seiner Zeit von mir gegebenen Deutung.
Ich gebe zum Schluss die Stelle aus dem Eunapios ausführlich wieder, zumal
sie sonst wenig beachtet worden ist und doch nicht nur in prägnanter Weise den
erwähnten Volksglauben schildert, sondern auch neben einzelnen anderen inter-
essanten Momenten anschaulich zeigt, wie der Glaube an Zauberei noch im vierten
Jahrhundert n. Chr. die öffentliche Meinung gelegentlich in Griechenland bis zum
Kaiser hinauf beherrschte. Dies wird auch nach anderer Seite hin bedeutsam,
indem sich daraus erklärt, dass die christliche Kirche (Augustin) auch dieser Art von
Aberglauben gegenüber specielle Stellung nahm, womit derselbe dann nach aussen
hin in eine neue Art von Entwickelungsphase trat. Denn wenn bis dahin — wie 1 2 3
praecipiunt, secundum quod voluerint ventum habere fortiorem etc. J. Grimm denkt bei
dem Globus an den magischen turbo, der bei Horat. epod. 17, 7 vorkommt, ich mehr
an einen Zauberknäuel, wie er bei den Esthen eine so prägnante Rolle spielt (siehe
Kreutzwald, Esthnische Märchen. Halle 1869. S. 10. 14. 196 ff.), und daselbst, wenn er in
der Nacht wTie die Sonne strahlt, sich als eine Apperception eines sogenannten Kugel-
blitzes ergiebt; siehe Poet. Naturansch. II. S. 106.
1) In betreff der Blitzkreuze bezw. Knoten u. s. w. s. Zeitschr. der Berl. anthropol.
Gesellschaft vom Jahre 1855, S. 540. Der Blitz als Waffe in den Händen des Indra heisst
auch der hundertknotige.
2) Welcker und selbst auch J. Grimm sträuben sich freilich nach ihrem ganzen
Standpunkt dagegen, dies voll anzuerkennen und praktisch zu verwerten, s. Welcker,
Griech. Götterlehre. II. 1860. S. 153. — Wenn Hegel übrigens der Religion der Zauberei,
welche er voranstellt, die Religion der Phantasie folgen lässt, so ist dies nicht ganz
richtig, und es reflektiert in dieser Ansicht der Standpunkt der damaligen mythologischen
Wissenschaft bei ihm. Denn die inzwischen erblühten prähistorischen Studien und der
überall analog hervortretende Charakter der niederen Mythologie zeigen deutlich, dass
das erste religiöse Denken des Naturmenschen, wie es sich in den Formen einer gewissen
Dämonologie und eines Zauberglaubens bekundete, in gleicher Weise von der Phantasie
(oder, wie man jetzt sagt, „Apperception“) ausging. Freilich ist dann bei dem Ent-
wdckelungsprozess der Dämonologie zum Polytheismus die Phantasie die besonders treibende
Kraft gewesen, die im Anschluss an den kulturellen Fortschritt der Menschen immer neue
Bilder entfaltet und ausgebildet hat. — Über die Dämonologie als prähistorischen Hinter-
grund auch der klassischen Mythologie s. unter anderm meinen Indogerm. Volksglauben
S. 229-241.
3) In lebendigen Schilderungen kehren noch heutzutage oft solche Bilder wieder.
So heisst es in Fr. Gerstäckers „Inselwelt“ 3. Aufl. S. 322: „Jetzt schienen aber die Geister
des Sturmes auch zum erstenmale die Fesseln zu brechen, die sie bis dahin in Schranken
gehalten, und während noch der Donner in weiter Ferne nachrollte, kam der brausende
Orkan jubelnd und jauchzend über das Meer daher“ (ähnlich wie auch die Winde bei
Homer immer in Saus und Braus leben). Poet. Naturansch. II. S. 53 f.
Kleine Mitteilungen.
451
fast überall, — so auch in Griechenland das Volk gegen Zauberer nur gelegent-
lich reagierte, wenn man sie dieser oder jener Unthat beschuldigte1), die ge-
bildeteren Schichten aber sich von dem Glauben an Zauberei immer mehr ab-
wendeten, so wurde von den Kirchenvätern dieselbe doch „als vorhanden“ anerkannt,
indem man sie nur als ein Teufelswerk hinstellte und als solches je länger je
mehr verfolgte, was dann im Mittelalter zu dem epidemisch auftretenden Wahn-
witz der Hexenverfolgungen führte.
Eunapios (4./5. Jahrhundert) erzählt also in seinem Werke ßloi tyikocroij)wv xal
cctpKTTujv und zwar in der Vita AiJg'<riog (in der Ausgabe von Boissonade, Amsterd.
1822, 2 vol.) I. p. 21 Folgendes: xau eg toctovtov ye if-ixero (sei. ^vunotrpog)1 2) croty'cig
xctl Svvay.swg, ui? 0 fxlv ßctcrike\)g (sci. ILwvcTTctVTlvog') kctkivxei re uV avTy xctl ¿'■/¡/j.ocrict
o’bvsS'pov efysv, slg tgv Je^icr xc/a}i'Cojv tgttov .... Darüber wurden andere Personen
am Hofe (n^pa^vvc/.G-TsvovTsg) neidisch (p'/iyvv/uevoi rw cji&oWj) und suchten nach
einer Gelegenheit, den verhassten Philosophen zu stürzen. Diese fand sich bald.
Konstantinopel war damals, durch des Kaisers Schuld, übervölkert und litt daher
öfters Hungersnot, zumal bei ungünstigen Winden. Denn die Getreide-
schiffer aus Asien, Ägypten, Syrien u. s. w. konnten in die Propontis nicht ein-
laufen, aV .uv; zccra.771'suerv] vorog ctxpctr/jg xotl ajutxrog (p. 23). Nun war gerade damals
solcher Xijud'g; das Volk strömte ins Theater xctl — so heisst es p. 23 weiter —
tqv ßcLtrikect xoltsiyev o£{)v/ul'm. xct\ ol netketi ßctcrxctl'.vovrsg (sei. den Sopatros) eupvjxsvcu
xctipov Yjjovfj.svoL xctkkitnov, „akXo! ^wnctrpog ys, tepetvetv, 0 nctpd <rov tlijm/xevog xctre-
Jvjtrs roug dveLiovg Jt’ ynepßdkvjv crocpictg, qv xctl auTog snouvsig, xctl Si yv btl roig
ßctcikeioig eyxoidr,rou dpo'votgu. xotl 0 KwvtrravrTvog raura dxovcrctg xctl <rv/tnei<r$eig
xctTctxo nrjvctL xeXevei tov ctvfrptt, xctl eyevsTO ticct rovg ßotcrxotivovTctg toajtcl Wd.TTOV vj
ekeyero.
Berlin, September 1893.
„Die falsche Braut“ in Niederösterreich.
Bezugnehmend auf eine in dieser Zeitschrift III. 88 f. erschienene Anfrage
wegen der „falschen Braut“, erlaube ich mir mitzuteilen, dass diese Sitte in
Niederösterreich wohl bekannt ist, und zwar im ganzen Viertel unter dem Manharts-
berg, im grössten Teile des Viertel ober dem Manhartsberg, ferner an der Leitha
und im Wechselgebiete an der steirischen Nordostgrenze; hingegen ist sie unbekannt
in den Alpen.
Die hierbei sich abspielenden Gebräuche sind beispielsweise in Stranzendorf
(Bezirk Hollabrunn, Kreis unterm Manhartsberg) folgende:
Nachdem die beiderseitigen Hochzeitsgäste im Hause der Braut sich ver-
sammelt haben, tritt der „Bittmann“, das ist der Beistand des Bräutigams, vor und
hält folgende Ansprache:
„Nun müsst ihr uns nicht übel aufnehmen, dass wir euch so grob
„überlaufen; es wdrd euch wohl wissentlich sein, dass ein gewisser Heirats-
Kontrakt entschlossen sei; wenn zw'ei oder drei darunter sind, die gerne
1) Plato, Menon, p. 80. Demosthenes gegen Aristogiton. I. p. 793.
2) Im Papeschen Wörterbuch wird der Name Sopatros mit Ahlwardt übersetzt; ob
mit Recht, lasse ich dahingestellt.
452
Frischauf:
„wissen möchten, was der Jungherr Bräutigam seiner Jungfrau Braut ver-
heiratet, dies will ich euch kurz erklären:
„1. Verheiratet der Jungherr Bräutigam seiner geliebten Jungfer Braut
„Haus und Hof,
„2. Einen gesunden, frischen Leib,
„3. Eine ehrliche Freundschaft,
„4. Wollen wir euch bitten, eine kurze Antwort zu geben und die Braut
„ausbitten zu lassen.“
Hierauf antwortet der „Heiratsmann“ (Beistand der Braut):
„Wenn der Herr Bräutigam und die eingeladenen Hochzeitsgäste
„wissen wollen, was die Jungfer Braut ihrem Herrn Bräutigam verheiratet,
„nämlich:
„1. 4000 Gulden Geld,
„2. Einen gesunden Leib,
„3. Eine ehrliche Freundschaft — und
„wenn der Herr Bräutigam sich die Braut gemerkt hat, so
„will ich sie vorführen.“
Nun wird unter dem Gelächter der Hochzeitsgäste ein halbwüchsiges, etwa in
der Küche beschäftigtes Mädchen vorgeführt. Der Bräutigam sagt: „Dö is nid,
dö is ma z jung“. Hierauf geht der „Heiratsmann“ kopfschüttelnd wieder hinaus
und bringt unter erhöhter Heiterkeit des Publikums ein altes Mütterlein herein,
worauf der Bräutigam sagt: „Dö is ä nid, dö is ma z’ old“.
So wird der jedenfalls schon viele Jahrhunderte alte Witz noch einige Male
wiederholt, wobei der Bräutigam auch Gelegenheit finden kann, seinen Mutterwitz
zu entfalten, bis er endlich sagen kann: „Das ist die Rechte“.
Im Bezirke Eggenburg, im Viertel unter dem Manhartsberge, war es eine noch
vor 30 Jahren übliche Sitte, dass die falsche Braut den Bräutigam mit Schmähungen
überschüttete und schliesslich unter dem Rufe „Da häbts enga Drongöld“ dem-
selben ein Bündel mit Glasscherben vor die Füsse warf; im Bezirke Malzen ist
es heute noch gebräuchlich, dass die falsche Braut unter obigem Rufe einige Silber-
Zwanziger zu Boden wirft.
Nachdem die richtige Braut endlich gefunden ist, bittet das Brautpaar um den
elterlichen Segen, nach dessen Erteilung zur Kirche aufgebrochen wird.
Wien. Dr. Eugen Frischauf.
Des Schneiderleins Glück.
„Ein armes Schneider-Bürschchen ging seiner Wanderschafft nach, einesmahls
kam er in einen sehr grossen Wald, und weil er die Wege nicht wüste, ging er
irre, die Nacht überfiel ihn, und er muste sich entschliessen, an diesem ihm so
furchtsamen Orte zu campiren, dahero er sich nach einem Platz umsahe, wo er
vor dem Anlauff der wilden Thiere und andern Gefährlichkeiten sicher zu seyn
vermeynte. Dieserwegen stieg er auf das oberste einer sehr hohen Eiche, das
Bügel-Eisen schützte ihn vor der Gewalt des Windes, welcher ihn sonst zweifels-
frey treffliche Lufft-Sprünge würde haben machen lehren. Da er nun solcher-
gestalt einige Stunden mit Zittern und Zagen zugebracht hatte, erblickte er nur
ein paar Hundert Schritte von sich den Schein eines Lichts, dahero er urtheilete,
Kleine Mitteilungen.
453
dass jemand hiernechst wohnen müsse, stieg1 demnach von seinem selbst ge-
wachsenen Wacht-Thurme herunter, und ging diesem Lichte zu. Er kam an ein
kleines von Rohr nnd Binsen verfertigtes Häussgen, auf sein Anklopifen trat ein
überaus alt Männgen zu ihm heraus, welches mit vielerley farbigten Lumpen be-
kleidet, und fragte was sein Begehren? er erwiederte, wie er als ein armes
reisendes Handwercks-Bürschgen in dieser Wildniss von der Nacht überfallen
worden, bäthe dahero ihn biß Morgen zu beherbergen. Ey! mit solchen Land-
Läuffern mag ich nichts zu thun haben, gegenredete der Alte, es ist ihnen nicht
allezeit zu trauen, drum sehet, wo ihr bleibet, und hiermit wolte er wieder hinein
gehen; doch das Bürschel fasste ihn bey einem Rock-Zipffel und hörte nicht auf
zu bitten und betteln, biß er ihn überredete. Der Alte wiese ihm hierauf ein
ziemlich gutes Nacht-Lager in einem Winkel der Hütte an, nachdem er ihm vorher
etwas zu Essen gereichet. Der arme Schelm brauchte keines einwiegens, sondern
er schlieft unbesorgt bis an den lichten Morgen, würde auch wohl noch lange nicht
ans Aufstehen gedacht haben, wenn er nicht durch einen grossen Tumult wäre
erwecket worden, denn ein lautes Geschrey und Gerassel erschallte vor der Hütte.
Er erschrak zwar anfangs hefftig, doch warff er seine Hülle um sich und lief
hinaus zu sehen, was vorginge. Er erblickte kaum einen Büchsen-Schuss weit
einen grossen schwartzen Ochsen J) mit einem schönen Hirsche hefftig streiten;
diese Thiere schienen so ergrimmt auf ein ander, dass von ihren Stössen und
Getrampel die Erde unter ihnen erbebete, das Blut floss Strom-Weise von ihnen
herab, und es schiene ungewiss, welches von beyden obsiegen würde. Endlich
gelückte dem Hirsch ein Stoss in des Ochsens Bauch, dass dieser mit erschreck-
lichem Brüllen zu Boden suncke und zu sterben schiene, worüber der Hirsch sich
ungemein erfreut bezeugte, und den überwundnen Theil mit Füssen vollends zum
Tode beförderte. Der Schneider sähe diesem allen mit Verwunderung von weiten
zu, aber ach! in was vor Erstaunen wurde er versetzt, als er den sieghafften Hirsch
in vollem Springen auf sich zueilen sähe, der tödtliche Schrecken liess ihn an
keine Flucht gedenken, welche ihm jedoch wenig würde genutzet haben, weilen
der Hirsch ihm bereits auf dem Halse, und auf sein Geweihe gefasset hatte. Er
eilte sogleich schnellen Lauffes mit seinem mehr todt als lebenden Reuter fort
über Stock und Stein, durch Thal und Wald, bis er an einen Fluss kam, über
selben schiene er mehr zu fliegen als zu schwimmen, bald darauf kam er vor
einen Felsen, legte sich auf die Erden, dass also das arme Schneidergen gantz
sanfft herab fiel; als er sich ein wenig wiederum ermuntert und zu sich selber
kommen war, sähe er den Hirsch annoch vor sich stehen, und wurde zugleich
einer grossen eisernen Thüre in dem Felsen gewahr, in dem sähe er den Hirsch
mit gröster Gewalt mit den Geweihen darwider stossen, wovon die Thür jehling
aufsprang, zugleich fuhren viel Feuer-Flammen heraus, denen ein dicker Dampf
folgte, welcher dem Schneider den Hirsch aus den Augen brachte.
Als er nun bey sich erwegte, was er nun anfangen oder wohin er sich wenden
solte, dass er wieder zu Leuten gelangte: so hörte er eine Stimme aus dem Felsen:
Junger Schneider! komm herein, fürchte dich nicht, dir soll kein Leid wieder-
fahren. Er konnte sich zwar lange zu nichts gewisses entschliessen, doch eine
heimliche Gewalt nöthigte ihn, dass er sich zuletzt mit langsamen Schritten hinzu
nahete, und mit tausend wider einanderlauffenden sorgsamen Gedanken durch die
Thüre hinein trat. Das was sich seinen Augen vorstellete, war ein grosser geraumer
1) Auch in dem Märchen von Reinhold dem Wunderkind bei Curtze, Volksüberliefe-
rungen aus Waldeck, Nr. 20, tritt der Zauberer in Stiergestalt auf und kämpft mit Rein-
hold, der den Zauber bricht und die Prinzessin erlöst.
454 Ullrich:
Saal, dessen Decke, "Wände und Boden mit hell polirten Quatersteinen besetzet,
auf deren jeden ein ander unbekandter Character eingegraben zu befinden war.
Nachdem sich das gute Schneider-Btirschgen allhier satsam umgesehen, wolte er
wieder hinaus gehen, indem hörete er die obige Stimme: Trit auf den mittelsten
Stein dieses Saals, so wird dein Glück vollkommen seyn. Als er diesem Folge
leistete, sanck der Stein unter seinen Füssen und er zugleich viele Klafftern mit
hinunter in die Tieffe. Hier fandt er mehr zu betrachten und zu bewundern. Denn
er sähe sich in einem sehr geraumen weitläufftigen und dem obigen an Grösse
fast gleichen Saal, dessen Wände voller Fache oder vielmehr Löcher waren, in
deren jedem ein helles Glaß zu befinden, in welchen vielerley Farbigter Spiritus
oder dem Rauch gleiche Materie zu sehen. In der Mitten dieses Saals stunden
zwey grosse Gläserne Behältnisse; da sich der Schneider hinzu machte, erblickte
er in dem einen ein überaus zartes Schlößgen oder adelichen Hoff mit vielen
andern kleinen Häusergen, Höffgen, Ställen, Scheunen und unbeschreiblichen vieler
andern artigen Sachen mehr; solches alles schiene ein überaus schönes Kunst-
Stück einer mühsamen Hand zu sein, und er bildete sich gäntzlich ein, daß das
gantze Werckgen so sauber geschnitzt oder gedrechselt sey. Er würde seine
Augen von Betrachtung dieser Seltenheiten noch nicht abgewendet haben, wenn
sich nicht die erste Stimme wiederum hätte hören lassen: Beschaue doch auch
das übrige. Hiermit wandte sich der Schneider zu dem andern Glaß-Kasten, in
welchem er eine über alle massen schöne und wohlgebildete, gantz nackende, und
der Länge lang ausgestreckte Weibes-Person liegen sähe. Selbige hatte zwar
Anfangs die Augen geschlossen, und lag sonder einige Bewegung, bald aber öffnete
sie selbige zugleich mit dem Munde, und redete folgender Gestalt: Du siehest
allhier ein unglückseeliges Weibes-Bild vor dir, welche durch die verteuffelte
Kunst eines verfluchten Zauberers in diesen unglückseligen Zustand gerathen; das
gütige Geschick des gerechten Himmels hat dich an diesen Ort gebracht, meines
Unglücks Ende, und den Anfang deines vollkommenen Wohlseyns zu machen,
darum befreye mich lebendig begrabene, durch Wegschiebung dieses Riegels aus
diesem gläsernen Grabe, so will ich alsdann ausführlich mit dir reden, und dir
zeigen, daß meine Worte auf lauter Wahrheit gegründet. Das Schneidergen war
bey Anschauen so wunderbahrer Begebenheiten und Anhörung so schöner Worte
nicht mehr recht bey sich selbst, ja er wüste bey nahe nicht, ob er wachte, oder
ob ihm traumete, jedoch zog er, als zum Gehorchen gebohren, den bezeichneten
Riegel weg, worauf als bald die schöne nackende herausstieg. Sie lief eilends in
eine Ecke des Saals, hub einen falschen Stein aus der Mauer, und nahm aus der
dahinter verborgenen Hole sehr kostbare Frauenzimmer Kleider hervor, welche sie
in möglichster Eyl anlegte, darauf näherte sie sich dem Schneider wieder, empfing
ihn als ihren Erlöser mit einem freundlichen Kuß und sagte: Ich hoffe nichts
straff bares zu begehen, wenn ich dir zum Zeichen meiner vollkommnen Dankbar-
keit solchergestalt begegne, zumahl, weil ich wünsche, mit dir als meinem vom
Himmel selbst erkiesten Ehe-Gemahl, bis an das Ende meines noch übrigen Lebens,
vergnügte Tage zu zählen; und damit du weißt, mit wem du zu thun, so vernimm
folgende Umstände:
Ich bin ein gebobrnes Gräffliches Fräulein, meine Eltern stürben in meiner
noch zarten Jugend, ihr Absterben setzte meinen bereits erwachsenen filtern Bruder
in schmertzlich Leidwesen, er lebte dem letzten Willen unserer Eltern treulich
nach, indem er mich brüderlich liebte. Wir besassen die ererbten schönen Giither
in aller Eintracht mit einander, des einen Meynung war des andern Wille, dahero
entschlossen wir uns, niemahlen zu heyrathen, sondern bis an unser Lebens-Ende
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Kleine Mitteilungen.
455
beysamraen zu wohnen. Die löbliche Tugend der Gast-Freyheit, welche wir gegen
Nachbarn sowohl als Fremde ausübten, muste Gelegenheit zu unserm erfolgten
Unglück geben. Denn einstens kam an einem Abend eine ansehnliche Mannes-
Person in unser Schloß eingeritten und bath um eine Nacht-Herberge, man nahm
ihn, wie gewöhnlich, mit aller Höfflichkeit auf, und er wurde noch denselben
Abend an unsere Taffel gezogen, er unterhielt uns mit denen aller-angenehmsten
Gesprächen, so daß es eine Lust war, ihn reden zu hören, indes beobachtete ich,
daß er mich beständig anschauete und mit durchdringenden Blicken betrachtete,
mein Bruder aber hatte ihn bereits so lieb gewonnen, dass er ihn inständig er-
suchte, ein paar Tage auf unserm Schlosse zu verziehen, worin er endlich nach
einem verstellten Weigern willigte. Und also wurde vor diesmahl die Tafel ge-
endet, dem Frembden wurde ein gutes Bette angewiesen, und ich verfügte mich
bald darauf in mein Schlaff-Zimmer, ließ mich von meiner Leib - Dienerin ent-
kleiden, und legte, weil es spät in die Nacht war, meine der Ruhe begierige
Glieder in die weiche Federn. Kaum war ich ein w^enig eingeschlummert, so
wurde von einer gantz unvergleichlich schönen Music wieder aufgemuntert. Ich
konnte nicht begreiffen, wo selbige herkähme, und wolte meine im Neben-Zimmer
schlaffende Cammer-Mädgen aufruffen, befand aber mit grossem Erstaunen, daß
eine mir unbekannte Gewalt mir die Sprache hemmete, so daß ich nicht vermögend,
den geringsten Laut von mir zu geben. Indem tratt der verdammte Zauberer vor
mein Bette, obgleich zwey fest verschloßne Thüren jedermann den Zugang bis
dahin verwehreten. Er brachte viel ungereimte verliebte Reden vor, und unter-
stund sich Sachen von mir zu begehren, welche zu erwehnen mir die Jungfräu-
liche Zucht verbietet. Da er nun sähe, daß ich ihn nicht einmahl einer Antwort
würdigte, sagte er voller Verdruß: Ob ich mich zwar gleich itzo meiner habenden
Gewalt bedienen könnte, ihren Hochmuth zu bezwingen, so will jedoch mich der
Rache auf eine gelegenere Zeit bedienen, welche ihr schwer genug fallen soll.
Mein Zorn und Grimm über diesen Un-Menschen nahm mich so ein, daß ich in
eine schwere Ohnmacht gerieth, und also dieses Ungeheures Abschied nicht gewahr
ward. Da nun endlich meine Lebens-Geister sich wieder erholet, sähe ich, daß
es bereits Tag war, ich warff mein Nacht-Kleid über mich, willens meinem Bruder
so fort zu hinterbringen, was mir von dem Frembden begegnet. Ich fand meinen
Bruder nicht in seinem Zimmer, und als ich die Bedienten nach ihm fragte, be-
richteten sie mir, wie er mit unserm Gast mit anbrechendem Tage hinaus schiessen
gegangen, mir schwahnte gleich ein Unglück, dahero kleidete mich vollends an,
ließ meinen Leibzelter satteln und ritte in Begleitung eines Pagen in vollem Jagen
dem Walde zu, um meinen Bruder daselbst anzutreffen. Mein Page stürzte mit
dem Pferde, welches einen Schenkel brach, dahero konnte er mir nicht mehr
folgen, dessen ungeachtet ritte ich fort, wenig Minuten darauf sähe ich den
Teufels-Banner von weitem auf mich zukommen, er führete einen schönen Hirsch
an der Hand bey einer Leine, ich schrye ihm gleich zu, wo er meinen Bruder
gelassen, und wo er zu diesem Hirsch kommen, an welchem ich gewahr ward,
daß Thränen aus seinen Augen flössen. An statt mir zu antworten, fing jener an
laut zu lachen; ich erzürnete hierüber hefftig, ergriff eine Pistohl, und druckte es
auf den Zauberer ab, doch die Kugel prallete von seiner Brust zurück, und fuhr
so tief in meines Pferdes Kopff, daß Knall und Fall bei selbigem eins war, dahero
stieg ich halb verzweifelt ab. Der Zauberer murmelte einige Worte, welche die
Krafft hatten, mich meiner Sinne auf einige Zeit zu berauben.
Wie es weiter zugegangen, kann ich selbst nicht sagen, ausser da ich die edle
Würckung meiner Sinnen und Vernunfft wieder empfand, befand ich mich gantz
456
Ullrich:
nackend in dieser unterirdischen Grafit, und zwar in diesem Glase verschlossen.
Der Zauberer stellte sich meinen Augen dar, berichtete mir, daß er meinen Bruder
in einen Hirsch verwandelt, mein Schloß mit allem zubehörigen in diese kleine
Forme, in jenem gläsernen Behältnisse, und alle meine Haußgenossen in Bauch
verwandelt in diesen vielen kleinen Gläsern in seiner Gewahrsam hielte, würde
ich nun seinen Willen erfüllen, wolte er alles bald wieder in vorigen Stand setzen,
dann setzte er hinzu, ich darff nur jedes Gefässe öffnen, so geschiehet das übrige
von sich selbst. Ich sänne zwar so Tag als Nachts auf ein Mittel, mich aus diesem
Kercker zu erlösen, aber es war alles umsonst; einstens träumte mich mit vielerley
artigen Umständen, ich würde von einem jungen Schneider Hülffe empfangen, und
nun sehe ich die Erfüllung meines nächtlichen Gesichts, bin daher gesonnen, alles
genau zu beobachten, was mir damahls Vorkommen. Vor itzo helfet mir, mein
Freund, dieses Gefässe, worinnen mein Schloß ist, auf jenen rothen Stein heben,
redete das bisher verwünscht gewesene Fräulein fort, damit dazu der Anfang ge-
macht werde.
Als dieses der Schneider bewerkstelligen helffen, erhübe sich der Stein mit
beyden darauf fest stehenden Personen, zu samt der andern Last sehr schnell,
sehr schnell in die Höhe, und hörete nicht auf zu steigen, bis sie sich wieder auf
wohnbarem Erdreich befanden. Das Fräulein öffnete das Glas-Gefäß, alsbald fing
das darinnen befindliche Schlößgen mit höchster Verwunderung des Schneiders an
zu wachsen und vergrössert zu werden, bis es nach und nach zu völliger und
erster Gestalt gelangete. Hierauf machten sich beyderseits wieder hinunter in die
unterirdische Hole, setzten alle sich darinnen befindliche Gläser auf obbemeldeten
rothen Stein, welcher bis in den Schloß-Hoff sich damit erhub. Das Fräulein er-
öffnete auch diese Gläser, und der in einem jeden befindl. Bauch verwandelte sich
sofort in einen lebendigen Menschen, welche die Fräulein alle samt vor die
Ihrigen erkante. Nachdem sie sich nun mit einander über diese glückliche Ver-
wandlung zur Gnüge erfreuet, so hielte auch das Fräulein dem vorher armen
Schneider ihr Versprechen, indem sie ihm bald darauf die eheliche Hand reichte.“
Und hiermit endigte Polidors alte Muhme ihre läppische Erzehlung, welche
als ein Model vieler andern hier einfliessen zu lassen, mich nicht wohl habe ent-
ziehen können.
(Das verwöhnte Mutter-Söhngen oder Polidors gantz besonderer und überaus
lustiger Lebens-Lauff auf Schulen und Universitäten nebst vielerley andern curieusen
Avanturen zum beliebigen Zeit-Vertreib und Gemiiths-Ergötzung mitgetheilet von
Sylvano.
Freyberg 1728. S. 22 — 32.)
Chemnitz. Dr. Herrn. Ullrich.
Das Märchen von der Königstochter, die nicht lachen konnte.
Mitgeteilt von Heinrich Carstens.
Von der Königstochter, die nicht lachen konnte, habe ich in Ditmarschen vier
Fassungen aufgezeichnet, die ich hier zur Mitteilung bringe.
I.
Einst lebte ein König, der hatte eine Tochter, die nicht lachen konnte. Da
liess der König in seinem ganzen Beiche bekannt machen, wer seine Tochter zum
Lachen brächte, der solle sie zur Frau haben.
Kleine Mitteilungen.
457
Nun war in demselben Lande auch ein Schäfer, der hatte Schafe mit goldener
Wolle. Kamen zu ihm einst zwei Mädchen, die fragten ihn, ob sie nicht eine
Handvoll Wolle von seinen Schafen nehmen dürften.
Sprach der Schäfer: „Ja, nehmt nur eine Handvoll.“ Kaum aber hatten sie
nur eben die Schafe berührt, so sprach der Schäfer: „Himpamp, hol fass!“ Und
sofort sassen die Mädchen an den Schafen fest und konnten nicht wieder los-
kommen, so sehr sie sich auch abmühten. Nun zog der Schäfer mit seinen Schafen
fort. Kommt er da zu einem Wirt, und als dieser die Mädchen losreissen will,
ruft der Schäfer: „Himpamp, hol fass!“ Und auch der Wirt sass fest und konnte
nicht loskommen. Der Wirt ruft nun seinen Knecht und dieser kommt mit der
Düngergabel und will seinen Wirt befreien. Der Schäfer aber ruft abermals:
„Himpamp, hol fass!“ Und auch der Knecht sass fest und konnte nicht loskommen.
Der Schäfer zog mit dem „Himpamp“ weiter. Kommt da von ungefähr ein Pastor
in seinem Summar und als der den wunderlichen Aufzug sieht, spricht er:
„Was hat denn das zu bedeuten?“ Sprechen alle:* „Wir können nicht los-
kommen.“ Da will der Pastor den „Himpamp“ auseinanderreissen.
Kaum aber hat derselbe auch nur einen berührt, so spricht der Schäfer:
„Himpamp, hol fass!“ Und auch der Pastor sass fest und konnte nicht wieder
loskommen. Der Pastor ruft seinen Küster, und als der nun kommt und seinen
Pastor befreien will, ruft der Schäfer nochmals: „Himpamp, hol fass!“ Und auch
der Küster sitzt fest.
So kommt der Schäfer denn endlich nach dem Königsschlosse hin, und als
die Königstochter den wunderlichen Aufzug sieht, lacht sie laut auf.
Aus Dahrenwurth bei Lunden.
II.
Ein König hatte eine Tochter, die nicht lachen konnte. Da liess der König
überall in seinem Reiche und darüber hinaus bekannt machen, wer seine Tochter
zum Lachen brächte, der solle sie zur Frau haben. Da meldeten sich viele Prinzen,
aber keinem wollte es gelingen, die Prinzessin zum Lachen zu bringen. Da liess
der König zum andern Mal bekannt machen, wer seine Tochter zum Lachen brächte,
der solle sie zur Frau haben; er sei, wer er sei.
Um diese Zeit lebte ein Schäferjunge, der wollte auch hin zur Königstochter.
Sein Vater aber sprach: „Was willst du da? Du bringst sie ja doch nicht zum
Lachen!“ „Doch,“ sprach der Junge, „man kann nicht wissen,“ und so reiste er
denn fort. Unterwegs nun verirrte er sich in einem Walde. Da gewahrte er ein
kleines Licht. Darauf geht er zu und kommt nach einer kleinen Hütte. Darin
wohnte eine alte Frau, die wohl eine Hexe war. Diese fragte ihn: „Wohin willst
du?“ „Ich,“ sprach der Schäferjunge, „ich will hin und die Königstochter zum
Lachen bringen “ „Dabei will ich dir behilflich sein,“ sprach die Alte. „Hier hast
du eine Gans, die nimm mit in die Stadt. Kommt da jemand an die Gans, so
sprichst du nur: „Kleb’ an!“ und sofort sitzt der dann fest an der Gans.“ Der
Schäferjunge geht nun mit der Gans fort. Als er nun in die Stadt kommt, kommt
da auch schon bald einer und spricht: „Hast du eine fette Gans?“ und befühlte
sie. Sprach der Schäferjunge: „Kleb5 an!“ und der Mann sass an der Gans fest,
und so sehr er sich auch abmüht, los kann er nicht kommen und muss mit fort.
Der Junge geht weiter. Da kommt er an einem Haus vorbei. Da steht ein
Mädchen gerade in der Thür, die ruft: „Ach, Herr Jesus, das ist ja mein Bräuti-
gam,“ läuft hin und will ihren Freier losreissen. Da ruft der Schäferjunge aber-
mals: „Kleb: an!“ und auch die sitzt fest. Und so kommen noch viele, aber so
458
Carstens:
bald sie die Gans berühren und der Junge ruft: „Kleb’ an!“ so sitzen alle fest.
So kommt der wunderliche Zug denn auch bald nach dem königlichen Schlosse
und als die Prinzessin dies sieht, fängt sie laut an zu lachen.
Der Schäferjunge hatte sie also wirklich zum Lachen gebracht und bekam die
Prinzessin auch wirklich zur Frau.
(Von meinem 87jährigen Pflegevater, einem geborenen Heider. Nach einer
anderen Fassung hat derjenige, der die Königstochter zum Lachen bringt, einen
Schlitten, woran alle festkleben; und ein Knecht, der gerade mit der Mistschaufel
draussen steht, schlägt mit der Schaufel dazwischen, aber auf das Wort: „Kleb:
an!“ sitzt auch er samt seiner Schaufel fest.)
III.
Es war einmal ein Schlächter, der handelte mit Fleisch. Da lief ihm ein
grosser Hund nach und bellte gewaltig nach dem Fleisch. Da fragte der Schlächter:
„Willst du auch Fleisch kaufen?“ „Wauwau!“ sagte der Hund. „Das kostet aber
so und soviel,“ sprach der Schlächter. „Wau, wau!“ bellte der Hund. Da gab
er dem Hunde das Stück Fleisch. Nachher aber wollte der Hund nicht bezahlen.
Da ging der Schlächter mit dem Hund hin zum König und verklagte den Hund.
Sprach der König: „Der Hund hat ja kein Geld, der kann nicht bezahlen “ „Ja,“
sagte der Schlächter, und griff dem Hund nach dem Beutel, „er hat einen ganzen
Beutel voll.“ Da lachte die Königstochter, die bisher nicht hatte lachen können,
laut auf.
Von demselben.
IV.
Einst lebten drei Brüder. Der jüngste von ihnen hiess Dumm-Hans und
dieser stotterte auch gewaltig. Einst wollten die beiden ältesten Brüder hin und
wollten die Königstochter, die nicht lachen konnte, zum Lachen bringen. Da
stotterte Hans: „Da—da—dann wi—wi—will ich auch mit.“ „Ach,“ sagten die
andern beiden, „was willst du dummer Kerl, bleib du nur hier.“ Die beiden
ältesten zogen sich nun hübsch an, setzten sich zu Pferde und ritten fort. Hans
aber stolperte auf seinen Holzpantoffeln hinterher. Als er eine Strecke gegangen
war, fand er eine alte Pfannkuchenpfanne mit einem Loch darin. Nun fing er an,
auf seine Brüder zu rufen, dass er etwas gefunden habe. Als die Brüder nun
zurückkamen und die alte Pfanne sahen, wurden sie böse und prügelten Hans
tüchtig durch. Darauf ritten sie wieder fort und Hans ging hinterher. Als er
wieder eine Strecke gegangen war, fand er einen alten Nagel und fing abermals
aus Leibeskräften auf seine Brüder an zu rufen, dass er etwas Merkwürdiges ge-
funden habe. Sprachen die beiden: „Was der dumme Bengel denn nur schon
wieder hat? Wir müssen ja hin und einmal nachsehen.“ Als sie hinkamen und
Hans weiter nichts hatte, als einen alten verrosteten Nagel, prügelten sie ihn aber-
mals gehörig durch und ritten fort. Hans „tüffelte“ wieder hinterher. Da fand er
einen Schiss, der schon ganz vertrocknet war. Wieder rief er aus Leibeskräften
auf seine Brüder und nochmals kehrten diese um. Als sie aber sahen, was er
gefunden, wurden sie erst recht zornig und prügelten ihn noch mehr durch, als
die beiden ersten Male und ritten davon. Endlich kamen die beiden nach der
Prinzessin, und so sehr sie sich auch abmühten, so gelang es ihnen doch nicht,
dieselbe zum Lachen zu bringen, und mussten unverrichteter Sache wieder ab-
ziehen. Nun kam auch Hans hereingestolpert. „Gu—gu—guden Dag, Kon—
Kon—Konfessin,“ sagte er, „wat sühs du rot ut.“ „Ja,“ sagte sie, „ich habe auch
Kleine Mitteilungen.
459
Feuer im Mars.“ „Na,“ meinte Hans, „de—de—denn kö—kö—könnt \vi ok Pann-
koken brat’n,“ und zeigte seine Pfanne. „Ach was,“ meinte die Prinzessin, „darin
ist ja ein Loch.“ „0, o—o,“ meinte Hans, „da—da—dat ma—ma—mak wi mit’n
Nagel to,“ und kriechte seinen Nagel aus der Tasche. „En Schät ok!“ rief die
Prinzessin. „De — de — den heil ik ok,“ sagte Hans, und schüttete seinen ver-
trockneten Schiss in die Pfanne. Da fing die Prinzessin an zu lachen.
Mündlich aus Schwienhusen.
(Zu dem Märchenstoff: eine Prinzessin will den heiraten, der sie im Reden
überbietet oder der sie zum Lachen bringt, hat Reinh. Köhler gehandelt in Pfeiffers
Germania XIV, 269 f. und in der Zeitschrift für roman. Philologie II, 617. Eine
lothringische Version bei Cosquin, Contes populaires de Lorraine II, 132.
K. W.)
Zu Glücksliafen und Wettlauf1).
In einer deutschen Rhetorica meiner Bibliothek, aus dem XVI. Jahrhundert,
ohne Titelblatt, von einem gewissen Küngspach1 2), ist neben vielen anderen
Curiosis und interessanten Formularien und Beispielen, enthalten von einem Mark-
grafen ausgestellt, ein Ausschreiben eines gemeinen gesellen schiessens
(Seite 184—189, einseitig paginierte Blätter). Nach den minutiösen Bestimmungen
für das Scheibenschiessen folgt die Anordnung eines Glückshafens, eines Pferde-
laufens und anderen kurzweiligen Wettbewerbes. Diesen Abschnitt will ich hier
wörtlich mitteilen: „Wir haben auch zu disem schiessen verordnet vnd für-
genommen ein hafen mit nachuolgenden gewinnen. Also dz der erst zedel der
ausz dem hafen kumpt, oder genommen würdt, einen guldin haben, vnd nach-
uolgend das bösst zweintzig guldin, der sibenzehn galdin, der dritt, fünffzehn
guldin, der vierd, zwölff guldin, der fünfft, zehen guldin, der sechst, siben guldin,
der sibend, fünf guldin, der achtend, vier guldin, der neünd, drei guldin, der
zehend, zwen guldin, der eilfft, zwen guldin, der zwölfft, ein guldin, vnnd der letst
zedel auch ein guldin Rheinischer. Vnd wer in disem Hafen die meisten creützer
legt, vnnd zedel haben würdt, der soll einen Fanen vmb zwen guldin gewonnen
haben, vnd wölcher in solchen Hafen zulegen lusst hat, der mag allweg auff einen
zedel ein Creützer legen, dargegen soll desselben namen vnd warauff er eingelegt
hat, mit fleisz verzeichent werden. Wir wollen auch einem jeden, so der Hafen
ausz ist, als vngeuerlich vmb N. zeit schier ist kommend beschehen sol, sein ge-
winnen zuhanden verordnen vnd heim schicken. Weiter haben wir auch in
sollichem schiessen mit lauffenden Rossen vnguerlich ein renn meil wegs weit
fürgenommen ein gerenn zuhalten. Nämlich auff N. tag der do ist der N. tag des
monats N. schier ist, so die glock achte schlecht mit den lauffenden Pferden auff
dem gewonlichen anlasz des rennwegs allhie zu N. zuerscheinen, vnd sich am
N. tag nechst daruor, vnserm verordneten Rennmeister, vmb die zwölffte vr in
mittemtag anzuzeigen vnd bescheid (wie rennens oder pferdlauffens gebrauch ist)
1) E. Friedei, Vom Glückstopf und Glückshafen. Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde
I. 446—449. — K. Weinhold, Der Wettlauf im deutschen Volksleben; ebenda III. 1—23.
2) Es ist mir auch mit Hilfe des Bibliothekars an hiesiger Kgl. Bibliothek, Herrn
Dr. H. Meisner, nicht gelungen, diesen Küngspach und sein Buch aufzuspüren. K. W.
460
Herrmann:
zuempfahen. Allda sollen alle grosse vnnd kleine Rosz geschnitten vnnd vn-
geschnitten zugelassen werden, vnder den knaben zulavffen. Aber die Pferds-
müttern (sie wern geschnitten oder nit) sollen hiemit zulauffen auszgeschlossen
sein, vnd wölcher sich also angesagt hat, alszdann auff sein pferd so er lauiTen
lassen will, dem Rennmeister als bald dasselbig verzeichent vnd besigelt würdt,
einen guldin Reinisch in gold oder sechtzehen batzen dafür zustellen, vnd wölches
Pferd als dann vnder denselben zugelassen besigelten Rossen, vor allen andern
den selben bluffenden Pferden über die gelegten ströwin zuuorderst vnd am ersten
kompt, das hat ein rot tuch zweintzig fünif guldin Rheinischer werd gewonnen.
Das ander vnnd nächstlauffend Rosz darnach einen feürstahl oder schieszzeüg.
Das (Tritt darnach gewinnt ein Reitschwerdt. Vnd das letst Rosz nach allen andern
lauffenden Rossen, soll gewonnen haben ein Sauw, wie roszlauffens gebrauch vnd
recht ist. Darzu wollen wir auch insolchem schiessen vorgemelts Zinstags, ein
manns und darnach ein frawen lauffen haben, doch jedes nach dem andern, vnnd
wölches das ander zum ersten über das fürgenommen zil mit lauffen fürkompt,
dem soll zu einem gewinnen ein stuck Vlraer barc.hats gegeben^werden. Darneben
wir auch vmb kurtzweil willen, dem zulauffenden gemeinen volck einen tantz
halten, der zwölff reien nach ein ander weren, vnd wölcher knecht am höchsten
vnd basten springen mag, der soll ein Haan mit vergälltem schnabel vnd klawen
ertantzt haben. — Rem wölcher mit dem mund zum bösstem wispeln oder pfeiffen
kan, dem soll vier ein roter Vlmer barchats zu einem Vammas volgen. — Rem
wölcher das gröszt vnnd weitest maul hat, wölches mit einem zirlcel (der jme im
mund auszgespannt) vnnd wider herausz gezogen Avorden, der soll einen creütz
käsz gewonnen haben. — Rem wölcher ausz eigner stärcke einiche frembde hilff
ausz einem Wiszbom N. ein hoch steigen mag, der soll ein par lindischer hosen
vnser hoffarb gewonnen haben.“
Budapest. A. Herrmann.
Über das Wendische Sprachgebiet.
Aus einem Briefe des Herrn Diakonus Müller, d. d. Spremberg', den 21. Sept. 1871,
an Herrn Dr. Richard Andree.
Die Avendische Sprache zerfällt bekanntlich in zw^ei Hauptdialekte, den Ober-
lausitzischen. und den Niederlausitzischen, aber zwischen beiden liegt ein Mittel-
oder Zwischendialekt in zwei Schattierungen. Der ganze Spremberger Kreis und
das Senftenberger Amt im Kalauer Kreise bildet einen Zwischendialekt der Niederl.
Sprache, und nähert sich dem Oberl. Dialekte nur in der Aussprache mancher End-
silben und einzelner Buchstaben (z. B. das gelinde 1, geschrieben 1, wird hier w
wie in der Oberlausitz ausgesprochen, und das Niederl. psch in verschiedenen
Wörtern als r). Im Hoyerswerdaer Kreise, namentlich diesseits der Stadt Hoyers-
werda, und in den Muskauschen Dörfern (Rothenburger Kreis), welche an den
Spremberger Kreis grenzen, herrscht hingegen der Oberl. Zwischendialekt, Avelcher
sich wdeder in der Aussprache einiger Wörter und Endsilben dem Niederlausitzischen
nähert. Man könnte an der Grenze zwischen der Ober- und Niederlausitz füglich
sagen: es wirft jeder Dialekt einen schwachen Wiederschein von sich über die
Grenze hinaus. Im Spremberger Kreisgerichte kommen daher alle 4 Dialekte vor,
die beiden reinen und die beiden Zwischendialekte, und es hatte für mich als
Kleine Mitteilungen.
461
Dolmetscher des Kreisgerichts anfangs einige Schwierigkeiten, um mich in alle
diese Dialekte einzustudieren.
Zur Beurteilung der Frage, ob eine Gegend ausschliesslich wendisch zu nennen
sei, ist es nicht massgebend, dass in einer solchen Parochie auch noch wendisch
gepredigt wird, sondern ich erachte die häusliche und geschäftliche Umgangs-
sprache hierin als entscheidend. Denn wir haben in unserer wendischen Gegend
Parochieen, wo aus Mangel an wendischen Predigern ein deutscher genommen
werden musste, z. B. in Jessen (seit 15 Jahren) und in Gross-Bukow (seit 2 Jahren)
im Spremberger Kreise, und im Senftenberger Amtsbezirk in Sorno (auch wendisch
Sorno genannt, meine Geburts-Parochie) fungirt seit 40 Jahren ein deutscher
Prediger. Und doch ist in diesen Dörfern das Wendische fast durchgängig die
Umgangssprache. Es lässt sich aber nicht läugnen, dass in den Dörfern, wo keine
wendische Predigt mehr gehört wird, das Deutsche viel schneller zunimmt, namentlich
bei der Jugend, wie denn überhaupt in den Schulen des Spremberger und Kalauer
Kreises etwa seit einem Vierteljahrhundert nur die deutsche Sprache gebraucht
wird, ausgenommen in einigen ganz wendischen Dörfern, wo bei den kleinen
Kindern das Wendische noch als Verständigungsmittel angewendet werden muss.
Anderenteils steht es aber auch fest, dass in Parochieen, wo sonntäglich noch
wendisch gepredigt wird, ein Abnehmen des Wendischen kaum zu verspüren ist,
denn die Wenden nehmen ihre Liebe zu ihrer Muttersprache und überhaupt ihre
sprachliche Nahrung meist nur aus der Predigt und ihren wendischen Andachts-
büchern.
Im Ganzen lässt sich bemerken, dass im Spremberger und Kalauer Kreise alle
Wenden die deutsche Sprache ziemlich vollkommen verstehen, und nur selten
brauchen alte Leute einen Dolmetscher im Gerichte, wogegen die Leute aus den
Oberlausitzischen Dörfern jenseits der Spremberger Kreisgrenze oft kein Wort
deutsch verstehen. In den Dörfern bei Spremberg habe ich oft von ganz wendischen
Leuten gehört, dass sie eine grosse Freude darüber hatten, dass ihre Kinder so
gut deutsch sprechen könnten, weil die Leute die Überzeugung haben, dass ihnen
zu ihrem geschäftlichen Leben und Fortkommen die richtige Kenntnis der deutschen
Sprache unumgänglich notwendig ist. Es ist aber doch zu beklagen, dass die
Sprache eines sonst so dominierenden Volksstammes sich nach und nach, und
wenn es auch noch Jahrhunderte dauert, in den Sand verläuft. Meine Erfahrungen,
auf welche ich die vorstehenden Notizen stütze, reichen wenigstens 60 Jahre
zurück.
Was nun die Grenzorte der wendischen Sprache anbelangt, so kann ich sie
in betreff des Kalauer Kreises nur im Senftenberger Amtsbezirk angeben, da ich
von der nördlichen Gegend, bei Alt-Döbern, Kalau, Vetschau und Lübbenau, keine
so genaue Ortskenntnis mir zutraue, und auch voraussetze, dass Herr Prediger
Burscher in Cottbus darüber berichtet haben wird. Im Senftenberger Amte ist
das Wendische im allgemeinen wohl noch die Umgangssprache, jedoch an der
westlichen Grenze, namentlich von dem Dorfe Sallhausen bis Ruhland, verschwimmt
das Wendische ganz in dem Deutschen, so dass die älteren Leute, namentlich
auch die aus andern wendischen Dörfern dorthin Verheirateten und Dienstboten,
wohl noch einige Kenntnis der wendischen Sprache haben, aber nur selten davon
Gebrauch machen, die Jugend hingegen das Wendische zu lernen gar keine Ge-
legenheit mehr findet und sich nur ausschliesslich der deutschen Sprache bedient.
Die westliche Grenze des Wendischen geht also von Sallhausen (Barzig, Worm-
lage, Dollenchen sind ganz deutsch) über Drocho, Klettwitz, Zschiepkau,
Tzschornegosda und Naundorf bei Ruhland, in welchen Dörfern es wohl einige
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1893. 31
462
Boite:
Kenntnis der wendischen Sprache giebt, aber ans der Umgangssprache ist sie ganz
verschwunden. Naundorf, Tzschornegosda, Friedrichsthal und Kostebrau sind wohl
ganz deutseh zu nennen. In Meuro und Zschiepkau wird von älteren Leuten
mitunter noch wendisch gesprochen. In den übrigen Dörfern des Senftenberger
Amts ist das Wendische im allgemeinen noch die Umgangssprache, nur das jüngere
Geschlecht bedient sich ortsweise sehr oft der deutschen Sprache.
Jenseits der westlichen und teilweise südlichen Grenze bis zum Dorfe Peick-
witz und Niemitsch, wo das Wendische wieder anfängt, ist alles deutsch. In
Senftenberg in der wendischen Kirche, in welche die umliegenden Dörfer ein-
gepfarrt sind, wird sonntäglich wendisch gepredigt, in Lauta und Gross-Häschen
nurzuweilen, und in Klettwitz mit dem Filial Sallhausen seit 50 Jahren nicht
mehr, und in Sorno giebt es keinen wendischen Prediger.
Im Spremberger Kreise ist das Wendische noch die allgemeine Umgangs-
sprache, wiewohl die Jugend, namentlich in den nächsten Dörfern bei Spremberg,
sich auch häufig der deutschen Sprache bedient, besonders die in hiesigen Fabriken
beschäftigten AVenden. Dubrauke ist die deutscheste Parocbie, wo seit 40 Jahren
nicht mehr wendisch gepredigt wird, es hat auch jetzt einen deutschen Prediger.
In den übrigen Parochieen (ausser Jessen und Gross-Bukow aus Mangel an
wendischen Predigern) wird sonntäglich wendisch gepredigt: in der Spremberger
Landkirche, in Graustein, Hornow, Gross-Luja und Stradow. Ausserhalb
der Spremberger Freigrenze, was zu dem Cottbuser, Hoyerswerdaer und Rothen-
burger (Muskau) Kreise gehört, ist alles noch viel wendischer als im hiesigen
Kreise, nur in den Grenzdörfern des Sorauer Kreises (Forste) verschwimmt das
AVendische allmählich und endet bald in ganz deutschen Dörfern.
Dass die Gegend von der westlichen Grenze des Kalauer Kreises bis an die
Elbe wohl noch teilweise im vorigen Jahrhundert wendisch gewesen sein muss,
scheint daraus hervorzugehen, dass die dortigen Ortschaften immer noch be-
sondere wendische Namen haben, welche wohl in dortiger Gegend nicht mehr
bekannt sein mögen, aber von den hiesigen AVenden stets noch wendisch benannt
werden. So heisst z. B. Finsterwalde Grabin, Sonnenwalde Grozischczo, Kirchheim
Kostkow, Doberlug ist schon für sich eine wendische Bezeichnung, Golssen Solischyn,
Schlieben Sliwin, Liebenwerda Rykow, Elsterwerda AVikow u. s. w. In Bautzen
beim wendischen Buchhändler Smaler ist eine slavische Landkarte der Ober- und
Niederlausitz zu haben, betitelt: Luzyce od reformacji do 1861 R. Ulozyl AVilhelm
Boguslawski, welche zwar die Grenzen der wendischen Sprache in der Ober- und
Niederlausitz durch Farbendruck ziemlich richtig angiebt, aber in den Ortsnamen,
welche slavisch genannt werden, und in der Lage derselben viel Unrichtiges
enthält.
Nochmals das Märchen von den sieben Grafen.
(Bd. 2, 201. 244. 3, 61.)
Von der vielgelesenen lateinischen Novelle des Jesuiten Jakob Bidermann, die
auf der alten Ballade vom Grafen von Rom fusste, sind mir durch den schönen
Katalog der AViener musikalischen Ausstellung noch zwei weitere Bearbeitungen
in dramatischer Form bekannt geworden: 1) M. Martinus Lintner, J. U. S., List-
und Lust-Spiel Ehlicher Treu, Oder Von seiner Gemahlin Ansberta Auß Band und
Feßlen unverhofft erlöster Bertulfus. Saltzburg 1687. 4°. (Archiv Salzburg), und
Bücheranzeigen.
463
2) Paulus Al er S. J., Ansberta, sive Amor Conjugalis tragoedia. 2. ed. Coloniae
1711. 8° (Stadtbibliothek Köln). 1726 spielte die Kaufbeurer Agentengesellschaft1),
wie mir Karl Trautmann freundschaftlich mitteilt, ,Vom weiblichen Lautenisten,
oder Bertulfus und Ansberta, zweimal, und das nachspihl vom Weiberregiment1.
Recht wichtig wäre einmal eine Untersuchung der in Schwyz aufbewahrten
Handschrift des 1643 daselbst von Kaspar Abyberg gedichteten vieraktigen Schau-
spiels in Yersen ,Graf Paqueville’, das schon Baechtold (Geschichte der deutschen
Litteratur in der Schweiz 1892 S. 466. 471) mit dem späteren Walliser Drama
gleichen Titels und dem österreichischen Marionettenspiele in Verbindung ge-
bracht hat.
Zu dem Bd. 3, 65 abgedruckten Liede vom ,Markgrafen Backenweil’ hat mir
Herr Professor F. M. Böhme in Dresden freundlichst eine bei Kretzschmer und
Zuccalmaglio (Deutsche Volkslieder 1840 2, 13 Kr. 4) gedruckte Variante vom
,Grafen Wattenwill’ nachgewiesen. Der Text enthält 23 Strophen, also sechs
weniger als unsere Fassung, und soll ,in Lothringen erhalten1 sein. Die Melodie
ist die bekannte ,Ich stand auf hohen Bergen1 vom Jahre 1782 (Erk, Deutscher
Liederhort 1856 Nr. 18a).
Auf S. 64 bitte ich noch zwei störende Druckfehler zu verbessern. Zeile 22:
,Die Geschichte Pliiliberts von Paqueville finden wir auch in1 . . . Zeile 4 v. u.
lies: ,Minor in der Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte 1, 2801.
Zu dem noch heut im Volke lebenden Märchen von der treuen Frau ist auch
eine russische Fassung zu vergleichen: Goldschmidt, Russische Märchen 1883
S. 124 ,Der Gusslispieler1.
Berlin. J. Bolte.
Büdieraiizeigen.
Stern, L. Will., Die Analogie im volkstümlichen Denken. Eine psycho-
logische Untersuchung. Mit einer Vorbemerkung von M. Lazarus.
Berlin, Philos.-hist. Verlag Dr. R. Salinger. 1893. S. IV. 162. 8°.
Der Verf. der vorliegenden Untersuchung will einen Gegenstand der Logik,
die Analogie, psychologisch und methodologisch behandeln und nachweisen, dass
dieselbe der elementarste und häufigste Denkprozess und die Grundlage aller
höheren Schlussarten ist. Er führt den Beweis hauptsächlich durch die Resultate
der Beobachtung, welcher er das Denken des nicht wissenschaftlich gebildeten
Teils der Menschen, des sogenannten Volkes und der Kinder unterwirft. Er giebt
damit einen interessanten Einblick in die ersten Stadien der geistigen Entwicklung
des Menschen und einen Beitrag zur modernen Psychologie, der sich durch sorg-
same Beobachtung und besonnenes Urteil auszeichnet.
1) Vgl. über diese Trautmann, Archiv für Litteraturgeschichte 14, 225.
31*
464
Stolz :
Lukas, Franz, Die Grundbegriffe in der Kosmogonie der alten Völker.
Leipzig, Friedrich, 1893. S. VIII. 277. 8°.
Verf. behandelt die Ivosmogonien der Babylonier, der Genesis, der Ägypter,
Inder, Eranier, Phönizier, Griechen, Römer und Etrusker, Kelten, Germanen. Er
erklärt, dass seine Untersuchungen „überall bis auf die Grundtexte“ zurückgehen,
doch gilt das, abgesehen vom Lateinischen, Griechischen und vielleicht Hebräischen,
nur in dem Sinne, dass die Übersetzungen, deren sich der Verf. bediente, nach
den Urtexten gemacht sind. Er hat sich aber fleissig in der zu den Quellen
gehörigen Litteratur umgesehen und urteilt besonnen, nur in Bezug auf die Ägypter
wohl etwas zu vertrauensvoll in die Sicherheit des Erkennbaren. Beim Wesso-
brunner Gebet und den Angaben der Edden über die Weltschöpfung spricht er
sich gegen Verwertung biblischer Gedanken aus, gesteht vielmehr den eddischen
Kosmogonien durchaus nordischen Charakter zu. Er handelt überhaupt im
zusammenfassenden Schiassabschnitt sehr einsichtig über die Wahrscheinlichkeit
kosmogonischer Entlehnungen und legt über Ähnlichkeiten in Schöpfungsmythen
und Spekulationen Ansichten dar, die auch für das weitere Gebiet der Mythologie
gelten. Seine Erörterungen sind überall geschult und klar, nur mehrfach breiter,
als für ihre Deutlichkeit nötig gewesen wäre. Kleine Irrtümer mögen auch da
Vorkommen, wo ich sie nicht zu erkennen vermag, und der Druckfehler sind mehr,
als die Berichtigungen angeben.
Berlin. Max Roediger.
Chr. Schneller, Beiträge zur Ortsnamenkunde Tirols. I. Heft. Heraus-
gegeben vom Zweigverein der Leo-Gesellschaft für Tirol und Vorarl-
berg. Innsbruck, Verlag der Vereinsbuchhandlung, 1893. XI und 92 S.
Nachdem Sch. bereits in seinem Buche „Tirolische Namenforschungen“, die
sich mit den Namen des Lagerthaies in Wälchtirol beschäftigten (vergl. meine
Anzeige dieses Buches im ersten Jahrgange dieser Zeitschrift S. 222f.) auch viele
Ortsnamen aus dem übrigen Tirol in den Kreis seiner Untersuchung gezogen hatte,
giebt er in dieser neuesten Arbeit eine sehr dankenswerte Auslese von Ortsnamen-
erklärungen aus seinen reichen Sammlungen, die zum grösseren Teile nach sach-
lichen Gesichtspunkten geordnet ist. Am umfangreichsten ist die im vierten Ab-
schnitt gegebene Zusammenstellung jener Ortsnamen, deren Herkunft auf Ver-
schiedenheit des Besitzes und der Siedelung, der Wohnungen und Bauten sich
gründet. In diesem meines Erachtens die sichersten Ergebnisse enthaltenden
Kapitel sind ungefähr 340 Namen auf 38 lateinische oder mittellateinische Etyma
zurückgeführt, die mit Ausnahme von zweien (*cumpanea it. compagnia und *morantia
‘stanza abitazione’ frz. ae-meurence ‘Wohnort’) als wirklich gebrauchte Wörter über-
liefert sind. Auch die beiden, unmittelbar sich auschliessenden Abschnitte, von
denen der erstere auf Bezeichnungen von Ställen und Gehege zurückgehende Orts-
namen erklärt (es sind im Ganzen sieben aus dem Mittellatein bezeugte Etyma),
der letztere eine kleine Anzahl interessanter Namen zu deuten versucht, welche
nach Amt und Würde des einstmaligen Besitzers geschöpft zu sein scheinen,
liefern der Hauptsache nach einleuchtende Ergebnisse. Aber entschieden zu weit
gehend scheint mir der dritte Abschnitt, in welchem Ortsnamen auf -ac und -:xg
untersucht werden. Nach des Verfassers Ansicht sollen sie zum Ausdrucke alter
Rechts-, Zins- und Lehensverhältnisse gedient haben. Diese Deutung trifft bei
einem Teile der in Rede stehenden Ortsnamen allerdings zu, aber für den andern,
-§:W
Bücheranz eigen.
465
nicht kleineren, für den auch die Etyma nur erschlossen nicht belegt sind, vergl.
z. B. Magnago zu *manduccilicum, wälschtir. magnar, essen, „von der Verpflichtung,
dem Herrn Mahlzeiten zu bereiten oder bestimmte Esswaren zu liefern“, Pinzagen,
entweder zu *pensaticum ‘Zins’ oder *pinsiaticum von pinsiare, it. pigiare ‘zer-
stampfen, quetschen, besonders von Trauben’, also soviel als Abgabe an „Praseh-
glet“, scheinen mir die Deutungen, so scharfsinnig sie erschlossen sind, doch gar
zu weit hergeholt. Ich kann wirklich nicht einsehen, warum Sch. gar so sehr
gegen Fl ec hi as’ Deutung solcher Ortsnamen aus keltisch-römischen Eigennamen
eingenommen ist, die auch P. Orsi angenommen hat. Ist wirklich die Deutung
von Sedriago aus einem nur nach Analogie von sexteriaticum (Getreidemass) er-
schlossenen *septeriaticum wahrscheinlicher als Orsi’s Ableitnng von einer gens
Setria (etrusk. scfln oder seflre)? 'Über Toblach, das eher slavischen Ursprungs zu
sein scheint, hat sich schon Dr. R. Müller in einer Besprechung unserer Schrift,
die auch einige andere beachtenswerte Bemerkungen beibringt, in dem Österr.
Litteraturblatt des Jahres 1893 (II. Jahrg.) S. 656 ff. geäussert. Zwei Abschnitte
(I. und II.) handeln von lat. MN und von dem Auslaut DR und NDR in Orts-
namen. Schn, nimmt auf Grund einiger Namendeutungen, die mir keineswegs allzu
sicher zu sein scheinen, Assimilation von MN zu -mm- an. Das verträgt sich aber
doch keineswegs mit der von ihm selbst citierten Beobachtung von Meyer-Lübke
Rom. Gramm. I 410, dass -mn- im Rätischen zu -nn- werde, z. B. engad. dunna.
Ein ohnehin problematisches lat. *6edamen müsste demnach, wenigstens nach der
für eine exakte Forschung allein anzuerkennenden Methode der Analogie, *sedamnes
*sedannes *Stans, nicht aber Siams ergeben. Bezeichnend ist auch, dass die einzige
wirklich überlieferte Form mit altem -mn-, nämlich Alagumna zu Algun-d geworden
ist. Doch ich will nicht weiter anf Einzelheiten der interessanten Schrift eingehen,
die in ihrem siebenten Abschnitt noch „Einzelnes“, darunter auch wiederum, wie
mich dünken will, recht kühne Deutungen, wie beispielsweise die von Latzfons
Schenna u. a. beibringt und im letzten Abschnitt „harte Nüsse“ zum Knacken
vorlegt.
Die von mir vorgebrachten Bemerkungen beanspruchen nur Geltung von dem
Standpunkte allgemeiner Sprachforschung, und wenn ich von diesem aus Bedenken
äussern zu müssen glaubte, so stehe ich andererseits nicht an, die ausserordent-
liche Sprachkenntnis und den eindringlichen, von der Leuchte der Phantasie ge-
leiteten Spürsinn des Verfassers aufs wärmste anzuerkennen.
Zum Schlüsse noch folgende Bemerkung. Schneller hat S. 13 f. dieser Schrift
den Namen des Dorfes Nauders, alt Nudre, Nudris u. s. w., wie ich glaube, mit
grosser Wahrscheinlichkeit an den von Claudius Ptolomaeus überlieferten Namen
lvcvTpiov angeknüpft, den er mit Recht für vorrömisch hält. Hier hat der Zufall
uns eine ältere, allerdings etwas civilisierte Form erhalten, die zur Erklärung des
seltsamen Namens „Nauders“ sehr willkommen ist. Warum nun, frage ich, soll
man andere Namen um jeden Preis auf das Prokrustesbett des Romanischen
spannen und nicht lieber zugeben, dass sie nicht romanischer Herkunft sind?
Innsbruck. Fr. Stolz.
Volksglaube und Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen. Von Dr.
Heinrich von Wlislocki. (Beiträge zur Volks- und Völkerkunde,
I. Band.) Berlin, Verlag von Emil Felber, 1893.
„Für den Volksforscher, sagt Verfasser im Vorwort, ist Siebenbürgen mit seinen
himmelanstrebenden Bergen und Zinnen, seinen weltverlassenen Hochlandsthälern
466
John:
ein fruchtbarer Boden, ein Eldorado der Volkskunde. Brod- und heimlos habe ich
im Dienste der Volkskunde dies wundervolle, bezaubernde Märchenland nahezu
15 Jahre lang, bis auf den heutigen Tag fast ununterbrochen, durchpilgert und im
Kreise der einzelnen Völkerschaften ein bedeutendes Material zusammengebracht,
das für religionsgeschichtliche Forschung und Völkerkunde der Beachtung wohl
wert ist.“ In der That ist dies schätzbare Buch sowohl auf guter Eigenforschung
als auf umsichtiger Benutzung verdienstvoller Vorarbeiter aufgebaut. Die Haupt-
sache bei der Ausarbeitung des Buches war dem Verfasser weniger kritische Er-
örterung als vielmehr möglichst reiche und umfassende Beschaffung von Stoff und
Material. Mit Riesenschritten, sagt er, scheint die Zeit zu nahen, wo deutscher
Brauch und deutsche Sitte in Klingsors Lande, in Siebenbürgen, verschwunden ist.
Fremde überfluten in hastigem Jagen nach Gold und Genuss das stille Eiland
mittelalterlicher Romantik, und wo einst der Weidruf deutscher Ritter und der
Allelujagesang frommer Pilger erklang, dort braust das Dampfross; im flutenden
Völkergetümmel taucht bald diese kleine Insel deutschen Volkslebens unter“ —
gewiss beherzigenswerte Worte auch für die Volksforscher anderer deutscher Lande,
welche urdeutsche Bräuche von der Sturmflut modernen Lebens gefährdet sehen.
Reichhaltig und erschöpfend ist denn auch der Inhalt des Buches, der uns in den
Volksglauben und die Volksbräuche der Siebenbürger Sachsen führt. Die ein-
zelnen Kapitel lauten: I. Dämonen, II. Festgebräuche, III. Segen und Heilmittel,
IV. Glück und Unglück, V. Tiere im Volksglauben, VI. Tod und Totenfetische;
mit einer Fülle interessanter Einzelheiten und einer seltenen Reichhaltigkeit der
Proben und Sammlungen. Der Freund des fernen deutschen Bruderstammes, der
Volkskundige, der Ethnologe wird seine Freude an diesem Buche haben.
Eger. Alois John.
More Englisk Fairy Tales collected ancl edited by Joseph Jacobs,
illustrated by John D. Batten. London, David Nutt 1894. S. XII.
243. 8°. Mit 8 Vollbildern und vielen kleineren im Text.
Mrs. Joseph Jacobs, der Herausgeber der Zeitschrift Folk-Lore, lässt als eine
Weihnachtsgabe auf 1893/94 für englische Kinder seinen Fairy Tales von 1889
eine weitere Märchensammlung folgen, Nr. 44—87, in jener geschmackvollen aller-
liebsten Ausstattung, welche das frühere Buch, sowie seine Celtic Fairy Tales
und die Indian Fairy Tales auszeichnete. Der grössere Teil der in dem vor-
liegenden Werke gedruckten Märchen ist bisher nicht bekannt gewesen. Mrs.
Jacobs hat die einzelnen Stücke von überallher genommen: aus den Vereinigten
Staaten Nord-Amerikas, aus dem schottischen Unterland (was er im besonderen
rechtfertigt), aus mündlicher Überlieferung, einige hat er aus alten Balladen her-
gestellt. Englischer Ursprung war seine Forderung, und englischer volkstümlicher
Erzählungsstyl, was er äusserlich erreichen wollte. Seine Verteidigung seines Vor-
gehens gegen die gestrengen kritischen folk-lore friends, die es Entheiligung des
reinen Textes der originalen Überlieferung schelten, ist in seiner Vorrede lesens-
wert. Sehr schätzbar sind die Anmerkungen (notes and references) zu den ein-
zelnen Märchen, welche den Schluss des Buches (S. 215—243) bilden. Mrs.
Jacobs giebt darin 1. die Quelle, 2. die Parallelen und 3. wo es nötig schien, er-
läuternde Bemerkungen. K. W.
Bücheranzeigen.
467
Harou, Alfred, Mélanges de Traditionisme de la Belgique (Collection
internationale de la Tradition. Vol. X). Paris, E. Lechevalier.
1893. S. 150. 12°.
Harou, Alfred, Le Folklore de Go dar ville (Hainaut). Anvers, J.Yancaneghem.
1893. S. 148. ld. 8°.
In dem wallonischen Belgien wendet man der Volkskunde jetzt sehr lebhafte
Thätigkeit zu. Zwei Zeitschriften bezeugen es: die von der Société du Folklore
Wallon durch Prof. Monseur in Lüttich herausgegebene, und die von M. 0. Colson,
ebenfalls in Lüttich, geleitete Wallonia. Unter den Sammlern ist Kapitän A. Harou
in Antwerpen besonders eifrig, von dem wir zwei neue Veröffentlichungen, die oben
bezeichneten, hier kurz anzeigen. — Die Mélangés bringen eine sehr reiche Menge
von Volksüberlieferungen, teils aus gedruckten, teils aus mündlichen Quellen und
berücksichtigen auch die flämischen Landschaften. Sie berühren alle Teile des
volkstümlichen Schatzes mit Ausschluss der Sagen und Lieder, welche einem
eigenen Werke Vorbehalten blieben. — In dem Folklore de Godarville legt Herr
A. II. die Ergebnisse einer Sammlung des Aberglaubens, der Meinungen, Gebräuche,
Spiele und poetischer Stücke aus einem abgelegenen, wallonischen Dorfe Godarville
im Hennegau vor, welches den vielversprechenden Namen des Hexenlandes (pays
des sorcières) bei den Nachbarn führt. Es kann nicht fehlen, dass viel interessantes
darunter ist.
So vermehrt sich das volkskundliche Material für Belgien, und das kommt
auch uns zu gute. K. W.
La poesie populaire par Mme la Comtesse E. Martinengo-Cesar esco.
Paris. E. Lechevalier. 1893. S. VIII. 81. kl. 8°.
Das elfte Bändchen der von Prof. H. Carnoy herausgegebenen Collection
international de la Tradition bringt unter dem Titel La poesie populaire zwei
Essays einer geistreichen und gelehrten Dame, der Contessa E. Martinengo-
Cesaresco, einer Engländerin von Geburt, Italienerin durch ihre Vermählung, und
Französin, wie der Herausgeber schreibt, „par le temperament, l’esprit, le style,
la connaisance de notre langueA Contessa M. C. hat bereits 1886 Essays in the
Study of Folk-Songs zu London herausgegeben, die in England Beifall fanden.
In dem vorliegenden Büchlein giebt sie zuerst eine etude historique über die
Volkspoesie, worin sie im ersten Abschnitt über die Balladen und ihre Beziehungen
zu den alten geschichtlichen Liedern, und im zweiten über die Lieder der Bauern
(namentlich bei den Erntefesten) und die Liebes- und Kinderliedchen plaudert. Der
zweite E-say ergeht sich über die Schicksalsidee in den Volksüberlieferungen des
europäischen Südens (Griechenland und Italien). Die feingebildete, belesene Frau,
die angenehm zu schreiben versteht, zeigt sich überall. K. W.
Deutsche Volkslieder. In Niederhessen ans dem Munde des Volkes
gesammelt, mit einfacher Clavierbegleitung, geschichtlichen und ver-
gleichenden Anmerkungen herausgegeben von Johann Lewalter.
4. Heft. Hamburg, Gustav Fritzsche. 1893. S. V7III. 72. kl. 8°.
Den drei ersten Heften, die von 1890—92 erschienen, ist nun ein viertes
gefolgt, das von neuem beweist, wie reich noch heute Hessen an Volksliedern ist.
468
Brückner:
Herr Lewalter hat bei seiner Sammlung das musikalische Element in dankens-
wertester Weise in den Vordergrund gestellt, was ihm, dem Musiker, zwar am
Herzen lag, wofür wir ihm aber dankbar sind. Blosse Texte der Volkslieder
geben nur die eine Seite derselben. Interessant ist, dass in den verschiedenen
deutschen Ländern dieselben Texte nicht selten auf ganz abweichende Melodien
gesungen werden. Belege dafür bietet das Vorwort dieses Heftes. In den An-
merkungen giebt Herr L. Nachweise über die Verbreitung der Texte. Das 4. Heft
bringt 47 Lieder. K. W.
Oesky Lid. Sbornik venovany studiu lidu ceskeho v Cechäch, na Morave,
ve Slezsku a na Slovensku. Redaktori Dr. L. Niederle, Dr. C. Zibrt.
Bd. II (Prag 1893), Heft 2—6 (S. 106—740 und V); Bd. III, Heft 1
(S. 1—96).
Mit dem neuen Jahrgang ist die Änderung getroffen worden, dass in jedem
Hefte der kulturhistorisch-ethnographische und der anthropologisch-archäologische
Teil streng gesondert, dem ersten je vier, dem zweiten je zwei Bogen eines Heftes
zugewiesen werden. Dieser Änderung stimmen wir ohne weiteres bei; erwähnen
ausserdem, dass die Redaktion besonderes Gewicht auf populäre Darstellungen
legen, streng fachgemässes auf Referate und dergl. beschränken will.
Unter den kulturhistorischen und ethnographischen Beiträgen — nur über diese
berichten wir hier — zeichnen sich die des Herausgebers, Dr. Z. Zibrt, durch
Weite des Gesichtspunktes, Heranziehen der gesammten einschlägigen Litteratur
und kritische Gründlichkeit aus; besonders gilt dies von seinem Studium „das
Todaustragen und dessen ältere und neuere Deutungen“ (S. 453—472 und
549 - 560). Nach Erschöpfung eines sehr reichen Materials lässt er uns allerdings
über sein eigenes Endurteil im Zweifel — die Annahme des heidnischen, originalen
Untergrundes dieses Brauches hat offenbar noch zu viel Bestechendes für ihn.
Dasselbe gilt von der zugleich reich illustrierten Abhandlung über den mährischen
und slovakischen „Königsritt“ zu Pfingsten, verwandt mit den deutschen Maigrafen-
festen (S. 105—129), sowde über das Herumgehen zu Weihnachten mit einem roh
nachgeahmten Pferd u. a. (klibna, vermummte Gestalt, Maske, S. 345—370).
In deutsche Volkskunde schlägt mit ein die Erwähnung des Rübezahl in einem
Buche des H. Zalansky über die bösen Engel oder Teufel (1618, Prag): im
böhmischen Riesengebirge erscheine öfters ein Mönch, Rubical, geselle sich
freundlich dem Wanderer, erbiete sich ihn zu geleiten und wenn er ihn nun in
Abgründe verführt, springe er auf einen Baum und lache und höhne, dass der
ganze Wald schalle. Einen hübschen Beitrag für die Rätsel litteratur gewährt der
Abdruck (in Auswahl) eines böhmischen Rätselbuches, s. 1. et a., aus dem
17. Jahrhunderte, ein getreuer, öfters unverstandener Abdruck noch älterer Texte
(vor 1567).
Von Beiträgen und Aufsätzen anderer seien erwähnt ein illustrierter Bericht
über Zeichnungen mährischer Ostereier von Prof. Klvana, sowde andere Beiträge
zur Volksornamentik, darunter auch über Vignetten und dergl. von Gebetbüchern,
zumal des 17. und 18. Jahrhundertes; dann über Weihnachtsspiele; über Kinder-
spiele in Mähren; über Volksgebete u. dergl. m. Mitteilungen von Volkstexten,
Erzählungen, Liedern, Hirtenrufen u. dergl; ethnographische Schilderungen, be-
sonders eingehend die des böhmischen Hauses, einzelner Gewerbe, Tänze, Bräuche;
Beiträge zur Geschichte der Trachten, des Hausgerätes u. s. w. wechseln in bunter
Protokolle.
469
Folge. Der Aufsatz von Br. Jelinek (Denkmäler slavischer Urzeit in Ortsnamen
mit besonderer Rücksicht auf Böhmen) bringt reiches Material, doch geht der Verf.
mit der Sprache allzu willkürlich um. Das von einer Menge über ganz Böhmen
verbreiteter Korrespondenten beigesteuerte Material betrifft Fasten- und Ostern-
bräuche. A. Brückner.
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Berlin, Freitag, 26. Mai 1893. Herr Prof. Dr. R. Lange sprach über das
Allerseelenfest in Japan, dessen Feier, bei der allgemeinen Umkehr zum Alten im
Lande, mit neuem Eifer begangen wird, obwohl es die Tendenz zeigt, zu einem
Kinderfeste herabzusinken; über die Sitten und Bräuche während der dreitägigen
Bon-Feier, das Illuminieren mit Laternen, das Festmahl, den Gräberbesuch, die
Tänze u. s. w.; auch legte der Vortragende die reich illustrierten Bände der
japanischen Zeitschrift für A^olkskunde zur Ansicht vor. — Herr Geh. Rath
Weinhold hob die übereinstimmende Ausstaltung und dergl. des walisischen
Neujahrsapfels und des schlesischen Weihnachtsapfels hervor; Prof. Brückner
wies auf die Übereinstimmung zwischen Lausitzer Schlosssagen und der Schloss-
sage in der böhmischen Chronik des Dalemil.
Freitag, 27. Oktober. Herr Privatdozent Dr. R. M. Aleyer sprach über
die Anfänge der deutschen Volkskunde; griff auf die Alten zurück, um ihre Ge-
sichtspunkte bei volkskundlichen Berichten klarzustellen, ging zum Mittelalter
(Karl der Gr. u. a.) über, hob das vielseitige Interesse der Reformationszeit
(Dürer, Luther, Agricola, Fischart) hervor, hierauf die Anfänge einer wissenschaft-
lichen Aufzeichnung (Neocerus, Rockenphilosophie u. a.) und den seit 1774 durch
Möser, Herder, später die Romantiker erneuten Sinn dafür. Zuletzt besprach er
die Gegenwart der Volkskunde, wie sie namentlich in der Litteratur (seit Walter
Scott) auftritt, die dagegen durch Platen und Gutzkow geltend gemachte Opposition,
die Düsseldorfer Schule, Riehl und das Bairische Nationalmuseum, endlich die der
Pflege der Volkskunde gewidmeten Vereine.
Nach diesem Vortrage wurden kleine Mitteilungen gemacht von Herrn Direktor
Dr. W. Schwartz über das im Havellande vorkommende Wort Muggel für Kröte,
von Geh. Rat Dr. Meitzen über die Pferdeköpfe an den Firstbalken der Häuser,
und vom Vorsitzenden über einen verdienten Volksforscher in Jütland, den
Pastor Feilberg in Askov bei Vejen. A. Brückner.
Register.
Aberglaube bei Hochzeiten 147. bei Kindern
149. isländischer225. jüdischer 142. morgen-
ländischer 23. 130. 238. saterländischer 380.
Abyberg, K. 463.
Adam und Evaspiel 221.
Adamopfer 370.
Adventspiel 222.
cAgiba 133.
Aldiug 100.
äldomäs 347.
Alexander am Pflug, von Metz 63 f.
Algäu 10.
Allerseelenfest, japanisches 4.
Altarkerzen 147. 366.
Altkunig 68.
Altmark 4. 6.
An der Weichsel gegen Osten 179.
Analogie 463.
Angang 135.
Ansberta 63. 462 f.
Appelpepels Tochter 230.
Apulejus 203.
Arbeit 40 ff.
Asa (= Asega) 249. 250.
Aschermittwoch 371.
Attis 98.
Aufgebot, kirchliches 146. 156.
Ausfahrt zum Fischfang 165 f.
Avancini 63.
Hackenweil, Graf 65 f. 463.
Backofenschüssellauf 15.
Badekräuter 447.
Balm 44.
Barfüssigkeit 16.
Barchentlaufen 19—21. 460.
Barrelaufen 18.
Bartos 113.
Bastian 237.
Bauernregeln 278.
Bauerntöchter, drei, Meisterges. 60.
Bauknecht 46.
Baumklettern 7. 23. 460.
Baumspalt 36.
Bayern 8. 13. 19. 21.
Becheraustrinken 134.
Begräbnis 151 f.
Bei Sedan auf der Höhe 180.
Beilagcr auf Kornfeld 277.
Beisswürmer 175.
Bükenstag 273.
Belgien 111. 467.
Bertulfus und Ansberta 63. 462.
Beschwörung 385.
Besenbinders Tochter 229.
Bett, unterm 34. Bettfrau 148.
Bettingen 427.
Bettkissen 447.
Bettlerhochzeiten, Reime 228 f.
S Beuverie 431.
Bibliothèque de Carabas 232.
Bidennann, J. 63.
Bielenstein 235.
Bikenbrennen 273. 354.
Birl 43.
Bissen auf die Erde gefallen 28.
Bittmann 451.
S. Blasius 428.
Blatt, singendes, tanzendes 199.
Blick, böser 26.
Blitzesfäden, Blitzkreuze 449 f.
Blindlaufen 17.
Blocklettern 377.
Blume gewünscht 199. 201.
Blutstag 54.
Boëmus, J. 349. 357. 369 f.
Böhmerwald, geistliche Spiele 208. 217.
Bömkeletere 378.
Bommelskont 436.
bosorka 348.
böser Blick 26. böser Geist 87.
bötjer 395.
S. Boudin 431.
S Bouteille 431.
Brandkultur 396.
j Brauch 42.
brauen 399.
Braut, falsche 89. 451. Braut fangen, stehlen
14. Brautbett 148. 266 f. Brautempfang
265. Brauthaus 160. Brautkranz 147.
Brautlauf 13 f. 265 f. Brautlied 166. Braut-
wagen 265. Brautwerbung 146. 156.
Breslau 18. 21.
Breunen 99.
Brot bei Sterbefällen verteilt 175.
Brotbacken 52.
Bruck a. d. M. 279.
Bructerer 241.
Brüder, drei findige 96.
Brünhildensage 361.
Register.
471
Brunhildestuhl B54. 860.
Bugge 339.
Bulgarische Märchen 113.
Bundbrüderschaft 103. 105 f.
Bungler 447.
Bürstenbinderstochter 229.
Bütner, W. 63.
Buttermilch 175.
Bystervelt 425.
Catulls Galliambus 98.
Cechische Volkskunde 113.
Chauken 241.
8. Chopinette 431.
Christkindlspiel 308.
Christus und Petrus 127.
Cinderella 233.
Citronen 152. 445.
S. Cloud 428.
Cochem, Martinus von 208 f. 300—329.
S. Cochon 431.
Cosquin, E. 339.
Cupido und Psyche 202.
Cimsus palii 19.
Dachdeckung 162.
Daidale 88.
Dämonen 139.
Dämonologie 450.
Danaiden 58.
Däumling 90.
Dauslöper 4. Daustriker 4. 6.
Deutsche in Mähren 342.
Devinettes 110.
Diele 261.
Dille 45.
Dimanche des brandons 350.
Dodolafest 85.
Domburg 423.
Donnerkeil 40.
Drache japanischer 335.
Dreikönigspiel 222.
Druschman 343.
Durchkriechen als Heilmittel 232.
Egl Stephan 342.
Ehebedürfnisse 175.
Ehehalten 46.
Ehen zwischen Blutsverwandten 115.
Eidbruder 104.
Eier 39. Eierlauf 17.
Eigennamen, scherzhafte 416 ff.
Ein Fähnrich zog 184.
Eins, Jahr 434.
Eisen gegen Zauber 29. 34. 39.
Elephantenwirtshaus 280. 283.
Elsässer Adamspiel 221.
Emoritische Gebräuche 24 ff. 130 ff.
Entlebucher Huldigung 16.
entsehen 388.
Ephesia grammata 131.
Erbgang 54.
Erbsenwerfen 148.
Erler Passion 221.
Erntefeste 10. 277.
Erzherzog Joseph 346.
Es hat sich ein Fähnrich 178.
Es lebten zwei 187.
Essenruf 48.
Etrusker 99.
Etschländereien 398.
Eulennamen 112.
Eunapios 448. 450.
Fackellauf 274. 355.
Facken 50.
S. Fadou 431.
Fseringer 165.
fseröisches Volksleben 155 ff. 285—293.
Fasten 49. Fastnacht 272. 371. Fastnachts-
feuer 353 ff. 360. Fastnachtspiele Regens-
burger 342. Fastnacht sonntag 351.
Fatsche 207.
Fehnkultur 396.
Fehrbellin, Schlacht 125.
Feige (la fica) 26.
Feldarbeit 398 f.
Fenster verstbpft 29.
Festruhe 272.
Feuer, Gebräuche 27.
Feuerbrand 34. Feuerrad 353. 359.
Feuerstatt 45. 47.
Fink Vatter 383.
Finkenritter 437.
Finn 384. Finnen 235.
Fischdörrhaus 164. Fischfang 166.
fitzein 271.
Flachsbau 399.
Flatnitzalpe 1. 10.
flechten 388.
Fleischdörrhaus 164. Fleischkost 154.
flet 262.
Flurumritt 9.
Flüstern der Heilsprüche 138.
Folklore-Kongress 338. Folklore, belgischer
111. von Poitou 110.
Formeln, dunkle 131.
föstrbrödir 104. föstbrsedralag 103. 106.
föstri 104.
Franck, Sebastian 356. 369 f.
Frau, treue, Märchen 463.
Frauentreue von M. Erythräus 63.
Frauenwettlauf 18 f. 460.
freie Knechte, freie Töchter 20. 21.
Freimann 20.
Frerichs 409.
Freundschaft trennen 134.
Friauler Liedchen 329 f. 411 f.
Friedrich Karl, Prinz 128.
Friesen 241 f. 246 f. 376 f.
Fritz, der alte 124. 126.
Frühgeburt 142.
Frühlingsfest 358 f. Fr.feuer 349 f.
Fuchs 135. F.schwanz 26. F.zahn 141.
Funken 28. Funkensonntag 350. 360.
Gaidoz 232.
Galdr 101.
! Galgensplitter 141.
gänga undir jardarmen 106. 224.
gängeln 272.
Gans, goldene 173.
Gänsefüsse 139.
Garbe, letzte 11.
Gebet 42.
Geburt 149. 264.
Gefesselte Götter 89. 448.
Geegoed, Baron 419.
472
Register.
Gelbbrote 155.
gemeiner Weiber Wettlauf 19.
Geruch 438 f. Geruchsvermögen 440.
Geschichte im Yolkssinn 117.
Geschirr 263.
Gestaltenwechsel 25. 102. 390. 453.
Getränke 154.
Gevaert 419.
Gheel 426.
Glasstube 165. 291.
Glockeninschrift 256.
Glückshafen 459.
Glückskugel 368. Glücksrad 367.
Glückswirkung' 28.
Godarville 467.
S. Goinfrain 431.
Gossensass 40 f.
Götter, gefesselte 89. 448.
Gottfried von Strassburg 367.
Grabinschriften 280 f. 284.
Graf 254. Gr. v. Rom 61—64.
von den sieben Grafen 61 f. 462.
Graumännlein 171.
Grenzbegang 17. Grenzlauf 16 f.
Grenzen 151.
grindabod 285.
Gröllhesl 208.
Grossmutter des Teufels 386.
Grozdanka 88.
Gschnalsjuchzer 174.
Guckuck 97.
gudensdag 394.
Guirlandenrennen 18.
Gürtel 379. Gürtler 446.
Haar, geschorenes 24.
Hagelfeuer 353. Hagelrad 362.
Hager, Georg 59.
haghetisse 387.
Hahn 31. 383. Hahnenfüsse 139. Hahnen-
ritt 14. Hahnentanz 12. 460. Hahnjörs 372.
Hahnopfer 371.
Halberstadt 6. 370.
Halleiner Spiele 222.
Halligen 377.
Hammeltanz 12.
Handel 402.
Hände verschränkt 33.
Hansmuff 273.
Hans mein Igel 204.
hantig 441.
Harzsagen 109.
Hauben der Braut 148.
Haus, friesisches, sächsisches 263. Hausarbeit
52. Hausbau 43. 161. 257 — 264. Hausfrau
46. Hauseinrichtung 43. Haushochzeit 161.
Hausinschriften 278. Hausname 54. Haus-
sprüche 43.
Haut Saöne 234.
S. Hebniet 431.
Hegel 450.
Heide 397. Heidebauern, Heidehoden 67.
Heigras 4.
Heilige, ersonnene 430, parodische 427.
Heimat 54.
Heiratsantrag 146.
Heiratsmann 452.
Hemd 377.
Hennekled 269.
Hennen 265. 267. Hennenritt 14.
Henry, Y. 57.
Herd 50. 261. 266.
Heuberg 360.
Heuschreckenei 141.
Hexen 39. 86. 172. 348. 387 f.
Hexenbrennen 352. 355. 371.
Hexentanz 391.
Hienzei in Ungarn 67.
hikken un sprikken 91.
Himmelsmammele, -tatta 54.
Hirsch 135.
Hirsmontag 353.
Hirtenfeste 5. Hirtenspiele 3.
Hochfilzen 1.
Hochzeitabend 157. H bitter 147.156. H.bräuche
färöische 156. saterländ. 264. schlesische
146—49. H.essen 147. 266. H.geschenke
148. 152. 157. 159 — 61. H.ladung 265.
H.tag 266. H.trunk 266. H.zug 147. 159.
Holepfannfeuer 353. 364.
Holz 43. H.weibel 97.
Honig 397.
Honorius von Autun 372.
Höritzer Passion 208.
Hose 379. Hosenlaufen 17.
Hosenpreis beim Wettlauf 19.
Hühner 31. 38. 51. H.nest 39.
Hund 135. Hundstein 1.
Hutzelsonntag 350. 358.
Hydromantie 27.
Ich hab als armer Tischlergesell 188.
Ich stand auf hohem Berge 178.
Illyrier 99.
In Böhmen liegt ein Städtchen 182.
In einem Städtchen in einem tiefen Thal 185.
Incantamenta gr. et lat. 341.
Indische Märchen 108.
Inschriften aus den Alpen 278.
— z. german. Mythol. 231.
Invocavitfeuer 350. 352. 360.
Isarthal 93.
Jahr Eins 434. Jahrgeschenke 150.
Japan 324.
Jecminek 343.
Jeverland 263.
Jochberg 1.
Johannes Boemus 349. 357. 369.
Johannisfeuer 349. 354. 369. Johannisrad 359.
Johannistag 351.
Judasbrennen 355.
Jude, ewiger 344.
Jungfrauen, drei 93.
Jura 243.
Kabul 137.
Kampfspiele 1.
Kanaaniter 139.
Karfreitag 4.
Karl d. Gr. 246. Karl IY. 120.
kärntisches Passionsspiel 320.
Karrenrennen 10.
Kartoffeln 155.
Kasertörggelen 172.
Käserindeis Tochter 230.
Kässonntag 351.
Katzen 50. 353. 390.
Register.
473
Kei 423. Kerl 44. Kindbetterin 41. Kinderlied 46. Kinderpredigt 120. K.tod 176. Kindergeisterzug 172. Kirchenabbildungen 225. Kirchgang der Wöchnerin 149. Kirmsse 11. Kleider als Preise 19. 460. Kleidung 52. Klibna 468. Knaust, Heinr. 62. Knochengalgen 4. Knochenopfer 5. Knoten der Winde gelöst 449. Kochen beschleunigt 36. Kochlöffellaufen 17. Konfirmationsfeier 145. Königshusaren 177. K.ritt 468. Körnleinsuchen 150. Kortrijk 422. Kosmogonie 464. Köteldümke 90. Kränze 147. 152. Kreuzesnagel 141. Krippelspiel aus Hitzendorf 303. Kuchelsonntag 351. Kuchenlauf 16. Kuchenplatzen 154. Küngspachs Rhetorica 459. Kupalniza 85. Kuren (Volk) 234. Kurfürstenzeit 119. Kuss erlösend 198. Mähren, Deutsche in 342. mährische Volksüberlieferungen 113. Mahlzeiten 48. Maibaum 3. 5. 7. 23. 276. 343. Maigrafenfest 10. 468. Maisingen 343. Maitauritt 7. Mannhardt, W. 3. 4. 378. Manningabuch 375. Mansteinsche Brigade 128. Mantel 379. Manzanillebaum 440. Mappe 205. Märchen 189 ff. 237. 336. 452. 456. 463. 466. Maren 392. Märkte 402. Martinilied 91. Mass und Gewicht, saterländisches 250—52. Maurer, K. v. 239. Maul, grösstes, belohnt 461. Mäuse 389. Mein Schatz der ist im Kriege 185. Meistersang 59. Meistersinger 68. Melodie und Text 84. Menschenopfer 9. Mikomaitanz 337. Milch 47. 50. 170. Milchbruder 104. Mimesis 449. Minssen 240. 378. 410. mittelalterliche Sagen und Legenden 232. mittelhochdeutsche Dichtersteilen 367. Mittwinter 269. Mollenland 427.
Laekja 165. Lambö, Lamböm 6. Lang, Andr. 232. 234. 339. S. Lärme 431. Lätaresonntag 9. 228. 356. Lattich 32. Laube 45. laufende Pferde 19. 459. lausen 197. Leichenberührung, heilend 25. Leichenbitter. Leichenschau 269. Leichengebräuehe 151. 175. Leidjungfern 152. Leiden Christi, Gurkthaler Spiel 320. Leinöl 155. bemke, E. 238. Letten, Lettgallen 234. S. Lichard 431. Lichter bei Leichen 28. Ljöarabogi 164. Littauer 235. Liven 234. Lorsch 349. Löweneckerchen 200. Lubbert 421. Luftritt 391. Lügenlieder 435. Luilekkerland 436. Lukenrahmen 164. Lustig ists Soldatenleben 185. S. Luyaert 430. Mondfinsternis 361. Morgenländischer Aberglaube 23. 130. 238. Mooranlagen 395. Möringer, Sage 65. Muggel 469. Mühlen 399. Münchener Wettläufe 19. Münsterland 248. Münzen, saterländische 252. Mus 47. Mutig ist das deutsche Leben 186. Mythen, Entstehung 57. Deutung 55 f. Mythologie, germanische, Entwickelung 230. Mythus und Religion 340. Vachbarhilfe 269. Nachtjäger 96 f. Nacktheit 38. Nägelein (Nelken) 53. Namentausch von Mann und Frau 142. 238. Nase 438. Nauders 465. Neger 341. Neujahrsapfel 469. Neujahrsorakel 372. neunern 48. Nicht weit von hier in e. t. Thal 195. Nicht weit von Württemberg 181. ; Niederländische Scherznamen 415. Niederlausitz 11. niesen 132. Niklaslieder 92. S. Nimmerling, S. Nimmermeer 432.
S. Maandag 431. Mädchenwettlauf 6. 11. 16—20. 22. Magyaren 346. nordfriesisch 263, Tracht 377. Nördlinger Laufen 19. 21. Norg 171 f.
474
Register.
Norn 388.
nost 269.
S. Noywerc 430.
0 Strassburg 182.
Oberaudorfer Passion 222.
Oberberger See 173.
Obergrunder Weibnachtspiel 215.
Oberufer 68.
Ohreisen 376.
olken, ölkers 386.
Opfer 9. 11. 365. 371. O.feuer 365.
Orakel 365. 372.
Oramuschel 335.
Ornamente 468.
Ortsnamen, scherzhafte 419 f.
Ortsnamenkunde Tirols 464.
Ostern 274. 432. O.bräuche, böhmische
O.feuer 274. 352—54. 0.spiele 5. O.zeit 4.
Ostfriesisch 242. 263. 377. 405.
Palio 19.
Palmzweig 44.
panno scarlatto 19.
Papistenbuch 371.
Pacjueville, Graf 64 ff. 463.
Paradeisspiel 208. 211. 218. 220 ff.'3011 327.
Parchent 20 f.
parodische Namen 417.
Paschen 274. 432.
Passionsspiele 208—23. 300—329.
Patengeschenk 149.
Pelzlaufen 22.
Pest 171.
Petersfeuer 254. Petri Stuhlfeier 354.
Petrus und Christus 127.
Petrus und Johannes 5.
Pflegbrüderschaft 105.
Pferde, laufende 19. 459.
Pfingsten 5. 7. 275.
Pfingstaustrieb 4. Pf.braut 9. Pf.butz 8.
Pf.käm 4. Pf.könig —in 275 f.
Pfingstl 8. Pf.quack 10. Pf.reiten 6 — 9.
Pf.schiessen 275.
Pflugziehen 370.
Pierenland 427.
Pilgerlied 67.
Plaierwater 436.
Platteborse 431.
Plutarchs quaestion. romanae 232.
Poitou 110.
Polidors Lebenslauf 456.
Popel 97.
Poverendycke 431.
Preise beim Wettlauf 19. 459 f.
Pressburg 68.
Prinzessin, die nicht lachen konnte 456.
Pruimpaschen 433.
Przemyslsage 114.
Psyche und Cupido 202 f.
Rabe 32.
ranggeln 1.
Rasengang 106. 224.
Räten (Eliseti) 99.
Rätsel 71. 110 f. 293.
Rätselbuch 468. Rätsellied 69.
Rauchfiss, Rauchfuss 7.
Rauchstube 163. 291.
Raute 446.
Redlich ist das deutsche Leben 186.
Regen, Gebete darum 334.
Regenzauber 85.
Reinhold erlöst die Schwestern 204.
Religion 56. 340.
S. Rcynuit 430.
riechen 441.
Riegelwerk 162. 164.
Rindendach 163.
Ringspiele 1. 10.
Rosen, drei 198, singende 199.
Rosensonntag 357.
Rosmarin 145. 147.
rote Bänder 147. rote Farbe 136.
roter Faden 26. 134. roter Lappen 26.
Rübezahl 468.
Ruchpflanzen 443.
Russland 112.
Saal 45.
Sachs, Hans 211.
sächsischer Haustypus 263.
Sack der Winde 449.
Sacklaufen 18.
Sagen im Stubai 169 f.
Sagenbildung 119.
Salzburger Paradeisspiel 221.
Samstag 53.
Sarg 269.
Saterland 239—278. 373 ff. Aberglaube 380.
Feldbau 397. Geschichte 241. 248. Handel
402. Herkunft 241. kirchliche Verhältnisse
255. Lebensweise 395. 403. Mass und Ge-
wicht 250 f. Namen 243.. Poesie 408.
Recht und Verfassung 248. 255. Sitten
264. Sprache 405. Tracht 373. Viehzucht
400. Wohnung 257.
Sau 15. 20.
Säubrigkeit 51.
sauer 441.
Schäferlauf, -Sprung 11.
Schäferspiel aus Mitterndorf 302.
Schallen, Lukas 64.
Scharlachlaufen 19.
Scharrel 246.
Schätze blühen 173.
Scheibentreiben 349. 359.
Scheitelfrisur 25.
Scherznamen im Niederländischen 415 f.
Schildhornsage 121.
Schimpfscheiben 365.
Schlachtschilderung 129.
Schlafstellen 163.
Schlange 37. 97. 115. 138. 203.
Schlangenhaut verbrannt 199.
Schlangenkönigin 203.
Schlaraffenland 436.
Schlauch der Winde 449.
Schlesien 6. 11. 18. 144 f. 226.
Schleswig 13.
Schlosssagen 469.
Schluff 43.
Schlüssellauf 14.
Schinagoster 348.
Schmalzapfel 445. Schmalzblume 8. 9.
schmecken 440. Schmecker 446.
Schneiderleins Glück 452.
Schnickerle 155.
Register.
475
Schofsonntag 350.
Schopf 24.
Schreck heilend 138.
Schürz enrennen 18.
Schwaben 7. 11.
Schwedenzeit 119.
Schwein 135. Schweinskopf 270.
Schweizerisches Idiotikon 107.
Schwellehocken 154.
Schwestern, lispelnde 58 f.
Schwingfeste 1.
Seelen, Verbleiborte 237.
Seidr 101.
seihen 47.
Sehne, Kindtaufschmans 264.
Semgallen 235.
Sennerin .53.
Sieb 33.
Sieben 39. Siebengezeit 444.
Siebenbürger Sachsen 465.
Sist, sist 379.
skälkar 162.
Slimmeke 419.
Sommerfäden 347. S.gewinn 356.
Sommersonutag 228. 357.
Sommer- und Winterspiel 226. 344. 356.
Sonntagsdienst 46.
spämenn, späkonnr 101.
Sperber als Preis 20.
Speisen 48. 152—154. 270. 404.
Spielanger, —berg, —bühel, —feld, —wang 1.
Spinnrocken beim Brautzuge 265.
Spinnstube, heroische 291.
Sprachgrenze, wendische 460.
springen 267. 276.
Sprüche 49, beim Scheibenschlagen 362.
Spukgeschichte 97.
Stams 465
Stapelholm 372.
Steffentag 272.
Stephansritt 13.
Steinbauten, unterirdische 342.
Steiner-Mandl 45.
Steinschlitten 161.
steirisches Passionsspiel 315.
Sterbende melden sich 176.
Stickelband, stukelband 375.
Stickerei 377.
Stiergestalt des Zauberers 453.
stinken 443.
Streichelband 375.
Strohpuppe verbrannt 355.
Stubaithal 169 f.
Stube, gute 54.
Suaheli 236.
Suunwendfest 10. 359.
Snnnwendfeuer 350.
Suppe, platschnass 47.
Tabacklaufen 17.
Tageslauf der Arbeit 47.
Tanz 158 f 276. 335.
Taube 48. 204.
Taufen 149. 152. 264.
taufr 102.
Tellerlaufen 17.
Teufel 175. 382 f.
Theophilus 348.
S. Therese 41.
! Tiere 50. gespenstische 170.
Tiergestalt verstorbener 170.
„ verzauberter 195.
Thorah-Wimpel 205.
Thuner 267. 276.
tilberi 225.
Tilly 120.
Tirols Urbevölkerung 99.
„ alte Ortsnamen 464.
| Tisch 48.
! tison de Noel 34.
tjsoene 380.
Töchter Gottes 213. 328.
| Tod und Begräbnis 150 f. 268 f.
; Todaustreiben 9. 356 f. 468.
tor 347.
Torfdach 163. Torfgraben 397.
Tosefta 24 f.
Tote 32 f. 238.
Totengriff 25. T.wache 175. T.weg 265.
S. Touche 431.
Tracht, friesische 374, Saterländer 373, schle-
sische 144, tiroler 53.
Traueressen 153.
Trauung 147. 265. 267.
trefoir 34.
treue Frau 62.
Trinkspruch 133.
Tuch als Preis 19.
Tunsker 272.
Tweraser Passion 213.
Uhland 67. Uhlands guter Kamerad 79.
Ungeschicht 171.
Uppsalastudier 339.
Urin 37.
Vajapejaopfer 22.
Vampyr 35.
Verbrennen der Tierhaut 199.
„ der Habe des Toten 137.
verkehrtes Thun beim Zauber 33.
Verlobung 264.
Vesperessen 155.
| Viehzucht 400.
| Villotte friulane 329 f. 411 f.
! Volksdichtung 79. 467.
Volkshumor 344.
| Volkskunde, Anfänge 469. von Belgien 111.
Böhmen 113. Poitou 110. Russland 112.
Volkslieder 114. böhmische, hessische 176 f.
! 337. 467. faeröische 292. friaulische 329.
Saterländer 408.
Volksmedicin 115. 232. 345.
Volkspoesie 467.
Volksrätsel 71. 293.
Yolksschauspiele, geistliche 208—223. 300 bis
329. cechische 114. polnische 115.
Volksschwänke 115. 344.
Vollbauchabend 270.
völva, völur 101.
Vordernberger Paradeisspiel 211.
j Vorgeschichte der Mark 123.
Vorspuk 381.
i Vorzeichen 135.
! Wachholder 445.
! Wächter, L. 64.
I Wahlbrüderschaft, bulgarische 113.
476
Register.
Wahrsager ei 101. 880.
Waldmensch 174.
walen 277.
Walfischfang 286.
Wallburgen 94.
Walriderske 389. 892.
Wams 378.
Wangerooger 376.
Wappenbilder, redende 429.
Wäschekräuter 445.
Was hört mau jetzt neues 189.
Wasen 46.
Wassergeister 13. W.guss 35 f. W.laufen 17.
W.vogel 8 f.
Waterlanders 43 f.
Wattenwill, Graf 463.
Weihnachtsblock 34. W.messe 174. W.pferd
468. W.spiele 68. 111. 211. 215. 327. 343.
W tanz 370.
Weihrauch 445.
Weissagen 380.
Weissdorn 29.
Weisser Wolf, Märchen 196. 201.
Welcker 450.
Welt, verkehrte 436.
Wenden, Lausitzer 345. 460.
Wenn man in späten Enkeltagen 188.
Wepelrute 270.
Werwolf 35. 393.
Westfalen 6. 248. 252.
Westfriesen 245.
Wettkämpfe, religiöser Charakter 1. 3. 7. 9.
11. 23.
Wettlauf 1—23. 459.
Wett- und Wunschlieder 67.
Wetterglocken 173.
wiccjan 381.
Wichtel 171.
Wiesel 135. 389.
Wiesenbau 400.
wikje 380.
Wiidemannssage 347.
wilder Jäger 393.
Wildmösersee 174.
Wimpel 206.
Windzauber 448.
Witterung der Tiere 443.
Wochenstube 29.
Wochentagsnamen und Personennamen S7,
Wöchnerin 149.
Wockenbrief 195.
Wodan 394.
Wojnjäger 394.
Wolf Königssohn 201.
Wolf mit dem Wockenbriefe 189. 336.
Wolfsgestalt der Dämonen 35.
Wolke 448 f.
Wunsdag 395-
Wursten 263.
Zahlen, gerade und ungerade 26. 38.
Zannach, J. 63.
Zauber 101. 380. 450.
Zauberknäuel 450.
Zeit- und Ortsbestimmungen 432 f.
zessa 387.
Zieten 126.
Züchten 148.
Zuckmantler Passion 217.
Zuträger 225.
Zutrinken 154.
Zwerge 124. 139. 386.
Zwölfnächte 372.
Druckfehler:
S. 248 Z. 21 v. u. inuslär. Z. 19 v. u. muslor lies mustär.
Druck von Gebr. Unger in Berlin, Schönebergerstr. 17a.
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ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft,
begründet von M. Lazarus und II. Steinthal.
Im Aufträge des Vereins
herausgegeben
von
Karl Weinliold.